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Zu der Novellette „Der rote Fleck“ von Fr. Holzer. (S. 15)
Originalzeichnung von A. Haushofer.
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Novellette von Fr. Holzer. Mit Bildern von A. Haus-
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Hinrichtung eines ſpaniſchen Granden im 15. Jahr-
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Anziehungskraft des Verbrechertums .
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Niggergefhichten .
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Wie Auguſt der Starke mit Serpenite E SEN
Verſchiedene Wertſchätzung der Nationen ;
Die Amulette gekrönter Häupter
Schmetterlingsfälſcher
Die Rätſel des Herzogs von Altenburg.
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Der rote Fleck.
Novellette von Fr. Holzer.
mit Bildern +
von A. Gaushofer. (Nahödrud verboten.)
Ein eigentümliches Froſtgefühl, das mir durch den
ganzen Körper zieht, überkommt mich, ſo oft ich
mich im Kaffeehauſe auf meinen Platz niederlaſſe, dort
an dem kleinen Marmortiſche dem Büfett gegenüber.
Anfangs erklärte ich mir dieſes unangenehme Gefühl
auf ganz natürliche Weiſe: es wurde hervorgebracht
durch Berührung der kühlen Marmortafel mit der
warmen Hand. Später ſchien mir dieſes Froſtgefühl
die bloße Folge jener ſchmerzlich-ſüßen Aufregung
zu ſein, die ſich immer meiner bemächtigt, wenn ich
in ihrer Nähe bin. Aber das war ein Irrtum, denn ich
hatte dieſes Gefühl ſchon damals, als Olga noch nicht
im Büfett ſaß, ſondern ihre fade, blonde Vorgängerin.
Erſt heute hat mir der alte Zahlkellner Jean, der
ſchon ſo viele Offiziergenerationen der hieſigen Garniſon
hat kommen und gehen ſehen, dieſe ſonderbare Ge—
ſchichte erzählt. Und jetzt weiß ich, daß es nichts anderes
iſt als — Furcht. Furcht und Entſetzen bemächtigen
ſich meiner, ſo oft mein Blick auf jenen Fleck fällt,
der die Marmortafel verunziert. Ein ganz ſonderbarer
Fleck iſt's von roſtig gebräunter Färbung, wie fie mit-
unter in weißem Marmor vorkommt. Beobachte ich
ihn etwas länger, ſo ſcheint er ſich zu röten, und am
6 Der rote Fleg. 2
Abend bei der Helle des elektriſchen Lichts kommt es
mir vor, als würde er glänzen und zitternd ſtrahlen,
als wäre roter Wein an jener Stelle ausgegoſſen.
Gleich beim erſten Anblick kam mir der Gedanke,
es wäre ein großer Blutstropfen, der da, aus irgend
einer Höhe herabgefallen, auf der Platte zerſpritzte.
* *
*
Ich ſaß heute ganz allein. Olga war noch nicht im
Büfett. Unter dem Eindruck jener Vorſtellung netzte ich
mein Taſchentuch im Wafjer und begann den Fleck zu
reiben in der Hoffnung, die Platte davon zu reinigen.
„Den werden Sie nicht wegwaſchen, Herr Leut—
nant,“ ſtörte mich plötzlich der alte Jean auf, der, da
er nicht viel zu tun hatte, offenbar ein Geſpräch an—
fangen wollte. „Jeder möchte glauben, der Fleck rühre
vom Blut her, das da verſpritzt wurde. — Na, was
Wahres ift ſchon dran. Ich ſelbſt glaube, diefe Platte
ift nicht immer fo roſtig geweſen.“
Mein Intereſſe merkend, erzählte er, vor fünfzehn
Fahren habe ſich gerade auf meinem Platze ein Offizier
erſchoſſen — ſeinen Namen habe er ſich nicht gemerkt —
aus unglücklicher Liebe zur damaligen Kaſſiererin.
„Nun, bei jungen Leuten ift fo etwas nichts Gel-
tenes,“ philoſophierte Jean. „Verliebt fih da und
möchte natürlich auf der Stelle heiraten! Ein Leut-
nant! Wohin ſoll der mit einer ſolchen Liebe? — Und
ſie, ein vernünftiges Mädel, das alles genau erwog,
wollte ſeine Zukunft nicht zerſtören und wies ihn ab.
Der Leutnant gleich den Revolver zur Hand und er—
ſchießt ſich vor ihren Augen.“
Der an der rechten Ecke der weißen Marmortafel
befindliche roſtigbraune Fleck grinſte mich förmlich an.
* *
*
a Novellette von Fr. Holzer. 7
Ich glaube feſt, daß im Leben nichts geſchieht ohne
beſtimmte Vorausſetzung, daß unſere Geſchicke von einer
höheren Macht gel Dieſer Glaube und
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— der rötliche Fleck auf dem Marmor bilden die Quellen
meiner Angſt. Sit es nicht auffallend, daß, ohne die
Geſchichte des Flecks auf dem Tiſche zu kennen, ich
als einziger von den Gäſten des Kaffeehauſes den Fleck
ganz blutig fah? 21 es nicht ſonderbar, daß ich, ohne
8 | Der rote Fleck. 0
der Erzählung Jeans Glauben zu ſchenken, Angſt fühle
bei ſeinem Anblicke? Und erwäge ich weiter: Warum
wählte gerade ich, der ich Olga liebe, mir den Platz,
an dem ſich vor Fahren ein unbekannter Kamerad er-
ſchoß? Warum mußte ich, der ich auf jenem verhängnis-
vollen Platze zu fiken pflege, mich in die ſchöne Wirts-
tochter verlieben, deren Erſcheinung in das Büfett des
alten Raffeehaufes fo wenig paßt? |
Umſonſt fuhe ich eine Erklärung dafür, daß ich, fo
wie mein unbekannter Vorgänger, einen Platz an dem-
ſelben Tiſche wählte, um mich von dort an dem An-
blick des Gegenſtandes meiner Liebe zu weiden.
Der Umſtand, daß ich den unbekannten Kameraden,
den Selbſtmörder, unwillkürlich meinen Vorgänger
nenne, erklärt meinen Schrecken beſſer als alle anderen
Worte, die ich dafür anführen könnte. Oh, ich fürchte
mich, fürchte mich entſetzlich, daß auch ich —
Der Gedanke, den Verluſt Olgas nicht überleben
zu können, kam mir ſchon früher, ehe ich noch die
Geſchichte des roten Flecks kennen lernte. Aber
früher nur dunkel und entfernt, nimmt er jetzt be-
ſtimmte, drohende Formen an, aus denen ſich immer
deutlicher das Bild eines bleichen, zerriſſenen Geſichtes
mit der Wunde an der rechten Schläfe entwickelt.
Ganz deutlich ſtelle ich mir die Szene vor, wie ſie mir
Jean ſchilderte. Ich ſehe jenen Unbekannten, deffen
Liebe ſo groß war, wie es meine Liebe iſt, wie er zum
letzten Male aufgerichtet an ſeinem Platze ſitzt und mit
langem Blicke von der Geliebten Abſchied nimmt. Dann
hebt er die Waffe empor, neigt die kühle Mündung
zu der brennenden Schläfe — und drückt ab. Mir iſt,
als höre ich den dumpfen Knall, ſchaue feinen Kopf,
ſehe einen leichten Blutſtrahl aus der Wunde quellen
und einen großen, auf den Marmor verſpritzten Tropfen,
a Novellette von Fr. Holzer. 9
darin die vom Kronleuchter ausgeſtrahlten Lichter röt-
lich reflektieren. Und ſein bleiches Geſicht wird mir
immer bekannter, die Züge ſteigen immer deutlicher
aus dem Qualm und Rauch heraus, bis ich endlich —
mein eigenes totes Geſicht erkenne.
Die Schickſale der Menſchen wiederholen ſich. Es
gibt keinen einzigen Menſchen auf der Welt, deſſen
ſelbſt noch ſo verwickeltes Schickſal ausſchließlich nur
ſein eigenes wäre. Welche Phantaſie und grenzenloſe
Erfindungskraft wäre dazu notwendig, um für jeden
einzelnen ein beſonderes Schickſal auszudenken! Das
iſt ja gar nicht möglich. So wird ſich denn auch das
Schickſal des Unglücklichen, der vor Jahren an dieſer
Stelle hoffnungslos liebte, an mir erfüllen.
Bis jetzt wiederholt fidh ja alles mit ſtrenger Ge-
nauigkeit. Ich bin Offizier, jung und kräftig, wie er
es geweſen, beſuche dasſelbe Kaffeehaus wie er, ſitze
auf ſeinem Platze und liebe ein junges Mädchen da
drüben am Büfett wie er. Gleich aufrichtig iſt meine
Liebe, meine Abſicht gleich ehrlich wie bei ihm.
Nur die Entſcheidung iſt noch nicht beſtimmt, und
ich ſchiebe ſie hinaus — aus Furcht vor dem Ende.
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*
Die Angſt vor meinem Schickſal, das mir in allen
ſeinen Einzelheiten vorſchwebt, hält mich ab, mich Olga
anzuvertrauen. Möglich ift, daß fie etwas ahnt. Ihr aus-
drucksvolles Geſicht zeigt ſich geſpannt, wenn ich einige
Worte mit ihr wechſle, ihr Blick ruht oft fragend auf mir,
wenn ich auf meinem Platz ſitze und mir Mühe gebe, den
rätſelhaften Fleck mit einem Zeitungsblatte zu verdecken.
Weiß Olga, was in mir vorgeht? Vielleicht fühlt ſie meine
Liebe heraus, vielleicht lieſt ſie mir's aus den Augen und
ahnt es aus meinen Worten, wenn ich mit ihr ſpreche.
10 Oer rote Fleck. o
Aber die wirkliche Tiefe meiner Gefühle ahnt fie
gewiß nicht. Sie weiß nicht, daß ich mich ſehne nach
ihr wie die Blüte nach dem Morgentau. Und gewiß
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weiß fie nicht, daß mein Schickſal mir vorbeſtimmt,
daß jeder meiner Blicke, jedes meiner Worte nur eine
Wiederholung deſſen iſt, was vor fünfzehn Jahren war.
* *
*
o Novellette von Fr. Holzer. 11
Nichts geſchieht, und nichts ändert fih. Stets die-
ſelbe Empfindung, das Froſtgefühl im Körper, ſo oft
ich mich an meinen Platz im Kaffeehauſe ſetze, und die
ſtete Angſt vor der endlichen Entſcheidung. Umſonſt
ſuche ich mich zu überreden, daß das Meinige durch-
aus keine Wiederholung des Schickſals meines unglüd-
lichen Kameraden ſein muß. Das hängt doch ſchließlich
von Olgas Entſcheidung ab. Sagt ſie „nein“ — nun,
dann weiß ich, was mich erwartet. Doch kann Olga
auch „ja“ ſagen.
Warum alſo frage ich fie nicht?
* *
*
Zwiſchen acht und neun Uhr abends ift das Kaffee-
haus meiſt beinahe leer. An einigen Tiſchen hinter
dem Billard leſen einige ältere Herren ihre Zeitungen.
Die Kellner gönnen fih nach einem bewegten Nach-
mittag Ruhe. In dem ganzen Lokal herrſcht Stille.
In dieſer Abendſtunde beſuche ich das Kaffeehaus
am liebſten. Da kann ich ans Büfett treten und mit
Olga plaudern. Sie iſt nicht beſchäftigt, lieſt oder be⸗
ſchäftigt ſich mit einer Handarbeit.
Heute trat ich zum Büfett, entſchloſſen, ihr alles
zu fagen. Zn dieſer ungewöhnlichen Stille ſchien mir
Olga noch ſchöner wie bei Tag oder bei dem Rauch-
nebel in der Nacht. Sie nähte etwas an einem weißen
Stoff und hob nicht einmal den Kopf in die Höhe,
als ich näher trat. Erſt beim Klirren meines Säbels
ſah ſie auf und bewillkommte mich mit dem ge—
wohnten, freundlichen Lächeln. Ich glaube, es war
Freude, die ich aus ihren Augen las. Kräftig und warm
drückte ſie mir die Hand, legte die Arbeit zurück, heftete
einen fragenden Blick auf mich, als fordere ſie mich auf:
„Vohlan denn, ſprich, du großer, ſchüchterner Zunge!“
12 | Der rote Fleck. | | el
Wie erwähnt, war ich entſchloſſen, ihr alles zu fagen,
Aber trotzdem hielt ich mich nur an ganz gewöhnliche,
gleichgültige Sachen, wußte nicht, wie ich von ernſteren
Dingen anfangen ſollte. Unſicher und verlegen plau-
derte ich nur von meiner Perſon. Endlich vertraute
ich ihr an, daß ich nicht gerne Soldat ſei, und auf des
Vaters WVunſch ſpäter den landwirtſchaftlichen Beruf
ergreifen würde — am liebſten dort unten in dem lieben
Dalmatien, wo der Himmel ſo blau und die Sonne
ſo heiß iſt.
Lächelnd hörte ſie zu, als ich ihr die Reize meines
Geburtslandes ſchilderte, und ihre Augen flammten
bei der Schilderung der Pracht des Meeres.
„Dort möchte ich auch leben,“ ſagte ſie gedanken—
voll.
Ich fühlte, wie mein Herz bei an ihrem Wunfche
raſcher klopfte.
Und dennoch ſagte ich ihr nicht, was ich ſagen wollte,
forderte ſie nicht auf, dort mit mir zu leben und in
meinem Hauſe als Herrin zu walten. Warum tat ich
es nicht? Ihre Augen, ihr Mund, der Ausdruck ihres
Geſichts riefen mir zu: „Sprich — ſprich doch!“
Und ich ſchwieg, ſchwieg wie eine Memme, zurück—
ſchreckend vor jener rätſelhaften Drohung.
Das Kaffeehaus begann ſich zu füllen. Sch drückte
Olgas Hand und ſetzte mich auf meinen Platz, wieder
mit dem froſtigen Gefühle in Leib und Seele. Der
rote Fleck auf dem Marmor ſtrahlte und glänzte —
höhniſch und mich verlachend.
* *
K*
Es gibt keine andere Erklärung, und ich glaube
daran trotz inneren Widerwillens. Der alte Jean fagte
mir ſoeben, wann das Schreckliche ſich ereignete. Es
a Novellette von Fr. Holzer. 15
war am 24. Dezember, am heiligen Abend, als der
verhängnisvolle Schuß krachte.
Das Schickſal meines Vorgängers wiederholt ſich
aljo an mir folgerichtig und ausführlich. Eine ent-
ſcheidende Frage konnte ich nicht früher aus mir her-
ausbringen, als er es getan. Das war die Hand, die
mir die Kehle zuſammenpreßte.
Weſſen Hand?
Ah weiß es nicht, unterliege aber ihrer Macht be-
dingungslos.
Ich verſuche nicht einmal, die Entſcheidung früher
herbeizuführen, als mir beſtimmt ift. Sch ſehe auf
Olga hin, leſe beſtändig ihre Frage aus ihren traurigen
Augen heraus und — ſchweige. |
‚Am mich herum das freudige Wogen der nahen
Weihnacht. Nur ich fühle keine Freude. Ich leſe das
Schreiben, worin mich meine Mutter einladet zu den
Feſttagen, und ich antworte nicht, bedaure nicht ein-
mal, daß ich zum erſten Male die Feiertage ohne ſie
verleben werde. Alles ſchwindet mir vor den Augen,
Freudiges und auch Trauriges, vor mir ſchwebt nur
der verhängnisvolle Tag mit dem letzten Augenblick
in ſchrecklicher Erwartung.
* *
*
Nichts geſchieht, nichts ändert ſich. Doch heute fällt
die Entſcheidung. Habe mir einen Revolver gekauft,
eine wunderſchöne und treffliche Waffe.
Wit ängſtlicher Pünktlichkeit ſchreite ich in den Fub-
tapfen meines Vorgängers weiter.
Im gleichen Augenblicke wie er trete ich an das
Büfett, wo mich Olga erwartet, blaß und aufgeregt.
Das Kaffeehaus iſt leer. Der alte Jean ſchlummert
ſanft in einem Winkel. Ich lege meinen Mantel ab,
14 Dier rote Fleck. u
und Olgas beide Hände ergreifend beginne ich zu
ſprechen.
Vas ich rede, weiß ich Ge Die Worte Fa mit
dem
Munde, ich
fühle, wie
ſich meine
Kehle er-
weitert, als
ſchwinde
der Druck
der geheim-
nisvollen,
ſtarken,
fremden
. ii Hand, die
mich bis jetzt zu ſprechen hinderte. Zch fühle Olgas
Hände in den meinen zittern, ſehe ihre Wangen er—
röten, Tränen ſtürzen in Ce Augen, ihr Kopf neigt
fih zur Seite.
Und dann vernehme ich wie aus der Ferne das
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Digitized by G O Ou le
8 ` O
a | Novellette von Fr. Holzer. ` 15
gedämpfte und dennoch fo frohlockende „Za“, höre ver- `
worrene, freudige Worte und fühle eine brennende
Träne auf meiner Hand.
„Ja, ich habe Sie von Herzen lieb, und wenn Sie
mit mir zufrieden ſind, wie ich bin, gehe ich gerne mit
Ihnen dahin, wo die Sonne wärmer iſt und heller
der Himmel!“
Sn meiner Seele klingt es wie der Freudengeſang
der heiligen Nacht.
Mit einem Schlage ſchwinden alle Schrecken aus
meiner Seele, ein Gefühl großen Glückes erfüllt meine
Bruſt, ich fühle mich frei, ſtark und verwegen und ziehe
Olgas Kopf an mich, mit wilden Küſſen ihre Lippen
bedeckend.
Da erwacht der alte Zean aus feinem Schlummer
und ſtört mich aus der ſüßen Berauſchung auf.
„Sean, Jean, Ihr Fleck hat gelogen! Ich bin es
nicht, an dem ſich das Schickſal wiederholen wird!“
rufe ich ihm zu und lache in wilder Freude.
„Ver hat gelogen? Was fehlt denn heute dem
Herrn Leutnant?“ ſtottert Jean ganz verblüfft.
Vqghr roter Fleck hat gelogen! Mein Blut wird ihn
nicht friſch färben!“ entgegnete ich ihm, und einer
plötzlichen Eingebung folgend, ſpringe ich auf den Tiſch
zu, auf deſſen marmorner Platte der geheimnisvolle
Fleck ſich rötet, und ſchlage mit der Fauſt den Rand
dieſer Platte, wo der Fleck ſchimmert, ab).
Krachend fällt das Stück Marmor zu Boden.
4) Siehe das Titelbild.
*
Die Apachen.
Ein Pariſer Roman von Fritz Levon.
(gortſetzung.) + (nachdruck verboten.)
aris iſt nicht nur die Stadt des Tändelns und der
| „Verhältniſſe“, ſondern es gibt vielleicht auf der
ganzen Erde keinen Platz, wo die Liebe des Volkes ſo
fröhlich und harmlos auftritt, wie das verrufene Geine-
babel, in deſſen vornehmen Vierteln die Kokotte Edel-
ſteine verſtreut wie Riefel und Perlen wie Rindertränen.
Wenn wir ſie ſehen, dieſe Pärchen, in dem Bois de Bou—
logne auf den Raſen gelagert, zwiſchen ſich eine Flaſche
Wein zu achtzig Centimes und über ſich eine Million
Sonnenſtrahlen — auf den kleinen Seinedampfern,
eingekeilt in die Menge und lachend, wenn einer dem
anderen in die Arme gedrückt wird — wenn wir ihre
Lieder hören, in denen heute wie vor hundert Jahren
das kleine Vöglein ſein Neſt baut und die Roſe ihren
Duft verſtreut: dann glauben wir nicht unter einem
Volke zu fein, deffen politiſche Leidenſchaft Revolutionen
gebiert und deſſen Fürſten einſt die Welt verteilten.
Und wir denken am wenigſten jener dunklen Nächte,
in denen das Verbrechen ſeine Schleuſen öffnet und
ſich gleich einem Schlammſtrom bis an die Pforten
der Paläſte ergießt. —
Jean Lecocq, der Apache, und Käthe Tonndorf,
die Philiſtertochter aus der Saalgaſſe — ſie waren
o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 17
beide ſelig wie die Kinder vor dem Weihnachtsfeſt und
wie die Brautpaare vor der Hochzeit.
Der junge Chemiker hatte es verſtanden, die Rolle
des Fabrikarbeiters aufrecht zu erhalten. Aber wenn
Käthe ihn nach der Arbeitſtätte fragte, ſo machte er
eine leichte Handbewegung und deutete auf das Häufer-
meer von Paris. Da unten irgendwo — die Fabrik
feiere augenblicklich, es ſei Streik. Aber er hätte ſich
dreihundert Franken zurückgelegt, die müßten jetzt drauf-
gehen, und wenn ſie verbraucht wären, dann ſei auch
der Ausſtand zu Ende.
Es waren allgemeine Redensarten, die das Licht
der Gegenwart feſthielten und die Schatten der Zu-
kunft bannten. Das Ohr der Liebe hört nur zu willig
darauf, oder es hört neben den Liebesworten über-
haupt keinen Laut. Einmal muß ja doch die Zeit
kommen, da das tiefe Schweigen dieſe lachende Welt
auslöſcht. |
Berlin lag unendlich weit in der Ferne. Zn den
erſten Tagen ihres Pariſer Aufenthalts hatte Käthe
Egberts Brief beantworten wollen, dann war jener
ſeltſam berauſchende Abend gekommen, an dem ſie
entdeckte, daß ihr Herz nicht verſchenkt, ſondern nur
verpfändet ſei. Nun hatte ſie es ausgelöſt und einem
anderen gegeben — nein, nicht gegeben, ſondern ſich
nehmen laſſen in jenem Sturm der Leidenſchaft, die
nicht wägt und zählt und mißt.
Die fo köſtlich iſt und fo gefährlich. Die Brand-
wunden macht und Balſam darauf tropft.
Die immer und ewig bleiben wird, und wenn die
große Fälſcherin Zeit alle Worte der Welt umprägt.
Jeden Tag, den die Sonne hergab, waren fie bei-
ſammen. Sean kam niemals in die Kneipe von Mutter
Vernot, er ſprach kein Wort darüber, er tat, als wenn
1913. IX. 2
18 Die Apachen. o
Käthe ein Schmetterling fei, der des Nachts in Rofen-
kelchen ſchwebt.
Aber die Alte war klug und ſchwieg dazu.
Sie wußte ganz genau, daß ihre Nichte ein Ber-
hältnis mit dem jungen Chemiker angeknüpft hatte,
daß ſie tagsüber mit ihm Paris und die Umgegend
durchſtreifte, und in ihrem Bräutigam einen fleißigen
Arbeiter fab, der nur augenblicklich durch die Verhält-
niſſe zur Untätigkeit gezwungen wurde — aber das
alles paßte ganz vortrefflich in ihre Rechnung.
Einmal mußte ja doch der Tag kommen, da es
dieſem hübſchen deutſchen Gänschen wie Schuppen von
den Augen fiel und fie erkannte, daß man mit ihvem
Herzen und ihrem Glück ein frevelhaftes Spiel getrieben
habe. Und wenn ſie dann nicht etwa aus Gram in
die Seine ging, wie die kleinen tollköpfigen Pariſer
Mädchen das mitunter taten, dann war ſie reif, um
eine Zierde der Apachenkneipe zu werden, das „Kanin-
chen“ zum Mittelpunkt der Ritter des Montmartre
zu machen.
War dies Weib eine Kanaille?
Ach, ſie war nicht viel beſſer oder ſchlechter als
Tauſende ihresgleichen, die allein in der Welt ſtehen
und durch das Schickſal gezwungen werden, den bitteren
Kampf um das Daſein mit nicht ganz ſauberen Waffen
zu führen. Sie unterſchied ſich nur von den übrigen
durch das häßliche Merkmal der Verwandtſchaft mit
ihrem Opfer; aber es gibt ja ſogar Mütter; die ihr
eigenes Fleiſch und Blut verkuppeln. Was wollte es
da groß bedeuten, daß Käthes Mutter vor Jahren den
Namen ihrer Schweſter getragen hatte! Sie war ja
durch die Heirat mit dem Deutſchen aus der Familie
geſchieden, ſie war tot, und das Gras auf ihrem Grabe
wuchs aus fremder Erde empor.
a Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 19
Käthe empfand in dieſen Tagen die WVohltat der
Poſtkartenerfindung. Sie hatte ſich längſt vorgenom-
men, einen ausführlichen Brief an den Vater zu ſchrei—
ben, und es fehlte ihr auch nicht die Zeit dazu. Aber
jo oft fie die Feder anſetzen wollte, kam ihr die Er-
kenntnis, daß ſie die Bogenſeiten doch mit irgend etwas
ausfüllen müßte, mit einer Schilderung ihres Lebens
und Treibens, ihrer Arbeit, ihrer Umgebung.
Und fie erkannte, daß ihr das unmöglich ſei.
Sie mußte alsdann die Augen öffnen, ſie mußte
Rechenſchaft geben über ſich und andere, und wenn
das alles ſchwarz auf weiß geſchrieben ſteht — ach,
ſelbſt die Diplomaten halten lieber lange Reden, als
daß ſie ein einziges Mal die Feder anſetzen. Denn es
lügt ſich ſo leicht mit den Lippen, und die Wahrheit
iſt ſo ſchwer zwiſchen den Zeilen zu verbergen.
Eine Sache gab es, die Käthe zwar nicht gerade
beunruhigte, die ihr aber doch ein gewiſſes Ropfzer-
brechen verurſachte. Sie war nun mit ihrem Schatz
in halb Paris herumgeweſen und hatte ihn mehr als
einmal gebeten, ihr doch ſeine Wohnung zu zeigen.
Er hatte immer wieder Ausflüchte. Bald war der Weg
zu weit, bald hatte er Hunger und mußte mit ihr in
irgend ein Reſtaurant, oder es gab ſonſt ein unüber-
windliches Hindernis.
In Wahrheit war es ihm unmöglich, den Wunſch
des Mädchens zu erfüllen, denn er hauſte noch immer
in jener verlaſſenen Baubude mitten im Apachengebiet,
und ein einziger Blick in dieſes „Heim“ hätte die ganze
Wahrheit unbarmherzig enthüllt.
Für die dreihundert Franken, die Jean von Renard
erhalten hatte, wäre allerdings eine anſtändige Woh-
nung zu befchaffen geweſen, aber das köſtliche Bummel-
leben der beiden jungen Leute verſchlang ohnehin genug,
20 Die Apachen. 2
und ſolange der Sommer währte, und ſolange die Polizei
keine Razzia anſtellte, war das jetzige Freilogis gerade
gut genug — die ſchönen Fünffrankenſtücke konnten
beſſer angewendet werden. |
Aber nun fam ein Sonntag. Das Pärchen wollte
ihn vom Morgen bis zum Abend zuſammen verbringen,
und Madame Vernot gab Käthe auf deren Bitten
bereitwillig Urlaub. |
„Wenn du nur heute abend wieder da biſt, Kind,“
ſagte ſie mit ihrem gütigſten Lächeln, „dann gönne ich
dir gerne das kleine Vergnügen. Ich hab' ja doch
ſchon längſt bemerkt, daß ſich was anſpinnt, und der
junge Menſch ſcheint ja ſo weit ganz anſtändig zu ſein.“
Wie immer trafen ſie ſich an der Bank in den An-
lagen, wo ſie den erſten Kuß getauſcht hatten.
„Heute aber wird es,“ ſagte Käthe. „Wir gehen
zuerſt nach deiner Wohnung, denn die will ich endlich
einmal ſehen, dann können wir irgendwo frühſtücken,
und der Nachmittag bleibt uns für einen Ausflug übrig.
Es muß doch irgendwo eine billige Verbindung nach
deinem Stadtviertel geben, denn du biſt täglich auf
dem Montmartre, und ich merke dir niemals eine be-
ſondere Ermüdung an.“
Jean Lecocq war die Zärtlichkeit in Perſon. „Natür-
lich, mein Liebling, heute wird es Ernſt. Aber am
Sonntag ſind die Fahrgelegenheiten alle überfüllt, und
wir haben ſo viel Zeit vor uns, daß wir recht gut zu
Fuß gehen können. Sieh nur dieſen köſtlichen Sonnen-
ſchein, und dabei iſt es nicht im mindeſten ſchwül!“
Das war ſie wohl zufrieden. An der Seite dieſes
ſchönen Mannes durch ganz Paris zu bummeln — denn
ſeine Wohnung lag angeblich ſüdlich vom Quartier
Latin — dünkte ſie ein köſtliches Vergnügen, beſonders
weil er heute einen funkelneuen Anzug trug, der für
o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 21
ſechzig Franken aus dem „Bonmarché“ ſtammte. Käthe
hatte ſich ja auch ſchön gemacht, und ſie ſah wirklich
aus wie eines jener graziöſen Pariſer Mädchen, die
mit einer Bluſe und einer Schleife Wunderdinge
ſchaffen.
So zogen ſie Arm in Arm von dannen. Jean war
zuerſt etwas ſchweigſam, denn er grübelte darüber nach,
wie er ſich aus der Klemme ziehen ſollte; aber als ſie
ſo zwitſchernd wie ein Vögelchen auf ihn einplauderte,
da hob er endlich den Kopf und verließ ſich auf den
Zufall. ,
So kamen fie an en Louvre. Die Pforten des
berühmten Runftinftituts ſtanden weit offen, denn es
war heute Volkstag und freier Eintritt.
„Du haſt noch nicht die Venus von Milo geſehen,“
ſagte Jean, „wollen wir die günſtige Gelegenheit be-
nützen?“
„alt die wirklich fo ſehenswert?“
„Das Schönſte, was ich kenne — außer dir.“
Die kleine Schmeichelei mußte belohnt werden, und
Käthe ging mit hinein. Sie hatte ja als Jenenſer Kind
und durch ihren Vater Intereſſe für die Kunſt ge-
wonnen, und es durchſchauerte ſie ganz ſeltſam, wie
ſie den weltbekannten langen Säulengang entlang
ſchritt, an deſſen Ende die Rotunde das hehre Bild
der Göttin birgt.
Es war ganz ſtill in der Nähe, denn das Volk drängt
ſich nicht an dieſer Weiheſtätte, aber als ſie Arm in
Arm vor der Statue ſtanden, da ſagte Käthe nach einer
langen Pauſe: „Wie jammerſchade, daß die Arme fehlen!
Man würde ſonſt wenigſtens wiſſen — — Aber komm,“
ſetzte ſie leiſe hinzu, „wir wollen gehen.“
Sie war ſehr rot geworden.
Draußen ſchien die Sonne plötzlich heißer, es flim-
22 Die Apachen. 0
merte in der Luft. Das war wohl nur der Gegenſatz
zwiſchen den kühlen Hallen des Louvre und den Häufer-
maſſen, die ihre Glut aushauchten. l
Aber Käthe ſagte plötzlich: „Wenn es noch weit
bis zu deiner Wohnung iſt, dann werde ich müde.
Überhaupt —“
Er griff das Wort auf wie einen Ball, und weil
ſie gerade auf dem Pont des Arts ſtanden, wo ſich
tief unten an der Kaimauer eine Anlegeſtelle für die
kleinen Seinedampfer befindet, machte er den Vor—
ſchlag, daß fie zunächſt einmal den Fluß hinunterfahren
wollten, um die ärgſte Hitze draußen im Grünen ab-
zuwarten.
„Vielleicht bis Saint Cloud,“ ſagte er, „oder ſonſt
irgendwo in die Nähe. Da find ja tauſend Gelegen-
heiten zur Rückkehr, beſonders an einem Tage wie
heute.“
Es war wirklich nur das Beſtreben, die fatale
Wohnungefrage möglichſt hinauszuſchieben, und Käthe
ging ganz arglos darauf ein. Mit ein wenig Spürſinn
hätte ſie wohl merken können, daß er eines der größeren
Schiffe wählte, die nicht nur die unmittelbare Um-
gebung von Paris abſtreifen, ſondern weiter hinaus-
fahren, ſeltener anlegen und nicht alle halbe Stunde
die Rückkehr ermöglichen.
Aber ſie dachte an nichts, als was der Augenblick
brachte. |
Die Nummer des Schiffes war 13, denn dieſe
ſchmucken und flinken Dinger führen keinen beſonderen
Namen; es find ihrer fo viele, daß fie nur durch die
Zahl unterſchieden werden. Käthe meinte lachend, es
fei eigentlich eine Unglücksnummer.
Aber er entgegnete ebenſo ſcherzend, auf dieſem
ſchönen Fluß fei noch kein Menſch verunglückt, er müßte
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 23
denn geradezu hineinſpringen, und dazu wären ſie
beide doch noch viel zu jung.
Sie waren faſt alle jung, die auf dieſem Schiffe
lachten und koſten und die kleinen Chanſons ſangen
von dem Vögelchen, das fein Neft baut, und von dem
Habicht und der Taube.
Weil es auf dem Verdeck ſehr voll war, gingen die
beiden hinunter in die Kajüte und ließen ſich eine
Literflaſche von dem gelblichen Landwein geben, der
jo angenehm auf der Zunge prickelt und ganz unver-
merkt in das Blut geht.
Als ſie aber endlich den letzten Tropfen aus dem
gemeinſamen Glaſe getrunken hatten und die Treppe
hinaufkletterten, da lag Paris weit hinter ihnen, und
die beiden Ufer der Seine waren mit einſamen grünen
Büſchen bewachſen.
„Das fährt wohl bis ans Ende der Welt?“ ſagte
Käthe etwas verdutzt.
Jean zuckte die Schultern. „Wir haben uns wohl
wirklich da unten ein bißchen feſtgekneipt. Aber an
der nächſten Halteſtelle ſteigen wir aus — es iſt ja
alles ganz einerlei an einem Tage wie heute.“
Ein ganz kleines Neſt war es, wo ſie ans Land
kamen. Einen Namen trug es ja wohl, aber den wußten
ſie nicht und achteten auch nicht darauf. Sie ſahen nur
ein kleines Wirtshaus und ein paar verſtreute Hütten
— dahinter aber den tiefen, grünen, dämmerigen
Wald.
Das Schiff fuhr mit ganz wenigen Paſſagieren
noch weiter; es mußte alſo auch zurückkommen, und
vielleicht kamen noch ihrer mehr.
Weil aber die Sonne ſchon ſchräg ſtand, gingen ſie
zunächſt in den Wald, denn wenn die Pariſer aus ihren
Steinmauern herauskommen, dann ſuchen ſie immer
24 Die Apachen. E
zuerſt die Bäume auf und laufen den Libellen nach
— alles andere dünkt ſie dagegen eine Narrheit.
Dieſen Wald hatte ſicherlich heute noch kein Menſch
betreten. Die Wege waren ganz mit Gras überwuchert,
und das Wild zeigte ſich ſo zutraulich, als ob noch
niemals eines Jägers Büchſe das Echo geweckt hätte.
Selbſt die Vögel ſangen in einer abſonderlichen Weiſe
— ganz leiſe und ſüß, um das ſchlafende Geheimnis
nicht zu wecken. |
Und es gab kein Ende in diefem Walde, Eine-ganze
Stunde waren fie ſchon gewandert, ohne auch nur auf
die Hütte eines Forſtwarts zu ſtoßen. Als fie aber
endlich ein Stückchen Himmel vor ſich ſahen, da war
das roſig gefärbt und die Sonne wollte ſich zu Bett
legen.
Da meinte Käthe, es ſei nun wohl an der Zeit,
umzukehren, denn man könnte doch nicht ſo genau
wiſſen, ob noch viele Schiffe den Strom hinaufgingen,
und eine andere Beförderungsgelegenheit ſei ſicherlich
nicht mehr vorhanden.
„Es müßten denn unſere eigenen Füße ſein,“ ent-
gegnete er ſorglos und betrachtete prüfend die feinen
Schuhchen, die Käthe trug. „Für eine Deutfche find
ſie viel zu klein,“ ſetzte er hinzu.
Nun begann fie ein wenig zu zanten und belehrte
ihn, daß die Thüringer Mädels es mit der ganzen Welt
aufnehmen könnten, denn die feien nicht von der ſchwer⸗
fälligen norddeutſchen Raſſe. „Und wenn wir in Zena
mit den Studenten tanzen, dann färbt das auch ein
bißchen ab. Haft du es nicht gemerkt, als du mich auf
dem Montmartre zum erſten Male im Arm hatteſt
oder ſpäter auf der Bank im Mondlicht?“ |
Als er fie darauf haſchen wollte, lief fie vor ihm
davon. Es war nicht ſo ſehr ernſt gemeint, denn er
D Ein Parifer Roman von Fritz Levon. 25
ſollte ſie natürlich einholen, und er war auch ſchnell
genug bei der Hand. Aber als ſie ſeinen Atem hinter
fih ſpürte und im Umblicken feine leuchtenden Augen
ſah, die in der Dämmerung etwas NRaubtierartiges
hatten, da ſtrengte ſie ſich wirklich an und hätte faſt
um Hilfe gerufen.
Da hatte er ſie. Er legte ganz feſt beide Arme
um ihre Schultern und küßte ſie auf den Mund — es
war faſt wie bei jenen Apachentänzen auf der Bühne,
die ſie nun ſchon mehrfach geſehen hatte, ohne doch
ihren Namen zu kennen, und ſie verlor faſt den Atem.
„Ich bitte dich, Jean — es iſt hier ſo einſam!“
Nun gingen ſie wieder ganz ehrbar, Arm in Arm
wie ein ſolides Brautpaar. Sie achteten auf den Weg.
Die Richtung des Fluſſes war ihnen nach der Himmels-
gegend und dem Abendrot bekannt, und Jean Lecocq
dachte an gar nichts weiter, als daß ſie nun gerade
das letzte Schiff erreichen würden, und dann ſei es
natürlich zu ſpät, um in Paris eine Wohnung zu be-
ſichtigen, die es gar nicht gab.
Er dachte wirklich an nichts weiter, denn wenn er
auch unter Leuten lebte, denen ſelbſt ein Menjchen-
leben unter Umſtänden nicht viel gilt, ſo wollte er doch
ein geſchenktes Vertrauen nicht mißbrauchen.
Endlich blickte ihnen das Waſſer der Seine entgegen.
Sie kamen gerade an der Stelle wieder heraus, wo
das kleine Wirtshaus lag, hinter deſſen Fenſtern be-
reits die Lichter brannten, und als ſie haſtig, wie von
einer unbeſtimmten Ahnung erfüllt, nach dem An-
legeplatz hinuntergingen, da war der Fluß ſtille und
einſam.
Es ſtand eine Tafel an der Treppe, die ſie beim
Ausſteigen überſehen hatten. Jean zündete ein Streich-
holz an, um nach der Uhr zu ſehen und den Fahrplan
26 Die Apachen. a
zu betrachten, während Käthe ganz ftare flußabwärts
blickte, denn wenn noch ein Schiff kam, dann mußten
ſeine Lichter jetzt auftauchen.
Plötzlich ließ ihr Begleiter das glimmende Hölzchen
fallen und ſetzte hart den Fuß darauf. „Zehn Minuten
zu ſpät. Das letzte Schiff iſt vorüber.“
Käthe ſchrie leiſe auf. „Aber Jean, was beginnen
wir jetzt?“
„Ich denke, wir nehmen am beiten zunächſt unfer
Abendbrot zu uns. Du mußt doch auch Hunger haben,
Schatz.“
„ga, zum Umfallen. Aber was dann?“
Er betrachtete den Horizont, an dem nach dieſem
heißen Tage dunkle Wolken aufſtiegen, und hob die
Schultern. „Ja, was iſt da zu machen? Zu Fuß er-
reichen wir Paris nicht mehr, und außerdem wird es
ein Gewitter geben. Wir werden wohl die Nacht hier
bleiben müſſen. Es iſt wenigſtens ein Glück, daß das
Wirtshaus einen anſtändigen Eindruck macht.“
* *
*
Der Vormittag war ſchon ziemlich weit vorgeſchritten,
als Käthe Tonndorf zum Montmartre emporſtieg. Das
Gewitter der letzten Nacht hatte die Luft gereinigt;
ſie war ſo klar, daß man jeden einzelnen Träger des
Eiffelturms zählen konnte, obwohl der gigantiſche Bau
ſich nur wie ein Spinngewebe gegen den Himmel
abhob.
Neben dem Eingang zum Montmartrefriedhof blieb
das Mädchen ſtehen und fab nach dem Babelbau hin-
über. Sie war Iden einmal mit Jean da oben ge-
weſen, um die Ausſicht zu genießen, und ſie hatte
damals mit leiſem Grauen das Schwanken des Un-
geheuers geſpuͤrt, obwohl der Führer ihr vorrechnete,
D Ein Parifer Roman von Fritz Levon. 27
wie viele Meter tief die Grundanker des Turmes in
der Erde verſenkt ſeien.
Ob einer da ſchon mal heruntergeſtürzt ſei, hatte
ſie gefragt.
„Nicht geſtürzt, Fräulein, aber wohl geſprungen —
o ja, mehr als einer und eine.“
Daran dachte Käthe ganz flüchtig, und dann fiel
ihr etwas anderes ein — ſcheinbar ganz zufammen-
hanglos, aber es kam wohl daher, weil ſie neben dem
Friedhof ſtand:
„Die Vögel ziehn, die Blätter rauſchen nieder,
Die Liebe ſtirbt im Winter wie das Grün —“
Es paßte jo ſchlecht wie möglich auf die Umgebung,
denn Paris lag in einem leuchtenden Sommerglanz,
es dachte kein Menſch an niederfallende Blätter und
den Geſang des Vögelchens an der Gruft.
Aber die Menſchen ſind bisweilen ſo ſonderbar.
Weil ihnen ein gütiges Geſchick die Kaſſandragabe ver-
jagt hat, taften fie ſich in eine unbekannte Zukunft hinein,
und was unter ihre Finger kommt, das ſind Rätſel.
Käthe ging weiter. Sie ſah heute vielleicht beſonders
hübſch aus, denn die Leute ſchauten ihr nach.
gebt war fie vor dem „Kaninchen“.
Sonſt pflegte Käthe immer die Kleider aufzuraffen,
wenn ſie das Haus durch den dunklen und ſchmutzigen
Eingang betrat, aber heute trug fie eine gewiſſe Gleich-
gültigkeit zur Schau. Oder fie dachte wirklich an andere
Dinge, denn als ihr in der Gaſtſtube, durch die ſie ihre
Kammer erreichen mußte, die fette Stimme der Ma-
dame Vernot entgegenklang, fuhr fie ein wenig zu-
ſammen und ſah ſich verwirrt um.
„Kommſt du endlich?“ fragte die würdige Dame.
„Ich wollte dich ſchon durch die Polizei ſuchen laſſen,
denn ſo was iſt in Paris keine Kleinigkeit.“
23 Die Apachen. oa
Es war immer noch ein bißchen Verſteckſpiel zwiſchen
Tante und Nichte über den Charakter der Kneipe, aber
die Sache war allmählich doch fadenſcheinig geworden,
und die Bezugnahme auf die Polizei wirkte geradezu
komiſch.
Darum zuckte Käthe mit den Lippen, als wenn ſie
lachen wollte. „Reg dich doch nicht auf. Die Polizei
wirſt du wohl nicht beläſtigen, denn du biſt froh, wenn
ſie dich in Ruhe läßt. Und der Weg nach der Morgue
ijt fo weit —“
Die Alte lenkte ein. „Wie du nur gleich biſt, Käthe!
Als Tante werde ich doch wohl noch fragen dürfen,
wo du geweſen biſt?“
„Veit draußen, in einem kleinen Neft an der Seine.
Mir hatten uns bei einem Ausflug verſpätet, Jean und
ich. Wir erreichten das letzte Schiff nicht mehr. Das
iſt alles.“ |
„Na ja, das konnteſt du ja gleich fagen. Willſt du
eine Taſſe Kaffee?“
Das Mädchen hatte ſich vor den Spiegel geſtellt
und den Hut abgenommen. Es fehlten ihr wohl ein
paar Haarnadeln, denn die loſe zuſammengeſteckte
Friſur wollte nicht recht halten. Plötzlich glitt die
ganze Herrlichkeit herunter auf die Schultern und zu-
letzt bis zu den Hüften.
Wie wenn ein Rabe ſein Gefieder ausbreitet.
„Das kommt davon,“ ſagte die Alte, „wenn man
liederlich Toilette macht.“
Da fuhr Käthe herum und fab mit zornfunkelnden
Augen von einer Wand zur anderen. „Soll ich dir
fagen, was liederlich ift? Willſt du es wiſſen? Jeder
Tiſch und jeder Stuhl in dieſem Loch, jede Schnaps-
flaſche auf dem Büfett, alles, was man mit den Händen
greifen kann — alles! Mein Vater wollte mich in ein
o Ein Parifer Roman von Fritz Levon. 29
anftändiges Haus ſchicken, und ich ſelbſt dachte zu der
Schweſter meiner Mutter zu kommen — na ja, das
letztere ſtimmt ja auch, aber ſonſt ſtimmt nichts!“ Sie
holte tief Atem und fuhr dann ruhiger fort: „Du brauchſt
keine Angſt zu haben, daß ich fortlaufe. Ich bin nun
einmal hier und muß bleiben, denn auf der Gaſſe ſoll
man mich nicht finden. Aber lange dauert das nicht
mehr. Gott fei Dank, mein Bräutigam ift ein ehrlicher
Mann, und wenn der Streik vorüber iſt, dann hat er
Brot für uns beide. Er wird mich heiraten, und er
fährt ſchon morgen nach Deutſchland, um mit meinem
Vater die Sache in Ordnung zu bringen, denn ich bin
keine von denen, die man ſo um Gottes willen auf-
ſammelt. Es ſoll alles ſeine Art haben. Und nun
kannſt du mir meinetwegen Kaffee geben, denn den
verdiene ich noch damit, daß ich deinen Apachen des
Abends die Gläſer kredenze.“ |
Da war das ſchlimme Wort heraus, zum erften
Male mit unzweideutiger Klarheit.
Die Alte duckte ſich zuſammen. Aber ſie hatte trotz ihrer
ſchwammigen Geſtalt eine elaſtiſche Natur, und fie rich-
tete ſich wieder auf wie der Baum nach dem Ungewitter.
Eigentlich war ja alles in beſter Ordnung.
Und in dem Gedanken an die wackelige Bude da
draußen im Baugelände, von der ihr Jules Renard
erzählt hatte, kitzelte fie die Frage, ob Jean Lecocq
denn auch ſchon für eine nette Familienwohnung ge-
ſorgt hätte. Aber ſie ſchluckte den niedlichen Scherz
hinunter, denn einesteils war ſie eine vorſichtige Frau,
und anderſeits —
Nun ja, dieſes leichtgläubige dumme Ding war zwar
nur eine Deutſche, aber fie blieb doch immerhin fogu-
ſagen die Tochter ihrer verſtorbenen Schweſter.
* *
30 Die Apachen. | o
Der alte Linde hatte es wirklich durchgeſetzt, daß
ſeine Penſionierung ſchon zum 1. Auguſt heraus-
kam, denn die im Beamtendaſein fo berüchtigten Fünf-
undſechzig konnte er aufweiſen, und es waren genug
Bewerber vorhanden, die aufrücken wollten.
Seitdem er in Jena geweſen war und akademiſche
Luft geatmet hatte, ekelte ihn der Bureaudienſt förm-
lich an, und als er das koſtbare Papier in Händen hielt,
das ihm jährlich zweitauſendvierhundert Mark Ruhe-
gehalt zuſicherte, fuhr er ſtracks nach Jena zurück und
ſetzte ſich bei Fritz Tonndorf feſt in der Bude ſeines
Sohnes wie ein richtiger Bruder Studio. Und er
begann nun auch das Leben eines ſolchen zu führen,
das heißt er tat nichts mehr und intereſſierte fidh leb-
haft für Früh- und Dämmerſchoppen.
Niemals, ſolange er zurückdenken konnte, waren ſeine
Sorgen ſo gering geweſen, denn das vorausſichtlich
recht langwierige Studium des Sohnes hatte ihm doch
bisweilen arg in den Knochen gelegen, und nun war
der Bengel mit einem Sprung ein ſelbſtändiger Mann
geworden, der faſt ſo viel verdiente, wie ein Amts-
richter als Anfangsgehalt bekam.
„Es ift doch was mit dem Aufſchwung in Oeutſch-
land,“ ſagte er wohl zu ſeinem neugewonnenen Freunde
Tonndorf. „Überall Leben und Fortſchritt, überall
Gelegenheit zum Gelderwerb — nur wir kleinſtaat-
lichen Beamten haben ſozuſagen nichts. Aber das haben
wir wenigſtens ſicher.“
And mit dieſem etwas verſchimmelten Witz verband
ſich doch ein heimliches Behagen. Es war wirklich
etwas Sicheres, monatlich zweihundert Mark aus einer
Kaſſe ſchöpfen zu können, die niemals verſagte, die
niemals Bankrott machen konnte!
Oder das Weltall hätte zuſammenſtürzen müſſen.
el Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 31
Ruprecht Linde fing an zu ſchmökern. Er hatte
ſich niemals um die Literatur kümmern können, denn
wenn die acht Bureauſtunden heruntergeſchunden waren,
dann kamen die Schoppen und die Zeitung und das
Bett. Aber ſeitdem Egbert die ſchönen Wiſſenſchaften
vertrat — er drückte ſich wenigſtens ſo in ſeinen Briefen
aus — ſeitdem empfand der Alte die Pflicht, das Ber-
ſäumte nachzuholen, und Fritz Tonndorf hatte das ganze
Gewölbe voll alter Scharteken.
Aber allmählich kam der Juriſt und der Aktenmenſch
wieder zum Vorſchein. Der Antiquar hatte mit ſeiner
feinen Spürnaſe aus verſtaubten Winkeln eine ganze
Maffe Zeug zuſammengehamſtert: Hexenprozeſſe, gegen
deren langatmige Protokolle das rotgeſchriebene „fac-
tum“ unter dem Schöppenſtuhlurteil mit ſchauerlicher
Kürze abſtach — Verhandlungen des Reichskammer-
gerichts, die durch hundert Jahre verſchleppt und end-
lich verſandet waren — Strafakten der Juſtizkollegien,
die längſt hätten eingeſtampft ſein ſollen und in irgend
einem Archiv geſchlummert hatten, bis man ſie als
Makulatur verkaufte.
Unter dieſen war beſonders ein Juwel: die Unter-
ſuchung gegen einen berüchtigten Raub- und Mord-
geſellen, der in den Fahren 1770 und 1771 die Um-
gegend von Magdeburg unſicher gemacht hatte und
einige Jahre ſpäter ſeine Schandtaten unter dem
Rade — von unten herauf — büßen mußte.
Dieſe Schätze ſchleppte Ruprecht Linde aus dem
Gewölbe vier Treppen hinauf in ſeine Bude. Sie
waren nicht zum Verkauf beſtimmt, ſondern nur zum
Liebhaberbeſitz, und man konnte an den drei dicken
Bänden wochenlang leſen, obwohl hinten ſehr viel leeres
Papier war und vorne noch viel mehr leerer Formel-
kram. Wie hatten diefe alten Juſtizbeamten prachtvoll
32 Die Apachen. o
mit ihren Gänſekielen geſchrieben, und wie ſchien das
Papier für die Ewigkeit geſchaffen!
Der Aſſeſſor — denn er war wirklich mit dieſem
Titel penſioniert worden — ſtreichelte es mitunter voll
Zärtlichkeit und gewann dadurch Fritz Tonndorfs ganzes
Herz. Denn die beiden alten Knaben hatten ja nichts
weiter zu liebkoſen, und das war ein Punkt, der zu-
zeiten leiſe und vorſichtig zwiſchen ihnen erörtert wurde.
Die Kinder!
Daß die einander gerne gehabt hatten, wußten ſie
beide, oder ſie ahnten es wenigſtens, und wenn ſie
des Abends in der „Roſe“ oder in der „Guten Quelle“
beiſammen ſaßen, dann hob wohl Ruprecht Linde
grüßend und mit ſeinen Augen zwinkernd das Glas.
Aber Fritz Tonndorf wollte nichts davon wiſſen.
„Es kommt vor,“ ſagte er. „Bei uns in Zena fliegen
die Herzen leicht zuſammen, und wenn's keine Ramerad-
ſchaft iſt, ſo wird Liebe daraus. Die Treue iſt auch
im Saaltal nicht ſeltener und nicht häufiger als ander-
wärts, und ſie kann ihre Brücke bis Berlin ausſpinnen.
Aber in Paris weht eine andere Luft.“
„Sind auch Menſchen wie wir,“ meinte der Aſſeſſor.
„Die Menſchen machen es nicht, lieber Freund.
Es iſt das Große und Gewaltige und Betäubende einer
Weltſtadt, was die Gedanken nicht zur Ruhe kommen
läßt und die Erinnerung verwiſcht. Ich ſelbſt war nahe
daran, Oeutſchland zu vergeſſen, und ich hatte doch
keinen Tropfen romaniſchen Bluts in den Adern. Meine
Käthe aber iſt durch ihre Mutter eine halbe Franzöſin,
oder mehr als halb, denn die Kinder haben immer
das meiſte von der Mutter. Wenn ich ſie nicht hätte
ziehen laffen, fo wäre fie mir ſchließlich durch die Lappen
gegangen — ich glaube nicht, daß ſie jemals wieder
zurückkommt.“
O Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 33
„Was ſchreibt ſie denn?“
„Wenig oder gar nichts. Lieber Himmel, ſie hat
wohl viel um die Ohren, und ein alter Kerl wie ich
darf keine großen Anſprüche machen. Aber das Papier
iſt in Paris nicht teurer als bei uns, mit den Anfichts-
karten vom Louvre iſt mir auf die Dauer nicht gedient.“
Die Unterhaltung fand am Fuße des Fuchsturms
ſtatt, den die beiden häufig beſuchten, und Fritz Tonn-
dorf deutete auf das alte Gemäuer, aus deſſen Riſſen
das Gras wucherte.
„Neulich ſchickte ſie mir zur Abwechſlung eine vom
Eiffelturm, und ſie ſchrieb dabei, das wäre doch was
anderes als unſer Gerümpel. Sie iſt am Fuße des
Hausberg geboren und mit Saalwaſſer getauft, aber
das klingt nicht nach Heimweh oder auch nur nach
Heimatliebe, denn das Weh will ich ihr gerne er-
ſparen.“
Er hatte die Karte hervorgeholt und dem Aſſeſſor
gezeigt. Der betrachtete mit Intereſſe die wenigen
geſchriebenen Zeilen, die ganz gegen alle Mädchenart
nicht einmal den Raum ausnutzten und überhaupt einen
ſeltſam flüchtigen Eindruck machten.
„Da könnte manches dazwiſchen ſtehen,“ ſagte er
nachdenklich. „Übrigens ein pompöſes Bauwerk, dieſer
Eiffelturm; ich möchte das wohl mit eigenen Augen
ſehen.“
„Ich auch, Herr Aſſeſſor. Als ich Paris verließ,
dachte man gerade daran, ihn zu errichten. Aber er
ſtand noch nicht, es war erſt der Platz beſtimmt —
auf dem Marsfelde und in nächſter Nähe der Zena-
brücke. Alſo geht er uns auch was an, es gibt immer
wieder Beziehungen in der Welt.“
„Reiſen Sie doch hin!“ riet Linde, der ſich immer
noch mit der Poſtkarte beſchäftigte, denn er Da in
1913. IX.
34 Die Apachen. 2
Eiſenach als Schreibſachverſtändiger fungiert und ver-
ſtand ein bißchen von der Graphologie.
„Ich habe ſchon ſelbſt daran gedacht,“ ſagte Tonn-
dorf. „Mein Gewölbe kann ich ganz gut ein paar
Wochen ſchließen, oder Sie ſetzen ſich als Vertreter
hinein. Es war überhaupt ein Leichtſinn von mir, das
Mädel fo in die Welt hinauszuſchicken. Fünfund-
zwanzig Jahre können vieles ändern, vielleicht haben fie
meiner Schwägerin auch ein anderes Geſicht gemacht.“
„Dann würde ich nicht lange zögern. Dieſe Schrift
gefällt mir nicht, Herr Tonndorf. Es iſt keine Klarheit
darin, ſondern jeder Buchſtabe ſieht wie ein Geheimnis
aus.“
Sie brachen die Unterhaltung ab und ſtiegen tal-
wärts. Es war ein ſchöner ſtiller Abend, aber hinter
den jenſeitigen Höhen lagerten verdächtige Wolken.
Später löſten ſie ſich in ein Gewitter auf, obwohl
die Luft nicht ſchwül geweſen war. Und als Ruprecht
Linde in ſeiner Studentenbude hinter den Magdeburger
Räuberakten ſaß und nebenbei darüber nachdachte, wie
doch ſo viele Dinge ganz unerwartet kommen, trat Fritz
Tonndorf ein und hatte einen Brief in der Hand.
„Endlich!“ ſagte er. „Der erſte und vier Seiten
lang. Können Sie raten, was er bringt?“
„Eine Liebesgeſchichte?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Es ſtand Iden in der Handſchrift auf der Eiffel-
poſtkarte. Unruhig flatternde Herzen treiben ihren
Pulsſchlag bis in die Fingerſpitzen.“
„Unruhig flatternde Herzen!“ wiederholte der Alte
nachdenklich. „Eigentlich iſt in dem Briefe davon nichts
zu merken — im Gegenteil, die Käthe ſchreibt ſehr
kühl und verſtändig. Aber mit der Liebesgeſchichte hat
es ſeine Richtigkeit. Sie iſt verlobt, und zwar, wie es
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 35
den Anſchein hat, mit einem ſoliden und anſtändigen
Menſchen. — Nun hören Sie doch bloß den Donner-
ſchlag! Das muß der Richtung nach im Paradies nieder-
gegangen ſein.“
„Ja,“ fagte Ruprecht Linde, „warum gibt man der
Gegend auch ſo 'nen überirdiſchen Namen? — Alſo
ein ſolider, anſtändiger Menſch! Ein Oeutſcher?“
„Nein, natürlich Vollblutfranzoſe — Jean Lecocq
heißt er. Er iſt Werkführer in einer chemiſchen Fabrik,
alſo ſchon was Beſſeres. Aber darauf lege ich nicht das
Hauptgewicht —“
„Sondern —“
„Er kommt in dieſen Tagen hierher. Er will meine
Bekanntſchaft machen und förmlich um das Mädchen
anhalten. So was paſſiert nicht alle Tage.“
„Nein,“ ſagte Linde, „einem Franzoſen hätte ich
das gar nicht zugetraut. Sie wollen ihn aufnehmen?“
„Das iſt ganz ſelbſtverſtändlich. Die Liebe geht
immer ihren eigenen Weg, Vater und Mutter können
höchſtens Steine und Diſteln aus dem Wege räumen.“
Er ſah ſich um und lächelte. „Wenn das Mädel hier
wäre, dann möchte es ſchwer halten, hier Platz zu
ſchaffen. Nun kann er in ihrem Stübchen ſchlafen;
es ſind noch ein paar Erinnerungen darin, die ihn wohl
nicht ſtören werden, und in Paris lernt man es, ſich
mit dem Raum zu beſchränken. Ich hatte ſeinerzeit
ein Bett, einen Tiſch und zwei Stühle. Ich möchte
wohl wiſſen, ob mein zukünftiger Schwiegerſohn es
beſſer gewohnt iſt.“
Er ging, drehte ſich aber noch einmal an der Tür um.
