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Zu der Erzählung „Der Stern von Travankore“
von W. Granville Schmidt. (S. 18)
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Erzählung von W. Granville Schmidt. Mit Bildern
von Adolf Waldt nn nn.
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Ein berühmter Meineiid 0.
Raubtiere als Beſchützer ihrer Herren:.
Das Alter unſerer Kinderſpiett lk
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Der Kurfürſt mit den zwei Frauen
Hygieniſche Bedeutung der Gewitter.
Der hiſtoriſche Moment
Eine Parade in Katman nm
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Seite
4 Snhalts-DBerzeichnis. 0
Naſenformen und Naſenformungen . . 228
Mit 2 Bildern. |
Den eigenen Tod gemeldde 230
Die ſächſiſchen Schöppple n . 232
Der japaniſche Kronprinz. 235
Mit Bild. 8
Eine Liebe iſt der anderen weerrtrt 235
Ein ſchottiſcher Münch hauen 2855
Die kleine Zehe ei 256
Wann darf eine franzöſiſche Frau Männertleidung
tragenn??n?2snsns n 238
Nicht zu verblüffe nnn 238
Bauernſchlau heit.. 240
Die Gabe der kleinen Mädchen 240
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Der Stern von Travankore.
Erzählung von W. Granville Schmidt
mit Sildern von 1
Adolf Wald. inachoͤruck verboten.)
Sat in Amſterdam! Weiß und rot flammten
die Kaſtanien; ſchwerfällige Kähne glitten durch
ſtille Grachten, auf denen die Sonne wie flüſſiges Gold
lag; von weither trug der blaue u verhallendes
Glockengeläute.
Langſam folgte ich dem Laufe der Kanalböſchung
und muſterte die eintönigen Faſſaden der ſchlichten,
ſauberen Häuſer. Hier in den Vororten verebbte das
brandende Leben der niederländiſchen Handelsmetro-
pole, hier glaubte man ſich in die vornehme Ruhe einer
kleinen mitteldeutſchen Reſidenz verſetzt. Nur zuweilen
ſchritt ein Mynheer mit ſteifer Würde vorüber, oder
ein blonder Mädchenkopf tauchte flüchtig hinter blinken
den Fenſterſcheiben und farbenfrohen Hyazinthen—
töpfen auf.
Wie hatte mein neuer Bekannter, der Redakteur
einer großen Amſterdamer Zeitung, doch geſagt? „Ja,
unſer Land iſt nüchtern, und die Menſchen darin ſind
breit wie ihre Sprache; aber ich glaube, Sie würden
Land und Leute bei längerem Hierſein dennoch lieb-
gewinnen. Suchen Sie mich morgen nachmittag in
unſerem Donnerstagklub auf; Sie werden es nicht be-
6 Der Stern von Travankore. u
reuen, denn nirgends gibt ſich der Holländer freier als
bei ſolchen gemütlichen Zuſammenkünften.“
Nun war ich auf dem Wege nach dem Klubgebäude.
Nur zwei Tage blieben mir noch für Amſterdam; dann
wollte ich zu Schiff weiter nach New Vork. Doppelt
dankbar war ich daher meinem liebenswürdigen Ve—
kannten, daß er es mir durch ſeine Einladung ermög—
lichte, einen tieferen Blick in das geſellſchaftliche Leben
des modernen, gebildeten Holländers zu tun.
Der Donnerstagklub zählte hauptſächlich Mitglieder
der Preſſe zu feinem Kreiſe; aber auch beſſere Kauf-
leute, Induſtrielle und Privatleute waren allezeit will-
kommen. Etwa fünfzehn bereits ältere Herren, darunter
mein neuer Bekannter, waren anweſend und begrüßten
mich mit ungezwungener Freundlichkeit, ſo daß ich mich
ſchnell heimiſch zu fühlen begann.
Die Unterhaltung war ſehr lebhaft und drehte ſich
ausſchließlich um die bevorſtehende „Jungfernreiſe“ der
„Neederland“. Dieſer Dampfer war nicht nur Hollands
größtes und beſteingerichtetes Schiff, ſondern ſeine
Turbinen ſollten ihm auch, dank einer ſorgſam geheim—
gehaltenen Verbeſſerung in der Konſtruktion, eine
enorme Geſchwindigkeit verleihen.
„Ballen Sie auf,“ wandte ſich mein neuer Ve—
kannter mit leuchtenden Augen zu mir, „mit dieſem
Schiffe reißen wir das blaue Band des Ozeans an uns.
Die ‚Neederland‘ wird alle Rekorde engliſcher und
deutſcher Schiffe ſchlagen, und dann wird auch Holland
wieder unter den fchiffahrttreibenden Mächten die
Stellung einnehmen, die ihm nach feiner ruhmvollen
maritimen Vergangenheit gebührt.“
Die anderen Herren nickten bedächtig, und ich ent—
gegnete: „Um fo mehr werde ich mich freuen, dieſe
für Ihr Land ſo bedeutungsvolle Fahrt mitmachen zu
2 Erzählung von W. Granville Schmidt. 7
können. Ich ſoll nämlich im Auftrage einer großen
Tageszeitung an der erſten Überfahrt teilnehmen, weil
man in der ganzen Welt mit Spannung den Leiſtungen
dieſes neuen Rekordſchiffes entgegenſieht.“
„Sie Glücklicher!“ meinte einer der Herren, ein an-
geſehener Reismakler, mit leiſem Neid. „Es ſind hier
kleine Vermögen von Leuten geboten worden, die aus
Luſt an Senſationen dieſe Rekordfahrt mitmachen
möchten; aber alle Kabinen ſind bereits beſetzt, und
Fahrkarten werden ſeit geſtern nicht mehr ausgegeben.
Ja, mein Herr, Hunderte werden Sie um dieſe Reiſe
auf dem ſchönen Schiff beneiden.“
„Abrahams hat es ja doch noch möglich gemacht,
ſich eine Kabine zu ergattern,“ warf ein anderes Rlub-
mitglied ein.
„Ja, der Glückspilz!“ rief der Reismakler. „Übrigens
hat er eigentlich ſein Anrecht auf dieſe Fahrt verwirkt,
denn er darf von Rechts wegen ja gar nicht mehr unter
den Lebenden weilen.“
„Sie meinen, weil er den ‚Stern von Travankore“
im Beſitz hat?“ forſchte einer der Herren.
„Eben darum!“ entgegnete der Makler langſam.
Ein minutenlanges Schweigen brach in dem Raum
aus, und die Herren blickten nachdenklich dem Rauch
ihrer Pfeifen und Zigarren nach.
Das erſte Mal in meinem Leben hörte ich von dem
„Stern von Travankore“, und ich konnte mir keinen Vers
darauf machen, warum ſein Beſitz den Tod bringen
ſollte. Aufklärung heiſchend, wandte ich mich an meinen
Bekannten.
Mit leichtem Lächeln erwiderte er: „Sie dürfen
mich nicht für abergläubiſch halten, denn ich erzähle
Ihnen nur nackte Tatſachen, die für ſich ſelbſt ſprechen.
Alſo der ‚Stern von Travankore ſiſt ein großer, äußerſt
8 Der Stern von Travankore. 1
koſtbarer Diamant. An dieſen Stein knüpft ſich nun die
Legende, daß derjenige, der ihn im Beſitz hat, durch-
aus eines unnatürlichen Todes ſterben muß.“
„Hat er dieſe zweifelhafte Berühmtheit auf Grund
wirklicher Ereigniſſe erworben?“
„Ja, das iſt eben das Eigentümliche, die Tatſachen
ſcheinen dem abergläubiſchen Gerede recht zu geben.
Hiſtoriſch bewieſen iſt, daß er zuerſt einem Sultan ge-
hörte, der ſeines Thrones beraubt und ermordet wurde;
darauf kam er in den Beſitz der unglücklichen Marie
Antoinette. Nach deren Tode gelangte er in die Hände
der Prinzeſſin Lamballe, jener Frau, die von dem
raubenden Pöbel maſſakriert wurde, und ſo gelangte
er zuletzt in den Beſitz eines hier anſäſſig geweſenen
Juweliers. Dieſer Mann verübte vor drei Wochen in
einem Anfalle unerklärlicher Schwermut Selbſtmord.
Unter dem verſteigerten Nachlaß befand ſich auch der
‚Stern von Travankore“. Unſer Klubmitglied Hendrik
Abrahams, ein weitbekannter Diamantenhändler, hat
den Stein nun erworben. Bis heute iſt er noch ſehr
vergnügt — trotz des verhängnisvollen Beſitzes. Übri-
gens braucht er das Schickſal nicht mehr lange auf die
Probe zu ſtellen, denn in fünf, ſechs Tagen wird er
den Stein ſchon wieder abgegeben haben. Ein ameri-
kaniſcher Millionär hat ihm für den Stein ein Ver—
mögen geboten, und nun will Abrahams den koſtbaren
Stein ſelbſt hinüberbringen. Natürlich hat er ſich die
‚Neederland‘ zur Überfahrt ausgeſucht, denn je größer,
je vollkommener ein Schiff iſt, um ſo eher kann man
ſich ihm anvertrauen — und das müſſen Sie doch zu—
geſtehen: beſſer als die ‚Neederland‘ iſt kein Dampfer
gegen die verſchiedenſten Gefahren der See geſichert.
Mit ſolchem Schiff zu fahren, iſt eine Luft und Er-
holung.“
0 Erzählung von W. Granville Schmidt. 9
Das Geſpräch wurde jetzt wieder allgemein. Einige
glaubten an die verhängnisvolle Macht des Diamanten,
andere ſchoben die Schuld auf allerdings eigenartige
Zufälle.
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Plötzlich ſtieß mich mein Bekannter an und flüſterte:
„Da kommt Abrahams ſelbſt. Ich werde ihm erzählen,
daß Sie ebenfalls die ‚Neederland‘ benützen. Dadurch
werden Sie ſchnell mit ihm bekannt.“
10 Der Stern von Travankore. 2
Ich blickte nach der Tür, durch die ſoeben ein großer,
breitſchulteriger Herr eintrat. Sein Haar war an den
Schläfen bereits ergraut, aber ſein volles, ſtarkgerötetes
Geſicht und die hellen, lebhaften Augen Berliehen ihm
einen faſt jugendlichen Eindruck.
Jovial grüßte er in die Runde, und als mein Be-
kannter, feinem Vorſchlag getreu, mich dem Juwelen-
händler als Fahrtgenoſſe vorſtellte, zog er mich lebhaft
in ein Geſpräch.
„Na, Abrahams,“ rief der Reismakler zu uns hin-
über, „bringſt du es noch fertig, ſo vergnügt zu lachen,
wo doch das Damoklesſchwert des Diamanten an—
dauernd über deinem Kopfe ſchwebt?“
Hendrik Abrahams ging zuerſt gutmütig auf die
ſcherzhaft ſein ſollende Bemerkung ein. Ernſter werdend,
fuhr er zu mir gewandt fort: „Sie haben die Geſchichte
von dem „Stern von Travankore“ wohl auch ſchon ge-
hört? Offen geſagt, mich läßt ſie gänzlich kalt. Ich bin
ein aufgeklärter Menſch, und wenn ich mich den Tat—
ſachen auch nicht verſchließen darf, fo halte ich fie eben
für belanglofe Zufälligkeiten. Sehen Sie, Perlen ſollen
ja auch Tränen bedeuten — nicht wahr? Und wie viele
Perlen find ſchon durch meine Hände gegangen oder
in meinem Beſitz geweſen! Aber ich habe nie Grund
gehabt, zu weinen. Krankheit und Sorgen kenne ich
nicht, mein Geſchäft entwickelt ſich in aufſteigender Linie,
und ich habe mich wirklich über nichts zu beklagen.
Bald gehört der Diamant mir ja auch nicht mehr.“
„Das Schiff kann untergehen, ehe du in New Vork
anlangſt,“ rief der Reismakler wieder.
Ein allgemeines Gelächter und Proteſtrufen er—
hob ſich.
„Glauben Sie auch, daß einem ſolchen Schiffe ein
Unglück begegnen kann?“ meinte Abrahams lächelnd.
u Erzählung von W. Granville Schmidt. 11
Ich verneinte eifrig. „Ich würde ſonſt doch nicht
ſelbſt mit der ‚Neederland‘ fahren. Das Schickſal der
„Titanic“ wird uns gewiß nicht treffen, denn jeder vor-
ſichtige Kapitän hat ſicherlich ſeine Lehre daraus ge—
zogen.“
Abrahams nickte mehrfach zuſtimmend mit dem
Kopf. Am Schluſſe meiner Ausführungen drückte er
mir die Hand.
„Ganz meine Meinung, mein Herr. Sie Deutſchen
bauen ja noch größere Schiffe — und von Ihnen kann
man lernen. Dann darf ich alſo wohl „Auf Wieder-
ſehen an Bord!“ ſagen?“
„Das dürfen Sie!“ entgegnete ich und erwiderte
herzhaft den Druck ſeiner Rechten.
Nun, da ich einen ſo angenehmen Reiſegefährten
gefunden hatte, freute ich mich doppelt auf die viel-
verſprechende Fahrt mit dem ſtolzen Schiff, deſſen Kiel
ſchon in wenigen Tagen zum erſten Male die grünen
Wogen des Ozeans pflügen ſollte. |
* *
*
Mit unverminderter Kraft raſte die „Neederland“
in die Nacht hinein, trotzdem ein leichter Nebel, der
hier, in der Nähe der Neufundlandbänke, ſo häufig iſt,
ſich auf die Waſſerwüſte ſenkte.
„Sehen Sie, die Eisberge bleiben aus!“ meinte
Hendrik Abrahams und hüllte ſich feſter in ſeinen dicken
Alſter. „Nun, der Kapitän iſt ein alterprobter See—
mann. Er wird wiſſen, was er zu tun hat. Wir fahren
ſcheinbar noch mit unverminderter Kraft.“
Wir ſtanden beide an die Reling gelehnt und ſahen
auf das Meer hinaus. Die langen Reihen der erleuch-
teten Bullaugen ſpiegelten ſich in den dunklen, wogen-
den Fluten, die mit eintönigem Rauſchen gegen den
12 Der Stern von Travankore. Oo
Leib des Schiffes ſchlugen. Vom Salon herauf erſcholl
Lachen, Gläſerklingen und Klavierſpiel.
„Ich glaube, wir gehen jetzt auch hinunter. Es wird
merklich kühler,“ ſchlug Abrahams vor.
Da ich mich ermüdet fühlte, ſuchte ich ſofort meine
Kabine auf, während Abrahams im Salon noch ein
Spielchen machen wollte.
Eben hatte ich die Oberkleider abgelegt, da ging
eine leichte, kaum wahrnehmbare Erſchütterung durch
den Schiffskörper, nicht einmal ſo ſtark, daß ich ins
Schwanken geriet. Es war, als ob die „Neederland“
einen im Waſſer treibenden Gegenſtand geſtreift hätte.
Nachdem ich einige Minuten gelauſcht hatte, ohne etwas
Verdächtiges zu hören, fuhr ich mit dem Auskleiden
fort und begab mich dann zur Koje. Wenige Minuten
ſpäter war ich eingeſchlafen.
Plötzlich weckte mich heftiges Pochen an meiner
Kabinentür. Schlaftrunken fuhr ich empor und horchte.
„Stehen Sie auf und legen Sie einen Rettungs-
ring an!“ hörte ich die Stimme meines Kabinen-
ſtewards.
Im Nu war ich aus dem Bett und ſchloß die Kammer-
tür auf. Hell brannte das elektriſche Licht auf dem
teppichbelegten Gange, und faſt aus jeder Tür blickten
ängſtliche, verſchlafene oder verdrießliche Geſichter.
„Was iſt denn los, Steward, daß Sie uns im beſten
Schlaf ſtören?“ forſchte eine Dame ungnädig.
Der Steward zuckte die Schultern. „Anordnung
des Kapitäns, Madame. Wir ſind auf den unter Waſſer
befindlichen Teil eines Eisberges geraten.“
Die Dame ftie einen Schreckensſchrei aus und ver—
ſchwand im Kabineninnern.
„Sit irgendwelche Gefahr?“ wandte ich mich an
den Steward.
2 Erzählung von W. Granville Schmidt. 13
„Nicht dran zu denken! — Aber der Alte iſt ja ſo
vorſichtig,“ erwiderte er, ſchon weiterlaufend.
—
Obwohl feine Antwort auf mich einen guten Ein-
druck machte, hielt ich es doch für beſſer, mich ſchleunigſt
anzukleiden und mich perſönlich zu überzeugen, wie es
an Oeck ausſah.
14 Der Stern von Travankore. 0
Gerade wollte ich die Kabinentür ſchließen, da er-
ſchien einer der Offiziere am Ende des Ganges. Er war
erregt, und ſeine Stimme hatte einen trockenen, heiſeren
Klang, als er rief: „Die Frauen und Kinder ſofort an
Deck kommen, um in die Boote zu gehen!“
Die Wirkung dieſes Rufes war eine unerwartete,
erſchreckende. War man vorher noch unbeſorgt, ja
vielleicht ärgerlich darüber, daß man die Nachtruhe
einbüßen mußte, dämmerte jetzt die lähmende Erkennt-
nis, daß der Unfall doch wohl folgenſchwerer geworden
war, als man zuerſt geglaubt hatte.
Mangelhaft gekleidet ſtürmten die meiſten Frauen,
ihre Kinder auf dem Arm, in ſinnloſer Angſt an Deck.
Weil aber in den Bewegungen des Dampfers keine
merkbare Veränderung vor ſich ging, ließ ich mir Zeit,
mich ruhig fertigzumachen. Ich zog meinen grauen
Reifeanzug an und band mir Wäſche um, dann ſetzte
ich mich auf das Sofa, um meine Stiefel anzuziehen.
„Hallo, machen Sie ſich ſchon reiſefertig?“ hörte
ich eine lachende Stimme am Türeingang.
Aufblickend gewahrte ich Hendrik Abrahams.
„Ich komme eben aus dem Salon. Wir ſind noch
mitten im Spiel,“ fuhr er erläuternd fort.
In dieſem Augenblick fing der Dampfer an, ſich
langfam mit dem Bug zu ſenken. Unwillkürlich trafen
ſich unſere Augen in ſtarrem Erſchrecken.
Oben an Deck hörte man Rufen, Schreien und das
polternde Geräuſch vieler Schritte.
„Der Dampfer ſinkt!“ rief ich. „Kommen Sie mit
an Deck!“
Ohne mir Zeit zu laſſen, meinen Handkoffer zu
nehmen, drängte ich Abrahams zum Gang hinaus auf
die Treppe, die an Deck führte. Ganz mechaniſch
leiſtete er Folge.
D Erzählung von W. Granville Schmidt. 15
Oben herrſchte eine unheimlich wirkende Ruhe. Die
Offiziere gaben mit ſtarrer Miene ihre Befehle und
halfen den Frauen beim Beſteigen der Boote. Nur
unterdrücktes Schluchzen oder das Aufweinen eines
Kindes unterbrach dieſe laſtende Stille. Es war, als
hätte das unvermutete Unglück die Menſchen erſtarren
laſſen, als leiſteten ſie nur noch automatenhaft den
Befehlen der Offiziere Folge.
Ich hielt mich dicht an Abrahams Seite. Er hatte
alle Farbe verloren und forſchte nur immer hilflos:
„Was machen wir nun? — Was ſollen wir nur machen?“
„Springen Sie da ins Boot! — Vorwärts, meine
Herren, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren!“
Der erſte Offizier gab uns in barſchem Kommando—
ton dieſe Aufforderung.
Wie im Halbſchlummer fprang ich aufs Geratewohl
in das ausgeſchwungene Boot. Dicht hinter mir ſprang
Abrahams ebenfalls nach.
Als ich wieder ordentlich zu denken vermochte,
trieben wir ſchon mit unſerem Boot auf dem Meer,
und ſchon in ziemlicher Entfernung leuchteten in drei
Reihen übereinander die Bullaugen. Der Bug des
Dampfers wurde ſchon yon den Wellen überſchwemmt,
aber noch immer hörte man Rufen und Schreien an
Bord.
Fröſtelnd drängte ich mich in eine Ecke des Bootes
und ſtarrte teilnahmlos nach dem ſinkenden Dampfer
hinüber. Ich hatte ein Gefühl, als ginge mich das alles
gar nichts an, als ereigne ſich da ein höchſt gleichgültiges
Schauſpiel. Ich hatte das alles ja beim Untergang
der „Titanic“ in den Zeitungen zum Überdruß gelefen.
„Um Gottes willen, mein Koffer ſteht noch in meiner
Kabine! Mein Koffer mit dem ‚Stern von Travankore“
darin!“ ſchrie Abrahams plötzlich und packte krampf⸗
16 Der Stern von Travankore. 8
haft meinen Arm. „Wir müſſen wieder zurück! — Ich
muß an Bord und den Diamanten holen!“ wandte er
ſich an die rudernden Matroſen.
Die Seeleute lachten und riefen ihm zu, er ſolle
nur hinüberſchwimmen, fie gäben ſich zu folder Dumm—
heit nicht her.
„Es ſind ja noch Leute an Bord!“ wandte Abrahams
ein und begann aufs neue zu bitten, zu befehlen, zu
beſchwören. Als die Matroſen nur wortlos die Achſel
zuckten, machte er ihnen Geldverſprechungen. Zuletzt
bot er jedem von ihnen hundert Gulden.
Die Ruderer hielten inne. Sie waren arme Teufel
und hatten alle ihre Effekten eingebüßt — und für
hundert Gulden kann man ſchon etwas wagen.
„Es iſt gut, Herr! Wir wollen Sie noch einmal
heranrudern. Aber Sie müſſen ſchnell machen, ſonſt
können wir nicht auf Sie warten.“
„Ich weiß ja genau, wo der Koffer ſteht!“ verſprach
Abrahams mit erleichtertem Aufatmen.
Unter den Paſſagieren an Bord der „Neederland“,
die noch nicht eingebootet waren, ſchien große Ver-
wirrung zu herrſchen. Fluchen und Schreien, unter-
brochen von der Donnerſtimme des Kapitäns, der, ge-
treu ſeiner Pflicht, auf der Brücke ausharrte, gellte
durch die Nacht und jagte mir kalte Schauer durch den
Körper. Mittſchiffs hingen einige Taue und Strick-
leitern bis auf die Meeresoberfläche. Darauf hielten
die Matroſen zu. An einer dieſer Strickleitern klomm
Hendrik Abrahams nach dem Deck empor.
Ich ſah ihn im Kajüteneingang verſchwinden.
Mehrere Minuten vergingen. Uns im Boote wurden
ſie zu Stunden.
Boot auf Boot ſtieß vom Dampfer ab, und immer
ſtiller wurde es an Deck. Es ſchien, als ſeien alle
u Erzählung von W. Granville Schmidt. 17
Paſſagiere gerettet, denn die „Neederland“ war aus-
reichend mit Booten verſehen — dank der „Titanic“.
Da, deutlich bemerkbar, legte ſich der Dampfer ſtark
nach Steuerbord über.
„Er ſinkt weg!“ ſchrieen die Matroſen, und ohne
Beſinnen legten ſie ſich in die Riemen. Wie in einem
böſen Traum befangen hingen meine Augen gebannt
1918. XII. 2
18 Der Stern von Travankore. 2
an dem Dampfer. Konnte es möglich ſein, daß die
Matroſen kaltblütig den Diamantenhändler im Stich
ließen? — Aber die Not, die Selbſterhaltung trieb fie
an, und ich las es in ihren Geſichtern, daß ſie es nur
mit innerem Widerſtreben taten.
Die Nacht hatte allmählich einer fahlen Dämmerung
Platz gemacht, und deutlicher konnte man den verlorenen
Dampfer erkennen.
Ein einziger Mann ſtand noch auf der Kommando
brücke — der Kapitän. Der brave Mann zog es vor,
auf dem Meer, dem ja ſein ganzes Leben gehörte, wie
ein echter Seemann zu ſterben.
Dies alles ſah ich vom Boot aus, und mein Herz-
ſchlag ging ſchwer und langſam. Mit einem Male zuckte
ich zuſammen. Neben dem Kapitän erſchien die Geſtalt
eines Mannes. Es war Hendrik Abrahams. Er ſchwang
feinen ledernen Handkoffer winkend in der Rechten.
„Ob wir's noch wagen können, ihn von Bord zu
holen?“ warf einer der Matroſen fragend ein.
„Nein!“ entgegnete der Bootsmann hart. „Es
wäre unſer aller Tod!“
Er hatte dieſe Worte noch nicht ausgeſprochen, da
ſenkte ſich der Bug noch tiefer ins Meer, ſteil richtete
ſich das Heck in die Höhe — und die ſtolze „Needer—
land“ ſchoß in die Tiefe“). Gurgelnd und brauſend
ſchloſſen ſich die Wogen über dem unglücklichen Schiff.
Anwillkürlich entblößten die Matroſen ihr Haupt;
dann aber griffen ſie mit neuer Kraft zu den Riemen, und
bald entfernte ſich das Boot weiter und weiter von jener
Stelle, wo ſich ſoeben eine Tragödie abgeſpielt hatte.
Der „Stern von Travankore“ hatte ſein letztes Opfer
gefordert.
*) Siehe das Titelbild.
.
Die ſchöne Trebnitz.
Roman von hans Becker.
*
[(Fortſetzung.) (nachoͤruck verboten.)
Woder Sophie noch Kenia oder Paul hatten etwas
von dem letzten Vorgang geſehen, der von neuem
ertönende Geſang ließ fie glauben, daß die Bauern ihres
Wegs gezogen ſeien. Aber Sophie war ſtark erregt,
auch ſcheute ſie ſich, Baumeiſter gegenüberzutreten,
deſſen Warnung ſie ſo wenig beachtet hatte. Sie fühlte,
daß fie Vorwürfe verdiente, Kenia und Paul nach-
gegeben zu haben, was ihr durch den furchtbaren
Schrecken, den ſie gehabt, jetzt faſt wie ein Verbrechen
erſchien. Auch als ſie wieder im Hauſe waren, konnte
ſie ſich über das Geſchehene nicht beruhigen. Was war
das für ein Leben hier? Keinen Schritt konnte man
ja gehen, ohne in Gefahr zu kommen, totgeſchlagen
zu werden! Waren das Menſchen, war es möglich,
daß es Menſchen gab, die noch auf einer ſolch niedrigen
Stufe ſtanden? Wie greuliche Tiere waren fie ihr er-
ſchienen mit den ſtumpfen, blöden Geſichtern, den ſtieren
Augen.
Ganz ernſthaft dachte ſie daran, ſofort abzureiſen.
Immer von neuem ſah ſie vor ſich, wie dieſe Halb-
wilden auf ſie eindringen wollten. Aber wie geriet
ſie in Erſtaunen, als Paul, kaum zu Hauſe angelangt,
20 Die ſchöne Trebnitz. a
nur von den Pferden ſprach, auch Kenia ſich anſcheinend
ganz ruhig zum Frühſtückstiſch ſetzte.
Als ob nichts geſchehen ſei.
Hatte das Mädchen denn nicht geſehen, wie ihr
Verehrer mitten unter dem Haufen war? Sah ſie in
ihm vielleicht nur den Helden, der fie durch fein Da-
zwiſchenkommen gerettet?
Wer konnte wiſſen, was in dem Kopfe des Kindes
vorging!
Als bald darauf Baumeiſter eintraf, kam Sophie
gar nicht dazu, ihm das Vorgefallene zu erzählen, denn
Paul rief ihm ſchon, kaum daß er die Tür geſchloſſen
hatte, entgegen: „Karl Karlowitſch, wiſſen Sie, was
wir erlebt haben?“
„Na, was denn? Zit ein Marder in die Falle ge-
gangen?“
Paul lachte. „Nein, aber eine ganz nette Prügelei
hat's gegeben. Hören Sie nur!“
„Und wo war das? Doch nicht hier im Park?“
„Nein, auf dem Wege vom Geſtüt — wiſſen Sie,
Karl Karlowitſch, dort am Walde, wo —“
Baumeiſter ſtand ſofort wieder vom Frühſtückstiſch
auf. „Ich werde ſogleich ins Dorf reiten.“
Sophie errötete. Durch Nichtbeachtung der ihr
gewordenen Warnung hatte ſie alles verſchuldet, nun
jagte fie den Mann wieder fort — es war zum Ver—
zweifeln, was ſie angerichtet. „Karl Karlowitſch, ein
Vort noch,“ ſagte fie leiſe.
Baumeiſter blieb an der Tür ſtehen.
Sophie ſtand ſchnell auf und trat zu ihm. „Ih
begleite Sie hinaus. Paul hat nur von ſich geſprochen,
ich will Zhnen die Sache nochmals erzählen.“
Als fie draußen auf der Freitreppe ftanden, fand
Sophie nicht gleich Worte. Wieder kam ihr das Ge—
u Roman von Hans Becker. | 21
fühl, daß er böfe auf fie war. Das reizte fie von neuem.
Statt zu ſagen, was ſie ihm hatte ſagen wollen, ſtieß
ſie plötzlich heraus: „Ich möchte fort, ich halte es hier
nicht mehr aus!“
Das ſchien ihn zu erſchrecken. „Sie wollen fort?
Wohin? Sophie Karlowna — an dem Gedanken trägt
doch wohl nur die gehabte Erregung ſchuld. Wollen
Sie nicht abwarten, bis ich zurückkomme, wir ſprechen
dann weiter darüber. Es iſt alles nicht ſo ſchlimm,
Sie werden ſich beruhigen.“
Er hatte ihre Hand genommen, hielt ſie in der
ſeinigen — ganz unbewußt, als ob er fie damit zurück-
halten könnte.
Sie ließ ihm die Hand, ohne nachzudenken, und ſo,
Hand in Hand, gingen ſie die Treppe hinunter und
ſchritten durch den Park.
Erſt hier erwachten ſie.
Sie entzog ihm ihre Hand. „Entſchuldigen Sie,
Karl Karlowitſch, daß ich nur an mich denke, nur von
mir ſpreche. Es iſt aber ſo, ich möchte fort, ich fürchte
mich hier — auch Kenias wegen. Wer weiß, was da
alles noch geſchieht. Das Mädchen iſt jetzt fo ruhig,
ſie muß doch geſehen haben, daß jener Student auch
dabei war. — Doch das habe ich Ihnen ja noch gar
nicht erzählt. — Alſo gerade, als wir fortliefen, ſah
ich ihn aus dem Walde kommen. Zch wiederhole, das
muß doch auch Kenia geſehen haben, ihr ruhiges Weſen
jetzt erſcheint mir faſt unnatürlich. Das ſind alles ſo
ganz andere Menſchen —“
„Frau v. Trebnitz, ich bitte Sie, faſſen Sie jetzt
noch keinen Entſchluß. Und nun erzählen Sie die ganze
Geſchichte.“
Sie ſchilderte alles genau und ſchloß: „Wenn ich
denken muß, daß das morgen, übermorgen wieder
22 Die ſchöne Trebnitz. u
paſſieren könnte — oder ſoll ich hier wie eine Gefangene
ſitzen, keinen freien Schritt tun dürfen —“
„Ruhe, Ruhe, Sophie Karlowna! Die ganze Sache
iſt nicht ſo ſchlimm. Nur der — na, wie ſoll ich ihn
nennen? — der RNomanheld Kenias iſt einigermaßen
verdächtig. Er wohnt beim Popen. Dem iſt auch
angſt und bange geworden, als ich ihm ſagte, daß der
Kerl ihn an den Galgen bringen würde, wenn er ihn
noch länger bei ſich behält. Er hat mir verſprochen,
ihn, ſowie er nach Hauſe kommt, einzuſchließen und
mich gleich zu benachrichtigen. Ich werde dann ſchon
dafür ſorgen, daß wir ihn loswerden. Sie ſehen alſo,
es iſt nicht fo ſchrecklich. — Die Bauern, denen Sie
begegnet ſind? Ja, du lieber Gott, die waren eben
betrunken. Das kommt vor, manchmal ſieben Tage
in der Woche. — Aber da kommt ſchon mein Pferd.
Sie verſprechen mir, noch nichts zu beſchließen. Sie
ſind doch hier nicht verlaſſen — ich bin doch da, bin
doch Ihr Landsmann!“
Am Fuße der Treppe verabſchiedeten ſie ſich, Sophie
hatte auf ſeine Worte nur mit dem Kopfe genickt, das
mußte ihm genügen.
In Gedanken ritt Baumeiſter dem Dorfe zu. Hatte
er recht getan, Sophie gegenüber die ganze Sache ſo
ſchön zu färben?
Ganz ſo, wie er es geſchildert, verhielt es ſich ſicher
nicht, denn den Popen fand Baumeiſter in heller Auf-
regung.
„Ich wollte gerade zu Fhnen, Karl Karlowitſch,
denn es iſt Schreckliches geſchehen.“
Baumeiſter erſchrak. „Was iſt —“
„Den einen, der hier bei mir wohnt — den hat
man erſtochen. Zwei Reitknechte vom Geſtüt haben
ihn gefunden und ins Dorf gebracht.“
2 Roman von Hans Becker. 23
„Wo iſt er?“
Der Pope ſchien etwas wie Scham zu fühlen. Er
zögerte. „Ach, Karl Karlowitſch — zu mir wollte ich
ihn nicht bringen laſſen, Sie haben mir Angſt gemacht.
Man hat ihn alſo ins Gefängnis gebracht.“
„War der Arzt ſchon bei ihm?“
„Der war nicht zu finden — auch in der Schenke
nicht.“
„Kommen Sie mit!“
Baumeiſter nahm fein Pferd am Bügel und ging
mit dem Popen zum Ende des Dorfs, wo ein verlaſſener
Stall das Gefängnis darſtellte.
Sie fanden den Verwundeten ohne Beſinnung, ſein
Kamerad, den man ſchon vorher dort eingeſperrt, hockte
neben ihm auf dem Fußboden.
Baumeiſter fragte dieſen: „Lebt er noch?“
„Ja, er lebt noch, aber nicht mehr lange. Der Stich
hat die Lunge verletzt.“
„Woher wiſſen Sie das?“
„Ich habe ihn unterſucht, ich bin Mediziner.“
„Was kann man für ihn tun?“ 8
„Nichts. Es iſt ja auch nichts da, kaum daß mir
der Kerl, der hier Wache halten ſoll, Waſſer gebracht
hat. Ich mußte ihm erſt Geld dafür geben.“
Er ſagte das höhniſch, kehrte ſich ab und ſchien ein
weiteres Geſpräch vermeiden zu wollen.
Baumeiſter ſtand ratlos. Bis aus der nächſten
Kreisſtadt der Arzt kam, vergingen Stunden. Mehr
helfen konnte der ja auch nicht als der Gefangene, der,
wie er ſagte, Mediziner war, aber man konnte doch
einen Menſchen hier nicht ſo auf dem Stroh ſterben
laſſen! Was getan werden konnte, mußte getan wer—
den. Alles übrige war dann Sache des Gerichts.
„Wenn Sie etwas brauchen, jagen Sie es mir. Id
24 Die ſchöne Trebnitz. 2
ſchicke alles vom Gute. Vielleicht könnte man den
Verwundeten transportieren?“
Der Student ſchüttelte den Kopf.
„Soll ich ein Bett herſchicken, oder was brauchen
Sie ſonſt? Wir haben auf dem Geſtüt eine Apotheke.“
„Ich ſchreibe Ihnen auf, was nötig iſt.“
Der Student nahm aus der Taſche ein Notizbuch,
riß ein Blatt heraus und ſchrieb etwas darauf. Das
reichte er Baumeiſter. „Auch etwas ſtarken Wein —
Portwein — und — ſchicken Sie mir auch etwas zu
eſſen. Ich habe ſeit geſtern abend —“
„Gut, Sie ſollen alles haben. Wer iſt der Der-
wundete?“
„Das geht niemand etwas an.“
Baumeiſter öffnete die Tür, um zu gehen.
„Nehmen Sie den Mann hier mit.“
Der Pope, der angefangen hatte, laut zu beten,
verſtummte, lief ſchnell hinter Baumeiſter her, und als
ſie draußen waren, ſagte er: „Wer er iſt, haben Sie
gefragt? Ich weiß, wer er iſt, ich habe ſeinen Paß
geſehen — zufällig. Ein Adeliger iſt er. Ich konnte
mir nicht vorſtellen, daß ein Adeliger ſich mit ſolchen
Dingen befaßt, ich glaubte ihm, als er mir erzählte,
daß er Botaniker ſei —“
„Das haben Sie mir ſchon erzählt.“
„Ich wollte auch nur noch ſagen, daß er mich ge—
täuſcht hat, denn —“
Baumeiſter verſtand, daß der Pope ſich fürchtete,
in die Sache hineingezogen zu werden. Er beruhigte
ihn. „Sorgen Sie ſich nicht, es wird Ihnen nichts
geſchehen.“
Darauf ſchwiegen beide. Sie gingen noch eine Weile
nebeneinander, bis Baumeiſter ſich verabſchiedete und
fortritt.
B Roman von Hans Becker. | 25
Warum lajtete das alles auf ihm? Was hatte er,
der Deutſche, mit all dieſen Geſchichten zu tun?
Es war das erſte Mal, daß er ſich dieſe Frage ſtellte,
denn bisher hatte er nie darüber nachgedacht. Das
deutſche Pflichtgefühl war es wohl, das ihn antrieb.
Darüber hatte er die Pflicht gegen ſich ſelbſt vergeſſen,
war hängen geblieben, älter geworden, ſtatt gleich
nach dem erſten Fahre feine erſparten Groſchen zu
nehmen, nach Deutſchland zurückzugehen und nach-
zuholen, was er nachzuholen hatte. Nun war er ein
Hauslehrer ohne Ausſichten. Wenn Paul noch ein paar
Jahre älter ſein würde, war es vorbei mit dem Leben
hier, und er konnte ſein Bündel ſchnüren. Ja, das ſtand
ihm wohl noch ſchneller bevor, wenn Laſarews jetzt
nach Petersburg gingen, Paul ins Pagenkorps trat.
An all das hatte er bisher kaum gedacht. Er geſtand
ſich das ruhig ein, ſcheute auch nicht davor zurück, ſich
klarzumachen, was ihm in den letzten Tagen in den
Kopf gekommen. Vor ſeinen Augen ſtand das Bild
der Frau, die die Schuld daran trug.
Welch köſtliches Weib! Wenn man die erringen
könnte!
Aber er konnte ja nicht, er durfte ſich nicht einmal
merken laſſen, wie es um ihn ſtand.
Wenn ſie nichts weiter geweſen wäre als eine
arme Erzieherin, die ſich ihren Lebensunterhalt ver-
diente wie er ſelbſt, aus beſcheidenen, bürgerlichen
Verhältniſſen, dann würde er wohl den Mut finden,
vor ſie hinzutreten. Aber ſo — eine Frau v. Trebnitz,
eine elegante Dame der Geſellſchaft! Sie würde ihn
einfach auslachen. Für ſie war das hier wohl nur ein
Übergang, eine Flucht aus ihren bisherigen Kreiſen.
Erſt einmal in Moskau oder Petersburg in der Geſell—
ſchaft, die ſich im Laſarewſchen Haufe verfammelte,
26 Die ſchöne Trebnitz. u
würde es ihr an reichen, vornehmen Bewerbern nicht
fehlen. Sie war ein Wunder an Schönheit, die ganze
Welt mußte ihr zu Füßen liegen.
Er war ſo in Gedanken verſunken, daß er verwundert
aufblickte, als das Pferd plötzlich ſtehen blieb. Er hatte
gar nicht bemerkt, daß er ſchon auf dem Gute ange—
langt war.
Er ſtieg ab, übergab ſein Pferd und ging ins Haus.
Im Speiſezimmer traf er niemand. Sophie und
Kenia waren wohl im Park, Paul hatte ſich die Frei—
heit zunutze gemacht und trieb ſich bei den Hunden
oder ſonſtwo herum.
Baumeiſter fühlte es wie eine Erleichterung, daß
er jetzt nicht zu ſprechen, nicht zu erzählen brauchte.
Er war müde, auch fühlte er im Augenblick nur ſein
eigenes Leid.
Wie plötzlich das über ihn gekommen war! Nur
ein paar Wochen war fie hier, die erſten Tage hatte
er nur Freude gefühlt über den angenehmen Zuwachs
zu dem kleinen Kreiſe, es hatte ihm Vergnügen gemacht,
die ſchöne Frau zu ſehen, mit ihr zu ſprechen. Das
andere, tiefere Gefühl war erſt nach und nach in ihm
erwacht — an jenem träumeriſchen Abend hatte es
angefangen, heute, als er ſie in Gefahr gewußt, war
es zum Durchbruch gekommen.
Er ſtand am Frühſtückstiſch, das Gedeck für ihn lag
noch da. Aber er hatte keinen Hunger und ſchickte den
Diener, der mit einer Platte hereinkam, wieder hinaus.
Dann beſann er ſich. Er mußte doch das, was der
Gefangene ihm aufgeſchrieben, aus der Geſtütsapotheke
holen laſſen und mit Wein, Eſſen und Bettzeug ins
Dorf ſchicken.
Alſo erſt ſeine Pflicht tun. Später konnte er wieder
träumen.
D Roman von Hans Becker. 27
Als er fertig war und in den Park gehen wollte,
um nun doch Sophie aufzuſuchen, hörte er einen Wagen
vor der Freitreppe anfahren. Der Großvater war
gekommen. ä 2
Der alte Herr ſchien es eilig zu haben, ſich ſchon
wieder zu zeigen. In knapp einer Woche der zweite
Beſuch! Sonſt ließ er ſich im Monat kaum einmal
blicken. Der neue Magnet zog ihn offenbar an.
„Na, Karl Karlowitſch, wie ſteht es bei Ihnen hier?
Hab' da fo allerlei gehört und wollte doch mal nach—
ſehen. — Bei mir iſt übrigens der Koch beſoffen, ich
muß mich alſo hier zu Tiſch einladen. Bei euch wird's
wohl was Gutes geben?“ |
Er hakte ſich bei Baumeiſter ein und ging mit ihm
in den Park.
Baumeiſter war bisher noch nicht zu Worte ge—
kommen. Gebt ſagte er: „Ich ſuche eben die Damen,
war bisher beſchäftigt — nicht auf angenehme Art.“
Dann erzählte er ihm, was vorgefallen.
„Ordentlich durchpeitſchen, dann wird die Bande
ſchon wieder ruhig werden. Aber was ich ſagen wollte:
Schöne Frau, die neue Geſellſchaftsdame! Was das
Weib für Hände und Füße hat! Die Augen nicht zu
vergeſſen! Halten Sie nur Ihr Herz feſt, hier in der
Einöde wirkt ſo 'ne hereingeſchneite Schönheit doppelt
gefährlich. Hab' das an mir ſelber gemerkt. Donner-
wetter — wenn ich ein Jahr jünger wäre!“
Am Ende des Weges zeigten ſich weiße Kleider.
Boris Safronow klemmte ſein Einglas ein und
ſtrich über den Bart. „Dort iſt ſie!“
Sophie kam mit Xenia heran. Der alte Herr be-
grüßte ſie lebhaft, nachdem er die Enkelin, die ſich in
ſeinen Arm hing, auf die Stirn geküßt.
Sophie hatte Baumeiſter einen fragenden Blick zu-
28 Die ſchöne Trebnitz. 2
geworfen, und er hätte ihr gern ein paar beruhigende
Worte gejagt, doch der alte Herr ſprach ohne aufzu—
hören, führte auch ſpäter bei Tiſch die Unterhaltung,
wobei er abſichtlich zu vermeiden ſchien, von den Vor-
gängen des Tages zu reden.
Baumeiſter beobachtete ihn mit Eiferſucht, denn er
glaubte zu bemerken, daß Sophie Gefallen an ihm fand.
Das wäre vielleicht etwas für ſie. Den Alten
heiraten, mit ihm in die Geſellſchaft zurückkehren. Der
würde ſchon tun, was ſie verlangte. Sie war jedenfalls
die Frau dazu, ihn zu leiten, ihren Willen durchzu-
ſetzen. |
Er fühlte, wie es ihm bitter im Munde wurde, ſchalt
ſich dann gleich wieder im ſtillen, ſich ſolchen Unſinn
zuſammenzureimen, und konnte doch nicht los von dem
Gedanken, daß da ein Nebenbuhler ſaß, der vielleicht
noch ſchneller, als er geahnt, ſeinen Hoffnungen ein
Ende machen könnte.
Er war froh, als der alte Herr bald nach dem Eſſen
fortfuhr. Wenigſtens bis morgen würde er Sophie
wieder für ſich allein haben.
Was half ihm das aber, welchen Nutzen hatte er
davon? Für ihn blieb ſie doch unerreichbar.
Sophie trat, kaum nachdem der Wagen, bis zu dem
ſie alle Boris Safronow begleitet, mit dieſem fort—
gefahren war, auf Baumeiſter zu. „Gehen wir noch
ein bißchen in den Park?“
Baumeiſter nickte. Trotzdem er ſah, daß ſie einen
Bericht von ihm erwartete, ſchwieg er noch ein paar
Minuten. Es erſchien ihm ſo köſtlich, neben ihr her
zu gehen, ohne zu ſprechen, die kurze Friſt auszukoſten
in dem Gefühl: ſie iſt hier bei dir, dicht neben dir,
ſie gehört dir allein!
Sein Schweigen machte ſie ungeduldig. „Nun,
D Roman von Hans Beder. 29
Karl Karlowitſch, Sie ſprechen nicht — iſt etwas zu
fürchten?“
„Nein, nein — es iſt alles in Ruhe. Es war ja
auch nichts, nur iſt einer verwundet worden bei der
Schlägerei. Aber damit iſt die Sache vorbei, glauben
Sie mir! Eine einfache Prügelei, bei der, wie das
ſo üblich, das Meſſer gebraucht worden iſt. Betrunkene
Bauern — da geht es nicht zart her. In Deutſchland
prügeln ſich ja die Leute auch.“
„Wer iſt der Verwundete?“
Nun mußte er doch mit der Sprache heraus, denn
lügen wollte er nicht, morgen würde man ja auch auf
dem Gute davon erzählen. „Ein Student. Den an-
deren hat man ergriffen —“
Sie ſchrie auf. „Er alſo iſt's, er, der Kenia —“
„Ja, der. Er ſoll ſich mit den Bauern geſtritten
haben.“ N
„Oh, der arme Menſch! Gewiß haben fie ihn um-
gebracht, weil er uns beſchützen wollte. Schrecklich,
wenn Kenia das erfährt! Was ſoll man ihr ſagen?
Wäre ich doch nie hierher gekommen!“
„Sophie Karlowna, ich bitte Sie, der Mann iſt
doch ſelbſt ſchuld! Warum treibt er ſich hier herum?“
„Wenn ich nur ſchon fort wäre!“
An etwas anderes ſchien ſie nicht zu denken.
Wie ihm das weh tat! Wie deutlich mußte er er-
kennen, welch alberner Phantaſie er ſich hingegeben,
als er angefangen, ihre freundliche Liebenswürdigkeit,
die fie ihm gezeigt, anders zu deuten, als dieſe wirk-
lich bedeutete: Freude darüber, daß ſie hier in der
Fremde nicht ganz allein ſtand.
Er war ihr ſicherlich ganz gleichgültig — ein be—
liebiger Herr Müller oder Schultze, den ſie hier an—
getroffen, wäre ihr dasſelbe geweſen.
30 Die ſchöne Trebnitz. 0
Sie wollte fort, würde fortgehen, und er hatte nicht
die Macht, ſie zu halten. Der Traum war dann zu
Ende. |
Trotz feines ſchmerzlichen Denkens ſann er darüber
nach, wie es möglich war, daß dieſe Frau ihn fo plöß-
lich aus ſeiner ruhigen Bahn, aus ſeinem zufriedenen
Leben geworfen hatte. Und immer wieder der gleiche
Gedanke: Sie ſoll nicht fort, ſie ſoll hier bleiben!
Sie waren am Hauſe angelangt. An der Treppe
blieb ſie ſtehen.
„Karl Karlowitſch, ſorgen Sie dafür, daß ich bald
fort kann!“ N
„Ich werde an Laſarews telegraphieren. Gewiß
werden dieſe ihre Rückkehr beſchleunigen.“
Sie ſeufzte. „Ich fürchte mich ſo!“
„Aber es iſt doch nichts zu fürchten, es iſt ja alles
wieder ruhig. Glauben Sie mir doch!“
„Wann können Laſarews hier fein?“
„Lange kann es nicht dauern — in einer Woche
vielleicht.“
„Gut, ſo lange will ich noch warten.“
Sie ging ins Haus.
Eine kurze Friſt hatte er gewonnen.
Am anderen Morgen brachte der Pope die Nach-
richt, daß der Verwundete geſtorben, der Gefangene
entflohen ſei.
Damit hatte die Sache wohl ihr Ende gefunden.
Baumeiſter war faſt froh darüber — über das eine
wie über das andere.
Ein verfehltes Leben weniger. Was machte das?
Der Mann würde begraben werden. Damit war die
Sache erledigt.
2 Roman von Hans Becker. 31
Plötzlich fiel ihm Kenia ein. Ob er es ihr ſagte?
Vielleicht war es beſſer, ſie erfuhr es. Damit war
die Sache aus ihrem Leben. Schwer hatte Baumeiſter
das, was Sophie ihm erzählt, überhaupt nicht ge-
nommen. Kenia war ein Kind. Wenn ſie hörte, daß
der junge Menſch tot war, fühlte ſie ſich wohl eher
befreit als bedrückt und vergaß ſchnell.
Sophie würde ſich weigern, ihr die Sache beizu—
bringen, alſo mußte er es ſelbſt tun. Dann war das
in Ordnung, ehe die Eltern ankamen.
Vas ſollte er die nervöſe Mama noch mit der Liebes-
geſchichte plagen!
Mit Sophie wollte er aber jedenfalls vorher doch
noch ſprechen.
Das tat er denn auch gleich nach dem Frühstück als
er ſie allein auf der Veranda traf.
Er war froh, als auch ſie die Sache nicht zu tragiſch
nahm. Sie dachte jetzt wohl nur an ſich, hatte, da ſie
fort wollte, das Intereſſe für alles andere verloren.
„Ja, ſprechen Sie mit Kenia, Karl Karlowitſch.
ich glaube auch, daß es nicht tief bei ihr ſitzt. Ich habe
es vorher wohl zu ernſt genommen, mir unnütze Sorgen
gemacht.“
Baumeiſter hätte ſo gerne gewußt, ob Sophie an
ihrem Entſchluß, ſobald als möglich fortzugehen, feſt—
halte, aber er wollte nicht fragen, nicht daran rühren.
So ging er, um mit Kenia zu ſprechen.
Sophie blieb allein zurück. Sie hatte ſich aus der
Bibliothek ein Buch geholt. Sie las aber nicht, das
Buch lag in ihrem Schoße, ſie träumte darüber hinweg,
Gedanken ſtiegen von neuem in ihr auf, die ihr in der
Nacht gekommen, als ſie ſchlaflos, ängſtlich auf jedes
Geräuſch lauſchend, gelegen hatte.
Immer wieder waren die ſchrecklichen Geſichter der
32 Die ſchöne Trebnitz. u
Bauern ihr erſchienen, tanzten um ſie herum und
grinſten fie an — ſie hörte Flüche, ſah Meſſer blitzen,
hatte kaum geglaubt, die Nacht aushalten zu können,
bis endlich die Erregung ihrer Nerven nachgelaſſen, die
Müdigkeit gekommen war.
Schon im Halbſchlafe hatte fie dann ein Geſicht
geſehen, das ihr Ruhe brachte, das lächelnde, vornehme
Geſicht des alten Herrn, des Großpapas.
An dieſe Erſcheinung, an die Gedanken der Nacht
knüpfte ihr jetziges Träumen an.
Welch prachtvoller Mann! Sie hatte ſich ſo geborgen
gefühlt, als er gekommen, ſeine muntere Laune, die
hübſche Art, wie er ihr jetzt den Hof machte, hatte ſie
erfreut, ſo daß ſie alles andere darüber vergeſſen hatte.
Großpapa! Sie mußte lächeln. Dieſe Bezeichnung
paßte ſo gar nicht auf ihn, ließ ſich mit ſeinem ganzen
Mefen ſo wenig in Einklang bringen — wenigſtens
für ſie nicht, denn ihr erſchien er als ein Mann, dem
man die Jahre noch nicht anmerkte.
Und wenn doch — was tat das? Wäre ein ſolcher
dann nicht Rettung für fie, aus ihrer Lage, aus allem —
Damals, nach dem Unglück, das fie betroffen, hatte
fie geglaubt, alle Männer zu haſſen, auch heute ſchien
es ihr noch faſt unmöglich, daß ſie je wieder einem
Manne ſich zuwenden, je wieder lieben könnte.
Die Erſcheinung, die jetzt in ihr Leben getreten war,
milderte dennoch ihr Empfinden.
Es lag ja hier auch etwas ganz anderes vor. Ein
Mann, ein älterer Mann, reich, vornehm, warb um
ſie — ſo mußte ſie doch wohl ſein Benehmen auffaſſen.
Sie fühlte, daß es nur auf ſie ankomme, der Annäherung
eine Wendung zu geben, die ihr Leben mit einem Schlag
ändern würde.
Nicht mehr hier ſitzen und ſich zu Tode ängſtigen,
2 Roman von Hans Becker. 33
fort aus dieſem Lande, reiſen, alles wieder genießen
dürfen, nichts mehr entbehren, jenen gleichſtehen, für
die ſie jetzt doch nur eine beſſere Dienerin war!
Neben dem Geſichte deſſen, der ihr das alles bieten
konnte, erſchien ein anderes — Baumeiſter.
Auch er machte ihr den Hof — trotz aller Zurück-
haltung, trotz der Mühe, die er ſich gab, das nicht merken
zu laſſen. Seine Blicke hatten ihn verraten, der Schrecken,
den er nicht verbergen konnte, als ſie geſagt, daß ſie
fort wolle.
Sie hatte ſich ſo wohl im Verkehr mit ihm gefühlt,
war ſich nicht mehr fremd, verlaſſen vorgekommen.
Allerdings die Wahrnehmung, daß er angefangen hatte,
ſich in ſie zu verlieben, war ihr peinlich geweſen.
Es war ja auch undenkbar! Was wollte der Mann
denn von ihr? |
Sollte fie ihn etwa heiraten und bier dann fo
weiterleben: er als Erzieher, fie als Geſellſchaftsdame?
Eine nette Poſition!
Oder ſollten ſie nach Berlin gehen, er Unterricht
erteilen, ſie in einer engen Wohnung, ohne Mädchen,
ohne Bedienung, kochen und waſchen — alles entbehren,
was zum Leben gehörte?
Gott bewahre ſie davor! Der Mann, dem ſie ein
ſolches Opfer bringen ſollte, müßte erſt geboren
werden.
Was waren das überhaupt für Betrachtungen? Wie
kam ſie auf das eine, wie auf das andere?
Ihre Nerven mußten wohl noch nicht zur Ruhe
gekommen fein, ſonſt hätten ſich doch nicht ſolche Ge-
danken einſtellen können!
Sie wollte fort von hier, ſobald als möglich. Nur
nicht mehr hier in Angſt ſitzen, hinter jedem Strauch,
hinter jedem Schrank einen Mörder ſehen!
1918. XII. 3
34 Die ſchöne Trebnitz. 0
Und dann wieder bei ihrer Schweſter leben? War
das möglich?
Die Erinnerung kam ihr, wie ſich das Benehmen
ihres Schwagers in den letzten Tagen vor ihrer Abreiſe
geändert hatte — er, der vorher immer nur verſteckten
Tadel, Ermahnungen für ſie gehabt, war faſt zärtlich
geworden! Schon in der Stunde der Unterredung
mit ihr, als er von dem Sanitätsrat, von der Stellung
für ſie geſprochen — dann nachher, ſolange ſie noch
im Hauſe war!
Gegen die eigene Frau hatte er ſich unwirſch ge-
zeigt, aber auf dem Bahnhof, beim Abſchied, hatte
ſeine Stimme ſo eigentümlich geklungen, als ob er
Tränen verſchluckte.
Auch das noch! Da war ihr das Haus der Schweſter
von vornherein verſperrt, wenn ſie auch alles ſonſt über
ſich ergehen laſſen wollte.
Das Blut ſtieg ihr in die Stirn. Warum redete ſie
ſich das alles vor? Es hatten ſich ſchon elegantere,
ſtolzere Frauen ducken müſſen!
Paul kam auf die Veranda gelaufen. Er hielt eine
Depeſche in der Hand.
„Iſt Kenia nicht hier? Wo iſt Karl Karlowitſch?
Mama hat depeſchiert — die Eltern kommen!“
Die Nachricht brachte Sophie keine Erleichterung,
ſie legte ſich ihr ſchwer aufs Herz. Laſarews kamen,
ihr Leben mußte ſich entſcheiden! —
Bei Tiſch ſah fie Baumeiſter und Kenia. Das junge
Mädchen ſah bleich aus, hielt die Augen auf den Teller
gerichtet und antwortete auch auf alle Anzapfungen
Pauls nicht, mit dem ſie ſonſt immer zu tuſcheln hatte.
„Was iſt denn nur mit dir? Du machſt ja ein
Geſicht, als ob —“
„Laß mich, Paul, ich habe Kopfweh. Ich kann
D Roman von Hans Becker. 35
auch nichts eſſen. — Entſchuldigen Sie mich, Sophie
Karlowna, ich muß mich hinlegen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, ſtand Xenia auf
und ging aus dem Zimmer.
Paul rief ihr nach: „Warft wohl über den Kirſchen,
na ja —“
Baumeiſter herrſchte ihn an: „Schweig, Paul! Deiner
Schweſter iſt nicht wohl, ſie hat es mir vorher ſchon
geſagt.“
Sophie wollte aufſtehen und Kenia nachgehen.
Er hielt ſie zurück. „Laſſen Sie ſie, bitte, Sophie
Karlowna. Es iſt beſſer ſo. Später —“
Sophie verſtand. Er hatte mit Kenia geſprochen.
Nach dem Eſſen ging Sophie an Kenias Tür, er-
hielt jedoch auf ihr Klopfen keine Antwort.
Erſt beim zweiten Male rief Xenia von innen: „Wer
iſt da?“
„Ich bin's — Sophie!“
„Ach, bitte, Sophie Karlowna, iſt kann jetzt nicht
öffnen, ich möchte ſchlafen.“
Sophie fühlte ſich verletzt und ging. Sie war auch
beruhigt, denn ſie hatte Baumeiſter gebeten, Kenia
nicht merken zu laſſen, daß ſie ihm von dem ihr an—
vertrauten Geheimnis geſprochen.
Schrecklich! Wohin fie taftete — Abhängigkeit, das
Empfinden: Du biſt eine Dienerin, mußt dir alles ge-
fallen laffen, ſelbſt von einem Kinde, das feine Tür
vor dir zuſperrt!
Würde das in Deutſchland wohl beſſer ſein?
Schwerlich — vielleicht ſogar noch ſchlimmer, viel
ſchlimmer!
