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kann jeder, ob alt oder jung, ob von leichter oder etwas ſchwerer Auf |
faſſung, in kürzeſter Zeit flott und fehlerfrei Klavier ſpielen. Bor=
herige Notenkeuntniſſe find nicht erforderlich, denn die Taſtenſchrift |
ift eine Notenſchrift, welche ſich eng an das alte Syſtem anſchließt, f
nur daß es eben kinderleicht zu erlernen iſt. Nach den übereinſtim—
menden Urteilen ſolcher, die das Klavierſpiel nach der alten Noten—
. erlernt haben, kann man mit der Taſtenſchrift in wenigen
Wochen das erreichen, wozu man früher Jahre benötigte. So ſchreibt .
z. B. Herr M. K. aus Blumendorf: |
„Ihr Syſtem iſt verblüffend einfach; ich habe bereits 2 Jahre
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Bibliothek
der Unterhaltung
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Zu der Novellette „Der Ruf des Kindes“ von Elſe Krafft.
(S. 18)
Originalzeichnung von F. Mukarovsky.
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ibliothek
der Unterhaltung
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Der Ruf des Rindes.
Novellette von Elfe Krafft. Mit Bildern von J. Mu-
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Der Poſtſchein des Grenadiers .
Zur Aſthetik des Blumentopf¶es
Anterſeeſchlitten für ſchlauchloſe Tauchapparate ..
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Seite
75
87
138
155
198
215
217
220
221
222
225
225
4 Inhalts-Verzeichnis. 2
Seite
Eine Herzogin, die mit der Nähmaſchine gemacht
wurde „ er re fa. 220
Ein japaniſcher Winkelried „ 0
Unterhaltungskoſten eines großen gotels 33280
Die goldenen Hemdknöpfe des Herzogs von Argyll. 232
Vom Wunderreich des Mikroſkops. 232
Mit Bild.
Vom Ziegenmeldʒde hk 234
Die vier Nationen 3 8 „ „„ 235
Das Nachtwandeln der Mondſüchtigen Fe re
Geſellſchaftsſpiele der Kaiſerin Eugenie. . 258
Der Weg im Wege „ „
Eine amtliche Rorrefponden z 240
Nr
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Der Ruf des Kindes.
RNovellette von Elfe *
Mit Sildern von %
J. Mukarovskp. na choͤruck verboten.)
Sie hatte nicht von den Kindern gehen wollen.
Alle Schmerzen trug ſie heimlich, und wenn der
Huſten kam, preßte ſie das Taſchentuch vor den Mund,
damit man ihn nicht im Hauſe höre.
Aber es half alles nichts. Ihre Kräfte ſchwanden,
ihre Nerven verſagten, im Haushalt ging alles drunter
und drüber.
Ihr Mann, der zuerſt ungehalten war über ihren
Zuſtand, holte ſchließlich den Arzt und klagte dem ſein
Leid. „Da denkt man nun, eine geſunde Frau ge-
heiratet zu haben, Herr Doktor, und nun ſehen Sie
ſich mal die Fammergeſtalt an. Nach dem vierten Rind
iſt fie überhaupt noch nicht wieder recht hochgekommen.
Bei uns zu Haufe waren's acht, und meine Mutter
lief herum wie ein Wieſel!“
Der Arzt nahm die Hand der jungen Frau und blickte
aufmerkſam in das feine und ſchmale Geſicht. „Aus-
ſpannen, gnädige Frau, vier bis ſechs Wochen an die
See gehen, und nur an ſich ſelber denken! Der Storch
iſt zu ſchnell hintereinander zu Ihnen ins Haus ge—
flogen. Und Sie nehmen Ihre Mutterpflichten viel
zu ſchwer, das wiſſen wir ja. Laſſen Sie doch die kleine
Bande brüllen, das iſt geſund und heilſam. Es genügt
6 Der Ruf des Rindes. 2
— — . —— —— — — —ʒEßäfj . — — — —— ́Z—fj —
vollſtändig, wenn Sie die Tagesſtunden Zhren Kindern
opfern, die Nacht iſt zum Schlafen da.“
„Siehſt du!“ ſtimmte der robuſte Hausherr eifrig
ein. — „Das hab' ich ihr ſchon lange geſagt, Herr
Doktor. Aber ſie hört ja nicht, fährt ſofort im Bett
hoch, wenn eines der Kinder ſich nur herumdreht. Nun
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2 a Novellette von Elſe Krafft. 7
muß ich natürlich darunter leiden. Nichts klappt mehr
im Hauſe, wenn die Frau alle Augenblicke auf der
Naſe liegt. Schrecklich iſt's!“
„Haben Sie denn niemand, der herkommen könnte,
wenn Ihre Frau für ein paar Wochen zur Erholung
fort iſt? Es täte ihr bitter not!“
„Gewiß, Herr Doktor — das wär's wenigſte. Meine
Schweſter kann ſofort kommen. — Ach, red doch nicht,
Frau! Die Marie iſt mindeſtens fo tüchtig wie du
und tauſendmal energiſcher. Ich ſchreib' ihr noch heute!“
„Na gewiß, es wird ſchon gehen!“ tröſtete der Arzt,
als er das verzweifelte Geſicht der jungen Frau ſah.
Bei ſich aber dachte er: „Arme Seele, da ſpricht ſicher
noch mehr mit wie das körperliche Leid allein!“
And er ſetzte es ſchließlich durch, daß fie es einſah,
in ein Bad zur Erholung reiſen zu müſſen.
Ihr war ſchließlich alles gleich. Immer müde und
ſchwach war ſie. „Nur einmal ausſchlafen können!“
dachte ſie in ſtummer Sehnſucht. „Ein einziges Mal nur!“
Wie oft fie ihre vier Kinder geküßt, wie oft fie das
Kleinſte ans Herz gepreßt, ſie wußte es kaum noch.
Stumm und abgehetzt fuhr ſie zur Bahn, immer in
Gedanken überlegend, ob ſie der Schwägerin, die ſo
reſolut und laut ihre Pflichten übernommen hatte, auch
alles gejagt hatte, was zur Pflege der Kinder gehörte.
Das junge Dienſtmädchen war ja noch fo ſehr uner-
fahren, auf das konnte man ſich unmöglich verlaſſen.
Karl hatte ſie zur Bahn gebracht. Selbſt die beiden
Großen durften nicht mit. Der Vater wollte das nicht.
So ein Abſchied für ſo kurze Zeit ſei doch nicht der
Rede wert, meinte er. Beinahe vergnügt war er in
dieſer letzten Stunde des Beiſammenſeins, die ihm die
Frau entführte. u
8 Der Ruf des Kindes. 2
= — — — —— nn 2 one um on en me m — m nn een
Sein lautes, dröhnendes Lachen klang Frau Lisbeth
noch ſchmerzhaft in den Ohren nach, als ſie nun in
die Fremde hinausfuhr.
Da kamen auch die Tränen ſchon wieder.
Daß er lachen konnte, wo er doch wußte, wie ſchwer
ihr dieſe Reife wurde! Daß er beinahe wie erlöſt die
breiten Schultern hob, als er ſie zum letzten Male
geküßt, ſie in den Wagen hineingeſchoben hatte!
„Daß du mir aber ganz geſund wirſt, wo's ſo viel
Geld koſtet!“ hatte er dabei brutal geſagt.
Nein, von ihm wurde ihr der Abſchied wahrhaftig
nicht ſchwer. Wie ein ganz kleines, befreites Aufatmen
war das ja auch in ihr geweſen, als ſie ſein rotes Geſicht
nicht mehr ſah und ſein lautes Lachen nicht mehr hörte.
Aber die Kinder, die vier kleinen Rinder — — —
„Aber weinen Sie doch nicht ſo,“ ſagte da plötzlich
eine Stimme. Und die Hand der ſchlanken, ſehr modern
gekleideten Dame, die ihr gegenüber in der Ecke des
Abteils ſaß, zog ihr die Finger direkt von den naſſen
Augen fort. „Wollen Sie auch zur Erholung an die See?“
„Ja,“ flüſterte Frau Lisbeth.
„Das iſt doch kein Grund zum Traurigſein, wenn
man eine ſo ſchöne Zeit vor ſich hat!“ meinte die
Fremde wieder. „Kennen Sie das Meer ſchon? —
Nein? — Oh, da werden Sie aber Augen machen!
Stundenlang kann man am Strand liegen und in die
blauen Wellen hineinträumen, dem Rauſchen zuhören,
in Sonne, Luft und Waſſer baden. Sie ſollen mal
ſehen, wie bald Sie da geſund werden!“
Die Blicke der Frau ſtreiften neugierig das müde
Geſicht unter dem dunkelbraunen Haar.
„Ich habe aber Kinder daheim zurückgelaſſen,“ ſagte
Frau Lisbeth noch einmal aufſchluchzend. „Vier Kinder,
von denen das jüngſte kaum ein Jahr iſt!“
2 Novellette von Elſe Krafft. 9
Die andere lachte. „Seien Sie doch froh, die kleinen
Quälgeiſter für eine Zeit los zu ſein! Ich habe auch
om
Kinder, und fie find mir gewiß lieb und wert. Aber
mich zur Sklavin machen, ihretwegen ſelbſt krank wer—
den — nein, ſo viel Opfer darf man ihnen doch nicht
bringen, das vergelten ſie ja doch nie im Leben. Und
— —
10 Der Ruf des Kindes. | 0
— nn un — — — nn — en
dann — die Väter dieſer Kinder darf man auch nicht
verwöhnen!“
Die junge Frau trocknete langſam ihre Tränen.
Ob die Fremde recht hatte? Wie ein kleiner Troſt war
das plötzlich in ihr, zu wiſſen, daß es noch mehr Mütter
gab, die ihre Kinder allein Regen um ihre Erholungs-
reiſe zu machen.
Sie lehnte ſich feſt in ihre Ecke zurück, und es fiel
ihr ein, daß ſie ſeit vielen, vielen Wochen nicht ſo ſtill
und bequem geſeſſen hatte. Wie wohl das tat!
Die Fremde plauderte weiter, verriet, daß fie das—
ſelbe Ziel hatte wie Frau Lisbeth, und ſchilderte das
Kurleben des kleinen Oftjeehades in ſehr anſchaulicher
und amüſanter Weiſe.
„Das willſt du ja alles gar nicht,“ dachte Frau Lis-
beth müde. „Konzerte, Bälle, Segelfahrten, gemein-
ſame Waldausflüge — — nein, das brauchſt du doch
nicht zum Geſundwerden! Nur ſchlafen, ruhen, aus-
ſchlafen können, von niemand geweckt und ee
ben!“
Zwiſchendurch aber überkam ſie doch immer wieder
das große Angſtgefühl. „Das kannſt du ja gar nicht,
ſchlafen, wenn du die Kinder nicht um dich haſt und
nicht weißt, ob ſie geſund und gut verſorgt ſind!“
Aber die Angſt verſchwand mit dem leichten Ge—
plauder der Fremden immer mehr. Die wohltuende
und ungewohnte Ruhe, in der ſie während der Fahrt
ſtundenlang auf einem Fleck ſitzen bleiben konnte, tat
ihren erſchlafften Nerven gut.
Als fie am Ziel ihrer Reife angelangt war, über-
ließ ſie ſich willig der Führung ihrer Fahrtgenoſſin, die
ſich ihr als Frau Apotheker Hermann vorgeſtellt hatte,
und mietete in derſelben Penſion ein Zimmer wie dieſe.
— — — — — — — — — — — — — m —
2 Novellette von Elſe Krafft. 11
N Und nun begann eine ſeltſame und wunderſchöne
Zeit. f
Frau Lisbeth hätte es nicht für möglich gehalten,
daß Sie ihre Sehnſucht nach den Kindern fo ſchnell über-
winden lernte. In wunſchloſer, ſüßer Müdigkeit konnte
ſie ſtundenlang am Strande liegen und über die weiten
Waſſer ſchauen. In den erſten Tagen verlangte ſie
weiter nichts als dieſes köſtliche und gedankenloſe Aus-
ruhen, das in ihr Leben gekommen war.
Die zufriedenen Briefe ihres Mannes und der
Schwägerin trugen viel dazu bei, dieſe Ruhe in ihr zu
verſtärken, und wenn ſie in der erſten Zeit einen großen
Schmerz empfunden, als die Frau Apotheker meinte:
„Sehen Sie, man braucht uns zu Hauſe gar nicht, es
geht auch ſo alles ſeinen Gang weiter“ — da verlor
ſich der auch ſchließlich mit all dem Neuen und Wunder-
baren, das jetzt ihre Tage ausfüllte.
Sie hatte das ja gar nicht gewußt, daß es ſo viele
Schönheit, Eleganz und Freude auf der Welt gab.
Sie war bisher ſchon glücklich über das Gedeihen ihrer
Kinder geweſen, über ein neues Kleid, ein Geſchenk
von Verwandten und Freunden, mit dem ſie ihr kleines
Heim ſchmücken konnte. Ihr Mann, der bedeutend
älter war wie ſie, hatte ſie nicht verwöhnt, ſie war ihm
eine pflichttreue und gehorſame Frau, wie er es von
ihr verlangte. Außerdem ging er ſeine eigenen Wege,
über die ſie nicht zu beſtimmen hatte, und die ihn immer
weiter von ihrem Herzen fortführten. Seine kurzen,
zufriedenen Briefe ſagten es ihr ja nur zu deutlich,
daß ſie ihm durchaus nicht fehlte. —
Die neue Freundin brachte ihr allerlei Menſchen
an den gemeinſamen Strandkorb, die ſehr nett zu ihr
waren, Damen und Herren, die nur ans Lachen und
Fröhlichſein dachten.
12 | Der Ruf des Kindes. 2
Vor allen gefiel ihr einer, ein junger Maler mit
hellen Augen unter dem hellen Haar, das gelockt in
die hohe, ſchöne Stirn fiel.
Dicht neben ihrer Sandburg, in der ſich's ſo gut
und bequem ausruhte, lag ein Fiſcherboot am Strand,
auf dem der Maler das Meer ſkizzierte, den nahen
Leuchtturm an der waldbekränzten Küſte und die
Sonne, wenn fie rotglühend im Waffer verſank. Und
einmal hatte er ſogar Frau Lisbeth im weißen Kleide
mitten auf ſein Bild geſetzt, und ſeine Blicke waren
bei der Arbeit ſtundenlang über ſie hinweggeglitten.
Alles fand er ſchön an ihr, das Haar, die Augen, den
Mund und die feine, ſchlanke Geſtalt.
Sie hatte nie gewußt, daß ſie ſo ſchön war wie
auf dem Bilde.
Früher, als Mädchen, hatte ſie wohl gern in den
Spiegel geſehen und ſich geſchmückt, wenn die FZreun-
dinnen zu ihr ſagten: „Wenn man doch auch ſo hübſch
wäre wie du!“ In ihrer Ehe aber hatte fie nie Zeit
gehabt, an ihren eigenen Menſchen zu denken. Bei-
nahe vergeſſen hatte ſie in ihren vielen Pflichten, daß
außer Mann und Kindern noch vieles andere da draußen
in der Welt auf ſie wartete.
Sie hatte jetzt Muße genug, über dieſes alles nachzu-
denken. Beinahe wie als Mädchen fühlte ſie ſich wieder,
jung und erwartungsvoll jedem Morgen entgegenblickend,
als müſſe er das große Glück bringen, das in heimlicher
Sehnſucht durch ihre Zugendträume gegangen war.
Die Frau Apotheker ſprach viel von Liebe zu ihr,
von jener Liebe zwiſchen Mann und Weib, die Berge
verſetzt und Seligkeiten wachruft, um die man Not
und Tod freudig ertragen lernt.
Frau Lisbeth ſaß dann mit großen, ſtaunenden
Augen da und vermochte kein Wort darauf zu erwidern.
2 Novellette von Elſe Krafft. 13
Des Nachts aber lag ſie oft ſchlaflos in ihrer kleinen
Stube, hörte das nahe Rauſchen der See, wußte aber
nicht, ob es nur die Waſſer waren oder auch das Blut
in ihrem eigenen Körper. Und ihre Gedanken, die ſonſt
immer einen weiten Weg gewandert waren, flatterten
nur ſcheu am nahen Strande umher und ſuchten das
Boot, auf dem ein blonder Mann ſaß und mit lachenden
Lippen ſagte: „Wie ſind Sie ſchön, gnädige Frau, ſo
ſchön und lieblich, wie man ſich als Mann und Künſtler
nur die Herrlichſte von allen vorſtellt!“
Dazu kam der Trotz, kam es wie bittere Auflehnung
gegen den Mann, dem ſie bisher im blinden Gehorſam
gefolgt war. War das wirklich Liebe geweſen, was ſie
zu ihm geführt? Oder hatte fie auch da nur als gehor-
ſames Kind ihrer Eltern zugeſagt, als Vater und Mutter
ihr von dem großen Glück ſprachen, das fie machen
ſollte? Ein Staatsbeamter, ſo eine prachtvolle Partie,
eine ſichere Gewähr für die Zukunft, und fo ein dum-
mes, armes Mädel, die als Alteſte von ſechs Ge—
ſchwiſtern froh ſein müſſe, überhaupt einen Mann zu
DS DIMEN —
Geſtern war Frau Lisbeth zum erſten Male mit
den anderen zum Ball im Kurhaus geweſen und hatte
getanzt — getanzt, als ſei ſie noch achtzehnjährig. Und
die Herren hatten ſich um die junge Frau gedrängt,
die mit ſo weltfremden Augen in das glänzende Treiben
hineinblickte und in ihrem ſchlichten, weißen Kleide lieb-
licher denn je ausſah.
In der Nacht, als ſie heiß und verwirrt neben den
anderen heimſchritt, hatte ſie plötzlich leicht und ſchützend
einen Arm in dem ihren gefühlt.
„Sie geſtatten, gnädige Frau. Es iſt jo dunkel,
der Weg ſo ſchlecht —
14 Oer Ruf des Kindes. 2
Und ſie hatte dem Manne nicht widerſtrebt, der ſie
ſicher und gut durch die ſchmalen Gaſſen führte.
Vor und hinter ihr tönte Lachen und Scherzen,
jede Dame hatte ihren Herrn zur Seite, mit dem ſie
am meiſten getanzt.
Sie ſelbſt aber wußte nichts zu ſagen. Wie eine
ganz, ganz andere ſchritt ſie neben dem Maler her.
War fie plötzlich verwandelt und gar nicht mehr die
kleine, ſchwache Frau und Mutter, die nichts kannte
und wollte, als die Körper und Herzen der Kinder
hegen und pflegen, dem Manne das Eſſen kochen,
das Zeug flicken, ſeiner Willkür preisgegeben, den
eigenen Willen untergrabend?
Nein — vielleicht war ſie das gar nicht! Die kleine,
dumme Frau ſaß daheim in den engen drei Stuben
der Großſtadt, ſie aber war frei und feſſellos, Jung und
voller Sehnſucht! — —
An demſelben Abend noch kam die Freundin zu ihr
in das Zimmer. Leiſe lachend ſetzte ſie ſich auf den
Bettrand neben die erhitzte junge Frau und ſtrich ihr
die dunklen Locken aus der Stirn.
„Wie Sie heute wieder ausſehen — entzückend,
Liebſte! Na, mir können Sie's doch ruhig erzählen,
ich bin doch auch nicht ſo! Hat — hat er irgendwas
geſagt?“
„Wer?“ fragte Frau Lisbeth erſchrocken.
Da lachte die andere noch mehr. „Man könnte Sie
um Fhre köſtliche Naivität beneiden! Den Maler meine
ich natürlich. Denn daß Sie beide regelrecht ineinander
verſchoſſen find, merkt doch ein Kind!“
Die junge Frau begann plötzlich zu zittern. Was
war denn das? Woran rührte dieſe Frau? Hatte ſie
ſelbſt an ſo unfaßliche Dinge gedacht? War ſie denn
verzaubert, daß ſie nicht einmal widerſprechen konnte?
2 Novellette von Elſe Krafft. 15
Mühſam ſuchte fie nach Worten. „Ich bitte Sie —
nein, Sie dürfen ſo etwas nicht ſagen!“
„Warum denn nicht? Das iſt doch keine Sünde, ein
kleiner, harmloſer Flirt hier! Glauben Sie denn, daß
unſere Männer daheim als Tugendhelden unſerer Rück-
kehr harren, keine Frau anſehen? Seien Sie doch nicht
16 Der Ruf des Kindes. 2
ſo ſchrecklich ſpießbürgerlich, kleine Frau! Ich weiß
doch, wie es mit Ihnen ſteht, ſehe doch, wie Sie hier
aufblühen — — ach, ſträuben Sie ſich doch nicht vor
der Erkenntnis, daß wir Frauen die gleichen Rechte
beſitzen wie unſere Männer! Wie du mir, ſo ich dir!
Beherzigen Sie das doch! Sie haben mir ja oft genug
erzählt, daß Ihr Mann ſelbſt ſo kleine Liebeleien hat,
wenn Sie da ſind, daß er —“
Sie ſchwieg mitten im Satz, denn Frau Lisbeth
hatte leidenſchaftlich die Arme gegen die fie umſchlin—
genden geſtemmt. |
„Laſſen Sie mich! Bitte, gehen Sie, ich will daran
nicht denken — ich kann das nicht hören! Das iſt längſt
vorbei, daß ich mich darüber aufgeregt habe. Mir war
alles gleich, was er tat, . Ruhe wollte ich haben,
nur immer müde war ich —
„And nun?“ fragte die Besucherin, indem ſie ſich
gähnend erhob.
„Nun?“
Frau Lisbeth ſtarrte einen Augenblick in das
triumphierende Frauenantlitz, dann barg fie auffchluch-
zend den Kopf in die Kiſſen.
„Ich wünſchte, ich brauchte ihn gar nicht wieder—
zuſehen,“ ſagte ſie haltlos und verzweifelt.
Da ging die neue Freundin befriedigt aus dem
Zimmer. Wieder eine Seele mehr, die ſie aus un—
würdiger Knechtſchaft wachgerüttelt!
Am nächſten Tage ſah man Frau Lisbeth den ganzen
Tag nicht am Strande.
Erſt als die Sonne hinabgeſunken war, der Wind
brauſend das Meer peitſchte, ſchlich ſie zu dem leeren
Strandkorb hinunter und blickte in die Nacht hinaus.
Sie fror, obwohl fie einen Mantel trug und um den
N Novellette von Elfe Krafft. 17
A —— — .
Kopf den hellen Seidenſchal gelegt hatte, von dem der
Maler geſagt, daß er aus Indien ſtamme, und daß ſie
ihn zum Geſchenk von ihm nehmen müſſe, wenn ſie
nur ein ganz klein wenig an ſeine treue Freundſchaft
glaube.
Sie träumte — — ganz gewiß, ſie träumte dieſes
wunderliche Leben nur. Und wenn ſie aufwachte, würde
Karl vor ihr ſtehen, ſie mit ſeinen ſtarken Händen rütteln,
daß kein winzig Teilchen ihres ſchwülen Traumes übrig
blieb. Und kleine Betten würden umherſtehen, in dem
die Kinder weinten, und — — —
Sie dachte nicht weiter, denn neben ihr hatte eben
jemand „Guten Abend“ geſagt.
Sie rückte unwillkürlich noch mehr in die Ecke ihres
Strandkorbs hinein.
Er ſchien das für eine ſtumme Aufforderung an-
zuſehen, Platz zu nehmen, denn er ließ ſich neben ihr
nieder und blickte unverwandt in das weißleuchtende
Geſicht, in dem er weder Mund noch Augen deutlich
erkennen konnte.
„Ich habe Sie ſchon den ganzen Tag ſehnſüchtig
geſucht, gnädige Frau.“
Sie antwortete nicht. „Ach, ſträuben Sie ſich doch
nicht vor der Erkenntnis, daß wir Frauen die gleichen
Rechte beſitzen wie unſere Männer!“ vermeinte ſie die
raunende Stimme der Freundin wieder zu hören.
„Sind Sie mir böſe?“ fragte er weich.
Sie träumte doch wohl. Denn ſie ſaß willenlos,
unfähig, auch nur den Arm zu heben. Eine ſüße, nie
vorher gekannte Schwäche lähmte ſie, und ſie konnte ſich
eigentlich nichts Schöneres denken, als ſo ſtill und ſelig
auf ein Glück zu warten, das ſie bisher nur geahnt —
Neben ihr erhob ſich ein Arm und legte ſich um
ihre Schulter.
1913. X. | 2
18 Der Ruf des Rindes. u
—n a Ten en — ——— — — — gs
Sie rührte ſich nicht.
Da beugte ſich der Kopf des Mannes über ſie, daß
ſie ſeinen Atem ſpürte.
Sie fuhr zurück. Irgendwo, vom Wind zum Strand
getragen, war ein Rufen zu ihr gedrungen, ein Kinder-
rufen, kurz und hell widerhallend.
„Mutti — Mutti!“
Verſtört ſprang ſie auf, ſtrich mit der Hand über
Mund und Augen und lauſchte.
Es war aber nichts mehr zu hören — nur der Wind
und das Rollen der See zu ihren Füßen, die jetzt vom
Monde hell beſchienen war.
„Aber gnädige Frau!“ rief der Maler erſchrocken ob
ihrer Heftigkeit, mit der ſie ihn zurückgeſtoßen.
Sie rang nach Atem. „Haben Sie — das eben —
gehört?“)
„Was denn?“
„Mutti!“ rief es eben wieder ganz laut und deutlich.
Er lachte gezwungen. „Und darüber regen Sie ſich
ſo auf? Aber meine liebe, geliebte Freundin, den Ruf
hört man doch hier von früh bis ſpät am Strande.
Wo man hintritt, ſpielt doch ſo ein Kleines im Sand
und —“
Frau Lisbeth ſchüttelte heftig den Kopf. „Nein,
ſo hab' ich's bisher noch nicht gehört. Meine Kinder
waren das, meine kleinen, fernen Kinder! Eine Minute
ſpäter hätte ich es vielleicht nicht mehr gehört, nie
mehr! — — — Aber jetzt, gehen Sie, ich bin ſchon
wieder ganz ruhig. — So gehen Sie doch!“
Er gehorchte beſtürzt und war bald hinter den
Strandkörben verſchwunden. |
Sie blieb allein zurück. Ein Weilchen ſtand fie noch
*) Siehe das Titelbild.
u Novellette von Elfe Krafft. 19
regungslos, immer dasſelbe erwartungsvolle Lauſchen
im Herzen.
„Mutti!“
Sie hatte es wieder ganz deutlich gehört.
Ja, fie würde kommen! Morgen ſchon! Sie war
ja wieder kräftig und geſund.
Nein — eine Frau, eine Mutter beſaß doch wohl
nicht die gleichen Rechte wie ein Mann. Die Frau,
die ihres Mutternamens wert ſein will, muß vor den
Augen ihrer Kinder rein daſtehen und ſündlos, und
mag ihr Herz noch fo viele Dornenwege kennen. Ein
Straucheln — und ſie wäre ihren Kindern verloren
für alle Zeit, hätte die jungen Seelen nicht mehr führen
dürfen, die zarten Körper nicht mehr feſthalten im
Sturme des Lebens.
„Mutti!“ |
Das Wort war wie ein Fels im Meer, es rief fie
heim zu Pflicht und Treue.
*
Die Apachen.
Ein Parifer Roman von Fritz Levon.
lgortſetzung.) * knachdruck verboten.)
Aa dem Montmartrefriedhof am Marmorſarkophag
Theophile Gautiers ſangen die Vögel. In ihrem
Gezwitſcher lag ſchon der leiſe Anlaut einer Wanderfehn-
ſucht, denn wenn auch die Luft noch vom Sonnenſchein
erfüllt war, ſo ſchwebten doch ſchon die Spinngewebe
des Altweiberſommers von Baum zu Baum, und über
das ſatte Grün der Blätter lief der erſte rötliche Hauch.
Käthe ſaß oft und gerne an dieſem Platz.
Es war der erſte Ruhepunkt, den fie bei ihrer An-
kunft in Paris getroffen hatte, und er war ihr ſchon
aus dieſem Grunde lieb geworden, aber auch das kleine,
wehmütige Gedicht von der geſtorbenen Liebe ging ihr
häufig durch den Sinn, und ſie wiederholte es oft in
jener ſchlichten Überſetzung, die Egbert ihr einſt unter
zärtlichen Küſſen gegeben hatte.
Dieſe Liebe war tot, und ſie lag unter der Erde
wie die Schläfer des Montmartrefriedhofs, aber an
ihrer Stelle war eine große und mächtige Leidenſchaft
aufgewachſen, die das Herz des Mädchens zerwühlte.
Von Tag zu Tag verſpürte ſie mehr das heiße galliſche
Blut in ihren Adern, und wenn ihr Auge von dem
hochgelegenen Standpunkt auf die Seineſtadt nieder-
blickte, dann fühlte ſie, daß nirgend anderswo ihre
Heimat und nur an dieſer Stätte ihr Grab ſein könnte.
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 21
Denn dieſes gewaltige, ſchimmernde Häuſermeer war
anziehend und geheimnisvoll und grauenhaft zugleich.
Anziehend in ſeinem Glanz, wenn die Sonne darauf
niederſtrahlte oder ein Meer von Licht aus ſeinen
Straßen emporflammte — geheimnisvoll in der Er-
kenntnis, daß die Genoſſenſchaft von drei Willionen
Menſchen das Individuum vernichtete und ſein Schickſal
in der Maſſe auflöſte — grauenvoll in dem Gedanken,
daß alle Laſter und Verbrechen der Erde ſich hier ver-
ſammelten, wie die kranken Säfte des Körpers in einem
Geſchwür ihren Ausgang ſuchen.
Käthe wußte jetzt ſchon mehr von dem letzteren als
früher. Sie wußte, daß abends ihre Hand den Feinden
der Geſellſchaft den Trunk kredenzte, daß das „Kanin-
chen“ bei der Polizei einen ſchlimmen Ruf genoß, daß
die Stunde kommen konnte, da ſich auch an dieſer
Stelle einer jener Kämpfe entwickelte, die den Zei-
tungen das tägliche Brot brachten, die von dem ſatten
und ſicheren Leſer bei der Morgenſchokolade ver-
ſchlungen werden, ohne die unſere nervenſchwache
Zeit nicht mehr leben kann, weil ſie Peitſche ſind und
Stachel und Elixir.
Ohne Zean wäre Käthe längſt davongelaufen.
Barfuß hätte ſie ſich von Paris bis Jena zurückgebettelt,
jene langen grauen Landſtraßen entlang, die mit ihren
ſchrecklichen Pappeln in Käthes Erinnerung ſtanden.
Aber an dieſem Manne, an ſeinem Vorte und ſeinen
Verſprechungen hing ihre ganze Seele, wie ſie in ihrer
Mädchenliebe an feinem Halſe gehangen hatte.
Er mußte kommen und ſie erlöſen aus dieſer Hölle,
denn die wilden Augen der Gäſte des „Kaninchen“
begannen ſie ſchon zu verſchlingen; es konnte nicht mehr
lange währen, dann führte ſie den Namen einer
Apachenbraut.
22 Die Apachen. a
Täglich harrte das Mädchen auf die Rückkehr des
Geliebten. Es war ja eine lange Fahrt nach dem
Thüringer Land, und man durfte dabei nicht mit einem
einzelnen Tage rechnen; aber Jean hatte ſich doch nur
die Einwilligung des Vaters holen wollen. Welcher
Bräutigam zögert denn länger, wenn ihm die fehn-
ſüchtigen Lippen ſeines Mädchens entgegenglühen!
Zuletzt wurde dieſer Zuſtand faſt unerträglich. Es
kamen auch noch andere Dinge hinzu, die mit ihrem
geheimnisvollen und ſchleichenden Gang Argwohn er-
regten. Jules Renard hatte plötzlich fein Logis auf-
gegeben und war in unbekannte Fernen verſchwunden.
Als Käthe deswegen bei ihrer Tante anfragte, erhielt
ſie nur ein mürriſches Achſelzucken zur Antwort, und
als ſie endlich Jeans Wohnung wiſſen wollte, da ent-
gegnete ſie: „Ich weiß ſie ſelber nicht. Laß den Kerl
doch laufen — es gibt beſſere, denen du dein Herz
ſchenken kannſt.“ —
Dann kam ein Brief aus Jena.
Wunderlich war der alte Tonndorf immer geweſen,
denn das ewige Grübeln über ſeinen Scharteken machte
ihn hinterſinnig; aber dieſes Schreiben übertraf alles,
was ein Menſch an Unklarheit und Zweideutigkeit
leiſten kann.
Jean Lecocq ſei dageweſen und habe um Käthes
Hand angehalten. Er habe einen ſehr günſtigen Ein-
druck gemacht; er ſcheine ein tüchtiger und intelligenter
Mann zu ſein. Aber man wiſſe doch ſo gar nichts
über ihn und feine Vergangenheit, man kenne nicht
die Kreiſe, in denen er verkehre, und nach ſeiner ſehr
raſch erfolgten Abreiſe habe ſich ein Verdacht heraus-
geſtellt, der zur größten Vorſicht mahne.
„Prüfe nicht Dein Herz, ſondern Deinen Verſtand,“
ſchrieb der Alte. „Ich habe lange Jahre in Paris ge-
u Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 23
lebt und weiß aus Erfahrung, daß an keinem Platz
der Welt das Verbrechen und das Laſter unter einer
ſchöneren Hülle einhergehen; Tugend und Verworfen-
heit können niemals in derſelben Bruſt beiſammen
wohnen, aber ſie wohnen in Paris zum mindeſten Wand
an Wand. Forſche nach, ob der Mann, dem Du Dich
zu eigen geben willſt, eine makelloſe Vergangenheit
hat, ſieh ſeinen Freunden in das Auge, ob es rein iſt,
und vergiß niemals, daß die Blindheit der Liebe am
beſten durch ein ſorgendes Vaterauge erſetzt wird.“
Es war ein unfreundlicher Tag, an dem dieſe Zeilen
eintrafen — ein Tag, der den herannahenden Herbſt
ahnen ließ. Aber obwohl der Regen drohte und ein
häßlicher Wind den Straßenunrat aufwirbelte, rüſtete
Käthe ſich doch zum Ausgehen und ſagte zu ihrer Tante,
daß ſie eine unaufſchiebbare Beſorgung vorhabe, die
vielleicht mehrere Stunden in Anſpruch nehmen werde.
Ihr Geſicht war ſo blaß, daß Madame Vernot ſtutzte
und das Mädchen mißtrauiſch betrachtete; aber dann
erfolgte eine gleichgültige Antwort und die Mahnung,
bis zum Einbruch der Dunkelheit zurückzukehren.
„Paris wird immer unſicherer. Heutzutage iſt jeder
dritte Kerl ein Spitzbube.“
Das waren die letzten Worte, die Käthe von der
Schweſter ihrer Mutter hörte, und ſie klangen ihr in
den Ohren nach, als der Montmartre ſchon längſt außer
Sicht war und das gewaltige Treiben der großen
Boulevards ſie umrauſchte.
Mit einem Fiaker fuhr ſie auf die Polizeipräfektur.
Sie paſſierte den Louvre und entſann ſich jenes Tages,
da Jean neben ihr die göttliche Schönheit der Venus
von Milo bewunderte. Sie kam über den Pont des
Arts, und es fiel ihr ein, daß irgend ein deutſcher
Dichter eine rührende Novelle geſchrieben hatte, die
24 Die Apachen. 12
von einer Bettlerin handelte. Aber es waren unklare,
flüchtige Gedanken, die wie Schatten vorüberhuſchten,
die jenen Wolken glichen, deren Fetzen am Himmel
entlang jagten.
Erſt als das Portal des Polizeigebäudes ſich vor ihr
auftat, klärte ſich das Denken in ihrem Kopf, und ſie
zögerte einige Sekunden. Dann wurde ſie von dem
Portier nach ihrem Begehren gefragt, und nun war
es zu ſpät, um dieſen unheimlichen Räumen wieder
zu entrinnen. |
Wenige Minuten ſpäter befand fie ſich in einem
etwas düſteren Zimmer, deſſen Luft nach Akten roch,
man hatte ihr einen Stuhl angeboten, und ſie ſah hinter
dem großen Schreibtiſch einen noch ziemlich jungen
Beamten mit intelligenten Zügen, der ſie höflich nach
ihrem Begehren fragte.
zgch möchte die Adreſſe meines Verlobten er-
fahren,“ ſagte Käthe.
Der Herr ſtutzte und nahm ſeinen Klemmer ab.
„Habe ich Sie recht verſtanden, mein Fräulein? Bräute
pflegen doch im allgemeinen zu wiſſen, wo ihr Ver-
lobter wohnt!“
ch weiß es nicht, mein Herr.“
„So — hm. Wie iſt der Name des Betreffenden?“
„Jean Lecocg.“
„Und ſein Beruf?“
„Werkführer in einer chemiſchen Fabrik, deren
Arbeiter momentan ſtreiken.“ i
Der Beamte ſchüttelte den Kopf. „Es wird ja viel
geſtreikt in Paris, mein Fräulein, aber davon iſt uns
nichts bekannt. Wie heißt die Fabrik, und wo liegt ſie?“
„Ich weiß es nicht,“ entgegnete Käthe ebenſo ein-
fach wie vorhin.
„Aber das wird ja immer ſeltſamer — ich bin da
1 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 25
wirklich in Verlegenheit. Sie wiſſen wohl nicht, mein
Fräulein, daß ein eigentlicher Wohnungsanzeiger für
Paris nicht geführt wird?“
„Doch, das iſt mir bekannt,“ ſagte Käthe entſchloſſen.
„Venn Paris ein amtliches Adreßbuch hätte, dann
wäre ich nicht hier in dieſem Hauſe. Aber ich denke,
daß die Herren von der Polizei mitunter doch etwas
wiſſen, was anderen Leuten verborgen iſt — und daß
fie es auch unter Umſtänden mitteilen.“
Der Beamte nickte lächelnd. „Allerdings, wir wiſſen
manches, und wir teilen es auch mit, obwohl ſehr ſelten
angenehme Nachrichten dabei ſind. Wünſchen Sie
wirklich von mir zu erfahren, mein Fräulein, ob der
Name Ihres Verlobten in den Polizeiakten enthalten iſt?“
Das war der Augenblick, da Käthe bereute, dieſen
ſchrecklichen Ort betreten zu haben. Und ſie erkannte
ſehr deutlich, daß der humane Beamte ihr eine Brücke
bauen wollte, daß er ſeine Hand warnend erhob, wie
die Prieſter des Saistempels es taten, als der fürwitzige
Züngling den Vorhang lüftete.
Dann raffte fie ſich gewaltſam auf. „Ich bitte
darum, mein Herr.“
Nun wurde jener ganz Automat. Er ſprach einige
Worte in das Telephon, lehnte ſich in ſeinen Seſſel
zurück und betrachtete aufmerkſam ſeine Fingernägel.
Aber Käthe merkte ſehr wohl, daß unter feinen ge-
ſenkten Lidern ein raſcher Blick zu ihr hinüberſchoß.
Eine Braut, die ſo wenig von der Vergangenheit ihres
Verlobten kannte, war ihm wohl noch niemals vor-
gekommen, obwohl die Pariſer Polizei in den Irr-
gärten der Liebe keines Ariadnefadens bedarf.
Es vergingen einige atemloſe Minuten, und Käthe
hoffte mit jedem Herzſchlag, daß aus der Tiefe des
Fernſprechers eine tröſtliche Stimme heraufklingen
1
26 Die Apachen. 1
— v—
werde, eine Stimme, die meldete, daß über Jean
Lecocq keine Akten vorhanden wären —
Dann öffnete ſich die Tür. Ein altes, gebücktes
Männchen mit einem harmloſen und gutmütigen Ge-
ſicht kam herein; und dieſer Greis, der keinem Kinde
Furcht einflößen konnte, trug unter ſeinem Arm ein
dünnes Aktenheft, bei deſſen Anblick Käthe von Ent-
ſetzen erfüllt wurde.
Er legte es auf den Schreibtiſch und ſagte mit ſeiner
dünnen, trockenen Stimme: „Hier find die Perfonal-
akten von Jean Lecocq. Es liegt nichts Neues gegen
ihn vor, aber man ſucht ihn, denn er hat keine Woh-
nung und ſoll ſich im Apachengelände herumtreiben.“
Als das Männchen wieder gegangen war, nahm
der Herr hinter dem Schreibtiſch das dünne Heft in
die Hand. Käthe ſaß nahe genug, um die Aufſchrift
zu erkennen, und ſie las nicht nur den fett geſchriebenen
Namen ihres Verlobten, ſondern fie ſah auch noch da-
neben ein kleines, geheimnisvolles Zeichen, einen auf-
geklebten roten Zettel, der dieſem Namen eine be-
ſondere Bedeutung verlieh.
Sie biß die Zähne zuſammen, um einen Schrei
zu unterdrücken.
Da ſagte auch ſchon die kühle, höfliche Stimme des
Beamten: „Es tut mir leid, mein Fräulein, Ihnen
über Ihren — Verlobten keine beſonders günſtige Aus-
kunft geben zu können. Er iſt keineswegs Werkführer
in einer chemiſchen Fabrik, ſondern ſtellenlos und, wie
Sie ſoeben gehört haben, ohne Wohnung. Übrigens
beſitzt er akademiſche Bildung und ſoll ein geſchickter
Chemiker ſein. Der Zuſammenbruch ſeiner Exiſtenz iſt
wohl wie in fo vielen Fällen lediglich darauf zurück-
zuführen, daß er nach Verbüßung einer Strafe von der
Geſellſchaft ausgeſtoßen wurde. Und nun frage ich
u Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 27
Sie, mein Fräulein, auf Ihr Gewiſſen, ob Ihnen das
alles wirklich unbekannt geblieben iſt, oder ob Sie nur
die Polizei aushorchen wollen? Wir werden Ihnen
die Wahrheit nicht verargen, denn es find keine Ge-
heimniſſe, die ich Ihnen hier mitteile, und wenn Sie
von hier aus in den Schlupfwinkel Ihres Freundes
gehen wollen, ſo wird Ihnen niemand etwas in den
Weg legen.“
Nun war Käthe plötzlich ruhig geworden. Es lag
etwas Feindſeliges in ihrer Stimme, als ſie den Kopf
hob und entgegnete: „Ich habe Ihnen die Wahrheit
geſagt, mein Herr. Als ich dem Mann, der dort in
Ihren Akten ſteht, mein Herz ſchenkte, wußte ich von
feiner Vergangenheit nicht mehr als vor einer Viertel-
ſtunde, denn die Liebe pflegt nicht nach Namen und
Stand zu fragen, und darum wird ſie auch ſo oft
betrogen. Ich will damit nicht ſagen, daß man mich
betrogen hat, mein Herr, ich habe nur noch eine einzige
Bitte: wenn das Geſetz es Ihnen geſtattet, ſo teilen
Sie mir das Verbrechen meines Verlobten mit — es
iſt ja wohl das wenigſte, was ein Weib verlangen kann,
und Sie fagen ja ſelbſt, daß es kein Geheimnis iſt.“
Der Beamte zuckte die Schultern. „Sie wollen es
alſo, mein Fräulein. Jean Lecocq hat ganz einfach
ſeine chemiſchen Kenntniſſe dazu verwendet, um eine
Nahrungsmittelfälſchung zu begehen, und da wir in
ſolchen Sachen ſehr ſtrenge ſein müſſen, ſo hat man
ihn deswegen mit einem Jahr Gefängnis beſtraft. Das
iſt keine Romantik, und viele teilen dasſelbe Los, aber
der Niedergang vollzieht ſich um ſo raſcher, je größer
die Pflichten ſind, die Bildung und ſoziale Stellung
uns auferlegen.“
Käthe verbeugte ſich dankend und ging. Starr
blickte ihr Auge. Als ſie den Fuß des Montmartre
23 Die Apachen. no
wieder erreicht hatte, begannen die erſten Schatten des
Abends niederzuſinken. Der Wind war ſtärker ge-
worden und brauſte durch die Bäume der Anlagen.
Es war eine große Verwirrung in der Natur, aber die
Gedanken des Mädchens gingen noch mehr durchein⸗
ander.
Wo war ſie eigentlich in der letzten Stunde ge-
weſen, nachdem der Portier der Polizeipräfektur die
ſchwere Tür hinter ihr geſchloſſen hatte?
Richtig, unten am Seinekai, wo die Mauer mit
den ſchwarzen Käſten ſich entlang zieht, in denen Trödler
ihre Waren feilhalten. Sie hatte mit einem der alten
„Bouquiniſten“ geſprochen und ihn angeſichts des auf-
geregten Fluſſes gefragt, ob ſich dieſer mühſelige
Schacher denn lohne und ob es nicht beſſer ſei —
Zu Ende gebracht hatte ſie den Satz nicht, und es
war ihr auch gar nicht ernſt damit geweſen; ſie wollte
nur mit dieſer letzten Möglich keit ſpielen und nebenbei
etwas Wildes, Kämpfendes, Ringendes ſehen, wie die
Wellen der Seine es waren, wenn ſie gegen die Pfeiler
des Pont des Arts und des Pont Neuf angurgelten.
Dann war ſie über die vornehmen Boulevards
gegangen.
Bei dieſem unfreundlichen Wetter waren ſie freilich
ziemlich verödet geweſen, und die Händler mit Zei-
tungen und Anſichtskarten machten ſchlechte Geſchäfte;
aber um ſo unverhüllter protzte der Reichtum und der
Glanz durch die großen Spiegelſcheiben der Läden und
Cafes — es war heute ein Tag, um den grellen Gegen-
ſatz zwiſchen arm und reich, zwiſchen Glück und Elend
auch ohne elektriſches Licht zu beleuchten.
Wie hatte doch der Mann mit dem glitzernden
Klemmer hinter feinem grünen Aktentiſch geſagt? „Der
Niedergang vollzieht ſich um ſo raſcher, je größer die
1 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 29
Pflichten ſind, die Bildung und ſoziale Stellung uns
auferlegen.“ Ach ja, das war eine Binſenwahrheit,
die auch das Kind der Saalgaſſe begriff, aber wer trug
denn die Schuld an dieſem Zuſammenbruch, an dieſem
jähen Sturz?
Käthe beſaß von dem, was Zean Lecocq gefehlt
haben ſollte, keine klare Vorſtellung. Wenn unter
Frauen von Verbrechen die Rede iſt, ſo denken ſie an
alles, was die Senſation wachruft, an Mord und Tot-
ſchlag oder an den Frevel gegen das eigene Geſchlecht,
der immer am höchſten bewertet wird. Aber was in
das Erwerbsleben fällt oder unter den Begriff der
ſozialen Pflichten, das wird von dem weiblichen Denken
gering eingeſchätzt, denn es iſt nicht mit den Händen zu
greifen und nicht an ſeinen Folgen zu bemeſſen.
Was hieß Nahrungsmittelfälſchung? Die beging
Mutter Vernot tagtäglich, wenn ſie ihren Gäſten Fuſel
vorſetzte und Roßfleiſch für Hammelbraten — und es
fiel keiner Menſchenſeele ein, ſie darum ins Gefängnis
zu ſtecken und obdachlos zu machen.
Vielleicht hatte Zean nur eine Erfindung gemacht,
die den Neid wachrief und in fremde Erwerbſphären
eingriff, und da kamen dann die Denunzianten und
die Konkurrenten und die Polizei mit ihren tauſend
Paragraphen — das Ende aber war die brutale Ver-
nichtung einer Exiſtenz, die doch nur den Kampf um
ſich ſelbſt geführt hat.
Wo die Liebe nicht in ihrem eigenen Lebensnerv
verletzt iſt, findet ſie immer einen Entſchuldigungsgrund.
Käthe konnte ſich fo lebhaft die Scham dieſes Unglück⸗
lichen vorſtellen, der ſeine Vergangenheit angſtvoll zu
verbergen ſuchte, der von Tag zu Tag auf eine neue
Lebensſtellung hoffte und vielleicht in dieſem Augen-
blick darum kämpfte, während ſie ſelbſt ihn für falſch
30 Die Apachen. o
und treulos gehalten hatte, für fähig, eine Stunde zu
vergeſſen, die das Weib niemals aus feiner Erinnerung
löſchen kann.
Unter dem Widerſtreit dieſer Gedanken war Käthe
in die Anlagen des Montmartre gelangt und empfand
plötzlich das Unheimliche ihrer Umgebung. Denn wenn
auch die Dämmerung noch immer gegen das Dunkel
rang, ſo waren doch die Wolken ſcheinbar bis zu den
Wipfeln der Bäume niedergeſunken, und die Schatten
der bewegten Aſte tanzten einen tollen Wirbel auf
Rafen und Kies.
Damals, an jenem Vollmondabend, waren noch
ſchleichende Geſtalten hinzugekommen, die heute zu der
frühen Stunde fehlten; aber das Gefühl der Verein-
ſamung wurde deshalb nicht geringer, und es geſellte
ſich noch ein anderes hinzu.
Der Ekel vor jener widerwärtigen Kneipe, die Abend
für Abend den Abſchaum des Volkes in ihren rauch-
ſchwarzen Wänden barg. —
Dort ſtand die Bank, auf der das junge Paar den
erſten Liebeskuß getauſcht hatte. Es ſaß einer darauf.
Er machte den Eindruck eines müden, verwehten und
heimatloſen Menſchen.
Es war Zean Lecocgq.
Käthe erkannte ihn, als er den Kopf hob. Sie ſtürzte
mit einem Schrei auf ihn zu, ſchlang die Arme um
ſeinen Hals, ſetzte ſich auf ſeine Knie und küßte ihn,
wie nur ein Weib küſſen kann, das liebt.
Und dann, immer wieder ſeine Lippen verſchließend,
ſagte ſie atemlos: „Still, ich weiß alles! Du haſt mir
aus dem Wege gehen wollen, du haſt dich geſchämt.
Aber deine Liebe war größer als dein Wille — wir
gehören zuſammen, es gibt nichts Mächtigeres als die
Liebe!“
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 51
Er war fo verwirrt, daß ihm die Vorte fehlten;
aber fie ließ ihm auch gar keine Zeit dazu, fon-
dern ſie überſtürzte ſich in ihren Reden wie ein
ſchluchzendes Kind, das endlich ſein Unrecht bekennt
und nun nicht ſchnell genug mit der Beichte fertig
werden kann.
„Oh, mein armer Schatz, wie unendlich leid du mir
tuſt! Sieh, ich weiß ja alles! Ich bin ſchlecht geweſen
und dachte, du wollteſt mich verlaffen, und da war ich
auf der Polizei, um mich nach deiner Wohnung zu
erkundigen — ich wußte ja nicht, daß du keine haſt,
daß du heimatlos und verfolgt und verachtet biſt. Sie
haben mir alles geſagt mit ihrem kalten, gleichgültigen
Lächeln, mit ihrer glatten Höflichkeit — aus ihren
ſchrecklichen Akten! Als ich die Akten ſah, Jean, da
ging ein Riß durch meine Seele, aber es löſte mich nicht
von dir los, ſondern von der unbarmherzigen Welt,
von allem, was hinter mir liegt. Nimm mich mit, Jean,
ich will deine Frau werden! Irgendwo in Paris wird
ſich ja wohl ein Maire finden, der uns zuſammentut.
Sie haben ja andere Geſetze in Frankreich wie in Deutſch⸗
land — nimm mich mit dir, und wenn du es nicht tuſt,
dann gehe ich in die Seine oder ſtürze mich vom Eiffel-
turm, denn in die Räuberhöhle dieſes ſchrecklichen
Weibes will ich niemals zurück, lieber mit dir hinter
einen Zaun oder in eine Bretterbude oder ſonſtwohin
in die weite Welt!“
Er hatte ſie leiſe von ſeinen Knien geſchoben, aber
den Arm behielt er um ihren Nacken. Und dann ſagte
er plötzlich: „Ich habe eine Wohnung, Käthe. Willſt
du ſie ſehen?“
„Ja; führe mich hin!“
Nun war es wirklich dunkel geworden. Die Laternen
der Anlagen flammten auf, wie von einer unſichtbaren
32 Die Apachen. ns
Hand belebt, und zu derſelben Zeit erſtrahlte auch
Paris in einem Meer von Licht.
Aber ſie gingen nicht dieſem Licht entgegen, ſondern
Zean wendete ſich nach der entgegengeſetzten Seite,
wo die Laternen immer ſpärlicher wurden, wo fie zu-
letzt in einem breiten ſchwarzen Gürtel verſanken, der
die Stadt von den Lichtern der weit draußen liegenden
Forts trennte.
Und Käthe hatte eine Empfindung, wie der Schwim-
mer ſie hegen mag, wenn er immer weiter in eine
unbekannte Meeresweite hinausſchwimmt — hinter ſich
das ſichere Land, vor ſeinen Augen aber das Schweigen
des Todes.
„Wohin gehen wir?“ fragte ſie endlich leiſe.
„Zu den Ausgeſtoßenen, Kind. Einige von ihnen
haſt du bereits bei Mutter Vernot kennen gelernt, dieſer
alten Kupplerin, die der Teufel ſicher noch holen wird.
Aber das ſind ſolche, die noch eine Dachkammer haben
oder ein paar Sou für das Aſyl. Die ganz Elenden
hamſtern in Strohmieten und in Gartenlauben und in
Erdlöchern. Du haſt auch ihren Kriegsnamen nennen
hören, der von einem wilden Indianervolk entlehnt iſt,
und vor dem ſich ſelbſt die Polizei fürchtet. Sie tut
recht daran, denn es ſind ſchlimme Geſellen darunter,
Leute, denen das Menſchenleben nicht mehr gilt als
eine Pfeife Tabak — ihr eigenes und ein fremdes, wie
es gerade kommt. Sie ſind ſchon in Verbrecherkreiſen
groß geworden, ſie wiſſen es nicht anders und wollen
es nicht anders — es iſt eine Verſchwendung an Mit-
leid, wenn man fie bedauert, und es ift eine Danaiden-
arbeit, wenn man fie beffern will. Das iſt der Stamm,
Käthe, aber es kommen Zugewanderte, das ſind die
eigentlichen Ausgeſtoßenen, das ſind alle, die nicht
hinter dem Zaun geboren wurden. Ein wenig Schuld
u Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 33
haben fie alle, es gibt ja jo viele Dornen am Lebens-
weg, daß keiner ohne einen Riß davonkommt; aber
wenn er ihn nicht gleich zudecken oder flicken kann,
dann zeigen die Leute mit Fingern darauf: „Seht den
Vagabunden!“ — Das werden die Schlimmſten mit
der Zeit, denn ſie haben keine Gleichgültigkeit in ſich,
ſondern ſie tragen einen Haß im Herzen, und der muß
heraus!“
„Du biſt nicht ſchlecht, Jean!“
„Nein, ich habe noch keinen totgeſchlagen, und Geld
geſtohlen habe ich auch noch nicht. Vor dem einen graut
mir, und das andere iſt häßlich. Aber den Krieg mit
der Geſellſchaft führe ich doch. Einmal kommt es
dann ſo weit, daß das Grauen auch aufhört, und dann
fängt es bei dir an, darüber darfſt du dich nicht täuſchen.“
Es begann ſachte zu regnen, und Jean Lecocq legte
ſeinen Arm um die Schultern des Mädchens.
„Sieh, gegen die paar Tropfen kann ich dich ſchützen.
Aber wenn uns beiden das Waſſer an die Kehle ſteigt,
dann kommt die ſelbſtſüchtige Beſtie zum Vorſchein.
Apachenbraut zu ſein, iſt kein Roſenweg — ich kenne
welche, die von ihren Beſchützern totgeſchlagen wurden,
und es war nicht immer aus Eiferſucht.“
„Ich will deine Frau werden,“ ſagte Käthe zitternd.
Jean lachte leiſe vor ſich hin. „Wenn du Gewicht
darauf legſt, warum nicht? Die Komödie vor dem
Maire iſt bald erledigt. Aber erſt ſollſt du meine Woh-
nung ſehen, ich hatte es dir ſchon damals verſprochen,
als deine Augen noch nicht aufgetan waren.“
Sie kamen in das Gelände, wo die verlaſſenen Bau-
ſtellen ſind und die Zäune und die wüſten Gärten. Der
Wind hatte ſich gelegt, und der Regen hörte auf; hinter
den Wolken kam ein wenig Mondlicht zum Vorſchein
und tauchte die ganze Gegend in fahle Dämmerung.
