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Full text of "Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens 1913, Band 11"

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B. Gi] 


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J n . in der „Bibliothek der Unterhaltung und des NER haben infolge 

ſachgemäßer Verbreitung in allen Schichten der Bevölkerung dauernde 
„ Wirkungskraft. Wegen der Inſertionspreiſe, insbeſondere der Preije für vorzugsſeiten, 
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vaten liefern den besten Beweis für die 


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Paket 25 Pfg., Dose 50 Pfg., in Österreich Paket p4 ;# 
20 u. 40 Heller, Dose 60 Heller zu haben in en 4 
Apotheken, Drogerien und besseren Kolonial- 
warenhandlungen. Wo die millionenfach be- 4% 
1 währten Kaiser's Brust-Caramellen nicht käuf- & 
lich sind, wende man sich zur Angabe der |}: 
= nächsten Verkaufsstelle direkt an die Fabriken 


1 in Deutschland Fr. Raiser, Waiblingen-Stuttgart, 
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I in der Schweiz Fr. Kaiser, St. Margrethen derne 
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RE X 


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Halberstadt : Rathenow Wien, Mariahilferstrasse 8. 


Bibliothek 
der Unterhaltung 
und des Wiſſens 


** 


Zu der Novellette „Rätſel Glück“ von E. v. Weitra. (S. 21) 
Originalzeichnung von Max Vogel. 


Digitized by Google 


ibliothek u” 
der Unterhaltung 
und des Wiſſens 


mit 
Original beiträgen 
der hervorragend ſten 
Schriſtſteller und Gelehrten 
ſowie zahlreichen 
Aluſtra tionen 


© 


Jahrgang 1913 + Elfter Band 


| Union Deutſche Verlagsgeſellſchaſt 
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Druck der 

Union deutſche 
verlags geſellſchaſt 
in Stuttgart 


AAN AIN AIN ZIN ZN ZN ZIN ZIN 


Inhalts ⸗ Verzeichnis. 


y 
Seite 


Rätfel Glück. 
Rovellette von E. v. Weitra. Mit Bildern von Mar 


Vogel 5 
Die Apachen. 
Ein Pariſer Roman von Fritz Levon (Fortſetzung und 
Schlußßßßßßßß nn 26 
Die ſchöne Trebnitz. 
Roman von Hans Becke 48 


Roſenzucht und Noſenſchmuck. 
Von Th. Seelmann. Mit 12 Bilden 87 


Fräulein Bankdirektor. 

Novelle von Fritz Flechtnen. 105 
Die mittelalterlichen Totentänze. 

Von Wilhelm Fiſcher. Mit 11 Bildern nach Merian 175 


Mein Nidverhältnis. Ein Zdyll ohne Worte. Bon 


Otto Metterhauſe·e n 190 
Eine Dornenkrone. 

Von M. de Bous. Mit 4 Bilden 197 
Mannigfaltiges: 

Det gör ingentin gg 208 

Des Wanderns Einfluß auf die Nerven 212 

Aus der Sommerfriſche des niederländiſchen Hofes. 214 

Mit Bild. 


General Hoche und die Koblen zee 216 


Snhalts-Derzeichnis. 


Der Rampf mit Mondamin . 
Ein indirekter Selbſtmord 
Treibjagd auf Schlangen . 
Eine hundertjährige Strafe . 


Der kleinſte Oſterreicher 
Mit Bild. 


Wie die Liebe entſtand 
Urſprung der Modebilder . 
Milch- und Frühſtückſchützer 
Mit 2 Bildern. 
Das Vaterunſer der Bauern ; 
Qincoln und der ſterbende Soldat 


Die Farbe des Weines und per Weintrauben 


Wertvolle Flöhe 
Eine teure „Leichee 2 2. 
Schwierige Wahl!l 


> 
* 


Rätfel Glück. 


Novellette von E. v. Weitra. 


Mit Sildern von + 

Max Vogel. (Nahörudf verboten.) 

3: den reizendſten Erſcheinungen, die das Ballfeſt 
des Oberſten v. Lötzdorf ſchmückten, gehörte un- 

ſtreitig die junge, verwitwete Frau Konſul Weitbrecht. 

Ein ganzer Kometenſchweif von Verehrern drängte 

ſich um die ſchöne, lebensluſtige Frau. 

Freilich wurde das Vorteilhafte ihres Gefamt- 
bildes noch ſehr weſentlich erhöht durch ein wahres 
Wunderwerk echt Wiener Schneiderkunſt — ein „Ge— 
dicht von Stoffen und Spitzen“, wie die Kenner zu 
fagen pflegen. Blaßgrauer Samt öffnete fih in zwang- 
loſem Fall über einem herrlichen Unterkleid von echt 
Brüſſeler Geweben, in das tauſend goldene Flitter- 
pünktchen eingeſtickt waren, und ein paar matte Perlen- 
ketten rafften, wie nachläſſig, das kunſtvolle Mieder 
aus altroſa Damaſt zuſammen, das den ſamtweichen 
Schultern faſt zu entgleiten ſchien. Über der blaſſen 
Stirn aber, mit den dunklen, verführeriſchen Augen 
darunter, wiegte ſich im leicht gekräuſelten Haar ein 
ſchillernder Falter aus blitzenden Diamanten. 

Man erzählte ſich, Frau Weitbrecht ſei vor dem 
Feſt ihrer Toilette wegen eigens dreimal nach Wien 
gefahren. Sie konnte ſich als alleinſtehende Frau 
dergleichen Luxus ſchon erlauben; gehörte ſie doch zu 


6 Rätjel Glück. o 


den bevorzugteſten Partien der kleinen Reſidenz, wenn 
böſe Zungen auch behaupten wollten, Frau Weit- 
brecht wiffe über ihre Verhältniſſe hinaus ihre Verehrer 
über die Größe ihres Vermögens ein wenig zu täuſchen 
und im ungewiſſen zu erhalten. 

Jedenfalls gefielen ſich aber ihre ſtrahlenden acht- 
undzwanzig Jahre in der ftechenden Sonne des all- 
gemeinen Neides, und ihre ſamtweiche Haut, die 
ſichere Art, mit der fie ſich bewegte, ſchienen zu be- 
weiſen, daß jener Sonnenbrand noch nicht verheerend 
bei ihr gewirkt. 

Oberleutnant v. Weltzien wich nicht von ihrer 
Seite. Seine hohe, ſchmale Geſtalt mit der etwas 
läſſig nach vorn geneigten Haltung ſchien von fiebern 
der Beweglichkeit, und die leicht zuſammenſtoßenden 
Brauen über den tiefliegenden Augenhöhlen wuchſen 
immer dichter und dunkler ineinander. 

Im Regiment gab es ſehr geteilte Meinungen über 
den jungen Weltzien. Manche hielten ihn für genial, 
manche für verrückt. Er war jedenfalls ein „Unge- 
wöhnlicher“, ſozuſagen das weiße Huhn auf dem Hühner- 
hof. Stundenlang konnte er wortkarg im Kaſino ſitzen 
und tiefſinnig vor ſich hinſtarren; tagelang ſchloß er 
ſich abends in ſeine Bude ein, ließ ſich vor niemand 
ſehen, und man ſagte, er „lerne“. Wenn man ihn aber 
am meiſten vertieft glaubte, ging er plötzlich eine 
ganze Woche lang tagtäglich in Geſellſchaft, war der 
erſte auf dem Parkett, der letzte beim Heimgehen 
und tanzte mit einer fiebernden Leidenſchaft. 

„Der Weltzien kommt noch auf einen Miniſter— 
ſeſſel oder ins Narrenhaus,“ pflegte der Regiments- 
adjutant öfters zu ſagen — und augenblicklich war 
man geneigt, entſchieden das letztere von ihm anzu— 
nehmen. Denn es war ja geradezu ein Wahnſinn, 


o Novellette von E. v. Weitra. 7 


der ſchönen Frau Weitbrecht ſo andauernd den Hof zu 
machen. Sah er denn nicht, daß ſie ihn zum Narren 
hielt, daß er nur einer von den vielen war, deren 
Galanterien ſie im Augenblick berauſchten, ohne daß 
ihre unſchlüſſige Seele bei ihm den Anker fand, den 
ſehnſüchtig zu ſuchen fie ſich tauſendmal ſelbſt vor- 
ſpiegelte, während in Wahrheit ihre oberflächliche 
Seele ſich doch am wohlſten fühlte in der gefeierten, 
ſternenumglänzten Freiheit? 

Nein — ſie wollte die Freiheit der Wahl, das wahre 
Glück zu finden, noch nicht ſo raſch aus der Hand geben. 
Sie wollte ſehnen und lieben, lieben und ſehnen, 
wollte Gefühle empfinden und Gefühle wecken, wollte 
ihre Nerven kitzeln mit der ſüßen Möglichkeit, es könne 
einmal einer kommen, dem ſie alles zum Opfer bringen 
würde, und doch zum Schluß ruhiges Blut behalten 
und Kopf und Verſtand oben, um nur in eine Heirat 
zu willigen, die ihren Ehrgeiz befriedigte, die es lohnte, 
Geld und Herz hinzugeben. 

Da hatte nun freilich der arme Weltzien recht 
geringe Ausſichten. Und doch war irgend etwas in 
ſeinem Veſen und ſeiner Art, das jedesmal ihr Herz 
raſcher und unruhiger ſchlagen ließ, ſobald ſie ihn ſah 
— lauter als bei den hundert anderen Kavalieren, die 
ſchon vergeblich ſchmachtend in ihren Salonen geſeſſen. 

Sie freute ſich auf Weltzien, auf jede Stunde, 
jede Minute, die er an ihrem Teetiſch oder im Ball— 
ſaal neben ihr verbrachte. Und doch fürchtete ſie ihn 
auch, ſeine tyranniſche Art, ſeine nervöſe Stimmung, 
die jeder kleinen Eiferſuchtsregung bei ihm folgte. 
Sie fürchtete ſich vor dem heißen Näherrücken ſeiner 
Leidenſchaft, erſchrak bei jeder kleinen Gunſt, die ſie 
ihm einräumte, und gab doch mit jedem Tage mehr, 
als ſie ſelbſt wollte und glaubte. 


8 | Rätſel Glück. o 


Nur heute war fie nicht bei Laune — heute nicht. 
Sie war feines heißen, gefährlichen Drängens wirklich 
müde. War fie nicht noch frei? Ja — gewiß! Sie 


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wollte es ihm zeigen, ſie wollte die Grenze wieder 
deutlich und klar ziehen, die er nun ſchon mehrmals 
in heißem Ungeſtüm hatte überſpringen wollen. Frau 
Leutnant v. Weltzien werden — heute, morgen, über- 
morgen, da müßte ſie doch eine Törin, eine Närrin 


o Novellette von E. v. Weitra. 9 


ſein! Ihre Augen blitzten über den weißen, weichen 
Federfächer hinweg den jungen Prinzen Reppin an, 
der ſich ihr gerade vorſtellen ließ. 

Der Prinz — einige Wochen in diefe Stadt ver- 
Schlagen — war angenehm überrafcht, fern von Berlin 
fo viel Eleganz und Geſchmack zu finden. Die Unter- 
haltung mit Frau Carlotta Weitbrecht wurde ſehr an- 
geregt. 

Leutnant v. Weltzien kam, fie zur Frangaiſe zu 
holen. In ſeiner läſſigen Art, die doch immer etwas 
Zwingendes hatte, verneigte er ſich und zog ohne 
weiteres ihren weißbehandſchuhten Arm durch den 
ſeinen. 

„Finden Sie den Reppin nett?“ fragte er bei- 
läufig. „Er iſt ein Schaf.“ 

Sie ärgerte ſich über ſeine Anmaßung. 

„Ja,“ ſagte fie, „er iſt ſehr nett. Sch habe ihm 
ſoeben den Tiſchwalzer verſprochen.“ 

Er ſah ſie prüfend an. „Laune oder Geſchmack?“ 
fragte er ſcharf. 

„Aberzeugter Geſchmack,“ entgegnete fie. 

„Ich gratuliere.“ Kurz und ſcharf kam das heraus. 
Dann fuhr er nach einer Weile halblaut fort: „Bitte, 
gnädige Frau, tanzen Sie den Tiſchwalzer nicht mit 
ihm.“ i 

„Wieſo? Sie find unbeſcheiden!“ 

„Sagen Sie, Sie tanzten den Tiſchwalzer mit 
Leutnant v. Weltzien.“ 

„Sie haben doch ſchon den Kotillon!“ 

„Tut das etwas zur Sache?“ 

„Ja. Sie kompromittieren mich.“ 

„Ich — Sie?“ | 

„Ja. Durch die närriſche Art Ihrer Leidenſchaft, 
mit der Sie mich verfolgen.“ 


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„Und da werde ich mein Orakel hören? Werde ich?“ 

Sie nickte ſtumm. Eine unklare Furcht hielt ſie 
umſpannt. 

Da glitt er leicht aus dem Wagen. Sie ſah durch 
die angelaufenen Scheiben hindurch noch ſeine ſchlanke 
Geſtalt am Wegrande ſtehen — die Hand am Helm. 


o Novellette von E. v. Weitra. 13 


un —ðẽ 


Dann entſchwand ſein Bild in der Dunkelheit. 

Am anderen Abend ſchritt Frau Carlotta unruhig 
auf den weichen, dunklen Perſerteppichen ihrer Woh- 
nung hin und her. Sie trug ein mattfarbenes Tee- 
kleid aus leicht gekreppter Seide mit weißen, weiten 
Armeln. Glitzerndes Goldband durchzog ihr Haar. 
Ein glatter, goldener Reif von ſeltener Schönheit um- 
ſchloß die leuchtende Rundung ihres Arms. 

Wohl zum hundertſten Male an dieſem Nachmittag 
umflatterten Frau Weitbrechts Gedanken die jugend- 
liche Geſtalt ihres Helden. Sie hatte ihn lieb — wahr- 
haftig. Die unverbrauchte Kraft dieſes leidenſchaft- 
lichen Menſchen, der an Geiſt ein Mann und an Herz 

? ein Kind zu fein ſchien, riß fie zuweilen unwiderſteh- 
lich hin. Aber es ſtand dem ſo vieles gegenüber. Wohl 
galt der junge Offizier für begabt — vielleicht führte 
er ſie auf die Höhen des Lebens. Vielleicht erbte er 
aber auch die ſchwache Geſundheit feiner jung ver- 
ſtorbenen Mutter, mußte frühzeitig den Dienſt auf- 
geben oder ſich mit kleinen, beſcheidenen Garniſonen 
begnügen. Dann hieß es von Ort zu Ort herum— 
ziehen mit einem Mann, der nichts vorſtellte und 
nichts war, für den ſie nur mühevoll zu ſorgen hatte. 

War Weltzien nicht auch arm? Sein Vater beſaß 
ein kleines, ſtark belaſtetes Gut und vier unverſorgte 
Töchter. Weltzien brachte nichts mit in die Ehe — 
nichts als die eigene Perſönlichkeit. Genügte ihr das? 

Gerade, als fie bei recht kritiſchen Gedanken an- 
gekommen war, ſchellte es. Ein raſches, aufſchreiendes 
Klingeln — wie eine heiße, ſehnſuchtsbange Frage. 

In der nächſten Minute ſtand der junge Offizier 
in ſeiner ſchlichten, dunklen Uniform vor ihr im Zimmer. 
Sein charaktervolles Geſicht ſah ſtarr und ernſt aus — 


14 Rãtſel Glück. o 


ein ſeltſamer Kontraſt zu den dunklen, feurigen Roſen, 
die er in loſer Papierhülle in den Fingern trug. 

Nun war er neben ihrem Seſſel und küßte leiden- 
ſchaftlich wie geſtern ihre Hände. Stumm ſchüttete 
er die Roſen in ihren Schoß — mit einer leiſen, weichen, 
wortloſen Bewegung, wie jemand, der ſagen will: 
So möchte ich immer geben — ſo überzeugt, ſo aus 
dem vollen heraus. 

Die Bewegung ergriff ſie. Er hatte zuweilen 
eine ganz eigene Art. Dann kamen keine ſchmeichelnden 
Worte über feine Lippen — nur die Augen, nur fein 
ganzes Weſen wirkte wie eine einzige, große Liebkoſung. 

Da ſtrömte etwas Rätſelhaftes über fie hin: das 
Bedürfnis, dieſe geheimnisvolle Stunde auszukoſten, 
der ungeſtüme Rauſch, fein liebes, leidenſchaftheißes 
Geſicht zwiſchen beide Hände zu nehmen und zu küſſen. 

And wie ſie ſo dalag, den Kopf in das Polſter 
zurückgedrückt — mit dem Ausdruck der Hingabe in 
allen Zügen ihres Geſichts und ihres Weſens, da hielt 
es den Mann nicht länger. Den Arm um ihre Schultern 
legend, riß er ſie an ſich, heiße, wortloſe Küſſe bedeckten 
ihr Geſicht. | 

Eine Weile ließ fie es geſchehen. Wie in einem 
Traum lag fie, wie in einem füßen Rauſch — mit 
halbgeſchloſſenen Lidern und bang geöffneten Lippen. 
„Nicht mehr erwachen müſſen!“ dachte ſie. 

Aber da ſchlug die Ihr — Worte drangen an ihr Ohr. 

„Warum haſt du mich ſo lange darben laſſen — du 
— du —“ und er umklammerte ihre fieberheißen Hände. 

Da riß ſie ſich los. Eine dumpfe Angſt überflutete 
ſie. „Nicht ſo, Roderich — nein, nein — ich bitte 
Sie — laſſen Sie mich! — Laſſen Sie mich doch!“ 

Er veritand fie nicht. Wieder verfuchte er ſanft, 
ſie an ſich zu ziehen. 


2 Novellette von E. v. Weitra. 15 


Aber diesmal entglitt fie ihm. Das feine Ta- 
ſchentuch zerpreßte ſie zitternd in ihren nervöſen 
Händen. | 

„Nein, Roderich — nein. Es ſteht allzuviel zwiſchen 
Ihnen und mir — allzuviel!“ 

Er begriff noch immer nicht. Die Ruhe ſieghaften 
Glückes lag über ihm. „Was könnte noch zwiſchen uns 
ſtehen — jetzt, nachdem unſere Lippen ſich geküßt, 
nachdem du mein biſt?“ 

Faſt im Triumph ſagte er's. 

Da ſah ſie ihn faſt zornig an. Sie wehrte ihm mit 
beiden Händen. „Was zwiſchen uns ſteht? Ach — 
tauſenderlei! Deine unfertige Jugend! Deine un- 
klare Zukunft! — Wollen Sie mich mitſchleppen in 
irgend eine kleine Garniſon, in lichtloſe Gegenden — 
mich, die ich nur in Schönheit und Luxus zu atmen 
vermag? — Wie denken Sie ſich das? Wenn Sie 
verſchlagen würden ins einſame Oſtpreußen oder an 
die Grenze Lothringens — würden Sie um meinet- 
willen nein ſagen können?“ 

Er betrachtete ſie ſtaunend. „Nein,“ ſagte er hart. 
„Wohin mein König mich ruft, dahin gehe ich. Etwas 
anderes kennen wir Weltziens nicht.“ 

Sie ſank zurück in ihren Seſſel. „Sie können ſich's 
nicht vorſtellen, Roderich,“ ſagte ſie leiſe und haſtig. 
„Eine Frau wie ich, die immer in der Freiheit des 
Reichtums gelebt — ich weiß ja, ich weiß, Sie würden 
etwas verlangen von Ihrer Frau. Ihre Liebe würde 
mich tyranniſieren. Oder — würden Sie drei Viertel 
des Jahres auf meine Nähe verzichten können, wenn 
ich fern von Ihnen lebte — an der Riviera etwa oder 
ſonſt, wo es mir gefällt? Würden Sie ſich das vor— 
ſtellen können?“ 

Seine Augenbrauen wuchſen ineinander. Er tat 


16 Rätſel Glück. o 


einen tiefen, wunderlichen Atemzug — faſt wie ein 
ironiſches Lachen klang's. 

„Nein, Frau Carlotta. Eine Frau, die drei Viertel- 
jahre von mir getrennt lebte — nein — allerdings — —“ 

„Sehen Sie,“ klagte ſie. „Ich wußte es ja. Sie 
ſind nicht anders als andere Männer auch. Sie ver- 
langen etwas von Fhrer Frau — ſehr viel fogar. 
Müßte ich nicht alles für Sie opfern?“ 

Er ſah ihr nicht mehr ins Geſicht. Kerzengerade 


ſtand er. Seine hohe Geſtalt hob ſich dunkel von dem 


hellen Ofen mit dem glühenden Kaminfeuer ab. 

„Ja,“ ſagte er leiſe. „Ich würde allerdings etwas 
von meiner Frau fordern — Großes, Koſtbares, Un- 
erhörtes — —“ 

Seine Geſtalt bebte. 

Dann ſagte er leiſe und raſch, mit Hefen hör⸗ 
barem Atemzug: „Meine Frau müßte mich ſehr lieb 
haben.“ 

Die Art, wie er das ſagte — ein Ton, in dem Sehn- 
ſucht und Erſchütterung nachzubeben ſchienen — er— 
griff fie. Mit den Augen maß fie ſtumm feine fchlante 
Geſtalt. 

Aber dann ſah ſie ſich wieder an den weltfernen 
Grenzen aller Kultur mit einem leidenden, von Streben 
und Schaffen ermüdeten Mann, abgeſchnitten von 
allen Möglichkeiten ihres jetzt fo ſorgloſen und ver- 
wöhnten Daſeins. Und Verſtand und Ehrgeiz, die Liebe 
zu Luxus und Glanz gewannen wiederum die Ober- 
hand über die flüſternde Stimme ihres Herzens. 

„Glauben Sie mir, Roderich,“ ſagte ſie feſt und 
überzeugt, „es wäre eine Torheit — für Sie und für 
mich. Ich würde Entſagungen, Sie Verpflichtungen auf 
ſich nehmen, denen wir beide vielleicht nicht gewachſen 
wären. Laſſen Sie uns vernünftig ſein, Weltzien.“ 


— 


0 Sopellette von E. v. Weitra. 17 


Er ſtarrte in 
ihr Antlitz, in dies 
ſchöne, feingezeich- 
nete Antlitz, das 
eben noch unter 
ſeinen Küſſen ge— 
glüht. „Wie ſoll 
ich das verſtehen, 
gnädige Frau?“ 


1918. XL o 2 


18 Rätfel Glück. o 


„Nicht heute, lieber Freund, nicht jetzt! Laffen Sie 
uns ruhiger werden. Laſſen Sie mich die Schwere 
dieſes Schrittes bedenken. In drei Tagen ſchreibe ich 
Ihnen. Zn drei Tagen fage ich Ihnen, wie die Ent- 
ſcheidung meines Herzens lautet.“ 

Seine Hände krampften ſich ineinander. Dann 
griffen ſie mechaniſch nach den weißen Handſchuhen, 
die neben ihm auf dem Seſſel lagen. „Verzeihen Sie, 
gnädige Frau,“ fagte er heiſer. „Ich —“ 

Sie fiel ihm ins Wort. „Sagen Sie nichts mehr. 
Zerſtören Sie nicht die Schönheit dieſer Stunde.“ 
Sie ſtreckte angſtvoll, wie abwehrend, die Hände aus. 
„In drei Tagen ſollen Sie alles wiſſen — alles, was 
mein Herz bewegt.“ 

Da berührten ſeine Lippen noch einmal ihre Hand 
— kalt, förmlich, feierlich. 

Die roten Roſen waren von ihrem Schoß geglitten 
und lagen auf der Erde. Er hob ſie nicht auf. Über 
ſie hinwegſchreitend, ging er zur Tür. 

Leiſe ſchloſſen ſich die weißgemalten, goldverzierten 
Holzflügel hinter der dunklen Geſtalt. 


Die Kameraden waren in dieſen Tagen noch mehr 
davon überzeugt, daß Weltziens Genialität eigentlich 
nur aus einer gewiſſen Verrücktheit beſtand. In der 
Turnſtunde ließ er die Leute die unglaublichſten Dinge 
machen und ſchrie ſie an in einem ſo gereizten Ton, 
daß ſelbſt der alte Feldwebel heimlich zu knurren be- 
gann. Im Kaſino hatte er faſt immer Streit, und dazu ſah 
er müde und abgeſpannt aus und blaß wie eine Leiche. 

„Der Weltzien bekommt die Schwindſucht oder den 
Rappel,“ ſagte der Regimentsadjutant. Aber diesmal 
war etwas wie Mitleid in feiner Stimme. — 


| 
| 


u Novellette von E. v. Weitra. 19 


Nach drei Tagen hielt Roderich v. Weltzien den Brief 
der Geliebten in Händen. Mattlila war er und ſtrömte 
ein feines, teures Parfüm aus, jenes Parfüm, das ihn 
zuerſt berauſcht hatte auf dem Ball beim Bezirks- 
kommandeur. | 

„Sie werden es ſpäter begreifen, lieber Freund, 
warum ich Ihnen nicht angehören kann. Laſſen Sie 
uns einander das weiter ſein, was wir uns waren. 
Laſſen Sie uns den Reiz der Stunden auskoſten in 
jener Art, wie er für uns Höhenmenſchen einzig ge- 
ſchaffen iſt.“ 

Ein kaltes Lächeln ging über Weltziens Geſicht. 
Dann nahm er ſchweigend den Brief wieder auf und 
zerriß ihn ganz langſam in kleine, winzige Stückchen. 

Seine Liebe für Carlotta Weitbrecht war aus- 
gelöſcht. Nach ſchwerem Rauſch machte ſeine Seele 
ſich endlich frei. 

* * 
XR 

Achtzehn Jahre waren ſeitdem vergangen — ein 
Zeitraum, der nicht ſpurlos vorübergehen kann. Und 
doch gibt es zuweilen Verhältniſſe und Menſchen, 
bei denen die Weltenuhr gewiſſermaßen ſtillzuſtehen 
ſcheint. | 

So bei Carlotta Weitbrecht. Sie war noch immer 
eine ſchöne Frau, obwohl der Glanz ihrer Jugend 
gewichen war und ſie hie und da ſchon zu künſtlichen 
Toilettenmitteln greifen mußte. Sie fuhr vor großen 
Feſten noch immer nach Wien, um ihre Toiletten dort 
anzuprobieren, nur daß der alte Wiener Schneider- 
meiſter einer jüngeren, aufſtrebenden Kraft gewichen 
war, und daß ſie tiefe, ſatte Farben trug, weil die 
zarten Töne ſie nicht mehr kleideten. 

Und noch immer war ihre Seele unſchlüſſig, wohin 


20 Rãtſel Glüd. D 


fie ſich wenden ſollte, und noch immer ſuchte fie nach 
dem „glänzenden Mann“, der ſie auf die höchſten 
Höhen des Lebens führen ſollte, wo es ungetrübten 
Sonnenglanz gab und die Befriedigungen, nach denen 
ſie raſtlos dürſtete. 

An Weltzien dachte ſie immer noch zuweilen — 
mit einem weichen Lächeln, wie man eines ſchönen, 
angenehmen Traumes gedenkt, den man gern geträumt 
hat — zuweilen aber auch mit einem jähen, tiefen 
Heimwehgefühl, das ſie mitunter in den einſamen 
Sommertagen ihres Lebens beſchlich. 

Nie wieder hatte ſie von ihm gehört. Er hatte 
damals die Stadt ſehr bald verlaſſen. Dann las ſie 
einmal von der Verſetzung eines Weltzien in den Großen 
Generalſtab. Aber es gab ſo viele ſeines Namens in 
der Armee, fo daß fie mit Sicherheit nie etwas über 
ihn in Erfahrung zu bringen vermochte. 

So verging die Zeit. 

Das Infanterieregiment Graf von Flandern feierte 
ſein vierhundertjähriges Beſtehen. Die Veteranen der 
großen Kriege und alte Kameraden aus früherer Zeit 
waren geladen worden, eine beträchtliche Zahl von 
Perſönlichkeiten, aus denen inzwiſchen draußen in der 
großen Welt etwas Tüchtiges geworden war. 

Zu den erwarteten Ehrengäſten des Regiments ge- 
hörte auch der frühere Generalſtabschef in M., jetzige 
General Georg Roderich v. Weltzien, der in ſeiner 
Leutnantszeit dem Regimentsverband angehört hatte. 
And plötzlich war der Name Weltzien in aller Munde. 
Der Kriegsminiſter Freiherr v. Gilgenheim war vor 
wenigen Tagen geſtorben, und als ſeinen mutmaßlichen 
Nachfolger bezeichneten die Zeitungen den von dem 
regierenden Herrn ſchon vielfach ausgezeichneten Ge- 
neral Weltzien. 


o Novellette von E. v. Weitra. 21 


So wurde denn das Stiftungsfeſt des Regiments 
und der darauffolgende Ball beim Regimentskom- 
mandeur zugleich zu einem Huldigungsfeſt für den 
„kommenden Mann“. | 

Frau Carlotta Weitbrecht ſchmückte ſich zu dieſem 
Feſt mit ganz eigenen Gedanken und Gefühlen und 
mit einer ganz eigenen, etwas aufgeregten Sorgfalt. 
Wunderlich — heute war es gerade der Tag, an dem ſie 
einſt ihre erſte, jugendliche Ehe einging. Und an 
dieſem Tage würde ſie den Jugendfreund wiederſehen, 
der ſo ſeltſam raſch in der großen Welt emporgeſtiegen 
war! 

Lange, lange wählte ſie unter ihren Toiletten und 
legte ſchließlich das funkelnde Diamantenkollier um, 
für das ſie einſt ein Fünftel ihres Vermögens geopfert 
hatte. Die leuchtenden Steine verdeckten ein paar 
häßliche kleine Fältchen ihres einſt ſo wundervollen 
Halſes. | 

Und nun Stand fie inmitten der wogenden, ge- 
ſchmückten, erwartungsvollen Menge, unter dem großen, 
ſtrahlenden Kronleuchter des Kaſinos. Der Bezirks- 
kommandeur, Oberſtleutnant z. D. Tiefenbach, der mit 
Weltzien zuſammen die Kriegsakademie beſucht, mußte 
eben zum neunundneunzigſten Male von dieſer Be— 
kanntſchaft berichten. 

Und nun öffnete der Diener beide Flügeltüren, 
der Hausherr eilte einer Dame entgegen, deren ſchlanke 
Erſcheinung im ſchlichten, weißen Seidenkleide ſoeben 
faſt lautlos über die Schwelle glitt. Oberſt v. Grum- 
bach küßte ihr mit tiefer Ehrfurcht die Hand und ge— 
leitete fie, wie man eine Königin geleitet). 

„Frau v. Weltzien,“ ſagten die Leute. 


*) Siehe das Titelbild. 


Rãtſel Glüd. o 
Mit weit geöffnetem Blick umfaßte Frau Carlotta 
die fremde Erſcheinung. Dieſe Frau war weder ſchön 
noch glänzend. Einfach und ſchlicht war ihre Toilette. 
Die Anmut ihrer Bewegungen und die Liebenswürdig- 
keit des Ausdrucks bildeten vielleicht ihre einzigen Reize. 

Weltziens Frau! 

And hinter dieſer blonden, ſchmächtigen Dame, die 
am Arm des Oberſten grüßend die Reihen der Gäſte 
durchſchritt, ging der erwartete Stern des Abends, ging 
der Mann, den Carlotta Weitbrecht ſo lange Jahre 
nicht geſehen hatte! 

Roderich v. Weltzien ſah nahezu unverändert aus. 
Wäre der Ordensſtern auf feiner Uniform nicht ge- 
weſen, Carlotta Weitbrecht hätte meinen können, der 
junge Oberleutnant von ehedem käme da wieder über 
die Schwelle des Ballſaals geſchritten. Die ſchlanke, 
ſehnige Geſtalt, das faſt bartloſe Geſicht, das kurz- 
geſchorene Haupthaar ließen ihn immer noch jung 
erſcheinen. Auch in jeder Bewegung ſchien er der alte 
geblieben — in dieſer läſſigen, beweglichen Art zu 
ſchreiten, zu ſprechen, ſich zu verneigen — dieſe Art, 
die eigentlich etwas ganz Unmilitäriſches zu haben 
ſchien und doch eben gerade die freie, individuelle 
Beweglichkeit des genialen Menſchen verriet. 

Nun ſtand er, den Helm in der Hand, neben der 
ſchmalen, blonden Frau — mitten unter dem Rron- 
leuchter ſtanden die beiden. Frau v. Weltzien bog ſich 
einen Augenblick zu ihm zurück, flüſterte ihm etwas 
zu und lächelte. Nun lächelte auch er. Dabei nahm 
er mit der weißbehandſchuhten Rechten einen kleinen, 
dunklen Seidenfaden von der weißen Blume auf ihrer 
Schulter — mit der ſorglich andächtigen Vertraulich- 
keit eines Menſchen, der ſich einer großen Liebe immer 
und überall bewußt iſt. Und gleich darauf ſchob er 


o Novellette von E. v. Weitra. 23 


mit der Hand ein filbernes Teebrett zurück, mit dem 
ein haſtiger Lakai faſt gegen Frau v. Weltziens Schulter 
gerannt wäre. 

Carlotta kannte dieſe Bewegung, dieſelbe männlich 
herriſche, ritterlich galante Art, mit der er ſchon vor 
Jahren jede Unannehmlichkeit, jede Gefahr von dem 
Gegenſtand ſeiner Verehrung fernzuhalten pflegte. 

Und plötzlich ſchloß Carlotta Weitbrecht die Augen. 
Sie konnte die beiden nicht mehr anſehen. Ein Gefühl 
des Neides kroch in ihrer Seele empor, eine Empfindung 
bettelhafter Armut gegenüber dieſem Manne, der allen 
Lebens reichtum in feinen Händen hielt. 

Roderich Weltzien! Liebte ſie ihn noch? 

Eine Stimme dicht neben ihr ſchreckte ſie auf. 
Oberſt v. Grumbach ſtellte ihr den hohen Gaſt ſeines 
Hauſes vor. 

Weltzien verneigte ſich. Achtlos ging ſein Auge über 
Frau Carlotta hin. Wie vielen Menſchengeſichtern 
war er heute nicht ſchon begegnet! Wie viele ver- 
ſuchten noch, ſeine Bekanntſchaft zu machen! Was 
kümmerten ihn da die funkelnden Brillanten am Halſe 
einer alternden Frau! 

Frau Carlotta erſtarrte unter dieſem Blick. War 
fie wirklich fo alt geworden? War feine Seele fo welten 
weit von ihr entfernt, daß er die Geliebte feiner Jugend 
nicht mehr kannte? | 

Beide Hände ftredte fie plötzlich aus, als ob fie 
etwas feſthalten müſſe — etwas, das herrlich, köſtlich, 
unwiederbringlich war. 

„Kennen Sie mich nicht mehr, Herr v. Weltzien?“ 
bebte es von ihren Lippen. 

Da ſah er auf. Seine Augen, ſcharf und tief wie 
damals, tauchten in die ihren. Wie ein flüchtiges 
Beſinnen ging es durch ihn hin. 


24 Rätfel Glück. o 


„Ah — ganz richtig, gnädige Frau! Zch hatte vor 
Fahren das Vergnügen —“ 

Auf der Galerie ſetzten die Geigen ein, ſchmei— 
chelnd, lockend, der erſte Walzer begann. 


= 
| 


„Ja,“ ſagte Frau Carlotta leiſe, „es ift eine lange, 
lange Zeit.“ Sie hatte dabei die Empfindung, als 
müſſe Weltzien nun den Arm um ſie legen und ſie 
wieder hineinziehen in den wogenden, wiegenden 
Walzer — ſo wie damals. 

Aber da nahm eine Menſchenwelle ihn ſchon wieder 


o Novellette von E. v. Weitra. | 25 


von ihrer Seite hinweg — es 1900 ja ſo viele, die noch 
ein Wort von ihm erhaſchen wollten. 

And Carlotta Weitbrecht ſtand plötzlich wieder allein 
— fremd und allein inmitten der plaudernden, flirten- 
den Menge. 

Da hörte ſie dicht hinter ſich ein Lachen — ſilbern 
und hell. Wie lauter läutende Glöckchen des Glücks 
klang es. 

Es war das Lachen der jungen Frau v. Weltzien, 
die eben von ihren drei blonden Kindern erzählte. 


% 


Die Apachen. 


Ein Parifer Roman von Fritz Levon. 


(Fortſetzung und Schluß.) v knachoruck verboten.) 


W die Seine ſtromabwärts Paris verläßt, liegt 
am rechten Ufer eine Gruppe alter Häuſer, 
die zwar noch zu dem Weichbilde der Stadt gehören, 
aber dennoch den Eindruck Ausgeſtoßener machen, denn 
der Villenkranz hat dort bereits ſein Ende erreicht, und 
die ſchmucken Vororte find noch eine gute Strecke ent- 
fernt. 

Eines dieſer Häuſer iſt ſo dicht an den Fluß gebaut, 
daß ſeine morſche Galerie über das Waſſer hinausragt 
und an ſtürmiſchen Tagen die Wellen bis zu dem farb- 
loſen Holzwerk hinaufſpritzen. 

Es führt dort auch eine Treppe zum Fluß hinab, 
aber die kleinen Dampfſchiffe legen niemals an, Boote 
vielleicht dann und wann in dunklen Nächten. 

Die Gegend iſt arg verrufen. 

Vor Jahren hat die Polizei aus dieſem Hauſe eine 
Falſchmünzerbande geholt, dann etwas ſpäter ein 
Anarchiſtenneſt ausgehoben. Seitdem ift ihre Auf- 
merkſamkeit nicht mehr ſo rege, denn wo große Dinge 
geſchehen ſind, die den Zeitungen Nahrung geben, da 
bleibt es immer auf eine Weile ruhig. 

Man weiß natürlich, daß dort lichtſcheues Geſindel 
zur Miete wohnt, aber Geſindel gibt es überall, und 
es iſt immer noch beſſer, wenn die Apachen ein Dach 


u Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 27 


über dem Kopf haben als Torbogen und Hecken und 
verlaſſene Baubuden. 

Sean Lecocq und Käthe hatten ein Zimmer nebſt 
Küche in dem betreffenden Hauſe inne. Wenn ſie Licht 
und Luft haben wollten, ſo konnten ſie ihren Kaffee 
auf der Galerie einnehmen, aber bei ihnen war Schmal- 
hans Küchenmeiſter geworden, und die Luft ging rauh 
über den Fluß, denn Paris ſeufzte unter einem ſo 
unfreundlichen Spätherbſt, wie man ihn ſeit Jahren 
nicht erlebt hatte. 

Sie waren beim Maire geweſen und hatten ſich 
zuſammenſchreiben laſſen — o ja, ſie waren Mann und 
Frau, denn Käthe hatte darauf beſtanden. Sie ſah 
freilich vor Augen, wie es ſpäter kommen werde, aber 
fie konnte nun einmal nicht von Jean ablaſſen. Er 
war wie ein Dämon in ihr Leben getreten und hatte 
ſie wenigſtens bis heute immer gut behandelt. 

Das heißt er ſchlug ſie nicht, und er arbeitete auch 
hie und da. 

Wir kennen fie ja, jene Leute mit der Zockeimütze 
im Nacken und der feſtgeklebten Stirnlocke, die ſich an 
den Bahnhöfen herumdrücken, um einen Koffer an die 
Droſchke zu tragen, oder die zwiſchen den Tiſchen der 
Boulevardcafés zweifelhafte Photographien ausbieten. 
Sie betteln nicht gerade, aber ſie laſſen ſich jeden 
Gelegenheitsdienſt dreifach bezahlen, und wer ſich mit 
ihnen abgibt, der ſpürt es oft genug an Leib und 
Leben. 

In der Hauptſache aber vertröſtete Jean Lecocq 
ſich und ſeine junge Frau auf die nahe Zukunft. Er 
hatte ihr niemals volle Klarheit über feine Vergangen- 
heit gegeben, und es dünkte ihn auch nicht notwendig, 
ſeine Beziehungen zu Renard aufzudecken. Aber der 
Name dieſes Mannes tauchte immer häufiger in feinen 


28 Die Apachen. o 


Reden auf, und jedesmal war er von den Strahlen 
eines flimmernden Goldhaufens umgeben. 

So auch heute, obwohl an dieſem grauen Morgen 
die Phantaſie flügellahm wurde und die Wirklichkeit 
ihr häßliches Antlitz ſchonungslos enthüllte. 

Zean war damit beſchäftigt, zum erſten Male den 
kleinen Kanonenofen zu heizen, der die Hauptzierde 
des dürftigen Zimmerchens ausmachte. Es hatte ſich 
nicht gut länger hinausſchieben laſſen, denn der Nebel 
ſtrich über den Fluß, und die nach der Galerie führende 
Tür hing nur loſe in den Angeln. Von dorther hatte er 
ſich auch das Brennmaterial geholt. Ein Stück der 
Brüſtung war ſchon lange morſch geweſen und drohte 
ins Waſſer hinabzufallen. Nun zerkleinerte Jean es 
mit feinem Handbeil und ſagte zu Käthe: „Eine Woche 
lang kann das Gerümpel allenfalls vorhalten, dann 
zünden wir am beſten die ganze Bude an. Kannſt du mir 
vielleicht verraten, was es heute mittag zu eſſen gibt?“ 

„Nichts,“ entgegnete fie. „Ich habe geſtern den 
letzten Sou ausgegeben.“ 

Er blickte ſich mürriſch um. „Zum Verſetzen wird 
auch nicht viel da ſein?“ 

„Höchſtens den beſſeren Anzug und mein Tanz— 
kleid — du weißt ja.“ 

„Das auf keinen Fall. Heute abend iſt Ball auf 
dem Montmartre. Wir werden natürlich hingehen, 
das verſteht ſich von ſelbſt.“ 

Er meinte das Tanzlokal, in dem die beiden ſich 
kennen gelernt hatten. Es war auf demſelben Platze 
erbaut, wo früher die alten hiſtoriſchen Mühlen ſtanden. 

Käthe ſeufzte. „Mir iſt wahrhaftig nicht ums Tanzen. 
Und wo willſt du denn das Geld hernehmen?“ 

„Dort haben wir Kredit,“ tröſtete er. „Zum Teufel 
auch, Jules Renard muß doch nächſtens eintreffen.“ 


o Ein Parifer Roman von Frig Levon. 29 


Die junge Frau war aufgeftanden und neben den 
Ofen getreten. Sie hielt ihre erſtarrten Hände über 
das auflodernde Feuer und fragte halblaut: „Alſo der 
foll uns Geld bringen, Jean? Wie hängt denn das 
zuſammen?“ 

„Das geht dich nichts an, Kind.“ 

„So redeſt du immer — aber ich will es wijfen. 
Hat er vielleicht einen totgeſchlagen?“ 

„Wie kommſt du denn auf ſo etwas, Käthe?“ 

„Ich glaube, wenn die Gelegenheit da iſt, tut ihr 
es alle,“ murmelte ſie. „Mein Gott, wie mich friert!“ 

Jean ſuchte in feiner Weſtentaſche und brachte end- 
lich ein Fünfzigcentimesſtück zum Vorſchein. „Das 
kommt vom leeren Magen. Sieh, das iſt mein Letztes, 
ich wollte mir eigentlich Tabak dafür kaufen, aber Brot 
iſt wohl nötiger. Geh und hol welches, dann kommen 
dir andere Gedanken.“ 

MWortlos nahm fie das Geld und verließ die Stube, 
während Jean noch eine Weile vor dem Ofen ſtehen 
blieb. Dann trat er auf die Galerie hinaus und ſah 
über den Fluß. 

Der Nebel war ſo dicht, daß die vorüberfahrenden 
Dampfſchiffe wie Schatten dahinhuſchten. Ganz Paris 
war ein Dunſtmeer, nur die mächtigen Konturen des 
Eiffelturms drohten geſpenſterhaft herüber. 

„Am beiten wär's, man ſtiege da hinauf,“ mur- 
melte der Mann. „Das müßte eine luftige Fahrt wer- 
den — von oben herunter, mitten zwiſchen die Eifen- 
träger hinein. Aber es koſtet zwei Franken. Die Ge- 
ſchichte wäre zu teuer. — Holla, Käthe, haſt du was 
vergeſſen?“ 

Die ſchwankenden Bretter, auf denen er ſtand, hatten 
geknarrt. Er drehte ſich um und wäre faſt rückwärts 
durch das Loch der Galerie in den Fluß geſtürzt, denn 


30 Die Apachen. 0 


— ——— 


der, den er täglich erwartete, ſtand zwar vor ihm, aber 
ſein Anblick wirkte erſchreckend. 

Jules Renard ſah aus wie eine Leiche. Blak war 
er immer geweſen, aber jetzt fehlte jeder Blutstropfen 
in ſeinem Geſicht, und die ſchwarzen Augen lagen tief 
unter den buſchigen Brauen. | 

Er ſprach mit heiſerer Stimme: „Guten Tag, Jean 
— ſind wir allein?“ 

„Den Teufel auch,“ entgegnete der andere, „ich 
wollte faft, wir wären es nicht — man könnte fid ja 
vor dir fürchten, wie du ſo daſtehſt. Seit wann biſt 
du zurück?“ 

„Seit vorgeſtern.“ 

„Und kommſt erſt heute?“ 

Renard hatte ſich abgewendet und war in die Stube 
zurückgetreten. Dort rückte er einen Stuhl an den 
Ofen und wärmte ſich die Hände. „Ich konnte deine 
Wohnung nicht früher ausfindig machen, Sean.“ 

„Das lügſt du! Madame Vernot weiß ſie beſſer 
als die Polizei. Vermutlich biſt du doch wieder im 
„Kaninchen“ untergekrochen?“ 

„Ja, die Stube ſtand noch leer, und es war ſo am 
bequemſten. Aber man muß fidh die Hintertür offen- 
halten, und wenn du wirklich meinſt, daß die Polizei 
hier nicht herumſpioniert, ſo möchte ich dich am liebſten 
für ein paar Tage um Gaſtfreundſchaft bitten. Ich 
nehme mit einem Strohlager in der Küche fürlieb, 
das ift immer noch beffer als fo 'ne verwünſchte Ge- 
fängnispritſche.“ 

Die beiden Männer wechſelten einen raſchen 
Blick. 

Dann dämpfte Jean unwillkürlich die Stimme. „Zit 
die Sache ſchief gegangen, Charles?“ 

„Aber gründlich. Die ganze mühſame Arbeit iſt 


2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 31 


umſonſt, und das alles wegen eines alten Eſels, der 
zur Unzeit einen moraliſchen Anfall kriegte.“ 

„Oas iſt ſehr ärgerlich,“ ſagte der andere mürriſch, 
„denn mir ſelbſt ſteht das Waſſer bis an die Kehle, 
und ich hatte ganz ſicher auf einen tüchtigen Batzen 
Geld gehofft. Aber abgeſehen davon begreife ich nicht 
deine Angſt vor der Polizei, denn die wird ſich den 
Teufel darum kümmern, ob den deutſchen Profeſſoren 
eine Naſe gedreht wird oder nicht — das iſt doch nicht 
ſo, als wenn man Banknoten fälſcht oder ſeinem lieben 
Nächſten den Schädel einſchlägt.“ 

Er ſagte das halb gedankenlos und noch immer im 
Groll über die fehlgeſchlagene Hoffnung, aber als dann 
ſein Blick auf Renard fiel, ſtutzte er. 

„Du ſiehſt wirklich aus,“ ſagte er, „als ob es ſich 
um mehr handelt als um ein paar Bogen Papier. 
Iſt dir im Ernſt daran gelegen, auf einige Zeit zu 
verſchwinden?“ 

„Im Ernſt, Zean.“ 

„Na, hier könnteſt du das allenfalls. Dieſe alte 
Bude hat ihre Geſchichte; aber es iſt Gras darüber 
gewachſen, und die Polizei läßt uns fo ziemlich un- 
geſchoren. Im Notfall kann man auch über die Galerie 
in den Fluß, denn unten an der Treppe liegt immer 
ein Boot mit Ruder und Zubehör. Aber umſonſt tue 
ich es nicht, ich habe Arbeit genug gehabt, um dir die 
Sache möglich zu machen.“ 

Charles Renard griff in die Taſche. „Hier ſind 
fünfzig Franken. Mehr kann ich nicht entbehren, aber 
es iſt auch genug für eine Schütte Stroh in der kalten 
Küche. Deine Frau wird hoffentlich nichts dagegen 
haben, daß ich mich bei euch einlogiere. In einer 
jungen Ehe iſt jeder Zuſchuß willkommen.“ 

Der Verſuch, einen ſpöttiſchen Ton anzuſchlagen, 


32 . Die Apachen. 2 
mißlang. Lecocq ſchob beide Fäuſte in die Taſchen und 
ſtellte ſich breitbeinig vor ſeinen Genoſſen. „Ich will dir 
einen Rat geben, Charles,“ ſagte er finſter. „Ze weniger 
du mich daran erinnerſt, daß ich gegen die Käthe ſchlecht 
gehandelt habe, deſto beſſer wird es für dich ſein, denn 
du ſelbſt trägſt die Schuld an dieſer ganzen Geſchichte. 
Gut aufgehoben iſt ſie nicht bei mir, und vielleicht endet 
ſie eines Tages da unten in der Seine wie ſo viele. 
Aber wenn du ihr armfeliges Daſein mit einem ein- 
zigen Wort antaſteſt, dann werfe ich dich ſelbſt ins 
Waſſer wie eine junge Katze. — Nun weißt du, Kamerad, 
wie wir beide miteinander ſtehen. In unſeren Kreiſen 
pflegt man ſich nicht viel mit Worten aufzuhalten — 
es iſt eine Freundſchaft von mir, daß ich vor dem Zu- 
beißen knurre.“ 


% m % 

Das „Kaninchen“ hatte am Abend zuvor Logier- 
gäſte bekommen, Leute, wie ſie in dieſer bedenklichen 
Wirtſchaft wohl nur ſelten abſtiegen. Drei Männer 
waren es, ein junger mit hellen, forſchenden Augen, 
ein älterer, der auf zehn Schritt den Künſtler verriet, 
und ein ganz alter. 

Die beiden Erſtgenannten ſaßen um neun Uhr 
abends in ihrem gemeinſamen Zimmer, wohin Ma— 
dame Vernot ihnen das Abendeſſen gebracht hatte, 
während der dritte aus verwandtſchaftlichen Rückſichten 
Gaſtrecht genoß und in Käthes einſtiger Schlafkammer 
untergebracht war. 

Sie unterhielten fih gedämpft und unbehaglich. 

„Haben Sie beobachtet, Specht, wie dieſe triefäugige 
Hexe den alten Tonndorf begrüßte?“ fragte Linde und 
hielt ſein Weinglas gegen das trübe Lampenlicht. „So 
'n Schwager ift ja immer eine Überraſchung, aber ich 


2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 33 


will dieſes Geſöff in einem Zuge austrinten, wenn 
ihr nicht das böfe Gewiſſen wie ein Kainszeichen auf 
der Stirn flammte.“ | 

„Ich beobachte überall,“ entgegnete Specht, „denn 
dafür bin ich Maler, und deshalb hat Doktor Barkhauſen 
mich hergeſchickt. Dies ift ein RNäuberneſt, in dem wir 
ſitzen, ich werde Uhr und Börſe unter das Kopfkiſſen 
legen.“ 

„Wir wollten ja unter die Apachen!“ verſuchte 
Egbert zu ſcherzen. 

„Jawohl, Kamerad, aber ich muß immer an das 
arme Mädchen denken. Schlimmer ift wohl noch nie- 
mals ein Vater getäuſcht worden.“ 

„Ver ſchickt denn auch ſeine Tochter ſo blindlings 
nach Paris!“ knurrte Egbert. „Still, da kommt er! 
Nun werden wir das Nähere ſchon erfahren.“ 

Eine unſichere Hand taſtete an der Tür, dann trat 
Fritz Tonndorf ein. Er war immer eisgrau geweſen, 
jetzt war er ſchlohweiß; er hatte auf der ganzen Fahrt 
von Jena bis Paris kaum ein Wort geredet. 

Jetzt ſetzte er ſich ſtumm an den Tiſch und ſtützte 
den Kopf in beide Hände. 

„Nun, alter Herr?“ fragte Specht leiſe. 

Da begann der alte Antiquar zu ſprechen, abge- 
brochen, tonlos, halb wie im Traum. „Sie ſagt, ſie 
wüßte nichts. Das Mädchen fei mit dem Kerl fort- 
gelaufen, die beiden hätten ſich heiraten wollen. Ich 
ſollte nur ſuchen gehen, dann würde ich ſie wohl irgendwo 
finden. In den Anlagen oder auf der Gaſſe! — Mein 
Kind, meine Tochter auf der Gaſſe! Wollen Sie mir 
beiſtehen, meine Herren? Ich muß noch dieſe Nacht 
hinaus, denn Paris iſt ſo groß — ſo unendlich groß!“ 

Die beiden hatten Mühe, ihn zu beruhigen und 
von ſeinem Vorſatz abzubringen, und erſt als Egbert 

1913. XI. 3 


34 Die Apachen. u 


me run — m nn — ß 


verſprochen hatte, in der Frühe des nächſten Morgens 
auf die Präfektur zu gehen, ließ er ſich dazu bringen, 
das Lager aufzuſuchen. 

Sie wollten ihn oben behalten, aber er beſtand 
darauf, in Käthes Zimmer zu ſchlafen. 

„Es find da noch ein paar Kleinigkeiten zurück- 
geblieben, die ihr wohl zu ſchlecht zum Mitnehmen 
waren,“ ſagte er. „Einem Vater iſt nichts gering, was 
ihn an ſein Kind erinnert, und wenn ich es in der 
Nähe habe, dann ſchlafe ich vielleicht eine Stunde lang 
und träume von ihr.“ 

Egbert brachte den Alten hinunter, denn der konnte 
ſich kaum auf den Füßen halten vor Gram und Er- 
ſchöpfung. 

Willibald Specht blieb indeſſen allein zurück. Es 
war ihm unheimlich zumute. 

In die Kneipen der Verbrecher zu gehen und dort 
Skizzen zu entwerfen, ſchien ihm nicht ſchwer; er hatte 
wiederholt geleſen, daß die Pariſer Apachen ein eitles 
Volk ſind und ſich gerne dem Stift des Künſtlers zur 
Verfügung ſtellen; aber mitten unter ihnen nächtigen, 
ſich ihnen im Schlafe preisgeben, das dünkte ihn eine 
gewagte Sache, und dieſes alte Haus ſteckte vielleicht 
bis unter das Dach voll ſolchen Geſindels. 

Kam da nicht ſchon einer? 

Es war Egbert, der zurückkehrte. 

Auch dieſer junge Mann, der ſonſt keine Furcht 
kannte, war totenblaß und blickte ſcheu hinter ſich. Er 
verriegelte die Tür, ſetzte ſich dicht neben den Maler 
und brachte ſeine Lippen an deſſen Ohr. 

„Wiſſen Sie, wen ich geſehen habe?“ flüſterte er. 

Der andere fuhr zuſammen. „Das Mädel?“ 

„Nein — jemand anders. Still — keinen Laut! 
Ich habe ihn geſehen — Renard!“ 


o Ein Parifer Roman von Fritz Levon. 35 


Faſt hätte Specht doch aufgeſchrieen, aber er griff 
nur nach dem Arm ſeines Gefährten. „Wo?“ fragte 
er heiſer. 

„Hier in dieſem Haufe. Ich kam die Treppe herauf 
— Sie wiſſen, es brennt eine Lampe auf dem Korridor — 
und da trat er aus der Tür nebenan. Ich vermute, 
daß er mich erkannt hat, denn er zog ſich ſofort wieder 
zurück. Aber das kann auch Zufall geweſen fein. Zeden- 
falls habe ich mich nicht getäuſcht, denn dieſes Geſicht 
vergißt man niemals.“ 

„Das weiß Gott!“ ſagte Specht ſchaudernd. „Was 
fangen wir nun an?“ 

„Wir müſſen morgen früh auf die Polizei — ich 
wollte es ja ohnehin.“ 

„Können wir das nicht ſchon heute abend?“ 

„Nein, es würde auffallen. Sie dürfen nicht ver- 
geſſen, daß wir uns hier in einer bedenklichen Gegend 
befinden, wahrſcheinlich kämen wir nicht weit. Aber 
am hellen Tage iſt das etwas anderes.“ 

„Und wenn er uns entwiſcht?“ 

„Ich glaube kaum. Er wohnt offenbar bei Madame 

Vernot oder wie das Weib heißt und ſteckt mit ihr 
unter einer Decke. Dann aber weiß er auch, daß wir 
nicht ſeinetwegen hier find, oder er denkt fih es wenig- 
ſtens.“ 
Specht nickte. „Der Dolchſtoß im Tiergarten war 
gut gemeint. Er fühlt ſich wohl ſicher. Aber mir graut 
vor dieſer Nacht — Teufel auch, Wand an Wand mit 
einem Mörder!“ 

„Hans Lux lebt doch!“ 

„Wirklich? Wiſſen Sie das ſo genau? Es ſind drei 
Tage vergangen, und wir haben keine Nachrichten aus 
Berlin. Da kann vieles geſchehen ſein.“ 

Sie hatten beide das Gefühl, belauſcht zu werden, 


36 Die Apachen. ü 


denn drüben hinter der Nachbarswand regte fidh kein 
Laut. - 
Egbert begann plötzlich ganz laut zu ſprechen. „So 
— gottlob, nun bin ich mit meinem erſten Reiſebericht 
zu Ende. Viel ſteht nicht darin, aber die nächſten 
Tage werden ſchon mehr Stoff bringen. Jetzt will ich 
ſchlafen wie ein Dachs.“ 

Der ſchlaue Maler verſtand ihn. „Ich auch, Kame- 
rad. Wir ſind eigentlich ganz gut untergekommen. 
Dieſe Madame Vernot macht den Eindruck einer braven 
Frau. Hoffentlich ſchnarchen Sie nicht!“ 

Es war ihnen nicht zum Lachen, aber ſie legten 
ſich geräuſchvoll und mit einigen Berliner Kalauern auf 
den Lippen ins Bett. 