„Ich glaube, lieber Linde, wir beiden alten Knaben
ſind in den paar Wochen Freunde geworden. Das
kann ſo bleiben, wenn auch das andere ins Waſſer
gefallen iſt. Schreiben Sie an Ihren Jungen, daß er
36 Die Apachen. el
ſich unter den Berliner Mädels umſehen foll. Die
Zenenſer find zu flatterig, fie können nicht auf einen
Literaten warten. WVerkführer in einer chemiſchen
Fabrik — ei, das läßt ſich hören, es iſt doch etwas
Solides daran. Ich wollte nur, die Käthe hätte ein
bißchen Genaueres darüber geſchrieben.“
Als das Gewitter ſich gelegt hatte, ſchrieb Ruprecht
Linde an ſeinen Sohn. Es war ein Brief, der bisweilen
durch Geräuſch von der Gaſſe unterbrochen wurde,
denn die Studenten kamen jetzt wie die Schnaken aus
ihren Löchern heraus und entſchädigten fih durch aller-
hand Unfug dafür, daß der Himmel in ihre Alleinherr-
ſchaft hineingeredet hatte. Aber im großen und ganzen
wurde es ein ſehr verſtändiger Philiſterbrief, der ſich
mit den ernſten Aufgaben des Lebens befaßte und
ganz am Schluſſe ſo beiläufig erwähnte, daß Käthe
Tonndorf ſich in Paris mit einem ſoliden Manne ver-
lobt habe. x x
S |
Egbert Linde war Kriminalſtudent geworden und
hatte ſich in Moabit heimiſch gemacht.
Nachdem er einige Wochen lang Berlin von innen
und außen kennen gelernt und jede Straßenbegeben-
heit unter eine fette Spitzmarke gebracht hatte, zitierte
Hans Lux ihn eines Tages in fein Redaktionszimmer
und ſagte: „Es wird Zeit, daß Sie ſich verändern, Herr
Kollege. Ich habe einen Weinreiſenden aufgefiſcht,
der ſeinen Beruf wegen Zipperlein aufgeben muß und
zum Laufen verurteilt ift — er wird Ihren bisherigen
Poſten würdig und mit Phantaſie vertreten. Wir ſind
alle der Veränderung unterworfen, ich ſelbſt gehe zur
Abwechſlung unter den Strich und bearbeite das Theater
nebſt einiger Kunſt und Literatur. Sie find mir nun
einmal zugeteilt und ſollen mich darin unterſtützen.“
o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 37
Als Egbert ein begeiſtertes Geſicht machte, kam die
Duſche.
„Es gibt nämlich heute zweierlei Theater,“ fuhr
Lux fort. „Die einen waren ehemals Kunſtſtätten und
wandeln ſich allmählich in Kientöppe um — die anderen
waren Tempel der Gerechtigkeit und ſind Schaubuden
geworden, in denen Senſationsſtücke ſpielen. Wer
heute einen guten, Gerichtſaal“ liefert mit Stimmungs-
bildern und Knalleffekten, der iſt in der Preſſe ein
gemachter Mann. Zeh ſtelle Ihnen zweihundert Mark
monatlich in Ausſicht, und Sie können damit das, Blaue“
in der Spandauer Straße beziehen. Wie weit ſind Sie
mit dem Stenographieren?“ i
„Fräulein Specht ift eine vorzügliche Lehrerin.“
„Ja,“ entgegnete Lux nachdenklich, „ich bin auch
bei dieſem Mädchen in die Schule gegangen. Ich
habe von ihr gelernt, wie man des Lebens Unverſtand
ohne Wehmut genießt und ohne mit den Füßen zu
ſtrampeln — es ift eine große Kunſt. Jetzt werde ich
bei Frau Eugenie in die Schule gehen.“
„Wegen der Bühne?“
„Nein, dafür genügt mir die Belehrung, die Hamlet
ſeinen Schauſpielern erteilt. Aber ich werde mir die
Karten legen laſſen. Neulich hat mein Leibarzt mir
etwas von der Zukunft orakelt, und für ein Extra-
honorar macht Frau Eugenie das wieder wett.“
Er hüſtelte in ſein Taſchentuch.
Egbert fand einen glücklichen Übergang. „Fräulein
Specht wird ſich freuen, wenn Sie wieder einmal
kommen. Sie beklagt ſich, daß es in der letzten Zeit
nicht mehr der Fall geweſen iſt.“
„Während der letzten Zeit war ich in Soden,“ ſagte
Lux bedeutſam. „Gehen Sie nie nach Soden, Herr
Kollege, wenn Sie es vermeiden wollen, daß junge
38 Die Apachen. kl
Mädchen ſich über Sie beklagen. Oder hat es eine
ſchon ſowieſo getan?“
Dieſer Mann war ja wohl ein Augur, der den Flug
der Raben kannte und das Raufchen ihrer Flügel hörte.
Egbert Linde ſtützte den Kopf auf, nahm eine tragiſche
Miene an und begann von feiner Liebſten aus Jena
zu erzählen.
„Verlobt ſind wir ja nicht gerade,“ ſagte er, „aber
die Treue haben wir uns doch verſprochen. Als ich
in Berlin eine Stellung gefunden hatte, ſchrieb ich es
ihr nach Paris. Seitdem iſt keine Antwort eingetroffen,
aber der Brief iſt auch nicht zurückgekommen. Wenn
jemand ſich beklagen kann, dann bin ich es.“
„Haben Sie nochmals geſchrieben, Kollege?“
„Fällt mir gar nicht ein!“
„Siebenzig mal ſieben,“ ſagte Lux. „Wiſſen Sie,
wo das ſteht?“
„Irgendwo in der Bergpredigt, glaub' ich. Warum?“
„Das handelt vom Vergeben zwiſchen Feinden. Ich
habe in der Liebe wenig Erfahrung, aber mich dünkt,
da müßte taufend mal tauſend ſtehen. O Jena, du
Schmetterlingsneſt!“
Egbert ſtutzte und dachte nach. „Alfo eine Stu-
dentenliebe, wollen Sie ſagen. Warum ſollte die nicht
haltbar ſein?“
„Weil fie nicht durch Arbeit geht,“ ſagte Lux ernit.
„Ich war ja auch dort, fie haben mich fo gut wie
jeden anderen an das Geleitshaus hinausgeſungen,
und irgendwo mag auch ein Fenſter geklungen haben.
Aber wenn wir an dieſe Zeit zurückdenken: es waren
Tage der Roſen und des Tändelns, und die Treue lag
in dem Kelche einer Mohnblüte. Es gibt nichts, was
ſchneller zerflattert als der Mohn, es gibt nichts, was
leichter vergeſſen macht, als ſein Saft. — Gehen Sie
a Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 39
nach Moabit und ſchreiben Sie Kriminalberichte, das
iſt ein gutes Elixir gegen Träumen und Schmachten
— da lernt man die Kehrſeite des Lebens kennen.“ —
Seitdem weilte Egbert als täglicher Gaſt in den
dumpfen Sitzungſälen der Zuftiz. Es war keine holde
Tätigkeit, denn rechts und links von ihm ſaßen die
waſchechten Kriminalſtudenten, und was da vorn hinter
dem grünen Tiſch verhandelt wurde, das war eine
ſchlechte Koſt für geſunde Geſchmacksnerven.
Aber Egbert wurde ſehr bald inne, daß das große
Publikum ſeine Nerven abgeſtumpft hat und Paprika
begehrt, wo man früher mit einer Priſe attiſchen Salzes
fürlieb nahm; er lernte, wie man einen pikanten Stil
ſchreibt, das Senſationelle mit fetten Worten unter-
ſtreicht, Nebenſächlichkeiten aufbauſcht, wenn ſie nur
der Mode des Tages kitzeln, und über juriſtiſche Schwie-
rigkeiten tändelnd hinweggleitet. `
Vor groben Schnitzern, die man gerade in den
Berichten über Gerichtſitzungen beſonders häufig findet,
ſchützten ihn ſeine juriſtiſchen Kenntniſſe, ſo mangelhaft
ſie ſonſt beſchaffen ſein mochten — und ſchließlich lernte
er, der keine Verantwortung für die Beobachtung ſtarrer
Formen trug, der die ganze Tragödie eines Kriminal-
falls gewiſſermaßen vom Parkett aus betrachtete, er
lernte jene Menſchenkenntnis, die man den Männern
am grünen Tiſche fo gern abſpricht.
Egbert machte pſychologiſche Studien. In dieſem
weltſtädtiſchen Milieu, wo der Typ des Durchſchnitts-
verbrechers nur eine untergeordnete Rolle ſpielt, er-
kannte er febr bald den großen Irrtum Lombroſos von
der geiſtigen Belaſtung des Verbrechertums, und er
geſtand eines Tages ſeinem Freunde Hans Lux, daß
er auf dem Wege zum Kriminalanarchiſten begriffen ſei.
„Je größer die Fähigkeiten eines Menſchen ſind,“
40 Die Apachen. u
ſagte er, „um ſo eher wenden ſie ſich gegen die Ge—
ſellſchaft — es muß nur die Möglichkeit gegeben ſein,
ſie im Krieg gegen das Geſetz leichter verwerten zu
können als unter ſeinem Schutze.“
Lux entgegnete: „Vielleicht find Sie auf der rid-
tigen Spur. Man erklärt neuerdings den erſten Na-
poleon für das bedeutendſte Verbrechergenie der Welt;
und ich glaube wirklich, daß er als Moralphiloſoph nie-
mals Bedeutendes geleiſtet hätte.“
* *
*
Eines Tages traf der Brief des alten Linde ein,
der die Nachricht von Käthes Verlobung in Paris ent-
hielt. Unter Donner und Blitz war er geſchrieben, und
wie ein Wetterſtrahl hätte er füglich einſchlagen müſſen.
Aber es war merkwürdig genug, daß Egbert eigentlich
keine abſonderliche Erſchütterung verſpürte.
Natürlich, er empfand einen Anflug jener Senti-
mentalität, die der Jugend fo wohl tut, weil fie das
lächelnde Abbild tieferer Schmerzen iſt, die uns aus
der Pandorabüchſe des Lebens aufgeſpart bleiben —
mitten in den Tagen der Roſen immerzu Roſen pflücken,
wird ſchließlich ein langweiliges Geſchäft; wir wollen
uns auch mal den Finger visen. und mit der SH
ſchlenkern. i
Egbert dünkte ſich ein wenig tragiſch. ge war
wirklich, abgeſehen von einigen Jugendeſeleien, feine
allererſte Liebe geweſen, und der ſagt man ſtets die
Zartheit der Mohnblüte nach. Sie hatten ſich geherzt
und geküßt, und ihre Küſſe waren geweſen wie das
Mondlicht, wenn es über den Nebel hinſtreift — und
in der nächſten Stunde . man nicht mepe ER
Spur.
Das alles war nun zerriſſen und verweht ind aus-
O ` Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 41
— ——
gelöſcht. Vergeſſen konnte man es niemals, und von
Rechts wegen war es zum Heulen. —
Als der junge Mann bis auf dieſen Punkt gelangt
war, ſchneuzte er fih die Nafe und ging hinüber in die
Regionen der Familie Specht, denn es war um die
abendliche Stunde, wo Berta ihm den ſtenographiſchen
Unterricht erteilte. Sie hielt mit ihrem eiſernen Pflicht-
gefühl ſehr pünktlich darauf, obwohl Egbert ein bißchen
liederlich war und lieber plauderte als krauſe Zeichen
hinmalte.
Sie waren wie gewöhnlich allein. Frau Eugenie
irrlichterte immer in allen Winkeln der Wohnung herum,
nur zu ihrer Tochter ſchien ſie kein rechtes Verhältnis
finden zu können, und Willibald Specht war überhaupt
nur zum Eſſen und Schlafen daheim. Hans Lux be-
hauptete ſogar, daß er bisweilen in der Kneipe unter
dem Billard nächtige.
Die Lampe ſang. Und ſie warf wohl ein trübes
Licht, denn Egbert malte feine Krähenfüße immer ver-
droſſener.
Berta ſagte endlich ſtrafend: „Heute find Sie wie-
der recht faul. Glauben Sie denn, Herr Linde, daß
fo was einem zugeflogen kommt? zch habe zwei
Fahre daran knacken. müſſen, bevor ich auf den Kern
kam.“
„Sie haben auch die Geduld dazu, Fräulein Specht.“
„Die kann man ſich angewöhnen.“
„Jawohl,“ ſagte er und ſchabte an ſeinem Stift,
„wenn einem immer andere Gedanken dazwiſchen
kommen! Dumme Gedanken meinetwegen — aber ſie
kommen doch.“
„Solche Anfechtungen habe ich auch durchgemacht,
Herr Linde. Oder glauben Sie nicht?“
Er ſah ſie prüfend an und ſchüttelte den Kopf.
42 Die Apachen. o
„Kühl, blond, normal vom Kopf bis zur Zehe. Nein,
Fräulein Specht, ich glaube es nicht.“
„Deſto beſſer. Alfo blond muß man vor allen Dingen
ſein, um Verſtand zu beſitzen? Sie ſind ja freilich auch
von meiner Farbe —“
„Und habe doch die heiße Torheit im Herzen. Oder
iſt das keine, wenn man an ein treuloſes Mädchen
denkt?“
Über Bertas Geſicht flog ein ganz feines Rot. Sie
nahm den Stift zur Hand und begann in Egberts Heft
zu korrigieren.
Nach einer Weile legte ſie ihn wieder hin. „Wie
ſonderbar, daß Sie gerade zu mir das fagen! Natür-
lich haben Sie eine Liebſte in Jena zurückgelaſſen.
Das tun ja wohl alle Studenten ohne Ausnahme,
und mit der Treue wird es auch nicht weit her
fein, aber die meiſten hüten ihr Geheimnis und ver-
ſchweigen ihren Schaden. Oder wollen Sie Troſt
von mir?“
Sie ſah wohl aus, als ob ſie tröſten könnte, und
er dachte ſich das gar nicht ſo unangenehm. Vor allen
Dingen aber hatte er das dringende Bedürfnis, ſein
Herz auszuſchütten, und er rückte mit ſeinem Stuhl
herum, ſo daß ſie faſt Seite an Seite ſaßen.
„Ich habe auch ſchon mit ihm darüber geſprochen,“
ſagte er bedeutſam. „Sie wiſſen natürlich, Fräulein
Specht, wer damit gemeint iſt, denn ich beſitze keinen
zweiten Freund in Berlin. Und Ihnen geht es viel-
leicht ähnlich.“
Berta nickte. „Alſo Herr Lux. Ich möchte wohl
wiſſen, wie er über eine Studentenliebe denkt. Seine
Anſichten ſind immer wertvoll, auch wenn ſie nicht auf
Erfahrung beruhen, denn ich habe ſelten einen klügeren
Mann kennen gelernt.“
o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 43
GE m nn lerne Les
„Er fagt, fie ginge nicht durch die Arbeit, und des-
halb wäre kein Beſtand darin.“
„Das ſieht ihm ähnlich. Er mißt alles an der Pflicht-
erfüllung, auch die Schläge des Herzens. Und dabei
iſt er doch kein Pedant.“ Sie blickte eine Weile ſtarr
vor ſich hin und wendete ſich dann lächelnd wieder
an ihren Genoſſen. „Alſo nun weiß ich alles, Herr
Linde, denn in ſolchen Dingen kombinieren wir ſchnell.
Ein ſüßes Ding, weder kühl noch blond, eine Lilie auf
dem Felde, ein Sonnenſtrahl zwiſchen Wolken. Sie
haben niemals über den Ernſt des Lebens miteinander
geredet, aber Sie haben miteinander getändelt und
gekoſt, wie es bei Verliebten Brauch iſt. Dann kam
das ſchlimme Auseinandergehen, und man wollte dar-
über ſterben — heute iſt ein anderer gekommen, und
nun hat das Herzchen wieder auf einige Semeſter
Erſatz. Iſt es darum wert, Herr Linde, mit den Ge-
danken in Jenas Gaſſen herumzulaufen wie der be—
kannte wilde Geſell?“
„Sie iſt in Paris,“ ſagte Egbert halblaut.
Berta machte große Augen. „Das arme Ding!
Sie hat hinaus gemußt aus dem Vaterhaus? Dann
will ich meine ganze Zlatterrede zurücknehmen, dann
braucht ſie wirklich jemand, der ihr näher iſt als Berlin
von Paris. Wenn ich mir vorſtelle, daß ich aus dieſem
Winkel hinter der Heiligegeiſtkirche heraus müßte —“
„Einmal werden Sie es doch müſſen,“ ſagte er und
malte mit ſeinem Stift allerhand Arabesken auf das
Papier.
„Wann?“
„Wenn Sie heiraten, Fräulein Berta.“
„Na endlich!“ fagte fie lachend. „Ich kann meinen
Stammnamen nämlich gar nicht leiden, aber deswegen
braucht man mich doch nicht unter die Haube zu bringen!
|
44 Die Apachen. .
Wollen Sie ſich einen Kuppelpelz verdienen? Mein
Vater wird ſehr wenig damit einverſtanden fein, denn
die Witzblätter werden immer magerer, und der Geld-
beutel will nicht zurückbleiben — außerdem fehlt es
noch zum Heiraten an einer kleinen Nebenſache: wo
iſt der Mann?“
„Hans Lux!“
Egbert erſchrak, als ihm das Wort herausgefahren
war, denn man kann mit einem Mädchen wohl über
die Liebe ſchwatzen, aber niemals über den heimlich
Geliebten — da wird ſie rot und verlegen und bricht
die Unterhaltung ab, oder es paſſieren noch ganz andere
Dinge.
Berta Specht aber blieb ganz ruhig ſitzen.
Sie nahm Egbert nur das mißhandelte Übungsheft
aus der Hand und ſah, daß er den Verſuch gemacht
hatte, ihre beiden Namen in ein ſchönes Monogramm
zu verſchmelzen. Sie lächelte flüchtig über dieſe
Spielerei.
„Hans Lux ift ein Mann, der jedes Mädchen glück-
lich machen würde,“ fagte fie. „Aber nicht jedes Mäd-
chen ift imſtande, feine Anſprüche zu erfüllen. Auch
gegen eine, die geiſtig unter ihm ſteht, würde er gütig
und nachſichtig ſein, aber es bliebe immer das Gefühl
einer Kluft auf beiden Seiten. Und nun werde ich
Ihnen noch ſchnell ein paar Sätze aus dem Lehrbuch
diktieren, denn ſonſt ift diefe Stunde ganz unnütz ver-
trödelt — oder glauben Sie, daß wir hier zuſammen
ſitzen, um Stickmuſter zu entwerfen?“
Sie arbeiteten nun eifrig.
Als Egbert ſein Zimmer aufſuchte, befand er fió
in einer ſeltſamen Gemütsverfaſſung.
Er hatte bis heute als ſicher angenommen, daß
Hans Lux von Berta geliebt würde, wenn auch natür-
oO Ein Parifer Roman von Frig Levon, 45
lich heimlich und vielleicht ohne Gegenliebe. Aber
dieſe kühle und verſtändige Art, mit der ſie zwiſchen
ihm und ſich ſelbſt eine Grenze zog, dieſes Abwägen
geiſtiger Vorzüge und Unterſchiede, das der Liebe ſo
fremd iſt, machte ihn wieder unſicher.
Und was dann? |
Sein eigenes Verhältnis zu Käthe war gelöft, wenn
überhaupt jemals ein feſtes Band beſtanden hatte, denn
Küſſe find wie der rinnende Tropfen an einem Waffer-
glas. Und wenn man ſagt, daß zwiſchen Liebe und
Haß nur eines Meſſerrückens Breite liegt: wahrlich,
zwiſchen einer überwundenen und einer keimenden Nei-
gung iſt oft kaum die Schneide eines Meſſers.
* *
*
Am letzten Abend der arbeitsreichen Woche ſaß
Egbert in ſeinem Zimmer und arbeitete an einem
großen Gerichtsreferat.
Sie hatten in Moabit einen jener internationalen
Hochſtapler verurteilt, die durch ihre überlegene In-
telligenz die Geſellſchaft täuſchen und den beiten Be-
weis dafür liefern, daß unſere ganze ſogenannte Kultur
im Grunde genommen nichts weiter iſt als eine dünne
Firnisſchicht über Moder und Barbarei.
Heute wußte die ganze Welt, daß dieſer elegante
Mann ein ganz gemeiner Verbrecher war, der jabre-
lang mit dem Auswurf der Zuchthäuſer verkehrt hatte.
Und dennoch war es ihm gelungen, ebenfalls geraume
Zeit die Rolle eines Grafen mit Erfolg zu ſpielen,
Herzen zu erobern und Herzen zu brechen — hatte denn
niemand ihm jemals in das Auge geſehen?
Denn fo oft Egbert während der langen Verhand-
lung ſeinen Blick nach der Anklagebank richtete, wurde
ihm immer wieder eines klar: die Seele des Menſchen
46 Die Apachen. (3)
kann durch Worte und Geſten und Handlungen ver-
hüllt werden, aber die Augen können ſich nur mit den
Lidern bedecken, niemals mit einer Lüge. —
Mitten hinein in dieſes Arbeiten und Grübeln klang
eine Stimme, die Egbert täglich hörte, aber in dieſem
Haufe noch niemals vernommen hatte: Hans Lux be-
grüßte auf dem Korridor Frau Eugenie und fragte,
ob er eine Taſſe Tee im Familienkreis einnehmen
dürfte.
„Wie ehedem,“ ſetzte er hinzu. „Sie wiſſen ja,
Frau Specht, was dieſes Wort bedeutet. Wir leben
alle mit unſerem Verſtand in der Gegenwart, aber
unfer Herz hängt an der Vergangenheit. — Iſt Fräu⸗
lein Berta daheim?“
Sie war es leider nicht. Sie hatte ſich ſeit einigen
Wochen den Sonnabend von ſieben bis neun Uhr mit
einem ſtenographiſchen Kurſus für junge Damen beſetzt.
„Auch mein Mann iſt ausgegangen,“ fuhr Frau
Eugenie fort. „Sie wiſſen ja, Herr Lux, in den Rünitler-
klub. Aber wenn Sie mit mir allein fürlieb nehmen
wollen —“
Egbert hörte nichts mehr, die Unterhaltung war in
ein Murmeln übergegangen, und die Wohnſtubentür
klappte.
In Frau Eugenies Tuskulum ſchaute der Redakteur
ſich um.
„Es kommt mir nicht auf den Tee an,“ ſagte er.
„Was mich herführt, kann auch ohne Aſthetik erledigt
werden. Wirklich, Sie haben noch immer die alten
Kränze an der Wand hängen! Warum werfen Sie
das Gemüſe nicht ins Feuer?“
Die verfloſſene Tragödin ſuchte den Maria-Stuart-
Blick hervor. „Sagten Sie nicht ſelbſt, daß unſer Herz
an der Vergangenheit hängt, Herr Lux?“
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 47
„Wenn man eine hat — allerdings. Aber dieſes
ſüßlich duftende Zeug erinnert ſo aufdringlich an Särge
und brennende Kerzen. — Sie e mir das nicht
übelnehmen, Frau Eugenie.“
Er hatte ſich auf einen Stuhl geſetzt und die langen
Beine übereinandergelegt.
„Nämlich, teuerſte Freundin, ich feiere morgen
meinen Geburtstag, und Sie begreifen wohl, daß wir
da lieber an die Wiege als an den Sarg denken. Ich
möchte Sie zu einer Landpartie einladen, oder wenn
Sie wollen, zu einer Sandpartie, denn was Beſſeres
findet man doch nicht in unſerer geſegneten Mark.
Haben Sie Gefühl für ſo was, verehrte Tragödin?“
„Gefühl wohl, aber keine Toilette,“ ſagte Eugenie
dumpf.
Hans Lux zog den Kopf zwiſchen die Schultern und
machte ein nachdenkliches Geſicht. „Wie ſteht es mit
den beiden jungen Leuten? Halten Sie mich für eine
ausreichende Tante?“
„Für Berta garantiere ich,“ ſagte Frau Specht mit
einer großen Handbewegung.
„Und ich forge dafür, daß Herr Linde keine Dumm-
heiten macht. Auf Ihren Mann rechne ich unter allen
Umſtänden. Er foll fein Skizzenbuch mitnehmen und
die Narrheiten des Lebens aufzeichnen. Wir werden
zuſammen ein Vierblatt abgeben, wie es noch unter
keiner Schnitterſenſe gemäht wurde.“
Er ſtand auf und betrachtete noch einmal das ganze
Zimmer.
„Wie mich dieſes Milieu anheimelt, Frau Eugenie!
ich ſehe die Zeit wieder, als ich das ‚Blaue‘ bewohnte,
als die blonden Zöpfe Ihrer Tochter ſich unter dieſen
welken Kränzen ausnahmen wie ein lächelnder Ana-
chronismus. Oh, daß die Jahre wie die Krebſe wären
48 Die Apachen. o
— langſam und rückwärtsſchreitend! — Sind Sie noch
immer abergläubiſch?“
„War ich das jemals, Herr Lux?“
„Sonſt müßten Sie ja heucheln, denn ich weiß doch,
daß Sie aus den Karten die Wahrheit ſagen. Es gibt
in unſerer Zeit ſo viel umgeprägte Werte, daß auch
dieſe Narrheit eine Währung beanſpruchen kann — ich
bitte Sie, Frau Eugenie, laſſen Sie ae auch einmal
in ihnen leſen.“
Sie ſah ihn mit ihren dunklen Augen! an und ſchüttelte
langſam den Kopf. „Ich bin auf Stimmungen abgetönt,
Herr Lux. Wer durch das Loch im Vorhang erkennen
konnte, ob das Publikum in der nächſten Stunde flat-
ſchen oder pfeifen wird, der weiß auch einen einzelnen
zu beurteilen. Sie haben heute irgend eine Antwort
vom Schickſal bekommen. Es iſt beſſer, daß Sie die
müßigen Fragen unterlaſſen. Zwiſchen uns beiden iſt
das Kartenlegen ein Unſinn. Aber ich werde mich
dennoch hüten, Ihnen Komödie vorzuſp ielen.“
Er gab ihr die Hand und lächelte. „Wie klug Sie
find! Ich fange an, Reſpekt vor Ihrer Kunſt zu fühlen.
Alſo im Ernſt: heute am Tage vor meinem Geburts-
tage hätte eine gute Karte mich erfreuen, eine ſchlechte
mich betrüben können. Es iſt aber vielleicht beſſer,
man läßt ſie beide unter den Tiſch fallen. Im übrigen
bleibt es bei der verabredeten Sonntagspartie. Wir
finden uns zu dem Neunuhrzug auf dem Anhalter
Bahnhof zuſammen. Das übrige bleibt dem Wetter-
gott und der Stimmung überlaffen.“
* *
*
Sie kamen wirklich alle drei zu der feſtgeſetzten
Stunde: Willibald Specht wie immer mit einem ziem-
lich bedeutenden Katzenjammer, Berta zum erſten Male,
o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 49
ſeitdem Egbert ſie kannte, in hellen Farben, die ihr
vortrefflich ſtanden und ſie jünger erſcheinen ließen —
Linde mit einer großen Portion Neugier.
Und er fiel ſofort über Hans Lux mit der Frage
her, was ſie denn mit dieſem traurigen Neunuhrzug
beginnen ſollten. Der fahre ja tatſächlich und wahr-
haftig bloß bis nach Fü— ter —bog und halte auf jeder
unmöglichen Zwiſchenſtation! |
Lux warf einen lächelnden Blick auf Berta. „Stellen
Sie dieſelbe Frage, Fräulein Specht?“
„Nein,“ entgegnete ſie ruhig. „Es genügt mir, daß
Sie es ſo beſtimmt haben, denn dann iſt auch ein
vernünftiger Zweck dabei.“
„Ich danke Ihnen, Kamerad. Dieſem Jüngling
wollen wir den Zweck andeuten: ganz Berlin läuft
heute nach anderen Weltgegenden, folglich werden wir
nicht ganz Berlin ſein.“
„Fürchten Sie ſich vor dem Butterbrotpapierꝰ⸗
fragte Egbert, der noch nicht ganz den Menſchenhunger
verlernt hatte.
„Ich fürchte am Sonntag alles, was Papier heißt.
Nur Ihr Skizzenbuch, Herr Specht, macht eine Aus-
nahme. Sie ſollen mir heute etwas zeichnen, was
noch niemals aus Ihrem Stift gekommen ift, und ich
will es als mein Geburtstagsgeſchenk über den Schreib-
tiſch hängen.“
Berta trug eine Roſe an der Bruſt. Die gab ſie
dem Schriftſteller. „Ich komme mit leeren Händen,
Herr Lux, wir wußten nichts von dem heutigen Tage.
Wollen Sie dieſe Blume von mir annehmen — es iſt
eine der letzten.“
„Ja,“ entgegnete er, „der Sommer iſt über den
Berg. Man könnte ihn darum beneiden. Aber wir
wollen heute nicht ſentimental werden, man feiert nur
1918. IX. 4
50 Die Apachen. u
einmal im Jahre Geburtstag. Oh, wie wohl dieſer
Anblick tut: zurückfliehende Häuſer, rückwärtswehender
Rauch! Die Vorwärtsbewegung iſt das Beſte, was wir
im Leben haben, und je ſchneller das geht, deſto früher
kommt das Ziel.“
Sie ſaßen im fahrenden Wagen, und Lux ſetzte ſich
dem Mädchen gegenüber.
„Der Frühling könnte Sie heute beneiden, Fräulein
Specht. Aber dennoch fehe ich einen Zug in Ihrem
Geſicht, der mir mißfällt. Muß der Menſch denn immer
arbeiten und ſorgen und denken? Rann er nicht eine
einzige Stunde des Lebens genießen, die ſo klar iſt
wie der Tautropfen?“ Ä
„Nein,“ entgegnete ſie plötzlich, „dann wird eine
Träne daraus.“ N
Hans Lux warf einen ſchnellen Blick nach der anderen
Seite des Abteils. Dort ſaßen Egbert und Willibald
Specht an den Fenſterplätzen und ſprachen über die
Kunſt des Schreibens. Der Maler behauptete, er könne
jede beliebige Handſchrift in einer Stunde erlernen;
Egbert aber beſtritt das energiſch und meinte, nur ganz
charakterloſe Menſchen wären einer ſolchen Anpaſſung
fähig.
Lux dämpfte die Stimme. „Nun weiß ich es,“
ſagte er. „Es gibt ein Bild, das die Seherin Velleda
vorſtellt, das ſchöne blonde Germanenweib, wie es
im Eichwalde ſteht und nach dem Klirren der römiſchen
Legionen aushorcht. So ſahen Sie vorhin aus, als
das Wort von den Tränen über Ihre Lippen kam.
Was ſehen Sie?“
„Leid,“ erwiderte ſie einſilbig.
Dieſes verhaltene Geſpräch konnte nicht mehr fort—
geſetzt werden, denn fie waren an einer kleinen Gta-
tion angelangt, wie ſie überall in der Mark verſtreut
o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 51
liegen, und Lux behauptete, hier ſei das Ziel ihrer
Fahrt.
Als ſie aber ausgeſtiegen waren und den Bahnhof
hinter ſich hatten, bog er in einen Hohlweg, der ſie
tiefer in das Gelände hineinführte, und nach einer
Meile öffnete ſich vor ihnen eine jener Erdfalten, die
der Reiſende am wenigſten hinter Sandflächen und
Kieferbeſtänden vermutet, mag er auch in der Geo-
graphie gelernt haben, daß ſelbſt die Wüſte Sahara
ihre Oaſen birgt.
An einem kleinen See lagerte ſich ein Dorf. Der
Kirchturm ragte aus einem Gewirr von Erlen und
Birken hervor, magere Acker zogen ſich nach den Sand—
hängen hinauf, über dem Ganzen ruhte der braun-
goldene Schimmer eines ſpäten Sommertages.
„Meine Heimat,“ ſagte Lux. Er hatte ſich mitten
in die Sonne an einen Wall gelagert und ſah den
Schwalben nach, die pfeilſchnell unter der blauen
Himmelswölbung hinſchoſſen; dann wendete er den
Kopf. „Wiſſen Sie, warum ich ausgerechnet heute
dieſen Weltwinkel aufgeſucht habe?“
Berta gab eine ausweichende Antwort. „Es war
jedenfalls keine bloße Laune, denn die habe ich noch
niemals an Ihnen erlebt.“
„Gut, Sie ſollen es ſpäter erfahren. Was meinen
Sie, Meiſter Willibald, würde ſich eine Skizze von
dieſem Idyll über dem Schreibtiſch eines modernen
Preßmenſchen gut ausnehmen?“
„Es wird auch nur eine Karikatur,“ ſagte der Maler
grämlich. „Ich bin fo in das verwünſchte Verzeichnen
hineingeraten, daß ich nicht einmal einen geraden Kirch-
turm fertig bringe. Vielleicht ſind auch die ſchrägen
Geſtalten daran ſchuld, die ich dieſe Nacht wieder mal
geſehen habe.“ |
*
52 Die Apachen. 2
Die kleine Geſellſchaft ging ins Dorf.
Sie nahmen das Mittageſſen in dem Wirtshaus
ein und machten mit Glimpf und Schimpf aus der Not
des Landlebens eine Tugend. Aber als der übernächtige
Maler ſich für den Heuſtadel intereſſierte und Egbert
gleiche Gelüſte kundgab, winkte Hans Lux mit den
Augen und verließ geräuſchlos das Gaſtzimmer.
Als Berta nach einer Weile folgte, traf ſie ihn in
dem kleinen Gärtchen, wo er zwiſchen Blumenbeeten
ſtand und eine Herbſtaſter betrachtete.
„Sie wird ihren Stern bald aufgehen laſſen,“ ſagte
er. „Wiſſen Sie auch, daß ich eine Torheit begangen
habe, die beiden Großſtädter, den Eingeborenen und
den Werdenden, in dieſe Wüſte hinauszuführen? Sie
und ich, wir hätten dieſen Weg allein machen ſollen,
denn wir wiſſen, was Einſamkeit wert iſt. Aber die
Sitte war dagegen, denn Sie zählen erft zweiund-
zwanzig Zahre, und ich ſelbſt bin heute ſechsunddreißig
alt geworden.“
„Und dennoch würde ich mit Ihnen ohne Furcht
bis an das Ende der Welt gehen,“ ſagte Berta offen.
Er ſtreifte ihre ſchöne, blühende Geſtalt mit einem
nachdenklichen Blick und horchte dabei auf das Summen
der Bienen. „Jetzt nehme ich Sie beim Wort. Bis
ans Ende der Welt iſt gar nicht ſo weit, als mancher
glaubt, und in dieſen engen Verhältniſſen ſind es keine
hundert Schritte. Kommen Sie mit. Zeden dieſer
Schritte könnte ich mit geſchloſſenen Augen gehen, und
es gibt nicht wenige, die das wirklich tun, aber dann
werden ſie getragen.“
Er ſchritt langſam mit dem Mädchen die Dorfgaſſe
hinunter und ſah ſich von Zeit zu Zeit um.
„Hier hat fih in einem Vierteljahrhundert nichts
verändert. Dort liegt das Pfarrhaus, unter deſſen Dach
u Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 53
ich geboren wurde, und das Dach iſt noch ebenſo morſch
wie damals. Nur der Efeu iſt weiter hinaufgeklettert,
und er wird es nächſtens ganz überſpinnen. Wiſſen
Sie, wohin wir gehen?“
„Auf den Friedhof,“ ſagte ſie und nickte vor ſich hin.
„Richtig. Sie kennen meine Gedanken und meine
Ausdrucksweiſe — das Ende der Welt iſt dort, wo die
Kreuze ſtehen. Und nun ſollen Sie mir auch Ihr eigenes
Denken aufdecken, wie Velleda, die Seherin, es tat
vor zweitauſend Jahren. Was ift das für Leid, von
dem Sie ſprachen?“
ö „Ich ſah meinen Vater an,“ entgegnete ſie leiſe.
„Heute iſt er wieder erſt gegen Morgen heimgekommen,
und ſo geht das beinahe Nacht für Nacht. Er ſagt, die
Nachtſtunden müßten Stoff geben für ſeine Skizzen,
und bisweilen mag er auch etwas einheimſen, was
ihm bezahlt wird, aber das meiſte, was er tut, iſt keine
Ausſaat und keine Ernte, es iſt ſo öde und unfruchtbar
wie die welken Kränze in der Putzſtube meiner Mutter,
und es iſt ebenſo unwürdig wie ihr Gaukelſpiel mit
den Karten.“ |
„Die Kinder tragen keine Verantwortung für das
Handeln der Eltern,“ ſagte er ablenkend.
Über das ſchöne Geſicht des blonden Mädchens fuhr
ein helles Rot. „Nein, Herr Lux, wir ſtehen in unſeren
eigenen Schuhen, und meine ſind rein. Aber Sie haben
bei uns gewohnt, und Sie haben hinter die Kuliſſen
geſehen. Damals war ich ein junges Ding und tüm-
merte mich nicht viel um die Meinung anderer — aber
nun ich Sie kenne und an Ihnen ſah, was Arbeit und
Pflicht und Ehre bedeuten, ſeitdem werde ich rot, wenn
Sie den Fuß über unſere Schwelle ſetzen. Geſtern
waren Sie bei meiner Mutter, gütig und nachſichtig
wie immer —“
54 Die Apachen. o
„Und morgen werde ich wiederkommen,“ fekte er
hinzu, als ihr die Stimme brach. „Aber ich bedarf
dazu einer beſonderen Erlaubnis, es muß zwiſchen uns
beiden ein Vertrag geſchloſſen werden.“
Sie waren bei dem Friedhof angelangt, und Hans
Lux öffnete ſeiner Begleiterin das Gittertor. Es
wuchſen einige Dornen in der Nähe, und als ſich ihr
Kleid darin verfing, riß er es heftig los, ohne Rück-
ſicht auf das leichte Gewebe.
„Greifſt du ſchon aus der Erde? Das iſt nichts für
deine Krallen!“ ſagte er wie zu einem Anſichtbaren,
und dann führte er das Mädchen zu einer Bank, die
neben zwei efeuüberſponnenen Gräbern ſtand.
. „Das ſind Ableger vom Pfarrhaus, Fräulein Berta.
Ich meine dieſe Ranken. Aber auch was darunter iſt,
oder was darunter war, denn es iſt lange her. Meine
Eltern ſtarben früh, und als ich auswanderte, war ich
in Wirklichkeit heimatlos. Wiſſen Sie, was die ſpätere
Zeit, was die Tage bis heute ausgefüllt hat?“
„Arbeit,“ ſagte ſie und begann mit den Augen
zwiſchen dem grünen Gewirr zu ſuchen. Aber es war
kein Stein und keine Nummer und kein Name mehr
zu finden. Da gab ſie es auf und blickte ihm in die
nachdenklichen Augen.
Er aber wiederholte ihr letztes Wort. „Arbeit? —
Als wenn Sie nichts anderes reden könnten als das!
Meine Tage werden ausgefüllt mit der tiefen Sehn—
- fucht nach einem Heim.“
Wieder kam das Suchen in ihre Augen, wo doch
nichts zu finden war. Und ſie entgegnete: „Sie täuſchen
ſich, Herr Lux. Was bedeutet das Heim für einen
Mann, deſſen Geiſt die Welt umfaßt? Eine Laune
vielleicht, eine Anwandlung, ein Spielzeug.“
„Es hätte die Probe gegolten,“ entgegnete er und
D Ein Parifer Roman von Frig Levon. 55
begann die Rofe, die fie ihm geſchenkt hatte, langſam
zu zerpflücken. Als ein Blatt nach dem anderen hin-
geflattert war, warf er den leeren Stiel zwiſchen die
Efeuranken und richtete ſich auf. „Es iſt ſeltſam, daß
wir immer den verſagten Schätzen am meiſten nach-
graben, wo doch fo vieles zutage liegt, was des Auf-
hebens wert ift. Da fike ich nun hier mit meinen feds-
unddreißig Lenzen und male mir die Reize einer Kinder-
ſtube aus, während die Bienen über den Gräbern
ſummen. Ich war nämlich geſtern beim Doktor —“
Das kam fo plötzlich und mißtönend wie das Schwin-
gen einer geſprungenen Saite, aber als das Mädchen
ihn erſchrocken anblickte, lächelte er ein wenig und ſprach
gelaſſen weiter. N
„Es hat alles ſeinen natürlichen Zuſammenhang,
auch dieſe unnatürliche Fahrt zwiſchen Sand und
Kreuze. Alſo man geht mal auf die Bank, um einen
Kurs zu erfragen, oder zum Anwalt wegen eines
Rechtsrates, und fo kommt man auch in gewiſſen An-
gelegenheiten vor die Tür des Arztes. Ob er mir wohl
das Heiraten empfehlen könnte, fragte ich dieſen Wahr-
ſager, und er begann an mir herumzuklopfen. Nicht
etwa am Schädel, ſondern anderswo, und dann kam
das Orakel: er könnte es mir ganz und gar nicht
anraten, denn das ſei eine Torheit und ein Verbrechen
gegen die Zukunft und eine pure Unmöglichkeit. Und
dabei ift der Kerl ſelbſt Bater von drei blühenden Kin-
dern. Was ſagen Sie dazu, Berta?“
Sie hatte es aufgegeben, in die Efeuranken zu
ſtarren und auf den Sand und in den blauen Himmel.
Sie nahm ihr Taſchentuch und führte es an die Augen.
Aber über ihre Lippen kam kein Laut.
„So war es nicht gemeint, Kamerad,“ fuhr Hans
Lux fort. „Wir ſind doch deshalb an dieſen Platz
56 Die Apachen. Ä o
gepilgert, wo man ganz leicht und ſelbſtverſtändlich von
ſolchen Dingen ſpricht, wenigſtens viel beſſer als in
dem lebenshungrigen Berlin. Übrigens hat der Doktor
mich nicht geradeswegs hierher zu meinen Vätern ge-
ſchickt, ſondern er meinte, ich könne ja recht gut noch
eine Reihe von Jahren leben, nur die Familiengedanken
ſollte ich mir aus dem Kopf ſchlagen und froh ſein,
daß ich keine hätte. Leicht geſagt. Aber er wird wohl
wiſſen, was für mich das Beſte iſt.“
Seine Art war fo ſeltſam, daß Berta ihr Tränen-
tüchlein wieder einſteckte. Es lag nicht die mindeſte
Sentimentalität in ſeiner Stimme, ſondern ein ſtille
Heiterkeit, die dem Frieden der Umgebung vollkommen
angemeſſen war.
Und dann ſah er das Mädchen von der Seite an.
„Haben Sie gar keine Frage, Berta?“
„Doch,“ entgegnete ſie. „Das alles iſt ſehr traurig,
und die meiſten ſchleppen es mit ſich herum. Warum
haben Sie es mir geſagt? Vielleicht trage ich noch
ſchwerer daran.“
„Sie?!“
Mit einem warmen Aufleuchten ſeiner großen und
ſchönen Augen umfaßte er die Geſtalt des Mädchens
und legte plötzlich ſeine Hand in ihren Schoß.
„Berta, wie wenig kennen Sie ſich ſelbſt, oder wie
gut verſtehen Sie das uralte Frauenſpiel! Sie ſollten
ſchwer an irgend einer Wahrheit tragen, Sie, deren
ganzes Leben nichts als Wahrheit ift? Deren könig—
liches Haupt ſich nur in Scham neigt, wenn die Lüge,
die Erbärmlichkeit und die Schwachheit es mit den
Fledermausflügeln ſtreifen? Nein, Kamerad! Daß der
Mann neben Ihnen abwärts geht, ijt ein Verhängnis,
dem wir uns fügen müſſen, aber Sie ſollen wenigſtens
erfahren, daß er ohne dieſes Verhängnis ſeine Hand
o Cin Parifer Roman von Frig Levon. 57
nach dem Leben ausgejtredt hätte.“ Er atmete tief
auf und fuhr fort: „Daß wir uns lieb haben, Berta,
wiſſen wir beide. Es iſt niemals darüber geſprochen
worden, aber das gemeinſame Denken, die gemeinſame
Arbeit — jawohl, Berta, wir haben wirklich zuſammen
gearbeitet — alles das machte die Worte überflüffig,
bis die Zeit herankam, wo Sie eine Tat erwarten
konnten. Seit kurzem ſtehe ich auf der Höhe meines
Erfolgs, bin ich ein ſelbſtändiger Mann geworden, ver-
mag ich eine Familie zu ernähren. Und als ich dennoch
meine Hand nicht regte, dieſe Hand, die das Glück an
fidh reißen möchte, da blickten Sie fih in Ihren Wänden
um und ſahen die kartenſchlagende Mutter und hörten
bei Nacht den ſchweren Schritt Fhres Vaters. An
Ihrem eigenen Werte konnten Sie nicht irre werden,
Verta, aber an mir haben Sie gezweifelt, Sie hielten
auch mich für einen Anhänger der Lehre, daß die
Sünden der Väter in den Kindern ihr Echo finden
ſollen. Seit dieſer Stunde, die ich Ihnen und mir
ſchuldig war, ſeit dieſer letzten Minute vielleicht wiſſen
Sie die Wahrheit: ich möchte zu Ihnen kommen mit
meiner ſehnſüchtigen Seele, und Sie dürfen nicht zu
mir kommen mit Ihrer blühenden Jugend — wir find
es dem Leben ſchuldig, Berta, daß die Natur in Feſſeln
geſchlagen wird. Es iſt eine Welt ſo närriſch wie am
Faſching, und fie ift nicht den Katzenjammer des Aſcher⸗
mittwochs wert.“
Er wartete keine Antwort ab, ſondern erhob ſich
und ſchritt langſam zwiſchen den Gräbern entlang. Es
waren ihrer nicht viele, aber welke Kränze lagen doch
überall verſtreut, und in der warmen Luft hauchten
ſie noch einen ſüßlichen Duft aus.
Als Berta wieder neben ihm ſtand, hatte ſeine
Stimme den leidenſchaftlichen Klang verloren. „Wie
58 Die Apachen. o
im Salon Ihrer Mutter,“ fagte er lächelnd. „Ein bib-
chen Moder, ein bißchen Lavendel und eine ganze
Maſſe Vergangenheit. Ich habe immer gerne darin
geſeſſen, als ich noch die blaue Pracht bewohnte, und
es gelüſtet mich, wieder dasſelbe zu tun. Mein junger
Kollege iſt ja eine vortreffliche Brücke zwiſchen Ihnen
und mir — darf ich ſie recht oft betreten und wieder
meine freien Abende in dem Kreiſe der Familie Specht
zubringen?“
Sie blickte ihn nicht an, ſondern murmelte nur einige
Morte, aber fein ſcharfes Gehör hatte die doch auf-
gefangen, und er ſchob vertraulich ſeine Hand in ihren
Arm, um ſie dem Ausgang zuzuführen.
„Sie haben recht, Berta, an der Familie ift mir
nicht ſo ſchrecklich viel gelegen. Wir brauchen uns keine
Sorge darum zu machen, es wird niemand uns ſtören,
und es wird keiner Einſpruch erheben, wenn wir unter
den Kränzen und Schleifen zu zweit miteinander plau—
dern. Es geht ja im Leben ein jeder ſeinen Weg, und
wir wollen unſeren entlang wandern. Sch weiß auch,
wovon wir am liebſten reden werden, Berta —“ |
Sie waren jetzt auf einem ganz einſamen Pfade,
der hinter dem Dorf entlang führte und in dieſer Sonn-
tagſtille wie ausgeſtorben war.
Hans Lux hob plötzlich ſeine Hand, um mit einer
ganz flüchtigen Bewegung die blonden Flechten des
Mädchens zu ſtreifen.
„Daß Sie eine Braut werden follen und ein jtrah-
lendes Weib! Wenn wir nach dieſem kurzen Feiertag
heimfahren, liegt die rote Dunſtwolke über Berlin,
und wir müſſen wieder hinein in den Glutofen der
Arbeit. Heute nehmen die Frauen mehr daran teil
als vor fünfzig Fahren, und fie halten ſich das Schickſal
alter Tanten und grämlicher Zungfern tapfer vom
de Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 59
Leibe. Aber das beſte Glück findet ſich doch an der
Seite eines tüchtigen Partners — er darf nur nicht
das Orakel der Arzte anrufen und an feinem Geburts-
tag zwiſchen Gräbern herumkauern. Sehen Sie, meine
ſchöne blonde Freundin, unter dieſem alten Raftanien-
baum habe ich als Knabe mit meiner allererſten Jugend-
liebe ein Butterbrot geteilt — ſoll der Menſch nicht
damit zufrieden ſein, auch wenn er das letzte Stück
Brot allein eſſen muß?“
Sie waren wieder in der roten Dunſtwolke unter-
getaucht und wanderten vom Bahnhof nach der Heilige-
geiſtkirche. Erſt zu viert, dann trennte ſich Hans Lux
ab, und bald darauf fand auch Willibald Specht einen
Seitenweg, denn er war in der Dorfſchenke nicht zu
ſeinem Recht gekommen.
Zuerſt blieben die beiden jungen Leute ſchweigſam.
Dann ſagte Egbert: „Dieſer Ausflug war ſeltſam.
Wenn alle Berliner ihren Sonntag fo abſeits verbringen,
dann unterſcheiden ſie ſich jedenfalls ſehr von anderen
Hauptſtädten. So oft man die Schilderungen aus
Paris lieſt —“ |
Er brach ab und ſenkte den Kopf.
„Ja fo, Paris geht mich nichts an, und doch mußte
ich heute den ganzen Tag daran denken. Gibt es
Ahnungen, Fräulein Specht?“
„Man ſagt, daß eine ſehr große und tiefe Liebe ſie
auslöſen könne,“ entgegnete das Mädchen zögernd, „aber
ich weiß wirklich nicht, ob das noch bei Ihnen zutrifft.“
„Nein,“ verſicherte er eifrig, „Sie verſtehen mich
falſch. Wenn mein Herz jemals an der Seine war,
heute iſt das ganz gewiß nicht mehr der Fall, und ich
meine überhaupt etwas ganz anderes. Es iſt ſeltſam
60 Die Apachen. 2
und läßt ſich nur ſchwer in Worten ausdrücken, wir
wollen lieber nicht mehr davon reden, ſonſt lachen Sie
mich ſchließlich noch aus — Sie mit Fhrem kühlen
Berliner Verſtand!“
Als ſie das Haus betraten, kam Frau Eugenie ihnen
auf den Fußſpitzen entgegen und flatterte mit den
Händen. Theatraliſche Angewohnheiten hatte ſie ja
immer beibehalten, und man durfte nicht allzuviel Ge-
wicht darauf legen; aber die beiden jungen Leute wurden
doch neugierig, als ſie ſie in das Zimmer mit den welken
Kränzen führte und die Tür behutſam ſchloß.
| „Endlich!“ fagte fie und fant auf einen Stuhl.
„Denke dir, Berta, ich habe die blaue Stube vermietet,
und der Herr iſt ſehr zufrieden damit, er verlangt nicht
die geringſte Anderung, obwohl, unter uns geſagt, die
Gardinen nicht mehr ganz neu ſind. Er iſt auch ſofort
eingezogen und arbeitet wahrſcheinlich bereits an einem
Werk. Denn als ich Sie, Herr Linde, als feinen Wand-
nachbar bezeichnete, da lächelte er ſehr verbindlich
und ſagte etwas von einem Kollegen.“
Berta nahm die Sache kühl auf. „Seitdem Herr
Lux fort iſt, ſteht das Zimmer leer. Was für ihn gut
genug war, Mutter, damit können auch andere zu-
frieden ſein. Wie heißt der Herr, und was macht er
für einen Eindruck?“
„Er hat die Manieren eines feinen Mannes. Er
kommt aus Paris und nennt ſich Renard, aber ich habe
noch niemals einen Franzoſen kennen gelernt, der die
deutſche Sprache ſo meiſterhaft beherrſchte. Er muß
ein berühmter Schriftſteller ſein, denn jedes ſeiner
Worte klingt wie Muſik. Ich hoffe, Herr Linde, Sie
werden bald mit ihm Freundſchaft ſchließen, und dann
wollen wir einen ſchöngeiſtigen Kreis bilden, wie ich
ihn ſeit meiner Bühnenzeit nicht mehr genoſſen habe.“
D Ein Parifer Roman von Frig Levon. 61
Bei dem Worte „Paris“ kreuzten fih Bertas und
Egberts Blicke.
„Gibt es Ahnungen?“ ſagte ſie halblaut. Und dann
fuhr ſie fort: „Von einem berühmten franzöſiſchen
Schriftſteller Renard habe ich noch nie gehört, aber das
will freilich nicht viel ſagen. Vielleicht kann Herr Lux
Antwort geben —“
Frau Eugenie fuhr aufgeregt dazwiſchen. „Lux?
Ja fo, wie war's denn heute mit dem Ausflug? Habt
ihr euch gut unterhalten?“
Egbert hatte das Zimmer verlaſſen, und die beiden
Frauen waren allein. Die Tochter ſchwieg eine Weile,
dann begann ſie ihre reichen Haare aufzulöſen, bis die
blonde Flut wie ein Mantel um ſie niederfiel.
„Wie wohl das tut nach dieſem heißen Tage! —
Ob wir uns gut unterhalten haben, Mutter? Es war
wohl ein bißchen anders wie im Grunewald oder auf
einem Rummelplatz — wir waren in einem kleinen
Neſt zwiſchen Sand und Kiefern. Hans Lux iſt dort
geboren, und er wollte gerne ſeinen Geburtstag dort
feiern. Vielleicht iſt es der letzte oder der vorletzte —
wer kann das ſo genau wiſſen.“
„Der Stärkſte war er nie,“ ſagte Frau Eugenie
unſicher.
„Nein, der Arzt hat es ihm bezeugt. Und ſeit heute
glaube auch ich daran. Weißt du auch, Mutter, daß
er mich liebt?“ S
„Da fei Gott vor!“ ſagte die Frau erſchrocken. „Ein
kranker Mann!“
Berta ſaß da und ſpielte mit ihren Haaren. Es
war ein nervöſes Spiel, das ſah man an dem Zucken
der ſchlanken Finger, aber ſonſt war fie ganz ruhig
und konnte auch ihre Stimme beherrſchen.
„Ou brauchſt dich nicht zu ſorgen, Mutter. Wenn
62 | Die Apachen. o
Hans Lur liebt, ift das eine andere Liebe wie bei den
gewöhnlichen Menſchen. Ich habe mich nie darauf
angeſehen, ob ich ſchön bin und blühend, aber er ſagt
es, und ich glaube ihm wie ein gehorſames Kind.
Und das alles liebt er nicht für ſich, ſondern er will,
daß ich es für meine Zukunft an einen anderen ver-
ſchenke. Nur ein Stückchen von meiner Seele will er
behalten, ſolange er lebt. Dann — ſpäter — ſoll das
auch einem anderen gehören. Das iſt groß, Mutter —
kannſt du die Größe begreifen?“
„Ich habe ſie dargeſtellt,“ ſagte die Frau leiſe und
zaghaft.
„Ja — auf der Bühne. Aber das iſt Leben. Ein
ſelbſtloſer Reſt, aber doch ſein Leben. Er wird jetzt
öfters zu uns kommen, und du darfſt nichts dagegen
einwenden. Das iſt für dies Haus eine Ehre. Und er
wird auf den Augenblick warten, wo ich meine Frauen-
pflicht erfülle und meine Hand einem anderen gebe.
Ich will das tun, Mutter, fobald der andere kommt.
Kann ein Weib mehr tun?“
Sie ſtand auf, warf die blonde Fülle der Haare
hinter ſich und verließ das Zimmer.
Frau Eugenie ſah ihr nach und ſah auf ihre Kränze
und Schleifen. „Spielen kann man das,“ murmelte
fie, „es wäre eine ſchöne und tragiſche Rolle. Aber
die dort ſpielt nicht, ſie hat keinen Tropfen von dem
mütterlichen Blut geerbt. Es liegt in unſerer Zeit ein
Rätſel, das ich nicht begreifen kann — es iſt wohl die
kommende Zukunft.“
* R
*
Egbert Linde war auf ſein Zimmer gegangen, um
den Artikel zu Ende zu ſchreiben, an dem er geſtern
gearbeitet hatte.
o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 63
ä — —-— — — — — —-— —— —— — —-„—-—¼ . —
Dieſer enge, nach dem Hofe gelegene Raum war
ſo ſtill, daß er das Summen der Mücken hören konnte,
die draußen in der dumpfen Luft ihr Spiel trieben.
Nach dieſem ſchwülen Tage wollte wohl noch einmal
ein Gewitter heraufkommen, bevor der Herbft feinen
Einzug hielt.
Egbert fühlte ſich beklommen. Er grübelte über
die Urſache, denn ſeine geſunden Nerven waren von
Witterungseinflüſſen unabhängig. Es mußte ein an-
derer Grund vorliegen.
