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Full text of "Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens 1913, Band 12"

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j In erate in der „oibliother der Unterhaltung und des Wiffens” haben infolge 
5 ſachgemäßer verbreitung in allen Schichten der Bevölkerung dauernd: 
Wirkungskraft. Wegen der Inſertionspreiſe, insbeſondere der Preiſe für vorzugsſeiten 

ſchäftsſtelle der „Bibliothek der Unterhaltung und de: 

Fr 


wende man ſich an die Anzeigenge 
Wiſſens“ in Berlin SW 61, Blücherſtraße 31. fe 


Eine rationelle 
Körperpflege 


wirtſchaftliche Fortkommen! 


Täglich 14 Stündchen Sanax⸗Maſſage 
iſt die beſte und bequemſte Körperpflege, feſtigt 
Geſundheit und Körperkraft, beugt der Ent⸗ 
wicklung von Krankheiten vor und entfernt 
etwaige Krankheitsſtoffe und krankhafte Ab⸗ 
lagerungen aus den Geweben. Wer ſich geſund 
erhalten will, muß für die Sanax⸗Maſſage 
% Stündchen täglich erübrigen. 
8 5 Zu beziehen durch alle Geſchäfte, 

u wo obige Plakate ausliegen. a 


nn Fabrik: BERLIN N. 24, Friedrichstr. 131 U. 


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. Nasentormer,‚Zello« 


Die Wirkung kann jedermann an 
obenstehenden Bildern ersehen. Es sind 
weder Retuschen noch Zeichnungen, 
sondern Original-Photographien, welche 
in meinem Institut zur Einsicht liegen. 
Der Erfolg wurde ind—S Wochen erzielt. 
Mit meinem verbesserten Nasenformer 
„Zello“ kann jede, auch die häßlichste 
8 o Nase verbessert werden (mit Ausnahme 

a, der Knochenfehler). Nachbestellungen 
— aus Fürsten- und allerhöchsten 
. Kreisen. Jahresumsatz nachweisbar 
, = 30 000 Stück. Preis M. 2.70, scharf ver- 
1 stellbar M. 5.—, desgleichen mit Kaut- 
& schuk M. = Porto extra. Von aller- 


oa serate täuschen, eine ae wurden nie erreicht. 
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Das Gedächtnis ist der Schlüssel 


Nur wer das Stichwort 
kennt, kann sie öffnen. 
Unzähl. Wortkombina- 
tionen. Unentbehrlich 
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Geld, Briefen, Sparkas- 
senbüchern, Schmuck- 
und Wertsachen. 


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66 verfolgt das Prinzip 


„ Ben efactor Schultern zurück, Brust heraus 


bewirkt durch seine sinnreiche Konstruktion 


ert gerade Haltung er den. erweitert die Brust! 


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den Armen gemessen. Für Damen ausserdem 
| Taillenweite. Bei Niehtkonvenienz Geld zurück. 
Man verlange illustrierte burg 77 


F. Schoefer chi. Hamburg 7 


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Bibliothek 
der Unterhaltung 
und des Wiſſens 


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Zu der Erzählung „Der Stern von Travankore“ 
von W. Granville Schmidt. (S. 18) 


Originalzeichnung von Adolf Wald. 


ibliothek 
der Unterhaltung 
und des Wiſſens 


Mit 
Original beiträgen 
der hervorragend ſten 
Schriſtſteller und Gelehrten 
ſowie zahlreichen 
Auſtrationen 
> 


Jahrgang 1913 + Zwölfter Band 


u“ 


Union Deutfche verlagsgeſellſchaſt 
Stuttgart + Berlin + Leipzig 


Drud der 

Union deutſche 
verlagsgeſellſchaß 
in Stuttgart 


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Inhalts = verzeichnis. 
1 


Der Stern von Travancore. 
Erzählung von W. Granville Schmidt. Mit Bildern 
von Adolf Waldt nn nn. 


Die ſchöne Trebnitz. 
Roman von Hans Becker (Fortſetzung dn 


Dreißig Jahre Explofionsmotor. 
Von Max Nentwich. Mit 11 Bildern 


Eigenland. 
Novelle von Otto Hoe cke 
Pariſer Straßenberufe. 

: Von A. O. Klaußmann. Mit 9 Bildern 
Der Gewiſſensdoktor. 

Eine Geſchichte zum Nachdenken. Von A. Erbſtein 


häusliche Käfebereitung. 
Von Th. v. Wittembergk. Mit 8 Bildern 


Mannigfaltiges: 
Ein berühmter Meineiid 0. 
Raubtiere als Beſchützer ihrer Herren:. 


Das Alter unſerer Kinderſpiett lk 
Mit Bild. 


Der Kurfürſt mit den zwei Frauen 
Hygieniſche Bedeutung der Gewitter. 
Der hiſtoriſche Moment 
Eine Parade in Katman nm 


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Seite 


4 Snhalts-DBerzeichnis. 0 


Naſenformen und Naſenformungen . . 228 
Mit 2 Bildern. | 


Den eigenen Tod gemeldde 230 
Die ſächſiſchen Schöppple n . 232 
Der japaniſche Kronprinz. 235 
Mit Bild. 8 
Eine Liebe iſt der anderen weerrtrt 235 
Ein ſchottiſcher Münch hauen 2855 
Die kleine Zehe ei 256 
Wann darf eine franzöſiſche Frau Männertleidung 
tragenn??n?2snsns n 238 
Nicht zu verblüffe nnn 238 
Bauernſchlau heit.. 240 
Die Gabe der kleinen Mädchen 240 


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Der Stern von Travankore. 
Erzählung von W. Granville Schmidt 


mit Sildern von 1 

Adolf Wald. inachoͤruck verboten.) 

Sat in Amſterdam! Weiß und rot flammten 
die Kaſtanien; ſchwerfällige Kähne glitten durch 

ſtille Grachten, auf denen die Sonne wie flüſſiges Gold 

lag; von weither trug der blaue u verhallendes 

Glockengeläute. 

Langſam folgte ich dem Laufe der Kanalböſchung 
und muſterte die eintönigen Faſſaden der ſchlichten, 
ſauberen Häuſer. Hier in den Vororten verebbte das 
brandende Leben der niederländiſchen Handelsmetro- 
pole, hier glaubte man ſich in die vornehme Ruhe einer 
kleinen mitteldeutſchen Reſidenz verſetzt. Nur zuweilen 
ſchritt ein Mynheer mit ſteifer Würde vorüber, oder 
ein blonder Mädchenkopf tauchte flüchtig hinter blinken 
den Fenſterſcheiben und farbenfrohen Hyazinthen— 
töpfen auf. 

Wie hatte mein neuer Bekannter, der Redakteur 
einer großen Amſterdamer Zeitung, doch geſagt? „Ja, 
unſer Land iſt nüchtern, und die Menſchen darin ſind 
breit wie ihre Sprache; aber ich glaube, Sie würden 
Land und Leute bei längerem Hierſein dennoch lieb- 
gewinnen. Suchen Sie mich morgen nachmittag in 
unſerem Donnerstagklub auf; Sie werden es nicht be- 


6 Der Stern von Travankore. u 


reuen, denn nirgends gibt ſich der Holländer freier als 
bei ſolchen gemütlichen Zuſammenkünften.“ 

Nun war ich auf dem Wege nach dem Klubgebäude. 
Nur zwei Tage blieben mir noch für Amſterdam; dann 
wollte ich zu Schiff weiter nach New Vork. Doppelt 
dankbar war ich daher meinem liebenswürdigen Ve— 
kannten, daß er es mir durch ſeine Einladung ermög— 
lichte, einen tieferen Blick in das geſellſchaftliche Leben 
des modernen, gebildeten Holländers zu tun. 

Der Donnerstagklub zählte hauptſächlich Mitglieder 
der Preſſe zu feinem Kreiſe; aber auch beſſere Kauf- 
leute, Induſtrielle und Privatleute waren allezeit will- 
kommen. Etwa fünfzehn bereits ältere Herren, darunter 
mein neuer Bekannter, waren anweſend und begrüßten 
mich mit ungezwungener Freundlichkeit, ſo daß ich mich 
ſchnell heimiſch zu fühlen begann. 

Die Unterhaltung war ſehr lebhaft und drehte ſich 
ausſchließlich um die bevorſtehende „Jungfernreiſe“ der 
„Neederland“. Dieſer Dampfer war nicht nur Hollands 
größtes und beſteingerichtetes Schiff, ſondern ſeine 
Turbinen ſollten ihm auch, dank einer ſorgſam geheim— 
gehaltenen Verbeſſerung in der Konſtruktion, eine 
enorme Geſchwindigkeit verleihen. 

