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Full text of "Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens 1913, Band 9"

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f in der „Bibliothek der Unterhaltung und des Wiffens” haben infolge 
In erate ſachgemäßer Verbreitung in allen Schichten der Bevölkerung Ae 
Wirkungskraft. Wegen der Injertionspreife, ins beſondere der Preiſe für Dorzugsfeiten 
wende man ſich an die Anzeigengeſchäftsſtelle der „Bibliothek der Unterhaltung und des 
Wiſſens“ in Berlin SW 61, Blücherſtraße 31. + 9 % % 


Milli ONEN Menschen 


gebrauchen zu ihrem eigenen Wohle 


Kaisers 
Brust- 


Heiserkeit, Katarrh, 


Ca ra melle 4P Verschleimung, 
Rachen-Katarrh, 
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Kaiser’s Im Jup mit den „3 Tannen . 


‚6100 


Kein ähnliches Präparat vermag solche 
Erfolge aufzuweisen. 


not. begl. Zeugnisse von Ärzten und Pri- 
vaten liefern den besten Beweis für die 
sichere Wirkung u. allgemeine Beliebtheit. 


Paket 25 Pfg., Dose 50 Pfg., in Osterreich Paket g% 
20 u. 40 Heller, Dose 60 Heller zu haben in den 

Apotheken, Drogerien und besseren Kolonial- 
warenhandlungen. Wo die millionenfach be- ës 
währten Kalser's Brust-Caramellen nicht käuf- | = 
lich sind, wende man sich zur Angabe der 
nächsten Verkaufsstelle direkt an die Fabriken 


in Deutschland Pr. Kaiser, Waiblingen-Stuttgart, 
in Österreich-Ungarn Fr. Kaiser, Bregenz-Vorariberg, 
in der Schweiz Fr. Kaiser, St. Margrethen (st Gehen). 


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lagerungen aus den Geweben. Wer ſich geſund 
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Nr. 1692 N Chem. Experimentierkästen „ erheblich reichhaltiger wie 
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Halberstadt, Rathenow, Wien, Mariahilferstr. 8, 


Bibliothek 
der Unterhaltung 
und des Wiſſens 


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Zu der Novellette „Der rote Fleck“ von Fr. Holzer. (S. 15) 
Originalzeichnung von A. Haushofer. 


ibliothek se 
der Unterhaltung 
und des Wiſſens 


Mit 
Original beiträgen 
der hervorragendften 
Schriſtſteller und Gelehrten 
fowie zahlreichen 
Aluſtra tionen 
Ké 


Jahrgang 1913 + neunter Band 


Union Deutſche verlagsgeſellſchaſt 
Stuttgart + Berlin + Leipzig 


Drud der 

Union deutſche 
verlagsgeſellſchaſt 
in Stuttgart 


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Inhalts = Verzeichnis. 
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Der rote Fleck. 
Novellette von Fr. Holzer. Mit Bildern von A. Haus- 
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Die Apachen. 
Ein Pariſer Roman von Fritz Levon (Fortſetzung) . 
In den Vorbergen des Himalaja. 
Von R. Zollinger. Mit 9 Bilden 
Die Welt der anderen. 
Novelle von Luiſe Weſtkircge mee. 
Dienſtbotentrachten. 
Von Ola Alſen. Mit 11 Bildern nach SCH 
vorlagen © 2 e, 2 
Die Entführung. 
Eine moderne Muſtererzählung. Von Heinrich Binder 
Inſekten als Nahrungsmittel. 
Von Th. v. Wittembergk. Mit 8 Bildern 
Mannigfaltiges: | 
Eine merkwürdige Liebesgefhidte . -. : a’ 
Ar ktiſche Reizbarkeit 


Beſſeres Tageslicht in den Zimmern . à 
Mit 2 Bildern. 


Sch lachtandenkbeeee?e?e eee 
Hinrichtung eines ſpaniſchen Granden im 15. Jahr- 

bnde Aë ug E e 
Gute Verdauung . gas 


Seite 


Snhalts-Derzeichnies. 


Selbſtpeinigungen indiſcher Fakire. 
Mit Bild. 
Glanzleiſtung eines Reporters 
Bachſtelze und Kreuzotter . ; 
Anziehungskraft des Verbrechertums . 
Merkwürdige Särge. ' 
Niggergefhichten . 
Blüten als Wärmequelle. 
Mit 2 Bildern. 


Zwei Zahlenwunder ; 
Eine unheimliche Semätdefammlung . 
Das gebratene Hühnchen 

Die Frühjahrskraftſpeiſe . 


Wie Auguſt der Starke mit Serpenite E SEN 
Verſchiedene Wertſchätzung der Nationen ; 


Die Amulette gekrönter Häupter 
Schmetterlingsfälſcher 


Die Rätſel des Herzogs von Altenburg. 


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Der rote Fleck. 


Novellette von Fr. Holzer. 


mit Bildern + 
von A. Gaushofer. (Nahödrud verboten.) 
Ein eigentümliches Froſtgefühl, das mir durch den 
ganzen Körper zieht, überkommt mich, ſo oft ich 
mich im Kaffeehauſe auf meinen Platz niederlaſſe, dort 
an dem kleinen Marmortiſche dem Büfett gegenüber. 
Anfangs erklärte ich mir dieſes unangenehme Gefühl 
auf ganz natürliche Weiſe: es wurde hervorgebracht 
durch Berührung der kühlen Marmortafel mit der 
warmen Hand. Später ſchien mir dieſes Froſtgefühl 
die bloße Folge jener ſchmerzlich-ſüßen Aufregung 
zu ſein, die ſich immer meiner bemächtigt, wenn ich 
in ihrer Nähe bin. Aber das war ein Irrtum, denn ich 
hatte dieſes Gefühl ſchon damals, als Olga noch nicht 
im Büfett ſaß, ſondern ihre fade, blonde Vorgängerin. 
Erſt heute hat mir der alte Zahlkellner Jean, der 
ſchon ſo viele Offiziergenerationen der hieſigen Garniſon 
hat kommen und gehen ſehen, dieſe ſonderbare Ge— 
ſchichte erzählt. Und jetzt weiß ich, daß es nichts anderes 
iſt als — Furcht. Furcht und Entſetzen bemächtigen 
ſich meiner, ſo oft mein Blick auf jenen Fleck fällt, 
der die Marmortafel verunziert. Ein ganz ſonderbarer 
Fleck iſt's von roſtig gebräunter Färbung, wie fie mit- 
unter in weißem Marmor vorkommt. Beobachte ich 
ihn etwas länger, ſo ſcheint er ſich zu röten, und am 


6 Der rote Fleg. 2 
Abend bei der Helle des elektriſchen Lichts kommt es 
mir vor, als würde er glänzen und zitternd ſtrahlen, 
als wäre roter Wein an jener Stelle ausgegoſſen. 
Gleich beim erſten Anblick kam mir der Gedanke, 
es wäre ein großer Blutstropfen, der da, aus irgend 
einer Höhe herabgefallen, auf der Platte zerſpritzte. 


* * 
* 


Ich ſaß heute ganz allein. Olga war noch nicht im 
Büfett. Unter dem Eindruck jener Vorſtellung netzte ich 
mein Taſchentuch im Wafjer und begann den Fleck zu 
reiben in der Hoffnung, die Platte davon zu reinigen. 

„Den werden Sie nicht wegwaſchen, Herr Leut— 
nant,“ ſtörte mich plötzlich der alte Jean auf, der, da 
er nicht viel zu tun hatte, offenbar ein Geſpräch an— 
fangen wollte. „Jeder möchte glauben, der Fleck rühre 
vom Blut her, das da verſpritzt wurde. — Na, was 
Wahres ift ſchon dran. Ich ſelbſt glaube, diefe Platte 
ift nicht immer fo roſtig geweſen.“ 

Mein Intereſſe merkend, erzählte er, vor fünfzehn 
Fahren habe ſich gerade auf meinem Platze ein Offizier 
erſchoſſen — ſeinen Namen habe er ſich nicht gemerkt — 
aus unglücklicher Liebe zur damaligen Kaſſiererin. 

„Nun, bei jungen Leuten ift fo etwas nichts Gel- 
tenes,“ philoſophierte Jean. „Verliebt fih da und 
möchte natürlich auf der Stelle heiraten! Ein Leut- 
nant! Wohin ſoll der mit einer ſolchen Liebe? — Und 
ſie, ein vernünftiges Mädel, das alles genau erwog, 
wollte ſeine Zukunft nicht zerſtören und wies ihn ab. 
Der Leutnant gleich den Revolver zur Hand und er— 
ſchießt ſich vor ihren Augen.“ 

Der an der rechten Ecke der weißen Marmortafel 
befindliche roſtigbraune Fleck grinſte mich förmlich an. 


* * 
* 


a Novellette von Fr. Holzer. 7 


Ich glaube feſt, daß im Leben nichts geſchieht ohne 
beſtimmte Vorausſetzung, daß unſere Geſchicke von einer 
höheren Macht gel Dieſer Glaube und 


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— der rötliche Fleck auf dem Marmor bilden die Quellen 
meiner Angſt. Sit es nicht auffallend, daß, ohne die 
Geſchichte des Flecks auf dem Tiſche zu kennen, ich 
als einziger von den Gäſten des Kaffeehauſes den Fleck 
ganz blutig fah? 21 es nicht ſonderbar, daß ich, ohne 


8 | Der rote Fleck. 0 


der Erzählung Jeans Glauben zu ſchenken, Angſt fühle 
bei ſeinem Anblicke? Und erwäge ich weiter: Warum 
wählte gerade ich, der ich Olga liebe, mir den Platz, 
an dem ſich vor Fahren ein unbekannter Kamerad er- 
ſchoß? Warum mußte ich, der ich auf jenem verhängnis- 
vollen Platze zu fiken pflege, mich in die ſchöne Wirts- 
tochter verlieben, deren Erſcheinung in das Büfett des 
alten Raffeehaufes fo wenig paßt? | 

Umſonſt fuhe ich eine Erklärung dafür, daß ich, fo 
wie mein unbekannter Vorgänger, einen Platz an dem- 
ſelben Tiſche wählte, um mich von dort an dem An- 
blick des Gegenſtandes meiner Liebe zu weiden. 

Der Umſtand, daß ich den unbekannten Kameraden, 
den Selbſtmörder, unwillkürlich meinen Vorgänger 
nenne, erklärt meinen Schrecken beſſer als alle anderen 
Worte, die ich dafür anführen könnte. Oh, ich fürchte 
mich, fürchte mich entſetzlich, daß auch ich — 

Der Gedanke, den Verluſt Olgas nicht überleben 
zu können, kam mir ſchon früher, ehe ich noch die 
Geſchichte des roten Flecks kennen lernte. Aber 
früher nur dunkel und entfernt, nimmt er jetzt be- 
ſtimmte, drohende Formen an, aus denen ſich immer 
deutlicher das Bild eines bleichen, zerriſſenen Geſichtes 
mit der Wunde an der rechten Schläfe entwickelt. 
Ganz deutlich ſtelle ich mir die Szene vor, wie ſie mir 
Jean ſchilderte. Ich ſehe jenen Unbekannten, deffen 
Liebe ſo groß war, wie es meine Liebe iſt, wie er zum 
letzten Male aufgerichtet an ſeinem Platze ſitzt und mit 
langem Blicke von der Geliebten Abſchied nimmt. Dann 
hebt er die Waffe empor, neigt die kühle Mündung 
zu der brennenden Schläfe — und drückt ab. Mir iſt, 
als höre ich den dumpfen Knall, ſchaue feinen Kopf, 
ſehe einen leichten Blutſtrahl aus der Wunde quellen 
und einen großen, auf den Marmor verſpritzten Tropfen, 


a Novellette von Fr. Holzer. 9 


darin die vom Kronleuchter ausgeſtrahlten Lichter röt- 
lich reflektieren. Und ſein bleiches Geſicht wird mir 
immer bekannter, die Züge ſteigen immer deutlicher 
aus dem Qualm und Rauch heraus, bis ich endlich — 
mein eigenes totes Geſicht erkenne. 

Die Schickſale der Menſchen wiederholen ſich. Es 
gibt keinen einzigen Menſchen auf der Welt, deſſen 
ſelbſt noch ſo verwickeltes Schickſal ausſchließlich nur 
ſein eigenes wäre. Welche Phantaſie und grenzenloſe 
Erfindungskraft wäre dazu notwendig, um für jeden 
einzelnen ein beſonderes Schickſal auszudenken! Das 
iſt ja gar nicht möglich. So wird ſich denn auch das 
Schickſal des Unglücklichen, der vor Jahren an dieſer 
Stelle hoffnungslos liebte, an mir erfüllen. 

Bis jetzt wiederholt fidh ja alles mit ſtrenger Ge- 
nauigkeit. Ich bin Offizier, jung und kräftig, wie er 
es geweſen, beſuche dasſelbe Kaffeehaus wie er, ſitze 
auf ſeinem Platze und liebe ein junges Mädchen da 
drüben am Büfett wie er. Gleich aufrichtig iſt meine 
Liebe, meine Abſicht gleich ehrlich wie bei ihm. 

Nur die Entſcheidung iſt noch nicht beſtimmt, und 
ich ſchiebe ſie hinaus — aus Furcht vor dem Ende. 


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* 


Die Angſt vor meinem Schickſal, das mir in allen 
ſeinen Einzelheiten vorſchwebt, hält mich ab, mich Olga 
anzuvertrauen. Möglich ift, daß fie etwas ahnt. Ihr aus- 
drucksvolles Geſicht zeigt ſich geſpannt, wenn ich einige 
Worte mit ihr wechſle, ihr Blick ruht oft fragend auf mir, 
wenn ich auf meinem Platz ſitze und mir Mühe gebe, den 
rätſelhaften Fleck mit einem Zeitungsblatte zu verdecken. 
Weiß Olga, was in mir vorgeht? Vielleicht fühlt ſie meine 
Liebe heraus, vielleicht lieſt ſie mir's aus den Augen und 
ahnt es aus meinen Worten, wenn ich mit ihr ſpreche. 


10 Oer rote Fleck. o 


Aber die wirkliche Tiefe meiner Gefühle ahnt fie 
gewiß nicht. Sie weiß nicht, daß ich mich ſehne nach 
ihr wie die Blüte nach dem Morgentau. Und gewiß 


* 


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weiß fie nicht, daß mein Schickſal mir vorbeſtimmt, 
daß jeder meiner Blicke, jedes meiner Worte nur eine 
Wiederholung deſſen iſt, was vor fünfzehn Jahren war. 


* * 
* 


o Novellette von Fr. Holzer. 11 


Nichts geſchieht, und nichts ändert fih. Stets die- 
ſelbe Empfindung, das Froſtgefühl im Körper, ſo oft 
ich mich an meinen Platz im Kaffeehauſe ſetze, und die 
ſtete Angſt vor der endlichen Entſcheidung. Umſonſt 
ſuche ich mich zu überreden, daß das Meinige durch- 
aus keine Wiederholung des Schickſals meines unglüd- 
lichen Kameraden ſein muß. Das hängt doch ſchließlich 
von Olgas Entſcheidung ab. Sagt ſie „nein“ — nun, 
dann weiß ich, was mich erwartet. Doch kann Olga 
auch „ja“ ſagen. 

Warum alſo frage ich fie nicht? 


* * 
* 


Zwiſchen acht und neun Uhr abends ift das Kaffee- 
haus meiſt beinahe leer. An einigen Tiſchen hinter 
dem Billard leſen einige ältere Herren ihre Zeitungen. 
Die Kellner gönnen fih nach einem bewegten Nach- 
mittag Ruhe. In dem ganzen Lokal herrſcht Stille. 

In dieſer Abendſtunde beſuche ich das Kaffeehaus 
am liebſten. Da kann ich ans Büfett treten und mit 
Olga plaudern. Sie iſt nicht beſchäftigt, lieſt oder be⸗ 
ſchäftigt ſich mit einer Handarbeit. 

Heute trat ich zum Büfett, entſchloſſen, ihr alles 
zu fagen. Zn dieſer ungewöhnlichen Stille ſchien mir 
Olga noch ſchöner wie bei Tag oder bei dem Rauch- 
nebel in der Nacht. Sie nähte etwas an einem weißen 
Stoff und hob nicht einmal den Kopf in die Höhe, 
als ich näher trat. Erſt beim Klirren meines Säbels 
ſah ſie auf und bewillkommte mich mit dem ge— 
wohnten, freundlichen Lächeln. Ich glaube, es war 
Freude, die ich aus ihren Augen las. Kräftig und warm 
drückte ſie mir die Hand, legte die Arbeit zurück, heftete 
einen fragenden Blick auf mich, als fordere ſie mich auf: 
„Vohlan denn, ſprich, du großer, ſchüchterner Zunge!“ 


12 | Der rote Fleck. | | el 


Wie erwähnt, war ich entſchloſſen, ihr alles zu fagen, 
Aber trotzdem hielt ich mich nur an ganz gewöhnliche, 
gleichgültige Sachen, wußte nicht, wie ich von ernſteren 
Dingen anfangen ſollte. Unſicher und verlegen plau- 
derte ich nur von meiner Perſon. Endlich vertraute 
ich ihr an, daß ich nicht gerne Soldat ſei, und auf des 
Vaters WVunſch ſpäter den landwirtſchaftlichen Beruf 
ergreifen würde — am liebſten dort unten in dem lieben 
Dalmatien, wo der Himmel ſo blau und die Sonne 
ſo heiß iſt. 

Lächelnd hörte ſie zu, als ich ihr die Reize meines 
Geburtslandes ſchilderte, und ihre Augen flammten 
bei der Schilderung der Pracht des Meeres. 

„Dort möchte ich auch leben,“ ſagte ſie gedanken— 
voll. 

Ich fühlte, wie mein Herz bei an ihrem Wunfche 
raſcher klopfte. 

Und dennoch ſagte ich ihr nicht, was ich ſagen wollte, 
forderte ſie nicht auf, dort mit mir zu leben und in 
meinem Hauſe als Herrin zu walten. Warum tat ich 
es nicht? Ihre Augen, ihr Mund, der Ausdruck ihres 
Geſichts riefen mir zu: „Sprich — ſprich doch!“ 

Und ich ſchwieg, ſchwieg wie eine Memme, zurück— 
ſchreckend vor jener rätſelhaften Drohung. 

Das Kaffeehaus begann ſich zu füllen. Sch drückte 
Olgas Hand und ſetzte mich auf meinen Platz, wieder 
mit dem froſtigen Gefühle in Leib und Seele. Der 
rote Fleck auf dem Marmor ſtrahlte und glänzte — 
höhniſch und mich verlachend. 


* * 
K* 


Es gibt keine andere Erklärung, und ich glaube 
daran trotz inneren Widerwillens. Der alte Jean fagte 
mir ſoeben, wann das Schreckliche ſich ereignete. Es 


a Novellette von Fr. Holzer. 15 


war am 24. Dezember, am heiligen Abend, als der 
verhängnisvolle Schuß krachte. 

Das Schickſal meines Vorgängers wiederholt ſich 
aljo an mir folgerichtig und ausführlich. Eine ent- 
ſcheidende Frage konnte ich nicht früher aus mir her- 
ausbringen, als er es getan. Das war die Hand, die 
mir die Kehle zuſammenpreßte. 

Weſſen Hand? 

Ah weiß es nicht, unterliege aber ihrer Macht be- 
dingungslos. 

Ich verſuche nicht einmal, die Entſcheidung früher 
herbeizuführen, als mir beſtimmt ift. Sch ſehe auf 
Olga hin, leſe beſtändig ihre Frage aus ihren traurigen 
Augen heraus und — ſchweige. | 

‚Am mich herum das freudige Wogen der nahen 
Weihnacht. Nur ich fühle keine Freude. Ich leſe das 
Schreiben, worin mich meine Mutter einladet zu den 
Feſttagen, und ich antworte nicht, bedaure nicht ein- 
mal, daß ich zum erſten Male die Feiertage ohne ſie 
verleben werde. Alles ſchwindet mir vor den Augen, 
Freudiges und auch Trauriges, vor mir ſchwebt nur 
der verhängnisvolle Tag mit dem letzten Augenblick 
in ſchrecklicher Erwartung. 


* * 
* 


Nichts geſchieht, nichts ändert ſich. Doch heute fällt 
die Entſcheidung. Habe mir einen Revolver gekauft, 
eine wunderſchöne und treffliche Waffe. 

Wit ängſtlicher Pünktlichkeit ſchreite ich in den Fub- 
tapfen meines Vorgängers weiter. 

Im gleichen Augenblicke wie er trete ich an das 
Büfett, wo mich Olga erwartet, blaß und aufgeregt. 

Das Kaffeehaus iſt leer. Der alte Jean ſchlummert 
ſanft in einem Winkel. Ich lege meinen Mantel ab, 


14 Dier rote Fleck. u 


und Olgas beide Hände ergreifend beginne ich zu 


ſprechen. 
Vas ich rede, weiß ich Ge Die Worte Fa mit 


dem 
Munde, ich 
fühle, wie 
ſich meine 
Kehle er- 
weitert, als 
ſchwinde 
der Druck 
der geheim- 
nisvollen, 
ſtarken, 
fremden 
. ii Hand, die 
mich bis jetzt zu ſprechen hinderte. Zch fühle Olgas 
Hände in den meinen zittern, ſehe ihre Wangen er— 
röten, Tränen ſtürzen in Ce Augen, ihr Kopf neigt 
fih zur Seite. 
Und dann vernehme ich wie aus der Ferne das 


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Digitized by G O Ou le 
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a | Novellette von Fr. Holzer. ` 15 


gedämpfte und dennoch fo frohlockende „Za“, höre ver- ` 
worrene, freudige Worte und fühle eine brennende 
Träne auf meiner Hand. 

„Ja, ich habe Sie von Herzen lieb, und wenn Sie 
mit mir zufrieden ſind, wie ich bin, gehe ich gerne mit 
Ihnen dahin, wo die Sonne wärmer iſt und heller 
der Himmel!“ 

Sn meiner Seele klingt es wie der Freudengeſang 
der heiligen Nacht. 

Mit einem Schlage ſchwinden alle Schrecken aus 
meiner Seele, ein Gefühl großen Glückes erfüllt meine 
Bruſt, ich fühle mich frei, ſtark und verwegen und ziehe 
Olgas Kopf an mich, mit wilden Küſſen ihre Lippen 
bedeckend. 

Da erwacht der alte Zean aus feinem Schlummer 
und ſtört mich aus der ſüßen Berauſchung auf. 

„Sean, Jean, Ihr Fleck hat gelogen! Ich bin es 
nicht, an dem ſich das Schickſal wiederholen wird!“ 
rufe ich ihm zu und lache in wilder Freude. 

„Ver hat gelogen? Was fehlt denn heute dem 
Herrn Leutnant?“ ſtottert Jean ganz verblüfft. 
Vqghr roter Fleck hat gelogen! Mein Blut wird ihn 
nicht friſch färben!“ entgegnete ich ihm, und einer 
plötzlichen Eingebung folgend, ſpringe ich auf den Tiſch 
zu, auf deſſen marmorner Platte der geheimnisvolle 
Fleck ſich rötet, und ſchlage mit der Fauſt den Rand 
dieſer Platte, wo der Fleck ſchimmert, ab). 
Krachend fällt das Stück Marmor zu Boden. 


4) Siehe das Titelbild. 


* 


Die Apachen. 


Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 


(gortſetzung.) + (nachdruck verboten.) 


aris iſt nicht nur die Stadt des Tändelns und der 
| „Verhältniſſe“, ſondern es gibt vielleicht auf der 
ganzen Erde keinen Platz, wo die Liebe des Volkes ſo 
fröhlich und harmlos auftritt, wie das verrufene Geine- 
babel, in deſſen vornehmen Vierteln die Kokotte Edel- 
ſteine verſtreut wie Riefel und Perlen wie Rindertränen. 
Wenn wir ſie ſehen, dieſe Pärchen, in dem Bois de Bou— 
logne auf den Raſen gelagert, zwiſchen ſich eine Flaſche 
Wein zu achtzig Centimes und über ſich eine Million 
Sonnenſtrahlen — auf den kleinen Seinedampfern, 
eingekeilt in die Menge und lachend, wenn einer dem 
anderen in die Arme gedrückt wird — wenn wir ihre 
Lieder hören, in denen heute wie vor hundert Jahren 
das kleine Vöglein ſein Neſt baut und die Roſe ihren 
Duft verſtreut: dann glauben wir nicht unter einem 
Volke zu fein, deffen politiſche Leidenſchaft Revolutionen 
gebiert und deſſen Fürſten einſt die Welt verteilten. 
Und wir denken am wenigſten jener dunklen Nächte, 
in denen das Verbrechen ſeine Schleuſen öffnet und 
ſich gleich einem Schlammſtrom bis an die Pforten 
der Paläſte ergießt. — 
Jean Lecocq, der Apache, und Käthe Tonndorf, 
die Philiſtertochter aus der Saalgaſſe — ſie waren 


o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 17 


beide ſelig wie die Kinder vor dem Weihnachtsfeſt und 
wie die Brautpaare vor der Hochzeit. 

Der junge Chemiker hatte es verſtanden, die Rolle 
des Fabrikarbeiters aufrecht zu erhalten. Aber wenn 
Käthe ihn nach der Arbeitſtätte fragte, ſo machte er 
eine leichte Handbewegung und deutete auf das Häufer- 
meer von Paris. Da unten irgendwo — die Fabrik 
feiere augenblicklich, es ſei Streik. Aber er hätte ſich 
dreihundert Franken zurückgelegt, die müßten jetzt drauf- 
gehen, und wenn ſie verbraucht wären, dann ſei auch 
der Ausſtand zu Ende. 

Es waren allgemeine Redensarten, die das Licht 
der Gegenwart feſthielten und die Schatten der Zu- 
kunft bannten. Das Ohr der Liebe hört nur zu willig 
darauf, oder es hört neben den Liebesworten über- 
haupt keinen Laut. Einmal muß ja doch die Zeit 
kommen, da das tiefe Schweigen dieſe lachende Welt 
auslöſcht. | 

Berlin lag unendlich weit in der Ferne. Zn den 
erſten Tagen ihres Pariſer Aufenthalts hatte Käthe 
Egberts Brief beantworten wollen, dann war jener 
ſeltſam berauſchende Abend gekommen, an dem ſie 
entdeckte, daß ihr Herz nicht verſchenkt, ſondern nur 
verpfändet ſei. Nun hatte ſie es ausgelöſt und einem 
anderen gegeben — nein, nicht gegeben, ſondern ſich 
nehmen laſſen in jenem Sturm der Leidenſchaft, die 
nicht wägt und zählt und mißt. 

Die fo köſtlich iſt und fo gefährlich. Die Brand- 
wunden macht und Balſam darauf tropft. 

Die immer und ewig bleiben wird, und wenn die 
große Fälſcherin Zeit alle Worte der Welt umprägt. 

Jeden Tag, den die Sonne hergab, waren fie bei- 
ſammen. Sean kam niemals in die Kneipe von Mutter 
Vernot, er ſprach kein Wort darüber, er tat, als wenn 

1913. IX. 2 


18 Die Apachen. o 


Käthe ein Schmetterling fei, der des Nachts in Rofen- 
kelchen ſchwebt. 

Aber die Alte war klug und ſchwieg dazu. 

Sie wußte ganz genau, daß ihre Nichte ein Ber- 
hältnis mit dem jungen Chemiker angeknüpft hatte, 
daß ſie tagsüber mit ihm Paris und die Umgegend 
durchſtreifte, und in ihrem Bräutigam einen fleißigen 
Arbeiter fab, der nur augenblicklich durch die Verhält- 
niſſe zur Untätigkeit gezwungen wurde — aber das 
alles paßte ganz vortrefflich in ihre Rechnung. 

Einmal mußte ja doch der Tag kommen, da es 
dieſem hübſchen deutſchen Gänschen wie Schuppen von 
den Augen fiel und fie erkannte, daß man mit ihvem 
Herzen und ihrem Glück ein frevelhaftes Spiel getrieben 
habe. Und wenn ſie dann nicht etwa aus Gram in 
die Seine ging, wie die kleinen tollköpfigen Pariſer 
Mädchen das mitunter taten, dann war ſie reif, um 
eine Zierde der Apachenkneipe zu werden, das „Kanin- 
chen“ zum Mittelpunkt der Ritter des Montmartre 
zu machen. 

War dies Weib eine Kanaille? 

Ach, ſie war nicht viel beſſer oder ſchlechter als 
Tauſende ihresgleichen, die allein in der Welt ſtehen 
und durch das Schickſal gezwungen werden, den bitteren 
Kampf um das Daſein mit nicht ganz ſauberen Waffen 
zu führen. Sie unterſchied ſich nur von den übrigen 
durch das häßliche Merkmal der Verwandtſchaft mit 
ihrem Opfer; aber es gibt ja ſogar Mütter; die ihr 
eigenes Fleiſch und Blut verkuppeln. Was wollte es 
da groß bedeuten, daß Käthes Mutter vor Jahren den 
Namen ihrer Schweſter getragen hatte! Sie war ja 
durch die Heirat mit dem Deutſchen aus der Familie 
geſchieden, ſie war tot, und das Gras auf ihrem Grabe 
wuchs aus fremder Erde empor. 


a Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 19 


Käthe empfand in dieſen Tagen die WVohltat der 
Poſtkartenerfindung. Sie hatte ſich längſt vorgenom- 
men, einen ausführlichen Brief an den Vater zu ſchrei— 
ben, und es fehlte ihr auch nicht die Zeit dazu. Aber 
jo oft fie die Feder anſetzen wollte, kam ihr die Er- 
kenntnis, daß ſie die Bogenſeiten doch mit irgend etwas 
ausfüllen müßte, mit einer Schilderung ihres Lebens 
und Treibens, ihrer Arbeit, ihrer Umgebung. 

Und fie erkannte, daß ihr das unmöglich ſei. 

Sie mußte alsdann die Augen öffnen, ſie mußte 
Rechenſchaft geben über ſich und andere, und wenn 
das alles ſchwarz auf weiß geſchrieben ſteht — ach, 
ſelbſt die Diplomaten halten lieber lange Reden, als 
daß ſie ein einziges Mal die Feder anſetzen. Denn es 
lügt ſich ſo leicht mit den Lippen, und die Wahrheit 
iſt ſo ſchwer zwiſchen den Zeilen zu verbergen. 

Eine Sache gab es, die Käthe zwar nicht gerade 
beunruhigte, die ihr aber doch ein gewiſſes Ropfzer- 
brechen verurſachte. Sie war nun mit ihrem Schatz 
in halb Paris herumgeweſen und hatte ihn mehr als 
einmal gebeten, ihr doch ſeine Wohnung zu zeigen. 
Er hatte immer wieder Ausflüchte. Bald war der Weg 
zu weit, bald hatte er Hunger und mußte mit ihr in 
irgend ein Reſtaurant, oder es gab ſonſt ein unüber- 
windliches Hindernis. 

In Wahrheit war es ihm unmöglich, den Wunſch 
des Mädchens zu erfüllen, denn er hauſte noch immer 
in jener verlaſſenen Baubude mitten im Apachengebiet, 
und ein einziger Blick in dieſes „Heim“ hätte die ganze 
Wahrheit unbarmherzig enthüllt. 

Für die dreihundert Franken, die Jean von Renard 
erhalten hatte, wäre allerdings eine anſtändige Woh- 
nung zu befchaffen geweſen, aber das köſtliche Bummel- 
leben der beiden jungen Leute verſchlang ohnehin genug, 


20 Die Apachen. 2 


und ſolange der Sommer währte, und ſolange die Polizei 
keine Razzia anſtellte, war das jetzige Freilogis gerade 


gut genug — die ſchönen Fünffrankenſtücke konnten 


beſſer angewendet werden. | 

Aber nun fam ein Sonntag. Das Pärchen wollte 
ihn vom Morgen bis zum Abend zuſammen verbringen, 
und Madame Vernot gab Käthe auf deren Bitten 
bereitwillig Urlaub. | 

„Wenn du nur heute abend wieder da biſt, Kind,“ 
ſagte ſie mit ihrem gütigſten Lächeln, „dann gönne ich 
dir gerne das kleine Vergnügen. Ich hab' ja doch 
ſchon längſt bemerkt, daß ſich was anſpinnt, und der 
junge Menſch ſcheint ja ſo weit ganz anſtändig zu ſein.“ 

Wie immer trafen ſie ſich an der Bank in den An- 
lagen, wo ſie den erſten Kuß getauſcht hatten. 

„Heute aber wird es,“ ſagte Käthe. „Wir gehen 
zuerſt nach deiner Wohnung, denn die will ich endlich 
einmal ſehen, dann können wir irgendwo frühſtücken, 
und der Nachmittag bleibt uns für einen Ausflug übrig. 
Es muß doch irgendwo eine billige Verbindung nach 
deinem Stadtviertel geben, denn du biſt täglich auf 
dem Montmartre, und ich merke dir niemals eine be- 
ſondere Ermüdung an.“ 

Jean Lecocq war die Zärtlichkeit in Perſon. „Natür- 
lich, mein Liebling, heute wird es Ernſt. Aber am 
Sonntag ſind die Fahrgelegenheiten alle überfüllt, und 
wir haben ſo viel Zeit vor uns, daß wir recht gut zu 
Fuß gehen können. Sieh nur dieſen köſtlichen Sonnen- 
ſchein, und dabei iſt es nicht im mindeſten ſchwül!“ 

Das war ſie wohl zufrieden. An der Seite dieſes 
ſchönen Mannes durch ganz Paris zu bummeln — denn 
ſeine Wohnung lag angeblich ſüdlich vom Quartier 
Latin — dünkte ſie ein köſtliches Vergnügen, beſonders 
weil er heute einen funkelneuen Anzug trug, der für 


o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 21 


ſechzig Franken aus dem „Bonmarché“ ſtammte. Käthe 
hatte ſich ja auch ſchön gemacht, und ſie ſah wirklich 
aus wie eines jener graziöſen Pariſer Mädchen, die 
mit einer Bluſe und einer Schleife Wunderdinge 
ſchaffen. 

So zogen ſie Arm in Arm von dannen. Jean war 
zuerſt etwas ſchweigſam, denn er grübelte darüber nach, 
wie er ſich aus der Klemme ziehen ſollte; aber als ſie 
ſo zwitſchernd wie ein Vögelchen auf ihn einplauderte, 
da hob er endlich den Kopf und verließ ſich auf den 
Zufall. , 

So kamen fie an en Louvre. Die Pforten des 
berühmten Runftinftituts ſtanden weit offen, denn es 
war heute Volkstag und freier Eintritt. 

„Du haſt noch nicht die Venus von Milo geſehen,“ 
ſagte Jean, „wollen wir die günſtige Gelegenheit be- 
nützen?“ 

„alt die wirklich fo ſehenswert?“ 

„Das Schönſte, was ich kenne — außer dir.“ 

Die kleine Schmeichelei mußte belohnt werden, und 
Käthe ging mit hinein. Sie hatte ja als Jenenſer Kind 
und durch ihren Vater Intereſſe für die Kunſt ge- 
wonnen, und es durchſchauerte ſie ganz ſeltſam, wie 
ſie den weltbekannten langen Säulengang entlang 
ſchritt, an deſſen Ende die Rotunde das hehre Bild 
der Göttin birgt. 

Es war ganz ſtill in der Nähe, denn das Volk drängt 
ſich nicht an dieſer Weiheſtätte, aber als ſie Arm in 
Arm vor der Statue ſtanden, da ſagte Käthe nach einer 
langen Pauſe: „Wie jammerſchade, daß die Arme fehlen! 
Man würde ſonſt wenigſtens wiſſen — — Aber komm,“ 
ſetzte ſie leiſe hinzu, „wir wollen gehen.“ 

Sie war ſehr rot geworden. 

Draußen ſchien die Sonne plötzlich heißer, es flim- 


22 Die Apachen. 0 


merte in der Luft. Das war wohl nur der Gegenſatz 
zwiſchen den kühlen Hallen des Louvre und den Häufer- 
maſſen, die ihre Glut aushauchten. l 

Aber Käthe ſagte plötzlich: „Wenn es noch weit 
bis zu deiner Wohnung iſt, dann werde ich müde. 
Überhaupt —“ 

Er griff das Wort auf wie einen Ball, und weil 
ſie gerade auf dem Pont des Arts ſtanden, wo ſich 
tief unten an der Kaimauer eine Anlegeſtelle für die 
kleinen Seinedampfer befindet, machte er den Vor— 
ſchlag, daß fie zunächſt einmal den Fluß hinunterfahren 
wollten, um die ärgſte Hitze draußen im Grünen ab- 
zuwarten. 

„Vielleicht bis Saint Cloud,“ ſagte er, „oder ſonſt 
irgendwo in die Nähe. Da find ja tauſend Gelegen- 
heiten zur Rückkehr, beſonders an einem Tage wie 
heute.“ 

Es war wirklich nur das Beſtreben, die fatale 
Wohnungefrage möglichſt hinauszuſchieben, und Käthe 
ging ganz arglos darauf ein. Mit ein wenig Spürſinn 
hätte ſie wohl merken können, daß er eines der größeren 
Schiffe wählte, die nicht nur die unmittelbare Um- 
gebung von Paris abſtreifen, ſondern weiter hinaus- 
fahren, ſeltener anlegen und nicht alle halbe Stunde 
die Rückkehr ermöglichen. 

Aber ſie dachte an nichts, als was der Augenblick 
brachte. | 

Die Nummer des Schiffes war 13, denn dieſe 
ſchmucken und flinken Dinger führen keinen beſonderen 
Namen; es find ihrer fo viele, daß fie nur durch die 
Zahl unterſchieden werden. Käthe meinte lachend, es 
fei eigentlich eine Unglücksnummer. 

Aber er entgegnete ebenſo ſcherzend, auf dieſem 
ſchönen Fluß fei noch kein Menſch verunglückt, er müßte 


2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 23 


denn geradezu hineinſpringen, und dazu wären ſie 
beide doch noch viel zu jung. 

Sie waren faſt alle jung, die auf dieſem Schiffe 
lachten und koſten und die kleinen Chanſons ſangen 
von dem Vögelchen, das fein Neft baut, und von dem 
Habicht und der Taube. 

Weil es auf dem Verdeck ſehr voll war, gingen die 
beiden hinunter in die Kajüte und ließen ſich eine 
Literflaſche von dem gelblichen Landwein geben, der 
jo angenehm auf der Zunge prickelt und ganz unver- 
merkt in das Blut geht. 

Als ſie aber endlich den letzten Tropfen aus dem 
gemeinſamen Glaſe getrunken hatten und die Treppe 
hinaufkletterten, da lag Paris weit hinter ihnen, und 
die beiden Ufer der Seine waren mit einſamen grünen 
Büſchen bewachſen. 

„Das fährt wohl bis ans Ende der Welt?“ ſagte 
Käthe etwas verdutzt. 

Jean zuckte die Schultern. „Wir haben uns wohl 
wirklich da unten ein bißchen feſtgekneipt. Aber an 
der nächſten Halteſtelle ſteigen wir aus — es iſt ja 
alles ganz einerlei an einem Tage wie heute.“ 

Ein ganz kleines Neſt war es, wo ſie ans Land 
kamen. Einen Namen trug es ja wohl, aber den wußten 
ſie nicht und achteten auch nicht darauf. Sie ſahen nur 
ein kleines Wirtshaus und ein paar verſtreute Hütten 
— dahinter aber den tiefen, grünen, dämmerigen 
Wald. 

Das Schiff fuhr mit ganz wenigen Paſſagieren 
noch weiter; es mußte alſo auch zurückkommen, und 
vielleicht kamen noch ihrer mehr. 

Weil aber die Sonne ſchon ſchräg ſtand, gingen ſie 
zunächſt in den Wald, denn wenn die Pariſer aus ihren 
Steinmauern herauskommen, dann ſuchen ſie immer 


24 Die Apachen. E 


zuerſt die Bäume auf und laufen den Libellen nach 
— alles andere dünkt ſie dagegen eine Narrheit. 

Dieſen Wald hatte ſicherlich heute noch kein Menſch 

betreten. Die Wege waren ganz mit Gras überwuchert, 

und das Wild zeigte ſich ſo zutraulich, als ob noch 
niemals eines Jägers Büchſe das Echo geweckt hätte. 
Selbſt die Vögel ſangen in einer abſonderlichen Weiſe 
— ganz leiſe und ſüß, um das ſchlafende Geheimnis 
nicht zu wecken. | 

Und es gab kein Ende in diefem Walde, Eine-ganze 
Stunde waren fie ſchon gewandert, ohne auch nur auf 
die Hütte eines Forſtwarts zu ſtoßen. Als fie aber 
endlich ein Stückchen Himmel vor ſich ſahen, da war 
das roſig gefärbt und die Sonne wollte ſich zu Bett 
legen. 

Da meinte Käthe, es ſei nun wohl an der Zeit, 
umzukehren, denn man könnte doch nicht ſo genau 
wiſſen, ob noch viele Schiffe den Strom hinaufgingen, 
und eine andere Beförderungsgelegenheit ſei ſicherlich 
nicht mehr vorhanden. 

„Es müßten denn unſere eigenen Füße ſein,“ ent- 
gegnete er ſorglos und betrachtete prüfend die feinen 
Schuhchen, die Käthe trug. „Für eine Deutfche find 
ſie viel zu klein,“ ſetzte er hinzu. 

Nun begann fie ein wenig zu zanten und belehrte 
ihn, daß die Thüringer Mädels es mit der ganzen Welt 
aufnehmen könnten, denn die feien nicht von der ſchwer⸗ 
fälligen norddeutſchen Raſſe. „Und wenn wir in Zena 
mit den Studenten tanzen, dann färbt das auch ein 
bißchen ab. Haft du es nicht gemerkt, als du mich auf 
dem Montmartre zum erſten Male im Arm hatteſt 
oder ſpäter auf der Bank im Mondlicht?“ | 

Als er fie darauf haſchen wollte, lief fie vor ihm 
davon. Es war nicht ſo ſehr ernſt gemeint, denn er 


D Ein Parifer Roman von Fritz Levon. 25 
ſollte ſie natürlich einholen, und er war auch ſchnell 
genug bei der Hand. Aber als ſie ſeinen Atem hinter 
fih ſpürte und im Umblicken feine leuchtenden Augen 
ſah, die in der Dämmerung etwas NRaubtierartiges 
hatten, da ſtrengte ſie ſich wirklich an und hätte faſt 
um Hilfe gerufen. 

Da hatte er ſie. Er legte ganz feſt beide Arme 
um ihre Schultern und küßte ſie auf den Mund — es 
war faſt wie bei jenen Apachentänzen auf der Bühne, 
die ſie nun ſchon mehrfach geſehen hatte, ohne doch 
ihren Namen zu kennen, und ſie verlor faſt den Atem. 

„Ich bitte dich, Jean — es iſt hier ſo einſam!“ 

Nun gingen ſie wieder ganz ehrbar, Arm in Arm 
wie ein ſolides Brautpaar. Sie achteten auf den Weg. 
Die Richtung des Fluſſes war ihnen nach der Himmels- 
gegend und dem Abendrot bekannt, und Jean Lecocq 
dachte an gar nichts weiter, als daß ſie nun gerade 
das letzte Schiff erreichen würden, und dann ſei es 
natürlich zu ſpät, um in Paris eine Wohnung zu be- 
ſichtigen, die es gar nicht gab. 

Er dachte wirklich an nichts weiter, denn wenn er 
auch unter Leuten lebte, denen ſelbſt ein Menjchen- 
leben unter Umſtänden nicht viel gilt, ſo wollte er doch 
ein geſchenktes Vertrauen nicht mißbrauchen. 

Endlich blickte ihnen das Waſſer der Seine entgegen. 
Sie kamen gerade an der Stelle wieder heraus, wo 
das kleine Wirtshaus lag, hinter deſſen Fenſtern be- 
reits die Lichter brannten, und als ſie haſtig, wie von 
einer unbeſtimmten Ahnung erfüllt, nach dem An- 
legeplatz hinuntergingen, da war der Fluß ſtille und 
einſam. 

Es ſtand eine Tafel an der Treppe, die ſie beim 
Ausſteigen überſehen hatten. Jean zündete ein Streich- 
holz an, um nach der Uhr zu ſehen und den Fahrplan 


26 Die Apachen. a 


zu betrachten, während Käthe ganz ftare flußabwärts 
blickte, denn wenn noch ein Schiff kam, dann mußten 
ſeine Lichter jetzt auftauchen. 

Plötzlich ließ ihr Begleiter das glimmende Hölzchen 
fallen und ſetzte hart den Fuß darauf. „Zehn Minuten 
zu ſpät. Das letzte Schiff iſt vorüber.“ 

Käthe ſchrie leiſe auf. „Aber Jean, was beginnen 
wir jetzt?“ 

„Ich denke, wir nehmen am beiten zunächſt unfer 
Abendbrot zu uns. Du mußt doch auch Hunger haben, 
Schatz.“ 

„ga, zum Umfallen. Aber was dann?“ 

Er betrachtete den Horizont, an dem nach dieſem 
heißen Tage dunkle Wolken aufſtiegen, und hob die 
Schultern. „Ja, was iſt da zu machen? Zu Fuß er- 
reichen wir Paris nicht mehr, und außerdem wird es 
ein Gewitter geben. Wir werden wohl die Nacht hier 
bleiben müſſen. Es iſt wenigſtens ein Glück, daß das 
Wirtshaus einen anſtändigen Eindruck macht.“ 


* * 
* 


Der Vormittag war ſchon ziemlich weit vorgeſchritten, 
als Käthe Tonndorf zum Montmartre emporſtieg. Das 
Gewitter der letzten Nacht hatte die Luft gereinigt; 
ſie war ſo klar, daß man jeden einzelnen Träger des 
Eiffelturms zählen konnte, obwohl der gigantiſche Bau 
ſich nur wie ein Spinngewebe gegen den Himmel 
abhob. 

Neben dem Eingang zum Montmartrefriedhof blieb 
das Mädchen ſtehen und fab nach dem Babelbau hin- 
über. Sie war Iden einmal mit Jean da oben ge- 
weſen, um die Ausſicht zu genießen, und ſie hatte 
damals mit leiſem Grauen das Schwanken des Un- 
geheuers geſpuͤrt, obwohl der Führer ihr vorrechnete, 


D Ein Parifer Roman von Fritz Levon. 27 


wie viele Meter tief die Grundanker des Turmes in 
der Erde verſenkt ſeien. 

Ob einer da ſchon mal heruntergeſtürzt ſei, hatte 
ſie gefragt. 

„Nicht geſtürzt, Fräulein, aber wohl geſprungen — 
o ja, mehr als einer und eine.“ 

Daran dachte Käthe ganz flüchtig, und dann fiel 
ihr etwas anderes ein — ſcheinbar ganz zufammen- 
hanglos, aber es kam wohl daher, weil ſie neben dem 
Friedhof ſtand: 

„Die Vögel ziehn, die Blätter rauſchen nieder, 
Die Liebe ſtirbt im Winter wie das Grün —“ 

Es paßte jo ſchlecht wie möglich auf die Umgebung, 
denn Paris lag in einem leuchtenden Sommerglanz, 
es dachte kein Menſch an niederfallende Blätter und 
den Geſang des Vögelchens an der Gruft. 

Aber die Menſchen ſind bisweilen ſo ſonderbar. 
Weil ihnen ein gütiges Geſchick die Kaſſandragabe ver- 
jagt hat, taften fie ſich in eine unbekannte Zukunft hinein, 
und was unter ihre Finger kommt, das ſind Rätſel. 

Käthe ging weiter. Sie ſah heute vielleicht beſonders 
hübſch aus, denn die Leute ſchauten ihr nach. 

gebt war fie vor dem „Kaninchen“. 

Sonſt pflegte Käthe immer die Kleider aufzuraffen, 
wenn ſie das Haus durch den dunklen und ſchmutzigen 
Eingang betrat, aber heute trug fie eine gewiſſe Gleich- 
gültigkeit zur Schau. Oder fie dachte wirklich an andere 
Dinge, denn als ihr in der Gaſtſtube, durch die ſie ihre 
Kammer erreichen mußte, die fette Stimme der Ma- 
dame Vernot entgegenklang, fuhr fie ein wenig zu- 
ſammen und ſah ſich verwirrt um. 

„Kommſt du endlich?“ fragte die würdige Dame. 
„Ich wollte dich ſchon durch die Polizei ſuchen laſſen, 
denn ſo was iſt in Paris keine Kleinigkeit.“ 


23 Die Apachen. oa 


Es war immer noch ein bißchen Verſteckſpiel zwiſchen 
Tante und Nichte über den Charakter der Kneipe, aber 
die Sache war allmählich doch fadenſcheinig geworden, 
und die Bezugnahme auf die Polizei wirkte geradezu 
komiſch. 

Darum zuckte Käthe mit den Lippen, als wenn ſie 
lachen wollte. „Reg dich doch nicht auf. Die Polizei 
wirſt du wohl nicht beläſtigen, denn du biſt froh, wenn 
ſie dich in Ruhe läßt. Und der Weg nach der Morgue 
ijt fo weit —“ 

Die Alte lenkte ein. „Wie du nur gleich biſt, Käthe! 
Als Tante werde ich doch wohl noch fragen dürfen, 
wo du geweſen biſt?“ 

„Veit draußen, in einem kleinen Neft an der Seine. 
Mir hatten uns bei einem Ausflug verſpätet, Jean und 
ich. Wir erreichten das letzte Schiff nicht mehr. Das 
iſt alles.“ | 

„Na ja, das konnteſt du ja gleich fagen. Willſt du 
eine Taſſe Kaffee?“ 

Das Mädchen hatte ſich vor den Spiegel geſtellt 
und den Hut abgenommen. Es fehlten ihr wohl ein 
paar Haarnadeln, denn die loſe zuſammengeſteckte 
Friſur wollte nicht recht halten. Plötzlich glitt die 
ganze Herrlichkeit herunter auf die Schultern und zu- 
letzt bis zu den Hüften. 

Wie wenn ein Rabe ſein Gefieder ausbreitet. 

„Das kommt davon,“ ſagte die Alte, „wenn man 
liederlich Toilette macht.“ 

Da fuhr Käthe herum und fab mit zornfunkelnden 
Augen von einer Wand zur anderen. „Soll ich dir 
fagen, was liederlich ift? Willſt du es wiſſen? Jeder 
Tiſch und jeder Stuhl in dieſem Loch, jede Schnaps- 
flaſche auf dem Büfett, alles, was man mit den Händen 
greifen kann — alles! Mein Vater wollte mich in ein 


o Ein Parifer Roman von Fritz Levon. 29 


anftändiges Haus ſchicken, und ich ſelbſt dachte zu der 
Schweſter meiner Mutter zu kommen — na ja, das 
letztere ſtimmt ja auch, aber ſonſt ſtimmt nichts!“ Sie 
holte tief Atem und fuhr dann ruhiger fort: „Du brauchſt 
keine Angſt zu haben, daß ich fortlaufe. Ich bin nun 
einmal hier und muß bleiben, denn auf der Gaſſe ſoll 
man mich nicht finden. Aber lange dauert das nicht 
mehr. Gott fei Dank, mein Bräutigam ift ein ehrlicher 
Mann, und wenn der Streik vorüber iſt, dann hat er 
Brot für uns beide. Er wird mich heiraten, und er 
fährt ſchon morgen nach Deutſchland, um mit meinem 
Vater die Sache in Ordnung zu bringen, denn ich bin 
keine von denen, die man ſo um Gottes willen auf- 
ſammelt. Es ſoll alles ſeine Art haben. Und nun 
kannſt du mir meinetwegen Kaffee geben, denn den 
verdiene ich noch damit, daß ich deinen Apachen des 

Abends die Gläſer kredenze.“ | 

Da war das ſchlimme Wort heraus, zum erften 
Male mit unzweideutiger Klarheit. 

Die Alte duckte ſich zuſammen. Aber ſie hatte trotz ihrer 
ſchwammigen Geſtalt eine elaſtiſche Natur, und fie rich- 
tete ſich wieder auf wie der Baum nach dem Ungewitter. 

Eigentlich war ja alles in beſter Ordnung. 

Und in dem Gedanken an die wackelige Bude da 
draußen im Baugelände, von der ihr Jules Renard 
erzählt hatte, kitzelte fie die Frage, ob Jean Lecocq 
denn auch ſchon für eine nette Familienwohnung ge- 
ſorgt hätte. Aber ſie ſchluckte den niedlichen Scherz 
hinunter, denn einesteils war ſie eine vorſichtige Frau, 
und anderſeits — 

Nun ja, dieſes leichtgläubige dumme Ding war zwar 
nur eine Deutſche, aber fie blieb doch immerhin fogu- 
ſagen die Tochter ihrer verſtorbenen Schweſter. 

* * 


30 Die Apachen. | o 


Der alte Linde hatte es wirklich durchgeſetzt, daß 
ſeine Penſionierung ſchon zum 1. Auguſt heraus- 
kam, denn die im Beamtendaſein fo berüchtigten Fünf- 
undſechzig konnte er aufweiſen, und es waren genug 
Bewerber vorhanden, die aufrücken wollten. 

Seitdem er in Jena geweſen war und akademiſche 
Luft geatmet hatte, ekelte ihn der Bureaudienſt förm- 
lich an, und als er das koſtbare Papier in Händen hielt, 
das ihm jährlich zweitauſendvierhundert Mark Ruhe- 
gehalt zuſicherte, fuhr er ſtracks nach Jena zurück und 
ſetzte ſich bei Fritz Tonndorf feſt in der Bude ſeines 
Sohnes wie ein richtiger Bruder Studio. Und er 
begann nun auch das Leben eines ſolchen zu führen, 
das heißt er tat nichts mehr und intereſſierte fidh leb- 
haft für Früh- und Dämmerſchoppen. 

Niemals, ſolange er zurückdenken konnte, waren ſeine 
Sorgen ſo gering geweſen, denn das vorausſichtlich 
recht langwierige Studium des Sohnes hatte ihm doch 
bisweilen arg in den Knochen gelegen, und nun war 
der Bengel mit einem Sprung ein ſelbſtändiger Mann 
geworden, der faſt ſo viel verdiente, wie ein Amts- 
richter als Anfangsgehalt bekam. 

„Es ift doch was mit dem Aufſchwung in Oeutſch- 
land,“ ſagte er wohl zu ſeinem neugewonnenen Freunde 
Tonndorf. „Überall Leben und Fortſchritt, überall 
Gelegenheit zum Gelderwerb — nur wir kleinſtaat- 
lichen Beamten haben ſozuſagen nichts. Aber das haben 
wir wenigſtens ſicher.“ 

And mit dieſem etwas verſchimmelten Witz verband 
ſich doch ein heimliches Behagen. Es war wirklich 
etwas Sicheres, monatlich zweihundert Mark aus einer 
Kaſſe ſchöpfen zu können, die niemals verſagte, die 
niemals Bankrott machen konnte! 

Oder das Weltall hätte zuſammenſtürzen müſſen. 


el Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 31 


Ruprecht Linde fing an zu ſchmökern. Er hatte 
ſich niemals um die Literatur kümmern können, denn 
wenn die acht Bureauſtunden heruntergeſchunden waren, 
dann kamen die Schoppen und die Zeitung und das 
Bett. Aber ſeitdem Egbert die ſchönen Wiſſenſchaften 
vertrat — er drückte ſich wenigſtens ſo in ſeinen Briefen 
aus — ſeitdem empfand der Alte die Pflicht, das Ber- 
ſäumte nachzuholen, und Fritz Tonndorf hatte das ganze 
Gewölbe voll alter Scharteken. 

Aber allmählich kam der Juriſt und der Aktenmenſch 
wieder zum Vorſchein. Der Antiquar hatte mit ſeiner 
feinen Spürnaſe aus verſtaubten Winkeln eine ganze 
Maffe Zeug zuſammengehamſtert: Hexenprozeſſe, gegen 
deren langatmige Protokolle das rotgeſchriebene „fac- 
tum“ unter dem Schöppenſtuhlurteil mit ſchauerlicher 
Kürze abſtach — Verhandlungen des Reichskammer- 
gerichts, die durch hundert Jahre verſchleppt und end- 
lich verſandet waren — Strafakten der Juſtizkollegien, 
die längſt hätten eingeſtampft ſein ſollen und in irgend 
einem Archiv geſchlummert hatten, bis man ſie als 
Makulatur verkaufte. 

Unter dieſen war beſonders ein Juwel: die Unter- 
ſuchung gegen einen berüchtigten Raub- und Mord- 
geſellen, der in den Fahren 1770 und 1771 die Um- 
gegend von Magdeburg unſicher gemacht hatte und 
einige Jahre ſpäter ſeine Schandtaten unter dem 
Rade — von unten herauf — büßen mußte. 

Dieſe Schätze ſchleppte Ruprecht Linde aus dem 
Gewölbe vier Treppen hinauf in ſeine Bude. Sie 
waren nicht zum Verkauf beſtimmt, ſondern nur zum 
Liebhaberbeſitz, und man konnte an den drei dicken 
Bänden wochenlang leſen, obwohl hinten ſehr viel leeres 
Papier war und vorne noch viel mehr leerer Formel- 
kram. Wie hatten diefe alten Juſtizbeamten prachtvoll 


32 Die Apachen. o 


mit ihren Gänſekielen geſchrieben, und wie ſchien das 
Papier für die Ewigkeit geſchaffen! 

Der Aſſeſſor — denn er war wirklich mit dieſem 
Titel penſioniert worden — ſtreichelte es mitunter voll 
Zärtlichkeit und gewann dadurch Fritz Tonndorfs ganzes 
Herz. Denn die beiden alten Knaben hatten ja nichts 
weiter zu liebkoſen, und das war ein Punkt, der zu- 
zeiten leiſe und vorſichtig zwiſchen ihnen erörtert wurde. 

Die Kinder! 

Daß die einander gerne gehabt hatten, wußten ſie 
beide, oder ſie ahnten es wenigſtens, und wenn ſie 
des Abends in der „Roſe“ oder in der „Guten Quelle“ 
beiſammen ſaßen, dann hob wohl Ruprecht Linde 
grüßend und mit ſeinen Augen zwinkernd das Glas. 

Aber Fritz Tonndorf wollte nichts davon wiſſen. 

„Es kommt vor,“ ſagte er. „Bei uns in Zena fliegen 
die Herzen leicht zuſammen, und wenn's keine Ramerad- 
ſchaft iſt, ſo wird Liebe daraus. Die Treue iſt auch 
im Saaltal nicht ſeltener und nicht häufiger als ander- 
wärts, und ſie kann ihre Brücke bis Berlin ausſpinnen. 
Aber in Paris weht eine andere Luft.“ 

„Sind auch Menſchen wie wir,“ meinte der Aſſeſſor. 

„Die Menſchen machen es nicht, lieber Freund. 
Es iſt das Große und Gewaltige und Betäubende einer 
Weltſtadt, was die Gedanken nicht zur Ruhe kommen 
läßt und die Erinnerung verwiſcht. Ich ſelbſt war nahe 
daran, Oeutſchland zu vergeſſen, und ich hatte doch 
keinen Tropfen romaniſchen Bluts in den Adern. Meine 
Käthe aber iſt durch ihre Mutter eine halbe Franzöſin, 
oder mehr als halb, denn die Kinder haben immer 
das meiſte von der Mutter. Wenn ich ſie nicht hätte 
ziehen laffen, fo wäre fie mir ſchließlich durch die Lappen 
gegangen — ich glaube nicht, daß ſie jemals wieder 
zurückkommt.“ 


O Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 33 


„Was ſchreibt ſie denn?“ 

„Wenig oder gar nichts. Lieber Himmel, ſie hat 
wohl viel um die Ohren, und ein alter Kerl wie ich 
darf keine großen Anſprüche machen. Aber das Papier 
iſt in Paris nicht teurer als bei uns, mit den Anfichts- 
karten vom Louvre iſt mir auf die Dauer nicht gedient.“ 

Die Unterhaltung fand am Fuße des Fuchsturms 
ſtatt, den die beiden häufig beſuchten, und Fritz Tonn- 
dorf deutete auf das alte Gemäuer, aus deſſen Riſſen 
das Gras wucherte. 

„Neulich ſchickte ſie mir zur Abwechſlung eine vom 
Eiffelturm, und ſie ſchrieb dabei, das wäre doch was 
anderes als unſer Gerümpel. Sie iſt am Fuße des 
Hausberg geboren und mit Saalwaſſer getauft, aber 
das klingt nicht nach Heimweh oder auch nur nach 
Heimatliebe, denn das Weh will ich ihr gerne er- 
ſparen.“ 

Er hatte die Karte hervorgeholt und dem Aſſeſſor 
gezeigt. Der betrachtete mit Intereſſe die wenigen 
geſchriebenen Zeilen, die ganz gegen alle Mädchenart 
nicht einmal den Raum ausnutzten und überhaupt einen 
ſeltſam flüchtigen Eindruck machten. 