Und dann entſann er fih plötzlich feiner. neuen
Nachbarſchaft. ö |
Die beiden Mietzimmer, das grüne und das blaue,
lagen ziemlich abſeits in der geräumigen Wohnung,
und da bisher nur das eine bewohnt geweſen, ſo hatte
ſich in Egbert das Gefühl der völligen Alleinherrſchaft
herausgebildet. Nun teilte er das Reich mit einem
anderen, es lag nur eine dünne Scheidewand zwiſchen
hüben und drüben. Und diefe Nähe wirkte unbehaglich,
nicht etwa durch Geräuſche oder ähnliche Beläſtigungen,
ſondern durch das gerade Gegenteil. |
Frau Eugenie hatte gefagt, daß der neue Mieter
bereits eingezogen und daß er zu Hauſe ſei. Aber er
verhielt ſich ſo lautlos, wie es kaum ein Schlafender
fertig bringt, deſſen Atem doch zu hören iſt oder eine
unwillkürliche Bewegung des Körpers.
Hatte er etwa den Nachbar eintreten hören und
lauſchte er an irgend einer Stelle, die in dieſem alten,
morſchen Bau wohl unſchwer zu finden war?
Da war es ſchließlich kein Unrecht, wenn man
zuvorkam.
Es befand ſich zwiſchen den beiden Zimmern eine
Verbindungstür, die natürlich verſchloſſen und außer-
dem durch ein Sofa verſtellt war. In dem Schlüſſelloch
64 Die Apachen. o
ftedte von drüben ein Schlüffel, aber die Türfüllung
klaffte ein wenig, und wo man mit Kitt nachgeholfen
hatte, war die Arbeit läſſig und unvollſtändig.
Egbert ſtreckte ſich mit einem tiefen Seufzer der
Ermüdung auf das ebenfalls ſeufzende Sofa. Er ſchämte
ſich auch etwas und bedauerte ſeine eigene Neugier —
aber es war ihm ganz unmöglich, anders zu handeln,
und er dachte nur daran, daß Berta ihn ſtrafend an-
geſehen haben würde.
Überhaupt, dieſes ſchöne blonde Mädchen!
Zeden Tag entdeckte Egbert neue Vorzüge in ihrem
Weſen, in ihren Zügen, in ihrer Geſtalt. Heute war
ſie geradezu entzückend geweſen. Aber natürlich —
gegen einen Hans Lux konnte er nicht aufkommen,
die beiden hatten ja den ganzen Nachmittag mitein-
ander geheimnißt, und nächſtens gab es wohl gar eine
Verlobung!
Nach dieſer Betrachtung brachte Egbert ſein Auge
an den Türſpalt, und er gab fih einer anderen Be-
obachtung hin.
Der Franzoſe ſaß an ſeinem Schreibtiſch. Das blaue
Zimmer war tatſächlich mit dieſem Möbel verſehen.
Es trug das Gepräge erſter Klaſſe, und nach Frau
Eugenies Ausſpruch follte der neue Mieter einen ent-
ſprechenden Eindruck machen.
Aber Egbert in ſeiner feindſeligen Stimmung konnte
das nicht finden.
Gewiß, das war ein kluges und intereſſantes Ge-
ſicht, einer von jenen feſtgemeißelten Köpfen, die durch
ihre Willenskraft in einer ſchwachen und verweichlichten
Zeit überall auffallen. Aber anziehend waren dieſe
Züge keineswegs.
Der junge Reporter hatte allmählich ſeine Er—
fahrungen in Moabit geſammelt, und er fand, daß
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 65
dieſer Renard, wie der Franzoſe ſich zu nennen beliebte,
einen kriminaliſtiſchen Einſchlag hatte, namentlich jenes
unſtete Flirren der Augen, das am ſtärkſten auf der
Anklagebank hervortritt, aber ſich auch in das tägliche
Leben überſetzt.
Selbſt bei der Arbeit, die doch eine geiſtige Samm-
lung erforderte.
Denn Jules Renard arbeitete in dieſem Augenblick
bei dem Scheine der Lampe an einem Manufkript.
Egbert konnte das deutlich ſehen, ſein bereits in ſolchen
Dingen geſchulter Blick erkannte es an der Form des
Papiers, an der Art, wie jener bisweilen innehielt,
in die Luft ſchaute, wieder anſetzte und in kurzen Zeilen
ſchrieb.
Das war kein Brief, bei dem die Feder das Papier
nicht verläßt, es war geiſtige Arbeit, die eine Befriedi-
gung erzeugt, und Egbert erkannte dieſe Seelenregung
an dem ſtolzen Schürzen der bärtigen Lippen, an
einem flüchtigen Triumphlächeln, das eine verächtliche
Beimiſchung hatte.
Alſo wirklich ein Schriftſteller und kein politiſcher
Agent, wie Egbert beim erſten Blick geargwöhnt hatte.
Ein Mann, der ſich in dieſen Winkel zurückzog, um die
Welt durch irgend etwas zu überraſchen.
Das blieb doch immerhin ſeltſam, denn die fran-
zöſiſchen Autoren pflegen ſich ohne Ausnahme in Paris
niederzulaſſen. Sie ſchöpfen ihre Ideen aus der Haupt-
ſtadt des Landes; was darüber hinausgeht, iſt ihnen
fremd.
Nach einer kleinen Weile änderte ſich das Bild.
Renard ſchob das Manufkript beifeite, öffnete feinen
Schreibtiſch und brachte eine umfangreiche Mappe zum
Vorſchein. Er entnahm derſelben einen Stoß Papiere,
loſe Blätter von ſonderbarem Ausſehen, hielt jedes
1918, IX. 5
66 Die Apachen. k
einzelne in den Lichtkreis der Lampe und unterſuchte
es mittels einer Lupe.
Und nun konnte Egbert deutlich ſehen, daß keiner
dieſer Bogen beſchrieben war. Es waren keine Papiere,
ſondern es war Papier — gelblich, rauh, vom Alter
angegriffen und am Rande zermürbt. Egbert hatte
dergleichen ſchon geſehen in öffentlichen Sammlungen,
unter Glas und Rahmen, beſonders im Goethehaus
zu Weimar und in der dortigen Bibliothek. Aber dann
ſtand eine Schrift darauf, alt, verblaßt, ehrwürdig, ein
Gegenſtand ſcheuer Bewunderung.
Hier nichts von dem allem. Und die Art, wie dieſer
unbekannte und geheimnisvolle Mann ſeine ſcheinbar
zweckloſen Unterſuchungen anſtellte, hatte etwas ſo
Seltſames und Unheimliches, daß Egbert den Entſchluß
faßte, feinen ganzen Scharfſinn der Löſung des Rätſels
zu widmen. Mochte der neue Stubennachbar ein harm⸗
loſer Narr oder ein wunderlicher Schartekenſammler
fein — die Hörſäle von Moabit geben auch Gelegen-
heit zu einer ernſteren Auffaſſung, und Egbert wollte
ſeine Studien nicht umſonſt gemacht haben. —
Übrigens geſchah während der nächſten Tage nichts
Bemerkenswertes.
Der Fremde erwies fidh als ein ſtiller und anſpruchs-
loſer Mann, der faſt den ganzen Tag in ſeiner Stube
hockte und ſich um die Hausgenoſſen ſo gut wie gar
nicht kümmerte. Frau Eugenies Verſuche, einen fhòn-
geiſtigen Verkehr anzubahnen, ließ er vollſtändig un-
beachtet. Dagegen wendete fih fein Intereſſe allmäh- `
lich dem Hausherrn zu.
Willibald Specht war wieder einmal im Tiefſtand
der Kaſſenebbe, mußte infolgedeſſen arbeiten, und das
wurde ihm ſchrecklich ſauer; er ſaß fluchend über ſeinen
Witzblattzeichnungen und erklärte das ganze Daſein
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 67
— —— — — — —— — — —— — — — —
für einen ſchlechten Witz. Jules Renard kam bisweilen
zu ihm in das Atelier und ſah zu, wie unter dem Stift
dieſes genialen Bummlers die tollſten Karikaturen ent-
ſtanden.
Die Brücke zwiſchen den beiden Männern war ſchnell
gezimmert.
Oer Franzoſe bezeichnete ſich ſelbſt als Mitarbeiter
franzöſiſcher Journale, der vom „Figaro“ den Auftrag
erhalten habe, eine Artikelſerie über Deutſchland und
insbeſondere über Berlin zu ſchreiben, wozu ihn ſeine
genaue Renntnis der deutſchen Sprache beſonders be-
fähige. Es lag auf der Hand, daß er den Wunſch
hegte, zu dieſem Zweck Berlin genau kennenzulernen,
und Willibald wiederum konnte ſich rühmen, einen
vorzüglichen Führer abzugeben.
„Nur erſt wieder Luft haben,“ meinte er. „Ich
gebe Ihnen mein Ehrenwort, Herr Renard, dies iſt die
greulichſte Fronarbeit von der Welt, und der Humor
geht dabei vor die Hunde. Aber wenn erſt ein paar
hundert Märker beiſammen ſind, dann ſollen Sie Berlin
kennen lernen, und der „Figaro wird Ihnen jeden Ar-
tikel mit Gold aufwiegen!“
„Das ift auch nicht fo glänzend,“ hatte Renard vor-
ſichtig erwidert. „Vielleicht gäbe es für uns beide
einen beſſeren Weg zum Verdienſt.“
Da leuchteten die Augen Willibald Spechts hell auf.
Nach Verlauf einiger Tage erhielt Egbert einen Brief
von feinem Vater aus Jena.
Der Alte ſchrieb etwas grämlich: „In der letzten
Zeit ift hier allerhand paſſiert. Daß die Tochter meines
Freundes Tonndorf ſich in Paris verlobt hat, teilte
ich Dir ſchon in meinem letzten Briefe mit, und ich
fügte abſichtlich hinzu, daß der Bräutigam ein ſolider
junger Mann ſei, denn Du und die Käthe, ihr habt
68 Die Apachen. o
doch wohl miteinander geflirtet, und fo was ift als-
dann der befte Abſchluß einer Studentenliebe.
Man ſoll aber niemals in den Wind reden.
Inzwiſchen iſt der Bräutigam, wie ſich's gehört, nach
gena gekommen und hat bei dem Vater in aller Form
um die Hand der Tochter angehalten. Er nennt ſich
gean Lecocq und will Werkführer in einer chemiſchen
Fabrik ſein. Ob's wahr iſt, weiß ich nicht, denn ich
konnte mich nicht mit ihm verſtändigen. Aber Du kennſt
den alten Tonndorf und weißt, daß er für die Fran-
zoſen ſchwärmt. Er nahm den jungen Mann in ſein
Haus auf, willigte in die Verlobung und war ganz
närriſch über die Ausſicht, ſeine letzten Tage in Paris
verleben zu können. Nach ein paar Tagen reiſte
der Bräutigam wieder ab, und nun ſtellte ſich etwas
ſehr Seltſames heraus.
Du weißt, Egbert, daß ich immer viel Zntereſſe für
alte Akten gehabt habe, und Tonndorf beſitzt deren
eine ganze Menge. Die Perle ſeiner Sammlung bildet
ein intereſſanter Kriminalprozeß aus der zweiten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts, und ich hatte das ganze
Bündel des bequemen Studiums halber auf mein
Zimmer genommen.
Nach der Abreiſe des Franzoſen entdeckten wir, daß
die Akten nicht mehr vollſtändig find. Nicht im eigent-
lichen Sinne des Wortes, denn von dem Inhalt fehlt
kein Blatt; aber hinten ſind eine ganze Menge leerer
Seiten herausgeſchnitten, und ich konnte anfangs gar
nicht begreifen, welchen Zweck der Täter damit verfolgt
haben könnte. |
Aber Fritz Tonndorf belehrte mich, daß dieſes alte
Papier ſehr ſelten und ſehr ſchwer zu erlangen ſei.
Er ſprach von allerhand Fälſchungen, die damit vor—
genommen werden, und erzählte, daß gerade Paris
D Ein Parifer Roman von Frig Levon. 69
mit feinen zahlreichen und berühmten Antiquariaten
ein günftiges Feld für diefe unſaubere Tätigkeit abgäbe.
Seitdem haben wir die Angelegenheit nicht mehr
berührt, aber ich ſehe es dem alten Manne an, daß
er von einem Verdacht und von einer Sorge gequält
wird. Denn wenn überhaupt ein Diebſtahl vorliegt,
dann kann nur Lecocq als Täter in Betracht kommen.
Er war der einzige Hausgenoſſe während jener Tage,
er bewohnte Käthes Zimmer und konnte ohne Schwie-
rigkeit in mein eigenes gelangen. Deshalb reden wir
nicht über die Sache, aber ſie liegt zwiſchen uns beiden
wie ein dunkles Geheimnis. Sch weiß auch, daß der
Alte an ſeine Tochter nach Paris geſchrieben hat, aber
der Inhalt des Briefes iſt mir unbekannt, und ebenſo,
ob eine Antwort darauf erfolgte. So leben wir in
Unruhe, und Fritz Tonndorf redet davon, daß er noch
einmal den Wanderſtab ergreifen und die Reiſe nach
Paris unternehmen müſſe.“
(Fortſetzung folgt.)
**
ANIZANIANIJANIZAR EE zus) Sek
In den Vorbergen des Himalaja.
Von N. Zollinger.
Mit 9 Bildern. t (Nahörud verdoten.)
Wer in den häuslichen Tugenden der deutſchen Frau
| den ſchönſten und vollkommenſten Ausdruck wah-
rer Weiblichkeit erblickt, der gelangt ſehr ſchnell zu einem
ungünſtigen Urteil über die moderne Amerikanerin.
In den Vereinigten Staaten ſelbſt erheben ſich ja
neuerdings immer lauter die Stimmen, die den durch
einen übertriebenen Kultus des weiblichen Geſchlechts
verwöhnten und verzogenen Vankeedamen ernſtlich ins
Gewiſſen reden. Aber wenn es auch unzweifelhaft
wahr ift, daß die Durchſchnittsamerikanerin fih als ein
Weſen höherer Gattung betrachtet, das zu nähren, zu
ſchmücken und zu verhätſcheln die ſelbſtverſtändliche
Pflicht des Mannes iſt, ſo wäre es doch gewiß voreilig,
ihr darum alle innere Tüchtigkeit abzuſprechen.
Der anfängliche Mangel an Frauen in dem nur
durch Einwanderung bevölkerten Lande hat auf die
natürlichſte Weiſe zu einer Überſchätzung ihres Wertes
und zu einer Art von Abgötterei geführt, die ſich in
den Beziehungen der beiden Geſchlechter auch noch
jetzt, wo das Zahlenverhältnis längſt ein normales ge-
worden iſt, bemerkbar macht. Aber die freiwillige
Unterordnung des ſtärkeren Geſchlechts hat für die
Charakterentwicklung der Amerikanerin neben mandher-
lei bedenklichen Wirkungen doch auch ihre Vorteile
o Von R. Bollinger. | 71
gehabt. Sie hat dahin geführt, daß fih bei den Mäd-
chen und Frauen jenſeits des großen Teiches neben
einer gewiſſen Selbſtüberſchätzung auch Selbſtändigkeit
und Selbſtvertrauen in ungleich höherem Maße aus-
gebildet haben als bei der in. anderen Anſchauungen
aufgewachſenen ſchöneren Hälfte der europäiſchen Na-
tionen. Die Amerikanerin glaubt ſich zu allem befähigt,
weil man ihr von Kindheit an verſichert, daß ſie es
ſei, und in dem unerſchütterlichen Glauben an ihre
ebenbürtige Leiſtungskraft wagt fie ſich darum un-
bedenklich auch an Aufgaben, die man anderswo als
lediglich dem Manne vorbehalten anſieht.
So geſchieht es denn häufig genug, daß wir von
erſtaunlichen weiblichen Kraftleiſtungen hören, die eben
nur eine Amerikanerin fertig bringen konnte. Eine
Vankeetochter war es, die in Südamerika nach unge-
heuren Anſtrengungen einen der höchſten, bisher von
Menſchen erreichten Bergesgipfel erklomm — eine Ame-
rikanerin, die ohne jede weiße männliche Begleitung
den dunklen Erdteil durchquerte, und eine Amerikanerin
veröffentlicht ſoeben ihren intereſſanten Bericht über
einen zu wiſſenſchaftlichen Zwecken unternommenen
Ausflug in die unwegſamen Vorberge des Himalaja,
einen Ausflug, der ſich an Gefahren und Strapazen
zwar nicht mit jenen erſterwähnten Unternehmungen
meſſen kann, für ein weibliches Weſen aber immerhin
eine höchſt achtungswerte Leiſtung darſtellt.
Die tapfere Reiſende iſt Frau Mary Blair Beebe,
die junge Gattin eines Ornithologen, den fie uner-
ſchrocken auf der Suche nach einer nur noch im Hima—
laja vorkommenden ſeltenen Faſanengattung begleitete,
und dem ſie, wenn man ihrem durchaus wahrheits—
getreu anmutenden Bericht Glauben ſchenken darf,
dabei eine an Ausdauer, Beharrlichkeit und unverwüſt⸗
72 Sn den Vorbergen des Himalaja. u
licher Munterkeit mindeſtens ebenbürtige N
war,
Aus der erſchlaffenden Hitze und dem erſticenden
Staub des indiſchen Flachlandes hatte fih das unter-
nehmungsluſtige Ehepaar im Anfang des Monats April
nach. dem ſchon ziemlich hoch gelegenen Darjeeling be-
geben, das als ſommerlicher Luftkurort in hohem An-
ſehen ſteht. Die Fahrt in den leichten, ſpielzeugartigen
Wagen der von Siliguri nach Darjeeling führenden
Bergbahn, die ſie aus der dumpfigen Tropenwelt des
Oſchangels in raſcher Steigung zu den luftigen Höhen
der erſten, noch mit üppigſter Blumenvegetation be-
deckten Vorberge brachte, erregte bereits das helle Ir
züden der naturfreudigen jungen Frau.
Als echte Amerikanerin, die keine Sehenswürdig⸗
keit ungenoſſen an ihrem Wege liegen läßt, hatte ſie
fih natürlich darauf kapriziert, in Darjeeling den Dalai-
Lama zu ſehen, der eben damals aus politiſchen Grün-
den dort Zuflucht geſucht hatte. Aber ſie mußte zu
ihrem Leidweſen auf die Erfüllung dieſes Wunſches
verzichten, weil das göttlich verehrte Oberhaupt der
tibetaniſchen Kirche in ſtrengſter Zurückgezogenheit ver-
harrte, nachdem ein bekehrungseifriger Miſſionar es
fertig gebracht hatte, ihm auf einem Spaziergange ein
Traktätchen in die Hand zu drücken, und nachdem wie-
derholt weibliche europäiſche Reiſende bis in die inneren
Gemächer feines Hauſes gedrungen waren, unbeküm-
mert darum, daß die Satzungen ſeiner Religion ihm
auf das ſtrengſte verbieten, derartige Beſuche zu emp-
fangen. ,
Innerhalb weniger Tage wurden in Darjeeling alle
Vorbereitungen für die Expedition in die Berge ge—
troffen. Die Ausrüſtung mußte eine ziemlich umfang-
reiche fein, da die Schußhäufer, auf die man in der
o | Don R. Bollinger. 7a
Folge angewieſen fein follte, dem Touriſten nichts
anderes zu bieten haben als ihre kahlen vier Wände
Copyright, 1911, by Harper & Brothers.
Bergbahn nach Darjeeling.
From „Harper’s Magazine“
und ein Dach über dem Kopfe. Man mußte alfo außer
wiſſenſchaftlichen Inſtrumenten, photographiſchen Ap-
74 Zn den Vorbergen des Himalaja. o
paraten, Schießwaffen und Munition auch Bettzeug,
Kochgerätſchaften, Decken und Kleidungsſtücke, ſowie
vor allem eine ausreichende Menge von Proviant
mitnehmen, und
JJV Frau Beebe ver-
C ſichert, es fei ihr
| als ganz unmög-
lich erſchienen,
daß alle dieſe
Koffer, Kiſten und
Ballen auf den
Rücken menſch⸗
licher Träger
über die ſteilen
Gebirgspfade
geſchafft werden
könnten. Sie
bemühte fich dar-
um immer wie-
der, die Aus-
rüſtung zu ver-
ringern, bis man
— g e ihr ſagte, daß ein
i; in die Berge rei-
2 EL Gange — —
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zus» 5 2 75
T e H N.
ſender Engländer
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Das Reiſefaktotum Tanduk. men pflege.
In der Tat erwieſen fih ihre Beſorgniſſe als grund-
los, denn als das als Koch und Reiſemarſchall enga-
gierte Faktotum, der Tibetaner Tanduk, mit ſeinen
zweiunddreißig Trägern anrückte, erklärte er jede der
einzelnen Traglaſten als viel zu leicht. Die tibetanifchen
Kuli, unter denen ſich zu Frau Beebes Überraſchung
—
GE ng
o Don R. Bollinger.. 75
auch ſechs weibliche befanden, waren freilich anderer
Meinung. Zeder behauptete, daß gerade die ihm zu-
S — 272 e een
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—
Copyright, 1911, by Harper & Brothers.
From „Harper's Magazine“
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geteilte Laſt die allerſchwerſte ſei, und es würde recht
ſchwierig geweſen ſein, eine Einigung zu erzielen, wenn
Aufbruch von Tonglu.
76 In den Vorbergen des Himalaja. | 2
nicht Tanduks gefürchtete Autorität raſch Ordnung ge-
ſchaffen hätte. Die kleine Revolte vor dem Aufbruch
war übrigens die einzige, über die ſich die Reiſenden
zu beklagen hatten. Während der ganzen Dauer der
— —— ä . —— DL
4
*
From „Harper's Magazine“. Copyright, 1911, by Harper & Brothers.
Schafe mit Maulkorb.
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Expedition zeigten ſich die Tibetaner gutartig, harmlos
und willig wie große Kinder, und namentlich der jungen
Frau bezeigten fie bald eine Anhänglichkeit und Ver-
ehrung, die es trotz der Unmöglichkeit einer Verſtändi⸗-
gung durch das geſprochene Wort leicht machte, mit
ihnen zu verkehren. Tanduk aber erwies ſich geradezu
a Von R. Zollinger. 77
als ein Juwel, und ſo vollkommen er ſich der Würde
ſeines Amtes den Trägern gegenüber bewußt war, ſo
dienſtbereit, aufmerkſam und ritterlich benahm er ſich
gegen ſeine junge Herrin.
Der erſte Tagesmarſch, der durch eine herrliche
From „Harper’s Magazine“ Copyrigbt, 1911, by Harper & Brothers.
Ausblick von Sandukphu.
Region von Eichen- und Ahornwäldern und über einen
Blumenteppich von Orchideen und Lilien führte, endete
an dem Schutzhauſe oder „Bungalow“ von Jorepokri,
der nächſte, auf dem ſchon eine Höhe von faſt 4000 Meter
erreicht wurde, bei dem Bungalow von Tonglu.
Dieſe für die Reiſenden beſtimmten Schutzhäuſer,
die in Entfernungen von je einer Tagereiſe bis in die
78 In den Vorbergen des Himalaja. d,
höheren Gebirgsregionen hinauf zerſtreut find, bedeuten
eine vortreffliche Einrichtung, ohne deren Vorhanden⸗
fein größere Märſche bei der Häufigkeit jäher Wetter-
umſchläge und gefährlicher Schneeſtürme überhaupt
kaum durchführbar wären. Sie enthalten zumeiſt zwei
kleine Schlafräume und einen Aufenthaltsraum, ſowie
in halboffenen Anbauten einen Küchenraum und Ber-
ſchläge für die Unterbringung der Träger und der Reit-
tiere. |
Auch diefe letzteren, ausdauernde und bergſichere
tibetaniſche Ponys, finden die uneingeſchränkte An-
erkennung der Frau Beebe. Allerdings mußte ſich die
Dame erſt daran gewöhnen, daß die Tiere auch auf
den bedenklichſten Felspfaden, über ſenkrecht abfallenden
Wänden von unermeßlicher Tiefe, ſtets am äußerſten
Rande dahinwandelten. Sie waren eben in ihrer
Jugend zum Tragen von Laſten verwendet worden
und hatten darauf bedacht fein müſſen, eine unan-
genehme Berührung dieſer Laſt mit der Felswand zu
vermeiden. Nun aber waren ſie zu alt, um noch von
ihrer, für nicht ganz ſchwindelfreie Reiter etwas un-
angenehmen Gewohnheit zu laffen.
Während die majeſtätiſchen Gipfel des Himalaja bis
dahin ſtets hinter einem undurchſichtigen Nebelſchleier
verhüllt geblieben waren, hatten die Reiſenden von
Tonglu aus zum erſten Male die Freude, wenigſtens
auf kurze Zeit des Kintſchindſchinga anſichtig zu werden,
deſſen Anblick auf Frau Beebe nach ihrer Verſicherung
faſt überwältigend wirkte.
Auf endloſen Zickzackwanderungen gelangte man
von Tonglu aus in einem weiteren Tagesmarſch nach
der Anſiedlung Kalapokri, die für den armen Tanduk
zu einer Quelle bitterſter Nöte und Kümmerniſſe werden
ſollte. Die beiden harmlos und unverfänglich aus-
at ea
— — —— — — -
a) Von R. Zollinger. 79
ſehenden Hütten, aus denen diefe Anſiedlung beiteht,
verdanken ihre Exiſtenz in der Bergeinſamkeit nämlich
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lediglich der allen Tibetanern und Nepaleſen eigen-
tümlichen Schwäche für geiſtige Setränke. Mag der
Copyright, 1911, by Harper & Brothers.
Die Trägerinnen bei der Toilette.
From „Harper's Magazine“.
80 Zn den Vorbergen des Himalaja. 2
Verkehr hier in der Gebirgswildnis auch ein noch ſo
ſpärlicher ſein, die Bewohner der beiden Häuſer müſſen
beim Schnapsausſchank doch wohl ihre Rechnung finden,
denn von den eingeborenen Bewohnern des Landes,
die dieſes Weges ziehen, widerſteht keiner der lockenden
Verſuchung.
Auch der würdevolle, muſterhafte Tanduk fiel ihr
zum Opfer und präſentierte ſich dem reiſenden Ehepaar
alsbald in einem Zuſtande, der ihn zeitweilig zur Aus-
übung ſeiner verantwortungsvollen Pflichten ganz und
gar untauglich machte. Größer aber als ſein Vergehen
war feine Reue, und es iſt charakteriſtiſch für das ritter-
liche Empfinden dieſes Tibetaners, daß ihn vor allem
das Bewußtſein, von einer weißen Dame in Ip un-
würdiger Verfaſſung geſehen worden zu ſein, faſt bis
zur Verzweiflung und bis zu ganz ernſthaften Selbſt⸗
mordabſichten trieb. Natürlich wurde ihm die demütig
erbetene Verzeihung um ſo bereitwilliger gewährt, als
er für die Reiſenden fo gut wie unentbehrlich war,
und er gab in der Folge nie wieder einen Anlaß zur
Unzufriedenheit.
Das nhächſte Wegziel war Sandukphu, und der Marſch
zu dem ſchon in ſehr beträchtlicher Höhe gelegenen
Bungalow bereitete den Reitern wie den Trägern er—
hebliche Schwierigkeiten, die indeſſen von den weib-
lichen Kuli ebenſo frohgemut überwunden wurden wie
von den männlichen. Der Name Sandukphu ließe ſich
ungefähr mit Akonitberg überſetzen, und über weite
Strecken beherrſcht in der Tat der blaue Eiſenhut als
Träger dieſes furchtbaren Giftes die Vegetation. Wie
gut den Nepaleſen die gefährlichen Eigenſchaften der
Pflanze bekannt ſind, beweiſt ihre Gewohnheit, den
Schafen, die ſie durch dieſe Regionen treiben, einen
Maulkorb anzulegen, damit ſie vor der Verſuchung
81
Von R. Zollinger.
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dlich komfortable Bungalow von Gan-
geſichert ſind, ſich an dem todbringenden Futter g
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dukphu war zu längerem Aufenthalt auserſehen, da er
tgelegenen Stützpunkt für die in noch höhere und
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Digitized by Google
1913. IX,
82 Sn den Borbergen des Himalaja. u
wildere Gebirgsregionen führenden wiſſenſchaftlichen
Ausflüge der beiden Reiſenden abgab. Das Erwachen.
am erſten Morgen nach der Ankunft brachte Frau
Beebe eine gewaltige ÜUberraſchung dadurch, daß fie fid
unvermutet inmitten einer prachtvollen Schneeland-
ſchaft fand, denn über Nacht hatte es einen jener
Schneeſtürme gegeben, die hier auch in der guten
Jahreszeit zu den häufigen Vorkommniſſen gehören.
Die Tibetaner aber, deren geſunder Schlaf dadurch nicht
im mindeſten geſtört wurde, waren in ihren halboffenen
Verſchlägen von einer zentimeterhohen Schneeſchicht
überdeckt worden. Vergnügt ſchüttelten ſie ſie am
Morgen von ihren dicken Gewändern, und die Ausſicht
auf eine Reihe von Ruhetagen machte fie ausgelaſſen
wie kleine Kinder.
Als echte Evastöchter erwieſen ſich die Frauen und
Mädchen, deren erſte Sorge eine mit größter Hingebung
vorgenommene Verſchönerung ihrer äußeren Erſchei—
nung war. Sie gruppierten ſich zu dieſem Zweck in
einem ſonnigen, geſchützten Winkel vor dem Schutz
hauſe und waren ſich gegenſeitig neidlos bei der Toilette
behilflich. Der Anwendung des Waſſers in irgend-
welcher Form zwar gingen ſie dabei gefliſſentlich aus
dem Wege, einmal, weil ſie ſich bei den Tibetanern
überhaupt keiner übergroßen Beliebtheit zu erfreuen
hat, und zweitens, weil fie bei der — auch dem euro-
päiſchen Alpiniſten hinlänglich bekannten — Wirkung
der Höhenluft auf die unbedeckte Haut hier in der Tat
nicht ſehr zweckmäßig geweſen wäre. Sie begnügten
ſich alſo, das Geſicht mit einer undefinierbaren bräun-
lichen Maſſe einzureiben, die nach Frau Beebes Ver—
ſicherung mit Cold- cream nur eine febr entfernte Ahn—
lichkeit hatte, und ließen ihrer weiblichen Eitelkeit ledig—
lich bei der Behandlung und Anordnung des ſtraffen,
1 Von R. Zollinger. 83
ſchwarzen Kopfhaares, auf das ſie erſichtlich beſonders
ſtolz waren, freien Lauf. Das Kämmen und Friſieren,
das jede von einer dienſtbereiten Mitſchweſter beſorgen
ließ, währte ſtundenlang, und die junge Amerikanerin
konnte dabei die intereſſante Beobachtung machen, daß
auch dieſe von der Modekultur noch gänzlich unbeleckten
er & Brothers.
S — RE DC
brom „ Harper’s Magazine“, Copyright, 1911, by. Harp
Das Schutzhaus bei Phallut.
Damen bereits gelernt hatten, mit künſtlichen Mitteln
nachzuhelfen, wo fie ſich von der Natur zu ftiefmütter-
lich bedacht glaubten. Das „falſche Haar“, deffen fie
ſich zur Vortäuſchung einer nicht vorhandenen Fülle
bedienten, beſtand allerdings aus allerlei Materialien,
wie ſie zu ſolchem Zweck ſonſt nicht verwendet zu werden
pflegen. Mußten doch ſelbſt die Baſtfaſern dazu þer-
halten, die vorher zur Verpackung von Tabak gebraucht
84 In den Vorbergen des Himalaja. D
worden waren. Unter der fertigen „Cléofriſur“ aber
erfüllten fie ihre Aufgabe ebenſogut als irgend ein
anderes Hilfsmittel, und eines der Mädchen nahm ſich
nach beendeter Toilette ſogar ſo nett aus, daß Frau
Beebe die naiven Huldigungen ganz begreiflich fand,
| die ihr von feiten
der Männer dar-
gebracht wurden.
Während die
Frauen auf ſolche
Art der Körper-
kultur oblagen,
vergnügten ſich
die männlichen
Kuli an dieſem
wie an allen fol-
genden Raſttagen
mit einem Spiel,
das für fie offen-
bar den Gipfel
alles irdiſchen
Vergnügens be-
A IR deutete. Es be-
we „Harper’s Masse? ſtand darin, daß
Copyright, 1911, by Harper & Brothers. aus einer ewif-
Blick auf den Mount Evereſt, den g
böchſten Gipfel der Erde. ſen Entfernung
ein großer Stein
in eine zu dieſem Zweck hergeſtellte Aushöhlung des
Bodens geworfen werden mußte, und es gab bei dieſer
Unterhaltung, deren die Tibetaner niemals müde wur-
den, ſo viel Lärm, Gelächter und Geſchrei, wie wenn
es ſich um die aufregendſten Dinge von der Welt ge-
handelt hätte.
Da es Nr. Beebe trotz aller halsbrecheriſchen Strei-
o Von R. Zollinger. 85
fereien noch immer nicht gelungen war, der geſuchten
ſeltenen Vögel habhaft zu werden, unternahm das
Ehepaar ſchließlich noch einen Ausflug nach dem ziem-
lich entfernten Phallut, das man ihnen als einen der
wenigen Aufenthaltsorte jener Faſanenart bezeichnet
hatte, und während dieſes Ausflugs hätte das bisher
ſtets vom Glück begünſtigte Unternehmen leicht eine
recht bedenkliche Wendung nehmen können.
Die Reiſenden, die ſich um der Wegſchwierigkeiten
willen nur von wenig Kuli hatten begleiten laſſen,
wurden unmittelbar, nachdem ſie das Schutzhaus
Phallut erreicht hatten, von einem der furchtbarſten
Stürme überraſcht, die fie jemals erlebt hatten. Selbſt
die immer ſorgloſen Tibetaner zeigten ſich erſchrocken
und ängſtlich. Ein länger anhaltender Schneefall würde
ja die kleine Reiſegeſellſchaft, die nur für zwei Tage mit
Proviant verſehen war, von aller Welt abgeſchnitten
haben, da er den Rückweg nach Sandukphu ungangbar
gemacht hätte, und da hier oben in der weltfernen Berg-
einſamkeit irgendwelche Lebensmittel nicht zu erlangen
geweſen wären. |
Frau Beebe ließ fih aber auch durch diefe immer-
hin recht kritiſche Lage die gute Laune und die Freude
an der Großartigkeit der ſie umgebenden Natur nicht
verderben, und ihre frohgemute Zuverſicht erwies ſich
als berechtigt; denn am folgenden Morgen ſtrahlte
wieder die Sonne vom wolkenlos blauen Firmament,
und der tapferen Amerikanerin war ſogar eine befon-
dere Freude vorbehalten, der Anblick der ganzen, von
allen Nebeln und Wolken befreiten Kette des Himalaja
mit dem Mount Evereſt, dem höchſten Gipfel der Erde,
der ſein königliches Haupt ſonſt faſt immer vor den
Blicken der Sterblichen zu verſchleiern liebt.
*
BER
Die Welt der anderen.
Novelle von Zuife Weſtkirch.
H (Goéëärud verboten.)
Der junge Lehrer Heinz Oſterwald ſtand auf dem
Flure vor dem kleinen Spiegel, rückte feine Rra-
watte zurecht und knöpfte umſtändlich ſeine Handſchuhe
zu, nicht aus Eitelkeit, ſondern um Zeit zu gewinnen,
fünf Minuten des Alleinſeins nur mit feiner Braut.
Den ganzen Abend waren Vater und Mutter Wa—
ranger wieder nicht aus der Stube gewichen. Und
es war doch der letzte Abend auf vier Wochen! Morgen
um ſieben Uhr Wie er mit feiner Kolonne Ferien-
kinder ab.
„Elli, könnteſt du mich nicht heute ausnahmsweiſe
ein paar Straßen weit begleiten? Sei lieb! Setz deinen
Hut auf!“
Elli Waranger ſtand an der Wohnſtubentür, zierlich
und ſauber wie eine Porzellanfigur aus dem Glas-
ſchrank, mit der blaſſen Hautfarbe der Städterinnen
und dunklen Augen voll ſcheuer Zärtlichkeit.
„Ich käme morgen früh gern auf den Bahnhof,
Heinz,“ ſagte ſie zögernd.
„Ein Abſchied vor fünfundzwanzig Schuljungen —
danke!“
„Daß ich am Abend mit dir allein auf die Straße
gehe, gibt Mama nicht zu — du weißt's. Wir ſind
doch noch nicht richtig verlobt.“
o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 87
Er warf den Kopf zurück, und faft höhniſch erwiderte
er: „Mir ſcheint, deiner Verſtändigkeit könnte die Mutter
wohl vertrauen, wenn ſie meiner Rechtſchaffenheit nicht
vertrauen will.“ |
„Es iſt nicht Mißtrauen, Heinz. Mama ſtammt aus
einer anderen Zeit. Solch abendlicher Spaziergang
würde ihr Empfinden tief verletzen.“
„Und mein Empfinden, Elli?“
Sie ergriff bittend feine Hände. „Oh, Heinz, wenn
ich erſt deine Frau bin, dann lebe ich nach deinem Wunſch
und Willen — nur nach deinem! Aber ſolange ich in
meiner Eltern Haus bin, iſt es meine Pflicht, daß ich
ihre Wünſche achte.“ |
„Korrekt bis zum tz — verſteht fidh!“
Ihre Augen füllten ſich mit Tränen. „Geh nicht
im Zorn von mir, Heinz. Hab' Geduld. Sieh, deine
Liebe iſt mir ein ſo unbegreifliches, unverdientes Glück,
daß ich immer in der Furcht lebe, ich verſpiel's, wenn
ich mich nicht ganz brav betrage. Sei mir nicht bös.“
„Nein, du Dummerchen!“
Er küßte ſie.
Da bewegte ſich leiſe die Wohnſtubentür. Die
Mutter! Der Abſchied dauerte ihr ſchon zu lang.
Heinz ſchlug die Korridortür hinter ſich zu. Er war
jetzt doch böſe. Er ging noch nicht nach Haus. Er ging
in den Stadtpark. Der Nachtwind ſtrich ihm um die
Stirn, die Sterne funkelten. Wie war die Welt um
ihn hoch und frei — und wie eng gebunden ſein Leben,
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft! Als Sohn
eines kleinen Beamten war er zum Lehrer beſtimmt
worden. Ganz programmmäßig ging er durch Schule
und Seminar, immer der Erſten einer, ein Kluger, ein
Streber. Früh hatte er eine Anſtellung bekommen, und
ſobald er in eine Stelle einrückte, die eine Familie
88 Die Welt der anderen. u
ernährte, würde er ſich verheiraten mit einem Mädchen,
das die Vollkommenheit in Perſon war an Leib und
an Seele. Daran gab's keinen Zweifel.
Auch Elli hatte einſt davon geträumt, ein Gym—
naſium zu beſuchen, zu einem gelehrten Beruf ſich aus-
zubilden, aber Bücher und Studium warf ſie beiſeite,
als ihr älterer Brudeg erkrankte. Der war der Stolz,
die Hoffnung der Familie. Es verſtand ſich von ſelbſt,
daß ſie ihre Ausſichten ihm zum Opfer brachte. Da
ihr Vater die Mutter nicht entbehren konnte, reiſte ſie
mit dem Leidenden von Heilſtätte zu Heilſtätte. Die
für ihre Ausbildung unerſetzlichen Jahre gingen dabei
verloren ſamt dem kleinen Vermögen, das ihr dieſe
Ausbildung ermöglichen ſollte. Dann ſtarb der Kranke.
Elli arbeitete jetzt Spitzenkrawatten und Kragen für
ein Wäſchegeſchäft, um zum Haushaltgeld beizutragen,
das knapp geworden war ſeit des Vaters Penſionierung.
Und fie klagte nie. Ja, fie war ein Engel an Opfer—
willigkeit und Pflichttreue.
Heinz war geſättigt worden mit dem allem, ſeit er
denken konnte. Es war das tägliche Brot in ſeinem
Vaterhauſe geweſen, war's im Hauſe ſeiner Braut.
And ſein junges, heißes Blut rebellierte, und ſeine
Sehnſucht verlangte nach etwas ganz anderem, etwas
Ungeheurem, etwas, das wie der Sturmwind über die
ſich biegenden Bäume ohne Maß und Regel hinbrauſte
über Sitte, Geſetz und Pflicht. Das war, nicht weil
es ſein ſollte, ſondern weil es ſein mußte. Ach, über
dieſe Schonſamkeit für alles Brüchige, Kranke! Dieſe
Rückſichtnahme auf alles Überlebte! Dieſe grauen
Spinnfäden, die überall ihm das blühende Leben ein—
ſpannen!
Am nächſten Morgen marſchierte er an der Spitze
2 Novelle von Suite Weſtkirch. 89
feiner fünfundzwanzig Ferienkinder durch die Bahn-
hofhalle. Er liebte feine Zungen, den noch ungebroche-
nen Lebensmut, die geſunde Selbſtſucht, die ihnen aus
den Augen leuchteten. Das Herz ſchlug ihm, als er
einen der Jungen leiſe zum anderen ſagen hörte:
„Weißte, Fritze, mein Indianerzeug hab' ich heimlich
eingepackt — neun rote Federn un das Kriegsbeil un
Blau un Rot zum Anmalen.“ — ga wenn es ihm
auch nicht vergönnt war, Heldentaten zu vollbringen,
fo wollte er fie wenigſtens ſpielen mit feinen Jungen!
Im vorigen Sommer hatte man ihn mit ſeiner
Schar in ein elegantes Seebad geſchickt. Das war ein-
fach unerträglich geweſen. Verbote auf Schritt und
Tritt. Die Dünen ſollten ſie nicht betreten, um ſie
nicht zu beſchädigen, die vornehmen Badegälte am
Strand durften ſie nicht durch Lärm beläſtigen, auf
der Promenade ſich nicht tummeln. Diesmal hatte er
es durchgeſetzt, daß er in die Wildnis geſchickt wurde,
in ein verſtecktes Neft in der Heide, wo es nur Bradh-
land gab und Föhren und ein paar Unternehmer, die
mit mehr oder weniger Glück nach Petroleum bohrten.
Es war ſpät am Nachmittag, als ſie aus dem Zug
ſtiegen und ihren Marſch zum Endziel antraten, eine
lange, ſtaubige Landſtraße zwiſchen Feldern entlang.
Aber die Stadtkinder begrüßten jauchzend den friſchen
Wind, der ungehemmt über die freie Fläche fuhr. Die
Blumen am Rain, die Mäuschen, die aus ihren Löchern
guckten, die Käfer im Gras, die Eidechſen, die quaken-
den Fröſche wurden zum Ereignis. Dann kam das erſte
Dorf mit ſeinem Teich voll Enten und Gänſe — wieder
ein Wunder. Einige der Kinder hatten ihrer Lebtage
noch keine lebendige Gans geſehen. Und jetzt ſchnitt
eine Herde ſchlanker Oreiecke, die Bohrtürme Olhauſens,
in den leuchtenden Himmel. Hinter der Einförmigkeit
90 Die Welt der anderen. o
der Felder breitete fidh die braune Heide, von einzelnen
Birken und Wacholdern überragt, an ihrer rechten Seite
begrenzt vom dunklen Streifen eines Föhrenwaldes.
Ein weißer, viereckiger Bau leuchtete davor, rätſelhaft,
lodend wie ein Märchenſchloß.
Auf der Straße kam ein Mann daher, einen leichten
weißen Panamahut auf dein Kopf, das von ſchwarzem
Haar und Bart umrahmte Geſicht von der Sonne füd-
licherer Himmelsſtriche gebräunt.
Oſterwald lüftete höflich den Hut. „Ich bitte um
Verzeihung. Iſt das Haus dort vor dem Wald das
Gaſthaus Waldheim?“
„Jawohl. Schlagen Sie nur den Seitenweg rechts
ein. Sie werden erwartet. Denn Sie ſind doch der
Herr Lehrer Oſterwald mit den Ferienkindern, nicht
wahr? Ich bin der Ingenieur Börnholm. Wenn es
Ihnen Vergnügen macht, kommen Sie doch nachher noch
ein bißchen nach Neu-Pennſylvanien herüber. Wir vom
Wert freuen uns auf den neuen Genoſſen in der Wüſte.“
„Verkehren die Herren nicht in Gaſthaus Waldheim?“
Der Ingenieur ſchüttelte den Kopf. „Der Beſitzer
iſt von Haus aus kein Wirt. Sein Bruder, der drüben
überm Waſſer reich geworden iſt und ihn ſchiffbrüchig
auf dem Sand fand, hat ihn in Olhauſen angeſiedelt
zu einer Zeit, als wir alle noch meinten, daß das Gold
hier nur ſo ſcheffelweiſe vom Boden aufzuleſen wäre.
Jetzt ſäuft er ſeinen Weinkeller leer und ſich um den
Verſtand, während ſeine Tochter, ein reſolutes Mädel,
den Kram ſchlecht und recht zuſammenhält. Sie brauchen
darüber nicht zu erſchrecken. Seinen Knacks hat faſt
jeder hier weg. Die Ziviliſation iſt ausgeſchaltet auf
dieſen vier Quadratkilometern Heide. Aber für Ihre
Zungen wird es das Paradies fein. — Auf Wieder-
ſehen!“
a Novelle von Luiſe Weſtkirch. 91
Das Märchenſchloß verlor ein wenig von feinem
Glanz, als ſie näher kamen. Es war ein großes Haus
mit zwei Seitenflügeln, vor Jahren einmal grellweiß
getüncht. Jetzt bröckelte der Verputz von feinen Wän-
den. Die grüne Farbe der Fenſterrahmen war ab-
geſprungen, mehrere Scheiben waren geborſten. Die
Haustür blieb mürriſch verſchloſſen. Aber in einem
Seitenflügel Haffte ein Tor. Ein beladener Heuwagen
ſtand drin. Und da war auch Leben. |
Ein junger Mann und ein junges Mädchen fchleu-
derten um die Wette in weitem Bogen Bohnenſtangen
als Lanzen in das Heufuder. Der Mann zielte kaum,
ſchien gar keine Kraft einzuſetzen, aber ohne je abzu-
irren, ſauſte ſein Geſchoß durch die Luft, um federnd
ſich in die Heuſchwaden einzubohren. Das Mädchen
warf haſtig anſpringend, weit ausholend und doch met
fehlend, was ſie jedesmal mit hellem Lachen feſtſtellte.
Ihr Lachen war laut, ihre Bewegungen von einer
wilden Anmut. Eine helle Bluſe hing um ihre ſchlanken
Schultern, am Armel bemerkte der Lehrer mißbilligend
einen Riß. Aber ihr Profil war ſcharf und rein ge—
ſchnitten wie eine Gemme, und die blitzenden blauen
Augen und das krauſe, ſilberig flimmernde Haar, das
ihren Kopf umflatterte, gaben ihr etwas Stolzes, Freies.
Sie glich keinem Mädchen, das Heinz Oſterwald je
geſehen hatte, und ſie gefiel und mißfiel ihm zugleich.
Als die Schar ſich näherte, wandte ſie den Kopf.
„Wahrhaftig, da find unſere Zungen ſchon! — Alfo,
gute Nacht, Herr Macclean.“
Sie ſtieß die Haustür auf.
„Tante Hanne! Tante Hanne!“
Eine alte Frau mit grauem Struwwelkopf erſchien
im Türrahmen. „Ach, du mein!“
„Ja, was ift denn? Das Effen ſteht doch bereit! —
92 Die Welt der anderen. D
Guten Abend, alle mitſammen. Nur immer herein!
And gleich zu Tiſch! Aber vielleicht will der Herr Lehrer
erſt die Schlafſtuben ſehen?“
Eine weite, mit Steinen gepflafterte Halle tat ſich
auf, dämmerig und feucht. Zu beiden Seiten Wirts-
ſtuben, um deren Tiſche und Bänke die Fliegen fumm-
ten. Die Treppe war breit und ausgetreten. Am Ge—
länder fehlten Sproſſen. Von den Wänden rieſelte der
Kalk. Oben wieder ein weiter Flur mit vielen Türen. Die
Betten in den Stuben waren ſauber überzogen, aber
Stühle und Tiſche ſchadhaft. Heinz hob die Laken von
einigen Betten und fand darunter das blanke Stroh.
„Schadet nichts,“ verſicherte das Mädchen lachend.
„Paſſen Sie nur auf, wie prachtvoll Ihre Zungen darin
ſchlafen werden.“
Durch die weit offen ſtehenden Fenſter ſchien in
roter Glut die Abendſonne, und der feine Duft der
Föhren drang würzig herein.
„Wenigſtens werden wir gute Luft haben,“ meinte
Oſterwald.
Aber auch das Abendbrot war gut — Schinken,
Landwurſt, kräftiges Schwarzbrot.
Als er ſeine Schar über den dämmerigen Flur zurück-
führte, trat aus einer der leeren Gaſtſtuben ein kraft—
voll gebauter Mann mit einem Geſicht ſo brüchig und
zerfallen wie ſein Haus. Mit gebogenem Arm und
ſteifer Würde bot er Oſterwald die Hand.
„Ich heiße Sie w— willkommen, Herr L Lehrer.
Laſſen Sie es mich ausſprechen, es iſt mir eine große
Ehre, daß der Staat meinem Gaſthaus ſeine Jugend,
ſeine künftigen Bürger, auf einige Zeit anvertraut.
Eine E—Ehre, ja — und ein Z— Zeichen zugleich —
haha — daß man mich da oben doch nicht ganz v— ver-
g- geſſen hat — ja.“
o Novelle von Luife Weſtkirch. 93
„Der Staat braucht viele Stätten für feine Ferien-
kinder, Herr Braun.“
Der Wirt vom Waldheim fuhr unbeirrt fort: „Sie
wundern ſich — ja, ſ—ſelbſtverſtändlich wundern Sie
ſich, daß Sie m—mich hier treffen, einen Mann von
meinen Fähigkeiten, meiner B— Bildung, hier! — Ach,
mein lieber Herr, man hat nicht recht an mir gehandelt,
ich muß es aus—ausſprechen, die oben nicht, mein
Bruder nicht, der mich lebendig in dieſer Wüſte begräbt.
Denn ich bin jemand in der Welt geweſen. Eine
glänzende Zukunft lag vor mir. W— wenn ich Ihnen
die Intrigen erzählen wollte, die mich —
Er brach ab, ſah ſich ſcheu um.
„Was willſt du denn, Lisbeth?“
Die Haustochter war herangetreten, hatte herriſch
ſeinen Arm ergriffen. „Du ſollſt ſchlafen gehen, Vater.“
„Willſt d—du mich hindern, meinen G—aſt zu
begrüßen?“
„Du biſt krank. — Ja, der Bater ift krank, Herr
Oſterwald.“
Sie blitzte den Lehrer gebietend an. Die Jungen
um ihn reckten ſchon verſtändnisvoll grinſend die Hälſe.
And mit trotziger Kraft zog ſie den ſchwankenden und
fih ſträubenden Mann durch eine Tür und warf fie
hinter ſich ins Schloß.
Im Flur ſtand Tante Halte ſchüttelte den Kopf
und ſeufzte. „Es iſt ein Kreuz — ein wahres Kreuz!“
Heinz mußte an Börnholms Worte denken. Der
Wirt vom Waldheim hatte jedenfalls ſeinen „Knacks“.
Sobald ſeine Pflegebefohlenen in ihren Betten
lagen, ging er nach Neu-Pennſylvanien hinüber. Der
volle Mond ſchien taghell. Schwarz ſtanden die
Wacholderbüſche auf der weiten Heidefläche, auf der
verſtreut die Häuschen der Ingenieure und Arbeiter
94 Oie Welt der anderen. o
lagen, faſt alle mit dunklen Fenſtern. Nur von der
Terraſſe des roten Backſteinhauſes Neu-Pennſylvanien
ſtrahlte helles Licht. Die Grillen zirpten, leiſe keuchten
die Dampfpumpen, die Tag und Nacht das Ol herauf-
zwangen aus dem Erdenſchoß. Und den Horizont be-
grenzend, ſchnitten in den lichterfüllten Himmel die
grotesken Umtifje der Bohrtürme, im ungewiſſen Mond-
licht anzuſchauen wie eine Herde kauernder Urtiere,
über denen als ihr heißer Atem die weiße Rauchfahne
der Dampfpumpen wehte.
Oſterwalds Phantaſie, die unverbraucht und un-
bändig war wie die eines Knaben, fab Wunder ringsum-
her. Die Begebniſſe des Tages klangen nach in ſeinem
noch nicht durch Erfahrungen ſtumpf gewordenen Ge-
müt. Rätſelhaft aufregend ſtanden vor ſeinem inneren
Auge die geſchmeidige, ſilberhaarige Dirne mit ihrem
lanzenwerfenden Gefährten und der würdevolle Trun-
kenbold, ihr Vater.
Die Terraſſe von Neu-Pennſylvanien verſtärkte den
Eindruck des Wandelns in einem Märchen. Ein kunft-
loſer Bau war's, deſſen Dach durch plumpes Gebälk
getragen wurde, deſſen Fußboden eitel Ziegelſtein e
waren. Rohe Holztiſche ſtanden darauf. Die Gäſte,
über die eine einzige von der Decke herabhängende
Petroleumlampe grelles Licht warf, ſchienen aus allen
Raſſen und Zonen zuſammengewürfelt. Das helle
Blond des Nordländers glänzte neben dem tiefen
Schwarz und den braunen Funkelaugen ſpaniſcher und
italieniſcher Stämme. Weitgereiſte Leute waren's
ſämtlich, die von Konſtantinopel, von Syrien, von
Südamerika und Auſtralien ſprachen wie vom nächſten
Dorf, eine unſeßhafte Art, Schweifende durch die weite
Welt. Keiner hatte mit dem Nachbarn anderes gemein
als das heiße Ringen mit dem Leben, von dem die
o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 95
meiſten die Narben ſichtbar trugen. Es band fie auch
nichts aneinander als der Drang nach Gewinn, die
Gier nach dem Gold, das hier flüſſig aus dem Boden
quillen ſollte. Die hatte fie in dieſem Weltwinkel zu-
ſammengetrieben, die würde fie morgen wieder aus-
einandertreiben in alle vier Winde. Ein babyloniſches
Sprachgewirr — Schwediſch, Engliſch, Polniſch, Sta-
lieniſch ſchwirrte mit gebrochenem Oeutſch durchein-
ander. Aus ſchwarzen und grauen Augen leuchtete
dasſelbe rückſichtsloſe Abenteurertum. Nur wenige
Stunden Bahnfahrt hatte Heinz zurückgelegt und ſtand
nun mit einem Schlag außerhalb ſeiner Welt, mitten
im Land der Märchen, des Unwahrſcheinlichen, das
ſeine Sehnſucht geweſen war ſeit ſeinen Knabentagen.
Börnholm ſah ſein Staunen, ſein Intereſſe. „Ja,“
ſagte er, „Sie finden eine Sammlung von Menfchen
wie diefe nicht noch einmal im Deutſchen Reich. Von
denen, die an dieſen Tiſchen ſitzen, hat jeder ſeine
Geſchichte — manchmal ſchlimm. Charakterkerle ſind
die meiſten. Sehen Sie zum Beiſpiel den Burſchen
drüben, der jetzt aufſteht und bezahlt, den Blonden,
Schlanken.“ | i
Heinz erkannte den Lanzenwerfer.
„Ein rieſig intereſſanter Kerl,“ fuhr Börnholm fort.
„Mit feinen ſechsundzwanzig Jahren hat er vier Erd-
teile geſehen und iſt ſo ziemlich alles geweſen, was
ein Menſch ſein kann: Cowboy, Lokomotivführer,
Trapper, Händler — auch Eiſenbahnräuber wird be-
hauptet. Augenblicklich iſt er unſer erſter Bohrmeiſter.
Aber er geht nächſtens wieder über das Waſſer zurück.
Er erſtrebt die Milliarde. Und er hat das Zeug dazu,
die Findigkeit — und auch die ſoliden Ellbogen, die
glückliche Skrupelloſigkeit. Paſſen Sie auf, der errafft
ſie — vorausgeſetzt, daß man ihn nicht vorher aufhängt.“
96 Die Welt der anderen. o
Verwirrt, entzückt, ungläubig ſperrte Heinz Augen
und Ohren auf, lauſchte rechts und links auf Erzählungen
von Begebenheiten, fo wild, wie feine wildeſte Phan-
taſie ſie ihm nicht vorgemalt hatte, auf Urteile aus einer
Weltanſchauung heraus, die nie zuvor mit ihrer frechen
Pietätloſigkeit ſein wohlerzogenes Hirn erſchreckt hatte.
In Märchenſtimmung kehrte er ſpät am Abend heim.
Konnte der Mond, der mit tollmachendem Geflimmer
den hohen Himmel und die weite Heide hier erfüllte,
mit unirdiſcher Glorie das weiße Haus vor der ſchwarzen
Föhrenwand übergoß, wirklich derſelbe Mond ſein, der
der braven Elli jetzt ins Nammerfenſter ſchien, vielleicht
gerade auf das Briefblatt, auf dem ſie an ihn ſchrieb?
Er bemühte ſich, an Elli zu denken. Ihr lichtes Bild
war ihm etwas wie das Schlüſſelwort, das dem in
einem böſen Zaubergarten Verirrten die verrammelten
Tore aufſprengt. Aber ihr Bild verſchwamm, erloſch
vor dem Bild des wilden blonden Mädchens mit ſeiner
heißen Lebenskraft und Lebenswonne. Er fand das
erlöſende Wort nicht.
Plötzlich ſtand der Spuk ſeiner Seele in Fleiſch und
Blut neben ihm auf der ſtillen Heide vor dem Haus,
das mit dunklen Fenſtern ſchlief, weiß und ſchimmernd
wie aus dem Mondenſtrahl ſelbſt zuſammengeronnen.
Fhm war, als ob er durch Stille und Schweigen
das Schickſal gewaltig ſchreiten höre — ſein Schickſal.
„Die Haustür iſt offen,“ ſagte ſie. „Sie brauchen
keinen Schlüſſel.“
Sein Blick ſchweifte zum Ziehbrunnen hinter dem
zerfallenden Gartenzaun. „Ich bin durſtig,“ ſagte er.