„Ballen Sie auf,“ wandte ſich mein neuer Ve— 
kannter mit leuchtenden Augen zu mir, „mit dieſem 
Schiffe reißen wir das blaue Band des Ozeans an uns. 
Die ‚Neederland‘ wird alle Rekorde engliſcher und 
deutſcher Schiffe ſchlagen, und dann wird auch Holland 
wieder unter den fchiffahrttreibenden Mächten die 
Stellung einnehmen, die ihm nach feiner ruhmvollen 
maritimen Vergangenheit gebührt.“ 

Die anderen Herren nickten bedächtig, und ich ent— 
gegnete: „Um fo mehr werde ich mich freuen, dieſe 
für Ihr Land ſo bedeutungsvolle Fahrt mitmachen zu 


2 Erzählung von W. Granville Schmidt. 7 


können. Ich ſoll nämlich im Auftrage einer großen 
Tageszeitung an der erſten Überfahrt teilnehmen, weil 
man in der ganzen Welt mit Spannung den Leiſtungen 
dieſes neuen Rekordſchiffes entgegenſieht.“ 

„Sie Glücklicher!“ meinte einer der Herren, ein an- 
geſehener Reismakler, mit leiſem Neid. „Es ſind hier 
kleine Vermögen von Leuten geboten worden, die aus 
Luſt an Senſationen dieſe Rekordfahrt mitmachen 
möchten; aber alle Kabinen ſind bereits beſetzt, und 
Fahrkarten werden ſeit geſtern nicht mehr ausgegeben. 
Ja, mein Herr, Hunderte werden Sie um dieſe Reiſe 
auf dem ſchönen Schiff beneiden.“ 

„Abrahams hat es ja doch noch möglich gemacht, 
ſich eine Kabine zu ergattern,“ warf ein anderes Rlub- 
mitglied ein. 

„Ja, der Glückspilz!“ rief der Reismakler. „Übrigens 
hat er eigentlich ſein Anrecht auf dieſe Fahrt verwirkt, 
denn er darf von Rechts wegen ja gar nicht mehr unter 
den Lebenden weilen.“ 

„Sie meinen, weil er den ‚Stern von Travankore“ 
im Beſitz hat?“ forſchte einer der Herren. 

„Eben darum!“ entgegnete der Makler langſam. 

Ein minutenlanges Schweigen brach in dem Raum 
aus, und die Herren blickten nachdenklich dem Rauch 
ihrer Pfeifen und Zigarren nach. 

Das erſte Mal in meinem Leben hörte ich von dem 
„Stern von Travankore“, und ich konnte mir keinen Vers 
darauf machen, warum ſein Beſitz den Tod bringen 
ſollte. Aufklärung heiſchend, wandte ich mich an meinen 
Bekannten. 

Mit leichtem Lächeln erwiderte er: „Sie dürfen 
mich nicht für abergläubiſch halten, denn ich erzähle 
Ihnen nur nackte Tatſachen, die für ſich ſelbſt ſprechen. 
Alſo der ‚Stern von Travankore ſiſt ein großer, äußerſt 


8 Der Stern von Travankore. 1 


koſtbarer Diamant. An dieſen Stein knüpft ſich nun die 
Legende, daß derjenige, der ihn im Beſitz hat, durch- 
aus eines unnatürlichen Todes ſterben muß.“ 

„Hat er dieſe zweifelhafte Berühmtheit auf Grund 
wirklicher Ereigniſſe erworben?“ 

„Ja, das iſt eben das Eigentümliche, die Tatſachen 
ſcheinen dem abergläubiſchen Gerede recht zu geben. 
Hiſtoriſch bewieſen iſt, daß er zuerſt einem Sultan ge- 
hörte, der ſeines Thrones beraubt und ermordet wurde; 
darauf kam er in den Beſitz der unglücklichen Marie 
Antoinette. Nach deren Tode gelangte er in die Hände 
der Prinzeſſin Lamballe, jener Frau, die von dem 
raubenden Pöbel maſſakriert wurde, und ſo gelangte 
er zuletzt in den Beſitz eines hier anſäſſig geweſenen 
Juweliers. Dieſer Mann verübte vor drei Wochen in 
einem Anfalle unerklärlicher Schwermut Selbſtmord. 
Unter dem verſteigerten Nachlaß befand ſich auch der 
‚Stern von Travankore“. Unſer Klubmitglied Hendrik 
Abrahams, ein weitbekannter Diamantenhändler, hat 
den Stein nun erworben. Bis heute iſt er noch ſehr 
vergnügt — trotz des verhängnisvollen Beſitzes. Übri- 
gens braucht er das Schickſal nicht mehr lange auf die 
Probe zu ſtellen, denn in fünf, ſechs Tagen wird er 
den Stein ſchon wieder abgegeben haben. Ein ameri- 
kaniſcher Millionär hat ihm für den Stein ein Ver— 
mögen geboten, und nun will Abrahams den koſtbaren 
Stein ſelbſt hinüberbringen. Natürlich hat er ſich die 
‚Neederland‘ zur Überfahrt ausgeſucht, denn je größer, 
je vollkommener ein Schiff iſt, um ſo eher kann man 
ſich ihm anvertrauen — und das müſſen Sie doch zu— 
geſtehen: beſſer als die ‚Neederland‘ iſt kein Dampfer 
gegen die verſchiedenſten Gefahren der See geſichert. 
Mit ſolchem Schiff zu fahren, iſt eine Luft und Er- 
holung.“ 


0 Erzählung von W. Granville Schmidt. 9 


Das Geſpräch wurde jetzt wieder allgemein. Einige 
glaubten an die verhängnisvolle Macht des Diamanten, 
andere ſchoben die Schuld auf allerdings eigenartige 
Zufälle. 


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Plötzlich ſtieß mich mein Bekannter an und flüſterte: 
„Da kommt Abrahams ſelbſt. Ich werde ihm erzählen, 
daß Sie ebenfalls die ‚Neederland‘ benützen. Dadurch 
werden Sie ſchnell mit ihm bekannt.“ 


10 Der Stern von Travankore. 2 


Ich blickte nach der Tür, durch die ſoeben ein großer, 
breitſchulteriger Herr eintrat. Sein Haar war an den 
Schläfen bereits ergraut, aber ſein volles, ſtarkgerötetes 
Geſicht und die hellen, lebhaften Augen Berliehen ihm 
einen faſt jugendlichen Eindruck. 

Jovial grüßte er in die Runde, und als mein Be- 
kannter, feinem Vorſchlag getreu, mich dem Juwelen- 
händler als Fahrtgenoſſe vorſtellte, zog er mich lebhaft 
in ein Geſpräch. 

„Na, Abrahams,“ rief der Reismakler zu uns hin- 
über, „bringſt du es noch fertig, ſo vergnügt zu lachen, 
wo doch das Damoklesſchwert des Diamanten an— 
dauernd über deinem Kopfe ſchwebt?“ 

Hendrik Abrahams ging zuerſt gutmütig auf die 
ſcherzhaft ſein ſollende Bemerkung ein. Ernſter werdend, 
fuhr er zu mir gewandt fort: „Sie haben die Geſchichte 
von dem „Stern von Travankore“ wohl auch ſchon ge- 
hört? Offen geſagt, mich läßt ſie gänzlich kalt. Ich bin 
ein aufgeklärter Menſch, und wenn ich mich den Tat— 
ſachen auch nicht verſchließen darf, fo halte ich fie eben 
für belanglofe Zufälligkeiten. Sehen Sie, Perlen ſollen 
ja auch Tränen bedeuten — nicht wahr? Und wie viele 
Perlen find ſchon durch meine Hände gegangen oder 
in meinem Beſitz geweſen! Aber ich habe nie Grund 
gehabt, zu weinen. Krankheit und Sorgen kenne ich 
nicht, mein Geſchäft entwickelt ſich in aufſteigender Linie, 
und ich habe mich wirklich über nichts zu beklagen. 
Bald gehört der Diamant mir ja auch nicht mehr.“ 

„Das Schiff kann untergehen, ehe du in New Vork 
anlangſt,“ rief der Reismakler wieder. 

Ein allgemeines Gelächter und Proteſtrufen er— 
hob ſich. 

„Glauben Sie auch, daß einem ſolchen Schiffe ein 
Unglück begegnen kann?“ meinte Abrahams lächelnd. 


u Erzählung von W. Granville Schmidt. 11 


Ich verneinte eifrig. „Ich würde ſonſt doch nicht 
ſelbſt mit der ‚Neederland‘ fahren. Das Schickſal der 
„Titanic“ wird uns gewiß nicht treffen, denn jeder vor- 
ſichtige Kapitän hat ſicherlich ſeine Lehre daraus ge— 
zogen.“ 

Abrahams nickte mehrfach zuſtimmend mit dem 
Kopf. Am Schluſſe meiner Ausführungen drückte er 
mir die Hand. 

„Ganz meine Meinung, mein Herr. Sie Deutſchen 
bauen ja noch größere Schiffe — und von Ihnen kann 
man lernen. Dann darf ich alſo wohl „Auf Wieder- 
ſehen an Bord!“ ſagen?“ 

„Das dürfen Sie!“ entgegnete ich und erwiderte 
herzhaft den Druck ſeiner Rechten. 

Nun, da ich einen ſo angenehmen Reiſegefährten 
gefunden hatte, freute ich mich doppelt auf die viel- 
verſprechende Fahrt mit dem ſtolzen Schiff, deſſen Kiel 
ſchon in wenigen Tagen zum erſten Male die grünen 
Wogen des Ozeans pflügen ſollte. | 


* * 
* 


Mit unverminderter Kraft raſte die „Neederland“ 
in die Nacht hinein, trotzdem ein leichter Nebel, der 
hier, in der Nähe der Neufundlandbänke, ſo häufig iſt, 
ſich auf die Waſſerwüſte ſenkte. 

„Sehen Sie, die Eisberge bleiben aus!“ meinte 
Hendrik Abrahams und hüllte ſich feſter in ſeinen dicken 
Alſter. „Nun, der Kapitän iſt ein alterprobter See— 
mann. Er wird wiſſen, was er zu tun hat. Wir fahren 
ſcheinbar noch mit unverminderter Kraft.“ 

Wir ſtanden beide an die Reling gelehnt und ſahen 
auf das Meer hinaus. Die langen Reihen der erleuch- 
teten Bullaugen ſpiegelten ſich in den dunklen, wogen- 
den Fluten, die mit eintönigem Rauſchen gegen den 


12 Der Stern von Travankore. Oo 


Leib des Schiffes ſchlugen. Vom Salon herauf erſcholl 
Lachen, Gläſerklingen und Klavierſpiel. 