Warum nahm ſie denn alles hier plötzlich ſo ſchwer?
War dies neue Empfinden nicht etwas Unwahres, hatte
ſie ſich denn bisher wie eine Dienende gefühlt, hatte
36 Die ſchöne Trebnitz. 2
— —- — nn
man ſie nicht im Gegenteil ganz wie eine Dame, wie
eine Gleichberechtigte, wie einen Gaſt behandelt?
Und all das wollte ſie aufgeben wegen des bißchen
Schreckens, den ſie gehabt, den ihr ein paar betrunkene
Bauern eingejagt?
Wie feige fie eigentlich war, wie ihr um ihr ärm-
liches Leben bangte! Da wollte ſie fortlaufen ins
Ungewiſſe! Sie ſollte ſich doch vor den anderen, vor
den Kindern ſchämen.
Sie nahm auf der Veranda Platz. Der Diener kam,
brachte Tee, zündete die Lampe an. Ein paar Minuten
dauerte das, dann ſaß ſie wieder allein.
Das tiefe Dunkel des Parks ängftigte fie von neuem,
ſie fühlte, wie die Furcht wieder heranſchlich.
Endlich wurde ſie erlöſt. Baumeiſter kam, mit ihm
Paul.
Nach dem Eſſen forderte Baumeiſter Paul auf,
ſich ſchlafen zu legen. |
Paul zog ein Geſicht. „Es iſt erſt neun —“
„Nein, es iſt ſchon zehn. Geh nur!“
Sophie begriff, daß er den Zungen fort haben, mit
ihr allein ſein wollte.
Das hätte ſie gern vermieden. Er würde wieder
fragen, ob fie einen Entſchluß wegen ihrer Abreiſe ge-
faßt, ſie wohl gar bitten, daß ſie hier bleiben ſolle.
Das wollte ſie nicht, ſie wußte ja ſelbſt nicht, was ſie
tun ſollte.
Schließlich kam es wohl gar zu einer Erklärung, er
ließ ſich hinreißen, ſie mußte ihn zurückweiſen, ihn
kränken.
Das wollte ſie nicht, ſie wollte ſich des Freundes,
als den er ſich bisher bewieſen, nicht berauben, er
konnte ihr doch nützlich ſein. Auch Mitleid regte ſich in ihr.
Er war ein ſo prächtiger Menſch, zu jedem Opfer fähig.
D Roman von Hans Becker. 37
— —— —
Sie ſtand auf. „Warten Sie, Paul, ich gehe mit.“
Baumeiſter ſah erſtaunt auf. „Sie wollen auch
ſchon fort?“
„Ja. Gute Nacht — ich bin müde.“
Sie reichte ihm die Hand und ging mit Paul davon.
Auf ihrem Zimmer bereute ſie, was ſie getan. Nun
ſaß ſie hier, konnte ſich nicht entſchließen, zu Bett zu
gehen —
Plötzlich hörte ſie Schritte, die über den Korridor
kamen — leiſe, ſchleichende Schritte, die vor ihrer Tür
halt machten.
Das Herz ſtand ihr ſtill, mit weitgeöffneten Augen
ſah ſie auf die Tür, trotzdem ſie wußte, daß ſie dieſe
verſchloſſen hatte.
gebt faßte eine Hand nach dem Türgriff und ſuchte
zu öffnen. Als die Tür nicht nachgab, blieb es einige
Atemzüge lang ſtill, dann wurde leiſe geklopft.
Sophie war entſetzt. Wer konnte das ſein, wer —
Sie wollte um Hilfe rufen, brachte aber keinen Ton
heraus.
Da hörte ſie ihren Namen rufen: „Sophie Kar—
lowna — bitte, öffnen Sie!“
„Kenia!“
Mit einem Aufſchrei war Sophie an der Tür, ess
und zog Xenia ins Zimmer.
Sie preßte ſie in ihre Arme, küßte ſie, und dabei
ſtammelte ſie: „Wie war ich erſchrocken! Ich dachte — —“
Erſt nach Minuten beſann fie fich.
„Verzeihen Sie, ich bin durch alles, was geſchehen,
ſo erregt. Kommen Sie, ſetzen Sie ſich!“
Erſt jetzt ſah ſie Xenia an, empfand, als ſie in dies
bleiche Geſicht blickte, wie kindiſch ſie ihr, die gekommen
war, um für einen großen Schmerz Troſt zu ſuchen,
mit ihrer kleinlichen Furcht erſcheinen mußte.
38 Die ſchöne Trebnitz. u
Mit ernſten, traurigen Augen ſah Xenia zu Sophie
auf, durch das dünne Nachtgewand ſchimmerten die
zarten Arme und Schultern, wie ein eingeſchüchtertes
Kind ſtand ſie da.
„Kommen Sie, Kenia — ſetzen Sie ſich doch!“
Es blieb ſtill im Zimmer, Kenia hatte den Kopf an
Sophies Schulter geſchmiegt, die Arme um ihren Hals
geſchlungen. Sie ſprach nicht, ſie ſchien ſtumm ihren
Schmerz ausweinen zu wollen.
Sophie war dies Schweigen eine Wohltat. Womit
hätte ſie auch das Mädchen beruhigen können?
So ſaßen die beiden — eine Frau, die das Leben
kannte, in Verlegenheit dem Kinde gegenüber, noch
immer eingeſponnen in ihre kleine Furcht vor Schred-
niſſen, von denen ſie ſich bedroht glaubte — die andere,
ein Kind, von einem, dem erſten gewaltigen Schmerz
ergriffen, bereit, ihr junges Leben zum Opfer zu bringen,
wenn ſich dadurch Geſchehenes ungeſchehen machen
ließe.
Aus ihren Worten, die jetzt langſam, ſtoßweiſe aus
ihrem Munde kamen, ging das hervor.
„Ach, Sophie Karlowna — wie ſchrecklich, wie grau-
ſam! Ich, ich trage die Schuld. Wenn ich doch ſterben
könnte! Warum hat Gott nicht mein Leben genommen,
denn zu was bin ich nütze? Warum mußte er, der ſo
viele Tauſende erlöſen, glücklich machen wollte —“
Sophie horchte auf. Was für überſpanntes Zeug
ſprach das Mädchen da! Sollte ſie —
„Ich habe Ihnen damals nicht alles geſagt, denn
ich durfte nicht. Jetzt, jetzt kann ich ſprechen. Ein fo
edler Menſch war er — alle, die leiden, wollte er er-
retten, ich ſollte ihm helfen, an ſeiner Seite ſtehen —“
„Kenia, was ſprechen Sie da?“ |
Sophie ſchrie es heraus. Erſt jetzt wurde ſie ſich
i Roman von Hans Becker. 39
bewußt, vor welchem Abgrunde das Mädchen geftanden.
Das bißchen Verliebtſein, dieſe Kinderei — was galt
die gegen dieſes Eingeſtändnis!
Sie war aufgeſprungen, hatte das Mädchen von
ſich geſtoßen. Mit fliegendem Atem wiederholte fie
immer von neuem: „Kenia, Kenia, was ſagen Sie,
was ſprechen Sie da?“
Kenia ſtand vor ihr. Die ernſten, traurigen Augen
leuchteten jetzt wie im Fieber. Sie hatte die Hand
erhoben, deutete hinaus in die Dunkelheit. „So dunkel,
ſo traurig iſt das Leben der Menſchen, ſo troſtlos, ſo
öde! — Dies Dunkel wollte er erhellen, das Volk, ſein
Volk zum Lichte führen —“
Das Kind war wahnſinnig oder krank. Sophie ſah
ſich wirr im Zimmer um. Was ſollte ſie tun, was
konnte ſie tun? Endlich ein Gedanke. Baumeiſter —
er allein konnte helfen!
Sie eilte auf die Tür zu, preßte die Finger auf
den Knopf der elektriſchen Glocke, immer von neuem,
ſo daß es laut durch das Haus gellte.
Kenia ſah nicht, was Sophie tat, fie ſtand da, die
Augen auf das Fenſter, in die Finſternis gerichtet.
Endlich hörte Sophie Schritte. Es klopfte. Eines
der Hausmädchen ſteckte den Kopf zur Tür herein.
Sophie ſchrie ihr zu: „Rufen Sie Herrn Baumeiſter
— ſofort! Das gnädige Fräulein iſt erkrankt.“
Das hatte Kenia gehört, eine plötzliche Veränderung
war mit ihr vorgegangen. Der traumhafte Zuſtand,
in dem ſie ſich eben noch befunden, ſchien gelöſt. Sie
trat auf Sophie zu. „Ich bin nicht krank. Aber Sie
ſind ſchlecht. Sie haben mein Vertrauen mißbraucht,
haben mich verraten. Zetzt verſtehe ich erſt, was Karl
Karlowitſch andeutete — pfui!“ |
Sophie hörte nicht auf fie, jo geſpannt horchte fie
40 Die ſchöne Trebnitz. U
nach der Tür. Sie zitterte und hätte ſich Baumeiſter,
der endlich durch die offengebliebene Tür ſtürzte, faſt
in die Arme geworfen.
„Endlich, Herr Baumeiſter! — Kenia 0 krank, ſie
fiebert — helfen Sie!“
Sie wußte kaum, was ſie ſprach.
Baumeiſter begriff ſofort, was geſchehen ſein konnte.
Er ſah Kenia mitten im Zimmer ſtehen, die Augen
zornig auf Sophie gerichtet, die Hand wie anklagend
gegen ſie erhoben.
Auch ihm gegenüber, als er ihr den Tod des Stu-
denten mitgeteilt, hatte Xenia ſich leidenſchaftlich ge-
zeigt, geweint und geklagt, allerlei phantaſtiſches Zeug
geſprochen, ſo daß es ſeiner ganzen Autorität bedurft
hatte, um fie zu beruhigen. Jetzt ſah er, daß ihm das
doch nicht ganz gelungen, daß es ernſter war, als er
ſich vorgeſtellt, daß das Kind, wofür er ſie noch immer
genommen, wohl doch ſchon den Einflüſterungen jenes
Anſeligen erlegen war.
Dieſe Überlegung kam ihm erſt jetzt, denn vorher
hatte er nur Augen und Sinne für Sophie gehabt.
Wie eine heiße Wolke hatte es ihn umhüllt, als die
Frau, die er liebte, ihm ſo hilflos entgegengeſtürzt war,
bei ihm Schutz ſuchen wollte. Ein ſehnſüchtiges Ver-
langen war in ihm geweſen, die Arme auszubreiten,
ſie an ſich zu reißen. Ein Glück, an das er nicht glauben,
nicht denken gewollt, hatte ihn durchzuckt.
Nun war der Rauſch vorüber, er hatte ſich wieder
in der Gewalt.
„Sophie Karlowna, was iſt geſchehen?“
Sophie zeigte auf Kenia. „Sie iſt krank, fie fiebert!“
Kenia ließ den erhobenen Arm ſinken. „Sch bin
nicht krank, Sie können nur nicht begreifen, was in
mir vorgeht.“
2 Roman von Hans Becker. 41
Ihre Stimme berührte Sophie fremd. Etwas noch
nie Gehörtes, etwas Tragiſches lag darin.
Baumeiſter war zu Kenia getreten und faßte nach
ihrer Hand. „Kommen Sie, Kenia, Sie müſſen ſchlafen.
Ich ſchicke Ihnen Anjuta, die ſoll bei Ihnen bleiben,
damit Sie nicht allein ſind.“
Kenia trat zurück. Ihre Wangen waren jetzt heiß
gerötet, ihre Augen funkelten. „Ich will nicht ſchlafen,
ich muß wachen —“
Plötzlich warf ſie die Arme in die Luft und wäre
hingeſtürzt, wenn Baumeiſter fie nicht aufgefangen
hätte.
Auf feinen Armen trug er fie zur Tür.
Als wenn er ſich erſt jetzt wieder Sophies erinnerte,
blieb er dort ſtehen. „Sophie Karlowna — verzeihen
Sie, wünſchen Sie noch etwas?“
Seine Frage erſchien Sophie kühl, erzwungen, als
ob ein Vorwurf darin ſteckte, ein Tadel, daß ſie ſich
nicht beſſer beherrſcht hatte.
„Nein — danke!“
Sie ſchloß die Tür hinter ihm, laut, geräuſchvoll,
damit er verſtehen ſollte, daß ſie von ihm keinen Schutz,
keine Hilfe mehr erwarte, entkleidete ſich haſtig und
legte ſich zu Bett.
Die Dede zog fie über den Kopf. Nur nichts mehr
hören und ſehen von dieſer Wirtſchaft hier!
Noch in der Nacht ſchickte Baumeiſter einen Wa-
gen zum Arzt und einen reitenden Boten zu Boris
Safronow.
Der alte Herr kam ſchon am Morgen angefahren.
„Was habt ihr denn hier wieder?“ rief er noch vom
Wagen aus. „Nicht einmal ſchlafen kann man!“
42 Die ſchöne Trebnitz. oO
„Verzeihen Sie, Boris Boriſowitſch — Ihre Enkelin
iſt erkrankt.“
„Was fehlt ihr denn?“
„Sie fiebert ſtark, hat phantaſiert —“
„Wer iſt bei ihr? Wohl die ſchöne Frau, die Trebnitz?
Da will ich doch gleich ——?“
„Frau v. Trebnitz hat ſich ſelbſt ſtark erregt, ich
wollte fie —“
„Wie beſorgt Sie find!" Er kniff das linke Auge
zu und lächelte Baumeiſter an. „Wohl 'n bißchen
verliebt — was? Schade, daß ſie nicht da iſt.
Hätte gern mit ihr gefrühſtückt. Alſo wollen wir ohne
fie nach Xenia ſehen.“
Anjuta, die an Kenias Bett ſaß, berichtete, daß das
gnädige Fräulein viel phantaſiert habe — jetzt erſt ſei
ſie ſtill geworden.
Safronow ſchüttelte den Kopf. „Da iſt's wohl
beſſer, wir gehen wieder. Können ja doch nichts helfen.
Zu dumm, daß meine Tochter nicht zu Hauſe iſt!“
wendete er ſich an Baumeiſter. „Ewig dieſe Reiſerei,
die Kinder allein —“
„Aber ich bin doch —“
„Verzeihen Sie, Karl Karlowitſch, ich meine das
nicht ſo, Sie ſind ja da, tun natürlich alles, ja, ja —
Sie verſäumen nichts — ah —“
Die Tür hatte ſich geöffnet, vor ihm ſtand Sophie.
„Guten Morgen, meine Gnädigſte!“
Baumeiſter ſah, wie die Augen des alten Herrn
glänzten. Er empfand dabei kaum Eiferſucht, hatte
nur das Empfinden, daß jener in dieſem Augenblick
doch weniger Kavalier und mehr beſorgter Verwandter
ſein müßte, hatte er doch ſelbſt all ſeine Gefühle für
Sophie zurückgedrängt in der Sorge um die Erkrankte.
Auch mit Sophie war Baumeiſter nicht zufrieden;
2 Roman von Hans Becker. 43
ſie ſchien beim Anblick Safronows gleichfalls die Kranke
vergeſſen zu haben, denn ſtatt weiter in das Zimmer
zu treten, blieb ſie in der geöffneten Tür ſtehen.
„Erlauben Sie, Sophie Karlowna,“ ſagte er, „daß
ich die Tür ſchließe. Die Zugluft könnte der Kranken
ſchaden.“
Sophie glaubte in dieſen Worten ſchon wieder einen
Vorwurf zu hören, fühlte jedoch gleichzeitig ſelbſt, daß
ſie im Unrecht war, geſtern wie heute. Sie kannte den
Mann doch, wußte, daß ihm in erſter Reihe ſtets die
Pflicht ſtand. Schnell ging ſie auf das Bett Kenias zu.
Baumeiſter ſchloß die Tür.
Safronow hatte von dem kleinen Gefecht, das ſich
zwiſchen den beiden abgeſpielt, nichts gemerkt. „Gnä⸗-
digſte haben wohl auch noch nicht gefrühſtückt?“ fragte
er. „Wenn Sie geſtatten, werde ich warten, um in
Ihrer Geſellſchaft —“
Wieder dieſer Kavalierton! Baumeiſter fühlte jetzt
gehörigen Ärger, ja noch mehr, er empfand nun doch
Eiferſucht. Während er, den Kopf voll Sorgen, herum-
laufen mußte, würden die beiden in Gemütsruhe am
Frühſtückstiſche ſitzen. Wer konnte wiſſen, wozu ſich
Safronow hinreißen ließ! Oer joviale alte Herr er-
ſchien ihm plötzlich wie ein alberner Geck.
Er führte ihn ins Speiſezimmer, forderte ihn auf,
Platz zu nehmen, und ging dann, um Paul zu ſuchen.
Auf ſeinem Rückwege begegnete er im Korridor
Sophie, die aus Kenias Zimmer herausgekommen
war.
Er wollte mit kurzem Gruße an ihr vorüber. Sie
hielt ihn an. Die Szene vorher, als er ſie an ihre Pflicht
zu erinnern ſchien, ſtand ihr vor Augen, auch das, was
ſie gedacht, war wieder zurückgekehrt.
„Sind Sie mir böſe, Karl Karlowitſch? Ich konnte
44 Die ſchöne Trebnitz. 0
doch den alten Herrn nicht einfach ſtehen laſſen, mußte
ihm doch antworten —“
Baumeiſter war ſchon wieder verſöhnt. Er freute
ſich, daß ſie ihn begriffen. Er reichte ihr die Hand.
„Ich habe Ihnen noch gar nicht guten Morgen ge—
wünſcht. Wie haben Sie geſchlafen? Geſtern abend
kam ich gar nicht dazu, mich —“
„Ach Gott, die arme Kenia! Wenn es nur bald
beſſer würde!“
Das klang wieder recht oberflächlich. War ſie doch
ohne tieferes Gefühl?
Er hob die Schultern. „Man muß erſt den Arzt
hören. Sch rufe Sie, ſobald er kommt.“
Sie nickte, ging ſchnell vorwärts, denn die Tür des
Speiſezimmers hatte ſich geöffnet, und in ihr zeigte
ſich die hohe Geſtalt Safronows.
Baumeiſter ſah, wie ſich Safronow tief vor ihr ver-
neigte, zurücktrat, ihr den Eintritt freigab und dann
die Tür hinter ihnen ſchloß.
Ein Bild aus ſeinem Studentenleben fiel ihm ein,
ganz plötzlich wuchs das vor ihm auf. Er hatte einer
kleinen Sängerin von einem Café chantant den Hof
gemacht, war toll verliebt geweſen in ſie, ſie auch in
ihn — bis ſie die Bekanntſchaft eines reichen Börſianers
machte. Da zog ſie ſich ſachte zurück. Erſt log ſie ihn
an, hatte hundert Ausreden, wenn ſie ſich ein paar
Tage nicht hatte ſehen laſſen, bis er mißtrauiſch ge-
worden war und ihr eines Nachts vor dem Cafe auf-
lauerte. Es war im Winter, eine kalte Nacht — er
erinnerte ſich noch genau, wie ihm die Füße faſt zu
Eis erſtarrten, als er in der Straße auf und ab lief.
Endlich war ſie herausgekommen — am Arm ihres
neuen Verehrers. Ein Auto rollte heran, ſie ſtiegen
ein, die Tür des Wagens klappte zu — mit einem
Geräuſch, das er noch heute nicht vergeſſen, das er
noch eben zu hören geglaubt, als ſich die Tür des
Eßzimmers hinter jenen beiden geſchloſſen hatte.
Was für Dummheiten! Wie kam ihm nur die Ge—
ſchichte jetzt in den Kopf? War da eine Ahnlichkeit,
ein Vergleich möglich?
Er ſtrich ſich über die Stirn, fühlte, daß ihm der
kalte Schweiß ausgebrochen war.
Sophie und Boris Safronow frühſtückten mit vollem
Behagen, mit keinem Gedanken dachten ſie in dieſer
Stunde an das Krankenzimmer.
Der alte Herr zeigte ſich von ſeiner beſten Seite.
Hatte er ſich in Gegenwart Baumeiſters noch zurück-
gehalten, ſo war er jetzt ganz der galante Kavalier von
ehemals. Er fühlte ſich wieder jung und verſtand ſelbſt
nicht, wie er ſich als alter Mummelgreis auf ſein Gut
hatte ſetzen und ſeine Gicht pflegen wollen.
Sie plauderten über Reiſen, über Paris, über Berlin.
Dabei wanderten feine Augen unausgeſetzt über ihr
Geſicht, über ihre herrliche Figur, über ihre Hände —
wie die ſchlanken Finger ein Brötchen zurechtmachten
und zum Munde führten, wie ſie die Taſſe hoben. So
was gab's einfach nicht mehr in der Welt — eine ſo
vollkommene Schönheit.
Sophie fühlte die Huldigung, die in ſeinen Blicken
lag. Schon gedachte Gedanken ſtiegen von neuem in
ihr auf. War dieſer Mann ihr Schickſal?
Bilder eines ſonnigen Lebens flogen an ihr vor-
über, ſie glaubte die Macht, die ſie über ihn beſaß, zu
erkennen. Würde eine Frau in ihrer Lage noch Zweifel
hegen, was ſie tun ſollte, tun mußte? |
Sie beobachtete ihn ihrerſeits. Ein ftattlicher, im-
46 Die ſchöne Trebnitz. u
poſanter Mann war er immer noch. Einige Atem-
züge lang verdunkelten ſich ihre Augen. Ein anderes
Geſicht trat in ihre Erinnerung, ein Geſicht, an das
ſie nicht, nie mehr hatte denken wollen — das Geſicht
ihres Mannes in Jugend, in Schönheit ſtrahlend.
Aber ihre Lippen hoben ſich verächtlich. Was hatte
ſeine Jugend, ſeine Schönheit ihr gegeben?
Sie atmete tief auf, ihre Naſenflügel bebten. Ein
Entſchluß regte ſich in ihr.
Sie ſtieß die Hand, die ſich leiſe auf die ihrige ge-
legt, nicht zurück. Sie lauſchte geſpannt, begierig auf
die Worte, die neben ihr ertönten.
„Sophie Karlowna, welch ſchlimme Gedanken be—
wegen Sie fo plötzlich? Darf ich es nicht wiſſen? Wollen
Sie mich nicht mit Ihrem Vertrauen beehren? Viel-
leicht kann ich helfen —
Die Erinnerung war ſchon wieder ausgelöſcht.
Sophie konnte lächeln. „Ich danke Ihnen herzlich.
Aber wie könnten Sie mir helfen? Ich fühle mich hier
unglücklich — ich fürchte mich. Keinen Schritt wage
ich zu tun, eine Gefangene bin ich hier —“
Safronow beugte ſich näher zu ihr. „Eine Ge—
fangene? Wenn Ihnen nun angeboten würde, dieſe
Gefangenſchaft mit einer anderen, weit angenehmeren
zu vertauſchen? — Sie lächeln, darf ich mir das günftig
deuten, darf ich weiterſprechen?“
Ohne Antwort blickte ſie vor ſich nieder.
Da zog er ihre Hand an ſeine Lippen. „Würden
Sie mir dies Händchen anvertrauen, ſich von mir führen
laſſen — fort von hier in die Welt, wohin Sie be-
ſtimmen?“
Sophie ſah auf, ihre Blicke begegneten ſich. Sie
wollte antworten, ein Klopfen an der Tür en bielt
fie zurück.
. Roman von Hans Becker. 47
Ein Diener meldete, daß der Arzt gekommen ſei
und Herr Baumeiſter Frau v. Trebnitz bitten ließe.
Sophie hatte Safronow ihre Hand entzogen und
ſich ſchnell erhoben. Nur mit einer Bewegung ihres
Kopfes gab fie zu erkennen, daß fie ihn nicht abwies —
dann folgte fie dem Diener. |
Safronow blieb am Tiſche ſitzen. Die Erregung
hatte ſein Geſicht gerötet. So leicht hatte er ſich die
Sache nicht vorgeſtellt. Aber ſchließlich — ſie bleiben
ſich doch alle gleich, die Weiber.
Er brauchte nicht einmal beſonders ſtolz zu ſein auf
ſeinen Sieg. Gewiß — ſie war ſchön und herrlich, aber
doch nur eine Geſellſchafterin.
Plötzlich fuhr ein Gedanke in ihm auf. Am Ende
hatte ſie den Antrag anders aufgefaßt, dachte an eine
Heirat! Das wäre —
Erregt lief er im Zimmer umher. Da wäre er ja
in einer netten Patſche! Heiraten — fiel ihm ja gar
nicht ein!
Am liebſten hätte er ſich in ſeinen Wagen geſetzt
und wäre davongefahren.
Aber was half ein ſolches Vogelſtraußſpiel? Alſo
beſſer, ihre Rückkehr abwarten, ein vernünftiges Wort
mit ihr reden — den Kopf konnte es nicht koſten.
Ihm wurde doch bange bei dem Gedanken. Sie
hatte ſo etwas an ſich, war ſo ganz große Dame — an
ihre Schönheit durfte er ſchon gar nicht denken. Wenn
ſie wieder vor ihm ſtand oder neben ihm ſaß, machte
er ſicher von neuem Dummheiten! — Alſo doch beſſer:
ſchnell fort, ſich die Sache erſt ordentlich zurechtlegen,
das Blut abkühlen laſſen!
Er ſchlich zur Tür.
Zu ſpät — er hörte ſie den Gang herunterkommen.
Freudig erregt kam ihm Sophie entgegen.
48 Die ſchöne Trebnitz. 2
Um des Himmels willen — jetzt würde ſie ſich an
ſeine Bruſt werfen, die Geſchichte war fertig!
Eine Sekunde lang war er entſchloſſen, alles über
ſich ergehen zu laſſen, auch zu heiraten. Das Weib
war zu herrlich — mochten die Leute die Mäuler auf-
reißen!
Doch nichts geſchah.
„Gott ſei Dank,“ ſagte fie nur, „mit Kenia geht es
beſſer. In einigen Tagen wird ſie geſund ſein.“
Das gab ihm die Haltung zurück. „Ausgezeichnet!
Werde gleich ſelbſt zu ihr — “
Damit wollte er ſich davonmachen.
Doch ſie blieb dicht vor ihm ſtehen.
Da ergriff er entſchloſſen ihre beiden Hände. „Sophie
Karlowna — wir haben uns doch vorhin verſtanden?
Mein Antrag —“
Die Worte wollten doch nicht recht heraus, er mußte
all ſeinen Mut zuſammennehmen.
„Sophie Karlowna — wollen Sie mit mir kommen?
Ich nehme Sie von hier fort, wir gehen auf Reifen,
nach Paris, nach Berlin — wohin Sie befehlen. Ich
will für Sie ſorgen, Sie follen ſich nicht mehr herum-
ſtoßen laſſen, ich kann das nicht dulden —“
Er trat ihr näher, ſchien ſie an ſich ziehen zu wollen.
Da hatte ſie begriffen. 5 ſtieß fie ihn
zurück. „Wie können Sie es wagen —
„Sophie Karlowna, bedenken Sie doch —
Sie trat vor mit erhobener Hand. Er glaubte, ſie
wolle ihm ins Geſicht ſchlagen.
Sein Geſicht veränderte ſich, bekam etwas Greifen-
haftes, die hohe Geſtalt ſank in ſich zuſammen. Ohne
ein Wort ſchlich er davon.
Sophie rang ſchluchzend die Hände. Ein großes
Entſetzen kam über ſie. |
c Roman von Hans Becker. Ä 49
Durch ihre eigene Schuld war's geſchehen. Warum
hatte ſie es ſo weit kommen laſſen?
Sie wäre ſeine Frau geworden — ohne Liebe für
ihn, ohne Neigung, nur um einen Halt zu gewinnen,
ſich nicht herumſtoßen laſſen zu müſſen, hatte es ſchon
als Glück angeſehen, als großes Glück, war eilig zurück-
gekommen, um ihm auf ſeine Frage bejahende Ant-
wort zu geben. Und nun dieſe Schmach!
Aber fie war ja nur eine Erzieherin, eine Geſell-
ſchafterin — der durfte man das bieten!
Sie ſtarrte vor ſich hin. Was nun?
Zukunftlos, heimatlos — ihres Bleibens war doch
kaum hier noch!
Aber wo ſollte ſie hin? Sie hatte doch ſchon alles
bedacht, ſich die Troſtloſigkeit einer Rückkehr nach Deutſch⸗
land klargemacht, war auch ſchon halb entſchloſſen
geweſen, hier ruhig auszuhalten!
Wenn Laſarews erſt angekommen ſein würden, wäre
es ja auch nicht mehr ſo ſchrecklich geweſen, ſie wären
wohl bald von hier fortgegangen nach Moskau oder
Petersburg. Auch Kenia hatte ſich vorhin wieder lieb
und gut zu ihr gezeigt. Sie hatte ihr feſt die Hand
gepreßt, ſie gar nicht mehr loslaſſen wollen — es lag
darin wohl eine Bitte um Verzeihung.
Es war alles ſchon wieder gut geweſen, Sophie
hatte ſich von neuem zu Kenia hingezogen gefühlt,
vielleicht mehr noch in dem Gedanken, daß ſie ihr eine
Verwandte werden ſollte.
Daran dachte ſie jetzt wieder, und dabei fiel ihr ein,
daß fie ja die Großmutter Kenias hatte werden wollen.
Der Gedanke erſchien ihr ſo ſpaßhaft, daß ſie trotz
ihrer Verzweiflung lächeln mußte.
Das ließ ſie den Auftritt von vorhin milder, leichter
beurteilen. Der alte Herr, der faſt ſchon mit dem
1918. XII. 4
50 Die ſchöne Trebnitz. 4
Leben abgeſchloſſen, hatte ſich eben durch ihre Schön-
heit entflammen laſſen. Warum nahm ſie das ſo
tragiſch? Wenn jemand ſich zu ſchämen hatte, war
doch er es!
Sie tat alſo doch wohl beſſer, zu bleiben.
Leiſe wurde die Tür geöffnet. Pauls Kopf erſchien
in der Spalte. „Guten Morgen, Sophie Karlowna!
Sind Sie allein — Karl Karlowitſch nicht hier?“
„Fürchten Sie ſich vor Karl Karlowitſch? Zit er fo
böſe?“
Paul hob die Hand. „Gott bewahre — er iſt herzens-
gut. Das heißt beim Unterricht kann er manchmal
fuchswild werden. Wiſſen Sie, wenn ich nicht gleich
begreife oder nicht gelernt habe. Na und heut — er
hatte mich auf neun Uhr beſtellt, es iſt jetzt elf vor-
bei —“
Plötzlich ſtellte er ſein Teeglas, das ihm Sophie
eingeſchenkt und das er eben zum Munde führen wollte,
wieder hin.
„Ach, Sophie Karlowna, in Ihrer Gegenwart kann
man doch gar nicht ſchelten, Sie find fo ſchön, daß —“
Er beendete ſeinen Satz nicht, ſprang auf, griff nach
ihrer Hand und wollte dieſe küſſen.
Sophie entzog ihm die Hand heftig. „Paul — was
fällt Ihnen ein! Wenn ich das Karl Karlowitſch er-
zähle —“
Dabei mußte ſie doch lachen. Erſt der Großvater,
jetzt der Enkel! War fie denn wirklich eine ſo gefähr-
liche Schönheit?
Paul war auf ſeinen Platz cd ele er ſchämte
ſich und fürchtete, daß ſie darüber ſprechen könnte.
Anter halbgeſchloſſenen Augenlidern ſchielte er nach ihr
hinüber, und als er ſah, daß ſie es nicht böſe meinte,
lachte auch er. „Es war ja nur ein Scherz, Sophie
2 Roman von Hans Becker. 51
— — — — —
Karlowna. Sie werden doch nichts ſagen? Ich wollte
doch nur, ich —“
Baumeiſter erſchien in der Tür.
„Alſo hier ſteckſt du? — Entſchuldigen Sie, Sophie
Karlowna, wenn ich hier in Ihrer Gegenwart ein Straf:
gericht halte.“
Sophie wollte Paul zu Hilfe kommen. „Laſſen
Sie nur, denn ich trage die Schuld. Paul hatte mich
geſtern gebeten, ihn bei Ihnen zu entſchuldigen, wenn
er heute länger ſchliefe, da er ſich angegriffen fühle.
Er ſagte mir das, als wir zuſammen von der Veranda
gingen.“
„Das iſt etwas anderes.“ Dann, ſich zu Paul
wendend, fuhr er fort: „Wir wollen jetzt an die Arbeit
gehen. Wir müſſen uns eilen, ein paar Stunden mehr
werden es heute ſchon werden.“
Nach einigen Tagen kam Frau v. Laſarewa an.
Sie war über Petersburg gereiſt, ihr Mann dort zurück-
geblieben. Doch ſie kam nicht allein, in ihrer Begleitung
befand ſich ihr Schwager, ein jüngerer Bruder ihres
Mannes.
Frau v. Laſarewa war ſehr aufgeregt, ihre Nerven,
wie ſie erklärte, aufs äußerſte angeſpannt — nicht nur
durch die Nachrichten über die Bauerngeſchichten, mehr
noch durch die überhaſtete Reiſe. Sie war glücklich,
Kenia wieder wohl und munter zu finden, von Bau-
meiſter zu hören, daß auch ſonſt alles wieder ruhig
wäre,
Slleich in der erſten Stunde erzählte fie, daß fie
demnächſt alle nach Petersburg überſiedeln, Herbſt und
Winter in der Hauptſtadt zubringen würden, denn ihr
Mann ſei ins Miniſterium der Landwirtſchaft berufen
52 Die ſchöne Trebnitz. ö 2
worden, da große Veränderungen in den Krongeſtüten
bevorſtänden, wobei man feinen Rat verlange.
Sophie war über den plötzlich aufgetauchten Schwa-
ger ſehr erſtaunt. Bisher hatte noch niemand von ihm
geſprochen. Oder doch? Richtig — Paul hatte einmal
von einem Onkel erzählt, der in Paris ſei.
Nikolai v. Laſarew war ein auffallend hübſcher
Menſch. Groß, ſchlank, mit dunklem, ſorgſam gepfleg-
tem Haar, glatt raſiert, mit ſchöngeformtem Mund, wäre
er eine der Geſtalten geweſen, wie man ſie unter den
Botſchaftsattachés aller Länder zu Dutzenden findet —
feine beſondere Schönheit lag in den Augen, wunder-
baren dunklen, orientaliſchen Augen, die beim erſten
Sehen gefangennahmen.
Wohl ohne daß er es wollte oder wußte, ſchienen
fie zu liebkoſen, zu werben, fo daß Sophie faſt verblüfft
war, als er ihr vorgeſtellt wurde.
Er aber auch. Zwei echte Raſſemenſchen ſtanden
ſich gegenüber.
Seine Schwägerin hatte ihn ſchon gewarnt und ihm
geſagt: „Die neue Geſellſchafterin bei uns iſt eine ſehr
ſchöne Frau. Daß Sie keine Dummheiten machen,
Nikolai! Vergeſſen Sie nicht, daß Sie verlobt ſind!“
Er hatte gelacht. „Fürchten Sie nichts, meine liebe
Natalie. Ich komme aus Paris und bin unangetaſtet
geblieben, für deutſche Schönheit habe ich nichts übrig.“
geht, als er Sophie geſehen, ging eine Wandlung
in ihm vor. Seine Gedanken flogen zu feiner Ver-
lobten, verglichen und machten ihn verdrießlich. Es
gab alſo doch noch mehr Schönheit — hier dieſe Frau.
Alle mußten fie dagegen einpacken, auch Komteſſe
Dalenkowa, ſeine Braut.
Er war wirklich verdrießlich, ſchon darüber, daß er
einen Vergleich zwiſchen dieſer und einer deutſchen
2 Roman von Hans Becker. 53:
Geſellſchafterin angeſtellt. Er nahm feine hochmütigſte
Miene an, verbeugte ſich ſteif, konnte aber ſeinen Augen
nicht wehren.
Ein paar Tage hielt er ſich zurück, dann fing er
an zu begreifen, daß er in ihrer Nähe nicht ruhig bleiben
würde. Alſo entweder fort oder —
Er blieb bei dem „oder“. Warum auch nicht? Eine
ganz nette Zerſtreuung für die paar Wochen auf dem
Lande. Bei aller Schönheit würde ſie in ihrer Stellung
leicht zu erobern ſein.
Eines Morgens forderte er die Damen zu einem
Ausritt auf. Natürlich ritt Kenia mit. Das ſtörte ja,
aber er würde ſchon Gelegenheit finden, mit Sophie
allein zu ſein.
Dreimal ritt Xenia mit, dann erklärte ſie, als die
Pferde ſchon vor der Tür ſtanden, daß ſie heute nicht
reiten könne, Onkel Nikolai und Sophie Karlowna
ſollten ohne ſie reiten.
Natürlich wollte nun auch Sophie zurückbleiben, aber
Kenia drang in ſie, ihretwegen den Morgenritt nicht
aufzugeben, ſie lege ſich für einige Stunden, wolle
gern allein ſein.
Sophie gab nach und ritt mit Nikolai fort.
Er hatte der Unterhandlung zwiſchen Sophie und
Kenia ruhig zugehört, kein Wort geſagt, ſprach auch
jetzt, während ſie durch das Dorf ritten, nicht, hatte
immerfort mit dem Sattelgurt zu tun — es ſchien da
etwas nicht in Ordnung.
Erſt als ſie den Wald erreicht hatten, ſich in völliger
Einſamkeit befanden, fing er an: „Wir können heute kaum
galoppieren, denn der Gurt an meinem Sattel ſitzt nicht
feſt genug. Ich bringe Sie um Ihr Vergnügen —“
Sie ſchüttelte den Kopf. „Durchaus nicht. Wir
können auch im Schritt reiten.“ 3
54 | Die ſchöne Trebnitz. | 2
Sie fühlte ſich aber doch befangen, denn ſie war
das erſte Mal mit ihm allein.
Wie er über fie, hatte ſie in den vergangenen Tagen
über ihn nachgedacht. Erſt ſpöttiſch, als ſie bemerkt,
wie er ſie mit ſeinen Blicken verfolgte, dann, als ſie
wahrnehmen mußte, daß ihr Spott nicht ſtandhielt,
mit Furcht. Sie wollte ſich nicht eingeſtehen, daß ſie
Gefallen an ihm fand.
Nur das nicht! Sie glaubte an nichts Tieferes,
nichts Ernſteres und zitterte doch der Minute entgegen,
die ſie mit ihm zuſammenführte.
Sie war überzeugt geweſen, nie mehr lieben zu
können. Durch die Härte, mit der ſie vom Schickſal
behandelt worden war, ſchien ihr Herz erſtarrt. Sie
hielt es für undenkbar, daß es noch einmal zum Leben
erwachen könnte.
Dieſer Gedanke hatte ſie geleitet, als der alte
Safronow ihr ſeinen Antrag gemacht, als ſie geglaubt
hatte, daß er ſie heiraten wolle. Eine Verſorgung bot
ſich ihr an, eine vornehme Verſorgung. Das war es,
was ſie für ſich noch wünſchen zu dürfen glaubte.
Nikolai v. Laſarew hielt plötzlich ſein Pferd an und
ſprang ab. „Ich muß um Verzeihung bitten. Da
haben wir's — der Sattelgurt iſt geplatzt, ich muß
nebenher laufen.“
Auch Sophie hatte ihr Pferd angehalten und ſah
ſchweigend zu, wie er ſich abmühte.
„So ſteige ich auch ab,“ ſagte ſie endlich. „Wir
wollen zu Fuß zurückgehen.“
„Ich bitte ſehr, Sophie Karlowna — das darf ich
nicht dulden.“
Sie war ſchon herunter vom Pferd und ſtand neben
ihm.
Prachtvoll ſah fie aus in dem grauen, für den Herren-
2 Roman von Hans Becker. 55
ſattel gefertigten Koſtüm. Sie fühlte, während ſie noch
an dem Zügel ihres Pferdes ordnete, ohne aufzuſehen,
wie ſein Blick auf ihr ruhte. Ein Etwas, wofür ſie
keine Erklärung fand, danach nicht ſuchen wollte, erregte
ſie, ſo daß ſie mit ihrer Arbeit nicht zurechtkam.
Nikolai trat heran, griff nach dem Zügel. Dabei
berührten ſich ihre Hände. Ein Zittern ging durch
ihren Körper — ſie empfand die einfache, kleine Hilfe,
die er leiſtete, wie einen kraftvollen Schutz, unter dem
zu leben ſie ſich ſehnte. Zaghaft blickte ſie zu ihm auf.
Da begegneten ſich ihre Augen, dieſe wunderbaren,
ſchmeichelnden Augen, die auf ihr ruhten, über ſie
hinglitten, ſie bannten, daß ſie ſchweigend verharrte,
ſich nicht rühren konnte, als er den Arm um ſie legte
und ſie küßte.
„Sophie, ich liebe Sie —“
Sie antwortete nicht, ſie wehrte ſich nicht, ſie lag
in ſeinen Armen. Alles, was ſie erduldet, alles, was
ihr das Leben angetan, war vergeſſen — auf Umwegen
war das Glück jetzt zu ihr gekommen.
Ein leiſes Lachen ſchreckte ſie auf. Sie entwand
ſich ihm, ſah ihn verwundert an.
Er lachte — ein ſo frohes, faſt jungenhaftes Lachen,
das ſeinen Augen einen anderen, neuen Ausdruck gab.
„Können Sie mir vergeben, daß ich Sie getäuſcht —“
Wieder ſchrak ſie zuſammen. Sie verſtand ihn nicht.
Hatte er nur mit ihr geſpielt?
„Mein Sattelgurt iſt nämlich ganz heil. Ich wollte
Sie nur vom Pferde haben, denn ich ſehnte mich da—
nach, Sie in meine Arme zu nehmen.“ Er zog ſie
wieder an ſich. „Sophie, Sie vergeben mir —“
Unter ſeinen Küſſen verſuchte ſie zu lächeln. Es
gelang nicht. Etwas Schweres war in ihr zurück-
geblieben, ſie konnte ſich nicht zurechtfinden.
56 Die ſchöne Trebnitz. 2
— —— — — en
Er bemerkte das, begriff, daß er gutmachen mußte.
„Vergeben Sie mir! Soll ich niederknieen? Sie
glauben doch an meine Liebe, ich ſehe es ja, Sie ver-
zeihen mir —“
Sie blieb immer noch ſtumm.
„Sophie — es war doch nichts Böſes. Sophie,
ſeien Sie wieder gut —“
Sie wollte ihm ſo gern glauben, ſich von ihrer Liebe
überreden laſſen, daß alles wieder gut ſei, daß das,
was er getan, dieſe Liſt, die er gebraucht, ihm nur von
ſeiner Liebe für ſie eingegeben war. Das Schwere,
das ſie ergriffen, das ſie drückte, wich nicht — der
Gedanke, daß fie wieder getäuſcht, viel ſchwerer ge-
täuſcht ſei, erweckte in ihr einen faſſungsloſen Schmerz.
Wie eine Verzweifelte ſchluchzte ſie auf.
Er preßte ſie nur um ſo feſter an ſich. „Sophie,
warum weinen Sie? Vergeſſen Sie, was ich getan,
ich habe doch reumütig gebeichtet! Zch will ja alles
gutmachen, nur weinen Sie nicht. Wozu Tränen, wenn
zwei ſich lieben —“
Einen Augenblick kam ihr der Gedanke, all ihren
Mut zuſammenzunehmen, auszuſprechen, was fie fait
erdrückte, ſich Gewißheit zu verſchaffen.
Langſam löſte ſie ſich von ihm, ſuchte nach Worten,
fühlte ſofort das Unmögliche ſolchen Tuns, empfand,
daß die Scham fie nicht ſprechen laſſen, fie den quälen-
den Zweifel, der in ihr erwacht, leichter ertragen könnte,
als in dieſer Minute an etwas rühren, was jede Frau
mit Scheu in ſich verſchließt — die brutale Frage, wie
ſie ſein Geſtändnis aufzufaſſen habe.
Als ob ſie daran noch Zweifel hegen dürfte!
Das Blut ſchoß ihr in die Stirn, als ſie ſich darauf
beſann, ſich vorſtellte, daß ſie daran auch nur eine
Sekunde hatte denken können.
u Roman von Hans Becker. 57
Das war ſo in ihr aufgeſtiegen bei dem Erinnern
an den alten Safronow, an die Schmach, die ihr dieſer
bereitet — ein gehetztes Wild kehrt ſich auch gegen feinen
Erretter.
Gott ſei Dank — er konnte nicht wiſſen, was in
ihr vorgegangen. Sie würde ſich den Tod geben, wenn
er es auch nur ahnen könnte.
So fand ſie ihre Beherrſchung zurück und ging auf
ſeinen Ton ein. „Ich habe ſchon verziehen. Jetzt
laſſen Sie uns aber vernünftig ſein.“
Sie ließ es geſchehen, daß er ſie, als er ihr in den
Sattel half, nochmals küßte.
Kaum ſaß ſie aber, da drückte ſie die Gerte feſter
an den Leib ihres Pferdes, hob ihm den Kopf und
ſetzte zum Galopp an.
Als ob ſie ihm entfliehen wollte.
Sofort war er neben ihr. Sie trieb ihr Pferd zu
wilder Eile an, minutenlang raſten ſie nebeneinander
her, bis ſie plötzlich parierte und ihr Pferd nach kurzem
Trab in Schritt fallen ließ.
Der ſchnelle Ritt hatte ihr Blut erregt, ſie fühlte
ſich freier, eine ſtarke Lebensluſt war in ihr, ſie wollte
nicht mehr an Häßliches denken.
Der da neben ihr ritt, liebte fie. Er hatte es ihr
ja geſagt.
Sie liebte ihn auch, ihr ganzes Sehnen zog ſie zu
ihm. Welch köſtliche Zukunft ſtand ihr bevor!
Ruhig plauderten ſie jetzt, als ob alles zwiſchen
ihnen klar und ausgeglichen ſei, nur noch beſprochen
werden müßte, welches der nächſte Schritt ſein würde,
um ihre Liebe ihrer Umgebung zu bekennen.
Darauf wartete fie im ſtillen und verfiel faſt wieder
in ihre frühere Stimmung, als Nikolai nichts davon
ſagte, nur von ſeiner großen Leidenſchaft ſprach, immer
58 Die ſchöne Trebnitz. | 2
von neuem verlangte, daß auch ſie ihm wiederholen
ſolle, daß ſie ihn liebe.
Es erſchien faſt wie Abſicht, als ob er etwas anderes
nicht aufkommen laſſen wollte. |
So ging es, bis fie vor der Treppe des Gutshauſes
anlangten. Kein entſcheidendes Wort, das fie fo er-
ſehnte, war gefallen.
Er hob ſie aus dem Sattel, preßte ſie eine Sekunde
lang an ſich. Sophie entzog ſich ihm ſchnell, ſie hatte
Kenia oben auf der Treppe geſehen.
Das Wetter hatte in der Nacht umgeſchlagen, der
Regen klatſchte herunter, der Wind heulte um das
Haus.
„Das kenne ich,“ ſagte Frau v. Laſarewa bei Tiſch.
„Wir haben hier nicht mehr viel zu erwarten. Viel-
leicht noch einige ſchöne Tage — dann iſt es vorbei.
Das halten meine Nerven nicht aus, ich muß in die
Stadt. Laſſen Sie, bitte, alles fertigmachen, Karl
Karlowitſch, übermorgen wollen wir fort.“
Baumeiſter verneigte ſich zuſtimmend.
Sie wendete ſich an ihren Schwager. „Ihnen,
Nikolai, wird es gewiß recht fein, den Reit Ihres Ur-
laubs in Petersburg zu verleben. Vielleicht kommen
auch Dalenkows bald zurück. Wann erwarten Sie Ihre
Braut? Oder wollen Sie, ehe Sie Ihren Londoner
Poſten antreten, nochmals nach Biarritz?“
Nikolai wagte nicht, Sophie anzuſehen. Nur ein
ſchneller Blick hatte fie geſtreift, und er glaubte wahr-
genommen zu haben, daß ſie geiſterbleich ausſah.
Verwünſcht — er hatte über ſeine Liebelei mit ihr
faſt die Braut vergeſſen! Bisher war alles ſo glatt
gegangen, in Sophies Gegenwart nicht die Nede davon
u Roman von Hans Becker. 59
— ———— äU—ä— — — — — Benin
geweſen, mußte nun die Schwägerin auch gerade jetzt
damit herauskommen!
Er fühlte ſich ſo unbehaglich wie möglich. Es half
nichts, daß er ſich einzureden ſuchte, er würde ſchon
darüber hinwegkommen, etwas anderes, Neues quälte
ihn: er begriff plötzlich, daß es ſich für ihn durchaus
nicht nur um eine Liebelei handelte, die er angefangen,
um ſich eine Woche angenehm zu unterhalten, ſondern
daß er die Frau, die ihn von dieſem Augenblicke an
haſſen mußte, liebte, jo ernſthaft, wie er kaum je ge-
glaubt hatte, lieben zu können.
Er hatte gemeint, Herr über ſich zu bleiben, mußte
jetzt aber einſehen, daß er es nicht mehr war, daß er
alles aufgeben würde, um ſie nicht zu verlieren.
Er war von den Frauen verwöhnt, denn ſtets waren
ſie ihm entgegengekommen, müheloſe Siege hatte er
errungen, die Pariſerinnen hatten ſich um den ſchönen
ruſſiſchen Attaché geſtritten, jetzt ſaß er hier und fürchtete
ſich, ſeine Augen zu einer deutſchen Geſellſchafterin
zu erheben. Er wußte, was er darin leſen würde:
Verachtung.
Frau v. Laſarewa hob endlich die Tafel auf, er
hatte wieder Bewegungsfreiheit, brauchte hier nicht
mehr wie auf Nadeln zu ſitzen.
Ohne nach ihr hinzuſehen, hörte er, wie Sophie
ſich bei der Hausherrin für den Abend entſchuldigte.
Sie habe ſtarke neuralgiſche Schmerzen, und wenn Frau
v. Laſarewa erlaube, möchte ſie ſich hinlegen.
„Leiden Sie oft daran?“
„Nein, Gott ſei Dank nicht, nur bei jahem Wetter-
umſchlag.“
„Ich werde Ihnen ein Pulver hinaufſchicken, nehmen
Sie das. Der Berliner Sanitätsrat hat es mir für meine
Nervenſchmerzen gegeben, es wird auch Ihnen helfen.
60 Die ſchöne Trebnitz.
0
— Auf Wiederſehen alſo, und gute Beſſerung! Ich
lege mich auch hin — ja, ja das Wetter!“
Sophie dankte und ging. Nikolai ſah ihr nach, ihm
ſchien, als ob ſie ſchwanke.
Auch Baumeiſter hatte das wohl bemerkt. Er folgte
ihr ſofort und ſprach leiſe auf ſie ein.
Das ärgerte Nikolai. Die Eiferſucht regte ſich in
ihm. Es war ihm ſchon die ganze Zeit über nicht
entgangen, daß der Erzieher verliebt in ſie war.
Aber jener hatte das Recht, oder hatte ſich doch
das Recht genommen, ihr ſeinen Beiſtand anzubieten;
er ſelbſt durfte es nicht wagen nach dem, was ſie
eben erfahren, er mußte ſtehen bleiben und ſich die
Geliebte von einem anderen vor der Naſe wegführen
laſſen.
Ein Entſchluß reifte in ihm. Er mußte ſie heute
noch ſprechen, wollte ihr nach einer Weile nachgehen
und ſie auf ihrem Zimmer aufſuchen, ſobald er wußte.
daß ſie wieder allein war.
Er ging mit Kenia und Paul ins Bibliothekzimmer,
denn dorthin, wo ſein Zögling war, würde Baumeiſter
ja wohl auch kommen.
Nikolai war unzufrieden mit ſich. Zum Teufel —
was hatte dieſe Frau aus ihm gemacht!
Als Baumeiſter kam, ſuchte Nikolai ſofort nach
einem Vorwand, das Zimmer zu verlaſſen. Er, der
ſonſt keine Rückſicht nahm, ſicher keine Rückſicht auf
einen Erzieher, der in feinen Augen nichts als ein Be-
dienſteter war, fühlte auf einmal das Bedürfnis, für
ſein Fortgehen eine Entſchuldigung vorzubringen.
„Meine Schwägerin hat recht, das ſchreckliche Wetter
fühle ich auch ſchon in allen Rnochen. Werde mich bis
zum Tee ebenfalls hinlegen.“
Auf dem Korridor blieb er ſtehen und horchte. Es
0 Roman von Hans Becker. 61
war alles ſtill, die Dienſtleute wohl in der Küche zum
Eſſen verſammelt. Leiſe ſtieg er die Treppe hinauf.
Der dicke Läufer dämpfte ſeine Schritte, ungeſehen kam
er bis zur Tür von Sophies Zimmer.
Ob ſie ſich eingeſchloſſen hatte? Dann war nichts
zu hoffen, denn nach dem, was ſie erfahren, würde
ſie auf ſein Klopfen nicht öffnen.
Alſo entweder — oder!
Drinnen im Zimmer hörte er Schritte. Er taſtete
nach dem Türgriff — ein Druck, die Tür gab nach.
Er ſtand Sophie gegenüber. |
Sie war erſchrocken ſtehen geblieben, die weit-
geöffneten Augen ſtarrten ihn an, ihre Lippen bewegten
ſich, bebten, als ob ſie um Hilfe rufen wollte.
Er war ſchon bei ihr, ſchlang ſeinen Arm um ſie.
„Sophie — ich mußte Sie ſprechen! Verzeihen Sie
mir, daß ich hier eingedrungen! Was ſollte ich tun?“
Sie drängte ihn von ſich ab, verzweifelt, keuchend
ſtieß fie heraus: „Gehen Sie, gehen Sie ſofort. oder —“
Er hörte nicht auf ſie, er hatte ſie wieder umfaßt
und an ſich gepreßt. „Wenn ich Ihnen doch ſage, daß
ich Sie ſprechen muß, Ihnen nicht wie ein Schuft
erſcheinen will! Verſtehen Sie denn nicht, daß ich
gekommen bin, um —“ |
Sie wand fih in feinem Arm. „Sie haben mir
nichts mehr zu ſagen! Was wollen Sie noch von mir?
Gehen Sie fort, gehen Sie zu — Ihrer Verlobten!
Verſuchen Sie nicht, mich von neuem zu belügen —“
Er ließ ſie nicht los. „Ich belüge Sie nicht! Hören
Sie mich doch an!“
Wie zwei Gegner kämpften ſie, in beiden ſtieg die
Erregung mächtig auf.
Eine plötzliche Schwäche, die Sophie befiel, ſie einer
Ohnmacht nahe brachte, gab ihm Gewalt über ſie, auf
62 Die ſchöne Trebnitz. 2
— — — — —U—ñFb .,.
ſeinen Armen trug er ſie zu dem nahe ſtehenden Seſſel
und wollte ſie darauf niederlegen. Sie wehrte ſich
und blieb aufrecht ſitzen. Da warf er ſich vor ihr auf
den Boden, umſchlang ihre Knie und preßte ſeinen
Kopf in ihren Schoß.
„Sophie — Sie müſſen mich hören! Was habe
ich denn getan? Ihnen verheimlicht, daß ich verlobt
bin — nein, nicht verlobt bin, nur verlobt war, denn
ich bin es nicht mehr, in dieſem Augenblick nicht mehr.
Können Sie mir nicht glauben, begreifen Sie nicht,
daß ich —“
Sie hatte den Kopf an die Lehne gepreßt, ihre
Arme hingen ſchlaff nieder. Eine Ahnung, ein all-
mähliches Begreifen fing an ſie zu erfüllen. Aber nicht
das allein — eine ſelige Wonne kam über ſie. Nicht
nur ſeine Worte waren es, die ſie ſo ergriffen — nein,
das Bewußtſein, daß ſie dieſen Mann liebte, verſchlang
alle Zweifel in ihr. Sie beugte ſich zu ihm herab
und drückte ihren heißen Mund auf fein Haar.
Ein paar Sekunden hielten ſie ſich in köſtlicher,
traumhafter Verſunkenheit umſchlungen.
Dann ſchnellte er auf, denn er fühlte, wie ſie ihn
zurückſtieß. Ihr Geſicht war totenbleich, jede Spur
der Erregung daraus gewichen — heiſer, unveritänd-
lich kam es von ihren Lippen: „Gehen Sie — gehen
Sie ſofort!“
Sie hatte in ſein Geſicht geblickt, in ſeine Augen.
Doch das waren nicht mehr ſeine verführeriſchen,
ſchmeichelnden Augen, das waren die erlöſchenden
Augen eines ſterbenden Knaben, ihres Knaben.
Das hatte jäh alles Fühlen in ihr erſtickt, nur einen
Schauder zurüdgelaffen. Sie war erwacht.
Er konnte nicht gleich faſſen, was geſchehen, wollte
ſie von neuem an ſich ziehen.
a Roman von Hans Becker. 63
Mit weit vorgeſtreckten Händen wehrte ſie ihn ab.
„Nicht ſo, Nikolai — gehen Sie! Es darf nicht ſein,
wir müſſen uns trennen!“
Ihre Worte klangen aber jetzt weich, nichts mehr
war darin von Zorn, von Härte wie vorhin. Aber
auch nichts tönte daraus zurück von dem Fühlen, das
ſie mit fortgeriſſen.
Er ſtand vor ihr, beſchämt, in Verlegenheit. Auch
ihm kam jetzt die Beſinnung zurück. Ein Fröſteln ging
durch feinen Körper. Was hatte er gejagt, was ſchwören
wollen? War er wahnſinnig geweſen? Seine Ver-
lobung aufheben, ſeine Zukunft zerſtören?
Er fühlte, daß er nichts mehr ſagen, nichts mehr
ſprechen durfte, daß alles, was er jetzt noch vorbringen
konnte, leere Phraſen ſein würden, an die nicht ſie,
nicht er glauben konnte.
Er bewunderte die Frau vor ſich, er glühte nicht
mehr für ſie in Leidenſchaft, er hatte Achtung
vor ihr.
Faſt demütig ging er zu ihr hin, küßte ihr die Hand.
„Sophie Karlowna, vergeben Sie mir!“
Der Diener hatte nach dem Eſſen das Zimmer
verlaſſen. Sophie ſaß noch immer auf ihrem Platz,
Kenia ihr gegenüber. N
Da fühlte Sophie plötzlich Kenias Arme um ihren
Hals. „Sophie Karlowna, find Sie mir noch böſe?
Wir haben uns noch nicht ausgeſprochen ſeit damals,
als ich krank war. Ich wußte doch gar nicht, was ich
ſagte, erſt ſpäter habe ich mich erinnert. Sind Sie
mir nun wieder gut? Sonſt wage ich nicht — ich habe
eine große Bitte an Sie!“ |
Sophie zog Xenia an ſich und küßte fie. „Xenia
64 Die ſchöne Trebnitz. 2
— warum ſoll ich Ihnen böſe ſein? Alles, was ich tun
kann, will ich für Sie tun!“
„Sophie Karlowna, ich muß — ich will zum Kirch-
hof, ich muß ſein Grab ſehen, mir meine Ruhe holen!“
Sophie mußte lächeln. Sie war alſo noch nicht
geheilt. noch immer phantaſtiſch! Aber vielleicht war
gut, was ſie wollte, und ſie holte ſich wirklich Ruhe.
