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Seite
Rätfel Glück.
Rovellette von E. v. Weitra. Mit Bildern von Mar
Vogel 5
Die Apachen.
Ein Pariſer Roman von Fritz Levon (Fortſetzung und
Schlußßßßßßßß nn 26
Die ſchöne Trebnitz.
Roman von Hans Becke 48
Roſenzucht und Noſenſchmuck.
Von Th. Seelmann. Mit 12 Bilden 87
Fräulein Bankdirektor.
Novelle von Fritz Flechtnen. 105
Die mittelalterlichen Totentänze.
Von Wilhelm Fiſcher. Mit 11 Bildern nach Merian 175
Mein Nidverhältnis. Ein Zdyll ohne Worte. Bon
Otto Metterhauſe·e n 190
Eine Dornenkrone.
Von M. de Bous. Mit 4 Bilden 197
Mannigfaltiges:
Det gör ingentin gg 208
Des Wanderns Einfluß auf die Nerven 212
Aus der Sommerfriſche des niederländiſchen Hofes. 214
Mit Bild.
General Hoche und die Koblen zee 216
Snhalts-Derzeichnis.
Der Rampf mit Mondamin .
Ein indirekter Selbſtmord
Treibjagd auf Schlangen .
Eine hundertjährige Strafe .
Der kleinſte Oſterreicher
Mit Bild.
Wie die Liebe entſtand
Urſprung der Modebilder .
Milch- und Frühſtückſchützer
Mit 2 Bildern.
Das Vaterunſer der Bauern ;
Qincoln und der ſterbende Soldat
Die Farbe des Weines und per Weintrauben
Wertvolle Flöhe
Eine teure „Leichee 2 2.
Schwierige Wahl!l
>
*
Rätfel Glück.
Novellette von E. v. Weitra.
Mit Sildern von +
Max Vogel. (Nahörudf verboten.)
3: den reizendſten Erſcheinungen, die das Ballfeſt
des Oberſten v. Lötzdorf ſchmückten, gehörte un-
ſtreitig die junge, verwitwete Frau Konſul Weitbrecht.
Ein ganzer Kometenſchweif von Verehrern drängte
ſich um die ſchöne, lebensluſtige Frau.
Freilich wurde das Vorteilhafte ihres Gefamt-
bildes noch ſehr weſentlich erhöht durch ein wahres
Wunderwerk echt Wiener Schneiderkunſt — ein „Ge—
dicht von Stoffen und Spitzen“, wie die Kenner zu
fagen pflegen. Blaßgrauer Samt öffnete fih in zwang-
loſem Fall über einem herrlichen Unterkleid von echt
Brüſſeler Geweben, in das tauſend goldene Flitter-
pünktchen eingeſtickt waren, und ein paar matte Perlen-
ketten rafften, wie nachläſſig, das kunſtvolle Mieder
aus altroſa Damaſt zuſammen, das den ſamtweichen
Schultern faſt zu entgleiten ſchien. Über der blaſſen
Stirn aber, mit den dunklen, verführeriſchen Augen
darunter, wiegte ſich im leicht gekräuſelten Haar ein
ſchillernder Falter aus blitzenden Diamanten.
Man erzählte ſich, Frau Weitbrecht ſei vor dem
Feſt ihrer Toilette wegen eigens dreimal nach Wien
gefahren. Sie konnte ſich als alleinſtehende Frau
dergleichen Luxus ſchon erlauben; gehörte ſie doch zu
6 Rätjel Glück. o
den bevorzugteſten Partien der kleinen Reſidenz, wenn
böſe Zungen auch behaupten wollten, Frau Weit-
brecht wiffe über ihre Verhältniſſe hinaus ihre Verehrer
über die Größe ihres Vermögens ein wenig zu täuſchen
und im ungewiſſen zu erhalten.
Jedenfalls gefielen ſich aber ihre ſtrahlenden acht-
undzwanzig Jahre in der ftechenden Sonne des all-
gemeinen Neides, und ihre ſamtweiche Haut, die
ſichere Art, mit der fie ſich bewegte, ſchienen zu be-
weiſen, daß jener Sonnenbrand noch nicht verheerend
bei ihr gewirkt.
Oberleutnant v. Weltzien wich nicht von ihrer
Seite. Seine hohe, ſchmale Geſtalt mit der etwas
läſſig nach vorn geneigten Haltung ſchien von fiebern
der Beweglichkeit, und die leicht zuſammenſtoßenden
Brauen über den tiefliegenden Augenhöhlen wuchſen
immer dichter und dunkler ineinander.
Im Regiment gab es ſehr geteilte Meinungen über
den jungen Weltzien. Manche hielten ihn für genial,
manche für verrückt. Er war jedenfalls ein „Unge-
wöhnlicher“, ſozuſagen das weiße Huhn auf dem Hühner-
hof. Stundenlang konnte er wortkarg im Kaſino ſitzen
und tiefſinnig vor ſich hinſtarren; tagelang ſchloß er
ſich abends in ſeine Bude ein, ließ ſich vor niemand
ſehen, und man ſagte, er „lerne“. Wenn man ihn aber
am meiſten vertieft glaubte, ging er plötzlich eine
ganze Woche lang tagtäglich in Geſellſchaft, war der
erſte auf dem Parkett, der letzte beim Heimgehen
und tanzte mit einer fiebernden Leidenſchaft.
„Der Weltzien kommt noch auf einen Miniſter—
ſeſſel oder ins Narrenhaus,“ pflegte der Regiments-
adjutant öfters zu ſagen — und augenblicklich war
man geneigt, entſchieden das letztere von ihm anzu—
nehmen. Denn es war ja geradezu ein Wahnſinn,
o Novellette von E. v. Weitra. 7
der ſchönen Frau Weitbrecht ſo andauernd den Hof zu
machen. Sah er denn nicht, daß ſie ihn zum Narren
hielt, daß er nur einer von den vielen war, deren
Galanterien ſie im Augenblick berauſchten, ohne daß
ihre unſchlüſſige Seele bei ihm den Anker fand, den
ſehnſüchtig zu ſuchen fie ſich tauſendmal ſelbſt vor-
ſpiegelte, während in Wahrheit ihre oberflächliche
Seele ſich doch am wohlſten fühlte in der gefeierten,
ſternenumglänzten Freiheit?
Nein — ſie wollte die Freiheit der Wahl, das wahre
Glück zu finden, noch nicht ſo raſch aus der Hand geben.
Sie wollte ſehnen und lieben, lieben und ſehnen,
wollte Gefühle empfinden und Gefühle wecken, wollte
ihre Nerven kitzeln mit der ſüßen Möglichkeit, es könne
einmal einer kommen, dem ſie alles zum Opfer bringen
würde, und doch zum Schluß ruhiges Blut behalten
und Kopf und Verſtand oben, um nur in eine Heirat
zu willigen, die ihren Ehrgeiz befriedigte, die es lohnte,
Geld und Herz hinzugeben.
Da hatte nun freilich der arme Weltzien recht
geringe Ausſichten. Und doch war irgend etwas in
ſeinem Veſen und ſeiner Art, das jedesmal ihr Herz
raſcher und unruhiger ſchlagen ließ, ſobald ſie ihn ſah
— lauter als bei den hundert anderen Kavalieren, die
ſchon vergeblich ſchmachtend in ihren Salonen geſeſſen.
Sie freute ſich auf Weltzien, auf jede Stunde,
jede Minute, die er an ihrem Teetiſch oder im Ball—
ſaal neben ihr verbrachte. Und doch fürchtete ſie ihn
auch, ſeine tyranniſche Art, ſeine nervöſe Stimmung,
die jeder kleinen Eiferſuchtsregung bei ihm folgte.
Sie fürchtete ſich vor dem heißen Näherrücken ſeiner
Leidenſchaft, erſchrak bei jeder kleinen Gunſt, die ſie
ihm einräumte, und gab doch mit jedem Tage mehr,
als ſie ſelbſt wollte und glaubte.
8 | Rätſel Glück. o
Nur heute war fie nicht bei Laune — heute nicht.
Sie war feines heißen, gefährlichen Drängens wirklich
müde. War fie nicht noch frei? Ja — gewiß! Sie
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wollte es ihm zeigen, ſie wollte die Grenze wieder
deutlich und klar ziehen, die er nun ſchon mehrmals
in heißem Ungeſtüm hatte überſpringen wollen. Frau
Leutnant v. Weltzien werden — heute, morgen, über-
morgen, da müßte ſie doch eine Törin, eine Närrin
o Novellette von E. v. Weitra. 9
ſein! Ihre Augen blitzten über den weißen, weichen
Federfächer hinweg den jungen Prinzen Reppin an,
der ſich ihr gerade vorſtellen ließ.
Der Prinz — einige Wochen in diefe Stadt ver-
Schlagen — war angenehm überrafcht, fern von Berlin
fo viel Eleganz und Geſchmack zu finden. Die Unter-
haltung mit Frau Carlotta Weitbrecht wurde ſehr an-
geregt.
Leutnant v. Weltzien kam, fie zur Frangaiſe zu
holen. In ſeiner läſſigen Art, die doch immer etwas
Zwingendes hatte, verneigte er ſich und zog ohne
weiteres ihren weißbehandſchuhten Arm durch den
ſeinen.
„Finden Sie den Reppin nett?“ fragte er bei-
läufig. „Er iſt ein Schaf.“
Sie ärgerte ſich über ſeine Anmaßung.
„Ja,“ ſagte fie, „er iſt ſehr nett. Sch habe ihm
ſoeben den Tiſchwalzer verſprochen.“
Er ſah ſie prüfend an. „Laune oder Geſchmack?“
fragte er ſcharf.
„Aberzeugter Geſchmack,“ entgegnete fie.
„Ich gratuliere.“ Kurz und ſcharf kam das heraus.
Dann fuhr er nach einer Weile halblaut fort: „Bitte,
gnädige Frau, tanzen Sie den Tiſchwalzer nicht mit
ihm.“ i
„Wieſo? Sie find unbeſcheiden!“
„Sagen Sie, Sie tanzten den Tiſchwalzer mit
Leutnant v. Weltzien.“
„Sie haben doch ſchon den Kotillon!“
„Tut das etwas zur Sache?“
„Ja. Sie kompromittieren mich.“
„Ich — Sie?“ |
„Ja. Durch die närriſche Art Ihrer Leidenſchaft,
mit der Sie mich verfolgen.“
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f
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E — ET — i LA n
„Und da werde ich mein Orakel hören? Werde ich?“
Sie nickte ſtumm. Eine unklare Furcht hielt ſie
umſpannt.
Da glitt er leicht aus dem Wagen. Sie ſah durch
die angelaufenen Scheiben hindurch noch ſeine ſchlanke
Geſtalt am Wegrande ſtehen — die Hand am Helm.
o Novellette von E. v. Weitra. 13
un —ðẽ
Dann entſchwand ſein Bild in der Dunkelheit.
Am anderen Abend ſchritt Frau Carlotta unruhig
auf den weichen, dunklen Perſerteppichen ihrer Woh-
nung hin und her. Sie trug ein mattfarbenes Tee-
kleid aus leicht gekreppter Seide mit weißen, weiten
Armeln. Glitzerndes Goldband durchzog ihr Haar.
Ein glatter, goldener Reif von ſeltener Schönheit um-
ſchloß die leuchtende Rundung ihres Arms.
Wohl zum hundertſten Male an dieſem Nachmittag
umflatterten Frau Weitbrechts Gedanken die jugend-
liche Geſtalt ihres Helden. Sie hatte ihn lieb — wahr-
haftig. Die unverbrauchte Kraft dieſes leidenſchaft-
lichen Menſchen, der an Geiſt ein Mann und an Herz
? ein Kind zu fein ſchien, riß fie zuweilen unwiderſteh-
lich hin. Aber es ſtand dem ſo vieles gegenüber. Wohl
galt der junge Offizier für begabt — vielleicht führte
er ſie auf die Höhen des Lebens. Vielleicht erbte er
aber auch die ſchwache Geſundheit feiner jung ver-
ſtorbenen Mutter, mußte frühzeitig den Dienſt auf-
geben oder ſich mit kleinen, beſcheidenen Garniſonen
begnügen. Dann hieß es von Ort zu Ort herum—
ziehen mit einem Mann, der nichts vorſtellte und
nichts war, für den ſie nur mühevoll zu ſorgen hatte.
War Weltzien nicht auch arm? Sein Vater beſaß
ein kleines, ſtark belaſtetes Gut und vier unverſorgte
Töchter. Weltzien brachte nichts mit in die Ehe —
nichts als die eigene Perſönlichkeit. Genügte ihr das?
Gerade, als fie bei recht kritiſchen Gedanken an-
gekommen war, ſchellte es. Ein raſches, aufſchreiendes
Klingeln — wie eine heiße, ſehnſuchtsbange Frage.
In der nächſten Minute ſtand der junge Offizier
in ſeiner ſchlichten, dunklen Uniform vor ihr im Zimmer.
Sein charaktervolles Geſicht ſah ſtarr und ernſt aus —
14 Rãtſel Glück. o
ein ſeltſamer Kontraſt zu den dunklen, feurigen Roſen,
die er in loſer Papierhülle in den Fingern trug.
Nun war er neben ihrem Seſſel und küßte leiden-
ſchaftlich wie geſtern ihre Hände. Stumm ſchüttete
er die Roſen in ihren Schoß — mit einer leiſen, weichen,
wortloſen Bewegung, wie jemand, der ſagen will:
So möchte ich immer geben — ſo überzeugt, ſo aus
dem vollen heraus.
Die Bewegung ergriff ſie. Er hatte zuweilen
eine ganz eigene Art. Dann kamen keine ſchmeichelnden
Worte über feine Lippen — nur die Augen, nur fein
ganzes Weſen wirkte wie eine einzige, große Liebkoſung.
Da ſtrömte etwas Rätſelhaftes über fie hin: das
Bedürfnis, dieſe geheimnisvolle Stunde auszukoſten,
der ungeſtüme Rauſch, fein liebes, leidenſchaftheißes
Geſicht zwiſchen beide Hände zu nehmen und zu küſſen.
And wie ſie ſo dalag, den Kopf in das Polſter
zurückgedrückt — mit dem Ausdruck der Hingabe in
allen Zügen ihres Geſichts und ihres Weſens, da hielt
es den Mann nicht länger. Den Arm um ihre Schultern
legend, riß er ſie an ſich, heiße, wortloſe Küſſe bedeckten
ihr Geſicht. |
Eine Weile ließ fie es geſchehen. Wie in einem
Traum lag fie, wie in einem füßen Rauſch — mit
halbgeſchloſſenen Lidern und bang geöffneten Lippen.
„Nicht mehr erwachen müſſen!“ dachte ſie.
Aber da ſchlug die Ihr — Worte drangen an ihr Ohr.
„Warum haſt du mich ſo lange darben laſſen — du
— du —“ und er umklammerte ihre fieberheißen Hände.
Da riß ſie ſich los. Eine dumpfe Angſt überflutete
ſie. „Nicht ſo, Roderich — nein, nein — ich bitte
Sie — laſſen Sie mich! — Laſſen Sie mich doch!“
Er veritand fie nicht. Wieder verfuchte er ſanft,
ſie an ſich zu ziehen.
2 Novellette von E. v. Weitra. 15
Aber diesmal entglitt fie ihm. Das feine Ta-
ſchentuch zerpreßte ſie zitternd in ihren nervöſen
Händen. |
„Nein, Roderich — nein. Es ſteht allzuviel zwiſchen
Ihnen und mir — allzuviel!“
Er begriff noch immer nicht. Die Ruhe ſieghaften
Glückes lag über ihm. „Was könnte noch zwiſchen uns
ſtehen — jetzt, nachdem unſere Lippen ſich geküßt,
nachdem du mein biſt?“
Faſt im Triumph ſagte er's.
Da ſah ſie ihn faſt zornig an. Sie wehrte ihm mit
beiden Händen. „Was zwiſchen uns ſteht? Ach —
tauſenderlei! Deine unfertige Jugend! Deine un-
klare Zukunft! — Wollen Sie mich mitſchleppen in
irgend eine kleine Garniſon, in lichtloſe Gegenden —
mich, die ich nur in Schönheit und Luxus zu atmen
vermag? — Wie denken Sie ſich das? Wenn Sie
verſchlagen würden ins einſame Oſtpreußen oder an
die Grenze Lothringens — würden Sie um meinet-
willen nein ſagen können?“
Er betrachtete ſie ſtaunend. „Nein,“ ſagte er hart.
„Wohin mein König mich ruft, dahin gehe ich. Etwas
anderes kennen wir Weltziens nicht.“
Sie ſank zurück in ihren Seſſel. „Sie können ſich's
nicht vorſtellen, Roderich,“ ſagte ſie leiſe und haſtig.
„Eine Frau wie ich, die immer in der Freiheit des
Reichtums gelebt — ich weiß ja, ich weiß, Sie würden
etwas verlangen von Ihrer Frau. Ihre Liebe würde
mich tyranniſieren. Oder — würden Sie drei Viertel
des Jahres auf meine Nähe verzichten können, wenn
ich fern von Ihnen lebte — an der Riviera etwa oder
ſonſt, wo es mir gefällt? Würden Sie ſich das vor—
ſtellen können?“
Seine Augenbrauen wuchſen ineinander. Er tat
16 Rätſel Glück. o
einen tiefen, wunderlichen Atemzug — faſt wie ein
ironiſches Lachen klang's.
„Nein, Frau Carlotta. Eine Frau, die drei Viertel-
jahre von mir getrennt lebte — nein — allerdings — —“
„Sehen Sie,“ klagte ſie. „Ich wußte es ja. Sie
ſind nicht anders als andere Männer auch. Sie ver-
langen etwas von Fhrer Frau — ſehr viel fogar.
Müßte ich nicht alles für Sie opfern?“
Er ſah ihr nicht mehr ins Geſicht. Kerzengerade
ſtand er. Seine hohe Geſtalt hob ſich dunkel von dem
hellen Ofen mit dem glühenden Kaminfeuer ab.
„Ja,“ ſagte er leiſe. „Ich würde allerdings etwas
von meiner Frau fordern — Großes, Koſtbares, Un-
erhörtes — —“
Seine Geſtalt bebte.
Dann ſagte er leiſe und raſch, mit Hefen hör⸗
barem Atemzug: „Meine Frau müßte mich ſehr lieb
haben.“
Die Art, wie er das ſagte — ein Ton, in dem Sehn-
ſucht und Erſchütterung nachzubeben ſchienen — er—
griff fie. Mit den Augen maß fie ſtumm feine fchlante
Geſtalt.
Aber dann ſah ſie ſich wieder an den weltfernen
Grenzen aller Kultur mit einem leidenden, von Streben
und Schaffen ermüdeten Mann, abgeſchnitten von
allen Möglichkeiten ihres jetzt fo ſorgloſen und ver-
wöhnten Daſeins. Und Verſtand und Ehrgeiz, die Liebe
zu Luxus und Glanz gewannen wiederum die Ober-
hand über die flüſternde Stimme ihres Herzens.
„Glauben Sie mir, Roderich,“ ſagte ſie feſt und
überzeugt, „es wäre eine Torheit — für Sie und für
mich. Ich würde Entſagungen, Sie Verpflichtungen auf
ſich nehmen, denen wir beide vielleicht nicht gewachſen
wären. Laſſen Sie uns vernünftig ſein, Weltzien.“
—
0 Sopellette von E. v. Weitra. 17
Er ſtarrte in
ihr Antlitz, in dies
ſchöne, feingezeich-
nete Antlitz, das
eben noch unter
ſeinen Küſſen ge—
glüht. „Wie ſoll
ich das verſtehen,
gnädige Frau?“
1918. XL o 2
18 Rätfel Glück. o
„Nicht heute, lieber Freund, nicht jetzt! Laffen Sie
uns ruhiger werden. Laſſen Sie mich die Schwere
dieſes Schrittes bedenken. In drei Tagen ſchreibe ich
Ihnen. Zn drei Tagen fage ich Ihnen, wie die Ent-
ſcheidung meines Herzens lautet.“
Seine Hände krampften ſich ineinander. Dann
griffen ſie mechaniſch nach den weißen Handſchuhen,
die neben ihm auf dem Seſſel lagen. „Verzeihen Sie,
gnädige Frau,“ fagte er heiſer. „Ich —“
Sie fiel ihm ins Wort. „Sagen Sie nichts mehr.
Zerſtören Sie nicht die Schönheit dieſer Stunde.“
Sie ſtreckte angſtvoll, wie abwehrend, die Hände aus.
„In drei Tagen ſollen Sie alles wiſſen — alles, was
mein Herz bewegt.“
Da berührten ſeine Lippen noch einmal ihre Hand
— kalt, förmlich, feierlich.
Die roten Roſen waren von ihrem Schoß geglitten
und lagen auf der Erde. Er hob ſie nicht auf. Über
ſie hinwegſchreitend, ging er zur Tür.
Leiſe ſchloſſen ſich die weißgemalten, goldverzierten
Holzflügel hinter der dunklen Geſtalt.
Die Kameraden waren in dieſen Tagen noch mehr
davon überzeugt, daß Weltziens Genialität eigentlich
nur aus einer gewiſſen Verrücktheit beſtand. In der
Turnſtunde ließ er die Leute die unglaublichſten Dinge
machen und ſchrie ſie an in einem ſo gereizten Ton,
daß ſelbſt der alte Feldwebel heimlich zu knurren be-
gann. Im Kaſino hatte er faſt immer Streit, und dazu ſah
er müde und abgeſpannt aus und blaß wie eine Leiche.
„Der Weltzien bekommt die Schwindſucht oder den
Rappel,“ ſagte der Regimentsadjutant. Aber diesmal
war etwas wie Mitleid in feiner Stimme. —
|
|
u Novellette von E. v. Weitra. 19
Nach drei Tagen hielt Roderich v. Weltzien den Brief
der Geliebten in Händen. Mattlila war er und ſtrömte
ein feines, teures Parfüm aus, jenes Parfüm, das ihn
zuerſt berauſcht hatte auf dem Ball beim Bezirks-
kommandeur. |
„Sie werden es ſpäter begreifen, lieber Freund,
warum ich Ihnen nicht angehören kann. Laſſen Sie
uns einander das weiter ſein, was wir uns waren.
Laſſen Sie uns den Reiz der Stunden auskoſten in
jener Art, wie er für uns Höhenmenſchen einzig ge-
ſchaffen iſt.“
Ein kaltes Lächeln ging über Weltziens Geſicht.
Dann nahm er ſchweigend den Brief wieder auf und
zerriß ihn ganz langſam in kleine, winzige Stückchen.
Seine Liebe für Carlotta Weitbrecht war aus-
gelöſcht. Nach ſchwerem Rauſch machte ſeine Seele
ſich endlich frei.
* *
XR
Achtzehn Jahre waren ſeitdem vergangen — ein
Zeitraum, der nicht ſpurlos vorübergehen kann. Und
doch gibt es zuweilen Verhältniſſe und Menſchen,
bei denen die Weltenuhr gewiſſermaßen ſtillzuſtehen
ſcheint. |
So bei Carlotta Weitbrecht. Sie war noch immer
eine ſchöne Frau, obwohl der Glanz ihrer Jugend
gewichen war und ſie hie und da ſchon zu künſtlichen
Toilettenmitteln greifen mußte. Sie fuhr vor großen
Feſten noch immer nach Wien, um ihre Toiletten dort
anzuprobieren, nur daß der alte Wiener Schneider-
meiſter einer jüngeren, aufſtrebenden Kraft gewichen
war, und daß ſie tiefe, ſatte Farben trug, weil die
zarten Töne ſie nicht mehr kleideten.
Und noch immer war ihre Seele unſchlüſſig, wohin
20 Rãtſel Glüd. D
fie ſich wenden ſollte, und noch immer ſuchte fie nach
dem „glänzenden Mann“, der ſie auf die höchſten
Höhen des Lebens führen ſollte, wo es ungetrübten
Sonnenglanz gab und die Befriedigungen, nach denen
ſie raſtlos dürſtete.
An Weltzien dachte ſie immer noch zuweilen —
mit einem weichen Lächeln, wie man eines ſchönen,
angenehmen Traumes gedenkt, den man gern geträumt
hat — zuweilen aber auch mit einem jähen, tiefen
Heimwehgefühl, das ſie mitunter in den einſamen
Sommertagen ihres Lebens beſchlich.
Nie wieder hatte ſie von ihm gehört. Er hatte
damals die Stadt ſehr bald verlaſſen. Dann las ſie
einmal von der Verſetzung eines Weltzien in den Großen
Generalſtab. Aber es gab ſo viele ſeines Namens in
der Armee, fo daß fie mit Sicherheit nie etwas über
ihn in Erfahrung zu bringen vermochte.
So verging die Zeit.
Das Infanterieregiment Graf von Flandern feierte
ſein vierhundertjähriges Beſtehen. Die Veteranen der
großen Kriege und alte Kameraden aus früherer Zeit
waren geladen worden, eine beträchtliche Zahl von
Perſönlichkeiten, aus denen inzwiſchen draußen in der
großen Welt etwas Tüchtiges geworden war.
Zu den erwarteten Ehrengäſten des Regiments ge-
hörte auch der frühere Generalſtabschef in M., jetzige
General Georg Roderich v. Weltzien, der in ſeiner
Leutnantszeit dem Regimentsverband angehört hatte.
And plötzlich war der Name Weltzien in aller Munde.
Der Kriegsminiſter Freiherr v. Gilgenheim war vor
wenigen Tagen geſtorben, und als ſeinen mutmaßlichen
Nachfolger bezeichneten die Zeitungen den von dem
regierenden Herrn ſchon vielfach ausgezeichneten Ge-
neral Weltzien.
o Novellette von E. v. Weitra. 21
So wurde denn das Stiftungsfeſt des Regiments
und der darauffolgende Ball beim Regimentskom-
mandeur zugleich zu einem Huldigungsfeſt für den
„kommenden Mann“. |
Frau Carlotta Weitbrecht ſchmückte ſich zu dieſem
Feſt mit ganz eigenen Gedanken und Gefühlen und
mit einer ganz eigenen, etwas aufgeregten Sorgfalt.
Wunderlich — heute war es gerade der Tag, an dem ſie
einſt ihre erſte, jugendliche Ehe einging. Und an
dieſem Tage würde ſie den Jugendfreund wiederſehen,
der ſo ſeltſam raſch in der großen Welt emporgeſtiegen
war!
Lange, lange wählte ſie unter ihren Toiletten und
legte ſchließlich das funkelnde Diamantenkollier um,
für das ſie einſt ein Fünftel ihres Vermögens geopfert
hatte. Die leuchtenden Steine verdeckten ein paar
häßliche kleine Fältchen ihres einſt ſo wundervollen
Halſes. |
Und nun Stand fie inmitten der wogenden, ge-
ſchmückten, erwartungsvollen Menge, unter dem großen,
ſtrahlenden Kronleuchter des Kaſinos. Der Bezirks-
kommandeur, Oberſtleutnant z. D. Tiefenbach, der mit
Weltzien zuſammen die Kriegsakademie beſucht, mußte
eben zum neunundneunzigſten Male von dieſer Be—
kanntſchaft berichten.
Und nun öffnete der Diener beide Flügeltüren,
der Hausherr eilte einer Dame entgegen, deren ſchlanke
Erſcheinung im ſchlichten, weißen Seidenkleide ſoeben
faſt lautlos über die Schwelle glitt. Oberſt v. Grum-
bach küßte ihr mit tiefer Ehrfurcht die Hand und ge—
leitete fie, wie man eine Königin geleitet).
„Frau v. Weltzien,“ ſagten die Leute.
*) Siehe das Titelbild.
Rãtſel Glüd. o
Mit weit geöffnetem Blick umfaßte Frau Carlotta
die fremde Erſcheinung. Dieſe Frau war weder ſchön
noch glänzend. Einfach und ſchlicht war ihre Toilette.
Die Anmut ihrer Bewegungen und die Liebenswürdig-
keit des Ausdrucks bildeten vielleicht ihre einzigen Reize.
Weltziens Frau!
And hinter dieſer blonden, ſchmächtigen Dame, die
am Arm des Oberſten grüßend die Reihen der Gäſte
durchſchritt, ging der erwartete Stern des Abends, ging
der Mann, den Carlotta Weitbrecht ſo lange Jahre
nicht geſehen hatte!
Roderich v. Weltzien ſah nahezu unverändert aus.
Wäre der Ordensſtern auf feiner Uniform nicht ge-
weſen, Carlotta Weitbrecht hätte meinen können, der
junge Oberleutnant von ehedem käme da wieder über
die Schwelle des Ballſaals geſchritten. Die ſchlanke,
ſehnige Geſtalt, das faſt bartloſe Geſicht, das kurz-
geſchorene Haupthaar ließen ihn immer noch jung
erſcheinen. Auch in jeder Bewegung ſchien er der alte
geblieben — in dieſer läſſigen, beweglichen Art zu
ſchreiten, zu ſprechen, ſich zu verneigen — dieſe Art,
die eigentlich etwas ganz Unmilitäriſches zu haben
ſchien und doch eben gerade die freie, individuelle
Beweglichkeit des genialen Menſchen verriet.
Nun ſtand er, den Helm in der Hand, neben der
ſchmalen, blonden Frau — mitten unter dem Rron-
leuchter ſtanden die beiden. Frau v. Weltzien bog ſich
einen Augenblick zu ihm zurück, flüſterte ihm etwas
zu und lächelte. Nun lächelte auch er. Dabei nahm
er mit der weißbehandſchuhten Rechten einen kleinen,
dunklen Seidenfaden von der weißen Blume auf ihrer
Schulter — mit der ſorglich andächtigen Vertraulich-
keit eines Menſchen, der ſich einer großen Liebe immer
und überall bewußt iſt. Und gleich darauf ſchob er
o Novellette von E. v. Weitra. 23
mit der Hand ein filbernes Teebrett zurück, mit dem
ein haſtiger Lakai faſt gegen Frau v. Weltziens Schulter
gerannt wäre.
Carlotta kannte dieſe Bewegung, dieſelbe männlich
herriſche, ritterlich galante Art, mit der er ſchon vor
Jahren jede Unannehmlichkeit, jede Gefahr von dem
Gegenſtand ſeiner Verehrung fernzuhalten pflegte.
Und plötzlich ſchloß Carlotta Weitbrecht die Augen.
Sie konnte die beiden nicht mehr anſehen. Ein Gefühl
des Neides kroch in ihrer Seele empor, eine Empfindung
bettelhafter Armut gegenüber dieſem Manne, der allen
Lebens reichtum in feinen Händen hielt.
Roderich Weltzien! Liebte ſie ihn noch?
Eine Stimme dicht neben ihr ſchreckte ſie auf.
Oberſt v. Grumbach ſtellte ihr den hohen Gaſt ſeines
Hauſes vor.
Weltzien verneigte ſich. Achtlos ging ſein Auge über
Frau Carlotta hin. Wie vielen Menſchengeſichtern
war er heute nicht ſchon begegnet! Wie viele ver-
ſuchten noch, ſeine Bekanntſchaft zu machen! Was
kümmerten ihn da die funkelnden Brillanten am Halſe
einer alternden Frau!
Frau Carlotta erſtarrte unter dieſem Blick. War
fie wirklich fo alt geworden? War feine Seele fo welten
weit von ihr entfernt, daß er die Geliebte feiner Jugend
nicht mehr kannte? |
Beide Hände ftredte fie plötzlich aus, als ob fie
etwas feſthalten müſſe — etwas, das herrlich, köſtlich,
unwiederbringlich war.
„Kennen Sie mich nicht mehr, Herr v. Weltzien?“
bebte es von ihren Lippen.
Da ſah er auf. Seine Augen, ſcharf und tief wie
damals, tauchten in die ihren. Wie ein flüchtiges
Beſinnen ging es durch ihn hin.
24 Rätfel Glück. o
„Ah — ganz richtig, gnädige Frau! Zch hatte vor
Fahren das Vergnügen —“
Auf der Galerie ſetzten die Geigen ein, ſchmei—
chelnd, lockend, der erſte Walzer begann.
=
|
„Ja,“ ſagte Frau Carlotta leiſe, „es ift eine lange,
lange Zeit.“ Sie hatte dabei die Empfindung, als
müſſe Weltzien nun den Arm um ſie legen und ſie
wieder hineinziehen in den wogenden, wiegenden
Walzer — ſo wie damals.
Aber da nahm eine Menſchenwelle ihn ſchon wieder
o Novellette von E. v. Weitra. | 25
von ihrer Seite hinweg — es 1900 ja ſo viele, die noch
ein Wort von ihm erhaſchen wollten.
And Carlotta Weitbrecht ſtand plötzlich wieder allein
— fremd und allein inmitten der plaudernden, flirten-
den Menge.
Da hörte ſie dicht hinter ſich ein Lachen — ſilbern
und hell. Wie lauter läutende Glöckchen des Glücks
klang es.
Es war das Lachen der jungen Frau v. Weltzien,
die eben von ihren drei blonden Kindern erzählte.
%
Die Apachen.
Ein Parifer Roman von Fritz Levon.
(Fortſetzung und Schluß.) v knachoruck verboten.)
W die Seine ſtromabwärts Paris verläßt, liegt
am rechten Ufer eine Gruppe alter Häuſer,
die zwar noch zu dem Weichbilde der Stadt gehören,
aber dennoch den Eindruck Ausgeſtoßener machen, denn
der Villenkranz hat dort bereits ſein Ende erreicht, und
die ſchmucken Vororte find noch eine gute Strecke ent-
fernt.
Eines dieſer Häuſer iſt ſo dicht an den Fluß gebaut,
daß ſeine morſche Galerie über das Waſſer hinausragt
und an ſtürmiſchen Tagen die Wellen bis zu dem farb-
loſen Holzwerk hinaufſpritzen.
Es führt dort auch eine Treppe zum Fluß hinab,
aber die kleinen Dampfſchiffe legen niemals an, Boote
vielleicht dann und wann in dunklen Nächten.
Die Gegend iſt arg verrufen.
Vor Jahren hat die Polizei aus dieſem Hauſe eine
Falſchmünzerbande geholt, dann etwas ſpäter ein
Anarchiſtenneſt ausgehoben. Seitdem ift ihre Auf-
merkſamkeit nicht mehr ſo rege, denn wo große Dinge
geſchehen ſind, die den Zeitungen Nahrung geben, da
bleibt es immer auf eine Weile ruhig.
Man weiß natürlich, daß dort lichtſcheues Geſindel
zur Miete wohnt, aber Geſindel gibt es überall, und
es iſt immer noch beſſer, wenn die Apachen ein Dach
u Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 27
über dem Kopf haben als Torbogen und Hecken und
verlaſſene Baubuden.
Sean Lecocq und Käthe hatten ein Zimmer nebſt
Küche in dem betreffenden Hauſe inne. Wenn ſie Licht
und Luft haben wollten, ſo konnten ſie ihren Kaffee
auf der Galerie einnehmen, aber bei ihnen war Schmal-
hans Küchenmeiſter geworden, und die Luft ging rauh
über den Fluß, denn Paris ſeufzte unter einem ſo
unfreundlichen Spätherbſt, wie man ihn ſeit Jahren
nicht erlebt hatte.
Sie waren beim Maire geweſen und hatten ſich
zuſammenſchreiben laſſen — o ja, ſie waren Mann und
Frau, denn Käthe hatte darauf beſtanden. Sie ſah
freilich vor Augen, wie es ſpäter kommen werde, aber
fie konnte nun einmal nicht von Jean ablaſſen. Er
war wie ein Dämon in ihr Leben getreten und hatte
ſie wenigſtens bis heute immer gut behandelt.
Das heißt er ſchlug ſie nicht, und er arbeitete auch
hie und da.
Wir kennen fie ja, jene Leute mit der Zockeimütze
im Nacken und der feſtgeklebten Stirnlocke, die ſich an
den Bahnhöfen herumdrücken, um einen Koffer an die
Droſchke zu tragen, oder die zwiſchen den Tiſchen der
Boulevardcafés zweifelhafte Photographien ausbieten.
Sie betteln nicht gerade, aber ſie laſſen ſich jeden
Gelegenheitsdienſt dreifach bezahlen, und wer ſich mit
ihnen abgibt, der ſpürt es oft genug an Leib und
Leben.
In der Hauptſache aber vertröſtete Jean Lecocq
ſich und ſeine junge Frau auf die nahe Zukunft. Er
hatte ihr niemals volle Klarheit über feine Vergangen-
heit gegeben, und es dünkte ihn auch nicht notwendig,
ſeine Beziehungen zu Renard aufzudecken. Aber der
Name dieſes Mannes tauchte immer häufiger in feinen
28 Die Apachen. o
Reden auf, und jedesmal war er von den Strahlen
eines flimmernden Goldhaufens umgeben.
So auch heute, obwohl an dieſem grauen Morgen
die Phantaſie flügellahm wurde und die Wirklichkeit
ihr häßliches Antlitz ſchonungslos enthüllte.
Zean war damit beſchäftigt, zum erſten Male den
kleinen Kanonenofen zu heizen, der die Hauptzierde
des dürftigen Zimmerchens ausmachte. Es hatte ſich
nicht gut länger hinausſchieben laſſen, denn der Nebel
ſtrich über den Fluß, und die nach der Galerie führende
Tür hing nur loſe in den Angeln. Von dorther hatte er
ſich auch das Brennmaterial geholt. Ein Stück der
Brüſtung war ſchon lange morſch geweſen und drohte
ins Waſſer hinabzufallen. Nun zerkleinerte Jean es
mit feinem Handbeil und ſagte zu Käthe: „Eine Woche
lang kann das Gerümpel allenfalls vorhalten, dann
zünden wir am beſten die ganze Bude an. Kannſt du mir
vielleicht verraten, was es heute mittag zu eſſen gibt?“
„Nichts,“ entgegnete fie. „Ich habe geſtern den
letzten Sou ausgegeben.“
Er blickte ſich mürriſch um. „Zum Verſetzen wird
auch nicht viel da ſein?“
„Höchſtens den beſſeren Anzug und mein Tanz—
kleid — du weißt ja.“
„Das auf keinen Fall. Heute abend iſt Ball auf
dem Montmartre. Wir werden natürlich hingehen,
das verſteht ſich von ſelbſt.“
Er meinte das Tanzlokal, in dem die beiden ſich
kennen gelernt hatten. Es war auf demſelben Platze
erbaut, wo früher die alten hiſtoriſchen Mühlen ſtanden.
Käthe ſeufzte. „Mir iſt wahrhaftig nicht ums Tanzen.
Und wo willſt du denn das Geld hernehmen?“
„Dort haben wir Kredit,“ tröſtete er. „Zum Teufel
auch, Jules Renard muß doch nächſtens eintreffen.“
o Ein Parifer Roman von Frig Levon. 29
Die junge Frau war aufgeftanden und neben den
Ofen getreten. Sie hielt ihre erſtarrten Hände über
das auflodernde Feuer und fragte halblaut: „Alſo der
foll uns Geld bringen, Jean? Wie hängt denn das
zuſammen?“
„Das geht dich nichts an, Kind.“
„So redeſt du immer — aber ich will es wijfen.
Hat er vielleicht einen totgeſchlagen?“
„Wie kommſt du denn auf ſo etwas, Käthe?“
„Ich glaube, wenn die Gelegenheit da iſt, tut ihr
es alle,“ murmelte ſie. „Mein Gott, wie mich friert!“
Jean ſuchte in feiner Weſtentaſche und brachte end-
lich ein Fünfzigcentimesſtück zum Vorſchein. „Das
kommt vom leeren Magen. Sieh, das iſt mein Letztes,
ich wollte mir eigentlich Tabak dafür kaufen, aber Brot
iſt wohl nötiger. Geh und hol welches, dann kommen
dir andere Gedanken.“
MWortlos nahm fie das Geld und verließ die Stube,
während Jean noch eine Weile vor dem Ofen ſtehen
blieb. Dann trat er auf die Galerie hinaus und ſah
über den Fluß.
Der Nebel war ſo dicht, daß die vorüberfahrenden
Dampfſchiffe wie Schatten dahinhuſchten. Ganz Paris
war ein Dunſtmeer, nur die mächtigen Konturen des
Eiffelturms drohten geſpenſterhaft herüber.
„Am beiten wär's, man ſtiege da hinauf,“ mur-
melte der Mann. „Das müßte eine luftige Fahrt wer-
den — von oben herunter, mitten zwiſchen die Eifen-
träger hinein. Aber es koſtet zwei Franken. Die Ge-
ſchichte wäre zu teuer. — Holla, Käthe, haſt du was
vergeſſen?“
Die ſchwankenden Bretter, auf denen er ſtand, hatten
geknarrt. Er drehte ſich um und wäre faſt rückwärts
durch das Loch der Galerie in den Fluß geſtürzt, denn
30 Die Apachen. 0
— ———
der, den er täglich erwartete, ſtand zwar vor ihm, aber
ſein Anblick wirkte erſchreckend.
Jules Renard ſah aus wie eine Leiche. Blak war
er immer geweſen, aber jetzt fehlte jeder Blutstropfen
in ſeinem Geſicht, und die ſchwarzen Augen lagen tief
unter den buſchigen Brauen. |
Er ſprach mit heiſerer Stimme: „Guten Tag, Jean
— ſind wir allein?“
„Den Teufel auch,“ entgegnete der andere, „ich
wollte faft, wir wären es nicht — man könnte fid ja
vor dir fürchten, wie du ſo daſtehſt. Seit wann biſt
du zurück?“
„Seit vorgeſtern.“
„Und kommſt erſt heute?“
Renard hatte ſich abgewendet und war in die Stube
zurückgetreten. Dort rückte er einen Stuhl an den
Ofen und wärmte ſich die Hände. „Ich konnte deine
Wohnung nicht früher ausfindig machen, Sean.“
„Das lügſt du! Madame Vernot weiß ſie beſſer
als die Polizei. Vermutlich biſt du doch wieder im
„Kaninchen“ untergekrochen?“
„Ja, die Stube ſtand noch leer, und es war ſo am
bequemſten. Aber man muß fidh die Hintertür offen-
halten, und wenn du wirklich meinſt, daß die Polizei
hier nicht herumſpioniert, ſo möchte ich dich am liebſten
für ein paar Tage um Gaſtfreundſchaft bitten. Ich
nehme mit einem Strohlager in der Küche fürlieb,
das ift immer noch beffer als fo 'ne verwünſchte Ge-
fängnispritſche.“
Die beiden Männer wechſelten einen raſchen
Blick.
Dann dämpfte Jean unwillkürlich die Stimme. „Zit
die Sache ſchief gegangen, Charles?“
„Aber gründlich. Die ganze mühſame Arbeit iſt
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 31
umſonſt, und das alles wegen eines alten Eſels, der
zur Unzeit einen moraliſchen Anfall kriegte.“
„Oas iſt ſehr ärgerlich,“ ſagte der andere mürriſch,
„denn mir ſelbſt ſteht das Waſſer bis an die Kehle,
und ich hatte ganz ſicher auf einen tüchtigen Batzen
Geld gehofft. Aber abgeſehen davon begreife ich nicht
deine Angſt vor der Polizei, denn die wird ſich den
Teufel darum kümmern, ob den deutſchen Profeſſoren
eine Naſe gedreht wird oder nicht — das iſt doch nicht
ſo, als wenn man Banknoten fälſcht oder ſeinem lieben
Nächſten den Schädel einſchlägt.“
Er ſagte das halb gedankenlos und noch immer im
Groll über die fehlgeſchlagene Hoffnung, aber als dann
ſein Blick auf Renard fiel, ſtutzte er.
„Du ſiehſt wirklich aus,“ ſagte er, „als ob es ſich
um mehr handelt als um ein paar Bogen Papier.
Iſt dir im Ernſt daran gelegen, auf einige Zeit zu
verſchwinden?“
„Im Ernſt, Zean.“
„Na, hier könnteſt du das allenfalls. Dieſe alte
Bude hat ihre Geſchichte; aber es iſt Gras darüber
gewachſen, und die Polizei läßt uns fo ziemlich un-
geſchoren. Im Notfall kann man auch über die Galerie
in den Fluß, denn unten an der Treppe liegt immer
ein Boot mit Ruder und Zubehör. Aber umſonſt tue
ich es nicht, ich habe Arbeit genug gehabt, um dir die
Sache möglich zu machen.“
Charles Renard griff in die Taſche. „Hier ſind
fünfzig Franken. Mehr kann ich nicht entbehren, aber
es iſt auch genug für eine Schütte Stroh in der kalten
Küche. Deine Frau wird hoffentlich nichts dagegen
haben, daß ich mich bei euch einlogiere. In einer
jungen Ehe iſt jeder Zuſchuß willkommen.“
Der Verſuch, einen ſpöttiſchen Ton anzuſchlagen,
32 . Die Apachen. 2
mißlang. Lecocq ſchob beide Fäuſte in die Taſchen und
ſtellte ſich breitbeinig vor ſeinen Genoſſen. „Ich will dir
einen Rat geben, Charles,“ ſagte er finſter. „Ze weniger
du mich daran erinnerſt, daß ich gegen die Käthe ſchlecht
gehandelt habe, deſto beſſer wird es für dich ſein, denn
du ſelbſt trägſt die Schuld an dieſer ganzen Geſchichte.
Gut aufgehoben iſt ſie nicht bei mir, und vielleicht endet
ſie eines Tages da unten in der Seine wie ſo viele.
Aber wenn du ihr armfeliges Daſein mit einem ein-
zigen Wort antaſteſt, dann werfe ich dich ſelbſt ins
Waſſer wie eine junge Katze. — Nun weißt du, Kamerad,
wie wir beide miteinander ſtehen. In unſeren Kreiſen
pflegt man ſich nicht viel mit Worten aufzuhalten —
es iſt eine Freundſchaft von mir, daß ich vor dem Zu-
beißen knurre.“
% m %
Das „Kaninchen“ hatte am Abend zuvor Logier-
gäſte bekommen, Leute, wie ſie in dieſer bedenklichen
Wirtſchaft wohl nur ſelten abſtiegen. Drei Männer
waren es, ein junger mit hellen, forſchenden Augen,
ein älterer, der auf zehn Schritt den Künſtler verriet,
und ein ganz alter.
Die beiden Erſtgenannten ſaßen um neun Uhr
abends in ihrem gemeinſamen Zimmer, wohin Ma—
dame Vernot ihnen das Abendeſſen gebracht hatte,
während der dritte aus verwandtſchaftlichen Rückſichten
Gaſtrecht genoß und in Käthes einſtiger Schlafkammer
untergebracht war.
Sie unterhielten fih gedämpft und unbehaglich.
„Haben Sie beobachtet, Specht, wie dieſe triefäugige
Hexe den alten Tonndorf begrüßte?“ fragte Linde und
hielt ſein Weinglas gegen das trübe Lampenlicht. „So
'n Schwager ift ja immer eine Überraſchung, aber ich
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 33
will dieſes Geſöff in einem Zuge austrinten, wenn
ihr nicht das böfe Gewiſſen wie ein Kainszeichen auf
der Stirn flammte.“ |
„Ich beobachte überall,“ entgegnete Specht, „denn
dafür bin ich Maler, und deshalb hat Doktor Barkhauſen
mich hergeſchickt. Dies ift ein RNäuberneſt, in dem wir
ſitzen, ich werde Uhr und Börſe unter das Kopfkiſſen
legen.“
„Wir wollten ja unter die Apachen!“ verſuchte
Egbert zu ſcherzen.
„Jawohl, Kamerad, aber ich muß immer an das
arme Mädchen denken. Schlimmer ift wohl noch nie-
mals ein Vater getäuſcht worden.“
„Ver ſchickt denn auch ſeine Tochter ſo blindlings
nach Paris!“ knurrte Egbert. „Still, da kommt er!
Nun werden wir das Nähere ſchon erfahren.“
Eine unſichere Hand taſtete an der Tür, dann trat
Fritz Tonndorf ein. Er war immer eisgrau geweſen,
jetzt war er ſchlohweiß; er hatte auf der ganzen Fahrt
von Jena bis Paris kaum ein Wort geredet.
Jetzt ſetzte er ſich ſtumm an den Tiſch und ſtützte
den Kopf in beide Hände.
„Nun, alter Herr?“ fragte Specht leiſe.
Da begann der alte Antiquar zu ſprechen, abge-
brochen, tonlos, halb wie im Traum. „Sie ſagt, ſie
wüßte nichts. Das Mädchen fei mit dem Kerl fort-
gelaufen, die beiden hätten ſich heiraten wollen. Ich
ſollte nur ſuchen gehen, dann würde ich ſie wohl irgendwo
finden. In den Anlagen oder auf der Gaſſe! — Mein
Kind, meine Tochter auf der Gaſſe! Wollen Sie mir
beiſtehen, meine Herren? Ich muß noch dieſe Nacht
hinaus, denn Paris iſt ſo groß — ſo unendlich groß!“
Die beiden hatten Mühe, ihn zu beruhigen und
von ſeinem Vorſatz abzubringen, und erſt als Egbert
1913. XI. 3
34 Die Apachen. u
me run — m nn — ß
verſprochen hatte, in der Frühe des nächſten Morgens
auf die Präfektur zu gehen, ließ er ſich dazu bringen,
das Lager aufzuſuchen.
Sie wollten ihn oben behalten, aber er beſtand
darauf, in Käthes Zimmer zu ſchlafen.
„Es find da noch ein paar Kleinigkeiten zurück-
geblieben, die ihr wohl zu ſchlecht zum Mitnehmen
waren,“ ſagte er. „Einem Vater iſt nichts gering, was
ihn an ſein Kind erinnert, und wenn ich es in der
Nähe habe, dann ſchlafe ich vielleicht eine Stunde lang
und träume von ihr.“
Egbert brachte den Alten hinunter, denn der konnte
ſich kaum auf den Füßen halten vor Gram und Er-
ſchöpfung.
Willibald Specht blieb indeſſen allein zurück. Es
war ihm unheimlich zumute.
In die Kneipen der Verbrecher zu gehen und dort
Skizzen zu entwerfen, ſchien ihm nicht ſchwer; er hatte
wiederholt geleſen, daß die Pariſer Apachen ein eitles
Volk ſind und ſich gerne dem Stift des Künſtlers zur
Verfügung ſtellen; aber mitten unter ihnen nächtigen,
ſich ihnen im Schlafe preisgeben, das dünkte ihn eine
gewagte Sache, und dieſes alte Haus ſteckte vielleicht
bis unter das Dach voll ſolchen Geſindels.
Kam da nicht ſchon einer?
Es war Egbert, der zurückkehrte.
Auch dieſer junge Mann, der ſonſt keine Furcht
kannte, war totenblaß und blickte ſcheu hinter ſich. Er
verriegelte die Tür, ſetzte ſich dicht neben den Maler
und brachte ſeine Lippen an deſſen Ohr.
„Wiſſen Sie, wen ich geſehen habe?“ flüſterte er.
Der andere fuhr zuſammen. „Das Mädel?“
„Nein — jemand anders. Still — keinen Laut!
Ich habe ihn geſehen — Renard!“
o Ein Parifer Roman von Fritz Levon. 35
Faſt hätte Specht doch aufgeſchrieen, aber er griff
nur nach dem Arm ſeines Gefährten. „Wo?“ fragte
er heiſer.
„Hier in dieſem Haufe. Ich kam die Treppe herauf
— Sie wiſſen, es brennt eine Lampe auf dem Korridor —
und da trat er aus der Tür nebenan. Ich vermute,
daß er mich erkannt hat, denn er zog ſich ſofort wieder
zurück. Aber das kann auch Zufall geweſen fein. Zeden-
falls habe ich mich nicht getäuſcht, denn dieſes Geſicht
vergißt man niemals.“
„Das weiß Gott!“ ſagte Specht ſchaudernd. „Was
fangen wir nun an?“
„Wir müſſen morgen früh auf die Polizei — ich
wollte es ja ohnehin.“
„Können wir das nicht ſchon heute abend?“
„Nein, es würde auffallen. Sie dürfen nicht ver-
geſſen, daß wir uns hier in einer bedenklichen Gegend
befinden, wahrſcheinlich kämen wir nicht weit. Aber
am hellen Tage iſt das etwas anderes.“
„Und wenn er uns entwiſcht?“
„Ich glaube kaum. Er wohnt offenbar bei Madame
Vernot oder wie das Weib heißt und ſteckt mit ihr
unter einer Decke. Dann aber weiß er auch, daß wir
nicht ſeinetwegen hier find, oder er denkt fih es wenig-
ſtens.“
Specht nickte. „Der Dolchſtoß im Tiergarten war
gut gemeint. Er fühlt ſich wohl ſicher. Aber mir graut
vor dieſer Nacht — Teufel auch, Wand an Wand mit
einem Mörder!“
„Hans Lux lebt doch!“
„Wirklich? Wiſſen Sie das ſo genau? Es ſind drei
Tage vergangen, und wir haben keine Nachrichten aus
Berlin. Da kann vieles geſchehen ſein.“
Sie hatten beide das Gefühl, belauſcht zu werden,
36 Die Apachen. ü
denn drüben hinter der Nachbarswand regte fidh kein
Laut. -
Egbert begann plötzlich ganz laut zu ſprechen. „So
— gottlob, nun bin ich mit meinem erſten Reiſebericht
zu Ende. Viel ſteht nicht darin, aber die nächſten
Tage werden ſchon mehr Stoff bringen. Jetzt will ich
ſchlafen wie ein Dachs.“
Der ſchlaue Maler verſtand ihn. „Ich auch, Kame-
rad. Wir ſind eigentlich ganz gut untergekommen.
Dieſe Madame Vernot macht den Eindruck einer braven
Frau. Hoffentlich ſchnarchen Sie nicht!“
Es war ihnen nicht zum Lachen, aber ſie legten
ſich geräuſchvoll und mit einigen Berliner Kalauern auf
den Lippen ins Bett.
Drüben, hinter der Wand regte ſich kein Laut.
* *
K*
Am nächſten Morgen hing ein dicker Nebel über
Paris, und unter ſeinem Schutz verließen die drei
Reifenden das Gaſthaus zum Kaninchen.
Um keinen Verdacht zu erregen, ließen ſie ihre
Sachen zurück und ſprachen von der Beſichtigung des
Louvre. Man legte ihnen übrigens kein Hindernis in
den Weg, und mit der ortskundigen Führung Tonn-
dorfs gelangten ſie bald an die Präfektur, wo man ſie
ſofort zu einem höheren Beamten führte.
Der alte Antiquar war etwas ruhiger geworden
und trug als der Sprachkundigſte die Angelegenheit
vor. Ihm perſönlich war natürlich am meiſten daran
gelegen, den Aufenthalt ſeiner Tochter zu erfahren,
während der Beamte erft die Ohren ſpitzte, als Renards
Name genannt wurde.