„Ich glaube, wir gehen jetzt auch hinunter. Es wird 
merklich kühler,“ ſchlug Abrahams vor. 

Da ich mich ermüdet fühlte, ſuchte ich ſofort meine 
Kabine auf, während Abrahams im Salon noch ein 
Spielchen machen wollte. 

Eben hatte ich die Oberkleider abgelegt, da ging 
eine leichte, kaum wahrnehmbare Erſchütterung durch 
den Schiffskörper, nicht einmal ſo ſtark, daß ich ins 
Schwanken geriet. Es war, als ob die „Neederland“ 
einen im Waſſer treibenden Gegenſtand geſtreift hätte. 
Nachdem ich einige Minuten gelauſcht hatte, ohne etwas 
Verdächtiges zu hören, fuhr ich mit dem Auskleiden 
fort und begab mich dann zur Koje. Wenige Minuten 
ſpäter war ich eingeſchlafen. 

Plötzlich weckte mich heftiges Pochen an meiner 
Kabinentür. Schlaftrunken fuhr ich empor und horchte. 

„Stehen Sie auf und legen Sie einen Rettungs- 
ring an!“ hörte ich die Stimme meines Kabinen- 
ſtewards. 

Im Nu war ich aus dem Bett und ſchloß die Kammer- 
tür auf. Hell brannte das elektriſche Licht auf dem 
teppichbelegten Gange, und faſt aus jeder Tür blickten 
ängſtliche, verſchlafene oder verdrießliche Geſichter. 

„Was iſt denn los, Steward, daß Sie uns im beſten 
Schlaf ſtören?“ forſchte eine Dame ungnädig. 

Der Steward zuckte die Schultern. „Anordnung 
des Kapitäns, Madame. Wir ſind auf den unter Waſſer 
befindlichen Teil eines Eisberges geraten.“ 

Die Dame ftie einen Schreckensſchrei aus und ver— 
ſchwand im Kabineninnern. 

„Sit irgendwelche Gefahr?“ wandte ich mich an 
den Steward. 


2 Erzählung von W. Granville Schmidt. 13 


„Nicht dran zu denken! — Aber der Alte iſt ja ſo 
vorſichtig,“ erwiderte er, ſchon weiterlaufend. 


— 


Obwohl feine Antwort auf mich einen guten Ein- 
druck machte, hielt ich es doch für beſſer, mich ſchleunigſt 
anzukleiden und mich perſönlich zu überzeugen, wie es 
an Oeck ausſah. 


14 Der Stern von Travankore. 0 


Gerade wollte ich die Kabinentür ſchließen, da er- 
ſchien einer der Offiziere am Ende des Ganges. Er war 
erregt, und ſeine Stimme hatte einen trockenen, heiſeren 
Klang, als er rief: „Die Frauen und Kinder ſofort an 
Deck kommen, um in die Boote zu gehen!“ 

Die Wirkung dieſes Rufes war eine unerwartete, 
erſchreckende. War man vorher noch unbeſorgt, ja 
vielleicht ärgerlich darüber, daß man die Nachtruhe 
einbüßen mußte, dämmerte jetzt die lähmende Erkennt- 
nis, daß der Unfall doch wohl folgenſchwerer geworden 
war, als man zuerſt geglaubt hatte. 

Mangelhaft gekleidet ſtürmten die meiſten Frauen, 
ihre Kinder auf dem Arm, in ſinnloſer Angſt an Deck. 

Weil aber in den Bewegungen des Dampfers keine 
merkbare Veränderung vor ſich ging, ließ ich mir Zeit, 
mich ruhig fertigzumachen. Ich zog meinen grauen 
Reifeanzug an und band mir Wäſche um, dann ſetzte 
ich mich auf das Sofa, um meine Stiefel anzuziehen. 

„Hallo, machen Sie ſich ſchon reiſefertig?“ hörte 
ich eine lachende Stimme am Türeingang. 

Aufblickend gewahrte ich Hendrik Abrahams. 

„Ich komme eben aus dem Salon. Wir ſind noch 
mitten im Spiel,“ fuhr er erläuternd fort. 

In dieſem Augenblick fing der Dampfer an, ſich 
langfam mit dem Bug zu ſenken. Unwillkürlich trafen 
ſich unſere Augen in ſtarrem Erſchrecken. 

Oben an Deck hörte man Rufen, Schreien und das 
polternde Geräuſch vieler Schritte. 

„Der Dampfer ſinkt!“ rief ich. „Kommen Sie mit 
an Deck!“ 

Ohne mir Zeit zu laſſen, meinen Handkoffer zu 
nehmen, drängte ich Abrahams zum Gang hinaus auf 
die Treppe, die an Deck führte. Ganz mechaniſch 
leiſtete er Folge. 


D Erzählung von W. Granville Schmidt. 15 


Oben herrſchte eine unheimlich wirkende Ruhe. Die 
Offiziere gaben mit ſtarrer Miene ihre Befehle und 
halfen den Frauen beim Beſteigen der Boote. Nur 
unterdrücktes Schluchzen oder das Aufweinen eines 
Kindes unterbrach dieſe laſtende Stille. Es war, als 
hätte das unvermutete Unglück die Menſchen erſtarren 
laſſen, als leiſteten ſie nur noch automatenhaft den 
Befehlen der Offiziere Folge. 

Ich hielt mich dicht an Abrahams Seite. Er hatte 
alle Farbe verloren und forſchte nur immer hilflos: 
„Was machen wir nun? — Was ſollen wir nur machen?“ 

„Springen Sie da ins Boot! — Vorwärts, meine 
Herren, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren!“ 

Der erſte Offizier gab uns in barſchem Kommando— 
ton dieſe Aufforderung. 

Wie im Halbſchlummer fprang ich aufs Geratewohl 
in das ausgeſchwungene Boot. Dicht hinter mir ſprang 
Abrahams ebenfalls nach. 

Als ich wieder ordentlich zu denken vermochte, 
trieben wir ſchon mit unſerem Boot auf dem Meer, 
und ſchon in ziemlicher Entfernung leuchteten in drei 
Reihen übereinander die Bullaugen. Der Bug des 
Dampfers wurde ſchon yon den Wellen überſchwemmt, 
aber noch immer hörte man Rufen und Schreien an 
Bord. 

Fröſtelnd drängte ich mich in eine Ecke des Bootes 
und ſtarrte teilnahmlos nach dem ſinkenden Dampfer 
hinüber. Ich hatte ein Gefühl, als ginge mich das alles 
gar nichts an, als ereigne ſich da ein höchſt gleichgültiges 
Schauſpiel. Ich hatte das alles ja beim Untergang 
der „Titanic“ in den Zeitungen zum Überdruß gelefen. 

„Um Gottes willen, mein Koffer ſteht noch in meiner 
Kabine! Mein Koffer mit dem ‚Stern von Travankore“ 
darin!“ ſchrie Abrahams plötzlich und packte krampf⸗ 


16 Der Stern von Travankore. 8 


haft meinen Arm. „Wir müſſen wieder zurück! — Ich 
muß an Bord und den Diamanten holen!“ wandte er 
ſich an die rudernden Matroſen. 

Die Seeleute lachten und riefen ihm zu, er ſolle 
nur hinüberſchwimmen, fie gäben ſich zu folder Dumm— 
heit nicht her. 

„Es ſind ja noch Leute an Bord!“ wandte Abrahams 
ein und begann aufs neue zu bitten, zu befehlen, zu 
beſchwören. Als die Matroſen nur wortlos die Achſel 
zuckten, machte er ihnen Geldverſprechungen. Zuletzt 
bot er jedem von ihnen hundert Gulden. 

Die Ruderer hielten inne. Sie waren arme Teufel 
und hatten alle ihre Effekten eingebüßt — und für 
hundert Gulden kann man ſchon etwas wagen. 

„Es iſt gut, Herr! Wir wollen Sie noch einmal 
heranrudern. Aber Sie müſſen ſchnell machen, ſonſt 
können wir nicht auf Sie warten.“ 

„Ich weiß ja genau, wo der Koffer ſteht!“ verſprach 
Abrahams mit erleichtertem Aufatmen. 

Unter den Paſſagieren an Bord der „Neederland“, 
die noch nicht eingebootet waren, ſchien große Ver- 
wirrung zu herrſchen. Fluchen und Schreien, unter- 
brochen von der Donnerſtimme des Kapitäns, der, ge- 
treu ſeiner Pflicht, auf der Brücke ausharrte, gellte 
durch die Nacht und jagte mir kalte Schauer durch den 
Körper. Mittſchiffs hingen einige Taue und Strick- 
leitern bis auf die Meeresoberfläche. Darauf hielten 
die Matroſen zu. An einer dieſer Strickleitern klomm 
Hendrik Abrahams nach dem Deck empor. 

Ich ſah ihn im Kajüteneingang verſchwinden. 

Mehrere Minuten vergingen. Uns im Boote wurden 
ſie zu Stunden. 

Boot auf Boot ſtieß vom Dampfer ab, und immer 
ſtiller wurde es an Deck. Es ſchien, als ſeien alle 


u Erzählung von W. Granville Schmidt. 17 


Paſſagiere gerettet, denn die „Neederland“ war aus- 
reichend mit Booten verſehen — dank der „Titanic“. 