Kenia ſprach weiter: „Ich habe viel nachgedacht für
mich allein — ich durfte mich doch keinem anvertrauen,
auch Ihnen nicht, auch Karl Karlowitſch nicht — ich
habe auch gefürchtet, daß Sie oder Karl Karlowitſch
meiner Mama etwas ſagen könnten, und davor habe
ich mich am meiſten gefürchtet. Mama könnte das
nie begreifen, ſie iſt ſo ſtolz, ſie verachtet das Volk,
ſie würde mich in eine Nervenheilanſtalt ſchicken —“
Sophie wurde es unheimlich. Zu allem eigenen
Kummer auch das noch! Aber ſie mußte einen Ent-
ſchluß faſſen, mußte antworten.
„Ich will mitgehen,“ ſagte ſie. „Aber bedenken
Sie —“
„Sie fürchten fih, Sophie Karlowna? Das iſt nicht
nötig, es wird Ihnen nichts geſchehen. Es iſt jetzt
alles ruhig, Karl Karlowitſch hat es Mama geſagt.
Sie haben es ja auch ſelbſt geſehen, als wir ausritten,
wie uns die Bauern grüßten. Kein einziger wird —
ich weiß das von — von ihm, von dem Toten —“
„Xenia, denken Sie nicht mehr daran, vergeſſen
Sie doch dieſe ſchrecklichen Dinge! Sie, ein junges,
vornehmes, ſchönes Mädchen, dem alles Glück noch
bevorſteht — was kümmern Sie ſich um dieſe Sachen!
Und jenen, der Ihnen das alles eingeredet, müſſen
Sie auch vergeſſen! Gott hat ihn geſtraft, begreifen
Sie das nicht?“ |
Kenia ſann vor ſich hin. „Gott hat ihn geftraft! —
2 Roman von Hans Becker. 65
Vielleicht iſt es fo, wie Sie jagen, ich finde mich nicht
mehr zurecht, ich bin ſo unglücklich —“
Sophie glaubte herauszufühlen, daß der Einfluß
jenes Menſchen doch ſchon im Schwinden war. Immer
wieder mußte ſie bei ſich denken, daß von ernſter Liebe
wohl überhaupt hier kaum die Rede geweſen ſein konnte.
Was wußte dieſes Mädchen davon? Krankhafte Über-
ſpanntheit war's, nichts weiter.
Sollte fie ihr trotzdem den Gang zum Kirchhof
abſchlagen? ö
Sie überlegte noch, da fragte Kenia ſchon wieder:
„Alſo Sie kommen mit, Sophie Rarlomna?“
Sophie nahm Kenias Hand. „Gut, ich gehe mit,
aber wir müſſen Karl Karlowitſch mitnehmen.“
Kenia trat raſch von ihr fort, ihre Mienen ver-
finſterten ſich.
Sophie folgte ihr. „Kenia, laufen Sie doch nicht
gleich fort! Sie dürfen mir das nicht verübeln —
ſehen Sie, ich bin doch fremd hier, auf mich hat der
Überfall damals einen ſchrecklichen Eindruck gemacht,
den kann ich immer noch nicht loswerden.“
„Ich ſagte Ihnen doch, es wird Ihnen nichts ge-
ſchehen. Zch will nicht, daß Karl Karlowitſch etwas
weiß, er wird —“
„Fürchten Sie nichts, ich werde mit ihm ſprechen.“
Sophie ging, um Baumeiſter aufzuſuchen.
Nach einer Weile kam ſie zurück. „Es iſt alles in
Ordnung. Karl Karlowitſch geht mit. Kommen Sie!“
Nach dem Regen war das Vetter kühl und neblig.
Sophie und Kenia hatten Regenmäntel angezogen,
Baumeiſter einen Gummirock. Wie Schattengeſtalten
erſchienen die drei in dem dichten Nebel.
Im Dorf, durch das fie gehen mußten, war es ftill,
die kleinen Häuschen und Hütten mit ihren von Luft
1918. XII. 5
66 Die fhöne Trebnitz. 2
und Wetter grau gewordenen Strohdächern ſahen trüb-
ſelig aus, die Straße war ſchmutzig, der Boden durch
den Regen der letzten Tage aufgeweicht.
Hin und wieder ſtießen ſie auf einen Haufen Kinder
mit nackten Füßen. Hühner flohen gackernd vor ihnen
her, wenn ſie plötzlich aus dem Nebel auftauchten. Da
und dort ſtanden vor dem Waſchtrog alte Weiber, die
ſich bei ihrem Herannahen ſchnell die Hände am Node
abtrockneten, um ſich dann unaufhörlich, auch wenn
die drei ihnen längſt den Rücken gekehrt, zu verneigen.
Aus einem der Häuſer erſchallte eintöniger Geſang,
die Stimme des Popen, der einen Toten einſegnete.
Vor der Tür ſtand eine Anzahl von Männern und
Weibern, die ſich auf die Zehenſpitzen geſtellt hatten,
mit den Fingern an dem Papier, das die zerbrochenen
Fenſterſcheiben erſetzte, kratzten, um ein Loch zu machen
und einen Blick auf die Leiche werfen zu können.
An der kleinen Kirche vorbei gelangten die drei zu
einem von einem halbverfallenen Zaune eingefriedigten
Platz, auf dem ſich graue, faſt formloſe Haufen erhoben,
daneben kleine hölzerne, ſchiefſtehende Kreuze — der
Kirchhof.
Baumeiſter blieb ſtehen und ſah fragend auf Sophie
und Kenia.
Kenia bat: „Bleiben Sie hier ſtehen, Karl Rarlo-
witſch!“ Dann nahm fie Sophies Arm und zog fie
mit ſich.
Durch eine lange Reihe der kleinen, unſcheinbaren
Hügel gingen fie. Immer weiter führte Xenia; fie
wußte, wo ſie das Grab des Unbekannten, Namenloſen
zu ſuchen hatte.
Ganz am Ende des Friedhofs, dicht an der Mauer
ſahen fie einen friſch aufgeworfenen Erdhaufen.
Kenia achtete nicht des naſſen, ſchmutzigen Bodens,
u Roman von Hans Becker. 67
ſie kniete nieder, ſprach leiſe Worte — einmal beugte
ſie ſich vor und küßte die Erde. Sophie ſtand dabei,
fröſtelnd, traurig, von Mitleid erregt. Sie ſah auf
die betende Kenia, auf den troſtloſen Haufen Erde,
unter dem ein wildbewegtes Herz ſeine Ruhe gefunden.
Sie konnte es nicht länger ertragen, ſie wollte
Kenia anrufen, als fie plötzlich Karl e neben
ſich ſah.
Er trat auf Kenia zu und richtete fie auf. „Kenia,
eilen Sie ſich, es kommen Menſchen — ein Begräbnis,
man darf Sie hier nicht ſehen —“
Kenia gehorchte ſtill, noch einen Blick warf ſie auf
den Haufen Erde zurück, dann ließ ſie ſich von Bau—
meiſter fortführen.
Als fie den Friedhof verließen, kam ihnen der Leichen-
zug entgegen.
Voran ein Bauer, den Sargdeckel auf eh Ropfe
tragend, eine Schar ſingender Knaben, fünf, ſechs halb-
wüchſige Zungen, dann der Pope im Kirchenornat mit
ſeinem Gehilfen, vor ihnen ein Zunge, den Weihrauch-
keſſel ſchwenkend, gleich dahinter der offene, von Bauern
getragene Sarg, ein gelbangeſtrichener, ſchmaler, flacher
Holzkaſten, der Körper des Toten darin nur bis zur
Bruſt mit der gelben Totendecke verhüllt, ſo daß das
Geſicht hervorragte.
Sophie erſchauerte und wendete ſich ab. Kenia
blieb am Wege ſtehen und bekreuzigte ſich, Baumeiſter
hatte ſeine Mütze vom Kopf gezogen.
Wie ein Geſpenſterzug ging alles an ihnen vorüber,
gleich wieder vom Nebel verſchluckt.
Am nächſten Tage reiſten ſie ab.
Nur bis Moskau fuhren ſie zunächſt, denn Frau
68 Die ſchöne Trebnitz. 2
v. Laſarewa wollte hier einen Tag ruhen und erſt am
anderen Abend die Reiſe nach Petersburg fortſetzen.
In einem Hotel wurde abgeſtiegen, da der ganze
Troß der Diener, Köche, Hausmädchen und ſo weiter,
bereits am Tage vorher nach Petersburg vorausgeſchickt
worden und nur eine Jungfer für Frau v. Laſarewa
zurückbehalten war. Der eine Tag im eigenen Hauſe
hätte nur Unbequemlichkeiten gemacht.
Einen ſeltſamen Eindruck empfing Sophie von der
großen Stadt, als vom Bahnhof ins Hotel gefahren
wurde.
Durch eine lange, unendlich lange Straße ging's
mit einem Gewimmel von Menſchen und Fuhrwerken,
aber alles unſchön, nichts das Auge erfreuend. Immer
wieder Bauern, wie auf dem Dorfe, das fie eben ver-
laſſen, lange Züge einſpänniger Laſtwagen, ſchmutzige,
wackelnde Droſchken, nur ab und zu ein paar beſſer
gekleidete Leute, ein elegantes Geſpann, der dicke
Kutſcher mit Geſchrei und Rufen ſich Raum F
rückſichtslos dazwiſchenjagend.
Sie atmete auf, als man auf einem großen, freien
Platz, der rings von mächtigen Gebäuden — den
Theatern, wie Paul ihr erklärte — umitenden war,
anlangte und vor dem Hotel vorfuhr.
Das vornehm eingerichtete Haus heimelte ſie an.
Schon, als ſie den erſten Tritt in die Halle geſetzt,
fühlte ſie ſich wie erlöſt. Koſtbare Teppiche bedeckten
die Treppen, ein gutgeſchultes Perſonal, zahlreicher
faſt noch wie in Berlin, umringte die Ankommenden.
Neben Kenias Zimmer erhielt Sophie das ihrige
angewieſen, einen hübſchen großen Raum, der in ihr
die Luſt erweckte, darin zu bleiben bis zur Weiterreiſe
und keinen Fuß auf die Straße zu ſetzen.
Doch ſchon nach einer kurzen Weile klopfte Xenia
2 Roman von Hans Becker. 69
bei ihr. „Haben Sie ſich umgezogen, Sophie ar
lowna? Wollen wir fahren?“
„Wohin?“ Sophie war verwundert, denn fie 128
völlig vergeſſen, daß Kenia davon geſprochen hatte,
ihr Moskau zeigen zu wollen.
Was galt ihr dieſe Stadt, dieſer Häuſerhaufen?
Sie hatte ſchon jetzt genug davon.
Doch fie mußte mit, es half nichts. Kenia ſchwärmte
ihr von „ihrem lieben Moskau“ vor, wo ſie geboren
war, wo ſie immer ſo gern weilte.
Sophie legte die Zigarette, die ſie geraucht, in den
Aſchenbecher und zog ſich ſeufzend an. Das Frühſtück,
das man ihr gebracht hatte, ſtand noch unberührt.
Xenia bemerkte das jetzt erſt. „Aber Sie haben
ja noch nichts gegeſſen!“
Sophie raffte ſich auf. „Ich hole das ſchnell nach.
Einen Augenblick nur!“
Sie ſchenkte ſich eine Taſſe Tee ein, trank haſtig,
nahm ein Brötchen, und noch kauend verließ ſie mit
Xenia ihr Zimmer.
Vor dem Hotel erwartete fie ein vierſitziger Lan-
dauer. Sophie ſchlug das Herz. Der große Wagen
für fie und Kenia? Sollte noch jemand mitfahren —
Nikolai?
Fragen mochte ſie nicht, ſie ließ Xenia einſteigen
und folgte ihr. Kenia rief dem Kutſcher einen Befehl
zu, die Pferde zogen an.
Sie fuhren alſo allein.
Hatte Sophie vorher das Herz geklopft in Furcht,
daß Nikolai mitfahren würde, ſo fühlte ſie jetzt faſt
Enttäuſchung.
Mas bedeutete nun das wieder? Kaum eine halbe
Stunde vorher hatte fie es wie einen Druck empfunden,
denken zu müſſen, daß fie noch Tage mit Nikolai zu-
70 Die ſchöne Trebnitz. u
ſammen ſein müſſe, vor ein paar Winuten hatte ſie
ſich gefürchtet, mit ihm in einem Wagen zu ſitzen, und
nun gleich hinterher verſpürte ſie Enttäuſchung, faſt
Bedauern, daß dies nicht geſchah!
Das war ja eine Qual! Sollte ſie denn nie mehr
zur Ruhe kommen, wußte ſie nicht mehr, was ſie wollte,
was ſie nicht wollte? Wenn ſie doch hätte allein ſein
können in dem behaglichen Hotelzimmer! Sie hatte
es ſich ſo nett ausgemalt, eine Weile nicht ſprechen zu
müſſen, ganz für ſich allein zu ſein.
Statt deſſen ſaß fie hier neben Kenia, mußte jeden
Augenblick hören: „Das iſt die Schmiedebrücke, hier
die Paſſagen, ſehen Sie das große Pelzgeſchäft dort
neben dem Laden mit den Brillanten —“
Teilnahmlos warf Sophie einen Blick hierhin und
dorthin. Das Straßenbild hatte ſich gegen früher etwas
verändert. Schönere Häuſer, beſſeres Publikum waren
zu ſehen.
Aber ſie nahm nichts in ſich auf, ſie war zufrieden,
als Kenia eine Weile ſchwieg.
Plötzlich hielt der Wagen, und Sophie blickte auf.
Vor ihr lag eine Mauer mit zwei Durchfahrten, da-
zwiſchen eine Kapelle, die innen hell erleuchtet war.
Kenia war ſchon ausgeſtiegen, ſtand und wartete.
Als Sophie bei ihr war, ſagte ſie: „Das iſt die Kapelle
der Iberiſchen Gottesmutter. Kommen Sie!“
Vor der Kapelle drängte ſich ein Haufen von Frauen
und Männern. Sophie und Kenia mußten warten,
konnten nicht gleich eintreten, nur bis zu dem vor der
Kapelle ſtehenden Tiſche, auf dem geweihte Kerzen
zum Verkaufe auslagen, gelangten ſie.
Kenia nahm drei Kerzen, hielt Sophie eine davon
hin. Dabei fragte ſie zaudernd: „Wollen Sie nicht
auch — 4
2 Roman van Hans Becker. 71
Sophie nickte. Warum ſollte ſie das nicht mitmachen?
Sie verletzte das Mädchen wohl, wenn ſie es nicht tat.
Als ſie endlich in der Kapelle waren, ſtellte Xenia
ihre Lichter, die fie angezündet hatte, vor dem Mutter-
gottesbilde auf, kniete nieder und betete. Auch Sophie
hatte einen Platz für ihre Kerze gefunden, ſtand jetzt
ſtill hinter Kenia und ſah vor ſich hin. N
Immer neue Menſchen kamen herein, opferten ihre
Lichtchen und beteten. In dem kleinen Raume war
eine unerträgliche Hitze, es roch nach Wachs, Veihrauch
und feuchten Kleidern. Sophie wurde der Kopf ganz
dumpf.
Endlich erhob ſich Xenia. Sie gingen ins Freie
und beſtiegen den Wagen.
Erſt jetzt ſprach Kenia wieder. „Haben Sie an
jemand gedacht, als Sie Ihr Licht aufſteckten?“ Sie
wartete die Antwort nicht ab, ſondern fuhr eifrig fort:
„Die eine Kerze habe ich für — ihn geſteckt. Die
Muttergottes wird ſich ſeiner annehmen, denn er hat
doch nur Gutes gewollt. Die andere —“ Sie ſchwieg
ein paar Augenblicke, als ob ſie nicht ausſprechen wollte,
was ſie dachte, ſagte dann aber doch: „Die andere brennt
für unſer Volk, dem er ſich geopfert hat.“
Sophie ſchmerzte der Kopf, ſie konnte kaum denken.
Sie antwortete nichts, ſie ſah auch kaum hin, als der
Wagen vor dem Kreml hielt.
„Das iſt das Schloß,“ erklärte Kenia. „Dort ſehen
Sie die große Glocke des Zwan Weliki, die herunter-
geſtürzt iſt — mit dem herausgebrochenen Stück. Dieſe
Kirche hier rechts —“
„Sehr ſchön, prachtvoll!“
„Wollen wir hineingehen?“
Sophie preßte die Hände gegen die Schläfen. „Ver-
zeihen Sie, Kenia — ich kann nicht mehr!“
72 Die ſchöne Trebnitz. 2
Was galten ihr alle Schlöſſer dieſer Welt, ſie fühlte
ſich elend, ſehnte ſich nach Ruhe, nach Alleinſein! Was
hatte ſie mit dieſer Stadt zu tun, die ſie gleich wieder
verlaſſen, in die ſie nie zurückkehren würde! Nichts
mehr ſehen, nichts mehr hören mochte ſie davon. Von
dem ganzen Lande nicht, dieſem Rußland, in dem man
ſie gedemütigt — erſt dieſer alte Mann, dann der andere,
den ſie geliebt, von dem ſie ſich geliebt geglaubt, der
ſie aber nur belügen und betrügen wollte. Ja, be—
lügen und betrügen! Wie hatte ſie nur eine Sekunde
glauben, ſich ein Glück ausmalen können! In einen
ſo erregten Zuſtand hatte ſie ſich hineingedacht, daß
fie nahe daran war, Kenia anzuflehen: „Helfen Sie
mir fort von hier, fort aus Rußland! Ich will nach
Deutſchland, ich ſehne mich nach Hauſe!“
Aber fie hatte ja gar kein „zu Haufe“! Was wollte
ſie in Deutſchland? — Verhungern? Sie mußte froh
ſein, daß ſie hier war, zu eſſen und zu trinken hatte,
in einem ſchönen Wagen fahren durfte.
Sie ſtöhnte plötzlich ſo leidenſchaftlich auf, daß Kenia
nach ihrer Hand griff. „Haben Sie fo heftige Schmer-
zen? Warum haben Sie das nicht früher gejagt?“
Sie fuhren ins Hotel zurück. |
Kenia begleitete Sophie auf ihr Zimmer. „Sie
müſſen ſich ſofort legen,“ ſagte ſie. „Ich mache Ihnen
einen Umſchlag.“
Sophie ließ alles mit ſich geſchehen, genoß es wie
eine Wohltat, ſich wie ein krankes Kind umſorgen zu
laffen, obgleich fie ſich ſchämte über die herzliche Güte
des Mädchens, das ſie nicht verſtand, dem ſie zürnte,
weil es ſeine junge Liebe nicht vergeſſen konnte, daran
feſthielt, was es für gut und edel anſah, deſſen Herz
von Mitleid erfüllt war. Armes Ding! Wohin wird
dich das Mitleid noch führen? —
u Roman von Hans Bccker. 73
Mit dem Nachtzuge wurde die Reiſe fortgeſetzt.
„Gott ſei Dank!“ dachte Sophie, als fie in Peters
burg angekommen waren und vom Bahnhofe durch
die Stadt fuhren, durch eine wirkliche Großſtadt. Hier
war man doch unter Menſchen, unter wirklichen Men-
ſchen!
Das Wetter war ſonnig, noch warm. Auf dem
Newskij-Proſpekt, über den fie fuhren, ein Leben und
Treiben wie in Berlin Unter den Linden. Faſt noch
gewaltiger erſchien es im erſten Augenblick. Unabſeh-
bare Reihen von Wagen und Autos, rechts und links
Paläſte, dazwiſchen elegante Magazine — Sophie fühlte
ſich für den Augenblick beinahe verſöhnt mit Rußland,
mit dieſem Lande, in dem fie ſich wie in der Ver-
bannung vorgekommen war.
Auch in Petersburg beſaßen die Laſarew ihr eigenes
Haus. Als der Wagen vor dem Portal hielt, die be-
kannten Geſichter der Dienerſchaft, die noch vor ein
paar Tagen auf dem Gute um ſie herum geweſen,
ſich zeigten, ſie das Innere des Hauſes betraten, in
dem nichts erkennen ließ, daß es lange unbewohnt
geweſen war, alles ſo daſtand, als ob man nur für
eine Stunde ausgegangen geweſen ſei — da kam ſich
Sophie einige Minuten wirklich wie in einem Mär-
chen vor.
Schon am anderen Tage empfing Frau v. Laſarewa
zur Teeſtunde. Sophie lernte eine Menge Leute
kennen, Namen der höchſten ruſſiſchen Ariſtokratie
ſchwirrten vor ihren Ohren.
Und wieder wie damals, als fie ſich in Berlin im
Hotel vorgeſtellt, fühlte ſie ſich frei, eine Gleiche unter
Gleichen, mit keinem Wort, mit keiner Silbe oder Blick
ließ man ſie merken, daß ſie doch ſchließlich nur eine
Geſellſchafterin war.
74 Die ſchöne Trebnitz. .
Das verdankte ſie Frau v. Laſarewa, die, wenn ſie
ſie vorſtellte, ſtets hinzufügte: „Frau v. Trebnitz, die
ſo liebenswürdig war, uns hierher zu begleiten.“
Die Leute, denen das geſagt wurde, verſtanden
wohl, welche Stellung Sophie im Hauſe einnahm, ſie
begriffen aber auch, wie die Hausherrin dieſe Stellung
aufgefaßt wiſſen wollte.
Daß Frau v. Laſarewa hier in der Stadt weniger
von ihren Nerven gequält wurde wie auf dem Lande,
war eine für Sophie ſehr erfreuliche Zugabe zu dem
ſich täglich angenehmer geſtaltenden Leben. Frau
Laſarewa fühlte ſich hier wohl angeregter, ſie zeigte
wenigſtens nicht mehr das Bedürfnis, ſtundenlang auf
dem Sofa zu liegen. Jeder ſchöne Tag wurde zu Aus—
fahrten benützt. Aber auch den Beſuch der eleganteren
Magazine verſchmähte die Hausherrin nicht, ſtets be—
gleitet von Kenia und Sophie — das Leben war wirk-
lich recht angenehm.
(Jortſetzung folgt.)
2
*
Dreißig Jahre Explofionsmotor.
von Max Hentwich.
mit 11 Bildern. * nacho ruck erde
Wer jetzt durch die Straßen einer Großſtadt geht,
dem fällt kaum mehr auf, wieviele Geſchäfts-
motorräder an ihm vorüberknattern, wie lärmende
Autobuſſe über das Aſphaltpflaſter ſauſen, wie unge-
zählte „Autos“ ihren Weg mit Sicherheit und Schnellig-
keit nehmen in einem Gewühl, in dem das unmodern
gewordene Pferd eine ſehr dürftige Rolle ſpielt. Hoch
über den Dächern ziehen Lenkballone ihre Kreiſe, ganz
oben im blauen Ather ſchwebt ein ſurrender Vogel, auf
dem der kühne Menſch die eroberte Luft durchfliegt,
und unten auf dem Waſſer durchſchneidet ein Motor-
boot die Fluten zu eiliger Fahrt.
Unferer jüngſten Generation fällt daran kaum mehr
etwas auf; ſie kennt den Verkehr von heute kaum anders
als in dieſer vielgeſtaltigen, kraftgebändigten Form.
Wer aber ein paar Jahrzehnte des „Daſeins ſüße Ge—
wohnheit“ nicht ganz gedankenlos verbrachte, der wird
bei jedem Gang durch die Straßen ſein Staunen kaum
unterdrücken können: dieſe ganze moderne Verkehrs-
technik iſt ein Werk der letzten fünfzehn Jahre!
An dem Verdienſt, fie geſchaffen zu haben, be-
teiligen ſich wie an allen großen, bedeutungsvollen
Neuerungen verſchiedene Machtfaktoren, deren zeit—
liches und intellektuelles Zuſammenwirken den glänzen
76 Oreißig Jahre Exploſionsmotor. 2
den Aufſchwung unſerer Verkehrstechnik ſchufen. Jeder
einzelne Zweig hat, abgeſehen von den theoretiſchen
Vorarbeiten, eine ganze Anzahl beteiligter Erfinder,
Konſtrukteure, Verbeſſerer, bevor er ſich bis zur heu—
Der erſte, von Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach
im Jahre 1883 konſtruierte leichte Diertatt-
Benz ine xploſionsmotor.
tigen Vervollkommnung durcharbeiten konnte. Die
Verbeſſerung der Stahlverarbeitung, die Verbilligung
des Aluminiums, die Erfindung des Pneumatiks, die
aeroſtatiſchen Erfahrungen, vor allem der Wiflens-
und Verſuchsdrang vieler Erfinder, deren Konſtruk-
tionen der Erfolg verſagt blieb, die aber dennoch einen
Schritt vorwärts getan haben, die, wie Lilienthal und
Wölfert, die Pioniere in den beiden Hauptfächern des
Flugweſens, ein jeder das entſcheidende Moment ſeiner
Kunſt richtig erfaßt und doch noch vor dem endgültigen
Gelingen ihres Werkes ihren Forſchungseifer mit dem
1 Don Max Nentwid. 77
Leben bezahlten — fie alle find beteiligt an der genialen
Entwicklung des modernen Verkehrsweſens, das in der
kurzen Zeit ſeines Beſtehens Umwälzungen hervorrief
und Neuinduſtrien ſchuf, die ähnlich gewaltig nur in
der Telephon; und Elektriz itätsbranche zu verzeichnen
waren.
Trotz der mannigfach geteilten Verdienſte läßt ſich
aber doch ein Zeitpunkt feſtſtellen, von dem die neu-
zeitliche Entwicklung ihren Ausgang nahm, und zwar
jener Zeitpunkt, an dem es — wiederum mehreren
Erfindern — gelang, die Seele jeglicher Bewegung,
die Kraft, in einer für das Verkehrsweſen geeigneten
Weiſe darzuſtellen. Kraftmaſchinen an ſich waren ja
ſchon ſeit längerem bekannt, getrieben durch Dampf,
ä
—
Das erſte, von Gottlieb Daimler 1885 konſtruierte Motorrad.
ſogar auch bereits durch flüſſige Brennſtoffe, wie
Petroleum, oder auch durch Gas; hier reichen die erſten
Verſuche bis 1791 zurück. Auch beſtand ſeit längerem
ſchon Neigung, dieſe motoriſche Kraft auf Gefährte zu
78 Dreißig Jahre Exploſionsmotor. u
Gottlieb Daimler (f 1900) konſtruierte mit Wilhelm Maybach
den erſten leichten Benzinexploſionsmotor im Fahre 1885.
übertragen. Zunächſt waren es Dampfwagen, wie
Cugnot 1769 bereits einen konſtruierte; ihm folgten
einige andere Syſteme, und es ſollen im Jahre 1851
in London etwa zwanzig ſolcher Dampfwagen im Be—
2 Von Max Nentwich. 79
Wilhelm Maybach.
trieb geweſen ſein, die ſpäter behördlicherſeits durch
eine ins Lächerliche herabgeminderte Geſchwindigkeit
zur Untätigkeit verurteilt wurden.
Benz verſuchte 1880, ſeinen Zweitaktmotor auf einen
Wagen aufzumontieren, und mit Erwähnung dieſes
80 Hreißig Jahre Erplofionsmotor, [>
Verſuches nähern wir uns in der geſchichtlichen Ent-
wicklung jener Zeit, in welche die Schaffung des lang-
Rerſehnten leichten Exploſionsmotors fällt. Es mag
geſtattet fein, einem der verdienſtvollen Väter dieſer
bedeutſamen Neukonſtruktion das Wort über jene Vor-
gänge zu geben. Direktor Wilhelm Maybach ſchreibt
mir über die Arbeiten in jener Zeit: „Brauchbare
Exploſionskraftmotoren gab es ja ſchon ſeit Anfang der
ſechziger Fahre. 1867 erhielten die Herren Otto und
Langen in Köln auf der Weltausſtellung in Paris die
goldene Medaille für ihre ſehr intereſſante und öko-
nomiſch arbeitende atmoſphäriſche Gaskraftmaſchine;
ſie hatte einen Gasverbrauch von nur 97 Kubikmetern
pro Pferdeſtärke Stunde, wogegen die franzöſiſche
Konkurrenzmaſchine von Lenoir einen dreimal größeren
Verbrauch aufwies.
Im Jahre 1872 wurde von den Herren Otto und
Langen Herr Gottlieb Daimler als Direktor und ich
als Chefkonſtrukteur für die Gasmotorenfabrik Deutz
engagiert zur rationellen Herſtellung ihrer atmoſphäri—
ſchen Gaskraftmaſchine. Dieſe konnte nur in den Größen
1/, bis 4 Pferdeſtärken ausgeführt werden, fand aber
vielfache Verwendung und große Verbreitung in der
Kleininduſtrie.
Herr Otto widmete ſich in feiner Stellung als fauf-
männiſcher Direktor nebenbei immer noch der Weiter-
entwicklung des von ihm erfundenen atmoſphäriſchen
Gasmotors, was im Jahre 1876 zur Konſtruktion des
heute allgemein verwendeten Viertaktmotors führte.
Schon mit dem atmoſphäriſchen Gasmotor dachte Herr
Langen an die Verwendung desſelben für Fahrzeuge;
es wurden ſogar auf ſeine Verwendung hin in Lüttich
von einem ſeiner Freunde Verſuche in dieſer Richtung
mit einem Trambahnwagengeſtell gemacht, die aber
D Von Mar Nentwich. 81
fehlſchlugen, weil die Kraft zu klein und das Gewicht
zu groß war. Desgleichen dachte er und andere daran,
mit dem nun zweckmäßigeren Viertaktmotor Wagen
anzutreiben; aber auch dieſer Motor war zu ſchwer:
4 Pferdeſtärken wogen 1200 Kilogramm.
Bei der gemeinſamen Arbeit von Herrn Daimler
Das von Gottlieb Daimler 1885 erbaute vierräderige Auto.
Im Wagen Gottlieb Daimler, am Steuer fein Sohn.
und mir vom Fahre 1882 ab handelte es ſich hauptſäch-
lich nur um die Ausgeſtaltung des Viertaktmotors zu
einem für Fahrzeuge geeigneten leichten Motortyp.
Dank meiner elfjährigen Tätigkeit und den vielfachen
Verſuchen in Oeutz gelang es mir, durch die Glührohr—
zündung die gewünſchte höhere Tourenzahl zu ermög-
lichen und dadurch den geeigneten Motor zu bauen.
Ferner verwertete ich auch meine Erfahrungen von
1913. XII. 6
82 Dreißig Jahre Exploſionsmotor.
Deutz im Bau von Benzinverdunſtungsapparaten, und
es entſtand hieraus der kleine Schwimmerapparat, der
längere Jahre verwendet wurde, bis ich ſchließlich den
heute allgemein gebräuchlichen Spritzdüſenvergaſer er-
fand.“
Es entbehrt nicht eines gewiſſen Humors, daß
2 * N .
6-Pferdeſtärken-Daimler-„Rennwagen“ von 1898, der erſte
feiner Art, mit dem im erſten öſterreichiſchen Automobil-
rennen der Sieg erkämpft wurde.
die, natürlich geheimgehaltene gemeinſchaftliche Arbeit
Daimler-Maybachs die hochwohllöbliche Behörde von
Cannſtatt auf die Beine brachte, die die beiden ver—
meintlichen Falſchmünzer eines Abends in ihrem ver-
ſteckten Gartenhäuschen kurzerhand zu verhaften ge—
dachte. Die anfänglich peinliche Situation endete mit
allgemeiner Heiterkeit, als die hohe Obrigkeit gleichſam
die Zeugenſchaft übernahm für den erſten ſchnell—
laufenden Benzinexploſionsmotor von 1885.
|
i Bon Max Nentwich. 83
Gottlieb Daimler baute zwei Jahre ſpäter einen
gleichen Motor in den Rahmen eines hölzernen Zwei—
rades — der erſte, noch etwas unbeholfene Repräfentant
der hurtigen Motorräder — und noch in demſelben
Jahre 1885 wurde auch das erſte vierräderige Auto-
mobil gebaut, das, gleichfalls noch auf Holzrädern, in
den Straßen von Cannſtatt ſeine Probefahrten glänzend
zurücklegte. Ihm folgte alsbald ein auf Stahlrädern
aufmontiertes Auto, das ſogar ſchon vier Schnellig—
keiten mittels verſchiebbarer Zahnräder entwickelte.
Auch zur Fortbewegung auf Eiſenbahnſchienen wurde
Das erſte, nach den Ratſchlägen des öſterreichiſchen
Generalkonſuls Zellinet-Mercedes konſtruierte und nach
ihm benannte Auto.
einer Draiſine Motorantrieb verliehen. Sie alle ſtellen
die erſten Typen der Daimler-Maybach-Autos dar.
Man kann aber auch hier von einer Duplizität der
Ereigniſſe ſprechen. Zur ſelben Zeit, da dieſe beiden
Konſtrukteure in Cannſtatt ihre vorläufig noch nicht
recht anerkannten Schöpfungen ans Tageslicht brachten,
84 Oreißig Zahre Exp loſions motor. a
befaßte ſich, völlig unabhängig von ihnen, der Ingenieur
Carl Benz in feiner Mannheimer Fabrik mit der Ver-
beſſerung des Exploſionsmotors und mit der Verwen-
dung dieſer Kraft zum Antrieb von Fahrzeugen, und
auch er konſtruierte im ſelben Jahre 1885 ſeinen erſten
dreiräderigen Stahlmotorwagen, der in den Straßen
von Mannheim Probe lief.
In jenen Zeiten wurde viel verbeſſert und geändert;
jede Maſchine und jeder Wagen waren ein neuer Typ,
und jeder der Erfinder war auf rationelle Brauchbar-
machung des neuen Gefährtes bedacht.
Aber ähnlich wie bei der Erfindung des Telephons
nach den erſten Reisſchen erfolgreichen Verſuchen lange
Jahre vergingen, bevor die überaus wichtigen Arbeiten
die ihnen zukommende Weiterverwertung fanden, ſo
erging es auch den erſten Automobilen von 1885, die
erſt ein volles Jahrzehnt ſpäter jene Würdigung er-
fuhren, die ihnen gebührte. Auch war ohne den Pneu—
matik die Vervollkommnung des Autos zu ſeiner jetzigen
Brauchbarkeit nicht denkbar. Es ſei ferner der Ver-
dienſte des öſterreichiſch- ungariſchen Generalkonſuls
Jellinek-Mercedes gedacht, den Maybach 1896 kennen
lernte, und auf deſſen Anraten ſowohl der maſchinelle
Unterbau, das Chaſſis, bedeutend erleichtert als auch
der Motor durch ein Vierzylinderſyſtem zu viel größerer
Kraftentfaltung gebracht werden ſollte. 1901 kam der
nach dieſen Ratſchlägen erbaute, wegen ſeiner immenſen
Kraft von 35 Pferdeſtärken nicht wenig angeſtaunte
Wagen heraus; er führte nach ſeinem Urheber den
Namen „Mercedes“, bewährte ſich ganz hervorragend,
ſtieg in ſeiner Kraftentfaltung ſchnell aufwärts bis zu
120 Pferdeſtärken und ſtellt bis heute einen beſonderen
Typ mit anerkannten Vorzügen dar.
Der gewiſſenhafte Chroniſt kann aber nicht uner-
E
a Von Max Nentwid. 85
wähnt laſſen, daß während des Stockens in der An-
fangszeit ſich das Ausland mit vielem Eifer und vielem
....
Carl Benz fuhr bereits 1885 auf einem von ihm
ſelbſt konſtruierten Auto (Dreirad) in den
Straßen von Mannheim.
Erfolg der Konſtruktion des Automobils zuwendete,
und daß die erſten Rennen und Konkurrenzen, die die
zweifelloſe Überlegenheit des neuen Gefährtes darzutun
geeignet waren, im Ausland ſtattfanden, während das
*
86 Oreißig Jahre Exploſions motor. u
Auto in ſeiner Heimat bei weitem nicht in gebührender
Weiſe anerkannt wurde. So gewann das Ausland auf
dieſem Gebiete einen Vorſprung von Anfang an; aber
auch dieſe ſeltſame Verkehrung wurde durch deutſchen
Fleiß und beſonders durch die Gründlichkeit wieder
wettgemacht. Heute genießen die heimatlichen Pro-
dukte Weltruf.
In mannigfachen Neukonſtruktionen hat dann der
Automobilismus ſich zu jener Machtſtellung in unſerem
modernen Verkehrsweſen ausgebildet, die wir heute an
ihm bewundern. Wir kennen ſeine ſchlechterdings nicht
mehr zu überbietende Schnelligkeit (Weltrekord 228 Kilo-
meter in der Stunde), ſeine unbedingte Zuverläſſigkeit
bei elementaren Ereigniſſen, Schneefällen und ſo weiter,
und feine durch die immenſe Kraft bedingte Brauch-
barkeit zu bisher unmöglichen Leiſtungen (Laſtzüge,
Armeedienit- und Feuerwehrwagen, kombinierte Wagen-
pumpen, drahtloſe Telephon, Panzer-, Turmwagen
und ſo weiter), es iſt „das“ Gefährt von heute, vom
vornehmen Luxuswagen bis zum ſchwer arbeitenden
Laſtfuhrwerk.
Als es erſt möglich geworden war, wirklich leichte,
dabei aber ſehr kräftige Motoren zu bauen, konnte auch
die Aviatik ihr ſeit Jahrtauſenden immer wieder er-
wachendes Sehnen der Erfüllung näher bringen.
In richtiger Wertſchätzung ſeiner Erfindung führte
Gottlieb Daimler im Jahre 1887 feinen neuen Motor-
typ der Luftſchifferabteilung vor, die trotz ihres Inter-
eſſes nicht wußte, was damit anzufangen war. Erſt am
1. September 1888 benützte der forſchungsfrohe Leip-
ziger Buchhändler Dr. Wölfert einen derartigen Motor
zu feinen Lenkballonverſuchen, die vom Hofe der Daim-
lerſchen Fabrik auf dem Seelberg in Cannſtatt vor—
genommen wurden. Ein kleiner, nur 4 Pferdeſtärken
87
Von Mar Nentwich.
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ganz leichter Motor trieb eine aus einem
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Holzgerippe und Stoffüberzug hergeſtellte Schraube an;
mächtiger,
88 Oreißig Jahre Exploſionsmotor. 2
doch dieſer erſte Aufſtieg vollzog ſich nicht ohne ein ge-
wiſſes heiteres Geleite. „Es zeigte ſich nämlich, daß
Dr. Wölfert für ſeinen kleinen Ballon zu ſchwer war,
weshalb dieſe Fahrt von feinem etwas leichteren ©e-
hilfen allein ausgeführt wurde, der ſich auch noch aller
entbehrlichen Kleidungsſtücke und ſogar der Stiefel
und — des Portemonnaies entledigen mußte. Indeſſen
der Ballon ſtieg und ging hinter dem Burgholzhof, in
einer Entfernung von etwa 4 Kilometern, nieder.“
Nur der Mangel an Betriebskapital hinderte Wölfert
am Bau eines hinreichend großen Ballons, deſſen Ein-
richtungen mehr Erfolg verſprachen, deſſen Abmeſſungen
aber die Gefahr der Exploſion des Ballons vielleicht
völlig verhindert hätten. Dr. Wölfert iſt, wie wohl
noch erinnerlich, am 12. Juni 1897 mit feinem Mecha-
niker bei einem Aufſtieg vom Tempelhofer Felde aus
durch Exploſion des Ballons ums Leben gekommen.
Doch die Fortichritte waren ſchon zu groß, als daß
dieſes erſte Lenkballonunglück die weiteren Arbeiten
auf dem von Wölfert beſchrittenen Wege verhindern
konnte.
Es war aber auch hier wieder das Zuſammentreffen
und Zuſammenarbeiten verſchiedener Momente, die
ſchließlich zu den großen Erfolgen führten: vor allem
die unbeugſame, zähe, man möchte ſagen dickköpfige
Energie des Grafen Zeppelin, den alles Mißgeſchick, alles
elementare Unglück, alle anfänglichen Mißerfolge, das
Lächeln ſeiner „guten Freunde“ und immer wieder
das ihn verfolgende „Pech“ doch nicht von dem als
einzig richtig erkannten Weg abbringen konnten. Schließ
lich hat ſich das Unglück zum Glück gewendet, als nach
der Kataſtrophe von Echterdingen das deutſche Volk
die große Flugſpende für Zeppelin zuſammentrug und
damit den energiſchen und unverdroſſenen Herrn, ihm
D Don Mar Nentwich. 89
gleichſam fein Vertrauen erweiſend, auch materiell un-
abhängig für ſeine weitere Arbeit machte. Über die
hohen Eigenſchaften des Zeppelinſchen Luftſchiffs, das
als der vollendetſte Lenkballon der Gegenwart gilt, iſt
ſich die ganze Welt einig.
Auch die anderen erſtklaſſigen Syſteme: Parſeval,
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Mit Daimlermotor ausgeftattete Antriebseinrichtung des
Wölfertſchen Lenkballons, der am 1. September 1888 ſeinen
erſten Aufſtieg in Cannſtatt unternahm.
Groß und in neuerer Zeit Schütte-Lanz, ſowie die vielen
Ausländer, die gleich zu Anfang die deutſchen Motoren
richtig einſchätzten und verwendeten, waren auf den
leichten, kräftigen Exploſions motor angewieſen.
Und nun gar das Flugzeugweſen, das Wunderkind
der jüngſten Zeit; ihm war Lebensfähigkeit überhaupt
90 Dreißig Jahre Exploſionsmotor. a
nur befchieden, wenn bei verhältnismäßig ganz gering-
fügigem Gewicht eine außerordentliche Kraftentfaltung
des Motors erreicht werden konnte.
Wir alle wiſſen noch von der mißtrauiſchen Auf—
nahme jener Nachrichten, die von der Wrightſchen Flug-
maſchine verbreitet wurden, etwa ein Jahrzehnt nach
Lilienthals Todesflug. Dann kamen nach den Hüpfver-
ſuchen Zipfels die beiden Wright wirklich nach Deutich-
land, und man ſah den Jahrtauſende alten Traum er—
füllt, ſah Menſchen auf ihren Apparaten wirklich durch
die Luft fliegen. Es währte nur noch Wochen und
Monate, und, wie aus dem Boden geſtampft, erſchien
ein Flugzeugſyſtem nach dem anderen; Erfolg reihte ſich
an Erfolg, und zu Land- und Waſſerwegen geſellte fi
der jeder vorgeſchriebenen Bahn entbehrende gerad-
linige Flug durch die Luft als neue Verbindung der
Völker. Wie leſen ſich heute die Zeitungsnachrichten
aus jener Zeit: „Weltrekord 2500 Meter Höhe“,
„Dauerflug von einer Stunde“ und ſo weiter — heute
ſind das gar nicht erwähnenswerte Alltäglichkeiten und
waren vor fünf Jahren noch Triumphnachrichten.
Es war auch das Erfolgreiche in der Aviatik das
Zuſammenarbeiten vieler Kräfte und die Unbeugſamkeit
des menſchlichen Willens trotz ungezählter Todesopfer.
Was gegenwärtig an die Leiſtungsfähigkeit eines
Flugmotors für Anforderungen geſtellt werden, geht
am beſten aus den Bedingungen im Wettbewerb um
den Kaiſerpreis hervor. Erſtens: Aufbau innerhalb drei
Tagen. Zweitens: Vorprobe: Halbſtündiges Voll-
laufen in horizontaler Lage, !/, Stunde Volllaufen bei
15 Prozent Steigung der Achſe, ½ Stunde Volllaufen
mit Neigung abwärts bei möglichſt verminderter Touren-
zahl (dem Gleitflug entſprechend). Drittens: Sieben-
ſtündiger Volllauf ohne Unterbrechung bei Vollbrem—
2 Don Max Nentwich. 91
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in horizontaler Lage, ½ Stunde Pauſe, nochmals
Blick in die Fräſerei einer modernen Automobilfabrik.
92 Oreißig Jahre Exploſionsmotor. 1
2½ Stunden Volllauf und ½ Stunde Volllauf mit
erhöhter Tourenzahl durch künſtlich erzeugten Gegen-
wind.
Und ſchon find die noch weitergehenden Bedingungen
ausgeſchrieben für den in dieſem Sommer jtattfinden-
den Wettbewerb der Waſſerflugzeuge.
Auch hier iſt kein Stillſtand, ſondern eifriges Vor-
wärtsſchreiten, und die Mitwelt iſt jeden Tag zum
Zeugen berufen für die Fülle von Errungenſchaften,
zu denen die Konſtruktion des leichten Exploſions-
motors erſt die Möglichkeit gegeben.
D
EIESEIEHE?
Eigenland.
Novelle von Otto Hoeder.
* nach ruck verboten.)
1
m Fenſter des ihm als Wohnung dienenden Well-
blechhäuschens ſtand Gordon Harland, der neue
Betriebsleiter einer im mittleren Weiten der Ver—
einigten Staaten im Bau begriffenen gewaltigen Tal-
ſperre, neben ſeinem von ihm abgelöſten Vorgänger.
Mit nachdenklicher Miene ließ er das ihm ungewohnte,
fremdartige Wüſtenpanorama auf ſich einwirken.
Vor ſeinen Blicken dehnte ſich im Sonnenbrande,
an die dreißig Meilen breit und in zumindeſt doppelter
Länge, eine troſtloſe Einöde, die ringsum von hohen
Lavafelſen eingeſchloſſen wurde. Sie ſollte durch die
rieſige Staubeckenanlage in ihrer Geſamtausdehnung
bewäſſert und dadurch aus hunderttauſendjährigem
Schlafe aufgeweckt und fruchtbar gemacht werden.
„Well, wir können uns über die ſeither erzielten
Fortſchritte nicht beklagen,“ meinte der bisherige Be—
triebsleiter, zu deſſen Ablöſung der jüngere Kollege
aus New Vork gekommen war. „Bisher iſt alles wie
geſchmiert gegangen — mit alleiniger Ausnahme jenes
alten Querkopfs da oben, des Tom Dugan!“ ſchränkte
er mit einer Verwünſchung ein. „Der Mann betreibt
eine Viehranch, etwa zehn Meilen weiter ſtromauf in
den Bergen. Er verſucht uns aufzuhalten, natürlich
94 Eigenland. 2
mit ebenſowenig Erfolg, wie etwa ein ſtörriger Büffel
ſich dem heranbrauſenden Schnellzuge gegenüberſtellen
würde. Aber wir werden gerade noch genug Verdruß
mit ihm haben — oder vielmehr Sie, Harland,“ wendete
er ſich augenzwinkernd an ſeinen Nachfolger. „Denn
ich will die Stunde ſegnen, wo ich dieſer Hölle den
Rücken wenden darf. Hab' mir gerade lange genug
hier draußen die Haut dörren laſſen!“
Rittlings ſetzte er ſich auf einen Stuhl und muſterte
wohlgefällig den nunmehrigen Betriebsleiter.
„Merkwürdig,“ begann er dann wieder, „wo man
auch baut und bohrt, immer trifft man fo 'n vorfint-
flutliches Foſſil an! Sie wurden ſchon aus der Arche
mit den übrigen ODickhäutern verladen und ſiedelten
ſich an, ehe noch das Waſſer ſich völlig verlaufen hatte.
Laſſen ihr Vieh an die dreißig Jahre auf einem halben
Königreich an Ausdehnung koſtenlos weiden, leben ihren
guten Tag und bilden ſich ein, daß Gott und die Welt
ihnen gehöre. Wie dieſer Tom Dugan da oben. Wir
mußten ihm den Stromlauf ableiten und damit ſeine
Waſſerzufuhr beſchneiden — das iſt richtig. Natürlich
wollten wir ihn anſtändig entſchädigen, aber er will
ſich auf nichts einlaffen, ſondern behauptet, er ſei zuerſt
dageweſen, und das Land gehöre ihm. Wir ſollten
ihn nur von ſeinem Grund und Boden zu vertreiben
ſuchen! Nun haben wir Klage gegen ihn angeſtrengt.
Natürlich verliert er den Prozeß, aber bis zu deſſen
endlichem Austrag müſſen wir ſeine angeblichen Rechte
reſpektieren und kommen nur langſam vom Flecke.“
Er lachte grimmig auf. „Ginge es nach mir, ſo wollt'
ich den Fuchs bald aus ſeinem Bau vertreiben!“
„Wie wollten Sie denn das anfangen?“ erkundigte
ſich Gordon lächelnd.
„Ich baute den Staudamm einfach zehn Fuß höher.
u Novelle von Otto Hoecker. 95
In Wirklichkeit liegt die Duganranch nicht viel höher
als die Wüſte, aber um zu ihr zu gelangen, muß man
die Lavaberge überklettern. Der ganze Grund und
Boden iſt vulkaniſchen Urſprungs. Well, baute man
nun den Staudamm um zehn Fuß höher als geplant,
dann würde mit Fertigſtellung der Talſperre auch das
Loch, in dem jener Dugan hauſt, unter Waſſer geſetzt
werden. Dann aber hätte er entweder nach unſerer
Pfeife zu tanzen oder — er würde gleich einer Ratte
erſäuft werden.“
„Nun, zu ſolch draſtiſchen Auskunftsmitteln werden
wir hoffentlich nicht unſere Zuflucht nehmen müſſen,“
meinte Gordon ſorglos, während er ſich in Begleitung
ſeines Vorgängers nach der kleinen Veranda vor dem
Häuschen begab. |
Im funkelnden Sonnenſcheine draußen ächzte der
Steinzermalmer und ſchleuderte weiße Staubwolken
gen Himmel. Vom Fluß her kam das Schrillen der
an langgeſtreckten Kabeldrähten hin und zurück ſchwe⸗
benden Zementbütten, und zur Rechten ſchlängelten
ſich wie die Fäden eines weitmaſchigen Netzes die
künftigen Abzugskanäle an den ſteilen Felswänden hoch,
bis ſie oben in der ſtaubgeſättigten, amethyſtfarbigen
Luft verſchwanden.
Der abgelöſte Ingenieur deutete auf die in Mittags-
gluten ſchmachtende Talwüſte. „Was für Zukunfts-
möglichkeiten liegen dort im Mutterſchoß der Erde noch
vergraben,“ ſagte er zuverſichtlich. „Wie lange wird's
noch dauern, ſo zieht die Eiſenbahn dort, wo jetzt nichts
als muffiges Heidekraut wuchert, ihre Schienenſtränge.
Vielleicht in fünf Jahren dehnt ſich hier eine aufblühende
Stadt, und man verkauft Eckbauſtellen zu tauſend Dollar
das Stück. An die tauſend Anſiedler gewinnen der
neuen Heimatſcholle hundertfältigen Ertrag ab — und
96 | Eigenland. 2
da will uns ſolch ein Dickkopf in die Quere kommen
und meint, wir müßten die Hände von alledem laſſen,
nur weil feine Viehherden ſeit einer Reihe von Jahren
hier geweidet haben?! Den Zahn müſſen Sie ihm
ausziehen, Harland — und das bald. Zch ſelbſt habe
den Karren bei ihm verfahren und will nur hoffen,
daß Sie beſſer mit ihm fertig werden!“
Als Gordon zuſtimmend nickte, umſpielte ein Lächeln
feſter Entſchloſſenheit ſeinen kräftig geformten Mund.
Er war ein ſtämmiger junger Mann mit einer dichten
braunen Haarmähne, vorſpringendem Kinn und klug
blickenden Augen.
„Da ich vor Montag die Oberleitung doch nicht
übernehmen werde und am morgigen Sonntag ohne-
hin gefeiert wird, ſo gedenke ich meinen Antrittsbeſuch
oben in der Duganranch noch heute Mn zu
machen,“ entſchied er.
„Viel Glück auf den Weg!“ ſtimmte ſein Vorgänger
zu. Aber das feine Lippen umſpielende ſarkaſtiſche
Lächeln kündete unverhohlen genug, welchen Erfolg er
einem ſolchen Annäherungsverſuche vorausſagte.
Es war unberührte Natur, durch die Gordon Har-
land eine Stunde ſpäter auf dem Rücken eines flinken
Maultiers trabte — braun, ſonnenverbrannt und end-
los wie die See. Kein Hausdach grüßte, kein Baum
ſtreckte ſchattenſpendend ſeine Zweige, nicht ein grünes
Fleckchen, wohin ſein Blick auch immer wandern mochte.
Die Luft war dünn und unglaublich klar; er wähnte
hundert Meilen weit ſehen zu können und hatte das
Gefühl, als vermöchte er bis zu den Stiefelſohlen hin—
unter zu atmen.
Nachdem ſein Tier an die zwei Stunden unabläſſig
0 ö Novelle von Otto Hoecker. 97
auf kaum gebahntem Saumpfade bergauf geklettert war,
erreichte er den Gipfel und blieb nun mit jähem Rucke
ſtehen, denn vor feinen Hufen gähnte, wohl tauſend
Fuß tief, der Abgrund. Als Harland ſich ſpähend über
die dünne Halsmähne des Tieres beugte, da ſchaute
er zu feiner Überraſchung in einen geräumigen Tal-
keſſel, den die Lavarieſen von allen Seiten abſchloſſen.
Unten in der Tiefe, wo in breitem Strombett dürftiges
Waſſergerinnſel ſich durch grüne Fluren ſchlängelte, lag
ein Ranchhaus mit ſeinen Nebenbauten. Schattige
Bäume umſtanden es, deutlich vermochte Gordon einen
ausgedehnten Gemüſegarten, ferner mit Kartoffeln und
Getreide bepflanztes Land zu erkennen. Daran ſchloſſen
ſich die Weidekoppel und endloſe Kleefelder — alles
wie eine liebliche Oaſe in die nackte, ſtarre Lava ringsum
eingebettet.
Von der oberen Talbuchtung, etwa eine halbe Meile
ſtromauf, wo wieder Salbeibüſche zu wuchern begannen,
kam dumpfes Gepolter. Eine gelbe, raſch an Umfang
zunehmende Staubwolke flog voran, und hinter ihr
her ſtürmte, wie Gordon bald wahrzunehmen vermochte,
eine buntſcheckige Viehherde, die ſich fächergleich aus-
breitete, ſobald fie den noch durch den Stromlauf ver-
engerten Zugangspaß hinter ſich hatte und nun in den
geräumigen Talkeſſel einbog.
Dazwiſchen tummelten ſich wohl ein Dutzend flinke
Reiter. Hin und her, auf und nieder durch die dicken
Staubwolken ritten fie, trieben an und ſchnitten wie-
derum den von der Herde ſich ſondernden, wildgewor-
denen Rindern mit lautem Peitſchenknallen den Flucht-
weg ab.
Harland ſäumte nicht länger oben, ſondern lenkte
fein Tier nach der Zickzackſpur, die in endloſen Win-
dungen ins Tal hinunterführte. Bald hatte er die
1913. XII. 7
98 Eigen land. u
—— —
Korralumzäunung unten erreicht und hielt nun neben
dem Gatter, um mit wachſendem Zntereſſe das nie
zuvor von ihm erſchaute, aufregende Schauſpiel zu
verfolgen.
Die ſcheue Herde, das kaum mit den Blicken zu
verfolgende Durcheinander von Reitern und brüllen
den Rindern, ſämtlich ſchleiergleich von Staubwolken
eingehüllt, die natürliche Grazie und lebhafte Beweg⸗
lichkeit der die Laſſo ſchleudernden Männer, das trotzige
Aufbäumen der eingefangenen Zährlinge, die indeſſen
gar bald vollends gefeſſelt wurden, um zum lodernden
Feuerſtoß geſchleift und dort mit dem Brandeiſen ge-
kennzeichnet zu werden und auch die Duganmarke mit
jähem Meſſerzucken durchs linke Ohr geſchlitzt zu erhalten,
das dumpfe Schmerzgebrüll der alſo Gebrandmarkten,
der brenzlige Geruch von hochaufflammendem Galbei-
holz und verbranntem Fell — das alles ſchien in dem
Zuſchauer Inſtinkte zu wecken, die ihm ohne fein Vor—
wiſſen längſt im Herzen geſchlummert hatten.
Immer näher an die Korraleinzäunung kam die
Jagd herangebrauſt.
Plötzlich vermochte ein beſonders ſtörriger Jähr—
ling durch einen geſchickten Seitenſprung der ſchon über
ihn herabfallenden Laſſoſchlinge noch im letzten Augen-
blick zu entgehen. Nun kam er mit tiefgeſenktem Kopf
gerade auf Gordon Harland herangeſtampft. Deſſen
Tier ſcheute ſeitwärts, und wie er ſelbſt noch nach den
flatternden Zügeln haſchte, überrannte ihn auch ſchon
der junge Stier.
Wohl ſchoß der alſo Überrumpelte der Länge nach
ins Gras, aber er blieb geiſtesgegenwärtig genug, um
den ungehobelten Geſellen bei dem einen Hinterbein zu
packen und ihn, unbeſchadet darum, daß er eine Strecke
weit mit fortgeſchleift wurde, daran feſtzuhalten.
a) Novelle von Otto Hoeder.
8
Da kam es auch ſchon mit ſtiebendem Hufſchlag
heran, einer der Reiter warf das Fangſeil, und diesmal
verſtrickte ſich der Ausreißer hoffnungslos in der Schlinge.
Jetzt richtete ſich der Ingenieur wieder auf und
ſtimmte in das Lachen des ihn mit beluſtigten Blicken
muſternden jungen Reiters ein, als dieſer ihm ein ver-
trauliches „Hallo, Freundchen!“ zurief.
Hinter ihm tauchte ein zweiter Reiter auf, ein hagerer
Graukopf, der wie verwachſen mit ſeinem Pferde im
Sattel ſaß und das grimmige, von einem ſtruppigen
Schnurrbart beinahe in zwei Hälften geteilte, lederhart
gegerbte Geſicht vergnüglich verzogen hatte.
„Hallo, Fremder!“ ſchrie er lachend. „Ihr hättet
den Ausreißer beim Schwanzende packen müſſen. Dann
noch 'ne Doſe Salz draufgeſtreut — und das Bieſt
hätt' alle viere von ſich geſtreckt! Hoho, da möchte
man doch gleich Klapperſchlaͤngen ſchlucken! Auf Eure
Fangmethode müßt Ihr 'n Patent nehmen!“
Zuerſt hielt Harland den verwitterten Kumpan für
den Beſitzer der Ranch, aber er änderte ſeine Meinung
raſch, als nun noch ein dritter Reiter herangeſprengt
kam, ein alter, ſehniger Mann, der auf einem beſonders
hochbeinigen Tier hockte. |
Harland konnte ſich nicht entſinnen, jemals zuvor
ſchon in ein derartig wie aus Stahl gefügtes Männer-
antlitz geſchaut zu haben. Das Alter hatte die in dieſem
Manne lodernde Leidenſchaft noch nicht zu zügeln ver-
mocht, gleichwohl lag in ſeinen Zügen wiederum eine
gewiſſe rauhe Biederkeit, und wenn er lachte, wie dies
eben geſchah, gewannen feine Mienen ſelbſt einen gut-
mütigen Ausdruck.