„And verſtehen nicht am Brunnen zu ſchöpfen? —
Rommen Sie!“
Sie ſchritt ihm voran durch die offene Gartenpforte.
Auf verwilderten Beeten blühten hohe, weiße Lilien.
J Novelle von Luiſe Weſtkirch. 97
Aus dunklem Buſchwerk reckten Hunderte von Sasmin-
blüten die Kelche. Wie eine Wolke hing ſchwerer, ſüßer
Duft über dem Garten. Und ſelbſt wie eine fremd-
artige weiße Blume erſchien ihm das weiße, ſchlanke
Mädchen mit dem ſilberig flimmernden Blondhaar.
Sie zog mit ruhigen Bewegungen die Kette herauf,
ſchwang den Eimer auf den Brunnenrand, tauchte die
Schöpfkelle in das im Mondſtrahl wie flüſſiges Silber
ſchimmernde Waſſer und reichte ſie Heinz.
Während er ſie an ſeine Lippen führte, mußte er
denken, daß, wenn er künftig ſeiner Klaſſe von Eleaſars
Begegnung mit Rebekka am Brunnen zu erzählen hätte,
er wohl leuchtendere Farben für ſeine Schilderung
finden würde als bisher. Langſam trank er, mit kühlem
Schauer, als fei das flimmernde Vaſſer ein Heren-
trank, durch den er feine arme Seele verkaufte. Über
den Rand des Gefäßes ſah er ſtarr auf das Mädchen.
Seine Augen redeten dabei ohne Scheu und Bügel all
das tolle ſüße Zeug, das, ihm ſelber unbekannt, unter
der Schwelle ſeines Bewußtſeins auf dem Grund ſeiner
Seele blühte und wucherte.
Sie ſenkte den Blick und wandte ſich.
Sogleich war er wieder an ihrer Seite. „Wie
mögen Sie ſchutzlos und allein wandern in der Ein-
ſamkeit der Nacht?“
„Ich bin nicht ſchutzlos,“ antwortete ſie ruhig und
deutete auf einen kleinen dunklen Knopf in ihrem Gürtel.
Heinz erkannte den Griff einer Browningpiſtole.
„Verſtehen Sie denn mit der Waffe umzugehen? Und
halten Sie eine ſo brutale Wehr für notwendig hier?“
Sie zuckte die Achſeln. „Allerorten iſt's gut, ge-
rüſtet zu fein. Zch bleib’ auch nicht hier.“
Wie eine Neſſel in einem Blumenſtrauß berührte
ihn dies Wort. „Sie wollen fort?! — Und Ihr Vater?
1918. IX. 7
98 Die Welt der anderen. 0
— Könnten Sie es übers Herz bringen, Ihren unglüd-
lichen Vater allein zu laſſen?“
Sie warf trotzig den Kopf zurück in den Nacken.
„Den Vater rettet kein Engel vom Himmel. Soll ich
mein junges Leben in Stücke brechen für einen Ber-
lorenen?! — Schlafen Sie gut, Herr Lehrer.“
Das Dunkel der Diele ſchlang fie ein.
Mühſam taſtete Heinz Oſterwald ſich feinen Weg.
Hohn hatte aus ihren letzten Worten geklungen. Frei-
lich, fie war keine, die wie Elli Waranger ſich büdte und
Laſten anderer auflud zu ihren eigenen und darunter
keuchte. Und recht hatte fiel An die Tafel des Lebens
gehört, was ganz und lebendig ift — auf den Rehricht-
haufen die Scherben!
Nur die angeerbten, anerzogenen Vorurteile, nur
der törichte Drill aus feiner Kinderſtube hatten ihn wie
unter einem Peitſchenhieb zuſammenzucken laſſen, als
ihre helle Stimme dieſe ſelbſtverſtändliche Moral eines
modernen, kraftvollen Menſchen in die Nachtluft
ſchmetterte. An ſolch ſchrillen Klang muß ſich gewöhnen,
wer frei ſein will. Und er wollte frei ſein! Er wollte
fie von fih abſtreifen, die roſtigen Ketten einer über-
lebten Sittlichkeitslehre, gegen die er ſich heimlich empört
hatte ſeit ſeinen Kindertagen.
Früh am Morgen führte er feine Zungen in den
Föhrenwald. Der war voll Wunder für Lehrer wie
Schüler. Weglos, ohne eine einzige Verbotstafel!
Einen Kaninchenbau gab es darin, eine richtige Kanin-
chenſtadt mit Röhren und Ausſchachtungen — in den
Haupteingang hätte ein Zunge bequem hineinkriechen
können. Und auf jedem Baum gab es zwei, drei
Neſter. Zu Anfang beſtand Meinungsverſchiedenheit
ob Krähen; oder Eichhornneſter. Aber bald lernten
2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 99
ſie ſie unterſcheiden. Denn die Eichhornneſter waren
oben geſchloſſen zum Schutz vor Regen und Kälte, die
Krähenneſter nicht. Und auf der Heide blühte gerade
das Wunderpflänzchen Sonnentau, das lebendige In-
ſekten verzehrt. Da mußte manch winziges Mückchen
ſein Leben laſſen. Fünfundzwanzig Köpfe beugten
ſich in heißer Wißbegier vor, wenn das kleine Opfer
zappelnd von dem Honigſeim der Blattfläche loszu-
kommen ſtrebte, während langſam und unerbittlich der
ſtachlige Rand ſich über ihm zuſammenſchloß und es
einſchlang.
Und die Rieſenlibellen, die wie blaue Edelſteine
durch die Luft flitzten! Die wunderbaren Käfer! Die
nie geſehenen Schmetterlinge!
Sobald das Mittagmahl gegeſſen war, ſtürmte die
Schar wieder hinaus. Die Zungen hatten nun ſchon
Zutrauen zu dem Lehrer gefaßt, der ſich um die Wette
mit ihnen freuen konnte. Ede Fiſcher wagte die Frage,
ob er ſeinen Indianerſchmuck mit in den Wald nehmen
dürfe? Fröhlich ſtimmte Oſterwald zu. Und ſogleich
teilten ſie ſich in zwei feindliche Stämme. Häuptling
des einen war Oſterwald ſelbſt. Den anderen führte
der lange Hannemann. Der hatte von allen das ver-
wegenſte Mundwerk.
Der eine Stamm ſteckte als Abzeichen Tannen-
zapfen an die Mütze, der andere Birkenreis. Erſt
leiſteten ſie Erkleckliches an Hohn und Herausforderung.
Dann wurde das Kriegsbeil ausgegraben. Schwerter
und Lanzen brachen ſie ſich friſch von den Bäumen.
Aus Bindfaden und Weidenzweigen wurde der Bogen
gebaut. Ede Fiſchers neun Federn protzten, ſeine rote
und blaue Farbe klebte auf allen Geſichtern. Das
Schlachtfeld war die weite Heide mit ihren Wacholder-
und Ginſterbüſchen, ihren vereinzelten Birken und un-
100 Die Welt der anderen. D
vermuteten Gräben, und wundervolle Hinterhalte ge-
währte der dichte Föhrenwald.
Lange und heiß tobte der Kampf, mit Lift und Kühn-
heit geführt, bis endlich das „Brauſende Wildwaſſer“,
der lange Hannemann, überwunden, gefangen und an
den Marterpfahl gebunden wurde. Der „Große Biber“,
Heinz Oſterwald, ordnete an, daß jeder vom ſiegreichen
Stamm der „Tannenzapfen“ den gefeſſelten Feind mit
einem Föhrenzweig an der Naſe kitzle. ö
Während der junge Häuptling dieſe grauſame Tortur
mit ſtoiſchem Mute, freche Herausforderungen aus-
ſtoßend, erduldete, hob Oſterwald die Augen und ſah
auf dem höher gelegenen Weg, von der roten Glut
der tiefſtehenden Sonne angeſtrahlt, Lisbeth Braun
ſtehen. Ein weißes Tuch war loſe um ihr leuchtendes
Haar geſchlungen. Auf der Schulter trug ſie eine Hacke.
Ihre Augen blitzten, ihre Lippen lachten.
„Jetzt, da möcht' ich gleich mittun, Herr Oſterwald!“
Heinz Oſterwald riß ſeine föhrenzweiggeſchmückte
Mütze von dem mit ſchönen Tätowierungen geſchmückten
Kopf. „So kommen Sie doch morgen mit uns, Fräu-
lein Braun!“
Sie wies auf ihre Hacke. „Ich tät's gern. Aber
ich hab' gar zu viel zu ſchaffen. Hilfe bekommt man
hier nicht. Es läuft alles aufs Werk. Und wir müſſen
doch Korn und Kartoffeln haben auf den Winter für
uns und unſere Schweine und Hühner.“
Sie nickte und ging weiter. Heinz gebot auch
Feierabend.
Sie brauchten viele Zeit und viele Seife, um ſich
aus blutdürſtigen Indianern in geſittete Deutſche zurück-
zuverwandeln.
Im Vorübergehen warf Heinz einen Blick in die
Gaſtſtuben. Da ſaß als ſein einziger Gaſt Herr Braun
o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 101
würdevoll vor einer vollen Flaſche. Der ſorgte ſich
nicht darum, wie er zu Korn und Kartoffeln für den
Winter kam.
Als die Knaben am nächſten Morgen wieder mit dem
Indianerſpielen beginnen wollten, ſagte Heinz: „Nein,
heute helfen wir Fräulein Braun auf dem Felde.“
Die halbwüchſige Hausmagd wurde in ganz Öl-
hauſen herumgejagt nach Schaufeln, Hacken und Harken.
Erſtaunt ſah Lisbeth die Schar Heinzelmännchen zur
Hilfe heranrücken. Sie hatte zu tun, jedem ſeine Arbeit
zuzuweiſen. Den friſchen Jungen gefiel's faſt ſo gut
wie das Indianerſpielen. Sie ſchafften wie im Lag-
lohn. Der junge Lehrer aber vergaß immer wieder
feine Hände zu regen, verloren im Anſchauen des Mäd-
chens, deſſen geſchmeidige Glieder nicht Ermüdung noch
Schlappheit kannten. Wie ein Springquell erſchien ſie
ihm, mit raſtloſer Kraft emporſtrebend, immer empor,
und ringsum in luſtigem Tanz den Tropfenfall ihrer
Anmut, Tapferkeit und guten Laune um ſich ſprühend.
Als er am Abend heimkam, fand er einen Brief
von Elli vor, zarte, liebe Worte. Ein gelbbraunes
Stiefmütterchen lag zwiſchen dem Briefblatt. Sein
dunkler Samt erinnerte Heinz an den Samt ihrer Augen,
und er fühlte ein tiefes Weh im Herzen, ein Gefühl,
als treibe er auf weitem Meer einer neuen Welt ent-
gegen und die auf immer verlorene Heimat ſende ihm
den letzten Gruß.
Um innerlich ruhig zu werden, wollte er auf eine
Stunde nach Neu-Pennſylvanien gehen. Vor der Haus-
tür traf er Lisbeth.
„Ich hab' Ihnen ſchon gedankt für Ihre Hilfe mit
den Jungen,“ ſagte ſie in ihrer freien, offenen Weiſe.
„Ich möcht' Ihnen aber nochmals danken. Ehrlich
gejagt, ich hab's Ihnen nicht zugetraut, daß Sie durch-
102 Die Welt der anderen, 2
halten würden. Die Landarbeit iſt Ihnen ja ganz
ungewohnt. Aber Sie haben nicht locker gelaſſen. Ich
ſeh', daß Verlaß auf Sie iſt. Das freut mich.“
Er wurde rot vor Glück über ihr Lob, und er ſetzte
ſich neben ſie auf die Bank. Der Mondſchein lag wieder
wie ein weißes Tuch auf der Heide. Aus fernem
Tümpel klangen die Glockenrufe der Unten. Da be-
gann er zu reden, es war wie ein Zwang. Gerade
weil er ſich abtreiben fühlte von denen, die zu ihm
gehörten, den Duldenden, Gebundenen, Mühſeligen,
zu den anderen, den freien Tatmenſchen, zu denen
bewundernde Sehnſucht ihn ſeit ſeiner Kindheit riß,
bewegte das Andenken an jene ſeine Seele, mußte er
von ihnen ſprechen. Von den engen Verhältniſſen in
ſeinem Vaterhauſe erzählte er, von der Pflichttreue
ſeines Vaters in Dienſt und Leben, ſeiner Sparſamkeit,
ſeiner Fürſorge für die Seinen, von ſeiner Mutter
ſtillem, unſcheinbarem und unendlich ſegensreichem
Walten im Haus und in der Kinderſtube. Klein, felbit-
verſtändlich waren alle dieſe Dinge ihm bisher er-
ſchienen. Da er ſie auszumalen begann, entdeckte er
plötzlich die Größe, die in ihrer Kleinheit ſteckte. Es
drängte ihn, diefe Größe hervorzuheben vor der Unders-
gearteten, fie zu beleben durch eine Fülle liebens-
würdiger und rührender Züge. Er ſprach auch von
Elli. Ihr Preis zwang ſich ihm auf die Lippen. Als
von einer Jugendgeſpielin ſprach er von ihr, ſchilderte
ihr Leben der Aufopferung und Entſagung.
Mitten im Satz brach er in einer peinlichen Emp-
findung ab. Ihm gegenüber auf der flachen Heide,
im flimmernden Mondlicht ſtand ein ſchwarzer Schatten
regungslos wie einer der Wacholderſträuche.
„Wer iſt das?“
„Einer, der einen Abendſpaziergang macht,“ ant-
o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 103
wortete fie ungeduldig. „Erzählen Sie weiter! Es
klingt wie ein Märchen.“
„Ein Märchen?“
„Ja. Andrew Macclean, der mich manchmal be—
ſucht, hat mir Wunderbares erzählt von fremden Län-
dern drüben überm Waſſer, von Abenteuern, wunder-
baren Menſchen. Was Sie mir erzählen, iſt aber vic!
wunderbarer.“ ;
„Ich bitte Sie, Fräulein Braun, in ſolchen Ber-
hältniſſen, unter ſolchen Menſchen wächſt die Mehrzahl
der Bürger in unſerem Vaterland auf — Gott ſei
Dank!“
„Nein,“ fagte fie, „das kenn’ ich nicht. Und das
glaub' ich auch nicht. Hier nimmt jeder ſeinem Nächſten,
was er bekommen kann. Ein Glück, eine Bequemlich-
keit, eine Hoffnung aufgeben für einen anderen? —
Niemals! Mein Vater hat mir nicht einen vergnügten
Abend geopfert. Er ſchickte mich auf eine höhere Töchter-
ſchule, hielt mir auch ein feines Fräulein zur Erziehung.
Die ſorgte für ſich und nicht für mich, gerade wie er
ſelbſt. Dann kam der große Krach. Vater verlor ſeine
Stellung, und Onkel Fritz ſetzte uns hierher — auch
nicht aus Bruderliebe. Er wußte gut, daß Vater zum
Wirt nicht taugt. Aber er wollte den entgleiſten Bruder
nicht neben ſich haben in der Welt, in der er mit ſeinen
Söhnen und Töchtern prunkt. Drum hat er uns hier
in der Ode vergraben.“
Sie brach mit einer kurzen Handbewegung ab, als
reue ſie die halbe Klage.
„Er hat ganz recht getan,“ ſchloß ſie trotzig. „Was
aus eigener Kraft nicht ſtehen kann, das ſoll man nur
gleich zuſammenſtoßen.“
Von der mondbeſchienenen Heide war der Schatten
verſchwunden. Nur die Wacholder ſtarrten regungslos
104 Die Welt der anderen, o
und ſchwarz. Auf der Terraſſe von Neu-Pennſylvanien
erloſch das Licht.
Lisbeth ſtand auf. „Nein, ich hab's nicht geahnt,
daß es ſolche Menſchen gibt wie Ihre Eltern, wie Ihre
Freundin. Ich begreife ſie auch nicht. Aber wie Sie's
ſagen, klingt's ſchön. Märchen ſind immer ſchön. Sie
müſſen mir wieder davon erzählen.“
Am nächſten Tag zeigte Oſterwald ſeinen Schülern
das Werk. Ingenieur Börnholm hatte ihm die Er—
laubnis zur Beſichtigung verſchafft. Als Führer emp-
fing ihn Andrew Macclean, der Lanzenwerfer, der
junge Bohrmeiſter, von dem Börnholm erzählt hatte.
Oſterwald beobachtete ihn neugierig. Eine mittelgroße,
ſehnige Geſtalt, ein ruhiges, faſt unbewegliches Geſicht
mit ſcharfen grauen Augen, ein Benehmen von der
runden Glätte, die vom Sturzbach zu Tal gerollte
Steine und weit in der Welt herumgewürfelte Men-
ſchen miteinander gemein haben. Ein wenig Über-
hebung lag in ſeiner kühlen Sicherheit. Er gab ſeine
Erklärungen in einer Weiſe, als wollte er ſagen: „Was
geht denn euch das alles an?“
In Wirklichkeit intereſſierten ſich die Knaben auch
weder für die Röhren, die, immer enger werdend, eine
durch die andere hindurch tief in den Erdgrund getrieben
wurden, noch für den regelmäßigen Fall des ſchweren
Bohrers, der mittels einer ſinnreichen Vorrichtung die
ausgeſchachtete Erde gleich ſelbſt mit aus der Tiefe
heraufbrachte. Sie ſchnüffelten das Petroleum an,
das in dickem Strahl aus den Pumpenröhren ſprudelte,
ſtellten feſt, daß es barbariſch ſtänke, und waren ent-
täuſcht, daß die Flaſchenzüge in den Spitzen der Bohr-
türme keine Glocken waren und nicht läuten konnten.
Oſterwald aber beſchäftigte mehr als alle techniſchen
o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 105
Wunder die Frage, ob wohl Andrew Macclean geſtern
der Schatten auf der mondbeſchienenen Heide geweſen
fei, und wieviel feine Perſon etwa der jungen Wirts-
tochter gelten möge? Und dieſe Erwägungen benahmen
ihn ſo ſehr, daß er in der Reparaturwerkſtätte einem
ſauſenden Treibriemen bedenklich nahe kam. Ein
Arbeiter riß ihn rechtzeitig zurück. In der Verblüffung
über die hart an ihm vorübergegangene Todesgefahr
ſtreifte er mit ſeinem Blick zufällig das Geſicht ſeines
Führers, und er erſchrak. Wahrlich, das war Haß, bis
zur Mordgier ſchadenfroher Haß, was jäh in den kühlen
grauen Augen aufblitzte.
Warum haßte ihn der Mann? Er wagte nicht die
Antwort auf dieſe Frage zu finden. In ſeinem Gemüt,
das im Gleichgewicht geweſen war, ſolange er denken
konnte, fühlte er plötzlich alle Schwerpunkte verrückt,
alle Stützen wanken.
Am Abend ging er nach Neu-Pennſylvanien. Er
ſprach mit den Ingenieuren über den Eindruck, den die
Bohrwerke auf ihn gemacht hatten. Am Nebentiſch
ſaßen wie gewöhnlich die Werkführer, die Bohrmeiſter,
die Magazinverwalter. Die Unterhaltung ſummte laut.
Auf einmal wurde es ganz ſtill. Andrew Macclean
redete allein.
„Ja, das iſt ſo. Das beſte Geſetz für das Eigentum
eines Burſchen iſt das in den Rocky Mountains. Ich
hab' da mal einen Winter als Trapper gehauſt. Ge-
richte gab's nicht, keine Konſtabler, keine Gefängniſſe.
Wenn einer einem ein Pferd ſtahl, wurde er gehenkt.
Wenn er ein Schwein ftahl, wurde er gehenkt. Stahl
er ein Taſchenmeſſer, wurde er auch gehenkt. Und
nahm er einem ſein Mädchen oder gab ihm beim
Whisky zu verſtehen, daß er ihn nicht für einen Gentle-
man halte, dann war der Prozeß noch kürzer. Es iſt
106 Die Welt der anderen. 2
wirklich der feinſte Ort für Gerechtigkeit und Höflich-
keit, den ich kennen gelernt habe.“
„Oer Tauſend, Macclean,“ neckte der behäbige
Magazinverwalter in das bewundernde Schweigen hin-
ein, „wie viele haben Sie denn in dem geſegneten
Winter aufgeknüpft?“
„Es hat nie jemand gewagt, mir etwas wegzu—
nehmen,“ antwortete Macclean.
Er fab, während er redete, nicht mit einem ein-
zigen Blick nach dem Tiſch der Ingenieure hinüber,
dennoch hatte Heinz Oſterwald das unbehagliche Ge-
fühl, als ſeien die ſonderbaren Worte für ihn, von allen
auf der Terraſſe allein für ihn geſprochen worden.
Kein Zweifel, dieſer Menſch, mit dem er kaum fünf
Sätze geſprochen hatte, haßte ihn. Und wenn er ſich
genau prüfte, fo fühlte er: er haßte ihn auch. Er
hatte im Seminar Unſtimmigkeiten zwiſchen ſeinen
Mitſtrebenden kennen gelernt, Eiferſüchteleien, kleine
Intrigen — den Haß, den wirklichen ehrlichen Haß
nimmer zuvor. Und da war der Haß, der tiefe Schatten.
Es mußte auch irgendwo das Licht da ſein, das dieſen
Schatten warf. Die tiefſten Schatten wirft das hellſte
Licht — die Liebe.
Nein, das war Überſpannung, Fieberwahn! Seine
Liebe gehörte Elli Waranger. Drei Tage konnten nicht
fein ganzes Weſen umkehren, konnten nicht eine Emp-
findung auslöſchen, die mit ihm groß geworden war.
Er vermochte ſich doch nicht zu überwinden, an
dieſem Abend noch an ſeine Braut zu ſchreiben. Sie
war einen in beſſerer Sammlung geſchriebenen Brief
wert, ſagte er ſich. —
Am nächſten Tag redete er mit Fräulein Braun.
„Wiſſen Sie, der junge Mann, der am Tag unſerer
Ankunft mit Ihnen um die Wette Lanzen ins Heu
2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 107
warf, und der mir und meinen Jungen geſtern die
Bohrwerke gezeigt hat, Andrew Macclean —“
„Was iſt's mit ihm?“
„Sie dürfen ihm nicht alles glauben, was er Ihnen
erzählt. Er ſchneidet gewaltig auf.“
Heinz wiederholte lachend Maccleans Reden vom
Abend vorher.
Lisbeth lachte nicht. „Hat er das geſagt?“
„Ja, Wort für Wort. Es war natürlich eine Prah-
lerei.“ |
Sie fab ins Leere. „Es ift nicht gut, daß Herr Mac-
clean das geſagt hat.“
„Nehmen Sie ſolche Reden ernſt?“
„Nein. Natürlich nicht. Nur — Herr Oſterwald,
ich wollt' Ihnen das ſchon ſagen: Gehen Sie nicht
durch die Föhren, wenn Sie abends nach Hauſe kommen.
Gehen Sie lieber die Landſtraße.“
„Wegen dieſes Macclean doch nicht?“
„Veil's vernünftiger ift. Es laufen Leute aus aller
Herren Ländern hier zuſammen, kommen heut, reiſen
morgen. Gehen Sie nicht nach Dunkelwerden durch
den Wald! Verſprechen Sie mir's!“
Es war Angſt in ihren Augen, ihrer Stimme.
Da verſprach er's, von warmem Wohlgefühl durch-
rieſelt, weil ſie ſich um ihn ſorgte.
Lisbeth blieb den Tag über gedankenvoll. Als die
Sonne tief am Himmel hing, ſtand ſie harrend in einem
Ausläufer, den der Föhrenwald zur Landſtraße hin-
ſtreckte. Die letzten Arbeiter kamen von den Bohr-
werken, die wenigen Anſäſſigen von ihren Feldern, das
Ackergerät auf den Schultern, lange Schatten vor ſich
in den Staub der Straße werfend, während ſie dem
Dorf zutrotteten, deſſen paar Häuschen auf dem flachen
Boden regellos ſtanden wie eine Handvoll Würfel, von
108 Die Welt der anderen, el
einer Riefenfauft auf eine Trommelſcheibe geſchleudert.
Dann wurde die Straße einſam. Der Tau begann
zu ſinken. Aus den Schornſteinen der Häuschen ſtieg
der Rauch. Endlich ſchritt noch ein einzelner Mann
langjam die Straße von den Werten her. Lisbeth trat
aus dem dichten Föhrenbuſch.
„Andrew Nacclean! Auf ein Wort!“
Er blieb ſtehen. „Oh,“ ſagte er, „haben Sie heute
abend wirklich einmal wieder Zeit für mich?“
„Vas follen die Reden bedeuten, die Sie geſtern
in Neu-Pennſylvanien geführt haben?“
„Hat der deutſche Schulmeiſter ſie Ihnen wieder—
erzählt? — Das ſieht ihm gleich, dem bebrillten Affen-
pinſcher!“
„Was hat er Ihnen getan?“
„Es ift wundervoll, daß Sie das fragen, Miß Lis-
beth. So viel ſollten Sie mich doch kennen, daß ich
keinen Narren aus mir machen laſſe — auch von Ihnen
nicht.“
„Was wollen Sie damit ſagen? Wenn in unſer
leeres Wirtshaus endlich einmal ein Gaſt einkehrt,
und ich —“
Er blieb ſtehen, fab fie an, und vor feinem Blick ver-
ſtummte ſie.
„Wollen Sie mir jetzt eine Lüge ſagen? Wollen
Sie? — Ein Gaſt! — Wenn hundert Gäſte in Ihr
Haus kämen, mich würd's nicht kümmern. Der Hans-
wurſt wagt es aber, Ihnen Liebe vorzuwinſeln. Das
iſt's, was ich nicht leiden werde.“
„Herr Oſterwald hat nie von Liebe zu mir ge—
ſprochen. Aber wenn er's täte — was für ein Recht
hätten Sie, es ihm zu wehren?“
„Ich hätte kein Recht?“
„Nein! Und wenn ich ihn lieb hätte — ich ſag'
o Novelle von Suite Weſtkirch. 109
nicht, daß es ſo iſt —, aber wenn ich ihn wirklich lieb
hätte, Sie müßten's auch leiden. Ich bin frei. Ich
kann mich ſchenken, wem ich will. Ich hab' Ihnen
kein Verſprechen gegeben!“
„Ich pfeif' auf Verſprechen. Wenn ich nicht die
Liebe, das Herz hab', ſo mag alle Verſprechen der Teufel
holen. Aber — Sie wiſſen wohl gar nicht mehr, wes-
halb ich zu Ihnen gekommen bin an jedem Frühlings-
abend? Sie haben es aus Ihrem Verſtand geſtrichen,
was ich Ihnen geſagt habe von drüben? Wie ich Geld
machen und ein angeſehener Mann werden will und
Sie einführen in meine Welt dort? Sie haben alle
die Pläne vergeſſen, die wir miteinander ausgeheckt
haben, Sie und ich, daß Sie fortverlangten aus den
Verhältniſſen hier, und daß ich Ihnen einen Veg
brechen wollte ins Leben und meine Hände unter Ihre
Füße breiten? Deshalb, Lisbeth, weil Sie zu mir
gehören, weil Sie von meiner eigenen Art ſind, weil
Sie wie ich den harten Willen haben und den Mut,
um aufzuſteigen vom Grund, weil Sie frei ſind von
den kleinen Bedenklichkeiten und Sentimentalitäten,
die Frauen gemeiniglich feſtbinden an den Fleck und
die Stellung, in die ihre Geburt ſie geworfen hat.
Wir haben all das beſprochen, oft und oft. Sie waren
ganz in Harmonie mit meinen Abſichten. Iſt es mög-
lich, daß all dies ein heuchleriſcher Windmacher in drei
Tagen wegbläſt?“
„Sie ſollen ihn nicht ſchelten! Herr Oſterwald iſt
ein ehrlicher Menſch!“
„Veil er fih ſelbſt betrügt, indem er Sie betrügt!“
„Er hat mir von feiner Heimat erzählt, feiner Kind-
heit, Andrew. Es war rührend. Wie ſeine Mutter
in der Not ihren Sonntagsſtaat zerſchnitten hat zu
Röckchen für ihn und ſeine Schweſter und bitterlich
110 Die Welt der anderen. 0
weinte, weil bei den wilden Rangen die Röckchen doch
nur ein paar Tage hielten. And ſein Vater hat ge-
ſchrieben die langen Nächte hindurch und fih kein Ber-
gnügen gegönnt. Zuſchanden haben ſie ſich gequält
für ihre Kinder, er in frühen Tod, ſie in unheilbares
Siechtum. Und ſie haben kein Aufhebens davon ge—
macht. Und von einer Geſpielin hat er mir erzählt.
Die gab ihre Selbſtändigkeit und jede Zukunftshoffnung
freiwillig auf, um einen Bruder zu pflegen, der von
Anfang an verloren war. Lachen Sie nicht, Andrew!
Ich hab' keine Mutter gekannt, und mein Vater — ift
ſchlimmer als kein Vater. Ich hab' keine Geſchwiſter,
keine Freunde. Was er mir ſagte, war anders als
alles, was ich je gehört habe, und es hat mich gepackt —
ja, noch mehr gepackt als die Wunderdinge, die Sie
mir von Indien und Japan erzählt haben.“
„Sagen Sie's lieber offen: Sie ſind verliebt in
den Affen!“
„Ich hab' Heimweh nach dem, was er ſchildert,
Sehnſucht! Wie man Sehnſucht nach dem Himmel
hat. Können Sie das nicht verſtehen? Gewiß, es iſt
ſchön, Geld zu machen, hinaufzukommen, einzig nach
ſeinem Willen zu fragen. Aber vielleicht iſt's noch
ſchöner, ſeinen Willen zerbrechen für Menſchen, die
man liebt, ſich klein machen, damit andere groß werden.
Es ſteht in der Bibel, es wird von allen Kanzeln ge—
predigt. Könnte es nicht Wahrheit ſein, daß ſelig iſt,
wer ſich ſelbſt zunichte macht für einen, den er lieb hat?“
„Für Sie, Lisbeth Braun, iſt's jedenfalls nicht Wahr-
heit! Leiden für einen anderen, ſich opfern, zunichte
machen? — Sie? — Unſinn! Aber ich ſehe, was Sie
zu dem öligen Patron zieht und den Moralbonzen zu
Ihnen, einem Mädchen, vor dem ſeinesgleichen von
Rechts wegen Furcht haben müßte. Es iſt zu dumm.
2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 111
Kein Vogel þat den Trieb, auf dem Meeresgrund
herumzuſchwimmen, keinen Fiſch gelüſtet es, in den
Wolken umherzufliegen. Bloß die Menſchen ſind ſo
närriſch, daß ſie immer nach dem verlangen, was ihrem
Talent, ihrer Art nicht liegt, nach dem ganz anderen,
dem Pol ihres Weſens. Es iſt eine Krankheit. Aber
Ihnen brenne ich ſie aus. Sie ſind mir mehr wert,
Lisbeth, als zehn deutſche Schulmeiſter. Und ehe ich
zugebe, daß der Schaumſchläger mit ſeinem blauen
Dunſt Ihren klaren Sinn umnebelt, Sie ins Unglück
reißt —“
„Andrew! Sie werden nichts unternehmen gegen
den armen Menſchen!“
„Ehe ich das zugebe, blaf’ ich ihn aus wie ein Licht.
Richten Sie ſich danach!“
Bebend vor Erbitterung ſahen ſie einander an, vier
helle, ſcharfe Augen, funkelnd in einer Leidenſchaft,
die zu mächtig war für Worte.
„Wie dürfen Sie ſolch eine Nichtswürdigkeit nur
denken!“ ſtieß das Mädchen endlich hervor.
„Venn ich meiner Tage danach gefragt hätte, was
ich durfte, fo ſtänd' ich nicht lebendig vor Ihnen. Ich
bin nicht unter einer Glasglocke aufgewachſen. Ich
oder du heißt's im Leben, Lisbeth Braun. Davon
weiß Ihre Holzpuppe freilich nichts, die dort, wo unfer-
einem ein Herz mit rotem Blut ſich abzappelt, einen
Phonographen fiken hat, der Moralſprüche herunter-
leiert.“
„Oſterwald iſt zehnmal beſſer als Sie! Sie werden
ihm kein Haar krümmen!“
„Nein. Sch zerquetſch' ihn gleich ganz wie 'ne Sted-
mücke.“
„Zwiſchen uns beiden iſt's jedenfalls aus, Macclean!
ich haſſe Sie!“
112 Die Welt der anderen. o
„All right. 3% bringe Sie ſchon wieder zur Ber-
nunft.“
Als Heinz Oſterwald an dieſem Abend ſeine Knaben
zur Ruhe gebracht hatte und ſich in einer ſehnſüchtigen
Ungeduld, über deren Gewalt er ſelbſt verwundert war,
nach der blonden Wirtstochter umſah, erblickte er auf
der Landſtraße, die vom Föhrenwald zu den Bohr-
türmen führte, einen Mann und ein Mädchen in eifrigem
Geſpräch. Das Mädchen war zweifellos Lisbeth Braun.
So frei wie die ſchritt keine ſonſt. Keine außer ihr hatte
dieſe raſchen, befehlenden Bewegungen. Sie gingen
mit ungleichen Schritten, blieben ſtehen, kehrten ſich
zueinander, hoben die Hände in leidenſchaftlicher Er-
regung.
Heinz fühlte ſich verletzt, zurückgeſetzt, hintergangen.
Als das Mädchen dem Mann den Rücken wandte und
mit weiten Schritten auf das Gaſthaus zukam, redete
er ſich ein, daß er an dieſem Abend notwendig an Elli
ſchreiben müſſe, und zog ſich auf ſeine Kammer zurück.
Er ſchrieb ohne aufzuſehen, wollte das Schließen der
Haustür nicht hören, nicht den herriſchen Schritt, der
die Treppe heraufkam. Als er das Geſchriebene durch-
las, fand er, daß er faſt nur von der Tochter ſeines
Wirts erzählt hatte.
Argerlich wollte er den Brief zerreißen. Aber die
Ahr ſchlug elf, und er fühlte, daß es ihm unmöglich ſein
würde, heute noch ein neues Schreiben zuſammenzu—
bringen. „Beſſer,“ dachte er ſchließlich, „ein unpafjen-
der Brief als gar keiner.“
So ſchickte er ihn ab.
In einem Gefühl des Gekränktſeins mied er Lis-
beth, und es verſtimmte ihn, daß ſie ihn nicht ſuchte.
Die Gegend ſchien ihm öde, der Wald leer, ſein geliebtes
o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 113
Indianerſpiel mit den Zungen ohne Reiz, feit er ver-
gebens nach den wehenden blonden Haaren, nach der
geſchmeidigen Geſtalt ausſchaute. Wiederum hielt er
ſtrenge Einkehr in fein Gemüt. Denn ein Mann, der
ſich der hohen Aufgabe unterzogen hat, der Jugend
Lehrer und Vorbild zu ſein, muß ſorgfältig darauf
achten, ſeine Empfindungen mit Namen zu nennen, ſie
unter die Bezeichnungen zu ordnen, die die deutſche
Sprache dafür zur Verfügung ſtellt. Er ſelbſt hatte
keine eigenen Erfahrungen, aber er war vollgepfropft
mit den Erfahrungen und der Weisheit anderer. Und
er kam zu dem Schluß, daß das Ding, das ihm alle
Speiſen geſchmacklos machte, Sonne und Mond ihren
Glanz nahm und fein Gemüt mit einer ihm ungewohn-
ten Reizbarkeit behaftete, am paſſendſten unter die
Rubrik „Eiferſucht“ einzureihen ſein würde.
Liebte er denn Lisbeth Braun? Schonungslos
beantwortete er ſich die Frage. Ja — er liebte ſie,
wie man den Sturmwind liebt, den WVaſſerfall, all die
Wunder der Natur, die eigenwillig unſerer Geſetze
ſpotten. Gerade die Unberechenbarteit ihres Weſens,
ihre Rückſichtsloſigkeit, ihr nicht von Reue noch Pflicht-
gefühl krank gemachter Lebensmut berauſchten ihn, der
zeitlebens in frommer Ehrfurcht ſich gemüht hatte,
jedes Geſetz bis auf den Buchſtaben treu zu erfüllen.
Zornig ſagte er ſich, daß ſein Gefühl übel ſei, ein
Anrecht für einen, der, wenn auch nicht öffentlich, doch
insgeheim feine Treue längſt verpfändet hatte. Über-
dies — ziemte es ſich wohl für Heinz Oſterwald, einem
Mädchen nachzulaufen, das ein Stelldichein mit einem
anderen Mann auf offener Straße hatte, und Hatt fidh
deswegen vor ihm zu entſchuldigen, noch gar ihn trotzig
mied?
Sobald er feine Zungen zur Ruhe gebracht hatte,
1913, IX, 8
114 Die Welt der anderen. D
ging er nach Neu-Pennſylvanien hinüber. Er gähnte dort
viel, ſah oft nach der Uhr, redete ſich aber ein, daß er
ſich vorzüglich unterhalte. Spät erſt wanderte er die
breite Landſtraße durch die Heide zurück.
Auch am folgenden Tag blieb Lisbeth ihm fern.
Kaum, daß er von weitem ihre Geſtalt über den Hof
gleiten ſah. Er hatte einen Brief von Elli erwartet,
die eine pünktliche Schreiberin war. Auch der kam
nicht.
Und wieder ſaß er am Abend als unfroher Zecher
in der kleinen Kneipe des Werks.
Als er heimkam, ſah er durch die Föhren einen
Schatten vor ihm ins Haus gleiten — Lisbeth.
Hatte die hier auf ihn gewartet? — Sie mochte
warten.
Am nächſten Morgen kam Ellis Antwort.
„Lieber Heinz!
Ich habe Zeit gebraucht, Deinen letzten Brief zu
überdenken und zu verſtehen. Vielleicht mißverſteh'
ich ihn trotzdem. Aber das wäre ein ſo großes Glück,
daß ich es nicht zu hoffen wage. Das Leben hat mich
nicht an Wunder gewöhnt. Du weißt, ich habe allzeit
Deine Liebe als ein unverdientes Himmelsgeſchenk be-
trachtet, als ein Gut, ſo groß, wie es mir müde und ſtill
gewordenem Mädchen eigentlich gar nicht mehr zu-
kommt. Darum habe ich jede Stunde mit Oir genoſſen,
wie man einen ſchönen Herbſttag genießt, zaghaft und
ſelig, aber ohne Hoffnung, daß ein Sommer ihm folgen
könne. Wenn nun eintrifft, was ich immer gefürchtet
habe, wenn eine Jüngere, Lebensfriſchere Dein Herz,
Deine Liebe gewonnen hat, ich — bei Gott, Heinz! —
ich will kein Hindernis auf Deinem Weg zum Glück
ſein. Ich habe Dich ſo lieb, daß ich zurücktreten kann
ohne Bitterkeit. Nur glücklich ſollſt Du werden, wirt-
o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 115
lich glücklich! — — Wenn dies fremde Mädchen, das
Dir ſo ſehr gefällt, Dir geben kann, was Du bei mir
vermiſſeſt, möge Gott ſie und Dich ſegnen. Nur das
eine bitte ich Dich: Prüfe ſorgfältig! Wirf Dich nicht
weg! Deſſen fei gewiß, wie Du auch entſcheiden magſt,
ſolange ſie lebt, wird für Dein Glück beten l
Deine Elli Waranger.“
Er zerknüllte den Brief in der Hand vor Zorn, vor
Scham. Es verdroß ihn, daß Elli ſofort verſtand, was
er ſelbſt ſich kaum einzugeſtehen wagte, es kränkte ihn,
daß ſie willig ein Band durchſchnitt, an das er nicht
zu rühren wagte. Alle Dinge kränkten und verdroſſen
ihn an dieſem Morgen. Er verachtete ſich ſelbſt. Die
Bewegung kam zu ihm, das Schickſal, das lebendige
Leben, das er erſehnt hatte — endlich kam es — und
fand ihn nicht als den Charakter aus Granit und Bronze,
als den er ſich in phantaſtiſchen Träumen gern ſah.
Am Abend ging er wieder nach Neu-Pennſylvanien.
Aber er war nun völlig zermürbt von dem Hin und
Her feiner Empfindungen, in das nervenzerrüttend
immer wieder der Alltag brach, die Sorge für das
leibliche und geiſtige Wohl, die hundertfältigen Fragen
und Wünſche von fünfundzwanzig jungen, lebhaften
Menſchenkindern. Früher als ſonſt ging er heim und
hatte nur die eine Sehnſucht, den Kopf in die Kiſſen
zu drücken, auf ein paar Stunden in traumloſem Schlaf
fih, und was ihn verwirrte und ängſtigte, zu vergeſſen.
Der Weg über die Landſtraße dünkte feiner Un-
geduld zu lang. Er bog in den Richtpfad durch den
Föhrenwald.
Er bereute es ſogleich. Die Finſternis war faſt
undurchdringlich, das Gehen auf dem mit Baumwurzeln
überwucherten Pfad beſchwerlich. Und da war ein
Kniſtern an feiner Seite, in feinem Rücken wie fchlei-
116 Die Welt ber anderen. D
chende Schritte. Er blieb ſtehen. Die Schritte ftanden
auch. Er hielt den Atem an. Kein Laut. Er ging
weiter. Da! Ein dürrer Zweig knackte hinter ihm.
Was begleitete ihn denn? Ein Tier? Ein Menſch?
Er ging raſcher. Mitten im Wald war eine kleine,
kreisrunde Abholzung. Das Licht des Mondes fiel
blendend darauf. Wie auf ein Leuchtfeuer ſteuerte
Heinz auf Gielen Lichtfleck zu durch die ſchwarze Finſter⸗
nis des Waldes, flüchtend vor dem leiſen Schleichen
hinter ihm. Faſt laufend warf er ſich in das Mondlicht.
Da trat aus der ſchwarzen Föhrenwand vor ihm
ein Mann. Der Mond ſchien ihm ins Geſicht — Andrew
Macclean!
Alle Schauergeſchichten aus ſeinen Kinderbüchern
fielen dem jungen Lehrer ein, alle ſchienen wirklich
zu werden. Nacht — der ſchwarze, verſchwiegene Ur-
wald — der Todfeind vor ihm — und er waffenlos!
Er fühlte feine Stirn feucht werden und eine wunder-
liche Unſicherheit in den Knien. Nie bis zu dieſem
Augenblick hatte er gewußt, wie lieb ihm ſein Leben
war.
Er gab ſich gewaltſam Haltung, drückte die Bruſt
heraus, verſuchte gelaſſen vorüberzuſchreiten. Aber
Andrew Macclean ſperrte wie ein Felsblock ihm den
Weg. Stumm hob er die Hand. |
Heinz begann es vor den Augen zu flimmern.
Da — ein Aufſchrei, ein Blitz, ein Knall. Mac-
cleans erhobener Arm ſank ſchlaff herab.
Im grellen Mondſchein der kleinen Lichtung ſtand
Lisbeth Braun, die abgeſchoſſene Piſtole in der Hand,
Entſetzen im Blick.
„Hat er Ihnen ein Leid getan? Sind Sie ver-
wundet?“
Von der Stelle, wo Andrew Macclean ſtand, kam
2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 117
ein leiſes Auflachen, dann war ſie leer. Aber die weißen
Ringelblumen und der Grasbuſch, neben denen er
geſtanden hatte, trugen blutigen Tau. Unheimlich
dunkel und tot lagen die Tropfen auf dem mond-
beflimmerten Grund. Heinz ſah es mit einem Grauen,
das ihn ſtumm machte.
Lisbeth hatte ſeine Schulter gefaßt, ſchüttelte ihn.
„Sind Sie unverletzt? Wirklich unverletzt? — Gott ſei
Dank! — Hinter der Terraſſe von Neu-Pennſylvanien
hab' ich auf Sie gewartet, bin Ihnen nachgeſchlichen,
ſchon zwei Abende. Sie gingen trotz meiner Warnung
heute durch den Wald. — Sie leben! Oh, daß Sie
nur leben!“ >
„Sie haben mich gerettet!“ Heinz ſprach wie unter
einem Bann, die Zunge ſchwer von dem Grauſen der
Stunde. „Aber — ich fürchte, Sie haben einen Men-
ſchen ſchwer verwundet.“ Er deutete auf das Blut im
Gras.
„Ich konnte nicht anders!“ rief ſie leidenſchaftlich.
„Ich konnte — konnte Sie nicht ſterben ſehen!“
„Haſt du mich lieb, Lisbeth?“
Da brach ſie in ein wildes Schluchzen aus.
Ein Taumel von Empfindungen durchraſte Heinz,
über alle gewaltig ein ſtolzes Entzücken, daß er von
dieſem herrlichen Mädchen ſo heiß geliebt wurde, daß
ſie Blut vergoß für ihn. Es war die Erfüllung all
ſeiner Sehnſuchtsträume. Er riß Lisbeth in ſeine Arme,
preßte ihren Kopf an ſeine Bruſt, vergrub ſein Geſicht
in der ſilbern flimmernden Haarflut.
„Nun biſt du mein! Mein für ewig!“
Ihr Schluchzen wurde heftiger, wurde zum Krampf.
Plötzlich hob ſie den Kopf, ſtarren Schrecken im
Blick. „Wir müffen fort!“
Den Arm um feine Schulter legend, vorſichtig hor-
118 Die Welt der anderen. o
chend und um fidh ſpähend zog fie ihn durch den Wald,
in dem ſie jeden Fußbreit kannte, auf dem kürzeſten
Meg hinaus auf die mondbeſchienene Landſtraße. Dort
ließ ſie ihn los.
„Er iſt uns nicht nachgekommen!“ flüſterte ſie.
Er nahm ihre Hand, ſprach ſanfte Liebesworte ihr
ins Ohr. Wie er ſeit Tagen nichts mehr träume, denke
als an ſie. Von ihrer Zukunft zu zweien ſprach er, auch
von ſeiner Familie.
Sie ſchritt haſtig aus und antwortete nicht, ſtreichelte
nur ab und zu leiſe, zärtlich ſeine Hand. In kurzen
Zwiſchenräumen ſchüttelte ſie noch immer ein trockenes
Schluchzen, das Nachbeben der furchtbaren Erregung.
Er liebte ſie darum nur um ſo mehr. Ihr Gefühl
für ihn hatte ſie aus ihrem eigenſten Weſen, ihrer
Mädchenzurückhaltung und Beſcheidenheit geriſſen zu
einer Tat, die ihrem Geſchlecht nicht ziemte. Daß ſie
nachträglich davor ſchauderte, machte ſie ihm rührend
und verehrungswürdig.
Im Hausflur küßte er innig ihre Lippen. „Lisbeth!
Mein Lieb — mein Weib!“
Da warf ſie die Arme um ſeinen Hals, küßte ihn
mit einer Glut, die ihn ſchwindeln machte. „Du lebſt!
— Jch frag' nach nichts ſonſt!“
In dieſer Nacht ſchlief Heinz Oſterwald nicht. Er
rannte in ſeiner Kammer auf und nieder, glühend,
raſend, ſchwindlig, immer wieder das Exlebnis dieſer
Abendſtunde durchkoſtend, das Grauen, den Schrecken,
die Gefahr, den Knall der Piſtole, das Hervorſtürzen
Lisbeths, das Blut des beſiegten Rivalen — und ihren
Kuß, der ihm das Blut wie Feuer durch die Adern
jagte. Er befühlte ſeinen Arm, er beſah ſeine Geſtalt
im Spiegel. War wirklich er das? Heinz Oſterwald?
u Novelle von Luiſe Weſtkirch. 119
— Und er erlebte dies? Erlebte es in einem Führen-
wald ſeines ehrbaren n auf einer Reife in
ſeinem Beruf?
So nahe lag das eh neben dem Alltäglichen!
Das Heroiſche, nach dem ſeine Träume ſich ſehnten,
es kam zu ihm, überſchüttete ihn!
An dem Maß, wie er ruhiger wurde, begann er
das Kommende zu erwägen. Sicherlich würde des
Bohrmeiſters Verwundung bekannt werden. Vielleicht
gar — es war Grauen, das zu denken — erlag er feiner
Wunde. Andernfalls erhob er Klage, eine Unter-
ſuchung würde eingeleitet werden. Lisbeth kam auf
die Anklagebank, vor das Schwurgericht, wurde viel-
leicht verurteilt! Denn Maccleans Angriff war nicht
zu erweiſen, ihre Tat aber zweifellos. Das Herz ſtand
ihm ſtill bei der Vorſtellung. Selbſtverſtändlich würde
er die nicht verlaſſen, die für ihn ſchuldig geworden
war. Nein — fie war ja fein, feine Braut, würde feine
Frau werden!
Was wohl der Schulrat zu dieſen Dingen fagen
mochte? — Mit feinem Beruf als Lehrer war es jeden-
falls vorbei. Eine Frau aus dem Gefängnis.
Ihm fiel ein, wie hart ſein Vater gearbeitet, ſeine
Mutter gedarbt hatten, um ihm dieſen Beruf zu er-
möglichen. Und wenn er ſich fragte, was für einen
Broterwerb er nun ergreifen würde, ſo war Leere in
ſeinem Hirn.
Gleichviel — was kam, das galt. Er war kein Lump.
Vor allem mußte er ſein Verhältnis zu Lisbeth klarſtellen.
Dabei ſah er plötzlich Elli vor ſich, deutlicher als
die Tage vorher, ſah den Schmerz in ihren wunder-
baren Augen, und das Mitleid mit ihrem Leid zerriß
ihm das Herz. Aber es gab keine Wahl. Blut war
wahrlich ein beſonderer Saft. Es band unlöslich.
120 Die Welt der anderen. 2
Er nahm ſein Schreibzeug aus der Lade. Das Blatt
freilich, auf dem er an Elli ſchreiben wollte, blieb leer.
Wie ſeine Schriftſtellerkunſt auch die Abſage faſſen
mochte, ſie blieb unerträglich. Dann fiel ihm ein:
derlei war überhaupt kein Männerwerk. Eine Frau
mußte hier das löſende Wort finden. Er zerriß den
Bogen mit dem: „Liebe Elli!“ und ſetzte auf den
nächſten: „Liebe Mutter!“ Nun begann ſeine Feder
zu fliegen. Rückhaltlos ſchilderte er ihr feine Erlebniſſe
in der weltverlorenen Kolonie, feine Gefahr, die Helden-
tat des Mädchens, ſetzte ihr ſeine Lage auseinander.
„Und nun gibt es für mich keine Wahl als Ehrenmann.
Ich gehöre zu der, die aus Liebe zu mir ihr Gewiſſen
belaſtet, Menſchenblut vergoſſen hat. Das ſiehſt Du
ein, Mutter. Du wirſt mich nicht verdammen. Du
wirſt mir die Bitte erfüllen, die ich an Dich richte.
Geh zu Elli. Sag ihr, was ſie wiſſen muß. Glaub
mir, mein Herz ift ſchwer von Leid um das gute Mäd-
chen. Aber fie wird mich begreifen, fie wird mir ver-
zeihen. Und, Mutter, deſſen ſei gewiß, die Tochter,
die ich Dir bringe, meine Lisbeth, iſt edel. Eine Natur
voll Ehrlichkeit, voll Tatkraft, voll Lebensfreude. Du
wirft fie liebgewinnen — —“
Die Feder ſtockte. Vor ſeine Vorſtellung trat das
Bild ſeiner Mutter, das von der Haube umrahmte faltige
Geſicht, die altmodiſche, aber peinlich ſaubere Tracht
und Lisbeths Bild in weißer Schlotterbluſe mit dem
Riß im Armel.
Er mußte erſt ein leiſes Unbehagen überwinden,
ehe er fortfuhr: „Eine unverbildete Natur iſt ſie, die
Du, liebe Mutter, nach Deinem Bilde erziehen wirſt.
Sie ſelbſt hat ihre Mutter ganz jung verloren. Ihr
Vater iſt ein unglücklicher Mann. Was ihr etwa an
äußerer Abgeſchliffenheit fehlt, weil niemand ſie's ge-
D Novelle von Suite Weſtkirch. 121
lehrt hat, Du wirft es fie lehren. Nicht, als ob fie un-
wiſſend wäre. Sie hat höhere Schulen befucht, bevor
das Unglück ihren Vater traf. Aber die Einöde, in der
fie lebt, die ganz beſonderen Verhältniſſe und fremd-
artigen Menſchen mußten abfärben auf ihr empfäng-
liches Gemüt.“
Der frühe Tag ſchien durch die Scheiben, kämpfte
mit dem Licht der Lampe. Heinz war es, als würde
leiſe, leiſe eine Tür irgendwo im Hauſe zugemacht.
Vielleicht ſchon Tante Hanne, die ihr Tagewerk begann.
Er ſchloß: „Um mich mache Dir keine Sorgen, liebe
Mutter. Ich bin ruhig und unverzagt. Was meiner
Lisbeth und mir vorbehalten ſein mag — und es kann
ſein, daß eine ſchwere Zeit uns erwartet, daß ich Beruf
und Vaterland aufgeben muß —, denke Du immer,
daß unſer Herrgott für jeden Menſchen viele Wege
zum Glück offen hält. Die Hauptſache iſt: Recht tun
und den Kopf oben behalten.“
Er ſtand auf. Gott fei Dank, ja, die große Wende
ſeines Lebens, das ungewöhnliche Schickſal, das er ſich
erſehnt hatte, fanden ihn als Mann, als Helden, ihrer
würdig. Mit Stolz ſah er ſich um. Hinter der weit
offenen Tür ſchliefen ſeine Knaben, feſt, mit ruhigen
Atemzügen. Ein leichtes Bedauern kam ihm, daß ihm
nicht ferner vergönnt ſein würde, junge Seelen zu
bilden, da er ſich doch fühlte als einer, wert der Jugend
als Vorbild voranzuleuchten.
FSphm blieb nicht mehr Zeit, zur Ruhe zu gehen, er
wuſch ſich und kleidete ſich um. Während ſeine Knaben
ſich fertig machten, ging er hinunter, nach Lisbeth
ſpähend. In dem verwilderten Garten fand er ſie am
Brunnen, aus dem ſie ihm an jenem Wunderabend
den Zaubertrunk geſchöpft hatte. Ein wenig blaſſer
ſchien ſie ihm als ſonſt, ein wenig ſcheu. Und verſtohlen
122 Die Welt der anderen. o
glitt fein Blick an ihr herab auf ihre Hand, ihm war,
als müſſe die blutig fein. Unwillig dies unwillkürliche
Schaudern ſeiner Natur bezwingend, ging er raſch auf
ſie zu und küßte ſie.
„Mein Lieb, ich verſtehe dich. Faſſe Mut. Ich
will nachher gleich ins Dorf gehen, mich vergewiſſern,
wie es um den unglücklichen Mann ſteht. Gott wird
gnädig das Schlimmſte abwenden.“
„Ja,“ antwortete fie ruhig. „Andrew Macclean
wird nicht ſterben.“
„Das weißt du ſchon?“
„Nur könnte es geſchehen, daß ihm der Armſteif bleibt,
ſagt der Arzt. Die Kugel hat den Knochen geſtreift.“
„Haſt du denn den Arzt geſprochen?“
„Ich hab' ihn ja hingeſchickt.“
„Du? — Zn Olhauſen wohnt doch gar kein Arzt!“
„Ich bin nach der Station gegangen.“
Heinz hatte eine ſehr peinliche Empfindung. Es
demütigte ſeinen Mannesſtolz, daß, während er ſchwer
ringend zukünftige Dinge erwog, ſie mit beſonnener
Entſchloſſenheit das für den Augenblick Notwendige
getan hatte, ohne ſeinen Rat, ohne ſein Wiſſen — für
den anderen. Ihm war, als ſei ihm etwas genommen,
auf das eigentlich er ein Recht gehabt hätte.
„Mitten in der Nacht biſt du die zwei Stunden hin
und her gelaufen — allein? Für Macclean?“ fragte
er mißbilligend.
„Ich konnt' ihn doch nicht hilflos verbluten laſſen!“
„Du hätteſt mir von deiner Abſicht ſagen ſollen,“
tadelte er. „Ich würde mit dir gegangen fein.“
Sie ſchwieg.
„Du begreifſt doch, daß es mir peinlich ſein muß,
wenn meine Braut vier Stunden allein in Nacht und
Nebel auf der Landſtraße herumläuft.“
2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 123
Sie hob bittend die Hand. „Ja, ſieh, gerade weil ich
deine Braut bin. Die Menſchen, die du liebhaſt, von denen
du mir erzählt haft, zu denen du mich führen willſt —
würden die mich nicht geringachten, wenn ſie erführen,
daß ich mit dir in der Nacht herumgewandert wäre?“
Ihre demütige Rückſichtnahme auf ſeine Art und
die Art der Seinen rührte ihn. „Solch außergewöhn—
liche Umſtände werden fih vorausſichtlich und hoffent-
lich niemals wiederholen. Laſſen wir das. — Hör,
Lisbeth, ich habe dieſe Nacht meiner Mutter von unſerer
Liebe geſchrieben. Wenn du je über eine Sache im
Zweifel biſt, frage nur meine Mutter. Sie wird dich
immer richtig beraten.“
Sie ſah ihn ſtumm an. Es war eine bange Frage
in ihren Augen, ein hilfloſes Staunen.
Sein Empfinden wallte heiß auf. Er riß ſie in
ſeine Arme. „Mein Lieb! Bange nicht! Es wird
alles gut werden!“
An dieſem ſelben Vormittag hielt er bei Eduard
Braun um Lisbeths Hand an. Er kam um zehn, weil
er begriff, daß die Zurechnungsfähigkeit des Wirts vom
Waldheim mit den vorrückenden Tagesſtunden abnehme.
Auch zu dieſer Stunde Iden fand er ihn in feinem
kühlen Zimmer vor einer Flaſche, die die Etikette eines
auserleſenen Weines trug. Das Glas freilich, das halb-
gefüllt daneben ftand, enthielt nur waſſerklaren Korn-
ſchnaps.