Da, deutlich bemerkbar, legte ſich der Dampfer ſtark 
nach Steuerbord über. 

„Er ſinkt weg!“ ſchrieen die Matroſen, und ohne 
Beſinnen legten ſie ſich in die Riemen. Wie in einem 
böſen Traum befangen hingen meine Augen gebannt 

1918. XII. 2 


18 Der Stern von Travankore. 2 


an dem Dampfer. Konnte es möglich ſein, daß die 
Matroſen kaltblütig den Diamantenhändler im Stich 
ließen? — Aber die Not, die Selbſterhaltung trieb fie 
an, und ich las es in ihren Geſichtern, daß ſie es nur 
mit innerem Widerſtreben taten. 

Die Nacht hatte allmählich einer fahlen Dämmerung 
Platz gemacht, und deutlicher konnte man den verlorenen 
Dampfer erkennen. 

Ein einziger Mann ſtand noch auf der Kommando 
brücke — der Kapitän. Der brave Mann zog es vor, 
auf dem Meer, dem ja ſein ganzes Leben gehörte, wie 
ein echter Seemann zu ſterben. 

Dies alles ſah ich vom Boot aus, und mein Herz- 
ſchlag ging ſchwer und langſam. Mit einem Male zuckte 
ich zuſammen. Neben dem Kapitän erſchien die Geſtalt 
eines Mannes. Es war Hendrik Abrahams. Er ſchwang 
feinen ledernen Handkoffer winkend in der Rechten. 

„Ob wir's noch wagen können, ihn von Bord zu 
holen?“ warf einer der Matroſen fragend ein. 

„Nein!“ entgegnete der Bootsmann hart. „Es 
wäre unſer aller Tod!“ 

Er hatte dieſe Worte noch nicht ausgeſprochen, da 
ſenkte ſich der Bug noch tiefer ins Meer, ſteil richtete 
ſich das Heck in die Höhe — und die ſtolze „Needer— 
land“ ſchoß in die Tiefe“). Gurgelnd und brauſend 
ſchloſſen ſich die Wogen über dem unglücklichen Schiff. 

Anwillkürlich entblößten die Matroſen ihr Haupt; 
dann aber griffen ſie mit neuer Kraft zu den Riemen, und 
bald entfernte ſich das Boot weiter und weiter von jener 
Stelle, wo ſich ſoeben eine Tragödie abgeſpielt hatte. 

Der „Stern von Travankore“ hatte ſein letztes Opfer 
gefordert. 


*) Siehe das Titelbild. 


. 


Die ſchöne Trebnitz. 


Roman von hans Becker. 


* 
[(Fortſetzung.) (nachoͤruck verboten.) 


Woder Sophie noch Kenia oder Paul hatten etwas 
von dem letzten Vorgang geſehen, der von neuem 
ertönende Geſang ließ fie glauben, daß die Bauern ihres 
Wegs gezogen ſeien. Aber Sophie war ſtark erregt, 
auch ſcheute ſie ſich, Baumeiſter gegenüberzutreten, 
deſſen Warnung ſie ſo wenig beachtet hatte. Sie fühlte, 
daß fie Vorwürfe verdiente, Kenia und Paul nach- 
gegeben zu haben, was ihr durch den furchtbaren 
Schrecken, den ſie gehabt, jetzt faſt wie ein Verbrechen 
erſchien. Auch als ſie wieder im Hauſe waren, konnte 
ſie ſich über das Geſchehene nicht beruhigen. Was war 
das für ein Leben hier? Keinen Schritt konnte man 
ja gehen, ohne in Gefahr zu kommen, totgeſchlagen 
zu werden! Waren das Menſchen, war es möglich, 
daß es Menſchen gab, die noch auf einer ſolch niedrigen 
Stufe ſtanden? Wie greuliche Tiere waren fie ihr er- 
ſchienen mit den ſtumpfen, blöden Geſichtern, den ſtieren 
Augen. 

Ganz ernſthaft dachte ſie daran, ſofort abzureiſen. 
Immer von neuem ſah ſie vor ſich, wie dieſe Halb- 
wilden auf ſie eindringen wollten. Aber wie geriet 
ſie in Erſtaunen, als Paul, kaum zu Hauſe angelangt, 


20 Die ſchöne Trebnitz. a 


nur von den Pferden ſprach, auch Kenia ſich anſcheinend 
ganz ruhig zum Frühſtückstiſch ſetzte. 

Als ob nichts geſchehen ſei. 

Hatte das Mädchen denn nicht geſehen, wie ihr 
Verehrer mitten unter dem Haufen war? Sah ſie in 
ihm vielleicht nur den Helden, der fie durch fein Da- 
zwiſchenkommen gerettet? 

Wer konnte wiſſen, was in dem Kopfe des Kindes 
vorging! 

Als bald darauf Baumeiſter eintraf, kam Sophie 
gar nicht dazu, ihm das Vorgefallene zu erzählen, denn 
Paul rief ihm ſchon, kaum daß er die Tür geſchloſſen 
hatte, entgegen: „Karl Karlowitſch, wiſſen Sie, was 
wir erlebt haben?“ 

„Na, was denn? Zit ein Marder in die Falle ge- 
gangen?“ 

Paul lachte. „Nein, aber eine ganz nette Prügelei 
hat's gegeben. Hören Sie nur!“ 

„Und wo war das? Doch nicht hier im Park?“ 

„Nein, auf dem Wege vom Geſtüt — wiſſen Sie, 
Karl Karlowitſch, dort am Walde, wo —“ 

Baumeiſter ſtand ſofort wieder vom Frühſtückstiſch 
auf. „Ich werde ſogleich ins Dorf reiten.“ 

Sophie errötete. Durch Nichtbeachtung der ihr 
gewordenen Warnung hatte ſie alles verſchuldet, nun 
jagte fie den Mann wieder fort — es war zum Ver— 
zweifeln, was ſie angerichtet. „Karl Karlowitſch, ein 
Vort noch,“ ſagte fie leiſe. 

Baumeiſter blieb an der Tür ſtehen. 

Sophie ſtand ſchnell auf und trat zu ihm. „Ih 
begleite Sie hinaus. Paul hat nur von ſich geſprochen, 
ich will Zhnen die Sache nochmals erzählen.“ 

Als fie draußen auf der Freitreppe ftanden, fand 
Sophie nicht gleich Worte. Wieder kam ihr das Ge— 


u Roman von Hans Becker. | 21 


fühl, daß er böfe auf fie war. Das reizte fie von neuem. 
Statt zu ſagen, was ſie ihm hatte ſagen wollen, ſtieß 
ſie plötzlich heraus: „Ich möchte fort, ich halte es hier 
nicht mehr aus!“ 

Das ſchien ihn zu erſchrecken. „Sie wollen fort? 
Wohin? Sophie Karlowna — an dem Gedanken trägt 
doch wohl nur die gehabte Erregung ſchuld. Wollen 
Sie nicht abwarten, bis ich zurückkomme, wir ſprechen 
dann weiter darüber. Es iſt alles nicht ſo ſchlimm, 
Sie werden ſich beruhigen.“ 

Er hatte ihre Hand genommen, hielt ſie in der 
ſeinigen — ganz unbewußt, als ob er fie damit zurück- 
halten könnte. 

Sie ließ ihm die Hand, ohne nachzudenken, und ſo, 
Hand in Hand, gingen ſie die Treppe hinunter und 
ſchritten durch den Park. 

Erſt hier erwachten ſie. 

Sie entzog ihm ihre Hand. „Entſchuldigen Sie, 
Karl Karlowitſch, daß ich nur an mich denke, nur von 
mir ſpreche. Es iſt aber ſo, ich möchte fort, ich fürchte 
mich hier — auch Kenias wegen. Wer weiß, was da 
alles noch geſchieht. Das Mädchen iſt jetzt fo ruhig, 
ſie muß doch geſehen haben, daß jener Student auch 
dabei war. — Doch das habe ich Ihnen ja noch gar 
nicht erzählt. — Alſo gerade, als wir fortliefen, ſah 
ich ihn aus dem Walde kommen. Zch wiederhole, das 
muß doch auch Kenia geſehen haben, ihr ruhiges Weſen 
jetzt erſcheint mir faſt unnatürlich. Das ſind alles ſo 
ganz andere Menſchen —“ 

„Frau v. Trebnitz, ich bitte Sie, faſſen Sie jetzt 
noch keinen Entſchluß. Und nun erzählen Sie die ganze 
Geſchichte.“ 

Sie ſchilderte alles genau und ſchloß: „Wenn ich 
denken muß, daß das morgen, übermorgen wieder 


22 Die ſchöne Trebnitz. u 


paſſieren könnte — oder ſoll ich hier wie eine Gefangene 
ſitzen, keinen freien Schritt tun dürfen —“ 

„Ruhe, Ruhe, Sophie Karlowna! Die ganze Sache 
iſt nicht ſo ſchlimm. Nur der — na, wie ſoll ich ihn 
nennen? — der RNomanheld Kenias iſt einigermaßen 
verdächtig. Er wohnt beim Popen. Dem iſt auch 
angſt und bange geworden, als ich ihm ſagte, daß der 
Kerl ihn an den Galgen bringen würde, wenn er ihn 
noch länger bei ſich behält. Er hat mir verſprochen, 
ihn, ſowie er nach Hauſe kommt, einzuſchließen und 
mich gleich zu benachrichtigen. Ich werde dann ſchon 
dafür ſorgen, daß wir ihn loswerden. Sie ſehen alſo, 
es iſt nicht fo ſchrecklich. — Die Bauern, denen Sie 
begegnet ſind? Ja, du lieber Gott, die waren eben 
betrunken. Das kommt vor, manchmal ſieben Tage 
in der Woche. — Aber da kommt ſchon mein Pferd. 
Sie verſprechen mir, noch nichts zu beſchließen. Sie 
ſind doch hier nicht verlaſſen — ich bin doch da, bin 
doch Ihr Landsmann!“ 

Am Fuße der Treppe verabſchiedeten ſie ſich, Sophie 
hatte auf ſeine Worte nur mit dem Kopfe genickt, das 
mußte ihm genügen. 