„Woher des Wegs, Fremder?“ begrüßte er Harland,
ohne ſich ſelbſt vorzuſtellen, was er für überflüffig halten
mochte. „Oer neue Ingenieur — eh?“
100 Eigenland. 2
Gordon Harland nannte feinen Namen. „Ich wollte
Ihnen meinen Beſuch abſtatten,“ fuhr er fort, heimlich
darauf gefaßt, daß ſich die freundſchaftliche Haltung des
Alten nunmehr raſch ins Gegenteil wandeln würde.
Aber nichts Dergleichen geſchah, ſondern Tom Dugan
ſtreckte ihm die Hand zum Willkommgruße entgegen.
„Ihr kommt aus dem Oſten?“ erkundigte er ſich, in-
dem er lächelnd die durch den Fall in Unordnung ge-
ratene ſtädtiſche Kleidung ſeines Beſuchers muſterte.
„ga, ich bin, was man hierzulande wohl ein Grün-
horn nennt — kaum je aus der Großſtadt heraus-
gekommen!“
„Well, überall iſt Gottes Gegend,“ meinte der Alte,
deſſen klarer Blick noch immer den anderen muſterte.
„Auch ich kam vom Oſten hierher, war jung in Chicago
und urſprünglich Schriftſetzer. Iſt aber unwahrfchein-
lich lange her und dünkt mich wie 'n Traum. Schalte
nun ſchon dreißig Jahre auf der eigenen Scholle, da
wurzelt man im Boden und wird eins mit ihm. —
Aber nichts für ungut, Herr,“ unterbrach er ſich. indem
er nach den ragenden Felshöhen, hinter denen eben
die Sonne verſchwand, hinaufſpähte. „Es wird wohl
bald dunkel werden. Das geſchieht hier draußen ganz
plötzlich, und wir müſſen noch einen letzten Trieb reiten.
Laßt Euch einſtweilen die Zeit nicht lang werden!“
Damit riß er ſeinen Gaul wieder herum, die beiden
anderen Reiter folgten ſeinem Beiſpiel, und die wilde
Jagd erneuerte ſich, ohne daß das Dreiblatt die Gegen-
wart Harlands weiter beachtet hätte.
Als dann die Nacht mit raſchen Schritten heran-
kam, bot ſich dem Neuling ein anderer ungewohnter
Anblick.
Für den eigenen Bedarf wurde eines der Rinder
an Ort und Stelle geſchlachtet.
u Novelle von Otto Hoecker. 101
— — — — —
— — —
Ein raſcher Laſſowurf des jungen Dugan brachte
einen Stier nieder. Sofort trieb der Reiter fein Pferd
an, und das hilflos an Kopf und Vorderfüßen gefeſſelte
Schlachtopfer wurde eine Strecke weit bis in die Nähe
des flackernden Holzſtoßes durch den Staub geſchleift.
Ein paar betäubende Schläge auf den Kopf, ein
die Halsader durchſchneidender Meſſerſtich des alten
Joe, und ein Strom rauchenden Blutes ſchoß in den
Staub. Die Herde ſog witternd und dumpf brüllend
den Blutgeruch ein und drängte langſam zurück. Nie-
mand bekümmerte ſich länger um fie, nun das Tag-
werk vollbracht war.
Selbſtverſtändlich mußte Harland über Nacht die
Gaſtfreundſchaft des Ranchers annehmen, denn bei der
nunmehr herrſchenden Finſternis hätte er ohnehin an
einen Heimritt nicht denken können.
Tintenſchwarz erſchienen die wie Zähne einer Säge
gezackten Spitzen der Lavafelſen, und von der Schlucht
blies der Nachtwind balſamiſche Düfte hinter ihnen her.
Als ſich die Reiter dem Ranchhauſe näherten, lugte die
ſchmale Sichel des Mondes über den Bergrand, und
über ihm begannen die Sterne zu blinken.
Auf der vorderen Veranda ſtand ein offenes, waſſer—
gefülltes Faß, das nun als Waſchbecken diente, und
nicht minder gemeinſchaftlich wanderten auch Hand-
tuch und der nahezu zinkenloſe Kamm aus einer Hand
in die andere.
In dem von einer Petroleumhängelampe freundlich
erhellten Wohnzimmer, wo es gar angenehm nach friſch⸗
bereitetem Kaffee und geröſteten Speckſcheiben roch,
wies Tom Dugan mit ſtummer Handbewegung dem
Gaſt den Platz zu ſeiner Linken an; ſein Sohn und der
alte Cowboy ſetzten ſich nebeneinander oben an die
eine lange Tiſchſeite, und der Reſt der Männer füllte
102 Eigenland. u
bald die übrigen Plätze an der langen Tafel. Nur zur
Rechten des Ranchers blieb der ihm zunächſt ſtehende
Stuhl unbeſetzt, und um feine Rücklehne war, eigen-
tümlich genug, eine ſchwarze Tuchſchleife gebunden.
Es entging dem Ingenieur nicht, wie der alte Ran-
cher, als ſein Blick den umflorten Stuhl ſtreifte, leicht
nickte, als wollte er eine unſichtbare Perſon vertraulich
begrüßen.
Tom Dugan mochte wohl leiſes Befremden in feines
Beſuchers Zügen wahrgenommen haben, denn als er
ſich nun vorneigte und die eine Hand auf die umflorte
Stuhllehne legte, meinte er: „Kehrt Euch nicht daran,
hier ſaß meine Mary — er iſt mir heilig, dieſer Platz,
denn ſie war eine gute Frau. Und manchmal hab'
ich's im Gefühl, als ſäße ſie immer noch neben mir,
nur daß wir's nicht ſehen können.“
Gordon kam zu keiner Erwiderung, denn eben öffnete
ſich von der Küche her eine Tür, und auf der Schwelle
erſchien ein ſchlankes, hübſches Mädchen. Sie trug
eine große Schüſſel mit eben dem Herd entnommenen
heißen Brotſchnitten, gönnte beim Vorüberſchreiten dem
Gaſt ein freundliches Lächeln und ſetzte ihre Laſt mit
ſchlichtem Abendgruße auf den Tiſch.
unwillkürlich hatte der Ingenieur ſich bei ihrem
Eintritt von ſeinem Sitz erhoben, und mit Staunen
nahm er wahr, daß kein Gedeck für das Mädchen auf-
gelegt war. „Darf ich Ihnen meinen Stuhl anbieten,
denn ich habe wohl die Ehre, Miß Dugan vor mir zu
ſehen?“ fragte er.
Das Mädchen nickte. „Ja, ich bin Emily Dugan,“
ſagte ſie ſchlicht. „Aber laſſen Sie ſich nicht ſtören, ich
pflege immer in der Küche nachzueſſen.“
„Emily ißt nicht gern mit uns, es geht ihr bei uns
nicht fein genug zu,“ zog ſie ihr Bruder lachend auf.
2 Novelle von Otto Hoecker. 103
„Unſereiner hat eben keine Zeit, fich erſt lange heraus-
zuputzen.“ |
„Kunſtſtück,“ knurrte der alte Joe, „wenn man ab-
geradert und ausgehungert genug iſt, um Klapper-
ſchlangen zu futtern!“
„Bitte, nehmen Sie nur wieder Platz!“ drängte
das Mädchen. Mit freundlicher Zuvorkommenheit
wartete es dem Gaſte auf. „Lieben Sie Honig?“ Sie
reichte ihm ein Glasgefäß. „Selbſtgewonnen, wie über-
haupt alles auf dem Tiſche hausgemacht iſt.“
Gordon kam aus dem Staunen nicht heraus. Die
ruhige Sicherheit des Mädchens imponierte ihm um ſo
mehr, als ihr ganzes Weſen vorteilhaft von der zwang-
loſen Art der um den Tiſch hockenden und mit vollen
Backen kauenden Männer abſtach. Weit weniger wäre
fie in New Yorker Geſellſchaftskreiſen als in dieſem
weltfernen Ranchhauſe aufgefallen.
Schweigend wurde nunmehr die Mahlzeit verzehrt.
Die Eſſenden gingen mit derſelben ernſthaften Gründ-
lichkeit zu Werke, die Gordon ſchon zuvor bei ihnen
draußen während der Arbeit beobachtet gehabt hatte.
Als ſich dann der Rancher erhob, ſtanden auch die
übrigen unter lautem Fußſcharren und Schemelrücken
auf und begaben ſich mit kurzem Nicken aus dem Zimmer.
Auch der Rancher ſelbſt wendete ſich der Tür zu.
„Bin gleich wieder zurück,“ äußerte er zu feinem Be-
ſucher, „will nur einen Abendtrunk aus dem Keller
heraufholen.“
Als er wenige Minuten ſpäter wieder ins Zimmer
zurückkam, wo inzwiſchen feine Tochter dem Gaſt Ge—
ſellſchaft geleiſtet und gleichzeitig mit flinker Hand den
Tiſch abgeräumt hatte, brachte er einen Steinkrug, mit
einem ſchäumenden Getränke bis zum Rande gefüllt,
mit und ſetzte ihn auf den Tiſch.
104 Eigenland. u
Hurtig ſtellte Emily Gläſer bereit, rückte noch ein
Feuerzeug in handliche Nähe des Beſuchers und ſchloß
dann hinter ſich die Küchentür. Bald verriet von dorther
kommendes Tellergeklapper ihre fleißige Tätigkeit —
ſehr zur geheimen Enttäuſchung Harlands, der beſtimmt
auf die Geſellſchaft des liebenswürdigen Mädchens ge-
rechnet hatte.
Bedächtig ſchenkte der Rancher die Gläſer voll.
„Selbſtgebraut,“ meinte er dann nicht ohne Stolz.
„Mein Vater ſelig war ein Irländer, die Mutter da-
gegen deutſch — und beides zuſammen gibt 'ne ſchlechte
Miſchung, denn trockene Lebern haben beide. Koſtet
nur, es iſt zwar kein eigentliches Bier und berauſcht
auch nicht, aber es löſcht den Durſt ausgezeichnet und
ſchmeckt nicht übel.“
Darüber war Gordon Harland nun freilich anderer
Anſicht, denn das Zeug ſchmeckte ſtark nach Heilkräutern
und mundete nicht beſſer als der Tabak, den der Rancher
nun in einem mächtigen Steintopf auf den Tiſch ſetzte
und der gleichfalls auf der Ranch gewachſen, an der
Sonne getrocknet und rauchfertig gemacht worden war.
Aber er hielt mit jeder Kritik zurück, ſtopfte vielmehr
das Pfeifchen, das er immer in der Taſche nachtrug,
und qualmte ergebungsvoll darauflos.
„Well,“ begann der alte Mann, indem er die Gläſer
wieder vollſchenkte, „Ihr wißt's vermutlich ſchon, daß
ich mit Euren Leuten drunten im Prozeß liege — eh?
Kalkulierte wenigſtens ſo, als ich Euch kommen ſah,“
ſetzte er bedächtig hinzu, als Gordon zuſtimmend genickt
hatte. „Kann mir auch denken, warum Ihr gekommen
ſeid. Aber gebt Euch keine Mühe, den alten Tom Dugan
macht keiner dumm. Das Recht iſt auf meiner Seite,
und niemand kann mich von der eigenen Scholle ver-
lreiben. — Nur ſachte,“ ſetzte er mit erhobener Stimme
u Rovelle von Otto Hoecker. 105
hinzu, als der andere ihn unterbrechen wollte, „laßt
mich ausreden! Ich dächte, ich hätte Euch gezeigt, daß
ich nichts gegen Euch habe, denn Ihr habt Eure Pflicht
zu tun, dafür werdet Ihr bezahlt. Ich ſelbſt bin ein
friedliebender Mann, ſeh' zuweilen auch gern ein frem-
des Geſicht um mich, aber im übrigen ſoll man mich
in Frieden laſſen. Die Ranch iſt mein eigen, und ſo
Gott will, bettet man mich einmal neben meine Mary
zum letzten Schlafe.“
Je länger Gordon die Mienen und Blicke des Alten
ſtudierte, deſto deutlicher begriff er, daß man ihn einer
Aufgabe gegenübergeſtellt hatte, deren Löſung nahezu
unmöglich und entſchieden nicht auf dem Wege güt-
licher Vorſtellungen zu erreichen war.
„In einer Zeit wie der unſerigen,“ wendete er nach
einer Weile ein, „da die Menſchheit einen weiten Schritt
vorwärts macht, muß das Zntereſſe des einzelnen ſich
dem der Allgemeinheit unterordnen.“
„Möglich,“ knurrte der Alte, „aber ich weiß, daß
ich mir jeden Fußbreit Land erarbeitet habe, zuerſt
mit der Schaufel, Herr — und ich weiß ferner, daß
ich mein Lebtag gefront habe, Herr — und da kommt
plötzlich hergelaufenes Volk, ſpielt ſich als die Herren
auf, leitet mir das Waſſer ab, ſo daß ich keines mehr
für mein Land habe und zuſchauen muß, wie fruchtbarer
Boden ſich wieder zur Wüſtenei zurückwandelt und
meine Herde zehn Meilen weit zur Tränke und wieder
zurückgetrieben werden muß.“
„Well,“ ſuchte Harland zu begütigen, „dafür werden
viele Hunderte Farmer ein mächtiges Wüſtengebiet für
die Kultur erobern, nahezu eine halbe Million Acker
werden dem Pflug gewonnen werden!“
Tom Dugan ſpie verächtlich zur Seite. „Farmer
nennt Ihr das Pack?“ fragte er kurz. „Maulwürfe, die
106 Eigenland. 1
—
im Sand graben, ſind es, nichts anderes! Wir brauchen
hier keine Farmer! Die Gegend hier iſt Weideland —
mehr noch, ſie iſt mein Land!“
Er war ans offene Fenſter getreten, winkte Harland
zu ſich und deutete dann auf eine Ecke des im Mondglanz
liegenden Obſtgartens, wo ſich ein kurios geformter
Steinhaufen erhob.
„Dort ſchläft ſie,“ ſagte er leiſe.
„Wer?“ fragte Harland, der nicht gleich feine Mei-
nung erriet.
„Meine Mary. Dort unter dem Steinhaufen ſchläft
ſie, ich habe ihr ſelbſt das Grab mit der Pickaxt in die
Felſen geſchlagen. War ein herzliebes Weib, meine
Mary.“ |
Eine Weile verharrte er ſchweigend und ſog an der
Pfeife.
Dann meinte er in ruhigerem Tone: „Ihr ſpielt
wie die Kinder mit dem Feuer, ihr kennt den Fluß
und ſeine Tücken nicht ſo wie ich. Dazu muß man ihn
durch lange Jahre ſtudiert haben. Wartet's nur ab,
bis eines Frühjahrs wieder die Chinookwinde zu blaſen
beginnen und den hoch in den Bergſchluchten liegenden
Schnee in einer Nacht ſchmelzen machen — zweimal
hab' ich's ſchon miterlebt. Damm oder nicht, das bleibt
ſich gleich! — Aber kommt mit hinaus, in der Stube
wird mir's zu eng,“ unterbrach er ſich.
Damit ging er, gefolgt von ſeinem Gaſte, ins Freie
hinaus.
Dort, wo der Grabhügel ſeiner Lebensgefährtin ſich
türmte, ſtand eine Bank. Auf ihr ließ der alte Mann
ſich nieder und bedeutete dem anderen, neben ihm
Platz zu nehmen.
„Hier ſitz' ich oft,“ begann der Rancher nach einer
Weile. Er hatte ſeine kurze Pfeife ausgeraucht, nun
D Novelle von Otto Hoecker. 107
— man nn te
klopfte er fie aus und ftedte fie in die Taſche. „Hit
mir dann immer, als wär' meine Mary mir näher.
Kurioſes Gefühl das, jemand plötzlich nicht mehr um
ſich zu haben, der einem ſo notwendig wie die Luft zum
Leben war. Ich ſeh' fie aber alle Tage, fie ſcheint
immer vor mir zu ſtehen, zum Greifen nahe.“
„Ihre Gattin war Farmerstochter — nicht wahr?“
erkundigte ſich der Ingenieur mehr aus Höflichkeit als
wirklich intereſſiert.
Tom Dugan ſchüttelte den Kopf. „Sie war ein
kleines Ladenmädel, meine Mary,“ hub er dann an,
„hatte einen tüchtigen Schulſack und wollte Lehrerin
werden. Aber dann ſtarb der Vater. Wie das ſo geht,
ſie mußte ihre gelähmte Mutter ernähren und hungerte
ſich mit ihr durch, bis wir uns fanden und heirateten.
Anfänglich verdiente ich auskömmlich. Kann wohl ſagen,
daß ich ein geſchickter Setzer war. Bis der große Brand
halb Chicago verheerte und Hunderttauſende brotlos
machte. Darunter auch mich. Nun ja, da fing das
Hungern erſt recht an. Schwamm drüber! Eines Tages
ſtanden wir völlig mittellos, unſer Kind war dahin—
geſiecht, und auf der Suche nach einer Stelle, die ſich
nicht finden laſſen wollte, lief ich Tag um Tag mit
durchlöcherten Sohlen auf dem Straßenpflafter herum.
Damals entſchloſſen wir uns, nach dem Welten aus-
zuwandern — natürlich zu Fuß, denn Geld zum Fahren
beſaßen wir keines. Was wir damals an Mühſalen
zu ertragen hatten, das kann ich nicht beſchreiben. So
was muß man ſelbſt durchlebt haben, um ſich einen
Begriff davon zu machen, wie uns die Füße ſchmerzten.
Als einen der ſchaurigſten Orte in der Hölle, wo Satan
ſich am vergnüglichſten an den Leiden der ihm Ver-
fallenen ergötzen mag, ſtelle ich mir einen ſteinigen,
ſteilen Weg vor, über den die Verdammten mit wunden,
108 Eigenland. 2
blutenden Füßen wandern müſſen — immerzu und
endlos wandern! Solch einen Weg gingen wir.“
Er ſeufzte tief auf, ſtützte den Kopf in die aufs Knie
gelegten Hände und ſtarrte eine Weile ſchweigſam vor
ſich hin. Dann deutete er hinauf zu den ſteilen Berg-
höhen, die der Mond eben mit unirdiſchem Glanze
umwob. a
„Endlich kam der Tag, wo wir dort ſtanden und in
dieſes Tal hinunterſchauen durften. Nach vierzig langen
Monaten unſerer Wanderſchaft. Seitdem haben wir
hier gelebt, zuerſt in einer Höhle, die wir entdeckten
und wohnlich machten, bis wir unſer Haus erbauen
konnten — nicht dieſes Haus, nein, das kam erſt im
Laufe der Jahre. Dort hinter dem Hauſe, wo jetzt
ein Milchkeller iſt, entdeckten wir eine Felshöhle, in ihr
hauſten wir ein volles Jahr, dort wurde auch unſer
Sohn geboren. Wie arbeiteten und ſchafften wir!
Ganz allein auf uns angewieſen, ohne Erfahrung und
Mittel. Nichts als eine Schaufel hatten wir zum An-
fang — und unſere Hände. Dann lief uns eine ver-
irrte Kuh mit ihrem Kalb zu, das war der Beginn unſerer
heutigen Herden. Jeder Stein dort am Haus iſt von
mir aus den Felſen geſchlagen, zurechtgehauen und
gemauert worden. Meine Mary wanderte zwanzig
Stunden weit, um die Ableger zu den ſchattigen Obſt—
bäumen von heute vom nächſten Nachbarn zu holen.
Das waren gute Leute, ſie ſchenkten uns ein Beil, etwas
Bettzeug und Ausſaat, ſpäter noch ein halb Dutzend
Hühner. Und ſo fingen wir an, ich mit der Schaufel,
und Mary machte unſere Höhlenwohnung aus nichts
zurecht, fertigte Betten aus Moos und Laub — und
es ging. Eine Büchſe hatte ich ja, und ein guter Schütze
war ich von jeher geweſen. Wild gab's genug, und der
Fluß bot Fiſche im Überfluß.“
| Novelle von Otto Hoecker. 109
Er hatte ſich immer wärmer geſprochen und ſeine
Worte mit lebhaften Handbewegungen begleitet.
„Ah, Fremder,“ meinte er nun, „ich kann Euch das
Entzücken nicht ausmalen, das unſere Herzen erfüllte,
als wir den erſten Mais aus dem Boden kommen ſahen.
An einem Sonntagmorgen war's. Wie wir vom Früh-
ſtück aufſtanden — damals hatte ich ſchon einen Tiſch
und zwei Schemel zurechtgezimmert — da gingen wir
Hand in Hand nach den Feldern. Mary ſah die Mais-
halme zuerſt, wir hatten in regelmäßigen Reihen geſät,
und aus den handgeformten Erdhügeln lugten ſpannen-
lange blaßgrüne Hälmchen — und dann ſahen wir ſie
Tag für Tag wachſen, keine Mutter konnte ſtolzer auf
ihre Kinder ſein! Bis der Tag der erſten Ernte kam
— das war ein Freudentag!“
Verſonnen ſchaute er um ſich, es war ihm anzu—
ſehen, wie er im Geiſte in die Vergangenheit zurück-
ſchaute und wieder durchzuleben meinte, was damals
geſchehen war.
„Ah, wie viel Glück wohnte gleich von Anbeginn
mit uns hier im Tal! Da hatte ſich unter die erſte Mais-
ausfaat ein fremdes Samenkorn verirrt. Als es aus
dem Boden wuchs — drei kleine grüne Blättchen —
wußten wir nicht, was es ſein konnte. Aber wir ließen's
wachſen, ich häufelte hübſch die Erde ringsherum, und
plötzlich begann's zu ranken. Da wußten wir freilich,
was es war, eine Waſſermelone.“ Er lachte leiſe vor
ſich hin. „Meiner Treu, ich glaube, ein Junge vergißt
nie, wie man Obſt ſtiebitzen oder ſchwimmen muß —
und Waſſermelonen ſchmecken ganz beſonders gut.
Dreizehn kleine Melonen entwickelten ſich aus den
Blüten, aber eines Nachts trampelte unſer Kalb dar-
über, und vier davon wurden zerquetſcht. Heute weiß
ich, daß es beſſer geweſen wäre, wenn's die anderen
110 Eigenland. 2
— un nn un nee nn
neun zertreten und nur vier Fruchtanſätze verſchont
hätte, weil nämlich der Stock ſo viele Früchte gar nicht
reifen kann. Am erſten September war meiner Mary
Geburtstag, und heimlich ſchlich ich mich in den Mais,
der damals ſchon übermannshoch ſtand, und ſchaute
nach den Melonen, denn ich wollte ihr doch ein kleines
Angebinde geben. Dunkelgrün ſchimmerte die dickſte
Frucht durch die Blätter. Ich klopfte gegen das Ge—
häuſe, wurde aber nicht klug daraus, ob's den richtigen
Reifellang gab. Da nahm ich mein Taſchenmeſſer zu
Hilfe — und richtig, wie ich einen Kerb hineinſchnitt,
zeigte ſich rotes, ſaftiges Fleiſch.“ Ordentlich behaglich
lachte er vor ſich hin. „War das eine Freude damals!
Meine Mary weinte vor Glück, als ich ihr die Melone
brachte, die erſte köſtliche Frucht vom eigenen Land.“
Er hatte ſich erhoben und ſtand nun im Mondlicht
in förmlich rieſenhaften Umriſſen vor Harland.
„Vielleicht erzähl’ ich's Euch ein andermal aus-
führlich, Fremder, wie wir aus einer Wüſtenei frucht-
bares Land und allmählich Behagen um uns ſchufen.
Aber ich wiederhole Euch, ich ſtehe auf eigenem Land,
zu dem der Herrgott uns den Weg gewieſen hat. Auf
dieſer Schwelle waltete mein Weib, unter ihren Füßen
wurde jeder Fußbreit geſegneter Boden. Unter dieſen
Steinen ſchläft ſie und ich“ — er richtete ſich ſtarr auf,
und in ſeine Mienen kam ein drohender Ausdruck —
„ich hüte ihren Schlaf, und wehe dem, ſei er hoch oder
niedrig, der mich aus meinem Eigenen zu vertreiben
unternimmt! Freiwillig weiche ich nicht — und braucht
ihr Gewalt, ſo hat's die harte Not mich gelehrt, wie
man mit Hausräubern und Friedensbrechern um-
ſpringen muß. Meine Hand iſt ſicher, und meine Büchſe
hat ihr Ziel noch niemals gefehlt!“
Ein Schauer beſchlich Gordon Harland, als er den
u Novelle von Otto Hoecker. 111
— —
alten Mann nun mit lang ausgreifenden Schritten in
der Richtung nach dem Viehkorral davonſchreiten ſah.
Im flimmernden Mondlicht ſchien feine Geſtalt noch
zu wachſen und übermenſchliche Formen anzunehmen,
bis ſie endlich im vorſpringenden Mauerſchatten ver-
ſchwand.
2:
Als Harland langſam zum Wohnhauſe zurückſchritt,
erblickte er auf der Veranda die Rancherstochter, und
artig ſchritt er auf ſie zu. Sie hatte einen Arm um den
einen Verandaſtützbalken geſchlungen und ſtand ſo, daß
der Mond wohl ihr dunkles Haar wie mit einer Gloriole
umwob, aber ihre Geſichtszüge im Schatten blieben.
„Kommt Ihnen ungewohnt bei uns vor — nicht
wahr?“ ſprach ſie den Ingenieur an.
„Es iſt wunderſchön hier oben,“ verſicherte er. „Der
Bruder ſchon ſchlafen gegangen?“
„Bill iſt müde. Halten Sie meinen Bruder nicht
für ungaſtlich, aber er iſt ſeit einer Woche kaum zum
Schlafen gekommen.“
„Das war ihm nicht einmal anzumerken,“ meinte
Harland. „Er verrichtete ja wahre Wunder an Geſchick-
lichkeit im Laſſowerfen, und reiten kann er noch beſſer!“
Sie lachte fröhlich. „Kein Wunder, er treibt ja
nichts anderes!“
Harland hatte ſich auf die oberſte Treppenſtufe ge-
ſetzt. Zutraulich ließ ſie ſich nun neben ihm nieder,
faltete die Hände im Schoße und ſchaute ihn unbe—
fangen an.
Sie ſchien etwas Beſonderes ſagen zu wollen,
zögerte aber noch eine Weile, bevor ſie geradezu fragte:
„Glauben auch Sie, daß Vater unſere Ranch an Ihre
Geſellſchaft verkaufen muß?“ Dann, als er beſtätigend
1 12 Eigenland. u
nickte, verſicherte ſie lebhaft: „Das geſchieht freiwillig
nie! Sie können eher jene Felsrieſen dort nieder-
zwingen, als Vaters Sinn ändern.“ Seufzend ſchwieg
ſie wieder, fragte aber bald darauf unvermittelt: „Wie
lange wird's noch dauern, bis die Talſperre voll-
endet iſt?“
„Ein Jahr wird bis dahin noch ſicher vergehen,
vielleicht aber auch zwei oder gar drei Jahre.“
„Ein Jahr!“ Ein Seufzer kam über ihre Lippen.
„Vielleicht nur noch ein Jahr und dann —“
Gedankenvoll ſtarrte ſie auf den in Dunkel gehüllten,
wie unſichtbar vorüberrauſchenden Fluß und die da-
hinter tintenſchwarz ſich ſtreckenden Lavafelſen.
„Manchmal faßt mich erſchauernd die Frage an,
was wohl von alledem das Ende ſein wird,“ fuhr ſie
dann fort. „Dieſes Tal war immer unſer eigen. Mochte
draußen in der Welt paſſieren, was da wollte, Handel
und Wandel, Krieg oder Frieden kümmerten uns nicht,
denn wir herrſchten auf der eigenen Scholle. Mag
ſein, daß das geltende Geſetz Sie dazu berechtigt, uns
von hier zu vertreiben; aber ein himmelſchreiendes
Unrecht bleibt es darum doch, dieſes Stück Erden-
paradies, das die Lebensarbeit meiner Eltern zu einem
ſolchen gemacht hat, wieder zu vernichten. Ich kenne
meinen Vater, ich liebe ihn und — und mir iſt bange
um ihn. Indem Sie zerſtören, was er mühſam auf-
gebaut hat, machen Sie ſein Leben wertlos, Sie merzen
es aus dem Buch der Menſchheit aus — und ein ſolcher
Gewaltakt läßt ſich mit einer Geldentſchädigung nicht
ausgleichen.“
Sie war aufgeſtanden.
„Es iſt ſchon ſpät geworden,“ äußerte ſie gelaſſen,
„vielleicht iſt es Ihnen angenehm, wenn ich Ihnen jetzt
Ihren Schlafraum anweiſe?“
D Novelle von Otto Hoecker. 113
Harland wußte kaum, was er darauf antworten
ſollte, ihm war eigentümlich zumute. Er hatte die
Empfindung, als habe ſich etwas von dem, was in
Emily Dugans Seele lebte, zu ihm verirrt, als würden
nun das monderhellte Tal, die lampenbeſchienene
Veranda, das ſchlafend liegende Haus von ihrer Gegen-
wart und ihrem Empfinden geſättigt. Die ſpitzen Berg-
konturen wandelten ſich zu Vorpoſten, die eiferſüchtig
den Talfrieden bewachten, durch das Rauſchen der vom
Nachtwind bewegten Baumkronen ging ein ihm un-
freundliches Geraune, ſelbſt die mit ſüßem Duft er-
füllte Luft ſchien in ihm den künftigen Zerſtörer zu
wittern und ſich ihm darum feindlich ſchwer auf die
Lungen zu legen.
Dieſe Empfindung verließ ihn auch dann nicht, als
er ſich in Emilys Stübchen, das ſie ihm die Nacht über
abgetreten hatte, wiederfand. Es lag unmittelbar hinter
dem Eßzimmer, war ſchlicht eingerichtet und enthielt
nichts als ein ſchmales Bett, eine einfache Antleide-
kommode und das übliche Moskitonetz rings um das
Bett. Hinter einer Gardine aus buntem Zitzkattun hin-
gen an der Wand einige Kleidungsſtücke und in fried-
lichem Nebeneinander entdeckte er auf einem kleinen
Wandgeſtell verſchiedene Bücher, einige Bände von
Coopers Prärieerzählungen, daneben ein Lehrbuch der
Algebra, ein populärer Wegweiſer durch die verſchie—
denen philoſophiſchen Syſteme, die Weihnachtsnummer
eines Frauenmagazins, eine kleine, abgegriffene Hand-
bibel und eine nach Veilchen duftende Broſchüre über
die „Kunſt, ſchön zu ſein“.
In dem kleinen Raume war es heiß und dumpf.
Eine geraume Weile lag Gordon Harland wach und
mit offenen Sinnen lauſchte er auf die Nachtgeräuſche,
das dumpfe Brüllen der Rinder, das e Fluß-
1913. XII.
114 eigenland. fe]
gemurmel, den gelegentlichen Schrei eines Coyoten —
das alles ſchien ſeinen Ohren, die an das auch bei Nacht
nicht abebbende geräuſchvolle Großſtadtgetriebe ge-
wöhnt waren, ebenſo ungewohnt wie unirdiſch geheim
nisvoll. Es waren Klänge aus einer anderen Welt,
von deren Exiſtenz er bisher keine Ahnung gehabt hatte,
und die ihn nun bereits in ihren Bann zu ziehen ver-
ſuchte.
Schließlich litt es ihn nicht länger im engen Raum.
Leiſe erhob er ſich, und unhörbar öffnete er die ins
Eßzimmer führende Tür. An deſſen ihm entgegen-
geſetzter Schmalwand war ein Fenſter eingelaſſen, es
ſtand offen, und hell wie Mondlicht funkelten die Sterne
ins Zimmer herein. Sie beleuchteten ein unter dem
Fenſter befindliches altes Sofa und Emilys Angeſicht.
Sie lag vollſtändig angekleidet mit im Schlafe halb-
geöffneten Lippen, die Hände über der Bruſt zufammen-
gelegt, und ſchlummerte friedlich.
Behutſam zog ſich Harland wieder nach dem ihm
zugewieſenen Raum zurück. Nun er ſich wieder nieder-
legte, überkam ihn bald darauf der Schlaf. Erſt das
Brüllen der Rinderherden weckte ihn wieder. Als er
ſich im Bett aufrichtete, ſchien ihm die helle Sonne
ins Geſicht.
Im Eßzimmer befand ſich niemand, der Frühftüds-
tiſch war ſchon abgeräumt, nur für ihn ſelbſt lag noch
ein Gedeck auf — Schinken und Rauchfleiſch, ein halbes
kaltes Huhn, daneben Kaffee, Wilch, goldgelbe Butter
und Honig, ſelbſt ein Strauß friſchgepflückter Blumen
fehlte nicht.
Suchend trat Harland auf die Veranda. Die näm-
liche gelbe Staubwolke, die er am Vortag vom Gipfel
der Lavafelſen aus erſpäht gehabt, gewahrte er wieder,
mindeſtens eine Meile talaufwärts. Obwohl es Sonn-
1 Novelle von Otto Hoecker. 115
— er rn
tag war, tummelten ſich dort die Reiter, um dem Reit
der noch nicht gezeichneten Jährlinge mit glühenden
Brandeiſen und Meſſern die Ranchmarke aufzudrücken.
Aber den Hof kam Emily auf die Veranda zu—
geſchritten. Sie begrüßte Gordon ſchon von weitem
mit kameradſchaftlichem Handwinken. Im linken Arm
trug ſie ein rundes Körbchen, gefüllt mit vermutlich
eben zuſammengeſuchten friſchgelegten Eiern. Wie ſie
durch den Sonnenſchein näherkam, vermeinte Gordon
noch nie zuvor ein ſolch anmutiges Geſchöpf erblickt zu
haben. Raſſig, kerngeſund, kindlich naiv und wiederum
ihren Jahren und ihrer Umgebung weit voraus, ihre
taufriſche Schönheit noch gehoben durch das fürſorglich
Mütterliche in ihrem ganzen Weſen.
Als er ſie auf ſich zukommen ſah, glaubte Harland
in die Vergangenheit zu ſchauen und ſtatt ihrer die
Mutter, damals nicht minder jung und ſchön, dem
verheißenen Lande an ihres Mannes Seite entgegen-
wandern zu ſehen.
Und da war es, als verſchleierte ſich ſein Blick, als
ſchiene das Tagesgeſtirn nicht mehr ſo hell, als noch
eben zuvor. Sein Blick wanderte zu dem ſteingetürmten
Grabe der Mutter. Sie hatte ſich im Verein mit ihrem
Manne eine eigene kleine Welt geſchaffen, aber die
große Welt war hinter ihnen hergezogen, und ſie ſollte
nun dort, wo ſie gelebt und ſegensreich gewirkt, nicht
mehr ſchlafen dürfen — eines Tages würden braufende
Waſſer in dieſem Talfrieden hochſteigen und alles darin
Befindliche fortwaſchen, auch das Grab dort. Da gab
es kein Entrinnen. Sein moderner Standpunkt ließ
ihn aber kein Unrecht darin erkennen. Der einzelne
muß fein Intereſſe der Allgemeinheit unterordnen, das
iſt der Lauf der Dinge. Aber ſein ſeltſam beunruhigtes
Herz weisſagte ihm, daß dieſe ſteilen Felshänge, die
116 Eigenlanb.
\
5 2
heute eine im Sonnenſchein prangende liebliche Idylle
umſpannten, auch Zeugen einer Tragödie ſein würden.
Gleich nach eingenommenem Frühſtück brach der
junge Ingenieur auf, und Emily gab ihm bis zum Außen-
gatter das Geleit. Dann, als er ſich in den Sattel
geſchwungen hatte und ihr die Hand nochmals reichte,
ging ein neckiſches Lächeln durch ſeine ſonſt ernſten Züge.
„Well,“ meinte er keck, „ich wünſchte wohl, Sie
würden mir geſtatten, hier zuweilen Einkehr halten
zu dürfen.“
Sie nickte freundlich. „Aber gewiß, wie Vater ſchon
ſagte. Jeder muß ſeine Pflicht tun, Sie arbeiten gegen
uns, aber darum können wir doch Freunde ſein. —
Vielleicht,“ ſetzte ſie ſtockend hinzu, „hat Sie der Himmel
zu uns geſchickt. Vater ſchien geſtern abend Gefallen
an Ihrer Geſellſchaft zu finden. Ah, wenn man ihm's
nur klar machen könnte, daß niemand gegen die Über-
macht ankämpfen kann. Aber ich fürchte, ich fürchte —“
Sie ſprach nicht weiter, ſondern winkte zum Ab-
ſchied, wendete ſich und ſchritt zurück. Erſt in einiger
Entfernung ſchaute ſie ſich wieder nach ihm um. Als
ſie ihn noch am gleichen Flecke halten ſah, wehte ſie
mit dem CTaſchentuche.
„Vater wird ſich freuen, wenn Sie wiederkommen,“
rief ſie. „Alſo auf Wiederſehen!“
„Auf baldiges Wiederſehen!“ gab er zurück. Sein
Geſicht ſtrahlte vor Vergnügen. —
Schon näherte ſich Gordon auf ſeinem Heimritte
der zu den Talſperrbauten führenden breiten Landſtraße,
als er vom Arbeiterlager her einen Reiter auf ſich zu-
kommen ſah, in dem er bald darauf den jungen Dugan
erkannte. Wie ſich alsbald herausſtellte, war Bill, wie
allſonntäglich, zum Empfang der während der Woche
eingelaufenen Poſt heruntergeritten.
0 Novelle von Otto Hoeder. 117
Schon aus einiger Entfernung winkte der Randher-
ſohn ſeinem neuen Bekannten mit einem Briefe in
der hochgeſtreckten Rechten zu.
„Botſchaft von Vaters Anwalt! Wer weiß, vielleicht
iſt eure Geſellſchaft zu Kreuze gekrochen,“ ſagte er lachend,
als er neben Gordon ſeinen Gaul verſchnaufen ließ.
Mit wehmütigem Lächeln wehrte der Ingenieur ab.
„Die Entſcheidung über Ihren ſtillen Talwinkel iſt längſt
gefallen und unwiderruflich. Dahin kommt unſer
Hauptwaſſerreſervoir. So leid mir's auch tut, Ihres
Vaters Lebenswerk zerſtören zu müſſen, ſo können und
dürfen derartige ſentimentalen Anwandlungen doch nicht
das Zuſtandekommen einer ſo wichtigen Kulturarbeit
aufhalten.“
„Dann iſt's alſo unwiderruflich entſchieden, daß wir
unſer Ränzel ſchnüren und uns trollen müſſen?“ fragte
Bill mit verfinſterten Mienen.
„Daran läßt ſich nichts mehr ändern,“ betonte Har-
land und legte dem anderen freundſchaftlich die Hand
auf den Arm. „Wenn Sie's wirklich gut mit Ihrem
Vater meinen, fo reden Sie ihm zu, ſich in das unver-
meidlich Gewordene zu fügen, zumal ihm ja auch gar
nichts anderes zu tun übrig bleibt.“
Bill ſchob die Schultern hoch. „Ich wüßt' keinen
Menſchen, der Vaters Sinn ändern könnte,“ meinte er
dann niedergeſchlagen. „Die Mutter hätt's vielleicht
fertig gebracht, aber die iſt lang ſchon tot — und muß
Vater die Ranch hergeben, ſo iſt's auch ſein Tod. Es
iſt hart für ihn wie für uns Geſchwiſter. — Doch nichts
für ungut,“ brach er ab, „aber ich denk' darüber genau
ſo wie der Vater auch. Nur daß ich jünger bin und es
einſeh', daß in dieſer Welt nun einmal Gewalt vor
Recht geht. Aber damit bleibt euer Waſſerwerk doch
immer ein Verbrechen an uns Dugans.“
118 ‚&igenlanb. u
Nach flüchtigem Handdrucke galoppierte er davon,
und bald hielt er vor der Ranch.
Mit einem Seufzer der Erleichterung trat er in die
Küche, wo er ſeine Schweſter emſig beſchäftigt fand.
Er ſetzte ſich, nahm den breitrandigen Filzhut vom
Kopf und wiſchte ſich mit dem Handrücken den Schweiß
von der Stirn. „Hab' Vater mit den Boys ganz oben
erſpäht. Begreif' nicht, daß er's plötzlich ſo eilig hat.
Früher gönnte er doch Menſch und Tier wenigſtens
am Sonntag die wohlverdiente Ruh'.“
Seine Schweſter antwortete nichts darauf. Eine
Weile hantierte fie am Herde, dann fragte fie: „Trafſt
du unterwegs Mr. Harland?“
„Den neuen Ingenieur?“ fragte ihr Bruder un-
intereſſiert zurück. „Ja, wir ſprachen ein paar Worte
mit' nander. Scheint ſo weit 'n ganz netter Kerl zu
fein. Haft du dich geſtern abend noch mit ihm unter-
halten — eh?“
Ihm entging das flüchtige Erröten Emilys, die ſich
eifriger als zuvor am Bratofen zu ſchaffen machte.
„Er muß Vater gefallen haben, denn ſie plauderten
eine lange Weile miteinander,“ äußerte ſie dann, ohne
von ihrer Beſchäftigung aufzublicken.
„Um ſo beſſer.“ Bill zuckte die Schultern. „Aber
kurz oder lang muß ſich Vater doch mit der neuen
Ordnung der Dinge abfinden, das hilft nun nichts.
Ich hab' übrigens einen Brief für Vater mitgebracht.
Von ſeinem Anwalt. Wollt' der Himmel, er hätt' den
Wiſch ſchon geleſen, denn trifft ein ſolcher bei uns ein,
gibt's immer acht Tage Regenwetter.“
„Vielleicht meldet der Anwalt Günſtiges,“ wendete
Emily zagend ein.
„Nicht daran zu denken. Der neue Ingenieur hat
mir's auch dürr herausgeſagt, daß unſere Tage hier
D Novelle von Otto Hoeder. 119
oben gezählt ſeien. Wir müſſen den Vater 'rumkriegen,
Emily; was ſoll ſonſt werden?“
Er hatte inzwiſchen den von ihm mitgebrachten
Brief aus der Taſche gezogen und reichte ihn nun der
Schweſter.
„Am beſten gibſt du ihm den Brief, von dir nimmt
er's noch am leichteſten.“ Dann ſeufzte er auf. „Lebte
nur die Mutter noch!“ ſagte er niedergeſchlagen. „Sie
hätt' den Vater ſicher 'rumgekriegt!“
„Vielleicht hilft ſie uns auch jetzt noch,“ ſagte da
Emily ordentlich feierlich und faßte ihn bei der Hand.
„Gerad' wie Vater werde auch ich das Gefühl nicht
los, als weilte Mutter immer noch in unſerer Mitte
und wir könnten ſie nur nicht ſehen.“
Eine Weile blieb es ſtill, dann hörten ſie draußen
Pferdegetrappel. Hurtig wendete Bill ſich der Wohn-
ſtubentür zu.
„Du, ich mach' mich unſichtbar, bis Vater den Wiſch
geleſen hat,“ ſagte er. „Gib du ihm den Brief, ich dien’
nicht gerne als Blitzableiter.“
Draußen klangen ſchon die ſporenklirrenden Schritte
des alten Ranchers.
Kaum war Bill hinter der Tür zum Eßzimmer ver—
ſchwunden, trat ſein Vater auch ſchon in die Küche.
Fragend irrten feine Blicke durch den Raum.
„War's Bill, der vorhin gekommen iſt?“ erkundigte
er ſich. „Ich ſah jemanden den Berg herunterreiten.“
„Ja, Bill kam vor einer Viertelſtunde,“ berichtete
das Mädchen, indem es dem Vater ein Gefäß zum
Waſchen bereitſtellte. „Iſt hier kühler, als vorn auf
der Veranda, wo die Sonne niederbrennt — hier iſt
auch 'n Handtuch, Vater.“
Der Rancher war ſchon dabei, das Hemd zu öffnen
und Kopf und Nacken in dem erfriſchenden Naß zu
120 Eigenland. |
baden. „Wo ſteckt Bill denn?“ erkundigte er ſich dann,
als er mit dem derben Handtuch Geſicht und Hals
bearbeitete. „War was auf der Poſt?“
„Ja, Bill hat auch einen Brief für dich mitgebracht,“
ſagte das Mädchen.
Tom Dugan ballte das Handtuch zu einem Knäuel
zuſammen und warf es achtlos in die Ecke. „Laß ſchauen,“
meinte er und griff begierig nach dem Brief, den er
weit von den Augen entfernt hielt. „Von dem Rechts-
verdreher!“ brummte er, nachdem er die Adreſſe ent-
ziffert hatte, mehr zu ſich ſelbſt gewendet.
Ohne weiter auf die Tochter zu achten, trat er vor
die Tür in den Sonnenſchein, öffnete dort den Brief
und las ſeinen kurzen Inhalt bedächtig durch. Wie er
dann wieder in die Küche zurückkam, waren ſeine Züge
abſchreckend finſter geworden, und die Brauen hatten
ſich drohend zuſammengezogen.
„Keine guten Nachrichten, Vater?“ ſtammelte Emily.
„Sie ſtecken alle unter einer Dede,“ rief der alte
Mann, ohne auf ihre Frage Beſcheid zu geben. „Da
knöpft mir dieſer Rechtsverdreher erſt Hunderte von
Dollar ab, um zum Gouverneur zu fahren und ihm
meine Not vorſtellen zu können, und nun hat er die
Stirn, mir rundweg zu ſchreiben, daß gegen das Geſetz
nichts auszurichten wäre und ich mich ins Unvermeid-
liche ſchicken müßte. Rät mir zu einem Vergleich, der
Tropf!“ Er lachte grimmig auf, ballte den Brief zu-
ſammen und warf ihn ins Herdfeuer. „Das Geſchreibſel
hätt' er ſich ebenſo ſparen können, wie ich mein Geld
oder die Herren ſich das Hierherkommen. Nächſter
Tage kommt nämlich eine Kommiſſion, um die Ent-
ſchädigung feſtzuſetzen, jo ſchreibt der Anwalt wenig-
ſtens. Sorg dafür, Emily, daß wir den Herren etwas
vorzuſetzen haben, es ſoll keiner ſagen dürfen, daß er
u Novelle von Otto Hoecker. 121
die Dugan-Ranch unbewirtet verlaſſen mußte, ganz
einerlei, was ihn zum Hierherkommen veranlaßt hat.“
Sie war auf ihn zugetreten. „Vielleicht machen
dir die Herren einen ſo guten Vorſchlag, daß du ihn
annehmen kannſt, Dad — ach, dann wären wir mit
einem Schlage alle Sorgen los!“
Doch erſchrocken hielt ſie wieder inne, als ſie ſeinen
Blick mit dräuendem Funkeln auf ſich gerichtet fühlte.
Der alte Mann lachte mißklingend auf. „Viſt doch
ſonſt 'n kluges Mädel, Emily, warum redeſt du jetzt
ſolchen Unſinn?“ verwies er fie barſch. „Wenn mir
die Bahngeſellſchaft meinen geſamten Grund und Boden
mit funkelnden Goldſtücken belegen wollte, eines dicht
neben dem anderen, ſo würd' ich ihr keinen Zollbreit
davon abgeben. Es iſt mein Land, und es bleibt's
auch, ſolang' ich noch einen Atemzug tun kann — ſtill,
darüber brauchen wir uns nicht mehr zu unterhalten,“
lenkte er in freundlich klingendem Tone ein, als er
helle Tränen in ihren Augen erblickte. „Oas iſt ein
für allemal erledigt. Laß nur erſt wieder die Chinook-
winde blaſen, dann wollen wir ſehen, wer ſein Bündel
zu ſchnüren hat — ſie oder ich!“
Mit nachdrücklichem Nicken ſchritt er an der Tochter
vorüber ins Wohnzimmer, wo er ſeinen Sohn vorfand.
Bill ſchaute zum Fenſter hinaus und war anſcheinend
in eine angelegentliche Betrachtung des jungen Pflan-
zenwuchſes draußen im Gemüſegarten vertieft.
„War en nichtsnutziger Brief, den du mitgebracht
haſt, Bill,“ knurrte der Alte, indem er ſich vor ſeinem
Tiſchplatz niederließ, beide Arme aufſtützte und das Kinn
auf die zuſammengefalteten Hände legte.
„Tut mir leid, Vater,“ gab der Sohn zurück und
ließ ſich gleichfalls am Tiſche nieder. „Was hat der
Anwalt eigentlich geſchrieben?“
122 Eigenland. a
„Man will nun Ernſt machen und eine Kommiſſion
heraufſchicken, die ſoll die Ranch abſchätzen und mir
dann den Stuhl vor die Tür ſetzen.“ Dugan lachte
grimmig auf. „Die Herren ſollen ſich verrechnet haben!“
Bill antwortete nicht gleich, ſondern ſchaute ſeiner
Schweſter zu, die nun die dampfende Suppenſchüſſel,
Braten und Kartoffelgemüſe auftrug.
„Glaub's nicht, daß ſie ſich verrechnet haben,“ meinte
er dann gedrückt. „Sie ſtellen immer mehr Arbeiter ein.“
„„ dieſe Maulwürfe!“ Der Rancher lachte gering-
ſchätzig.
In raſcher Aufeinanderfolge kamen die Cowboys,
als erſter Onkel Joe, ins Zimmer und ließen ſich nach
geräuſchvollem Zurechtrücken der Schemel und lang-
anhaltendem Fußgeſcharr an ihren Plätzen nieder, um
ſich alsdann mit wahrer Wolfsgier an das Auslöffeln
der lecker duftenden Brühe zu machen.
Emily eilte ab und zu und ſchenkte den Schmaufen-
den nach Bedarf Apfelwein ſtatt des an Wochentagen
üblichen Waſſers in die bauchigen Gläſer. Sonſt hörte
man nur Schmatzen und ſah allenthalben geſchäftig
kauende Kinnbacken. Erſt als der Rancher mit dem
Austeilen des Bratens begann, unterbrach Bill das
feierliche Stillſchweigen.
„Ich hab' heut früh einen Umweg hinauf nach den
Dammbauten gemacht, Vater,“ äußerte er zögernd.
„Du müßteſt auch einmal hinaufreiten und dich um-
ſehen. Das iſt keine Maulwurfsarbeit mehr, Vater,
ſondern was ſie dort zuſammengebaut haben, ſcheint
für die Ewigkeit errichtet zu ſein. Ich ſah hunderte in
die Lavafelſen geſprengte Kanäle, ein ganzes Neb-
werk, das ſich durch Meilen hinzieht und die Bergwände
an die zweitaufend Fuß bis hinunter zur Talſperre
bedeckt. Ich hab' mir auch erklären laſſen, wie all dieſe
u Novelle von Otto Hoecker. 123
Kanäle miteinander verbunden ſind. Es bedarf nur
eines Hebelrucks, dann ſchließen ſich die Schleuſen und
ebenſo leicht können ſie geöffnet werden. Es iſt ein
Wunderwerk, Vater, und kein Chinookwind kann Schnee
genug ſchmelzen, um all dieſe Abzugskanäle zum Über-
laufen zu bringen. Aber uns nehmen ſie, ſobald die
Stauwerke betrieben werden, den letzten Tropfen
Waſſer fort. Das währt, ſobald ſie Ernſt machen, keinen
Tag, dann haben wir hier im Tal nicht länger mehr
einen Fluß und ebenſowenig mehr Weiden oder Trank-
ſtätten — das ganze Gebirge wird zur waſſerloſen
Wüſtenei, damit ſie um ſo mehr davon fürs Tal zur
Verfügung haben.“
Der Rancher antwortete nur mit einem gering-
ſchätzigen Achſelzucken.
„Sie machen uns trocken, ſag' ich dir,“ fuhr Bill
fort, „das iſt noch der günſtigſte Fall. Aber unten im
Lager ſprechen ſie von nichts anderem, als daß die
Dammbauten um volle zehn Fuß höher gebaut und
die Sammelwaſſer ſogar auch in unſer Tal geleitet
werden ſollen. Kommt's dazu, fo erſäufen fie uns wie
Ratten.“
Tom Ougan lachte verächtlich. „Laß ſie's verſuchen
— — es gibt noch Recht auf Erden! Hilft ſelbſt der
Gouverneur dazu, daß mein heiliges Recht gebeugt
wird, ſo gibt es noch Richter in Waſhington.“ Er ſchlug
mit der flachen Hand hart auf die Tiſchplatte. „In
alle Welt will ich's hinausſchreien, welch himmel-
ſchreiendes Unrecht fie mir antun wollen! Ich war
nicht umſonſt einmal Schriftſetzer, ich kenne die Macht
der öffentlichen Meinung — und wir leben in einem
freien Land, wo keiner, auch der niedrigſte und ärmſte
nicht, bedrückt oder gar ruiniert werden darf!“
Er hatte ſich immer wärmer geſprochen, und als
124 Eigenland. u
er Joe vergnüglich vor ſich hinlächeln ſah, unterbrach
er ſich ſtirnrunzelnd.
„Könnteſt auch was Geſcheiteres tun, du alter Hans-
narr, als ſo blödſinnig grinſen!“ zürnte er. „Aber
du haft nichts im Kopf wie deine Schnurren!“ Un-
gehalten legte er ihm einige Rieſenſchnitte Braten auf
den Teller. „Stopf dir lieber den Mund!“
Jedoch der alte Cowboy lachte noch immer. „Wenn
ich hier Boß wäre,“ ſagte er dann, „ſo ließ ich mich
auszahlen, denn wenn ich auch mein Lebtag für Waſſer
nicht viel Verwendung gehabt hab', ſo muß doch das
Rindvieh Waſſer zum Saufen haben. Warum? Eben
weil's Vieh iſt. Uns Menſchen aber hat der Himmel
nicht nur was Stärkeres, ſondern auch Verſtand ge-
geben. Warum? Damit wir 'n brauchen follen —
und was ich von Grüße im Schädel hab', mag nicht
der Red’ wert fein, aber es ſagt mir, daß man mit
dem Kopf nicht durch die Wand rennen und Vieh nicht
auf waſſerloſer Wüſte halten kann.“
Einen Augenblick duckte ſich Joe, denn der Rancher,
deſſen Züge immer düſterer geworden waren, hatte
den vor ihm liegenden großen Brotlaib mit einer Be-
wegung, als wollte er ihn als Wurfgeſchoß benützen,
ergriffen. Doch ließ er den Laib wieder ſinken, erhob
ſich und ging, ohne ein Wort zu ſagen oder jemand
dabei anzuſehen, in eee Haltung aus dem
Zimmer.
Wie er aus dem Hauſe trat, da eilte er mit immer
ſchnelleren Schritten durch den glühenden Sonnenbrand
nach jenem vertrauten Winkel, wo ſeine Lebensgefährtin
unter den Steinen ſchlief.
Dort ſetzte er ſich auf die Bank und verharrte eine
lange Weile regungslos. Nur in feinen Zügen arbeitete
es gewaltig. Dann prägte ſich in ihnen hilfloſe Ver-
2 Novelle von Otto Hoecker. 125
zweiflung aus, und er faltete die ſchwieligen Hände
über den Grabſteinen.
„Mutter, ſo hilf mir doch, denn ich weiß nimmer
aus noch ein!“ kam es gebrochen von ſeinen Lippen.
„Selbſt die Kinder ſind im Herzen gegen mich — und
was ſoll ich gegen die Gewalt ausrichten? Aber ich
kann nicht von der Scholle weichen, denn das wär’
ſchlimmer, als nie gelebt zu haben, Mutter! Aber wie
ſoll ich unſer heiliges Recht behaupten, wenn du mir
nicht hilfft, Mutter?“
Aber der verzweifelte Mann vernahm nur ſeine
eigenen rauhen, halb gebrochenen Laute.
3.
Als Tom Dugan eines Nachmittags mit ſorgen-
voller Miene am Wohnzimmerfenſter ſtand, hörte er
draußen Hufſchlag und ſah gleich darauf eine kleine
Reitergruppe herangeſprengt kommen. Hurtig trat er
durch die Verbindungstür in die Küche und wendete
ſich an ſeine dort beſchäftigte Tochter.
„Es find die Gerichtsherren, Em'ly,“ ſagte er gleich-
gültig. „Oer neue Ingenieur iſt auch dabei. Die Leute
werden hungrig ſein, ſchau zu, daß du was Ordentliches
vorſetzen kannſt.“
Ohne auf ihre Antwort zu warten, durchſchritt er
wieder das Wohnzimmer und begab ſich zum Empfang
ſeiner Beſucher auf den Hof hinaus. Dort kam er gerade
zurecht, als die vier Kommiſſions mitglieder von ihren
Pferden ſtiegen. Bis auf Gordon Harland handelte
es ſich um lauter ihm unbekannte Geſichter, Beamte
vom Bundesdienſt, die ihr Abſchätzerberuf durch alle
Staaten der Union führte.
Die gegenſeitige Begrüßung fiel ganz freundfchaft-
lich aus. Der Rancher reichte in ſeiner ſchlichten Art
126 Eigenland. u
ſeinen Beſuchern der Reihe nach die Hand und äußerte
einige Worte des Willkomms, die der Obmann der
Kommiſſion, ein korpulenter Fünfziger, obwohl er mit
dem Schweißabtrocknen nicht fertig werden konnte, in
jovialer Weiſe erwiderte.
„Well, unter uns gejagt, in dieſem Lavaloch be-
kommt man 'nen gelinden Vorgeſchmack von den uns
im Senfeits erwartenden Freuden,“ meinte er unter
geräuſchvollem Lachen. „Wirklich, Mann, hier oben iſt's
unvernünftig heiß, auf dem Ritt hierher bin ich ſchier
geſchmolzen! — Recht ſo,“ unterbrach er ſich, als Joe
die Pferde in den Hausſtall zu führen Miene machte,
„reibt ſie tüchtig ab, aber gebt ihnen nicht zu ſaufen,
ehe ſie nicht völlig abgekühlt ſind.“
Joe lachte verſchmitzt, der Rancher aber ſchob die
Schultern hoch und ſchaute plötzlich wieder ernſthaft
darein.
„Angſtigt Euch nicht nutzlos, Herr,“ ſagte er. „Was
Eure Gäule hier oben bei uns zu ſaufen bekommen
werden, läßt ſich mit Fingerhüten ausmeſſen. Ihr habt
dafür geſorgt, daß Waſſer bei uns koſtbar iſt.“
„O weh!“ Der Dicke puſtete. „Da hätten wir
uns vorſehen müſſen! — Donnerwetter, ſprechen Sie
im Ernſt, Mann? — Ich hab' 'nen Durft wie 'n Heu-
pferd, und wenn ich auch ſonſt nicht gerade für Waſſer
ſchwärme —?
„Für die Herren iſt geſorgt,“ beſchwichtigte Dugan
ſeine Bedenken. „In meinem Felſenkeller hält ſich
der Apfelwein eiskalt, und der mundet beſſer als Waſſer,“
ſetzte er mit einem Verſuch zum Scherzen hinzu. „Ihr
ſollt nicht durſten müſſen. Aber um die Kreatur iſt's
ſchlimm beſtellt.“ Vorwurfsvoll ſuchte ſein Blick Gordon.