Braun folgte dem Blick des jungen Lehrers und
lachte. „Ein fr frommer Betrug, eine Reminiſzenz
an die Zeit, da dieſe Flaſche noch den edlen Tropfen
enthielt, von dem fie prahlt. Illuſion! — Mein lieber
Herr, was wäre ein Mann wie ich in dieſem Neſt
o -ohne Zllufionen?“
124 Die Welt der anderen. el
Aber als Heinz fein Anliegen vorbrachte, wurde der
Wirt vom Waldheim würdevoll, Die Hand feiner
Tochter begehrte der junge Mann? Hm, ja, er würde
den Antrag in Erwägung ziehen, verſteht ſich. Aber
— Lisbeth war ſein einziges Kind. Herr — wie hieß
er doch gleich? — richtig, Herr Oſterwald — und Lehrer
war er? Ein Studierter oder nur Seminariſt? — Nur
Seminariſt? So. Ja, er mußte bedenken, er, Braun,
würde nächſtens in den Staatsdienſt zurückkehren, ja-
wohl! Man hatte ihm Andeutungen gemacht — es
war noch Geheimnis. Aber es kam dahin, ja es kam
ſicher dahin. Er würde wieder in die Stadt ziehen,
ein Haus machen. Die Tochter eines ſolchen Vaters
durfte Anſprüche erheben, Anſprüche, die Herr — wie
hieß er doch noch? — richtig, Obermaier! — die Herr
Obermaier als einfacher Lehrer vielleicht nicht imſtande
war zu erfüllen — wie?
Heinz war rot geworden vor Zorn. Im Bewußt
ſein ſeiner bürgerlichen Vollwertigkeit war es ihm gar
nicht in die Gedanken gekommen, daß ein Kerl wie
dieſer Wirt anders als mit Dankbarkeit und Rührung
ſeinesgleichen zum Schwiegerſohn annehmen könne.
Während die Empörung ihn noch ſtumm machte,
öffnete ſich die nur angelehnte Tür zum Nebenzimmer.
Lisbeth kam herein.
„Du brauchſt nicht lange zu überlegen, Vater,“
ſagte ſie. „Heinz und ich ſind ſchon einig.“
Anſicher mit den Lidern zwinkernd, fab Braun aus
ſeinen ſchwimmenden Augen die Tochter an. Sein
Stolz, ſeine Würde ſanken. Unruhig bewegte er die
zitternden Finger auf der Tiſchplatte. „Willſt du wirt-
lich deinen alten Vater allein laſſen, Kind?“
„In unſer Haus nehmen können wir dich nicht,
Vater. Ich will mit Onkel Fritz ſprechen. Waldheim
o Novelle von Luife Weſtkirch. 125
muß verkauft werden. Wenn Onkel den Erlös für dich
auf Leibrente gibt, wirſt du irgendwo auf dem Land
dafür leben können.“
„Ich will nicht aufs Land!“ antwortete Braun
heftig. „Ich gehe in meinen Dienſt zurück, in die
Stadt. Ihr wißt alle nicht, was in mir ſteckt. Ich
laffe mich nicht länger unterdrücken. Ich w— werde
meinen Weg ſchon machen.“
„Am fo beffer,” antwortete die Tochter gleichmütig.
„Alſo, daß wir uns verſtehen, Vater, du gibſt deine
Einwilligung, daß Heinz und ich heiraten — nicht
wahr?“
„Meinetwegen mach, was du willſt,“ brummte
Braun unwirſch. „Aber beklag dich nachher nicht.“
Er fette fih wieder, ftierte in fein Glas und mur-
melte etwas von Undankbarkeit.
Lisbeth zog Heinz, der antworten wollte, aus der
Stube. Der junge Lehrer hatte ſich ſeine Verlobung
anders gedacht.
„Ich finde, du gehſt ſehr hart mit deinem Vater
um,“ ſagte er, „mit wenig kindlicher Liebe und Achtung.“
„Wie kann ich denn da lieben und achten?“
„Er bleibt immer dein Vater! — War es denn gar
nicht möglich, früher — ja wäre es nicht ſogar jetzt
noch möglich, den Unglückſeligen von feiner Leiden-
ſchaft, ſeiner Krankheit zu heilen? Für eine Tochter
müßte das eine herrliche Aufgabe ſein.“ Ä
Sie antwortete nicht.
„Haſt du nie daran gedacht?“
„Nein,“ ſagte ſie. „Die Eltern ſollen ihre Kinder
erziehen, mein' ich, nicht die Kinder ihre Eltern.“
„Im allgemeinen gewiß. Aber es gibt doch Aus-
nahmen.“ Er ſchüttelte den Kopf. „Du but in Gemüts-
dingen unheimlich — wie ſoll ich ſagen? — ſachlich.“
126 Die Welt der anderen, 2
Sie lachte. „Ja, ich kann mir nichts vormachen.
Wenn ich ſehe, daß ein Ding unmöglich iſt, wie zum
Beiſpiel meinen Vater zu beſſern, ſo müh' ich mich
gar nicht erſt dran ab. Amerikaniſch nennt das Andrew
Macclean. Ihm gefiel’s.“
„Laß Macclean!“ Heinz zog einen Ring von ſeinem
kleinen Finger, ein dünnes, ſchlichtes Ringelchen, an
dem ein Kleeblatt von Türkiſen in blaſſem Blau ſchim-
merte, und ſchob es an Lisbeths Finger. „Dieſen Ring
hat mein Vater meiner Mutter an ihrem Verlobungs-
tag gegeben. Trag du ihn nun, meine Lisbeth, meine
Braut. Trag ihn würdig.“
Sie fab auf den Reif, ihre Lippen zuckten. Lang-
ſam ſchlug ſie die Augen zu ihm auf, die ihm in dieſem
Augenblick ſchwarz ſchienen. „Ich werde gewiß in
vielem anders ſein, als du dir's gedacht haſt,“ ſagte ſie.
„Aber“ — ſie ergriff plötzlich ſeine beiden Hände mit
einer Leidenſchaftlichkeit, die ihn faſt erſchreckte —
„was ich tun kann, dich glücklich zu machen, Heinz —
das tu' ich! Das tu' ich gewiß!“
Mit abgewandtem Geſicht lief fie davon. —
Langſam ging der Tag hin, Heinz meinte ſolch
langen nie erlebt zu haben. Die Wünſche und Fragen
ſeiner kleinen Ferienkoloniſten fielen ihm auf die Nerven.
Er hatte Mühe, mit guter Art die weitſchweifigen Glüd-
wünſche der Tante Hanne hinzunehmen. Seine Ge—
danken wanderten. Was nur ſeine Mutter ſagen würde?
And feine Schweſter erft? Die war ſtreng! — Mit der
letzten Poſt heute wurde ſein Brief ausgetragen. Ob
ſie am ſelben Abend noch zu Elli gingen? — Morgen
früh konnte dann ihre Antwort kommen.
Wär's nur erſt morgen! —
Am Nachmittag ſtaud plötzlich Lisbeth neben ihm.
„Du, Heinz, ich glaub', ich muß dir was fagen. ~
D Novelle von Luiſe Weſtkirch. 127
Denk dir, ich ſoll zu ihm kommen. Er will mich
ſprechen.“
„Ver?“
„Macclean.“
Sie reichte ihm ein Briefblatt. Angeſchickt mit der
linken Hand darauf geſchrieben ſtanden die Worte:
„Mich hält nun nichts mehr hier. Vor meiner Abreiſe
möchte ich Ihnen ein Wort fagen, Miß Braun. Kommen
Sie zu mir!“
„Keinenfalls wirſt du zu dem Menſchen gehen!“
ſagte Heinz heftig.
„Ich dachte mir, es würde dir nicht recht ſein.“
„Ver weiß, was der Kerl im Schilde führt!“
„Macclean — gegen mich? Oh, ſicher nichts
Böſes!“
„Jedenfalls ift es ganz unmöglich, daß meine Braut
einen fremden Mann in ſeinem Haus beſucht. Das
mußt du einſehen.“
„Ja.“
„Wir wollen Gott danken, daß er gnädig die Kugel
abgelenkt hat von dem Herzen des Ruchloſen —“
„Ich hab' doch nicht auf Maccleans Herz gezielt!“
unterbrach ſie ihn. „Nur auf den Arm.“
„Du haſt gezielt?! In dem Augenblick?“
„Natürlich hab' ich gezielt.“
Wieder mußte Heinz eine peinliche Empfindung
niederkämpfen. „Alſo, wir wollen Gott danken für
den Ausgang. Im übrigen geht der Mordbube dich
nichts an. Sollte er die Gerichte anrufen, ſo werde
ich unſere Sache zu führen wiſſen, verlaß dich darauf.“
„Macclean bemüht die Gerichte nicht. Der ift da-
für, ſich ſelbſt zu helfen.“
„Er tue ſein Zoe) < Du ei aber nicht zu ihm
geben.“
123 Die Welt der anderen. D
——__.
„Rein,“ fagte fie, „ib tws nicht, wenn du nicht
willſt.“ —
Die Stunden ſchlichen. Heinz lag die Nacht wach
und horchte auf den heiſeren Schlag der alten Wand-
uhr. Einem Bräutigam, einem, der das Weib ſeiner
Liebe errungen hat über Gefahr und Tod, flammende
Schüſſe und fließendes Blut weg, hätte nach ſeiner
Meinung anders zumute ſein müſſen. Aber dies Bangen,
das ihm den Atem raubte und kein Frohgefühl auf-
kommen ließ, entſprang jedenfalls nur der Ungewiß-
heit über das Kommende. Wenn er erſt ſeiner Mutter
Meinung kannte, wenn erſt das Band zwiſchen ihm
und Elli gelöſt war, wenn er wußte, ob der Amerikaner
Klage erhob, wußte, wie ſeine Vorgeſetzten über ſein
Abenteuer dachten, dann — ja, dann würde mit der
Ruhe des Gemüts die hohe Freude ſich einſtellen, ganz
gewiß!
Der Tag kam, der Poſtbote. Der heißerſehnte Brief
ſeiner Mutter kam nicht.
„Altere Leute ſind bedächtig, mein Lieb,“ ſagte er.
„Es iſt Mutters Art, gründlich zu erwägen. In das
Außergewöhnliche, das ich ihr ſchreiben mußte, wird
fie ſich nur langſam finden können. Aber ſicher be-
kommen wir heute noch Nachricht.“
Als Heinz mittags mit ſeinen Knaben heimkehrte,
müde und zermürbt von den Spielen mit ihnen wie
nie in feinem Leben, fuhr ein Wagen vor dem Got:
haus vor. Ein junges Mädchen ſprang heraus und
half einer älteren Dame ausſteigen.
Das Blut ſchoß Heinz in heißem Strom in den
Kopf, alle Föhren des Wäldchens ſamt dem weißen
Wirtshaus führten einen tollen Tanz um ihn auf.
Seine Schweſter! Seine Mutter — ſeine Mutter, die
2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 129
feit zehn Jahren auch nicht eine Stunde auf der Eijen-
bahn gefahren war!
„Geht hinauf! Macht euch zum Eſſen fertig!“ gebot
er rauh den gaffenden Kindern. „Wollt ihr wohl
machen, daß ihr hinaufkommt!“
Während ſie mit neugierig zurückgewandten Hälſen
ins Haus abzogen, trat er zum Wagen. „Mutter!
Dora! — Ihr kommt zu mir?“
„Später, Heinz, ſpäter!“ Frau Oſterwald neſtelte
an ihrem Geldtäſchchen, ſuchte mühſam den Lohn für
den Kutſcher zuſammen.
„Kann ich das nicht * dich beſorgen, Mutter?“
„Laß nur.“
Die Schweſter, ein früh verblühtes Mädchen mit
ſcharfen Zügen und unruhig umherfahrenden Augen,
ſah ihn vorwurfsvoll an. „Schöne Geſchichten machſt
du! Mutter war ganz krank von deinem Brief! Sie
ließ keine Ruh', wir mußten herfahren.“
„Ich hätte doch zu euch kommen können, Mutter.“
„Es ift beffer fo, mein Zunge. Ich kann wohl ein
Zimnier hier im Hauſe bekommen — nicht wahr?“
„Sicher.“ Als Heinz ſich ſuchend umwandte, trat
Lisbeth in die Tür. Es half nichts. Er mußte jetzt,
hier, ſeine Braut den Seinen vorſtellen.
„Mutter, Dora — dies iſt meine Lisbeth.“
Sie ſtanden einander gegenüber im unbarmherzig
grellen Mittagſonnenſchein, die alte Frau, erſchöpft von
der Reiſe, in Tücher und Schleier gewickelt, mit faltigem,
vergrämtem Geſicht, ſcheu, geblendet von der Weite,
dem mitleidloſen Licht, ſie, die ihre Tage im Halb—
ſchatten gelebt hatte — und ihr gegenüber dieſes Mäd-
chen in der Vollkraft ihrer Jugend, mit harten, bliken-
den Augen in die Sonne ſchauend, mit tatkräftig auf—
gerecktem Kopf, über dem wie eine Krone das blonde
1913. IX. 9
130 Die Welt der anderen. 2
Haar flimmerte, geſund, willensſtark, rückſichtslos, das
Leben ſelber.
Eine Sekunde ſchwiegen beide in einem kühlen Er-
ſchauern vor der Weſensfremdheit des anderen. Dann
ſtreckte die alte Frau langſam die Hand aus.
„Wenn ich meines Sohnes Brief recht verſtanden
habe, ſo danke ich es Ihnen, liebes Fräulein, daß mein
Heinz noch lebt. Das wird eine Mutter Ihnen nie
vergeſſen.“ |
Lisbeth legte ſtumm ihre Finger in die Hand Frau
Oſterwalds. E
„Mach ein Zimmer für Mutter und Dora zurecht,
Lisbeth,“ bat Heinz.
Lisbeth ging eilig.
„Vorläufig kommt ihr mit mir, Mutter.“
Er führte die beiden in das kleine Stübchen, das
er neben den Schlafräumen feiner Zungen bewohnte,
und ſchloß die Verbindungstür.
Die alte Frau ſetzte ſich auf das harte, kleine Sofa,
faltete die Hände im Schoß und ſah vor ſich hin.
„Kann ich dir eine Erfriſchung bringen, Mutter, bis
das Mittageffen fertig iſt? — Was trinkt Mutter, Dora?“
Frau Oſterwald lehnte nur durch ein Kopfſchütteln
ab. „Alſo ſo ſieht ſie aus!“ ſprach ſie vor ſich hin.
„Die arme Elli!“ ſagte Dora. „Das hat ſie ſich
gewiß nicht träumen laffen, daß fo eine dich ihr weg-
nehmen würde.“
Heinz wurde heftig. „Sei ſo gut und gib acht auf
deine Ausdrücke! So eine! Das verbitt' ich mir. Du
kennſt ja meine Lisbeth gar nicht.“
„Na, hör mal, ein junges Mädchen, das nachts in
den Wäldern umherläuft, mit Piſtolen um ſich ſchießt! —
Und wie fie ausſieht mit dem viel zu kurzen Rock!
Eine Hausfrau wird die nie.“
a Novelle von Luiſe Weſtkirch. 131
„Dora!“
„Ja, darauf mußt du doch ſehen, mein' ich! Wie
wollt ihr denn ſonſt die zwei Enden zuſammenbringen?“
Sie ſah ſich um. „Reichtümer wird ihr Vater ihr wohl
nicht mitgeben können. Es ſieht erbärmlich hier aus.“
„Du follft deinen Mund halten, verſtehſt du!“
„Auch darüber, daß du einem braven Mädchen dein
Wort brichſt — und das Herz dazu? Du weißt ſelbſt,
daß Elli viel mehr nach dir fragt, als du wert biſt.“
„Still,“ bat die Mutter, „fei doch ſtill, Dora! Zankt
euch nicht!“ Sie nahm ihres Sohnes Hand. „Achte
nicht auf ihre Reden, Heinz. Das Kind weiß nichts
vom Leben. Sie ſieht nur Schwarz und Weiß.“
„Ja, Mutter, mir iſt Recht Recht und Unrecht Un-
recht. Davon laſſ' ich mir nichts abhandeln.“
„Schweig ſtill! Sch will jetzt ſprechen,“ ſagte Frau
Oſterwald. „Ich kann dich verſtehen, Heinz. Sch kenne
dein ſtrenges Pflichtgefühl, dein zartes Empfinden. Du
biſt dem Mädchen Dank ſchuldig geworden, eine große
Verpflichtung haft du gegen fie.“
„So nicht, Mutter! Ich liebe Lisbeth.“
„Auch das. Du glaubſt fie zu lieben, die für dich
Ungeheures gewagt hat, die Blut vergoſſen hat aus
Liebe zu dir! Wie ſollteſt du nicht? Wie ſollte nicht
vor der Heiligkeit der Dankesſchuld, die du gegen fie
zu begleichen haſt, die Heiligkeit jedes anderen Bandes,
jeder anderen Pflicht in deiner Wertmeſſung zurück—
treten? — Sieh, ich verſtehe das alles, und ich ver-
damme dich nicht, Heinz — ich nicht.“
Er beugte ſich über ihre Hand und küßte ſie.
„Ich kenne dich ſogar beſſer, als du ſelbſt dich kennſt.
And weil du jetzt an dich ſelbſt gar nicht denkſt, dein
Glück, all deine künftigen Jahre nicht eines Erwägens
wert hältſt in dem Ungeſtüm deiner edlen Regung,
132 Die Welt der anderen. D
darum hat es mir nicht Ruhe gelaſſen, darum hab' ich
kommen müſſen, damit ich mit meinen Augen die ſehe,
bis auf den Grund die kennen lerne, die das Schickſal
deines Lebens werden ſoll. Denn, wenn du dich ver-
gißt, mein Heinz, ich, deine Mutter, habe das Recht,
dich nicht zu vergeſſen — über keinen Menſchen und
keine Dankbarkeit und keine Pflicht. Ich will die Augen
offenhalten und dein Mädchen kennenlernen. Damit
biſt du doch einverſtanden, Heinz?“
„Ja, Mutter. Und Dank, heißen Dank! Oh, wenn
du nur ein wenig ihrer angeborenen Art Rechnung
trägſt, mußt du meine Lisbeth liebgewinnen. Sie iſt
ganz Tatkraft, ganz Leben, eine Frau, mit der zur
Seite ein Mann die Welt erobert.“ Er ſtockte. Die
Frage fiel ihm ſchwer. „Weiß Elli ſchon?“
„Noch nicht. Zch wollte erft ſelbſt ſehen. Aber Elli
hat dich lieb, mein Junge, und fie hat nie ihr eigenes
Glück geſucht. Deinem Glück — wenn dies Mädchen
dein Glück iſt — wird ſie nicht im Vege ſtehen.“
„Nein,“ fügte Dora hinzu, „du kannſt es darauf
wagen. Sie wird dir ſagen: es tut nicht weh — auch
wenn ſie dran ſtirbt.“ f
Es klopfte. Lisbeth meldete, daß das Zimmer
bereit ſei. |
„Schon?“ fragte Dora mißtrauiſch.
Sie gingen hinüber. Jetzt, da Heinz gleichſam durch
die Augen von Mutter und Schweſter ſah, kamen ihm
die Mängel vom Waldheim erſt völlig zum Bewußtſein.
Das Loch in der Mullgardine klaffte unverſchämt, die
Bettvorlage war ausgefranſt. An der Waſſerkanne
fehlte der Henkel.
Doras Blicke hafteten ausdrucksvoll auf dieſen
Schäden. N
Sah Lisbeth fie nicht? Warum gab fie fidh folde Blöße?
D Novelle von Luiſe Weſtkirch. 133
Lisbeth ſtand wartend, ganz gutes Gewiſſen, guter
Wille. In der Hand hielt ſie ein Brett mit Kaffee-
geſchirr und Zwieback. Die Taſſen hatten Sprünge.
„Vielleicht ſchmeckt's doch nach der Reiſe?“ ſagte ſie.
„Nein, Lisbeth, Mutter nimmt nichts,“ entgegnete
er raſch. „Was ihr not tut, iſt einzig ein bißchen Ruhe.“
Lisbeth war ſchon an der Tür.
„Mein liebes Kind,“ ſagte Frau Oſterwald freund-
lich, „Sie müſſen Nachſicht mit einer alten Frau haben.
Ich freue mich darauf, recht lange und eingehend mit
Ihnen zu plaudern. Wir haben einander viel zu ſagen.
Ganz genau müſſen Sie mir den ſchrecklichen Vorfall
erzählen. Von Ihnen und Fhrem Leben müſſen Sie
mir erzählen, wenn Heinz mit feinen Jungen hinaus-
zieht heute nachmittag — nicht wahr?“
Ja,“ ſagte Lisbeth.
Sie ging eilig. Wie dieſe Dora ſie angeſtarrt hatte!
Hatte ſie denn etwas Beſonderes an ſich? Sie betrachtete
ſich im nächſten Spiegel, zupfte ihren Anzug zurecht.
Richtig! Die Bluſe war zerriſſen. Sie würde die andere
anziehen. Ganz heil war die allerdings auch nicht.
Aber der Schaden ſaß unter dem Arm. Übrigens war
das ein ganz nebenſächlicher Umſtand bei dem Wid-
tigen, das zwiſchen ihnen auf Austrag harrte.
Aufatmend ſog ſie den friſchen Weſtwind ein. Sie
war nicht oft verlegen. Furcht kannte ſie überhaupt
nicht. Aber die beiden Frauen machten ſie beklommen.
Es war, als wenn ſie alle Luft wegſaugten aus dem
Raum, in dem fie ſich aufhielten. Ob die beiden ihre
Hausgenoſſen wurden? Heinz hatte erzählt, daß er bei
ſeiner Mutter wohne. Ach, ſie würde ſchon mit ihnen
fertig werden! Seine Mutter, das war doch die Frau,
die ihren Sonntagſtaat zerſchnitt, damit ihre Kinder
Röckchen bekamen. Seine Schweſter hatte Bluſen ge—
134 Oie Welt der anderen. 2 D
näht für ein Geſchäft vom Morgen bis tief in die Nacht,
um das Geld zuſammenzubekommen, deſſen Heinz
zu ſeiner Ausbildung bedurfte. Sie hatte ſich dieſe
Prachtmenſchen anders vorgeſtellt. Aber was lag am
Außeren! |
Jedenfalls wollte fie ſich Heinz zuliebe aber doch
auf den Nachmittag ſo hübſch machen, wie ſie irgend
konnte.
Inzwiſchen ſchickte Frau Oſterwald Dora hinaus.
„Kümmere dich ein wenig um meine Suppe, Kind.
ich kann heute nur Grießſuppe effen. Sieh, daß fie
richtig gekocht wird — ohne Gewürz, ohne Fett. Und
daß ich Weißbrot bekomme.“
Dann zog ſie Heinz neben ſich auf das Sofa.
„Nun ſag mir von Anfang, wie das über dich ge—
kommen ift, mein Zunge. Ganz ruhig, ganz ausführ-
lich erzähle.“
Er verſuchte es. Aber er fand keine Stimmung in
der dumpfen Stube, vor der ſeufzenden Frau im
ſchwarzen Gewand. Aller Wunderglanz fiel ab von
den Geſchehniſſen, alle lichte Schönheit von ſeinen
Empfindungen. Wie ein zerflederter Schmetterling lag
ſeine hochflatternde Liebe am Boden. Es war, als ob
die nervös ſich bewegenden Finger der alten Frau alle
die leuchtenden Farbenſchuppen von ihren Flügeln
zupften. Er brach ab und ſtand auf.
„Ich kann's mit Worten nicht fagen. Ih ſag's
ſchlecht. Lerne meine Lisbeth kennen, Mutter, und
du wirft mich verſtehen.“ .
„Du fagit, fie hat keine Mutter mehr. Aber ihren
Vater, den Herrn Braun, wirſt du mir doch bringen?“
Da mußte Heinz von des Wirtes Eigentümlichkeiten
ſprechen. Er tat es ungern.
Frau Oſterwald ſeufzte tiefer als zuvor. „Ein
D Novelle von Suite Weſtkirch. 135
Trinker! — Man jagt, daß ſolches Laſter fih vererbt
bis in die zweite, dritte Generation. Haſt du das
bedacht?“
„Ich hab' nur bedacht, daß ich Lisbeth liebhabe.
Und fie hat auch nur an ihre Liebe zu mir gedacht,
als ſie die Mündung ihrer Piſtole auf einen Menſchen
richtete.“
„Ja, ja — gewiß. Aber die Tochter eines Trinkers,
Heinz! Wir haben Verantwortung unſeren ungeborenen
Kindern gegenüber.“
„In erſter Linie doch wohl gegen die Menſchen,
die lebendig ſind.“
„Ich weiß nicht. Was lebt, kann ſich wehren. Die
Werdenden find ſchutzlos. — Aber rege dich nicht auf.
All dies Wilde, Schwankende wird ins Gleichgewicht
kommen. Nur Ruhe! Wie toll das Waſſer in der
Schale auch nach links und rechts über den Rand ſchlagen
mag, halte nur ein Weilchen ſtill, es wird glatt und
eben. Geh jetzt zu deinen Zungen.“
Am Nachmittag, als Heinz widerwillig mit den
Knaben in den Wald gezogen war, ließ Frau Ofter-
wald Lisbeth zu ſich bitten. Sie hatte eine Taſſe Kaffee
vor fidh ſtehen. Dahinein tauchte fie vorſorglich ihren
Zwieback.
Dora ſaß am Fenſter und häkelte wie toll. Die
Mutter hatte ihr verboten, zu reden.
Lisbeth aber hatte die weiße Bluſe angezogen, dazu
einen weißen Muſſelinrock. Ihr ſilberflimmerndes Haar
hatte ſie zu einer hohen Flechte aufgebauſcht. Macclean
pflegte zu ſagen, daß dieſe Haartracht ſie beſonders
kleide. Im goldenen Gürtel ſteckte ein Strauß friſcher
Heckenroſen. Wie eine junge Siegesgöttin ſtand ſie
vor den zwei verarbeiteten, vergrämten Frauen, ſtrah—
136 Die Welt der anderen, D
lend von einem Überfhuß von Tatkraft und Lebens-
freude, der ihre müden Seelen ſchmerzhaft blendete.
„Mein liebes Kind, kommen Sie. Setzen Sie ſich
zu mir,“ begann Frau Oſterwald. „Sie fürchten ſich
doch nicht vor mir?“
„Nein, Frau Oſterwald,“ ſagte Lisbeth lächelnd.
„Heinz hat mir viel von Ihnen erzählt. Da habe ich
Sie liebgewonnen — und ihn dazu.“
„Nicht wahr, Sie haben meinen Zungen ſo recht
von Herzen lieb?“
„Gewiß.“
„Sie wollen, daß er glücklich wird! — Sind Sie
ſicher, liebes Fräulein Braun, daß Sie ihm das Glück
geben können? — Sie müſſen einer bangen Mutter
die Frage verzeihen.“ |
Lisbeth wurde rot. „Wir haben einander lieb,“
ſagte ſie einfach.
„Ja, ja. Aber ehe Sie ihn liebgewannen, ging da
nicht Ihre Neigung andere Wege? — Ich wenigſtens
weiß mir den mörderiſchen Anfall auf meinen Sohn
nicht anders zu erklären. Durch Sie, nur durch Sie
konnte er in die Gefahr geraten, aus der Sie ihn
gerettet haben.“
Lisbeth ſah auf. Wie die unruhigen Augen des
Mädchens am Fenſter fie anfunkelten! Das war un-
verkennbare Feindſchaft.
„Macclean ift mir ein Freund und guter Kamerad
geweſen,“ antwortete ſie feſt. „Ein Verſprechen hab'
ich ihm nie gegeben.“
„Er mag ſich dieſe Freundſchaft zwiſchen einem
Mann und einem jungen Mädchen wohl anders ge—
deutet haben. Sie war ſehr unvorſichtig.“
Lisbeth biß die Zähne zuſammen und ſchwieg. Es
war ſeine Mutter, die ſprach.
2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 157
„Nun, Sie werden wohl ſelbſt Ihr Unrecht ein-
geſehen haben und bitter bereuen?“
„Ich hab' nichts zu bereuen,“ antwortete Lisbeth
raſch. „Es ijt nichts Anrechtes geweſen zwiſchen mir
und Macclean. Er hat mich liebgehabt und Heinz
auch. Dafür kann ich nichts.“
Dora räuſperte ſich. „Sie verſteht dich gar nicht,
Mutter.“
Frau Oſterwald ſchüttelte betrübt den Kopf. „Sie
ſind wirklich ganz anders, als ich Sie mir vorgeſtellt
hab', Kind,“ ſeufzte ſie.
„Ja,“ ſagte Lisbeth tapfer, „das fühl' ich wohl,
daß ich anders bin als Sie und als Heinz auch. Aber
als er mir von Ihnen, von ſeiner Kindheit, ſeiner
Familie ſprach, da hat mich die Sehnſucht gepackt. Ich
hab' ein Elternhaus ja nie kennengelernt. Ich bin
wie eine Waiſe aufgewachſen — ſchlimmer. und“ —
ihre Stimme wurde weich — „Heinz verhieß mir, daß
ich in Ihnen eine Mutter finden würde, Frau Ofter-
wald. Eine Mutter! Zch weiß ja gar nicht, wie das
iſt, eine Mutter haben.“
„Gewiß, mein Kind, gewiß will ich Ihnen Mutter
ſein, wenn Sie es wünſchen und — und verdienen.
Das aber kann ich nicht verhehlen, daß mich die Grund-
verſchiedenheit Ihrer Auffaſſung vom Leben und der
Lebensauffaſſungen, die bei uns gelten, in denen mein
Heinz aufgewachſen und erzogen worden iſt, beſorgt
macht.“
„Wir haben einander lieb,“ wiederholte Lisbeth.
Die Häkelnadel in Doras Hand machte zornige
Sprünge. Die mit ihrer einfältigen Liebe! Ein ſchöner
Haushalt würde das werden! Die Perſon mit ihrer
Tingeltangelfriſur und ihren ſonderbaren Freund—
ſchaften brauchte nur einmal der Frau Rektor über
138 Die Welt der anderen. a
den Weg zu laufen, dann konnte Heinz feine Bücher
einpacken und Stadtreiſender in Stiefelſchmiere werden.
Mutter war viel zu ſchwach! Wenn ſie ſelbſt doch
reden dürfte!
Frau Oſterwald ſeufzte noch einmal. Dann ent—
ſchloß ſie ſich. „Mein Kind, ich nehme an, daß Sie,
wenn auch verſchieden von dem Bild, wie wir in unſeren
Kreiſen uns junge Mädchen vorſtellen und wünſchen,
doch das Herz auf dem rechten Fleck und ein feines
Empfinden für Recht und Gerechtigkeit haben. Sie
ſagen, Sie waren ganz frei, als Sie Ihr Herz meinem
Heinz ſchenkten. Ich will es glauben. Bei Heinz, ſehen
Sie, iſt das anders. Sie müſſen, um zu dem zu ge—
langen, was Sie als Ihr Glück betrachten, ein fremdes
Glück vernichten. Wollen Sie das??
„Das verſtehe ich nicht.“
„Heinz war ſeit Jahren einem lieben Mädchen,
einer Zugendgeſpielin, in herzlicher Neigung verbunden.
Hat er Ihnen nicht davon geſprochen?“
„Nein.“
„Wir haben ſie als ſeine Braut betrachtet.“
Lisbeth ſchwieg einen Augenblick. „Heinz tut es
nicht,“ ſagte ſie dann ruhig. |
„Er hat es getan, bis er Sie kennen lernte. Das
Mädchen hängt mit ihrer ganzen Seele an ihm. Wenn
Sie ihn ihr nehmen, wird ſie unſäglich darunter leiden.
Es kann ſein, daß ſie daran ſtirbt. Wollen Sie dieſe
Schuld auf Ihr Gewiſſen laden?“
„Was kann ich dabei tun?“
„Was Sie dabei tun können?!“
„Ich kann Heinz doch nicht zwingen, ſie liebzu—
haben.“
„Liebe! Liebe! — Sie ſprechen immer von Liebe.
Von Pflicht ſcheinen Sie nichts zu wiſſen. Aber, mein
D = Novelle von Luife Weſtkirch. 139
Kind, Liebe vergeht, Recht beſteht. Es ruht kein Segen
auf unrechtem Gut. Ich hatte auf meine Mitteilung
eine andere Antwort von Ihnen erwartet. Da Sie
fie nicht ſelbſt finden wollen, muß ich Sie darauf bin-
weiſen. Liebes Fräulein Lisbeth, geben Sie meinen
Jungen frei. Sie paſſen nicht zu ihm. Nimmer werden
Sie Ihr Glück als ſeine Frau finden. Um ſeinetwillen,
um Ihretwillen, um unfer aller willen — geben Sie
ihn frei!“ i
Lisbeth ſprang auf, mit Blut übergoſſen, empört.
„Alfo das war der Zweck dieſer Unterredung! Sie
wollen die Schwiegertochter, die Ihnen nicht gefällt,
aus Ihrer Familie ausmerzen! Aber eine Heirat iſt
eine Sache zwiſchen Mann und Frau allein. Nicht um
ſeiner Mutter willen, nicht um eines Mädchens willen,
das Heinz einmal liebgehabt hat, trenne ich mich von
ihm. Solange er mich liebhat, ſolange ich ihn lieb—
habe — niemals!“ |
„And wenn er aufhört, Sie zu lieben? — Er wird
aufhören!“
„Wenn er mich nicht mehr liebhat, dann iſt Heinz
frei.“
„Auch wenn er inzwiſchen Ihr Mann geworden iſt?“
„Einen Mann feſtzuhalten, der nach mir nicht fragt,
würde ich mich unter allen Umftänden ſchämen — unter
allen! Ich kann mir nicht vorſtellen, daß das Mädchen,
von dem Sie ſprechen, anders empfindet.“
„Nicht einmal die Ehe gilt Ihnen für heilig?“
„Wenn zwei Menſchen nicht einer den anderen über
alles lieben, dann iſt es jederzeit beſſer, ſie trennen ſich.“
Der alten Frau liefen die Tränen über die Wangen.
„Und mit dieſen Grundſätzen wollen Sie meines Heinz
Frau werden? Es liegt da ein Weltmeer zwiſchen
Ihnen und uns!“
140 Die Welt der anderen. el
Dora hielt nicht mehr an fih. „Ich hab' dir's
vorausgeſagt, Mutter, du redeſt in die Luft. Fräulein
Braun hat beſchloſſen, Frau Oſterwald zu werden.“
Ehe Lisbeth antworten konnte, hob Frau Oſterwald
abmahnend die Hand. Es lag eine ſchlichte Hoheit in
der Bewegung.
„Meine Kraft iſt zu Ende. Mein liebes Fräulein,
erwägen Sie ſtill für ſich meine Worte. Ich will Gott
bitten, daß er uns alle erleuchten und dieſe Not zum
Guten wenden möge. Ich — kann nicht mehr.“
Dora ſprang zu und fing die Frau auf, die wankte.
Lisbeth ging ſtumm hinaus, verwirrt, befangen von
der Echtheit dieſes Schmerzes, der in ihre heiß auf-
flammende Empörung über die Aufnahme, die die
Nächſten ihres Heinz ihr bereiteten, dämpfend fiel wie
ein kalter Waſſerſtrahl in Feuersglut. Jedenfalls —
die alte Frau log nicht. Sie ſagte, wie ſie empfand,
wie die Erfahrung eines langen Lebens es ſie ſehen
ließ. War denn der Schatten eines Grundes für ihre
Befürchtungen vorhanden? Lag wirklich, wie fie ſagte,
ein Weltmeer zwiſchen Lisbeth Braun und Heinz Oſter-
wald? Würde er einmal aufhören, ſie zu lieben? Oder
liebte er im Grund ſeines Herzens doch die andere,
die nicht ein Weltmeer von ihm ſchied? Eine heiße
Angſt packte ſie. Aber ſie wollte ſich nicht verwirren
laſſen. Nur Heinz konnte das Wort ausſprechen, das
ſie von ihm trennte, nur er. Oh, ſie liebte ihn —
jetzt fühlte ſie erſt ganz, wie ſehr ſie ihn liebte, den
Ton ſeiner Stimme, ſein dunkles Haar, den verträumten
Blick ſeiner Augen! Nein, ſie ließ ihn ſich nicht ent—
reißen!
Sie war in den verwilderten Garten gegangen, ſaß
auf dem Brunnenrand, neben dem ſchwül duftend die
weißen Lilien blühten, den Ellbogen auf das Knie
o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 141
ſtützend, den Kopf in der Hand, die achtlos das hoch-
gebauſchte Haar zerwühlte.
Die Zeit verrann, die Schatten wurden länger.
Auf den Arm ihrer Tochter geſtützt, wandelte Frau
Oſterwald den breiten Weg vor dem Gaſthaus auf und
nieder, eine gebeugte Geſtalt, umwallt von ſchwarzem
Gewand und ſchwarzem Schleier, traurig, hoffnungs-
los, ein düſterer Fleck in der ſonnigen Landſchaft, ein
düſterer Schatten auf dem Leben eines frohen Men-
ſchenkindes.
Lisbeth ſah ſie wandeln und rührte ſich nicht.
Aber jetzt trappelten junge Füße. Heinz brach an
der Spitze ſeiner Schar aus dem Holz. Haſtig ſchritt
er aus, dann blieb er ſtehen und ſchickte ſeine Zöglinge
voran in das Haus.
Lisbeth ſprang auf. Sie wollte zu ihm, ihm klagen,
was die Seinen ihr angetan hatten. Seine Entſchei—
dung wollte ſie hören.
Da hatte er ſchon Mutter und Schweſter erreicht.
Sie vernahm ſeine Stimme. Aufregung klang daraus.
„Mutter! Denk doch! Schulrat Doktor Wallenrodt
ijt hier! Hier in Olhauſen. Eben beſichtigt er die Bohr-
werke. Ingenieur Börnholm hat mir's zugerufen. Er
will auch die Ferienkolonie inſpizieren.“
Die gebeugte Geſtalt der Mutter richtete ſich auf.
„Schulrat Wallenrodt! Das kann entſcheidend für deine
Zukunft werden, mein Junge. Seine Empfehlung
könnte dir die Stelle ſchaffen, die du erſtrebſt. Sieh
nur zu, daß du gut vor ihm abſchneideſt. Wie kommt
er denn hierher?“
„Er beſucht Freunde auf einem benachbarten Gut.
Da ſieht er im Vorbeigehen gleich nach dem Rechten
hier. Der gönnt ſich ja keine Ferien.“
„Wenn du ihn nur zufriedenſtellen kannſt! Hier
142 Die Welt der anderen. o
im Haus ſcheint manches nicht zu fein, wie es
ſollte.“
Da Stand Lisbeth neben ihm in ſtolzer Entſchloſſen—
heit. Nicht unter vier Augen, nein, vor Mutter und
Schweſter wollte ſie ihn fragen, ſollte er ihr darauf
antworten, ob auch er einen Abgrund ſah zwiſchen ſich
und ihr. Und wenn es ſolch einen Abgrund gab, ob
er feiner Liebe nicht die Schwingen zutraute, ihn dar-
überzutragen.
„Heinz!“
„Lisbeth, denk doch, der Schulrat kommt!“
Wie ihm die Augen unruhig hin und her fuhren!
In dieſem Augenblick erinnerten ſie an ſeiner Schweſter
Augen.
„Heinz! Deine Mutter ſagt — du ſollſt mir Ant-
wort geben —“
„Nachher. Ich muß jetzt ins Haus. Der Schulrat
ift hier. Mein Vorgeſetzter, verſtehſt du.“ Jetzt erft
ſah er ſie an. „Wie ſiehſt denn du aus?!“
Ihr weißes Feiergewand fiel von Hals und Armen
zurück, ihr Haar floß in ſilberner Flut zerzauſt um ihre
Stirn. Die Wangen waren von Erregung gerötet, die
Augen dunkel vor Leidenſchaft. Sie war ſehr ſchön
in dieſer Stunde, aber von der Schönheit einer Bachan-
tin. Und Heinz ſah ſie durch die Augen des geſtrengen
Schulmannes.
Er entrüſtete ſich. „Ich bitte dich — wie ſiehſt du
aus?“
„Was denn? Wie fep’ ich denn aus?“
Ein feiner alter Herr trat aus dem Föhrenholz.
„Der Schulrat! — Da iſt er ſchon. Ich muß ihn
begrüßen.“ — Er wandte ſich noch einmal zu Lisbeth.
„Laß dich nicht vor ihm ſehen! — Tu mir den einzigen
Gefallen, verſteck dich!“
a Novelle von Suite Weſtkirch. 143
Er ſtürmte fort.
Sie verſtand nicht. Wie hatte er ſie nur angeſehen?
War, was aus ſeinen Augen ihr entgegenſprühte, Zorn
oder gar Verachtung? — Verachtung ihr! Von ihm!
Verſteinert, ungläubig ſtand ſie.
Inzwiſchen kamen die beiden heran. Es war nicht
mehr möglich, zu entfliehen, wie Heinz forderte. Warum
auch? Der alte Herr hatte ein liebes, kluges Geſicht.
Sie war in ihrer Wirtſchaft mit Schlimmeren fertig
geworden. |
„Alſo, Herr Oſterwald, Sie haben die Freude, Ihre
Frau Mutter und Ihr Fräulein Schweſter hier zu Be—
fuch zu haben? Das ift recht,“ ſagte Wallenrodt freund-
lich. „Darf ich bitten, mich mit den Damen bekannt
zu machen?“
Heinz ſtellte vor. „Herr Schulrat Wallenrodt.
Meine Mutter, meine Schweſter.“
Des Schulrats kluge Augen wanderten fragend
weiter auf Lisbeth in Bewunderung oder Verwunde—
rung.
Heinz in ſeiner Erregung glaubte letzteres. Er
ſchleuderte Lisbeth einen Zornesblick zu. Hatte ſie
denn kein Zartgefühl, daß ſie blieb, nachdem er ſie
gebeten hatte, zu gehen? Aber er mußte ſprechen,
erklären, wie dieſes auffallende Mädchen auf dieſe
Stelle, an ſeine Seite, neben ſeine Mutter, ſeine
Schweſter kam.
Er ſchluckte. Dann ſagte er kurz entſchloſſen: „Fräu—
lein Braun — unſere Wirtin.“
So. Das war gut. Für die Wirtin trug er keine
Verantwortung. |
Der Schulrat machte eine höfliche Verbeugung und
wandte fih an Frau Oſterwald mit einer Frage nach
ihrer Geſundheit.
144 Die Welt der anderen. o
Lisbeth ſtand einen Augenblick wie eine Bildſäule.
Das Blut ſchoß ihr glühend bis unter die blonden
Haarwurzeln.
„Fräulein Braun — unſere Wirtin!“
Wie ein Schlag trafen fie die Worte, wie ein Blitz-
ſchlag in einer einzigen Sekunde erhellend, was un-
durchdringlich dunkel vor ihr gelegen hatte. Sie brauchte
ihre Frage nicht mehr zu ſtellen. Der Mann, den ſie
liebte, hatte ihr die Antwort gegeben, klar und un-
zweideutig: er ſchämte ſich ihrer. Er verleugnete ſie
vor den Menſchen ſeiner Kaſte. Die alte Frau hatte
die Wahrheit geſprochen: ein Weltmeer lag zwiſchen
ihm und ihr, und ſeine Liebe hatte nicht die Flugkraft,
ihn darüberzutragen.
Sie hörte nichts weiter. Als der liebenswürdige
alte Herr ſich umwandte, um auch ihr ein freundliches
Wort zu ſagen, war ſie fort. Wortlos hatte ſie ſich
gewandt, war gelaufen, rafcher, immer raſcher, je weiter
ſie kam, als könnte ſie durch ihr Rennen den raſenden
Schmerz übertäuben, der in ihr wühlte.
Irgendwo im tiefſten Wald warf ſie ſich zur Erde,
grub die Finger in das Moos, um nicht zu ſchreien.
Es war aus. „Meine Mutter, meine Schweſter —
Fräulein Braun, unſere Wirtin!“ — Ein Nichts. Doch
entſcheidend. Denn es ſchob ſie weg von ihm und den
Seinen, nicht in Zorn, nicht in Erbitterung — darüber
führen hundert goldene Brücken ſeliger Verſöhnung —
nein, ganz mechaniſch, inſtinktmäßig. Die gehört nicht
zu uns, die iſt fremd. Glaub ja nicht, die ſei von unſerer
Art. Und der önſtinkt ift unfehlbar, unbelehrbar. Was
er verwirft, das bleibt verworfen, wie auch Verſtand
und Gemüt ſich mühen, es annehmbar zu machen.
Sie hatte keinen klaren Gedanken, nur das Be-
wußtſein des Geſchehenen, zwei Bilder, ſchmerzhaft
o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 145
brennend vor geſchloſſenen Augen: im ſchwarzen
Föhrenwald die mondſcheindurchflimmerte Lichtung,
ſie ſelbſt, die Mündung der Piſtole richtend auf einen,
der auf ſtarken Armen ſie mit ſich hinaustragen wollte
aus der Schmach und Pein ihres Vaterhauſes — und
dann das weiße Gaſthaus im Abendſonnenſchein, die
Gruppe Menſchen davor, und Heinz, der, ohne mit der
Wimper zu zucken, vorſtellte: „Fräulein Braun — un-
ſere Wirtin!“ — |
Die Schatten wurden lang. Die Sonne ſchwand
in violettem Dunſt. Sie hob den Kopf nicht. Sie
wollte nicht heim. Nur Heinz nicht wiederſehen! Viel-
leicht glaubte er, er ſei ihr Dank ſchuldig geworden, und
wollte ihr die Heirat als eine Art Zahlpfennig hinwerfen.
Nein, nein, der Mann, der fie nicht liebhatte über Vor-
geſetzte, Stellung, Mutter, Schweſter hinweg, hinweg
über Pflicht und Recht dazu, der war ihretwegen frei
wie der Vogel in der Luft! Sie würde ihn nicht halten,
nicht mit der Nagelſpitze des kleinen Fingers würde
ſie ihn halten! Frau Oſterwald konnte zufrieden ſein.
Der Mond am hohen Himmel begann Glanz anzu-
nehmen, als eine ruhige, kühle Stimme ſie aufſchreckte.
„Schon ſo weit? — Ich erlaube mir feſtzuſtellen:
das iſt ſehr früh.“
Sie hob den Kopf, ungläubig ſtarrte fie die bagere,
raſſige Geſtalt des jungen Bohrmeiſters an. Sein
rechter Arm lag feſtgeſchient in einer Binde.
„Andrew Macclean! — Sie?“
„Da Sie nicht zu mir kommen, muß ich wohl Sie
aufſuchen. Ich habe heute kein Fieber. Was ſoll ich
in meinem Bett? Für einen alten Trapper war es
nicht ſchwierig, Ihre Fährte zu finden.“
Sie ſtand jetzt auf ihren Füßen vor ihm, zupfte das
Gras und Moos von ihrem Kleid und verſuchte das
1913, IX. 10
146 Die Welt der anderen. 2
wirre Haar aus der Stirn zu ſtreichen in einer ſchmerz—
lichen Scham, die ſie ſtumm machte.
„Sie ſchießen ſchlecht, Miß Lisbeth, oder Sie ſind
febr unbarmherzig. Es würde verſtändiger geweſen
ſein, mich gleich totzuſchießen als zum Krüppel zu
machen. Wiſſen Sie wohl, ich werde ein Vierteljahr
lang meinen rechten Arm nicht gebrauchen können, und
wer kann ſagen, ob er je wieder ganz gelenkig werden
wird? Für mich iſt das eine große Behinderung.“
„Vergeben Sie mir, wenn Sie können,“ ſtammelte
ſie. „Wenigſtens habe ich Sie davor bewahrt, ein
Mörder zu werden.“
Er lachte hart. „Ein Mörder! An dem Greenhorn,
dem Schulmeiſter, doch wohl nicht!“
„Sie hoben die Hand —“
„Damit er ſtehen bleiben ſollte. Ich hatte ihm ein
Wort zu ſagen.“
„Und in Ihrer Hand blitzte ein Gegenſtand.“
„Es war mein elektriſches Feuerzeug. Nein, kein
Browning, auch kein Bowiemeſſer — gar keine Vaffe!“
„Sie hatten geſchworen, Sie würden ihn um—
bringen!“
„Ja, um ein kleines Mädchen zu erſchrecken, ſagt
man ſchon einmal ſo etwas.“
„Es wäre alſo nicht Ihre Abſicht geweſen, Heinz
Oſterwald —“
„Sollt' ich aus dem ſchlappen Kerl einen Helden
machen in Ihren Augen?! — Tote Menſchen benehmen
fih immer wundervoll, o yes! Ein Mann muß durch-
aus lebendig fein, um ſich bis auf die Knochen bla-
mieren zu können. Das ſcheint Miſter Oſterwald be-
reits gründlich beſorgt zu haben.“
„Oh, wenn Sie nicht dieſe Abſicht hatten, wie
lächerlich bin ich dann!“
2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 147
„Der Tag Ihrer Hochzeit mit dem Sirupmann iſt
wohl noch nicht feſtgeſetzt?“
Sie warf ſich wieder auf den moosbewachſenen
Hang, ſchlug die Hände vors Geſicht und begann wild
zu ſchluchzen.
Er ſetzte ſich ihr gegenüber auf einen Föhrenſtamm,
der krumm gebogen war wie eine Bank. Leiſe pfeifend
wiegte er ſich auf dem ſchwanken Sitz und wartete.
Sie hob endlich den Kopf und wiſchte mit dem
Handrücken die Tränen aus den Augen. „Sie haben
ein Recht, mich zu verſpotten, Macclean. Ich hab'
mich betragen wie eine Närrin. Aber jetzt bin ich
wieder vernünftig, geſund — ganz geſund.“
„Es freut mich, das zu hören.“
Sie ſtand auf. „Und ſo wollen wir Abſchied nehmen.
ich wage nicht, Sie um Verzeihung zu bitten. Sie
müſſen mich jetzt haſſen —“
„Doch nicht wegen des Heinen Kratzers am Arm?“
unterbrach er ſie. „Meine liebe Miß Lisbeth, wer
Katzen kennt, weiß, daß ſie Temperament haben und
bei weitem nicht ſolch gefahrloſe Kameraden ſind wie
zum Beiſpiel Kanarienvögel. Indeſſen, wen einmal
die Paſſion für die wilden und graziöſen Geſchöpfe
gepackt hat, der kommt nicht ſo leicht davon los. Solch
kleiner Tatzenhieb ijt das Salz der Zuneigung. Ernit-
haft geſprochen: ich war Ihr Freund — ich bin noch
Ihr Freund. Setzen Sie ſich wieder hin und ſagen
Sie mir, was hat's gegeben?“
„Gegeben hat's nichts, gar nichts. Bloß, Sie haben
recht behalten: was ihn zu mir zog, ihn glauben machte,
daß er mich liebhätte, war einzig, daß ich anders bin
als er, ganz anders, als ich ſein müßte, um in ſeiner
Welt leben zu können. Und mit mir iſt's das gleiche.
Dazu bin ich ſtolz. Er denkt vielleicht, ich hätte keine
148 Die Welt der anderen. o
Urſache, ſtolz zu fein — Vaters wegen. Aber ich bin
ich, Andrew Macclean! sch hab' meinen Wert für
mich. Dem nehmen die Schulden auf Waldheim nichts
und nichts meines Vaters Unglück. Mich foll man
abſchätzen, mich ſelbſt, nicht meine Verhältniſſe, meine
Familie!“
„All right. Das iſt auch meine Anſicht. Aber es
iſt nicht die Anſicht der anderen, der Leute, zu denen
Miſter Oſterwald gehört. — Haben Sie ſich mit ihm
ausgeſprochen?“
Sie ſchüttelte den Kopf mit einer Bewegung der
Abwehr. „Es braucht's nicht. Alles iſt aus.“
„Und was wollen Sie nun tun?“
Sie ſah mit ratloſem Blick in den Mond, der jetzt
hell ſtrahlte, und um fih her, wo über dem Boden der
weiße Nebel ſtand.
„Ich weiß nicht.“
„Sie müſſen doch eine Idee haben, einen Gedanken,
einen Wunſch.“
„Ich weiß nichts.“ Und nach einer Weile: „Ich
möchte fort — ja, das möcht' ich! Weit fort von all
dem. Neu anfangen anderswo. Zch glaube wohl,
daß das Leben mir noch etwas ſchuldig iſt. Ich glaube
auch, daß ich noch etwas aus mir machen könnte und
wieder froh werden — ſpäter. Jetzt ift mir wie einem
Rind, das fih verlaufen hat. Ich kenn' mich nicht mehr
aus. Ich hab' keinen Mut. Die Dinge, die Verhält-
niſſe, die Menſchen ängſtigen mich, und ich mag nicht
beim. Ich mag ihn nicht wiederſehen! sch ſchäme
mich. Zch ſchäme mich tot!“ |
„Sie ſchämen fih?“ `
„Daß ich fo dumm war! Daß ich glauben konnte
— glauben, ein Menſch könnte fein ganzes Hielen plöß-
lich umkrempeln wie einen Handſchuh! So, bis heute
2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 149
war ich rechts, nun gefällt's mir, links zu ſein. Sich
ſo was einzubilden! Ja, ſchöner mag's wohl ſein, als
ſchneeweißer Schwan ſtolz ſeine Kreiſe auf glattem
Teich zu ziehen. Eine Wildgans bleibt darum doch ihr
Lebtag eine Wildgans.“
Macclean nahm ihre Hand. „Mik Lisbeth, ift es
Ihr Ernſt, daß Sie nicht in Ihr Haus zurückkehren, daß
Sie den Schulmeiſter nicht wiederſehen möchten?“
„Ein paar Jahre meines Lebens gäb“ ich drum!
Aber —“
„Very well. Sie kennen meine Empfindung für
Sie — — Nein, ich habe nicht den ſchlechten Geſchmack,
Sie heute abend davon zu unterhalten. Ich will bloß
ſagen: ich bin der nächſte Menſch für Sie im Leben —
und wenn Sie nicht heim wollen, nicht aushalten wollen
in dem Haus Ihres Vaters — ich bin überzeugt, Sie
würden darin zugrunde gehen —, ſo packen Sie das
Notwendige zuſammen. Fahren Sie noch in dieſer
Nacht nach Bremerhaven. Der „‚Oeutſche Kaiſer“ geht
morgen früh nach New Vork in See. JH will Ihnen
die Adreſſe von einem einfachen Boardinghaus mit-
geben. Da wohnen Sie. Wenn ich dann in vierzehn
Tagen nachkomme, werden Sie mit ſich im klaren ſein.
Wollen Sie dann meine Frau werden — all right.
Und können Sie ſich nicht dazu entſchließen, dann iſt
Amerika der rechte Platz für Sie. Sie werden ſich
dort leicht auf Ihre Füße ſtellen und ein gutes Fort-
kommen finden. Was Sie brauchen für Reiſe und
Aufenthalt, ſchieße ich vor — das verſteht ſich, da ich
den Rat gebe. Was ſagen Sie?“
Sie fab ihn ungläubig an. „Ich foll — diefe Nacht
noch foll ich —“
Vor ihrem inneren Auge ſtand ihr Heim, der Bater,
Tante Hanne, die ewig vergebliche Mühſal, die untilg-
150 Die Welt der anderen.
baren Schulden! Und Frau Oſterwald mit den wallen-
den ſchwarzen Schleiern und den Seufzern — und
Heinz, der ſie verleugnete! — All das hinter ſich laſſen
können für immer, auslöſchen wie eine mißratene
Schrift! Frei und froh auf fich geſtellt ein neues.
Leben anfangen! — Ja, der Mann vor ihr war wirk-
lich ein Starker. Was er anfaßte, wurde leicht. Die
Hinderniſſe rückten ihm aus dem Weg. Der andere
ſchleifte wie Schlinggewächs endloſe Schwierigkeiten
hinter ſich her und warf ſie ſeinem Lebenskameraden
vor die Füße, daß er ſtolpern mußte.
Sie faßte mit beiden Händen des Amerikaners Hand,
beugte ſich darüber, um in heißer Dankbarkeit ihre
Lippen darauf zu preſſen. „Das wollten Sie für mich
tun, Andrew Macclean? Sie für mich! Zegt noch! —
Was ſind Sie für ein Menſch!“
Er zog haſtig ſeine Hand zurück. „Wir wollen vom
Geſchäft als vom Geſchäft ſprechen — ohne Aufregung.
Ich habe es Ihnen oft geſagt: ich tue nie etwas für
einen anderen, nur für meinen eigenen Vorteil. Wollen
Sie annehmen?“
„Ich tu', was Sie mich heißen. Blind trau' ich
Ihnen. Und ich will — Sie ſollen Ihre Gutheit nicht
bereuen.“
„All right. Kein Verſprechen. Es könnte Sie reuen,
Was Sie mir fagen wollen, fagen Sie mir in New Vork
— falls Sie dann noch die Abſicht haben. Wir müſſen
jetzt Ihren Reiſeplan feſtſtellen. Ihr Zug geht um
ein Uhr nachts. Um halb zwölf fährt ein Wagen vom
Werk nach der Bahn. Ich werde Sie nicht hinbringen.
Sie müſſen ganz frei ſein, zu gehen oder zu bleiben
nach Ihrer Einſicht.“
„Ich gehe, Andrew Macclean. Sch gehe.“
u Novelle von Suite Weſttirch. 151
Der Schulrat hatte ſich außerordentlich anerkennend
über die körperliche und geiſtige Pflege der Ferien-
kinder ausgeſprochen. Heinz Oſterwald fühlte ſich groß,
als ginge er auf Stelzen. Er hatte Gelegenheit ge-
funden, dem wohlwollenden alten Herrn feinen Her-
zenswunſch auszuſprechen, den Wunſch nach einer
Lehrerſtelle, die ihm erlaubte, eine Familie zu gründen.
Wallenrodt ſelbſt hatte ihn auf eine freiwerdende
Stelle aufmerkſam gemacht, ihm ſeine Fürſprache bei
der Bewerbung zugeſichert. Morgen wollte Heinz ſeine
Eingabe machen.