1918. X. 3
— ne
34 Die Apachen. u
—
Käthe ſchmiegte ſich an ihren Begleiter. „Sind wir
hier ganz allein?“
„O nein, das darfſt du nicht glauben. Aus irgend
einem verſteckten Winkel werden uns ſchon Augen ge-
ſehen und Ohren gehört haben, denn es lauſcht und
lugt hier alles. Du glaubſt eine Vogelſcheuche vor dir
zu haben, und es iſt ein Menſch. Zwar ſie kennen mich
alle, ſie wiſſen, es iſt der, ſchöne Jean“ mit ſeiner Braut.
Aber du ſollteſt es mal erleben, daß hier einer im
Zylinderhut und mit der goldenen Uhrkette ſpazieren
geht: ich glaube nicht, daß ſo was vorkommt, aber du
mußt dir klarmachen, was dann geſchehen würde. 1
„Halt du mit ihnen Umgang, Jean?“ |
Er blieb ſtehen und ſah ſich um. Er lauſchte, Re
es blieb ſtill — nur weit aus der Ferne, von der Notre
Dame kam das berühmte Glockenſpiel, das Ave Maria.
„Ich dachte, es ſei eine Razzia unterwegs,“ ſagte
er, „aber die Sinne werden von der Nacht genarrt.
Hier draußen verkehrt keiner mit dem anderen, es iſt
ein ungeſchriebenes Geſetz, daß jeder für ſich unterkriecht.
Aber drinnen in Paris haben wir unſere Lokale. Das
„Kaninchen“ iſt eines davon, in einem anderen haben wir
zum erſten Male zuſammen getanzt. Wußteſt du wirk-
lich nicht, in welchem Kreis du bis heute gelebt haſt?“
„Nicht genau, Jean, aber nun weiß ich, daß ich
ſchon längſt zu euch gehöre. — Sind wir immer noch
nicht bei dir angelangt?“
„Ja,“ entgegnete er, „hier liegt meine Sommer-
villa. Es iſt die ſchönſte in der ganzen Umgegend.
Mein nächſter Nachbar wohnt in einem ausrangierten
Möbelwagen, auch die leeren Hundehütten ſind beliebt,
denn die Eigentümer dieſer Gelände laſſen bisweilen
ihre Grundſtücke von Hunden bewachen, aber es be-
kommt den lieben Tieren ſelten gut.“
6 Ein Parifer Roman von Fritz Levon. 35
Er ſtieß die Tür der Baubude auf und zündete einen
Lichtſtumpf an, der in einer Schnapsflaſche ſteckte.
Käthe ſchaute ſich um.
„Raum genug für zwei,“ ſagte Jean. „Aber ich
fordere nicht von dir dieſes Opfer, denn über kurz oder
lang werden die Polizei und der Herbſt mich doch aus-
weiſen. Ich habe noch Geld genug, um dir irgendwo
eine Dachſtube zu mieten, und bevor dieſes Jahr zu
Ende geht, ſollſt du deine Hände in Gold eintauchen.
Dieſe Nacht wollen wir einen Apachenball beſuchen,
wo ſie unter der Erde zwiſchen Fledermäuſen und
Ratten tanzen — es iſt ein luſtiges Völkchen, und keiner
fragt danach, ob der Tod oder der Teufel ihnen auf-
ſpielt.“
* 4 *
Eines Vormittags ſaß Willibald Specht in ſehr
ſchlechter Laune an ſeinem Zeichentiſch und mühte ſich
vergeblich ab, einen lahmen Witz zu illuſtrieren und
dadurch für das Publikum einigermaßen genießbar zu
machen. Es war eine Aufgabe, der er ſich nicht ge-
wachſen fühlte, denn der Humor lag überhaupt nicht
im Zeitgeiſt, und Frau Eugenie hatte ihm vorhin eine
Szene gemacht, bevor ſie das Haus verließ, um in die
Markthallen zu gehen.
Es ginge ſo nicht weiter, hatte ſie geſagt und ihr
Lady-Macbeth-Geſicht aus der Vergangenheit hervor-
geholt. Die Kaſſe ſei leer, man müſſe ſich zu irgend
einer Tat aufraffen —
Dann war ſie davongerauſcht und überließ die
Löſung des Problems ihrem Gatten. Nur noch Bertas
Namen hatte ſie zwiſchen Tür und Angel genannt, und
dieſer Wermutstropfen machte den Becher vollends
überlaufen.
36 Die Apachen. ö
Wie fo viele Künſtler gehörte auch Willibald zu
jenen ſchwachen Naturen, deren Liebe ſich nur rein
paſſiv zu äußern vermag; er erkannte ſehr deutlich, daß
ſeine Tochter durch ihre raſtloſe Tätigkeit allein den
ganzen Haushalt aufrecht erhielt; es ſchmerzte ihn,
wenn fie bis tief in die Nacht hinter ihrer Schreib-
maſchine ſaß, und er ſchämte ſich gelegentlich darüber.
Aber jeder Anlauf zur eigenen regelmäßigen Arbeit
ſcheiterte an ſeiner grenzenloſen Faulheit, und außer-
dem waren die Zeiten wirklich miſerabel.
Am liebſten hätte er in die Lotterie geſetzt, denn
der Gedanke an einen plötzlichen und großen Gewinn
dünkte ihn ſehr verlockend; aber leider fehlte ihm auch
das Geld zum Ankauf eines Loſes, und Frau Eugenie
konnte ungeachtet ihrer Karten die richtige Glücks-
nummer nicht herausfinden. Alſo galt es wieder ein-
mal zu ſtricheln und zu ſchraffieren, mußte abermals
die ausgepreßte Phantaſie einen neuen Tropfen her-
geben — und das alles um ein paar lumpige Mark,
die auch noch erſt am Ende des Quartals gezahlt
wurden. =
Im Haufe war es ſehr ſtill. Berta weilte auf der
Redaktion, und Egbert hatte geſtern von einem großen
Prozeß geſprochen, über den er berichten müſſe; nur
der Inſaſſe der blauen Stube, dieſer geheimnisvolle
Franzoſe, mochte daheim fein, Er ſaß ja ſeit mehreren
Tagen wie angenagelt am Schreibtiſch und ſudelte
Gott weiß was zuſammen.
Plötzlich hörte Willibald ſeinen leiſen, katzenartigen
Schritt.
Charles Renard kam herein, wünſchte einen guten
Morgen und ſetzte ſich auf die andere Seite des Zeichen-
tiſches. Er tat das öfters, und zwar unter dem ſchmeichel⸗
haften Vorwand, daß die Kunſt des Meiſters ihn feßle.
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 37
Aber heute fand er einen ſchlechten Empfang.
„Es iſt dem Teufel fein guter Morgen,“ ſagte Willi-
bald unwirſch. „Wenn Sie etwa denken, daß ich hier
als Dukatenmännchen ſitze, dann find Sie gründlich
auf dem Holzweg. Es iſt eine elende Schinderei, und
dabei klebt mir die Zunge am Gaumen wie Pappe.“
Der Franzoſe nahm ganz gelaſſen das Blatt und
betrachtete es. „Im — famos! Wie lange Zeit brauchen
Sie dazu?“ |
„Wenn ich bei Laune bin, ein paar Stunden —
ſonſt ebenſoviele Tage.“
„And das Honorar?“
„Na — zwanzig bis dreißig Mark — je nachdem.“
Renard murmelte etwas von Perlen und Säuen.
Specht ſchlug auf den Tiſch. „Sie haben recht, es
iſt eine Entwürdigung der Kunſt! Aber was ſoll ein
armer Familienvater machen?“
„Seine Gaben beſſer verwerten, Herr Specht.“
Willibald warf einen ſchiefen Blick in die Ecke, wo
feine Staffelei ſtand. Es war ſeit Fahren eine Lein-
wand eingeſpannt, und man konnte den Staub davon
herunterblaſen. „Meinen Sie das dort?“
„Nein,“ entgegnete Renard, „das meine ich nicht.
Es laufen genug Schmierfinken in der Welt herum.
Kennen Sie die Geſchichte von den beiden Malern,
die miteinander wetteten, wer in einem Jahr etwas
ſchaffen könne, was keiner nachmache?“
„Nein. Wie war das?“
„Der eine brachte ein großartiges Gemälde, der
andere ein leeres Stück Papier. Und dann zog er aus
freier Hand einen Kreis, ſetzte das Zentrum hinein,
und als ſie mit dem Zirkel nachmaßen, da klappte die
Sache aufs Tüpfelchen. Sie verſtehen mich doch, Herr
Specht: der eine hatte Talent, der andere war ein
38 Die Apachen.
Genie. Der eine ſchuftete, der andere machte es fpie-
lend. Ich glaube, Sie ſind ein Genie.“
Renard hatte während dieſer Worte ein leeres Blatt
genommen und die Sache mit dem Bleiſtift vor-
demonſtriert. Dann betrachtete er den ziemlich un-
geſchickt gezogenen Kreis, ſetzte ſeinen Namen darunter
und ſagte lachend: „Das hier würde wohl kaum ſtimmen,
wenn wir es mit dem Zirkel nachmeſſen wollten, aber
der Name des Künſtlers ſteht doch darunter wie bei
ſo manchem Schund. Und nun zeigen einmal Sie mir
den Meiſter, verehrter Herr Specht. Es iſt ja doch in
den Künſtlerkreiſen bekannt genug, daß Sie nur den
Stift anzuſetzen brauchen, um jedes Menſchen Hand-
ſchrift nach Charakter und Eigenart in untrüglicher Weiſe
nachzuahmen. Es iſt eine wunderbare Gabe, und ich
möchte das wirklich mit eigenen Augen ſehen, zumal
ich ſelbſt einen Namenszug führe, der den Graphologen
ſchon viel Kopfzerbrechen gemacht hat.“
Er ſprach dieſe Worte ganz leicht und ohne beſondere
Betonung, aber ſeine Hand ſchob dabei das Blatt über
den Tiſch, und dann klopfte er ſcherzend mit dem Finger
auf die Platte. |
„Eins, zwei, drei — oder ich glaube, daß Sie es
gar nicht können, und daß Sie nur ein großer Re-
nommiſt find. Schließlich iſt jo was überhaupt unmög-
lich, und ich habe mir einen Bären aufbinden laſſen.“
Mit dem Maler war eine eigentümliche Verände-
rung vorgegangen. Er richtete ſich auf, und ſeine ſonſt
ſo ſchlaffen Züge nahmen einen geſpannten Ausdruck
an. Er hatte anſcheinend nicht die geringſte Ahnung,
um was es ſich im Grunde handelte, aber ſein Ehrgeiz
war geweckt, und er fühlte ſich wirklich als Meiſter.
„Ich kann es,“ ſagte er, „es iſt wirklich eine Gabe,
die vielleicht ſehr ſelten vorkommt. Ich kann es ohne
1 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 39
jede Mühe und mit vollkommener Sicherheit, aber ich
muß mir erſt die Geſichtszüge des Originals betrachten,
bevor ich die Züge ſeiner Hand nachahme. Denn die
Schrift iſt nichts weiter als ein Spiegel der Seele,
und die Augen find gewiſſermaßen die Fenſter der
Seele. In Ihren Augen aber, verehrter Herr Renard,
ſteht allerlei Geheimnisvolles zu leſen, und darum
ſchreiben Sie auch einen Namenszug, der die Grapho-
logen narren könnte.“
Es vergingen ein paar Sekunden, dann ſetzte Willi-
bald Specht den Stift an. Und er begann nicht zu
malen, wie die Fälſcher wohl tun, fo daß die Unficher-
heit der Striche unter der Lupe offenbar wird, ſondern
ſeine Hand fuhr ganz ſchnell über das Papier, und dann
reichte er dem Franzoſen mit ſtolzem Lächeln das Blatt
hinüber.
Es war in der Tat ein Meiſterwerk, das er vollbracht
hatte, ähnlich jenem Kreiſe, der das Nachmeſſen durch
den Zirkel vertrug, denn Renard mühte ſich vergeblich,
zwiſchen den beiden Namenszügen auch nur den ge-
ringſten Unterſchied zu entdecken.
Und dann wurde er plötzlich ſehr ernſt.
„Wiſſen Sie auch, Herr Specht, daß dies eine ſehr
gefährliche Kunſt iſt?“
„Ich weiß,“ ſagte der Maler gelaſſen. „Wenn ich
den Namen von Rothſchild oder Bleichröder fo bin-
ſchreiben wollte, dann könnte es mir eine Million oder
fünf Jahre Zuchthaus einbringen — je nachdem der
Haſe läuft.“ 8
Renard nickte. „Sie haben recht, die Gefahr liegt
auf beiden Seiten, und überdies iſt die Urkunden-
fälſchung eine gemeine Handlung. Aber jede Medaille
hat auch ihre Kehrſeite. So würden Sie zum Beiſpiel
imſtande ſein, durch Ihre Kunſt die ganze gebildete
40 Die Apachen. 2
—
Welt in einen Taumel des Entzückens zu verſetzen, ohne
der Geſellſchaft auch nur den geringſten Schaden an-
zutun. Man darf niemals vergeſſen, daß in allen
Fällen, wo die Menſchen ſich gerne betrügen laſſen,
der Betrug feine häßlichen Züge verliert und das Ge-
ſicht eines lächelnden Schalks annimmt.“
Der Maler dachte einige Sekunden nach. „Das
klingt ja recht nett, aber ich verſtehe es nicht ganz.“
„So kommen Sie mit auf mein Zimmer.“
Es war noch immer ſehr ſtill im Hauſe, als ſie
nebeneinander über den Korridor gingen, und der Maler
horchte unwillkürlich auf einen Laut. Es wurde ihm
ſo unheimlich zumute, daß er am liebſten davongelaufen
wäre, aber ſein Begleiter hatte ihn untergefaßt und
zog ihn vorwärts.
Wenige Sekunden ſpäter ſaß der Maler in Renards
Stube auf dem Sofa und trocknete ſich die Schweiß—
tropſen von der Stirn, während der Franzoſe in ſeinem
Schreibtiſch kramte und ein vergilbtes Blatt zum Vor-
ſchein brachte. Es war von oben bis unten beſchrieben,
und die kleinen Buchſtaben krochen wie Ameiſen durch-
einander, aber dennoch war jedes Wort deutlich zu
leſen, denn der Charakter dieſer Handſchrift unterſchied
ſich ſehr merklich von dem haſtigen Gekritzel der ner-
vöſen Gegenwart.
„Was iſt das?“ fragte Renard und ſetzte ſich feinem
Gaſt gegenüber.
„Ein Fakſimile — Schrift des achtzehnten Jahr-
hunderts.“
„Wenden Sie um und leſen Sie die Unterſchrift.“
Der Maler gehorchte und ſtutzte. „Teufel, was iſt
das?! ‚Wolfenbüttel, den 12. Auguſt 1776, G. E. Leſſing.“
— Wie kommen Sie dazu?“
Der Franzoſe lächelte ein wenig. „Sie ſagen ja
Do Ein Pariſer Noman von Fritz Levon. 41
ſelbſt, das iſt ein Fakſimile, wie man es in jeder Runit-
handlung erwirbt — ein Liebesbrief Leſſings an ſeine
Braut Eva König, die er im Herbſt 1776 heiratete.
Der Inhalt it herzlich unbedeutend, wie alle Liebes-
briefe zu ſein pflegen, aber Ihr Erſtaunen freut mich
doch, denn es iſt ein Beweis dafür, daß Leſſings Name
noch immer in den deutſchen Köpfen ſpukt. Hier habe
ich ein Bild Ihres großen Klaſſikers, mit Zopf und
Perücke und allem Zubehör — verſenken Sie ſich nach
Ihrer Methode in die Züge des Mannes, und dann
ſagen Sie mir, wie es mit der Nachahmung ſeiner
Handſchrift ſteht.“
„Dieſes Briefes?“ fragte der Maler zögernd.
Renard lachte ihm geradezu in das Geſicht. „Nein,
Freundchen, dazu iſt Ihre Zeit denn doch zu koſtbar!
Es handelt ſich ganz einfach um folgendes: Sind Sie
imſtande, binnen kurzer Friſt die Handſchrift Leſſings
jo gründlich zu erlernen, daß fie Ihnen wie Ihre eigene
aus der Feder fließt? Beſitzen Sie die Fähigkeit und
die Willenskraft, dieſe Anpaſſung an den fremden Cha-
rakter durch dreißig bis vierzig Bogenſeiten feſtzuhalten,
ohne auch nur eine Sekunde lang aus der Rolle zu
fallen?“
Der Gedanke war ſo neu und originell, daß Willi-
bald Specht unwillkürlich die Augen ſchloß, um ihn in
ſich zu verarbeiten.
Dann ſchlug er mit der geballten Fauſt auf den
Tiſch. „Wenn keine Menſchenſeele dazu imſtande iſt,
ich bring's fertig! Aber nun herunter mit der Maske
und heraus mit der Sprache! Um was handelt es ſich
bei der ganzen Sache?“
„Um eine literariſche Fälſchung,“ ſagte Renard kühl.
„Das zweite Wort ſchmeckt vielleicht nach dem Straf-
geſetzbuch, aber das erſte hebt dieſen Geſchmack wieder
42 Die Apachen. 2
auf. Literariſche Fälſchungen werden zu Tauſenden
begangen, und wenn ein Gelehrter ſie begeht, dann
handelt er vielleicht gegen den geheiligten Zopf der
Wiſſenſchaft, aber die Gerichte kümmern ſich nicht darum,
ſolange nicht gewiſſe Erwerbsmomente hinzutreten, die
den Betrugsparagraphen anſchneiden. Davon iſt in
dem vorliegenden Fall nicht die Rede, denn Sie ſollen
mir nur dazu verhelfen, ein berühmter Mann zu wer-
den. Ich bin Schriftſteller, ich habe ein Werk ge-
ſchrieben, eine Dichtung, die von klaſſiſchem Geiſte
durchweht iſt, ein Bühnenſtück in deutſcher Sprache,
ich, der Franzoſe Jules Renard. Wenn ich damit heute
zu einem Theaterdirektor gehen wollte, dann würde
der Biedermann mich auslachen, und wenn er es nicht
täte, dann beſorgte das Publikum es um fo gründ-
licher. Darum will ich einen anderen Weg einſchlagen.
ich verkünde der ſtaunenden Welt, daß ich ein un-
bekanntes Werk Leſſings ausgegraben habe, und die
Welt wird ehrfurchtsvoll auf dem Bauche liegen. Wem
geſchieht damit ein Schaden? Bin ich nicht beſcheiden,
daß ich mein eigenes Licht unter den Scheffel ſtelle,
um den Ruhm eines Toten zu vergrößern? Bin ich
nicht ein Wohltäter der Menſchheit, wenn ich ihr ein
gutes Werk zugänglich mache, und wird das Werk
dadurch ſchlechter, daß es unter einer falſchen Flagge
ſegelt? Wo liegt da ſtrafbare Fälſchung? Leſſings
Werke ſind für Bühne und Buchhandel frei, den Namen
eines Leſſing kann ſich jeder beilegen. Das Vermögen
des Leſers und des Zuſchauers wird nicht geſchädigt,
denn er bekommt für ſein Geld einen geiſtigen Genuß
— und dabei wird das Andenken des Mannes von
Wolfenbüttel keineswegs geſchädigt, denn er iſt nie-
mals ein Dichter geweſen, ich erſt gebe ihm den Namen
eines Dichters!“
u Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 43
Jules Renard hatte ſich in eine Begeiſterung hinein-
geſprochen, die nicht ganz unecht war, und nun öffnete
er noch einmal ſeinen Schreibtiſch.
„Ich gebe zu, daß es ein kühnes und großartiges
Unternehmen iſt; aber wenn ich Ihr Gewiſſen beruhigt
habe, ſo will ich auch Ihre Sorge beſeitigen. Es kommt
lediglich darauf an, daß die Hand des Schreibers das
Auge der Gelehrten täuſcht. Im übrigen iſt das Ma-
terial, das ich Ihnen zur Verfügung ſtelle, vollkommen
echt. Es wird vielleicht eine mühſelige Arbeit, und an
dem Ruhm des Herausgebers können Sie nicht teil-
nehmen, Sie bleiben hinter den Kuliſſen als ein un-
bekannter Mann. Für dieſe Reſignation zahle ich Ihnen
drei Monate nach Vollendung des Werkes —“
Die letzte Maske zwiſchen den beiden Männern war
gefallen, denn der Franzoſe hatte eine Summe ge—
nannt, die unzweideutig erkennen ließ, daß es ihm nicht
auf den Ruhm eines Entdeckers, ſondern lediglich auf
ein gutes Geſchäft ankam.
Willibald Specht trocknete ſich den Schweiß von
der Stirn. „Sie wollten meine Sorge beſeitigen,“
ſagte er, „Sie haben recht. Ich bin in Not, und Ihr
Angebot macht mich zu einem wohlhabenden Manne.
Damit ſind die Sorgen aus der Welt geſchafft. Aber
ich war bis heute ein ehrlicher Mann.“
„Kein Menſch iſt ehrlich,“ entgegnete Renard. „Unſer
ganzes ſoziales Leben beruht auf Schwindel. Ehrlich
ſein heißt nur unbeſtraft bleiben. Handeln Sie etwa
ehrenhaft, Herr, wenn Sie in den Kneipen herum-
liegen, anſtatt zu arbeiten? Handeln Sie edel, wenn
Sie das Brot eſſen, das Ihre Tochter verdient? Sch
biete Ihnen eine Arbeit, die keinen Schaden anrichtet,
und ich biete Ihnen dafür einen glänzenden Lohn.
Die ſittlichen Werte werden in unſeren Tagen um-
geſtempelt wie abgeſchliffene Münzen; wenn wir die
Moral von geſtern unter den Prägſtock legen, ſo wird
heute eine Narrheit daraus.“
% vr
*
Hans Lux kam jetzt faſt täglich in das Haus hinter
der Heiligegeiſtkirche, und zwar meiſtens um die Abend-
ſtunde, denn ſeine Kräfte geſtatteten ihm nicht mehr
die Nachtarbeit, obwohl er tagsüber noch gewiſſenhaft
den Redaktionspflichten oblag.
Man konnte nicht eigentlich ſagen, daß er hinfällig
wurde, und in Bertas Gegenwart hatten ſeine Augen
einen fröhlichen Ausdruck, aber das Mädchen beobachtete
ihn mit heimlicher Sorge, obſchon ihre Gedanken gerade
jetzt vielfach durch andere Dinge abgezogen wurden.
Faſt immer waren ſie bei dieſen Plauderſtunden
zu dritt. Während Lux meiſtens das Wort führte
und Berta ihn durch kluge Fragen zu neuen Gedanken
anregte, ſaß Egbert daneben und ſtenographierte alles,
was der Freund ſagte. Es ſollte eine Übung ſein,
und der junge Journaliſt hätte ebenſogut in Moabit
eine öde Verteidigungsrede nachſchreiben können; aber
Berta ſammelte die Bogen ſorgfältig und übertrug ſie
für ſich auf der Maſchine. Und einmal ſagte ſie, als
Lux gegangen war, das ſei ein Vermächtnis ſeines
Geiſtes für die Zeit, da er nichts als ein Geiſt ſein
werde.
Sie blieben auch zu dritt, obwohl noch das Haus
drei Mitbewohner barg. Denn Frau Eugenie hatte
gerade in den Stunden zwiſchen acht und zehn den
meiſten Zuſpruch für ihren Hokuspokus, der Franzoſe
hatte niemals Familienanſchluß geſucht, und mit Willi-
bald Specht, der ſonſt ſelten daheim war, ging etwas
Beſonderes vor ſich.
ö Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 45
Eine Wandlung, die anſcheinend das Licht des Tages
ſcheute und dennoch an das Licht wollte.
Eines Abends war Lux beſonders aufgeräumt.
Er lobte einen Sitzungsbericht, den Egbert geliefert
hatte, als beſonders gelungen und ſagte plötzlich: „Ihre
Lehrzeit muß in ein neues Stadium treten, Kollege,
denn ich habe es nun einmal übernommen, Sie zu
einem tüchtigen Journaliſten heranzubilden. Das Lokale
und der Gerichtſaal ſind die erſten beiden Stufen,
aber jeder, der die höchſte der Weltbegebenheiten er-
klimmen will, muß erſt unter den Strich.“
Er ſah Berta an und lächelte.
„Sie wiſſen es ja, daß ich unter dem Strich bin.
Es iſt vielleicht Egoismus, wenn ich unſeren Freund
mit hinabziehen möchte. — Können Sie ein Feuilleton
ſchreiben, Linde?“
„Geben Sie mir Stoff,“ ſagte Egbert eifrig.
„Der liegt in Haufen auf der Straße. Aber ich will
Ihnen einen Horizont ſchaffen. Es handelt ſich näm-
lich um ein Unternehmen unſeres Verlags, wie es
moderner nicht gedacht werden kann. Doktor Bark-
haufen intereſſiert ſich dafür, er will damit fünfzig-
tauſend Abonnenten mehr anwerben, dieſer San—
guiniker!“
Berta horchte auf. „Eine Reiſe an den Pol?“
fragte ſie.
„Sie ſind eine Seherin, ich bleibe dabei. Nur nicht
an den Pol, ſondern unter die Wilden — zu den
Apachen in Paris. Das Kriminelle beherrſcht unſere
Zeit, und alles, was damit zuſammenhängt, iſt des
Intereſſes der Leſer ſicher. Wir wollen einen Reporter
an die Seine ſchicken, der uns in einer größeren Artikel-
ſerie das Milieu dieſes ſeltſamen Völkchens ſchildern
ſoll. Später wird dann ein Buch daraus gemacht,
46 Die Apachen. 2
und der Verfaſſer kann ſich dabei ſeine literariſchen
Sporen verdienen. Ich habe Sie dem Chef vorgeſchla-
gen, Linde, und er iſt damit einverſtanden. Es iſt eine
Gelegenheit, die vielleicht niemals wiederkehrt, und ich
möchte Ihnen raten, die Offerte anzunehmen. Aber
das muß Ihr freier Wille ſein, denn es läßt ſich nicht
verhehlen, daß —“
Hans Lux brach ab und warf einen Blick auf Berta.
Die war ein wenig blaß geworden und faltete die
Hände im Schoß.
„Es iſt Gefahr dabei, nicht wahr?“ fragte ſie leiſe.
„Es iſt Gefahr damit verbunden,“ entgegnete Lux
gelaſſen. „Diefe Menſchen find Feinde der Geſellſchaft,
und wer unter die Feinde geht, der trägt ſeine Haut
zu Markt. Aber der Zournalift gleicht dem Soldaten,
nur daß ſeine Waffen andere ſind und ſeine Ziele andere.
Ich habe Berichterſtatter gekannt, die mitten im Kugel-
regen ihre Notizen machten und ihre Zigarre rauchten
— es iſt ſchließlich alles Gewöhnung, und der Tod
ſteht überall neben dem Leben.“
„Ich gehe!“ ſagte Egbert entſchloſſen.
Lux wendete ſich wieder zu Berta, als ob dieſe
Antwort für ihn ſelbſtverſtändlich geweſen wäre. „Er
ſoll nicht allein gehen. Das Buch wird mit Zlluftrationen
erſcheinen, denn die großen Kinder wollen auch ihre
Bilder haben, und ich kenne einen Zeichenſtift, der ſeine
beſten Leiſtungen den Nachtlokalen verdankt.“
Da fuhr ein neues Erſchrecken über das Geſicht des
Mädchens, aber es war anders als vorhin — es war
mit Scham gemiſcht.
„Mein Vater —“
Er nickte. Und dann horchten ſie alle hinaus, denn
die Stimme des Briefträgers wurde auf dem Korridor
laut. N
og Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 47
— — ͤ ͤ ́Zuuᷣ̃—k— 0 —2y᷑— 2 nn nn nn nn
Dann ſteckte Frau Eugenie ihren Künſtlerkopf durch
den Türſpalt. „Ein Brief, Herr Linde.“
Wãhrend Egbert in ſein Zimmer hinüberging, blieben
die beiden anderen allein. Sie ſchwiegen und hörten
auf das Singen der Lampe.
Dann ſagte Berta: „Ich weiß es, Hans, das iſt
Ihr Werk. Sie wollen meinen Vater aus ſeinem
Müßiggang aufrütteln, Sie wollen ihm Arbeit und
Verdienſt geben, und Sie tun es der Tochter wegen.“
„Vegen meines Kameraden!“ entgegnete er. Und
dann ſetzte er hinzu: „Nein, Berta, nicht nur deswegen
allein. Der da ſoeben hinausging, iſt Ihnen lieb ge-
worden, und ich hoffe, daß er einmal mehr als Ihr
Freund fein wird. Wenn ich auch hinausgegangen bin,
Berta. Darum ſoll Ihr Vater einen Begleiter haben,
einen Mann, deſſen gutem Willen ich vertraue, wenn die
Verſuchung in ihm einen ſchwachen Gegner findet.“
„Wiſſen Sie das auch ſchon?“ fragte ſie erregt.
„WViſſen Sie auch ſchon, daß der Verſucher in unſerem
eigenen Hauſe herumgeht?“
Hans Lux hatte das willensſtarke Mädchen noch
niemals nervös geſehen, aber in dieſem Augenblick
zuckte ihr ganzer Körper, und ſie ſah hinter ſich in das
Dunkel des Zimmers wie nach einem Geſpenſt.
„Ruhe!“ ſagte er. „Was gibt's?“
Sie entgegnete flüſternd: „Ich weiß es nicht, aber
es droht uns ein Unglück. Seit jener Fremde ſich bei
uns eingeniſtet hat, ſeit jenem Tage, den ich niemals
vergeſſen werde. Dieſer Renard hat meinen Vater in
ſeinem Netz, fie ſtecken die Köpfe zuſammen, fie ſchmie⸗
den ein Komplott. Ich dachte erſt, er ſei ein Spion,
wie ſie heute unſer Land überſchwemmen, indeſſen
ſolche Leute durchſtreifen die Gegend und führen eine
ausgedehnte Korreſpondenz, der Franzoſe aber hockt
48 Die Apachen. ¹
un mu —ñ——ñ
den ganzen Tag auf feinem Zimmer — er fchreibt,
aber es kommt keine Zeile über feine Schwelle
hinaus. Und nun tut mein Vater es ihm gleich. Sie
wiſſen ja, wie ſpärlich die Aufträge eingehen und wie
gerne er das bißchen Arbeit von ſich abwälzt; da iſt
es doch unnatürlich, daß er jetzt hinter verſchloſſenen
Türen ſitzt und kaum Zeit findet, um das bißchen
Eſſen hinunterzuhaſten. Ich dachte, er hätte ſich end-
lich zu dem großen Gemälde aufgerafft, von dem er
ſeit zehn Jahren ſpricht, und in meiner Herzensangſt
erniedrigte ich mich zum Lauſcher und beobachtete ihn
durch das Schlüſſelloch. Wiſſen Sie, Hans, was ich
geſehen habe?“
Sie ſprach jetzt ſo leiſe, daß er ſein Ohr an ihre
Lippen neigen mußte, und die Ruhe begann auch
allmählich ihn zu verlaſſen.
„Was haben Sie geſehen, Berta?“
„Er ſchreibt etwas ab. Das Konzept liegt neben
ihm, und er zirkelt Wort für Wort auf wunderliches
altes Papier, wie man es heute in den Läden gar
nicht mehr bekommt. Berlin hat zwei Millionen Ein-
wohner, aber glauben Sie, daß unter dieſer Menge
auch nur einer iſt, der noch mit Gänſekiel ſchreibt?
Mein Vater tut es, was er nie getan hat, und ich ſah,
daß es ihm Mühe machte, denn nach jeder Zeile legte
er die Feder hin und trocknete ſich den Schweiß von
der Stirn. Vielleicht iſt es auch das Gewiſſen, das
ihn quält, denn nun habe ich zu viel geſagt, um das
letzte zu verſchweigen: mein Vater iſt unter die Fälſcher
gegangen, er war immer ein Künſtler, der alle Hand-
ſchriften nachahmen konnte, und nun betreibt er dieſe
Kunſt geſchäftsmäßig!“
Es raſchelte und tuſchelte wieder auf dem Korridor.
Frau Eugenie begleitete wohl eine Kundin an die Tür.
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 49
Berta faltete die Hände krampfhaft ineinander.
„Betrug rechts und links. Es iſt eine Schande, in
dieſem Hauſe zu wohnen. Und Sie ſitzen neben mir,
anftatt den Staub von Ihren Füßen zu ſchütteln! Ich
wollte, daß auch Sie gingen, um niemals wiederzu-
kommen. Die Liebe iſt zwiſchen uns beiden begraben,
was ſoll da noch das Mitleid!“
Lux ſtand auf und nahm die beiden Hände des
erregten Mädchens zwiſchen ſeine kühlen Finger. „Ich
möchte Ihnen helfen, Berta, mein ganzes Streben
gehört dieſem Wunſche. Das iſt die Form meiner
Liebe, der einzigen, die ich Ihnen geben darf, und
der einzig ſelbſtloſen, die es auf dieſer Welt gibt. Was
Ihren Vater betrifft, ſo hoffe ich, daß eine Täuſchung
vorliegt, aber ich werde die Sache prüfen und zu einem
guten Ende hinausführen. Heute wollen wir Abſchied
nehmen, aber das Wiederkommen dürfen Sie mir
nicht verwehren — ich komme wieder, verlaſſen Sie
ſich auf mich, und wenn es das allerletzte Mal ſein
ſollte.“ —
Als er gegangen war, ſah ſie noch immer nach der
Tür und hatte die Empfindung, als wenn ein Schatten
ſich von ihr gelöſt hätte. Sie hörte die Uhr fchlagen,
es war erſt um die neunte Stunde, und die Geiſter
warten doch bis Mitternacht, aber dieſes Gehen und
das Verſprechen der Wiederkehr hatte etwas Geiſter—
haftes an ſich gehabt, ohne daß die Veranlaſſung dazu
gegeben ſchien.
Aber wenn die Nerven ſchweigen, dann wachen die
Ahnungen auf.
Nach einer Weile kehrte Egbert zurück. Er wollte
wohl nur fein Übungsheft holen, das auf dem Tiſch
liegen geblieben war, aber als er es an ſich nahm, da
ſah Berta ſein verſtörtes Geſicht.
1913. X. 4
50 Die Apachen. 2
Sie fragte ihn, ob er eine ſchlimme Nachricht be-
kommen habe.
„Nein,“ ſagte er, „nur einen Abſchied. Einen letzten
Abſchied, denn das Ende war ſchon längſt da. Ich
habe Ihnen ja von meiner Studentenliebe erzählt, und
die begräbt man mit dem Studentenleben. Jetzt ſchreibt
mir das Mädchen, daß ſie ſich in Paris verheiratet
habe, ſie könne aber keine Adreſſe angeben für einen
Glückwunſch, und ſie wolle auch keinen. Es ſind nur
wenige dunkle Worte, ich kann keinen Sinn darin
finden.“
„Darf ich ſie leſen?“
Er nahm neben ihr Platz und legte das Blatt in
ihren Schoß. Die Köpfe dicht aneinandergeſchmiegt,
wie fie es wohl bisweilen taten, wenn es in der Lehr-
ſtunde eine Korrektur galt, ſo laſen ſie dieſe kurzen
Zeilen, unter denen nur Käthes Vorname jtand, und
die auch im übrigen den Eindruck der Haft und der
Unficherheit machten.
Plötzlich fiel eine Träne auf das Papier nieder.
„Sie ſollen nicht weinen,“ ſagte Egbert halblaut,
„ich bin längſt darüber hinaus. Es war keine Liebe,
ſondern nur eine Tändelei, das fühle ich heute deut—
licher als je — und es wird auch die Stunde kommen,
da Sie den Grund dieſer Erkenntnis wiſſen ſollen.“
Berta nickte und faltete den Brief zuſammen. „Es
überkam mich nur ſo plötzlich. Schildern Sie mir doch
den Charakter dieſes Mädchens, die jetzt eine Frau
geworden iſt. War ſie heiter veranlagt, nahm ſie das
Leben von der leichten Seite, oder kannte ſie es in
feiner ganzen Tiefe?“
„Nein,“ entgegnete er, „ſie war eine Libelle. Das
Sonnenlicht zog ſie an, und vor der Dunkelheit ſchloſſen
ſich ihre Augen.“
DD Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 51
„Das ſind ſolche, die von der Nacht geſucht werden,“
ſagte Berta. „Sie iſt in ſchlechte Hände geraten; wer
keinen Glückwunſch zu ſeiner Hochzeit begehrt, der hat
auch kein Glück gefunden.“
Egbert ſchwieg.
Ev„Sie werden jetzt nach Paris gehen und die Schlupf⸗
winkel der Ausgeſtoßenen aufſuchen,“ fuhr das Mädchen
fort. „Forſchen Sie auch nach ihr, und wenn es Ihnen
möglich iſt, fo retten Sie die Armſte vor dem Unter-
gang, denn Sie haben doch ganz gewiß mehr als ein-
mal ihre Lippen geküßt. Es iſt ein gutes Wert, das
Sie damit unternehmen, und der Himmel wird Sie
dafür auf Ihren Wegen behüten. Meine Gedanken
und Wünſche reichen dazu nicht aus, denn Sie ſollen
es wiſſen, Egbert, daß die heute noch unſtet und ſchwan⸗
kend ſind wie die Flammen einer Kerze im Wind.“
Ganz leicht ſtrich fie mit der Hand über feinen Kopf,
der eine Sekunde lang an ihrer Schulter lehnte. Dann
ging er wieder in ſein Zimmer hinüber mit verwirrtem
Sinn und bewegtem Herzen. Denn fie waren einander
nahe geweſen und hatten beide eine Zukunft angedeutet,
die noch dunkel und verworren vor ihnen lag.
Und wenn die Löſung kam, dann führte fie wohl
durch Dornen und Geſtein.
* *
*
Hans Lux ſaß auf ſeinem Redaktionszimmer und
erledigte wie immer die laufenden Geſchäfte; aber er
war mit ſeinen Gedanken nicht bei der Arbeit, ſondern
horchte bisweilen nach der Tür und auf jeden Schritt,
der über den Korridor ging.
Nach einer Weile kam der Bureaudiener herein und
übergab eine Karte von Willibald Specht, die nicht
gedruckt, ſondern geſchrieben war, und zwar in einer
52 Die ie Apachen. 2
wundervollen Frakturſchrift, die als ein kleines Meifter-
werk gelten konnte.
„Ich laſſe bitten,“ ſagte der Redakteur. „Solange
dieſer Herr bei mir iſt, will ich von niemand geſtört
werden. Wir haben wichtige Geſchäftsſachen mitein-
ander zu verhandeln.“
Der eintretende Künſtler machte den Eindruck eines
müden und gebrochenen Mannes. Alles, was ſonſt an
ihm flatterte, war welk und ſchlaff, ſelbſt der Schnurr-
bart hing ihm trübſelig über die Mundwinkel, und die
Augen lagen über dunklen Ringen tief im Kopf.
„Nehmen Sie Platz, Herr Specht,“ ſagte Lux. „Ich
habe Sie wegen einer geſchäftlichen Angelegenheit her-
bitten laſſen und danke für Ihr Kommen. Es geht
Ihnen nicht gut, das kann ein Blinder ſehen.“
„Es geht mir hundsmiſerabel,“ entgegnete der
Maler. „Die Arbeit wird immer weniger, und die
Sorgen wachſen mir über den Kopf. Ich kann nicht
mehr ſchlafen, und meine Hände fangen an zu zittern
— ich bin alt und verbraucht.“
Lux tippte lächelnd auf die Karte, die er noch in
der Hand hielt. „Na, na, wer ſo prachtvoll ſchreiben
kann, der leidet noch nicht am Zittern! Dieſer Namens-
zug ſoll wohl nächſtens unter einem Gemälde ſtehen, und
das Werk wird in der Künſtlerwelt Aufſehen erregen.“
Willibald Specht fuhr mit dem Kopf herum. „Wer
ſagt das, Herr Lux? Wer hat das behauptet?“
„Ihre Tochter,“ entgegnete jener gelaſſen. „Sie
ſchließen ſich ein und arbeiten im geheimen. Was ſollte
das anders werden als ein Meiſterwerk, wie wir 4s
ſchon längſt von Ihnen erwarten?“
Specht wurde immer unruhiger. „Ich male nicht,
verlaſſen Sie ſich darauf. Ich kann nicht malen, ich
bin ein elender Stümper.“
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 53
„Können Sie auch nicht mehr zeichnen, Herr Specht?“
Der ſchuldbewußte Mann ſaß da wie auf der An-
klagebank. Er murmelte etwas Unverſtändliches und
trocknete ſich den Schweiß von der Stirn.
Hans Lux aber fuhr fort: „Sie müſſen aus dieſem
Milieu heraus — das iſt alles. Ich habe Ihnen im
Namen der Redaktion ein Anerbieten zu machen. Ihr
Hausgenoſſe —“
Der Redakteur machte wie zufällig eine kleine Pauſe,
und Specht zuckte nervös zuſammen.
„Mein Hausgenoſſe? Wen meinen Sie damit?“
„Unſeren Herrn Linde natürlich. Ach ſo — ich
vergaß, daß noch ein anderer da iſt. Alſo Herr Linde
wird in den nächſten Tagen nach Paris gehen, um in
Verbrecherkreiſen Studien zu machen. Es ſoll ein Buch
werden, und zwar mit Illuſtrationen, denn das Publikum
verlangt das nun einmal ſo. Wir haben Sie als Zeichner
ins Auge gefaßt, und ich glaube, daß die Sache Ihnen
behagen wird, denn ein Mann von Ihrem Charakter
liebt das Neue, und mit Verbrechern und Verbrechen
haben Sie ſich ganz gewiß noch niemals in Ihrem
Leben befaßt.“
Über das Geſicht des Malers glitt der Schatten
eines matten Widerſpruchs. „Ich lehne ab. Ich kann
es nicht — ich will es nicht.“
„Oh,“ meinte Lux bedauernd, „ſollte ich mich wirk-
lich in Ihnen getäuſcht haben? Ich hielt Sie für einen
mutigen Mann, und überdies iſt gar nicht viel Gefahr
dabei. Dieſe Apachen, um die es ſich hier hauptſächlich
handelt, ſind trotzige Burſchen, die kein Hehl aus ihren
Taten machen und der Gewalt die Gewalt entgegen-
ſetzen; aber wer ihnen harmlos und freundlich ent—
gegentritt, dem ſind ſie weniger gefährlich als jene
ſchleichenden Verbrecher, die ihr Opfer mit Trug und
54 Die Apachen. 2
— . — —
Liſt umgarnen und es ſchließlich doch in den Abgrund
ſtoßen.“
Ganz leicht und ſcheinbar abſichtslos ſprach Hans
Lux dieſe Worte, aber ſie übten eine mächtige Wirkung
aus. Der von Alkohol und Sorgen entnervte Mann
brach plötzlich zuſammen, er legte das Geſicht in die
Hände und begann zu weinen.
Lux hatte dieſe Kriſis vorausgeſehen und wartete
geduldig, bis der Maler ſich ein wenig beruhigte; dann
fing er einen Blick auf, den jener heimlich nach der
Tür richtete, und legte ſeine Hand auf Willibalds Arm.
„Das iſt nun zu ſpät, mein Lieber. Wir können
eine Weile mit der Maske unter den Leuten herum-
gehen, aber wenn die Mitternacht herangekommen it,
dann müſſen doch alle Larven fallen. Sie ſtehen jetzt
unter dem Bann der Mitternacht und ſollen mir dant-
bar ſein, daß ich Sie davon erlöſe — es hätte ſonſt
eine Kataſtrophe geben können.“
„Ich ging mit Selbſtmordgedanken um,“ ſagte
Specht leiſe.
„Ja, das iſt die moderne Löſung, wenn die Schuld
ihren Wechſel präſentiert. Schämen Sie ſich nicht,
Herr, mit dieſem Gedanken zu ſpielen, wo Sie nur
die Augen zu öffnen brauchen, um Leben und Kraft
in Ihrer nächſten Nähe zu ſehen? Es muß ein ſchlimmer
Dämon ſein, der Ihr Denken und Handeln verwirrt,
und wenn ich Ihnen helfen ſoll, dann müſſen Sie mir
die volle Wahrheit bekennen. Ich möchte Ihnen näm-
lich beiſtehen, Herr Specht, und ich habe deshalb dieſe
Stunde herbeigeführt, denn ich will nicht, daß die eigene
Tochter als Anklägerin auftritt und die Schande or
Familie vor das Gericht bringt.“
Da legte Willibald Specht feine Beichte ab. Er
ſchilderte, wie Jules Renard allmählich das Netz nach
D Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 55
ihm ausgeworfen und Maſche für Maſche um ſein
Gewiſſen geknüpft; wie er mit überlegenem Geiſte
alle rechtlichen und moraliſchen Bedenken beſeitigt und
geſchickt den richtigen Augenblick benützt hatte, um aus
dem Vertrauten ſeiner Pläne einen Bundesgenoſſen
zu machen.
„Sie ſollten ihn nur kennen lernen,“ ſagte der Maler.
„Dieſer Dämon aus der Tiefe gehört zu den Männern,
die unendlich Großes vollbringen könnten, wenn ihnen
nicht die Verachtung gegen alles eingeboren wäre, was
die menſchliche Geſellſchaft zuſammenhält; feine Ver-
brechen ſind nicht eine Notwehr gegen das Leben,
denn er könnte ſich mit ſeinen Gaben ſpielend den
Unterhalt ſchaffen, ſondern fie find ein Spott über
Narrheit und Blindheit, den der Willensdrang in die
Tat umſetzt. Solche Männer löſen Bewunderung und
Haß aus, wie die Welt ſie gegen einen Napoleon ge—
hegt hat, und wen fie zu ihrem Bundesgenoſſen er-
küren, der fällt ihnen als Sklave anheim. Er hat mir
ein Vermögen geboten, und das iſt für einen armen
Teufel die ſchwerſte Verſuchung, aber wenn ich dafür
hätte ſtehlen ſollen, dann ſäße er heute hinter Schloß
und Riegel. Was mich bezauberte, das war die Zdee,
das war die gigantiihe Vorſtellung, der Wiſſenſchaft
und der Kunſt und der Kritik eine ungeheure Naſe zu
drehen, mich für alle Demütigungen zu rächen, die ich
ſelbſt als Künſtler erfahren habe. Durch meine Kunſt,
Herr. Denn wenn Renard auch das Größere vollbracht
hatte, das ſcheinbar Unmögliche — Sie ſollten ſie nur
leſen, dieſe Gedanken und Formen, die eines Leſſing
würdig ſind! — ich war doch nicht nur der Hand—
langer und der mechaniſche Abſchreiber, ſondern ich
hatte die Aufgabe, ſo gut wie jener einen Charakter
wiederzugeben, denn die Schrift des Menſchen iſt wirk⸗
56 Die Apachen. 0
lich ein Spiegel des Charakters. Man foll unfere
Graphologen nicht als Narren und Phantaſten brand-
marken. Es war ein Kunſtwerk, zu dem ich mich durch
Lektüre und Studien und Phantaſie vorbereiten mußte,
wie der Schauſpieler es tut, wenn er eine Rolle in
ſich verarbeitet, anſtatt ſie mechaniſch auswendig zu
lernen, und ich wäre ſtolz darauf geweſen, wenn ich
meinen Namen hätte darunter ſetzen dürfen.“
Hans Lux lächelte unmerklich. „War es nur die
verletzte Eitelkeit, die Zonen das Werk verleidete?“
„Nein,“ ſagte der Maler und ſuchte mit den Augen
die Erde, „es war doch etwas anderes. Die Akademie-
profeſſoren haben mich einen Stümper genannt, und
die Kritik nannte mich einen Harlekin. Aber das Volk
ſuchte und fand dennoch in den grotesken Linien meines
Stiftes fein Beſtes: den Humor. Das deutſche Volk
nannte mich dennoch einen Künſtler, und ich fand nicht
den Mut, das Volk in einem ſeiner beſten Geiſter zu
betrügen. Ich bin eben ein ſentimentaler Deutſcher,
und es wurmte mich, daß ein Franzoſe uns alle narren
wollte. Das iſt der Schluß meiner Beichte.“
Der Redakteur hatte ſich erhoben und durchmaß
nachdenklich das Zimmer. Plötzlich blieb er vor dem
Maler ſtehen.
„Übermorgen gehen Sie mit Linde nach Paris.“
„Nach allem, was ich Ihnen geſtanden habe?“
„Ja — nach allem. Glauben Sie, daß ich ein
Polizeiſpitzel und ein Denunziant bin? Was Sie von
dieſem unſeligen Werk fertiggeſtellt haben, iſt ein Stück
Papier, weiter nichts. Solange es nicht in die Welt
flattert, haben die Gerichte nichts damit zu ſchaffen.
Werfen Sie es ins Feuer, oder heben Sie es zur War—
nung auf. Die Bilder, die wir von Fhrer Kunſt er—
halten, werden echt ſein. Den anderen —“
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon.
57
„Wenn Sie ihn anzeigen, bin ich verloren.“
„Den anderen nehme ich auf mich. Er ſoll ver—
ſchwinden und ſeinem Schöpfer danken, daß er es darf.
Wo treffe ich ihn am beſten unter vier Augen?“
„Doch nicht in meiner Wohnung?“
„Nein, Ihre Wohnung iſt mir heilig. Vielleicht
ahnen Sie nicht einmal warum. Kriecht er denn nie
aus ſeinem Bau?“
„Doch,“ entgegnete Specht zögernd. „Seitdem ich
ſelbſt bei der Arbeit bin, geht er jeden Nachmittag in
den Tiergarten. Er hat jetzt Zeit, und ich muß für ihn
ſchuften — in zwei Wochen ſoll alles fertig ſein.“
„Gut, alſo nun geben Sie acht. Sie gehen jetzt
nach Haufe und bringen das Manuſkript des Franzoſen
unter ſicheren Verſchluß. Dieſes Teufelswerk darf nicht
in ſeine Hände zurückgelangen, denn wenn ſonſt nichts
hilft, dann brauchen wir es gegen ihn als letzte Waffe.
Um das weitere kümmern Sie ſich nicht, denn ich hoffe
die ganze Angelegenheit in der Stille zu erledigen.
Die blaue Stube, mein altes liebes Quartier, iſt lange
genug von unſauberen Händen entweiht worden; es
wird Zeit, daß wir ſie auslüften und einer beſſeren
Beſtimmung entgegenführen.“
* *
%
Als Berta um die Mittagszeit von der Redaktion
nach Hauſe ging, flogen ihr unter den Linden gelbe
Blätter vor die Füße. Es war Herbſt geworden über
Nacht.
Sie hatte einen freien Nachmittag vor ſich. Von
zwölf bis ein Uhr war ſie noch mit Hans Lux auf deſſen
Bureau zuſammen geweſen, um nach ſeinem Diktat
einen Feuilletonartikel niederzuſchreiben.
Da hatte der Redakteur geſagt: „Für heute wollen
58 Die Apachen. 2
wir Feierabend machen. Sie müſſen Ihrem Vater
beim Packen helfen, denn der Chef hat die Abreiſe ſchon
auf morgen feſtgeſetzt. Im journaliſtiſchen Beruf geht
es genau wie bei einer Mobilmachung. Sie dürfen
auch ein Auge auf Egberts Koffer werfen, daß er nicht
etwa aus Verſehen ſein Herz hineinlegt und nach Paris
mitnimmt. Auf den Boulevards der Seineſtadt braucht
er nur die Augen und den Verſtand, das dumme Herz
bleibt beſſer unter einer ſicheren Obhut.“
Es war nicht das erſte Mal, daß er ſo ſcherzte, und
in den letzten Tagen hatte er öfters dieſe Andeutungen
gemacht.
Berta ging immer langſamer, und ihre Gedanken
flatterten wie die Blätter auf dem Aſphalt.
Ach ja, fie wußte, daß die Liebe dieſes jungen Haus-
genoſſen ſich ihr zugewendet hatte und daß Hans Lux
dieſe Neigung in ſeiner ſtillen Weiſe behütete. Sie
fühlte es auch: Jugend gehört zur Zugend und Leben
zum Leben. Aber es war noch mehr als ein Schatten
dazwiſchen, und die Schatten müſſen erſt in der Nacht
untergehen, bevor das Auge einem kommenden Tage
entgegenblicken darf. —
Ungeachtet dieſer nachdenklichen Stimmung, die das
tatkräftige Mädchen ſonſt nicht kannte, verlief das
Mittageſſen heute heiterer, als es in der letzten Zeit
der Fall geweſen war. Der Vater zeigte ſich auf-
geräumt, machte für die bevorſtehende Reife allerhand
Pläne und ſprach davon, daß das geplante Buch ihn
noch zu einem bekannten Künſtler machen werde.
„Wenn zwei fixe Kerle zuſammenwirken,“ ſagte er,
„dann kommt immer was Geſcheites heraus. Der Titel
muß freilich aktuell ſein. Die Apachen in Bild und
Wort, meinetwegen auch: in Wort und Bild. Der
Einband wird natürlich mit einer Vignette verſehen.
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 59
Ein richtiger Apachenkopf, für den ich die Züge ſchon
im Stift habe — vergiß nicht, meine Zockeimütze ein-
zupaden, Berta. Wir müſſen im Näuberkoſtüm herum-
laufen, ſonſt haben die Kerls kein Vertrauen zu uns.
Du haſt doch keine Angſt um deinen Papa, Mädchen?“
Sie freute ſich über die gute Stimmung ihres
Vaters, und daß endlich ſeine Energie aufgewacht war.
Nur ein wenig ſchrak ſie zuſammen, als er von dem
Apachenkopf ſprach und dabei einen ſeltſamen Blick
nach der Tür warf.
Wenn es nur nicht ſo dunkel und ſtürmiſch draußen
geweſen wäre und dabei doch ſo regenlos, wie ein
Verhängnis, das ſich nicht aus den Wolken loslöſen
kann! —
Während ſie packten und Berta ſich heimlich über-
zeugte, daß das unheimliche Schreibwerk verſchwunden
war, kam Egbert heim. Er pfiff auf dem Korridor
ein luſtiges Studentenlied und zerrte ſeinen Reiſekoffer
vom Flurſchrank herab.
Nach einer Weile ſagte Berta: „Ich muß nun hin—
über und ihm ebenfalls helfen, Vater. Herr Lux hat
es mir anbefohlen.“ |
Der Alte ſah fie pfiffig an. „Vergreif dich nur nicht
in der Tür, Kleine. Ich glaube, der Franzos wird
auch nächſtens packen.“
Das war ſeltſam und hing offenbar mit dieſem
Stimmungswechſel des Vaters zuſammen. Aber Berta
ſchwieg und verließ das Zimmer.
Auf dem Korridor begegnete ihr Charles Renard.
Er trug Hut und Überzieher und ſuchte im Ständer
nach ſeinem Schirm.
„Ich will einen Spaziergang in den Tiergarten
machen,“ fagte er. „Aber es wird wohl regnen. Zſt
Ihr Herr Vater zu Haus, Fräulein Specht?“
60 Die Apachen. Do
„Ja. Er hat fih wie gewöhnlich eingeſchloſſen. Er
arbeitet.“
Einen Augenblick ruhten die Blicke der beiden in-
einander, forſchend, mißtrauiſch und feindſelig. Dann
grüßte der Franzoſe höflich und verließ das Haus. —
Und die beiden jungen Leute begannen zu packen.
Es galt einen Abſchied, vielleicht für längere Zeit, aber
ſie ſprachen nicht darüber, ſondern das Mädchen kniete
ſtumm vor dem Koffer und legte ſorgſam die Sachen
hinein, wie Egbert ſie ihr reichte. Aber ein Herz war
nicht dabei, das glaubte ſie nur klopfen zu hören, wenn
er ſich über ſie beugte. Vielleicht war es auch ihr
eigenes.
Endlich ſagte er: „Ihr Vater war heute auf der
Redaktion bei Lux. Sind Sie ihm begegnet?“
„Nein,“ entgegnete Berta und hielt den Atem an.