In Gedanken ritt Baumeiſter dem Dorfe zu. Hatte 
er recht getan, Sophie gegenüber die ganze Sache ſo 
ſchön zu färben? 

Ganz ſo, wie er es geſchildert, verhielt es ſich ſicher 
nicht, denn den Popen fand Baumeiſter in heller Auf- 
regung. 

„Ich wollte gerade zu Fhnen, Karl Karlowitſch, 
denn es iſt Schreckliches geſchehen.“ 

Baumeiſter erſchrak. „Was iſt —“ 

„Den einen, der hier bei mir wohnt — den hat 
man erſtochen. Zwei Reitknechte vom Geſtüt haben 
ihn gefunden und ins Dorf gebracht.“ 


2 Roman von Hans Becker. 23 


„Wo iſt er?“ 

Der Pope ſchien etwas wie Scham zu fühlen. Er 
zögerte. „Ach, Karl Karlowitſch — zu mir wollte ich 
ihn nicht bringen laſſen, Sie haben mir Angſt gemacht. 

Man hat ihn alſo ins Gefängnis gebracht.“ 

„War der Arzt ſchon bei ihm?“ 

„Der war nicht zu finden — auch in der Schenke 
nicht.“ 

„Kommen Sie mit!“ 

Baumeiſter nahm fein Pferd am Bügel und ging 
mit dem Popen zum Ende des Dorfs, wo ein verlaſſener 
Stall das Gefängnis darſtellte. 

Sie fanden den Verwundeten ohne Beſinnung, ſein 
Kamerad, den man ſchon vorher dort eingeſperrt, hockte 
neben ihm auf dem Fußboden. 

Baumeiſter fragte dieſen: „Lebt er noch?“ 

„Ja, er lebt noch, aber nicht mehr lange. Der Stich 
hat die Lunge verletzt.“ 

„Woher wiſſen Sie das?“ 

„Ich habe ihn unterſucht, ich bin Mediziner.“ 

„Was kann man für ihn tun?“ 8 

„Nichts. Es iſt ja auch nichts da, kaum daß mir 
der Kerl, der hier Wache halten ſoll, Waſſer gebracht 
hat. Ich mußte ihm erſt Geld dafür geben.“ 

Er ſagte das höhniſch, kehrte ſich ab und ſchien ein 
weiteres Geſpräch vermeiden zu wollen. 

Baumeiſter ſtand ratlos. Bis aus der nächſten 
Kreisſtadt der Arzt kam, vergingen Stunden. Mehr 
helfen konnte der ja auch nicht als der Gefangene, der, 
wie er ſagte, Mediziner war, aber man konnte doch 
einen Menſchen hier nicht ſo auf dem Stroh ſterben 
laſſen! Was getan werden konnte, mußte getan wer— 
den. Alles übrige war dann Sache des Gerichts. 

„Wenn Sie etwas brauchen, jagen Sie es mir. Id 


24 Die ſchöne Trebnitz. 2 


ſchicke alles vom Gute. Vielleicht könnte man den 
Verwundeten transportieren?“ 

Der Student ſchüttelte den Kopf. 

„Soll ich ein Bett herſchicken, oder was brauchen 
Sie ſonſt? Wir haben auf dem Geſtüt eine Apotheke.“ 

„Ich ſchreibe Ihnen auf, was nötig iſt.“ 

Der Student nahm aus der Taſche ein Notizbuch, 
riß ein Blatt heraus und ſchrieb etwas darauf. Das 
reichte er Baumeiſter. „Auch etwas ſtarken Wein — 
Portwein — und — ſchicken Sie mir auch etwas zu 
eſſen. Ich habe ſeit geſtern abend —“ 

„Gut, Sie ſollen alles haben. Wer iſt der Der- 
wundete?“ 

„Das geht niemand etwas an.“ 

Baumeiſter öffnete die Tür, um zu gehen. 

„Nehmen Sie den Mann hier mit.“ 

Der Pope, der angefangen hatte, laut zu beten, 
verſtummte, lief ſchnell hinter Baumeiſter her, und als 
ſie draußen waren, ſagte er: „Wer er iſt, haben Sie 
gefragt? Ich weiß, wer er iſt, ich habe ſeinen Paß 
geſehen — zufällig. Ein Adeliger iſt er. Ich konnte 
mir nicht vorſtellen, daß ein Adeliger ſich mit ſolchen 
Dingen befaßt, ich glaubte ihm, als er mir erzählte, 
daß er Botaniker ſei —“ 

„Das haben Sie mir ſchon erzählt.“ 

„Ich wollte auch nur noch ſagen, daß er mich ge— 
täuſcht hat, denn —“ 

Baumeiſter verſtand, daß der Pope ſich fürchtete, 
in die Sache hineingezogen zu werden. Er beruhigte 
ihn. „Sorgen Sie ſich nicht, es wird Ihnen nichts 
geſchehen.“ 

Darauf ſchwiegen beide. Sie gingen noch eine Weile 
nebeneinander, bis Baumeiſter ſich verabſchiedete und 
fortritt. 


B Roman von Hans Becker. | 25 


Warum lajtete das alles auf ihm? Was hatte er, 
der Deutſche, mit all dieſen Geſchichten zu tun? 

Es war das erſte Mal, daß er ſich dieſe Frage ſtellte, 
denn bisher hatte er nie darüber nachgedacht. Das 
deutſche Pflichtgefühl war es wohl, das ihn antrieb. 
Darüber hatte er die Pflicht gegen ſich ſelbſt vergeſſen, 
war hängen geblieben, älter geworden, ſtatt gleich 
nach dem erſten Fahre feine erſparten Groſchen zu 
nehmen, nach Deutſchland zurückzugehen und nach- 
zuholen, was er nachzuholen hatte. Nun war er ein 
Hauslehrer ohne Ausſichten. Wenn Paul noch ein paar 
Jahre älter ſein würde, war es vorbei mit dem Leben 
hier, und er konnte ſein Bündel ſchnüren. Ja, das ſtand 
ihm wohl noch ſchneller bevor, wenn Laſarews jetzt 
nach Petersburg gingen, Paul ins Pagenkorps trat. 

An all das hatte er bisher kaum gedacht. Er geſtand 
ſich das ruhig ein, ſcheute auch nicht davor zurück, ſich 
klarzumachen, was ihm in den letzten Tagen in den 
Kopf gekommen. Vor ſeinen Augen ſtand das Bild 
der Frau, die die Schuld daran trug. 

Welch köſtliches Weib! Wenn man die erringen 
könnte! 

Aber er konnte ja nicht, er durfte ſich nicht einmal 
merken laſſen, wie es um ihn ſtand. 

Wenn ſie nichts weiter geweſen wäre als eine 
arme Erzieherin, die ſich ihren Lebensunterhalt ver- 
diente wie er ſelbſt, aus beſcheidenen, bürgerlichen 
Verhältniſſen, dann würde er wohl den Mut finden, 
vor ſie hinzutreten. Aber ſo — eine Frau v. Trebnitz, 
eine elegante Dame der Geſellſchaft! Sie würde ihn 
einfach auslachen. Für ſie war das hier wohl nur ein 
Übergang, eine Flucht aus ihren bisherigen Kreiſen. 
Erſt einmal in Moskau oder Petersburg in der Geſell— 
ſchaft, die ſich im Laſarewſchen Haufe verfammelte, 


26 Die ſchöne Trebnitz. u 


würde es ihr an reichen, vornehmen Bewerbern nicht 
fehlen. Sie war ein Wunder an Schönheit, die ganze 
Welt mußte ihr zu Füßen liegen. 

Er war ſo in Gedanken verſunken, daß er verwundert 
aufblickte, als das Pferd plötzlich ſtehen blieb. Er hatte 
gar nicht bemerkt, daß er ſchon auf dem Gute ange— 
langt war. 

Er ſtieg ab, übergab ſein Pferd und ging ins Haus. 

Im Speiſezimmer traf er niemand. Sophie und 
Kenia waren wohl im Park, Paul hatte ſich die Frei— 
heit zunutze gemacht und trieb ſich bei den Hunden 
oder ſonſtwo herum. 

Baumeiſter fühlte es wie eine Erleichterung, daß 
er jetzt nicht zu ſprechen, nicht zu erzählen brauchte. 
Er war müde, auch fühlte er im Augenblick nur ſein 
eigenes Leid. 

Wie plötzlich das über ihn gekommen war! Nur 
ein paar Wochen war fie hier, die erſten Tage hatte 
er nur Freude gefühlt über den angenehmen Zuwachs 
zu dem kleinen Kreiſe, es hatte ihm Vergnügen gemacht, 
die ſchöne Frau zu ſehen, mit ihr zu ſprechen. Das 
andere, tiefere Gefühl war erſt nach und nach in ihm 
erwacht — an jenem träumeriſchen Abend hatte es 
angefangen, heute, als er ſie in Gefahr gewußt, war 
es zum Durchbruch gekommen. 