„Da könnte manches dazwiſchen ſtehen,“ ſagte er 
nachdenklich. „Übrigens ein pompöſes Bauwerk, dieſer 
Eiffelturm; ich möchte das wohl mit eigenen Augen 
ſehen.“ 

„Ich auch, Herr Aſſeſſor. Als ich Paris verließ, 
dachte man gerade daran, ihn zu errichten. Aber er 
ſtand noch nicht, es war erſt der Platz beſtimmt — 
auf dem Marsfelde und in nächſter Nähe der Zena- 
brücke. Alſo geht er uns auch was an, es gibt immer 
wieder Beziehungen in der Welt.“ 

„Reiſen Sie doch hin!“ riet Linde, der ſich immer 
noch mit der Poſtkarte beſchäftigte, denn er Da in 

1913. IX. 


34 Die Apachen. 2 


Eiſenach als Schreibſachverſtändiger fungiert und ver- 
ſtand ein bißchen von der Graphologie. 

„Ich habe ſchon ſelbſt daran gedacht,“ ſagte Tonn- 
dorf. „Mein Gewölbe kann ich ganz gut ein paar 
Wochen ſchließen, oder Sie ſetzen ſich als Vertreter 
hinein. Es war überhaupt ein Leichtſinn von mir, das 
Mädel fo in die Welt hinauszuſchicken. Fünfund- 
zwanzig Jahre können vieles ändern, vielleicht haben fie 
meiner Schwägerin auch ein anderes Geſicht gemacht.“ 

„Dann würde ich nicht lange zögern. Dieſe Schrift 
gefällt mir nicht, Herr Tonndorf. Es iſt keine Klarheit 
darin, ſondern jeder Buchſtabe ſieht wie ein Geheimnis 
aus.“ 

Sie brachen die Unterhaltung ab und ſtiegen tal- 
wärts. Es war ein ſchöner ſtiller Abend, aber hinter 
den jenſeitigen Höhen lagerten verdächtige Wolken. 

Später löſten ſie ſich in ein Gewitter auf, obwohl 
die Luft nicht ſchwül geweſen war. Und als Ruprecht 
Linde in ſeiner Studentenbude hinter den Magdeburger 
Räuberakten ſaß und nebenbei darüber nachdachte, wie 
doch ſo viele Dinge ganz unerwartet kommen, trat Fritz 
Tonndorf ein und hatte einen Brief in der Hand. 

„Endlich!“ ſagte er. „Der erſte und vier Seiten 
lang. Können Sie raten, was er bringt?“ 

„Eine Liebesgeſchichte?“ 

„Wie kommen Sie darauf?“ 

„Es ſtand Iden in der Handſchrift auf der Eiffel- 
poſtkarte. Unruhig flatternde Herzen treiben ihren 
Pulsſchlag bis in die Fingerſpitzen.“ 

„Unruhig flatternde Herzen!“ wiederholte der Alte 
nachdenklich. „Eigentlich iſt in dem Briefe davon nichts 
zu merken — im Gegenteil, die Käthe ſchreibt ſehr 
kühl und verſtändig. Aber mit der Liebesgeſchichte hat 
es ſeine Richtigkeit. Sie iſt verlobt, und zwar, wie es 


2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 35 


den Anſchein hat, mit einem ſoliden und anſtändigen 
Menſchen. — Nun hören Sie doch bloß den Donner- 
ſchlag! Das muß der Richtung nach im Paradies nieder- 
gegangen ſein.“ 

„Ja,“ fagte Ruprecht Linde, „warum gibt man der 
Gegend auch ſo 'nen überirdiſchen Namen? — Alſo 
ein ſolider, anſtändiger Menſch! Ein Oeutſcher?“ 

„Nein, natürlich Vollblutfranzoſe — Jean Lecocq 
heißt er. Er iſt Werkführer in einer chemiſchen Fabrik, 
alſo ſchon was Beſſeres. Aber darauf lege ich nicht das 
Hauptgewicht —“ 

„Sondern —“ 

„Er kommt in dieſen Tagen hierher. Er will meine 
Bekanntſchaft machen und förmlich um das Mädchen 
anhalten. So was paſſiert nicht alle Tage.“ 

„Nein,“ ſagte Linde, „einem Franzoſen hätte ich 
das gar nicht zugetraut. Sie wollen ihn aufnehmen?“ 

„Das iſt ganz ſelbſtverſtändlich. Die Liebe geht 
immer ihren eigenen Weg, Vater und Mutter können 
höchſtens Steine und Diſteln aus dem Wege räumen.“ 
Er ſah ſich um und lächelte. „Wenn das Mädel hier 
wäre, dann möchte es ſchwer halten, hier Platz zu 
ſchaffen. Nun kann er in ihrem Stübchen ſchlafen; 
es ſind noch ein paar Erinnerungen darin, die ihn wohl 
nicht ſtören werden, und in Paris lernt man es, ſich 
mit dem Raum zu beſchränken. Ich hatte ſeinerzeit 
ein Bett, einen Tiſch und zwei Stühle. Ich möchte 
wohl wiſſen, ob mein zukünftiger Schwiegerſohn es 
beſſer gewohnt iſt.“ 

Er ging, drehte ſich aber noch einmal an der Tür um. 

„Ich glaube, lieber Linde, wir beiden alten Knaben 
ſind in den paar Wochen Freunde geworden. Das 
kann ſo bleiben, wenn auch das andere ins Waſſer 
gefallen iſt. Schreiben Sie an Ihren Jungen, daß er 


36 Die Apachen. el 


ſich unter den Berliner Mädels umſehen foll. Die 
Zenenſer find zu flatterig, fie können nicht auf einen 
Literaten warten. WVerkführer in einer chemiſchen 
Fabrik — ei, das läßt ſich hören, es iſt doch etwas 
Solides daran. Ich wollte nur, die Käthe hätte ein 
bißchen Genaueres darüber geſchrieben.“ 

Als das Gewitter ſich gelegt hatte, ſchrieb Ruprecht 
Linde an ſeinen Sohn. Es war ein Brief, der bisweilen 
durch Geräuſch von der Gaſſe unterbrochen wurde, 
denn die Studenten kamen jetzt wie die Schnaken aus 
ihren Löchern heraus und entſchädigten fih durch aller- 
hand Unfug dafür, daß der Himmel in ihre Alleinherr- 
ſchaft hineingeredet hatte. Aber im großen und ganzen 
wurde es ein ſehr verſtändiger Philiſterbrief, der ſich 
mit den ernſten Aufgaben des Lebens befaßte und 
ganz am Schluſſe ſo beiläufig erwähnte, daß Käthe 
Tonndorf ſich in Paris mit einem ſoliden Manne ver- 
lobt habe. x x 

S | 

Egbert Linde war Kriminalſtudent geworden und 
hatte ſich in Moabit heimiſch gemacht. 

Nachdem er einige Wochen lang Berlin von innen 
und außen kennen gelernt und jede Straßenbegeben- 
heit unter eine fette Spitzmarke gebracht hatte, zitierte 
Hans Lux ihn eines Tages in fein Redaktionszimmer 
und ſagte: „Es wird Zeit, daß Sie ſich verändern, Herr 
Kollege. Ich habe einen Weinreiſenden aufgefiſcht, 
der ſeinen Beruf wegen Zipperlein aufgeben muß und 
zum Laufen verurteilt ift — er wird Ihren bisherigen 
Poſten würdig und mit Phantaſie vertreten. Wir ſind 
alle der Veränderung unterworfen, ich ſelbſt gehe zur 
Abwechſlung unter den Strich und bearbeite das Theater 
nebſt einiger Kunſt und Literatur. Sie find mir nun 
einmal zugeteilt und ſollen mich darin unterſtützen.“ 


o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 37 


Als Egbert ein begeiſtertes Geſicht machte, kam die 
Duſche. 

„Es gibt nämlich heute zweierlei Theater,“ fuhr 
Lux fort. „Die einen waren ehemals Kunſtſtätten und 
wandeln ſich allmählich in Kientöppe um — die anderen 
waren Tempel der Gerechtigkeit und ſind Schaubuden 
geworden, in denen Senſationsſtücke ſpielen. Wer 
heute einen guten, Gerichtſaal“ liefert mit Stimmungs- 
bildern und Knalleffekten, der iſt in der Preſſe ein 
gemachter Mann. Zeh ſtelle Ihnen zweihundert Mark 
monatlich in Ausſicht, und Sie können damit das, Blaue“ 
in der Spandauer Straße beziehen. Wie weit ſind Sie 
mit dem Stenographieren?“ i 

„Fräulein Specht ift eine vorzügliche Lehrerin.“ 

„Ja,“ entgegnete Lux nachdenklich, „ich bin auch 
bei dieſem Mädchen in die Schule gegangen. Ich 
habe von ihr gelernt, wie man des Lebens Unverſtand 
ohne Wehmut genießt und ohne mit den Füßen zu 
ſtrampeln — es ift eine große Kunſt. Jetzt werde ich 
bei Frau Eugenie in die Schule gehen.“ 

„Wegen der Bühne?“ 

„Nein, dafür genügt mir die Belehrung, die Hamlet 
ſeinen Schauſpielern erteilt. Aber ich werde mir die 
Karten legen laſſen. Neulich hat mein Leibarzt mir 
etwas von der Zukunft orakelt, und für ein Extra- 
honorar macht Frau Eugenie das wieder wett.“ 

Er hüſtelte in ſein Taſchentuch. 

Egbert fand einen glücklichen Übergang. „Fräulein 
Specht wird ſich freuen, wenn Sie wieder einmal 
kommen. Sie beklagt ſich, daß es in der letzten Zeit 
nicht mehr der Fall geweſen iſt.“ 

„Während der letzten Zeit war ich in Soden,“ ſagte 
Lux bedeutſam. „Gehen Sie nie nach Soden, Herr 
Kollege, wenn Sie es vermeiden wollen, daß junge 


38 Die Apachen. kl 


Mädchen ſich über Sie beklagen. Oder hat es eine 
ſchon ſowieſo getan?“ 

Dieſer Mann war ja wohl ein Augur, der den Flug 
der Raben kannte und das Raufchen ihrer Flügel hörte. 
Egbert Linde ſtützte den Kopf auf, nahm eine tragiſche 
Miene an und begann von feiner Liebſten aus Jena 
zu erzählen. 

„Verlobt ſind wir ja nicht gerade,“ ſagte er, „aber 
die Treue haben wir uns doch verſprochen. Als ich 
in Berlin eine Stellung gefunden hatte, ſchrieb ich es 
ihr nach Paris. Seitdem iſt keine Antwort eingetroffen, 
aber der Brief iſt auch nicht zurückgekommen. Wenn 
jemand ſich beklagen kann, dann bin ich es.“ 

„Haben Sie nochmals geſchrieben, Kollege?“ 

„Fällt mir gar nicht ein!“ 

„Siebenzig mal ſieben,“ ſagte Lux. „Wiſſen Sie, 
wo das ſteht?“ 

„Irgendwo in der Bergpredigt, glaub' ich. Warum?“ 

„Das handelt vom Vergeben zwiſchen Feinden. Ich 
habe in der Liebe wenig Erfahrung, aber mich dünkt, 
da müßte taufend mal tauſend ſtehen. O Jena, du 
Schmetterlingsneſt!“ 

Egbert ſtutzte und dachte nach. „Alfo eine Stu- 
dentenliebe, wollen Sie ſagen. Warum ſollte die nicht 
haltbar ſein?“ 

„Weil fie nicht durch Arbeit geht,“ ſagte Lux ernit. 
„Ich war ja auch dort, fie haben mich fo gut wie 
jeden anderen an das Geleitshaus hinausgeſungen, 
und irgendwo mag auch ein Fenſter geklungen haben. 
Aber wenn wir an dieſe Zeit zurückdenken: es waren 
Tage der Roſen und des Tändelns, und die Treue lag 
in dem Kelche einer Mohnblüte. Es gibt nichts, was 
ſchneller zerflattert als der Mohn, es gibt nichts, was 
leichter vergeſſen macht, als ſein Saft. — Gehen Sie 


a Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 39 


nach Moabit und ſchreiben Sie Kriminalberichte, das 
iſt ein gutes Elixir gegen Träumen und Schmachten 
— da lernt man die Kehrſeite des Lebens kennen.“ — 

Seitdem weilte Egbert als täglicher Gaſt in den 
dumpfen Sitzungſälen der Zuftiz. Es war keine holde 
Tätigkeit, denn rechts und links von ihm ſaßen die 
waſchechten Kriminalſtudenten, und was da vorn hinter 
dem grünen Tiſch verhandelt wurde, das war eine 
ſchlechte Koſt für geſunde Geſchmacksnerven. 

Aber Egbert wurde ſehr bald inne, daß das große 
Publikum ſeine Nerven abgeſtumpft hat und Paprika 
begehrt, wo man früher mit einer Priſe attiſchen Salzes 
fürlieb nahm; er lernte, wie man einen pikanten Stil 
ſchreibt, das Senſationelle mit fetten Worten unter- 
ſtreicht, Nebenſächlichkeiten aufbauſcht, wenn ſie nur 
der Mode des Tages kitzeln, und über juriſtiſche Schwie- 
rigkeiten tändelnd hinweggleitet. ` 

Vor groben Schnitzern, die man gerade in den 
Berichten über Gerichtſitzungen beſonders häufig findet, 
ſchützten ihn ſeine juriſtiſchen Kenntniſſe, ſo mangelhaft 
ſie ſonſt beſchaffen ſein mochten — und ſchließlich lernte 
er, der keine Verantwortung für die Beobachtung ſtarrer 
Formen trug, der die ganze Tragödie eines Kriminal- 
falls gewiſſermaßen vom Parkett aus betrachtete, er 
lernte jene Menſchenkenntnis, die man den Männern 
am grünen Tiſche fo gern abſpricht. 

Egbert machte pſychologiſche Studien. In dieſem 
weltſtädtiſchen Milieu, wo der Typ des Durchſchnitts- 
verbrechers nur eine untergeordnete Rolle ſpielt, er- 
kannte er febr bald den großen Irrtum Lombroſos von 
der geiſtigen Belaſtung des Verbrechertums, und er 
geſtand eines Tages ſeinem Freunde Hans Lux, daß 
er auf dem Wege zum Kriminalanarchiſten begriffen ſei. 

„Je größer die Fähigkeiten eines Menſchen ſind,“ 


40 Die Apachen. u 


ſagte er, „um ſo eher wenden ſie ſich gegen die Ge— 
ſellſchaft — es muß nur die Möglichkeit gegeben ſein, 
ſie im Krieg gegen das Geſetz leichter verwerten zu 
können als unter ſeinem Schutze.“ 

Lux entgegnete: „Vielleicht find Sie auf der rid- 
tigen Spur. Man erklärt neuerdings den erſten Na- 
poleon für das bedeutendſte Verbrechergenie der Welt; 
und ich glaube wirklich, daß er als Moralphiloſoph nie- 
mals Bedeutendes geleiſtet hätte.“ 


* * 
* 


Eines Tages traf der Brief des alten Linde ein, 
der die Nachricht von Käthes Verlobung in Paris ent- 
hielt. Unter Donner und Blitz war er geſchrieben, und 
wie ein Wetterſtrahl hätte er füglich einſchlagen müſſen. 
Aber es war merkwürdig genug, daß Egbert eigentlich 
keine abſonderliche Erſchütterung verſpürte. 

Natürlich, er empfand einen Anflug jener Senti- 
mentalität, die der Jugend fo wohl tut, weil fie das 
lächelnde Abbild tieferer Schmerzen iſt, die uns aus 
der Pandorabüchſe des Lebens aufgeſpart bleiben — 
mitten in den Tagen der Roſen immerzu Roſen pflücken, 
wird ſchließlich ein langweiliges Geſchäft; wir wollen 
uns auch mal den Finger visen. und mit der SH 
ſchlenkern. i 

Egbert dünkte ſich ein wenig tragiſch. ge war 
wirklich, abgeſehen von einigen Jugendeſeleien, feine 
allererſte Liebe geweſen, und der ſagt man ſtets die 
Zartheit der Mohnblüte nach. Sie hatten ſich geherzt 
und geküßt, und ihre Küſſe waren geweſen wie das 
Mondlicht, wenn es über den Nebel hinſtreift — und 
in der nächſten Stunde . man nicht mepe ER 
Spur. 

Das alles war nun zerriſſen und verweht ind aus- 


O ` Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 41 


— —— 


gelöſcht. Vergeſſen konnte man es niemals, und von 
Rechts wegen war es zum Heulen. — 

Als der junge Mann bis auf dieſen Punkt gelangt 
war, ſchneuzte er fih die Nafe und ging hinüber in die 
Regionen der Familie Specht, denn es war um die 
abendliche Stunde, wo Berta ihm den ſtenographiſchen 
Unterricht erteilte. Sie hielt mit ihrem eiſernen Pflicht- 
gefühl ſehr pünktlich darauf, obwohl Egbert ein bißchen 
liederlich war und lieber plauderte als krauſe Zeichen 
hinmalte. 

Sie waren wie gewöhnlich allein. Frau Eugenie 
irrlichterte immer in allen Winkeln der Wohnung herum, 
nur zu ihrer Tochter ſchien ſie kein rechtes Verhältnis 
finden zu können, und Willibald Specht war überhaupt 
nur zum Eſſen und Schlafen daheim. Hans Lux be- 
hauptete ſogar, daß er bisweilen in der Kneipe unter 
dem Billard nächtige. 

Die Lampe ſang. Und ſie warf wohl ein trübes 
Licht, denn Egbert malte feine Krähenfüße immer ver- 
droſſener. 

Berta ſagte endlich ſtrafend: „Heute find Sie wie- 
der recht faul. Glauben Sie denn, Herr Linde, daß 
fo was einem zugeflogen kommt? zch habe zwei 
Fahre daran knacken. müſſen, bevor ich auf den Kern 
kam.“ 

„Sie haben auch die Geduld dazu, Fräulein Specht.“ 

„Die kann man ſich angewöhnen.“ 

„Jawohl,“ ſagte er und ſchabte an ſeinem Stift, 
„wenn einem immer andere Gedanken dazwiſchen 
kommen! Dumme Gedanken meinetwegen — aber ſie 
kommen doch.“ 

„Solche Anfechtungen habe ich auch durchgemacht, 
Herr Linde. Oder glauben Sie nicht?“ 

Er ſah ſie prüfend an und ſchüttelte den Kopf. 


42 Die Apachen. o 


„Kühl, blond, normal vom Kopf bis zur Zehe. Nein, 
Fräulein Specht, ich glaube es nicht.“ 

„Deſto beſſer. Alfo blond muß man vor allen Dingen 
ſein, um Verſtand zu beſitzen? Sie ſind ja freilich auch 
von meiner Farbe —“ 

„Und habe doch die heiße Torheit im Herzen. Oder 
iſt das keine, wenn man an ein treuloſes Mädchen 
denkt?“ 

Über Bertas Geſicht flog ein ganz feines Rot. Sie 
nahm den Stift zur Hand und begann in Egberts Heft 
zu korrigieren. 

Nach einer Weile legte ſie ihn wieder hin. „Wie 
ſonderbar, daß Sie gerade zu mir das fagen! Natür- 
lich haben Sie eine Liebſte in Jena zurückgelaſſen. 
Das tun ja wohl alle Studenten ohne Ausnahme, 
und mit der Treue wird es auch nicht weit her 
fein, aber die meiſten hüten ihr Geheimnis und ver- 
ſchweigen ihren Schaden. Oder wollen Sie Troſt 
von mir?“ 

Sie ſah wohl aus, als ob ſie tröſten könnte, und 
er dachte ſich das gar nicht ſo unangenehm. Vor allen 
Dingen aber hatte er das dringende Bedürfnis, ſein 
Herz auszuſchütten, und er rückte mit ſeinem Stuhl 
herum, ſo daß ſie faſt Seite an Seite ſaßen. 

„Ich habe auch ſchon mit ihm darüber geſprochen,“ 
ſagte er bedeutſam. „Sie wiſſen natürlich, Fräulein 
Specht, wer damit gemeint iſt, denn ich beſitze keinen 
zweiten Freund in Berlin. Und Ihnen geht es viel- 
leicht ähnlich.“ 

Berta nickte. „Alſo Herr Lux. Ich möchte wohl 
wiſſen, wie er über eine Studentenliebe denkt. Seine 
Anſichten ſind immer wertvoll, auch wenn ſie nicht auf 
Erfahrung beruhen, denn ich habe ſelten einen klügeren 
Mann kennen gelernt.“ 


o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 43 
GE m nn lerne Les 

„Er fagt, fie ginge nicht durch die Arbeit, und des- 
halb wäre kein Beſtand darin.“ 

„Das ſieht ihm ähnlich. Er mißt alles an der Pflicht- 
erfüllung, auch die Schläge des Herzens. Und dabei 
iſt er doch kein Pedant.“ Sie blickte eine Weile ſtarr 
vor ſich hin und wendete ſich dann lächelnd wieder 
an ihren Genoſſen. „Alſo nun weiß ich alles, Herr 
Linde, denn in ſolchen Dingen kombinieren wir ſchnell. 
Ein ſüßes Ding, weder kühl noch blond, eine Lilie auf 
dem Felde, ein Sonnenſtrahl zwiſchen Wolken. Sie 
haben niemals über den Ernſt des Lebens miteinander 
geredet, aber Sie haben miteinander getändelt und 
gekoſt, wie es bei Verliebten Brauch iſt. Dann kam 
das ſchlimme Auseinandergehen, und man wollte dar- 
über ſterben — heute iſt ein anderer gekommen, und 
nun hat das Herzchen wieder auf einige Semeſter 
Erſatz. Iſt es darum wert, Herr Linde, mit den Ge- 
danken in Jenas Gaſſen herumzulaufen wie der be— 
kannte wilde Geſell?“ 

„Sie iſt in Paris,“ ſagte Egbert halblaut. 

Berta machte große Augen. „Das arme Ding! 
Sie hat hinaus gemußt aus dem Vaterhaus? Dann 
will ich meine ganze Zlatterrede zurücknehmen, dann 
braucht ſie wirklich jemand, der ihr näher iſt als Berlin 
von Paris. Wenn ich mir vorſtelle, daß ich aus dieſem 
Winkel hinter der Heiligegeiſtkirche heraus müßte —“ 

„Einmal werden Sie es doch müſſen,“ ſagte er und 
malte mit ſeinem Stift allerhand Arabesken auf das 
Papier. 

„Wann?“ 

„Wenn Sie heiraten, Fräulein Berta.“ 

„Na endlich!“ fagte fie lachend. „Ich kann meinen 
Stammnamen nämlich gar nicht leiden, aber deswegen 
braucht man mich doch nicht unter die Haube zu bringen! 

| 


44 Die Apachen. . 


Wollen Sie ſich einen Kuppelpelz verdienen? Mein 
Vater wird ſehr wenig damit einverſtanden fein, denn 
die Witzblätter werden immer magerer, und der Geld- 
beutel will nicht zurückbleiben — außerdem fehlt es 
noch zum Heiraten an einer kleinen Nebenſache: wo 
iſt der Mann?“ 

„Hans Lux!“ 

Egbert erſchrak, als ihm das Wort herausgefahren 
war, denn man kann mit einem Mädchen wohl über 
die Liebe ſchwatzen, aber niemals über den heimlich 
Geliebten — da wird ſie rot und verlegen und bricht 
die Unterhaltung ab, oder es paſſieren noch ganz andere 
Dinge. 

Berta Specht aber blieb ganz ruhig ſitzen. 

Sie nahm Egbert nur das mißhandelte Übungsheft 
aus der Hand und ſah, daß er den Verſuch gemacht 
hatte, ihre beiden Namen in ein ſchönes Monogramm 
zu verſchmelzen. Sie lächelte flüchtig über dieſe 
Spielerei. 

„Hans Lux ift ein Mann, der jedes Mädchen glück- 
lich machen würde,“ fagte fie. „Aber nicht jedes Mäd- 
chen ift imſtande, feine Anſprüche zu erfüllen. Auch 
gegen eine, die geiſtig unter ihm ſteht, würde er gütig 
und nachſichtig ſein, aber es bliebe immer das Gefühl 
einer Kluft auf beiden Seiten. Und nun werde ich 
Ihnen noch ſchnell ein paar Sätze aus dem Lehrbuch 
diktieren, denn ſonſt ift diefe Stunde ganz unnütz ver- 
trödelt — oder glauben Sie, daß wir hier zuſammen 
ſitzen, um Stickmuſter zu entwerfen?“ 

Sie arbeiteten nun eifrig. 

Als Egbert ſein Zimmer aufſuchte, befand er fió 
in einer ſeltſamen Gemütsverfaſſung. 

Er hatte bis heute als ſicher angenommen, daß 
Hans Lux von Berta geliebt würde, wenn auch natür- 


oO Ein Parifer Roman von Frig Levon, 45 


lich heimlich und vielleicht ohne Gegenliebe. Aber 
dieſe kühle und verſtändige Art, mit der ſie zwiſchen 
ihm und ſich ſelbſt eine Grenze zog, dieſes Abwägen 
geiſtiger Vorzüge und Unterſchiede, das der Liebe ſo 
fremd iſt, machte ihn wieder unſicher. 

Und was dann? | 

Sein eigenes Verhältnis zu Käthe war gelöft, wenn 
überhaupt jemals ein feſtes Band beſtanden hatte, denn 
Küſſe find wie der rinnende Tropfen an einem Waffer- 
glas. Und wenn man ſagt, daß zwiſchen Liebe und 
Haß nur eines Meſſerrückens Breite liegt: wahrlich, 
zwiſchen einer überwundenen und einer keimenden Nei- 
gung iſt oft kaum die Schneide eines Meſſers. 


* * 
* 


Am letzten Abend der arbeitsreichen Woche ſaß 
Egbert in ſeinem Zimmer und arbeitete an einem 
großen Gerichtsreferat. 

Sie hatten in Moabit einen jener internationalen 
Hochſtapler verurteilt, die durch ihre überlegene In- 
telligenz die Geſellſchaft täuſchen und den beiten Be- 
weis dafür liefern, daß unſere ganze ſogenannte Kultur 
im Grunde genommen nichts weiter iſt als eine dünne 
Firnisſchicht über Moder und Barbarei. 

Heute wußte die ganze Welt, daß dieſer elegante 
Mann ein ganz gemeiner Verbrecher war, der jabre- 
lang mit dem Auswurf der Zuchthäuſer verkehrt hatte. 
Und dennoch war es ihm gelungen, ebenfalls geraume 
Zeit die Rolle eines Grafen mit Erfolg zu ſpielen, 
Herzen zu erobern und Herzen zu brechen — hatte denn 
niemand ihm jemals in das Auge geſehen? 

Denn fo oft Egbert während der langen Verhand- 
lung ſeinen Blick nach der Anklagebank richtete, wurde 
ihm immer wieder eines klar: die Seele des Menſchen 


46 Die Apachen. (3) 


kann durch Worte und Geſten und Handlungen ver- 
hüllt werden, aber die Augen können ſich nur mit den 
Lidern bedecken, niemals mit einer Lüge. — 

Mitten hinein in dieſes Arbeiten und Grübeln klang 
eine Stimme, die Egbert täglich hörte, aber in dieſem 
Haufe noch niemals vernommen hatte: Hans Lux be- 
grüßte auf dem Korridor Frau Eugenie und fragte, 
ob er eine Taſſe Tee im Familienkreis einnehmen 
dürfte. 

„Wie ehedem,“ ſetzte er hinzu. „Sie wiſſen ja, 
Frau Specht, was dieſes Wort bedeutet. Wir leben 
alle mit unſerem Verſtand in der Gegenwart, aber 
unfer Herz hängt an der Vergangenheit. — Iſt Fräu⸗ 
lein Berta daheim?“ 

Sie war es leider nicht. Sie hatte ſich ſeit einigen 
Wochen den Sonnabend von ſieben bis neun Uhr mit 
einem ſtenographiſchen Kurſus für junge Damen beſetzt. 

„Auch mein Mann iſt ausgegangen,“ fuhr Frau 
Eugenie fort. „Sie wiſſen ja, Herr Lux, in den Rünitler- 
klub. Aber wenn Sie mit mir allein fürlieb nehmen 
wollen —“ 

Egbert hörte nichts mehr, die Unterhaltung war in 
ein Murmeln übergegangen, und die Wohnſtubentür 
klappte. 

In Frau Eugenies Tuskulum ſchaute der Redakteur 
ſich um. 

„Es kommt mir nicht auf den Tee an,“ ſagte er. 
„Was mich herführt, kann auch ohne Aſthetik erledigt 
werden. Wirklich, Sie haben noch immer die alten 
Kränze an der Wand hängen! Warum werfen Sie 
das Gemüſe nicht ins Feuer?“ 

Die verfloſſene Tragödin ſuchte den Maria-Stuart- 
Blick hervor. „Sagten Sie nicht ſelbſt, daß unſer Herz 
an der Vergangenheit hängt, Herr Lux?“ 


2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 47 


„Wenn man eine hat — allerdings. Aber dieſes 
ſüßlich duftende Zeug erinnert ſo aufdringlich an Särge 
und brennende Kerzen. — Sie e mir das nicht 
übelnehmen, Frau Eugenie.“ 

Er hatte ſich auf einen Stuhl geſetzt und die langen 
Beine übereinandergelegt. 

„Nämlich, teuerſte Freundin, ich feiere morgen 
meinen Geburtstag, und Sie begreifen wohl, daß wir 
da lieber an die Wiege als an den Sarg denken. Ich 
möchte Sie zu einer Landpartie einladen, oder wenn 
Sie wollen, zu einer Sandpartie, denn was Beſſeres 
findet man doch nicht in unſerer geſegneten Mark. 
Haben Sie Gefühl für ſo was, verehrte Tragödin?“ 

„Gefühl wohl, aber keine Toilette,“ ſagte Eugenie 
dumpf. 

Hans Lux zog den Kopf zwiſchen die Schultern und 
machte ein nachdenkliches Geſicht. „Wie ſteht es mit 
den beiden jungen Leuten? Halten Sie mich für eine 
ausreichende Tante?“ 

„Für Berta garantiere ich,“ ſagte Frau Specht mit 
einer großen Handbewegung. 

„Und ich forge dafür, daß Herr Linde keine Dumm- 
heiten macht. Auf Ihren Mann rechne ich unter allen 
Umſtänden. Er foll fein Skizzenbuch mitnehmen und 
die Narrheiten des Lebens aufzeichnen. Wir werden 
zuſammen ein Vierblatt abgeben, wie es noch unter 
keiner Schnitterſenſe gemäht wurde.“ 

Er ſtand auf und betrachtete noch einmal das ganze 
Zimmer. 

„Wie mich dieſes Milieu anheimelt, Frau Eugenie! 
ich ſehe die Zeit wieder, als ich das ‚Blaue‘ bewohnte, 
als die blonden Zöpfe Ihrer Tochter ſich unter dieſen 
welken Kränzen ausnahmen wie ein lächelnder Ana- 
chronismus. Oh, daß die Jahre wie die Krebſe wären 


48 Die Apachen. o 


— langſam und rückwärtsſchreitend! — Sind Sie noch 
immer abergläubiſch?“ 

„War ich das jemals, Herr Lux?“ 

„Sonſt müßten Sie ja heucheln, denn ich weiß doch, 
daß Sie aus den Karten die Wahrheit ſagen. Es gibt 
in unſerer Zeit ſo viel umgeprägte Werte, daß auch 
dieſe Narrheit eine Währung beanſpruchen kann — ich 
bitte Sie, Frau Eugenie, laſſen Sie ae auch einmal 
in ihnen leſen.“ 

Sie ſah ihn mit ihren dunklen Augen! an und ſchüttelte 
langſam den Kopf. „Ich bin auf Stimmungen abgetönt, 
Herr Lux. Wer durch das Loch im Vorhang erkennen 
konnte, ob das Publikum in der nächſten Stunde flat- 
ſchen oder pfeifen wird, der weiß auch einen einzelnen 
zu beurteilen. Sie haben heute irgend eine Antwort 
vom Schickſal bekommen. Es iſt beſſer, daß Sie die 
müßigen Fragen unterlaſſen. Zwiſchen uns beiden iſt 
das Kartenlegen ein Unſinn. Aber ich werde mich 
dennoch hüten, Ihnen Komödie vorzuſp ielen.“ 

Er gab ihr die Hand und lächelte. „Wie klug Sie 
find! Ich fange an, Reſpekt vor Ihrer Kunſt zu fühlen. 
Alſo im Ernſt: heute am Tage vor meinem Geburts- 
tage hätte eine gute Karte mich erfreuen, eine ſchlechte 
mich betrüben können. Es iſt aber vielleicht beſſer, 
man läßt ſie beide unter den Tiſch fallen. Im übrigen 
bleibt es bei der verabredeten Sonntagspartie. Wir 
finden uns zu dem Neunuhrzug auf dem Anhalter 
Bahnhof zuſammen. Das übrige bleibt dem Wetter- 
gott und der Stimmung überlaffen.“ 


* * 
* 


Sie kamen wirklich alle drei zu der feſtgeſetzten 
Stunde: Willibald Specht wie immer mit einem ziem- 
lich bedeutenden Katzenjammer, Berta zum erſten Male, 


o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 49 


ſeitdem Egbert ſie kannte, in hellen Farben, die ihr 
vortrefflich ſtanden und ſie jünger erſcheinen ließen — 
Linde mit einer großen Portion Neugier. 

Und er fiel ſofort über Hans Lux mit der Frage 
her, was ſie denn mit dieſem traurigen Neunuhrzug 
beginnen ſollten. Der fahre ja tatſächlich und wahr- 
haftig bloß bis nach Fü— ter —bog und halte auf jeder 
unmöglichen Zwiſchenſtation! | 

Lux warf einen lächelnden Blick auf Berta. „Stellen 
Sie dieſelbe Frage, Fräulein Specht?“ 

„Nein,“ entgegnete ſie ruhig. „Es genügt mir, daß 
Sie es ſo beſtimmt haben, denn dann iſt auch ein 
vernünftiger Zweck dabei.“ 

„Ich danke Ihnen, Kamerad. Dieſem Jüngling 
wollen wir den Zweck andeuten: ganz Berlin läuft 
heute nach anderen Weltgegenden, folglich werden wir 
nicht ganz Berlin ſein.“ 

„Fürchten Sie ſich vor dem Butterbrotpapierꝰ⸗ 
fragte Egbert, der noch nicht ganz den Menſchenhunger 
verlernt hatte. 

„Ich fürchte am Sonntag alles, was Papier heißt. 
Nur Ihr Skizzenbuch, Herr Specht, macht eine Aus- 
nahme. Sie ſollen mir heute etwas zeichnen, was 
noch niemals aus Ihrem Stift gekommen ift, und ich 
will es als mein Geburtstagsgeſchenk über den Schreib- 
tiſch hängen.“ 

Berta trug eine Roſe an der Bruſt. Die gab ſie 
dem Schriftſteller. „Ich komme mit leeren Händen, 
Herr Lux, wir wußten nichts von dem heutigen Tage. 
Wollen Sie dieſe Blume von mir annehmen — es iſt 
eine der letzten.“ 

„Ja,“ entgegnete er, „der Sommer iſt über den 
Berg. Man könnte ihn darum beneiden. Aber wir 
wollen heute nicht ſentimental werden, man feiert nur 

1918. IX. 4 


50 Die Apachen. u 


einmal im Jahre Geburtstag. Oh, wie wohl dieſer 
Anblick tut: zurückfliehende Häuſer, rückwärtswehender 
Rauch! Die Vorwärtsbewegung iſt das Beſte, was wir 
im Leben haben, und je ſchneller das geht, deſto früher 
kommt das Ziel.“ 

Sie ſaßen im fahrenden Wagen, und Lux ſetzte ſich 
dem Mädchen gegenüber. 

„Der Frühling könnte Sie heute beneiden, Fräulein 
Specht. Aber dennoch fehe ich einen Zug in Ihrem 
Geſicht, der mir mißfällt. Muß der Menſch denn immer 
arbeiten und ſorgen und denken? Rann er nicht eine 
einzige Stunde des Lebens genießen, die ſo klar iſt 
wie der Tautropfen?“ Ä 

„Nein,“ entgegnete ſie plötzlich, „dann wird eine 
Träne daraus.“ N 

Hans Lux warf einen ſchnellen Blick nach der anderen 
Seite des Abteils. Dort ſaßen Egbert und Willibald 
Specht an den Fenſterplätzen und ſprachen über die 
Kunſt des Schreibens. Der Maler behauptete, er könne 
jede beliebige Handſchrift in einer Stunde erlernen; 
Egbert aber beſtritt das energiſch und meinte, nur ganz 
charakterloſe Menſchen wären einer ſolchen Anpaſſung 
fähig. 

Lux dämpfte die Stimme. „Nun weiß ich es,“ 
ſagte er. „Es gibt ein Bild, das die Seherin Velleda 
vorſtellt, das ſchöne blonde Germanenweib, wie es 
im Eichwalde ſteht und nach dem Klirren der römiſchen 
Legionen aushorcht. So ſahen Sie vorhin aus, als 
das Wort von den Tränen über Ihre Lippen kam. 
Was ſehen Sie?“ 

„Leid,“ erwiderte ſie einſilbig. 

Dieſes verhaltene Geſpräch konnte nicht mehr fort— 
geſetzt werden, denn fie waren an einer kleinen Gta- 
tion angelangt, wie ſie überall in der Mark verſtreut 


o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 51 


liegen, und Lux behauptete, hier ſei das Ziel ihrer 
Fahrt. 

Als ſie aber ausgeſtiegen waren und den Bahnhof 
hinter ſich hatten, bog er in einen Hohlweg, der ſie 
tiefer in das Gelände hineinführte, und nach einer 
Meile öffnete ſich vor ihnen eine jener Erdfalten, die 
der Reiſende am wenigſten hinter Sandflächen und 
Kieferbeſtänden vermutet, mag er auch in der Geo- 
graphie gelernt haben, daß ſelbſt die Wüſte Sahara 
ihre Oaſen birgt. 

An einem kleinen See lagerte ſich ein Dorf. Der 
Kirchturm ragte aus einem Gewirr von Erlen und 
Birken hervor, magere Acker zogen ſich nach den Sand— 
hängen hinauf, über dem Ganzen ruhte der braun- 
goldene Schimmer eines ſpäten Sommertages. 

„Meine Heimat,“ ſagte Lux. Er hatte ſich mitten 
in die Sonne an einen Wall gelagert und ſah den 
Schwalben nach, die pfeilſchnell unter der blauen 
Himmelswölbung hinſchoſſen; dann wendete er den 
Kopf. „Wiſſen Sie, warum ich ausgerechnet heute 
dieſen Weltwinkel aufgeſucht habe?“ 

Berta gab eine ausweichende Antwort. „Es war 
jedenfalls keine bloße Laune, denn die habe ich noch 
niemals an Ihnen erlebt.“ 

„Gut, Sie ſollen es ſpäter erfahren. Was meinen 
Sie, Meiſter Willibald, würde ſich eine Skizze von 
dieſem Idyll über dem Schreibtiſch eines modernen 
Preßmenſchen gut ausnehmen?“ 

„Es wird auch nur eine Karikatur,“ ſagte der Maler 
grämlich. „Ich bin fo in das verwünſchte Verzeichnen 
hineingeraten, daß ich nicht einmal einen geraden Kirch- 
turm fertig bringe. Vielleicht ſind auch die ſchrägen 
Geſtalten daran ſchuld, die ich dieſe Nacht wieder mal 
geſehen habe.“ | 


* 


52 Die Apachen. 2 


Die kleine Geſellſchaft ging ins Dorf. 

Sie nahmen das Mittageſſen in dem Wirtshaus 
ein und machten mit Glimpf und Schimpf aus der Not 
des Landlebens eine Tugend. Aber als der übernächtige 
Maler ſich für den Heuſtadel intereſſierte und Egbert 
gleiche Gelüſte kundgab, winkte Hans Lux mit den 
Augen und verließ geräuſchlos das Gaſtzimmer. 

Als Berta nach einer Weile folgte, traf ſie ihn in 
dem kleinen Gärtchen, wo er zwiſchen Blumenbeeten 
ſtand und eine Herbſtaſter betrachtete. 

„Sie wird ihren Stern bald aufgehen laſſen,“ ſagte 
er. „Wiſſen Sie auch, daß ich eine Torheit begangen 
habe, die beiden Großſtädter, den Eingeborenen und 
den Werdenden, in dieſe Wüſte hinauszuführen? Sie 
und ich, wir hätten dieſen Weg allein machen ſollen, 
denn wir wiſſen, was Einſamkeit wert iſt. Aber die 
Sitte war dagegen, denn Sie zählen erft zweiund- 
zwanzig Zahre, und ich ſelbſt bin heute ſechsunddreißig 
alt geworden.“ 

„Und dennoch würde ich mit Ihnen ohne Furcht 
bis an das Ende der Welt gehen,“ ſagte Berta offen. 

Er ſtreifte ihre ſchöne, blühende Geſtalt mit einem 
nachdenklichen Blick und horchte dabei auf das Summen 
der Bienen. „Jetzt nehme ich Sie beim Wort. Bis 
ans Ende der Welt iſt gar nicht ſo weit, als mancher 
glaubt, und in dieſen engen Verhältniſſen ſind es keine 
hundert Schritte. Kommen Sie mit. Zeden dieſer 
Schritte könnte ich mit geſchloſſenen Augen gehen, und 
es gibt nicht wenige, die das wirklich tun, aber dann 
werden ſie getragen.“ 

Er ſchritt langſam mit dem Mädchen die Dorfgaſſe 
hinunter und ſah ſich von Zeit zu Zeit um. 

„Hier hat fih in einem Vierteljahrhundert nichts 
verändert. Dort liegt das Pfarrhaus, unter deſſen Dach 


u Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 53 


ich geboren wurde, und das Dach iſt noch ebenſo morſch 
wie damals. Nur der Efeu iſt weiter hinaufgeklettert, 
und er wird es nächſtens ganz überſpinnen. Wiſſen 
Sie, wohin wir gehen?“ 

„Auf den Friedhof,“ ſagte ſie und nickte vor ſich hin. 

„Richtig. Sie kennen meine Gedanken und meine 
Ausdrucksweiſe — das Ende der Welt iſt dort, wo die 
Kreuze ſtehen. Und nun ſollen Sie mir auch Ihr eigenes 
Denken aufdecken, wie Velleda, die Seherin, es tat 
vor zweitauſend Jahren. Was ift das für Leid, von 

dem Sie ſprachen?“ 

ö „Ich ſah meinen Vater an,“ entgegnete ſie leiſe. 
„Heute iſt er wieder erſt gegen Morgen heimgekommen, 
und ſo geht das beinahe Nacht für Nacht. Er ſagt, die 
Nachtſtunden müßten Stoff geben für ſeine Skizzen, 
und bisweilen mag er auch etwas einheimſen, was 
ihm bezahlt wird, aber das meiſte, was er tut, iſt keine 
Ausſaat und keine Ernte, es iſt ſo öde und unfruchtbar 
wie die welken Kränze in der Putzſtube meiner Mutter, 
und es iſt ebenſo unwürdig wie ihr Gaukelſpiel mit 
den Karten.“ | 

„Die Kinder tragen keine Verantwortung für das 
Handeln der Eltern,“ ſagte er ablenkend. 

Über das ſchöne Geſicht des blonden Mädchens fuhr 
ein helles Rot. „Nein, Herr Lux, wir ſtehen in unſeren 
eigenen Schuhen, und meine ſind rein. Aber Sie haben 
bei uns gewohnt, und Sie haben hinter die Kuliſſen 
geſehen. Damals war ich ein junges Ding und tüm- 
merte mich nicht viel um die Meinung anderer — aber 
nun ich Sie kenne und an Ihnen ſah, was Arbeit und 
Pflicht und Ehre bedeuten, ſeitdem werde ich rot, wenn 
Sie den Fuß über unſere Schwelle ſetzen. Geſtern 
waren Sie bei meiner Mutter, gütig und nachſichtig 
wie immer —“ 


54 Die Apachen. o 


„Und morgen werde ich wiederkommen,“ fekte er 
hinzu, als ihr die Stimme brach. „Aber ich bedarf 
dazu einer beſonderen Erlaubnis, es muß zwiſchen uns 
beiden ein Vertrag geſchloſſen werden.“ 

Sie waren bei dem Friedhof angelangt, und Hans 
Lux öffnete ſeiner Begleiterin das Gittertor. Es 
wuchſen einige Dornen in der Nähe, und als ſich ihr 
Kleid darin verfing, riß er es heftig los, ohne Rück- 
ſicht auf das leichte Gewebe. 

„Greifſt du ſchon aus der Erde? Das iſt nichts für 
deine Krallen!“ ſagte er wie zu einem Anſichtbaren, 
und dann führte er das Mädchen zu einer Bank, die 
neben zwei efeuüberſponnenen Gräbern ſtand. 

. „Das ſind Ableger vom Pfarrhaus, Fräulein Berta. 

Ich meine dieſe Ranken. Aber auch was darunter iſt, 
oder was darunter war, denn es iſt lange her. Meine 
Eltern ſtarben früh, und als ich auswanderte, war ich 
in Wirklichkeit heimatlos. Wiſſen Sie, was die ſpätere 
Zeit, was die Tage bis heute ausgefüllt hat?“ 

„Arbeit,“ ſagte ſie und begann mit den Augen 
zwiſchen dem grünen Gewirr zu ſuchen. Aber es war 
kein Stein und keine Nummer und kein Name mehr 
zu finden. Da gab ſie es auf und blickte ihm in die 
nachdenklichen Augen. 

Er aber wiederholte ihr letztes Wort. „Arbeit? — 
Als wenn Sie nichts anderes reden könnten als das! 
Meine Tage werden ausgefüllt mit der tiefen Sehn— 
- fucht nach einem Heim.“ 

Wieder kam das Suchen in ihre Augen, wo doch 
nichts zu finden war. Und ſie entgegnete: „Sie täuſchen 
ſich, Herr Lux. Was bedeutet das Heim für einen 
Mann, deſſen Geiſt die Welt umfaßt? Eine Laune 
vielleicht, eine Anwandlung, ein Spielzeug.“ 

„Es hätte die Probe gegolten,“ entgegnete er und 


D Ein Parifer Roman von Frig Levon. 55 


begann die Rofe, die fie ihm geſchenkt hatte, langſam 
zu zerpflücken. Als ein Blatt nach dem anderen hin- 
geflattert war, warf er den leeren Stiel zwiſchen die 
Efeuranken und richtete ſich auf. „Es iſt ſeltſam, daß 
wir immer den verſagten Schätzen am meiſten nach- 
graben, wo doch fo vieles zutage liegt, was des Auf- 
hebens wert ift. Da fike ich nun hier mit meinen feds- 
unddreißig Lenzen und male mir die Reize einer Kinder- 
ſtube aus, während die Bienen über den Gräbern 
ſummen. Ich war nämlich geſtern beim Doktor —“ 

Das kam fo plötzlich und mißtönend wie das Schwin- 
gen einer geſprungenen Saite, aber als das Mädchen 
ihn erſchrocken anblickte, lächelte er ein wenig und ſprach 
gelaſſen weiter. N 

„Es hat alles ſeinen natürlichen Zuſammenhang, 
auch dieſe unnatürliche Fahrt zwiſchen Sand und 
Kreuze. Alſo man geht mal auf die Bank, um einen 
Kurs zu erfragen, oder zum Anwalt wegen eines 
Rechtsrates, und fo kommt man auch in gewiſſen An- 
gelegenheiten vor die Tür des Arztes. Ob er mir wohl 
das Heiraten empfehlen könnte, fragte ich dieſen Wahr- 
ſager, und er begann an mir herumzuklopfen. Nicht 
etwa am Schädel, ſondern anderswo, und dann kam 
das Orakel: er könnte es mir ganz und gar nicht 
anraten, denn das ſei eine Torheit und ein Verbrechen 
gegen die Zukunft und eine pure Unmöglichkeit. Und 
dabei ift der Kerl ſelbſt Bater von drei blühenden Kin- 
dern. Was ſagen Sie dazu, Berta?“ 

Sie hatte es aufgegeben, in die Efeuranken zu 
ſtarren und auf den Sand und in den blauen Himmel. 
Sie nahm ihr Taſchentuch und führte es an die Augen. 
Aber über ihre Lippen kam kein Laut. 

„So war es nicht gemeint, Kamerad,“ fuhr Hans 
Lux fort. „Wir ſind doch deshalb an dieſen Platz 


56 Die Apachen. Ä o 


gepilgert, wo man ganz leicht und ſelbſtverſtändlich von 
ſolchen Dingen ſpricht, wenigſtens viel beſſer als in 
dem lebenshungrigen Berlin. Übrigens hat der Doktor 
mich nicht geradeswegs hierher zu meinen Vätern ge- 
ſchickt, ſondern er meinte, ich könne ja recht gut noch 
eine Reihe von Jahren leben, nur die Familiengedanken 
ſollte ich mir aus dem Kopf ſchlagen und froh ſein, 
daß ich keine hätte. Leicht geſagt. Aber er wird wohl 
wiſſen, was für mich das Beſte iſt.“ 

Seine Art war fo ſeltſam, daß Berta ihr Tränen- 
tüchlein wieder einſteckte. Es lag nicht die mindeſte 
Sentimentalität in ſeiner Stimme, ſondern ein ſtille 
Heiterkeit, die dem Frieden der Umgebung vollkommen 
angemeſſen war. 

Und dann ſah er das Mädchen von der Seite an. 
„Haben Sie gar keine Frage, Berta?“ 

„Doch,“ entgegnete ſie. „Das alles iſt ſehr traurig, 
und die meiſten ſchleppen es mit ſich herum. Warum 
haben Sie es mir geſagt? Vielleicht trage ich noch 
ſchwerer daran.“ 

„Sie?!“ 

Mit einem warmen Aufleuchten ſeiner großen und 
ſchönen Augen umfaßte er die Geſtalt des Mädchens 
und legte plötzlich ſeine Hand in ihren Schoß. 

„Berta, wie wenig kennen Sie ſich ſelbſt, oder wie 
gut verſtehen Sie das uralte Frauenſpiel! Sie ſollten 
ſchwer an irgend einer Wahrheit tragen, Sie, deren 
ganzes Leben nichts als Wahrheit ift? Deren könig— 
liches Haupt ſich nur in Scham neigt, wenn die Lüge, 
die Erbärmlichkeit und die Schwachheit es mit den 
Fledermausflügeln ſtreifen? Nein, Kamerad! Daß der 
Mann neben Ihnen abwärts geht, ijt ein Verhängnis, 
dem wir uns fügen müſſen, aber Sie ſollen wenigſtens 
erfahren, daß er ohne dieſes Verhängnis ſeine Hand 


o Cin Parifer Roman von Frig Levon. 57 


nach dem Leben ausgejtredt hätte.“ Er atmete tief 
auf und fuhr fort: „Daß wir uns lieb haben, Berta, 
wiſſen wir beide. Es iſt niemals darüber geſprochen 
worden, aber das gemeinſame Denken, die gemeinſame 
Arbeit — jawohl, Berta, wir haben wirklich zuſammen 
gearbeitet — alles das machte die Worte überflüffig, 
bis die Zeit herankam, wo Sie eine Tat erwarten 
konnten. Seit kurzem ſtehe ich auf der Höhe meines 
Erfolgs, bin ich ein ſelbſtändiger Mann geworden, ver- 
mag ich eine Familie zu ernähren. Und als ich dennoch 
meine Hand nicht regte, dieſe Hand, die das Glück an 
fidh reißen möchte, da blickten Sie fih in Ihren Wänden 
um und ſahen die kartenſchlagende Mutter und hörten 
bei Nacht den ſchweren Schritt Fhres Vaters. An 
Ihrem eigenen Werte konnten Sie nicht irre werden, 
Verta, aber an mir haben Sie gezweifelt, Sie hielten 
auch mich für einen Anhänger der Lehre, daß die 
Sünden der Väter in den Kindern ihr Echo finden 
ſollen. Seit dieſer Stunde, die ich Ihnen und mir 
ſchuldig war, ſeit dieſer letzten Minute vielleicht wiſſen 
Sie die Wahrheit: ich möchte zu Ihnen kommen mit 
meiner ſehnſüchtigen Seele, und Sie dürfen nicht zu 
mir kommen mit Ihrer blühenden Jugend — wir find 
es dem Leben ſchuldig, Berta, daß die Natur in Feſſeln 
geſchlagen wird. Es iſt eine Welt ſo närriſch wie am 
Faſching, und fie ift nicht den Katzenjammer des Aſcher⸗ 
mittwochs wert.“ 

Er wartete keine Antwort ab, ſondern erhob ſich 
und ſchritt langſam zwiſchen den Gräbern entlang. Es 
waren ihrer nicht viele, aber welke Kränze lagen doch 
überall verſtreut, und in der warmen Luft hauchten 
ſie noch einen ſüßlichen Duft aus. 

Als Berta wieder neben ihm ſtand, hatte ſeine 
Stimme den leidenſchaftlichen Klang verloren. „Wie 


58 Die Apachen. o 


im Salon Ihrer Mutter,“ fagte er lächelnd. „Ein bib- 
chen Moder, ein bißchen Lavendel und eine ganze 
Maſſe Vergangenheit. Ich habe immer gerne darin 
geſeſſen, als ich noch die blaue Pracht bewohnte, und 
es gelüſtet mich, wieder dasſelbe zu tun. Mein junger 
Kollege iſt ja eine vortreffliche Brücke zwiſchen Ihnen 
und mir — darf ich ſie recht oft betreten und wieder 
meine freien Abende in dem Kreiſe der Familie Specht 
zubringen?“ 

Sie blickte ihn nicht an, ſondern murmelte nur einige 
Morte, aber fein ſcharfes Gehör hatte die doch auf- 
gefangen, und er ſchob vertraulich ſeine Hand in ihren 
Arm, um ſie dem Ausgang zuzuführen. 

„Sie haben recht, Berta, an der Familie ift mir 
nicht ſo ſchrecklich viel gelegen. Wir brauchen uns keine 
Sorge darum zu machen, es wird niemand uns ſtören, 
und es wird keiner Einſpruch erheben, wenn wir unter 
den Kränzen und Schleifen zu zweit miteinander plau— 
dern. Es geht ja im Leben ein jeder ſeinen Weg, und 
wir wollen unſeren entlang wandern. Sch weiß auch, 
wovon wir am liebſten reden werden, Berta —“ | 

Sie waren jetzt auf einem ganz einſamen Pfade, 
der hinter dem Dorf entlang führte und in dieſer Sonn- 
tagſtille wie ausgeſtorben war. 

Hans Lux hob plötzlich ſeine Hand, um mit einer 
ganz flüchtigen Bewegung die blonden Flechten des 
Mädchens zu ſtreifen. 

„Daß Sie eine Braut werden follen und ein jtrah- 
lendes Weib! Wenn wir nach dieſem kurzen Feiertag 
heimfahren, liegt die rote Dunſtwolke über Berlin, 
und wir müſſen wieder hinein in den Glutofen der 
Arbeit. Heute nehmen die Frauen mehr daran teil 
als vor fünfzig Fahren, und fie halten ſich das Schickſal 
alter Tanten und grämlicher Zungfern tapfer vom 


de Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 59 


Leibe. Aber das beſte Glück findet ſich doch an der 
Seite eines tüchtigen Partners — er darf nur nicht 
das Orakel der Arzte anrufen und an feinem Geburts- 
tag zwiſchen Gräbern herumkauern. Sehen Sie, meine 
ſchöne blonde Freundin, unter dieſem alten Raftanien- 
baum habe ich als Knabe mit meiner allererſten Jugend- 
liebe ein Butterbrot geteilt — ſoll der Menſch nicht 
damit zufrieden ſein, auch wenn er das letzte Stück 
Brot allein eſſen muß?“ 


Sie waren wieder in der roten Dunſtwolke unter- 
getaucht und wanderten vom Bahnhof nach der Heilige- 
geiſtkirche. Erſt zu viert, dann trennte ſich Hans Lux 
ab, und bald darauf fand auch Willibald Specht einen 
Seitenweg, denn er war in der Dorfſchenke nicht zu 
ſeinem Recht gekommen. 

Zuerſt blieben die beiden jungen Leute ſchweigſam. 

Dann ſagte Egbert: „Dieſer Ausflug war ſeltſam. 
Wenn alle Berliner ihren Sonntag fo abſeits verbringen, 
dann unterſcheiden ſie ſich jedenfalls ſehr von anderen 
Hauptſtädten. So oft man die Schilderungen aus 
Paris lieſt —“ | 

Er brach ab und ſenkte den Kopf. 

„Ja fo, Paris geht mich nichts an, und doch mußte 
ich heute den ganzen Tag daran denken. Gibt es 
Ahnungen, Fräulein Specht?“ 

„Man ſagt, daß eine ſehr große und tiefe Liebe ſie 
auslöſen könne,“ entgegnete das Mädchen zögernd, „aber 
ich weiß wirklich nicht, ob das noch bei Ihnen zutrifft.“ 

„Nein,“ verſicherte er eifrig, „Sie verſtehen mich 
falſch. Wenn mein Herz jemals an der Seine war, 
heute iſt das ganz gewiß nicht mehr der Fall, und ich 
meine überhaupt etwas ganz anderes. Es iſt ſeltſam 


60 Die Apachen. 2 


und läßt ſich nur ſchwer in Worten ausdrücken, wir 
wollen lieber nicht mehr davon reden, ſonſt lachen Sie 
mich ſchließlich noch aus — Sie mit Fhrem kühlen 
Berliner Verſtand!“ 

Als ſie das Haus betraten, kam Frau Eugenie ihnen 
auf den Fußſpitzen entgegen und flatterte mit den 
Händen. Theatraliſche Angewohnheiten hatte ſie ja 
immer beibehalten, und man durfte nicht allzuviel Ge- 
wicht darauf legen; aber die beiden jungen Leute wurden 
doch neugierig, als ſie ſie in das Zimmer mit den welken 

Kränzen führte und die Tür behutſam ſchloß. 

| „Endlich!“ fagte fie und fant auf einen Stuhl. 
„Denke dir, Berta, ich habe die blaue Stube vermietet, 
und der Herr iſt ſehr zufrieden damit, er verlangt nicht 
die geringſte Anderung, obwohl, unter uns geſagt, die 
Gardinen nicht mehr ganz neu ſind. Er iſt auch ſofort 
eingezogen und arbeitet wahrſcheinlich bereits an einem 
Werk. Denn als ich Sie, Herr Linde, als feinen Wand- 
nachbar bezeichnete, da lächelte er ſehr verbindlich 
und ſagte etwas von einem Kollegen.“ 

Berta nahm die Sache kühl auf. „Seitdem Herr 
Lux fort iſt, ſteht das Zimmer leer. Was für ihn gut 
genug war, Mutter, damit können auch andere zu- 
frieden ſein. Wie heißt der Herr, und was macht er 
für einen Eindruck?“ 

„Er hat die Manieren eines feinen Mannes. Er 
kommt aus Paris und nennt ſich Renard, aber ich habe 
noch niemals einen Franzoſen kennen gelernt, der die 
deutſche Sprache ſo meiſterhaft beherrſchte. Er muß 
ein berühmter Schriftſteller ſein, denn jedes ſeiner 
Worte klingt wie Muſik. Ich hoffe, Herr Linde, Sie 
werden bald mit ihm Freundſchaft ſchließen, und dann 
wollen wir einen ſchöngeiſtigen Kreis bilden, wie ich 
ihn ſeit meiner Bühnenzeit nicht mehr genoſſen habe.“ 


D Ein Parifer Roman von Frig Levon. 61 


Bei dem Worte „Paris“ kreuzten fih Bertas und 
Egberts Blicke. 

„Gibt es Ahnungen?“ ſagte ſie halblaut. Und dann 
fuhr ſie fort: „Von einem berühmten franzöſiſchen 
Schriftſteller Renard habe ich noch nie gehört, aber das 
will freilich nicht viel ſagen. Vielleicht kann Herr Lux 
Antwort geben —“ 

Frau Eugenie fuhr aufgeregt dazwiſchen. „Lux? 
Ja fo, wie war's denn heute mit dem Ausflug? Habt 
ihr euch gut unterhalten?“ 

Egbert hatte das Zimmer verlaſſen, und die beiden 
Frauen waren allein. Die Tochter ſchwieg eine Weile, 
dann begann ſie ihre reichen Haare aufzulöſen, bis die 
blonde Flut wie ein Mantel um ſie niederfiel. 

„Wie wohl das tut nach dieſem heißen Tage! — 
Ob wir uns gut unterhalten haben, Mutter? Es war 
wohl ein bißchen anders wie im Grunewald oder auf 
einem Rummelplatz — wir waren in einem kleinen 
Neſt zwiſchen Sand und Kiefern. Hans Lux iſt dort 
geboren, und er wollte gerne ſeinen Geburtstag dort 
feiern. Vielleicht iſt es der letzte oder der vorletzte — 
wer kann das ſo genau wiſſen.“ 

„Der Stärkſte war er nie,“ ſagte Frau Eugenie 
unſicher. 