„Solange ich hier oben hauſe, verſiegte der Strom zum
erſten Male völlig in dieſem Sommer. Und nicht nur
2 Novelle von Otto Hoecker. 127
hier im Tal, ſondern auch droben in den Bergen, wo
es früher immer Waſſer im Überfluß gab, ſickern die
Quellen nur noch ſpärlich — ich hab' kurzerhand den
größten Teil meines Viehbeſtandes losſchlagen müſſen,
wollt' ich die Kühe nicht elend umkommen laſſen. Ja,
ja, ihr Herren, ſtatt vierzehn Cowboys, wie noch vor
wenigen Wochen, beſchäftige ich ihrer nur noch drei —
und dieſe haben kaum zu tun. Sagt ſelbſt, was hat
Euch die arme Kreatur getan?“
„Sie brauchte wahrlich nicht zu leiden, wenn Ihr
Euch ins Unvermeidliche ſchicken wolltet,“ äußerte nun
Gordon, indem er den Rancher überredend beim Arme
faßte. „Ihr ſolltet einlenken, ſo lange es noch Zeit
für Euch iſt, Eure eigenen Bedingungen zu machen.
Schon um Eurer Kinder willen ſolltet Ihr die Euch
zu freundſchaftlicher Verſtändigung gebotene Hand nicht
zurückweiſen. Der eigene Verſtand ſollte Euch doch
ſagen müſſen, daß man mit dem Kopf nicht durch die
Wand rennen kann. Mögt Ihr nun wollen oder nicht,
ſo müßt Ihr Euch den unabwendbaren Tatſachen 8
fügen lernen.“
„Wollen's abwarten,“ entgegnete der Rancher db
weiſend. „Alle fünf oder ſechs Jahre blaſen die Chinoof-
winde. Im nächſten Frühjahr ſind ſie ungefähr wieder
fällig. Haben fie geblaſen, wollen wir weiter mit' nander
ſprechen.“
Dann wurden ſeine Mienen wieder jovial, und er
wendete ſich an die peinlich berührt ſtehenden Kom-
miſſionsmitglieder.
„Nichts für ungut, ihr Herren. Vor allen Dingen
werden Sie hungrig und durſtig ſein — und was euch
auch ſonſt zu mir geführt haben mag, darum iſt
mein Tiſch doch für euch gedeckt. Wenn's alſo ge⸗
fällig iſt?“ | >
128 Eigenland. 2
— mn nn
Einladend wies er mit der Hand nach dem Haus
und ſchritt als erſter dorthin voran.
Umſonſt hatte Gordon ſich bisher nach Emily um-
geſchaut. All die langen Wochen über hatte er faſt
täglich einen Ausflugsritt nach der Ranch geplant ge-
habt, doch die Fülle der von ihm zu bewältigenden
Berufs arbeiten hatte ihn nicht dazu kommen laſſen.
Nun war er doppelt ungeduldig, das liebliche Mädchen,
das auf ihn bei ihrer erſten Begegnung einen ſo tiefen
Eindruck gemacht gehabt, wiederſehen zu dürfen. Da
er ſich des rückwärtigen Eingangs durch die Küche er-
innerte, ſo ſchloß er ſich den die vordere Veranda
Paſſierenden nicht an, ſondern umſchritt das Haus.
Wie die in reger Tätigkeit am Herd Beſchäftigte
ihn unvermutet im Rahmen der rückwärtigen Küchen-
tür auftauchen ſah, erglühte fie dunkel. Einen Augen-
blick ſäumte fie in hilfloſer Verlegenheit. Dann wiſchte
ſie hurtig die Hand an der Schürze ab und trat mit
ſchnell wiedergewonnener Faſſung und einem freund-
lichen Lächeln um die Lippen auf ihn zu.
„Willkommen bei uns,“ ſagte ſie einfach.
Sie kam nicht dazu, mehr zu äußern. Kaum daß
ſie ihm die Hand eine Sekunde überlaſſen konnte. Ihr
Vater hatte die Verbindungstür zum Wohnzimmer halb
geöffnet und nickte ihr nun auffordernd zu.
„Spute dich, Em'ly, die Herren ſind hungrig. Ich
will inzwiſchen Zider aus dem Keller holen und dann
den Tiſch decken.“
„Kann das nicht Bill beſorgen — oder iſt er mit
Joe nicht nach Hauſe gekommen?“ fragte das Mädchen
zurück.
„Nein, er hat noch oben in den Bergen zu tun
und kommt ſchwerlich vor Abend heim. In fünfzehn
Meilen Entfernung fanden wir die erſte Waſſerlache.
D Novelle von Otto Hoeder. 129
— Wollt Ihr nicht eintreten, Herr?“ wendete er
ſich fragend an den Ingenieur.
„Ich wollte Miß Emily raſch guten Tag ſagen,“
erklärte Gordon. „Aber darf ich Euch behilflich ſein?
Aufs Abzapfen verſteh' ich mich, denn mein alter Herr
wußte einen guten Tropfen zu ſchätzen, ſo mäßig es
auch bei uns zuging — und Tiſch decken kann ich nicht
minder.“
„Werd' ſchon allein fertig, Herr,“ beſchied ihn ab-
lehnend der Rancher. „Vielleicht aber kann Euch Em'ly
brauchen. Laßt Euch von ihr eine Schürze umbinden.“
Er lachte kurz auf. „Ich decke nur für ſechs, die fünf
Beſucher und mich. Joe kann hier draußen eſſen, man
iſt ohnehin vor ſeinem Schwatzmaul nie ſicher,“ ſagte
er noch beim Verlaſſen der Küche.
„Darf ich Ihnen wirklich helfen?“ erkundigte ſich
Gordon, kaum daß die Schritte des Alten verhallt waren.
„Ob ich's auch kann? — Oho, Fräulein Emily, unter-
ſchätzen Sie meine Künſte nicht. Als Student war ich
meiner Beefſteaks wegen berühmt — Sie wiſſen ja,
erſt muß die Butter braun werden, dann mit ihr immer
übergießen und 'ne Handvoll Zwiebeln in die Pfanne,
wenn man die Fleiſchſchnitte umdreht, dann werden ſie
ſchön ſaftig und goldbraun.“
Nun mußte ſie doch lachen, ſie war gerade dabei,
gevierteilte Hühner am Spieße zu braten, und duldete
es gern, daß Harland ſie ablöſte.
„Wahrhaftig, Sie ſtellen ſich ganz geſchickt an!“
erkannte ſie an, nun eifrig mit Salatanmachen beſchäftigt.
„Die Herren müſſen heute ſchon fürlieb nehmen, da
ſie unangemeldet gekommen ſind.“
„Die Kommiſſion wurde aufgehalten,“ erläuterte
der Ingenieur, der mit wirklicher Sachkenntnis den
Bratſpieß über den lohenden Holzſcheiten drehte. „Ich
1918. XII. 9
150 Eigenland. e
ſelbſt wäre ſchon ein dutzendmal gerne heraufgekommen.
Aber Sie glauben gar nicht, was unſereiner alles zu
tun hat — übrigens, mach' ich's auch recht?“ unterbrach
er ſich, „die Dinger fangen an, etwas ſehr dunkel zu
werden!“
Sie ſtieß einen leichten Schrei aus, denn ſie kam
gerade noch zur rechten Zeit, um die Hühner vor dem
Verbrennen zu bewahren.
Natürlich wollte es Emily nicht zugeben, daß Gordon
ihr auch beim Auftragen der Speiſen half, aber er hatte
ſchon die Schüſſel mit den Hühnern darauf ergriffen
und trug fie lachend ins Eßzimmer zu den dort harren-
den Kommiſſionsmitgliedern, die ihn mit lautem Hallo
empfingen.
Die Mahlzeit verging unter angeregtem Geplauder.
Der ſtarke Zider übte eine belebende Wirkung aus. Bald
merkte man es auch dem alten Rancher, der zuſehends
auftaute, nicht mehr an, daß in ihm das niederdrückende
Bewußtſein lebte, wie die um ſeinen gaſtlich gedeckten
Tiſch verſammelten Männer das Verdammungsurteil
über ſein Lebenswerk zu ſprechen berufen waren. Er
plauderte von dem und jenem und gab auf die ein-
geſtreuten Fragen ſeiner Gäſte willig Beſcheid.
Der Obmann probte bei jedem neuen Glaſe den
ihm vorgeſetzten Zider, roch daran, ſchmeckte und ſchüttelte
mit wachſendem Mißtrauen den Kopf. „Das Weinchen
hat's in ſich,“ meinte er anerkennend. „Wüßte ich nicht,
daß Ihr uns Apfelwein vorgeſetzt habt, ſo würde ich
von den erhitzten Köpfen meiner Kollegen ſchließen,
daß wir den ſtärkſten Rheinwein tränken.“
Tom Dugan lachte und nötigte wieder zum Aus-
trinken. „Well, Herr,“ ſagte er nedend, „vergeßt fein
den eigenen Kopf nicht, denn der glüht auch wie ſanftes
Abendrot.“
2 Novelle von Otto Hoeder. 131
Nun lachte natürlich die Tafelrunde beluſtigt auf
Koſten des Obmanns.
Der Rancher aber ſchwenkte den Reſt in ſeinem
Glaſe. „Es iſt wirklich ein trinkbarer Tropfen,“ fuhr
er bedächtig fort, „jetzt bald dreijährig und durchs Lagern
edel geworden — übrigens Euer Vergleich mit Rhein-
wein hinkt nicht, nur daß der Zider hier wohl noch
ſtärker iſt. Sonſt miſch' ich ihn mit Waſſer, aber das
iſt unerſchwinglich geworden, ihr Herren wißt ja,
warum,“ ſchloß er, in ſeinen gewohnten Ernſt zurück-
fallend.
Aber feine Beſucher waren in viel zu angeregte
Stimmung geraten, als daß ſie auf ſeine zunehmende
Schweigſamkeit geachtet hätten. Die Ausgelaſſenheit
wuchs noch, als Gordon von dem ſelbſtgezogenen Rauch-
tabake zu ſprechen begann und in den Kommiſſions-
mitgliedern den Wunſch nach einem Verſuche rege
machte.
Dann freilich, als man die kurzen Pfeifen in Brand
geſetzt hatte, prägte ſich in den verſchiedenen Mienen
ſchmerzliches Erſtaunen aus und einer nach dem anderen
ließ die Pfeife wieder ausgehen. Man holte ſchleunigſt
Zigarren zum Erſatz hervor. Auch Tom Dugan, der
nicht länger auf das Treiben ſeiner Gäſte achtete, zündete
ſich rein mechaniſch die ihm gebotene Regalia an. Aber
nur, um ſie nach wenigen Zügen mit einem leichten
Erſchauern zur Seite zu legen und ſich die Pfeife mit
ſeinem ſelbſtgezogenen Tabak zu füllen.
„Hoffentlich ſeid ihr Herren beſſer als euer nichts
nutziges Kraut,“ meinte er, ohne Notiz von der Ver-
blüffung, die ſeine Worte bei den Gäſten hervorrief,
zu nehmen. „Das iſt der echte Stoff!“ — ſtolz ſchlug
er auf den Steintopf, deſſen Inhalt Gordon Harland
ſchon bei feinem erſten Beſuche unüberwindliche Ab—
-
152 Eigenland. Oo
neigung eingeflößt hatte — „und zum Abſchiedstrunk
ſollt ihr ein Glas von meinem ſelbſtgebrauten Vier
vorgeſetzt bekommen — mehr nicht, denn der Vorrat
iſt bald erſchöpft und zum Brauen fehlt's an Waſſer.“
Nach Tiſche willigte der Rancher ein, die Kommiſſion
auf ihrem Rundritte durch ſein Gebiet zu begleiten.
Von dieſem Umritt ſchloß ſich Gordon Harland aus;
ihn reizte es mehr, inzwiſchen Emily Geſellſchaft zu
leiſten. Das mußte freilich in der Küche geſchehen, wo
ſie wieder eifrig tätig war.
Als Gordon fie Anſtalten zum Geſchirrwaſchen tref-
fen ſah, wollte er ihr auch dieſe Arbeit durchaus ab-
nehmen. Aber davon wollte ſie nichts wiſſen; nicht
einmal beim Abtrocknen ſollte er ihr helfen dürfen.
„Aber wir Jungen mußten im Elternhauſe feſt mit
anfaſſen,“ erklärte er. „Vater ging uns ſelbſt mit gutem
Beiſpiel voran und meinte, wir könnten uns nicht früh
genug auf unſere Pflichten als zukünftige Ehemänner
vorbereiten. Wir trugen Kohlen, putzten Fenſter, klopf—
ten die Teppiche, weil das keine Arbeiten für eine auf
Selbſtachtung haltende Lady ſeien, wie unſer Dienſt—
mädchen ſo ſchön zu ſagen pflegte.“
„Hier oben bei uns muß man umlernen,“ verſuchte
Emily auf ſeinen ſcherzenden Ton einzugehen. „Man
darf das Waſſer nur tropfenweiſe verbrauchen. Seit-
dem unſer Ziehbrunnen täglich nur noch drei Eimer
voll hergibt, wird das Geſchirrſpülen zur halben Wiſſen⸗
ſchaft.“
Das ſollte luſtig klingen, aber es zitterte viel geheime
Wehmut durch ihre Worte.
Mitleidig ſah Harland fie an, wie fie nun mit auf-
geſchürzten Armeln an der Spülbank ſtand und flink
den vor ihr hochgehäuften Berg von Schüſſeln und
Tellern zu reinigen begann. Manches liebe Wort, mit
o Novelle von Otto Hoecker. 133
dem er fie gerne getröftet hätte, ſchwebte ihm auf der
Zunge; aber er unterdrückte es. Sie hatte fo viel eigenen
Sonnenſchein im Herzen und war ſo kerngeſund in
ihren Anſichten und Meinungen, daß ſie keines fremden
Troſtes bedurfte.
„Well, es geht alles vorüber und an geſegneten
Gegenden mit Waſſerüberfluß iſt hier im Weſten kein
Mangel,“ äußerte er leichthin. „Ihr Vater wird ſchon
mit ſich reden laſſen. Schließlich iſt er doch ein einfichts-
voller Mann, der begreifen muß, daß man auf die
Dauer gegen die Übermacht nicht ankämpfen kann.“
Er glaubte ſelbſt nicht an das, was er ſagte, und
ihr Seufzer bewies ihm, daß fie darin mit ihm über-
einſtimmte. Geſchickt änderte er darum das verfäng—
liche Geſpräch und kam auf die ungeheuerliche Hitze
und die ſchweren Gewitter zu fprechen, die er wäh-
rend feiner kurzen Anweſenheit ſchon hatte mitmachen
müſſen.
„Wir New Yorker glauben, Hitze und Unwetter ganz
für uns allein gepachtet zu haben; kommt man aber
hierher nach dem Weſten, ſo ändert man ſeine Anſicht,“
meinte er, trotz ihrer Einwendungen eifrig dabei, Ge—
ſchirr und Beſtecke abzutrocknen. „Das ſchickt ſich nicht
für mich, meinen Sie? — Well, ich tu’s gern — am
liebſten möcht' ich's immer für Sie tun, Miß Emily,“
platzte er heraus und errötete dann womöglich noch
mehr als fie. „Wirklich,“ ſuchte er unſicher ein-
zulenken, „es iſt eine Abwechſlung nach dem ewigen
Einerlei. Man bekommt ja in der Lavawüſte keinen
vernünftigen Menſchen zu ſehen. — So, da wären wir
ſchon fertig,“ unterbrach er ſich fröhlich, als die Schüſſeln
und Teller, Gläſer und Beſtecke wieder auf den ver-
ſchiedenen Simſen, Wandbrettern und in den Schränken
untergebracht worden waren. „Womit beginnen wir
134 Eigenland. 2
nun? Etwa Kaffeekochen? Das verſteh' ich nämlich
ebenfalls vortrefflich.“
„Tut mir leid, aber zum Kaffeekochen braucht man
Waſſer.“ Sie lachte. „Sie glauben gar nicht, wie wir
uns damit einſchränken müſſen! Ich ſchäme mich, wie
die Fenſter ausſehen. Aber was ſoll man machen?
Bei dieſer ſchrecklichen Trockenheit gehen die Regen-
fäſſer aus den Fugen. — Sind Sie müde und wollen
Sie ruhen?“ fragte ſie unvermittelt.
„Erwarten Sie von mir dieſelbe Frage?“ erkundigte
er ſich lachend. „Ich bin friſch und munter.“
„Dann begleiten Sie mich vielleicht auf einem
kurzen Ritt? Darin beſteht nämlich mein tägliches Ver
gnügen. Nach dem Abwaſchen hab' ich zwei Stunden
für mich — Vater dürfte mit den Herren ſchwerlich
früher zurück ſein. Ich vermute, daß die Kommiſſion
gleichzeitig auch die Kanalläufe oben in den Bergen
zu beſichtigen wünſcht?“
„Erraten!“ ſtimmte Gordon bei. „Hoffentlich pro-
fitiert Ihr Vater von dieſem Anſchauungsunterricht.“
Als ſie nur wehmütig den Kopf ſchüttelte, ſetzte er eifrig
hinzu: „Nichts für ungut, aber ich verſtehe die Hart—
näckigkeit Ihres Vaters wirklich nicht. Zugegeben, dieſer
Fleck Erde hier mag ihm durch Erinnerung und An-
gewöhnung teuer geworden ſein. Aber man wird ihm
doch eine bedeutende Summe als Entſchädigung bieten,
mehr als genügend, um ſich damit in ungleich wert-
vollerer Bodenlage damit ankaufen zu können. Er
müßte doch auch an die Zukunft ſeiner Kinder denken
— nehmen Sie mir's nicht übel, Fräulein Emily, aber
ich werde die Vorſtellung nicht los, als nützte Sie Ihr
Vater aus.“
„Nein — o nein!“ verwahrte ſie ſich ganz entſetzt.
„Wir haben unſeren Vater lieb, könnten uns ohne ihn
2 Novelle von Otto Hoecker. 135
gar nicht das Leben denken. Es war ſchon hart genug
für uns, als wir die Mutter hergeben mußten. Nun
ſind wir ihm doppelt notwendig!“
Sie hatten inzwiſchen das Haus verlaſſen.
Der alte Joe ſattelte auf Emilys Wunſch bereitwillig
die beiden Pferde, und als ſeine Begleitung dankend
zurückgewieſen worden war, ſchmunzelte er gar viel-
ſagend hinter ihnen her, als fie nun im Zuckeltrab neben-
einander das Tal hinaufſteuerten.
„Mag fein, wir Dugans hängen deshalb fo anein-
ander, weil wir nie in Verkehr mit anderen Menſchen
traten, ſondern immer allein auf uns angewieſen
waren,“ nahm das Mädchen den Geſprächsfaden unter-
wegs wieder auf. „Daraus entſtand mehr als bloße
Familiengemeinſchaft. Wir ſind einander im Laufe
der Zeit unentbehrlich geworden. Nun gar der Vater,
der überhaupt nur auf der Herzensſeite geht.“
Harland ſchaute ſie zweifelnd an.
„Ja, das tut er,“ beteuerte ſie. „Seine Rauheit
iſt nur äußerlich. Freilich, er gerät leicht in Zorn, aber
ich meine, das iſt bei gutherzigen Menſchen zumeiſt
der Fall. Mutters Heimgang hat ihn getroffen wie
der Blitz die knorrige Eiche. Ihr Tod hinterließ in
ſeinem Herzen eine klaffende Wunde, die ſich nimmer
ſchließen kann. Dann kamen die Sorgen dazu.“
Ihre Stimme hatte immer unſicherer geklungen,
nun ſchwieg ſie eine ganze Weile.
„Nein, wir bringen unſerem Vater kein Opfer,“
fuhr ſie dann leiſe und in erſichtlicher Befangenheit
wieder fort, „es beglückt uns, um ihn ſein und ihm
ſein hartes Los erleichtern zu dürfen. Aber wir können
ja ſo wenig tun. Zu unſerem Untergang ſcheint ſich
alles verſchworen zu haben — aber nein, das ſollen
Sie nicht ſo tragiſch auffaſſen, es entfuhr mir nur ſo,“
136 Eigenland. 1
rief ſie und wie abbittend ſtreckte ſie die Hand nach
ihm aus. — „Ich will Ihnen jetzt mein Lieblings-
plätzchen zeigen. Es kennen's nicht viele, wir müſſen
auch ein gut Teil klettern. Aber daran ſind Sie bei
den New Vorker Wolkenkratzern ja ſicherlich gewöhnt,“
ſchloß ſie ſcherzend.
| Gern ging er auf ihren Ton ein. „Mit der größten
Leichtigkeit und fabelhaft ſchnell erklimme ich die höchſten
Gebäude — natürlich im Fahrſtuhl. Ich befürchte nur,
daß ein ſolcher ſchwerlich zu Ihrem Lieblingsplätzchen
hinaufführen dürfte.“
„Um ſo lohnender iſt die Ausſicht, die ich Ihnen
oben verſprechen kann, zumal wir heute klare Luft
haben.“
Schweigend trabten fie eine Weile den Weg ent-
lang. Dann hielt Emily mit kurzem Zügelrude ihr
Pferd an.
„Am beſten ſteigen wir hier ab,“ meinte ſie, indem
ſie zugleich auf eine Art Gemſenpfad deutete, der an
der ſteilen Felswand in vielgewundenem Zickzackwege
bis zum Gipfel hochführte.
Gordon war ihrem Beiſpiele gefolgt. Nun ſchaute
er mit dem Ausdrucke komiſcher Verzweiflung in den
Mienen zu dem in ſchwindelnder Höhe über ihnen ſich
türmenden Felsgipfel hinauf.
„Da hinauf ſollen wir klettern?“ rief er und rang
die Hände. „Wenn der Himmel wenigſtens Einſicht
haben und uns ein Luftſchiff beſorgen wollte, wenn
ſchon kein Lift vorhanden iſt!“
„Es geht auch ſo, man muß nur ein wenig Aus-
dauer und vor allem den guten Willen dazu haben,“
antwortete fie in gleich ſcherzhaftem Tone.
„Sollte ſich Ihr Vater eigentlich ins Stammbuch
ſchreiben,“ konnte ſich Harland zu bemerken nicht ent-
Novelle von Otto Hoeder. 137
halten, ſetzte aber raſch einlenkend hinzu, als er ihren
heiteren Geſichtsausdruck ſich verdüſtern ſah, „das fuhr
auch mir nur ſo heraus. — Aber im Ernſt geſprochen,
Miß Emily, ich gebe wirklich die Hoffnung nicht auf,
daß ſich zu guter Letzt alle Mißklänge noch in Wohl-
gefallen auflöſen werden.“
„Nein, nein — nicht bei uns!“
Das klang herb, und ihr Mienenſpiel war noch ernſter
geworden. Doch nur wenige Sekunden hielt ihre Nieder-
geſchlagenheit an, dann ſiegte wieder ihre natürliche
Heiterkeit.
„Laſſen wir all die Alltagsſorgen hinter uns — ich
habe Ihnen verſprochen, Sie zu meinem Lieblings-
plätzchen zu führen. Alſo vorwärts.“
„Bereits hatte ſie um einen vor Jahren vom Blitz
zerſchmetterten Baumſtamm den Pferdezügel gewun-
den, und Gordon Harland folgte ihrem Beiſpiele.
Unter Lachen und Scherzen ging es nunmehr den
Gemſenpfad hinauf, ſie ihrem Begleiter immer um ein
halb Dutzend Schritte voraus.
Leichtfüßig und dabei ſo ſicher ſich bewegend, als
ſchritte fie über einen glattgebohnten Stubenboden da-
hin, ſchwang ſich Emily von einem Halt zum nädhit-
höheren. Harland dagegen fiel das Klettern trotz ſeiner
turneriſchen Gewandtheit recht ſchwer. Zuweilen mußte
er ſich krampfhaft an vorſpringenden Felsecken feſthalten,
um nicht ins Rutſchen zu kommen. Dabei rieſelte ihm
der Schweiß reichlich von der Stirn und blendete ihm
zuweilen ſogar den Blick.
Alle dieſe kleinen Widerwärtigkeiten vermochten aber
nicht in ihm das Hochgefühl zu erſticken, das die Gegen-
wart des lieben Mädchens in ihm ausgelöſt hatte. Nicht
müde wurde er, ihre graziöſen Bewegungen zu be-
wundern. Antilopenartig überwand ſie die ſteilſten
138 Eigenland. ao
—— — nn
Stellen, die er nur mit geſchloſſenen Augen zu nehmen
wagte, um nicht einem tückiſchen Schwindelanfall zu
erliegen und von dem zuweilen kaum fußbreiten Pfade
in die Tiefe abzuſtürzen.
Während Gordon noch mit dem letzten Wegviertel
zu kämpfen hatte und immer häufiger ſich ruhen und
verſchnaufen mußte, erreichte ihn vom Gipfel her ſchon
ihr froher, jauchzender Zuruf.
„Da wären wir oben! Oh, die Ausſicht iſt prächtig,
noch viel ſchöner und klarer, als ich gedacht hatte,“ ver-
ſicherte ſie. „Kommen Sie nur ſchnell, Mr. Harland!
Schade um jede Minute, die wir uns hier oben ver-
kürzen müſſen!“
Als Gordon kurz darauf den ſchmalen Felsgrat, der
ihnen kaum ausreichend Platz zum Nebeneinanderſtehen
darbot, gleichfalls erreicht hatte, mußte er ſich not-
gedrungen erſt den Schweiß aus den Augen wiſchen
und herzhaft Atem ſchöpfen, ehe er an eine Bewunde-
rung des zu ihren Füßen ſich ausbreitenden großartigen
Landſchaftsbildes gelangen konnte.
Dann freilich entrang auch ihm ſich ein Ausruf des
Entzückens.
Eine ganze Welt ſchien ſich vor ihnen zu entrollen.
Wohin ihr Blick auch ſchweifen mochte, ſchien er ins
Unermeßliche zu reichen.
Sonnenglanz ringsum. Kein Wölkchen trübte die
wunderbare Himmelsbläue. Heilige, unentweihte Stille,
der etwas Unirdiſches anhaftete. Von dieſer luftigen
Höhe aus geſehen, wohnte der einförmigen Talwüſte, die
ſich in ihrer ganzen Ausdehnung den Blicken der beiden
darbot, etwas poetiſch Verklärtes inne. Ein ſanfter
Wind ſtrich über die graugrün ſchimmernde Ebene und
verwandelte ſie in eine mäßig bewegte See, deren breite
Wogen ſich in der Unendlichkeit zu verlieren ſchienen.
Novelle von Otto Hoeder. 139
Emily hatte für ihren Begleiter einen Feldſtecher
mitgebracht. Sie ſelbſt bedurfte keiner künſtlichen Nach-
hilfe. Wie ſie zu ihren Worten erläuternd bald dahin,
bald dorthin deutete, erſchaute fie mit bloßem Blicke
Dinge, die ihr Begleiter ſelbſt durch das ſcharfe Fern
glas nur nach eifrigem Suchen zu entdecken vermochte.
„Sehen Sie ganz in der Ferne das dünne Rauch-
wölkchen — kerzengerade ſteigt es zum Himmel empor?
Well, dort wohnt ein guter Freund meines Bruders
— er hat ſich erſt vor wenigen Wochen verheiratet.
Ich hatte mir ſchon immer einmal vorgenommen, ſeine
junge Frau zu beſuchen. Aber wie das nun einmal ſo
geht, vor lauter guten Vorſätzen kommt man nicht zur
Ausführung,“ ſchloß ſie unter ſchelmiſchem Auflachen.
„Sie ſollten ſich wirklich Zeit zur Erholung laſſen.
Aber dafür find Sie eben ein viel zu gutes Hausmütter-
chen, Miß Emily,“ ſagte Gordon mit einem bewun-
dernden Blicke auf ſie. „Ich habe tagtäglich an Sie
und Ihr trautes, geſchäftiges Walten denken müſſen —
wahrhaftig, das habe ich getan. Jammerſchade iſt es,
daß Sie Ihr junges Leben in dieſer Einſamkeit ver-
bringen und all den Freuden und Genüſſen, die die
Welt auch Ihnen zu bieten hat, entſagen müſſen!“
Ganz erſtaunt ſah ſie ihn an. „Und das ſagen Sie
mir hier an dieſer Stelle?“ gab fie mit leichtem Kopf-
ſchütteln zurück. „Kann es ein ſchöneres Leben geben,
als wir es bisher in unſerem ſtillen, friedlichen Tale
führen durften? Kann die laute Welt draußen reinere
Genüſſe bieten, als etwa hier dieſe Ausſicht? Man
fühlt ſich hier dem Himmel ſo unmittelbar nahe und
verwandt — ich will nicht ſagen, daß man ſich darum
beſſer als andere Menſchen dünkt, die im Staub des
Alltags dahinleben müſſen, aber man kommt ſich wie
auserwählt vor. — Da, ſchauen Sie dorthin,“ unter-
140 Eigenland. a
brach fie ſich plötzlich und deutete mit der weitaus-
geſtreckten Rechten nach der entgegengeſetzten Richtung,
wo ſich ſchwarze Rieſenflecke mißtönig von dem farben-
frohen Gepränge des ſonnenheiteren Landſchaftsbildes
abhoben. „Das dort iſt der Alltag, wie Ihre Welt
ihn uns zu leben zwingt — und den haben Sie uns
in unſere friedvolle Abgeſchiedenheit gebracht!“
Harland antwortete nicht gleich. Durch das Fern-
glas ſchaute er nach der ihm bezeichneten Richtung.
Tief in die Bergfelſen eingebettet, lagen dort die ſich
bis zum Tal hinabziehenden flachen Wohn- und Schlaf-
ſchuppen der Minenarbeiter. Bei ſchärferem Zuſchauen
vermochte er ſogar feine eigene unweit des Schlucht-
ausganges auf vorgeſchobenem niedrigen Felshügel ſich
erhebende Hütte zu erkennen. In den Fenſterſcheiben
blitzte der Sonnenſchein, und dieſes Funkeln erinnerte
Gordon — warum eigentlich, darüber wußte er ſich
ſelbſt keine Rechenſchaft zu geben — an das ernit-
mahnende Licht eines rings von brüllender Flut um-
tobten Leuchtturms.
„Die ganze Schlucht ſieht beinahe wie ein aus—
getrocknetes Strombett aus,“ bemerkte er zu ſeiner
Begleiterin. „Mit einiger Phantaſie kann man ſie ſich
mit ſchäumenden Wogen gefüllt vorſtellen.“
„Dazu bedarf es keiner ſonderlichen Einbildungs-
kraft, denn ich ſelbſt habe ſchon den zur verheerenden
Hochflut angewachſenen Fluß ſeine gewaltigen Waſſer-
maſſen durch die Schlucht wälzen ſehen,“ gab Emily
zurück. „Zum Glück macht der Fluß nur ſelten von
ſeinem Vorrecht, ſich derart ungebührlich zu benehmen,
Gebrauch.“
Nebeneinander hatten ſie auf einem Felsvorſprung
Platz genommen, und während Gordon nicht müde
wurde, das wunderbare Landſchaftsbild tief unter feinen
u Novelle von Otto Hoecker. 141
—
Füßen immer von neuem wieder anzuſtaunen, kam er
ins Erzählen, berichtete von feiner eigenen, in der Groß-
ſtadt verbrachten Jugend, deren ſeltenen Lichtpunkten,
und ſchilderte ſchließlich den nachhaltig tiefen Eindruck,
den die ihn nunmehr umgebende großartige Gebirgs-
welt auf ihn ausübte.
Auch Emily erzählte in ſchlichter Weiſe von ihrem
Daſein. Darüber verging der Nachmittag, ohne daß
ſie es gemerkt hätten. Sie kamen aus dem Hundertſten
ins Tauſendſte, fühlten ſich einander ſo vertraut, als
ob ſie nicht erſt zum zweiten Male nebeneinanderſäßen,
und plauderten, bis Emily plötzlich mit einem kurzen
Ausruf der Beſtürzung aufſprang und ins Tal, wo ihre
Pferde weideten, hinunterdeutete.
„Dort kommt Vater mit den Kommiſſionsherren
ſchon zurück. Wir müſſen uns ſputen, wenn wir ſie
noch unterwegs einholen wollen.“
Mit einem halben Seufzer erhob ſich Gordon.
„Na, Miß Emily, das wird 'n nettes Abſtiegver—
gnügen geben. Sollte ich Hals über Kopf an Ihnen
vorübergeflogen kommen, fo wünſchen Sie mir glüd-
liche Reiſe,“ ſcherzte er nicht ganz aufrichtig.
Sie lachte nur zu ſeinen Bedenken, die ſich zu ſeiner
großen Erleichterung auch wirklich unbegründet er—
wieſen, da der Abſtieg ungleich leichter als zuvor der
Aufſtieg von ſtatten ging.
* *
K*
„Macht was ihr wollt, ihr Herren,“ erklärte der
Rancher bei der Verabſchiedung, „aber wenn ihr auch
alles Geld in der Welt für mich hinterlegen wolltet,
ſo würdet ihr meinen Entſchluß dadurch doch nicht be—
einfluſſen können. Ich hab's ſchwarz auf weiß bewieſen,
daß ich von der Regierung mein Land auf ewige Zeiten,
142 Eigenland. 2
wie es in den Schriftſätzen ausdrücklich angegeben ſteht,
gekauft habe, und zwar ſchon vor dreißig Jahren, als
die Mehrzahl von euch Herren noch die Schulbank
drückte — und ihr bildet euch wohl ſelbſt nicht ein, daß
ihr durch einen Machtſpruch mein beſiegeltes Recht
ungültig machen könnt. Zum letzten Male alſo, ihr
Herren: mein Ranch iſt mir nicht feil. Mag ſein, daß
ich euch nicht daran hindern kann, mich zum Bettler
zu machen, mein Vieh zugrunde zu richten, mir den
letzten Tropfen Waſſer zu rauben. Aber es gibt keine
Macht in der Welt, die mich von meinem Grund und
Boden vertreiben kann. Damit Gott befohlen, ihr
Herren!“
Auf Gordon Harlands Bitten hatte Emily ein-
gewilligt, ihnen bis zur Wegſcheide, wo der Gerpen-
tinenpfad ſich hochzog, das Geleit zu geben.
Natürlich wußte er es einzurichten, daß er mit ſeiner
Begleiterin bald hinter den eifrig miteinander debattie-
renden Kommiſſionsmitgliedern zurückblieb. Er hatte
die Empfindung, als müßte er, bevor er wieder im
Werkeltagsſtaube untertauchte, mit jeder Minute, die
er noch in Emilys Geſellſchaft zubringen durfte, geizen.
So viele ſchöne und begehrenswerte Mädchen er auch
im Oſten kennen gelernt, keines davon hatte ſein Herz
in ſolch ſtürmiſche Schwingungen zu verſetzen vermocht
als das liebe, ſchlichte Naturkind mit feinem kamerad-
ſchaftlich vertrauten, von jeglicher berechneten Koketterie
meilenweit entfernten herzlichen Weſen.
„Darf ich bald einmal wiederkommen?“ fragte er,
als vor ihnen zur Rechten die ſich zur Berghöhe hoch-
ziehende ftaubige Wegſpur auftauchte.
Sie lächelte befangen. „Was könnte Sie in unſere
Einſamkeit ziehen,“ fagte fie mit abgewendetem Geſicht.
„Die Ausſicht oben an Ihrem Lieblingsplätzchen
2 Novelle von Otto Hoeder. 143
hat mir's angetan, Miß Emily,“ raunte er ihr ins Ohr,
um das ſich wirr die braunen Löckchen kräuſelten, und
er bedurfte ſeiner geſamten Willenskraft, um ſie nicht
darauf zu küſſen. „Werden Sie mir geſtatten, demnächſt
wieder die Ausſicht zu bewundern?“
„Dazu bedarf es doch keiner Erlaubnis,“ entgegnete
ſie und wurde unvernünftig rot dabei.
„Ja, es iſt nur — hm, ja“ — er räuſperte ſich ver-
legen — „wegen meiner Kurzſichtigkeit. Ich komme
ohne ein Fernglas nicht zurecht — und ich höre Sie
jo gerne die Gegend erklären. Da kann man ſich fo
vorzüglich orientieren. Hm ja, Miß Em' ly — was ich
ſagen wollte! Könnten Sie's nicht ſo einrichten, daß
wir vielleicht nächſte Woche — oder übermorgen —
hm, am beſten paßte es mir eigentlich ſchon morgen,“
verbeſſerte er ſich haſtig, „ein Stündchen abkommen
könnten? Es war doch zu reizend heute nachmit-
tag!“
Als er ihr tiefes Erröten gewahrte, wurde er ſelbſt
bis unter die Haarwurzeln rot und ſchwieg hilflos, ſo
redegewandt er all den glänzenden Damen ſeiner Be-
kanntſchaft gegenüber ſich immer erwieſen hatte.
„Hallo, kommen Sie mit oder nicht?“ hörte er ſich
anrufen. |
Es war der Obmann, der mit feinen Begleitern
ſchon in den Bergpfad eingebogen war und nun auch
Emily einen letzten Abſchiedsgruß zurief.
„Ich muß umkehren,“ ſtammelte das Mädchen und
wollte ihm verwirrt die Hand entziehen.
Aber er hielt ſie feſt. „Sie haben mir noch keine
Antwort gegeben, Miß Emily,“ drang er in fie. „Wer-
den wir uns morgen treffen?“
„Aber — warum denn ſchon fo bald wieder?“ ent-
fuhr es ihr zaghaft.
144 Eigenland. a
Als fie dann feinem bittenden Blicke begegnete,
erglühte fie wieder.
„Vielleicht!“ hauchte fie, warf ihr Maultier herum
und galoppierte nach der Ranch zurück, ohne ſich auch
nur ein einziges Mal umzuſchauen. —
Als Emily in den Hofraum zwiſchen Wohnhaus und
Stallgebäuden geſprengt kam, ſah fie ihren Vater ge-
dankenverloren auf den Stufen der Vorderveranda
ſitzen.
Tom Dugan hörte das Geräuſch der Hufſchläge nicht,
und ebenſowenig achtete er auf ſeine Tochter, als dieſe
mit dem Pferd am Zügel nach dem Hausſtall ſchritt.
Erſt als Emily über den Hof zurückkehrte, vor ihm
ſtehen blieb und ihm die Hand auf die Schulter legte,
fuhr er aus tiefem Sinnen auf und ſtarrte ſie verſtört an.
Eine ganze Weile dauerte es, bis er ſich darauf
beſinnen konnte, wer eigentlich vor ihm ſtand. ö
„Ich hab' gedacht, es wär' deine Mutter — Kind,“
ſagte er dann mit ſeltſam zitterig klingender Stimme.
„Es iſt ſchier unheimlich, wie ähnlich du ihr ſiehſt!“
Sie ſetzte ſich neben ihn, nahm feine zögernd wider-
ſtrebende Hand und drückte ſie innig. „Ach, Vater, ich
wollte wohl, ich hätte etwas von Mutters gutem Ein-
fluß auf dich geerbt. Ich möcht' dir ja ſo gerne zur
Seite ſtehen, Vater, wenn ich nur ein Wort zu erdenken
wüßte, überzeugend genug, um dich zu einer Sinnes-
änderung bewegen zu können.“
Er ſchaute ſie von der Seite an, und mit kurzem
Ruck entzog er ihr dann die Hand und rückte etwas
von ihr ab. „Bläſt auch du ins gleiche Horn?“ fragte
er fie barſch. „Fſt's nicht ſchon ſchlimm genug, wenn
die Welt Unfrieden zu mir hereinbringt, muß mein
eigen Fleiſch und Blut ſich wider mich empören?“
Das Mädchen ließ ſich durch feine bitteren Bemer—
2 Novelle von Otto Boecker. 145
kungen nicht abſchrecken. „Du kennſt die Welt beſſer
als ich, Vater,“ ſuchte ſie ihn zu beſänftigen, „aber an
deinen Kindern brauchſt du niemals irre werden.“
„Ach, ſchweig mir von eurer Kindesliebe!“ brauſte
er ungehalten auf, als ſie mit tränenſchimmernden
Augen zu ihm aufſchaute und er aus ihren Blicken einen
unausgeſprochenen Vorwurf zu leſen glaubte. „Kinder
hat man nur fo lange, als man ihnen Wohltaten er-
weiſen kann. Sind ſie noch klein, muß man ſie mit
Süßigkeiten kirren, fühlen ſie ſich groß, ihnen demütig
zu Willen ſein — oder man verliert ſeine Kinder.
Meinſt du, ich könnt' in deiner Seele nicht leſen? Hoho,
der Tag wird kommen, wo du leichtherzig in deines
Mannes Welt gehen wirſt.“
Sie wurde rot und blaß, fuhr mit der Hand nach
dem Herzen, wollte reden und ſchwieg doch wie ſchuld—
bewußt wieder.
„Es könnt' doch alles ſo ganz anders ſein, Vater,“
begann fie endlich nach einer Weile bedrückenden Still-
ſchweigens in zagendem Tone. „Sieh, die Leute meinen
es wirklich gut mit uns. Mr. Harland ſagte erſt vorhin
noch beim Abſchied, daß du mit der dir zur Verfügung
geſtellten Abfindung dich überall ankaufen könnteſt,
falls du nicht von den Kapitalzinſen leben wollteſt.“
„Ich bin kein Faulenzer, der die Hände in den
Schoß legt,“ knurrte er. „Solange mein Tag ſcheint,
rühr' ich mich.“
Unter hervorſtrömenden Tränen faßte fie trotz feines
Widerſtrebens ſeine beiden Hände. „Vater, mach dieſem
ſchrecklichen Zuſtande ein Ende!“ flehte ſie mit von
Schluchzen halberſtickter Stimme. „Lebte unſere gute
Mutter noch, fie wäre die erſte, die dir riete, nachzu-
geben.“
Er fuhr nach ihr herum und ſtarrte fie an. „Lebte
1918, XII. 10
146 Eigenland. a
deine Mutter noch, dann wär' freilich alles anders,“
ſagte er aufſeufzend. „Sie brauchte nur ein Wort zu
ſagen, und ich griffe zum Wanderſtab. Was gält' mir
hier das Land, ſo teuer es unſer Fleiß auch erkauft
haben mag. Überall ift Gottes Erde, und weihte fie
deiner Mutter Fuß und ſtände ſie, die mir mehr als
Leben und Ewigkeit geweſen iſt, wieder neben mir —
bettelarm wollt’ ich von dannen gehen, den Staub von
meinen Füßen ſchuͤtteln und mit friſcher Kraft anderswo
wieder anfangen. Könnt' ich für deine Mutter ſchaffen
und ſie mit mir nehmen — Kind, alle Mühſal ſollte
mir Seligkeit bereiten, denn durch deine Mutter erſt
wurde das Land hier meine Heimat — und weil ſie
hier in der Erde ſchläft, darum kann ich auch vom Boden
nicht laſſen und keine Macht auf Erden kann mich von
ihm vertreiben!“ |
Aufſtöhnend barg er das Geſicht in beide Hände.
Er ſpürte es kaum, wie ſich ſeine Tochter an ihn ſchmiegte
und erſt nach einer Weile hörte er wieder, was ſie zu
ihm ſprach.
„Aber es muß doch ſein!“ ſtellte ſie ihm vor. „Du
kannſt nicht gegen das Geſetz ankämpfen, das iſt un-
möglich — man wird uns ſchließlich mit Gewalt ver-
treiben.“
Er nickte kurz. „Mag ſein.“
„Ach, Vater, es weht doch überall Gottes Odem,
und wohin wir auch gehen mögen, im Geiſte geht
unſere tote Mutter mit uns.“
Er ſeufzte, ſtrich ſich mit der Hand langſam über
das Geſicht und ſchüttelte dann den Kopf. „Kind, du
kannſt mich nicht verſtehen,“ ſagte er dumpf. „Mein
Leben hat nicht die Aufeinanderfolge von Tagen und
Nächten, Wochen, Monaten und Fahren ausgemacht,
ſondern was in ihm wertvoll war, das ging von deiner
2 Novelle von Otto Hoecker. 147
Mutter aus. Sie war mein guter Engel — und Gott
weiß, wie bettelarm er mich hat werden laſſen, als er
ſie von mir nahm.“
Er faßte Emily bei der Hand und führte ſie vor
das Grab. Schweratmend legte er dort die Hand auf
die Steine.
„Wie ſoll ich dir nur erklären, Kind, was mich an
unſere Scholle bannt,“ begann er leiſe. „Denn hier
iſt deine Mutter für mich nicht tot — nicht einmal fern
iſt ſie, ſondern ſie wandert auf Schritt und Tritt mit
mir, jeder Fußbreit Erde erinnert mich an fie, ich brauch
nur die Augen zu ſchließen, dann ſeh' ich ſie wieder
vor mir, wie fie Blumen gepflanzt oder Unkraut ge-
jätet hat, hör' ihre Stimme wieder, vertraut und lieb,
denn ſo ſehr die Arbeit auch drängen mochte und wie
unermüdlich fleißig ſie auch ſchaffte, für ein gutes Wort
zu mir gebrach ihr's nie an Zeit. Die innige Gemein-
ſchaft mit deiner Mutter, die ich immer um mich weiß,
wenn ich mit meinen Sinnen ſie auch nicht ſehen und
fühlen kann, hält mich ganz allein noch auf Erden.
Darum kann ich von der Scholle nicht fort, denn ginge
ich in die Welt hinaus, ſo ginge deine Mutter nicht mit
mir — und ich hab' ſie notwendig, deine Mutter,“
ſchrie er auf. „Ich könnt' mir das Leben denken, ohne
atmen zu müſſen, aber nur einen Tag lang weiter leben
zu ſollen, ohne deine Mutter um mich zu wiſſen, ſie
treulos allein und unbeſchützt auf der Stätte ſchlafen
zu laſſen, wo wir miteinander glücklich waren, hofften,
ſtrebten und aufbauten, wo um uns das Glück lebendig
zu werden begann — nein, ich wiederhol' es dir, Kind,
ſcheiden von dieſem Grab, das kann ich nicht!“ |
Ein dumpfer, halberſtickter Laut entrang fich feinen
Lippen. Nicht länger ſeiner ſelbſt mächtig, warf er
ſich über die rauhen Steine.
148 Eigenland. 2
4.
Hatten die Bewohner der Duganranch früher ſchon
die Mahlzeiten in gemeſſenem Stillſchweigen einge-
nommen, fo herrſchte nun meiſt eine trübſelige Kirch-
hofſtimmung bei Tiſche.
Als Joe ſich eines Morgens wieder wortlos vom
Frühſtückstiſche erhoben hatte und, wie gewöhnlich, mit
ſtampfenden Schritten der Ausgangstür zuſchritt, blieb
er nahe dieſer ſtehen und kehrte ſich nach dem Rancher
um, der bereits wieder die abgegriffene Hausbibel zur
Hand genommen hatte und ſich mit ihr gerade in den
Lehnſtuhl neben dem Fenſter ſetzen wollte.
„Werd' mich demnächſt verändern müſſen, Boß,“
meinte er kurz.
Tom Dugan hatte gerade die Brille aufſetzen wollen.
Nun ließ er die Hand mit den Gläſern auf den ihm
im Schoße liegenden Band herabſinken und ſchaute den
alten Cowboy, der in langen Jahren enger Zuſammen-
gehörigkeit förmlich zu einem Inventarſtück der Ranch
geworden war, ſcharf an. „Gehen willſt du? Hab'
ich dir's an etwas fehlen laſſen? Schmeckt dir's Eſſen
nicht mehr? Oder zahl' ich dir zu wenig?“
Joe wehrte mit beiden Händen ab. „Gerad' das
Gegenteil. Ich werd' fürs Faulenzen bezahlt. Nicht
das Salz in der Suppe verdien’ ich mehr. Das wurmt
mich, Boß. Komm mir wie 'n Bummler vor, der Euch
das Geld aus der Taſche ſtiehlt.“
Nun lachte Tom Dugan kurz auf. „Sieh einmal
an, unſer alter Joe hat ſein Gewiſſen entdeckt!“ Dann
wurde er ſchnell wieder ernſt. „Wenn das deine ganzen
Bedenken ſind, dann bleib' nur ruhig — falls du Luſt
dazu haſt. Sonſt geh, ich zwing' keinen Menſchen zum
Bleiben.“ |
2 Novelle von Otto Hoecker. 149
Joe kraute ſich hinterm Ohr, trat von einem Fuß
auf den anderen und wiegte unmutig den Kopf. „Wer
ſpricht davon! Ihr ſolltet's am beſten wiſſen, daß ich
am liebſten bliebe. Bin ich hier nicht daheim? An
Eurer Behandlung liegt's nicht. Sie iſt ſo, daß ich
mir einbilden könnte, ſelbſt Boß zu ſein.“
„Nun alſo!“
„Sagt aber ſelbſt, Voß, es gibt ja nichts mehr zu
tun, nun wir kaum mehr Vieh oben haben. Für jede
Hantierung ſind drei Mann da, man tritt einander die
Hühneraugen ab, nur um auch 'ran zu kommen! Und
wenn noch Hoffnung wäre, daß wieder beſſere Zeiten
kommen! Aber ſtatt deſſen wird's mit jedem neuen
Tage ſchlechter. Muß es ja auch werden. Hier oben
gedeiht kein Gras mehr und — und Statt deſſen wächſt
einem das Maul zu. Man verlernt auch das Reiten,
Boß. Das iſt's. Man wird ſteif. Unſereiner hält ſich
nur im Sattel jung. Ja, wenn Ihr friſch beginnen
wolltet, irgendwo draußen, wo der Herrgott die Men-
ſchenpeſt noch fernhält — da ſollt' mich ſelbſt Euer
Wille nicht von Euch trennen können. Aber hier hat's
keinen Zweck. Ich komm' mir nicht nur überflüſſig
vor, ſondern bin's auch wirklich.“
„Dann geh!“ Weder Miene noch ak des
Ranchers ließen erkennen, was in ihm vorging. Aus
einer Schrankſchublade nahm er ein altes, abgegriffenes
Schreibheft zur Hand, in dem er ſeit langen Jahren
alle wichtigen Daten vermerkt hatte. Er blätterte eine
Weile in dem Heft. „Richtig,“ ſagte er dann, „da
ſteht's. Biſt am erſten Oktober eingetreten, dein Jahr
geht mit dem Septemberletzten zu Ende. Alſo ab-
gemacht, am letzten September gehſt du — das iſt
gerad' heut über vier Wochen,“ ſchloß er nach einem
informierenden Blicke auf den Wandkalender.
150 Eigenland. U
„Well, dann geh' ich,“ ſagte Joe, der auf eine ſolch
bereitwillige Annahme ſeiner Kündigung kaum gefaßt
geweſen ſein mochte, denn vor Verblüffung ſtand ihm
der Mund halb offen.
Für den Rancher war die Angelegenheit erledigt.
Er vertiefte ſich in ſeine Bibel und achtete nicht weiter
darauf, daß Joe noch eine kurze Weile überlegend neben
der Tür ſtehen blieb, um dieſe dann beim Verlaſſen
des Zimmers derber, als es durchaus notwendig ge—
weſen wäre, ins Schloß zu wettern.
Um ſo erſchrockener war Emily, die inzwiſchen den
Tiſch abgeräumt und dabei die Unterredung zwiſchen
den beiden Männern mitangehört hatte. Als ſie den
alten Cowboy an der Küche vorüberſchreiten ſah, winkte
ſie ihm eifrig zu.
„Aber Onkel Joe,“ meinte ſie vorwurfsvoll, als er
nähergekommen war, „hab' ich recht gehört, du willſt
uns verlaſſen?“
Der Gefragte nickte energiſch. „Kalkulier' ſo.“ Er
lachte kurz vor ſich hin. „Wird wohl am beſten ſein
— man kann ja nicht wiſſen, ob's für immer iſt. Noah
ſchickte auch 'ne Taube aus, bevor er feine Arche ver-
ließ. Und wer weiß, ob dein Vater nicht noch mal
das bewußte Olblatt brauchen kann.“ Sein Lachen
verſtärkte ſich und die durchtriebenen Spitzbubenfältchen
kamen in ſeinem vielgerunzelten Geſicht wieder zur
Geltung. Vielſagend zwinkerte er dem Mädchen zu.
„Lange macht's ja dein Vater hier oben ohnehin nicht
mehr, denn kommt hier ins Tal die Sintflut, dann hilft
nicht mal 'ne Arche. Da heißt's einfach fortlaufen. He?“
„Verſteh' dich nicht ganz, Joe. Meinſt du wegen
der Talſperre?“
„Well, das Waſſer treibt ihn fort, und wenn fein
Schädel härter wär' als die Felſen ringsum. Aber ſo
u Novelle von Otto Hocder. 151
lange dauert's vermutlich gar nicht. Will er nicht allein
Trübſal blaſen, muß er ſchon früher ans Einpacken
denken, der Vater. Hähähä, in vier Wochen ſchnür'
ich mein Bündel, und was 'ne gewiſſe junge Lady
anbetrifft, die neulich ſtatt Zucker Gipsmehl in den
Pudding gerührt und die Geſchichte auf den Tiſch ge-
bracht hat, ohne es überhaupt zu bemerken —“
Bei der ihr wohl verſtändlichen Anſpielung des
Alten war Emily purpurrot geworden. Nun ſchaute
ſie ihn entrüſtet an. „So nachtragend biſt du, Joe?
Sollteſt dich was ſchämen! Als ob man ſich in der
Eile nicht einmal vergreifen könnte!“
„Beſonders wenn man's eilig hat, nach einem ge—
wiſſen Ausſichtspunkt zu kommen, hähä! Wie neulich,
wo du in der Zerſtreutheit zwei Pfund Salz und 'ne
Handvoll Mehl in die Klöße gerührt haft. Hoho, hat
das prächtig geſchmeckt! Bei jungen Leuten nennt man
'n ſolches Vergreifen nicht Zerſtreutheit, ſondern —“
„Still! Ich will's nicht hören!“
„Das ändert an der Tatſache nicht das geringſte —
und wenn ich mir vorſtellen könnt', in welches Manns-
bild eigentlich, ſo nähm' ich einen Schwur darauf, daß
unſere Em'ly nicht minder verliebt iſt, wie“ — da
unterbrach er ſich plötzlich, beſchattete die Augen mit
der Hand und ſpähte den Talkeſſel hinab, wo ſich eben
eine hochaufwirbelnde, ſich raſch dem Hauſe nähernde
Staubwolke zeigte — „nun ja, wie etwa der gewiſſe
Jemand dort, der da ſo eilig herangaloppiert kommt.“
Einen Augenblick weidete ſich Joe noch an der hilf-
loſen Verlegenheit des Mädchens, dann nickte er ihr
gutmütig zu.
Emily gab ihm keine Antwort und eilte mit allen
Anzeichen großer Verwirrung nach ihrem Stübchen,
in das ſie ſich einriegelte. Auch als Joe bald darauf
152 Eigenland. oQ
meldete, daß Gordon Harland zu Beſuch gekommen fei,
wollte ſie zuerſt nicht wieder zum Vorſchein kommen.
Es bedurfte erſt des ärgerlichen Zurufs ihres Vaters,
der dem Gaſte eine Erfriſchung vorzuſetzen gebot, daß
ſie ſich zum Verlaſſen ihres Zufluchtsortes entſchloß.
Sie fand den Ingenieur noch auf der Vorder—
veranda, eifrig mit dem Abſtäuben ſeiner Kleidung
beſchäftigt, während ihr Vater unter der offenen Tür
ſtand, unverhohlenes Befremden über den unerwar—
teten Beſuch in ſeinen Mienen.
Als er ſeiner Tochter wiederholt Anweiſung geben
wollte, einen Imbiß bereitzuſtellen, wehrte Gordon
dankend ab, indem er zugleich auf Emily zuſchritt und
der mit ſeltſamer Befangenheit ihn Anblickenden beide
Hände zum Gruß entgegenſtreckte.
„Nein, nein, ich bin nicht im mindeſten hungrig,
und auch der Durſt plagt mich nur wenig — mich führt
auch keine beſondere Sache hierher, ſondern ich bin nur
gekommen, um mich nach dem Befinden meiner lieben
Bekannten zu erkundigen und nebenbei herauszuhören,
ob wir uns die Sache nicht inzwiſchen überlegt haben.
Die Kommiſſion dringt nämlich auf Entſcheidung.“
Ein ſpöttiſches Lächeln kräuſelte des Ranchers Lippen.
„Schön von Euch, Herr — wie Ihr ſeht, ſind wir noch
nicht völlig verdurſtet, was freilich wieder nicht Euer
Verdienſt iſt,“ äußerte er ſarkaſtiſch. „Und was die
gewünſchte Entſcheidung anbelangt, jo hab' ich fie den
Kommiſſionsherren längſt mit deutlichen Worten ge-
geben. — Aber nehmt Platz und ruht Euch ein Weilchen
— wo ſteckt denn Billy?“ wendete er ſich fragend an
feine Tochter, die ihm indeſſen nur mit einem Achſel—
zucken antwortete.
„Ach ja, wird wohl hinuntergeritten ſein. Schade,
er wäre vielleicht für Euch ein beſſerer Geſellſchafter
2 Novelle von Otto Hoecker. 153
als ich. Mich müßt Ihr ſchon entſchuldigen — es geht
einem ſo manches durch den Kopf, was einem das
müßige Schwatzen verleidet.“ |
V„Begegneten Sie meinem Bruder nicht?“ erkundigte
ſich Emily mit unſicher klingender Stimme.
„Ja, wir begegneten einander auf halbem Wege.
Er ritt nach der Station hinunter, wie er ſagte.“
„Nun, tiſch endlich was auf, Em'ly!“ heiſchte Tom
Dugan ungeduldig. „Was du gerade zur Hand haſt.
Große Auswahl gibt's bei uns nicht mehr,“ ſagte er,
zu Gordon gewendet, im Tone halber Entſchuldigung.
„Aber ich — übrigens ich“ — des Beſuchers Stimme
wurde immer ſtockender, als er nun Emily hurtig nach
der Küche eilen ſah — „ich will doch raſch mal nach
meinem Pferd ſehen, es hat ſich warm gelaufen. —
Merkwürdig heiß für 'nen Septembertag heute —
findet Ihr nicht?“
„Indianerſommer!“ brummte Tom Dugan, der im
Begriffe ſtand, ſich wieder auf ſeinem Fenſterſitze nieder-
zulaſſen. „Man ſagt vom September nicht umſonſt,
daß er der „Brater“ iſt. Wären die kühleren Nächte
nicht, ſo wäre er noch ſchlimmer als der Hochſommer.
— Aber ſo bleibt doch,“ rief er hinter ſeinem Beſucher
her, „Joe kann nach Euerm Gaul ſehen — klagt ohne-
hin übers Nichtstun, der Alte.“
Dann, als er ſah, daß ſein Zuruf unbeachtet blieb,
zuckte er gleichmütig die Achſeln und ſetzte ſich nieder.