„Einer unſerer geſchickteſten Fälſcher,“ ſagte er.
„Seit mehreren Monaten überwachen wir ihn nicht
o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 37
mehr, weil augenblicklich wenig gegen ihn vorliegt;
aber es iſt immerhin intereſſant, zu erfahren, daß er
bei Mutter Vernot ſein Quartier aufgeſchlagen hat.“
Dann unterbrach er ſich und warf einen mitleidigen
Blick auf Tonndorf.
„Ja ſo, der Vater geht hier wohl vor. Mein lieber
Herr, Ihre Tochter ift in ſchlechten Händen, denn dieſer
Jean Lecocq ſteht auch bereits in unſeren Liften. Aber
feine Wohnung können wir Fhnen nicht verraten. Es
bleibt Ihnen kaum etwas anderes übrig, als die Tanz-
lokale der Apachen abzuſuchen, denn die webblichen
Gefährten dieſer Herren pflegen dort nicht zu fehlen.
Vielleicht beginnen Sie am beſten mit den Lokalen
auf dem Montmartre. Dort hat man Lecocq öfters
geſehen.“ 5
Dann wendete er ſich wieder den Berlinern zu.
„Alſo ein Mord, oder zum mindeſten ein Mord-
verſuch? Wir liefern deswegen natürlich an Deutich-
land aus. Aber zunächſt muß ich wiſſen, ob ſich Ihre
Angaben beſtätigen. Der Telegraph ſoll ſofort ſpielen.
In etwa zwei Stunden kann die Antwort hier ſein.“
Damit wurden fie entlaffen und gingen am Geine-
ufer auf und ab, um die Wartezeit zu kürzen. Man
konnte aber wenig von der Gegend erkennen, denn
der Nebel wurde immer dichter, und es erhob ſich ein
Wind, der die Wellen des Fluſſes aufwühlte.
Fritz Tonndorf lehnte die ganze Zeit an der Rai-
mauer und ſtarrte in das Waſſer. Seine Begleiter
ſtörten ihn nicht, ſie waren zu ſehr geſpannt auf die
Nachrichten aus Berlin, und Egbert empfand febr deut-
lich, daß Käthes Geſtalt immer weiter in ſeiner Er—
innerung zurücktrat.
Ein Schatten, an dem das Herz keinen Anteil hat.
Nach der feſtgeſetzten Zeit kehrten fie in die Prä-
38 Die Apachen. a
— . ͥͤ — ——.——0
fektur zurück, und der Beamte trat ihnen mit einer
Depeſche entgegen.
„War ein Herr Lux Ihr Freund, meine Herren?“
„Er war es,“ entgegnete Egbert ahnungsvoll.
„Dann bedaure ich ſehr — er iſt tot. Er hat Jules
Renard als ſeinen Mörder bezeichnet. Ich habe hier
den telegraphiſchen Auftrag des Berliner Polizei-
präſidums zu ſeiner vorläufigen Feſtnahme. Ein
förmlicher Haftbefehl wird demnächſt eintreffen, dann
nehmen die Auslieferungsverhandlungen ihren An-
fang.“
Fritz Tonndorf hörte die Nachricht teilnahmlos an.
Er wanderte ſchon mit ſeinen Gedanken durch die
Tanzlokale der Apachen.
Willibald Specht und Egbert ſchwiegen erſchüttert,
und der Beamte fiel in einen geſchäftsmäßigen Ton.
„Ich werde Ihnen ſofort zwei Leute mitgeben.
Hoffentlich hat dieſer Fuchs den Bau noch nicht ver—
laſſen. — Sie wollen von ihm erkannt ſein, mein
Herr?“
„Die Möglichkeit liegt vor,“ entgegnete Egbert.
„Aber es war ziemlich dunkel im Korridor.“
„Nun, Renard hat gute Augen. Es gehört bei ihm
zum Handwerk. Alſo tut jedenfalls Eile not — die
Polizei ſtellt Ihnen ein Auto.“
Sie kamen dennoch zu ſpät, und Madame Vernot
erſchöpfte ſich in Ausdrücken des Bedauerns.
Wenn ſie eine Ahnung gehabt hätte! Aber es wäre
ein ſo netter Herr geweſen, und eine arme Witwe
müßte froh ſein, ihre Zimmer zu vermieten.
Die beiden Polizeibeamten achteten kaum auf das
Geſchwätz des Weibes. Der Vogel war ausgeflogen,
und zwar mit einer Haft, die fein Schuldbewußtſein
deutlich genug verriet, denn in dem verlaſſenen Zimmer
2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 39
ſtand und lag noch alles wie unter den Händen ſeines
Bewohners.
Aber die liſtig funkelnden Augen der Wirtin redeten
von einem Geheimnis, um deſſen Verrat ſie dennoch
niemand anging — es iſt eine zu gefährliche Sache,
die Spuren der Gehetzten aufzudecken, und die Ver-
treter des Geſetzes wiſſen das viel zu genau, um ſich
auf etwas anderes zu verlaſſen als auf ihre eigene
Findigkeit.
` * Pr *
Jean Lecocq und Käthe waren mitten im Schwarm.
Letztere war vollkommen weiß gekleidet und unterſchied
ſich darin nur wenig von den übrigen Tänzerinnen,
aber ſie war viel blaſſer und ſtützte ſich ſchwerfällig auf
den Arm ihres Partners.
„Du biſt müde,“ ſagte Jean, „wir wollen ein wenig
ausruhen. Teufel auch, das ging damals anders her,
als wir zum erſten Male miteinander tanzten!“
„Es war Sommer,“ entgegnete ſie und zog das
Tuch fröſtelnd um die Schultern.
Sie ſetzten ſich abſeits an einen Tiſch. Jean be-
ſtellte Wein.
Als er mit einem Zwanzigfrankenſtück bezahlte,
wurden ihre Augen groß. „Du haſt Geld?“ fragte ſie
erſtaunt.
„Genug für heute abend, Schatz! Morgen gibt es
mehr.“
„Von — ihm?“
„Natürlich, von wem ſonſt? Wenn ich einen Schlaf-
burſchen nehme, ſo muß er auch dafür blechen, und
meinem Freunde Renard werde ich ordentlich die
Daumenſchrauben anſetzen. Darauf kannſt du Gift
nehmen.“ l
40 Die Apachen. o
„Iſt er wirklich dein Freund?“
„Sonſt würde ich ſicherlich einen Zudaslohn ver-
dienen und ihn der Polizei überliefern.“
Sie ſtützte den blaſſen Kopf in die Hand und ſah
auf das Gewühl der Tanzenden. „Die da ſind wohl
alle gleich, aber vor — ihm fürchte ich mich. Was
hat er begangen?“
„Ich weiß es nicht,“ entgegnete Jean leiſe. „Ich
kann es ihm nur an den Augen ableſen. Vielleicht
einen Mord —“ |
„Dann darfſt du mich nicht mehr allein laſſen,“
ſagte die junge Frau tonlos. „Heute nachmittag baft
du das getan.“
„Unſinn — dir krümmt er kein Haar! Du gehörſt
ja zu uns.“
„Ja, Zean, das iſt es gerade — ich gehöre zu euch!
Heute noch dir. — Alſo hörſt du, mit Renard darfſt
du mich nicht mehr allein laſſen!“
Wenn ihr Blick ſeine auflodernden Augen geſehen
hätte, ſo wäre ſie vielleicht ſtill geweſen. Aber ſie ſaß
da und zeichnete mit dem verſchütteten Wein Figuren
auf den Tiſch. Es war ſeltſam, wie wenig ſie auf ihn
achtete, nicht einmal das Knirſchen ſeiner Zähne
hörte ſie.
Ihre Augen irrten jetzt durch den Saal und ſuchten
den Eingang, aber die Gedanken weilten noch halb
bei den letzten Worten.
* *
x
In Paris einen Menſchen zu ſuchen, iſt ſchwerer
als anderswo, aber Fritz Tonndorf ſagte mit jener
ſtillen Energie, die bisweilen gerade bei verträumten
Naturen hervorbricht, daß er die Stadt von einem
Ende bis zum anderen durchwandern werde. Er halte
D Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 41
mit ſeinen Reiſegenoſſen das „Kaninchen“ geräumt,
weigerte ſich aber, ein anderes Obdach aufzuſuchen.
„Das iſt gut für Sie, meine Herren,“ ſagte er, „ich
aber kann erſt wieder ſchlafen, wenn mein Kind auf-
gefunden iſt. Sie verſtehen es nicht, die Gedanken
eines Vaters zu ſchätzen.“
Als Willibald Specht etwas von ſeiner eigenen
Tochter murmelte, ſah ihn der Alte groß an.
„Haben Sie jemals Ihr eigenes Fleiſch und Blut
verleugnet? Wir ſollen unſere Kinder hüten, Herr, aber
ich wachte nur über meine vermoderten Scharteken.“
Sein Suchen hatte etwas Schreckliches, denn es
war vollkommen ziellos. Es war wie das Taſten eines
Blinden. Aber wenn die anderen von dem Abend
ſprachen und von den Tanzlokalen, ſchüttelte Fritz Tonn-
dorf den Kopf.
„Dort ift fie nicht, dort kann fie nicht fein, Ich
kenne dieſe Höhlen des Laſters. Sie tanzen da mit
dei Tod. Mein Kind liegt vielleicht irgendwo auf
dem Stroh und ringt mit dem Tode. Es iſt das Beſte,
was ich noch hoffen darf.“
Aber als die Nacht kam, ging er doch mit. Er war
ganz ſtumm geworden, und ſeine Begleiter merkten
ihm wohl an, daß er jetzt an ein Wiederſehen glaubte
und ſich davor fürchtete. Als ſie vor dem Lokal ſtanden
und die Geigentöne hörten, erbot Egbert ſich, allein
hineinzugehen.
„Man würde Sie erſchlagen,“ entgegnete Lonn-
dorf. „Da drinnen gilt ein Menſchenleben ſo viel wie
eine Mücke. Aber alle dieſe Leute haben auch einen
Vater gehabt.“ |
So kamen fie zuſammen an den Eingang des Saales.
In dieſem unbeſchreiblichen Chaos, in dem Staub
und Dunſt, der ſelbſt das Lampenlicht rot färbte, war
42 Die Apachen. o
es nur ſchwer, Geſtalten und Züge zu unterſcheiden.
Aber der alte Mann, deſſen Augen über den Büchern
ſchon trüb geworden waren, warf nur einen einzigen
Blick auf die durcheinanderwirbelnde Menge.
Dann ſagte er heiſer: „Dort ſitzt ſie — die in dem
weißen Kleid —“ ö
Und nun begab ſich etwas Seltſames.
Man war auf die Gruppe an der Tür aufmerkſam
geworden, aber der wilde Apachentanz wogte noch
weiter.
Dann brach die Muſik plötzlich mitten im Takt ab,
und es war, als ob der letzte Geigenton wie ein Schrei
durch den Saal hallte.
Fritz Tonndorf ging langſam vorwärts.
Die Tanzenden hatten aufgehört und drängten ſich
in Gruppen zuſammen. Wo der Alte hinkam, bildete
ſich eine Gaſſe. Niemand rührte ihn an.
Er ſah ja aus wie der Tod, dieſer weiße, gebückte
Mann. Aber wie der Tod ſich durch nichts aufhalten
läßt, ſo ging auch er unbekümmert ſeinen Weg bis an
den Tiſch, an dem Käthe ſaß und mit einer Ohnmacht
rang.
Er ſtreckte den Arm aus und faßte ſie um das Hand-
gelenk. Nicht hart, aber unwiderſtehlich und ohne ein
Wort zu reden.
Und fo führte er fie nach dem Ausgang. Das Zurück-
weichen der Menſchen wiederholte ſich, ſie drängten
förmlich in die Winkel des Saales — die Männer mit
weitaufgeriffenen Augen, die Weiber das Geſicht ver-
bergend.
Dann flutete alles wieder zuſammen. Aber die
Muſik ſchwieg noch immer.
* *
o Cin Parifer Roman von Frig Levon. 43
Es war ſehr dunkel in dem ärmlichen Gemach, in
dem Jules Renard vor den Augen der Polizei eine
Zuflucht gefunden hatte.
Auf dem Ciſch brannte zwar eine Kerze, wie fie
für einen Sou von den Straßenhändlern verkauft wer-
den, aber ihre Flamme ſpendete ſo wenig Licht, daß
die Gegenſtände kaum einen Schatten warfen.
Hinter der morſchen Galerietür rauſchte die Seine.
Am Tiſch ſaß Renard mit dem Kopf in beiden
Fäuſten und brütete vor ſich hin. Er hatte die ihm
eingeräumte Küche verlaſſen und ſich hierher zurück—
gezogen. Die Eigentümer der Wohnung tanzten ja
für ſein Geld, ſie kamen wohl nicht vor morgen früh
nach Hauſe. So konnte man ſich wenigſtens etwas
Raum gönnen.
In der Nähe lag das Beil auf der Erde, mit dem
Jean heute früh ein Stück von der Galerie zerkleinert
hatte, und Renard ſah grimmig lächelnd, wie der blanke
Stahl matt aufleuchtete, ſo oft ein Zugwind von der
Tür her die Kerzenflamme bewegte.
Jules Renard verachtete im Grunde genommen
das ganze Geſindel, mit dem er ſich notgedrungen
abgeben mußte, und feine Beziehungen zu Lecocq er-
wuchſen aus dem Solidaritätsgefühl der höheren Bil-
dung; aber ſeitdem Jean auch äußerlich die Gewohn—
heiten und die Lebensweiſe der Apachen angenommen
hatte, war er in den Augen ſeines Genoſſen geſunken
und konnte für künftige Unternehmungen nicht mehr
in Betracht kommen.
Für Pläne, die nach dieſem großartig angelegten,
aber mißglückten Fälſchertrick ſchon wieder fein raft-
loſes Gehirn durchkreuzten.
Jules Renard horchte auf das Rauſchen der Seine,
die unter dem wachſenden Winde immer höhere Wellen
44 Die Apachen. N a
warf. Das war ein ähnlicher Laut wie zwiſchen den
Bäumen des Berliner Tiergartens — an jenem dunklen
Abend, der dem heutigen ſo ſehr glich. |
Wie hatte Hans Lux, dieſer deutſche Idealiſt, doch
noch geſprochen?
„Das ſchwerſte Verbrechen iſt der Mißbrauch einer
Gottesgabe. Sie haben ſich deffen ſchuldig gemacht,
Sie ſind von heute ab geächtet und verfemt. Kehren
Sie in Ihr Vaterland zurück, um unterzutauchen. Dann
will ich vergeſſen, daß ein anſtändiger und gebildeter
Mann jemals mit Ihnen geredet hat.“
Da war die Wut zum Ausbruch gekommen, und
die Beſtie hatte ſich gezeigt.
Jules Renard wollte mit den Zähnen knirſchen,
als dieſe Erinnerung ihm in das Hirn kroch, aber er
fühlte, daß ſeine Zähne aufeinanderſchlugen.
Dann fuhr er in die Höhe.
Der Sturm hatte die morſche Tür der Galerie auf—
geriſſen und die flackernde Kerze ausgelöſcht. Es
huſchten plötzlich Schatten durch das Gemach, denn der
Nebel war verſchwunden, und der Mond ſtand am
Himmel zwiſchen jagenden Wolken, die mit dem ſchäu-
menden Fluß ein Wettrennen abhielten. Es war alles
Aufruhr und Flucht.
Und Jules Renard dachte plötzlich an das letztere.
Solange das große, ſtrahlende Paris unter der Hülle
des Nebels lag, hatte er fih wie hinter einer Tarn-
kappe geborgen gefühlt und nicht an Verfolgung ge—
dacht. Nun ſtrahlten plötzlich drüben die tauſend und
abertaufend Lichter auf, und wo fie flußabwärts in
Dunkel verſanken, übernahm der Mond die Wächterrolle,
Man ſagt, die Sonne bringt die Untaten an den
Tag — nun, ihr blaſſer Geſelle verſteht es noch beſſer,
denn er ſieht, was bei Nacht geſchehen iſt!
6 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 45
Jean Lecocq hatte von einem Kahn geſprochen,
der unter der Galerie verborgen lag. Den wollte er
jetzt benützen.
Aber nicht waffenlos.
Sein Dolchmeſſer lag weit von hier im welken Laub
des Tiergartens, wo man es vielleicht ſchon gefunden
hatte. Aber da war ja das Beil.
Renard nahm es an ſich. Dann trat er wieder
auf die Galerie hinaus, neben das Loch, das Jean
gehackt hatte, um ſeinen Ofen zu heizen. Er ſpähte
nach dem Verſteck des Kahns. Den mußte er haben,
denn ſchwimmen konnte er nicht, und das Waſſer war
auch zu wild.
Er horchte plötzlich auf. Im Zimmer hatte ſich
jemand bewegt. Kamen ſie ſchon —
Es waren nicht die Häſcher, deren Schritt über die
Diele des Zimmers haſtete, ſondern es war Sean, der
plötzlich auf der Galerie ſtand, barhäuptig, zerzauſt und
mit einem Geſicht — N
Es kam ſchneller, als die Wolken da oben jagten.
„Was willſt du?“ ſchrie Renard.
„Hund, elender!“
Jules Renard hob feine Waffe.
Da fuhr ihm ein Fauſtſchlag des Apachen zwiſchen
die Augen, daß er das Beil fallen ließ und in die
Luft griff.
Ein Schrei — ein dumpfes Aufklatſchen.
Jean Lecocq ſtand an der Bruſtwehr der Galerie
und ſtarrte auf den ſchimmernden Fluß.
Weit draußen tauchte noch einmal ein Kopf auf,
dann eine Hand — dann nichts mehr.
„Morgen iſt er in der Morgue,“ ſagte der Apache
halblaut.
Dann ging er hinein, ſchloß die Tür hinter ſich,
46 Die Apachen. ô
zündete die erloſchene Kerze an und ſetzte fidh auf den
Rand des Bettes, das in einer Ecke des Zimmers ſtand.
Es lagen dort noch einige Kleidungsſtücke, die Käthe
für gewöhnlich zu tragen pflegte — armſelige Fähn-
chen, aber dennoch ſauber gehalten und vielfach aus-
gebeſſert. | |
Jean Lecocq rührte fie nicht an. Aber er betrachtete
dieſe Zeugen eines kurzen und zweifelhaften Glückes
mit finſteren Augen.
Als die Kerze ausgebrannt und erloſchen war, packte
er feine eigenen paar Sachen in ein Bündel und ver-
ließ das Haus.
Man hat ihn nicht mehr in Paris geſehen.
%* *
X
In der von Doktor Barkhauſen geleiteten Zeitung
erſchien eine Serie von Artikeln über die Pariſer
Apachen, die den ungeteilten Beifall der Leſer fanden.
Man rühmte die Lebenswahrheit dieſer Schilderungen
und erwartete mit Spannung das gleichzeitig ange-
kündigte Buch, das noch mit Bildern von dem Stift
eines tüchtigen Künſtlers ausgeſtattet ſein ſollte.
Als es herauskam, wunderten ſich viele, daß die
ſorgfältig ausgeführte Titelvignette nicht etwa das Bild
eines unheimlichen Mannes, ſondern die Züge eines
jungen Mädchens brachte, die vollſtändig in Weiß ge-
kleidet war.
Das Rätfel blieb ungelöſt. Aber als Berta ihren
Verlobten Egbert fragte, ob Käthe Tonndorf wirklich
ſo ausgeſehen habe, ſchüttelte er den Kopf.
„Das wäre grauſam,“ ſagte er. „Aber ohne ſie
hätte ich das Buch nicht ſchreiben können, und das Buch
wiederum hat unſer Glück begründet. Wir wollen ſie
nicht vergeſſen.“
D Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 47
Käthe ſelbſt wünſcht das Vergeſſen um ſo ſehnlicher.
Und ſie findet es im Strom der Zeit. Man ſieht ſie
bisweilen in Begleitung von zwei alten Männern durch
das Paradies bei Jena wandern, dort, wo der Weiden-
buſch des Geleitshauſes ſich in die Saale taucht.
Sie hätte in Paris eine unglückliche Liebe gehabt,
ſagen die Leute. Du lieber Himmel, ſolche Dinge
kommen auch in Oeutſchland vor — es iſt nicht der
Mühe wert, darüber zu reden.
Und ſie hat nun dafür gewiſſermaßen zwei Väter.
Denn Ruprecht Linde nennt ſie ſein Töchterchen, und
dann zuckt es ihm bisweilen um den grauen ſtruppigen
Schnurrbart — gerade als ob er noch in Eiſenach
ſäße und die Regiſtrande führen müßte.
Ende.
2
**
| *
zn ger er gern ger“
ie u ae
Die ſchöne Trebnitz.
Roman von hans Becker.
*
[Nachdruck verboten.)
Ss, Frau v. Trebnitz, das wäre alles, was man
mir geſagt hat. Wenn Sie glauben, daß ſich die
Sache für Sie eignet — gut. Meine Karte — ſelbſt—
redend, ich ſchreibe nur noch ein paar Worte auf.“
Sanitätsrat Rombach übergab gleich darauf Sophie
v. Trebnitz ſeine Karte und begleitete ſie bis zur Tür
ſeines Sprechzimmers.
„Bitte meine Empfehlung an Frau Schweſter und
Herrn Profeſſor.“
Es war alles ſo ſchnell gegangen, daß Sophie kaum
gehört hatte, was Rombach geſagt, ſich des Namens
der Dame, an die er fie empfohlen, nicht erinnerte,
auch nicht wußte, wohin, in welches Hotel ſie ſich wenden
ſollte.
Den Umſchlag mit der Karte des Sanitätsrats hielt
ſie noch in der Hand. Da ſah ſie Namen und Adreſſe:
Madame de Laſarewa, Hotel Kaiſerhof.
Sophie bog von der Behrenſtraße, in der der
Sanitätsrat wohnte, in die Friedrichſtraße ein. Sie
dachte nicht nach, ob es einen näheren Weg zum Wil-
helmsplatz gab — Erinnerungen waren in ihr auf-
geſtiegen, als ſie den Namen des Hotels geleſen, und
ein ſchmerzliches Lächeln huſchte über ihre Züge.
Wie oft war ſie mit ihrem Manne dort zum Five
a) Roman von Hans Beger. 49
O' clock geweſen! Heute ging fie hin, ſich um eine
Stellung zu bewerben, eine beſſere Dienerin, die einen
Platz ſucht.
Wenn ihr nur niemand begegnete, der ſie von früher
kannte. Nur nicht Menſchen ſehen, angeſprochen wer-
den, wohl gar Worte des Beileids hören müſſen!
Trotz des warmen Tages durchfröſtelte es ſie, ſo
daß ſie zuſammenſchauerte. Alles, was ſie durchlebt,
trat ihr vor Augen, beſtärkte in ihr den Entſchluß: nur
fort aus Berlin, recht weit, niemand mehr ſehen!
Der Portier verbeugte ſich tief vor der vornehmen
Dame, als ſie die Halle betrat. „Madame Laſarewa?
— Ja, die Dame ift zu Haufe. — Soll ich gnädige Frau
melden laffen?“
Er verbeugte ſich nochmals, als ſie ibm ihre Karte
gereicht, winkte einem Pagen, und wenige Minuten
ſpäter begleitete er Sophie zum Fahrſtuhl.
Ihr Herz klopfte, als fie vor der Tür des ihr be-
zeichneten Zimmers ſtand, vor der Tür ihres Schickſals,
ihrer Zukunft.
Auf ihr Klopfen hörte ſie ein wohllautendes „Herein *
Sie hatte fih eine alte, kranke Dame vorgeſtellt,
ohne recht zu wiſſen, wie ihr dies in den Sinn gekom-
men — und nun ſaß vor ihr eine hochgewachſene, ele-
gante, ſchöne Frau, eine Frau von fünfunddreißig bis
höchſtens vierzig Fahren, deren große dunkle Augen
ihr ohne Neugier, mit liebenswürdiger Diskretion ent-
gegenſahen.
Eine einladende Handbewegung nach einem in ihrer
Nähe ſtehenden Seſſel forderte Sophie auf, Platz zu
nehmen.
Das war faſt ſo wie früher, wenn ſie einen Beſuch
machte. Auch die erſten Worte der Dame ließen ſie
beinahe vergeſſen, welcher Zweck ſie hierher Al
1913. XI.
50 Die ſchöne Trebnitz. o
„Ich bin dem Sanitätsrat von Herzen dankbar,
unſere Bekanntſchaft vermittelt zu haben — doch Sie
ſcheinen ermüdet, darf ich Ihnen eine Erfriſchung bringen
laſſen?“
Sie drückte auf eine neben ihr ſtehende Tiſchglocke,
eine alte Kammerfrau erſchien.
„Vielleicht ein Glas Portwein, einige Früchte —“
Sophie verneinte dankend, die Kammerfrau verließ
das Zimmer. |
Frau Laſarewa führte das Geſpräch im Plauderton
weiter, ſprach über Berlin, bedauerte, daß fie fich ihrer
Nerven wegen von allem zurückhalten müſſe, weder
Theater noch Konzerte beſuchen dürfe, kam dann aber
langſam dem Zweck des Beſuches näher.
Keine Frage nach der Vergangenheit Sophies oder
nach ihren Kenntniſſen, nur ab und zu führte ſie wie
unabſichtlich die Unterhaltung in franzöſiſcher Sprache
und ſchien, als Sophie ohne Stocken darauf einging,
befriedigt.
„Wir wohnen weit von jeder größeren Stadt, unſer
Gut liegt vierhundert Werſt von Moskau. Da ſind wir
ſo ziemlich auf uns allein angewieſen, denn auch die
nächſten Güter ſind nicht nahe. Das iſt für Sie, die
Sie hier in Berlin an Geſellſchaft gewöhnt ſind, wie
eine Verbannung. Sie müſſen ſich zunächſt klar werden,
ob Sie das auf ſich nehmen wollen. Mir liegt viel
daran, daß Sie ſich bei uns wohl und behaglich fühlen,
damit Sie die Einſamkeit nicht zu beſchwerlich finden
und uns nicht bald wieder verlaſſen. Die Wintermonate
verleben wir gewöhnlich in Moskau, da iſt es dann ſchon
etwas beſſer. Ihre Pflichten beſtehen darin, meiner
Tochter Xenia Geſellſchaft zu leiſten, denn durch meine
häufige Abweſenheit entbehrt ſie zu ſehr die Mutter.
Auch wenn ich zu Hauſe bin, kann ich mich leider um
2
A Roman von Hans Becker. 51
nichts kümmern, meine Nerven verbieten mir das.
Außer meinem Mann und meiner Tochter iſt noch mein
ſechzehnjähriger Sohn auf dem Gute, der hat feinen
Erzieher — ſo, das wäre die ganze Geſellſchaft, die
unſeren Kreis bildet. Die Dame, die bisher meiner
Tochter zur Seite ſtand, verläßt uns, um ſich zu ver-
heiraten — ſehr bald geht ſie ſchon fort, es wäre alſo
wichtig, daß Sie ſchnell hinkämen. Die Reiſe müſſen
Sie allerdings jetzt allein machen, da mich der Sanitäts-
rat hier noch feſthält, wir ſpäter auch noch einige Wochen
in die Schweiz gehen —“
Sie machte eine Pauſe, lehnte ſich erſchöpft in ihren
Seſſel zurück, wollte Sophie wohl auch Zeit laſſen, ſich
alles nochmals zu überlegen.
Nach einigen Minuten fragte ſie dann: „Sind wir
einig — ja? Dann möchte ich Sie mit meinem Manne
bekannt machen.“ ‘
Ein Glockenzeichen rief die Kammerfrau.
„Bitten Sie meinen Mann auf einen Augenblick.“
Ehe dieſer kam, hatte ſie noch einen Wunſch aus-
zuſprechen: „Sie haben doch gewiß eine Photographie
von fih. Ich möchte das Bild nach Hauſe ſchicken, fo
ind Sie Xenia bei Ihrer Ankunft nicht mehr fremd.
Wie Sie zu reifen haben, ſchreibt Zhnen mein Mann
genau auf. Von der letzten Station werden Sie mit
Pferden abgeholt. So, das wäre alles, oder doch noch
etwas — würden Sie ſich entſchließen können, die
ſchwarze Kleidung abzulegen?“
Sophie verneigte ſich zuſtimmend.
„Ich danke Ihnen — da iſt auch mein Mann.“
Paul Laſarew begrüßte Sophie mit großer Liebens-
würdigkeit, wobei ſeine Blicke, als er hörte, daß Frau
v. Trebnitz einverſtanden ſei, ſekundenlang forſchend auf
ihrem Geſichte ruhten — faſt mit Bewunderung. Dann
53 Die ſchöne Trebnitz. 5
reichte er ihr die Hand und ſprach ſeine Freude aus,
in ihr eine zukünftige Hausgenoſſin zu ſehen.
Nur noch knappe zehn Minuten blieb Sophie im
Geſpräch mit dem Ehepaare, dann ſtand ſie wieder
auf der Straße.
Nicht einen Augenblick bereute ſie, daß ſie die
Stellung angenommen, fie hatte kaum darüber nach-
gedacht, ob ſie ſich in das neue Leben hineinfinden
könne, denn fie war ja mit dem feſten Entſchluſſe ge-
kommen, anzunehmen, was ſich ihr bieten würde.
Ein Ende mußte doch gemacht werden, im Hauſe des
Schwagers konnte fie nicht bleiben. Die kurze Zeit ſchon,
die ſie dort zugebracht, hatte ſie Qualen ausgeſtanden.
Elſa war lieb und gut zu ihr, gewiß, aber ſie ſtand
unter dem Einfluß ihres Mannes, hatte wohl täglich
zu hören bekommen, daß dieſer Zuſtand nicht ewig
dauern könne. Sie hatte auch nicht alles verheimlichen
können, was jener zu tadeln wußte: daß Sophie und
ihr Mann ſinnlos in den Tag gelebt; daß die Schweſtern
die gleiche Mitgift erhalten hätten, von Sophies Ber-
mögen aber kein Pfennig mehr da ſei; daß Trebnitz
nichts getan, kein Einkommen gehabt, nur darauf ge-
wartet hätte, daß der Schwiegervater ihm einen eigenen
Rennſtall einrichten ſollte, bis dieſer geſtorben, ohne
etwas zu hinterlaſſen; daß dann Zank und Streit bei
ihnen losgegangen ſei.
Einmal hatte Elſa auch von ſich aus hinzugefügt:
„Ich will dir nicht weh tun, Sophie, aber du hätteſt
deinen Mann nicht verlaſſen dürfen. Das hat ihm
allen Halt genommen, ihn zur Verzweiflung gebracht.
Halb wahnſinnig war er ja, als er dich holen wollte
und du dich weigerteſt, zu ihm zurückzugehen. Da hat
dann das Schreckliche geſchehen können. Sich und euren
Jungen — ich kann es gar nicht ausdenken!“
2 Roman von Hans Becker. 53
Sn ſolchen Gedanken war Sophie vorwärts gegangen
und hatte, ohne acht darauf zu geben, die Wohnung
ihres Schwagers erreicht.
Langſam, in müder Haltung, wie jemand, der fühlt,
daß er kein willkommener Gaſt iſt, ſtieg ſie die Treppe
hinauf.
Als ſie ins Zimmer getreten 2 fragte Die
Schweſter: „Nun?“
„Es iſt alles in Ordnung.“
„Du haſt alſo angenommen?“
„Ja, gewiß — ſehr nette Menſchen. — Ob ich mich
fürchte? — Kein Gedanke. Zch bin doch ſchon viel
gereift, und Rußland liegt nicht aus der Welt. Ich muß
mich ja auch an das alles gewöhnen, wen habe ich
denn noch —
„Aber Sophie, du haſt doch uns —“
„Ja, ich habe dich, du bleibſt mir, aber —“
Als ſie ſah, wie ängſtlich Elſa ſie anblickte, Tränen
in den Augen, umfchlang fie die Schweſter und küßte fie.
„Beruhige dich nur, ich werde mich ſchon in alles
finden, es hilft doch nichts, es muß doch ſein.“
„Gehſt du nicht zu Ewald hinein, er hat ſchon ein
paarmal gefragt? Tu es mir zuliebe, er hat ſich doch
für dich bemüht, meint es gut und —“
„Schön, auch das will ich noch tun.“
Als Sophie des Profeſſors Arbeitszimmer betrat,
ſah ſie ihn vor ſeinem Schreibtiſch ſitzen. Er ſchien
vertieft in feine Arbeit, denn es vergingen einige Se-
kunden, ehe er ſich umwendete.
Mit einem Ruck erhob er ſich dann. „Ah, Frau
Schwägerin —“
Er ſtockte, ſeine Blicke hafteten auf ihr. Als ob er
ſie heute zum erſten Male, als ob er ein Wunder ſähe,
ſtarrte er ſie an.
54 Die ſchöne Trebnitz. 2
In ihrer ganzen Pracht ftand fie vor ihm. Den
kleinen Kopf mit dem rötlichblonden Haar gebeugt,
die großen, dunkelgrauen Augen von langen Wimpern
beſchattet, erſchien ſie ihm im erſten Augenblick faſt
demütig — erſt als ſeine Blicke über ihre Geſtalt glitten,
ſah er, daß Trotz in der ſchlanken Figur mit den ſchmalen
Hüften lag, bemerkte, wie ſich die kleine Hand, die ſie
ihm wohl entgegenſtrecken gewollt, ſchnell auf dem
Rücken barg.
Trotz lag auch auf den ſchöngeſchwungenen Lippen,
als ſie ſagte: „Ich muß Ihnen doch danken, Ewald —
ich hab' die Stelle angenommen —“
„Wollen Gie fih nicht ſetzen?“
Er ſchob ihr einen Seſſel hin, fab fih dann ver-
legen um und legte ſchnell die Zigarre, die er noch
in der Hand behalten, auf den Aſchenbecher. Dabei
irrten ſeine Augen über den Schreibtiſch hin, Sophie
ſchien es, als ob er, der das Rauchen bei Frauen ver-
abſcheute, nach einer Zigarette für ſie ſuchte — ſie
konnte kaum ein Lächeln unterdrücken.
Aber auch ihr wurde die Situation peinlich, denn
ſie begriff, daß er ſich wohl bewußt wurde, wie er ſie
aus dem Hauſe vertrieben. Sie wollte ſchnell darüber
hinweg, reichte ihm die Hand und wiederholte: „Ich
danke Ihnen, Sie haben fih meinetwegen bemüht —“
„Ich bitte, ich bitte — es tut mir natürlich leid,
daß Sie uns verlaſſen, aber für Sie —“
Sie hob die Hand. „Wozu dieſe Worte, Ewald!
Ich weiß ja doch, daß ich hier im Wege —“
Ganz plötzlich verlor ſie die Haltung, der Gedanke,
unter fremde Menſchen als Dienende gehen zu müſſen,
erſchien ihr ſo grauſam, daß ſie in Tränen ausbrach.
„Aber Sophie!“ |
Er war zu ihr getreten, ſtrich ihr verzweifelt über
o Roman von Hans Becker. 55
das Haar, um ſchnell zurückzuzucken, als er empfand,
daß diefe Berührung ihn noch mehr aus dem Gleich-
gewicht brachte.
Sophie hatte fih (hon wieder in der Gewalt. „Ver-
zeihen Sie, Ewald, es iſt ſchon vorüber.“
Sie ſtand auf und ging ſchnell hinaus.
Er ſah auf die geſchloſſene Tür, wortlos, erſtaunt
— es war etwas in ihm zurückgeblieben, was ihn un-
ruhig machte — er fand den Grund dafür nicht, er
fühlte nur, daß das Zimmer plötzlich ſo alltagsgrau
ausſah, Licht und Wärme daraus entſchwunden ſchienen,
er vermißte den Klang der Stimme, die er noch eben
gehört, er ertappte fih dabei, wie er den fih entfernen-
den Schritten nachlauſchte.
Leiſes Klopfen an der Tür weckte ihn aus ſeinem
Sinnen.
Seine Frau kam herein. „Störe ich dich, Ewald?
Sophie hat ſich eingeſchloſſen. Sie rief mir durch die
Tür zu, daß ſie Kopfweh habe, der Ruhe bedürfe. Ihr
habt euch doch nicht gezankt?“
„Nein.“
„Hat dir Sophie geſagt —“
„Ja — ja, es iſt alles in beſter Ordnung. Deine
Schweſter hat die Stelle angenommen, reiſt in ein paar
Tagen ab — biſt du nun zufrieden?“
„Aber Ewald, du tuſt ja, als ob ich darauf gedrungen,
Sophie loszuwerden. Wer war es denn, der mir täg-
lich davon geſprochen —“
„Die Sache iſt abgemacht, ſei ſo gut und laß mich
arbeiten. Was du noch wiſſen willſt, mußt du dir
von deiner Schweſter erzählen laſſen.“
Elſa ging, aber ſie nahm eine innere Unruhe mit,
die ſie peinigte. Kaum je hatte ſie ihren Mann ſo
verſtört geſehen wie eben jetzt.
56 Die ſchöne Trebnitz. o
Noch ehe feine Frau aus dem Zimmer war, hatte
ſich Profeſſor Heller wieder über feine Arbeit gebeugt,
doch er hatte die Augen geſchloſſen, ſaß, ohne ſich zu
bewegen.
Plötzlich ſeufzte er tief auf, lehnte ſich in ſeinen
Stuhl zurück und fuhr mit der Hand über die Stirn,
als ob er Gedanken, die ſich darunter gebildet, die ihn
quälten, verſcheuchen wolle.
Am Tage der Abreiſe bat Sophie, ſie allein zum
Bahnhof fahren zu laſſen, ihr nur das Hausmädchen
mitzugeben.
Elſa war geradezu entſetzt bei dieſem Gedanken.
„Aber Sophie, unter keinen Umftänden! — Auch Ewald
kommt mit. Wie kannſt du nur fo etwas ausſprechen —“
Sophie mußte fih fügen, obgleich ihr vor Abſchied-
ſzenen auf dem Bahnhof graute. Aber ſie begriff, daß
Elſa ſich nicht abhalten laſſen würde. Alſo auch das
noch hinnehmen! Sie mußte eben verſuchen, den Kopf
oben zu behalten, keine trübe Stimmung aufkommen
zu laſſen.
Das tat fie denn auch, zeigte fih bei Tiſch faſt luftig,
rauchte zum Kaffee eine Zigarette nach der anderen
und ſuchte, als man abends auf dem Bahnhof ſtand,
den Anſchein zu erwecken, als ob ihr nichts ſo wichtig
fei wie die Unterbringung ihres Handgepäds im Schlaf-
- abteil,
Dabei hatte fie heiße Flecken auf den Wangen, und
ihre Stimme klang wie die einer Erſtickenden.
Endlich war auch das überſtanden. Noch ein letzter
Gruß, ein Winken aus dem Fenſter des fortrollenden
Zuges, ſie ſah, wie Elſa das Taſchentuch gegen die
Augen preßte, ſah ihren Schwager hochaufgerichtet
u Noman von Hans Becker. 57
ſtehen, den Hut, den er abgenommen, über dem Kopfe
haltend, dann war alles vorüber — ſie fuhr in die
dunkle Nacht, in die dunkle Zukunft hinaus.
Sie ſchloß die Augen, denn jetzt wollten die Ge-
danken kommen. Sie wehrte ihnen — wie bisher
verſuchte ſie, nicht zu denken.
Alles an fih herankommen laffen, was das Goid-
ſal bringt; ein Sichauflehnen dagegen war ja doch
nutzlos.
Ein trübes, ſchwermütiges Lächeln ging über ihre
Züge. Vielleicht iſt es doch anders, vielleicht bauen
wir doch ſelbſt an unſerem Schickſal, tragen Stein um
Stein zuſammen, gute und ſchlechte, brauchbare und
unbrauchbare, bis der Bau fertig daſteht, bis es ſich
erweiſt, ob das, was wir in Sorge bedacht oder im
Leichtſinn zuſammengefügt, uns Glück oder Unglück
bringt.
Sie öffnete die Augen wieder und fab fih im Ab-
teil um.
Sie war allein, ihr Handgepäck lag teils oben in
den Netzen, teils hatte der Träger es auf dem Sitze
ihr gegenüber aufgeſtapelt. Vielleicht blieb ſie auch
allein, denn um dieſe Jahreszeit ging der Zug der
Reifenden nach dem Weiten, während ihr Weg in den
Oſten führte. :
Sie ftand auf, drückte auf den Knopf der elektriſchen
Glocke und befahl dem herbeieilenden Schlafwagen-
ſchaffner, das Bett herzurichten. Dann trat ſie auf
den Gang hinaus und ſtellte ſich ans Fenſter.
Zu ſehen war da nicht viel. Vorüberhuſchende
Telegraphenſtangen, ab und zu eine Station, an der
der Schnellzug ſtolz vorüberflog — alles oft geſehene,
kaum beachtete Bilder.
Sie fühlte ſich müde von dem Zwang, den ſie
58 Die ſchöne Trebnitz. u
tagüber auf ſich ausgeübt, um ihr Fühlen zu ver-
bergen.
Eine Wohltat erſchien es ihr, als ſie endlich im
Bette lag, das eintönige Geräuſch des Bahnzuges ſie
in den Schlaf ſang.
Sophie ſchlief bis in den Mittag hinein, gegen Abend
erreichte ſie die Grenze.
Die ihr von Laſarew aufgeſchriebene Reiſeroute
hatte ſie durchſtudiert, danach mußte ſie am zweiten
Tage nach ihrer Abreiſe von Berlin die Station er-
reichen, wo ſie das Gutsgeſpann erwarten ſollte.
Nun fuhr ſie ſchon durch Rußland — noch eine
Nacht, dann würde ſie am Ziele ſein.
Ein Blick aus dem Fenſter lohnte auch jetzt nicht.
Immer das gleiche Bild: Wälder, Wälder, in weiter
Ferne ſtrohgedeckte kleine Hütten eines Dorfes. Wenn
ab und zu der Zug hielt, immer das gleiche kleine
Stationsgebäude, ein paar Bauern, die, einen Sack
mit ihren Habſeligkeiten auf dem Rücken, von dem
Beamten mit lautem Schelten an das Ende des Zuges
gejagt wurden, ein paar kleine Bauernmädchen mit
ſtrohgelbem Haar, nackten braunen Beinen und Füßen,
Körbchen mit Erdbeeren zu den Fenſtern des Wagens
heraufhaltend.
Endlich hatte ſie die Station erreicht, auf der ſie
ausſteigen ſollte.
Während ihr Gepäck aus dem Wagen geholt wurde,
ſtand Sophie vor dem Stationsgebäude und wartete.
Über ein Holzgeländer neben dem Haufe hinweg ſah fie
die Landſtraße. Auf dieſer zwei ſchmutzige Gefährte,
für deren Form fie keinen Namen kannte, die Davor-
gefpannten mageren Gäule mit zur Erde hängenden
Köpfen, von Fliegen und Mücken umſchwärmt.
Der Stationsvorſteher kam, nahm ſeine rote Mütze
o Roman von Hans Becker. N 59
ab und verbeugte fih. In gebrochenem Oeutſch ſprach
er ſie an: „Dame wünſcht nach Laſarewka — Pferde
ſchon da, ſoll ich befellen, Gepäck aufzuladen —“
Statt auf ſeine Frage zu antworten, fragte ſie
ihrerſeits: „Sind das dort die Pferde?“
Sie zeigte mit der Hand auf die bemitleidenswerten
Geſchöpfe, die ſich noch immer vergebens anſtrengten,
ſich durch Schütteln des Körpers und Schlagen mit
den Schweifen ihrer Quälgeiſter zu erwehren.
Der Stationsvorſteher lachte. „Nein — nein. Nicht
fürchten, Gnädige, Pferde ſtehen am Eingang.“
Der Beamte rief den Trägern einen Befehl zu.
Den Bahnzug ſchien er ganz vergeſſen zu haben, denn
der Lokomotivführer hatte fih ihm ſchon ein paarmal
durch Zeichen bemerkbar zu machen geſucht. Auch
jetzt winkte er nur läſſig mit der Hand.
Sophie hatte das beobachtet. „Wollen Sie nicht
erſt den Zug —“
Nun hörte ſie in Worten, was vorher nur gedacht
war. „Erſt Dame abfertigen, von Laſarewka ſtrengen
Befell erhalten — Zug kommt ſchon noch fort.“
Er geleitete Sophie durch das Stationsgebäude zu
dem nach der Straße führenden Ausgang, wo ein Wagen
mit vier nebeneinandergeſpannten Pferden ſtand.
Der Wagen hatte die gleiche Form wie die Ge—
fährte, die Sophie vorhin ſolchen Schrecken eingejagt,
aber während dort alles zerriſſen und ſchmutzig war,
glänzte hier das Leder des Verdecks, Untergeſtell und
Räder blitzten. Auf dem Bock ſaß ein ſtämmiger Rut-
ſcher, durch deſſen ärmelloſen ſchwarzen Rock, der in
der Taille mit roter Schärpe gehalten wurde, ein blau-
ſeidenes Hemd ſichtbar war. Den Kopf bedeckte ein
halbhoher, runder, glänzender Filzhut, der rundum mit
Pfauenfedern beſteckt war.
60 Die ſchöne Trebnitz. U
— — — —— ñ—jäba
Als Sophie ſich näherte, beugte er grüßend den
Kopf, den Hut konnte er nicht abnehmen, da er die
Hände nicht von den Leinen der unruhig ſtampfenden
Pferde laſſen konnte.
Das Gepäck war bald aufgeladen, und Sophie ſtieg
ein. Erſt als ſie ſchon eine Strecke von der Station
entfernt war, hörte ſie den Pfiff der Lokomotive des
endlich befreiten Zuges.
In der Luft tiefe Stille, kein Bogelruf, nur. das
Zirpen der Grillen, ein gleichmäßiges, melancholiſches
Getön, eine unbeſtimmte Sehnſucht wachrufend, den
Gedanken erweckend, daß es außer dieſer ſtillen, fried-
vollen Welt keine andere Welt mehr gäbe, keine Welt
mit Lärm und Geräuſch, mit Freude und Luſt, mit
Sorge und Kummer.
Ein klingendes Tönen drang durch die Stille —
die Felder hatten aufgehört, Wieſen zeigten ſich Sophies
Blick, fie fab wieder Menſchen, Bauern, die das hoch-
ſtehende Gras mähten, ihre Senſen wetzten, dazwiſchen
eintöniger Geſang.
Nach den Wieſen ein Dorf. Graue Hütten mit ver-
witterten Strohdächern, Scharen von halbnackten Kin-
dern, Hühnern und Schweinen, die mit Gekreiſch und
Geſchrei auseinanderſtoben, als der Wagen ſich ihnen
näherte.
Dann wieder Felder und wieder Wieſen, endlos
bis zum Horizont ſich erſtreckend.
Sophie wußte nicht, wie lange ſie ſo dahingefahren,
vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei, ſie ſchloß die
Augen, war müde, wollte nichts mehr ſehen.
Ein ſtärkeres Geräuſch der Wagenräder, als ob fie
auf härterem Boden rollten, ließ ſie wieder aufblicken.
Sie ſah erſtaunt um ſich, die Szenerie erſchien plötzlich
wie vertauſcht. Statt der Felder und Wieſen eine
6 Roman von Hans Becker. 61
geradlinige, auf beiden Seiten von hohen Weiden ein-
geſäumte Allee, an deren Ende ſich eine Anzahl gleich-
mäßiger, niedriger Gebäude zeigte. Als der Wagen
ſich näherte, erkannte ſie, daß es Stallungen waren.
Daneben große, eingezäunte Wieſenflächen, auf
denen ſich eine Unzahl von Pferden tummelte.
Daran vorüber führte ein gutgehaltener Weg, der
bald rechts abbog und auf dem man zu einer zweiten,
von alten, hohen Bäumen beſtandenen Allee gelangte,
bis die Einfahrt zu einem Park ſichtbar wurde.
Die großen, gußeiſernen Torflügel ſtanden offen,
der Wagen fuhr hindurch, eine Weile trabten die Pferde
unter den Bäumen hin, dann hielten ſie vor der breiten
Treppe eines großen Gebäudes.
Kein Schloß, wie ſich Sophie vorgeſtellt, zeigte ſich
vor ihr, nur ein einfaches, weißes Haus mit zwei Stock-
werken und doch imponierend durch die mächtige Breite,
in der es daſtand, feſt und trotzig, ohne äußeren Schmuck,
keinem Stil nachſtrebend, aber dem Beſchauer das Ge-
fühl einflößend, daß es ſich hinter dieſen feſtgefügten
Mauern gut und ſicher ſein ließe.
Ehe Sophie noch den Wagen verlaſſen hatte, kam
eine Dame eilig die Treppe des Hauſes herunter, ge-
folgt von einem hochgewachſenen blonden Herrn.
Mit ausgeſtreckten Händen trat ſie auf Sophie zu.
„Frau v. Trebnitz — willkommen! Zch bin Alice
Schubert, Frau v. Laſarewa hat Ihnen wohl ſchon
erzählt — Aber was ſchwatze ich! Kommen Sie ins
Haus, Sie werden ermüdet von der Fahrt ſein. — Darf
ich vielleicht noch gleich bekannt machen? — Herr Doktor,
kommen Sie doch näher, damit ich Sie Frau v. Trebnitz
vorſtellen kann — unfer Hausgenoſſe, Herr Doktor Bau-
meiſter.“ l
Der blonde Herr verbeugte fich, dabei verzog er
62 Die ſchöne Trebnitz. cd
etwas ſpöttiſch das Geſicht, und als er Sophie die
Hand reichte, ſagte er: „Nicht Doktor. Fräulein Schu-
bert allein verdanke ich dieſen Titel. Aber bitte, treten
Sie doch erſt näher.“
Dem Diener, der in Begleitung einiger in hell-
graues Leinen gekleideter halbwüchſiger Zungen und
einiger Hausmädchen um die Ecke des Gebäudes ge-
kommen war, gab er Befehl, das Gepäck abzuladen.
Fräulein Schubert begleitete Sophie bis zu ihren
Zimmern im zweiten Stock. Vor der Tür verabſchiedete
ſie ſich. „Ich laſſe Sie jetzt allein, denn Sie werden
ſich umkleiden wollen. In einer Stunde hole ich Sie
zum Eſſen, oder ſoll ich Ihnen gleich jetzt noch Tee
oder ſonſt etwas heraufſchicken?“
Sophie dankte. Trinken oder eſſen mochte ſie jetzt
nicht, ſie hatte nur das Bedürfnis, ſich zu waſchen und
umzukleiden.
Doch ſie ging nicht gleich daran, als ſie ins Zimmer
getreten war; ſie ſah ſich erſt um, muſterte das Stück-
chen Welt, in dem ſie fortab leben ſollte.
Ein geräumiges Zimmer, in das ſie durch einen
ſchmalen Vorraum gegangen war. Alte Mahagoni-
möbel, der ganze Raum durchweht, überflutet von einer
grünlichen Dämmerung, erzeugt von den letzten, durch
das Laub der Bäume dringenden Strahlen der Sonne
vor den Fenſtern.
Sophie ſtand und ließ den hübſchen Eindruck einige
Sekunden auf ſich wirken. Sie dachte im Augenblick
nicht daran, in welcher Eigenſchaft ſie hierher gekommen,
fie betrachtete ihre Umgebung, wie man auf Reifen,
am Ziel angelangt, ein Zimmer anſieht, in dem man
eine Weile leben ſoll.
Langſam ſchritt ſie dann bis zu der geöffneten Tür
des Nebenraumes. Ein breites Bett, zwei große
2 Roman von Hans Becker. 63
Schränke, Stühle und eine Waſchkommode, alles aus
dem gleichen Holze, in denſelben Formen wie im erſten
Zimmer. Sie trat ans Fenſter und ſah in den Park
hinunter. Keine Menſchenſeele war zu ſehen, ſtill lagen
die Parkwege vor ihr.
An der Tür des Wohnzimmers klopfte es, Fräulein
Schubert kam, um ſie zum Eſſen zu holen.
„Bei Tiſch treffen Sie auch Xenia. Sie war mit
ihrem Bruder Paul hinübergeritten auf das Gut des
Großvaters.“
Das Speiſezimmer war groß, hell erleuchtet, die
Türen zur Veranda geöffnet.
Die hohen Büfette, in der Mitte der große Eßtiſch
— alles von nachgedunkeltem, faſt ſchwarzem Eichen-
holz — machten den Eindruck, als ob fie ſchon Jahr-
hunderte an ihrem Platz ſtänden, wirkten im erſten
Augenblick, in der tiefen Stille, in dem der große,
hohe Raum lag, faſt beklemmend — wie eine ver-
geſſene Einſamkeit, ein Eindruck, der jedoch ſofort ver-
blich, als ſich die Tür öffnete und Xenia Pawlowna
eintrat.
Sie kam auf Sophie zu und reichte ihr die Hand.
„Frau v. Trebnitz — willkommen!“
Das junge Mädchen ſprach dieſe Worte, noch ehe
Fräulein Schubert Zeit gefunden hatte, Sophie vor-
zuſtellen. Dieſe fühlte fih durch die Herzlichkeit des
Empfangs warm berührt, ſo daß ſie die Hand des
jungen Mädchens in der ihrigen behielt, ihm ſekunden-
lang in die blauen Augen ſah, die mit dem dunklen,
fih bauſchig an die Schläfen legenden Haar eine Schön-
heit aus ihm machten.
Wie ein Kind noch, dachte Sophie, als ihr Blick
weiter über die ſchlanke Geſtalt in dem weißen, eng-
anliegenden Kleide, über die dünnen Arme und den
64 Die ſchöne Trebnitz. u
zarten Hals glitten. Faſt willenlos zog ſie Xenia an
ſich und küßte ſie auf die Stirn.
Alice Schubert ſtand verwundert, faſt mit ein wenig
Neid erfüllt, neben den beiden. Ihr ging durch den
Sinn, wie fie vor Jahren hier angekommen, verſchüch-
tert, in Furcht, das vornehme Haus zu betreten, von
Zweifeln geplagt, ob ſie da hineinpaſſen würde, noch
mit dem Schmerz über die Trennung von dem Ver—
lobten kämpfend, der einen beſcheidenen Poſten an
einer Schule in Dresden angetreten mit der kargen
Ausſicht, daß ſie beide arbeiten und ſparen wollten,
bis —
Sie hatte nicht bemerkt, daß inzwiſchen Baumeiſter
mit feinem Zögling eingetreten, ſchrak zuſammen, als
dieſe plötzlich neben ihr ſtanden und Baumeiſters
Stimme ertönte.