„Nein, der Arzt hat es ihm bezeugt. Und ſeit heute 
glaube auch ich daran. Weißt du auch, Mutter, daß 
er mich liebt?“ S 

„Da fei Gott vor!“ ſagte die Frau erſchrocken. „Ein 
kranker Mann!“ 

Berta ſaß da und ſpielte mit ihren Haaren. Es 
war ein nervöſes Spiel, das ſah man an dem Zucken 
der ſchlanken Finger, aber ſonſt war fie ganz ruhig 
und konnte auch ihre Stimme beherrſchen. 

„Ou brauchſt dich nicht zu ſorgen, Mutter. Wenn 


62 | Die Apachen. o 


Hans Lur liebt, ift das eine andere Liebe wie bei den 
gewöhnlichen Menſchen. Ich habe mich nie darauf 
angeſehen, ob ich ſchön bin und blühend, aber er ſagt 
es, und ich glaube ihm wie ein gehorſames Kind. 
Und das alles liebt er nicht für ſich, ſondern er will, 
daß ich es für meine Zukunft an einen anderen ver- 
ſchenke. Nur ein Stückchen von meiner Seele will er 
behalten, ſolange er lebt. Dann — ſpäter — ſoll das 
auch einem anderen gehören. Das iſt groß, Mutter — 
kannſt du die Größe begreifen?“ 

„Ich habe ſie dargeſtellt,“ ſagte die Frau leiſe und 
zaghaft. 

„Ja — auf der Bühne. Aber das iſt Leben. Ein 
ſelbſtloſer Reſt, aber doch ſein Leben. Er wird jetzt 
öfters zu uns kommen, und du darfſt nichts dagegen 
einwenden. Das iſt für dies Haus eine Ehre. Und er 
wird auf den Augenblick warten, wo ich meine Frauen- 
pflicht erfülle und meine Hand einem anderen gebe. 
Ich will das tun, Mutter, fobald der andere kommt. 
Kann ein Weib mehr tun?“ 

Sie ſtand auf, warf die blonde Fülle der Haare 
hinter ſich und verließ das Zimmer. 

Frau Eugenie ſah ihr nach und ſah auf ihre Kränze 
und Schleifen. „Spielen kann man das,“ murmelte 
fie, „es wäre eine ſchöne und tragiſche Rolle. Aber 
die dort ſpielt nicht, ſie hat keinen Tropfen von dem 
mütterlichen Blut geerbt. Es liegt in unſerer Zeit ein 
Rätſel, das ich nicht begreifen kann — es iſt wohl die 
kommende Zukunft.“ 


* R 
* 


Egbert Linde war auf ſein Zimmer gegangen, um 
den Artikel zu Ende zu ſchreiben, an dem er geſtern 
gearbeitet hatte. 


o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 63 
ä — —-— — — — — —-— —— —— — —-„—-—¼ . — 


Dieſer enge, nach dem Hofe gelegene Raum war 
ſo ſtill, daß er das Summen der Mücken hören konnte, 
die draußen in der dumpfen Luft ihr Spiel trieben. 
Nach dieſem ſchwülen Tage wollte wohl noch einmal 
ein Gewitter heraufkommen, bevor der Herbft feinen 
Einzug hielt. 

Egbert fühlte ſich beklommen. Er grübelte über 
die Urſache, denn ſeine geſunden Nerven waren von 
Witterungseinflüſſen unabhängig. Es mußte ein an- 
derer Grund vorliegen. 

Und dann entſann er fih plötzlich feiner. neuen 
Nachbarſchaft. ö | 

Die beiden Mietzimmer, das grüne und das blaue, 
lagen ziemlich abſeits in der geräumigen Wohnung, 
und da bisher nur das eine bewohnt geweſen, ſo hatte 
ſich in Egbert das Gefühl der völligen Alleinherrſchaft 
herausgebildet. Nun teilte er das Reich mit einem 
anderen, es lag nur eine dünne Scheidewand zwiſchen 
hüben und drüben. Und diefe Nähe wirkte unbehaglich, 
nicht etwa durch Geräuſche oder ähnliche Beläſtigungen, 
ſondern durch das gerade Gegenteil. | 

Frau Eugenie hatte gefagt, daß der neue Mieter 
bereits eingezogen und daß er zu Hauſe ſei. Aber er 
verhielt ſich ſo lautlos, wie es kaum ein Schlafender 
fertig bringt, deſſen Atem doch zu hören iſt oder eine 
unwillkürliche Bewegung des Körpers. 

Hatte er etwa den Nachbar eintreten hören und 
lauſchte er an irgend einer Stelle, die in dieſem alten, 
morſchen Bau wohl unſchwer zu finden war? 

Da war es ſchließlich kein Unrecht, wenn man 
zuvorkam. 

Es befand ſich zwiſchen den beiden Zimmern eine 
Verbindungstür, die natürlich verſchloſſen und außer- 
dem durch ein Sofa verſtellt war. In dem Schlüſſelloch 


64 Die Apachen. o 


ftedte von drüben ein Schlüffel, aber die Türfüllung 
klaffte ein wenig, und wo man mit Kitt nachgeholfen 
hatte, war die Arbeit läſſig und unvollſtändig. 

Egbert ſtreckte ſich mit einem tiefen Seufzer der 
Ermüdung auf das ebenfalls ſeufzende Sofa. Er ſchämte 
ſich auch etwas und bedauerte ſeine eigene Neugier — 
aber es war ihm ganz unmöglich, anders zu handeln, 
und er dachte nur daran, daß Berta ihn ſtrafend an- 
geſehen haben würde. 

Überhaupt, dieſes ſchöne blonde Mädchen! 

Zeden Tag entdeckte Egbert neue Vorzüge in ihrem 
Weſen, in ihren Zügen, in ihrer Geſtalt. Heute war 
ſie geradezu entzückend geweſen. Aber natürlich — 
gegen einen Hans Lux konnte er nicht aufkommen, 
die beiden hatten ja den ganzen Nachmittag mitein- 
ander geheimnißt, und nächſtens gab es wohl gar eine 
Verlobung! 

Nach dieſer Betrachtung brachte Egbert ſein Auge 
an den Türſpalt, und er gab fih einer anderen Be- 
obachtung hin. 

Der Franzoſe ſaß an ſeinem Schreibtiſch. Das blaue 
Zimmer war tatſächlich mit dieſem Möbel verſehen. 
Es trug das Gepräge erſter Klaſſe, und nach Frau 
Eugenies Ausſpruch follte der neue Mieter einen ent- 
ſprechenden Eindruck machen. 

Aber Egbert in ſeiner feindſeligen Stimmung konnte 
das nicht finden. 

Gewiß, das war ein kluges und intereſſantes Ge- 
ſicht, einer von jenen feſtgemeißelten Köpfen, die durch 
ihre Willenskraft in einer ſchwachen und verweichlichten 
Zeit überall auffallen. Aber anziehend waren dieſe 
Züge keineswegs. 

Der junge Reporter hatte allmählich ſeine Er— 
fahrungen in Moabit geſammelt, und er fand, daß 


2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 65 


dieſer Renard, wie der Franzoſe ſich zu nennen beliebte, 
einen kriminaliſtiſchen Einſchlag hatte, namentlich jenes 
unſtete Flirren der Augen, das am ſtärkſten auf der 
Anklagebank hervortritt, aber ſich auch in das tägliche 
Leben überſetzt. 

Selbſt bei der Arbeit, die doch eine geiſtige Samm- 
lung erforderte. 

Denn Jules Renard arbeitete in dieſem Augenblick 
bei dem Scheine der Lampe an einem Manufkript. 
Egbert konnte das deutlich ſehen, ſein bereits in ſolchen 
Dingen geſchulter Blick erkannte es an der Form des 
Papiers, an der Art, wie jener bisweilen innehielt, 
in die Luft ſchaute, wieder anſetzte und in kurzen Zeilen 
ſchrieb. 

Das war kein Brief, bei dem die Feder das Papier 
nicht verläßt, es war geiſtige Arbeit, die eine Befriedi- 
gung erzeugt, und Egbert erkannte dieſe Seelenregung 
an dem ſtolzen Schürzen der bärtigen Lippen, an 
einem flüchtigen Triumphlächeln, das eine verächtliche 
Beimiſchung hatte. 

Alſo wirklich ein Schriftſteller und kein politiſcher 
Agent, wie Egbert beim erſten Blick geargwöhnt hatte. 
Ein Mann, der ſich in dieſen Winkel zurückzog, um die 
Welt durch irgend etwas zu überraſchen. 

Das blieb doch immerhin ſeltſam, denn die fran- 
zöſiſchen Autoren pflegen ſich ohne Ausnahme in Paris 
niederzulaſſen. Sie ſchöpfen ihre Ideen aus der Haupt- 
ſtadt des Landes; was darüber hinausgeht, iſt ihnen 
fremd. 

Nach einer kleinen Weile änderte ſich das Bild. 

Renard ſchob das Manufkript beifeite, öffnete feinen 
Schreibtiſch und brachte eine umfangreiche Mappe zum 
Vorſchein. Er entnahm derſelben einen Stoß Papiere, 
loſe Blätter von ſonderbarem Ausſehen, hielt jedes 

1918, IX. 5 


66 Die Apachen. k 


einzelne in den Lichtkreis der Lampe und unterſuchte 
es mittels einer Lupe. 

Und nun konnte Egbert deutlich ſehen, daß keiner 
dieſer Bogen beſchrieben war. Es waren keine Papiere, 
ſondern es war Papier — gelblich, rauh, vom Alter 
angegriffen und am Rande zermürbt. Egbert hatte 
dergleichen ſchon geſehen in öffentlichen Sammlungen, 
unter Glas und Rahmen, beſonders im Goethehaus 
zu Weimar und in der dortigen Bibliothek. Aber dann 
ſtand eine Schrift darauf, alt, verblaßt, ehrwürdig, ein 
Gegenſtand ſcheuer Bewunderung. 

Hier nichts von dem allem. Und die Art, wie dieſer 
unbekannte und geheimnisvolle Mann ſeine ſcheinbar 
zweckloſen Unterſuchungen anſtellte, hatte etwas ſo 
Seltſames und Unheimliches, daß Egbert den Entſchluß 
faßte, feinen ganzen Scharfſinn der Löſung des Rätſels 
zu widmen. Mochte der neue Stubennachbar ein harm⸗ 
loſer Narr oder ein wunderlicher Schartekenſammler 
fein — die Hörſäle von Moabit geben auch Gelegen- 
heit zu einer ernſteren Auffaſſung, und Egbert wollte 
ſeine Studien nicht umſonſt gemacht haben. — 

Übrigens geſchah während der nächſten Tage nichts 
Bemerkenswertes. 

Der Fremde erwies fidh als ein ſtiller und anſpruchs- 
loſer Mann, der faſt den ganzen Tag in ſeiner Stube 
hockte und ſich um die Hausgenoſſen ſo gut wie gar 
nicht kümmerte. Frau Eugenies Verſuche, einen fhòn- 
geiſtigen Verkehr anzubahnen, ließ er vollſtändig un- 
beachtet. Dagegen wendete fih fein Intereſſe allmäh- ` 
lich dem Hausherrn zu. 

Willibald Specht war wieder einmal im Tiefſtand 
der Kaſſenebbe, mußte infolgedeſſen arbeiten, und das 
wurde ihm ſchrecklich ſauer; er ſaß fluchend über ſeinen 
Witzblattzeichnungen und erklärte das ganze Daſein 


2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 67 
— —— — — — —— — — —— — — — — 


für einen ſchlechten Witz. Jules Renard kam bisweilen 
zu ihm in das Atelier und ſah zu, wie unter dem Stift 
dieſes genialen Bummlers die tollſten Karikaturen ent- 
ſtanden. 

Die Brücke zwiſchen den beiden Männern war ſchnell 
gezimmert. 

Oer Franzoſe bezeichnete ſich ſelbſt als Mitarbeiter 
franzöſiſcher Journale, der vom „Figaro“ den Auftrag 
erhalten habe, eine Artikelſerie über Deutſchland und 
insbeſondere über Berlin zu ſchreiben, wozu ihn ſeine 
genaue Renntnis der deutſchen Sprache beſonders be- 
fähige. Es lag auf der Hand, daß er den Wunſch 
hegte, zu dieſem Zweck Berlin genau kennenzulernen, 
und Willibald wiederum konnte ſich rühmen, einen 
vorzüglichen Führer abzugeben. 

„Nur erſt wieder Luft haben,“ meinte er. „Ich 
gebe Ihnen mein Ehrenwort, Herr Renard, dies iſt die 
greulichſte Fronarbeit von der Welt, und der Humor 
geht dabei vor die Hunde. Aber wenn erſt ein paar 
hundert Märker beiſammen ſind, dann ſollen Sie Berlin 
kennen lernen, und der „Figaro wird Ihnen jeden Ar- 
tikel mit Gold aufwiegen!“ 

„Das ift auch nicht fo glänzend,“ hatte Renard vor- 
ſichtig erwidert. „Vielleicht gäbe es für uns beide 
einen beſſeren Weg zum Verdienſt.“ 

Da leuchteten die Augen Willibald Spechts hell auf. 

Nach Verlauf einiger Tage erhielt Egbert einen Brief 
von feinem Vater aus Jena. 

Der Alte ſchrieb etwas grämlich: „In der letzten 
Zeit ift hier allerhand paſſiert. Daß die Tochter meines 
Freundes Tonndorf ſich in Paris verlobt hat, teilte 
ich Dir ſchon in meinem letzten Briefe mit, und ich 
fügte abſichtlich hinzu, daß der Bräutigam ein ſolider 
junger Mann ſei, denn Du und die Käthe, ihr habt 


68 Die Apachen. o 


doch wohl miteinander geflirtet, und fo was ift als- 
dann der befte Abſchluß einer Studentenliebe. 

Man ſoll aber niemals in den Wind reden. 

Inzwiſchen iſt der Bräutigam, wie ſich's gehört, nach 
gena gekommen und hat bei dem Vater in aller Form 
um die Hand der Tochter angehalten. Er nennt ſich 
gean Lecocq und will Werkführer in einer chemiſchen 
Fabrik ſein. Ob's wahr iſt, weiß ich nicht, denn ich 
konnte mich nicht mit ihm verſtändigen. Aber Du kennſt 
den alten Tonndorf und weißt, daß er für die Fran- 
zoſen ſchwärmt. Er nahm den jungen Mann in ſein 
Haus auf, willigte in die Verlobung und war ganz 
närriſch über die Ausſicht, ſeine letzten Tage in Paris 
verleben zu können. Nach ein paar Tagen reiſte 
der Bräutigam wieder ab, und nun ſtellte ſich etwas 
ſehr Seltſames heraus. 

Du weißt, Egbert, daß ich immer viel Zntereſſe für 
alte Akten gehabt habe, und Tonndorf beſitzt deren 
eine ganze Menge. Die Perle ſeiner Sammlung bildet 
ein intereſſanter Kriminalprozeß aus der zweiten Hälfte 
des achtzehnten Jahrhunderts, und ich hatte das ganze 
Bündel des bequemen Studiums halber auf mein 
Zimmer genommen. 

Nach der Abreiſe des Franzoſen entdeckten wir, daß 
die Akten nicht mehr vollſtändig find. Nicht im eigent- 
lichen Sinne des Wortes, denn von dem Inhalt fehlt 
kein Blatt; aber hinten ſind eine ganze Menge leerer 
Seiten herausgeſchnitten, und ich konnte anfangs gar 
nicht begreifen, welchen Zweck der Täter damit verfolgt 
haben könnte. | 

Aber Fritz Tonndorf belehrte mich, daß dieſes alte 
Papier ſehr ſelten und ſehr ſchwer zu erlangen ſei. 
Er ſprach von allerhand Fälſchungen, die damit vor— 
genommen werden, und erzählte, daß gerade Paris 


D Ein Parifer Roman von Frig Levon. 69 


mit feinen zahlreichen und berühmten Antiquariaten 
ein günftiges Feld für diefe unſaubere Tätigkeit abgäbe. 

Seitdem haben wir die Angelegenheit nicht mehr 
berührt, aber ich ſehe es dem alten Manne an, daß 
er von einem Verdacht und von einer Sorge gequält 
wird. Denn wenn überhaupt ein Diebſtahl vorliegt, 
dann kann nur Lecocq als Täter in Betracht kommen. 
Er war der einzige Hausgenoſſe während jener Tage, 
er bewohnte Käthes Zimmer und konnte ohne Schwie- 
rigkeit in mein eigenes gelangen. Deshalb reden wir 
nicht über die Sache, aber ſie liegt zwiſchen uns beiden 
wie ein dunkles Geheimnis. Sch weiß auch, daß der 
Alte an ſeine Tochter nach Paris geſchrieben hat, aber 
der Inhalt des Briefes iſt mir unbekannt, und ebenſo, 
ob eine Antwort darauf erfolgte. So leben wir in 
Unruhe, und Fritz Tonndorf redet davon, daß er noch 
einmal den Wanderſtab ergreifen und die Reiſe nach 
Paris unternehmen müſſe.“ 

(Fortſetzung folgt.) 


** 


ANIZANIANIJANIZAR EE zus) Sek 


In den Vorbergen des Himalaja. 
Von N. Zollinger. 


Mit 9 Bildern. t (Nahörud verdoten.) 


Wer in den häuslichen Tugenden der deutſchen Frau 
| den ſchönſten und vollkommenſten Ausdruck wah- 
rer Weiblichkeit erblickt, der gelangt ſehr ſchnell zu einem 
ungünſtigen Urteil über die moderne Amerikanerin. 
In den Vereinigten Staaten ſelbſt erheben ſich ja 
neuerdings immer lauter die Stimmen, die den durch 
einen übertriebenen Kultus des weiblichen Geſchlechts 
verwöhnten und verzogenen Vankeedamen ernſtlich ins 
Gewiſſen reden. Aber wenn es auch unzweifelhaft 
wahr ift, daß die Durchſchnittsamerikanerin fih als ein 
Weſen höherer Gattung betrachtet, das zu nähren, zu 
ſchmücken und zu verhätſcheln die ſelbſtverſtändliche 
Pflicht des Mannes iſt, ſo wäre es doch gewiß voreilig, 
ihr darum alle innere Tüchtigkeit abzuſprechen. 

Der anfängliche Mangel an Frauen in dem nur 
durch Einwanderung bevölkerten Lande hat auf die 
natürlichſte Weiſe zu einer Überſchätzung ihres Wertes 
und zu einer Art von Abgötterei geführt, die ſich in 
den Beziehungen der beiden Geſchlechter auch noch 
jetzt, wo das Zahlenverhältnis längſt ein normales ge- 
worden iſt, bemerkbar macht. Aber die freiwillige 
Unterordnung des ſtärkeren Geſchlechts hat für die 
Charakterentwicklung der Amerikanerin neben mandher- 
lei bedenklichen Wirkungen doch auch ihre Vorteile 


o Von R. Bollinger. | 71 


gehabt. Sie hat dahin geführt, daß fih bei den Mäd- 
chen und Frauen jenſeits des großen Teiches neben 
einer gewiſſen Selbſtüberſchätzung auch Selbſtändigkeit 
und Selbſtvertrauen in ungleich höherem Maße aus- 
gebildet haben als bei der in. anderen Anſchauungen 
aufgewachſenen ſchöneren Hälfte der europäiſchen Na- 
tionen. Die Amerikanerin glaubt ſich zu allem befähigt, 
weil man ihr von Kindheit an verſichert, daß ſie es 
ſei, und in dem unerſchütterlichen Glauben an ihre 
ebenbürtige Leiſtungskraft wagt fie ſich darum un- 
bedenklich auch an Aufgaben, die man anderswo als 
lediglich dem Manne vorbehalten anſieht. 

So geſchieht es denn häufig genug, daß wir von 
erſtaunlichen weiblichen Kraftleiſtungen hören, die eben 
nur eine Amerikanerin fertig bringen konnte. Eine 
Vankeetochter war es, die in Südamerika nach unge- 
heuren Anſtrengungen einen der höchſten, bisher von 
Menſchen erreichten Bergesgipfel erklomm — eine Ame- 
rikanerin, die ohne jede weiße männliche Begleitung 
den dunklen Erdteil durchquerte, und eine Amerikanerin 
veröffentlicht ſoeben ihren intereſſanten Bericht über 
einen zu wiſſenſchaftlichen Zwecken unternommenen 
Ausflug in die unwegſamen Vorberge des Himalaja, 
einen Ausflug, der ſich an Gefahren und Strapazen 
zwar nicht mit jenen erſterwähnten Unternehmungen 
meſſen kann, für ein weibliches Weſen aber immerhin 
eine höchſt achtungswerte Leiſtung darſtellt. 

Die tapfere Reiſende iſt Frau Mary Blair Beebe, 
die junge Gattin eines Ornithologen, den fie uner- 
ſchrocken auf der Suche nach einer nur noch im Hima— 
laja vorkommenden ſeltenen Faſanengattung begleitete, 
und dem ſie, wenn man ihrem durchaus wahrheits— 
getreu anmutenden Bericht Glauben ſchenken darf, 
dabei eine an Ausdauer, Beharrlichkeit und unverwüſt⸗ 


72 Sn den Vorbergen des Himalaja. u 


licher Munterkeit mindeſtens ebenbürtige N 
war, 

Aus der erſchlaffenden Hitze und dem erſticenden 
Staub des indiſchen Flachlandes hatte fih das unter- 
nehmungsluſtige Ehepaar im Anfang des Monats April 
nach. dem ſchon ziemlich hoch gelegenen Darjeeling be- 
geben, das als ſommerlicher Luftkurort in hohem An- 
ſehen ſteht. Die Fahrt in den leichten, ſpielzeugartigen 
Wagen der von Siliguri nach Darjeeling führenden 
Bergbahn, die ſie aus der dumpfigen Tropenwelt des 
Oſchangels in raſcher Steigung zu den luftigen Höhen 
der erſten, noch mit üppigſter Blumenvegetation be- 
deckten Vorberge brachte, erregte bereits das helle Ir 
züden der naturfreudigen jungen Frau. 

Als echte Amerikanerin, die keine Sehenswürdig⸗ 
keit ungenoſſen an ihrem Wege liegen läßt, hatte ſie 
fih natürlich darauf kapriziert, in Darjeeling den Dalai- 
Lama zu ſehen, der eben damals aus politiſchen Grün- 
den dort Zuflucht geſucht hatte. Aber ſie mußte zu 
ihrem Leidweſen auf die Erfüllung dieſes Wunſches 
verzichten, weil das göttlich verehrte Oberhaupt der 
tibetaniſchen Kirche in ſtrengſter Zurückgezogenheit ver- 
harrte, nachdem ein bekehrungseifriger Miſſionar es 
fertig gebracht hatte, ihm auf einem Spaziergange ein 
Traktätchen in die Hand zu drücken, und nachdem wie- 
derholt weibliche europäiſche Reiſende bis in die inneren 
Gemächer feines Hauſes gedrungen waren, unbeküm- 
mert darum, daß die Satzungen ſeiner Religion ihm 
auf das ſtrengſte verbieten, derartige Beſuche zu emp- 
fangen. , 

Innerhalb weniger Tage wurden in Darjeeling alle 
Vorbereitungen für die Expedition in die Berge ge— 
troffen. Die Ausrüſtung mußte eine ziemlich umfang- 
reiche fein, da die Schußhäufer, auf die man in der 


o | Don R. Bollinger. 7a 


Folge angewieſen fein follte, dem Touriſten nichts 
anderes zu bieten haben als ihre kahlen vier Wände 


Copyright, 1911, by Harper & Brothers. 


Bergbahn nach Darjeeling. 


From „Harper’s Magazine“ 


und ein Dach über dem Kopfe. Man mußte alfo außer 
wiſſenſchaftlichen Inſtrumenten, photographiſchen Ap- 


74 Zn den Vorbergen des Himalaja. o 


paraten, Schießwaffen und Munition auch Bettzeug, 
Kochgerätſchaften, Decken und Kleidungsſtücke, ſowie 
vor allem eine ausreichende Menge von Proviant 
mitnehmen, und 
JJV Frau Beebe ver- 
C ſichert, es fei ihr 
| als ganz unmög- 
lich erſchienen, 
daß alle dieſe 
Koffer, Kiſten und 
Ballen auf den 
Rücken menſch⸗ 
licher Träger 
über die ſteilen 
Gebirgspfade 
geſchafft werden 
könnten. Sie 
bemühte fich dar- 
um immer wie- 
der, die Aus- 
rüſtung zu ver- 
ringern, bis man 
— g e ihr ſagte, daß ein 
i; in die Berge rei- 


2 EL Gange — — 
SE e, 
REN En k 

zus» 5 2 75 
T e H N. 


ſender Engländer 


dne meme 
Das Reiſefaktotum Tanduk. men pflege. 

In der Tat erwieſen fih ihre Beſorgniſſe als grund- 
los, denn als das als Koch und Reiſemarſchall enga- 
gierte Faktotum, der Tibetaner Tanduk, mit ſeinen 
zweiunddreißig Trägern anrückte, erklärte er jede der 
einzelnen Traglaſten als viel zu leicht. Die tibetanifchen 
Kuli, unter denen ſich zu Frau Beebes Überraſchung 


— 


GE ng 


o Don R. Bollinger.. 75 


auch ſechs weibliche befanden, waren freilich anderer 
Meinung. Zeder behauptete, daß gerade die ihm zu- 


S — 272 e een 
F — 


— 


Copyright, 1911, by Harper & Brothers. 


From „Harper's Magazine“ 


„ 

0 Wade 
geteilte Laſt die allerſchwerſte ſei, und es würde recht 
ſchwierig geweſen ſein, eine Einigung zu erzielen, wenn 


Aufbruch von Tonglu. 


76 In den Vorbergen des Himalaja. | 2 
nicht Tanduks gefürchtete Autorität raſch Ordnung ge- 
ſchaffen hätte. Die kleine Revolte vor dem Aufbruch 
war übrigens die einzige, über die ſich die Reiſenden 
zu beklagen hatten. Während der ganzen Dauer der 


— —— ä . —— DL 


4 


* 


From „Harper's Magazine“. Copyright, 1911, by Harper & Brothers. 


Schafe mit Maulkorb. 


2 ap en 
„ T Le Ze EN 
ö 


Expedition zeigten ſich die Tibetaner gutartig, harmlos 
und willig wie große Kinder, und namentlich der jungen 
Frau bezeigten fie bald eine Anhänglichkeit und Ver- 
ehrung, die es trotz der Unmöglichkeit einer Verſtändi⸗- 
gung durch das geſprochene Wort leicht machte, mit 
ihnen zu verkehren. Tanduk aber erwies ſich geradezu 


a Von R. Zollinger. 77 


als ein Juwel, und ſo vollkommen er ſich der Würde 
ſeines Amtes den Trägern gegenüber bewußt war, ſo 
dienſtbereit, aufmerkſam und ritterlich benahm er ſich 
gegen ſeine junge Herrin. 

Der erſte Tagesmarſch, der durch eine herrliche 


From „Harper’s Magazine“ Copyrigbt, 1911, by Harper & Brothers. 


Ausblick von Sandukphu. 


Region von Eichen- und Ahornwäldern und über einen 
Blumenteppich von Orchideen und Lilien führte, endete 
an dem Schutzhauſe oder „Bungalow“ von Jorepokri, 
der nächſte, auf dem ſchon eine Höhe von faſt 4000 Meter 
erreicht wurde, bei dem Bungalow von Tonglu. 
Dieſe für die Reiſenden beſtimmten Schutzhäuſer, 
die in Entfernungen von je einer Tagereiſe bis in die 


78 In den Vorbergen des Himalaja. d, 


höheren Gebirgsregionen hinauf zerſtreut find, bedeuten 
eine vortreffliche Einrichtung, ohne deren Vorhanden⸗ 
fein größere Märſche bei der Häufigkeit jäher Wetter- 
umſchläge und gefährlicher Schneeſtürme überhaupt 
kaum durchführbar wären. Sie enthalten zumeiſt zwei 
kleine Schlafräume und einen Aufenthaltsraum, ſowie 
in halboffenen Anbauten einen Küchenraum und Ber- 
ſchläge für die Unterbringung der Träger und der Reit- 

tiere. | 

Auch diefe letzteren, ausdauernde und bergſichere 
tibetaniſche Ponys, finden die uneingeſchränkte An- 
erkennung der Frau Beebe. Allerdings mußte ſich die 
Dame erſt daran gewöhnen, daß die Tiere auch auf 
den bedenklichſten Felspfaden, über ſenkrecht abfallenden 
Wänden von unermeßlicher Tiefe, ſtets am äußerſten 
Rande dahinwandelten. Sie waren eben in ihrer 
Jugend zum Tragen von Laſten verwendet worden 
und hatten darauf bedacht fein müſſen, eine unan- 
genehme Berührung dieſer Laſt mit der Felswand zu 
vermeiden. Nun aber waren ſie zu alt, um noch von 
ihrer, für nicht ganz ſchwindelfreie Reiter etwas un- 
angenehmen Gewohnheit zu laffen. 

Während die majeſtätiſchen Gipfel des Himalaja bis 
dahin ſtets hinter einem undurchſichtigen Nebelſchleier 
verhüllt geblieben waren, hatten die Reiſenden von 
Tonglu aus zum erſten Male die Freude, wenigſtens 
auf kurze Zeit des Kintſchindſchinga anſichtig zu werden, 
deſſen Anblick auf Frau Beebe nach ihrer Verſicherung 
faſt überwältigend wirkte. 

Auf endloſen Zickzackwanderungen gelangte man 
von Tonglu aus in einem weiteren Tagesmarſch nach 
der Anſiedlung Kalapokri, die für den armen Tanduk 
zu einer Quelle bitterſter Nöte und Kümmerniſſe werden 
ſollte. Die beiden harmlos und unverfänglich aus- 


at ea 


— — —— — — - 


a) Von R. Zollinger. 79 


ſehenden Hütten, aus denen diefe Anſiedlung beiteht, 
verdanken ihre Exiſtenz in der Bergeinſamkeit nämlich 


n 
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lediglich der allen Tibetanern und Nepaleſen eigen- 
tümlichen Schwäche für geiſtige Setränke. Mag der 


Copyright, 1911, by Harper & Brothers. 


Die Trägerinnen bei der Toilette. 


From „Harper's Magazine“. 


80 Zn den Vorbergen des Himalaja. 2 


Verkehr hier in der Gebirgswildnis auch ein noch ſo 
ſpärlicher ſein, die Bewohner der beiden Häuſer müſſen 
beim Schnapsausſchank doch wohl ihre Rechnung finden, 
denn von den eingeborenen Bewohnern des Landes, 
die dieſes Weges ziehen, widerſteht keiner der lockenden 
Verſuchung. 

Auch der würdevolle, muſterhafte Tanduk fiel ihr 
zum Opfer und präſentierte ſich dem reiſenden Ehepaar 
alsbald in einem Zuſtande, der ihn zeitweilig zur Aus- 
übung ſeiner verantwortungsvollen Pflichten ganz und 
gar untauglich machte. Größer aber als ſein Vergehen 
war feine Reue, und es iſt charakteriſtiſch für das ritter- 
liche Empfinden dieſes Tibetaners, daß ihn vor allem 
das Bewußtſein, von einer weißen Dame in Ip un- 
würdiger Verfaſſung geſehen worden zu ſein, faſt bis 
zur Verzweiflung und bis zu ganz ernſthaften Selbſt⸗ 
mordabſichten trieb. Natürlich wurde ihm die demütig 
erbetene Verzeihung um ſo bereitwilliger gewährt, als 
er für die Reiſenden fo gut wie unentbehrlich war, 
und er gab in der Folge nie wieder einen Anlaß zur 
Unzufriedenheit. 

Das nhächſte Wegziel war Sandukphu, und der Marſch 
zu dem ſchon in ſehr beträchtlicher Höhe gelegenen 
Bungalow bereitete den Reitern wie den Trägern er— 
hebliche Schwierigkeiten, die indeſſen von den weib- 
lichen Kuli ebenſo frohgemut überwunden wurden wie 
von den männlichen. Der Name Sandukphu ließe ſich 
ungefähr mit Akonitberg überſetzen, und über weite 
Strecken beherrſcht in der Tat der blaue Eiſenhut als 
Träger dieſes furchtbaren Giftes die Vegetation. Wie 
gut den Nepaleſen die gefährlichen Eigenſchaften der 
Pflanze bekannt ſind, beweiſt ihre Gewohnheit, den 
Schafen, die ſie durch dieſe Regionen treiben, einen 
Maulkorb anzulegen, damit ſie vor der Verſuchung 


81 


Von R. Zollinger. 


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dlich komfortable Bungalow von Gan- 


geſichert ſind, ſich an dem todbringenden Futter g 


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dukphu war zu längerem Aufenthalt auserſehen, da er 


tgelegenen Stützpunkt für die in noch höhere und 


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Digitized by Google 


1913. IX, 


82 Sn den Borbergen des Himalaja. u 


wildere Gebirgsregionen führenden wiſſenſchaftlichen 
Ausflüge der beiden Reiſenden abgab. Das Erwachen. 
am erſten Morgen nach der Ankunft brachte Frau 
Beebe eine gewaltige ÜUberraſchung dadurch, daß fie fid 
unvermutet inmitten einer prachtvollen Schneeland- 
ſchaft fand, denn über Nacht hatte es einen jener 
Schneeſtürme gegeben, die hier auch in der guten 
Jahreszeit zu den häufigen Vorkommniſſen gehören. 
Die Tibetaner aber, deren geſunder Schlaf dadurch nicht 
im mindeſten geſtört wurde, waren in ihren halboffenen 
Verſchlägen von einer zentimeterhohen Schneeſchicht 
überdeckt worden. Vergnügt ſchüttelten ſie ſie am 
Morgen von ihren dicken Gewändern, und die Ausſicht 
auf eine Reihe von Ruhetagen machte fie ausgelaſſen 
wie kleine Kinder. 

Als echte Evastöchter erwieſen ſich die Frauen und 
Mädchen, deren erſte Sorge eine mit größter Hingebung 
vorgenommene Verſchönerung ihrer äußeren Erſchei— 
nung war. Sie gruppierten ſich zu dieſem Zweck in 
einem ſonnigen, geſchützten Winkel vor dem Schutz 
hauſe und waren ſich gegenſeitig neidlos bei der Toilette 
behilflich. Der Anwendung des Waſſers in irgend- 
welcher Form zwar gingen ſie dabei gefliſſentlich aus 
dem Wege, einmal, weil ſie ſich bei den Tibetanern 
überhaupt keiner übergroßen Beliebtheit zu erfreuen 
hat, und zweitens, weil fie bei der — auch dem euro- 
päiſchen Alpiniſten hinlänglich bekannten — Wirkung 
der Höhenluft auf die unbedeckte Haut hier in der Tat 
nicht ſehr zweckmäßig geweſen wäre. Sie begnügten 
ſich alſo, das Geſicht mit einer undefinierbaren bräun- 
lichen Maſſe einzureiben, die nach Frau Beebes Ver— 
ſicherung mit Cold- cream nur eine febr entfernte Ahn— 
lichkeit hatte, und ließen ihrer weiblichen Eitelkeit ledig— 
lich bei der Behandlung und Anordnung des ſtraffen, 


1 Von R. Zollinger. 83 


ſchwarzen Kopfhaares, auf das ſie erſichtlich beſonders 
ſtolz waren, freien Lauf. Das Kämmen und Friſieren, 
das jede von einer dienſtbereiten Mitſchweſter beſorgen 
ließ, währte ſtundenlang, und die junge Amerikanerin 
konnte dabei die intereſſante Beobachtung machen, daß 
auch dieſe von der Modekultur noch gänzlich unbeleckten 


er & Brothers. 


S — RE DC 
brom „ Harper’s Magazine“, Copyright, 1911, by. Harp 


Das Schutzhaus bei Phallut. 


Damen bereits gelernt hatten, mit künſtlichen Mitteln 
nachzuhelfen, wo fie ſich von der Natur zu ftiefmütter- 
lich bedacht glaubten. Das „falſche Haar“, deffen fie 
ſich zur Vortäuſchung einer nicht vorhandenen Fülle 
bedienten, beſtand allerdings aus allerlei Materialien, 
wie ſie zu ſolchem Zweck ſonſt nicht verwendet zu werden 
pflegen. Mußten doch ſelbſt die Baſtfaſern dazu þer- 
halten, die vorher zur Verpackung von Tabak gebraucht 


84 In den Vorbergen des Himalaja. D 


worden waren. Unter der fertigen „Cléofriſur“ aber 
erfüllten fie ihre Aufgabe ebenſogut als irgend ein 
anderes Hilfsmittel, und eines der Mädchen nahm ſich 
nach beendeter Toilette ſogar ſo nett aus, daß Frau 
Beebe die naiven Huldigungen ganz begreiflich fand, 
| die ihr von feiten 
der Männer dar- 
gebracht wurden. 

Während die 
Frauen auf ſolche 
Art der Körper- 
kultur oblagen, 
vergnügten ſich 
die männlichen 
Kuli an dieſem 
wie an allen fol- 
genden Raſttagen 
mit einem Spiel, 
das für fie offen- 
bar den Gipfel 
alles irdiſchen 
Vergnügens be- 
A IR deutete. Es be- 
we „Harper’s Masse? ſtand darin, daß 


Copyright, 1911, by Harper & Brothers. aus einer ewif- 
Blick auf den Mount Evereſt, den g 


böchſten Gipfel der Erde. ſen Entfernung 

ein großer Stein 

in eine zu dieſem Zweck hergeſtellte Aushöhlung des 

Bodens geworfen werden mußte, und es gab bei dieſer 

Unterhaltung, deren die Tibetaner niemals müde wur- 

den, ſo viel Lärm, Gelächter und Geſchrei, wie wenn 

es ſich um die aufregendſten Dinge von der Welt ge- 
handelt hätte. 

Da es Nr. Beebe trotz aller halsbrecheriſchen Strei- 


o Von R. Zollinger. 85 


fereien noch immer nicht gelungen war, der geſuchten 
ſeltenen Vögel habhaft zu werden, unternahm das 
Ehepaar ſchließlich noch einen Ausflug nach dem ziem- 
lich entfernten Phallut, das man ihnen als einen der 
wenigen Aufenthaltsorte jener Faſanenart bezeichnet 
hatte, und während dieſes Ausflugs hätte das bisher 
ſtets vom Glück begünſtigte Unternehmen leicht eine 
recht bedenkliche Wendung nehmen können. 

Die Reiſenden, die ſich um der Wegſchwierigkeiten 
willen nur von wenig Kuli hatten begleiten laſſen, 
wurden unmittelbar, nachdem ſie das Schutzhaus 
Phallut erreicht hatten, von einem der furchtbarſten 
Stürme überraſcht, die fie jemals erlebt hatten. Selbſt 
die immer ſorgloſen Tibetaner zeigten ſich erſchrocken 
und ängſtlich. Ein länger anhaltender Schneefall würde 
ja die kleine Reiſegeſellſchaft, die nur für zwei Tage mit 
Proviant verſehen war, von aller Welt abgeſchnitten 
haben, da er den Rückweg nach Sandukphu ungangbar 
gemacht hätte, und da hier oben in der weltfernen Berg- 
einſamkeit irgendwelche Lebensmittel nicht zu erlangen 
geweſen wären. | 

Frau Beebe ließ fih aber auch durch diefe immer- 
hin recht kritiſche Lage die gute Laune und die Freude 
an der Großartigkeit der ſie umgebenden Natur nicht 
verderben, und ihre frohgemute Zuverſicht erwies ſich 
als berechtigt; denn am folgenden Morgen ſtrahlte 
wieder die Sonne vom wolkenlos blauen Firmament, 
und der tapferen Amerikanerin war ſogar eine befon- 
dere Freude vorbehalten, der Anblick der ganzen, von 
allen Nebeln und Wolken befreiten Kette des Himalaja 
mit dem Mount Evereſt, dem höchſten Gipfel der Erde, 
der ſein königliches Haupt ſonſt faſt immer vor den 
Blicken der Sterblichen zu verſchleiern liebt. 


* 


BER 


Die Welt der anderen. 
Novelle von Zuife Weſtkirch. 


H (Goéëärud verboten.) 


Der junge Lehrer Heinz Oſterwald ſtand auf dem 
Flure vor dem kleinen Spiegel, rückte feine Rra- 
watte zurecht und knöpfte umſtändlich ſeine Handſchuhe 
zu, nicht aus Eitelkeit, ſondern um Zeit zu gewinnen, 
fünf Minuten des Alleinſeins nur mit feiner Braut. 
Den ganzen Abend waren Vater und Mutter Wa— 
ranger wieder nicht aus der Stube gewichen. Und 
es war doch der letzte Abend auf vier Wochen! Morgen 
um ſieben Uhr Wie er mit feiner Kolonne Ferien- 
kinder ab. 

„Elli, könnteſt du mich nicht heute ausnahmsweiſe 
ein paar Straßen weit begleiten? Sei lieb! Setz deinen 
Hut auf!“ 

Elli Waranger ſtand an der Wohnſtubentür, zierlich 
und ſauber wie eine Porzellanfigur aus dem Glas- 
ſchrank, mit der blaſſen Hautfarbe der Städterinnen 
und dunklen Augen voll ſcheuer Zärtlichkeit. 

„Ich käme morgen früh gern auf den Bahnhof, 
Heinz,“ ſagte ſie zögernd. 

„Ein Abſchied vor fünfundzwanzig Schuljungen — 
danke!“ 

„Daß ich am Abend mit dir allein auf die Straße 
gehe, gibt Mama nicht zu — du weißt's. Wir ſind 
doch noch nicht richtig verlobt.“ 


o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 87 


Er warf den Kopf zurück, und faft höhniſch erwiderte 
er: „Mir ſcheint, deiner Verſtändigkeit könnte die Mutter 
wohl vertrauen, wenn ſie meiner Rechtſchaffenheit nicht 
vertrauen will.“ | 

„Es iſt nicht Mißtrauen, Heinz. Mama ſtammt aus 
einer anderen Zeit. Solch abendlicher Spaziergang 
würde ihr Empfinden tief verletzen.“ 

„Und mein Empfinden, Elli?“ 

Sie ergriff bittend feine Hände. „Oh, Heinz, wenn 
ich erſt deine Frau bin, dann lebe ich nach deinem Wunſch 
und Willen — nur nach deinem! Aber ſolange ich in 
meiner Eltern Haus bin, iſt es meine Pflicht, daß ich 
ihre Wünſche achte.“ | 

„Korrekt bis zum tz — verſteht fidh!“ 

Ihre Augen füllten ſich mit Tränen. „Geh nicht 
im Zorn von mir, Heinz. Hab' Geduld. Sieh, deine 
Liebe iſt mir ein ſo unbegreifliches, unverdientes Glück, 
daß ich immer in der Furcht lebe, ich verſpiel's, wenn 
ich mich nicht ganz brav betrage. Sei mir nicht bös.“ 

„Nein, du Dummerchen!“ 

Er küßte ſie. 

Da bewegte ſich leiſe die Wohnſtubentür. Die 
Mutter! Der Abſchied dauerte ihr ſchon zu lang. 

Heinz ſchlug die Korridortür hinter ſich zu. Er war 
jetzt doch böſe. Er ging noch nicht nach Haus. Er ging 
in den Stadtpark. Der Nachtwind ſtrich ihm um die 
Stirn, die Sterne funkelten. Wie war die Welt um 
ihn hoch und frei — und wie eng gebunden ſein Leben, 
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft! Als Sohn 
eines kleinen Beamten war er zum Lehrer beſtimmt 
worden. Ganz programmmäßig ging er durch Schule 
und Seminar, immer der Erſten einer, ein Kluger, ein 
Streber. Früh hatte er eine Anſtellung bekommen, und 
ſobald er in eine Stelle einrückte, die eine Familie 


88 Die Welt der anderen. u 


ernährte, würde er ſich verheiraten mit einem Mädchen, 
das die Vollkommenheit in Perſon war an Leib und 
an Seele. Daran gab's keinen Zweifel. 

Auch Elli hatte einſt davon geträumt, ein Gym— 
naſium zu beſuchen, zu einem gelehrten Beruf ſich aus- 
zubilden, aber Bücher und Studium warf ſie beiſeite, 
als ihr älterer Brudeg erkrankte. Der war der Stolz, 
die Hoffnung der Familie. Es verſtand ſich von ſelbſt, 
daß ſie ihre Ausſichten ihm zum Opfer brachte. Da 
ihr Vater die Mutter nicht entbehren konnte, reiſte ſie 
mit dem Leidenden von Heilſtätte zu Heilſtätte. Die 
für ihre Ausbildung unerſetzlichen Jahre gingen dabei 
verloren ſamt dem kleinen Vermögen, das ihr dieſe 
Ausbildung ermöglichen ſollte. Dann ſtarb der Kranke. 
Elli arbeitete jetzt Spitzenkrawatten und Kragen für 
ein Wäſchegeſchäft, um zum Haushaltgeld beizutragen, 
das knapp geworden war ſeit des Vaters Penſionierung. 
Und fie klagte nie. Ja, fie war ein Engel an Opfer— 

willigkeit und Pflichttreue. 

Heinz war geſättigt worden mit dem allem, ſeit er 
denken konnte. Es war das tägliche Brot in ſeinem 
Vaterhauſe geweſen, war's im Hauſe ſeiner Braut. 
And ſein junges, heißes Blut rebellierte, und ſeine 
Sehnſucht verlangte nach etwas ganz anderem, etwas 
Ungeheurem, etwas, das wie der Sturmwind über die 
ſich biegenden Bäume ohne Maß und Regel hinbrauſte 
über Sitte, Geſetz und Pflicht. Das war, nicht weil 
es ſein ſollte, ſondern weil es ſein mußte. Ach, über 
dieſe Schonſamkeit für alles Brüchige, Kranke! Dieſe 
Rückſichtnahme auf alles Überlebte! Dieſe grauen 
Spinnfäden, die überall ihm das blühende Leben ein— 
ſpannen! 


Am nächſten Morgen marſchierte er an der Spitze 


2 Novelle von Suite Weſtkirch. 89 


feiner fünfundzwanzig Ferienkinder durch die Bahn- 
hofhalle. Er liebte feine Zungen, den noch ungebroche- 
nen Lebensmut, die geſunde Selbſtſucht, die ihnen aus 
den Augen leuchteten. Das Herz ſchlug ihm, als er 
einen der Jungen leiſe zum anderen ſagen hörte: 
„Weißte, Fritze, mein Indianerzeug hab' ich heimlich 
eingepackt — neun rote Federn un das Kriegsbeil un 
Blau un Rot zum Anmalen.“ — ga wenn es ihm 
auch nicht vergönnt war, Heldentaten zu vollbringen, 
fo wollte er fie wenigſtens ſpielen mit feinen Jungen! 
Im vorigen Sommer hatte man ihn mit ſeiner 
Schar in ein elegantes Seebad geſchickt. Das war ein- 
fach unerträglich geweſen. Verbote auf Schritt und 
Tritt. Die Dünen ſollten ſie nicht betreten, um ſie 
nicht zu beſchädigen, die vornehmen Badegälte am 
Strand durften ſie nicht durch Lärm beläſtigen, auf 
der Promenade ſich nicht tummeln. Diesmal hatte er 
es durchgeſetzt, daß er in die Wildnis geſchickt wurde, 
in ein verſtecktes Neft in der Heide, wo es nur Bradh- 
land gab und Föhren und ein paar Unternehmer, die 
mit mehr oder weniger Glück nach Petroleum bohrten. 
Es war ſpät am Nachmittag, als ſie aus dem Zug 
ſtiegen und ihren Marſch zum Endziel antraten, eine 
lange, ſtaubige Landſtraße zwiſchen Feldern entlang. 
Aber die Stadtkinder begrüßten jauchzend den friſchen 
Wind, der ungehemmt über die freie Fläche fuhr. Die 
Blumen am Rain, die Mäuschen, die aus ihren Löchern 
guckten, die Käfer im Gras, die Eidechſen, die quaken- 
den Fröſche wurden zum Ereignis. Dann kam das erſte 
Dorf mit ſeinem Teich voll Enten und Gänſe — wieder 
ein Wunder. Einige der Kinder hatten ihrer Lebtage 
noch keine lebendige Gans geſehen. Und jetzt ſchnitt 
eine Herde ſchlanker Oreiecke, die Bohrtürme Olhauſens, 
in den leuchtenden Himmel. Hinter der Einförmigkeit 


90 Die Welt der anderen. o 


der Felder breitete fidh die braune Heide, von einzelnen 
Birken und Wacholdern überragt, an ihrer rechten Seite 
begrenzt vom dunklen Streifen eines Föhrenwaldes. 
Ein weißer, viereckiger Bau leuchtete davor, rätſelhaft, 
lodend wie ein Märchenſchloß. 

Auf der Straße kam ein Mann daher, einen leichten 
weißen Panamahut auf dein Kopf, das von ſchwarzem 
Haar und Bart umrahmte Geſicht von der Sonne füd- 
licherer Himmelsſtriche gebräunt. 

Oſterwald lüftete höflich den Hut. „Ich bitte um 
Verzeihung. Iſt das Haus dort vor dem Wald das 
Gaſthaus Waldheim?“ 

„Jawohl. Schlagen Sie nur den Seitenweg rechts 
ein. Sie werden erwartet. Denn Sie ſind doch der 
Herr Lehrer Oſterwald mit den Ferienkindern, nicht 
wahr? Ich bin der Ingenieur Börnholm. Wenn es 
Ihnen Vergnügen macht, kommen Sie doch nachher noch 
ein bißchen nach Neu-Pennſylvanien herüber. Wir vom 
Wert freuen uns auf den neuen Genoſſen in der Wüſte.“ 

„Verkehren die Herren nicht in Gaſthaus Waldheim?“ 

Der Ingenieur ſchüttelte den Kopf. „Der Beſitzer 
iſt von Haus aus kein Wirt. Sein Bruder, der drüben 
überm Waſſer reich geworden iſt und ihn ſchiffbrüchig 
auf dem Sand fand, hat ihn in Olhauſen angeſiedelt 
zu einer Zeit, als wir alle noch meinten, daß das Gold 
hier nur ſo ſcheffelweiſe vom Boden aufzuleſen wäre. 
Jetzt ſäuft er ſeinen Weinkeller leer und ſich um den 
Verſtand, während ſeine Tochter, ein reſolutes Mädel, 
den Kram ſchlecht und recht zuſammenhält. Sie brauchen 
darüber nicht zu erſchrecken. Seinen Knacks hat faſt 
jeder hier weg. Die Ziviliſation iſt ausgeſchaltet auf 
dieſen vier Quadratkilometern Heide. Aber für Ihre 
Zungen wird es das Paradies fein. — Auf Wieder- 
ſehen!“ 


a Novelle von Luiſe Weſtkirch. 91 


Das Märchenſchloß verlor ein wenig von feinem 
Glanz, als ſie näher kamen. Es war ein großes Haus 
mit zwei Seitenflügeln, vor Jahren einmal grellweiß 
getüncht. Jetzt bröckelte der Verputz von feinen Wän- 
den. Die grüne Farbe der Fenſterrahmen war ab- 
geſprungen, mehrere Scheiben waren geborſten. Die 
Haustür blieb mürriſch verſchloſſen. Aber in einem 
Seitenflügel Haffte ein Tor. Ein beladener Heuwagen 
ſtand drin. Und da war auch Leben. | 

Ein junger Mann und ein junges Mädchen fchleu- 
derten um die Wette in weitem Bogen Bohnenſtangen 
als Lanzen in das Heufuder. Der Mann zielte kaum, 
ſchien gar keine Kraft einzuſetzen, aber ohne je abzu- 
irren, ſauſte ſein Geſchoß durch die Luft, um federnd 
ſich in die Heuſchwaden einzubohren. Das Mädchen 
warf haſtig anſpringend, weit ausholend und doch met 
fehlend, was ſie jedesmal mit hellem Lachen feſtſtellte. 
Ihr Lachen war laut, ihre Bewegungen von einer 
wilden Anmut. Eine helle Bluſe hing um ihre ſchlanken 
Schultern, am Armel bemerkte der Lehrer mißbilligend 
einen Riß. Aber ihr Profil war ſcharf und rein ge— 
ſchnitten wie eine Gemme, und die blitzenden blauen 
Augen und das krauſe, ſilberig flimmernde Haar, das 
ihren Kopf umflatterte, gaben ihr etwas Stolzes, Freies. 
Sie glich keinem Mädchen, das Heinz Oſterwald je 
geſehen hatte, und ſie gefiel und mißfiel ihm zugleich. 

Als die Schar ſich näherte, wandte ſie den Kopf. 
„Wahrhaftig, da find unſere Zungen ſchon! — Alfo, 
gute Nacht, Herr Macclean.“ 

Sie ſtieß die Haustür auf. 

„Tante Hanne! Tante Hanne!“ 

Eine alte Frau mit grauem Struwwelkopf erſchien 
im Türrahmen. „Ach, du mein!“ 

„Ja, was ift denn? Das Effen ſteht doch bereit! — 


92 Die Welt der anderen. D 


Guten Abend, alle mitſammen. Nur immer herein! 
And gleich zu Tiſch! Aber vielleicht will der Herr Lehrer 
erſt die Schlafſtuben ſehen?“ 

Eine weite, mit Steinen gepflafterte Halle tat ſich 
auf, dämmerig und feucht. Zu beiden Seiten Wirts- 
ſtuben, um deren Tiſche und Bänke die Fliegen fumm- 
ten. Die Treppe war breit und ausgetreten. Am Ge— 
länder fehlten Sproſſen. Von den Wänden rieſelte der 
Kalk. Oben wieder ein weiter Flur mit vielen Türen. Die 
Betten in den Stuben waren ſauber überzogen, aber 
Stühle und Tiſche ſchadhaft. Heinz hob die Laken von 
einigen Betten und fand darunter das blanke Stroh. 

„Schadet nichts,“ verſicherte das Mädchen lachend. 
„Paſſen Sie nur auf, wie prachtvoll Ihre Zungen darin 
ſchlafen werden.“ 

Durch die weit offen ſtehenden Fenſter ſchien in 
roter Glut die Abendſonne, und der feine Duft der 
Föhren drang würzig herein. 

„Wenigſtens werden wir gute Luft haben,“ meinte 
Oſterwald. 

Aber auch das Abendbrot war gut — Schinken, 
Landwurſt, kräftiges Schwarzbrot. 

Als er ſeine Schar über den dämmerigen Flur zurück- 
führte, trat aus einer der leeren Gaſtſtuben ein kraft— 
voll gebauter Mann mit einem Geſicht ſo brüchig und 
zerfallen wie ſein Haus. Mit gebogenem Arm und 
ſteifer Würde bot er Oſterwald die Hand. 

„Ich heiße Sie w— willkommen, Herr L Lehrer. 
Laſſen Sie es mich ausſprechen, es iſt mir eine große 
Ehre, daß der Staat meinem Gaſthaus ſeine Jugend, 
ſeine künftigen Bürger, auf einige Zeit anvertraut. 
Eine E—Ehre, ja — und ein Z— Zeichen zugleich — 
haha — daß man mich da oben doch nicht ganz v— ver- 
g- geſſen hat — ja.“ 


o Novelle von Luife Weſtkirch. 93 


„Der Staat braucht viele Stätten für feine Ferien- 
kinder, Herr Braun.“ 

Der Wirt vom Waldheim fuhr unbeirrt fort: „Sie 
wundern ſich — ja, ſ—ſelbſtverſtändlich wundern Sie 
ſich, daß Sie m—mich hier treffen, einen Mann von 
meinen Fähigkeiten, meiner B— Bildung, hier! — Ach, 
mein lieber Herr, man hat nicht recht an mir gehandelt, 
ich muß es aus—ausſprechen, die oben nicht, mein 
Bruder nicht, der mich lebendig in dieſer Wüſte begräbt. 
Denn ich bin jemand in der Welt geweſen. Eine 
glänzende Zukunft lag vor mir. W— wenn ich Ihnen 
die Intrigen erzählen wollte, die mich — 

Er brach ab, ſah ſich ſcheu um. 

„Was willſt du denn, Lisbeth?“ 

Die Haustochter war herangetreten, hatte herriſch 
ſeinen Arm ergriffen. „Du ſollſt ſchlafen gehen, Vater.“ 

„Willſt d—du mich hindern, meinen G—aſt zu 
begrüßen?“ 

„Du biſt krank. — Ja, der Bater ift krank, Herr 
Oſterwald.“ 

Sie blitzte den Lehrer gebietend an. Die Jungen 
um ihn reckten ſchon verſtändnisvoll grinſend die Hälſe. 
And mit trotziger Kraft zog ſie den ſchwankenden und 
fih ſträubenden Mann durch eine Tür und warf fie 
hinter ſich ins Schloß. 

Im Flur ſtand Tante Halte ſchüttelte den Kopf 
und ſeufzte. „Es iſt ein Kreuz — ein wahres Kreuz!“ 

Heinz mußte an Börnholms Worte denken. Der 
Wirt vom Waldheim hatte jedenfalls ſeinen „Knacks“. 

Sobald ſeine Pflegebefohlenen in ihren Betten 
lagen, ging er nach Neu-Pennſylvanien hinüber. Der 
volle Mond ſchien taghell. Schwarz ſtanden die 
Wacholderbüſche auf der weiten Heidefläche, auf der 
verſtreut die Häuschen der Ingenieure und Arbeiter 


94 Oie Welt der anderen. o 


lagen, faſt alle mit dunklen Fenſtern. Nur von der 
Terraſſe des roten Backſteinhauſes Neu-Pennſylvanien 
ſtrahlte helles Licht. Die Grillen zirpten, leiſe keuchten 
die Dampfpumpen, die Tag und Nacht das Ol herauf- 
zwangen aus dem Erdenſchoß. Und den Horizont be- 
grenzend, ſchnitten in den lichterfüllten Himmel die 
grotesken Umtifje der Bohrtürme, im ungewiſſen Mond- 
licht anzuſchauen wie eine Herde kauernder Urtiere, 
über denen als ihr heißer Atem die weiße Rauchfahne 
der Dampfpumpen wehte. 

Oſterwalds Phantaſie, die unverbraucht und un- 
bändig war wie die eines Knaben, fab Wunder ringsum- 
her. Die Begebniſſe des Tages klangen nach in ſeinem 
noch nicht durch Erfahrungen ſtumpf gewordenen Ge- 
müt. Rätſelhaft aufregend ſtanden vor ſeinem inneren 
Auge die geſchmeidige, ſilberhaarige Dirne mit ihrem 
lanzenwerfenden Gefährten und der würdevolle Trun- 
kenbold, ihr Vater. 

Die Terraſſe von Neu-Pennſylvanien verſtärkte den 
Eindruck des Wandelns in einem Märchen. Ein kunft- 
loſer Bau war's, deſſen Dach durch plumpes Gebälk 
getragen wurde, deſſen Fußboden eitel Ziegelſtein e 
waren. Rohe Holztiſche ſtanden darauf. Die Gäſte, 
über die eine einzige von der Decke herabhängende 
Petroleumlampe grelles Licht warf, ſchienen aus allen 
Raſſen und Zonen zuſammengewürfelt. Das helle 
Blond des Nordländers glänzte neben dem tiefen 
Schwarz und den braunen Funkelaugen ſpaniſcher und 
italieniſcher Stämme. Weitgereiſte Leute waren's 
ſämtlich, die von Konſtantinopel, von Syrien, von 
Südamerika und Auſtralien ſprachen wie vom nächſten 
Dorf, eine unſeßhafte Art, Schweifende durch die weite 
Welt. Keiner hatte mit dem Nachbarn anderes gemein 
als das heiße Ringen mit dem Leben, von dem die 


o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 95 


meiſten die Narben ſichtbar trugen. Es band fie auch 
nichts aneinander als der Drang nach Gewinn, die 
Gier nach dem Gold, das hier flüſſig aus dem Boden 
quillen ſollte. Die hatte fie in dieſem Weltwinkel zu- 
ſammengetrieben, die würde fie morgen wieder aus- 
einandertreiben in alle vier Winde. Ein babyloniſches 
Sprachgewirr — Schwediſch, Engliſch, Polniſch, Sta- 
lieniſch ſchwirrte mit gebrochenem Oeutſch durchein- 
ander. Aus ſchwarzen und grauen Augen leuchtete 
dasſelbe rückſichtsloſe Abenteurertum. Nur wenige 
Stunden Bahnfahrt hatte Heinz zurückgelegt und ſtand 
nun mit einem Schlag außerhalb ſeiner Welt, mitten 
im Land der Märchen, des Unwahrſcheinlichen, das 
ſeine Sehnſucht geweſen war ſeit ſeinen Knabentagen. 

Börnholm ſah ſein Staunen, ſein Intereſſe. „Ja,“ 
ſagte er, „Sie finden eine Sammlung von Menfchen 
wie diefe nicht noch einmal im Deutſchen Reich. Von 
denen, die an dieſen Tiſchen ſitzen, hat jeder ſeine 
Geſchichte — manchmal ſchlimm. Charakterkerle ſind 
die meiſten. Sehen Sie zum Beiſpiel den Burſchen 
drüben, der jetzt aufſteht und bezahlt, den Blonden, 
Schlanken.“ | i 

Heinz erkannte den Lanzenwerfer. 