Aber zur Bibel griff er vorläufig nicht wieder, ſondern
ſtarrte müßig durchs Fenſter und ſeine Mienen nahmen
raſch einen nachdenklichen Ausdruck an.
Darüber ſchien er gar nicht gewahr zu werden, daß
Emily keine Anſtalten zum Tiſchdecken machte, wie er
ihr doch anbefohlen hatte, und ebenſowenig der In-
genieur ins Zimmer zurückkehrte. Dafür hörte er die
154 Eigenland. 0
beiden mit gedämpften Stimmen miteinander draußen
in der Küche verhandeln.
„Es ſteht geſchrieben, daß das Weib Vater und
Mutter verlaſſen foll, um dem Manne anzuhangen,“
ſagte er leiſe vor ſich hin. „Aber daß die eigenen
Kinder gerade den Feinden, den Maulwürfen, die mit
aller erdenklichen Liſt mein Lebenswerk untergraben
und zerſtören, anhängen müſſen — das tut weh!“
Er ſchaute zum Fenſter hinaus nach dem Steinhügel
und nickte grüßend hinüber. „Du haſt's gut, Mutter
— ich wollt', ich dürft' bei dir liegen!“
Dann ſetzte er wieder die Brille auf und verſenkte
ſich in feine Lektüre, ohne der Anweſenheit feines Be—
ſuchers auf der Ranch weitere Beachtung zu ſchenken. —
„Warum haben Sie ſich die ganze Woche über nicht
ſehen laſſen?“ ſragte draußen in der Küche Gordon
die eifrig ſchaffende Emily. „Ach, wenn Sie wüßten,
mit welcher Ungeduld ich Ihre Antwort auf meine Frage
erwartet habe,“ ſetzte er mit nicht länger zu verhehlender
Erregung hinzu. „Haben Sie bedacht, wie viele fchlaf-
loſe Nächte und Herzenspein mir Ihr Fernbleiben ver-
urſacht hat? Muß ich darin ein Ausweichen oder gar,
was der Himmel verhüten möge, eine Ablehnung meines
ehrlichen Werbens erblicken?“
Wieder ſtand Emily blutübergoſſen. Sie Ba ihm
nicht zu wehren, als er nun bittend ihre beiden Hände
faßte, aber auch fein inniger Druck vermochte ihm nicht
ihre Blicke zuzuwenden. Dieſe ſchauten vielmehr an
ihm vorüber, ſuchend und wie wehmütig darüber
trauernd, daß fie aus einem holden Traume hatte zur
rauhen Wirklichkeit zurückerwachen müſſen. Gordons
Welt war ja eine andere als die ihrige, in der ſie mit
allen Faſern ihres Seins haftete. Das hatte fie ſchon
damals gewußt, als er um ſie warb, aber ſie hatte es
U Novelle von Otto Hoeder. 155
ihm nicht ſagen können, der Gedanke an die unvermeid-
liche Enttäuſchung, die ſie ihm bereiten mußte, hatte
ſie immer wieder zum Schweigen gezwungen gehabt.
Das war zugleich auch der Grund, warum ſie ſeitdem
ihre Ritte nach ihrem Lieblingsplatz aufgegeben hatte.
Hätte ſie doch dort Gordon Harland ihrer harrend
antreffen und ihm dann notgedrungen künden müſſen,
daß ihrem ſchönen Traume nunmehr das unausbleib-
liche Erwachen folgen mußte.
Als fie endlich, wie einem magiſchen Zwange ge-
horchend, ſeinem heißen Liebesblicke begegnete, da
ſchwand die Röte aus ihren Wangen und gab jäher
Bläſſe Raum. Tränen füllten ihre Augen. „Ja,
Gordon,“ hauchte ſie, „Sie haben meinen Grund, der
mich ein weiteres Zuſammentreffen mit Ihnen ver-
meiden ließ, richtig erraten. Dürfte ich unbeirrt nur
der Stimme meines Herzens folgen, ſo würde meine
Antwort vielleicht anders lauten. Aber ich habe Pflichten
gegen den Vater zu erfüllen. Er braucht mich, ich bin
ihm notwendig — darum darf ich nicht von ihm gehen.“
„Aber du liebſt mich doch,“ raunte er ihr heiß ins
Ohr. „Ja, da hilft kein Ableugnen, magſt du auch den
Kopf noch ſo entſchieden ſchütteln, deine Blicke verraten
dich doch — nein, nein, es hilft auch nichts, wenn du
zur Seite ſchauſt, denn fie haben mir's ja ſchon viel
früher verraten. Süßes Kind, ich liebe dich und du
haſt mich lieb — und mit meinem letzten Tropfen
Herzblut werde ich unſer Glück zu erringen wiſſen!
Warum dein junges Leben einem Wahne opfern? Denn
was iſt die Hartnäckigkeit, mit der dein Vater Geſetz
und Recht zu leugnen ſich anmaßt, im Grunde genom-
men anderes? In ſpäteſtens einem Fahre haben ſich
die Verhältniſſe hier oben ohnehin geklärt, und hat ſich
dein Vater bis dahin nicht eines beſſeren beſonnen —“
156 Eigenland. u
„Niemals!“ widerſprach Emily ihm. „Daß das un-
vermeidliche Ende kommen muß, ſagt mir mein eigenes
Empfinden, aber was alsdann geſchehen wird, daran
wage ich nicht zu denken. Ich weiß nur, daß ich zu
meinem Vater halten muß — und bräche mir darüber
auch das Herz!“
Sie wollte ſich von ihm losmachen, als er ſie bei
der Hand nahm und mit ſanfter Gewalt der Wohn-
ſtubentür zuführen wollte. Aber da wurde die Tür
ſchon von innen geöffnet, und auf der Schwelle erſchien
der Rancher.
„Was ſoll das Verſteckſpielen?“ fuhr er die Tochter
barſch an, als dieſe ſich erſchreckt von Gordons Hand
losreißen wollte. „Daß die Verſtellung euch Frauen-
zimmern doch immer im Blute liegt — ſogar deine
gute Mutter hat ſich zieren müſſen, ehe ſie mein Weib
wurde. Na, darum brauchſt du dich nicht zu entichul-
digen, hab's lange vorausgeſehen, daß es ſo kommen
mußte, denn um unſerer guten Waſſerverhältniſſe wegen
iſt Freund Harland ſicherlich nicht jo oft zu uns herauf—
gekommen!“
Dabei lachte er ſo bitter auf, daß Emily ſein Lachen
ins Herz ſchnitt. Sie hatte ſich inzwiſchen energiſch
von Gordons Hand befreit. Nun eilte ſie zu ihrem
Vater und ſtellte ſich neben ihn.
„Du brauchſt nicht ſchlecht von mir zu denken, Vater,“
ſagte ſie in großer Haſt. „Mr. Harland hat mir ge—
ſagt, daß — daß ich ihm nicht gleichgültig ſei, aber ich
habe ihm rundweg zu verſtehen gegeben, daß ich deine
Tochter bin und ihm darum in alle Ewigkeit nichts ſein
kann.“
Fragend ſchweifte Tom Dugans Blick zu dem jungen
Ingenieur.
Dieſer trat mit einem tiefen Atemzuge näher an
o Novelle von Otto Hoeder. 157
den Rancher heran. „Emily liebt mich, wie ich fie
liebe,“ begann er. „Aus mißverſtandener Kindespflicht
glaubt ſie uns unglücklich machen zu müſſen, weil ich
im Dienſte der Geſellſchaft ſtehe, die Euer Beſitztum
beanſprucht, aber ich weiß, daß es nur Eurer Einwilli—
gung bedarf, um das liebe Mädchen anderen Sinnes
zu machen. Wollt Ihr mir Eure Tochter zur Frau
geben?“
„Wollt Ihr meiner Ranch das ihr gebührende Waſſer
zurückgeben und mir ihren Beſitz verbürgen, Herr?“
fragte der Alte rauh zurück.
„Ihr wißt recht gut, daß Ihr von mir Unmögliches
verlangt!“
„Nun, dann habt Ihr Euch die Antwort mit Euren
eigenen Worten gegeben. Verſteht mich recht. Ihr
ſelbſt ſcheint mir ein wackerer Mann zu fein, und ge-
hörtet Ihr nicht zu jenen, die mein Lebenswerk unter-
graben, ſo möcht' ich Euch wohl als Eidam willkommen
heißen. So aber kann zwiſchen Euch und mir keine
Gemeinſchaft beſtehen.“
Entrüſtet flammte es in Gordons Augen auf. „Aber
das iſt ja unmenſchliche Härte! So nehmt doch Ver-
nunft an, Mann!“ rief er.
Mit ſchroffer Handbewegung unterbrach ihn der
Rancher. „Was berechtigt Euch zu der Annahme, daß
ich unvernünftig rede?“ gab er ſcharf zurück. „Ich
kann keinen Schwiegerſohn brauchen, der mit an meinem
Untergange gräbt. Und ich kann auch keine Tochter
brauchen, die zu meinen Widerſachern hält — ſtill,
wart’ bis du gefragt wirſt!“ fuhr er Emily rauh an,
als ſie die Lippen zu einer Rechtfertigung öffnen wollte.
— „Zch ſag' nicht, Herr,“ fuhr er mit ſtarker Stimme
fort, „daß ich meiner Tochter verbiete, Euer Weib zu
werden — nein! Em'ly ſoll ſich aus freien Stücken
158 Eigenland. 2
entſchließen, genau ſo, wie Herz und Gewiſſen ihr's
vorſchreiben — und will ſie Euer Weib werden, ſo ſoll
ihr das väterliche Erbe einmal nicht vorenthalten
werden. Aber nicht mehr und nicht weniger kommt
ihr von mir zu, ſonſt weder Segen noch Fluch. Aber
ſie kann alsdann meine Tochter nicht länger ſein —
das iſt alles. Ich kann um mich keine lauen Menſchen
brauchen — für oder wider mich. Und nun fragt ſie
ſelbſt!“
Da löſte ſich das Mädchen von des Vaters Bruſt,
wendete ſich langſam nach dem geliebten Manne um
und ſchaute ihn mit einem erloſchenen Blicke an. „Nr.
Harland, ich habe Euch keine Erlaubnis erteilt, bei
meinem Vater um mich zu werben,“ brachte ſie tonlos
hervor. „Wenn Ihr für mich im Herzen wirklich etwas
übrig habt, ſo verlaßt unſere Ranch und kommt nie
und nimmer wieder zu uns.“
Gordon Harland ſtand wie vom Donner gerührt.
Er vermochte fie nur ungläubig anzuftarren.
„Übereil dich nicht!“ mahnte der Rancher. „Keinem
zulieb oder zuleid ſollſt du dich entſcheiden. Auch wenn
jener Mann dort mir willkommen wäre und ich eure
Hände ſegnend zuſammenlegen könnte, müßte ich dich
doch an ihn verlieren. Das hat nun einmal der Himmel
ſo gefügt, daß die Frau ihre neue Welt im Manne und
ſpäter in ihrer eigenen Familie findet. Ich wiederhole
dir: ich will von dir kein Opfer gebracht haben — und
wenn wir uns künftig auch fremd werden müſſen, ſo
denk' ich darum nicht geringer von dir.“
„Mein Entſchluß iſt gefaßt,“ ſagte die leiſe vor ſich
hin weinende Emily. „Ich bleibe bei dir, Vater.“
„Etwa, weil du's deiner ſeligen Mutter in ihrer
Sterbeſtunde verſprochen haſt?“ fragte der Rancher.
„Nein, Vater, die Mutter war ja ſo gut, daß ſie
— — — — —
= Novelle von Otto Hocder. 159
mir ſelbſt verzeihen würde, bräche ich ein ihr gegebenes
Verſprechen,“ rief ſie bewegt. „Aber ich will bei dir
bleiben, weil ich nicht anders kann. Du müßteſt mich
gerade von dir treiben und ſelbſt dann — käm' ich doch
wieder!“ ſchluchzte ſie laut hinaus. |
Eine Weile blieb es ftill im Zimmer. Man hörte
nur das ſchwere Atmen des in felten bei ihm wahr-
zunehmender Rührung auf feine Tochter herabſchauen-
den Ranchers und deren Weinen.
Dann ließ Tom Dugan den Blick nach dem verſtört
ſtehenden Freier ſchweifen. „Ihr habt die Entſcheidung
meines Kindes gehört?“ fragte er.
„Nein — nein, das kann nicht Emilys wahre Mei-
nung fein!“ widerſprach Gordon heftig. „Ich weiß,
daß fie mich liebt und nicht fähig iſt, mit meinen bei-
ligſten Empfindungen nur ein ſchnödes Spiel zu treiben.“
Bittend wollte er ſich dem das Geſicht an der Bruſt
des Vaters verbergenden Mädchen nähern. Doch Tom
Dugans abwehrend erhobene Hand hielt ihn zurück.
„Mit Verlaub, Herr, laßt mich erſt ausſprechen,“
ſagte der Rancher rauh. „Wir waren immer ehrliche
Gegner, und ich denke, wir werden's auch in Zukunft
bleiben. Verlaßt Euch auf mein Wort, in keiner
Weiſe werde ich Em'ly zureden oder fie irgendwie zu
beeinfluſſen ſuchen — fie bleibt freie Herrin ihrer Ent-
ſchlüſſe, ob heute oder ſpäter, das bleibt ſich gleich.
Leichtſinn wäre es geradezu, wollte ſie über ihr ganzes
zukünftiges Schickſal unüberlegt entſcheiden. Aber ich
kenne meine Tochter, ſie wird mit ſich ins reine kommen.
Der über uns allen regiert, wird ihr dazu helfen —
und wie immer ihr Entſchluß auch ausfallen mag, ich
laß ihn Euch wiſſen.“ |
Emily richtete ſich auf. „Zürnt mir nicht,“ wendete
fie ſich zu Gordon. „Ich könnte nicht glücklich an Eurer
160 Eigenland. 0
Seite werden. Laßt meinem Vater ſein Eigenland,
rührt nicht an meiner heiligen Heimatfcholle, und ich
will Euch gehören. Und nun ſei Gott mit Euch!“
ſchluchzte ſie auf.
Gordon Harland nahm feinen Hut vom Tiſche, ver-
neigte ſich ſtumm und verließ ohne ein weiteres Wort
zu äußern das Zimmer.
Nach einer kurzen Weile ſah ihn der Rancher mit
verhängten Zügeln davonreiten.
5.
Die Chinookwinde blieſen.
Eiſig kalt und froſterſtarrt hatte ſich noch der ſpäte
Märzmorgen angelaſſen. Hinter dichten Dunftichleiern
war die Sonne verborgen geblieben, bis um die frühe
Nachmittagsſtunde unvermittelt ein tiefer Atemzug durch
die noch im Winterſchlafe liegende Natur gegangen
war. Mit einem zweiten ſchwülen Atemzuge war die
Erde wach geworden, hatte die Bruſt geweitet und ſich
gereckt. Und dann hatte es zu blaſen begonnen, gleich
zu Beginn verſengend warm. Mit jeder weiteren
Stunde hatte der Sturm an Stärke gewonnen und
ſchließlich mit vollen Backen Feuersgluten über das
winterliche Land getragen. Dann hatten ſich die himm-
liſchen Schleuſen geöffnet, und die wolkenbruchartigen
Regenmaſſen waren vom glühenden Windhauch an—
gewärmt worden.
Als früh die Nacht herniederſank, da weinte der
Schnee nicht länger. In ſeine fußhohen Mauern war
nicht nur Breſche gelegt, ſondern abertauſend Bäche
ergoſſen ſich aus ihnen über Weg und Steg, duckten ſich
unter den heulenden Windſtößen und ſtoben kaskaden—
gleich vor ihnen her.
Die Chinookwinde blieſen.
u Novelle von Otto Hoecker. 161
In ihr Heulen miſchte ſich dumpfes Donnerrollen.
Je weiter die Nacht voranſchritt, deſto häufiger zuckten
flammende Blitzgarben durch die Finſternis und krachten
brüllende Donnerſchläge hinterdrein.
Kein Auge ſchloß ſich in dieſer Schreckensnacht in
der Duganranch.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit war Bill, un-
geachtet der flehentlichen Bitte ſeiner Schweſter, zu
Pferde nach dem oberen Tal, wo der Reit ihrer früher
ſo ſtattlichen Viehherde untergebracht war, aufgebrochen,
um den Ausbruch einer Stampede zu verhindern, ob-
wohl er im Falle des Scheuwerdens und Ausbrechens
der Tiere als einzelner wenig oder gar nichts auszu-
richten vermochte.
Emily weilte mit ihrem Vater im Wohnzimmer.
Aber obwohl dort die Hängelampe trauliches Licht ver-
breitete und die Außenläden geſchloſſen waren, leuchtete
der Widerſchein der Blitze immer häufiger durch die
Ritzen.
Der alte Rancher ſchritt mit auf dem Rücken zu-
ſammengelegten Händen in der Stube hin und her.
Das zunehmende Wüten der draußen entfeſſelten Ele-
mente hatte ihn ruhelos gemacht; aber er wurde nicht
müde, mit geneigtem Kopfe auf das Sturmgeheul und
die mit jeder neuen Minute an Heftigkeit zunehmende
himmliſche Kanonade zu lauſchen.
„Wäre nur wenigſtens Bill daheim!“ klagte Emily,
als die Oonnerſchläge draußen nicht mehr aufhören
wollten, ſondern ſich wie gegen eine belagerte Feſtung
gerichtetes ſchweres Geſchützfeuer anhörten und da—
zwiſchen der zum Orkan erſtarkte Sturm mit gewaltigen
Fäuſten an den Grundmauern des Hauſes rüttelte.
„Wo willſt du hin, Vater?“ unterbrach ſie ſich dann
erſchreckt, als ſie wahrnahm, wie der alte Mann ſeinen
1918. XII. 11
162 Eigenland. a
Kragen hochſchlug und den breitrandigen Hut tief in
die Stirn drückte.
Tom Dugan trat auf ſein Kind zu, und mit un—
gewohnter Zärtlichkeit ſtreichelte er ihre bleichen Wan-
gen. „Viſt doch ſonſt fo klug und tapfer, Em'ly,“ ſagte
er in aufmunterndem Tone. „Warum willſt du jetzt
verzagen, wo unſere Befreier im Anzug ſind — eh?
Hab' ich's nicht immer geſagt, daß die Chinookwinde
blaſen würden? Nun find fie da, und ich will fie be-
grüßen gehen!“
„Die Chinookwinde —“
„Hörſt du das orgeltönige Brauſen? Ja, das ſind
ſie! Nun mögen die Herren da unten ihre Dämme
hüten!“ |
Er Schritt zur Tür hinaus. Doch ſchon wenige Mi-
nuten ſpäter kam er zurück.
„Der Fluß ſteigt gewaltig,“ ſagte er. „Er hat den
Aferrand beinahe ſchon erreicht. Aber ſollte er auch
austreten, ſo laß dich's nicht kümmern. Einmal, als
du noch in der Wiege lagjt, hatten wir das Waſſer ſogar
fußhoch hier in der Stube, bis es ſich mit dem ſchwin⸗
denden Unwetter wieder verlief. Das da iſt die Höhen-
marke, höher kann das Waſſer nicht ſteigen. Dafür
ſorgen die unterirdiſchen Abflüſſe.“
Damit trat der alte Mann wieder in die Nacht
hinaus.
Vom Himmel goß es in Strömen, und in ſchier
unaufhörlicher Folge flimmerten die Blitze von einem
Talende zum anderen und hüllten es in unirdiſche,
blaugrüne Beleuchtung. Der Rancher achtete kaum
darauf. Er ſpürte auch die Waſſergüſſe nicht, die der
heulende Sturm ihm ins Geſicht peitſchte. Der Fluß
begann immer raſcher zu ſteigen. Davon überzeugte
ſich der Rancher bei neuem Blitzesleuchten, als ſein
2 Novelle von Otto Hoecker. 165
Blick das gewohnte ſchmale Flußbett ſuchte und ſtatt
ſeiner eine bewegte, ſtrudelnde Waſſerfläche, die ſchon
den Korral erreicht hatte und wie einziehende Flut
Wellchen um Wellchen weiter voranwarf, wahrnahm.
Sein Herz frohlockte. Die unnatürliche Schwüle in
der Luft erfüllte ihn mit wohligem Behagen.
Die Chinookwinde blieſen. |
Sie raunten ihm verheißend in die Ohren, was
ſie wirken und ſchaffen würden. Hei, wie ſie von den
Höhen herabfegten! Lauter ungebändigte Rieſen, die
ſpielend jedes Hindernis nahmen und zerdrückten, das
ihrem Siegeszuge Einhalt gebieten wollte; die von den
Wegen, die ſie ſeit urewiger Zeit gezogen, nicht ließen;
die den zu reißenden Bergſtrömen gewandelten Schnee
in die alten Bahnen treiben würden. Und dann kam
die Stunde des Gerichts! Wenn die mauerdiden dämme
ins Wanken gerieten, wenn die wilden, ungebärdig tal-
wärts ſchießenden Waſſermaſſen ſich nicht länger in
den künſtlich für fie geſchaffenen Kanalläufen eindäm-
men ließen, wenn mit ihnen die ſchwere Artillerie
kam, die entwurzelten Rieſenſtämme, die aus hundert-
tauſendjähriger Ruhe losgebröckelten Felſen! In ihrem
unaufhaltſamen Zerſtörungslaufe zerrieben ſie im Laufe
einer einzigen Nacht, was Hunderte von Menſchen—
zwergen im Laufe von Jahren geſchaffen hatten, machten
die entweihte, bedrohte Erde wieder zu Gottes Land,
verhalfen dem Herrn der Scholle zu gerechtem Siege
über ſeine Bedränger und Widerſacher!
Mit wehendem Haar, das Geſicht von Sturm und
Regen gepeitſcht, ſtand Tom Dugan vor dem Grabe
ſeiner Frau und rüttelte an den ſchweren Felsſteinen,
als wollte er die Schläferin darunter zur Witwiſſerin
des ſeine Seele mit übermächtigem Drange erfüllenden
Jubels machen.
164 Eigenland. a)
„Mutter, die Chinookwinde blaſen! Sie halten Ge-
richt, Mutter — ſie ſorgen dafür, daß niemand deine
Ruheſtätte ſtören darf!“ 5
Je näher die Mitternacht heraufzog, deſto entfeſſelter
wüteten die Elemente. Von den Höhen kam es mit
Brauſen. Die Schneekronen wankten und ſtürzten, und
ſtatt ihrer plätſcherte es kaskadengleich die ſteilen Lava-
wände herab, kamen die unterwaſchenen Gipfel ſelbſt
unter polterndem Getöſe herunter.
Jauchzend breitete der alte Mann die Arme nach
den leuchtenden Blitzen und den zum Tale nieder—
ſtrömenden Waſſermaſſen aus.
Seine Retter und Befreier!
Sie meinten es freilich beinahe allzu gut. Aber Tom
Dugan lachte ſorglos, als die Haustür aufgeriſſen wurde,
in deren Rahmen die zitternde Geſtalt Emilys ſichtbar
wurde, das aus der Wohnzimmertür ſtrömende Licht
in ſchwärzliches Gewäſſer blinkte und er die unterſte
Verandaſtufe ſchon von der bereits an der nächſt höheren
leckenden Flut bedeckt ſah.
„Hat nichts zu ſagen, Kind, ängſtige dich nicht!“
rief er. „Mag ja ſein, daß wir einen naſſen Eſtrich
bekommen — das ſpart ein Aufwaſchen! Hohoho, nun
haben wir wieder Waſſer — und glaub mir, daran
wird es in unſerem Tale nun nimmer fehlen!“
Nur weitergeblaſen, ihr Chinookwinde! Schafft
gründliche, ganze Arbeit!
Gordon Harland war mit einem Häuflein Frei—
williger nach der Duganranch unterwegs. Die Sorge
um das Schickſal Emilys und ihrer Angehörigen hatte
ihn die Gefahren eines Nachtritts verachten laſſen. Eine
kleine Schar beherzter Männer hatte ſich ihm ange—
ſchloſſen, um der hartbedrängten Rancherfamilie Hilfe
— —
2 Novelle von Otto Hoecker. 165
und Rettung zu bringen. Mitleidlos trieb Gordon Har-
land feinen Gaul immer wieder zu erhöhter Schnellig-
keit an. |
Auf einmal, noch ungleich plößlicher als er zum
erſten Male tief unter fich die Duganranch erblickt gehabt,
ſah er fie wieder, graugrün im unirdiſchen Lichte der
niederzüngelnden Blitze. Dann, als lichtloſe Finſternis
ſie wieder umgab, da hörten die Reiter durch das
Krachen der Oonnerſchläge und das Heulen des fie mit
heimtückiſchen Stößen zuweilen ſchier aus den Sätteln
ſchleudernden Orkans von unten herauf dumpfes
Rindergebrüll.
In ſauſendem Lauf ging es den Zickzackweg hin-
unter. Faſt unaufhörlich leuchteten die Blitze den
Pferden. Unten trafen die Reiter mit Bill Dugan
zuſammen, der unter lautem Geſchrei und Beitichen-
knallen die vielhornige, im Leuchten der Blitze ſich wie
eine kompakte Maſſe ausnehmende Herde den Ser—
pentinenweg hinaufzutreiben verſuchte.
Sie reichten ſich ſtumm die Hände.
„Reitet voran!“ rief Bill dann rauh. „Ich muß
das Vieh erſt noch in Sicherheit bringen! Steht meinen
Leuten bei!“ Seine Stimme zitterte plötzlich. „Oer
obere Taleingang iſt durch Stämme und Felsſteine
wie vermauert, ſonſt hätten wir die volle Uberſchwem-
mung ſchon hier unten! Aber wie lange widerſtehen
ſie dem Waſſer? Ich fürchte, daß für unſer Tal der
Jüngſte Tag angebrochen iſt!“
Weiter jagten Gordon Harland und ſeine Leute mit
verhängten Zügeln. Den Tallauf hinunter. Als ſie
den freien Platz vor dem Ranchhaus erreichten, ſpürten
fie, wie ihre Pferde mit den Hufen im Waſſer planſchten.
Wie fie abſprangen, reichte ihnen das heftig ftrudelnde
Waſſer ſchon bis zu den Knien.
166 Eigenland. a)
Ein greller Blitz zeigte Gordon den Rancher. Wie
verzückt ſtand dieſer auf der Vorderveranda, deren
oberſte Stufe ſchon in der einen weiten See bildenden
Flut verſchwunden war, und ohne auf den Ankömm—
ling, den er für ſeinen Sohn halten mochte, weiter zu
achten, breitete er begrüßend die Arme nach den gur-
gelnden Waſſermaſſen aus.
„Gerichtstag!“ rief er mit vor Bewegung zitternder
Stimme.
„— und Verſöhnungstag!“ ging es Gordon Harland
durch den Sinn.
Er hielt ſich nicht länger bei dem Rancher auf, denn
unter der Wohnzimmertür erblickte er Emily.
Als dieſe ihn erkannte, kam ein leichter Schrei über
ihre Lippen. Verſtört wich ſie ins Zimmer zurück.
„Ihr habt geſiegt!“ ſchluchzte ſie auf. Geblendet
von einem niederflammenden Blitzſtrahl ſchlug ſie die
Hände vor das Geſicht. Der zugleich dröhnende Donner
ſchien das Haus zerſplittern zu wollen. „Ah, das iſt
unſer Letztes — nun kommt das Ende!“
Aber Gordon packte ſie beſchwörend beim Arm.
„Jetzt iſt keine Zeit zu unnützem Klagen!“ rief er ihr
zu. „Wir wollen das Wertvollſte zu packen und zu
retten ſuchen. — Faßt tüchtig mit an,“ wendete er ſich
an ſeine ihm ins Zimmer nachgefolgten Begleiter. „In
ſpäteſtens einer halben Stunde muß das Haus aus—
geräumt und wir wieder unterwegs ſein!“ Dann wieder
zu Emily gewendet: „Bill hab' ich weiter oben ge-
ſprochen — er wird bald hier ſein und uns helfen.“
Da kam er auch ſchon herangepreſcht. Waſſergarben
ſpritzten an dem vor der überſchwemmten Veranda ſein
Pferd Zügelnden hoch.
„Kommt mit, wir werden die Pferde vor den großen
Wagen ſpannen!“ rief er Gordon zu.
2 Novelle von Otto Hoecker. 167
„Unſinn!“ unterbrach ihn der herzutretende Rancher.
„Laß dich nicht einſchüchtern, Bill — das Waſſer kann
nicht höher ſteigen, es hat ſeine Höchſtmarke bereits
erreicht!“
„Das Waſſer hat ja erſt zu ſteigen begonnen!“ rief
Gordon Harland. „Wollt FIhr's noch immer nicht be—
greifen, daß kein Abfluß mehr exiſtiert, Mann? Das
Waſſer von den Höhen bleibt hier im Tal und wandelt
es zum See!“
„Das lügt Ihr, Mann!“ ſchrie Tom Dugan. „Ich
hab' es ſteigen und wieder fallen ſehen, da waret Ihr
noch nicht geboren! So hoch war's wie heute auch
und fiel doch wieder. Hinten im Felswinkel ſtürzt der
Fluß in die Tiefe, und dorthin ziehen die Waſſer ab!“
Ungeduldig rang Gordon die Hände. „Früher wohl,
aber heute nicht mehr! Heute wehrt ihnen die Tal-
ſperre den Ablauf. Eure Chinookwinde haben nur
verfrüht zuſtande gebracht, was die Talſperre nach
ihrer Vollendung für immer bewirken wird: in wenigen
Stunden wird Euer Tal zum See!“
Das fanatiſche Lachen des alten Mannes unterbrach
ihn. „Es braucht ſtärkere Leute als euch, um mit den
Chinookwinden fertig zu werden!“ rief er. „Schaut
zu, was morgen aus euern Dämmen geworden iſt!“
Vorüber an ihm eilte Gordon wieder ins Haus,
während Bill draußen einen harten Kampf mit den
geängſtigten Pferden zu beſtehen hatte. Was immer
ihm in die Hand kam, trug Gordon hinaus und brachte
es in dem inzwiſchen von Bill vor die Veranda ge—
ſchobenen Wagen unter. Geiſterbleich, mit ſtoßweiſen
Atemzügen wie ein vor ſich hinſchluchzendes Kind half
Emily den im Schweiße ihres Angeſichts ſchaffenden
Männern.
Es blieb nicht mehr viele Zeit übrig. Nur die leich-
168 Eigenland. a
teren Möbelſtücke, ferner Kleider, Haus- und Küchen-
gerät in Körben und Säcken konnte man noch unter
die waſſerdichte Wagenplane ſchaffen.
Schließlich war das Waſſer an den im Zimmer
Weilenden ſchon kniehoch gekrochen. Nur mit Mühe
konnte Emily ſich noch aufrecht halten. Unausgeſetzt
rüttelte das verheerende Element an den Grundpfeilern
des Hauſes, immer bedrohlicher gerieten die Mauern,
ſo feſt gefügt ſie auch waren, ins Wanken.
„Das geht vorüber. Mit dem Morgen zieht das
Waſſer wieder ab!“ erklärte Tom Dugan.
„Dann kehren auch wir wieder zurück!“ rief Bill
von draußen. „Jetzt aber kommt — kommt endlich!“
„Flieht ihr,“ ſagte Tom Dugan, „ich hüte mein
Haus!“
„Aber das iſt ja der helle Wahnſinn!“ rief Gordon.
Emily warf ſich dem Vater ſchluchzend an die Bruſt.
„Komm, Vater — oder ich bleib' bei dir!“
„Ich hüte mein Haus!“ beharrte der alte Mann.
„Geht ihr nur — ich fürchte mich nicht. Das Waſſer
verläuft ſich — und morgen iſt alles, wie es war, ehe
ihr mit eurer Talſperre kamt!“
„So geht an Euerm Eigenſinn zugrunde, wenn FIhr's
durchaus ſo haben wollt! Aber Emily darf nicht blei-
ben — fie gehört mir! Verſteht Ihr, mir gehört fie —
und ich rette ſie auch gegen ihren Willen!“
In großer Erregung ſuchte Gordon die Geliebte
von ihrem Vater loszumachen.
Aber ſie klammerte ſich laut aufſchluchzend an deſſen
Bruſt. „Laßt mich — ich will bleiben, mit meinem
Vater will ich leben und ſterben!“ ſchluchzte fie krampf—
haft auf.
Aber Harland ließ in ſeinen Bemühungen nicht
nach. „Magſt mich hinterher ſchelten, fo viel du willſt,“
o Novelle von Otto Hoeder. 169
raunte er ihr zu, „aber jetzt mußt du dich von mir in
Sicherheit bringen laſſen — komm!“
„Ich bleib’, wo mein Vater iſt!“ ſchrie fie noch ein-
mal verzweifelt.
„Wollt Ihr Euer eigen Fleiſch und Blut morden?“
ſchrie der Ingenieur den Rancher nun an. „Soll das
liebe Mädel Eures Dickkopfs halber elendiglich ertrinken
müſſen?“
Wie aus einem Traume erwachend, ſtarrte Tom
Dugan mit weitgeöffneten Blicken um ſich. „Em'ly —
mein Kind — mein Liebling!“ ſtöhnte er auf.
„Ich bleib' bei dir, Vater — und muß es geſtorben
ſein, ſo erbarme Gott ſich unſer. Ich verlaſſ' dich nicht!“
Noch eine Sekunde voll verzweifelten Seelen
kampfes verſtrich. Dann preßte Tom Dugan fein Kind
an ſich und hob es hoch. „Nein, Em''ly, ſterben ſollſt
du nicht müſſen! Wie ſollt' ich ſonſt der Mutter unter
die Augen treten können — komm!“ |
Mit Emily in den Armen watete er zur Tür.
Gordon wollte die Hängelampe auslöſchen.
Da wehrte er mit energiſchem Kopfſchütteln ſeinem
Vorhaben. „Wenn ſchon mein Glück untergehen muß,
jo mag’s mit brennenden Lichtern geſchehen!“ ſagte
er dumpf.
Als letzter, immer noch die an feinem Herzen wei-
nende Tochter im Arme, verließ er das Haus. Das
Tor konnte er nicht mehr ſchließen, denn das Waſſer
ſtand ſchon über dem Türſchloß.
Unter dumpfem Angſtgewieher zogen die Pferde
an. Als das Gefährt ſich ſeinen Weg durch die ſtrudelnde
Flut, vorüber am wellenumtoſten Grabe, mühſelig er—
kämpfte, kam ein Schluchzen über die Lippen des
alten Mannes, der neben dem Wagen einherritt, ohne
Emilys Hand loszulaſſen. a
170 Eigenland. 2
„Mutter, ich komm' wieder zu dir — wir bleiben
beiſammen, Mutter!“ ſchrie er durch das Brüllen der
Donnerſchläge.
Nun ging es das Tal hinauf, und endlich war die
ſichere Höhe erreicht, und die abgerackerten Pferde
durften ſich verſchnaufen.
Das Gewitter hatte ſich ausgetobt, und auch der
Sturm ebbte ab. Dafür ſenkten ſich rieſige Wolten-
maſſen tief zur Erde, und der Regen goß weiter. Auch
die laſtende Schwüle hielt an, und ſtatt der grollenden
Donnerſchläge hörte man nun das geſchwätzige Plät-
ſchern der an den Felsmauern niederrieſelnden Schnee-
gewäſſer und das hohle Raufchen des unten im Tal-
keſſel noch unabläſſig ſteigenden Fluſſes.
Emily litt es nicht länger im Wagen. Sie ſprang
ab und trat dicht an den Abgrundrand, wo bereits
Gordon Harland ſtand, der ſein Pferd mit der einen
Hand beim Zügel gefaßt hielt.
Von unten herauf grüßte noch immer das von der
Hängelampe im Wohnzimmer ausſtrahlende Licht.
Durch die Fenſter, bis zu deren Simſen die gefräßige
Flut bereits hochgeſtiegen war, leuchtete die Lampe
auf ein wildbewegtes und unüberſehbares Meer.
Durch die ſchweren Wolken begann der junge Tag
zu dämmern und ließ die Taltiefe noch ſchwärzer und
troſtloſer verlaſſen erſcheinen.
„Verloren — heimatlos!“ kam es aufſchluchzend
von Emilys Lippen. |
„Das Tal unten konnte nicht immer grünen — feine
Zeit iſt um!“ ſagte Gordon ernſt. „Aber heimatlos
biſt du darum doch nicht geblieben, arme liebe Emily.
Datf ich dir fortan Vaterhaus und Heimat erſetzen,
darf ich deines Vaters Sohn werden — willſt du?“
Als er ſie an ſich zog, da fühlte er keinen Widerſtand
2 Novelle von Otto Hoecker. 171
mehr. Weinend ließ ſie ſich von ihm an die Bruſt ziehen,
und mit geſchloſſenen Augen, wie um das Schreckliche
unten in der Tiefe nicht länger ſehen zu müſſen, ruhte
ſie an ſeinem Herzen.
Auch Tom Dugan war vom Pferd geſtiegen und
bis dicht an den Abgrundrand vorgetreten — wie
damals vor langen Fahren, als ſein verheißenes Land
ihn zum erſten Male von der nämlichen Stelle gegrüßt
hatte. Damals war ſein junges Weib neben ihm ge—
ſtanden, hatte verklärt lächelnd ihn angeblickt, zum Tal
hinuntergedeutet und geſagt: „Dort ſoll unſere Heimat
ſein!“
Für die Ewigkeit hatten ſie geplant und gebaut.
Nun wankte unten das Haus. Das Waſſer wuſch
zwiſchen den aufeinandergetürmten Steinen. Längſt
hatte es die Scheiben eingedrückt. Das Wohnzimmer
war noch der einzige lichte Fleck. Und jetzt begann auch
die Lampe zu flackern. Vom Waſſer getragen hob ſich
der Tiſch, der ein Menſchenalter unter ihr geſtanden,
zu ihr empor. Nun ſtieß er gegen ſie, und ſie begann
pendelnd zu ſchwanken. Immer ſtärker flackerte die
Flamme — und dann erloſch ſie plötzlich.
Nun war es völlig Nacht da unten geworden. Da
unten ſtarb, was ſie liebgehabt — ſie konnten es nicht
abwenden.
Dann kam aus der Tiefe ein Krachen und Splittern,
dazwiſchen das klatſchende Anſchlagen hochſpritzender
Wellen. f
Angſtvoll ſuchte Tom Dugans Blick die Stelle, wo
er das Grab ſeines Weibes wußte. Fahl leuchtete nun
der junge Morgendämmer auch in die Tiefe. Dort
war jetzt alles verſchwommen grau in grau. An den
feſtgetürmten Steinen kroch die zerſtörende Flut hoch.
Wenn zuweilen eine Giſchtwelle brandend hochſchlug,
12: = Eigenland. 2
konnte man meinen, auf den Steinen ſtände eine weiß—
verſchleierte Geſtalt und winke.
Tom Dugan ſtand mit weitgeöffneten, ſtarren Augen.
Er wenigſtens ſah ſein verklärtes Weib in ſchimmernd—
weißem Gewande auf dem Grabhügel ſtehen und ihm
zuwinken. Durch das ungewiſſe Dämmerlicht glaubte
er ihre vertrauten Züge, ihre winkenden Hände deut-
lich erkennen zu können.
Bis die Flutmaſſen auch am Grabe ihr Zerſtörungs-
werk vollendet und die hochgetürmten Steine unter-
wühlt hatten. Wie ſie nun auseinanderbrachen und
in der hochaufſchäumenden Flut verſchwanden, da ſah
es ſich beinahe an, als ſchwebe über ihnen ein weißes,
ſchleierhaftes Gebilde, winke und flöge aufwärts zu
den in ergriffenem Schweigen Stehenden.
Der Wind ſchlug plötzlich um und wehte den Regen
gegen die Geſichter der kleinen Gruppe, weich und
lind, als wolle er ſie tröſtend liebkoſen. |
Ein Schauer ging durch Tom Dugans mächtige
Geſtalt, und er ſtreckte die Hände aus, als wolle er etwas
Unfichtbares, das plötzlich neben ihm ſtand, begrüßen.
„Mutter — nun verſteh' ich deine Meinung!“
flüſterte er und blickte ſo ſeltſam eigen, als ſchaue er
in ein gütiges Lächeln, das außer ihm niemand ſehen
konnte. „Du weilſt nicht länger mehr da unten, du
kamſt zu mir und — du bleibſt bei mir! — Ach, Mutter,
nun mögen die Waſſer brauſen! Ich hab' dich und
ich halt' dich — du biſt wieder bei mir!“
Der Rancher achtete nicht auf die verwunderten
Blicke der um ihn Stehenden. Wie er ihnen zunickte,
waren ſeine Augen klar wie immer.
„Vorwärts!“ ſagte er. „Wir ſind wieder beiſammen,
keiner fehlt uns mehr — und nun des Weges weiter,
wohin der Herr uns führt!“
*
*
%
2 Novelle von Otto Hoecker. 173
Gordon ſuchte den Rancher in der Bretterhütte auf,
in der die Familie einſtweilen Unterkunft gefunden,
nachdem ſich herausgeſtellt hatte, daß das Hochwaſſer
fein Zerſtörungswerk gründlich beſorgt und den Tal—
keſſel dauernd unter Waſſer geſetzt hatte.
Mit einem Briefe in der Hand trat er vor den alten
Mann.
„Joe hat an mich geſchrieben,“ ſagte er mit einem
ſtrahlenden Seitenblicke auf die errötende Emily, „er
weilt jetzt in Neumexiko, und ſeiner Behauptung nach
gibt es dort gutes Land zu wahren Spottpreiſen zu
kaufen. Er läßt Euch durch mich den Vorſchlag machen,
dorthin zu kommen und Euch dort anzukaufen. Was
meint Ihr dazu?“
In den letzten Wochen war Tom Dugan ein ganz
anderer geworden. Er hatte in ſeiner Streitſache mit
der Baugeſellſchaft dem Ingenieur völlig freie Hand
gelaſſen und die ihm bewilligte Entſchädigungsſumme
angenommen, ohne ein Wort dazu zu ſagen.
„Überall iſt Gottes Erde,“ erklärte er nun, „und
Joe weiß, was wir für Land gebrauchen. Nun die
Mutter wieder bei mir iſt, geh' ich bis an das Ende
der Welt. Aber was ſoll aus Euch werden, Gordon —
ich kann mich nicht von Emily trennen!“
„Das ſollt Ihr auch nicht, denn wir bleiben bei—
ſammen!“ erklärte Gordon im Tone freudiger Zu—
verſicht. „Ich habe von der Geſellſchaft meine Ent—
laſſung erbeten und erhalten. Die Dammbauten ſind
ohnehin nahezu fertig und haben die Waſſerprobe glän-
zend beſtanden. Was noch zu tun bleibt, kann auch
ein anderer vollbringen. Laßt mich Euer Sohn ganz
fein — Eure rechte Hand im Verein mit Bill auch bei
der Arbeit. Die Erde lockt und ruft mich. Nachdem
ich die Freiheit gekoſtet, mag ich nicht mehr zum Bann
174 Eigenland. | 2
der Großſtadt zurückkehren — ein freies, glückliches
Daſein an Emilys Seite winkt mir als höchſtes Lebens-
glück!“
Da ſchlug Tom Dugan wortlos in die ihm dar-
gebotene Hand. Er war viel zu bewegt, um ſprechen
zu können, und als die Liebenden ſich in ſeliger Am-
armung hielten, nickte er immer wieder vor ſich hin.
„Mutter,“ flüſterte er mit zitternder Stimme, „nun
hat uns der Himmel noch einen neuen, lieben Sohn
dazugeſchenkt. Nun wird auch unſere Emily wieder
klare Augen bekommen — und morgen gehen wir.
wieder zuſammen auf die Suche nach neuem Eigen-
land, du und ich, zuſammen mit unſeren lieben Kindern.“
2
Ir
Be | ee
>
Darifer Straßenberufe.
von A. O. Klaußmann.
mit 9 Bildern. Y (nachdruck verboten.)
Mi vollem Recht hat man die Boulevards von
Paris, beſonders die großen Boulevards, das
„Herz Frankreichs“ genannt. Auf dieſen breiten, zu-
ſammenhängenden Straßenzügen, die Napoleon III.
durch ſeinen Präfekten Haußmann durch das Gewirr
der engen und ſchmutzigen Gaſſen der Pariſer Altſtadt
brechen ließ, ſpinnt ſich in der Tat bei Tage und bei
Nacht das Leben und Treiben des Pariſers ab, ſowohl
deſſen, der feinen Beſchäftigungen nachgeht, als des-
jenigen, dem es feine Verhältniſſe geſtatten, zu „Tla-
nieren“. Die Elyſäiſchen Felder und der Zuilerien-
garten ſind der große Feſtplatz von Paris, auf dem
ſich die offiziellen Veranſtaltungen abſpielen. Aber wer
das eigentliche Leben und Treiben der Bevölkerung
von Paris kennen lernen will, der muß ſeine Studien
auf den Boulevards machen. |
Beginnen wir unfere Wanderung auf dem Baſtille-
platz, und gehen wir den Boulevard Beaumarchais hin-
auf. Hier begegnen uns eine Menge von Menſchen,
denen man es anſieht, daß fie nicht nur zum Spazieren-
gehen, ſondern ihrer Geſchäfte halber unterwegs ſind.
Man findet bei ihnen nicht das überhaſtete Eilen des:
Berliners, noch den finſteren Geſchäftsernſt des Eng—
länders. Dieſe Leute haben noch einen Augenblick Zeit
176 Pariſer Straßenberufe. a)
übrig neben ihren Geſchäften. Auf den GStraßen-
dämmen flutet ein ungeheurer Verkehr von Omnibuſſen,
Straßenbahnwagen, Droſchken und Equipagen. Die
fünf- bis ſiebenſtöckigen Häuſer zur Rechten und Linken
des breiten Fahrdammes weiſen in ihren Erdgeſchoſſen
ausnahmslos glänzende Läden auf. Es fällt uns vor
allem auf, daß Schuhwaren, Korſette, Delikateſſen, Hüte
und Modewaren zum Verkauf gehalten werden, und
ſchon nach kurzer Zeit entdecken wir, daß es ungemein
viele Friſeure und Haarhändler in Paris gibt.
Man ſollte alſo kaum glauben, daß auf den Boule-
vards noch ein anderer Verkauf als in dieſen glänzen—
den, mit allem Raffinement der Schaufenſterdekoration
und des modernen Komforts ausgeſtatteten Läden mög-
lich wäre. Aber es drängen ſich uns neben den Blumen-
verkäuferinnen und den Camelots, die beſonders Zei—
tungen und politiſche Flugblätter verkaufen, noch andere
Typen auf, ſo charakteriſtiſch und eigenartig, wie man
ſie eben nur auf den Pariſer Boulevards finden kann.
Das find Leute, die ihr tägliches Brot auf den Boule-
vards erwerben, die ſich ihre Einnahme dadurch ver-
ſchaffen, daß fie in origineller Weile etwas zum Ver-
kaufe anbieten oder eine Kunſt vorführen. Erfolge
für ſie ſind nur bei einem Publikum möglich, das den
Wohltätigkeitsſinn hat, den der Pariſer, noch mehr aber
die Pariſerin beſitzt. Sie ſind nur möglich dort, wo eine
außerordentlich nachſichtige Polizei niemand etwas
in den Weg legt, der die Abſicht hat, ſich ein paar
Centimes zu verdienen, ſelbſt wenn ſein Gewerbe nichts
anderes iſt als ein verkappter Bettel. Aber die Paſſanten
ſowohl wie die Poliziſten gönnen dem Unglücklichen den
„Selbſtbetrug, der durch fein Gebaren glaubt, er ſei ein
„Händler“ oder ein „Künſtler“, während er doch nichts
weiter tut, als Almoſen zu fordern.
2 Von A. O. Klaußmann. 177
Gegen ſolche Zumutung würde ſich zwar gewiß der
„Geſchäftsmann“ ſträuben, der eine Menſchenmenge
um ſich verfammelt, um auf einer ſchwarzen Tafel mit
Kreide Rechenexempel niederzuſchreiben und zu löſen.
Wir ſehen es auf dem Bilde, daß ſich kein weibliches
Der Erfinder eines neuen Rechenſyſtems erklärt feine |
Methode, bevor er ſeine Broſchüre anbietet.
Weſen für ſeine Künſte intereſſiert; aber die Männer,
beſonders die jüngeren, lauſchen ſeinen Erklärungen
und haben Intereſſe daran, denn er zeigt eine neue
Methode des Rechnens, ein abgekürztes Verfahren für
Subtraktionen, Multiplikationen und Diviſionen. Für
den Mathematiker und den routinierten Kaufmann ſind
dieſe abgekürzten, angeblich neuen Methoden etwas
1918. XII. 12
178 Pariſer Straßenberufe. ¹
ſehr Altes; das Publikum aber, vor dem der Rechen-
künſtler ſeine Gratisvorleſung hält, folgt gerne ſeinen
Ausführungen, denn es ſcheinen da allerlei Vorteile
in der ſchwierigen Kunſt des Rechnens geboten zu
werden. Natürlich erzählt der Rechenkünſtler auch von
ungeheuren Vorteilen, welche die abgekürzte Methode
bringen werde; er verſpricht den Zuhörern, ſie würden
ſich niemals verrechnen, wenn ſie ſich ſeiner Methode
bedienten, und ſchließlich greift er in die Taſche und
bietet Broſchüren an, in denen das „neue“ Rechen-
ſyſtem erklärt und mit Beiſpielen und Erläuterungen
verſehen iſt. Sein ganzes Jackett hat inwendig Taſchen,
die dick mit dieſen Broſchüren vollgeſtopft ſind, die nur
wenige Centimes koſten und von Intereſſenten gekauft
werden, weil das Riſiko eben kein allzu großes iſt.
Weiter oben an dem alten Triumphbogen der Porte
St. Denis, auf dem Boulevard gleichen Namens, ſehen
wir wieder einen Haufen Menſchen um einen Mann
verſammelt, der auf der Erde hockt und große weiße
Bogen mit Schriftzügen bedeckt. Er hat dieſe weißen
Bogen mit Steinen beſchwert, damit ſie der Wind nicht
entführt. Mit kühnem Schwung und kräftiger Hand
zieht er Schriftzüge auf die weißen Bogen — es iſt
ein Händler mit Füllfederhaltern, der hier ſeinen Zu—
ſchauern vor Augen führt, welch wundervolle Leiſtungen
man mit den bei ihm gekauften Schreibwerkzeugen
erzielen kann. Es iſt freilich wohl hundert gegen eins
zu wetten, daß der Füllfederhalter, mit dem der Händler
ſchreibt, der beſte ſeines ganzen Vorrats iſt, daß die
anderen Exemplare, die er für billigen Preis verkauft,
an Schreibfähigkeit und Dauerhaftigkeit dem Parade—
füllfederhalter, den er da vorführt, bei weitem nicht
gleichkommen, und daß ſie in noch höherem Maße
als ſonſt alle die Tücken beſitzen, durch die ein Füll-
u Von A. O. Klaußmann. 179
federhalter ſeinen Beſitzer über kurz oder ng zur Der-
zweiflung zu bringen pflegt.
Wir haben den Boulevard des Ftaliens . und
kommen an der Oper vorüber. Jetzt find wir auf dem
Höhepunkte der großen Boulevards, dem Dorado der
Ein Verkäufer von Füllfederhaltern breitet ſeine
Schriftproben auf der Erde aus.
Fremden, dem Hauptquartier der vornehmen Flaneure,
die hierher kommen, um zu ſehen und geſehen zu wer-
den, und für welche die Arbeit keine Notwendigkeit iſt.
Man ſieht es auch den zahlreichen Paſſanten an, daß
ſie lediglich ihrem Vergnügen und nicht einer ernſten
Beſchäftigung nachgehen. Sie find alle in beſter Stim-
180 Pariſer Straßenberufe. 2
mung, ſie haben Geld in der Taſche und huldigen dem
Grundſatz: Leben und leben laſſen.
Wieder eine Menſchenanſammlung, die ſich be-
ſtändig vergrößert. Wir treten neugierig heran und
es
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Der „Weltweiſe aus dem Morgenlande“ verſammelt eine
ungeheure Menge, um nachher Zigarettenpapier
zu verkaufen.
trauen unſeren Augen nicht, als wir inmitten der
Menſchenmenge, die ſich langſam fortſchiebt, einen echten
Magier erblicken. Wir kennen ja aus den Märchen-
büchern und von der Bühne her das Koſtüm des Ma—
giers, zu dem nach ungeſchriebenem Geſetze ein lang
herabwallendes, talarartiges Gewand in bunten Farben
und eine hohe ſpitze Mütze gehört. Einen ſolchen Magier
2 Von A. O. Rlaußmann. 181
haben wir vor uns. Der lange Bart paßt vortrefflich
zu dem Magiergewande, und das Benehmen dieſes
Weiſen aus dem Morgenlande iſt ein höchſt ſonderbares.
Hängt er geheimnisvollen Zauberproblemen nach, ſucht
er den Stein der Weiſen, iſt er der Welt entrückt durch
die ernſten Gedanken, die ihn bewegen? Er blickt zu
Boden, bleibt endlich ſtehen, geſtikuliert, murmelt un-
verſtändliche Worte und geht weiter. Die neugierige
Menge folgt ihm. Wiederum bleibt der Magier ſtehen,
hebt die Hände beſchwörend zum Himmel empor,
wenigſtens die eine Hand, denn in der anderen trägt
er einen großen Karton, und blickt nach den Dächern
und den zahlreichen Kaminröhren, die auf jeden Schorn-
ſtein des Pariſer Hauſes aufgeſetzt ſind.
Auf den Geſichtern der Leute, die dem Magier
neugierig folgen, ſieht man ein liebenswürdiges Lächeln.
Nirgends hört man ein Wort der Verhöhnung oder
des Spottes. Jetzt bleibt der Magier ſtehen und be-
ginnt zu reden. Ein zehnfacher Kreis von Neugierigen
umſteht ihn. Er ſpricht gut und mit dem ganzen Pathos
und dem lebhaften Gebärdenſpiel des Franzoſen. Er
erzählt in humoriſtiſchem Tone von den Forſchungen,
die er auf dem Gebiete der höheren Magie gemacht
hat, und — bietet dann aus ſeinem Karton Zigaretten
papier zum Kauf an. Die Käufer find überraſcht, aber
ſie lachen. Zigarettenpapier braucht jedermann, denn
der Pariſer dreht ſich ſelbſt feine Zigaretten, um nicht
für die Zigaretten, die aus den Staatsmonopolfabriken
ſtammen und die teuer und ſchlecht ſind, unnützes Geld
auszugeben. Es hat zwar wohl jeder der Raucher, die
anweſend find, ein oder mehrere Pakete Zigaretten-
papier bei ſich, aber ſie kaufen doch. Sie freuen ſich
über die originelle Art und Weiſe, in der dieſer Mann
ſeine Ware loszuwerden ſucht. Und nicht nur Ware
182 Pariſer Straßenberufe. u
und Geld werden zwiſchen dem Magier und den Käufern
ausgetauſcht, ſondern auch verbindliche, höfliche Redens-
arten. |
Der lange Marſch hat uns müde gemacht; wir be-
ſchließen, auf der Terraſſe eines Cafés auszuruhen.
Der Degenfchluder, der ſich vor einem Café produziert.
Das Wort „Terraſſe“ muß man nicht in dem Sinne
verſtehen wie bei uns in Deutſchland. Die Cafetiers,
welche ſich an gewiſſen Stellen der Boulevards faſt in
jedem Hauſe finden, ſetzen einfach im Sommer einen Teil
ihrer Stühle und Tiſche auf das Trottoir, ſpannen ein
Leinwandſchutzdach darüber — und fertig iſt die
„Terraſſe“. Es ſitzt ſich köſtlich in dieſen Pariſer Kaffee-
u Von A. O. Rlaugmann. 183
häuſern auf den Boulevards, weil man hier wie in
einer Theaterloge das geſamte Auf- und Abfluten des
Pariſer Lebens ſo bequem beobachten kann.
Da erſcheint ein Mann, der ſich vor den Tiſchen
aufſtellt, ſich höflichſt verbeugt, ſeinen Strohhut auf die
Erde legt, unter ſeinem etwas fadenſcheinigen Jackett
einen Degen mit dünner Klinge herausholt und ſich
dann hinſtellt, um dieſen Degen durch den Mund regel-
recht in die Speiſeröhre hinabgleiten zu laſſen. Es iſt ein
ſogenannter Oegenſchlucker, der feine Künſte produziert.
Er ſpricht kein Wort, er ſchreit nicht, er geht auch nicht
etwa, nachdem er den Degen wieder aus dem Leibe
herausgezogen hat, mit dem Hute in der Hand ſammeln.
Aber hier und dort von den Tiſchen winkt man ihn
heran und drückt ihm ein Kupferſtück in die Hand.
Einen Sou hat man für einen ſolchen Mann immer
übrig. Manchem Kaffeehausbeſucher und mancher Be-
ſucherin mag es unappetitlich geweſen ſein, dem Mann
bei ſeiner Degenſchluckerei zuzuſehen; aber ſie äußern
ſich nicht abfällig über ihn, noch weniger machen ſie
ihm Vorwürfe, und ſchließlich reichen ſie ihm doch eine
Kupfermünze. |
Wir nehmen unſeren Spaziergang wieder auf und
gehen nach Nordweſten über den Boulevard Haußmann,
bis wir nördlich von dem Platze, auf dem der Triumph-
bogen ſteht, in die ſogenannten Außenboulevards ge-
langen, die wir nunmehr nach entgegengeſetzter Him-
melsrichtung als bisher verfolgen. Über die Boulevards
de Courcelles und de Batignolles gelangen wir in die
Arbeiter- und Studentenviertel von Paris. Noch immer
ſind die Boulevards gewaltig breit und von hohen
Häuſern beſetzt; auch die doppelten Baumreihen fehlen
nicht, und ſelbſt hier wird man Eleganz und verlockende
Aufmachung in den Läden nicht vermiſſen, wenn auch
184 Pariſer Straßenberufe. u
natürlich die Ausſchmückung und die ausgeſtellten Waren
ſich mit den Schaufenſtern auf den großen Boulevards
nicht meſſen können.