Drüben, hinter der Wand regte ſich kein Laut. 


* * 
K* 


Am nächſten Morgen hing ein dicker Nebel über 
Paris, und unter ſeinem Schutz verließen die drei 
Reifenden das Gaſthaus zum Kaninchen. 

Um keinen Verdacht zu erregen, ließen ſie ihre 
Sachen zurück und ſprachen von der Beſichtigung des 
Louvre. Man legte ihnen übrigens kein Hindernis in 
den Weg, und mit der ortskundigen Führung Tonn- 
dorfs gelangten ſie bald an die Präfektur, wo man ſie 
ſofort zu einem höheren Beamten führte. 

Der alte Antiquar war etwas ruhiger geworden 
und trug als der Sprachkundigſte die Angelegenheit 
vor. Ihm perſönlich war natürlich am meiſten daran 
gelegen, den Aufenthalt ſeiner Tochter zu erfahren, 
während der Beamte erft die Ohren ſpitzte, als Renards 
Name genannt wurde. 

„Einer unſerer geſchickteſten Fälſcher,“ ſagte er. 
„Seit mehreren Monaten überwachen wir ihn nicht 


o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 37 
mehr, weil augenblicklich wenig gegen ihn vorliegt; 
aber es iſt immerhin intereſſant, zu erfahren, daß er 
bei Mutter Vernot ſein Quartier aufgeſchlagen hat.“ 

Dann unterbrach er ſich und warf einen mitleidigen 
Blick auf Tonndorf. 

„Ja ſo, der Vater geht hier wohl vor. Mein lieber 
Herr, Ihre Tochter ift in ſchlechten Händen, denn dieſer 
Jean Lecocq ſteht auch bereits in unſeren Liften. Aber 
feine Wohnung können wir Fhnen nicht verraten. Es 
bleibt Ihnen kaum etwas anderes übrig, als die Tanz- 
lokale der Apachen abzuſuchen, denn die webblichen 
Gefährten dieſer Herren pflegen dort nicht zu fehlen. 
Vielleicht beginnen Sie am beſten mit den Lokalen 
auf dem Montmartre. Dort hat man Lecocq öfters 
geſehen.“ 5 

Dann wendete er ſich wieder den Berlinern zu. 

„Alſo ein Mord, oder zum mindeſten ein Mord- 
verſuch? Wir liefern deswegen natürlich an Deutich- 
land aus. Aber zunächſt muß ich wiſſen, ob ſich Ihre 
Angaben beſtätigen. Der Telegraph ſoll ſofort ſpielen. 
In etwa zwei Stunden kann die Antwort hier ſein.“ 

Damit wurden fie entlaffen und gingen am Geine- 
ufer auf und ab, um die Wartezeit zu kürzen. Man 
konnte aber wenig von der Gegend erkennen, denn 
der Nebel wurde immer dichter, und es erhob ſich ein 
Wind, der die Wellen des Fluſſes aufwühlte. 

Fritz Tonndorf lehnte die ganze Zeit an der Rai- 
mauer und ſtarrte in das Waſſer. Seine Begleiter 
ſtörten ihn nicht, ſie waren zu ſehr geſpannt auf die 
Nachrichten aus Berlin, und Egbert empfand febr deut- 
lich, daß Käthes Geſtalt immer weiter in ſeiner Er— 
innerung zurücktrat. 

Ein Schatten, an dem das Herz keinen Anteil hat. 

Nach der feſtgeſetzten Zeit kehrten fie in die Prä- 


38 Die Apachen. a 
— . ͥͤ — ——.——0 
fektur zurück, und der Beamte trat ihnen mit einer 
Depeſche entgegen. 

„War ein Herr Lux Ihr Freund, meine Herren?“ 

„Er war es,“ entgegnete Egbert ahnungsvoll. 

„Dann bedaure ich ſehr — er iſt tot. Er hat Jules 
Renard als ſeinen Mörder bezeichnet. Ich habe hier 
den telegraphiſchen Auftrag des Berliner Polizei- 
präſidums zu ſeiner vorläufigen Feſtnahme. Ein 
förmlicher Haftbefehl wird demnächſt eintreffen, dann 
nehmen die Auslieferungsverhandlungen ihren An- 
fang.“ 

Fritz Tonndorf hörte die Nachricht teilnahmlos an. 
Er wanderte ſchon mit ſeinen Gedanken durch die 
Tanzlokale der Apachen. 

Willibald Specht und Egbert ſchwiegen erſchüttert, 
und der Beamte fiel in einen geſchäftsmäßigen Ton. 

„Ich werde Ihnen ſofort zwei Leute mitgeben. 
Hoffentlich hat dieſer Fuchs den Bau noch nicht ver— 
laſſen. — Sie wollen von ihm erkannt ſein, mein 
Herr?“ 

„Die Möglichkeit liegt vor,“ entgegnete Egbert. 
„Aber es war ziemlich dunkel im Korridor.“ 

„Nun, Renard hat gute Augen. Es gehört bei ihm 
zum Handwerk. Alſo tut jedenfalls Eile not — die 
Polizei ſtellt Ihnen ein Auto.“ 

Sie kamen dennoch zu ſpät, und Madame Vernot 
erſchöpfte ſich in Ausdrücken des Bedauerns. 

Wenn ſie eine Ahnung gehabt hätte! Aber es wäre 
ein ſo netter Herr geweſen, und eine arme Witwe 
müßte froh ſein, ihre Zimmer zu vermieten. 

Die beiden Polizeibeamten achteten kaum auf das 
Geſchwätz des Weibes. Der Vogel war ausgeflogen, 
und zwar mit einer Haft, die fein Schuldbewußtſein 
deutlich genug verriet, denn in dem verlaſſenen Zimmer 


2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 39 


ſtand und lag noch alles wie unter den Händen ſeines 
Bewohners. 

Aber die liſtig funkelnden Augen der Wirtin redeten 
von einem Geheimnis, um deſſen Verrat ſie dennoch 
niemand anging — es iſt eine zu gefährliche Sache, 
die Spuren der Gehetzten aufzudecken, und die Ver- 
treter des Geſetzes wiſſen das viel zu genau, um ſich 
auf etwas anderes zu verlaſſen als auf ihre eigene 
Findigkeit. 

` * Pr * 

Jean Lecocq und Käthe waren mitten im Schwarm. 
Letztere war vollkommen weiß gekleidet und unterſchied 
ſich darin nur wenig von den übrigen Tänzerinnen, 
aber ſie war viel blaſſer und ſtützte ſich ſchwerfällig auf 
den Arm ihres Partners. 

„Du biſt müde,“ ſagte Jean, „wir wollen ein wenig 
ausruhen. Teufel auch, das ging damals anders her, 
als wir zum erſten Male miteinander tanzten!“ 

„Es war Sommer,“ entgegnete ſie und zog das 
Tuch fröſtelnd um die Schultern. 

Sie ſetzten ſich abſeits an einen Tiſch. Jean be- 
ſtellte Wein. 

Als er mit einem Zwanzigfrankenſtück bezahlte, 
wurden ihre Augen groß. „Du haſt Geld?“ fragte ſie 
erſtaunt. 

„Genug für heute abend, Schatz! Morgen gibt es 
mehr.“ 

„Von — ihm?“ 

„Natürlich, von wem ſonſt? Wenn ich einen Schlaf- 
burſchen nehme, ſo muß er auch dafür blechen, und 
meinem Freunde Renard werde ich ordentlich die 
Daumenſchrauben anſetzen. Darauf kannſt du Gift 
nehmen.“ l 


40 Die Apachen. o 


„Iſt er wirklich dein Freund?“ 

„Sonſt würde ich ſicherlich einen Zudaslohn ver- 
dienen und ihn der Polizei überliefern.“ 

Sie ſtützte den blaſſen Kopf in die Hand und ſah 
auf das Gewühl der Tanzenden. „Die da ſind wohl 
alle gleich, aber vor — ihm fürchte ich mich. Was 
hat er begangen?“ 

„Ich weiß es nicht,“ entgegnete Jean leiſe. „Ich 
kann es ihm nur an den Augen ableſen. Vielleicht 
einen Mord —“ | 

„Dann darfſt du mich nicht mehr allein laſſen,“ 
ſagte die junge Frau tonlos. „Heute nachmittag baft 
du das getan.“ 

„Unſinn — dir krümmt er kein Haar! Du gehörſt 
ja zu uns.“ 

„Ja, Zean, das iſt es gerade — ich gehöre zu euch! 
Heute noch dir. — Alſo hörſt du, mit Renard darfſt 
du mich nicht mehr allein laſſen!“ 

Wenn ihr Blick ſeine auflodernden Augen geſehen 
hätte, ſo wäre ſie vielleicht ſtill geweſen. Aber ſie ſaß 
da und zeichnete mit dem verſchütteten Wein Figuren 
auf den Tiſch. Es war ſeltſam, wie wenig ſie auf ihn 
achtete, nicht einmal das Knirſchen ſeiner Zähne 
hörte ſie. 

Ihre Augen irrten jetzt durch den Saal und ſuchten 
den Eingang, aber die Gedanken weilten noch halb 
bei den letzten Worten. 


* * 
x 


In Paris einen Menſchen zu ſuchen, iſt ſchwerer 
als anderswo, aber Fritz Tonndorf ſagte mit jener 
ſtillen Energie, die bisweilen gerade bei verträumten 
Naturen hervorbricht, daß er die Stadt von einem 
Ende bis zum anderen durchwandern werde. Er halte 


D Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 41 
mit ſeinen Reiſegenoſſen das „Kaninchen“ geräumt, 
weigerte ſich aber, ein anderes Obdach aufzuſuchen. 
„Das iſt gut für Sie, meine Herren,“ ſagte er, „ich 
aber kann erſt wieder ſchlafen, wenn mein Kind auf- 
gefunden iſt. Sie verſtehen es nicht, die Gedanken 
eines Vaters zu ſchätzen.“ 

Als Willibald Specht etwas von ſeiner eigenen 
Tochter murmelte, ſah ihn der Alte groß an. 

„Haben Sie jemals Ihr eigenes Fleiſch und Blut 
verleugnet? Wir ſollen unſere Kinder hüten, Herr, aber 
ich wachte nur über meine vermoderten Scharteken.“ 

Sein Suchen hatte etwas Schreckliches, denn es 
war vollkommen ziellos. Es war wie das Taſten eines 
Blinden. Aber wenn die anderen von dem Abend 
ſprachen und von den Tanzlokalen, ſchüttelte Fritz Tonn- 
dorf den Kopf. 

„Dort ift fie nicht, dort kann fie nicht fein, Ich 
kenne dieſe Höhlen des Laſters. Sie tanzen da mit 
dei Tod. Mein Kind liegt vielleicht irgendwo auf 
dem Stroh und ringt mit dem Tode. Es iſt das Beſte, 
was ich noch hoffen darf.“ 

Aber als die Nacht kam, ging er doch mit. Er war 
ganz ſtumm geworden, und ſeine Begleiter merkten 
ihm wohl an, daß er jetzt an ein Wiederſehen glaubte 
und ſich davor fürchtete. Als ſie vor dem Lokal ſtanden 
und die Geigentöne hörten, erbot Egbert ſich, allein 
hineinzugehen. 

„Man würde Sie erſchlagen,“ entgegnete Lonn- 
dorf. „Da drinnen gilt ein Menſchenleben ſo viel wie 
eine Mücke. Aber alle dieſe Leute haben auch einen 
Vater gehabt.“ | 

So kamen fie zuſammen an den Eingang des Saales. 

In dieſem unbeſchreiblichen Chaos, in dem Staub 
und Dunſt, der ſelbſt das Lampenlicht rot färbte, war 


42 Die Apachen. o 


es nur ſchwer, Geſtalten und Züge zu unterſcheiden. 
Aber der alte Mann, deſſen Augen über den Büchern 
ſchon trüb geworden waren, warf nur einen einzigen 
Blick auf die durcheinanderwirbelnde Menge. 

Dann ſagte er heiſer: „Dort ſitzt ſie — die in dem 
weißen Kleid —“ ö 

Und nun begab ſich etwas Seltſames. 

Man war auf die Gruppe an der Tür aufmerkſam 
geworden, aber der wilde Apachentanz wogte noch 
weiter. 

Dann brach die Muſik plötzlich mitten im Takt ab, 
und es war, als ob der letzte Geigenton wie ein Schrei 
durch den Saal hallte. 

Fritz Tonndorf ging langſam vorwärts. 

Die Tanzenden hatten aufgehört und drängten ſich 
in Gruppen zuſammen. Wo der Alte hinkam, bildete 
ſich eine Gaſſe. Niemand rührte ihn an. 

Er ſah ja aus wie der Tod, dieſer weiße, gebückte 
Mann. Aber wie der Tod ſich durch nichts aufhalten 
läßt, ſo ging auch er unbekümmert ſeinen Weg bis an 
den Tiſch, an dem Käthe ſaß und mit einer Ohnmacht 
rang. 

Er ſtreckte den Arm aus und faßte ſie um das Hand- 
gelenk. Nicht hart, aber unwiderſtehlich und ohne ein 
Wort zu reden. 

Und fo führte er fie nach dem Ausgang. Das Zurück- 
weichen der Menſchen wiederholte ſich, ſie drängten 
förmlich in die Winkel des Saales — die Männer mit 
weitaufgeriffenen Augen, die Weiber das Geſicht ver- 
bergend. 

Dann flutete alles wieder zuſammen. Aber die 
Muſik ſchwieg noch immer. 


* * 


o Cin Parifer Roman von Frig Levon. 43 


Es war ſehr dunkel in dem ärmlichen Gemach, in 
dem Jules Renard vor den Augen der Polizei eine 
Zuflucht gefunden hatte. 

Auf dem Ciſch brannte zwar eine Kerze, wie fie 
für einen Sou von den Straßenhändlern verkauft wer- 
den, aber ihre Flamme ſpendete ſo wenig Licht, daß 
die Gegenſtände kaum einen Schatten warfen. 

Hinter der morſchen Galerietür rauſchte die Seine. 

Am Tiſch ſaß Renard mit dem Kopf in beiden 
Fäuſten und brütete vor ſich hin. Er hatte die ihm 
eingeräumte Küche verlaſſen und ſich hierher zurück— 
gezogen. Die Eigentümer der Wohnung tanzten ja 
für ſein Geld, ſie kamen wohl nicht vor morgen früh 
nach Hauſe. So konnte man ſich wenigſtens etwas 
Raum gönnen. 

In der Nähe lag das Beil auf der Erde, mit dem 
Jean heute früh ein Stück von der Galerie zerkleinert 
hatte, und Renard ſah grimmig lächelnd, wie der blanke 
Stahl matt aufleuchtete, ſo oft ein Zugwind von der 
Tür her die Kerzenflamme bewegte. 

Jules Renard verachtete im Grunde genommen 
das ganze Geſindel, mit dem er ſich notgedrungen 
abgeben mußte, und feine Beziehungen zu Lecocq er- 
wuchſen aus dem Solidaritätsgefühl der höheren Bil- 
dung; aber ſeitdem Jean auch äußerlich die Gewohn— 
heiten und die Lebensweiſe der Apachen angenommen 
hatte, war er in den Augen ſeines Genoſſen geſunken 
und konnte für künftige Unternehmungen nicht mehr 
in Betracht kommen. 

Für Pläne, die nach dieſem großartig angelegten, 
aber mißglückten Fälſchertrick ſchon wieder fein raft- 
loſes Gehirn durchkreuzten. 

Jules Renard horchte auf das Rauſchen der Seine, 
die unter dem wachſenden Winde immer höhere Wellen 


44 Die Apachen. N a 


warf. Das war ein ähnlicher Laut wie zwiſchen den 
Bäumen des Berliner Tiergartens — an jenem dunklen 
Abend, der dem heutigen ſo ſehr glich. | 

Wie hatte Hans Lux, dieſer deutſche Idealiſt, doch 
noch geſprochen? 

„Das ſchwerſte Verbrechen iſt der Mißbrauch einer 
Gottesgabe. Sie haben ſich deffen ſchuldig gemacht, 
Sie ſind von heute ab geächtet und verfemt. Kehren 
Sie in Ihr Vaterland zurück, um unterzutauchen. Dann 
will ich vergeſſen, daß ein anſtändiger und gebildeter 
Mann jemals mit Ihnen geredet hat.“ 

Da war die Wut zum Ausbruch gekommen, und 
die Beſtie hatte ſich gezeigt. 

Jules Renard wollte mit den Zähnen knirſchen, 
als dieſe Erinnerung ihm in das Hirn kroch, aber er 
fühlte, daß ſeine Zähne aufeinanderſchlugen. 

Dann fuhr er in die Höhe. 

Der Sturm hatte die morſche Tür der Galerie auf— 
geriſſen und die flackernde Kerze ausgelöſcht. Es 
huſchten plötzlich Schatten durch das Gemach, denn der 
Nebel war verſchwunden, und der Mond ſtand am 
Himmel zwiſchen jagenden Wolken, die mit dem ſchäu- 
menden Fluß ein Wettrennen abhielten. Es war alles 
Aufruhr und Flucht. 

Und Jules Renard dachte plötzlich an das letztere. 

Solange das große, ſtrahlende Paris unter der Hülle 
des Nebels lag, hatte er fih wie hinter einer Tarn- 
kappe geborgen gefühlt und nicht an Verfolgung ge— 
dacht. Nun ſtrahlten plötzlich drüben die tauſend und 
abertaufend Lichter auf, und wo fie flußabwärts in 
Dunkel verſanken, übernahm der Mond die Wächterrolle, 

Man ſagt, die Sonne bringt die Untaten an den 
Tag — nun, ihr blaſſer Geſelle verſteht es noch beſſer, 
denn er ſieht, was bei Nacht geſchehen iſt! 


6 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 45 


Jean Lecocq hatte von einem Kahn geſprochen, 
der unter der Galerie verborgen lag. Den wollte er 
jetzt benützen. 

Aber nicht waffenlos. 

Sein Dolchmeſſer lag weit von hier im welken Laub 
des Tiergartens, wo man es vielleicht ſchon gefunden 
hatte. Aber da war ja das Beil. 

Renard nahm es an ſich. Dann trat er wieder 
auf die Galerie hinaus, neben das Loch, das Jean 
gehackt hatte, um ſeinen Ofen zu heizen. Er ſpähte 
nach dem Verſteck des Kahns. Den mußte er haben, 
denn ſchwimmen konnte er nicht, und das Waſſer war 
auch zu wild. 

Er horchte plötzlich auf. Im Zimmer hatte ſich 
jemand bewegt. Kamen ſie ſchon — 

Es waren nicht die Häſcher, deren Schritt über die 
Diele des Zimmers haſtete, ſondern es war Sean, der 
plötzlich auf der Galerie ſtand, barhäuptig, zerzauſt und 
mit einem Geſicht — N 

Es kam ſchneller, als die Wolken da oben jagten. 

„Was willſt du?“ ſchrie Renard. 

„Hund, elender!“ 

Jules Renard hob feine Waffe. 

Da fuhr ihm ein Fauſtſchlag des Apachen zwiſchen 
die Augen, daß er das Beil fallen ließ und in die 
Luft griff. 

Ein Schrei — ein dumpfes Aufklatſchen. 

Jean Lecocq ſtand an der Bruſtwehr der Galerie 
und ſtarrte auf den ſchimmernden Fluß. 

Weit draußen tauchte noch einmal ein Kopf auf, 
dann eine Hand — dann nichts mehr. 

„Morgen iſt er in der Morgue,“ ſagte der Apache 
halblaut. 

Dann ging er hinein, ſchloß die Tür hinter ſich, 


46 Die Apachen. ô 


zündete die erloſchene Kerze an und ſetzte fidh auf den 
Rand des Bettes, das in einer Ecke des Zimmers ſtand. 

Es lagen dort noch einige Kleidungsſtücke, die Käthe 
für gewöhnlich zu tragen pflegte — armſelige Fähn- 
chen, aber dennoch ſauber gehalten und vielfach aus- 
gebeſſert. | | 

Jean Lecocq rührte fie nicht an. Aber er betrachtete 
dieſe Zeugen eines kurzen und zweifelhaften Glückes 
mit finſteren Augen. 

Als die Kerze ausgebrannt und erloſchen war, packte 
er feine eigenen paar Sachen in ein Bündel und ver- 
ließ das Haus. 

Man hat ihn nicht mehr in Paris geſehen. 


%* * 
X 


In der von Doktor Barkhauſen geleiteten Zeitung 
erſchien eine Serie von Artikeln über die Pariſer 
Apachen, die den ungeteilten Beifall der Leſer fanden. 
Man rühmte die Lebenswahrheit dieſer Schilderungen 
und erwartete mit Spannung das gleichzeitig ange- 
kündigte Buch, das noch mit Bildern von dem Stift 
eines tüchtigen Künſtlers ausgeſtattet ſein ſollte. 

Als es herauskam, wunderten ſich viele, daß die 
ſorgfältig ausgeführte Titelvignette nicht etwa das Bild 
eines unheimlichen Mannes, ſondern die Züge eines 
jungen Mädchens brachte, die vollſtändig in Weiß ge- 
kleidet war. 

Das Rätfel blieb ungelöſt. Aber als Berta ihren 
Verlobten Egbert fragte, ob Käthe Tonndorf wirklich 
ſo ausgeſehen habe, ſchüttelte er den Kopf. 

„Das wäre grauſam,“ ſagte er. „Aber ohne ſie 
hätte ich das Buch nicht ſchreiben können, und das Buch 
wiederum hat unſer Glück begründet. Wir wollen ſie 
nicht vergeſſen.“ 


D Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 47 


Käthe ſelbſt wünſcht das Vergeſſen um ſo ſehnlicher. 
Und ſie findet es im Strom der Zeit. Man ſieht ſie 
bisweilen in Begleitung von zwei alten Männern durch 
das Paradies bei Jena wandern, dort, wo der Weiden- 
buſch des Geleitshauſes ſich in die Saale taucht. 

Sie hätte in Paris eine unglückliche Liebe gehabt, 
ſagen die Leute. Du lieber Himmel, ſolche Dinge 
kommen auch in Oeutſchland vor — es iſt nicht der 
Mühe wert, darüber zu reden. 

Und ſie hat nun dafür gewiſſermaßen zwei Väter. 
Denn Ruprecht Linde nennt ſie ſein Töchterchen, und 
dann zuckt es ihm bisweilen um den grauen ſtruppigen 
Schnurrbart — gerade als ob er noch in Eiſenach 
ſäße und die Regiſtrande führen müßte. 

Ende. 


2 
** 


| * 


zn ger er gern ger“ 
ie u ae 


Die ſchöne Trebnitz. 


Roman von hans Becker. 


* 
[Nachdruck verboten.) 
Ss, Frau v. Trebnitz, das wäre alles, was man 
mir geſagt hat. Wenn Sie glauben, daß ſich die 
Sache für Sie eignet — gut. Meine Karte — ſelbſt— 
redend, ich ſchreibe nur noch ein paar Worte auf.“ 

Sanitätsrat Rombach übergab gleich darauf Sophie 
v. Trebnitz ſeine Karte und begleitete ſie bis zur Tür 
ſeines Sprechzimmers. 

„Bitte meine Empfehlung an Frau Schweſter und 
Herrn Profeſſor.“ 

Es war alles ſo ſchnell gegangen, daß Sophie kaum 
gehört hatte, was Rombach geſagt, ſich des Namens 
der Dame, an die er fie empfohlen, nicht erinnerte, 
auch nicht wußte, wohin, in welches Hotel ſie ſich wenden 
ſollte. 

Den Umſchlag mit der Karte des Sanitätsrats hielt 
ſie noch in der Hand. Da ſah ſie Namen und Adreſſe: 
Madame de Laſarewa, Hotel Kaiſerhof. 

Sophie bog von der Behrenſtraße, in der der 
Sanitätsrat wohnte, in die Friedrichſtraße ein. Sie 
dachte nicht nach, ob es einen näheren Weg zum Wil- 
helmsplatz gab — Erinnerungen waren in ihr auf- 
geſtiegen, als ſie den Namen des Hotels geleſen, und 
ein ſchmerzliches Lächeln huſchte über ihre Züge. 

Wie oft war ſie mit ihrem Manne dort zum Five 


a) Roman von Hans Beger. 49 


O' clock geweſen! Heute ging fie hin, ſich um eine 
Stellung zu bewerben, eine beſſere Dienerin, die einen 
Platz ſucht. 

Wenn ihr nur niemand begegnete, der ſie von früher 
kannte. Nur nicht Menſchen ſehen, angeſprochen wer- 
den, wohl gar Worte des Beileids hören müſſen! 

Trotz des warmen Tages durchfröſtelte es ſie, ſo 
daß ſie zuſammenſchauerte. Alles, was ſie durchlebt, 
trat ihr vor Augen, beſtärkte in ihr den Entſchluß: nur 
fort aus Berlin, recht weit, niemand mehr ſehen! 

Der Portier verbeugte ſich tief vor der vornehmen 
Dame, als ſie die Halle betrat. „Madame Laſarewa? 
— Ja, die Dame ift zu Haufe. — Soll ich gnädige Frau 
melden laffen?“ 

Er verbeugte ſich nochmals, als ſie ibm ihre Karte 
gereicht, winkte einem Pagen, und wenige Minuten 
ſpäter begleitete er Sophie zum Fahrſtuhl. 

Ihr Herz klopfte, als fie vor der Tür des ihr be- 
zeichneten Zimmers ſtand, vor der Tür ihres Schickſals, 
ihrer Zukunft. 

Auf ihr Klopfen hörte ſie ein wohllautendes „Herein * 

Sie hatte fih eine alte, kranke Dame vorgeſtellt, 
ohne recht zu wiſſen, wie ihr dies in den Sinn gekom- 
men — und nun ſaß vor ihr eine hochgewachſene, ele- 
gante, ſchöne Frau, eine Frau von fünfunddreißig bis 
höchſtens vierzig Fahren, deren große dunkle Augen 
ihr ohne Neugier, mit liebenswürdiger Diskretion ent- 
gegenſahen. 

Eine einladende Handbewegung nach einem in ihrer 
Nähe ſtehenden Seſſel forderte Sophie auf, Platz zu 
nehmen. 

Das war faſt ſo wie früher, wenn ſie einen Beſuch 
machte. Auch die erſten Worte der Dame ließen ſie 
beinahe vergeſſen, welcher Zweck ſie hierher Al 

1913. XI. 


50 Die ſchöne Trebnitz. o 


„Ich bin dem Sanitätsrat von Herzen dankbar, 
unſere Bekanntſchaft vermittelt zu haben — doch Sie 
ſcheinen ermüdet, darf ich Ihnen eine Erfriſchung bringen 
laſſen?“ 

Sie drückte auf eine neben ihr ſtehende Tiſchglocke, 
eine alte Kammerfrau erſchien. 

„Vielleicht ein Glas Portwein, einige Früchte —“ 

Sophie verneinte dankend, die Kammerfrau verließ 
das Zimmer. | 

Frau Laſarewa führte das Geſpräch im Plauderton 
weiter, ſprach über Berlin, bedauerte, daß fie fich ihrer 
Nerven wegen von allem zurückhalten müſſe, weder 
Theater noch Konzerte beſuchen dürfe, kam dann aber 
langſam dem Zweck des Beſuches näher. 

Keine Frage nach der Vergangenheit Sophies oder 
nach ihren Kenntniſſen, nur ab und zu führte ſie wie 
unabſichtlich die Unterhaltung in franzöſiſcher Sprache 
und ſchien, als Sophie ohne Stocken darauf einging, 
befriedigt. 

„Wir wohnen weit von jeder größeren Stadt, unſer 
Gut liegt vierhundert Werſt von Moskau. Da ſind wir 
ſo ziemlich auf uns allein angewieſen, denn auch die 
nächſten Güter ſind nicht nahe. Das iſt für Sie, die 
Sie hier in Berlin an Geſellſchaft gewöhnt ſind, wie 
eine Verbannung. Sie müſſen ſich zunächſt klar werden, 
ob Sie das auf ſich nehmen wollen. Mir liegt viel 
daran, daß Sie ſich bei uns wohl und behaglich fühlen, 
damit Sie die Einſamkeit nicht zu beſchwerlich finden 
und uns nicht bald wieder verlaſſen. Die Wintermonate 
verleben wir gewöhnlich in Moskau, da iſt es dann ſchon 
etwas beſſer. Ihre Pflichten beſtehen darin, meiner 
Tochter Xenia Geſellſchaft zu leiſten, denn durch meine 
häufige Abweſenheit entbehrt ſie zu ſehr die Mutter. 
Auch wenn ich zu Hauſe bin, kann ich mich leider um 


2 


A Roman von Hans Becker. 51 


nichts kümmern, meine Nerven verbieten mir das. 
Außer meinem Mann und meiner Tochter iſt noch mein 
ſechzehnjähriger Sohn auf dem Gute, der hat feinen 
Erzieher — ſo, das wäre die ganze Geſellſchaft, die 
unſeren Kreis bildet. Die Dame, die bisher meiner 
Tochter zur Seite ſtand, verläßt uns, um ſich zu ver- 
heiraten — ſehr bald geht ſie ſchon fort, es wäre alſo 
wichtig, daß Sie ſchnell hinkämen. Die Reiſe müſſen 
Sie allerdings jetzt allein machen, da mich der Sanitäts- 
rat hier noch feſthält, wir ſpäter auch noch einige Wochen 
in die Schweiz gehen —“ 

Sie machte eine Pauſe, lehnte ſich erſchöpft in ihren 
Seſſel zurück, wollte Sophie wohl auch Zeit laſſen, ſich 
alles nochmals zu überlegen. 

Nach einigen Minuten fragte ſie dann: „Sind wir 
einig — ja? Dann möchte ich Sie mit meinem Manne 
bekannt machen.“ ‘ 

Ein Glockenzeichen rief die Kammerfrau. 

„Bitten Sie meinen Mann auf einen Augenblick.“ 

Ehe dieſer kam, hatte ſie noch einen Wunſch aus- 
zuſprechen: „Sie haben doch gewiß eine Photographie 
von fih. Ich möchte das Bild nach Hauſe ſchicken, fo 
ind Sie Xenia bei Ihrer Ankunft nicht mehr fremd. 
Wie Sie zu reifen haben, ſchreibt Zhnen mein Mann 
genau auf. Von der letzten Station werden Sie mit 
Pferden abgeholt. So, das wäre alles, oder doch noch 
etwas — würden Sie ſich entſchließen können, die 
ſchwarze Kleidung abzulegen?“ 

Sophie verneigte ſich zuſtimmend. 

„Ich danke Ihnen — da iſt auch mein Mann.“ 

Paul Laſarew begrüßte Sophie mit großer Liebens- 
würdigkeit, wobei ſeine Blicke, als er hörte, daß Frau 
v. Trebnitz einverſtanden ſei, ſekundenlang forſchend auf 
ihrem Geſichte ruhten — faſt mit Bewunderung. Dann 


53 Die ſchöne Trebnitz. 5 


reichte er ihr die Hand und ſprach ſeine Freude aus, 
in ihr eine zukünftige Hausgenoſſin zu ſehen. 

Nur noch knappe zehn Minuten blieb Sophie im 
Geſpräch mit dem Ehepaare, dann ſtand ſie wieder 
auf der Straße. 

Nicht einen Augenblick bereute ſie, daß ſie die 
Stellung angenommen, fie hatte kaum darüber nach- 
gedacht, ob ſie ſich in das neue Leben hineinfinden 
könne, denn fie war ja mit dem feſten Entſchluſſe ge- 
kommen, anzunehmen, was ſich ihr bieten würde. 

Ein Ende mußte doch gemacht werden, im Hauſe des 
Schwagers konnte fie nicht bleiben. Die kurze Zeit ſchon, 
die ſie dort zugebracht, hatte ſie Qualen ausgeſtanden. 

Elſa war lieb und gut zu ihr, gewiß, aber ſie ſtand 
unter dem Einfluß ihres Mannes, hatte wohl täglich 
zu hören bekommen, daß dieſer Zuſtand nicht ewig 
dauern könne. Sie hatte auch nicht alles verheimlichen 
können, was jener zu tadeln wußte: daß Sophie und 
ihr Mann ſinnlos in den Tag gelebt; daß die Schweſtern 
die gleiche Mitgift erhalten hätten, von Sophies Ber- 
mögen aber kein Pfennig mehr da ſei; daß Trebnitz 
nichts getan, kein Einkommen gehabt, nur darauf ge- 
wartet hätte, daß der Schwiegervater ihm einen eigenen 
Rennſtall einrichten ſollte, bis dieſer geſtorben, ohne 
etwas zu hinterlaſſen; daß dann Zank und Streit bei 
ihnen losgegangen ſei. 

Einmal hatte Elſa auch von ſich aus hinzugefügt: 
„Ich will dir nicht weh tun, Sophie, aber du hätteſt 
deinen Mann nicht verlaſſen dürfen. Das hat ihm 
allen Halt genommen, ihn zur Verzweiflung gebracht. 
Halb wahnſinnig war er ja, als er dich holen wollte 
und du dich weigerteſt, zu ihm zurückzugehen. Da hat 
dann das Schreckliche geſchehen können. Sich und euren 
Jungen — ich kann es gar nicht ausdenken!“ 


2 Roman von Hans Becker. 53 


Sn ſolchen Gedanken war Sophie vorwärts gegangen 
und hatte, ohne acht darauf zu geben, die Wohnung 
ihres Schwagers erreicht. 

Langſam, in müder Haltung, wie jemand, der fühlt, 
daß er kein willkommener Gaſt iſt, ſtieg ſie die Treppe 
hinauf. 

Als ſie ins Zimmer getreten 2 fragte Die 
Schweſter: „Nun?“ 

„Es iſt alles in Ordnung.“ 

„Du haſt alſo angenommen?“ 

„Ja, gewiß — ſehr nette Menſchen. — Ob ich mich 
fürchte? — Kein Gedanke. Zch bin doch ſchon viel 
gereift, und Rußland liegt nicht aus der Welt. Ich muß 
mich ja auch an das alles gewöhnen, wen habe ich 
denn noch — 

„Aber Sophie, du haſt doch uns —“ 

„Ja, ich habe dich, du bleibſt mir, aber —“ 

Als ſie ſah, wie ängſtlich Elſa ſie anblickte, Tränen 
in den Augen, umfchlang fie die Schweſter und küßte fie. 

„Beruhige dich nur, ich werde mich ſchon in alles 
finden, es hilft doch nichts, es muß doch ſein.“ 

„Gehſt du nicht zu Ewald hinein, er hat ſchon ein 
paarmal gefragt? Tu es mir zuliebe, er hat ſich doch 
für dich bemüht, meint es gut und —“ 

„Schön, auch das will ich noch tun.“ 

Als Sophie des Profeſſors Arbeitszimmer betrat, 
ſah ſie ihn vor ſeinem Schreibtiſch ſitzen. Er ſchien 
vertieft in feine Arbeit, denn es vergingen einige Se- 
kunden, ehe er ſich umwendete. 

Mit einem Ruck erhob er ſich dann. „Ah, Frau 
Schwägerin —“ 

Er ſtockte, ſeine Blicke hafteten auf ihr. Als ob er 
ſie heute zum erſten Male, als ob er ein Wunder ſähe, 
ſtarrte er ſie an. 


54 Die ſchöne Trebnitz. 2 


In ihrer ganzen Pracht ftand fie vor ihm. Den 
kleinen Kopf mit dem rötlichblonden Haar gebeugt, 
die großen, dunkelgrauen Augen von langen Wimpern 
beſchattet, erſchien ſie ihm im erſten Augenblick faſt 
demütig — erſt als ſeine Blicke über ihre Geſtalt glitten, 
ſah er, daß Trotz in der ſchlanken Figur mit den ſchmalen 
Hüften lag, bemerkte, wie ſich die kleine Hand, die ſie 
ihm wohl entgegenſtrecken gewollt, ſchnell auf dem 
Rücken barg. 

Trotz lag auch auf den ſchöngeſchwungenen Lippen, 
als ſie ſagte: „Ich muß Ihnen doch danken, Ewald — 
ich hab' die Stelle angenommen —“ 

„Wollen Gie fih nicht ſetzen?“ 

Er ſchob ihr einen Seſſel hin, fab fih dann ver- 
legen um und legte ſchnell die Zigarre, die er noch 
in der Hand behalten, auf den Aſchenbecher. Dabei 
irrten ſeine Augen über den Schreibtiſch hin, Sophie 
ſchien es, als ob er, der das Rauchen bei Frauen ver- 
abſcheute, nach einer Zigarette für ſie ſuchte — ſie 
konnte kaum ein Lächeln unterdrücken. 

Aber auch ihr wurde die Situation peinlich, denn 
ſie begriff, daß er ſich wohl bewußt wurde, wie er ſie 
aus dem Hauſe vertrieben. Sie wollte ſchnell darüber 
hinweg, reichte ihm die Hand und wiederholte: „Ich 
danke Ihnen, Sie haben fih meinetwegen bemüht —“ 

„Ich bitte, ich bitte — es tut mir natürlich leid, 
daß Sie uns verlaſſen, aber für Sie —“ 

Sie hob die Hand. „Wozu dieſe Worte, Ewald! 
Ich weiß ja doch, daß ich hier im Wege —“ 

Ganz plötzlich verlor ſie die Haltung, der Gedanke, 
unter fremde Menſchen als Dienende gehen zu müſſen, 
erſchien ihr ſo grauſam, daß ſie in Tränen ausbrach. 

„Aber Sophie!“ | 

Er war zu ihr getreten, ſtrich ihr verzweifelt über 


o Roman von Hans Becker. 55 


das Haar, um ſchnell zurückzuzucken, als er empfand, 
daß diefe Berührung ihn noch mehr aus dem Gleich- 
gewicht brachte. 

Sophie hatte fih (hon wieder in der Gewalt. „Ver- 
zeihen Sie, Ewald, es iſt ſchon vorüber.“ 

Sie ſtand auf und ging ſchnell hinaus. 

Er ſah auf die geſchloſſene Tür, wortlos, erſtaunt 
— es war etwas in ihm zurückgeblieben, was ihn un- 
ruhig machte — er fand den Grund dafür nicht, er 
fühlte nur, daß das Zimmer plötzlich ſo alltagsgrau 
ausſah, Licht und Wärme daraus entſchwunden ſchienen, 
er vermißte den Klang der Stimme, die er noch eben 
gehört, er ertappte fih dabei, wie er den fih entfernen- 
den Schritten nachlauſchte. 

Leiſes Klopfen an der Tür weckte ihn aus ſeinem 
Sinnen. 

Seine Frau kam herein. „Störe ich dich, Ewald? 
Sophie hat ſich eingeſchloſſen. Sie rief mir durch die 
Tür zu, daß ſie Kopfweh habe, der Ruhe bedürfe. Ihr 
habt euch doch nicht gezankt?“ 

„Nein.“ 

„Hat dir Sophie geſagt —“ 

„Ja — ja, es iſt alles in beſter Ordnung. Deine 
Schweſter hat die Stelle angenommen, reiſt in ein paar 
Tagen ab — biſt du nun zufrieden?“ 

„Aber Ewald, du tuſt ja, als ob ich darauf gedrungen, 
Sophie loszuwerden. Wer war es denn, der mir täg- 
lich davon geſprochen —“ 

„Die Sache iſt abgemacht, ſei ſo gut und laß mich 
arbeiten. Was du noch wiſſen willſt, mußt du dir 
von deiner Schweſter erzählen laſſen.“ 

Elſa ging, aber ſie nahm eine innere Unruhe mit, 
die ſie peinigte. Kaum je hatte ſie ihren Mann ſo 
verſtört geſehen wie eben jetzt. 


56 Die ſchöne Trebnitz. o 


Noch ehe feine Frau aus dem Zimmer war, hatte 
ſich Profeſſor Heller wieder über feine Arbeit gebeugt, 
doch er hatte die Augen geſchloſſen, ſaß, ohne ſich zu 
bewegen. 

Plötzlich ſeufzte er tief auf, lehnte ſich in ſeinen 
Stuhl zurück und fuhr mit der Hand über die Stirn, 
als ob er Gedanken, die ſich darunter gebildet, die ihn 
quälten, verſcheuchen wolle. 


Am Tage der Abreiſe bat Sophie, ſie allein zum 
Bahnhof fahren zu laſſen, ihr nur das Hausmädchen 
mitzugeben. 

Elſa war geradezu entſetzt bei dieſem Gedanken. 
„Aber Sophie, unter keinen Umftänden! — Auch Ewald 
kommt mit. Wie kannſt du nur fo etwas ausſprechen —“ 

Sophie mußte fih fügen, obgleich ihr vor Abſchied- 
ſzenen auf dem Bahnhof graute. Aber ſie begriff, daß 
Elſa ſich nicht abhalten laſſen würde. Alſo auch das 
noch hinnehmen! Sie mußte eben verſuchen, den Kopf 
oben zu behalten, keine trübe Stimmung aufkommen 
zu laſſen. 

Das tat fie denn auch, zeigte fih bei Tiſch faſt luftig, 
rauchte zum Kaffee eine Zigarette nach der anderen 
und ſuchte, als man abends auf dem Bahnhof ſtand, 
den Anſchein zu erwecken, als ob ihr nichts ſo wichtig 
fei wie die Unterbringung ihres Handgepäds im Schlaf- 
- abteil, 

Dabei hatte fie heiße Flecken auf den Wangen, und 
ihre Stimme klang wie die einer Erſtickenden. 

Endlich war auch das überſtanden. Noch ein letzter 
Gruß, ein Winken aus dem Fenſter des fortrollenden 
Zuges, ſie ſah, wie Elſa das Taſchentuch gegen die 
Augen preßte, ſah ihren Schwager hochaufgerichtet 


u Noman von Hans Becker. 57 
ſtehen, den Hut, den er abgenommen, über dem Kopfe 
haltend, dann war alles vorüber — ſie fuhr in die 
dunkle Nacht, in die dunkle Zukunft hinaus. 

Sie ſchloß die Augen, denn jetzt wollten die Ge- 
danken kommen. Sie wehrte ihnen — wie bisher 
verſuchte ſie, nicht zu denken. 

Alles an fih herankommen laffen, was das Goid- 
ſal bringt; ein Sichauflehnen dagegen war ja doch 
nutzlos. 

Ein trübes, ſchwermütiges Lächeln ging über ihre 
Züge. Vielleicht iſt es doch anders, vielleicht bauen 
wir doch ſelbſt an unſerem Schickſal, tragen Stein um 
Stein zuſammen, gute und ſchlechte, brauchbare und 
unbrauchbare, bis der Bau fertig daſteht, bis es ſich 
erweiſt, ob das, was wir in Sorge bedacht oder im 
Leichtſinn zuſammengefügt, uns Glück oder Unglück 
bringt. 

Sie öffnete die Augen wieder und fab fih im Ab- 
teil um. 

Sie war allein, ihr Handgepäck lag teils oben in 
den Netzen, teils hatte der Träger es auf dem Sitze 
ihr gegenüber aufgeſtapelt. Vielleicht blieb ſie auch 
allein, denn um dieſe Jahreszeit ging der Zug der 
Reifenden nach dem Weiten, während ihr Weg in den 
Oſten führte. : 

Sie ftand auf, drückte auf den Knopf der elektriſchen 
Glocke und befahl dem herbeieilenden Schlafwagen- 
ſchaffner, das Bett herzurichten. Dann trat ſie auf 
den Gang hinaus und ſtellte ſich ans Fenſter. 

Zu ſehen war da nicht viel. Vorüberhuſchende 
Telegraphenſtangen, ab und zu eine Station, an der 
der Schnellzug ſtolz vorüberflog — alles oft geſehene, 
kaum beachtete Bilder. 

Sie fühlte ſich müde von dem Zwang, den ſie 


58 Die ſchöne Trebnitz. u 


tagüber auf ſich ausgeübt, um ihr Fühlen zu ver- 
bergen. 

Eine Wohltat erſchien es ihr, als ſie endlich im 
Bette lag, das eintönige Geräuſch des Bahnzuges ſie 
in den Schlaf ſang. 

Sophie ſchlief bis in den Mittag hinein, gegen Abend 
erreichte ſie die Grenze. 

Die ihr von Laſarew aufgeſchriebene Reiſeroute 
hatte ſie durchſtudiert, danach mußte ſie am zweiten 
Tage nach ihrer Abreiſe von Berlin die Station er- 
reichen, wo ſie das Gutsgeſpann erwarten ſollte. 

Nun fuhr ſie ſchon durch Rußland — noch eine 
Nacht, dann würde ſie am Ziele ſein. 

Ein Blick aus dem Fenſter lohnte auch jetzt nicht. 
Immer das gleiche Bild: Wälder, Wälder, in weiter 
Ferne ſtrohgedeckte kleine Hütten eines Dorfes. Wenn 
ab und zu der Zug hielt, immer das gleiche kleine 
Stationsgebäude, ein paar Bauern, die, einen Sack 
mit ihren Habſeligkeiten auf dem Rücken, von dem 
Beamten mit lautem Schelten an das Ende des Zuges 
gejagt wurden, ein paar kleine Bauernmädchen mit 
ſtrohgelbem Haar, nackten braunen Beinen und Füßen, 
Körbchen mit Erdbeeren zu den Fenſtern des Wagens 
heraufhaltend. 

Endlich hatte ſie die Station erreicht, auf der ſie 
ausſteigen ſollte. 

Während ihr Gepäck aus dem Wagen geholt wurde, 
ſtand Sophie vor dem Stationsgebäude und wartete. 
Über ein Holzgeländer neben dem Haufe hinweg ſah fie 
die Landſtraße. Auf dieſer zwei ſchmutzige Gefährte, 
für deren Form fie keinen Namen kannte, die Davor- 
gefpannten mageren Gäule mit zur Erde hängenden 
Köpfen, von Fliegen und Mücken umſchwärmt. 

Der Stationsvorſteher kam, nahm ſeine rote Mütze 


o Roman von Hans Becker. N 59 


ab und verbeugte fih. In gebrochenem Oeutſch ſprach 
er ſie an: „Dame wünſcht nach Laſarewka — Pferde 
ſchon da, ſoll ich befellen, Gepäck aufzuladen —“ 

Statt auf ſeine Frage zu antworten, fragte ſie 
ihrerſeits: „Sind das dort die Pferde?“ 

Sie zeigte mit der Hand auf die bemitleidenswerten 
Geſchöpfe, die ſich noch immer vergebens anſtrengten, 
ſich durch Schütteln des Körpers und Schlagen mit 
den Schweifen ihrer Quälgeiſter zu erwehren. 

Der Stationsvorſteher lachte. „Nein — nein. Nicht 
fürchten, Gnädige, Pferde ſtehen am Eingang.“ 

Der Beamte rief den Trägern einen Befehl zu. 
Den Bahnzug ſchien er ganz vergeſſen zu haben, denn 
der Lokomotivführer hatte fih ihm ſchon ein paarmal 
durch Zeichen bemerkbar zu machen geſucht. Auch 
jetzt winkte er nur läſſig mit der Hand. 

Sophie hatte das beobachtet. „Wollen Sie nicht 
erſt den Zug —“ 

Nun hörte ſie in Worten, was vorher nur gedacht 
war. „Erſt Dame abfertigen, von Laſarewka ſtrengen 
Befell erhalten — Zug kommt ſchon noch fort.“ 

Er geleitete Sophie durch das Stationsgebäude zu 
dem nach der Straße führenden Ausgang, wo ein Wagen 
mit vier nebeneinandergeſpannten Pferden ſtand. 

Der Wagen hatte die gleiche Form wie die Ge— 
fährte, die Sophie vorhin ſolchen Schrecken eingejagt, 
aber während dort alles zerriſſen und ſchmutzig war, 
glänzte hier das Leder des Verdecks, Untergeſtell und 
Räder blitzten. Auf dem Bock ſaß ein ſtämmiger Rut- 
ſcher, durch deſſen ärmelloſen ſchwarzen Rock, der in 
der Taille mit roter Schärpe gehalten wurde, ein blau- 
ſeidenes Hemd ſichtbar war. Den Kopf bedeckte ein 
halbhoher, runder, glänzender Filzhut, der rundum mit 
Pfauenfedern beſteckt war. 


60 Die ſchöne Trebnitz. U 


— — — —— ñ—jäba 


Als Sophie ſich näherte, beugte er grüßend den 
Kopf, den Hut konnte er nicht abnehmen, da er die 
Hände nicht von den Leinen der unruhig ſtampfenden 
Pferde laſſen konnte. 

Das Gepäck war bald aufgeladen, und Sophie ſtieg 
ein. Erſt als ſie ſchon eine Strecke von der Station 
entfernt war, hörte ſie den Pfiff der Lokomotive des 
endlich befreiten Zuges. 

In der Luft tiefe Stille, kein Bogelruf, nur. das 
Zirpen der Grillen, ein gleichmäßiges, melancholiſches 
Getön, eine unbeſtimmte Sehnſucht wachrufend, den 
Gedanken erweckend, daß es außer dieſer ſtillen, fried- 
vollen Welt keine andere Welt mehr gäbe, keine Welt 
mit Lärm und Geräuſch, mit Freude und Luſt, mit 
Sorge und Kummer. 

Ein klingendes Tönen drang durch die Stille — 
die Felder hatten aufgehört, Wieſen zeigten ſich Sophies 
Blick, fie fab wieder Menſchen, Bauern, die das hoch- 
ſtehende Gras mähten, ihre Senſen wetzten, dazwiſchen 
eintöniger Geſang. 

Nach den Wieſen ein Dorf. Graue Hütten mit ver- 
witterten Strohdächern, Scharen von halbnackten Kin- 
dern, Hühnern und Schweinen, die mit Gekreiſch und 
Geſchrei auseinanderſtoben, als der Wagen ſich ihnen 
näherte. 

Dann wieder Felder und wieder Wieſen, endlos 
bis zum Horizont ſich erſtreckend. 

Sophie wußte nicht, wie lange ſie ſo dahingefahren, 
vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei, ſie ſchloß die 
Augen, war müde, wollte nichts mehr ſehen. 

Ein ſtärkeres Geräuſch der Wagenräder, als ob fie 
auf härterem Boden rollten, ließ ſie wieder aufblicken. 
Sie ſah erſtaunt um ſich, die Szenerie erſchien plötzlich 
wie vertauſcht. Statt der Felder und Wieſen eine 


6 Roman von Hans Becker. 61 


geradlinige, auf beiden Seiten von hohen Weiden ein- 
geſäumte Allee, an deren Ende ſich eine Anzahl gleich- 
mäßiger, niedriger Gebäude zeigte. Als der Wagen 
ſich näherte, erkannte ſie, daß es Stallungen waren. 

Daneben große, eingezäunte Wieſenflächen, auf 
denen ſich eine Unzahl von Pferden tummelte. 

Daran vorüber führte ein gutgehaltener Weg, der 
bald rechts abbog und auf dem man zu einer zweiten, 
von alten, hohen Bäumen beſtandenen Allee gelangte, 
bis die Einfahrt zu einem Park ſichtbar wurde. 

Die großen, gußeiſernen Torflügel ſtanden offen, 
der Wagen fuhr hindurch, eine Weile trabten die Pferde 
unter den Bäumen hin, dann hielten ſie vor der breiten 
Treppe eines großen Gebäudes. 

Kein Schloß, wie ſich Sophie vorgeſtellt, zeigte ſich 
vor ihr, nur ein einfaches, weißes Haus mit zwei Stock- 
werken und doch imponierend durch die mächtige Breite, 
in der es daſtand, feſt und trotzig, ohne äußeren Schmuck, 
keinem Stil nachſtrebend, aber dem Beſchauer das Ge- 
fühl einflößend, daß es ſich hinter dieſen feſtgefügten 
Mauern gut und ſicher ſein ließe. 

Ehe Sophie noch den Wagen verlaſſen hatte, kam 
eine Dame eilig die Treppe des Hauſes herunter, ge- 
folgt von einem hochgewachſenen blonden Herrn. 

Mit ausgeſtreckten Händen trat ſie auf Sophie zu. 
„Frau v. Trebnitz — willkommen! Zch bin Alice 
Schubert, Frau v. Laſarewa hat Ihnen wohl ſchon 
erzählt — Aber was ſchwatze ich! Kommen Sie ins 
Haus, Sie werden ermüdet von der Fahrt ſein. — Darf 
ich vielleicht noch gleich bekannt machen? — Herr Doktor, 
kommen Sie doch näher, damit ich Sie Frau v. Trebnitz 
vorſtellen kann — unfer Hausgenoſſe, Herr Doktor Bau- 
meiſter.“ l 

Der blonde Herr verbeugte fich, dabei verzog er 


62 Die ſchöne Trebnitz. cd 


etwas ſpöttiſch das Geſicht, und als er Sophie die 
Hand reichte, ſagte er: „Nicht Doktor. Fräulein Schu- 
bert allein verdanke ich dieſen Titel. Aber bitte, treten 
Sie doch erſt näher.“ 

Dem Diener, der in Begleitung einiger in hell- 
graues Leinen gekleideter halbwüchſiger Zungen und 
einiger Hausmädchen um die Ecke des Gebäudes ge- 
kommen war, gab er Befehl, das Gepäck abzuladen. 

Fräulein Schubert begleitete Sophie bis zu ihren 
Zimmern im zweiten Stock. Vor der Tür verabſchiedete 
ſie ſich. „Ich laſſe Sie jetzt allein, denn Sie werden 
ſich umkleiden wollen. In einer Stunde hole ich Sie 
zum Eſſen, oder ſoll ich Ihnen gleich jetzt noch Tee 
oder ſonſt etwas heraufſchicken?“ 

Sophie dankte. Trinken oder eſſen mochte ſie jetzt 
nicht, ſie hatte nur das Bedürfnis, ſich zu waſchen und 
umzukleiden. 

Doch ſie ging nicht gleich daran, als ſie ins Zimmer 
getreten war; ſie ſah ſich erſt um, muſterte das Stück- 
chen Welt, in dem ſie fortab leben ſollte. 

Ein geräumiges Zimmer, in das ſie durch einen 
ſchmalen Vorraum gegangen war. Alte Mahagoni- 
möbel, der ganze Raum durchweht, überflutet von einer 
grünlichen Dämmerung, erzeugt von den letzten, durch 
das Laub der Bäume dringenden Strahlen der Sonne 
vor den Fenſtern. 

Sophie ſtand und ließ den hübſchen Eindruck einige 
Sekunden auf ſich wirken. Sie dachte im Augenblick 
nicht daran, in welcher Eigenſchaft ſie hierher gekommen, 
fie betrachtete ihre Umgebung, wie man auf Reifen, 
am Ziel angelangt, ein Zimmer anſieht, in dem man 
eine Weile leben ſoll. 

Langſam ſchritt ſie dann bis zu der geöffneten Tür 
des Nebenraumes. Ein breites Bett, zwei große 


2 Roman von Hans Becker. 63 


Schränke, Stühle und eine Waſchkommode, alles aus 
dem gleichen Holze, in denſelben Formen wie im erſten 
Zimmer. Sie trat ans Fenſter und ſah in den Park 
hinunter. Keine Menſchenſeele war zu ſehen, ſtill lagen 
die Parkwege vor ihr. 

An der Tür des Wohnzimmers klopfte es, Fräulein 
Schubert kam, um ſie zum Eſſen zu holen. 

„Bei Tiſch treffen Sie auch Xenia. Sie war mit 
ihrem Bruder Paul hinübergeritten auf das Gut des 
Großvaters.“ 

Das Speiſezimmer war groß, hell erleuchtet, die 
Türen zur Veranda geöffnet. 

Die hohen Büfette, in der Mitte der große Eßtiſch 
— alles von nachgedunkeltem, faſt ſchwarzem Eichen- 
holz — machten den Eindruck, als ob fie ſchon Jahr- 
hunderte an ihrem Platz ſtänden, wirkten im erſten 
Augenblick, in der tiefen Stille, in dem der große, 
hohe Raum lag, faſt beklemmend — wie eine ver- 
geſſene Einſamkeit, ein Eindruck, der jedoch ſofort ver- 
blich, als ſich die Tür öffnete und Xenia Pawlowna 
eintrat. 