„Ein rieſig intereſſanter Kerl,“ fuhr Börnholm fort. 
„Mit feinen ſechsundzwanzig Jahren hat er vier Erd- 
teile geſehen und iſt ſo ziemlich alles geweſen, was 
ein Menſch ſein kann: Cowboy, Lokomotivführer, 
Trapper, Händler — auch Eiſenbahnräuber wird be- 
hauptet. Augenblicklich iſt er unſer erſter Bohrmeiſter. 
Aber er geht nächſtens wieder über das Waſſer zurück. 
Er erſtrebt die Milliarde. Und er hat das Zeug dazu, 
die Findigkeit — und auch die ſoliden Ellbogen, die 
glückliche Skrupelloſigkeit. Paſſen Sie auf, der errafft 
ſie — vorausgeſetzt, daß man ihn nicht vorher aufhängt.“ 


96 Die Welt der anderen. o 


Verwirrt, entzückt, ungläubig ſperrte Heinz Augen 
und Ohren auf, lauſchte rechts und links auf Erzählungen 
von Begebenheiten, fo wild, wie feine wildeſte Phan- 
taſie ſie ihm nicht vorgemalt hatte, auf Urteile aus einer 
Weltanſchauung heraus, die nie zuvor mit ihrer frechen 
Pietätloſigkeit ſein wohlerzogenes Hirn erſchreckt hatte. 

In Märchenſtimmung kehrte er ſpät am Abend heim. 
Konnte der Mond, der mit tollmachendem Geflimmer 
den hohen Himmel und die weite Heide hier erfüllte, 
mit unirdiſcher Glorie das weiße Haus vor der ſchwarzen 
Föhrenwand übergoß, wirklich derſelbe Mond ſein, der 
der braven Elli jetzt ins Nammerfenſter ſchien, vielleicht 
gerade auf das Briefblatt, auf dem ſie an ihn ſchrieb? 

Er bemühte ſich, an Elli zu denken. Ihr lichtes Bild 
war ihm etwas wie das Schlüſſelwort, das dem in 
einem böſen Zaubergarten Verirrten die verrammelten 
Tore aufſprengt. Aber ihr Bild verſchwamm, erloſch 
vor dem Bild des wilden blonden Mädchens mit ſeiner 
heißen Lebenskraft und Lebenswonne. Er fand das 
erlöſende Wort nicht. 

Plötzlich ſtand der Spuk ſeiner Seele in Fleiſch und 
Blut neben ihm auf der ſtillen Heide vor dem Haus, 
das mit dunklen Fenſtern ſchlief, weiß und ſchimmernd 
wie aus dem Mondenſtrahl ſelbſt zuſammengeronnen. 
Fhm war, als ob er durch Stille und Schweigen 
das Schickſal gewaltig ſchreiten höre — ſein Schickſal. 

„Die Haustür iſt offen,“ ſagte ſie. „Sie brauchen 
keinen Schlüſſel.“ 

Sein Blick ſchweifte zum Ziehbrunnen hinter dem 
zerfallenden Gartenzaun. „Ich bin durſtig,“ ſagte er. 

„And verſtehen nicht am Brunnen zu ſchöpfen? — 
Rommen Sie!“ 

Sie ſchritt ihm voran durch die offene Gartenpforte. 
Auf verwilderten Beeten blühten hohe, weiße Lilien. 


J Novelle von Luiſe Weſtkirch. 97 


Aus dunklem Buſchwerk reckten Hunderte von Sasmin- 
blüten die Kelche. Wie eine Wolke hing ſchwerer, ſüßer 
Duft über dem Garten. Und ſelbſt wie eine fremd- 
artige weiße Blume erſchien ihm das weiße, ſchlanke 
Mädchen mit dem ſilberig flimmernden Blondhaar. 

Sie zog mit ruhigen Bewegungen die Kette herauf, 
ſchwang den Eimer auf den Brunnenrand, tauchte die 
Schöpfkelle in das im Mondſtrahl wie flüſſiges Silber 
ſchimmernde Waſſer und reichte ſie Heinz. 

Während er ſie an ſeine Lippen führte, mußte er 
denken, daß, wenn er künftig ſeiner Klaſſe von Eleaſars 
Begegnung mit Rebekka am Brunnen zu erzählen hätte, 
er wohl leuchtendere Farben für ſeine Schilderung 
finden würde als bisher. Langſam trank er, mit kühlem 
Schauer, als fei das flimmernde Vaſſer ein Heren- 
trank, durch den er feine arme Seele verkaufte. Über 
den Rand des Gefäßes ſah er ſtarr auf das Mädchen. 
Seine Augen redeten dabei ohne Scheu und Bügel all 
das tolle ſüße Zeug, das, ihm ſelber unbekannt, unter 
der Schwelle ſeines Bewußtſeins auf dem Grund ſeiner 
Seele blühte und wucherte. 

Sie ſenkte den Blick und wandte ſich. 

Sogleich war er wieder an ihrer Seite. „Wie 
mögen Sie ſchutzlos und allein wandern in der Ein- 
ſamkeit der Nacht?“ 

„Ich bin nicht ſchutzlos,“ antwortete ſie ruhig und 
deutete auf einen kleinen dunklen Knopf in ihrem Gürtel. 

Heinz erkannte den Griff einer Browningpiſtole. 
„Verſtehen Sie denn mit der Waffe umzugehen? Und 
halten Sie eine ſo brutale Wehr für notwendig hier?“ 

Sie zuckte die Achſeln. „Allerorten iſt's gut, ge- 
rüſtet zu fein. Zch bleib’ auch nicht hier.“ 

Wie eine Neſſel in einem Blumenſtrauß berührte 
ihn dies Wort. „Sie wollen fort?! — Und Ihr Vater? 

1918. IX. 7 


98 Die Welt der anderen. 0 


— Könnten Sie es übers Herz bringen, Ihren unglüd- 
lichen Vater allein zu laſſen?“ 

Sie warf trotzig den Kopf zurück in den Nacken. 
„Den Vater rettet kein Engel vom Himmel. Soll ich 
mein junges Leben in Stücke brechen für einen Ber- 
lorenen?! — Schlafen Sie gut, Herr Lehrer.“ 

Das Dunkel der Diele ſchlang fie ein. 

Mühſam taſtete Heinz Oſterwald ſich feinen Weg. 
Hohn hatte aus ihren letzten Worten geklungen. Frei- 
lich, fie war keine, die wie Elli Waranger ſich büdte und 
Laſten anderer auflud zu ihren eigenen und darunter 
keuchte. Und recht hatte fiel An die Tafel des Lebens 
gehört, was ganz und lebendig ift — auf den Rehricht- 
haufen die Scherben! 

Nur die angeerbten, anerzogenen Vorurteile, nur 
der törichte Drill aus feiner Kinderſtube hatten ihn wie 
unter einem Peitſchenhieb zuſammenzucken laſſen, als 
ihre helle Stimme dieſe ſelbſtverſtändliche Moral eines 
modernen, kraftvollen Menſchen in die Nachtluft 
ſchmetterte. An ſolch ſchrillen Klang muß ſich gewöhnen, 
wer frei ſein will. Und er wollte frei ſein! Er wollte 
fie von fih abſtreifen, die roſtigen Ketten einer über- 
lebten Sittlichkeitslehre, gegen die er ſich heimlich empört 
hatte ſeit ſeinen Kindertagen. 

Früh am Morgen führte er feine Zungen in den 
Föhrenwald. Der war voll Wunder für Lehrer wie 
Schüler. Weglos, ohne eine einzige Verbotstafel! 
Einen Kaninchenbau gab es darin, eine richtige Kanin- 
chenſtadt mit Röhren und Ausſchachtungen — in den 
Haupteingang hätte ein Zunge bequem hineinkriechen 
können. Und auf jedem Baum gab es zwei, drei 
Neſter. Zu Anfang beſtand Meinungsverſchiedenheit 
ob Krähen; oder Eichhornneſter. Aber bald lernten 


2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 99 


ſie ſie unterſcheiden. Denn die Eichhornneſter waren 
oben geſchloſſen zum Schutz vor Regen und Kälte, die 
Krähenneſter nicht. Und auf der Heide blühte gerade 
das Wunderpflänzchen Sonnentau, das lebendige In- 
ſekten verzehrt. Da mußte manch winziges Mückchen 
ſein Leben laſſen. Fünfundzwanzig Köpfe beugten 
ſich in heißer Wißbegier vor, wenn das kleine Opfer 
zappelnd von dem Honigſeim der Blattfläche loszu- 
kommen ſtrebte, während langſam und unerbittlich der 
ſtachlige Rand ſich über ihm zuſammenſchloß und es 
einſchlang. 

Und die Rieſenlibellen, die wie blaue Edelſteine 
durch die Luft flitzten! Die wunderbaren Käfer! Die 
nie geſehenen Schmetterlinge! 

Sobald das Mittagmahl gegeſſen war, ſtürmte die 
Schar wieder hinaus. Die Zungen hatten nun ſchon 
Zutrauen zu dem Lehrer gefaßt, der ſich um die Wette 
mit ihnen freuen konnte. Ede Fiſcher wagte die Frage, 
ob er ſeinen Indianerſchmuck mit in den Wald nehmen 
dürfe? Fröhlich ſtimmte Oſterwald zu. Und ſogleich 
teilten ſie ſich in zwei feindliche Stämme. Häuptling 
des einen war Oſterwald ſelbſt. Den anderen führte 
der lange Hannemann. Der hatte von allen das ver- 
wegenſte Mundwerk. 

Der eine Stamm ſteckte als Abzeichen Tannen- 
zapfen an die Mütze, der andere Birkenreis. Erſt 
leiſteten ſie Erkleckliches an Hohn und Herausforderung. 
Dann wurde das Kriegsbeil ausgegraben. Schwerter 
und Lanzen brachen ſie ſich friſch von den Bäumen. 
Aus Bindfaden und Weidenzweigen wurde der Bogen 
gebaut. Ede Fiſchers neun Federn protzten, ſeine rote 
und blaue Farbe klebte auf allen Geſichtern. Das 
Schlachtfeld war die weite Heide mit ihren Wacholder- 
und Ginſterbüſchen, ihren vereinzelten Birken und un- 


100 Die Welt der anderen. D 


vermuteten Gräben, und wundervolle Hinterhalte ge- 
währte der dichte Föhrenwald. 

Lange und heiß tobte der Kampf, mit Lift und Kühn- 
heit geführt, bis endlich das „Brauſende Wildwaſſer“, 
der lange Hannemann, überwunden, gefangen und an 
den Marterpfahl gebunden wurde. Der „Große Biber“, 
Heinz Oſterwald, ordnete an, daß jeder vom ſiegreichen 
Stamm der „Tannenzapfen“ den gefeſſelten Feind mit 
einem Föhrenzweig an der Naſe kitzle. ö 

Während der junge Häuptling dieſe grauſame Tortur 
mit ſtoiſchem Mute, freche Herausforderungen aus- 
ſtoßend, erduldete, hob Oſterwald die Augen und ſah 
auf dem höher gelegenen Weg, von der roten Glut 
der tiefſtehenden Sonne angeſtrahlt, Lisbeth Braun 
ſtehen. Ein weißes Tuch war loſe um ihr leuchtendes 
Haar geſchlungen. Auf der Schulter trug ſie eine Hacke. 
Ihre Augen blitzten, ihre Lippen lachten. 

„Jetzt, da möcht' ich gleich mittun, Herr Oſterwald!“ 

Heinz Oſterwald riß ſeine föhrenzweiggeſchmückte 
Mütze von dem mit ſchönen Tätowierungen geſchmückten 
Kopf. „So kommen Sie doch morgen mit uns, Fräu- 
lein Braun!“ 

Sie wies auf ihre Hacke. „Ich tät's gern. Aber 
ich hab' gar zu viel zu ſchaffen. Hilfe bekommt man 
hier nicht. Es läuft alles aufs Werk. Und wir müſſen 
doch Korn und Kartoffeln haben auf den Winter für 
uns und unſere Schweine und Hühner.“ 

Sie nickte und ging weiter. Heinz gebot auch 
Feierabend. 

Sie brauchten viele Zeit und viele Seife, um ſich 
aus blutdürſtigen Indianern in geſittete Deutſche zurück- 
zuverwandeln. 

Im Vorübergehen warf Heinz einen Blick in die 
Gaſtſtuben. Da ſaß als ſein einziger Gaſt Herr Braun 


o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 101 


würdevoll vor einer vollen Flaſche. Der ſorgte ſich 
nicht darum, wie er zu Korn und Kartoffeln für den 
Winter kam. 

Als die Knaben am nächſten Morgen wieder mit dem 
Indianerſpielen beginnen wollten, ſagte Heinz: „Nein, 
heute helfen wir Fräulein Braun auf dem Felde.“ 

Die halbwüchſige Hausmagd wurde in ganz Öl- 
hauſen herumgejagt nach Schaufeln, Hacken und Harken. 
Erſtaunt ſah Lisbeth die Schar Heinzelmännchen zur 
Hilfe heranrücken. Sie hatte zu tun, jedem ſeine Arbeit 
zuzuweiſen. Den friſchen Jungen gefiel's faſt ſo gut 
wie das Indianerſpielen. Sie ſchafften wie im Lag- 
lohn. Der junge Lehrer aber vergaß immer wieder 
feine Hände zu regen, verloren im Anſchauen des Mäd- 
chens, deſſen geſchmeidige Glieder nicht Ermüdung noch 
Schlappheit kannten. Wie ein Springquell erſchien ſie 
ihm, mit raſtloſer Kraft emporſtrebend, immer empor, 
und ringsum in luſtigem Tanz den Tropfenfall ihrer 
Anmut, Tapferkeit und guten Laune um ſich ſprühend. 

Als er am Abend heimkam, fand er einen Brief 
von Elli vor, zarte, liebe Worte. Ein gelbbraunes 
Stiefmütterchen lag zwiſchen dem Briefblatt. Sein 
dunkler Samt erinnerte Heinz an den Samt ihrer Augen, 
und er fühlte ein tiefes Weh im Herzen, ein Gefühl, 
als treibe er auf weitem Meer einer neuen Welt ent- 
gegen und die auf immer verlorene Heimat ſende ihm 
den letzten Gruß. 

Um innerlich ruhig zu werden, wollte er auf eine 
Stunde nach Neu-Pennſylvanien gehen. Vor der Haus- 
tür traf er Lisbeth. 

„Ich hab' Ihnen ſchon gedankt für Ihre Hilfe mit 
den Jungen,“ ſagte ſie in ihrer freien, offenen Weiſe. 
„Ich möcht' Ihnen aber nochmals danken. Ehrlich 
gejagt, ich hab's Ihnen nicht zugetraut, daß Sie durch- 


102 Die Welt der anderen, 2 


halten würden. Die Landarbeit iſt Ihnen ja ganz 
ungewohnt. Aber Sie haben nicht locker gelaſſen. Ich 
ſeh', daß Verlaß auf Sie iſt. Das freut mich.“ 

Er wurde rot vor Glück über ihr Lob, und er ſetzte 
ſich neben ſie auf die Bank. Der Mondſchein lag wieder 
wie ein weißes Tuch auf der Heide. Aus fernem 
Tümpel klangen die Glockenrufe der Unten. Da be- 
gann er zu reden, es war wie ein Zwang. Gerade 
weil er ſich abtreiben fühlte von denen, die zu ihm 
gehörten, den Duldenden, Gebundenen, Mühſeligen, 
zu den anderen, den freien Tatmenſchen, zu denen 
bewundernde Sehnſucht ihn ſeit ſeiner Kindheit riß, 
bewegte das Andenken an jene ſeine Seele, mußte er 
von ihnen ſprechen. Von den engen Verhältniſſen in 
ſeinem Vaterhauſe erzählte er, von der Pflichttreue 
ſeines Vaters in Dienſt und Leben, ſeiner Sparſamkeit, 
ſeiner Fürſorge für die Seinen, von ſeiner Mutter 
ſtillem, unſcheinbarem und unendlich ſegensreichem 
Walten im Haus und in der Kinderſtube. Klein, felbit- 
verſtändlich waren alle dieſe Dinge ihm bisher er- 
ſchienen. Da er ſie auszumalen begann, entdeckte er 
plötzlich die Größe, die in ihrer Kleinheit ſteckte. Es 
drängte ihn, diefe Größe hervorzuheben vor der Unders- 
gearteten, fie zu beleben durch eine Fülle liebens- 
würdiger und rührender Züge. Er ſprach auch von 
Elli. Ihr Preis zwang ſich ihm auf die Lippen. Als 
von einer Jugendgeſpielin ſprach er von ihr, ſchilderte 
ihr Leben der Aufopferung und Entſagung. 

Mitten im Satz brach er in einer peinlichen Emp- 
findung ab. Ihm gegenüber auf der flachen Heide, 
im flimmernden Mondlicht ſtand ein ſchwarzer Schatten 
regungslos wie einer der Wacholderſträuche. 

„Wer iſt das?“ 

„Einer, der einen Abendſpaziergang macht,“ ant- 


o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 103 


wortete fie ungeduldig. „Erzählen Sie weiter! Es 
klingt wie ein Märchen.“ 

„Ein Märchen?“ 

„Ja. Andrew Macclean, der mich manchmal be— 
ſucht, hat mir Wunderbares erzählt von fremden Län- 
dern drüben überm Waſſer, von Abenteuern, wunder- 
baren Menſchen. Was Sie mir erzählen, iſt aber vic! 
wunderbarer.“ ; 

„Ich bitte Sie, Fräulein Braun, in ſolchen Ber- 
hältniſſen, unter ſolchen Menſchen wächſt die Mehrzahl 
der Bürger in unſerem Vaterland auf — Gott ſei 
Dank!“ 

„Nein,“ fagte fie, „das kenn’ ich nicht. Und das 
glaub' ich auch nicht. Hier nimmt jeder ſeinem Nächſten, 
was er bekommen kann. Ein Glück, eine Bequemlich- 
keit, eine Hoffnung aufgeben für einen anderen? — 
Niemals! Mein Vater hat mir nicht einen vergnügten 
Abend geopfert. Er ſchickte mich auf eine höhere Töchter- 
ſchule, hielt mir auch ein feines Fräulein zur Erziehung. 
Die ſorgte für ſich und nicht für mich, gerade wie er 
ſelbſt. Dann kam der große Krach. Vater verlor ſeine 
Stellung, und Onkel Fritz ſetzte uns hierher — auch 
nicht aus Bruderliebe. Er wußte gut, daß Vater zum 
Wirt nicht taugt. Aber er wollte den entgleiſten Bruder 
nicht neben ſich haben in der Welt, in der er mit ſeinen 
Söhnen und Töchtern prunkt. Drum hat er uns hier 
in der Ode vergraben.“ 

Sie brach mit einer kurzen Handbewegung ab, als 
reue ſie die halbe Klage. 

„Er hat ganz recht getan,“ ſchloß ſie trotzig. „Was 
aus eigener Kraft nicht ſtehen kann, das ſoll man nur 
gleich zuſammenſtoßen.“ 

Von der mondbeſchienenen Heide war der Schatten 
verſchwunden. Nur die Wacholder ſtarrten regungslos 


104 Die Welt der anderen, o 


und ſchwarz. Auf der Terraſſe von Neu-Pennſylvanien 
erloſch das Licht. 

Lisbeth ſtand auf. „Nein, ich hab's nicht geahnt, 
daß es ſolche Menſchen gibt wie Ihre Eltern, wie Ihre 
Freundin. Ich begreife ſie auch nicht. Aber wie Sie's 
ſagen, klingt's ſchön. Märchen ſind immer ſchön. Sie 
müſſen mir wieder davon erzählen.“ 

Am nächſten Tag zeigte Oſterwald ſeinen Schülern 
das Werk. Ingenieur Börnholm hatte ihm die Er— 
laubnis zur Beſichtigung verſchafft. Als Führer emp- 
fing ihn Andrew Macclean, der Lanzenwerfer, der 
junge Bohrmeiſter, von dem Börnholm erzählt hatte. 
Oſterwald beobachtete ihn neugierig. Eine mittelgroße, 
ſehnige Geſtalt, ein ruhiges, faſt unbewegliches Geſicht 
mit ſcharfen grauen Augen, ein Benehmen von der 
runden Glätte, die vom Sturzbach zu Tal gerollte 
Steine und weit in der Welt herumgewürfelte Men- 
ſchen miteinander gemein haben. Ein wenig Über- 
hebung lag in ſeiner kühlen Sicherheit. Er gab ſeine 
Erklärungen in einer Weiſe, als wollte er ſagen: „Was 
geht denn euch das alles an?“ 

In Wirklichkeit intereſſierten ſich die Knaben auch 
weder für die Röhren, die, immer enger werdend, eine 
durch die andere hindurch tief in den Erdgrund getrieben 
wurden, noch für den regelmäßigen Fall des ſchweren 
Bohrers, der mittels einer ſinnreichen Vorrichtung die 
ausgeſchachtete Erde gleich ſelbſt mit aus der Tiefe 
heraufbrachte. Sie ſchnüffelten das Petroleum an, 
das in dickem Strahl aus den Pumpenröhren ſprudelte, 
ſtellten feſt, daß es barbariſch ſtänke, und waren ent- 
täuſcht, daß die Flaſchenzüge in den Spitzen der Bohr- 
türme keine Glocken waren und nicht läuten konnten. 

Oſterwald aber beſchäftigte mehr als alle techniſchen 


o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 105 


Wunder die Frage, ob wohl Andrew Macclean geſtern 
der Schatten auf der mondbeſchienenen Heide geweſen 
fei, und wieviel feine Perſon etwa der jungen Wirts- 
tochter gelten möge? Und dieſe Erwägungen benahmen 
ihn ſo ſehr, daß er in der Reparaturwerkſtätte einem 
ſauſenden Treibriemen bedenklich nahe kam. Ein 
Arbeiter riß ihn rechtzeitig zurück. In der Verblüffung 
über die hart an ihm vorübergegangene Todesgefahr 
ſtreifte er mit ſeinem Blick zufällig das Geſicht ſeines 
Führers, und er erſchrak. Wahrlich, das war Haß, bis 
zur Mordgier ſchadenfroher Haß, was jäh in den kühlen 
grauen Augen aufblitzte. 

Warum haßte ihn der Mann? Er wagte nicht die 
Antwort auf dieſe Frage zu finden. In ſeinem Gemüt, 
das im Gleichgewicht geweſen war, ſolange er denken 
konnte, fühlte er plötzlich alle Schwerpunkte verrückt, 
alle Stützen wanken. 

Am Abend ging er nach Neu-Pennſylvanien. Er 
ſprach mit den Ingenieuren über den Eindruck, den die 
Bohrwerke auf ihn gemacht hatten. Am Nebentiſch 
ſaßen wie gewöhnlich die Werkführer, die Bohrmeiſter, 
die Magazinverwalter. Die Unterhaltung ſummte laut. 

Auf einmal wurde es ganz ſtill. Andrew Macclean 
redete allein. 

„Ja, das iſt ſo. Das beſte Geſetz für das Eigentum 
eines Burſchen iſt das in den Rocky Mountains. Ich 
hab' da mal einen Winter als Trapper gehauſt. Ge- 
richte gab's nicht, keine Konſtabler, keine Gefängniſſe. 
Wenn einer einem ein Pferd ſtahl, wurde er gehenkt. 
Wenn er ein Schwein ftahl, wurde er gehenkt. Stahl 
er ein Taſchenmeſſer, wurde er auch gehenkt. Und 
nahm er einem ſein Mädchen oder gab ihm beim 
Whisky zu verſtehen, daß er ihn nicht für einen Gentle- 
man halte, dann war der Prozeß noch kürzer. Es iſt 


106 Die Welt der anderen. 2 


wirklich der feinſte Ort für Gerechtigkeit und Höflich- 
keit, den ich kennen gelernt habe.“ 

„Oer Tauſend, Macclean,“ neckte der behäbige 
Magazinverwalter in das bewundernde Schweigen hin- 
ein, „wie viele haben Sie denn in dem geſegneten 
Winter aufgeknüpft?“ 

„Es hat nie jemand gewagt, mir etwas wegzu— 
nehmen,“ antwortete Macclean. 

Er fab, während er redete, nicht mit einem ein- 
zigen Blick nach dem Tiſch der Ingenieure hinüber, 
dennoch hatte Heinz Oſterwald das unbehagliche Ge- 
fühl, als ſeien die ſonderbaren Worte für ihn, von allen 
auf der Terraſſe allein für ihn geſprochen worden. 
Kein Zweifel, dieſer Menſch, mit dem er kaum fünf 
Sätze geſprochen hatte, haßte ihn. Und wenn er ſich 
genau prüfte, fo fühlte er: er haßte ihn auch. Er 
hatte im Seminar Unſtimmigkeiten zwiſchen ſeinen 
Mitſtrebenden kennen gelernt, Eiferſüchteleien, kleine 
Intrigen — den Haß, den wirklichen ehrlichen Haß 
nimmer zuvor. Und da war der Haß, der tiefe Schatten. 
Es mußte auch irgendwo das Licht da ſein, das dieſen 
Schatten warf. Die tiefſten Schatten wirft das hellſte 
Licht — die Liebe. 

Nein, das war Überſpannung, Fieberwahn! Seine 
Liebe gehörte Elli Waranger. Drei Tage konnten nicht 
fein ganzes Weſen umkehren, konnten nicht eine Emp- 
findung auslöſchen, die mit ihm groß geworden war. 

Er vermochte ſich doch nicht zu überwinden, an 
dieſem Abend noch an ſeine Braut zu ſchreiben. Sie 
war einen in beſſerer Sammlung geſchriebenen Brief 
wert, ſagte er ſich. — 

Am nächſten Tag redete er mit Fräulein Braun. 

„Wiſſen Sie, der junge Mann, der am Tag unſerer 
Ankunft mit Ihnen um die Wette Lanzen ins Heu 


2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 107 


warf, und der mir und meinen Jungen geſtern die 
Bohrwerke gezeigt hat, Andrew Macclean —“ 

„Was iſt's mit ihm?“ 

„Sie dürfen ihm nicht alles glauben, was er Ihnen 
erzählt. Er ſchneidet gewaltig auf.“ 

Heinz wiederholte lachend Maccleans Reden vom 
Abend vorher. 

Lisbeth lachte nicht. „Hat er das geſagt?“ 

„Ja, Wort für Wort. Es war natürlich eine Prah- 
lerei.“ | 

Sie fab ins Leere. „Es ift nicht gut, daß Herr Mac- 
clean das geſagt hat.“ 

„Nehmen Sie ſolche Reden ernſt?“ 

„Nein. Natürlich nicht. Nur — Herr Oſterwald, 
ich wollt' Ihnen das ſchon ſagen: Gehen Sie nicht 
durch die Föhren, wenn Sie abends nach Hauſe kommen. 
Gehen Sie lieber die Landſtraße.“ 

„Wegen dieſes Macclean doch nicht?“ 

„Veil's vernünftiger ift. Es laufen Leute aus aller 
Herren Ländern hier zuſammen, kommen heut, reiſen 
morgen. Gehen Sie nicht nach Dunkelwerden durch 
den Wald! Verſprechen Sie mir's!“ 

Es war Angſt in ihren Augen, ihrer Stimme. 

Da verſprach er's, von warmem Wohlgefühl durch- 
rieſelt, weil ſie ſich um ihn ſorgte. 

Lisbeth blieb den Tag über gedankenvoll. Als die 
Sonne tief am Himmel hing, ſtand ſie harrend in einem 
Ausläufer, den der Föhrenwald zur Landſtraße hin- 
ſtreckte. Die letzten Arbeiter kamen von den Bohr- 
werken, die wenigen Anſäſſigen von ihren Feldern, das 
Ackergerät auf den Schultern, lange Schatten vor ſich 
in den Staub der Straße werfend, während ſie dem 
Dorf zutrotteten, deſſen paar Häuschen auf dem flachen 
Boden regellos ſtanden wie eine Handvoll Würfel, von 


108 Die Welt der anderen, el 


einer Riefenfauft auf eine Trommelſcheibe geſchleudert. 
Dann wurde die Straße einſam. Der Tau begann 
zu ſinken. Aus den Schornſteinen der Häuschen ſtieg 
der Rauch. Endlich ſchritt noch ein einzelner Mann 
langjam die Straße von den Werten her. Lisbeth trat 
aus dem dichten Föhrenbuſch. 

„Andrew Nacclean! Auf ein Wort!“ 

Er blieb ſtehen. „Oh,“ ſagte er, „haben Sie heute 
abend wirklich einmal wieder Zeit für mich?“ 

„Vas follen die Reden bedeuten, die Sie geſtern 
in Neu-Pennſylvanien geführt haben?“ 

„Hat der deutſche Schulmeiſter ſie Ihnen wieder— 
erzählt? — Das ſieht ihm gleich, dem bebrillten Affen- 
pinſcher!“ 

„Was hat er Ihnen getan?“ 

„Es ift wundervoll, daß Sie das fragen, Miß Lis- 
beth. So viel ſollten Sie mich doch kennen, daß ich 
keinen Narren aus mir machen laſſe — auch von Ihnen 
nicht.“ 

„Was wollen Sie damit ſagen? Wenn in unſer 
leeres Wirtshaus endlich einmal ein Gaſt einkehrt, 
und ich —“ 

Er blieb ſtehen, fab fie an, und vor feinem Blick ver- 
ſtummte ſie. 

„Wollen Sie mir jetzt eine Lüge ſagen? Wollen 
Sie? — Ein Gaſt! — Wenn hundert Gäſte in Ihr 
Haus kämen, mich würd's nicht kümmern. Der Hans- 
wurſt wagt es aber, Ihnen Liebe vorzuwinſeln. Das 
iſt's, was ich nicht leiden werde.“ 

„Herr Oſterwald hat nie von Liebe zu mir ge— 
ſprochen. Aber wenn er's täte — was für ein Recht 
hätten Sie, es ihm zu wehren?“ 

„Ich hätte kein Recht?“ 

„Nein! Und wenn ich ihn lieb hätte — ich ſag' 


o Novelle von Suite Weſtkirch. 109 


nicht, daß es ſo iſt —, aber wenn ich ihn wirklich lieb 
hätte, Sie müßten's auch leiden. Ich bin frei. Ich 
kann mich ſchenken, wem ich will. Ich hab' Ihnen 
kein Verſprechen gegeben!“ 

„Ich pfeif' auf Verſprechen. Wenn ich nicht die 
Liebe, das Herz hab', ſo mag alle Verſprechen der Teufel 
holen. Aber — Sie wiſſen wohl gar nicht mehr, wes- 
halb ich zu Ihnen gekommen bin an jedem Frühlings- 
abend? Sie haben es aus Ihrem Verſtand geſtrichen, 
was ich Ihnen geſagt habe von drüben? Wie ich Geld 
machen und ein angeſehener Mann werden will und 
Sie einführen in meine Welt dort? Sie haben alle 
die Pläne vergeſſen, die wir miteinander ausgeheckt 
haben, Sie und ich, daß Sie fortverlangten aus den 
Verhältniſſen hier, und daß ich Ihnen einen Veg 
brechen wollte ins Leben und meine Hände unter Ihre 
Füße breiten? Deshalb, Lisbeth, weil Sie zu mir 
gehören, weil Sie von meiner eigenen Art ſind, weil 
Sie wie ich den harten Willen haben und den Mut, 
um aufzuſteigen vom Grund, weil Sie frei ſind von 
den kleinen Bedenklichkeiten und Sentimentalitäten, 
die Frauen gemeiniglich feſtbinden an den Fleck und 
die Stellung, in die ihre Geburt ſie geworfen hat. 
Wir haben all das beſprochen, oft und oft. Sie waren 
ganz in Harmonie mit meinen Abſichten. Iſt es mög- 
lich, daß all dies ein heuchleriſcher Windmacher in drei 
Tagen wegbläſt?“ 

„Sie ſollen ihn nicht ſchelten! Herr Oſterwald iſt 
ein ehrlicher Menſch!“ 

„Veil er fih ſelbſt betrügt, indem er Sie betrügt!“ 

„Er hat mir von feiner Heimat erzählt, feiner Kind- 
heit, Andrew. Es war rührend. Wie ſeine Mutter 
in der Not ihren Sonntagsſtaat zerſchnitten hat zu 
Röckchen für ihn und ſeine Schweſter und bitterlich 


110 Die Welt der anderen. 0 


weinte, weil bei den wilden Rangen die Röckchen doch 
nur ein paar Tage hielten. And ſein Vater hat ge- 
ſchrieben die langen Nächte hindurch und fih kein Ber- 
gnügen gegönnt. Zuſchanden haben ſie ſich gequält 
für ihre Kinder, er in frühen Tod, ſie in unheilbares 
Siechtum. Und ſie haben kein Aufhebens davon ge— 
macht. Und von einer Geſpielin hat er mir erzählt. 
Die gab ihre Selbſtändigkeit und jede Zukunftshoffnung 
freiwillig auf, um einen Bruder zu pflegen, der von 
Anfang an verloren war. Lachen Sie nicht, Andrew! 
Ich hab' keine Mutter gekannt, und mein Vater — ift 
ſchlimmer als kein Vater. Ich hab' keine Geſchwiſter, 
keine Freunde. Was er mir ſagte, war anders als 
alles, was ich je gehört habe, und es hat mich gepackt — 
ja, noch mehr gepackt als die Wunderdinge, die Sie 
mir von Indien und Japan erzählt haben.“ 

„Sagen Sie's lieber offen: Sie ſind verliebt in 
den Affen!“ 

„Ich hab' Heimweh nach dem, was er ſchildert, 
Sehnſucht! Wie man Sehnſucht nach dem Himmel 
hat. Können Sie das nicht verſtehen? Gewiß, es iſt 
ſchön, Geld zu machen, hinaufzukommen, einzig nach 
ſeinem Willen zu fragen. Aber vielleicht iſt's noch 
ſchöner, ſeinen Willen zerbrechen für Menſchen, die 
man liebt, ſich klein machen, damit andere groß werden. 
Es ſteht in der Bibel, es wird von allen Kanzeln ge— 
predigt. Könnte es nicht Wahrheit ſein, daß ſelig iſt, 
wer ſich ſelbſt zunichte macht für einen, den er lieb hat?“ 

„Für Sie, Lisbeth Braun, iſt's jedenfalls nicht Wahr- 
heit! Leiden für einen anderen, ſich opfern, zunichte 
machen? — Sie? — Unſinn! Aber ich ſehe, was Sie 
zu dem öligen Patron zieht und den Moralbonzen zu 
Ihnen, einem Mädchen, vor dem ſeinesgleichen von 
Rechts wegen Furcht haben müßte. Es iſt zu dumm. 


2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 111 
Kein Vogel þat den Trieb, auf dem Meeresgrund 
herumzuſchwimmen, keinen Fiſch gelüſtet es, in den 
Wolken umherzufliegen. Bloß die Menſchen ſind ſo 
närriſch, daß ſie immer nach dem verlangen, was ihrem 
Talent, ihrer Art nicht liegt, nach dem ganz anderen, 
dem Pol ihres Weſens. Es iſt eine Krankheit. Aber 
Ihnen brenne ich ſie aus. Sie ſind mir mehr wert, 
Lisbeth, als zehn deutſche Schulmeiſter. Und ehe ich 
zugebe, daß der Schaumſchläger mit ſeinem blauen 
Dunſt Ihren klaren Sinn umnebelt, Sie ins Unglück 
reißt —“ 

„Andrew! Sie werden nichts unternehmen gegen 
den armen Menſchen!“ 

„Ehe ich das zugebe, blaf’ ich ihn aus wie ein Licht. 
Richten Sie ſich danach!“ 

Bebend vor Erbitterung ſahen ſie einander an, vier 
helle, ſcharfe Augen, funkelnd in einer Leidenſchaft, 
die zu mächtig war für Worte. 

„Wie dürfen Sie ſolch eine Nichtswürdigkeit nur 
denken!“ ſtieß das Mädchen endlich hervor. 

„Venn ich meiner Tage danach gefragt hätte, was 
ich durfte, fo ſtänd' ich nicht lebendig vor Ihnen. Ich 
bin nicht unter einer Glasglocke aufgewachſen. Ich 
oder du heißt's im Leben, Lisbeth Braun. Davon 
weiß Ihre Holzpuppe freilich nichts, die dort, wo unfer- 
einem ein Herz mit rotem Blut ſich abzappelt, einen 
Phonographen fiken hat, der Moralſprüche herunter- 
leiert.“ 

„Oſterwald iſt zehnmal beſſer als Sie! Sie werden 
ihm kein Haar krümmen!“ 

„Nein. Sch zerquetſch' ihn gleich ganz wie 'ne Sted- 
mücke.“ 

„Zwiſchen uns beiden iſt's jedenfalls aus, Macclean! 


ich haſſe Sie!“ 


112 Die Welt der anderen. o 


„All right. 3% bringe Sie ſchon wieder zur Ber- 
nunft.“ 

Als Heinz Oſterwald an dieſem Abend ſeine Knaben 
zur Ruhe gebracht hatte und ſich in einer ſehnſüchtigen 
Ungeduld, über deren Gewalt er ſelbſt verwundert war, 
nach der blonden Wirtstochter umſah, erblickte er auf 
der Landſtraße, die vom Föhrenwald zu den Bohr- 
türmen führte, einen Mann und ein Mädchen in eifrigem 
Geſpräch. Das Mädchen war zweifellos Lisbeth Braun. 
So frei wie die ſchritt keine ſonſt. Keine außer ihr hatte 
dieſe raſchen, befehlenden Bewegungen. Sie gingen 
mit ungleichen Schritten, blieben ſtehen, kehrten ſich 
zueinander, hoben die Hände in leidenſchaftlicher Er- 
regung. 

Heinz fühlte ſich verletzt, zurückgeſetzt, hintergangen. 
Als das Mädchen dem Mann den Rücken wandte und 
mit weiten Schritten auf das Gaſthaus zukam, redete 
er ſich ein, daß er an dieſem Abend notwendig an Elli 
ſchreiben müſſe, und zog ſich auf ſeine Kammer zurück. 
Er ſchrieb ohne aufzuſehen, wollte das Schließen der 
Haustür nicht hören, nicht den herriſchen Schritt, der 
die Treppe heraufkam. Als er das Geſchriebene durch- 
las, fand er, daß er faſt nur von der Tochter ſeines 
Wirts erzählt hatte. 

Argerlich wollte er den Brief zerreißen. Aber die 
Ahr ſchlug elf, und er fühlte, daß es ihm unmöglich ſein 
würde, heute noch ein neues Schreiben zuſammenzu— 
bringen. „Beſſer,“ dachte er ſchließlich, „ein unpafjen- 
der Brief als gar keiner.“ 

So ſchickte er ihn ab. 

In einem Gefühl des Gekränktſeins mied er Lis- 
beth, und es verſtimmte ihn, daß ſie ihn nicht ſuchte. 
Die Gegend ſchien ihm öde, der Wald leer, ſein geliebtes 


o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 113 


Indianerſpiel mit den Zungen ohne Reiz, feit er ver- 
gebens nach den wehenden blonden Haaren, nach der 
geſchmeidigen Geſtalt ausſchaute. Wiederum hielt er 
ſtrenge Einkehr in fein Gemüt. Denn ein Mann, der 
ſich der hohen Aufgabe unterzogen hat, der Jugend 
Lehrer und Vorbild zu ſein, muß ſorgfältig darauf 
achten, ſeine Empfindungen mit Namen zu nennen, ſie 
unter die Bezeichnungen zu ordnen, die die deutſche 
Sprache dafür zur Verfügung ſtellt. Er ſelbſt hatte 
keine eigenen Erfahrungen, aber er war vollgepfropft 
mit den Erfahrungen und der Weisheit anderer. Und 
er kam zu dem Schluß, daß das Ding, das ihm alle 
Speiſen geſchmacklos machte, Sonne und Mond ihren 
Glanz nahm und fein Gemüt mit einer ihm ungewohn- 
ten Reizbarkeit behaftete, am paſſendſten unter die 
Rubrik „Eiferſucht“ einzureihen ſein würde. 

Liebte er denn Lisbeth Braun? Schonungslos 
beantwortete er ſich die Frage. Ja — er liebte ſie, 
wie man den Sturmwind liebt, den WVaſſerfall, all die 
Wunder der Natur, die eigenwillig unſerer Geſetze 
ſpotten. Gerade die Unberechenbarteit ihres Weſens, 
ihre Rückſichtsloſigkeit, ihr nicht von Reue noch Pflicht- 
gefühl krank gemachter Lebensmut berauſchten ihn, der 
zeitlebens in frommer Ehrfurcht ſich gemüht hatte, 
jedes Geſetz bis auf den Buchſtaben treu zu erfüllen. 

Zornig ſagte er ſich, daß ſein Gefühl übel ſei, ein 
Anrecht für einen, der, wenn auch nicht öffentlich, doch 
insgeheim feine Treue längſt verpfändet hatte. Über- 
dies — ziemte es ſich wohl für Heinz Oſterwald, einem 
Mädchen nachzulaufen, das ein Stelldichein mit einem 
anderen Mann auf offener Straße hatte, und Hatt fidh 
deswegen vor ihm zu entſchuldigen, noch gar ihn trotzig 
mied? 

Sobald er feine Zungen zur Ruhe gebracht hatte, 

1913, IX, 8 


114 Die Welt der anderen. D 


ging er nach Neu-Pennſylvanien hinüber. Er gähnte dort 
viel, ſah oft nach der Uhr, redete ſich aber ein, daß er 
ſich vorzüglich unterhalte. Spät erſt wanderte er die 
breite Landſtraße durch die Heide zurück. 

Auch am folgenden Tag blieb Lisbeth ihm fern. 
Kaum, daß er von weitem ihre Geſtalt über den Hof 
gleiten ſah. Er hatte einen Brief von Elli erwartet, 
die eine pünktliche Schreiberin war. Auch der kam 
nicht. 

Und wieder ſaß er am Abend als unfroher Zecher 
in der kleinen Kneipe des Werks. 

Als er heimkam, ſah er durch die Föhren einen 
Schatten vor ihm ins Haus gleiten — Lisbeth. 

Hatte die hier auf ihn gewartet? — Sie mochte 
warten. 

Am nächſten Morgen kam Ellis Antwort. 

„Lieber Heinz! 

Ich habe Zeit gebraucht, Deinen letzten Brief zu 
überdenken und zu verſtehen. Vielleicht mißverſteh' 
ich ihn trotzdem. Aber das wäre ein ſo großes Glück, 
daß ich es nicht zu hoffen wage. Das Leben hat mich 
nicht an Wunder gewöhnt. Du weißt, ich habe allzeit 
Deine Liebe als ein unverdientes Himmelsgeſchenk be- 
trachtet, als ein Gut, ſo groß, wie es mir müde und ſtill 
gewordenem Mädchen eigentlich gar nicht mehr zu- 
kommt. Darum habe ich jede Stunde mit Oir genoſſen, 
wie man einen ſchönen Herbſttag genießt, zaghaft und 
ſelig, aber ohne Hoffnung, daß ein Sommer ihm folgen 
könne. Wenn nun eintrifft, was ich immer gefürchtet 
habe, wenn eine Jüngere, Lebensfriſchere Dein Herz, 
Deine Liebe gewonnen hat, ich — bei Gott, Heinz! — 
ich will kein Hindernis auf Deinem Weg zum Glück 
ſein. Ich habe Dich ſo lieb, daß ich zurücktreten kann 
ohne Bitterkeit. Nur glücklich ſollſt Du werden, wirt- 


o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 115 


lich glücklich! — — Wenn dies fremde Mädchen, das 
Dir ſo ſehr gefällt, Dir geben kann, was Du bei mir 
vermiſſeſt, möge Gott ſie und Dich ſegnen. Nur das 
eine bitte ich Dich: Prüfe ſorgfältig! Wirf Dich nicht 
weg! Deſſen fei gewiß, wie Du auch entſcheiden magſt, 
ſolange ſie lebt, wird für Dein Glück beten l 
Deine Elli Waranger.“ 

Er zerknüllte den Brief in der Hand vor Zorn, vor 
Scham. Es verdroß ihn, daß Elli ſofort verſtand, was 
er ſelbſt ſich kaum einzugeſtehen wagte, es kränkte ihn, 
daß ſie willig ein Band durchſchnitt, an das er nicht 
zu rühren wagte. Alle Dinge kränkten und verdroſſen 
ihn an dieſem Morgen. Er verachtete ſich ſelbſt. Die 
Bewegung kam zu ihm, das Schickſal, das lebendige 
Leben, das er erſehnt hatte — endlich kam es — und 
fand ihn nicht als den Charakter aus Granit und Bronze, 
als den er ſich in phantaſtiſchen Träumen gern ſah. 

Am Abend ging er wieder nach Neu-Pennſylvanien. 
Aber er war nun völlig zermürbt von dem Hin und 
Her feiner Empfindungen, in das nervenzerrüttend 
immer wieder der Alltag brach, die Sorge für das 
leibliche und geiſtige Wohl, die hundertfältigen Fragen 
und Wünſche von fünfundzwanzig jungen, lebhaften 
Menſchenkindern. Früher als ſonſt ging er heim und 
hatte nur die eine Sehnſucht, den Kopf in die Kiſſen 
zu drücken, auf ein paar Stunden in traumloſem Schlaf 
fih, und was ihn verwirrte und ängſtigte, zu vergeſſen. 

Der Weg über die Landſtraße dünkte feiner Un- 
geduld zu lang. Er bog in den Richtpfad durch den 
Föhrenwald. 

Er bereute es ſogleich. Die Finſternis war faſt 
undurchdringlich, das Gehen auf dem mit Baumwurzeln 
überwucherten Pfad beſchwerlich. Und da war ein 
Kniſtern an feiner Seite, in feinem Rücken wie fchlei- 


116 Die Welt ber anderen. D 


chende Schritte. Er blieb ſtehen. Die Schritte ftanden 
auch. Er hielt den Atem an. Kein Laut. Er ging 
weiter. Da! Ein dürrer Zweig knackte hinter ihm. 
Was begleitete ihn denn? Ein Tier? Ein Menſch? 

Er ging raſcher. Mitten im Wald war eine kleine, 
kreisrunde Abholzung. Das Licht des Mondes fiel 
blendend darauf. Wie auf ein Leuchtfeuer ſteuerte 
Heinz auf Gielen Lichtfleck zu durch die ſchwarze Finſter⸗ 
nis des Waldes, flüchtend vor dem leiſen Schleichen 
hinter ihm. Faſt laufend warf er ſich in das Mondlicht. 

Da trat aus der ſchwarzen Föhrenwand vor ihm 
ein Mann. Der Mond ſchien ihm ins Geſicht — Andrew 
Macclean! 

Alle Schauergeſchichten aus ſeinen Kinderbüchern 
fielen dem jungen Lehrer ein, alle ſchienen wirklich 
zu werden. Nacht — der ſchwarze, verſchwiegene Ur- 
wald — der Todfeind vor ihm — und er waffenlos! 
Er fühlte feine Stirn feucht werden und eine wunder- 
liche Unſicherheit in den Knien. Nie bis zu dieſem 
Augenblick hatte er gewußt, wie lieb ihm ſein Leben 
war. 

Er gab ſich gewaltſam Haltung, drückte die Bruſt 
heraus, verſuchte gelaſſen vorüberzuſchreiten. Aber 
Andrew Macclean ſperrte wie ein Felsblock ihm den 
Weg. Stumm hob er die Hand. | 

Heinz begann es vor den Augen zu flimmern. 

Da — ein Aufſchrei, ein Blitz, ein Knall. Mac- 
cleans erhobener Arm ſank ſchlaff herab. 

Im grellen Mondſchein der kleinen Lichtung ſtand 
Lisbeth Braun, die abgeſchoſſene Piſtole in der Hand, 
Entſetzen im Blick. 

„Hat er Ihnen ein Leid getan? Sind Sie ver- 
wundet?“ 

Von der Stelle, wo Andrew Macclean ſtand, kam 


2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 117 
ein leiſes Auflachen, dann war ſie leer. Aber die weißen 
Ringelblumen und der Grasbuſch, neben denen er 
geſtanden hatte, trugen blutigen Tau. Unheimlich 
dunkel und tot lagen die Tropfen auf dem mond- 
beflimmerten Grund. Heinz ſah es mit einem Grauen, 
das ihn ſtumm machte. 

Lisbeth hatte ſeine Schulter gefaßt, ſchüttelte ihn. 
„Sind Sie unverletzt? Wirklich unverletzt? — Gott ſei 
Dank! — Hinter der Terraſſe von Neu-Pennſylvanien 
hab' ich auf Sie gewartet, bin Ihnen nachgeſchlichen, 
ſchon zwei Abende. Sie gingen trotz meiner Warnung 
heute durch den Wald. — Sie leben! Oh, daß Sie 
nur leben!“ > 

„Sie haben mich gerettet!“ Heinz ſprach wie unter 
einem Bann, die Zunge ſchwer von dem Grauſen der 
Stunde. „Aber — ich fürchte, Sie haben einen Men- 
ſchen ſchwer verwundet.“ Er deutete auf das Blut im 
Gras. 

„Ich konnte nicht anders!“ rief ſie leidenſchaftlich. 
„Ich konnte — konnte Sie nicht ſterben ſehen!“ 

„Haſt du mich lieb, Lisbeth?“ 

Da brach ſie in ein wildes Schluchzen aus. 

Ein Taumel von Empfindungen durchraſte Heinz, 
über alle gewaltig ein ſtolzes Entzücken, daß er von 
dieſem herrlichen Mädchen ſo heiß geliebt wurde, daß 
ſie Blut vergoß für ihn. Es war die Erfüllung all 
ſeiner Sehnſuchtsträume. Er riß Lisbeth in ſeine Arme, 
preßte ihren Kopf an ſeine Bruſt, vergrub ſein Geſicht 
in der ſilbern flimmernden Haarflut. 

„Nun biſt du mein! Mein für ewig!“ 

Ihr Schluchzen wurde heftiger, wurde zum Krampf. 

Plötzlich hob ſie den Kopf, ſtarren Schrecken im 
Blick. „Wir müffen fort!“ 

Den Arm um feine Schulter legend, vorſichtig hor- 


118 Die Welt der anderen. o 


chend und um fidh ſpähend zog fie ihn durch den Wald, 
in dem ſie jeden Fußbreit kannte, auf dem kürzeſten 
Meg hinaus auf die mondbeſchienene Landſtraße. Dort 
ließ ſie ihn los. 

„Er iſt uns nicht nachgekommen!“ flüſterte ſie. 

Er nahm ihre Hand, ſprach ſanfte Liebesworte ihr 
ins Ohr. Wie er ſeit Tagen nichts mehr träume, denke 
als an ſie. Von ihrer Zukunft zu zweien ſprach er, auch 
von ſeiner Familie. 

Sie ſchritt haſtig aus und antwortete nicht, ſtreichelte 
nur ab und zu leiſe, zärtlich ſeine Hand. In kurzen 
Zwiſchenräumen ſchüttelte ſie noch immer ein trockenes 
Schluchzen, das Nachbeben der furchtbaren Erregung. 
Er liebte ſie darum nur um ſo mehr. Ihr Gefühl 
für ihn hatte ſie aus ihrem eigenſten Weſen, ihrer 
Mädchenzurückhaltung und Beſcheidenheit geriſſen zu 
einer Tat, die ihrem Geſchlecht nicht ziemte. Daß ſie 
nachträglich davor ſchauderte, machte ſie ihm rührend 
und verehrungswürdig. 

Im Hausflur küßte er innig ihre Lippen. „Lisbeth! 
Mein Lieb — mein Weib!“ 

Da warf ſie die Arme um ſeinen Hals, küßte ihn 
mit einer Glut, die ihn ſchwindeln machte. „Du lebſt! 
— Jch frag' nach nichts ſonſt!“ 

In dieſer Nacht ſchlief Heinz Oſterwald nicht. Er 
rannte in ſeiner Kammer auf und nieder, glühend, 
raſend, ſchwindlig, immer wieder das Exlebnis dieſer 
Abendſtunde durchkoſtend, das Grauen, den Schrecken, 
die Gefahr, den Knall der Piſtole, das Hervorſtürzen 
Lisbeths, das Blut des beſiegten Rivalen — und ihren 
Kuß, der ihm das Blut wie Feuer durch die Adern 
jagte. Er befühlte ſeinen Arm, er beſah ſeine Geſtalt 
im Spiegel. War wirklich er das? Heinz Oſterwald? 


u Novelle von Luiſe Weſtkirch. 119 


— Und er erlebte dies? Erlebte es in einem Führen- 
wald ſeines ehrbaren n auf einer Reife in 
ſeinem Beruf? 

So nahe lag das eh neben dem Alltäglichen! 
Das Heroiſche, nach dem ſeine Träume ſich ſehnten, 
es kam zu ihm, überſchüttete ihn! 

An dem Maß, wie er ruhiger wurde, begann er 
das Kommende zu erwägen. Sicherlich würde des 
Bohrmeiſters Verwundung bekannt werden. Vielleicht 
gar — es war Grauen, das zu denken — erlag er feiner 
Wunde. Andernfalls erhob er Klage, eine Unter- 
ſuchung würde eingeleitet werden. Lisbeth kam auf 
die Anklagebank, vor das Schwurgericht, wurde viel- 
leicht verurteilt! Denn Maccleans Angriff war nicht 
zu erweiſen, ihre Tat aber zweifellos. Das Herz ſtand 
ihm ſtill bei der Vorſtellung. Selbſtverſtändlich würde 
er die nicht verlaſſen, die für ihn ſchuldig geworden 
war. Nein — fie war ja fein, feine Braut, würde feine 
Frau werden! 

Was wohl der Schulrat zu dieſen Dingen fagen 
mochte? — Mit feinem Beruf als Lehrer war es jeden- 
falls vorbei. Eine Frau aus dem Gefängnis. 

Ihm fiel ein, wie hart ſein Vater gearbeitet, ſeine 
Mutter gedarbt hatten, um ihm dieſen Beruf zu er- 
möglichen. Und wenn er ſich fragte, was für einen 
Broterwerb er nun ergreifen würde, ſo war Leere in 
ſeinem Hirn. 

Gleichviel — was kam, das galt. Er war kein Lump. 
Vor allem mußte er ſein Verhältnis zu Lisbeth klarſtellen. 

Dabei ſah er plötzlich Elli vor ſich, deutlicher als 
die Tage vorher, ſah den Schmerz in ihren wunder- 
baren Augen, und das Mitleid mit ihrem Leid zerriß 
ihm das Herz. Aber es gab keine Wahl. Blut war 
wahrlich ein beſonderer Saft. Es band unlöslich. 


120 Die Welt der anderen. 2 


Er nahm ſein Schreibzeug aus der Lade. Das Blatt 
freilich, auf dem er an Elli ſchreiben wollte, blieb leer. 
Wie ſeine Schriftſtellerkunſt auch die Abſage faſſen 
mochte, ſie blieb unerträglich. Dann fiel ihm ein: 
derlei war überhaupt kein Männerwerk. Eine Frau 
mußte hier das löſende Wort finden. Er zerriß den 
Bogen mit dem: „Liebe Elli!“ und ſetzte auf den 
nächſten: „Liebe Mutter!“ Nun begann ſeine Feder 
zu fliegen. Rückhaltlos ſchilderte er ihr feine Erlebniſſe 
in der weltverlorenen Kolonie, feine Gefahr, die Helden- 
tat des Mädchens, ſetzte ihr ſeine Lage auseinander. 
„Und nun gibt es für mich keine Wahl als Ehrenmann. 
Ich gehöre zu der, die aus Liebe zu mir ihr Gewiſſen 
belaſtet, Menſchenblut vergoſſen hat. Das ſiehſt Du 
ein, Mutter. Du wirſt mich nicht verdammen. Du 
wirſt mir die Bitte erfüllen, die ich an Dich richte. 
Geh zu Elli. Sag ihr, was ſie wiſſen muß. Glaub 
mir, mein Herz ift ſchwer von Leid um das gute Mäd- 
chen. Aber fie wird mich begreifen, fie wird mir ver- 
zeihen. Und, Mutter, deſſen ſei gewiß, die Tochter, 
die ich Dir bringe, meine Lisbeth, iſt edel. Eine Natur 
voll Ehrlichkeit, voll Tatkraft, voll Lebensfreude. Du 
wirft fie liebgewinnen — —“ 

Die Feder ſtockte. Vor ſeine Vorſtellung trat das 
Bild ſeiner Mutter, das von der Haube umrahmte faltige 
Geſicht, die altmodiſche, aber peinlich ſaubere Tracht 
und Lisbeths Bild in weißer Schlotterbluſe mit dem 
Riß im Armel. 

Er mußte erſt ein leiſes Unbehagen überwinden, 
ehe er fortfuhr: „Eine unverbildete Natur iſt ſie, die 
Du, liebe Mutter, nach Deinem Bilde erziehen wirſt. 
Sie ſelbſt hat ihre Mutter ganz jung verloren. Ihr 
Vater iſt ein unglücklicher Mann. Was ihr etwa an 
äußerer Abgeſchliffenheit fehlt, weil niemand ſie's ge- 


D Novelle von Suite Weſtkirch. 121 


lehrt hat, Du wirft es fie lehren. Nicht, als ob fie un- 
wiſſend wäre. Sie hat höhere Schulen befucht, bevor 
das Unglück ihren Vater traf. Aber die Einöde, in der 
fie lebt, die ganz beſonderen Verhältniſſe und fremd- 
artigen Menſchen mußten abfärben auf ihr empfäng- 
liches Gemüt.“ 

Der frühe Tag ſchien durch die Scheiben, kämpfte 
mit dem Licht der Lampe. Heinz war es, als würde 
leiſe, leiſe eine Tür irgendwo im Hauſe zugemacht. 
Vielleicht ſchon Tante Hanne, die ihr Tagewerk begann. 
Er ſchloß: „Um mich mache Dir keine Sorgen, liebe 
Mutter. Ich bin ruhig und unverzagt. Was meiner 
Lisbeth und mir vorbehalten ſein mag — und es kann 
ſein, daß eine ſchwere Zeit uns erwartet, daß ich Beruf 
und Vaterland aufgeben muß —, denke Du immer, 
daß unſer Herrgott für jeden Menſchen viele Wege 
zum Glück offen hält. Die Hauptſache iſt: Recht tun 
und den Kopf oben behalten.“ 

Er ſtand auf. Gott fei Dank, ja, die große Wende 
ſeines Lebens, das ungewöhnliche Schickſal, das er ſich 
erſehnt hatte, fanden ihn als Mann, als Helden, ihrer 
würdig. Mit Stolz ſah er ſich um. Hinter der weit 
offenen Tür ſchliefen ſeine Knaben, feſt, mit ruhigen 
Atemzügen. Ein leichtes Bedauern kam ihm, daß ihm 
nicht ferner vergönnt ſein würde, junge Seelen zu 
bilden, da er ſich doch fühlte als einer, wert der Jugend 
als Vorbild voranzuleuchten. 

FSphm blieb nicht mehr Zeit, zur Ruhe zu gehen, er 
wuſch ſich und kleidete ſich um. Während ſeine Knaben 
ſich fertig machten, ging er hinunter, nach Lisbeth 
ſpähend. In dem verwilderten Garten fand er ſie am 
Brunnen, aus dem ſie ihm an jenem Wunderabend 
den Zaubertrunk geſchöpft hatte. Ein wenig blaſſer 
ſchien ſie ihm als ſonſt, ein wenig ſcheu. Und verſtohlen 


122 Die Welt der anderen. o 


glitt fein Blick an ihr herab auf ihre Hand, ihm war, 
als müſſe die blutig fein. Unwillig dies unwillkürliche 
Schaudern ſeiner Natur bezwingend, ging er raſch auf 
ſie zu und küßte ſie. 

„Mein Lieb, ich verſtehe dich. Faſſe Mut. Ich 
will nachher gleich ins Dorf gehen, mich vergewiſſern, 
wie es um den unglücklichen Mann ſteht. Gott wird 
gnädig das Schlimmſte abwenden.“ 

„Ja,“ antwortete fie ruhig. „Andrew Macclean 
wird nicht ſterben.“ 

„Das weißt du ſchon?“ 

„Nur könnte es geſchehen, daß ihm der Armſteif bleibt, 
ſagt der Arzt. Die Kugel hat den Knochen geſtreift.“ 

„Haſt du denn den Arzt geſprochen?“ 

„Ich hab' ihn ja hingeſchickt.“ 

„Du? — Zn Olhauſen wohnt doch gar kein Arzt!“ 

„Ich bin nach der Station gegangen.“ 

Heinz hatte eine ſehr peinliche Empfindung. Es 
demütigte ſeinen Mannesſtolz, daß, während er ſchwer 
ringend zukünftige Dinge erwog, ſie mit beſonnener 
Entſchloſſenheit das für den Augenblick Notwendige 
getan hatte, ohne ſeinen Rat, ohne ſein Wiſſen — für 
den anderen. Ihm war, als ſei ihm etwas genommen, 
auf das eigentlich er ein Recht gehabt hätte. 