Hier fallen uns unter den Paſſanten die Soldaten
aus den benachbarten Kaſernen auf, die Kindermädchen,
Der Feſſelungskünſtler auf einem der äußeren Boulevards.
die Dienſtmädchen und Köchinnen, die Arbeiterfrauen,
die Studenten, die Künſtler in ihren etwas gewagten
Koſtümen. Hier hat man nicht viel Zeit zum Flanieren
und Bummeln, aber doch immerhin noch ſo viel Zeit,
um ſeine Neugier zu befriedigen. Hier finden ſich die
eigenartigen Darbietungen der Leute, die ſich ein paar
Centimes verdienen wollen, in derberer Geſtalt und
QO Von A. O. Klaußmann. 185
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eben auf ein anderes Publikum berechnet als auf den
großen Boulevards. Und mit wie geringen Mitteln
werden dieſe Vorführungen inszeniert! Unſer Bild
auf Seite 184 zeigt uns einen Feſſelungskünſtler oder
vielmehr einen Befreiungskünſtler. Ein altes Stück Pack-
leinwand wird auf die Erde gelegt. Der Befreiungs-
künſtler benützt dieſe Packleinwand als Unterlage und
Ein Kopfakrobat auf den Boulevards.
wird von feinem Genoſſen (links auf dem Bilde) nach
allen Regeln der Kunſt ſo gefeſſelt, daß es unmöglich
ſcheint, ſich ohne fremde Hilfe zu befreien. Während
aber dann der Gehilfe des Feſſelungskünſtlers plaudernd
im Kreiſe der Neugierigen herumgeht, um ihre Auf-
186 Pariſer Straßenberufe. a
merkſamkeit auf fich zu lenken, hat ſich der Feffelungs-
künſtler mit einigen kühnen Griffen raſch fo weit be-
freit, daß er von ſelbſt aufſtehen und einige Ze
herumgehen kann.
Man ſpendet einige Kupferſtücke, und die beiden
Geſchäftsleute nehmen die Stricke und die alte Badlein-
wand auf, um eine Strecke weiter ihre Künſte von neuem
zu produzieren. Der Pariſer iſt eben wohlwollend, auf
den Außenboulevards vielleicht noch wohlwollender als
dort, wo die vornehme Welt ſich ein Rendezvous gibt;
ſagt doch das Sprichwort, das bei allen Völkern Gültig-
keit hat: „Ein armer Menſch hat ein gutes Herz.“ Des-
halb findet auch noch der „Gamin“ eine kleine Ein-
nahme, der vor den Kaffeehäuſern der äußeren Boule-
vards Rad ſchlägt, auf dem Kopfe ſteht oder andere
Künſte ſehen läßt, die beweiſen, daß der menſchliche
Kopf ebenſogut als Ramme und Hammer, wie zum
Denken benützt werden kann.
Eine verſteckte Bettelei und nichts weiter betreibt
die Wahrſagerin, die an einer Hauswand ſitzt, ſich von
den Paſſanten die Hand zeigen läßt und dann für zehn
Centimes dem Bezahlenden auf einen Zettel Angaben
niederſchreibt, wie ſich ſeine Zukunft geſtalten wird.
Der Franzoſe iſt abergläubiſch, und es macht ihm Spaß,
den Zettel, der Andeutungen über ſeine Zukunft ent-
hält, ſeinen Familienangehörigen und ſeinen Freunden
zu zeigen. Er weiß auch, daß die Prophezeiung für
die Zukunft um ſo beſſer ausfällt, je wertvoller das
Geldſtück iſt, das man in die Hände der alten Sibylle
legt, und deshalb hat dieſe Pariſer Boulevardpythia
wahrſcheinlich eine vielfach größere Einnahme, als wenn
ſie nur die Hand ausſtrecken würde, um eine Gabe zu
heiſchen.
Gutmütige Menſchen ſind auch immer ſentimental
u Von A. O. Klaußmann. 187
und ſind dankbar, wenn man ihnen etwas Sentimentales
bietet, ihnen vielleicht ſogar Tränen der Rührung ent-
lockt. Das haben ſich auch die beiden Straßenmuſikanten
Eine Wahrſagerin ſchreibt jedem zntereſſenten feine
Zukunft auf.
daß ſentimentaler Geſang noch rührender wirkt, wenn
er von den ſanften, klagenden Tönen eines Harmoniums
begleitet wird. Mit großer Geſchicklichkeit haben ſie ſich
ein altes Harmonium ſo hergerichtet, daß ſie es mit
Leichtigkeit in den Straßen herumtragen können. Ein
zuſammenklappbarer Stuhl für den Harmoniumſpieler,
ein Kaſten, der die Noten enthält, wird von den beiden
188 Pariſer Straßenberufe. 2
. *
kräftigen Männern leicht mitgetragen. In den Arbeiter-
vierteln, in der Nähe von Kaſernen und Hoſpitälern
ſetzen ſie das Harmonium mitten auf die Straße nieder
und beginnen ihre Vorführungen. Bald iſt auch ein
N
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1
len
Pariſer Straßenmuſikanten, die ein Harmonium
mit ſich führen.
zahlreiches Publikum verſammelt, das andächtig laufcht.
Der „Piou-Piou““) denkt bei dem ſentimentalen Ge—
ſang an die ferne Heimat und an das liebe Mädchen,
das er dort zurüdgelafjen hat, und die auf einem Ein-
kaufsgange begriffene Köchin erinnert ſich vielleicht bei
dem Geſang mit Rührung des Ungetreuen, der ſie erſt
*) Spottname für den franzöſiſchen Infanteriſten.
u Von A. O. Nlaußmann. 189
vor kurzem ſitzen ließ. Sie alle haben eine Kupfermünze
übrig für die ausübenden Künſtler, die mit Muſik und
Geſang ſich in ihr Herz ſtehlen und ihre Rührung wecken.
Längſt haben wir unſere Schritte nach Süden ge-
lenkt und find auf den Boulevard de Sébaſtopol ge-
langt, der uns an den rieſigen Markthallen vorüber-
führt. Außer den Gemüſeverkäuferinnen, die den
prunkenden Namen „Händler der vier Jahreszeiten“
Der Verkäufer eines neuen Schuhknöpfers.
führen, und den Suppenverkäufern, die eine dunkle,
nicht übel duftende Suppe, nach deren Zutaten man
ſich nur nicht allzu genau erkundigen darf, an Lieb-
haber abgeben, finden wir noch einen abſonderlichen
190 Pariſer Straßenberufe. 2
Verkäufer, der Schuhknöpfer an Mann und Frau bringen
will. Die liebe Weiblichkeit und Männlichkeit in Paris
hält außerordentlich viel auf ihr Außeres und verſteht
ſelbſt mit geringen Mitteln ſich modern und elegant
herauszuſtaffieren. Weil geknöpfte Schuhe einen ele-
ganten Fuß machen, iſt der Knöpfſchuh, den man bei
uns ſelten findet, in Paris allgemein verbreitet. Einen
Schuhknöpfer braucht daher jedermann, und ein neu-
artiger Schuhknöpfer, mit deſſen Hilfe man raſcher fertig
wird als mit dem alten Modell, kann immer auf Käufer
rechnen. Die Hauptſache iſt, daß man dem Publikum
praktiſch vorführt, wie ſehr ſich der Schuhknöpfer be-
währt.
Der Verkäufer hat ſich ein dreibeiniges Stativ aus
Eiſenſtangen hergerichtet, das er überall leicht auf-
ſchlagen kann, und das zur Stütze für den Fuß dient,
deſſen Schuh er knöpfen will. Natürlich muß der Ver-
käufer einen kleinen eleganten Fuß und neue elegante
Fußbekleidung haben und große Gewandtheit im Auf—
und Zuknöpfen der Schuhe beſitzen. Dann zieht er nicht
nur Neugierige, ſondern auch Käufer heran und kann
mit ſeinem Tagewerk zufrieden ſein, wenn das Nacht-
dunkel wie eine Wolke von oben her in die Straßen
hineinſinkt und überall die elektriſchen Lichter auf-
flammen.
%
Der Gewiſſensdoktor.
Eine Geſchichte zum Nachoͤenken. von A. Erbſtein.
1
[Nachoͤruck verboten.)
(Ki Kaſpar, feit einem halben Jahre wohlbeſtallter
Doktor der Philoſophie, ſaß ſehr traurig auf ſeiner
Bude. Seine Niedergeſchlagenheit war leicht begreif-
lich, denn er litt buchſtäblich Hunger. Sein reiches
Wiſſen nützte ihn gar nichts, mit dem Beweiſe, daß in
einem Kubikzentimeter Gas ſiebenundzwanzig Trillionen
Atome enthalten ſind, konnte er kein Brot ſchaffen, kein
Schneider gab ihm Kleider für die Mitteilung, daß die
Apfelbäume zu blühen beginnen, wenn im Erdboden
in einer Tiefe von einem halben Meter eine Tempe-
ratur von zehn Grad Celſius herrſcht.
Sein Sinnen und Brüten endete ſchließlich mit dem
Entſchluſſe, am nächſten Tage die Stelle eines Schaff-
ners bei der ſtädtiſchen Straßenbahn anzunehmen, wenn
ihm bis dahin nichts Beſſeres einfallen ſollte.
Während er aber die Lampe ausdrehte, was er aus
Sparſamkeit ſtets ſchon vor dem Auskleiden tat, er-
heiterte ſich plötzlich ſeine Miene. Er hatte einen guten
Gedanken.
Am nächſten Morgen ging er in der Tat nicht zur
Direktion der ſtädtiſchen Straßenbahnen, ſondern in
ein Zeitungsbureau und gab dort folgende Anzeige auf:
„Gewiſſensdoktor befreit nach einer ſtreng wiſſenſchaft—
192 Her Gewiſſensdoktor. | 2
lichen Methode von jeder Seelenangſt, heilt alle Her-
zenswunden, löſt peinigende Zweifel, vertreibt Ge-
wiſſensbiſſe und gibt dem Leben die wahre Richtung.“
Er fügte noch ſeine Adreſſe und die Aufforderung hinzu,
für den erſten Rat eine Zehnmarknote beizuſchließen.
Dann bezahlte er das Inſerat mit den letzten Nickel-
ſtücken, die ihm in dem vorhergegangenen Kampfe ums
Daſein geblieben waren, und ging in gehobener Stim-
mung heim. Kein Zweifel, dachte er ſich, es gibt genug
Leute, die von irgendwelchen Gewiſſensbiſſen gequält
werden, denen an einer Banknote nichts liegt, die eine
Hilfe brauchen, die nur der geben kann, der ſo wie ich
alle Geheimniſſe des Lebens kennt. Ich will die Sache
ganz ehrlich treiben. Wo kein Rat zu geben iſt, will
ich auch kein Geld nehmen. So wird Leiſtung gegen
Leiſtung ſtehen, ich muß nicht mehr am Hungertuche
nagen und kann vielleicht auch Gutes ſtiften.
Der Erfolg ſeiner Idee war bald ſo groß geworden,
daß er eine geräumige Wohnung ſuchen mußte, denn
die meiſten Hilfsbedürftigen wendeten ſich nicht, wie
er gedacht hatte, ſchriftlich an ihn, ſondern kamen per-
ſönlich. Nach Ablauf einiger Wochen hatte er ſchon
ſo viele Fälle, daß er zur Erledigung der ſchriftlichen
Behandlung einen Sekretär aufnehmen mußte, dem er
bald auch die einfacheren Sachen zur ſelbſtändigen Ent-
ſcheidung überließ.
Heute herrſchte in dem Vorzimmer des vornehmen
Empfangsraumes ein beſonders lebhaftes Treiben.
Lauter vornehme Leute waren gekommen. Arme
Schlucker erſchienen überhaupt ſehr ſelten, woraus der
Doktor den kühnen Schluß zog, daß die Reichen ent
weder häufiger ein belaftetes Gewiſſen haben oder doch
mehr Zeit zu ſeiner Erforſchung und mehr Geld zu
oO Von A. Erbſtein. 193
ſeiner Erleichterung verwenden können. Dieſe nicht
ſehr tiefſinnige Betrachtung machte ſeinem Rufe als
Wunderdoktor allerdings wenig Ehre, die Tatſache aber,
an die ſich dieſe Betrachtung knüpfte, füllte prächtig
ſeinen Beutel. Auf der ſilbernen Schüſſel, die auf
dem Tiſche in ſeinem Sprechzimmer ſtand, lagen wieder
eine Menge Banknoten; es war ein ergiebiger Tag
geweſen, und alle Kunden bis auf zwei, die noch draußen
im Vorzimmer warteten, waren in zweifacher Hinſicht
erleichtert von dannen gegangen.
Auf das Glockenzeichen des Doktors trat der erſte
der beiden, ein älterer, vornehm gekleideter Mann, ins
Sprechzimmer ein. Nach der Begrüßung und einigen
Fragen und Antworten ſchilderte er feinen Fall folgen-
dermaßen. „Ich verſtehe mich ſelbſt nicht, denn ich
fange an, an mir zu verzweifeln,“ ſagte er traurig.
„Ich habe eine liebe, gute Frau und eine reizende
Tochter. Ich bin beiden ſehr zugetan, doch es vergeht
kaum ein Tag, an dem ich nicht durch einen unver-
nünftigen Wutausbruch, durch meinen Jähzorn meine
Frau oder meine Tochter unglücklich und mich ſelbſt
verabſcheuungswürdig mache. So vergifte ich unauf-
hörlich das Leben der beiden Menſchen, die ich am
liebſten auf Erden habe. Sehen Sie, Herr Doktor,
erſt heute früh habe ich meiner Tochter ein mit Honig
und Butter beſtrichenes Brot an den Kopf geworfen.
Ich weiß, daß ich eine Strafe verdiene. Helfen Sie mir,
und ſtrafen Sie mich meinetwegen!“
„Können Sie denn Ihr Temperament gar nicht
zügeln?“ fragte der Doktor.
„Ich ſtrenge mich mächtig an, es zuwege zu bringen,
aber —“
„Wenn es ſo iſt, dann geſtatte ich mir die Frage:
Sind Sie ein Freund vom Gehen in AT ar
1918. XII.
194 Der Gewiſſensdoktor. u
„Nein — das bin ich keineswegs,“ beteuerte der
Mann. Er ſagte aber nicht, daß er ſeine Laufbahn
als Laufburſche begonnen hatte zu einer Zeit, da nur
wenige Verkehrsmittel vorhanden waren, und daß er
ſeither zum Unterſchiede von dieſer beſcheidenen An-
fangsſtellung keinen Schritt mehr zu Fuß machte, wenn
er es irgend vermeiden konnte.
„Sie haſſen alſo die Bewegung. Nun, ich kann
Ihnen aber leider nicht helfen: Sie müſſen von heute
an jeden Tag mindeſtens zehn und an jedem Sonntag
mindeſtens zwanzig Kilometer zurücklegen!“
„Das iſt ein bißchen arg, Herr Doktor — meinen
Sie nicht?“
„Es iſt genau die Zahl, die Ihrem Falle ent-
ſpricht.“
„Sie faſſen aber Ihre Patienten gar zu ſcharf an!“
„Sie bezahlen mich für einen ſtreng wiſſenſchaft—
lichen Rat, und ich darf Ihnen keinen anderen geben.
— Guten Tag, mein Herr!“
„Würde ich nicht das gleiche durch eine große Spende
für einen wohltätigen Zweck erreichen?“
„Ganz gewiß nicht. Zehn Kilometer täglich, am
Sonntag das Doppelte — das iſt das einzige wirkſame
Mittel. Nun wollen Sie mich aber entſchuldigen. Es
wartet noch eine Dame draußen.“
Er ging, befolgte den Rat des Doktors und wurde
ſchon nach einigen Wochen der beſte und liebenswürdigſte
Menſch.
Nach dem Fähzornigen trat ein ſchlankes Fräulein
beim Doktor ein. Ihr ſchönes Geſicht war in dieſem
Augenblicke ſo weiß wie ihr koſtbarer Schleier. Sie war
anſcheinend eines der zarten Geſchöpfe, die viel Liebe
und Sonnenſchein brauchen, denn ihre Augen ſchauten
ſo furchtſam in die Welt, als ob ſie Angſt hätten, auf
a Von A. Erbſtein. 195
die unrichtige Welt gekommen zu ſein, wo es gar nicht
ſo viel Liebe gibt, als ſie täglich brauchen.
„Kennen Sie mich, wiſſen Sie, wer ich bin?“ fragte
ſie ſogleich mit ihrer glockenhellen Stimme.
„Nein,“ ſagte der Doktor ruhig und ſah ſie ſchaͤrf
an, ſich wundernd, daß ein ſo herrliches Mädchen etwas
auf dem Gewiſſen haben könne.
„Oh, da bin ich ſehr froh!“ rief ſie aus. „Ich fürchtete
nämlich, Sie wüßten, wer ich bin. — Darf ich mir
Ihren Rat erbitten?“ Sie legte bei dieſen Worten
eine blaue Banknote auf den Tiſch.
„Bitte, nehmen Sie Platz!“ antwortete der Doktor
in freundlichem Tone. „Am beiten iſt wohl, Sie er-
zählen mir Ihre Geſchichte ohne Umſchweife.“
„Ich glaube eigentlich nicht, daß ich etwas Unrechtes
getan habe,“ ſagte ſie. „Ich bin mir keiner Schuld
bewußt; aber ich brauche Ihren Rat, der fo leidenſchafts-
los, oder beſſer geſagt, ſo unparteiiſch als möglich ſein
ſoll. Sie dürfen aber dabei nicht gewöhnlich oder
hausbacken zu mir reden, ſondern müſſen meinen Fall
im ſtreng ethiſchen Sinne behandeln.“
„Gewiß, mein Fräulein, dafür haben Sie mich doch
bezahlt. Rein wiſſenſchaftlich, nach den ehernen Ge-
ſetzen der Ethik will ich Ihren Fall prüfen.“
„Fangen wir alſo an!“ meinte fie. „Ich bin ver-
lobt.“
„Darf ich Ihnen gratulieren?“
„Nein!“ rief ſie ärgerlich aus. „Das iſt ja die Sache.
Ich liebe den Mann, mit dem ich verlobt bin, nicht in
dem Maße, wie ich einen anderen liebe.“
„Warum heiraten Sie dann nicht den anderen?“
„Ich will ja eben von Ihnen hören, welchen von
den beiden ich nehmen ſoll, was das Richtige iſt in einem
ſolchen Falle. Ich kann ja meinen Bräutigam ſo weit
196 Der Gewiſſensdoktor. o
ganz gut leiden, aber den anderen liebe ich. Verſtehen
Sie mich, Herr Doktor? Den anderen bete ich heim-
lich an!“
Eine lebhafte Röte ſchoß bei Ra Morten in a
zarten Wangen.
„Und die Schwierigkeit?“
„Geld.“
Der Doktor ſah enttäuſcht darein. Mit ſolchen Dingen
hatte er doch nichts zu Schaffen! Aber es ſchien ihm
immerhin eine grauſame Sache, daß dieſes ſchöne Mäd-
chen verſchachert werden ſollte.
Sie erriet ſeine Gedanken und ſagte: „Es iſt nicht
ſo einfach, wie Sie glauben. — Sollen die Kinder den
Eltern unbedingt folgen?“
„Wenn die Eltern im Rechte ſind — ja.“
„Mein Vater hat mich ſehr gerne, verhätſchelt mich
in jeder Hinſicht, und nur ſeine Liebe zu mir iſt der
Beweggrund zu dem Wunſche, daß ich den Mann
heirate, mit dem ich verlobt bin. Er will nicht, daß
ich jemals Not leide. Ich bin übrigens auch gar nicht
erzogen worden, um die Frau eines armen Mannes
ſein zu können. Es wäre daher wohl auch nicht ſchön
von mir, den anderen zu heiraten — nicht wahr?“
„Wie arm iſt denn der andere?“
„Er hat ein Einkommen von zehntauſend Mark
jährlich. Ich muß aber hinzufügen, daß ich beinahe
mehr für meine Kleidung brauche.“
Der Doktor ſah ſinnend vor ſich hin.
„Nun, was ſoll ich tun?“ fragte die Beſucherin
ungeduldig.
„Was würden Sie tun, wenn der Arme heute abend
auf dem Heimwege getötet würde? Nehmen Sie an,
Sie würden ihn nie wiederſehen, niemals wieder mit
ihm ſprechen.“
u Von A. Erbſtein. 197
„Ich weiß wirklich nicht, was ich da —“
„Mehr können Sie mir nicht ſagen?“
„Verzeihung, aber er wird ja doch nicht getötet!“
„Ah, Sie weichen meiner Frage aus! Sie wollen
alſo dieſer Möglichkeit gar nicht in die Augen ſehen.
Oder doch? Was würden Sie alſo tun?“
„Ich glaube, ich würde überhaupt nichts mehr tun,
denn ich ſtürbe vor Schreck.“ |
„Nun, dann iſt doch die Sache ſehr einfach. Da
gibt es gar keinen Zweifel mehr.“
„Er kann mich aber nicht erhalten, wie ich es ge-
wohnt bin.“
„Wenn ich mich nicht täuſche, find Sie aus den glei-
chen Stoffen wie die anderen Menſchen gemacht: aus
Kohlenſtoff, Sauerſtoff, Stickſtoff und —“
„Natürlich!“ rief ſie lachend.
„Wieſo kann er Sie dann nicht erhalten? Eine
Ausgabe von zehn Mark wöchentlich genügt reichlich
zur Beſchaffung von Nahrung für den normalen menfch-
lichen Organismus, erhält ihn geſund und glücklich.
Sie ſehen alſo, daß er Sie wunderſchön erhalten könnte.“
„Der Mantel, den ich anhabe, koſtet mehr, als er
in einem Jahre verdient. Wenn ich ihn jetzt beim
nächſten Kürſchner verkaufe, verlange ich mindeſtens
achttauſend Mark dafür.“
„Verkaufen Sie ihn und bauen Sie mit dem Er-
löſe das Haus, in dem Sie mit ihm leben werden! Es
wird ein waſſerdichtes Dach und einen ausreichenden
Faſſungsgehalt für e Luft haben. Was brauchen
Sie nv
„Aber —“
„Liebt er Sie?“ fuhr der Doktor unerbittlich fort.
„Er hat es mir oft beteuert,“ antwortete ie er-
rötend.
198 Der Gewiſſensdoktor. 0
„Und was glauben Sie, wie wird ihm zumute fein,
wenn er Sie verliert?“
„Aber ich werde ihn doch auch verlieren!“
„Nein, Sie werden ihn verkaufen, oder beſſer ge-
ſagt, Sie werden ſich ſelbſt verkaufen — für Hermelin-
mäntel, glitzernde. Stücke von Kohlenſtoff, genannt
Diamanten, für ausgeſuchte ſeltene Gerichte, die Ihren
Gaumen kitzeln und Ihre Verdauung verſchlechtern.
Und dabei gedeiht das Weſen, das man auch Menſch
nennt, am beſten bei einfacher Nahrung, lebt dabei
auch länger und iſt glücklicher.“
„Sie ſagen das ſo ſchrecklich!“
„Mag ſein, doch es iſt wahr.“
„Was könnte ich ihm ſein?“ wendete ſie hierauf
ein. „Ich kann nicht kochen, nicht flicken, ich weiß nicht,
wie man ein Haus in Ordnung hält, ich verſtehe mich
nicht auf das Einkaufen. Er würde binnen ſechs Mo-
naten bankrott ſein.“
„Ah, jetzt wollen Sie mir gar einreden, daß Sie
dumm und ungeſchickt ſeien!“
„Ich habe nichts Dergleichen geſagt. Warum kanzeln
Sie mich wie ein Schulmeiſter ab? Ich wollte von
Ihnen einen unparteiiſchen Nat!“
„Hören Sie mich nur weiter an. Sie können, wenn
Sie eine Perſon von durchſchnittlicher Intelligenz ſind
— was ich nicht im mindeſten bezweifle — das Kochen
binnen ſechs Wochen erlernen, die Kunſt des Flickens
in einer Stunde, Sie können Ihre Einkäufe in einem
der großen Kaufhäuſer machen, wo Sie alles zum
genauen Marktpreis erhalten und nicht nach Hauſe
tragen müſſen. Was Fhre teuren Kleider anbelangt,
iſt nur zu bemerken, daß ſie genau ebenſo notwendig
für das Daſein find als Kaviar und Auſtern. Eine ge-
ſtrickte Jacke iſt, wenn fie aus guter Schafwolle beſteht,
Oo Von A. Erbſtein. 199
ebenſo geeignet, den Zweck der Kleidung zu erfüllen,
als ein Zobelpelz, und fie iſt überdies noch viel ge-
ſünder, weil ſie gewaſchen werden kann. Folglich iſt
ein Mann mit zehntauſend Mark Einkommen imſtande,
ſeiner Frau nicht nur genügend Kleider zu kaufen, er
würde auch —
„Aber das —“ |
„Sind Sie gewillt,“ unterbrach er ihren Einwurf,
„das einzig zufriedenſtellende Ding auf Erden, das
billigſte, köſtlichſte und erhebendſte zugleich, die Liebe,
aufzugeben, um ſich weiterhin mit Häuten von nor-
diſchen Tieren vor dem natürlichen Wärmeverluſt zu
ſchützen? Sind Sie in Wirklichkeit ein ziviliſiertes Weſen
oder eine Wilde?“
„Ich glaube nicht, daß ich zu den Wilden gezählt wer-
den kann,“ erwiderte ſie eingeſchüchtert, „und es iſt doch
auch gar nicht barbariſch, ſich ſchöne Sachen zu wünſchen!“
„Dann nicht, wenn man ſie ohne Opfer erſtehen
kann. Doch der Preis, den Sie dafür zahlen wollen,
iſt: lebenslängliches Unglück! Das iſt viel zu hoch! —
Warten Sie noch einen Augenblick!“ fügte er ruhiger
hinzu. „Ich habe noch etwas über die Nahrung zu
ſagen. Sie eſſen, um den Abgang zu decken, der durch
die Betätigung Ihrer Energien und durch die Wärme-
erzeugung im Körper entſteht. Einen anderen ein-
wandfreien Grund für das Eſſen gibt es nicht. Nun,
gerade die einfachſten und billigſten Nahrungsmittel
ſind die beſten, find diejenigen, die eine große Arbeits-
kraft und das körperliche Wohlbefinden am meiſten
gewährleiſten. Müſſen Sie da weiterhin hren Gaumen
an immer neue Leckerbiſſen gewöhnen, die gar nicht
zuträglich und ſündhaft teuer ſind?“
„So hat mit mir noch niemand geſprochen,“ 140 5
ſie kleinlaut.
200 Der Gewiſſensdoktor. u
„Wirklich? Nun, dann war es hohe Zeit, daß es
geſchah. Sie wollten ja auch von mir einen wiſſenſchaft-
lichen Rat, ob Sie des Geldes wegen oder aus Liebe
heiraten ſollen. Sie haben mich für dieſen Rat bezahlt,
und ich tat mein Beſtes.“ |
„Aber wir müßten ja dann in irgend einer ſchrecklichen
Vorſtadt leben, wo lauter ſchmutzige Häuſer ſtehen!“
„Auch das iſt nicht richtig. Mit zehntauſend Mark
können Sie ein kleines Landhaus vor der Stadt mieten,
zwei Oienſtboten halten und ſich an den Feiertagen ein
Vergnügen gönnen, eine Partie machen oder manch-
mal ſogar im Kraftwagen fahren. Ja, ich würde Ihnen
auch raten, den Auserwählten Ihres Herzens zu hei—
raten, wenn er nur die Hälfte ſeines gegenwärtigen
Einkommens hätte. Sie müßten dann freilich auf die
zweite Magd verzichten und könnten ſich keine Spazier-
fahrt gönnen, aber Ihr Herz wäre glücklich dabei, und
Sie würden ein herrliches Leben führen.“
„Was würden aber meine Bekannten dazu ſagen?
Sie würden mich nicht mehr anſchauen!“
„Sagen Sie mir auf Ehre und Gewiſſen: werden
Sie ſich um das Gerede dieſer Narren kümmern, wenn
Sie glücklich verheiratet ſind?“ |
„Nicht ſehr viel,“ erwiderte fie in beſtimmtem Tone.
„Ich habe keine andere Antwort erwartet. Und
jetzt iſt eigentlich nichts mehr darüber zu ſagen.“
„Aber es wäre doch ein plötzlicher und großer Wechſel
in allen Gewohnheiten! Und wenn er nun aufhört,
mich zu lieben?“
„Das hat nichts mit unſerer Sache zu tun. Seine.
Liebe kann weitergehen, auch wenn er des Kaiſers
erſter Miniſter wäre. Sie haben jetzt nur zwiſchen
Naſenringen, Armſpangen und den Schwänzen fetter
Schafe einerſeits und warmen, einfachen Kleidern —
0 Von A. Erbſtein. 201
die auch ſehr ſchön ſein können — ſowie einer geſunden,
kräftigen Nahrung anderſeits zu wählen.“
„Naſenringe — Schwänze fetter Schafe? Das iſt
ja ſchrecklich!“
„Aber wahr! Die vornehmen Leute mancher Länder
unferer Erde geben keinen Pfifferling für einen Her-
melinpelz oder eine Trüffelpaſtete. Dieſe Ariſtokraten
kaufen ſich kupferne Ringe für ihre Naſen, und der
Schwanz eines fetten Schafes iſt ihr feinſtes Gericht.
Ländlich — ſittlich! Die Mode iſt verſchieden, der
Grundgedanke iſt aber überall der gleiche.“
„Nun hören Sie aber gefälligſt auf! Ich bin ſchon
ganz gelehrig. Allerdings muß ich Ihnen noch ge-
ſtehen: wenn Ihr Arteil gelautet hätte, ich ſoll die
Liebe fahren laſſen, hätte ich es zwar nicht getan —
nein, gewiß nicht, aber ich hätte auch zeit meines
Lebens kein ruhiges Gewiſſen wegen des Ungehorſams
gegen den Vater gehabt. Dieſer Zweifel iſt nun weg.
Sie nahmen einen ſchweren Hammer und ſchlugen ſo
lange auf meine Seele los, bis alle ihre Schlacken
beſeitigt waren und ihr Erz von der friſchen, freien
Luft umweht wurde. So wird es wohl immer bleiben.
And dafür will ich Ihnen danken. Ich weiß, daß ich
es nie genug tun kann.“
„Bravo! Sie werden alſo nicht den reichen Mann
heiraten?“
„Nein. Er iſt dick, alt, und er tyranniſiert mich.
Ich kenne ihn ſchon ſeit meiner Kindheit, und ich er-
ſchrak, als ich hörte, ich ſolle ihn heiraten.“
„Gott ſei Dank! Nun leben Sie wohl, mein Fräu-
lein, ich habe noch dringend zu tun. Laſſen Sie Ihre
Seele weiterwachſen!“
„Ich will ſie zunächſt aus ihrer Pelzhülle befreien,
mehr braucht ſie wahrſcheinlich nicht.“
202 Oer Gewiſſensdoktor. =)
„Da dürften Sie recht haben.“
Sie reichte ihm nun die Hand, die er lebhaft ſcuttette
Dann ging ſie glücklich lächelnd fort. —
Einige Wochen ſpäter ſandte ſie ihm ein Stück ihres
Hochzeitskuchens. Ein Briefchen lag dabei. „Ich habe
ihn,“ ſchrieb ſie, „ſelbſt gebacken, und ich meine, er iſt
nicht ſchlecht ausgefallen. Mein Gatte — den ich Ihnen
übrigens ſicher ſende, wenn er ſich einmal nicht gut
aufführen ſollte — mein Männchen iſt mittlerweile
Geſchäftsteilhaber geworden, und wir haben nun mehr
als das doppelte Einkommen und denken faſt ſchon
daran, einen feinen Kraftwagen zu kaufen. Aber das
Kochen will ich dennoch nicht laſſen, denn er ſagt, ich
koche wunderbar. Ja, wozu ſo eine Perſon von durch-
ſchnittlicher Intelligenz alles imſtande iſt! Sie wiſſen
vielleicht gar nicht mehr, von wem dieſer Brief iſt.
Das wäre abſcheulich! Aber ich werde Sie nie ver-
geſſen! Sie waren ſo ergötzlich grob und ſo wahrhaftig
ehrlich!“
D
**
7 ³oW Add A
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häusliche Käſebereitung.
von Th. v. Wittembergk.
Mit s Sildern. 7 lnachdruck verboten.)
Se viele Käſeſorten, wie Brie, Camembert, Chefter-
käſe, Parmeſankäſe, Roquefort, Gorgonzola uſw.,
es auch gibt, die zumeiſt verhältnismäßig teuer be-
zahlt werden müſſen, ſo wird doch ein guter, reiner
Kuhkäſe hinter dieſen Delikateßkäſen im Wohlgeſchmack
nicht zurückſtehen, ja zahlreiche Liebhaber des Käſes
werden ihn vielleicht ſogar den Würzkäſen vorziehen.
Leider iſt aber fetter Kuhkäſe ziemlich ſelten ge-
worden. Infolge der Milchablieferung in die Städte
iſt die Herſtellung von Käſe auf dem Lande beträchtlich
zurückgegangen, oder man fertigt in den genoſſenſchaft-
lichen Molkereien nur zur Hauptſache Magerkäſe an.
Es wird daher den Hausfrauen gewiß zur Freude ge-
reichen, im nachfolgenden eine Anleitung zu finden,
die es ihnen ermöglicht, im eigenen Haushalt einen
ſehr ſchmackhaften Kuhkäſe ohne große Umftände und
für einen billigen Preis anzufertigen.
Zunächſt braucht man dazu friſchen Rahm, den man
an einem kühlen Ort in einem größeren Tontopf im
Winter fünf Tage, im Sommer höchſtens drei Tage
aufbewahrt. Zu dieſem Rahm kommt dann nicht ab-
gerahmte Milch, und zwar in dem Verhältnis, daß auf
zwei Teile Rahm drei Teile Milch verwendet werden.
Am beiten iſt es, wenn man die Milch kuhwarm be-
204 Häusliche Käſebereitung. 2
ziehen kann. Wo dies nicht angängig iſt, muß man
fie im Waſſerbad erwärmen, da zu kalte Milh die
Käſebereitung erſchwert. N
Man geht nun folgendermaßen zu Werke. In
Abfüllen des Rahms.
einen kleinen Tontopf von ungefähr 2 Liter Inhalt
ſchüttet man mit einem Kochlöffel, deſſen Faſſungsraum
man aus Erfahrung kennt, etwa °/,, Liter Rahm. Jetzt
füllt man den kleinen Topf vollends mit unabge—
rahmter Milch, wovon alſo 1 O Liter nötig find. Mit
dem Kochlöffel rührt man darauf tüchtig die Mi-
ſchung um.
Die angegebenen Mengen genügen zur Herſtellung
eines Käſes. Natürlich braucht man ſie nur zu ver—
doppeln, verdreifachen und vervierfachen, wenn man
zwei, drei oder vier Käſe anfertigen will.
Haben ſich Rahm und Wilch gut miteinander ver—
miſcht, ſo ſchüttet man in den Topf, auf je einen Käſe
—
u Von Th. v. Wittembergk. 205
berechnet, ſechs bis acht Tropfen Labflüſſigkeit zum
Zweck des Gerinnens. Zur bequemen Verwendung
verwahrt man die Labflüſſigkeit in einer Glasflaſche,
deren Kork, um den Zutritt von Luft zu geſtatten,
der Länge nach eingekerbt und deſſen Mitte durchbohrt
iſt. Durch dieſes ebenfalls in der Länge des Pfropfens
verlaufende Bohrloch wird eine dünne Glasröhre ge—
ſchoben. Statt ihrer kann man ſich auch eines an den
Enden abgeſchnittenen Gänſekiels bedienen. Dadurch
fließt die Labflüſſigkeit nur tropfenweiſe heraus.
Man verrührt nun die Labflüſſigkeit innig mit dem
Inhalt des Topfes mittels des Kochlöffels. Iſt dieſes
geſchehen, ſo trägt man den Topf nach einem Raum,
— a a a
Hinzufügung der Milch zum Rahm.
der eine Temperatur von 15 bis 18 Grad Celſius auf-
weiſt, und läßt ihn dort ungefähr zwölf Stunden ſtehen.
Nach Ablauf dieſer Zeit hat ſich der Quark gebildet,
der nunmehr zum Käſe geformt werden ſoll. Man
206 Häusliche Räfebereitung. u
—— — — ——— — — — — — — 5
bedarf dazu einer Käſeform aus Weidengeflecht. Die
Form muß einen Durchmeſſer von 15 Zentimeter und
eine Tiefe von 10 Zentimeter haben. Hat man größere
Mengen von Rahm und Milch verarbeitet, fo iſt felbft-
— —
Umrühren der Mijchung.
verſtändlich eine dementſprechende Anzahl von Käſe—
formen anzuſchaffen. Ferner braucht man für eine
jede Form ein vierediges Stück Gaze oder dünne Lein-
wand, deren Rand etwa 40 Zentimeter zu meſſen hat.
Da der ungebrauchte Stoff meiſt etwas ſteif iſt, ſo
taucht man ihn in Waſſer und drückt ihn kräftig aus.
Auf dieſe Weiſe wird er geſchmeidiger und ſchmiegt
ſich beſſer der Käſeform an. Auch bleibt der Quark
weniger an dem Gewebe haften. Durch die Derwen-
dung des Stoffſtückes wird verhindert, daß der Quark
zwiſchen das Weidengeflecht eindringt und ſich dort
feſtſetzt.
Man legt nun das Innere der Form mit dem Stoff-
2 Von Th. v. Wittembergk. 207
ſtück aus, ſtellt dieſe auf einen Teller und füllt den
Quark mit einem Schaumlöffel in die Form. Darauf
wird die Form nach der Speiſekammer oder einem
anderen kühlen Raum getragen, wo man ſie auf ein
Seihblech oder eine weidene Käſehürde ſetzt, damit die
Molke leicht ablaufen kann.
Schon nach einer Stunde iſt der Quark beträchtlich
zuſammengeſunken. Es iſt daher nötig, mit dem noch
verbliebenen Quark nachzufüllen. Dann läßt man die
gefüllte Form in dem kühlen Raum ſommers wie
winters etwa vierundzwanzig Stunden auf der Käſe-
hürde ruhig ſtehen.
Nach dieſer Zeit iſt der in der Form befindliche Käſe
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Zugießen der Labflüffigkeit zur Miſchung.
nur noch halb ſo dick wie vorher der Quark, und jetzt
iſt der Augenblick gekommen, da man ihn ſalzen muß.
Zunächſt legt man die Käſehürde auf die Offnung der
Form und ſchlägt die überſtehenden Ränder des Stoff-
208 Häusliche Käſebereitung. Oo
ſtückes nach unten um. Darauf hält man die Käſe—
hürde mit der linken Hand feſt, ergreift die Form mit
der rechten, dreht jetzt das Ganze um und legt die
Hürde auf die Tiſchplatte. Nun faßt man die Form
Einfüllen des Quarks in die Räfeform.
und die Ränder des umgeſchlagenen Stoffſtückes, hebt
alles vorſichtig empor, und zwar nur auf der einen
Seite, und verſetzt der Form ruckende Stöße, damit
ſich der Käſe ablöſt und auf die Hürde fällt. Doch darf
man die Form nicht zu weit hoch heben, da ſonſt der
Käſe ſeine Geſtalt verliert oder beim Herausfallen zer—
bricht. |
Iſt ſo der Käſe auf die Hürde gebracht, dann be-
ginnt die Salzung. Man nimmt eine kleine Priſe
körnigen Salzes, ſtreut es über die Oberfläche des Käſes
und drückt es mit den Fingern in dieſen hinein, damit
der Käſeteig vom Salz durchdrungen wird.
Nun nimmt man eine zweite Käſehürde, legt ſie
D Von Th. v. Wittembergk. 209
über den Käſe, ergreift beide Hürden mit den Händen,
dreht ſie um und legt ſie ſo auf die Tiſchplatte, daß ſich
die Hürde, die früher oben war, unten befindet. Nach
ihrer Abhebung wird die bisher noch nicht geſalzene
Hälfte des Käſes in der gleichen Weiſe geſalzen wie
vorher die andere.
Die Menge des Salzes muß man nach dem Ge—
ſchmack deſſen beſtimmen, der den Käſe eſſen will. Im
allgemeinen iſt es aber empfehlenswerter, lieber etwas
mehr als zu wenig Salz zu verwenden. Schärfer ge-
ſalzener Käſe iſt ſchmackhafter und hält ſich beſſer. Zu
ſchwach geſalzener Käſe verfärbt ſich unangenehm und
nimmt auch bald einen bitteren Geſchmack an.
Leeren der Form auf die Hürde.
Man bringt nun den Käſe auf der Hürde wieder
nach dem kühlen Aufbewahrungsraum und hat dann
in den nächſten drei bis vier Wochen weiter nichts zu
tun, als ihn zu wenden. Es geſchieht dies mit Hilfe
1918. XII. 14
210 Häusliche Räfebereitung. oO
einer zweiten Hürde nach dem Verfahren, wie es eben
beim Salzen beſchrieben wurde. Das Wenden iſt täg—
lich zweimal, morgens und abends, auszuführen. Die
Hürden, die man dabei benützt, ſind ſorgfältig mit einer
feuchten Bürſte zu reinigen und danach in heißem
Waſſer abzuſpülen. Bei einer derartigen Behandlung
— *
1
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*
Salzen des Käſes.
bleiben die Hürden ſtets ſauber und geruchlos. Ver—
nachläſſigt man das Wenden der Käſe, ſo werden ſie
leicht mißfarbig, beginnen zu zerfließen und erhalten
einen bitteren Beigeſchmack, auch wenn man ſie ge—
nügend geſalzen hat.
Wie ſchon angedeutet, ſind die Käſe nach drei bis
vier Wochen reif. Sie ſind dann fett und weich, ohne
aber zu einem zerfließenden Brei zu werden. Nach
der Reife ſollte man die Käſe ſtets innerhalb der nächſten
vierzehn Tage verzehren. Denn etwa ſechs Wochen
nach ihrer Herſtellung vermindert ſich die Feinheit ihres
Geſchmackes.
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Von Th. v. Wittembergk. 211
Am beſten werden die Käſe in den Monaten April,
Mai und beſonders Oktober geraten. Im Sommer
halten fie ſich wegen der Hitze ſchlechter, und es be-
ſteht hier auch die Gefahr, daß herumſchwärmende
Fliegen ihre Eier in ihnen ablagern und ſie ſo von
Maden befallen werden. Aus dieſem Grunde follte .
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Wenden des Käſes mittels zweier Hürden.
man im Sommer die reifen Käſe wenigſtens ſo ſchnell
als möglich wegeſſen, alſo auch nicht größere Mengen
auf einmal herſtellen. Im ſtrengen Winter wiederum
iſt die Zubereitung wegen der Kälte mit Schwierig-
keiten verknüpft. Als die geeignetſten Zeiten ergeben
ſich daher der Frühling und der Herbſt.
=
*
8
Mannigfaltiges.
*
(Nahödrud verboten.)
Ein berühmter Meineid. — Im Zahre 1774 hatte der
Berliner Privatier Heuberle, dem man allgemein nachſagte,
daß er ſein Vermögen nur durch Wuchergeſchäfte erworben
habe, den Schneidermeiſter Törning wegen Rüderftattung eines
Darlehns von dreihundert Talern verklagt. Törning behauptete
jedoch in der im Oktober desſelben Jahres ſtattfindenden
Gerichtsverhandlung, er habe dem Gläubiger die Summe
bereits zurückerſtattet; leider ſei er aber fo unvorſichtig ge-
weſen, die Quittung, die Heuberle ihm ausgeſtellt habe, ſo
ſchlecht zu verwahren, daß er ſie nicht mehr finden könne.
Als der Richter ihn fragte, ob er nicht Zeugen zu benennen
imftande fei, die zugegen geweſen wären, als er Heuberle die
Schuld bezahlt habe, verneinte der arme Mann mit Tränen
in den Augen.
Zu dieſen Behauptungen lächelte Heuberle nur ſpöttiſch.
„Nichts als Ausflüchte!“ erklärte er N wieder mit größter
Beſtimmtheit.
Die Sache des Schneiderleins ſtand ſchlecht, obwohl er einen
völlig glaubwürdigen Eindruck auf den Richter machte. Dieſer
überlegte hin und her, wie dem Manne zu helfen ſei, fand aber
keinen Ausweg. Schließlich vertagte er die Sache, um Törning
nochmals Zeit zu geben, nach der verlegten Quittung zu ſuchen.
Heuberle war ganz damit einverſtanden. „Er wird die
Quittung zwar nicht finden, denn ſie exiſtiert eben nicht,“ meinte
er mit der Miene eines Biedermannes, „aber vielleicht ge-
langt er dann endlich zu der Überzeugung, daß ich in meinem
Recht bin.“ —
Nach acht Tagen ſtellten ſich die Parteien wieder vor dem
2 Mannigfaltiges. 213
Richter ein. Der Schneidermeiſter war noch niedergeſchlagener
als das erſte Mal. Die Quittung hatte er nirgends entdecken
können.
Der Richter befragte die Prozeßgegner wiederum nach dem
genauen Sachverhalt und vermahnte ſie ernſtlich, ja die volle
Wahrheit zu ſagen. Aber jeder blieb bei ſeiner Behauptung.
Nunmehr mußte der Kläger nach den damaligen Prozeß-
beſtimmungen den Eid leiſten. Heuberle ſollte ſchwören, daß
er Törning dreihundert Taler gegeben und dieſe Summe noch
nicht zurückerhalten habe.
„Will Er dieſen Eid leiſten?“ fragte der Richter den Kläger,
der neben dem Bellagten vor der Schranke ſtand.
„Jawohl,“ erllärte Heuberle.
„Dann leg Er feine rechte Hand auf das Kruzifix hier und
ſpreche Er mir die Eidesformel nach. Bedenke Er aber genau,
welche Folgen ein Meineid für Ihn haben würde,“
Heuberle hatte in feiner Rechten einen dicken Bambusſtock
mit goldenem Knopf, den er jetzt feinem Prozeßgegner mit der
Bitte reichte, dieſer möge ihm das Rohr doch für einen Augen-
blick abnehmen. Und dann leiſtete er den Eid, während Törning
ihm gutmütig den Bambusſtock hielt.
Hiernach wurde der Schneidermeiſter zur Rückzahlung des
Oarlehns verurteilt, da es durch den Eid des Klägers für er-
wieſen gelten mußte, daß die Schuld noch nicht beglichen ſei.
Als der Wucherer nach dieſem für ihn fo günſtigen Prozeß
ausgang das Gerichtsgebäude verließ, wurde er draußen auf
der Straße von einer erregten Menſchenmenge, die neugierig
das Ende der Verhandlung abgewartet hatte, mit lauten Der-
wünſchungen empfangen. Denn allgemein war man der
Anſicht, er habe in dieſer Sache mit vollem Bewußtſein einen
Meineid geleiſtet. Um ſich einen Weg durch die Menge zu
bahnen, erhob Heuberle drohend ſeinen Stock. Da ſprang
aber auch ſchon ein junger Burſche auf ihn zu, entriß ihm das
Bambusrohr und ſchleuderte es auf das Pflaſter, ſo daß es
in mehrere Stücke zerſplitterte. Zu aller Erſtaunen rollten
eine Menge Goldſtücke auf die Straße, die vorher, wie man
jetzt ſah, in dem hohlen Stock verborgen geweſen waren.
214 Mannigfaltiges. 2
Bleich und zitternd ſtand Heuberle inmitten der ihn um-
drängenden Menſchen. Das Schuldbewußtſein war ihm jetzt
ſo deutlich vom Geſicht abzuleſen, daß einige der Leute ihn
kurzerhand ergriffen und abermals vor den Richter führten,
ohne jedoch zu ahnen, in welchem Zuſammenhang das gold-
gefüllte Bambusrohr zu dem eben erledigten Rechtsſtreit ſtehen
könne.
Der Richter hatte kaum die merkwürdige Geſchichte von
dem mit Goldſtücken gefüllten Stock vernommen, als ihm auch
ſofort klar wurde, aus welchem Grunde Heuberle vorhin dem
armen Schneider vor der Eidesleiſtung das Rohr zum Halten
gegeben hatte. Auf die ſtrengen Vorhaltungen des Richters,
hauptſächlich aber wohl, weil ihm fo ſchnell keine glaubwüͤrdige
Erklärung für die Aufbewahrung der Goldſtücke in dem Stocke
einfiel, legte der in die Enge getriebene Vucherer ein volles
Geſtändnis ab. Danach hatte der Schneidermeiſter ſeine Schuld
wirklich längſt bezahlt. Auf den Gedanken, die Summe noch-
mals einzuklagen, war Heuberle erſt durch einen von Törning
entlaſſenen Geſellen gebracht worden. Dieſer, ein fauler, dem
Trunke ergebener Meuſch, hatte dann feinem Meijter die Quit-
tung aus Rachſucht entwendet und war damit zu dem Wucherer
gekommen, worauf die beiden Ehrenmänner in dieſer un-
ſauberen Sache Halbpart zu machen beſchloſſen. Begünſtigt
wurde ihr Plan noch durch den Umſtand, daß bei der Rüd-
zahlung der Darlehnsſchuld keine Zeugen zugegen geweſen
waren. Heuberle gab dann auch weiter zu, daß er die drei—
hundert Taler in Gold nach der erſten Verhandlung nur des—
wegen in dem Stock untergebracht habe, um, nachdem er
ſeinem Prozeßgegner das goldgefüllte Rohr in die Hand ge—
ſpielt hatte, guten Gewiſſens beſchwören zu können, der
Schneider habe die dreihundert Taler noch, was ja auch
inſofern ſtimmte, als Törning mit dem Stock zugleich auch
die dreihundert Taler in Gold Heuberles während der Eides-
leiſtung in ſeinen Händen gehabt hatte.
Heuberle und der rachſüchtige Geſelle kamen ſchon drei
Wochen ſpäter vor das Kriminalgericht. Dieſes verurteilte den
Geſellen wegen des Diebſtahls und der Teilnahme an einem
2 Mannigfaltiges. 215
Betrugsverſuch zu vier Fahren, Heuberle dagegen wegen Mein-
eides und verſuchten Betruges zu fünf Jahren Kerker.
Friedrich der Große, der die merkwürdigen Einzelheiten
dieſes Prozeſſes bereits vorher erfahren hatte, ließ ſich das
Urteil vorlegen, ſtrich darin das zuerkannte Strafmaß aus
und beſtimmte für den Geſellen ſechs Jahre, für Heuberle acht
Jahre Kerker. Außerdem ſollte des letzteren Vermögen ein-
gezogen und an die Armen Berlins verteilt werden. An den
Rand des Urteils ſchrieb er als Begründung: „Zur Schreckung
for ähnliche Kanaljen und for die beſſere Aſtimierung des
Eides.“ W. N.
Raubtiere als Beſchützer ihrer Herren. — Die Anhänglich⸗
keit mancher Raubtiere an ihre Oreſſeure und Herren iſt bis-
weilen geradezu bewundernswert. In den Tropen, beſonders
in Südafrika, hat der Reiſende häufig Gelegenheit, Mitglieder
der Familie der großen Katzen als zahme Hausgenoſſen an-
zuſtaunen. So werden auf den Burenfarmen in Transvaal
vielfach Leoparden an ſtarken, eiſernen Halsbändern wie Hof-
hunde gehalten.
Unlängſt brachte eine engliſche Zeitung einen Bericht von
einem Vorkommnis, das die Treue und Anhänglichkeit dieſer
ſonſt meiſt als heimtückiſch verſchrienen Raubtiere aufs beſte
dartut. Auf der Farm des Buren van Hoeften, die am
Zandfluſſe dicht an der Grenze des Matabelelandes liegt, fand
ſich eines Tages eine Schar von acht Schwarzen ein, die Pulver
und Blei einhandeln wollten. Da van Hoeften mit feinen
beiden Knechten gerade einen Transport Getreide nach dem
nahen Städtchen brachte, wollte ſeine Frau, die mit ihren
halbwüchſigen Kindern und zwei farbigen Dienerinnen ohne
jeden männlichen Schutz zurückgeblieben war, die zu dem übel
berüchtigten Stamme der Matabele gehörigen Schwarzen mög-
lichſt ſchnell wieder los werden und händigte ihnen daher das
Verlangte trotz der dürftigen Bezahlung, die in ſchlechtgegerbten
Tierfellen beſtand, ohne Widerrede aus.
Anſcheinend wußten die Matabele aber, daß van Hoeften
und ſeine Leute nicht anweſend waren und auch erſt nach
einigen Tagen zurüderwartet wurden. Sie zeigten ſich immer
216 Mannigfaltiges. 2
zudringlicher und frecher, verlangten ſchließlich ſogar, die
Farmerfrau ſolle ihnen auch die an der Wand hängenden,
Schußwaffen „eintauſchen“.
Da einige der ſchwarzen Spitzbuben inzwiſchen bereits ihnen
nützlich ſcheinende Gegenſtände einfach hatten verſchwinden
laſſen, ſuchte die reſolute Frau die gefährliche Geſellſchaft durch
die Drohung, ſie habe bereits ihren Mann vom Felde herbei-
holen laſſen, zu vertreiben. Aber die Kerle fühlten ſich offenbar
ganz ſicher und dachten nicht daran, das Feld zu räumen. Sie
hatten bereits die Gewehre von der Wand genommen, ſich
übergehängt und begannen eben nach den nötigen Patronen
zu ſuchen, als der Farmerfrau ein rettender Gedanke kam.
Leiſe flüſterte ſie ihrem Alteſten, einem zwölfjährigen
Zungen, einige Worte zu. Dieſer eilte nach dem Wirtſchafts-
hofe, wo in einem Verſchlage zwei zahme, ausgewachſene
Leoparden gehalten wurden. Der Knabe nahm die beiden
gelben Katzen an die Kette und lief mit ihnen ins Haus zurück.
Die ſchwarze Bande war gerade dabei, den in dem großen
Wohnraum ſtehenden Schreibtiſch aufzubrechen, da erſchien
Frau van Hoeften in der Tür, gefolgt von den beiden Leo-
parden, die ſie ſeinerzeit mit der Flaſche großgezogen hatte,
und die daher ihrem leiſeſten Winke gehorchten. Ein Zuruf,
und die gelben Körper ſchnellten durch die Luft — zwei Schreie,
ein Angſtgebrüll, fplitternde Fenſterſcheiben. Zwei der Mata-
bele lagen am Boden, die anderen hatten ſich durch die Fenſter
ſchleunigſt davongemacht. —
Die meiſte Gelegenheit, das Anhänglichkeitsgefühl mancher
Raubtiere zu erproben, iſt aber wohl berufsmäßigen Tier-
bändigern gegeben. Dieſe wiſſen denn auch allerlei ebenſo
aufregende wie rührende Erlebniſſe zu berichten.
So hatte einmal der Menageriebeſitzer Helfort einen ihm
als völlig zahm angeprieſenen Bären gekauft und in einem
aus zwei Abteilungen beſtehenden Raubtierwagen untergebracht.
In der anderen Abteilung befand ſich eine dreſſierte Hyäne.
Der Bär fing nun ſofort an, die die beiden Abteilungen trennende
Schiebetür mit Zähnen und Krallen zu bearbeiten, um ſich zu
der von ihm gewitterten Hyäne einen Zugang zu verſchaffen.
e Mannigfaltiges. 217
Am nächſten Morgen war das Loch bereits ſo groß, daß der
Bär den Kopf bequem hindurchſtecken konnte. Als durch das
angſtvolle Heulen der Hyäne das Menagerieperſonal aufmerk-
ſam geworden war, begab ſich Helfort in den Käfig des Bären,
um dieſen anderswo unterzubringen. In demſelben Augenblick
aber ſtürzte ſich der Bär auf ihn und warf ihn zu Boden.
Von dem zu Hilfe eilenden Perſonal wurde das wütende Tier
von außen mit Eiſengabeln und Stangen bearbeitet, ohne daß
es gelang, es von ſeinem Opfer abzubringen. Da zwängte
ſich die Hyäne, die von dem Menageriebeſitzer dreſſiert war
und mit großer Liebe an ihm hing, durch die Offnung in der
Schiebetür hindurch und ſtürzte ſich wütend auf den Angreifer
ihres Herrn. Wirklich ließ der Bär von Helfort ab und wandte
ſich gegen die Hyäne, die er dann auch mit wenigen Biſſen
abtat. Inzwiſchen gelang es den Leuten aber, ihren Direktor
in Sicherheit zu bringen.
Die Bändigerin H. erzählt folgendes: „Ich arbeitete bis
vor einigen Fahren mit einer Gruppe von Löwen und ben-
galiſchen Tigern. Trotzdem ich meine Tiere mit großer Liebe
behandelte, war mir eine Tigerin nicht gerade ſonderlich gut
gewogen. Sie machte auch kein Hehl aus ihrer Abneigung
mir gegenüber. Eines Abends verſagte aus irgend einem
Grunde plötzlich das Licht, und der Zirkus war ganz unerwartet
in undurchdringliche Finſternis gehüllt. Ich lag eben auf der
Schaukel, vor mir und hinter mir je ein Tiger und über mir
auf zwei Säulen ſtehend ein Löwe. Die Tiger, durch die plöß-
liche Dunkelheit unruhig geworden, ſprangen mit einem Satz
ab, ich tat dasſelbe und verſuchte, mich rückwärts taſtend, meinen
Rücken an dem die Manege einfaſſenden Gitter zu decken.
Kaum dort angelangt, ſah ich auch ſchon zwei glühende Augen
auf mich zukommen. Die Lage war nicht gerade angenehm,
zumal ich nicht die geringſte Waffe in der Hand hatte, denn
die Peitſche legte ich ſtets beiſeite, wenn ich die Schaukel be-
ſtieg. Da rief ich meinen Lieblingslöwen Fauſt herbei, der
mir ſchon manche Probe ſeiner Anhänglichkeit gegeben hatte.
Mit einem Sprung war er unten, ſtellte ſich dicht vor mich,
und ſich in die Höhe richtend, verabfolgte er der ſich anſchlei—
218 Mannigfaltiges. 2
chenden Tigerin ein paar derartige Ohrfeigen, daß ihr die Luſt
zu jedem weiteren Angriff verging. Es waren kaum ein paar
Minuten verfloſſen, bis das Licht wieder eingeſchaltet wurde;
aber dieſe Minuten erſchienen mir wie eine kleine Ewigkeit.
Nachher konnte ich meine Vorführungen ruhig beenden. Die
Tigerin war wieder ganz brav geworden. In Zukunft war
ich aber doch vorfichtiger und trug ſtets einen geladenen Re-
volver in der Kleidertaſche. Denn wir Bändiger laſſen es das
Publikum ungern merken, daß unſere vierbeinigen Schüler
doch nicht ſo ganz ungefährlich ſind, wie es dem Laien ſcheint.“
Tiger ſind überhaupt die Schmerzenskinder der Bändiger.
Hinrichſon führte vor wenigen Jahren regelmäßig zum Schluß
ſeines Dreſſuraktes einen mächtigen bengaliſchen Tiger namens
Nero vor, deſſen furchtbare Wildheit er trotz aller Verſuche
nur ſo weit hatte brechen können, daß er die zähnefletſchende
Beſtie unter atemloſer, banger Stille des Publikums einmal
vor ſich her um den Manegenkäfig trieb, und dies unter ganz
ungewöhnlichen Vorſichtsmaßregeln. Zu letzteren gehörte auch,
daß Hinrichſon zu feinem Schutz ſtets feinen Lieblingslöwen
Paſcha im Käfig behielt, während die anderen Raubtiere vorher
in ihre Transportbehälter zurückgetrieben wurden. Paſcha ſaß
dann regelmäßig auf einer der Holzſäulen, die mit den anderen
Dreſſurgerätſchaften in der Mitte der Manege auf einem
Haufen zuſammengerückt wurden.