Sie kam auf Sophie zu und reichte ihr die Hand. 
„Frau v. Trebnitz — willkommen!“ 

Das junge Mädchen ſprach dieſe Worte, noch ehe 
Fräulein Schubert Zeit gefunden hatte, Sophie vor- 
zuſtellen. Dieſe fühlte fih durch die Herzlichkeit des 
Empfangs warm berührt, ſo daß ſie die Hand des 
jungen Mädchens in der ihrigen behielt, ihm ſekunden- 
lang in die blauen Augen ſah, die mit dem dunklen, 
fih bauſchig an die Schläfen legenden Haar eine Schön- 
heit aus ihm machten. 

Wie ein Kind noch, dachte Sophie, als ihr Blick 
weiter über die ſchlanke Geſtalt in dem weißen, eng- 
anliegenden Kleide, über die dünnen Arme und den 


64 Die ſchöne Trebnitz. u 


zarten Hals glitten. Faſt willenlos zog ſie Xenia an 
ſich und küßte ſie auf die Stirn. 

Alice Schubert ſtand verwundert, faſt mit ein wenig 
Neid erfüllt, neben den beiden. Ihr ging durch den 
Sinn, wie fie vor Jahren hier angekommen, verſchüch- 
tert, in Furcht, das vornehme Haus zu betreten, von 
Zweifeln geplagt, ob ſie da hineinpaſſen würde, noch 
mit dem Schmerz über die Trennung von dem Ver— 
lobten kämpfend, der einen beſcheidenen Poſten an 
einer Schule in Dresden angetreten mit der kargen 
Ausſicht, daß ſie beide arbeiten und ſparen wollten, 
bis — 

Sie hatte nicht bemerkt, daß inzwiſchen Baumeiſter 
mit feinem Zögling eingetreten, ſchrak zuſammen, als 
dieſe plötzlich neben ihr ſtanden und Baumeiſters 
Stimme ertönte. 

„Geſtatten Sie. — Paul, verbeug dich.“ 

Es hätte der Ermahnung Baumeiſters nicht bedurft, 
denn der hübſche Junge, der der Schweſter auffallend 
ähnlich ſah, dienerte, nachdem er Sophie eine Sekunde 
lang angeſtarrt, ſchon zum dritten Male vor ihr, er 
ſchien ganz hingeriſſen von ſo viel Schönheit, die er 
offenbar nicht erwartet hatte. 

Bei Tiſch ging es anfangs noch ein wenig ſchweig⸗ 
ſam zu, man taſtete noch gegenſeitig an ſich herum. 
Als jedoch ſpäter am Abend, nach einem Spaziergang 
durch den Park, auf der Veranda Tee getrunken wurde, 
hatte man ſich ſchon zurechtgefunden. 

Baumeiſter hatte inzwiſchen den Vornamen von 
Sophies Vater erforſcht — Karl, wie er ſelbſt — alſo: 
Sophie Karlowna, den Namen des Vaters an den 
eigenen Namen angeſetzt, wie es in Rußland Sitte iſt 
— das klingt hübſch, verbindet, gibt ein Gefühl der 
Gemeinſamkeit. 


D- Roman von Hans Becker. 65 


Sophie nahm das gern an, und ſo ſchwirrten bald 
die Anreden über den Tiſch: Sophie Karlowna, Karl 
Karlowitſch — nur die Anrede von Fräulein Schubert 
blieb. „Sit auch nicht gut anders möglich. Denken 
Sie ſich, Sophie Karlowna, der Papa unſeres verehrten 
Fräuleins hieß Hieronymus — Alice Hieronymuſſowna, 
einfach undenkbar!“ 

Sophie erfuhr an dieſem Abende noch, daß Laſarews 
ein großes Geſtüt hätten, daß ihre Pferde, ſowohl die 
Reitpferde als auch die Traber, berühmt wären, daß 
Kenia und Paul leidenſchaftliche Reiter ſeien, Xenia 
im Herrenſattel ritt — für Sophie eine Erleichterung, 
da ſie ſchon gefürchtet hatte, hier dadurch Anſtoß zu 
erregen —, daß auch Baumeiſter ein vortrefflicher Reiter 


fei, nur Fräulein Schubert diefe Kunſt nicht hatte er- 


lernen können. | 

„Wie bei der Namensgeſchichte,“ ſagte Baumeiſter. 

Nach dem Tee begleitete Fräulein Schubert Sophie 
wieder auf ihr Zimmer. 

„Darf ich noch etwas eintreten? Vielleicht iſt es 
ihnen angenehm, wenn ich Ihnen noch dieſen und 
jenen Wink gebe.“ 

Sophie war ſehr erfreut darüber, ſie hatte ſelbſt 
ſchon darum bitten wollen, denn es lag ihr viel daran, 
über ihre Pflichten orientiert zu ſein. 

„Alſo zur Hauptperſon für Sie: Kenia — ein gutes, 
ich kann ſagen, ein prachtvolles Mädel. Sie werden 
einen leichten, angenehmen Verkehr mit ihr haben. Es 
iſt wohl das beſte Zeugnis, das ich ihr ausſtellen kann, 
wenn ich ſage, daß mir die Trennung von dem Mädchen 
ſehr, ſehr ſchwer fällt. Von ſehr weichem, tiefem, zur 
Schwärmerei neigendem Gemüt, will fie zart und lieb- 
reich behandelt ſein — da erſcheint ſie mir bei Ihnen 
in den beſten Händen. Mit Paul haben Sie wenig 

1918. XI. 5 


66 Die ſchöne Trebnitz. 2 


zu ſchaffen, den hat Doktor Baumeiſter in den Händen. 
Auch er iſt ein guter Junge, natürlich ſchon in Sie 
verliebt, wie könnte das auch anders ſein!“ 

Sie nahm Sophies Hand und ſtreichelte ſie. 

„Herrn Laſarew und Frau haben Sie kennen ge- 
lernt, wenigſtens mit ihnen geſprochen. Er iſt ein 
Edelmann durch und durch, ein vornehmer Mann in 
jeder Beziehung. Die Frau, bis auf ihre Nerven, ganz 
erträglich. Wie mir ſcheint, liebt ſie ihren Mann ſehr, 
iſt wohl auch eiferſüchtig, läßt ihn nicht gern allein. 
Er muß ſie faſt ſtets auf ihren Reiſen begleiten. Bleibt 
noch Doktor Baumeiſter, oder nicht Doktor — ich nenne 
ihn eben fo — ein Menſch, ganz Herz und Seele. 
Mit dem Perſonal haben Sie nichts zu tun, auch mit 
der Wirtſchaft nicht, und dafür können Sie Gott danken, 
wie ich es getan. Für eine Deutſche iſt es beinahe eine 
Unmöglichkeit, ſich da zurechtzufinden. Der weibliche 
Teil wird von der Wirtſchafterin, die ich Zhnen übrigens 
morgen vorſtellen werde, geleitet, der männliche unter- 
ſteht dem Hausmeiſter, den Sie heute im Eßzimmer 
geſehen haben. Aus wie viel Köpfen der eine und der 
andere Teil beſteht, weiß ich nicht, die meiſten Geſichter 
ſind mir fremd geblieben, denn es läuft eine Unzahl 
Volk im Haufe herum: Diener, Hausmädchen, Wäfche- 
rinnen, Näherinnen, Köche, Küchenjungen, Stalljungen 
und noch andere. Dazu kommen noch die Geſtütsleute: 
Trainer, Bereiter, Fahrer und wieder Stalljungen — 
dieſe ganze Geſellſchaft wohnt drüben im Geſtüt, die 
bekommt man nur ſelten zu ſehen, nur hin und wieder, 
wenn einer mit Meldung ins Haus geſchickt wird. Sie 
ſehen — ein ganzes Reich für ſich. — Und nun gute 
Nacht, ſchlafen Sie feſt und gut! — Doch noch eins — 
glauben Sie, daß Sie mich in einigen Tagen entbehren 
können, daß ich dann fort kann? Frau Laſarewa hat 


o Roman von Hans Becker. 67 


mir geſchrieben und mich gebeten, Ihnen in den erſten 
Tagen, bis Sie ſich eingelebt, zur Seite zu ſtehen. — 
Ja, Sie find einverftanden, daß ich Ende der Woche 
reiſe? Herzlichſten Dank und nochmals gute Nacht!“ 

Sophie war allein. Sie trat von der Tür zurück, 
bis zu der ſie Alice Schubert das Geleit gegeben, machte 
ein paar Gänge durch das Zimmer und blieb dann 
am offenen Fenſter ſtehen. 

Tiefdunkle Nacht draußen, kaum noch die Umriſſe 
der Bäume zu erkennen, und doch ſchien es Sophie, 
als ob ſie eine Geſtalt auf dem Wege, der auf das Haus 
zuführte, ſich bewegen ſähe. 

Plötzlich blieb die Geſtalt ſtehen — vielleicht hatte 
ſie das erleuchtete Fenſter in Sophies Zimmer bemerkt, 
dies fie zurückgehalten, denn auf einmal war fie ver- 
ſchwunden. | 

Sophie wurde es unheimlich, fie ſchloß ſchnell das 
Fenſter, löſchte die Lampe und ging in ihr Schlaf- 
zimmer. l | 

Erſt im Bette beruhigte fie ſich. Vielleicht war 
es nichts geweſen, eine Einbildung, durch die vielen 
neuen Eindrücke von ihren durch die lange Reife auf- 
geſtörten Nerven hervorgerufen, oder es war ein zum 
Hauſe Gehöriger, der einen Gang durch den Park 
gemacht und nun zurückgekehrt war. Bei der Menge 
Menſchen, die, wie ihr die Schubert geſchildert, im 
Haufe und in dem nach der Landſtraße liegenden Wirt- 
ſchaftsgebäude und bei der Stallung wohnten, ließ ſich 
das leicht erklären. 

Doch ſie wurde von neuem aufgeſchreckt. Lautes, 
wütendes Hundegebell drang bis zu ihr, das eine Weile 
andauerte, dazwiſchen glaubte ſie Stimmen, Rufe zu 
hören — dann wieder lautloſe Stille. 

Noch eine Weile horchte fie, wurde müde und ſchlief ein. 


68 Die ſchoͤne Trebnitz. 2 


Am anderen Tage hatte ſie beinahe vergeſſen, was 
ſie gehört, und glaubte, als ſie ſich daran erinnerte, 
geträumt zu haben. 

Doch am Frühſtückstiſche ſprach Baumeiſter davon. 
„Haben Sie ſich erſchreckt, Sophie Karlowna? Die 
Hunde im Zwinger haben Lärm gemacht, irgend jemand 
muß durch den Park gegangen ſein, trotzdem es ſtreng 
verboten iſt, dort herumzulaufen. Zeder, der ausgeht, 
ſoll über den Hof zurückkommen. Aber der Weg iſt 
weiter, führt hintenherum, da klettert ſo 'n Bengel 
lieber über die Mauer — na, wartet nur, ich habe 
ſchon befohlen, heute nacht ein paar Hunde freizu- 
laſſen, die werden den Weg ſchon weiſen.“ 

Ein Diener meldete, daß Peter Petrowitſch Le- 
peſchow draußen fei und bäte, hereinkommen zu 
dürfen. | 

Baumeiſter lachte. „Was hat denn der ſchon wieder? 
Es ift noch nicht zehn Uhr. Aber laß ihn nur herein.“ 
Er wendete ſich an Sophie. „Sie werden ein Original 
kennen lernen, einen Gerichtsvollzieher mit weichem 
Herzen. Sie dürfen ſich auch nicht wundern, Sophie 
Karlowna, daß ich hier ſo den Herrn ſpiele, aber in der 
langen Zeit, in der ich hier bin, iſt aus dem Lehrer 
und Erzieher ein Mädchen für alles geworden. Der 
Gutsverwalter wohnt auf dem Geſtüt — ich bin hier 
ſchneller zur Hand.“ 

In der Tür erſchien ein großer, ſtarker Mann, trotz 
der warmen Jahreszeit mit langem ſchwarzen Rock 
bekleidet. Ehe er eintrat, verbeugte er ſich rechts und 
links, auch als er auf Baumeiſters Aufforderung näher 
kam, tat er dies noch und wiſchte ſich dabei mit einem 
großen, bunten, baumwollenen Taſchentuch über Stirn 
und Backen. 

„Nun, Peter Petrowitſch, was bringen Sie uns?“ 


— — — — —— 


u Roman von Hans Becker. 60 


„Ach, Karl Karlowitſch, ſchon wieder bin ich hier 
mit einer Bitte. Das Herz bricht mir —“ 

Er rieb ſich von neuem die Stirn und ſchielte dabei 
nach dem Tiſch hin, nach all den guten Dingen, die 
dort ſtanden. 

Fräulein Schubert ſchenkte ihm ein Glas Tee ein. 
„So, ſtärken Sie fih erft.“ 

Er trank einen Schluck. „Sie wiſſen ja, wie ſchwer 
es mir wird, aber was ſoll ich machen, ich muß doch 
— mein Gott, mein Gott, wie habe ich mich nur über- 
reden laffen können, das Amtchen —“ 

„Na, tröſten Sie ſich, Peter Petrowitſch, ſagen Sie, 
was los iſt.“ 

„Ja, ja — der Kusma Swanow, der alte Kerl, 
hat den Schankwirt nicht bezahlt. Saufen müſſen die 
Bauern, es geht doch nicht anders. Der Wirt hat ihn 
verklagt — vierzig Rubel — nun ſollte ich heute pfänden, 
ein Schäfchen oder ein Kühchen — da heult der Kerl, 
rutſcht auf den Knien — ich konnte es nicht mehr 
mitanſehen, bin fortgelaufen, hierher zu Ihnen — 
hier iſt der Vollſtreckungsbefehl —“ 

„Das iſt ja traurig, aber was können wir dabei 
machen?“ 

Kenia bat: „Karl Karlowitſch, zahlen Sie doch!“ 

„Wovon? — Peter Petrowitſch, es geht diesmal 
nicht, der Herr iſt verreiſt —“ 

Wieder bat Kenia: „Papa hätte es auch getan. Sie 
brauchen das Geld doch nur auszulegen.“ 

„Das iſt ſehr ſchön, Xenia Pawlowna, aber ohne 
den Papa darf ich doch nicht —“ 

„Aber Sie ſollen —“ 

„Alſo auf Ihren Befehl, Xenia Pawlowna, gut — 
verdient hat der Kerl es nicht. Morgen — ach, was 
ſage ich, heute noch borgt er wieder und ſäuft weiter.“ 


70 Die ſchöne Trebnitz. D 


Er wendete ſich an den Gerichtsvollzieher. „Laſſen 
Sie ſich das Geld im Geſtütskontor auszahlen, aber 
ſchaffen Sie ſich ein anderes Herz an, die Bauern danken 
es Ihnen doch nicht. Haben Sie ſchon vergeſſen, wie 
fich die Kerle gebärdet haben, damals —“ 

Lepeſchow trank ſchnell ſeinen Tee aus, löffelte das 
Tellerchen mit Fruchtgelee, das ihm Fräulein Schubert 
hingeſtellt, ſchmatzend aus, dann erhob er ſich. Noch 
ſchluckend, ſich die Lippen leckend, verbeugte er ſich. 
„Danke, danke — und das andere, Karl Karlowitſch — 
ſchlimm find die Bauern nicht, gute Tierchen — da- 
mals — na ja — die Studentchen, die fidh hier berum- 
trieben — Sollen auch jetzt wieder ſo ein paar hier 
ſein. Geſehen habe ich ſie nicht, nur erzählt hat man 
es mir, müſſen aufpaſſen —“ 

Unter vielen Büdlingen empfahl er ſich, der Diener 
öffnete ihm weit die Tür, ſonſt wäre er mit dem 
Rücken dagegengelaufen. 

Baumeiſter blieb ſchweigſam, als der Beſuch ver— 
ſchwunden war, denn das, was ihm Lepeſchow geſagt, 
machte ihn nachdenklich. 


Nach einigen Tagen reiſte die Schubert ab. Sophie, 
Xenia und Paul gaben ihr eine Strecke weit zu Pferde 
das Geleite, Baumeiſter ſchickte drei Reitknechte hinter- 
her — für alle Fälle, denn der Weg führte ſtreckenweiſe 
durch den Wald. 

Während fie fort waren, kam Beſuch. Der Groß— 
vater, Boris Nikolajewitſch Safronow, war von ſeinem 
Gute herübergekommen, um, wie er ſagte, nach Ord- 
nung zu ſehen. 

Dabei lachte er und klopfte Baumeiſter auf die 
Schulter. „Weiß ja, Karl Karlowitſch, daß unter Ihrer 


u Roman von Hans Becker. 71 


Aufſicht alles gut geht, wollte mir auch eigentlich nur 
die neue Geſellſchafterin anſehen. Verlieben Sie ſich 
nur nicht in die Landsmännin, denn die ſcheint ja ein 
verwünſcht ſchönes Weib zu ſein.“ 

Trotzdem Safronow alſo offenbar ſchon vorbereitet 
war, machte er doch große Augen, als er Sophie ſah. 

Nicht viel fehlte, ſo hätte er ihr bei der Begrüßung 
die Hand geküßt. Aber er fing fih noch im letzten Augen- 
blick ab. Geſellſchafterin — nein, oder nur unter vier 
Augen! 

Während er lebhaft mit feinen Enkelkindern plau- 
derte, ließ der alte Herr von Sophie kaum einen Blick, 
ſo daß Paul ſeine Schweſter heimlich anſtieß. | 

„Sieh doch nur den Großpapa, Sophie Rarlowna 
ſcheint ihm ja ausnehmend zu gefallen,“ flüſterte er ihr zu. 

Kenia kniff ihn in den Arm. „Schweig doch! Was 
du dir gleich denkſt!“ 

Auch Sophie entgingen ſeine Blicke nicht, denn 
jedesmal, wenn ſie aufſah, begegnete ſie ſeinen Augen. 
Der alte Herr ſchien nur für ſie und zu ihr zu ſprechen. 
Übrigens war er ein Mann, der trotz feiner ſechzig 
Jahre mit feiner hohen, faſt noch ſchlanken Figur, den 
lebhaften Augen noch lange nicht im Schatten ſtand. 

Er ſprach viel von Berlin, ſchwärmte für die Stadt. 
„Vohl meine ſchönſte Zeit habe ich in Berlin verlebt 
als junger Botſchaftsattaché. Aber auch ſpäter, fo oft 
ich dort hinkam, bot mir der Aufenthalt ſtets großen 
Genuß — iſt ja auch 'ne prachtvolle Stadt, dieſes 
Berlin. Nun, meine Urgroßmama mütterlicherſeits 
ſtammte aus Deutſchland, das verleugnet ſich nicht — 

„Aber Großpapa,“ rief Paul lachend, „davon wiſſen 
wir ja gar nichts!“ | 

„Es iſt aber ſo. Sucht nur mal ordentlich unſeren 
Stammbaum nach, da werdet ihr's finden.“ 


72 Die ſchöne Trebnitz. o 


Nach einer Stunde erft verabfchiedete er ſich. Als 
er aufſtand, merkte Sophie, wie er ſich Mühe gab, 
Leichtigkeit in ſeine Bewegungen zu bringen, um nicht 
ſehen zu laſſen, daß ſeine Knochen vom Sitzen ſteif 
geworden waren. 


An einem der nächſten Tage traf von Frau Laſarewa 
Nachricht ein. Sie ſchrieb an Kenia, daß fie die Reife 
wohl abkürzen würden, da ihr Gatte nach Petersburg 
müſſe. 

Paul erhob ein Freudengeſchrei. „Dann gehen wir 
im Winter wohl alle nach Petersburg ſtatt nach Moskau. 
Das wäre herrlich, ich trete dann ins Pagenkorps —“ 

Er ſtockte und ſah auf Baumeiſter, denn er fürchtete, 
daß er dieſen durch ſeinen Freudenausbruch verletzt haben 
könnte — das Pagenkorps hieß doch Trennung von 
ſeinem Erzieher. 

„Karl Karlowitſch, Sie bleiben natürlich bei mir, 
ohne Sie gehe ich nicht!“ 

„Karl Karlowitſch wird dann auch Page,“ meinte 
Kenia. 

Sie lachten alle, auch Baumeiſter. 

„Wird fich ſchon Rat finden, Paul, noch ift es nicht 
ſo weit. Und jetzt wollen wir vorläufig noch ordentlich 
lernen. Komm nur, wir machen uns gleich an die 
Arbeit.“ 

Kenia ging mit Sophie in den Park, wo ſie ihr einen 
hübſchen Platz zeigen wollte. 

Baumeiſter rief ihnen nach: „Bitte, nicht zu weit 
und nicht aus dem Park heraus! Es — es iſt zu heiß. 
Nehmen Sie auch einen der Hunde mit!“ 

Kenia rief zurück: „Vor der Hitze kann der uns doch 
nicht beſchützen! Aber ich will ihn mitnehmen, ich hole 
ihn mit aus dem Zwinger.“ ö 


2 Roman von Hans Becker. 73 


Doch fie ſchien das vergeſſen zu haben, denn als 
ſie mit Sophie durch den Park ging, ſprach ſie nur noch 
von der Stelle, die ſie ihr zeigen wollte. 

Es war ein am Ende des Parks gelegener, mäßig 
hoher Hügel, eingerahmt von uralten Bäumen, durch 
die hindurch man auf eine Schneiſe blickte, die die 
Parkmauer von dem auf der anderen Seite beginnen- 
den Walde trennte. Einige Ruhebänke ſtanden auf 
dem Hügel. 

Kenia ſetzte fih und zog Sophie neben fih. „Sft 
es hier nicht ſchön, ſo ruhig, ſo — wiſſen Sie, Sophie 
Karlowna, hier habe ich immer das Gefühl, als ob ich 
beten müſſe.“ 

Sie ſchwieg und ſah vor ſich nieder. 

Sophie betrachtete das liebliche, ſchmale Kinder- 
geſicht mit den langen, dunklen Wimpern, den Grübchen 
in den Wangen und den ſchöngezeichneten Lippen — 
ſo ganz anders erſchien ſie ihr als im häuslichen Kreiſe, 
wo ſie ſich luſtig und froh gab. Als ob eine ſtarke 
Melancholie das Mädchen gefeſſelt hielt, die auch auf 
ſie übergehen wollte. 

Sanft nahm ſie eine der Hände Kenias in die ihrigen. 
„Was bewegt Sie, Kenia?“ 

Kenia hob die Augen zu ihr. 

Sophie ſah darin eine Träne. „Was haben Sie? 
Sie weinen? Warum gehen Sie hierher, wenn der 
Ort Sie trübe ſtimmt?“ 

Kenia ſchüttelte langſam den Kopf. „Das iſt es 
nicht, das nicht allein. — Sophie Karlowna, darf ich 
Ihnen vertrauen?“ 

Sophie erſchrak. Was hatte das Mädchen? Es war 
doch nicht möglich, daß dies halbe Kind ſchon verliebt 
war? Aber was ſonſt konnte ſie in ſolch ſchwermütige, 
ſchwärmeriſche Stimmung bringen? „Ob Sie mir 


74 Die ſchöne Trebnitz. 2 


vertrauen dürfen? Warum nicht? Was hat Sie denn 
ſo trübe geſtimmt?“ 

Sie erhielt keine Antwort, Xenia ſchien ihre Worte 
nicht gehört zu haben. Sie hatte ſich erhoben, war 
zu der Brüſtung getreten, die den Hügel einſchloß, 
ſpähte zum Wald hinüber, als ob ſie ein Geräuſch 
gehört. 

Sophie folgte ihren Blicken. Unter den Bäumen 
hervor trat ein Mann, der haſtig die Schneiſe überſchritt, 
als ob er ſich dem wartenden Mädchen nähern wollte, 
dann aber plötzlich umkehrte und wieder im Walde 
verſchwand. 

Was war geſchehen? Hatte Kenia ihm ein Zeichen 
gemacht? Sophie wußte es nicht, denn alles war ſo 
ſchnell gegangen, daß ſie ganz verblüfft war. 

Nur daß es ein junger Mann mit feinen Geſichts- 
zügen, zu denen die bäuriſche Kleidung nicht paßte, 
geweſen, hatte ſie ſehen können. 

Sie tat, als ob ſie nichts bemerkt hätte, wartete ein 
paar Minuten, dann fragte fie: „Nun, Xenia, Sie ant- 
worten nicht?“ 

Langſam löſte ſich das Mädchen von ihrem Platze 
und kam zu Sophie. „Haben Sie ihn geſehen?“ 

Sophie ſchüttelte den Kopf. 

Kenia ſetzte ſich wieder zu ihr. „Sophie Karlowna, 
ich möchte Ihnen fo gern alles fagen, aber —“ 

„So ſprechen Sie doch!“ 

Das klang faſt ungeduldig, ſchüchterte Kenia ein. 
Ein Weilchen blieb ſie ſtill, dann ſchien ſie überlegt zu 
haben. Sie atmete tief auf, lehnte ſich wieder an Sophie, 
und ſo, ohne aufzuſehen, ſprach ſie leiſe, faſt tonlos: 
„Im vorigen Fahr habe ich ihn in Moskau kennen ge- 
lernt. Durch einen Zufall. In der Nähe unſeres 
Hauſes — ich wollte ſchnell über die Straße, an einem 


o Roman von Jans Beder. 75 


Wagen vorüber, ftolperte aber und wäre faſt unter die 
Pferde geraten. Er ſprang zu und hob mich auf. Er 
hat mir das Leben gerettet. Er iſt ein Student, Sergei 
Beleuſſow heißt er, eine adelige Familie. Ich habe ihn 
dann noch einigemal wiedergeſehen, er hat mich er- 
wartet, wenn ich ausging. Jetzt iſt er hierher gekommen. 
Er geht wie ein Bauer gekleidet, will nicht erkannt ſein. 
Er liebe mich, hat er geſagt, ich mußte ihm verſprechen, 
ihn ab und zu hier zu treffen. Daß er heute kommen 
würde, habe ich nicht gedacht, wir treffen uns hier ge- 
wöhnlich zu einer ſpäteren Stunde. Ich wollte ſchon 
alles Mama erzählen, doch das hat er mir verboten. Er ſei 
arm da würden meine Eltern Schwierigkeiten machen. 
Wir müßten noch warten, er habe Großes vor —“ 

„And Sie, Kenia, wie ſteht es um Sie, was ſagt 
Ihr Herz?“ 

„Ach, Sophie Karlowna, das iſt es eben, ich weiß 
nicht — ich, ich fürchte mich vor ihm.“ 

Sophie verbarg ein Lächeln. Schlimm ſchien ihr 
die Sache nicht zu ſtehen. „Aber warum treffen Sie 
ſich dann mit ihm, das iſt doch ein Unrecht, ſo hinter 
dem Rücken Ihrer Eltern. Ihre Mama würde gewiß 
ſehr traurig ſein, wenn ſie davon erführe.“ 

„Das iſt es ja eben, was mir ſo großen Schmerz 
verurſacht. Verſtehen Sie, Sergei hat mir das Leben 
gerettet, ich darf ihn doch nicht zurückſtoßen, ich muß 
doch gehorchen, wenn er es verlangt.“ 

Sophie dachte an ihre eigene Jugend zurück, an 
die Zeit, als ſie fünfzehn, ſechzehn war. Sie und ihre 
Berliner Freundinnen hätten ſchon gewußt, ob fie 
jemand liebten oder nicht — ſolch zarte, unbewußte 
Herzen wie dieſes hier gibt's nicht in Berlin, dort reift 
man ſchneller heran. Ein zwölfjähriges Kind iſt dort 
ſelbſtändiger als dies Mädchen hier neben ihr. 


76 Die ſchöne Trebnitz. | 2 


Zetzt begriff fie auch, wie es möglich war, daß ſich 
ganz junge Mädchen ſchon von dem politiſchen Wirr- 
wart, von all dieſen utopiſchen Ideen betören und 
mitreißen laſſen. Schnell mußte hier ein Ende gemacht 
werden, das Kind ging ſonſt an ihrem Gemüt zugrunde. 

„Wollen Sie mir folgen, Xenia, wollen Sie mir 
ganz vertrauen?“ | 

Kenia nickte eifrig. 

„So hören Sie. Sie dürfen dieſen Herrn nicht 
wiederſehen. Auf keinen Fall —“ 

„Das geht nicht. Ich war einmal fortgeblieben, 
da iſt er nachts über die Parkmauer geſtiegen, um bis 
zu meinem Fenſter zu kommen. Jetzt hat Karl Rarlo- 
witſch befohlen, nachts ein paar Hunde in den Park 
zu laſſen — Sie wiſſen das ja, Sophie Karlowna. Die 
zerreißen ihn, wenn er ſich nochmals im Parke zeigt.“ 

„Haben Sie ihm das geſagt?“ 

„Er hat gelacht. Er fürchte keine Hunde.“ 

„Seien Sie überzeugt, er wird nicht mehr über die 
Mauer klettern.“ 

„Doch, er iſt bewaffnet, er hat ſtets einen Revolver 
bei ſich, er hat ihn mir gezeigt.“ 

„Aber wiederſehen dürfen Sie ihn nicht, unter keinen 
Amſtänden, das müſſen Sie mir verſprechen. Geben 
Sie mir die Hand darauf, gehen Sie auch nicht mehr 
allein aus.“ 

Kenia legte zögernd ihre Hand in die Sophies. 
„Aber es darf ihm nichts geſchehen. Hören Sie, Sophie 
Karlowna — ich könnte das nicht überleben.“ 

Sie ſtanden auf und gingen durch den Park zum 
Hauſe zurück. Sophie dachte darüber nach, was ſie 
tun ſollte. 

Sie bezweifelte, daß Xenia ihr Verſprechen, jenen 
Menſchen nicht wiederzuſehen, halten würde. Wenn 


o Roman von Hans Becker. 77 


es dem Manne gelingen follte, ſich ihr wieder zu nähern, 
würde ſie tun, was er von ihr verlangte. Sie war 
imſtande, mit ihm auf und davon zu gehen. Ob ſie 
ſelbſt mit ihm ſprechen, ihm vorſtellen ſollte, welch 
frevelhaftes Spiel er mit dem Kinde trieb? 

Nur einen Augenblick tauchte dieſer Gedanke auf. 
Das war ja ganz ausgeſchloſſen — ſie fürchtete ſich 
vor dem Mann. Wer konnte wiſſen, was für ein rabiater 
Kerl das war. Zweifellos auch einer von denen, die 
die Welt umformen wollen. Solche Menſchen ſind zu 
allem fähig. 

Aber allein konnte ſie das Geheimnis nicht tragen, 
es drückte fie ſchon jetzt wie eine ſchwere Laſt. Viel- 
leicht ſprach ſie mit dem Großvater? Das war doch 
der nächſte, der einſchreiten mußte. 

Davon hielt ſie aber doch ein unklares Gefühl zurück. 
Nicht, daß fie fih ſcheute, das ihr von Kenia geſchenkte 
Vertrauen zu mißbrauchen — darüber mußte fie þin- 
weg, denn es galt Wichtigeres, die Zukunft, das Leben 
des Mädchens ſtand auf dem Spiel, ein ſchweres Un- 
glück mußte verhütet werden. Etwas anderes war es, 
was ihr vorſchwebte: der alte Herr hatte ihr ſo ſehr 
den Hof gemacht, daß ſie es nicht über ſich brachte, 
ſich mit ihm über eine ſolche Sache, eine Liebesſache, 
auszuſprechen. Wie leicht konnte er andere Schlüſſe 
daraus ziehen, meinen, daß fie ſich an ihn heran— 
drängen wolle. | 

Plötzlich fiel ihr ein, und fie war ganz erſtaunt, daß 
ſie nicht gleich darauf gekommen: Baumeiſter — das 
war der richtige Mann, dem mußte fie fagen, was vor- 
ging, der würde Nat ſchaffen. 


„Karl N ich bummle noch ein bißchen 
im Park.“ 


78 Die ſchöne Trebnitz. ö a 


Schnell hatte Paul feinen Tee ausgetrunken und 
war von der Veranda verſchwunden. Baumeiſter hielt 
ihn nicht zurück, wenn er auch geſehen hatte, wie der 
Junge vorhin mit einem Zägerburſchen getuſchelt — 
es war wohl ein Pirſchgang auf Marder im Park 
verabredet. 

Auch Xenia ſtand bald nachher auf. „Ich habe ein 
wenig Kopfweh und lege mich hin — gute Nacht!“ 

Sophie blieb mit Baumeiſter allein zurück. Zegt 
war der Augenblick gekommen, ſie mußte ſprechen, ſich 
von dem Druck, der tagsüber auf ihr gelajtet, be- 
freien. . 

Doch ſie zögerte, ſie fand keinen Anfang, empfand 
plötzlich, als ob ſie die eben eingetretene Stille noch 
zurückhalten müſſe, nicht ſtören dürfe, denn auch Bau- 
meiſter ſchien in Gedanken verſunken. 

Das wirkte auf fie zurück, eine träumeriſche Stim- 
mung kam über ſie. 

Sie lehnte ſich in den Korbſeſſel zurück und ſah in 
die Dunkelheit hinaus. 

Nur ein mäßiger Raum auf der Veranda war von 
der über dem Tiſche hängenden Lampe erhellt, vor 
ihren Blicken ſtand der Park in undurchdringbarer 
Finſternis. 

Geſpenſterhaft warfen um die Lampe herum- 
ſchwirrende Nachtfalter ihre Schatten auf das weiße 
Leinen des Tuches, lautlos bewegten ſie ſich, zuckten 
hin und her, verſchwanden, tauchten wieder auf. 

Eine Eule ſchwebte mit klagendem Ton vorüber, 
dann herrſchte wieder tiefe Stille. 

Bewegungslos ſtanden die mächtigen Bäume, kein 
Blatt regte ſich, ein Duft von Laub und Erde erfüllte 
die Luft. 

Von dem Hundezwinger herüber ein kurzes Auf— 


2 Roman von Hans Becker. 79 


bleffen, im Schlafe ausgeſtoßen, gleich darauf wieder 
laſtende Stille. 

Sophie wußte nicht, wie lange ſie ſo vor ſich hin 
geträumt, ſie hatte ſich einwiegen laſſen, gedankenlos 
dageſeſſen, die köſtliche Nacht wie eine Wohltat emp- 
findend. 

Plötzlich fuhr ſie auf, es hatte ſich etwas bewegt. 
Als ihr Auge aus der Dunkelheit zum Lichte zurück 
kehrte, ſah ſie Baumeiſter, der ſich erhoben hatte. 

„Ein ſchöner Geſellſchafter bin ich. Hab' wohl gar 
geſchlafen, wenigſtens geträumt. Sie denken gewiß, 
der iſt hier ſchon ganz verbauert.“ 

Sie wehrte ab. „Wir iſt es nicht anders ergangen, 
habe auch geträumt —“ 

Was ſie ſagen gewollt, hatte ſie vergeſſen. Erſt 
jetzt fiel ihr das wieder ein, lag ſchwer auf ihr. 

Baumeiſter hatte ſich wieder geſetzt. Er ſchien von 
ſeiner vorherigen Stimmung noch nicht ganz befreit, 
denn ehe Sophie das erſte Wort fand, fing er an über 
das Leben in Rußland, insbeſondere hier in der Ein- 
ſamkeit, zu ſprechen. Ob es ihr hier gefalle, oder ob 
ſie ſchon Sehnſucht nach Deutſchland ſpüre. 

Obgleich Sophie in Gedanken noch immer mit dem 
beſchäftigt war, was ſie ſagen wollte, fühlte ſie doch 
heraus, daß Baumeiſter gern mit ihr geplaudert hätte. 
Sie begriff auch, daß es ihm, der hier nun foon jahre 
lang lebte, darum zu tun war, die Stunde, die ſie 
hier allein ſaßen, auszunützen. 

So ging ſie darauf ein, verſchob das andere auf 
ſpäter. „Sie fragen das in ſo wehmütigem Ton. 
Fühlen denn Sie ſich hier nicht zufrieden?“ 

Er bewegte bedächtig den Kopf. „Ja doch, ich bin 
gern hier. Nur manchmal kommt es ſo über mich: 
biſt hängen geblieben, was wird noch werden, biſt wohl 


8⁰ Die ſchöne Trebnitz. a 


ſchon für deine Heimat verdorben, paßt nicht mehr 
hin. — Sehen Sie, Sophie Karlowna, acht Jahre ſitze 
ich hier nun foon, da hat man fih hineingewöhnt in 
das breite, großzügige Leben. Kaum kann ich mir noch 
vorſtellen, daß es einmal anders war, wieder anders 
werden ſoll. Und es iſt doch ſo anders geweſen. Doch 
was ſchwatze ich Ihnen da unaufgefordert von mir — 
verzeihen Sie, das intereſſiert Sie ja gar nicht.“ 

„Doch, Karl Karlowitſch, ſprechen Sie nur, das 
intereſſiert mich ſehr. Ich will mich doch hier einzu- 
leben, Vergangenes zu vergeſſen ſuchen.“ 

„Ja, es war anders, ganz anders. Natürlich trägt das 
Geld die Schuld wie immer. Für die Univerſitätszeit 
reichte es noch, aber ehe ich noch den ‚Doktor‘ machen 
konnte, war es aus mit dem bißchen, was mir von den 
Eltern geblieben war. Dabei habe ich nicht einmal flott 
gelebt, und doch — eines Tages konnte ich Rod- und 
Weſtentaſchen umdrehen, es zeigte ſich kein Markſtück 
mehr. Da ſtand ich vor einer verſchleierten Zukunft — 
an Staatsexamen war nicht zu denken, als ein Heiden- 
glück mußte ich es anſehen, daß fih mir trotz des fehlen- 
den, Doktors“ die Stellung hier bot. Ich griff zu, dachte 
daran, ſo etwa auf ein Jahr herzugehen, dann zurück 
nach Deutſchland, vielleicht nachzuholen. Blieb aber 
hängen. Ich habe es ja nicht bereut, fühle mich hier 
ganz wohl i in meiner Haut, nur ab und zu, . wie heute, 
ſummt es mir im Kopf: 


Doch ſchöner iſt das Vaterland 
Am grünen Strand der Spree. 


Na, das iſt nun doch anders, wenigſtens habe ich 
das empfunden, als ich vor zwei Jahren ein paar 
Wochen draußen war. Eine Maſſe Menſchen da, die 
mehr verſtehen als unſereiner, es aber doch zu nichts 


2 Roman von Hans Becker. 81 


bringen. Für jedes Amt, für jede Stellung hundert 
Bewerber — man muß ſeinem Schickſal danken, daß 
man es noch ſo getroffen hat. Und doch möchte ich hier 
nicht ſterben, denn man hat eigentlich nichts, wofür 
man lebt: fremdes Land, fremde Zntereſſen, die einen 
nichts angehen. Man ſehnt fih doch zurück. Ein Zeit- 
eſſen zu Deutſchlands Ruhm und Ehre genügt mir 
nicht, ich möchte in der Heimat fein, mitſprechen, mit- 
wirken dürfen.“ 

Er ſchwieg. Auch Sophie wußte nicht gleich etwas 
zu ſagen. 

Die Ruhe der Nacht webte wieder ihre Schleier um 
ſie, die lebloſe Stille lag von neuem um ſie her. 

Plötzlich ein Knall, als ob ein Schuß ganz in der 
Nähe abgefeuert worden wäre. Gleich darauf folgendes 
Aufheulen und Bellen von Hunden. 

Sophie war erſchrocken aufgefahren. „Mein Gott!“ 
rief ſie laut. 

Baumeiſter blieb ruhig ſitzen. „Angſtigen Sie ſich 
nicht. Das ift Pauls Büchſe. Dem jungen Herrn werde 
ich morgen die Leviten leſen, denn es iſt ihm ſtreng 
verboten, hier im Park zu ſchießen.“ 

Sophie konnte ſich nicht gleich beruhigen. „Aber 
wenn doch jemand anders geſchoſſen hätte? Wollen 
Sie nicht lieber nachſehen, Karl Karlowitſch —“ . 

Baumeiſter ſtand auf. „Wenn es Sie beruhigt — 
gern. Ich wiederhole jedoch, ich kenne Pauls Büchſe. 
— Na, da ſehen Sie, wie recht ich hatte, dort kommt 
der Jäger. — Paul, Paul!“ 

Der rief ſchon von weitem: „Karl Karlowitſch, ich 
habe nicht geſchoſſen, Gregor hat's getan. Ich hatte 
ihm meine Büchſe zum Tragen gegeben —“ 

„Wozu haft du das Gewehr überhaupt mitgenom- 
men? Im Park darf doch nicht —“ 

1913. XI. 6 


82 Die ſchöne Trebnitz. | a 
m u 

Paul war herangekommen. „Wir wollten doch 
weiter in den Wald, da ſahen wir — dort am Hügel, 
wo die Bänke ſtehen — wie eine Geſtalt über das 
Gitter zu klettern verſuchte. Gregor ſchoß — nur um 
den Menſchen zu erſchrecken. Er ift auch gleich zurück ⸗ 
gelaufen. Gregor will jetzt ein paar Hunde in den 
Park laffen —“ | 

„Wird gewiß wieder einer geweſen fein, der ſich 
den Umweg ſparen wollte. — Na, geh jetzt nur ſchlafen, 
es ift ſpät geworden. Morgen werde ich die Sache 
unterſuchen laffen.“ 

Paul ging. | 

Baumeiſter wendete fih zu Sophie. „Sehen Sie, 
Sophie Karlowna, es war nichts Schreckliches. — Aber 
Sie ſind ja ganz bleich, Sie zittern —“ 

Sie unterbrach ihn. „Es war gewiß etwas Schred- 
liches, Karl Karlowitſch, glauben Sie mir! Hören Sie 
jedenfalls, was ich weiß — ich wollte ſchon vorhin 
ſprechen.“ 

Als ſie ihm geſagt hatte, was Kenia ihr anvertraut, 
ſaß Baumeiſter erſt einige Sekunden ſtumm, dann ſtieß 
er heraus: „Ah, dieſer Schuft — verzeihen Sie das 
unparlamentariſche Wort — ſchimpfen lernt man hier 
leicht! Wie ſoll man ſo 'nen Kerl auch anders nennen? 
Er iſt auch nicht allein hier, beſtimmt nicht. Lepeſchow 
ſprach mir davon, daß ſich hier wieder Aufwiegler ſehen 
laſſen. Unſere Bauern ſind zuverläſſig, haben es ja 
auch gut, aber unzufriedene Elemente gibt es überall. 
And nun gehen Sie ſchlafen, Sophie Karlowna, ſchlafen 
Sie ganz ruhig, es geſchieht nichts. Kenia gegenüber 
wollen wir uns nichts merken laſſen — wir können 
auch nichts tun ohne die Eltern. Kenia iſt ja noch ein 
Kind — ſie fürchtet ſich vor dem Kerl, weiter nichts. 
Von Licbe kann da wohl nicht die Rede ſein. Wenn 


o Roman von Hans Beder. 83 


er fort ift, wird fie ſich bald beruhigen. — Alſo bis 
morgen, ſchlafen Sie wohl!“ 


Trotz der gehabten Aufregung war Sophie ſo müde 
geworden, daß ſie feſt ſchlief, und als ſie mit einem 
unbeſtimmten Unbehagen erwachte, wurde dies durch 
den hellen, klaren Morgen bald verſcheucht. 

Sie fühlte faſt Erſtaunen darüber, welch großes 
Vertrauen ſie zu dem ihr noch halbfremden Manne 
hatte, fo daß fie ein paar Augenblicke darüber nach- 
ſinnen mußte, woher das wohl kommen möge, bis ſie 
den einfachen, ſelbſtverſtändlichen Grund fand: ein 
Deutſcher, ein Landsmann — das allein war es, was 
ihr das Gefühl des Vertrauens und der Ruhe gab. Sie 
war nicht mehr einſam, ſie hatte jemand, der ſie beſchützte. 

Ganz froh ging ſie zum Frühſtück hinunter, ſie freute 
ſich, den Mann, der ihr, wie ſie fühlte, zur Seite ſtand, 
ſie auch ferner beſchützen würde, wiederzuſehen. 

Am Frühſtückstiſche aber fand fie nur Xenia und 
Paul. 

„Karl Karlowitſch iſt ganz früh fortgeritten. Mein 
Anterricht fällt heute aus.“ 

Paul ſagte das, als ob er traurig darüber wäre, 
fo daß Sophie lachen mußte und rief: „Sie Armiter, 
was werden Sie nun mit Ihrem Sage anfangen?“ 

„Ach, wiſſen Sie, Sophie Karlowna, ich habe Kenia 
ſchon zugeredet, vielleicht — wenn Sie einverſtanden 
ſind, gehen wir zum Geſtüt hinüber.“ 

Sophie wendete ſich zu Kenia und ſuchte in ihrem 
Geſichte zu leſen. „Was meinen Sie, Kenia?“ 

„Wenn Sie mitkommen, Sophie Karlowna —“ 

„Gut, ich bin einverſtanden, laßt mich nur erſt meinen 
Raffee aus trinken.“ 


84 Die ſchöne Trebnitz. D 


Sophie beeilte fih, und ſchon nach einer halben 

Stunde waren ſie unterwegs. 
` „Erft gehen wir nach den Fohlenkoppeln, die kennen 
Sie noch nicht, Sophie Karlowna —“ 

Sophie empfand bei dem Anblick der Schar junger 
Pferde faſt das gleiche Vergnügen wie die Kinder. 
Alle hatten Namen. Paul rief und lockte, viele kamen 
zum Zaun geſprungen, nahmen den Zucker, mit dem 
Paul ſich die Taſchen vollgeſtopft, aus der Hand und 
ließen ſich über die Naſe ſtreichen. 

Prächtige Tierchen — Sophie verſtand etwas von 
Pferden und war ganz entzückt von dem Bilde. Nur 
ſchwer konnte man ſich trennen. 

Als fie in den am Walde hinlaufenden Weg ein- 
bogen, kam ihnen ein Trupp Bauern entgegen. Nicht 
wie Leute, die von der Arbeit kemmen, müde, gedrückt, 
ſchon von weitem vor der Herrſchaft die Mützen ziehend, 
ſondern laut gröhlend, ſo daß Sophie zuſammenſchrak 
und umkehren wollte. 

Paul hielt ſie zurück. „Fürchten Sie ſich nicht, 
Sophie Karlowna, es tut Ihnen keiner was. Die ſind 
betrunken. Es ſoll nur einer wagen, heranzukommen, 
dafür bin ich doch da!“ 

Seine Augen blitzten, ſtolz, ſtramm aufgerichtet ging 
er neben Sophie. Auch Xenia blieb ruhig, ihr war 
das Bild nichts, Neues. 

Sophie beruhigte ſich alſo auch, ſie konnte ſogar 
lächeln, als ſie auf den Knaben ſah, der ihr ſeinen 
Schutz verſprach. Er erſchien ihr in dieſem Augenblick 
wirklich wie ein Mann, dem man ſich anvertrauen 
konnte. | 

Als der Zug an ihnen vorüberkam, zogen einige 
der Bauern ihre Mützen und verbeugten ſich, andere 
gröhlten weiter. | 


o Roman von Hans Becker. 85 

Darüber gab es unter ihnen einen Streit, beſonders 
ein junger Kerl ſchien denen, die gegrüßt, Vorwürfe 
zu machen. 

Der ganze Trupp blieb plötzlich ſtehen, einige 
ſtießen Schimpfworte und Flüche aus. 

Sophie packte von neuem die Furcht. „Rommen 
Sie ſchnell, Paul!“ 

Doch der hatte ſich ſchon umgewendet und rief den 
Bauern zu: „Wollt ihr wohl machen, daß ihr weiter- 
kommt!“ 

Der junge Kerl, der vorhin ſchon geſchimpft hatte, 
trat aus der Gruppe heraus, zog aus feinem Gtiefel- 
ſchaft ein Meſſer und ging damit auf Paul los. 

In dieſem Augenblick kam aus dem Walde ein 
Mann herausgelaufen — Sophie erkannte ihn ſofort. 
Er trieb die Betrunkenen zurück. 

In maßloſer Furcht hatte Sophie Xenia und Paul 
mit ſich geriſſen und lief davon, dem Gutshauſe zu. 

„Hoho, der Moszkwitſch!“ brüllte der Meſſerheld. 
„Biſt uns nachgelaufen, Zungchen, und willſt die Herren- 
leute ſchützen? Habe ich's nicht gleich geſagt, daß alles 
Lüge iſt — wart, du Hundeſohn!“ 

Das Meſſer blitzte in der Luft. Aber in der nächſten 
Sekunde lag er ſchon heulend am Boden, ein Fußtritt 
gegen den Unterleib hatte ihn niedergeſtreckt. 

Die anderen Bauern umſtanden den Gefallenen 
und ſtierten auf ihn herunter. Nur ein alter, weiß- 
haariger Mann trat vor. „Was kommt Ihr hierher 
und reizt die Leute auf? Ihr meint es doch nicht 
ehrlich — packt Euch fort!“ 

Einen Augenblick ſtand der Fremde ſtumm, ſeine 
Bruſt arbeitete, der Atem ging ſchnell, er rang nach 
Worten. Endlich brachte er ſtoßweiſe heraus: „Glaubt 
ihm nicht, Leute, glaubt ihm nicht. Ich meine es gut 


86 Die ſchöne Trebnitz. u 


mit euch. Aber wer hat euch befohlen, euch zu be- 
trinken und wehrloſe Frauen anzufallen? Habe ich 
euch nicht geſagt, ihr ſollt warten, euch ruhig verhalten, 
nichts merken laffen? Eure Zeit wird ſchon kommen —“ 

„Sie iſt ſchon da!“ 

Der Niedergeſchlagene war, das Meſſer noch immer 
in der Fauſt, gedeckt von den um ihn Herumſtehenden, 
auf den Knien näher gekrochen, ſprang jetzt plötzlich 
auf und ſtieß dem Fremden das Meſſer in die Bruſt. 

„Sie iſt ſchon da, merkſt du's jetzt, du Sohn einer 
Hündin?“ 

Röchelnd war der Getroffene zu Boden geſunken. 
Keine Hand rührte ſich, um ihm zu helfen. Stumm 
ſahen ſich die Bauern an, nickten bedächtig oder ſchüttel⸗ 
ten die Köpfe, dann ſetzten ſie ihren Weg fort. 

Schon nach wenigen Schritten ſtimmten ſie ihren 
Geſang wieder an, am lauteſten brüllte der Meſſerheld. 

Es war nichts zurückgeblieben als ein Dunſt von 
Fuſel und ſtinkendem Tabakrauch — und der Ver- 


wundete. 
(Fortſetzung folgt.) 


= 
nr 


p~s 2 | De Dre 


— | * 


Rofenzucht und Rofenfhmud. 
von Th. Seelmann. | 


Mit 12 Bildern. M (nachdruck verboten.) 


etz an keiner anderen Blume laffen fidh die 


Fortſchritte und Errungenſchaften der modernen 
Kunſtgärtnerei in dem gleichen Maße erkennen wie an 
der Roſe. Schon im Altertum galt ſie als die Königin 
der Blumen, aber wie erſtaunt würden die Griechen 
und Römer ſein, wenn ſie den Farbenſchmelz und den 
Formenreichtum unſerer jetzigen Roſenfülle erblicken 
und bewundern könnten. Gibt es doch heute gegen 
viertauſend Spielarten, die in edler Schönheit mitein- 
ander wetteifern, und werden doch noch immer neue 
Sorten gezüchtet, die durch ihre Farbenabtönungen 
und die Vornehmheit ihres Äußeren ihre bereits vor- 
handenen Schweſtern überflügeln und womöglich ver- 
drängen ſollen. 

Der eine Grund für die Mannigfaltigkeit in der 
Roſenzucht ift der, daß die Gattung der Rofen an fid 
ſchon ziemlich artenreich iſt. Man zählt etwa hundert 
ſelbſtändige Arten. Sodann aber neigen die Rofen 
von ſelbſt unter dem Einfluß des Klimas, Bodens und 
ihrer Konſtitution zum freiwilligen Abändern in Farbe, 
Blüten- und Blätterform. Endlich aber hat beſonders 
die Vertiefung der naturwiſſenſchaftlichen Kenntniſſe 
an die Stelle des Zufalls bei der Hervorbringung neuer 
Sorten die zielbewußte Zuchtwahl geſetzt. 


88 Roſenzucht und Roſenſchmuck. o 


Die Stammpflanze der älteren europäiſchen Garten- 
rofen ift wahrſcheinlich die rote Provencerroſe, die in 
Südeuropa und im Orient ſchon in ſehr frühen Zeiten 


Madame Abel Chantenay; zart abgeſtufte Farbentöne, 
edle Blattſtellung. 


gezogen wurde. Eine uralte Gartenroſe des Orients 
iſt ferner die ſogenannte Damaszenerroſe, die im römi— 
ſchen Altertum als „Roſe von Päſtum“ bekannt war 
und damals bereits zweimal blühte, alſo wohl die erſte 
Remontante ift. Sie verſchwand dann lange Zeit aus 


2 Von Th. Seelmann. 89 


Stalien. Zur Zeit der Kreuzzüge brachte ſie der Ritter 
Robert de Brie aus Kleinaſien nach Frankreich, wo ſie 
ſich ſtark verbreitete und ſpäter als Grundlage vieler 
Neuzüchtungen benützt wurde. 

Ungefähr zur gleichen Zeit wurde aus Perſien die 


A 


Madame Zules Graveraur; gelbliche Teeroſe, 
ſehr üppig tragend. 


in Büſcheln überhängende, halbkugelige Blüten tragende 
Zentifolie eingeführt. Allmählich folgten noch andere 
Arten. Der Baſeler Botaniker Bauhin kannte am 


90 Roſenzucht und Rofenfhmud. = D 


Ende des 16. Jahrhunderts neunzehn wilde Rofen- 
arten und ſiebzehn Kulturroſen. Im Jahre 1780 ge- 
langte aus Kanton die Bengalroſe, 1807 aus China 
und Japan die Bankſiaroſe und 1825 die Teeroſe nach 
Europa, die ſpäter die Mutter wurde von Maréchal Niel 
und Gloire de Dijon. 

Einen großen Aufſchwung gewann die Roſenkultur 
im Beginn des 19. Jahrhunderts, als ihr in der 
Kaiſerin Joſephine, der der Botaniker Bonpland 
zur Seite ſtand, eine eifrige Förderin erwuchs. Waren 
bis zu dieſer Zeit ſchon vielfache Kreuzungen hervor- 
gebracht worden, ſo mehrte ſich die Zahl der Baſtarde 
noch bedeutend, als mit der Erleichterung der Verkehrs- 
verhältniſſe noch weitere neue Formen nach Europa 
gebracht wurden und durch die Einſicht in die Be- 
fruchtungsvorgänge der Pflanzen die künſtliche Hibri- 
dation oder Kreuzung ermöglicht und ſyſtematiſch geübt 
wurde. 

Um eine neue Roſenform zu gewinnen und dauernd 
fortzuzüchten, kann man verſchiedene Wege einſchlagen. 
Wie ſchon erwähnt, variieren die Rofen außerordent- 
lich leicht. Man nennt ſolche durch zufällige Umſtände 
entſtandene Neuheiten „Sports“. Beiſpielsweiſe ſind 
Sports die Bourbonroſe und die Noiſetteroſe. Bis 
etwa zum Jahre 1850 zog man nun neue Spielarten 
faſt ausſchließlich aus der Verwertung von Sports. 
Bemerkte ein Gärtner an einem Roſenſtock Blüten, die 
durch die Färbung oder Form von den bekannten 
Sorten abwichen, fo entnahm er dem Stock ein Pfropf- 
reis und pfropfte es auf einen Wildſtamm. Die ſich 
entwickelnden Zweige trugen dann die neue Blüten- 
form, und durch die Abtragung von weiteren Pfropf- 
reiſern, Augen oder auch Stecklingen ſicherte er fidh 
nun den Grundſtamm zu feiner neuen Roſenſorte. Auf 


2 Von Th. Seelmann. 91 


dieſe Weiſe ſind die Roſenſorten Kapitän Chriſty, Wun- 
der von Lyon, Lady Gay, Lady Godiva, Karoline 
Teſtout und viele andere gewonnen worden. 


Schöne Siebrecht; wohlriechend und beſonders gegen 
den Herbſt hin von entzückendem Farbenſchmelz. 


Ein zweiter Weg war der, daß man den Samen 
von Edelroſen einſammelte und ihn ausſäte. War nun 
während des Blühens der Fall eingetreten, daß, wo— 
von wir ſogleich noch eingehend ſprechen werden, die 
Blüte der einen Art mit Hilfe des Windes oder eines 


92 Roſenzucht und Roſenſchmuck. o 


Inſektes durch den Blütenſtaub einer anderen Art be- 
fruchtet worden war, ſo umſchloß der betreffende Same 
unter Umftänden eine Vermiſchung der Merkmale der 
beiden Elternformen in ſich, und der aus ihm hervor 
gehende Roſenſtock trug dann auch eine neue Blüten- 


Kapitän Chriſty; Remontante mit fleiſchfarbenem Ton. 


form, die Ähnlichkeiten mit den Stammformen auf- 
wies, auf der anderen Seite aber auch in Farbe und 
Geſtalt von ihnen mehr oder weniger abwich. Hatte 
die neue Blüte eigenartige Reize, ſo wurde nun die 
neue Spielart durch Pfropfreiſer, Augen oder Sted- 
linge weitergezüchtet. 