„Mitten in der Nacht biſt du die zwei Stunden hin 
und her gelaufen — allein? Für Macclean?“ fragte 
er mißbilligend. 

„Ich konnt' ihn doch nicht hilflos verbluten laſſen!“ 

„Du hätteſt mir von deiner Abſicht ſagen ſollen,“ 
tadelte er. „Ich würde mit dir gegangen fein.“ 

Sie ſchwieg. 

„Du begreifſt doch, daß es mir peinlich ſein muß, 
wenn meine Braut vier Stunden allein in Nacht und 
Nebel auf der Landſtraße herumläuft.“ 


2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 123 


Sie hob bittend die Hand. „Ja, ſieh, gerade weil ich 
deine Braut bin. Die Menſchen, die du liebhaſt, von denen 
du mir erzählt haft, zu denen du mich führen willſt — 
würden die mich nicht geringachten, wenn ſie erführen, 
daß ich mit dir in der Nacht herumgewandert wäre?“ 

Ihre demütige Rückſichtnahme auf ſeine Art und 
die Art der Seinen rührte ihn. „Solch außergewöhn— 
liche Umſtände werden fih vorausſichtlich und hoffent- 
lich niemals wiederholen. Laſſen wir das. — Hör, 
Lisbeth, ich habe dieſe Nacht meiner Mutter von unſerer 
Liebe geſchrieben. Wenn du je über eine Sache im 
Zweifel biſt, frage nur meine Mutter. Sie wird dich 
immer richtig beraten.“ 

Sie ſah ihn ſtumm an. Es war eine bange Frage 
in ihren Augen, ein hilfloſes Staunen. 

Sein Empfinden wallte heiß auf. Er riß ſie in 
ſeine Arme. „Mein Lieb! Bange nicht! Es wird 
alles gut werden!“ 

An dieſem ſelben Vormittag hielt er bei Eduard 
Braun um Lisbeths Hand an. Er kam um zehn, weil 
er begriff, daß die Zurechnungsfähigkeit des Wirts vom 
Waldheim mit den vorrückenden Tagesſtunden abnehme. 
Auch zu dieſer Stunde Iden fand er ihn in feinem 
kühlen Zimmer vor einer Flaſche, die die Etikette eines 
auserleſenen Weines trug. Das Glas freilich, das halb- 
gefüllt daneben ftand, enthielt nur waſſerklaren Korn- 
ſchnaps. 

Braun folgte dem Blick des jungen Lehrers und 
lachte. „Ein fr frommer Betrug, eine Reminiſzenz 
an die Zeit, da dieſe Flaſche noch den edlen Tropfen 
enthielt, von dem fie prahlt. Illuſion! — Mein lieber 
Herr, was wäre ein Mann wie ich in dieſem Neſt 
o -ohne Zllufionen?“ 


124 Die Welt der anderen. el 


Aber als Heinz fein Anliegen vorbrachte, wurde der 
Wirt vom Waldheim würdevoll, Die Hand feiner 
Tochter begehrte der junge Mann? Hm, ja, er würde 
den Antrag in Erwägung ziehen, verſteht ſich. Aber 
— Lisbeth war ſein einziges Kind. Herr — wie hieß 
er doch gleich? — richtig, Herr Oſterwald — und Lehrer 
war er? Ein Studierter oder nur Seminariſt? — Nur 
Seminariſt? So. Ja, er mußte bedenken, er, Braun, 
würde nächſtens in den Staatsdienſt zurückkehren, ja- 
wohl! Man hatte ihm Andeutungen gemacht — es 
war noch Geheimnis. Aber es kam dahin, ja es kam 
ſicher dahin. Er würde wieder in die Stadt ziehen, 
ein Haus machen. Die Tochter eines ſolchen Vaters 
durfte Anſprüche erheben, Anſprüche, die Herr — wie 
hieß er doch noch? — richtig, Obermaier! — die Herr 
Obermaier als einfacher Lehrer vielleicht nicht imſtande 
war zu erfüllen — wie? 

Heinz war rot geworden vor Zorn. Im Bewußt 
ſein ſeiner bürgerlichen Vollwertigkeit war es ihm gar 
nicht in die Gedanken gekommen, daß ein Kerl wie 
dieſer Wirt anders als mit Dankbarkeit und Rührung 
ſeinesgleichen zum Schwiegerſohn annehmen könne. 

Während die Empörung ihn noch ſtumm machte, 
öffnete ſich die nur angelehnte Tür zum Nebenzimmer. 
Lisbeth kam herein. 

„Du brauchſt nicht lange zu überlegen, Vater,“ 
ſagte ſie. „Heinz und ich ſind ſchon einig.“ 

Anſicher mit den Lidern zwinkernd, fab Braun aus 
ſeinen ſchwimmenden Augen die Tochter an. Sein 
Stolz, ſeine Würde ſanken. Unruhig bewegte er die 
zitternden Finger auf der Tiſchplatte. „Willſt du wirt- 
lich deinen alten Vater allein laſſen, Kind?“ 

„In unſer Haus nehmen können wir dich nicht, 
Vater. Ich will mit Onkel Fritz ſprechen. Waldheim 


o Novelle von Luife Weſtkirch. 125 


muß verkauft werden. Wenn Onkel den Erlös für dich 
auf Leibrente gibt, wirſt du irgendwo auf dem Land 
dafür leben können.“ 

„Ich will nicht aufs Land!“ antwortete Braun 
heftig. „Ich gehe in meinen Dienſt zurück, in die 
Stadt. Ihr wißt alle nicht, was in mir ſteckt. Ich 
laffe mich nicht länger unterdrücken. Ich w— werde 
meinen Weg ſchon machen.“ 

„Am fo beffer,” antwortete die Tochter gleichmütig. 
„Alſo, daß wir uns verſtehen, Vater, du gibſt deine 
Einwilligung, daß Heinz und ich heiraten — nicht 
wahr?“ 

„Meinetwegen mach, was du willſt,“ brummte 
Braun unwirſch. „Aber beklag dich nachher nicht.“ 

Er fette fih wieder, ftierte in fein Glas und mur- 
melte etwas von Undankbarkeit. 

Lisbeth zog Heinz, der antworten wollte, aus der 
Stube. Der junge Lehrer hatte ſich ſeine Verlobung 
anders gedacht. 

„Ich finde, du gehſt ſehr hart mit deinem Vater 
um,“ ſagte er, „mit wenig kindlicher Liebe und Achtung.“ 

„Wie kann ich denn da lieben und achten?“ 

„Er bleibt immer dein Vater! — War es denn gar 
nicht möglich, früher — ja wäre es nicht ſogar jetzt 
noch möglich, den Unglückſeligen von feiner Leiden- 
ſchaft, ſeiner Krankheit zu heilen? Für eine Tochter 
müßte das eine herrliche Aufgabe ſein.“ Ä 

Sie antwortete nicht. 

„Haſt du nie daran gedacht?“ 

„Nein,“ ſagte ſie. „Die Eltern ſollen ihre Kinder 
erziehen, mein' ich, nicht die Kinder ihre Eltern.“ 

„Im allgemeinen gewiß. Aber es gibt doch Aus- 
nahmen.“ Er ſchüttelte den Kopf. „Du but in Gemüts- 
dingen unheimlich — wie ſoll ich ſagen? — ſachlich.“ 


126 Die Welt der anderen, 2 


Sie lachte. „Ja, ich kann mir nichts vormachen. 
Wenn ich ſehe, daß ein Ding unmöglich iſt, wie zum 
Beiſpiel meinen Vater zu beſſern, ſo müh' ich mich 
gar nicht erſt dran ab. Amerikaniſch nennt das Andrew 
Macclean. Ihm gefiel’s.“ 

„Laß Macclean!“ Heinz zog einen Ring von ſeinem 
kleinen Finger, ein dünnes, ſchlichtes Ringelchen, an 
dem ein Kleeblatt von Türkiſen in blaſſem Blau ſchim- 
merte, und ſchob es an Lisbeths Finger. „Dieſen Ring 
hat mein Vater meiner Mutter an ihrem Verlobungs- 
tag gegeben. Trag du ihn nun, meine Lisbeth, meine 
Braut. Trag ihn würdig.“ 

Sie fab auf den Reif, ihre Lippen zuckten. Lang- 
ſam ſchlug ſie die Augen zu ihm auf, die ihm in dieſem 
Augenblick ſchwarz ſchienen. „Ich werde gewiß in 
vielem anders ſein, als du dir's gedacht haſt,“ ſagte ſie. 
„Aber“ — ſie ergriff plötzlich ſeine beiden Hände mit 
einer Leidenſchaftlichkeit, die ihn faſt erſchreckte — 
„was ich tun kann, dich glücklich zu machen, Heinz — 
das tu' ich! Das tu' ich gewiß!“ 

Mit abgewandtem Geſicht lief fie davon. — 

Langſam ging der Tag hin, Heinz meinte ſolch 
langen nie erlebt zu haben. Die Wünſche und Fragen 
ſeiner kleinen Ferienkoloniſten fielen ihm auf die Nerven. 
Er hatte Mühe, mit guter Art die weitſchweifigen Glüd- 
wünſche der Tante Hanne hinzunehmen. Seine Ge— 
danken wanderten. Was nur ſeine Mutter ſagen würde? 
And feine Schweſter erft? Die war ſtreng! — Mit der 
letzten Poſt heute wurde ſein Brief ausgetragen. Ob 
ſie am ſelben Abend noch zu Elli gingen? — Morgen 
früh konnte dann ihre Antwort kommen. 

Wär's nur erſt morgen! — 

Am Nachmittag ſtaud plötzlich Lisbeth neben ihm. 

„Du, Heinz, ich glaub', ich muß dir was fagen. ~ 


D Novelle von Luiſe Weſtkirch. 127 


Denk dir, ich ſoll zu ihm kommen. Er will mich 
ſprechen.“ 

„Ver?“ 

„Macclean.“ 

Sie reichte ihm ein Briefblatt. Angeſchickt mit der 
linken Hand darauf geſchrieben ſtanden die Worte: 
„Mich hält nun nichts mehr hier. Vor meiner Abreiſe 
möchte ich Ihnen ein Wort fagen, Miß Braun. Kommen 
Sie zu mir!“ 

„Keinenfalls wirſt du zu dem Menſchen gehen!“ 
ſagte Heinz heftig. 

„Ich dachte mir, es würde dir nicht recht ſein.“ 

„Ver weiß, was der Kerl im Schilde führt!“ 

„Macclean — gegen mich? Oh, ſicher nichts 
Böſes!“ 

„Jedenfalls ift es ganz unmöglich, daß meine Braut 
einen fremden Mann in ſeinem Haus beſucht. Das 
mußt du einſehen.“ 

„Ja.“ 

„Wir wollen Gott danken, daß er gnädig die Kugel 
abgelenkt hat von dem Herzen des Ruchloſen —“ 

„Ich hab' doch nicht auf Maccleans Herz gezielt!“ 
unterbrach ſie ihn. „Nur auf den Arm.“ 

„Du haſt gezielt?! In dem Augenblick?“ 

„Natürlich hab' ich gezielt.“ 

Wieder mußte Heinz eine peinliche Empfindung 
niederkämpfen. „Alſo, wir wollen Gott danken für 
den Ausgang. Im übrigen geht der Mordbube dich 
nichts an. Sollte er die Gerichte anrufen, ſo werde 
ich unſere Sache zu führen wiſſen, verlaß dich darauf.“ 

„Macclean bemüht die Gerichte nicht. Der ift da- 
für, ſich ſelbſt zu helfen.“ 

„Er tue ſein Zoe) < Du ei aber nicht zu ihm 
geben.“ 


123 Die Welt der anderen. D 


——__. 


„Rein,“ fagte fie, „ib tws nicht, wenn du nicht 
willſt.“ — 

Die Stunden ſchlichen. Heinz lag die Nacht wach 
und horchte auf den heiſeren Schlag der alten Wand- 
uhr. Einem Bräutigam, einem, der das Weib ſeiner 
Liebe errungen hat über Gefahr und Tod, flammende 
Schüſſe und fließendes Blut weg, hätte nach ſeiner 
Meinung anders zumute ſein müſſen. Aber dies Bangen, 
das ihm den Atem raubte und kein Frohgefühl auf- 
kommen ließ, entſprang jedenfalls nur der Ungewiß- 
heit über das Kommende. Wenn er erſt ſeiner Mutter 
Meinung kannte, wenn erſt das Band zwiſchen ihm 
und Elli gelöſt war, wenn er wußte, ob der Amerikaner 
Klage erhob, wußte, wie ſeine Vorgeſetzten über ſein 
Abenteuer dachten, dann — ja, dann würde mit der 
Ruhe des Gemüts die hohe Freude ſich einſtellen, ganz 
gewiß! 

Der Tag kam, der Poſtbote. Der heißerſehnte Brief 
ſeiner Mutter kam nicht. 

„Altere Leute ſind bedächtig, mein Lieb,“ ſagte er. 
„Es iſt Mutters Art, gründlich zu erwägen. In das 
Außergewöhnliche, das ich ihr ſchreiben mußte, wird 
fie ſich nur langſam finden können. Aber ſicher be- 
kommen wir heute noch Nachricht.“ 

Als Heinz mittags mit ſeinen Knaben heimkehrte, 
müde und zermürbt von den Spielen mit ihnen wie 
nie in feinem Leben, fuhr ein Wagen vor dem Got: 
haus vor. Ein junges Mädchen ſprang heraus und 
half einer älteren Dame ausſteigen. 

Das Blut ſchoß Heinz in heißem Strom in den 
Kopf, alle Föhren des Wäldchens ſamt dem weißen 
Wirtshaus führten einen tollen Tanz um ihn auf. 
Seine Schweſter! Seine Mutter — ſeine Mutter, die 


2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 129 


feit zehn Jahren auch nicht eine Stunde auf der Eijen- 
bahn gefahren war! 

„Geht hinauf! Macht euch zum Eſſen fertig!“ gebot 
er rauh den gaffenden Kindern. „Wollt ihr wohl 
machen, daß ihr hinaufkommt!“ 

Während ſie mit neugierig zurückgewandten Hälſen 
ins Haus abzogen, trat er zum Wagen. „Mutter! 
Dora! — Ihr kommt zu mir?“ 

„Später, Heinz, ſpäter!“ Frau Oſterwald neſtelte 
an ihrem Geldtäſchchen, ſuchte mühſam den Lohn für 
den Kutſcher zuſammen. 

„Kann ich das nicht * dich beſorgen, Mutter?“ 

„Laß nur.“ 

Die Schweſter, ein früh verblühtes Mädchen mit 
ſcharfen Zügen und unruhig umherfahrenden Augen, 
ſah ihn vorwurfsvoll an. „Schöne Geſchichten machſt 
du! Mutter war ganz krank von deinem Brief! Sie 
ließ keine Ruh', wir mußten herfahren.“ 

„Ich hätte doch zu euch kommen können, Mutter.“ 

„Es ift beffer fo, mein Zunge. Ich kann wohl ein 
Zimnier hier im Hauſe bekommen — nicht wahr?“ 

„Sicher.“ Als Heinz ſich ſuchend umwandte, trat 
Lisbeth in die Tür. Es half nichts. Er mußte jetzt, 
hier, ſeine Braut den Seinen vorſtellen. 

„Mutter, Dora — dies iſt meine Lisbeth.“ 

Sie ſtanden einander gegenüber im unbarmherzig 
grellen Mittagſonnenſchein, die alte Frau, erſchöpft von 
der Reiſe, in Tücher und Schleier gewickelt, mit faltigem, 
vergrämtem Geſicht, ſcheu, geblendet von der Weite, 
dem mitleidloſen Licht, ſie, die ihre Tage im Halb— 
ſchatten gelebt hatte — und ihr gegenüber dieſes Mäd- 
chen in der Vollkraft ihrer Jugend, mit harten, bliken- 
den Augen in die Sonne ſchauend, mit tatkräftig auf— 
gerecktem Kopf, über dem wie eine Krone das blonde 

1913. IX. 9 


130 Die Welt der anderen. 2 


Haar flimmerte, geſund, willensſtark, rückſichtslos, das 
Leben ſelber. 

Eine Sekunde ſchwiegen beide in einem kühlen Er- 
ſchauern vor der Weſensfremdheit des anderen. Dann 
ſtreckte die alte Frau langſam die Hand aus. 

„Wenn ich meines Sohnes Brief recht verſtanden 
habe, ſo danke ich es Ihnen, liebes Fräulein, daß mein 
Heinz noch lebt. Das wird eine Mutter Ihnen nie 
vergeſſen.“ | 

Lisbeth legte ſtumm ihre Finger in die Hand Frau 
Oſterwalds. E 

„Mach ein Zimmer für Mutter und Dora zurecht, 
Lisbeth,“ bat Heinz. 

Lisbeth ging eilig. 

„Vorläufig kommt ihr mit mir, Mutter.“ 

Er führte die beiden in das kleine Stübchen, das 
er neben den Schlafräumen feiner Zungen bewohnte, 
und ſchloß die Verbindungstür. 

Die alte Frau ſetzte ſich auf das harte, kleine Sofa, 
faltete die Hände im Schoß und ſah vor ſich hin. 

„Kann ich dir eine Erfriſchung bringen, Mutter, bis 
das Mittageffen fertig iſt? — Was trinkt Mutter, Dora?“ 

Frau Oſterwald lehnte nur durch ein Kopfſchütteln 
ab. „Alſo ſo ſieht ſie aus!“ ſprach ſie vor ſich hin. 

„Die arme Elli!“ ſagte Dora. „Das hat ſie ſich 
gewiß nicht träumen laffen, daß fo eine dich ihr weg- 
nehmen würde.“ 

Heinz wurde heftig. „Sei ſo gut und gib acht auf 
deine Ausdrücke! So eine! Das verbitt' ich mir. Du 
kennſt ja meine Lisbeth gar nicht.“ 

„Na, hör mal, ein junges Mädchen, das nachts in 
den Wäldern umherläuft, mit Piſtolen um ſich ſchießt! — 
Und wie fie ausſieht mit dem viel zu kurzen Rock! 
Eine Hausfrau wird die nie.“ 


a Novelle von Luiſe Weſtkirch. 131 


„Dora!“ 

„Ja, darauf mußt du doch ſehen, mein' ich! Wie 
wollt ihr denn ſonſt die zwei Enden zuſammenbringen?“ 
Sie ſah ſich um. „Reichtümer wird ihr Vater ihr wohl 
nicht mitgeben können. Es ſieht erbärmlich hier aus.“ 

„Du follft deinen Mund halten, verſtehſt du!“ 

„Auch darüber, daß du einem braven Mädchen dein 
Wort brichſt — und das Herz dazu? Du weißt ſelbſt, 
daß Elli viel mehr nach dir fragt, als du wert biſt.“ 

„Still,“ bat die Mutter, „fei doch ſtill, Dora! Zankt 
euch nicht!“ Sie nahm ihres Sohnes Hand. „Achte 
nicht auf ihre Reden, Heinz. Das Kind weiß nichts 
vom Leben. Sie ſieht nur Schwarz und Weiß.“ 

„Ja, Mutter, mir iſt Recht Recht und Unrecht Un- 
recht. Davon laſſ' ich mir nichts abhandeln.“ 

„Schweig ſtill! Sch will jetzt ſprechen,“ ſagte Frau 
Oſterwald. „Ich kann dich verſtehen, Heinz. Sch kenne 
dein ſtrenges Pflichtgefühl, dein zartes Empfinden. Du 
biſt dem Mädchen Dank ſchuldig geworden, eine große 
Verpflichtung haft du gegen fie.“ 

„So nicht, Mutter! Ich liebe Lisbeth.“ 

„Auch das. Du glaubſt fie zu lieben, die für dich 
Ungeheures gewagt hat, die Blut vergoſſen hat aus 
Liebe zu dir! Wie ſollteſt du nicht? Wie ſollte nicht 
vor der Heiligkeit der Dankesſchuld, die du gegen fie 
zu begleichen haſt, die Heiligkeit jedes anderen Bandes, 
jeder anderen Pflicht in deiner Wertmeſſung zurück— 
treten? — Sieh, ich verſtehe das alles, und ich ver- 
damme dich nicht, Heinz — ich nicht.“ 

Er beugte ſich über ihre Hand und küßte ſie. 

„Ich kenne dich ſogar beſſer, als du ſelbſt dich kennſt. 
And weil du jetzt an dich ſelbſt gar nicht denkſt, dein 
Glück, all deine künftigen Jahre nicht eines Erwägens 
wert hältſt in dem Ungeſtüm deiner edlen Regung, 


132 Die Welt der anderen. D 


darum hat es mir nicht Ruhe gelaſſen, darum hab' ich 
kommen müſſen, damit ich mit meinen Augen die ſehe, 
bis auf den Grund die kennen lerne, die das Schickſal 
deines Lebens werden ſoll. Denn, wenn du dich ver- 
gißt, mein Heinz, ich, deine Mutter, habe das Recht, 
dich nicht zu vergeſſen — über keinen Menſchen und 
keine Dankbarkeit und keine Pflicht. Ich will die Augen 
offenhalten und dein Mädchen kennenlernen. Damit 
biſt du doch einverſtanden, Heinz?“ 

„Ja, Mutter. Und Dank, heißen Dank! Oh, wenn 
du nur ein wenig ihrer angeborenen Art Rechnung 
trägſt, mußt du meine Lisbeth liebgewinnen. Sie iſt 
ganz Tatkraft, ganz Leben, eine Frau, mit der zur 
Seite ein Mann die Welt erobert.“ Er ſtockte. Die 
Frage fiel ihm ſchwer. „Weiß Elli ſchon?“ 

„Noch nicht. Zch wollte erft ſelbſt ſehen. Aber Elli 
hat dich lieb, mein Junge, und fie hat nie ihr eigenes 
Glück geſucht. Deinem Glück — wenn dies Mädchen 
dein Glück iſt — wird ſie nicht im Vege ſtehen.“ 

„Nein,“ fügte Dora hinzu, „du kannſt es darauf 
wagen. Sie wird dir ſagen: es tut nicht weh — auch 
wenn ſie dran ſtirbt.“ f 

Es klopfte. Lisbeth meldete, daß das Zimmer 
bereit ſei. | 

„Schon?“ fragte Dora mißtrauiſch. 

Sie gingen hinüber. Jetzt, da Heinz gleichſam durch 
die Augen von Mutter und Schweſter ſah, kamen ihm 
die Mängel vom Waldheim erſt völlig zum Bewußtſein. 
Das Loch in der Mullgardine klaffte unverſchämt, die 
Bettvorlage war ausgefranſt. An der Waſſerkanne 
fehlte der Henkel. 

Doras Blicke hafteten ausdrucksvoll auf dieſen 
Schäden. N 

Sah Lisbeth fie nicht? Warum gab fie fidh folde Blöße? 


D Novelle von Luiſe Weſtkirch. 133 


Lisbeth ſtand wartend, ganz gutes Gewiſſen, guter 
Wille. In der Hand hielt ſie ein Brett mit Kaffee- 
geſchirr und Zwieback. Die Taſſen hatten Sprünge. 
„Vielleicht ſchmeckt's doch nach der Reiſe?“ ſagte ſie. 

„Nein, Lisbeth, Mutter nimmt nichts,“ entgegnete 
er raſch. „Was ihr not tut, iſt einzig ein bißchen Ruhe.“ 

Lisbeth war ſchon an der Tür. 

„Mein liebes Kind,“ ſagte Frau Oſterwald freund- 
lich, „Sie müſſen Nachſicht mit einer alten Frau haben. 
Ich freue mich darauf, recht lange und eingehend mit 
Ihnen zu plaudern. Wir haben einander viel zu ſagen. 
Ganz genau müſſen Sie mir den ſchrecklichen Vorfall 
erzählen. Von Ihnen und Fhrem Leben müſſen Sie 
mir erzählen, wenn Heinz mit feinen Jungen hinaus- 
zieht heute nachmittag — nicht wahr?“ 

Ja,“ ſagte Lisbeth. 

Sie ging eilig. Wie dieſe Dora ſie angeſtarrt hatte! 
Hatte ſie denn etwas Beſonderes an ſich? Sie betrachtete 
ſich im nächſten Spiegel, zupfte ihren Anzug zurecht. 
Richtig! Die Bluſe war zerriſſen. Sie würde die andere 
anziehen. Ganz heil war die allerdings auch nicht. 
Aber der Schaden ſaß unter dem Arm. Übrigens war 
das ein ganz nebenſächlicher Umſtand bei dem Wid- 
tigen, das zwiſchen ihnen auf Austrag harrte. 

Aufatmend ſog ſie den friſchen Weſtwind ein. Sie 
war nicht oft verlegen. Furcht kannte ſie überhaupt 
nicht. Aber die beiden Frauen machten ſie beklommen. 
Es war, als wenn ſie alle Luft wegſaugten aus dem 
Raum, in dem fie ſich aufhielten. Ob die beiden ihre 
Hausgenoſſen wurden? Heinz hatte erzählt, daß er bei 
ſeiner Mutter wohne. Ach, ſie würde ſchon mit ihnen 
fertig werden! Seine Mutter, das war doch die Frau, 
die ihren Sonntagſtaat zerſchnitt, damit ihre Kinder 
Röckchen bekamen. Seine Schweſter hatte Bluſen ge— 


134 Oie Welt der anderen. 2 D 


näht für ein Geſchäft vom Morgen bis tief in die Nacht, 
um das Geld zuſammenzubekommen, deſſen Heinz 
zu ſeiner Ausbildung bedurfte. Sie hatte ſich dieſe 
Prachtmenſchen anders vorgeſtellt. Aber was lag am 
Außeren! | 

Jedenfalls wollte fie ſich Heinz zuliebe aber doch 
auf den Nachmittag ſo hübſch machen, wie ſie irgend 
konnte. 

Inzwiſchen ſchickte Frau Oſterwald Dora hinaus. 
„Kümmere dich ein wenig um meine Suppe, Kind. 
ich kann heute nur Grießſuppe effen. Sieh, daß fie 
richtig gekocht wird — ohne Gewürz, ohne Fett. Und 
daß ich Weißbrot bekomme.“ 

Dann zog ſie Heinz neben ſich auf das Sofa. 

„Nun ſag mir von Anfang, wie das über dich ge— 
kommen ift, mein Zunge. Ganz ruhig, ganz ausführ- 
lich erzähle.“ 

Er verſuchte es. Aber er fand keine Stimmung in 
der dumpfen Stube, vor der ſeufzenden Frau im 
ſchwarzen Gewand. Aller Wunderglanz fiel ab von 
den Geſchehniſſen, alle lichte Schönheit von ſeinen 
Empfindungen. Wie ein zerflederter Schmetterling lag 
ſeine hochflatternde Liebe am Boden. Es war, als ob 
die nervös ſich bewegenden Finger der alten Frau alle 
die leuchtenden Farbenſchuppen von ihren Flügeln 
zupften. Er brach ab und ſtand auf. 

„Ich kann's mit Worten nicht fagen. Ih ſag's 
ſchlecht. Lerne meine Lisbeth kennen, Mutter, und 
du wirft mich verſtehen.“ . 

„Du fagit, fie hat keine Mutter mehr. Aber ihren 
Vater, den Herrn Braun, wirſt du mir doch bringen?“ 

Da mußte Heinz von des Wirtes Eigentümlichkeiten 
ſprechen. Er tat es ungern. 

Frau Oſterwald ſeufzte tiefer als zuvor. „Ein 


D Novelle von Suite Weſtkirch. 135 


Trinker! — Man jagt, daß ſolches Laſter fih vererbt 
bis in die zweite, dritte Generation. Haſt du das 
bedacht?“ 

„Ich hab' nur bedacht, daß ich Lisbeth liebhabe. 
Und fie hat auch nur an ihre Liebe zu mir gedacht, 
als ſie die Mündung ihrer Piſtole auf einen Menſchen 
richtete.“ 

„Ja, ja — gewiß. Aber die Tochter eines Trinkers, 
Heinz! Wir haben Verantwortung unſeren ungeborenen 
Kindern gegenüber.“ 

„In erſter Linie doch wohl gegen die Menſchen, 
die lebendig ſind.“ 

„Ich weiß nicht. Was lebt, kann ſich wehren. Die 
Werdenden find ſchutzlos. — Aber rege dich nicht auf. 
All dies Wilde, Schwankende wird ins Gleichgewicht 
kommen. Nur Ruhe! Wie toll das Waſſer in der 
Schale auch nach links und rechts über den Rand ſchlagen 
mag, halte nur ein Weilchen ſtill, es wird glatt und 
eben. Geh jetzt zu deinen Zungen.“ 

Am Nachmittag, als Heinz widerwillig mit den 
Knaben in den Wald gezogen war, ließ Frau Ofter- 
wald Lisbeth zu ſich bitten. Sie hatte eine Taſſe Kaffee 
vor fidh ſtehen. Dahinein tauchte fie vorſorglich ihren 
Zwieback. 

Dora ſaß am Fenſter und häkelte wie toll. Die 
Mutter hatte ihr verboten, zu reden. 

Lisbeth aber hatte die weiße Bluſe angezogen, dazu 
einen weißen Muſſelinrock. Ihr ſilberflimmerndes Haar 
hatte ſie zu einer hohen Flechte aufgebauſcht. Macclean 
pflegte zu ſagen, daß dieſe Haartracht ſie beſonders 
kleide. Im goldenen Gürtel ſteckte ein Strauß friſcher 
Heckenroſen. Wie eine junge Siegesgöttin ſtand ſie 
vor den zwei verarbeiteten, vergrämten Frauen, ſtrah— 


136 Die Welt der anderen, D 


lend von einem Überfhuß von Tatkraft und Lebens- 
freude, der ihre müden Seelen ſchmerzhaft blendete. 

„Mein liebes Kind, kommen Sie. Setzen Sie ſich 
zu mir,“ begann Frau Oſterwald. „Sie fürchten ſich 
doch nicht vor mir?“ 

„Nein, Frau Oſterwald,“ ſagte Lisbeth lächelnd. 
„Heinz hat mir viel von Ihnen erzählt. Da habe ich 
Sie liebgewonnen — und ihn dazu.“ 

„Nicht wahr, Sie haben meinen Zungen ſo recht 
von Herzen lieb?“ 

„Gewiß.“ 

„Sie wollen, daß er glücklich wird! — Sind Sie 
ſicher, liebes Fräulein Braun, daß Sie ihm das Glück 
geben können? — Sie müſſen einer bangen Mutter 
die Frage verzeihen.“ | 

Lisbeth wurde rot. „Wir haben einander lieb,“ 
ſagte ſie einfach. 

„Ja, ja. Aber ehe Sie ihn liebgewannen, ging da 
nicht Ihre Neigung andere Wege? — Ich wenigſtens 
weiß mir den mörderiſchen Anfall auf meinen Sohn 
nicht anders zu erklären. Durch Sie, nur durch Sie 
konnte er in die Gefahr geraten, aus der Sie ihn 
gerettet haben.“ 

Lisbeth ſah auf. Wie die unruhigen Augen des 
Mädchens am Fenſter fie anfunkelten! Das war un- 
verkennbare Feindſchaft. 

„Macclean ift mir ein Freund und guter Kamerad 
geweſen,“ antwortete ſie feſt. „Ein Verſprechen hab' 
ich ihm nie gegeben.“ 

„Er mag ſich dieſe Freundſchaft zwiſchen einem 
Mann und einem jungen Mädchen wohl anders ge— 
deutet haben. Sie war ſehr unvorſichtig.“ 

Lisbeth biß die Zähne zuſammen und ſchwieg. Es 
war ſeine Mutter, die ſprach. 


2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 157 


„Nun, Sie werden wohl ſelbſt Ihr Unrecht ein- 
geſehen haben und bitter bereuen?“ 

„Ich hab' nichts zu bereuen,“ antwortete Lisbeth 
raſch. „Es ijt nichts Anrechtes geweſen zwiſchen mir 
und Macclean. Er hat mich liebgehabt und Heinz 
auch. Dafür kann ich nichts.“ 

Dora räuſperte ſich. „Sie verſteht dich gar nicht, 
Mutter.“ 

Frau Oſterwald ſchüttelte betrübt den Kopf. „Sie 
ſind wirklich ganz anders, als ich Sie mir vorgeſtellt 
hab', Kind,“ ſeufzte ſie. 

„Ja,“ ſagte Lisbeth tapfer, „das fühl' ich wohl, 
daß ich anders bin als Sie und als Heinz auch. Aber 
als er mir von Ihnen, von ſeiner Kindheit, ſeiner 
Familie ſprach, da hat mich die Sehnſucht gepackt. Ich 
hab' ein Elternhaus ja nie kennengelernt. Ich bin 
wie eine Waiſe aufgewachſen — ſchlimmer. und“ — 
ihre Stimme wurde weich — „Heinz verhieß mir, daß 
ich in Ihnen eine Mutter finden würde, Frau Ofter- 
wald. Eine Mutter! Zch weiß ja gar nicht, wie das 
iſt, eine Mutter haben.“ 

„Gewiß, mein Kind, gewiß will ich Ihnen Mutter 
ſein, wenn Sie es wünſchen und — und verdienen. 
Das aber kann ich nicht verhehlen, daß mich die Grund- 
verſchiedenheit Ihrer Auffaſſung vom Leben und der 
Lebensauffaſſungen, die bei uns gelten, in denen mein 
Heinz aufgewachſen und erzogen worden iſt, beſorgt 
macht.“ 

„Wir haben einander lieb,“ wiederholte Lisbeth. 

Die Häkelnadel in Doras Hand machte zornige 
Sprünge. Die mit ihrer einfältigen Liebe! Ein ſchöner 
Haushalt würde das werden! Die Perſon mit ihrer 
Tingeltangelfriſur und ihren ſonderbaren Freund— 

ſchaften brauchte nur einmal der Frau Rektor über 


138 Die Welt der anderen. a 


den Weg zu laufen, dann konnte Heinz feine Bücher 
einpacken und Stadtreiſender in Stiefelſchmiere werden. 
Mutter war viel zu ſchwach! Wenn ſie ſelbſt doch 
reden dürfte! 

Frau Oſterwald ſeufzte noch einmal. Dann ent— 
ſchloß ſie ſich. „Mein Kind, ich nehme an, daß Sie, 
wenn auch verſchieden von dem Bild, wie wir in unſeren 
Kreiſen uns junge Mädchen vorſtellen und wünſchen, 
doch das Herz auf dem rechten Fleck und ein feines 
Empfinden für Recht und Gerechtigkeit haben. Sie 
ſagen, Sie waren ganz frei, als Sie Ihr Herz meinem 
Heinz ſchenkten. Ich will es glauben. Bei Heinz, ſehen 
Sie, iſt das anders. Sie müſſen, um zu dem zu ge— 
langen, was Sie als Ihr Glück betrachten, ein fremdes 
Glück vernichten. Wollen Sie das?? 

„Das verſtehe ich nicht.“ 

„Heinz war ſeit Jahren einem lieben Mädchen, 
einer Zugendgeſpielin, in herzlicher Neigung verbunden. 
Hat er Ihnen nicht davon geſprochen?“ 

„Nein.“ 

„Wir haben ſie als ſeine Braut betrachtet.“ 

Lisbeth ſchwieg einen Augenblick. „Heinz tut es 
nicht,“ ſagte ſie dann ruhig. | 

„Er hat es getan, bis er Sie kennen lernte. Das 
Mädchen hängt mit ihrer ganzen Seele an ihm. Wenn 
Sie ihn ihr nehmen, wird ſie unſäglich darunter leiden. 
Es kann ſein, daß ſie daran ſtirbt. Wollen Sie dieſe 
Schuld auf Ihr Gewiſſen laden?“ 

„Was kann ich dabei tun?“ 

„Was Sie dabei tun können?!“ 

„Ich kann Heinz doch nicht zwingen, ſie liebzu— 
haben.“ 

„Liebe! Liebe! — Sie ſprechen immer von Liebe. 
Von Pflicht ſcheinen Sie nichts zu wiſſen. Aber, mein 


D = Novelle von Luife Weſtkirch. 139 


Kind, Liebe vergeht, Recht beſteht. Es ruht kein Segen 
auf unrechtem Gut. Ich hatte auf meine Mitteilung 
eine andere Antwort von Ihnen erwartet. Da Sie 
fie nicht ſelbſt finden wollen, muß ich Sie darauf bin- 
weiſen. Liebes Fräulein Lisbeth, geben Sie meinen 
Jungen frei. Sie paſſen nicht zu ihm. Nimmer werden 
Sie Ihr Glück als ſeine Frau finden. Um ſeinetwillen, 
um Ihretwillen, um unfer aller willen — geben Sie 
ihn frei!“ i 

Lisbeth ſprang auf, mit Blut übergoſſen, empört. 
„Alfo das war der Zweck dieſer Unterredung! Sie 
wollen die Schwiegertochter, die Ihnen nicht gefällt, 
aus Ihrer Familie ausmerzen! Aber eine Heirat iſt 
eine Sache zwiſchen Mann und Frau allein. Nicht um 
ſeiner Mutter willen, nicht um eines Mädchens willen, 
das Heinz einmal liebgehabt hat, trenne ich mich von 
ihm. Solange er mich liebhat, ſolange ich ihn lieb— 
habe — niemals!“ | 

„And wenn er aufhört, Sie zu lieben? — Er wird 
aufhören!“ 

„Wenn er mich nicht mehr liebhat, dann iſt Heinz 
frei.“ 

„Auch wenn er inzwiſchen Ihr Mann geworden iſt?“ 

„Einen Mann feſtzuhalten, der nach mir nicht fragt, 
würde ich mich unter allen Umftänden ſchämen — unter 
allen! Ich kann mir nicht vorſtellen, daß das Mädchen, 
von dem Sie ſprechen, anders empfindet.“ 

„Nicht einmal die Ehe gilt Ihnen für heilig?“ 

„Wenn zwei Menſchen nicht einer den anderen über 
alles lieben, dann iſt es jederzeit beſſer, ſie trennen ſich.“ 

Der alten Frau liefen die Tränen über die Wangen. 
„Und mit dieſen Grundſätzen wollen Sie meines Heinz 
Frau werden? Es liegt da ein Weltmeer zwiſchen 
Ihnen und uns!“ 


140 Die Welt der anderen. el 


Dora hielt nicht mehr an fih. „Ich hab' dir's 
vorausgeſagt, Mutter, du redeſt in die Luft. Fräulein 
Braun hat beſchloſſen, Frau Oſterwald zu werden.“ 

Ehe Lisbeth antworten konnte, hob Frau Oſterwald 
abmahnend die Hand. Es lag eine ſchlichte Hoheit in 
der Bewegung. 

„Meine Kraft iſt zu Ende. Mein liebes Fräulein, 
erwägen Sie ſtill für ſich meine Worte. Ich will Gott 
bitten, daß er uns alle erleuchten und dieſe Not zum 
Guten wenden möge. Ich — kann nicht mehr.“ 

Dora ſprang zu und fing die Frau auf, die wankte. 

Lisbeth ging ſtumm hinaus, verwirrt, befangen von 
der Echtheit dieſes Schmerzes, der in ihre heiß auf- 
flammende Empörung über die Aufnahme, die die 
Nächſten ihres Heinz ihr bereiteten, dämpfend fiel wie 
ein kalter Waſſerſtrahl in Feuersglut. Jedenfalls — 
die alte Frau log nicht. Sie ſagte, wie ſie empfand, 
wie die Erfahrung eines langen Lebens es ſie ſehen 
ließ. War denn der Schatten eines Grundes für ihre 
Befürchtungen vorhanden? Lag wirklich, wie fie ſagte, 
ein Weltmeer zwiſchen Lisbeth Braun und Heinz Oſter- 
wald? Würde er einmal aufhören, ſie zu lieben? Oder 
liebte er im Grund ſeines Herzens doch die andere, 
die nicht ein Weltmeer von ihm ſchied? Eine heiße 
Angſt packte ſie. Aber ſie wollte ſich nicht verwirren 
laſſen. Nur Heinz konnte das Wort ausſprechen, das 
ſie von ihm trennte, nur er. Oh, ſie liebte ihn — 
jetzt fühlte ſie erſt ganz, wie ſehr ſie ihn liebte, den 
Ton ſeiner Stimme, ſein dunkles Haar, den verträumten 
Blick ſeiner Augen! Nein, ſie ließ ihn ſich nicht ent— 
reißen! 

Sie war in den verwilderten Garten gegangen, ſaß 
auf dem Brunnenrand, neben dem ſchwül duftend die 
weißen Lilien blühten, den Ellbogen auf das Knie 


o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 141 


ſtützend, den Kopf in der Hand, die achtlos das hoch- 
gebauſchte Haar zerwühlte. 

Die Zeit verrann, die Schatten wurden länger. 

Auf den Arm ihrer Tochter geſtützt, wandelte Frau 
Oſterwald den breiten Weg vor dem Gaſthaus auf und 
nieder, eine gebeugte Geſtalt, umwallt von ſchwarzem 
Gewand und ſchwarzem Schleier, traurig, hoffnungs- 
los, ein düſterer Fleck in der ſonnigen Landſchaft, ein 
düſterer Schatten auf dem Leben eines frohen Men- 
ſchenkindes. 

Lisbeth ſah ſie wandeln und rührte ſich nicht. 

Aber jetzt trappelten junge Füße. Heinz brach an 
der Spitze ſeiner Schar aus dem Holz. Haſtig ſchritt 
er aus, dann blieb er ſtehen und ſchickte ſeine Zöglinge 
voran in das Haus. 

Lisbeth ſprang auf. Sie wollte zu ihm, ihm klagen, 
was die Seinen ihr angetan hatten. Seine Entſchei— 
dung wollte ſie hören. 

Da hatte er ſchon Mutter und Schweſter erreicht. 
Sie vernahm ſeine Stimme. Aufregung klang daraus. 

„Mutter! Denk doch! Schulrat Doktor Wallenrodt 
ijt hier! Hier in Olhauſen. Eben beſichtigt er die Bohr- 
werke. Ingenieur Börnholm hat mir's zugerufen. Er 
will auch die Ferienkolonie inſpizieren.“ 

Die gebeugte Geſtalt der Mutter richtete ſich auf. 
„Schulrat Wallenrodt! Das kann entſcheidend für deine 
Zukunft werden, mein Junge. Seine Empfehlung 
könnte dir die Stelle ſchaffen, die du erſtrebſt. Sieh 
nur zu, daß du gut vor ihm abſchneideſt. Wie kommt 
er denn hierher?“ 

„Er beſucht Freunde auf einem benachbarten Gut. 
Da ſieht er im Vorbeigehen gleich nach dem Rechten 
hier. Der gönnt ſich ja keine Ferien.“ 

„Wenn du ihn nur zufriedenſtellen kannſt! Hier 


142 Die Welt der anderen. o 
im Haus ſcheint manches nicht zu fein, wie es 
ſollte.“ 

Da Stand Lisbeth neben ihm in ſtolzer Entſchloſſen— 
heit. Nicht unter vier Augen, nein, vor Mutter und 
Schweſter wollte ſie ihn fragen, ſollte er ihr darauf 
antworten, ob auch er einen Abgrund ſah zwiſchen ſich 
und ihr. Und wenn es ſolch einen Abgrund gab, ob 
er feiner Liebe nicht die Schwingen zutraute, ihn dar- 
überzutragen. 

„Heinz!“ 

„Lisbeth, denk doch, der Schulrat kommt!“ 

Wie ihm die Augen unruhig hin und her fuhren! 
In dieſem Augenblick erinnerten ſie an ſeiner Schweſter 
Augen. 

„Heinz! Deine Mutter ſagt — du ſollſt mir Ant- 
wort geben —“ 

„Nachher. Ich muß jetzt ins Haus. Der Schulrat 
ift hier. Mein Vorgeſetzter, verſtehſt du.“ Jetzt erft 
ſah er ſie an. „Wie ſiehſt denn du aus?!“ 

Ihr weißes Feiergewand fiel von Hals und Armen 
zurück, ihr Haar floß in ſilberner Flut zerzauſt um ihre 
Stirn. Die Wangen waren von Erregung gerötet, die 
Augen dunkel vor Leidenſchaft. Sie war ſehr ſchön 
in dieſer Stunde, aber von der Schönheit einer Bachan- 
tin. Und Heinz ſah ſie durch die Augen des geſtrengen 
Schulmannes. 

Er entrüſtete ſich. „Ich bitte dich — wie ſiehſt du 
aus?“ 

„Was denn? Wie fep’ ich denn aus?“ 

Ein feiner alter Herr trat aus dem Föhrenholz. 

„Der Schulrat! — Da iſt er ſchon. Ich muß ihn 
begrüßen.“ — Er wandte ſich noch einmal zu Lisbeth. 
„Laß dich nicht vor ihm ſehen! — Tu mir den einzigen 
Gefallen, verſteck dich!“ 


a Novelle von Suite Weſtkirch. 143 


Er ſtürmte fort. 

Sie verſtand nicht. Wie hatte er ſie nur angeſehen? 
War, was aus ſeinen Augen ihr entgegenſprühte, Zorn 
oder gar Verachtung? — Verachtung ihr! Von ihm! 

Verſteinert, ungläubig ſtand ſie. 

Inzwiſchen kamen die beiden heran. Es war nicht 
mehr möglich, zu entfliehen, wie Heinz forderte. Warum 
auch? Der alte Herr hatte ein liebes, kluges Geſicht. 
Sie war in ihrer Wirtſchaft mit Schlimmeren fertig 
geworden. | 

„Alſo, Herr Oſterwald, Sie haben die Freude, Ihre 
Frau Mutter und Ihr Fräulein Schweſter hier zu Be— 
fuch zu haben? Das ift recht,“ ſagte Wallenrodt freund- 
lich. „Darf ich bitten, mich mit den Damen bekannt 
zu machen?“ 

Heinz ſtellte vor. „Herr Schulrat Wallenrodt. 
Meine Mutter, meine Schweſter.“ 

Des Schulrats kluge Augen wanderten fragend 
weiter auf Lisbeth in Bewunderung oder Verwunde— 
rung. 

Heinz in ſeiner Erregung glaubte letzteres. Er 
ſchleuderte Lisbeth einen Zornesblick zu. Hatte ſie 
denn kein Zartgefühl, daß ſie blieb, nachdem er ſie 
gebeten hatte, zu gehen? Aber er mußte ſprechen, 
erklären, wie dieſes auffallende Mädchen auf dieſe 
Stelle, an ſeine Seite, neben ſeine Mutter, ſeine 
Schweſter kam. 

Er ſchluckte. Dann ſagte er kurz entſchloſſen: „Fräu— 
lein Braun — unſere Wirtin.“ 

So. Das war gut. Für die Wirtin trug er keine 
Verantwortung. | 

Der Schulrat machte eine höfliche Verbeugung und 
wandte fih an Frau Oſterwald mit einer Frage nach 
ihrer Geſundheit. 


144 Die Welt der anderen. o 


Lisbeth ſtand einen Augenblick wie eine Bildſäule. 
Das Blut ſchoß ihr glühend bis unter die blonden 
Haarwurzeln. 

„Fräulein Braun — unſere Wirtin!“ 

Wie ein Schlag trafen fie die Worte, wie ein Blitz- 
ſchlag in einer einzigen Sekunde erhellend, was un- 
durchdringlich dunkel vor ihr gelegen hatte. Sie brauchte 
ihre Frage nicht mehr zu ſtellen. Der Mann, den ſie 
liebte, hatte ihr die Antwort gegeben, klar und un- 
zweideutig: er ſchämte ſich ihrer. Er verleugnete ſie 
vor den Menſchen ſeiner Kaſte. Die alte Frau hatte 
die Wahrheit geſprochen: ein Weltmeer lag zwiſchen 
ihm und ihr, und ſeine Liebe hatte nicht die Flugkraft, 
ihn darüberzutragen. 

Sie hörte nichts weiter. Als der liebenswürdige 
alte Herr ſich umwandte, um auch ihr ein freundliches 
Wort zu ſagen, war ſie fort. Wortlos hatte ſie ſich 
gewandt, war gelaufen, rafcher, immer raſcher, je weiter 
ſie kam, als könnte ſie durch ihr Rennen den raſenden 
Schmerz übertäuben, der in ihr wühlte. 

Irgendwo im tiefſten Wald warf ſie ſich zur Erde, 
grub die Finger in das Moos, um nicht zu ſchreien. 

Es war aus. „Meine Mutter, meine Schweſter — 
Fräulein Braun, unſere Wirtin!“ — Ein Nichts. Doch 
entſcheidend. Denn es ſchob ſie weg von ihm und den 
Seinen, nicht in Zorn, nicht in Erbitterung — darüber 
führen hundert goldene Brücken ſeliger Verſöhnung — 
nein, ganz mechaniſch, inſtinktmäßig. Die gehört nicht 
zu uns, die iſt fremd. Glaub ja nicht, die ſei von unſerer 
Art. Und der önſtinkt ift unfehlbar, unbelehrbar. Was 
er verwirft, das bleibt verworfen, wie auch Verſtand 
und Gemüt ſich mühen, es annehmbar zu machen. 

Sie hatte keinen klaren Gedanken, nur das Be- 
wußtſein des Geſchehenen, zwei Bilder, ſchmerzhaft 


o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 145 


brennend vor geſchloſſenen Augen: im ſchwarzen 
Föhrenwald die mondſcheindurchflimmerte Lichtung, 
ſie ſelbſt, die Mündung der Piſtole richtend auf einen, 
der auf ſtarken Armen ſie mit ſich hinaustragen wollte 
aus der Schmach und Pein ihres Vaterhauſes — und 
dann das weiße Gaſthaus im Abendſonnenſchein, die 
Gruppe Menſchen davor, und Heinz, der, ohne mit der 
Wimper zu zucken, vorſtellte: „Fräulein Braun — un- 
ſere Wirtin!“ — | 

Die Schatten wurden lang. Die Sonne ſchwand 
in violettem Dunſt. Sie hob den Kopf nicht. Sie 
wollte nicht heim. Nur Heinz nicht wiederſehen! Viel- 
leicht glaubte er, er ſei ihr Dank ſchuldig geworden, und 
wollte ihr die Heirat als eine Art Zahlpfennig hinwerfen. 
Nein, nein, der Mann, der fie nicht liebhatte über Vor- 
geſetzte, Stellung, Mutter, Schweſter hinweg, hinweg 
über Pflicht und Recht dazu, der war ihretwegen frei 
wie der Vogel in der Luft! Sie würde ihn nicht halten, 
nicht mit der Nagelſpitze des kleinen Fingers würde 
ſie ihn halten! Frau Oſterwald konnte zufrieden ſein. 

Der Mond am hohen Himmel begann Glanz anzu- 
nehmen, als eine ruhige, kühle Stimme ſie aufſchreckte. 

„Schon ſo weit? — Ich erlaube mir feſtzuſtellen: 
das iſt ſehr früh.“ 

Sie hob den Kopf, ungläubig ſtarrte fie die bagere, 
raſſige Geſtalt des jungen Bohrmeiſters an. Sein 
rechter Arm lag feſtgeſchient in einer Binde. 

„Andrew Macclean! — Sie?“ 

„Da Sie nicht zu mir kommen, muß ich wohl Sie 
aufſuchen. Ich habe heute kein Fieber. Was ſoll ich 
in meinem Bett? Für einen alten Trapper war es 

nicht ſchwierig, Ihre Fährte zu finden.“ 
Sie ſtand jetzt auf ihren Füßen vor ihm, zupfte das 
Gras und Moos von ihrem Kleid und verſuchte das 
1913, IX. 10 


146 Die Welt der anderen. 2 


wirre Haar aus der Stirn zu ſtreichen in einer ſchmerz— 
lichen Scham, die ſie ſtumm machte. 

„Sie ſchießen ſchlecht, Miß Lisbeth, oder Sie ſind 
febr unbarmherzig. Es würde verſtändiger geweſen 
ſein, mich gleich totzuſchießen als zum Krüppel zu 
machen. Wiſſen Sie wohl, ich werde ein Vierteljahr 
lang meinen rechten Arm nicht gebrauchen können, und 
wer kann ſagen, ob er je wieder ganz gelenkig werden 
wird? Für mich iſt das eine große Behinderung.“ 

„Vergeben Sie mir, wenn Sie können,“ ſtammelte 
ſie. „Wenigſtens habe ich Sie davor bewahrt, ein 
Mörder zu werden.“ 

Er lachte hart. „Ein Mörder! An dem Greenhorn, 
dem Schulmeiſter, doch wohl nicht!“ 

„Sie hoben die Hand —“ 

„Damit er ſtehen bleiben ſollte. Ich hatte ihm ein 
Wort zu ſagen.“ 

„Und in Ihrer Hand blitzte ein Gegenſtand.“ 

„Es war mein elektriſches Feuerzeug. Nein, kein 
Browning, auch kein Bowiemeſſer — gar keine Vaffe!“ 

„Sie hatten geſchworen, Sie würden ihn um— 
bringen!“ 

„Ja, um ein kleines Mädchen zu erſchrecken, ſagt 
man ſchon einmal ſo etwas.“ 

„Es wäre alſo nicht Ihre Abſicht geweſen, Heinz 
Oſterwald —“ 

„Sollt' ich aus dem ſchlappen Kerl einen Helden 
machen in Ihren Augen?! — Tote Menſchen benehmen 
fih immer wundervoll, o yes! Ein Mann muß durch- 
aus lebendig fein, um ſich bis auf die Knochen bla- 
mieren zu können. Das ſcheint Miſter Oſterwald be- 
reits gründlich beſorgt zu haben.“ 

„Oh, wenn Sie nicht dieſe Abſicht hatten, wie 
lächerlich bin ich dann!“ 


2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 147 


„Der Tag Ihrer Hochzeit mit dem Sirupmann iſt 
wohl noch nicht feſtgeſetzt?“ 

Sie warf ſich wieder auf den moosbewachſenen 
Hang, ſchlug die Hände vors Geſicht und begann wild 

zu ſchluchzen. 

Er ſetzte ſich ihr gegenüber auf einen Föhrenſtamm, 
der krumm gebogen war wie eine Bank. Leiſe pfeifend 
wiegte er ſich auf dem ſchwanken Sitz und wartete. 

Sie hob endlich den Kopf und wiſchte mit dem 
Handrücken die Tränen aus den Augen. „Sie haben 
ein Recht, mich zu verſpotten, Macclean. Ich hab' 
mich betragen wie eine Närrin. Aber jetzt bin ich 
wieder vernünftig, geſund — ganz geſund.“ 

„Es freut mich, das zu hören.“ 

Sie ſtand auf. „Und ſo wollen wir Abſchied nehmen. 
ich wage nicht, Sie um Verzeihung zu bitten. Sie 
müſſen mich jetzt haſſen —“ 

„Doch nicht wegen des Heinen Kratzers am Arm?“ 
unterbrach er ſie. „Meine liebe Miß Lisbeth, wer 
Katzen kennt, weiß, daß ſie Temperament haben und 
bei weitem nicht ſolch gefahrloſe Kameraden ſind wie 
zum Beiſpiel Kanarienvögel. Indeſſen, wen einmal 
die Paſſion für die wilden und graziöſen Geſchöpfe 
gepackt hat, der kommt nicht ſo leicht davon los. Solch 
kleiner Tatzenhieb ijt das Salz der Zuneigung. Ernit- 
haft geſprochen: ich war Ihr Freund — ich bin noch 
Ihr Freund. Setzen Sie ſich wieder hin und ſagen 
Sie mir, was hat's gegeben?“ 

„Gegeben hat's nichts, gar nichts. Bloß, Sie haben 
recht behalten: was ihn zu mir zog, ihn glauben machte, 
daß er mich liebhätte, war einzig, daß ich anders bin 
als er, ganz anders, als ich ſein müßte, um in ſeiner 
Welt leben zu können. Und mit mir iſt's das gleiche. 
Dazu bin ich ſtolz. Er denkt vielleicht, ich hätte keine 


148 Die Welt der anderen. o 


Urſache, ſtolz zu fein — Vaters wegen. Aber ich bin 
ich, Andrew Macclean! sch hab' meinen Wert für 
mich. Dem nehmen die Schulden auf Waldheim nichts 
und nichts meines Vaters Unglück. Mich foll man 
abſchätzen, mich ſelbſt, nicht meine Verhältniſſe, meine 
Familie!“ 

„All right. Das iſt auch meine Anſicht. Aber es 
iſt nicht die Anſicht der anderen, der Leute, zu denen 
Miſter Oſterwald gehört. — Haben Sie ſich mit ihm 
ausgeſprochen?“ 

Sie ſchüttelte den Kopf mit einer Bewegung der 
Abwehr. „Es braucht's nicht. Alles iſt aus.“ 

„Und was wollen Sie nun tun?“ 

Sie ſah mit ratloſem Blick in den Mond, der jetzt 
hell ſtrahlte, und um fih her, wo über dem Boden der 
weiße Nebel ſtand. 

„Ich weiß nicht.“ 

„Sie müſſen doch eine Idee haben, einen Gedanken, 
einen Wunſch.“ 

„Ich weiß nichts.“ Und nach einer Weile: „Ich 
möchte fort — ja, das möcht' ich! Weit fort von all 
dem. Neu anfangen anderswo. Zch glaube wohl, 
daß das Leben mir noch etwas ſchuldig iſt. Ich glaube 
auch, daß ich noch etwas aus mir machen könnte und 
wieder froh werden — ſpäter. Jetzt ift mir wie einem 
Rind, das fih verlaufen hat. Ich kenn' mich nicht mehr 
aus. Ich hab' keinen Mut. Die Dinge, die Verhält- 
niſſe, die Menſchen ängſtigen mich, und ich mag nicht 
beim. Ich mag ihn nicht wiederſehen! sch ſchäme 
mich. Zch ſchäme mich tot!“ | 

„Sie ſchämen fih?“ ` 

„Daß ich fo dumm war! Daß ich glauben konnte 
— glauben, ein Menſch könnte fein ganzes Hielen plöß- 
lich umkrempeln wie einen Handſchuh! So, bis heute 


2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 149 


war ich rechts, nun gefällt's mir, links zu ſein. Sich 
ſo was einzubilden! Ja, ſchöner mag's wohl ſein, als 
ſchneeweißer Schwan ſtolz ſeine Kreiſe auf glattem 
Teich zu ziehen. Eine Wildgans bleibt darum doch ihr 
Lebtag eine Wildgans.“ 

Macclean nahm ihre Hand. „Mik Lisbeth, ift es 
Ihr Ernſt, daß Sie nicht in Ihr Haus zurückkehren, daß 
Sie den Schulmeiſter nicht wiederſehen möchten?“ 

„Ein paar Jahre meines Lebens gäb“ ich drum! 
Aber —“ 

„Very well. Sie kennen meine Empfindung für 
Sie — — Nein, ich habe nicht den ſchlechten Geſchmack, 
Sie heute abend davon zu unterhalten. Ich will bloß 
ſagen: ich bin der nächſte Menſch für Sie im Leben — 
und wenn Sie nicht heim wollen, nicht aushalten wollen 
in dem Haus Ihres Vaters — ich bin überzeugt, Sie 
würden darin zugrunde gehen —, ſo packen Sie das 
Notwendige zuſammen. Fahren Sie noch in dieſer 
Nacht nach Bremerhaven. Der „‚Oeutſche Kaiſer“ geht 
morgen früh nach New Vork in See. JH will Ihnen 
die Adreſſe von einem einfachen Boardinghaus mit- 
geben. Da wohnen Sie. Wenn ich dann in vierzehn 
Tagen nachkomme, werden Sie mit ſich im klaren ſein. 
Wollen Sie dann meine Frau werden — all right. 
Und können Sie ſich nicht dazu entſchließen, dann iſt 
Amerika der rechte Platz für Sie. Sie werden ſich 
dort leicht auf Ihre Füße ſtellen und ein gutes Fort- 
kommen finden. Was Sie brauchen für Reiſe und 
Aufenthalt, ſchieße ich vor — das verſteht ſich, da ich 
den Rat gebe. Was ſagen Sie?“ 

Sie fab ihn ungläubig an. „Ich foll — diefe Nacht 
noch foll ich —“ 

Vor ihrem inneren Auge ſtand ihr Heim, der Bater, 
Tante Hanne, die ewig vergebliche Mühſal, die untilg- 


150 Die Welt der anderen. 

baren Schulden! Und Frau Oſterwald mit den wallen- 
den ſchwarzen Schleiern und den Seufzern — und 
Heinz, der ſie verleugnete! — All das hinter ſich laſſen 
können für immer, auslöſchen wie eine mißratene 
Schrift! Frei und froh auf fich geſtellt ein neues. 
Leben anfangen! — Ja, der Mann vor ihr war wirk- 
lich ein Starker. Was er anfaßte, wurde leicht. Die 
Hinderniſſe rückten ihm aus dem Weg. Der andere 
ſchleifte wie Schlinggewächs endloſe Schwierigkeiten 
hinter ſich her und warf ſie ſeinem Lebenskameraden 
vor die Füße, daß er ſtolpern mußte. 