Aber dann ſetzte ſie ruhiger hinzu: „Es wird wegen
der Pariſer Reife geweſen fein. Ich wüßte ſonſt nicht —“
„Nein, ich auch nicht. Es fiel mir nur auf, daß
Lux auswich, als ich ihn danach fragte — er war über-
haupt ungewöhnlich wortkarg und ſah etwas angegriffen
aus. Wir haben jetzt die rauhen Herbſttage zu erwarten,
und ich würde ihm eine Reife in den Süden anraten.“
Berta ſeufzte. „Sie wiſſen ja, wie ſehr er an der
Arbeit hängt; kaum zu einem Spaziergang gönnt er
ſich die Zeit.“
„Na, heute wollte er wenigſtens einen Bummel in
den Tiergarten machen. Denken Sie nur, bei dieſem
Wetter!“
Damit war die Unterhaltung zu Ende. Gleichgültige
und leere Worte, die über den Gedanken des Abſchieds
hinweghelfen ſollten, und dann waren ſie doch plötz—
lich mitten darin.
Denn Berta ſagte: „Werden Sie uns zuweilen
-D Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 61
aus Paris ſchreiben? Wie das mit meinem Vater gehen
wird, weiß ich ſchon im voraus; er hatte niemals große
Neigung für Familienbriefe.“
„Sie können ja meine Berichte in der Zeitung
leſen, Fräulein Berta.“
„Ach ja, was für alle Welt geſchrieben iſt! Man
will aber doch auch etwas Eigenes haben.“
„Alſo etwas über mich ſelbſt —“
„Ja. Die Wahrheit. Unter dem Strich, im Feuilleton
wird immer ausgeſchmückt. Aber ich will wiſſen, wie
es Ihnen ergeht — auch wenn Sie in Gefahr geweſen
ſind.“ | Ä
„Oder wenn ich leichtſinnig war. Denn Sie dürfen
nicht vergeſſen, daß ich nach Paris gehe.“
Es ſollte ein Scherz ſein, aber ſie blickte ihn ſo
ernſthaft an, daß es ihm leid tat und er ihr die Hand
gab.
„Sie ſollen mit mir zufrieden ſein, Berta. Ich bin
kein Knabe mehr, und wenn auch noch kein Examen
über mich abgehalten iſt, dieſe Zeit ſoll dafür gelten.
Wenn ich dann zurückkomme —“
„Ja,“ ſagte ſie haſtig, „hier iſt doch Ihre Heimat.
— Und nun haben wir den Koffer abgeſchloſſen, und
das Zimmer macht einen öden Eindruck. Kommen Sie
mit hinüber, ich werde Ihnen die letzte Unterrichts-
ſtunde geben. So geht der Reft des Tages herum.“
Es wurde aber nicht viel aus dem Unterricht, denn
fie horchten beſtändig auf das Wetter, deſſen Ungeftüm
immer mehr anwuchs, als ob alle Blätter von den
Bäumen herunter müßten.
Berta begann plötzlich von Lux zu ſprechen. Jene
hingeworfene Bemerkung, daß er einen Spaziergang
in den Tiergarten hätte machen wollen, kam ihr wieder
in den Sinn, und obwohl es ſo unendlich alltäglich iſt,
62 Die Apachen. u
daß ein Mann auch im Herbſtſturm zwiſchen Bäumen
und Büſchen wandert, fo begann fie doch immer un-
ruhiger zu werden, ohne daß Egbert einen Zufammen-
hang herausfinden konnte.
Der Maler hatte ſich zu den beiden jungen Leuten
geſellt, nach ihm kam auch Frau Eugenie, und die
nervöſe Unruhe des Mädchens wirkte ſo anſteckend,
daß fie alle zuſammenfuhren, als plötzlich im Neben-
zimmer das Telephon anklingelte.
Willibald Specht ging hinüber und rief gleich darauf
nach Egbert. Es war von der Redaktion eine Anfrage
gekommen, und der Maler hörte das Geſpräch mit an.
Ob vielleicht der Redakteur Lux zufällig dort ſei,
wurde gefragt. Es ſei eine dringende Arbeit zu er-
ledigen, und man habe vergeblich in der Wohnung
angefragt.
Egbert antwortete: „Herr Lux wollte einen Spazier-
gang in den Tiergarten machen. Aber er müßte ſchon
längſt zurück ſein. Weitere Auskunft kann ich nicht
geben.“
Als er das Hörrohr wieder an den Haken hing,
fühlte er eine Hand auf ſeinem Arm. Es war Willibald
Specht, der geiſterhaft blaß in die niederſinkende Däm-
merung hinausſtarrte und einige Worte murmelte, aus
denen nur der Name Renards zuſammenhanglos her-
ausklang.
Dann ſchellte es an der Rorridortür, und als die
beiden Männer in das Wohnzimmer zurückkehrten,
fanden ſie Berta allein, während Frau Eugenie draußen
mit jemand verhandelte, eine Zimmertür öffnete und
wieder hinter ſich ſchloß.
Die drei horchten.
„Wer war das?“ fragte Egbert. „Die Stimme kam
mir bekannt vor.“
0 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 63
Keine Antwort. Sie wußten ja alle, daß Frau
Eugenie Kunden empfing, die nicht geſtört werden
wollten, aber es war eine ungewöhnliche Zeit, und es
war die Stimme eines Mannes geweſen.
Deſſen Schritt eilte jetzt plötzlich wieder haſtig über
den Korridor.
Gleich darauf kam Frau Eugenie wieder herein.
Es war jetzt ſo dunkel geworden, daß Berta die
Lampe angezündet hatte, und nun ſahen fie das ver-
ſtörte Geſicht der Frau, die auf einen Stuhl ſank und
die rechte Hand krampfhaft geſchloſſen hielt.
„Ich weiß nicht,“ ſagte ſie tonlos und ohne jeden
theatraliſchen Affekt, „das iſt fo ſonderbar. Da kommt
Herr Renard, während ihr drinnen ſeid, bittet mich
haſtig um Licht, und wie ich nach ſeinem Zimmer
komme, hat er ſchon den Schreibtiſch aufgeſchloſſen
und wühlt in einem Haufen Geld. Er ſtopft es nur ſo
in ſeine Taſchen, wirft mir ein paar Goldſtücke zu,
ſagt, daß er eine Depeſche bekommen hätte, und rennt
wieder davon. Wenn das eine Kündigung ſein ſoll,
ſo iſt ſie jedenfalls ſehr auffällig, denn die Sachen ſind
alle zurückgeblieben.“
Sie öffnete die Hand und zählte mechaniſch die
Goldſtücke. Sie war ganz geiſtesabweſend und reihte
die blitzenden Doppeltronen vor ſich auf den Tiſch —
es war faſt ein unheimlicher Anblick.
Willibald Specht brach den Bann. „Wirf es von
dir,“ ſagte er plötzlich, „an dieſem Gelde klebt ein Ver
brechen. Ich weiß nicht, ob es mit Blut erworben
iſt, aber ein ehrlicher Menſch nimmt das nicht in die
Hand, und ich bin von heute ab ein ehrlicher Mann
geworden. Eine ODepeſche will er bekommen haben,
dieſer Schwindler? Was er redet, iſt Lüge, und was
er handelt, iſt Betrug — wir werden ihn nicht wieder-
64 Die Apachen. 2
ſehen, oder die Gerichte müßten ihren Arm nach ihm
ausſtrecken. — Kommen Sie mit mir, Herr Linde, wir
wollen in die Nacht hinaus und unſeren Freund ſuchen.
Wir werden in Paris dunkle Wege zu gehen haben,
aber dies iſt vielleicht der dunkelſte von allen. Der
Himmel gäbe, daß er nicht vergeblich iſt und nicht zu
ſpät.“ |
Es war eine Haft und eine Unruhe über ihn ge-
kommen, die um fo unheimlicher wirkte, weil die
anderen ſeine Andeutungen nur halb begriffen.
Aber Berta drängte die Männer nach der Tür und
ſagte zu Egbert: „Wenn ihm etwas zugeſtoßen iſt,
bringt ihn hierher. Er hat ſchon einmal unter unſerem
Dache eine Zuflucht vor dem Schickſal gefunden, und
das Verhängnis ſucht immer wieder die alten Wege.“
Dann brach ſie in Schluchzen aus, und es waren
die erſten Tränen, die Egbert in dieſen klaren und
mutigen Mädchenaugen ſah. —
Die beiden nahmen eine Droſchke und fuhren zu-
nächſt nach der Wohnung des Vermißten, denn Willi-
bald Specht gebrauchte ſchon dieſen Ausdruck, und er
verſteckte darunter offenbar einen anderen.
Hans Lux war noch nicht zu Hauſe eingetroffen.
Aber die Witwe, bei der er wohnte, war ſchon zum
zweiten Male von der Redaktion angerufen worden,
und ſie meinte, es müſſe irgend etwas paſſiert ſein,
denn ihr Mieter lebe ſehr regelmäßig und ſei um dieſe
Zeit immer zu Hauſe.
Dann fuhren die Männer nach dem Brandenburger
Tor.
Es war ſchon vollſtändig dunkel geworden, und die
Linden lagen unter einem Meer von elektriſchem Licht.
Als fie durch das Tor gefahren waren, rauſchte ihnen
das Geheimnis der Bäume entgegen.
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 65
Specht ließ den Wagen halten.
„Hier müſſen wir zu Fuß gehen,“ ſagte er. „Anſer
Weg führt jetzt abſeits. Wenn wir etwas finden, dann
iſt es da, wo das Leben ſchweigt.“
Er nahm den Arm ſeines Begleiters.
„Sie find verwirrt, Sie wiſſen nicht den Zufammen-
hang. Aber wir ſollen Kameraden ſein. Es würde
mir das Herz abdrücken, wenn ich neben Ihnen her-
gehen müßte mit einem Geheimnis.“
Dann begann er zu erzählen von dem Verſucher,
der an ihn herangetreten war, von feiner eigenen
Schwäche und Reue, und was Hans Lux geplant hatte.
„Sie ſind zuſammengetroffen,“ ſagte er, „hier unter
dieſen Bäumen, an dieſem dunklen, ſtürmiſchen Nach-
mittag, wo die Seitenwege des Tiergartens ſo einſam
ſind wie der Grunewald zur Nachtzeit. Gehen Sie
einmal mit einem Verbrecher Seite an Seite und ſagen
Sie ihm ſein Verbrechen ins Geſicht — Sie haben es
in Moabit gelernt, was dann geſchehen kann. Denn
was dieſer Franzoſenhund unter meinem Dach aus-
brütete, das iſt nicht feine einzige Untat. Wenn wir
morgen zu den Apachen gehen, ſo weiß ich, wie ſie
ausſehen, ich habe ja einen davon im Haufe gehabt —
und vielleicht den Schlimmſten von allen, denn er iſt
ſo klug wie ein Teufel.“
So ſprach Willibald Specht in feiner haſtig flattern-
den Art, und währenddeſſen irrten ſeine Augen zwiſchen
die Bäume, deren Wipfel unter einem regenloſen
Winde rauſchten.
Sie waren noch nicht ganz in die Dunkelheit ge—
kommen, denn hie und da brannten noch Laternen,
die ihr unſicheres Licht auf wirbelnde Blätter warfen
und jetzt über einen Polizeihelm hinblitzten.
Egbert, der weniger planlos war als ſein Begleiter,
1913. X. 5
66 Die Apachen. a]
rief den Beamten an und fragte, ob er ſchoͤn lange
hier auf Poſten ſei.
„Seit vier Stunden,“ ſagte der Mann. „Ich er-
warte jeden Augenblick meine Ablöſung.“
„Sind viele Leute hier vorübergekommen?“
„Nein. Es iſt ein vorgeſchobener Poſten, und bei
dieſem Wetter —“
„Ganz recht. Vielleicht aber doch zwei Männer,
ein großer bartlofer, der andere kleiner und mit einem
ſchwarzen Henriquatre?“
„Ja, die ſind mir aufgefallen. Sie gingen dort links
nach dem einjamften Teil des Tiergartens.“
„Stritten ſie miteinander?“
„Daß ich nicht ſagen könnte. Weshalb?“
„Es iſt ein Verbrechen geſchehen,“ ſagte Willibald
aufgeregt. „Der eine wird vermißt, der andere hat
die Flucht ergriffen. Er wird um dieſe Stunde Berlin
ſchon verlaſſen haben.“
Die Ablöſung kam in dieſem Augenblick heran, und
die beiden Beamten ſprachen halblaut miteinander.
Dann ſagte der zweite: „Mein Kollege wird Sie
führen, meine Herren. Wenn wirklich etwas an der
Sache iſt, dann kann es ſich nur um einen einzigen Platz
handeln, der wenige Minuten von hier und tatſächlich
ſehr einſam liegt. Ein Hilferuf iſt nicht gehört worden,
aber bei dieſem Sturm will das nichts bedeuten. Waren
die beiden Männer verfeindet? Für gewöhnlich geht
man dann nicht zuſammen ſpazieren.“
Willibald Specht ſchüttelte den Kopf. „Sie ſind
erſt auf dem Wege Gegner geworden. Mehr kann ich
auch nicht ſagen.“
Der abgelöſte Schutzmann hatte ſeine elektriſche
Taſchenlaterne angeknipſt und die Browningpiſtole ge-
lockert, mit der die Beamten ſeit einiger Zeit in den
fe) Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 67
entlegenen und von Geſindel durchſtreiften Gegenden
des Tiergartens ausgerüſtet wurden. Er winkte nur
mit den Augen, aber dieſe ſtumme Gebärde und ſein
tiefernſtes Geſicht verrieten hinreichend, daß er auf
alles gefaßt war.
Es kam noch hinzu, daß der Wind urplötzlich auf-
hörte, als ob die Natur den Atem anhielte, um zu
lauſchen, und jetzt vernahm man auch einen ſchwachen
Ruf, der ſich indeſſen nicht wiederholte und die erneut
eintretende Stille um ſo unheimlicher empfinden ließ.
Sie drangen in das Gebüſch. Der Laut hatte ihnen
die Richtung gegeben, und er machte das Einhalten
der Wege überflüſſig. Der Schutzmann war mehrere
Schritte voraus, und der Lichtfunke feiner kleinen La-
terne wurde bisweilen durch die Stämme verdeckt.
Dann war es ganz finſter.
Egbert ſagte zu ſeinem Begleiter: „In den Ver-
brecherkneipen von Paris werde ich mich nicht fürchten,
aber dies iſt ſchrecklich, denn wir wiſſen nicht, was die
nächſte Minute bringen wird.“
Ein ſchriller Pfiff.
Sie glaubten zuerſt, daß eine ganze Bande aus
ihren Schlupfwinkeln aufgeſtöbert ſei, denn der Tier-
garten war plötzlich lebendig geworden, und es rauſchte
überall in den Büſchen. Aber das waren nur die Krähen,
die in den Zweigen der Bäume niſteten.
Dann erhob ſich die Stimme des Schutzmanns:
„Hierher, meine Herren!“
Hans Lux lag unter einem Baume zwiſchen zu—
ſammengewehten Blättern, und das Licht der Laterne
fiel auf ſein blaſſes Geſicht. Als Willibald Specht und
Egbert herankamen, hatte der Beamte ihm bereits Nock
und Weſte geöffnet und feine Verbandtaſche zum Vor-
ſchein gebracht.
68 Die Apachen. 2
„Es iſt ein Stich in die rechte Bruſt,“ ſagte er ge-
dämpft. „Der Blutverluſt ſcheint ziemlich ſtark, aber
er lebt und hatte noch die Kraft zu rufen. Jetzt hat
die Schwäche ihn ohnmächtig gemacht. — Aha, da
kommt mein Kollege!“
Nun war die Einſamkeit plötzlich unterbrochen. Die
Notſignale der Beamten wurden ſchnell beantwortet,
und es ſammelte ſich nach und nach ein ganzes Auf-
gebot von Schutzleuten um den Ort des Verbrechens.
Von dem Hauptwege wurde eine Droſchke requiriert,
auch ein Arzt fand ſich zufällig, der die Unterſuchung
vornahm.
Der Mann der Wiſſenſchaft gab das erſte vorläufige
Gutachten ab. „Der Stich iſt durch die Kleidung ab-
geſchwächt worden,“ ſagte er, „es ſind keine edleren
Teile verletzt. Aber der Verwundete leidet im hohen
Grade an der Lungenſchwindſucht, und bei dem ver-
hältnismäßig ſtarken Blutverluſt iſt eine ernſte Kom-
plikation nicht ausgeſchloſſen. Frauenpflege iſt hier
nötiger als alle Medizin. Aber ich ſehe, daß der Herr
keinen Trauring trägt.“
Willibald Specht entgegnete: „Es werden zwei
Frauen um ihn fein, Dieſer Mann ſoll nicht von be⸗
zahlten Händen gepflegt werden. Es gibt eine Dank—-
barkeit und eine Liebe, meine Herren, die manchmal
noch über den Trauring hinausgeht.“
* *
*
Im Laufe des nächſten Tages reiſten Willibald
Specht und Egbert Linde ab, denn der Chefredakteur
Doktor Barkhauſen hatte ſie nun einmal für das Pariſer
Unternehmen engagiert, und wo es das Intereſſe feiner
Zeitung galt, kannte er keine Kückſichten und keine
Sentimentalität.
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 69
„Die Preſſe lebt ſtets im Felde,“ hatte er zum
Abſchied geſagt, „und die Lücken der Gefallenen werden
ſofort ausgefüllt.“
Dennoch beabſichtigten fie einen Umweg über Jena,
denn Egbert wollte ſeinen Vater begrüßen.
Hans Lux war in die Wohnung des Malers gebracht
worden und dort bald zum Bewußtſein gekommen; er
fühlte ſich imſtande, noch an demſelben Abend einem
Polizeikommiſſar gegenüber ſeine Ausſage zu erſtatten,
die freilich ſpärlich genug ausfiel.
Er habe den bei Willibald Specht wohnenden Fran-
zoſen Renard dort kennen gelernt und ſchon ſeit längerer
Zeit im Verdacht der Spionage gehabt, obwohl keine
greifbaren Beweiſe vorlagen. Um ſich Gewißheit zu
verſchaffen, ſei er wie zufällig mit dem Manne im
Tiergarten zuſammengetroffen und habe das Geſpräch
auf Politik gebracht. Der Franzoſe müſſe an Verrat
und Verhaftung gedacht haben, denn an einer ein-
ſamen Stelle des Tiergartens ſei er plötzlich über ihn
hergefallen, hätte ihn mit einem Oolchmeſſer verwundet
und die Flucht ergriffen.
Der Kommiſſar hatte ſodann die verlaſſene Woh-
nung des Verbrechers durchſucht, aber nichts Ver—
dächtiges vorgefunden; eine Verfolgung erſchien zu-
nächſt ausſichtslos, denn man wußte nicht einmal, ob
der Name richtig angegeben war.
Aber dieſe Dinge redeten die beiden Neiſenden mit-
einander, und obwohl ſie wußten, daß Hans Lux aus
Rückſicht auf Bertas Vater den wahren Zuſammen—
hang verſchwiegen hatte, ſo machten ſie doch den Ver—
ſuch, ſich darüber hinwegzutäuſchen.
Bis der Zufall es fügte, daß ſie beide allein im
Abteil waren und kein Lauſcher ſich in der Nähe befand.
Da legte Willibald Specht die Hand auf den Arm
70 Die Apachen. 2
ſeines Gefährten und ſagte halblaut: „Ich habe das
Manuſkript des Franzoſen an Lux gegeben. Es war
zuerſt meine Abſicht, dieſes unheimliche Schriftſtück zu
vernichten, aber Lux beſtand darauf, es zu leſen, und
als ich von ihm Abſchied nahm, lag es unter ſeinem
Kopfkiſſen. Glauben Sie, daß der Verfaſſer jemals
daran denken wird, ſein Eigentum von uns zurück—
zufordern?“
„Ich werde ihn danach fragen,“ entgegnete Egbert,
und als der Maler verwundert aufblickte, fuhr er fort:
„Neben der Aufgabe, die wir in Paris zu erfüllen
haben, gibt es für mich noch eine zweite zu löſen.
Geſtern haben Sie mir gebeichtet, ich will heute Ihnen
gegenüber Gleiches mit Gleichem vergelten.“
Und dann begann er von Käthe zu erzählen und
den beiden Briefen, die ſie miteinander gewechſelt
hatten, und von den Briefen ſeines eigenen Vaters.
Zum Schluß ſagte er: „Hier laufen die Fäden der
Begebenheiten zuſammen. Es iſt wie einer jener Kri-
minalromane aus dem Leben, die ich in Moabit kennen
gelernt habe. Das Papier, das Jules Renard Ihnen
zur Verfügung ſtellte, ſtammt offenbar aus dem Dieb-
ſtahl bei Tonndorf, und damit iſt ein Zuſammenhang
zwiſchen Renard und Käthes damaligem Verlobten
hergeſtellt. Wiederum wußte kein Menſch in Paris
etwas von Ihren Fähigkeiten als das Mädchen allein,
denn ich ſelbſt hatte es ihr, allerdings ganz beiläufig,
geſchrieben, und dieſe Tatſache ſchließt den Ring der
Beweiſe. Wir gehen jetzt zu den Apachen, und mir
ſagt meine Ahnung, daß wir in dem Kreis dieſer Ver—
worfenen jene drei Menſchen wiederfinden werden.
Ob wir die Verlorene retten können, weiß ich nicht,
der nächſte dazu iſt ihr eigener Vater, und aus dieſem
Grunde machen wir den Umweg über Jena. Aber
D Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 71
die beiden anderen will ich ſo lange ſuchen, bis ſie in
meinen Händen ſind, und dann werden wir miteinander
abrechnen. Wenn Sie, Herr Specht, nun noch eine
Frage zu ſtellen haben, dann bin ich bereit, ſie offen
und ehrlich zu beantworten.“
„Eine einzige,“ entgegnete Willibald Specht. „Ihre
Liebe zu dieſem Mädchen iſt tot?“
„Sie war eine Täuſchung von Anbeginn. Mein
Herz gehört einer anderen, und ich brauche Ihnen den
Namen nicht zu nennen. Dieſe Liebe geht vielleicht
über Gräber, aber es iſt ein wahres Wort, daß den
Lebenden die Welt gehört, denn das Leben behauptet
überall ſein Recht.“
* *
*
Als über dieſen Tag der Abend niederging, begann
Hans Lux von den beiden Reiſenden zu ſprechen und
ſagte, daß er demnächſt ſelbſt eine Reiſe antreten werde.
Sie hatten ihn in Egberts Zimmer untergebracht,
und Berta wich nicht von ſeiner Seite. Als aber dieſe
Andeutung von einer bevorſtehenden Reiſe fiel, da
wurde ſie unruhig und wollte nach dem Arzt ſchicken.
„Tun Sie das nicht,“ bat er, „ich möchte viel lieber
mit Ihnen plaudern. Wir wollen die Lampe anzünden
und die Vorhänge niederlaſſen. Draußen iſt es ja doch
dunkel geworden.“
„Nicht fo dunkel wie geſtern um dieſe Zeit,“ ent-
gegnete ſie. N ö
„Das iſt eine Täuſchung, Berta. Geſtern waren
Sie um mich in Sorge, obwohl kein Menſch dieſen
Ausgang ahnen konnte. Wiſſen Sie noch, an meinem
Geburtstag verglich ich Sie mit der germaniſchen Seherin
Velleda. Ich glaube, Sie haben wirklich einen Blick
für das Kommende.“
72 Die Apachen. 2
Als ſie dann etwas erwidern wollte, hob er die
durchſichtige Hand und drohte mit dem Finger.
„Nein, davon ſollen Sie nicht ſprechen. Ich weiß,
daß Liebe ahnen kann, aber zwiſchen uns beiden iſt
es niemals ſo geweſen wie zwiſchen zwei jungen blühen⸗
den Menſchenkindern. Nur Freundſchaft, Berta, und
ein bißchen gegenſeitige Achtung. Wollen wir uns nicht
‚Du‘ nennen? Wir hätten das längſt tun ſollen.“
Sie hatte die Lampe angezündet und glättete ihm
das Kiſſen. „Du ſollteſt ſchlafen, Hans.“
„Später. Zetzt ſetz dich auf dieſen Stuhl, ſo daß
dein Geſicht im Lichtkreis iſt. Schön biſt du doch, das
kann ich dir jetzt ganz ruhig ſagen, und ein anderer
weiß es auch. Der arme Kerl, er muß jetzt unter die
Apachen und würde gewiß viel lieber hier ſitzen.“
„Er iſt in ſeinem Beruf, Hans.“
„Natürlich, deshalb habe ich ihn ja hinausgeſchickt.
Wenn er ſeine Schuldigkeit tut, dann ſoll er feſt
bei der Redaktion angeſtellt werden, ich habe ſchon
mit dem Chef darüber geſprochen. Er kriegt meine
Stelle.“
„Die haſt du doch ſelbſt, Hans!“
„Die Stelle, die ich kriege, wünſche ich ihm nicht.
— Warum weinſt du, Berta?“
Sie konnte es nicht mehr ertragen und ging hinaus
— wohl auch in der Hoffnung, daß er zur Ruhe kommen
und einſchlafen würde.
Aber als ſie nach einiger Zeit leiſe zurückkehrte, las
er in dem Manufkript, das unter feinem Kiſſen gelegen
hatte.
„Dies iſt das Werk, mit dem die deutſche Literatur
betrogen werden ſollte,“ ſagte er. „Ich bewundere
den Geiſt des Verfaſſers. Es iſt ſeltſam, wie nahe die
Gegenſätze beiſammen wohnen. Und es iſt traurig,
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 73
daß wir fälſchen müſſen, um das Ohr der Menge zu
gewinnen. Haſt du ein Licht?“
„alt es dir zu dunkel?“ fragte fie angſtvoll. „Die
Lampe brennt doch ganz hell!“ |
„Nein, das, woran du denkſt, kommt erft ſpäter —
vielleicht um Mitternacht oder gegen Morgen. Aber
ich möchte dennoch die offene Flamme ſehen.“
Als fie ihm den Willen getan und eine Kerze an-
gezündet hatte, nahm er das Manuſkript in die Hand.
„Es iſt ſchade darum. Aber die Literaturgeſchichte
will wiſſen, daß Leſſing es mit ſeinem Original ebenſo
gemacht habe. Und wenn die Aſche zerſtoben iſt, dann
hat auch die Erinnerung ihr Grab gefunden.“
Ein loderndes Aufflammen, dann legte Hans Lux
ſich in die Kiſſen zurück und wurde ganz ſtill.
Aber die Genoſſin ſeiner Arbeit ging nicht wieder
hinaus, ſondern ſie verſchleierte nur ein wenig die
Lampe und ſetzte ſich dicht neben das Lager, denn
ſeine Stimme hatte ſehr matt geklungen.
Sie wußte jetzt, daß er ſterben werde. „Etwas
früher und ſchneller, als es ſonſt der Fall geweſen
wäre,“ dachte ſie bei ſich — „wer weiß, ob das nicht
ganz gut iſt.“ |
Denn dieſer Ritter vom Geiſt war immer ein großer
Arbeiter geweſen, der das Dämmern und die lang-
ſamen Übergänge haßte. Wenn fein ſchleichendes Übel
ihn zur Untätigkeit gezwungen hätte, dann wäre er
grämlich und mißmutig geworden, nun aber war es
nur wie ein Sonntag nach der heißen Werktagswoche
— und morgen war es nichts mehr.
Das Dämmern aber kam dennoch.
Da ſprach er halblaut vor ſich hin und offenbarte
ſeine tiefſten Gedanken, denn die kommen erſt zualler—
letzt, und ſie ſind wie ein umflortes Licht.
74 | Die Apachen. u
„Trauern um Tote iſt eine Torheit,“ ſagte er. „Denn
die Toten haben es ſehr gut.“
Und zuletzt kam es flüſternd heraus, daß Zugend
und Liebe alle Lücken ausfüllen.
Um zehn Uhr ging Berta hinüber zu ihrer Mutter.
Die hatte noch ſoeben einer ſpäten Kundin die Zukunft
gewahrſagt, die Karten lagen noch verſtreut auf dem
Tiſch, nur das Treffas, das nach den Geſetzen der
ſchwarzen Kunſt allemal den Tod bedeutet, war her-
untergefallen.
Berta hob es auf und ſagte ſehr leiſe: „Diesmal
haben die Karten recht. Er iſt ſoeben eingeſchlafen.“
Die müde und vergrämte Frau nickte mit dem
weißen Kopf. „Ich wußte es. Der Doktor hatte mir
davon geſagt. Wollte er keinen Notar?“
„Nein, Mutter. Aber ich kenne ſeinen letzten Willen.“
„Ein Vermächtnis?“
„Ja — und ich will es erfüllen.“
(Fortſetzung folgt.)
_
*
87 J TER
Die Zukunft Marokkos.
von E. E. Weber.
mit s Bildern. N * lnachoͤruck verboten.)
Nochdem Frankreich das Protektorat über Marokko
übernommen hat, werden nicht nur im Lauf der
Zeit die inneren Verhältniſſe die bisher fehlende Sicher
heit erhalten, ſondern es wird nun auch zur Nutzbar—
machung der natürlichen Reichtümer dieſes vielfältig
bevorzugten Landes geſchritten werden können. Be—
kannt iſt, daß die gebirgigen Teile große Mineralſchätze
bergen, die heute noch ſo gut wie völlig brachliegen.
Mehr aber noch wird Marokko ein Betätigungsfeld für
den Landwirt werden. Es bedarf hier für weite Ge-
biete nur der modernen Bearbeitung und einer Ver-
beſſerung der Verkehrsmittel zur Erleichterung des Ab-
ſatzes der landwirtſchaftlichen Erzeugniſſe, dann wird
ſich bald ein wahres Dorado für tatkräftige, fachmänniſch
geſchulte Landwirte auftun.
Ein breiter Gürtel fruchtbarer Schwarzerde durch-
zieht die ſubatlantiſchen Ebenen. Weiter landeinwärts,
im Steppengebiet, kann ſich die Viehzucht aufs beſte
entwickeln. Man zählt dort ſchon jetzt 40 Millionen
Schafe, die zumeiſt ſehr gute Wolle liefern, 11 Millionen
Ziegen und 6 Millionen Rinder. Dazu kommen noch
bedeutende Mengen von Pferden, Eſeln, Maultieren
und Kamelen. Am Fuß des Atlas zieht ſich die Zone
76 Die Zukunft Marokkos. 2
der Fruchtbäume hin, die alle Fruchtarten des ſüdlichen
Europas aufweiſt.
An Feldfrüchten gewinnt man gegenwärtig in
Marokko Weizen, Gerſte, Mais, Hirſe und Bohnen.
Wenn die Landwirtſchaft heute noch auf einer erſtaun—
lich tiefen Stufe ſteht, ſo iſt dies auf verſchiedene Gründe
zurückzuführen. Die meiſte Schuld daran trägt die
reer ————̃ ]ilV7 2 —— —h P n — 2
N x
Beaderung des Feldes mit dem Holzpflug.
Stumpfheit der Bewohner und ihre Abſchließung von
den europäiſchen Fortſchritten. Der marokkaniſche
Bauer wollte abſichtlich nichts von ausländischen Neue—
rungen wiſſen. Und ſo beackerte er und beackert er noch
jetzt ſein Feld mit einem äußerſt primitiven Holzpflug,
deſſen ſchmale Pflugſchar den Boden nur ganz ober—
flächlich durchfurcht.
Sodann ließ das herrſchende Ausbeutungsſyſtem
eine kräftigere Regſamkeit auf die Dauer überhaupt
nicht aufkommen. Erfreute ſich ein Bauer wirklich ein—
D Von E. E. Weber. 5
mal einer größeren Wohlhabenheit, ſo fand der als
Gouverneur eingeſetzte Paſcha alsbald Mittel und Wege,
ihn gehörig anzuzapfen. Unter irgend einem Vorwand
wurde er gefänglich eingezogen, man erhob gegen ihn
eine Anklage und ſetzte ihm ſo lange zu, bis er ſich zu
einer Ablöſungsſumme verſtand, die dann in die Taſche
des Paſchas wanderte. Unter dieſen Umſtänden war
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|
|
|
Einſammlung des Getreides in Baſtnetzen.
es für den marokkaniſchen Bauer erſprießlicher, feine
Acker nur ſo weit zu beſtellen, daß ſie ihm den not—
dürftigſten Lebensunterhalt gewährten. Er ſäte ſein
Korn aus, ſammelte das Getreide in Baſtnetzen ein
und ſchaffte die geringe Ernte auf dem Kamel nach
ſeiner verfallenen Lehmhütte.
Endlich wurde der landwirtſchaftliche Aufſchwung
dadurch gehemmt, daß die Ausfuhr der Landeserzeug—
niſſe entweder gänzlich verboten oder nur in beſchränktem
tape geſtattet war. Erſt mit der Feſtſetzung der Fran—
18 Die Zukunft Marokkos. Ä 2
zoſen in Caſablanca wurden dieſe hinderlichen Ver—
ordnungen etwas erleichtert. Jetzt zogen zwar die
Kamele, beladen mit den das Getreide enthaltenden
Lederſäcken, nach der Hafenſtadt, aber dort fehlte es
wieder an Lagerräumen zur Unterbringung der an-
geſammelten Vorräte. Man ſchüttete das Getreide
einfach in großen Haufen im Freien auf und mußte
oft wochenlang warten, bis man es zum Verkauf und
zur Verſchiffung bringen konnte.
Dieſe Verzögerung hatte allerdings auch eine gute
Seite. Der marokkaniſche Bauer reinigt das Getreide
für den eigenen Bedarf überhaupt nicht. Während der
Lagerzeit in Cafablanca fand ſich nun wenigſtens Ge-
legenheit, die Körnerfrüchte mit der Fege von den
gröbſten Beimiſchungen zu befreien. —
Wenden wir uns jetzt zu der Frage, wie die Be—
dingungen für europäiſche Landwirte liegen, die ſich
in Marokko unter dem Schutz der franzöſiſchen Herr—
ſchaft als Anſiedler niederlaſſen, und nach welchen Ge—
ſichtspunkten ſie dabei zu verfahren haben.
Als Koloniſationsgebiet für europäiſche Landwirte
kommt in erſter Linie die Schauja, die große Ebene, in
Betracht, die etwa 20 Kilometer von Caſablanca be-
ginnt und ſich über 40 Quadratkilometer erſtreckt. Sie
weiſt für den Anbau von Getreide, für die Anlegung
von Weingärten ſowie für die Zucht von Rindern,
Schafen und Schweinen trefflich geeignete Striche auf.
Man kann ſie mit einer großen Schüſſel vergleichen,
an deren Rand die Schwarzerde nur 25 bis 30 Zenti-
meter ſtark iſt, während in der Mitte ein großes Rechteck
liegt, wo die Fruchterde eine Stärke von 2 bis S Metern
erreicht. Dieſes Rechteck iſt nach der einen Seite hin
etwa 20 Kilometer von Mediauna, auf der anderen
etwa „0 Kilometer von Caſablanca entfernt, fo daß
11 Von E. E. Weber. 79
der Transport der landwirtſchaftlichen Erzeugniſſe
mittels Ochſenkarren nicht zu teuer zu ſtehen kommt.
Denn dieſes Transportmittels wird man ſich für längere
Zeit immer noch bedienen müſſen, vorausgeſetzt, daß
die Entfernung nach dem Exportplatz nicht mehr als
40 bis 50 Kilometer beträgt. Selbſt wenn in Zukunft
Eiſenbahnen gebaut werden, wird ſich daran vorerſt
„
> „
* F * 8 *
’ 7 RL, . 8
* 5 924 Be * 2 N. 2; 2 1 2 * 2
Beladung des Ramels mit den Baſtnetzen.
nichts ändern. Denn die Frachten werden anfänglich
wahrſcheinlich ſo hoch ſein, daß eine Beförderung der
Landesprodukte auf der Eiſenbahn zu teuer wird. Der
Transport auf Ochſenkarren beläuft ſich aber für die
erwähnte Entfernung bei 100 Kilogramm Getreide
nur auf etwa 80 Pfennig.
Die Schauja iſt faſt allenthalben durch die Marok—
kaner urbar gemacht. Zwar finden ſich an einigen Punk-
ten Stümpfe von Palmen und Unkrautflächen, aber ſie
laſſen ſich mit dem Pflug leicht umbrechen. Auch braucht
80 Die Zukunft Marokkos. 2
man nicht die Urbarmachung im erſten Jahr nach dem
Ankauf vollſtändig durchzuführen, ſondern kann dabei
ſchrittweiſe vorgehen.
Die Bodenankäufe werden erleichtert durch die fo-
genannten Arabiſchen Bureaus, die die franzöſiſche
Regierung in Caſablanca und anderen Orten errichtet
hat. An ihrer Spitze ſteht ein Offizier. Durch die
Abwicklung des Kaufgeſchäftes in dieſen Bureaus ent⸗
geht der Käufer der Gefahr, betrogen zu werden.
Denn der Kaid darf den Verkauf nur vor dem Offizier
vornehmen, und der Kadi liefert den Kaufvertrag nur
dann aus, wenn er ſich überzeugt hat, daß der Ver—
käufer auch der rechtmäßige Eigentümer des betreffen-
den Landſtückes iſt. Der Ankauf kann entweder un-
mittelbar von den Marokkanern oder durch Agenten
erfolgen. Der erſtere Fall iſt indeſſen nur empfehlens-
wert, wenn der Käufer die Landesſprache und die
Eigenart der Eingeborenen kennt und ſich ſchon längere
Zeit in der Gegend, wo er ſich anſiedeln will, auf—
gehalten hat. Von den Eingeborenen kann man den
Hektar für 80 bis 100 Mark erſtehen, aus zweiter Hand
koſtet er dagegen bis zu 160 Mark. Der Preis hat ſich
innerhalb zweier Jahre verdreifacht und wird auch
weiterhin noch ſchnell ſteigen.
Nur ſelten kann man darauf rechnen, ein großes
Gelände auf einmal anzukaufen. Meiſt kann man
anfänglich nur ein kleines Beſitztum erwerben. Zſt
man aber in der Nachbarſchaft bekannt geworden, ſo
laffen ſich weitere Bodenankäufe ſehr ſchnell zur Aus-
führung bringen.
Waſſer iſt überall in der Ebene vorhanden. Ein
reicher Grundwaſſerſtrom durchzieht ſie in einer Tiefe
von 50 bis 50 Metern. Die hier nach europäiſchem Syſtem
angelegten Brunnen ſind unerſchöpflich. Auch wer
2 Von E. E. Weber. 81
— 2 —E—ĩ—
keine Viehzucht treiben will, ſoll doch auf die Anlegung
eines modernen Brunnens auf ſeiner Farm bedacht
ſein. Denn die vorhandenen marokkaniſchen Brunnen
ſind ſehr eng und leiden unter häufigen Einſtürzen.
Die Marokkaner heben das Waſſer aus den Brunnen
in Säcken aus Schaffellen heraus, die von Mauleſeln
Getreidetransport in Lederſäcken.
heraufgezogen werden. Dieſes Verfahren wird auf
einer größeren Beſitzung, wo tagtäglich Waſſ er gebraucht
wird, ſehr koſtſpielig, da ſich die Säcke und Seile ſehr
ſch nell abnützen.
Bevor man ein Gelände erwirbt, muß man ſich
klar ſein, was man hauptſächlich treiben will. Weite
Ackerflächen mit tiefgründigem, mergel- und kalkhaltigen
Kulturboden für den Anbau von Getreide ſind in großer
Anzahl zu haben. Die Randgebiete mit leichterem,
rötlichem Boden können zur Anlage von Weinbergen
benützt werden. Die mehr ſteinigen Gegenden bieten
19 13. X. 6
82 | Die Zukunft Marokkos. 2
treffliche Gelegenheit zu Hutungen von Schafen. Die
niedrigeren, feuchten Striche in der Nähe der Wälder
laſſen ſich zur Aufzucht von Rindern und Schweinen
verwerten. Man muß ſich alſo entſcheiden, welchen
Lagernde Getreidehaufen bei Caſablanca.
dieſer landwirtſchaftlichen Zweige man wählen will,
und danach das betreffende Gelände ankaufen.
Die Preiſe für Getreide ſind augenblicklich noch
gering. Aber trotzdem wird ſich das in die Acker hin—
eingeſteckte Kapital mit der Zeit gut verzinſen. Denn
einmal wird ſich der Wert der Landgüter in kurzem
ſteigern, ſodann werden aber auch die Erträge aus ihnen
durch eine zweckmäßige Kultur weſentlich zunehmen.
Doch iſt es nötig, daß der neue Anſiedler über ein aus—
reichendes Kapital verfügt. Rechnet man den Ankaufs—
preis, die Beſchaffung der Saat und die Unkoſten für
die Bearbeitung zuſammen, ſo ſind für jeden Hektar
rund 240 Mark in Anſchlag zu bringen.
‘
—
D Von E. E. Weber. 83
Der ſchwere Boden muß ſehr ſchnell bearbeitet und
beſtellt werden. Denn nach den großen Regen llebt
er förmlich zuſammen, und nach der lange andauernden
Trockenheit wird er ſo hart, daß in ihn kein Ackergerät
eindringen kann. Es iſt daher unumgänglich notwendig,
daß die Beſtellung der Felder im Frühjahr ausgeführt
wird. Zn dieſer Zeit verläuft die Feldarbeit nicht nur
am leichteſten, ſondern es wird auch durch die recht-
zeitige Beſtellung eine Austrocknung der Fruchterde
vermieden, die Zerſetzung der Nährſtoffe gefördert und
für eine feine Zerkleinerung des Bodens geſorgt. Die
Folge der Frühjahrsbeſtellung iſt dann, daß ſich in den
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ins des Getreides mit der 325
Feldern auch noch im Sommer genügende Feuchtigkeit
vorfindet, wodurch natürlich ihre Erträge wachſen.
Bei einer ſolchen Beſtellungsweiſe liefert in guten
gahren ein Hektar 30 Zentner Hafer und 20 bis 30 Zent-
ner Brotgetreide. Aber man muß auch ſchlechte Jahre
84 Die Zukunft Marolkos. n
in Betracht ziehen. Berückſichtigt man auch dieſe, fo
läßt ſich ohne Überſchwenglichkeit behaupten, daß ein
Hektar durchſchnittlich 15 Zentner Getreide liefert.
Für ſehr große Landgüter muß, da, wie erwähnt,
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Viehmarkt in Caſablanca.
die Beſtellung ſehr ſchnell zu erfolgen hat, ein Dampf—
pflug beſchafft werden. Seine Lekomobile kann ſo—
wohl mit Petroleum als auch mit Kohlen geheizt wer—
den, da beide im Sommer bei der Ablieferung des
Getreides in den Exportplätzen auf dem Rückweg mit
heimgebracht werden können.
Die Viehhaltung wird ſich hinſichtlich der Art und
Zahl der Köpfe nach der Beſchaffenheit des Geländes
zu richten haben, das man erwirbt. Am beſten iſt es,
wenn man anfänglich die einheimiſchen Raſſen, die an
das Klima gewöhnt ſind, bevorzugt und erſt, wenn man
Erfahrungen geſammelt bat, zum Import von euro—
päiſchem Vieh zu Zuchtzwecken übergeht. Die ein—
—
D Von E. E. Weber. 85
heimiſchen Raſſen find, wie ein Beſuch des Viehmarktes
in Caſablanca lehrt, an ſich gut und werden ſich bei
angemeſſener Pflege noch erheblich verbeſſern laſſen,
ſo daß auch die Viehzucht einen anſehnlichen Verdienſt
abwerfen wird.
Ausdrücllich gewarnt ſei aber davor, mit zu ge—
ringem Kapital nach Marokko zu gehen. Zwergwirt—
ſchaften können nur zum Ruin des Europäers führen.
Denn die Koſten für die verſchiedenen Anſchaffungen
find anfänglich fo bedeutend, daß eine lleine Wirtſchaft
die Verzinſung und Abtragung unmöglich aufbringen
kann. Einen geringeren Umfang als 150 Hektar ſollte
daher eine Beſitzung auf keinen Fall haben.
— — —
Die Anſiedlung eines Europäers in der erſten Zeit.
Die beſte Zeit für die erſte Anſiedlung fällt auf
die Monate März bis Zuli, wenn die großen Regen
vorübergegangen ſind. Man hat dann genügende Muße
zur Errichtung des einſtweiligen Wohnhauſes und des
86 Die Zukunft Marokkos.
unentbehrlichen Geräteſchuppens, kann für die Herbei-
ſchaffung der landwirtſchaftlichen Maſchinen ſorgen und
ſich mit dem Betrieb, den man in Ausſicht nimmt, ver-
traut machen.
Die Schauja iſt keineswegs das einzige fruchtbare
Gebiet Marokkos. Tiefgründige Schwarzerde findet
ſich vielmehr auch vor in den Landſchaften Gharb bei
Laraſch, Dukkula bei Maſagan, Abda bei Saffi ſowie
Schiadma und Haha bei Mogador.
>
.*
Souſous erfte Liebe.
Eine Geſchichte aus der Sommerfriſche.
von Karen Fugerdͤt.
*
[Nachoͤruck verboten.)
Wöcaum ſo viele Menſchen? — So hatte ich mich
während meines Sommerurlaubs bisweilen
mit einigem Unbehagen gefragt.
Entweder ſie mögen dich nicht leiden; dann ärgern
ſie ſich, dir fühlbar, an deiner mißlungenen Naſe,
deinem ſonnenverblichenen Bergkoſtüm, deiner Vor—
liebe, zu früh von Tiſch aufzuſtehen, deiner Art
und Weiſe, dich in Kreuzform allein mitten auf den
Abhang zu legen. Sie wollen beileibe nichts mit dir
zu tun haben; aber ſie finden es doch unfein, burſchikos,
ja geradezu unpaſſend von dir, daß du allein und trotz—
dem ſcheinbar in vollem Behagen mit den Wolken
verkehrſt.
Oder ſie lieben dich. Dann ſind die Minuten deiner
göttlichen Freiheit gezählt! Beim erſten Frühſtücks—
brötchen mußt du bekennen, was du heute, morgen,
übermorgen, und zwar je bei gutem, mittelmäßigem
und ſchlechtem Wetter vorhaſt, was du dazu anziehen,
wieviel Butterbrote du mitnehmen willſt, wie oft du
dich unterwegs hinzuſetzen gedenkſt, ob außer ihnen
und dir noch jemand aufgefordert werden fell, und
88 Souſous erſte Liebe. | 2
wann du dich jeden Tag wecken laſſen willſt. Wenn
du dich zurückziehſt, um einen Brief zu ſchreiben, finden
ſie deine Korreſpondenz übertrieben; doch flechten ſie
gern ein, daß ſie ſpäter recht oft von dir hören möchten.
Sie fragen dich, wo du in den nächſten zehn Jahren
deinen Sommerurlaub verbringen willſt, und wollen
ſich dann gern nach dir richten; nur müßte man ſich
gleich entſcheiden wohin.
Alſo diesmal klüger ſein! Vorſaiſon mit leeren
Zügen, billigen Penſionen, Frühlingsblumen, herber
Friſche der Temperatur und vielleicht — einem neuen
Freund, einer neuen Freundin, die zu gleicher Zeit
wandern, plaudern, arbeiten und — allein ſein möchten
wie ich. |
Ja, du alte Egoiſtin, fo ſoll dir's paſſen: im Mai
bereits ins Hochgebirge! Dann iſt dort kein Lackſtiefel
weit und breit. Wohin aber? Leider bin ich zu alt,
um nur mein Organ der Wald- und Wiefenfreude,
das immer intakt iſt, zu Rate zu ziehen. Die ſchwächſten
Kinder verzieht man billigerweiſe am meiſten, ich frage
alſo meine Lunge.
Davos? „Da ſieht man ja vor Häuſern die Berge
nicht mehr.“ Aroſa? „Zu enge.“ St. Moritz? „Da
kocht der Himmel jetzt für die Gummiſchneeſchuhe
Schokoladencreme mit Schlagſahne.“ Rieſengebirge?
Schwarzwald? „Unter ſechzehnhundert Meter.“
Ich war ratlos, fühlte aber irgendwo im Gehirn
die ſchmerzhafte Wiedergeburt einer früheren Vor—
ſtellung. Ein Alpenführer mußte helfen. Sch blätterte
in „Graubünden“, im „Berner Oberland“, im „Wallis“
— ja, da war es doch, im Rhonetal, irgendwo vor der
Einfahrt ins Simplonloch! Die Blätter flogen jetzt,
ich riß im Eifer eine Seite halb durch; aber dafür ſtrahlte
mir auch unmittelbar neben dem Riß ein Stern ent—
2 Yon Karen Fugerdt. 89
gegen, und daneben ſtand zu leſen: „Moralavena.“
Ich atmete auf. „Mo ralavena, Moralavena!“ wieder-
holte ich mehrmals und berauſchte mich an der Melodie
dieſes Namens.
Schnell wurde Urlaub genommen, der Koffer ge—
packt. Da las ich in der Zeitung von Neuſchnee und
Sturm in den Alpen. Nun, zunächſt ein paar Tage
Lugano waren auch nicht zu verachten.
O Lugano — Caſtagnola, o Villa Morico! Dieſer
ſüße Glyzinienduft an der Eingangspforte, dieſe Ter-
raſſen voll Roſen, die klappernden Palmenwedel, die
närriſch ſchwätzende Spottdroſſel, der erleichternde, er-
heiternde Blick auf den friedlichen, ſonnigen See und
den komiſchen Rieſenhut, den man San Salvatore
heißt, die beglüdend reiche Farbenpracht von Himmel
und Luft, von Waſſer und Wieſe, von Dorf und ferner
Stadt! Welche Verſuchung!
Aber ich blieb tapfer. Die holde Luft, die lieb-
koſende Sonne und — die guten, viel zu guten Fleiſch-
töpfe dort verweichlichen. Hinein alſo in die langen,
weitgeöffneten Arme des Rhonctals, bis der alte
Burgturm von Nogubi zum Ausſteigen mahnte.
„Facteur!“ Ja, Gepäckträger gab es noch nicht.
Vorſaiſon! Aber die Drahtſeilbahn, natürlich die
nach Moralavena, hatte ich vom Zuge aus geſehen.
Alſo, wie ſehr auch der Handkoffer nach unten zog,
ſchleunigſt über die Rhonebrücke und auf die gerade
Linie zu, die da an der Zergwand in die Höhe
kletterte.
GSlüdliderweife kam ein Züngling des Weges; den
fragte ich, im ſtillen auf feine unverwaſchene Herzens—
güte hoffend, nach einem Kofferträger. Meine Men—
ſchenkenntnis übertraf meine Sachkenntnis. Er hob
mein Gepäck gutmütig auf ſeine Schulter, ſagte aber
90 Souſous erſte Liebe. 2
etwas ironiſch: „Aber Madame, das iſt nicht die Draht-
ſeilbahn nach Moralavena.“
Ach, die gerade Linie war ein künſtlicher Waffer-
lauf. Mein Ziel aber lag entgegengeſetzt, am Nord—
rande des Rhonetals. Alſo umgedreht, wieder über
den Fluß, wieder am Bahnhof vorbei und auf die
richtige Station zu.
Unterwegs war Zeit genug, um mit dem jungen
Manne eine Unterhaltung anzuknüpfen; ich tat es in
dem Wunſche, mein ehemals klaſſiſches Franzöſiſch nun
wieder zu ölen. Er ſprach es recht merkwürdig aus.
Aber meine ſinkende Hochachtung ſchwoll wieder an,
als er mir erzählte, fein Vater ſei „Präſident der Ge—
meinde Ridogne “.
Präſidentenſohn! Ridogne? Kenne ich nicht, aber
im Wallis gibt es ja ſo ungeheuer reiche Ortſchaften.
Durfte ich dem Präſidentenſohn ein Trinkgeld anbieten?
Solche Zweifel ſind mir immer geradezu eine Qual.
Am beſten, man fragt.
Ich wurde etwas rot, mein Franzöſiſch etwas blaß,
aber ich fragte.
„Aber gewiß, Madame!“ ſagte er munter, und die
Hand des Präſidentenſohnes blieb zärtlich mit meinem
blanken, in Berlin eingewechſelten Frankenſtück bei—
ſammen im Dunkel einer Ridogner Hoſentaſche, ſo—
lange ich den davonſchreitenden Züngling in Sicht
hatte. |
Ich nahm meine Fahrkarte. Da ſtand auch ſchon
das Bähnele, genau ſo ein kecker, rotlackierter Käfer
wie ſeine Kollegen am blauen Lago Cereſio. Das
Kursbuch verſprach vorzüglichen Anſchluß.
Mit einem Drücker wurde mir ein Abteil geöffnet.
Ich ſtieg ein. Die Tür fiel ins Schloß. Mann und
Drücker verſchwanden — die Maus in der Falle. Aber
2 Von Karen Fugerdt. 91
es mußte ja gleich aufwärts gehen in die freie Höhe,
die unbeſchränkte Weite, die friſche, reine Bergluft.
Ich ſah mich um. Kein Menſch weiter drin. Ich
ſah aus dem Fenſter. Kein Paſſagier auf dem kleinen
Bahnſteig. Ich kletterte auf die Bank, um in die anderen
Abteile hineinzuſehen. Alles leer. Ganz oben ſchim—
merte aber der rote Rand einer Mütze. Das mußte der
Führer fein. Doch er fuhr nicht ab. Er fuhr abſolut nicht
ab. Es dauerte fünf, zehn, fünfzehn Minuten — er fuhr
nicht ab. Ich räuſperte mich. Die Mütze rührte ſich nicht.
Zwanzig Minuten, fünfundzwanzig Minuten! Sch
pfauchte, ich ſchrie, ich brüllte.
Endlich rührte er ſich, ſtieg den Bahnſteig hinab
bis zu meiner Kerkertür und erklärte, daß er auf ein
Abfahrtsſignal von oben warten müſſe.
Ich drückte ihm mein Erſtaunen darüber aus, der
einzige Fahrgaſt zu. fein.
„Aber Madame, was wollen Sie! Wir haben ja
noch nicht Saiſon.“
Endlich — endlich fuhren wir ab. Endlich ſchwebten
wir über der alten Stadt, über ihrem kantigen Burg—
turm, höher, immer höher über den vielen, weichen,
ſchimmernden Bogen der Rhone.
Da plötzlich — keine Ausſicht mehr! Und doch
waren wir nicht in einem Tunnel, wenigſtens nicht
aus Menſchenhand, ſondern mitten in einer milchigen
Wolke, die mit uns aufwärts reiſte.
„St. Laquice de Maur!“ Das Drahtſeil ſchnurrte
nicht mehr. Wir hielten auf einer Zwiſchenſtation,
ganz ordnungsgemäß, wie der Fahrplan anzeigte. Ich
wartete alſo geduldig.
Aber da kam der Mann mit dem Drücker zu mir
herunter. Seine Miene war verlegen — und ach!
ich wußte bald warum.
92 Souſous erſte Liebe. 2
Es ſei ein Felsblock von etwa fünf Kubikmetern mitten
auf das Gleis gefallen, dicht über der Station. Viel-
leicht könne der Betrieb am e Tage wieder
aufgenommen werden.
ich fragte nach einem Wagen, nach Hotel, Gepäd-
trägern, nach allen Hilfsmitteln, die etwa in St. Laquice
de Maur zu haben wären.
„Nur Ausweicheſtation iſt hier,“ war die Antwort.
Die Station hat ihren Namen nach einer nahen,
einſam thronenden Bergkirche bekommen; fie ſelbſt aber
erwies ſich als ein einfacher Schuppen, in dem gerade
eben der kleine Zug und einige dicke Frachtſtücke Platz
hatten. |
Was tun? Das Telephon mußte helfen, das amt-
liche der Station, und nach einigem Zögern wurde
mir erlaubt, die Kurbel zu drehen. Da war auch ein
Telephonadreßbuch für das ganze Wallis. Ich fand
Moralavena. Aber Madame Guin, bei der ich mich
als Penſionärin angemeldet hatte, war nicht verzeichnet.
Ich konnte alſo nur die Bahnverwaltung da oben an-
rufen. Meine zukünftige Wirtin hatte mir geſchrieben,
es ſei Bedienung an der Bahn, wenn ich käme.
Der Stationsleiter von Moralavena gab Antwort.