„Geſtatten Sie. — Paul, verbeug dich.“
Es hätte der Ermahnung Baumeiſters nicht bedurft,
denn der hübſche Junge, der der Schweſter auffallend
ähnlich ſah, dienerte, nachdem er Sophie eine Sekunde
lang angeſtarrt, ſchon zum dritten Male vor ihr, er
ſchien ganz hingeriſſen von ſo viel Schönheit, die er
offenbar nicht erwartet hatte.
Bei Tiſch ging es anfangs noch ein wenig ſchweig⸗
ſam zu, man taſtete noch gegenſeitig an ſich herum.
Als jedoch ſpäter am Abend, nach einem Spaziergang
durch den Park, auf der Veranda Tee getrunken wurde,
hatte man ſich ſchon zurechtgefunden.
Baumeiſter hatte inzwiſchen den Vornamen von
Sophies Vater erforſcht — Karl, wie er ſelbſt — alſo:
Sophie Karlowna, den Namen des Vaters an den
eigenen Namen angeſetzt, wie es in Rußland Sitte iſt
— das klingt hübſch, verbindet, gibt ein Gefühl der
Gemeinſamkeit.
D- Roman von Hans Becker. 65
Sophie nahm das gern an, und ſo ſchwirrten bald
die Anreden über den Tiſch: Sophie Karlowna, Karl
Karlowitſch — nur die Anrede von Fräulein Schubert
blieb. „Sit auch nicht gut anders möglich. Denken
Sie ſich, Sophie Karlowna, der Papa unſeres verehrten
Fräuleins hieß Hieronymus — Alice Hieronymuſſowna,
einfach undenkbar!“
Sophie erfuhr an dieſem Abende noch, daß Laſarews
ein großes Geſtüt hätten, daß ihre Pferde, ſowohl die
Reitpferde als auch die Traber, berühmt wären, daß
Kenia und Paul leidenſchaftliche Reiter ſeien, Xenia
im Herrenſattel ritt — für Sophie eine Erleichterung,
da ſie ſchon gefürchtet hatte, hier dadurch Anſtoß zu
erregen —, daß auch Baumeiſter ein vortrefflicher Reiter
fei, nur Fräulein Schubert diefe Kunſt nicht hatte er-
lernen können. |
„Wie bei der Namensgeſchichte,“ ſagte Baumeiſter.
Nach dem Tee begleitete Fräulein Schubert Sophie
wieder auf ihr Zimmer.
„Darf ich noch etwas eintreten? Vielleicht iſt es
ihnen angenehm, wenn ich Ihnen noch dieſen und
jenen Wink gebe.“
Sophie war ſehr erfreut darüber, ſie hatte ſelbſt
ſchon darum bitten wollen, denn es lag ihr viel daran,
über ihre Pflichten orientiert zu ſein.
„Alſo zur Hauptperſon für Sie: Kenia — ein gutes,
ich kann ſagen, ein prachtvolles Mädel. Sie werden
einen leichten, angenehmen Verkehr mit ihr haben. Es
iſt wohl das beſte Zeugnis, das ich ihr ausſtellen kann,
wenn ich ſage, daß mir die Trennung von dem Mädchen
ſehr, ſehr ſchwer fällt. Von ſehr weichem, tiefem, zur
Schwärmerei neigendem Gemüt, will fie zart und lieb-
reich behandelt ſein — da erſcheint ſie mir bei Ihnen
in den beſten Händen. Mit Paul haben Sie wenig
1918. XI. 5
66 Die ſchöne Trebnitz. 2
zu ſchaffen, den hat Doktor Baumeiſter in den Händen.
Auch er iſt ein guter Junge, natürlich ſchon in Sie
verliebt, wie könnte das auch anders ſein!“
Sie nahm Sophies Hand und ſtreichelte ſie.
„Herrn Laſarew und Frau haben Sie kennen ge-
lernt, wenigſtens mit ihnen geſprochen. Er iſt ein
Edelmann durch und durch, ein vornehmer Mann in
jeder Beziehung. Die Frau, bis auf ihre Nerven, ganz
erträglich. Wie mir ſcheint, liebt ſie ihren Mann ſehr,
iſt wohl auch eiferſüchtig, läßt ihn nicht gern allein.
Er muß ſie faſt ſtets auf ihren Reiſen begleiten. Bleibt
noch Doktor Baumeiſter, oder nicht Doktor — ich nenne
ihn eben fo — ein Menſch, ganz Herz und Seele.
Mit dem Perſonal haben Sie nichts zu tun, auch mit
der Wirtſchaft nicht, und dafür können Sie Gott danken,
wie ich es getan. Für eine Deutſche iſt es beinahe eine
Unmöglichkeit, ſich da zurechtzufinden. Der weibliche
Teil wird von der Wirtſchafterin, die ich Zhnen übrigens
morgen vorſtellen werde, geleitet, der männliche unter-
ſteht dem Hausmeiſter, den Sie heute im Eßzimmer
geſehen haben. Aus wie viel Köpfen der eine und der
andere Teil beſteht, weiß ich nicht, die meiſten Geſichter
ſind mir fremd geblieben, denn es läuft eine Unzahl
Volk im Haufe herum: Diener, Hausmädchen, Wäfche-
rinnen, Näherinnen, Köche, Küchenjungen, Stalljungen
und noch andere. Dazu kommen noch die Geſtütsleute:
Trainer, Bereiter, Fahrer und wieder Stalljungen —
dieſe ganze Geſellſchaft wohnt drüben im Geſtüt, die
bekommt man nur ſelten zu ſehen, nur hin und wieder,
wenn einer mit Meldung ins Haus geſchickt wird. Sie
ſehen — ein ganzes Reich für ſich. — Und nun gute
Nacht, ſchlafen Sie feſt und gut! — Doch noch eins —
glauben Sie, daß Sie mich in einigen Tagen entbehren
können, daß ich dann fort kann? Frau Laſarewa hat
o Roman von Hans Becker. 67
mir geſchrieben und mich gebeten, Ihnen in den erſten
Tagen, bis Sie ſich eingelebt, zur Seite zu ſtehen. —
Ja, Sie find einverftanden, daß ich Ende der Woche
reiſe? Herzlichſten Dank und nochmals gute Nacht!“
Sophie war allein. Sie trat von der Tür zurück,
bis zu der ſie Alice Schubert das Geleit gegeben, machte
ein paar Gänge durch das Zimmer und blieb dann
am offenen Fenſter ſtehen.
Tiefdunkle Nacht draußen, kaum noch die Umriſſe
der Bäume zu erkennen, und doch ſchien es Sophie,
als ob ſie eine Geſtalt auf dem Wege, der auf das Haus
zuführte, ſich bewegen ſähe.
Plötzlich blieb die Geſtalt ſtehen — vielleicht hatte
ſie das erleuchtete Fenſter in Sophies Zimmer bemerkt,
dies fie zurückgehalten, denn auf einmal war fie ver-
ſchwunden. |
Sophie wurde es unheimlich, fie ſchloß ſchnell das
Fenſter, löſchte die Lampe und ging in ihr Schlaf-
zimmer. l |
Erſt im Bette beruhigte fie ſich. Vielleicht war
es nichts geweſen, eine Einbildung, durch die vielen
neuen Eindrücke von ihren durch die lange Reife auf-
geſtörten Nerven hervorgerufen, oder es war ein zum
Hauſe Gehöriger, der einen Gang durch den Park
gemacht und nun zurückgekehrt war. Bei der Menge
Menſchen, die, wie ihr die Schubert geſchildert, im
Haufe und in dem nach der Landſtraße liegenden Wirt-
ſchaftsgebäude und bei der Stallung wohnten, ließ ſich
das leicht erklären.
Doch ſie wurde von neuem aufgeſchreckt. Lautes,
wütendes Hundegebell drang bis zu ihr, das eine Weile
andauerte, dazwiſchen glaubte ſie Stimmen, Rufe zu
hören — dann wieder lautloſe Stille.
Noch eine Weile horchte fie, wurde müde und ſchlief ein.
68 Die ſchoͤne Trebnitz. 2
Am anderen Tage hatte ſie beinahe vergeſſen, was
ſie gehört, und glaubte, als ſie ſich daran erinnerte,
geträumt zu haben.
Doch am Frühſtückstiſche ſprach Baumeiſter davon.
„Haben Sie ſich erſchreckt, Sophie Karlowna? Die
Hunde im Zwinger haben Lärm gemacht, irgend jemand
muß durch den Park gegangen ſein, trotzdem es ſtreng
verboten iſt, dort herumzulaufen. Zeder, der ausgeht,
ſoll über den Hof zurückkommen. Aber der Weg iſt
weiter, führt hintenherum, da klettert ſo 'n Bengel
lieber über die Mauer — na, wartet nur, ich habe
ſchon befohlen, heute nacht ein paar Hunde freizu-
laſſen, die werden den Weg ſchon weiſen.“
Ein Diener meldete, daß Peter Petrowitſch Le-
peſchow draußen fei und bäte, hereinkommen zu
dürfen. |
Baumeiſter lachte. „Was hat denn der ſchon wieder?
Es ift noch nicht zehn Uhr. Aber laß ihn nur herein.“
Er wendete ſich an Sophie. „Sie werden ein Original
kennen lernen, einen Gerichtsvollzieher mit weichem
Herzen. Sie dürfen ſich auch nicht wundern, Sophie
Karlowna, daß ich hier ſo den Herrn ſpiele, aber in der
langen Zeit, in der ich hier bin, iſt aus dem Lehrer
und Erzieher ein Mädchen für alles geworden. Der
Gutsverwalter wohnt auf dem Geſtüt — ich bin hier
ſchneller zur Hand.“
In der Tür erſchien ein großer, ſtarker Mann, trotz
der warmen Jahreszeit mit langem ſchwarzen Rock
bekleidet. Ehe er eintrat, verbeugte er ſich rechts und
links, auch als er auf Baumeiſters Aufforderung näher
kam, tat er dies noch und wiſchte ſich dabei mit einem
großen, bunten, baumwollenen Taſchentuch über Stirn
und Backen.
„Nun, Peter Petrowitſch, was bringen Sie uns?“
— — — — ——
u Roman von Hans Becker. 60
„Ach, Karl Karlowitſch, ſchon wieder bin ich hier
mit einer Bitte. Das Herz bricht mir —“
Er rieb ſich von neuem die Stirn und ſchielte dabei
nach dem Tiſch hin, nach all den guten Dingen, die
dort ſtanden.
Fräulein Schubert ſchenkte ihm ein Glas Tee ein.
„So, ſtärken Sie fih erft.“
Er trank einen Schluck. „Sie wiſſen ja, wie ſchwer
es mir wird, aber was ſoll ich machen, ich muß doch
— mein Gott, mein Gott, wie habe ich mich nur über-
reden laffen können, das Amtchen —“
„Na, tröſten Sie ſich, Peter Petrowitſch, ſagen Sie,
was los iſt.“
„Ja, ja — der Kusma Swanow, der alte Kerl,
hat den Schankwirt nicht bezahlt. Saufen müſſen die
Bauern, es geht doch nicht anders. Der Wirt hat ihn
verklagt — vierzig Rubel — nun ſollte ich heute pfänden,
ein Schäfchen oder ein Kühchen — da heult der Kerl,
rutſcht auf den Knien — ich konnte es nicht mehr
mitanſehen, bin fortgelaufen, hierher zu Ihnen —
hier iſt der Vollſtreckungsbefehl —“
„Das iſt ja traurig, aber was können wir dabei
machen?“
Kenia bat: „Karl Karlowitſch, zahlen Sie doch!“
„Wovon? — Peter Petrowitſch, es geht diesmal
nicht, der Herr iſt verreiſt —“
Wieder bat Kenia: „Papa hätte es auch getan. Sie
brauchen das Geld doch nur auszulegen.“
„Das iſt ſehr ſchön, Xenia Pawlowna, aber ohne
den Papa darf ich doch nicht —“
„Aber Sie ſollen —“
„Alſo auf Ihren Befehl, Xenia Pawlowna, gut —
verdient hat der Kerl es nicht. Morgen — ach, was
ſage ich, heute noch borgt er wieder und ſäuft weiter.“
70 Die ſchöne Trebnitz. D
Er wendete ſich an den Gerichtsvollzieher. „Laſſen
Sie ſich das Geld im Geſtütskontor auszahlen, aber
ſchaffen Sie ſich ein anderes Herz an, die Bauern danken
es Ihnen doch nicht. Haben Sie ſchon vergeſſen, wie
fich die Kerle gebärdet haben, damals —“
Lepeſchow trank ſchnell ſeinen Tee aus, löffelte das
Tellerchen mit Fruchtgelee, das ihm Fräulein Schubert
hingeſtellt, ſchmatzend aus, dann erhob er ſich. Noch
ſchluckend, ſich die Lippen leckend, verbeugte er ſich.
„Danke, danke — und das andere, Karl Karlowitſch —
ſchlimm find die Bauern nicht, gute Tierchen — da-
mals — na ja — die Studentchen, die fidh hier berum-
trieben — Sollen auch jetzt wieder ſo ein paar hier
ſein. Geſehen habe ich ſie nicht, nur erzählt hat man
es mir, müſſen aufpaſſen —“
Unter vielen Büdlingen empfahl er ſich, der Diener
öffnete ihm weit die Tür, ſonſt wäre er mit dem
Rücken dagegengelaufen.
Baumeiſter blieb ſchweigſam, als der Beſuch ver—
ſchwunden war, denn das, was ihm Lepeſchow geſagt,
machte ihn nachdenklich.
Nach einigen Tagen reiſte die Schubert ab. Sophie,
Xenia und Paul gaben ihr eine Strecke weit zu Pferde
das Geleite, Baumeiſter ſchickte drei Reitknechte hinter-
her — für alle Fälle, denn der Weg führte ſtreckenweiſe
durch den Wald.
Während fie fort waren, kam Beſuch. Der Groß—
vater, Boris Nikolajewitſch Safronow, war von ſeinem
Gute herübergekommen, um, wie er ſagte, nach Ord-
nung zu ſehen.
Dabei lachte er und klopfte Baumeiſter auf die
Schulter. „Weiß ja, Karl Karlowitſch, daß unter Ihrer
u Roman von Hans Becker. 71
Aufſicht alles gut geht, wollte mir auch eigentlich nur
die neue Geſellſchafterin anſehen. Verlieben Sie ſich
nur nicht in die Landsmännin, denn die ſcheint ja ein
verwünſcht ſchönes Weib zu ſein.“
Trotzdem Safronow alſo offenbar ſchon vorbereitet
war, machte er doch große Augen, als er Sophie ſah.
Nicht viel fehlte, ſo hätte er ihr bei der Begrüßung
die Hand geküßt. Aber er fing fih noch im letzten Augen-
blick ab. Geſellſchafterin — nein, oder nur unter vier
Augen!
Während er lebhaft mit feinen Enkelkindern plau-
derte, ließ der alte Herr von Sophie kaum einen Blick,
ſo daß Paul ſeine Schweſter heimlich anſtieß. |
„Sieh doch nur den Großpapa, Sophie Rarlowna
ſcheint ihm ja ausnehmend zu gefallen,“ flüſterte er ihr zu.
Kenia kniff ihn in den Arm. „Schweig doch! Was
du dir gleich denkſt!“
Auch Sophie entgingen ſeine Blicke nicht, denn
jedesmal, wenn ſie aufſah, begegnete ſie ſeinen Augen.
Der alte Herr ſchien nur für ſie und zu ihr zu ſprechen.
Übrigens war er ein Mann, der trotz feiner ſechzig
Jahre mit feiner hohen, faſt noch ſchlanken Figur, den
lebhaften Augen noch lange nicht im Schatten ſtand.
Er ſprach viel von Berlin, ſchwärmte für die Stadt.
„Vohl meine ſchönſte Zeit habe ich in Berlin verlebt
als junger Botſchaftsattaché. Aber auch ſpäter, fo oft
ich dort hinkam, bot mir der Aufenthalt ſtets großen
Genuß — iſt ja auch 'ne prachtvolle Stadt, dieſes
Berlin. Nun, meine Urgroßmama mütterlicherſeits
ſtammte aus Deutſchland, das verleugnet ſich nicht —
„Aber Großpapa,“ rief Paul lachend, „davon wiſſen
wir ja gar nichts!“ |
„Es iſt aber ſo. Sucht nur mal ordentlich unſeren
Stammbaum nach, da werdet ihr's finden.“
72 Die ſchöne Trebnitz. o
Nach einer Stunde erft verabfchiedete er ſich. Als
er aufſtand, merkte Sophie, wie er ſich Mühe gab,
Leichtigkeit in ſeine Bewegungen zu bringen, um nicht
ſehen zu laſſen, daß ſeine Knochen vom Sitzen ſteif
geworden waren.
An einem der nächſten Tage traf von Frau Laſarewa
Nachricht ein. Sie ſchrieb an Kenia, daß fie die Reife
wohl abkürzen würden, da ihr Gatte nach Petersburg
müſſe.
Paul erhob ein Freudengeſchrei. „Dann gehen wir
im Winter wohl alle nach Petersburg ſtatt nach Moskau.
Das wäre herrlich, ich trete dann ins Pagenkorps —“
Er ſtockte und ſah auf Baumeiſter, denn er fürchtete,
daß er dieſen durch ſeinen Freudenausbruch verletzt haben
könnte — das Pagenkorps hieß doch Trennung von
ſeinem Erzieher.
„Karl Karlowitſch, Sie bleiben natürlich bei mir,
ohne Sie gehe ich nicht!“
„Karl Karlowitſch wird dann auch Page,“ meinte
Kenia.
Sie lachten alle, auch Baumeiſter.
„Wird fich ſchon Rat finden, Paul, noch ift es nicht
ſo weit. Und jetzt wollen wir vorläufig noch ordentlich
lernen. Komm nur, wir machen uns gleich an die
Arbeit.“
Kenia ging mit Sophie in den Park, wo ſie ihr einen
hübſchen Platz zeigen wollte.
Baumeiſter rief ihnen nach: „Bitte, nicht zu weit
und nicht aus dem Park heraus! Es — es iſt zu heiß.
Nehmen Sie auch einen der Hunde mit!“
Kenia rief zurück: „Vor der Hitze kann der uns doch
nicht beſchützen! Aber ich will ihn mitnehmen, ich hole
ihn mit aus dem Zwinger.“ ö
2 Roman von Hans Becker. 73
Doch fie ſchien das vergeſſen zu haben, denn als
ſie mit Sophie durch den Park ging, ſprach ſie nur noch
von der Stelle, die ſie ihr zeigen wollte.
Es war ein am Ende des Parks gelegener, mäßig
hoher Hügel, eingerahmt von uralten Bäumen, durch
die hindurch man auf eine Schneiſe blickte, die die
Parkmauer von dem auf der anderen Seite beginnen-
den Walde trennte. Einige Ruhebänke ſtanden auf
dem Hügel.
Kenia ſetzte fih und zog Sophie neben fih. „Sft
es hier nicht ſchön, ſo ruhig, ſo — wiſſen Sie, Sophie
Karlowna, hier habe ich immer das Gefühl, als ob ich
beten müſſe.“
Sie ſchwieg und ſah vor ſich nieder.
Sophie betrachtete das liebliche, ſchmale Kinder-
geſicht mit den langen, dunklen Wimpern, den Grübchen
in den Wangen und den ſchöngezeichneten Lippen —
ſo ganz anders erſchien ſie ihr als im häuslichen Kreiſe,
wo ſie ſich luſtig und froh gab. Als ob eine ſtarke
Melancholie das Mädchen gefeſſelt hielt, die auch auf
ſie übergehen wollte.
Sanft nahm ſie eine der Hände Kenias in die ihrigen.
„Was bewegt Sie, Kenia?“
Kenia hob die Augen zu ihr.
Sophie ſah darin eine Träne. „Was haben Sie?
Sie weinen? Warum gehen Sie hierher, wenn der
Ort Sie trübe ſtimmt?“
Kenia ſchüttelte langſam den Kopf. „Das iſt es
nicht, das nicht allein. — Sophie Karlowna, darf ich
Ihnen vertrauen?“
Sophie erſchrak. Was hatte das Mädchen? Es war
doch nicht möglich, daß dies halbe Kind ſchon verliebt
war? Aber was ſonſt konnte ſie in ſolch ſchwermütige,
ſchwärmeriſche Stimmung bringen? „Ob Sie mir
74 Die ſchöne Trebnitz. 2
vertrauen dürfen? Warum nicht? Was hat Sie denn
ſo trübe geſtimmt?“
Sie erhielt keine Antwort, Xenia ſchien ihre Worte
nicht gehört zu haben. Sie hatte ſich erhoben, war
zu der Brüſtung getreten, die den Hügel einſchloß,
ſpähte zum Wald hinüber, als ob ſie ein Geräuſch
gehört.
Sophie folgte ihren Blicken. Unter den Bäumen
hervor trat ein Mann, der haſtig die Schneiſe überſchritt,
als ob er ſich dem wartenden Mädchen nähern wollte,
dann aber plötzlich umkehrte und wieder im Walde
verſchwand.
Was war geſchehen? Hatte Kenia ihm ein Zeichen
gemacht? Sophie wußte es nicht, denn alles war ſo
ſchnell gegangen, daß ſie ganz verblüfft war.
Nur daß es ein junger Mann mit feinen Geſichts-
zügen, zu denen die bäuriſche Kleidung nicht paßte,
geweſen, hatte ſie ſehen können.
Sie tat, als ob ſie nichts bemerkt hätte, wartete ein
paar Minuten, dann fragte fie: „Nun, Xenia, Sie ant-
worten nicht?“
Langſam löſte ſich das Mädchen von ihrem Platze
und kam zu Sophie. „Haben Sie ihn geſehen?“
Sophie ſchüttelte den Kopf.
Kenia ſetzte ſich wieder zu ihr. „Sophie Karlowna,
ich möchte Ihnen fo gern alles fagen, aber —“
„So ſprechen Sie doch!“
Das klang faſt ungeduldig, ſchüchterte Kenia ein.
Ein Weilchen blieb ſie ſtill, dann ſchien ſie überlegt zu
haben. Sie atmete tief auf, lehnte ſich wieder an Sophie,
und ſo, ohne aufzuſehen, ſprach ſie leiſe, faſt tonlos:
„Im vorigen Fahr habe ich ihn in Moskau kennen ge-
lernt. Durch einen Zufall. In der Nähe unſeres
Hauſes — ich wollte ſchnell über die Straße, an einem
o Roman von Jans Beder. 75
Wagen vorüber, ftolperte aber und wäre faſt unter die
Pferde geraten. Er ſprang zu und hob mich auf. Er
hat mir das Leben gerettet. Er iſt ein Student, Sergei
Beleuſſow heißt er, eine adelige Familie. Ich habe ihn
dann noch einigemal wiedergeſehen, er hat mich er-
wartet, wenn ich ausging. Jetzt iſt er hierher gekommen.
Er geht wie ein Bauer gekleidet, will nicht erkannt ſein.
Er liebe mich, hat er geſagt, ich mußte ihm verſprechen,
ihn ab und zu hier zu treffen. Daß er heute kommen
würde, habe ich nicht gedacht, wir treffen uns hier ge-
wöhnlich zu einer ſpäteren Stunde. Ich wollte ſchon
alles Mama erzählen, doch das hat er mir verboten. Er ſei
arm da würden meine Eltern Schwierigkeiten machen.
Wir müßten noch warten, er habe Großes vor —“
„And Sie, Kenia, wie ſteht es um Sie, was ſagt
Ihr Herz?“
„Ach, Sophie Karlowna, das iſt es eben, ich weiß
nicht — ich, ich fürchte mich vor ihm.“
Sophie verbarg ein Lächeln. Schlimm ſchien ihr
die Sache nicht zu ſtehen. „Aber warum treffen Sie
ſich dann mit ihm, das iſt doch ein Unrecht, ſo hinter
dem Rücken Ihrer Eltern. Ihre Mama würde gewiß
ſehr traurig ſein, wenn ſie davon erführe.“
„Das iſt es ja eben, was mir ſo großen Schmerz
verurſacht. Verſtehen Sie, Sergei hat mir das Leben
gerettet, ich darf ihn doch nicht zurückſtoßen, ich muß
doch gehorchen, wenn er es verlangt.“
Sophie dachte an ihre eigene Jugend zurück, an
die Zeit, als ſie fünfzehn, ſechzehn war. Sie und ihre
Berliner Freundinnen hätten ſchon gewußt, ob fie
jemand liebten oder nicht — ſolch zarte, unbewußte
Herzen wie dieſes hier gibt's nicht in Berlin, dort reift
man ſchneller heran. Ein zwölfjähriges Kind iſt dort
ſelbſtändiger als dies Mädchen hier neben ihr.
76 Die ſchöne Trebnitz. | 2
Zetzt begriff fie auch, wie es möglich war, daß ſich
ganz junge Mädchen ſchon von dem politiſchen Wirr-
wart, von all dieſen utopiſchen Ideen betören und
mitreißen laſſen. Schnell mußte hier ein Ende gemacht
werden, das Kind ging ſonſt an ihrem Gemüt zugrunde.
„Wollen Sie mir folgen, Xenia, wollen Sie mir
ganz vertrauen?“ |
Kenia nickte eifrig.
„So hören Sie. Sie dürfen dieſen Herrn nicht
wiederſehen. Auf keinen Fall —“
„Das geht nicht. Ich war einmal fortgeblieben,
da iſt er nachts über die Parkmauer geſtiegen, um bis
zu meinem Fenſter zu kommen. Jetzt hat Karl Rarlo-
witſch befohlen, nachts ein paar Hunde in den Park
zu laſſen — Sie wiſſen das ja, Sophie Karlowna. Die
zerreißen ihn, wenn er ſich nochmals im Parke zeigt.“
„Haben Sie ihm das geſagt?“
„Er hat gelacht. Er fürchte keine Hunde.“
„Seien Sie überzeugt, er wird nicht mehr über die
Mauer klettern.“
„Doch, er iſt bewaffnet, er hat ſtets einen Revolver
bei ſich, er hat ihn mir gezeigt.“
„Aber wiederſehen dürfen Sie ihn nicht, unter keinen
Amſtänden, das müſſen Sie mir verſprechen. Geben
Sie mir die Hand darauf, gehen Sie auch nicht mehr
allein aus.“
Kenia legte zögernd ihre Hand in die Sophies.
„Aber es darf ihm nichts geſchehen. Hören Sie, Sophie
Karlowna — ich könnte das nicht überleben.“
Sie ſtanden auf und gingen durch den Park zum
Hauſe zurück. Sophie dachte darüber nach, was ſie
tun ſollte.
Sie bezweifelte, daß Xenia ihr Verſprechen, jenen
Menſchen nicht wiederzuſehen, halten würde. Wenn
o Roman von Hans Becker. 77
es dem Manne gelingen follte, ſich ihr wieder zu nähern,
würde ſie tun, was er von ihr verlangte. Sie war
imſtande, mit ihm auf und davon zu gehen. Ob ſie
ſelbſt mit ihm ſprechen, ihm vorſtellen ſollte, welch
frevelhaftes Spiel er mit dem Kinde trieb?
Nur einen Augenblick tauchte dieſer Gedanke auf.
Das war ja ganz ausgeſchloſſen — ſie fürchtete ſich
vor dem Mann. Wer konnte wiſſen, was für ein rabiater
Kerl das war. Zweifellos auch einer von denen, die
die Welt umformen wollen. Solche Menſchen ſind zu
allem fähig.
Aber allein konnte ſie das Geheimnis nicht tragen,
es drückte fie ſchon jetzt wie eine ſchwere Laſt. Viel-
leicht ſprach ſie mit dem Großvater? Das war doch
der nächſte, der einſchreiten mußte.
Davon hielt ſie aber doch ein unklares Gefühl zurück.
Nicht, daß fie fih ſcheute, das ihr von Kenia geſchenkte
Vertrauen zu mißbrauchen — darüber mußte fie þin-
weg, denn es galt Wichtigeres, die Zukunft, das Leben
des Mädchens ſtand auf dem Spiel, ein ſchweres Un-
glück mußte verhütet werden. Etwas anderes war es,
was ihr vorſchwebte: der alte Herr hatte ihr ſo ſehr
den Hof gemacht, daß ſie es nicht über ſich brachte,
ſich mit ihm über eine ſolche Sache, eine Liebesſache,
auszuſprechen. Wie leicht konnte er andere Schlüſſe
daraus ziehen, meinen, daß fie ſich an ihn heran—
drängen wolle. |
Plötzlich fiel ihr ein, und fie war ganz erſtaunt, daß
ſie nicht gleich darauf gekommen: Baumeiſter — das
war der richtige Mann, dem mußte fie fagen, was vor-
ging, der würde Nat ſchaffen.
„Karl N ich bummle noch ein bißchen
im Park.“
78 Die ſchöne Trebnitz. ö a
Schnell hatte Paul feinen Tee ausgetrunken und
war von der Veranda verſchwunden. Baumeiſter hielt
ihn nicht zurück, wenn er auch geſehen hatte, wie der
Junge vorhin mit einem Zägerburſchen getuſchelt —
es war wohl ein Pirſchgang auf Marder im Park
verabredet.
Auch Xenia ſtand bald nachher auf. „Ich habe ein
wenig Kopfweh und lege mich hin — gute Nacht!“
Sophie blieb mit Baumeiſter allein zurück. Zegt
war der Augenblick gekommen, ſie mußte ſprechen, ſich
von dem Druck, der tagsüber auf ihr gelajtet, be-
freien. .
Doch ſie zögerte, ſie fand keinen Anfang, empfand
plötzlich, als ob ſie die eben eingetretene Stille noch
zurückhalten müſſe, nicht ſtören dürfe, denn auch Bau-
meiſter ſchien in Gedanken verſunken.
Das wirkte auf fie zurück, eine träumeriſche Stim-
mung kam über ſie.
Sie lehnte ſich in den Korbſeſſel zurück und ſah in
die Dunkelheit hinaus.
Nur ein mäßiger Raum auf der Veranda war von
der über dem Tiſche hängenden Lampe erhellt, vor
ihren Blicken ſtand der Park in undurchdringbarer
Finſternis.
Geſpenſterhaft warfen um die Lampe herum-
ſchwirrende Nachtfalter ihre Schatten auf das weiße
Leinen des Tuches, lautlos bewegten ſie ſich, zuckten
hin und her, verſchwanden, tauchten wieder auf.
Eine Eule ſchwebte mit klagendem Ton vorüber,
dann herrſchte wieder tiefe Stille.
Bewegungslos ſtanden die mächtigen Bäume, kein
Blatt regte ſich, ein Duft von Laub und Erde erfüllte
die Luft.
Von dem Hundezwinger herüber ein kurzes Auf—
2 Roman von Hans Becker. 79
bleffen, im Schlafe ausgeſtoßen, gleich darauf wieder
laſtende Stille.
Sophie wußte nicht, wie lange ſie ſo vor ſich hin
geträumt, ſie hatte ſich einwiegen laſſen, gedankenlos
dageſeſſen, die köſtliche Nacht wie eine Wohltat emp-
findend.
Plötzlich fuhr ſie auf, es hatte ſich etwas bewegt.
Als ihr Auge aus der Dunkelheit zum Lichte zurück
kehrte, ſah ſie Baumeiſter, der ſich erhoben hatte.
„Ein ſchöner Geſellſchafter bin ich. Hab' wohl gar
geſchlafen, wenigſtens geträumt. Sie denken gewiß,
der iſt hier ſchon ganz verbauert.“
Sie wehrte ab. „Wir iſt es nicht anders ergangen,
habe auch geträumt —“
Was ſie ſagen gewollt, hatte ſie vergeſſen. Erſt
jetzt fiel ihr das wieder ein, lag ſchwer auf ihr.
Baumeiſter hatte ſich wieder geſetzt. Er ſchien von
ſeiner vorherigen Stimmung noch nicht ganz befreit,
denn ehe Sophie das erſte Wort fand, fing er an über
das Leben in Rußland, insbeſondere hier in der Ein-
ſamkeit, zu ſprechen. Ob es ihr hier gefalle, oder ob
ſie ſchon Sehnſucht nach Deutſchland ſpüre.
Obgleich Sophie in Gedanken noch immer mit dem
beſchäftigt war, was ſie ſagen wollte, fühlte ſie doch
heraus, daß Baumeiſter gern mit ihr geplaudert hätte.
Sie begriff auch, daß es ihm, der hier nun foon jahre
lang lebte, darum zu tun war, die Stunde, die ſie
hier allein ſaßen, auszunützen.
So ging ſie darauf ein, verſchob das andere auf
ſpäter. „Sie fragen das in ſo wehmütigem Ton.
Fühlen denn Sie ſich hier nicht zufrieden?“
Er bewegte bedächtig den Kopf. „Ja doch, ich bin
gern hier. Nur manchmal kommt es ſo über mich:
biſt hängen geblieben, was wird noch werden, biſt wohl
8⁰ Die ſchöne Trebnitz. a
ſchon für deine Heimat verdorben, paßt nicht mehr
hin. — Sehen Sie, Sophie Karlowna, acht Jahre ſitze
ich hier nun foon, da hat man fih hineingewöhnt in
das breite, großzügige Leben. Kaum kann ich mir noch
vorſtellen, daß es einmal anders war, wieder anders
werden ſoll. Und es iſt doch ſo anders geweſen. Doch
was ſchwatze ich Ihnen da unaufgefordert von mir —
verzeihen Sie, das intereſſiert Sie ja gar nicht.“
„Doch, Karl Karlowitſch, ſprechen Sie nur, das
intereſſiert mich ſehr. Ich will mich doch hier einzu-
leben, Vergangenes zu vergeſſen ſuchen.“
„Ja, es war anders, ganz anders. Natürlich trägt das
Geld die Schuld wie immer. Für die Univerſitätszeit
reichte es noch, aber ehe ich noch den ‚Doktor‘ machen
konnte, war es aus mit dem bißchen, was mir von den
Eltern geblieben war. Dabei habe ich nicht einmal flott
gelebt, und doch — eines Tages konnte ich Rod- und
Weſtentaſchen umdrehen, es zeigte ſich kein Markſtück
mehr. Da ſtand ich vor einer verſchleierten Zukunft —
an Staatsexamen war nicht zu denken, als ein Heiden-
glück mußte ich es anſehen, daß fih mir trotz des fehlen-
den, Doktors“ die Stellung hier bot. Ich griff zu, dachte
daran, ſo etwa auf ein Jahr herzugehen, dann zurück
nach Deutſchland, vielleicht nachzuholen. Blieb aber
hängen. Ich habe es ja nicht bereut, fühle mich hier
ganz wohl i in meiner Haut, nur ab und zu, . wie heute,
ſummt es mir im Kopf:
Doch ſchöner iſt das Vaterland
Am grünen Strand der Spree.
Na, das iſt nun doch anders, wenigſtens habe ich
das empfunden, als ich vor zwei Jahren ein paar
Wochen draußen war. Eine Maſſe Menſchen da, die
mehr verſtehen als unſereiner, es aber doch zu nichts
2 Roman von Hans Becker. 81
bringen. Für jedes Amt, für jede Stellung hundert
Bewerber — man muß ſeinem Schickſal danken, daß
man es noch ſo getroffen hat. Und doch möchte ich hier
nicht ſterben, denn man hat eigentlich nichts, wofür
man lebt: fremdes Land, fremde Zntereſſen, die einen
nichts angehen. Man ſehnt fih doch zurück. Ein Zeit-
eſſen zu Deutſchlands Ruhm und Ehre genügt mir
nicht, ich möchte in der Heimat fein, mitſprechen, mit-
wirken dürfen.“
Er ſchwieg. Auch Sophie wußte nicht gleich etwas
zu ſagen.
Die Ruhe der Nacht webte wieder ihre Schleier um
ſie, die lebloſe Stille lag von neuem um ſie her.
Plötzlich ein Knall, als ob ein Schuß ganz in der
Nähe abgefeuert worden wäre. Gleich darauf folgendes
Aufheulen und Bellen von Hunden.
Sophie war erſchrocken aufgefahren. „Mein Gott!“
rief ſie laut.
Baumeiſter blieb ruhig ſitzen. „Angſtigen Sie ſich
nicht. Das ift Pauls Büchſe. Dem jungen Herrn werde
ich morgen die Leviten leſen, denn es iſt ihm ſtreng
verboten, hier im Park zu ſchießen.“
Sophie konnte ſich nicht gleich beruhigen. „Aber
wenn doch jemand anders geſchoſſen hätte? Wollen
Sie nicht lieber nachſehen, Karl Karlowitſch —“ .
Baumeiſter ſtand auf. „Wenn es Sie beruhigt —
gern. Ich wiederhole jedoch, ich kenne Pauls Büchſe.
— Na, da ſehen Sie, wie recht ich hatte, dort kommt
der Jäger. — Paul, Paul!“
Der rief ſchon von weitem: „Karl Karlowitſch, ich
habe nicht geſchoſſen, Gregor hat's getan. Ich hatte
ihm meine Büchſe zum Tragen gegeben —“
„Wozu haft du das Gewehr überhaupt mitgenom-
men? Im Park darf doch nicht —“
1913. XI. 6
82 Die ſchöne Trebnitz. | a
m u
Paul war herangekommen. „Wir wollten doch
weiter in den Wald, da ſahen wir — dort am Hügel,
wo die Bänke ſtehen — wie eine Geſtalt über das
Gitter zu klettern verſuchte. Gregor ſchoß — nur um
den Menſchen zu erſchrecken. Er ift auch gleich zurück ⸗
gelaufen. Gregor will jetzt ein paar Hunde in den
Park laffen —“ |
„Wird gewiß wieder einer geweſen fein, der ſich
den Umweg ſparen wollte. — Na, geh jetzt nur ſchlafen,
es ift ſpät geworden. Morgen werde ich die Sache
unterſuchen laffen.“
Paul ging. |
Baumeiſter wendete fih zu Sophie. „Sehen Sie,
Sophie Karlowna, es war nichts Schreckliches. — Aber
Sie ſind ja ganz bleich, Sie zittern —“
Sie unterbrach ihn. „Es war gewiß etwas Schred-
liches, Karl Karlowitſch, glauben Sie mir! Hören Sie
jedenfalls, was ich weiß — ich wollte ſchon vorhin
ſprechen.“
Als ſie ihm geſagt hatte, was Kenia ihr anvertraut,
ſaß Baumeiſter erſt einige Sekunden ſtumm, dann ſtieß
er heraus: „Ah, dieſer Schuft — verzeihen Sie das
unparlamentariſche Wort — ſchimpfen lernt man hier
leicht! Wie ſoll man ſo 'nen Kerl auch anders nennen?
Er iſt auch nicht allein hier, beſtimmt nicht. Lepeſchow
ſprach mir davon, daß ſich hier wieder Aufwiegler ſehen
laſſen. Unſere Bauern ſind zuverläſſig, haben es ja
auch gut, aber unzufriedene Elemente gibt es überall.
And nun gehen Sie ſchlafen, Sophie Karlowna, ſchlafen
Sie ganz ruhig, es geſchieht nichts. Kenia gegenüber
wollen wir uns nichts merken laſſen — wir können
auch nichts tun ohne die Eltern. Kenia iſt ja noch ein
Kind — ſie fürchtet ſich vor dem Kerl, weiter nichts.
Von Licbe kann da wohl nicht die Rede ſein. Wenn
o Roman von Hans Beder. 83
er fort ift, wird fie ſich bald beruhigen. — Alſo bis
morgen, ſchlafen Sie wohl!“
Trotz der gehabten Aufregung war Sophie ſo müde
geworden, daß ſie feſt ſchlief, und als ſie mit einem
unbeſtimmten Unbehagen erwachte, wurde dies durch
den hellen, klaren Morgen bald verſcheucht.
Sie fühlte faſt Erſtaunen darüber, welch großes
Vertrauen ſie zu dem ihr noch halbfremden Manne
hatte, fo daß fie ein paar Augenblicke darüber nach-
ſinnen mußte, woher das wohl kommen möge, bis ſie
den einfachen, ſelbſtverſtändlichen Grund fand: ein
Deutſcher, ein Landsmann — das allein war es, was
ihr das Gefühl des Vertrauens und der Ruhe gab. Sie
war nicht mehr einſam, ſie hatte jemand, der ſie beſchützte.
Ganz froh ging ſie zum Frühſtück hinunter, ſie freute
ſich, den Mann, der ihr, wie ſie fühlte, zur Seite ſtand,
ſie auch ferner beſchützen würde, wiederzuſehen.
Am Frühſtückstiſche aber fand fie nur Xenia und
Paul.
„Karl Karlowitſch iſt ganz früh fortgeritten. Mein
Anterricht fällt heute aus.“
Paul ſagte das, als ob er traurig darüber wäre,
fo daß Sophie lachen mußte und rief: „Sie Armiter,
was werden Sie nun mit Ihrem Sage anfangen?“
„Ach, wiſſen Sie, Sophie Karlowna, ich habe Kenia
ſchon zugeredet, vielleicht — wenn Sie einverſtanden
ſind, gehen wir zum Geſtüt hinüber.“
Sophie wendete ſich zu Kenia und ſuchte in ihrem
Geſichte zu leſen. „Was meinen Sie, Kenia?“
„Wenn Sie mitkommen, Sophie Karlowna —“
„Gut, ich bin einverſtanden, laßt mich nur erſt meinen
Raffee aus trinken.“
84 Die ſchöne Trebnitz. D
Sophie beeilte fih, und ſchon nach einer halben
Stunde waren ſie unterwegs.
` „Erft gehen wir nach den Fohlenkoppeln, die kennen
Sie noch nicht, Sophie Karlowna —“
Sophie empfand bei dem Anblick der Schar junger
Pferde faſt das gleiche Vergnügen wie die Kinder.
Alle hatten Namen. Paul rief und lockte, viele kamen
zum Zaun geſprungen, nahmen den Zucker, mit dem
Paul ſich die Taſchen vollgeſtopft, aus der Hand und
ließen ſich über die Naſe ſtreichen.
Prächtige Tierchen — Sophie verſtand etwas von
Pferden und war ganz entzückt von dem Bilde. Nur
ſchwer konnte man ſich trennen.
Als fie in den am Walde hinlaufenden Weg ein-
bogen, kam ihnen ein Trupp Bauern entgegen. Nicht
wie Leute, die von der Arbeit kemmen, müde, gedrückt,
ſchon von weitem vor der Herrſchaft die Mützen ziehend,
ſondern laut gröhlend, ſo daß Sophie zuſammenſchrak
und umkehren wollte.
Paul hielt ſie zurück. „Fürchten Sie ſich nicht,
Sophie Karlowna, es tut Ihnen keiner was. Die ſind
betrunken. Es ſoll nur einer wagen, heranzukommen,
dafür bin ich doch da!“
Seine Augen blitzten, ſtolz, ſtramm aufgerichtet ging
er neben Sophie. Auch Xenia blieb ruhig, ihr war
das Bild nichts, Neues.
Sophie beruhigte ſich alſo auch, ſie konnte ſogar
lächeln, als ſie auf den Knaben ſah, der ihr ſeinen
Schutz verſprach. Er erſchien ihr in dieſem Augenblick
wirklich wie ein Mann, dem man ſich anvertrauen
konnte. |
Als der Zug an ihnen vorüberkam, zogen einige
der Bauern ihre Mützen und verbeugten ſich, andere
gröhlten weiter. |
o Roman von Hans Becker. 85
Darüber gab es unter ihnen einen Streit, beſonders
ein junger Kerl ſchien denen, die gegrüßt, Vorwürfe
zu machen.
Der ganze Trupp blieb plötzlich ſtehen, einige
ſtießen Schimpfworte und Flüche aus.
Sophie packte von neuem die Furcht. „Rommen
Sie ſchnell, Paul!“
Doch der hatte ſich ſchon umgewendet und rief den
Bauern zu: „Wollt ihr wohl machen, daß ihr weiter-
kommt!“
Der junge Kerl, der vorhin ſchon geſchimpft hatte,
trat aus der Gruppe heraus, zog aus feinem Gtiefel-
ſchaft ein Meſſer und ging damit auf Paul los.
In dieſem Augenblick kam aus dem Walde ein
Mann herausgelaufen — Sophie erkannte ihn ſofort.
Er trieb die Betrunkenen zurück.
In maßloſer Furcht hatte Sophie Xenia und Paul
mit ſich geriſſen und lief davon, dem Gutshauſe zu.
„Hoho, der Moszkwitſch!“ brüllte der Meſſerheld.
„Biſt uns nachgelaufen, Zungchen, und willſt die Herren-
leute ſchützen? Habe ich's nicht gleich geſagt, daß alles
Lüge iſt — wart, du Hundeſohn!“
Das Meſſer blitzte in der Luft. Aber in der nächſten
Sekunde lag er ſchon heulend am Boden, ein Fußtritt
gegen den Unterleib hatte ihn niedergeſtreckt.
Die anderen Bauern umſtanden den Gefallenen
und ſtierten auf ihn herunter. Nur ein alter, weiß-
haariger Mann trat vor. „Was kommt Ihr hierher
und reizt die Leute auf? Ihr meint es doch nicht
ehrlich — packt Euch fort!“
Einen Augenblick ſtand der Fremde ſtumm, ſeine
Bruſt arbeitete, der Atem ging ſchnell, er rang nach
Worten. Endlich brachte er ſtoßweiſe heraus: „Glaubt
ihm nicht, Leute, glaubt ihm nicht. Ich meine es gut
86 Die ſchöne Trebnitz. u
mit euch. Aber wer hat euch befohlen, euch zu be-
trinken und wehrloſe Frauen anzufallen? Habe ich
euch nicht geſagt, ihr ſollt warten, euch ruhig verhalten,
nichts merken laffen? Eure Zeit wird ſchon kommen —“
„Sie iſt ſchon da!“
Der Niedergeſchlagene war, das Meſſer noch immer
in der Fauſt, gedeckt von den um ihn Herumſtehenden,
auf den Knien näher gekrochen, ſprang jetzt plötzlich
auf und ſtieß dem Fremden das Meſſer in die Bruſt.
„Sie iſt ſchon da, merkſt du's jetzt, du Sohn einer
Hündin?“
Röchelnd war der Getroffene zu Boden geſunken.
Keine Hand rührte ſich, um ihm zu helfen. Stumm
ſahen ſich die Bauern an, nickten bedächtig oder ſchüttel⸗
ten die Köpfe, dann ſetzten ſie ihren Weg fort.
Schon nach wenigen Schritten ſtimmten ſie ihren
Geſang wieder an, am lauteſten brüllte der Meſſerheld.
Es war nichts zurückgeblieben als ein Dunſt von
Fuſel und ſtinkendem Tabakrauch — und der Ver-
wundete.
(Fortſetzung folgt.)
=
nr
p~s 2 | De Dre
— | *
Rofenzucht und Rofenfhmud.
von Th. Seelmann. |
Mit 12 Bildern. M (nachdruck verboten.)
etz an keiner anderen Blume laffen fidh die
Fortſchritte und Errungenſchaften der modernen
Kunſtgärtnerei in dem gleichen Maße erkennen wie an
der Roſe. Schon im Altertum galt ſie als die Königin
der Blumen, aber wie erſtaunt würden die Griechen
und Römer ſein, wenn ſie den Farbenſchmelz und den
Formenreichtum unſerer jetzigen Roſenfülle erblicken
und bewundern könnten. Gibt es doch heute gegen
viertauſend Spielarten, die in edler Schönheit mitein-
ander wetteifern, und werden doch noch immer neue
Sorten gezüchtet, die durch ihre Farbenabtönungen
und die Vornehmheit ihres Äußeren ihre bereits vor-
handenen Schweſtern überflügeln und womöglich ver-
drängen ſollen.
Der eine Grund für die Mannigfaltigkeit in der
Roſenzucht ift der, daß die Gattung der Rofen an fid
ſchon ziemlich artenreich iſt. Man zählt etwa hundert
ſelbſtändige Arten. Sodann aber neigen die Rofen
von ſelbſt unter dem Einfluß des Klimas, Bodens und
ihrer Konſtitution zum freiwilligen Abändern in Farbe,
Blüten- und Blätterform. Endlich aber hat beſonders
die Vertiefung der naturwiſſenſchaftlichen Kenntniſſe
an die Stelle des Zufalls bei der Hervorbringung neuer
Sorten die zielbewußte Zuchtwahl geſetzt.
88 Roſenzucht und Roſenſchmuck. o
Die Stammpflanze der älteren europäiſchen Garten-
rofen ift wahrſcheinlich die rote Provencerroſe, die in
Südeuropa und im Orient ſchon in ſehr frühen Zeiten
Madame Abel Chantenay; zart abgeſtufte Farbentöne,
edle Blattſtellung.
gezogen wurde. Eine uralte Gartenroſe des Orients
iſt ferner die ſogenannte Damaszenerroſe, die im römi—
ſchen Altertum als „Roſe von Päſtum“ bekannt war
und damals bereits zweimal blühte, alſo wohl die erſte
Remontante ift. Sie verſchwand dann lange Zeit aus
2 Von Th. Seelmann. 89
Stalien. Zur Zeit der Kreuzzüge brachte ſie der Ritter
Robert de Brie aus Kleinaſien nach Frankreich, wo ſie
ſich ſtark verbreitete und ſpäter als Grundlage vieler
Neuzüchtungen benützt wurde.
Ungefähr zur gleichen Zeit wurde aus Perſien die
A
Madame Zules Graveraur; gelbliche Teeroſe,
ſehr üppig tragend.
in Büſcheln überhängende, halbkugelige Blüten tragende
Zentifolie eingeführt. Allmählich folgten noch andere
Arten. Der Baſeler Botaniker Bauhin kannte am
90 Roſenzucht und Rofenfhmud. = D
Ende des 16. Jahrhunderts neunzehn wilde Rofen-
arten und ſiebzehn Kulturroſen. Im Jahre 1780 ge-
langte aus Kanton die Bengalroſe, 1807 aus China
und Japan die Bankſiaroſe und 1825 die Teeroſe nach
Europa, die ſpäter die Mutter wurde von Maréchal Niel
und Gloire de Dijon.
Einen großen Aufſchwung gewann die Roſenkultur
im Beginn des 19. Jahrhunderts, als ihr in der
Kaiſerin Joſephine, der der Botaniker Bonpland
zur Seite ſtand, eine eifrige Förderin erwuchs. Waren
bis zu dieſer Zeit ſchon vielfache Kreuzungen hervor-
gebracht worden, ſo mehrte ſich die Zahl der Baſtarde
noch bedeutend, als mit der Erleichterung der Verkehrs-
verhältniſſe noch weitere neue Formen nach Europa
gebracht wurden und durch die Einſicht in die Be-
fruchtungsvorgänge der Pflanzen die künſtliche Hibri-
dation oder Kreuzung ermöglicht und ſyſtematiſch geübt
wurde.
Um eine neue Roſenform zu gewinnen und dauernd
fortzuzüchten, kann man verſchiedene Wege einſchlagen.
Wie ſchon erwähnt, variieren die Rofen außerordent-
lich leicht. Man nennt ſolche durch zufällige Umſtände
entſtandene Neuheiten „Sports“. Beiſpielsweiſe ſind
Sports die Bourbonroſe und die Noiſetteroſe. Bis
etwa zum Jahre 1850 zog man nun neue Spielarten
faſt ausſchließlich aus der Verwertung von Sports.
Bemerkte ein Gärtner an einem Roſenſtock Blüten, die
durch die Färbung oder Form von den bekannten
Sorten abwichen, fo entnahm er dem Stock ein Pfropf-
reis und pfropfte es auf einen Wildſtamm. Die ſich
entwickelnden Zweige trugen dann die neue Blüten-
form, und durch die Abtragung von weiteren Pfropf-
reiſern, Augen oder auch Stecklingen ſicherte er fidh
nun den Grundſtamm zu feiner neuen Roſenſorte. Auf
2 Von Th. Seelmann. 91
dieſe Weiſe ſind die Roſenſorten Kapitän Chriſty, Wun-
der von Lyon, Lady Gay, Lady Godiva, Karoline
Teſtout und viele andere gewonnen worden.
Schöne Siebrecht; wohlriechend und beſonders gegen
den Herbſt hin von entzückendem Farbenſchmelz.
Ein zweiter Weg war der, daß man den Samen
von Edelroſen einſammelte und ihn ausſäte. War nun
während des Blühens der Fall eingetreten, daß, wo—
von wir ſogleich noch eingehend ſprechen werden, die
Blüte der einen Art mit Hilfe des Windes oder eines
92 Roſenzucht und Roſenſchmuck. o
Inſektes durch den Blütenſtaub einer anderen Art be-
fruchtet worden war, ſo umſchloß der betreffende Same
unter Umftänden eine Vermiſchung der Merkmale der
beiden Elternformen in ſich, und der aus ihm hervor
gehende Roſenſtock trug dann auch eine neue Blüten-
Kapitän Chriſty; Remontante mit fleiſchfarbenem Ton.
form, die Ähnlichkeiten mit den Stammformen auf-
wies, auf der anderen Seite aber auch in Farbe und
Geſtalt von ihnen mehr oder weniger abwich. Hatte
die neue Blüte eigenartige Reize, ſo wurde nun die
neue Spielart durch Pfropfreiſer, Augen oder Sted-
linge weitergezüchtet.
Es iſt klar, daß bei dieſem Verfahren der Gärtner
von vielen Zufälligkeiten abhängig war und unter Um-
2 Von Th. Seelmann. 93
ſtänden fein ganzes Leben lang keine neue Form ge-
winnen konnte, die die Fortzucht verlohnte.
Dieſem Übelſtand iſt heute der Gärtner durch die
künſtliche Befruchtung überhoben.
Betrachten wir eine Roſe! In der Mitte der
Blumenblätter ſehen wir zwei Arten von Organen.
Ein Gebilde mit run—
dem, grünlichem Kopf,
der Stempel, ſtellt das
weibliche Organ dar.
An ſeiner Spitze trägt
er die Narbe, wäh—
rend er in feinem un-
teren Ende die Sa—
menanlagen birgt.
Ringsherum um den
Stempel ſtehen die
männlichen Organe,
die Staubgefäße, die
in kleinen gelben Beu—
teln den befruchten
den Pollen enthalten.
Wenn ſich die
Blüte zu entfalten be-
ginnt, bedeckt ſich die
Narbe des Stempels Karoline Teſtout; vereinigt viele
mit einem klebrigen gute Roſeneigenſchaften.
Schleim. Zu gleicher Zeit platzen die Beutel der Staub-
gefäße auf, und es quillt aus ihnen der Pollen heraus.