Sie faßte mit beiden Händen des Amerikaners Hand, 
beugte ſich darüber, um in heißer Dankbarkeit ihre 
Lippen darauf zu preſſen. „Das wollten Sie für mich 
tun, Andrew Macclean? Sie für mich! Zegt noch! — 
Was ſind Sie für ein Menſch!“ 

Er zog haſtig ſeine Hand zurück. „Wir wollen vom 
Geſchäft als vom Geſchäft ſprechen — ohne Aufregung. 
Ich habe es Ihnen oft geſagt: ich tue nie etwas für 
einen anderen, nur für meinen eigenen Vorteil. Wollen 
Sie annehmen?“ 

„Ich tu', was Sie mich heißen. Blind trau' ich 
Ihnen. Und ich will — Sie ſollen Ihre Gutheit nicht 
bereuen.“ 

„All right. Kein Verſprechen. Es könnte Sie reuen, 
Was Sie mir fagen wollen, fagen Sie mir in New Vork 
— falls Sie dann noch die Abſicht haben. Wir müſſen 
jetzt Ihren Reiſeplan feſtſtellen. Ihr Zug geht um 
ein Uhr nachts. Um halb zwölf fährt ein Wagen vom 
Werk nach der Bahn. Ich werde Sie nicht hinbringen. 
Sie müſſen ganz frei ſein, zu gehen oder zu bleiben 
nach Ihrer Einſicht.“ 

„Ich gehe, Andrew Macclean. Sch gehe.“ 


u Novelle von Suite Weſttirch. 151 


Der Schulrat hatte ſich außerordentlich anerkennend 
über die körperliche und geiſtige Pflege der Ferien- 
kinder ausgeſprochen. Heinz Oſterwald fühlte ſich groß, 
als ginge er auf Stelzen. Er hatte Gelegenheit ge- 
funden, dem wohlwollenden alten Herrn feinen Her- 
zenswunſch auszuſprechen, den Wunſch nach einer 
Lehrerſtelle, die ihm erlaubte, eine Familie zu gründen. 
Wallenrodt ſelbſt hatte ihn auf eine freiwerdende 
Stelle aufmerkſam gemacht, ihm ſeine Fürſprache bei 
der Bewerbung zugeſichert. Morgen wollte Heinz ſeine 
Eingabe machen. 

Die Familie ſaß beiſammen. Mit leuchtenden 
Augen, mit geröteten Wangen ſprach der junge Lehrer 
von ſeinem Erfolg, von ſeinem Beruf. Das künftige 
Geſchlecht heranbilden, jedes einzelne junge Reis ziehen 
nach feiner Eigenart zu der ihm eigenen Volltommen- 
heit, ſchien ihm eine Nachahmung von Gottes Schöp- 
fungswunder. Und weil er ſein ganzes Herz in ſein 
Amt legte, fühlte er ſich als ein Berufener. 

Eine Weile hörten Mutter und Schweſter ſchweigend 
ihn ſchwärmen. Endlich ſagte Dora: „Was Heinz nur 
anfangen würde, Mutter, wenn er nicht mehr Lehrer 
ſein könnte?“ 

Der alten Frau begannen die Tränen ſchwer die 
Wangen herunterzurieſeln. „Ja, Heinz, wie ſchön 
könnte dein Leben ſein! Wie glatt macht der liebe 
Gott in- ſeiner Gnade deinen Weg! Aber hoffſt du 
denn, ihn gehen zu können mit dem Mädchen, das du 
dir zur Frau erwählt haſt? Ach, ich fürchte, du ſelbſt 
haſt dir dein Glück zerſtört!“ 

Heinz fuhr zuſammen. Lisbeth war in feinen Ge- 
danken zurückgetreten über der Befriedigung, die ſeinem 
Berufsehrgeiz heute geworden war. Nun ſah er ſie 
vor ſich, wie fie vor dem Schulrat geſtanden hatte. 


152 Die Welt der anderen. u 


Und die Erinnerung war ein Erſchrecken. Aber er wäre 
nicht durch und durch Lehrer geweſen, wenn er nicht 
auf die Wunderkraft der Erziehungskunſt gebaut hätte. 

„Wir werden Lisbeth bilden, Mutter,“ antwortete 
er zuverſichtlich. „Sie ift nicht unedel — ein unge- 
ſchliffener Diamant. Laß dich die Mühe des Schleifens 
nicht verdrießen.“ 

Daß ſie ſich nicht zeigte, nahm er für ein gutes 
Zeichen. Sie ſchämte ſich. Er ſuchte ſie auch nicht auf. 
Sie war ſeinem Gebot ungehorſam geweſen, Strafe 
gehört zur Zucht. Und er wehrte Dora, ſich nach ihr 
umzuſehen. 

Zuletzt wurde er aber doch unruhig und fragte 
Tante Hanne. 

„Sie wird längſt im Bett ſein,“ meinte die Alte. 

Er ging dann auch auf ſeine Kammer. Mit was 
für einem Gefühl von Geborgenheit würde er ſich 
heute in die weißen Bettſtücke geſtreckt haben, wenn er 
den eigenſinnigen Kopf unter der ſilberblonden Haarflut 
nie geſehen hätte! Wenn die letzten vierzehn Lebens- 
tage ein wüſter Traum geweſen wären! Dann würde 
ſeine arme, kränkelnde Mutter heute ſeit Jahren die erſte 
reine Freude fühlen. Dann würden Ellis ſcheue, zärt- 
liche Augen aufſtrahlen in neuem Glanz. Eine Stunde 
ſtolzer Wonne wär's, wenn er ſie von ihren Eltern 
forderte, den Hochzeitstag feſtſetzte. Wohin er mit 
dieſer Frau ſich auch wenden mochte, der Beifall von 
Vorgeſetzten und Kollegen würde ihn begleiten. Ja, 
glatter würde fein Leben hinfließen, wenn er Ölhaufen 
und Lisbeth Braun nie geſehen hätte! Aber er hätte 
die Empfindungen und Begebniſſe der letzten Wochen 
doch nicht wegſtreichen mögen aus ſeinem Schickſal — 
um vieles nicht! 

Im Schlaf war es ihm, als ſei ein leiſes Gehen 


u Novelle von Luiſe Weſtkirch. 153 


im Haus, ein Kramen, Raſcheln. Eine Tür fiel ins 
Schloß, Räder rollten. Er ſchlief darüber ein. — 

Auch am Morgen zeigte Lisbeth ſich nicht. Frau 
Oſterwald fühlte fih verletzt, Dora redete von Rück- 
ſichtsloſigkeit. Heinz wurde unruhig. 

„Aufs Feld hinaus wird ſie ſein,“ beſchied die Tante 
gleichgültig. Sie hatte alle Hände voll mit ihrem 
Bruder zu ſchaffen. Sein Abendtrunk war tief ge- 
weſen, es ging ihm ſchlecht. 

Am Nachmittag, als Frau Oſterwald ſchon zur Ab- 
reiſe rüſtete, kamen mit der Poſt zwei Briefe: an Tante 
Hanne, an Herrn Lehrer Heinrich Oſterwald. Lisbeths 
Handſchrift. Poſtſtempel Bremerhaven. 

Das Herz des jungen Lehrers tat ein paar haſtige 
Schläge. Dann zerriß er den Umſchlag und las: „Ich 
ſchreibe Dir vom Bord des ‚Deutichen Kaiſer“. Leb 
wohl. Ich hab' Deine Augen geſehen, als der Schul- 
rat bei Dir ſtand. Die ſagten mir deutlich: Du biſt 
aus der einen Welt, ich bin aus der anderen. Es führt 
keine Brücke von Dir zu mir. Darum gehe ich. Ich 
will Dir Dein Leben nicht verderben. Du ſollſt mir 
auch meines nicht verderben. Gib Dich dem Mädchen 
Deiner Art, das Dich liebhat auf Deine Art. Und 
forg Dich nicht um mich. Sc ſehe meinen Weg und 
gehe ihn ohne Furcht. Ein Freund weiſt ihn mir und 
hilft mir ihn gehen. Wenn Du dieſen Brief erhältſt, 
bin ich auf hoher See. | 

Wir ſtehen an zwei verſchiedenen Ufern, Heinz 
Oſterwald, und das Waſſer zwiſchen uns iſt tief. Kein 
Menſchenverſtand und kein Menſchenwille kann die 
Brücke ſchlagen zwiſchen Deiner und meiner Welt. 
Darum leb wohl. Lisbeth Braun.“ 

Einen Augenblick empfand Oſterwald einen heftigen 
Schmerz. Es demütigte ihn, daß wieder ſie, das Weib, 


154 Die Welt der anderen. u 


ohne zu fragen, ohne zu zögern, ihr und ſein Schickſal 
entſchied, das Band zwiſchen ihnen zerſchnitt, bevor 
er ſich noch klar geworden war, ob es wünſchenswert 
ſei, es zu zerſchneiden. Und zugleich umgab dieſe 
ſchnelle, kraftvolle Entſchloſſenheit, der Charakterzug aus 
einer Welt, die anders war als ſeine, das Mädchen mit 
ſeltſam feſſelndem Reiz. Stolzer, reiner ſah er ihr 
Bild, da es ihm in die Ferne rückte. Wehmut ergriff 
ihn, daß er nicht die Kraft gehabt hatte, ſie zu halten. 
And auch Eiferſucht miſchte ſich brennend ein auf den 
Freund, der ſie leitete, dem ſie ſich anvertraute. — 

Aber aus dem wunderlichen Gemiſch feiner Emp- 
findungen, aus Zorn, Enttäuſchung, Eiferſucht, Be- 
wunderung, rang doch ſchon ganz ſacht und wohltuend 
wachſend ein Gefühl unendlicher Erleichterung fih her- 
vor, ehrliche Freude, daß ſein Beruf ihm blieb, un- 
gefährdet der Wirkungskreis, der ſeiner Eigenart gemäß 
war, und ein wunderbar zärtliches Schützergefühl dazu, 
wenn er an Elli dachte. Das Leben der lieben Kleinen 
würde er mit Glück überſchütten. Die andere, Willens- 
ſtarke bedurfte ſeiner nicht. Es war wohl, wie ſie ſagte: 
zwei Welten — und keine Brücke von der einen zu der 
anderen. Nur in ſehnſüchtigen Träumen ſchwingen 
ihre Bürger ſich hinüber, herüber. Die Leiber derer, 
die es in Wirklichkeit verſuchten, decken die Waſſer der 
Tiefe. | | 

Lange ſaß er einſam ſinnend, mit fidh ringend in 
feiner Kammer. Dann ging er hinunter und gab Frau 
Oſterwald den Brief. 

„Wir wollen den Himmel preiſen, Mutter. Ich 
glaube, er hat's weiſe gemacht.“ 


Së 
* 


Dienſtbotentrachten. 


von Ola Alſen. 


Mit 11 Bildern nach n 
Originalvorlagen. 
Di immer mehr fortſchreitende Anderung aller 
ſozialen Verhältniſſe hat auch zu einer erheblichen 
Anderung des Verhältniſſes zwiſchen Dienſtboten und 
Herrſchaft geführt. Die Rechtsauffaſſung der alten, 
zwar formell noch in Geltung befindlichen, in Wirt- 
lichkeit aber überlebten Geſindeordnung ſteht immer 
weniger im Einklang mit der Rechtsſtellung, die 
die heutigen Dienſtboten nicht ganz mit Unrecht für 
ſich in Anſpruch nehmen, und unſere Hausfrauen 
werden ſich immer mehr entſchließen müſſen, dem 
Zug der ſozialen Geſetzgebung folgend, das Verhältnis 
zum Dienſtboten nach den Grundſätzen des Vertrages 
einzurichten. 

Naturgemäß hat die veränderte rechtliche Stellung 
des Geſindes auch tiefgreifende Anderungen ihrer 
Stellung im Hauſe zur Folge. Es mutet uns an wie 
Überrefte der patriarchaliſchen Verhältniſſe aus der 
Zeit, in der das Geſinde noch wirklich zur Familie ge- 
hörte, wenn wir ſehen, wie die Dienſtboten auch in 
ihrer äußeren Erſcheinung den Wohlſtand und die 
geſellſchaftliche Stellung ihrer Dienſtherrſchaft gekenn 
zeichnet haben. Es beſtehen heute auch noch einige von 
der guten Geſellſchaft anerkannte Vorſchriften über 


nachoͤruck verboten.) 


\ 


156 Dienftbotentrachten. o 


die Kleidung von Dienſtboten. Als aber in Amerika 
der Vorſchlag gemacht wurde, eine Livree für Dienit- 
mädchen einzuführen, fand diefe Idee in Oeutſchland 
keinerlei Sympathie. Es wäre dadurch eine neue 
Laſt für die Hausfrau entſtanden, die ſich in den meiſten 
Fällen gerne mit einwandfreier Sauberkeit beſcheidet. 

Die verwickelten Unterſchiede früherer Zeiten 
wären für das Tempo unſeres Jahrhunderts undenkbar. 
Die Magd in Nürnberg hatte im Mittelalter eine vor- 
ſchriftsmäßige Tracht, wenn fie am Brunnen Waffer 
ſchöpfte, das Kind ſpazieren führte oder Hochzeits- 
geſchenke in das Feſthaus brachte. Wenn ſie gar bei 
einer Hochzeit bediente, zeigte ihr Anzug einen um- 
ſtändlichen und anſpruchsvollen Aufwand, deſſen Koſten 
natürlich von der Herrſchaft getragen wurden. Durch 
die reichen Spitzenrüſchen und Spitzenvolants, die 
blendenden Krauſen und faltenreichen Schürzen er— 
wieſen ſie den Wohlſtand des Hauſes. 

In ähnlichem Aufputz trug eine Augsburger Magd 
die Hochzeitsgeſchenke in einem großen Korb. Der 
koloſſale Aufputz iſt das Zeichen der Feierlichkeit, der 
ſich vor dem Alltagsgewand auszeichnete. 

Merkwürdig war das Kleid einer Danziger Dienſt- 
magd, die über der feſten Taille einen breiten Kragen 
und eine gekrauſte Halsrüſche trug. Im Schwabenland 
muß das Vertrauen der Hausfrau recht groß geweſen 
ſein, denn die Köchin prahlte unter ihrem aufgeſchürzten 
Rock mit einem beträchtlichen Schlüſſelbund. In Hol- 
land und Flandern unterſchied ſich die Tracht nur ein 
wenig bei der üblichen Kopfbedeckung voneinander. 
Außerdem waren die Armelwülſte und Halskrauſen 
bei der holländiſchen Magd umfangreicher. 

Reich und geſchmackvoll von dem mit Schleifen 
gezierten Schuh bis zu der mit Spitzen geſchmückten, 


2 Von Ola Alſen. | 157 


lang herabhängenden Haube wirkten die franzöſiſchen 
Jungfern aus der Zeit Ludwigs XIII. Wie da die 


| Wanns Walker tragen ind, Hau 
And pr Fleiſch wollen wa n diauß. 


Kammermädchen zierlich und geziert während des 
perſönlichen Dienſtes bei der Herrin ausſchauten, wie 


7 i a e | ~ 
Gi 
(60e 


158 Dienſtbotentrachten. 0 


man ihnen anſah, daß fie es wohl verſtanden, bei 
der langwierigen Toilettenkunſt geſchickt zur Hand 


Eine Nürnberger Magd zur Hochzeit dienend. 


zu gehen; ebenſolch netten Eindruck machte die Jungfer, 
der die Sorge für die Verwaltung der Wäſche oblag. 


a Von Ola Alfen. 159 


Als ſpäter die Reifrockmode auftauchte, verbreitete 
ſie ſich in Paris bei den Dienſtboten mit ungeheurer 
Geſchwindigkeit, ſo daß die Mägde damit auf den Markt 


. : . —— T———¼ꝶÄœ⅜Jm 0 


Atagduſo hochöͤͤeit geldhenkantnagt. 


zum Einkauf gingen und am Herd kochten. Die deutſchen 
Frauen waren gegen ihre Küchenfeen weniger nach— 
ſichtig und ließen den niederen Ständen das Tragen des 


160 | Dienſtbotentrachten. o 


Reifrockes verbieten. In Dresden wurden zwei Oienſt— 
mädchen beſtraft, weil ſie im Reifrock die Kirche beſuchten. 


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S Ein Dienfimagdesu Dantzig. | ER 
De Figur gibt zuuerſichn / In der Stadt Dantzig wann ſie ſoln 
Wie die Hauß magdt pflegen zugehn. Voer dit Gaſſen Bone holn. 
Die Hamburger Dienſtboten hatten ſtets wegen 
ihrer tadellofen Tracht, die keineswegs ihre eigene 


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2 Von Ola Alſen. 161 


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Eins Burgers oder Geſchlechters Magdt / wann 
ſie von Marckt gehen. 


* 
Note entbehrte, einen guten Ruf, auf den ſie noch 
heute mit Recht ſtolz find. Das Kleinmädchen, gleich- 
1913. IX. | 11 


Dienſtbotentrachten. 


162 


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o > Von Ola Alfen: i 163 


Ein Haußmagdt auß Frandreid oder Flandern. 
EIne Haußmagdt auß Flandern / Wo fie ober die Gaf thut gahn? 
Tut uaͤglich alfo wandern. Wade eee ee i | 


—— et tege: een we — 


Bruſttuch und ihrer ſchutenartigen Haube machte einen 
beſonders adretten und anſprechenden Eindruck. Der 
Aufputz der Berliner Köchin aus alter Zeit, bunt und 


— ~ari Ao 
TO Y e (9) | (2 
JINJIN 


164 Dienſtbotentrachten. fe 


eigenartig, mit roten Strümpfen und niedlichen Pan- 
töffelchen hat vielfache Anfeindungen hervorgerufen 


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— — — 4 


Pariſer Zofe aus der Renaiſſancezeit. 


und ſtrenge Verbote im Gefolge gehabt. König Friedrich 
Wilhelm J., der Ordnung und Fleiß in ſeinem Lande 


— — mt er 


o Von Ola Alſen. 165 


haben wollte, erließ ein Edikt, „wonach nach Verlauf 
von ſechs Monaten nach Publikation keine Dienit- 
mägde mehr ſeidene Kamiſöler, Röcke oder Lätze tragen 


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Hamburger Dienſtmädchen aus der Einpirezeit. 


durften, ſondern wofern nach Ablauf ſolcher geſetzten 
Zeit dennoch welche damit betroffen würden, denſelben 
ſolche ſeidenen Kleider öffentlich auf der Straße ab— 
genommen werden ſollten“. 


166 l Dienſtbotentrachten. 2 


Hauptſächlich putzten ſich die Mädchen am Sonntag, 
und die Bauerndirnen, die mit einer zerriſſenen Schürze 


Berliner Köchin aus der Biedermeierzeit. 


und mit einer alten Haube in die Stadt gekommen 
waren, hatten bald den Wunſch, ſich in der Art vor— 


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D Von Ola Alfen. 167 


Dn 


beer — 


Hamburger Köchin aus der Biedermeierzeit. 


nehmer Frauen zu kleiden. Statt der einfachen Haube 
ſetzten ſie ſich eine bebänderte auf, die man damals 


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168 Dienſtbotentrachten. o 


„Dormeuſe“ nannte. Einer ſolchen Haube folgte bald 
der gefaltete Rock und ein bekräuſeltes Tuch. Sie 
brannten ſich nicht nur das Haar, ſondern ſie verſuchten 
auch, durch Puder und Pomade ihre Reize zu heben. 
Als in Frankreich die Fontangen ſchon vollkommen un- 
modern waren, bildeten ſie noch den Ehrgeiz der 
deutſchen Magd, die ſich auf den Kopf hohe Türme 
baute, in die ſie Spitzen und Schleifen ſteckte. Das 
Dekolleté brachte das rote Korallenkettlein zur vollen 
Geltung, das die höchſte Eleganz beim Dienſtmädchen 
darſtellte. 

Intereſſant iſt eine ausführliche Schilderung der 
Berliner Dienſtboten, beſonders ihres Kleideraufwan- 
des, die wir zu Ende der achtziger Jahre des 18. Jahr- 
hunderts in der „Berliniſchen Monatsſchrift“ finden, 
und in der erzählt wird, daß die Dienſtmädchen den 
Stutzern in Livree zum Geſpött wurden, wenn ſie nicht 
die engliſchen und franzöſiſchen Pas und alle Touren 
der Tänze zu machen wußten. 

Am den Anſprüchen ihrer Kavaliere zu genügen, 
wurde deshalb in verſchiedenen Häuſern und Gärten 
Unterricht im Tanzen erteilt. Unter anderem hören 
wir von einem müßigen Schneidergeſellen, der für 
zwei Groſchen Unterricht im Tanzen gab. Dahin 
eilte nun öfter die Köchin vom Markt, ſetzte ihren Eimer 
vom Arm, ſpannte ihre Füße ins Fußbrett oder ſtolperte 
ſchwerfällig eine franzöſiſche Quadrille, indes ihre 
arme wartende Hausfrau in der rauchenden Küche 
ſchwitzte. | 

Diefe Beziehungen forderten natürlich den Hang 
zur Uppigkeit in der Kleidung. Die Mägde begnügten 
ſich nicht mehr mit „Raſch“, einem geringen, leichten 
Wollſtoff, wie man ihn vorſchrieb. Die Kleiderver— 
ordnungen wurden übertreten, und ſeidenes Zeug 


o Von Ola Alfen. 169 


war an der Tagesordnung. Ihre Anſprüche an die 
Großmut der Herrſchaft, die ſich in Geſchenken äußern 
ſollte, waren auch nicht gering. 

Machte die Tochter des Hauſes Hochzeit, ſo rechnete 
die Magd auf ein buntes Kleid, wurde die Herrſchaft 
ernſtlich krank, ſo hoffte ſie auf ein Trauerkleid und 
war ſehr betrübt, wenn der Senſenmann an der Tür 
vorbeiging. 


* 


Die Entführung. 
Eine moderne Muſtererzählung. 
von heinrich Binder. 


y 


(Nahöruf verboten.) 


ch haſſe nichts mehr als die Ungenauigkeit, mit 
der deutſche Dichter Erlebtes und Geſchautes 
wiedergeben. 

Viele Erzählungen beginnen: „Es war an einem 
Sommerabend.“ Oder auch, wenn der Dichter noch 
mehr Stimmung erzielen will: „An einem Gommer- 
abend war's.“ Nun gibt es aber doch wahrlich viele 
Sommerabende! Dauert der Sommer doch in unſerer 
Gegend vom 21. Juni bis zum 23. September! 

Und warum ſollte man eine Erzählung nicht mit 
den klaren, feſten Worten beginnen: „Es war am 
13. Juli dieſes Jahres. Der Zeiger der alten Dorfuhr, 
die in einundzwanzig Meter Höhe an dem achtund— 
vierzig Meter hohen Kirchturm der 1864 aus Gand- 
ſtein erbauten Kirche angebracht iſt, zeigte vierund— 
zwanzig Minuten nach acht Uhr.“ 

Jeder Menſch wird nun aber auch wiſſen wollen, 
wie das Dorf heißt, in dem die Uhr in einundzwanzig 
Meter Höhe am Kirchturm angebracht iſt. 

Ein ganz gründlicher Menſch wird anknüpfend an 
die Erzählung ſogar die folgenden Fragen ſtellen: 


2 Von Heinrich Binder. 171 


1. In welchem Stil iſt die Kirche erbaut? 

2. Von wem? 

3. Iſt das Zifferblatt der Uhr an allen vier Seiten 
des Turmes angebracht und mithin überall ſichtbar? 

4. Warum ſtand der Zeiger der beſagten Uhr auf 
acht Uhr vierundzwanzig Minuten? 

5. Auf welchen Tag fiel der 13. Juli? 

6. Beſteht ein Kauſalnexus zwiſchen der Erzählung 
und der Tatſache, daß am gleichen Tage des Jahres 
1793 in Paris Marat von der ſchönen Charlotte Corday, 
einer Anhängerin der Girondiſten, ermordet wurde? 

Soviel ich weiß, haben alle dieſe Fragen auf den 
Gang meiner nachſtehenden Erzählung keinen Einfluß. 
Sie ſtehen mit ihm nicht in Zuſammenhang. Nur der 
13. Zuli iſt der Tag, an dem zwei Menſchen handelnd 
dem Schickſal entgegentraten. ö 

Alſo: Es war am 13. Juli dieſes Jahres. Die Sonne 
war bereits geſunken “). 

Wie ein Meer von Rofa und Gold, wie ein un- 
endlicher Teppich von violetten und ſchwefelgelben 
Muſtern lag die Glut des Abendrots am Himmel“). 

Der kleine Badeort Salzbad ſchlummerte ſchon 
in ſtillem Abend frieden! ). 

Die Straße herauf, die Salzbad von Norden nach 
Süden durchſchneidet, kam ein junges Mädchen von 


*) Der Sonnenuntergang fiel an jenem Tage nach Meiers 
aſtronomiſchen Tabellen auf 8 Uhr 16 Minuten abends. 

**) In weſtlicher Richtung. 

) Salzbad liegt auf 12, Grad öſtlicher Länge und auf 
50, Grad nördlicher Breite in 490 Meter Höhe an der nicht 
ſchiffbaren Salze. Es hat alkaliſch-ſaliniſche Säuerlinge, 2100 Cin- 
wohner, darunter 93 Katholiken, ift Sitz einer Königlichen 
Badedirektion und wird ſehr viel von Frauen beſucht. Frequenz 
im letzten Berichtsjahre: 8336 Rurgäfte, wobei ich mitgezählt bin. 


172 Die Entführung. 2 


etwa zweiundzwanzig Jahren, das anſcheinend Ellen 
hieß. 

Man ſieht nämlich den Mädchen den Vornamen 
meiſtens an. Ich wenigſtens bilde mir ein, jede Trude, 
Marie, Lotte, Martha, Lona und Barbara nach ganz 
gewiſſen Grundſätzen ſofort erkennen zu können. In 
dem vorliegenden Falle beſtätigte ſich übrigens meine 
Theorie wieder einmal glänzend: die Dame hieß 
wirklich Ellen! Den Beweis dafür liefert die Kurliſte 
von Salzbad vom 5. Zuli dieſes Jahres. 

Eigentlich paßte der Name Ellen nicht zu der Er- 
ſcheinung. Die Dame hatte etwas Energiſches, Selbſt- 
bewußtes, Beſtimmtes in ihrem Auftreten, während 
die anderen Ellen meiſtens weichgeartete Wirbelwinde 
ſind. | 

In der Mitte der Straße, gerade vor der Billa 
Neptun, blieb Ellen ſtehen und blickte in das glühende 
Abendrot, das wie ein rotgoldener Kranz am Himmel 
lag. Jetzt konnte man auch Gelegenheit nehmen, die 
Dame näher zu betrachten. Sie trug ein Kleid aus 
weißem Mull mit reichen Handſtickereien und iriſchen 
Spitzen verziert“). Um den Hals trug fie eine wert- 
volle Perlenkette und an den Händen ebenfalls ſehr 
koſtbaren, wenn auch geſchmackvollen Schmuck. 

Ihr zu Füßen, die in weißen Wildlederſchuhen 
ſteckten, fab ein kleiner Seidenpinſcher. Ein entzücken 
des, molliges Etwas, ein Gewirr von Seide, ſchwarzem 
Schnuppernäschen und weißen Flocken. 

Von der anderen Richtung her, vom Kurhaus 
herunter“), kam ein junger Mann. Vielleicht fünfund- 
zwanzig Jahre alt, ein Meter zweiundſiebzig bis ein 


*) Preis ungefähr 200 bis 250 Mark. 
**) 1892 aus Sandſtein erbaut. 


o Von Heinrich Binder. 173 


Meter fünfundſiebzig groß, blaue Jacke, weiße Flanell- 
hoſen, Sporthemd, langen, blauen Schlips, Gürtel, 
kurzgeſchnittenes, ſchwarzes Bärtchen, hübſche Zähne, 
gelbe Schuhe und einen Panamahut, der aber an- 
ſcheinend nicht echt war. 

Als dieſer Herr ſich Ellen bis auf ungefähr achtzig 
Zentimeter genähert hatte, fuhr das oben beſchriebene 
weißſeidene Hundekleinod auf einmal mit wütendem, 
hellem Gekläff an die weißen Flanellhoſen des jungen 
Mannes, und ehe ſich dieſer von feinem Erſtaunen er- 
holen konnte, hatte das Tierchen ſchon ein großes Loch 
in das linke Hoſenbein des Herrn mit dem unechten 
Panama gebiſſen )). 

Ellen entſchuldigte ſich taufendmal**), und der Herr 
tat ſo, als ob der Zwiſchenfall das höchſte Glück ſeines 
Lebens bedeute. 

Er benützte natürlich ſofort die Gelegenheit, ſich 
vorzuſtellen: „Fritz Eggers aus Berlin.“ 

„Ah, auch aus Berlin?“ 

„Gnädiges Fräulein auch?“ 

Und fo kamen die beiden zuſammen . 

In der nächſten halben Stunde bewunderten ſie 
gemeinſchaftlich das Abendrot, das einer tiefen, wohligen 
Dämmerung Platz machte, zumal es neun Uhr und 
ſieben Minuten geworden war. 

Wie das in Bädern manchmal vorkommt, verlobten 
ſich die beiden um neun Uhr achtzehn Minuten, auf 
dem Wege, der vom Kurhaus rechts hinauf nach der 
Sabinenhöhe führt. Zwar ſoll man ſich niemals in 


1) Das Loch war von dreieckiger Form, ungefähr 7 Benti- 
meter groß und la fih etwa 20 Zentimeter über dem 
Erdboden. 

4 Nicht wörtlich zu nebmen ſondern nur als oft gebrauchte, 
aber nicht immer zutreffende Redensart. 


174 Die Entführung. o 


Bädern verloben, denn man heiratet die hübſche Um- 
gebung nicht mit. Aber es gibt eben doch eine Liebe 
auf den erſten Blick. Sogar eine leicht bekömmliche 
und manchmal auch dauerhafte Liebe! 

Um neun Uhr ſechsunddreißig Minuten trennten 
ſich die Verlobten mit dem feſten Vorſatz, am anderen 
Morgen zuſammen vor die Eltern zu treten, um aus 
ihrer Hand das Schickſal in Empfang zu nehmen. 
Ellen hatte natürlich die Herrſchaften mittlerweile 
vorzubereiten. 

Fritz Eggers, deſſen Perſönlichkeit für die Geſcheh- 
niſſe an dieſem Abend nicht mehr in Frage kam, ging 
in einem Gefühl ſeligen Wahnſinns in feine Wohnung)). 
Ellen ging in das Hotel Königshof, in dem ſie mit 
ihren Eltern wohnte, und fuhr im Aufzug“) in die 
erſte Etage, in der ihre Eltern eine Flucht von drei 
Zimmern mit Bad innehatten***). 

Die Familie ſaß noch in dem mittelſten Zimmer, 
in dem ſogenannten Salon, als Ellen eintrat. Sie 
traf dort folgende Perſonen: 

1. Albert Hartmann fen, Vater und gabritbeſitzer 
aus Berlin. Ungefähr einhundertundſechzig Benti- 
meter groß und neunzig Kilogramm Gewicht. Zn- 
haber des ſerbiſchen Takovoordens, der belgiſchen 
Leopoldmedaille und der deutſchen Chinamedaille für 
Nichtkombattantenf). Achtundvierzig Jahre alt, ziemlich 
beleibt. Aufſichtsratsmitglied bei fünf Geſellſchaften. 
Baſtſeidener Anzug, breites, joviales Geſicht, in der 


*) Villa Quiſiſana, Koſt und Logis von 6 Mark ab, wobei 
man allerdings manchmal nicht weiß, was zur Koſt und was 
zum Logis gehört. 

**) Tragfähigkeit: 4 Perſonen einſchließlich Führer. 
**) Preis: 35 Mark ohne Penſion. 
1) Wegen ſtarker Beteiligung an den Liebesgaben. 


2 Von Heinrich Binder. 175 


Hand immer ein Taſchentuch, weil es in dem Neſt 
ſo warm war. 

2. Frau Julie Hartmann, geborene Breslauer. 
Hübſche, ſtattliche Dame, die nie auf morgen verſchiebt, 
was ſie heute noch anziehen kann. Viel Seide, viel 
Diamanten, viel moraliſche Überlegenheit dem Manne 
gegenüber. Größe und Gewicht wie bei Herrn Albert 
Hartmann, nur daß ſie die Größe zugibt, das Gewicht 
jedoch abſtreitet. 

3. Ralph Eugen Hartmann. Vierzehn Fahre alt, 
Sohn der Erſtgenannten, einziger Bruder von Ellen. 
Anterſekundaner in Berlin. Fühlt ſich aufs höchſte ge- 
ſchmeichelt, wenn man ihn einen Zyniker nennt. Über- 
ragt beide Eltern um etwa drei Zentimeter, tut aber 
jo, als wären fie Waiſenkinder, die feiner Obhut an- 
vertraut find*). 

Zu dieſen drei im Salon anweſenden Menſchen 
ſagte Ellen zuerſt: „Guten Abend!“ 

Nachdem dieſer Gruß von drei Seiten faſt gleich- 
zeitig wiederholt war, ſagte Ellen, indem ſie ſich in 
einen Klubſeſſel von imitiertem Krokodilleder fallen 
ließ: „Ich habe mich ſoeben verlobt.“ 

Dieſe Mitteilung wirkte auf die drei Menſchen ganz 
verſchieden. | 

Herr Hartmann ſagte: „Du but verrückt!“ 

Frau Hartmann, geborene Breslauer, ſagte: „Um 
Gottes willen! Gegen wen denn?“ 

Ralph Eugen Hartmann ſagte: „Na ja, verlobt 
iſt noch nicht verheiratet!“ 

Als einzige Antwort auf die drei Meinungen 


*) Sämtliche Perſonalien ließ ich mir vom Portier des 
Hotels Königshof, einem Herrn Gottfried Bünte aus Leipzig, 
gegen eine einmalige Vergütung von 2 Mark geben. 


176 Die Entführung. o 
äußerte Ellen: „Ich habe mich verlobt mit Herrn 
Fritz Eggers, Kaufmann aus Berlin.“ 

„Kaufmann! Kaufmann! Bin ich auch. Was 
iſt der Kerl denn? Wo, wie, weshalb, warum, wieſo, 
wenn, wann?“ 

Es iſt eigentlich überflüſſig zu ſagen, daß Herr 
Hartmann ſen. es war, der dieſe fragenden Fürwörter 
ſchnell hintereinander herausſprudelte. 

Zwiſchendurch aber hatte Ralph Eugen Hartmann 
noch Gelegenheit gefunden zu der ſeinen Zynismus 
fo recht kennzeichnenden Außerung: „Pfui Deibel! 
Wie kann ein Menſch Eggers heißen und aus Berlin 
ſein! Ausgerechnet aus Berlin!“ 

Allein Ellen war, wie man im Laufe der Erzählung 
wohl noch manchmal wird feſtſtellen können, eine für 
ihr Alter ungemein energiſche Dame, und ſo ſagte ſie 
denn auch kurz, gehaltvoll, beſtimmt und mit Nachdruck: 
„Es hat keinen Zweck, daß wir uns jetzt noch darüber 
ausſprechen. Es wird zu neu, zu überraſchend für 
euch ſein. Ihr würdet lachen, wenn ich euch jetzt von 
Liebe auf den erſten Blick reden würde. Und im übrigen 
werdet ihr morgen früh ja Gelegenheit haben, meinen 
zukünftigen Gatten ſelbſt kennen zu lernen.“ 

Mit dieſen Worten, die zweifellos einen ſehr guten 
Abgang aus ſolchen Situationen bilden, ging ſie in 
das Zimmer links vom Salon, das ſie mit ihrer Mutter 
bewohnte, während in dem Zimmer rechts Vater mit 
Ralph Eugen untergebracht war. 

Frau Hartmann folgte ihr auf dem Fuße, und was 
die beiden Frauen an jenem Abend noch beſprachen, 
entzieht ſich leider meiner Kenntnis, da ich Gelegenheit 
ſuchte, mit Herrn Hartmann noch eine Partie Ecarté 
in dem zu dem Hotel gehörigen Café zu ſpielen, wobei 
ich den Betrag von acht Mark und fünfundvierzig Pfen- 


2 Von geinrich Binder. 177 


nig gewann, während ein dritter Herr, ein Herr 
Frankfurter aus Konitz, den dreifachen Betrag ein- 
ſtreichen konnte. Man wird verſtehen, daß Herr Hart- 
mann etwas nervös war und ohne jede Berechnung 
ſpielte ). 

Der Morgen des 14. Juli brach ſiegreich herauf. 
Golden ſtieg die Sonne, des Tages Königin, auf die 
Berge, die in grünem Kranz Salzbad umrahmen. 

Schon um ſieben Uhr, geweckt durch die Klänge des 
Kurorcheſters““), erhob fih Ellen und zog ſich raſch 
an. Mit der an ſolchen Tagen üblichen Zerſtreutheit. 

Die Mutter gab ihr den ſicher gutgemeinten Rat 
mit auf den Weg: „Mach doch keine Dummheiten! 
Vater war wirklich immer viel zu gut zu dir. Sieh zu, 
daß du ihn nicht einmal ernſtlich erzürnſt!“ 

Mit dieſen Worten erhob ſich auch Frau Hartmann, 
während Ellen in den Salon ging, in dem morgens 
gegen acht Uhr das erte Frühſtück gemeinſchaftlich ein- 
genommen wurde. 

Herr Hartmann ſaß bereits auf dem Sofa und ſtrich 
ſich gerade viel, ſehr viel Honig auf ein Brötchen, was 
ihm von dem Badearzt***) dringend empfohlen war. 

„Guten Morgen, Vater.“ 


*) Zeuge: Ein Rentier Alwin Schädlich aus Chemnitz, 
der zuſah und manchmal kritiſche Bemerkungen einfließen ließ, 
was Herrn Hartmann zu der Außerung Veranlaſſung gab: 
„Sie gehören ja gar nicht an unſeren Tiſch,“ was Herr Schädlich 
indeſſen überhörte. 

**) Das Programm von jenem Tage zeigt als erſtes Stück: 
Frühlingslied von Kuhnot. Soll aber entſchieden Gounod 
heißen, während Kuhnot ein anderes Lied geſchrieben hat, 
das ſehr poetiſch ausklingt: Wir halten feſt und treu zuſammen, 
hipp, hipp, hurra! Gounod ſtarb 1893 zu St. Cloud, Kuhnot 
lebt jetzt noch in Bremen. 

**) Sanitätsrat Dr. Suchmann. 
1918. N. 12 


178 Die Entführung. | 2 


ä — aaa 


Ein Brummen folgte, das Eingeweihte unter Um- 
ſtänden wohl als Morgengruß hinnehmen konnten. 

„Vater, ich will heute morgen auf dem Kurplatz 
frühſtücken; ich komme gegen neun Uhr zurück.“ 

„Wenn der Kerl hierher kommt, laff ich ihn hinaus- 
ſchmeißen.“ | 

Dieſe Worte, denen an überzeugender Deutlichkeit 
wohl nur wenig fehlte, gab Herr Hartmann ſeiner 
Tochter mit auf den Weg. Sie waren ſo laut geſprochen, 
daß ſie von dem Zimmermädchen Auguſte Havliczek 
aus Aſch in Böhmen deutlich gehört wurden. 

Ellen eilte in ſtürmenden Gedanken auf den Rur- 
platz, wo Herr Fritz Eggers, friſch raſiert und ſehr friſch 
angezogen, ihrer ſchon in Sehnſucht harrte. Man 
kann wohl behaupten: in Sehnſucht, denn Herr Eggers 
ſaß ſichtbar nervös auf einer Bank, ſtand hin und wieder 
auf, ſah ab und zu nach dem Hotel Königshof hinüber, 
ſchüttelte den Kopf, ſetzte ſich wieder, malte mit ſeinem 
Spazierſtock allerhand Figuren in den Sand und ſchlug 
dann wieder mit demſelben Stock pfeifend durch die 
Luft, als wolle er alle Widerſtände, die ſich doch viel- 
leicht ergeben würden, totſchlagen. Kurz: alles deut- 
liche Symptome erwartungsvoller Sehnſucht. 

Endlich kam ſie! 

Die Begrüßung war unglaublich herzlich, und die 
Liebenden überzeugten fich, daß fie fih bei Tage ebenſo 
begehrenswert wie am Abend vorkamen, und ſofort 
berieten ſie in fiebernder Haſt, was zu tun ſei und wie 
man die Angelegenheit am beſten ſofort zu aller Zu— 
friedenheit erledigen könne. 

Sie ſetzten ſich zuſammen auf die Bank, die ſchräg 
links der lärmenden Kurkapelle gegenüberlag, und es 
dauerte nicht lange, ſo ſahen die beiden Verliebten 
Ellens Bruder, Ralph Eugen Hartmann, über den 


D Von Heinrich Binder. 179 


Kurplatz kommen. Sie blieben beide ruhig ſitzen und 
ließen den Bruder, der ſie alsbald bemerkte und dieſe 
Tatſache durch ein leiſes Lächeln ausdrückte, an ſich 
herankommen. 

Eggers ſtand auf und machte eine tadelloſe, ge- 
meſſene und doch höfliche Verbeugung vor dem zu- 
künftigen Schwager, was Ralph Eugen im Innern 
ungemein zuſagte und wodurch er ſofort die Über- 
zeugung gewann, daß Herr Eggers ein Mann von 
Welt, ein Gentleman, kurz der für Ellen einzig mögliche 
Mann ſei. 

Nach kurzer Unterhaltung verabſchiedete ſich Ralph 
Eugen mit den immerhin troſtreichen Worten: „Sie 
können ſich auf mich verlaſſen, Herr Eggers. Was an 
mir liegt, will ich gerne tun.“ 

Nun iſt Liebe doch eigentlich reiner Wahnſinn und 
verdient wie jede andere Tollheit Narrenhaus und 
Peitſche ). 

In der Liebe werden tatſächlich die dümmſten und 
unglaublichſten Streiche gemacht, und ſo ließ ſich Herr 
Eggers auch von ſeinem Gefühl dazu verleiten, gegen 
neun Uhr zu Herrn Hartmann hinüberzugehen, um ihn 
in aller Form um die Hand ſeiner Tochter Ellen zu bitten. 

Ellen hingegen wartete auf einer Bank, die an dem 
Wege vom Kurplatz zur Bergquelle ſteht und die vom 
Salzbader Verſchönerungsverein vor drei Jahren dort 
mit einer ſehr ſtimmungsvollen Feier dem Verkehr 
übergeben worden war. 

Die Unterhaltung, die Herr Hartmann mit Herrn 
Fritz Eggers aus Berlin führte, war ſehr kurz. Frau 
Hartmann war nicht zugegen, da die Friſeuſe ſich an 
dieſem Morgen zufällig erheblich verſpätet hatte. 


) Ausſpruch von Shakeſpeare, der als Kenner gelten kann. 


180 Die Entführung. o 


Herr Eggers bat um die Erlaubnis, fih vorſtellen 
zu dürfen. 

Herr Hartmann hatte nichts dagegen, betonte aber 
gleichzeitig, wenn es Herrn Eggers einfallen ſollte, 
eine noch durchaus nicht ſpruchreife Angelegenheit hier 
zur Sprache zu bringen, ſo ſähe er, Hartmann, ſich 

genötigt, die Konferenz abzubrechen. 
ö „In welcher Branche ſind Sie denn überhaupt 
tätig?“ fragte plötzlich und eigentlich nicht im Sinne 
des vorher Geſagten Herr Hartmann. 

„Wenn ich Ihnen das fage, hören Sie mich über- 
haupt nicht an,“ war die echt berliniſche Antwort des 
Herrn Fritz Eggers. 

„Sind Sie ſelbſtändig?“ 

„Ich denke nicht daran.“ 

„Ja, wie kommen Sie dann dazu, hier derart auf- 
zutreten und einer jungen, unerfahrenen en den 
Kopf zu verdrehen?“ 

„Verzeihung, Sie ſprechen von Ihrem Fräulein 
Tochter. Ich kann nicht geſtatten, daß ein Herr, und 
ſei es auch der eigene Vater, in einer ſolchen Weiſe 
von einer Dame ſpricht, die ich nicht nur verehre und 
achte, ſondern auch liebe und zu ehelichen wünſche!“ 

Hier muß Herrn Hartmann anſcheinend doch wohl 
die Geduld verlaſſen haben, denn die Tür flog plötzlich 
auf und der junge Mann hinaus. 

Hinterher flog dann noch der unechte Panama. 

Ich will nun nicht behaupten, daß Herr Hartmann 
Herrn Eggers perſönlich aus dem Zimmer geworfen 
hat. Es wurden bei dieſer Szene einige erregte Worte 
geſprochen, und es kann auch möglich ſein, daß Herr 
Eggers aus eigener Kraft und mit eigenem Willen den 
Salon verließ. In der Geſchwindigkeit, mit der ſich 
alles abſpielte, ließ ſich das nicht genau feſtſtellen. 


2 Von Heinrich Binder. 181 


Tatſache jedoch iſt, daß Herr Hartmann den unechten 
Panama aus dem Salon geworfen hat. Denn dieſer 
flog etwas ſpäter hinaus als Herr Eggers, der übrigens 
noch das Unglück hatte, ein Stubenmädchen zu über- 
rennen, das gerade mit einem Waffereimer über den 
breiten roten Läufer ging. 

Wir verlaſſen mit Herrn Eggers Herrn Hartmann 
und laufen mit dem abgewieſenen jungen Mann die 
Treppe hinunter nach der oben bereits näher bezeich- 
neten Bank, auf der die Geliebte wartend ſaß. 

Es erübrigt ſich, die nächſte Stunde zu beſchreiben, 
da es doch unmöglich iſt, ſie genau wiederzugeben. 
Man kann unmöglich die vielen Pläne aufzählen, die 
von den Liebenden gefaßt und wieder verworfen 
wurden. Man kann auch nicht im entfernteſten ſchildern, 
wie empört Herr Fritz Eggers aus Berlin über die 
Behandlung war, die ihm von Herrn Hartmann wider- 
fahren war. Nur ſo viel ſteht feſt, daß auch Ellen es 
unerhört von dem alten Herrn fand, einen jungen 
Mann mit ehrlichen und offenen SISCH derart Au 
behandeln, 

Man tann ſich mit dem Ergebnis ihrer Verhand- 
lungen begnügen, denn dieſes liegt klar zutage und 
wurde durch die Tat bewieſen. 

Die Wirrungen und Wirkungen der Liebe ſind ja 
jo ſchreckenerregend. Liebende, die fidh ſelbſt über- 
laffen bleiben, find zu Brandſtiftung und Zollhinter- 
ziehung fähig; ſie ſollten ſofort in Einzelhaft zwangs- 
weiſe interniert werden, und ihre Verhandlungen 
müßten durch geſchickte Juſtizräte auf dem Wege über 
die Eltern gepflegt werden. 

Und fo kann es auch weiter nicht EEN 
wenn ich erzähle, daß Ellen und Fritz folgendes be- 
ſchloſſen: Ellen geht nach Haus, als ob gar nichts ge— 


182 Oie Entführung. a 


ſchehen wäre, und fegt fih dort in den Beſitz des nötigen 
Geldes). i 

Dann wollten fie mit dem nächſten Zuge nach Berlin 
zu Eggers' Eltern fahren, und von dort aus wollten ſie 
dann den Eltern ihren Entſchluß mitteilen: entweder 
zuſammen zu leben oder zuſammen zu ſterben — ein 
bei Verliebten zwar oft angewandtes, aber immerhin 
noch wirkungsvolles Mittel, um hartnäckige Eltern 
gefügig zu machen. 

Die nächſten Stunden innerer Unruhe und grenzen- 
loſer Aufregung kann man übergehen. Es herrſchte 
im Kreiſe der Familie Hartmann eine nicht klar zu 
ſchildernde Stimmung. Kam noch der Verdruß hinzu, 
daß es heftig regnete, und daß bei Hartmanns eine Nach- 
richt eingelaufen war, nach der eine entfernte Erbtante 
eine Blinddarmoperation ſehr gut überſtanden hatte. 
And dabei war die Tante achtundſiebzig Jahre alt! 

Hat man nötig, mit achtundſiebzig Jahren noch 
eine ſolche Operation gut zu überſtehen? 

Es wird aber doch intereſſieren, daß Ellen und Fritz 
mit dem Zug ein Uhr ſechsundzwanzig Minuten aus 
Salzbad abführen. Za, das taten fie! 

Trotzdem können wir die Liebenden ihrem Schickſal 
vorläufig überlaſſen, denn es iſt doch nicht feſtzuſtellen, 
wohin ſie fuhren und ob ſie auf geradem Weg den Zug 
nach Berlin benützten, der dort bekanntlich um ſieben 
Ahr ſechsunddreißig Minuten auf dem Anhalter Bahn- 
hof einzutreffen pflegt. 

Notwendig jedoch iſt es, den weiteren Gang der 
Dinge in Salzbad zu ſchildern. 

Um ein Uhr zweiunddreißig Minuten war bereits 

*) Ellen hatte ſtets ein Scheckbuch über 5000 Mark zu ihrer 


freien Verfügung, da man nicht wiſſen konnte, was irgendwie 
einmal eintraf. 


Le 


2 Von geinrich Binder. 183 


das ganze Hotel von dem Vorgefallenen ziemlich genau 
unterrichtet. Ellen hatte dem Portier einen Brief mit 
der Weiſung überreicht, dieſen Brief Punkt drei Uhr 
den Eltern zu übergeben. 

Der Brief lautete: „Liebe Eltern! Euer Widerſtand 
zwingt uns zu folgendem Schritt: Wir ſind ſoeben mit 
dem D-Zug 1 Uhr 26 zuſammen abgefahren. Wir be- 
geben uns auf Umwegen nach Berlin. Gebt Euch 
keine Mühe, uns telegraphiſch oder ſonſt irgendwie 
zu erreichen, denn wir kommen natürlich nicht mit dem 
Zug um 7 Uhr 36 Minuten in Berlin an, ſondern 
fahren vielleicht über Oresden, vielleicht über Köln 
oder aber auch über Moskau. Aber ich gebe Euch die 
Verſicherung, daß ich mir nichts vergeben werde. Fritz 
iſt ein durchaus ehrenvoller Menſch! Das einzige iſt, 
daß wir Euch zwingen wollen, Euer Einverſtändnis 
zu unſerer Ehe zu geben. Es war und ift Liebe auf 
den erſten Blick, und die iſt größer und ſtärker als alles 
Pflichtgefühl. Verzeiht uns den Schritt und gebt 
uns Euer Einverſtändnis zu wiſſen! Briefe und Nach- 
richten erreichen uns unter F. E. 15—14 poſtlagernd, 
Poſtamt 9, Berlin in der Linkſtraße. Glaubt aber nicht, 
daß Ihr irgendwelche Schritte unternehmen könnt, 
um uns dort vielleicht bei der Empfangnahme der 
Briefe zu treffen. Auch dafür wird Sorge getragen 
werden. Aber wir bitten Euch nochmals herzlich: 
Verzeiht mir dieſen Schritt. Ich küſſe Euch und bitte 
Euch um gütiges Verſtehen! Ellen*).“ 


5) Für die wörtliche Wiedergabe des Briefes kann ich 
garantieren, denn Ellen hatte in der Aufregung vergeſſen, 
ihn zuzukleben, was den Portier natürlich nicht veranlaßte, 
das Verſäumte nachzuholen, ſondern ihn mir zur Abſchrift 
zu geben. Mir und anderen, wie ich zu meinem Bedauern 
feſtſtellte. 


184 Die Entführung. Bi u 


Der Skandal war alfo fertig! 

Er wuchs von Stunde zu Stunde, und als das Rur- 
orcheſter um vier Uhr das erſte Stück des Nachmittags- 
konzertes intonierte*), da ziſchte die Schlange des 
Klatſches ſchon über den Kurplatz und ſpritzte ihr ſüßes 
Gift auf Tiſche und Bänke. | 

Im Hotel Königshof hatten fih natürlich febr er- 
regte Szenen abgefpielt, 

Herr Hartmann hatte fih, als er den Brief geleſen 
hatte, ſofort aus der Hotelbibliothek das Bürgerliche 
Geſetzbuch heraufholen laffen. Er blätterte nervös 
in dem kleinen, grünen Band, und da er den in Frage 
kommenden Paragraphen nicht finden konnte, ließ 
er ſich telephoniſch mit dem einzigen Rechtsanwalt 
von Salzbad**) verbinden, der hier allerdings nur 
während der Sommermonate praktizierte und gerade 
auf dem Gebiete der Entführungen und Eheſcheidungen 
eine über das Allgemeine hinausragende Kenntnis beſaß. 

Dieſer klärte Herrn Hartmann vorerſt darüber auf, 
daß das Oelikt der Entführung nicht durch das Bürger- 
liche Geſetzbuch, ſondern durch das Strafgeſetzbuch 
feſtgelegt ſei, und daß man dort, im Paragraph 237, 
alles Wiſſenswerte finden könne. Zwar enthalte das 
Einführungsgeſetz zum Bürgerlichen Geſetzbuch im 
Artikel 34 noch einige Einzelheiten, aber der zitierte 
Paragraph 237 des Strafgeſetzbuches fei völlig in Ein- 
klang gebracht mit Sprachweiſe und Unterſcheidungen 
der zitierten Geſetzesſtelle. Im übrigen ſei er jeder- 
zeit bereit, die Sache in die Hand zu nehmen, zu— 
mal es ſich doch vermutlich um die Entführung einer 
Minderjährigen handle. 


*) Es war „Des Negers Traum“ von Middleton. 
**) Herr Dr. Scharf. 


o Von Heinrich Binder. 185 


Als Herr Doktor Scharf belehrt wurde, daß die in 
Frage kommende Dame das einundzwanzigſte Lebens- 
jahr bereits überſchritten habe, ſah er ſich veranlaßt, 
das Telephongeſpräch plötzlich abzubrechen“). 

l Als kluger Geſchäftsmann wußte Herr Hartmann 

ſofort, daß das Verſchwinden ſeiner Tochter bereits 
überall bekannt war, und fo tat er das Beſte und Ver- 
nünftigſte, was in ſolchem Falle zu tun iſt — er gab 
den näheren Bekannten gegenüber das Vorgefallene 
unumwunden zu, und diefe taktiſch richtige Maßnahme 
veranlaßte auch mich, nachmittags gegen ſechs Uhr Herrn 
Hartmann aufzuſuchen und ihn um eine Unterredung 
zu bitten. 

ich fekte ihm auseinander, daß ich als Schrift- 
ſteller, der die Sache vielleicht immerhin doch aufgreifen 
würde, die Pflicht hätte, mich an Ort und Stelle um 
die Angelegenheit zu kümmern. Es wäre doch auch 
zu wünſchen, daß die Sache nicht entſtellt in die Blätter 
komme. Und zu bedenken wäre, daß ich der einzige 
Mann am Orte wäre, der die peinliche Affäre im Sinne 
der ſtrengſten Sachlichkeit und mithin ganz im Inter- 
eſſe der Familie Hartmann, der ſo angeſehenen und ſo 
hochgeachteten Familie Hartmann, behandeln könne. 
Er gewährte mir darauf natürlich die gewünſchte Unter- 
redung und ſetzte ſich zu dem Interview zurecht, nicht 
ohne mir vorher, als geſchäftskundiger Herr, eine 
Zigarre anzubieten“). 

„Ich heiße Albert Emil Hartmann und bin jetzt 
neunundvierzig Jahre alt. Seit vierundzwanzig Jahren 


*) Ein ſehr beliebtes Mittel, unliebſame Unterhaltungen 
ſofort zu Ende zu führen. Man hängt den Hörer einfach hin 
und kann ſpäter immer behaupten, man fei unterbrochen worden. 

**) Anſcheinend Sumatra mit Havannadedblatt, das Tauſend 
nicht unter 450 Mark. 


186 Die Entführung. u 


bin ich verheiratet und bin jetzt Beſitzer der Chemiſchen 
Fabriken Hartmann & Co., Niederſchöneweide bei 
Berlin. Ich verſteuere ein Einkommen von hundert- 
zwanzigtauſend Mark, bin ſchuldenfrei und unbe- 
ſtraft. Meine Tochter, um die es ſich in erſter Linie 
wohl handelt, wurde am 11. Auguſt morgens gegen 
drei Uhr geboren. Sie genoß die befte Erziehung, 
die man ſich denken kann, ſtudierte reſpektive hörte 
vier Semeſter in Berlin und Lauſanne, und der einzige 
Fehler, der vielleicht in ihrer Erziehung gemacht worden 
iſt, mag der ſein, daß wir ſie von Kindheit an zur größten 
Selbſtändigkeit anhielten. Immer wieder prägten wir 
ihr ein, nur den Weg zu gehen, den ihr eigener Wille 
ihr vorſchreibe, und dieſe Erziehungsmethode mag ja 
auch zum größten Teil zu dem geſtrigen Vorfall bei— 
getragen haben, der uns alle natürlich aufs höchſte 
überraſcht hat. Den Hergang ſelber brauche ich Ihnen 
wohl nicht eingehend zu ſchildern, da er ja genügend 
bekannt iſt. Ich will nur noch bemerken, daß ſich alles 
mit einer mir faſt unverſtändlichen Schnelligkeit ab- 
geſpielt hat, und daß der junge Mann, wenn ich es 
mir recht überlege, gar keinen ſchlechten Eindruck hinter- 
ließ. Über meine weiteren Dispofitionen kann ich noch 
nichts ſagen. Ich denke mir, daß die Sache zum Guten 
ausläuft, da meine Tochter im letzten Grunde ein an- 
ſtändiger Charakter und ein ganz vernünftiges Mädel 
iſt, das ja, wie Sie ſehen, ihren eigenen Willen hat und 
auch ſicher wieder auf den rechten Weg kommen wird. 
Wollen Sie, bitte, noch das eine bemerken, daß ich 
meinen Aufenthalt hier nicht abzubrechen gedenke, 
da jetzt gerade meine Frau ſehr der Erholung bedürftig 
ſein wird.“ 

Um ſechs Uhr zwanzig Minuten war die Unter— 
redung ſchon zu Ende, und da Herr Hartmann ſich von 


a | Von Heinrich Binder. 187 


mir in liebenswürdiger Weiſe verabſchiedete, um ſeine 
Freunde auf der Promenade aufzuſuchen, fand ich 
Gelegenheit, anſchließend auch Frau Hartmann zu 
interviewen und die Dame um ihre Anſicht über die 
ſicher ſehr peinliche Angelegenheit zu bitten. 

Sie empfing mich zwanzig Minuten vor ſieben 
Ahr in dem gleichen Salon und begann ſofort: „Das 
iſt der ſchrecklichſte Sommer meines Lebens! So eine 
Nückſichtsloſigkeit! Man merkt eben, daß man ſchon 
erwachſene Kinder hat, die ihre eigenen Wege gehen!“ 

„Gnädige Frau haben aber doch ganz ſicher ſehr 
früh geheiratet —“ 

„Nun natürlich! Aber wenn auch — es iſt und bleibt 
eine Rückſichtsloſigkeit! Ich fürchte nur, daß dieſer 
WMenſch mein armes Kind unglücklich machen wird! 
Wer weiß, vielleicht iſt das ſo ein Hypnotiſeur oder 
ſonſt fo etwas Ähnliches! Kann man denn einem 
Manne trauen? Und dazu noch in einem Badeort? 
Meine Ellen ift doch ſonſt fo klug und gebildet! — Und 
dann: ſo ganz ohne Garderobe abzureiſen! Denken 


Sie nur: wie die Zigeuner fährt ſo etwas fort. Nur 


mit einem Kleid und einer Handtaſche! Zwar hat ſie 
ja vorläufig Mittel genug, um ſich über Vaſſer zu halten, 
hat auch Mittel genug, um ohne den ſchrecklichen Mann 
in unſere Arme zurückkehren zu können. Aber ſo etwas 
ift und bleibt doch immer furchtbar! — gch hätte es 
in der Jugend einmal wagen follen, meinem Vater, 
dem Kommerzienrat Breslauer in Frankfurt, einen 
ſolchen Streich zu ſpielen! Nein — Sie werden ſelber 
zugeben, daß ſo etwas zu unſerer Zeit doch ganz und 
gar ausgeſchloſſen war. Das kommt nur von dem ver— 
rückten Studium. — Verzeihen Sie, meine Migräne 
meldet ſich wieder. Sollten Sie aber genötigt ſein, 
dem Klatſch durch irgend eine Berichtigung entgegen— 


188 Die Entführung. el | 


auftreten, dann erwähnen Sie, bitte, auf keinen Fall, 
daß Ellen wie eine Wilde mit nur einem Kleid auf 
Reiſen gegangen iſt.“ 

Nach zehn Minuten ſchon ſtand ich auf dem Korridor 
vor dem Salon, und durch Zufall prallte ich dort mit 
Ralph Eugen zufammen. 

Da es mir ſchriftſtelleriſche Gewiſſenspflicht iſt, in 
ſolchen Fällen alles zu erfahren und aller Beteiligten 
Arteile zu hören, ſo ſtellte ich mich dem jungen Manne 
vor. 