Es iſt klar, daß bei dieſem Verfahren der Gärtner 
von vielen Zufälligkeiten abhängig war und unter Um- 


2 Von Th. Seelmann. 93 


ſtänden fein ganzes Leben lang keine neue Form ge- 
winnen konnte, die die Fortzucht verlohnte. 

Dieſem Übelſtand iſt heute der Gärtner durch die 
künſtliche Befruchtung überhoben. 

Betrachten wir eine Roſe! In der Mitte der 
Blumenblätter ſehen wir zwei Arten von Organen. 
Ein Gebilde mit run— 
dem, grünlichem Kopf, 
der Stempel, ſtellt das 
weibliche Organ dar. 
An ſeiner Spitze trägt 
er die Narbe, wäh— 
rend er in feinem un- 
teren Ende die Sa— 
menanlagen birgt. 
Ringsherum um den 
Stempel ſtehen die 
männlichen Organe, 
die Staubgefäße, die 
in kleinen gelben Beu— 
teln den befruchten 
den Pollen enthalten. 

Wenn ſich die 
Blüte zu entfalten be- 
ginnt, bedeckt ſich die 
Narbe des Stempels Karoline Teſtout; vereinigt viele 
mit einem klebrigen gute Roſeneigenſchaften. 
Schleim. Zu gleicher Zeit platzen die Beutel der Staub- 
gefäße auf, und es quillt aus ihnen der Pollen heraus. 
Gerät ein Pollenkörnchen durch den Wind oder durch 
ein Inſekt, das es fortſchleppt, auf die Narbe, ſo bleibt 
es hier haften, treibt im Stempel einen Schlauch nach 
abwärts, und aus dieſem Schlauch entleert ſich nun 
der feine Pollenſtaub auf die Samenanlagen, wodurch 


94 Rofenzuct und Roſenſchmuck. o 


die Befruchtung und damit die Ausbildung der Samen 
eintritt. Da die Roſen weibliche und männliche Organe 
zugleich tragen, fo kann demnach bei ihnen Selbſt— 
befruchtung erfolgen. 

In dieſem Fall wird die Blüte, die der ſpäter aus 


Frau Karl Oruſchki; 
weiße Remontante ohne Wohlgeruch. 


dem Samen gezogene Roſenſtock anſetzt, genau der 
mütterlichen Blüte gleichen. Ebenſo wird keine Ver— 
änderung der Blüte hervorgebracht werden, wenn der 
Pollen einer Roſe auf die Narbe einer benachbarten 
Rofe, die fih an einem zweiten Roſenſtock entfaltet hat, 
übertragen wird, ſobald beide Roſenſtöcke derſelben Art 
angehören. Wohl aber wird möglicherweiſe eine Ver— 
änderung in der Zuſammenſetzung dieſes Samens und 


2 Von Th. Seelmann. 95 


damit auch ſpäter an der von ihm abſtammenden Blüte 
erfolgen, wenn zwei verſchiedene Arten oder wenigſtens 
zwei verſchiedene Spielarten die befruchtende Ver— 
bindung miteinander eingehen. 


Richmond; dunkelrot und von vornehmer Form. 


Dieſe letztere Vereinigung führt nun der Gärtner 
abſichtlich herbei. Zu dieſem Zweck iſt es zunächſt nötig, 
daß er die Selbſtbefruchtung ſowie die Verbindung 
von Pollen und Narbe von Roſen derſelben Art oder 
Spielart verhindert. 


96 | Rofenzuht und Rofenfhmud. o 


Er geht dabei auf folgende Weiſe vor. Erſcheint 
ihm eine Roſe wegen ihrer Farbe oder Form geeignet, 


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* — „ 
PDT 
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—— ——— ͤꝓ WVW—— — — nn 


Fehlerhafte Anordnung: kleine Vaſe mit 
langſtieligen Roſen. 


zur Hervorbringung einer neuen Spielart mit einer 
anderen ebenfalls intereſſanten Blüte verbunden zu 
werden, jo öffnet er eines Morgens vorſichtig die Rofen- 


o Von Th. Seelmann. 97 


knoſpe kurz vor der Zeit, in der fie fih voll entfalten 
würde. Zuerſt überzeugt er ſich mit der Lupe, daß 


Fehlerhafte Anordnung: 
hohe Vaſe mit zuſammengedrängten Rofen. 


noch kein Pollenkörnchen der eigenen Staubgefäße auf 

die Narbe gefallen iſt. Man erkennt die Pollenkörnchen 

als kleine gelbe Höckerchen. Iſt kein Pollenkörnchen 
1913. XI. 7 


98 Roſenzucht und Rofenfhmud. 2 


auf der Narbe ſichtbar, ſo biegt jetzt der Gärtner die 
Roſenknoſpe ſeitlich nach unten und ſchneidet mit einer 
feinen Schere die unterhalb des Stempels ſtehende 
Hälfte der Staubgefäße ab. Dann biegt er die Rofen- 
knoſpe nach der entgegengeſetzten Seite um und ſchneidet 
nun die zweite Hälfte der Staubgefäße ab. Diejenigen 
Staubgefäße, welche ſich nicht abſchneiden laſſen, wer- 
den mit einer Pinzette abgeriſſen. Schließlich unter- 
ſucht der Gärtner noch mittels der Lupe, ob nicht aus- 
gefallene Pollenkörnchen am Fuß des Stempels liegen 
geblieben ſind. Die eee iſt jetzt unmög- 
lich gemacht. 

Damit aber auch nicht eine Fremdbefruchtung durch 
den Pollen derſelben Art oder einer überhaupt unwill- 
kommenen Art, beziehungsweiſe Spielart, erfolgen 
kann, umhüllt er nun die Roſenknoſpe mit einem Gaze- 
beutel. 

Jetzt muß der Pollen für die künſtliche Befruchtung 
gewonnen werden. Der Gärtner wählt ſich dazu die 
Roſe einer anderen Art oder beſſer Spielart aus, die 
wegen ihrer Eigenheiten feine Aufmerkſamkeit erregt 
hat. Er ſchneidet von ihr die Staubgefäße ab, bevor 
noch die Staubbeutel aufgebrochen ſind, und entleert 
den Pollen in eine kleine Pappſchachtel. Der Pollen 
hält ſich in ihr einen bis zwei Tage. Will man ihn 
länger aufbewahren, ſo muß man ihn in eine kleine, 
gut verſchließbare Glasröhre ſchütten. In ihr bleibt 
er bis zu acht Tagen lebensfähig. 

Nun kann der Hauptakt, die eigentliche künſtliche 
Befruchtung, ausgeführt werden. Die von dem Gaze— 
beutel umhüllte Mutterroſe wird ſich inzwiſchen voll 
entfaltet haben. Kurz nach Mittag, da dies die günſtigſte 
Zeit für die Befruchtung iſt, nimmt der Gärtner die 
Gazehülle ab, betupft den eingeſammelten Pollen mit 


2 Von Th. Seelmann. 99 


— 


einem feinen Haarpinſel und überträgt den Pollen auf 
die Narbe. Nachdem er mit der Lupe unterſucht hat, 


Muſterhafte Anordnung. 
daß auch wirklich Pollenkörner auf der Narbe haften 
geblieben ſind, umhüllt er die Mutterroſe wieder mit 


dem Gazebeutel. Damit die Befruchtung auch ſicher 
eintritt, wird dieſelbe Operation nochmals am über— 


100 Roſenzucht und Rofenfhmud. o 


nächſten Tag wiederholt. Nach zwei bis drei Tagen 
kann dann der Gazebeutel entfernt werden. An dem 
betreffenden Roſenſtiel wird ein Schild mit den Namen 
der gekreuzten Spielarten befeſtigt. 

Im Oktober oder November können die reifen Hage- 
butten abgepflückt und aus ihnen die Samenkörner 
herausgenommen werden, die man dann auseinander- 
gebreitet bis zum kommenden Frühjahr aufhebt. Die 
Zahl der Samenkörner in einer Hagebutte iſt verſchie— 
den. Meiſt aber finden fih bei den Gartenroſen nur 
vier bis fünf vor. 

Werden nun die Samenkörner ausgeſät und ſind 
aus ihnen Roſenſtöcke hervorgegangen, fo ift es mög- 
lich, daß fie zum Teil Rofen tragen, die der Mutter- 
roſe, und zum Teil ſolche, die der Vaterroſe gleichen. 
Hat der Gärtner aber Glück, ſo zieht er an einem Stock 
auch Roſen, die die Eigenheiten der beiden Elternroſen 
in ſich vereinigen, und damit hat er eine neue Spielart 
gezüchtet. 

Um vor Enttäuſchungen möglichſt geſichert zu fein, 
iſt es darum gut, die künſtliche Befruchtung nicht nur 
an einer einzigen Mutterroſe vorzunehmen, ſondern an 
einer ganzen Reihe. Denn hierdurch gewinnt man 
deſto mehr Samenkörner, und damit wächſt zugleich 
die Ausſicht, eine neue Roſenſorte zu erzielen. Auch 
empfiehlt es ſich, möglichſt neue Spielarten mitein- 
ander zu kreuzen, damit man nicht etwa eine vermeint- 
lich neue Sorte gewinnt, die es aber bereits gibt. 

Die Rofen bilden ſchon durch ihre Schönheit allein 
einen entzückenden Zimmerſchmuck. Um ſie aber zur 
vollen Wirkung zu bringen, iſt es bei der Anordnung 
nötig, einige Regeln zu beachten. So ſollen Roſen 
und Vaſe ein harmoniſches Geſamtbild abgeben. Hat 
man beiſpielsweiſe eine niedrige, kelchartige Vaſe, ſo 


pnug 


jalo 1əf110N218 


102 Roſenzucht und Rofenfhmud. o 


darf man fie nicht durchweg mit langſtieligen Rofen 
verſehen. Das Arrangement ruft dann den Eindruck 
der Leere und der Unſymmetrie hervor. Es ift in dieſem 
Fall zweckmäßiger, am äußeren Umkreis einige kurz- 
ſtielige Roſen zu verwenden, nur die Mitte durch mehrere 
langſtielige Roſen zu bilden und die Blüten insgeſamt 
näher aneinander zu rücken, wodurch dem Arrangement 
eine gefällige Geſchloſſenheit verliehen wird. 

Umgekehrt ift es unrichtig, für eine hohe, ſchlanke 
Vaſe kurzſtielige Roſen zu benützen und dieſe dicht an- 
einander zu drängen. Das Arrangement erhält dadurch 
etwas Gedrücktes, und es hat außerdem den Anſchein, 
als ob die Bafe die Hauptſache fei. Hier find lang- 
ſtielige, locker angeordnete Roſen am Platz. 

Verwendet man eine größere, dickbäuchige Vaſe, 
ſo darf ſie nicht mit zu wenig Roſen beſetzt werden, 
da dieſe dann in der Vaſe gleichſam verſchwinden. Der 
Roſenſtrauß muß vielmehr eine gewiſſe Fülle aufweiſen, 
hat am beſten aus größeren Roſen zu beſtehen, ſoll 
zwiſchen den einzelnen Rofen Licht und Luft hindurch- 
laffen und in feinen äußeren Umriſſen fidh breiter aus- 
laden, ſo daß er gewiſſermaßen ein Spiegelbild der 
Vaſe darſtellt. Für ein ſolches Arrangement leiſtet ein 
Einſatz aus Ton oder Glas gute Dienſte. Dieſe Cin- 
ſätze find durchlöchert. In die Löcher werden die Rofen- 
ſtiele geſteckt, wodurch ſie in der gewollten Stellung 
erhalten bleiben. 

Zu einem eigenartigen, reizenden Tafelſchmuck läßt 
ſich eine gehenkelte Schale verwenden. Man ordnet 
in ihr kleinere Rofen fo an, daß fie nach der einen 
Seite hin eine vollere Traube bilden, während ſie nach 
der anderen Seite hin garbenförmig auseinander- 
gezogen werden. Der Henkel der Schale wird mit 
einer Samtſchleife verziert. | 


Sunugaaug a phawudumjqsnzoj pu 2jp@lualorg 


* 


e 


104 Roſenzucht und Rofenfhmud. D 

Einen außerordentlich reizvollen Tiſchſchmuck liefert 
endlich eine große flache Schale aus Porzellan oder 
beſſer noch aus Silber. Man füllt ſie mit Waſſer an 
und legt in ſie mehrere großblütige Roſen ohne Stiel. 
Dazu werden einige Roſenblätter ſchwimmend auf der 
Waſſeroberfläche ausgebreitet. 

Die Roſen mit ihren Blättern erinnern in dieſer 
Anordnung an Lotusblumen, und der an ſich ſchon 
beſtrickende Anblick erhält noch eine zauberhafte Cr- 
gänzung durch die von der Porzellan- oder Gilber- 
fläche zurückgeworfenen Lichtreflexe. 


D 
DE 


. 


Fräulein Bankdirektor. 
Novelle von Fritz Flechtner. 


* [nachoͤruck verboten.) 


3: öde, fo ein Eſſen zu zweien!“ ſagte Herbert 
v. Röchling und lehnte ſich in feinen Stuhl zu- 
rück, vergeblich bemüht, ein Gähnen zu unterdrücken. 

Kurt v. Bötzow lachte. „Außer wenn dieſer zweite 
eine Sie iſt — nicht wahr?“ 

„Auch dann ift es meiſt nicht beffer,“ verſetzte Her- 
bert mit einer verächtlichen Handbewegung. Nachläſſig 
faltete er ſeine Serviette und legte ſie vor ſich hin. 
„Können wir endlich aufſtehen?“ 

„Erlaube gütigſt,“ entgegnete Kurt, „laß mich 
wenigſtens zu Ende effen. Hätteſt noch jemand mit- 
bringen ſollen, wenn ich dir ſo langweilig bin.“ 

„Alle Bekannte ſind ja heute fort!“ 

„Warum biſt du nicht mitgefahren?“ 

„Hatte keine Luſt. War nicht in Stimmung.“ 

„Ich finde, deine Stimmung iſt jetzt überhaupt 
miſerabel.“ 

„alt das ein Wunder?“ brummte Röchling. „Seit 
Wochen nichts getan, abſolut gar nichts — da ſoll man 
Freude am Leben haben!“ 

Bötzow hatte fein Mahl beendet. Behaglich ſchlürfte 
er den Reit feines Weines. „Komiſch,“ ſagte er kopf⸗ 
ſchüttelnd, „ich fühle mich furchtbar wohl dabei. So 


106 Fräulein Bankdirektor. | o 


könnte es das ganze Jahr bleiben. Ich hätte nichts 
dagegen.“ 

„Viel Vergnügen!“ brummte Röchling mürriſch. 

Sie ſtanden auf und begaben fih in den nebenan 
gelegenen Salon. 

Kurt klingelte und warf ſich dann in einen Klub— 
ſeſſel, während Herbert mit tongen Schritten auf und 
ab ging. 

Ein Diener kam und brachte Kaffee und Likör. 
Kurt reichte ihm einen Schlüſſel. „Die Zigarren!“ 
befahl er. 

Der Diener holte einige Riftchen und verſchwand 
lautlos. 

„So, jetzt bin ich wunſchlos zufrieden,“ ſagte Kurt 
und zog den Duft ſeiner Havanna ein. 

Herbert wanderte noch immer umher. 

„Kaffee — Kognak — Zigarre gefällig?“ fragte Kurt. 

Herbert antwortete nicht. 

„Willſt du dich nicht wenigſtens ſetzen?“ 

„Wenn ich dich ſtöre, kann ich ja gehen.“ 
| „Du ſtörſt mich durchaus nicht. Im Gegenteil — 

deine Ruheloſigkeit erhöht nur meine Behaglich- 
keit.“ 

Röchling brummte etwas Unverſtändliches vor ſich 
hin und ſetzte ſeine Wanderung fort. Dann aber warf 
er ſich auf einen Diwan, nahm eine Zeitung und be— 
gann den Inhalt zu überfliegen. Plötzlich ſtutzte er. 
Sein müder, gelangweilter Geſichtsausdruck war ver- 
ſchwunden. Er mußte etwas gefunden haben, was 
ihn intereſſierte. Noch einmal las er es, ließ die Zei— 
tung ſinken und ſah einige Augenblicke vor ſich hin; 
dann ſprang er auf. Seine Augen leuchteten. 

Kurt hatte ihn beobachtet, und da er ihn genau 
kannte, wußte er, daß etwas Beſonderes in ihm vor— 


o Novelle von Fritz Flechtner. 107 


ging. Aber er war zu bequem, um zu fragen; er würde 
es ſchon rechtzeitig erfahren. 

Nachdem Herbert mehrere Male das Zimmer durch- 
meſſen hatte, blieb er vor ſeinem Freunde ſtehen. „Haſt 
du noch Wünſche für Hermann?“ 

„Augenblicklich nicht — ſpäter vielleicht.“ 

Herbert klingelte. Der Diener erſchien. „Gehen 
Sie ſofort zu Herrn v. Rahden. Wir laſſen ihn bitten, 
heute abend zu einer Partie Skat zu kommen.“ 

Der Diener verneigte ſich und ging. 

„Rahden iſt doch gar nicht zu Hauſe,“ ſagte Kurt. 

„Weiß ich,“ verſetzte Herbert, „ich wollte nur Her- 
mann wegſchicken.“ 

„Ah ſo!“ machte Kurt und richtete ſich etwas auf. 
Da mußte Wichtiges vorliegen. 

Herbert reichte ihm die Zeitung und bezeichnete die 
Stelle, die er leſen ſollte. 

Kurt überflog ſie und verſetzte kopfſchüttelnd: „Und 
das intereſſiert dich ſo?“ 

„Das verſtehſt du wirklich nicht?“ fuhr Herbert auf. 

„Wahrhaftig nicht.“ 

„Du biſt doch — 

„Zu dumm!“ vollendete Kurt ruhig. „Das mag 
ſchon ſtimmen.“ Er nahm das Blatt nochmals und las 
halblaut vor ſich hin: „Der erſte weibliche Bankdirektor. 
In Czoſtran, einer größeren Stadt der Provinz Poſen, 
iſt eine Dame, Fräulein Hagemann, mit der Leitung 
der dortigen Kredit; und Vorſchußbank betraut worden. 
Dies iſt das erſte Mal, daß in Deutſchland eine Frau 
den verantwortungsvollen Poſten eines Bankdirektors 
erhält. Die genannte Dame iſt bereits ſeit einer Reihe 
von Jahren in dieſer Bank tätig und hat ſich durch 
außergewöhnliche Eigenſchaften des Geiſtes und Cha— 
rakters das allgemeine Vertrauen erworben.“ 


108 Fräulein Bankdirektor. o 


„Nun, was ſagſt du dazu?“ 

„Scheint ja ein febr tüchtiges Mädel zu fein,“ ent- 
gegnete Kurt, das Zeitungsblatt zurückreichend. „Ich 
intereſſiere mich aber abſolut nicht für die Frauen- 
bewegung.“ 

Herbert trat mit einem ſpöttiſchen Achſelzucken weg. 
Er machte ſich einige Notizen in ein kleines Heft, das 
er ſorgfältig verwahrt in einer inneren Weſtentaſche 
trug. Während er ſchrieb, fragte er: „Weißt du viel- 
leicht, wo Czoſtran liegt?“ 

„Das ſteht ja da — in der Provinz Poſen, “ ant- 
wortete Kurt, der fih wieder gemächlich zurückgelehnt 
hatte. 

„Aber wo?“ 

„Irgendwo an der ruſſiſchen Grenze wahrſcheinlich. 
Anderswo würden ſie doch nicht auf die verrückte Idee 
kommen, eine Frau zum Bankdirektor zu machen.“ 

Herbert trat an den Bücherſchrank und nahm das 
Reichskursbuch heraus. Er entfaltete, am Mitteltiſch 
ſtehend, die große Eiſenbahnkarte, auf der er eifrig ſuchte. 

Kurt hatte ihm erſtaunt zugeſehen. „Du willſt dieſe 
geniale Dame wohl kennen lernen? Vielleicht gar 
Prokuriſt bei ihr werden?“ 

Herbert hörte nicht auf ihn. Endlich hatte er ge- 
funden, was er ſuchte. Er legte die Karte zuſammen, 
ſtellte das Kursbuch zurück und nahm ein dickes Buch, 
ein Städtelexikon des Deutſchen Reiches, zur Hand. 
Was er über Czoſtran darin fand, ſchien ihn zu be- 
friedigen, denn er pfiff leiſe vor ſich hin. Während er 
das Lexikon zuſammenklappte, ſagte er: „Czoſtran liegt 
nicht an der ruſſiſchen Grenze, ſondern mehr nach 
Schleſien zu.“ 

„Auch gut,“ verſetzte Kurt. „Wenn ich nur wüßte, 
warum dich das intereſſiert!“ 


u Novelle von Fritz Flechtner. 109 


„Weil ich hinfahren werde.“ 

Kurt ſprang auf. Dieſe Überraſchung hatte ſogar 
ſein Phlegma beſiegt. „Was willſt du dort?“ 

„Mich mit der Dame verloben.“ 

Kurt prallte zurück. Sprachlos ſtarrte er den 
Freund an. ö 

Herbert zog ihn in ſeinen Seſſel zurück und rückte 
ſich ſelbſt einen Stuhl heran. „Es iſt durchaus kein 
Scherz,“ ſagte er flüſternd. „Hör zu! Zn einer ſolchen 
Kredit- und Vorſchußbank kommt oft viel Geld zu— 
ſammen — Bargeld, verſtehſt du. Es iſt nur ſehr ſchwer, 
etwas zu unternehmen, wenn man nicht Beziehungen 
zu einem der Beamten hat. And das iſt ja meiſtens 
ſo gut wie ausgeſchloſſen. Aber hier — denke dir, 
wenn es gelänge, den Leiter der Bank ſelbſt —“ 

„Als Helfershelfer zu gewinnen?“ 

„Das iſt natürlich unmöglich. Aber ſein Vertrauen 
zu erwerben, ihm ſeine Geheimniſſe zu entlocken.“ 

„Donnerwetter ja!“ rief Kurt. „Aber wie willſt 
du das anfangen?“ 

„Die Liebe wird mir helfen,“ ſagte Herbert in einem 
Tone, als hegte er gar keinen Zweifel an dem Er— 
folge ſeines Planes. 

„Die Liebe? Wie ſtellſt du dir eigentlich dieſes 
Fräulein Bankdirektor vor?“ 

„Nicht ſehr jung — nicht ſehr ſchön — wenig auf 
Außeres achtend — robuſt an Körper und Geiſt.“ 

„Angenehme Ausſichten!“ ſpottete Kurt. 

„Sehr real denkend,“ fuhr Herbert unbeirrt fort, 
„ſehr klug, ehrlich und pflichttreu —“ | 

„Und trotzdem?“ 

„Sie iſt ein Weib!“ Herbert ſprach dieſe Worte, 
als ob damit alle noch möglichen Zweifel und Be— 
denken ohne weiteres beſeitigt wären. 


110 Fräulein Bankdirektor. u 


Aber Kurt war noch keineswegs überzeugt. „Sch 
denke fie mir als alte Zungfer —Mannweib — Männer- 
feindin.“ 

„Vas tut das alles?“ gab Herbert überlegen zurück. 
„Sie iſt ein Weib!“ 


Für den folgenden Tag waren die beiden Genoſſen 
zu einer Jagd geladen. Als Kurt am Frühſtückstiſch 
erſchien, fand er Herbert, der ſonſt der erſte zu ſein 
pflegte, noch nicht vor. Er ging zu ihm und traf ihn 
im Bett liegend, anſcheinend in tiefes Nachdenken ver- 
ſunken. f 

„In einer halben Stunde geht unſer Zug,“ rief Kurt. 

„Zug — wohin?“ fragte Herbert wie geiftesab- 
weſend. 

„Nach Teuplitz zur Jagd.“ 

„Zum Teufel mit der Jagd!“ verſetzte Herbert, 
unwillig über die Störung. „Ich hab' jetzt keine Zeit 
für ſolche Dummheiten.“ 

„Aber was wird Graf Bredow ſagen? Er rechnet 
beſtimmt auf unſer Kommen.“ 

„Sag ihm, ich hätte plötzlich verreiſen müſſen, oder 
ich wäre krank geworden — ſag ihm, was du willſt. 
Du wirſt ſchon eine Entſchuldigung finden.“ 

„Das iſt mir ſehr unangenehm,“ beharrte Kurt. 
„Gerade heute, da es das erſte Mal iſt, wo wir bei 
Bredow eingeladen ſind! Dir lag doch auch ſo viel 
daran, in dieſen Kreis hineinzukommen, und nun willſt 
du nicht. Ich verſtehe dich nicht. Deine Bankdirektrice 
läuft dir doch nicht fort!“ 

„Du weißt, wenn ich einen Plan habe, dann muß 
ich ihn auch zu Ende denken, ſonſt iſt alles weg. Alſo 
laß mich. Du wirſt es ſchon ſo binzuſtellen wiſſen, 
daß jeder dir glaubt.“ 


u Novelle von Fritz Flechtner. 111 

Damit kehrte er ſeinem Freunde den Rücken. 

Als Kurt gegangen war, ließ Herbert ſich zunächſt 
das Frühſtück und dann ſeine lange Pfeife ans Bett 
bringen und gab dem Diener Anweiſung, daß er den 
ganzen Tag für niemand zu ſprechen wäre. | 

Es war ſpät am Nachmittag, als er fih erhob. Klar 
lag der Schlachtplan in ſeinem Geiſte fertig, nicht nur 
in den leitenden Grundgedanken, ſondern bis in die 
kleinſten Einzelheiten durchdacht. Das war die Me— 
thode, die Röchling bei ſeinen großen Unternehmungen 
ſtets anzuwenden pflegte. Aber er hielt ſich dann durch- 
aus nicht ſklaviſch an das, was er in der Theorie fich 
ausgedacht; er war ganz ein Mann der Praxis, der 
ſeinen Plan nach den Anforderungen des Augenblicks 
zu modeln verſtand. Eine kühne Geiſtesgegenwart 
und raſche Entſchlußfähigkeit kamen ihm dabei ſehr zu- 
ſtatten. Der Verbrecher muß wie ein Feldherr ſein, 
pflegte er zu ſagen; einen fertigen Schlachtplan muß 
er haben, bis ins einzelne aufgeſtellt, aber fähig muß 
er ſein, dieſen Plan jeden Augenblick umzuſtoßen, wenn 
die Verhältniſſe es notwendig machen. 

Nachdem Röchling ſich angekleidet und ein wenig 
gegeſſen hatte, ſetzte er ſich an den Schreibtiſch, um 
noch einige Briefe abzufaſſen. Der erſte war an eine 
große Berliner Auskunftei gerichtet. Er erſuchte darin 
um nähere Angaben über die Kredit- und Vorſchuß— 
bank in Czoſtran, insbeſondere über Kapital, Gefchäfts- 
umfang, Kundenkreis, Perſönlichkeit des Leiters. Ein 
zweites Schreiben ging an eine Auskunftei in Ham- 
burg und erſuchte um Namhaftmachung amerikaniſcher 
Großkaufleute, die fidh zurzeit in Deutſchland oder Eng- 
land befänden. Beide Schreiben unterzeichnete er mit 
„Kubale, Bankdirektor“ und beſtellte die Auskünfte mit 
möglichſter Beſchleunigung nach Dresden, Hotel Säch— 


112 Fräulein Bankdirektor. | o 


ſiſcher Hof, wohin er gleichzeitig eine Benachrichtigung 
nebſt Beſtellung von Wohnung für Ende der Woche 
ſandte. | 

Die Briefe brachte er ſelbſt zur Poſt. 


Freitag traf Röchling in Dresden ein; Sonntag 
früh erhielt er die Auskunft über die Czoſtraner Bank, 
die ſo günſtig lautete, daß er ſich ſofort hinſetzte und 
das Schreiben an Fräulein Hagemann verfaßte, das 
er im Kopfe ſchon entworfen hatte. Dieſes Schreiben, 
adreſſiert an „Fräulein Hagemann, Direktor der Kredit— 
und Vorſchußbank in Czoſtran“, hatte folgenden Wortlaut: 

„Mit großem zntereſſe habe ich in den Zeitungen 
geleſen, daß in Deutfchland eine Dame mit der Leitung 
einer Bank betraut worden iſt. Bei uns in Amerika 
ift dies nichts fo ungewöhnliches, wie Sie wohl wiſſen; 
aber da es hier zum erſten Wale geſchehen ift, müſſen 
wohl ganz beſondere Gründe maßgebend geweſen ſein. 
Und ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich dieſe 
Gründe vor allem in perſönlichen Eigenſchaften dieſer 
Dame vermute. Wir Amerikaner ſind aber ſtets auf 
der Suche nach beſonders tüchtigen Perſönlichkeiten, 
und dies erklärt es, daß ich mir die Freiheit nehme, 
an Sie zu ſchreiben. 

Ich befinde mich zurzeit in Deutſchland, um neue 
Geſchäfts verbindungen anzuknüpfen und eine Filiale 
an der Nordſee einzurichten. Die Leitung derſelben 
würde ein außergewöhnliches Maß von Umſicht, Tat- 
kraft und Selbſtändigkeit erfordern; ich habe aber nie- 
mand finden können, der dieſen Anſprüchen genügte. 

Durch Zufall las ich von Fhrer Ernennung, und 
blitzſchnell kam mir der Gedanke: Dieſe Dame ift viel- 
leicht die Perſönlichkeit, die du ſuchſt. 


o Novelle von Fritz Flechtner. 113 
— ——— —— — — — Y— 


ich entſchloß mich alfo, an Sie zu ſchreiben, und 
bitte Sie, mir zunächſt nur mitzuteilen, ob Sie zu 
einer mündlichen Beſprechung bereit wären, in der ich 
Ihnen alles Nähere darlegen würde. 

Ort und Zeit dieſer Zuſammenkunft bitte ich nach 
Ihrem Belieben zu beſtimmen. 

Wenn ich Ihnen heute meinen Namen noch nicht 
nenne, ſo hat dies ſeine beſonderen Gründe, die ich 
Ihnen perſönlich mitteilen werde. 

Meiner ſtrengſten Diskretion dürfen Sie verſichert 
ſein. 

Ihren gefälligen Beſcheid erbitte ich unter X. P. 100 
hauptpoſtlagernd Lübeck.“ 

Den Brief ließ Röchling eingeſchrieben abgehen. 

Zwei Tage darauf traf die andere Auskunft ein, 
die ihn veranlaßte, ſofort nach Hamburg zu fahren, 
um weitere Informationen einzuziehen. 


Ella Hagemann erhielt Röchlings Brief in ihrem 
Bureau. Als ſie ihn geöffnet hatte, ſah ſie ſofort, 
daß es eine Privatſache war, und legte ihn beiſeite, 
um zunächſt ihre geſchäftliche Korreſpondenz zu er- 
ledigen. Im Drange der Geſchäfte vergaß ſie das 
Schreiben, und erft nach dem Mittageſſen, als fie ſich 
niedergelegt hatte, um ein wenig zu ruhen, erinnerte 
ſie ſich wieder daran. Ihrer Gewohnheit gemäß ſah 
ſie zunächſt nach der Unterſchrift, und ſchon wollte ſie 
den Brief zerreißen, da fie anonyme Zuſchriften grund- 
ſätzlich nicht las, als ihr einfiel, daß die Sendung ein- 
geſchrieben eingegangen war. Ein Anonymus, der 
Einſchreibporto aufwandte, war ihr aber neu, um fie 
entſchloß fih daher, zu leſen. 

Als ſie geendet, warf ſie den Brief auf en Tijd- 

1913, XI. 


114 Fräulein Bankdirektor. D 


chen, das neben ihrem Sofa ſtand. „Ein dummer 
Scherz, den ſich jemand machen will,“ dachte ſie. 
Sie legte ſich zurück und ſchloß die Augen. Aber 
einſchlafen konnte ſie nicht. Sie mußte immer wieder 
an den Brief denken. Einige Wendungen darin waren 
ihr aufgefallen. Sollte es doch kein Scherz ſein? 

Aber warum dann anonym? Sie las das Schrei- 
ben nochmals, langſam, Satz für Satz. 

Nach einem Scherz ſah es doch nicht aus. Aber 
wenn der Brief ernſt gemeint war, was dann? 

Sollte ſie darauf eingehen, ſich zu der perſönlichen 
Beſprechung bereit erklären? 

Sie riskierte ja nichts, wenn ſie es tat, ſelbſt wenn 
es ſich dann als ein Scherz herausſtellen ſollte. 

Eine Möglichkeit allerdings gab es noch. Man 
konnte ſie auf die Probe ſtellen wollen, um zu ſehen, 
ob ſie ſofort bereit wäre, ihre gegenwärtige Stellung 
aufzugel en, wenn ihr eine beſſere nur in entfernteſte 
Ausſicht geſtellt würde. 

Aber dieſen Gedanken verwarf ſie ſofort wieder. 
Wer hätte das tun können? Doch nur einer der Herren 
des Aufſichtsrates, und von dieſen wäre ſicherlich keiner 
darauf verfallen. | 

Wenn der Brief aber ernſt gemeint war und es 
würde ihr in Wirklichkeit eine Stellung geboten mit 
weit größerem Wirkungskreiſe, als ihr gegenwärtiger 
es war, durfte ſie dann auf ein ſo lockendes Anerbieten 
überhaupt eingehen? Würde ſie recht handeln, die 
Bank im Stiche zu laſſen, an der fie vor zwölf Zahren 
als einfache Kontoriſtin begonnen und nun das Amt 
des verantwortlichen Leiters erreicht hatte? Sie fühlte 
ſich im Innerſten ſo feſt verkettet mit dem Wohl und 
Wehe ihrer Bank, daß fie nur mit Schmerz den Ge- 
danken faſſen konnte, von hier wegzugehen. 


m Novelle von Fritz Flechtner. 115 


Aber dann ſchalt ſie ſich ſelbſt ſentimental. Wollte 
ſie denn ſtehen bleiben bei dem, was ſie erreicht hatte, 
oder nicht vielmehr ſuchen, noch weiter vorwärtszu- 
kommen? 

Noch einmal und zum vierten Wale las ſie den 
Brief. Dann beſtand bei ihr kaum noch ein Zweifel, 
daß ſie ihn ernſt zu nehmen hätte. Sie beſchloß, ihn 
zunächſt dem Vorſitzenden des Aufſichtsrates, dem 
Kommerzienrat Saalberg, zu zeigen, damit ihr nie- 
mand ſpäter den Vorwurf machen könnte, daß ſie 
heimlich Verhandlungen wegen Erlangung einer 
beſſeren Stellung angeknüpft hätte. 


Als fie dem alten Herrn in feinem Buteau gegen- 
überſaß, begann ſie ohne weitere Umſchweife: „Ich 
habe heute einen eigenartigen Brief erhalten und möchte 
Sie bitten, Herr Kommerzienrat, ihn zu leſen und mir 
Ihre Meinung darüber zu ſagen.“ 

Sie reichte ihm das Schreiben, das er mit ſichtlichem 
Intereſſe las. Als er geendet hatte, behielt er den 
Brief in der Hand und ſagte, ſie über die Brillengläſer 
anſehend: „Nun — und was ſagen Sie ſelbſt dazu?“ 

„Ich war zunächſt im Zweifel, ob es ſich nicht um 
einen Scherz handelte.“ 

„Das ſcheint mir nach der ganzen Faſſung des Briefes 
ziemlich ausgeſchloſſen.“ 

„Der Anſicht bin ich jetzt auch,“ beſtätigte fie. 

„And was gedenken Sie zu tun?“ 

„Darüber möchte ich Ihren Rat erbitten.“ 

Der Kommerzienrat lächelte. „Sollten Sie etwa 
gar Furcht haben vor einem perſönlichen Summe 
treffen mit dem Anonymus?“ | 

„O nein,“ erwiderte fie lebhaft, „das iſt es nicht. 


116 Fräulein Bankdirektor. o 


Mir wird nichts paſſieren. Dafür werde ich ſchon ſorgen. 
Aber ehe ich etwas unternehme, wollte ich Sie in 
Kenntnis ſetzen und wiſſen, wie Sie darüber denken. 
Meine Arbeit hat bis jetzt unſerer Bank gehört, und 
es würde wenig dankbar ſein, wenn ich ſie im Stich 
laſſen wollte.“ 

„Jeder iſt ſich ſelbſt der nächſte,“ verſetzte der 
Kommerzienrat. 

„Darin kann ich Ihnen nicht ganz beipflichten. Es 
gibt Beziehungen, die nach meiner Anſicht nicht gelöſt 
werden dürfen nur um eines materiellen Vorteils 
willen.“ 

„Das iſt groß gedacht,“ entgegnete der alte Herr, 
freundlich nickend. „Aber wenn man von Dank ſpricht, 
den man jemand ſchuldet, muß man immer fragen, ob 
nicht die gleiche Dankesſchuld auch auf der anderen 
Seite beſteht. Und das iſt doch hier der Fall. Sie 
haben unſerer Bank länger als ein Jahrzehnt Ihre 
ganze Kraft geopfert, und dafür find wir Ihnen zu 
weit größerem Dank verpflichtet als Sie uns. Und 
wenn wir Ihnen jetzt die Leitung übertragen haben, 
glauben Sie etwa, daß das geſchehen iſt, um Ihnen 
einen Gefallen zu erweiſen oder eine beſondere Freude 
zu bereiten?“ 

Sie lächelte. 

„Sehen Sie wohl,“ fuhr er fort, „wir haben das 
doch nur getan, weil wir für uns einen Vorteil darin 
erblicken. Nicht wahr? Nun alſo. Und wenn ſich Ihnen 
nun anderwärts größere Vorteile bieten als hier, ſo 
müſſen wir uns damit eben abfinden. Daß wir Sie 
ſchweren Herzens von uns laſſen würden, werden Sie 
mir wohl glauben. Aber es wäre unrecht von uns, 
Sie an Ihrem Vorwärtskommen zu hindern, denn 
ſchließlich iſt es doch nur ein verhältnismäßig kleiner 


o Novelle von Frik Flechtner. 117 


Wirkungskreis, der fich Ihnen hier bietet. Was Ihnen 
nach dem Schreiben in Ausſicht ſteht, wiſſen Sie frei- 
lich noch nicht, werden es aber erfahren, und wenn 
es Ihnen nicht genügt, ſo werden wir uns ſehr freuen, 
Sie bei uns zu behalten. Mein Rat iſt alſo: Beſtimmen 
Sie dem Herrn eine Unterredung und warten Sie 
das weitere ab.“ 

„Ich danke Ihnen, Herr Kommerzienrat, ich werde 
Ihren Rat befolgen.“ 

Sie erhob ſich, um ſich zu verabſchieden. 

Er begleitete ſie zur Tür. „Auch ich danke Ihnen,“ 
ſagte er, „daß Sie ſo offen und ehrlich mit mir ge— 
ſprochen haben.“ 


Am nächſten Tage ſchrieb Ella Hagemann an die 
aufgegebene Chiffreadreſſe: „Ich empfing Ihr gefälliges 
Schreiben vom 19. Auguſt und erkläre mich zu einer 
perſönlichen Unterredung bereit. Ich erwarte Sie am 
Sonntag im Bahnhof Poſen, Warteſaal zweiter Klaſſe, 
mittags 12 Uhr. 

Hochachtend 


E. Hagemann.“ 


Röchling pfiff leiſe vor ſich hin, als er, vor dem 
Poſtgebäude in Lübeck ſtehend, den Brief geleſen hatte. 
„Kurz und klar. Wie ich mir's dachte. Ein Erkennungs- 
zeichen gibt ſie nicht an; ſie glaubt wohl, daß ſie mit 
irgend einer anderen Evastochter gar nicht zu ver- 
wechſeln iſt.“ Er lächelte, denn ihm fiel ſein Geſpräch 
mit Kurt über die vorausſichtlichen Reize des Fräulein 
Bankdirektor ein. 

Nachdem er in beſter Stimmung zu Mittag gegeſſen 
hatte, depeſchierte er zurück: „Vielen Dank für Brief, 
den ſoeben erhalten. Mit Ort und Zeit einverſtanden.“ 


118 Fräulein Bankdirektor. 2 
PEERI art Eee a N ur een re a ̃ ̃ ̃ u nF ̃ ̃— ein 


Am nächſten Tage traf Röchling mit feinem Freunde 
in Berlin zuſammen. Er zeigte ihm zunächſt den Schrift- 
wechſel mit Ella Hagemann. ö 

„Dein Brief iſt glänzend, ſagte Kurt. „Darauf 
mußte fie ja hereinfallen.“ 

Herbert lächelte geſchmeichelt. „Hier meine neueſten 
Viſitenkarten!“ 

Kurt las erſtaunt die ihm gereichte Karte: „Fred 
Harpers, Cincinnati. — Was ſoll denn das be— 
deuten?“ 

„Fred Harpers, in Firma Harpers & Whytecraft,“ 
erläuterte Herbert, „größtes Getreide- und Bankgeſchäft 
in Ohio.“ 

„Exiſtiert wirklich?“ fragte Kurt blinzelnd. 

„Hältſt du mich für ſo dumm, daß ich in dieſem 
Falle eine Firma nehmen würde, die nicht exiſtiert?“ 

„Na, erlaube mal, wenn nun dein Fräulein Direktor 
ſo ſchlau iſt und Erkundigungen einzieht?“ 

„Lieber Junge,“ verſetzte Herbert überlegen, „eben 
weil ich erwarte, daß ſie das tun wird, habe ich eine 
tatſächlich beſtehende Firma genommen. Und nicht 
nur das. Es iſt eine Firma, deren einer Inhaber ſich 
zurzeit in Deutſchland befindet.“ 

„Großartig!“ rief Kurt. „Ich verſtehe.“ 

„Das iſt noch nicht alles. Dieſer Inhaber, der 
gegenwärtig in Oeutſchland ſich aufhält, iſt ein junger 
Mann, Mitte der Dreißig, ganz wie ich. Es ift der 
Sohn. Der Alte ſitzt drüben in Ohio. Was ſagſt du 
nun?“ 

„Du biſt einfach unübertrefflich.“ 

Herbert lachte kurz auf. Es klang etwas ſpöttiſch. 
„Jetzt kann ſie ſich alſo erkundigen! Um hinter den 
Schwindel zu kommen, würde ſie ziemlich viel Zeit 
brauchen, und die gedenke ich ihr nicht zu laſſen.“ 


u Novelle von Fritz Flechtner. 119 


„Wie haſt du nur dieſen Harpers herausgefunden?“ 
fragte Kurt. 

„Man hat eben ſeine Beziehungen. Um dieſe Zeit 
halten ſich doch immer ein paar Dutzend von den 
amerikaniſchen Großbonzen in Europa auf. Ich hätte 
ebenſogut einige andere nehmen können, aber dieſer 
Harpers paßte am beſten.“ 

„Und was habe ich in der Sache zu tun?“ 

„Vahrſcheinlich ziemlich viel. Aber fei ohne Sorge: 
ich will es ſchon ſo einrichten, daß du trotzdem deine 
Bequemlichkeit dabei haben wirſt.“ 

„Aber du weißt doch, wenn es darauf ankommt —“ 
fuhr Kurt auf. 

„Ich weiß, lieber Freund, daß die Bequemlichkeit 
dir über alles geht. Und dem ſoll Rechnung getragen 
werden. — Nun höre, wie ich mir die Sache denke.“ 
In großen Zügen entwickelte er ſeinen Schlachtplan, 
fügte aber, als er geendet hatte, hinzu: „Was ich dir 
jetzt geſagt habe, iſt nicht endgültig. Es kommt noch 
auf die Unterredung am Sonntag an. Vielleicht iſt 
dann manches zu ändern. Bleibt es aber, ſo ſchicke 
ich dir ein Telegramm: Alles in Ordnung. Dann trittſt 
du ſofort in Tätigkeit. So wie ich dir jetzt geſagt habe.“ 

„Soll geſchehen!“ verſetzte Kurt. Dann aber fragte 
er, und ein ſtarker Zweifel klang aus ſeiner Stimme: 
„Weißt du denn, ob es ſich überhaupt lohnt, ſo viele 
Zeit und Arbeit aufzuwenden?“ | 

„Lohnt? Zt mir gleichgültig. Mich reizt das Unter- 
nehmen an und für fih. Das Werk ift mir die Haupt- 
ſache, nicht der Erfolg.“ 


Am Sonntag war ſchönſtes Sommerwetter. Es 
war ſo recht ein Tag für frohe Menſchen, in hellen 


120 Fräulein Bankdirektor. u 


Kleidern zu ſpazieren und ſich der Wunder der Welt 
zu freuen. 

Ella Hagemann liebte zwar auch die Bewegung in 
freier Luft und war beſonders eine Freundin weiter 
Fußwanderungen, aber ihr fehlte die naive Freude an 
der Natur, ebenſo wie ein alles vergeſſender Lebens- 
genuß ihr völlig fremd war. Auf ihr Außeres achtete 
ſie wohl, weil ſie es für ihre Pflicht hielt, gut gekleidet 
zu gehen, aber da ſie der ganzen Bekleidungsfrage 
ohne innere Anteilnahme gegenüberſtand, kam es, daß 
ihrer Erſcheinung ſtets etwas Steifes, Reizloſes an- 
haftete. 

In ihrem dunklen Anzuge, dem keine Spitze oder 
Schleife einen freundlicheren Ton verlieh, paßte ſie 
gar nicht recht in den blitzenden Sonnenſchein dieſes 
Sonntagmorgens, ebenſowenig wie ihr ernſtes Ge- 
ſicht unter die luftig plaudernden und lachenden Men- 
ſchen, die gleich ihr dem Bahnhof zuwanderten. 

Sie löſte ſich eine Fahrkarte zweiter Klaſſe und war 
froh, ein Abteil für ſich allein zu finden. Sie legte 
ihren Hut ab, lehnte ſich in eine Ecke und begann zu 
leſen, und ihre Gedanken wurden auch nicht abgelenkt 
durch das bevorſtehende Zuſammentreffen. 

Kurz vor zwölf Uhr lief ihr Zug auf dem Poſener 
Bahnhof ein. Ruhigen Schrittes ging fie dem Warte- 
ſaal zu. Ein flüchtiger Blick nur ſtreifte die Herum- 
ſitzenden; dann nahm ſie an einem Ecktiſche Platz. 

Mit dem Schlage zwölf trat ein eleganter Herr in 
den Saal, ſah ſich prüfend um und ſchritt dann ſofort 
auf ihren Tiſch zu. Er zog den Hut und fragte: „Ich 
habe wohl die Ehre mit Fräulein Hagemann?“ 

Sie nickte. „Wollen Sie, bitte, Platz nehmen.“ 

Er ſetzte ſich ihr gegenüber. Einige Sekunden lang 
bohrten ſich ihre Blicke ineinander, 


D Novelle von Fritz Flechtner. 121 


„Was hat ſie für kalte, ſcharfe Augen! Im Grunde 
meiner Seele möchte ſie jetzt leſen. Wird aber nicht 
gelingen!“ So dachte er. 

Sie ſchien vom Ergebnis der Prüfung befriedigt 
zu ſein. 

„Ich bin Ihnen febr dankbar, mein gnädiges Fräu- 
lein,“ begann er, „daß Sie meiner Bitte um eine 
Unterredung entſprochen haben. Geſtatten Sie mir 
nun zunächſt, daß ich mein Inkognito lüfte.“ Er zog 
ſeine Brieftaſche und entnahm ihr eine Karte, die er 
ihr überreichte. „Fred Harpers, Cincinnati,“ ſagte er 
dabei mit leichter Verneigung. 

Sie nahm die Karte, warf einen kurzen Blick dar- 
auf und ſteckte ſie in ihr Handtäſchchen. 

„Nachdem nun alle Formalitäten erfüllt ſind,“ fuhr 
er fort, „möchte ich mir den Vorſchlag erlauben, unſere 
Unterredung an einem etwas ruhigeren Orte ſtattfinden 
zu laſſen, als es der Wartefaal eines Bahnhofs iſt.“ 

„Sehr einverſtanden,“ verſetzte ſie. 

„Was beabſichtigen Sie bezüglich des Mittags- 
mahles?“ 

„Ich gedachte in einem der Hotels zu effen,“ 

„Wenn Sie geitatten —“ 

„Selbſtverſtändlich. Während des Eſſens haben wir 
ja die beſte Gelegenheit, uns auszuſprechen. Kennen 
Sie Poſen?“ 

Er verneinte. 

„Dann ſchlage ich Mylius vor.“ 

Sie ſtanden auf. 


Um möglichſt ungeſtört zu ſein, wählten ſie einen 
kleinen, nur für zwei Perſonen beſtimmten Ciſch. 

„Sind Sie eigentlich ſehr überraſcht geweſen über 
mein Schreiben?“ begann er die Unterhaltung. 


122 Fräulein Bankdirektor. u 


„Überrafht kann ich wohl nicht fagen. Ich hielt 
es zunächſt für einen Scherz.“ 

„Weil der Brief anonym war?“ 

„Nicht allein deshalb. Aus verſchiedenen Gründen. 
Aber ich wurde mir bald über die ernſte Abſicht klar.“ 

„Wie kam das?“ 

„Die Faſſung des Briefes war ſo, daß ich an einen 
Scherz nicht glauben konnte.“ 

„Ich habe ſehr bedauert, daß ich nicht ſofort offen 
mit meinem Namen hervortreten konnte. Aber ich 
ſagte mir: Wenn die Dame auf den Vorſchlag ein- 
gehen will, wird ſie es auch ohne Namensnennung 
tun, und wenn ſie nicht will, iſt es beſſer, der Ab- 
ſender bleibt unbekannt. Es wäre ja möglich geweſen, 
daß Sie meinem Schreiben nur mit Spott begegneten, 
und das wollte ich vermeiden — ſchon mit Rückſicht 
auf unſere Firma.“ 

„Ich verſtehe Ihre Gründe ſehr gut,“ verſetzte ſie; 
„es bedarf keiner weiteren Entſchuldigung.“ 

Der Kellner brachte den erſten Gang nach der Suppe. 

„Verzeihung,“ ſagte Harpers, „denn wir haben die 
große Frage des Trinkens noch nicht gelöſt. Befehlen 
Sie Weiß- oder Rotwein? So beginnt man ja wohl 
in Deutſchland die Tiſchunterhaltung.“ 

Ein Lächeln umſpielte ihre Lippen. „Ich überlaſſe 
Ihnen die Auswahl, Herr Harpers. Mir iſt es ganz 
gleichgültig. Ich trinke mittags gewöhnlich nur Waſſer.“ 

„Ich gleichfalls. Bei uns darf Eiswaſſer nie auf 
dem Tiſch fehlen.“ 

Er blätterte einige Augenblicke in der Karte und 
beſtellte eine Flaſche Rüdesheimer Berg. 

Während ſie ihren Fiſch verzehrten, plauderten ſie 
über die Verſchiedenheiten in der deutſchen und ameri- 
kaniſchen Lebensweiſe. Dabei fragte er: „Haben Sie 


o Novelle von Fritz Flechtner. 123 


früher nie daran gedacht, auszuwandern und drüben 
bei uns Ihr Glück zu verſuchen? Für begabte Menſchen 
iſt Amerika doch immer noch das Land der unbegrenzten 
Möglichkeiten, was man von e wohl nicht 
ſagen kann.“ 

„Sie mögen recht gaben — wenigſtens was die 
Frauen betrifft. Von ganz wenigen Ausnahmen ab- 
geſehen, ſind wir ja verurteilt, unſer Leben lang in 
untergeordneten Stellungen zu bleiben. Gelangt eine 
deutſche Frau im Berufsleben einmal zu einem höheren 
Amt mit eigener Verantwortung, fo ift dies ein fo be- 
ſonderer Fall, daß er eine Beachtung findet, die er an 
und für ſich gar nicht verdient.“ 

„Und warum quälen ſich ſelbſt die tüchtigſten Frauen 
ihr Leben lang in untergeordneter Tätigkeit ab?“ 

Sie zuckte die Achſeln. „Vielen fehlt der Mut, ihr 
Glück in anderen Ländern zu verſuchen; die meiſten 
aber kommen wohl gar nicht auf den Gedanken. Wir 
ſtecken ja alle noch zu ſehr im Banne des Hauſes und 
der Familie, auch die ſelbſtändigſten Naturen unter 
uns.“ 

Er lächelte ungläubig. 

„Es iſt ſo, glauben Sie mir!“ fuhr ſie fort. „Ich 
weiß es von mir ſelbſt. Mich hat nicht die Furcht zurück- 
gehalten, ins Ausland zu gehen, auch keine ſentimen- 
talen Regungen; es war einfach ſelbſtverſtändlich, daß 
ich hier mein Brot zu verdienen ſuchte. Ich trat in 
ein Geſchäft, nach drei Jahren in die Czoſtraner Bank, 
und dort bin ich geblieben.“ | 

„And Sie würden auch jetzt nicht daran denken 
mögen, außer Landes zu gehen — nach Amerika viel- 
leicht, wenn ſich Ihnen dort ein größerer Wirkungs- 
kreis böte?“ 

„Das will ich durchaus nicht ſagen. Aber das iſt 


124 Fräulein Bankdirektor. o 


ja eine Doktorfrage, denn wenn ich Ihren Brief recht 
verſtanden habe, handelt es ſich im vorliegenden Falle 
um die Leitung einer Filiale, die Sie in Oeutſchland 
einzurichten gedenken.“ 

„Dies iſt allerdings meine Abſicht. Aber mein Plan 
geht weiter. Wir brauchen vor allem eine geeignete 
Perſönlichkeit für die Leitung unſeres Stammhauſes 
in Cincinnati. Unſer Exporthandel macht häufige und 
längere Reiſen notwendig, die nur von einem der Chefs 
ausgeführt werden können. Die Pflege dieſes Aus- 
landsgeſchäftes ift meine Aufgabe. Ich bin daher man- 
ches Jahr nur wenige Monate zu Hauſe, und da ich 
keine Brüder habe, liegt dann meinem Vater die alleinige 
Leitung unſeres Stammhauſes ob. Für mich iſt alſo 
ein Stellvertreter unbedingt erforderlich, und — Sie 
werden vielleicht erſtaunt ſein — einen geeigneten 
Mann hierfür haben wir noch nicht finden können. 
Zwei Verſuche, die wir bereits gemacht haben, ſind 
kläglich geſcheitert; die beiden Herren waren mehr auf 
ihren eigenen Vorteil als auf den des Geſchäfts be- 
dacht, und wir haben große Verluſte erlitten, nament- 
lich durch den einen dieſer Gentlemen.“ 

Er machte eine Pauſe. Doch ſie ſchwieg und 
wartete. 

Da fuhr er mit beſonderer Betonung fort: „In 
meinem Briefe habe ich Ihnen nicht alle meine Ge- 
danken mitteilen können. Den Plan mit der Filiale 
hatte ich nur anfangs, habe ihn aber bald aufgegeben; 
denn bei den Vorurteilen, die in Oeutſchland gegen 
die Frauen herrſchen, iſt es ſchon beſſer, wenn ein 
Mann die Leitung dieſer Filiale übernimmt. Und dafür 
hoffe ich ſchon eine paſſende Kraft gefunden zu haben. 
Bei Ihnen aber lag mir vor allem daran, zu ſehen, 
ob Sie vielleicht für den Vertrauenspoſten als Mit- 


2 Novelle von Fritz Flechtner. 125 


leiterin unſeres Stammhauſes die geeignete Perſön⸗ 
lichkeit wären.“ 

Eine heiße Welle ſtieg bei dieſen Worten in ihr auf. 
Blitzſchnell war das Bild einer Wirkſamkeit an ihr vor- 
übergezogen, die ſie in ihren kühnſten Träumen nicht 
erhofft hätte. Ihre Selbſtbeherrſchung ließ ſie zwar 
vollkommene Ruhe heucheln, Harpers hatte ſie jedoch 
nicht täuſchen können, und mit Befriedigung ſah er 
die Wirkung ſeiner Worte. 

„Es iſt ſchrecklich heiß hier, finden Sie nicht auch?“ 
fragte er. 

„Ja, ſehr heiß,“ beſtätigte ſie. 

„Ich glaube, das macht der Rheinwein,“ meinte 
er lachend. „Der geht wie Feuer durch das Blut.“ 

Anwillkürlich fuhr fie mit der Rechten an die Wange, 
weil ſie das Gefühl hatte, alles Blut müßte ihr zu 
Kopf geſtiegen ſein. 

„Vas meinen Sie, gnädiges Fräulein, wir laffen 
dieſen Feuerwein und trinken lieber ein Glas von dem 
deutſchen Feierwein?“ 

Sie lächelte über das Wortſpiel. „Iſt Ihnen denn 
ſo feierlich zumute?“ 

Er lehnte ſich in ſeinen Stuhl zurück. „Ja, das iſt 
mir. Ich weiß ſelbſt nicht warum.“ Mit einer plötz- 
lichen Bewegung beugte er ſich über den Tiſch und 
fragte halblaut: „Darf ich Sie bitten, mein gnädiges 
Fräulein, das nächſte Glas mit mir zu trinken darauf, 
daß meine Pläne ſich ſo erfüllen möchten, wie ich es 
von Herzen wünſche?“ 

Tief bohrten ſeine Blicke ſich in die ihren, daß ſie 
für ein paar Sekunden die Augen niederſchlagen mußte. 
Dann ſah ſie ihn wieder voll an und ſagte ruhig und 
ernſt: „Gern, Herr Harpers; auch ich könnte mir nichts 
Beſſeres wünſchen.“ 


126 Fräulein Bankdirektor. o 


Bald perlte der Sekt in ihren Gläſern, und mit 
einem feinen, leiſen Klange tönten ſie aneinander. 