Gerät ein Pollenkörnchen durch den Wind oder durch
ein Inſekt, das es fortſchleppt, auf die Narbe, ſo bleibt
es hier haften, treibt im Stempel einen Schlauch nach
abwärts, und aus dieſem Schlauch entleert ſich nun
der feine Pollenſtaub auf die Samenanlagen, wodurch
94 Rofenzuct und Roſenſchmuck. o
die Befruchtung und damit die Ausbildung der Samen
eintritt. Da die Roſen weibliche und männliche Organe
zugleich tragen, fo kann demnach bei ihnen Selbſt—
befruchtung erfolgen.
In dieſem Fall wird die Blüte, die der ſpäter aus
Frau Karl Oruſchki;
weiße Remontante ohne Wohlgeruch.
dem Samen gezogene Roſenſtock anſetzt, genau der
mütterlichen Blüte gleichen. Ebenſo wird keine Ver—
änderung der Blüte hervorgebracht werden, wenn der
Pollen einer Roſe auf die Narbe einer benachbarten
Rofe, die fih an einem zweiten Roſenſtock entfaltet hat,
übertragen wird, ſobald beide Roſenſtöcke derſelben Art
angehören. Wohl aber wird möglicherweiſe eine Ver—
änderung in der Zuſammenſetzung dieſes Samens und
2 Von Th. Seelmann. 95
damit auch ſpäter an der von ihm abſtammenden Blüte
erfolgen, wenn zwei verſchiedene Arten oder wenigſtens
zwei verſchiedene Spielarten die befruchtende Ver—
bindung miteinander eingehen.
Richmond; dunkelrot und von vornehmer Form.
Dieſe letztere Vereinigung führt nun der Gärtner
abſichtlich herbei. Zu dieſem Zweck iſt es zunächſt nötig,
daß er die Selbſtbefruchtung ſowie die Verbindung
von Pollen und Narbe von Roſen derſelben Art oder
Spielart verhindert.
96 | Rofenzuht und Rofenfhmud. o
Er geht dabei auf folgende Weiſe vor. Erſcheint
ihm eine Roſe wegen ihrer Farbe oder Form geeignet,
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Fehlerhafte Anordnung: kleine Vaſe mit
langſtieligen Roſen.
zur Hervorbringung einer neuen Spielart mit einer
anderen ebenfalls intereſſanten Blüte verbunden zu
werden, jo öffnet er eines Morgens vorſichtig die Rofen-
o Von Th. Seelmann. 97
knoſpe kurz vor der Zeit, in der fie fih voll entfalten
würde. Zuerſt überzeugt er ſich mit der Lupe, daß
Fehlerhafte Anordnung:
hohe Vaſe mit zuſammengedrängten Rofen.
noch kein Pollenkörnchen der eigenen Staubgefäße auf
die Narbe gefallen iſt. Man erkennt die Pollenkörnchen
als kleine gelbe Höckerchen. Iſt kein Pollenkörnchen
1913. XI. 7
98 Roſenzucht und Rofenfhmud. 2
auf der Narbe ſichtbar, ſo biegt jetzt der Gärtner die
Roſenknoſpe ſeitlich nach unten und ſchneidet mit einer
feinen Schere die unterhalb des Stempels ſtehende
Hälfte der Staubgefäße ab. Dann biegt er die Rofen-
knoſpe nach der entgegengeſetzten Seite um und ſchneidet
nun die zweite Hälfte der Staubgefäße ab. Diejenigen
Staubgefäße, welche ſich nicht abſchneiden laſſen, wer-
den mit einer Pinzette abgeriſſen. Schließlich unter-
ſucht der Gärtner noch mittels der Lupe, ob nicht aus-
gefallene Pollenkörnchen am Fuß des Stempels liegen
geblieben ſind. Die eee iſt jetzt unmög-
lich gemacht.
Damit aber auch nicht eine Fremdbefruchtung durch
den Pollen derſelben Art oder einer überhaupt unwill-
kommenen Art, beziehungsweiſe Spielart, erfolgen
kann, umhüllt er nun die Roſenknoſpe mit einem Gaze-
beutel.
Jetzt muß der Pollen für die künſtliche Befruchtung
gewonnen werden. Der Gärtner wählt ſich dazu die
Roſe einer anderen Art oder beſſer Spielart aus, die
wegen ihrer Eigenheiten feine Aufmerkſamkeit erregt
hat. Er ſchneidet von ihr die Staubgefäße ab, bevor
noch die Staubbeutel aufgebrochen ſind, und entleert
den Pollen in eine kleine Pappſchachtel. Der Pollen
hält ſich in ihr einen bis zwei Tage. Will man ihn
länger aufbewahren, ſo muß man ihn in eine kleine,
gut verſchließbare Glasröhre ſchütten. In ihr bleibt
er bis zu acht Tagen lebensfähig.
Nun kann der Hauptakt, die eigentliche künſtliche
Befruchtung, ausgeführt werden. Die von dem Gaze—
beutel umhüllte Mutterroſe wird ſich inzwiſchen voll
entfaltet haben. Kurz nach Mittag, da dies die günſtigſte
Zeit für die Befruchtung iſt, nimmt der Gärtner die
Gazehülle ab, betupft den eingeſammelten Pollen mit
2 Von Th. Seelmann. 99
—
einem feinen Haarpinſel und überträgt den Pollen auf
die Narbe. Nachdem er mit der Lupe unterſucht hat,
Muſterhafte Anordnung.
daß auch wirklich Pollenkörner auf der Narbe haften
geblieben ſind, umhüllt er die Mutterroſe wieder mit
dem Gazebeutel. Damit die Befruchtung auch ſicher
eintritt, wird dieſelbe Operation nochmals am über—
100 Roſenzucht und Rofenfhmud. o
nächſten Tag wiederholt. Nach zwei bis drei Tagen
kann dann der Gazebeutel entfernt werden. An dem
betreffenden Roſenſtiel wird ein Schild mit den Namen
der gekreuzten Spielarten befeſtigt.
Im Oktober oder November können die reifen Hage-
butten abgepflückt und aus ihnen die Samenkörner
herausgenommen werden, die man dann auseinander-
gebreitet bis zum kommenden Frühjahr aufhebt. Die
Zahl der Samenkörner in einer Hagebutte iſt verſchie—
den. Meiſt aber finden fih bei den Gartenroſen nur
vier bis fünf vor.
Werden nun die Samenkörner ausgeſät und ſind
aus ihnen Roſenſtöcke hervorgegangen, fo ift es mög-
lich, daß fie zum Teil Rofen tragen, die der Mutter-
roſe, und zum Teil ſolche, die der Vaterroſe gleichen.
Hat der Gärtner aber Glück, ſo zieht er an einem Stock
auch Roſen, die die Eigenheiten der beiden Elternroſen
in ſich vereinigen, und damit hat er eine neue Spielart
gezüchtet.
Um vor Enttäuſchungen möglichſt geſichert zu fein,
iſt es darum gut, die künſtliche Befruchtung nicht nur
an einer einzigen Mutterroſe vorzunehmen, ſondern an
einer ganzen Reihe. Denn hierdurch gewinnt man
deſto mehr Samenkörner, und damit wächſt zugleich
die Ausſicht, eine neue Roſenſorte zu erzielen. Auch
empfiehlt es ſich, möglichſt neue Spielarten mitein-
ander zu kreuzen, damit man nicht etwa eine vermeint-
lich neue Sorte gewinnt, die es aber bereits gibt.
Die Rofen bilden ſchon durch ihre Schönheit allein
einen entzückenden Zimmerſchmuck. Um ſie aber zur
vollen Wirkung zu bringen, iſt es bei der Anordnung
nötig, einige Regeln zu beachten. So ſollen Roſen
und Vaſe ein harmoniſches Geſamtbild abgeben. Hat
man beiſpielsweiſe eine niedrige, kelchartige Vaſe, ſo
pnug
jalo 1əf110N218
102 Roſenzucht und Rofenfhmud. o
darf man fie nicht durchweg mit langſtieligen Rofen
verſehen. Das Arrangement ruft dann den Eindruck
der Leere und der Unſymmetrie hervor. Es ift in dieſem
Fall zweckmäßiger, am äußeren Umkreis einige kurz-
ſtielige Roſen zu verwenden, nur die Mitte durch mehrere
langſtielige Roſen zu bilden und die Blüten insgeſamt
näher aneinander zu rücken, wodurch dem Arrangement
eine gefällige Geſchloſſenheit verliehen wird.
Umgekehrt ift es unrichtig, für eine hohe, ſchlanke
Vaſe kurzſtielige Roſen zu benützen und dieſe dicht an-
einander zu drängen. Das Arrangement erhält dadurch
etwas Gedrücktes, und es hat außerdem den Anſchein,
als ob die Bafe die Hauptſache fei. Hier find lang-
ſtielige, locker angeordnete Roſen am Platz.
Verwendet man eine größere, dickbäuchige Vaſe,
ſo darf ſie nicht mit zu wenig Roſen beſetzt werden,
da dieſe dann in der Vaſe gleichſam verſchwinden. Der
Roſenſtrauß muß vielmehr eine gewiſſe Fülle aufweiſen,
hat am beſten aus größeren Roſen zu beſtehen, ſoll
zwiſchen den einzelnen Rofen Licht und Luft hindurch-
laffen und in feinen äußeren Umriſſen fidh breiter aus-
laden, ſo daß er gewiſſermaßen ein Spiegelbild der
Vaſe darſtellt. Für ein ſolches Arrangement leiſtet ein
Einſatz aus Ton oder Glas gute Dienſte. Dieſe Cin-
ſätze find durchlöchert. In die Löcher werden die Rofen-
ſtiele geſteckt, wodurch ſie in der gewollten Stellung
erhalten bleiben.
Zu einem eigenartigen, reizenden Tafelſchmuck läßt
ſich eine gehenkelte Schale verwenden. Man ordnet
in ihr kleinere Rofen fo an, daß fie nach der einen
Seite hin eine vollere Traube bilden, während ſie nach
der anderen Seite hin garbenförmig auseinander-
gezogen werden. Der Henkel der Schale wird mit
einer Samtſchleife verziert. |
Sunugaaug a phawudumjqsnzoj pu 2jp@lualorg
*
e
104 Roſenzucht und Rofenfhmud. D
Einen außerordentlich reizvollen Tiſchſchmuck liefert
endlich eine große flache Schale aus Porzellan oder
beſſer noch aus Silber. Man füllt ſie mit Waſſer an
und legt in ſie mehrere großblütige Roſen ohne Stiel.
Dazu werden einige Roſenblätter ſchwimmend auf der
Waſſeroberfläche ausgebreitet.
Die Roſen mit ihren Blättern erinnern in dieſer
Anordnung an Lotusblumen, und der an ſich ſchon
beſtrickende Anblick erhält noch eine zauberhafte Cr-
gänzung durch die von der Porzellan- oder Gilber-
fläche zurückgeworfenen Lichtreflexe.
D
DE
.
Fräulein Bankdirektor.
Novelle von Fritz Flechtner.
* [nachoͤruck verboten.)
3: öde, fo ein Eſſen zu zweien!“ ſagte Herbert
v. Röchling und lehnte ſich in feinen Stuhl zu-
rück, vergeblich bemüht, ein Gähnen zu unterdrücken.
Kurt v. Bötzow lachte. „Außer wenn dieſer zweite
eine Sie iſt — nicht wahr?“
„Auch dann ift es meiſt nicht beffer,“ verſetzte Her-
bert mit einer verächtlichen Handbewegung. Nachläſſig
faltete er ſeine Serviette und legte ſie vor ſich hin.
„Können wir endlich aufſtehen?“
„Erlaube gütigſt,“ entgegnete Kurt, „laß mich
wenigſtens zu Ende effen. Hätteſt noch jemand mit-
bringen ſollen, wenn ich dir ſo langweilig bin.“
„Alle Bekannte ſind ja heute fort!“
„Warum biſt du nicht mitgefahren?“
„Hatte keine Luſt. War nicht in Stimmung.“
„Ich finde, deine Stimmung iſt jetzt überhaupt
miſerabel.“
„alt das ein Wunder?“ brummte Röchling. „Seit
Wochen nichts getan, abſolut gar nichts — da ſoll man
Freude am Leben haben!“
Bötzow hatte fein Mahl beendet. Behaglich ſchlürfte
er den Reit feines Weines. „Komiſch,“ ſagte er kopf⸗
ſchüttelnd, „ich fühle mich furchtbar wohl dabei. So
106 Fräulein Bankdirektor. | o
könnte es das ganze Jahr bleiben. Ich hätte nichts
dagegen.“
„Viel Vergnügen!“ brummte Röchling mürriſch.
Sie ſtanden auf und begaben fih in den nebenan
gelegenen Salon.
Kurt klingelte und warf ſich dann in einen Klub—
ſeſſel, während Herbert mit tongen Schritten auf und
ab ging.
Ein Diener kam und brachte Kaffee und Likör.
Kurt reichte ihm einen Schlüſſel. „Die Zigarren!“
befahl er.
Der Diener holte einige Riftchen und verſchwand
lautlos.
„So, jetzt bin ich wunſchlos zufrieden,“ ſagte Kurt
und zog den Duft ſeiner Havanna ein.
Herbert wanderte noch immer umher.
„Kaffee — Kognak — Zigarre gefällig?“ fragte Kurt.
Herbert antwortete nicht.
„Willſt du dich nicht wenigſtens ſetzen?“
„Wenn ich dich ſtöre, kann ich ja gehen.“
| „Du ſtörſt mich durchaus nicht. Im Gegenteil —
deine Ruheloſigkeit erhöht nur meine Behaglich-
keit.“
Röchling brummte etwas Unverſtändliches vor ſich
hin und ſetzte ſeine Wanderung fort. Dann aber warf
er ſich auf einen Diwan, nahm eine Zeitung und be—
gann den Inhalt zu überfliegen. Plötzlich ſtutzte er.
Sein müder, gelangweilter Geſichtsausdruck war ver-
ſchwunden. Er mußte etwas gefunden haben, was
ihn intereſſierte. Noch einmal las er es, ließ die Zei—
tung ſinken und ſah einige Augenblicke vor ſich hin;
dann ſprang er auf. Seine Augen leuchteten.
Kurt hatte ihn beobachtet, und da er ihn genau
kannte, wußte er, daß etwas Beſonderes in ihm vor—
o Novelle von Fritz Flechtner. 107
ging. Aber er war zu bequem, um zu fragen; er würde
es ſchon rechtzeitig erfahren.
Nachdem Herbert mehrere Male das Zimmer durch-
meſſen hatte, blieb er vor ſeinem Freunde ſtehen. „Haſt
du noch Wünſche für Hermann?“
„Augenblicklich nicht — ſpäter vielleicht.“
Herbert klingelte. Der Diener erſchien. „Gehen
Sie ſofort zu Herrn v. Rahden. Wir laſſen ihn bitten,
heute abend zu einer Partie Skat zu kommen.“
Der Diener verneigte ſich und ging.
„Rahden iſt doch gar nicht zu Hauſe,“ ſagte Kurt.
„Weiß ich,“ verſetzte Herbert, „ich wollte nur Her-
mann wegſchicken.“
„Ah ſo!“ machte Kurt und richtete ſich etwas auf.
Da mußte Wichtiges vorliegen.
Herbert reichte ihm die Zeitung und bezeichnete die
Stelle, die er leſen ſollte.
Kurt überflog ſie und verſetzte kopfſchüttelnd: „Und
das intereſſiert dich ſo?“
„Das verſtehſt du wirklich nicht?“ fuhr Herbert auf.
„Wahrhaftig nicht.“
„Du biſt doch —
„Zu dumm!“ vollendete Kurt ruhig. „Das mag
ſchon ſtimmen.“ Er nahm das Blatt nochmals und las
halblaut vor ſich hin: „Der erſte weibliche Bankdirektor.
In Czoſtran, einer größeren Stadt der Provinz Poſen,
iſt eine Dame, Fräulein Hagemann, mit der Leitung
der dortigen Kredit; und Vorſchußbank betraut worden.
Dies iſt das erſte Mal, daß in Deutſchland eine Frau
den verantwortungsvollen Poſten eines Bankdirektors
erhält. Die genannte Dame iſt bereits ſeit einer Reihe
von Jahren in dieſer Bank tätig und hat ſich durch
außergewöhnliche Eigenſchaften des Geiſtes und Cha—
rakters das allgemeine Vertrauen erworben.“
108 Fräulein Bankdirektor. o
„Nun, was ſagſt du dazu?“
„Scheint ja ein febr tüchtiges Mädel zu fein,“ ent-
gegnete Kurt, das Zeitungsblatt zurückreichend. „Ich
intereſſiere mich aber abſolut nicht für die Frauen-
bewegung.“
Herbert trat mit einem ſpöttiſchen Achſelzucken weg.
Er machte ſich einige Notizen in ein kleines Heft, das
er ſorgfältig verwahrt in einer inneren Weſtentaſche
trug. Während er ſchrieb, fragte er: „Weißt du viel-
leicht, wo Czoſtran liegt?“
„Das ſteht ja da — in der Provinz Poſen, “ ant-
wortete Kurt, der fih wieder gemächlich zurückgelehnt
hatte.
„Aber wo?“
„Irgendwo an der ruſſiſchen Grenze wahrſcheinlich.
Anderswo würden ſie doch nicht auf die verrückte Idee
kommen, eine Frau zum Bankdirektor zu machen.“
Herbert trat an den Bücherſchrank und nahm das
Reichskursbuch heraus. Er entfaltete, am Mitteltiſch
ſtehend, die große Eiſenbahnkarte, auf der er eifrig ſuchte.
Kurt hatte ihm erſtaunt zugeſehen. „Du willſt dieſe
geniale Dame wohl kennen lernen? Vielleicht gar
Prokuriſt bei ihr werden?“
Herbert hörte nicht auf ihn. Endlich hatte er ge-
funden, was er ſuchte. Er legte die Karte zuſammen,
ſtellte das Kursbuch zurück und nahm ein dickes Buch,
ein Städtelexikon des Deutſchen Reiches, zur Hand.
Was er über Czoſtran darin fand, ſchien ihn zu be-
friedigen, denn er pfiff leiſe vor ſich hin. Während er
das Lexikon zuſammenklappte, ſagte er: „Czoſtran liegt
nicht an der ruſſiſchen Grenze, ſondern mehr nach
Schleſien zu.“
„Auch gut,“ verſetzte Kurt. „Wenn ich nur wüßte,
warum dich das intereſſiert!“
u Novelle von Fritz Flechtner. 109
„Weil ich hinfahren werde.“
Kurt ſprang auf. Dieſe Überraſchung hatte ſogar
ſein Phlegma beſiegt. „Was willſt du dort?“
„Mich mit der Dame verloben.“
Kurt prallte zurück. Sprachlos ſtarrte er den
Freund an. ö
Herbert zog ihn in ſeinen Seſſel zurück und rückte
ſich ſelbſt einen Stuhl heran. „Es iſt durchaus kein
Scherz,“ ſagte er flüſternd. „Hör zu! Zn einer ſolchen
Kredit- und Vorſchußbank kommt oft viel Geld zu—
ſammen — Bargeld, verſtehſt du. Es iſt nur ſehr ſchwer,
etwas zu unternehmen, wenn man nicht Beziehungen
zu einem der Beamten hat. And das iſt ja meiſtens
ſo gut wie ausgeſchloſſen. Aber hier — denke dir,
wenn es gelänge, den Leiter der Bank ſelbſt —“
„Als Helfershelfer zu gewinnen?“
„Das iſt natürlich unmöglich. Aber ſein Vertrauen
zu erwerben, ihm ſeine Geheimniſſe zu entlocken.“
„Donnerwetter ja!“ rief Kurt. „Aber wie willſt
du das anfangen?“
„Die Liebe wird mir helfen,“ ſagte Herbert in einem
Tone, als hegte er gar keinen Zweifel an dem Er—
folge ſeines Planes.
„Die Liebe? Wie ſtellſt du dir eigentlich dieſes
Fräulein Bankdirektor vor?“
„Nicht ſehr jung — nicht ſehr ſchön — wenig auf
Außeres achtend — robuſt an Körper und Geiſt.“
„Angenehme Ausſichten!“ ſpottete Kurt.
„Sehr real denkend,“ fuhr Herbert unbeirrt fort,
„ſehr klug, ehrlich und pflichttreu —“ |
„Und trotzdem?“
„Sie iſt ein Weib!“ Herbert ſprach dieſe Worte,
als ob damit alle noch möglichen Zweifel und Be—
denken ohne weiteres beſeitigt wären.
110 Fräulein Bankdirektor. u
Aber Kurt war noch keineswegs überzeugt. „Sch
denke fie mir als alte Zungfer —Mannweib — Männer-
feindin.“
„Vas tut das alles?“ gab Herbert überlegen zurück.
„Sie iſt ein Weib!“
Für den folgenden Tag waren die beiden Genoſſen
zu einer Jagd geladen. Als Kurt am Frühſtückstiſch
erſchien, fand er Herbert, der ſonſt der erſte zu ſein
pflegte, noch nicht vor. Er ging zu ihm und traf ihn
im Bett liegend, anſcheinend in tiefes Nachdenken ver-
ſunken. f
„In einer halben Stunde geht unſer Zug,“ rief Kurt.
„Zug — wohin?“ fragte Herbert wie geiftesab-
weſend.
„Nach Teuplitz zur Jagd.“
„Zum Teufel mit der Jagd!“ verſetzte Herbert,
unwillig über die Störung. „Ich hab' jetzt keine Zeit
für ſolche Dummheiten.“
„Aber was wird Graf Bredow ſagen? Er rechnet
beſtimmt auf unſer Kommen.“
„Sag ihm, ich hätte plötzlich verreiſen müſſen, oder
ich wäre krank geworden — ſag ihm, was du willſt.
Du wirſt ſchon eine Entſchuldigung finden.“
„Das iſt mir ſehr unangenehm,“ beharrte Kurt.
„Gerade heute, da es das erſte Mal iſt, wo wir bei
Bredow eingeladen ſind! Dir lag doch auch ſo viel
daran, in dieſen Kreis hineinzukommen, und nun willſt
du nicht. Ich verſtehe dich nicht. Deine Bankdirektrice
läuft dir doch nicht fort!“
„Du weißt, wenn ich einen Plan habe, dann muß
ich ihn auch zu Ende denken, ſonſt iſt alles weg. Alſo
laß mich. Du wirſt es ſchon ſo binzuſtellen wiſſen,
daß jeder dir glaubt.“
u Novelle von Fritz Flechtner. 111
Damit kehrte er ſeinem Freunde den Rücken.
Als Kurt gegangen war, ließ Herbert ſich zunächſt
das Frühſtück und dann ſeine lange Pfeife ans Bett
bringen und gab dem Diener Anweiſung, daß er den
ganzen Tag für niemand zu ſprechen wäre. |
Es war ſpät am Nachmittag, als er fih erhob. Klar
lag der Schlachtplan in ſeinem Geiſte fertig, nicht nur
in den leitenden Grundgedanken, ſondern bis in die
kleinſten Einzelheiten durchdacht. Das war die Me—
thode, die Röchling bei ſeinen großen Unternehmungen
ſtets anzuwenden pflegte. Aber er hielt ſich dann durch-
aus nicht ſklaviſch an das, was er in der Theorie fich
ausgedacht; er war ganz ein Mann der Praxis, der
ſeinen Plan nach den Anforderungen des Augenblicks
zu modeln verſtand. Eine kühne Geiſtesgegenwart
und raſche Entſchlußfähigkeit kamen ihm dabei ſehr zu-
ſtatten. Der Verbrecher muß wie ein Feldherr ſein,
pflegte er zu ſagen; einen fertigen Schlachtplan muß
er haben, bis ins einzelne aufgeſtellt, aber fähig muß
er ſein, dieſen Plan jeden Augenblick umzuſtoßen, wenn
die Verhältniſſe es notwendig machen.
Nachdem Röchling ſich angekleidet und ein wenig
gegeſſen hatte, ſetzte er ſich an den Schreibtiſch, um
noch einige Briefe abzufaſſen. Der erſte war an eine
große Berliner Auskunftei gerichtet. Er erſuchte darin
um nähere Angaben über die Kredit- und Vorſchuß—
bank in Czoſtran, insbeſondere über Kapital, Gefchäfts-
umfang, Kundenkreis, Perſönlichkeit des Leiters. Ein
zweites Schreiben ging an eine Auskunftei in Ham-
burg und erſuchte um Namhaftmachung amerikaniſcher
Großkaufleute, die fidh zurzeit in Deutſchland oder Eng-
land befänden. Beide Schreiben unterzeichnete er mit
„Kubale, Bankdirektor“ und beſtellte die Auskünfte mit
möglichſter Beſchleunigung nach Dresden, Hotel Säch—
112 Fräulein Bankdirektor. | o
ſiſcher Hof, wohin er gleichzeitig eine Benachrichtigung
nebſt Beſtellung von Wohnung für Ende der Woche
ſandte. |
Die Briefe brachte er ſelbſt zur Poſt.
Freitag traf Röchling in Dresden ein; Sonntag
früh erhielt er die Auskunft über die Czoſtraner Bank,
die ſo günſtig lautete, daß er ſich ſofort hinſetzte und
das Schreiben an Fräulein Hagemann verfaßte, das
er im Kopfe ſchon entworfen hatte. Dieſes Schreiben,
adreſſiert an „Fräulein Hagemann, Direktor der Kredit—
und Vorſchußbank in Czoſtran“, hatte folgenden Wortlaut:
„Mit großem zntereſſe habe ich in den Zeitungen
geleſen, daß in Deutfchland eine Dame mit der Leitung
einer Bank betraut worden iſt. Bei uns in Amerika
ift dies nichts fo ungewöhnliches, wie Sie wohl wiſſen;
aber da es hier zum erſten Wale geſchehen ift, müſſen
wohl ganz beſondere Gründe maßgebend geweſen ſein.
Und ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich dieſe
Gründe vor allem in perſönlichen Eigenſchaften dieſer
Dame vermute. Wir Amerikaner ſind aber ſtets auf
der Suche nach beſonders tüchtigen Perſönlichkeiten,
und dies erklärt es, daß ich mir die Freiheit nehme,
an Sie zu ſchreiben.
Ich befinde mich zurzeit in Deutſchland, um neue
Geſchäfts verbindungen anzuknüpfen und eine Filiale
an der Nordſee einzurichten. Die Leitung derſelben
würde ein außergewöhnliches Maß von Umſicht, Tat-
kraft und Selbſtändigkeit erfordern; ich habe aber nie-
mand finden können, der dieſen Anſprüchen genügte.
Durch Zufall las ich von Fhrer Ernennung, und
blitzſchnell kam mir der Gedanke: Dieſe Dame ift viel-
leicht die Perſönlichkeit, die du ſuchſt.
o Novelle von Fritz Flechtner. 113
— ——— —— — — — Y—
ich entſchloß mich alfo, an Sie zu ſchreiben, und
bitte Sie, mir zunächſt nur mitzuteilen, ob Sie zu
einer mündlichen Beſprechung bereit wären, in der ich
Ihnen alles Nähere darlegen würde.
Ort und Zeit dieſer Zuſammenkunft bitte ich nach
Ihrem Belieben zu beſtimmen.
Wenn ich Ihnen heute meinen Namen noch nicht
nenne, ſo hat dies ſeine beſonderen Gründe, die ich
Ihnen perſönlich mitteilen werde.
Meiner ſtrengſten Diskretion dürfen Sie verſichert
ſein.
Ihren gefälligen Beſcheid erbitte ich unter X. P. 100
hauptpoſtlagernd Lübeck.“
Den Brief ließ Röchling eingeſchrieben abgehen.
Zwei Tage darauf traf die andere Auskunft ein,
die ihn veranlaßte, ſofort nach Hamburg zu fahren,
um weitere Informationen einzuziehen.
Ella Hagemann erhielt Röchlings Brief in ihrem
Bureau. Als ſie ihn geöffnet hatte, ſah ſie ſofort,
daß es eine Privatſache war, und legte ihn beiſeite,
um zunächſt ihre geſchäftliche Korreſpondenz zu er-
ledigen. Im Drange der Geſchäfte vergaß ſie das
Schreiben, und erft nach dem Mittageſſen, als fie ſich
niedergelegt hatte, um ein wenig zu ruhen, erinnerte
ſie ſich wieder daran. Ihrer Gewohnheit gemäß ſah
ſie zunächſt nach der Unterſchrift, und ſchon wollte ſie
den Brief zerreißen, da fie anonyme Zuſchriften grund-
ſätzlich nicht las, als ihr einfiel, daß die Sendung ein-
geſchrieben eingegangen war. Ein Anonymus, der
Einſchreibporto aufwandte, war ihr aber neu, um fie
entſchloß fih daher, zu leſen.
Als ſie geendet, warf ſie den Brief auf en Tijd-
1913, XI.
114 Fräulein Bankdirektor. D
chen, das neben ihrem Sofa ſtand. „Ein dummer
Scherz, den ſich jemand machen will,“ dachte ſie.
Sie legte ſich zurück und ſchloß die Augen. Aber
einſchlafen konnte ſie nicht. Sie mußte immer wieder
an den Brief denken. Einige Wendungen darin waren
ihr aufgefallen. Sollte es doch kein Scherz ſein?
Aber warum dann anonym? Sie las das Schrei-
ben nochmals, langſam, Satz für Satz.
Nach einem Scherz ſah es doch nicht aus. Aber
wenn der Brief ernſt gemeint war, was dann?
Sollte ſie darauf eingehen, ſich zu der perſönlichen
Beſprechung bereit erklären?
Sie riskierte ja nichts, wenn ſie es tat, ſelbſt wenn
es ſich dann als ein Scherz herausſtellen ſollte.
Eine Möglichkeit allerdings gab es noch. Man
konnte ſie auf die Probe ſtellen wollen, um zu ſehen,
ob ſie ſofort bereit wäre, ihre gegenwärtige Stellung
aufzugel en, wenn ihr eine beſſere nur in entfernteſte
Ausſicht geſtellt würde.
Aber dieſen Gedanken verwarf ſie ſofort wieder.
Wer hätte das tun können? Doch nur einer der Herren
des Aufſichtsrates, und von dieſen wäre ſicherlich keiner
darauf verfallen. |
Wenn der Brief aber ernſt gemeint war und es
würde ihr in Wirklichkeit eine Stellung geboten mit
weit größerem Wirkungskreiſe, als ihr gegenwärtiger
es war, durfte ſie dann auf ein ſo lockendes Anerbieten
überhaupt eingehen? Würde ſie recht handeln, die
Bank im Stiche zu laſſen, an der fie vor zwölf Zahren
als einfache Kontoriſtin begonnen und nun das Amt
des verantwortlichen Leiters erreicht hatte? Sie fühlte
ſich im Innerſten ſo feſt verkettet mit dem Wohl und
Wehe ihrer Bank, daß fie nur mit Schmerz den Ge-
danken faſſen konnte, von hier wegzugehen.
m Novelle von Fritz Flechtner. 115
Aber dann ſchalt ſie ſich ſelbſt ſentimental. Wollte
ſie denn ſtehen bleiben bei dem, was ſie erreicht hatte,
oder nicht vielmehr ſuchen, noch weiter vorwärtszu-
kommen?
Noch einmal und zum vierten Wale las ſie den
Brief. Dann beſtand bei ihr kaum noch ein Zweifel,
daß ſie ihn ernſt zu nehmen hätte. Sie beſchloß, ihn
zunächſt dem Vorſitzenden des Aufſichtsrates, dem
Kommerzienrat Saalberg, zu zeigen, damit ihr nie-
mand ſpäter den Vorwurf machen könnte, daß ſie
heimlich Verhandlungen wegen Erlangung einer
beſſeren Stellung angeknüpft hätte.
Als fie dem alten Herrn in feinem Buteau gegen-
überſaß, begann ſie ohne weitere Umſchweife: „Ich
habe heute einen eigenartigen Brief erhalten und möchte
Sie bitten, Herr Kommerzienrat, ihn zu leſen und mir
Ihre Meinung darüber zu ſagen.“
Sie reichte ihm das Schreiben, das er mit ſichtlichem
Intereſſe las. Als er geendet hatte, behielt er den
Brief in der Hand und ſagte, ſie über die Brillengläſer
anſehend: „Nun — und was ſagen Sie ſelbſt dazu?“
„Ich war zunächſt im Zweifel, ob es ſich nicht um
einen Scherz handelte.“
„Das ſcheint mir nach der ganzen Faſſung des Briefes
ziemlich ausgeſchloſſen.“
„Der Anſicht bin ich jetzt auch,“ beſtätigte fie.
„And was gedenken Sie zu tun?“
„Darüber möchte ich Ihren Rat erbitten.“
Der Kommerzienrat lächelte. „Sollten Sie etwa
gar Furcht haben vor einem perſönlichen Summe
treffen mit dem Anonymus?“ |
„O nein,“ erwiderte fie lebhaft, „das iſt es nicht.
116 Fräulein Bankdirektor. o
Mir wird nichts paſſieren. Dafür werde ich ſchon ſorgen.
Aber ehe ich etwas unternehme, wollte ich Sie in
Kenntnis ſetzen und wiſſen, wie Sie darüber denken.
Meine Arbeit hat bis jetzt unſerer Bank gehört, und
es würde wenig dankbar ſein, wenn ich ſie im Stich
laſſen wollte.“
„Jeder iſt ſich ſelbſt der nächſte,“ verſetzte der
Kommerzienrat.
„Darin kann ich Ihnen nicht ganz beipflichten. Es
gibt Beziehungen, die nach meiner Anſicht nicht gelöſt
werden dürfen nur um eines materiellen Vorteils
willen.“
„Das iſt groß gedacht,“ entgegnete der alte Herr,
freundlich nickend. „Aber wenn man von Dank ſpricht,
den man jemand ſchuldet, muß man immer fragen, ob
nicht die gleiche Dankesſchuld auch auf der anderen
Seite beſteht. Und das iſt doch hier der Fall. Sie
haben unſerer Bank länger als ein Jahrzehnt Ihre
ganze Kraft geopfert, und dafür find wir Ihnen zu
weit größerem Dank verpflichtet als Sie uns. Und
wenn wir Ihnen jetzt die Leitung übertragen haben,
glauben Sie etwa, daß das geſchehen iſt, um Ihnen
einen Gefallen zu erweiſen oder eine beſondere Freude
zu bereiten?“
Sie lächelte.
„Sehen Sie wohl,“ fuhr er fort, „wir haben das
doch nur getan, weil wir für uns einen Vorteil darin
erblicken. Nicht wahr? Nun alſo. Und wenn ſich Ihnen
nun anderwärts größere Vorteile bieten als hier, ſo
müſſen wir uns damit eben abfinden. Daß wir Sie
ſchweren Herzens von uns laſſen würden, werden Sie
mir wohl glauben. Aber es wäre unrecht von uns,
Sie an Ihrem Vorwärtskommen zu hindern, denn
ſchließlich iſt es doch nur ein verhältnismäßig kleiner
o Novelle von Frik Flechtner. 117
Wirkungskreis, der fich Ihnen hier bietet. Was Ihnen
nach dem Schreiben in Ausſicht ſteht, wiſſen Sie frei-
lich noch nicht, werden es aber erfahren, und wenn
es Ihnen nicht genügt, ſo werden wir uns ſehr freuen,
Sie bei uns zu behalten. Mein Rat iſt alſo: Beſtimmen
Sie dem Herrn eine Unterredung und warten Sie
das weitere ab.“
„Ich danke Ihnen, Herr Kommerzienrat, ich werde
Ihren Rat befolgen.“
Sie erhob ſich, um ſich zu verabſchieden.
Er begleitete ſie zur Tür. „Auch ich danke Ihnen,“
ſagte er, „daß Sie ſo offen und ehrlich mit mir ge—
ſprochen haben.“
Am nächſten Tage ſchrieb Ella Hagemann an die
aufgegebene Chiffreadreſſe: „Ich empfing Ihr gefälliges
Schreiben vom 19. Auguſt und erkläre mich zu einer
perſönlichen Unterredung bereit. Ich erwarte Sie am
Sonntag im Bahnhof Poſen, Warteſaal zweiter Klaſſe,
mittags 12 Uhr.
Hochachtend
E. Hagemann.“
Röchling pfiff leiſe vor ſich hin, als er, vor dem
Poſtgebäude in Lübeck ſtehend, den Brief geleſen hatte.
„Kurz und klar. Wie ich mir's dachte. Ein Erkennungs-
zeichen gibt ſie nicht an; ſie glaubt wohl, daß ſie mit
irgend einer anderen Evastochter gar nicht zu ver-
wechſeln iſt.“ Er lächelte, denn ihm fiel ſein Geſpräch
mit Kurt über die vorausſichtlichen Reize des Fräulein
Bankdirektor ein.
Nachdem er in beſter Stimmung zu Mittag gegeſſen
hatte, depeſchierte er zurück: „Vielen Dank für Brief,
den ſoeben erhalten. Mit Ort und Zeit einverſtanden.“
118 Fräulein Bankdirektor. 2
PEERI art Eee a N ur een re a ̃ ̃ ̃ u nF ̃ ̃— ein
Am nächſten Tage traf Röchling mit feinem Freunde
in Berlin zuſammen. Er zeigte ihm zunächſt den Schrift-
wechſel mit Ella Hagemann. ö
„Dein Brief iſt glänzend, ſagte Kurt. „Darauf
mußte fie ja hereinfallen.“
Herbert lächelte geſchmeichelt. „Hier meine neueſten
Viſitenkarten!“
Kurt las erſtaunt die ihm gereichte Karte: „Fred
Harpers, Cincinnati. — Was ſoll denn das be—
deuten?“
„Fred Harpers, in Firma Harpers & Whytecraft,“
erläuterte Herbert, „größtes Getreide- und Bankgeſchäft
in Ohio.“
„Exiſtiert wirklich?“ fragte Kurt blinzelnd.
„Hältſt du mich für ſo dumm, daß ich in dieſem
Falle eine Firma nehmen würde, die nicht exiſtiert?“
„Na, erlaube mal, wenn nun dein Fräulein Direktor
ſo ſchlau iſt und Erkundigungen einzieht?“
„Lieber Junge,“ verſetzte Herbert überlegen, „eben
weil ich erwarte, daß ſie das tun wird, habe ich eine
tatſächlich beſtehende Firma genommen. Und nicht
nur das. Es iſt eine Firma, deren einer Inhaber ſich
zurzeit in Deutſchland befindet.“
„Großartig!“ rief Kurt. „Ich verſtehe.“
„Das iſt noch nicht alles. Dieſer Inhaber, der
gegenwärtig in Oeutſchland ſich aufhält, iſt ein junger
Mann, Mitte der Dreißig, ganz wie ich. Es ift der
Sohn. Der Alte ſitzt drüben in Ohio. Was ſagſt du
nun?“
„Du biſt einfach unübertrefflich.“
Herbert lachte kurz auf. Es klang etwas ſpöttiſch.
„Jetzt kann ſie ſich alſo erkundigen! Um hinter den
Schwindel zu kommen, würde ſie ziemlich viel Zeit
brauchen, und die gedenke ich ihr nicht zu laſſen.“
u Novelle von Fritz Flechtner. 119
„Wie haſt du nur dieſen Harpers herausgefunden?“
fragte Kurt.
„Man hat eben ſeine Beziehungen. Um dieſe Zeit
halten ſich doch immer ein paar Dutzend von den
amerikaniſchen Großbonzen in Europa auf. Ich hätte
ebenſogut einige andere nehmen können, aber dieſer
Harpers paßte am beſten.“
„Und was habe ich in der Sache zu tun?“
„Vahrſcheinlich ziemlich viel. Aber fei ohne Sorge:
ich will es ſchon ſo einrichten, daß du trotzdem deine
Bequemlichkeit dabei haben wirſt.“
„Aber du weißt doch, wenn es darauf ankommt —“
fuhr Kurt auf.
„Ich weiß, lieber Freund, daß die Bequemlichkeit
dir über alles geht. Und dem ſoll Rechnung getragen
werden. — Nun höre, wie ich mir die Sache denke.“
In großen Zügen entwickelte er ſeinen Schlachtplan,
fügte aber, als er geendet hatte, hinzu: „Was ich dir
jetzt geſagt habe, iſt nicht endgültig. Es kommt noch
auf die Unterredung am Sonntag an. Vielleicht iſt
dann manches zu ändern. Bleibt es aber, ſo ſchicke
ich dir ein Telegramm: Alles in Ordnung. Dann trittſt
du ſofort in Tätigkeit. So wie ich dir jetzt geſagt habe.“
„Soll geſchehen!“ verſetzte Kurt. Dann aber fragte
er, und ein ſtarker Zweifel klang aus ſeiner Stimme:
„Weißt du denn, ob es ſich überhaupt lohnt, ſo viele
Zeit und Arbeit aufzuwenden?“ |
„Lohnt? Zt mir gleichgültig. Mich reizt das Unter-
nehmen an und für fih. Das Werk ift mir die Haupt-
ſache, nicht der Erfolg.“
Am Sonntag war ſchönſtes Sommerwetter. Es
war ſo recht ein Tag für frohe Menſchen, in hellen
120 Fräulein Bankdirektor. u
Kleidern zu ſpazieren und ſich der Wunder der Welt
zu freuen.
Ella Hagemann liebte zwar auch die Bewegung in
freier Luft und war beſonders eine Freundin weiter
Fußwanderungen, aber ihr fehlte die naive Freude an
der Natur, ebenſo wie ein alles vergeſſender Lebens-
genuß ihr völlig fremd war. Auf ihr Außeres achtete
ſie wohl, weil ſie es für ihre Pflicht hielt, gut gekleidet
zu gehen, aber da ſie der ganzen Bekleidungsfrage
ohne innere Anteilnahme gegenüberſtand, kam es, daß
ihrer Erſcheinung ſtets etwas Steifes, Reizloſes an-
haftete.
In ihrem dunklen Anzuge, dem keine Spitze oder
Schleife einen freundlicheren Ton verlieh, paßte ſie
gar nicht recht in den blitzenden Sonnenſchein dieſes
Sonntagmorgens, ebenſowenig wie ihr ernſtes Ge-
ſicht unter die luftig plaudernden und lachenden Men-
ſchen, die gleich ihr dem Bahnhof zuwanderten.
Sie löſte ſich eine Fahrkarte zweiter Klaſſe und war
froh, ein Abteil für ſich allein zu finden. Sie legte
ihren Hut ab, lehnte ſich in eine Ecke und begann zu
leſen, und ihre Gedanken wurden auch nicht abgelenkt
durch das bevorſtehende Zuſammentreffen.
Kurz vor zwölf Uhr lief ihr Zug auf dem Poſener
Bahnhof ein. Ruhigen Schrittes ging fie dem Warte-
ſaal zu. Ein flüchtiger Blick nur ſtreifte die Herum-
ſitzenden; dann nahm ſie an einem Ecktiſche Platz.
Mit dem Schlage zwölf trat ein eleganter Herr in
den Saal, ſah ſich prüfend um und ſchritt dann ſofort
auf ihren Tiſch zu. Er zog den Hut und fragte: „Ich
habe wohl die Ehre mit Fräulein Hagemann?“
Sie nickte. „Wollen Sie, bitte, Platz nehmen.“
Er ſetzte ſich ihr gegenüber. Einige Sekunden lang
bohrten ſich ihre Blicke ineinander,
D Novelle von Fritz Flechtner. 121
„Was hat ſie für kalte, ſcharfe Augen! Im Grunde
meiner Seele möchte ſie jetzt leſen. Wird aber nicht
gelingen!“ So dachte er.
Sie ſchien vom Ergebnis der Prüfung befriedigt
zu ſein.
„Ich bin Ihnen febr dankbar, mein gnädiges Fräu-
lein,“ begann er, „daß Sie meiner Bitte um eine
Unterredung entſprochen haben. Geſtatten Sie mir
nun zunächſt, daß ich mein Inkognito lüfte.“ Er zog
ſeine Brieftaſche und entnahm ihr eine Karte, die er
ihr überreichte. „Fred Harpers, Cincinnati,“ ſagte er
dabei mit leichter Verneigung.
Sie nahm die Karte, warf einen kurzen Blick dar-
auf und ſteckte ſie in ihr Handtäſchchen.
„Nachdem nun alle Formalitäten erfüllt ſind,“ fuhr
er fort, „möchte ich mir den Vorſchlag erlauben, unſere
Unterredung an einem etwas ruhigeren Orte ſtattfinden
zu laſſen, als es der Wartefaal eines Bahnhofs iſt.“
„Sehr einverſtanden,“ verſetzte ſie.
„Was beabſichtigen Sie bezüglich des Mittags-
mahles?“
„Ich gedachte in einem der Hotels zu effen,“
„Wenn Sie geitatten —“
„Selbſtverſtändlich. Während des Eſſens haben wir
ja die beſte Gelegenheit, uns auszuſprechen. Kennen
Sie Poſen?“
Er verneinte.
„Dann ſchlage ich Mylius vor.“
Sie ſtanden auf.
Um möglichſt ungeſtört zu ſein, wählten ſie einen
kleinen, nur für zwei Perſonen beſtimmten Ciſch.
„Sind Sie eigentlich ſehr überraſcht geweſen über
mein Schreiben?“ begann er die Unterhaltung.
122 Fräulein Bankdirektor. u
„Überrafht kann ich wohl nicht fagen. Ich hielt
es zunächſt für einen Scherz.“
„Weil der Brief anonym war?“
„Nicht allein deshalb. Aus verſchiedenen Gründen.
Aber ich wurde mir bald über die ernſte Abſicht klar.“
„Wie kam das?“
„Die Faſſung des Briefes war ſo, daß ich an einen
Scherz nicht glauben konnte.“
„Ich habe ſehr bedauert, daß ich nicht ſofort offen
mit meinem Namen hervortreten konnte. Aber ich
ſagte mir: Wenn die Dame auf den Vorſchlag ein-
gehen will, wird ſie es auch ohne Namensnennung
tun, und wenn ſie nicht will, iſt es beſſer, der Ab-
ſender bleibt unbekannt. Es wäre ja möglich geweſen,
daß Sie meinem Schreiben nur mit Spott begegneten,
und das wollte ich vermeiden — ſchon mit Rückſicht
auf unſere Firma.“
„Ich verſtehe Ihre Gründe ſehr gut,“ verſetzte ſie;
„es bedarf keiner weiteren Entſchuldigung.“
Der Kellner brachte den erſten Gang nach der Suppe.
„Verzeihung,“ ſagte Harpers, „denn wir haben die
große Frage des Trinkens noch nicht gelöſt. Befehlen
Sie Weiß- oder Rotwein? So beginnt man ja wohl
in Deutſchland die Tiſchunterhaltung.“
Ein Lächeln umſpielte ihre Lippen. „Ich überlaſſe
Ihnen die Auswahl, Herr Harpers. Mir iſt es ganz
gleichgültig. Ich trinke mittags gewöhnlich nur Waſſer.“
„Ich gleichfalls. Bei uns darf Eiswaſſer nie auf
dem Tiſch fehlen.“
Er blätterte einige Augenblicke in der Karte und
beſtellte eine Flaſche Rüdesheimer Berg.
Während ſie ihren Fiſch verzehrten, plauderten ſie
über die Verſchiedenheiten in der deutſchen und ameri-
kaniſchen Lebensweiſe. Dabei fragte er: „Haben Sie
o Novelle von Fritz Flechtner. 123
früher nie daran gedacht, auszuwandern und drüben
bei uns Ihr Glück zu verſuchen? Für begabte Menſchen
iſt Amerika doch immer noch das Land der unbegrenzten
Möglichkeiten, was man von e wohl nicht
ſagen kann.“
„Sie mögen recht gaben — wenigſtens was die
Frauen betrifft. Von ganz wenigen Ausnahmen ab-
geſehen, ſind wir ja verurteilt, unſer Leben lang in
untergeordneten Stellungen zu bleiben. Gelangt eine
deutſche Frau im Berufsleben einmal zu einem höheren
Amt mit eigener Verantwortung, fo ift dies ein fo be-
ſonderer Fall, daß er eine Beachtung findet, die er an
und für ſich gar nicht verdient.“
„Und warum quälen ſich ſelbſt die tüchtigſten Frauen
ihr Leben lang in untergeordneter Tätigkeit ab?“
Sie zuckte die Achſeln. „Vielen fehlt der Mut, ihr
Glück in anderen Ländern zu verſuchen; die meiſten
aber kommen wohl gar nicht auf den Gedanken. Wir
ſtecken ja alle noch zu ſehr im Banne des Hauſes und
der Familie, auch die ſelbſtändigſten Naturen unter
uns.“
Er lächelte ungläubig.
„Es iſt ſo, glauben Sie mir!“ fuhr ſie fort. „Ich
weiß es von mir ſelbſt. Mich hat nicht die Furcht zurück-
gehalten, ins Ausland zu gehen, auch keine ſentimen-
talen Regungen; es war einfach ſelbſtverſtändlich, daß
ich hier mein Brot zu verdienen ſuchte. Ich trat in
ein Geſchäft, nach drei Jahren in die Czoſtraner Bank,
und dort bin ich geblieben.“ |
„And Sie würden auch jetzt nicht daran denken
mögen, außer Landes zu gehen — nach Amerika viel-
leicht, wenn ſich Ihnen dort ein größerer Wirkungs-
kreis böte?“
„Das will ich durchaus nicht ſagen. Aber das iſt
124 Fräulein Bankdirektor. o
ja eine Doktorfrage, denn wenn ich Ihren Brief recht
verſtanden habe, handelt es ſich im vorliegenden Falle
um die Leitung einer Filiale, die Sie in Oeutſchland
einzurichten gedenken.“
„Dies iſt allerdings meine Abſicht. Aber mein Plan
geht weiter. Wir brauchen vor allem eine geeignete
Perſönlichkeit für die Leitung unſeres Stammhauſes
in Cincinnati. Unſer Exporthandel macht häufige und
längere Reiſen notwendig, die nur von einem der Chefs
ausgeführt werden können. Die Pflege dieſes Aus-
landsgeſchäftes ift meine Aufgabe. Ich bin daher man-
ches Jahr nur wenige Monate zu Hauſe, und da ich
keine Brüder habe, liegt dann meinem Vater die alleinige
Leitung unſeres Stammhauſes ob. Für mich iſt alſo
ein Stellvertreter unbedingt erforderlich, und — Sie
werden vielleicht erſtaunt ſein — einen geeigneten
Mann hierfür haben wir noch nicht finden können.
Zwei Verſuche, die wir bereits gemacht haben, ſind
kläglich geſcheitert; die beiden Herren waren mehr auf
ihren eigenen Vorteil als auf den des Geſchäfts be-
dacht, und wir haben große Verluſte erlitten, nament-
lich durch den einen dieſer Gentlemen.“
Er machte eine Pauſe. Doch ſie ſchwieg und
wartete.
Da fuhr er mit beſonderer Betonung fort: „In
meinem Briefe habe ich Ihnen nicht alle meine Ge-
danken mitteilen können. Den Plan mit der Filiale
hatte ich nur anfangs, habe ihn aber bald aufgegeben;
denn bei den Vorurteilen, die in Oeutſchland gegen
die Frauen herrſchen, iſt es ſchon beſſer, wenn ein
Mann die Leitung dieſer Filiale übernimmt. Und dafür
hoffe ich ſchon eine paſſende Kraft gefunden zu haben.
Bei Ihnen aber lag mir vor allem daran, zu ſehen,
ob Sie vielleicht für den Vertrauenspoſten als Mit-
2 Novelle von Fritz Flechtner. 125
leiterin unſeres Stammhauſes die geeignete Perſön⸗
lichkeit wären.“
Eine heiße Welle ſtieg bei dieſen Worten in ihr auf.
Blitzſchnell war das Bild einer Wirkſamkeit an ihr vor-
übergezogen, die ſie in ihren kühnſten Träumen nicht
erhofft hätte. Ihre Selbſtbeherrſchung ließ ſie zwar
vollkommene Ruhe heucheln, Harpers hatte ſie jedoch
nicht täuſchen können, und mit Befriedigung ſah er
die Wirkung ſeiner Worte.
„Es iſt ſchrecklich heiß hier, finden Sie nicht auch?“
fragte er.
„Ja, ſehr heiß,“ beſtätigte ſie.
„Ich glaube, das macht der Rheinwein,“ meinte
er lachend. „Der geht wie Feuer durch das Blut.“
Anwillkürlich fuhr fie mit der Rechten an die Wange,
weil ſie das Gefühl hatte, alles Blut müßte ihr zu
Kopf geſtiegen ſein.
„Vas meinen Sie, gnädiges Fräulein, wir laffen
dieſen Feuerwein und trinken lieber ein Glas von dem
deutſchen Feierwein?“
Sie lächelte über das Wortſpiel. „Iſt Ihnen denn
ſo feierlich zumute?“
Er lehnte ſich in ſeinen Stuhl zurück. „Ja, das iſt
mir. Ich weiß ſelbſt nicht warum.“ Mit einer plötz-
lichen Bewegung beugte er ſich über den Tiſch und
fragte halblaut: „Darf ich Sie bitten, mein gnädiges
Fräulein, das nächſte Glas mit mir zu trinken darauf,
daß meine Pläne ſich ſo erfüllen möchten, wie ich es
von Herzen wünſche?“
Tief bohrten ſeine Blicke ſich in die ihren, daß ſie
für ein paar Sekunden die Augen niederſchlagen mußte.
Dann ſah ſie ihn wieder voll an und ſagte ruhig und
ernſt: „Gern, Herr Harpers; auch ich könnte mir nichts
Beſſeres wünſchen.“
126 Fräulein Bankdirektor. o
Bald perlte der Sekt in ihren Gläſern, und mit
einem feinen, leiſen Klange tönten ſie aneinander.
Beide hatten ihr Glas geleert; er ſchenkte von
neuem ein.
„Ich werde meinen Vater ſofort von unſerer Unter-
redung in Kenntnis ſetzen,“ begann er nach einiger
Zeit wieder das Geſpräch. „Sie werden es verſtehen,
daß ich in einer ſo wichtigen Angelegenheit ohne ſeine
Zuſtimmung keine Entſcheidung treffen kann.“
„Ich finde das ganz ſelbſtverſtändlich,“ erwiderte ſie.
„Mein Vater hatte die Abſicht, im nächſten Monat
nach England zu reiſen. Um dieſe Zeit habe ich ſelbſt
geſchäftlich in Rußland zu tun. Ich will daher verſuchen,
ob ich meinen Vater beſtimmen kann, feine Reife noch
in dieſem Monat anzutreten. Sollte dies nicht mög-
lich fein, fo müßte die Unterredung mit Ihnen ohne
mich ſtattfinden, was ich perſönlich e ſehr bedauern
würde.“
Sie hatten ihre Mahlzeit beendet.