Er war bereit, mir beſagte Bedienung entgegenzu—
ſchicken; aber fie werde ſich wohl erſt in etwa andert-
halb Stunden bei mir einſtellen können.
Ich blickte unterſtützungsbedürftig den rotmützigen
Vertreter des ſchützenden Geſchlechtes an, der neben
mir ſtand und das andere Hörrohr ergriffen hatte.
Aber er geſtand mit unverhohlener Freude, daß er
ſeinen Zug gleich wieder talwärts führen müſſe.
„Sie müſſen durch Riege rief er mir noch im
Abfahren zu.
Ridogne? Wo hatte ich doch dieſen Namen ſchon ge—
0 Von Karen Fugerdt. 95
hört? Nach dem Schreck befann ich mich nicht gleich
darauf. |
Da ſaß ich nun mit meinem Köfferlein allein im
Schuppen. Es roch muffig darin; die Frachtſtücke in
Mehlſackleinwand hatte ich bald gezählt. Sie knackten
und krachten hin und wieder wie in Ungeduld, beſonders
die hinter mir liegenden. Der Regen — denn der
Milchwolke war eine Tintenwolke gefolgt — klatſchte
windgepeitſcht gegen die Scheiben und machte den
dämmerigen Raum noch unheimlicher.
Und das noch etwa anderthalb Stunden? Nein,
dann lieber, unter Gepäck, Näſſe und Sturm leidend,
dem Ziele Moralavena wenigſtens etwas entgegen-
ſtreben. Ich nahm einen alten Kleiderrock aus dem
Koffer und tauſchte den neuen Reiſerock dagegen ein.
„Krrrck!“ ſagte die Schuppentür, gerade als mein Reck
mir beim Überziehen die Augen verdeckte. Ich fuhr
zuſammen. Natürlich war es nur das Holz. Aber
die Haken meines Redes wollten ihre Geſponſe lange
nicht finden.
Nun aber ſchnell biraus.
Da nur die eine Fahrſtraße aufwärts führte, war
kein Zweifel möglich. Draußen war es denkbar un-
gemütlich. Von oben und unten naß, ringsherum
dunkel. Aber es gibt einen Grad des Unbehagens,
bei dem man ſich ſeiner ſelbſt kaum noch bewußt wird.
Ich ging tapfer durch den Schmutz, ließ mir den Regen
ins Geſicht klatſchen und nahm die durch mein Gepäck
verurſachten Muskelſchmerzen als etwas Gegebenes hin.
In der Nähe brauſte ein Bach. Weiter! Auf einer
nicht ſichtbaren Wieſe brüllte eine Ruh. Weiter! Über
dem Wege lag eine Kiefer, die Wurzeln noch halb im
Boden haftend. Zch hob erſt den Koffer, dann mich
darüber hinweg. Weiter! Der Weg ſchlängelte ſich,
94 Souſous erfte Liebe. 2
er wurde allmählich ſteiler. Luſtiger ſpielten die Waffer-
rinnlein, die wie Eidechſen die Straße hinabhuſchten,
mit meinen Stiefeln. Ja, nun ging es nur noch lang-
ſam, ſehr langſam weiter. Ich ſah nichts mehr, dachte
nichts mehr, war nur eine wenig flinke Maſchine, die
vom Beharrungsvermögen aufwärts getrieben wurde.
| Da hörte ich plötzlich in all dem wüſten Grau eine
Menſchenſtimme, ſogar eine ungemein zärtliche Men-
ſchenſtimme.
„Souſou, Souſou, Souſou — Loulou, Loulou,
Loulou, komm her zu mir, mein Souſou!“
Aber Souſou kam zu mir.
Da die Straße zwiſchen mir und ihm einen Buckel
machte, ſah ich zuerſt nur ein wackelndes, gelbes Hörn-
chen, ſeinen hochgekrümmten Schwanz. Dann ſchob
ſich eine kleine, ſchwarze Schnauze davor, ein kluges,
gelbes Köpfchen erſchien, ein Ohr ſpitz aufgerichtet, das
andere ſchlaff heruntergeklappt. Zwiſchen vier behendeh
Beinen hing ein anſehnliches Bäuchlein.
Über Souſous Raſſe keineswegs im klaren, wollte
ich weitergehen. Da kam mir unter einem triefenden
Schirm, ohne Hut, mit kurzem Rock und groben Stiefeln
ein ländliches Mädchen entgegen, das etwa ſiebzehn
Jahre alt ſein mochte. Sie ergriff mit einem kräftigen
Schwunge ihres Armes ohne weiteres meinen Koffer,
klatſchte mit der anderen Hand auf den naſſen Hunde-
rücken und befahl: „Komm her, Souſou, gib dem Fräu—
lein ein Pfötchen.“
Nach fünf- bis zehnmaliger Wiederholung dieſes Be-
fehls hörte Souſou auf, mich zu beſchnüffeln wie eine
Hausfrau ein zweifelhaftes Ei. Er ſtreckte mir die linke,
ſchmutzigweiche Vorderpfote entgegen, etwa mit dem-
ſelben Intereſſe, mit dem man ſich die Naſe putzt, wenn
man mit feinen Gedanken bei ganz etwas anderem iſt.
D Von Raren Fugerdt. 95
Nach dieſem trotz des Platzregens höchſt notwendig
ſcheinenden Begrüßungsakte ging ich bürdelos und zu
neuem Leben ermuntert vorwärts. Doch bald wurde
es mir ſchwer, mit der kräftig dahinſchreitenden Wal-
liſerin Schritt zu halten. Mit leiſem Neid ſah ich ſie
mein Gepäck tragen, als habe ſie eine Tüte mit Wind-
beuteln in der Hand.
Des Franzöſiſchen wegen — oder um ein wenig
langſamer gehen zu können? — knüpfte ich eine Unter-
haltung mit ihr an und hatte meine ſtille Freude daran,
dieſes ſtämmige Bergbäumchen mit der krauſen, ſchwar-
zen Haarkrone und den zwei dunklen, runden Beeren
im Geſicht zu betrachten.
- Bald wußte ich ihre ganze Lebensgeſchichte. Die
Eltern wohnten in Nens, einem anſehnlichen Dorfe
ein paar Stunden weſtwärts von Moralavena. Aurelie
war ſchon in Martigny im Hotel du Cerf Zimmer—
mädchen geweſen und hatte, wenn die Saiſon im Ab-
ſterben war, auch in der Küche dort geholfen. Aber
nach zwei Jahren war ein unwiderſtehliches Verlangen
über fie gekommen, wieder in die altgewohnte Um-
gebung von rauſchenden Tannen, leichter Bergluft und
Weiden voller Kühe, Ziegen und Lämmer zurückzu-
kehren, und ſo hatte ſie ſich vor kurzem als „Mädchen
für alles“ ins Chalet Adorable in Moralavena vermietet.
Dort hatte ſie zuerſt nur Souſou und Madame Guin,
jetzt auch mich zu bedienen — woraus ich entnahm,
daß ich vorläufig der einzige Gaſt der Penſion fein
würde.
„Gut,“ dachte ich im unverwüſtlichen Optimismus
meiner ſchon ſo häufig vorbeſtraften Seele, „dann iſt's
um ſo beſſer!“
In wachſender Spannung ſtieg ich nun ſchneller
aufwärts. In einem kleinen, menſchenleeren Dorfe,
96 Souſous erſte Liebe. 2
das wir durchſchritten, blieben Souſou und Aurelie
ſogar auffallend hinter mir zurück, ſo daß ich eine Weile
ſtehen blieb und mir die armſeligen, mit Grauſchiefer
gedeckten Holzhäuſer und Ställe anſah, die im Regen
alle gleichmäßig betrübt in ſich zuſammenzulkriechen
ſchienen. Freilich, weiter unten im Ort hatte ich ein
größeres Steinhaus geſehen mit einer Freitreppe, die
bis zum erſten Stock hinaufführte und ein Geländer
hatte mit Verzierungen aus Schmiedeeiſen.
Meine beiden Begleiter tauchten endlich wieder auf.
Aurélie tanzte mit Souſou um die Wette die Dorfgaſſe
herauf und machte mich auf einen Al kürzungsweg auf-
merkſam, auf dem wir Moralavena denn auch ſchließ—
lich erreichten. Freilich mußten wir noch eine Weile
weiterſteigen. Etwas höher als die anderen Hotels
und Penſionen, ziemlich weit von ihnen entfernt und
abſeits von der Fahrſtraße ſtand ein auf kecken Klippen
vorſpringendes Chalet, nur nach Norden zu durch einen
bewaldeten Abhang geſchützt. Das war alſo meine
heimiſche Stätte für die nächſten Wochen! Ein ſchmaler
Pfad, der uns hinaufführte, diente zugleich als Zu—
gangsweg für ein Einfamilienhaus, das, im Schweizer-
hausſtil gebaut, dem reinen Naturbild, das ich Don
hatte, keinen Abbruch tat.
Hurra! Weder Dorfgaſſen noch Geſchäftsſtraßen,
noch Hotelküchen, noch Läſterpromenaden in der Nähe
— ſo viel ließ ſich ſelbſt an ee regneriſchen Abend
noch feſtſtellen. |
Am folgenden Tage lernte ich einſehen, daß ich es
in den Augen der Menfchbeit ſelbſt als regelrechter
Penſionär von akademiſcher Bildung mit einem zah—
lungsunfähigen, raſſeloſen, undreſſierten Hundevieh an
Bedeutung keineswegs aufnehmen konnte.
1 | Von Karen Fugerdt. 97
Nachdem nämlich die zum Einfamilienhaus ge-
hörigen Hühner morgens eine beträchtliche Weile ge-
kräht und gegackert hatten, hörte man auch in unſerem
Chalet den erſten Laut: Aurélie und Souſou gingen
miteinander eine knarrende Holztreppe hinunter, die
Haustür wurde aufgeſchloſſen, und der Hund kläffte
den Nachbarhühnern ſein „Guten Morgen“ entgegen.
Aurélie hatte alſo als erſtes mit Souſou einen Morgen-
ſpaziergang zu machen, der je nachdem, mit welcher
feiner vier Pfoten er zuerſt aus feinem Korbbett ge-
ſprungen war, kürzer oder länger ausgedehnt wurde.
Dann pflegte Madame Guin ihr Frühſtück einzu-
nehmen, wobei Souſou viele Butterlöckchen mit wenig
Brot fraß, während ſeine Herrin ſich an ihrem Tee
genügen ließ. Darauf wurde mir das Frühſtück auf
meinen kleinen Balkon geſchickt, und falls der Hund
ausnahmsweiſe verſäumt hatte, ſich mit meinem Kaffee-
brett zugleich ins Zimmer zu ſchieben, kratzte er ſo lange
an meiner Tür und an meiner Geduld, bis ich mich
fügte. Gute Beiſpiele verderben eben böſe Abſichten
— ich teilte chriſtlich mit Souſou.
Schon nach wenigen Tagen wurde mir das aner—
kennenswerte Vertrauen geſchenkt, den lieben Schatz
auf meinen Spaziergang mitnehmen zu dürfen. Ich
merkte dabei bald, daß er ſein Hör- und Sehorgan je
nach Belieben an- und abſtellen konnte. Pfiff ein harm-
loſer Dompfaff auf einem ſchwankenden Zweig —
nirgends ſah ich ſo viele verſchiedene Vögel wie in
Moralavena —, fo raſte der Vierfüßler ſchon aus weiter
Ferne auf dieſe Stätte unſchuldigen Behagens zu.
Rief oder winkte aber ich ſelbſt ihm, ſo verſagten Auge
und Ohr. Ging ich am Waldbach entlang, ſo ſprang
er kühn hinüber und trollte ſich jenſeits außer Sehweite.
Kamen wir auf ein Wieſengelände, ſo machte er durch
1918. X. 7
98 Souſous erfte Liebe. u
ſein freches Hinſtarren und ſeinen überaus neugierig
vorgeſtreckten Oberkörper die jungen Kälber wild. War
irgendwo eine Bodenerhöhung, die ich vermeiden wollte,
ſo lief er darauf zu, hob die linke Vorderpfote mit
ſchlaffem Gelenk affektiert in die Luft, ſteifte die Hinter-
beine ſo hoch wie möglich, drehte ſein Köpfchen nach
rechts, nach links und blinzelte die neue Ausſicht an
wie eine kurzſichtige Dame, ehe ſie zum Lorgnon greift.
Am liebſten aber veranlaßte er mich, ihm folgend gerade
den Wieſenfleck aufzuſuchen, wo der böſe Stier weidete,
der dann bei unſerem Anblick dunkel grollende Laute
des Mißfallens aus den Tiefen feines rieſigen Bruft-
kaſtens hervorholte.
Doch — durfte ich mich über den Unabhängigteits-
trieb eines unvernünftigen Tieres beklagen? Hatte ich
mir nicht für mich ſelbſt Tage gewünſcht, an denen ich
herumlaufen, geſellig oder einſam ſein könnte je nach
dem Augenblicksinſtinkt? War ich um ein Haarbreit
beſſer als die kleine Beſtie?
WVrteer verſteht, verzeiht auch — mühelos, denn beides
iſt im Grunde dasſelbe.
Ich vergaß ihm ſchnell alle feine Angezogenheiten,
wenn er ſich nur wieder zu mir fand, ſobald ich in die
Nähe des Chalets zurückkam. Denn Madame Guin
ſah ſchon von der Veranda aus uns ängſtlich entgegen;
ſie fürchtete beſtändig, daß böſe Leute den ſüßen Lieb-
ling an den Ohren zerren, mit Füßen treten oder mit
Steinen werfen könnten. Nur — wo waren dieſe Leute?
Ich konnte ſtundenlang ſpazieren gehen, ohne irgend
einer menſchlichen Geſtalt zu begegnen.
Vorſaiſon!
Der glücklich zurückgekehrte Souſou wurde zum Lohn
für bewieſene Tugend von feiner Herrin eine Viertel-
ſtunde lang geherzt, geküßt, gedrückt. Er erwiderte es
1 Von Karen Fugerdt. 99
während der erſten drei Minuten mit entſprechender
Herzlichkeit.
In der Veranda ſtand an der Fenſterwand eine
altmodiſche Polſterchaiſelongue, deren ſteile Kopflehne
über alle übrigen Möbel des Raumes emporragte. Da
oben war Souſous Ausſichtsturm. Es lohnte ſich: vom
Simplon bis zum Matterhorn, vom Weißhorn bis zum
Montblanc dehnten ſich beſchneite Gipfel. Darunter
reihte ſich dunkel Wald an Wald. Auf lichten Wieſen-
flecken ſtanden Sennhütten verſtreut und blickten auf
die Dörfer nieder, von denen fie emporgeſtiegen zu
ſein ſchienen. Ganz unten aber floß lächelnd die Rhone
an ihren lieben, alten Talſtädten vorüber.
O Souſou, Souſou, wie ſpiegelt ſich das nur alles
in deinem kleinen Hundehirn wider? Ich fürchte, ich
fürchte, du ſchwärmſt da etwas daneben, und ein mir
wohlbekanntes Delikateſſengeſchäft auf der Leipziger
Straße in Berlin ſchiene dir ein ſehenswerteres Pan-
orama. |
Dem fei, wie ihm wolle; jedenfalls konnte er ftunden-
lang da oben in Betrachtung verſunken bleiben, obgleich
er, da feine Plattform nur ſchmal war, ganz ſchief da-
ſtehen mußte. Er half ſich und ſtützte, um Gleichgewicht
zu halten, ſeine kleine ſchwarze Schnauze gegen die
Fenſterſcheibe, wodurch Glasmalereien entſtanden, die
wir ſehr bewunderten.
Auf dieſer Chaiſelongue ſaß Madame Guin bei den
Mahlzeiten. Es lagen ſchöne Oaunenkiſſen darauf,
zwei roſafarbene und eins von dunkelblauem Samt.
Die Herrin des Hauſes benützte ſie nur dann für ſich,
wenn Souſou ſich nicht hatte hineinbetten laſſen, „in
ſein kleines Roſenbettchen“, wie ſie es nannte. Er
war dann nicht eher zufrieden, bis er vollſtändig unter
den weichen Federn verſchwunden war, die ſich nun
100 Soufous erfte Liebe. D
—
hoben und ſenkten wie Meereswogen, ohne daß man
die Urſache mit den Augen hätte wahrnehmen können.
Schaute man einmal nach, wie es darunter ausſah, ſo
fand man ein dickes, gelbes Knäuel; unfehlbar ruhte
die ſchwarze Schnauze auf dem Schwanzende, das wie
ein Bleiſtift zugeſpitzt war; die vier Beine aber waren
feſt an das runde, kräftig atmende Bäuchlein gepreßt,
aus dem hin und wieder gedehntere Seufzer des Wohl-
behagens aufſtiegen.
Das Mittageſſen wurde durch Souſous Dabeifein
weſentlich verlängert und unterhaltender. Kam die
Suppe, fo hielt ihn weder Ausſichtsturm noch Rofen-
bett; er ſtand mit den Hinterbeinen auf der Chaife-
longue, ſtemmte die Vorderpfoten gegen die Tiſchkante
und riß ſich faſt die Zunge aus dem Halſe, um an der
Terrine lecken zu können. Er wurde dann zwar zärtlich
gebeten, zu warten, doch hatte ſeine Herrin ein Gefühl
für die ſchwere Kränkung, die darin lag, und empfand
es mit, wenn er ſich enttäuſcht abwandte.
„Du liebſt deine Herrin nicht mehr? Oh, mein
Bijoujou, mein Bijoujou; mein Joujoubi — o du mein
Cocolet, mein Cocolon!“
Dieſe Troſtworte allein hätten nichts genützt. Ein
ausgedehntes, ſehr gütiges Streicheln mußte helfen,
das auf Souſou in ſeinen guten Minuten eine ſuggeſtiv
beruhigende Wirkung hatte. Ihm wurden dann von
den feinen, leichten Händen ſeiner Herrin die langen,
ſchmalen, ſchlappen Ohren zurückgeſtrichen, und all-
mählich verwandelte ſich feine Straßenjungenphyſio-
gnomie in die eines kleinen, ſehr fanften, ſehr glatt-
gekämmten, blonden Schulmädchens mit feſt zurück-
geflochtenen Hängezöpfchen.
Und die Suppe? Niemand hätte mehr daran ge-
dacht, wenn ich nicht endlich, wie aus der Hypnoſe
0 Von Karen Fugerdt. 101
erwacht, meine Blicke vom Hunde weg und auf die
Terrine geheftet hätte. In den erſten Tagen bewirkte
ein Räuſpern meinerſeits, daß mir der Teller mit kält-
licher Suppe gefüllt wurde. Aber als Hund und Haus-
frau ſich ſchon zu ſehr an die neue Penſionärin gewöhnt
hatten, um ſich noch durch ſie ſtören zu laſſen, hatte
ſich die neue Penſionärin auch an Hausfrau und Hund
gewöhnt, ergriff die Suppenkelle und bediente ſich
ſelbſt, beſcheiden oder reichlich, je nach Güte des In-
halts. Manchmal nämlich waren dieſe Suppen gut
und appetitlich; oft aber beſtanden ſie auch aus einer
Waſſerbrühe, die nur durch darin ſchwimmenden Lattich,
das treue Aſchenbrödel unter den Küchenkräutern der
Gegend, dunkel gefärbt war. An ſolchen Tagen war
auch ich äußerſt zärtlich gegen Souſou, bis der nächſte
Gang kam.
Bei dieſem war ich nun allerdings fein heraus in
dieſer Vorſaiſon. Denn es gab Lenzburger Konſerven,
bald ein Büchschen Sardinen, bald ein Büchschen
Gänſeleberpaſtete, bald ein Büchschen Pilze. Souſou
verſchmähte das, und Madame Guin tröftete den armen
Souſou, der nun immer noch warten mußte. „Mein
Bijoujou, mein Zoujoubi, warte nur noch ein biß—
chen!“ So war das Büchschen denn hauptſächlich für
mich — und ich ſah es ſo lange täglich wieder, bis ſein
Inneres in meinem Inneren verſchwunden war.
Aber meine Rolle war ausgeſpielt, ſowie nun die
Fleiſchſchüſſel in Souſous Geruchsfeld trat. Er ſprang
der luſtig aufquietſchenden Aurélie faſt auf die Schüſſel,
auf der auch die Soße prangte. Und während Madame
Guin das größte Stück nahm — ganz gewiß nicht für
ſich — und es in feine Streifen ſchnitt, ſprang er in
unbezähmbarer Vorfreude um ſie herum, legte ihr die
Vorderpfoten auf die Schulter, leckte ſie am Haar, am
102 Souſous erfte Liebe. ca
mr en nn —
Hals, am Kinn, an den Händen, bis fie ihm die Biſſen
in die gierige Schnauze ſteckte. „Hppp!“ flog die kleine
Klappe ſchließlich wieder zu, und ein merkwürdiges
Vorwärtsſchieben der niedlichen Gurgel ſchien neue
Erwartung auszudrücken.
Inzwiſchen hatte auch ich mein Fleiſch geſchnitten,
und bald — ach ſehr bald hatte ich mich daran gewöhnt,
auch meine Biſſen als für Souſou beſtimmt anzuſehen.
Denn ich liebte an Madame Guin ihren Heiligenſchein
von weißen Haaren, ihre Freude an zierlichen Blumen,
ihren verhaltenen Humor — aber das Fleiſch, das ſie
auftiſchte, ſehr viel weniger. Wenn ich an der Küchen-
tür vorüberging, die in Rüdficht auf Souſous Bequem
lichkeit meiſtens offen ſtand, und mir der Küchengeruch
in die Naſe ſtieg, dann ſah meine ſchlecht diſziplinierte
Phantaſie unfehlbar ein an der ſchmutzigen Mauer einer
Dorfgaſſe aufgehängtes Kätzchen, auf das ein fchartiges
Küchenmeſſer losfuhr — oder ich zählte die Rippen an
einem alten, lahmenden Pferde, das mit tiefgeſenktem
Haupte zögernd der Schlachtbank entgegenhinkte.
Aber ich konnte es nicht übers Herz bringen, der
Hausfrau, die ſeit langem Vegetarierin war, von den
Aſtralleibern der Katzen und Pferde, die mir auf ihrer
Treppe begegneten, zu berichten. Fünfzehnhundert
Meter hoch und ich der einzige Penſionsgaſt! Und ihr
Mann hatte ſich früh aus dem Leben empfehlen müſſen,
ohne ihr einen Pfennig hinterlaſſen zu haben. Gerade
ich hatte wohl hundertfach das Schickſal einſam arbeiten
der alternder Frauen vor Augen gehabt, den ewigen
Kampf einerſeits gegen die Grenzen ihrer Kraft, ander-
ſeits aber auch gegen das blutleere und doch blut⸗
ſaugende Phantom der Mißachtung der Kräfte, die
ſie hatten —
Nein, Souſou ſollte unverkürzt bleiben. Er ſollte
20 Von Karen Fugerbdt. 103
nicht mit leiden unter den Eigentümlichkeiten der Vor-
ſaiſon.
Infolgedeſſen freundete er ſich mit mir an, und
eine leiſe, ganz verſtohlene Eiferſucht ſchlich ſich in das
liebebedürftige Herz der alten Dame.
Aber ſie hatte ein geniales Mittel, ſich der Rivalität
zu erwehren. Einmal, auch beim Mittageſſen, hielt ſie
Souſous Vorderpfoten feſt und ſchlug mir vor: „Blaſen
Sie doch einmal recht ſtark!“ Ich, nichts Böſes ahnend,
beugte mich über ihn und blies kräftig in fein ſteif⸗
borſtiges Fell hinein. Noch heute fühle ich den Schrecken.
Er fuhr herum, auf mich los mit gefletſchten Zähnen,
mit wutverzerrten Zügen, ziſchend und kläffend, und
hätte mir fraglos die Naſe weggeſchnappt, wenn Ma-
dame Guin ihn nicht feſtgehalten hätte.
Acht Tage dauerte es, bis er mir wieder anders als
knurrend begegnete. Sein volles Vertrauen habe ich
wohl nie wiedergewonnen.
Vom Nachtiſch bekam er den Käſe. Die eingemach-
ten Früchte überließ er dafür neidlos uns.
Nach dem Eſſen bewies die Chaiſelongue, daß ſie
auch in ihrem eigentlichen Fache tüchtig war. Sie
lud Hund und Herrin zu einer Sieſta ein und verſtand
beide lange zu feſſeln. Ich riet Madame Guin ernſtlich,
Souſou dabei auf ihre Knie zu legen, die ſtark rheuma-
tiſch waren. Gleichmäßige animaliſche Wärme ſei ſehr
ſchmerzlindernd bei ſolchen Leiden. Aber er wollte
nicht. Er lag lieber am Kopfende. So wandte ich
mich denn achſelzuckend der Treppe zu.
Nachmittags und abends wiederholten ſich Spazier-
gang und Mahlzeit mit Souſou als Sorgenkind, Haupt-
perſon und Harlekin. Nur war er beim Abendeſſen
ſchon ſo müde, daß man anmöglich von ihm verlangen
konnte, ſich von den Kiſſen zu erheben, um ſeine Biſſen
104 Souſous erſte Liebe. | s)
in Empfang zu nehmen. Lieber ſtanden wir abwechſelnd
auf und erſparten ihm das doch gar zu anſtrengende
Reden des Kopfes. Manchmal beſann ich mich aller-
dings auf meine alten Überzeugungen und warf einen
guten Happen auf den Boden, um Souſou zur Selbit-
tätigkeit zu erziehen. Was half es? Er warf mir
einen verächtlichen, ſeiner Herrin einen abwartenden
Paſchablick zu, und ſiehe da, der Berg kam zu Mo-
hammed. Ein Niederſchlucken, ein Seufzer des Geftört-
ſeins, und das müde Baby ſchlief wieder ein, bis es
in ſein Bett getragen wurde, das im Schlafzimmer
ſeiner Herrin ſeinen Platz hatte.
Nicht immer war ſein Tageslauf damit beendet.
Irgendwelche ungewohnten Geräuſche nachts, und er
ſprang in jähem Schreck mit einem Satze auf das Bett
ſeiner Herrin, die ihm den erwarteten Schutz natürlich
nicht verſagte.
Aber mit einem ebenſo überraſchenden Satze wurde
unſer Baby eines Tages zum Manne. |
Es war ein trüber Morgen. Die Nebel, die zuerſt
tief unter uns gewogt hatten, weiß wie Brandungs-
wellen, waren aufwärts gezogen. Wie große Ballen
Watte hingen ſie an den jenſeits des Tales liegenden
Bergen. Aber dann drehte ſich der Wind und trieb
ſie auf uns zu. Trat die Sonne auf einen Augenblick
hervor, ſo ſtieg von Wieſe und Straße ein brodelnder,
weißer Dampf auf, als ſei die ganze Welt eine Schale
voll ſiedenden Waſſers. Schoben ſich Wolken vor das
Licht, ſo ſpannte ſich ein eintönig grauer Schleier
aus, durch den man nur das Nächſtſtehende erkennen
konnte.
So verſchwand auch Souſou, wieder mein Begleiter
auf dem Spaziergange, vor mir im Dunſt.
Aber die Höhen von Moralavena ſind ſo reich, daß
¹ Von Karen Fugerdt. 105
ſie auch an ſolchen Tagen noch Wundergaben haben für
den Suchenden.
Ein Schritt nur auf die Wieſe, und man fühlt ſich
heimiſch in einer großen, höchſt anziehenden Gefell-
ſchaft. In ganzen Scharen grüßen alte, liebe Bekannte,
vom Klima merkwürdig verſchönt. Die Margueriten
halten ſich gerader und ſind breiter geworden. Die
Schafgarbe hat roſenrote Wangen bekommen. Den
Glockenblumen ſteht ein reicher Zuwachs der ſeidigſten
Härchen allerliebſt. Aber neben den bekannten Ge—
ſichtern begegnet man zahlreichen neuen, und alle üben
ſie gleich auf den erſten Blick einen ſolchen Zauber
aus, daß man den lieben alten Freunden ſchwer die
Treue halten kann.
Große hellgoldene Glocken, außen metalliſch, innen
wie Seide glänzend, ſo hängen die Schwefelanemonen
an ihren ſamtweich bepelzten Stielen. Eine Sonnen-
ſtunde, und aus der Glocke wird eine zartgeäderte, licht-
durchglühte Schale mit hundert dunkelgoldenen Tröpf-
lein gefüllt. Und daneben liegen dunkelleuchtende
Kelche im grünen Grafe, Enziane, von fo tiefem, wun-
derſamem Blau, daß, wenn ein Menſchenkind ſolche
Augen hätte, man ihm folgen müßte ſein Leben lang.
Selbſt dem Zauberbann der Blume kann man ſich nur
ſchwer entziehen. Aber es kommen ſchlanke, weiß-
gekleidete Geſtalten in rhythmiſchem Abſtand daher wie
zarte Mägdlein, die weißverſchleiert und feierlich zur
erſten Kommunion ſchreiten.
O ihr Berglilien von Moralavena! Wer euch lange
ins Angeſicht ſchaute, muß er nicht glauben an einen
Zweck der Welt — Veredlung?
Zögernd nahm ich Abſchied von all dem Märchen-
ſchimmer, der aus himmliſchen Farbenkrügen malender
Engelein heruntergetropft zu ſein ſchien. Sinnend ging
106 Souſous erſte Liebe. tu
ich dahin, bald in den Nebel, bald in tanzende Sonnen-
ſtrahlen hinein. Doch der Nebel ſiegte — ſo ſehr, daß
unſer Chalet erſt aus dem Dunſt hervortrat, als ich .
ſchon ganz nahe war.
Seine Fenſter aber ſahen mich an wie gnadenlose
Augen eines Großinquiſitors: „Wo iſt Souſou?“
Ach, die robuſte Wirklichkeit, dieſes Mal in Geſtalt
des kleinen Hundeviehs, wieder hatte ich ſie zu lange
vergeſſen! Ich ſchämte mich. Für das Unkraut Souſou
befürchtete ich zwar nichts; doch ich wußte, daß ich
meiner Wirtin ernſtliche Angſt ins Haus brachte. Ihre
Frage, wo ich ihn zuletzt geſehen, war ſchwer zu be-
antworten. „Irgendwo bei den Blumen,“ und die
meilenlangen Wieſen von Moralavena haben mehr
Blumen, als hundert Jahre Sekunden haben.
Über unſerem Mittageſſen hing Nebelſtimmung.
Madame Guin rührte die Speiſen nicht an; ihre Züge
waren wirklich kummervoll, ſie kämpfte mit den Tränen
in Erinnerung an einen früheren Hund, der verloren
und nicht wiedergekommen war. Aurelies ſonſt fo
fröhliches Geſicht war das Mitleid ſelbſt, und immer
hielt eines von uns dreien Wache an der Haustür und
bohrte ſeine Augen in die zu uns hinkriechenden Wolken
hinein. Als die Fleiſchſchüſſel kam, ließ man mich allein
am Tiſch. Nie war mir die Leerheit des recht geräumi-
gen Chalet Adorable ſo zum Bewußtſein gekommen.
Vorſaiſon! Faſt eine Erlöſung war es für mich, daß
ein praſſelnder Regen einſetzte.
Gleich nach dem Eſſen wollten wir alle drei ſuchen
nach verſchiedenen Richtungen hin. Die Gummiſchuhe,
die Regenmäntel wurden angezogen, eine waſſerdichte
Kapuze übergeſtülpt. Nach dieſen ausgiebigen Vor-
bereitungen ſchloſſen wir bedrückt die Haustür hinter
uns zu.
— ͤ—
2 Von Karen Fugerdt. 107
—
Da kroch der vermißte Souſou hinter dem Ein-
familienhaus hervor.
Kein Mathematiker könnte aus freier Hand einen
reineren Bogen zeichnen, als der Hund jetzt aus freien
Pfoten beſchrieb, um ſich, ohne in unſeren Bereich zu
kommen, dem inzwiſchen wieder geöffneten Hauſe zu
nähern. Seine Haltung war ein ſchlagender Beweis
dafür, daß gewiſſe Vorſtellungen von Urſache und Wir-
kung von ſelbſt gegeben ſind. Wie er, ſich duckend unter
unſichtbaren Hieben, dahinſchlich und den ſchwachen
Reſt ſeiner Energie in einen trotzig ſein ſollenden Blick
legte, der ſeiner Herrin galt und etwa heißen ſollte:
„Du wirſt doch nicht?“, war er die verkörperte Ge-
wiſſensangſt, weil er auf dem Gebiete des Geſtraft-
werdens gav keine Vorkenntniſſe hatte.
Vo war er nur geweſen? Was hatte er begangen?
Wie würde es ihm jetzt ergehen?
Nun, er lernte, daß wahre Liebe auch Raufalitäts-
geſetze zu durchbrechen weiß, und erfuhr an ſich ſelbſt
die Geſchichte vom verlorenen Sohn.
Wir beſahen ihn näher. Jedes Haar an ihm tropfte.
Mit dem Unterleib ſchien er in einem Sumpfe geſteckt
zu haben. Hatte ihn ein böſer Menſch in feines Her-
zens Roheit in einen Graben geworfen? Madame
Guin glaubte es beſtimmt.
Sofort war ein großes Frottiertuch zur Stelle, und
ſechs geſchäftige Hände rieben den naſſen Schelm, als
ob Metall geputzt würde. Als er dann trocken daſtand
und ſich zurechtſchüttelte, fand ich einen erziehlichen.
Eingriff angemeſſen.
Ich wartete vergeblich.
Ich bat meine Wirtin, ihn wenigſtens jetzt nicht
zu umarmen. Sie ſah verlegen drein. Da ging ich
im Bewußtſein meiner Ohnmacht ſtirnrunzelnd die
108 Souſous erſte Liebe. 2
m —•—— —— — ie
Treppe hinauf, und hinter mir hörte ich, diesmal ge-
dämpft, das Leitmotiv unſeres häuslichen Konzerts:
„Mein Bijoujou, mein Foujoubi! ... O mein Cocolet,
mein Cocolon!“
Aber auch die böſen Taten eines ſolchen Kleinods
ſind dem Fluche unterworfen, für den Schiller jene
unvergeßlichen Worte geprägt hat.
Anſcheinend hatte der Morgen den Hund zu einem
außergewöhnlichen Kräfteverbrauch veranlaßt. Er
mußte ausgeglichen werden. Das ihm, wenn auch
verſpätet, reichlich kredenzte Mittageſſen war im Um-
ſehen verſchwunden. Aber nicht genug. Als ſeine
Herrin, erſchöpft von der überſtandenen Erregung, ihr
verlorenes und wiedergefundenes Kleinod neben ſich,
ein wenig eingeſchlummert war, ſchlich er ganz leiſe
von dannen. Plötzlich erweckten wildes Hühnergeſchrei
und Wehelaute aus Menſchenbruſt die arme Madame
Guin aus dem Schlafe. Erſchreckt eilte fie vor die
Tür, blickte zum Nachbarhaus hinüber und ſah zwi—
ſchen den Bäumen des Waldes ein in Todesangſt
flatterndes Huhn, dahinter den alle viere ſchleudern⸗
den Souſou, verſchwinden. Ach, es war ſchon ſein
zweites Opfer!
Dieſes Erlebnis, wie übrigens auch jede andere
Abwechſlung in dieſer Einſamkeit, wurde von der
portugieſiſchen Familie, die das Nachbarhaus inne
hatte, mit einer gänzlich unbezähmten Lebhaftigkeit
erfaßt. Die Köchin, das Zimmermädchen, die eins,
zwei, drei, vier, fünf, ſechs, ſieben Kinder, Papa und
Mama überſchrieen einander, als gälte es, einen Tauben
auf eine ihm drohende Lebensgefahr aufmerkſam zu
machen.
Die arme Madame Guin ſtand unter den lärmen-
den Anklägern wie ein Lamm, das unter ein Nudel
0 Von Karen Fugerdt. 109
Wölfe geraten iſt. Eine Geldausgabe war ſeit Jahren
für ſie etwa dasſelbe, was ein blinkender Raubtierzahn
für ein zitterndes Schäflein ſein mag. Und dazu der
Schmerz, am Liebling Souſou plötzlich fo eine un-
berechenbare Wildheit durchbrechen zu ſehen!
Heftiges Zahnweh war für ſeine arme Herrin die
Folge dieſes aufregenden Mittags. Es mahnte daran,
daß die ſeit langem geplanten Beſorgungen in Genf,
verbunden mit einem Beſuche beim Zahnarzt, jetzt
nicht weiter aufgeſchoben werden durften.
Dazu waren einige Vorbereitungen nötig, die bei
der kleinen Frau eine ſolche Geſchäftigkeit veranlaßten,
daß ſie über neue Schrecken, die der nächſte Tag brachte,
etwas leichter hinwegkam.
Vor ihren Augen nämlich ſprang Souſou aus dem
offenſtehenden Fenſter — ein bisher nie gewagtes
und deshalb höchſt überraſchendes Unternehmen. Jedem
Zurückrufen aber blieb er unzugänglich. Als wir in
aller Haſt aus dem Hauſe liefen, ſah man auf dem
grünen Wieſenabhang noch einen Augenblick lang ſein
gelbes Hörnchen ſauſend abwärts gleiten, dann war die
Erde, wenigſtens für Madame Guin, wüſt und leer,
und finſter war es in der Tiefe.
Nach fünf bis ſechs Stunden machte ſich an der
Haustür ein mattes Scharren vernehmbar, und keu—
chend, mit Augen wie ein Fremder und lang heraus-
hängender Zunge, ſchlich ſich das Tier zwiſchen die vier
Beine eines in der hinterſten Ecke ſtehenden Stuhles.
Die Verachtung, mit der er geſtraft wurde, ſuchte er
zu erwidern, und er legte ſich, als ob alles in Ordnung
ſei, zum Schlafe zurecht. Aber ſein ſonſt ſo friedliches
Schlummern ſchien an dieſem Abend eine Kette von
aufregenden Träumen. Er knurrte auf, er jammerte leiſe,
er ſtöhnte, ja er bellte wiederholt, ohne die Augen zu
110 Souſous erſte Liebe. a}
öffnen, und nur in kurzen Zwiſchenräumen kam wirk-
liche Ruhe über ihn. Schließlich entrang ſich ein un-
glaublich menſchlicher Seufzer ſeiner Bruſt; er erhob ſich,
ſprang über ſein geliebtes Roſenneſt weg wie über eine
Kröte und ſtellte ſich auf die Lauer auf ſeinem Belvedere,
von dem er ſich trotz Abendeſſen, trotz ſüßen Worten,
rührenden Blicken und traulichen Armen nicht trennte,
bis aus der Dämmerung draußen ſchwarze Nacht ge-
worden war.
Am nächſten Morgen verabſchiedete ſich die Sat e
nicht ohne ihrer Sorge, Souſou unter unſerer Aufſicht
laſſen zu müſſen, Ausdruck zu geben. Wir verſprachen
aber unſer Beſtes. Sie mußte über Nacht wegbleiben,
und bei Aurelies großer Jugend fühlte ich als Trägerin
der Verantwortung das ganze Chalet Adorable mit
ſeinen vielen ſtarren und wenigen lebendigen Mobilien
auf meine Schultern gelegt.
Ein großer Teil des Vormittags ging damit hin,
den Hund, der ſich trotz aller unſerer Vorſicht mit dem
Briefträger durch die Tür geſchlichen hatte, wieder ins
Haus zu locken. Er benahm ſich merkwürdig ungeſchickt,
wie in einer plötzlichen Gedankenloſigkeit befangen.
Zwiſchen zwei Mauern eingekeilt, hatte er bald nur
noch die Wahl, ſich entweder in meine oder in Aurelies
Arme zu retten. Er wählte natürlich die Jugend, was
ich ihm nicht verdenke. Wie lachte es ihm aber auch
entgegen, dies friſche Roſengeſicht mit den vor Luſt
tanzenden Blicken! Und wie ſie weich und zärtlich ihre
Herrin nachahmen konnte, die Schelmin, als ſie dem
Eingefangenen Troſt zuſprach. „Mein Bijoujou, mein
Joujoubi!“ |
ich aber ließ ihn bald mein Alter fühlen, indem
ich, als wir wieder im Hauſe waren, alle Türen hinter
2 Von Karen Fugerdt. 111
ihm zuſchloß. Da er nun unſern Tageslauf nicht mehr
beleben konnte, fehlte in den Nachmittagsſtunden jedes
auch noch ſo kleine Ereignis. Für einen größeren
Spaziergang war das Wetter zu unſicher. Ein Klavier
war vorhanden, aber keine Noten. So konnten wir
nur eine kurze Weile miteinander reden. Dann ſchlen-
derte ich hierhin, dorthin und legte mich ſchließlich auf
einen bequemen Stuhl, der auf der Terraſſe vor dem
Hauſe ſtand. Wie tot alles war! Kein Käfer, kein Vogel,
nichts Lebendiges ringsum. Alles Starre aber ſchien
drückend nahe gerückt, und alles, ſogar der Schnee auf
den Gipfeln, hatte einen grauen, faſt drohenden Ton.
Sonſt liebte ich die Stille. Warum bedrückte ſie
mich an dieſem Tage? Warum laſtete es in mir wie
Blei? Warum konnte ich es nicht laſſen, auf das
Klopfen meines Herzens, auf mein eigenes Atmen zu
achten? Warum brannten mir Hände und Augen?
Warum ſchien mir die Leere um mich her wie etwas
Seiendes, mich Umkreiſendes und nimmer Greifbares?
Bei anbrechender Nacht ſollte ich es erfahren.
Es dunkelte früher als ſonſt, und als ich in mein
Zimmer hinaufgegangen war, brach ein fo leidenſchaft-
lich raſendes Wetter los, wie ich es bisher nur einmal,
zwiſchen den Wellen und Dünen von Sylt, erlebt hatte.
Der nahe Wald, von deſſen beruhigend auf und
nieder gleitendem Geſange ich mich ſonſt fo gern be-
ſänftigen ließ, wenn es in mir unruhig war, heulte
auf unter der Wucht des Föhns, als müſſe er Tote
erſchrecken. Ein Bach, deſſen einförmige Melodie ſonſt
nur gedämpft zu uns drang, rief mit disharmoniſcher
Doppelſtimme, heiſer ziſchend und dumpf grollend zu-
gleich, in das Dunkel hinein wie in wildeſter und doch
ohnmächtiger Empörung. Unſer totes, leeres Haus
aber ſchien plötzlich der Tummelplatz irrſinniger Geifter-
112 Souſous erſte Liebe. 0
geworden. Türen, Fenſter ſchlugen krachend zu. Die
Gardinen bauſchten ſich auf und wurden zu bizarren
Geſtalten, geſpenſtiſches Pfeifen drang vom Treppen-
haus empor, und an dem Holzdach, an den Läden
rüttelten hundert unſichtbare Fäuſte in unberechen-
barem Grimm. Kreiſchend ſchrieen die Eiſenſtangen
der Markiſen auf wie unter unerträglichen Martern,
und ein drehbarer Schornſteinaufſatz polterte und
lärmte über dem allem in atemloſer Haſt, als wolle er
entrinnen, ehe alles zugrunde ginge.
Ich trat vom Fenſter zurück, denn all dieſes ſinn⸗
verwirrende Toben war nur noch dem Ohre vernehm-
bar. Das Auge ſchien von der auf Vernichtung los-
wütenden Nacht mit Blindheit geſchlagen.
Da riß ich mich faſt gewaltſam los vom Miterleben
grauenvoller Urkraft der Natur. Vor das geſchloſſene
Fenſter zog ich den Vorhang und verriegelte, woran
ich ſonſt nie dachte, meine Tür. Das Brauſen und
Heulen, das Krachen, Sauſen und Rollen dauerte fort.
Aber beim Scheine der elektriſchen Lampe hatte ich
nun das Gefühl, als habe ich mich ausgeſchloſſen vom
Leben des Alls. Freilich, leſen oder ſchreiben ſchien
unmöglich. Auch hatte ich mich längſt daran gewöhnt,
wie ein Bauer zu Bette zu gehen, wenn der Tag zu
Ende war. Zch legte mich alſo nieder und verſuchte
mit aller Energie, das Ummichher zu vergeſſen und
ſchlafend das Ende des unheimlichen Kampfes abzu-
warten.
Faſt wollte es gelingen.
Von eiskaltem Schreck gepackt fuhr ich da vom
Kiſſen auf.
| Was war das? Dieſes gellende, alles durchdringende
Schreien? So konnte es nicht Sturm, nicht Bach, nicht
Wald; das konnte nur aus der Kehle eines Menſchen
12 Von Karen Fugerdt. 113
kommen, dem ein unfaßbares Grauen die Sinne ge-
raubt hatte.
ich riß die Gardine zurück, das Fenſter auf. Kalter
Regen peitſchte mir ins Geſicht, und draußen lärmte
das Geheul der Natur; die todesbange Menſchenſtimme
aber war erſtorben.
Da hörte ich Schritte von mehreren herbeihaſtenden
Perſonen; und ich hörte, wie fie alle auf das Nachbar-
haus zueilten und vor der Schwelle ſtockten. Die Er-
regung ſchärfte mir die Augen. Umriſſe von Geſtalten,
jetzt ſtill und bewegungslos geworden, waren vor dem
Hauſe wahrnehmbar. Die Tür ſtand offen, und ein
paar Kinder, die wohl in raſender Angſt hinausgelaufen
waren in die Nacht, wurden lautlos wieder die Stufen
hinaufgeführt. Eine Weile blieb vor dem Eingang noch
ein ſtarrer, dunkler Schatten; dann bewegte er ſich, löſte
ſich auf, und nach verſchiedenen Seiten gingen Menſchen
auseinander, bald hier, bald dort ſtehen bleibend wie
ſchwarze Klumpen. Dann verſchlang ſie das Dunkel.
Woher waren fie nur gekommen in dieſer Einfam-
keit? Alle Kuhſtälle der näheren Umgebung ſchienen
ihre Hirten ausgeſpieen zu haben. Der Wind pfiff
langgezogene Warnungsſignale hinter ihnen her.
Ich überlegte. Diebe, Mörder in den Bergen? Ich
hatte das nie erlebt.
Aber doch! Die Portugieſin war ja einmal, auch
in der Vorſaiſon, mit ihren älteſten Kindern in den
Wald gegangen, um ein Picknick zu veranſtalten. Gerade
hatte ſie aus der mitgebrachten Thermosflaſche einen
guten Schluck nehmen wollen, da hatte ihr ein Strolch
von hinten den geliebten Thermos entriſſen und gedroht:
„Entweder Ihr Geld oder ich ſchlage Ihnen mit der
Flaſche den Schädel ein!“ Sie hatte ſich losgekauft
mit drei Franken und der ſchönen Flaſche.
1918. X.
114 Souſous erfte Liebe. 2
Aber jetzt lag die Sache ſo: war dort drüben bei
den Portugieſen jemand in Gefahr geweſen, ſo war
entweder Rettung zur Stelle oder es war nichts mehr
zu helfen. Sonſt wären die Menſchen, die ſo ſchnell
herbeigeeilt waren, nicht langſam, augenſcheinlich be-
ruhigt davongegangen. Sonſt müßte in dem Unglüds-
hauſe Licht brennen, auch in den Räumen der uns
zugekehrten Seite. Aber es ſtand da, farblos und ſtumm,
und verriet keines feiner Geheimniſſe. Durfte ich, ein
unbekannter Gajt, feine Schwelle mitten in der Nacht
betreten, um Kenntnis deſſen zu erzwingen, was es
verbarg?
Schon hatte ich Strümpfe und Schuhe an den
Füßen, da kamen mir Bedenken. Ich hatte durch
Zufall — Geſchwätz übernimmt ſo oft die Aufträge
des Zufalls — gehört von Zwiſtigkeiten zwiſchen Mann
und Frau dort drüben — ja, dort drüben, in dem
waldumrahmten Hauſe mit der ſchönen Ausſicht, auf
das vom Morgen bis zum Abend die Sonne ſchien!
Mein Gehirn arbeitete erregt, Zerrbilder von Mannes-
zorn und Frauenangſt ſtanden mir vor Augen. Var
es an mir, die Unglücklichen zu beſchämen, nachdem
vielleicht auf Augenblicke maßloſer Leidenſchaft die Qual
der Selbſtbeſinnung gefolgt war?
Ich horchte wieder hinaus. Die Nacht war auch
jetzt noch wüſt und lärmend, aber Menſchen hatten
keinen Anteil mehr daran.
Da legte ich mich wieder hin. Aus Vorſtellungen
möglichen Unbeils wurden bald Träume von jähem,
unklarem Mißgeſchick und Kataſtrophen, die keinen An-
fang und kein Ende hatten.
Als ich mitten in der Nacht erwachte, ſchien mir
eine Ewigkeit verſtrichen. Was für ein Toben um mich
herum! Es war immer noch der Sturm, und ein rau-
0 Von Karen Fugerdt. 115
ſchender Regen. ſtürzte mit aller Kraft auf unſer Zink-
dach nieder. Ich beſann mich auf den ſchreckvollen
Beginn der Nacht; aber — meine Gedanken darüber
waren jetzt andere als vorher.
Ja, war es denn ſo ſicher, daß das Menſchengeſchrei
wirklich aus dem Nachbarhauſe gekommen war? Waren
die Schatten, die Schritte nicht eine Täuſchung geweſen,
veranlaßt durch Aufregung der Sinne, Phantaſie und
Dunkel? Hatte ich mich infolge merkwürdiger Schall-
wirkungen der ſtürmiſchen Nacht geirrt, und waren die
Wehelaute etwa — aus unſerem eigenen Hauſe ge-
kommen?
Mir ſtockte der Herzſchlag.
Aurélie?
Diesmal hielten mich keine Bedenken mehr. In
Haſt hatte ich das Nächſtliegende übergeworfen und
ging auf den Flur hinaus. Die Mädchenkammer war
von meinem Zimmer nur durch eine Wand getrennt.
Ich hatte die ganze Zeit über keinen Laut von dort
drinnen gehört. Ich tappte mich bis an die Tür, öffnete
ſie leiſe und rief: „Aurelie!“
Keine Antwort.
Noch einmal, ganz rückſichtslos laut.
Nichts regte ſich.
Da huſchten meine Finger, vergeblich den Knopf
der elektriſchen Leitung ſuchend, an der kalten Wand
entlang, griffen hie und da an etwas Weiches oder
Hartes, alles aber ſchien unheimlich. Schließlich faßte
ich das Bett. Meine Hand fuhr über das Kiſſen, die
Decke — nirgends taſtete ſie ein Weſen von Fleiſch
und Blut.
Da graute mir vor dem leeren Raume; ich lief
ſchnell hinaus und machte die Tür hinter mir zu. Am
liebſten hätte ich mich unter meine Bettdecke verkrochen.
116 Soufous erfte Liebe. D
Aber man hat ein Gewiſſen; das hat wje ein Apotheker
beruhigende und aufregende Medikamente. Mir gab
es jetzt einen ſtärkenden Trank.
ich rief vier-, fünfmal den idylliſchen Namen
„Aurélie“ in das tragiſch düſtere Treppenhaus hinunter.
Ein Ruf, auf den nicht geantwortet wird, klingt ſeltſam
nach im eigenen Ohre. Zch ging die Stufen hinab,
immer taſtend nach einem Lichtknopf, immer horchend
auf einen Laut. Schon war ich zwei knarrende Wendel-
treppen hinabgeſtiegen und ſtand auf dem unterſten
Flur. Da griff ich endlich an die richtige Stelle. Es
wurde hell, und das Bild, das ich ſah, war vertraut
trotz aller nächtlichen Stille. Die Gummiſchuhe, die
Regenſchirme, die violette Wolljacke von Madame Guin
und mein grüner Sweater — alles ſchlief unberührt
feinen ruhigen Schlaf. Ich erleuchtete die Küche, die
Vorratskammer. Derſelbe ſichere Schlummer unge—
fährdeter Gegenſtände. Dann unterſuchte ich das Eß-
zimmer, den Salon — nirgends eine Veränderung.
Schließlich ging ich auf die Veranda. Die geſchloſſenen
Läden gaben ihr etwas Erſtorbenes. Ich faßte an die
Haustür. Sie war von innen geſchloſſen, der Schlüſſel
lag auf dem nächſten Tiſche.
Schon wollte ich wieder auf den Flur zurückkehren,
da hörte ich den Atem eines lebenden Weſens. Er-
ſchreckt ſuchte ich den Ausgangspunkt dieſer Laute, und
ſiehe da, auf der Chaiſelongue wogten die Roſenkiſſen,
und Souſous Schnauze wurde ſichtbar. Seine Augen
blinzelten trübe in das Licht hinein und richteten ſich
dann müde fragend auf mich. Als ich näher kam und
mit ihm ſprach, ſah ich, daß ihn wiederholt ein Zu-
ſammenzucken und Zittern überfiel.
Soweit war alſo alles in Ordnung, die Läden
zugemacht, das Haus verſchloſſen, Souſou vorhan-
2 Von Karen Fugerdt. 117
den, wenn auch fröſtelnd und beängſtigt. Aber —
Aurélie?
Es gab noch einen anderen Hausausgang. Der
hintere Teil des Flures war durch eine Tür mit einem
Schuppen, einem einfachen Bretterverſchlag, verbun-
den, in dem alte Kiſten und Brennholz, ein Schlitten
und vielerlei Gerümpel umherlagen. Das elektriſche
Licht beleuchtete vom Flur aus dieſen Raum nur
ſchwach. Als ich ihn betrat, fiel der Schein gerade auf
ein grinſendes Beil, das mitten auf der Erde lag.
Brrr! Ich ſchüttelte mich. Dann lehnte ich das Mord-
inſtrument an die Wand und wollte die nach draußen
führende Tür des Verſchlages öffnen. Unmöglich. Sie
war alſo verſchloſſen. Der Schlüſſel war nirgends zu
finden. Alſo von außen verſchloſſen!
Meine Beſorgnis für das liebe, unſchuldige Kind
mit den Schwarzkirſchaugen wurde jäh zu kochender
Entrüſtung. Alſo auf ſolche Weiſe machte ſie ſich die
Abweſenheit der Hausfrau zunutze! Und ich brachte
meine ſauer verdiente Erholungszeit damit zu, mich
nachts um leichtſinnige Bauernmädchen zu ängſtigen!
Keinen Gedanken mehr wollte ich an die Sicherheit
dieſes adorablen Chalets wenden. Mochte es ver-
brennen, alles geſtohlen werden, mochte Souſou vom
Satan geholt werden, wenn er nicht ſelbſt einer war!
Angſt und Empörung ſind zwei Elemente, die ſich
nicht miſchen laſſen. Ich ging ohne alles Horchen und
Winkelunterſuchen die Treppe wieder hinauf und legte
mich zu Bett. Zum dritten Male. Aber freilich, ſchlafen
wollte ich nicht. Erſt ſollte ſie die Dame aus ö
reſpektieren lernen, dieſe kecke Walliſerin!
Ich las, ſoweit man leſen kann, wenn das Ohr mit
äußerſter Anſtrengung anderweitig beſchäftigt iſt, in
einem recht mittelmäßigen franzöſiſchen Roman. Zu-
118 Souſous erſte Liebe. 2
gleich hielt ich mir im voraus die Strafpredigt, mit der
ich Aurélie empfangen wollte. Immerwährend glaubte
ich das Knarren einer Tür, ein Schleichen auf der
Treppe zu hören; aber wieder und wieder ſtellte es
ſich heraus, daß es nur der Wind geweſen war. Er
fuhr noch immer dazwiſchen, fauchte und ſchlug um ſich.
Halt — das waren Schritte! Ich ließ ſie langſam,
vorſichtig die Stufen heraufſchleichen — dann ſtand ich
plötzlich da wie ein im Dunkel weißlich leuchtender
Racheengel vor der kleinen Vagabundin, die, Souſou
im Arm, in Strümpfen von einem Fuß auf den anderen
trat. Sch herrſchte fie an. Da floß plötzlich ein fo
reißender Strom von Patois und Hotelfranzöſiſch auf
mich nieder, der zwei in der ſchwarzen Nacht aufblitzen-
den Zahnreihen entquoll, daß ich nur noch ein einziges
Beſtreben hatte: feine Richtung zu erkennen, um mög-
lichſt bald entrinnen zu können.