Die Familie ſaß beiſammen. Mit leuchtenden
Augen, mit geröteten Wangen ſprach der junge Lehrer
von ſeinem Erfolg, von ſeinem Beruf. Das künftige
Geſchlecht heranbilden, jedes einzelne junge Reis ziehen
nach feiner Eigenart zu der ihm eigenen Volltommen-
heit, ſchien ihm eine Nachahmung von Gottes Schöp-
fungswunder. Und weil er ſein ganzes Herz in ſein
Amt legte, fühlte er ſich als ein Berufener.
Eine Weile hörten Mutter und Schweſter ſchweigend
ihn ſchwärmen. Endlich ſagte Dora: „Was Heinz nur
anfangen würde, Mutter, wenn er nicht mehr Lehrer
ſein könnte?“
Der alten Frau begannen die Tränen ſchwer die
Wangen herunterzurieſeln. „Ja, Heinz, wie ſchön
könnte dein Leben ſein! Wie glatt macht der liebe
Gott in- ſeiner Gnade deinen Weg! Aber hoffſt du
denn, ihn gehen zu können mit dem Mädchen, das du
dir zur Frau erwählt haſt? Ach, ich fürchte, du ſelbſt
haſt dir dein Glück zerſtört!“
Heinz fuhr zuſammen. Lisbeth war in feinen Ge-
danken zurückgetreten über der Befriedigung, die ſeinem
Berufsehrgeiz heute geworden war. Nun ſah er ſie
vor ſich, wie fie vor dem Schulrat geſtanden hatte.
152 Die Welt der anderen. u
Und die Erinnerung war ein Erſchrecken. Aber er wäre
nicht durch und durch Lehrer geweſen, wenn er nicht
auf die Wunderkraft der Erziehungskunſt gebaut hätte.
„Wir werden Lisbeth bilden, Mutter,“ antwortete
er zuverſichtlich. „Sie ift nicht unedel — ein unge-
ſchliffener Diamant. Laß dich die Mühe des Schleifens
nicht verdrießen.“
Daß ſie ſich nicht zeigte, nahm er für ein gutes
Zeichen. Sie ſchämte ſich. Er ſuchte ſie auch nicht auf.
Sie war ſeinem Gebot ungehorſam geweſen, Strafe
gehört zur Zucht. Und er wehrte Dora, ſich nach ihr
umzuſehen.
Zuletzt wurde er aber doch unruhig und fragte
Tante Hanne.
„Sie wird längſt im Bett ſein,“ meinte die Alte.
Er ging dann auch auf ſeine Kammer. Mit was
für einem Gefühl von Geborgenheit würde er ſich
heute in die weißen Bettſtücke geſtreckt haben, wenn er
den eigenſinnigen Kopf unter der ſilberblonden Haarflut
nie geſehen hätte! Wenn die letzten vierzehn Lebens-
tage ein wüſter Traum geweſen wären! Dann würde
ſeine arme, kränkelnde Mutter heute ſeit Jahren die erſte
reine Freude fühlen. Dann würden Ellis ſcheue, zärt-
liche Augen aufſtrahlen in neuem Glanz. Eine Stunde
ſtolzer Wonne wär's, wenn er ſie von ihren Eltern
forderte, den Hochzeitstag feſtſetzte. Wohin er mit
dieſer Frau ſich auch wenden mochte, der Beifall von
Vorgeſetzten und Kollegen würde ihn begleiten. Ja,
glatter würde fein Leben hinfließen, wenn er Ölhaufen
und Lisbeth Braun nie geſehen hätte! Aber er hätte
die Empfindungen und Begebniſſe der letzten Wochen
doch nicht wegſtreichen mögen aus ſeinem Schickſal —
um vieles nicht!
Im Schlaf war es ihm, als ſei ein leiſes Gehen
u Novelle von Luiſe Weſtkirch. 153
im Haus, ein Kramen, Raſcheln. Eine Tür fiel ins
Schloß, Räder rollten. Er ſchlief darüber ein. —
Auch am Morgen zeigte Lisbeth ſich nicht. Frau
Oſterwald fühlte fih verletzt, Dora redete von Rück-
ſichtsloſigkeit. Heinz wurde unruhig.
„Aufs Feld hinaus wird ſie ſein,“ beſchied die Tante
gleichgültig. Sie hatte alle Hände voll mit ihrem
Bruder zu ſchaffen. Sein Abendtrunk war tief ge-
weſen, es ging ihm ſchlecht.
Am Nachmittag, als Frau Oſterwald ſchon zur Ab-
reiſe rüſtete, kamen mit der Poſt zwei Briefe: an Tante
Hanne, an Herrn Lehrer Heinrich Oſterwald. Lisbeths
Handſchrift. Poſtſtempel Bremerhaven.
Das Herz des jungen Lehrers tat ein paar haſtige
Schläge. Dann zerriß er den Umſchlag und las: „Ich
ſchreibe Dir vom Bord des ‚Deutichen Kaiſer“. Leb
wohl. Ich hab' Deine Augen geſehen, als der Schul-
rat bei Dir ſtand. Die ſagten mir deutlich: Du biſt
aus der einen Welt, ich bin aus der anderen. Es führt
keine Brücke von Dir zu mir. Darum gehe ich. Ich
will Dir Dein Leben nicht verderben. Du ſollſt mir
auch meines nicht verderben. Gib Dich dem Mädchen
Deiner Art, das Dich liebhat auf Deine Art. Und
forg Dich nicht um mich. Sc ſehe meinen Weg und
gehe ihn ohne Furcht. Ein Freund weiſt ihn mir und
hilft mir ihn gehen. Wenn Du dieſen Brief erhältſt,
bin ich auf hoher See. |
Wir ſtehen an zwei verſchiedenen Ufern, Heinz
Oſterwald, und das Waſſer zwiſchen uns iſt tief. Kein
Menſchenverſtand und kein Menſchenwille kann die
Brücke ſchlagen zwiſchen Deiner und meiner Welt.
Darum leb wohl. Lisbeth Braun.“
Einen Augenblick empfand Oſterwald einen heftigen
Schmerz. Es demütigte ihn, daß wieder ſie, das Weib,
154 Die Welt der anderen. u
ohne zu fragen, ohne zu zögern, ihr und ſein Schickſal
entſchied, das Band zwiſchen ihnen zerſchnitt, bevor
er ſich noch klar geworden war, ob es wünſchenswert
ſei, es zu zerſchneiden. Und zugleich umgab dieſe
ſchnelle, kraftvolle Entſchloſſenheit, der Charakterzug aus
einer Welt, die anders war als ſeine, das Mädchen mit
ſeltſam feſſelndem Reiz. Stolzer, reiner ſah er ihr
Bild, da es ihm in die Ferne rückte. Wehmut ergriff
ihn, daß er nicht die Kraft gehabt hatte, ſie zu halten.
And auch Eiferſucht miſchte ſich brennend ein auf den
Freund, der ſie leitete, dem ſie ſich anvertraute. —
Aber aus dem wunderlichen Gemiſch feiner Emp-
findungen, aus Zorn, Enttäuſchung, Eiferſucht, Be-
wunderung, rang doch ſchon ganz ſacht und wohltuend
wachſend ein Gefühl unendlicher Erleichterung fih her-
vor, ehrliche Freude, daß ſein Beruf ihm blieb, un-
gefährdet der Wirkungskreis, der ſeiner Eigenart gemäß
war, und ein wunderbar zärtliches Schützergefühl dazu,
wenn er an Elli dachte. Das Leben der lieben Kleinen
würde er mit Glück überſchütten. Die andere, Willens-
ſtarke bedurfte ſeiner nicht. Es war wohl, wie ſie ſagte:
zwei Welten — und keine Brücke von der einen zu der
anderen. Nur in ſehnſüchtigen Träumen ſchwingen
ihre Bürger ſich hinüber, herüber. Die Leiber derer,
die es in Wirklichkeit verſuchten, decken die Waſſer der
Tiefe. | |
Lange ſaß er einſam ſinnend, mit fidh ringend in
feiner Kammer. Dann ging er hinunter und gab Frau
Oſterwald den Brief.
„Wir wollen den Himmel preiſen, Mutter. Ich
glaube, er hat's weiſe gemacht.“
Së
*
Dienſtbotentrachten.
von Ola Alſen.
Mit 11 Bildern nach n
Originalvorlagen.
Di immer mehr fortſchreitende Anderung aller
ſozialen Verhältniſſe hat auch zu einer erheblichen
Anderung des Verhältniſſes zwiſchen Dienſtboten und
Herrſchaft geführt. Die Rechtsauffaſſung der alten,
zwar formell noch in Geltung befindlichen, in Wirt-
lichkeit aber überlebten Geſindeordnung ſteht immer
weniger im Einklang mit der Rechtsſtellung, die
die heutigen Dienſtboten nicht ganz mit Unrecht für
ſich in Anſpruch nehmen, und unſere Hausfrauen
werden ſich immer mehr entſchließen müſſen, dem
Zug der ſozialen Geſetzgebung folgend, das Verhältnis
zum Dienſtboten nach den Grundſätzen des Vertrages
einzurichten.
Naturgemäß hat die veränderte rechtliche Stellung
des Geſindes auch tiefgreifende Anderungen ihrer
Stellung im Hauſe zur Folge. Es mutet uns an wie
Überrefte der patriarchaliſchen Verhältniſſe aus der
Zeit, in der das Geſinde noch wirklich zur Familie ge-
hörte, wenn wir ſehen, wie die Dienſtboten auch in
ihrer äußeren Erſcheinung den Wohlſtand und die
geſellſchaftliche Stellung ihrer Dienſtherrſchaft gekenn
zeichnet haben. Es beſtehen heute auch noch einige von
der guten Geſellſchaft anerkannte Vorſchriften über
nachoͤruck verboten.)
\
156 Dienftbotentrachten. o
die Kleidung von Dienſtboten. Als aber in Amerika
der Vorſchlag gemacht wurde, eine Livree für Dienit-
mädchen einzuführen, fand diefe Idee in Oeutſchland
keinerlei Sympathie. Es wäre dadurch eine neue
Laſt für die Hausfrau entſtanden, die ſich in den meiſten
Fällen gerne mit einwandfreier Sauberkeit beſcheidet.
Die verwickelten Unterſchiede früherer Zeiten
wären für das Tempo unſeres Jahrhunderts undenkbar.
Die Magd in Nürnberg hatte im Mittelalter eine vor-
ſchriftsmäßige Tracht, wenn fie am Brunnen Waffer
ſchöpfte, das Kind ſpazieren führte oder Hochzeits-
geſchenke in das Feſthaus brachte. Wenn ſie gar bei
einer Hochzeit bediente, zeigte ihr Anzug einen um-
ſtändlichen und anſpruchsvollen Aufwand, deſſen Koſten
natürlich von der Herrſchaft getragen wurden. Durch
die reichen Spitzenrüſchen und Spitzenvolants, die
blendenden Krauſen und faltenreichen Schürzen er—
wieſen ſie den Wohlſtand des Hauſes.
In ähnlichem Aufputz trug eine Augsburger Magd
die Hochzeitsgeſchenke in einem großen Korb. Der
koloſſale Aufputz iſt das Zeichen der Feierlichkeit, der
ſich vor dem Alltagsgewand auszeichnete.
Merkwürdig war das Kleid einer Danziger Dienſt-
magd, die über der feſten Taille einen breiten Kragen
und eine gekrauſte Halsrüſche trug. Im Schwabenland
muß das Vertrauen der Hausfrau recht groß geweſen
ſein, denn die Köchin prahlte unter ihrem aufgeſchürzten
Rock mit einem beträchtlichen Schlüſſelbund. In Hol-
land und Flandern unterſchied ſich die Tracht nur ein
wenig bei der üblichen Kopfbedeckung voneinander.
Außerdem waren die Armelwülſte und Halskrauſen
bei der holländiſchen Magd umfangreicher.
Reich und geſchmackvoll von dem mit Schleifen
gezierten Schuh bis zu der mit Spitzen geſchmückten,
2 Von Ola Alſen. | 157
lang herabhängenden Haube wirkten die franzöſiſchen
Jungfern aus der Zeit Ludwigs XIII. Wie da die
| Wanns Walker tragen ind, Hau
And pr Fleiſch wollen wa n diauß.
Kammermädchen zierlich und geziert während des
perſönlichen Dienſtes bei der Herrin ausſchauten, wie
7 i a e | ~
Gi
(60e
158 Dienſtbotentrachten. 0
man ihnen anſah, daß fie es wohl verſtanden, bei
der langwierigen Toilettenkunſt geſchickt zur Hand
Eine Nürnberger Magd zur Hochzeit dienend.
zu gehen; ebenſolch netten Eindruck machte die Jungfer,
der die Sorge für die Verwaltung der Wäſche oblag.
a Von Ola Alfen. 159
Als ſpäter die Reifrockmode auftauchte, verbreitete
ſie ſich in Paris bei den Dienſtboten mit ungeheurer
Geſchwindigkeit, ſo daß die Mägde damit auf den Markt
. : . —— T———¼ꝶÄœ⅜Jm 0
Atagduſo hochöͤͤeit geldhenkantnagt.
zum Einkauf gingen und am Herd kochten. Die deutſchen
Frauen waren gegen ihre Küchenfeen weniger nach—
ſichtig und ließen den niederen Ständen das Tragen des
160 | Dienſtbotentrachten. o
Reifrockes verbieten. In Dresden wurden zwei Oienſt—
mädchen beſtraft, weil ſie im Reifrock die Kirche beſuchten.
E
N
S Ein Dienfimagdesu Dantzig. | ER
De Figur gibt zuuerſichn / In der Stadt Dantzig wann ſie ſoln
Wie die Hauß magdt pflegen zugehn. Voer dit Gaſſen Bone holn.
Die Hamburger Dienſtboten hatten ſtets wegen
ihrer tadellofen Tracht, die keineswegs ihre eigene
D
—
2 Von Ola Alſen. 161
—
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Eins Burgers oder Geſchlechters Magdt / wann
ſie von Marckt gehen.
*
Note entbehrte, einen guten Ruf, auf den ſie noch
heute mit Recht ſtolz find. Das Kleinmädchen, gleich-
1913. IX. | 11
Dienſtbotentrachten.
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Ein Haußmagdt auß Frandreid oder Flandern.
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Tut uaͤglich alfo wandern. Wade eee ee i |
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Bruſttuch und ihrer ſchutenartigen Haube machte einen
beſonders adretten und anſprechenden Eindruck. Der
Aufputz der Berliner Köchin aus alter Zeit, bunt und
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164 Dienſtbotentrachten. fe
eigenartig, mit roten Strümpfen und niedlichen Pan-
töffelchen hat vielfache Anfeindungen hervorgerufen
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Pariſer Zofe aus der Renaiſſancezeit.
und ſtrenge Verbote im Gefolge gehabt. König Friedrich
Wilhelm J., der Ordnung und Fleiß in ſeinem Lande
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o Von Ola Alſen. 165
haben wollte, erließ ein Edikt, „wonach nach Verlauf
von ſechs Monaten nach Publikation keine Dienit-
mägde mehr ſeidene Kamiſöler, Röcke oder Lätze tragen
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Hamburger Dienſtmädchen aus der Einpirezeit.
durften, ſondern wofern nach Ablauf ſolcher geſetzten
Zeit dennoch welche damit betroffen würden, denſelben
ſolche ſeidenen Kleider öffentlich auf der Straße ab—
genommen werden ſollten“.
166 l Dienſtbotentrachten. 2
Hauptſächlich putzten ſich die Mädchen am Sonntag,
und die Bauerndirnen, die mit einer zerriſſenen Schürze
Berliner Köchin aus der Biedermeierzeit.
und mit einer alten Haube in die Stadt gekommen
waren, hatten bald den Wunſch, ſich in der Art vor—
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D Von Ola Alfen. 167
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Hamburger Köchin aus der Biedermeierzeit.
nehmer Frauen zu kleiden. Statt der einfachen Haube
ſetzten ſie ſich eine bebänderte auf, die man damals
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168 Dienſtbotentrachten. o
„Dormeuſe“ nannte. Einer ſolchen Haube folgte bald
der gefaltete Rock und ein bekräuſeltes Tuch. Sie
brannten ſich nicht nur das Haar, ſondern ſie verſuchten
auch, durch Puder und Pomade ihre Reize zu heben.
Als in Frankreich die Fontangen ſchon vollkommen un-
modern waren, bildeten ſie noch den Ehrgeiz der
deutſchen Magd, die ſich auf den Kopf hohe Türme
baute, in die ſie Spitzen und Schleifen ſteckte. Das
Dekolleté brachte das rote Korallenkettlein zur vollen
Geltung, das die höchſte Eleganz beim Dienſtmädchen
darſtellte.
Intereſſant iſt eine ausführliche Schilderung der
Berliner Dienſtboten, beſonders ihres Kleideraufwan-
des, die wir zu Ende der achtziger Jahre des 18. Jahr-
hunderts in der „Berliniſchen Monatsſchrift“ finden,
und in der erzählt wird, daß die Dienſtmädchen den
Stutzern in Livree zum Geſpött wurden, wenn ſie nicht
die engliſchen und franzöſiſchen Pas und alle Touren
der Tänze zu machen wußten.
Am den Anſprüchen ihrer Kavaliere zu genügen,
wurde deshalb in verſchiedenen Häuſern und Gärten
Unterricht im Tanzen erteilt. Unter anderem hören
wir von einem müßigen Schneidergeſellen, der für
zwei Groſchen Unterricht im Tanzen gab. Dahin
eilte nun öfter die Köchin vom Markt, ſetzte ihren Eimer
vom Arm, ſpannte ihre Füße ins Fußbrett oder ſtolperte
ſchwerfällig eine franzöſiſche Quadrille, indes ihre
arme wartende Hausfrau in der rauchenden Küche
ſchwitzte. |
Diefe Beziehungen forderten natürlich den Hang
zur Uppigkeit in der Kleidung. Die Mägde begnügten
ſich nicht mehr mit „Raſch“, einem geringen, leichten
Wollſtoff, wie man ihn vorſchrieb. Die Kleiderver—
ordnungen wurden übertreten, und ſeidenes Zeug
o Von Ola Alfen. 169
war an der Tagesordnung. Ihre Anſprüche an die
Großmut der Herrſchaft, die ſich in Geſchenken äußern
ſollte, waren auch nicht gering.
Machte die Tochter des Hauſes Hochzeit, ſo rechnete
die Magd auf ein buntes Kleid, wurde die Herrſchaft
ernſtlich krank, ſo hoffte ſie auf ein Trauerkleid und
war ſehr betrübt, wenn der Senſenmann an der Tür
vorbeiging.
*
Die Entführung.
Eine moderne Muſtererzählung.
von heinrich Binder.
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(Nahöruf verboten.)
ch haſſe nichts mehr als die Ungenauigkeit, mit
der deutſche Dichter Erlebtes und Geſchautes
wiedergeben.
Viele Erzählungen beginnen: „Es war an einem
Sommerabend.“ Oder auch, wenn der Dichter noch
mehr Stimmung erzielen will: „An einem Gommer-
abend war's.“ Nun gibt es aber doch wahrlich viele
Sommerabende! Dauert der Sommer doch in unſerer
Gegend vom 21. Juni bis zum 23. September!
Und warum ſollte man eine Erzählung nicht mit
den klaren, feſten Worten beginnen: „Es war am
13. Juli dieſes Jahres. Der Zeiger der alten Dorfuhr,
die in einundzwanzig Meter Höhe an dem achtund—
vierzig Meter hohen Kirchturm der 1864 aus Gand-
ſtein erbauten Kirche angebracht iſt, zeigte vierund—
zwanzig Minuten nach acht Uhr.“
Jeder Menſch wird nun aber auch wiſſen wollen,
wie das Dorf heißt, in dem die Uhr in einundzwanzig
Meter Höhe am Kirchturm angebracht iſt.
Ein ganz gründlicher Menſch wird anknüpfend an
die Erzählung ſogar die folgenden Fragen ſtellen:
2 Von Heinrich Binder. 171
1. In welchem Stil iſt die Kirche erbaut?
2. Von wem?
3. Iſt das Zifferblatt der Uhr an allen vier Seiten
des Turmes angebracht und mithin überall ſichtbar?
4. Warum ſtand der Zeiger der beſagten Uhr auf
acht Uhr vierundzwanzig Minuten?
5. Auf welchen Tag fiel der 13. Juli?
6. Beſteht ein Kauſalnexus zwiſchen der Erzählung
und der Tatſache, daß am gleichen Tage des Jahres
1793 in Paris Marat von der ſchönen Charlotte Corday,
einer Anhängerin der Girondiſten, ermordet wurde?
Soviel ich weiß, haben alle dieſe Fragen auf den
Gang meiner nachſtehenden Erzählung keinen Einfluß.
Sie ſtehen mit ihm nicht in Zuſammenhang. Nur der
13. Zuli iſt der Tag, an dem zwei Menſchen handelnd
dem Schickſal entgegentraten. ö
Alſo: Es war am 13. Juli dieſes Jahres. Die Sonne
war bereits geſunken “).
Wie ein Meer von Rofa und Gold, wie ein un-
endlicher Teppich von violetten und ſchwefelgelben
Muſtern lag die Glut des Abendrots am Himmel“).
Der kleine Badeort Salzbad ſchlummerte ſchon
in ſtillem Abend frieden! ).
Die Straße herauf, die Salzbad von Norden nach
Süden durchſchneidet, kam ein junges Mädchen von
*) Der Sonnenuntergang fiel an jenem Tage nach Meiers
aſtronomiſchen Tabellen auf 8 Uhr 16 Minuten abends.
**) In weſtlicher Richtung.
) Salzbad liegt auf 12, Grad öſtlicher Länge und auf
50, Grad nördlicher Breite in 490 Meter Höhe an der nicht
ſchiffbaren Salze. Es hat alkaliſch-ſaliniſche Säuerlinge, 2100 Cin-
wohner, darunter 93 Katholiken, ift Sitz einer Königlichen
Badedirektion und wird ſehr viel von Frauen beſucht. Frequenz
im letzten Berichtsjahre: 8336 Rurgäfte, wobei ich mitgezählt bin.
172 Die Entführung. 2
etwa zweiundzwanzig Jahren, das anſcheinend Ellen
hieß.
Man ſieht nämlich den Mädchen den Vornamen
meiſtens an. Ich wenigſtens bilde mir ein, jede Trude,
Marie, Lotte, Martha, Lona und Barbara nach ganz
gewiſſen Grundſätzen ſofort erkennen zu können. In
dem vorliegenden Falle beſtätigte ſich übrigens meine
Theorie wieder einmal glänzend: die Dame hieß
wirklich Ellen! Den Beweis dafür liefert die Kurliſte
von Salzbad vom 5. Zuli dieſes Jahres.
Eigentlich paßte der Name Ellen nicht zu der Er-
ſcheinung. Die Dame hatte etwas Energiſches, Selbſt-
bewußtes, Beſtimmtes in ihrem Auftreten, während
die anderen Ellen meiſtens weichgeartete Wirbelwinde
ſind. |
In der Mitte der Straße, gerade vor der Billa
Neptun, blieb Ellen ſtehen und blickte in das glühende
Abendrot, das wie ein rotgoldener Kranz am Himmel
lag. Jetzt konnte man auch Gelegenheit nehmen, die
Dame näher zu betrachten. Sie trug ein Kleid aus
weißem Mull mit reichen Handſtickereien und iriſchen
Spitzen verziert“). Um den Hals trug fie eine wert-
volle Perlenkette und an den Händen ebenfalls ſehr
koſtbaren, wenn auch geſchmackvollen Schmuck.
Ihr zu Füßen, die in weißen Wildlederſchuhen
ſteckten, fab ein kleiner Seidenpinſcher. Ein entzücken
des, molliges Etwas, ein Gewirr von Seide, ſchwarzem
Schnuppernäschen und weißen Flocken.
Von der anderen Richtung her, vom Kurhaus
herunter“), kam ein junger Mann. Vielleicht fünfund-
zwanzig Jahre alt, ein Meter zweiundſiebzig bis ein
*) Preis ungefähr 200 bis 250 Mark.
**) 1892 aus Sandſtein erbaut.
o Von Heinrich Binder. 173
Meter fünfundſiebzig groß, blaue Jacke, weiße Flanell-
hoſen, Sporthemd, langen, blauen Schlips, Gürtel,
kurzgeſchnittenes, ſchwarzes Bärtchen, hübſche Zähne,
gelbe Schuhe und einen Panamahut, der aber an-
ſcheinend nicht echt war.
Als dieſer Herr ſich Ellen bis auf ungefähr achtzig
Zentimeter genähert hatte, fuhr das oben beſchriebene
weißſeidene Hundekleinod auf einmal mit wütendem,
hellem Gekläff an die weißen Flanellhoſen des jungen
Mannes, und ehe ſich dieſer von feinem Erſtaunen er-
holen konnte, hatte das Tierchen ſchon ein großes Loch
in das linke Hoſenbein des Herrn mit dem unechten
Panama gebiſſen )).
Ellen entſchuldigte ſich taufendmal**), und der Herr
tat ſo, als ob der Zwiſchenfall das höchſte Glück ſeines
Lebens bedeute.
Er benützte natürlich ſofort die Gelegenheit, ſich
vorzuſtellen: „Fritz Eggers aus Berlin.“
„Ah, auch aus Berlin?“
„Gnädiges Fräulein auch?“
Und fo kamen die beiden zuſammen .
In der nächſten halben Stunde bewunderten ſie
gemeinſchaftlich das Abendrot, das einer tiefen, wohligen
Dämmerung Platz machte, zumal es neun Uhr und
ſieben Minuten geworden war.
Wie das in Bädern manchmal vorkommt, verlobten
ſich die beiden um neun Uhr achtzehn Minuten, auf
dem Wege, der vom Kurhaus rechts hinauf nach der
Sabinenhöhe führt. Zwar ſoll man ſich niemals in
1) Das Loch war von dreieckiger Form, ungefähr 7 Benti-
meter groß und la fih etwa 20 Zentimeter über dem
Erdboden.
4 Nicht wörtlich zu nebmen ſondern nur als oft gebrauchte,
aber nicht immer zutreffende Redensart.
174 Die Entführung. o
Bädern verloben, denn man heiratet die hübſche Um-
gebung nicht mit. Aber es gibt eben doch eine Liebe
auf den erſten Blick. Sogar eine leicht bekömmliche
und manchmal auch dauerhafte Liebe!
Um neun Uhr ſechsunddreißig Minuten trennten
ſich die Verlobten mit dem feſten Vorſatz, am anderen
Morgen zuſammen vor die Eltern zu treten, um aus
ihrer Hand das Schickſal in Empfang zu nehmen.
Ellen hatte natürlich die Herrſchaften mittlerweile
vorzubereiten.
Fritz Eggers, deſſen Perſönlichkeit für die Geſcheh-
niſſe an dieſem Abend nicht mehr in Frage kam, ging
in einem Gefühl ſeligen Wahnſinns in feine Wohnung)).
Ellen ging in das Hotel Königshof, in dem ſie mit
ihren Eltern wohnte, und fuhr im Aufzug“) in die
erſte Etage, in der ihre Eltern eine Flucht von drei
Zimmern mit Bad innehatten***).
Die Familie ſaß noch in dem mittelſten Zimmer,
in dem ſogenannten Salon, als Ellen eintrat. Sie
traf dort folgende Perſonen:
1. Albert Hartmann fen, Vater und gabritbeſitzer
aus Berlin. Ungefähr einhundertundſechzig Benti-
meter groß und neunzig Kilogramm Gewicht. Zn-
haber des ſerbiſchen Takovoordens, der belgiſchen
Leopoldmedaille und der deutſchen Chinamedaille für
Nichtkombattantenf). Achtundvierzig Jahre alt, ziemlich
beleibt. Aufſichtsratsmitglied bei fünf Geſellſchaften.
Baſtſeidener Anzug, breites, joviales Geſicht, in der
*) Villa Quiſiſana, Koſt und Logis von 6 Mark ab, wobei
man allerdings manchmal nicht weiß, was zur Koſt und was
zum Logis gehört.
**) Tragfähigkeit: 4 Perſonen einſchließlich Führer.
**) Preis: 35 Mark ohne Penſion.
1) Wegen ſtarker Beteiligung an den Liebesgaben.
2 Von Heinrich Binder. 175
Hand immer ein Taſchentuch, weil es in dem Neſt
ſo warm war.
2. Frau Julie Hartmann, geborene Breslauer.
Hübſche, ſtattliche Dame, die nie auf morgen verſchiebt,
was ſie heute noch anziehen kann. Viel Seide, viel
Diamanten, viel moraliſche Überlegenheit dem Manne
gegenüber. Größe und Gewicht wie bei Herrn Albert
Hartmann, nur daß ſie die Größe zugibt, das Gewicht
jedoch abſtreitet.
3. Ralph Eugen Hartmann. Vierzehn Fahre alt,
Sohn der Erſtgenannten, einziger Bruder von Ellen.
Anterſekundaner in Berlin. Fühlt ſich aufs höchſte ge-
ſchmeichelt, wenn man ihn einen Zyniker nennt. Über-
ragt beide Eltern um etwa drei Zentimeter, tut aber
jo, als wären fie Waiſenkinder, die feiner Obhut an-
vertraut find*).
Zu dieſen drei im Salon anweſenden Menſchen
ſagte Ellen zuerſt: „Guten Abend!“
Nachdem dieſer Gruß von drei Seiten faſt gleich-
zeitig wiederholt war, ſagte Ellen, indem ſie ſich in
einen Klubſeſſel von imitiertem Krokodilleder fallen
ließ: „Ich habe mich ſoeben verlobt.“
Dieſe Mitteilung wirkte auf die drei Menſchen ganz
verſchieden. |
Herr Hartmann ſagte: „Du but verrückt!“
Frau Hartmann, geborene Breslauer, ſagte: „Um
Gottes willen! Gegen wen denn?“
Ralph Eugen Hartmann ſagte: „Na ja, verlobt
iſt noch nicht verheiratet!“
Als einzige Antwort auf die drei Meinungen
*) Sämtliche Perſonalien ließ ich mir vom Portier des
Hotels Königshof, einem Herrn Gottfried Bünte aus Leipzig,
gegen eine einmalige Vergütung von 2 Mark geben.
176 Die Entführung. o
äußerte Ellen: „Ich habe mich verlobt mit Herrn
Fritz Eggers, Kaufmann aus Berlin.“
„Kaufmann! Kaufmann! Bin ich auch. Was
iſt der Kerl denn? Wo, wie, weshalb, warum, wieſo,
wenn, wann?“
Es iſt eigentlich überflüſſig zu ſagen, daß Herr
Hartmann ſen. es war, der dieſe fragenden Fürwörter
ſchnell hintereinander herausſprudelte.
Zwiſchendurch aber hatte Ralph Eugen Hartmann
noch Gelegenheit gefunden zu der ſeinen Zynismus
fo recht kennzeichnenden Außerung: „Pfui Deibel!
Wie kann ein Menſch Eggers heißen und aus Berlin
ſein! Ausgerechnet aus Berlin!“
Allein Ellen war, wie man im Laufe der Erzählung
wohl noch manchmal wird feſtſtellen können, eine für
ihr Alter ungemein energiſche Dame, und ſo ſagte ſie
denn auch kurz, gehaltvoll, beſtimmt und mit Nachdruck:
„Es hat keinen Zweck, daß wir uns jetzt noch darüber
ausſprechen. Es wird zu neu, zu überraſchend für
euch ſein. Ihr würdet lachen, wenn ich euch jetzt von
Liebe auf den erſten Blick reden würde. Und im übrigen
werdet ihr morgen früh ja Gelegenheit haben, meinen
zukünftigen Gatten ſelbſt kennen zu lernen.“
Mit dieſen Worten, die zweifellos einen ſehr guten
Abgang aus ſolchen Situationen bilden, ging ſie in
das Zimmer links vom Salon, das ſie mit ihrer Mutter
bewohnte, während in dem Zimmer rechts Vater mit
Ralph Eugen untergebracht war.
Frau Hartmann folgte ihr auf dem Fuße, und was
die beiden Frauen an jenem Abend noch beſprachen,
entzieht ſich leider meiner Kenntnis, da ich Gelegenheit
ſuchte, mit Herrn Hartmann noch eine Partie Ecarté
in dem zu dem Hotel gehörigen Café zu ſpielen, wobei
ich den Betrag von acht Mark und fünfundvierzig Pfen-
2 Von geinrich Binder. 177
nig gewann, während ein dritter Herr, ein Herr
Frankfurter aus Konitz, den dreifachen Betrag ein-
ſtreichen konnte. Man wird verſtehen, daß Herr Hart-
mann etwas nervös war und ohne jede Berechnung
ſpielte ).
Der Morgen des 14. Juli brach ſiegreich herauf.
Golden ſtieg die Sonne, des Tages Königin, auf die
Berge, die in grünem Kranz Salzbad umrahmen.
Schon um ſieben Uhr, geweckt durch die Klänge des
Kurorcheſters““), erhob fih Ellen und zog ſich raſch
an. Mit der an ſolchen Tagen üblichen Zerſtreutheit.
Die Mutter gab ihr den ſicher gutgemeinten Rat
mit auf den Weg: „Mach doch keine Dummheiten!
Vater war wirklich immer viel zu gut zu dir. Sieh zu,
daß du ihn nicht einmal ernſtlich erzürnſt!“
Mit dieſen Worten erhob ſich auch Frau Hartmann,
während Ellen in den Salon ging, in dem morgens
gegen acht Uhr das erte Frühſtück gemeinſchaftlich ein-
genommen wurde.
Herr Hartmann ſaß bereits auf dem Sofa und ſtrich
ſich gerade viel, ſehr viel Honig auf ein Brötchen, was
ihm von dem Badearzt***) dringend empfohlen war.
„Guten Morgen, Vater.“
*) Zeuge: Ein Rentier Alwin Schädlich aus Chemnitz,
der zuſah und manchmal kritiſche Bemerkungen einfließen ließ,
was Herrn Hartmann zu der Außerung Veranlaſſung gab:
„Sie gehören ja gar nicht an unſeren Tiſch,“ was Herr Schädlich
indeſſen überhörte.
**) Das Programm von jenem Tage zeigt als erſtes Stück:
Frühlingslied von Kuhnot. Soll aber entſchieden Gounod
heißen, während Kuhnot ein anderes Lied geſchrieben hat,
das ſehr poetiſch ausklingt: Wir halten feſt und treu zuſammen,
hipp, hipp, hurra! Gounod ſtarb 1893 zu St. Cloud, Kuhnot
lebt jetzt noch in Bremen.
**) Sanitätsrat Dr. Suchmann.
1918. N. 12
178 Die Entführung. | 2
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Ein Brummen folgte, das Eingeweihte unter Um-
ſtänden wohl als Morgengruß hinnehmen konnten.
„Vater, ich will heute morgen auf dem Kurplatz
frühſtücken; ich komme gegen neun Uhr zurück.“
„Wenn der Kerl hierher kommt, laff ich ihn hinaus-
ſchmeißen.“ |
Dieſe Worte, denen an überzeugender Deutlichkeit
wohl nur wenig fehlte, gab Herr Hartmann ſeiner
Tochter mit auf den Weg. Sie waren ſo laut geſprochen,
daß ſie von dem Zimmermädchen Auguſte Havliczek
aus Aſch in Böhmen deutlich gehört wurden.
Ellen eilte in ſtürmenden Gedanken auf den Rur-
platz, wo Herr Fritz Eggers, friſch raſiert und ſehr friſch
angezogen, ihrer ſchon in Sehnſucht harrte. Man
kann wohl behaupten: in Sehnſucht, denn Herr Eggers
ſaß ſichtbar nervös auf einer Bank, ſtand hin und wieder
auf, ſah ab und zu nach dem Hotel Königshof hinüber,
ſchüttelte den Kopf, ſetzte ſich wieder, malte mit ſeinem
Spazierſtock allerhand Figuren in den Sand und ſchlug
dann wieder mit demſelben Stock pfeifend durch die
Luft, als wolle er alle Widerſtände, die ſich doch viel-
leicht ergeben würden, totſchlagen. Kurz: alles deut-
liche Symptome erwartungsvoller Sehnſucht.
Endlich kam ſie!
Die Begrüßung war unglaublich herzlich, und die
Liebenden überzeugten fich, daß fie fih bei Tage ebenſo
begehrenswert wie am Abend vorkamen, und ſofort
berieten ſie in fiebernder Haſt, was zu tun ſei und wie
man die Angelegenheit am beſten ſofort zu aller Zu—
friedenheit erledigen könne.
Sie ſetzten ſich zuſammen auf die Bank, die ſchräg
links der lärmenden Kurkapelle gegenüberlag, und es
dauerte nicht lange, ſo ſahen die beiden Verliebten
Ellens Bruder, Ralph Eugen Hartmann, über den
D Von Heinrich Binder. 179
Kurplatz kommen. Sie blieben beide ruhig ſitzen und
ließen den Bruder, der ſie alsbald bemerkte und dieſe
Tatſache durch ein leiſes Lächeln ausdrückte, an ſich
herankommen.
Eggers ſtand auf und machte eine tadelloſe, ge-
meſſene und doch höfliche Verbeugung vor dem zu-
künftigen Schwager, was Ralph Eugen im Innern
ungemein zuſagte und wodurch er ſofort die Über-
zeugung gewann, daß Herr Eggers ein Mann von
Welt, ein Gentleman, kurz der für Ellen einzig mögliche
Mann ſei.
Nach kurzer Unterhaltung verabſchiedete ſich Ralph
Eugen mit den immerhin troſtreichen Worten: „Sie
können ſich auf mich verlaſſen, Herr Eggers. Was an
mir liegt, will ich gerne tun.“
Nun iſt Liebe doch eigentlich reiner Wahnſinn und
verdient wie jede andere Tollheit Narrenhaus und
Peitſche ).
In der Liebe werden tatſächlich die dümmſten und
unglaublichſten Streiche gemacht, und ſo ließ ſich Herr
Eggers auch von ſeinem Gefühl dazu verleiten, gegen
neun Uhr zu Herrn Hartmann hinüberzugehen, um ihn
in aller Form um die Hand ſeiner Tochter Ellen zu bitten.
Ellen hingegen wartete auf einer Bank, die an dem
Wege vom Kurplatz zur Bergquelle ſteht und die vom
Salzbader Verſchönerungsverein vor drei Jahren dort
mit einer ſehr ſtimmungsvollen Feier dem Verkehr
übergeben worden war.
Die Unterhaltung, die Herr Hartmann mit Herrn
Fritz Eggers aus Berlin führte, war ſehr kurz. Frau
Hartmann war nicht zugegen, da die Friſeuſe ſich an
dieſem Morgen zufällig erheblich verſpätet hatte.
) Ausſpruch von Shakeſpeare, der als Kenner gelten kann.
180 Die Entführung. o
Herr Eggers bat um die Erlaubnis, fih vorſtellen
zu dürfen.
Herr Hartmann hatte nichts dagegen, betonte aber
gleichzeitig, wenn es Herrn Eggers einfallen ſollte,
eine noch durchaus nicht ſpruchreife Angelegenheit hier
zur Sprache zu bringen, ſo ſähe er, Hartmann, ſich
genötigt, die Konferenz abzubrechen.
ö „In welcher Branche ſind Sie denn überhaupt
tätig?“ fragte plötzlich und eigentlich nicht im Sinne
des vorher Geſagten Herr Hartmann.
„Wenn ich Ihnen das fage, hören Sie mich über-
haupt nicht an,“ war die echt berliniſche Antwort des
Herrn Fritz Eggers.
„Sind Sie ſelbſtändig?“
„Ich denke nicht daran.“
„Ja, wie kommen Sie dann dazu, hier derart auf-
zutreten und einer jungen, unerfahrenen en den
Kopf zu verdrehen?“
„Verzeihung, Sie ſprechen von Ihrem Fräulein
Tochter. Ich kann nicht geſtatten, daß ein Herr, und
ſei es auch der eigene Vater, in einer ſolchen Weiſe
von einer Dame ſpricht, die ich nicht nur verehre und
achte, ſondern auch liebe und zu ehelichen wünſche!“
Hier muß Herrn Hartmann anſcheinend doch wohl
die Geduld verlaſſen haben, denn die Tür flog plötzlich
auf und der junge Mann hinaus.
Hinterher flog dann noch der unechte Panama.
Ich will nun nicht behaupten, daß Herr Hartmann
Herrn Eggers perſönlich aus dem Zimmer geworfen
hat. Es wurden bei dieſer Szene einige erregte Worte
geſprochen, und es kann auch möglich ſein, daß Herr
Eggers aus eigener Kraft und mit eigenem Willen den
Salon verließ. In der Geſchwindigkeit, mit der ſich
alles abſpielte, ließ ſich das nicht genau feſtſtellen.
2 Von Heinrich Binder. 181
Tatſache jedoch iſt, daß Herr Hartmann den unechten
Panama aus dem Salon geworfen hat. Denn dieſer
flog etwas ſpäter hinaus als Herr Eggers, der übrigens
noch das Unglück hatte, ein Stubenmädchen zu über-
rennen, das gerade mit einem Waffereimer über den
breiten roten Läufer ging.
Wir verlaſſen mit Herrn Eggers Herrn Hartmann
und laufen mit dem abgewieſenen jungen Mann die
Treppe hinunter nach der oben bereits näher bezeich-
neten Bank, auf der die Geliebte wartend ſaß.
Es erübrigt ſich, die nächſte Stunde zu beſchreiben,
da es doch unmöglich iſt, ſie genau wiederzugeben.
Man kann unmöglich die vielen Pläne aufzählen, die
von den Liebenden gefaßt und wieder verworfen
wurden. Man kann auch nicht im entfernteſten ſchildern,
wie empört Herr Fritz Eggers aus Berlin über die
Behandlung war, die ihm von Herrn Hartmann wider-
fahren war. Nur ſo viel ſteht feſt, daß auch Ellen es
unerhört von dem alten Herrn fand, einen jungen
Mann mit ehrlichen und offenen SISCH derart Au
behandeln,
Man tann ſich mit dem Ergebnis ihrer Verhand-
lungen begnügen, denn dieſes liegt klar zutage und
wurde durch die Tat bewieſen.
Die Wirrungen und Wirkungen der Liebe ſind ja
jo ſchreckenerregend. Liebende, die fidh ſelbſt über-
laffen bleiben, find zu Brandſtiftung und Zollhinter-
ziehung fähig; ſie ſollten ſofort in Einzelhaft zwangs-
weiſe interniert werden, und ihre Verhandlungen
müßten durch geſchickte Juſtizräte auf dem Wege über
die Eltern gepflegt werden.
Und fo kann es auch weiter nicht EEN
wenn ich erzähle, daß Ellen und Fritz folgendes be-
ſchloſſen: Ellen geht nach Haus, als ob gar nichts ge—
182 Oie Entführung. a
ſchehen wäre, und fegt fih dort in den Beſitz des nötigen
Geldes). i
Dann wollten fie mit dem nächſten Zuge nach Berlin
zu Eggers' Eltern fahren, und von dort aus wollten ſie
dann den Eltern ihren Entſchluß mitteilen: entweder
zuſammen zu leben oder zuſammen zu ſterben — ein
bei Verliebten zwar oft angewandtes, aber immerhin
noch wirkungsvolles Mittel, um hartnäckige Eltern
gefügig zu machen.
Die nächſten Stunden innerer Unruhe und grenzen-
loſer Aufregung kann man übergehen. Es herrſchte
im Kreiſe der Familie Hartmann eine nicht klar zu
ſchildernde Stimmung. Kam noch der Verdruß hinzu,
daß es heftig regnete, und daß bei Hartmanns eine Nach-
richt eingelaufen war, nach der eine entfernte Erbtante
eine Blinddarmoperation ſehr gut überſtanden hatte.
And dabei war die Tante achtundſiebzig Jahre alt!
Hat man nötig, mit achtundſiebzig Jahren noch
eine ſolche Operation gut zu überſtehen?
Es wird aber doch intereſſieren, daß Ellen und Fritz
mit dem Zug ein Uhr ſechsundzwanzig Minuten aus
Salzbad abführen. Za, das taten fie!
Trotzdem können wir die Liebenden ihrem Schickſal
vorläufig überlaſſen, denn es iſt doch nicht feſtzuſtellen,
wohin ſie fuhren und ob ſie auf geradem Weg den Zug
nach Berlin benützten, der dort bekanntlich um ſieben
Ahr ſechsunddreißig Minuten auf dem Anhalter Bahn-
hof einzutreffen pflegt.
Notwendig jedoch iſt es, den weiteren Gang der
Dinge in Salzbad zu ſchildern.
Um ein Uhr zweiunddreißig Minuten war bereits
*) Ellen hatte ſtets ein Scheckbuch über 5000 Mark zu ihrer
freien Verfügung, da man nicht wiſſen konnte, was irgendwie
einmal eintraf.
Le
2 Von geinrich Binder. 183
das ganze Hotel von dem Vorgefallenen ziemlich genau
unterrichtet. Ellen hatte dem Portier einen Brief mit
der Weiſung überreicht, dieſen Brief Punkt drei Uhr
den Eltern zu übergeben.
Der Brief lautete: „Liebe Eltern! Euer Widerſtand
zwingt uns zu folgendem Schritt: Wir ſind ſoeben mit
dem D-Zug 1 Uhr 26 zuſammen abgefahren. Wir be-
geben uns auf Umwegen nach Berlin. Gebt Euch
keine Mühe, uns telegraphiſch oder ſonſt irgendwie
zu erreichen, denn wir kommen natürlich nicht mit dem
Zug um 7 Uhr 36 Minuten in Berlin an, ſondern
fahren vielleicht über Oresden, vielleicht über Köln
oder aber auch über Moskau. Aber ich gebe Euch die
Verſicherung, daß ich mir nichts vergeben werde. Fritz
iſt ein durchaus ehrenvoller Menſch! Das einzige iſt,
daß wir Euch zwingen wollen, Euer Einverſtändnis
zu unſerer Ehe zu geben. Es war und ift Liebe auf
den erſten Blick, und die iſt größer und ſtärker als alles
Pflichtgefühl. Verzeiht uns den Schritt und gebt
uns Euer Einverſtändnis zu wiſſen! Briefe und Nach-
richten erreichen uns unter F. E. 15—14 poſtlagernd,
Poſtamt 9, Berlin in der Linkſtraße. Glaubt aber nicht,
daß Ihr irgendwelche Schritte unternehmen könnt,
um uns dort vielleicht bei der Empfangnahme der
Briefe zu treffen. Auch dafür wird Sorge getragen
werden. Aber wir bitten Euch nochmals herzlich:
Verzeiht mir dieſen Schritt. Ich küſſe Euch und bitte
Euch um gütiges Verſtehen! Ellen*).“
5) Für die wörtliche Wiedergabe des Briefes kann ich
garantieren, denn Ellen hatte in der Aufregung vergeſſen,
ihn zuzukleben, was den Portier natürlich nicht veranlaßte,
das Verſäumte nachzuholen, ſondern ihn mir zur Abſchrift
zu geben. Mir und anderen, wie ich zu meinem Bedauern
feſtſtellte.
184 Die Entführung. Bi u
Der Skandal war alfo fertig!
Er wuchs von Stunde zu Stunde, und als das Rur-
orcheſter um vier Uhr das erſte Stück des Nachmittags-
konzertes intonierte*), da ziſchte die Schlange des
Klatſches ſchon über den Kurplatz und ſpritzte ihr ſüßes
Gift auf Tiſche und Bänke. |
Im Hotel Königshof hatten fih natürlich febr er-
regte Szenen abgefpielt,
Herr Hartmann hatte fih, als er den Brief geleſen
hatte, ſofort aus der Hotelbibliothek das Bürgerliche
Geſetzbuch heraufholen laffen. Er blätterte nervös
in dem kleinen, grünen Band, und da er den in Frage
kommenden Paragraphen nicht finden konnte, ließ
er ſich telephoniſch mit dem einzigen Rechtsanwalt
von Salzbad**) verbinden, der hier allerdings nur
während der Sommermonate praktizierte und gerade
auf dem Gebiete der Entführungen und Eheſcheidungen
eine über das Allgemeine hinausragende Kenntnis beſaß.
Dieſer klärte Herrn Hartmann vorerſt darüber auf,
daß das Oelikt der Entführung nicht durch das Bürger-
liche Geſetzbuch, ſondern durch das Strafgeſetzbuch
feſtgelegt ſei, und daß man dort, im Paragraph 237,
alles Wiſſenswerte finden könne. Zwar enthalte das
Einführungsgeſetz zum Bürgerlichen Geſetzbuch im
Artikel 34 noch einige Einzelheiten, aber der zitierte
Paragraph 237 des Strafgeſetzbuches fei völlig in Ein-
klang gebracht mit Sprachweiſe und Unterſcheidungen
der zitierten Geſetzesſtelle. Im übrigen ſei er jeder-
zeit bereit, die Sache in die Hand zu nehmen, zu—
mal es ſich doch vermutlich um die Entführung einer
Minderjährigen handle.
*) Es war „Des Negers Traum“ von Middleton.
**) Herr Dr. Scharf.
o Von Heinrich Binder. 185
Als Herr Doktor Scharf belehrt wurde, daß die in
Frage kommende Dame das einundzwanzigſte Lebens-
jahr bereits überſchritten habe, ſah er ſich veranlaßt,
das Telephongeſpräch plötzlich abzubrechen“).
l Als kluger Geſchäftsmann wußte Herr Hartmann
ſofort, daß das Verſchwinden ſeiner Tochter bereits
überall bekannt war, und fo tat er das Beſte und Ver-
nünftigſte, was in ſolchem Falle zu tun iſt — er gab
den näheren Bekannten gegenüber das Vorgefallene
unumwunden zu, und diefe taktiſch richtige Maßnahme
veranlaßte auch mich, nachmittags gegen ſechs Uhr Herrn
Hartmann aufzuſuchen und ihn um eine Unterredung
zu bitten.
ich fekte ihm auseinander, daß ich als Schrift-
ſteller, der die Sache vielleicht immerhin doch aufgreifen
würde, die Pflicht hätte, mich an Ort und Stelle um
die Angelegenheit zu kümmern. Es wäre doch auch
zu wünſchen, daß die Sache nicht entſtellt in die Blätter
komme. Und zu bedenken wäre, daß ich der einzige
Mann am Orte wäre, der die peinliche Affäre im Sinne
der ſtrengſten Sachlichkeit und mithin ganz im Inter-
eſſe der Familie Hartmann, der ſo angeſehenen und ſo
hochgeachteten Familie Hartmann, behandeln könne.
Er gewährte mir darauf natürlich die gewünſchte Unter-
redung und ſetzte ſich zu dem Interview zurecht, nicht
ohne mir vorher, als geſchäftskundiger Herr, eine
Zigarre anzubieten“).
„Ich heiße Albert Emil Hartmann und bin jetzt
neunundvierzig Jahre alt. Seit vierundzwanzig Jahren
*) Ein ſehr beliebtes Mittel, unliebſame Unterhaltungen
ſofort zu Ende zu führen. Man hängt den Hörer einfach hin
und kann ſpäter immer behaupten, man fei unterbrochen worden.
**) Anſcheinend Sumatra mit Havannadedblatt, das Tauſend
nicht unter 450 Mark.
186 Die Entführung. u
bin ich verheiratet und bin jetzt Beſitzer der Chemiſchen
Fabriken Hartmann & Co., Niederſchöneweide bei
Berlin. Ich verſteuere ein Einkommen von hundert-
zwanzigtauſend Mark, bin ſchuldenfrei und unbe-
ſtraft. Meine Tochter, um die es ſich in erſter Linie
wohl handelt, wurde am 11. Auguſt morgens gegen
drei Uhr geboren. Sie genoß die befte Erziehung,
die man ſich denken kann, ſtudierte reſpektive hörte
vier Semeſter in Berlin und Lauſanne, und der einzige
Fehler, der vielleicht in ihrer Erziehung gemacht worden
iſt, mag der ſein, daß wir ſie von Kindheit an zur größten
Selbſtändigkeit anhielten. Immer wieder prägten wir
ihr ein, nur den Weg zu gehen, den ihr eigener Wille
ihr vorſchreibe, und dieſe Erziehungsmethode mag ja
auch zum größten Teil zu dem geſtrigen Vorfall bei—
getragen haben, der uns alle natürlich aufs höchſte
überraſcht hat. Den Hergang ſelber brauche ich Ihnen
wohl nicht eingehend zu ſchildern, da er ja genügend
bekannt iſt. Ich will nur noch bemerken, daß ſich alles
mit einer mir faſt unverſtändlichen Schnelligkeit ab-
geſpielt hat, und daß der junge Mann, wenn ich es
mir recht überlege, gar keinen ſchlechten Eindruck hinter-
ließ. Über meine weiteren Dispofitionen kann ich noch
nichts ſagen. Ich denke mir, daß die Sache zum Guten
ausläuft, da meine Tochter im letzten Grunde ein an-
ſtändiger Charakter und ein ganz vernünftiges Mädel
iſt, das ja, wie Sie ſehen, ihren eigenen Willen hat und
auch ſicher wieder auf den rechten Weg kommen wird.
Wollen Sie, bitte, noch das eine bemerken, daß ich
meinen Aufenthalt hier nicht abzubrechen gedenke,
da jetzt gerade meine Frau ſehr der Erholung bedürftig
ſein wird.“
Um ſechs Uhr zwanzig Minuten war die Unter—
redung ſchon zu Ende, und da Herr Hartmann ſich von
a | Von Heinrich Binder. 187
mir in liebenswürdiger Weiſe verabſchiedete, um ſeine
Freunde auf der Promenade aufzuſuchen, fand ich
Gelegenheit, anſchließend auch Frau Hartmann zu
interviewen und die Dame um ihre Anſicht über die
ſicher ſehr peinliche Angelegenheit zu bitten.
Sie empfing mich zwanzig Minuten vor ſieben
Ahr in dem gleichen Salon und begann ſofort: „Das
iſt der ſchrecklichſte Sommer meines Lebens! So eine
Nückſichtsloſigkeit! Man merkt eben, daß man ſchon
erwachſene Kinder hat, die ihre eigenen Wege gehen!“
„Gnädige Frau haben aber doch ganz ſicher ſehr
früh geheiratet —“
„Nun natürlich! Aber wenn auch — es iſt und bleibt
eine Rückſichtsloſigkeit! Ich fürchte nur, daß dieſer
WMenſch mein armes Kind unglücklich machen wird!
Wer weiß, vielleicht iſt das ſo ein Hypnotiſeur oder
ſonſt fo etwas Ähnliches! Kann man denn einem
Manne trauen? Und dazu noch in einem Badeort?
Meine Ellen ift doch ſonſt fo klug und gebildet! — Und
dann: ſo ganz ohne Garderobe abzureiſen! Denken
Sie nur: wie die Zigeuner fährt ſo etwas fort. Nur
mit einem Kleid und einer Handtaſche! Zwar hat ſie
ja vorläufig Mittel genug, um ſich über Vaſſer zu halten,
hat auch Mittel genug, um ohne den ſchrecklichen Mann
in unſere Arme zurückkehren zu können. Aber ſo etwas
ift und bleibt doch immer furchtbar! — gch hätte es
in der Jugend einmal wagen follen, meinem Vater,
dem Kommerzienrat Breslauer in Frankfurt, einen
ſolchen Streich zu ſpielen! Nein — Sie werden ſelber
zugeben, daß ſo etwas zu unſerer Zeit doch ganz und
gar ausgeſchloſſen war. Das kommt nur von dem ver—
rückten Studium. — Verzeihen Sie, meine Migräne
meldet ſich wieder. Sollten Sie aber genötigt ſein,
dem Klatſch durch irgend eine Berichtigung entgegen—
188 Die Entführung. el |
auftreten, dann erwähnen Sie, bitte, auf keinen Fall,
daß Ellen wie eine Wilde mit nur einem Kleid auf
Reiſen gegangen iſt.“
Nach zehn Minuten ſchon ſtand ich auf dem Korridor
vor dem Salon, und durch Zufall prallte ich dort mit
Ralph Eugen zufammen.
Da es mir ſchriftſtelleriſche Gewiſſenspflicht iſt, in
ſolchen Fällen alles zu erfahren und aller Beteiligten
Arteile zu hören, ſo ſtellte ich mich dem jungen Manne
vor.
Ich ſagte ihm, daß es fih um eine diskrete An-
gelegenheit handle, die man nicht hier zwiſchen Tür
und Angel erledigen könne. Sch erſuchte ihn, mit mir
in die unten liegende Neſtauration zu kommen, wo man
bei einem kühlen Männertrunk — das Wort wirkte
großartig — die Sache regeln könne.
Er ging ſofort auf meinen Vorſchlag ein, und nachdem
ich ihm ſagte, daß ſeine Eltern im Hartmannſchen
Intereſſe mir in äußerſt liebenswürdiger Weiſe eine
Anterredung gewährt hätten, zögerte er keine Minute,
mir ſein Urteil über den Fall mitzuteilen.
„Der Mann hat zwar nicht wie ein Kavalier gehandelt,
aber immerhin iſt zu bedenken, daß er ſich anſcheinend
in einem Stadium hochgradiger Verliebtheit befindet,
was ja vieles entſchuldigt. Perſönlich iſt mir dieſer
Eggers nicht unangenehm. Er ſtellte ſich mir vor, und
ich fand, daß der Mann Lebensart hat. Ich muß noch
bemerken, daß mir an den beiden nichts Beſonderes
aufgefallen iſt. Sie ſchienen ganz ruhig ihre Abſichten
zu beraten — na, und man will ſchließlich auch nicht
ſtören, und deshalb drückte ich mich bald. — Proſit,
geſtatte mir — Blume! — Za, ich drückte mich, da ein
Dritter bei ſolchen Angelegenheiten meiſtens doch
überflüſſig iſt. Bezüglich meiner Eltern iſt wenig zu
u Von Heinrich Binder. 189
ſagen. Der alte Herr gibt der alten Dame ſchuld,
daß ſie ſich gar nicht um Ellen gekümmert habe und ſich
anſcheinend geniere, eine erwachſene Tochter zu haben.