„Würde es Sie ſtören, wenn ich mir eine Zigarre
anzünde?“ fragte er.
„Im Gegenteil, ich bin ſelbſt Raucherin.“
Mit dieſen Worten holte fie ihr Zigarettenetui her-
vor; er gab ihr Feuer und zündete dann ſeine Zigarre an.
„Es wird Sie intereſſieren, einiges über Art und
Umfang unſeres Geſchäftes zu erfahren.“
„Gewiß,“ beſtätigte ſie.
„Unſere Haupttätigkeit erſtreckt ſich auf den Getreide-
handel, und zwar auf den Export nach Europa. Auf
den großen Farmen kaufen wir durch unſere Agenten
das Getreide und bringen es auf dem Waflerwege mit
unſeren eigenen Fahrzeugen nach der Küſte, wo es
in die Ozeandampfer verladen wird. Die Verfrachtung
über See beſorgen wir ſelbſt nicht; wir haben einmal
D Novelle von Fritz Flechtner. 127
den Verſuch damit gemacht, aber es hat nicht rentiert.
Der Handel geht ganz börſenmäßig vor ſich; meiſt ſind
die Schiffsladungen von uns verkauft, ehe ſie aus
Amerika abgehen; oft ſind die Verkäufe ſogar ſchon
abgeſchloſſen, wenn das Korn noch auf dem Halm
steht. Wie Sie wiſſen, find wir drüben durch keine
agrariſche Geſetzgebung eingeengt, und Börſengeſchäft
wie Terminhandel ſtehen daher in Blüte. Mit den
wilden Spekulationen, von denen die europäiſchen Bei-
tungen ſo oft berichten, hat unſere Firma übrigens nichts
zu tun. Wir betreiben einen ganz reellen Handel; wir
wollen nicht durch Hauffe- oder Baiſſeſpekulation über-
mäßige Gewinne erzielen, ſondern nur mit einem regel-
rechten, angemeſſenen Nutzen arbeiten. Außer dem
Getreidehandel betreiben wir — und das wird für Sie
beſonders intereſſant ſein — noch ein Bankgeſchäft.
Das hat ſich erſt im Laufe der Zeit angegliedert. Ganz
von ſelbſt kam es, daß wir den Farmern, deren Ge-
treide wir kauften, auch Geldgeſchäfte beſorgten, Wert-
pepiere für fie kauften und verkauften, in Verwahrung
nahmen und dergleichen mehr. Innerhalb der letzten
Jahre hat nun gerade das Bankgeſchäft eine ſehr
günſtige Entwicklung genommen, und wir haben jetzt
bereits eine große Anzahl auch ſolcher Kunden, mit
denen wir durch Getreidehandel nicht in Verbindung
ſt ehen.“
„Ihre Mitteilungen ſind mir äußerſt intereſſant,
Herr Harpers,“ ſagte Ella Hagemann. „Die Arbeit in
einem ſolchen Betriebe könnte wohl jeden Ehrgeizigen
reizen. Aber ich will ganz offen ſein, ich glaube nicht,
daß ich imſtande wäre, ohne weiteres eine leitende
Stellung in Ihrem Geſchäft einzunehmen —“
„Oho!“ unterbrach er ſie.
„Es iſt keine falſche Beſcheidenheit von mir,“ fuhr
128 Fräulein Bankdirektor. 2
ſie ruhig fort, „denn ich weiß wohl, daß ich etwas
leiſten kann, und habe es ſchon bewieſen; aber ich liebe
es nicht, Aufgaben zu übernehmen, die ich nicht voll
bewältigen kann. Und in dieſem Falle ſcheint mir doch
die erforderliche Vorbildung zu fehlen.“
„Die läßt ſich doch leicht erwerben.“
„Das iſt nicht immer ſo leicht,“ verſetzte ſie.
„Die Hauptſache ift nach meiner Anſicht die Fähig-
keit, ſich in ein fremdes Gebiet einzuarbeiten,“ beharrte
er. „Was nützt dem Durchſchnittsmenſchen feine Bor-
bildung? Aber es wundert mich, daß ich Ihnen das
ſagen muß. Ihre ganze Staatsverwaltung iſt doch
der beſte Beweis für meine Behauptung.“
„Vieſo?“
„Ver bekleidet denn in Oeutſchland und beſonders
bei Ihnen in Preußen die höheren Ämter in der Ver-
waltung? Etwa die Männer, die von der Pike auf
gedient haben und alſo die volle Vorbildung beſitzen?
Nein. Sondern die Zuriften tun's, die oft, wenn fie
in einen neuen Verwaltungszweig kommen, keine
Ahnung davon haben. Aber was die Cüchtigen unter
ihnen, die nach Verdienſt vorwärtskommen, beſitzen,
das iſt der freie, vorurteilsloſe Blick und die Kraft,
ſich vermöge ihrer Allgemeinbildung hineinzuarbeiten
in die fremdeſte, ſchwierigſte Materie. Wer das nicht
fertig bringt, weil ihm eben der Verſtand fehlt, dem
nützt auch die beſte Vorbildung nichts. Man kann es,
oder man kann es nicht, fag’ ich. Und wenn man mir
heute ein Miniſterportefeuille anböte — Handel, Juſtiz,
meinetwegen auch Krieg — glauben Sie, ich würde
nur eine Sekunde zögern, es anzunehmen?“
Sie lächelte. „Sie ſind eine beneidenswerte Natur!“
„Vas heißt beneidenswert? Die meiſten derjenigen,
die mich darum beneiden, wären unglücklich, wenn ſie
o Novelle von Fritz Flechtner. 129
meine Natur hätten. Der größte Teil der Menſchheit
iſt ja viel zu dumm, zu feig, um große Entſchlüſſe zu
faſſen, iſt ja froh, wenn er im Alltagstrott ſein Leben
beſchließen kann.“
„Rechnen Sie mich auch dazu?“
„Wenn ich es täte, glauben Sie, daß ich dann noch
hier ſitzen würde — noch ein einziges Wort an Sie
verſchwendete? Ich habe weder Zeit noch Luft, den
lächerlichen Verſuch zu m a cieeren bod-
zurichten.“
Ihre Augen blitzten ihn an; das war eine Antwort
nach ihrem Geſchmack geweſen.
„Vielleicht,“ fuhr er nach einer kleinen Pauſe fort,
„iſt es in Deutſchland nicht möglich, immer nach meinem
Wahlſpruch zu handeln: Was ſich dir bietet, nimm es
an, verſuch deine Kraft dran — vorausgeſetzt natür-
lich, daß es überhaupt der Mühe lohnt. Scheiterſt du
— nun, ſo haſt du Erfahrung geſammelt, verloren par
du nichts dabei.“
„Und die anderen?“ fragte ſie ernſt.
„Jeder ift fih ſelbſt der nächſte! So lautet a
wohl eines Ihrer ſchönen Sprichwörter?“
„Allerdings, aber auch Sprichwörter haben nur
einen bedingten Wert. Für Ihren Fall darf es nicht
angewendet werden. Sie ſelbſt haben vielleicht nichts
verloren, wenn Sie an einer Aufgabe geſcheitert ſind.
Für Oeutſchland trifft das übrigens auch nicht zu.
Aber wie viel Unheil und Schaden können Sie dadurch
angerichtet haben!“
Er wollte ſie unterbrechen, aber ſie wehrte ab.
„Ich weiß, was Sie ſagen wollen. Aber Sie haben
unrecht. Ich will Ihnen das ſofort an Ihnen ſelbſt
beweiſen.“
„An mir ſelbſt?“ fragte er erſtaunt.
1913. XI. 9
130 Fräulein Bankdirektor. o
„Ja. Nehmen Sie an, ich wäre die Mitleiterin
Ihres Geſchäftes geworden, gelockt durch die glänzende
Ausſicht, im blinden Vertrauen auf meine Kraft, ohne
mich zu fragen, ob ich auch imſtande bin, ein ſolches
Amt auszufüllen. Welches Unheil könnte ich dann an-
richten, welche Unfummen könnten Ihrem Geſchäft
durch mich verloren gehen!“
„Vorausgeſetzt, daß wir Sie frei handeln ließen,“
warf er ein. „Aber wenn Sie wirklich ſolche Torheiten
machten, glauben Sie, wir würden das ruhig mit-
anſehen?“ |
„Gewiß nicht,“ verſetzte fie. „Aber jede leitende
Perſönlichkeit hat doch eine gewiſſe mehr oder weniger
weitgehende Machtvollkommenheit, kann daher viel
Schaden ſtiften, ehe es gemerkt und verhindert wird.
Ich erinnere Sie an die beiden Männer, die Sie be-
reits als Mitleiter Ihres Geſchäfts gehabt haben.“
Er gab ſich beſiegt. „Sie haben nicht ſo unrecht.
Und in dieſem Falle muß ich Ihnen ja beſonders
dankbar ſein, daß Sie ſich ſelbſt einer ſo eingehenden
Prüfung unterziehen wollen, ehe Sie eine Entſcheidung
treffen.“ f
„Bis zur Entſcheidung hat es wohl noch Zeit,“ er-
widerte ſie. „Ich nehme wenigſtens an, daß es ſich
heute nur um eine unverbindliche Unterredung han-
delt.“
„Selbſtverſtändlich. Ich ſagte ja bereits, daß die
definitive Entſcheidung mein Vater zu treffen hat. Für
mich war der Hauptzweck heute, ein Bild Ihrer Per-
ſönlichkeit zu gewinnen, und ich glaube, wir haben uns
beide in der kurzen Zeit näher kennen gelernt, als
andere Menſchen es in Monaten fertig bringen.“
„Oarin kann ich Ihnen beiſtimmen,“ verſetzte ſie.
Er erhob ſein Glas und trank ihr zu.
n Novelle von Fritz Flechtner. 131
Sie tat ihm Beſcheid. Dann ſah ſie nach der Uhr.
„Wiſſen Sie, wie ſpät es iſt? Bald drei Uhr!“
„Nicht möglich!“ rief er aus. „Da haben wir uns
ſchön verplaudert.“ |
Er zog feine Geldtaſche. Sie tat das gleiche. Er
machte auch keinen Verſuch, für ſie zu bezahlen.
„Wann gedenken Sie zurückzufahren?“ fragte er.
„Mein Zug geht fünf Uhr vierzig.“
„Da haben Sie alſo noch über zwei Stunden Zeit.
Falls Sie nichts anderes vorhaben, würde ich mich ſehr
freuen, die Zeit gemeinſam mit Ihnen verbringen zu
dürfen.“
„Ich würde mich gleichfalls freuen,“ verſetzte ſie.
Da er Poſen noch nicht kannte, ſchlug ſie zunächſt
vor, in einer Oroſchke eine Rundfahrt durch die Stadt
zu machen.
Während der Fahrt wurde über die Angelegenheit,
die ſie zuſammengeführt hatte, nicht mehr geſprochen.
Sie erklärte ihm die Sehenswürdigkeiten, an denen
ſie vorbeikamen; er ſtellte Vergleiche an mit anderen
Städten, die er kannte, und erzählte von den Reifen,
die er ſchon unternommen hatte.
„So jung noch und ſchon fo weit in der Welt herum
gekommen!“ ſagte fie. „Darum könnte ich Sie be-
neiden.“ :
„Ich glaube, Sie ſchätzen mich für jünger, als ich
bin. Für wie alt halten Sie mich?“
Sie fab ihn prüfend an. „Anfang Oreißig.“
„Nein, ſchon Mitte.“
„Alſo ſo alt wie ich.“
„Ah!“ rief er. „Das ſieht man Ihnen aber nicht an.“
„Soll das ein Kompliment ſein?“ fragte ſie ſpöttiſch.
Er antwortete beinahe ſchroff: „Romplimente mache
ich nur Damen, mit denen ich nichts Beſſeres reden kann.“
132 Fräulein Bankdirektor. 8
Sie mußte wider Willen lachen. Aber die Antwort
hatte ſie gefreut.
„Ich hatte Sie in der Tat auf höchſtens dreißig
geſchätzt,“ fuhr er, wieder in ſeinen gewöhnlichen Ton
verfallend, fort.
„Das wundert mich. Meiſt hält man mich für älter,
als ich bin.“
„Das liegt dann wohl an Ihrer Art, ſich zu kleiden.
Wenn Sie hellere Farben wählten, würden Sie weit
jugendlicher ausſehen.“
„Mir liegt nichts daran, ob ich jung oder alt aus-
ſehe.“
„Das kann ich von mir leider nicht ſagen. Ich lege
großen Wert darauf, möglichſt jung zu erſcheinen.“
Ihr Blick ſtreifte ihn raſch von oben bis unten.
„Das ſieht man Ihrer Kleidung an.“
„Das war aber ſicher kein Kompliment!“ rief er
lachend.
Sie ſtimmte in ſein Lachen ein. „Sie haben recht,
das war es nicht.“
Als ſie ihre Rundfahrt beendet hatten, ſagte ſie:
„Wir könnten jetzt noch in einen Garten gehen, um
Kaffee zu trinken, aber ich fürchte, es wird heute am
Sonntag überall ſehr voll ſein. Vielleicht fahren wir
lieber wieder nach dem Bahnhof. Dort wird um dieſe
Zeit wenig Verkehr ſein.“
Er ſtimmte zu.
Der Warteſaal war faſt leer, als ſie ankamen. Sie
nahmen an dem Ecktiſch Platz, an dem ſie mittags
zuſammengetroffen waren.
„Sobald ich Nachricht von meinem Vater habe,
depeſchiere ich Ihnen,“ ſagte er.
„Ich bitte darum.“
„Würde es Ihnen recht ſein, wenn die Unterredung
o Novelle von Fritz Flechtner. . 133
mit meinem Vater in Hamburg oder Bremen ftatt-
fände? Er könnte dann direkt nach Deutſchland kommen
und erſt nachher nach England fahren.“
„Wir würden beide Städte recht ſein.“
„Haben Sie beſondere Wünſche bezüglich der
Zeit?“
„Ich müßte bitten, die Tage um Mitte und Ende
des Monats nicht zu wählen, da ich dann nicht ab-
kommen könnte.“
Er zog ſein Notizbuch hervor und ſah auf dem
Kalender nach. „Möchten Sie gern den Sonntag
nehmen?“
„Ja, das wäre mir lieb. Zch verliere dann am
wenigſten Zeit.“
Er rechnete. „Der 9. September iſt Sonntag. Das
iſt zu kurze Zeit. Der nächſte Sonntag iſt der 16.
Würde der Tag paſſen?“
„Unmöglich. Am 15. iſt Zahltag.“
„Om!“ machte er. „Dann würde es Sonntag den
30. September wohl wieder nicht gehen?“
„Ganz ausgeſchloſſen.“
„Wenn wir nun den 29. wählten, ſo daß Sie am
30. nachts zurück ſein könnten, wäre das möglich?“
Sie verneinte wieder.
„Da der 30. auf einen Sonntag fällt, werden doch
wohl alle Zahlungen erſt am 1. Oktober geleiſtet, oder
geſchieht das bei Ihnen ſchon am 29. September?“
fragte er.
„Gewiß, die Zahlungen werden am 1. Oktober ge-
leiſtet; aber die Einzahlungen erfolgen in dieſem Falle
ſchon am 29.“
„Wohl aus Furcht, das Geld könnte über Sonntag
geſtohlen werden?“ fragte er lachend.
„Jawohl, das ift der Hauptgrund. Und ganz mit
134 Fräulein Bankdirektor. a
Recht, denn auf der Bank ift das Geld doch ficherer
als zu Haufe.“
„Allerdings.“ Er blätterte in ſeinem Notizbuch.
„Dann müſſen wir eben den 9. September nehmen.
Ich fahre heute nacht nach Hamburg, ſchicke meinem
Vater morgen ein Kabeltelegramm und bitte ihn, be-
ſtimmt zum 9. September in Oeutſchland zu fein,“
Damit ſteckte er ſein Notizbuch wieder ein.
„Das wird Ihrem Herrn Vater wohl ſchwer möglich
ſein,“ meinte ſie. „Heute iſt ſchon der 26. Auguſt.“
„Oh, er iſt ein Mann von ſchnellem Entſchluß. Und
wenn ich etwas dringend mache, ſo weiß er, daß es
ſeinen guten Grund hat.“
Sie unterhielten ſich dann über andere Dinge, bis
es Zeit zum Aufbruch war.
Er begleitete ſie bis an ihr Abteil, und wie zwei
alte Bekannte nahmen ſie voneinander Abſchied.
Als ihr Zug abgefahren war, gab er folgende De-
peſche auf: „Bötzow, Hannover. Erwarte mich morgen
nachmittag dort.“
Kurt war febr überraſcht, als er ftatt des erwarteten
Telegramms „Alles in Ordnung“ diefe Nachricht er-
hielt. Sollte Herbert ſich eine Abfuhr geholt haben?
Er konnte es zwar nicht glauben, aber, ſagte er ſich,
bei ſo einem Frauenzimmer iſt nichts undenkbar.
„Na, morgen werde ich ja alles hören!“ Damit
beruhigte er ſich um begann, ſich zum Eſſen anzu-
kleiden. —
In beſter Laune traf Herbert am nächſten Mittag ein.
„Wie ſiehſt du denn aus?“ rief Kurt erſtaunt.
Herbert ſah an ſich herunter, konnte aber nichts
Auffälliges entdecken.
u Novelle von Fritz Flechtner. 135
„Nach deinem Telegramm dachte ich, du würdeſt
mit einer Leichenbittermiene antreten, und nun —“
„Ach ſo! Du haſt geglaubt, ich wäre abgewieſen.
Nein, mein Junge, das gibt's doch bei mir nicht —
von Weibern!“
„Alſo keinen Korb geholt? Da kann ich alſo gratu-
lieren?“
Herbert ſchob die ausgeſtreckte Hand zurück. „So
weit ſind wir noch nicht. Es gibt ſo 'ne und ſo 'ne
Feſtungen, weißt du.“
„Sehr richtig,“ verſetzte Kurt. „Die einen nimmt
man mit Sturm, die anderen hungert man aus.“ Mit
den Augen blinzelnd fuhr er fort: „Das Aushungern
iſt übrigens früher nie dein Fall geweſen.“
„Iſt's auch heute noch nicht,“ verſetzte Herbert.
„Jede Feſtung wird mit Sturm genommen. Das iſt
noch immer mein Wahlſpruch. Aber mit Unterjchied.
Bei der einen kann man den Sturm gleich wagen,
bei der anderen muß die Beſatzung erſt noch geſchont
werden.“
„Sehr ſchön geſagt,“ erwiderte Kurt trocken. „Und
wann denkſt du, daß in dieſem beſonderen Falle die
Beſatzung geſchont genug fein wird?“
„Ein paar Wochen wird es wohl dauern. Das
kommt auf die Kugeln an, die ich noch hineinſchießen
werde.“ |
„Für mich iſt alſo zunächſt nichts zu tun?“
„Nein, lieber Junge, du kannſt bis auf weiteres
gans deiner Behaglichkeit leben.“
„Gott ſei Dank!“ ſagte Kurt, klingelte, warf ſich
in ſeinen Lieblingsſeſſel und befahl dem eintretenden
Diener: „Kaffee — Kognak — die Upmann!“
136 Fräulein Bankdirektor. 2
Ella Hagemann war noch froher als am Morgen,
daß ſie wieder allein in ihrem Abteil blieb, konnte ſie
doch während der Fahrt ungeſtört alles überdenken,
was der Tag ihr gebracht hatte. Sie befand ſich in
ungewöhnlicher Aufregung, denn die lebhafte Unter-
haltung, der genoſſene Wein und vor allem die glän-
zende Ausſicht, die ſich ihr bot, hatten ihre ſonſt ſo
kühle, ruhige Natur mehr aus dem Gleichgewicht ge-
bracht, als ſie ſelbſt für möglich gehalten hätte. Nichts
mehr von der Gleichgültigkeit, die fie mit äußerſter
Selbſtbeherrſchung geheuchelt, ſolange ſie mit Harpers
zuſammen geweſen war. Ein Sturm von Gedanken
brauſte durch ihr Hirn, und ſie, die ſonſt ſo wenig durch
die Phantaſie Beherrſchte, erging ſich willenlos in einer
Flut von Bildern ihres zukünftigen Lebens.
Geld und Reichtum ſpielten dabei faſt gar keine
Rolle; ſie war perſönlich viel zu anſpruchslos, um
darauf Wert zu legen. Vas ſie berauſchte, war der
Gedanke an das, was ſie würde leiſten können, der
Gedanke an ein gewaltiges Feld von Arbeit und freiem,
ſelbſtändigem Schaffen.
Sie ſah ſich als Mitleiterin dieſes großen Betriebes,
ſah ſich disponieren über ein Heer von Angeſtellten,
ſah unter ihrer Arbeit das Geſchäft noch immer ſich
erweitern — ſie ſprang ſchließlich auf und lief in dem
engen Raume hin und her, um ihre innere Ruhe wieder-
zufinden.
Sie ſchalt fih phantaſtiſch, überſpannt und ver-
mochte doch an dieſe Vorwürfe ſelbſt nicht zu
glauben.
Warum ſollte ſie ſo viel Glück nicht finden können?
Hatte ſie nicht erreicht, was vor ihr noch keine Frau
erreicht hatte?
Aber freilich — was war ihre Tätigkeit an dieſer
2 Novelle von Fritz Flechtner. 137
Provinzbank, verglichen mit dem, was fie drüben er-
wartete!
Da ftiegen wieder die Zweifel auf, ob fie auch im-
ſtande fein würde, eine ſolche Stellung auszufüllen.
Aber trotzig rief ſie: „Ja, ich kann es leiſten!“
ga, das Vertrauen auf die eigene Kraft, das war
die Hauptſache! Was ihr an Vorbildung fehlte, würde
ſie bald ſich erworben haben.
Nach einem unruhigen, traumdurchſchüttelten
Schlafe erhob ſie ſich am nächſten Morgen. Ein kühles
Bad, ein raſcher Spaziergang brachten ihr nur wenig
Erfriſchung.
Hell ſtrahlte wie am Tage vorher die Sonne, aber
die goldenen Träume, die ſie erfüllt hatten, waren wie
verweht. Grau in grau lag die Erinnerung auf ihr.
Sie wollte den ſchweren Alp abſchütteln, der ſie
bedrückte, aber es gelang ihr nicht.
Auch die Arbeit brachte keine Beſſerung. Mecha-
niſch tat ſie ihre Pflicht, aber mit e Seele war fie
heute nicht dabei,
Ein Schreckbild, das in ihr aufgeftiegen war, plöß-
lich, urſachlos, fie wußte nicht, ob im Wachen oder im
Traume, ließ ſie mitten in der Arbeit auffahren, preßte
ihre Bruſt angſtvoll zuſammen, daß ſie kaum zu atmen
vermochte. Sie wollte das Phantom packen, um es
zu vernichten, aber es ließ ſich nicht halten, entglitt
wie in Nebel, um dann plötzlich wieder aufzutauchen.
Wenn alles nur Lug und Trug war, wenn — —
Sie rannte in ihrem Zimmer umher, preßte den
Kopf an die Scheiben, um die heiße Stirn zu kühlen,
aber wieder und wieder ſprang der entſetzliche Ge-
danke auf.
138 Fräulein Bankdirektor. 8
Sie verſuchte es, ſich zurückzurufen, was ſie mit
dem Fremden geſprochen hatte, aber ihr Gedächtnis
ließ ſie im Stich.
Wenn dieſer Harpers ein Betrüger war!
Laut auf lachte ſie, aber das Lachen befreite ſie
nicht. i
Welches Intereſſe hätte er an einem Betruge haben
können? |
Sie dachte an all die Geſchichten, die fie von ſolchen
Betrügern kannte; aber überall war ein Zweck dabei
geweſen, leicht erkennbar für einen vernünftig urteilen-
den Menſchen, nur von dem Opfer ſelbſt nicht durch-
ſchaut.
Und warum nicht?
Veil dieſes Opfer blind war, blind gemacht durch
die — Liebe zu dem Betrüger.
Aber ſie war doch klaren Sinnes geweſen, hatte
ruhig geprüft, was er geſprochen, hatte mit voller
Überlegung darauf geantwortet.
Oder hatte ſie das alles nicht getan?
War fie fo geblendet geweſen von den lockenden
Bildern, daß ſie ein Märchen für Wirklichkeit gehalten
hatte? |
Zum erſten Male in ihrem Leben ſtand fie vor ſich
ſelbſt wie vor einem Rätſel.
Sie beſchloß, am Abend aufzuſchreiben, was ſie von
dem Geſpräch behalten hatte, und dann wollte ſie Rede
und Gegenrede prüfen, Wort für Wort.
Das beruhigte ſie etwas, und da kam ihr plötzlich
noch ein Gedanke.
Sie nahm die Viſitenkarte Harpers’ aus ihrem Hand-
täſchchen, betrachtete ſie nachdenklich und ließ ſich dann
mit einem Berliner Auskunftsbureau verbinden. Sie
wünſchte die Adreſſe einer zuverläſſigen Auskunftei in
2 Novelle von Fritz Flechtner. 139
Amerika zu erhalten. Man nannte ihr die Firma
Brothers Smith & Garret in New Vork.
Mit dem Mittagzuge ging ein Brief von ihr ab,
in dem fie anfragte, ob eine Firma Harpers & Whyte-
craft in Cincinnati exiſtiere, die Getreidehandel und
Bankgeſchäft betreibe, ob der jüngere Inhaber dieſes
Geſchäftes fih zurzeit in Deutſchland aufhalte, und ob
dieſe Firma auf einer finanziell durchaus ſicheren Grund-
lage ſtehe.
Wenn alles dieſes ſich ſo verhielte, erbat ſie an die
Adreſſe einer großen Hamburger Bank ein Kabel-
telegramm mit den Worten „Alles zutreffend“. An-
derenfalls telegraphiſche Antwort mit „Unzutreffend,
briefliche Erklärung“.
Das Hamburger Bankhaus erſuchte ſie in einem
gleichzeitig abgehenden Schreiben, den Betrag für Tele-
gramm und Auskunft für ſie zu entrichten und ihr
den Inhalt der eingehenden Depeſche telegraphiſch zu
übermitteln.
Nachdem fie diefe Schreiben ſelbſt in den Brief-
kaſten geſteckt hatte, atmete ſie wie befreit auf.
So — nun würde ſie nicht mehr daran denken, bis
ſie Antwort erhalten hätte! Aber dieſer Vorſatz war
leichter gefaßt als durchgeführt.
Immer wieder ſtieg das Bild des Fremden, ein
Bruchſtück ihrer Unterhaltung vor ihr auf und zwang
ſie, darüber nachzudenken, ſo daß ſie ſchließlich doch
noch ihren erſten Plan ausführte und ihr Geſpräch
aufzeichnete.
Faſt den ganzen Abend brachte ſie damit zu, und
je weiter ſie in dieſer Arbeit vorſchritt, deſto ſchärfer
führte ihr Gedächtnis alles zurück in Wort und Ton-
fall, ſo daß ſie ſich ſchließlich ſagen durfte, ſie habe die
140 Fräulein Bankdirektor. | u
Unterredung in ihren Hauptpunkten vollſtändig und
richtig wiedergegeben.
Als ſie dann ſeine und ihre Worte ſorgſam geprüft
und gegeneinander abgewogen hatte, ohne etwas zu
finden, was Bedenken oder Mißtrauen hervorgerufen
hätte, ſchloß ſie mit einem tiefen Gefühl der Beruhigung
die Aufzeichnungen in das Geheimfach ihres Schreib-
tiſches.
Zwei Tage darauf, am 29. Auguſt, erhielt ſie ein
Telegramm: „Vater leider in nächſten drei Wochen
unabkömmlich. Harpers.“
Tags darauf ging folgender Brief ein:
„Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!
Heute depeſchierte ich Ihnen: Vater leider in
nächſten drei Wochen unabkömmlich.“ Ich bedaure
dies um fo mehr, als ich infolge meiner unauffchieb-
baren Reife nach Rußland Ihrer Unterredung wohl
nicht werde beiwohnen können. Gleichzeitig mit dem
Telegramm vom 27. d. Mts. habe ich meinem Vater
brieflich von meinen Plänen ſowie von dem Ergebnis
unſerer Unterredung eingehend Mitteilung gemacht und
ſeine umgehende Rückäußerung erbeten. Sobald dieſe
eintrifft, werde ich Ihnen den Inhalt ſofort übermitteln.
Mit größter Hochachtung und beſten Empfehlungen
Ihr ergebener
5 Fred Harpers.“
Am zehnten Tage nach dem Abgange ihres Schrei-
bens an die Auskunftei in New York erhielt fie von
dem Hamburger Bankhauſe die telegraphiſche Mit-
teilung: „Amerika depeſchiert: Alles zutreffend.“
„Gott fei Dank!“ ſprach fie vor fih hin. Sie emp-
fand vor allem ein Gefühl der Freude und Genug-
tuung, daß ihre Befürchtung, ein Betrug könnte im
Spiele geweſen ſein, als unbegründet erwieſen war.
ñ Novelle von Fritz Flechtner. 141
Wieder war beinahe eine Woche vergangen, als,
datiert aus Köln vom 11. September, folgender Brief
von Harpers eintraf:
„Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!
Soeben Brief von meinem Vater eingegangen. Er
iſt mit allen meinen Plänen vollkommen einverſtanden,
behält ſich aber die Entſcheidung vor, bis er mit Ihnen
ſelbſt geſprochen hat. Vor Mitte Oktober kann er ſeine
Reife nicht antreten; er will dann zunächſt nach Ham-
burg kommen und dort am 20. oder 21. eintreffen.
Nun würde es meinem Vater ſehr erwünſcht ſein,
noch vorher über einige Punkte Aufklärung zu erhalten,
fo insbeſondere über Ihre kaufmänniſche Vorbildung,
die Art Ihrer bisherigen Tätigkeit, Ihre Gehalts-
anſprüche uſw. Auch legt er Wert darauf, eine Photo-
graphie von Ihnen zu erhalten.
Ich muß mich deshalb nochmals mit der Bitte an
Sie wenden, mir Ort und Stunde für eine zweite
perſönliche Unterredung zu beſtimmen. Am 14. d. Mts,
treffe ich in Berlin ein und muß ſpäteſtens am 19.
in Warſchau ſein. Hoffentlich iſt es Ihnen möglich,
mir innerhalb dieſes Zeitraumes einige Stunden zur
Verfügung zu ſtellen. Daß ich perſönlich mich auber-
ordentlich freuen würde, unſer intereſſantes Poſener
Geſpräch fortſetzen zu können, brauche ich wohl nicht
erſt zu verſichern.
Ihre Antwort erbitte ich nach Berlin, Hotel Raifer-
hof.
Mit größter Hochachtung und ergebenſten Emp-
fehlungen Ihr
Fred Harpers.“
Die Antwort, die Fräulein Hagemann am Tage
nach dem Eintreffen dieſes Briefes zur Poſt gab,
lautete:
142 Fräulein Bankdirektor. n
„Sehr geehrter Here Harpers!
Ich freue mich über die Zuſtimmung Ihres Herrn
Vaters und bin zu einer zweiten Unterredung gern
bereit. Erwarten Sie mich am Sonntag, den 16. d. Mts.,
12 Uhr mittags Poſener Bahnhof. Eine Photographie
bringe ich mit.
6 Hochachtungsvoll
E. Hagemann.“
Am gleichen Tage, an dem Harpers' Brief bei Ella
einging, erhielt Kurt v. Bötzow ein eingeſchriebenes
Wertpaket. Die Handſchrift auf der Adreſſe war ihm
fremd. Als er es geöffnet hatte, fand er, ſorgfältig
eingehüllt, zwei Bündel Banknoten. Das eine, rot
verſchnürt, enthielt fünftauſend, das andere, mit blauen
Schnüren, ſiebentauſend Mark. Vorſichtig hatte er die
Verſchnürung gelöſt, indem er darauf achtete, daß die
Noten nicht durcheinander kamen.
Folgender Brief mit den unverſtellten Schriftzügen
ſeines Freundes lag dabei.
„Lieber Kurt! Aus Beiliegendem erſiehſt Du, daß
ich nicht nur an mein Fräulein Bankdirektor denke,
ſondern meine Zeit auch ſonſt gut anwende. Die
Anlage ſtammt aus der Bank in L., die ich geſtern auf
der Durchreiſe von Köln nach Hamburg mit meinem
Beſuch beehrte. Es war eine Vorſtudie für Cz. Wahr-
ſcheinlich haſt Du in den Zeitungen ſchon davon ge-
leſen, ohne an mich zu denken. Auf alle Fälle ſende
ich Dir einen Ausſchnitt mit. Lies dieſen zunächſt und
erſt dann mein Schreiben weiter.“
Die Zeitungsnotiz lautete: „Ein frecher Raubanfall
iſt heute in einer Bank verübt worden. Mittags kam
ein älterer Herr, dem Ausſehen nach ein Engländer,
in die Bank, wo der Vorſteher ſich gerade allein auf-
a Novelle von Fritz Flechtner. 143
hielt. Er bat, ihm einen Tauſendmarkſchein zu wechſeln.
Während der Vorſteher dies lat, drückte ihm der Fremde
eine wohl mit Chloroform getränkte Maske vor das
Geſicht, und zwar mit ſolcher Schnelligkeit, daß der
Überfallene keine Zeit fand, ſich zu wehren oder einen
Schrei auszuſtoßen. Die Betäubung erfolgte augen-
blicklich. Dann ergriff der Räuber einen Stoß Bank-
noten, mit deren Einpacken der Vorſteher gerade be-
ſchäftigt geweſen war, und verließ die Bank. Er beſaß
dabei die Frechheit, die inwendig ſteckenden Schlüſſel
abzuziehen und die Tür von außen zu verſchließen. Er
wurde geſehen, wie er langſam dem Markte zuging.
Einige Perſonen wollen ihn auch noch in den Anlagen
am Muſeum bemerkt haben. Seitdem iſt aber jede
Spur von ihm verſchw unden. Der Bankvorſteher hat
ſich wieder erholt; eine bleibende geſundheitliche Stö-
rung iſt zum Glück nicht zu befürchten.“
Hier war an den Rand geſchrieben: „Seht lies
meinen Brief fertig!“
Bötzow überflog trotzdem den Zeitungsausſchnitt
noch weiter; es waren Vorwürfe, daß trotz aller trau-
rigen Vorkommniſſe in vielen Provinzbanken noch
immer zeitweiſe nur eine Perſon anweſend ſei und
ſo weiter. Er legte nun den Ausſchnitt beiſeite und
nahm den Brief wieder vor.
Röchling ſchrieb: „Die Banknoten in dem rotver-
ſchnürten Paket find ſicher; ich habe die mitgenom-
menen ſchon gegen andere eingelöſt. Die übrigen lege
in unſeren Safe. Ich glaube zwar, daß fie auch ganz
ſicher ſind, da ich auch das Nummernverzeichnis des
Vorſtehers habe, aber beſſer iſt beſſer. In Gold habe
ich viertauſend Mark erbeutet; die Hälfte davon ver-
rechne als deinen Anteil auf die Banknoten. Wie ſteht
es mit der Angelegenheit Hollmann? Alles gut er-
144 Fräulein Bankdirektor o
ledigt? Wie groß unfer Gewinn? Bitte Telegramm
nach Hamburg, Hotel Atlantic, Baron Roͤdern.
Dein Herbert.“
„Verfluchter Kerl!“ ſagte Bötzow befriedigt, als er zu
Ende geleſen hatte. Sorgfältig vernichtete er Brief und
Zeitungsausſchnitt, verwahrte die „ſicheren“ Banknoten
im Geldſchrank, die anderen brachte er auf die Han-
noverſche Bank, wo ſie ihr Konto und ihren Safe hatten.
Bei der Ankunft in Hamburg fand Röchling, der.
als Baron Rödern Stammgaſt im Atlantic war, be-
reits folgendes Telegramm vor: „Treibjagd vorzüglich.
25 Stück geſchoſſen. Wergentheim.“
„Verfluchter Kerl!“ ſagte auch Herbert befriedigt,
als er dieſes Telegramm geleſen. „Dreiundzwanzig-
tauſend Mark — alle Achtung!“
Sofort depeſchierte er zurück: „Gratuliere. 14. abends
Berlin. Vorher Erledigung wie beſprochen. Herbert.“
Am Vormittage des 14. September wurde Fräu-
lein Hagemann eine Karte überbracht mit dem Namen:
v. Schroetter, Oberregierungsrat a. O.
„Ich laſſe bitten.“ |
Ein mittelgroßer, älterer Herr trat ein — Gehrock,
Zolinder, ganz der Typus des höheren Regierungs-
beamten.
„Ich komme mit einer Empfehlung von Herrn
Kommerzienrat Saalberg,“ begann er.
Sie wies auf einen Seſſel. „Darf ich bitten, Platz
zu nehmen! Womit kann ich Ihnen dienen?“
„Ich halte mich ſeit etwa acht Tagen in der Provinz
Poſen auf, um Güter zu beſichtigen. Mein Sohn iſt
Landwirt und will ſich hier anſiedeln. Man hat mir
geſagt, daß im Kreiſe Czoſtran einige geeignete Güter
zum Verkauf ſtehen ſollen.“
a Novelle von Fritz Flechtner. 145
Da er eine kleine Pauſe machte, verſetzte fie: „Dar-
über kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben.“
Der alte Herr lächelte. „Das hatte ich auch nicht
erwartet, mein gnädiges Fräulein. Die Güter, um
die es ſich handelt, ſind in polniſchen Händen, und die
Beſitzer daher wohl ſchwerlich die Kunden Ihrer Bank.
Aber ich habe Genaueres darüber ſchon von Herrn
Kommerzienrat Saalberg erfahren. Was mich zu Ihnen
führt, iſt folgendes: Falls ich etwas Paſſendes finde,
will ich den Kauf ſofort abſchließen. Das zur Anzahlung
erforderliche Geld beſitze ich aber nicht in bar, da mein
geſamtes Vermögen in Wertpapieren angelegt iſt. Ich
habe einen größeren Betrag in Papieren mitgebracht
in der Abſicht, ſie durch eine Bank verkaufen zu laſſen.
Wie mir Herr Kommerzienrat Saalberg ſagte, ſollen
aber die Kurſe dieſer Papiere jetzt ſo ungünſtig ſtehen,
daß ich bei einem Verkauf erhebliche Verluſte erleiden
würde. Er riet mir deshalb, mit Ihnen Rückſprache
zu nehmen, in welcher Weiſe fich am beſten ein Arrange-
ment treffen ließe.“ |
„Am welche Papiere handelt es ſich?“ |
„Ausſchließlich um preußiſche Konſols und deutſche
Reichs anleihe.“
„Dieſe Papiere ſtehen allerdings augenblicklich un-
günſtig. Der Grund dafür ift in der ſchwierigen politi-
ſchen Lage zu ſuchen, die, wie Sie wohl wiſſen, ernſtere
Verwicklungen nicht unmöglich erſcheinen läßt.“
Der Oberregierungsrat nickte. „Würde es Ihrer
Bank möglich ſein, mir gegen Verpfändung dieſer
Papiere die erforderlichen Barmittel vorzuſtrecken, bis
die Kurſe einen Verkauf ermöglichen?“
„Um welchen Betrag würde es ſich handeln?“
„Es käme eine Anzahlung von fünfzig- bis ſechzig⸗
tauſend Mark in Frage.“
1918. XI. 10
Fräulein Bankdirektor. o
„Und wie hoch iſt der Nominalwert der Papiere,
die Sie hinterlegen würden?“
„Ich habe für hunderttauſend Mark mitgebracht.
Falls Sie es für erforderlich halten, kann ich aber
binnen wenigen Tagen noch mehr hinterlegen.“
„Das genügt vollkommen. Über die von Ihnen
gebrauchte Summe erhalten Sie einen Scheck.“
„Würde dieſer Scheck auf Ihre Bank lauten?“
„Nein, wir würden ihn auf die Oſtbank für Handel
und Gewerbe ausſtellen. Das dürfte in Ihrem Falle
ſchon deshalb vorzuziehen fein, weil der Verkäufer des
Gutes wahrſcheinlich den Scheck ſofort in Bargeld wird
umwechſeln wollen, und dazu würde unſere Bank ohne
weiteres nicht imſtande ſein.“
Überrafcht fab er fie an. „Verfügen Sie nicht über
derartige Barbeſtände? Ich hatte geglaubt, daß eine
Bank von dieſer Größe —“
Sie unterbrach ihn. „Zu beſtimmten Zeiten würden
wir freilich mit Leichtigkeit dieſen Betrag auszahlen,
aber dauernd größere Barvorräte zu halten, hat für
uns ja keinen Zweck. Was eingeht, wird möglichſt bald
wieder abgeführt.“
„Aber Ihre Kaſſenräume ſind doch hoffentlich ganz
ſicher? Daß nicht etwa ein Einbruch verübt werden
kann?“ fragte er ängſtlich.
„Da dürfen Sie ganz ohne Sorge fein, Herr Ober-
regierungsrat. Wenn wir natürlich auch nicht über
die Sicherheitsvorrichtungen der Großbanken verfügen,
jo find unſere Gewölbe doch unbedingt feuer- und
einbruchſicher.“
„Meine Angſtlichkeit wird Sie vielleicht in Erſtaunen
ſetzen,“ ſagte er. „Aber da etwas Derartiges mir ſchon
paſſiert iſt —“
„Wie?“ unterbrach ſie ihn erſtaunt.
2 Novelle von Fritz Flechtner. — 147
„Ich habe einmal zwanzigtauſend Mark eingebüßt
durch einen Einbruch in die Bank, bei der ich einen
Teil meines Vermögens hinterlegt hatte. Es iſt zwar
faſt ein Vierteljahrhundert ſeitdem vergangen, aber ſo
etwas vergißt man nicht wieder. Da bleibt eine Ängjt-
lichkeit für das ganze Leben zurück.“
„Aber die Bank mußte doch haften,“ entgegnete ſie.
„Gewiß hätte ſie das getan. Aber dieſer Einbruch
war der Anfang vom Ende. Sie mußte bald darauf
ihre Zahlungen einſtellen.“
„Das iſt allerdings eine traurige Erfahrung, die Sie
gemacht haben, und ich kann ſehr wohl Ihre Beſorgnis
verſtehen. Aber glauben Sie mir, davor find Sie dies-
mal ſicher. Es müßte ſchon ein ſehr geſchickter und
verwegener Räuber ſein, der bei uns Erfolg haben
wollte — und ſolche Leute haben wir hier nicht.“
„Nun, es könnte ja ein Auswärtiger fein, ein inter-
nationaler Einbrecher, ein Gentleman Verbrecher, wie
man zu ſagen pflegt.“
„Vie ſollte der gerade auf unſere Bank verfallen!
Und überdies — ohne genaue Ortskenntnis könnte er
nichts erreichen. Um dieſe Kenntnis ſich zu erwerben,
müßte er aber ſehr eingehende Studien machen. Glau-
ben Sie, daß das in einem fo kleinen Orte wie Czoſtran
möglich wäre, ohne Verdacht zu erwecken?“
Ihre Ausführungen ſchienen ihn beruhigt zu haben.
Er öffnete die braune Aktenmappe, die er während des
ganzen Geſpräches feſt unter dem Arm gehalten hatte,
und entnahm ihr ein ſorgfältig verſchnürtes und ver-
ſiegeltes Paket, das er Ella überreichte.
„Haben Sie ein genaues Verzeichnis der Papiere?“
fragte ſie.
„Gewiß, aber nur in einem Exemplar.“
„Das genügt.“
148 Fräulein Bankdirektor. u
— — msn
„Wünſchen Sie die Prüfung der Papiere ſofort
vorzunehmen?“ fragte er.
„Das iſt erſt erforderlich, wenn der Scheck ausgeſtellt
wird.“
„Dann könnte ich ja eigentlich die Papiere bis da-
hin noch in eigener Verwahrung behalten.“
Sie lächelte. „Wenn Ihnen das ſicherer erſcheint
— gewiß.“
„Ich meinte nicht bei mir oder im Hotel, ich dachte
an einen Safe. Sie haben doch wohl Safes unter
Mitverſchluß der Mieter?“
„Allerdings. Aber nur in geringer Anzahl. Und
nur die wenigſten werden benützt. Die Einrichtung
hat ſich hier nicht eingebürgert. Man iſt der Anſicht,
daß ein uns übergebenes Depot ebenſo ſicher in unſeren
eigenen Schränken verwahrt iſt, als wenn es im Safe
läge.“
„Ich bitte um Verzeihung, mein gnädiges Fräu-
lein. Es ſollte keine Kränkung für Ihre Bank ſein,
aber —“
Sie ſchnitt ſeine Entſchuldigungen etwas ungeduldig
ab. „Ich möchte Sie bitten, Herr Oberregierungsrat,
ſich von der Sicherheit unſerer Einrichtungen ſelbſt zu
überzeugen.“
Damit klingelte ſie und ließ den Kaſſierer bitten,
zu ihr zu kommen.
„Dieſes Paket mit Wertpapieren iſt in Verwahrung
zu nehmen für Herrn Oberregierungsrat v. Schroetter,“
ſagte fie, als der Kaſſierer eingetreten war. „Der Herr
Oberregierungsrat hat Beſorgnis, daß die Papiere ge-
ſtohlen werden könnten; wir wollen ſie deshalb in ſeiner
Gegenwart in unſeren Geheimſchrank legen. Erledigen
Sie, bitte, erſt die nötigen Formalitäten.“
Nachdem dies geſchehen war, ſagte der Kaſſierer:
o Novelle von Fritz Flechtner. 149
—
„Darf ich Herrn Oberregierungsrat bitten, ſich mit mir
zu bemühen. Geſtatten Sie, daß ich vorangehe.“
Herr v. Schroetter wollte fih von Ella verabſchieden,
aber fie ſagte: „Ich muß auch mitgehen. Der Kaſſierer
allein kann dieſes Gewölbe ug! öffnen, ebenjowenig
wie ich.“
„Ah!“ machte der Oberregierungsrat. „Alfo dop-
pelter Verſchluß!“
„Sie ſehen,“ erwiderte ſie, „ganz ſo leicht haben
wir es den Einbrechern doch nicht gemacht.“
Sie folgten dem Kaſſierer, der ſie an der Treppe
erwartete, die in den Keller führte.
Das Gewölbe mit ſeinen mächtigen eiſernen Türen
und großen vorgelegten Eiſenſtangen ſchien Herrn
v. Schroetter völlig zu beruhigen.
„Das iſt ja beinahe ſo wie in meiner Bank in
Berlin,“ ſagte er bewundernd.
„Nun, ganz ſo iſt es freilich nicht. Aber das iſt
für Czoſtran ja auch nicht nötig.“
Sowohl die Tür, die das Kellergewölbe abſchloß,
als auch die Türen der großen Schränke ſtanden unter
doppeltem Verſchluß.
Der Oberregierungsrat war aufs höchſte befriedigt.
Zwei Stunden ſpäter ſaß der Oberregierungsrat
im Zuge nach Berlin. Vergnügt rieb er ſich die Hände.
„Herbert kann mit mir zufrieden ſein,“ murmelte er.
„Das hätte er nicht beſſer machen können.“
Und Herbert war in der Tat hochbefriedigt über
das Ergebnis von Bötzows Informationsreiſe. Gönner-
haft klopfte er ihm auf die Schulter. „Was könnteſt
du leiſten, wenn du nicht ſo furchtbar faul wärſt!“
„Ich bin nun mal, wie ich bin,“ verſetzte Kurt.
„Was haft du nun mit mir vor?“
150 Fräulein Bankdirektor. u
„Zunächſt biſt du frei. Erſt müſſen wir die zweite
Unterredung mit der Hagemann abwarten.“
„Du, das iſt übrigens ein ganz prachtvolles Weib!“
rief Kurt.
„Haſt dich wohl gar verliebt in ſie?“
„Bre — nee!“ ſchüttelte ſich Kurt. „Entſetzlicher
Gedanke, die zu küſſen! Aber weißt du, was ich
wünſchte?“
„Na?“
„Daß fie zu uns gehörte. Wir würden einen Drei-
bund bilden — erſter Klaſſe, was?“
„Das wäre ſo übel nicht.“ |
„Hör mal, kannſt du fie nicht heiraten? Dann
wäre ſie ja unſer!“ |
„Laß doch die faulen Witze!“ brummte Herbert.
„Unſer! Als ob ein Menſch wie ſie unſere Gehilfin
werden könnte!“
„Auch nicht aus Liebe?“
„Sogar dann nicht. Bei ihr ganz ausgeſchloſſen.“
Herbert ging im Zimmer auf und ab. Plötzlich ſtieß
er heftig hervor: „Ich hab' es ſchon bereut, daß ich
die Geſchichte angefangen habe.“
„Nanu?“ rief Kurt überraſcht.
„Wenn ich gewußt hätte, was fie für ein Frauen-
zimmer iſt — wahrhaftig, ich hätt’ es nicht getan.“
Kurt ſprang auf und trat dem noch immer hin und
her laufenden Freunde in den Weg. „Herbert, was
iſt das? Ich kenne dich gar nicht wieder. Du — und
Reue und Mitleid?“
„Laß mich!“ wehrte Herbert ſchroff ab.
Kopfſchüttelnd trat mn beiſeite. Sollte Herdert
etwa gar —
Er mußte bei dem Gedanken lachen. Herbert und
wirkliche Liebe empfinden!
u Novelle von Fritz Flechtner. 151
— —— —— — a aa Es —
Herbert blieb mit einem Ruck ſtehen. Drohend
blitzten ſeine Augen den Freund an. „Zu lachen gibt
es hier gar nichts! Haſt du mich verſtanden?“
„Aber Herbert, ich bitte dich —“
„Schon gut,“ unterbrach ihn dieſer und ſetzte ſein
Umberwandern fort. Nach einigen Minuten blieb er
wieder vor Kurt ſtehen und legte ihm die Hände auf
die Schultern. „Verzeih, lieber Zunge, es war nicht
ſo ſchlimm gemeint. Aber — ich weiß ſelbſt nicht, was
mir iſt — — hol's der Teufel! Das Frauenzimmer
iſt ſo unſentimental wie nur möglich, und mich hat ſie
ganz ſentimental gemacht.“ Er gab ſich einen Ruck.
„Ach was! Vorbei! Es iſt angefangen und muß zu
Ende geführt werden. Wenn ſie dabei zugrunde geht
— ich kann ihr nicht helfen.“
Sonntag morgen fuhr Herbert nach Poſen. Sein
Zug traf eine halbe Stunde früher ein als der Zug
aus Czoſtran. Er beſchloß, Ella Hagemann auf dem
Bahnſteig zu erwarten. Zwei Roſen hielt er in der
Hand, die er ihr überreichen wollte.
Als ſie den Zug verließ, trat er mit ausgeſtreckter
Hand auf ſie zu und begrüßte ſie herzlich. Sie trug
das gleiche Kleid wie bei ihrem erſten Zuſammentreffen,
aber ſie hatte eine weiße Spitze vorgeſteckt, die ſie friſcher
und jugendlicher erſcheinen ließ. Sein ſcharfer Blick
hatte die Veränderung ſofort bemerkt.
Als er ihr die Rofen gab, ſtieg eine tiefe Nöte in
ihr Geſicht. Sie wurde verlegen wie ein junges Mäd-
chen, das von einem Herrn die erſte Aufmerkſamkeit
erfährt.
„Aber ich bitte Sie, Herr Harpers!“ ſagte ſie ſtockend,
nahm jedoch die Rofen, die fie in der Hand behielt.
152 Fräulein Bankdirektor. D
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„Eſſen wir wieder bei Mylius?“ fragte er.
„Ja, gern,“ verſetzte ſie. Noch immer kämpfte ſie
gegen die Verwirrung, die dieſe einfache Galanterie
in ihr hervorgerufen hatte.
„Heute wollen wir aber keinen ſo ſchweren Wein
trinken,“ ſagte ſie, als ſie im Hotel an demſelben Tiſch
Platz genommen, an dem ſie das erſte Mal geſeſſen
hatten.
Er lächelte. „Wie Sie befehlen. Wollen wir nicht
gleich ein Glas Sekt?“
Sie wehrte entſchieden ab.
„Es iſt aber am bekömmlichſten, wenn man nicht
miſcht.“
„Ich möchte am liebſten einen ganz leichten Moſel.“
Er widerſprach nicht mehr.
„Sie glauben gar nicht, wie ich mich auf dieſes
Wiederſehen gefreut habe,“ begann er und ſah ſie mit
leuchtenden Blicken an. ,
Sie mußte die Augen niederſchlagen. Sie fühlte,
wie fie wieder rot geworden war. So ſchämte fie fid
vor ſich ſelbſt, daß ſie am liebſten aufgeſtanden und
hinausgelaufen wäre.
„Daß mein Vater ſo ganz einverſtanden iſt mit
meiner Idee, hat Sie hoffentlich auch gefreut?“
„Gewiß — und um ſo mehr, da ich es eigentlich
nicht erwartet hatte.“
„Nicht?“ Er fab fie mit einem Ausdruck des Er-
ſtaunens an.
„Ich will ganz offen fein, Herr Harpers. Ich hatte
geglaubt, Ihr Herr Vater würde Ihre Idee etwas —
etwas phantaſtiſch finden.“
Er lachte luſtig auf. „Mein Vater weiß, bah ich
kein Phantaſt bin.“
„Ja, ja, das mag fein. Aber eine fo völlig un-
u Novelle von Fritz Flechtner. 153
bekannte Perſon wie ich — dazu eine Frau in eine ſo
verantwortungsvolle Stellung —“
Er antwortete nichts als: „Mein Vater kennt mich.“
Der Kellner brachte den Wein und füllte ihre Gläſer.
Sie ſtießen miteinander an.
„Venn Sie meine Bitte um eine nochmalige Unter-
redung abgelehnt hätten, wiſſen Sie, was geſchehen
wäre?“
„Nun?“ fragte ſie raſch. Aber ſie vermied es, ihn
anzuſehen.
„Ich hätte Sie einfach in Ihrem Bureau über-
fallen.“
„Herr Harpers!“ rief fie erſchrocken.