Schließlich wurde mir folgendes klar: Aurelie hatte
ſchon ſchlafen gehen wollen, da hatte ſie bemerkt, daß
der Hund auf unbegreifliche Weiſe wieder entſchlüpft
war. In ihrer Angſt um das köſtlichſte Bijou ihrer
Herrin war ſie in die Nacht hineingelaufen. Sturm
und Regen und Dunkelheit aber hatten ihr ein ſolches
Grauen eingeflößt, daß ſie froh geweſen war, als ihr
ein Zufall Jean Verclas, den Sohn des Präſidenten
von Ridogne, entgegengeführt hatte. Er hatte ihr ſeine
Begleitung angeboten, was ſie beglückt angenommen
hatte. „Der Sohn des Präſidenten“ — fie wiederholte
dieſe Kulturſtufenbezeichnung wieder und wieder mit
unverkennbarer Genugtuung — war ſehr, ſehr nett
geweſen. Man war miteinander nach Ridogne ge-
laufen, denn er hatte gleich geſagt, Souſou ſei ja jetzt
immer in Ridogne. Und er hatte ihr auf dem Heim-
weg erzählt, daß ſein Nachbar eine reizende rotbraune
a Von Karen Fugerdt. 119
Hündin habe, mit der Souſou immer ſpiele. Auf dem
Rückwege aber hatte er den in einem dunklen Gafjen-
winkel aufgefundenen, frierenden, naſſen Hund auf den
höchſteigenen Armen getragen. In Moralavena an-
gekommen, hatte ſich Souſou nur mit heftigem Wider-
ſtreben ins Haus hineinſchieben laſſen. Und dann —
der Redeſtrom ſtockte einen Augenblick, brach aber dann
um ſo heftiger über den Damm einer plötzlich auf-
ſteigenden Verlegenheit — ſei man ſo naß und kalt
geweſen; da habe der Präſidentenſohn zur Vorſicht
gemahnt und ſie zu einem Glas Wein eingeladen.
Sein Vater beſaß in Moralavena, nicht allzu weit von
uns entfernt, ein Chalet, das er an einen Oeſtillateur
vermietet hatte. Sie, aus Dankbarkeit, habe nicht nein
ſagen mögen.
Ein leiſer Hauch von Alkohol glitt unter meiner
Naſe vorbei — da wandte ich mich kurz ab und zog
mich in meine Kiſſen zurück. Zum vierten Male!
Und in meiner Erinnerung tauchte der nette Jüngling
auf, der mir da unten das Gepäck zur Station der
Drahtſeilbahn getragen hatte; das ärmliche Dorf, in dem
ich auf meiner Zwangswanderung von St. Laquice de
Maur nach Moralavena auf die vorher fo hurtige
Aurélie hatte warten müſſen; das Haus aus mächtigen
Steinen mit dem Eiſengeländer an der Freitreppe,
wohl ein Erbbeſitz des Präſidenten Verclas.
Im Halbſchlaf ſah ich eine ſchwerfällige Bauern-
hand über einige Unterſchriften auf Aktenbogen ehr-
würdigen Streuſand ſchütten. Es war ein Schreiben
von mir darunter, das er legaliſieren ſollte, ein Kauf-
vertrag. Ich hatte einen Kuhſtall übernommen, billig,
mit ſchiefen, wetterſchwarzen Holzplanken und ſtark
beſchädigtem Dach. |
Da heulte Souſou plötzlich durch unfer Haus, fo
120 Souſous erſte Liebe. 2
wie man es in Büchern lieſt, daß Hunde heulen auf
dem Grabe ihrer Herren. Adieu, du ſüßes Träumen,
das mich doch einmal im Leben zur Grundbeſitzerin
gemacht hat! — Ich hoffte vergeblich, daß auch Souſou
nur träume und von feinem eigenen, ſchrecklichen Wehe⸗
lärm erwachen müſſe. Immer länger, immer leidens-
voller gellten feine Klagelaute durch das Haus, faſt
noch heftiger die Nerven des Zuhörers packend, als
es das nun ſchon halbvergeſſene Menſchengeſchrei ein
paar Stunden vorher getan hatte.
Ohne jede Vorbereitung lief ich auf den Flur und
ſtieß im Dunkeln gegen Aurélie, die ganz ſchlaf—
befangen die Tür vom Schlafzimmer ihrer Herrin auf-
machte und Souſou, der dort wie immer fein Nacht-
quartier hatte, zu ſich rief. Aber wie raſend ſauſte
der Hund die Treppe hinab, und von unten her
drang fein erneutes, gedehntes Jammergeheul zu
uns empor. Kein Rufen half. Wir mußten zu ihm
hinunter, Aurélie machte Licht, und wir ſahen, wie
er an der Haustür ſcharrte und ſchnubberte. Sein
ganzes Inneres ſchien zu ſchreien: „O laßt mich nach
Ridogne!“ | |
Schon hatte Aurelie die Hände nach ihm ausgeftredt,
gerade als die Kuckucksuhr eins ſchlug — da ging das
Licht aus, und wir ſahen einander nicht mehr. Während
einiger Stunden der Nacht ſtellte nämlich das Eleltri-
zitätswerk den Betrieb ein. | |
Als ich Kind war, fpielten wir oft „Fiſcher im
Dunkeln“. Zn einer finſteren Stube verſteckten ſich
die Fiſche, und einer von uns angelte hinter Schränken,
unter Stühlen und Tiſchen. In dieſem Spiel übten
wir uns jetzt mit Souſou, nur im umgekehrten Ver-
hältnis: mehrere Fiſcher und nur ein, wenn auch dicker
Fiſch. And trotzdem war es geradezu ein Wunder,
o Von Karen Fugerdt. 121
daß er uns ſchließlich ins Netz ging. Aurelie, zwiſchen
Gähnen und Schlafen, koſte den Heulenden herzig.
Sie nahm ihn mit in ihr Bett, wo ſie ihn nach einer
Meile zu beſchwichtigen vermochte.
Ich aber taſtete mich zum fünften Male in das
meine. Wie gern hätte auch ich beſchwichtigt, wie gern
hätte ich den heulenden Föhngott draußen geſtreichelt
und beſänftigt. Bei geſchloſſenem Fenſter fühlte ich
den Zugwind, und über meine rechte Kopfſeite zog
ein neuralgiſcher Schmerz, erſt dumpf, gleichmäßig und
erträglich, dann aber ruckweiſe, heiß, reißend und zerrend.
ch biß die Zähne zuſammen im Ingrimm. „Pfui,
Moralavena der Vorſaiſon, eine haſſenswerte Teufelin
biſt du trotz deiner überwältigenden Schönheit!“ So
grollte es in mir.
Und eine heftige Sehnſucht ergriff mich nach dir,
Lugano —Caſtagnola.
O nächtliches Lugano, du ſtrahlender Bogen am
See, geborgen im Schutze deiner Wächter, der treuen,
freundlichen Berge! So reich an Licht, daß die laut-
loſen Waſſer davon trinken und trinken, Nacht um
Nacht, und der ſchimmernden Fülle nicht weniger wird.
O milde Sommerluft, die den Atem anhält, als lauſche
ſie Melodien aus fernen Gefilden der Seligen! O
unermeßlich weites, unvergeßlich ſternenſtrahlendes
Himmelszelt, deſſen Anblick müde Augen mit Tränen
der Schönheitsfreude füllt! O ſüßer Duft aus tauſend
und abertauſend ſtilllächelnden Blumen, der keinen
Schlummernden vergißt! Der leiſe, ganz leiſe dahin
ſtreift über die Blonden und die Braunen, die Alten
und die Zungen, die Oeutſchen und die Welſchen; der
friedeloſen Seelen Träume ſchenkt, in denen die Bürde
ihres Kummers von ihnen abfällt wie langſam ſinkende
Roſenblätter!
122 Souſous erfte Liebe. 2
O Caſtagnola, warum hatte ich dich verlaffen?
Warum? Da war es wieder, das leidige Warum.
Sie kamen auf mich zu, ein ganzer Trupp, die Warum
meines Lebens. Kleine und große, in engen und wei-
teren Abſtänden, auf einer langen Straße ohne Anfang
und Ende. Alle ſtanden ſie auf einem Bein und hatten
gekrümmte Rüden und Waſſerköpfe wie Fragezeichen.
Ich wollte mich abwenden, aber wieder und wieder
mußte ich hinſehen und in ihren Zügen ſuchen wie in
Menſchengeſichtern, bei denen man nicht weiß, ob man
ſie kennt oder nicht.
Warum überhaupt?
Sit unſer Willensleben denn ein Schlamm, und ſteigt
unſer Glaube, das Rechte zu ergreifen, wie eine Blaſe
aus trübem Waſſer hervor, nur um an der Oberfläche
zu zerplatzen? Und auf dieſe Blaſen bauen wir unſere
Entſchlüſſe? Gibt es einen haltloferen Grund?
„Unſer Wille iſt gebunden durch die in Stoff und
Kraft liegenden Geſetze,“ ſagt der ehrliche Naturforſcher.
„Das Problem der Willensfreiheit können wir nicht
löſen,“ ſagt der ehrliche Philoſoph.
„Ich fühle, daß mein Wille frei iſt,“ ſagt der ehr
liche Ethiker.
Der liebe Gott aber ſchweigt.
Und wenn wir nicht mehr find wie die Kinder, wenn
unſere Glieder oft ſchlummern und wir trotzdem, auch
ſchlafend, die Laſt empfinden, die auf unſerer Seele
ruht — iſt es nicht, weil Gott ſchweigt?
Ob der Wille frei iſt oder nicht, man hat oft ſeinen
Spaß auf dieſer Welt. Auch wenn man wie Aurelie
nach einer halb in Sturm, in Jünglingsgeſellſchaft und
Deſtillation verbrachten Nacht todmüde iſt und trotzdem
feine Mädchen-für-alles-Pflicht erfüllen muß. Sie ſah
u Von Karen Fugerdt. 123
abgeſpannt aus am folgenden Tage. Aber wenn ſie
ſich unbeobachtet glaubte, ſtand ein heimliches Lächeln
auf ihrem Geſicht, als grüßten fie hübſche Erinne-
rungen oder Vorfreuden. Und wenn ſie fühlte,
daß ich ſie forſchend anſah, glühte ſie auf wie eine
Alpenroſe.
Wieder ſah ich beſtätigt, was man ſo ſelten gelten
laſſen will: die verblüffende Ahnlichkeit aller Menſchen⸗
kinder, einerlei ob im Salon oder im Kuhſtall groß
geworden. Genau fo verſtohlen und unvermittelt wie
jetzt Aurélie lächelte im verfloſſenen Winter meine
blaſſe kleine Nichte nach ihrem erſten Ball. Und wie
ſie ſich am folgenden Morgen in einer ihr ſonſt fremden
Gedankenloſigkeit mit der Nagelbürſte ſtatt mit der
Zahnbürſte in den Mund fuhr, fo war auch Aurelies
ſtändiges „Sofort, Mademoiſelle“, das ſo prompt und
überzeugungsecht herauszukommen pflegte, am Tage
nach jener Hundenacht von einer nichtsſagenden, farb-
loſen Zerſtreutheit. Ich glaubte, die Fadigkeit meines
Mittageſſens ſei eine Folge davon. Es gab zuerſt in
einem Pfännchen trockenen Kartoffelbrei, unter dem
wenige zerhackte Fleiſchreſte verſteckt waren, dann ein
zähes Faſergewebe, das einer Konſervenbüchſe ent-
nommen war. Aber auf eine boshafte Bemerkung
von mir holte Aurélie eine kleine Schiefertafel aus der
Küche, auf der in der recht eleganten Handſchrift von
Madame Guin das Menü des Tages verzeichnet ſtand,
und nun erſt wurde mir klar, was für intereſſante Ge-
richte mir wieder geboten worden waren.
Nachdem Souſou die ganze, mir zugedachte Nation
in aller Geſchwindigkeit aufgefreſſen hatte, fiel er gleich
darauf wie tot auf fein Roſenbett und ließ ſich auf
kein Süßholzraſpeln von unſerer Seite ein, bis die
Stunde gekommen war, da er mit Aurelie die Herrin
124 Soufous erfte Liebe. 2
von der Bahn holen ſollte. Da erhob er ſich gähnend
und verdroſſen.
Doch kaum hatte er die Naſe aus der Tür geſteckt,
als er anderen Sinnes wurde. Große Bereitwilligkeit
heuchelnd, lief er neben dem Mädchen her. Sowie
aber die Straße erreicht war, die links zum Bahnhof,
rechts nach Ridogne führte, ſchob er ſich hinter ſeine
Begleiterin, machte leiſe kehrt und entſchied ſich für
einen einſamen Dauerlauf in einer ihm wohlbekannten
Richtung. Aurelie bemerkte es erſt, als jede Verfol-
gung unmöglich war, und mußte ihre Herrin trotz aller
Aufopferung am Vorabend nun doch mit jchuldbelade-
nem Gewiſſen empfangen.
Gegen Abend — ſie fand das ganz in der Ordnung
— wurde ſie wieder nach Ridogne geſchickt und kam
erſt ſpät und ſcheinbar recht niedergeſchlagen zurück.
Monſieur Verclas hatte unſeren Souſou wohl dort
unten geſehen, aber der Hund hatte ſich mit feiner rot-
braunen Freundin bald hier, bald dort herumgetrieben
und war ihm ſchließlich aus den Augen gekommen.
Arme Aurélie! Während ſie bange und verlegen
zu ihrer ſtrenge blickenden Herrin aufſah, war dieſe
innerlich längſt beruhigt und amüſierte ſich. Denn ſeit
einer halben Stunde etwa war ihr Bijou ſchon wieder
zu Haufe, und nachdem fie ſich eine Weile an Aurelies
Angſt geweidet hatte, wies ſie auf das leiſe wogende
Roſenneſt. |
In den nächſten Tagen nahm Souſou zuſehends
ab. An beiden Seiten der langen Naſe war ſein Ge—
ſicht bald ganz eingefallen. Auf dem Rücken wurden
die Rippen unter dem borſtigen Fell ſichtbar. Ver
allem aber zeigte er eine an Tollheit grenzende Ner-
voſität. | 7
u Von Karen Fugerdt. 125
Da wurden die Türen, die Fenſter mit großer
Sorgfalt geſchloſſen gehalten, und er jaulte wiederholt
durch das Haus wie in jener Schreckensnacht. Immer
der Reihe nach bettelte er bei der Herrin, bei Aurelie,
bei mir, daß man ihm öffne. Vergeblich. Da ließ
er ſich ſchließlich entmutigt auf einer Strohmatte nieder,
und es war kläglich anzuſehen, wie er wieder und wieder
das Weiße im Auge zeigte, zuſammenzuckte und ſich
wie im Krampfe ſchüttelte. Dann begann wieder das
jämmerliche Heulen. War denn feine Herrin uner-
bittlich geworden? Er ſprang auf, legte ihr die Vorder-
pfoten auf die Knie und ſuchte ihre Hände zu lecken.
Aber welche Wendung! Sie fuhr ihn an und erhob
die Hand wie zum Schlage. Da war er noch verdutzter
als betrübt und beleidigt. Hätte er eine Sprache ge-
habt, er hätte in dieſem Augenblick kein Wort gefunden.
„sit fie es, oder iſt fie es nicht?“ ſchien er ſich zu fragen.
Armer kleiner Mann! Schon mancher hat dem Myſte-
rium der Frauenſeele nicht weniger ratlos gegenüber-
geſtanden als du. Er betrachtete ſeine Herrin eine
Weile, dann wurde ihm unheimlich; er legte ſich wieder
auf die Matte, um ſich aus der Entfernung über
dieſen Wechſel klar zu werden. Immer von neuem
hob er den Kopf und blickte nachdenklich zu ſeiner alten
Dame auf.
Dann kam der Racheakt. Echt männlich. Er ſtand
langſam auf und ſchritt auf mich zu. Seine weichen
Pfoten, von innigen Blicken aus ſeinen braunen Augen
unterſtützt, tätſchelten an mir herum. Geſchmeichelt und
gerührt von ſeiner Liebenswürdigkeit, ſtreichelte ich ihn
ſanft und anhaltend. Da entrang ſich ihm einer ſeiner
fabelhaft menſchlichen Seufzer, und in ſeinen Augen
ſtanden dicke, runde Tränen.
Das war denn doch mehr, als Madame Guin aus-
126 Souſous erſte Liebe. | 0
halten konnte. Plötzlich anders entſchloſſen, nahm fie
ihren Liebling von mir fort mit beiden Armen, öffnete
die Verandatür und entließ ihn mit zärtlichen Mahn-
worten. Mit triumphierend emporragendem Hörnchen
trabte er ſofort abwärts nach Ridogne.
Ein paar Stunden ſpäter bekam Aurélie den Auf-
trag, ſich in einigen Bauernhäuſern nach Eiern zu er-
kundigen; natürlich würde ſie in Ridogne am erſten
Erfolg haben. Wenn ſie zufällig den Hund ſähe, möchte
ſie ihn mitbringen.
Sie tauchte denn auch ſchließlich wieder auf, in der
linken Hand einen Korb mit Eiern, in der rechten einen
mehrmals zuſammengeknoteten Strick, an dem ne
Souſou führte.
Sie erzählte dann die verſchiedenſten Neuigkeiten
aus Ridogne. Am bemerkenswerteſten ſchien mir die,
daß die rotbraune Hündin, Souſous Geliebte, nicht
mehr dem Dorfſchmied, ſondern ſeit einigen Stunden
dem Sohn des Präſidenten gehöre, der ſie jenem für
teures Geld abgekauft habe. „Zwanzig Franken —
denken Sie!“
Mir fiel wieder das muntere Lächeln ein, mit dem
der Präſidentenſohn auf dem Bahnhof da unten meinen
Franken in die Taſche geſteckt hatte. Nun ſcheute er
kein Opfer, Souſous Freundin in ſeine Nähe zu bannen.
Solche Widerſprüche macht nur eines erklärlich: die
Liebe! Für mich war nun kein Zweifel mehr, die
Schwarzkirſchaugen von Aurélie hatten es ihm an—
getan.
Meine Hände zuckten, ſie hatten nicht übel Luſt,
Beifall zu klatſchen. Ridogner Geſchmack, Ridogner
Schlauheit waren doch gar nicht übel. Ich nahm mir
im ſtillen vor, die Haustür recht oft offenzulaſſen,
damit Souſou entweichen könne, dieſer Souſou, der
oO Von Karen Fugerdt. 127
mir jetzt als Ridogner Amor in einem ganz neuen Lichte
erſchien. —
Ach, müßte ich ein Beiſpiel finden, um ein bekanntes
Zitat aus Schillers Glocke zu illuſtrieren, ich könnte
nicht beſſer wählen, als die Ereigniſſe der folgenden
Tage zu erzählen. Jean Verclas und Aurélie, Souſou
und ich, wir flochten den Bund mit des Geſchickes
Mächten — vergeblich. Madame Guin fand in einer
von oben bis unten vollgepfropften Rumpelkammer
trotz unüberwindlich ſcheinender Schwierigkeiten eine
Hundeleine, und was ſchon ſo oft vergeblich verſucht
worden iſt, hier wurde es Wirklichkeit: Amor lag an
der Kette! Er lag, er ſtand und er ging an der Kette,
volle fünf Tage lang.
Am erſten Tage war es faſt nicht mitanzuſehen.
Ein Menſch kann nicht kummergeſchlagener daliegen
als der arme Kerl. Auf Stunden quälender Sehnſucht,
in denen er vergeblich an der Leine riß, in denen er
vergeblich weinte, heulte, ſcharrte und kratzte, in denen
er vergeblich in dem engen Kreis feiner Bewegungs-
fläche eine Stelle ſuchte, wo er Ruhe für ſeine ge-
marterte Seele fände, folgten Stunden, in denen aus
ſeinen Augen die ganze Bitterkeit für immer vernichteter
Hoffnungen ſprach. Als er endlich von ſeiner Herrin
an der Strippe ſpazieren geführt wurde, hingen ihm
Ohren und Schwanz ſchlaff herunter; ſcheu lief er neben
ihr her, ſuchte Deckung hinter ihren Röcken, ſobald ein
Menſch oder ein Tier zu ſehen war, und blickte nicht
vom Boden auf, als ſchäme er ſich feiner Gefangenſchaft.
Die Nachbarhunde ſahen hämiſch intereſſiert hinter ihm
her. Dies war ihm aber doch noch lieber als der Ge-
danke an den Zwang zu Haufe. Als Madame Guin
umdrehte, ſperrte er ſich mit aller Gewalt gegen ihre
Wünſche, Bitten, Befehle. Sie zog ihn trotzdem bis
128 Soufous erfte Liebe. u
zum Chalet zurück; aber als er die Stufen hinaufgehen
ſollte, ſtemmte er ſeine vier Pfoten ſo trotzig auf den
Boden, daß ſie ihn hätte erdroſſeln können, er hätte
ſich nicht gerührt. Sie ſchob ihn von hinten, da machte
er ſich nach unten zu fo dick er konnte. Der Wider-
ſpenſtige mußte ſchließlich auf den Armen ins Haus
getragen werden, und ſein Brummen und len hörte
den ganzen Abend nicht auf.
Ich ſehnte mich zuletzt ſo nach einer dere Muſik,
daß ich noch nach dem Eſſen in den Wald ging, um,
an einem Bächlein entlang wandernd, mir ein ein-
ſchläferndes Abendlied murmeln zu laſſen.
Es ſollte anders kommen. Die Bauern dieſer Gegend
haben eine von alten Zeiten her weitergegebene, er
ſtaunliche Geſchicklichkeit darin, ihre Bäche durch Damme,
Schleuſen, Nebenbetten, Rinnen bald zum reißenden
Strom, bald zum feinen, vielfach geäderten Gerinnſel
werden zu laſſen, je nach der gewünſchten Durchfeuch-
tung der benachbarten Wieſen. Die Veränderung geht oft
im Laufe von ein paar Minuten in einem ſolchen Grade
vor ſich, daß man nicht mehr dahin zurückſpringen kann,
von wo man vor kurzem, ohne das Waſſer überhaupt
zu beachten, hergekommen iſt.
So machte ſich das ſonſt fo leiſe und friedlich ſum-
mende Waldbächlein an jenem Abend ganz unglaublich
wichtig. „Du hörſt doch, wie ich ſchnaufe, ſchnaufe,
ſchnaufe?“ rief es mir zu, ganz außer Atem. „Von
morgens früh bis abends ſpät und noch die lange, lange
Nacht muß ich ſchaffen, ſchaffen, ſchaffen. Und wenn
ich nicht laufe, laufe, laufe, dann geht am Ende die
ganze Welt zugrunde. Was ich tue, tue, tue? Sch
muß Kieſel ſchleifen, ich muß Wurzeln ſpülen, ich muß
Gräſer tränken, ich muß Löcher wühlen. Drehe ich
mich nicht immerzu, wie? Trage ich nicht beſtändig
D Von Karen Fugerdt. 129
Holz und Blätter und reiſende Tiere auf meinem
Rücken? Bücke ich mich nicht, und recke ich mich nicht,
und ſpringe ich nicht tauſendmal, bis mir alle Glieder
wund find — wie? — Und du? Stehſt da, die Träg-
heit in Perſon, und guckſt mich an und lachſt dumm
auf mich nieder! Haſt du etwa zuviel Geld in der
Taſche? Nein? Hihihi! Geſchieht dir ganz recht,
Menſchenkind. Unerhört iſt dieſe Faulheit, geradezu
unerhört, ganz unglaublich!“
„Hahaha! Tauſend alte Kaffeetanten könnten zu-
ſammen nicht beſſer ſkandalieren als du allein!“ rief
ich ihm amüſiert zu.
Da ſchlug er ſo böſe um ſich, daß mir das Waſſer
ins Geſicht ſpritzte. Und plumps, plumps! gab er mir
ein Schimpfwort zur Antwort, das ich nicht verſtand,
aber dem Tone nach war es eine fürchterliche Be—
leidigung.
Lieber Bach, wenn du wüßteſt! Wenn du ahnteſt,
wie gern ich es dir gleichtäte in deiner plötzlich ge-
ſteigerten Kraft, deiner Arbeitsfülle und deinen ſauſend
ſchnellen Schritten! O Sonne von Moralavena, o
wunderbare Luft voll ſtärkender Düfte, die aufſteigen
von jungen Tannen und frühlingsfriſchem Wieſengrün!
Könntet ihr mich ſtark und tätig machen wie den raft-
loſen Geſellen zu meinen Füßen! Oürfte ich ſkanda-
lieren wie du und — täte es doch nicht — ſieh, böſes
Bächlein, dann wäre ich wirklich ein Menſch. -
So denkend und das Herz voller Hoffnung verließ
ich ihn und den Pfad an ſeinem Ufer. Quer durch
den Wald, die breiten, bis zum Grunde ſchön ent—
wickelten Aſte zur Seite ſtreifend, ging ich wohl hundert
Schritte, bis ich an eine Lichtung kam, zu der es mich
wieder und immer wieder hinzog wie zu einem
Freunde, den man nie verläßt, ohne ein liebes, un—
1913. X. 9
130 Souſous erfte Liebe. oO
vergeßliches Wort gehört zu haben. Goldener Ginfter
bedeckte einen Teil des Bodens; daneben breitete ſich
Wieſengrund aus, ein willkommenes Lager für den
glücklichen Entdecker. Er konnte ſich niederſtrecken unter
einen herbe duftenden Strauch, der überſät war mit
den dunkelroten Knoſpen und Blüten der Alpenhecken—
roſe, die an langen, ſchwanken Ranken hinunterhingen,
als wollten ſie ſich ſelber dem Gaſte ſchenken. Er
konnte, den Kopf auf weiche, mooſige Kiſſen lehnend,
die Blicke aufwärtsſteigen laſſen an einer einzeln jtehen-
den, hoheitsvollen, uralten Tanne, deren ſchweigende
Aſte viel Wahres und Ernſtes predigten von Sein und
Wollen, von Fährnis und Sieg. Er konnte an Baum
und RNoſenſtrauch vorüber weit, weit, weit in die blaue
Ferne ſehen: zur Linken unendliche Matten, von denen
verwitterte Hüttendächer emporlugten, graubraun,
niedrig und in Gruppen gefchart wie Pilze auf grünem
Grunde; zur Rechten die ſilbern ſchimmernden Schnee-
rücken des Simplon und des Monte Leone, deren weiche
Linien, deren leichte, zarte Farbentönung ſchon er—
zählten von den jenſeitigen Gefilden Staliens; in der
Tiefe das lichtgraue Seidenband der Rhone, das ſich
um Dörfer und Städte fchlang, als wolle es vereinen,
was das Leben getrennt. u
Der Abend war warm, und mein geliebter Wieſen—
fleck hielt mich lange feſt. Meine Augen folgten dem
Abendnebel, der ſich langſam weitete und ſich fein und
duftig über die Hänge und Bäche und Häuslein der
Seitentäler legte.
Da knackte ein Zweig im Walde hinter mir. Das
Eichhörnchen, das ich gerade an dieſer Stelle ſchon
einmal beobachtet hatte, wie es trotz meiner Anwejen-
heit furchtlos über die Wieſe weg auf die einſame Tanne
zu huſchte, das mir im Gedächtnis geblieben war wegen
2 Von Karen Fugerdt. 131
ſeiner leuchtend hellen gelben Schnauze an ſeinem faſt
ſchwarz gefärbten Körper, hatte wohl einen Aſt geknickt.
Doch meine Träumereien waren unterbrochen. Ich
ging, wenn auch ungern.
Als ich den Bach wieder erreicht hatte, ſah ich zwiſchen
den Stämmen zwei Menſchen vor mir her ſchreiten,
häufig ſtehen bleibend, als hätten ſie ſich viel zu ſagen.
Dann waren ſie mir eine Weile durch einen dicken Baum
verborgen. Nur ein weißer Schürzenzipfel mit einer
bunten Kante war ſichtbar und — verriet mir die brave
Aurélie!
Hörte ich wirklich einen Kuß, oder ziſchte der Bach?
Ich weiß es heute noch nicht. Aber das weiß ich,
daß unmittelbar darauf der Präſidentenſohn ohne Weg
und Steg den Wald hinablief — allein, und daß die
bekannten Schürzenzipfel vor mir auf und nieder tanz
ten und im Chalet Adorable verſchwanden, kurz bevor
ich es betrat.
An den folgenden Tagen war unſer Kettenhund
ſchon etwas ruhiger, ja ſchließlich ſchien er ganz gefaßt.
Es mißfiel mir im Intereſſe der rotbraunen Ridognerin,
war aber für die Mitbewohner des Chalet Adorable
eine wahre Wohltat. Bald machte er den Eindruck
eines durch Kummer bis zur Reſignation gereiften
Greiſes, wenn er gemeſſenen Schrittes die Heine Kreis-
promenade um den Pfahl machte, an dem er an-
gebunden war.
Aurélies Temperament dagegen, vorher ein lächeln
der Teich, war jetzt eine wogende See geworden. Ein
leiſer Windſtoß, und eine Welle bäumte ſich hoch und
ſpritzte um ſich.
Als Madame Guin ihr Vorwürfe machte, ſie habe
zuviel Kaffee für ſich genommen, antwortete ſie trotzig,
daß fie zwei Tage lang nichts eſſen wolle, um das miß-
132 Souſous erſte Liebe. 2
gönnte Gut wieder einzuſparen, und was noch tapferer
war — ſie hielt Wort. Es war kindiſch, aber mir
gefiel's.
Als ſie in meiner Gegenwart mit unzureichendem
Grunde wegen irgend einer anderen Bagatelle getadelt
wurde, lief ſie ſpornſtreichs in ihre Kammer, holte ihr
prächtiges Zeugnis aus Martigny herbei und hielt es
mir vor die Augen.
So ſchoſſen zwei neue Aſte, Mut und Trotz, ſichtlich
aus dem Bergbäumchen hervor, allem Anſchein nach
unter den Sonnenſtrahlen heimlicher Liebe.
Freilich einmal — es war an einem Sonntagabend
— rieſelten ſalzige Tropfen aus den Schwarzkirſchen
nieder. Mariette, das zierliche, kokette Dienſtmädchen
bei den portugieſiſchen Nachbarn, durfte nach Ridogne
zum Tanzen gehen. Aurélie aber bat vergeblich um
die Erlaubnis, ſie begleiten zu dürfen. In Gegenwart
von Madame Guin beherrſchte ſie ſich trotz der bitteren
Enttäuſchung ihres jungen Herzens. Als ich aber nachts,
Wand an Wand mit ihr, nicht gleich einſchlafen konnte,
hörte ich ſie in ihrem Bette ſchluchzen, unterdrückt, als
preſſe ſie das Geſicht auf ihre Kiſſen.
Armes Ding!
Aber — Gott ſei Hank! — es wurde bald ſtiller,
ſchließlich ganz ruhig dort nebenan. Nur Kinder weinen
ſich ſo ſchnell in den Schlaf. Wir „Großen“ weinen uns
wacher und immer wacher.
Ich war freilich an jenem Abend anders beſchäftigt.
Ich malte mir Mariette aus, wie fie in einer großen,
ſchwach beleuchteten Scheune, von den Klängen einer
Handharmonika angeſpornt, aus einem Ridogner Arm
in den anderen tanzte. Denn zu welcher Zeit man
auch an dem Einfamilienhaus vorüberging, immer ſtand
ein Briefträger — der, nebenbei geſagt, eine fehlende
ee Don Raren Fugerdt. 133
— . — nn
„Gazette de Moralavena“ durchaus erſetzte, Zeitungs-
enten mit eingeſchloſſen —, ein Wilchjunge, ein Hotel-
portier, ein Kuhhirt oder irgend ein anderes Maskulinum
vor ihrem Küchenfenſter, feſtgebannt durch den kecken
Plauderton der kleinen, forſchen Zofe. Würde der
Präſidentenſohn widerſtehen können? Würde er ebenſo
ſchnell vergeſſen wie der vor kurzem noch ſo maßlos
ergriffene Souſou?
Denn Souſou hatte ſich vollſtändig geändert. Als
endlich zwei neue Penſionäre, eine gutmütige Genferin
und ihr vierjähriges Töchterchen, erſchienen, war er
ganz bei der Sache und hocherfreut. Immer wieder
ſchaute er ſich das kleine Perſönchen an, und als Ma-
dame Guin ihn gar losmachte, überzeugt von einer
durchſchlagenden Veränderung in feinem Inneren,
wurde er der treueſte, heiterſte Spielgefährte der
neuen Freundin.
Dieſe war aber auch ein allerliebſtes Ding. Eines
von den herzigen, uraufrichtigen Enfants terribles, die
mit hellem Stimmchen in die Welt hinausſagen, was
wir „Erzogenen“ kaum zu denken wagen. Gar oft ſehe
ich ihn im Geiſte wieder vor mir, den Blondkopf mit
ſeinen Haſelnußaugen, beſonders wenn irgendwo ein
Schokoladenpudding aufgetragen wird. Im Chalet
Adorable nämlich gab es ganz merkwürdig kleine Vor-
ſaiſonpuddingsformen, wie aus dem Reiche der Lili—
putaner. Nie vergeſſe ich, wie die Kleine, einen winzigen
ſchwarzen Pudding auf einem großen, blanken Teller
erblickend, die Händchen überraſcht zuſammenſchlug und
ausrief: „Ah, was für ein großer Bonbon!“
Mit Souſou durfte ſie ſich alles erlauben. Lag er
im RNoſenneſt, jo legte fie ihren Kopf auf ihn, ſtellte ſich
ſchlafend und ſchnarchte laut. Lief er am niedrigen
Regenfäßchen hinter dem Hauſe vorbei, ſo ſpritzte ſie
134 Souſous erſte Liebe. o
—
ihn und ſich jubelnd voll Waſſer von oben bis unten.
Wollte er gerade die Stufen hinuntergehen, zu einem
Spaziergang entſchloſſen, ſo packte ſie ihn am Hörnchen
und ließ ihn nicht fort. Er fand das augenſcheinlich
alles reizend, denn er war immer um ſie herum, leckte
an ihren kleinen gelben Schuhen, zerrte an ihren roten
Haarſchleifen und lief noch hinter ihr her die Treppe
hinauf, wenn ſie zu Bett gebracht wurde.
Was alſo Souſous ſeeliſches Gleichgewicht betraf,
konnte ich ruhig ſein. Er hatte in kaum acht Tagen
einen Liebesſchmerz, der alles von mir an Menſchen
Erlebte zu überſteigen ſchien, abſolut vergeſſen. Es
war, als kenne er den Weg nach Ridogne überhaupt
nicht mehr. Sein Bäuchlein rundete ſich wieder, und
ſein ganzes Benehmen war das eines befriedigten
Philiſters. Nur ſelten begleitete er mich noch auf
meinen Spaziergängen. Da ich ſie weiter und weiter
ausdehnte, immer von neuem belohnt durch die viel-
ſeitige Schönheit Moralavenas, verließ er mich meiſtens
ſchon lange vor meinem Ziel; ſo zog es ihn in das
Chalet Adorable zurück.
Aber ich mußte mich um jemand anders ängſtigen,
deſſen Empfinden Wurzeln hatte, die immer tiefer und
tiefer in friſches Erdreich hineinwuchſen — um Aurelie.
Eines Tages bemerkte ich, daß ſich ihre Baden-
knochen deutlich abzeichneten, und wenn ich an der
Küche vorüberging, ſah ich ſie im Sitzen ihre Karotten
ſchaben, den Rücken müde gegen die Stuhllehne legend.
Ich fragte ſie einmal, ob ſie nicht lieber zu ihren
Eltern nach Rens zurückkehren wolle. Sie ſtritt es
ab mit ſehr aufrichtiger Energie. Aber daß ſie unter
einem, wenn auch lieben Kummer . war unver-
kennbar.
So kam der letzte Sonntag meines dortigen Auf-
D Von Karen Fugerdt. 135
enthalts näher. Da hatte ich eine Zdee. ich fragte
die Genferin, ob wir unſere Wirtin einmal gemeinſam
zum Abendeſſen einladen wollten in einem der drei
großen Hotels weiter unten. Ich ſchlug Sonntag abend
vor, damit unſere vielgeplagte Aurélie endlich einmal
tanzen gehen könne. Das Töchterchen flehte, mit-
genommen zu werden, und da die Tiſchzeit ſchon um
ſieben Uhr war und ich verſprach, eine frühe Heimkehr
zu befürworten, wurde mein Plan wirklich angenommen
und ausgeführt.
Aurélie tanzte den ganzen Abend in der präji-
dentialen Scheune in Ridogne und ſah am nächſten
Montag wieder ſtrahlend in den ſonnigen Morgen
hinein.
Ein paar Tage ſpäter verließ ich das Chalet Adorable.
Mein Gepäck überlieferte ich Aurélie zur Beförderung,
denn ich wollte mit dem Ruckſack über die ganze, weite
Hochebene nach Weſten wandern und ſchließlich nach
Martigny hinunterſteigen.
Als ich dem ſchwarzäugigen Mädchen, das immer
ſo flink bei der Hand geweſen war, ein Goldſtück in
die Hand drückte, fühlte ich etwas Hartes. An ihrem
Ringfinger ſteckte ein neu glänzender, dörflicher Reif.
Da trat ich noch einmal auf das Roſenbett zu, hob
ein Kiſſen in die Höhe, faßte zwei weiche Vorderpfoten
und drückte einen Abſchiedskuß auf Souſous gelbes
Haupt. |
„Adieu, du borſtiger, walzbäuchiger, vierbeiniger
Gebirgsamor! Stifte weiter Segen!“
ich wünſchte mir hundert Augen, um noch einmal
die wunderbare Schönheit dieſer Gegend in mich auf—
nehmen zu können.
O Moralavena, du Knoſpe unter den Kurorten der
Schweiz, wohl reicher an angeborenen Reizen als alle
anderen — ich glaube, ich betete für dich! Von ganzer
Seele wünſchte ich dir, daß die Hände, die dich pflegen
und hegen würden, rein ſein möchten von Taten der
Prunkſucht und Habgier, des Luges und Truges. Und
ich bat Gott, wo er Herzen fände, dürſtend nach Schön-
heit und Frieden, daß er ſie den Weg hinaufführe zu
euch, ihr herrlichen Tannen auf blumigem Wieſengrund,
die ihr euch beſonnen laßt vom Morgen bis zum Abend,
die ihr hinüberſchaut auf hundert Gipfel, kleine und
große, bis zu dem König über alle Berge Europas.
Ihn hatte ich vor mir auf meinem Wege, und
immer wieder blickte ich zu ihm hinauf, dem majejftäti-
ſchen Montblanc. In Scharen grüßten Wieſenblumen,
nickend mit ſchweren Köpfen, zu meinen Füßen, und
Kuhglocken läuteten vielſtimmig einen freundlichen Ab-
ſchiedsgruß.
Stundenlang ging ich zwiſchen ſaftigen Weiden da-
hin und machte erſt Raſt, als ich ein ſauberes, ftatt-
liches Dorf vor mir ſah — Rens, die Heimat von
Auroͤlie.
Mir fiel ein, daß fie mir erzählt hatte von der
prächtigen alten Kirche dort, die durch Beiſteuer vieler
Nachbargemeinden erhalten und erneuert worden ſei.
So betrat ich denn den halbdunklen, kühlen, feierlichen
Raum und ſetzte mich auf eine Bank, dem Hochaltar
gegenüber. Seitlich neben ihm war ein Fenſter ge-
öffnet; ein weißes Berges haupt und ein Tannenzweig
ſchauten herein. Durch die grünen Nadeln aber ſtahl
ſich ein einzelner Sonnenſtrahl und ſchien auf die Füße
des Heilands an einem ſilvernen Kragifix.
Ich aber träumte vor mich hin. Ich glaubte Aurelie
zu ſehen im ſchwarzen Kleid und weißen Schleier, wie
fie am Altar kniete, ihren Jean zur Seite, der ganz
2 Von Karen Fugerdt. 137
ſtädtiſch ausſah im ſchwarzen Rock und im blendend
weißen Kragen. Ein Prieſter im leuchtenden Meß
gewand ſchaute mit Wohlgefallen auf das junge Paar
nieder, dem Glück und Tüchtigkeit aus den Augen ſtrahlte.
Die Kirchenſtühle waren gefüllt mit braven Bauers-
leuten im Feierkleid, und unter den Männern fiel mir
eine wuchtige Geſtalt mit breitem, grauem Vollbart
auf, über deren entſchloſſenes Geſicht ein merkwürdiges
Zucken ging: der Präſident von Ridogne.
Und ich ſah im Geiſte an einem ſonnenſtillen
Sommerabend Madame Aurelie Verclas leichtfüßig von
Riidogne hinauf nach Moralavena ſchreiten, denſelben
Weg, den ſie mich einſt in triefendem Regen geführt.
Jetzt aber ging ſie ihrem jungen Gatten entgegen, der
das Heimtreiben der ſtattlichen Kühe leitete. An einer
Tränke hielten die breiten, feiſten Tiere und drängten
ſich ans Waſſer. |
Der Präſidentenſohn aber ſuchte Deckung hinter
ihren braunen Rüden, zog das geliebte Bergbäumchen
mit den beiden blanken ſchwarzen Beeren zu ſich nieder
und flüſterte ſcherzend: „Mein Bijoujou, mein Zou-
joubi!“
Und zwiſchen zwei lachenden Zahnreihen hindurch
ſchob ſich blitzſchnell die erwartete Fortſetzung hervor:
„Oh, mein Cocolet, mein Cocolon!“
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* ** Se
Das Spiegelbild inder Photographie,
Don Reinhold Ortmann.
mit 11 Sildern. | 0 inachoͤruck verboten.)
Die künſtleriſche Porträtphotographie iſt während
des letzten Jahrzehnts von berufsmäßigen Licht-
bildnern auf eine ſo hohe Stufe der Vollendung ge—
hoben worden, daß auch der Liebhaberphotograph,
der das Stadium des unbeholfenen Dilettantismus
glücklich hinter ſich hat, ſich naturgemäß zu immer
heißerem Bemühen angeſpornt fühlen muß. Teuer
genug hat er ja zumeiſt die Erkenntnis bezahlen müſſen,
daß es für die Erzielung eines hübſchen und gefälligen
Bildes mit einer genauen Beobachtung der techniſchen
Regeln noch keineswegs getan iſt, ſondern daß es neben
richtiger Lichtverteilung und geſchmackvollem Arrange-
ment der Umgebung vor allem auf die Erfüllung künſt—
leriſcher Vorausſetzungen in der rg: des Aufzu-
nehmenden ankommt.
Selbſt bei tüchtigſter Anleitung 115 es immer
einer langen Ubungszeit und eines gewiſſen angeborenen
Talentes bedürfen, um den Amateur zu Leiſtungen
zu befähigen, die berechtigten Anſpruch auf einen
künſtleriſchen Wert erheben können. Sit aber dem
ernſthaft ſtrebenden Liebhaberphotographen, der zu—
gleich über einen brauchbaren Apparat verfügt, erſt
einmal das volle Verſtändnis für die entſcheidenden
Grundbedingungen des Erfolges aufgegangen, ſo darf
u Von Reinhold Ortmann. 159
Phot. Flwin Neame, London.
Abb. 1.
er mit ziemlicher Sicherheit auf ein raſches und er—
mutigendes Fortſchreiten rechnen. Auch ein gelegent—
liches Mißlingen, das wohl auf keinem Gebiete ſchwerer
140 Das Spiegelbild in der Photographie. 2
Abb. 2.
zu vermeiden iſt als gerade auf dieſem, wird ihm dann
vermutlich nicht mehr wie dem Anfänger lediglich eine
ſchmerzliche Enttäuſchung, ſondern zugleich und vor
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2 Von Reinhold Ortmann. 141
allem eine wertvolle Belehrung bedeuten, und mit der
wachſenden Sicherheit in der Beherrſchung alles Hand-
werklichen wird er zu immer größerer Freiheit in der
IE
Phot. Elwin Neam= London.
Abb. 3.
Verwendung und Ausnützung der gewonnenen künſt—
leriſchen Einſichten gelangen. Dann wird er ſich getroſt
auch an Aufgaben wagen dürfen, deren glückliche Lö-
142 Das Spiegelbild in der Photographie. a
fung man im allgemeinen nur als dem Berufsphoto—
graphen möglich anſieht, und zu deren einer wir mit
Phat. Elwin Neame, London.
Abb. 4.
dieſer Skizze den vorgeſchrittenen Amateuren unter
unſeren Leſern die Anregung geben möchten.
Es handelt ſich, wie ſchon der erſte flüchtige Blick
auf die beigegebenen Abbildungen erkennen läßt, um
photographiſche Porträte, die das betreffende menſch⸗
2 Von Reinhold Ortmann. 143
— — ——
liche Objekt gleichzeitig von verſchiedenen Seiten zeigen.
Das zur Erzielung dieſes Effektes dienende Mittel
kann natürlich nur ein Spiegel ſein, und die beab-
Fe Phot. Elwin Neame, ae
Abb. 5.
ſichtigte Wirkung beſteht darin, daß das von dem
ſpiegelnden Glaſe reflektierte Bild in vorteilhafter
Beleuchtung und mit vollkommener Schärfe ebenfalls
auf der Platte erſcheint. Der Gedanke ſelbſt kann durch-
144 Das Spiegelbild in der Photographie. 2
— nn gg ne ng use een ee ne nn
aus keinen Anſpruch auf Neuheit erheben, und wir
alle haben ſchon in den Auslagekäſten der Photographen
derartige Porträtaufnahmen geſehen. Aber aus nahe-
liegenden Gründen wird der Berufsphotograph nur
ſelten in die Lage kommen, ſolche Spiegelporträte her-
zuſtellen. Durch den ſcherzhaften oder intimen Charak-
ter, der ihnen um ihrer Eigenart willen anhaftet, er-
ſcheinen ſie für die Geſchenkzwecke, denen das bezahlte
photographiſche Abbild ja zumeiſt zu dienen hat, nur
in ſehr beſchränktem Maße geeignet. Auch ließen ſich
gegen die Idee, ſie etwa zur herrſchenden Mode zu
machen, wohl mit Recht ernſthafte äſthetiſche Bedenken
erheben. Als eine intereſſante und nutzbringende
Übung für den Amateur und als eine hübſche Varia—
tion, die bei gutem Gelingen ſowohl dem Dargeſtellten
wie dem Erzeuger des Bildes lebhaftes Vergnügen
bereiten kann, iſt das photographierte Spiegelbild in-
deſſen gewiß zu empfehlen, und ſchon die kleine Aus-
wahl von Beiſpielen, auf die wir uns wegen des knapp
zugemeſſenen Raumes beſchränken mußten, dürfte be-
weiſen, in wie mannigfaltiger und eigenartiger Weiſe
ſich die Idee ausnützen läßt.
Zu beachten iſt vor allem, daß ſtatt des für gewöhn-
liche Porträtaufnahmen nötigen einen Hintergrundes
deren zwei vorhanden ſein müſſen, und zwar einer für
die aufzunehmende Perſon und einer für ihr Spiegel-
bild. Weſentlich ſchwieriger als das Arrangement dieſer
beiden Hintergründe iſt ſchon die richtige Einſtellung
des Apparates. Der Amateur wird anfänglich immer
geneigt ſein, ihn auf die vor dem Spiegel ſitzende Perſon
einzuſtellen, wodurch das Reflexbild dann natürlich
der Brennweite des Objektives entrückt wird. Es iſt
eben immer zu bedenken, daß dies Reflexbild als ebenfo-
weit hinter dem Spiegel befindlich anzuſehen iſt,
u Von Reinhold Ortmann. 145
wie ſich der Aufzunehmende vor demſelben befindet.
Was die Belichtung betrifft, ſo iſt darauf zu achten,
daß ſich die Lichtquelle nicht vor, ſondern hinter dem
Phot. Elwin Neame, London.
Abb. 6.
Spiegel befindet, das Geſicht des Aufzunehmenden
alſo voll beleuchtet iſt, während das Glas nur reflef-
tiertes Licht empfängt. Was das Spiegelbild dadurch
an Schärfe verliert, gewinnt es an Weichheit. Kleine
1913. X. 10
146 Das Spiegelbild in der Photographie. u
Mängel, wie Falten, Runzeln, Geſichtsflecken und der-
gleichen, die bei einer ſcharfen Beleuchtung auf der
Platte erſcheinen würden und durch Retuſche entfernt
werden müßten, entgehen, wenn unſer Rat befolgt
wird, zumeiſt der Wiedergabe, und da man Spiegel-
porträte doch wohl nur von Damen anfertigt, bedürfen
die Vorzüge dieſer ohne alle weiteren Hilfsmittel be-
wirkten Korrektur jedenfalls keiner ausführlichen Be-
gründung.
Wenn wir ſchließlich noch erwähnen, daß Spiegel-
bilder nach unſerer Erfahrung am beſten bei Tageslicht
aufgenommen werden, weil Verſuche mit künſtlichen
Lichtquellen durchweg minder günſtige Refultate er-
gaben, ſo iſt beinahe alles geſagt, was dem halbwegs
erfahrenen Amateur für dieſe beſondere Art der Porträt-
photographie zu wiſſen not tut.
Die einfachſte Form von Spiegelaufnahmen, mit
der der Liebhaber zweckmäßigerweiſe darum auch be-
ginnen ſollte, ergibt ſich aus der durch die beiden erſten
der beigefügten Beiſpiele veranſchaulichten Stellung.
Die aufzunehmende Perſon wendet der Kamera ihre
Rüdfeite zu, und das Geſicht wird lediglich im Spiegel
ſichtbar. Von einem rein künſtleriſchen Geſichtspunkt
aus betrachtet, erſcheinen dieſe Aufnahmen vielleicht
ſogar als die reizvollſten, und es läßt ſich jedenfalls
nicht in Abrede ſtellen, daß ſie ungezwungener und
natürlicher wirken als die komplizierteren Stellungen
der folgenden Bilder. Da aber der ſtrebſame Dilettant
nach den erſten glücklichen Erfolgen naturgemäß auf
die Überwindung immer größerer Schwierigkeiten er-
picht iſt, und da ſeine hübſchen jungen Verſuchsobjekte
an Bildern, auf denen fie ihr Antlitz in zwei verſchie—
denen Anſichten zugleich bewundern können, vermut—
lich ein noch lebhafteres Vergnügen haben, jo emp-
a Von Reinhold Ortmann. 147
— —
fehlen wir als den nächſten weiteren Schritt eine Auf—
nahme von der Art der in unſerem dritten Bilde wieder-
Phot. Elwin Neame, London.
Abb. 7.
gegebenen. Hier ſehen wir das lebendige Original im
verlorenen Profil, das Spiegelbild aber in voller Vor—
148 Das Spiegelbild in der Photographie. o
deranſicht, und daß die Wirkung eine außerordentlich
pikante iſt, wird jeder Beſchauer unſerer Abbildung
ohne weiteres zugeben müſſen. oo
Aber es handelt fich gerade bei dieſer Aufnahme
allerdings auch um eine hervorragende photographiſche
Leiſtung, die gleich beim erſten Verſuch zu erreichen
der Ourchſchnittsamateur wohl kaum hoffen darf. Es
ſei ihm darum geraten, ſich zuvor an Aufnahmen zu
üben, bei denen er mit etwas einfacheren techniſchen
Behelfen auskommen kann. Wir meinen damit ſolche,
bei denen der pikante Gegenſatz zwiſchen Vorder- und
Seitenanſicht einfach dadurch erzielt iſt, daß die Auf-
zunehmende den Kopf unmittelbar an das Spiegelglas
anlehnt wie auf den Abbildungen 4 bis 7. Ze nach
dem Neigungswinkel des Kopfes zum Spiegel ergeben
ſich da die mannigfachſten Möglichkeiten. Da der Gegen-
ſtand und fein Reflexbild beinahe in derſelben Fläche
liegen, vereinfacht ſich die Einſtellung des Apparates,
und auch der zweifache Hintergrund iſt nur dann er-
forderlich, wenn man mit der Umgebung des Porträts
über den Spiegelrahmen hinausgeht, was ſich bei
größeren Köpfen ja von ſelbſt verbietet.
Wieder um einen Schritt weiter gehen wir auf
unſerem achten Bilde, für deſſen Herſtellung ein drei-
teiliger Friſierſpiegel verwendet worden iſt. Wir ge-
winnen damit die gleichzeitige Darſtellung derſelben
Perſon in Rück- und Vorderanſicht, in ſcharfem und
im Dreiviertelprofil, haben alſo ſozuſagen vier Porträt-
aufnahmen in einer. Wenn damit auch die Grenze
überſchritten iſt, die das Künſtleriſche vom Spieleriſchen
ſcheidet, ſo handelt ſich's doch um eine Spielerei von
recht anmutiger Art. Nur möchten wir, um Enttäu-
ſchungen vorzubeugen, vor dem Glauben warnen, daß
auch die Anfertigung eines ſolchen vierfachen Bildes
nopuoq ‘HWBeN UM "I0yAd
150 Das Spiegelbild in der Photographie. 2
bb ff —— j —j—— j —j—j,jꝙ—ꝙ˖¶r; g jp ehe
Phot. Elwin Neame, London.
Abb. 9.
mit ſpielender Leichtigkeit zu bewirken ſei. Hier be-
deutet die Belichtungsfrage ſchon ein recht ſchwieriges
— — —
2 Von Reinhold Ortmann. 151
Problem, und der Ungeübte wird vielleicht durch die
jonderbarften perſpektiviſchen Verſchiebungen auf dem
Abb. 10.
einen oder dem anderen der Reflexbilder auf recht un—
liebſame Weiſe überraſcht werden.
152 Das Spiegelbild in der Photographie. u
Ein Kunſtſtückchen im eigentlichſten Sinne des
Wortes zeigt uns Abbildung 9 mit ihrer achtfachen
Wiedergabe der nämlichen jungen Dame. Es bedarf
nicht erſt der Erwähnung, daß ſich der Photograph
zur Erzielung dieſes Effektes zweier Spiegel bedient
hat, zwiſchen denen die Aufzunehmende Platz nehmen
mußte, während die Aufnahme über den Spiegel hin-
weg erfolgte, dem fie, ihr Geſicht zugekehrt hatte. Die
Spiegel waren annähernd parallel zueinander geſtellt,
während der Apparat auf „unendlich“ eingeſtellt wurde.
Wen es zur eyabmung reizt, der mag jein ae ver-
ſuchen. | |
Einen Ausblick auf die reizenbſten Möglichteiten
eröffnet das in unſerem zehnten Bilde vorgeführte
Beiſpiel. Die Dargeſtellte erblickt im Spiegel zwar
ihr Ebenbild, aber ſie ſieht es in veränderter, einer
weit zurückliegenden Vergangenheit angehöriger Tracht,
während ſie ſelbſt in durchaus modiſcher Gewandung
prangt. Die Erklärung des hübſchen Scherzes iſt ein
fach. Es handelt ſich um zwei nacheinander bewirkte
Aufnahmen auf derſelben Platte. Zunächſt wird eine
Hälfte derſelben verdeckt, und die Aufzunehmende tritt
vor die Kamera in dem Koſtüm, das ihr Spiegelbild
zeigen ſoll. Die den einfallenden Lichtſtrahlen zugäng-
liche, unverhüllte Hälfte der Platte nimmt lediglich
dies Spiegelbild auf. Dann wird die Bedeckung ver-
ſchoben, ſo daß die andere Hälfte der Platte für eine
Aufnahme frei wird, und die zu Photographierende
erſcheint auf ihr in dem inzwiſchen angelegten ver-
änderten Koſtüm. Es liegt auf der Hand, daß dies
Verfahren unzählige Varianten ermöglicht, und es wird
einzig von dem Geſchmack des Amateurs abhängen,
inwieweit er dieſe Möglichkeiten für reizvolle Wirkungen
auszunützen weiß.
¹ Von Reinhold Ortmann. 153
Was un-
ſere letzte
Abbildung
uns von der
Verwend-
barkeit des
Spiegels in
der Photo-
graphie er-
zählt, geht
allerdings
wohl ſchon
um einiges
über den
Rahmen der
Liebhaber-
kunſt hinaus.