Beide hatten ihr Glas geleert; er ſchenkte von 
neuem ein. 

„Ich werde meinen Vater ſofort von unſerer Unter- 
redung in Kenntnis ſetzen,“ begann er nach einiger 
Zeit wieder das Geſpräch. „Sie werden es verſtehen, 
daß ich in einer ſo wichtigen Angelegenheit ohne ſeine 
Zuſtimmung keine Entſcheidung treffen kann.“ 

„Ich finde das ganz ſelbſtverſtändlich,“ erwiderte ſie. 

„Mein Vater hatte die Abſicht, im nächſten Monat 
nach England zu reiſen. Um dieſe Zeit habe ich ſelbſt 
geſchäftlich in Rußland zu tun. Ich will daher verſuchen, 
ob ich meinen Vater beſtimmen kann, feine Reife noch 
in dieſem Monat anzutreten. Sollte dies nicht mög- 
lich fein, fo müßte die Unterredung mit Ihnen ohne 
mich ſtattfinden, was ich perſönlich e ſehr bedauern 
würde.“ 

Sie hatten ihre Mahlzeit beendet. 

„Würde es Sie ſtören, wenn ich mir eine Zigarre 
anzünde?“ fragte er. 

„Im Gegenteil, ich bin ſelbſt Raucherin.“ 

Mit dieſen Worten holte fie ihr Zigarettenetui her- 
vor; er gab ihr Feuer und zündete dann ſeine Zigarre an. 

„Es wird Sie intereſſieren, einiges über Art und 
Umfang unſeres Geſchäftes zu erfahren.“ 

„Gewiß,“ beſtätigte ſie. 

„Unſere Haupttätigkeit erſtreckt ſich auf den Getreide- 
handel, und zwar auf den Export nach Europa. Auf 
den großen Farmen kaufen wir durch unſere Agenten 
das Getreide und bringen es auf dem Waflerwege mit 
unſeren eigenen Fahrzeugen nach der Küſte, wo es 
in die Ozeandampfer verladen wird. Die Verfrachtung 
über See beſorgen wir ſelbſt nicht; wir haben einmal 


D Novelle von Fritz Flechtner. 127 


den Verſuch damit gemacht, aber es hat nicht rentiert. 
Der Handel geht ganz börſenmäßig vor ſich; meiſt ſind 
die Schiffsladungen von uns verkauft, ehe ſie aus 
Amerika abgehen; oft ſind die Verkäufe ſogar ſchon 
abgeſchloſſen, wenn das Korn noch auf dem Halm 
steht. Wie Sie wiſſen, find wir drüben durch keine 
agrariſche Geſetzgebung eingeengt, und Börſengeſchäft 
wie Terminhandel ſtehen daher in Blüte. Mit den 
wilden Spekulationen, von denen die europäiſchen Bei- 
tungen ſo oft berichten, hat unſere Firma übrigens nichts 
zu tun. Wir betreiben einen ganz reellen Handel; wir 
wollen nicht durch Hauffe- oder Baiſſeſpekulation über- 
mäßige Gewinne erzielen, ſondern nur mit einem regel- 
rechten, angemeſſenen Nutzen arbeiten. Außer dem 
Getreidehandel betreiben wir — und das wird für Sie 
beſonders intereſſant ſein — noch ein Bankgeſchäft. 
Das hat ſich erſt im Laufe der Zeit angegliedert. Ganz 
von ſelbſt kam es, daß wir den Farmern, deren Ge- 
treide wir kauften, auch Geldgeſchäfte beſorgten, Wert- 
pepiere für fie kauften und verkauften, in Verwahrung 
nahmen und dergleichen mehr. Innerhalb der letzten 
Jahre hat nun gerade das Bankgeſchäft eine ſehr 
günſtige Entwicklung genommen, und wir haben jetzt 
bereits eine große Anzahl auch ſolcher Kunden, mit 
denen wir durch Getreidehandel nicht in Verbindung 
ſt ehen.“ 

„Ihre Mitteilungen ſind mir äußerſt intereſſant, 
Herr Harpers,“ ſagte Ella Hagemann. „Die Arbeit in 
einem ſolchen Betriebe könnte wohl jeden Ehrgeizigen 
reizen. Aber ich will ganz offen ſein, ich glaube nicht, 
daß ich imſtande wäre, ohne weiteres eine leitende 
Stellung in Ihrem Geſchäft einzunehmen —“ 

„Oho!“ unterbrach er ſie. 

„Es iſt keine falſche Beſcheidenheit von mir,“ fuhr 


128 Fräulein Bankdirektor. 2 


ſie ruhig fort, „denn ich weiß wohl, daß ich etwas 
leiſten kann, und habe es ſchon bewieſen; aber ich liebe 
es nicht, Aufgaben zu übernehmen, die ich nicht voll 
bewältigen kann. Und in dieſem Falle ſcheint mir doch 
die erforderliche Vorbildung zu fehlen.“ 

„Die läßt ſich doch leicht erwerben.“ 

„Das iſt nicht immer ſo leicht,“ verſetzte ſie. 

„Die Hauptſache ift nach meiner Anſicht die Fähig- 
keit, ſich in ein fremdes Gebiet einzuarbeiten,“ beharrte 
er. „Was nützt dem Durchſchnittsmenſchen feine Bor- 
bildung? Aber es wundert mich, daß ich Ihnen das 
ſagen muß. Ihre ganze Staatsverwaltung iſt doch 
der beſte Beweis für meine Behauptung.“ 

„Vieſo?“ 

„Ver bekleidet denn in Oeutſchland und beſonders 
bei Ihnen in Preußen die höheren Ämter in der Ver- 
waltung? Etwa die Männer, die von der Pike auf 
gedient haben und alſo die volle Vorbildung beſitzen? 
Nein. Sondern die Zuriften tun's, die oft, wenn fie 
in einen neuen Verwaltungszweig kommen, keine 
Ahnung davon haben. Aber was die Cüchtigen unter 
ihnen, die nach Verdienſt vorwärtskommen, beſitzen, 
das iſt der freie, vorurteilsloſe Blick und die Kraft, 
ſich vermöge ihrer Allgemeinbildung hineinzuarbeiten 
in die fremdeſte, ſchwierigſte Materie. Wer das nicht 
fertig bringt, weil ihm eben der Verſtand fehlt, dem 
nützt auch die beſte Vorbildung nichts. Man kann es, 
oder man kann es nicht, fag’ ich. Und wenn man mir 
heute ein Miniſterportefeuille anböte — Handel, Juſtiz, 
meinetwegen auch Krieg — glauben Sie, ich würde 
nur eine Sekunde zögern, es anzunehmen?“ 

Sie lächelte. „Sie ſind eine beneidenswerte Natur!“ 

„Vas heißt beneidenswert? Die meiſten derjenigen, 
die mich darum beneiden, wären unglücklich, wenn ſie 


o Novelle von Fritz Flechtner. 129 


meine Natur hätten. Der größte Teil der Menſchheit 
iſt ja viel zu dumm, zu feig, um große Entſchlüſſe zu 
faſſen, iſt ja froh, wenn er im Alltagstrott ſein Leben 
beſchließen kann.“ 

„Rechnen Sie mich auch dazu?“ 

„Wenn ich es täte, glauben Sie, daß ich dann noch 
hier ſitzen würde — noch ein einziges Wort an Sie 
verſchwendete? Ich habe weder Zeit noch Luft, den 
lächerlichen Verſuch zu m a cieeren bod- 
zurichten.“ 

Ihre Augen blitzten ihn an; das war eine Antwort 
nach ihrem Geſchmack geweſen. 

„Vielleicht,“ fuhr er nach einer kleinen Pauſe fort, 
„iſt es in Deutſchland nicht möglich, immer nach meinem 
Wahlſpruch zu handeln: Was ſich dir bietet, nimm es 
an, verſuch deine Kraft dran — vorausgeſetzt natür- 
lich, daß es überhaupt der Mühe lohnt. Scheiterſt du 
— nun, ſo haſt du Erfahrung geſammelt, verloren par 
du nichts dabei.“ 

„Und die anderen?“ fragte ſie ernſt. 

„Jeder ift fih ſelbſt der nächſte! So lautet a 
wohl eines Ihrer ſchönen Sprichwörter?“ 

„Allerdings, aber auch Sprichwörter haben nur 
einen bedingten Wert. Für Ihren Fall darf es nicht 
angewendet werden. Sie ſelbſt haben vielleicht nichts 
verloren, wenn Sie an einer Aufgabe geſcheitert ſind. 
Für Oeutſchland trifft das übrigens auch nicht zu. 
Aber wie viel Unheil und Schaden können Sie dadurch 
angerichtet haben!“ 

Er wollte ſie unterbrechen, aber ſie wehrte ab. 

„Ich weiß, was Sie ſagen wollen. Aber Sie haben 
unrecht. Ich will Ihnen das ſofort an Ihnen ſelbſt 
beweiſen.“ 

„An mir ſelbſt?“ fragte er erſtaunt. 

1913. XI. 9 


130 Fräulein Bankdirektor. o 


„Ja. Nehmen Sie an, ich wäre die Mitleiterin 
Ihres Geſchäftes geworden, gelockt durch die glänzende 
Ausſicht, im blinden Vertrauen auf meine Kraft, ohne 
mich zu fragen, ob ich auch imſtande bin, ein ſolches 
Amt auszufüllen. Welches Unheil könnte ich dann an- 
richten, welche Unfummen könnten Ihrem Geſchäft 
durch mich verloren gehen!“ 

„Vorausgeſetzt, daß wir Sie frei handeln ließen,“ 
warf er ein. „Aber wenn Sie wirklich ſolche Torheiten 
machten, glauben Sie, wir würden das ruhig mit- 
anſehen?“ | 

„Gewiß nicht,“ verſetzte fie. „Aber jede leitende 
Perſönlichkeit hat doch eine gewiſſe mehr oder weniger 
weitgehende Machtvollkommenheit, kann daher viel 
Schaden ſtiften, ehe es gemerkt und verhindert wird. 
Ich erinnere Sie an die beiden Männer, die Sie be- 
reits als Mitleiter Ihres Geſchäfts gehabt haben.“ 

Er gab ſich beſiegt. „Sie haben nicht ſo unrecht. 
Und in dieſem Falle muß ich Ihnen ja beſonders 
dankbar ſein, daß Sie ſich ſelbſt einer ſo eingehenden 
Prüfung unterziehen wollen, ehe Sie eine Entſcheidung 
treffen.“ f 

„Bis zur Entſcheidung hat es wohl noch Zeit,“ er- 
widerte ſie. „Ich nehme wenigſtens an, daß es ſich 
heute nur um eine unverbindliche Unterredung han- 
delt.“ 

„Selbſtverſtändlich. Ich ſagte ja bereits, daß die 
definitive Entſcheidung mein Vater zu treffen hat. Für 
mich war der Hauptzweck heute, ein Bild Ihrer Per- 
ſönlichkeit zu gewinnen, und ich glaube, wir haben uns 
beide in der kurzen Zeit näher kennen gelernt, als 
andere Menſchen es in Monaten fertig bringen.“ 

„Oarin kann ich Ihnen beiſtimmen,“ verſetzte ſie. 

Er erhob ſein Glas und trank ihr zu. 


n Novelle von Fritz Flechtner. 131 


Sie tat ihm Beſcheid. Dann ſah ſie nach der Uhr. 
„Wiſſen Sie, wie ſpät es iſt? Bald drei Uhr!“ 

„Nicht möglich!“ rief er aus. „Da haben wir uns 
ſchön verplaudert.“ | 

Er zog feine Geldtaſche. Sie tat das gleiche. Er 
machte auch keinen Verſuch, für ſie zu bezahlen. 

„Wann gedenken Sie zurückzufahren?“ fragte er. 

„Mein Zug geht fünf Uhr vierzig.“ 

„Da haben Sie alſo noch über zwei Stunden Zeit. 
Falls Sie nichts anderes vorhaben, würde ich mich ſehr 
freuen, die Zeit gemeinſam mit Ihnen verbringen zu 
dürfen.“ 

„Ich würde mich gleichfalls freuen,“ verſetzte ſie. 

Da er Poſen noch nicht kannte, ſchlug ſie zunächſt 
vor, in einer Oroſchke eine Rundfahrt durch die Stadt 
zu machen. 

Während der Fahrt wurde über die Angelegenheit, 
die ſie zuſammengeführt hatte, nicht mehr geſprochen. 
Sie erklärte ihm die Sehenswürdigkeiten, an denen 
ſie vorbeikamen; er ſtellte Vergleiche an mit anderen 
Städten, die er kannte, und erzählte von den Reifen, 
die er ſchon unternommen hatte. 

„So jung noch und ſchon fo weit in der Welt herum 
gekommen!“ ſagte fie. „Darum könnte ich Sie be- 
neiden.“ : 

„Ich glaube, Sie ſchätzen mich für jünger, als ich 
bin. Für wie alt halten Sie mich?“ 

Sie fab ihn prüfend an. „Anfang Oreißig.“ 

„Nein, ſchon Mitte.“ 

„Alſo ſo alt wie ich.“ 

„Ah!“ rief er. „Das ſieht man Ihnen aber nicht an.“ 

„Soll das ein Kompliment ſein?“ fragte ſie ſpöttiſch. 

Er antwortete beinahe ſchroff: „Romplimente mache 
ich nur Damen, mit denen ich nichts Beſſeres reden kann.“ 


132 Fräulein Bankdirektor. 8 


Sie mußte wider Willen lachen. Aber die Antwort 
hatte ſie gefreut. 

„Ich hatte Sie in der Tat auf höchſtens dreißig 
geſchätzt,“ fuhr er, wieder in ſeinen gewöhnlichen Ton 
verfallend, fort. 

„Das wundert mich. Meiſt hält man mich für älter, 
als ich bin.“ 

„Das liegt dann wohl an Ihrer Art, ſich zu kleiden. 
Wenn Sie hellere Farben wählten, würden Sie weit 
jugendlicher ausſehen.“ 

„Mir liegt nichts daran, ob ich jung oder alt aus- 
ſehe.“ 

„Das kann ich von mir leider nicht ſagen. Ich lege 
großen Wert darauf, möglichſt jung zu erſcheinen.“ 

Ihr Blick ſtreifte ihn raſch von oben bis unten. 
„Das ſieht man Ihrer Kleidung an.“ 

„Das war aber ſicher kein Kompliment!“ rief er 
lachend. 

Sie ſtimmte in ſein Lachen ein. „Sie haben recht, 
das war es nicht.“ 

Als ſie ihre Rundfahrt beendet hatten, ſagte ſie: 
„Wir könnten jetzt noch in einen Garten gehen, um 
Kaffee zu trinken, aber ich fürchte, es wird heute am 
Sonntag überall ſehr voll ſein. Vielleicht fahren wir 
lieber wieder nach dem Bahnhof. Dort wird um dieſe 
Zeit wenig Verkehr ſein.“ 

Er ſtimmte zu. 

Der Warteſaal war faſt leer, als ſie ankamen. Sie 
nahmen an dem Ecktiſch Platz, an dem ſie mittags 
zuſammengetroffen waren. 

„Sobald ich Nachricht von meinem Vater habe, 
depeſchiere ich Ihnen,“ ſagte er. 

„Ich bitte darum.“ 

„Würde es Ihnen recht ſein, wenn die Unterredung 


o Novelle von Fritz Flechtner. . 133 


mit meinem Vater in Hamburg oder Bremen ftatt- 
fände? Er könnte dann direkt nach Deutſchland kommen 
und erſt nachher nach England fahren.“ 

„Wir würden beide Städte recht ſein.“ 

„Haben Sie beſondere Wünſche bezüglich der 
Zeit?“ 

„Ich müßte bitten, die Tage um Mitte und Ende 
des Monats nicht zu wählen, da ich dann nicht ab- 
kommen könnte.“ 

Er zog ſein Notizbuch hervor und ſah auf dem 
Kalender nach. „Möchten Sie gern den Sonntag 
nehmen?“ 

„Ja, das wäre mir lieb. Zch verliere dann am 
wenigſten Zeit.“ 

Er rechnete. „Der 9. September iſt Sonntag. Das 
iſt zu kurze Zeit. Der nächſte Sonntag iſt der 16. 
Würde der Tag paſſen?“ 

„Unmöglich. Am 15. iſt Zahltag.“ 

„Om!“ machte er. „Dann würde es Sonntag den 
30. September wohl wieder nicht gehen?“ 

„Ganz ausgeſchloſſen.“ 

„Wenn wir nun den 29. wählten, ſo daß Sie am 
30. nachts zurück ſein könnten, wäre das möglich?“ 

Sie verneinte wieder. 

„Da der 30. auf einen Sonntag fällt, werden doch 
wohl alle Zahlungen erſt am 1. Oktober geleiſtet, oder 
geſchieht das bei Ihnen ſchon am 29. September?“ 
fragte er. 

„Gewiß, die Zahlungen werden am 1. Oktober ge- 
leiſtet; aber die Einzahlungen erfolgen in dieſem Falle 
ſchon am 29.“ 

„Wohl aus Furcht, das Geld könnte über Sonntag 
geſtohlen werden?“ fragte er lachend. 

„Jawohl, das ift der Hauptgrund. Und ganz mit 


134 Fräulein Bankdirektor. a 


Recht, denn auf der Bank ift das Geld doch ficherer 
als zu Haufe.“ 

„Allerdings.“ Er blätterte in ſeinem Notizbuch. 
„Dann müſſen wir eben den 9. September nehmen. 
Ich fahre heute nacht nach Hamburg, ſchicke meinem 
Vater morgen ein Kabeltelegramm und bitte ihn, be- 
ſtimmt zum 9. September in Oeutſchland zu fein,“ 
Damit ſteckte er ſein Notizbuch wieder ein. 

„Das wird Ihrem Herrn Vater wohl ſchwer möglich 
ſein,“ meinte ſie. „Heute iſt ſchon der 26. Auguſt.“ 

„Oh, er iſt ein Mann von ſchnellem Entſchluß. Und 
wenn ich etwas dringend mache, ſo weiß er, daß es 
ſeinen guten Grund hat.“ 

Sie unterhielten ſich dann über andere Dinge, bis 
es Zeit zum Aufbruch war. 

Er begleitete ſie bis an ihr Abteil, und wie zwei 
alte Bekannte nahmen ſie voneinander Abſchied. 

Als ihr Zug abgefahren war, gab er folgende De- 
peſche auf: „Bötzow, Hannover. Erwarte mich morgen 
nachmittag dort.“ 


Kurt war febr überraſcht, als er ftatt des erwarteten 
Telegramms „Alles in Ordnung“ diefe Nachricht er- 
hielt. Sollte Herbert ſich eine Abfuhr geholt haben? 
Er konnte es zwar nicht glauben, aber, ſagte er ſich, 
bei ſo einem Frauenzimmer iſt nichts undenkbar. 

„Na, morgen werde ich ja alles hören!“ Damit 
beruhigte er ſich um begann, ſich zum Eſſen anzu- 
kleiden. — 

In beſter Laune traf Herbert am nächſten Mittag ein. 

„Wie ſiehſt du denn aus?“ rief Kurt erſtaunt. 

Herbert ſah an ſich herunter, konnte aber nichts 
Auffälliges entdecken. 


u Novelle von Fritz Flechtner. 135 


„Nach deinem Telegramm dachte ich, du würdeſt 
mit einer Leichenbittermiene antreten, und nun —“ 

„Ach ſo! Du haſt geglaubt, ich wäre abgewieſen. 
Nein, mein Junge, das gibt's doch bei mir nicht — 
von Weibern!“ 

„Alſo keinen Korb geholt? Da kann ich alſo gratu- 
lieren?“ 

Herbert ſchob die ausgeſtreckte Hand zurück. „So 
weit ſind wir noch nicht. Es gibt ſo 'ne und ſo 'ne 
Feſtungen, weißt du.“ 

„Sehr richtig,“ verſetzte Kurt. „Die einen nimmt 
man mit Sturm, die anderen hungert man aus.“ Mit 
den Augen blinzelnd fuhr er fort: „Das Aushungern 
iſt übrigens früher nie dein Fall geweſen.“ 

„Iſt's auch heute noch nicht,“ verſetzte Herbert. 
„Jede Feſtung wird mit Sturm genommen. Das iſt 
noch immer mein Wahlſpruch. Aber mit Unterjchied. 
Bei der einen kann man den Sturm gleich wagen, 
bei der anderen muß die Beſatzung erſt noch geſchont 
werden.“ 

„Sehr ſchön geſagt,“ erwiderte Kurt trocken. „Und 
wann denkſt du, daß in dieſem beſonderen Falle die 
Beſatzung geſchont genug fein wird?“ 

„Ein paar Wochen wird es wohl dauern. Das 
kommt auf die Kugeln an, die ich noch hineinſchießen 
werde.“ | 

„Für mich iſt alſo zunächſt nichts zu tun?“ 

„Nein, lieber Junge, du kannſt bis auf weiteres 
gans deiner Behaglichkeit leben.“ 

„Gott ſei Dank!“ ſagte Kurt, klingelte, warf ſich 
in ſeinen Lieblingsſeſſel und befahl dem eintretenden 
Diener: „Kaffee — Kognak — die Upmann!“ 


136 Fräulein Bankdirektor. 2 


Ella Hagemann war noch froher als am Morgen, 
daß ſie wieder allein in ihrem Abteil blieb, konnte ſie 
doch während der Fahrt ungeſtört alles überdenken, 
was der Tag ihr gebracht hatte. Sie befand ſich in 
ungewöhnlicher Aufregung, denn die lebhafte Unter- 
haltung, der genoſſene Wein und vor allem die glän- 
zende Ausſicht, die ſich ihr bot, hatten ihre ſonſt ſo 
kühle, ruhige Natur mehr aus dem Gleichgewicht ge- 
bracht, als ſie ſelbſt für möglich gehalten hätte. Nichts 
mehr von der Gleichgültigkeit, die fie mit äußerſter 
Selbſtbeherrſchung geheuchelt, ſolange ſie mit Harpers 
zuſammen geweſen war. Ein Sturm von Gedanken 
brauſte durch ihr Hirn, und ſie, die ſonſt ſo wenig durch 
die Phantaſie Beherrſchte, erging ſich willenlos in einer 
Flut von Bildern ihres zukünftigen Lebens. 

Geld und Reichtum ſpielten dabei faſt gar keine 
Rolle; ſie war perſönlich viel zu anſpruchslos, um 
darauf Wert zu legen. Vas ſie berauſchte, war der 
Gedanke an das, was ſie würde leiſten können, der 
Gedanke an ein gewaltiges Feld von Arbeit und freiem, 
ſelbſtändigem Schaffen. 

Sie ſah ſich als Mitleiterin dieſes großen Betriebes, 
ſah ſich disponieren über ein Heer von Angeſtellten, 
ſah unter ihrer Arbeit das Geſchäft noch immer ſich 
erweitern — ſie ſprang ſchließlich auf und lief in dem 
engen Raume hin und her, um ihre innere Ruhe wieder- 
zufinden. 

Sie ſchalt fih phantaſtiſch, überſpannt und ver- 
mochte doch an dieſe Vorwürfe ſelbſt nicht zu 
glauben. 

Warum ſollte ſie ſo viel Glück nicht finden können? 
Hatte ſie nicht erreicht, was vor ihr noch keine Frau 
erreicht hatte? 

Aber freilich — was war ihre Tätigkeit an dieſer 


2 Novelle von Fritz Flechtner. 137 


Provinzbank, verglichen mit dem, was fie drüben er- 
wartete! 
Da ftiegen wieder die Zweifel auf, ob fie auch im- 
ſtande fein würde, eine ſolche Stellung auszufüllen. 
Aber trotzig rief ſie: „Ja, ich kann es leiſten!“ 
ga, das Vertrauen auf die eigene Kraft, das war 
die Hauptſache! Was ihr an Vorbildung fehlte, würde 
ſie bald ſich erworben haben. 


Nach einem unruhigen, traumdurchſchüttelten 
Schlafe erhob ſie ſich am nächſten Morgen. Ein kühles 
Bad, ein raſcher Spaziergang brachten ihr nur wenig 
Erfriſchung. 

Hell ſtrahlte wie am Tage vorher die Sonne, aber 
die goldenen Träume, die ſie erfüllt hatten, waren wie 
verweht. Grau in grau lag die Erinnerung auf ihr. 

Sie wollte den ſchweren Alp abſchütteln, der ſie 
bedrückte, aber es gelang ihr nicht. 

Auch die Arbeit brachte keine Beſſerung. Mecha- 
niſch tat ſie ihre Pflicht, aber mit e Seele war fie 
heute nicht dabei, 

Ein Schreckbild, das in ihr aufgeftiegen war, plöß- 
lich, urſachlos, fie wußte nicht, ob im Wachen oder im 
Traume, ließ ſie mitten in der Arbeit auffahren, preßte 
ihre Bruſt angſtvoll zuſammen, daß ſie kaum zu atmen 
vermochte. Sie wollte das Phantom packen, um es 
zu vernichten, aber es ließ ſich nicht halten, entglitt 
wie in Nebel, um dann plötzlich wieder aufzutauchen. 

Wenn alles nur Lug und Trug war, wenn — — 

Sie rannte in ihrem Zimmer umher, preßte den 
Kopf an die Scheiben, um die heiße Stirn zu kühlen, 
aber wieder und wieder ſprang der entſetzliche Ge- 
danke auf. 


138 Fräulein Bankdirektor. 8 


Sie verſuchte es, ſich zurückzurufen, was ſie mit 
dem Fremden geſprochen hatte, aber ihr Gedächtnis 
ließ ſie im Stich. 

Wenn dieſer Harpers ein Betrüger war! 

Laut auf lachte ſie, aber das Lachen befreite ſie 
nicht. i 

Welches Intereſſe hätte er an einem Betruge haben 
können? | 

Sie dachte an all die Geſchichten, die fie von ſolchen 
Betrügern kannte; aber überall war ein Zweck dabei 
geweſen, leicht erkennbar für einen vernünftig urteilen- 
den Menſchen, nur von dem Opfer ſelbſt nicht durch- 
ſchaut. 

Und warum nicht? 

Veil dieſes Opfer blind war, blind gemacht durch 
die — Liebe zu dem Betrüger. 

Aber ſie war doch klaren Sinnes geweſen, hatte 
ruhig geprüft, was er geſprochen, hatte mit voller 
Überlegung darauf geantwortet. 

Oder hatte ſie das alles nicht getan? 

War fie fo geblendet geweſen von den lockenden 
Bildern, daß ſie ein Märchen für Wirklichkeit gehalten 
hatte? | 

Zum erſten Male in ihrem Leben ſtand fie vor ſich 
ſelbſt wie vor einem Rätſel. 

Sie beſchloß, am Abend aufzuſchreiben, was ſie von 
dem Geſpräch behalten hatte, und dann wollte ſie Rede 
und Gegenrede prüfen, Wort für Wort. 

Das beruhigte ſie etwas, und da kam ihr plötzlich 
noch ein Gedanke. 

Sie nahm die Viſitenkarte Harpers’ aus ihrem Hand- 
täſchchen, betrachtete ſie nachdenklich und ließ ſich dann 
mit einem Berliner Auskunftsbureau verbinden. Sie 
wünſchte die Adreſſe einer zuverläſſigen Auskunftei in 


2 Novelle von Fritz Flechtner. 139 


Amerika zu erhalten. Man nannte ihr die Firma 
Brothers Smith & Garret in New Vork. 

Mit dem Mittagzuge ging ein Brief von ihr ab, 
in dem fie anfragte, ob eine Firma Harpers & Whyte- 
craft in Cincinnati exiſtiere, die Getreidehandel und 
Bankgeſchäft betreibe, ob der jüngere Inhaber dieſes 
Geſchäftes fih zurzeit in Deutſchland aufhalte, und ob 
dieſe Firma auf einer finanziell durchaus ſicheren Grund- 
lage ſtehe. 

Wenn alles dieſes ſich ſo verhielte, erbat ſie an die 
Adreſſe einer großen Hamburger Bank ein Kabel- 
telegramm mit den Worten „Alles zutreffend“. An- 
derenfalls telegraphiſche Antwort mit „Unzutreffend, 
briefliche Erklärung“. 

Das Hamburger Bankhaus erſuchte ſie in einem 
gleichzeitig abgehenden Schreiben, den Betrag für Tele- 
gramm und Auskunft für ſie zu entrichten und ihr 
den Inhalt der eingehenden Depeſche telegraphiſch zu 
übermitteln. 

Nachdem fie diefe Schreiben ſelbſt in den Brief- 
kaſten geſteckt hatte, atmete ſie wie befreit auf. 

So — nun würde ſie nicht mehr daran denken, bis 
ſie Antwort erhalten hätte! Aber dieſer Vorſatz war 
leichter gefaßt als durchgeführt. 

Immer wieder ſtieg das Bild des Fremden, ein 
Bruchſtück ihrer Unterhaltung vor ihr auf und zwang 
ſie, darüber nachzudenken, ſo daß ſie ſchließlich doch 
noch ihren erſten Plan ausführte und ihr Geſpräch 
aufzeichnete. 


Faſt den ganzen Abend brachte ſie damit zu, und 
je weiter ſie in dieſer Arbeit vorſchritt, deſto ſchärfer 
führte ihr Gedächtnis alles zurück in Wort und Ton- 
fall, ſo daß ſie ſich ſchließlich ſagen durfte, ſie habe die 


140 Fräulein Bankdirektor. | u 


Unterredung in ihren Hauptpunkten vollſtändig und 
richtig wiedergegeben. 

Als ſie dann ſeine und ihre Worte ſorgſam geprüft 
und gegeneinander abgewogen hatte, ohne etwas zu 
finden, was Bedenken oder Mißtrauen hervorgerufen 
hätte, ſchloß ſie mit einem tiefen Gefühl der Beruhigung 
die Aufzeichnungen in das Geheimfach ihres Schreib- 
tiſches. 

Zwei Tage darauf, am 29. Auguſt, erhielt ſie ein 
Telegramm: „Vater leider in nächſten drei Wochen 
unabkömmlich. Harpers.“ 

Tags darauf ging folgender Brief ein: 

„Sehr geehrtes gnädiges Fräulein! 

Heute depeſchierte ich Ihnen: Vater leider in 
nächſten drei Wochen unabkömmlich.“ Ich bedaure 
dies um fo mehr, als ich infolge meiner unauffchieb- 
baren Reife nach Rußland Ihrer Unterredung wohl 
nicht werde beiwohnen können. Gleichzeitig mit dem 
Telegramm vom 27. d. Mts. habe ich meinem Vater 
brieflich von meinen Plänen ſowie von dem Ergebnis 
unſerer Unterredung eingehend Mitteilung gemacht und 
ſeine umgehende Rückäußerung erbeten. Sobald dieſe 
eintrifft, werde ich Ihnen den Inhalt ſofort übermitteln. 

Mit größter Hochachtung und beſten Empfehlungen 

Ihr ergebener 
5 Fred Harpers.“ 

Am zehnten Tage nach dem Abgange ihres Schrei- 
bens an die Auskunftei in New York erhielt fie von 
dem Hamburger Bankhauſe die telegraphiſche Mit- 
teilung: „Amerika depeſchiert: Alles zutreffend.“ 

„Gott fei Dank!“ ſprach fie vor fih hin. Sie emp- 
fand vor allem ein Gefühl der Freude und Genug- 
tuung, daß ihre Befürchtung, ein Betrug könnte im 
Spiele geweſen ſein, als unbegründet erwieſen war. 


ñ Novelle von Fritz Flechtner. 141 


Wieder war beinahe eine Woche vergangen, als, 
datiert aus Köln vom 11. September, folgender Brief 
von Harpers eintraf: 

„Sehr geehrtes gnädiges Fräulein! 

Soeben Brief von meinem Vater eingegangen. Er 
iſt mit allen meinen Plänen vollkommen einverſtanden, 
behält ſich aber die Entſcheidung vor, bis er mit Ihnen 
ſelbſt geſprochen hat. Vor Mitte Oktober kann er ſeine 
Reife nicht antreten; er will dann zunächſt nach Ham- 
burg kommen und dort am 20. oder 21. eintreffen. 

Nun würde es meinem Vater ſehr erwünſcht ſein, 
noch vorher über einige Punkte Aufklärung zu erhalten, 
fo insbeſondere über Ihre kaufmänniſche Vorbildung, 
die Art Ihrer bisherigen Tätigkeit, Ihre Gehalts- 
anſprüche uſw. Auch legt er Wert darauf, eine Photo- 
graphie von Ihnen zu erhalten. 

Ich muß mich deshalb nochmals mit der Bitte an 
Sie wenden, mir Ort und Stunde für eine zweite 
perſönliche Unterredung zu beſtimmen. Am 14. d. Mts, 
treffe ich in Berlin ein und muß ſpäteſtens am 19. 
in Warſchau ſein. Hoffentlich iſt es Ihnen möglich, 
mir innerhalb dieſes Zeitraumes einige Stunden zur 
Verfügung zu ſtellen. Daß ich perſönlich mich auber- 
ordentlich freuen würde, unſer intereſſantes Poſener 
Geſpräch fortſetzen zu können, brauche ich wohl nicht 
erſt zu verſichern. 

Ihre Antwort erbitte ich nach Berlin, Hotel Raifer- 
hof. 

Mit größter Hochachtung und ergebenſten Emp- 
fehlungen Ihr 

Fred Harpers.“ 

Die Antwort, die Fräulein Hagemann am Tage 
nach dem Eintreffen dieſes Briefes zur Poſt gab, 
lautete: 


142 Fräulein Bankdirektor. n 


„Sehr geehrter Here Harpers! 

Ich freue mich über die Zuſtimmung Ihres Herrn 
Vaters und bin zu einer zweiten Unterredung gern 
bereit. Erwarten Sie mich am Sonntag, den 16. d. Mts., 
12 Uhr mittags Poſener Bahnhof. Eine Photographie 
bringe ich mit. 

6 Hochachtungsvoll 
E. Hagemann.“ 


Am gleichen Tage, an dem Harpers' Brief bei Ella 
einging, erhielt Kurt v. Bötzow ein eingeſchriebenes 
Wertpaket. Die Handſchrift auf der Adreſſe war ihm 
fremd. Als er es geöffnet hatte, fand er, ſorgfältig 
eingehüllt, zwei Bündel Banknoten. Das eine, rot 
verſchnürt, enthielt fünftauſend, das andere, mit blauen 
Schnüren, ſiebentauſend Mark. Vorſichtig hatte er die 
Verſchnürung gelöſt, indem er darauf achtete, daß die 
Noten nicht durcheinander kamen. 

Folgender Brief mit den unverſtellten Schriftzügen 
ſeines Freundes lag dabei. 

„Lieber Kurt! Aus Beiliegendem erſiehſt Du, daß 
ich nicht nur an mein Fräulein Bankdirektor denke, 
ſondern meine Zeit auch ſonſt gut anwende. Die 
Anlage ſtammt aus der Bank in L., die ich geſtern auf 
der Durchreiſe von Köln nach Hamburg mit meinem 
Beſuch beehrte. Es war eine Vorſtudie für Cz. Wahr- 
ſcheinlich haſt Du in den Zeitungen ſchon davon ge- 
leſen, ohne an mich zu denken. Auf alle Fälle ſende 
ich Dir einen Ausſchnitt mit. Lies dieſen zunächſt und 
erſt dann mein Schreiben weiter.“ 

Die Zeitungsnotiz lautete: „Ein frecher Raubanfall 
iſt heute in einer Bank verübt worden. Mittags kam 
ein älterer Herr, dem Ausſehen nach ein Engländer, 
in die Bank, wo der Vorſteher ſich gerade allein auf- 


a Novelle von Fritz Flechtner. 143 


hielt. Er bat, ihm einen Tauſendmarkſchein zu wechſeln. 
Während der Vorſteher dies lat, drückte ihm der Fremde 
eine wohl mit Chloroform getränkte Maske vor das 
Geſicht, und zwar mit ſolcher Schnelligkeit, daß der 
Überfallene keine Zeit fand, ſich zu wehren oder einen 
Schrei auszuſtoßen. Die Betäubung erfolgte augen- 
blicklich. Dann ergriff der Räuber einen Stoß Bank- 
noten, mit deren Einpacken der Vorſteher gerade be- 
ſchäftigt geweſen war, und verließ die Bank. Er beſaß 
dabei die Frechheit, die inwendig ſteckenden Schlüſſel 
abzuziehen und die Tür von außen zu verſchließen. Er 
wurde geſehen, wie er langſam dem Markte zuging. 
Einige Perſonen wollen ihn auch noch in den Anlagen 
am Muſeum bemerkt haben. Seitdem iſt aber jede 
Spur von ihm verſchw unden. Der Bankvorſteher hat 
ſich wieder erholt; eine bleibende geſundheitliche Stö- 
rung iſt zum Glück nicht zu befürchten.“ 

Hier war an den Rand geſchrieben: „Seht lies 
meinen Brief fertig!“ 

Bötzow überflog trotzdem den Zeitungsausſchnitt 
noch weiter; es waren Vorwürfe, daß trotz aller trau- 
rigen Vorkommniſſe in vielen Provinzbanken noch 
immer zeitweiſe nur eine Perſon anweſend ſei und 
ſo weiter. Er legte nun den Ausſchnitt beiſeite und 
nahm den Brief wieder vor. 

Röchling ſchrieb: „Die Banknoten in dem rotver- 
ſchnürten Paket find ſicher; ich habe die mitgenom- 
menen ſchon gegen andere eingelöſt. Die übrigen lege 
in unſeren Safe. Ich glaube zwar, daß fie auch ganz 
ſicher ſind, da ich auch das Nummernverzeichnis des 
Vorſtehers habe, aber beſſer iſt beſſer. In Gold habe 
ich viertauſend Mark erbeutet; die Hälfte davon ver- 
rechne als deinen Anteil auf die Banknoten. Wie ſteht 
es mit der Angelegenheit Hollmann? Alles gut er- 


144 Fräulein Bankdirektor o 


ledigt? Wie groß unfer Gewinn? Bitte Telegramm 
nach Hamburg, Hotel Atlantic, Baron Roͤdern. 
Dein Herbert.“ 

„Verfluchter Kerl!“ ſagte Bötzow befriedigt, als er zu 
Ende geleſen hatte. Sorgfältig vernichtete er Brief und 
Zeitungsausſchnitt, verwahrte die „ſicheren“ Banknoten 
im Geldſchrank, die anderen brachte er auf die Han- 
noverſche Bank, wo ſie ihr Konto und ihren Safe hatten. 

Bei der Ankunft in Hamburg fand Röchling, der. 
als Baron Rödern Stammgaſt im Atlantic war, be- 
reits folgendes Telegramm vor: „Treibjagd vorzüglich. 
25 Stück geſchoſſen. Wergentheim.“ 

„Verfluchter Kerl!“ ſagte auch Herbert befriedigt, 
als er dieſes Telegramm geleſen. „Dreiundzwanzig- 
tauſend Mark — alle Achtung!“ 

Sofort depeſchierte er zurück: „Gratuliere. 14. abends 
Berlin. Vorher Erledigung wie beſprochen. Herbert.“ 


Am Vormittage des 14. September wurde Fräu- 
lein Hagemann eine Karte überbracht mit dem Namen: 
v. Schroetter, Oberregierungsrat a. O. 

„Ich laſſe bitten.“ | 

Ein mittelgroßer, älterer Herr trat ein — Gehrock, 
Zolinder, ganz der Typus des höheren Regierungs- 
beamten. 

„Ich komme mit einer Empfehlung von Herrn 
Kommerzienrat Saalberg,“ begann er. 

Sie wies auf einen Seſſel. „Darf ich bitten, Platz 
zu nehmen! Womit kann ich Ihnen dienen?“ 

„Ich halte mich ſeit etwa acht Tagen in der Provinz 
Poſen auf, um Güter zu beſichtigen. Mein Sohn iſt 
Landwirt und will ſich hier anſiedeln. Man hat mir 
geſagt, daß im Kreiſe Czoſtran einige geeignete Güter 
zum Verkauf ſtehen ſollen.“ 


a Novelle von Fritz Flechtner. 145 

Da er eine kleine Pauſe machte, verſetzte fie: „Dar- 
über kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben.“ 

Der alte Herr lächelte. „Das hatte ich auch nicht 
erwartet, mein gnädiges Fräulein. Die Güter, um 
die es ſich handelt, ſind in polniſchen Händen, und die 
Beſitzer daher wohl ſchwerlich die Kunden Ihrer Bank. 
Aber ich habe Genaueres darüber ſchon von Herrn 
Kommerzienrat Saalberg erfahren. Was mich zu Ihnen 
führt, iſt folgendes: Falls ich etwas Paſſendes finde, 
will ich den Kauf ſofort abſchließen. Das zur Anzahlung 
erforderliche Geld beſitze ich aber nicht in bar, da mein 
geſamtes Vermögen in Wertpapieren angelegt iſt. Ich 
habe einen größeren Betrag in Papieren mitgebracht 
in der Abſicht, ſie durch eine Bank verkaufen zu laſſen. 
Wie mir Herr Kommerzienrat Saalberg ſagte, ſollen 
aber die Kurſe dieſer Papiere jetzt ſo ungünſtig ſtehen, 
daß ich bei einem Verkauf erhebliche Verluſte erleiden 
würde. Er riet mir deshalb, mit Ihnen Rückſprache 
zu nehmen, in welcher Weiſe fich am beſten ein Arrange- 
ment treffen ließe.“ | 

„Am welche Papiere handelt es ſich?“ | 

„Ausſchließlich um preußiſche Konſols und deutſche 
Reichs anleihe.“ 

„Dieſe Papiere ſtehen allerdings augenblicklich un- 
günſtig. Der Grund dafür ift in der ſchwierigen politi- 
ſchen Lage zu ſuchen, die, wie Sie wohl wiſſen, ernſtere 
Verwicklungen nicht unmöglich erſcheinen läßt.“ 

Der Oberregierungsrat nickte. „Würde es Ihrer 
Bank möglich ſein, mir gegen Verpfändung dieſer 
Papiere die erforderlichen Barmittel vorzuſtrecken, bis 
die Kurſe einen Verkauf ermöglichen?“ 

„Um welchen Betrag würde es ſich handeln?“ 

„Es käme eine Anzahlung von fünfzig- bis ſechzig⸗ 
tauſend Mark in Frage.“ 

1918. XI. 10 


Fräulein Bankdirektor. o 

„Und wie hoch iſt der Nominalwert der Papiere, 
die Sie hinterlegen würden?“ 

„Ich habe für hunderttauſend Mark mitgebracht. 
Falls Sie es für erforderlich halten, kann ich aber 
binnen wenigen Tagen noch mehr hinterlegen.“ 

„Das genügt vollkommen. Über die von Ihnen 
gebrauchte Summe erhalten Sie einen Scheck.“ 

„Würde dieſer Scheck auf Ihre Bank lauten?“ 

„Nein, wir würden ihn auf die Oſtbank für Handel 
und Gewerbe ausſtellen. Das dürfte in Ihrem Falle 
ſchon deshalb vorzuziehen fein, weil der Verkäufer des 
Gutes wahrſcheinlich den Scheck ſofort in Bargeld wird 
umwechſeln wollen, und dazu würde unſere Bank ohne 
weiteres nicht imſtande ſein.“ 

Überrafcht fab er fie an. „Verfügen Sie nicht über 
derartige Barbeſtände? Ich hatte geglaubt, daß eine 
Bank von dieſer Größe —“ 

Sie unterbrach ihn. „Zu beſtimmten Zeiten würden 
wir freilich mit Leichtigkeit dieſen Betrag auszahlen, 
aber dauernd größere Barvorräte zu halten, hat für 
uns ja keinen Zweck. Was eingeht, wird möglichſt bald 
wieder abgeführt.“ 

„Aber Ihre Kaſſenräume ſind doch hoffentlich ganz 
ſicher? Daß nicht etwa ein Einbruch verübt werden 
kann?“ fragte er ängſtlich. 

„Da dürfen Sie ganz ohne Sorge fein, Herr Ober- 
regierungsrat. Wenn wir natürlich auch nicht über 
die Sicherheitsvorrichtungen der Großbanken verfügen, 
jo find unſere Gewölbe doch unbedingt feuer- und 
einbruchſicher.“ 

„Meine Angſtlichkeit wird Sie vielleicht in Erſtaunen 
ſetzen,“ ſagte er. „Aber da etwas Derartiges mir ſchon 
paſſiert iſt —“ 

„Wie?“ unterbrach ſie ihn erſtaunt. 


2 Novelle von Fritz Flechtner. — 147 


„Ich habe einmal zwanzigtauſend Mark eingebüßt 
durch einen Einbruch in die Bank, bei der ich einen 
Teil meines Vermögens hinterlegt hatte. Es iſt zwar 
faſt ein Vierteljahrhundert ſeitdem vergangen, aber ſo 
etwas vergißt man nicht wieder. Da bleibt eine Ängjt- 
lichkeit für das ganze Leben zurück.“ 

„Aber die Bank mußte doch haften,“ entgegnete ſie. 

„Gewiß hätte ſie das getan. Aber dieſer Einbruch 

war der Anfang vom Ende. Sie mußte bald darauf 
ihre Zahlungen einſtellen.“ 

„Das iſt allerdings eine traurige Erfahrung, die Sie 
gemacht haben, und ich kann ſehr wohl Ihre Beſorgnis 
verſtehen. Aber glauben Sie mir, davor find Sie dies- 
mal ſicher. Es müßte ſchon ein ſehr geſchickter und 
verwegener Räuber ſein, der bei uns Erfolg haben 
wollte — und ſolche Leute haben wir hier nicht.“ 

„Nun, es könnte ja ein Auswärtiger fein, ein inter- 
nationaler Einbrecher, ein Gentleman Verbrecher, wie 
man zu ſagen pflegt.“ 

„Vie ſollte der gerade auf unſere Bank verfallen! 
Und überdies — ohne genaue Ortskenntnis könnte er 
nichts erreichen. Um dieſe Kenntnis ſich zu erwerben, 
müßte er aber ſehr eingehende Studien machen. Glau- 
ben Sie, daß das in einem fo kleinen Orte wie Czoſtran 
möglich wäre, ohne Verdacht zu erwecken?“ 

Ihre Ausführungen ſchienen ihn beruhigt zu haben. 
Er öffnete die braune Aktenmappe, die er während des 
ganzen Geſpräches feſt unter dem Arm gehalten hatte, 
und entnahm ihr ein ſorgfältig verſchnürtes und ver- 
ſiegeltes Paket, das er Ella überreichte. 

„Haben Sie ein genaues Verzeichnis der Papiere?“ 
fragte ſie. 

„Gewiß, aber nur in einem Exemplar.“ 

„Das genügt.“ 


148 Fräulein Bankdirektor. u 


— — msn 


„Wünſchen Sie die Prüfung der Papiere ſofort 
vorzunehmen?“ fragte er. 

„Das iſt erſt erforderlich, wenn der Scheck ausgeſtellt 
wird.“ 

„Dann könnte ich ja eigentlich die Papiere bis da- 
hin noch in eigener Verwahrung behalten.“ 

Sie lächelte. „Wenn Ihnen das ſicherer erſcheint 
— gewiß.“ 

„Ich meinte nicht bei mir oder im Hotel, ich dachte 
an einen Safe. Sie haben doch wohl Safes unter 
Mitverſchluß der Mieter?“ 

„Allerdings. Aber nur in geringer Anzahl. Und 
nur die wenigſten werden benützt. Die Einrichtung 
hat ſich hier nicht eingebürgert. Man iſt der Anſicht, 
daß ein uns übergebenes Depot ebenſo ſicher in unſeren 
eigenen Schränken verwahrt iſt, als wenn es im Safe 
läge.“ 

„Ich bitte um Verzeihung, mein gnädiges Fräu- 
lein. Es ſollte keine Kränkung für Ihre Bank ſein, 
aber —“ 

Sie ſchnitt ſeine Entſchuldigungen etwas ungeduldig 
ab. „Ich möchte Sie bitten, Herr Oberregierungsrat, 
ſich von der Sicherheit unſerer Einrichtungen ſelbſt zu 
überzeugen.“ 

Damit klingelte ſie und ließ den Kaſſierer bitten, 
zu ihr zu kommen. 

„Dieſes Paket mit Wertpapieren iſt in Verwahrung 
zu nehmen für Herrn Oberregierungsrat v. Schroetter,“ 
ſagte fie, als der Kaſſierer eingetreten war. „Der Herr 
Oberregierungsrat hat Beſorgnis, daß die Papiere ge- 
ſtohlen werden könnten; wir wollen ſie deshalb in ſeiner 
Gegenwart in unſeren Geheimſchrank legen. Erledigen 
Sie, bitte, erſt die nötigen Formalitäten.“ 

Nachdem dies geſchehen war, ſagte der Kaſſierer: 


o Novelle von Fritz Flechtner. 149 


— 


„Darf ich Herrn Oberregierungsrat bitten, ſich mit mir 
zu bemühen. Geſtatten Sie, daß ich vorangehe.“ 

Herr v. Schroetter wollte fih von Ella verabſchieden, 
aber fie ſagte: „Ich muß auch mitgehen. Der Kaſſierer 
allein kann dieſes Gewölbe ug! öffnen, ebenjowenig 
wie ich.“ 

„Ah!“ machte der Oberregierungsrat. „Alfo dop- 
pelter Verſchluß!“ 

„Sie ſehen,“ erwiderte ſie, „ganz ſo leicht haben 
wir es den Einbrechern doch nicht gemacht.“ 

Sie folgten dem Kaſſierer, der ſie an der Treppe 
erwartete, die in den Keller führte. 

Das Gewölbe mit ſeinen mächtigen eiſernen Türen 
und großen vorgelegten Eiſenſtangen ſchien Herrn 
v. Schroetter völlig zu beruhigen. 

„Das iſt ja beinahe ſo wie in meiner Bank in 
Berlin,“ ſagte er bewundernd. 

„Nun, ganz ſo iſt es freilich nicht. Aber das iſt 
für Czoſtran ja auch nicht nötig.“ 

Sowohl die Tür, die das Kellergewölbe abſchloß, 
als auch die Türen der großen Schränke ſtanden unter 
doppeltem Verſchluß. 

Der Oberregierungsrat war aufs höchſte befriedigt. 


Zwei Stunden ſpäter ſaß der Oberregierungsrat 
im Zuge nach Berlin. Vergnügt rieb er ſich die Hände. 
„Herbert kann mit mir zufrieden ſein,“ murmelte er. 
„Das hätte er nicht beſſer machen können.“ 

Und Herbert war in der Tat hochbefriedigt über 
das Ergebnis von Bötzows Informationsreiſe. Gönner- 
haft klopfte er ihm auf die Schulter. „Was könnteſt 
du leiſten, wenn du nicht ſo furchtbar faul wärſt!“ 

„Ich bin nun mal, wie ich bin,“ verſetzte Kurt. 
„Was haft du nun mit mir vor?“ 


150 Fräulein Bankdirektor. u 


„Zunächſt biſt du frei. Erſt müſſen wir die zweite 
Unterredung mit der Hagemann abwarten.“ 

„Du, das iſt übrigens ein ganz prachtvolles Weib!“ 
rief Kurt. 

„Haſt dich wohl gar verliebt in ſie?“ 

„Bre — nee!“ ſchüttelte ſich Kurt. „Entſetzlicher 
Gedanke, die zu küſſen! Aber weißt du, was ich 
wünſchte?“ 

„Na?“ 

„Daß fie zu uns gehörte. Wir würden einen Drei- 
bund bilden — erſter Klaſſe, was?“ 

„Das wäre ſo übel nicht.“ | 

„Hör mal, kannſt du fie nicht heiraten? Dann 
wäre ſie ja unſer!“ | 

„Laß doch die faulen Witze!“ brummte Herbert. 
„Unſer! Als ob ein Menſch wie ſie unſere Gehilfin 
werden könnte!“ 

„Auch nicht aus Liebe?“ 

„Sogar dann nicht. Bei ihr ganz ausgeſchloſſen.“ 
Herbert ging im Zimmer auf und ab. Plötzlich ſtieß 
er heftig hervor: „Ich hab' es ſchon bereut, daß ich 
die Geſchichte angefangen habe.“ 

„Nanu?“ rief Kurt überraſcht. 

„Wenn ich gewußt hätte, was fie für ein Frauen- 
zimmer iſt — wahrhaftig, ich hätt’ es nicht getan.“ 

Kurt ſprang auf und trat dem noch immer hin und 
her laufenden Freunde in den Weg. „Herbert, was 
iſt das? Ich kenne dich gar nicht wieder. Du — und 
Reue und Mitleid?“ 

„Laß mich!“ wehrte Herbert ſchroff ab. 

Kopfſchüttelnd trat mn beiſeite. Sollte Herdert 
etwa gar — 

Er mußte bei dem Gedanken lachen. Herbert und 
wirkliche Liebe empfinden! 


u Novelle von Fritz Flechtner. 151 


— —— —— — a aa Es — 


Herbert blieb mit einem Ruck ſtehen. Drohend 
blitzten ſeine Augen den Freund an. „Zu lachen gibt 
es hier gar nichts! Haſt du mich verſtanden?“ 

„Aber Herbert, ich bitte dich —“ 

„Schon gut,“ unterbrach ihn dieſer und ſetzte ſein 
Umberwandern fort. Nach einigen Minuten blieb er 
wieder vor Kurt ſtehen und legte ihm die Hände auf 
die Schultern. „Verzeih, lieber Zunge, es war nicht 
ſo ſchlimm gemeint. Aber — ich weiß ſelbſt nicht, was 
mir iſt — — hol's der Teufel! Das Frauenzimmer 
iſt ſo unſentimental wie nur möglich, und mich hat ſie 
ganz ſentimental gemacht.“ Er gab ſich einen Ruck. 
„Ach was! Vorbei! Es iſt angefangen und muß zu 
Ende geführt werden. Wenn ſie dabei zugrunde geht 
— ich kann ihr nicht helfen.“ 


Sonntag morgen fuhr Herbert nach Poſen. Sein 
Zug traf eine halbe Stunde früher ein als der Zug 
aus Czoſtran. Er beſchloß, Ella Hagemann auf dem 
Bahnſteig zu erwarten. Zwei Roſen hielt er in der 
Hand, die er ihr überreichen wollte. 

Als ſie den Zug verließ, trat er mit ausgeſtreckter 
Hand auf ſie zu und begrüßte ſie herzlich. Sie trug 
das gleiche Kleid wie bei ihrem erſten Zuſammentreffen, 
aber ſie hatte eine weiße Spitze vorgeſteckt, die ſie friſcher 
und jugendlicher erſcheinen ließ. Sein ſcharfer Blick 
hatte die Veränderung ſofort bemerkt. 

Als er ihr die Rofen gab, ſtieg eine tiefe Nöte in 
ihr Geſicht. Sie wurde verlegen wie ein junges Mäd- 
chen, das von einem Herrn die erſte Aufmerkſamkeit 
erfährt. 

„Aber ich bitte Sie, Herr Harpers!“ ſagte ſie ſtockend, 
nahm jedoch die Rofen, die fie in der Hand behielt. 


152 Fräulein Bankdirektor. D 


— Ea 


— nen nn Den 


„Eſſen wir wieder bei Mylius?“ fragte er. 

„Ja, gern,“ verſetzte ſie. Noch immer kämpfte ſie 
gegen die Verwirrung, die dieſe einfache Galanterie 
in ihr hervorgerufen hatte. 

„Heute wollen wir aber keinen ſo ſchweren Wein 
trinken,“ ſagte ſie, als ſie im Hotel an demſelben Tiſch 
Platz genommen, an dem ſie das erſte Mal geſeſſen 
hatten. 

Er lächelte. „Wie Sie befehlen. Wollen wir nicht 
gleich ein Glas Sekt?“ 

Sie wehrte entſchieden ab. 

„Es iſt aber am bekömmlichſten, wenn man nicht 
miſcht.“ 

„Ich möchte am liebſten einen ganz leichten Moſel.“ 

Er widerſprach nicht mehr. 

„Sie glauben gar nicht, wie ich mich auf dieſes 
Wiederſehen gefreut habe,“ begann er und ſah ſie mit 
leuchtenden Blicken an. , 

Sie mußte die Augen niederſchlagen. Sie fühlte, 
wie fie wieder rot geworden war. So ſchämte fie fid 
vor ſich ſelbſt, daß ſie am liebſten aufgeſtanden und 
hinausgelaufen wäre. 

„Daß mein Vater ſo ganz einverſtanden iſt mit 
meiner Idee, hat Sie hoffentlich auch gefreut?“ 

„Gewiß — und um ſo mehr, da ich es eigentlich 
nicht erwartet hatte.“ 

„Nicht?“ Er fab fie mit einem Ausdruck des Er- 
ſtaunens an. 