„Gewiß. Das hätte ich getan. Denn ſprechen mußte
ich Sie noch einmal vor meiner Abreiſe nach Rußland.“
Wieder traf ſie ein Blick, der ſie verwirrte. Aber
ſie zwang ſich, ganz ruhig zu ſprechen. „Ohne Grund
hätte ich natürlich nicht abgelehnt. Und wäre ich ver-
hindert geweſen, fo hätte ich Ihnen ausführlich ge-
ſchrieben — alles, was Ihr Herr Vater wiſſen will.“
„Schriftlich ift es doch nichts Rechtes.“
„Warum nicht? Das geht febr gut. Ich kann es
Ihnen ſogar beweiſen. Ich habe für Ihren Herrn Vater
meinen Lebenslauf aufgeſetzt, aus dem er alles er-
ſehen kann.“
„Oh, Sie ſind aber wirklich —“
Sie wehrte ab. „Das iſt doch eigentlich ſelbſtver⸗
ſtändlich. Wenn man ſich um eine Stellung bewirbt,
muß man, wenigſtens in Oeutſchland, immer ein ſolches
Schriftſtück einreichen.“
„Sich um eine Stellung bewirbt! Wie das klingt!“
ſagte er ärgerlich. „Als ob Sie eine kleine Kontoriſtin
wären!“
Sie lachte. „Es iſt doch ſo.“
154 Fräulein Bankdirektor. u
„Nein, es iſt nicht fo,“ verſetzte er trotzig. „Hier
handelt es ſich nicht um eine Stellung, um die Sie
ſich bewerben — es täte mir leid, wenn Sie das ſo
aufgefaßt hätten. Sie ſollen bei uns keine Angeſtellte
fein wie hundert andere —“
„Ich wollte Sie durchaus nicht kränken, Herr Har-
pers,“ unterbrach ſie ihn. „Und ich glaube auch, ich
habe ganz richtig erfaßt, um was es ſich handelt. Aber
ein Angeſtellter bleibt doch ſchließlich auch der erſte
Leiter eines Geſchäfts, wenn es nicht eben der Beſitzer
ſelbſt iſt. Ihr Herr Vater urteilt darüber auch viel
richtiger als Sie; denn er wünſcht ja auch meine
Gehaltsanſprüche zu erfahren.“
„Dacht' ich mir doch, daß Sie das verletzt hat,“
ſtieß er hervor.
„Aber ich verſtehe Sie wirklich nicht, Herr Harpers.
Es iſt doch die natürlichſte Sache von der Welt, daß
auch die Geldfrage mit erörtert werden muß.“
„Sie wollen mich eben nicht verſtehen!“
Haſtig ſtürzte er ein Glas Wein hinunter und ſchenkte
ſich ſofort wieder ein.
Kopfſchüttelnd ſah fie ihn an. Sie wußte offenbar
nicht recht, was ſie von ihm denken ſollte.
Schweigend verzehrten ſie den nächſten Gang.
Ihr Geſpräch drehte ſich dann um andere Dinge;
die ſie ſelbſt berührende Angelegenheit blieb unerörtert.
Diesmal war es noch nicht zwei Uhr, als ſie ihr
Mahl beendet hatten.
„Wie denken Sie über eine etwas längere Spazier-
fahrt nach außerhalb?“ fragte er.
„Ich bin ſehr damit einverſtanden. Das Wetter iſt
ſo prachtvoll. Vielleicht fahren wir nach Unterberg.“
Ihr Wagen hatte bald die Stadt verlaſſen und rollte
auf faſt menſchenleern Wegen dahin.
u Novelle, von Fritz Flechtner.
85
Er bat ſie, ihm einiges über ihr bisheriges Leben
zu erzählen. Gern entſprach ſie ſeiner Bitte. Flüchtig
ſtreifte ſie ihre Kindheit, das Leben im Elternhauſe
und berichtete dann eingehend über die kaufmänniſche
Ausbildung, die ſie genoſſen, über die verſchiedenartigen
Tätigkeiten, die ſie ausgeübt hatte, ehe ſie in die leitende
Stellung eingerückt war. n
„Sie haben alſo ganz von der Pike auf gedient,“
ſagte er. l
„Ja, und ich bin ſtolz darauf,“ verſetzte fie.
„Das dürfen Sie auch mit vollem Recht. Wieviel
Arbeit haben Sie in Ihrem Leben doch ſchon ge-
leiſtet!ꝰ
Er ſprach es mit ehrlicher Bewunderung.
„Oh, die Arbeit war nie ein Zwang für mich, ſie
iſt meine größte Freude!“
Auf ſeine Bitte ſchilderte ſie ihm dann, welcher Art
ihre jetzige Arbeit war, und um ihm das verſtändlich zu
machen, mußte ſie auch auf die Organiſation ihrer Bank
eingehen, auf deren Geſchäfts- und Kundenkreis, und
feine häufigen Zwiſchenfragen und Bemerkungen zeig-
ten ihr, mit wie großem Intereſſe und Verſtändnis er
ihren Ausführungen folgte. Wo die von ihr geſchilderten
Verhältniſſe weſentlich abwichen von den amerikaniſchen,
legte er diefe Unterſchiede dar, wobei er insbeſondere
immer auf die Handhabung der Geſchäfte bei ſeiner
eigenen Firma einging.
Sehr verwundert zeigte er ſich beſonders über die
nach feiner Anſicht ganz unzulänglichen Sicherheits-
einrichtungen einer deutſchen Provinzbank. „Wenn
Ihre Bank, wie Sie erwähnten, vor den großen Zahl-
tagen oft hunderttauſend Mark und mehr in Bargeld
liegen hat, ſo iſt das doch eigentlich, nehmen Sie mir's
nicht übel, ein großer Leichtſinn. Bei uns würden
156 Fräulein Bankdirektor. o
jedenfalls ganz andere Vorkehrungen getroffen werden,
um einen Einbruch unmöglich zu machen.“
Sie verteidigte die Einrichtungen ihrer Bank, ſuchte
ihm zu beweifen, daß eine Beraubung wohl als aus-
geſchloſſen betrachtet werden könne.
Aus einer inneren Weſtentaſche holte er ein kleines
Lederetui hervor, öffnete es und entnahm ihm eine
Anzahl ſeltſam geformter Schlüſſel. „Ich offenbare
Ihnen jetzt eines der wichtigſten Geheimniſſe unſerer
Firma,“ ſagte er beinahe flüſternd. „Dies hier ſind
die Schlüffel zu den Gewölben und Schränken, in denen
wir unfere Vorräte an Bargeld und Wertpapieren auf-
bewahren. Haben Sie etwas Ahnliches ſchon geſehen?“
Sie zögerte, offenbar im Zweifel, ob er in ſeinem
Vertrauen zu ihr nicht zu weit ging.
„Nehmen Sie unbedenklich,“ ſagte er. „Sie werden
dieſe Schläffel doch einſt zur Verwahrung bekommen.
Darum darf ich ſie Ihnen heute ſchon zeigen.“
Mit leiſer Stimme, damit der Kutſcher nichts hören
konnte, erklärte er ihr die Konſtruktion, die ſo raffiniert
erdacht war, daß kein Räuber, ſelbſt wenn er alle Schlüſſel
im Beſitz hatte, imſtande geweſen wäre, die Schlöſſer
zu öffnen, wenn er nicht das eigentliche Geheimnis
kannte.
„Dieſes Geheimnis,“ ſagte er, „iſt ein einziges Wort,
deſſen Kenntnis allein wie das „Seſam, öffne dich!“
des Märchens den Eingang zu unſeren Kaſſenſchätzen
ermöglicht. Dieſes Zauberwort dürfen nur die Men-
ſchen kennen, denen die Schlüſſel anvertraut ſind. Das
ift bei uns: mein Vater oder fein Stellvertreter, unfer
Häuptkaſſierer und ich. Von Zeit zu Zeit wird ein
anderes Wort gewählt, und immer bedarf es zweier
Perſonen, die beide das Wort kennen müſſen.“
Sie ſprach ihre unverhohlene Bewunderung aus.
o Novelle von Fritz Flechtner. 157
Während er die Schlüſſel ſorgfältig verwahrte, ſagte
er: „Auch bei den deutſchen Banken iſt es ja wohl
üblich, daß die Schlöſſer der Geheimſchränke nur ge-
öffnet werden können, wenn der Mechanismus auf
irgend ein beſtimmtes Wort eingeſtellt iſt; aber dieſes
Syſtem, das ſicherlich auch bei Ihrer Bank beſteht,
wird, wie Sie ſelbſt zugeben werden, von dem unſerigen
weit übertroffen.“
„Wir haben nicht einmal dieſes Syſtem bei uns
eingeführt,“ verſetzte fie. „Anſere Gewölbe haben
natürlich, auch doppelten Verſchluß und können nur
geöffnet werden, wenn zwei Perſonen gleichzeitig ihre
Schlüſſel dazu benützen.“
„Wenn aber kein geheimer Mechanismus damit
verbunden iſt,“ unterbrach er ſie, „ſo kann ja ein Räuber,
dem es gelingt, ſich die doppelten Schlüffel zu ver-
ſchaffen, ohne weiteres auch Ihre Gewölbe öffnen.“
„Nun, ſo ohne weiteres doch nicht. Zunächſt müſſen
es zwei Räuber ſein, denn einer allein kann auch mit
doppelten Schlüſſeln nicht öffnen, und dann müßten
die Räuber ſich doch erſt in den Beſitz dieſer Schlüſſel
ſetzen —“
„Was mit Gewalt oder Liſt kein Ding der Unmög-
lichkeit wäre,“ fiel er ein.
„Sie legen immer amerikaniſche Verhältniſſe zu-
grunde, rechnen mit Einbrechern größten Stils, die
wir in unſerer Kleinſtadt Gott ſei Dank noch nicht
haben.“
„Sie mögen recht haben. Mir ſind die deutſchen
Verhältniſſe nicht bekannt genug, um darüber zu ur-
teilen. Ich bin kein Mann der blaſſen Furcht, das
werden Sie mir wohl glauben; aber ich muß doch ſagen:
wenn ich, wie Sie es tun, vor den großen Abrechnungs-
tagen allein mit dem Kaſſierer, nur von einem Wächter
—
158 Fräulein Bankdirektor. 2
behütet, die Nacht verbringen folte, ich würde ein
Gefühl der Unruhe nicht loswerden.“
Sie lachte. „Sie ſtellen ſich das alles viel ſchlimmer
vor, als es iſt. Erſtens kommt es faſt nur vor den
Quartalsſchlüſſen vor, daß wir ſo viel Geld liegen haben,
und dann haben wir in dieſen Nächten ſo viel Arbeit,
daß ſolche furchtſamen Gedanken gar nicht kommen.“
„zich würde mir dann wenigſtens zu meinem per-
ſönlichen Schutz einen großen Hund halten, eine mäch-
tige Dogge, auf den Mann dreſſiert —
Lachend fiel fie ein: „Vielleicht ſchaff' ich mir ſolches
Tier einmal an, wenn ich recht viel überflüſſiges Geld
habe. Bis dahin muß mein Revolver mir genügen.“
Damit wurde dieſer Gegenſtand verlaſſen, und ihre
Unterhaltung wandte fih der Frage zu, ob die geteilte
oder durchgehende Arbeitszeit zu bevorzugen wäre,
wobei er alles erfuhr, was er über die bei ihrer Bank
beſtehende Regelung zu wiſſen wünſchte.
Plötzlich — mitten in einem Satz — brach Harpers
ab und ſagte: „Sie ſchrieben mir, daß Sie eine Photo-
graphie mitbringen wollten. Das hätte ich beinahe
ganz vergeſſen.“
Sie nickte, griff in ihr Handtäſchchen und zog ein
Viſitbild hervor. „Kabinett habe ich leider nicht. e
vielleicht wird das auch genügen.“
Er nahm das Bild und ſah es lange an. „Mein
Vater wird einen ganz falſchen Eindruck bekommen,“
ſagte er endlich.
„Vieſo?“
„Das Bild taugt nichts. Wie das bei den meiſten
Bildern der Fall iſt. Die ganze Photographie iſt ein
Anſinn. Das Außere kann fie im beſten Falle richtig
wiedergeben, aber die Hauptſache nicht — den Cha-
rakter.“
2 Novelle von Fritz Flechtner. 159
Sie antwortete nicht.
Beinahe heftig fuhr er fort: „Was ſoll nun mein
Vater denken, wenn er dies Bild ſieht? Kann er viel-
leicht eine Vorſtellung von Ihnen bekommen? — Aus-
geſchloſſen.“ Wieder beſah er das Bild prüfend. „Ich
werde es ihm gar nicht ſchicken.“ Mit dieſen Worten
holte er feine Brieftaſche hervor und wollte die Photo-
graphie hineinlegen.
„Venn Sie das Bild nicht abſchicken wollen, möchte
ich es aber zurück haben.“ Sie ſtreckte die Hand aus,
doch er hielt das Bild feſt.
Seine Stimme hatte einen veränderten Klang, als
er nun ſagte: „Ich möchte Sie bitten, es behalten zu
dürfen — als Erinnerung an Poſen.“
„Was haben Sie von dem Bilde, wenn es ſo
ſchlecht iſt?“
„Für mich iſt es nicht ſchlecht. Ich weiß ja, wie
Sie find, und was dem Bilde fehlt, kann ich mir er-
gänzen. Das kann aber mein Vater nicht.“
Sie zögerte mit der Antwort.
„Finden Sie meine Bitte ſo unbeſcheiden?“
Sie verneinte, ohne zu ſprechen.
„Dann laſſen Sie mir's, bitte! Es wird mir eine
liebe Erinnerung bleiben. Nur Ihren Namen dar-
auf und das Datum — das würde ich noch gern
haben.“
Eine unbeſtimmte Angſt erfüllte ſie, gemiſcht mit
einem Gefühl, das ſie heute ſchon mehrfach empfunden
hatte und ihr doch bisher völlig fremd geweſen war.
Mit äußerſter Willensanſpannung gelang es ihr,
ruhig zu erwidern: „Wenn Ihnen ſo viel daran liegt,
fo behalten Sie es. Meinen Namen will ich gern dar-
auf ſchreiben, wenn wir in Unterberg ſind.“
„Ich danke Ihnen.“ Er hatte ihre Hand ergriffen
160 Fräulein Bankdirektor. o
und, ehe fie es verhindern konnte, einen Kuß darauf
gepreßt.
Sie entriß ſie ihm ſchroff. „Laſſen Sie das! Ich
liebe ſo etwas nicht!“
„Womit hab' ich Sie verletzt?“ fragte er.
„Ich wünſche ſolche Galanterien nicht.“
Ein wenig gereizt erwiderte er: „Es iſt mir neu,
daß ein Handkuß in Oeutſchland als en an-
geſehen wird.“
„Es kommt ganz auf die Umſtände an.“
„Verzeihen Sie mir, es war nicht ſchlimm gemeint.“
In Unterberg, einem der beliebteſten Ausflugsorte
für die Poſener, herrſchte großer Trubel, als fie an-
kamen. Und immer neue Scharen brachten die Extra-
züge, die heute am Sonntag verkehrten.
„Es hat wohl keinen Zweck, uns hier zu ſetzen.“
Er gab ihr recht.
„Das beſte wird ſein, wir kehren ſofort wieder um,“
fuhr ſie fort.
Er zog die Uhr. „Es iſt erſt drei Ahr. Wir haben
noch viel Zeit. Die Pferde werden auch etwas ausruhen
müſſen. Können wir nicht ein Stück ſpazieren gehen?“
„Ja, das können wir.“
Er gab dem Kutſcher Anweiſung, ſich in ſpäteſtens
einer Stunde bereitzuhalten, dann folgte er ihr, die
langſam vorangegangen war.
Schweigend ſchritten ſie durch den Wald nach dem
Fluſſe hin, an deſſen Ufern ſie entlang wanderten, bis
der Lärm aus dem Vergnügungslokal faſt unhörbar
verklang.
„Wollen wir uns nicht etwas ſetzen?“ fragte er.
Sie ſtimmte zu.
Ganz dicht am Waſſer ſaßen ſie und hörten dem
Plätſchern der Wellen zu. Tiefe Stille herrſchte.
o Novelle von Fritz Flechtner. 161
„Fräulein Hagemann, ich ſagte Ihnen ſchon heute
mittag, ich wollte und mußte Sie noch einmal ſprechen,
ehe ich nach Rußland fuhr. Ich habe Ihnen etwas
zu ſagen, was ſich ſchriftlich nicht mitteilen läßt.“
Sie wollte aufſtehen, aber er ergriff ihre Hand und
hielt fie trotz ihres Sträubens feſt. „Fräulein Hage-
mann, Sie müſſen mich anhören, ein paar Minuten
nur! — Als ich den erſten Brief an Sie ſchrieb, tat
ich es nur im Intereſſe unſeres Geſchäfts. Ich hoffte,
die Perſönlichkeit zu finden, die wir brauchen. Aber
als wir dann in Poſen zuſammen waren, da — ich
weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären ſoll — da wurde
mein Intereſſe immer mehr ein perſönliches; ich dachte
kaum noch an das Geſchäft, nur noch an mich ſelbſt.
Ich ſah Sie nicht mehr als die angeſtellte Beamtin
unſeres Haufes, ich fab Sie —“
„Hören Sie auf, Herr Harpers!“ rief ſie und riß
ſich los. „Ich habe Sie auch achten gelernt, aber daß
Sie nun Fhren Spott treiben —“
Sie ſtürzte davon, quer durch den Wald zurück. Er
eilte ihr nach und hatte ſie bald erreicht. Er faßte
ihren Arm, doch ſie entriß ſich ihm wieder, blieb aber
vor ihm ſtehen. Keuchend ging ihr Atem. |
„Rühren Sie mich nicht an!“ rief fie.
Ruhig und langſam, jedes Wort ſorgſam betonend,
ſagte er: „Fräulein Hagemann, glauben Sie wirklich,
daß ich Spott treiben will? Mit Ihnen? Sehen Sie
mich doch an — ſagen Sie es mir ins Geſicht!“
Sie rang nach Atem, verſuchte zu ſprechen, brachte
aber kein Wort heraus.
„Fräulein Hagemann, jetzt wiſſen Sie, was ich
Ihnen zu ſagen hatte. Aber ich will Sie nicht quälen.
Sie brauchen mir heute nicht zu antworten, ich will
Ihnen Zeit laſſen. Wenn ich aber zurückkomme und
1913. XI. 11
162 Fräulein Bankdirektor. o
wieder vor Sie hin trete, wollen Sie mir dann offen
und ehrlich Antwort geben?“
Er hatte ihre beiden Hände gefaßt, zitternd lagen
ſie in den ſeinen, doch ſie entzog ſie ihm nicht.
„Wollen Sie, Fräulein Hagemann?“
Ein faſt unhörbares „Ja“ war alles, was ſie ſagen
konnte.
Schweigend gingen ſie zurück.
„Sie wollen jetzt wohl lieber allein ſein?“ fragte
er, als die Station vor ihnen lag.
Sie nickte.
„Wollen Sie den Wagen nehmen?“
„Ich fahre lieber mit der Bahn.“
„So leben Sie denn wohl und — auf Wiederſehen!“
„Auf Wiederſehen!“ wiederholte fie mechaniſch.
Er ſprang in den Wagen, die Pferde zogen an;
noch ein letztes Grüßen, dann ging ſie langſamen
Schrittes dem Bahnhof zu.
Nichts um ſich ſah und hörte ſie; wie losgelöſt von
der Erde kam ſie ſich vor, wie empfindungslos gegen
jeden Schmerz und jede Freude.
Es war am Sonnabend, den 29. September, mittags
gegen ein Uhr, als ein Automobil im ſchnellſten Tempo
auf Czoſtran zuflog. Darin ſaß der Oberregierungs-
rat v. Schroetter. Vor dem Bankgebäude hielt er,
ſprang heraus und ſtand einige Minuten ſpäter in
dem Zimmer der Leiterin.
„Verzeihen Sie, mein gnädiges Fräulein — ich bin
in furchtbarer Eile. Das Geſchäft iſt perfekt geworden,
aber die Anzahlung muß bis morgen vormittag ſpä—
teſtens zehn Uhr geleiſtet ſein, und zwar in Bargeld —
können Sie das noch ermöglichen?“
u Novelle von Fritz Flechtner. 163
Fräulein Hagemann ſah nach der Uhr. „Die Poſener
Oſtbank wird um drei Uhr geſchloſſen. Ein Zug geht
jetzt nicht —“
„Ich habe ein Automobil.“
„Wie lange fahren Sie nach Poſen?“
„Höchſtens anderthalb Stunden.“
„Dann iſt es gut.“ Sie klingelte.
„Sie würden mir den größten Gefallen tun,“ rief
er. „Es iſt noch ein anderer Käufer da, der auf das
Gut reflektiert, und wenn die Anzahlung nicht recht-
zeitig geleiſtet wird, ift das Geſchäft rückgängig gemacht.“
Der Kaſſierer trat ein. „Wir müſſen ſofort einen
Scheck auf die Oſtbank ausſtellen über —“
Sie ſah Schroetter an.
„Über ſechzigtauſend Mark, wenn ich bitten darf.
So hoch iſt die Anzahlung.“
„Alfo über ſechzigtauſend Mark. Laſſen Sie die
Oſtbank telephoniſch benachrichtigen, daß das Geld noch
heute nachmittag vor drei Ahr abgehoben wird. — So,
und nun wollen wir das Paket mit den Wertpapieren
holen.“
Bald erſchien Fräulein Hagemann wieder, das
Paket im Arm haltend. Ein Beamter folgte ihr. Die
Verſchnürung wurde gelöft, worauf die Papiere þer-
ausgenommen wurden.
„Haben Sie ein Verzeichnis mit?“ fragte ſie den
Oberregierungsrat.
„Jawohl.“ Seiner Bruſttaſche entnahm er einen
ſorgſam verſiegelten Umſchlag, ſchnitt ihn auf und über-
gab Ella das Verzeichnis.
Dieſe war inzwiſchen beſchäftigt geweſen, die Pa-
piere durchzuſehen. „Ich kann die Zinsbogen nicht
finden,“ ſagte ſie.
„Zinsbogen?“ fragte Schroetter erſtaunt.
164 Fräulein Bankdirektor. o
„Gewiß,“ verſetzte fie ungeduldig. „Ohne fie find
die Papiere für uns wertlos.“
Schroetter ſchrak zuſammen. „Die Zinsbogen —
ja, die habe ich in Berlin. Ich glaubte, es genügten
die Papiere ſelbſt —“
Argerlich ſchob Ella das Paket beiſeite. „Es tut
mir febr leid, aber unter dieſen Umftänden können wir
Ihnen den Scheck natürlich nicht geben.“
„Aber um Gottes willen!“ rief der Oberregierungs-
rat verzweiflungsvoll. „Ich will ja die Zinsbogen fo-
fort beſorgen — ich fahre noch heute nach Berlin —
und morgen früh find die Bogen in Ihrem Beſitz.“
„Das nützt uns leider nichts. Die Ausſtellung des
Schecks kann erſt erfolgen, wenn Mäntel und Zinsbogen
uns ordnungsmäßig übergeben find.“
Schroetter rannte ſtöhnend umher. „Gibt es denn
keinen Ausweg — keine Möglichkeit? Es genügt ja,
wenn ich das Geld morgen früh in Händen habe.“
„Aber Sie brauchen doch Bargeld; der Scheck muß
alſo heute noch eingelöſt werden.“
„Könnten Sie nicht den Scheck durch einen Beamten
Ihrer Bank in Poſen einlöſen und den Betrag hier
deponieren bis morgen früh?“
„Das wäre die einzige Möglichkeit.“
„In dieſem Falle läuft Ihre Bank doch gar kein
Riſiko. Sie händigen mir das Geld ja erſt morgen
früh aus, wenn ich Ihnen die Zinsbogen bringe.“
Sie fab nach der Uhr. „Ich will Ihnen den Ge-
fallen tun, obwohl wir unſere Beamten heute ſehr
dringend brauchen.“
„Mein Automobil ſteht zu Ihrer Verfügung.“
Ella gab die erforderlichen Anweiſungen, und bald
war ein Beamter unterwegs nach Poſen.
Unter den lebhafteften Dankesbezeigungen ver-
2 Novelle von Fritz Flechtner. 165
abſchiedete ſich der Oberregierungsrat, um nach Berlin
zu fahren und die Zinsbogen zu holen. Die Übergabe
des Geldes ſollte am Sonntag früh acht Uhr erfolgen.
Es war am Abend des gleichen Tages gegen zehn
Uhr, als wieder ein Automobil die von Poſen nach
Czoſtran führende Straße herangerattert kam. Der
Inſaſſe des offenen Wagens lehnte eingemummt in
einer Ecke und fluchte über die Hagelſchauer, die der
Sturmwind ihm ins Geſicht peitſchte. „Gott fei Dant,
daß wir nachher nicht mehr gegen den Wind fahren,“
murmelte er vor ſich hin.
In langſamerem Tempo fuhren ſie in Czoſtran
ein. Kurz vor dem Hotel zum ſchwarzen Adler
trafen fie zwei Herren, die ſich durch den Wind vor-
wärts kämpften.
Der Chauffeur fühlte ſich zweimal mit der Krücke
eines Stockes berührt. Das hieß: Ganz langſam fahren,
dann halten.
„Guten Abend, Herr Amtsrichter!“ rief der Herr
im Auto.
Die beiden Herren blieben pruſtend ſtehen und
ſuchten die Finſternis zu durchdringen.
„Sie kennen mich wohl nicht?“ kam es lachend aus
dem Auto.
„Ah, Herr Oberregierungsrat!“ rief der Amtsrichter.
„Wo kommen Sie denn ſo ſpät her?“
„Von Poſen. Gutskauf abgeſchloſſen.“
„So — gratuliere. Rommen Sie nach dem Adler?“
„Habe nur noch kurze Beſprechung mit Fräulein
Hagemann. In einer halben Stunde bin ich im Adler.
Belegen Sie mir einen recht molligen Platz!“ Wieder
gab er dem Chauffeur mit dem Stock ein Zeichen, und
166 Fräulein Bankdirektor. o
weiter ging die Fahrt. Raum hörte er noch die Ant-
wort des Amtsrichters: „Wird beſorgt.“
Wenige Minuten ſpäter hielt das Automobil vor
der Bank.
Schroetter zog die Klingel. Ein Spalt öffnete ſich,
und eine Stimme fragte, wer da wäre.
„Ich möchte Fräulein Hagemann ſprechen.“
„Das Geſchäft iſt geſchloſſen.“
„Es iſt eine dringende Angelegenheit.“
„Um dieſe Zeit darf niemand mehr die Bank be-
treten.“
„Aber ein Aufſchub iſt ganz unmöglich. Kennen
Sie mich denn nicht? Ich bin der Oberregierungsrat
v. Schroetter.“
„Tut mir ſehr leid, Herr Oberregierungsrat, aber
ich darf nicht gegen meine Inſtruktion handeln.“
„Dann werden Sie ſofort dieſe Karte Fräulein
Hagemann bringen,“ klang eine andere Stimme.
Der Chauffeur war abgeſtiegen und reichte eine
Karte hinein. Der Mann drinnen nahm die Karte
und ließ den Spalt wieder zufallen.
Während er die Treppe hinaufſtieg, las er: „Fred
Harpers, Cincinnati.“ Und auf der Rückſeite mit Blei-
ſtift die Worte hingeworfen: „bittet dringend um
einige Augenblicke Gehör.“
Während der Mann nach oben ging, flüſterte Her-
bert, der die Rolle des Chauffeurs ſpielte, dem ande-
ren zu: „Alſo mach raſch. Ich halte mich nicht
lange auf.“
Bald erklangen Schritte, ein Schlüſſel wurde um-
gedreht, und die Haustür ging auf.
Der Chauffeur trat ein.
„Laß mich nicht zu lange warten,“ rief Kurt. „Es
iſt ja ein Hundewetter.“
o Novelle von Fritz Flechtner. 167
„Wollen denn der Herr Oberregierungsrat nicht
mit nach oben gehen?“
„Nein, ich bleibe unten. Aber wenn ich für ein paar
Minuten ins Haus treten könnte, wäre es mir ſehr lieb.“
Der Wächter zögerte. Es war gegen feine Zn-
ſtruktion, das zu geſtatten; aber da der Begleiter noch
empfangen wurde zu einer Stunde, in der ſonſt nie-
mand mehr Zutritt fand, tat er wohl kein Unrecht, dem
Herrn Oberregierungsrat den Eintritt zu geſtatten.
„Wie lange ſoll ich denn noch hier warten?“ fragte
Herbert ſchroff.
Der Wächter trat zurück, damit Bötzow eintreten
konnte, und ſchloß hinter ihm die Tür. „Verzeihen
Sie nur einen Augenblick.“ Damit ging er Herbert
voran die Treppe hinauf.
Bald war er zurück und bat den vermeintlichen
Oberregierungsrat, in ſein Zimmer einzutreten.
Es war behaglich warm in der kleinen Stube.
„Wollen Herr Oberregierungsrat nicht den Mantel
ablegen?“
„alt nicht nötig. Lange wird die Unterredung ja
da oben nicht dauern. Und ich bin ganz durchgefroren.“
Er ſtellte ſich an den Ofen. „Haben Sie nicht einen
ordentlichen Schnaps, ſo einen alten Korn — was?
Das wäre ein Labſal!“
„Sonſt wohl, Herr Oberregierungsrat. Aber vor
den großen Zahltagen darf ich nichts trinken, und um
nicht in Verſuchung geführt zu werden, ſchaff' ich vorher
alles beiſeite.“
„Schade, ſehr ſchade! Hätte gern was Ordentliches
zum Erwärmen gehabt. Aber, halt, ich muß doch noch
ſelbſt etwas bei mir haben.“ Er durchſuchte ſeinen
Mantel und fand ſchließlich ein Fläſchchen, das noch
zu einem Drittel gefüllt war.
168 Fräulein Bankdirektor. a
„Großartig! Schnell Gläſer her!“
Der Wächter brachte ein Gläschen.
„Na, für Sie doch auch eins!“
Der Wächter wehrte ab. „Nein, Herr Oberregie-
rungsrat, ich darf wirklich nicht.“
„Auf meine Verantwortung können Sie es ſchon
tun. Ich verrate Sie nicht. Ein Glas wird Sie nicht
umwerfen. Alſo los — fix, fix!“
Der Widerſtand war bald gebrochen. Das zweite
Gläschen kam. |
Kurt entkorkte die Flaſche und ſchenkte ein. Ehe
er das zweite Glas eingoß, hielt er die Flaſche gegen
das Licht, als wollte er ſehen, ob noch genug drin wäre,
dann drehte er ſie unbemerkt um.
„Na, dann proſit!“
Beide hatten ihre Gläſer geleert. ä
„Was — das iſt ein Schnäpschen?“ rief der ver-
meintliche Oberregierungsrat. „Der hat Feuer!“
Der Wächter ſchnappte und ſchluckte. „Donner—
wetter!“ brachte er endlich heraus.
„Na, noch einen?“ |
„Nein, nein,“ wehrte der ab. „Ich habe — ich weiß
nicht — er war wohl — zu ſtark — ich — —“
Bötzow fing den Sinkenden auf und ließ ihn auf
die Erde gleiten.
„So, der hat ſein Teil!“
Wenige Minuten ſpäter ertönte ein ſchrilles Glocken-
zeichen. Bötzow eilte hinaus, die Treppe hinauf in
die ihm wohlbekannten Bureauräume.
Ella Hagemann hatte nach Empfang der Karte den
mit ihr arbeitenden Kaſſierer gebeten, fie einige Mi-
nuten allein zu laſſen.
a Novelle von Fritz Flechtner. 169
Als Harpers eintrat, ſchritt ſie ihm raſch entgegen.
„Vas iſt paſſiert?“ rief ſie.
„Mein Vater iſt plötzlich geſtorben. Heute früh er-
hielt ich in Warſchau das Telegramm. Zd muß fo-
fort zurück. Wann ich wiederkommen werde, weiß ich
nicht. Deshalb wollte ich noch Abſchied nehmen von
Ihnen.“
Ella reichte ihm wortlos ihre Hand. Der kräftige Oruck
ſagte ihm, was fie alles in dieferi Augenblick empfand.
„Eine Bitte habe ich noch,“ fuhr Harpers fort.
„Mein Bargeld reicht nicht. Vor meiner Abreiſe aus
Varſchau konnte ich nichts mehr abheben, und morgen
ſind die Banken geſchloſſen.“
„Wieviel brauchen Sie?“ fragte ſie.
„Fünftauſend Mark etwa. Ich übergebe Ihnen
dafür dieſen Kreditbrief.“ Er entnahm feiner Brief-
taſche ein Papier und überreichte es ihr. „Sie ſehen,
es lautet noch über mehr als zehntauſend Mark.“
Ella warf einen flüchtigen Blick in das Schriftſtück
und legte es auf den Tiſch. „Ich ſtelle Ihnen gern
den vollen Betrag des Kreditbriefes zur Verfügung,“
ſagte ſie.
„Ich danke Ihnen. Fünftauſend Mark genügen
mir.“ Sie gab das Klingelzeichen. Dann öffnete ſie
ein Geheimfach ihres Schreibtiſches und entnahm ihm
eine Anzahl ſeltſam geformter Schlüſſel.
Der Kaſſierer trat ein. „Haben Sie Ihre Schlüſſel
bei ſich?“ rief ſie ihm entgegen.
„Sie liegen in meinem Zimmer.“
„Holen Sie ſie, bitte. Dieſer Herr bekommt ſofort
fünftauſend Mark.“
Der Kaſſierer ſah ſie verwundert an, fragte aber
nichts, ſondern holte die Schlüſſel und eilte Ella nach.
Harpers folgte ihnen bis zum Eingang des Gewölbes.
170 Fräulein Bankdirektor. a
Als das Geld übergeben war und Leiterin und
Kaſſierer eben begannen, die Eingangstüren zu ver-
ſchließen, ſagte Harpers, feine Uhr ziehend: „Ich muß
fort, ſonſt erreiche ich den Nachtzug nicht mehr. Dürfte
ich noch ein paar Worte mit Ihnen ſprechen, Fräulein
Hagemann?“
„Erwarten Sie mich hier,“ ſagte ſie zu dem Kaſſierer
und führte Harpers in das nächſtgelegene Zimmer.
„Fräulein Hagemann,“ begann er, „ich ſagte be-
reits: Ich weiß nicht, wann ich zurückkommen werde.
Es kann Monate dauern, ehe alles geordnet iſt. So
lange aber möchte ich nicht warten auf Ihren Beſcheid.
Wollen Sie mir ſchreiben, ſobald Sie zu einem Ent-
ſchluß gekommen ſind?“
„Das will ich tun,“ verſetzte ſie. „Und nun, Herr
Harpers, leben Sie wohl!“
Sie ſtreckte ihm beide Hände entgegen.
Da riß er ſie an ſich, und ſie gab willenlos nach.
Ihre heißen Lippen zuckten den ſeinen entgegen.
Da fühlte ſie, wie etwas in ihren Mund gepreßt
wurde, ſie ſah ſeine Augen über ſich, und mit Entſetzen
ſtarrte ſie in grimmig verzerrte Mienen. Dann preßte
ſich etwas gegen ihr Geſicht, wie giftige Gaſe ſtieg es
vor ihr auf. Mit der Kraft der Todesangſt ſuchte ſie
ſich ihm zu entwinden, aber wie mit Schrauben hielten
ſeine Arme ſie umklammert — und mehr und mehr
ſchwand ihr Bewußtſein dahin.
Herbert legte die Ohnmächtige auf die Erde und
nahm ihr den Knebel aus dem Munde. Dann eilte er
zu dem Kaſſierer.
„Kommen Sie raſch,“ rief er ihm zu, „Fräulein
Hagemann iſt ohnmächtig geworden.“
Der Kaſſierer eilte mit einem Schreckensruf herbei
und drückte haftig auf die Klingel, die zu dem Wächter
2 Novelle von Fritz Flechtner. 171
führte. Dann kniete er bei der wie leblos daliegenden
Geſtalt nieder.
Im nächſten Augenblick fühlte er ſich von hinten
umklammert, und ein Knebel ward ihm in den Mund
geſtoßen.
„So, mein Zunge,“ ſagte Herbert, „nun nicht ge-
muckſt!“
Der Kaſſierer warf ſich trotz des vorgehaltenen
Revolvers auf Herbert, der die Schußwaffe fortichleu-
derte, um keinen unnötigen Lärm zu machen, und ſeinen
Gegner umſchlang.
In dieſem Augenblick trat Bötzow ein und ſtürzte
ſich auf die Kämpfenden. Als der Kaſſierer an Stelle
des erwarteten Wächters den vermeintlichen Ober-
regierungsrat erblickte, ſah er, daß alles verloren war.
Sein Widerſtand ließ einen kurzen Augenblick nach,
und gleich darauf war er an Händen und Füßen ge-
feſſelt.
Eine halbe Stunde ſpäter war alles, was ſich an
Geld und abſetzbaren Wertpapieren in dem Gewölbe
befand, in den Händen der Räuber. Ihre Taſchen
waren ſtrotzend voll, und mehrere Pakete hatten ſie
ſich um den Leib gebunden, verborgen unter ihren
langen Mänteln.
Einige Augenblicke horchten ſie an der Haustür.
Alles ſchien ruhig.
Aber gerade als ſie die Straße betraten, kamen um
die Ecke zwei Herren.
„Nanu,“ rief der eine, „wer hat denn hier noch ſo
ſpät zu tun?“
„Wird wohl der Oberregierungsrat ſein. Der Amts-
richter erzählte ja davon.“
Herbert brachte die Maſchine in Gang. Als Kurt
172 Fräulein Bankdirektor. g o
die Tür des Autos aufriß, um einzufteigen, fiel ein
mit Geld gefüllter Sack zur Erde. Der dumpfe Klang
machte die beiden Herren mißtrauiſch.
„Holla, da iſt was nicht in Ordnung!“ rief der
eine und ſprang auf den Wagen zu.
Kurt bückte ſich und ergriff den Sack, da fühlte er
ſich feſtgehalten. Er ſchwenkte den Sack durch die Luft
und ließ ihn mit ſolcher Wucht auf den Kopf ſeines
Angreifers fallen, daß dieſer taumelnd zurückfuhr.
Aber ein wuchtiger Hieb, von dem anderen mit
ſeinem Stock geführt, traf Kurt; er wankte, hatte aber
noch die Kraft, in den Wagen zu ſpringen. Mit einem
Satz war auch Herbert auf ſeinem Sitz, und das Auto
raſte davon. Die offengebliebene Tür zerſplitterte
am nächſten Laternenpfahl.
Drei Tage darauf wurde Ella Hagemann begraben.
Sie hatte ſich ſelbſt den Tod gegeben, nachdem ſie einen
genauen Bericht über alles, was mit dem Raube zu-
ſammenhing, niedergeſchrieben hatte.
50
+
Die mittelalterlichen Totentänze. |
von Wilhelm Liſcher.
Mit 11 Sildern y
nach Merian.
Die bildliche Darftellung des ſieghaften Todes, der
die Menſchen tanzend und muſizierend zu Grabe
geleitet, iſt eine Folge der auf das 12. Jahrhundert
zurückgreifenden, weit älteren pantomimiſchen und dra-
matiſchen „Totentänze“, deren älteſter die „Danza
generale de la muerte“ ift. Bekanntlich zählen letztere
in ihrer derbſten Form zum eiſernen Repertoire unſerer
Kaſperletheater. Je luſtiger und witziger hier der Tod
erſcheint, deſto größer iſt ſein Erfolg.
Es liegt klar auf der Hand, daß die gewaltigen Wir-
kungen der Todespantomimen den älteren Malern
Anreiz genug boten, das grauſige Motiv künſtleriſch
zu verwerten. Im gewiſſen Sinne dürfen wir in
den Totentänzen des 15. Jahrhunderts eine ziem-
lich energiſche Betätigung der freien Profankunſt er-
blicken. Beweiſe für dieſe Behauptung fehlen uns,
da die Forſchung über die Urſachen, die diefe „Rich-
tung“ aufkommen ließen, verſagt. Man iſt hier nicht
viel weiter, als man vor zweihundert Jahren war.
Wir wiſſen nur, daß die „Danse macabre“, von der
Jehan Le Fevre 1576 nach feiner Geneſung von einer
ſchweren Krankheit ſingt: „Je fis de macabree la dance“
von einem Maler namens Macabree ſtammt, nach
dieſem und nicht nach dem hebräiſchen machabee (Grab)
(nachoͤruck verboten.)
174 Die mittelalterlihen Totentänze. 2
benannt fei, und daß die Klein-Baſler Totentänze nicht
aus dem Jahre 1312, ſondern erft aus der Zeit ſtammen,
in der die Mauern, an denen ſie ſich befanden, gebaut
und getrocknet waren. Und das war erft im Jahre 1438.
Erwieſen iſt ſomit, daß der deutſche Totentanz aus
Frankreich ſtammt, und daß der Klein- Bafler Totentanz
nicht viel älter iſt als der um das Fahr 1440 an die
Kirchhofmauer des Predigerkloſters von Groß Baſel
gemalte, durch die Merianſchen Stiche berühmt ge-
wordene Tanz. Es iſt mehr als wahrſcheinlich, daß
beide Tänze von ein und demſelben, im Jahre 1437 nach
Baſel berufenen, und wie der Totentanzforſcher Wilh.
Seelmann überzeugend nachweiſt, niederrheiniſchen
Maler gemalt worden ſind. Obſchon dieſer Mann keine
Größe wie Holbein war, dem man irrtümlich in Laien-
kreiſen die Baſler Totentänze zuſchreibt, fo ift es doch
ſehr bedauerlich, daß ſein Name nicht auf uns ge—
kommen iſt. Daß er etwas konnte, beweiſen die unſerem
Artikel beigegebenen Reproduktionen der ſchönſten
ſeiner Tänze, deren erſter, „Das Beinhaus“ (S. 177)
von dem Bafler Maler Hans Hug Rluber bei der Über-
malung des beſchädigten alten Totentanzes im Jahre
1568 ziemlich eigenmächtig reſtauriert worden iſt. Büchel
ſagt in feinem 1775 geſchriebenen „Todtentantz“ hier-
über: „Die erſten Figuren, welche man bei der Ab-
ſchilderung deß Beinhauſes erblickt, ſind von Hanß Hug
Kluber, welcher den Todtentantz zum erſten Mahl er-
neuert hat, gemahlt, und vermuhtlich wegen mangel
deß Raumes weit kleiner vorgeſtellt worden als die
folgenden.“ Außerdem hat Kluber an die Stelle des
Mönches, der „allen Ständen“, vom Kaiſer bis
zum Bauer hinab, über das 12. Kapitel der Weis-
ſagungen Daniels, das heißt von der Auferſtehung der
Toten predigte, den Reformator Okolampadius geſetzt.
a Von Wilhelm Fiſcher. 175
Es beſteht kein Zweifel darüber, daß Baſel damals
gute einheimiſche Meiſter in der Malerinnung zählte.
Aber wenn man bedenkt, daß das Konzil von Baſel
damals tagte, ſo iſt es nicht ausgeſchloſſen, daß aus
Anlaß des großen Sterbens und der Hungersnot von
1438 und 1439 einer der fremden Prälaten die Baſler
auf die franzöſiſchen Totentänze aufmerkſam machte
und ihnen unſeren Meiſter zum Malen ſolcher zur Er-
innerung an die große Plage empfahl. „Es war,“ ſagt
Fugger in feinem „Ehrenſpiegel“, „nun ganzer ſieben
Fahr im Reich großer Miswachs und Theurung ge-
weſen, alfo daß dies Jahr 1438 im April eines Pfennigs
werth Brot kaum einer Nuß groß geweſen. Dieſes
Elend endete mit einer reichen Aernte, welche alle
Früchte wieder wohlfeil gemacht. Hingegen entſtunde
des jahrs zur Aernte ein großer Sterb im Reich, welcher
bis auf Neujahr aller Orten ſauber aufgereumt, wie
man denn zu Coſtanz bey 4000 Leichen gezählet, zu
Baſel im Sommer fait alle Tage 100 Menſchen ge-
ſtorben. Wen dieſe Seuche anſtieß, der lag und ſchlief
drei Tage und Nächte, darnach, ſobald er aufgewacht,
fieng er an mit dem Tode zu ringen, bis ihm die Seel
ausgieng.“ An anderer Stelle heißt es: „Es war alles
voll Weinens, Traurens und Leidtragens. Das Volk
fiel dahin, wie angehenden Winters die Blüten abzu-
reiſen pflegen, und grief die Sterbſucht dermaßen um
ſich, daß welcher irgend jetzen auf der Gaſſen friſch und
geſund geſehen, nach wenig Stunden vergraben lag.“
Nicht anders war's im Reich. In Baſel ſchlug man
zur Erinnerung an das Unglück Denkmünzen, auf deren
einer Seite drei Roſen, das Zeichen des Frühlings,
auf der anderen Seite ein Totenkopf abgebildet waren,
aus dem Ahren mit den Worten hervorſtreben:
„Hodie mihi, cras tibi! — Heute mir, morgen dir!“
176 Die mittelalterlihen Totentänze. u
Aus der Mitte des Konzils muß damals die An-
regung gekommen ſein, zum Andenken an das große
Sterben, das niemand verſchonte, und nicht aus
aſzetiſchen Gründen, nach dem Vorbild der „Danse
macabre“ ein Erinnerungszeichen von wirkungsvoller
Kraft und langer Dauer zu ſchaffen. Dieſe Anregung
fiel auf fruchtbaren Boden. Jedenfalls ift es kein Zu-
fall, daß faſt gleichzeitig in Klein; und Groß- Baſel, in
der Oominikanerkirche zu Straßburg 1450, der Marien-
kirche zu Lübeck 1465, der Marienkirche zu Berlin 1470
Totentänze als Wandgemälde gemalt wurden. Die
in einem angeſehenen Lexikon geäußerte Meinung, daß
in den Totentänzen ſich der kühne, bittere Humor des
Volkes, alſo gewiſſermaßen die ſchadenfrohe Genug-
tuung äußere, daß kein Sterblicher von dieſem Tänz-
lein verſchont ſei, iſt trotz des „Galgenhumors“, der
aus den Totentänzen unleugbar ſpricht, entſchieden von
der Hand zu weiſen. Dagegen ſpricht ſchon der Ort,
an dem fid) diefe Wandgemälde befanden, und die Tat-
ſache, daß Ludwig XII. 1502 eine „Danse macabre“
an die Arkadenwand des Schloßhofes von Blois malen
ließ. Text und Bild der Totentänze find im volkstüm-
lichen Stil gehalten und betätigen denſelben kühnen
Humor wie in Text und Handlung die mittelalterlichen
Myſterienſpiele auch. Dies geht vor allem aus dem
zu den von uns gewählten Bildern gehörigen Text
hervor, den wir zum beſſeren Verſtändnis der Toten-
tänze und ihrer Tendenzen hier folgen laſſen.
Szene am Bein haus.
Prediger (predigt):
Viel von den', die im Staub der Erden
Schlafen, die ſollen wider erwachen.
D Don Wilhelm Fiſcher. 177
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Das Beinhaus.
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Die nachfolgenden Verſe find v verloren gegangen,
beſagten aber, daß Gott den Gerechten ewiges Leben,
den anderen aber geben wird: „ein hart Urteil zu ewiger
Schmach“. Ob über dem Groß- Bafler Beinhaus,
1913. XI. 12
178 Oie mittelalterlichen Totentänze. 2
ähnlich wie über dem Klein- Bafler, Berfe ſtanden: „Hier
richt’ Gott nach dem Rechten, die Herren liegen bei den
Knechten“ uſw. iſt nicht erwieſen, aber wahrſcheinlich.
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Tod und Kaiſer.
Der Tod (zum Kaiſer):
Herr Kaiſer mit dem grauen Bart,
Euer Reu habt Ihr lang geſpart,
Drum ſperrt Euch nicht, Ihr müßt davon
Und tanz'n nach meiner Pfeifen Ton.
Kaiſer:
Ich konnt' das Reich gar wohl mehren
Mit Streiten, Fechten, Unrecht wehren:
Nun hat der Tod überwunden mich,
Daß ich bin keinem Kaiſer glich.
Don Wilhelm Fiſcher. 179
Tod und Kaiſerin.
Tod (zur Kaiſerin):
Ich tanz’ Euch vor, Frau Kaiſerin,
Springet nur nach, der Tanz iſt min.
Eu'r Hofleut ſind von Euch gewichen.
Der Tod hat Euch hie auch erſchlichen.
Kaiſerin:
Viel Wohllüſt hatt’ mein ſtolzer Leib,
Ich lebt’ als eines Kaiſers Weib.
Nun muß ich an dieſen Tanz kommen.
Mir ift all Mut und Freud genommen.
Tod und Herzogin.
Tod (zur Herzogin):
Frau Herzogin, ſeid wohlgemut,
Ob öIhr auch ſeid von edlem Blut,
Hochgeachtet auf dieſer Erd,
Hab' ich Euch dennoch lieb und wert.
Herzogin:
Ach Gott, der gräßlich' Laute Ton,
Muß ich mit dem Greuling davon.
Heut Herzogin und dann nicht mehr!
Ach Angſt und Not, o weh, o weh!
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Von Wilhelm Fiſcher.
Tod und Arzt.
Tod (zum Arzt):
Herr Doktor, b'ſchaut die Anatomei
An mir, ob ſie recht g'machet ſei:
Denn du haſt manchen hing' richt,
Der eben gleich wie ich jetzt ſicht!
Arzt:
Ich hab' mit meinem Vaſſerb'ſchauen
Geholfen beiden, Mann und Frauen:
Wer b'ſchaut mir nun das Waſſer min,
Ich muß jetzt mit dem Tod dahin.
182
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4. 2
Tod und Edeldame.
Tod (zur Edeldame):
Von Adel Frau, laßt Euer Pflanten*),
Ihr müßt jetzt hier mit mir tanzen.
Ich ſchon' nicht Euer goldnes Haar,
Das ſeht Ihr in dem Spiegel klar.
Edeld ame:
O, Angſt und Not, wie iſt mir g'ſchehen,
Den Tod hab' ich im Spiegel g'ſehen!
Mich hat erſchreckt fein greulich G'ſtalt,
Daß mir das Herz im Leib iſt kalt.
95 Pflantzen: von Pflanz S Poſſen.
Von Wilhelm Fiſcher. 183
Tod und Raufmann.
Tod (zum Kaufmann):
Herr Kaufmann, laſſet Euer Werben,
Die Zeit iſt hin, Ihr müſſet ſterben:
Der Tod nimmt weder Geld noch Gut,
Nun tanzet her mit freiem Mut.
Kaufmann:
Ich hatt’? mich zu leben verſorgt wol,
Kiſten und Käſten waren voll,
Der Tod hat meine Gab verſchmacht
Und mich um Leib und Leben bracht.
Tod und Krüppel.
Tod (zum Krüppel):
Hinte auch her mit deiner Krücken,
Der Tod wird dich hinzücken.
Du biſt der Welt ganz unwert ſehr,
Komm zu meinem Tanzen her.
Krüppel:
Ein armer Krüppel hier auf Erd'
Zu einem Freund iſt niemand wert:
Der Tod aber will ſein Freund ſein,
Lad' ihn mit den Reichen ein!
o Deon Wilhelm Fischer. 185
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Tod und Braut.
Tod (zur Braut):
Ach Jungfrau, Euer roter Mund
Wird bleich jetzund zu dieſer Stund.
Ihr ſpranget gern mit jungen Knaben,
Mit mir müßt Ihr den Vortanz haben.
Braut:
O weh, greulich haft mich g' fangen;
Mir iſt all Mut und Freud vergangen:
Zu tanzen g'lüſt' mich nimmermeh,
3% fahr' davon. Ade, ade!
186 Die mittelalterlichen Totentänze. u
Tod und Narr.
Tod (zum Narren):
Wohlauf, Heinz, du mußt jetzt ſpringen,
Schürze dich auf und laß dir's g'lingen,
Dein Kolben mußt du fahren lon
Und mit mir zum Tanze gohn.
Narr:
O weh! Zh wollt' gern Holz auftragen
Und meiner Frauen nix mehr ſagen.
So muß ich mit dir „do“ hin:
Weh, weh, es ſoll nit anders ſin!
Von Wilhelm Fiſcher. 187
Tod und Blinder.
Tod (zum Blinden):
Dein Wegweiſer ſchneid' ich dir ab,
Tritt ſeitlich, fallſt mir ſonſt ins Grab,
Du armer blinder alter Stock,
In deinem böſen ſchäb'gen Rock.
Der Blinde:
Ein blinder Mann — ein armer Mann,
Sein Freud und Brot nicht gewinnen kann,
Könnt' nicht ein Tritt gehn ohn' mein Hund:
Gott ſei g'lobt, daß hie die Stund.
188 Die mittelalterlihen Totentänze. a
Wo in dieſen Strophen und Bildern der grimmige,
„kühne und bittere Humor“ des ſpäteren Bauernkriegs,
der Humor der Revolution zu finden iſt, iſt mir ein
Rätſel. Der von Nikolaus Manuel zwiſchen 1517 und
1519 gemalte Berner Totentanz iſt allerdings viel
grimmiger, aber, im Geiſte ſeiner Zeit beurteilt, nicht
einmal ſatiriſch. Die Totentänze und ihre Texte ſind
weder Karikaturen noch pamphletiſtiſche Malerwitze,
ſondern, um mich fo auszudrücken, Textbilder der Beit-
geſchichte, die man an die Kirchhofs- und Totenkammer-
mauern malte, um das „große Sterben“ der Mit-
und Nachwelt in der Hauptſache bildlich in ſeiner ganzen
ſchaurigen Großartigkeit feſtzuhalten, und dies ohne
jeden anderen Nebenzweck.
Das aber iſt den älteſten Totentänzen wie den
ſpäteren des Mittelalters jedenfalls beſſer gelungen
wie den neuzeitlichen, denn ſie ſind die illuſtrierte
Kulturgeſchichte der Peſt mit ihren Wirkungen auf die
alte geſellſchaftliche Ordnung, die fie derart zertrüm-
merte, daß man auf den Kirchhöfen, wie die Chroniken
konſtatierten, alle Einzelgräber zerſtörte, um Platz für
Paſſengräber zu ſchaffen, in denen dann die Gebeine
der Edelſten mit denen der Knechte, der Fürſten mit
denen des Bettlers moderten.
Der älteſte, hiſtoriſch nachweisbare Totentanz iſt die
berühmte „Danse macabre“ des Minoritenkloſters von
Paris von 1425, dem der Totentanz im Paulskloſter
von London um dieſelbe Zeit nachgebildet wurde. Die
Baller Totentänze find die älteſten in Deutichland;
1450 folgte Straßburg, 1465 Lübeck, 1470 Berlin, im
16. Jahrhundert: Bern, Chur, Konſtanz, Dresden,
Hamburg, Füſſen in Bayern, Luzern uſw. Aber vielen
von ihnen blieb das Schickſal der Lebenden nicht erſpart;
auch ihnen rief der Tod fein „Komt ir moſen dantzen“ zu.