UmmitAus-
ſicht auf Er-
folg durch
das Spiegel-
bild den Re-
flex im Waſ⸗
fer vorzu-
täufchen, wie
es hier ge-
ſchehen iſt,
bedarf es da-
zu nicht nur
umitänd-
licher Vor-
bereitungen es
und eines be- ö
trächtlichen Abb. 11.
154 Das Spiegelbild in der Photographie. a
Aufwandes an Hintergrund, Requiſiten und jo weiter,
ſondern auch einer vollkommenen Beherrſchung der
techniſchen und künſtleriſchen Mittel, die dem wohlaus-
gebildeten Berufsphotographen zur Verfügung ſtehen.
Richtige Stellung und richtige Beleuchtung ſpielen
hier eine ſo wichtige Rolle, daß ein Amateur, dem
ſolche Wagniſſe glüden, unſerer Anregungen und Rat-
ſchläge wohl überhaupt nicht mehr bedarf.
Y
*
EIESEIEIE?
miß violet.
Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt.
* [nachoͤruck verboten.)
lſo, lieber Junge, nun rege dich vor allen Dingen
nicht auf. Du mußt einfach das Rennen gewin-
nen! Und das tut man nur, wenn man einen ruhigen
Sitz, einen kalten Kopf —“
„Vor allem kein Pech hat!“
„Ach was — Pech! Gibt's ja gar nicht!“
„Gibt's ſchon. Bei dem verwünſchten Spiel neulich
Abend zum Beiſpiel! Der Teufel ſoll mich holen, wenn
ich noch einmal durch die Karten meine Verhältniſſe
aufzubeſſern ſuche.“
„Freilich — eine reiche Frau iſt ſicherer.“
„Aber auch umſtändlicher. Eine Ehe ſtört ent-
ſchieden beim Rennenreiten.“
„Vielleicht. Aber wenn du eine reiche Frau be—
kämſt, wär's für uns drei am beſten. So müſſen wir
unſere letzte Hoffnung auf deine Stute ſetzen. Die
„Trilby“ wird's ſchon machen — was? Da fie nit
als Favorit genannt iſt, zahlt uns der Totaliſator große
Summen, den zehnfachen Einſatz, wenn du ſiegſt. Da-
mit iſt uns dann allen geholfen.“
Leutnant v. Dennwitz ſchob ſeinen Arm in den ſeines
Regimentskameraden, des Rennreiters Leo v. Wald-
burg, der, die Reitpeitſche unter den Arm geklemmt,
mit zurückgehakten Rockſchößen, die weiche, blaue Dra-
156 Miß Violet. u
gonermütze feſt in die Stirn gedrückt, auf dem Sattel
platz ſtand. Da er ſelbſt, ſeine Kameraden Dennwitz
und Kuno v. Waldburg nur auf „Trilby“ gewettet
hatten, ſo intereſſierten die anderen Rennen ſie wenig.
Auch zu der mit eleganten Damen, mit Ziviliſten und
Offizieren gedrängt voll beſetzten Tribüne ſahen ſie
zuerſt nur flüchtig hinauf. Dann nahm Kuno v. Wald-
burg aber doch ſeinen Krimſtecher vor und muſterte
ungeniert die Damenreihen.
„Du!“ Er ſtieß Leo etwas mit dem Ellbogen an.
„Da ganz vorn ſitzt deine amerikaniſche Miß mit ihrem
unmöglichen Alten.“
„Meine amerikaniſche Miß? Ich habe keine amerika-
niſche Miß!“ antwortete Leo unwirſch. f
„Nimm mein Glas und ſieh hin!“ beharrte Kuno.
„Da — gleich die dritte vorn links, die in dem roten
Chiffonkleid.“ €
Dennwitz meinte gemütlich: „Die Kleine iſt ſehr
feſch und ſoll ein koloſſales Vermögen haben. — Leo,
wie wär's?“
„Was denn ſchon wieder zum Donner etterꝰ⸗
„Biſt du aber heute kratzig! Ich meine ja nur,
wenn's mit der ‚Trilby“ nicht glückt, könnte man
immer noch die amerikaniſche Miß in Ausſicht nehmen.“
„Nun hör aber auf! Erſt ſoll ich für euch meine
Knochen riskieren und dann eine Dame heiraten, die
ich vielleicht dreimal geſehen habe!“
„Nach Shakeſpeare alſo ſchon zweimal zu oft. Ein—
mal genügt vollkommen. Und überdies iſt fie in dich
verſchͤſſen bis über die Ohren, das hab' ich beim Ball
im Kurhaus deutlich gemerkt.“
Leo v. Waldburg zog ſeine Uhr heraus. „Ich ſteige
jetzt auf!“
„Noch viel zu früh!“
= Novelle von Luife v. Nohrſcheidt. 157
„Laß ihn nur. Mit ihm iſt jetzt doch nichts an
zufangen. Wenn er im Sattel ſitzt, kommt ihm ſein
Verſtand zurück. — Sch gehe jetzt auf meinen Tribünen-
platz zu deiner Miß, Leo. Sie ſoll dir den Daumen
halten.“ | |
Leo antwortete nicht. Mit Dennwitz zuſammen
ging er den Ställen zu. Die geſattelten Pferde, die
im nächſten Rennen laufen ſollten, wurden von den
Trainern langſam hin und her geführt.
Beim Anblick der ſchmal gebauten Vollblutſtute
„Trilby“ erheiterte ſich Leos Geſicht, „Wir werden's
ſchon ſchaffen — was?“
Der Trainer nickte. „In Frage kommt überhaupt
nur der da.“ Er wies mit dem Daumen nach rückwärts.
Ein Stalljunge in roter Zade lief da mit einem
großen Rappen im Kreiſe herum.
„Das iſt „Diable“, auf den alle elde Der Be-
ſitzer, Herr de la Roche, reitet ſelber. Herr Leutnant
müſſen ihn zunächſt ruhig führen laſſen, „Trilby“ ver-
halten und dann erſt kurz vorm Ende — los!“
Leo nickte. Er trat mit dem linken Fuß in den Bügel
und ſaß, faſt ohne das kniſternde Leder des Sattels
zu berühren, gleich darauf in der bekannten vornüber—
geneigten Rennhaltung auf ſeiner „Trilby“.
| Die Reiter, drei Offiziere und vier Herrenreiter,
ſtellten ſich in eine Reihe. Der Tribüne zunächſt ſtand
„Trilby“, Waldburgs braune Vollblutſtute.
„Wie reizend! Nun kann ich ihr gut ſehen,“ ſagte
eine helle Mädchenſtimme in fremdartig klingendem
Deutſch zu ihrem Vater, dem dicken Mr. Marſton aus
New Vork, der nur ſeiner einzigen Tochter zu Gefallen
ih in Baden- Baden zur Kur ſtatt in New Vork in
ſeinen Geſchäftshäuſern aufhielt.
Trotzdem fühlte er eine gewiſſe Hochachtung vor
158 Miß Violet. 2
ſeiner Tochter, die hier bereits ein Pferd vom anderen
unterſcheiden konnte. Oder ſollte ſie vielleicht ſtatt
der Stute den Reiter meinen?
„Wer iſt der Mann?“ fragte er leiſe.
„Herr v. Waldburg, glaub' ich.“
Der ſchwarze Hut verbarg die heiße Nöte ihres
hübſchen Geſichtes.
„alt das der Offizier, mit dem du neulich im Kur-
haus ſo oft getanzt haſt?“
„Oft? Dreimal höchſtens. — Papa, du machſt
immer eine Elefant aus eine Mücke!“
Mr. Marſton war daran gewöhnt, Schelte und Ver—
haltungsmaßregeln zu bekommen. Er klopfte darum
nur ſänft begütigend auf die kleine Hand in dem langen,
perlgrauen ſchwediſchen Handſchuh und ſog dann weiter
an der Elfenbeinkrücke des Spazierſtockes, den er zwi—
ſchen ſeinen gewichtigen Beinſäulen hielt.
Die Fahne am Start ſenkte ſich, und eine Sekunde
darauf begann der Ablauf.
Violet preßte die Hände feſt zuſammen. Sie war
durchaus kein ängſtliches Gemüt, aber heute bangte ſie
um die ſchlanke, blaue Reitergeſtalt auf der lang—
geſtreckten braunen Vollblutſtute.
Sie nickte, als Kuno v. Waldburg, der dicht hinter
ihr ſaß, ſie begrüßte und irgend etwas Erklärendes,
was ſich auf das Rennen bezog, hinzufügte, aber ſie
ließ das Opernglas nicht von den Augen und ſah immer
nur das eine Pferd, den einen Reiter.
Herr de la Roche auf „Diable“ übernahm die Füh—
rung in ſcharfem Tempo. Dicht hinter ihm kam Wald-
burg auf „Trilby“. Die übrigen Pferde blieben weiter
zurück. N
Das ganze Intereſſe des Publikums konzentrierte
ſich bald ausſchließlich auf die zwei erſten Pferde.
2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 159
Durch eine geſchickte Wendung gelang es plötzlich
Waldburg, ſeinen Rivalen zu überholen und auf die
innere, vorteilhaftere Seite des Seils zu gelangen.
Jetzt führte „Trilby“ das Rennen. Leos Erregung
legte ſich. Er war nun ſeines Sieges ſicher.
Jetzt kam die letzte hohe Schranke dicht vor der
Tribüne. Das Pferd hob ſich.
Plötzlich ſpürte Waldburg einen heftigen Ruck.
Etwas Anerhörtes mußte geſchehen ſein.
Ganz nahe an ihm vorüber ſah er den weißen Hinter-
fuß des „Diable“ aufblitzen, der an ihm vorbei jagte,
während „Trilby“, die beim Springen ſich die rechte Feſſel
gebrochen hatte, ſchwer röchelnd auf die Seite fiel.
Leo ſtand unverletzt auf der Erde neben dem zu—
ſammengebrochenen Pferd. Von der Tribüne her
wehten Taſchentücher. Ein lautes Hurra erklang, als
de la Roche auf ſeinem eee Rappen
durchs Ziel jagte.
Man hatte den Sturz der „Trilby“ geſehen. Offi-
ziere, Trainer, Stallburſchen liefen nach der Unglüds-
ſtelle — voran natürlich Leutnant v. Dennwitz und
Kuno v. Waldburg.
Leo ſah immer noch wie verfteinert auf „Trilby“
herunter, die vergebliche Anſtrengungen machte, ſich
zu erheben.
„Die Feſſel iſt gebrochen. Da hilft nichts, die Stute
muß totgeſchoſſen werden,“ ſagte Waldburgs Trainer.
„Schade! Das Rennen war ſo gut wie gewonnen.
Herr v. Waldburg wird mir gewiß das Geld, das ich
auf ‚Zrilby‘ ſetzte, zurückzahlen?“
„Schweigen Sie von Zhrem Geld!“ herrſchte Leo
den Mann an. „Was liegt an dem Bettel? Aber daß
mir das paſſieren muß! Dies arme, treue Tier habe
ich zugrunde gerichtet und —“
160 ih Violet. | u
Er brach ab, weil er vor Bewegung und Aufregung
nicht weiterſprechen konnte.
Eine Piſtole war bald zur Stelle, denn es kam oft
vor bei dieſen gefährlichen Rennen, daß ein Pferd
ſtürzte und erſchoſſen werden mußte.
„Willſt du ſelbſt?“ fragte Dennwitz.
Leo ſchüttelte den Kopf. „Meine Hand iſt jetzt
nicht ruhig genug. Mach du's, Dennwitz. Aber um
Gottes willen mach's kurz! Hinters linke Ohr ins
Gehirn —“
„Veiß ich. Geh weg mit Kuno. Du ſiehſt aus wie
ein Geſpenſt. Laß dir einen Kognak geben. Wir treffen
uns dann im Hotel Stephanie.“
Der Weg, der an der Tribüne vorbeiführte, wurde
zu einem Leidensgang für Leo. Vorgeſetzte und Be—
kannte drängten ſich mit Fragen an ihn heran. Die
Tribünen leerten ſich raſch. Vor allem die Damen
wurden ungeduldig. Man mußte doch die eleganten
Toiletten zeigen, den Sieger und die Beſiegten ſehen.
Neugierig drängten ſie ſich an Leo heran, der mit
kurzem Gruß weitergehen wollte, als plötzlich eine
ſchlanke Mädchengeſtalt in mohnrotem Chiffonkleid vor
ihm ſtand und ihm den Weg verſperrte.
Violet Marſton ſtreckte dem jungen Offizier beide
Hände entgegen. „Du tuſt mir ſo leid!“ ſagte ſie
ganz laut.
Die Umſtehenden lächelten vielſagend. Sollten die
beiden etwa ſchon heimlich verlobt ſein? Dann ſchadete
freilich das verlorene Rennen nicht. Mr. Marſton hatte
Geld genug, um ſeinem Schwiegerſohn einen ganzen
Rennſtall zu halten. |
Leo hielt die kleinen Hände in den grauen Hand-
ſchuhen feſt und ſah in die großen braunen Augen,
über denen es wie ein Tränenſchleier lag. Zum erſten
Male heute berührte ihn die ihm ausgelprichene Teil-
nahme wohltuend. „Ich danke Ihnen von Herzen,
Miß Marſton,“ antwortete er trotzdem etwas kurz und
befangen.
Die vertrauliche Anrede, die ihrem mangelhaften
Deutſch entſprang, klang ſo lieb von ihren roten Lippen.
Ihr ſonſt ein bißchen hochmütiger Ausdruck war ganz
verändert. Nur weiche Hingebung lag in dem reizenden
Geſicht unter dem ſchwarzen Federhut.
Sie wußten beide nicht, daß ſie zur Beluſtigung
der klatſchſüchtigen Badegeſellſchaft dienten, als ſie ſo
Hand in Hand auf dem gelben Sand der Rennbahn
ſtanden und ſich in die Augen ſahen.
Nr. Marſton, dem es manchmal einfiel, daß er
feine Tochter behüten und belehren müſſe, kam an-
gekeucht. „Well, Mr. Waldburg, das war vorbei—
geglückt!“ meinte er offenherzig.
Waldburg ließ Violets Hände los und trat mit
einer Verbeugung zurück.
„Verden wir Sie heute abend auf dem Rennball
ſehen?“ fuhr der Amerikaner, der fließend Deutſch
ſprach, fort. „Ich wette, beim Tanzen ſchlagen Sie
den Franzoſen ganz ſicher.“
„Ich weiß noch nicht, ob ich kommen werde,“ wies
Leo ab. „In Stimmung bin ich nicht.“
„Oh, du mußt tanzen, um zu vergeſſen!“ bat Violet.
Die Umſtehenden lächelten wieder vielſagend über
die offenherzig gezeigte Vertraulichkeit der jungen
Dame. |
Violet wurde rot. „Was gibt's denn? Alle ſehen
mich ſo an?“ fragte ſie ihren Vater leiſe, der ihren Arm
nahm, um ſie fortzuführen, während Leo ohne ein
bindendes Verſprechen wegen des Balles weiterging.
„Well, in Oeutſchland nennt man nur die Herren
1918. X. 11
162 Miß Violet. 2
Du, mit denen man verwandt, verheiratet oder
wenigſtens verlobt iſt,“ belehrte Mr. Marſton.
„Solchen Fehler kann jeder machen. Dieſe ſchreck—
liche Sprache! Du — er — ſie — es! Wie ſoll ich
da behalten, was gerade richtig iſt?“ entgegnete Violet.
„Er hat auch gar nicht gelacht wie die übrigen albernen
Leute.“
„Gefreut wird er ſich haben,“ beruhigte Mr. Marſton.
„Meinſt du? Dann tut mir's nicht leid, daß ich es
falſch geſagt habe. Ich möchte ihn aufheitern.“
Am Arm des Vaters ging Violet dem Hotel Stepha-
nie zu. Mehrere Herren redeten ſie an und erbaten
einen Tanz für heute abend. Aber ſie antwortete ſehr
kühl abweiſend, es ſei noch gar nicht beſtimmt, ob ſie
tanzen würde. Das Rennen habe ſie ſo müde gemacht,
als ob ſie ſelber mitgelaufen wäre.
Ein Witz, den alle ſtürmiſch belachten, obgleich gar
nichts Komiſches dabei war. Aber Violet Marſton war
hübſch und ſehr reich. Alle verſchuldeten und unver—
ſchuldeten Herren huldigten ihr, ihrer reizenden Perſon
und den Millionen des Vaters.
* *
*
Der Rennball im Hotel Stephanie bildete den Höhe-
punkt der Saiſon. Eine elegante internationale Ge-
ſellſchaft verſammelte ſich in den glänzend eingerichte-
ten, mit Blumen reich geſchmückten Räumen. Alle
Sprachen der Welt ſchwirrten durcheinander.
Auf der mit Lorbeerbäumen verkleideten Eſtrade
ſaß eine Kapelle ungariſcher Muſiker in ſcharlachroten,
verſchnürten Röcken. Wie ein einziger Strich klangen
die ſingenden Geigenſtimmen. In allen Regenbogen-
farben ſchimmernd ſchwebten die venezianiſchen Kron—
leuchter aus geſchliffenem Glas von der weißen, reich-
8 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 163
ſtukkatierten Decke herab, um all die Toilettenpracht
der Damen hell zu beleuchten. |
Leo v. Waldburg hatte ſich endlich doch durch das
Zureden ſeiner Freunde bewegen laſſen, den Ball
zu beſuchen. Ihm ſelbſt nicht klar bewußt, trieb ihn
das Verlangen, Violet Marſton wiederzuſehen. Durch
das Gewühl von ſeidenen Kleidern, ſchwarzen Fräcken
und bunten Uniformen ſah er ſich nach ihr um.
Richtig — da ſtand fiel Neben ihrem Vater, um-
ringt von Herren, die bisher alle vergeblich um einen
Tanz gebeten hatten.
Sowie Violet Leo erkannte, änderte ſich der Aus-
druck ihres Geſichtes. Schnell gab ſie Mr. Marſton
ihren Fächer und ihren Strauß zu halten, trat neben
Leo und legte ihre Hand auf ſeinen Arm.
Ein eigentümliches Gefühl durchrieſelte den jungen
Offizier, als er die ſchlanke Geſtalt beim Tanzen leicht
an ſich gedrückt hielt. Den weißen Kreppfalten ihres
Kleides entſtieg ein zarter, einſchmeichelnder Duft.
Leiſe hob und ſenkte ſich die von feinen blauen Adern
durchzogene Bruſt bei jedem Atemzug des ein wenig
geöffneten Mundes. Ein raſendes Verlangen, dieſen
ſüßen roten Mund mit ſeinen Lippen zu ſchließen, ſtieg
plötzlich in Leo auf.
Mühſam bezwang er ſich. Erſt 5 die Muſik ver-
ſtummte, gab er Violet frei.
„Soll ich Sie zu Ihrem Herrn Vater führen, Miß
Marſton?“ fragte er.
„Nein, mein Vater darf nicht geſtört werden. Er
ſpielt jetzt im Herrenzimmer, denn er will doch auch
fein Vergnügen haben,“ wies Violet ab. „Im Winter-
garten wird's kühl ſein.“
Leo raffte vom nächſten Stuhl einen liegengebliebenen
Spitzenſchal auf und hing ihn über Violets Schultern.
164 Miß Violet. 2
„Danke! Za, der Walzer machte mich heiß.“
Ihre Augen ſahen in ſeine. Er konnte den Blick
nicht ganz enträtſeln. Aber wieder lief jener fröſtelnde
Vonneſchauer über ihn hin.
Unbetümmert um die übrige Geſellſchaft, die ihnen
mit wohlwollenden oder ſpöttiſchen Blicken nachſtarrte,
führte Leo ſeine Dame quer durch den Saal in den
Wintergarten, der an den Tanzſaal ſtieß.
Unter großen Fächerpalmen, ſaftigen Muſa und
feinfederigem Phönix ſtanden helle Korbſtühle und
Sofa. Violet ſchmiegte ſich in einen der niedrigen,
mit buntſeidenen Kiſſen belegten Seſſel. Sie hielt den
Kopf geſenkt. Leo blieb vor ihr ſtehen und ſah auf den
reichen, braunen Haarknoten mit den weißen Perlen-
ſchnüren herunter. Sein Atem ging raſch.
„Wollen Sie ſich nicht auch hinſetzen?“ bat Violet.
Etwas an ihrer Anrede kam ihm fremd und gezwun⸗
gen vor. „Heute nachmittag auf dem Rennplatz nann-
ten Sie mich anders. Das klang fo reizend,“ mur-
melte er. | | |
Sie hielt beide Hände gegen ihre Heinen Ohren,
in denen große Brillanten an feinen Silberdrähten
hingen. „Papa hat mir geſagt, welchen ſchrecklichen
Fehler ich habe gemacht. Man darf in Oeutſchland
nur Du zu einem Herrn ſagen, mit dem man verwandt
oder verlobt iſt.“
Mit einem zärtlichen Lächeln ſah Leo in ihr reizen-
des, zu ihm emporgewandtes Geſicht. „Zu mir können
Sie ruhig Du ſagen, ſo oft Sie wollen.“
„Weshalb gerade zu Ihnen?“
„Weil ich dieſes Vorrecht zu ſchätzen wiſſen und
nicht mißbrauchen, auch keine übertriebenen Hoff—
nungen daran knüpfen würde, wie es viele andere viel-
leicht täten,“ antwortete er ſchnell.
2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 165
„Was für übertriebene Hoffnungen?“
Eine leichte Verlegenheit überkam ihn und ließ ihn
mit der Antwort zögern.
„Sie meinen, wenn ich einen Herrn Du anrede,
wird der mich gleich heiraten wollen?“
Ihr Ton klang etwas ironiſch.
„Dieſe Möglichkeit iſt allerd ings nicht ausgeſchloſſen,“
antwortete er ſteif.
„Ach — wiſſen Sie, das macht mir nichts aus. Ein
Heiratsantrag mehr oder weniger ſchadet nichts. Um
mich ſchon viele angehalten haben, die mich überhaupt
nie geſehen hatten.“
„Empörend!“
„Weshalb? Ich brauchte ja nur nein zu ſagen!“
„Natürlich haben dieſe Erfahrungen Sie bewogen,
ſtets nein zu ſagen und in jedem einen Glücksjäger
zu ſehen?“
Mit atemloſer Spannung wartete er auf ihre
Antwort. |
VM Nein, das tue ich nicht,“ ſagte Violet nach einer
kleinen Pauſe langſam. Ein ſüßer Blick lag in den
großen Augen, als ſie die ſanftgebogenen Wimpern
hob und ihn voll anſah. „Aber der Mann, den ich hei—
rate, der muß mir gefallen, den muß ich liel en.“
„Und bisher konnten Sie das nicht?“
„Diejenigen Männer, die um mich anhielten, ſicher⸗
lich nicht.“
Leo atmete wie von einem Druck befreit auf.
Schnell trat er einen Schritt vor und beugte ſich über
ihren Stuhl: „Violet!“
Aber gleich darauf fielen ihm ſeine verwirrten,
durch „Trilbys“ Tod hoffnungslos zerrütteten Ver—
hältniſſe ein, und er trat wieder zurück. Nechaniſch
zupften ſeine Hände an der Vanillepflanze, die ſich um
166 Miß Violet. | u
den dicken Palmenſtamm ſchlang. Die reifen Schoten
hauchten einen durchdringenden Wohlgeruch aus.
„Es wird hier zu kühl für Sie, Miß Marſton. Er-
lauben Sie, daß ich Sie in den Tanzſaal zurückführe?“
Sein Ton klang ſo kalt beherrſcht, daß ihr nichts
anderes übrig blieb, als aufzuſtehen.
„Sie haben recht. Die Atmoſphäre hier kühlte
ſich plötzlich merkwürdig ab, beinahe bis zum Gefrieren,“
antwortete ſie. „Aber es kann ja auch wieder werden
wärmer. Meinen Sie nicht auch?“
„Gewiß. Trotzdem darf ich Sie der Gefahr einer
Erkältung nicht ausſetzen.“
Wieder legte er den herabgeglittenen Spitzenſchal
um ihre Schultern. „Viele Herren erwarten Sie ge-
wiß bereits ungeduldig, um mit Ihnen zu tanzen,
Miß Marſton.“
„Laſſen Sie die nur warten! Was kümmert
mich das!“
„Würden Sie lieber hier mit mir im Wintergarten
ſitzen bleiben?“ fuhr es ihm unwillkürlich heraus.
„Ja, das möchte ich.“
Ein tiefer Seufzer hob feine Bruſt. „Miß Marſton,
ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme, für Ihr Ver-
trauen — für alles!“ ſagte er heiſer. „Aber ich ver-
diene weder Ihr Vertrauen noch Ihre Güte. Zzch bin
ein einſamer, heimatloſer Menſch. Wir iſt nicht zu
helfen. Meine letzten Hoffnungen brachen heute beim
Rennen zuſammen.“
„Sie ſind ſehr deutſch, Herr v. Waldburg.“
„Was meinen Sie damit?“ fragte er erſtaunt.
Sie hob ihre ſilbergeſtickte Schleppe ein wenig hoch.
Zwei kleine Füße in weißen Atlasſchuhen kamen zum
Vorſchein, an denen feine Blicke wie magnetiſch feſt—
gebannt blieben. „Wenn uns Amerikaner etwas fehl—
2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 167
ſchlägt, dann raffen wir allen Mut, alle Energie zu-
ſammen und warten auf die nächſte günſtige Gelegen-
heit, um das Glück zu faſſen, wenn es will wieder
vorbeigehen.“
„Sie haben recht, Miß Marſton, aber trotzdem
gibt es Verhältniſſe, in denen mehr Mut zum Zurück-
weichen wie zum Erobern gehört,“ entgegnete er ernſt.
„Alſo führen Sie mich zurück in den Saal. Hier
iſt es wirklich kühl, kühler — kalt geworden.“
„Wollen Sie doch noch tanzen?“ fragte er, denn
etwas in ihm ſträubte ſich dagegen, ſie in den Armen
eines anderen über das blanke Parkett gleiten zu ſehen.
„Nein, ich gehe in mein Zimmer hinauf,“ antwortete
ſie langſam.
Er atmete wie befreit auf. Dann nahm er ihre Hand,
ſtreifte den langen Handſchuh zurück und küßte das
feine Gelenk, um das Ketten und Spangen mit blißen-
den Edelſteinen hingen. |
Violet errötete. Mit einem leichten Ropfneigen
verabſchiedete fie ſich von Leo am Ausgang des Saales,
der ihr gedankenvoll nachſah, bis ihn jemand von
hinten auf die Schulter klopfte.
„Du biſt's, Dennwitz? Tanzeſt du nicht mehr?“
fragte er ſchnell.
„Jetzt wollen wir in Kunos Zimmer, um ein ver-
nünftiges Wort mit dir zu reden, Leo.“
Ohne dem Freund Zeit zur Erwiderung zu laſſen,
ſchob er ihn der Tür zu.
Kuno v. Waldburg folgte, nachdem er dem Ober-
kellner noch eine Beſtellung zugerufen hatte.
„So, nun ſind wir ganz unter uns und können frei
von der Leber weg reden.“ Dennwitz nahm Kuno
v. Waldburgs rotſeidenes Taſchentuch und ſteckte es
168 Miß Violet. D
um die elektriſche Stehlampe, deren Glühfäden ihn
blendeten. „Menſch, wie kannſt du Chypre als Parfüm
verwenden!“ ſchalt er dabei mit ärgerlichem Nafe-
rümpfen. „Das iſt ja ganz veraltet.“
„Was iſt denn jetzt die neueſte Neuheit?“
„Ideal. Koſtet zwar zwanzig Mark das Fläſchchen,
aber man braucht nur wenige Tropfen. Du parfümierſt
dich viel zu ſtark.“ N
„Heute mußte ich die Stallatmoſphäre überbieten.“
„Gut — aber nicht mit dieſem Zeug!“
„Man ſollte denken, ihr wäret zwei Friſeure und
prieſet eure Fabrikate an,“ ſagte Leo gelangweilt.
Er ſaß, den beiden Freunden halb den Rücken zu-
kehrend, im Schaukelſtuhl und rauchte eine Zigarette
nach der anderen.
„Gar kein ſo übles Geſchäft, Friſeur zu ſein!“
meinte Dennwitz. „Vielleicht ziehen wir die Grün-
dung eines ſolchen Geſchäftes bei unſeren Zukunfts-
plänen in Erwägung. Kuno ſchlägt Schaum. Das
verſteht er ausgezeichnet in jeder Beziehung. —
Du, Leo, lernſt friſieren. Denke dir das aus, wenn
dir Violet Marſtons braune Locken durch die Finger
gleiten.“
„Hör auf mit dem Blödſinn! Zch dulde kein un-
gehöriges Wort über Miß Marſton!“ rief Leo ärgerlich.
Dennwitz hob ſeinen Champagnerkelch hoch und
beſah intereſſiert die ſcharfen Lichtreflexe in dem ge-
ſchliffenen Glas. „Ich kann doch annehmen, daß Miß
Marſton ſich ab und zu kämmen läßt,“ meinte er dann
gelaſſen, „findeſt du das ungehörig?“
„Jedenfalls bitte ich dich, Miß Marſtons Namen
bei dieſer Unterredung von nun an auszuſchalten.“
„Das wird ſich ſchwer machen laſſen, denn ſie iſt
der Punkt, um den ſich alles dreht. — Und nun bitte
2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 169
ich dich, trinke nichts mehr, Kuno! Wir müſſen mit
kühlen Köpfen einen Entſchluß faſſen.“
Leo ſtand auf. „Heute abend nicht mehr. Ich gehe
ins Bett.“
„Du bleibſt gefälligſt.“ Dennwitz drückte den Freund
wieder in den Stuhl. „Was zwiſchen uns zu bereden
iſt, muß noch heute erledigt werden.“
Der Kellner betrat nach diskretem Klopfen das
Zimmer, räumte das Geſchirr zuſammen und ſchwang
das vollbeſetzte Brett mit der Geſchicklichkeit eines
Songleurs auf feine Schulter. „Sonſt noch Befehle?“
fragte er. | |
„Papier, Tinte, Federn!“
„Bitte ſchön — alles ies ſich auf dem SIE
tiſch am Fenſter.“
„Schön. Dann können Sie verduften.“
„Ich weiß nicht, was mir an dem Schafsgeſicht
dieſes Menſchen ſo unangenehm iſt,“ ſagte Leo, als
die Tür ſich wieder hinter dem Kellner ſchloß.
„Unſinn! Einer ſieht aus wie der andere.“
Dennwitz holte einen großen Bogen Papier, Tinten-
faß und Feder.
„Was ſoll denn die Schreiberei e am ſpäten
Abend?“
„Unſere Schulden will ich aufnotieren. Du weißt,
Leo, wir haben für dich mit gutgeſagt bei dem Geld-
verleiher. Der wartete nur den Rennerfolg ab. Da-
mit iſt's nun nichts geworden. Bezahlen wir ihn nicht,
verklagt er uns beim Kommandeur. Was dann?“
„Leo, du mußt unbedingt um Wiß Marften an-
halten!“ bat Kuno. „Eine reiche Heirat reißt uns raus.“
„Es tut mir namenlos leid, euch ins Unglück mit.
geriſſen zu haben. Hätte ‚Trilby“ geſiegt, dann hättet
ihr heute noch euer Geld, aber —“
170 Miß Violet. 0
„Wiſſen wir. Du biſt der anſtändigſte Menſch auf
der Welt, Leo. Nun ſei aber auch einmal ein ver-
nünftiger dazu!“ ſagte Kuno. „Man muß für feine
Freunde zu einem Opfer bereit ſein.“
„Zu jedem wäre ich —
„Nur nicht zu dem, um das wir dich bitten.“
. „Nein, dagegen ſträubt ſich mein Ehrgefühl. Ich
müßte mich vor Miß Mariton direkt en
„Sie gefällt dir aber doch?“
„Gewiß. Zuerſt hatte ich nur einen unbestimmt an-
mutigen Eindruck von ihr, aber heute nach dem Rennen,
als ſie mich fo mitleidig mit ihren ſchönen Augen an-
ſah — ſeitdem bin ich ihr gut. Ja, wahrhaftig — das
bin ich! Sie war die einzige, die begriff, daß, Trilbys“
Tod nicht nur einen Geldverluſt für mich bedeute,
ſondern mir direkt ins Herz ſchnitt.“
„Nun, dann iſt ja alles in ſchönſter Ordnung!“
„Wieſo?“
„Miß MVarſton iſt in dich verliebt. Du biſt ihr gut.
Ihr Vater iſt Millionär. Das Vermögen iſt ſicher
angelegt und beſteht nicht, wie ſo oft, aus noch nicht
eingefangenen Büffelherden oder ähnlichem amerika—
niſchen Schwindel. Ich erkundigte mich genau nach
allem. Was hindert dich alſo, glücklich zu ſein, ſelbſt
zu beglücken?“
„Meine verwirrten Geldverhältniſſe.“
„Die ordneſt du doch gerade durch dieſe Heirat! Leo,
du biſt ebenſo bockig und begriffsſtutzig wie mein alter
Chargengaul,“ ſchalt Kuno.
„Ich kann nicht, und ich will nicht!“ beharrte Leo.
„Venn Violet Marfton mir nicht fo liebreizend erſchiene,
brächte ich es vielleicht um euretwillen fertig, ſie zu
hintergehen. Aber jo — nein, das wäre Tempelſchän—
dung, wie wenn man ein Heiligtum in den Staub zieht.“
u Novelle von Luiſe v. Nohrſcheidt. 171
„Dummes Zeug!“
„Laß ihn! Mit ihm iſt heute nicht zu reden.“ Runo
zwinkerte Dennwitz vielſagend zu. „Ich kenne den
Waldburgſchen Oickſchädel. Wir müſſen uns allein
helfen.“
„Wie denn?“
„Vir zwei loſen einfach, wer um Miß Marſton an-
halten ſoll.“
„Sie nimmt keinen von euch!“ fuhr Leo mit rotem
Kopf dazwiſchen.
„Mein Lieber, du willſt die hübſche Miß ja durchaus
nicht heiraten. Nun rede alſo auch nicht mehr mit,
ſondern verſchwinde vom Schauplatz, damit der durch
das Los Begünſtigte ungeſtört um ſie werben kann.“
„Ihr habt ja gar keinen Urlaub mehr!“ |
„Der Katzenſprung von Bruchſal bis Baden-Baden
hindert uns nicht. Aber du mußt uns dein Wort geben,
nicht wieder herzukommen, bis die Sache geordnet iſt.“
„Sie nimmt ganz entſchieden keinen von euch!“
beharrte Leo.
„Das hatteſt du bereits die Liebenswürdigkeit uns
zu verſichern.“
Dennwitz riß von dem Bogen Papier drei Stücke ab.
Zwei Zettel ließ er leer. Auf den dritten ſchrieb er
mit großen Buchſtaben „Violet Marſton“. Sorgfältig
zuſammengerollt legte er die drei Loſe auf einen Teller,
den er mit einer Serviette bedeckte.
„Jetzt wetten wir erſt mit dieſem Zwanzigmark-
ſtück darum, wer anfangen ſoll. Kopf oder Schrift,
Kuno?“
„Schrift.“
„Stimmt. Alſo, Kuno, du fängſt an. O ſchickſals-
ſchwerer Augenblick! Gleich werden wir wiſſen, wer
die braunlockige Miß freit.“
172 Miß Violet. E
„Halt!“ Leo ſtieß den Teller beiſeite, ehe Kuno
die Hand unter die Serviette ſtecken und ein Los heraus-
ziehen konnte.
„Willſt du dich alſo doch noch beteiligen?“ fragte
Dennwitz gemütlich. „Na, das dachte ich mir im voraus,
darum habe ich gleich drei Loſe gemacht. Du, als von
der Dame Bevorzugter, haſt jedenfalls die Vorhand
und darfſt anfangen. — Nicht, Kuno?“
„Bitte ſehr. sch trete gern zurück.“
„Ihr werdet ſie nicht heiraten,“ ſagte Leo feſt. Sein
Atem ging kurz und gequält. „Oavor will ich Miß
Marſton denn doch bewahren. Ihr ſeid gute Freunde
und ganz nette Offiziere, aber ihr würdet miſerable
Ehemänner werden.“
„Danke verbindlichſt!“
„Keine Urſache. — Du, Dennwitz, biſt egoiſtiſch
und ein eingefleiſchter Zunggeſelle. Nach wenigen Mo-
naten würde deine Frau ſich vernachläſſigt und unglüd-
lich fühlen. Kuno aber läuft jeder Schürze nach und
iſt unverbeſſerlich leichtſinnig im Geldausgeben.“
„Ausgezeichnet, daß gerade du mir das vorwirfſt!
Dir borgte ich mein Kapital, damit du dir ein Renn-
pferd halten konnteſt.“
„Auf ſolche unſichere Chancen hin ſein Geld zu ver—
borgen, iſt eben leichtſinnig, mein verehrteſter Kuno.
Das ſiehſt du doch an den Folgen.“
Kuno v. Waldburg griff ſich an den Kopf. „Ich
weiß bald nicht mehr, bin ich verrückt, oder biſt du's,
Leo!“
„Vahrſcheinlich ſeid ihr's beide. Familienähnlich-
keit!“ meinte Dennwitz lachend. „Das merke ich aber
heute ſchon, unſer ſchneidiger Rennreiter und genialer
Haushalter, Leutnant Leo v. Waldburg, gibt einmal
einen vorzüglichen Familienvater ab. Statt Rennen
reitet er künftig nur noch Prinzipien und wiegt die
kleinen Marſtons.“
„In dieſem Fall dürften ſie wohl Waldburg heißen,“
verbeſſerte Kuno.
„Ihr ſeid frivol und brutal zugleich. Euch laſſe ich
nicht um Violet Marſton anhalten, obgleich ihr ſicher
mit langen Geſichtern und einem Vaſchkorb abziehen
würdet.“
„Schön — aber ſicher iſt ſicher. Nimm endlich
ein Los!“ 3
Leo fuhr mit der Hand unter die Serviette. Langſam
rollte er den Zettel auf. „Violet Marſton!“ las er, und
unwillkürlich hob ein erleichterter Atemzug ſeine Bruſt.
Er rollte den Zettel um den Finger und warf ihn
dann achtlos auf den Teller. „Nun, auch ohne dieſen
Zufall würde ich euch nicht erlaubt haben, Violet un-
glücklich zu machen.“
| „Schon gut — erhitze dich nicht! Das Schickſal
ſelbſt hat ein Einſehen.“
Dennwitz klopfte dem Freund auf den Rücken.
„Mach deine Sache gut, lieber Zunge. Ein paar Tage
ſchmachte fie meinetwegen noch an. Dann aber 'rin
ins Vergnügen!“ |
„Sag dem alten Amerikaner gleich ein paar tauſend
Dollar mehr. Das geht in einem hin!“ rief Kuno.
„Ja, und meine Ehre dazu!“ antwortete Leo plöß-
lich mit ganz veränderter, heiſerer Stimme. Mit merf-
würdig kaltem, faft feindſeligem Blick muſterte er feine
beiden Freunde. „Euer Geld iſt euch ſicher. Aber ich
weiß nicht, mir iſt, als ob unſere Freundſchaft durch
dieſen Abend einen Riß bekommen hätte. — Gute
Nacht!“ a |
Dennwitz und Kuno v. Waldburg ſahen ihm ver-
blüfft, mit ſeltſam ernüchtertem Gefühl nach.
174 | Miß Violet. u
Violet Marſton ſaß vor dem Friſiertiſch in ihrem
Schlafzimmer und ließ ihr langes Haar von ihrer fran-
zöſiſchen Jungfer Zuliette ſorgfältig kämmen und
bürſten.
Dies war die Stunde, in der das Mädchen mit ihrer
Herrin plaudern durfte.
Heute blieb Juliette merkwürdig ſchweigſam. Ihre
ſonſt ſo leichte Hand fuhr mit ſcharfen Bewegungen
durch das dichte, braune Haar der vor ihr Sitzenden.
Jeder Bürſtenſtrich bedeutete anſcheinend einen ener-
giſchen Proteſt gegen irgend etwas. Ab und zu warf
fie ſchnell einen fragenden Blick auf das reizende Ge—
ſicht des jungen Mädchens. Ein tiefer Seufzer folgte
dann jedesmal.
„Warum puſten Sie denn wie ein Lokomotiv,
Juliette?“ fragte Violet. „Mein Haar weht ja ordent-
lich. Fehlt Ihnen etwas? Sie reden ja heute gar nichts!
Sind Sie krank!“ |
„Nein, Mademoiſelle, krank bin ich nicht. Aber ich
habe etwas erfahren, was mir ſehr weh tut.“
Juliette brannte offenbar darauf, ausgefragt zu-
werden. Violet tat ihr auch den Gefallen.
„Was hörten Sie denn? Es wird wohl nicht ſo
ſchlimm ſein. Vielleicht iſt's nur halb oder gar nicht
wahr?“
„Doch, Mademoiſelle. Leider gibt's keinen Zweifel.
Und daß gerade Sie, Mademoiſelle —“
„Nur weiter!“ ermunterte Violet.
„Mademoiſelle kennen den Kellner Louis? Er be—
dient in dieſem Stockwerk und iſt gewiſſermaßen mein
Landsmann. Wir plaudern oft miteinander.“
„Das kann ich mir denken.“
„Als der Ball geſtern noch im Gange war, mußte
Louis für drei Offiziere Braten und Champagner nach
2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 175
Zimmer 17 bringen. Die Herren ſtritten lebhaft mit-
einander, verſtummten aber ſogleich, als Louis eintrat.
Aber der, wie die Kellner fo find, war neugierig ge-
worden. Er blieb im Nebenzimmer. Da konnte er
jedes Wort mitanhören.“ |
„Was geht das mich an?“
„Aber Mademoiſelle, es betraf ja gerade Sie.
Denn zwei der Herren beredeten den dritten, den ſie
mit Leo anredeten, um Mademoiſelle anzuhalten.“
„Und das wollte er nicht?“
„Nein, mit Händen und Füßen ſträubte er ſich,
ſagte Louis. Aber die anderen überſtimmten ihn
ſchließlich, das Los zu ziehen, wer Mademoiſelle hei—
raten und dann ſpäter von der Mitgift die gemein-
ſamen Schulden bezahlen ſolle.“
„Das iſt gewiß eine Lüge!“
„Nein. Heute früh, als Louis das Zimmer auf-
räumte, fand er die Zettel.“
„Weiß Louis vielleicht auch, wer von den dreien
gewann?“
„Jawohl — der Offizier, der seiten das Rennen
verloren hat.“
„Juliette, ich verbiete Ihnen, über dieſe Geſchichte
zu ſprechen. Hören Sie — kein Wort mehr davon!“
„Mademoiſelle, über meine Lippen kommt kein
Laut mehr.“
„Deſto beſſer. Als Siegel können Sie noch mein
lila Seidenkleid, das Ihnen ſo gut gefällt, darauf legen.“
Juliette küßte Violets Hand. Ganz verſtehen
konnte ſie das Benehmen ihrer jungen Herrin nicht.
Welche Dame würde nicht empört ſein, wenn ſie er—
fuhr, daß drei verſchuldete Offiziere um ihren Beſitz
loſten? Violet aber blieb ganz ruhig, kaum daß ſie die
Farbe wechſelte.
176 Miß Violet.
Aber fie ſetzte auch allen Verſuchen einer weiteren
Unterhaltung ein ernſtes Schweigen entgegen, ſo daß
Juliette endlich verſtummte und die Toilette beendete.
Violet erhob ſich und verließ ihr Zimmer. Nr.
Marſton erwartete feine Tochter bereits ungeduldig an
dem zierlich gedeckten Frühſtückstiſch auf der Veranda,
um deren Säulen der rötliche Wein ſeine graziöſen
Ranken hing. Dazwiſchen ſchimmerten die dunklen
Sternblumen der Klematis. Ein feiner Duft ſchwebte
von den Reſedarabatten des Gartens herüber, wenn
der warme Atem des Sommerwindes ſie anhauchte.
Violet goß den Tee ein und legte dem Vater Schin—
ken und Eier vor. Sie ſelbſt zerkrümelte nur zerſtreut
den Toaſt auf ihrem Teller. Die Erzählung der Jungfer
beſchäftigte fie lebhaft. Ein leiſer Schmerz ſaß in ihrein
Herzen feſt. Sie glaubte die Stelle zu fühlen, die
körperlich weh tat.
Aber ſie war keine Natur, die lange grübelte. Naſch
gewann ſie ihre heitere Zuverſicht zurück. „Beeile
dich mit deinem Tee, Papa,“ bat ſie. „Vir müſſen
unſeren Morgenſpaziergang machen.“
Mr. Varſton ſtieß gedankenvoll ein paar blaue
Rauchringe aus dem kreisrund geöffneten Mund, die
in. der ruhigen, warmen Luft eine Sekunde ſtillſtanden,
ehe ſie langſam zergingen. „Ich bekam einen Haufen
Geſchäftsbriefe aus New Vork, Violet, die ich beant-
worten muß.“
„Das iſt nur eine Ausrede, um dich vom Spazier-
gang zu drücken. Nichts da, Maſter Faulpelz! Die
Briefe können warten.“ |
„Diesmal nicht. Das Schreiben meines Kompagnons
iſt dringend.“ |
„Das find deine geſchäftlichen Angelegenheiten
immer:“
2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 177
„Heute aber eiliger denn je.“
„Du wirſt doch nicht Bankrott machen, Papa?
Das paßte mir augenblicklich gar nicht.“
„Im Gegenteil, Kind. Ein Projekt liegt vor, bei
dem wir viel verdienen können.“
„Haſt du denn noch nicht genug, du Nimmer—
ſatt?“
„Geld kann man nie genug beſitzen — und für wen
will ich's denn erwerben?“
„Für mich, das weiß ich wohl, du guter, fleißiger
alter Papa!“
„Violet, wäre es dir ſehr unangenehm, Baden-
Baden zu verlaffen und mit mir nach New Vork zurück-
zureiſen?“
„Jetzt ſoll ich fort von hier?“
„Nur für ein paar Wochen.“
„Unmöglich, Papa — jetzt kann ich nun einmal
nicht weg!“
„Weshalb nicht?“
Violet zögerte. Dann faßte fie einen raſchen Ent-
ſchluß. Wenn Leo v. Waldburg wirklich um fie an-
halten wollte, war es beſſer, wenn ſie ihren Vater
vorbereitete, was er antworten ſolle.
„Papa, du hatteſt mit deiner Neckerei geſtern beim
Rennen nicht ganz unrecht,“ fing ſie endlich an.
„Mit welcher Neckerei, Kindchen?“
„Ach, du meinteſt doch, der eine von den Bruch—
ſaler Dragonern, der das Rennen verlor, huldige mir
ein wenig. Nun, geſtern abend kam mir das auch
ſo vor.“
„Du glaubſt, daß er anhalten wird? Das kann ja
brieflich erledigt werden, Violet. Ich habe ſchon eine
gewiſſe Übung, abſchlägige Antworten zu erteilen.“
Violet legte ihre Hand auf die des Vaters. „Und
1913. X. 12
178 Miß Violet. 2
wenn ich dich nun bitten würde, diesmal nicht nein
ſondern ja zu ſagen?“
„Violet, Kind, du kennſt den jungen Offizier ja
kaum! Wir wiſſen nichts von ihm, als daß er ein gut-
gerittenes Rennen im letzten Augenblick verlor.“
„Darum ſoll er in dem Rennen um meine Hand nicht
auch noch verlieren!“ entgegnete ſie etwas gezwungen
lachend. „Du kannſt dich ja nach ihm erkundigen.“
„Das kenne ich. Die Regimentskommandeure
loben ihre Leutnante immer über den grünen Klee,
wenn eine reiche Heirat in Frage kommt.“
„Venn er wirklich ein paar tauſend Dollar Schulden
hätte, wäre das ſo ſchlimm?“ ſchmeichelte Violet. „Der
Arme verlor geſtern fein ſchönes Pferd. Und Renn-
pferde ſind ſehr teuer.“
„Seine Schulden könnte ich natürlich bezahlen,
wenn's nicht gar zu arg iſt. Aber der Gedanke, daß er
dich heiraten will, damit ich dies tue, der beleidigt mich.“
„Mich auch. Aber ich glaube, er würde mich auch
ohne deine Millionen mögen. Das viele Geld ſtört
ja weiter nicht.“
Mr. Marſton mußte lachen. Violets nüchterne
Auffaſſung aller Verhältniſſe ſagte ihm ſehr zu. Man
konnte fo gut ohne Gefühlsüberſchwang mit ihr reden.
„Alſo, Papa, hör zu. Du weißt, ſchließlich tuſt du
doch immer, was ich will. Du mußt in Baden-Baden
bleiben, bis Herr v. Waldburg um mich angehalten hat.“
„Hoffentlich beeilt er ſich wenigſtens damit.“
„Daran zweifle ich nicht. Weißt du, er wird ſchnell
ein neues Pferd brauchen. Seine Verlobung mit mir
hebt ſeinen Kredit.“
„Ja, daß er dich heiraten möchte, finde ich ſehr begreif-
lich. Aber warum willſt du dich eigentlich mit ihm ver-
loben? Du könnteſt noch ganz andere Partien machen.“
D Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 1789
„Nun — er gefällt mir. Darum will ich ihn haben.
Alſo ſei nett mit ihm, Papa. Stelle keine indiskreten
Fragen nach feinen Schulden. Die follen alle Leut
nante haben.“
„Bruchſal iſt ein Neſt, Violet. 1 |
„Ja — nicht ganz fo groß wie New Vork und etwas
weniger elegant wie Paris.“
„Und dein alter Papa kann allein in New Vork
ſitzen und Trübſal blafen, wenn Mrs. Waldburg in
Bruchſal wohnt.“
„Mein alter Papa wird vernünftig ſein, die Ge—
ſchäfte abwickeln, ſich zurückziehen, in Baden- Baden
eine ſchöne Villa bauen und alle paar Tage ſeine
Tochter in Bruchſal beſuchen.“
„Darüber ließe ſich reden.“
„Abgemacht, Papa! Wenn Herr v. Waldburg dir
ſchreibt, dann will ich deine Antwort vorher leſen.
Hält er mündlich an, ſo ſagſt du ja und bieteſt ihm ganz
vorſichtig an, zunächſt den Verluſt des Rennpferdes
zu erſetzen.“
„Darf ich dann reiſen, wenn Mr, Waldburg ſich
mit dir verlobt und gütigſt das Geld angenommen hat?“
„Ja, aber beeile dich, bald zurückzukommen. Wäh-
rend deiner Abweſenheit ſtelle ich mich unter den Schutz
der alten Mrs. Homer. Sn drei Wochen kannſt du gut
zurück ſein.“
„Venn's durchaus ſein muß — geht's.“
„Das muß fein. Länger kann ich dich nicht ent-
behren. Du biſt alſo mit meinen Plänen einverſtanden,
du guter, lieber alter Papa?“
Wozu hätte Nr. Marfton nicht ja geſagt, wenn
Violet ihn dafür zärtlich anlächelte?
Im Grunde konnte er es ihr auch nicht verdenken,
wenn ihr der ſchlanke, hübſche Dragonerleutnant beſſer
180 Miß Violet. D
gefiel wie die Herren in Amerika, die meiſt recht nach-
läſſige Manieren und den Kopf ausſchließlich von ihren
Geſchäften voll hatten. Warum ſollte ſein einziges
Kind nicht ganz nach Gefallen heiraten? Sein Leben
lang hatte er nur dafür ee daß er ihr jeden
Wunſch erfüllen konnte.
Den ganzen Morgen über ſchaute Violet vergebens
nach Leo v. Waldburg aus. Weder auf dem von alten
Bäumen umſtandenen, ideal ſchön gelegenen Tennis-
platz noch bei ihrem Spaziergang mit dem Vater konnte
ſie ihn entdecken.
Die Allee, die ſich von Baden- Baden bis Lichtental
hinzieht, beſteht aus vier Reihen ſchöner Bäume. Ka-
ſtanien wehen mit grünen Fächern zwiſchen ſtreng
duftenden Nußbäumen. Dazwiſchen ſchieben ſich die
Zweige des Ahorns mit den ſcharfgezackten Blättern.
Mr. Marſton ging heute ganz ſtumm neben ſeiner
Tochter her. Die Nachrichten aus New Vork beſchäftig-
ten ihn, daher ſtörte er Violets Gedanken nicht. Ihr
ungewöhnlich nachdenkliches Weſen fiel ihm zwar auf,
aber das ſchob er hauptſächlich auf die Unannehmlichkeit
ihrer baldigen Trennung. Der Gedanke, einen Heirats-
antrag mehr oder weniger zu haben, konnte ſeiner An-
ſicht nach Violet wirklich nicht beſonders erregen. Ganz
erſchrocken ſah er ſie daher an, als ſie plötzlich mit faſt
ſchmerzhaftem Druck ſeinen Arm umklammerte.
„Da — da geht er, Papa! Du mußt ihn mir
bringen. Er iſt in Zivil und will gewiß abreiſen. Aber
ich will ihn vorher noch ſprechen.“
„Wen denn nur?“
Violet ſtampfte vor Ungeduld mit dem Füßchen.
„Herrn v. Waldburg natürlich!“
2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 181
„Aber Kind, du ſagteſt doch, der wolle um dich
anhalten?“
„Ich weiß das doch nicht gewiß. — So geh doch
nur, Papa — lauf raſch, bitte, vielleicht war alles nur
Einbildung von mir und —“
„Der wird ſchon wollen!“ brummte Nr. Marſton.
Der Gedanke, bei dieſer Hitze einem zögernden Be-
werber nachlaufen zu ſollen, erſchien ſelbſt ihm, trotz
ſeiner ſprichwörtlichen Gutmütigkeit, als eine ſtarke
Zumutung.
„Beeile dich doch!“ befahl Violet aufgeregt.
Mr. Mariton ſetzte ſich ſeufzend in Bewegung.
Dabei winkte er mit dem Stock und ſchrie aus Leibes-
kräften den Namen des jungen Offiziers, bis dieſer end-
lich hörte und ſich umwandte — gleichzeitig aber auch
alle anderen auf der Lichtentaler Allee ſpazierenden
Menſchen. N
„Papa, du biſt von einer unglaublichen Ungeſchick—
lichkeit!“ tadelte die herankommende Violet. „So
etwas macht man doch unauffällig!“
„Der Schlag rührt mich beinahe,“ ſchalt der alte
Amerikaner. „Dort kommt dein phlegmatiſcher Leut-
nant. gebt halte ihn feſt, damit die Geſchichte erledigt
wird und ich abreiſen kann. Ich gehe jetzt nach Hauſe.
Wenn du etwas von mir willſt, weißt du, wo ich bin.“
„Schön, Papa! Herr v. Waldburg wird mich gewiß
ſpäter nach Hauſe bringen. Zch brauche dich alſo jetzt
nicht mehr.“
Mr. Warſton machte, daß er weiterkam. Diesmal
war er wirklich etwas ärgerlich über Violet. Länger
wie eine halbe Stunde pflegte das aber nie zu dauern,
es beunruhigte die junge Dame daher keineswegs.
Als Leo v. Waldburg vor ihr ftand, gab fie ihm
unbefangen herzlich die Hand und bat ihn, ſie auf
182 Miß Violet. a
einem Umweg nach Haufe zu begleiten, da es ihrem
Papa zu heiß geworden ſei.
„Sehr gern.“ Leo beugte ſich tief über Violets
Hand.
In ſeiner immer korrekten Haltung ging er neben
ihr her. Ab und zu ſtreifte ſein Blick ihr ihm zugewandtes
Profil. Wirklich — fie war bei Tageslicht in dem ein-
fachen Anzug noch tauſendmal ſchöner als mit ihren
Perlen und Brillanten im Schein der elektriſchen Be—
leuchtung. Ein Seufzer hob feine Bruſt.
„Warum ſeufzen Sie denn ſo tief?“ ſpöttelte Violet.