Er ſtand am Frühſtückstiſch, das Gedeck für ihn lag 
noch da. Aber er hatte keinen Hunger und ſchickte den 
Diener, der mit einer Platte hereinkam, wieder hinaus. 

Dann beſann er ſich. Er mußte doch das, was der 
Gefangene ihm aufgeſchrieben, aus der Geſtütsapotheke 
holen laſſen und mit Wein, Eſſen und Bettzeug ins 
Dorf ſchicken. 

Alſo erſt ſeine Pflicht tun. Später konnte er wieder 
träumen. 


D Roman von Hans Becker. 27 


Als er fertig war und in den Park gehen wollte, 
um nun doch Sophie aufzuſuchen, hörte er einen Wagen 
vor der Freitreppe anfahren. Der Großvater war 
gekommen. ä 2 

Der alte Herr ſchien es eilig zu haben, ſich ſchon 
wieder zu zeigen. In knapp einer Woche der zweite 
Beſuch! Sonſt ließ er ſich im Monat kaum einmal 
blicken. Der neue Magnet zog ihn offenbar an. 

„Na, Karl Karlowitſch, wie ſteht es bei Ihnen hier? 
Hab' da fo allerlei gehört und wollte doch mal nach— 
ſehen. — Bei mir iſt übrigens der Koch beſoffen, ich 
muß mich alſo hier zu Tiſch einladen. Bei euch wird's 
wohl was Gutes geben?“ | 

Er hakte ſich bei Baumeiſter ein und ging mit ihm 
in den Park. 

Baumeiſter war bisher noch nicht zu Worte ge— 
kommen. Gebt ſagte er: „Ich ſuche eben die Damen, 
war bisher beſchäftigt — nicht auf angenehme Art.“ 

Dann erzählte er ihm, was vorgefallen. 

„Ordentlich durchpeitſchen, dann wird die Bande 
ſchon wieder ruhig werden. Aber was ich ſagen wollte: 
Schöne Frau, die neue Geſellſchaftsdame! Was das 
Weib für Hände und Füße hat! Die Augen nicht zu 
vergeſſen! Halten Sie nur Ihr Herz feſt, hier in der 
Einöde wirkt ſo 'ne hereingeſchneite Schönheit doppelt 
gefährlich. Hab' das an mir ſelber gemerkt. Donner- 
wetter — wenn ich ein Jahr jünger wäre!“ 

Am Ende des Weges zeigten ſich weiße Kleider. 

Boris Safronow klemmte ſein Einglas ein und 
ſtrich über den Bart. „Dort iſt ſie!“ 

Sophie kam mit Xenia heran. Der alte Herr be- 
grüßte ſie lebhaft, nachdem er die Enkelin, die ſich in 
ſeinen Arm hing, auf die Stirn geküßt. 

Sophie hatte Baumeiſter einen fragenden Blick zu- 


28 Die ſchöne Trebnitz. 2 


geworfen, und er hätte ihr gern ein paar beruhigende 
Worte gejagt, doch der alte Herr ſprach ohne aufzu— 
hören, führte auch ſpäter bei Tiſch die Unterhaltung, 
wobei er abſichtlich zu vermeiden ſchien, von den Vor- 
gängen des Tages zu reden. 

Baumeiſter beobachtete ihn mit Eiferſucht, denn er 
glaubte zu bemerken, daß Sophie Gefallen an ihm fand. 

Das wäre vielleicht etwas für ſie. Den Alten 
heiraten, mit ihm in die Geſellſchaft zurückkehren. Der 
würde ſchon tun, was ſie verlangte. Sie war jedenfalls 
die Frau dazu, ihn zu leiten, ihren Willen durchzu- 
ſetzen. | 

Er fühlte, wie es ihm bitter im Munde wurde, ſchalt 
ſich dann gleich wieder im ſtillen, ſich ſolchen Unſinn 
zuſammenzureimen, und konnte doch nicht los von dem 
Gedanken, daß da ein Nebenbuhler ſaß, der vielleicht 
noch ſchneller, als er geahnt, ſeinen Hoffnungen ein 
Ende machen könnte. 

Er war froh, als der alte Herr bald nach dem Eſſen 
fortfuhr. Wenigſtens bis morgen würde er Sophie 
wieder für ſich allein haben. 

Was half ihm das aber, welchen Nutzen hatte er 
davon? Für ihn blieb ſie doch unerreichbar. 

Sophie trat, kaum nachdem der Wagen, bis zu dem 
ſie alle Boris Safronow begleitet, mit dieſem fort— 
gefahren war, auf Baumeiſter zu. „Gehen wir noch 
ein bißchen in den Park?“ 

Baumeiſter nickte. Trotzdem er ſah, daß ſie einen 
Bericht von ihm erwartete, ſchwieg er noch ein paar 
Minuten. Es erſchien ihm ſo köſtlich, neben ihr her 
zu gehen, ohne zu ſprechen, die kurze Friſt auszukoſten 
in dem Gefühl: ſie iſt hier bei dir, dicht neben dir, 
ſie gehört dir allein! 

Sein Schweigen machte ſie ungeduldig. „Nun, 


D Roman von Hans Beder. 29 


Karl Karlowitſch, Sie ſprechen nicht — iſt etwas zu 
fürchten?“ 

„Nein, nein — es iſt alles in Ruhe. Es war ja 
auch nichts, nur iſt einer verwundet worden bei der 
Schlägerei. Aber damit iſt die Sache vorbei, glauben 
Sie mir! Eine einfache Prügelei, bei der, wie das 
ſo üblich, das Meſſer gebraucht worden iſt. Betrunkene 
Bauern — da geht es nicht zart her. In Deutſchland 
prügeln ſich ja die Leute auch.“ 

„Wer iſt der Verwundete?“ 

Nun mußte er doch mit der Sprache heraus, denn 
lügen wollte er nicht, morgen würde man ja auch auf 
dem Gute davon erzählen. „Ein Student. Den an- 
deren hat man ergriffen —“ 

Sie ſchrie auf. „Er alſo iſt's, er, der Kenia —“ 

„Ja, der. Er ſoll ſich mit den Bauern geſtritten 
haben.“ N 

„Oh, der arme Menſch! Gewiß haben fie ihn um- 
gebracht, weil er uns beſchützen wollte. Schrecklich, 
wenn Kenia das erfährt! Was ſoll man ihr ſagen? 
Wäre ich doch nie hierher gekommen!“ 

„Sophie Karlowna, ich bitte Sie, der Mann iſt 
doch ſelbſt ſchuld! Warum treibt er ſich hier herum?“ 

„Wenn ich nur ſchon fort wäre!“ 

An etwas anderes ſchien ſie nicht zu denken. 

Wie ihm das weh tat! Wie deutlich mußte er er- 
kennen, welch alberner Phantaſie er ſich hingegeben, 
als er angefangen, ihre freundliche Liebenswürdigkeit, 
die fie ihm gezeigt, anders zu deuten, als dieſe wirk- 
lich bedeutete: Freude darüber, daß ſie hier in der 
Fremde nicht ganz allein ſtand. 

Er war ihr ſicherlich ganz gleichgültig — ein be— 
liebiger Herr Müller oder Schultze, den ſie hier an— 
getroffen, wäre ihr dasſelbe geweſen. 


30 Die ſchöne Trebnitz. 0 


Sie wollte fort, würde fortgehen, und er hatte nicht 
die Macht, ſie zu halten. Der Traum war dann zu 
Ende. | 

Trotz feines ſchmerzlichen Denkens ſann er darüber 
nach, wie es möglich war, daß dieſe Frau ihn fo plöß- 
lich aus ſeiner ruhigen Bahn, aus ſeinem zufriedenen 
Leben geworfen hatte. Und immer wieder der gleiche 
Gedanke: Sie ſoll nicht fort, ſie ſoll hier bleiben! 

Sie waren am Hauſe angelangt. An der Treppe 
blieb ſie ſtehen. 

„Karl Karlowitſch, ſorgen Sie dafür, daß ich bald 
fort kann!“ N 

„Ich werde an Laſarews telegraphieren. Gewiß 
werden dieſe ihre Rückkehr beſchleunigen.“ 

Sie ſeufzte. „Ich fürchte mich ſo!“ 

„Aber es iſt doch nichts zu fürchten, es iſt ja alles 
wieder ruhig. Glauben Sie mir doch!“ 

„Wann können Laſarews hier fein?“ 

„Lange kann es nicht dauern — in einer Woche 
vielleicht.“ 

„Gut, ſo lange will ich noch warten.“ 

Sie ging ins Haus. 

Eine kurze Friſt hatte er gewonnen. 


Am anderen Morgen brachte der Pope die Nach- 
richt, daß der Verwundete geſtorben, der Gefangene 
entflohen ſei. 

Damit hatte die Sache wohl ihr Ende gefunden. 

Baumeiſter war faſt froh darüber — über das eine 
wie über das andere. 

Ein verfehltes Leben weniger. Was machte das? 
Der Mann würde begraben werden. Damit war die 
Sache erledigt. 


2 Roman von Hans Becker. 31 


Plötzlich fiel ihm Kenia ein. Ob er es ihr ſagte? 

Vielleicht war es beſſer, ſie erfuhr es. Damit war 
die Sache aus ihrem Leben. Schwer hatte Baumeiſter 
das, was Sophie ihm erzählt, überhaupt nicht ge- 
nommen. Kenia war ein Kind. Wenn ſie hörte, daß 
der junge Menſch tot war, fühlte ſie ſich wohl eher 
befreit als bedrückt und vergaß ſchnell. 