D Von Wilhelm Fiſcher. 189
Das traurigſte Schickſal hatte der Groß Baſler.
Nachdem er durch die häufigen Übermalungen ſchwer
gelitten hatte, ließ ihn der Große Rat in der Nacht
vom 6. Auguſt 1805 heimlich zerſtören, weil er „ein
Leuteſchreck und Kinderſchreck fei“. Ein rühmlicheres
Ende fand der Straßburger; er wurde 1870 ein Opfer
der Beſchießung.
Ein gewiſſer Troſt für den Kunſtfreund liegt jedoch
darin, daß fih die Baſler ihren berühmt gewordenen,
vielbeſuchten „lieben Tod von Baſel“, wie ihr Soten-
tanz im Volksmunde hieß, auf diefe heimliche Weile
nicht nehmen ließen. Es kam zu einem Volksaufſtand.
Die großmächtigen, hochweiſen Bilderſtürmer ſtanden
verzweifelt vor der Wahl: „Sagt ja, ſagt nein, getanzt
muß ſein!“ Aber da das Unheil geſchehen und der
„liebe Tod“ nicht mehr zu retten war, ſo war die Sühne
damals nur eine empfindliche Lehre für die „Welt-
fremden in der Kunſt“ mehr, die ſo gerne vergeſſen,
daß die Nation nichtswürdig iſt, die nicht ihr alles
freudig ſetzt an ihre — Kunſt, daß das Volk mit ſeiner
Kunſt einfach lebt.
2
D
Mein Klickverhältnis.
Ein Jöyll ohne Worte. Von Otto Metterhauſen.
? nachoͤruck verboten.)
Dos heißt, eine Liebesgeſchichte iſt es ganz und gar
nicht. Wir haben nie im Leben ein Wort mit-
einander gewechſelt. Ich weiß nicht einmal, wie „ſie“
hieß, und ſicher kennt ſie meinen Namen ebenſowenig.
Aber geſehen haben wir uns damals — es ſind ſchon
verſchiedene Jährchen her — faſt täglich. Wie man
ſich ſo ſieht in der Großſtadt. Wenn man da Tag für
Tag um dieſelbe Zeit denſelben Weg machen muß,
begegnet man eben ſtets denſelben Leuten, die eben-
falls ihr Beruf oder Amt um die gleiche Zeit den gleichen
Weg gehen läßt.
An Hunderten, Tauſenden haftet man achtlos vor-
über — hundert- und tauſendmal. Dutzendgeſichter,
gleichgültige Menſchen — wer achtet auf die? Aber
unter den Maſſen tauchen doch ab und zu ſo einige
beſondere Typen auf, die allmählich unfer Zntereſſe
erregen. |
Der erſte, der mir allmorgendlich begegnete, wenn
ich von Borgfelde über St. Georg nach Hamburg hin-
einwanderte, war ein alter aſthmatiſcher Rentner, der
in der großen Allee ſeinen ebenſo aſthmatiſchen Mops
ſpazieren führte. Ein drolliges Paar. Herr und Hund
— beide fürchterlich verdrießlich dreinſchauend und von
o Bon Otto Metterhaufen. 191
verblüffender Ahnlichkeit nicht bloß im Geficht, ſondern
auch in ihrem watſchelnden, breitbeinigen Gang.
Dann kam in der Gegend der Gewerbeſchule ein
langaufgeſchoſſener, blaffer Jüngling, der feine unglaub-
lich dünnen Arme und Beine mit einer geradezu be-
ängſtigenden Haſt durcheinander ſchlenkerte, ſo daß ich
ſtets in Sorge war, die Gliedmaßen könnten ſich im
nächſten Augenblick zu einem unentwirrbaren gordiſchen
Knoten verheddern. Da die Geſchichte aber immer gut
abging, fo habe ich mich ſchließlich beruhigt und an-
genommen, der junge Mann ſei ein Dichter, der ſeine
Berfe ſkandierte.
Dann endlich, an der Ecke des alten Berliner Bahn-
hofes, traf ich — fie. Allerdings, ein „beſonderer Typ“
war ſie ganz und gar nicht. Ein ſüßes kleines Mädel,
friſch und roſig, nicht von der abſcheulichen Bläſſe der
Großſtadtkinder. Aus dem hübſchen Geſichtchen ſahen
ein Paar große blaue Augen unſchuldig in die Welt, und
unter dem einfachen Pelzbarett, das ſie im Winter,
oder dem Strohhütchen, das ſie im Sommer trug, quoll
eine Fülle blonder Locken hervor, die, wenn der Wind
in ihnen ſpielte, das Köpfchen mit einem förmlich
fniiternden Strahlenkranz umgaben. Dazu eine mittel-
große Geſtalt von ſchönſtem Ebenmaß und ein leichter,
federnder Gang.
Es iſt beim beſten Willen nicht zu verlangen, daß
man an ſo etwas vorbeiguckt. Das tat ich auch nicht.
Im Gegenteil, ich genoß an jedem neuen Morgen mit
harmloſem Behagen den freundlichen Anblick und, wenn
wir uns, wie das hin und wieder auch vorkam, einmal
nicht begegneten, dann — nun ja — dann fehlte mir
etwas.
Wochenlang ging ſie achtlos an mir vorbei wie an
tauſend anderen Menſchen, ohne mich eines Blickes zu
192 Mein Nickverhältnis. u
würdigen. Aber dann begegneten ſich eines Tages
unſere Blicke, die ihren abſichtslos, flüchtig, gleichgültig.
Aber ſie mußte wohl in meinen Blicken irgend etwas
entdeckt haben, was ihre Aufmerkſamkeit erregte, denn
ihrem erſten Blick folgte ein zweiter, erſtaunt, ver-
wundert, vielleicht empört, als wollte ſie ſagen: „Was
hat der mich anzugucken? Was fällt ihm ein?“ Doch
dann waren wir ſchon aneinander vorüber.
Am nächſten Tage bemerkte ich ſchon auf zwanzig
Schritt, wie ihre Augen mich forſchend muſterten. Ich
hielt mutig dem Blicke ſtand. Dann wanderten ihre
Augen an meiner Perſon herunter vom Kopf bis zu
den Füßen und wieder herauf von den Füßen zum
Kopf, und mit einem Ruck drehte ſich das niedliche
Trotzköpfchen zur Seite. Die roten Lippen ſchürzten
ſich zu einem leichten Schmollen und formten, lautlos,
aber deutlich erkennbar, ein verächtliches „Ph!“
Mir fing jetzt die Sache an Spaß zu machen, ihr
jedoch offenbar nicht. Hoheitsvoll glitten jeden Morgen
ihre Blicke über mich weg. Ich war Luft für ſie, voll-
kommen Luft, abſolut durchſichtig. Was mich natür-
lich noch mehr amüſierte. Ich ſetzte mein ſpitzbübiſchſtes
Geſicht auf und verſuchte beharrlich, einen Blick aus
den blauen Augen zu erhaſchen.
Da begann zu meinem Pech eine längere Regen-
zeit, für Hamburg der normale Zuſtand. Der Schirm
trat in ſein Recht. Sobald wir einander in Sicht kamen,
fuhr mit einem faſt hörbaren Ruck ihr Schirm nach
der Seite herab und entzog mir neidiſch den Anblick
ihres Figürchens. Immer nach meiner Richtung ſenkte
ſie den Schirm, mochte der Wind den Regen auch
gerade von der entgegengeſetzten Seite treiben. Ich
war boshaft genug, zu hoffen, daß der Wind einmal
den ganz unvorſchriftsmäßig gehaltenen Schirm über—
2 Von Otto Metterhauſen. 193
klappen würde. Aber dazu war der Wind offenbar
zu ritterlich, denn er tat mir nicht den Gefallen.
Ja, wenn die weibliche Neugier nicht geweſen wäre!
Ich hatte ſchon die Hoffnung begraben, jemals einen
freundlichen Blick aus den Augen meiner kleinen Part-
nerin zu erwiſchen, als ich eines Tages merkte, wie
der böſe Schirm ſich während unferer Begegnung, an-
ſcheinend ganz unwillkürlich, hob und wie zwei blaue
Augen unter feinem Rande hervor mich neugierig an-
blitzten: „Ob er wohl noch?“
Und als das am nächſten Tage ſich wiederholte,
bückte ich mich ſchnell und ſchaute mit liſtigem Lachen
unter dem Schirmrand ihr ins Geſicht, und — wahr-
haftig — ſie lachte wieder.
Am Tage darauf blieb der Schirm geſchloſſen, trog-
dem es noch etwas regnete. Und da — da hab' ich
zum erſten Male genidt,
Sie wurde blutrot. Auf ſolche Frechheit war ſie
wohl nicht vorbereitet und wußte im erſten Augenblick
nicht, was darauf tun. Dann aber nahm ihr roſiges
Geſichtchen den Ausdruck unſäglicher Würde und Hoheit
an, und ſie neigte ihr Haupt wie eine Königin, die
ihres Volkes Huldigungen entgegennimmt.
Acht Tage ſpäter aber nickte ſie auch. Und nach
weiteren drei Wochen nickte ſie ſogar zuerſt. Jetzt fing
entſchieden die Sache an ihr Spaß zu machen. Dafür
begann mir das Gewiſſen leiſe zu ſchlagen. Am liebſten
hätte jetzt ich einen Schirm genommen, aber das —
nein — das ging nicht, das wäre brutal geweſen, und
— lieber Gott! — was war denn auch dabei?
Nachdem einmal das Eis bei ihr gebrochen war,
ſchien ſie nun große Luſt zu bekommen, das Verfahren
abzukürzen. Ihre Blicke wurden immer ermunternder,
ihr Ricken immer berzücher, tauſend kleine luſtige
1918. XI. 13
194 Mein Nickverhältnis. 2
Schelme ſchauten aus den Blauaugen und ſaßen in
den beiden Grübchen, die das aufmunternde Lächeln
auf dem Pfirſich ihrer Wangen hervorzauberte. Alles
ſchien mir zuzurufen: „Nun, riskier's nur! Ich bin
ja gar nicht ſo.“ Aber ich riskierte es nicht — aus ſehr
einfachem Grunde, der ſich noch herausſtellen wird.
Sie fuhr nun ſchwereres Geſchütz auf. An einem
ſchönen Frühlingsmorgen erſchien ſie mit einer großen
roten Buſenſchleife. Ich reagierte nicht darauf, reagierte
nicht, trotzdem ſie am nächſten Tage die rote Schleife
oſtentativ mit ſpitzem Finger an einem Ende empor-
hielt, mir faſt unter die Naſe. Dieſer Mißerfolg ſchien
ſie ſtutzig zu machen. Sie ſah mich in der nächſten
Zeit mit Blicken an, die alles mögliche bedeuten konnten:
Vorwürfe, Zweifel an meiner Zurechnungsfähigkeit,
Mißtrauen, die erſtaunte Frage: „Ja, was ſoll ich denn
noch weiter tun? Was verlangſt du eigentlich noch
mehr?“ |
Und dann erfolgte die Kataſtrophe.
Ich war mit — jetzt kommt ein Geſtändnis, das die
Gewiſſensbiſſe erklärt — mit meiner Frau, jawohl, mit
meiner lieben Frau in die Stadt gegangen, um Ein-
käufe zu machen. Und da — ich bin immer ein Pedy-
vogel geweſen — natürlich laufe ich da, Arm in Arm
mit meiner Frau, an der Ecke von Jungfernſtieg und
Arkaden meinem kleinen Nickverhältnis in den Weg.
Na, das Geſicht hätte man ſehen ſollen! Einen
einzigen Blick erwiſchte ich nur, in dem aber ſtanden
Bände zu leſen: Erſtaunen, Entrüſtung, tauſend flam-
mende Anklagen, tiefſte Verachtung.
Ein wahres Glück, daß meine Frau den Blick nicht
auffing.
Von dieſem Zeitpunkt ab war's aus zwiſchen uns.
Sobald wir uns beim Berliner Bahnhof in Sicht kamen,
u Von Otto Metterhauſen. 195
ging fie im rechten Winkel nach der anderen Straßen-
ſeite hinüber. Ich war wieder Luft für fie, vollkommen
Luft.
Bis ſie mich eines Tages wieder anlachte, ſtolz,
triumphierend. Aber da kam auch ſie mir nicht allein
entgegen, ſondern am Arm eines jungen Mannes, eines
flotten, hübſchen Kerls. Und ihr Blick ſchien mir zu
fagen: „Was ſagſt du nun? gebt hab' ich doch einen
gekriegt, und der iſt noch dazu viel hübſcher als du,
du dummer Kerl! Bilde dir nur nicht ein, daß ich
mich überhaupt für dich intereſſiert habe!“ Und wäh-
rend ihre Augen dies ſagten, ſtreckte ſich — das heißt:
beſchwören will ich's nicht, aber ich möchte darauf
wetten — ſtreckte ſich zwiſchen den ſüßen roten Lippen
auf einen blitzſchnellen Augenblick ein kleines keckes
ſpitzes Zünglein hervor.
| Warum auch nicht? Verdient hatte ich's ehrlich.
Dann blieb ſie meinem Geſichtskreis entſchwunden,
bis ich fie wohl vier Jahre ſpäter ganz zufällig wieder
traf. Das war an einem Sommertage, an dem mich
mein Weg zufällig durch die Anlagen am Millerntor
führte. Ich ging dabei über den Kinderſpielplatz und
ſah, wie ein etwa fünfjähriger ſchmutziger Schlingel
ein kleines, kaum zweijähriges Mädel ſchlug. Schon
wollte ich dazwiſchen fahren, als plötzlich ein ſtrammer,
gut drei Jahre alter Zunge ſich mit Berſerkerwut auf
den ihm an Größe und Kraft zweifellos weit überlegenen
Übeltäter ſtürzte und ihn mit feinen Heinen Fäuſten
ſo energiſch bearbeitete, daß der Große ſchleunigſt das
Haſenpanier ergriff.
„Bravo!“ rief ich.
Da ſah ſich der kleine Sieger ſtolz um und ſagte,
wie um ſein Tun zu entſchuldigen: „Oer wollte mein
Sweſterchen ſchlagen!“
196 Mein Nidverhältnis. o
„Das haft du gut gemacht,“ erwiderte ich, griff in
die Taſche und gab ihm einen Nickel.
Freudeſtrahlend wendete er fih um und rief über
den Platz weg einer Dame zu, die drüben auf einer
Bank ſaß: „Mutti, der Herr hat mir 'nen Groſchen
gegeben!“
Ich folgte der Richtung ſeiner Blicke und ſah —
ſie. Noch ebenſo roſig, blond und friſch ſah ſie aus
wie damals, nur ein bißchen rundlicher. Unſere Augen
trafen ſich im gleichen Moment mit plötzlichem Er-
kennen.
Ich glaube, wir wurden beide rot wie zwei Back-
fiſche. Aber dann ſahen wir uns an und lachten, und
dann hab' ich ihr zugenickt, und — wirklich: ſie nickte
wieder. |
And dann ſah fie mich an mit einem Blick, in dem
vieles lag: Verzeihen einerjeits und Stolz und Mutter-
glück anderſeits.
Und dieſer Blick — glaube ich — war der ſchönſte,
den ich je von ihr bekommen.
sye
1
N AN AN AN MIN
ZAX 2
Eine Dornenkrone.
Von M. de Bous.
Mit 4 Bildern. t (Nahörud verboten.)
Der tragiſche Tod des Königs Georg von Griechen
land, der in dem eben eroberten Saloniki unter
der Hand eines elenden Meuchelmörders verblutete,
weckt die Erinnerung an jenes griechiſche Königspaar,
dem die Krone von Hellas einſt zu einer wahren
Dornenkrone wurde.
Am 22. November 1856 vermählte ſich Maria
Friederike Amalie, die achtzehnjährige ſchöne, geift-
volle Tochter des Großherzogs Paul Friedrich Auguſt
von Oldenburg, mit König Otto I. von Griechenland,
dem am 1. Zuni 1815 geborenen zweiten Sohn des
Bayernkönigs Ludwig J.
Otto war ganz der Sohn feines Vaters, ein weichher-
ziger Schwärmer für die Künſte, begeiſterter Förderer
der Wiſſenſchaften, als König aber, trotzdem er in jungen
Jahren ſich abſolutiſtiſch fühlte, ein ſanguiniſcher Phantaſt
und unfähig weder zur raſchen Tat noch zur zielbewuß-
ten Intrige. Er war kaum zwölf Jahre alt, als ihn
ſein für das alte Hellas begeiſterter Vater den Groß—
mächten für den Thron der Hellenen vorſchlug, ohne
zu bedenken, daß im Laufe der Jahrhunderte unter
türkiſcher Herrſchaft das klaſſiſche Volk der Hellenen zu
einem Volk geworden war, dem die endliche Befreiung
nur als Loslaſſen gegen Geſetz und Ordnung galt, was
198 Eine Dornenteone, u
ja auch der Beſchluß der proviſoriſchen Regierung vom
20. Oktober 1852 beweiſt, „ſämtliche Gerichtshöfe des
Landes als unnötig und nutzlos aufzulöſen“. Es war
mehr als ein Fehler, daß nach ſolchen Vorgängen Lud-
wig I. feinen Lieblingsſeohn nach dem Piräus ſchickte,
und es entſchuldigt ihn nicht, daß er in dem Regenten,
dem Grafen Armansperg, dem jungen König einen
tüchtigen Miniſter an die Seite ſetzte. Als Wunder galt
es aber in der ziviliſierten Welt, daß auch der talt-
blütige Oldenburger Großherzog ſeine Tochter dem
neugriechiſchen Abenteuer überlieferte.
Dieſes Wunder wird durch die energiſche Perjön-
lichkeit der jungen Königin erklärt, durch ihre Liebe zu
dem Gatten, durch ihren herrſchſüchtigen Ehrgeiz und
ſpäter durch die Gewalt, die ſie auch in politiſchen
Dingen über den König zu behaupten wußte. Was
Mirabeau von Marie Antoinette rühmte, daß ſie der
einzige Mann am Königshofe fei, galt in gewiſſer Hin-
ſicht auch von Amalie und dem Königshofe im Piräus.
Freilich ahnte auch fie nicht, fo wenig wie die ge-
bildete Welt, daß noch im Fahre 1836 Griechenland,
vielleicht nur die Maina ausgenommen, nach den vielen
Kriegs- und Revolutionsjahren ausſah wie Deutſchland
nach dem Dreißigjährigen Krieg, daß die Dörfer in
Schutt und Aſche lagen, die Felder Einöden, die Wein-
berge verwüſtet und die Olivenhaine gefällt waren;
daß in den Bergen zahlreiche Räuberbanden hauſten,
die, wie Finlay erzählt, die Landbevölkerung brand-
ſchatzten und aus Luft am Schinden alle Scheuglich-
keiten an ihr verübten, Schandtaten, „die in Europa
auf lange Zeit hinaus den griechiſchen Namen anrüchig
und verhaßt machten“. Das Volk war eben verwildert,
der Zucht, Ordnung und der Arbeit entwöhnt, dabei
unbotmäßig und von einem geradezu fabelhaften po-
o Von M. de Bous. 199
litiſchen und perſönlichen Düntel, der Adel des Landes
trotzig, aufrühreriſch und zum Fauſtrecht geneigt, ganz
Hellas aber gewiſſermaßen zum Dank für die Land
und Volk während der Befreiungskämpfe von Europa
Amalie, Königin von Griechenland.
gewährte Beihilfe von fanatiſchem, blindeſtem Fremden-
haß beſeelt.
Es war eine Dornenkrone, die Otto dem geliebten
Weibe als Morgengabe überreichte. Amalie kannte
zwar den Ernſt der Aufgaben, die ihrer in Athen harrten,
aber fie unterſchätzte anfänglich bedeutend die Schwierig-
keiten derſelben, wozu der begeiſterte Empfang bei
ihrer Ankunft in Griechenland beitrug. Der Archäologe
L. Roß erzählt darüber: „Der König und feine lieb-
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Der Einzug des Königs Otto in Nauplia. Nach dem in der Neun
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en Pinakothek zu München befindlichen Gemälde von Peter Heß
reizende junge Gemahlin ſtiegen unter dem Donner
der Geſchütze und tauſendſtimmigem, lautem Jubel ans
Ufer. Die Behörden, ſei es, daß ſie ſelbſt dieſen
geiſtreichen Gedanken gehabt hatten oder daß er
ihnen eingeflößt worden war, hatten beſchloſſen, der
jungen Königin
eine Eule, einen
lebenden Vogel
Minervas, mit
weißblauenBän-
dern an den Fän-
gen und Flügeln
gefeſſelt, zur Be-
grüßung unter
einer geeigneten
Anrede zu über-
reichen. Kaum
hatte die Königin
den Fuß am
Lande, wobei ſie
faſt über die reich
lich geſtreuten
Olzweige geftol-
i pert wäre, fo
Otto I., Rönig von Griechenland. mußte fie ſich mit
dem armen, halb zu Tode geängſtigten Käuzchen be-
ſchäftigen.“
Amalie hatte die Herzen der temperamentvollen
Athener im Sturm erobert; ihre holdſelige Erſcheinung
entzückte ſogar die Frauen. Man trug ſie vollends im
ganzen Lande auf den Händen, als bekannt wurde, daß
ſie mit der ihr eigenen großen Energie die griechiſche
Sprache erlerne. Durch ihre faſt männliche Willens-
ſtärke brachte ſie es denn auch in kurzer Zeit dahin,
o Don M. de Bous. 203
die ſchwere Sprache vollkommen zu beherrſchen. Noch
höher, ſelbſt von den Feinden der dynaſtiſchen Fremd-
herrſchaft, wurde ihr ihre Sympathie für Trachten und
Sitten ihrer neuen Heimat angerechnet. Das übrige
tat ihre ſieghafte, ſtrahlende Schönheit, ihre bezaubernde
Liebenswürdigkeit im perſönlichen Verkehr, ihre Grazie
und Kühnheit zu Pferd. Dies und die gemütliche Leut-
ſeligkeit, die auch der König bei den vielen Rundreiſen
zeigte, die das Königspaar alljährlich im Lande zu
unternehmen pflegte, machte es in den Provinzen ſo
populär, daß zum Beiſpiel der Einzug des Königs in
Nauplia einem wahren Triumphzuge glich.
Aber von Athen und den größeren Städten des
Landes ging bald die revolutionäre, antidynaſtiſche
Bewegung aus, deren Leitern der König, der immer
mehr der Spielball ſtreitender innerer und auswärtiger
Einflüſſe wurde, gegen den Rat ſeiner energiſcheren
und zäheren Gemahlin eine politiſche Konzeſſion nach
der anderen machte. Zuerſt opferte er den Grafen
Armansperg, deffen Entlaſſung ihm die Feindſchaft
Sir Edmund Lyons zuzog, dann Herrn v. Rudhardt,
ſpäter genehmigte er ſogar die Entlaſſung ſämtlicher
höheren Beamten deutſcher Abſtammung, und ſchließ—
lich gab er die abſolute Regierungsgewalt ſelbſt preis,
ohne mehr als den ſchnödeſten Undank zu ernten. Die
Cliquenwirtſchaft der zur Herrſchaft gelangenden Par-
teien, der fortgeſetzte Miniſterwechſel und der nach
nordamerikaniſchem Syſtem damit verbundene Wech-
ſel aller höheren Staatsbeamten gaben der Königin
nur zu recht, die wiederholt geäußert hatte, daß das
griechiſche Volk zur Konſtitution noch nicht reif ſei.
Die oppoſitionelle Preſſe antwortete mit Schmähungen,
Witzen über die Tanzwut der Königin und das
Pantoffelheldentum des Königs ſelbſt, deffen Über-
204 Eine Dornenkrone. o
tritt zur orthodoxen Kirche immer ſtürmiſcher ver-
langt wurde. |
Die Königin, die öfters ihren Gemahl als Regentin
vertrat, wenn er ſeiner angegriffenen Geſundheit wegen
ein deutſches Bad beſuchen mußte, verhinderte mit
großer Energie weitere Konzeſſionen auf der einen und
Überhebungen auf der anderen Seite. Auch wußte
fie wiederholt mit ſtarker Hand die großgriechiſche Be-
wegung niederzuhalten, was ihr und dem König den
erbitterten Haß der Panhelleniſten zuzog, deren Treiben
und Wühlereien in den benachbarten türkiſchen Pro-
vinzen ſchließlich ſo gefährlich wurden, daß die der
Türkei verbündeten Weſtmächte im Mai 1854 zur
Blockade des Piräus ſchritten und die griechiſchen Rrieg-
ſchiffe mit Beſchlag belegten. Nun mußte Griechenland
zu Kreuze kriechen, alle Forderungen der Weſtmächte
zugeſtehen und ſtrenge Neutralität verſprechen.
Von jetzt ab war Otto feinen Gegnern der ver-
räteriſche Tyrann, deffen militäriſche und politiſche Un-
fähigkeit alles Unglück über das arme Land gebracht
hätten“. In der „deutſchen Hyäne“ aber, wie die
Königin von der gegneriſchen Preſſe jetzt genannt
wurde, ſah der Pöbel aller Volksklaſſen von da an die
„Mutter aller Hinderniſſe“, die „Todbringerin des
Volksglückes“. Der Haß der atheniſchen Bevölkerung
gegen die Königin war ſo groß, daß, als der Student
Ariſtides Druſios am 18. September 1861 die Monarchin
auf offener Straße zu erſchießen verſuchte, der Mob
dem Mordbuben, der ſpäter zu lebenslänglichem Ge-
fängnis verurteilt wurde, oſtentativ applaudierte.
Im September 1862 konnte eine in großer Auflage
gedruckte oppoſitionelle Flugſchrift, in der das griechiſche
Volk aufgefordert wurde, den Tyrannen und die
Tyrannin davonzujagen, als Grund der Unbeliebtheit
o Von M. de Bous. 205
Ottos nur angeben, daß er weder von Religionswechſel
noch von wahrhaft konſtitutionellem Regiment etwas
wiſſen wollte. „Er iſt heute noch der nämliche,“ hieß
es dann wörtlich, „der er vor fünfundzwanzig Jahren
war, ein halsſtarriger Gegner der Freiheit; von den
5 —
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König Otto in griechiſcher Nationaltracht.
Griechen hat er nichts angenommen als die Fuſtanella,
die griechiſche Nationaltracht, in der er herumſtolziert.“
Bezeichnend iſt, daß dieſes Machwerk in Paris erſcheinen
und dort unter den Augen der Polizei Napoleons III.
vom großgriechiſchen Komitee vertrieben werden konnte.
Jetzt war das baldige Ende vorauszuſehen.
Als das Königspaar Mitte Oktober 1862 auf einer
206 Eine Dornenkrone. o
Rundreiſe durch Morea begriffen war, erhob fidh das
Militär in Vonitſa und Athen, wo der Kommandant
des Piräus am Abend des 22. Oktobers ermordet, das
königliche Schloß geplündert, der ſchöne, von der
Königin angelegte Garten vandaliſch zerſtört und die
Häufer einiger Hofbeamten beraubt wurden. Am
frühen Morgen las man an den Straßenecken Athens
folgende Proklamation der Herren Bulgaris, Kanaris
und Rufos: „Die Leiden des Vaterlandes haben auf-
gehört! Alle Provinzen des Königreiches haben ihnen
im Verein mit dem Heere ein Ende gemacht. Als
einſtimmiger Beſchluß der griechiſchen Nation wird er-
klärt und dekretiert: Das Königtum Ottos ift abge-
ſchafft! Das Vizekönigtum der Königin Amalie iſt
abgeſchafft!“
Auf die Nachricht von dieſen Vorgängen ſchiffte
ſich das Königspaar ſofort an Bord der Korvette
„Amalia“ ein. Als die Korvette bei ihrem Erſcheinen
im Piräus von den Meuterern bedroht wurde, landete
der König bei Salamis, wo das diplomatiſche Korps
ſich zu ihm an Bord begab. Auf den Rat der Ge-
ſandten und der Königin entſchloß ſich der über den
ſchnöden Undank feines Volkes tiefempörte König, ohne
offiziell abzudanken, nach Bayern zurückzukehren. In
Begleitung der Königin verfügte er fih auf ein eng-
liſches Schiff, von dem aus er am 24. Oktober eine
würdige Proklamation erließ.
König Otto hatte in ſeiner Milde und Schwäche,
die Königin in ihrer Herrſchſucht manchen Fehler be-
gangen. Aber Otto hat niemals die Pflichten ſeiner
hohen Stellung vernachläſſigt. Auch Amalie war ſtets
vom beſten Willen für das Wohl des Landes beſeelt.
Mit Recht durfte daher Otto in ſeiner Proklamation
feſtſtellen, daß er während eines Zeitraumes von
o Bon M. de Bous. 207
faſt dreißig Jahren keine Mühe geſcheut habe, um für
das Beſte Griechenlands zu wirken.
Das vertriebene Königspaar nahm in Bamberg
Wohnung, wo Otto am 26. Juli 1867 ſtarb. Den Sturz
ſeines geheimen Gegners Napoleon ſollte er nicht mehr
erleben. Königin Amalie lebte bis zum 20. Mai 1875
als mildtätige Tröſterin der Mühſeligen und Beladenen.
*
EIEIEIEIEIEZ
Mannigfaltiges.
v
(nachoͤruck verboten.)
Det gör ingenting. — Oer kleine dicke Rechtsanwalt, der
mit mir von Stockholm nach Lappland fuhr, war der höflichſte
und liebenswürdigſte Menſch von der Welt. Er lief hinter jedem
fallenden Regenſchirm her, um ihn der Beſitzerin zu überreichen,
und wäre für keinen Preis der Welt je in einer Straßenbahn
ſitzen geblieben, wenn in dem überfüllten Wagen eine Dame
ſtehen mußte. Sofort ſprang er auf, um ihr ſeinen Platz
anzubieten, ſelbſt wenn die „Dame“ noch einen Schulranzen
auf dem Rücken trug.
Lang hingeſtreckt lagen wir beide im Lapplandexpreßzuge,
der uns hinauf nach Boden bringen ſollte; wir hatten das
Glück, die einzigen Reiſenden im Abteil zu fein, trotzdem der
Zug ſtark beſetzt war. Allein auch unſer Glück währte nicht
lange, denn ſchon nach einſtündiger Fahrt ſtiegen in Upſala
noch zwei Reifende in unſer Abteil, zwei große, breitſchulterige
Herren, die höflich grüßten, ſich dann in die beiden anderen
Ecken ſetzten und rieſige Zeitungen hervorholten, in die ſie ſich
ſofort vertieften.
Die Lektüre mußte nicht beſonders anregend ſein, denn
bald waren ſie über ihren Zeitungen eingeſchlafen, und ich
benützte die Gelegenheit, um meinem Reiſegefährten eine
Frage zu ſtellen, die mir ſchon lange am Herzen lag.
„Wie ſteht es eigentlich mit Ihren ſchwediſchen Sprach-
kenntniſſen? Die meinigen find nur ſehr gering. Raum, daß
ich die Zahlen kenne und die notwendigſten ſchwediſchen Worte
für Eſſen und Trinken, Hotelzimmer, Wagen und dergleichen.“
„Da haben Sie Ihren Sprachführer ganz falſch benützt,
Verehrteſter! Zahlen zu lernen, ift gänzlich überflüffig, da
o Mannigfaltiges. 209
man ſich ja hier der Schrift bedienen kann. Man fragt: ‚Hvad
kostar det?‘, und dann reicht man dem Verkäufer einen Blei-
ſtift und ein Stück Papier hin, damit er ſelbſt die Zahl auf-
ſchreibt. So mache ich es überall und komme immer glänzend
zurecht. Überhaupt iſt es oft beſſer, wenn man von der fremden
Sprache ſo wenig wie möglich verſteht.“
Doch noch ehe ich dazu kam, meine Bedenken zu äußern,
fuhr er ſchon fort: „Etwas anderes, weit Wichtigeres muß man
aus ſolchem Sprachführer lernen, etwas, das die Menſchen
meiſt als überflüſſig beiſeite laſſen. Das ſind die notwendigſten
Höflichkeitsformen. „Zieht es Ihnen? Darf ich Ihnen meinen
Platz anbieten? Soll ich das Fenſter ſchließen? Beläſtigt Sie
die Sonne? Ih danke vielmals. Darf ich Sie bitten?“ und
dergleichen mehr. Solche Ausdrücke in der Landesſprache muß
jeder kennen, der nicht als ein Flegel erſcheinen mag. Vor
allem aber muß man ſich zwei Redensarten einprägen in einem
fremdſprachlichen Land. Das find die Phraſen: „Verzeihen
Sie, bitte!“ und ‚Das macht gar nichts!“ Stoße ich jemand
aus Verſehen an, dann ſage ich hier in Schweden: ‚Det gör
ingenting!‘ das heißt: F Verzeihen Sie, bitte!“ Stößt mich jemand
an und entſchuldigt fih, dann fage ich: „Jag ber om ursäkt,‘
das heißt: „Das macht gar nichts.“ Dieſe beiden Ausdrücke,
Verehrteſter, müſſen Sie ſich merken. Die find wichtiger als
Ihre Zahlen.“
So unrecht hatte der kleine Rechtsanwalt nicht. Höflichkeit
auf Reifen iſt eine ſehr ſchöne Sache, zumal dann, wenn man
ſeiner Anſtandspflicht gegen die Mitreiſenden durch wenige
Worte genügen kann. „Jag ber om ursäkt — Det gör in-
genting.“ Ich wiederholte die beiden Redensarten, bis fie
feſtſaßen. |
In Bipsgarden hält der Zug längere Zeit — teils wegen
der Touriſten, die hier ausſteigen, um die wunderſchöne Tour
über den Indalself zu machen, teils des Nachtmahls wegen,
das hier eingenommen werden kann. Denn nur auf wenigen
ſchwediſchen Bahnen verkehren Speiſewagen; meiſt find be-
ſtimmte Stationen für die Mahlzeiten vorgeſehen.
Als wir nach eingenommenem Nachteſſen in unſer Abteil
1918. XI. 14
210 Mannigfaltiges. o
zurückkehrten, ſahen wir, daß der Schaffner bereits alles für
die Nacht zurechtgemacht hatte. Die Ruͤckwände der beiden
Sitze waren hochgeklappt und noch zwei weitere Liegeſtätten
geſchaffen für die beiden „oberen“ Reiſenden, in dieſem Falle
alſo für uns. Denn die beiden ſchwediſchen Herren, die ſeit
Apſala mit uns fuhren, hatten es ſich bereits in den unteren
Betten bequem gemacht.
Die Kletterübungen, die man anſtellen muß, um in einem
Schlafwagen das obere Bett zu erreichen, ſind manchmal
beſchwerlich, zumal dann, wenn der Zug juſt eine kurvenreiche
Strecke paſſiert und der Wagen ſchleudert, wenn man eben erſt
ein ſehr reichliches Nachtmahl zu ſich genommen hat, und wenn
man überhaupt wenig zum Akrobaten ſich eignet.
Oas Geſicht des kleinen dicken Rechtsanwalts war tiefrot,
als er endlich, ſchnaufend und keuchend, oben anlangte.
Auch das Entkleiden erfordert unter ſolchen Umſtänden eine
gewiſſe Gewandtheit, die zu beſitzen niemand verpflichtet iſt.
Ooch endlich war es ſo weit, und wir legten uns hin, um
zu ſchlafen.
Wir erwachten erft in Hednoret, das nur noch ſechs Rilo-
meter von Boden liegt. Jetzt galt es, ſich ſchnell anzuziehen,
denn in zehn Minuten kamen wir nach Boden, wo wir aus-
ſteigen wollten.
3m Schweiße feines Angeſichts arbeitet der kleine Rechts-
anwalt auf ſeinem hohen Lager, um die ſchweren Stiefel
anzuziehen, die er ſich für die beabſichtigten Touren zuvor hat
benageln laſſen. Auch in den zwei Unterbetten wird es lebendig.
Die beiden Schweden machen ſich gleichfalls fertig.
Während ich damit beſchäftigt bin, meine Krawatte zu
binden, höre ich ein dumpf klatſchendes Geräuſch, dem ein
lautes „Au!“ folgt. Dem Rechtsanwalt iſt in der Haſt einer
ſeiner Stiefel entfallen, der den unter ihm ſitzenden Schweden,
der ebenfalls gerade ſeine Stiefel anzieht, mitten auf den
Kopf trifft. Es kann nicht angenehm fein, morgens bei nüd-
ternem Magen einen benagelten Stiefel an den Kopf zu be-
kommen. Ein wütendes Geſicht ſchaut nach oben, ein ver-
legenes nach unten.
u Mannigfaltiges. 211
„Det gör ingenting!“ ruft der dicke Rechtsanwalt hinunter.
Doch ſeine Entſchuldigung wird ungnädig aufgenommen. Der
Schwede antwortet ſehr erregt und heftig verſchiedenes, von
dem wir kein Wort verſtehen. Dann reibt er wütend ſeinen
ſchmerzenden Kopf und würdigt den Attentäter keines Blickes
mehr, der tieftraurig von ſeinem Lager herunterklettert und
ſeinen Stiefel holt, den der Schwede mit einem Fußtritt in
die Ecke geſchleudert hat. „Det gör ingenting!“ wiederholt
der Rechtsanwalt fortgeſetzt. Doch der Schwede nimmt gar
keine Notiz mehr von ihm. Nur einmal dreht er ſich um, ſtößt
dabei jenen heftig an und ſchreit ihm dann ebenfalls „Det
gör ingenting!“ entgegen.
Der Zug hält in Boden, ehe der Rechtsanwalt Zeit hat,
ſeinen zweiten Stiefel anzuziehen. Doch zum Glück iſt hier
ein langer Aufenthalt, damit die Paſſagiere ihr erſtes Frühſtuͤck
einnehmen können. So machen wir in Ruhe uns und unſer
Gepäck fertig. ö
Tieftraurig ſitzt der kleine dicke Rechtsanwalt in Boden
vor dem Eiſenbahnhotel. Noch im letzten Augenblick hat ihm
der weiterfahrende Schwede höhniſch ein „Det gör ingenting“
nachgerufen. Gewiß iſt es unangenehm, einen ſchweren, ge-
nagelten Stiefel an den Kopf zu bekommen; aber ſchließlich,
wenn der Attentäter ſein Mißgeſchick bedauert und ſich höflich
entſchuldigt, dann iſt doch unter gebildeten Menſchen die Sache
damit erledigt. Und wie oft hatte der Rechtsanwalt ſich ent-
ſchuldigt! |
Wohl zehnmal hat er fein „Det gör ingenting“ gejagt, glück-
lich darüber, daß er die notwendigſten Redensarten rechtzeitig
gelernt hatte und ſie nun anwenden konnte. Und doch hatte
der Schwede keine Entſchuldigung annehmen wollen. Sollten
auch dieſe notwendigen Redensarten mitunter ihre Wirkung
verfehlen?
Da plötzlich durchfährt mich ein Gedanke. Sollte am
Ende —
Schnell hole ich den Sprachführer aus der Taſche und ſchaue
nach. Und dann reiche ich das Buch meinem Reiſegefährten.
„Ihre Redensarten ſind gut, Verehrteſter. Aber Sie haben
212 Mannigfaltiges. ao
fie leider — verwechſelt. Jag ber om ursäkt heißt: Ich bitte
um Entſchuldigung. Und Det gör ingenting heißt: Das macht
gar nichts!“
Der dicke Rechtsanwalt ſchaut mich ſtarr an, reißt mir das
Buch aus der Hand, blickt hinein und ſieht dann lange Zeit
nachdenklich vor ſich hin. Endlich gibt er mir eine Antwort:
„Ja, Sie haben recht. Das habe ich verwechſelt. Und jetzt
verſtehe ich auch den Schweden, verſtehe ihn vollkommen. Er
war im Grunde genommen doch ein ſehr höflicher Menſch.
Denn wenn mir jemand einen genagelten Stiefel an den Kopf
wirft und dann noch dazu ſagt: ‚Das macht gar nichts“ —
wirklich, ich glaube, dem wäre ich noch ganz anders gekommen.“
„Ich meine aber, der Schwede iſt recht grob geworden.
Nur haben Sie ihn nicht verſtanden. Schmeicheleien werden
es juſt nicht geweſen ſein, die er Ihnen ſagte.“
Da fand der geknickte kleine Rechtsanwalt fein Selbit-
bewußtſein wieder. „Sie ſehen alſo, daß ich recht hatte, als
ich Ihnen ſagte, man brauche nichts von der Sprache eines
Landes zu lernen, in dem man herumfährt. Dieſe Sprachkennt-
niſſe ſind durchaus nicht notwendig und nicht einmal immer
wünſchenswert. Denn, wenn ich nun alles verſtanden
hätte —“ H. Welten.
Des Wanderns Einfluß auf die Nerven. —
Wenn du an Pult und Tiſche
Geſchafft dich lahm und krumm,
Zum Teufel ging die Friſche
Samt dem Ingenium;
Dein Hirn wie zähes Leder,
Wie Schwarzblech hart dein Kopf:
Zerſtampfe dann die Feder,
Reiß aus, du armer Tropf!
Raus aus dem Haus!
Raus aus der Stadt!
Nix wie raus!
Dieſe Verſe aus dem Fremdeubuche der Douglashütte am
Fuße der Scefaplana find der Wonneſchrei eines der vielen
„Mühſeligen und Beladenen“, die, erſchlafft unter dem Drucke
o Mannigfaltiges. 213
des nervenzermürbenden Dafeinstampfes, beim Wandern Er-
holung gefunden haben in dem unerſchöͤpflichen Lebequell der
Natur.
Jeder empfindet bei längerem Wandern diefe wohltuende
Erleichterung, die Erfriſchung von Geiſt und Gemüt. Wandern
iſt keine Symnaſtik zur Erzeugung von Athletenmuskeln oder
zur Erlangung turneriſcher Gelenkigleit; fein Hauptwert be-
ſteht in der Kräftigung der lebenswichtigſten Organe und in
ſeiner Geſundungskraft für Nerven und Gehirn.
Immer mehr lernt die Wiſſenſchaft erkennen, von wie ver-
hängnisvollem Einfluß die Stoffwechſelprodukte, Kohlenſäure,
Ermüdungsſtoffe auf die Leiſtungsfähigkeit des Nervenſyſtems
find, und bezeichnet fie deshalb als „Selbſtgifte“. Dieſe ſchwemmt
nun das durch die körperliche Bewegung ſchneller pulſierende
Blut raſch und vollkommen weg. In einem hurtig fließenden
Bächlein ſetzen fih nie Schlamm, Fäulnis- und Verweſungs-
ſtoffe an, wohl aber in einem träge fließenden Graben.
3m Blutſtrom unſeres Körpers ſchwimmen ungefähr
25 Billionen Frachtſchiffchen, die den Geweben fortwährend
neue Nahrung zuführen. Das find die Blutkörperchen. Natür-
lich können fie ſchneller ihre Nährfracht und öfter an den Be-
ſtimmungsort befördern, wenn raſch fließender Blutſtrom ihnen
eine flotte Fahrt verleiht. Es tritt alſo ein ſchnellerer Erſatz
der geſchwächten oder verbrauchten Nervenſubſtanz ein.
Die wertvollſte Ladung jener Frachtſchiffchen ift der Sauer-
ſtoff. Er wird eingeladen in den Lungen. Befindet ſich aber
in dieſem Depot kein genügender Vorrat, fo hat das ſchlimme
Folgen. Wenn wir ruhen oder ſitzen, atmen die Lungen nur
ganz oberflächlich, nehmen alſo nur wenig Sauerſtoff auf;
befinden wir uns in „ſchlechter“, ſauerſtoffarmer Luft, in ge-
ſchloſſenen Zimmern, überfüllten Räumen, dann können die
Lungen beim beſten Willen nicht genügend von dieſem Lebens-
elixir bekommen, Nerven und Gehirn leiden not, wir werden
ſchwach, matt, hinfällig, es tritt ſchließlich Schwindel und Ohn—
macht ein.
Wie anders beim Wandern draußen in der freien Natur,
wo jedes Blatt und jeder Grashalm eine kleine Sauerſtoff—
214 Mannigfaltiges. u
fabrik darſtellt! Befreit vom drückenden Alp der Zimmerluft,
atmen die Lungen in vollen Zügen die lebenſpendende Luft ein.
3a — in vollen Zügen, denn auf das Fünffache ſteigt die
Luftaufnahme infolge des tieferen und raſcheren Atemholens
ſchon beim Wandern von 5 Kilometern in der Stunde. Da
können die Blutkörperchen immer von neuem im Lungendepot
ſich voll befrachten und den Nerven ſowie Gehirn ihren Kraft-
ſpender zuführen. Das iſt eine durchgreifende Stärkungskur
für das geſamte Nervenſyſtem, welche die Widerſtandsfähigkeit,
Spannkraft und geiſtige Elaſtizität ganz bedeutend erhöht.
„Soll geiſtiges Leben wohl gedeihen, ſo muß der Leib ihm
Kraft verleihen.“
Alle Abgearbeiteten, Hypochonder, Nervöſen follen wandern
über Berg und Tal, fo oft und fo lange wie möglich. Ihr felbft-
quäleriſches Grübeln, das beängſtigende Gefühl verringerter
Leiſtungsfähigkeit, die drückenden Gedanken an Beruf und
häusliche Sorgen werden verdrängt von den ſtets wechſelnden
Eindrücken in der herrlichen Natur, vom Kampf und Spiel
der Tiere, vom Wachſen und Blühen der Pflanzenwelt. Eine
harmoniſche, fröhliche Gemütsverfaſſung ſtellt ſich ein. Durch
die allmählich verlängerten Wanderungen hebt fih das Ber-
trauen auf die eigene Leiſtungs fähigkeit. Man kehrt friſch und
geſtärkt von der Wanderung heim, erfreut ſich, wie nie zuvor,
eines lebhaften Appetits und erquickenden, tiefen Schlafes.
Friſch auf drum, friſch auf im hellen Sonnenſtrahl,
Wohl über die Berge, wohl durch das tiefe Tal;
Die Quellen erklingen, die Bäume rauſchen all,
Mein Herz iſt wie 'ne Lerche und ſtimmet ein mit Schall!
Dr. Th.
Aus der Sommerfriſche des niederländiſchen Hofes. —
Königin Wilhelmina der Niederlande hat eine ausgeſprochene
Vorliebe für das von einem herrlichen Park eingerahmte Luft-
ſchloß Het Loo, das in der Nähe von Apeldoorn liegt. Sie
verbrachte hier ihre Kinderjahre. Infolge dieſer angenehmen
Zugenderinnerungen weilt fie oftmals mit ihrem Gatten, dem
Prinz-Gemahl Heinrich, und N vierjährigen Töchterchen
Juliana in Het Loo.
D Mannigfaltiges. 215
Roch ift dort das kleine Luſthaus, das „Prinſeſſehuisje“,
vorhanden, das ſie ſich als Prinzeßchen nach ihrem Geſchmack
Königin Wilhelmina, Prinzeß Juliana und Prinz Heinrich.
einrichten durfte, und in dem ſie mit ihren Hunden und Tauben
ſpielte. Jetzt ift das „Prinſeſſehuisje“ der Prinzeß Juliana
216 Mannigfaltiges. 2
— ee —
überwieſen worden, die ſich in ihm ebenſo fröhlich vergnügt
wie ehemals ihre königliche Mutter.
Mitten im Park breiten ſich drei Teiche aus, auf denen die
Eltern mit ihrem Töchterchen häufig Bootfahrten unternehmen.
Ebenſo werden auf den Raſenplätzen oftmals Bewegungsſpiele
geübt, an denen ſich auch, ſoweit es bei ihrem Alter möglich
iſt, die kleine Prinzeß Juliana heiter beteiligt. Ihr helles Lachen
miſcht ſich dann ausgelaſſen in die Rufe der Spieler.
Zuweilen kann man die Königin Wilhelmina, die geſchickt
malt, auch vor einer Staffelei im Park antreffen, wo ſie eine
hübſche Baumgruppe auf die Leinwand bringt. Der Prinz-
Gemahl Heinrich, der ein Freund der Waldkultur iſt, hat für
die Verbeſſerung des Parkes viel getan, wie er auch das Schloß
im mittelalterlichen Stil neu herrichten ließ. Th. S.
„General Hoche und die Koblenzer. — Im Fahre 1795
lagen ſtarke Truppenteile der franzöſiſchen Armee in der da-
mals noch zum Kurfürſtentum Trier gehörenden Stadt Koblenz.
Ihr Befehlshaber war der General Hoche, ein rauher Kriegs-
mann, der überall mit rückſichtsloſer Härte auftrat. Nachdem
er der Stadt Koblenz zunächſt eine hohe Kriegskontribution
auferlegt hatte, die auch pünktlich bezahlt wurde, verlangte er,
daß der Magiſtrat innerhalb vierundzwanzig Stunden zwei-
tauſend Paar Stiefel für die reichlich abgeriſſenen franzöſiſchen
Soldaten beſchaffen ſollte. Dieſe Forderung zu erfüllen war
den Stadtbehörden beim beſten Willen unmöglich. Man brachte
an dem einen Tage nur hundertſechzig Paare zuſammen.
Als eine Deputation des Magiſtrats dies dem General mit-
teilte und zugleich um eine Verlängerung der Friſt bat, war
Hohe zunächſt äußerſt ungehalten und drohte mit Zwangs-
mitteln vorzugehen; ſchließlich ließ er ſich aber doch beruhigen
und verſprach, noch vierzehn Tage warten zu wollen. Hoch-
beglückt zog die Deputation wieder ab.
Am folgenden Morgen wurde von dem General durch Pla—
kate und Ausrufer eine allgemeine Volksverſammlung für den
nächſten Tag auf den Marktplatz anberaumt. Es ſollte öffent-
lich beraten werden, in welcher Weiſe man dem durch die Kriegs-
unruhen entſtandenen Lebensmittelmangel am beſten abhelfen
D Mannigfaltiges. 217
könne. Berechtigt zur Teilnahme war jeder männliche Bürger
über achtzehn Jahre. Leute, die Vorſchläge machen wollten,
ſollten ſich vorher bei dem Adjutanten des Generals melden
und ſich in die Rednerliſte eintragen laſſen.
Die Koblenzer konnten ſich gar nicht genug über dieſes für-
ſorgliche Entgegenkommen des franzöſiſchen Befehlshabers
wundern. In der ganzen Stadt war nur eine Stimme des
Lobes für General Hoche, und am nächſten Tage ſtrömte zur
feſtgeſetzten Stunde alles, was über achtzehn Jahre hinaus
war, auf dem Marktplatz zuſammen, fo daß diefer die Menge
kaum faſſen konnte. An den offenen Fenfter der Häuſer
aber ſah man die Koblenzer Frauen neugierig auf dieſes
Schauſpiel herabblicken. Zum Schluß nahte in feierlichem
Zuge auch der geſamte Magiſtrat und nahm auf den bereit-
ſtehenden Bänken mitten auf dem Markte Platz.
Gleich darauf erklangen Trommelwirbel. General Hoche
erſchien mit ſeinem Adjutanten, hinter ihm zwei Kompanien
Infanterie. Ebenſo waren auch durch andere Seitenſtraßen
kleinere Trupps franzöſiſcher Soldaten unauffällig bis zum
Markte vorgedrungen, die nun, verſtärkt durch die Leibwache
des Generals, urplötzlich um die verſammelten Bürger einen
dichten Kordon zogen. Da erſt merkten die Koblenzer, daß hier
irgend etwas nicht ſtimmte. Einige wollten ſich jetzt noch ſchnell
heimlich drücken; aber niemand durfte den von dem Militär
umſtellten Kreis verlaſſen. Drohend ſtreckten ſich jedem die
Bajonette entgegen.
Inzwiſchen hatte der Adjutant des Generals die Redner-
tribüne erſtiegen und las mit weithin ſchallender Stimme einen
Befehl des Höchſtkommandierenden vor, dahin lautend, daß
jeder der zu der Verſammlung Erſchienenen ſich ſogleich ſeiner
Stiefel zu entledigen habe. Da bisher von dem Magiſtrat
die verlangten Stiefel nicht geliefert worden ſeien und General
„Hohe nicht mehr länger auf die Erfüllung dieſer Forderung
warten könne, habe man zu dieſer Liſt greifen müſſen.
Hierauf natürlich zunächſt ungeheurer Lärm und laute Ent—
rüſtungsrufe. Aber damit änderten die Koblenzer nicht das
geringſte. Die Bajonette ringsum redeten eine deutliche Sprache,
218 Mannigfaltiges. 2
und als die Mitglieder des Magiſtrats nun mit gutem Beiſpiel
vorangingen, ihre Stiefel auszogen und — allerdings mit recht
ſauren Mienen — von dannen zogen, folgte bald einer nach
dem anderen.
Die an den Fenſtern verſammelte Koblenzer holde Weib-
lichkeit bezeigte leider für diefe demütigende Situation, in der
ſich ihre Väter, Ehegatten, Verlobten und Brüder befanden,
recht wenig Verſtändnis. Erſt erklang hie und da ein halb unter-
drücktes Lachen, als die würdigen Herren auf Strümpfen, viele
auch barfuß, dem Ausgang zuſtrebten und dabei ängſtlich die
ſpitzen Steine des Pflaſters zu vermeiden ſuchten, was ihrem
Gange etwas ungemein Komiſches gab; dann wurde dieſe
Fröhlichkeit ſtärker und ſtärker, bis der ganze Markt von einem
nicht endenwollenden Gelächter widerhallte.
Begleitet von dieſen Heiterkeitsausbrüchen ſchlichen die
armen geprellten Männer wutſchnaubend davon.
General Hohe ließ dann am nächſten Morgen eine neue
Bekanntmachung austrommeln, worin er den Koblenzern höf-
lichſt dankte, daß fie ihm fo ſchön in die Falle gegangen feien
und ihm das Einziehen der Stiefelkontribution ſo weſentlich
vereinfacht hätten. W. K.
Der Kampf mit Mondamin. — Wem iſt nicht heutzutage
das feine Maismehl bekannt, das unter dem Namen Monda-
min“ von Nordamerika zu uns herüberkam und von unſeren
Hausfrauen gern zu allerlei ſüßen Nachtiſchgerichten verwendet
wird? Man glaubt gewöhnlich, der Name. Mondamin (der
Ton liegt auf der zweiten Silbe) ſei eine jener neuzeitlichen
Erfindungen, jener willkürlichen und phantaſtiſchen Wort-
bildungen, mit denen uns die moderne Nahrungsmittelinduſtrie
fo üͤberreichlich beglückt hat und noch tagtäglich beglückt. Doch
ift dies keineswegs der Fall. Mondamin ift vielmehr der bei
den Indianern ſüdlich der Großen Seen, beſonders den Dela-
waren, Tſchippewäs und Dakotas, gebräuchliche Name für
die Maispflanze, die ihnen von alters her ihre vegetabiliſchen
Nahrungsmittel lieferte und unter allen Feldfrüchten faſt allein
von ihnen vor Ankunft der Weißen kultiviert wurde. Der Sage
nach verdanken fie dieſe Feldfrucht ihrem Nationalhelden Hia-
u p. Mannigfaltiges. 219
watha, dem indianiſchen Herakles, der ihnen die erſten An-
fånge der Kultur erſchloß, indem er mit Geiſtern und Ungeheuern
kämpfte, um ſeine roten Brüder glücklich zu machen.