Die alte Dame hingegen macht den alten Herrn für
alles verantwortlich, da er dem Mädel von Kindes-
beinen an immer Selbſtbeſtimmung als höchſtes
Menſchenrecht gepredigt habe. Zch ſtehe mehr auf
ſeiten meines alten Herrn. Im übrigen kann ich,
ſoweit ich heute die Sachlage überſehe, Iden mit
einiger Gewißheit behaupten, daß die Geſchichte zum
Guten ausläuft. Denn meine Schweſter iſt, wie mein
alter Herr auch ſehr richtig uns gegenüber ſagte, im
letzten Grunde ein anſtändiger Charakter und ein
ganz vernünftiges Mädel. Das beſte wird ſein, daß der
alte Herr ſobald wie möglich ſeine Erlaubnis zu der
Verbindung gibt, zumal er damit doch der ganzen
Angelegenheit die Spitze abbricht.“
Ich war jetzt über die Anſichten und Abſichten der
Familie Hartmann genügend unterrichtet und ſetzte
mich abends gegen neun Uhr noch an den kleinen Schreib-
tiſch meines in der Villa Auguſte belegenen Zimmers)
und ſchrieb an Herrn Fritz Eggers nach Berlin unter
der mir bekannten poſtlagernden Adreſſe.
Vier Tage darauf erhielt ich aus München eine
Anſichtskarte, die geſtempelt war: „München, 18. 7.
1—2 V.“, woraus man erſehen kann, daß die Karte
erſt nachts zwiſchen ein und zwei Uhr aufgegeben war.
Herr Eggers ſchrieb: „Sehr geehrter Herr! Wir
verweigern die Ausſage, haben uns Ihre Adreſſe jedoch
vorgemerkt und werden Ihnen, Ihr berechtigtes Inter-
eſſe vorausgeſetzt, Entſcheidungsnachricht ſenden. Fritz
Eggers, Ellen Hartmann.“
5) 9 Mart den Tag mit ſehr kurgemäßer Penſion.
190 Die Entführung. 2
Mit dieſer Karte ging ich am 22. Juli, morgens
gegen zehn Uhr, in das Hotel Königshof, um ſie Herrn
Hartmann zu zeigen. Zch traf ihn aber leider nicht
mehr an, da er am Abend vorher mit Familie nach
Berlin abgereiſt war.
In aller Stille, wie der Portier mir ſagte.
Vor allem aber fiel ſeine Abreiſe durch die Höhe
der Trinkgelder angenehm auf. Herr Hartmann muß
anſcheinend ſehr guter Laune geweſen ſein, denn er
machte ſich folgenden Scherz.
Als im Foyer alles verſammelt war, um ihm das
Geleite zum Auto zu geben, als er allen Angeſtellten,
vom Portier bis zum Liftboy herab, irgend etwas
ſchon in die Hand gedrückt hatte, drehte er ſich inmitten
der Schar um und rief mit lauter Stimme: „Sft da
irgend noch ein männliches oder weibliches Weſen,
das noch kein Trinkgeld von mir bekommen hat? Das
ſoll ſich jetzt melden!“
Worauf die Wäſchebeſchließerin aus der erſten Etage
herbeigeeilt kam und einen tiefen Knicks machte, der
denn auch entſprechend belohnt wurde.
Jedenfalls hatte ich jetzt kein beſonderes Intereſſe
mehr an der Angelegenheit, und ich ſandte nur dem
Ehepaar Hartmann noch meine Bitte, mich über alles
Wiſſenswerte auf dem laufenden zu halten.
| Ich ſelber reiſte dann am 15. Auguft ein Uhr fechs-
undzwanzig Minuten nach Berlin und hatte bald in
den Armen dieſer ſteinernen Sphinx die Salzbader
Affäre vergeſſen.
Am 18. Auguſt bekam ich eine Vermählungsanzeige
in das Haus gefandt*).
*) Sie war auf handgeſchöpftem Büttenpapier gedruckt und
koſtete mindeſtens 60 bis 80 Pfennig das Stück — ohne Porto!
2 Von Heinrich Binder. 191
Mit ganz klaren Lettern ſtand in dieſer Anzeige
zu leſen, daß ſich Herr Fabrikbeſitzer Hartmann und
Frau, geborene Breslauer, die Ehre geben, die Ber-
mählung ihrer Tochter Ellen mit Herrn Kaufmann
Fritz Eggers, Prokuriſt der Firma Hartmann & Co.,
Chemiſche Fabrik in Niederſchöneweide, allen Freunden
und Bekannten ergebenſt anzuzeigen.
Hiermit iſt die Geſchichte eigentlich zu Ende; eine
Geſchichte, wie ſie oft vorkommt und ſchließlich zum
Guten ausläuft.
Ich bin aber den Leſern noch den letzten Beweis
dieſer Tatſache des guten Abſchluſſes ſchuldig, und ſo
habe ich die Vermählungsanzeige, auf der die Adreſſe
und alles Wiſſenswerte verzeichnet ſtehen, verviel-
fältigen laſſen“).
*) Auf Wunfch erhält jeder Lefer umgehend ein Exemplar
dieſer Karte. Bitte Rückporto beizulegen!
*
Inſekten als Nahrungsmittel.
von Th. v. Wittembergk.
Mit 8 Bildern. Y (Nahödrud verboten.)
ber den Geſchmack ift nicht zu ſtreiten. Dieſer
Satz gilt nicht nur für die Zubereitung der Speiſen,
ſondern ebenſoſehr für die Wahl der Nahrungsmittel,
die für die Küche und den Tiſch verwendet werden.
Wir ſchütteln über die chineſiſchen und japaniſchen
Speiſen den Kopf, während uns die Japaner vor-
werfen, daß wir verfaulte Milch, nämlich Gate, ver-
zehren. Fiſche, die bei uns zu den teuren Gerichten
zählen, werden von einer Anzahl von Naturvölkern
verabſcheut, da man ſie für eine Art Schlangen hält.
Bis auf die Biene, die den wohlſchmeckenden und
nahrhaften Honig liefert, wird das große Reich der
Inſekten von uns zur Nahrungsgewinnung nicht aus-
genützt. Dagegen werden Inſekten in vielen anderen
Gegenden regelmäßig gegeſſen und fogar als Leder-
biſſen betrachtet. |
Weit verbreitet ift der Genuß der Heuſchrecken.
Ihre Verwendung als Speiſe geht bis in das graue
Altertum zurück. Im Britiſchen Muſeum in London
befindet ſich eine Skulptur, die aus Ninive ſtammt
und ſicher mehr als viertaufend Fahre alt ift. Auf dem
Relief ſind Männer dargeſtellt, die Fleiſchſtücke für
eine Feſtlichkeit herbeiſchaffen, und neben ihnen gehen
einige Diener, die an langen Stöcken befeſtigte Heu-
Von Th. v. Wittembergk. 193
ſchrecken tragen.
Man aß alſo
ſchon im alten
Meſopotamien
dieſe Inſekten.
Ebenſo waren
ſie beiden gſrae-
liten beliebt.
Moſes führt ſie
als erlaubte
Speiſe an, und
von Johannes
dem Täufer iſt
es bekannt, daß
er in der Ein-
öde von Heu-
ſchrecken lebte.
Noch heute
werden ſie in
Paläſtina von
arm und reich
verzehrt, indem
man fie in Se-
ſamöl ſiedet.
Natürlich wird
hier wie auch
ſonſt nur der
Leib verwen-
det, der mit
feinzernagten
Pflanzenteilen
angefüllt iſt.
Märkten angeboten werden.
Durch den Magenſaft erhalten die Pflanzenteile
einen pikanten, ſäuerlichen Geſchmack. In dem be—
1913. IX.
13
194 Inſekten als Nahrungsmittel. u
nachbarten Arabien trocknet man die Heufchreden
in der Sonne, zermahlt fie zu Mehl und backt kleine
Kuchen daraus. In Zentralafrika werden ſie von
zahlreichen Stämmen geſchätzt und bilden darum auch
eine Handelsware, die man gedörrt und aneinander—
gebunden auf den Markt bringt. Am Kongo bereiten
aus ihnen die Neger eine dicke, braune Suppe, die ſie
außerordentlich lieben. Die Bewohner der Znſel
— a — A — gës ee
gunge Heuſchrecke, die für Bouillon verwendet wird,
Madagaskar backen ſie in großen Töpfen, braten ſie
darauf in Fett und miſchen fie mit Reis. Die Hotten-
totten verzehren mit beſonderer Vorliebe die mit
Eiern gefüllten Weibchen. Die Mauren Algeriens
kochen ſie und ſalzen ſie mehr oder weniger. Der
Afrikareiſende G. Rohlfs verſichert, daß fie in dieſer
Zubereitung einen Geſchmack beſitzen, der an unſere
feinſten Ragouts erinnert. Die nordafrikaniſchen Araber
dagegen dörren ſie entweder an der Sonne, zerreiben
ſie und verbacken ſie zu Brot, oder ſie röſten ſie auch
2 Von Th. v. Wittembergk. 195
in Butter, zerquetſchen ſie und miſchen ſie unter den
Rameltäfe, wozu dann noch gelegentlich zerkleinerte
Datteln hinzugefügt werden. Die Eingeborenen Bra—
ſiliens braten ſie in Fett. Endlich werden ſie auch in
Südrußland genoſſen. Die Bauern räuchern ſie hier
wie Fiſche und eſſen ſie als Zubrot.
Das erwähnte Urteil von Rohlfs wird in neuerer
Zeit von dem amerikaniſchen Forſcher P. L. Simmonds
beſtätigt. Rohen Heufchreden legt er zwar einen
Eine griechiſche eßbare Zikadenart.
ſtrengen, unangenehmen Geſchmack bei, dagegen be—
richtet er, daß junge Heuſchrecken, die mehrere Stunden
in Waſſer gekocht und gut geſalzen ſowie gepfeffert
werden, eine ſehr wohlſchmeckende Bouillon liefern,
die von der gewöhnlichen Fleiſchbouillon nur ſchwer
zu unterſcheiden ſei. Ebenſo rühmt er die gebratenen
und etwas angeſalzenen Heuſchrecken, die einen nub-
artigen Geſchmack aufweiſen. Nach ſeiner Erfahrung
gewöhnt man ſich ſehr ſchnell an die Heufchreden-
ſpeiſen und vermißt ſie förmlich, wenn ſie einem nicht
mehr zur Verfügung ſtehen.
196 Snfetten als Nahrungsmittel. o
Die mit den Heufchreden nahe verwandten Zikaden
bildeten eine geſuchte Leckerei bei den alten Griechen.
Auch die Puppen der Zikaden wurden gegeſſen, und
Eine große eßbare Grille von Zentralafrika.
Ariſtoteles hebt ihren ſüßen Geſchmack hervor. Die
Eingeborenen Südamerikas ſammeln noch heute Zika—
den körbeweiſe und braten ſie über einem gelinden
Feuer. In Zentralafrika ſowie im öſtlichen Südafrika
go ` Von Th. v. Wittembergk. 197
ſind die großen Grillenarten geſchätzt, die man aus—
gräbt und in Blätter gehüllt röſtet.
Einen anderen Gang geben auf dem Menü der ek-
baren Inſekten die Käferlarven ab. Bei den altrömiſchen
Feinſchmeckern erfreute ſich eine Käferlarve großer
„S EEE DR
EEE
Der Holzbockkäfer Prionus,
Beliebtheit, die fie Coſſus nannten. Heute bezeichnet
man mit dieſem Namen die Larve des großen Holz—
bockkäfers Prionus, der den Obſtbäumen in hohem
Maße gefährlich wird. Aber dieſer Holzbockkäfer ſtrömt
einen äußerſt widerlichen Geruch aus, ſo daß ſeine Larve
bei den Römern kaum Beifall gefunden haben dürfte.
Es ift daher wahrſcheinlich, daß ſich, wie es auch ander-
198 Inſekten als Nahrungsmittel. D
weitig geſchehen ift, eine Namensverſchiebung voll-
zogen hat und man im antiken Rom die Bezeichnung
Coſſus einer anderen Larve beilegte, als es heute der
Fall iſt. Unſere Naturforſcher ſind daher der Meinung,
daß der Coſſus der alten Römer die Larve des Hirſch—
käfers war.
In Südfrankreich gilt unter der ländlichen Be-
völkerung als eine
ſehr ſchmackhafte
Speiſe der Ver
blanc. Dieſer Ver
blance — Weiß
wurm — iſt aber
nichts anderes als
die Larve des Mai-
käfers, der Enger-
ling. Ein Rezept
für die Bereitung
des Weißwurmes
lautet: „Man wählt
möglichſt kurze und
fette Würmer aus,
wälzt ſie in Mehl
, und Brottrumen,
Larve des Hirſchkäfers. ſalzt und pfeffert
ſie und wickelt ſie in ein Stück feſtes Papier, deſſen
Innenſeite mit Butter ausgeſtrichen ift. In dieſer
Verpackung legt man ſie in heiße Aſche und läßt
ſie etwa 20 Minuten ſchmoren.“ Oer Geruch der ge—
ſchmorten Engerlinge ſoll überaus appetitreizend ſein,
und im Geſchmack ſollen ſie die Weinbergſchnecken bei
weitem übertreffen. Außerdem verbackt man auch
die Weißwürmer in Eierkuchen. Vor einer Reihe von
Jahren wurde in dem Reſtaurant Cuſtoza in Paris
a Von Th. v. Wittembergk. 199
ein Feſteſſen veranſtaltet, bei dem auch goldbraun
gebackene Eierkuchen mit Weißwurmeinlage aufge-
tragen wurden. Sämtliche fünfzig Gäſte lobten dieſe
Mehlſpeiſe außerordentlich, und einer großen Anzahl
gefiel ſie ſo gut, daß ſie noch eine zweite Portion
forderte.
In Java
und Weſtin-
dien verzehrt
man die Lar- Ei
ven des Palm-
käfers. Man
röſtet ſie gut
gewürzt an
dünnen Brat-
ſpießen. Ihr
Geſchmack
wird als þer-
vorragend be-
zeichnet. Der
Reifefchrift-
Heller Leb-
lond, der län- |
3 = l Oer ſüdfranzöſiſche „Ver blanc“.
union lebte, ſchreibt, daß er ſich zwar anfangs vor
dieſem Gericht geekelt habe, nach der Überwindung
des Abſcheus hätten ihm aber die Larven vortrefflich
gemundet und feien fie zu einer feiner Lieblings-
ſpeiſen geworden. l
an China werden von der ärmeren Bevölkerung
die Puppen des Seidenſpinners viel gegeſſen. Natür-
lich iſt vorher das wertvolle Seidengeſpinſt entfernt
worden. In den Straßen der chineſiſchen Städte
200 Inſekten als Nahrungsmittel. 2
ziehen Händler umher, die das Pfund Puppen für
40 bis 45 Pfennig anbieten.
3n Mexiko, Texas und Kolorado ift die Honig-
ameiſe heimiſch. Einzelne Tiere des Neſtes, die fo-
genannten Ammen, werden von den Arbeitern ſo
reich mit Blütenhonig verſorgt, daß ihr Leib kugelrund
anſchwillt und größer als eine Erbſe wird. Die Ammen
hängen faſt unbeweglich an der Oecke der unterirdiſchen
Der auſtraliſche Bugongſchmetterling.
Vorratskammern, und die Arbeiter, Männchen und
Weibchen, entziehen ihnen zur Stillung des Hungers
den aufgeſpeicherten Honig. Die Mexikaner nennen
daher auch dieſe Ammen der Honigameiſe „Honig-
töpfe“ und machen ſich die Honiganſammlung ſelbſt
zunutze, indem ſie die mit Honig angefüllten Leiber
verzehren. Man verkauft dieſe „Ammen“ in Mexiko
maßweiſe.
Endlich gehört ſogar auch ein Schmetterling zu
den eßbaren Inſekten. Es ift dies der auſtraliſche
0 Von Th. v. Wittembergk. | 201
Bugong. Der Schmetterling erſcheint im Frühjahr
an den Abhängen der Bugong Mountains in großen
Schwärmen und läßt ſich während der Nacht auf den
Bäumen nieder. Unter den Bäumen zünden nun die
Eingeborenen große Feuer an, deren Rauch die fchlafen-
den Schmetterlinge betäubt, ſo daß ſie herabfallen.
Man ſammelt die Tiere und ſchiebt ſie auf dem heißen
Boden ſo lange hin und her, bis die Beine, Flügel
und Fühler abgeſengt ſind. Darauf zerſtößt man die
Leiber in hölzernen Gefäßen zu einem Teig, aus dem
man kleine Kuchen backt.
—
*
EEN
Mannigfaltiges.
v
(adden verboten.)
Eine merkwürdige Liebesgeſchichte. — Anfang der fieb-
ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts machte in Petersburg
ein junger Gardeleutnant, Graf Lichatſchew, viel von ſich reden
durch ſeine tollen Streiche, bei deren Durchführung er, ohne
jemals roh oder unfein zu werden, geradezu eine gewiſſe
Genialität entwickelte. Lichatſchew hatte als einziges Kind
von ſeinen frühverſtorbenen Eltern nicht weniger als zwanzig
Millionen Rubel Bargeld und noch dazu ein ungeheures Ma-
jorat, gegen hunderttauſend Morgen, geerbt. Der Dezember-
tag, an dem er ſein Leutnantspatent erhielt, geſtaltete ſich zu
einem nie wieder geſehenen Feſttag für die Armen der ruſſiſchen
Hauptſtadt. Lichatſchew fuhr nämlich in ſeinem Schlitten zwei
Stunden lang durch die Straßen der Vorſtädte und warf aus
einem neben ihm ſtehenden, mit Rubelſtücken gefüllten Sack
fortwährend Geld unter die Leute. Der Scherz koſtete ihm
eine Viertelmillion, leider aber auch zwölf Menſchen das Leben.
Oenn die meiſten der ſo unverhofft beſchenkten Leute hatten
das Geld ſchleunigſt in Spirituoſen umgeſetzt, und zwar ſo
nachhaltig, daß ein Dutzend der ſinnlos Trunkenen in der
folgenden Nacht auf der Straße erfror. Daraufhin wurde
dem jungen Offizier von der Polizei jede weitere Freigebigkeit
dieſer Art aufs ſtrengſte verboten.
Vier Fahre ſpäter, 1875, wollte die ebenſo vielgefeierte
wie liebreizende Wiener Operettenfängerin Jda Mölmer am
Alexandratheater in Petersburg ein längeres Gaſtſpiel ab-
folvieren. Bei ihrem Eintreffen in der ruſſiſchen Hauptſtadt
fand ſie ihr Hotelzimmer mit einer Fülle koſtbarer Blumen
u Mannigfaltiges. 203
überreich geſchmückt. Zunächſt war ihre Freude über dieſe
ſinnige Aufmerkſamkeit groß. Als fie aber erfuhr, daß Liha-
tſchew, derſelbe Lichatſchew, der auch wegen ſeiner galanten
Abenteuer bereits berüchtigt war, der Spender des Blüten-
flores ſei, mochte ſie fürchten, es könnte ihrem Rufe ſchaden,
wenn fie derartig koſtſpielige Aufmerkſamkeiten des ihr bisher per-
fönlich nicht bekannten jungen Millionärs annähme, und ließ da-
her die ganze Blumenpracht kurzerhand hinausſchaffen, ebenſo
wie ſie es auch ablehnte, den galanten Gardeleutnant, der ſich
bald darauf bei ihr anmeldete, zu empfangen. Lichatſchew,
der ſich in die Photographien der Mölmer, die der Reklame
wegen ſeit Wochen in vielen Schaufenſtern hingen, verliebt
hatte, war infolge dieſer Abweiſung äußerſt aufgebracht und
ſchwur der Künſtlerin im erſten Arger bittere Rache.
Als nach drei Tagen die erſte der Gaſtſpielvorſtellungen
ſtattfinden ſollte, hatte Lichatſchew ſchon vorher ſämtliche Karten
aufkaufen laſſen, ſo daß der verwöhnte Operettenſtar vor einem
ſo gut wie leeren Hauſe — außer ſechs Zeitungskritikern und
vier Polizeibeamten auf Freiplätzen befanden ſich nur noch drei
Gardeoffiziere in der großen Wittelloge — ſpielen mußte.
Zunächſt weigerte die Mölmer fih energiſch, vor dieſem Audi-
torium überhaupt aufzutreten. Aber der Direktor pochte auf
ſein Recht und meinte, der Künſtlerin könne es gleichgültig
ſein, wieviel Publikum vorhanden wäre, wenn ſie nur ihre
ausbedungene Gage erhielte.
Die Aufführung begann alfo. Der Beifall war ſtark, trog-
dem ſich nur ſechsundzwanzig Männerhände dazu rührten.
Nach dem letzten Fallen des Vorhangs erhielt die Mölmer
einige wunderſchöne dunkelrote Rofen in ihre Garderobe ge-
ſchickt mit einer Karte, auf der unter dem Namen Lichatſchew
nur die Worte ſtanden: „Zest, wo ich Sie von Angeſicht zu
Angeſicht geſehen habe, flehe ich Sie an: Verzeihen Sie mir!“
Damit hatte der abgewieſene Gardeleutnant fich ſelbſt als den
Urheber dieſer „Theaterleere“ bekannt.
Aber die zierliche Wienerin, die ſchon während der Vor—
ſtellung vor innerer Empörung über dieſen Streich halbkrank
geworden war, zertrat die Rofen mit den Füßen und riß
204 Mannigfaltiges. l o
Lichatſchews Karte in kleine Stückchen. Das war ihre einzige
Antwort.
Mit Bangen ſah ſie dem folgenden Tage entgegen. Sie
fürchtete, daß ſie wieder das zweifelhafte Vergnügen haben
würde, vor leerem Haufe zu ſpielen. Ihre Beſorgnis war aber
umſonſt. Das Theater zeigte ſich bis auf den letzten Platz
gefüllt. Auffallenderweiſe herrſchte jedoch im Zuſchauerraum,
ſchon bevor der Vorhang hochging, eine Heiterkeit, die ſich immer
wieder in lauten Lachfalven Bahn brach, und für die die Schau-
ſpieler hinter dem Vorhang zunächſt keine rechte Erklärung
fanden. Endlich wurde man gewahr, welche Urſache dieſe auf-
fällige Fröhlichkeit hatte. Lichatſchew, von dem wieder fämt-
liche Karten aufgekauft worden waren, hatte die Plätze auf
der rechten Seite des Theaters ausſchließlich an — Kahlköpfe
verſchenkt, ſo daß dieſes Meer von im Lichterſchein ſtrahlenden
Glatzen einen geradezu überwältigend komiſchen Eindruck machte.
Die Aufführung verlief im übrigen ohne Störung, abgeſehen
von einigen ſchlechtverhehlten Heiterkeitsausbrüchen, die die
Darſteller ſelbſt auf offener Szene beim Anblick der „haar-
loſen“ rechten Theaterſeite nicht unterdrücken konnten. Ida
Mölmer, die ihre durch dieſen neuen Racheakt nur zu febr
verärgerte Stimmung meiſterlich zu verbergen wußte, erntete
wahre Beifallsſtürme, an denen ſich auch die drei Gardeoffiziere
in der Mittelloge eifrigſt beteiligten.
Am folgenden Vormittag ſchickte Lichatſchew der Operetten-
diva zuſammen mit einem wunderbaren Roſenſtrauß einen
Brief, in dem er um die Gewährung einer kurzen Unterredung
bat. Unterzeichnet war das Schreiben mit: „Ein reuiger
Sünder.“ Die Künſtlerin warf dem Boten Brief und Blumen
einfach vor die Füße.
) Der dritte Gaſtſpielabend war da. Nicht ohne Herzklopfen
begab ſich die feſche Wienerin in das Theater. Wußte ſie doch
nicht, welch neue Tücke ihr unberechenbarer Feind inzwiſchen
wieder ausgebrütet hatte. Doch dieſes Mal ereignete ſich nichts.
Der Muſentempel war von einem normalen Publikum bis
auf den letzten Galerieplatz beſetzt, und die ſchöne Mölmer
ſpielte daher mit ſo übermütigem Schneid und ſo dezenter
u Mannigfaltiges. 205
Rotetterie, daß fie nach dem letzten Aktſchluß immer wieder vor
dem Vorhang erſcheinen mußte. Auffallenderweiſe fehlten
heute die drei Gardeoffiziere in der Mittelloge. Als die Vor-
ſtellung beendet war, verließ die Operettendiva durch den
Seiteneingang das Theater und betrat die Straße, wo bereits
der für ſie beſtellte Wagen wartete. Die Mölmer und ihre
Kammerfrau waren jedoch nicht gerade angenehm überraſcht,
daß man ihnen ein offenes Gefährt geſchickt hatte. Es war
bereits herbſtlich kühl, und die Sängerin fürchtete ſich zu er-
kälten. Als ſie noch zauderte einzuſteigen, wies der Kutſcher
ſtumm auf zwei koſtbare Pelzmäntel, die auf den Wagenkiſſen
lagen, und half den beiden Damen dann auch galant in die
ſchützenden Hüllen.
In beſter Laune und wahrhaft erfriſcht von der Fahrt
langten Ida Mölmer und ihre Begleiterin vor ihrem Hotel
an. Aber kaum waren ſie ausgeſtiegen, als der Kutſcher auch
ſchon auf die Pferde lospeitſchte und davonjagte, ſo daß die
Damen gezwungen waren, die Pelze mit in ihre Zimmer
hinaufzunehmen. Zn der Taſche desjenigen, den die Künſtlerin
getragen hatte, fand ſie dann einen Brief, in dem Lichatſchew
ſich ihr als den Roſſelenker zu erkennen gab, abermals ihre
Verzeihung anflehte und die Diva bat, den Hermelinpelz als
Zeichen ihrer verſöhnlichen Stimmung gütigſt behalten zu
wollen. Am nächſten Morgen ſchickte Jda Mölmer die beiden
Pelze in das Palais des Grafen zurück — ohne jede Zeile.
Lichatſchew, der inzwiſchen ſein Herz an die feſche Wienerin
vollſtändig verloren hatte, ſah jetzt endlich ein, daß er der
Künſtlerin gegenüber bisher eine falſche Taktik verfolgt hatte,
und verſuchte nun drei Tage hintereinander auf jede nur mög-
liche Weiſe ihre Bekanntſchaft zu machen oder fie doch wenig-
ſtens zu verſöhnen. Die Mölmer blieb unerbittlich. Alle Briefe,
die ihr, oft auf die raffinierteſte Art, in die Hände geſpielt
wurden, blieben ungeleſen, ſobald ſie erkannte, daß ſie von
dem jungen Grafen herrührten.
Da nahm dieſer zu einer neuen Lift feine Zuflucht. Er
hatte eines Tages erfahren, daß die Diva eine Ausfahrt in
die Umgebung von Petersburg machen wollte, und wußte es
206 Mannigfaltiges. o
nun durch Beſtechung des Hotelperfonals fo einzurichten, daß
man ihn ihr als angeblichen Fremdenführer empfahl. Seine
Hoffnung, die Sängerin würde in ihm nicht jenen galanten
Kutſcher wiedererkennen, erfüllte ſich wirklich. Ahnungslos
nahm die Mölmer den ſchlicht gekleideten Grafen als Be—
gleiter an. )
Bei der einen gemeinfamen Spazierfahrt blieb es nicht.
Der vielſeitig gebildete Fremdenführer, der das Deutſche und
Franzöſiſche ebenſo fließend wie ſeine Mutterſprache beherrſchte,
geleitete die Künſtlerin in die Muſeen und Kirchen und ver-
ſchaffte ihr auch Zutritt zu den Zarenſchlöſſern, die ſonſt dem
Publikum verſchloſſen blieben. Um die Mölmer aber nicht
ſchließlich doch argwöhniſch zu machen, ſchrieb Lichatſchew in-
zwiſchen immer wieder flehende Briefe an ſie, und die Sängerin
ahnte tatſächlich bis zuletzt nichts von dem wahren Sachverhalt.
Dieſer bisher ſo romantiſche Liebesroman fand ſchließlich
einen Abſchluß, wie er kommen mußte: Zda Mölmer verliebte
ſich in ihren liebenswürdigen Begleiter, ſo daß dieſer es wagen
konnte, ſich ihr nach Verlauf von kaum zwei Wochen zu er-
kennen zu geben und in aller Form um ihre Hand anzuhalten,
die ihm auch nicht verweigert wurde.
Ani 2. Februar 1876 wurde in Petersburg die Hochzeit des
jungen Paares mit größtem Prunke gefeiert. Die Gräfin
Lichatſchew hat bis zu ihrem Tode in der Petersburger Hof-
geſellſchaft eine bedeutende Rolle geſpielt. Sie überlebte ihren
Gatten nur um wenige Monate. Die Ehe der beiden galt
überall als geradezu muſtergültig. W. K.
Arktiſche Reizbarkeit. — Die Tropen erzeugen mit ihrer
entnervenden Hitze unter beſtimmten Bedingungen jenen Bu-
ſtand, deſſen Geſamterſcheinungen man unter dem Namen
„Tropenkoller“ zuſammenfaßt, und der ſich einmal in völligem
Verſagen des moraliſchen Verantwortlichkeitsgefühls, dann aber
auch in einer oft lächerlichen Selbſtüberſchätzung äußert, Er-
ſcheinungen, die den Betreffenden völlig ungeeignet zu weiterer
Verwendung in der heißen Zone machen.
Aber auch die Gebiete des ewigen Eiſes beſitzen in der ſo—
genannten „arktiſchen Reizbarkeit“ eine oft recht gefährliche
a Mannigfaltiges. 207
Gemüũtskrankheit. Faft ſämtliche Nordpolfahrer berichten über
diefe furchtbare Geißel, die in dem eisſtarrenden Halbdunkel
der Polarländer nur zu leicht heraufbeſchworen wird. Höchſt
wahrſcheinlich ſind die Zerwürfniſſe auf der Südpolexpedition
des Oberleutnants Filchner ebenfalls auf „arktiſche Reizbar-
keit“ zurückzuführen.
Es handelt ſich um einen Zuſtand krankhafter Erregbarkeit,
der ſich häufig bis zu förmlichen Wutanfällen, ja ſelbſt bis zum
Wahnſinn ſteigert. Als Urſachen der Erkrankung hat man
hauptſächlich die völlig veränderte Lebensweiſe an Bord der
Expeditionsſchiffe und das Bedrückende des Polarlandichafts-
bildes mit ſeiner ſchaurigen Stille und Eintönigkeit zu betrachten.
Gegen dieſe „arktiſche Reizbarkeit“ gibt es nur ein Mittel:
ſtete Arbeit und Zerſtreuungen.
Man leſe in Nanſens „In Nacht und Eis“ nach, durch wie
verſchiedenartige Mittel der kühne Forſcher immer wieder den
Geiſt ſeiner Gefährten zu beeinfluſſen, ſie zu erheitern ſuchte,
alles nur, um das Geſpenſt der nervöſen Gereiztheit von Bord
der „Fram“ zu bannen. Nanſen glückte dies. Andere Leiter von
Nordpolexpeditionen, die fih für den Seelenzuſtand ihrer Mann-
ſchaft weniger beſorgt zeigten, wiſſen von wilden Schreckenſzenen
zu erzählen, die aus der nichtigſten Veranlaſſung entſtanden.
So entwickelte ſich im Mai des Jahres 1832 an Bord
der vom Eiſe eingeſchloſſenen „Victory“, mit der der Engländer
gohn Roß den magnetiſchen Nordpol entdeckte, eine Schlägerei
zwiſchen den Expeditionsteilnehmern, bei der drei Leute den Tod
fanden. Und die Urſache? Der Matroſe Booth war auf Deck
ausgeglitten, über die Reling in einen Schneehaufen gefallen
und darob von feinen Kameraden ausgelacht worden. Wut-
ſchnaubend ergriff er eine Walfiſchharpune und ſtieß fie dem
Nächſtſtehenden in den Leib. Schnell bildeten ſich zwei Par-
teien, und wenige Minuten ſpäter gab es drei Tote an Bord.
Ahnliche Vorfälle haben ſich bei allen Polarexpeditionen
abgeſpielt. Am ſchrecklichſten aber erging es den Leuten des
Robbenfängers „King Edward“, der 1897/98 ſieben Monate
lang an der grönländiſchen Küſte im Eiſe lag. Das Schiff war
reich verproviantiert, und die Mannſchaft lebte herrlich und
208 Mannigfaltiges. a
in Freuden. Der Kapitän, ein Trunkenbold, kümmerte ſich um
nichts, ſondern ließ jeden nach Belieben ſchalten und walten.
Durch die fpätere Verhandlung vor dem Londoner See-
gericht wurden nun die folgenden grauenhaften Vorgänge
feſtgeſtellt. Am A. Dezember 1897 brach in der Mannſchafts-
kajüte beim Kartenſpiel Streit aus, der jedoch durch den Steuer-
mann beigelegt wurde. Trotzdem begab ſich der anſcheinend
wieder völlig ruhig gewordene Matroſe Perkins in ſeine Koje,
holte ſich einen Revolver und ſchoß den Steuermann, den
Schiffsjungen und den Koch kaltblütig über den Haufen. Die
beiden erſteren ſtarben noch an demſelben Tage, der Koch, der
nur an der Schulter verletzt war, genas nach längerem Kranken-
lager. Der Attentäter wurde in Eiſen gelegt. Zwei Tage
darauf ſchlug ein anderer Matroſe dem Kapitän mit einer
Eifenftange über den Kopf, weil er angeblich eine zu kleine
Portion Tabak erhalten hatte, und entfloh dann in die Eis-
wüfte hinein. Er wurde trotz eifrigen Suchens nicht wieder
aufgefunden. Am Weihnachtsabend beſchuldigte der Boots-
mann, ein Oeutſcher, einen Matroſen, abſichtlich ein Licht
ſeines kleinen, aus Beſenreiſern hergeſtellten Tannenbäumchens
ausgelöſcht zu haben. Der Matroſe griff, ohne ein Wort zu
fagen, zum Meſſer und ſtieß es dem Deutſchen ins Herz.
Kurz bevor der „King Edward“ dann vom Eiſe freikam,
brach bei dem inzwiſchen wiederhergeſtellten Schiffskoch der
Wahnſinn aus: er verſuchte das Fahrzeug in Brand zu ſtecken
und mußte, da er in Tobſucht verfiel, in einer kleinen Kabine
gefeſſelt mit nach der Heimat genommen werden. Als der
Walfiſchfänger in London im Zuni 1898 eintraf, führte er als
Beſatzung außer dem Kapitän nur noch drei geſunde Leute.
Das Seegericht nahm eine ſtrenge Unterſuchung vor. Die
beiden Mörder wurden jedoch freigeſprochen, da der Verteidiger
geltend machte, die bisher unbeſtraften Angeklagten hätten im
Wahnſinn die Verbrechen verübt: arktiſche Reizbarkeit. Dem
Kapitän aber entzog man das Patent als Schiffsführer mit der
Begründung, es ſei ſeine Pflicht geweſen, ſich auch um die
ſeeliſche Verfaſſung feiner Leute zu bekümmern, und dies habe
er in ſträflichſter Weiſe vernachläſſigt. W. K.
o Mannigfaltiges. 209
m nn EE
Beſſeres Tageslicht
in den Zimmern. — Wir
wiſſen alle, daß es uns
in vielen Räumen, be-
ſonders bei trübem Wet-
ter, an genügendem Sa:
geslicht fehlt. Tauſende
und aber Tauſende von
Menſchen haben darun-
ter zu leiden. Oieſe
Tatſache ift darauf au-
rückzuführen, daß die
Räume meiſt nur ſpitz⸗
winkliges, im günftigften
Falle nur rechtwinkliges
oder wagrechtes, dafür
aber aus weiterer Ferne
tommendes Tageslicht
Al
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| e A
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UR
Fig. 1.
erhalten, das dann auch
noch auf feinem Wege in
die Räume durch Mauer-
werk, ſowie durch Glas
und Rahmen der Fenſter
ſelbſt erhebliche Abſchwä⸗
chungen erfährt, während
ein weiterer Teil durch
innere Einrichtungen ab-
ſorbiert wird. So be-
trägt die Abſchwächung
des Tageslichtes durch
das Glas allein je nach
der Glasart 8 bis 25 Pro-
zent. Die Folge dieſer
Erſcheinungen, die wohl
den wenigſten bekannt
ſind, iſt entweder Arbeit
14
210 Mannigfaltiges. o
bei halbem Tageslicht oder die Zuhilfenahme des künſtlichen Lich
tes. Wir wollen auf die ſchädlichen Einwirkungen dieſer beiden
Tatſachen, die gar vielartig ſind, hier nicht näher eingehen.
Es ſind nun jetzt patentamtlich geſchützte Lichtgläſer zur
Übertragung von Tageslicht in die Räume in den Handel ge-
bracht worden, die alle Übelftände mit einem Schlage beſeitigen.
Durch einfachſte Anbringung der Lichtgläſer an den Fenſtern,
dort, wo fie das Tageslicht direkt aufnehmen können, über-
mitteln ſie den Räumen eine Fülle von Licht, die jene wie
in volles Tageslicht getaucht erſcheinen laſſen, und beſonders
bei trübem Wetter iſt die Wirkung eine wunderbare. Die
Lichtgläſer, hergeſtellt von der Deutſchen Lichtglasgeſellſchaft
m. b. H. zu Leipzig, Sidonienſtraße 16, ſind das Produkt einer
langjährigen genaueſten und ſorgfältigſten Beobachtung und
ſchaffen durch die ſtarke Lichtabgabe eine bedeutend beſſere
Ausnützung des Raumes beim Zimmerbau. Unbrauchbare
Räume werden durch ſie verwertbar gemacht, und es werden
Stoffe, Bilder und ſo weiter vor dem Verderben oder doch vor
dem Verbleichen geſchützt. Es werden weiter erhebliche Koſten
für frühzeitige künſtliche Beleuchtung geſpart. Bei ſteilem
Lichteinfall, wie in engen Straßen und Höfen vorkommend,
leiſten die Lichtgläſer ebenfalls Vorzügliches. Sie werden dann
als Markiſen verſtellbar vor den Fenſtern angebracht und er-
leuchten ſo jeden Raum mit dem Vorteil, die Lichtſtrahlen
beliebig leiten zu können.
Kurz zuſammengefaßt, beſtehen die Vorzüge der neuen
Erfindung in größerer und erleichterter Lichtaufnahme, fowie
in leichter Lichtdurchdringung und damit in größerer Licht-
weitergabe gegenüber den Gläſern mit ebener oder gerundeter
Rückfläche oder mit gewellten Prismen, ferner in der Ber-
ſendung völlig weißen, klaren und ruhigen Lichtes ohne jede
Beimiſchung von Schatten oder Abſchwächungen und zuletzt
in weiteſter Verteilung des Lichtes in dem Raume bei gleicher
Nahbelichtung. Unſere Abbildung Fig. 1 zeigt uns ein Zimmer
bei geöffnetem Fenſter ohne Lichtgläſer, in Abbildung Fig. 2
ſehen wir dasſelbe Zimmer bei geſchloſſenem Fenſter mit Lidt-
gläſern. | H. Herzberg.
a Mannigfaltiges. 211
*
Schlachtandenken. — Als Mr. Crumping aus London das
Muſeum in Waterloo beſuchte, hätte er gar zu gern etwas
mitgehen heißen; aber alles, was da vorhanden war als Zeugnis
der Schlacht, Waffen, Orden, Helme, Kugeln, Sporen, Steig-
bügel und ſogar Totenſchädel und vieles andere — alles war
gut verſchloſſen und gut bewacht.
So mußte denn Crumping ohne ein Andenken das Muſeum
verlaſſen, das ſeinerzeit vom Wachtmeiſter Cotton, einem Mit-
kämpfer von Waterloo, ins Leben gerufen worden war.
Nun vielleicht glückte es ihm, auf dem Schlachtfelde ſelbſt
etwas zu finden, das er ſeiner Sammlung von allerlei Raritäten
einverleiben konnte. Er fuhr alſo nach Mont Saint Jean, um
ſich einen Führer über das Schlachtfeld zu ſuchen. Man wies
ihn zum Hauſe des alten Corbeil. Dieſer empfing den Fremden
mit einer gewiſſen Würde und begab ſich ſofort mit ihm auf
das Schlachtfeld.
Zunächſt betraten die beiden das hügelige Gelände ſüdlich
von Mont Saint Jean, auf dem die engliſche Armee geſtanden
hatte. Der Führer zeigte die einzelnen Punkte, um die befon-
ders heiße Kämpfe getobt hatten: das Vorwerk, die Farm
La Haye und den Kirchhof von Planchenois. Dann beftiegen
ſie den Hügel von Roſſomme, auf dem eine Windmühle ſteht.
„Hier vor dieſer Windmühle,“ rief Corbeil mit Nachdruck,
„hielt ſich Napoleon während des größten Teils der Schlacht
auf. Sehen Sie, mein Herr, dort drüben am Saum des Waldes
von Soignes beobachtete der Herzog von Wellington die Schlacht,
und dort rechts kamen die erſten Preußen an.“
„Hielt ſich Napoleon auch hier in der Mühle auf?“ fragte
Crumping.
„Natürlich, mein Herr,“ war die Antwort. „Er weilte
längere Zeit darin.“ '
Crumping betrat jetzt, von Corbeil gefolgt und vom Müller
freundlich empfangen, die Windmühle. Im Hauptraum ent-
deckte er unter einem Nagel eine kleine Tafel an der Wand,
die beſagte: „An dieſem Nagel hängte Napoleon in der Schlacht
bei Waterloo ſeinen Hut auf.“ Crumping wurde vor Erregung
ganz rot, denn der roſtige Nagel da in der Wand hatte es
212 Mannigfaltiges. o
ihm fofort angetan. Er fragte, ob er ben Nagel nicht betom-
men könne, und bot vorfichtig erft zwanzig Franken.
Der Müller wollte ſich von der Reliquie, die an den großen
Kaiſer erinnerte, nicht trennen, doch als der Engländer erſt
vierzig, dann fünfzig Franken bot, zog er ſeufzend den Nagel
heraus und überreichte ihn Crumping, der ihn ſorgſam in der
Brieftaſche barg.
Recht zufrieden trat er mit feinem Begleiter den Rüd-
weg an. |
„Wollen Sie, mein Herr, vielleicht einmal meine Andenken
ſehen?“ fragte der alte Corbeil.
Crumping ging gern darauf ein, und ſo traten ſie in die
behagliche Wohnung des Führers.
Sofort fiel Crumpings Blick auf ein Geſtell, auf dem eine
Anzahl Kriegsandenken lagen: eine abgeplattete Kugel, Sporen,
Säbel, Schärpen und dergleichen. Der Sammeltrieb regte ſich
ſogleich, und Crumping fragte, ob Corbeil etwas davon verkaufe.
i Dieſer trennte fih nur febr ſchwer von feinen Andenken,
doch endlich ließ er fidh dazu herbei, die Kugel und die Schärpe
eines Offiziers für fünfzig Franken abzulaſſen.
Crumping beſtieg dann ſeinen Wagen und kehrte nach
Brüſſel zurück, ſehr befriedigt über ſeine guten Käufe. Er
gedachte ſchon feiner Freunde in London und was die für
Augen machen würden. —
Einige Tage ſpäter trat der alte Corbeil in die Windmühle
auf dem Hügel von Roſſomme. Er begrüßte den Müller und
ſagte: „Nun wollen wir einmal abrechnen. Drei Fremde waren
es dieſe Woche, einer zu fünfzig, einer zu dreißig und einer
zu fünfundzwanzig Franken. Macht hundertfünf Franken, und
ich bekomme alſo fünfunddreißig.“
„Schweres Geld!“ ſeufzte der Müller, indem er ihm den
Betrag zahlte. „Daß ich immer ein volles Drittel abgebe
muß! Ein Viertel tät's auch!“ l |
„Nur zufrieden, Gevatter!“ rief Corbeil. „Habt Euren
Wohlſtand ja nur dem Nagel zu verdanken! Stets führe ich
die Fremden her, die den Nagel dann kaufen, und Ihr be-
haltet zwei Drittel!“
o Mannigfaltiges. 213
Er zeigte alsbald auf die kleine Tafel, unter der bereits
wieder ein anderer roſtiger Nagel prangte.
„Na — und Ihr? Eure ſauberen Kriegsandenken tragen
wohl nichts?“
„Mit Euch iſt nicht zu reden!“ polterte Corbeil ärgerlich
und ging. Am nächſten Tage jedoch erſchien er ganz friedlich
wieder und brachte einen Fremden mit, der dreißig Franken
für den Nagel anlegte, an dem Napoleon feinen Hut auf-
gehängt hatte. — —
Mr. Crumping hatte einige Freunde eingeladen. „Ich
habe Ihnen,“ ſagte er ſtolz, „einige hübſche Sachen gezeigt,
die ich von der Reife mitgebracht habe. Nun aber bitte ich
um Ihre beſondere Aufmerkſamkeit.“
Er führte die Gäſte in ein anderes Zimmer. Hier lagen
auf einem Kiſſen unter einem Glasſturz drei Gegenſtände.
„Vom Schlachtfelde von Waterloo!“ ſagte Crumping feier-
lich. „Hier die Schärpe eines franzöſiſchen Generals, hier eine
Kugel, die am Panzer eines preußiſchen Küraſſiers abgeplattet
wurde, und hier,“ fuhr er fort, während feine Freunde epr-
fürchtig lauſchten, „und nun hier dieſer einfache roſtige Nagel.
Er ift aus der Windmühle vom Hügel von Roſſomme, auf dem
Napoleon die Schlacht leitete. — An dieſem Nagel,“ ſchloß
Crumping mit Nachdruck, „an dieſem Nagel hat der größte
Feldherr aller Zeiten ſeinen Hut aufgehängt!“
Mit tiefem Ernſt blickten alle auf das unſcheinbare Stüd-
chen Eiſen. A. Thiele.
Hinrichtung eines ſpaniſchen Granden im 15. Jahrhundert.
— Ein böhmifcher Edelmann, Gafet v. Mezyhor, hatte mit feinen
Gefährten im Jahre 1466 Gelegenheit, in der kaſtilianiſchen
Stadt Olmedo der Hinrichtung eines Granden beizuwohnen,
der wegen Teilnahme an einer Verſchwörung gegen König
Heinrich von Kaſtilien zum Tode verurteilt war. Saſek ſchildert
dieſe Hinrichtung in feinem auf uns überkommenen Reifetage-
buche.
Der verurteilte Hochverräter wurde in einem reichen, gold-
geſtickten Purpurgewande auf einen freien Platz geführt, auf
dem ſich bereits eine anſehnliche Volksmenge verſammelt hatte,
214 Mannigfaltiges. D
und dort an einen Pfahl gebunden. Ihm gegenüber poſtierten
ſich zahlreiche Männer, Jäger und Bogenſchützen, die nun mit
Pfeilen nach dem Verurteilten zu ſchießen begannen. Ihr
Ziel waren zunächſt nur die Körperteile des Opfers, deren
Verwundung nicht gleich töten konnte, alſo hauptſächlich Arme
und Beine. Zeder Fehlſchuß mußte mit zwanzig Realen ge-
büßt werden, wogegen jeder geſchickte Treffer einen Preis
von zwanzig Realen abwarf.
Als der dieſe grauſame Hinrichtung befehligende Richter
es für angebracht hielt, trat der geſchickteſte Schütze vor und
tötete mit einem Herzſchuß das entſetzlich leidende Opfer.
Der über eine ſolche Art der Hinrichtung ſehr verwunderte
Böhme wurde belehrt, daß dieſe Art der Todesſtrafe allgemein
üblich ſei, daß die Teilnahme an der Vollſtreckung des Urteils
nicht nur niemand zur Schande, ſondern den Gewinnern der
Preiſe ſogar zur hohen Ehre gereiche.
Und dann kam das Wunderlichſte der ganzen widerwärtigen
Szene: im Angeſicht der noch an die Säule gefeſſelten Leiche
ſetzte man ſich an rohgezimmerten Tiſchen nieder, Muſikanten
begannen aufzuſpielen, und die vergnügten Schützen ver-
tranken gemeinſchaftlich die zahlreich eingegangenen Straf-
gelder. O. Th. St.
Gute Verdauung. — Wie oft hören wir darüber ſprechen,
ob „Pflanzenkoſt“ oder „Fleiſchkoſt“ vorzuziehen ſei. Mit
dieſer Frage aber find eine ganze Reihe anderer Fragen ver-
knüpft, von denen jede für ſich größeres Intereſſe beanſprucht
als gerade dieſe. i
Was find das für Fragen?
Wenn wir über die Frage der richtigen Ernährung ſchlüſſig
werden wollen, müſſen wir dabei folgende Faktoren berüd-
ſichtigen. Zunächſt, und das ift das allerwichtigſte, die Ber-
hältniſſe, unter denen wir dem Körper Nahrung zuführen;
zweitens der Zuſtand, in dem ſich der Magen und die Därme
befinden, denen die Nahrung zugeführt wird; in dritter Linie
erſt die Art der Nahrung ſelbſt.
Es mag auffallend erſcheinen, daß die Verhältniſſe, unter
denen man Nahrung einnimmt, wichtiger ſein ſollen als die
WW: Mannigfaltiges. 215
Art der Nahrung ſelbſt. Daß dem aber fo ift, wird durch viel-
fache Verſuche bewieſen. Eine Mahlzeit, die man zu ſich
nimmt, wenn man ſehr ermüdet oder febr aufgeregt oder ſehr
ärgerlich iſt, kann ebenſowenig verdaut werden wie eine, die
in zu großer Haſt gegeſſen wird. Ebenſo iſt die Angewohnheit,
unmittelbar nach dem Effen wieder zu arbeiten, überaus ſchaͤd⸗
lich. Darunter muß zweierlei leiden: die Arbeit und die Ber-
dauung. Und dabei iſt es ganz gleich, ob es ſich um geiſtige
oder körperliche Arbeit handelt. Wo gearbeitet wird, gleich-
viel ob im Gehirn oder im Magen, oder mit den Armen und
Beinen, muß Blut vorhanden ſein, und das Blut kann nicht
zu gleicher Zeit im Magen und in den Muskeln fein, Ein plöß-
licher heftiger Schreck während des Eſſens erregt oft Ekel
oder Erbrechen. Manche Leute können ſogar nicht einmal
das Eſſen verdauen, das ſie in einem lebhaften Reſtaurant
zu ſich genommen haben.
Es ließe ſich noch vieles andere anführen, das beweiſen
würde, daß der Magen ein ſehr empfindliches Organ iſt, das
unverzüglich auf die geringſte Veränderung des Befindens
und der Stimmung antwortet.
Von den vielerlei Umſtänden, die einer guten Verdauung
nachteilig ſind, iſt aber der allerſchädlichſte das Studium einer
höchſt wichtigen Perſon, des eigenen Ichs, und diätetiſche Experi-
mente, die man an derſelben fo ſchwer leidenden Perſon vor-
nimmt. Die hartnäckigſten Fälle von „Magenverſtimmung“,
gegen die keine Behandlung einſchlagen will, werden nicht
etwa durch ſchlechtes Eſſen oder durch zu reichliche oder durch
zu knappe Nahrung veranlaßt, ſondern durch übel angebrachte
Beſtrebungen des Patienten, die Nahrungsfrage durch Ver-
ſuche an ſeinem eigenen Körper zu löſen. Wer viel an ſeine
Verdauung denkt, wird bald an Verdauungsſtörungen leiden.
„Iſt dieſes Gericht für mich ſchädlich?“ fragte einſt ein
Saft feinen Tiſchnachbarn, einen berühmten Arzt.
Ohne hinzuſehen, antwortete dieſer mit einem kurzen „Ja“.
„Aber Sie haben ja gar nicht geſehen, wovon ich ſpreche.
Woher können Sie alſo wiſſen, daß es mir ſchaden wird?“
„Weil Sie mich gefragt haben, weil Sie alſo Angſt haben,
216 Mannigfaltiges. D
—
daß Sie diefe Speiſe nicht verdauen werden. An der Be-
kömmlichkeit des Eſſens zweifeln, heißt Verdauungsbeſchwerden
hervorrufen.“
Um einen geſunden und richtig funktionierenden Magen
braucht man ſich nicht zu kümmern, er nimmt es ſogar übel,
wenn man an ihn denkt. Einer der ſchlimmſten Fälle einer
gewiſſen Herzkrankheit, die der erwähnte Arzt jemals in Be-
handlung hatte, wurde dadurch hervorgerufen, daß die Pa-
tientin, ſobald ſie zu Bett gegangen war, aufmerkſam lauſchte,
wie ihr Herz ſchlug.
Haſtiges Effen ift auch eine Angewohnheit, die ſchon viel
Unheil angerichtet hat. Beim raſchen Eſſen wird nicht nur
die Nahrung ungenügend gekaut und zu wenig mit Speichel
durchfeuchtet, ſondern es wird ſicherlich auch zuviel gegeſſen.
Bei raſchem Eſſen hat man auch häufig ein Gefühl, daß man
zu großer Eile angetrieben wird, oder man befindet ſich in
großer Angſt oder Aufregung. Alles das iſt von ſchädlicher
Wirkung. |
Auch Effen bei zu großer Ermüdung oder unmittelbar nach
ſtarker körperlicher Bewegung ſollte vermieden werden. Die
Verdauung iſt auch eine Arbeit, und in ermüdetem Zuſtande
können die Verdauungsorgane ihren Dienſt nicht verrichten.
Verdauungsſtörungen, ernſtliche Krankheit, ja ſogar der =”
können daraus entſtehen.
Das Trinken während des Eſſens wird vielfach für ſchädlich
gehalten; unſere phyſiologiſchen Erfahrungen ſprechen indeſſen
nicht dagegen, daß ein mäßiger Genuß von Flüſſigkeiten beim
Eſſen ſchädlich ſein ſoll. Freilich darf die Flüſſigkeit nicht dazu
dienen, die nur halbgekaute Nahrung hinunterzuſpülen.
Viele Leute wollen nicht einſehen, daß Flüſſigkeiten nur
dann getrunken werden dürfen, wenn der Mund leer iſt. Wenn
man raſch ißt, den Mund voll Eſſen nimmt, dazu einen
tüchtigen Schluck Bier, Kaffee oder Waſſer trinkt, wie kann
man dann verlangen, daß der Magen die großen harten Klumpen
von Eſſen in blutbildenden Stoff verwandeln ſoll! Zur Regel
ſollte man es ſich machen, beim Eſſen nur wenig und nur bei
leerem Munde zu trinken.
o | Mannigfaltiges. 217
Jetzt von einem anderen Faktor der Diät: der Beſchaffen-
heit der Verdauungsorgane. Mag das Befinden noch ſo gut
ſein, mag das Eſſen noch ſo vollkommen ſein, wenn Magen
und Eingeweide nicht in Ordnung ſind, wird das Eſſen nicht
richtig verdaut. Anderſeits aber find gewöhnlich Magenver-
ſtimmungen und Darmerkrankungen die unmittelbare Folge
unrichtiger Angewohnheiten beim Eſſen, und um dieſe Organe
wiederherzuſtellen, braucht man nur ſich daran zu gewöhnen,
dem Körper die Nahrung unter normalen Bedingungen zu-
zuführen.
Gute Nahrung und gute Gedanken machen einen guten
Magen.
Verdauungsſtörungen gibt es der mannigfachſten Art.
Manchmal verurſachen ſie nur wenig Unbehagen und werden
wenig beachtet, manchmal aber auch ſind ſie ernſter Natur
und recht ſchmerzhaft. Es kommt vor, daß der Magen ſo emp-
findlich wird, daß er nicht einmal Waſſer, geſchweige denn Eſſen
behalten kann. Magenerkrankungen äußern fih von gelegent-
lichem Kopfweh oder leichten Schwindelanfällen bis zu plöß-
lichem Tode. Oft wird die Verſtimmung des Magens gar nicht
bemerkt, jahrelang bleibt ſie unbeachtet, bis ſie ſich endlich als
ſchwere Erkrankung fühlbar macht. Die Erkrankungen des
Magens ſind ſo verſchiedenartiger Natur, daß ſich Regeln über
ihre Behandlung nicht geben laſſen, man kann nur ſagen, daß
richtige diätetiſche Gewohnheiten die beſten Bedingungen
ſchaffen, ſich geſunde Verdauungsorgane zu erziehen und zu
erhalten.
Alles, was wir von praktiſcher Diät wiſſen, läßt ſich in zwei
Worten ausdrücken, die ſich jeder ſtets mit goldenen Buchſtaben
vor Augen halten ſollte: Mäßigkeit und Einfachheit.
Wer mäßig und einfach lebt, der lebt würdig, zufrieden
und lange. J. C.
Selbſtpeinigungen indiſcher Fakire. — An den indiſchen
Wallfahrtsorten, bei berühmten Tempeln, am Hofe der Fürſten
oder auch als Teilnehmer an den religiöſen Feiern in Dorf
und Stadt trifft man häufig auf Fakire, die ſich aus religiöſem
Fanatismus freiwillig den ſchmerzlichſten Martern unterziehen.
Mannigfaltiges.
218
—ͤ —
Plaza wag jno 1402 ua
ausgehungerte Geſtalten, denen
hagere,
d es lange,
ie dunkle Haut faltig au
in
Meift fi
d
f den Knochen liegt, mit finſteren
lichem
im
in unhe
ie
d
ſchwarzen Augen,
chtern und großen,
i
Gef
a mannigfaltiges. 219
Feuer glühen. In der Erfindung der Selbſtpeinigungen be-
kunden ſie eine faſt unerſchöpfliche Phantaſie.
Berühmt war ein Fakir, der ſechsundzwanzig Jahre hin-
durch in der Nähe von Benares unbeweglich Tag und Nacht
auf einem Stein hockte und ſich, da er ſelbſt nicht mehr zu
gehen vermochte, zweimal täglich von Freunden zum Ganges
tragen ließ, um in dem heiligen Strom ein Bad zu nehmen.
Eine öfter geübte Form der Selbſtpeinigung iſt die, daß ſich
ein Fakir einen Arm ſenkrecht hochbinden läßt. Die Muskeln
ſchrumpfen allmählich ein, und das Schulter- ſowie das Ell-
bogengelenk wird unbeweglich. Jetzt werden die Binden
gelöſt, und nun bleibt der Arm ſteif nach oben gerichtet von
ſelbſt ſtehen.