„Venn ich das nun auch tun wollte!“
„Sie? Was haben Sie für einen Grund, ſich zu
beklagen?“ forſchte Leo mit plötzlich erwachtem Miß—
trauen. Sein ſchlechtes Gewiſſen regte ſich. Sollte
ſie etwas erfahren haben? Der alte Marſton kehrte
ja auffallend plötzlich um, obwohl er ihm zuerſt nach-
gelaufen war. „Miß Marſton, ich verſichere Zonen —“
„Aber was iſt denn? Warum machen Sie ſolch
komiſches Geſicht?“ lachte ſie. „Sagen Sie mir den
Grund öhres tiefen Seufzers, dann will ich Ihnen
auch —
„Mein Seufzer galt dem Abſchied von meinem ſchö—
nen Pferd und ſodann meinen troſtloſen Verhältniſſen.“
„Beides hängt wohl zuſammen?“
„Sehr eng. ‚Trilby“ iſt tot. Ob ich mir jemals wieder
ein Rennpferd halten kann, erſcheint ſehr fraglich. Der
Trainer hieb mich bei unſerer letzten Unterredung natür-
lich nech gehörig übers Ohr. Auch das Geld, das er
beim Totaliſator auf ‚Zrilby‘ ſetzte und durch meine
Schuld verlor, wie er ſagte, mußte ich ihm erſetzen.“
„Dieſe Unverſchämtheit!“
Leo zuckte die Achſeln. „Mit ſolchen Leuten kann
man ſich doch nicht um Geld ſtreiten.“
2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 183
„Oh, mein Lieber, den Kaſſenſchlüſſel behalte ich,
wenn wir heiraten!“ dachte Violet. Laut ſagte ſie
nur: „Herr v. Waldburg, Sie ſcheinen recht wenig
praktiſch zu denken.“
„Was hätten Sie denn an meiner Stelle getan?“
„Den Spieß umgedreht und geſagt: „Lieber Freund,
wenn Sie das Pferd beſſer trainiert hätten, würde es
nicht gefallen ſein.“ Sehen Sie, ſo macht man das in
Amerika.“
„Wahrhaftig, das wäre wohl das richtigſte geweſen.
Miß Marfton, ich bewundere Ihren praktiſchen Blick.“
„Ich bin die Tochter eines Kaufmanns. Glauben
Sie, daß man Geld bekommt, ohne zu rechnen?“
„Ich habe nie zu rechnen verſtanden und werde
das wohl auch nie lernen.“
„Vermutlich nicht. Vielleicht aber gefallen Sie mir
gerade deshalb ſo gut.“ Wieder traf ihn jener zärtlich
bewundernde Blick der ſchönen, ſprechenden Augen, der
ihm wie ein Feuerſtrom durch die Adern ging.
In ihr Geſpräch vertieft, hatten beide es nicht be-
achtet, daß der Himmel ſich immer mehr verfinſterte.
Die ſoeben noch ſtechend heiße Sonne kroch hinter eine
ſtahlblaue Wolkenwand. Kurze Windſtöße wirbelten
den Sand der Allee in großen Wolken auf. Die meiſten
Spaziergänger ſuchten ſchnell ein ſchützendes Dach zu
gewinnen.
Leo und Violet wurden erſt aufmerkſam, als ein
dumpf rollender Donner zu grollen begann und ein
paar ſchwefelgelbe Blitze aus der gewitterſchwangeren
Wolke herniederzuckten.
Erſchreckt ſah Violet auf. „Ein Gewitter — oh, wie
ich mich fürchte davor!“
„Wir ſind jetzt weit ab vom Hotel Stephanie, und
Sie haben nur Ihren Sonnenſchirm —“
184 Miß Violet. oO
„Der Regen tut mir nichts. Aber die Blitze find
ſo gefährlich!“ rief Violet und lief ängſtlich weiter.
Leo nahm ihren Arm. „Seien Sie ruhig. Es ſoll
Ihnen nichts geſchehen!“ tröſtete er. „Hier ganz in
der Nähe iſt ein Pavillon, in dem wir Schutz finden.“
„Und wenn der Blitz dort hineinſchlägt?“
So ſchnell ihre Füße ſie tragen konnten, eilte ſie
vorwärts. Als die erſten großen Tropfen hernieder-
rauſchten, erreichten ſie glücklich den Pavillon.
Tief aufatmend ſetzte ſich Violet auf das ſchmale
Bänkchen, Leo dicht neben ſie.
In ihrer Angſt erſchien ſie ihm ſo rührend kindlich
und hilfsbedürftig, daß er den Arm um ihre Schultern
legte und ihren Kopf gegen ſeine Bruſt lehnte, damit
ſie die grellen Blitze nicht ſehen könne.
Violet ließ wie willenlos alles mit ſich geſchehen.
Ein träumeriſches Wohlbehagen überkam ſie. Das
eintönige Fallen der ſchweren Regentropfen hatte etwas
Einſchläferndes in dem Halbdunkel des kleinen, engen
Pavillons. Sie fühlte das ſtarke Pochen von Leos
Herz, das dicht neben ihrem ſchlug, und die Anſpannung
der Muskeln in dem Arm, der ſie umfaßte. Im Geiſt
ſah fie ihn wieder wie geſtern beim Nennen über Hürden
und Gräben fliegen mit dem Zug eiſerner Entſchloſſen⸗
heit in dem ſchöngeſchnittenen Geſicht.
And plötzlich, ſie wußte ſelbſt nicht, wie es tam,
hatte ſie ſeine gebräunte Hand zwiſchen ihren weißen
Fingern.
Erſtaunt, entzückt beugte er ſich zu ihr und las die
große Liebe zu ihm in ihren zu ihm aufgeſchlagenen
Augen. Mit einem Ruck ſchob er ihr den kleinen Hut
vollends aus ihrer Stirn, hob das reizende Geſicht,
das an ſeiner Schulter lag, in die Höhe und drückte
heiße Küſſe auf den roten Mund.
2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 185
Violet gab die Küſſe leidenſchaftlich zurück. Was
kümmerten ſie jetzt Blitz, Donner, Hagel und Regen-
ſchauer. Sie lag ja in ſeinem Arm, trank ſeine Küſſe,
hörte ſeine ſtammelnden Liebesworte.
„Wann haſt du zuerſt gefühlen, daß du mir liebſt?“
fragte ſie endlich. |
Wenn fie nicht ſehr auf ſich achtete, kam öfter ein
grammatikaliſcher Fehler beim Sprechen vor, der Leo
entzückte und den er darum nicht verbeſſerte. Gerade
dieſes ein wenig unbeholfene Sprechen fand er zu
reizend im Gegenſatz zu ihrem ſicheren, weltgewandten
Auftreten. |
„Von dem Augenblick an, als du Du zu mir
ſagteſt,“ antwortete er mit einem langen Kuß.
Sie machte ſich mit einem etwas enttäuſchten Aus-
druck frei. „Das iſt nicht lange. Ich habe dir geliebt,
ſeit — oder heißt es dich?“
„Dich.“
„Alſo dich geliebt gleich in der erſten Minute
ſchon.“
Ein Schatten ging über ſein Geſicht. Der geſtrige
Abend mit dem frivolen Loſeziehen fiel wie eine
Zentnerlaſt auf fein Gewiſſen.
„Violet, du mußt mir verzeihen, ich bin —“
Schweiß trat auf ſeine Stirn. Er wollte ihr alles
erklären, aber im ſelben Augenblick rollte ein heftiger,
betäubend lauter Donner über ſie hin.
Violet ſchrie entſetzt auf.
„Um Gottes willen, Violet!“ Leo richtete die hilflos
zuſammengeſunkene Geſtalt in ſeinen Armen auf.
Violet war totenblaß. Zuerſt konnte ſie nicht
ſprechen, ſondern ſchüttelte nur mit ſchwachem Lächeln
den Kopf zu ſeinen beſorgten Fragen.
Mit dieſem letzten, entſetzlichen Schlag ſchien die
186 miß Violet. 2
Gewalt des Gewitters gebrochen zu ſein, nur der
Regen rauſchte immer ſtärker.
Balſamiſche Luft wehte durch das kleine Fenſter,
das Leo aufſtieß, und in den Pavillon herein. Violet er-
holte ſich jetzt raſch. Sie fühlte ſich vollkommen wohl,
aber ein bißchen bemitleidet zu werden, machte ihr
Spaß.
Sie ließ ſich darum von Leo die Schläfen mit
Regenwaſſer erfriſchen, das gelockerte Haar feſter ſtecken
und lobte ihn, wie geſchickt er alles anfaſſe, beſſer ſogar
wie ihre Pariſer Jungfer Juliette.
„Ich will ihr nicht nehmen mit in unſer Haus nach
Bruchſal,“ erklärte ſie energiſch.
„Violet — dein Vater wird unſere Heirat gewiß
nicht zugeben,“ meinte Leo bedrückt.
„Veshalb denn nicht?“
„Weil ich ganz arm bin und außerdem —“
Aber ſie hob befehlend die Hand. „Nicht ausreden,
Leo — lieber Leo! Von heute an biſt du nicht mehr
arm, wie du das nennſt. Was mir gehört, gehört jetzt
dir auch. Papa wird dir ein Freund ſein, und von
Freunden kann man ſich ruhig helfen laſſen — nicht
wahr?“
Mit wiedererwachtem Mißtrauen, ob ihre Worte
wohl eine Anſpielung bedeuten ſollten, ſah er ſie an.
Aber Violet ſchien wirklich ganz arglos zu fein. Ihre
Großmut bedrückte ihn. Aber in dieſer Stunde konnte
er ihr das beſchämende Geſtändnis nicht machen.
Da das Gewitter in einen nachhaltigen Landregen
überging, traten ſie endlich den Rückweg an. Zum
Schutz diente nur Violets rotſeidener Sonnenſchirm,
den ſie mit über Leos Kopf hielt, trotz ſeiner Abwehr.
Zum Glück war's ſo menſchenleer auf der durchweichten
Allee, daß ihnen niemand begegnete. Aber aus den
n Novelle von Luiſe m Rohrſcheidt. 187
N
Fenſtern des Hotels Stephanie ſah manch neugieriges
Auge auf das regennaſſe junge Paar, das in eifriger
Unterhaltung ankam, als ob es im ſchönſten Sonnen-
ſchein und nicht bei klatſchendem Regen luſtwandelte.
„Wenn du trocken biſt, gehſt du zu Papa!“ ſagte
Violet. „Oh, wie ich ſehe aus!“
Sie ſchüttelte ihren triefenden Rockſaum. Große
Waſſerlachen bildeten ſich auf dem hellen Baſtteppich,
der den reich mit blühenden Gewächſen dekorierten
Eingang des Hotels bedeckte.
Da Leo zögerte, fuhr ſie raſch fort: „Papa reiſt
in den nächſten Tagen nach New Vork zurück.“
„Du auch?“
„Ich — ich bleibe hier bei Mrs. Homer. Aber vor-
her muß mein Vater wiſſen, daß wir uns haben ver-
lobt — nicht wahr?“
„Gewiß!“ |
„Papa iſt ſchon bereitet vor. Du brauchſt nichts zu
ſagen, als daß du liebſt mich.“
„Das kann ich mit gutem Gewiſſen tun.“
„Für alles andere werde ich ſein beſorgt.“ Sie
hielt ihm ihre kleine, naſſe Hand hin. „Auf Wieder-
ſehen! Papa wird dir laſſen ſagen, wann er dich ſprechen
will. — Lieber Leo, ich bin ſo glücklich!“
Leo ſah ihr nach, als fie die Treppe hinaufſtieg.
Voller Anmut und elaſtiſcher Kraft war jede Be—
wegung. Und welch reines, liebeheißes Herz ſie beſaß!
Der junge Offizier ſtöhnte, als er ſich in ſeinem
Zimmer in die Sofaecke warf. „Das größte Glück der
Welt fällt mir mit der Liebe dieſes entzückenden Mäd-
chens in den Schoß, und ich verderbe mir ſelbſt alles
durch das blödſinnige Loſeziehen! Wenn meine zwei
188 Miß Violet. ö D
Mitſchuldigen mich auch nie verraten, fo fällt mir doch
bei ihrem Anblick immer alles ein, und ich kann meiner
Braut nie frei ins Auge ſehen!“
Doch jetzt ruhig Blut! Er ſprang auf und drückte
auf den elektriſchen Knopf der Klingel.
„Herr Leutnant befehlen?“ Der Kellner Louis
ſtand in der Tür.
Leo ftreifte das glattraſierte Geſicht, die waſſer-
hellen Augen, die roten Haare mit flüchtigem Blick.
Irgend eine unangenehme Erinnerung hing mit dieſem
Nenſchen zuſammen. Aber er kam nicht gleich darauf,
was es war. „Telephonieren Sie in das Blumen-
geſchäft nebenan,“ befahl er. „Ich will ſofort einen
loſe zuſammengebundenen Strauß roter Roſen haben.
Ausgeſucht ſchöne Roſen ſollen es fein!“
„Wird ſogleich beſorgt. Sollen die Blumen zum
Herrn Leutnant oder direkt an Miß Marſton geſchickt
werden?“
Leo ſah überraſcht und ärgerlich auf. „Natürlich
zu mir. Wem ich die Blumen ſchenken will, iſt meine
Sache. Sparen Sie ſich Ihre überflüſſigen Bemer—
kungen!“ |
„Gewiß, Herr Leutnant. Ich dachte nur, weil der
Herr Leutnant ſich doch jedenfalls mit Miß Marſton
verlobt haben —“
„Das wird wirklich zu toll!“ brauſte Leo auf. „Sie
ſind ja ein ganz zudringlicher Menſch!“
„Bitte um Verzeihung, Herr Leutnant. Aber
geſtern abend — ich bediente doch hier im Zimmer.
Die Herren fprachen ſehr laut und heute früh dieſer
Zettel —“
Der Kellner zog das von Dennwitz mit Violets
Namen beſchriebene Los aus ſeinem Notizbuch und hielt
es Leo hin.
D Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 189
Der warf nur einen anſcheinend gleichgültigen Blick
darauf und machte ſein hochmütigſtes Geſicht. „Seien
Sie froh, mein Freund, daß ich meine Reitpeitſche
nicht bei der Hand habe,“ ſagte er ruhig. „Sie könnten
ſonſt außer dieſem Zettel noch einen Denkzettel mit-
nehmen, der Ihnen eine ganze Weile in unliebſamer
Erinnerung bleiben dürfte.“
„Aber Herr Leutnant — ich meinte ja nur,“ ſtotterte
der ganz bleich gewordene Menſch, „daß Herr Leutnant
vielleicht Wert darauf legten, den Zettel zurückzuhaben,
da wollte ich — |
„Geld dafür erpreſſen? Eine mißglückte Spetu-
lation!“ Leo lachte. „Wir ſchrieben Tiſchkarten zum
Verlobungseſſen, da Ihnen meine Angelegenheiten ja
ſo intereſſant ſind. Den Zettel können Sie behalten,
der hat für mich gar keine Bedeutung. Aber wenn ich
noch einmal Ihr unverſchämtes Geſicht in meinem
Zimmer ſehe, ziehe ich ſofort aus, Mr. Marſton wird
dann auch ſeine Etage verlaſſen und Ihr Direktor ſoll
den Grund erfahren.“
„Herr Leutnant, machen Sie a nicht unglücklich!“
„Raus!“
Der Kellner verſchwand wie der Blitz. Diesmal
hatte Leo nach Violets Rat gehandelt und den Stier
bei den Hörnern gepackt, ftatt ſich auf Unterhandlungen
einzulaſſen und ſchließlich nachzugeben. Aber trotz
ſeines Sieges blieb ihm ein widriger Geſchmack von
dieſer Unterredung im Munde zurück. Der Gedanke,
jetzt ſogar drei Mitwiſſer zu haben, von denen der eine
noch dazu ein käuflicher Lump war, brachte ihn halb
um den Verſtand.
„Sie ſoll jetzt alles wiſſen — heute noch, ehe die
Verlobung veröffentlicht wird!“ beſchloß er.
Sein Herz ſchnürte ſich zuſammen bei dem Gedanken,
190 Miß Violet. .
das kurze Glück ſich wieder entgleiten laſſen zu müſſen.
Aufgetaucht wie eine ſchöne Viſion entſchwand es,
ehe es ſich verwirklichen konnte. Noch fühlte er den
leiſen Gegendruck ihres roten Mundes auf feinen Lip-
pen, atmete den Duft ihres lockigen, braunen Haares,
ſah den unſchuldig verliebten Blick ihrer holden Augen
— und ein Seufzer, der einem Schluchzen glich, hob
ſeine Bruſt.
Es klopfte. Das Zimmermädchen brachte Leo
einen Brief von Mr. Marſton, in dem Violets Vater
die Bitte ausſprach, Leo möge ihm die Freude machen,
in einer Stunde bei ihm auf ſeinem Zimmer zu ſpeiſen.
Leo übergab dem Mädchen den gleichzeitig ein-
getroffenen Strauß ſchwer duftender roter Roſen, an
den er ſeine Viſitenkarte befeſtigte. „Sagen Sie
Mr. Marfton, ich würde pünktlich bei ihm fein. Die
KRoſen find an Miß Marfton abzugeben.“
„Jawohl, Herr Leutnant!“
Das Mädchen verſchwand mit einem befriedigten
Lächeln. Eine Verlobung lag in der Luft. Das witterte
ſie. Hohe Trinkgelder gaukelten verführeriſch vor
ihren Augen.
Die Zeit verſtrich.
„Vor einer Hinrichtung kann einem nicht ſchlimmer
zumute ſein,“ dachte Leo verzweifelt, als er in die
Armel ſeines hellblauen Waffenrockes fuhr und ſein
kurz verſchnittenes, dunkelblondes Haar mit zwei harten,
ſtielloſen Bürſten bearbeitete.
Große innere Aufregung verbarg ſich bei ihm immer
hinter einer etwas ſteifen Kälte, die eine gewiſſe Ent-
fernung zwiſchen ihn und die übrige Menſchheit legte.
Nr. Marfton, der, als der junge Offizier ihm ge-
meldet wurde, ſeinem Gaſt mit ausgeſtreckter Hand
u Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 191
freundlich entgegenkam, ſchien aber nicht das geringſte
davon zu bemerken. Er ſchüttelte kräftig Leos Hand
und gab wortreich ſeiner Freude Ausdruck, ihn heute
bei ſich zu ſehen.
Violet war nirgends zu erblicken.
Leo wartete ab. Aber auch Nr. Marfton ſchwieg,
nicht ſtrategiſcher Regeln wegen, ſondern weil ſeine
Gedanken zu dem neuen Geſchäft hinſchweiften. An-
zählige Briefe und Depeſchen gab's heute noch zu er-
ledigen.
Das Schweigen wurde allmählich drückend. Leo
war ſtehen geblieben, während Mr. Marſton mit auf
dem Rücken zuſammengelegten Händen in dem mit
großer Eleganz ausgeſtatteten Salon hin und her ging.
„Miſter Marſton, Ihr Fräulein Tochter geſtattete
mir, bei Ihnen um ſie anzuhalten,“ ſagte endlich
Leo ſteif.
Marſton blieb ſtehen. „Well, und ich lud Sie ein
zu kommen. Das genügt,“ antwortete der Amerikaner.
„Da ich aber ſo bald wie möglich nach New Vork fahren
muß, wollen wir die Verlobung erſt veröffentlichen,
wenn ich zurück bin.“
Leo atmete auf. „Gleich heute möchte ich aber
noch ſagen,“ fuhr er eilig fort, „daß ich gar kein Ver-
mögen und nur eine geringe Zulage beſitze, die mit
dem Tode meines Onkels erliſcht. Außerdem —“
Marſton war gut von feiner Tochter inſtruiert wor-
den. „Ich denke, alle geſchäftlichen Auseinander-
ſetzungen ſchieben wir ebenfalls auf bis zu meiner Rück-
kehr,“ fiel er dem jungen Offizier ſchnell ins Wort.
„Violet bleibt in Baden-Baden unter Mrs. Homers
Schutz. Sie können ſich täglich ſehen und genauer
kennen lernen. Wenn ich wieder hier bin, will ich mich
über Sie noch näher erkundigen.“
192 Miß Violet. .
Da ſteckte Violet endlich ihren Kopf durch den Tür-
vorhang. „Sehr lebhaft geht's nicht zu unter euch,“
ſagte ſie lachend, indem ſie vollends eintrat. „Seid
ihr einig?“
Sie hielt ihrem Vater die eine, Leo die andere
Hand hin. |
„Ganz einig!“ beteuerte Marſton. „Mr. Waldburg
will auch, daß ihr euch erſt verlobt, wenn ich wieder
da bin.“
„Wir ſind ja ſchon verlobt, Papa. Du haſt gewiß
wieder gemacht Unſinn!“ |
„Ich meine nur, die Anzeigen und alles das kann
warten. Zetzt wollen wir endlich eſſen. Nachher habe
ich zu ſchreiben. Violet, du mußt unſeren Gaſt allein
unterhalten.“
„Sehr einverſtanden.“
Marſton ging voraus. Sein Kammerdiener ſchlug
den Samtvorhang zum nächſten Zimmer zurück.
Leo und Violet folgten langſam.
„Du haſt mir Roſen geſchickt?“ Violet ſah ihren
Verlobten vorwurfsvoll an.
„Durfte ich das nicht?“
„Nein, nicht ſo — ſo ſteif. Bringen ſollſt du mir
ſelbſt eine Roſe. Die hätte ich angeſteckt und mich daran
gefreut ſehr.“
„Verzeih, ich muß erſt lernen, mit Damen um-
zugehen.“ |
„Du haſt keine Mutter — auch keine Schweſtern?“
„Nein — niemand!“
Das rührte Violet. Zärtlich ſtrich ſie über ſeinen
Arm.
In dem großen, runden Salon verriet nichts, außer
der gedeckten Tafel, ſeine heutige Beſtimmung. Die
Anrichtetiſche wurden von dreiteiligen Wandſchirmen
2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 195
verdeckt, jo daß man das Walten des Herrn Ober
kaum bemerkte. Die weiße Stukkatur der Decke,
die vielen Spiegel, die in den Wänden eingelaſſen
waren, warfen das Licht der elektriſchen Kerzen ftrab-
lend zurück. Orangegelbe Vorhänge verhüllten Fenſter
und Türen. Der goldige Ton wirkte zu dem ſonſt
ganz in Weiß gehaltenen Raum wunderbar belebend
und ſchön.
Auf dem für drei Perſonen gedeckten, in die Nähe
des Fenſters gerückten Tiſch verſchwand der feine Da—
maſt des Tafeltuchs unter der Fülle der lichtgelben
Roſen, die aus blitzenden Kriſtallſchalen herauswuchſen,
ſich mit Farn und Aſparagus zuſammengebunden über
den ganzen Tiſch verſtreuten. In dem offenen Pavillon,
dicht unter den Fenſtern des Salons, ſaßen die Violin
ſpieler der ungariſchen Hotelkapelle, und abgedämpft,
wie verſchleiert, klangen die ſüßen, ſchmeichelnden Töne
herauf.
Das vorzügliche Eſſen, die alten, richtig temperierten
Weine erhöhten bald Mr. Marſtons Laune. Zn beſter
Stimmung neckte er ſeine Tochter und ſtieß mit einem
verheißungsvollen Blick, als der Champagner in den
flachen Schalen perlte, mit Leo auf „neue Renn-
erfolge“ an.
Dieſen Witz belachte er ſelbſt laut, während Leo
nur ein erzwungenes Lächeln fertig brachte.
Violet wußte, daß ihr Vater in dieſer Laune oft
taktloſe Außerungen vorbringen konnte. Sie ſtand
darum raſch auf und ſchlug vor, den Kaffee auf der
Veranda draußen zu trinken.
Der ſtarke ſchwarze Mokka ernüchterte Marſton.
Er wurde ſtiller. Das Geſchäft trat wieder in den
Vordergrund, und als der Herr Ober den weißen
Rokokoſalon in Ordnung gebracht und das Zimmer
1913. X. 13
194 Miß Violet. 2
verlaſſen hatte, kehrte er ſchleunigſt an feinen Schreib-
tiſch zu ſeinen Berechnungen zurück.
Das junge Paar blieb allein auf der Veranda.
Violet ſaß in ihrem niedrigen Korblehnſtuhl zurück-
gelehnt. Die fließende Schleppe ihres weißen Kleides
lag auf dem roten Baſtteppich. Leo ſtand mit halb
abgewandtem Geſicht vor ihr. Sein ſchöngeſchnittenes
Profil zeichnete ſich ſcharf ab. Man ſah deutlich das
Spiel der Muskeln unter der leicht gebräunten Haut.
Seine zuſammengeballte Hand, die er auf die Beatem
des Balkons legte, zuckte.
„Willſt du nicht rauchen?“ fragte Violet und hielt
ihm das geöffnete Etuis hin, während ſie ſelbſt eine
Zigarette zwiſchen die Zähne nahm.
„Danke, ich rauche jetzt nicht.“ Seine Stimme
klang gepreßt. „Ich muß dir etwas ſagen, Violet.“
„Eine Beichte! Zit’s intereſſant? Haft du vorher
ſchon geliebt eine andere, Leo? Ich meine, nicht ſo
ein wenig geflirtet, ſondern ernſthaft geliebt?“
„Nein, ich habe nie eine Frau geliebt vor dir,“
antwortete er einfach. „Ich habe immer nur an meine
Pferde gedacht, meinen Dienſt, meine Freunde —
bis ich dich kennen lernte.“
„Wie lieb von dir! Setze dich ganz nahe zu mich.
Oder noch beſſer, mir gegenüber, damit ich kann ſehen
in deine Augen.“
„Die muß ich vor dir niederſchlagen, Violet.“
„Weshalb?“
„Veil ich dir etwas mich tief Beſchämendes ſagen
muß.“
„So laſſe es doch ſein, wenigſtens bis nach unſerer
Hochzeit.“
„Nein, denn wenn du's weißt, wirſt du mich nicht
mehr heiraten wollen.“
2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 195
„Du haſt doch nicht ſchon eine andere Frau in irgend
einem anderen Lande ſitzen? Das kommt immer in
engliſchen Seeromanen vor.“
„Bitte, Violet, ſei ernſt. Zum Scherzen iſt mir's
wahrhaftig nicht!“
„Gut — ich bin ernſt. Ganz finſter bin ich!“
Ein verhaltenes Lachen zuckte um ihren Mund.
Trotzdem tat er ihr leid. Denn ſie las deutlich die
Seelenqual in ſeinem Geſicht, als er, die Augen auf
die graue Steinmauer heftend, wie wenn er dort ab-
leſen könne, was er zu ſagen habe, eintönig, manchmal
ſtockend, die Geſchichte ſeines Lebens, die den Prolog
zu dem geſtrigen Abend bildete, zu erzählen anfing.
Von ſeiner elternloſen, liebeleeren Kindheit ſprach er,
den freudlofen Knabenjahren im Kadettenkorps mit
ſeiner ſchablonenmäßigen Erziehung, ſeinem brennen-
den Wunſch, Kavalleriſt zu werden, wie ſein verſtorbener
Vater es geweſen war. Endlich hatte der Onkel und
Vormund ſeine Einwilligung dazu gegeben. Aber die
Zulage reichte nie aus. Das kleine Vermögen, das er
beſaß, war ſchnell verbraucht. Da fing er den Renn-
ſport an. Zuerſt nur, um ſich durch die Gewinne über
WVaſſer zu halten. Dann aus Leidenſchaft, die alle anderen
Intereſſen zurückdrängte und ihn gänzlich ausfüllte.
Bald gab es aber auch Verluſte. Teuer gekaufte Pferde
ſchlugen nicht ein. Der Trainer koſtete immer mehr.
Er geriet in drückende Geldnot. Sein Freund Dennwitz
und ſein Vetter Kuno halfen ihm, kamen aber dadurch
ſelbſt in Schulden. Die letzte Möglichkeit, ſich und
ihnen zu helfen, mißglückte durch „Trilbys“ Sturz
beim geſtrigen Rennen.
Leo hielt inne.
Violet ſah zu ihm auf. „Das iſt alles ſehr traurig,
mein armer Leo, aber nun iſt's doch Ende,“ ſagte ſie
196 Miß Violet. u
ſanft. „Du kannſt den Herren das geliehene Geld zurüd-
zahlen. Mein Vater ſtellt dir alles gern zur Verfügung.
Wir wagten nur nicht, dir das anzubieten, obwohl wir
uns ſofort dachten, daß —“
„Violet, du beſchämſt mich immer tiefer!“ Er
wußte ſelbſt nicht, wie es kam, aber er lag plötzlich auf
den Knien vor ihr und beugte ſeinen Kopf über ihre
Hände. „Geſtern abend, als wir nicht mehr ein und
aus wußten, rieten Dennwitz und Kuno mir, um dich
anzuhalten. Ich weigerte mich meiner Schulden wegen.
Da wollte einer der anderen um dich werben. Um das
zu verhindern, tat ich ihnen den Willen. Wir zogen Loſe
— ich gewann. — So, nun ſtoße mich von dir. Sch habe
nichts Beſſeres verdient, denn wenn ich dir auch ſchwöre,
daß ich dich liebe — dich, nur dich und nicht deinen Reich-
tum, ſo wirſt und kannſt du mir das ja nicht glauben!“
Immer noch blieb ſie ſtumm. Er wagte nicht in
ihr Geſicht zu ſehen, ſondern preßte nur ihre kühle Hand
gegen ſeine heiße Stirn.
„Violet — einmal noch lege deinen Arm um meinen
Hals und ſage wie geſtern auf dem Rennplatz: Du
tuſt mir ſo leid!“
Im nächſten Augenblick fühlte er ihren weichen
Arm ſeinen Hals umfaſſen, mit der anderen Hand hob
ſie ſeinen Kopf und ſah in ſeine Augen. „Du tuſt mir
gar nicht leid!“ flüſterte ſie dabei in ſein Ohr.
„Violet — wo ich durch eigene Schuld mein ganzes
Glück vernichtet habe!“ |
„Lieber Leo, die Geſchichte mit den Loſen, die du
mir erzählteſt, war mir gar nicht neu. Die hörte ich
heute früh bereits von meiner Jungfer, die es von dem
Kellner Louis erfahren hatte.“
„Aber du glaubteſt nicht daran? Du hielteſt mich
deſſen nicht für fähig?“
2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 197
Übermütig ſchüttelte fie feinen Kopf hin und her.
„Wäre ich ein deutſches Mädchen, lieber Leo, dann
würde ich jetzt ſeufzen und weinen: ‚Er hat mich nie
geliebt, ſondern nur meine Dollars gewollt, wie bin
ich unglücklich! Alles iſt aus!“ Aber nein, ſo dumm bin
ich nicht. Ich habe dich lieb, und du mich auch. Das
fühle ich ganz tief hier drinnen in das Herz. Das iſt
die Hauptſache, da macht die kleine Dummheit mit das
Loſen nichts aus. Hätte ich dir nicht gefallen, ſo würdeſt
du gelaſſen haben mich ruhig deinen Freunden. Aber
ich hätte genommen keinen von denen!“
„Violet, liebe, ſüße Violet, kannſt du mir wirklich
verzeihen?“ Er zog ſie in ſeine Arme und bedeckte
ihr Geſicht mit Küſſen. „Niemals ſollen Dennwitz
und Kuno dir vor die Augen kommen!“ beteuerte er.
„Weshalb denn nicht? Ich bin ſehr dankbar den
beiden Leuten. Wenn ſie dir nicht hätten zugeſetzt,
wer weiß, ob du gefaßt hätteſt endlich den rechten Mut!“
„Du gibſt mir ſo viel, und ich habe dir ſo wenig
zu bieten!“
„Ich ſage nicht alles das, was ich denke. Sonſt wirſt
du eitel. Aber das eine ſage ich dich, Leo: auch ich bin
geweſen einſam und heimatlos. Ich kenne nur das
Leben in Hotels, in Penſionen, im Dampfſchiff und
in den Eiſenbahnen. Alles verſchaffte mir mein Vater,
aber eine Heimat gab er mir nie. Wollen wir uns jetzt
zuſammenſchaffen ein Heim, und wenn wir Kinder
haben, dann ſollen die auch haben ein Heim!“
Er konnte nicht antworten. Die Rührung machte
ihn ſtumm. |
m <=
Sranzöfifhe Soldaten.
von Alex. Cormans.
mit 13 Sildern. Y (nachdruck verboten.)
Die furchtbaren kriegeriſchen Ereigniſſe, die ſich in
der allerjüngſten Zeit auf dem Welttheater ab-
geſpielt, haben wohl auch die leidenſchaftlichſten Vor
kämpfer der Friedensidee davon überzeugt, daß die
Hoffnung auf eine allgemeine Abrüſtung der waffen
ſtarrenden Völker Europas nicht nur für die nächſte,
ſondern auch noch für eine ziemlich ferne Zukunft ein
ſchöner Traum ohne alle Ausſicht auf Verwirklichung
bleiben wird. Statt an eine Verminderung ſeiner
Streitkräfte und der durch ihre Erhaltung bedingten
Volkslaſten denken zu können, muß heute jeder große
Staat unter Anſpannung aller Kräfte auf die größt-
mögliche Steigerung ſeiner Wehrfähigkeit bedacht ſein,
und die allgemeine Weltlage geſtattet keine Erörterung
der bangen Frage mehr, wohin dieſe äußerſte Rräfte-
anſpannung und dies fieberhafte Wettrüſten ſchließlich
führen ſollen.
So ſteht unſer weſtlicher Nachbar ſoeben im Begriff,
die dreijährige Dienſtzeit ſtatt der bisherigen, die nur
zwei Fahre betrug, einzuführen, und es wird ſicherlich
eine tunlichſt genaue Orientierung über die Streit—
kräfte derjenigen Nation, die uns möglicherweiſe eines
Tages wieder als Feind gegenüberſtehen wird, allge-
mein intereſſieren. Denn wie man ſich in Frankreich
2 Von Alex. Cormans. 199
ſehr angelegentlich mit der Stärke und dem Zuſtande
des deutſchen Heeres beſchäftigt, ſo kann auch uns die
gegenwärtige Beſchaffenheit der franzöſiſchen Armee
nicht gleichgültig ſein.
Daß man nach den bitteren Erfahrungen des Feld—
Ausgehobene, die mit ihrem Los zufrieden ſind. .
zuges von 1870/71 in der galliſchen Republik mit raft-
loſem Eifer bemüht geweſen iſt, das Heer zu reorgani—
ſieren und es dem deutſchen ebenbürtig zu machen,
iſt zu ſelbſtverſtändlich, als daß man es notwendig mit
der feſten Abſicht eines Revanchekrieges erklären müßte;
aber es darf doch auch nicht ganz unbemerkt bleiben,
daß dieſer Eifer ſich gerade in den beiden letzten Jahren
200 Franzöfifche Soldaten. 14
bis zu außerordentlichen Leiſtungen geſteigert hat.
— Im Fahre 1872 war auf Betreiben Gambettas
durch das Rekrutierungsgeſetz die allgemeine Wehr-
pflicht eingeführt worden, und das Militärgeſetz vom
Jahre 1889, das alle bisherigen geſetzlichen Befreiungen,
auch die Einrichtung des Einjährig-Freiwilligen-Dienſtes
aufhob, ſetzte als Altersgrenzen für dieſe Wehrpflicht
das zwanzigſte und das fünfundvierzigſte Lebensjahr
feſt. 1892 wurde ein neues Wehr- und Dienſtpflicht-
geſetz angenommen, das die Dienſtzeit im aktiven
Heere auf drei Fahre feſtſetzte, und das Kadergeſetz
von 1895 beſtimmte, daß alle Wehrfähigen auch wirk-
lich einzuſtellen ſeien. Eine Herabſetzung der aktiven
Dienſtzeit wurde durch die Geſetzesvorlage von 1900
herbeigeführt, denn fie beſtimmte, daß jeder waffen
taugliche Franzoſe ohne Ausnahme einen aktiven
Militärdienſt von zwei Jahren zu leiſten habe, und
ſie ſetzte ferner eine elfjährige Verpflichtung in der
Reſerve und eine zwölfjährige in. der Territorial-
armee feſt. |
Der ftändige Rüdgang der französischen Bevölke-
rungsziffer, gegen den es ein Heilmittel eben nicht gibt,
mußte die Rekrutierung naturgemäß mehr und mehr
erſchweren, zumal ſich auch in der körperlichen Tüchtig-
keit der Militärpflichtigen ein ſtändiger Rückgang be-
merklich machte. Schon vor einer Reihe von Fahren
erging daher die Beſtimmung, daß bei ſonſtiger Taug—
lichkeit auch unter das bisherige Mindeſtmaß von
1,34 Meter bei der Aushebung hinuntergegangen
werden dürfe, und man wird denn auch ſchwerlich
in einer anderen europäiſchen Armee ſo viele kleine
Leute finden als in der franzöſiſchen.
Waren einer Vermehrung der Friedenspräſenz—
ſtärke aus dieſen und anderen Gründen alſo gewiſſe
2 Von Alex. Cormans. 201
unüberſchreitbare Grenzen gezogen, ſo ließ ſich doch
nach der Anſicht der militäriſchen Autoritäten für eine
Von der Übung zurückkehrende Infanterie.
202 Franzöſiſche Soldaten. 2
beſſere Organiſation der Armee noch ſehr viel tun.
Aus folcher Erkenntnis heraus entſtand das neue fran-
zöſiſche Kadergeſetz, mit deſſen Durchführung man ſeit
dem Fahre 1909 mit großer Energie und zweifelloſem
Erfolge beſchäftigt iſt.
Als dringendſtes Bedürfnis erſchien eine durch—
Ablöſen der Wache vor dem Elyſée.
greifende Neugeſtaltung der Artillerie, denn ihrer
Minderwertigkeit gegenüber der deutſchen wurde ein
großer Teil der Schuld an den Niederlagen des großen
Krieges zugeſchrieben. Sie konnte am 1. Januar 1911
als in der Hauptſache vollendet angeſehen werden.
Danach hat jetzt jedes Armeekorps ein Regiment
Korpsartillerie zu 12 Batterien in 4 Abteilungen und
für jede Infanteriediviſion ein Regiment Diviſions-
2 Don Alex. Cormans. 203
artillerie zu 9 Batterien in 5 Abteilungen. 7 Diviſions—
regimentern iſt eine Abteilung zu drei 155-mm-Bat-
Der Gruß der Fahne.
(Jeder Franzoſe grüßt die vorübergetragene Fahne, die das Symbol des Vaterlandes darſtellt,
durch Abnehmen des Hutes.)
204 Franzöſiſche Soldaten. a
terien und 8 Regimentern eine Abteilung zu zwei reiten-
den Batterien zugeteilt. Beim 14. und 15. Armeekorps
befinden ſich 2 Gebirgsregimenter mit je einer Batterie
für die 15 Alpengruppen. Die früheren 18 Fuß-
artilleriebataillone ſind in 11 Regimenter in Frankreich
6
Artilleriſten auf einem Bummel.
und 2 Abteilungen in Afrika umgewandelt. Im Mobil-
machungsfall ſoll jedes Armeekorps noch 6 Verſtärkungs—
batterien aus Reſerviſten und 1 Reſerveinfanterie—
brigade erhalten. Insgeſamt find jetzt, wenigſtens
auf dem Papier, 689 Batterien vorhanden.
Nun ging man daran, auch den Reſt des neuen
Kadergeſetzes zu verabſchieden, bei dem es, wie ſchon
2 Von Alex. Cormans. 205
erwähnt, weniger auf eine eigentliche Vermehrung
der Präſenzſtärke als auf eine ausgiebige organiſa—
Alpenjäger auf dem Marſch.
205 Franzöſiſche Soldaten. 2
toriſche Vorbereitung des Überganges aus dem Frie—
dens- in den Kriegszuſtand abgeſehen iſt. Die Kaval-
leriediviſionen werden von 8 auf 10 vermehrt, 2 neue
Regimenter werden aus fünften Eskadronen der Chaf-
ſeurs d' Afrique in Nordafrika errichtet, wofür dort die
Zuavenreſerviſten kommen in Paris an.
Spahi vermehrt werden. Bei der Infanterie bringt
die Neuorganiſation eine Vermehrung der bisherigen
561 Bataillone auf 567. Außerdem werden ſtatt der bis-
herigen 4 algeriſchen Schützenregimenter mit zuſammen
26 Bataillonen 12 algeriſche Schützenregimenter mit zu-
ſammen 56 Bataillonen errichtet. Die geſamte Friedens-
ſtärke der franzöſiſchen Armee wird künftig 675 Batail-
un. EN gu ea ern
— — — —
lone betragen, gegen 651 der deutſchen Armee. Davon
werden jedenfalls auch die afrikaniſchen bei einem
Vormittagsexerzieren an den Feſtungswällen.
208 Franzöſiſche Soldaten. D
europäiſchen Kriege zum großen Teil mit verwendet
werden, da man die weißen Truppen in den Kolonien
mehr und mehr durch Eingeborene zu erſetzen ſucht.
Den Gedanken, die allgemeine Wehrpflicht auch bei
den Eingeborenen Nordafrikas zur Durchführung zu
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Spahi aus Algerien auf Urlaub in Paris.
bringen, hat man zwar vorläufig wieder aufgegeben,
aber die Aushebungen in Algerien und Tunis erfolgen
doch in viel größerem und ſtändig wachſendem Maße.
Außerdem hat man neuerdings verſucht, ſenegaleſiſche
Negertruppen in Algerien zu verwenden. Schon 1910
wurde verſuchsweiſe ein Bataillon nach Algerien über-
geführt, und im verfloſſenen Fahre hat man ihm ein
zweites folgen laſſen.
a Von Alex. Cormans. 209
Von beſonderer Wichtigkeit für die benachbarte
Nation ſind natürlich die für den Mobilmachungsfall
Trommler üben in den Pariſer Feſtungsgräben.
gelrͤfſenen organiſatoriſchen Varkehrungen. Es ſoll
da eine ſehr große Zahl von Reſerveregimentern auf-
geſtellt werden, und es iſt ein nicht zu unterſchätzender
Vorteil, daß in dem zahlreichen „cadre complémen—
1013. X. 14
210 Franzöſiſche Soldaten. 2
taire“ (für jedes Infanterieregiment 4 Stabsoffiziere
und 6 Hauptleute) auch ein ausreichendes Führer-
perſonal für dieſe Regimenter vorhanden ſein wird.
Vorgeſehen iſt weiterhin eine erhebliche Vermehrung
der Kapitulantenſtellen, namentlich an der Oſtgrenze,
und eine Einreihung des ſich bei den Aushebungen
für die Marine über den Bedarf hinaus ergebenden
Uberſchuſſes von angeblich 50, 000 Mann in die Armee.
Von der Beſchaffung eines leichteren Geſchützes
für die reitenden Batterien und von der Einführung
eines Selbſtladegewehres iſt zwar in den Zeitungen
des öfteren die Rede geweſen; beide Neuerungen aber
ſcheinen doch vorderhand noch auf Schwierigkeiten
zu ſtoßen, da man von praktiſchen Verſuchen bisher
nichts gehört hat.
Was nun die beiden obenerwähnten Urſachen der
ſtetig wachſenden Rekrutierungsſchwierigkeiten betrifft,
ſo iſt man in Frankreich mit ſehr nachahmenswertem
Eifer bemüht, wenigſtens der einen von ihnen, der
verminderten Tauglichkeit der Dienſtpflichtigen, ent-
gegenzuwirken. In keinem anderen europäiſchen
Staate arbeitet man ſo zielbewußt und ſo energiſch
an der militäriſchen Zugenderziehung. Eine große
Zahl von der Regierung autorifierter und unterſtützter
Geſellſchaften befaßt ſich damit, die heranwachſende
männliche Jugend hauptſächlich durch turneriſche,
Schieß; und Reitübungen für den Militärdienft vor-
zubereiten, und die guten Erfolge ſind ſchon jetzt ganz
unzweifelhaft. Zeder Nekrut kann ſich beim Eintritt
in die Armee einer Prüfung unterziehen, deren Te-
ſtehen ihm das Recht gibt, ſich den Truppenkörper
ſelbſt zu wählen und nach Verlauf von vier Monaten
zum Korporal befördert zu werden.
Auch für die Hebung des Unteroffizier und des
fe] Von Alex. Cormans. 211
— —ñ m
— . .
Offizierſtandes geſchieht recht viel. Bekanntlich ließ
ja das Offizierkorps der franzöſiſchen Armee an Einheit-
*
—
lichkeit bis jetzt erheblich zu wünſchen übrig. Ungefähr
die Hälfte aller Offiziere war aus dem Unteroffizier-
ſtande hervorgegangen, und nur wenig über 50 Prozent
waren Leute, deren Ausbildung ungefähr denen der
Unterricht in einer Infanteriekaſerne, von einer Dame erteilt.
212 Franzöſiſche Soldaten. 1
deutſchen Offiziere entſpricht. Durch bedeutende Ver-
beſſerung der Offizierſchulen, die in Rang und Lehrplan
durchweg auf dieſelbe Stufe gebracht werden ſollen,
hofft man das Verhältnis günſtiger zu geſtalten.
—
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Manns
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———
Ein „reitender Jäger“ läßt ſich die Stiefel putzen.
So viel von der Organiſation des heutigen fran-
zöſiſchen Heeres. Was nun das Wichtigſte, nämlich
das Soldatenmaterial ſelbſt, betrifft, ſo werden die
beigefügten Augenblicksbilder vielleicht am eheſten ge-
eignet ſein, dem Leſer eine anſchauliche Vorſtellung
von dem franzöſiſchen Soldaten, ſeiner äußeren Er—
ſcheinung und ſeinem militäriſchen Gehaben zu ver—
mitteln. Sie ſprechen durchweg für ſich ſelbſt und
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a Von Alex. Cormans. 213
bedürfen keiner anderen Erläuterung als der Bemer-
kung, daß es voreilig wäre, aus der ſcheinbaren Schlapp-
heit und Läſſigkeit dieſer Kriegsmänner ungünſtige
Schlüſſe auf das Maß ihrer ſoldatiſchen Brauchbarkeit
zu ziehen.
Iſt der Ourchſchnittsfranzoſe wenig danach angetan,
durch ſeine Geſtalt und ſeine Haltung zu imponieren,
jo wohnen ihm doch gewiſſe Eigenfchaften inne, die
Eingezogener Infanteriſt geht mit feiner Tochter ſpazieren.
ihn im Kriege zu einem nicht zu unterſchätzenden Gegner
machen. Das ſind, ganz abgeſehen von dem vielge—
prieſenen franzöſiſchen „Elan“, der doch zuweilen ſchon
bedenklich verſagt hat, ſeine große Genügſamkeit und
214 Franzöſiſche Soldaten. 2
feine ſchwer zu erſchütternde Heiterkeit — zwei Tugen⸗
den, die ihn zur Ertragung von Strapazen und Ent-
behrungen hervorragend befähigen.
Bei der Ausbildung der Leute wird auf den ſo—
genannten Drill in der franzöſiſchen Armee kein über-
großes Gewicht gelegt, ein viel geringeres jedenfalls
als in der deutſchen oder öſterreichiſchen Armee. Ge-
fechtsexerzieren, Schießübungen und Erziehung zu be-
trächtlichen Marſchleiſtungen werden indeſſen mit dem-
ſelben Nachdruck betrieben wie anderswo, und un-
parteiiſche Beurteiler haben dem franzöſiſchen Soldaten
der jüngſten Zeit auf Grund der im Manöver gemachten
Beobachtungen ſchon wiederholt hohes Lob geſpendet.
Was uns auf den beigegebenen Abbildungen be—
fremdlich oder gar lächerlich erſcheinen mag, erklärt
ſich aus dem franzöſiſchen Volkscharakter und darf
uns nicht verleiten, von vornherein die Tüchtigkeit
einer Soldateska zu unterſchätzen, mit der wir uns
vielleicht eines Tages, wenn auch gewiß nicht auf eine
deutſche Herausforderung hin, in ernſtem Kampfe
werden zu meſſen haben.
=
*
EIEJEIFIEIEN
Mannigfaltiges.
*
Machoͤruck verboten.)
Das Unterrockbanner. — In dem Armeemuſeum der Ver-
einigten Staaten in Waſhington wird neben anderen ruhm-
reichen Trophäen auch eine Fahne aufbewahrt, die vielleicht
das ſeltſamſte militäriſche Wahrzeichen dieſer Art iſt. Aufs
engſte verknüpft mit dieſer Fahne iſt die Lebensgeſchichte einer
merkwürdigen Frau.
Zu den ſchönſten Erſcheinungen der Pariſer Salone in den
vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gehörte die Baroneſſe
Jeanne de Brunvillières. Da der Reichtum ihrer Familie aber
in den Stürmen der Revolution verloren gegangen war, fand
ſich ſo leicht kein Freier für die arme Adelige. Da tauchte in
Paris ein Graf Murat auf, ein noch junger Mann, der, ob-
wohl mit Glücksguͤtern ebenſowenig geſegnet wie die Baroneſſe
de Brunvillières, ſich ſofort eifrig um deren Hand bewarb
und auch erhört wurde. Im Jahre 1854 heiratete das Paar,
mußte aber bereits vier Jahre ſpäter fliehen, weil Murat ſich
bei einer politiſchen Verſchwörung ſchwer kompromittiert hatte.
Die jungen Eheleute ſchloſſen ſich einem Auswandererzuge an,
der von Bremen aus durch Agenten der Vereinigten Staaten
nach dem neuerſchloſſenen Koloradogebiete geleitet wurde.
Völlig mittellos trafen die Murats nach Verlauf von drei
Monaten in ihrer neuen Heimat an, wo man damals noch jeden
Fußbreit Boden den Indianern mit der Büchſe in der Hand
abringen mußte. Der Graf erhielt an den Ufern des Palma—
ſees ein Stück Land angewieſen, errichtete dort, unterſtützt von
ſeiner energiſchen Gattin, ein Blockhaus und verſuchte es mit
der Rinderzucht. Bereits hoffte er, hier eine bleibende Heimat
gefunden zu haben, als bei Gelegenheit eines Einfalles der
216 Mannigfaltiges. a
Rothäute die Farm vollftändig niedergebrannt und ſämtliches
Vieh fortgetrieben wurde. Das Ehepaar ſelbſt rettete zwar
das nackte Leben, aber feine beiden ein- und zweijährigen
Knaben wurden von den Indianern erbarmungslos abge-
ſchlachtet.
Dieſer furchtbare Schlag verwandelte den bisher ſanften
Charakter der jungen Gräfin vollſtändig. Unſtillbarer Rache⸗
durſt erfüllte ihr Herz. Gemeinfam mit ihrem Gatten durch-
ſtreifte fie fortan heimatlos die Prärien, und ihrer ſicheren Kugel
fielen unzählige Rothäute zum Opfer. In den Grenzorten
war ſie eine wohlbekannte Erſcheinung. Stets trug ſie dieſelbe
Kleidung, einen fußfreien hirſchledernen Rock und eine grüne
Bluſe aus dickem Wollſtoff. Von ihrer Körperkraft und Ge-
wandtheit im Reiten und Schießen erzählte man ſich Wunder-
dinge.
Als dann im Jahre 1863 in Kolorado das Erſte Freiwilligen
regiment gebildet wurde, um die Rothäute endgültig aus der
Nähe der Anſiedlungen zu verdrängen, ließ ſich das Ehepaar
Murat in die erſte Kompanie einreihen. In dem erbitterten
Gefechte bei Cottny-Springs war es, wo das Regiment ſeine
Fahne verlor. Als am Abend nach dem Kampfe dieſer Verluſt
im Biwak bekannt wurde, herrſchte allgemeine Beſtürzung.
Aber die Gräfin Murat wußte Rat. Aus ihrem blau und weiß
geſtreiften Unterrod nähte fie ein neues Fahnentuch zurecht,
auf das mit ſchwarzer Ölfarbe ſchnell die nötigen Sterne und
der Name des Truppenteils gemalt wurden. Dieſes an eine
einfache Zeltſtange befeſtigte Fahnentuch hat dann das Erſte
Freiwilligenregiment von Sieg zu Sieg geleitet.
Das Ehepaar Murat ſetzte ſein abenteuerliches Leben noch
bis zum Fahre 1872 fort. Dann ließ es ſich auf ſeiner alten
Farm am Palmaſee nieder und verſuchte es abermals mit
der Viehzucht. Aber das Glück blieb ihm fern. Als bald darauf
Graf Murat plötzlich ſtarb, blieb feine Witwe in den dürftigſten
Verhältniſſen zurück.
Erſt nach Fahren hörten ihre alten Kampfgenoſſen von ihrer
Not. Es wurde ſofort eine Sammlung veranſtaltet, die, unter-
ſtützt von der ganzen nordamerikaniſchen Preſſe, nicht weniger
2 Mannigfaltiges. 217
als dreihunderttauſend Dollar einbrachte. Allein die Gräfin
lehnte die Annahme dieſer Ehrengabe ab. Sie beſtimmte,
daß das Geld als Stiftung zur Unterſtützung armer Soldaten
witwen Verwendung finden ſollte. Dies geſchah denn auch
im Jahre 1885. Um der Greifin aber doch die letzten Lebens-
jahre zu erleichtern, brachte der Vertreter des Staates Kolorado
im nordamerikaniſchen Kongreß den Antrag ein, der Gräfin
in Anerkennung ihrer Verdienſte einen Ehrenſold von monat-
lich zweihundert Dollar bis an ihr Ende zu bewilligen. Ber
Antrag fand allſeitigen Beifall. Dieſen Ehrenſold hat die
einſame Frau bis zum 9. April 1909 erhalten. An dieſem Tage
ſtarb fie kurz vor Vollendung ihres ſechsundachtzigſten Lebens-
jahres. Ihr Begräbnis fand unter allen militäriſchen Ehren
und auf Staatskoſten ſtatt.
Das „Unterrodbanner“ führte das Erſte Freiwilligenregi-
ment, das 1868 in das Vierte reguläre Schützenregiment um-
gewandelt wurde, bis zum Jahre 1882. Dann erſt wurde
die arg zerfetzte Fahne, die eine ſo merkwürdige Geſchichte
hatte, dem Armeemuſeum überwieſen. W. K.
Die gefährlichſten Schiffe, die das Meer befahren, ſind
die ſogenannten „Oltanke“. Es gibt wohl keinen Matroſen,
der ſich zu einer Reiſe auf einem ſolchen Schiffe verpflichten
würde, wenn er eine andere Heuer fände.
Der Öltant iſt ein Schiff, deſſen Ladung aus Petroleum
beſteht, das in großen Behältern, die bis zu je 500,000 Liter
faſſen, transportiert wird. Zwei Gefahren bedrohen beſtändig
das Schiff: die, daß das Ol ſich erhitzen und explodieren kann,
was die ſofortige Vernichtung des Schiffes mit Mann und
Maus zur Folge hätte, oder, daß die Tanke platzen, was mit
dem Brande des Schiffes gleichbedeutend wäre.
Dann liegt auch noch die freilich entferntere Gefahr vor,
daß das Ol „dampft“. Wenn das Ol „dampft“, wird das
Arbeiten auf dem Schiffe faſt zur Unmöglichkeit. Auf einem
„dampfenden“ Oltank kann niemand länger als zehn Minuten
unter Deck verweilen, denn ſonſt wird er von den Oldämpfen
betäubt, und dieſe ſind für den menſchlichen Organismus wohl
hundertmal ſchädlicher als Kohlengas. f
218 Mannigfaltiges. a
Die ſchrecklichſten Tragödien des Ozeans haben ſich ſchon
auf dieſen Oltanken abgeſpielt.
Vor einigen Jahren wurde ein ruſſiſcher Oltank, der „Omar“,
auf der Fahrt von Batum nach Bombay mit einer Ladung Pe-
troleum an Bord von einem deutſchen Dampfer geſichtet. Der
„Omar“ gab Notſignale, und als man näher herankam, merkte
man auch, daß ſeine Maſchinen ihn nicht vorwärts brachten.
Die See war vollkommen ruhig, und der Kapitän des
deutſchen Dampfers fuhr bis auf Rufweite an das notleidende
Schiff heran, erhielt aber auf ſeine Fragen keine Antwort.
Da ſandte er ein Boot zu dem ſtummen Schiffe, und als man
auf Deck des „Omar“ kam, fand man dort fünf Matroſen
liegen, von denen drei bereits tot waren; die beiden anderen
lebten zwar noch, befanden ſich aber im Zuſtande äußerſter
Erſchöpfung.