Dieſe Sagen hat uns der berühmte nordamerikaniſche Dichter
Longfellow in feinem „Sang von Hiawatha“ aufbewahrt, und
eine derſelben ſchildert auch in Form einer Allegorie, wie Hia-
watha ſeinem Volke das Maispflanzen lehrte. Der Inhalt iſt
folgender: Bekanntlich werden Jägervöͤlker in Jahren, in denen
Jagd und Fiſchfang unergiebig find, regelmäßig von Hungers-
not heimgeſucht. Dieſer Zuſtand bekümmert Hiawatha, und
er beſchließt, durch ein ſiebentägiges Faſten den Gitſche Manitu,
den Großen Geiſt, zur Hergabe eines neuen Nahrungsmittels,
das die Hungersnöte unmöglich mache, zu bewegen. In einer
Laubhütte im tiefſten Walde beginnt er ſein Faſten; am erſten
Tage denkt er über die Jagd nach; das Ergebnis iſt der Seufzer:
„Großer, mächtiger Geiſt, ſoll dies unſer einziger Unterhalt
ſein?“ Am zweiten Tage iſt es der Fiſchfang, der ihn be-
ſchäftigt, und am dritten das Sammeln wilder Beeren und
Früchte. Damit ſind die Mittel zur Erhaltung des roten Mannes
erſchöpft. Sollen es die einzigen fein und bleiben? Hiawatha,
ſchon ſtark geſchwächt durch den Hunger, wartet auf Antwort
auf dieſe Frage, die er an den Gitſche Manitu gerichtet hat.
Am vierten Tage in der Morgenfrühe naht ſich ihm ein junger
unbekannter Krieger im grünen Jagdhemd, auf ſeinem Scheitel
wallen gelbe Federn. Er ſagt zu Hiawatha: „Der Große Geiſt
hat dein Flehen gehört. Er fendet mich, Mondamin. Ringe
mit mir!“ Hiawatha nimmt den Kampf auf und ringt
mit Mondämin bis zur ſinkenden Sonne. Dann ver-
ſchwindet dieſer und läßt Hiawatha erſchöpft und bedrückt
zurück, denn er ift nicht Sieger geblieben. Bei Sonnenauf-
gang beginnt am nächſten Tag der Kampf aufs neue, und ſo
vier Tage lang. Obgleich Hiawatha durch die furchtbare Anftren-
gung und das Faſten immer ſchwächer wird und nahe daran ift, zu
erliegen, gibt er doch ſeinen Vorſatz nicht auf, ſondern beharrt
darauf, feinem Volke eine neue Lebensmöglichkeit zu erkämpfen
oder fein Leben zu laffen. Am vierten Tage endlich, alfo dem ſieben-
ten feines Faſtens, gelingt es ihm, Mondamin mit Sonnenunter-
220 Mannigfaltiges. | o
gang zu überwinden. Der junge Krieger ſinkt ſterbend zufam-
men. Vor ſeinem Verſcheiden fordert er von ſeinem Beſieger,
daß er ihn begrabe und ſein Grab ſorgfältig im Stande halte;
bei gewiſſenhafter Befolgung dieſes Wunſches ſagt er ihm die
Erfüllung ſeines Strebens und ein dereinſtiges Wiederſehen
voraus. Hiawatha tut nach Mondamins Willen. Er begräbt
ihn, reinigt die Grabſtätte von allem Unkraut, ſcheucht die Krähen
fort, die ſich nahen wollen, und wacht weiterhin getreulich über
des Toten Ruheſtätte. Bald zeigen fih junge zarte Sproſſen,
die aus dem wohlgereinigten Boden hervorſchauen und täglich
höher wachſen. Hiawatha fährt fort, das Grab zu pflegen und
alle Schädlinge abzuhalten, und als nun im Sommer der Mais
in voller Blüte ſteht in ſeinem grünen Kleide und ſeinen gelben
Blüten und Blumenblättern, da ruft er freudig aus: „Monda-
min! Mondämin! Er iſt wieder auferſtanden, wie er es
vorhergeſagt hat.“
Auf dieſe Weiſe kamen die Indianer der nördlichen Staaten
der Union in den Beſitz des Maiſes, den fortan nach Hiawathas
Anweiſung die Weiber und die jungen, noch zum Kampfe
unfähigen Burſchen anbauten, und deſſen Körner, in ſicheren
Speichern untergebracht, jede winterliche Hungersnot unmög—
lich machten. Vielleicht werden nach dieſer Aufklärung und
in Erinnerung an die mythiſche und poetiſche Herkunft des
Mondamins die daraus verfertigten Speiſen unſeren Leſern
doppelt ſo gut munden als bisher. F. Z.
Ein indirekter Selbſtmord. — Es war im Fahre 1824,
als in London Lord M. eines Tages in eine Wirtſchaft trat,
fih an einen Tiſch ſetzte, an dem ein anderer Herr frühſtückte,
und nach Verlauf weniger Minuten kaltblütig ſein Gegenüber
erſchoß. Sogleich entſtand ein fürchterlicher Lärm, und alles
blickte entſetzt nach dem Mörder.
Der erhob ſich ruhig und ſagte: „Wozu der Lärm? Was
iſt geſchehen? Dieſer Herr iſt tot, und ich werde es hoffentlich
auch bald ſein. Man bringe mich vor den Richter, wo ſich alles
aufllären wird.“
| Ohne den geringſten Widerſtand ließ ſich der Lord verhaften
und erklärte dem Richter: „Die Sache iſt ſehr einfach. Ich bin
2 ̃— a — ol —
D | Mannigfaltiges. 221
sn — — m mn mn ne nn — —— — —ͤ— —— — ——— ner ne nn un oo nn on ne —
des Lebens überdrüſſig und wollte mir ſchon dreimal den Tod
geben, aber ich fand immer den Mut nicht dazu. Den Ge-
danken, mir jemand als Mörder zu dingen, verwarf ich eben-
falls und entſchloß mich endlich, durch einen Mord dem Henker
zu verfallen, der umſonſt tötet. Das iſt der Grund, weshalb
ich den Mann ermordet habe, den ich gar nicht kenne und der
mir nichts zuleide getan hat. Ich bitte, meinen Prozeß zu
beſchleunigen und mich bald zu hängen.“
Da die Unterſuchung die Richtigkeit dieſes merkwürdigen
Geſtändniſſes ergab, fo wurde der ſeltſame Mörder vor Ge-
richt geſtellt und trotz des ungeheuren Aufſehens, das ſein Fall
in ganz England erregte, ſeinem Wunſch entſprechend zum Tod
durch den Galgen verurteilt. Auf der Leiter rühmte er ſich
noch, „eine ebenſo neue als ſichere Art des Selbſtmordes ent-
deckt zu haben“. W. F.
Treibjagd auf Schlangen. — Von einer ſolch merkwürdigen
gagd entwirft der Oberſt Marverley folgende Schilderung. „Die
Reſidentſchaft Bhartpur in Indien, die von dem Oſchamna-
fluß durchſtrömt wird, erfreut ſich wegen ihres Reichtums an
giftigem Gewürm in Kolonialkreiſen einer traurigen Berühmt-
heit. Die weiten, ſumpfigen Ebenen, zum Teil bedeckt mit
undurchdringlichem Dorngeſtrüpp, find ein vorzüglicher Schlupf
winkel für Giftſchlangen, aber auch für Tiger und anderes
Raubzeug. Die Reſidentſchaft, die 1905 noch 83,000 Bewohner
auf dem flachen Lande zählte, hatte im Jahre 1911 nur noch
50,000 Menſchen. Nicht etwa, daß dieſe durch die Reptilien
und die wilden Tiere derart dezimiert worden wären, denn
auf deren Rechnung hatte man jährlich ‚nur‘ drei- bis vier-
hundert Menſchenleben zu ſetzen, ſondern die Leute waren
einfach in weniger gefährliche Diſtrikte abgewandert.
Beſonders die Viehzucht hatte als notwendige Begleit-
erſcheinung dieſer Bevölkerungsabnahme einen derartigen Rüd-
gang zu verzeichnen, daß der Reſident von Bhartpur ſich im
Frühjahr 1911 zu energiſchen Maßregeln gegen die Verödung
der für Herdenwirtſchaft vortrefflich geeigneten Landſtrecken
entſchließen mußte. In der Hauptſache handelte es ſich darum,
einmal gründlich der Schlangenplage Herr zu werden. Dies
222 Mannigfaltiges. a)
wurde denn auch auf ebenſo praktiſche wie auch verpältnis-
mäßig einfache Weiſe erreicht. Auf Antrag des Refidenten
ſtellte man ihm ſechs Kompanien vom 8. Schützenregiment zur
Verfügung. Ebenſo erklärten ſich die meiſten Offiziere der
umliegenden Garniſonen freiwillig zur Teilnahme an dem
Vernichtungskriege gegen die Reptilien bereit.
Das Frühjahr 1911 war ungewöhnlich trocken und der
Pflanzenwuchs der Bhartpurebenen daher durch die Sonne
völlig verdorrt, ſo daß es keine Schwierigkeiten machte, die
Schlangen durch Niederbrennen des Dickichts aus ihren ſonſt
unzugänglichen Schlupfwinkeln herauszuräuchern. Am 14. April
1911 hatte ich Gelegenheit, dem erſten dieſer Treiben beizu⸗
wohnen. Es handelte fih um ein Gebiet von etwa 8000 Quadrat-
meter Größe, den reptilienreichſten, unwegſamſten Teil der
Reſidentſchaft, der zunächſt von dem giftigen Getier ge-
ſäubert werden ſollte.
Die Vorbereitungen waren einfach genug. Es wurde durch
das Militär rings um das. betreffende Landftüd ein etwa
70 Meter breiter Ring durch Feuer vom Graſe befreit, ſo daß
der Brand ſpäter nicht weiter als gewünſcht um ſich greifen
konnte. Am Zagdtage ſelbſt herrſchte ein nur mäßiger Wind,
der von den Höhen des Himalaja herab in der Richtung nach
Südweft wehte und dem Vorhaben durchaus günſtig war. Wir
Offiziere hatten uns am Rande des kahlen Schutzſtreifens in
Abſtänden von etwa 200 Metern poſtiert. Zwiſchen uns waren
Unteroffiziere und Mannſchaften aufgeſtellt, die zum Teil ebenſo
wie wir mit Schrotflinten bewaffnet waren. Neben jedem
Offizier ſtanden zwei Büchſenſpanner mit Kugelgewehren, da
man wußte, daß ſich innerhalb des Triebes auch größeres
Raubwild befand, mit deſſen Hervorbrechen beſtimmt zu rechnen
war. Ich ſelbſt hatte mir einen Platz an der rechten Längsſeite
des derart eingekreiſten Geländes ausgeſucht.
Gegen ſechs Uhr morgens begann die Jagd. Durch Horn-
ſignale, die in unſerer Kette weitergegeben wurden, verſtändigte
man uns, daß das Gras und das Geſtrüpp an der Nordoſtſeite
des umzingelten Geländes angezündet worden war. Kurz
darauf bemerkten wir auch ſchon am Horizont dichte Rauch-
u Mannigfaltiges. 223
wolken und roten Feuerſchein, die, vom Winde in der ge-
wünſchten Richtung vorwärts getrieben, langſam näher gerückt
kamen. Bald wurde es vor uns lebendig. Allerlei Wild huſchte
durch das Oickicht jenſeits des kahlen Streifens, vermied es
aber zunächſt noch, fih der Schügenlinie bis auf Schußweite
zu nähern. Verabredungsgemäß ſollte nur auf Raubzeug und
Schlangen geſchoſſen, alle anderen Tiere aber geſchont werden.
Jetzt knallten links von mir die erſten Schüſſe. Immer mehr
näherte ſich das Feuermeer. Schon ſah ich deutlich die roten
Flammenzungen zum Himmel lecken. Ä
Plötzlich zeigt mein eingeborener Diener Monſa auf einen
dunklen Körper, der ſich vor mir zwiſchen Akazienbüſchen hin-
durchdrückt. Jetzt habe ich den Kopf deutlich vor Augen. Es
iſt ein Lippenbär, ein großes, ſtarkes Exemplar. Zch reiße
dem Büchfenfpanner die Rugelbühfe aus der Hand. Zu ſpät.
Schon blitzt es neben mir bei Leutnant Ranlay auf. Der
Bär macht einen Satz in die Luft und bleibt dann regungslos
liegen. Kopfſchuß alfo. Ein paar Eingeborene ſtürzen über
den verkohlten Grasſtreifen und ſchleppen das mächtige Tier
nach Ranlays Platz hin.
Immer häufiger knallen die Schüſſe. An dem Klang
erkenne ich, daß es meiſt Schrotflinten ſind. Schon werde ich
ungeduldig. Das Jagdfieber hat mich gepackt. Ein paar wilde
Hunde kommen dahergerannt. Einer nach dem anderen über-
ſchlägt ſich ſchwer getroffen. Den letzten ſtreckt meine Kugel
nieder. Und dann windet es ſich über den ſchwarzen, ver-
brannten Boden auf mich zu. Deutlich ſind die dicken Köpfe
von Brillenſchlangen zu erkennen. Ein Unteroffizier links von
mir ſchießt. Die Schrote wühlen die Erde auf. Das vorderſte
Reptil krümmt ſich zuſammen, macht kehrt. Ich reiße meine
Doppelbüchſe an die Backe. Der Körper der Brillenſchlange
ſchnellt hoch, windet ſich wild hin und her. Auch die beiden
anderen werden ſchnell abgetan. Die Schrotbüchſe wirkt hier
vorzüglich. Kleinere Baumſchlangen fahren aus dem Geſtrüpp
heraus. Die mit Stöcken bewaffneten Eingeborenen ſchlagen
ſie tot. Einen Schuß wären ſie nicht wert. Noch vier mächtige
Kettenvipern kommen auf meine Rechnung.
224 Mannigfaltiges. o
Zetzt wird die Hitze unerträglich. Das Feuer ift teine
100 Meter mehr von uns entfernt. Wir müſſen weichen. Ich
poſtiere mich 30 Meter zurück auf einer vom Sturm umgeknickten
Dattelpalme, jo daß ich den kahlen Ring noch immer über-
ſchauen kann. Das Brandmeer zieht mit Kniſtern und Brauſen
langſam an uns vorüber. Viermal komme ich noch zum Schuß.
Drei weitere Kettenvipern und eine mächtige Brillenſchlange
krümmen ſich in letzten Zuckungen auf der ſchwarzen Erde.
Die Hitze, die einem faſt den Atem benahm, läßt endlich
nach. Ich ſuche meinen alten Platz wieder auf. Unſere Arbeit
iſt jedoch getan. Da vor uns in den noch immer glimmenden
Büſchen, wo hie und da noch einzelne Flammen hochſchießen,
iſt alles Lebende vernichtet. Die Eingeborenen beginnen ſchon,
unſere Beute zuſammenzutragen. Was davon noch lebt, wird
mit Knütteln vollends totgeſchlagen. Mein Diener Monſa
gerät mit dem des Leutnants Ranlay in einen heftigen Streit
um die zuletzt von mir geſchoſſene Brillenſchlange. Ich hatte
aber das beſſere Recht auf ſie, und ſo kommt ſie zu meinem
Haufen, der ſieben zerfetzte Schlangenleiber aufweiſt.
Nach einer weiteren halben Stunde ertönt das Signal,
daß die Jagd beendet iſt. Auf dem Sammelplatz herrſcht ein
Leben und Treiben wie bei einem Volksfeſt. Die Eingeborenen
tanzen wie die Beſeſſenen um die Körper ihrer gefürchteten
Feinde herum. Und immer neue Beute wird herbeigeſchleppt.
Als alles beieinander iſt, wird die Strecke genau durchgezählt.
262 Giftſchlangen, 2 Lippenbären, 1 Tiger, 16 Wölfe und wilde
Hunde ſind's. Ein Tiger iſt, wenn auch ſchwer angeſchoſſen,
durchgebrochen und entkommen. Leider hat ſich auch ein ernſter
Anfall ereignet. Einer der Unteroffiziere hat einen böſen
Kugelſchuß durch die linke Schulter erhalten. ö
Am Nachmittag war die Erde ſo weit abgekühlt, daß wir
das niedergebrannte Gebiet nach vielleicht noch vorhandenen
Reptilien abſuchen laſſen konnten. Hierbei wurden noch
42 halbverkohlte Schlangen gefunden. Im ganzen hatte dieſe
eine Treibjagd alfo ein Ergebnis von 304 Giftſchlangen auf-
zuweiſen, eine Zahl, die unſere Erwartungen bei weitem
übertraf.
u Mannigfaltiges. 995
Zu meinem Bedauern war es mir aus dienftlihen Gründen
nicht möglich, auch noch den fünf weiteren Treiben, die im
Laufe der nächſten Tage abgehalten wurden, beizuwohnen.
Auch bei dieſen handelte es ſich ſtets um Gegenden, die wegen
ihrer Unzugänglichkeit feit langem geradezu als Schlangenbrut-
ſtätten bekannt waren. Von Kameraden erfuhr ich dann, daß
die ſechs Jagdtage insgeſamt 921 Giftſchlangen, 3 Tigern,
4 Bären und einigen vierzig Wölfen und wilden Hunden das
Leben gekoſtet hatten.
Als ich dann ein Vierteljahr ſpäter bei Gelegenheit eines
militäriſchen Abungsmarſches jenes Gebiet, auf dem die erſte
Treibjagd ſtattfand, beſichtigte, war von den Verwüſtungen,
die das Feuer in der Vegetation angerichtet hatte, nirgends
mehr eine Spur zu erblicken. Glückliches Indien, deſſen Klima
wie durch einen Zauberſpruch im Verlauf weniger Wochen
eine üppige Grasdecke emporſchießen läßt, und wo Bäume
und Sträucher trotz der ſchwerſten Brandwunden überall neue
Triebe und Schößlinge anſetzen — glückliche Neſidentſchaft
Bhartpur, die dank dieſer energiſchen Maßnahmen für alle
Zeit den Namen ‚Schlangenparadies‘ verloren haben dürfte,
und auf deren Graslichtungen jetzt der Hindu ungefährdet ſeine
Hütte aufſchlagen, ſeine Herde weiden laſſen kann!“ W. K.
Eine hundertjährige Strafe hat jetzt ein Ende gefunden,
und zwar in der engliſchen Armee. Im Jahre 1812 war das
12. engliſche Ulanenregiment mit unter den Truppen, die an
dem ſogenannten Peninſularkriege in Spanien teilnahmen. Da-
mals kämpften die Spanier ihren Verzweiflungskampf gegen
Napoleon und wurden von den Engländern unterſtützt. Der
Feldzug war ſehr anſtrengend, beſonders die Verpflegung war
ſchlecht, und die engliſchen Soldaten mußten oft hungern.
Aus Verzweiflung, weil ſie ſchon längere Zeit nichts zu eſſen
bekommen hatten, drangen eines Tages Mannſchaften des
12. Ulanenregiments in ein ſpaniſches Kloſter ein und plün-
derten Küche und Keller. Natürlich beſchwerten ſich die Spanier
energiſch über dieſe Gewalttätigkeit ihrer Verbündeten, und
die Klage kam bis zum Höchſtkommandierenden, dem be-
rühmten Herzog von Wellington. Der ließ das ganze Regiment
1913. XI. 15
226 Mannigfaltiges. 2
antreten, hielt ihm eine donnernde Strafpredigt wegen der
Plünderung und verfügte endlich folgende Strafe: Jeden Abend
ſollte das ganze Regiment um zehn Uhr zum Appell antreten,
und die Muͤſikkapelle ſollte fünf Stücke ſpielen, und zwar die
engliſche Nationalhymne, die ſpaniſche und die ruſſiſche National-
hymne, den Walesmarſch und das Abendgebet. Während die
Muſik ſpielte, ſollten ſämtliche Mannſchaften ſtillſtehen. Der
Herzog verfügte gleichzeitig, daß dieſe Strafe hundert Jahre
dauern ſollte.
Während des Feldzuges und auch ſpäter wurde dieſe Strafe
beſtändig durchgeführt. Als aber das Regiment wieder in
der Heimat war, milderte man die Sache etwas: es trat nur
die Muſik an, um die fünf Stücke zu ſpielen, und den Soldaten,
die aus Neugier hinkommen wollten, war es geſtattet, anweſend
zu ſein. Im Laufe der Zeit betrachtete das Regiment das
allabendliche Spielen der Muſik nicht als eine Strafe, ſondern
als eine Art Vorrecht.
Das Regiment, das zurzeit in Südafrika ſteht, hat bisher
ſtreng diefe Abendmuſik durchgeführt. Die hundert Jahre
ſind jetzt vorüber; es iſt aber fraglich, ob dle Abendmuſik auf-
hören wird, weil das Regiment ſie als ein Vorrecht betrachtet
und wahrſcheinlich bei der vorgeſetzten militäriſchen Behörde
darum einkommen wird, ihre Strafabendmuſik weiter behalten
zu dürfen. A. O. K.
Der kleinſte Oſterreicher. — Wir find gewöhnt, uns die
Gebirgler als einen großen, kräftigen Menſchenſchlag vorzu-
ſtellen. Daß es aber auch hier Ausnahmen gibt, zeigt das
Beiſpiel des dreiundzwanzigjährigen Alois Unterkirchner, der
aus dem Puſtertal ſtammt. Er hat eine Körperlänge von nur
71 Zentimetern. Er dürfte damit der kleinſte Mann in ganz
Oſterreich-Ungarn fein. Von Beruf ift er Schneider. Er übt
dieſes Handwerk während des Winters auf den bäueriſchen
Höfen eifrig aus und ſoll darin ſehr geſchickt ſein. Im Sommer
hält er ſich in Kufſtein auf, wo er eine allgemein bekannte
„Größe“ iſt und gewiß ſchon dieſem oder jenem Beſucher Kuf—
ſteins auffiel. Die rechte Vorſtellung von ſeiner Winzigkeit
ergibt erſt der Vergleich mit einem Mann von normaler Größe.
Alois Unterkirchner, der kleinſte Oſterreicher.
Der auf unſerer Aufnahme abgebildete Herr iſt der Hotelier
Buſchauer, gegen den Unterkirchner wie ein Wichtelmännchen
erſcheint. Th. S.
228 Mannigfaltiges. o
Wie die Liebe entſtand. — Im lauſchigen Märchenwald
ruht ſchlummernd ein Mägdlein, das ſich in die tiefe Einſam-
keit beim Blumenſuchen verirrt hat. Ein zartes, anmutiges
Weſen mit ſonnigblonden Locken und roſigen Wangen. Aber
gleich einem heißen Verlangen, gleich einer ſtillen, ſchmerzenden
Sehnſucht liegt's über den träumenden Zügen.
Die junge Elfenkönigin, der das lockende Zauberreich unter-
tan iſt, feiert heute ihren Geburtstag. Ihr zu Ehren hat die
Natur ihr ſchönſtes Feſtkleid angelegt. Auf leichten, ſchleiern-
den Fittichen gleitet der Wind. Er beſucht die luſtigen Kobolde,
die oben in den blühenden Baumkronen ein heimlich Spiel
treiben. Mit ihrem ſchelmiſchen Kichern und neckiſchen Geflüſter
haben ſie die Sonne aus nächtlichem Schlafe geweckt. Nun
lacht ſie herzhaft über das ganze Geſicht. Vor lauter Vergnügen
rinnen ihr ein paar dicke Tränen über die runden Wangen,
um als glitzernder Tau auf die dankbare Erde zu fallen. Die
Blumen haben ihrer Königin ein duftiges, farbenfrohes Ge—
wand geſtickt. Das liegt ausgebreitet auf dem mooſigen Ge-
burtstagstiſch. In erfreulicher Ordnung fiken die Vögel auf
den friſch geputzten Zweigen. Nun beginnen fie ihr wohl-
einſtudiertes Ständchen. Still und andachtsvoll lauſcht der
grüne Waldſee. Nur manchmal klatſchen feine Wellen mit
jubelnder Freude leiſe in die Hände.
Die alfo gefeierte Elfenkönigin ift gerührt über ihr dant-
bares Völklein. Ein demütiges Freudegefühl ſteigt in ihr auf
und der Wunſch, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Auch
ſie will Freude bereiten. Hurtig ſchwingt ſie den demantenen
Zauberſtab. Da kommen kriechend und flatternd, hüpfend und
laufend alle ihre Untertanen herbei.
Und die Märchenmajeſtät hebt an: „Meine Lieben! Zu ge—
wichtigem Rate habe ich euch verſammelt. ZIch habe eine Bitte
an euch, mit deren Erfüllung ihr euer herrliches Geburtstags-
werk krönen ſollt. Seht ihr das ſchlafende Mägdlein dort, und
hört ihr die ſehnenden Seufzer, die dem einſamen Herzen
entſteigen? Sie kommt aus dem Menſchenland. Doch ihre
Seele iſt arm. Denn ihr fehlt die Liebe. Wir, die Bewohner
o Mannigfaltiges. 229
des Elfenreichs, wollen fie ihr bringen. Aber dazu muß ein
jedes von euch das Beſte opfern, das es beſitzt!“
Und ſo geſchah's. Die flinke Libelle ſchenkte ihre hauchhafte
Zartheit. Der Schmetterling die lockende Vielgeſtalt. Lang-
ſam brachte die Schnecke ihre zielſichere Beharrlichkeit. Einfach
und ſchlicht bot der unſcheinbare Wurm das wertvollſte Opfer
— Dulden und Verzeihen. Gar mannigfache Geſchenke gaben
die Blumen — gefällige Form und anmutige Weichheit. Süßen
Honig und berauſchenden Duft die anderen. Auch wohl ein
Tröpfchen heilſam bitteren Giftes oder etwas von ihrer be-
ſtechenden Farbenpracht. Mit jauchzenden Liedern waren die
Vögel zur Stelle. Der Wind brachte liebkoſende Sanftmut
und zwingende Sturmgewalt. Der ſtille Waldſee ſeine klare
Reinheit und unergründliche Tiefe.
Aus all dieſen Gaben formte die Elfenkönigin die Liebe.
Und als ſie die behutſam ins ſchlafende Menſchenherz ſenken
wollte, ſandte die Sonne juſt leuchtend ihren ſchönſten Strahl
herab auf die ſeligen Gefilde.
Da erwacht das träumende Mägdlein. Eine glückliche Bu-
friedenheit, eine hoffende Zuverſicht liegt auf den ſinnenden
Zügen. Eilenden Fußes verläßt ſie das Zauberland und trägt
die Liebe hinab zu den Menſchen. G. Grade.
Urſprung der Modebilder. — In dem heutzutage üblichen
Sinne gibt es Modebilder erſt ſeit etwa hundertdreißig Jahren.
Sie gingen von Frankreich aus, das in bezug auf Moden ſtets
den Ton angab. zndeſſen kam es ſchon in weit früherer Zeit
vor, daß ſich die Schneidermeiſter größerer Städte, wenn eine
neue Mode beſonderes Aufſehen erregte, die „getreuliche Ab-
bildung“ derſelben zu verſchaffen ſuchten. Derlei Bilder wurden
mitunter auch durch den Druck vervielfältigt und in den Handel
gebracht. So erſchien beiſpielsweiſe 1641 ein Blatt mit der
Abbildung von acht elegant koſtümierten Herren und der Unter-
ſchrift: „Wahrhaffte und getreie Conterfeyung der abſonderlich
koſtbaren und neuen Kleider, ſo bei der Tauffe des Dauphin
von Frankreich an dem Hof von Paris ſeind getragen worden.“
In Deutſchland dürfte der Urſprung der Modebilder in
230 Mannigfaltiges. u
dem geldreichen Augsburg zu ſuchen ſein. Matthäus Schwarz,
der Sohn eines angeſehenen Augsburger Bürgers, ſeit ſeiner
früheſten Jugend für den Handelsſtand ausgebildet und dann
bis an ſein Lebensende als Buchhalter des Welthauſes der Fugger
tätig, kam im Alter von dreiundzwanzig Jahren auf die wunder-
liche Idee, fih in allen Kleidungen, die er feit feiner Geburt ge-
tragen, abbilden zu laffen. Er war, fo erzählt er in der Vorbemer⸗
kung zu ſeinem „Klayderbüchlein“, bei dem Geſpräch mit älteren
Leuten oft ganz verwundert, wenn ſie ihm die ſeltſame, auf
den Bildern ihrer Eltern dargeſtellte Kleidung als etwas vor
fünfzig Fahren ganz Alltägliches geſchildert hatten. Er ließ
nun einen Oktavband aus ſchönen Pergamentblättern an-
fertigen und auf letzteren die Kleidungen, die er in ſeinem
Leben getragen, von vorzüglichen Malern darſtellen. Als ein
Beweis der unſeren Altvordern eigenen Gewiſſenhaftigkeit dient
es, daß auf dem erſten Bilde ſeine Mutter in dem Kleide
dargeſtellt ift, das fie zur Zeit feiner Geburt trug. Dann er-
ſcheint Matthäus in der Wiege, am Kindertiſchchen, als Schul-
knabe, als Chorknabe und als Page des berühmten kaiſerlichen
Hofnarren Kunz von der Roſen. Dann ift Matthäus als Hand-
lungsreiſender, als Jäger, im Ballanzuge, als Bogenſchütze,
als Fechtſchüler, im Trauer- und im Hochzeitsanzuge und im
Feſtgewande bei dem Empfange des Erzherzogs Ferdinand
Dargeftellt. Nicht weniger als zweiundvierzig künſtleriſch ausge-
führte Blätter beziehen ſich auf die von ſeiner Geburt bis zum
Jahre 1520 reichende Periode. Von jetzt an ließ er ſich, ſobald er
einen neuen Anzug erhalten hatte, ſofort in dieſem abbilden.
In manchem Fahre ließ Schwarz ſich ſechs, ja wiederholt bei
feſtlichen Gelegenheiten für einen einzigen Tag drei Anzüge
machen.
Auch ſein Sohn Veit Kaſpar legte ſich ein ſolches Buch an.
Er erſcheint darin als Kind, als Schulknabe, als Reiſender, als
Fechtzögling, als Schütze, im Ball- und Maskenkoſtüm, im
ganzen auf einundvierzig Blättern. Dabei beſchreibt er in der
ausführlichſten Weiſe, welche Stoffe und wie viel von denſelben
zu den Anzügen genommen wurden, welche Farbe das Futter ge—
habt und wie viel Gold, Silber, Spitzen, Edelſteine und Perlen
o Mannigfaltiges. 251
zur Verwendung kamen. Doch wurde dieſes Buch nur durch
neunzehn Jahre fortgeſetzt, und der größte Teil der Blätter
blieb unausgefüllt.
Beide Bücher gelangten im Laufe der Zeit in viele Hände,
bis ſie endlich in den Beſitz des Herzogs von Braunſchweig
kamen. D. C.
Milh- und Frühſtückſchützer. — Milchtöpfe und Frühſtück⸗
beutel werden bisher des Abends zumeiſt vor die Rorridor-
türen und auf Treppenabſätzen frei hingeſtellt oder hingehängt,
und wer zählt die vielen Fälle, wo fie verunreinigt oder ge-
ſtohlen wurden.
Der auf unſeren beiden umſtehenden Bildern wieder-
gegebene Apparat dürfte unter den vielen Erfindungen, die in
den letzten Fahren zum Schutze des Frühſtücks gemacht wor-
den ſind, der einzige ſein, der einen wirklichen Schutz bietet
und zugleich recht praktiſch ift.
Der Apparat iſt in ſeinen Hauptteilen aus Eiſenblech ton-
ftruiert und dabei fo eingerichtet, daß er an allen vortommen-
den Korridortüren angebracht und bei Nichtbenützung flach
gegen die Tür gelegt werden kann. Die Rückwand wird durch
eine Feder zugehalten, fo daß ein unbefugtes Offnen des Appa-
rates von außen nicht möglich iſt. Sie läßt ſich aber hoch-
klappen, ſo daß man die Gegenſtände bequem herausnehmen
kann. Durch ein einfaches Anheben wird der Apparat flach
gegen die Tür gelegt und durch eine zweite Feder in dieſer
Lage gehalten. Die Anbringungsart erſehen wir aus unſeren
Bildern. Es iſt natürlich ganz gleichgültig, ob der Apparat
oben, unten, in der Mitte, rechts oder links angebracht wird.
Jedenfalls wird die Korridortür nicht verunziert. Der Inhalt
kann durch einfaches Anheben des Apparates herausgenommen
werden, ohne daß die Korridortür geöffnet werden muß.
Der Apparat iſt weiter dazu beſtimmt, Waren lleineren
Umfanges in Empfang nehmen zu können; auch geſtattet der-
ſelbe durch Hochklappen der Rückwand eine ungehinderte Unter-
haltung bei geſchloſſener Tür, was zur Sicherheit der Bewohner
von großer Bedeutung iſt. Eine weitere Annehmlichkeit bietet
der Apparat inſofern, als beſtellte Ware in der Wohnung ab—
292 Mannigfaltiges. D
geliefert werden kann, ohne daß man ſelbſt dabei zu fein braucht.
Man gibt einfach den Schlüſſel für den Apparat beim Rauf-
à
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Der Frühſtückſchützer geſchloſſen.
mann uſw. ab, der Bote öffnet beim Abliefern der Ware den
Apparat, legt den Schlüſſel mit der abzuliefernden Ware hinein
und klappt die Tür wieder zu. Für jeden Apparat iſt ein be—
o Mannigfaltiges. 255
ſonderer Schlüffel vorgeſehen. Selbſtverſtändlich läßt ſich tiefe
Einrichtung auch als Briefkaſten verwenden.
j
I}
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d
1
Der Frühſtückſchützer geöffnet.
Der hygieniſche und diebesſichere Milch- und Frühſtück—
ſchützer, der durch den Architekten F. Kitzerow, Charlottenburg,
Schlüterſtraße 78, vertrieben wird, iſt infolge ſeiner einfachen
234 NMannigfaltiges. o
Konſtruktion ſehr billig und wird daher ſicher in weiten Kreiſen
Einführung finden. H. H.
Das Vaterunſer der Bauern. — Eine ergreifende Erinnerung
an den Drud der franzöſiſchen Fremdherrſchaft in Deutſchland
während der Jahre 1806. bis 1813 und an den grimmigen Haß,
den derſelbe beſonders auch bei den deutſchen Bauern gegen
die fremden Eindringlinge hervorgerufen hatte, bietet ein aus
jener Zeit herrührendes, das „Vaterunſer der Bauern“ betiteltes
und an den bekannten Text des Vaterunſers angelehntes Ge-
dicht dar, welches nach einem uns vorliegenden N
Exemplar folgenden Wortlaut hatte:
Vater unſer, der du biſt im Himmel,
Befrei uns von dem Kriegsgetümmel
Und von der Tyrannei Gezücht,
Auf daß ihr Unternehmen nicht
Geheiligt werde,
And daß nicht Frankreichs frecher Same
Bei uns mehr gelte als
Dein Name.
Sie quälen ohne Ruh’ und Naft
Und ſchreien: Bauer, was du haſt,
Zu uns komme!
Sie rauben, plündern immerdar
Und, wenn ſie könnten, auch ſogar
Dein Reich.
Herr, wenn du ſie wollſt all erſchlagen,
Wir Bauern würden freudig ſagen:
Dein Wille geſchehe!
Denn, wenn man nichts von ihnen hört',
So lebten wir auf dieſer Erd’
Wie im Himmel.
Ich weiß nicht, wem das Volk gehört,
Im Himmel ſind ſie gar nichts wert,
Alſo auch auf Erden.
Feig, ohne Treu' und ohne Glauben,
Sind ſie nur tapfer, wenn ſie rauben
Anſer tägliches Brot.
Mannigfaltiges. 235
So treiben ſie's an allen Orten.
Sie brüllen wie die Hunnenhorden:
Gib uns!
Drum wär' es uns die größte Freude,
Wenn ſie verſtummten lieber
Heute
Als morgen. Doch was frommt das Klagen?!
Laßt uns nicht mehr demütig ſagen:
Vergib uns!
Denn laſſen wir ſie ſtets ſo walten,
So iſt's, wenn ſie für feig uns halten,
Anſere Schuld.
Darum verachten ſie uns eben,
Daß gleichſam ſo,
Wie wir vergeben
Ans unſre Ehre, unſern Ruhm,
Wir geben uns zum Eigentum
Anſern Schuldigern.
Mißtrauet künftig ihren Lügen,
And prahlen ſie mit ihren Siegen,
So laßt es zwar dabei bewenden,
Doch ſprecht mit aufgehobnen Händen:
And führe uns nicht in Verſuchung!
Laß, lieber Gott, von ihren Tücken
Ans auch in Zukunft nicht berücken,
Sondern erlöſe uns
Von Frankreichs und des Teufels Bund,
Von Bonapartes Herrſchaft und
Von dem Übel
Der napoleoniſchen Monarchie!
Der Deutſchen Ehre welke nie.
Denn dein iſt das Reich.
Vergebens floß viel Menſchenblut,
Noch iſt's nicht aus! Euch ſchwand der Mut
And die Kraft. l
Bald zieht ihr ab mit langer Nafe,
Zerplatzen wird die Seifenblaſe
236 Mannigfaltiges. a
Und die Herrlichkeit.
Die Schande bleibt
In Ewig keit.
Amen. N. v. B.
Lincoln und der ſterbende Soldat. — Als der blutige
Bürgerkrieg zwiſchen dem Norden und Süden der Vereinigten
Staaten wütete, beſuchte Präſident Lincoln ein Militärlazarett.
Manches freundliche, ermunternde Wort richtete er an die
verwundeten Soldaten, als er durch die verſchiedenen Abtei—
lungen dahinſchritt. Zuletzt kam er auch an das Bett eines
erſt ſechzehn Jahre alten, tödlich verwundeten jungen Kriegers.
Der Präſident ergriff die weißen Hände des Sterbenden
und fragte teilnahmvoll: „Mein armer Junge, was kann ich
für dich tun?“
Der Soldat ſchlug ſeine Augen langſam auf, blickte in das
gütige Antlitz des Präſidenten und ſprach bittend: „Wollen
Sie nicht für mich an meine Mutter ſchreiben?“
„Gerne,“ erwiderte Lincoln, verlangte Feder, Tinte und
Papier, ſetzte ſich neben das Bett nieder und ſchrieb, was ihm
der Sterbende todesmatt zuflüſterte. Es war ein ziemlich
langer Brief.
Als das Schreiben beendet war, erhob ſich Lincoln, um
den Brief ſelbſt zur Poſt zu befördern. Zuvor fragte er aber
noch den armen Zungen, ob er ihm ſonſtwie noch dienlich fein
könne.
Flehentlich ſchaute der Sterbende den Präſidenten an und
bat: „Ich möchte mich ſo gerne an Fhren Händen feſt—
halten.“ l
Lincoln verstand ſofort, ſetzte fih wieder nieder und ergriff
zärtlich die Hand des Soldaten. Zwei Stunden lang harrte
er geduldig aus wie ein Vater am Sterbelager ſeines Sohnes.
Nachdem das Ende herangekommen war, beugte ſich der Prä—
ſident nieder über den jungen Krieger, tief von Schmerz be—
wegt, drückte ihm die Augen zu und faltete feine im Tod er-
ſtarrten Hände auf der Bruſt.
Als Lincoln bald darauf das Spital verließ, rannen ihm
noch Tränen über die Wangen. O. v. B.
D Mannigfaltiges. 237
Die Farbe des Weines und der Weintrauben. — Wie
die Färbung des Notweines zuſtande kommt, darüber werden
gar nicht ſo viele Leute aufgeklärt ſein, wenn ſie ſich nicht
zufällig mit. der Weinbereitung nach irgend einer Hinſicht
beſchäftigt haben. Wer gar nichts davon weiß, wird vielleicht
vorſchnell ſagen, die Trauben, aus denen der Rotwein gewonnen
wird, ſeien ja rot bis veilchenblau gefärbt. Dieſe Tatſache
gibt aber noch keine Erklärung, wie man ſich ſelbſt ſagen wird,
wenn man eine dunkelgefärbte Traube zwiſchen den Fingern
zerdrückt. Das Fleiſch und der Saft der Traube, woraus doch
der Wein bereitet wird, ſind nämlich durchaus farblos, auch
wenn die Beeren faſt blauſchwarz ausſehen.
Die Chemie der Farbſtoffe im Wein iſt ein recht ſchwieriges
Forſchungsgebiet, das noch gar nicht ſeit langer Zeit von der
Wiſſenſchaft in Angriff genommen iſt. Die erſten wichtigen
Unterſuchungen rühren her von Morren, der den anatomiſchen
Bau der Weintraube ſtudierte und dabei das Vorhandenſein
einer febr großen Zahl roter Körper von ſtarker Färbung nach-
wies, weiterhin von Prillieux und dann von Profeſſor Pollaci.
Der Zweitgenannte unterſuchte beſonders die Traubenſchale
und fand in ihr Farbſtoffe in zweifacher Form: einmal als
winzige Tröpfchen, die jedes für ſich in einem Bläschen mit
äußerſt dünnen Wänden eingeſchloſſen find, und zweitens als
einen körnigen Niederſchlag, der ſich bei der Behandlung mit
Säuren rot und in einer alkaliſchen Flüſſigkeit wieder blau
färbte.
Grundlegend für das Verſtändnis der Weinfarbe ſind aber
erſt die Arbeiten von Pollaci geworden. Er unterſcheidet in
der Traube drei verſchiedene Farbſtoffe unter den etwas ſchwie—
rigen Namen: Phyllocyanin (Blattblau), Phylloxanthein (Blatt-
gelb) und Önocyanin (Weinblau), letzterer wohl auch einfacher
Onolin genannt. Die erſten beiden Stoffe find von allge-
meinſtem Vorkommen in der Pflanzenwelt, da ſie ſich in jedem
grünen Blatt finden.
Das Blattgrün oder Chlorophyll fegt fih nämlich aus einem
blauen und einem gelben Farbſtoff zuſammen, die eben mit
jenen beiden identiſch ſind. In einer grünen Traube ſind ſie
238 Mannigfaltiges. G
allein vorhanden, fo daß deren Färbung demnach ganz auf
demſelben Wege zuſtande kommt wie das Grün der Blätter.
Die bläuliche oder veilchenbläuliche Färbung der Trauben wird
erſt durch die Anweſenheit des Weinblaus bewirkt. Es tritt
als Flüſſigkeit auf.
Außerdem ift nun aber noch, wie ſchon erwähnt, ein gater
dunkler Farbſtoff in feſten Körnchen in der Traubenſchale vor-
handen — Morren nennt ihn Careſen. Die Körnchen find voll-
ſtändig undurchſichtig und können unter dem Mikroſkop erft
genauer unterſucht werden, nachdem ſie längere Zeit mit
Alkohol behandelt ſind. Es iſt ganz beſonders merkwürdig,
wie dieſer Farbſtoff in die Trauben gelangt. Es geſchieht näm-
lich, wie dies einwandfrei nachgewieſen iſt, von den Blättern
aus. Die Körnchen beſtehen aus gerbſauren Verbindungen,
die zunächſt farblos in den Blättern erzeugt werden und während
der Reifezeit allmählich in die Trauben wandern, wo fie fid
in den Schalen niederſchlagen und durch Verbindung mit
Sauerſtoff bei Berührung mit der Luft rot färben. Wird dem
Farbſtoff der Weg von den Blättern in die Trauben verſperrt,
was namentlich durch den Stich eines Inſekts veranlaßt werden
kann, fo tritt die ſogenannte Rotkrankheit des Weines ein, bei
der die Trauben eine ſchwach rötliche Färbung erhalten, während
die Blätter intenfiv rot werden.
Nach dieſen Darlegungen verſteht es ſich von ſelbſt, daß der
Rotwein ſeine Färbung aus den Trauben nur dann erhalten
kann, wenn die Schalen bei der Weinbereitung mitbenützt
werden, und zwar darf die Schale nicht früher von dem Trauben-
ſaft getrennt werden, als bis die Gärung begonnen hat. Dar-
aus ergibt ſich ferner, daß aus dunkelroten oder blauen Trauben
auch ein ganz farbloſer Wein bereitet werden kann, wenn näm-
lich die Schalen frühzeitig ausgeſchieden werden. Sch.
Wertvolle Flöhe. — Der engliſche Baronet Walter Noth-
ſchild iſt als eifriger Tierſammler bekannt. Sein zoologiſcher
Garten genießt Weltberühmtheit, da dort die ſeltenſten Tiere
zu finden find. Selbſt die Hagenbeckſche Sammlung im Stel-
linger Tierpark iſt nicht ſo vielſeitig. Allerdings ſtehen ja auch
dieſem Milliardär ganz andere Mittel zur Verfügung als einem
2 Mannigfaltiges. 239
gewöhnlichen Privatmann. Jahrelang hat er in den ab—
gelegenſten Gegenden der Erde ganze Jägertrupps unterhalten,
um beſonders auf ſelten vorkommende Tiere Jagd machen
zu laſſen. Aber auch auf die Welt der kleinen und kleinſten
Tiere, auf Würmer und Inſekten, erſtreckt ſich Rothſchilds.
Sammlerleidenſchaft.
So beſitzt er eine wohlgeordnete Sammlung von Flöhen,
im ganzen weit über zweitauſend Stück, lauter Vertreter
verſchiedener Arten, die auf Säugetieren oder Vögeln als
Schmarotzer leben. Dieſe Sammlung hat ebenfalls recht
bedeutende Geldausgaben erfordert. So blieben zum Beiſpiel
Rothſchilds Bemühungen, ſich einen Floh des im hohen Norden
lebenden Eisfuchſes zu beſorgen, längere Zeit vergeblich. Der
Vollſtändigkeit halber mußte diefe Spielart der kleinen hüpfen-
den Blutſauger aber auf jeden Fall beſchafft werden. Daher
ließ der Baronet ſchließlich in die kanadiſchen Zeitungen eine
Anzeige einrücken, in der er demjenigen, der ihm den echten
Floh eines Eisfuchſes zuſenden würde, eine Belohnung von
50 Pfund (1000 Mart) für das Stück zuſicherte.
Nach einem halben Fahre ſchickte ihm denn auch wirklich
ein Pelzjäger namens Perſington aus Fort Reſolution am
Großen Skllavenſee eine verſiegelte, febr ſorgfältig verpackte
Flaſche als Wertſendung zu, in der ſich vier echte Eisfuchs-
flöhe befanden. Der Sendung lag ein amtlich beglaubigtes
Schreiben bei, daß die Flöhe von einem in einem Eiſen lebend
gefangenen Eisfuchs abgeſammelt worden ſeien.
Der glückliche Pelzjäger hat ſicher nie wieder in ſeinem
Leben eine fo gewinnbringende Jagd abgehalten, denn er
erhielt tatſächlich die ihm zuſtehenden 200 Pfund umgehend
angewieſen. W. K.
Eine teure „Leiche“. — Sind Druckfehler ſchon der Schrecken
der Setzer, Korrektoren und Redakteure, obwohl fie meiſt nur
humoriſtiſche Folgen zeitigen, fo können die ſogenannten „Lei-
chen“, im Satz ausgelaſſene Worte, bisweilen ſogar recht emp—
findlichen Schaden heraufbeſchwören. Am ſchlinmmſten in dieſer
Beziehung erging es dem Londoner Verleger Moore, der im
Jahre 1702 eine neue Bibelausgabe erſcheinen ließ. Kaum
240 Mannigfaltiges. a
war das Werk in den Handel gelangt, als ſich eines Tages
ein Polizeibeamter bei Moore einfand und ihn vor den Richter
führte. Dieſer ſchlug, als der Verleger ganz entrüſtet fragte,
was er denn verbrochen habe, die neue, auf dem Tiſch lie-
gende Bibel auf und zeigte dem entſetzten Moore im 5. Buche
Moſis Kapitel 5 den 21. Vers. Da ſtand: „Du ſollſt begehren
deines Nächſten Haus, Acker, Knecht, Magd“ uſw. Der Setzer
war über eine „Leiche“ geſtolpert. Das für den Sinn ſo
überaus wichtige „nicht“ war von ihm überſehen worden,
und dieſer Fehler machte nun die ganze Bibelauflage nach
Anſicht des Richters zu einer das Staatswohl gefährden-
den, da darin ja eine direkte Aufforderung zum Diebſtahl
enthalten war.
Moore wurde wirklich nicht nur zu einer hohen Geldſtrafe
verurteilt, ſondern es wurde außerdem auch die neue Bibel-
auflage eingezogen und vernichtet. Nur ein einziges Exemplar
von der verhängnisvollen Ausgabe ward dem Londoner Muſeum
überwieſen, wo es ſich noch heute befindet. W. K.
Schwierige Wahl. — König Eduard VII. von England war
als Prinz von Wales ein nicht ſeltener Gaſt in dem ſchönen
Paris. Einſt wurde er dort von den Stadtverordneten im
Rathauſe feierlich empfangen, und es entſpannen ſich dabei
recht ungezwungene Geſpräche, die dem Prinzen viel Spaß
machten.
So knüpfte er mit der Gattin eines der biederen Stadtväter
eine Unterhaltung an und fragte unter anderem: „Haben Sie
auch Kinder, Madame?“
„Gewiß. — Sie auch?“
„Ja, ich auch,“ ſagte lächelnd der Prinz.
„Und was laffen Sie Fhre Kinder werden?“ forſchte die
Dame.
Prompt erwiderte Eduard: „Der Alteſte foll einmal König
von England werden, für die anderen habe ich aber noch nichts
Paſſendes gefunden.“ A. Sch.
Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von
Theodor Freund in Stuttgart,
in Oſterreich⸗Ungarn verantwortlich Dr. Eruſt Perles in Wien.
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schönen Teint erlangen u. erhalten will,
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Ferner macht Cream „Dada“ rote u. spröde
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Jeder fpielt fofort Klavier!
Es gibt feine Kunſt, die dem Volke ſchwerer beizubringen ift, als die Muſik. Sie
bedarf einer eigenen Schrift, deren Studium beſonders betrieben werden muß und
nicht leicht iſt. Wie viele Laien würden ſich zum Beiſpiel an das Klavier ſetzen und
einige Lieder ſpielen, wenn fie Notenkenntniſſe hätten! Mande beheljen fih dadurch,
daß ſie nach Gehör auf dem Klavier herumphantaſieren — es iſt dann aber auch
danach. So wunderbar kunſtvoll das alte Notenſyſtem iſt, ſo wenig populär iſt es.
In der Großſtadt mag es noch angehen, denn da wird — beſonders in letzter Zeit —
in den Schulen muſikaliſch-theoretiſcher Unterricht erteilt, aber die Muſikliebenden
in den kleineren Städten oder gar auf dem Lande ſind übel dran. Erſt als Erwachſene
können ſie daran denken, in die Geheimniſſe der Muſikſprache einzudringen und auch
dann noch iſt es mit großen Schwierigkeiten verbunden. Für dieſe Leute mußte da—
her ein Notenſchema geſchaffen werden, das keine Umwertung braucht, das direkt, wie
es geleſen wird, geſpielt werden kann. Man darf e8 deshalb mit Freuden begrüßen,
daß es in der „Taſtenſchrift“ gelungen ift, ein Syſtem zu erfinden, welches in gerade—
zu glänzender Weiſe das uralte Problem, die bisherige Notenſchrift zu vereinfachen,
gelöſt hat. Alle die komplizierten Einzelheiten der üblichen Notenſchrift fallen hier
gänzlich fort: Vorzeichen, alſo auch Auflöſungs- und Erniedrigungszeichen gibt
es bei der Taſtenſchrift überhaupt nicht. Die Taſtenſchrift ift jo leicht faßlich, daß
man mit Fug und Recht behaupten darf, nach ihr ſofort Klavierſpielen zu können.
Notenkenntniſſe ſind nicht erforderlich.
Ohne an ein beſtimmtes tägliches Penſum gebunden zu ſein, ſchreitet der Lernende,
kaum merkend, daß er überhaupt lernt, vorwärts, um kurz über lang das zu er—
reichen, was jahrelang ſeine Sehnſucht war. Die Taſtenſchrift iſt eine abſolut ernſt zu
nehmende Methode, mit der man das Klavierſpiel individuell, ohne Muſikſtümperei
zu treiben, erlernen kann. Tauſende, ſelbſt im vorgeſchrittenen Alter befindliche,
haben das Klavierſpiel nach der Taſtenſchrift bereits erlernt und dies durch zahlreiche
Anerkennungsſchreiben, wovon etliche hier wiedergegeben werden, dokumentiert:
„Lernte, ohne vorher auch nur eine Ahnung vom Klavierſpiel zu haben, trotz
meiner 42 Jahre ſchon ganz hübſch ſpielen.“ Dresden, Paul K.
„Nie hätte ich geglaubt, mit 60 Jahren noch ſo ſchnell e zu lernen.“
Züllichau, Frau L. K.
„Ich habe mich überzeugt, daß Ihre Taſtenſchrift außerordentlich leicht zu er—
lernen iſt und um nichts der alten Notenſchrift nachſteht.“ Miechowitz, Lothar H.
Das komplette Werk, das neben allen zur Erlernung notwendigen Einzelheiten
auch noch etwa 30 vollſtändige Muſikſtücke, wie Lieder, Märſche, Tänze uſw. enthält,
koſtet Mk. 5.— und kann gegen vorherige Einſendung des Betrages oder Nachnahme
von dem Muſik⸗Verlag Euphonie, Friedenau 11 bei Berlin bezogen werden.
An Intereſſenten, die es für erforderlich halten, ſendet der Verlag gegen Ein—
ſendung von 50 Pfg. Aufklärung und einige Probeſtücke der Taſtenſchrift.
Das jetzt ca. 350 Nummern umfaffende Muſikalienrepertoir der Taſtenſchrift
wird ſtändig auch mit den neueſten Schlagern erweitert.
66 verfolgt das Prinzip
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bewirkt durch seine sinnreiche Konstruktion
S? sofort gerade Haltung ner Be- erweitert die Brust!
BesteErfindung E einegesunde militärischeHaltung.
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Preis Mk. 4.50 für jede Grösse.
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