Sophie würde ſich weigern, ihr die Sache beizu— 
bringen, alſo mußte er es ſelbſt tun. Dann war das 
in Ordnung, ehe die Eltern ankamen. 

Vas ſollte er die nervöſe Mama noch mit der Liebes- 
geſchichte plagen! 

Mit Sophie wollte er aber jedenfalls vorher doch 
noch ſprechen. 

Das tat er denn auch gleich nach dem Frühstück als 
er ſie allein auf der Veranda traf. 

Er war froh, als auch ſie die Sache nicht zu tragiſch 
nahm. Sie dachte jetzt wohl nur an ſich, hatte, da ſie 
fort wollte, das Intereſſe für alles andere verloren. 

„Ja, ſprechen Sie mit Kenia, Karl Karlowitſch. 
ich glaube auch, daß es nicht tief bei ihr ſitzt. Ich habe 
es vorher wohl zu ernſt genommen, mir unnütze Sorgen 
gemacht.“ 

Baumeiſter hätte ſo gerne gewußt, ob Sophie an 
ihrem Entſchluß, ſobald als möglich fortzugehen, feſt— 
halte, aber er wollte nicht fragen, nicht daran rühren. 

So ging er, um mit Kenia zu ſprechen. 

Sophie blieb allein zurück. Sie hatte ſich aus der 
Bibliothek ein Buch geholt. Sie las aber nicht, das 
Buch lag in ihrem Schoße, ſie träumte darüber hinweg, 
Gedanken ſtiegen von neuem in ihr auf, die ihr in der 
Nacht gekommen, als ſie ſchlaflos, ängſtlich auf jedes 
Geräuſch lauſchend, gelegen hatte. 

Immer wieder waren die ſchrecklichen Geſichter der 


32 Die ſchöne Trebnitz. u 


Bauern ihr erſchienen, tanzten um ſie herum und 
grinſten fie an — ſie hörte Flüche, ſah Meſſer blitzen, 
hatte kaum geglaubt, die Nacht aushalten zu können, 
bis endlich die Erregung ihrer Nerven nachgelaſſen, die 
Müdigkeit gekommen war. 

Schon im Halbſchlafe hatte fie dann ein Geſicht 
geſehen, das ihr Ruhe brachte, das lächelnde, vornehme 
Geſicht des alten Herrn, des Großpapas. 

An dieſe Erſcheinung, an die Gedanken der Nacht 
knüpfte ihr jetziges Träumen an. 

Welch prachtvoller Mann! Sie hatte ſich ſo geborgen 
gefühlt, als er gekommen, ſeine muntere Laune, die 
hübſche Art, wie er ihr jetzt den Hof machte, hatte ſie 
erfreut, ſo daß ſie alles andere darüber vergeſſen hatte. 

Großpapa! Sie mußte lächeln. Dieſe Bezeichnung 
paßte ſo gar nicht auf ihn, ließ ſich mit ſeinem ganzen 
Mefen ſo wenig in Einklang bringen — wenigſtens 
für ſie nicht, denn ihr erſchien er als ein Mann, dem 
man die Jahre noch nicht anmerkte. 

Und wenn doch — was tat das? Wäre ein ſolcher 

dann nicht Rettung für fie, aus ihrer Lage, aus allem — 

Damals, nach dem Unglück, das fie betroffen, hatte 
fie geglaubt, alle Männer zu haſſen, auch heute ſchien 
es ihr noch faſt unmöglich, daß ſie je wieder einem 
Manne ſich zuwenden, je wieder lieben könnte. 

Die Erſcheinung, die jetzt in ihr Leben getreten war, 
milderte dennoch ihr Empfinden. 

Es lag ja hier auch etwas ganz anderes vor. Ein 
Mann, ein älterer Mann, reich, vornehm, warb um 
ſie — ſo mußte ſie doch wohl ſein Benehmen auffaſſen. 
Sie fühlte, daß es nur auf ſie ankomme, der Annäherung 
eine Wendung zu geben, die ihr Leben mit einem Schlag 
ändern würde. 

Nicht mehr hier ſitzen und ſich zu Tode ängſtigen, 


2 Roman von Hans Becker. 33 


fort aus dieſem Lande, reiſen, alles wieder genießen 
dürfen, nichts mehr entbehren, jenen gleichſtehen, für 
die ſie jetzt doch nur eine beſſere Dienerin war! 

Neben dem Geſichte deſſen, der ihr das alles bieten 
konnte, erſchien ein anderes — Baumeiſter. 

Auch er machte ihr den Hof — trotz aller Zurück- 
haltung, trotz der Mühe, die er ſich gab, das nicht merken 
zu laſſen. Seine Blicke hatten ihn verraten, der Schrecken, 
den er nicht verbergen konnte, als ſie geſagt, daß ſie 
fort wolle. 

Sie hatte ſich ſo wohl im Verkehr mit ihm gefühlt, 
war ſich nicht mehr fremd, verlaſſen vorgekommen. 
Allerdings die Wahrnehmung, daß er angefangen hatte, 
ſich in ſie zu verlieben, war ihr peinlich geweſen. 

Es war ja auch undenkbar! Was wollte der Mann 
denn von ihr? | 

Sollte fie ihn etwa heiraten und bier dann fo 
weiterleben: er als Erzieher, fie als Geſellſchaftsdame? 
Eine nette Poſition! 

Oder ſollten ſie nach Berlin gehen, er Unterricht 
erteilen, ſie in einer engen Wohnung, ohne Mädchen, 
ohne Bedienung, kochen und waſchen — alles entbehren, 
was zum Leben gehörte? 

Gott bewahre ſie davor! Der Mann, dem ſie ein 
ſolches Opfer bringen ſollte, müßte erſt geboren 
werden. 

Was waren das überhaupt für Betrachtungen? Wie 
kam ſie auf das eine, wie auf das andere? 

Ihre Nerven mußten wohl noch nicht zur Ruhe 
gekommen fein, ſonſt hätten ſich doch nicht ſolche Ge- 
danken einſtellen können! 

Sie wollte fort von hier, ſobald als möglich. Nur 
nicht mehr hier in Angſt ſitzen, hinter jedem Strauch, 
hinter jedem Schrank einen Mörder ſehen! 

1918. XII. 3 


34 Die ſchöne Trebnitz. 0 


Und dann wieder bei ihrer Schweſter leben? War 
das möglich? 

Die Erinnerung kam ihr, wie ſich das Benehmen 
ihres Schwagers in den letzten Tagen vor ihrer Abreiſe 
geändert hatte — er, der vorher immer nur verſteckten 
Tadel, Ermahnungen für ſie gehabt, war faſt zärtlich 
geworden! Schon in der Stunde der Unterredung 
mit ihr, als er von dem Sanitätsrat, von der Stellung 
für ſie geſprochen — dann nachher, ſolange ſie noch 
im Hauſe war! 

Gegen die eigene Frau hatte er ſich unwirſch ge- 
zeigt, aber auf dem Bahnhof, beim Abſchied, hatte 
ſeine Stimme ſo eigentümlich geklungen, als ob er 
Tränen verſchluckte. 

Auch das noch! Da war ihr das Haus der Schweſter 
von vornherein verſperrt, wenn ſie auch alles ſonſt über 
ſich ergehen laſſen wollte. 

Das Blut ſtieg ihr in die Stirn. Warum redete ſie 
ſich das alles vor? Es hatten ſich ſchon elegantere, 
ſtolzere Frauen ducken müſſen! 

Paul kam auf die Veranda gelaufen. Er hielt eine 
Depeſche in der Hand. 

„Iſt Kenia nicht hier? Wo iſt Karl Karlowitſch? 
Mama hat depeſchiert — die Eltern kommen!“ 

Die Nachricht brachte Sophie keine Erleichterung, 
ſie legte ſich ihr ſchwer aufs Herz. Laſarews kamen, 
ihr Leben mußte ſich entſcheiden! — 

Bei Tiſch ſah fie Baumeiſter und Kenia. Das junge 
Mädchen ſah bleich aus, hielt die Augen auf den Teller 
gerichtet und antwortete auch auf alle Anzapfungen 
Pauls nicht, mit dem ſie ſonſt immer zu tuſcheln hatte. 

„Was iſt denn nur mit dir? Du machſt ja ein 
Geſicht, als ob —“ 

„Laß mich, Paul, ich habe Kopfweh. Ich kann 


D Roman von Hans Becker. 35 
auch nichts eſſen. — Entſchuldigen Sie mich, Sophie 
Karlowna, ich muß mich hinlegen.“ 

Ohne eine Antwort abzuwarten, ſtand Xenia auf 
und ging aus dem Zimmer. 

Paul rief ihr nach: „Warft wohl über den Kirſchen, 
na ja —“ 

Baumeiſter herrſchte ihn an: „Schweig, Paul! Deiner 
Schweſter iſt nicht wohl, ſie hat es mir vorher ſchon 
geſagt.“ 

Sophie wollte aufſtehen und Kenia nachgehen. 

Er hielt ſie zurück. „Laſſen Sie ſie, bitte, Sophie 
Karlowna. Es iſt beſſer ſo. Später —“ 

Sophie verſtand. Er hatte mit Kenia geſprochen. 

Nach dem Eſſen ging Sophie an Kenias Tür, er- 
hielt jedoch auf ihr Klopfen keine Antwort. 