Der Steuermann, der das Rettungsboot führte, vermutete
ſofort, daß das Ol „gedampft“ hatte, wahrſcheinlich während
der Nacht. Nur mit großer Mühe und unter vielen Gefahren
gelang es den Leuten, unter Deck zu dringen, denn das Ol
dampfte noch immer. In den Kajüten fand man ſechs Mann
der Beſatzung tot, die Gaſe hatten ſie im Schlafe erſtickt. Die
beiden Überlebenden waren, als das Ol zu dampfen anfing,
auf Deck geweſen, und bei ihren Bemühungen, die anderen
zu retten, hatten ſie ſelber beinahe den Tod gefunden.
Die Bemannung eines norwegiſchen Oltanks, „Helios“ mit
Namen, hatte vor einigen Jahren mitten auf dem Atlantiſchen
Ozean ein fürchterliches Erlebnis. In einem ſchweren Sturme,
in dem die „Helios“ ſich nur mühſam ihren Weg durch die
aufgeregte See bahnen konnte, barſten ihre Tanke. Das Ol
ergoß ſich in die Kohlenbehälter, und die Gefahr war groß,
daß es bis in den Feuerraum kam, was den ſofortigen Brand
des Schiffes zur Folge gehabt hätte.
Wie Wahnſinnige warfen ſich die Mannſchaften auf die
Pumpen. Bald aber fing das Ol zu dampfen an, und keiner
konnte länger als wenige Minuten an den Pumpen verweilen,
wenn er nicht von den Gaſen betäubt werden wollte. Einen
jo verzweifelten Kampf um ihr Leben führten fie, wie ihn
2 Mannigfaltiges. 219
der Ozean wohl ſelten geſehen. Unmittelbar nachdem der
Tank geborſten war, hatten die Heizer Befehl erhalten, den
Keſſelraum zu verlaſſen. Zum Löſchen der Feuer war keine
Zeit mehr, denn bei jedem Verſuche hierzu wären die Heizer
erſtickt, wenn ſie noch länger unten verweilt hätten. Elf Stunden
lang arbeiteten Offiziere und Mannſchaften der „Helios“ ver-
zweifelt an den Pumpen, und wahnſinnige Anſtrengungen
machten ſie, das Ol nicht in den Feuerraum gelangen zu laſſen.
Nach Ablauf dieſer Friſt lagen acht Mann der Beſatzung be-
wußtlos auf Oeck, teils infolge der großen Anſtrengung, teils
aber auch infolge Einatmens der tödlichen Gaſe.
Nur noch zwei Pumpen konnten jetzt bedient werden, und
es unterlag keinem Zweifel mehr, daß, wenn nicht in der nächſten
Stunde Hilfe kam, das Schiff mit Mann und Maus verloren
war, denn während des Sturmes hatte die „Helios“ ihre ſämt⸗
lichen Rettungsboote verloren.
Zuletzt arbeiteten nur noch der Kapitän und der Steuer-
mann an den Pumpen. Der Untergang des Schiffes war nur
noch eine Frage von Minuten. Zn dieſem kritiſchen Augen-
blick wurde der Oltank vom „Majeſtic“ von der White Star-
Linie geſichtet, und nach zehn Minuten war die Beſatzung
des dem Untergang geweihten Schiffes auf dem Paſſagier-
dampfer untergebracht. Kaum hatte der letzte Mann das Boot
verlaſſen, das man vom „Majeſtic“ zur „Helios“ geſandt hatte,
als vom Ded des Öltants aus eine Flammenſäule emporſchoß,
und gleich darauf verſank das brennende Schiff im Waſſer.
Manchmal treiben die Oldämpfe in den Wahnſinn. Vor
einigen Jahren wurden von einem engliſchen Kriegſchiffe auf
hoher See zwölf Mann in einem kleinen Boote aufgefunden.
Fünf davon waren tobſüchtig und lagen, an Händen und Füßen
gebunden, auf dem Boden des Bootes. Die Inſaſſen waren
Norweger, die einen Oltank verlaſſen hatten, auf dem die
Olbehälter geplatzt waren. Als die Beſatzung das ausfließende
Ol aus dem Schiffe pumpen wollte, fing es zu dampfen an.
Mehrere Stunden lang arbeiteten ſie an den Pumpen, dann
wurden fünf Mann von der Tobſucht befallen, und faſt wäre
es ihnen geglückt, das ausfließende Ol in Btand zu ſetzen.
220 | - Mannigfaltiges. 8)
Daran aber hinderten fie ihre Rameraden, indem ſie fie feſſelten
und in ein Rettungsboot warfen, in dem dann die Beſatzung
das Schiff verließ. Zehn Minuten waren fie von ihrem Ol-
tank weg, als das Ol in den Keſſelraum lief und der Tank in
einem Flammenmeer aufging. g. C.
Heldenmut bei Operationen. — Bevor die bekannten Be-
täubungsmittel aufgekommen ſind, galt es bei den Operationen
hohen Mut im Ertragen von Schmerzen zu beweiſen; heute
ſchreckt der Kranke, der einer Operation entgegenſieht, davor
nicht mehr zurück, denn die furchtbaren Leiden, die früher die
Patienten im Operationsſaale des Chirurgen überwinden muß-
ten, beſtehen nicht mehr, und niemand unterzieht ſich einem
ſchweren operativen Eingriff, ohne vorher mit Hilfe von Be-
täubungsmitteln feine Schmerzempfindungen bis zur Unemp-
findlichkeit mildern zu laſſen.
Die Geſchichte der Heilkunde erzählt aus vergangenen Zeiten
Fälle, in denen Patienten unter dem Meſſer des Chirurgen
geradezu Heldenmut bewieſen und ihre Willenskraft bis hart
an die Grenze des Übermenſchlichen anſpannen mußten.
Als der Admiral Dolbau von Doktor Nélaton, dem be-
rühmten Pariſer Chirurgen, an einer Eiterbeule in der Bruft-
höhle operiert wurde, verfolgte er genau die Handgriffe des
Arztes, und mit aufgeſchnittener Bruſt daliegend erklärte er:
„Ein wenig zu hoch, dieſer Einſchnitt — ſo — vorſichtig —
Obacht — ſchnüren Sie die Ader ab!“ Nelaton verlor dabei
ſeine Kaltblütigkeit, ſeine Hand begann zu zittern, aber der
Patient beruhigte ihn: „Nicht aufregen, faſſen Sie Mut —
aber geben Sie Obacht, Sie ſind jetzt ganz nahe am Herzen!“
Ein anderer Patient, der von Profeſſor Reclus in einem
Fall von eiterigem Knochenfraß operiert wird, wiederholt unter
dem Meſſer des Chirurgen immer wieder die Mahnung: „Nur
den Knochen ordentlich auskratzen, damit ja nichts zurück—
bleibt!“
Dieſe Patienten waren vom Schlage des franzöſiſchen
Arztes, von dem erſt kürzlich berichtet wurde, daß er an ſich
ſelbſt eine ſchmerzhafte und gefährliche Operation vornahm
und glücklich beendete. C. T.
oa Mannigfaltiges. 221
Die älteſte Tabaks pfeife Deutſchlands. — Die auf unſerem
Bilde dargeſtellte Tabakspfeife iſt, ſoweit darüber nachgekommen
die älteſte Tabakspfeife Deutſchlands aus dem Jahre 1602.
werden kann, die älteſte Pfeife Deutſchlands. Es iſt eine foge-
nannte „kurze Pfeife“, die aus vier Teilen zuſammengeſetzt iſt.
Das Pfeifenrohr hat am oberen Ende ein kleines verlängertes
Aſtſtück, das als Mundſtück dient; Pfeifenkopf, Deckel und
222 Mannigfaltiges. 1
Abguß ſind aus je einem aſtigen Holzſtück herausgearbeitet. Von
kunſtfertiger Hand iſt die Pfeife mit ſechs ſauber geſchnitzten
Köpfen verziert und ferner die Jahreszahl 1602 eingeſchnitzt.
Herzog Chriſtian von Braunſchweig-Lüneburg Celle hat in
Rechtenfleth den erſten heimiſchen Tabak aus dieſer Pfeife
geraucht und fie dann einem angeſehenen Marſchbauern ge-
ſchenkt. Lange Zeit erbte ſich die Pfeife als teures An-
denken in der Familie des Genannten von Generation zu
Generation fort, bis ſie um die Mitte des vorigen Jahrhunderts
der Dichter Hermann Allmers erwarb. Von dieſem erhielt
ſie ſpäter deſſen Freund, Fabrikant Dobert in Duderſtadt im
Eichsfeld. of. Gottlieb.
Der Poſtſchein des Grenadiers. — Im Jahre 1763 ließ
ſich bei einem Barbier in der engliſchen Stadt Doncaſter ein
Soldat rafieren. Wie es in Barbierläden jo Sitte iſt, knüpfte
der Verſchönerungsrat während ſeiner Verrichtung ein Ge—
ſpräch an, und der Grenadier erzählte, daß er genötigt ſei,
zu Fuße nach Vork, feiner Garniſonſtadt, zu wandern, weil
er zu arm ſei, um die Fahrt in der Poſtkutſche bezahlen zu
können. Nun liegt Vork von Doncaſter eine beträchtliche Strecke
entfernt, und das Aprilwetter war ſo ſcheußlich, daß man
keinen Hund hätte hinausjagen mögen.
Der Barbier war ein gutmütiger Menſch, dem der mittel-
loſe Sohn des Mars leid tat; es hatte ja auch für ihn ſelbſt
eine Zeit gegeben, in der er die Entbehrungen der Armut
kennen gelernt hatte. Er bot daher feinem Runden an, ihni
das Geld für den Fahrſchein zu borgen; ſobald er es erübrigen
könne, möge er es ihm zurückſchicken.
Gerührt nahm der Soldat das Geld an, benützte die Poft-
kutſche und darbte ſich nach und nach die Summe ab, um mög-
lichſt bald feiner Schuld ledig zu werden. Indem er fie zurück-
ſandte, fügte er in ſeinem Briefe als Ausdruck ſeines Dankes
ein Rezept zu einer Stiefelwichſe bei, die er für den eigenen
Gebrauch ſtets danach bereite, und die gewiß auch Herr Martin
— ſo hieß der Barbier — gut finden werde, wenn er ſie erſt
einmal probiert habe.
Der Barbier war ſehr erfreut über die Rechtlichkeit und
Dankbarkeit feines Schützlings. Er ftellte fih nach deſſen
Rezept eine Portion Wichſe her, die er ſo vorzüglich fand,
daß er ſeinem Freunde, dem Sattler Day, davon abgab.
Auch dem gefiel die Wichſe außerordentlich. Er war aber ein
unternehmender Kopf, dem es ſchnell einleuchtete, daß dies
großartige Produkt zu wertvoll ſei, um auf den Privatgebrauch
beſchränkt zu werden, daß ſich vielmehr ein gutes Geſchäft
damit machen laſſe. Er überredete ſeinen Freund Martin,
die Wichſe im großen herzuſtellen, und zwar mit ihm zuſammen.
Der Barbier ging darauf ein, ſie gründeten unter der Firma
Day & Martin eine Stiefelwichſefabrik, nahmen den Soldaten
als Teilhaber auf und hatten einen Bombenerfolg damit. Noch
heute wird das Gefchäft von ihren Nachkommen weiterbetrieben
und iſt jetzt eine der reichſten Firmen der Welt. C. D.
Zur Aſthetik des Blnmentopfes. — An der Ausſchmückung
unſerer Wohnungen haben die Pflanzen einen hervorragenden
Anteil. Leider ſind die Blumentöpfe, in denen wir ſie pflegen,
ſo unſchön, daß wir ſie meiſt zu verbergen ſuchen. Man ſtellt
ſie, wo es auf feinere Ausſtattung ankommt, in Töpfe aus
Porzellan oder Behälter aus glaſiertem Ton. Auch bei Ge-
ſchenken wirkt der gewöhnliche Blumentopf ſo unvorteilhaft,
daß man ihn dem Auge zu entziehen ſucht, indem man ihn
mit einer Hülle aus Seidenpapier umgibt.
Anſcheinend hat es einen triftigen Grund, daß wir an der
gewöhnlichen Tonware ſo ängſtlich feſthalten. Seit alters her
wird ja gelehrt, daß die Pflanzen Töpfe aus poröſer Maſſe
erhalten müſſen. Durch die vielen kleinen Öffnungen foll Luft
von außen in die Erde im Topfe eindringen können, denn die
Wurzeln brauchen zu ihrem Gedeihen ſauerſtoffhaltige Luft.
Fehlt dieſe, fo verſauert die Erde, und die Pflanze geht zu-
grunde. In glaſierten Töpfen ſoll nun dieſer Luftaustauſch
behindert ſein.
Ohne Zweifel iſt die Durchlüftung des Bodens für das
Gedeihen der Pflanzen notwendig. Ob ſie aber durch die
Wandungen der Blumentöpfe erfolgt, iſt eine andere Frage.
Solange der Topf neu iſt, mag dies, wenn auch in beſchränktem
Maße, der Fall ſein. Sobald aber der Topf in Benützung ge—
224 Mannigfaltiges. 2
nommen wird, beginnt die Verſtopfung der Poren, und zwar
nicht allein durch den Schlamm, der ſich in ihnen ablagert.
Während wir die Pflanzen begießen, dringt Waſſer in die engen
Offnungen ein und verdunſtet an der Oberfläche. Aber dieſes
Waſſer iſt nicht chemiſch rein. Es ſind in ihm verſchiedene Salze
und organiſche Verbindungen aufgelöſt. Dieſe verdunſten nicht
mit dem Waſſer, ſondern bleiben als feſter Rückſtand zurück.
Es erfolgt hier derſelbe Vorgang, den wir beim Kochen des
Waſſers in einem Keſſel beobachten. Auch in den Poren der
Blumentöpfe lagern ſich namentlich Kalk- und Magneſiaſalze
als eine Art Keſſelſtein ab, und in verhältnismäßig kurzer Zeit
find die meiſten Poren verſtopft. Die Lüftung durch die Topf-
wandung hört alsdann ſo gut wie gänzlich auf.
In Anbetracht dieſer Tatſachen iſt es wirklich erſtaunlich,
daß die Lehre von der Notwendigkeit der poröſen Töpfe ſich
ſo lange hat erhalten können. Man müßte ja längſt bemerkt
haben, daß bei ſachverſtändiger Pflege die Pflanzen auch in
Behältern mit luftundurchläſſigen Wänden gut gedeihen. In
botaniſchen Laboratorien werden häufig ſogar Gläſer mit Er-
folg zu Kulturen verwendet. Für Balkonpflanzen empfiehlt
man immer mehr Zinkkäſten.
Sehr intereſſant iſt ein Verſuch, über den neuerdings
M. Löbner berichtet hat. Man hat Azaleen ſieben Jahre lang,
ohne ſie umzutopfen, in Glasgefäßen gepflegt; ſie haben ſich
vortrefflich gehalten und ſahen ſchließlich beſſer und ſchöner
aus als Azaleen gleicher Art, die man zur Kontrolle in ge-
wöhnlichen Blumentöpfen kultiviert hatte.
Wir können alſo wohl Zimmerpflanzen in gefällig aus-
ſehenden glaſierten Tontöpfen oder Porzellantöpfen pflegen,
ohne deren Fortkommen zu ſchädigen. Die Hauptſache iſt,
für einen richtigen Waſſerabzug im Topfe Sorge zu tragen,
denn ſtagnierendes Waſſer bildet die Haupturſache des Ver-
ſauerns der Blumenerde.
Auf eines wäre noch beſonders zu achten. Vom Gebrauch
des Küchengeſchirrs her wiſſen wir, daß im Handel gute und
ſchlechte Topfglaſuren vorkommen; die letzteren geben Blei an
die im Topfe ſtehende Flüſſigkeit ab. In Blumentöpfen könnten
u Mannigfaltiges. 225
alſo ſchlechte Glaſuren unter Umftänden vergiftend auf die
Pflanzen wirken. Die Möglichkeit dieſer Schädigung iſt aber
ſehr gering, da ja die Blumentöpfe nur an der Außenſeite
glafiert zu fein brauchen und die Poren der Innenſeite ſich
bald verſtopfen. Bei guten, giftfreien Glaſuren und bei Por-
zellan oder Glas fällt dieſe Gefahr völlig fort. Für gewiſſe
Pflanzen ſind Töpfe dieſer Art ſogar ſehr zu empfehlen. Die
gewöhnlichen Blumentöpfe, die aus kalkreicherem Ton her-
geſtellt werden, geben den Kalk an das Gießwaſſer ab, und in
ihnen kommen kalkſcheue Pflanzen wie zum Beiſpiel verſchiedene
Erikaarten nicht gut fort. In Porzellan- und Glasbehältern
iſt dieſer Übelſtand ausgeſchloſſen.
Es ſteht uns ſomit nichts im Wege, gefälligere Blumentöpfe
für unſere Zimmerpflanzen zu wählen. Im Maſſenbetrieb,
in Gärtnereien uſw., werden die poröſen Blumentöpfe ihrer
Billigkeit halber ſelbſtverſtändlich unentbehrlich bleiben. Wo
es aber auf geſchmackvollere und gefälligere Ausſchmückung
des Heims ankommt, dürfen wir getroſt ſchöneres und edleres
Material benützen. Dasſelbe empfiehlt ſich auch zu Geſchenk—
zwecken; denn in einem wirklich ſchönen Blumentopf wird die
Pflanze gewiß auf den Empfänger einen vorteilhafteren Ein-
druck machen als in einem gemeinen Topf, wenn auch deſſen kunft-
loſe Form mit Seidenpapier notdürftig verhüllt iſt. v. 8.
Unterſeeſchlitten für ſchlauchloſe Tauchapparate. —
Man nennt unſer Fahrhundert nicht mit Unrecht das Jahr-
hundert der Technik. Der immer vorwärtsſtrebende Menſchen-
geiſt hat uns die Luft erobert, und ein Gegenſtück hierzu bildet
der Anterſeeſchlitten für ſchlauchloſe Taucherapparate, die dem
Menſchen die Möglichkeit geben, die ſtillen tiefen Waſſer des
Meeres zu beobachten und handelnd zu durchqueren.
Bevor wir uns den Anterſeeſchlitten ſelbſt näher anſehen,
ſeien einige Worte über den freitragenden ſchlauchloſen „Dräger-
taucherapparat“ vorausgeſchickt, der den Taucher unabhängig
macht von der atmoſphäriſchen Luft. Der Apparat iſt ein
Luftregenerator und Sauerſtoffverſorger; er beſteht aus einem
torniſterartigen Rüdenapparat, in dem die in Helm und Anzug
zirkulierende Luft ſelbſttätig gereinigt und durch Zuſatz von
1918, X, 15
220 Mannigfaltiges. 15
Sauerſtoff aufgefriſcht wird. Dem Taucher ſtehen ſtündlich
3600 bis 4200 Liter Luft zur Verfügung, eine Luftmenge,
die ſelbſt für die angeſtrengteſte Arbeitsleiſtung ausreicht.
Statt der üblichen Bleigewichte trägt der Taucher auf der
Bruſt ein Gewicht, das aus Stahlflaſchen beſteht; in ihnen
iſt Preßluft oder hochkomprimierter Sauerſtoff aufgeſpeichert.
N gie
N zug —
x 82 Falle...
Unterſeeſchlitten für Orägertaucher, Seitenanſicht.
Will alſo der Taucher ohne Hilfe von außen die Waffer-
oberfläche wieder erreichen, dann öffnet er das Ventil des
Gewichtes. Nun ſtrömt Luft in feinen Anzug, und der Tau—
cher kann auch bei drohender Gefahr in wenigen Augenblicken
an die Waſſeroberfläche gelangen.
Die beſonderen Eigenſchaften des neuen Apparates er—
wachſen alſo aus folgendem: Der Taucher kann ohne Ver-
bindung mit Land oder Schiff ſtundenlang unter Waſſer
arbeiten, wenn aus irgend einem Grunde die Sicherheits-
— —— —
D Mannigfaltiges. 227
leine gekappt oder die telephoniſche Leitung unterbrochen
werden mußte. Pumpen und Bedienungsmannſchaften fallen
ganz fort, da der Taucher ſeinen Luftvorrat mit ſich führt,
die Betriebskoſten ſind ungemein gering.
Wir ſehen alſo, daß durch freitragende ſchlauchloſe ane
Orägertaucher mit Unterfeefölitten auf offener See.
apparate die Bewegungsfreiheit des Tauchers eine unbegrenzte
geworden iſt.
Was bedeutet nun der Unterfeefchlitten? Zweck desſelben
iſt zunächſt die ſchnelle Beförderung des Tauchers von einem
Ort zum anderen, wie ſie bei dem Suchen und Bergen ver—
lorener Torpedos erwünſcht iſt. Außerdem leiſtet die Ver—
wendung des Unterſeeſchlittens bei der Feſtſtellung der Lage
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228 Mannigfaltiges. u
untergegangener Wracke gute Dienſte. Der Taucher iſt hier-
durch befähigt, in ſehr kurzer Zeit ein großes Gebiet in Tiefen
bis zu 40 Metern aufzuklären.
Der Taucher kann den Schlitten an Bord beſteigen und
zugleich mit dem Gefährt entweder auf einer Gleitbahn oder
mittels Schiffskrans zu Waſſer gelaſſen werden. Auf zwei
langgeſtreckten Gleitkurven, die vorn zu Kurven gebogen und
durch einen ellipſenförmigen Bogen verbunden wurden, ruhen
Taucherſitz und Schutzmuſchel, an den Seiten befindet ſich
je ein Tank für Preßluft, die in eingebauten Stahlzylindern
aufgeſpeichert iſt. Zwiſchen dem Vorderbügel find die Tiefen-
ſteuer, am Schlittenſchwanz die Kurvenſteuer angeordnet, die
Steuerung wird vom Taucherſitz aus bedient. Das Zu- und
Ablaſſen der Tankluft geſchieht durch Benützung der freiliegen—
den Anſchlußventile. Solange nun die Tanke mit Preßluft
gefüllt ſind, wird der mit dem Taucher beſetzte Schlitten im
Oberwaſſer ſchwimmen; er kann in dieſer Lage unbeſchränkt
fortbewegt werden. Für das Niedertauchen auf Grund ift
entweder das Ablaſſen der Tankluft oder das Niederdrücken der
Tiefenſteuer erforderlich. Sofort ſteigt der Schlitten abwärts
und erreicht den Grund ohne Aufſtoß. Nach der Wiederzu—
führung der Preßluft oder dem Hochdruck in dem Tiefenſteuer
kehrt das Gefährt unter dem zunehmenden Druck der Tank-
luft zur Waſſeroberfläche zurück. Während der Ruhelage an
der Waſſeroberfläche oder auf Grund ſind die Manöver mit
Hilfe der Tanke ausführbar durch Einblaſen oder Auslaſſen
von Luft.
Die Dauer einer Unterſeefahrt hängt von der Funktion der
Luftwiedererzeugung im Taucheranzuge ab, doch beträgt ſie
im allgemeinen bis zu drei Stunden. Zur Zeit der Tages-
höhe iſt die Lichtzufuhr zu den Tiefen ausreichend, um die
Verhältniſſe auf Grund klar ermitteln zu können. Für Dunkel-
arbeit iſt der Taucher mit Unterwaſſerlampen auszurüſten oder
der Schlitten mit einem Scheinwerfer zu verſehen, der von
dem in dieſem Falle beigegebenen Motorboot aus geſpeiſt wird.
Gegen alle Zufälligkeiten bietet die Ausrüſtung, die der Tau—
cher auf dem Leibe trägt, den wirkſamſten Schutz.
2 Mannigfaltiges. 229
Die Bedeutung dieſer neuen Erfindung beſonders für Kriegs-
mittel iſt heute noch gar nicht abzuſehen, zumal durch den Unter.
ſeeſchlitten die Selbſtändigkeit und Bewegungsfreiheit des
Tauchers mit dem freitragenden ſchlauchloſen Apparat ganz
beſonders gehoben wird, ja, es ergibt ſich aus der Eigenart der
ganzen Verhältniſſe auch faſt die Möglichkeit für die Entwick-
lung eines Unterwaſſerſportes. H. H.
Eine Herzogin, die mit der Nähmaſchine gemacht wurde.
— Vor kurzem iſt in Paris Herzog Elie Decazes geſtorben,
deſſen Tod Veranlaſſung gibt, eine kleine Anekdote aufzu-
friſchen, deren allerdings unfreiwillige Heldin die Gemahlin
des Herzogs, Herzogin gſabella Decazes, war.
Des Herzogs Vater und Vorgänger, Herzog Louis Decazes,
hatte ſtets mit ſeinen Gläubigern zu kämpfen, und man ſagt,
daß fein Noch ſich eines Tages im letzten Augenblick weigerte,
ihm und ſeinen Gäſten die Mahlzeit anzurichten, bevor er nicht
feinen ruͤckſtändigen Lohn und feine Auslagen erhalten hätte.
Um ihrem Wirt aus der Verlegenheit zu helfen und ſich ſelbſt
nicht um den Genuß einer guten Mahlzeit zu bringen, ließen die
Gäſte, die ſich ſchon zu Tiſche geſetzt hatten, einen Teller herum
gehen, bis die Summe beiſammen war und dem Koch übermittelt
werden konnte. Genug, Herzog Elie Decazes ſah ſich ſchließlich ge-
nötigt, den Glanz feines Wappens neu zu vergolden, und ver-
mählte ſich im Jahre 1888 mit Miß Iſabella Blanche Singer aus
New Vork, einer Tochter des weltbekannten Nähmaſchinenfabri-
kanten, die ihm eine Mitgift von mehreren Millionen in die Ehe
brachte. Die Herzogin Decazes erregte aber durch ihr freies und
ſelbſtbewußtes amerikaniſches Weſen das Mißfallen einiger alten
würdigen Matronen des Faubourg Saint-Germain, und als
eine dieſer Hüterinnen der Etikette und der Überlieferung ein-
mal während einer Abendgeſellſchaft gefragt wurde, wer denn
eigentlich dort drüben jene durch ihr lautes und lebhaftes
Sebaren auffallende junge Dame ſei, antwortete fie boshaft:
„Es iſt die Herzogin Decazes. Aber ſie iſt keine richtige Her—
zogin, ſondern nur eine, die mit der Nähmaſchine gemacht
wurde.“
Dieſer Spitzname „die Herzogin, die mit der Nähmaſchine
250 Mannigfaltiges. a
gemacht wurde“, blieb der Gemahlin des Herzogs Decazes
bis an ihr Ende. O. v. B.
Ein japaniſcher Winkelried. — Von einem ſolchen erzählt
ein engliſcher Kriegsberichterſtatter. Es handelt ſich dabei
um ein Ereignis aus dem ruſſiſch-japaniſchen Kriege, in dem
die Japaner eine ruſſiſche Stellung ſtürmen wollten. Wieder
und wieder wurden ſie zurückgeſchlagen, bis ſchließlich ein
japaniſcher Unterleutnant die ruſſiſche Stellung zu Fall brachte,
indem er ſich opferte wie einſt Winkelried in der Schlacht
bei Sempach. Er ließ ſich acht Handgranaten bringen, legte
ſeinen Degen und was ihm ſonſt hinderlich ſein konnte, ab,
band die Granaten um ſeinen Körper in gleichmäßigen Ab-
ſtänden, verknüpfte die Enden der Zündſchnüre miteinander,
zündete ſich eine Zigarette an und ging kaltblütig auf die feind-
liche Stellung los. Dann ſetzte er, dicht vor einem Graben an-
gekommen, mit der Zigarette die Zündſchnüre in Brand,
nahm einen Anlauf und ſprang in die feindlichen Bajonette,
die ſich ihm entgegenſtreckten. Ehe noch die Ruſſen die Bajonette
aus der Leiche des Japaners herausziehen konnten, gab es
eine fürchterliche Exploſion. Der japaniſche Leutnant und die
Gruppe ruſſiſcher Soldaten, in die er geſprungen war, waren
verſchwunden, und ſtatt deſſen raſſelte ein Hagel von zer-
fetzten menſchlichen Körperteilen hernieder, der alle in der
Nähe Kämpfenden mit Blut überſchüttete. Sofort ſtürmten die
Japaner, und kurze Zeit fpäter wurde die japaniſche Sonnen-
fahne auf dem genommenen Hügel aufgepflanzt. O. v. B.
Unterhaltungskoſten eines großen Hotels. — Die Unter-
haltungskoſten für ein großes Hotel, das von dem allerbeſten
Publikum beſucht wird, ſind von Jahr zu Fahr geſtiegen, bis
ſie heute eine Höhe erreicht haben, die man noch vor zehn
Jahren für unmöglich gehalten hätte. Der erſte Küchenchef
eines der größten Hotels in London bezieht ein Jahresgehalt
von 40,000 Mark, und die einzige Mahlzeit, deren Zubereitung
er zu beaufſichtigen hat, iſt das „Dinner“. Ihm ſtehen zwei
„Adjutanten“ zur Seite, von denen der erſte 14,000 und der
zweite 10,000 Mark Gehalt hat. Dieſe beiden bereiten das
Frühſtück und das Abendbrot.
Mannigfalttges. 231
Außer den drei „Chefs“ unterhalten ſämtliche große Hotels
ein ſehr zahlreiches weiteres Küchenperſonal. Da gibt es
„Herdleute“, die die verſchiedenen Feuer- und Heizungspor-
richtungen inſtand zu halten haben, „Keſſelleute“, die nach den
Keſſeln ſehen, ein großer Stab von „Maga ziniers“, denen die
Küchen vorräte unterſtellt find, und ein ganzes Heer von Küchen-
und Abwaſchmädchen. Außerdem ſind an anderen größeren
Gehältern noch zu zahlen: dem Solmetſcher 12,000 Mark, dem
Arzt 12,000 Mark und dem Inſpektor 9000 Mark. „Ferner be-
ſchäftigen wir,“ berichtet der Hoteldirektor, „100 Hausmädchen,
von denen jede 600 Mark Lohn bezieht, und auch in unſerem
Bureau und der Buchhalterei ſind eine ganze Reihe von Per-
ſonen tätig. Die Gehälter aller bei uns angeſtellten Perſonen
belaufen ſich im Jahre auf etwa 500, 000 Mark, und dieſe
Gehälter bilden nur einen kleinen Teil der Roften, die die Unter-
haltung eines vornehmen Hotels, das nach modernen Grund-
ſätzen geführt wird, erfordert.“
Ein erſtklaſſiges, vornehmes Hotel liefert bei jeder Mahl-
zeit reine Tiſchtücher und Servietten. Nehmen wir an, daß
im Reftaurant 30 Tiſche für vier Perſonen ſtehen, fo heißt
das, daß täglich 90 reine Tiſchtücher und 360 Servietten ge-
liefert werden müſſen. „Reine Betttücher,“ erklärt der Oirektor
weiter, „werden in jedem Zimmer allabendlich aufgelegt, das
heißt wir müſſen Tag für Tag mindeſtens 120 in die Wäſche
ſchicken. Unſere Wäſche, die kontraktlich an einen Unternehmer
vergeben iſt, koſtet jährlich 60,000 Mark. Viele reiche Gäſte
haben beſondere Wünſche, denen wir Rechnung tragen müſſen.
So zum Beiſpiel müſſen wir das Zimmer einer reichen Ameri-
kanerin, die während der Londoner ‚Seafon‘ mit ihrer Tochter
ſechs Wochen bei uns wohnt, jeden Tag mit La-France-Roſen
dekorieren und für fie und ihre Tochter nach beſonderer Vor—
ſchrift parfümierte Bäder bereiten. Gäſte, die ſolchen Luxus
wünſchen, müſſen zwar erhöhte Preiſe zahlen, dieſe erhöhten
Preiſe decken aber keineswegs unſere Mehrkoſten.“
Manche der erſten Hotels haben auch ſtets eine ganze An-
zahl tüchtiger Diener und Kammerjungfern für ſolche Gäſte
ausſchließlich zur Verfügung, die aus dem oder jenem Grunde
232 Mannigfaltiges. a
nicht mit ihrer eigenen Dienerſchaft reifen wollen. Auch da-
durch entſtehen der Verwaltung be deutende Ausgaben, und die
den Gäſten hierfür berechnete Gebühr deckt nur in ſeltenen
Fällen die Selbſtkoſten.
Zu den Ausgabepoſten, die ſich nicht vermeiden laſſen, muß
man aber auch noch die faulen Schulden ſtellen, die gemacht
werden. Leute, die im Hotel ſpeiſen und Geſellſchaften geben,
machen ſich wenig Kopfzerbrechen, wenn ihr Konto auf
20,000 Mark anwächſt, und mit bewundernswerter Raltblütig-
keit erklären fie dann der Direktion, daß fie „jetzt im Augen-
blick“ nicht zahlen können. Kein Hotel klagt gern wegen einer
nicht bezahlten Rechnung gegen eine Perſon, die in der Ge-
ſellſchaft einen hohen Rang einnimmt. Lieber ſtreicht man
den Poſten. g. C.
Die goldenen Hemdknöpfe des Herzogs von Aral. —
Der Herzog, der im Jahre 1685 die Partei Monmouths gegen
König Jakob II. von England ergriffen hatte, teilte das un-
glückliche Schickſal des Prätendenten auf dem Schafott, denn
Jakob verzieh bekanntlich niemals etwas. Während Monmouth
feige um ſein Leben bettelte, zeigte Argyll die vollkommenſte
Seelenruhe eines Mannes, deſſen höchſtes Gut nicht das Leben
iſt. Als er ſich eben zu ſeinem letzten ſchweren Gange rüſtete,
ſchickte ſein Weib zu ihm und ließ ihm ſagen, er möchte doch
nicht vergeſſen, ſeine goldenen Hemdknöpfe herauszunehmen
und ihr zuzuſchicken. Tief empört über die Herzloſigkeit ſeiner
Gattin, blieb er doch ruhig und fragte die Botin nur, ob es
wohl jetzt Zeit ſei, an ſo etwas zu denken. Als er dann auf
dem Schafott ſtand, fragte ihn einer ſeiner Freunde, ob er nichts
mehr an ſeine Gattin zu beſtellen hätte. „Richtig,“ ſagte da
der Herzog mit einem feinen Lächeln, „das hätte ich beinahe
ganz vergeſſen. Bringen Sie ihr dieſe goldenen Hemdknöpfe.“
Damit machte er fie heraus und legte kaltblütig fein Haupt
auf den Block. C. T.
Vom Wunderreich des Mikroſkops. — Wenn das Fern-
rohr die Aufgabe hat, uns Einzelheiten von Körpern ſichtbar
zu machen, die weit außerhalb des Bereichs unſerer Erde
liegen, ſo hat umgekehrt das Mikroſkop den Zweck, uns Einzel—
0 Mannigfaltiges. 233
—
heiten ſehr kleiner Körper zu enthüllen, die unſer bloßes Auge
längſt nicht mehr zu unterſcheiden vermag. Es iſt ja unnötig,
ausführlich davon zu ſprechen, welch tiefeingreifende Wirkung
dieſes Inſtrument auf die Entwicklung vieler Wiſſenſchaften
ausgeübt hat, aber von Zeit zu Zeit ſoll man doch wenigſtens
daran erinnern. In der Hand des Mediziners wird es zu
einer der furchtbarſten Waffen gegen die Feinde der Menſch⸗
heit, die Krankheitserreger. Mag die Bakterie noch ſo klein,
noch ſo waſſerklar ſein, ein winziges Farbtröpfchen macht ſie
unter dem Mikroſkop dem Auge des Arztes
ſichtbar. Für den Richter wird das Urteil des
Gerichtschemikers ein unwiderlegliches Indi-
zium, das alle Künſte des Banknotenfälſchers
zunichte macht, das das Blut des Opfers in
dem unſcheinbarſten Fleckchen am Kleide des
Mörders nachweiſt.
Und welch großen Fortſchritt hat es in der
Biologie gebracht! Schon ein Mikroſkop von
ganz ſchwacher Vergrößerung enthüllt den Auf-
—
|
bau des pflanzlichen und tierifhen Leibe, IE | d
zeigt, wie ſich Zelle an Zelle reiht, jede der
anderen ähnlich und doch davon verſchieden — nden
ein Individuum für ſich. Kein zoologiſcher
Garten vermag ein Schaufpiel zu bieten, wie Ein Mikroſkop
es der Waſſertropfen eines Tümpels unter der Firma
dem Mikroskop gewährt. Denn dort find die Saran.
Tiere ihrer Freiheit beraubt und unter fremde Bedingungen
verpflanzt, hier aber ſind ſie ſamt ihrer Heimat fortgeſchafft
worden, und das Mikroſkop macht es uns möglich, fie in ihrer
natürlichen Umgebung zu beobachten. Es zeigt, wie fie ihrer
Nahrung nachgehen, wie ſie ſich nach Beute auf die Lauer
legen und vor ihren Feinden verſtecken. Ganz wie die Men-
ſchen müſſen fie ſich in ſtetem Kampfe durchs Dafein ſchlagen,
und wer dazu zu ſchwach iſt, der geht zugrunde.
Es iſt ſchade, daß ſich nur ſo wenige Menſchen in ihren
Mußeſtunden mit dieſer Welt des Kleinen beſchäftigen, es iſt
ja ſo leicht möglich gemacht, denn Wikroſkope ſind in allen
234 Mannigfaltiges. 2
Preislagen, ebenſo Präparate und Utenſilien zum Mikro-
ſkopieren zu erhalten, wie zum Beiſpiel aus den Preisliſten
der Firma F. Saran in Berlin W 57 zu erſehen iſt.
Verſtändnis gewinnen für das Leben der kleinſten Weſen,
heißt zugleich Verſtändnis gewinnen für den eigenen Organis-
mus und den Organismus der Menſchheit und des Weltganzen.
Dies ſollte man nicht vergeſſen. H. Sch.
Vom Ziegenmelker. — Oer Ziegenmelker, der nach dem
Volksglauben nächtlicherweile den Ziegen die Euter austrinken
ſoll, iſt unſtreitig einer der merkwürdigſten Vögel der Erde.
Unter feinen Eigenſchaften iſt feine große Neugier beſonders
auffällig. Sie zeigt ſich wirklich auf eine ſehr auffallende Art.
Sobald der Vogel etwas Ungewöhnliches bemerkt, beginnt er
zu „rütteln“, das heißt ſich durch ſchnellen Zlügelichlag oder
durch eine faſt zitternde Bewegung der Schwingen auf einer
Stelle zu halten, um den ihm fremden Gegenſtand recht ins
Auge faſſen zu können. Erſt wenn er ſeine Neugier hinlänglich
befriedigt hat, fliegt er weiter. Zuweilen wird ihm dieſe fon-
derbare Sucht verderblich. Ein ſchlechter Schütze braucht zum
Beiſpiel nur den einen Lauf ſeines Gewehres abzuſchießen,
um ihn zu veranlaſſen, ſich zur bequemſten Zielſcheibe ſelbſt
zu ſtellen, denn nach dem Schuß beginnt der Vogel ſofort zu
„rütteln“ und kann dann mit Leichtigkeit geſchoſſen werden.
Von dieſer Neugier erzählt ein Naturforſcher folgenden
weiteren Zug. „Anfangs Zuli ging ich abends von dem be-
nachbarten Orte K. nach R. zurück. Der Weg führte durch
einen etwa eine halbe Stunde breiten Nadelwald. Ich war
kaum eingetreten, da flog ein Ziegenmelker über meinen Weg,
erblickte mich, rüttelte, beſah mich ganz genau, ſetzte ſich dann
auf eine wenig entfernte Kiefer nieder und begann zu ‚fpinnen‘,
wie ſein Geſang genannt wird. Ich mochte noch nicht hundert
Schritte weitergegangen ſein, da erſchien mein lieber Freund
ſchon wieder, ſchwebte neuerdings über mir herum, beſah mich
noch einmal und flog auf einen anderen Baum, wo er ſein
Spinnen wieder aufnahm. Sch ſetzte meinen Weg fort und
mochte, während der Ziegenmelker unverdroſſen fortſpann, um
etwa fünfhundert Schritte weitergegangen ſein. Da erſchien
2 Mannigfultiges. 235
der Dogel zum dritten Male und begleitete mich wieder ein
Stückchen. Der Weg hatte mich jetzt tief in das Tal hinab-
geführt. Als ich aber den jenſeitigen Hügel heraufgeſtiegen
und dahin gekommen war, wo der Weg wieder frei wurde,
erſchien auch der Ziegenmelker abermals und flog längere
Zeit als gewöhnlich über mir herum, gerade als wolle er mir
ſagen: ‚Hier iſt meines Reiches Grenze, an dieſer will ich
Abſchied nehmen.“ Er tat dies denn auch und kehrte über
das Tal nach ſeinem Brutorte zurück, wie ich aus ſeinem von
rückwärts zu mir hertönenden Geſchnurre erkannte. Er hatte
mich über eine Viertelſtunde weit begleitet.“ C. T.
Die vier Nationen. — Eine hübſche Anekdote, die die Eigen-
art der verſchiedenen Nationen ſehr luftig und dabei treffend
charakteriſiert, erzählte mir ein alter Schiffs kapitän, deſſen ſtets
originelle Einfälle freilich nicht immer einer ſtrengen Prüfung
in bezug auf Wahrhaftigkeit ſtandhalten konnten.
„Auf einer meiner Fahrten durch den Indiſchen Ozean hatte
ich ein recht internationales Publikum an Bord, unter anderen
einen engliſchen Weltreiſenden, einen deutſchen Profeſſor, der
Gott weiß welche Unterſuchungen in Japan anſtellen wollte,
und einen Amerikaner mit Tochter, einer recht niedlichen, ſtets
zum Flirt bereiten Miß, der ein Franzoſe, der vierte in dem
internationalen Konzert, recht eifrig den Hof machte.
| Eines Mittags, wir ſaßen gerade bei Tiſch, verkündete der
Poſten auf Ausguck, daß Land in Sicht ſei. Ich ging ſofort
auf Oeck und konſtatierte die Richtigkeit der Beobachtung. Da
in den Schiffskarten dieſer Gegend keinerlei Land eingezeichnet
war, konnte es ſich nur um eine neu aufgetauchte Inſel vulkani-
ſchen Urſprungs handeln, ein Naturereignis, das in dieſen
Breiten nicht allzu ſelten iſt. Trotzdem hielt ich es für meine
Pflicht, die Paſſagiere zu verſtändigen, die ſich ſofort auf Deck
verſammelten. Während wir uns dem kleinen, kahlen, ſteinigen
Eiland näherten, hielt uns der deutſche Profeſſor einen gründ-
lichen Vortrag, der das ganze einſchlägige Gebiet der Wiſſen-
ſchaft ausführlich und erſchöpfend behandelte. Der Amerikaner
hörte ſorgſam zu, erbat ſich von mir die näheren Daten über
Länge und Breite, fragte, ob ſolche Inſeln einen praktiſchen
Nutzen hätten, und zog ſich nach Verneinung dieſer Frage
wieder in den Speiſeſaal zurück, wo er ſeelenruhig ſeine Mahl-
zeit beendete. Der Franzoſe, den die Sache ſichtlich wenig
intereſſierte, benützte die Gelegenheit, um der Miß heimlich
ein Briefchen zuzuſtecken. Der Engländer ſtand ſteif wie ein
Stock an der Brüſtung. Als wir uns der znſel bis auf kurze
Entfernung genähert hatten, warf er plötzlich den Rock ab,
zog die Schuhe aus und ſprang über Bord. Mit wenigen
Stößen war er auf dem Eiland und zog aus der Hoſentaſche
eine engliſche Fahne, die er auf den Felſen hißte, um das Eiland
im Namen des Königs für die vereinigten Königreiche in Beſitz
zu nehmen. Dann ſchwamm er an Bord zurück und verſchwand
in ſeiner Kabine, um nach einer Viertelſtunde wieder, tadellos
gekleidet, beim Diner zu erſcheinen.
Vierundzwanzig Stunden fpäter, als wir einen kleinen
Hafen anliefen, ſtieg der Amerikaner eilig ans Land und kam
in einer halben Stunde wieder zurück. Er hatte ein langes Tele-
gramm an den ‚New Vork Herald“ abgeſandt, das unter Ver-
wertung des deutſchen Wiſſens und meiner nautiſchen An-
gaben das ganze Ereignis ſchilderte. Seelenvergnügt ſchrieb
er in fein Reiſetagebuch:, Ausgaben: ein Telegramm 40 Dollar,
Einnahmen: ein Zeitungsbericht 150 Dollar,‘
So behandelte jeder einzelne das Ereignis nach feiner
Art.“ A. S.
Das Nachtwandeln der Mondſüchtigen. — Es gibt wohl
keinen Menſchen, der ſich nicht erinnerte, einmal geträumt zu
haben, daß er über irgend etwas Angenehmes oder Unan-
genehmes lachen oder weinen mußte. Wenn nun dieſe Vor-
ſtellung des Lachens oder Weinens ſich verwirklicht und in
Handlungen übergeht, ſo fängt der Schläfer tatſächlich an,
hörbar zu lachen, zu weinen, zu reden, zu ſtöhnen. Auch
träumt man öfters, daß man irgendwohin geht oder irgend
eine Beſchäftigung ausführt. Mit der bloßen Vorſtellung, daß
man geht, hat es in der Regel ſein Bewenden.
Es gibt aber Leute, bei denen ſich auch dieſe Traumvor—
ſtellung in die entſprechende Handlung umſetzt, die alſo nicht
nur träumen, daß ſie gehen, ſondern wirklich ſchlafend ihr Bett
2 Mannigfaltiges. 237
verlaſſen und umhergehen oder die Handlungen ausführen, die
ſie ſich im Traume vorſtellten. Der Breslauer Arzt Dr. Ebers
beobachtete ſeinen elfjährigen Pflegeſohn, wie er im Schlafe
laut ſprach, zur Zeit des Vollmondes aufſtand, umherging,
Gegenſtände anfaßte, abſichtlich hingeſtellten Hinderniſſen aus-
wich, das Fenſter öffnete, hinausſchaute und ſchließlich wieder
ins Bett ſtieg, ohne am anderen Morgen die geringſte Er-
innerung an das Vorgefallene zu haben.
Derartige Perſonen nennt man Nachtwandler, Schlaf-
wandler oder Somnambulen. Der Volksmund hat für ſie auch
die Bezeichnung „Mondſüchtige“, um damit den Einfluß des
Mondes auf ihren Zuſtand anzudeuten. Wie weit dies zu-
trifft, iſt noch nicht erwieſen. Allerdings ſcheint es, daß das
grelle Mondlicht auf nervöſe Schläfer einen Reiz ausübt, der
Traumvorſtellungen hervorruft und einen ſomnambulen Zu—
ſtand begünſtigt.
Die ſtaunenswerte Sicherheit, mit der die Nachtwandler
oft recht ſchwierige Leiſtungen ausführen, erklärt Dr. J. Finckh
aus ihrem außerordentlich feinen Muskelgefühl in dieſem
Stadium, das ihnen leicht die Erhaltung des körperlichen Gleich-
gewichtes und die Vermeidung von Hinderniſſen, die ſich in
den Weg ſtellen, geſtattet. Dazu kommt der Umſtand, daß
die ganze Aufmerkſamkeit ſich ausſchließlich der Ausführung
der Tat zuwendet, ohne durch etwas anderes abgelenkt zu
werden. Alſo andere Vorſtellungen, zum Beiſpiel die Furcht,
zu ſtürzen, oder Bedenken gegen die Ausführung des Unter-
nehmens treten nie auf. Dadurch fällt der Hauptumſtand weg,
der einen Wachenden in ähnlicher Lage unſicher macht. Der
Nachtwandler führt ſeine Handlungen aus wie ein ahnungsloſes
Kind. Er kennt die Gefahr nicht, hat daher keine Angſt, keinen
Schwindel. Über gefährliche Wege zu gehen, iſt nicht ſchwierig,
wenn man nicht weiß, daß ſie gefährlich ſind. Legt man zum
Beiſpiel eine Holzlatte auf den Erdboden, ſo wird man ſich
nicht ſcheuen, auf ihr von einem Ende zum anderen zu gehen.
Erhöht man ſie aber auch nur um ein Meter, dann werden
die meiſten ſchon mit großer Zaghaftigkeit darauf herum—
balancieren, obgleich die Latte dieſelbe und vor allem gleich
238 Mannigfaltiges. Oo
breit geblieben iſt; aber die zur richtigen Ausführung nötige
Aufmerkſamkeit wird abgelenkt durch die Angſt und Furcht,
zu fallen. Es könnte jeder auch über die Dächer gehen, wenn
ſie auf ebener Erde ſtänden. Der Nachtwandler wird nun durch
Ablenkungen nicht geſtört, ſolange er nicht erwacht. Tritt Er-
wachen ein, dann kommt ihm auch die Erkenntnis der Gefahr,
er erſchrickt, verliert das Gleichgewicht, und oft iſt ein Sturz
in die Tiefe die Folge.
Nicht nur körperlich ſchwierige Leiſtungen vollbringen die
Nachtwandler, ſondern auch ſolche auf geiſtigem Gebiete.
Dr. Finckh berichtet folgenden Fall. Ein Rechtsanwalt hatte
in einer ſchwierigen Rechtsangelegenheit ein Gutachten abzu-
geben. Nachdem er einige Tage lang darüber nachgegrübelt
hatte, bemerkte ſeine Frau, daß er ſich in der Nacht vom Lager
erhob und an ſeinem Schreibtiſch längere Zeit ſchrieb. Dann
ging er wieder zu Bett. Am anderen Morgen erzählte er
ſeiner Frau, er habe nachts im Traume das Gutachten in einer
äußerft klaren Weiſe erledigt; leider ſei aber deſſen Inhalt
ſeinem Gedächtnis vollkommen entſchwunden. Zu ſeinem
großen Erſtaunen fand er, von ſeiner Gattin zum Schreibtiſch
geführt, dasſelbe dort geſchrieben vor. Es erwies ſich als
durchaus ſachgemäß und klar abgefaßt.
Im allgemeinen iſt das Nachtwandeln als ein tranthaftes
Träumen aufzufaſſen. Die davon befallenen Perſonen ſind
meiſt nervös belaſtet. Die Hauptmittel dagegen ſind: Abends
recht zeitig und wenig eſſen, die ganze Nacht hindurch in friſcher,
kühler Luft ſchlafen. Das Bett ſei nicht zu dick und warm;
Woll- und Steppdecken ſind beſſer als Federbetten. Dr. Th.
Geſellſchaftsſpiele der Kaiſerin Eugenie. — Um die Lang-
weile fernzuhalten, vergnügte ſich öfters abends die Geſellſchaft
der Kaiſerin bei allerlei Geſellſchaftsſpielen. Die anweſenden
- Berfonen bildeten einen großen Kreis; darauf legte jeder die
Hände auf eine Schnur, die rund um den Kreis lief, und zwei
Perſonen, die in des Kreiſes Mitte ſtanden, bemühten ſich,
den Händen, die die Schnur hielten, einen Klaps zu geben.
Die Hände mußten durch raſche Bewegungen dem zu entgehen
ſuchen, durften aber die Schnur nicht loslaſſen. Da regnete
2 Mannigfaltiges. 239
— — — — — une
es Hiebe. Die Kaiſerin gab und empfing recht kräftige und
lachte dabei auf wie ein vom Schulzwang befreites Penſions-
mãdel.
Die Damen zogen ſich dann in ein beſonderes Zimmer
zurück und bewaffneten ſich mit gefalteten Servietten, deren
Enden in der Hand vereint waren; die Serviette bildete ſo eine
Art Waffe, mit der man ziemlich ſtark zuſchlagen konnte. Jede
Dame wählte ſich einen Herrn, aber ſo, daß kein Herr wußte,
welche Dame ihn gewählt hatte. Nachdem das alles verabredet
war, traten die Herren einzeln ins Damenzimmer, und jeder
mußte eine Dame begrüßen. Hatte er das Glück, die Dame,
die ihn gewählt hatte, zu treffen, jo durfte er in der Gefell-
ſchaft der Dame bleiben. Wenn er aber daneben riet, fielen
ſofort ſämtliche Damen über ihn her und prügelten ihn mit
den Servietten ſo lange, bis er fluchtartig den Salon verlaſſen
hatte. Den Kaiſer Napoleon ſah man einmal, von den Damen
verfolgt, über Stühle und Tiſche ſpringen, und der deutſche
Geſandte Graf Hatzfeld der ebenfalls falſch begrüßte, bekam
die ſchönſten Schläge.
Die Kaiſerin zeigte ſich bei dieſem Spiele ungemein aus-
gelaſſen, ſie ſchlug nach rechts und links, kämpfte, lief, ſchrie und
hatte: rein gar nichts von der Majeftät einer Kaiſerin. C. T.
Der Weg im Wege. — Bei Naturvölkern, die buſch- und
waldreiche Gebiete bewohnen, iſt der „Gänſemarſch“ allgemein
üblich, da hierbei der ſchmale, von dem Vordermann getretene
Pfad am beſten vom Hintermann ausgenützt wird. In Amerika
war die „Indianerreihe“ wohl bekannt, und wenn die Indianer
in die Städte kamen, fo taten fie es nicht anders als im Gänſe-
marſch, was auf den breiten Straßen ſich recht wunderlich aus-
nahm.
Der Gänſemarſch iſt auch den Eingeborenen im Bismarck
archipel in Fleiſch und Blut übergegangen, und ſie halten an
ihm feſt, ſelbſt wenn die deutſche Regierung Straßen bauen
läßt, worüber neulich der Südſeeforſcher Dr. G. Friederici
berichtete. Jedem Beſucher von Neu-Mecklenburg fallen die
prachtvollen Straßen auf, die im nördlichen Teil der Znſel
angelegt worden ſind und peinlich ſauber gehalten werden.
240 Mannigfaltiges. tu
Aber auf dieſen häufig ſchnurgeraden Straßen kann man einen
ganz ſchmalen Pfad innerhalb des breiten Weges ſehen, der
im Gegenſatz zu dieſem in geradezu lächerlicher Weiſe ſich in
Zickzack- und Schlangenlinien dahinwindet. Das iſt der Weg
im Wege, der Pfad der Kanaken, die, ihren Urwaldgewohn-
heiten getreu, auch auf dieſen breiten Straßen einer hinter
dem anderen gehen, die tadellos Vordermann halten, aber nicht
geradeaus marſchieren können. v. 3.
Eine amtliche Korreſpondenz. — Bei den naſſauiſchen
Behörden war um die Mitte der vierziger Jahre ein Verkehrs-
ton üblich, deſſen wohltuende Sachlichkeit und Kürze mit dem
berüchtigten „Amtsdeutſch“ nichts zu tun hatte.
So handelte es ſich einmal um die Beſchwerde eines Her-
borner Fabrikanten, der einen Dorfſchulzen für einen Rad-
bruch wegen ſchlechter Beſchaffenheit des Weges haftbar machen
wollte. Auf Grund der Beſchwerde erließ der in der Sache
tätige Amtmann Kniſel in G. folgende Verfügung:
„Der Schultheiß Weyl zu Schönbach hat innerhalb acht
Tagen auf feine Koſten dem p. p. Kempf ein neues Wagenrad
machen zu laſſen, außerdem hat er eine Strafe von drei Gulden
zu zahlen. Herzogliches Amt: Kniſel.“
Der Schultheiß erwiderte auf demſelben Schriftſtück: „Ich
laſſe das Rad dem Kempf nicht machen und bezahle auch
keine Strafe. Weyl, Schultheiß.“
Der Amtmann: „Wieſo? Kniſel.“
Der Schultheiß: „Bei der Einteilung der Wege wollte ich
den Weg nach Amdorf als Vizinalweg gebaut haben, der
damalige Amtmann hat aber kurzweg entſchieden, daß ein
Verbindungsweg genügt. Weyl, Schultheiß.“
Der Amtmann: „Was war das für ein Amtmann? Kniſel.“
Der Schultheiß: „Der Amtmann hieß Kniſel. Weyl, Schult—
heiß.“
Der Amtmann: „Sie brauchen dem Kempf das Rad nicht
machen zu laſſen. Die Strafe iſt erlaſſen. Kniſel.“ O. v. B.
—
Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von
Theodor Freund in Stuttgart,
in Oſterreich-Ungarn verantwortlich Dr. Eruſt Perles in Wien.
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fühlen und im Geiſte mitlämpfen zu
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