„Ich will ganz offen fein, Herr Harpers. Ich hatte 
geglaubt, Ihr Herr Vater würde Ihre Idee etwas — 
etwas phantaſtiſch finden.“ 

Er lachte luſtig auf. „Mein Vater weiß, bah ich 
kein Phantaſt bin.“ 

„Ja, ja, das mag fein. Aber eine fo völlig un- 


u Novelle von Fritz Flechtner. 153 


bekannte Perſon wie ich — dazu eine Frau in eine ſo 
verantwortungsvolle Stellung —“ 

Er antwortete nichts als: „Mein Vater kennt mich.“ 

Der Kellner brachte den Wein und füllte ihre Gläſer. 
Sie ſtießen miteinander an. 

„Venn Sie meine Bitte um eine nochmalige Unter- 
redung abgelehnt hätten, wiſſen Sie, was geſchehen 
wäre?“ 

„Nun?“ fragte ſie raſch. Aber ſie vermied es, ihn 
anzuſehen. 

„Ich hätte Sie einfach in Ihrem Bureau über- 
fallen.“ 

„Herr Harpers!“ rief fie erſchrocken. 

„Gewiß. Das hätte ich getan. Denn ſprechen mußte 
ich Sie noch einmal vor meiner Abreiſe nach Rußland.“ 

Wieder traf ſie ein Blick, der ſie verwirrte. Aber 
ſie zwang ſich, ganz ruhig zu ſprechen. „Ohne Grund 
hätte ich natürlich nicht abgelehnt. Und wäre ich ver- 
hindert geweſen, fo hätte ich Ihnen ausführlich ge- 
ſchrieben — alles, was Ihr Herr Vater wiſſen will.“ 

„Schriftlich ift es doch nichts Rechtes.“ 

„Warum nicht? Das geht febr gut. Ich kann es 
Ihnen ſogar beweiſen. Ich habe für Ihren Herrn Vater 
meinen Lebenslauf aufgeſetzt, aus dem er alles er- 
ſehen kann.“ 

„Oh, Sie ſind aber wirklich —“ 

Sie wehrte ab. „Das iſt doch eigentlich ſelbſtver⸗ 
ſtändlich. Wenn man ſich um eine Stellung bewirbt, 
muß man, wenigſtens in Oeutſchland, immer ein ſolches 
Schriftſtück einreichen.“ 

„Sich um eine Stellung bewirbt! Wie das klingt!“ 
ſagte er ärgerlich. „Als ob Sie eine kleine Kontoriſtin 
wären!“ 

Sie lachte. „Es iſt doch ſo.“ 


154 Fräulein Bankdirektor. u 


„Nein, es iſt nicht fo,“ verſetzte er trotzig. „Hier 
handelt es ſich nicht um eine Stellung, um die Sie 
ſich bewerben — es täte mir leid, wenn Sie das ſo 
aufgefaßt hätten. Sie ſollen bei uns keine Angeſtellte 
fein wie hundert andere —“ 

„Ich wollte Sie durchaus nicht kränken, Herr Har- 
pers,“ unterbrach ſie ihn. „Und ich glaube auch, ich 
habe ganz richtig erfaßt, um was es ſich handelt. Aber 
ein Angeſtellter bleibt doch ſchließlich auch der erſte 
Leiter eines Geſchäfts, wenn es nicht eben der Beſitzer 
ſelbſt iſt. Ihr Herr Vater urteilt darüber auch viel 
richtiger als Sie; denn er wünſcht ja auch meine 
Gehaltsanſprüche zu erfahren.“ 

„Dacht' ich mir doch, daß Sie das verletzt hat,“ 
ſtieß er hervor. 

„Aber ich verſtehe Sie wirklich nicht, Herr Harpers. 
Es iſt doch die natürlichſte Sache von der Welt, daß 
auch die Geldfrage mit erörtert werden muß.“ 

„Sie wollen mich eben nicht verſtehen!“ 

Haſtig ſtürzte er ein Glas Wein hinunter und ſchenkte 
ſich ſofort wieder ein. 

Kopfſchüttelnd ſah fie ihn an. Sie wußte offenbar 
nicht recht, was ſie von ihm denken ſollte. 

Schweigend verzehrten ſie den nächſten Gang. 

Ihr Geſpräch drehte ſich dann um andere Dinge; 
die ſie ſelbſt berührende Angelegenheit blieb unerörtert. 

Diesmal war es noch nicht zwei Uhr, als ſie ihr 
Mahl beendet hatten. 

„Wie denken Sie über eine etwas längere Spazier- 
fahrt nach außerhalb?“ fragte er. 

„Ich bin ſehr damit einverſtanden. Das Wetter iſt 
ſo prachtvoll. Vielleicht fahren wir nach Unterberg.“ 

Ihr Wagen hatte bald die Stadt verlaſſen und rollte 
auf faſt menſchenleern Wegen dahin. 


u Novelle, von Fritz Flechtner. 


85 


Er bat ſie, ihm einiges über ihr bisheriges Leben 
zu erzählen. Gern entſprach ſie ſeiner Bitte. Flüchtig 
ſtreifte ſie ihre Kindheit, das Leben im Elternhauſe 
und berichtete dann eingehend über die kaufmänniſche 
Ausbildung, die ſie genoſſen, über die verſchiedenartigen 
Tätigkeiten, die ſie ausgeübt hatte, ehe ſie in die leitende 
Stellung eingerückt war. n 

„Sie haben alſo ganz von der Pike auf gedient,“ 
ſagte er. l 

„Ja, und ich bin ſtolz darauf,“ verſetzte fie. 

„Das dürfen Sie auch mit vollem Recht. Wieviel 
Arbeit haben Sie in Ihrem Leben doch ſchon ge- 
leiſtet!ꝰ 

Er ſprach es mit ehrlicher Bewunderung. 

„Oh, die Arbeit war nie ein Zwang für mich, ſie 
iſt meine größte Freude!“ 

Auf ſeine Bitte ſchilderte ſie ihm dann, welcher Art 
ihre jetzige Arbeit war, und um ihm das verſtändlich zu 
machen, mußte ſie auch auf die Organiſation ihrer Bank 
eingehen, auf deren Geſchäfts- und Kundenkreis, und 
feine häufigen Zwiſchenfragen und Bemerkungen zeig- 
ten ihr, mit wie großem Intereſſe und Verſtändnis er 
ihren Ausführungen folgte. Wo die von ihr geſchilderten 
Verhältniſſe weſentlich abwichen von den amerikaniſchen, 
legte er diefe Unterſchiede dar, wobei er insbeſondere 
immer auf die Handhabung der Geſchäfte bei ſeiner 
eigenen Firma einging. 

Sehr verwundert zeigte er ſich beſonders über die 
nach feiner Anſicht ganz unzulänglichen Sicherheits- 
einrichtungen einer deutſchen Provinzbank. „Wenn 
Ihre Bank, wie Sie erwähnten, vor den großen Zahl- 
tagen oft hunderttauſend Mark und mehr in Bargeld 
liegen hat, ſo iſt das doch eigentlich, nehmen Sie mir's 
nicht übel, ein großer Leichtſinn. Bei uns würden 


156 Fräulein Bankdirektor. o 


jedenfalls ganz andere Vorkehrungen getroffen werden, 
um einen Einbruch unmöglich zu machen.“ 

Sie verteidigte die Einrichtungen ihrer Bank, ſuchte 
ihm zu beweifen, daß eine Beraubung wohl als aus- 
geſchloſſen betrachtet werden könne. 

Aus einer inneren Weſtentaſche holte er ein kleines 
Lederetui hervor, öffnete es und entnahm ihm eine 
Anzahl ſeltſam geformter Schlüſſel. „Ich offenbare 
Ihnen jetzt eines der wichtigſten Geheimniſſe unſerer 
Firma,“ ſagte er beinahe flüſternd. „Dies hier ſind 
die Schlüffel zu den Gewölben und Schränken, in denen 
wir unfere Vorräte an Bargeld und Wertpapieren auf- 
bewahren. Haben Sie etwas Ahnliches ſchon geſehen?“ 

Sie zögerte, offenbar im Zweifel, ob er in ſeinem 
Vertrauen zu ihr nicht zu weit ging. 

„Nehmen Sie unbedenklich,“ ſagte er. „Sie werden 
dieſe Schläffel doch einſt zur Verwahrung bekommen. 
Darum darf ich ſie Ihnen heute ſchon zeigen.“ 

Mit leiſer Stimme, damit der Kutſcher nichts hören 
konnte, erklärte er ihr die Konſtruktion, die ſo raffiniert 
erdacht war, daß kein Räuber, ſelbſt wenn er alle Schlüſſel 
im Beſitz hatte, imſtande geweſen wäre, die Schlöſſer 
zu öffnen, wenn er nicht das eigentliche Geheimnis 
kannte. 

„Dieſes Geheimnis,“ ſagte er, „iſt ein einziges Wort, 
deſſen Kenntnis allein wie das „Seſam, öffne dich!“ 
des Märchens den Eingang zu unſeren Kaſſenſchätzen 
ermöglicht. Dieſes Zauberwort dürfen nur die Men- 
ſchen kennen, denen die Schlüſſel anvertraut ſind. Das 
ift bei uns: mein Vater oder fein Stellvertreter, unfer 
Häuptkaſſierer und ich. Von Zeit zu Zeit wird ein 
anderes Wort gewählt, und immer bedarf es zweier 
Perſonen, die beide das Wort kennen müſſen.“ 

Sie ſprach ihre unverhohlene Bewunderung aus. 


o Novelle von Fritz Flechtner. 157 


Während er die Schlüſſel ſorgfältig verwahrte, ſagte 
er: „Auch bei den deutſchen Banken iſt es ja wohl 
üblich, daß die Schlöſſer der Geheimſchränke nur ge- 
öffnet werden können, wenn der Mechanismus auf 
irgend ein beſtimmtes Wort eingeſtellt iſt; aber dieſes 
Syſtem, das ſicherlich auch bei Ihrer Bank beſteht, 
wird, wie Sie ſelbſt zugeben werden, von dem unſerigen 
weit übertroffen.“ 

„Wir haben nicht einmal dieſes Syſtem bei uns 
eingeführt,“ verſetzte fie. „Anſere Gewölbe haben 
natürlich, auch doppelten Verſchluß und können nur 
geöffnet werden, wenn zwei Perſonen gleichzeitig ihre 
Schlüſſel dazu benützen.“ 

„Wenn aber kein geheimer Mechanismus damit 
verbunden iſt,“ unterbrach er ſie, „ſo kann ja ein Räuber, 
dem es gelingt, ſich die doppelten Schlüffel zu ver- 
ſchaffen, ohne weiteres auch Ihre Gewölbe öffnen.“ 

„Nun, ſo ohne weiteres doch nicht. Zunächſt müſſen 
es zwei Räuber ſein, denn einer allein kann auch mit 
doppelten Schlüſſeln nicht öffnen, und dann müßten 
die Räuber ſich doch erſt in den Beſitz dieſer Schlüſſel 
ſetzen —“ 

„Was mit Gewalt oder Liſt kein Ding der Unmög- 
lichkeit wäre,“ fiel er ein. 

„Sie legen immer amerikaniſche Verhältniſſe zu- 
grunde, rechnen mit Einbrechern größten Stils, die 
wir in unſerer Kleinſtadt Gott ſei Dank noch nicht 
haben.“ 

„Sie mögen recht haben. Mir ſind die deutſchen 
Verhältniſſe nicht bekannt genug, um darüber zu ur- 
teilen. Ich bin kein Mann der blaſſen Furcht, das 
werden Sie mir wohl glauben; aber ich muß doch ſagen: 
wenn ich, wie Sie es tun, vor den großen Abrechnungs- 
tagen allein mit dem Kaſſierer, nur von einem Wächter 


— 


158 Fräulein Bankdirektor. 2 


behütet, die Nacht verbringen folte, ich würde ein 
Gefühl der Unruhe nicht loswerden.“ 

Sie lachte. „Sie ſtellen ſich das alles viel ſchlimmer 
vor, als es iſt. Erſtens kommt es faſt nur vor den 
Quartalsſchlüſſen vor, daß wir ſo viel Geld liegen haben, 
und dann haben wir in dieſen Nächten ſo viel Arbeit, 
daß ſolche furchtſamen Gedanken gar nicht kommen.“ 

„zich würde mir dann wenigſtens zu meinem per- 
ſönlichen Schutz einen großen Hund halten, eine mäch- 
tige Dogge, auf den Mann dreſſiert — 

Lachend fiel fie ein: „Vielleicht ſchaff' ich mir ſolches 
Tier einmal an, wenn ich recht viel überflüſſiges Geld 
habe. Bis dahin muß mein Revolver mir genügen.“ 

Damit wurde dieſer Gegenſtand verlaſſen, und ihre 
Unterhaltung wandte fih der Frage zu, ob die geteilte 
oder durchgehende Arbeitszeit zu bevorzugen wäre, 
wobei er alles erfuhr, was er über die bei ihrer Bank 
beſtehende Regelung zu wiſſen wünſchte. 

Plötzlich — mitten in einem Satz — brach Harpers 
ab und ſagte: „Sie ſchrieben mir, daß Sie eine Photo- 
graphie mitbringen wollten. Das hätte ich beinahe 
ganz vergeſſen.“ 

Sie nickte, griff in ihr Handtäſchchen und zog ein 
Viſitbild hervor. „Kabinett habe ich leider nicht. e 
vielleicht wird das auch genügen.“ 

Er nahm das Bild und ſah es lange an. „Mein 
Vater wird einen ganz falſchen Eindruck bekommen,“ 
ſagte er endlich. 

„Vieſo?“ 

„Das Bild taugt nichts. Wie das bei den meiſten 
Bildern der Fall iſt. Die ganze Photographie iſt ein 
Anſinn. Das Außere kann fie im beſten Falle richtig 
wiedergeben, aber die Hauptſache nicht — den Cha- 
rakter.“ 


2 Novelle von Fritz Flechtner. 159 


Sie antwortete nicht. 

Beinahe heftig fuhr er fort: „Was ſoll nun mein 
Vater denken, wenn er dies Bild ſieht? Kann er viel- 
leicht eine Vorſtellung von Ihnen bekommen? — Aus- 
geſchloſſen.“ Wieder beſah er das Bild prüfend. „Ich 
werde es ihm gar nicht ſchicken.“ Mit dieſen Worten 
holte er feine Brieftaſche hervor und wollte die Photo- 
graphie hineinlegen. 

„Venn Sie das Bild nicht abſchicken wollen, möchte 
ich es aber zurück haben.“ Sie ſtreckte die Hand aus, 
doch er hielt das Bild feſt. 

Seine Stimme hatte einen veränderten Klang, als 
er nun ſagte: „Ich möchte Sie bitten, es behalten zu 
dürfen — als Erinnerung an Poſen.“ 

„Was haben Sie von dem Bilde, wenn es ſo 
ſchlecht iſt?“ 

„Für mich iſt es nicht ſchlecht. Ich weiß ja, wie 
Sie find, und was dem Bilde fehlt, kann ich mir er- 
gänzen. Das kann aber mein Vater nicht.“ 

Sie zögerte mit der Antwort. 

„Finden Sie meine Bitte ſo unbeſcheiden?“ 

Sie verneinte, ohne zu ſprechen. 

„Dann laſſen Sie mir's, bitte! Es wird mir eine 
liebe Erinnerung bleiben. Nur Ihren Namen dar- 
auf und das Datum — das würde ich noch gern 
haben.“ 

Eine unbeſtimmte Angſt erfüllte ſie, gemiſcht mit 
einem Gefühl, das ſie heute ſchon mehrfach empfunden 
hatte und ihr doch bisher völlig fremd geweſen war. 

Mit äußerſter Willensanſpannung gelang es ihr, 
ruhig zu erwidern: „Wenn Ihnen ſo viel daran liegt, 
fo behalten Sie es. Meinen Namen will ich gern dar- 
auf ſchreiben, wenn wir in Unterberg ſind.“ 

„Ich danke Ihnen.“ Er hatte ihre Hand ergriffen 


160 Fräulein Bankdirektor. o 


und, ehe fie es verhindern konnte, einen Kuß darauf 
gepreßt. 

Sie entriß ſie ihm ſchroff. „Laſſen Sie das! Ich 
liebe ſo etwas nicht!“ 

„Womit hab' ich Sie verletzt?“ fragte er. 

„Ich wünſche ſolche Galanterien nicht.“ 

Ein wenig gereizt erwiderte er: „Es iſt mir neu, 
daß ein Handkuß in Oeutſchland als en an- 
geſehen wird.“ 

„Es kommt ganz auf die Umſtände an.“ 

„Verzeihen Sie mir, es war nicht ſchlimm gemeint.“ 

In Unterberg, einem der beliebteſten Ausflugsorte 
für die Poſener, herrſchte großer Trubel, als fie an- 
kamen. Und immer neue Scharen brachten die Extra- 
züge, die heute am Sonntag verkehrten. 

„Es hat wohl keinen Zweck, uns hier zu ſetzen.“ 

Er gab ihr recht. 

„Das beſte wird ſein, wir kehren ſofort wieder um,“ 
fuhr ſie fort. 

Er zog die Uhr. „Es iſt erſt drei Ahr. Wir haben 
noch viel Zeit. Die Pferde werden auch etwas ausruhen 
müſſen. Können wir nicht ein Stück ſpazieren gehen?“ 

„Ja, das können wir.“ 

Er gab dem Kutſcher Anweiſung, ſich in ſpäteſtens 
einer Stunde bereitzuhalten, dann folgte er ihr, die 
langſam vorangegangen war. 

Schweigend ſchritten ſie durch den Wald nach dem 
Fluſſe hin, an deſſen Ufern ſie entlang wanderten, bis 
der Lärm aus dem Vergnügungslokal faſt unhörbar 
verklang. 

„Wollen wir uns nicht etwas ſetzen?“ fragte er. 

Sie ſtimmte zu. 

Ganz dicht am Waſſer ſaßen ſie und hörten dem 
Plätſchern der Wellen zu. Tiefe Stille herrſchte. 


o Novelle von Fritz Flechtner. 161 

„Fräulein Hagemann, ich ſagte Ihnen ſchon heute 
mittag, ich wollte und mußte Sie noch einmal ſprechen, 
ehe ich nach Rußland fuhr. Ich habe Ihnen etwas 
zu ſagen, was ſich ſchriftlich nicht mitteilen läßt.“ 

Sie wollte aufſtehen, aber er ergriff ihre Hand und 
hielt fie trotz ihres Sträubens feſt. „Fräulein Hage- 
mann, Sie müſſen mich anhören, ein paar Minuten 
nur! — Als ich den erſten Brief an Sie ſchrieb, tat 
ich es nur im Intereſſe unſeres Geſchäfts. Ich hoffte, 
die Perſönlichkeit zu finden, die wir brauchen. Aber 
als wir dann in Poſen zuſammen waren, da — ich 
weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären ſoll — da wurde 
mein Intereſſe immer mehr ein perſönliches; ich dachte 
kaum noch an das Geſchäft, nur noch an mich ſelbſt. 
Ich ſah Sie nicht mehr als die angeſtellte Beamtin 
unſeres Haufes, ich fab Sie —“ 

„Hören Sie auf, Herr Harpers!“ rief ſie und riß 
ſich los. „Ich habe Sie auch achten gelernt, aber daß 
Sie nun Fhren Spott treiben —“ 

Sie ſtürzte davon, quer durch den Wald zurück. Er 
eilte ihr nach und hatte ſie bald erreicht. Er faßte 
ihren Arm, doch ſie entriß ſich ihm wieder, blieb aber 
vor ihm ſtehen. Keuchend ging ihr Atem. | 

„Rühren Sie mich nicht an!“ rief fie. 

Ruhig und langſam, jedes Wort ſorgſam betonend, 
ſagte er: „Fräulein Hagemann, glauben Sie wirklich, 
daß ich Spott treiben will? Mit Ihnen? Sehen Sie 
mich doch an — ſagen Sie es mir ins Geſicht!“ 

Sie rang nach Atem, verſuchte zu ſprechen, brachte 
aber kein Wort heraus. 

„Fräulein Hagemann, jetzt wiſſen Sie, was ich 
Ihnen zu ſagen hatte. Aber ich will Sie nicht quälen. 
Sie brauchen mir heute nicht zu antworten, ich will 
Ihnen Zeit laſſen. Wenn ich aber zurückkomme und 

1913. XI. 11 


162 Fräulein Bankdirektor. o 


wieder vor Sie hin trete, wollen Sie mir dann offen 
und ehrlich Antwort geben?“ 

Er hatte ihre beiden Hände gefaßt, zitternd lagen 
ſie in den ſeinen, doch ſie entzog ſie ihm nicht. 

„Wollen Sie, Fräulein Hagemann?“ 

Ein faſt unhörbares „Ja“ war alles, was ſie ſagen 
konnte. 

Schweigend gingen ſie zurück. 

„Sie wollen jetzt wohl lieber allein ſein?“ fragte 
er, als die Station vor ihnen lag. 

Sie nickte. 

„Wollen Sie den Wagen nehmen?“ 

„Ich fahre lieber mit der Bahn.“ 

„So leben Sie denn wohl und — auf Wiederſehen!“ 

„Auf Wiederſehen!“ wiederholte fie mechaniſch. 

Er ſprang in den Wagen, die Pferde zogen an; 
noch ein letztes Grüßen, dann ging ſie langſamen 
Schrittes dem Bahnhof zu. 

Nichts um ſich ſah und hörte ſie; wie losgelöſt von 
der Erde kam ſie ſich vor, wie empfindungslos gegen 
jeden Schmerz und jede Freude. 


Es war am Sonnabend, den 29. September, mittags 
gegen ein Uhr, als ein Automobil im ſchnellſten Tempo 
auf Czoſtran zuflog. Darin ſaß der Oberregierungs- 
rat v. Schroetter. Vor dem Bankgebäude hielt er, 
ſprang heraus und ſtand einige Minuten ſpäter in 
dem Zimmer der Leiterin. 

„Verzeihen Sie, mein gnädiges Fräulein — ich bin 
in furchtbarer Eile. Das Geſchäft iſt perfekt geworden, 
aber die Anzahlung muß bis morgen vormittag ſpä— 
teſtens zehn Uhr geleiſtet ſein, und zwar in Bargeld — 
können Sie das noch ermöglichen?“ 


u Novelle von Fritz Flechtner. 163 


Fräulein Hagemann ſah nach der Uhr. „Die Poſener 
Oſtbank wird um drei Uhr geſchloſſen. Ein Zug geht 
jetzt nicht —“ 

„Ich habe ein Automobil.“ 

„Wie lange fahren Sie nach Poſen?“ 

„Höchſtens anderthalb Stunden.“ 

„Dann iſt es gut.“ Sie klingelte. 

„Sie würden mir den größten Gefallen tun,“ rief 
er. „Es iſt noch ein anderer Käufer da, der auf das 
Gut reflektiert, und wenn die Anzahlung nicht recht- 
zeitig geleiſtet wird, ift das Geſchäft rückgängig gemacht.“ 

Der Kaſſierer trat ein. „Wir müſſen ſofort einen 
Scheck auf die Oſtbank ausſtellen über —“ 

Sie ſah Schroetter an. 

„Über ſechzigtauſend Mark, wenn ich bitten darf. 
So hoch iſt die Anzahlung.“ 

„Alfo über ſechzigtauſend Mark. Laſſen Sie die 
Oſtbank telephoniſch benachrichtigen, daß das Geld noch 
heute nachmittag vor drei Ahr abgehoben wird. — So, 
und nun wollen wir das Paket mit den Wertpapieren 
holen.“ 

Bald erſchien Fräulein Hagemann wieder, das 
Paket im Arm haltend. Ein Beamter folgte ihr. Die 
Verſchnürung wurde gelöft, worauf die Papiere þer- 
ausgenommen wurden. 

„Haben Sie ein Verzeichnis mit?“ fragte ſie den 
Oberregierungsrat. 

„Jawohl.“ Seiner Bruſttaſche entnahm er einen 
ſorgſam verſiegelten Umſchlag, ſchnitt ihn auf und über- 
gab Ella das Verzeichnis. 

Dieſe war inzwiſchen beſchäftigt geweſen, die Pa- 
piere durchzuſehen. „Ich kann die Zinsbogen nicht 
finden,“ ſagte ſie. 

„Zinsbogen?“ fragte Schroetter erſtaunt. 


164 Fräulein Bankdirektor. o 


„Gewiß,“ verſetzte fie ungeduldig. „Ohne fie find 
die Papiere für uns wertlos.“ 

Schroetter ſchrak zuſammen. „Die Zinsbogen — 
ja, die habe ich in Berlin. Ich glaubte, es genügten 
die Papiere ſelbſt —“ 

Argerlich ſchob Ella das Paket beiſeite. „Es tut 
mir febr leid, aber unter dieſen Umftänden können wir 
Ihnen den Scheck natürlich nicht geben.“ 

„Aber um Gottes willen!“ rief der Oberregierungs- 
rat verzweiflungsvoll. „Ich will ja die Zinsbogen fo- 
fort beſorgen — ich fahre noch heute nach Berlin — 
und morgen früh find die Bogen in Ihrem Beſitz.“ 

„Das nützt uns leider nichts. Die Ausſtellung des 
Schecks kann erſt erfolgen, wenn Mäntel und Zinsbogen 
uns ordnungsmäßig übergeben find.“ 

Schroetter rannte ſtöhnend umher. „Gibt es denn 
keinen Ausweg — keine Möglichkeit? Es genügt ja, 
wenn ich das Geld morgen früh in Händen habe.“ 

„Aber Sie brauchen doch Bargeld; der Scheck muß 
alſo heute noch eingelöſt werden.“ 

„Könnten Sie nicht den Scheck durch einen Beamten 
Ihrer Bank in Poſen einlöſen und den Betrag hier 
deponieren bis morgen früh?“ 

„Das wäre die einzige Möglichkeit.“ 

„In dieſem Falle läuft Ihre Bank doch gar kein 
Riſiko. Sie händigen mir das Geld ja erſt morgen 
früh aus, wenn ich Ihnen die Zinsbogen bringe.“ 

Sie fab nach der Uhr. „Ich will Ihnen den Ge- 
fallen tun, obwohl wir unſere Beamten heute ſehr 
dringend brauchen.“ 

„Mein Automobil ſteht zu Ihrer Verfügung.“ 

Ella gab die erforderlichen Anweiſungen, und bald 
war ein Beamter unterwegs nach Poſen. 

Unter den lebhafteften Dankesbezeigungen ver- 


2 Novelle von Fritz Flechtner. 165 


abſchiedete ſich der Oberregierungsrat, um nach Berlin 
zu fahren und die Zinsbogen zu holen. Die Übergabe 
des Geldes ſollte am Sonntag früh acht Uhr erfolgen. 


Es war am Abend des gleichen Tages gegen zehn 
Uhr, als wieder ein Automobil die von Poſen nach 
Czoſtran führende Straße herangerattert kam. Der 
Inſaſſe des offenen Wagens lehnte eingemummt in 
einer Ecke und fluchte über die Hagelſchauer, die der 
Sturmwind ihm ins Geſicht peitſchte. „Gott fei Dant, 
daß wir nachher nicht mehr gegen den Wind fahren,“ 
murmelte er vor ſich hin. 

In langſamerem Tempo fuhren ſie in Czoſtran 
ein. Kurz vor dem Hotel zum ſchwarzen Adler 
trafen fie zwei Herren, die ſich durch den Wind vor- 
wärts kämpften. 

Der Chauffeur fühlte ſich zweimal mit der Krücke 
eines Stockes berührt. Das hieß: Ganz langſam fahren, 
dann halten. 

„Guten Abend, Herr Amtsrichter!“ rief der Herr 
im Auto. 

Die beiden Herren blieben pruſtend ſtehen und 
ſuchten die Finſternis zu durchdringen. 

„Sie kennen mich wohl nicht?“ kam es lachend aus 
dem Auto. 

„Ah, Herr Oberregierungsrat!“ rief der Amtsrichter. 
„Wo kommen Sie denn ſo ſpät her?“ 

„Von Poſen. Gutskauf abgeſchloſſen.“ 

„So — gratuliere. Rommen Sie nach dem Adler?“ 

„Habe nur noch kurze Beſprechung mit Fräulein 
Hagemann. In einer halben Stunde bin ich im Adler. 
Belegen Sie mir einen recht molligen Platz!“ Wieder 
gab er dem Chauffeur mit dem Stock ein Zeichen, und 


166 Fräulein Bankdirektor. o 


weiter ging die Fahrt. Raum hörte er noch die Ant- 
wort des Amtsrichters: „Wird beſorgt.“ 

Wenige Minuten ſpäter hielt das Automobil vor 
der Bank. 

Schroetter zog die Klingel. Ein Spalt öffnete ſich, 
und eine Stimme fragte, wer da wäre. 

„Ich möchte Fräulein Hagemann ſprechen.“ 

„Das Geſchäft iſt geſchloſſen.“ 

„Es iſt eine dringende Angelegenheit.“ 

„Um dieſe Zeit darf niemand mehr die Bank be- 
treten.“ 

„Aber ein Aufſchub iſt ganz unmöglich. Kennen 
Sie mich denn nicht? Ich bin der Oberregierungsrat 
v. Schroetter.“ 

„Tut mir ſehr leid, Herr Oberregierungsrat, aber 
ich darf nicht gegen meine Inſtruktion handeln.“ 

„Dann werden Sie ſofort dieſe Karte Fräulein 
Hagemann bringen,“ klang eine andere Stimme. 

Der Chauffeur war abgeſtiegen und reichte eine 
Karte hinein. Der Mann drinnen nahm die Karte 
und ließ den Spalt wieder zufallen. 

Während er die Treppe hinaufſtieg, las er: „Fred 
Harpers, Cincinnati.“ Und auf der Rückſeite mit Blei- 
ſtift die Worte hingeworfen: „bittet dringend um 
einige Augenblicke Gehör.“ 

Während der Mann nach oben ging, flüſterte Her- 
bert, der die Rolle des Chauffeurs ſpielte, dem ande- 
ren zu: „Alſo mach raſch. Ich halte mich nicht 
lange auf.“ 

Bald erklangen Schritte, ein Schlüſſel wurde um- 
gedreht, und die Haustür ging auf. 

Der Chauffeur trat ein. 

„Laß mich nicht zu lange warten,“ rief Kurt. „Es 
iſt ja ein Hundewetter.“ 


o Novelle von Fritz Flechtner. 167 


„Wollen denn der Herr Oberregierungsrat nicht 
mit nach oben gehen?“ 

„Nein, ich bleibe unten. Aber wenn ich für ein paar 
Minuten ins Haus treten könnte, wäre es mir ſehr lieb.“ 

Der Wächter zögerte. Es war gegen feine Zn- 
ſtruktion, das zu geſtatten; aber da der Begleiter noch 
empfangen wurde zu einer Stunde, in der ſonſt nie- 
mand mehr Zutritt fand, tat er wohl kein Unrecht, dem 
Herrn Oberregierungsrat den Eintritt zu geſtatten. 

„Wie lange ſoll ich denn noch hier warten?“ fragte 
Herbert ſchroff. 

Der Wächter trat zurück, damit Bötzow eintreten 
konnte, und ſchloß hinter ihm die Tür. „Verzeihen 
Sie nur einen Augenblick.“ Damit ging er Herbert 
voran die Treppe hinauf. 

Bald war er zurück und bat den vermeintlichen 
Oberregierungsrat, in ſein Zimmer einzutreten. 

Es war behaglich warm in der kleinen Stube. 

„Wollen Herr Oberregierungsrat nicht den Mantel 
ablegen?“ 

„alt nicht nötig. Lange wird die Unterredung ja 
da oben nicht dauern. Und ich bin ganz durchgefroren.“ 
Er ſtellte ſich an den Ofen. „Haben Sie nicht einen 
ordentlichen Schnaps, ſo einen alten Korn — was? 
Das wäre ein Labſal!“ 

„Sonſt wohl, Herr Oberregierungsrat. Aber vor 
den großen Zahltagen darf ich nichts trinken, und um 
nicht in Verſuchung geführt zu werden, ſchaff' ich vorher 
alles beiſeite.“ 

„Schade, ſehr ſchade! Hätte gern was Ordentliches 
zum Erwärmen gehabt. Aber, halt, ich muß doch noch 
ſelbſt etwas bei mir haben.“ Er durchſuchte ſeinen 
Mantel und fand ſchließlich ein Fläſchchen, das noch 
zu einem Drittel gefüllt war. 


168 Fräulein Bankdirektor. a 


„Großartig! Schnell Gläſer her!“ 

Der Wächter brachte ein Gläschen. 

„Na, für Sie doch auch eins!“ 

Der Wächter wehrte ab. „Nein, Herr Oberregie- 
rungsrat, ich darf wirklich nicht.“ 

„Auf meine Verantwortung können Sie es ſchon 
tun. Ich verrate Sie nicht. Ein Glas wird Sie nicht 
umwerfen. Alſo los — fix, fix!“ 

Der Widerſtand war bald gebrochen. Das zweite 
Gläschen kam. | 

Kurt entkorkte die Flaſche und ſchenkte ein. Ehe 
er das zweite Glas eingoß, hielt er die Flaſche gegen 
das Licht, als wollte er ſehen, ob noch genug drin wäre, 
dann drehte er ſie unbemerkt um. 

„Na, dann proſit!“ 

Beide hatten ihre Gläſer geleert. ä 

„Was — das iſt ein Schnäpschen?“ rief der ver- 
meintliche Oberregierungsrat. „Der hat Feuer!“ 

Der Wächter ſchnappte und ſchluckte. „Donner— 
wetter!“ brachte er endlich heraus. 

„Na, noch einen?“ | 

„Nein, nein,“ wehrte der ab. „Ich habe — ich weiß 
nicht — er war wohl — zu ſtark — ich — —“ 

Bötzow fing den Sinkenden auf und ließ ihn auf 
die Erde gleiten. 

„So, der hat ſein Teil!“ 

Wenige Minuten ſpäter ertönte ein ſchrilles Glocken- 
zeichen. Bötzow eilte hinaus, die Treppe hinauf in 
die ihm wohlbekannten Bureauräume. 


Ella Hagemann hatte nach Empfang der Karte den 
mit ihr arbeitenden Kaſſierer gebeten, fie einige Mi- 
nuten allein zu laſſen. 


a Novelle von Fritz Flechtner. 169 


Als Harpers eintrat, ſchritt ſie ihm raſch entgegen. 

„Vas iſt paſſiert?“ rief ſie. 

„Mein Vater iſt plötzlich geſtorben. Heute früh er- 
hielt ich in Warſchau das Telegramm. Zd muß fo- 
fort zurück. Wann ich wiederkommen werde, weiß ich 
nicht. Deshalb wollte ich noch Abſchied nehmen von 
Ihnen.“ 

Ella reichte ihm wortlos ihre Hand. Der kräftige Oruck 
ſagte ihm, was fie alles in dieferi Augenblick empfand. 

„Eine Bitte habe ich noch,“ fuhr Harpers fort. 
„Mein Bargeld reicht nicht. Vor meiner Abreiſe aus 
Varſchau konnte ich nichts mehr abheben, und morgen 
ſind die Banken geſchloſſen.“ 

„Wieviel brauchen Sie?“ fragte ſie. 

„Fünftauſend Mark etwa. Ich übergebe Ihnen 
dafür dieſen Kreditbrief.“ Er entnahm feiner Brief- 
taſche ein Papier und überreichte es ihr. „Sie ſehen, 
es lautet noch über mehr als zehntauſend Mark.“ 

Ella warf einen flüchtigen Blick in das Schriftſtück 
und legte es auf den Tiſch. „Ich ſtelle Ihnen gern 
den vollen Betrag des Kreditbriefes zur Verfügung,“ 
ſagte ſie. 

„Ich danke Ihnen. Fünftauſend Mark genügen 
mir.“ Sie gab das Klingelzeichen. Dann öffnete ſie 
ein Geheimfach ihres Schreibtiſches und entnahm ihm 
eine Anzahl ſeltſam geformter Schlüſſel. 

Der Kaſſierer trat ein. „Haben Sie Ihre Schlüſſel 
bei ſich?“ rief ſie ihm entgegen. 

„Sie liegen in meinem Zimmer.“ 

„Holen Sie ſie, bitte. Dieſer Herr bekommt ſofort 
fünftauſend Mark.“ 

Der Kaſſierer ſah ſie verwundert an, fragte aber 
nichts, ſondern holte die Schlüſſel und eilte Ella nach. 
Harpers folgte ihnen bis zum Eingang des Gewölbes. 


170 Fräulein Bankdirektor. a 


Als das Geld übergeben war und Leiterin und 
Kaſſierer eben begannen, die Eingangstüren zu ver- 
ſchließen, ſagte Harpers, feine Uhr ziehend: „Ich muß 
fort, ſonſt erreiche ich den Nachtzug nicht mehr. Dürfte 
ich noch ein paar Worte mit Ihnen ſprechen, Fräulein 
Hagemann?“ 

„Erwarten Sie mich hier,“ ſagte ſie zu dem Kaſſierer 
und führte Harpers in das nächſtgelegene Zimmer. 

„Fräulein Hagemann,“ begann er, „ich ſagte be- 
reits: Ich weiß nicht, wann ich zurückkommen werde. 
Es kann Monate dauern, ehe alles geordnet iſt. So 
lange aber möchte ich nicht warten auf Ihren Beſcheid. 
Wollen Sie mir ſchreiben, ſobald Sie zu einem Ent- 
ſchluß gekommen ſind?“ 

„Das will ich tun,“ verſetzte ſie. „Und nun, Herr 
Harpers, leben Sie wohl!“ 

Sie ſtreckte ihm beide Hände entgegen. 

Da riß er ſie an ſich, und ſie gab willenlos nach. 
Ihre heißen Lippen zuckten den ſeinen entgegen. 

Da fühlte ſie, wie etwas in ihren Mund gepreßt 
wurde, ſie ſah ſeine Augen über ſich, und mit Entſetzen 
ſtarrte ſie in grimmig verzerrte Mienen. Dann preßte 
ſich etwas gegen ihr Geſicht, wie giftige Gaſe ſtieg es 
vor ihr auf. Mit der Kraft der Todesangſt ſuchte ſie 
ſich ihm zu entwinden, aber wie mit Schrauben hielten 
ſeine Arme ſie umklammert — und mehr und mehr 
ſchwand ihr Bewußtſein dahin. 

Herbert legte die Ohnmächtige auf die Erde und 
nahm ihr den Knebel aus dem Munde. Dann eilte er 
zu dem Kaſſierer. 

„Kommen Sie raſch,“ rief er ihm zu, „Fräulein 
Hagemann iſt ohnmächtig geworden.“ 

Der Kaſſierer eilte mit einem Schreckensruf herbei 
und drückte haftig auf die Klingel, die zu dem Wächter 


2 Novelle von Fritz Flechtner. 171 


führte. Dann kniete er bei der wie leblos daliegenden 
Geſtalt nieder. 

Im nächſten Augenblick fühlte er ſich von hinten 
umklammert, und ein Knebel ward ihm in den Mund 
geſtoßen. 

„So, mein Zunge,“ ſagte Herbert, „nun nicht ge- 
muckſt!“ 

Der Kaſſierer warf ſich trotz des vorgehaltenen 
Revolvers auf Herbert, der die Schußwaffe fortichleu- 
derte, um keinen unnötigen Lärm zu machen, und ſeinen 
Gegner umſchlang. 

In dieſem Augenblick trat Bötzow ein und ſtürzte 
ſich auf die Kämpfenden. Als der Kaſſierer an Stelle 
des erwarteten Wächters den vermeintlichen Ober- 
regierungsrat erblickte, ſah er, daß alles verloren war. 
Sein Widerſtand ließ einen kurzen Augenblick nach, 
und gleich darauf war er an Händen und Füßen ge- 
feſſelt. 


Eine halbe Stunde ſpäter war alles, was ſich an 
Geld und abſetzbaren Wertpapieren in dem Gewölbe 
befand, in den Händen der Räuber. Ihre Taſchen 
waren ſtrotzend voll, und mehrere Pakete hatten ſie 
ſich um den Leib gebunden, verborgen unter ihren 
langen Mänteln. 

Einige Augenblicke horchten ſie an der Haustür. 
Alles ſchien ruhig. 

Aber gerade als ſie die Straße betraten, kamen um 
die Ecke zwei Herren. 

„Nanu,“ rief der eine, „wer hat denn hier noch ſo 
ſpät zu tun?“ 

„Wird wohl der Oberregierungsrat ſein. Der Amts- 
richter erzählte ja davon.“ 

Herbert brachte die Maſchine in Gang. Als Kurt 


172 Fräulein Bankdirektor. g o 


die Tür des Autos aufriß, um einzufteigen, fiel ein 
mit Geld gefüllter Sack zur Erde. Der dumpfe Klang 
machte die beiden Herren mißtrauiſch. 

„Holla, da iſt was nicht in Ordnung!“ rief der 
eine und ſprang auf den Wagen zu. 

Kurt bückte ſich und ergriff den Sack, da fühlte er 
ſich feſtgehalten. Er ſchwenkte den Sack durch die Luft 
und ließ ihn mit ſolcher Wucht auf den Kopf ſeines 
Angreifers fallen, daß dieſer taumelnd zurückfuhr. 

Aber ein wuchtiger Hieb, von dem anderen mit 
ſeinem Stock geführt, traf Kurt; er wankte, hatte aber 
noch die Kraft, in den Wagen zu ſpringen. Mit einem 
Satz war auch Herbert auf ſeinem Sitz, und das Auto 
raſte davon. Die offengebliebene Tür zerſplitterte 
am nächſten Laternenpfahl. 


Drei Tage darauf wurde Ella Hagemann begraben. 
Sie hatte ſich ſelbſt den Tod gegeben, nachdem ſie einen 
genauen Bericht über alles, was mit dem Raube zu- 
ſammenhing, niedergeſchrieben hatte. 


50 
+ 


Die mittelalterlichen Totentänze. | 
von Wilhelm Liſcher. 


Mit 11 Sildern y 
nach Merian. 
Die bildliche Darftellung des ſieghaften Todes, der 
die Menſchen tanzend und muſizierend zu Grabe 
geleitet, iſt eine Folge der auf das 12. Jahrhundert 
zurückgreifenden, weit älteren pantomimiſchen und dra- 
matiſchen „Totentänze“, deren älteſter die „Danza 
generale de la muerte“ ift. Bekanntlich zählen letztere 
in ihrer derbſten Form zum eiſernen Repertoire unſerer 
Kaſperletheater. Je luſtiger und witziger hier der Tod 
erſcheint, deſto größer iſt ſein Erfolg. 

Es liegt klar auf der Hand, daß die gewaltigen Wir- 
kungen der Todespantomimen den älteren Malern 
Anreiz genug boten, das grauſige Motiv künſtleriſch 
zu verwerten. Im gewiſſen Sinne dürfen wir in 
den Totentänzen des 15. Jahrhunderts eine ziem- 
lich energiſche Betätigung der freien Profankunſt er- 
blicken. Beweiſe für dieſe Behauptung fehlen uns, 
da die Forſchung über die Urſachen, die diefe „Rich- 
tung“ aufkommen ließen, verſagt. Man iſt hier nicht 
viel weiter, als man vor zweihundert Jahren war. 
Wir wiſſen nur, daß die „Danse macabre“, von der 
Jehan Le Fevre 1576 nach feiner Geneſung von einer 
ſchweren Krankheit ſingt: „Je fis de macabree la dance“ 
von einem Maler namens Macabree ſtammt, nach 
dieſem und nicht nach dem hebräiſchen machabee (Grab) 


(nachoͤruck verboten.) 


174 Die mittelalterlihen Totentänze. 2 


benannt fei, und daß die Klein-Baſler Totentänze nicht 
aus dem Jahre 1312, ſondern erft aus der Zeit ſtammen, 
in der die Mauern, an denen ſie ſich befanden, gebaut 
und getrocknet waren. Und das war erft im Jahre 1438. 

Erwieſen iſt ſomit, daß der deutſche Totentanz aus 
Frankreich ſtammt, und daß der Klein- Bafler Totentanz 
nicht viel älter iſt als der um das Fahr 1440 an die 
Kirchhofmauer des Predigerkloſters von Groß Baſel 
gemalte, durch die Merianſchen Stiche berühmt ge- 
wordene Tanz. Es iſt mehr als wahrſcheinlich, daß 
beide Tänze von ein und demſelben, im Jahre 1437 nach 
Baſel berufenen, und wie der Totentanzforſcher Wilh. 
Seelmann überzeugend nachweiſt, niederrheiniſchen 
Maler gemalt worden ſind. Obſchon dieſer Mann keine 
Größe wie Holbein war, dem man irrtümlich in Laien- 
kreiſen die Baſler Totentänze zuſchreibt, fo ift es doch 
ſehr bedauerlich, daß ſein Name nicht auf uns ge— 
kommen iſt. Daß er etwas konnte, beweiſen die unſerem 
Artikel beigegebenen Reproduktionen der ſchönſten 
ſeiner Tänze, deren erſter, „Das Beinhaus“ (S. 177) 
von dem Bafler Maler Hans Hug Rluber bei der Über- 
malung des beſchädigten alten Totentanzes im Jahre 
1568 ziemlich eigenmächtig reſtauriert worden iſt. Büchel 
ſagt in feinem 1775 geſchriebenen „Todtentantz“ hier- 
über: „Die erſten Figuren, welche man bei der Ab- 
ſchilderung deß Beinhauſes erblickt, ſind von Hanß Hug 
Kluber, welcher den Todtentantz zum erſten Mahl er- 
neuert hat, gemahlt, und vermuhtlich wegen mangel 
deß Raumes weit kleiner vorgeſtellt worden als die 
folgenden.“ Außerdem hat Kluber an die Stelle des 
Mönches, der „allen Ständen“, vom Kaiſer bis 
zum Bauer hinab, über das 12. Kapitel der Weis- 
ſagungen Daniels, das heißt von der Auferſtehung der 
Toten predigte, den Reformator Okolampadius geſetzt. 


a Von Wilhelm Fiſcher. 175 


Es beſteht kein Zweifel darüber, daß Baſel damals 
gute einheimiſche Meiſter in der Malerinnung zählte. 
Aber wenn man bedenkt, daß das Konzil von Baſel 
damals tagte, ſo iſt es nicht ausgeſchloſſen, daß aus 
Anlaß des großen Sterbens und der Hungersnot von 
1438 und 1439 einer der fremden Prälaten die Baſler 
auf die franzöſiſchen Totentänze aufmerkſam machte 
und ihnen unſeren Meiſter zum Malen ſolcher zur Er- 
innerung an die große Plage empfahl. „Es war,“ ſagt 
Fugger in feinem „Ehrenſpiegel“, „nun ganzer ſieben 
Fahr im Reich großer Miswachs und Theurung ge- 
weſen, alfo daß dies Jahr 1438 im April eines Pfennigs 
werth Brot kaum einer Nuß groß geweſen. Dieſes 
Elend endete mit einer reichen Aernte, welche alle 
Früchte wieder wohlfeil gemacht. Hingegen entſtunde 
des jahrs zur Aernte ein großer Sterb im Reich, welcher 
bis auf Neujahr aller Orten ſauber aufgereumt, wie 
man denn zu Coſtanz bey 4000 Leichen gezählet, zu 
Baſel im Sommer fait alle Tage 100 Menſchen ge- 
ſtorben. Wen dieſe Seuche anſtieß, der lag und ſchlief 
drei Tage und Nächte, darnach, ſobald er aufgewacht, 
fieng er an mit dem Tode zu ringen, bis ihm die Seel 
ausgieng.“ An anderer Stelle heißt es: „Es war alles 
voll Weinens, Traurens und Leidtragens. Das Volk 
fiel dahin, wie angehenden Winters die Blüten abzu- 
reiſen pflegen, und grief die Sterbſucht dermaßen um 
ſich, daß welcher irgend jetzen auf der Gaſſen friſch und 
geſund geſehen, nach wenig Stunden vergraben lag.“ 

Nicht anders war's im Reich. In Baſel ſchlug man 
zur Erinnerung an das Unglück Denkmünzen, auf deren 
einer Seite drei Roſen, das Zeichen des Frühlings, 
auf der anderen Seite ein Totenkopf abgebildet waren, 
aus dem Ahren mit den Worten hervorſtreben: 
„Hodie mihi, cras tibi! — Heute mir, morgen dir!“ 


176 Die mittelalterlihen Totentänze. u 


Aus der Mitte des Konzils muß damals die An- 
regung gekommen ſein, zum Andenken an das große 
Sterben, das niemand verſchonte, und nicht aus 
aſzetiſchen Gründen, nach dem Vorbild der „Danse 
macabre“ ein Erinnerungszeichen von wirkungsvoller 
Kraft und langer Dauer zu ſchaffen. Dieſe Anregung 
fiel auf fruchtbaren Boden. Jedenfalls ift es kein Zu- 
fall, daß faſt gleichzeitig in Klein; und Groß- Baſel, in 
der Oominikanerkirche zu Straßburg 1450, der Marien- 
kirche zu Lübeck 1465, der Marienkirche zu Berlin 1470 
Totentänze als Wandgemälde gemalt wurden. Die 
in einem angeſehenen Lexikon geäußerte Meinung, daß 
in den Totentänzen ſich der kühne, bittere Humor des 
Volkes, alſo gewiſſermaßen die ſchadenfrohe Genug- 
tuung äußere, daß kein Sterblicher von dieſem Tänz- 
lein verſchont ſei, iſt trotz des „Galgenhumors“, der 
aus den Totentänzen unleugbar ſpricht, entſchieden von 
der Hand zu weiſen. Dagegen ſpricht ſchon der Ort, 
an dem fid) diefe Wandgemälde befanden, und die Tat- 
ſache, daß Ludwig XII. 1502 eine „Danse macabre“ 
an die Arkadenwand des Schloßhofes von Blois malen 
ließ. Text und Bild der Totentänze find im volkstüm- 
lichen Stil gehalten und betätigen denſelben kühnen 
Humor wie in Text und Handlung die mittelalterlichen 
Myſterienſpiele auch. Dies geht vor allem aus dem 
zu den von uns gewählten Bildern gehörigen Text 
hervor, den wir zum beſſeren Verſtändnis der Toten- 
tänze und ihrer Tendenzen hier folgen laſſen. 


Szene am Bein haus. 
Prediger (predigt): 


Viel von den', die im Staub der Erden 
Schlafen, die ſollen wider erwachen. 


D Don Wilhelm Fiſcher. 177 


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Das Beinhaus. 


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Die nachfolgenden Verſe find v verloren gegangen, 
beſagten aber, daß Gott den Gerechten ewiges Leben, 
den anderen aber geben wird: „ein hart Urteil zu ewiger 
Schmach“. Ob über dem Groß- Bafler Beinhaus, 

1913. XI. 12 


178 Oie mittelalterlichen Totentänze. 2 


ähnlich wie über dem Klein- Bafler, Berfe ſtanden: „Hier 
richt’ Gott nach dem Rechten, die Herren liegen bei den 
Knechten“ uſw. iſt nicht erwieſen, aber wahrſcheinlich. 


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Tod und Kaiſer. 


Der Tod (zum Kaiſer): 
Herr Kaiſer mit dem grauen Bart, 
Euer Reu habt Ihr lang geſpart, 
Drum ſperrt Euch nicht, Ihr müßt davon 
Und tanz'n nach meiner Pfeifen Ton. 

Kaiſer: 

Ich konnt' das Reich gar wohl mehren 
Mit Streiten, Fechten, Unrecht wehren: 
Nun hat der Tod überwunden mich, 
Daß ich bin keinem Kaiſer glich. 


Don Wilhelm Fiſcher. 179 


Tod und Kaiſerin. 
Tod (zur Kaiſerin): 
Ich tanz’ Euch vor, Frau Kaiſerin, 
Springet nur nach, der Tanz iſt min. 


Eu'r Hofleut ſind von Euch gewichen. 
Der Tod hat Euch hie auch erſchlichen. 


Kaiſerin: 
Viel Wohllüſt hatt’ mein ſtolzer Leib, 
Ich lebt’ als eines Kaiſers Weib. 
Nun muß ich an dieſen Tanz kommen. 
Mir ift all Mut und Freud genommen. 


Tod und Herzogin. 


Tod (zur Herzogin): 
Frau Herzogin, ſeid wohlgemut, 


Ob öIhr auch ſeid von edlem Blut, 
Hochgeachtet auf dieſer Erd, 


Hab' ich Euch dennoch lieb und wert. 


Herzogin: 
Ach Gott, der gräßlich' Laute Ton, 
Muß ich mit dem Greuling davon. 


Heut Herzogin und dann nicht mehr! 
Ach Angſt und Not, o weh, o weh! 


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Von Wilhelm Fiſcher. 


Tod und Arzt. 


Tod (zum Arzt): 


Herr Doktor, b'ſchaut die Anatomei 
An mir, ob ſie recht g'machet ſei: 
Denn du haſt manchen hing' richt, 
Der eben gleich wie ich jetzt ſicht! 


Arzt: 
Ich hab' mit meinem Vaſſerb'ſchauen 
Geholfen beiden, Mann und Frauen: 


Wer b'ſchaut mir nun das Waſſer min, 
Ich muß jetzt mit dem Tod dahin. 


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Tod und Edeldame. 


Tod (zur Edeldame): 

Von Adel Frau, laßt Euer Pflanten*), 
Ihr müßt jetzt hier mit mir tanzen. 

Ich ſchon' nicht Euer goldnes Haar, 
Das ſeht Ihr in dem Spiegel klar. 

Edeld ame: 

O, Angſt und Not, wie iſt mir g'ſchehen, 
Den Tod hab' ich im Spiegel g'ſehen! 
Mich hat erſchreckt fein greulich G'ſtalt, 
Daß mir das Herz im Leib iſt kalt. 


95 Pflantzen: von Pflanz S Poſſen. 


Von Wilhelm Fiſcher. 183 


Tod und Raufmann. 

Tod (zum Kaufmann): 
Herr Kaufmann, laſſet Euer Werben, 
Die Zeit iſt hin, Ihr müſſet ſterben: 
Der Tod nimmt weder Geld noch Gut, 
Nun tanzet her mit freiem Mut. 

Kaufmann: 

Ich hatt’? mich zu leben verſorgt wol, 
Kiſten und Käſten waren voll, 
Der Tod hat meine Gab verſchmacht 
Und mich um Leib und Leben bracht. 


Tod und Krüppel. 


Tod (zum Krüppel): 
Hinte auch her mit deiner Krücken, 
Der Tod wird dich hinzücken. 
Du biſt der Welt ganz unwert ſehr, 
Komm zu meinem Tanzen her. 


Krüppel: 
Ein armer Krüppel hier auf Erd' 
Zu einem Freund iſt niemand wert: 
Der Tod aber will ſein Freund ſein, 
Lad' ihn mit den Reichen ein! 


o Deon Wilhelm Fischer. 185 


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Tod und Braut. 


Tod (zur Braut): 
Ach Jungfrau, Euer roter Mund 
Wird bleich jetzund zu dieſer Stund. 
Ihr ſpranget gern mit jungen Knaben, 
Mit mir müßt Ihr den Vortanz haben. 

Braut: 

O weh, greulich haft mich g' fangen; 
Mir iſt all Mut und Freud vergangen: 
Zu tanzen g'lüſt' mich nimmermeh, 
3% fahr' davon. Ade, ade! 


186 Die mittelalterlichen Totentänze. u 


Tod und Narr. 


Tod (zum Narren): 
Wohlauf, Heinz, du mußt jetzt ſpringen, 
Schürze dich auf und laß dir's g'lingen, 
Dein Kolben mußt du fahren lon 
Und mit mir zum Tanze gohn. 


Narr: 
O weh! Zh wollt' gern Holz auftragen 
Und meiner Frauen nix mehr ſagen. 
So muß ich mit dir „do“ hin: 
Weh, weh, es ſoll nit anders ſin! 


Von Wilhelm Fiſcher. 187 


Tod und Blinder. 


Tod (zum Blinden): 
Dein Wegweiſer ſchneid' ich dir ab, 
Tritt ſeitlich, fallſt mir ſonſt ins Grab, 
Du armer blinder alter Stock, 
In deinem böſen ſchäb'gen Rock. 


Der Blinde: 


Ein blinder Mann — ein armer Mann, 

Sein Freud und Brot nicht gewinnen kann, 
Könnt' nicht ein Tritt gehn ohn' mein Hund: 
Gott ſei g'lobt, daß hie die Stund. 


188 Die mittelalterlihen Totentänze. a 


Wo in dieſen Strophen und Bildern der grimmige, 
„kühne und bittere Humor“ des ſpäteren Bauernkriegs, 
der Humor der Revolution zu finden iſt, iſt mir ein 
Rätſel. Der von Nikolaus Manuel zwiſchen 1517 und 
1519 gemalte Berner Totentanz iſt allerdings viel 
grimmiger, aber, im Geiſte ſeiner Zeit beurteilt, nicht 
einmal ſatiriſch. Die Totentänze und ihre Texte ſind 
weder Karikaturen noch pamphletiſtiſche Malerwitze, 
ſondern, um mich fo auszudrücken, Textbilder der Beit- 
geſchichte, die man an die Kirchhofs- und Totenkammer- 
mauern malte, um das „große Sterben“ der Mit- 
und Nachwelt in der Hauptſache bildlich in ſeiner ganzen 
ſchaurigen Großartigkeit feſtzuhalten, und dies ohne 
jeden anderen Nebenzweck. 