Ich ſagte ihm, daß es fih um eine diskrete An- 
gelegenheit handle, die man nicht hier zwiſchen Tür 
und Angel erledigen könne. Sch erſuchte ihn, mit mir 
in die unten liegende Neſtauration zu kommen, wo man 
bei einem kühlen Männertrunk — das Wort wirkte 
großartig — die Sache regeln könne. 

Er ging ſofort auf meinen Vorſchlag ein, und nachdem 
ich ihm ſagte, daß ſeine Eltern im Hartmannſchen 
Intereſſe mir in äußerſt liebenswürdiger Weiſe eine 
Anterredung gewährt hätten, zögerte er keine Minute, 
mir ſein Urteil über den Fall mitzuteilen. 

„Der Mann hat zwar nicht wie ein Kavalier gehandelt, 
aber immerhin iſt zu bedenken, daß er ſich anſcheinend 
in einem Stadium hochgradiger Verliebtheit befindet, 
was ja vieles entſchuldigt. Perſönlich iſt mir dieſer 
Eggers nicht unangenehm. Er ſtellte ſich mir vor, und 
ich fand, daß der Mann Lebensart hat. Ich muß noch 
bemerken, daß mir an den beiden nichts Beſonderes 
aufgefallen iſt. Sie ſchienen ganz ruhig ihre Abſichten 
zu beraten — na, und man will ſchließlich auch nicht 
ſtören, und deshalb drückte ich mich bald. — Proſit, 
geſtatte mir — Blume! — Za, ich drückte mich, da ein 
Dritter bei ſolchen Angelegenheiten meiſtens doch 
überflüſſig iſt. Bezüglich meiner Eltern iſt wenig zu 


u Von Heinrich Binder. 189 


ſagen. Der alte Herr gibt der alten Dame ſchuld, 
daß ſie ſich gar nicht um Ellen gekümmert habe und ſich 
anſcheinend geniere, eine erwachſene Tochter zu haben. 
Die alte Dame hingegen macht den alten Herrn für 
alles verantwortlich, da er dem Mädel von Kindes- 
beinen an immer Selbſtbeſtimmung als höchſtes 
Menſchenrecht gepredigt habe. Zch ſtehe mehr auf 
ſeiten meines alten Herrn. Im übrigen kann ich, 
ſoweit ich heute die Sachlage überſehe, Iden mit 
einiger Gewißheit behaupten, daß die Geſchichte zum 
Guten ausläuft. Denn meine Schweſter iſt, wie mein 
alter Herr auch ſehr richtig uns gegenüber ſagte, im 
letzten Grunde ein anſtändiger Charakter und ein 
ganz vernünftiges Mädel. Das beſte wird ſein, daß der 
alte Herr ſobald wie möglich ſeine Erlaubnis zu der 
Verbindung gibt, zumal er damit doch der ganzen 
Angelegenheit die Spitze abbricht.“ 

Ich war jetzt über die Anſichten und Abſichten der 
Familie Hartmann genügend unterrichtet und ſetzte 
mich abends gegen neun Uhr noch an den kleinen Schreib- 
tiſch meines in der Villa Auguſte belegenen Zimmers) 
und ſchrieb an Herrn Fritz Eggers nach Berlin unter 
der mir bekannten poſtlagernden Adreſſe. 

Vier Tage darauf erhielt ich aus München eine 
Anſichtskarte, die geſtempelt war: „München, 18. 7. 
1—2 V.“, woraus man erſehen kann, daß die Karte 
erſt nachts zwiſchen ein und zwei Uhr aufgegeben war. 

Herr Eggers ſchrieb: „Sehr geehrter Herr! Wir 
verweigern die Ausſage, haben uns Ihre Adreſſe jedoch 
vorgemerkt und werden Ihnen, Ihr berechtigtes Inter- 
eſſe vorausgeſetzt, Entſcheidungsnachricht ſenden. Fritz 
Eggers, Ellen Hartmann.“ 


5) 9 Mart den Tag mit ſehr kurgemäßer Penſion. 


190 Die Entführung. 2 


Mit dieſer Karte ging ich am 22. Juli, morgens 
gegen zehn Uhr, in das Hotel Königshof, um ſie Herrn 
Hartmann zu zeigen. Zch traf ihn aber leider nicht 
mehr an, da er am Abend vorher mit Familie nach 
Berlin abgereiſt war. 

In aller Stille, wie der Portier mir ſagte. 

Vor allem aber fiel ſeine Abreiſe durch die Höhe 
der Trinkgelder angenehm auf. Herr Hartmann muß 
anſcheinend ſehr guter Laune geweſen ſein, denn er 
machte ſich folgenden Scherz. 

Als im Foyer alles verſammelt war, um ihm das 
Geleite zum Auto zu geben, als er allen Angeſtellten, 
vom Portier bis zum Liftboy herab, irgend etwas 
ſchon in die Hand gedrückt hatte, drehte er ſich inmitten 
der Schar um und rief mit lauter Stimme: „Sft da 
irgend noch ein männliches oder weibliches Weſen, 
das noch kein Trinkgeld von mir bekommen hat? Das 
ſoll ſich jetzt melden!“ 

Worauf die Wäſchebeſchließerin aus der erſten Etage 
herbeigeeilt kam und einen tiefen Knicks machte, der 
denn auch entſprechend belohnt wurde. 

Jedenfalls hatte ich jetzt kein beſonderes Intereſſe 
mehr an der Angelegenheit, und ich ſandte nur dem 
Ehepaar Hartmann noch meine Bitte, mich über alles 

Wiſſenswerte auf dem laufenden zu halten. 
| Ich ſelber reiſte dann am 15. Auguft ein Uhr fechs- 
undzwanzig Minuten nach Berlin und hatte bald in 
den Armen dieſer ſteinernen Sphinx die Salzbader 
Affäre vergeſſen. 

Am 18. Auguſt bekam ich eine Vermählungsanzeige 
in das Haus gefandt*). 


*) Sie war auf handgeſchöpftem Büttenpapier gedruckt und 
koſtete mindeſtens 60 bis 80 Pfennig das Stück — ohne Porto! 


2 Von Heinrich Binder. 191 


Mit ganz klaren Lettern ſtand in dieſer Anzeige 
zu leſen, daß ſich Herr Fabrikbeſitzer Hartmann und 
Frau, geborene Breslauer, die Ehre geben, die Ber- 
mählung ihrer Tochter Ellen mit Herrn Kaufmann 
Fritz Eggers, Prokuriſt der Firma Hartmann & Co., 
Chemiſche Fabrik in Niederſchöneweide, allen Freunden 
und Bekannten ergebenſt anzuzeigen. 

Hiermit iſt die Geſchichte eigentlich zu Ende; eine 
Geſchichte, wie ſie oft vorkommt und ſchließlich zum 
Guten ausläuft. 

Ich bin aber den Leſern noch den letzten Beweis 
dieſer Tatſache des guten Abſchluſſes ſchuldig, und ſo 
habe ich die Vermählungsanzeige, auf der die Adreſſe 
und alles Wiſſenswerte verzeichnet ſtehen, verviel- 
fältigen laſſen“). 


*) Auf Wunfch erhält jeder Lefer umgehend ein Exemplar 
dieſer Karte. Bitte Rückporto beizulegen! 


* 


Inſekten als Nahrungsmittel. 
von Th. v. Wittembergk. 


Mit 8 Bildern. Y (Nahödrud verboten.) 


ber den Geſchmack ift nicht zu ſtreiten. Dieſer 
Satz gilt nicht nur für die Zubereitung der Speiſen, 
ſondern ebenſoſehr für die Wahl der Nahrungsmittel, 
die für die Küche und den Tiſch verwendet werden. 
Wir ſchütteln über die chineſiſchen und japaniſchen 
Speiſen den Kopf, während uns die Japaner vor- 
werfen, daß wir verfaulte Milch, nämlich Gate, ver- 
zehren. Fiſche, die bei uns zu den teuren Gerichten 
zählen, werden von einer Anzahl von Naturvölkern 
verabſcheut, da man ſie für eine Art Schlangen hält. 
Bis auf die Biene, die den wohlſchmeckenden und 
nahrhaften Honig liefert, wird das große Reich der 
Inſekten von uns zur Nahrungsgewinnung nicht aus- 
genützt. Dagegen werden Inſekten in vielen anderen 
Gegenden regelmäßig gegeſſen und fogar als Leder- 
biſſen betrachtet. | 
Weit verbreitet ift der Genuß der Heuſchrecken. 
Ihre Verwendung als Speiſe geht bis in das graue 
Altertum zurück. Im Britiſchen Muſeum in London 
befindet ſich eine Skulptur, die aus Ninive ſtammt 
und ſicher mehr als viertaufend Fahre alt ift. Auf dem 
Relief ſind Männer dargeſtellt, die Fleiſchſtücke für 
eine Feſtlichkeit herbeiſchaffen, und neben ihnen gehen 
einige Diener, die an langen Stöcken befeſtigte Heu- 


Von Th. v. Wittembergk. 193 


ſchrecken tragen. 
Man aß alſo 
ſchon im alten 
Meſopotamien 
dieſe Inſekten. 
Ebenſo waren 
ſie beiden gſrae- 
liten beliebt. 
Moſes führt ſie 
als erlaubte 
Speiſe an, und 
von Johannes 
dem Täufer iſt 
es bekannt, daß 
er in der Ein- 
öde von Heu- 
ſchrecken lebte. 

Noch heute 
werden ſie in 
Paläſtina von 
arm und reich 
verzehrt, indem 
man fie in Se- 
ſamöl ſiedet. 
Natürlich wird 
hier wie auch 
ſonſt nur der 
Leib verwen- 
det, der mit 
feinzernagten 
Pflanzenteilen 
angefüllt iſt. 


Märkten angeboten werden. 


Durch den Magenſaft erhalten die Pflanzenteile 
einen pikanten, ſäuerlichen Geſchmack. In dem be— 


1913. IX. 


13 


194 Inſekten als Nahrungsmittel. u 


nachbarten Arabien trocknet man die Heufchreden 
in der Sonne, zermahlt fie zu Mehl und backt kleine 
Kuchen daraus. In Zentralafrika werden ſie von 
zahlreichen Stämmen geſchätzt und bilden darum auch 
eine Handelsware, die man gedörrt und aneinander— 
gebunden auf den Markt bringt. Am Kongo bereiten 
aus ihnen die Neger eine dicke, braune Suppe, die ſie 
außerordentlich lieben. Die Bewohner der Znſel 


— a — A — gës ee 


gunge Heuſchrecke, die für Bouillon verwendet wird, 


Madagaskar backen ſie in großen Töpfen, braten ſie 
darauf in Fett und miſchen fie mit Reis. Die Hotten- 
totten verzehren mit beſonderer Vorliebe die mit 
Eiern gefüllten Weibchen. Die Mauren Algeriens 
kochen ſie und ſalzen ſie mehr oder weniger. Der 
Afrikareiſende G. Rohlfs verſichert, daß fie in dieſer 
Zubereitung einen Geſchmack beſitzen, der an unſere 
feinſten Ragouts erinnert. Die nordafrikaniſchen Araber 
dagegen dörren ſie entweder an der Sonne, zerreiben 
ſie und verbacken ſie zu Brot, oder ſie röſten ſie auch 


2 Von Th. v. Wittembergk. 195 


in Butter, zerquetſchen ſie und miſchen ſie unter den 
Rameltäfe, wozu dann noch gelegentlich zerkleinerte 
Datteln hinzugefügt werden. Die Eingeborenen Bra— 
ſiliens braten ſie in Fett. Endlich werden ſie auch in 
Südrußland genoſſen. Die Bauern räuchern ſie hier 
wie Fiſche und eſſen ſie als Zubrot. 

Das erwähnte Urteil von Rohlfs wird in neuerer 
Zeit von dem amerikaniſchen Forſcher P. L. Simmonds 
beſtätigt. Rohen Heufchreden legt er zwar einen 


Eine griechiſche eßbare Zikadenart. 


ſtrengen, unangenehmen Geſchmack bei, dagegen be— 
richtet er, daß junge Heuſchrecken, die mehrere Stunden 
in Waſſer gekocht und gut geſalzen ſowie gepfeffert 
werden, eine ſehr wohlſchmeckende Bouillon liefern, 
die von der gewöhnlichen Fleiſchbouillon nur ſchwer 
zu unterſcheiden ſei. Ebenſo rühmt er die gebratenen 
und etwas angeſalzenen Heuſchrecken, die einen nub- 
artigen Geſchmack aufweiſen. Nach ſeiner Erfahrung 
gewöhnt man ſich ſehr ſchnell an die Heufchreden- 
ſpeiſen und vermißt ſie förmlich, wenn ſie einem nicht 
mehr zur Verfügung ſtehen. 


196 Snfetten als Nahrungsmittel. o 


Die mit den Heufchreden nahe verwandten Zikaden 
bildeten eine geſuchte Leckerei bei den alten Griechen. 
Auch die Puppen der Zikaden wurden gegeſſen, und 


Eine große eßbare Grille von Zentralafrika. 


Ariſtoteles hebt ihren ſüßen Geſchmack hervor. Die 
Eingeborenen Südamerikas ſammeln noch heute Zika— 
den körbeweiſe und braten ſie über einem gelinden 
Feuer. In Zentralafrika ſowie im öſtlichen Südafrika 


go ` Von Th. v. Wittembergk. 197 


ſind die großen Grillenarten geſchätzt, die man aus— 
gräbt und in Blätter gehüllt röſtet. 

Einen anderen Gang geben auf dem Menü der ek- 
baren Inſekten die Käferlarven ab. Bei den altrömiſchen 
Feinſchmeckern erfreute ſich eine Käferlarve großer 


„S EEE DR 
EEE 


Der Holzbockkäfer Prionus, 


Beliebtheit, die fie Coſſus nannten. Heute bezeichnet 
man mit dieſem Namen die Larve des großen Holz— 
bockkäfers Prionus, der den Obſtbäumen in hohem 
Maße gefährlich wird. Aber dieſer Holzbockkäfer ſtrömt 
einen äußerſt widerlichen Geruch aus, ſo daß ſeine Larve 
bei den Römern kaum Beifall gefunden haben dürfte. 
Es ift daher wahrſcheinlich, daß ſich, wie es auch ander- 


198 Inſekten als Nahrungsmittel. D 


weitig geſchehen ift, eine Namensverſchiebung voll- 
zogen hat und man im antiken Rom die Bezeichnung 
Coſſus einer anderen Larve beilegte, als es heute der 
Fall iſt. Unſere Naturforſcher ſind daher der Meinung, 
daß der Coſſus der alten Römer die Larve des Hirſch— 
käfers war. 

In Südfrankreich gilt unter der ländlichen Be- 
völkerung als eine 
ſehr ſchmackhafte 
Speiſe der Ver 
blanc. Dieſer Ver 
blance — Weiß 
wurm — iſt aber 
nichts anderes als 
die Larve des Mai- 
käfers, der Enger- 
ling. Ein Rezept 
für die Bereitung 
des Weißwurmes 
lautet: „Man wählt 
möglichſt kurze und 
fette Würmer aus, 
wälzt ſie in Mehl 

, und Brottrumen, 

Larve des Hirſchkäfers. ſalzt und pfeffert 

ſie und wickelt ſie in ein Stück feſtes Papier, deſſen 
Innenſeite mit Butter ausgeſtrichen ift. In dieſer 
Verpackung legt man ſie in heiße Aſche und läßt 
ſie etwa 20 Minuten ſchmoren.“ Oer Geruch der ge— 
ſchmorten Engerlinge ſoll überaus appetitreizend ſein, 
und im Geſchmack ſollen ſie die Weinbergſchnecken bei 
weitem übertreffen. Außerdem verbackt man auch 
die Weißwürmer in Eierkuchen. Vor einer Reihe von 
Jahren wurde in dem Reſtaurant Cuſtoza in Paris 


a Von Th. v. Wittembergk. 199 


ein Feſteſſen veranſtaltet, bei dem auch goldbraun 
gebackene Eierkuchen mit Weißwurmeinlage aufge- 
tragen wurden. Sämtliche fünfzig Gäſte lobten dieſe 
Mehlſpeiſe außerordentlich, und einer großen Anzahl 
gefiel ſie ſo gut, daß ſie noch eine zweite Portion 
forderte. 

In Java 
und Weſtin- 
dien verzehrt 
man die Lar- Ei 
ven des Palm- 
käfers. Man 
röſtet ſie gut 
gewürzt an 
dünnen Brat- 
ſpießen. Ihr 

Geſchmack 
wird als þer- 
vorragend be- 
zeichnet. Der 
Reifefchrift- 
Heller Leb- 
lond, der län- | 
3 = l Oer ſüdfranzöſiſche „Ver blanc“. 
union lebte, ſchreibt, daß er ſich zwar anfangs vor 
dieſem Gericht geekelt habe, nach der Überwindung 
des Abſcheus hätten ihm aber die Larven vortrefflich 
gemundet und feien fie zu einer feiner Lieblings- 
ſpeiſen geworden. l 

an China werden von der ärmeren Bevölkerung 
die Puppen des Seidenſpinners viel gegeſſen. Natür- 
lich iſt vorher das wertvolle Seidengeſpinſt entfernt 
worden. In den Straßen der chineſiſchen Städte 


200 Inſekten als Nahrungsmittel. 2 


ziehen Händler umher, die das Pfund Puppen für 
40 bis 45 Pfennig anbieten. 

3n Mexiko, Texas und Kolorado ift die Honig- 
ameiſe heimiſch. Einzelne Tiere des Neſtes, die fo- 
genannten Ammen, werden von den Arbeitern ſo 
reich mit Blütenhonig verſorgt, daß ihr Leib kugelrund 
anſchwillt und größer als eine Erbſe wird. Die Ammen 
hängen faſt unbeweglich an der Oecke der unterirdiſchen 


Der auſtraliſche Bugongſchmetterling. 


Vorratskammern, und die Arbeiter, Männchen und 
Weibchen, entziehen ihnen zur Stillung des Hungers 
den aufgeſpeicherten Honig. Die Mexikaner nennen 
daher auch dieſe Ammen der Honigameiſe „Honig- 
töpfe“ und machen ſich die Honiganſammlung ſelbſt 
zunutze, indem ſie die mit Honig angefüllten Leiber 
verzehren. Man verkauft dieſe „Ammen“ in Mexiko 
maßweiſe. 

Endlich gehört ſogar auch ein Schmetterling zu 
den eßbaren Inſekten. Es ift dies der auſtraliſche 


0 Von Th. v. Wittembergk. | 201 


Bugong. Der Schmetterling erſcheint im Frühjahr 
an den Abhängen der Bugong Mountains in großen 
Schwärmen und läßt ſich während der Nacht auf den 
Bäumen nieder. Unter den Bäumen zünden nun die 
Eingeborenen große Feuer an, deren Rauch die fchlafen- 
den Schmetterlinge betäubt, ſo daß ſie herabfallen. 
Man ſammelt die Tiere und ſchiebt ſie auf dem heißen 
Boden ſo lange hin und her, bis die Beine, Flügel 
und Fühler abgeſengt ſind. Darauf zerſtößt man die 
Leiber in hölzernen Gefäßen zu einem Teig, aus dem 
man kleine Kuchen backt. 


— 
* 


EEN 


Mannigfaltiges. 


v 


(adden verboten.) 

Eine merkwürdige Liebesgeſchichte. — Anfang der fieb- 
ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts machte in Petersburg 
ein junger Gardeleutnant, Graf Lichatſchew, viel von ſich reden 
durch ſeine tollen Streiche, bei deren Durchführung er, ohne 
jemals roh oder unfein zu werden, geradezu eine gewiſſe 
Genialität entwickelte. Lichatſchew hatte als einziges Kind 
von ſeinen frühverſtorbenen Eltern nicht weniger als zwanzig 
Millionen Rubel Bargeld und noch dazu ein ungeheures Ma- 
jorat, gegen hunderttauſend Morgen, geerbt. Der Dezember- 
tag, an dem er ſein Leutnantspatent erhielt, geſtaltete ſich zu 
einem nie wieder geſehenen Feſttag für die Armen der ruſſiſchen 
Hauptſtadt. Lichatſchew fuhr nämlich in ſeinem Schlitten zwei 
Stunden lang durch die Straßen der Vorſtädte und warf aus 
einem neben ihm ſtehenden, mit Rubelſtücken gefüllten Sack 
fortwährend Geld unter die Leute. Der Scherz koſtete ihm 
eine Viertelmillion, leider aber auch zwölf Menſchen das Leben. 
Oenn die meiſten der ſo unverhofft beſchenkten Leute hatten 
das Geld ſchleunigſt in Spirituoſen umgeſetzt, und zwar ſo 
nachhaltig, daß ein Dutzend der ſinnlos Trunkenen in der 
folgenden Nacht auf der Straße erfror. Daraufhin wurde 
dem jungen Offizier von der Polizei jede weitere Freigebigkeit 
dieſer Art aufs ſtrengſte verboten. 

Vier Fahre ſpäter, 1875, wollte die ebenſo vielgefeierte 
wie liebreizende Wiener Operettenfängerin Jda Mölmer am 
Alexandratheater in Petersburg ein längeres Gaſtſpiel ab- 
folvieren. Bei ihrem Eintreffen in der ruſſiſchen Hauptſtadt 
fand ſie ihr Hotelzimmer mit einer Fülle koſtbarer Blumen 


u Mannigfaltiges. 203 


überreich geſchmückt. Zunächſt war ihre Freude über dieſe 
ſinnige Aufmerkſamkeit groß. Als fie aber erfuhr, daß Liha- 
tſchew, derſelbe Lichatſchew, der auch wegen ſeiner galanten 
Abenteuer bereits berüchtigt war, der Spender des Blüten- 
flores ſei, mochte ſie fürchten, es könnte ihrem Rufe ſchaden, 
wenn fie derartig koſtſpielige Aufmerkſamkeiten des ihr bisher per- 
fönlich nicht bekannten jungen Millionärs annähme, und ließ da- 
her die ganze Blumenpracht kurzerhand hinausſchaffen, ebenſo 
wie ſie es auch ablehnte, den galanten Gardeleutnant, der ſich 
bald darauf bei ihr anmeldete, zu empfangen. Lichatſchew, 
der ſich in die Photographien der Mölmer, die der Reklame 
wegen ſeit Wochen in vielen Schaufenſtern hingen, verliebt 
hatte, war infolge dieſer Abweiſung äußerſt aufgebracht und 
ſchwur der Künſtlerin im erſten Arger bittere Rache. 

Als nach drei Tagen die erſte der Gaſtſpielvorſtellungen 
ſtattfinden ſollte, hatte Lichatſchew ſchon vorher ſämtliche Karten 
aufkaufen laſſen, ſo daß der verwöhnte Operettenſtar vor einem 
ſo gut wie leeren Hauſe — außer ſechs Zeitungskritikern und 
vier Polizeibeamten auf Freiplätzen befanden ſich nur noch drei 
Gardeoffiziere in der großen Wittelloge — ſpielen mußte. 
Zunächſt weigerte die Mölmer fih energiſch, vor dieſem Audi- 
torium überhaupt aufzutreten. Aber der Direktor pochte auf 
ſein Recht und meinte, der Künſtlerin könne es gleichgültig 
ſein, wieviel Publikum vorhanden wäre, wenn ſie nur ihre 
ausbedungene Gage erhielte. 

Die Aufführung begann alfo. Der Beifall war ſtark, trog- 
dem ſich nur ſechsundzwanzig Männerhände dazu rührten. 
Nach dem letzten Fallen des Vorhangs erhielt die Mölmer 
einige wunderſchöne dunkelrote Rofen in ihre Garderobe ge- 
ſchickt mit einer Karte, auf der unter dem Namen Lichatſchew 
nur die Worte ſtanden: „Zest, wo ich Sie von Angeſicht zu 
Angeſicht geſehen habe, flehe ich Sie an: Verzeihen Sie mir!“ 
Damit hatte der abgewieſene Gardeleutnant fich ſelbſt als den 
Urheber dieſer „Theaterleere“ bekannt. 

Aber die zierliche Wienerin, die ſchon während der Vor— 
ſtellung vor innerer Empörung über dieſen Streich halbkrank 
geworden war, zertrat die Rofen mit den Füßen und riß 


204 Mannigfaltiges. l o 


Lichatſchews Karte in kleine Stückchen. Das war ihre einzige 
Antwort. 

Mit Bangen ſah ſie dem folgenden Tage entgegen. Sie 
fürchtete, daß ſie wieder das zweifelhafte Vergnügen haben 
würde, vor leerem Haufe zu ſpielen. Ihre Beſorgnis war aber 
umſonſt. Das Theater zeigte ſich bis auf den letzten Platz 
gefüllt. Auffallenderweiſe herrſchte jedoch im Zuſchauerraum, 
ſchon bevor der Vorhang hochging, eine Heiterkeit, die ſich immer 
wieder in lauten Lachfalven Bahn brach, und für die die Schau- 
ſpieler hinter dem Vorhang zunächſt keine rechte Erklärung 
fanden. Endlich wurde man gewahr, welche Urſache dieſe auf- 
fällige Fröhlichkeit hatte. Lichatſchew, von dem wieder fämt- 
liche Karten aufgekauft worden waren, hatte die Plätze auf 
der rechten Seite des Theaters ausſchließlich an — Kahlköpfe 
verſchenkt, ſo daß dieſes Meer von im Lichterſchein ſtrahlenden 
Glatzen einen geradezu überwältigend komiſchen Eindruck machte. 

Die Aufführung verlief im übrigen ohne Störung, abgeſehen 
von einigen ſchlechtverhehlten Heiterkeitsausbrüchen, die die 
Darſteller ſelbſt auf offener Szene beim Anblick der „haar- 
loſen“ rechten Theaterſeite nicht unterdrücken konnten. Ida 
Mölmer, die ihre durch dieſen neuen Racheakt nur zu febr 
verärgerte Stimmung meiſterlich zu verbergen wußte, erntete 
wahre Beifallsſtürme, an denen ſich auch die drei Gardeoffiziere 
in der Mittelloge eifrigſt beteiligten. 

Am folgenden Vormittag ſchickte Lichatſchew der Operetten- 
diva zuſammen mit einem wunderbaren Roſenſtrauß einen 
Brief, in dem er um die Gewährung einer kurzen Unterredung 
bat. Unterzeichnet war das Schreiben mit: „Ein reuiger 
Sünder.“ Die Künſtlerin warf dem Boten Brief und Blumen 

einfach vor die Füße. 
) Der dritte Gaſtſpielabend war da. Nicht ohne Herzklopfen 
begab ſich die feſche Wienerin in das Theater. Wußte ſie doch 
nicht, welch neue Tücke ihr unberechenbarer Feind inzwiſchen 
wieder ausgebrütet hatte. Doch dieſes Mal ereignete ſich nichts. 
Der Muſentempel war von einem normalen Publikum bis 
auf den letzten Galerieplatz beſetzt, und die ſchöne Mölmer 
ſpielte daher mit ſo übermütigem Schneid und ſo dezenter 


u Mannigfaltiges. 205 


Rotetterie, daß fie nach dem letzten Aktſchluß immer wieder vor 
dem Vorhang erſcheinen mußte. Auffallenderweiſe fehlten 
heute die drei Gardeoffiziere in der Mittelloge. Als die Vor- 
ſtellung beendet war, verließ die Operettendiva durch den 
Seiteneingang das Theater und betrat die Straße, wo bereits 
der für ſie beſtellte Wagen wartete. Die Mölmer und ihre 
Kammerfrau waren jedoch nicht gerade angenehm überraſcht, 
daß man ihnen ein offenes Gefährt geſchickt hatte. Es war 
bereits herbſtlich kühl, und die Sängerin fürchtete ſich zu er- 
kälten. Als ſie noch zauderte einzuſteigen, wies der Kutſcher 
ſtumm auf zwei koſtbare Pelzmäntel, die auf den Wagenkiſſen 
lagen, und half den beiden Damen dann auch galant in die 
ſchützenden Hüllen. 

In beſter Laune und wahrhaft erfriſcht von der Fahrt 
langten Ida Mölmer und ihre Begleiterin vor ihrem Hotel 
an. Aber kaum waren ſie ausgeſtiegen, als der Kutſcher auch 
ſchon auf die Pferde lospeitſchte und davonjagte, ſo daß die 
Damen gezwungen waren, die Pelze mit in ihre Zimmer 
hinaufzunehmen. Zn der Taſche desjenigen, den die Künſtlerin 
getragen hatte, fand ſie dann einen Brief, in dem Lichatſchew 
ſich ihr als den Roſſelenker zu erkennen gab, abermals ihre 
Verzeihung anflehte und die Diva bat, den Hermelinpelz als 
Zeichen ihrer verſöhnlichen Stimmung gütigſt behalten zu 
wollen. Am nächſten Morgen ſchickte Jda Mölmer die beiden 
Pelze in das Palais des Grafen zurück — ohne jede Zeile. 

Lichatſchew, der inzwiſchen ſein Herz an die feſche Wienerin 
vollſtändig verloren hatte, ſah jetzt endlich ein, daß er der 
Künſtlerin gegenüber bisher eine falſche Taktik verfolgt hatte, 
und verſuchte nun drei Tage hintereinander auf jede nur mög- 
liche Weiſe ihre Bekanntſchaft zu machen oder fie doch wenig- 
ſtens zu verſöhnen. Die Mölmer blieb unerbittlich. Alle Briefe, 
die ihr, oft auf die raffinierteſte Art, in die Hände geſpielt 
wurden, blieben ungeleſen, ſobald ſie erkannte, daß ſie von 
dem jungen Grafen herrührten. 

Da nahm dieſer zu einer neuen Lift feine Zuflucht. Er 
hatte eines Tages erfahren, daß die Diva eine Ausfahrt in 
die Umgebung von Petersburg machen wollte, und wußte es 


206 Mannigfaltiges. o 


nun durch Beſtechung des Hotelperfonals fo einzurichten, daß 
man ihn ihr als angeblichen Fremdenführer empfahl. Seine 
Hoffnung, die Sängerin würde in ihm nicht jenen galanten 
Kutſcher wiedererkennen, erfüllte ſich wirklich. Ahnungslos 
nahm die Mölmer den ſchlicht gekleideten Grafen als Be— 
gleiter an. ) 

Bei der einen gemeinfamen Spazierfahrt blieb es nicht. 
Der vielſeitig gebildete Fremdenführer, der das Deutſche und 
Franzöſiſche ebenſo fließend wie ſeine Mutterſprache beherrſchte, 
geleitete die Künſtlerin in die Muſeen und Kirchen und ver- 
ſchaffte ihr auch Zutritt zu den Zarenſchlöſſern, die ſonſt dem 
Publikum verſchloſſen blieben. Um die Mölmer aber nicht 
ſchließlich doch argwöhniſch zu machen, ſchrieb Lichatſchew in- 
zwiſchen immer wieder flehende Briefe an ſie, und die Sängerin 
ahnte tatſächlich bis zuletzt nichts von dem wahren Sachverhalt. 

Dieſer bisher ſo romantiſche Liebesroman fand ſchließlich 
einen Abſchluß, wie er kommen mußte: Zda Mölmer verliebte 
ſich in ihren liebenswürdigen Begleiter, ſo daß dieſer es wagen 
konnte, ſich ihr nach Verlauf von kaum zwei Wochen zu er- 
kennen zu geben und in aller Form um ihre Hand anzuhalten, 
die ihm auch nicht verweigert wurde. 

Ani 2. Februar 1876 wurde in Petersburg die Hochzeit des 
jungen Paares mit größtem Prunke gefeiert. Die Gräfin 
Lichatſchew hat bis zu ihrem Tode in der Petersburger Hof- 
geſellſchaft eine bedeutende Rolle geſpielt. Sie überlebte ihren 
Gatten nur um wenige Monate. Die Ehe der beiden galt 
überall als geradezu muſtergültig. W. K. 

Arktiſche Reizbarkeit. — Die Tropen erzeugen mit ihrer 
entnervenden Hitze unter beſtimmten Bedingungen jenen Bu- 
ſtand, deſſen Geſamterſcheinungen man unter dem Namen 
„Tropenkoller“ zuſammenfaßt, und der ſich einmal in völligem 
Verſagen des moraliſchen Verantwortlichkeitsgefühls, dann aber 
auch in einer oft lächerlichen Selbſtüberſchätzung äußert, Er- 
ſcheinungen, die den Betreffenden völlig ungeeignet zu weiterer 
Verwendung in der heißen Zone machen. 

Aber auch die Gebiete des ewigen Eiſes beſitzen in der ſo— 
genannten „arktiſchen Reizbarkeit“ eine oft recht gefährliche 


a Mannigfaltiges. 207 


Gemüũtskrankheit. Faft ſämtliche Nordpolfahrer berichten über 
diefe furchtbare Geißel, die in dem eisſtarrenden Halbdunkel 
der Polarländer nur zu leicht heraufbeſchworen wird. Höchſt 
wahrſcheinlich ſind die Zerwürfniſſe auf der Südpolexpedition 
des Oberleutnants Filchner ebenfalls auf „arktiſche Reizbar- 
keit“ zurückzuführen. 

Es handelt ſich um einen Zuſtand krankhafter Erregbarkeit, 
der ſich häufig bis zu förmlichen Wutanfällen, ja ſelbſt bis zum 
Wahnſinn ſteigert. Als Urſachen der Erkrankung hat man 
hauptſächlich die völlig veränderte Lebensweiſe an Bord der 
Expeditionsſchiffe und das Bedrückende des Polarlandichafts- 
bildes mit ſeiner ſchaurigen Stille und Eintönigkeit zu betrachten. 
Gegen dieſe „arktiſche Reizbarkeit“ gibt es nur ein Mittel: 
ſtete Arbeit und Zerſtreuungen. 

Man leſe in Nanſens „In Nacht und Eis“ nach, durch wie 
verſchiedenartige Mittel der kühne Forſcher immer wieder den 
Geiſt ſeiner Gefährten zu beeinfluſſen, ſie zu erheitern ſuchte, 
alles nur, um das Geſpenſt der nervöſen Gereiztheit von Bord 
der „Fram“ zu bannen. Nanſen glückte dies. Andere Leiter von 
Nordpolexpeditionen, die fih für den Seelenzuſtand ihrer Mann- 
ſchaft weniger beſorgt zeigten, wiſſen von wilden Schreckenſzenen 
zu erzählen, die aus der nichtigſten Veranlaſſung entſtanden. 

So entwickelte ſich im Mai des Jahres 1832 an Bord 
der vom Eiſe eingeſchloſſenen „Victory“, mit der der Engländer 
gohn Roß den magnetiſchen Nordpol entdeckte, eine Schlägerei 
zwiſchen den Expeditionsteilnehmern, bei der drei Leute den Tod 
fanden. Und die Urſache? Der Matroſe Booth war auf Deck 
ausgeglitten, über die Reling in einen Schneehaufen gefallen 
und darob von feinen Kameraden ausgelacht worden. Wut- 
ſchnaubend ergriff er eine Walfiſchharpune und ſtieß fie dem 
Nächſtſtehenden in den Leib. Schnell bildeten ſich zwei Par- 
teien, und wenige Minuten ſpäter gab es drei Tote an Bord. 

Ahnliche Vorfälle haben ſich bei allen Polarexpeditionen 
abgeſpielt. Am ſchrecklichſten aber erging es den Leuten des 
Robbenfängers „King Edward“, der 1897/98 ſieben Monate 
lang an der grönländiſchen Küſte im Eiſe lag. Das Schiff war 
reich verproviantiert, und die Mannſchaft lebte herrlich und 


208 Mannigfaltiges. a 


in Freuden. Der Kapitän, ein Trunkenbold, kümmerte ſich um 
nichts, ſondern ließ jeden nach Belieben ſchalten und walten. 
Durch die fpätere Verhandlung vor dem Londoner See- 
gericht wurden nun die folgenden grauenhaften Vorgänge 
feſtgeſtellt. Am A. Dezember 1897 brach in der Mannſchafts- 
kajüte beim Kartenſpiel Streit aus, der jedoch durch den Steuer- 
mann beigelegt wurde. Trotzdem begab ſich der anſcheinend 
wieder völlig ruhig gewordene Matroſe Perkins in ſeine Koje, 
holte ſich einen Revolver und ſchoß den Steuermann, den 
Schiffsjungen und den Koch kaltblütig über den Haufen. Die 
beiden erſteren ſtarben noch an demſelben Tage, der Koch, der 
nur an der Schulter verletzt war, genas nach längerem Kranken- 
lager. Der Attentäter wurde in Eiſen gelegt. Zwei Tage 
darauf ſchlug ein anderer Matroſe dem Kapitän mit einer 
Eifenftange über den Kopf, weil er angeblich eine zu kleine 
Portion Tabak erhalten hatte, und entfloh dann in die Eis- 
wüfte hinein. Er wurde trotz eifrigen Suchens nicht wieder 
aufgefunden. Am Weihnachtsabend beſchuldigte der Boots- 
mann, ein Oeutſcher, einen Matroſen, abſichtlich ein Licht 
ſeines kleinen, aus Beſenreiſern hergeſtellten Tannenbäumchens 
ausgelöſcht zu haben. Der Matroſe griff, ohne ein Wort zu 
fagen, zum Meſſer und ſtieß es dem Deutſchen ins Herz. 
Kurz bevor der „King Edward“ dann vom Eiſe freikam, 
brach bei dem inzwiſchen wiederhergeſtellten Schiffskoch der 
Wahnſinn aus: er verſuchte das Fahrzeug in Brand zu ſtecken 
und mußte, da er in Tobſucht verfiel, in einer kleinen Kabine 
gefeſſelt mit nach der Heimat genommen werden. Als der 
Walfiſchfänger in London im Zuni 1898 eintraf, führte er als 
Beſatzung außer dem Kapitän nur noch drei geſunde Leute. 
Das Seegericht nahm eine ſtrenge Unterſuchung vor. Die 
beiden Mörder wurden jedoch freigeſprochen, da der Verteidiger 
geltend machte, die bisher unbeſtraften Angeklagten hätten im 
Wahnſinn die Verbrechen verübt: arktiſche Reizbarkeit. Dem 
Kapitän aber entzog man das Patent als Schiffsführer mit der 
Begründung, es ſei ſeine Pflicht geweſen, ſich auch um die 
ſeeliſche Verfaſſung feiner Leute zu bekümmern, und dies habe 
er in ſträflichſter Weiſe vernachläſſigt. W. K. 


o Mannigfaltiges. 209 
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Beſſeres Tageslicht 
in den Zimmern. — Wir 
wiſſen alle, daß es uns 
in vielen Räumen, be- 
ſonders bei trübem Wet- 
ter, an genügendem Sa: 
geslicht fehlt. Tauſende 
und aber Tauſende von 
Menſchen haben darun- 
ter zu leiden. Oieſe 
Tatſache ift darauf au- 
rückzuführen, daß die 
Räume meiſt nur ſpitz⸗ 
winkliges, im günftigften 
Falle nur rechtwinkliges 
oder wagrechtes, dafür 
aber aus weiterer Ferne 
tommendes Tageslicht 


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Fig. 1. 


erhalten, das dann auch 
noch auf feinem Wege in 
die Räume durch Mauer- 
werk, ſowie durch Glas 
und Rahmen der Fenſter 
ſelbſt erhebliche Abſchwä⸗ 
chungen erfährt, während 
ein weiterer Teil durch 
innere Einrichtungen ab- 
ſorbiert wird. So be- 
trägt die Abſchwächung 
des Tageslichtes durch 
das Glas allein je nach 
der Glasart 8 bis 25 Pro- 
zent. Die Folge dieſer 
Erſcheinungen, die wohl 
den wenigſten bekannt 
ſind, iſt entweder Arbeit 
14 


210 Mannigfaltiges. o 


bei halbem Tageslicht oder die Zuhilfenahme des künſtlichen Lich 
tes. Wir wollen auf die ſchädlichen Einwirkungen dieſer beiden 
Tatſachen, die gar vielartig ſind, hier nicht näher eingehen. 

Es ſind nun jetzt patentamtlich geſchützte Lichtgläſer zur 
Übertragung von Tageslicht in die Räume in den Handel ge- 
bracht worden, die alle Übelftände mit einem Schlage beſeitigen. 
Durch einfachſte Anbringung der Lichtgläſer an den Fenſtern, 
dort, wo fie das Tageslicht direkt aufnehmen können, über- 
mitteln ſie den Räumen eine Fülle von Licht, die jene wie 
in volles Tageslicht getaucht erſcheinen laſſen, und beſonders 
bei trübem Wetter iſt die Wirkung eine wunderbare. Die 
Lichtgläſer, hergeſtellt von der Deutſchen Lichtglasgeſellſchaft 
m. b. H. zu Leipzig, Sidonienſtraße 16, ſind das Produkt einer 
langjährigen genaueſten und ſorgfältigſten Beobachtung und 
ſchaffen durch die ſtarke Lichtabgabe eine bedeutend beſſere 
Ausnützung des Raumes beim Zimmerbau. Unbrauchbare 
Räume werden durch ſie verwertbar gemacht, und es werden 
Stoffe, Bilder und ſo weiter vor dem Verderben oder doch vor 
dem Verbleichen geſchützt. Es werden weiter erhebliche Koſten 
für frühzeitige künſtliche Beleuchtung geſpart. Bei ſteilem 
Lichteinfall, wie in engen Straßen und Höfen vorkommend, 
leiſten die Lichtgläſer ebenfalls Vorzügliches. Sie werden dann 
als Markiſen verſtellbar vor den Fenſtern angebracht und er- 
leuchten ſo jeden Raum mit dem Vorteil, die Lichtſtrahlen 
beliebig leiten zu können. 

Kurz zuſammengefaßt, beſtehen die Vorzüge der neuen 
Erfindung in größerer und erleichterter Lichtaufnahme, fowie 
in leichter Lichtdurchdringung und damit in größerer Licht- 
weitergabe gegenüber den Gläſern mit ebener oder gerundeter 
Rückfläche oder mit gewellten Prismen, ferner in der Ber- 
ſendung völlig weißen, klaren und ruhigen Lichtes ohne jede 
Beimiſchung von Schatten oder Abſchwächungen und zuletzt 
in weiteſter Verteilung des Lichtes in dem Raume bei gleicher 
Nahbelichtung. Unſere Abbildung Fig. 1 zeigt uns ein Zimmer 
bei geöffnetem Fenſter ohne Lichtgläſer, in Abbildung Fig. 2 
ſehen wir dasſelbe Zimmer bei geſchloſſenem Fenſter mit Lidt- 
gläſern. | H. Herzberg. 


a Mannigfaltiges. 211 


* 


Schlachtandenken. — Als Mr. Crumping aus London das 
Muſeum in Waterloo beſuchte, hätte er gar zu gern etwas 
mitgehen heißen; aber alles, was da vorhanden war als Zeugnis 
der Schlacht, Waffen, Orden, Helme, Kugeln, Sporen, Steig- 
bügel und ſogar Totenſchädel und vieles andere — alles war 
gut verſchloſſen und gut bewacht. 

So mußte denn Crumping ohne ein Andenken das Muſeum 
verlaſſen, das ſeinerzeit vom Wachtmeiſter Cotton, einem Mit- 
kämpfer von Waterloo, ins Leben gerufen worden war. 

Nun vielleicht glückte es ihm, auf dem Schlachtfelde ſelbſt 
etwas zu finden, das er ſeiner Sammlung von allerlei Raritäten 
einverleiben konnte. Er fuhr alſo nach Mont Saint Jean, um 
ſich einen Führer über das Schlachtfeld zu ſuchen. Man wies 
ihn zum Hauſe des alten Corbeil. Dieſer empfing den Fremden 
mit einer gewiſſen Würde und begab ſich ſofort mit ihm auf 
das Schlachtfeld. 

Zunächſt betraten die beiden das hügelige Gelände ſüdlich 
von Mont Saint Jean, auf dem die engliſche Armee geſtanden 
hatte. Der Führer zeigte die einzelnen Punkte, um die befon- 
ders heiße Kämpfe getobt hatten: das Vorwerk, die Farm 
La Haye und den Kirchhof von Planchenois. Dann beftiegen 
ſie den Hügel von Roſſomme, auf dem eine Windmühle ſteht. 

„Hier vor dieſer Windmühle,“ rief Corbeil mit Nachdruck, 
„hielt ſich Napoleon während des größten Teils der Schlacht 
auf. Sehen Sie, mein Herr, dort drüben am Saum des Waldes 
von Soignes beobachtete der Herzog von Wellington die Schlacht, 
und dort rechts kamen die erſten Preußen an.“ 

„Hielt ſich Napoleon auch hier in der Mühle auf?“ fragte 
Crumping. 

„Natürlich, mein Herr,“ war die Antwort. „Er weilte 
längere Zeit darin.“ ' 

Crumping betrat jetzt, von Corbeil gefolgt und vom Müller 
freundlich empfangen, die Windmühle. Im Hauptraum ent- 
deckte er unter einem Nagel eine kleine Tafel an der Wand, 
die beſagte: „An dieſem Nagel hängte Napoleon in der Schlacht 
bei Waterloo ſeinen Hut auf.“ Crumping wurde vor Erregung 
ganz rot, denn der roſtige Nagel da in der Wand hatte es 


212 Mannigfaltiges. o 


ihm fofort angetan. Er fragte, ob er ben Nagel nicht betom- 
men könne, und bot vorfichtig erft zwanzig Franken. 

Der Müller wollte ſich von der Reliquie, die an den großen 
Kaiſer erinnerte, nicht trennen, doch als der Engländer erſt 
vierzig, dann fünfzig Franken bot, zog er ſeufzend den Nagel 
heraus und überreichte ihn Crumping, der ihn ſorgſam in der 
Brieftaſche barg. 

Recht zufrieden trat er mit feinem Begleiter den Rüd- 
weg an. | 

„Wollen Sie, mein Herr, vielleicht einmal meine Andenken 
ſehen?“ fragte der alte Corbeil. 

Crumping ging gern darauf ein, und ſo traten ſie in die 
behagliche Wohnung des Führers. 

Sofort fiel Crumpings Blick auf ein Geſtell, auf dem eine 
Anzahl Kriegsandenken lagen: eine abgeplattete Kugel, Sporen, 
Säbel, Schärpen und dergleichen. Der Sammeltrieb regte ſich 

ſogleich, und Crumping fragte, ob Corbeil etwas davon verkaufe. 
i Dieſer trennte fih nur febr ſchwer von feinen Andenken, 
doch endlich ließ er fidh dazu herbei, die Kugel und die Schärpe 
eines Offiziers für fünfzig Franken abzulaſſen. 

Crumping beſtieg dann ſeinen Wagen und kehrte nach 
Brüſſel zurück, ſehr befriedigt über ſeine guten Käufe. Er 
gedachte ſchon feiner Freunde in London und was die für 
Augen machen würden. — 

Einige Tage ſpäter trat der alte Corbeil in die Windmühle 
auf dem Hügel von Roſſomme. Er begrüßte den Müller und 
ſagte: „Nun wollen wir einmal abrechnen. Drei Fremde waren 
es dieſe Woche, einer zu fünfzig, einer zu dreißig und einer 
zu fünfundzwanzig Franken. Macht hundertfünf Franken, und 
ich bekomme alſo fünfunddreißig.“ 

„Schweres Geld!“ ſeufzte der Müller, indem er ihm den 
Betrag zahlte. „Daß ich immer ein volles Drittel abgebe 
muß! Ein Viertel tät's auch!“ l | 

„Nur zufrieden, Gevatter!“ rief Corbeil. „Habt Euren 
Wohlſtand ja nur dem Nagel zu verdanken! Stets führe ich 
die Fremden her, die den Nagel dann kaufen, und Ihr be- 
haltet zwei Drittel!“ 


o Mannigfaltiges. 213 


Er zeigte alsbald auf die kleine Tafel, unter der bereits 
wieder ein anderer roſtiger Nagel prangte. 

„Na — und Ihr? Eure ſauberen Kriegsandenken tragen 
wohl nichts?“ 

„Mit Euch iſt nicht zu reden!“ polterte Corbeil ärgerlich 
und ging. Am nächſten Tage jedoch erſchien er ganz friedlich 
wieder und brachte einen Fremden mit, der dreißig Franken 
für den Nagel anlegte, an dem Napoleon feinen Hut auf- 
gehängt hatte. — — 

Mr. Crumping hatte einige Freunde eingeladen. „Ich 
habe Ihnen,“ ſagte er ſtolz, „einige hübſche Sachen gezeigt, 
die ich von der Reife mitgebracht habe. Nun aber bitte ich 
um Ihre beſondere Aufmerkſamkeit.“ 

Er führte die Gäſte in ein anderes Zimmer. Hier lagen 
auf einem Kiſſen unter einem Glasſturz drei Gegenſtände. 

„Vom Schlachtfelde von Waterloo!“ ſagte Crumping feier- 
lich. „Hier die Schärpe eines franzöſiſchen Generals, hier eine 
Kugel, die am Panzer eines preußiſchen Küraſſiers abgeplattet 
wurde, und hier,“ fuhr er fort, während feine Freunde epr- 
fürchtig lauſchten, „und nun hier dieſer einfache roſtige Nagel. 
Er ift aus der Windmühle vom Hügel von Roſſomme, auf dem 
Napoleon die Schlacht leitete. — An dieſem Nagel,“ ſchloß 
Crumping mit Nachdruck, „an dieſem Nagel hat der größte 
Feldherr aller Zeiten ſeinen Hut aufgehängt!“ 

Mit tiefem Ernſt blickten alle auf das unſcheinbare Stüd- 
chen Eiſen. A. Thiele. 

Hinrichtung eines ſpaniſchen Granden im 15. Jahrhundert. 
— Ein böhmifcher Edelmann, Gafet v. Mezyhor, hatte mit feinen 
Gefährten im Jahre 1466 Gelegenheit, in der kaſtilianiſchen 
Stadt Olmedo der Hinrichtung eines Granden beizuwohnen, 
der wegen Teilnahme an einer Verſchwörung gegen König 
Heinrich von Kaſtilien zum Tode verurteilt war. Saſek ſchildert 
dieſe Hinrichtung in feinem auf uns überkommenen Reifetage- 
buche. 

Der verurteilte Hochverräter wurde in einem reichen, gold- 
geſtickten Purpurgewande auf einen freien Platz geführt, auf 
dem ſich bereits eine anſehnliche Volksmenge verſammelt hatte, 


214 Mannigfaltiges. D 


und dort an einen Pfahl gebunden. Ihm gegenüber poſtierten 
ſich zahlreiche Männer, Jäger und Bogenſchützen, die nun mit 
Pfeilen nach dem Verurteilten zu ſchießen begannen. Ihr 
Ziel waren zunächſt nur die Körperteile des Opfers, deren 
Verwundung nicht gleich töten konnte, alſo hauptſächlich Arme 
und Beine. Zeder Fehlſchuß mußte mit zwanzig Realen ge- 
büßt werden, wogegen jeder geſchickte Treffer einen Preis 
von zwanzig Realen abwarf. 

Als der dieſe grauſame Hinrichtung befehligende Richter 
es für angebracht hielt, trat der geſchickteſte Schütze vor und 
tötete mit einem Herzſchuß das entſetzlich leidende Opfer. 

Der über eine ſolche Art der Hinrichtung ſehr verwunderte 
Böhme wurde belehrt, daß dieſe Art der Todesſtrafe allgemein 
üblich ſei, daß die Teilnahme an der Vollſtreckung des Urteils 
nicht nur niemand zur Schande, ſondern den Gewinnern der 
Preiſe ſogar zur hohen Ehre gereiche. 

Und dann kam das Wunderlichſte der ganzen widerwärtigen 
Szene: im Angeſicht der noch an die Säule gefeſſelten Leiche 
ſetzte man ſich an rohgezimmerten Tiſchen nieder, Muſikanten 
begannen aufzuſpielen, und die vergnügten Schützen ver- 
tranken gemeinſchaftlich die zahlreich eingegangenen Straf- 
gelder. O. Th. St. 

Gute Verdauung. — Wie oft hören wir darüber ſprechen, 
ob „Pflanzenkoſt“ oder „Fleiſchkoſt“ vorzuziehen ſei. Mit 
dieſer Frage aber find eine ganze Reihe anderer Fragen ver- 
knüpft, von denen jede für ſich größeres Intereſſe beanſprucht 
als gerade dieſe. i 

Was find das für Fragen? 

Wenn wir über die Frage der richtigen Ernährung ſchlüſſig 
werden wollen, müſſen wir dabei folgende Faktoren berüd- 
ſichtigen. Zunächſt, und das ift das allerwichtigſte, die Ber- 
hältniſſe, unter denen wir dem Körper Nahrung zuführen; 
zweitens der Zuſtand, in dem ſich der Magen und die Därme 
befinden, denen die Nahrung zugeführt wird; in dritter Linie 
erſt die Art der Nahrung ſelbſt. 

Es mag auffallend erſcheinen, daß die Verhältniſſe, unter 
denen man Nahrung einnimmt, wichtiger ſein ſollen als die 


WW: Mannigfaltiges. 215 


Art der Nahrung ſelbſt. Daß dem aber fo ift, wird durch viel- 
fache Verſuche bewieſen. Eine Mahlzeit, die man zu ſich 
nimmt, wenn man ſehr ermüdet oder febr aufgeregt oder ſehr 
ärgerlich iſt, kann ebenſowenig verdaut werden wie eine, die 
in zu großer Haſt gegeſſen wird. Ebenſo iſt die Angewohnheit, 
unmittelbar nach dem Effen wieder zu arbeiten, überaus ſchaͤd⸗ 
lich. Darunter muß zweierlei leiden: die Arbeit und die Ber- 
dauung. Und dabei iſt es ganz gleich, ob es ſich um geiſtige 
oder körperliche Arbeit handelt. Wo gearbeitet wird, gleich- 
viel ob im Gehirn oder im Magen, oder mit den Armen und 
Beinen, muß Blut vorhanden ſein, und das Blut kann nicht 
zu gleicher Zeit im Magen und in den Muskeln fein, Ein plöß- 
licher heftiger Schreck während des Eſſens erregt oft Ekel 
oder Erbrechen. Manche Leute können ſogar nicht einmal 
das Eſſen verdauen, das ſie in einem lebhaften Reſtaurant 
zu ſich genommen haben. 

Es ließe ſich noch vieles andere anführen, das beweiſen 
würde, daß der Magen ein ſehr empfindliches Organ iſt, das 
unverzüglich auf die geringſte Veränderung des Befindens 
und der Stimmung antwortet. 

Von den vielerlei Umſtänden, die einer guten Verdauung 
nachteilig ſind, iſt aber der allerſchädlichſte das Studium einer 
höchſt wichtigen Perſon, des eigenen Ichs, und diätetiſche Experi- 
mente, die man an derſelben fo ſchwer leidenden Perſon vor- 
nimmt. Die hartnäckigſten Fälle von „Magenverſtimmung“, 
gegen die keine Behandlung einſchlagen will, werden nicht 
etwa durch ſchlechtes Eſſen oder durch zu reichliche oder durch 
zu knappe Nahrung veranlaßt, ſondern durch übel angebrachte 
Beſtrebungen des Patienten, die Nahrungsfrage durch Ver- 
ſuche an ſeinem eigenen Körper zu löſen. Wer viel an ſeine 
Verdauung denkt, wird bald an Verdauungsſtörungen leiden. 

„Iſt dieſes Gericht für mich ſchädlich?“ fragte einſt ein 
Saft feinen Tiſchnachbarn, einen berühmten Arzt. 

Ohne hinzuſehen, antwortete dieſer mit einem kurzen „Ja“. 

„Aber Sie haben ja gar nicht geſehen, wovon ich ſpreche. 
Woher können Sie alſo wiſſen, daß es mir ſchaden wird?“ 

„Weil Sie mich gefragt haben, weil Sie alſo Angſt haben, 


216 Mannigfaltiges. D 


— 


daß Sie diefe Speiſe nicht verdauen werden. An der Be- 
kömmlichkeit des Eſſens zweifeln, heißt Verdauungsbeſchwerden 
hervorrufen.“ 

Um einen geſunden und richtig funktionierenden Magen 
braucht man ſich nicht zu kümmern, er nimmt es ſogar übel, 
wenn man an ihn denkt. Einer der ſchlimmſten Fälle einer 
gewiſſen Herzkrankheit, die der erwähnte Arzt jemals in Be- 
handlung hatte, wurde dadurch hervorgerufen, daß die Pa- 
tientin, ſobald ſie zu Bett gegangen war, aufmerkſam lauſchte, 
wie ihr Herz ſchlug. 

Haſtiges Effen ift auch eine Angewohnheit, die ſchon viel 
Unheil angerichtet hat. Beim raſchen Eſſen wird nicht nur 
die Nahrung ungenügend gekaut und zu wenig mit Speichel 
durchfeuchtet, ſondern es wird ſicherlich auch zuviel gegeſſen. 
Bei raſchem Eſſen hat man auch häufig ein Gefühl, daß man 
zu großer Eile angetrieben wird, oder man befindet ſich in 
großer Angſt oder Aufregung. Alles das iſt von ſchädlicher 
Wirkung. | 

Auch Effen bei zu großer Ermüdung oder unmittelbar nach 
ſtarker körperlicher Bewegung ſollte vermieden werden. Die 
Verdauung iſt auch eine Arbeit, und in ermüdetem Zuſtande 
können die Verdauungsorgane ihren Dienſt nicht verrichten. 
Verdauungsſtörungen, ernſtliche Krankheit, ja ſogar der =” 
können daraus entſtehen. 

Das Trinken während des Eſſens wird vielfach für ſchädlich 
gehalten; unſere phyſiologiſchen Erfahrungen ſprechen indeſſen 
nicht dagegen, daß ein mäßiger Genuß von Flüſſigkeiten beim 
Eſſen ſchädlich ſein ſoll. Freilich darf die Flüſſigkeit nicht dazu 
dienen, die nur halbgekaute Nahrung hinunterzuſpülen. 

Viele Leute wollen nicht einſehen, daß Flüſſigkeiten nur 
dann getrunken werden dürfen, wenn der Mund leer iſt. Wenn 
man raſch ißt, den Mund voll Eſſen nimmt, dazu einen 
tüchtigen Schluck Bier, Kaffee oder Waſſer trinkt, wie kann 
man dann verlangen, daß der Magen die großen harten Klumpen 
von Eſſen in blutbildenden Stoff verwandeln ſoll! Zur Regel 
ſollte man es ſich machen, beim Eſſen nur wenig und nur bei 
leerem Munde zu trinken. 


o | Mannigfaltiges. 217 


Jetzt von einem anderen Faktor der Diät: der Beſchaffen- 
heit der Verdauungsorgane. Mag das Befinden noch ſo gut 
ſein, mag das Eſſen noch ſo vollkommen ſein, wenn Magen 
und Eingeweide nicht in Ordnung ſind, wird das Eſſen nicht 
richtig verdaut. Anderſeits aber find gewöhnlich Magenver- 
ſtimmungen und Darmerkrankungen die unmittelbare Folge 
unrichtiger Angewohnheiten beim Eſſen, und um dieſe Organe 
wiederherzuſtellen, braucht man nur ſich daran zu gewöhnen, 
dem Körper die Nahrung unter normalen Bedingungen zu- 
zuführen. 

Gute Nahrung und gute Gedanken machen einen guten 
Magen. 

Verdauungsſtörungen gibt es der mannigfachſten Art. 
Manchmal verurſachen ſie nur wenig Unbehagen und werden 
wenig beachtet, manchmal aber auch ſind ſie ernſter Natur 
und recht ſchmerzhaft. Es kommt vor, daß der Magen ſo emp- 
findlich wird, daß er nicht einmal Waſſer, geſchweige denn Eſſen 
behalten kann. Magenerkrankungen äußern fih von gelegent- 

lichem Kopfweh oder leichten Schwindelanfällen bis zu plöß- 
lichem Tode. Oft wird die Verſtimmung des Magens gar nicht 
bemerkt, jahrelang bleibt ſie unbeachtet, bis ſie ſich endlich als 
ſchwere Erkrankung fühlbar macht. Die Erkrankungen des 
Magens ſind ſo verſchiedenartiger Natur, daß ſich Regeln über 
ihre Behandlung nicht geben laſſen, man kann nur ſagen, daß 
richtige diätetiſche Gewohnheiten die beſten Bedingungen 
ſchaffen, ſich geſunde Verdauungsorgane zu erziehen und zu 
erhalten. 

Alles, was wir von praktiſcher Diät wiſſen, läßt ſich in zwei 
Worten ausdrücken, die ſich jeder ſtets mit goldenen Buchſtaben 
vor Augen halten ſollte: Mäßigkeit und Einfachheit. 

Wer mäßig und einfach lebt, der lebt würdig, zufrieden 
und lange. J. C. 

Selbſtpeinigungen indiſcher Fakire. — An den indiſchen 
Wallfahrtsorten, bei berühmten Tempeln, am Hofe der Fürſten 
oder auch als Teilnehmer an den religiöſen Feiern in Dorf 
und Stadt trifft man häufig auf Fakire, die ſich aus religiöſem 
Fanatismus freiwillig den ſchmerzlichſten Martern unterziehen. 


Mannigfaltiges. 