Bei einer Vorſtellung in Petersburg war es, wo Hinrichſon
beinahe ein böſes Schickſal ereilt hätte. Wie immer ſchloß
Hinrichſon feine Nummer mit der Vorführung des Tigers
Nero. Eine nervöſe Dame brach beim Anblick der fauchenden
und ſich ungewöhnlich wild gebärdenden Beſtie, die gerade
ihren ſchlechten Tag hatte, plötzlich in Schreikrämpfe aus.
Durch dieſe gellenden Töne wurde der Tiger offenbar zur
höchſten Wut gereizt. Er duckte ſich zum Sprunge zuſammen
und hätte den Bändiger ſicher niedergeworfen und zerfleiſcht,
wenn dieſer nicht in der Erkenntnis, daß er die Gewalt über
das Tier völlig verloren hatte, ſich blitzſchnell hinter die auf-
geſtellten Gerätſchaften geflüchtet haben würde. In demſelben
Augenblick ſprang auch ſchon der Löwe Paſcha, ohne daß ſein
2 NMannigfaltiges. 219
Herr ihn durch einen Zuruf anzutreiben brauchte, von ſeinem
Sitz in die Manege hinab und fiel über den Tiger her. Merk-
würdigerweiſe ſetzte der Tiger ſich faſt gar nicht zur Wehr,
vielleicht geblendet durch den ſcharfen Waſſerſtrahl, den man
jetzt unaufhörlich auf ſeinen Kopf richtete. Jedenfalls gelang
es dem Bändiger und ſeinen Leuten, die ſich mit langen,
brennenden Fackeln bewaffnet hatten, ſehr ſchnell, die Raub-
tiere zu trennen und den Tiger in ſeinen Käfig zurückzutreiben.
Hinrichſon hat noch an demſelben Abend ſich zu einem
Reporter dahin geäußert, daß er bei jener Vorſtellung für ſein
Leben zum erſten Male wirklich ernſtlich gefürchtet habe, und
daß er ohne Paſchas Eingreifen ſicher verloren geweſen wäre.
Er iſt dann auch nie wieder mit Nero öffentlich aufgetreten,
den ihm zwei Monate ſpäter der Petersburger zoologiſche
Garten abkaufte. W. K.
Das Alter unſerer Kinderſpiele. — Die Bedeutung unſerer
Rinderfpiele und ihres erzieheriſchen Wertes wird heute nicht
mehr unterſchätzt. Der Kinder Spiel iſt der Kinder Arbeit.
Es liegt aber noch ein tieferer Sinn im kindlichen Spiel, als
die meiſten ahnen. Es gibt vielleicht nichts anderes in der
Kulturgeſchichte der Menſchheit, in dem ſich die Vergangenheit
ſo betätigt, nichts, in dem ſich glänzender als gerade hier das
Wort: „Was du ererbt von deinen Vätern haſt, erwirb
es, um es zu beſitzen“ beweiſt. Denn unſere Kinderſpiele
reichen nicht nur in das homeriſche Zeitalter, ſondern ſie haben
ſich auch rein erhalten, wie ſonſt nichts in der Welt. Das Kind
ist in feinen Spielen und in feinen beſten Märchen fo eigen-
artig und im beften Sinne des Wortes konſervativ und hängt
in dieſer Beziehung ſo ſehr am Althergebrachten, daß ſich ihm
hier nicht nur Schule und Haus, ſondern auch die Induſtrien
beugen müſſen. Unſer Bild auf Seite 221 iſt beinahe drei-
hundert Jahre alt, ein alter ſeltener holländiſcher Stich aus
dem Jahre 1627, aber wir finden auf ihm faſt alle Spiele
unſerer modernen Kinder! Vorn links ſpielt eine Gruppe
Mädchen mit der Puppe, die bemuttert und erzogen wird.
Das eine Kind macht das Bettchen im Puppenwagen, während
das andere nach tüchtiger Roch- und Backarbeit und leckerem
220 Mannigfaltiges. 2
Mahl ſeinem „Kind“ zuredet, hübſch artig zu ſchlafen. Dicht
dahinter ein Knabe, der den Kreiſel treibt, neben ihm ein
anderer, der Seifenblaſen fliegen läßt. Hinter dieſen (links)
zwei, die eine Rinderblaſe aufblaſen, um ſie zum Platzen zu
bringen, und ein Knabe, der einen an einem Faden feſtgeb un-
denen künſtlichen Vogel fliegen läßt. Dahinter rechts ſpielt ein
Geſchwiſterpaar Kutſcher und Pferd, reitet ein Bub fein Stecken
pferd, tollt ein anderer mit dem Hund, jagt ein dritter den
Reifen. Oer eine ſchlägt einen Purzelbaum, der andere läßt
einen Drachen ſteigen, während andere mit der „Windmühle“
laufen und (an dem Kiosk) Kegel ſchieben, die Violine ſpielen, die
Kinderſchere ſchnellen, übers Seil ſpringen. Die eine Kinderſchar
im Vordergrund ſpielt Soldaten, die andere Blindekuh. Ganz
im Hintergrund endlich müht ſich ein Junge damit ab, ſeinem
Hunde Kunſtſtücke beizubringen. Das bei alt und jung fo über-
aus beliebte Stelzenlaufen wird geübt uſw. — ganz wie jetzt
auch noch.
Faſt alle unſere Kinderſpiele find fo alt wie die Kultur-
menſchheit überhaupt. Schon die griechiſchen und römiſchen
Knaben ſpielten gern mit dem Kreiſel, die Mädchen mit Ball
und Puppe. Ihr Nußſpiel ähnelte unſerem Murmelſpiel; ſie
machten einen kleinen Kreis oder eine kleine Grube in den
Boden und warfen mit Nüſſen danach. Wer ſeine Nuß in
den Kreis oder die Grube warf, gewann die übrigen, die vor-
beigerollt waren. Auch das „Orachenſteigenlaſſen“ war im
Herbſt im alten Griechenland ein beliebter Fugendſport. Blinde-
kuh, das Pfahlſpiel oder Pflöcken, faſt alle unſere Bewegungs-
ſpiele wurden bei den Griechen von der Schule gepflegt. Der
Lexikograph Pollux nennt etwa fünfzig Spiele, die zum großen
Teil auf uns gekommen ſind und heute noch nach denſelben
Regeln geſpielt werden wie vor mehr als zweitauſend Jahren.
Im Harpaſton oder Epikoinos, einem Ballſpiel, in dem ein
Ball von mehreren Spielern gemeinſam geſpielt wurde, haben
wir das Fußballſpiel der Alten zu erblicken. Bei den Römern
wurden die beiden Cato, Julius Cäſar, Mare Aurel und
Alexander Severus als Meiſter im Ballſpiel, dem „Lieb-
lingsſpiel der Götter“, gefeiert. Wie Zettler erwähnt, waren
u
u Mannigfaltiges. 221
auch die alten Agypter leidenſchaftliche Ballſpieler. Man gab
den Toten ſogar Bälle mit. Ein dreitauſend Jahr altes ägyp-
4
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tiſches Grabbildzeichen ſtellt vier Mädchen dar, die gleichzeitig
zwei und drei Bälle auffingen. Selbſt in den germaniſchen
Die Kinderſpiele vor dreihundert Jahren.
Nach einem holländiſchen Stich aus dem Jahre 1627.
222 Mannigfaltiges. 84
Urwäldern war das Ballſpiel bekannt, wie dieſes Spiel über-
haupt ſo kosmopolitiſch war, daß es zur Zeit der Entdeckung
Amerikas auch dort überall gefpielt wurde. Die alten Mexikaner
hatten ſogar ihre Ballhäuſer, in denen ſie eifrig Ball ſpielten.
Auch im Mittelalter war das Ballſpiel, insbeſondere das
Raketenballſpiel, der Vorläufer des modernen Lawn. Tennis,
ſo beliebt, daß man überall Ballhäuſer baute: in Berlin auf
dem Werder und im Luſtgarten; in Dresden an der Weſtſe ite
des Schloſſes und am Opernhaus; in Hannover auf dem
St. Gallenhof; in Kaſſel am Schloßplatz; in Darmſtadt und in
Mannheim auf dem Schloßplatz; in Leipzig in der Reichsſtraße
und in der Petersſtraße; zu Breslau in der Neuſtadt; in Halle
vor der Moritzburg; in Straßburg in der heutigen Ballhaus-
gaſſe; in Heidelberg in der Hiegelgaſſe, am Burgweg und am
Hirſchgraben; in Hamburg in der Neuſtädter Fuhlentwiete; in
Würzburg im Hofgarten; zu Stuttgart an der Planie, Ecke der
Königſtraße. Das Ballhaus in Wien wurde dort erbaut, wo
heute das Burgtheater ſteht. Straßburg hat noch heute ſeine
Ballhausgaſſe, Breslau die Ballhauskaſerne, Wien eine Ball-
gaſſe und einen Ballhofplatz.
Als das Ballſpiel im 18. Jahrhundert bei den Erwachſenen
aus der Mode kam, wurden die Ballhäuſer umgebaut und an-
derer Beſtimmung zugeführt, aber keines war, wie der Laie
noch heute annimmt, ein Tempel der Göttin des Tanzens.
„In unſeren Tagen,“ ſagt Hachmeiſter, „wo das Ballſpiel als
beliebte Unterhaltung und zweckmäßige Leibesübung auch bei
den Erwachſenen ſeine alten Rechte wieder geltend macht,
beherrſcht es tatſächlich alle Spielplätze unſerer Jugend...
Auch hat keine andere körperliche Übung für die Bildung von
beſonderen Spielvereinigungen auch nur annähernd einen
gleichen Erfolg gehabt wie das Ballſpiel.“
Die Treue, womit die Zugend an ihren alten Spielen hängt,
iſt charakteriſtiſch für das Seelenleben des Kindes. Noch ſchärfer
äußerte ſich der Nachahmungstrieb, wenn auch nur vorüber—
gehend, im Kinderſpiel, und das zu allen Zeiten. Heute ſpielt
man „Zeppelin“, wohl die ſchönſte Huldigung für den greiſen
Eroberer der Lüfte. Vor vierzig Fahren kämpften die ein-
D Mannigfaltiges. 223
zelnen Schulen den „großen Krieg“ als Deutſche und Fran-
zoſen unter ſich aus. Unſer „Kommandeur“ war der leider
zu früh verſtorbene Gouverneur von Tſingtau. So oft ich mit
ihm zuſammenkam, unterhielten wir uns vergnüglich über
unfere damaligen Heldentaten, ein Beweis dafür, wie feſt
Derartiges in der Erinnerung ſich hält.
Am 22. Juni 1650 beteiligten ſich die ſämtlichen Nürnberger
Knaben auf ihre Weiſe am Friedensfeſt, indem ſie in geſchloſſener
Kavalkade auf ihren Steckenpferden durch die Stadt ritten.
„Dafür bekam ein jeder einen ſilbernen viereckigen Friedens-
pfennig.“ W. F.
Der Kurfürſt mit den zwei Frauen. — Es war dies der
ſächſiſche Kurfürſt Johann Georg IV., der Vorgänger Auguſt
des Starken. Er hatte ein Fräulein Sibylle v. Neidſchütz zu
ſeiner rechtmäßigen Frau ernannt, obwohl er mit ihr nicht
rechtmäßig getraut war. Als er darauf zu einer ſtandesgemäßen
zweiten Ehe mit der verwitweten Markgräfin Eleonore von
Ansbach und Baireuth ſchritt, ſtellte er, um die Rechte der
erſten Frau zu ſichern, folgende eigenhändig geſchriebene Ur-
kunde aus, die ſich noch heute in der Königlichen Bibliothek
in Dresden befindet.
„Kund und zu wiſſen, daß ich ſolches für eine rechte Ehe
halte und erkenne. Sollte uns alſo Gott in dieſem unſern
Eheſtande ſegnen, ſo bekennen wir frei vor männiglich, daß
ſolche vor meine rechte und nicht unrechte Kinder zu halten
ſein. Um aber keine Zerreitung und Streitigkeit in dem Kur-
hauſe anzufangen, ſollen dieſe meine rechten Kinder keinen
Theil an denen Landen und Kurwürden haben, und allein
dieſe meine Ehefrau Sräffin und ſie Gräffen genannt werden,
den Namen und Schild verbinde mich bei kaiſerlicher Majeſtät
auszumachen, kann ihn alſo hier herein und noch bis dato
nicht ſetzen. Ferner auch will ich mir ausgenommen haben
frei zu ſein, noch eine Frau zu nehmen und zwar von gleichem
Rang mit mir, welche der. Namen vom Kurfürſt führen und
ihre durch Gottes Gnade mir geſchenkte Kinder die rechtmäßigen
Erben dieſer Kur und Lande ſein ſollen. Doch haben wir
geboten, ſolche Schrift niemanden zu weiſen, es ſei denn
224 Mannigfaltiges. o
höchſt nöthig, fondern fie unſern Kindern zu ihrem Ausweifen
und beſſerer Sicherheit verwahren, welchen denn neben ihrer
Mutter, meiner vor Gott rechtmäßige Frauen, ehrlich Aus-
kommen bei meinem Leben verſprochen und nach meinem
Tode alſo geſorgt haben will, daß ſie ſich meiner nicht zu ſchämen
haben, ſondern auch von allem rechtmäßigen Anſpruch meiner
Successores befreit fein ſollen. Und obwohl fie mit eben dieſem
meinen Verſprechen, ob es wohl mündlich geweſen, zufrieden
geſtanden; ſo habe dennoch ſolches zu ihrer wahren Verſicherung
nochmals ſchriftlich an Eidesſtatt geben wollen, und iſt dieſes
Alles meine ernſte Meinung, ſo wahr mir Gott helfe. Dieſes
Alles habe zu mehrer Urkund nochmalen eigenhändig unter-
zeichnet und mein Kur- und Daumen Secret vorgedruckt. So
geſchehen Dresden den 16. Febr. 1691. Johann Georg Kur-
fürſt. — zen.
Hygieniſche Bedeutung der Gewitter. — Schwer laſtet
des Sommers Schwüle auf Körper und Geiſt. Ze länger die
Hitze andauert, um ſo geſättigter wird der Feuchtigkeitsgehalt
der Luft, und dem Organismus fällt es immer ſchwerer, ſeinen
Schweiß nach außen zu verdunſten. Es treten dann leicht
Fälle von Hitzſchlag ein, der nichts anderes iſt als das Ergebnis
innerer Wärmeſtauung. Dazu nimmt die elektriſche Spannung
in der Atmoſphäre in beängſtigender Weile zu, bis ein er-
löfendes Gewitter allen dieſen Schädlichkeiten ein Ende bereitet.
Durch die gewaltigen Regengüſſe wird der heiße Staub der
Luft, werden Krankheitserreger, Fäulnisſtoffe und trockener
Schmutz der Straßen in die Kanäle geſchwemmt oder ſickern
in tiefere Erdſchichten, fo daß fie jedenfalls unſchädlich werden.
Ein großer Teil der Waſſermaſſen verdunſtet, wodurch ſo viele
Wärme verbraucht wird, daß die Entwärmung des Körpers
nun leicht vonſtatten geht. Das heiße Straßenpflaſter, die
ſonnendurchglühten Häuſerwände kühlen ſich ab, und bald bläſt
ein friſcher Hauch erquickender Luft in unſere ſchwuͤlen, dunſtigen
Wohnungen.
So ſtellt ſich das Gewitter als luftreinigender „himmliſcher“
Sendling dar, deſſen wohltätige Wirkungen man durch die
weitgeöffneten Fenſter mit tiefen Atemzügen aufnehmen ſoll.
a Mannigfaltiges. 225
Luftreinigenden Einfluß übt das Gewitter auch durch die
Bildung des Ozon aus, jenes energiſchen Oxydationsmittels,
das auf alle Miasmen, Fäulnis- und Krankheitserreger abtötend
wirkt. Überhaupt bringt der Blitz ganz gewaltige chemiſche
Veränderungen in der Zuſammenſetzung der Luft hervor, deren
günſtige Einwirkung auf den Körper wir wohl fühlen, aber noch
nicht genügend erklären können. Wir wiſſen zum Beifpiel,
daß der Stickſtoff mit dem Wafferftoff des Regens unter Mit-
hilfe des Blitzes Ammoniak bildet, und mit dem Sauerſtoff
ſalpetrige Säure. Dieſe Entladungen der Luftelektrizität ſind
für unſeren Körper jedenfalls ſehr bedeutungsvoll; ſie bilden
mächtige Lebensreize, die eine kräftige Umftimmung in unferem
Wohlbefinden verurſachen, wie jeder nach einem Gewitter mit
großem Behagen fühlt.
Auf einer Wirkung der atmoſphäriſchen elektriſchen Span-
nung auf die Nerven beruht wohl auch die Gewitterfurcht
ſenſibler, nervöſer Perſonen, die ein Gewitter oft ſchon lange
vor dem Ausbruch als Beklemmung und Bangigkeit „in den
Gliedern“ fühlen. Erwachſene ſollen aber wenigſtens vor
Kindern ſich nichts davon merken laſſen, ſondern bei dieſen
der abergläubiſchen Gewitterfurcht durch Aufklärung vorbeugen,
indem fie ihnen die höchſt wohltätigen geſundheitlichen Eigen-
ſchaften des Gewitters ſchildern. Die gewaltig erſchütternden
Erſcheinungen von Blitz und Donner find eben die notwen-
digen Naturwehen, die eine neue reine Lebensluft hervor-
bringen. Dr. Th.
Der hiſtoriſche Moment. — „Eines Tages,“ fo erzählte
Alexander Dumas, „hatten ich und Viktor Hugo beim Herzog
Decazes geſpeiſt. Unter den Gäſten befanden ſich auch Lord
und Lady Palmerſton. Um 10 Uhr ging man in den Salon,
wo man den Tee nahm. Hugo und ich ſaßen etwas abſeits
nebeneinander auf Lehnſtühlen. Lord und Lady Palmerſton
waren etwas ſpät gekommen. Man hatte nicht Zeit gehabt,
uns ihnen vor dem Eſſen vorzuſtellen, und als das Eſſen zu
Ende war, hatte der Herr des Hauſes ganz vergeſſen, die
Vorſtellung zu beſorgen. Nach engliſcher Sitte konnte nun
das Ehepaar nicht das Wort an uns richten. Da kam der junge
1918. XII. 15
226 Mannigfaltiges. 2
Herzog Decazes zu mir. „Lieber Dumas,‘ fagte er, „Lord
Palmerſton läßt fragen, ob zwiſchen Ihnen und Hugo vielleicht
ein Sitz frei wäre?“ — Natürlich,“ erwiderte ich auf die Frage
des Lords. Es wurde ein leerer Seſſel hingeſtellt. Nun erhob
ſich endlich Lord Palmerſton, reichte der Lady Palmerſton
den Arm, führte ſie zu uns hin und forderte ſie auf, auf dem
leeren Seſſel Platz zu nehmen. Darauf ſprach er, ohne an
uns das Wort zu richten: „Mylady, ſehen Sie auf die Ahr.“
Mylady ſah auf die Uhr. ‚Wie ſpät iſt es? fragte Lord Pal-
merſton. „10 Uhr 35, erwiderte Mylady. ‚Merten Sie ſich
alſo, Mylady, daß Sie ſoeben einen hiſtoriſchen Moment er-
leben, daß Sie um 10 Uhr 35 abends zwiſchen den Herren
Hugo und Dumas ſaßen, und daß dies eine Ehre iſt, die Sie
in Ihrem Leben wahrſcheinlich nie mehr haben werden.“
Sprach's, reichte feiner Gattin wieder den Arm und führte
ſie auf ihren Platz zurück, ohne auch nur eine Silbe mit uns
zu ſprechen. Denn wir waren ihm ja nicht vorgeſtellt wor-
den.“ O. v. B.
Eine Parade in Katmandu. — In dem der angloindiſchen
Regierung tributpflichtigen Himalajaſtaate Nepal, dem bisher
einen Beſuch abzuſtatten nur wenigen Europäern vergönnt
geweſen iſt, legt man auf den Beſitz eines tüchtigen, modern
ausgebildeten Heeres den höchſten Wert.
Der Weltreiſende Otte Ehlers, der leider bei der Hurch⸗
querung Neu-Guineas den Tod fand, hielt ſich längere Zeit
in Katmandu, der Hauptſtadt Nepals, auf und wurde, da er
die beſten Empfehlungen feitens der indiſchen Regierung be-
ſaß, als geehrter Gaſt behandelt. Er erteilt den Nepaler Streit-
kräften und ihren Offizieren hohes Lob und hatte auch Ge-
legenheit, eine Parade der Truppen vor dem Obergeneral
Dep Scham Schir beizuwohnen, die auf dem Paradeplatz zu
Katmandu ſtattfand.
Er erzählt darüber folgendes: Gegen fünf Uhr waren
13,000 Mann mit mehreren Muſikkorps verſammelt, die in
Zug- oder Nompaniekolonnen auf und ab marfchierten, während
ſich nach und nach etwa zwei Dutzend Generale auf einem
großen gemauerten Rondell, in deſſen Mitte ſich ein breit
oO Mannigfaltiges. 227
kroniger Baum erhebt, einfanden. Sie kamen nicht zu Pferde,
ſondern in Wagen oder zu Fuß, jeder von einem Träger be-
gleitet, der einen rieſenhaften, bunten Sonnenſchirm über ihn
hielt. Sobald ein neuer General anlangte, machten die Truppen
halt, wo fie ſich gerade befanden, präfentierten, und während
die betreffende Exzellenz zum Rundell hinaufſtieg und gravi-
tätiſch um den Baum herumſchritt, ſchmetterten die Mufil-
korps eine Begrüßungsfanfare. Die Uniform der Truppen
beſteht teils aus ſchwarzen, teils aus weißen baumwollenen,
oben weiten und an den Waden enganliegenden Hofen und
ſchwarzen oder blauen wollenen Kitteln. Als Fußbekleidung
Lederſchuhe, auf dem Kopfe ſchwarze Turbane mit umlaufen-
dem Wulſt aus feinem Silberdraht. Bei den Offizieren iſt
dieſer Wulſt aus Golddraht. An ihm befeſtigt iſt vorne ein
etwa 7 Zentimeter hohes und 6 Zentimeter breites ſilbernes
Schild mit getriebenem Wappen. Die Offiziere führen an
Stelle ſilberner Schilder ſolche aus maſſivem Gold mit hafel-
nußgroßen Edelſteinen: bei dem Leutnant in der Mitte des
Schildes als Rangabzeichen ein Smaragd, bei den Hauptleuten
zwei, beim Major vier, beim Oberſtleutnant fünf, die aber
loſe am unteren Rande des Schildes hängen. Die Oberſten
haben brillantenbeſetzte Schilder, an denen noch je drei un-
geſchliffene Smaragde hängen. Die Generalskopfbedeckungen
aber ſtellen eine Art Helm dar, der über und über mit echten
Perlen beſetzt iſt, und an denen ganze Trauben ungeſchliffener
Edelſteine von ungewöhnlicher Größe herabbaumeln. Alle
dieſe Abzeichen ſind Staatseigentum und repräſentieren bei
einem ſtehenden Heere von im ganzen 20,000 Mann ein ge-
waltiges Kapital.
Als der Generaliſſimus endlich erſchienen war, formierten
die Truppen ein Viereck, deſſen Mittelpunkt das oben erwähnte
Rundell bildete, und nun kam der Haupt- und Glanzpunkt
der Parade, nämlich eine ſymboliſch-allegoriſche Vorſtellung,
durch die der Sieg der Nepaler über ihre Feinde verfinnbild-
licht wird. Auf ein Zeichen des Höchſtkommandierenden wurde
aus einem in der Nähe ſtehenden Käfig eine Antilope heraus-
gelaſſen, während von der einen Seite des Vierecks vier Wind-
228 Mannigfaltiges. u
hunde in langen Sätzen heranjagten, und womit eine Jagd
begann, die auf den europäiſchen Zuſchauer recht widerwärtig
wirkte. Die Antilope, die an Schnelligkeit ihren Verfolgern
weit überlegen war, ſuchte in blitzartigen Bewegungen hin und
her ſchießend zu entkommen; wo immer ſie jedoch durch das
Viereck durchzuſchlüpfen ſuchte, überall fand ſie ſich von einem
Wall von Bajonetten umgeben. In einem verzweifelten Augen-
blicke ſchien ſie über die Linie der Soldaten hinwegſetzen zu
wollen, aber ſobald ſie ſich zum Sprunge anſchickte, brach die
geſamte Mannſchaft in ein ohrenbetäubendes Geſchrei aus, ſo
daß das entſetzte Tier ſeinen Entſchluß änderte und wieder
kehrt machte. Dieſe Hetzerei mochte etwa eine Viertelſtunde
gedauert haben, als der Befehl erteilt wurde, das Viereck zu
verkleinern; aber erſt als es allmählich auf ein Drittel feiner
urſprünglichen Größe verringert worden war, gelang es den
Hunden unter dem lauten Jubel der Soldaten das aus Er-
ſchöpfung bereits dem Verenden nahe Tier zu packen und zu
zerreißen.
Damit war das militäriſche Schauſpiel beendet, die Generale
ſetzten ſich unter dem Tuſchblaſen der Wilitärkapellen wieder
in ihre Wagen, und mit Sang und Klang zogen die Regimenter
in ihre Quartiere zurück.
Als höchſt merkwürdig muß noch erwähnt werden, daß die
Anterhaltung dieſes Heeres — ſoweit der gemeine Mann in
Frage kommt — dem Staate nicht nur nichts koſtet, ſondern
noch etwas einbringt. Der Soldat erhält nämlich keinen Sold,
ſondern ein Stück Regierungsland in Pacht, das er bearbeitet
und für das er noch Steuern zu zahlen hat. Nur die Beſoldung
der hohen Offiziere iſt koſtſpielig, da zum Beiſpiel ein Oberſt
monatlich 10,000 Rupien, das heißt etwa 14,000 Mark, er-
hält. F. 8.
Naſenformen und Naſenformungen. — Eine ausſchlag⸗
gebende Rolle für den Geſamteindruck des menſchlichen Ge—
ſichtes ſpielt die Naſe, fie kann für ihren Träger zur Glüd- und
Unglüdbringerin werden. Tiefe Schatten ſenken ſich auf die
Seele Heranwachſender, wenn fie gewahren, daß der im wahrſten
Sinne des Wortes hervorragendſte Teil des Antlitzes dieſem
0 Mannigfaltiges. 229
ein Gepräge verleiht, das im Widerſpruch mit dem eigentlichen
Weſen ihrer Perſönlichkeit ſteht. Es dürfen daher ärztliche Be⸗
ſtrebungen, die darauf abzielen, zufällige Mißbildungen dieſes
Organs zu verbeſſern und aus einem ſonſt vollendet geformten
Geſicht zu entfernen, gro-
ßer Anerkennung und des
Intereſſes weiter Kreiſe
ſte ts ſicher ſein.
Die Naſenkorrektur,
ein kleiner Zweig am
großen Baume der Ortho-
pädie, hat, trotzdem fie erſt
vor kaum mehr als einem gig. 1
Sahrzehnt in Aufnahme un
gekommen ift, bereits überraſchende Ergebniſſe aufzuweiſen.
Selbſt die ärgſten Mißbildungen infolge fehlerhafter Struktur
des Naſenknochens gelang es durch operativen Eingriff zu be-
ſeitigen oder doch weſentlich zu mildern. Nicht weniger er-
folgreich erwies ſich die mechaniſche Behandlung bei den weit
häufiger vorkommenden einfacheren Naſenfehlern, welche im
Fleiſch beziehungsweiſe Knorpel liegen. Ihnen ſuchte man
zunächſt mittels Maſſage beizukommen, und es läßt ſich nicht
leugnen, daß in geeigne-
ten Fällen und mit der
nötigen Ausdauer auf
dieſem Wege Erfprieß-
liches erreicht werden
kann. Weit ſchnellere und
nachhaltigere Reſultate
ergaben ſich jedoch bei
gi 2 Gebrauch ſinnreicher klei-
e ner Apparate, als deren
vollkommenſter Typus wohl der von dem Speziäaliſten
L. M. Baginski in Berlin angefertigte Naſenformer „Zello“
angeſprochen werden darf. Es iſt dies ein wohldurchdachter
Mechanismus, der des Nachts auf die Naſe geſetzt und
mittels zwei oder drei Riemen feſtgeſchnallt wird. Auf dieſe
250 Mannigfaltiges. 2
Weiſe wird die Naſe in eine normale Lage gebracht. Zit fie
zum Beiſpiel an der Spitze etwas zu ſtark und hochſtehend, ſo
wird durch den Former ein ſeitlich wie nach unten wirkender
Druck ausgeübt und ſo allmählich eine natürliche Geſtaltung
der Nafe herbeigeführt, wie dies aus den beigegebenen Bildern
Fig. 1 und 2 deutlich erſichtlich iſt. Analog verhält es ſich mit
einer hängenden, breiten oder etwas eingedrückten Naſe. Die
Umformung geht dabei in allen Fällen ganz naturgemäß vor
ſich. Durch den Druck, den der Former erzeugt, werden die
Gewebezellen in der Naſe verkleinert und durch die fortwährende
Zirkulation des Blutes wird dann nach und nach alles „Zuviel“
hinweggenommen.
Der Naſenformer „Zello“ (vgl. auch das Inſerat in dieſem
Bande) iſt ein auf wiſſenſchaftlicher Grundlage nach den An-
gaben bekannter Naſenärzte hergeſtellter orthopädiſcher Apparat,
der nicht nur vielen bereits wertvolle und dankbar anerkannte
Dienſte geleiſtet hat, ſondern auch von zahlreichen Profeſſoren
und Arzten ſtändig angewandt, verordnet und warm empfohlen
wird. Der Former wird, wenn die Länge des Naſenrückens
nicht angegeben wird, in einer Normalform geliefert, die faſt
immer paßt. Für ganz komplizierte Naſenfehler werden auch
nach Gipsabdrücken, Photographien oder Zeichnungen befon-
dere Apparate angefertigt. B.
Den eigenen Tod gemeldet. — Während der Schlacht bei
Colombey am 14. Auguſt 1870 hielt General v. Glümer, Kom-
mandeur der 25. Brigade, weſtlich von dem Dorfe Colombey
auf einem Hügel innerhalb der Feuerlinie. Zu den Adjutanten
des Generals gehörten zwei vor ganz kurzer Zeit zu Haupt-
leuten beförderte Offiziere, die beide Müller hießen. Den
einen hatte der General vor etwa einer halben Stunde zu einem
der Bataillone in die vorderſte Schützenlinie geſchickt, um einen
Befehl zu überbringen. Als der Ordonnanzoffizier nicht zurück-
kehrte, mußte der andere Hauptmann Müller ihm nachreiten,
um feſtzuſtellen, ob fein Kamerad den Bataillonskommandeur
auch wirklich erreicht habe oder, was zu befürchten ſtand, vorher
gefallen ſei. Wieder verging eine Viertelſtunde. Dann bog
ein Reiter um das kleine Gehölz am Veſtausgange von Colombey
u Mannigfaltiges. 231
und ſprengte auf den General zu. Es war der zuletzt abgeſchickte
Hauptmann.
Dicht vor General v. Glümer parierte er ſein Pferd und
meldete kurz und ernſt: „Befehl ausgeführt. Hauptmann Müller
tot.“
Sn demſelben Augenblick wankte er im Sattel und fiel
vornüber auf den Hals des Pferdes. Eine Chaſſepotkugel hatte
ihm, an der linken Schläfe eindringend, den Kopf durchbohrt.
Auch aus den Napoleoniſchen Kriegen wird ein ähnlicher
Vorgang berichtet. Es war am 28. Auguſt 1809 vor Regens-
burg. Die Franzoſen kämpften mit den Sſterreichern, die ihnen
vier Tage vorher dieſe Stadt entriſſen hatten, abermals mit
höchſter Erbitterung um den Beſitz der alten Biſchofsfeſte.
Napoleon, der mit ſeinem Stabe in der Nähe der. Kartauſe
Prüll hielt, war ſoeben von einer verirrten Kugel leicht am
Bein verwundet worden — bekanntlich die einzige Schuß
verletzung, die er in all ſeinen Kriegen empfangen hat —
und befand ſich daher in ſchlechteſter Laune. Fortwährend ſchickte
er feine Adjutanten nach vorn, um Nachricht über den Ver-
lauf des Kampfes einholen zu laſſen. Einer dieſer Offiziere,
der Oberſt Graf Montfort, kam mit auf der Bruſt völlig blut-
getränkter Uniform im ſchärfſten Galopp zurückgeſprengt.
„Regensburg iſt unſer, Sire!“ rief er mit brechender Stimme,
während ſein Geſicht jede Spur von Farbe verlor und große
Schweißperlen ihm über das Geſicht rannen.
„Sind Sie verwundet?“ fragte Bonaparte nicht ohne Teil-
nahme. ö
„Nein, Sire — ich bin getötet,“ ſtieß der Oberſt pfeifenden
Atems mit letzter Kraft hervor und fiel tot vom Pferde.
Eine ähnliche Geſchichte berichtet der Engländer Burke in
ſeiner Lebensbeſchreibung des mexikaniſchen Präſidenten
Juarez, auf deſſen Befehl am 19. Juni 1867 der unglückliche
Kaiſer Maximilian erſchoſſen wurde. Am Tage nach der Urteils-
vollſtreckung an dem öſterreichiſchen Kaiſerſohn ſollten drei
mexikaniſche Offiziere, die zuerſt in der Armee Zuarez’ Dienſte
getan hatten, dann aber zu Maximilian übergegangen waren,
gleichfalls erſchoſſen werden. Auf ihre Bitten wurden die drei
232 Mannigfaltiges. oO
ungefefjelt an die Mauer des Kaſernenhofes in Queretaro
geſtellt. Ihnen gegenüber ſtand eine Abteilung Infanterie
mit geladenem Gewehre bei Fuß. Aber noch immer zögerte
der kommandierende Offizier, ein Oberſt namens Alvaro. Man
wartete auf Juarez, der der Hinrichtung hatte beiwohnen
wollen. Nachdem eine peinvolle halbe Stunde vergangen
war, traf ein Bote mit der Nachricht ein, daß der Präſident
nicht erſcheinen würde. Die Exekution ſolle aber ſofort voll-
zogen werden. Man wollte nun den drei Verurteilten, die
leichenblaß an der Mauer lehnten, die Augen verbinden. Auch
dies unterblieb auf ihre Bitten.
Da trat einer der Todeskandidaten, ein Hauptmann namens
Salteſta, ſicheren Schrittes dicht an Oberſt Alvaro heran und
ſagte laut: „Ich wollte meine letzte Meldung eigentlich Benito
Juarez erſtatten. Nehmen Sie ſie für dieſen Mordbuben
entgegen. — Oberſt Alvaro und Hauptmann Salteſta ſind tot!“
Damit riß er einen bereitgehaltenen Dolch aus der Taſche
und ſtieß ihn dem Oberſt mitten ins Herz. Wenige Minuten
ſpäter war auch Salteſta eine Leiche. W. K.
Die ſächſiſchen Schöppen galten im Mittelalter als die
grauſamſten. So war im Fahre 1697 ganz Deutjchland empört,
als der kurfürſtliche Schöppenſtuhl von Leipzig die „Maria
Reinlerin, auf ihrem gethanenen Bekenntniß vor öffentlich
gehegtem Peinlichen Hals-Gericht“ wegen Gattenmords ver-
urteilte, „zufammt einem Hunde, Hahn, Schlangen und einer
Katzen in einen Sack geſtecket, ins Waſſer geworfen und ertränket
zu werden“. Dieſe Empörung war berechtigt, weil der
Ermordete ein unverbeſſerlicher Spitzbube war, der ſeine junge
Frau zu Verbrechen aller Arten zwingen wollte, und weil trotz
dieſer Milderungsgründe „das Geſuch der Reinlerin um Ver—
wandelung dieſer grauſigen Strafe in die des Schwertes“ vom
Kurfürſten abgeſchlagen worden war. Der Dresdener Regijtra-
turakt vom 23. Juli 1697 beſagt: „Nachdem Maria Reinlerin
auf ihrem gethanen Belenntniß vor öffentlich gehegtem Hals-
gericht nochmals freiwillig verharret, fo iſt fie dem Urthel zu-
folge mit dem Gethier in einen Sakt geſtecket, in die Elbe
geworfen und ertränket worden“.
N Mannigfaltiges. 233
Die „Hals- oder Peinliche Gerichtsordnung“ Kaiſer Karls V.
ſah für Gattenmord nur die einfache Strafe des Erſäufens vor,
wie ſie noch heute gegen ungetreue Frauen im Orient üblich
iſt. Es war dies die alte römiſche Strafe gegen Elternmörder,
die Raifer Konſtantin erſtmals auf Gattenmörderinnen aus-
dehnte, und zwar mit der Verſchärfung, daß entweder ein Affe
mit einer Schlange oder ein Hund mit einer Katze der Ver-
brecherin in den Sack beigegeben werden ſollten. Auch be-
ſtimmte er, daß der Sack mit den Tieren, die furchtbar um ſich
kratzten und biſſen, ſtark und luftdicht ſein müſſe, ſo daß es
ſtundenlang dauerte, bis er ſank. Die Empörung des Publikums
über die Grauſamkeit der ſächſiſchen Schöppen war alſo be-
greiflich.
Trotzdem tat man ihnen unrecht, da es ihnen mehr um
die Abſchreckung als um die Strafe ſelbſt zu tun war, wie aus
der Liquidation des mit der Hinrichtung der Reinlerin beauf-
tragten „Scharf; und Nachrichters der Churf. Sächſ. Nefidenz
Veſtung Stadt Dresden Benediktus Wahl“ hervorgeht. Dieſer
liquidierte nämlich wörtlich: „3 Groſchen vor Stricke und Leinen
bei der Säckung, 4 Groſchen 6 Pfennige vor Verfertigung
eines Hundes, Katzens, Hahns und Schlangen dem Bildhauer
Johannes Richtern“, woraus hervorgeht, daß der Unglücklichen
nur künſtliche Tiere beigegeben wurden.
Auch der Vorſitzende des Leipziger Schöppenſtuhls, Benedikt
Carpzow (geb. 27. Mai 1595, geſt. 50. Auguſt 1666), dem man
nachredet, an 20,000 Todesurteile gefällt zu haben, war beſſer
als fein Ruf. Dadurch, daß er ſchon 1635 in einer feiner vielen
Schriften „größere Strenge in Beobachtung der rechtlichen
Formen, in Berückſichtigung der erforderlichen Indizien und
in der Begründung des Tatbeſtandes“ forderte, hat er mehr
Unheil verhütet, als er im Geiſte der fürchterlichen Zeit, in
der er als oberſter Richter lebte, anſtiften mußte. W. F.
Der japaniſche Kronprinz. — Hirohito oder, wie er
vor ſeiner Erklärung zum Kronprinzen hieß, Michi no
Miya, der älteſte Sohn des Kaiſers Voſhihito und der Kai-
ſerin Sadako, einer Tochter des Fürſten Kujo Wichitaka, foll
demnächſt, wie verlautet, in Begleitung eines größeren Ge—
Mannigfaltiges.
47 © Br a 355 — er Dr - | y 2 ö
Der japaniſche Kronprinz Hirohito als Unterleutnant der Marine.
folges den europäiſchen Höfen einen Beſuch abſtatten, um ſich
vorzuſtellen und zugleich die ſtaatlichen Einrichtungen und die
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2
1 Mannigfaltiges. 235
bedeutendſten induſtriellen Unternehmungen der einzelnen
Länder kennen zu lernen, eine Abſicht, die im gemeinſamen
Intereſſe freudig zu begrüßen iſt.
Er wurde am 29. April 1901 in Tokio geboren. Anfänglich
von zarter Geſundheit, hat er ſich durch die Einreihung in das
Kadettenkorps, wo man auf die Hebung und Schulung ſeiner
Kräfte beſondere Sorgfalt verwendete, jetzt überraſchend er-
holt, ſo daß er über ſein Alter hinaus entwickelt ausſieht.
Von den europäiſchen Sprachen hat er namentlich das Eng-
liſche getrieben. Nachdem ihm an ſeinem zehnten Geburtstag
der Rang eines Unterleutnants der Infanterie verliehen
worden war, iſt er kürzlich auch zum Anterleutnant der
Marine ernannt worden. Hirohito beſitzt noch zwei Brüder und
vier Schweſtern. Th. S.
Eine Liebe iſt der anderen wert. — Eine luſtige kleine
Geſchichte aus dem Eheleben Walter Scotts erzählt eine Lon-
doner Zeitſchrift. Eines Tages kam ſeine Frau außer ſich zu
ihm und ſagte: „Nun werde ich die Kinder aber einmal ge-
hörig züchtigen müſſen!“
„Was iſt denn los, Schatz?“ fragte Scott.
„Sie haben mir meinen Nähtiſch in ſchreckliche Unordnung
gebracht. Nichts, aber auch gar nichts liegt auf ſeinem Platz.
Nadeln, Garnrollen, Schere, Wolle — alles iſt durcheinander
geworfen. Man könnte geradezu wahnſinnig werden.“
Scott neigt ſich wohlwollend zu ſeiner beſſeren Hälfte:
„Mein Lieb, das waren nicht die Kinder, das habe ich getan!“
„Aber warum denn?“
„Ach, nur in dem Vunſche, deine liebevolle Sorgfalt zu
erwidern. Nachdem du meinen Schreibtiſch ſo ſchön aufgeräumt
und alle Papiere geordnet haſt, war es mir ein Herzensbedürfnis,
auf dieſelbe Weiſe auch deinen Nähtiſch in Ordnung zu
bringen.“ O. v. B.
Ein ſchottiſcher Münchhauſen. — Auch in Schottland hat
es einen „Münchhauſen“ gegeben; es war ein Grundbeſitzer,
der Laird Durham, der im 18. Jahrhundert lebte und bei ſeinen
Zeitgenoſſen in dem Rufe ſtand, die graue Wirklichkeit vermöge
ſeiner reichen Phantaſie gern etwas farbiger erſcheinen zu laſſen.
236 Mannigfaltiges. | oO
Eines Tages trat Peter, fein langjähriger treuer Diener,
zu ihm ins Zimmer und ſagte: „Hiermit kündige ich zum
nächſten Termin.“ |
„Du willſt gehen, Peter?“ ſagte der Laird erſtaunt. „Habe
ich dich nicht immer gut behandelt? Habe ich nicht erſt neulich
deinen Lohn erhöht? Worüber haſt du alſo zu klagen?“
„Ich bin mit allem zufrieden, aber das ärgert mich, daß
die Leute von mir ſagen, der dient bei jemandem, der ein
Aufſchneider iſt.“
„Richtig, Peter, ich ſehe wohl, daß ich mich mehr zuſammen-
nehmen muß. Ich will dir etwas ſagen: wenn du bei Tiſch
hinter meinem Stuhle ſtehſt und hörſt, daß ich anfange auf-
zuſchneiden, ſo gib mir heimlich einen kleinen Knuff in den
Rücken; dann lenke ich wieder ein, und wir beide werden
uns ſchon noch länger vertragen.“
Peter empfahl ſich befriedigt.
Bald darauf hatte der Laird einige Gäſte zu Tiſch, und
das Geſpräch kam auf das für die Wahrheitsliebe von jeher
gefährliche Gebiet der Reiſe- und Zagderlebniffe. „Ja, auf
der Reiſe, von der ich erzähle,“ ſagte der Laird, „habe ich
Füchfe mit Schwänzen geſehen, die ihre zwölf Fuß lang waren.“
In dieſem Augenblick fühlte er einen kräftigen Stoß von
Peters Fauſt.
„Was ſage ich,“ berichtigte ſich nun der Laird, „ſechs Fuß
waren ſie lang.“
Neuer Stoß von Peter.
„Ich irre mich,“ fuhr der Erzähler fort, „drei Fuß meine ich.“
Dritter Stoß von Peter.
Da drehte ſich der Laird zu feinem Diener um und
ſagte laut: „Aber Peter, wenn ich die Schwänze nun noch
kürzer mache, dann iſt ja die ganze Geſchichte nichts mehr
wert!“ O. v. B.
Die kleine Zehe. — Zu den am meiſten mißhandelten
Gliedern des menſchlichen Körpers gehört ohne Zweifel die
kleine Zehe. Durch den Druck des enganliegenden Lederſtiefels
wird ſchon bei Kindern eine Verunſtaltung der kleinen Zehe
hervorgerufen, die mit den Fahren zunimmt und mit Beginn
*
. Mannigfaltiges. 237
der Oreißiger ihren Höhepunkt erreicht hat: die kleine Zehe
iſt dann in den weitaus meiſten Fällen ein bogenförmig
gekrümmtes, völlig plattgequetſchtes und halb über die Nach-
barzehe hinübergedrücktes Glied geworden, an deſſen Spitze
nur noch ein winziger Reſt von einem Nagel wuchert.
Niemand wird dieſem vollſtändig verbildeten Beſtandteil des
menſchlichen Fußes dann noch anſehen, daß er — was den meiſten
überhaupt wohl unbekannt ſein dürfte — drei Gelenke beſitzt im
Gegenſatz zu der großen Zehe, die nur zweigelenkig iſt.
Bereits 1824 ſtellte der Pariſer Anatom Huguet nun feſt,
daß bei manchen Menſchen die kleine Zehe ebenfalls nur
zweigelenkig iſt. Dieſelbe Beobachtung machte auch ver-
ſchiedentlich der Wiener Profeſſor der Medizin Schennler, der
1854 über dieſe immerhin auffallende Erſcheinung eine Arbeit
veröffentlichte, in welcher er die Schuld an dieſer Verwachſung
des Endgliedes mit dem Mittelgliede dem Druck des Schuh-
werkes zuſchreibt. 0
In neuerer Zeit hat man dieſem auffälligen Vorgang er-
höhte Beachtung geſchenkt, und da iſt die Wiſſenſchaft an der
Hand eines reichlichen Materials, das nicht nur in Kultur-
ländern, ſondern auch unter unziviliſierten, feſten Schuhwerks
ungewohnten Völkerſchaften geſammelt worden war, zu er-
heblich anderen und daher weit intereſſanteren Schlüſſen ge-
kommen. Beſonders der Anatom Wilhelm Pfitzner ſtellte feſt,
daß dieſe Umwandlung der kleinen Zehe in ein zweigelenkiges
Glied ebenſo häufig bei Menſchenraſſen auftritt, die ſtets barfuß
gehen, bei den malaiiſchen Völkern, den Negerſtämmen Afrikas
und den ſüdamerikaniſchen Indianern, daß mithin der dauernde
Oruck der feſtanliegenden Schuhe nicht als Urſache dieſer
Knochenverwachſung angeſehen werden könne. Oagegen ſpricht
nach Pfitzner auch das geſunde Ausſehen der verwachſenen
Knochenteile, ſodann aber auch die Tatſache, daß zweigelenkige
kleine Zehen ſchon bei Kindern im zarteſten Alter ebenſo häufig
wie bei älteren Perſonen angetroffen werden. Ferner iſt ſta-
tiſtiſch nachgewieſen — und dies iſt von größter Wichtigkeit —,
daß die Zahl der Menſchen mit zweigelenkigen Zehen in den
letzten fünfzig Jahren erheblich zugenommen hat.
238 Mannigfaltiges. u
Es kann ſich hier nur um einen naturgemäßen Vorgang
handeln, worauf auch die Art der Verwachſung der beiden
Zehenglieder mit Sicherheit hinweiſt, alſo um eine Rückbildung,
in der die menſchliche kleine Zehe begriffen iſt, und die als ein
neues Raſſenmerkmal angeſehen werden muß, das aus einer
bisher noch nicht aufgeklärten Veranlaſſung auftritt. W. K.
Wann darf eine franzöſiſche Frau Männerkleidung tragen?
— Es gibt bekanntlich eine franzöſiſche Frau, die regelmäßig
Männerkleidung trägt. Oies iſt die bekannte Schriftſtellerin
Frau Dieulafoy. Sie iſt zum Gebrauche dieſer Tracht von
der Pariſer Polizeipräfektur ausdrücklich ermächtigt worden.
Dies hat nun einen Neugierigen auf den Gedanken ge-
bracht, bei der Präfektur anzufragen, unter welchen Bedin-
gungen denn einer franzöſiſchen Frau die Ermächtigung zum
Tragen der Männerlleidung zuerteilt wird. Die Beamten der
Präfektur zeigten ſich dem Frageſteller gegenüber ziemlich
zurückhaltend. Schließlich aber rückten ſie mit der Mitteilung
heraus, es gebe nur einen einzigen geſetzlichen Grund, der
Frau die Hoſentracht zu erlauben, und dieſer beſtehe darin,
daß die Frau einen Bart habe. Die Tatſache bleibt alſo, daß
in Frankreich eine Frau mit einem Barte das Recht auf die
Hoſentracht hat. Die betreffende Verfügung ſoll noch aus
der Schreckenszeit ſtammen. O. v. B.
Nicht zu verblüffen. — Nach Schluß eines Manövers, bei
dem das dritte Armeekorps dem Gardekorps gegenũbergeſtanden
hatte, erhielt Oberſt v. S. den Befehl, ſich bei dem bereits
hochbetagten ruſſiſchen Feldmarſchall Grafen Berg, der dem
Manöver beigewohnt und dem Kaiſer Wilhelm das Regiment
des Oberſten verliehen hatte, zu melden, um ſeinen Befehl
zu vernehmen, wann er ein Bataillon des Regiments, das
noch in Berlin ſtand, beſichtigen wolle.
Graf Berg beſtimmte die Zeit der Beſichtigung und ſagte
dabei zu dem Regimentskommandeur: „Ziehen Sie, bitte, die
Kompanien auseinander, Herr Oberſt, damit ich nicht genötigt
bin, das Bataillon im ganzen anzureden, da hierzu meine ſchon
ſchwachgewordenen Stimmmittel nicht mehr ausreichen würden.“
Dies geſchah, und die Kompanien ſtanden auseinander-
u Mannigfaltiges. 239
gezogen in Parade, als der ruſſiſche Feldmarſchall herankam.
Dieſer hatte ſchon vieles von dem Inſtitut des Einjährig-Frei-
willigendienſtes und dem großen Nutzen, den dasſelbe dem
preußiſchen Heere brächte, vernommen und war daher begierig,
einige Einjährig-Freiwillige kennen zu lernen und zu erfahren,
wie ſtark ihre Zahl wohl in dieſem Bataillon ſein möchte.
Er wandte ſich daher, während er mit dem Oberſten die
Front einer Kompanie abſchritt, plötzlich an einen intelligent
ausſehenden Mann mit der Frage: „Wo haben Sie ſtudiert?“
„In Halle!“ lautete die ſchlagfertige Antwort, bei der
Oberſt v. S. Mühe hatte, nicht laut aufzulachen. Denn der
Gefragte war von Beruf Lackier und mochte wohl in Halle ſein
Handwerk erlernt und ausgeübt haben, hatte aber ſchwerlich
jemals dort akademiſche Vorleſungen gehört.
Graf Berg fragte einen zweiten: „Und Sie? Wo haben
Sie ſtudiert?“
„In Greifswald!“
Der Mann war Schneider.
„Und Sie?“ wandte ſich der Feldmarſchall an einen dritten.
„on Berlin und Göttingen!“
Dieſer „Akademiker“ war Tapezier, übrigens wie alle übri-
gen Angeſprochenen ein Berliner.
Auch in anderen Kompanien richtete Graf Berg noch ſeine
Frage an verſchiedene Soldaten, deren Ausſehen ihm einen
höheren Bildungsgrad zu verraten ſchien, und erhielt jedesmal
prompte Antwort.
Da ſprach er voll Bewunderung zu dem Oberſten: „Ja,
nun kann ich mir die großen Erfolge erklären, die Sie in Frank-
reich errungen haben, nachdem ich mich ſelbſt davon überzeugte,
daß Ihre Armee in einem einzigen Bataillon faſt ein halbes
Hundert Leute mit akademiſcher Bildung beſitzt.“
Einige Tage danach hatte ſich Oberſt v. S., da das Bataillon
Berlin verlaſſen mußte, bei dem allerhöchſten Kriegsherrn ab-
zumelden. Bei dieſer Gelegenheit richtete Raifer Wilhelm an
ihn die Frage: „Sagen Sie mir doch, wie verhält es ſich denn
eigentlich mit dem halben Hundert Akademiker in dem Ba-
taillon, von dem mir Graf Berg erzählte?“
240 Mannigfaltiges. A
Nun berichtete Oberſt v. S. dem Kaiſer den geſchilderten
Hergang, und auf welche Veiſe Graf Berg die zahlreichen
ſtudierten Leute ermittelt hatte.
Der Kaiſer lachte herzlich und ſagte: „Ja, meine Berliner
laſſen ſich fo leicht nicht verblüffen.“ R. v. B.
Bauernſchlauheit. — Wie oft begegnet man in Wald und
Flur jenen warnenden Tafeln, mit denen die Grundbeſitzer
das Publikum davon abzuhalten ſuchen, die Landſtraße durch
den geraden Weg über die Wieſen abzuſchneiden. Nicht immer
jedoch mit Erfolg, denn ohne hoſengefährdende Stacheldraht
zäune gelingt's in den ſeltenſten Fällen.
Ein Bäuerlein in einem Seitentale des Inn hat ſich ſehr einfach
zu helfen gewußt. An einer Stelle, wo jeder Wanderer bisher
nach einigen mathematiſchen Überlegungen zu dem Ergebnis kam,
daß eine gerade Linie immer der kürzeſte Weg zwiſchen zwei
Punkten iſt, ftellte unſer Bauer eine Tafel auf, die die freundliche
Einladung ausſprach: „Das Rindviech darf hier ins Gras gehen.“
Er ſoll ſeinen Zweck vollkommen erreicht haben. O. v. B.
Die Gabe der kleinen Mädchen. — Als im Jahre 1870
überall für die Verwundeten geſammelt wurde, da lief auch
bei dem Berliner Zentralkomitee eine Gabe von acht Talern
ein, die von einem Verein „kleiner Mädchen“, die eine Lotterie
veranſtaltet hatten, eingeſandt waren. Die Geldſpende war
von folgenden Verſen begleitet:
Orei Pfennige nahmen wir für das Los,
Die Einnahme war trotzdem ſehr groß.
Acht richtige Taler ſind's, die wir
Dem Komitee überſenden hier.
Acht Taler, das lehrt uns das Rechenbuch ſchon,
Sind weit mehr als ein Napoleon.
Und wenn wir ihn, den ja nichts ſoll zügeln,
Mit unſern Oreiern ſchon überflügeln,
Wir kleinen Mädchen — na guten Morgen! —
Wie werden's ihm erſt unſere Soldaten beſorgen! —zen.
Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von
Theodor Freund in Stuttgart,
in Oſterreich⸗Ungarn verantwortlich Dr. Ernſt Perles in Wien.
[
verleiht ein
rosiges, jugendfrischer
Antlitz und einreiner, zarter, schönes
Dies erzeugt die alleın echte
Teint.
Das Klavier ift heute nicht nur das
4 Lieblingsinſtrument der deutſchen Fa⸗
milie, ſondern ein Luxusgegenſtand jeder
— bürgerlichen Einrichtung. Gerade
em letzteren Umſtande iſt es zuzuſchrei⸗
m ben, daß heute ein großer Teil aller In⸗
ſtrumente ihren eigentlichen Zweck nicht
erfüllen, denn es gibt Tauſende und
Abertauſende, die das Klavierſpiel wohl
ſchon verſucht haben zu erlernen, es aber
trotzdem nicht zu dem bringen konnten,
was ſie erſehnten. Der hauptſächlichſte
Grund, weshalb die meiſten nach kürzerer
oder auch längerer Zeit ihre Verſuche
wieder einſtellten, dürfte in allererſter
Linie auf das umſtändliche Erlernen des
ſeitherigen Notenſyſtems zurückzuführen
ſein. Außerdem empfinden ſehr viele,
namentlich ſolche Leute, die ihrem Er⸗
werbsleben nicht allzuviel freie Zeit ab⸗
gewinnen können, es als einen läſtigen
Uebelſtand, beim Lernen ſich ſyſtematiſch
fremder Hilfe zu bedienen. Es dürfte
wohl nur wenige geben, deren Zeit es
erlaubt regelmäßig Muſikunterricht zu
nehmen. Ueber alle Uebelſtände, die alſo
bisher das Klavierſpiel erſchwerten, hilft
nun mit einem Schlage die rühmlichſt
bekannte und tauſendfach bewährte
„Taſtenſchrift“ hinweg. Der Haupt⸗
wert dieſer Methode, nach der man das
Klavierſpiel wirklich individuell und in
allerkürzeſter Zeit ohne fremde Hilfe
erlernen kann, liegt darin, daß man
vorheriger Notenkenntnis keines⸗
wegs bedarf. n der Taſtenſchrift
hat das bisherige Notenſyſtem eine un⸗
geahnte Vereinfachung gefunden; ſie
macht ſich dadurch von dem früheren
Syſtem unterſchiedlich, daß ſie weder Vor⸗
zeichen, noch Auflöſungs⸗ oder Ernied—
rigungszeichen hat. Hier ſieht man bei
der eigenartigen Anordnung der fünf
Notenlinien jede Taſte, die anzuſchlagen
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oräle können auch
erhalten diejenigen,
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iſt, auf dem Notenblatt bildlich vor ſich.
Wer nach der Taſtenſchrift lernt, treibt
nicht einſeitige Muſikſtümperei, ſondern
bildet ſich genau, wie nach den Schulen
des bisherigen Notenſyſtems zu einem
perfekten Klavierſpieler aus, wie er über⸗
all beliebt iſt und auch gern gehört wird.
Natürli iſt die Taſtenſchrift
auch für das Har monium zu ver⸗
wenden. 4 den hervorragenden Wert
der Taſtenſchrift zeugt am beſten die
Tatſache, daß unlängſt bereits die 5. Auf⸗
lage (31. bis 40. Tauſend) herausgegeben
werden konnte. Aus den Kreiſen der
nach Tauſenden zählenden Anhänger der
Taſtenſchrift gehen dem untenſtehenden
Verlag täglich
kennungsſchreiben zu, von de en nur ein
einziges an dieſer Stelle Veröffentlichung
finden ſoll:
Herr Friedrich G. aus Berlin ſchreibt
am 9. 12. 12:
„Das Werk habe ich erbalten und teile mit, daß
es uns ſehr gut gefällt; es iſt alles leicht begreif⸗
lich und muß einer ſchon ſchwer von Begriff ſein,
wenn er mit Ihrer Taſtenſchrift nicht einig wird.“
Das komplette Werk, das neben allen
zur Erlernung notwendigen Einzelheiten
auch noch etwa 30 vollſtändige Muſikſtücke,
wie Lieder, Märſche, Tänze uſw. enthält,
koſtet 5 Wit. und kann gegen vorherige
Einſendung des Betrags oder Nachnahme
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