Das aber iſt den älteſten Totentänzen wie den 
ſpäteren des Mittelalters jedenfalls beſſer gelungen 
wie den neuzeitlichen, denn ſie ſind die illuſtrierte 
Kulturgeſchichte der Peſt mit ihren Wirkungen auf die 
alte geſellſchaftliche Ordnung, die fie derart zertrüm- 
merte, daß man auf den Kirchhöfen, wie die Chroniken 
konſtatierten, alle Einzelgräber zerſtörte, um Platz für 
Paſſengräber zu ſchaffen, in denen dann die Gebeine 
der Edelſten mit denen der Knechte, der Fürſten mit 
denen des Bettlers moderten. 

Der älteſte, hiſtoriſch nachweisbare Totentanz iſt die 
berühmte „Danse macabre“ des Minoritenkloſters von 
Paris von 1425, dem der Totentanz im Paulskloſter 
von London um dieſelbe Zeit nachgebildet wurde. Die 
Baller Totentänze find die älteſten in Deutichland; 
1450 folgte Straßburg, 1465 Lübeck, 1470 Berlin, im 
16. Jahrhundert: Bern, Chur, Konſtanz, Dresden, 
Hamburg, Füſſen in Bayern, Luzern uſw. Aber vielen 
von ihnen blieb das Schickſal der Lebenden nicht erſpart; 
auch ihnen rief der Tod fein „Komt ir moſen dantzen“ zu. 


D Von Wilhelm Fiſcher. 189 


Das traurigſte Schickſal hatte der Groß Baſler. 
Nachdem er durch die häufigen Übermalungen ſchwer 
gelitten hatte, ließ ihn der Große Rat in der Nacht 
vom 6. Auguſt 1805 heimlich zerſtören, weil er „ein 
Leuteſchreck und Kinderſchreck fei“. Ein rühmlicheres 
Ende fand der Straßburger; er wurde 1870 ein Opfer 
der Beſchießung. 

Ein gewiſſer Troſt für den Kunſtfreund liegt jedoch 
darin, daß fih die Baſler ihren berühmt gewordenen, 
vielbeſuchten „lieben Tod von Baſel“, wie ihr Soten- 
tanz im Volksmunde hieß, auf diefe heimliche Weile 
nicht nehmen ließen. Es kam zu einem Volksaufſtand. 
Die großmächtigen, hochweiſen Bilderſtürmer ſtanden 
verzweifelt vor der Wahl: „Sagt ja, ſagt nein, getanzt 
muß ſein!“ Aber da das Unheil geſchehen und der 
„liebe Tod“ nicht mehr zu retten war, ſo war die Sühne 
damals nur eine empfindliche Lehre für die „Welt- 
fremden in der Kunſt“ mehr, die ſo gerne vergeſſen, 
daß die Nation nichtswürdig iſt, die nicht ihr alles 
freudig ſetzt an ihre — Kunſt, daß das Volk mit ſeiner 
Kunſt einfach lebt. 


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Mein Klickverhältnis. 


Ein Jöyll ohne Worte. Von Otto Metterhauſen. 


? nachoͤruck verboten.) 
Dos heißt, eine Liebesgeſchichte iſt es ganz und gar 
nicht. Wir haben nie im Leben ein Wort mit- 
einander gewechſelt. Ich weiß nicht einmal, wie „ſie“ 
hieß, und ſicher kennt ſie meinen Namen ebenſowenig. 
Aber geſehen haben wir uns damals — es ſind ſchon 
verſchiedene Jährchen her — faſt täglich. Wie man 
ſich ſo ſieht in der Großſtadt. Wenn man da Tag für 
Tag um dieſelbe Zeit denſelben Weg machen muß, 
begegnet man eben ſtets denſelben Leuten, die eben- 
falls ihr Beruf oder Amt um die gleiche Zeit den gleichen 
Weg gehen läßt. 

An Hunderten, Tauſenden haftet man achtlos vor- 
über — hundert- und tauſendmal. Dutzendgeſichter, 
gleichgültige Menſchen — wer achtet auf die? Aber 
unter den Maſſen tauchen doch ab und zu ſo einige 
beſondere Typen auf, die allmählich unfer Zntereſſe 
erregen. | 

Der erſte, der mir allmorgendlich begegnete, wenn 
ich von Borgfelde über St. Georg nach Hamburg hin- 
einwanderte, war ein alter aſthmatiſcher Rentner, der 
in der großen Allee ſeinen ebenſo aſthmatiſchen Mops 
ſpazieren führte. Ein drolliges Paar. Herr und Hund 
— beide fürchterlich verdrießlich dreinſchauend und von 


o Bon Otto Metterhaufen. 191 


verblüffender Ahnlichkeit nicht bloß im Geficht, ſondern 
auch in ihrem watſchelnden, breitbeinigen Gang. 

Dann kam in der Gegend der Gewerbeſchule ein 
langaufgeſchoſſener, blaffer Jüngling, der feine unglaub- 
lich dünnen Arme und Beine mit einer geradezu be- 
ängſtigenden Haſt durcheinander ſchlenkerte, ſo daß ich 
ſtets in Sorge war, die Gliedmaßen könnten ſich im 
nächſten Augenblick zu einem unentwirrbaren gordiſchen 
Knoten verheddern. Da die Geſchichte aber immer gut 
abging, fo habe ich mich ſchließlich beruhigt und an- 
genommen, der junge Mann ſei ein Dichter, der ſeine 
Berfe ſkandierte. 

Dann endlich, an der Ecke des alten Berliner Bahn- 
hofes, traf ich — fie. Allerdings, ein „beſonderer Typ“ 
war ſie ganz und gar nicht. Ein ſüßes kleines Mädel, 
friſch und roſig, nicht von der abſcheulichen Bläſſe der 
Großſtadtkinder. Aus dem hübſchen Geſichtchen ſahen 
ein Paar große blaue Augen unſchuldig in die Welt, und 
unter dem einfachen Pelzbarett, das ſie im Winter, 
oder dem Strohhütchen, das ſie im Sommer trug, quoll 
eine Fülle blonder Locken hervor, die, wenn der Wind 
in ihnen ſpielte, das Köpfchen mit einem förmlich 
fniiternden Strahlenkranz umgaben. Dazu eine mittel- 
große Geſtalt von ſchönſtem Ebenmaß und ein leichter, 
federnder Gang. 

Es iſt beim beſten Willen nicht zu verlangen, daß 
man an ſo etwas vorbeiguckt. Das tat ich auch nicht. 
Im Gegenteil, ich genoß an jedem neuen Morgen mit 
harmloſem Behagen den freundlichen Anblick und, wenn 
wir uns, wie das hin und wieder auch vorkam, einmal 
nicht begegneten, dann — nun ja — dann fehlte mir 
etwas. 

Wochenlang ging ſie achtlos an mir vorbei wie an 
tauſend anderen Menſchen, ohne mich eines Blickes zu 


192 Mein Nickverhältnis. u 


würdigen. Aber dann begegneten ſich eines Tages 
unſere Blicke, die ihren abſichtslos, flüchtig, gleichgültig. 
Aber ſie mußte wohl in meinen Blicken irgend etwas 
entdeckt haben, was ihre Aufmerkſamkeit erregte, denn 
ihrem erſten Blick folgte ein zweiter, erſtaunt, ver- 
wundert, vielleicht empört, als wollte ſie ſagen: „Was 
hat der mich anzugucken? Was fällt ihm ein?“ Doch 
dann waren wir ſchon aneinander vorüber. 

Am nächſten Tage bemerkte ich ſchon auf zwanzig 
Schritt, wie ihre Augen mich forſchend muſterten. Ich 
hielt mutig dem Blicke ſtand. Dann wanderten ihre 
Augen an meiner Perſon herunter vom Kopf bis zu 
den Füßen und wieder herauf von den Füßen zum 
Kopf, und mit einem Ruck drehte ſich das niedliche 
Trotzköpfchen zur Seite. Die roten Lippen ſchürzten 
ſich zu einem leichten Schmollen und formten, lautlos, 
aber deutlich erkennbar, ein verächtliches „Ph!“ 

Mir fing jetzt die Sache an Spaß zu machen, ihr 
jedoch offenbar nicht. Hoheitsvoll glitten jeden Morgen 
ihre Blicke über mich weg. Ich war Luft für ſie, voll- 
kommen Luft, abſolut durchſichtig. Was mich natür- 
lich noch mehr amüſierte. Ich ſetzte mein ſpitzbübiſchſtes 
Geſicht auf und verſuchte beharrlich, einen Blick aus 
den blauen Augen zu erhaſchen. 

Da begann zu meinem Pech eine längere Regen- 
zeit, für Hamburg der normale Zuſtand. Der Schirm 
trat in ſein Recht. Sobald wir einander in Sicht kamen, 
fuhr mit einem faſt hörbaren Ruck ihr Schirm nach 
der Seite herab und entzog mir neidiſch den Anblick 
ihres Figürchens. Immer nach meiner Richtung ſenkte 
ſie den Schirm, mochte der Wind den Regen auch 
gerade von der entgegengeſetzten Seite treiben. Ich 
war boshaft genug, zu hoffen, daß der Wind einmal 
den ganz unvorſchriftsmäßig gehaltenen Schirm über— 


2 Von Otto Metterhauſen. 193 


klappen würde. Aber dazu war der Wind offenbar 
zu ritterlich, denn er tat mir nicht den Gefallen. 

Ja, wenn die weibliche Neugier nicht geweſen wäre! 
Ich hatte ſchon die Hoffnung begraben, jemals einen 
freundlichen Blick aus den Augen meiner kleinen Part- 
nerin zu erwiſchen, als ich eines Tages merkte, wie 
der böſe Schirm ſich während unferer Begegnung, an- 
ſcheinend ganz unwillkürlich, hob und wie zwei blaue 
Augen unter feinem Rande hervor mich neugierig an- 
blitzten: „Ob er wohl noch?“ 

Und als das am nächſten Tage ſich wiederholte, 
bückte ich mich ſchnell und ſchaute mit liſtigem Lachen 
unter dem Schirmrand ihr ins Geſicht, und — wahr- 
haftig — ſie lachte wieder. 

Am Tage darauf blieb der Schirm geſchloſſen, trog- 
dem es noch etwas regnete. Und da — da hab' ich 
zum erſten Male genidt, 

Sie wurde blutrot. Auf ſolche Frechheit war ſie 
wohl nicht vorbereitet und wußte im erſten Augenblick 
nicht, was darauf tun. Dann aber nahm ihr roſiges 
Geſichtchen den Ausdruck unſäglicher Würde und Hoheit 
an, und ſie neigte ihr Haupt wie eine Königin, die 
ihres Volkes Huldigungen entgegennimmt. 

Acht Tage ſpäter aber nickte ſie auch. Und nach 
weiteren drei Wochen nickte ſie ſogar zuerſt. Jetzt fing 
entſchieden die Sache an ihr Spaß zu machen. Dafür 
begann mir das Gewiſſen leiſe zu ſchlagen. Am liebſten 
hätte jetzt ich einen Schirm genommen, aber das — 
nein — das ging nicht, das wäre brutal geweſen, und 
— lieber Gott! — was war denn auch dabei? 

Nachdem einmal das Eis bei ihr gebrochen war, 
ſchien ſie nun große Luſt zu bekommen, das Verfahren 
abzukürzen. Ihre Blicke wurden immer ermunternder, 
ihr Ricken immer berzücher, tauſend kleine luſtige 
1918. XI. 13 


194 Mein Nickverhältnis. 2 


Schelme ſchauten aus den Blauaugen und ſaßen in 
den beiden Grübchen, die das aufmunternde Lächeln 
auf dem Pfirſich ihrer Wangen hervorzauberte. Alles 
ſchien mir zuzurufen: „Nun, riskier's nur! Ich bin 
ja gar nicht ſo.“ Aber ich riskierte es nicht — aus ſehr 
einfachem Grunde, der ſich noch herausſtellen wird. 

Sie fuhr nun ſchwereres Geſchütz auf. An einem 
ſchönen Frühlingsmorgen erſchien ſie mit einer großen 
roten Buſenſchleife. Ich reagierte nicht darauf, reagierte 
nicht, trotzdem ſie am nächſten Tage die rote Schleife 
oſtentativ mit ſpitzem Finger an einem Ende empor- 
hielt, mir faſt unter die Naſe. Dieſer Mißerfolg ſchien 
ſie ſtutzig zu machen. Sie ſah mich in der nächſten 
Zeit mit Blicken an, die alles mögliche bedeuten konnten: 
Vorwürfe, Zweifel an meiner Zurechnungsfähigkeit, 
Mißtrauen, die erſtaunte Frage: „Ja, was ſoll ich denn 
noch weiter tun? Was verlangſt du eigentlich noch 
mehr?“ | 

Und dann erfolgte die Kataſtrophe. 

Ich war mit — jetzt kommt ein Geſtändnis, das die 
Gewiſſensbiſſe erklärt — mit meiner Frau, jawohl, mit 
meiner lieben Frau in die Stadt gegangen, um Ein- 
käufe zu machen. Und da — ich bin immer ein Pedy- 
vogel geweſen — natürlich laufe ich da, Arm in Arm 
mit meiner Frau, an der Ecke von Jungfernſtieg und 
Arkaden meinem kleinen Nickverhältnis in den Weg. 

Na, das Geſicht hätte man ſehen ſollen! Einen 
einzigen Blick erwiſchte ich nur, in dem aber ſtanden 
Bände zu leſen: Erſtaunen, Entrüſtung, tauſend flam- 
mende Anklagen, tiefſte Verachtung. 

Ein wahres Glück, daß meine Frau den Blick nicht 
auffing. 

Von dieſem Zeitpunkt ab war's aus zwiſchen uns. 
Sobald wir uns beim Berliner Bahnhof in Sicht kamen, 


u Von Otto Metterhauſen. 195 


ging fie im rechten Winkel nach der anderen Straßen- 
ſeite hinüber. Ich war wieder Luft für fie, vollkommen 
Luft. 
Bis ſie mich eines Tages wieder anlachte, ſtolz, 
triumphierend. Aber da kam auch ſie mir nicht allein 
entgegen, ſondern am Arm eines jungen Mannes, eines 
flotten, hübſchen Kerls. Und ihr Blick ſchien mir zu 
fagen: „Was ſagſt du nun? gebt hab' ich doch einen 
gekriegt, und der iſt noch dazu viel hübſcher als du, 
du dummer Kerl! Bilde dir nur nicht ein, daß ich 
mich überhaupt für dich intereſſiert habe!“ Und wäh- 
rend ihre Augen dies ſagten, ſtreckte ſich — das heißt: 
beſchwören will ich's nicht, aber ich möchte darauf 
wetten — ſtreckte ſich zwiſchen den ſüßen roten Lippen 
auf einen blitzſchnellen Augenblick ein kleines keckes 
ſpitzes Zünglein hervor. 
| Warum auch nicht? Verdient hatte ich's ehrlich. 

Dann blieb ſie meinem Geſichtskreis entſchwunden, 
bis ich fie wohl vier Jahre ſpäter ganz zufällig wieder 
traf. Das war an einem Sommertage, an dem mich 
mein Weg zufällig durch die Anlagen am Millerntor 
führte. Ich ging dabei über den Kinderſpielplatz und 
ſah, wie ein etwa fünfjähriger ſchmutziger Schlingel 
ein kleines, kaum zweijähriges Mädel ſchlug. Schon 
wollte ich dazwiſchen fahren, als plötzlich ein ſtrammer, 
gut drei Jahre alter Zunge ſich mit Berſerkerwut auf 
den ihm an Größe und Kraft zweifellos weit überlegenen 
Übeltäter ſtürzte und ihn mit feinen Heinen Fäuſten 
ſo energiſch bearbeitete, daß der Große ſchleunigſt das 
Haſenpanier ergriff. 

„Bravo!“ rief ich. 
Da ſah ſich der kleine Sieger ſtolz um und ſagte, 
wie um ſein Tun zu entſchuldigen: „Oer wollte mein 
Sweſterchen ſchlagen!“ 


196 Mein Nidverhältnis. o 


„Das haft du gut gemacht,“ erwiderte ich, griff in 
die Taſche und gab ihm einen Nickel. 

Freudeſtrahlend wendete er fih um und rief über 
den Platz weg einer Dame zu, die drüben auf einer 
Bank ſaß: „Mutti, der Herr hat mir 'nen Groſchen 
gegeben!“ 

Ich folgte der Richtung ſeiner Blicke und ſah — 
ſie. Noch ebenſo roſig, blond und friſch ſah ſie aus 
wie damals, nur ein bißchen rundlicher. Unſere Augen 
trafen ſich im gleichen Moment mit plötzlichem Er- 
kennen. 

Ich glaube, wir wurden beide rot wie zwei Back- 
fiſche. Aber dann ſahen wir uns an und lachten, und 
dann hab' ich ihr zugenickt, und — wirklich: ſie nickte 
wieder. | 

And dann ſah fie mich an mit einem Blick, in dem 
vieles lag: Verzeihen einerjeits und Stolz und Mutter- 
glück anderſeits. 

Und dieſer Blick — glaube ich — war der ſchönſte, 
den ich je von ihr bekommen. 


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1 
N AN AN AN MIN 


ZAX 2 


Eine Dornenkrone. 
Von M. de Bous. 


Mit 4 Bildern. t (Nahörud verboten.) 


Der tragiſche Tod des Königs Georg von Griechen 
land, der in dem eben eroberten Saloniki unter 
der Hand eines elenden Meuchelmörders verblutete, 
weckt die Erinnerung an jenes griechiſche Königspaar, 
dem die Krone von Hellas einſt zu einer wahren 
Dornenkrone wurde. 

Am 22. November 1856 vermählte ſich Maria 
Friederike Amalie, die achtzehnjährige ſchöne, geift- 
volle Tochter des Großherzogs Paul Friedrich Auguſt 
von Oldenburg, mit König Otto I. von Griechenland, 
dem am 1. Zuni 1815 geborenen zweiten Sohn des 
Bayernkönigs Ludwig J. 

Otto war ganz der Sohn feines Vaters, ein weichher- 
ziger Schwärmer für die Künſte, begeiſterter Förderer 
der Wiſſenſchaften, als König aber, trotzdem er in jungen 
Jahren ſich abſolutiſtiſch fühlte, ein ſanguiniſcher Phantaſt 
und unfähig weder zur raſchen Tat noch zur zielbewuß- 
ten Intrige. Er war kaum zwölf Jahre alt, als ihn 
ſein für das alte Hellas begeiſterter Vater den Groß— 
mächten für den Thron der Hellenen vorſchlug, ohne 
zu bedenken, daß im Laufe der Jahrhunderte unter 
türkiſcher Herrſchaft das klaſſiſche Volk der Hellenen zu 
einem Volk geworden war, dem die endliche Befreiung 
nur als Loslaſſen gegen Geſetz und Ordnung galt, was 


198 Eine Dornenteone, u 


ja auch der Beſchluß der proviſoriſchen Regierung vom 
20. Oktober 1852 beweiſt, „ſämtliche Gerichtshöfe des 
Landes als unnötig und nutzlos aufzulöſen“. Es war 
mehr als ein Fehler, daß nach ſolchen Vorgängen Lud- 
wig I. feinen Lieblingsſeohn nach dem Piräus ſchickte, 
und es entſchuldigt ihn nicht, daß er in dem Regenten, 
dem Grafen Armansperg, dem jungen König einen 
tüchtigen Miniſter an die Seite ſetzte. Als Wunder galt 
es aber in der ziviliſierten Welt, daß auch der talt- 
blütige Oldenburger Großherzog ſeine Tochter dem 
neugriechiſchen Abenteuer überlieferte. 

Dieſes Wunder wird durch die energiſche Perjön- 
lichkeit der jungen Königin erklärt, durch ihre Liebe zu 
dem Gatten, durch ihren herrſchſüchtigen Ehrgeiz und 
ſpäter durch die Gewalt, die ſie auch in politiſchen 
Dingen über den König zu behaupten wußte. Was 
Mirabeau von Marie Antoinette rühmte, daß ſie der 
einzige Mann am Königshofe fei, galt in gewiſſer Hin- 
ſicht auch von Amalie und dem Königshofe im Piräus. 

Freilich ahnte auch fie nicht, fo wenig wie die ge- 
bildete Welt, daß noch im Fahre 1836 Griechenland, 
vielleicht nur die Maina ausgenommen, nach den vielen 
Kriegs- und Revolutionsjahren ausſah wie Deutſchland 
nach dem Dreißigjährigen Krieg, daß die Dörfer in 
Schutt und Aſche lagen, die Felder Einöden, die Wein- 
berge verwüſtet und die Olivenhaine gefällt waren; 
daß in den Bergen zahlreiche Räuberbanden hauſten, 
die, wie Finlay erzählt, die Landbevölkerung brand- 
ſchatzten und aus Luft am Schinden alle Scheuglich- 
keiten an ihr verübten, Schandtaten, „die in Europa 
auf lange Zeit hinaus den griechiſchen Namen anrüchig 
und verhaßt machten“. Das Volk war eben verwildert, 
der Zucht, Ordnung und der Arbeit entwöhnt, dabei 
unbotmäßig und von einem geradezu fabelhaften po- 


o Von M. de Bous. 199 


litiſchen und perſönlichen Düntel, der Adel des Landes 
trotzig, aufrühreriſch und zum Fauſtrecht geneigt, ganz 
Hellas aber gewiſſermaßen zum Dank für die Land 
und Volk während der Befreiungskämpfe von Europa 


Amalie, Königin von Griechenland. 


gewährte Beihilfe von fanatiſchem, blindeſtem Fremden- 
haß beſeelt. 

Es war eine Dornenkrone, die Otto dem geliebten 
Weibe als Morgengabe überreichte. Amalie kannte 
zwar den Ernſt der Aufgaben, die ihrer in Athen harrten, 
aber fie unterſchätzte anfänglich bedeutend die Schwierig- 
keiten derſelben, wozu der begeiſterte Empfang bei 
ihrer Ankunft in Griechenland beitrug. Der Archäologe 
L. Roß erzählt darüber: „Der König und feine lieb- 


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Der Einzug des Königs Otto in Nauplia. Nach dem in der Neun 


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* 


en Pinakothek zu München befindlichen Gemälde von Peter Heß 


reizende junge Gemahlin ſtiegen unter dem Donner 
der Geſchütze und tauſendſtimmigem, lautem Jubel ans 
Ufer. Die Behörden, ſei es, daß ſie ſelbſt dieſen 
geiſtreichen Gedanken gehabt hatten oder daß er 
ihnen eingeflößt worden war, hatten beſchloſſen, der 
jungen Königin 
eine Eule, einen 
lebenden Vogel 
Minervas, mit 
weißblauenBän- 
dern an den Fän- 
gen und Flügeln 
gefeſſelt, zur Be- 
grüßung unter 
einer geeigneten 
Anrede zu über- 
reichen. Kaum 
hatte die Königin 
den Fuß am 
Lande, wobei ſie 
faſt über die reich 
lich geſtreuten 
Olzweige geftol- 
i pert wäre, fo 
Otto I., Rönig von Griechenland. mußte fie ſich mit 


dem armen, halb zu Tode geängſtigten Käuzchen be- 
ſchäftigen.“ 
Amalie hatte die Herzen der temperamentvollen 
Athener im Sturm erobert; ihre holdſelige Erſcheinung 
entzückte ſogar die Frauen. Man trug ſie vollends im 
ganzen Lande auf den Händen, als bekannt wurde, daß 
ſie mit der ihr eigenen großen Energie die griechiſche 
Sprache erlerne. Durch ihre faſt männliche Willens- 
ſtärke brachte ſie es denn auch in kurzer Zeit dahin, 


o Don M. de Bous. 203 


die ſchwere Sprache vollkommen zu beherrſchen. Noch 
höher, ſelbſt von den Feinden der dynaſtiſchen Fremd- 
herrſchaft, wurde ihr ihre Sympathie für Trachten und 
Sitten ihrer neuen Heimat angerechnet. Das übrige 
tat ihre ſieghafte, ſtrahlende Schönheit, ihre bezaubernde 
Liebenswürdigkeit im perſönlichen Verkehr, ihre Grazie 
und Kühnheit zu Pferd. Dies und die gemütliche Leut- 
ſeligkeit, die auch der König bei den vielen Rundreiſen 
zeigte, die das Königspaar alljährlich im Lande zu 
unternehmen pflegte, machte es in den Provinzen ſo 
populär, daß zum Beiſpiel der Einzug des Königs in 
Nauplia einem wahren Triumphzuge glich. 

Aber von Athen und den größeren Städten des 
Landes ging bald die revolutionäre, antidynaſtiſche 
Bewegung aus, deren Leitern der König, der immer 
mehr der Spielball ſtreitender innerer und auswärtiger 
Einflüſſe wurde, gegen den Rat ſeiner energiſcheren 
und zäheren Gemahlin eine politiſche Konzeſſion nach 
der anderen machte. Zuerſt opferte er den Grafen 
Armansperg, deffen Entlaſſung ihm die Feindſchaft 
Sir Edmund Lyons zuzog, dann Herrn v. Rudhardt, 
ſpäter genehmigte er ſogar die Entlaſſung ſämtlicher 
höheren Beamten deutſcher Abſtammung, und ſchließ— 
lich gab er die abſolute Regierungsgewalt ſelbſt preis, 
ohne mehr als den ſchnödeſten Undank zu ernten. Die 
Cliquenwirtſchaft der zur Herrſchaft gelangenden Par- 
teien, der fortgeſetzte Miniſterwechſel und der nach 
nordamerikaniſchem Syſtem damit verbundene Wech- 
ſel aller höheren Staatsbeamten gaben der Königin 
nur zu recht, die wiederholt geäußert hatte, daß das 
griechiſche Volk zur Konſtitution noch nicht reif ſei. 
Die oppoſitionelle Preſſe antwortete mit Schmähungen, 
Witzen über die Tanzwut der Königin und das 
Pantoffelheldentum des Königs ſelbſt, deffen Über- 


204 Eine Dornenkrone. o 


tritt zur orthodoxen Kirche immer ſtürmiſcher ver- 
langt wurde. | 

Die Königin, die öfters ihren Gemahl als Regentin 
vertrat, wenn er ſeiner angegriffenen Geſundheit wegen 
ein deutſches Bad beſuchen mußte, verhinderte mit 
großer Energie weitere Konzeſſionen auf der einen und 
Überhebungen auf der anderen Seite. Auch wußte 
fie wiederholt mit ſtarker Hand die großgriechiſche Be- 
wegung niederzuhalten, was ihr und dem König den 
erbitterten Haß der Panhelleniſten zuzog, deren Treiben 
und Wühlereien in den benachbarten türkiſchen Pro- 
vinzen ſchließlich ſo gefährlich wurden, daß die der 
Türkei verbündeten Weſtmächte im Mai 1854 zur 
Blockade des Piräus ſchritten und die griechiſchen Rrieg- 
ſchiffe mit Beſchlag belegten. Nun mußte Griechenland 
zu Kreuze kriechen, alle Forderungen der Weſtmächte 
zugeſtehen und ſtrenge Neutralität verſprechen. 

Von jetzt ab war Otto feinen Gegnern der ver- 
räteriſche Tyrann, deffen militäriſche und politiſche Un- 
fähigkeit alles Unglück über das arme Land gebracht 
hätten“. In der „deutſchen Hyäne“ aber, wie die 
Königin von der gegneriſchen Preſſe jetzt genannt 
wurde, ſah der Pöbel aller Volksklaſſen von da an die 
„Mutter aller Hinderniſſe“, die „Todbringerin des 
Volksglückes“. Der Haß der atheniſchen Bevölkerung 
gegen die Königin war ſo groß, daß, als der Student 
Ariſtides Druſios am 18. September 1861 die Monarchin 
auf offener Straße zu erſchießen verſuchte, der Mob 
dem Mordbuben, der ſpäter zu lebenslänglichem Ge- 
fängnis verurteilt wurde, oſtentativ applaudierte. 

Im September 1862 konnte eine in großer Auflage 
gedruckte oppoſitionelle Flugſchrift, in der das griechiſche 
Volk aufgefordert wurde, den Tyrannen und die 
Tyrannin davonzujagen, als Grund der Unbeliebtheit 


o Von M. de Bous. 205 


Ottos nur angeben, daß er weder von Religionswechſel 
noch von wahrhaft konſtitutionellem Regiment etwas 
wiſſen wollte. „Er iſt heute noch der nämliche,“ hieß 
es dann wörtlich, „der er vor fünfundzwanzig Jahren 
war, ein halsſtarriger Gegner der Freiheit; von den 


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* 


König Otto in griechiſcher Nationaltracht. 


Griechen hat er nichts angenommen als die Fuſtanella, 
die griechiſche Nationaltracht, in der er herumſtolziert.“ 
Bezeichnend iſt, daß dieſes Machwerk in Paris erſcheinen 
und dort unter den Augen der Polizei Napoleons III. 
vom großgriechiſchen Komitee vertrieben werden konnte. 
Jetzt war das baldige Ende vorauszuſehen. 

Als das Königspaar Mitte Oktober 1862 auf einer 


206 Eine Dornenkrone. o 


Rundreiſe durch Morea begriffen war, erhob fidh das 
Militär in Vonitſa und Athen, wo der Kommandant 
des Piräus am Abend des 22. Oktobers ermordet, das 
königliche Schloß geplündert, der ſchöne, von der 
Königin angelegte Garten vandaliſch zerſtört und die 
Häufer einiger Hofbeamten beraubt wurden. Am 
frühen Morgen las man an den Straßenecken Athens 
folgende Proklamation der Herren Bulgaris, Kanaris 
und Rufos: „Die Leiden des Vaterlandes haben auf- 
gehört! Alle Provinzen des Königreiches haben ihnen 
im Verein mit dem Heere ein Ende gemacht. Als 
einſtimmiger Beſchluß der griechiſchen Nation wird er- 
klärt und dekretiert: Das Königtum Ottos ift abge- 
ſchafft! Das Vizekönigtum der Königin Amalie iſt 
abgeſchafft!“ 

Auf die Nachricht von dieſen Vorgängen ſchiffte 
ſich das Königspaar ſofort an Bord der Korvette 
„Amalia“ ein. Als die Korvette bei ihrem Erſcheinen 
im Piräus von den Meuterern bedroht wurde, landete 
der König bei Salamis, wo das diplomatiſche Korps 
ſich zu ihm an Bord begab. Auf den Rat der Ge- 
ſandten und der Königin entſchloß ſich der über den 
ſchnöden Undank feines Volkes tiefempörte König, ohne 
offiziell abzudanken, nach Bayern zurückzukehren. In 
Begleitung der Königin verfügte er fih auf ein eng- 
liſches Schiff, von dem aus er am 24. Oktober eine 
würdige Proklamation erließ. 

König Otto hatte in ſeiner Milde und Schwäche, 
die Königin in ihrer Herrſchſucht manchen Fehler be- 
gangen. Aber Otto hat niemals die Pflichten ſeiner 
hohen Stellung vernachläſſigt. Auch Amalie war ſtets 
vom beſten Willen für das Wohl des Landes beſeelt. 
Mit Recht durfte daher Otto in ſeiner Proklamation 
feſtſtellen, daß er während eines Zeitraumes von 


o Bon M. de Bous. 207 


faſt dreißig Jahren keine Mühe geſcheut habe, um für 
das Beſte Griechenlands zu wirken. 

Das vertriebene Königspaar nahm in Bamberg 
Wohnung, wo Otto am 26. Juli 1867 ſtarb. Den Sturz 
ſeines geheimen Gegners Napoleon ſollte er nicht mehr 
erleben. Königin Amalie lebte bis zum 20. Mai 1875 
als mildtätige Tröſterin der Mühſeligen und Beladenen. 


* 


EIEIEIEIEIEZ 


Mannigfaltiges. 


v 
(nachoͤruck verboten.) 


Det gör ingenting. — Oer kleine dicke Rechtsanwalt, der 
mit mir von Stockholm nach Lappland fuhr, war der höflichſte 
und liebenswürdigſte Menſch von der Welt. Er lief hinter jedem 
fallenden Regenſchirm her, um ihn der Beſitzerin zu überreichen, 
und wäre für keinen Preis der Welt je in einer Straßenbahn 
ſitzen geblieben, wenn in dem überfüllten Wagen eine Dame 
ſtehen mußte. Sofort ſprang er auf, um ihr ſeinen Platz 
anzubieten, ſelbſt wenn die „Dame“ noch einen Schulranzen 
auf dem Rücken trug. 

Lang hingeſtreckt lagen wir beide im Lapplandexpreßzuge, 
der uns hinauf nach Boden bringen ſollte; wir hatten das 
Glück, die einzigen Reiſenden im Abteil zu fein, trotzdem der 
Zug ſtark beſetzt war. Allein auch unſer Glück währte nicht 
lange, denn ſchon nach einſtündiger Fahrt ſtiegen in Upſala 
noch zwei Reifende in unſer Abteil, zwei große, breitſchulterige 
Herren, die höflich grüßten, ſich dann in die beiden anderen 
Ecken ſetzten und rieſige Zeitungen hervorholten, in die ſie ſich 
ſofort vertieften. 

Die Lektüre mußte nicht beſonders anregend ſein, denn 
bald waren ſie über ihren Zeitungen eingeſchlafen, und ich 
benützte die Gelegenheit, um meinem Reiſegefährten eine 
Frage zu ſtellen, die mir ſchon lange am Herzen lag. 

„Wie ſteht es eigentlich mit Ihren ſchwediſchen Sprach- 
kenntniſſen? Die meinigen find nur ſehr gering. Raum, daß 
ich die Zahlen kenne und die notwendigſten ſchwediſchen Worte 
für Eſſen und Trinken, Hotelzimmer, Wagen und dergleichen.“ 

„Da haben Sie Ihren Sprachführer ganz falſch benützt, 
Verehrteſter! Zahlen zu lernen, ift gänzlich überflüffig, da 


o Mannigfaltiges. 209 


man ſich ja hier der Schrift bedienen kann. Man fragt: ‚Hvad 
kostar det?‘, und dann reicht man dem Verkäufer einen Blei- 
ſtift und ein Stück Papier hin, damit er ſelbſt die Zahl auf- 
ſchreibt. So mache ich es überall und komme immer glänzend 
zurecht. Überhaupt iſt es oft beſſer, wenn man von der fremden 
Sprache ſo wenig wie möglich verſteht.“ 

Doch noch ehe ich dazu kam, meine Bedenken zu äußern, 
fuhr er ſchon fort: „Etwas anderes, weit Wichtigeres muß man 
aus ſolchem Sprachführer lernen, etwas, das die Menſchen 
meiſt als überflüſſig beiſeite laſſen. Das ſind die notwendigſten 
Höflichkeitsformen. „Zieht es Ihnen? Darf ich Ihnen meinen 
Platz anbieten? Soll ich das Fenſter ſchließen? Beläſtigt Sie 
die Sonne? Ih danke vielmals. Darf ich Sie bitten?“ und 
dergleichen mehr. Solche Ausdrücke in der Landesſprache muß 
jeder kennen, der nicht als ein Flegel erſcheinen mag. Vor 
allem aber muß man ſich zwei Redensarten einprägen in einem 
fremdſprachlichen Land. Das find die Phraſen: „Verzeihen 
Sie, bitte!“ und ‚Das macht gar nichts!“ Stoße ich jemand 
aus Verſehen an, dann ſage ich hier in Schweden: ‚Det gör 
ingenting!‘ das heißt: F Verzeihen Sie, bitte!“ Stößt mich jemand 
an und entſchuldigt fih, dann fage ich: „Jag ber om ursäkt,‘ 
das heißt: „Das macht gar nichts.“ Dieſe beiden Ausdrücke, 
Verehrteſter, müſſen Sie ſich merken. Die find wichtiger als 
Ihre Zahlen.“ 

So unrecht hatte der kleine Rechtsanwalt nicht. Höflichkeit 
auf Reifen iſt eine ſehr ſchöne Sache, zumal dann, wenn man 
ſeiner Anſtandspflicht gegen die Mitreiſenden durch wenige 
Worte genügen kann. „Jag ber om ursäkt — Det gör in- 
genting.“ Ich wiederholte die beiden Redensarten, bis fie 
feſtſaßen. | 

In Bipsgarden hält der Zug längere Zeit — teils wegen 
der Touriſten, die hier ausſteigen, um die wunderſchöne Tour 
über den Indalself zu machen, teils des Nachtmahls wegen, 
das hier eingenommen werden kann. Denn nur auf wenigen 
ſchwediſchen Bahnen verkehren Speiſewagen; meiſt find be- 
ſtimmte Stationen für die Mahlzeiten vorgeſehen. 

Als wir nach eingenommenem Nachteſſen in unſer Abteil 

1918. XI. 14 


210 Mannigfaltiges. o 


zurückkehrten, ſahen wir, daß der Schaffner bereits alles für 
die Nacht zurechtgemacht hatte. Die Ruͤckwände der beiden 
Sitze waren hochgeklappt und noch zwei weitere Liegeſtätten 
geſchaffen für die beiden „oberen“ Reiſenden, in dieſem Falle 
alſo für uns. Denn die beiden ſchwediſchen Herren, die ſeit 
Apſala mit uns fuhren, hatten es ſich bereits in den unteren 
Betten bequem gemacht. 

Die Kletterübungen, die man anſtellen muß, um in einem 
Schlafwagen das obere Bett zu erreichen, ſind manchmal 
beſchwerlich, zumal dann, wenn der Zug juſt eine kurvenreiche 
Strecke paſſiert und der Wagen ſchleudert, wenn man eben erſt 
ein ſehr reichliches Nachtmahl zu ſich genommen hat, und wenn 
man überhaupt wenig zum Akrobaten ſich eignet. 

Oas Geſicht des kleinen dicken Rechtsanwalts war tiefrot, 
als er endlich, ſchnaufend und keuchend, oben anlangte. 

Auch das Entkleiden erfordert unter ſolchen Umſtänden eine 
gewiſſe Gewandtheit, die zu beſitzen niemand verpflichtet iſt. 

Ooch endlich war es ſo weit, und wir legten uns hin, um 
zu ſchlafen. 

Wir erwachten erft in Hednoret, das nur noch ſechs Rilo- 
meter von Boden liegt. Jetzt galt es, ſich ſchnell anzuziehen, 
denn in zehn Minuten kamen wir nach Boden, wo wir aus- 
ſteigen wollten. 

3m Schweiße feines Angeſichts arbeitet der kleine Rechts- 
anwalt auf ſeinem hohen Lager, um die ſchweren Stiefel 
anzuziehen, die er ſich für die beabſichtigten Touren zuvor hat 
benageln laſſen. Auch in den zwei Unterbetten wird es lebendig. 
Die beiden Schweden machen ſich gleichfalls fertig. 

Während ich damit beſchäftigt bin, meine Krawatte zu 
binden, höre ich ein dumpf klatſchendes Geräuſch, dem ein 
lautes „Au!“ folgt. Dem Rechtsanwalt iſt in der Haſt einer 
ſeiner Stiefel entfallen, der den unter ihm ſitzenden Schweden, 
der ebenfalls gerade ſeine Stiefel anzieht, mitten auf den 
Kopf trifft. Es kann nicht angenehm fein, morgens bei nüd- 
ternem Magen einen benagelten Stiefel an den Kopf zu be- 
kommen. Ein wütendes Geſicht ſchaut nach oben, ein ver- 
legenes nach unten. 


u Mannigfaltiges. 211 


„Det gör ingenting!“ ruft der dicke Rechtsanwalt hinunter. 
Doch ſeine Entſchuldigung wird ungnädig aufgenommen. Der 
Schwede antwortet ſehr erregt und heftig verſchiedenes, von 
dem wir kein Wort verſtehen. Dann reibt er wütend ſeinen 
ſchmerzenden Kopf und würdigt den Attentäter keines Blickes 
mehr, der tieftraurig von ſeinem Lager herunterklettert und 
ſeinen Stiefel holt, den der Schwede mit einem Fußtritt in 
die Ecke geſchleudert hat. „Det gör ingenting!“ wiederholt 
der Rechtsanwalt fortgeſetzt. Doch der Schwede nimmt gar 
keine Notiz mehr von ihm. Nur einmal dreht er ſich um, ſtößt 
dabei jenen heftig an und ſchreit ihm dann ebenfalls „Det 
gör ingenting!“ entgegen. 

Der Zug hält in Boden, ehe der Rechtsanwalt Zeit hat, 
ſeinen zweiten Stiefel anzuziehen. Doch zum Glück iſt hier 
ein langer Aufenthalt, damit die Paſſagiere ihr erſtes Frühſtuͤck 
einnehmen können. So machen wir in Ruhe uns und unſer 
Gepäck fertig. ö 

Tieftraurig ſitzt der kleine dicke Rechtsanwalt in Boden 
vor dem Eiſenbahnhotel. Noch im letzten Augenblick hat ihm 
der weiterfahrende Schwede höhniſch ein „Det gör ingenting“ 
nachgerufen. Gewiß iſt es unangenehm, einen ſchweren, ge- 
nagelten Stiefel an den Kopf zu bekommen; aber ſchließlich, 
wenn der Attentäter ſein Mißgeſchick bedauert und ſich höflich 
entſchuldigt, dann iſt doch unter gebildeten Menſchen die Sache 
damit erledigt. Und wie oft hatte der Rechtsanwalt ſich ent- 
ſchuldigt! | 

Wohl zehnmal hat er fein „Det gör ingenting“ gejagt, glück- 
lich darüber, daß er die notwendigſten Redensarten rechtzeitig 
gelernt hatte und ſie nun anwenden konnte. Und doch hatte 
der Schwede keine Entſchuldigung annehmen wollen. Sollten 
auch dieſe notwendigen Redensarten mitunter ihre Wirkung 
verfehlen? 

Da plötzlich durchfährt mich ein Gedanke. Sollte am 
Ende — 

Schnell hole ich den Sprachführer aus der Taſche und ſchaue 
nach. Und dann reiche ich das Buch meinem Reiſegefährten. 
„Ihre Redensarten ſind gut, Verehrteſter. Aber Sie haben 


212 Mannigfaltiges. ao 


fie leider — verwechſelt. Jag ber om ursäkt heißt: Ich bitte 
um Entſchuldigung. Und Det gör ingenting heißt: Das macht 
gar nichts!“ 

Der dicke Rechtsanwalt ſchaut mich ſtarr an, reißt mir das 
Buch aus der Hand, blickt hinein und ſieht dann lange Zeit 
nachdenklich vor ſich hin. Endlich gibt er mir eine Antwort: 
„Ja, Sie haben recht. Das habe ich verwechſelt. Und jetzt 
verſtehe ich auch den Schweden, verſtehe ihn vollkommen. Er 
war im Grunde genommen doch ein ſehr höflicher Menſch. 
Denn wenn mir jemand einen genagelten Stiefel an den Kopf 
wirft und dann noch dazu ſagt: ‚Das macht gar nichts“ — 
wirklich, ich glaube, dem wäre ich noch ganz anders gekommen.“ 

„Ich meine aber, der Schwede iſt recht grob geworden. 
Nur haben Sie ihn nicht verſtanden. Schmeicheleien werden 
es juſt nicht geweſen ſein, die er Ihnen ſagte.“ 

Da fand der geknickte kleine Rechtsanwalt fein Selbit- 
bewußtſein wieder. „Sie ſehen alſo, daß ich recht hatte, als 
ich Ihnen ſagte, man brauche nichts von der Sprache eines 
Landes zu lernen, in dem man herumfährt. Dieſe Sprachkennt- 
niſſe ſind durchaus nicht notwendig und nicht einmal immer 
wünſchenswert. Denn, wenn ich nun alles verſtanden 
hätte —“ H. Welten. 

Des Wanderns Einfluß auf die Nerven. — 

Wenn du an Pult und Tiſche 
Geſchafft dich lahm und krumm, 
Zum Teufel ging die Friſche 
Samt dem Ingenium; 

Dein Hirn wie zähes Leder, 
Wie Schwarzblech hart dein Kopf: 
Zerſtampfe dann die Feder, 
Reiß aus, du armer Tropf! 
Raus aus dem Haus! 

Raus aus der Stadt! 

Nix wie raus! 

Dieſe Verſe aus dem Fremdeubuche der Douglashütte am 
Fuße der Scefaplana find der Wonneſchrei eines der vielen 
„Mühſeligen und Beladenen“, die, erſchlafft unter dem Drucke 


o Mannigfaltiges. 213 


des nervenzermürbenden Dafeinstampfes, beim Wandern Er- 
holung gefunden haben in dem unerſchöͤpflichen Lebequell der 
Natur. 

Jeder empfindet bei längerem Wandern diefe wohltuende 
Erleichterung, die Erfriſchung von Geiſt und Gemüt. Wandern 
iſt keine Symnaſtik zur Erzeugung von Athletenmuskeln oder 
zur Erlangung turneriſcher Gelenkigleit; fein Hauptwert be- 
ſteht in der Kräftigung der lebenswichtigſten Organe und in 
ſeiner Geſundungskraft für Nerven und Gehirn. 

Immer mehr lernt die Wiſſenſchaft erkennen, von wie ver- 
hängnisvollem Einfluß die Stoffwechſelprodukte, Kohlenſäure, 
Ermüdungsſtoffe auf die Leiſtungsfähigkeit des Nervenſyſtems 
find, und bezeichnet fie deshalb als „Selbſtgifte“. Dieſe ſchwemmt 
nun das durch die körperliche Bewegung ſchneller pulſierende 
Blut raſch und vollkommen weg. In einem hurtig fließenden 
Bächlein ſetzen fih nie Schlamm, Fäulnis- und Verweſungs- 
ſtoffe an, wohl aber in einem träge fließenden Graben. 

3m Blutſtrom unſeres Körpers ſchwimmen ungefähr 
25 Billionen Frachtſchiffchen, die den Geweben fortwährend 
neue Nahrung zuführen. Das find die Blutkörperchen. Natür- 
lich können fie ſchneller ihre Nährfracht und öfter an den Be- 
ſtimmungsort befördern, wenn raſch fließender Blutſtrom ihnen 
eine flotte Fahrt verleiht. Es tritt alſo ein ſchnellerer Erſatz 
der geſchwächten oder verbrauchten Nervenſubſtanz ein. 

Die wertvollſte Ladung jener Frachtſchiffchen ift der Sauer- 
ſtoff. Er wird eingeladen in den Lungen. Befindet ſich aber 
in dieſem Depot kein genügender Vorrat, fo hat das ſchlimme 
Folgen. Wenn wir ruhen oder ſitzen, atmen die Lungen nur 
ganz oberflächlich, nehmen alſo nur wenig Sauerſtoff auf; 
befinden wir uns in „ſchlechter“, ſauerſtoffarmer Luft, in ge- 
ſchloſſenen Zimmern, überfüllten Räumen, dann können die 
Lungen beim beſten Willen nicht genügend von dieſem Lebens- 
elixir bekommen, Nerven und Gehirn leiden not, wir werden 
ſchwach, matt, hinfällig, es tritt ſchließlich Schwindel und Ohn— 
macht ein. 

Wie anders beim Wandern draußen in der freien Natur, 
wo jedes Blatt und jeder Grashalm eine kleine Sauerſtoff— 


214 Mannigfaltiges. u 


fabrik darſtellt! Befreit vom drückenden Alp der Zimmerluft, 
atmen die Lungen in vollen Zügen die lebenſpendende Luft ein. 

3a — in vollen Zügen, denn auf das Fünffache ſteigt die 
Luftaufnahme infolge des tieferen und raſcheren Atemholens 
ſchon beim Wandern von 5 Kilometern in der Stunde. Da 
können die Blutkörperchen immer von neuem im Lungendepot 
ſich voll befrachten und den Nerven ſowie Gehirn ihren Kraft- 
ſpender zuführen. Das iſt eine durchgreifende Stärkungskur 
für das geſamte Nervenſyſtem, welche die Widerſtandsfähigkeit, 
Spannkraft und geiſtige Elaſtizität ganz bedeutend erhöht. 
„Soll geiſtiges Leben wohl gedeihen, ſo muß der Leib ihm 
Kraft verleihen.“ 

Alle Abgearbeiteten, Hypochonder, Nervöſen follen wandern 
über Berg und Tal, fo oft und fo lange wie möglich. Ihr felbft- 
quäleriſches Grübeln, das beängſtigende Gefühl verringerter 
Leiſtungsfähigkeit, die drückenden Gedanken an Beruf und 
häusliche Sorgen werden verdrängt von den ſtets wechſelnden 
Eindrücken in der herrlichen Natur, vom Kampf und Spiel 
der Tiere, vom Wachſen und Blühen der Pflanzenwelt. Eine 
harmoniſche, fröhliche Gemütsverfaſſung ſtellt ſich ein. Durch 
die allmählich verlängerten Wanderungen hebt fih das Ber- 
trauen auf die eigene Leiſtungs fähigkeit. Man kehrt friſch und 
geſtärkt von der Wanderung heim, erfreut ſich, wie nie zuvor, 
eines lebhaften Appetits und erquickenden, tiefen Schlafes. 

Friſch auf drum, friſch auf im hellen Sonnenſtrahl, 

Wohl über die Berge, wohl durch das tiefe Tal; 

Die Quellen erklingen, die Bäume rauſchen all, 

Mein Herz iſt wie 'ne Lerche und ſtimmet ein mit Schall! 
Dr. Th. 

Aus der Sommerfriſche des niederländiſchen Hofes. — 
Königin Wilhelmina der Niederlande hat eine ausgeſprochene 
Vorliebe für das von einem herrlichen Park eingerahmte Luft- 
ſchloß Het Loo, das in der Nähe von Apeldoorn liegt. Sie 
verbrachte hier ihre Kinderjahre. Infolge dieſer angenehmen 
Zugenderinnerungen weilt fie oftmals mit ihrem Gatten, dem 
Prinz-Gemahl Heinrich, und N vierjährigen Töchterchen 
Juliana in Het Loo. 


D Mannigfaltiges. 215 


Roch ift dort das kleine Luſthaus, das „Prinſeſſehuisje“, 
vorhanden, das ſie ſich als Prinzeßchen nach ihrem Geſchmack 


Königin Wilhelmina, Prinzeß Juliana und Prinz Heinrich. 


einrichten durfte, und in dem ſie mit ihren Hunden und Tauben 
ſpielte. Jetzt ift das „Prinſeſſehuisje“ der Prinzeß Juliana 


216 Mannigfaltiges. 2 


— ee — 


überwieſen worden, die ſich in ihm ebenſo fröhlich vergnügt 
wie ehemals ihre königliche Mutter. 

Mitten im Park breiten ſich drei Teiche aus, auf denen die 
Eltern mit ihrem Töchterchen häufig Bootfahrten unternehmen. 
Ebenſo werden auf den Raſenplätzen oftmals Bewegungsſpiele 
geübt, an denen ſich auch, ſoweit es bei ihrem Alter möglich 
iſt, die kleine Prinzeß Juliana heiter beteiligt. Ihr helles Lachen 
miſcht ſich dann ausgelaſſen in die Rufe der Spieler. 

Zuweilen kann man die Königin Wilhelmina, die geſchickt 
malt, auch vor einer Staffelei im Park antreffen, wo ſie eine 
hübſche Baumgruppe auf die Leinwand bringt. Der Prinz- 
Gemahl Heinrich, der ein Freund der Waldkultur iſt, hat für 
die Verbeſſerung des Parkes viel getan, wie er auch das Schloß 
im mittelalterlichen Stil neu herrichten ließ. Th. S. 
„General Hoche und die Koblenzer. — Im Fahre 1795 
lagen ſtarke Truppenteile der franzöſiſchen Armee in der da- 
mals noch zum Kurfürſtentum Trier gehörenden Stadt Koblenz. 
Ihr Befehlshaber war der General Hoche, ein rauher Kriegs- 
mann, der überall mit rückſichtsloſer Härte auftrat. Nachdem 
er der Stadt Koblenz zunächſt eine hohe Kriegskontribution 
auferlegt hatte, die auch pünktlich bezahlt wurde, verlangte er, 
daß der Magiſtrat innerhalb vierundzwanzig Stunden zwei- 
tauſend Paar Stiefel für die reichlich abgeriſſenen franzöſiſchen 
Soldaten beſchaffen ſollte. Dieſe Forderung zu erfüllen war 
den Stadtbehörden beim beſten Willen unmöglich. Man brachte 
an dem einen Tage nur hundertſechzig Paare zuſammen. 

Als eine Deputation des Magiſtrats dies dem General mit- 
teilte und zugleich um eine Verlängerung der Friſt bat, war 
Hohe zunächſt äußerſt ungehalten und drohte mit Zwangs- 
mitteln vorzugehen; ſchließlich ließ er ſich aber doch beruhigen 
und verſprach, noch vierzehn Tage warten zu wollen. Hoch- 
beglückt zog die Deputation wieder ab. 

Am folgenden Morgen wurde von dem General durch Pla— 
kate und Ausrufer eine allgemeine Volksverſammlung für den 
nächſten Tag auf den Marktplatz anberaumt. Es ſollte öffent- 
lich beraten werden, in welcher Weiſe man dem durch die Kriegs- 
unruhen entſtandenen Lebensmittelmangel am beſten abhelfen 


D Mannigfaltiges. 217 


könne. Berechtigt zur Teilnahme war jeder männliche Bürger 
über achtzehn Jahre. Leute, die Vorſchläge machen wollten, 
ſollten ſich vorher bei dem Adjutanten des Generals melden 
und ſich in die Rednerliſte eintragen laſſen. 

Die Koblenzer konnten ſich gar nicht genug über dieſes für- 
ſorgliche Entgegenkommen des franzöſiſchen Befehlshabers 
wundern. In der ganzen Stadt war nur eine Stimme des 
Lobes für General Hoche, und am nächſten Tage ſtrömte zur 
feſtgeſetzten Stunde alles, was über achtzehn Jahre hinaus 
war, auf dem Marktplatz zuſammen, fo daß diefer die Menge 
kaum faſſen konnte. An den offenen Fenfter der Häuſer 
aber ſah man die Koblenzer Frauen neugierig auf dieſes 
Schauſpiel herabblicken. Zum Schluß nahte in feierlichem 
Zuge auch der geſamte Magiſtrat und nahm auf den bereit- 
ſtehenden Bänken mitten auf dem Markte Platz. 

Gleich darauf erklangen Trommelwirbel. General Hoche 
erſchien mit ſeinem Adjutanten, hinter ihm zwei Kompanien 
Infanterie. Ebenſo waren auch durch andere Seitenſtraßen 
kleinere Trupps franzöſiſcher Soldaten unauffällig bis zum 
Markte vorgedrungen, die nun, verſtärkt durch die Leibwache 
des Generals, urplötzlich um die verſammelten Bürger einen 
dichten Kordon zogen. Da erſt merkten die Koblenzer, daß hier 
irgend etwas nicht ſtimmte. Einige wollten ſich jetzt noch ſchnell 
heimlich drücken; aber niemand durfte den von dem Militär 
umſtellten Kreis verlaſſen. Drohend ſtreckten ſich jedem die 
Bajonette entgegen. 

Inzwiſchen hatte der Adjutant des Generals die Redner- 
tribüne erſtiegen und las mit weithin ſchallender Stimme einen 
Befehl des Höchſtkommandierenden vor, dahin lautend, daß 
jeder der zu der Verſammlung Erſchienenen ſich ſogleich ſeiner 
Stiefel zu entledigen habe. Da bisher von dem Magiſtrat 
die verlangten Stiefel nicht geliefert worden ſeien und General 
„Hohe nicht mehr länger auf die Erfüllung dieſer Forderung 
warten könne, habe man zu dieſer Liſt greifen müſſen. 

Hierauf natürlich zunächſt ungeheurer Lärm und laute Ent— 
rüſtungsrufe. Aber damit änderten die Koblenzer nicht das 
geringſte. Die Bajonette ringsum redeten eine deutliche Sprache, 


218 Mannigfaltiges. 2 


und als die Mitglieder des Magiſtrats nun mit gutem Beiſpiel 
vorangingen, ihre Stiefel auszogen und — allerdings mit recht 
ſauren Mienen — von dannen zogen, folgte bald einer nach 
dem anderen. 

Die an den Fenſtern verſammelte Koblenzer holde Weib- 
lichkeit bezeigte leider für diefe demütigende Situation, in der 
ſich ihre Väter, Ehegatten, Verlobten und Brüder befanden, 
recht wenig Verſtändnis. Erſt erklang hie und da ein halb unter- 
drücktes Lachen, als die würdigen Herren auf Strümpfen, viele 
auch barfuß, dem Ausgang zuſtrebten und dabei ängſtlich die 
ſpitzen Steine des Pflaſters zu vermeiden ſuchten, was ihrem 
Gange etwas ungemein Komiſches gab; dann wurde dieſe 
Fröhlichkeit ſtärker und ſtärker, bis der ganze Markt von einem 
nicht endenwollenden Gelächter widerhallte. 