218 


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Plaza wag jno 1402 ua 


ausgehungerte Geſtalten, denen 


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ie dunkle Haut faltig au 


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f den Knochen liegt, mit finſteren 


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ſchwarzen Augen, 


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a mannigfaltiges. 219 


Feuer glühen. In der Erfindung der Selbſtpeinigungen be- 
kunden ſie eine faſt unerſchöpfliche Phantaſie. 

Berühmt war ein Fakir, der ſechsundzwanzig Jahre hin- 
durch in der Nähe von Benares unbeweglich Tag und Nacht 
auf einem Stein hockte und ſich, da er ſelbſt nicht mehr zu 
gehen vermochte, zweimal täglich von Freunden zum Ganges 
tragen ließ, um in dem heiligen Strom ein Bad zu nehmen. 
Eine öfter geübte Form der Selbſtpeinigung iſt die, daß ſich 
ein Fakir einen Arm ſenkrecht hochbinden läßt. Die Muskeln 
ſchrumpfen allmählich ein, und das Schulter- ſowie das Ell- 
bogengelenk wird unbeweglich. Jetzt werden die Binden 
gelöſt, und nun bleibt der Arm ſteif nach oben gerichtet von 
ſelbſt ſtehen. 

Beliebt ift ferner das Martyrium der fünf Feuer. Stunden- 
lang bleibt der Fanatiker einer Bildſäule gleich in dem dichten 
Rauch und der unerträglichen Hitze der angezündeten Feuer 
ſitzen. 

Höchſt ſchmerzlich wird endlich mit der Zeit das Strick— 
ſchweben. Zwiſchen zwei Bambusſtäben wird ein dünner Strick 
befeſtigt, auf dem ſich der Fakir der Länge nach ausſtreckt. 
Das Liegen wird allmählich, da der Strick den Körper wund 
reibt und immer tiefer in ihn einſchneidet, ſo martervoll, daß 
man es nicht begreift, wie ein Menſch dieſe entſetzliche Qual 
auszuhalten vermag. Gleichwohl verzieht der Fakir dabei keine 
Miene, ſondern auf ſeinem Geſicht liegt ein ſtiller, friedlicher 
Ausdruck. Th. S. 

Glanzleiſtung eines Reporters. — Am 19. November 1874 
ging das Auswandererſchiff „Cospatrick“ in Flammen auf — vier- 
hundert Seemeilen vom Kap der Guten Hoffnung. Bis dahin war 
kein Schiffsunfall ſo grauſig geweſen wie der der „Cospatrick“, 
bei dem über vierhundert Paſſagiere mitanſahen, wie ihr dem 
Verderben geweihtes Schiff zwei volle Tage in Flammen ſtand, 
wie der umſtürzende Hauptmaſt viele erſchlug oder verſtümmelte, 
wie das Vorderteil des Schiffes in die Luft flog, wie der Kapitän 
ins Meer ſprang, um womöglich das Leben ſeines mit weg— 
geriſſenen Weibes zu retten, wie zwei Rettungsboote ausgeſetzt 
wurden, von denen eines mit all ſeinen Inſaſſen umſchlug, 


220 | Mannigfaltiges. o 


während das andere umherirrte, bis die darin Sitzenden teils 
vor Durſt und Hunger ſtarben, teils wahnſinnig wurden. 

Die Kunde von dem furchtbaren Ereignis war nach Eng- 
land gedrungen und hatte ſeine Bevölkerung in Aufregung 
verſetzt, obgleich man noch nichts Näheres wußte. Nur das 
war als ſicher bekannt, daß die wenigen Überlebenden irgend- 
wie nach der Inſel St. Helena gelangt waren, und daß der 
Dampfer „Nyanza“ ſie von dort nach England zurückführte. 

Die Herausgeber der verſchiedenen großen Zeitungen in 
dem Snfelreiche, die da wußten, wie febr das Publikum auf 
genaue Nachrichten über die Kataſtrophe brannte, hielten nun 
täglich mit ihrem Redaktionsſtabe Beratungen darüber ab, auf 
welche Weiſe ſie wohl am eheſten in den Beſitz der heißbegehrten 
Neuigkeiten kommen könnten. Man fab keine andere Möglich- 
keit, als daß man nach Plymouth fuhr und die Ankunft der 
„Nyanza“ abwartete. 

Die „Daily News“ aber befanden ſich in der glücklichen 
Lage, einen hervorragend unternehmungsluſtigen Bericht- 
erſtatter, Archibald Forbes, unter ihren Mitarbeitern zu haben, 
und dieſer erbot ſich, der „Nyanza“ in einem Spezialboote 
entgegenzufahren, auf irgend eine Art an Bord des Schiffes 
zu gelangen und die Schiffbrüchigen nach allen Regeln der 
Kunſt auszufragen. 

Der Vorſchlag des kühnen Mannes wurde mit Freuden 
angenommen, und Nr. Forbes trat feine Fahrt an. Als er 
die „Nyanza“ erreicht hatte, ſprang er einfach ins Meer, und 
es gelang ihm, ſich an der Schiffskette der „Nyanza“ anzu- 
klammern, worauf er von der n des Dampfers an 
Bord gezogen wurde. 

Nun hatte der Wagehals fein Spiel gewonnen. Ein ge- 
wiſſer Macdonald war unter den Geretteten der einzige, der 
kräftig und wohl genug war, um Auskunft geben zu können. 
Er war aber ganz und gar kein zugänglicher Menſch, und erſt 
als Forbes ihm eine beträchtliche Summe Geld hinzählte, raffte 
er ſich zu den gewünſchten Mitteilungen auf, die der erfahrene 
Journaliſt ſorgfältig niederſchrieb. 

Sobald der Dampfer in Plymouth anlegte, war er der 


o Mannigfaltiges. 221 


erſte, der an Land ging und feinen Bericht an die „Daily 
News“ telegraphierte, während die Kollegen von den anderen 
Blättern erſt Auskunft ſuchen mußten. 

So konnten die „Daily News“ ſchon im Abendblatt den ge- 
ſpannten Leſern über die ſchrecklichen Vorgänge berichten, 
während es die übrigen Zeitungen erſt in den nächſten Morgen- 
blättern zu tun vermochten. 

Archibald Forbes wurde ſpäter durch ſeine Kriegsberichte 
aus allen Weltteilen wohl der berühmteſte Journaliſt. C. D. 

Vachſtelze und Kreuzotter. — An einem ſonnigen Nach- 
mittag kam ich — ſo berichtet ein bayriſcher Forſtmann — 
auf einem Spaziergange in die Nähe eines Steinbruches, der 
aber Iden längere Zeit nicht mehr im Betriebe war. Lang- 
ſam ſchritt ich an der verlaſſenen Arbeitſtätte hin, als mich 
plötzlich eine Bachſtelze ängſtlich umflatterte und mit kreiſchender 
Stimme offenbar auf ſich aufmerkſam zu machen ſuchte. An- 
fangs beachtete ich das Benehmen des Vogels nicht, dann 
wurde ich aber doch aufmerkſam, als er wiederholt auf mich 
zuflog, und mir das klägliche Geſchrei des Tierchens wie Hilfe- 
rufe erſchien. Ich blieb ſtehen und beobachtete die Bachſtelze. 
Nun flog dieſe an einen nahen Abhang, umkreiſte dort einen 
Stein, erhob ſich dann wieder blitzſchnell und kam wieder zu 
mir zurück. Nun hegte ich keinen Zweifel mehr über die Ab- 
ſicht des Vögelchens und erſtieg den Rain. Dort gewahrte 
ich unter einem hervorſtehenden Steine ein Neſt mit zwei noch 
ſehr jungen, nackten Vögelchen. Schon hatte ich die Hand aus- 
geſtreckt, um fie mir in der Nähe zu beſehen, als ich noch recht- 
zeitig an der Seite des Neſtes eine Schlange gewahrte, die 
den Kopf erhoben hatte und augenſcheinlich nach den Vögel 
chen zielte. Ich ſprang zurück, verlor dabei das Gleichgewicht 
und kollerte eine Strecke den Rain hinab, wobei ich mir eine 
Hand verletzte. Doch rafſte ich mich raſch wieder auf, um den 
bedrängten Vögeln Hilfe zu bringen. Die Schlange, in der 
ich nun eine Kreuzotter erkannte, war inzwiſchen der Offnung, 
die das Neft barg, ſchon febr nahe gerückt und wandte bei 
meiner Annäherung drohend ihren Kopf nach mir, wobei ihre 
Augen funkelten und die geſpaltene Zunge fortwährend züngelte. 


222 Mannigfaltiges. o 


Die Gefahr, in der die jungen Vögelchen ſchwebten, war groß, 
und es galt kein Beſinnen. Ich hatte einen ſtarken, mit Eiſen 
beſchlagenen Stock bei mir, mit dem ich der Kreuzotter einige 
kräftige Hiebe verſetzte, daß ſie den Rain hinabkollerte, worauf 
ich mit vielem Vergnügen ſah, daß der alte Vogel ſich alsbald, 
nachdem die drohende Gefahr beſeitigt war, mit großem Eifer 
der Pflege ſeiner geretteten Lieblinge widmete. Ich verſäumte 
auch nicht, öfters nach meinen Schützlingen zu ſehen, bis ich 
ſie eines Tages munter auf dem Geäſte des nahen Gebüſches 
erblickte. C. T. 
Anziehungskraft des Verbrechertums. — Zu allen Zeiten 
konnte man die Vergötterung berühmter Verbrecher durch 
Frauen der beſten Geſellſchaft feſtſtellen. Im alten Rom waren 
es die eleganteſten Modedamen, die Beziehungen zu Gladiatoren 
und Wagenrennern, meiſt verurteilten Verbrechern, unter- 
hielten. In Amerika iſt es ein Modelaſter „prominenter“ 
Damen, die ihrer Hinrichtung harrenden Mörder mit Blumen- 
ſträußen und Liebesbriefen zu beſtürmen und ſie um eine 
Haarlocke zu bitten. Dieſelben Freuden erlebten während ihres 
Aufenthaltes in La Roquette die anarchiſtiſchen Maſſenmörder 
Ravachol, Vaillant und Henry vor ihrer Hinrichtung. Letzterer 
hatte durch die Art feiner Verteidigung die Köpfe feiner Ber- 
ehrerinnen derart verwirrt, daß ſogar eine veritable Herzogin 
den Direktor von La Roquette um die Erlaubnis bat, Henry 
in ſeiner Zelle beſuchen zu dürfen, denſelben Henry, deſſen 
Hände von Blut rot waren! Der Direktor ſandte das Geſuch 
mit der biſſigen Randbemerkung: „Wider die Ordnung!“ zurück. 
Ahnliches ereignete ſich im „Fall Pranzini“. Der Levantiner 
Henri Pranzini, einer der vielen exotiſchen Abenteurer, die in 
Paris ihr Glück zu machen ſuchen, oder, wie Aurelien Scholl 
ſich ausdrückt, „eine Blume im Knopfloch, nach irgend einer 
Beute ſchnappen, ſei es ein Braten, eine Banknote oder eine 
Frau“, hatte am 17. März 1887 in der Rue Montaigne zu 
Paris die Marie Regnault und deren Kammerzofe Annette 
ermordet und beraubt. Die eleganteſten und ſchönſten Parije- 
rinnen riſſen ſich nicht nur um die Einlaßkarten zu der Schwur- 
gerichtsverhandlung, ſondern zahlten fogar hohe Preiſe dafür. 


o Mannigfaltiges. 223 


In den Pauſen umdrängten die Damen die Anklagebank mit 
ſolcher Energie, daß der Präſident Gendarmen entbot, um die 
Bewunderinnen des intereſſanten Mörders in den Schranken 
des Anſtandes zu halten. In dieſen Pauſen rauſchten die Seiden- 
roben, und wenn der Präſident während der Verhandlung die. 
Akten zu Rate zog, da ſurrten die koſtbaren Fächer, als fliege 
ein Volk Rebhühner auf. Nie zuvor hat man bei einer Schwur- 
gerichtsperhandlung fo viel Schmuck und ſolche Toilettenpracht 
geſehen. Ein Pariſer Sournalijt verſicherte in feinem Bericht, 
daß ihm am erſten Verhandlungstag eine Dame der beſten 
Geſellſchaft, Mutter dreier reizender Kinder, gejagt hat: „Ach, 
dieſer göttliche Pranzini! Ich würde fünfzig Louisdor drum 
geben, wenn ich ihm die Hand drücken könnte!“ 

Dieſer feige, heimtückiſche Mörder hat tatſächlich die ele- 
ganten Pariſerinnen ſo hyſteriſch gemacht, daß eine ernſte 
Pariſer Zeitung am Abend ſeiner Verurteilung zum Tode mit 
Recht die Behauptung aufſtellen konnte, daß eine mit Frauen 
beſetzte Geſchworenenbank Pranzini ſicherlich freigeſprochen 
hätte. Grévy, der damals Präſident der Republik war, erhielt 
Berge von Briefen aus Damenhand, die die Begnadigung 
des Mörders forderten, deſſen Tat ſo ſcheußlich war, daß der 
Präſident es nicht wagte, ihn zu begnadigen, obſchon er ſelbſt 
ein grundſätzlicher Gegner der Todesſtrafe war. Als Pranzini 
zum Schafott geführt wurde, da ſah er vor ſich eine endloſe 
Reihe eleganter Equipagen: alle ſeine Verehrerinnen waren 
gekommen, um noch einmal den Mann su ſehen, der fie fo ſehr 
bezaubert hatte. 

Dieſelbe Erſcheinung trat auch im „Fall Gouffé“, der „Leiche 
im Koffer“, zutage. Der Pariſer Huiffier Gouffs ließ fid 
eines Tages verlocken, ein ihm bekanntes Mädchen, Gabriele 
Bompard, ein Stück zu begleiten. Da wurde er von ihrem 
Liebhaber Eyraud erdroſſelt und beraubt und ſeine Leiche in 
einem zu dieſem Zwecke gekauften großen Koffer geborgen. 
Die beiden Mörder reiſten am anderen Morgen mit dem un— 
heimlichen Koffer nach Lyon, wo ſie ihn mit in ihr Hotel nahmen. 
Tags darauf entledigten ſie ſich der Leiche in einem Gebüſch 
bei Millery, wohin Eyraud den Koffer in einem Wagen brachte, 


224 Mannigfaltiges. a 


den er ſelbſt kutſchierte. Den Koffer zertrümmerte er, die Stücke 
warf er ins Gebüſch, wo er auch die Leiche verbarg. 

Dieſes Verbrechen bildete faſt ein ganzes Fahr die Gen- 
ſation der Senſationen und verſchaffte dem „kleinen Dämon“, 
wie man Gabriele allgemein nannte, eine ſo große Popularität, 
daß, als ſie nach Millery geführt wurde, um dem Geſetz gemäß 
die Art ihres Vorgehens darzulegen, Kavallerie ausrücken 
mußte, um den Ausgang des Bahnhofs freizuhalten. In dem 
Augenblick, in dem ſie nach Paris zurückkehrte und den Zug 
beſtieg, durchbrach die Menge die Kette der Gendarmen und 
Poliziſten und ſtürzte zu dem Wagen, an deſſen offenem Fenſter 
die Mörderin lächelnd ſtand. Man drückte, küßte ihr die Hand, 
überreichte ihr Blumen und ſchrie „Hoch!“, als der Zug ſich 
in Bewegung ſetzte. Gabriele, die ſpäter zu zwanzig Jahren 
Zuchthaus verurteilt wurde, warf ihrem Publikum Kußhänd- 
chen zu. Dann nahm ſie lachend Platz und meinte fröhlich zu 
den ſie begleitenden Poliziſten: „Nicht wahr, ich hatte einen 
großen Erfolg!“ W. F. 

Merkwürdige Särge. — In der evangeliſchen Stadtkirche 
von Schwedt a. O. ruhen auf beiden Seiten des Altars die 
Überrefte des vorletzten Markgrafen von Schwedt und feiner. 
Gemahlin in zwei großen Särgen, die beide aus einem ein- 
zigen Kieſelſtein hergeſtellt wurden. Dieſer Stein lag auf einem 
Felde, das einem Küraſſierregiment zum Exerzierplatz diente; 
allein eine aus der Erde hervorragende Spitze des Steines 
war den Bewegungen des Regimentes hinderlich und ver- 
anlaßte ſchließlich den Befehl zur Ausgrabung des Steines. 
Als man aber beim Graben die ungeheure Größe desſelben er— 
kannte, begnügte man ſich damit, den Stein tiefer zu ſenken. 
Nach langen Fahren erinnerte ſich der vorletzte Markgraf dieſes 
Steines und ließ ihn mit unſäglicher Mühe und großen Koſten 
ausgraben. Hierauf wurde über dem Stein, der 4,10 Meter 
breit war, ein hölzernes Dach gebaut. Er ſollte in dünne Platten 
zerſchnitten werden. Das wollte aber nicht gelingen, bis ein 
Bildhauer aus Potsdam es unternahm, für 20,000 Taler den 
Stein nach Potsdam bringen zu laſſen und zwei aus demſelben 
verfertigte Särge nach Schwedt an Ort und Stelle zu liefern. 


o Mannigfaltiges. 225 


Le 


Ehemals beſaß die Domkirche zu Paderborn die Bildniſſe 
der zwölf Apoſtel aus gediegenem Golde und einen ſilbernen 
Sarg, worin der heilige Liborius lag. Während des Dreißig- 
jährigen Krieges nahm der Herzog Chriſtian von Braunſchweig 
beides weg und ließ aus letzterem Taler prägen. Die Familien 
v. Nieſer und v. Weſtphalen legten nachher eine beträchtliche 
Summe in lauter ſolchen Talern zuſammen und ließen dem Hei- 
ligen einen neuen Sarg machen, der ungemein ſchön und tünft- 
leriſch gearbeitet iſt. Der Goldſchmied, der dieſen Sarg machte, 
hat ſich durch folgende daran befindliche Inſchrift zu verewigen ge- 
ſucht: „Dieſe Arwet ik Hans Krako, Goldſchmidt tom Dringen- 
berge, maket von lauter Dalers oſe hi bilagt ſint. Anno 1655.“ 

In Liſſabon ſtarb im Jahre 1817 der Baron Quatella und 
hinterließ ein Vermögen von 36 Millionen Franken. Sein 
Sarg war mit Gold überzogen, zugleich befand fih ein gol- 
denes Schloß daran, deſſen ebenfalls goldener Schlüſſel nach 
der Beerdigung den Verwandten übergeben wurde. C. T. 

Niggergeſchichten. — In Amerika werden viele Anekdoten 
erzählt, die von den Eigentümlichkeiten des Negers handeln, 
und nicht die wenigſten davon beziehen ſich auf die Dicke ſeines 
Schädels. So hätten einmal zwei Farmer in Veſtindien um 
eine bedeutende Summe gewettet, daß ein Neger mit ſeinem 

Kopfe einen Käſe zerbrechen könnte. Ein Käſe von mächtigen 
Dimenſionen wurde herbeigeſchafft, in Papier gepackt und auf 
einen entſprechenden Unterſatz geſtellt. Während die Auf- 
merkſamkeit des einen Wettenden mit etwas anderem be— 
ſchäftigt war, vertauſchte der, der an die Härte des Negerſchädels 
nicht glauben wollte, den Käſe mit einem gleichgroßen Mühl- 
ſtein, der genau ebenſo eingepackt war. Der Neger, der von 
dem Tauſche keine Ahnung hatte, rannte aus vollen Leibes- 
kräften gegen den vermeintlichen Käſe an, und die Folge war 
— daß der Mühlſtein in tauſend Stücke zerſplitterte. Sambo 
foll allerdings ſpäter behauptet haben, daß das ein ziemlich 
harter Käſe geweſen fei. Ä 
Derartige Geſchichten laffen ſich dutzendweiſe erzählen. So 
zum Beiſpiel von dem Neger, der aus dem zwanzigſten Stock- 
werk eines New Vorker Wolkenkratzers auf das Straßenpflaſter 

1913. IX. 8 | 15 


226 | Mannigfaltiges. a 


fiel, aber dank dem glücklichen Umftande, daß er mit dem 
Kopfe aufflog, ſich weiter keine Verletzung zuzog; oder von 
dem Neger, der, als er durch die Straße ging, ausrief: „Wer 
ſpuckt denn hier?“ Aus einer Höhe von fünfundzwanzig Stock 
waren ihm nämlich mehrere Ziegelſteine auf den Kopf gefallen. 

Einen weiteren Stoff zum Lachen geben die unteren 
Extremitäten des Negers ab. Hat die Natur den Neger mit 
einer unverwundbaren Schädeldede begabt, fo find dafür feine 
Schienbeine um fo empfindlicher. Ein leifer Schlag auf feine 
Beine machen ihn vor Schmerzen heulen. Anderſeits find 
wiederum feine Fußſohlen von einer Unempfindlichkeit, die 
faſt der ſeines Schädels gleichkommt, wenn man folgender 
Geſchichte Glauben ſchenken darf. Ein Pflanzer aus den Süd- 
ſtaaten war mit einigen Freunden auf der Jagd und lagerte 
nachts im Walde. Ein Feuer wurde angezündet, und die Ge— 
ſellſchaft lagerte ſich zum Schlafe ſo darum, daß jeder mit 
ſeinen Füßen dem Feuer zugekehrt lag. Mitten in der Nacht 
erwachte der Pflanzer, und ihm war es ſo, als röche es nach 
verbranntem Fleiſch. Der Sache wollte er auf die Spur kommen, 
und er weckte daher feinen ſchwarzen Diener Pompejus. Pom- 
pejus ſchnüffelte einen Augenblick und erklärte ſodann. „Mir 
iſt's ſo, Maſſa, als ob von jemand der Fuß brennt.“ Das 
ihien unglaublich, aber bald rief Pompejus erſtaunt: „Mein 
eigener Fuß brennt ja!“ Sein Geruchſinn hatte ſich alſo früher 
geregt als ſein Gefühl. 

Wie man ſich denken kann, iſt die Schulbildung bei den 
Negern der Südſtaaten recht mangelhaft, und nur wenige 
gibt es unter ihnen, die einen Begriff von Arithmetik haben. 
Trotzdem ſie recht ſchlau ſind und es ihnen auch an Mutterwitz 
nicht fehlt, werden ſie daher oft genug übervorteilt. Ein Neger 
hatte mit einem Pflanzer ein Abkommen getroffen, ein Stück 
Land mit Mais zu bebauen, wofür er einen Teil der Ernte bekom- 
men ſollte. Als er ſpäter einmal davon einem feiner Freunde er- 
zählte, berichtete er: „Der Pflanzer wollte, daß ich den vierten 
Teil der Ernte nehmen ſollte, das war mir aber nicht genug. 
Ich verlangte den fünften Teil und kriegte ihn auch. Za, ja, 
ein Nigger läßt ſich nicht ſo leicht übertölpeln!“ g. C. 


u Mannigfaltiges. 227 


Blüten als Wärmequelle. — Wer im Frühjahr die Höhen 
der Alpen durchwandert, wenn noch der Firnſchnee weite 


S. Leonard Baſtin. 


Ein Alpenglöckchen, das im Schnee emporwächſt. 


(Die vordere Schneewand iſt weggenommen.) 


Flächen verhüllt, wird erſtaunt ſein, mitten aus der Schnee— 
decke zierliche blaurötliche Blumenglöckchen hervorragen zu ſehen. 


228 Mannigfaltiges. D 


Diefe von Schnee und Kälte ſcheinbar unberührte Pflanze ift 
eine Soldanelle, das Alpenglöckchen. i 

Ganz von ſelbſt taucht, bei dem verwunderlichen Anblick 
die Frage auf: Wie war es möglich, daß das Pflänzchen nicht 
nur die dicke Schneeſchicht durchbrechen, ſondern im Schnee 
auch ſeine Blüten entwickeln konnte? Denn daß dieſes 
letztere der Fall ift, lehrt eine nähere Betrachtung des Firn- 
feldes. An feiner Oberfläche bemerkt man nämlich halbent- 
faltete Blüten in kleinen, im Schnee ausgeſparten Löchern 
ſtecken. | 

Die Exiſtenz des lieblichen Pflänzchens wird dadurch er- 
möglicht, daß es die zum Auftauen der Schneemaſſe nötige 
Wärme ſelbſt hervorbringt. Schon im Vorjahr, wenn der 
Schnee noch nicht feinen Standort bedeckt, legt das Alpenglöd- 
chen immergrüne, ſich dem Boden anſchmiegende Laubblätter 
von lederiger Beſchaffenheit an, die winzige Stengelchen 
umgeben. Dieſe Stengelchen ſind die Stiele der nächſt— 
jährigen Blüten. Durchfeuchtet im Frühling das Schmelz- 
waſſer das Erdreich, ſo beginnen die Stengel zu wachſen, und 
es bilden ſich an ihnen die Blütenknoſpen. Die Bauſtoffe zur 
Bildung der wachſenden Stiele und Knoſpen werden aus dem 
aufgeſpeicherten Reſervematerial der Laubblätter und Wurzel- 
ſtöcke bezogen. 

Mit dem fortſchreitenden Wachstum ſteigert ſich der Atmungs- 
prozeß, das heißt die Verbrennung von Kohlenſtoffverbindungen, 
und hierdurch wird Wärme entbunden. Dieſe freiwerdende 
Wärme ſchmilzt den Schnee. Infolgedeſſen entſteht in dem 
Firnlager eine Aushöhlung, in dem das Pflänzchen mit ſeiner 
Blüte ſteht. Je höher die Alpenglocke emporwächſt, je höher 
rückt auch die Aushöhlung hinauf, bis zuletzt die Schneedecke 
an ſeiner Oberfläche durchbrochen und nun die Blüte völlig 
entfaltet wird. 

Dieſelbe Erſcheinung zeigt ſich übrigens auch beim Enzian 
und der Glockenblume, bei denen das Innere der Blüten eine 
um 2 bis 3 Grad Celſius höhere Temperatur aufweiſt als die 
ſie umgebende Luft. 

Die höchſte bis jetzt beobachtete Eigentemperatur entwickelt 


o Mannigfaltiges. 229 


aber die Blüte des italienischen Aron. Dieſe Pflanze ift im 
Mittelmeergebiet äußerſt häufig und wächſt an Zäunen und 


S. Leonard Baſtin. 


Meſſung der Innentemperatur in einem italieniſchen Aron. 


Hecken. Seine von einem grüngelben Hüllblatte umkleideten 
Blütenkolben ſchießen Tüten ähnelnd im Frühjahr aus dem 
Boden hervor, und die Hüllblätter wickeln ſich unter Ver— 


230 Mannigfaltiges. o 


breitung eines weinartigen Duftes auf. Führt man vorſichtig 
ein Thermometer in die untere Höhlung des Hüllblattes ein, 
fo ergibt fih, daß hier die Temperatur die der Luft ſehr be- 
trächtlich übertrifft. Man hat bei einer Außentemperatur von 
15 Grad Celſius im Inneren des italieniſchen Aron Iden 50 
und 55 Grad Celſius gemeſſen. Die Wärmeentwicklung dient in 
dieſem Fall zum Schutz der Blüte gegen Nachtfröſte. Th. S. 
Zwei Zahlenwunder. — 1. 


1 x 9 + 2 = 11 
12 x 9 + 3 =11 
123 x 9 + 4 = 1111 
1254 x 9 + 5 = 11111 
12345 x 9 + 6 = 111111 
123456 x 9 + 7 = 1111111 
1254567 x 9 + 8 = 11111111 
12545678 x 9 + 9 = 111111111 
II. 

123456789 x 8 + 9 = 987654321 
12545678 x 8 + 8 = 98765432 
1254567 x 8 + 7 = 9876543 

123450 x 8 + 6 = 087654 
12345 x 8 + 5 = 98765 
1234 x 8 + 4 = 9876 
123 x 8 + 3 = 987 
12 x8 LO 98 
1x8+1=9 3. C. 


Eine unheimliche Gemäldeſammlung befindet ſich noch 
heute im Beſitze der Herzöge von Waverley, in deren Stamm- 
ſchloß ſie ſeit zweiundſiebzig Fahren aufbewahrt wird. Die 
Geſchichte dieſer Bilder enthüllt eines der dunkelſten Kapitel 
menſchlicher Geſchmacksverirrung. Sie beginnt zu einer Zeit, 
da der von ebenſo fanatiſchen wie phantaſtiſchen Köpfen auf- 
geſtachelte Volksgeiſt in Paris jede beſtehende Ordnung zer- 
trümmerte und das Fallbeil täglich Dutzende von ſogenannten 
„Verrätern“ hinſchlachtete. 

Damals, während der großen franzöſiſchen Revolution, war 


1 Mannigfaltiges. 231 
es, als der berüchtigte Wohlfahrtsausſchuß eines Tages den 
Befehl gab, auch die Königsgräber des Geſchlechtes der Orleans 
in der Jeſuitenkirche in Paris zu zerſtören, damit auch diefe 
Erinnerung an das einſt monarchiſch regierte Frankreich von 
der Erde fortgefegt werde. Unter den Leuten, die dieſen 
Auftrag vollzogen, befand ſich ein junger Maler, Hektor Olivier, 
ein begeiſterter Republikaner. Als die Urnen mit den ein- 
balſamierten Herzen einſtiger franzöſiſcher Herrſcher unter den 
Kolbenſchlägen der Revolutionsſoldaten in Trümmer gingen 
und die verſchrumpften, ſteinhart gewordenen Herzen auf die 
Flieſen des Grabgewölbes herabrollten, kam dem jungen Maler 
ein ſchauerlicher Gedanke. Auf ſeinen Befehl ſammelte man 
alle die mumifizierten Herzen, die einſt unter königlichem Purpur 


geſchlagen hatten, zuſammen und warf fie in einen Sack. Es. 


waren nicht weniger als ſechzehn, wie der franzöſiſche Geſchicht- 
ſchreiber Lambert berichtet, und dieſe ſechzehn Herzen nahm 
Hektor Olivier mit in ſeine Wohnung, um ſie dort zu einem 
ſonderbaren Zwecke zu benützen. 

Bekanntlich gebrauchte man ſchon in alter Zeit die Reſte 
einbalſamierter Körper nicht nur als Heilmittel, ſondern ver- 
arbeitete ſie auch zu einer braunen Farbe, die ihres beſonderen 
Tones wegen ſehr begehrt war und die Bezeichnung „Mumie“ 
führte. Olivier, als Maler mit der Herſtellung von Farben 
gut bewandert, ſtellte nun aus den Königsherzen ebenfalls 
„Mumie“ her und malte damit ſieben Bilder, Schreckensſzenen 
aus der franzöſiſchen Revolution darſtellend, die ſämtlich den- 
ſelben dunkelbraunen Ton beſaßen. Dieſe Gemälde erregten, 
als ſie im Winter 1799 in Paris ausgeſtellt wurden, allſeitig 
Bewunderung. Die Angabe des Malers, daß fie in ihrer 
Farbe die Herzen der Orleans enthielten, wurde jedoch mehr 
als eine geſchickte Reklame denn als Wahrheit hingenommen. 
Und doch war es Tatſache. 

Olivier ſtarb kurz darauf. Er wurde wahnſinnig. Sein 
Geiſt hatte den ſteten Aufregungen der wechſelreichen Revo- 
lutionszeit nicht ſtandhalten können. „Vielleicht war es auch 
etwas anderes, das dieſem jugendlichen Feuerkopf die Ge- 
danken verwirrte,“ ſchreibt der erwähnte Chroniſt Lambert. 


252 Mannigfaltiges. o 


„Das Bewußtſein, mit menſchlichen Herzen einen fo frevent- 
lichen Unfug getrieben zu haben, mag Olivier dem Frrſinn 
überantwortet haben. Das einmal erwachte Gewiſſen iſt eine 
Folter, die ſchon größere Geiſter qualvoll zu Tode gemartert 
hat.“ i 

Nach Oliviers plötzlichem Ende lagerten die fieben Bilder 
lange Zeit bei einem Pariſer Kunſthändler, der ſie von den 
Erben des Malers erworben hatte. Sie wurden auch Na— 
poleon I. angeboten, dem man zugleich eine handſchriftliche 
Erklärung Oliviers vorlegte, daß die zu den Gemälden benützte 
Farbe tatſächlich aus den zu Pulver zerriebenen Königsherzen 
gewonnen war. Napoleon beſuchte daraufhin auch das Atelier 
des Kunſthändlers und betrachtete die Bilder lange Zeit ſehr 
nachdenklich. Schon hoffte der Kunſthändler, Bonaparte würde 
fie käuflich erwerben; aber der Korſe ſagte nur mit einem ver- 
ächtlichen Lächeln: „Schade, daß dieſer Olivier nicht mehr lebt. 
Ich würde ihm den RNeſpekt vor ſolchen Reliquien ſchon bei- 
bringen.“ Damit verließ er ohne Gruß das Atelier. 

Zwei Jahre darauf kaufte der Londoner Großkaufmann 
Shephard die ſieben Bilder und brachte ſie nach London. Er 
behielt ſie jedoch nur wenige Monate und veräußerte ſie mit 
hohem Gewinn weiter. Nachdem ſie noch mehrmals den Beſitzer 
gewechſelt hatten, erwarb der Herzog von Waverley ſie im Jahre 
1841 und verleibte ſie ſeiner Gemäldegalerie ein. W. K. 

Das gebratene Hühnchen. — Kaiſer Napoleon I. mußte 
unbedingt jeden Morgen zum Frühſtück ein gebratenes Hühn- 
chen haben. Das war nun aber keine leichte Sache, denn der 
Kaiſer band fih nicht im geringſten an eine beſtimmte Ciſch— 
zeit. Zwiſchen acht und elf Uhr klingelte er nach feinem Früh- 
ſtück, wann er eben Muße dafür gewinnen konnte. Mochte 
er aber klingeln, wann er auch wollte, unverzüglich wurde ihm 
ein tadellos friſch gebratenes Hühnchen aufgetragen. 

Eines Tages ſprach er ſich zu einem ſeiner Generale, der 
bei dieſem erſten Imbiß zugegen war, anerkennend über dieſen 
Muſterkoch aus, der ihn nie warten laſſe und zu jeder Zeit 
im Laufe des Vormittags ein köſtlich gebackenes friſches Hühn— 
chen für ihn zum Frühſtück bereit habe. 


u | Mannigfaltiges. 235 


„Das muß ja ein wahrer Hexenmeiſter von Koch fein,“ 
meinte der General, „denn ein Hühnchen iſt doch ſolch ein 
zarter Braten, daß es in Grund und Boden ausdörren und 
wie Stroh ſchmecken würde, wenn man es een auf 
dem Feuer hielte.“ 

Daran hatte Napoleon noch nie gedacht, und der Einwurf 
machte ihn ſtutzig. Er ließ den Koch zu ſich rufen. „Wie fangen 
Sie es an,“ fragte er ihn, „mein Morgenhuhn ſo wunderſchön 
zart und friſch zu halten, auch wenn ich Sie bis elf Uhr damit 
warten laſſe?“ 

„Nichts einfacher als das, Sire,“ verſetzte der Koch. „Ich 
laſſe jeden Morgen eine ganze Reihe von Hühnchen bratfertig 
zurichten, und jede Viertelſtunde lege ich ein neues auf eine 
neue Pfanne. Auf dieſe Weiſe bin ich zu jeder Viertelſtunde, 
wenn es auch Eurer Majeſtät belieben möge, zu ſchellen, im- 
ſtande, Ihnen mit einem friſchen und ſoeben fertigen Hühnchen 
aufzuwarten.“ 

Das war ja nun eine Erklärung, die Napoleon nicht erwartet 
hatte, und ſie machte ihn ſehr nachdenklich. Auf dieſe Weiſe 
koſtete ja ſein Huhn zum Frühſtück ein Heidengeld! In ſolchen 
Dingen war er aber ſehr ſparſam. So hatte er zum Beiſpiel 
mit großem Mißfallen bemerkt, daß ihm für den Verbrauch 
an Kaffee im kaiſerlichen Haushalt jährlich 54,750 Franken 
berechnet worden waren. Er rechnete aus, daß alſo täglich 
an ſeinem Hofe 155 Taſſen Kaffee müßten getrunken worden 
ſein, wenn ihm die Taſſe mit je einem Franken berechnet 
worden war. Er ſtrich dies Maſſenkaffeekochen kurzerhand weg 
und beſtimmte für das Hofperſonal eine Entſchädigung in Geld, 
wofür es für ſeinen Kaffee ſelber ſorgen mußte. Damit hatte 
er 35,000 Franken erjpart. 

Unter dieſen Umſtänden wurmte ihn die „ganze Reihe“ 
täglicher Morgenhühnchen ſo, daß er ſeinen Muſterkoch anwies, 
nur noch eines täglich zu braten und es lieber kalt werden zu 
laſſen, wenn er nicht zur rechten Zeit klingle. C. O. 

Die Frühjahrskraftſpeiſe. — Wenn der Ofterhafe fidh wieder 
zeigt, dann iſt die Hochſaiſon der Eierſpeiſen da. Man ißt 
in dieſer Zeit oft mehr Eier als im ganzen übrigen Jahre 


234 Mannigfaltiges. o 


zuſammengenommen. Und mit Recht, denn jetzt find fie am 
friſcheſten und wohlſchmeckendſten, namentlich wenn ihre ge— 
fiederten Erzeuger daheim nicht im engen Hühnerhof eingeſperrt 
ſind, ſondern „freien Lauf“ haben. 

Man muß aber wohl beachten, daß hartgekochte Eier ſchwer 
verdaulich ſind; Kinder ſollen alſo nur weiche Eier eſſen. Je 
nach dem Zuſtande der Gerinnung, in dem ſich das Eiweiß 
befindet, ſind Eier bald ſo leicht verdaulich, daß ſie für jeden 
Magenkranken paffen, bald fo ſchwer, daß fie auch einem ge- 
funden Magen zu ſchaffen machen, da der Magenſaft nur ſchwer 
in die Klumpen der harten Eier eindringen kann. 

Bisweilen beobachtet man bei Kindern einen gewiſſen 
Widerwillen gegen Eier. Meiſt richtet ſich dieſer aber nur gegen 
das Eiweiß, während der Dotter gern genommen wird. Das 
iſt für die Ernährung der kleinen Kinder ſehr gut, denn gerade 
das Eigelb enthält zwei wichtige Stoffe: Eiſen und Lezithin, 
die zur Bildung von geſundem Blut, Gehirn, Nerven und 
Knochen unentbehrlich ſind. An Eiſen enthält das Eiweiß 
0,57 Prozent, das Eigelb Le Prozent, alfo dreimal ſoviel. 
Bedenkt man weiter, daß ſich im Spinat Aas Prozent Eiſen 
befinden, ſo muß man als eiſenreichſte Speiſe Spinat mit 
Eigelb bezeichnen. Sie iſt zum Beiſpiel beinahe zehnmal ſo 
reich an Eiſen wie Kuhmilch. Daher ſollen Blutarme, Bleich— 
ſüchtige, Kinder, Schwächliche, Rekonvaleſzenten recht viel ſolche 
Natureiſenpillen, Spinat mit Eigelb, genießen. 

Bei kleinen Kindern iſt für die Bildung und Kräftigung 
von Gehirn und Nerven beſonders wichtig der Lezithingehalt 
des Dotters. Aus dem Dotter bildet ſich der ganze Bogel- 
embryo, alſo enthält Eigelb alle zum Körperaufbau nötigen 
Stoffe. Profeſſor Zuntz hat viele Verſuche mit Dotternahrung 
bei Kindern gemacht. Er kommt zu dem Schluſſe: „Jungen 
Kindern wird ſchon vom fünften bis ſechſten Monat Eigelb 
als Beikoſt mit Vorteil gegeben, und auch in ſpäteren Wachs- 
tumsperioden wird man kaum auf Beigabe von Eigelb zur 
täglichen Koſt verzichten. Aber ſelbſt bei Kranken und Schwachen, 
deren Ernährungszuſtand gehoben werden ſoll, bei Blutarmen 
und Rekonvaleſzenten iſt Zuſatz von Eigelb zu den Speiſen 


o Mannigfaltiges. 235 


ebenſo nützlich wie nötig. Nach vielfältiger Erfahrung wird es 
beſonders in weichgekochtem Zuſtande, gut durchgekaut, auch 
von ſchwachen und angegriffenen Magen febr gut vertragen. 

Hierzu kommt, daß man den rohen Dotter mit den verſchie— 
denſten Zuſätzen zu appetitlichen und appetitreizenden Mifchun- 
gen verrühren kann, zum Beiſpiel mit Zucker, Wein, Bier, 
Kognak, Milh, Kakao, Bouillon, Suppen. Als Beigabe zu 
Wein, Bier und Kognak iſt der Dotter mit Zucker zu ſchlagen, 
worauf man das Getränk darunterrührt. 

Solche anregenden und ſehr nahrhaften Genußmittel ſind 
beſonders für Geiſtesarbeiter vorteilhaft, deren Nahrung zu— 
gleich leicht verdaulich ſein muß. Wer nach dem Abendeſſen 
noch längere Zeit geiſtig arbeitet, ſollte vor dem Zubettegehen 
zwei mit Zucker und Kognak oder Rum geſchlagene Eier ge- 
nießen. Das iſt der geeignetſte Krafterſatz für des Gehirnes 
Kraftverbrauch. Solche Schlageier dürfen aber nicht getrunken 
werden, ſondern ſind löffelweiſe zu nehmen oder in ganz kleinen 
Schlucken. 

Auch bei Katarrhen der oberen Atmungswege, namentlich 
bei der davon herrührenden Heiſerkeit, ſind rohe Eier die richtige 
Diät und ein gutes Heilmittel. Dieſer wohltätige Einfluß auf 
das Stimmorgan veranlaßt viele Sänger, kurz vor der Vor— 
ſtellung noch ein rohes Ei zu ſchlucken, „damit fie beffer hin- 
aufkommen.“ Beſonders zuträglich iſt bei Halsaffektionen 
das warme Eierbier, das aus Eigelb und gekochtem Bier 
bereitet wird. 

Bei Kinderhuſten empfiehlt ſich folgendes Rezept: Man 
verklopft in einer Taſſe einen Eidotter mit zwei Eßlöffel Zucker 
und rührt zwei Eßlöffel feinſtes Olivenöl dazu. Sobald ein 
Huſtenanfall ſich bemerkbar macht, gibt man dem Kinde hier- 
von einen Kaffeelöffel voll. 

Da ſchwächliche Kinder, die man mit Eiern „aufzupäppeln“ 
gedenkt, leicht einen Widerwillen dagegen bekommen, ſo ſei 
hier noch auf ein Getränk aufmerkſam gemacht, das ſie immer 
wieder gern nehmen: Fruchtſaft, dem ein mit Zucker ſchaumig 
gequirltes Ei beigefügt wird. Es iſt dies für Kinder zuträglicher 
als Rotwein mit Ei. 


236 Mannigfaltiges. o 


Mannigfach iſt alfo die Verwendung der Eier und ftets 
höchſt vorteilhaft für Geſundheit und Ernährung. Mögen daher 
alle mit dieſer Frühjahrskraftſpeiſe ſich recht reichlich laben 
und kräftigen! Dr. Th. 

Wie Auguft der Starke mit Geſpenſtern umſprang. — 
Als es bekannt wurde, daß Auguſt der Starke, Kurfürſt von 
Sachſen, die polniſche Krone erringen wolle, da erregte dies 
natürlich in der ganzen gebildeten Welt ungeheures Aufſehen. 
Während die meiſten deutſchen Fürſten auf ihn einzuwirken 
ſuchten, doch das gefährliche Wagnis zu unterlaſſen, war man 
am kaiſerlichen Hofe in Wien mit allen Kräften bemüht, ihn 
in ſeiner Abſicht zu beſtärken. Zu welchen Mitteln man dabei 
griff, davon erzählt ein Zeitgenoſſe Auguſt des Starken, der 
Kammerherr v. Pöllnitz, in ſeinen Memoiren folgende Geſchichte, 
die ſich während der Anweſenheit des Kurfürſten am kaiſerlichen 
Hoflager abgeſpielt haben foll. | 

Eines Morgens hatte fih der Kurfürſt eben ſchlafen gelegt, 
denn er pflegte die Nächte hindurch gewöhnlich zu zechen, als 
man ihm meldete, daß der Kaiſer ihn bitten laſſe, ſogleich zu 
ihm zu kommen. Wie ſehr war er erſtaunt, den Kaiſer, den er 
am Abend vorher noch ganz wohl verlaſſen hatte, im Bette, 
bleich, entſtellt und verängſtigt zu finden. „Guter Gott,“ rief 
der Kurfürſt, „was iſt Eurer Majeſtät?“ 

„Das allertraurigſte Ereignis iſt mir begegnet,“ antwortete 
mit bebenden Lippen der Kaiſer. „Ich muß bald ſterben, und, 
was mich am meiſten bekümmert, Ihnen droht ein noch größeres 
Unglück! Setzen Sie fih einen Augenblick, lieber Vetter, und 
hören Sie!“ 

Der Kurfürſt ſetzte ſich, und der Kaiſer fuhr in ſeinem 
Berichte fort. 

„Ich hatte dieſe Nacht die ſchrecklichſte Erſcheinung, die 
vielleicht jemals ein Sterblicher hatte. Zwei Stunden, nach- 
dem ich mich niedergelegt hatte, höre ich es in mein Zimmer 
treten. Ich meine, es ſei jemand von der Dienerſchaft, und 
will ſchon ſchellen, da — da hör' ich es mit Ketten raſſeln. 
Ich ſehe hin und erblicke — ein Geſpenſt, ganz weiß, das mir 
mit furchtbarer Stimme zuruft: „Joſeph, römiſcher König, ich 


o Mannigfaltiges. 237 


bin eine Seele, welche die Qualen des Fegfeuers ausſteht! 
Ich komme, von deinem Schutzheiligen geſendet, um dich vor 
dem Abgrunde zu warnen, in den dich der Umgang mit 
dem Kurfürſten von Sachſen ſtürzen wird. Entſage ſeiner 
Freundſchaft oder bereite dich vor zur ewigen Verdammnis!“ 
Hier verdoppelte ſich das Geklirr der Ketten, und wie der 
Schrecken mir die Sprache nimmt, ſagte das Geſpenſt: „Du 
antworteſt mir nicht, Joſeph? Liebſt du dein Heil fo wenig? 
In drei Tagen kehre ich zurück, mir deine Antwort zu holen.“ 
Mit dieſen Worten verſchwand der Geiſt, und man fand mich 
halbtot vor Schrecken. Mehr aber als für mich, mein Herr 
Vetter, bin ich für Sie beſorgt. Um Sie aber zu retten, gibt. 
es kein anderes Mittel, als daß Sie mir durch Übernahme der 
polniſchen Krone gefällig find.“ ` 

Der Kurfürſt fragte: „Waren Eure Majeſtät auch in der 
Tat wach, als Sie den Geiſt ſahen?“ 

Der Kaiſer verſicherte, daß er vollkommen wach geweſen ſei. 

„Dann,“ ſagte der Kurfürſt, „möchte ich doch wiſſen, wie 
ein Geſpenſt, ein Geiſt, Ketten tragen kann. Zndeſſen will 
ich nicht glauben, daß man Eurer Majeſtät einen Streich geſpielt 
hat, der vielleicht mir gelten ſoll.“ 

„Wer könnte dergleichen wagen?“ 

„Ei nun, Eure Majeſtät haben Leute, die in Betrügereien 
erfindungsreich ſind. Aber wir wollen dem Geſpenſt bald auf 
die Spur kommen. Ich erſuche Eure Majeſtät, nicht weiter von 
dem Vorgange zu ſprechen, mir aber zu geſtatten, die betreffen de 
Nacht in Ihrem Zimmer zuzubringen.“ 

Damit war der Kaiſer einverſtanden. 

Als beide nun in der dritten Nacht zuſammen waren, hörten 
ſie Kettengeraſſel, eine weiße Geſtalt trat herein und rief: 
„Joſeph, römiſcher König!“ Doc, da ſprang plötzlich der Rur- 
fürſt aus dem Bette und packte den Geiſt ſo kräftig an, daß 
dieſer vor Schreck faſt den Atem verlor, auf die Knie fiel und 
winſelnd um Gnade bat. Der Kurfürſt aber ließ ihn nicht los, 
riß ein Fenſter auf und warf ihn auf den Schloßhof. „Dies 
iſt der kürzeſte Weg zum Fegfeuer!“ rief er ihm nach. „Ich 
wollte dir wenigſtens die Treppen erſparen!“ 


238 Mannigfaltiges. o 


Der „Geiſt“ hatte ein Bein gebrochen und rief kläglich um 
Hilfe. Die Schloßwache kam herbei und fand — den Rammer- 
diener des Kaiſers. —zen. 

Verſchiedene Wertſchätzung der Nationen. — Im Jahre 
1791 war zur Auswanderung nach Amerika bei den Europäern 
noch ſo wenig Luſt vorhanden, anderſeits aber waren die jungen 
Unionsſtaaten noch des zuziehenden Menſchenmaterials fo be- 
dürftig, daß die Regierung der Vereinigten Staaten den Schiffs- 
kapitänen für jeden Auswanderer, den ſie ihnen zuführten, 
eine Prämie zahlte. Dabei maß fie aber nicht jeden Ein- 
gewanderten nach demſelben Maß, machte vielmehr einen 
ſtarken Unterſchied zwiſchen den Angehörigen der verſchiedenen 
Völkerſchaften, je nachdem ſie bei der Urbarmachung und 
Koloniſation des noch ſehr dünn bevölkerten Kontinents ihre 
Dienſte mehr oder minder ſchätzen gelernt hatte. 

Es beſtand dafür ein richtiger Tarif. Die niedrigſte Wert- 
ſchätzung erfuhr darin der Frländer. Für ihn erhielten die 
Schiffskapitäne 140 Mark nach unſerem Gelde. Für den 
Engländer gab es 220 Mark, für den Schotten 240 Mark, für 
den Franzoſen 300 Mark. Der Deutſche brachte die höchſte 
Prämie ein, nämlich 400 Mark. l C. D. 

Die Amulette gekrönter Häupter. — Über dem Kühler des 
Automobils des Königs Georg von England ſieht man eine kleine 
Britanniafigur aus Meſſing, die eine Krone in ihrer ausge- 
ſtreckten Hand hält und zu deren Füßen ein Löwe liegt. Ohne 
dieſe Figur wird der König keine Ausfahrt antreten. Auch 
die Königin Mary hat einen Talisman, nämlich einen Heinen 
Hund aus Elfenbein, den ſie an einem Armband trägt. 

Der Zar Nikolaus beſitzt einen Ring mit einem Stückchen 
Holz, das von dem Kreuze ſtammen ſoll, an dem Chriſtus 
den Tod erlitt. Ohne dieſen Ring geht der Zar nie aus. 

Von einem Opalring des ſpaniſchen Königshauſes, der mit 
vielen Todesfällen in Verbindung gebracht wird, wird folgende 
Geſchichte erzählt. Dieſer Ring wurde dem König Alfons XII. 
von der Gräfin v. Caſtiglione geſchenkt. Als der Herrſcher in 
der Verbannung lebte, hatte er der Gräfin verſprochen, ſie zu 
heiraten, wenn er wieder auf den Thron ſeiner Väter komme. 


o Mannigfaltiges. | 239 


Nachdem er aber wieder König von Spanien geworden war, 
hielt er das Heiratsverſprechen nicht, ſondern heiratete die 
Prinzeſſin Mercedes. Die enttäuſchte Gräfin ſandte dem König 
den ſchönen Opalring. Die Königin Mercedes war ſo entzückt 
von ihm, daß fie fih den Ning von ihrem Gatten zum Ge- 
ſchenk erbat. Wenige Monate ſpäter war ſie eine Leiche. Dann 
trugen des Königs Großmutter und Schweſter den unheil— 
bringenden Ring, und auch fie ſtarben. Nun ging der Ring 
in den Beſitz der jüngſten Tochter des Herzogs von Mont- 
penſier über, die ebenfalls raſch vom Tode ereilt wurde, nach- 
dem ſie ihn trug. Darauf nahm die Königin Chriſtine den 
Unglücksring, ließ ihn an einer goldenen Kette befeſtigen und 
ihn dann um den Hals der Statue der Jungfrau von Almadena 
hängen, eines Heiligenbildes, das in Madrid in einer viel- 
beſuchten Parkanlage ſteht. So wertvoll auch dieſer Ring iſt, 
ſo verführeriſch er ſich begehrlichen Augen darbietet, ſo würde 
doch der ſchlimmſte Langfinger Spaniens ihn nicht zu ſtehlen 
wagen. 

Ein Talisman der Napoleoniden ſtammte von Napoleon I, 
her. Es war das ein Ring, der ſicheren Schutz gegen einen 
vorzeitigen Tod gewähren ſollte. Napoleon III. trug dieſen 
Ring, aber ſein Sohn weigerte ſich, ihn anzulegen, und man 
hat dies fpäter in Zuſammenhang gebracht mit feinem früh- 
zeitigen Ende unter den Speeren der Zulus. Außer dieſem 
Ning trug Napoleon III. lebenslang noch ein zweites Amulett, 
ein Stückchen franzöſiſcher Erde in einer Kapſel. | 

Auch der verſtorbene König Eduard von England trug einen 
Talisman, nämlich ein Armband am linken Arm, von dem er 
fih nie trennte. Dasſelbe hatte dem unglücklichen Kaiſer Mari- 
milian von Mexiko gehört und war nach deſſen Hinrichtung in den 
Beſitz des damaligen Prinzen von Wales gelangt. C. T. 

Schmetterlingsfälſcher. — Die Fälſcherinduſtrie unſerer 
Zeit beſchränkt ſich nicht mehr darauf, Möbel, Bilder und andere 
Kunſtgegenſtände zum Schaden der Sammler zu fälſchen, ſie 
iſt bereits dazu übergegangen, der Natur ins Handwerk zu 
pfuſchen. Darüber belehrt ein Prozeß, den ein Londoner 
Entomologe gegen einen Schwindler angeſtrengt hat, der ihm 


240 NMannigfaltiges. D 


III nn 


gefälſchte Schmetterlinge verkaufte. Die Flügel eines Falters 
wurden mit einer dünnen Schicht Gummi arabikum beſtrichen, 
und dieſer Gummiüberzug wurde mit dem Staube von Paſtell- 
ſtiften oder anderen Farbſtoffen überſtreut. Auf dieſe einfache 
Weiſe erzeugten die Fälſcher nicht nur ſeltene Abarten, ſondern 
auch ganz neue, den Gelehrten bisher unbekannt gebliebene. 
So hatte der in Frage kommende Entomologe einen roten 
Schmetterling mit blauen Punkten gekauft, der eine ſo ſeltene 
Art vertrat, daß der hohe Kaufpreis durchaus angemeſſen 
erſchien. Ze O. v. B. 

Die Rätſel des Herzogs von Altenburg. — Vom Herzog 
Joſeph von Sachſen-Altenburg war es bekannt, daß er, fo oft 
jemand das erſte Mal bei ihm Gaſt war, die Gewohnheit hatte, 
ſeinem Gaſte zwei Scherzrätſel aufzugeben. Das erſte lautete: 
„Was würden Sie tun, wenn Sie ein Zahnarzt wären?“ 
Von ſeiten des Gefragten blieb natürlich ſtets die Löſung aus, 
und der Herzog rief lachend: „Wenn man ein Zahnarzt wäre, 
ſo würde man der Zeit den Zahn ausziehen.“ Dann ging 
er zum zweiten Rätfel über: „Was würden Sie tun, wenn 
Sie ein Taucher wären?“ Natürlich wußte man auch dieſe 
Frage nicht zu beantworten, und voller Befriedigung gab der 
Herzog ſelbſt die Auflöſung: „Wenn man ein Taucher wäre, 
würde man in das Meer der Ewigkeit tauchen.“ 

Auch König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen hatte von 
dieſer Gewohnheit des Herzogs gehört, und als er bei einem 
Beſuche in Altenburg war, dauerte es auch nicht lange, ſo rückte 
der Herzog mit feinen Rätſeln heraus. Nachdem er die erſte 
Frage geſtellt: „Was würden Sie tun, wenn Sie ein Zahnarzt 
wären?“ perſank fein Gaſt anſcheinend in tiefes Nachdenken und 
ſagte dann: „Wenn ich ein Zahnarzt wäre, dann würde ich 
in das Meer der Ewigkeit tauchen.“ 

Überraſcht blickte der Herzog den witzigen König an und 
meinte dann lachend: „Da brauche ich Ihnen ja das zweite 
Rätſel gar nicht mehr aufzugeben!“ A. Sch. 


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von 
Theodor Freund in Stuttgart, i 
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Das Klavier ift heute nicht nur das 
Lieblingsinſtrument der deutſchen Fa⸗ 
milie, ſondern ein Luxusgegenſtand jeder 
p bürgerlichen Einrichtung. Gerade 
em letzteren Umſtande iſt es zuzuſchrei⸗ 
ben, daß heute ein großer Teil aller In⸗ 
ſtrumente ihren eigentlichen Zweck nicht 
erfüllen, denn es gibt Tauſende und 
Abertauſende, die das Klavierſpiel wohl 
ſchon verſucht haben zu erlernen, es aber 
trotzdem nicht zu dem bringen konnten, 
was ſie erſehnten. Der hauptſächlichſte 
Grund, weshalb die meiſten nach kürzerer 
oder auch längerer Zeit ihre Verſuche 
wieder einſtellten, dürfte in allererſter 
Linie auf das umſtändliche Erlernen des 
ſeitherigen Notenſyſtems zurückzuführen 
ſein. Außerdem empfinden ſehr viele, 
namentlich ſolche Leute, die ihrem Er⸗ 
werbsleben nicht allzuviel freie Zeit ab⸗ 
gewinnen können, es als einen läſtigen 
Uebelſtand, beim Lernen ſich ſyſtematiſch 
fremder Hilfe zu bedienen. Es dürfte 
wohl nur wenige geben, deren Zeit es 
erlaubt regelmäßig Muſikunterricht zu 
nehmen. Ueber alle Uebelſtände, die alſo 
bisher das Klavierſpiel erſchwerten, hilft 
nun mit einem Schlage die rühmlichſt 
bekannte und tauſendfach bewährte 
„Taftenſchrift“ hinweg. Der Haupt- 
wert dieſer Methode, nach der man das 
Klavierſpiel wirklich individuell und in 
allerkürzeſter Zeit ohne fremde Hilfe 
erlernen kann, liegt darin, daß man 
vorheriger Notenkenntnis keines⸗ 
wegs bedarf. si der Taſtenſchrift 
hat das bisherige otenſyſtem eine un= 
geahnte Vereinfachung gefunden; fie 
macht ſich dadurch von dem früheren 
Syſtem unterſchiedlich, daß fie weder Vor- 
zeichen, noch Auflöſungs⸗ oder Ernied⸗ 
rigungszeichen hat Hier ſieht man bei 
der eigenartigen Anordnung der fünf 
Notenlinien jede Taſte, die anzuſchlagen 


Die Choräle können auch 


d 
Gratis arten en eee ee 18 Choräle. 


iſt, auf dem Notenblatt bildlich vor ſi 


Wer nach der Taſtenſchrift lernt, trei ` 
nicht einſeitige Muſikſtümperei, fondern 
bildet ſich genau, wie nach den chulen 


des bisherigen Notenſyſtems zu einem 
perfekten Klavierſpieler aus, wie er iiber» 
all beliebt iſt und auch gern gehört wird. 
Natürli ift die Taſtenſchrift 
auch für das Harmonium zu ver⸗ 
wenden. Für den hervorragenden Wert 
der Taſtenſchrift zeugt am beſten die 
Tatſache, daß unlängſt bereits die 5. Auf⸗ 
lage (31. bis 40. Tauſend) herausgegeben 
werden konnte. Aus den Kreiſen der 
nach Tauſenden zählenden Anhänger der 
Taſtenſchrift gehen dem untenſtehenden 
Verlag täglich die glänzendſten Aner— 
kennungsſchreiben zu, von be en nur ein 
einziges an dieſer Stelle Veröffentlichung i 
finden joll: 

Herr Friedrich G. aus Berlin ſchreibt 
am 9. 12. 12: 

„Das Werk habe ich erhalten und teile mit, daß 
es uns ſehr gut gefällt; es iſt alles leicht begreif⸗ 
lich und muß einer ſchon ſchwer von Begri ſein, 
wenn er mit Ihrer Taſtenſchrift nicht einig wird.“ 

Das komplette Werk, das neben allen 
zur Erlernung notwendigen Einzelheiten 
auch noch etwa 30 vollſtändige Muſikſtücke, 
wie Lieder, Märſche, Tänze uſw. enthält, 
koſtet 5 Wit. und kann gegen vorherige 
Einſendung des Betrags oder Nachnahme 
von dem Muſik⸗Verlag Euphonie, Frie⸗ 
denau 11 bei Berlin, ſowie durch alle 
Buch⸗ bezw. Muſikalienhandlungen be— 
zogen werden. An Intereſſenten, die es 
für erforderlich halten, ſendet der Verlag 
gegen Einſendung von 50 Pf. in Brief⸗ 
marken Aufklärung und einige Probe— 
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