Beliebt ift ferner das Martyrium der fünf Feuer. Stunden-
lang bleibt der Fanatiker einer Bildſäule gleich in dem dichten
Rauch und der unerträglichen Hitze der angezündeten Feuer
ſitzen.
Höchſt ſchmerzlich wird endlich mit der Zeit das Strick—
ſchweben. Zwiſchen zwei Bambusſtäben wird ein dünner Strick
befeſtigt, auf dem ſich der Fakir der Länge nach ausſtreckt.
Das Liegen wird allmählich, da der Strick den Körper wund
reibt und immer tiefer in ihn einſchneidet, ſo martervoll, daß
man es nicht begreift, wie ein Menſch dieſe entſetzliche Qual
auszuhalten vermag. Gleichwohl verzieht der Fakir dabei keine
Miene, ſondern auf ſeinem Geſicht liegt ein ſtiller, friedlicher
Ausdruck. Th. S.
Glanzleiſtung eines Reporters. — Am 19. November 1874
ging das Auswandererſchiff „Cospatrick“ in Flammen auf — vier-
hundert Seemeilen vom Kap der Guten Hoffnung. Bis dahin war
kein Schiffsunfall ſo grauſig geweſen wie der der „Cospatrick“,
bei dem über vierhundert Paſſagiere mitanſahen, wie ihr dem
Verderben geweihtes Schiff zwei volle Tage in Flammen ſtand,
wie der umſtürzende Hauptmaſt viele erſchlug oder verſtümmelte,
wie das Vorderteil des Schiffes in die Luft flog, wie der Kapitän
ins Meer ſprang, um womöglich das Leben ſeines mit weg—
geriſſenen Weibes zu retten, wie zwei Rettungsboote ausgeſetzt
wurden, von denen eines mit all ſeinen Inſaſſen umſchlug,
220 | Mannigfaltiges. o
während das andere umherirrte, bis die darin Sitzenden teils
vor Durſt und Hunger ſtarben, teils wahnſinnig wurden.
Die Kunde von dem furchtbaren Ereignis war nach Eng-
land gedrungen und hatte ſeine Bevölkerung in Aufregung
verſetzt, obgleich man noch nichts Näheres wußte. Nur das
war als ſicher bekannt, daß die wenigen Überlebenden irgend-
wie nach der Inſel St. Helena gelangt waren, und daß der
Dampfer „Nyanza“ ſie von dort nach England zurückführte.
Die Herausgeber der verſchiedenen großen Zeitungen in
dem Snfelreiche, die da wußten, wie febr das Publikum auf
genaue Nachrichten über die Kataſtrophe brannte, hielten nun
täglich mit ihrem Redaktionsſtabe Beratungen darüber ab, auf
welche Weiſe ſie wohl am eheſten in den Beſitz der heißbegehrten
Neuigkeiten kommen könnten. Man fab keine andere Möglich-
keit, als daß man nach Plymouth fuhr und die Ankunft der
„Nyanza“ abwartete.
Die „Daily News“ aber befanden ſich in der glücklichen
Lage, einen hervorragend unternehmungsluſtigen Bericht-
erſtatter, Archibald Forbes, unter ihren Mitarbeitern zu haben,
und dieſer erbot ſich, der „Nyanza“ in einem Spezialboote
entgegenzufahren, auf irgend eine Art an Bord des Schiffes
zu gelangen und die Schiffbrüchigen nach allen Regeln der
Kunſt auszufragen.
Der Vorſchlag des kühnen Mannes wurde mit Freuden
angenommen, und Nr. Forbes trat feine Fahrt an. Als er
die „Nyanza“ erreicht hatte, ſprang er einfach ins Meer, und
es gelang ihm, ſich an der Schiffskette der „Nyanza“ anzu-
klammern, worauf er von der n des Dampfers an
Bord gezogen wurde.
Nun hatte der Wagehals fein Spiel gewonnen. Ein ge-
wiſſer Macdonald war unter den Geretteten der einzige, der
kräftig und wohl genug war, um Auskunft geben zu können.
Er war aber ganz und gar kein zugänglicher Menſch, und erſt
als Forbes ihm eine beträchtliche Summe Geld hinzählte, raffte
er ſich zu den gewünſchten Mitteilungen auf, die der erfahrene
Journaliſt ſorgfältig niederſchrieb.
Sobald der Dampfer in Plymouth anlegte, war er der
o Mannigfaltiges. 221
erſte, der an Land ging und feinen Bericht an die „Daily
News“ telegraphierte, während die Kollegen von den anderen
Blättern erſt Auskunft ſuchen mußten.
So konnten die „Daily News“ ſchon im Abendblatt den ge-
ſpannten Leſern über die ſchrecklichen Vorgänge berichten,
während es die übrigen Zeitungen erſt in den nächſten Morgen-
blättern zu tun vermochten.
Archibald Forbes wurde ſpäter durch ſeine Kriegsberichte
aus allen Weltteilen wohl der berühmteſte Journaliſt. C. D.
Vachſtelze und Kreuzotter. — An einem ſonnigen Nach-
mittag kam ich — ſo berichtet ein bayriſcher Forſtmann —
auf einem Spaziergange in die Nähe eines Steinbruches, der
aber Iden längere Zeit nicht mehr im Betriebe war. Lang-
ſam ſchritt ich an der verlaſſenen Arbeitſtätte hin, als mich
plötzlich eine Bachſtelze ängſtlich umflatterte und mit kreiſchender
Stimme offenbar auf ſich aufmerkſam zu machen ſuchte. An-
fangs beachtete ich das Benehmen des Vogels nicht, dann
wurde ich aber doch aufmerkſam, als er wiederholt auf mich
zuflog, und mir das klägliche Geſchrei des Tierchens wie Hilfe-
rufe erſchien. Ich blieb ſtehen und beobachtete die Bachſtelze.
Nun flog dieſe an einen nahen Abhang, umkreiſte dort einen
Stein, erhob ſich dann wieder blitzſchnell und kam wieder zu
mir zurück. Nun hegte ich keinen Zweifel mehr über die Ab-
ſicht des Vögelchens und erſtieg den Rain. Dort gewahrte
ich unter einem hervorſtehenden Steine ein Neſt mit zwei noch
ſehr jungen, nackten Vögelchen. Schon hatte ich die Hand aus-
geſtreckt, um fie mir in der Nähe zu beſehen, als ich noch recht-
zeitig an der Seite des Neſtes eine Schlange gewahrte, die
den Kopf erhoben hatte und augenſcheinlich nach den Vögel
chen zielte. Ich ſprang zurück, verlor dabei das Gleichgewicht
und kollerte eine Strecke den Rain hinab, wobei ich mir eine
Hand verletzte. Doch rafſte ich mich raſch wieder auf, um den
bedrängten Vögeln Hilfe zu bringen. Die Schlange, in der
ich nun eine Kreuzotter erkannte, war inzwiſchen der Offnung,
die das Neft barg, ſchon febr nahe gerückt und wandte bei
meiner Annäherung drohend ihren Kopf nach mir, wobei ihre
Augen funkelten und die geſpaltene Zunge fortwährend züngelte.
222 Mannigfaltiges. o
Die Gefahr, in der die jungen Vögelchen ſchwebten, war groß,
und es galt kein Beſinnen. Ich hatte einen ſtarken, mit Eiſen
beſchlagenen Stock bei mir, mit dem ich der Kreuzotter einige
kräftige Hiebe verſetzte, daß ſie den Rain hinabkollerte, worauf
ich mit vielem Vergnügen ſah, daß der alte Vogel ſich alsbald,
nachdem die drohende Gefahr beſeitigt war, mit großem Eifer
der Pflege ſeiner geretteten Lieblinge widmete. Ich verſäumte
auch nicht, öfters nach meinen Schützlingen zu ſehen, bis ich
ſie eines Tages munter auf dem Geäſte des nahen Gebüſches
erblickte. C. T.
Anziehungskraft des Verbrechertums. — Zu allen Zeiten
konnte man die Vergötterung berühmter Verbrecher durch
Frauen der beſten Geſellſchaft feſtſtellen. Im alten Rom waren
es die eleganteſten Modedamen, die Beziehungen zu Gladiatoren
und Wagenrennern, meiſt verurteilten Verbrechern, unter-
hielten. In Amerika iſt es ein Modelaſter „prominenter“
Damen, die ihrer Hinrichtung harrenden Mörder mit Blumen-
ſträußen und Liebesbriefen zu beſtürmen und ſie um eine
Haarlocke zu bitten. Dieſelben Freuden erlebten während ihres
Aufenthaltes in La Roquette die anarchiſtiſchen Maſſenmörder
Ravachol, Vaillant und Henry vor ihrer Hinrichtung. Letzterer
hatte durch die Art feiner Verteidigung die Köpfe feiner Ber-
ehrerinnen derart verwirrt, daß ſogar eine veritable Herzogin
den Direktor von La Roquette um die Erlaubnis bat, Henry
in ſeiner Zelle beſuchen zu dürfen, denſelben Henry, deſſen
Hände von Blut rot waren! Der Direktor ſandte das Geſuch
mit der biſſigen Randbemerkung: „Wider die Ordnung!“ zurück.
Ahnliches ereignete ſich im „Fall Pranzini“. Der Levantiner
Henri Pranzini, einer der vielen exotiſchen Abenteurer, die in
Paris ihr Glück zu machen ſuchen, oder, wie Aurelien Scholl
ſich ausdrückt, „eine Blume im Knopfloch, nach irgend einer
Beute ſchnappen, ſei es ein Braten, eine Banknote oder eine
Frau“, hatte am 17. März 1887 in der Rue Montaigne zu
Paris die Marie Regnault und deren Kammerzofe Annette
ermordet und beraubt. Die eleganteſten und ſchönſten Parije-
rinnen riſſen ſich nicht nur um die Einlaßkarten zu der Schwur-
gerichtsverhandlung, ſondern zahlten fogar hohe Preiſe dafür.
o Mannigfaltiges. 223
In den Pauſen umdrängten die Damen die Anklagebank mit
ſolcher Energie, daß der Präſident Gendarmen entbot, um die
Bewunderinnen des intereſſanten Mörders in den Schranken
des Anſtandes zu halten. In dieſen Pauſen rauſchten die Seiden-
roben, und wenn der Präſident während der Verhandlung die.
Akten zu Rate zog, da ſurrten die koſtbaren Fächer, als fliege
ein Volk Rebhühner auf. Nie zuvor hat man bei einer Schwur-
gerichtsperhandlung fo viel Schmuck und ſolche Toilettenpracht
geſehen. Ein Pariſer Sournalijt verſicherte in feinem Bericht,
daß ihm am erſten Verhandlungstag eine Dame der beſten
Geſellſchaft, Mutter dreier reizender Kinder, gejagt hat: „Ach,
dieſer göttliche Pranzini! Ich würde fünfzig Louisdor drum
geben, wenn ich ihm die Hand drücken könnte!“
Dieſer feige, heimtückiſche Mörder hat tatſächlich die ele-
ganten Pariſerinnen ſo hyſteriſch gemacht, daß eine ernſte
Pariſer Zeitung am Abend ſeiner Verurteilung zum Tode mit
Recht die Behauptung aufſtellen konnte, daß eine mit Frauen
beſetzte Geſchworenenbank Pranzini ſicherlich freigeſprochen
hätte. Grévy, der damals Präſident der Republik war, erhielt
Berge von Briefen aus Damenhand, die die Begnadigung
des Mörders forderten, deſſen Tat ſo ſcheußlich war, daß der
Präſident es nicht wagte, ihn zu begnadigen, obſchon er ſelbſt
ein grundſätzlicher Gegner der Todesſtrafe war. Als Pranzini
zum Schafott geführt wurde, da ſah er vor ſich eine endloſe
Reihe eleganter Equipagen: alle ſeine Verehrerinnen waren
gekommen, um noch einmal den Mann su ſehen, der fie fo ſehr
bezaubert hatte.
Dieſelbe Erſcheinung trat auch im „Fall Gouffé“, der „Leiche
im Koffer“, zutage. Der Pariſer Huiffier Gouffs ließ fid
eines Tages verlocken, ein ihm bekanntes Mädchen, Gabriele
Bompard, ein Stück zu begleiten. Da wurde er von ihrem
Liebhaber Eyraud erdroſſelt und beraubt und ſeine Leiche in
einem zu dieſem Zwecke gekauften großen Koffer geborgen.
Die beiden Mörder reiſten am anderen Morgen mit dem un—
heimlichen Koffer nach Lyon, wo ſie ihn mit in ihr Hotel nahmen.
Tags darauf entledigten ſie ſich der Leiche in einem Gebüſch
bei Millery, wohin Eyraud den Koffer in einem Wagen brachte,
224 Mannigfaltiges. a
den er ſelbſt kutſchierte. Den Koffer zertrümmerte er, die Stücke
warf er ins Gebüſch, wo er auch die Leiche verbarg.
Dieſes Verbrechen bildete faſt ein ganzes Fahr die Gen-
ſation der Senſationen und verſchaffte dem „kleinen Dämon“,
wie man Gabriele allgemein nannte, eine ſo große Popularität,
daß, als ſie nach Millery geführt wurde, um dem Geſetz gemäß
die Art ihres Vorgehens darzulegen, Kavallerie ausrücken
mußte, um den Ausgang des Bahnhofs freizuhalten. In dem
Augenblick, in dem ſie nach Paris zurückkehrte und den Zug
beſtieg, durchbrach die Menge die Kette der Gendarmen und
Poliziſten und ſtürzte zu dem Wagen, an deſſen offenem Fenſter
die Mörderin lächelnd ſtand. Man drückte, küßte ihr die Hand,
überreichte ihr Blumen und ſchrie „Hoch!“, als der Zug ſich
in Bewegung ſetzte. Gabriele, die ſpäter zu zwanzig Jahren
Zuchthaus verurteilt wurde, warf ihrem Publikum Kußhänd-
chen zu. Dann nahm ſie lachend Platz und meinte fröhlich zu
den ſie begleitenden Poliziſten: „Nicht wahr, ich hatte einen
großen Erfolg!“ W. F.
Merkwürdige Särge. — In der evangeliſchen Stadtkirche
von Schwedt a. O. ruhen auf beiden Seiten des Altars die
Überrefte des vorletzten Markgrafen von Schwedt und feiner.
Gemahlin in zwei großen Särgen, die beide aus einem ein-
zigen Kieſelſtein hergeſtellt wurden. Dieſer Stein lag auf einem
Felde, das einem Küraſſierregiment zum Exerzierplatz diente;
allein eine aus der Erde hervorragende Spitze des Steines
war den Bewegungen des Regimentes hinderlich und ver-
anlaßte ſchließlich den Befehl zur Ausgrabung des Steines.
Als man aber beim Graben die ungeheure Größe desſelben er—
kannte, begnügte man ſich damit, den Stein tiefer zu ſenken.
Nach langen Fahren erinnerte ſich der vorletzte Markgraf dieſes
Steines und ließ ihn mit unſäglicher Mühe und großen Koſten
ausgraben. Hierauf wurde über dem Stein, der 4,10 Meter
breit war, ein hölzernes Dach gebaut. Er ſollte in dünne Platten
zerſchnitten werden. Das wollte aber nicht gelingen, bis ein
Bildhauer aus Potsdam es unternahm, für 20,000 Taler den
Stein nach Potsdam bringen zu laſſen und zwei aus demſelben
verfertigte Särge nach Schwedt an Ort und Stelle zu liefern.
o Mannigfaltiges. 225
Le
Ehemals beſaß die Domkirche zu Paderborn die Bildniſſe
der zwölf Apoſtel aus gediegenem Golde und einen ſilbernen
Sarg, worin der heilige Liborius lag. Während des Dreißig-
jährigen Krieges nahm der Herzog Chriſtian von Braunſchweig
beides weg und ließ aus letzterem Taler prägen. Die Familien
v. Nieſer und v. Weſtphalen legten nachher eine beträchtliche
Summe in lauter ſolchen Talern zuſammen und ließen dem Hei-
ligen einen neuen Sarg machen, der ungemein ſchön und tünft-
leriſch gearbeitet iſt. Der Goldſchmied, der dieſen Sarg machte,
hat ſich durch folgende daran befindliche Inſchrift zu verewigen ge-
ſucht: „Dieſe Arwet ik Hans Krako, Goldſchmidt tom Dringen-
berge, maket von lauter Dalers oſe hi bilagt ſint. Anno 1655.“
In Liſſabon ſtarb im Jahre 1817 der Baron Quatella und
hinterließ ein Vermögen von 36 Millionen Franken. Sein
Sarg war mit Gold überzogen, zugleich befand fih ein gol-
denes Schloß daran, deſſen ebenfalls goldener Schlüſſel nach
der Beerdigung den Verwandten übergeben wurde. C. T.
Niggergeſchichten. — In Amerika werden viele Anekdoten
erzählt, die von den Eigentümlichkeiten des Negers handeln,
und nicht die wenigſten davon beziehen ſich auf die Dicke ſeines
Schädels. So hätten einmal zwei Farmer in Veſtindien um
eine bedeutende Summe gewettet, daß ein Neger mit ſeinem
Kopfe einen Käſe zerbrechen könnte. Ein Käſe von mächtigen
Dimenſionen wurde herbeigeſchafft, in Papier gepackt und auf
einen entſprechenden Unterſatz geſtellt. Während die Auf-
merkſamkeit des einen Wettenden mit etwas anderem be—
ſchäftigt war, vertauſchte der, der an die Härte des Negerſchädels
nicht glauben wollte, den Käſe mit einem gleichgroßen Mühl-
ſtein, der genau ebenſo eingepackt war. Der Neger, der von
dem Tauſche keine Ahnung hatte, rannte aus vollen Leibes-
kräften gegen den vermeintlichen Käſe an, und die Folge war
— daß der Mühlſtein in tauſend Stücke zerſplitterte. Sambo
foll allerdings ſpäter behauptet haben, daß das ein ziemlich
harter Käſe geweſen fei. Ä
Derartige Geſchichten laffen ſich dutzendweiſe erzählen. So
zum Beiſpiel von dem Neger, der aus dem zwanzigſten Stock-
werk eines New Vorker Wolkenkratzers auf das Straßenpflaſter
1913. IX. 8 | 15
226 | Mannigfaltiges. a
fiel, aber dank dem glücklichen Umftande, daß er mit dem
Kopfe aufflog, ſich weiter keine Verletzung zuzog; oder von
dem Neger, der, als er durch die Straße ging, ausrief: „Wer
ſpuckt denn hier?“ Aus einer Höhe von fünfundzwanzig Stock
waren ihm nämlich mehrere Ziegelſteine auf den Kopf gefallen.
Einen weiteren Stoff zum Lachen geben die unteren
Extremitäten des Negers ab. Hat die Natur den Neger mit
einer unverwundbaren Schädeldede begabt, fo find dafür feine
Schienbeine um fo empfindlicher. Ein leifer Schlag auf feine
Beine machen ihn vor Schmerzen heulen. Anderſeits find
wiederum feine Fußſohlen von einer Unempfindlichkeit, die
faſt der ſeines Schädels gleichkommt, wenn man folgender
Geſchichte Glauben ſchenken darf. Ein Pflanzer aus den Süd-
ſtaaten war mit einigen Freunden auf der Jagd und lagerte
nachts im Walde. Ein Feuer wurde angezündet, und die Ge—
ſellſchaft lagerte ſich zum Schlafe ſo darum, daß jeder mit
ſeinen Füßen dem Feuer zugekehrt lag. Mitten in der Nacht
erwachte der Pflanzer, und ihm war es ſo, als röche es nach
verbranntem Fleiſch. Der Sache wollte er auf die Spur kommen,
und er weckte daher feinen ſchwarzen Diener Pompejus. Pom-
pejus ſchnüffelte einen Augenblick und erklärte ſodann. „Mir
iſt's ſo, Maſſa, als ob von jemand der Fuß brennt.“ Das
ihien unglaublich, aber bald rief Pompejus erſtaunt: „Mein
eigener Fuß brennt ja!“ Sein Geruchſinn hatte ſich alſo früher
geregt als ſein Gefühl.
Wie man ſich denken kann, iſt die Schulbildung bei den
Negern der Südſtaaten recht mangelhaft, und nur wenige
gibt es unter ihnen, die einen Begriff von Arithmetik haben.
Trotzdem ſie recht ſchlau ſind und es ihnen auch an Mutterwitz
nicht fehlt, werden ſie daher oft genug übervorteilt. Ein Neger
hatte mit einem Pflanzer ein Abkommen getroffen, ein Stück
Land mit Mais zu bebauen, wofür er einen Teil der Ernte bekom-
men ſollte. Als er ſpäter einmal davon einem feiner Freunde er-
zählte, berichtete er: „Der Pflanzer wollte, daß ich den vierten
Teil der Ernte nehmen ſollte, das war mir aber nicht genug.
Ich verlangte den fünften Teil und kriegte ihn auch. Za, ja,
ein Nigger läßt ſich nicht ſo leicht übertölpeln!“ g. C.
u Mannigfaltiges. 227
Blüten als Wärmequelle. — Wer im Frühjahr die Höhen
der Alpen durchwandert, wenn noch der Firnſchnee weite
S. Leonard Baſtin.
Ein Alpenglöckchen, das im Schnee emporwächſt.
(Die vordere Schneewand iſt weggenommen.)
Flächen verhüllt, wird erſtaunt ſein, mitten aus der Schnee—
decke zierliche blaurötliche Blumenglöckchen hervorragen zu ſehen.
228 Mannigfaltiges. D
Diefe von Schnee und Kälte ſcheinbar unberührte Pflanze ift
eine Soldanelle, das Alpenglöckchen. i
Ganz von ſelbſt taucht, bei dem verwunderlichen Anblick
die Frage auf: Wie war es möglich, daß das Pflänzchen nicht
nur die dicke Schneeſchicht durchbrechen, ſondern im Schnee
auch ſeine Blüten entwickeln konnte? Denn daß dieſes
letztere der Fall ift, lehrt eine nähere Betrachtung des Firn-
feldes. An feiner Oberfläche bemerkt man nämlich halbent-
faltete Blüten in kleinen, im Schnee ausgeſparten Löchern
ſtecken. |
Die Exiſtenz des lieblichen Pflänzchens wird dadurch er-
möglicht, daß es die zum Auftauen der Schneemaſſe nötige
Wärme ſelbſt hervorbringt. Schon im Vorjahr, wenn der
Schnee noch nicht feinen Standort bedeckt, legt das Alpenglöd-
chen immergrüne, ſich dem Boden anſchmiegende Laubblätter
von lederiger Beſchaffenheit an, die winzige Stengelchen
umgeben. Dieſe Stengelchen ſind die Stiele der nächſt—
jährigen Blüten. Durchfeuchtet im Frühling das Schmelz-
waſſer das Erdreich, ſo beginnen die Stengel zu wachſen, und
es bilden ſich an ihnen die Blütenknoſpen. Die Bauſtoffe zur
Bildung der wachſenden Stiele und Knoſpen werden aus dem
aufgeſpeicherten Reſervematerial der Laubblätter und Wurzel-
ſtöcke bezogen.
Mit dem fortſchreitenden Wachstum ſteigert ſich der Atmungs-
prozeß, das heißt die Verbrennung von Kohlenſtoffverbindungen,
und hierdurch wird Wärme entbunden. Dieſe freiwerdende
Wärme ſchmilzt den Schnee. Infolgedeſſen entſteht in dem
Firnlager eine Aushöhlung, in dem das Pflänzchen mit ſeiner
Blüte ſteht. Je höher die Alpenglocke emporwächſt, je höher
rückt auch die Aushöhlung hinauf, bis zuletzt die Schneedecke
an ſeiner Oberfläche durchbrochen und nun die Blüte völlig
entfaltet wird.
Dieſelbe Erſcheinung zeigt ſich übrigens auch beim Enzian
und der Glockenblume, bei denen das Innere der Blüten eine
um 2 bis 3 Grad Celſius höhere Temperatur aufweiſt als die
ſie umgebende Luft.
Die höchſte bis jetzt beobachtete Eigentemperatur entwickelt
o Mannigfaltiges. 229
aber die Blüte des italienischen Aron. Dieſe Pflanze ift im
Mittelmeergebiet äußerſt häufig und wächſt an Zäunen und
S. Leonard Baſtin.
Meſſung der Innentemperatur in einem italieniſchen Aron.
Hecken. Seine von einem grüngelben Hüllblatte umkleideten
Blütenkolben ſchießen Tüten ähnelnd im Frühjahr aus dem
Boden hervor, und die Hüllblätter wickeln ſich unter Ver—
230 Mannigfaltiges. o
breitung eines weinartigen Duftes auf. Führt man vorſichtig
ein Thermometer in die untere Höhlung des Hüllblattes ein,
fo ergibt fih, daß hier die Temperatur die der Luft ſehr be-
trächtlich übertrifft. Man hat bei einer Außentemperatur von
15 Grad Celſius im Inneren des italieniſchen Aron Iden 50
und 55 Grad Celſius gemeſſen. Die Wärmeentwicklung dient in
dieſem Fall zum Schutz der Blüte gegen Nachtfröſte. Th. S.
Zwei Zahlenwunder. — 1.
1 x 9 + 2 = 11
12 x 9 + 3 =11
123 x 9 + 4 = 1111
1254 x 9 + 5 = 11111
12345 x 9 + 6 = 111111
123456 x 9 + 7 = 1111111
1254567 x 9 + 8 = 11111111
12545678 x 9 + 9 = 111111111
II.
123456789 x 8 + 9 = 987654321
12545678 x 8 + 8 = 98765432
1254567 x 8 + 7 = 9876543
123450 x 8 + 6 = 087654
12345 x 8 + 5 = 98765
1234 x 8 + 4 = 9876
123 x 8 + 3 = 987
12 x8 LO 98
1x8+1=9 3. C.
Eine unheimliche Gemäldeſammlung befindet ſich noch
heute im Beſitze der Herzöge von Waverley, in deren Stamm-
ſchloß ſie ſeit zweiundſiebzig Fahren aufbewahrt wird. Die
Geſchichte dieſer Bilder enthüllt eines der dunkelſten Kapitel
menſchlicher Geſchmacksverirrung. Sie beginnt zu einer Zeit,
da der von ebenſo fanatiſchen wie phantaſtiſchen Köpfen auf-
geſtachelte Volksgeiſt in Paris jede beſtehende Ordnung zer-
trümmerte und das Fallbeil täglich Dutzende von ſogenannten
„Verrätern“ hinſchlachtete.
Damals, während der großen franzöſiſchen Revolution, war
1 Mannigfaltiges. 231
es, als der berüchtigte Wohlfahrtsausſchuß eines Tages den
Befehl gab, auch die Königsgräber des Geſchlechtes der Orleans
in der Jeſuitenkirche in Paris zu zerſtören, damit auch diefe
Erinnerung an das einſt monarchiſch regierte Frankreich von
der Erde fortgefegt werde. Unter den Leuten, die dieſen
Auftrag vollzogen, befand ſich ein junger Maler, Hektor Olivier,
ein begeiſterter Republikaner. Als die Urnen mit den ein-
balſamierten Herzen einſtiger franzöſiſcher Herrſcher unter den
Kolbenſchlägen der Revolutionsſoldaten in Trümmer gingen
und die verſchrumpften, ſteinhart gewordenen Herzen auf die
Flieſen des Grabgewölbes herabrollten, kam dem jungen Maler
ein ſchauerlicher Gedanke. Auf ſeinen Befehl ſammelte man
alle die mumifizierten Herzen, die einſt unter königlichem Purpur
geſchlagen hatten, zuſammen und warf fie in einen Sack. Es.
waren nicht weniger als ſechzehn, wie der franzöſiſche Geſchicht-
ſchreiber Lambert berichtet, und dieſe ſechzehn Herzen nahm
Hektor Olivier mit in ſeine Wohnung, um ſie dort zu einem
ſonderbaren Zwecke zu benützen.
Bekanntlich gebrauchte man ſchon in alter Zeit die Reſte
einbalſamierter Körper nicht nur als Heilmittel, ſondern ver-
arbeitete ſie auch zu einer braunen Farbe, die ihres beſonderen
Tones wegen ſehr begehrt war und die Bezeichnung „Mumie“
führte. Olivier, als Maler mit der Herſtellung von Farben
gut bewandert, ſtellte nun aus den Königsherzen ebenfalls
„Mumie“ her und malte damit ſieben Bilder, Schreckensſzenen
aus der franzöſiſchen Revolution darſtellend, die ſämtlich den-
ſelben dunkelbraunen Ton beſaßen. Dieſe Gemälde erregten,
als ſie im Winter 1799 in Paris ausgeſtellt wurden, allſeitig
Bewunderung. Die Angabe des Malers, daß fie in ihrer
Farbe die Herzen der Orleans enthielten, wurde jedoch mehr
als eine geſchickte Reklame denn als Wahrheit hingenommen.
Und doch war es Tatſache.
Olivier ſtarb kurz darauf. Er wurde wahnſinnig. Sein
Geiſt hatte den ſteten Aufregungen der wechſelreichen Revo-
lutionszeit nicht ſtandhalten können. „Vielleicht war es auch
etwas anderes, das dieſem jugendlichen Feuerkopf die Ge-
danken verwirrte,“ ſchreibt der erwähnte Chroniſt Lambert.
252 Mannigfaltiges. o
„Das Bewußtſein, mit menſchlichen Herzen einen fo frevent-
lichen Unfug getrieben zu haben, mag Olivier dem Frrſinn
überantwortet haben. Das einmal erwachte Gewiſſen iſt eine
Folter, die ſchon größere Geiſter qualvoll zu Tode gemartert
hat.“ i
Nach Oliviers plötzlichem Ende lagerten die fieben Bilder
lange Zeit bei einem Pariſer Kunſthändler, der ſie von den
Erben des Malers erworben hatte. Sie wurden auch Na—
poleon I. angeboten, dem man zugleich eine handſchriftliche
Erklärung Oliviers vorlegte, daß die zu den Gemälden benützte
Farbe tatſächlich aus den zu Pulver zerriebenen Königsherzen
gewonnen war. Napoleon beſuchte daraufhin auch das Atelier
des Kunſthändlers und betrachtete die Bilder lange Zeit ſehr
nachdenklich. Schon hoffte der Kunſthändler, Bonaparte würde
fie käuflich erwerben; aber der Korſe ſagte nur mit einem ver-
ächtlichen Lächeln: „Schade, daß dieſer Olivier nicht mehr lebt.
Ich würde ihm den RNeſpekt vor ſolchen Reliquien ſchon bei-
bringen.“ Damit verließ er ohne Gruß das Atelier.
Zwei Jahre darauf kaufte der Londoner Großkaufmann
Shephard die ſieben Bilder und brachte ſie nach London. Er
behielt ſie jedoch nur wenige Monate und veräußerte ſie mit
hohem Gewinn weiter. Nachdem ſie noch mehrmals den Beſitzer
gewechſelt hatten, erwarb der Herzog von Waverley ſie im Jahre
1841 und verleibte ſie ſeiner Gemäldegalerie ein. W. K.
Das gebratene Hühnchen. — Kaiſer Napoleon I. mußte
unbedingt jeden Morgen zum Frühſtück ein gebratenes Hühn-
chen haben. Das war nun aber keine leichte Sache, denn der
Kaiſer band fih nicht im geringſten an eine beſtimmte Ciſch—
zeit. Zwiſchen acht und elf Uhr klingelte er nach feinem Früh-
ſtück, wann er eben Muße dafür gewinnen konnte. Mochte
er aber klingeln, wann er auch wollte, unverzüglich wurde ihm
ein tadellos friſch gebratenes Hühnchen aufgetragen.
Eines Tages ſprach er ſich zu einem ſeiner Generale, der
bei dieſem erſten Imbiß zugegen war, anerkennend über dieſen
Muſterkoch aus, der ihn nie warten laſſe und zu jeder Zeit
im Laufe des Vormittags ein köſtlich gebackenes friſches Hühn—
chen für ihn zum Frühſtück bereit habe.
u | Mannigfaltiges. 235
„Das muß ja ein wahrer Hexenmeiſter von Koch fein,“
meinte der General, „denn ein Hühnchen iſt doch ſolch ein
zarter Braten, daß es in Grund und Boden ausdörren und
wie Stroh ſchmecken würde, wenn man es een auf
dem Feuer hielte.“
Daran hatte Napoleon noch nie gedacht, und der Einwurf
machte ihn ſtutzig. Er ließ den Koch zu ſich rufen. „Wie fangen
Sie es an,“ fragte er ihn, „mein Morgenhuhn ſo wunderſchön
zart und friſch zu halten, auch wenn ich Sie bis elf Uhr damit
warten laſſe?“
„Nichts einfacher als das, Sire,“ verſetzte der Koch. „Ich
laſſe jeden Morgen eine ganze Reihe von Hühnchen bratfertig
zurichten, und jede Viertelſtunde lege ich ein neues auf eine
neue Pfanne. Auf dieſe Weiſe bin ich zu jeder Viertelſtunde,
wenn es auch Eurer Majeſtät belieben möge, zu ſchellen, im-
ſtande, Ihnen mit einem friſchen und ſoeben fertigen Hühnchen
aufzuwarten.“
Das war ja nun eine Erklärung, die Napoleon nicht erwartet
hatte, und ſie machte ihn ſehr nachdenklich. Auf dieſe Weiſe
koſtete ja ſein Huhn zum Frühſtück ein Heidengeld! In ſolchen
Dingen war er aber ſehr ſparſam. So hatte er zum Beiſpiel
mit großem Mißfallen bemerkt, daß ihm für den Verbrauch
an Kaffee im kaiſerlichen Haushalt jährlich 54,750 Franken
berechnet worden waren. Er rechnete aus, daß alſo täglich
an ſeinem Hofe 155 Taſſen Kaffee müßten getrunken worden
ſein, wenn ihm die Taſſe mit je einem Franken berechnet
worden war. Er ſtrich dies Maſſenkaffeekochen kurzerhand weg
und beſtimmte für das Hofperſonal eine Entſchädigung in Geld,
wofür es für ſeinen Kaffee ſelber ſorgen mußte. Damit hatte
er 35,000 Franken erjpart.
Unter dieſen Umſtänden wurmte ihn die „ganze Reihe“
täglicher Morgenhühnchen ſo, daß er ſeinen Muſterkoch anwies,
nur noch eines täglich zu braten und es lieber kalt werden zu
laſſen, wenn er nicht zur rechten Zeit klingle. C. O.
Die Frühjahrskraftſpeiſe. — Wenn der Ofterhafe fidh wieder
zeigt, dann iſt die Hochſaiſon der Eierſpeiſen da. Man ißt
in dieſer Zeit oft mehr Eier als im ganzen übrigen Jahre
234 Mannigfaltiges. o
zuſammengenommen. Und mit Recht, denn jetzt find fie am
friſcheſten und wohlſchmeckendſten, namentlich wenn ihre ge—
fiederten Erzeuger daheim nicht im engen Hühnerhof eingeſperrt
ſind, ſondern „freien Lauf“ haben.
Man muß aber wohl beachten, daß hartgekochte Eier ſchwer
verdaulich ſind; Kinder ſollen alſo nur weiche Eier eſſen. Je
nach dem Zuſtande der Gerinnung, in dem ſich das Eiweiß
befindet, ſind Eier bald ſo leicht verdaulich, daß ſie für jeden
Magenkranken paffen, bald fo ſchwer, daß fie auch einem ge-
funden Magen zu ſchaffen machen, da der Magenſaft nur ſchwer
in die Klumpen der harten Eier eindringen kann.
Bisweilen beobachtet man bei Kindern einen gewiſſen
Widerwillen gegen Eier. Meiſt richtet ſich dieſer aber nur gegen
das Eiweiß, während der Dotter gern genommen wird. Das
iſt für die Ernährung der kleinen Kinder ſehr gut, denn gerade
das Eigelb enthält zwei wichtige Stoffe: Eiſen und Lezithin,
die zur Bildung von geſundem Blut, Gehirn, Nerven und
Knochen unentbehrlich ſind. An Eiſen enthält das Eiweiß
0,57 Prozent, das Eigelb Le Prozent, alfo dreimal ſoviel.
Bedenkt man weiter, daß ſich im Spinat Aas Prozent Eiſen
befinden, ſo muß man als eiſenreichſte Speiſe Spinat mit
Eigelb bezeichnen. Sie iſt zum Beiſpiel beinahe zehnmal ſo
reich an Eiſen wie Kuhmilch. Daher ſollen Blutarme, Bleich—
ſüchtige, Kinder, Schwächliche, Rekonvaleſzenten recht viel ſolche
Natureiſenpillen, Spinat mit Eigelb, genießen.
Bei kleinen Kindern iſt für die Bildung und Kräftigung
von Gehirn und Nerven beſonders wichtig der Lezithingehalt
des Dotters. Aus dem Dotter bildet ſich der ganze Bogel-
embryo, alſo enthält Eigelb alle zum Körperaufbau nötigen
Stoffe. Profeſſor Zuntz hat viele Verſuche mit Dotternahrung
bei Kindern gemacht. Er kommt zu dem Schluſſe: „Jungen
Kindern wird ſchon vom fünften bis ſechſten Monat Eigelb
als Beikoſt mit Vorteil gegeben, und auch in ſpäteren Wachs-
tumsperioden wird man kaum auf Beigabe von Eigelb zur
täglichen Koſt verzichten. Aber ſelbſt bei Kranken und Schwachen,
deren Ernährungszuſtand gehoben werden ſoll, bei Blutarmen
und Rekonvaleſzenten iſt Zuſatz von Eigelb zu den Speiſen
o Mannigfaltiges. 235
ebenſo nützlich wie nötig. Nach vielfältiger Erfahrung wird es
beſonders in weichgekochtem Zuſtande, gut durchgekaut, auch
von ſchwachen und angegriffenen Magen febr gut vertragen.
Hierzu kommt, daß man den rohen Dotter mit den verſchie—
denſten Zuſätzen zu appetitlichen und appetitreizenden Mifchun-
gen verrühren kann, zum Beiſpiel mit Zucker, Wein, Bier,
Kognak, Milh, Kakao, Bouillon, Suppen. Als Beigabe zu
Wein, Bier und Kognak iſt der Dotter mit Zucker zu ſchlagen,
worauf man das Getränk darunterrührt.
Solche anregenden und ſehr nahrhaften Genußmittel ſind
beſonders für Geiſtesarbeiter vorteilhaft, deren Nahrung zu—
gleich leicht verdaulich ſein muß. Wer nach dem Abendeſſen
noch längere Zeit geiſtig arbeitet, ſollte vor dem Zubettegehen
zwei mit Zucker und Kognak oder Rum geſchlagene Eier ge-
nießen. Das iſt der geeignetſte Krafterſatz für des Gehirnes
Kraftverbrauch. Solche Schlageier dürfen aber nicht getrunken
werden, ſondern ſind löffelweiſe zu nehmen oder in ganz kleinen
Schlucken.
Auch bei Katarrhen der oberen Atmungswege, namentlich
bei der davon herrührenden Heiſerkeit, ſind rohe Eier die richtige
Diät und ein gutes Heilmittel. Dieſer wohltätige Einfluß auf
das Stimmorgan veranlaßt viele Sänger, kurz vor der Vor—
ſtellung noch ein rohes Ei zu ſchlucken, „damit fie beffer hin-
aufkommen.“ Beſonders zuträglich iſt bei Halsaffektionen
das warme Eierbier, das aus Eigelb und gekochtem Bier
bereitet wird.
Bei Kinderhuſten empfiehlt ſich folgendes Rezept: Man
verklopft in einer Taſſe einen Eidotter mit zwei Eßlöffel Zucker
und rührt zwei Eßlöffel feinſtes Olivenöl dazu. Sobald ein
Huſtenanfall ſich bemerkbar macht, gibt man dem Kinde hier-
von einen Kaffeelöffel voll.
Da ſchwächliche Kinder, die man mit Eiern „aufzupäppeln“
gedenkt, leicht einen Widerwillen dagegen bekommen, ſo ſei
hier noch auf ein Getränk aufmerkſam gemacht, das ſie immer
wieder gern nehmen: Fruchtſaft, dem ein mit Zucker ſchaumig
gequirltes Ei beigefügt wird. Es iſt dies für Kinder zuträglicher
als Rotwein mit Ei.
236 Mannigfaltiges. o
Mannigfach iſt alfo die Verwendung der Eier und ftets
höchſt vorteilhaft für Geſundheit und Ernährung. Mögen daher
alle mit dieſer Frühjahrskraftſpeiſe ſich recht reichlich laben
und kräftigen! Dr. Th.
Wie Auguft der Starke mit Geſpenſtern umſprang. —
Als es bekannt wurde, daß Auguſt der Starke, Kurfürſt von
Sachſen, die polniſche Krone erringen wolle, da erregte dies
natürlich in der ganzen gebildeten Welt ungeheures Aufſehen.
Während die meiſten deutſchen Fürſten auf ihn einzuwirken
ſuchten, doch das gefährliche Wagnis zu unterlaſſen, war man
am kaiſerlichen Hofe in Wien mit allen Kräften bemüht, ihn
in ſeiner Abſicht zu beſtärken. Zu welchen Mitteln man dabei
griff, davon erzählt ein Zeitgenoſſe Auguſt des Starken, der
Kammerherr v. Pöllnitz, in ſeinen Memoiren folgende Geſchichte,
die ſich während der Anweſenheit des Kurfürſten am kaiſerlichen
Hoflager abgeſpielt haben foll. |
Eines Morgens hatte fih der Kurfürſt eben ſchlafen gelegt,
denn er pflegte die Nächte hindurch gewöhnlich zu zechen, als
man ihm meldete, daß der Kaiſer ihn bitten laſſe, ſogleich zu
ihm zu kommen. Wie ſehr war er erſtaunt, den Kaiſer, den er
am Abend vorher noch ganz wohl verlaſſen hatte, im Bette,
bleich, entſtellt und verängſtigt zu finden. „Guter Gott,“ rief
der Kurfürſt, „was iſt Eurer Majeſtät?“
„Das allertraurigſte Ereignis iſt mir begegnet,“ antwortete
mit bebenden Lippen der Kaiſer. „Ich muß bald ſterben, und,
was mich am meiſten bekümmert, Ihnen droht ein noch größeres
Unglück! Setzen Sie fih einen Augenblick, lieber Vetter, und
hören Sie!“
Der Kurfürſt ſetzte ſich, und der Kaiſer fuhr in ſeinem
Berichte fort.
„Ich hatte dieſe Nacht die ſchrecklichſte Erſcheinung, die
vielleicht jemals ein Sterblicher hatte. Zwei Stunden, nach-
dem ich mich niedergelegt hatte, höre ich es in mein Zimmer
treten. Ich meine, es ſei jemand von der Dienerſchaft, und
will ſchon ſchellen, da — da hör' ich es mit Ketten raſſeln.
Ich ſehe hin und erblicke — ein Geſpenſt, ganz weiß, das mir
mit furchtbarer Stimme zuruft: „Joſeph, römiſcher König, ich
o Mannigfaltiges. 237
bin eine Seele, welche die Qualen des Fegfeuers ausſteht!
Ich komme, von deinem Schutzheiligen geſendet, um dich vor
dem Abgrunde zu warnen, in den dich der Umgang mit
dem Kurfürſten von Sachſen ſtürzen wird. Entſage ſeiner
Freundſchaft oder bereite dich vor zur ewigen Verdammnis!“
Hier verdoppelte ſich das Geklirr der Ketten, und wie der
Schrecken mir die Sprache nimmt, ſagte das Geſpenſt: „Du
antworteſt mir nicht, Joſeph? Liebſt du dein Heil fo wenig?
In drei Tagen kehre ich zurück, mir deine Antwort zu holen.“
Mit dieſen Worten verſchwand der Geiſt, und man fand mich
halbtot vor Schrecken. Mehr aber als für mich, mein Herr
Vetter, bin ich für Sie beſorgt. Um Sie aber zu retten, gibt.
es kein anderes Mittel, als daß Sie mir durch Übernahme der
polniſchen Krone gefällig find.“ `
Der Kurfürſt fragte: „Waren Eure Majeſtät auch in der
Tat wach, als Sie den Geiſt ſahen?“
Der Kaiſer verſicherte, daß er vollkommen wach geweſen ſei.
„Dann,“ ſagte der Kurfürſt, „möchte ich doch wiſſen, wie
ein Geſpenſt, ein Geiſt, Ketten tragen kann. Zndeſſen will
ich nicht glauben, daß man Eurer Majeſtät einen Streich geſpielt
hat, der vielleicht mir gelten ſoll.“
„Wer könnte dergleichen wagen?“
„Ei nun, Eure Majeſtät haben Leute, die in Betrügereien
erfindungsreich ſind. Aber wir wollen dem Geſpenſt bald auf
die Spur kommen. Ich erſuche Eure Majeſtät, nicht weiter von
dem Vorgange zu ſprechen, mir aber zu geſtatten, die betreffen de
Nacht in Ihrem Zimmer zuzubringen.“
Damit war der Kaiſer einverſtanden.
Als beide nun in der dritten Nacht zuſammen waren, hörten
ſie Kettengeraſſel, eine weiße Geſtalt trat herein und rief:
„Joſeph, römiſcher König!“ Doc, da ſprang plötzlich der Rur-
fürſt aus dem Bette und packte den Geiſt ſo kräftig an, daß
dieſer vor Schreck faſt den Atem verlor, auf die Knie fiel und
winſelnd um Gnade bat. Der Kurfürſt aber ließ ihn nicht los,
riß ein Fenſter auf und warf ihn auf den Schloßhof. „Dies
iſt der kürzeſte Weg zum Fegfeuer!“ rief er ihm nach. „Ich
wollte dir wenigſtens die Treppen erſparen!“
238 Mannigfaltiges. o
Der „Geiſt“ hatte ein Bein gebrochen und rief kläglich um
Hilfe. Die Schloßwache kam herbei und fand — den Rammer-
diener des Kaiſers. —zen.
Verſchiedene Wertſchätzung der Nationen. — Im Jahre
1791 war zur Auswanderung nach Amerika bei den Europäern
noch ſo wenig Luſt vorhanden, anderſeits aber waren die jungen
Unionsſtaaten noch des zuziehenden Menſchenmaterials fo be-
dürftig, daß die Regierung der Vereinigten Staaten den Schiffs-
kapitänen für jeden Auswanderer, den ſie ihnen zuführten,
eine Prämie zahlte. Dabei maß fie aber nicht jeden Ein-
gewanderten nach demſelben Maß, machte vielmehr einen
ſtarken Unterſchied zwiſchen den Angehörigen der verſchiedenen
Völkerſchaften, je nachdem ſie bei der Urbarmachung und
Koloniſation des noch ſehr dünn bevölkerten Kontinents ihre
Dienſte mehr oder minder ſchätzen gelernt hatte.
Es beſtand dafür ein richtiger Tarif. Die niedrigſte Wert-
ſchätzung erfuhr darin der Frländer. Für ihn erhielten die
Schiffskapitäne 140 Mark nach unſerem Gelde. Für den
Engländer gab es 220 Mark, für den Schotten 240 Mark, für
den Franzoſen 300 Mark. Der Deutſche brachte die höchſte
Prämie ein, nämlich 400 Mark. l C. D.
Die Amulette gekrönter Häupter. — Über dem Kühler des
Automobils des Königs Georg von England ſieht man eine kleine
Britanniafigur aus Meſſing, die eine Krone in ihrer ausge-
ſtreckten Hand hält und zu deren Füßen ein Löwe liegt. Ohne
dieſe Figur wird der König keine Ausfahrt antreten. Auch
die Königin Mary hat einen Talisman, nämlich einen Heinen
Hund aus Elfenbein, den ſie an einem Armband trägt.
Der Zar Nikolaus beſitzt einen Ring mit einem Stückchen
Holz, das von dem Kreuze ſtammen ſoll, an dem Chriſtus
den Tod erlitt. Ohne dieſen Ring geht der Zar nie aus.
Von einem Opalring des ſpaniſchen Königshauſes, der mit
vielen Todesfällen in Verbindung gebracht wird, wird folgende
Geſchichte erzählt. Dieſer Ring wurde dem König Alfons XII.
von der Gräfin v. Caſtiglione geſchenkt. Als der Herrſcher in
der Verbannung lebte, hatte er der Gräfin verſprochen, ſie zu
heiraten, wenn er wieder auf den Thron ſeiner Väter komme.
o Mannigfaltiges. | 239
Nachdem er aber wieder König von Spanien geworden war,
hielt er das Heiratsverſprechen nicht, ſondern heiratete die
Prinzeſſin Mercedes. Die enttäuſchte Gräfin ſandte dem König
den ſchönen Opalring. Die Königin Mercedes war ſo entzückt
von ihm, daß fie fih den Ning von ihrem Gatten zum Ge-
ſchenk erbat. Wenige Monate ſpäter war ſie eine Leiche. Dann
trugen des Königs Großmutter und Schweſter den unheil—
bringenden Ring, und auch fie ſtarben. Nun ging der Ring
in den Beſitz der jüngſten Tochter des Herzogs von Mont-
penſier über, die ebenfalls raſch vom Tode ereilt wurde, nach-
dem ſie ihn trug. Darauf nahm die Königin Chriſtine den
Unglücksring, ließ ihn an einer goldenen Kette befeſtigen und
ihn dann um den Hals der Statue der Jungfrau von Almadena
hängen, eines Heiligenbildes, das in Madrid in einer viel-
beſuchten Parkanlage ſteht. So wertvoll auch dieſer Ring iſt,
ſo verführeriſch er ſich begehrlichen Augen darbietet, ſo würde
doch der ſchlimmſte Langfinger Spaniens ihn nicht zu ſtehlen
wagen.
Ein Talisman der Napoleoniden ſtammte von Napoleon I,
her. Es war das ein Ring, der ſicheren Schutz gegen einen
vorzeitigen Tod gewähren ſollte. Napoleon III. trug dieſen
Ring, aber ſein Sohn weigerte ſich, ihn anzulegen, und man
hat dies fpäter in Zuſammenhang gebracht mit feinem früh-
zeitigen Ende unter den Speeren der Zulus. Außer dieſem
Ning trug Napoleon III. lebenslang noch ein zweites Amulett,
ein Stückchen franzöſiſcher Erde in einer Kapſel. |
Auch der verſtorbene König Eduard von England trug einen
Talisman, nämlich ein Armband am linken Arm, von dem er
fih nie trennte. Dasſelbe hatte dem unglücklichen Kaiſer Mari-
milian von Mexiko gehört und war nach deſſen Hinrichtung in den
Beſitz des damaligen Prinzen von Wales gelangt. C. T.
Schmetterlingsfälſcher. — Die Fälſcherinduſtrie unſerer
Zeit beſchränkt ſich nicht mehr darauf, Möbel, Bilder und andere
Kunſtgegenſtände zum Schaden der Sammler zu fälſchen, ſie
iſt bereits dazu übergegangen, der Natur ins Handwerk zu
pfuſchen. Darüber belehrt ein Prozeß, den ein Londoner
Entomologe gegen einen Schwindler angeſtrengt hat, der ihm
240 NMannigfaltiges. D
III nn
gefälſchte Schmetterlinge verkaufte. Die Flügel eines Falters
wurden mit einer dünnen Schicht Gummi arabikum beſtrichen,
und dieſer Gummiüberzug wurde mit dem Staube von Paſtell-
ſtiften oder anderen Farbſtoffen überſtreut. Auf dieſe einfache
Weiſe erzeugten die Fälſcher nicht nur ſeltene Abarten, ſondern
auch ganz neue, den Gelehrten bisher unbekannt gebliebene.
So hatte der in Frage kommende Entomologe einen roten
Schmetterling mit blauen Punkten gekauft, der eine ſo ſeltene
Art vertrat, daß der hohe Kaufpreis durchaus angemeſſen
erſchien. Ze O. v. B.
Die Rätſel des Herzogs von Altenburg. — Vom Herzog
Joſeph von Sachſen-Altenburg war es bekannt, daß er, fo oft
jemand das erſte Mal bei ihm Gaſt war, die Gewohnheit hatte,
ſeinem Gaſte zwei Scherzrätſel aufzugeben. Das erſte lautete:
„Was würden Sie tun, wenn Sie ein Zahnarzt wären?“
Von ſeiten des Gefragten blieb natürlich ſtets die Löſung aus,
und der Herzog rief lachend: „Wenn man ein Zahnarzt wäre,
ſo würde man der Zeit den Zahn ausziehen.“ Dann ging
er zum zweiten Rätfel über: „Was würden Sie tun, wenn
Sie ein Taucher wären?“ Natürlich wußte man auch dieſe
Frage nicht zu beantworten, und voller Befriedigung gab der
Herzog ſelbſt die Auflöſung: „Wenn man ein Taucher wäre,
würde man in das Meer der Ewigkeit tauchen.“
Auch König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen hatte von
dieſer Gewohnheit des Herzogs gehört, und als er bei einem
Beſuche in Altenburg war, dauerte es auch nicht lange, ſo rückte
der Herzog mit feinen Rätſeln heraus. Nachdem er die erſte
Frage geſtellt: „Was würden Sie tun, wenn Sie ein Zahnarzt
wären?“ perſank fein Gaſt anſcheinend in tiefes Nachdenken und
ſagte dann: „Wenn ich ein Zahnarzt wäre, dann würde ich
in das Meer der Ewigkeit tauchen.“
Überraſcht blickte der Herzog den witzigen König an und
meinte dann lachend: „Da brauche ich Ihnen ja das zweite
Rätſel gar nicht mehr aufzugeben!“ A. Sch.
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Das Klavier ift heute nicht nur das
Lieblingsinſtrument der deutſchen Fa⸗
milie, ſondern ein Luxusgegenſtand jeder
p bürgerlichen Einrichtung. Gerade
em letzteren Umſtande iſt es zuzuſchrei⸗
ben, daß heute ein großer Teil aller In⸗
ſtrumente ihren eigentlichen Zweck nicht
erfüllen, denn es gibt Tauſende und
Abertauſende, die das Klavierſpiel wohl
ſchon verſucht haben zu erlernen, es aber
trotzdem nicht zu dem bringen konnten,
was ſie erſehnten. Der hauptſächlichſte
Grund, weshalb die meiſten nach kürzerer
oder auch längerer Zeit ihre Verſuche
wieder einſtellten, dürfte in allererſter
Linie auf das umſtändliche Erlernen des
ſeitherigen Notenſyſtems zurückzuführen
ſein. Außerdem empfinden ſehr viele,
namentlich ſolche Leute, die ihrem Er⸗
werbsleben nicht allzuviel freie Zeit ab⸗
gewinnen können, es als einen läſtigen
Uebelſtand, beim Lernen ſich ſyſtematiſch
fremder Hilfe zu bedienen. Es dürfte
wohl nur wenige geben, deren Zeit es
erlaubt regelmäßig Muſikunterricht zu
nehmen. Ueber alle Uebelſtände, die alſo
bisher das Klavierſpiel erſchwerten, hilft
nun mit einem Schlage die rühmlichſt
bekannte und tauſendfach bewährte
„Taftenſchrift“ hinweg. Der Haupt-
wert dieſer Methode, nach der man das
Klavierſpiel wirklich individuell und in
allerkürzeſter Zeit ohne fremde Hilfe
erlernen kann, liegt darin, daß man
vorheriger Notenkenntnis keines⸗
wegs bedarf. si der Taſtenſchrift
hat das bisherige otenſyſtem eine un=
geahnte Vereinfachung gefunden; fie
macht ſich dadurch von dem früheren
Syſtem unterſchiedlich, daß fie weder Vor-
zeichen, noch Auflöſungs⸗ oder Ernied⸗
rigungszeichen hat Hier ſieht man bei
der eigenartigen Anordnung der fünf
Notenlinien jede Taſte, die anzuſchlagen
Die Choräle können auch
d
Gratis arten en eee ee 18 Choräle.
iſt, auf dem Notenblatt bildlich vor ſi
Wer nach der Taſtenſchrift lernt, trei `
nicht einſeitige Muſikſtümperei, fondern
bildet ſich genau, wie nach den chulen
des bisherigen Notenſyſtems zu einem
perfekten Klavierſpieler aus, wie er iiber»
all beliebt iſt und auch gern gehört wird.
Natürli ift die Taſtenſchrift
auch für das Harmonium zu ver⸗
wenden. Für den hervorragenden Wert
der Taſtenſchrift zeugt am beſten die
Tatſache, daß unlängſt bereits die 5. Auf⸗
lage (31. bis 40. Tauſend) herausgegeben
werden konnte. Aus den Kreiſen der
nach Tauſenden zählenden Anhänger der
Taſtenſchrift gehen dem untenſtehenden
Verlag täglich die glänzendſten Aner—
kennungsſchreiben zu, von be en nur ein
einziges an dieſer Stelle Veröffentlichung i
finden joll:
Herr Friedrich G. aus Berlin ſchreibt
am 9. 12. 12:
„Das Werk habe ich erhalten und teile mit, daß
es uns ſehr gut gefällt; es iſt alles leicht begreif⸗
lich und muß einer ſchon ſchwer von Begri ſein,
wenn er mit Ihrer Taſtenſchrift nicht einig wird.“
Das komplette Werk, das neben allen
zur Erlernung notwendigen Einzelheiten
auch noch etwa 30 vollſtändige Muſikſtücke,
wie Lieder, Märſche, Tänze uſw. enthält,
koſtet 5 Wit. und kann gegen vorherige
Einſendung des Betrags oder Nachnahme
von dem Muſik⸗Verlag Euphonie, Frie⸗
denau 11 bei Berlin, ſowie durch alle
Buch⸗ bezw. Muſikalienhandlungen be—
zogen werden. An Intereſſenten, die es
für erforderlich halten, ſendet der Verlag
gegen Einſendung von 50 Pf. in Brief⸗
marken Aufklärung und einige Probe—
ſtücke der Taſtenſchrift.
Das jetzt etwa 350 Nummern um⸗
faſſende Muſikalienrepertoire der Taſten—
ſchrift wird ſtändig und ſpeziell auch mit
den neueſten Schlagern erweitert.
Porto bezogen werden.
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Original Fhotographicn, welche bei mir zur Einsicht liegen. Der Erfolg
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Meuseilbach 4a
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indien: Hoffe Ihre „Licht-Hing-
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