Begleitet von dieſen Heiterkeitsausbrüchen ſchlichen die 
armen geprellten Männer wutſchnaubend davon. 

General Hohe ließ dann am nächſten Morgen eine neue 
Bekanntmachung austrommeln, worin er den Koblenzern höf- 
lichſt dankte, daß fie ihm fo ſchön in die Falle gegangen feien 
und ihm das Einziehen der Stiefelkontribution ſo weſentlich 
vereinfacht hätten. W. K. 

Der Kampf mit Mondamin. — Wem iſt nicht heutzutage 
das feine Maismehl bekannt, das unter dem Namen Monda- 
min“ von Nordamerika zu uns herüberkam und von unſeren 
Hausfrauen gern zu allerlei ſüßen Nachtiſchgerichten verwendet 
wird? Man glaubt gewöhnlich, der Name. Mondamin (der 
Ton liegt auf der zweiten Silbe) ſei eine jener neuzeitlichen 
Erfindungen, jener willkürlichen und phantaſtiſchen Wort- 
bildungen, mit denen uns die moderne Nahrungsmittelinduſtrie 
fo üͤberreichlich beglückt hat und noch tagtäglich beglückt. Doch 
ift dies keineswegs der Fall. Mondamin ift vielmehr der bei 
den Indianern ſüdlich der Großen Seen, beſonders den Dela- 
waren, Tſchippewäs und Dakotas, gebräuchliche Name für 
die Maispflanze, die ihnen von alters her ihre vegetabiliſchen 
Nahrungsmittel lieferte und unter allen Feldfrüchten faſt allein 
von ihnen vor Ankunft der Weißen kultiviert wurde. Der Sage 
nach verdanken fie dieſe Feldfrucht ihrem Nationalhelden Hia- 


u p. Mannigfaltiges. 219 


watha, dem indianiſchen Herakles, der ihnen die erſten An- 
fånge der Kultur erſchloß, indem er mit Geiſtern und Ungeheuern 
kämpfte, um ſeine roten Brüder glücklich zu machen. 

Dieſe Sagen hat uns der berühmte nordamerikaniſche Dichter 
Longfellow in feinem „Sang von Hiawatha“ aufbewahrt, und 
eine derſelben ſchildert auch in Form einer Allegorie, wie Hia- 
watha ſeinem Volke das Maispflanzen lehrte. Der Inhalt iſt 
folgender: Bekanntlich werden Jägervöͤlker in Jahren, in denen 
Jagd und Fiſchfang unergiebig find, regelmäßig von Hungers- 
not heimgeſucht. Dieſer Zuſtand bekümmert Hiawatha, und 
er beſchließt, durch ein ſiebentägiges Faſten den Gitſche Manitu, 
den Großen Geiſt, zur Hergabe eines neuen Nahrungsmittels, 
das die Hungersnöte unmöglich mache, zu bewegen. In einer 
Laubhütte im tiefſten Walde beginnt er ſein Faſten; am erſten 
Tage denkt er über die Jagd nach; das Ergebnis iſt der Seufzer: 
„Großer, mächtiger Geiſt, ſoll dies unſer einziger Unterhalt 
ſein?“ Am zweiten Tage iſt es der Fiſchfang, der ihn be- 
ſchäftigt, und am dritten das Sammeln wilder Beeren und 
Früchte. Damit ſind die Mittel zur Erhaltung des roten Mannes 
erſchöpft. Sollen es die einzigen fein und bleiben? Hiawatha, 
ſchon ſtark geſchwächt durch den Hunger, wartet auf Antwort 
auf dieſe Frage, die er an den Gitſche Manitu gerichtet hat. 
Am vierten Tage in der Morgenfrühe naht ſich ihm ein junger 
unbekannter Krieger im grünen Jagdhemd, auf ſeinem Scheitel 
wallen gelbe Federn. Er ſagt zu Hiawatha: „Der Große Geiſt 
hat dein Flehen gehört. Er fendet mich, Mondamin. Ringe 
mit mir!“ Hiawatha nimmt den Kampf auf und ringt 
mit Mondämin bis zur ſinkenden Sonne. Dann ver- 
ſchwindet dieſer und läßt Hiawatha erſchöpft und bedrückt 
zurück, denn er ift nicht Sieger geblieben. Bei Sonnenauf- 
gang beginnt am nächſten Tag der Kampf aufs neue, und ſo 
vier Tage lang. Obgleich Hiawatha durch die furchtbare Anftren- 
gung und das Faſten immer ſchwächer wird und nahe daran ift, zu 
erliegen, gibt er doch ſeinen Vorſatz nicht auf, ſondern beharrt 
darauf, feinem Volke eine neue Lebensmöglichkeit zu erkämpfen 
oder fein Leben zu laffen. Am vierten Tage endlich, alfo dem ſieben- 
ten feines Faſtens, gelingt es ihm, Mondamin mit Sonnenunter- 


220 Mannigfaltiges. | o 


gang zu überwinden. Der junge Krieger ſinkt ſterbend zufam- 
men. Vor ſeinem Verſcheiden fordert er von ſeinem Beſieger, 
daß er ihn begrabe und ſein Grab ſorgfältig im Stande halte; 
bei gewiſſenhafter Befolgung dieſes Wunſches ſagt er ihm die 
Erfüllung ſeines Strebens und ein dereinſtiges Wiederſehen 
voraus. Hiawatha tut nach Mondamins Willen. Er begräbt 
ihn, reinigt die Grabſtätte von allem Unkraut, ſcheucht die Krähen 
fort, die ſich nahen wollen, und wacht weiterhin getreulich über 
des Toten Ruheſtätte. Bald zeigen fih junge zarte Sproſſen, 
die aus dem wohlgereinigten Boden hervorſchauen und täglich 
höher wachſen. Hiawatha fährt fort, das Grab zu pflegen und 
alle Schädlinge abzuhalten, und als nun im Sommer der Mais 
in voller Blüte ſteht in ſeinem grünen Kleide und ſeinen gelben 
Blüten und Blumenblättern, da ruft er freudig aus: „Monda- 
min! Mondämin! Er iſt wieder auferſtanden, wie er es 
vorhergeſagt hat.“ 

Auf dieſe Weiſe kamen die Indianer der nördlichen Staaten 
der Union in den Beſitz des Maiſes, den fortan nach Hiawathas 
Anweiſung die Weiber und die jungen, noch zum Kampfe 
unfähigen Burſchen anbauten, und deſſen Körner, in ſicheren 
Speichern untergebracht, jede winterliche Hungersnot unmög— 
lich machten. Vielleicht werden nach dieſer Aufklärung und 
in Erinnerung an die mythiſche und poetiſche Herkunft des 
Mondamins die daraus verfertigten Speiſen unſeren Leſern 
doppelt ſo gut munden als bisher. F. Z. 

Ein indirekter Selbſtmord. — Es war im Fahre 1824, 
als in London Lord M. eines Tages in eine Wirtſchaft trat, 
fih an einen Tiſch ſetzte, an dem ein anderer Herr frühſtückte, 
und nach Verlauf weniger Minuten kaltblütig ſein Gegenüber 
erſchoß. Sogleich entſtand ein fürchterlicher Lärm, und alles 
blickte entſetzt nach dem Mörder. 

Der erhob ſich ruhig und ſagte: „Wozu der Lärm? Was 
iſt geſchehen? Dieſer Herr iſt tot, und ich werde es hoffentlich 
auch bald ſein. Man bringe mich vor den Richter, wo ſich alles 
aufllären wird.“ 
| Ohne den geringſten Widerſtand ließ ſich der Lord verhaften 

und erklärte dem Richter: „Die Sache iſt ſehr einfach. Ich bin 


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D | Mannigfaltiges. 221 


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des Lebens überdrüſſig und wollte mir ſchon dreimal den Tod 
geben, aber ich fand immer den Mut nicht dazu. Den Ge- 
danken, mir jemand als Mörder zu dingen, verwarf ich eben- 
falls und entſchloß mich endlich, durch einen Mord dem Henker 
zu verfallen, der umſonſt tötet. Das iſt der Grund, weshalb 
ich den Mann ermordet habe, den ich gar nicht kenne und der 
mir nichts zuleide getan hat. Ich bitte, meinen Prozeß zu 
beſchleunigen und mich bald zu hängen.“ 

Da die Unterſuchung die Richtigkeit dieſes merkwürdigen 
Geſtändniſſes ergab, fo wurde der ſeltſame Mörder vor Ge- 
richt geſtellt und trotz des ungeheuren Aufſehens, das ſein Fall 
in ganz England erregte, ſeinem Wunſch entſprechend zum Tod 
durch den Galgen verurteilt. Auf der Leiter rühmte er ſich 
noch, „eine ebenſo neue als ſichere Art des Selbſtmordes ent- 
deckt zu haben“. W. F. 

Treibjagd auf Schlangen. — Von einer ſolch merkwürdigen 
gagd entwirft der Oberſt Marverley folgende Schilderung. „Die 
Reſidentſchaft Bhartpur in Indien, die von dem Oſchamna- 
fluß durchſtrömt wird, erfreut ſich wegen ihres Reichtums an 
giftigem Gewürm in Kolonialkreiſen einer traurigen Berühmt- 
heit. Die weiten, ſumpfigen Ebenen, zum Teil bedeckt mit 
undurchdringlichem Dorngeſtrüpp, find ein vorzüglicher Schlupf 
winkel für Giftſchlangen, aber auch für Tiger und anderes 
Raubzeug. Die Reſidentſchaft, die 1905 noch 83,000 Bewohner 
auf dem flachen Lande zählte, hatte im Jahre 1911 nur noch 
50,000 Menſchen. Nicht etwa, daß dieſe durch die Reptilien 
und die wilden Tiere derart dezimiert worden wären, denn 
auf deren Rechnung hatte man jährlich ‚nur‘ drei- bis vier- 
hundert Menſchenleben zu ſetzen, ſondern die Leute waren 
einfach in weniger gefährliche Diſtrikte abgewandert. 

Beſonders die Viehzucht hatte als notwendige Begleit- 
erſcheinung dieſer Bevölkerungsabnahme einen derartigen Rüd- 
gang zu verzeichnen, daß der Reſident von Bhartpur ſich im 
Frühjahr 1911 zu energiſchen Maßregeln gegen die Verödung 
der für Herdenwirtſchaft vortrefflich geeigneten Landſtrecken 
entſchließen mußte. In der Hauptſache handelte es ſich darum, 
einmal gründlich der Schlangenplage Herr zu werden. Dies 


222 Mannigfaltiges. a) 


wurde denn auch auf ebenſo praktiſche wie auch verpältnis- 
mäßig einfache Weiſe erreicht. Auf Antrag des Refidenten 
ſtellte man ihm ſechs Kompanien vom 8. Schützenregiment zur 
Verfügung. Ebenſo erklärten ſich die meiſten Offiziere der 
umliegenden Garniſonen freiwillig zur Teilnahme an dem 
Vernichtungskriege gegen die Reptilien bereit. 

Das Frühjahr 1911 war ungewöhnlich trocken und der 
Pflanzenwuchs der Bhartpurebenen daher durch die Sonne 
völlig verdorrt, ſo daß es keine Schwierigkeiten machte, die 
Schlangen durch Niederbrennen des Dickichts aus ihren ſonſt 
unzugänglichen Schlupfwinkeln herauszuräuchern. Am 14. April 
1911 hatte ich Gelegenheit, dem erſten dieſer Treiben beizu⸗ 
wohnen. Es handelte fih um ein Gebiet von etwa 8000 Quadrat- 
meter Größe, den reptilienreichſten, unwegſamſten Teil der 
Reſidentſchaft, der zunächſt von dem giftigen Getier ge- 
ſäubert werden ſollte. 

Die Vorbereitungen waren einfach genug. Es wurde durch 
das Militär rings um das. betreffende Landftüd ein etwa 
70 Meter breiter Ring durch Feuer vom Graſe befreit, ſo daß 
der Brand ſpäter nicht weiter als gewünſcht um ſich greifen 
konnte. Am Zagdtage ſelbſt herrſchte ein nur mäßiger Wind, 
der von den Höhen des Himalaja herab in der Richtung nach 
Südweft wehte und dem Vorhaben durchaus günſtig war. Wir 
Offiziere hatten uns am Rande des kahlen Schutzſtreifens in 
Abſtänden von etwa 200 Metern poſtiert. Zwiſchen uns waren 
Unteroffiziere und Mannſchaften aufgeſtellt, die zum Teil ebenſo 
wie wir mit Schrotflinten bewaffnet waren. Neben jedem 
Offizier ſtanden zwei Büchſenſpanner mit Kugelgewehren, da 
man wußte, daß ſich innerhalb des Triebes auch größeres 
Raubwild befand, mit deſſen Hervorbrechen beſtimmt zu rechnen 
war. Ich ſelbſt hatte mir einen Platz an der rechten Längsſeite 
des derart eingekreiſten Geländes ausgeſucht. 

Gegen ſechs Uhr morgens begann die Jagd. Durch Horn- 
ſignale, die in unſerer Kette weitergegeben wurden, verſtändigte 
man uns, daß das Gras und das Geſtrüpp an der Nordoſtſeite 
des umzingelten Geländes angezündet worden war. Kurz 
darauf bemerkten wir auch ſchon am Horizont dichte Rauch- 


u Mannigfaltiges. 223 


wolken und roten Feuerſchein, die, vom Winde in der ge- 
wünſchten Richtung vorwärts getrieben, langſam näher gerückt 
kamen. Bald wurde es vor uns lebendig. Allerlei Wild huſchte 
durch das Oickicht jenſeits des kahlen Streifens, vermied es 
aber zunächſt noch, fih der Schügenlinie bis auf Schußweite 
zu nähern. Verabredungsgemäß ſollte nur auf Raubzeug und 
Schlangen geſchoſſen, alle anderen Tiere aber geſchont werden. 
Jetzt knallten links von mir die erſten Schüſſe. Immer mehr 
näherte ſich das Feuermeer. Schon ſah ich deutlich die roten 
Flammenzungen zum Himmel lecken. Ä 

Plötzlich zeigt mein eingeborener Diener Monſa auf einen 
dunklen Körper, der ſich vor mir zwiſchen Akazienbüſchen hin- 
durchdrückt. Jetzt habe ich den Kopf deutlich vor Augen. Es 
iſt ein Lippenbär, ein großes, ſtarkes Exemplar. Zch reiße 
dem Büchfenfpanner die Rugelbühfe aus der Hand. Zu ſpät. 
Schon blitzt es neben mir bei Leutnant Ranlay auf. Der 
Bär macht einen Satz in die Luft und bleibt dann regungslos 
liegen. Kopfſchuß alfo. Ein paar Eingeborene ſtürzen über 
den verkohlten Grasſtreifen und ſchleppen das mächtige Tier 
nach Ranlays Platz hin. 

Immer häufiger knallen die Schüſſe. An dem Klang 
erkenne ich, daß es meiſt Schrotflinten ſind. Schon werde ich 
ungeduldig. Das Jagdfieber hat mich gepackt. Ein paar wilde 
Hunde kommen dahergerannt. Einer nach dem anderen über- 
ſchlägt ſich ſchwer getroffen. Den letzten ſtreckt meine Kugel 
nieder. Und dann windet es ſich über den ſchwarzen, ver- 
brannten Boden auf mich zu. Deutlich ſind die dicken Köpfe 
von Brillenſchlangen zu erkennen. Ein Unteroffizier links von 
mir ſchießt. Die Schrote wühlen die Erde auf. Das vorderſte 
Reptil krümmt ſich zuſammen, macht kehrt. Ich reiße meine 
Doppelbüchſe an die Backe. Der Körper der Brillenſchlange 
ſchnellt hoch, windet ſich wild hin und her. Auch die beiden 
anderen werden ſchnell abgetan. Die Schrotbüchſe wirkt hier 
vorzüglich. Kleinere Baumſchlangen fahren aus dem Geſtrüpp 
heraus. Die mit Stöcken bewaffneten Eingeborenen ſchlagen 
ſie tot. Einen Schuß wären ſie nicht wert. Noch vier mächtige 
Kettenvipern kommen auf meine Rechnung. 


224 Mannigfaltiges. o 


Zetzt wird die Hitze unerträglich. Das Feuer ift teine 
100 Meter mehr von uns entfernt. Wir müſſen weichen. Ich 
poſtiere mich 30 Meter zurück auf einer vom Sturm umgeknickten 
Dattelpalme, jo daß ich den kahlen Ring noch immer über- 
ſchauen kann. Das Brandmeer zieht mit Kniſtern und Brauſen 
langſam an uns vorüber. Viermal komme ich noch zum Schuß. 
Drei weitere Kettenvipern und eine mächtige Brillenſchlange 
krümmen ſich in letzten Zuckungen auf der ſchwarzen Erde. 

Die Hitze, die einem faſt den Atem benahm, läßt endlich 
nach. Ich ſuche meinen alten Platz wieder auf. Unſere Arbeit 
iſt jedoch getan. Da vor uns in den noch immer glimmenden 
Büſchen, wo hie und da noch einzelne Flammen hochſchießen, 
iſt alles Lebende vernichtet. Die Eingeborenen beginnen ſchon, 
unſere Beute zuſammenzutragen. Was davon noch lebt, wird 
mit Knütteln vollends totgeſchlagen. Mein Diener Monſa 
gerät mit dem des Leutnants Ranlay in einen heftigen Streit 
um die zuletzt von mir geſchoſſene Brillenſchlange. Ich hatte 
aber das beſſere Recht auf ſie, und ſo kommt ſie zu meinem 
Haufen, der ſieben zerfetzte Schlangenleiber aufweiſt. 

Nach einer weiteren halben Stunde ertönt das Signal, 
daß die Jagd beendet iſt. Auf dem Sammelplatz herrſcht ein 
Leben und Treiben wie bei einem Volksfeſt. Die Eingeborenen 
tanzen wie die Beſeſſenen um die Körper ihrer gefürchteten 
Feinde herum. Und immer neue Beute wird herbeigeſchleppt. 
Als alles beieinander iſt, wird die Strecke genau durchgezählt. 
262 Giftſchlangen, 2 Lippenbären, 1 Tiger, 16 Wölfe und wilde 
Hunde ſind's. Ein Tiger iſt, wenn auch ſchwer angeſchoſſen, 
durchgebrochen und entkommen. Leider hat ſich auch ein ernſter 
Anfall ereignet. Einer der Unteroffiziere hat einen böſen 
Kugelſchuß durch die linke Schulter erhalten. ö 

Am Nachmittag war die Erde ſo weit abgekühlt, daß wir 
das niedergebrannte Gebiet nach vielleicht noch vorhandenen 
Reptilien abſuchen laſſen konnten. Hierbei wurden noch 
42 halbverkohlte Schlangen gefunden. Im ganzen hatte dieſe 
eine Treibjagd alfo ein Ergebnis von 304 Giftſchlangen auf- 
zuweiſen, eine Zahl, die unſere Erwartungen bei weitem 
übertraf. 


u Mannigfaltiges. 995 


Zu meinem Bedauern war es mir aus dienftlihen Gründen 
nicht möglich, auch noch den fünf weiteren Treiben, die im 
Laufe der nächſten Tage abgehalten wurden, beizuwohnen. 
Auch bei dieſen handelte es ſich ſtets um Gegenden, die wegen 
ihrer Unzugänglichkeit feit langem geradezu als Schlangenbrut- 
ſtätten bekannt waren. Von Kameraden erfuhr ich dann, daß 
die ſechs Jagdtage insgeſamt 921 Giftſchlangen, 3 Tigern, 
4 Bären und einigen vierzig Wölfen und wilden Hunden das 
Leben gekoſtet hatten. 

Als ich dann ein Vierteljahr ſpäter bei Gelegenheit eines 
militäriſchen Abungsmarſches jenes Gebiet, auf dem die erſte 
Treibjagd ſtattfand, beſichtigte, war von den Verwüſtungen, 
die das Feuer in der Vegetation angerichtet hatte, nirgends 
mehr eine Spur zu erblicken. Glückliches Indien, deſſen Klima 
wie durch einen Zauberſpruch im Verlauf weniger Wochen 
eine üppige Grasdecke emporſchießen läßt, und wo Bäume 
und Sträucher trotz der ſchwerſten Brandwunden überall neue 
Triebe und Schößlinge anſetzen — glückliche Neſidentſchaft 
Bhartpur, die dank dieſer energiſchen Maßnahmen für alle 
Zeit den Namen ‚Schlangenparadies‘ verloren haben dürfte, 
und auf deren Graslichtungen jetzt der Hindu ungefährdet ſeine 
Hütte aufſchlagen, ſeine Herde weiden laſſen kann!“ W. K. 

Eine hundertjährige Strafe hat jetzt ein Ende gefunden, 
und zwar in der engliſchen Armee. Im Jahre 1812 war das 
12. engliſche Ulanenregiment mit unter den Truppen, die an 
dem ſogenannten Peninſularkriege in Spanien teilnahmen. Da- 
mals kämpften die Spanier ihren Verzweiflungskampf gegen 
Napoleon und wurden von den Engländern unterſtützt. Der 
Feldzug war ſehr anſtrengend, beſonders die Verpflegung war 
ſchlecht, und die engliſchen Soldaten mußten oft hungern. 
Aus Verzweiflung, weil ſie ſchon längere Zeit nichts zu eſſen 
bekommen hatten, drangen eines Tages Mannſchaften des 
12. Ulanenregiments in ein ſpaniſches Kloſter ein und plün- 
derten Küche und Keller. Natürlich beſchwerten ſich die Spanier 
energiſch über dieſe Gewalttätigkeit ihrer Verbündeten, und 
die Klage kam bis zum Höchſtkommandierenden, dem be- 
rühmten Herzog von Wellington. Der ließ das ganze Regiment 

1913. XI. 15 


226 Mannigfaltiges. 2 


antreten, hielt ihm eine donnernde Strafpredigt wegen der 
Plünderung und verfügte endlich folgende Strafe: Jeden Abend 
ſollte das ganze Regiment um zehn Uhr zum Appell antreten, 
und die Muͤſikkapelle ſollte fünf Stücke ſpielen, und zwar die 
engliſche Nationalhymne, die ſpaniſche und die ruſſiſche National- 
hymne, den Walesmarſch und das Abendgebet. Während die 
Muſik ſpielte, ſollten ſämtliche Mannſchaften ſtillſtehen. Der 
Herzog verfügte gleichzeitig, daß dieſe Strafe hundert Jahre 
dauern ſollte. 

Während des Feldzuges und auch ſpäter wurde dieſe Strafe 
beſtändig durchgeführt. Als aber das Regiment wieder in 
der Heimat war, milderte man die Sache etwas: es trat nur 
die Muſik an, um die fünf Stücke zu ſpielen, und den Soldaten, 
die aus Neugier hinkommen wollten, war es geſtattet, anweſend 
zu ſein. Im Laufe der Zeit betrachtete das Regiment das 
allabendliche Spielen der Muſik nicht als eine Strafe, ſondern 
als eine Art Vorrecht. 

Das Regiment, das zurzeit in Südafrika ſteht, hat bisher 
ſtreng diefe Abendmuſik durchgeführt. Die hundert Jahre 
ſind jetzt vorüber; es iſt aber fraglich, ob dle Abendmuſik auf- 
hören wird, weil das Regiment ſie als ein Vorrecht betrachtet 
und wahrſcheinlich bei der vorgeſetzten militäriſchen Behörde 
darum einkommen wird, ihre Strafabendmuſik weiter behalten 
zu dürfen. A. O. K. 

Der kleinſte Oſterreicher. — Wir find gewöhnt, uns die 
Gebirgler als einen großen, kräftigen Menſchenſchlag vorzu- 
ſtellen. Daß es aber auch hier Ausnahmen gibt, zeigt das 
Beiſpiel des dreiundzwanzigjährigen Alois Unterkirchner, der 
aus dem Puſtertal ſtammt. Er hat eine Körperlänge von nur 
71 Zentimetern. Er dürfte damit der kleinſte Mann in ganz 
Oſterreich-Ungarn fein. Von Beruf ift er Schneider. Er übt 
dieſes Handwerk während des Winters auf den bäueriſchen 
Höfen eifrig aus und ſoll darin ſehr geſchickt ſein. Im Sommer 
hält er ſich in Kufſtein auf, wo er eine allgemein bekannte 
„Größe“ iſt und gewiß ſchon dieſem oder jenem Beſucher Kuf— 
ſteins auffiel. Die rechte Vorſtellung von ſeiner Winzigkeit 
ergibt erſt der Vergleich mit einem Mann von normaler Größe. 


Alois Unterkirchner, der kleinſte Oſterreicher. 


Der auf unſerer Aufnahme abgebildete Herr iſt der Hotelier 
Buſchauer, gegen den Unterkirchner wie ein Wichtelmännchen 
erſcheint. Th. S. 


228 Mannigfaltiges. o 

Wie die Liebe entſtand. — Im lauſchigen Märchenwald 
ruht ſchlummernd ein Mägdlein, das ſich in die tiefe Einſam- 
keit beim Blumenſuchen verirrt hat. Ein zartes, anmutiges 
Weſen mit ſonnigblonden Locken und roſigen Wangen. Aber 
gleich einem heißen Verlangen, gleich einer ſtillen, ſchmerzenden 
Sehnſucht liegt's über den träumenden Zügen. 

Die junge Elfenkönigin, der das lockende Zauberreich unter- 
tan iſt, feiert heute ihren Geburtstag. Ihr zu Ehren hat die 
Natur ihr ſchönſtes Feſtkleid angelegt. Auf leichten, ſchleiern- 
den Fittichen gleitet der Wind. Er beſucht die luſtigen Kobolde, 
die oben in den blühenden Baumkronen ein heimlich Spiel 
treiben. Mit ihrem ſchelmiſchen Kichern und neckiſchen Geflüſter 
haben ſie die Sonne aus nächtlichem Schlafe geweckt. Nun 
lacht ſie herzhaft über das ganze Geſicht. Vor lauter Vergnügen 
rinnen ihr ein paar dicke Tränen über die runden Wangen, 
um als glitzernder Tau auf die dankbare Erde zu fallen. Die 
Blumen haben ihrer Königin ein duftiges, farbenfrohes Ge— 
wand geſtickt. Das liegt ausgebreitet auf dem mooſigen Ge- 
burtstagstiſch. In erfreulicher Ordnung fiken die Vögel auf 
den friſch geputzten Zweigen. Nun beginnen fie ihr wohl- 
einſtudiertes Ständchen. Still und andachtsvoll lauſcht der 
grüne Waldſee. Nur manchmal klatſchen feine Wellen mit 
jubelnder Freude leiſe in die Hände. 

Die alfo gefeierte Elfenkönigin ift gerührt über ihr dant- 
bares Völklein. Ein demütiges Freudegefühl ſteigt in ihr auf 
und der Wunſch, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Auch 
ſie will Freude bereiten. Hurtig ſchwingt ſie den demantenen 
Zauberſtab. Da kommen kriechend und flatternd, hüpfend und 
laufend alle ihre Untertanen herbei. 

Und die Märchenmajeſtät hebt an: „Meine Lieben! Zu ge— 
wichtigem Rate habe ich euch verſammelt. ZIch habe eine Bitte 
an euch, mit deren Erfüllung ihr euer herrliches Geburtstags- 
werk krönen ſollt. Seht ihr das ſchlafende Mägdlein dort, und 
hört ihr die ſehnenden Seufzer, die dem einſamen Herzen 
entſteigen? Sie kommt aus dem Menſchenland. Doch ihre 
Seele iſt arm. Denn ihr fehlt die Liebe. Wir, die Bewohner 


o Mannigfaltiges. 229 


des Elfenreichs, wollen fie ihr bringen. Aber dazu muß ein 
jedes von euch das Beſte opfern, das es beſitzt!“ 

Und ſo geſchah's. Die flinke Libelle ſchenkte ihre hauchhafte 
Zartheit. Der Schmetterling die lockende Vielgeſtalt. Lang- 
ſam brachte die Schnecke ihre zielſichere Beharrlichkeit. Einfach 
und ſchlicht bot der unſcheinbare Wurm das wertvollſte Opfer 
— Dulden und Verzeihen. Gar mannigfache Geſchenke gaben 
die Blumen — gefällige Form und anmutige Weichheit. Süßen 
Honig und berauſchenden Duft die anderen. Auch wohl ein 
Tröpfchen heilſam bitteren Giftes oder etwas von ihrer be- 
ſtechenden Farbenpracht. Mit jauchzenden Liedern waren die 
Vögel zur Stelle. Der Wind brachte liebkoſende Sanftmut 
und zwingende Sturmgewalt. Der ſtille Waldſee ſeine klare 
Reinheit und unergründliche Tiefe. 

Aus all dieſen Gaben formte die Elfenkönigin die Liebe. 
Und als ſie die behutſam ins ſchlafende Menſchenherz ſenken 
wollte, ſandte die Sonne juſt leuchtend ihren ſchönſten Strahl 
herab auf die ſeligen Gefilde. 

Da erwacht das träumende Mägdlein. Eine glückliche Bu- 
friedenheit, eine hoffende Zuverſicht liegt auf den ſinnenden 
Zügen. Eilenden Fußes verläßt ſie das Zauberland und trägt 
die Liebe hinab zu den Menſchen. G. Grade. 

Urſprung der Modebilder. — In dem heutzutage üblichen 
Sinne gibt es Modebilder erſt ſeit etwa hundertdreißig Jahren. 
Sie gingen von Frankreich aus, das in bezug auf Moden ſtets 
den Ton angab. zndeſſen kam es ſchon in weit früherer Zeit 
vor, daß ſich die Schneidermeiſter größerer Städte, wenn eine 
neue Mode beſonderes Aufſehen erregte, die „getreuliche Ab- 
bildung“ derſelben zu verſchaffen ſuchten. Derlei Bilder wurden 
mitunter auch durch den Druck vervielfältigt und in den Handel 
gebracht. So erſchien beiſpielsweiſe 1641 ein Blatt mit der 
Abbildung von acht elegant koſtümierten Herren und der Unter- 
ſchrift: „Wahrhaffte und getreie Conterfeyung der abſonderlich 
koſtbaren und neuen Kleider, ſo bei der Tauffe des Dauphin 
von Frankreich an dem Hof von Paris ſeind getragen worden.“ 

In Deutſchland dürfte der Urſprung der Modebilder in 


230 Mannigfaltiges. u 


dem geldreichen Augsburg zu ſuchen ſein. Matthäus Schwarz, 
der Sohn eines angeſehenen Augsburger Bürgers, ſeit ſeiner 
früheſten Jugend für den Handelsſtand ausgebildet und dann 
bis an ſein Lebensende als Buchhalter des Welthauſes der Fugger 
tätig, kam im Alter von dreiundzwanzig Jahren auf die wunder- 
liche Idee, fih in allen Kleidungen, die er feit feiner Geburt ge- 
tragen, abbilden zu laffen. Er war, fo erzählt er in der Vorbemer⸗ 
kung zu ſeinem „Klayderbüchlein“, bei dem Geſpräch mit älteren 
Leuten oft ganz verwundert, wenn ſie ihm die ſeltſame, auf 
den Bildern ihrer Eltern dargeſtellte Kleidung als etwas vor 
fünfzig Fahren ganz Alltägliches geſchildert hatten. Er ließ 
nun einen Oktavband aus ſchönen Pergamentblättern an- 
fertigen und auf letzteren die Kleidungen, die er in ſeinem 
Leben getragen, von vorzüglichen Malern darſtellen. Als ein 
Beweis der unſeren Altvordern eigenen Gewiſſenhaftigkeit dient 
es, daß auf dem erſten Bilde ſeine Mutter in dem Kleide 
dargeſtellt ift, das fie zur Zeit feiner Geburt trug. Dann er- 

ſcheint Matthäus in der Wiege, am Kindertiſchchen, als Schul- 
knabe, als Chorknabe und als Page des berühmten kaiſerlichen 
Hofnarren Kunz von der Roſen. Dann ift Matthäus als Hand- 
lungsreiſender, als Jäger, im Ballanzuge, als Bogenſchütze, 
als Fechtſchüler, im Trauer- und im Hochzeitsanzuge und im 
Feſtgewande bei dem Empfange des Erzherzogs Ferdinand 
Dargeftellt. Nicht weniger als zweiundvierzig künſtleriſch ausge- 
führte Blätter beziehen ſich auf die von ſeiner Geburt bis zum 
Jahre 1520 reichende Periode. Von jetzt an ließ er ſich, ſobald er 
einen neuen Anzug erhalten hatte, ſofort in dieſem abbilden. 
In manchem Fahre ließ Schwarz ſich ſechs, ja wiederholt bei 
feſtlichen Gelegenheiten für einen einzigen Tag drei Anzüge 
machen. 

Auch ſein Sohn Veit Kaſpar legte ſich ein ſolches Buch an. 
Er erſcheint darin als Kind, als Schulknabe, als Reiſender, als 
Fechtzögling, als Schütze, im Ball- und Maskenkoſtüm, im 
ganzen auf einundvierzig Blättern. Dabei beſchreibt er in der 
ausführlichſten Weiſe, welche Stoffe und wie viel von denſelben 
zu den Anzügen genommen wurden, welche Farbe das Futter ge— 
habt und wie viel Gold, Silber, Spitzen, Edelſteine und Perlen 


o Mannigfaltiges. 251 


zur Verwendung kamen. Doch wurde dieſes Buch nur durch 
neunzehn Jahre fortgeſetzt, und der größte Teil der Blätter 
blieb unausgefüllt. 

Beide Bücher gelangten im Laufe der Zeit in viele Hände, 
bis ſie endlich in den Beſitz des Herzogs von Braunſchweig 
kamen. D. C. 

Milh- und Frühſtückſchützer. — Milchtöpfe und Frühſtück⸗ 
beutel werden bisher des Abends zumeiſt vor die Rorridor- 
türen und auf Treppenabſätzen frei hingeſtellt oder hingehängt, 
und wer zählt die vielen Fälle, wo fie verunreinigt oder ge- 
ſtohlen wurden. 

Der auf unſeren beiden umſtehenden Bildern wieder- 
gegebene Apparat dürfte unter den vielen Erfindungen, die in 
den letzten Fahren zum Schutze des Frühſtücks gemacht wor- 
den ſind, der einzige ſein, der einen wirklichen Schutz bietet 
und zugleich recht praktiſch ift. 

Der Apparat iſt in ſeinen Hauptteilen aus Eiſenblech ton- 
ftruiert und dabei fo eingerichtet, daß er an allen vortommen- 
den Korridortüren angebracht und bei Nichtbenützung flach 
gegen die Tür gelegt werden kann. Die Rückwand wird durch 
eine Feder zugehalten, fo daß ein unbefugtes Offnen des Appa- 
rates von außen nicht möglich iſt. Sie läßt ſich aber hoch- 
klappen, ſo daß man die Gegenſtände bequem herausnehmen 
kann. Durch ein einfaches Anheben wird der Apparat flach 
gegen die Tür gelegt und durch eine zweite Feder in dieſer 
Lage gehalten. Die Anbringungsart erſehen wir aus unſeren 
Bildern. Es iſt natürlich ganz gleichgültig, ob der Apparat 
oben, unten, in der Mitte, rechts oder links angebracht wird. 
Jedenfalls wird die Korridortür nicht verunziert. Der Inhalt 
kann durch einfaches Anheben des Apparates herausgenommen 
werden, ohne daß die Korridortür geöffnet werden muß. 

Der Apparat iſt weiter dazu beſtimmt, Waren lleineren 
Umfanges in Empfang nehmen zu können; auch geſtattet der- 
ſelbe durch Hochklappen der Rückwand eine ungehinderte Unter- 
haltung bei geſchloſſener Tür, was zur Sicherheit der Bewohner 
von großer Bedeutung iſt. Eine weitere Annehmlichkeit bietet 
der Apparat inſofern, als beſtellte Ware in der Wohnung ab— 


292 Mannigfaltiges. D 


geliefert werden kann, ohne daß man ſelbſt dabei zu fein braucht. 
Man gibt einfach den Schlüſſel für den Apparat beim Rauf- 


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Der Frühſtückſchützer geſchloſſen. 


mann uſw. ab, der Bote öffnet beim Abliefern der Ware den 
Apparat, legt den Schlüſſel mit der abzuliefernden Ware hinein 
und klappt die Tür wieder zu. Für jeden Apparat iſt ein be— 


o Mannigfaltiges. 255 


ſonderer Schlüffel vorgeſehen. Selbſtverſtändlich läßt ſich tiefe 
Einrichtung auch als Briefkaſten verwenden. 


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Der Frühſtückſchützer geöffnet. 


Der hygieniſche und diebesſichere Milch- und Frühſtück— 
ſchützer, der durch den Architekten F. Kitzerow, Charlottenburg, 
Schlüterſtraße 78, vertrieben wird, iſt infolge ſeiner einfachen 


234 NMannigfaltiges. o 


Konſtruktion ſehr billig und wird daher ſicher in weiten Kreiſen 
Einführung finden. H. H. 
Das Vaterunſer der Bauern. — Eine ergreifende Erinnerung 

an den Drud der franzöſiſchen Fremdherrſchaft in Deutſchland 
während der Jahre 1806. bis 1813 und an den grimmigen Haß, 
den derſelbe beſonders auch bei den deutſchen Bauern gegen 
die fremden Eindringlinge hervorgerufen hatte, bietet ein aus 
jener Zeit herrührendes, das „Vaterunſer der Bauern“ betiteltes 
und an den bekannten Text des Vaterunſers angelehntes Ge- 
dicht dar, welches nach einem uns vorliegenden N 
Exemplar folgenden Wortlaut hatte: 

Vater unſer, der du biſt im Himmel, 

Befrei uns von dem Kriegsgetümmel 

Und von der Tyrannei Gezücht, 

Auf daß ihr Unternehmen nicht 

Geheiligt werde, 

And daß nicht Frankreichs frecher Same 

Bei uns mehr gelte als 

Dein Name. 

Sie quälen ohne Ruh’ und Naft 

Und ſchreien: Bauer, was du haſt, 

Zu uns komme! 

Sie rauben, plündern immerdar 

Und, wenn ſie könnten, auch ſogar 

Dein Reich. 

Herr, wenn du ſie wollſt all erſchlagen, 

Wir Bauern würden freudig ſagen: 

Dein Wille geſchehe! 

Denn, wenn man nichts von ihnen hört', 

So lebten wir auf dieſer Erd’ 

Wie im Himmel. 

Ich weiß nicht, wem das Volk gehört, 

Im Himmel ſind ſie gar nichts wert, 

Alſo auch auf Erden. 

Feig, ohne Treu' und ohne Glauben, 

Sind ſie nur tapfer, wenn ſie rauben 

Anſer tägliches Brot. 


Mannigfaltiges. 235 


So treiben ſie's an allen Orten. 

Sie brüllen wie die Hunnenhorden: 
Gib uns! 

Drum wär' es uns die größte Freude, 
Wenn ſie verſtummten lieber 

Heute 

Als morgen. Doch was frommt das Klagen?! 
Laßt uns nicht mehr demütig ſagen: 
Vergib uns! 

Denn laſſen wir ſie ſtets ſo walten, 

So iſt's, wenn ſie für feig uns halten, 
Anſere Schuld. 

Darum verachten ſie uns eben, 

Daß gleichſam ſo, 

Wie wir vergeben 

Ans unſre Ehre, unſern Ruhm, 

Wir geben uns zum Eigentum 
Anſern Schuldigern. 
Mißtrauet künftig ihren Lügen, 

And prahlen ſie mit ihren Siegen, 

So laßt es zwar dabei bewenden, 

Doch ſprecht mit aufgehobnen Händen: 
And führe uns nicht in Verſuchung! 
Laß, lieber Gott, von ihren Tücken 
Ans auch in Zukunft nicht berücken, 
Sondern erlöſe uns 

Von Frankreichs und des Teufels Bund, 
Von Bonapartes Herrſchaft und 

Von dem Übel 

Der napoleoniſchen Monarchie! 

Der Deutſchen Ehre welke nie. 

Denn dein iſt das Reich. 
Vergebens floß viel Menſchenblut, 

Noch iſt's nicht aus! Euch ſchwand der Mut 
And die Kraft. l 

Bald zieht ihr ab mit langer Nafe, 
Zerplatzen wird die Seifenblaſe 


236 Mannigfaltiges. a 
Und die Herrlichkeit. 
Die Schande bleibt 
In Ewig keit. 
Amen. N. v. B. 

Lincoln und der ſterbende Soldat. — Als der blutige 
Bürgerkrieg zwiſchen dem Norden und Süden der Vereinigten 
Staaten wütete, beſuchte Präſident Lincoln ein Militärlazarett. 
Manches freundliche, ermunternde Wort richtete er an die 
verwundeten Soldaten, als er durch die verſchiedenen Abtei— 
lungen dahinſchritt. Zuletzt kam er auch an das Bett eines 
erſt ſechzehn Jahre alten, tödlich verwundeten jungen Kriegers. 

Der Präſident ergriff die weißen Hände des Sterbenden 
und fragte teilnahmvoll: „Mein armer Junge, was kann ich 
für dich tun?“ 

Der Soldat ſchlug ſeine Augen langſam auf, blickte in das 
gütige Antlitz des Präſidenten und ſprach bittend: „Wollen 
Sie nicht für mich an meine Mutter ſchreiben?“ 

„Gerne,“ erwiderte Lincoln, verlangte Feder, Tinte und 
Papier, ſetzte ſich neben das Bett nieder und ſchrieb, was ihm 
der Sterbende todesmatt zuflüſterte. Es war ein ziemlich 
langer Brief. 

Als das Schreiben beendet war, erhob ſich Lincoln, um 
den Brief ſelbſt zur Poſt zu befördern. Zuvor fragte er aber 
noch den armen Zungen, ob er ihm ſonſtwie noch dienlich fein 
könne. 

Flehentlich ſchaute der Sterbende den Präſidenten an und 
bat: „Ich möchte mich ſo gerne an Fhren Händen feſt— 
halten.“ l 

Lincoln verstand ſofort, ſetzte fih wieder nieder und ergriff 
zärtlich die Hand des Soldaten. Zwei Stunden lang harrte 
er geduldig aus wie ein Vater am Sterbelager ſeines Sohnes. 
Nachdem das Ende herangekommen war, beugte ſich der Prä— 
ſident nieder über den jungen Krieger, tief von Schmerz be— 
wegt, drückte ihm die Augen zu und faltete feine im Tod er- 
ſtarrten Hände auf der Bruſt. 

Als Lincoln bald darauf das Spital verließ, rannen ihm 
noch Tränen über die Wangen. O. v. B. 


D Mannigfaltiges. 237 


Die Farbe des Weines und der Weintrauben. — Wie 
die Färbung des Notweines zuſtande kommt, darüber werden 
gar nicht ſo viele Leute aufgeklärt ſein, wenn ſie ſich nicht 
zufällig mit. der Weinbereitung nach irgend einer Hinſicht 
beſchäftigt haben. Wer gar nichts davon weiß, wird vielleicht 
vorſchnell ſagen, die Trauben, aus denen der Rotwein gewonnen 
wird, ſeien ja rot bis veilchenblau gefärbt. Dieſe Tatſache 
gibt aber noch keine Erklärung, wie man ſich ſelbſt ſagen wird, 
wenn man eine dunkelgefärbte Traube zwiſchen den Fingern 
zerdrückt. Das Fleiſch und der Saft der Traube, woraus doch 
der Wein bereitet wird, ſind nämlich durchaus farblos, auch 
wenn die Beeren faſt blauſchwarz ausſehen. 

Die Chemie der Farbſtoffe im Wein iſt ein recht ſchwieriges 
Forſchungsgebiet, das noch gar nicht ſeit langer Zeit von der 
Wiſſenſchaft in Angriff genommen iſt. Die erſten wichtigen 
Unterſuchungen rühren her von Morren, der den anatomiſchen 
Bau der Weintraube ſtudierte und dabei das Vorhandenſein 
einer febr großen Zahl roter Körper von ſtarker Färbung nach- 
wies, weiterhin von Prillieux und dann von Profeſſor Pollaci. 
Der Zweitgenannte unterſuchte beſonders die Traubenſchale 
und fand in ihr Farbſtoffe in zweifacher Form: einmal als 
winzige Tröpfchen, die jedes für ſich in einem Bläschen mit 
äußerſt dünnen Wänden eingeſchloſſen find, und zweitens als 
einen körnigen Niederſchlag, der ſich bei der Behandlung mit 
Säuren rot und in einer alkaliſchen Flüſſigkeit wieder blau 
färbte. 

Grundlegend für das Verſtändnis der Weinfarbe ſind aber 
erſt die Arbeiten von Pollaci geworden. Er unterſcheidet in 
der Traube drei verſchiedene Farbſtoffe unter den etwas ſchwie— 
rigen Namen: Phyllocyanin (Blattblau), Phylloxanthein (Blatt- 
gelb) und Önocyanin (Weinblau), letzterer wohl auch einfacher 
Onolin genannt. Die erſten beiden Stoffe find von allge- 
meinſtem Vorkommen in der Pflanzenwelt, da ſie ſich in jedem 
grünen Blatt finden. 

Das Blattgrün oder Chlorophyll fegt fih nämlich aus einem 
blauen und einem gelben Farbſtoff zuſammen, die eben mit 
jenen beiden identiſch ſind. In einer grünen Traube ſind ſie 


238 Mannigfaltiges. G 


allein vorhanden, fo daß deren Färbung demnach ganz auf 
demſelben Wege zuſtande kommt wie das Grün der Blätter. 
Die bläuliche oder veilchenbläuliche Färbung der Trauben wird 
erſt durch die Anweſenheit des Weinblaus bewirkt. Es tritt 
als Flüſſigkeit auf. 

Außerdem ift nun aber noch, wie ſchon erwähnt, ein gater 
dunkler Farbſtoff in feſten Körnchen in der Traubenſchale vor- 
handen — Morren nennt ihn Careſen. Die Körnchen find voll- 
ſtändig undurchſichtig und können unter dem Mikroſkop erft 
genauer unterſucht werden, nachdem ſie längere Zeit mit 
Alkohol behandelt ſind. Es iſt ganz beſonders merkwürdig, 
wie dieſer Farbſtoff in die Trauben gelangt. Es geſchieht näm- 
lich, wie dies einwandfrei nachgewieſen iſt, von den Blättern 
aus. Die Körnchen beſtehen aus gerbſauren Verbindungen, 
die zunächſt farblos in den Blättern erzeugt werden und während 
der Reifezeit allmählich in die Trauben wandern, wo fie fid 
in den Schalen niederſchlagen und durch Verbindung mit 
Sauerſtoff bei Berührung mit der Luft rot färben. Wird dem 
Farbſtoff der Weg von den Blättern in die Trauben verſperrt, 
was namentlich durch den Stich eines Inſekts veranlaßt werden 
kann, fo tritt die ſogenannte Rotkrankheit des Weines ein, bei 
der die Trauben eine ſchwach rötliche Färbung erhalten, während 
die Blätter intenfiv rot werden. 

Nach dieſen Darlegungen verſteht es ſich von ſelbſt, daß der 
Rotwein ſeine Färbung aus den Trauben nur dann erhalten 
kann, wenn die Schalen bei der Weinbereitung mitbenützt 
werden, und zwar darf die Schale nicht früher von dem Trauben- 
ſaft getrennt werden, als bis die Gärung begonnen hat. Dar- 
aus ergibt ſich ferner, daß aus dunkelroten oder blauen Trauben 
auch ein ganz farbloſer Wein bereitet werden kann, wenn näm- 
lich die Schalen frühzeitig ausgeſchieden werden. Sch. 

Wertvolle Flöhe. — Der engliſche Baronet Walter Noth- 
ſchild iſt als eifriger Tierſammler bekannt. Sein zoologiſcher 
Garten genießt Weltberühmtheit, da dort die ſeltenſten Tiere 
zu finden find. Selbſt die Hagenbeckſche Sammlung im Stel- 
linger Tierpark iſt nicht ſo vielſeitig. Allerdings ſtehen ja auch 
dieſem Milliardär ganz andere Mittel zur Verfügung als einem 


2 Mannigfaltiges. 239 


gewöhnlichen Privatmann. Jahrelang hat er in den ab— 
gelegenſten Gegenden der Erde ganze Jägertrupps unterhalten, 
um beſonders auf ſelten vorkommende Tiere Jagd machen 
zu laſſen. Aber auch auf die Welt der kleinen und kleinſten 
Tiere, auf Würmer und Inſekten, erſtreckt ſich Rothſchilds. 
Sammlerleidenſchaft. 

So beſitzt er eine wohlgeordnete Sammlung von Flöhen, 
im ganzen weit über zweitauſend Stück, lauter Vertreter 
verſchiedener Arten, die auf Säugetieren oder Vögeln als 
Schmarotzer leben. Dieſe Sammlung hat ebenfalls recht 
bedeutende Geldausgaben erfordert. So blieben zum Beiſpiel 
Rothſchilds Bemühungen, ſich einen Floh des im hohen Norden 
lebenden Eisfuchſes zu beſorgen, längere Zeit vergeblich. Der 
Vollſtändigkeit halber mußte diefe Spielart der kleinen hüpfen- 
den Blutſauger aber auf jeden Fall beſchafft werden. Daher 
ließ der Baronet ſchließlich in die kanadiſchen Zeitungen eine 
Anzeige einrücken, in der er demjenigen, der ihm den echten 
Floh eines Eisfuchſes zuſenden würde, eine Belohnung von 
50 Pfund (1000 Mart) für das Stück zuſicherte. 

Nach einem halben Fahre ſchickte ihm denn auch wirklich 
ein Pelzjäger namens Perſington aus Fort Reſolution am 
Großen Skllavenſee eine verſiegelte, febr ſorgfältig verpackte 
Flaſche als Wertſendung zu, in der ſich vier echte Eisfuchs- 
flöhe befanden. Der Sendung lag ein amtlich beglaubigtes 
Schreiben bei, daß die Flöhe von einem in einem Eiſen lebend 
gefangenen Eisfuchs abgeſammelt worden ſeien. 

Der glückliche Pelzjäger hat ſicher nie wieder in ſeinem 
Leben eine fo gewinnbringende Jagd abgehalten, denn er 
erhielt tatſächlich die ihm zuſtehenden 200 Pfund umgehend 
angewieſen. W. K. 

Eine teure „Leiche“. — Sind Druckfehler ſchon der Schrecken 
der Setzer, Korrektoren und Redakteure, obwohl fie meiſt nur 
humoriſtiſche Folgen zeitigen, fo können die ſogenannten „Lei- 
chen“, im Satz ausgelaſſene Worte, bisweilen ſogar recht emp— 
findlichen Schaden heraufbeſchwören. Am ſchlinmmſten in dieſer 
Beziehung erging es dem Londoner Verleger Moore, der im 
Jahre 1702 eine neue Bibelausgabe erſcheinen ließ. Kaum 


240 Mannigfaltiges. a 


war das Werk in den Handel gelangt, als ſich eines Tages 
ein Polizeibeamter bei Moore einfand und ihn vor den Richter 
führte. Dieſer ſchlug, als der Verleger ganz entrüſtet fragte, 
was er denn verbrochen habe, die neue, auf dem Tiſch lie- 
gende Bibel auf und zeigte dem entſetzten Moore im 5. Buche 
Moſis Kapitel 5 den 21. Vers. Da ſtand: „Du ſollſt begehren 
deines Nächſten Haus, Acker, Knecht, Magd“ uſw. Der Setzer 
war über eine „Leiche“ geſtolpert. Das für den Sinn ſo 
überaus wichtige „nicht“ war von ihm überſehen worden, 
und dieſer Fehler machte nun die ganze Bibelauflage nach 
Anſicht des Richters zu einer das Staatswohl gefährden- 
den, da darin ja eine direkte Aufforderung zum Diebſtahl 
enthalten war. 

Moore wurde wirklich nicht nur zu einer hohen Geldſtrafe 
verurteilt, ſondern es wurde außerdem auch die neue Bibel- 
auflage eingezogen und vernichtet. Nur ein einziges Exemplar 
von der verhängnisvollen Ausgabe ward dem Londoner Muſeum 
überwieſen, wo es ſich noch heute befindet. W. K. 

Schwierige Wahl. — König Eduard VII. von England war 
als Prinz von Wales ein nicht ſeltener Gaſt in dem ſchönen 
Paris. Einſt wurde er dort von den Stadtverordneten im 
Rathauſe feierlich empfangen, und es entſpannen ſich dabei 
recht ungezwungene Geſpräche, die dem Prinzen viel Spaß 
machten. 

So knüpfte er mit der Gattin eines der biederen Stadtväter 
eine Unterhaltung an und fragte unter anderem: „Haben Sie 
auch Kinder, Madame?“ 

„Gewiß. — Sie auch?“ 

„Ja, ich auch,“ ſagte lächelnd der Prinz. 

„Und was laffen Sie Fhre Kinder werden?“ forſchte die 
Dame. 

Prompt erwiderte Eduard: „Der Alteſte foll einmal König 
von England werden, für die anderen habe ich aber noch nichts 
Paſſendes gefunden.“ A. Sch. 


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von 
Theodor Freund in Stuttgart, 
in Oſterreich⸗Ungarn verantwortlich Dr. Eruſt Perles in Wien. 


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Jeder fpielt fofort Klavier! 


Es gibt feine Kunſt, die dem Volke ſchwerer beizubringen ift, als die Muſik. Sie 
bedarf einer eigenen Schrift, deren Studium beſonders betrieben werden muß und 
nicht leicht iſt. Wie viele Laien würden ſich zum Beiſpiel an das Klavier ſetzen und 
einige Lieder ſpielen, wenn fie Notenkenntniſſe hätten! Mande beheljen fih dadurch, 
daß ſie nach Gehör auf dem Klavier herumphantaſieren — es iſt dann aber auch 
danach. So wunderbar kunſtvoll das alte Notenſyſtem iſt, ſo wenig populär iſt es. 
In der Großſtadt mag es noch angehen, denn da wird — beſonders in letzter Zeit — 
in den Schulen muſikaliſch-theoretiſcher Unterricht erteilt, aber die Muſikliebenden 
in den kleineren Städten oder gar auf dem Lande ſind übel dran. Erſt als Erwachſene 
können ſie daran denken, in die Geheimniſſe der Muſikſprache einzudringen und auch 
dann noch iſt es mit großen Schwierigkeiten verbunden. Für dieſe Leute mußte da— 
her ein Notenſchema geſchaffen werden, das keine Umwertung braucht, das direkt, wie 
es geleſen wird, geſpielt werden kann. Man darf e8 deshalb mit Freuden begrüßen, 
daß es in der „Taſtenſchrift“ gelungen ift, ein Syſtem zu erfinden, welches in gerade— 
zu glänzender Weiſe das uralte Problem, die bisherige Notenſchrift zu vereinfachen, 
gelöſt hat. Alle die komplizierten Einzelheiten der üblichen Notenſchrift fallen hier 
gänzlich fort: Vorzeichen, alſo auch Auflöſungs- und Erniedrigungszeichen gibt 
es bei der Taſtenſchrift überhaupt nicht. Die Taſtenſchrift ift jo leicht faßlich, daß 
man mit Fug und Recht behaupten darf, nach ihr ſofort Klavierſpielen zu können. 

Notenkenntniſſe ſind nicht erforderlich. 

Ohne an ein beſtimmtes tägliches Penſum gebunden zu ſein, ſchreitet der Lernende, 
kaum merkend, daß er überhaupt lernt, vorwärts, um kurz über lang das zu er— 
reichen, was jahrelang ſeine Sehnſucht war. Die Taſtenſchrift iſt eine abſolut ernſt zu 
nehmende Methode, mit der man das Klavierſpiel individuell, ohne Muſikſtümperei 
zu treiben, erlernen kann. Tauſende, ſelbſt im vorgeſchrittenen Alter befindliche, 
haben das Klavierſpiel nach der Taſtenſchrift bereits erlernt und dies durch zahlreiche 
Anerkennungsſchreiben, wovon etliche hier wiedergegeben werden, dokumentiert: 

„Lernte, ohne vorher auch nur eine Ahnung vom Klavierſpiel zu haben, trotz 
meiner 42 Jahre ſchon ganz hübſch ſpielen.“ Dresden, Paul K. 

„Nie hätte ich geglaubt, mit 60 Jahren noch ſo ſchnell e zu lernen.“ 

Züllichau, Frau L. K. 

„Ich habe mich überzeugt, daß Ihre Taſtenſchrift außerordentlich leicht zu er— 
lernen iſt und um nichts der alten Notenſchrift nachſteht.“ Miechowitz, Lothar H. 

Das komplette Werk, das neben allen zur Erlernung notwendigen Einzelheiten 
auch noch etwa 30 vollſtändige Muſikſtücke, wie Lieder, Märſche, Tänze uſw. enthält, 
koſtet Mk. 5.— und kann gegen vorherige Einſendung des Betrages oder Nachnahme 
von dem Muſik⸗Verlag Euphonie, Friedenau 11 bei Berlin bezogen werden. 
An Intereſſenten, die es für erforderlich halten, ſendet der Verlag gegen Ein— 
ſendung von 50 Pfg. Aufklärung und einige Probeſtücke der Taſtenſchrift. 


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