Erſt beim zweiten Male rief Xenia von innen: „Wer 
iſt da?“ 

„Ich bin's — Sophie!“ 

„Ach, bitte, Sophie Karlowna, iſt kann jetzt nicht 
öffnen, ich möchte ſchlafen.“ 

Sophie fühlte ſich verletzt und ging. Sie war auch 
beruhigt, denn ſie hatte Baumeiſter gebeten, Kenia 
nicht merken zu laſſen, daß ſie ihm von dem ihr an— 
vertrauten Geheimnis geſprochen. 

Schrecklich! Wohin fie taftete — Abhängigkeit, das 
Empfinden: Du biſt eine Dienerin, mußt dir alles ge- 
fallen laffen, ſelbſt von einem Kinde, das feine Tür 
vor dir zuſperrt! 

Würde das in Deutſchland wohl beſſer ſein? 
Schwerlich — vielleicht ſogar noch ſchlimmer, viel 
ſchlimmer! 

Warum nahm ſie denn alles hier plötzlich ſo ſchwer? 
War dies neue Empfinden nicht etwas Unwahres, hatte 
ſie ſich denn bisher wie eine Dienende gefühlt, hatte 


36 Die ſchöne Trebnitz. 2 


— —- — nn 


man ſie nicht im Gegenteil ganz wie eine Dame, wie 
eine Gleichberechtigte, wie einen Gaſt behandelt? 

Und all das wollte ſie aufgeben wegen des bißchen 
Schreckens, den ſie gehabt, den ihr ein paar betrunkene 
Bauern eingejagt? 

Wie feige fie eigentlich war, wie ihr um ihr ärm- 
liches Leben bangte! Da wollte ſie fortlaufen ins 
Ungewiſſe! Sie ſollte ſich doch vor den anderen, vor 
den Kindern ſchämen. 

Sie nahm auf der Veranda Platz. Der Diener kam, 
brachte Tee, zündete die Lampe an. Ein paar Minuten 
dauerte das, dann ſaß ſie wieder allein. 

Das tiefe Dunkel des Parks ängftigte fie von neuem, 
ſie fühlte, wie die Furcht wieder heranſchlich. 

Endlich wurde ſie erlöſt. Baumeiſter kam, mit ihm 
Paul. 

Nach dem Eſſen forderte Baumeiſter Paul auf, 
ſich ſchlafen zu legen. | 

Paul zog ein Geſicht. „Es iſt erſt neun —“ 

„Nein, es iſt ſchon zehn. Geh nur!“ 

Sophie begriff, daß er den Zungen fort haben, mit 
ihr allein ſein wollte. 

Das hätte ſie gern vermieden. Er würde wieder 
fragen, ob fie einen Entſchluß wegen ihrer Abreiſe ge- 
faßt, ſie wohl gar bitten, daß ſie hier bleiben ſolle. 
Das wollte ſie nicht, ſie wußte ja ſelbſt nicht, was ſie 
tun ſollte. 

Schließlich kam es wohl gar zu einer Erklärung, er 
ließ ſich hinreißen, ſie mußte ihn zurückweiſen, ihn 
kränken. 

Das wollte ſie nicht, ſie wollte ſich des Freundes, 
als den er ſich bisher bewieſen, nicht berauben, er 
konnte ihr doch nützlich ſein. Auch Mitleid regte ſich in ihr. 
Er war ein ſo prächtiger Menſch, zu jedem Opfer fähig. 


D Roman von Hans Becker. 37 


— —— — 


Sie ſtand auf. „Warten Sie, Paul, ich gehe mit.“ 

Baumeiſter ſah erſtaunt auf. „Sie wollen auch 
ſchon fort?“ 

„Ja. Gute Nacht — ich bin müde.“ 

Sie reichte ihm die Hand und ging mit Paul davon. 

Auf ihrem Zimmer bereute ſie, was ſie getan. Nun 
ſaß ſie hier, konnte ſich nicht entſchließen, zu Bett zu 
gehen — 

Plötzlich hörte ſie Schritte, die über den Korridor 
kamen — leiſe, ſchleichende Schritte, die vor ihrer Tür 
halt machten. 

Das Herz ſtand ihr ſtill, mit weitgeöffneten Augen 
ſah ſie auf die Tür, trotzdem ſie wußte, daß ſie dieſe 
verſchloſſen hatte. 

gebt faßte eine Hand nach dem Türgriff und ſuchte 
zu öffnen. Als die Tür nicht nachgab, blieb es einige 
Atemzüge lang ſtill, dann wurde leiſe geklopft. 

Sophie war entſetzt. Wer konnte das ſein, wer — 

Sie wollte um Hilfe rufen, brachte aber keinen Ton 
heraus. 

Da hörte ſie ihren Namen rufen: „Sophie Kar— 
lowna — bitte, öffnen Sie!“ 

„Kenia!“ 

Mit einem Aufſchrei war Sophie an der Tür, ess 
und zog Xenia ins Zimmer. 

Sie preßte ſie in ihre Arme, küßte ſie, und dabei 
ſtammelte ſie: „Wie war ich erſchrocken! Ich dachte — —“ 

Erſt nach Minuten beſann fie fich. 

„Verzeihen Sie, ich bin durch alles, was geſchehen, 
ſo erregt. Kommen Sie, ſetzen Sie ſich!“ 

Erſt jetzt ſah ſie Xenia an, empfand, als ſie in dies 
bleiche Geſicht blickte, wie kindiſch ſie ihr, die gekommen 
war, um für einen großen Schmerz Troſt zu ſuchen, 
mit ihrer kleinlichen Furcht erſcheinen mußte. 


38 Die ſchöne Trebnitz. u 


Mit ernſten, traurigen Augen ſah Xenia zu Sophie 
auf, durch das dünne Nachtgewand ſchimmerten die 
zarten Arme und Schultern, wie ein eingeſchüchtertes 
Kind ſtand ſie da. 

„Kommen Sie, Kenia — ſetzen Sie ſich doch!“ 

Es blieb ſtill im Zimmer, Kenia hatte den Kopf an 
Sophies Schulter geſchmiegt, die Arme um ihren Hals 
geſchlungen. Sie ſprach nicht, ſie ſchien ſtumm ihren 
Schmerz ausweinen zu wollen. 

Sophie war dies Schweigen eine Wohltat. Womit 
hätte ſie auch das Mädchen beruhigen können? 

So ſaßen die beiden — eine Frau, die das Leben 
kannte, in Verlegenheit dem Kinde gegenüber, noch 
immer eingeſponnen in ihre kleine Furcht vor Schred- 
niſſen, von denen ſie ſich bedroht glaubte — die andere, 
ein Kind, von einem, dem erſten gewaltigen Schmerz 
ergriffen, bereit, ihr junges Leben zum Opfer zu bringen, 
wenn ſich dadurch Geſchehenes ungeſchehen machen 
ließe. 

Aus ihren Worten, die jetzt langſam, ſtoßweiſe aus 
ihrem Munde kamen, ging das hervor. 

„Ach, Sophie Karlowna — wie ſchrecklich, wie grau- 
ſam! Ich, ich trage die Schuld. Wenn ich doch ſterben 
könnte! Warum hat Gott nicht mein Leben genommen, 
denn zu was bin ich nütze? Warum mußte er, der ſo 
viele Tauſende erlöſen, glücklich machen wollte —“ 

Sophie horchte auf. Was für überſpanntes Zeug 
ſprach das Mädchen da! Sollte ſie — 

„Ich habe Ihnen damals nicht alles geſagt, denn 
ich durfte nicht. Jetzt, jetzt kann ich ſprechen. Ein fo 
edler Menſch war er — alle, die leiden, wollte er er- 
retten, ich ſollte ihm helfen, an ſeiner Seite ſtehen —“ 

„Kenia, was ſprechen Sie da?“ | 

Sophie ſchrie es heraus. Erſt jetzt wurde ſie ſich 


i Roman von Hans Becker. 39 


bewußt, vor welchem Abgrunde das Mädchen geftanden. 
Das bißchen Verliebtſein, dieſe Kinderei — was galt 
die gegen dieſes Eingeſtändnis! 

Sie war aufgeſprungen, hatte das Mädchen von 
ſich geſtoßen. Mit fliegendem Atem wiederholte fie 
immer von neuem: „Kenia, Kenia, was ſagen Sie, 
was ſprechen Sie da?“ 

Kenia ſtand vor ihr. Die ernſten, traurigen Augen 
leuchteten jetzt wie im Fieber. Sie hatte die Hand 
erhoben, deutete hinaus in die Dunkelheit. „So dunkel, 
ſo traurig iſt das Leben der Menſchen, ſo troſtlos, ſo 
öde! — Dies Dunkel wollte er erhellen, das Volk, ſein 
Volk zum Lichte führen —“ 

Das Kind war wahnſinnig oder krank. Sophie ſah 
ſich wirr im Zimmer um. Was ſollte ſie tun, was 
konnte ſie tun? Endlich ein Gedanke. Baumeiſter — 
er allein konnte helfen! 

Sie eilte auf die Tür zu, preßte die Finger auf 
den Knopf der elektriſchen Glocke, immer von neuem, 
ſo daß es laut durch das Haus gellte. 

Kenia ſah nicht, was Sophie tat, fie ſtand da, die 
Augen auf das Fenſter, in die Finſternis gerichtet. 

Endlich hörte Sophie Schritte. Es klopfte. Eines 
der Hausmädchen ſteckte den Kopf zur Tür herein. 

Sophie ſchrie ihr zu: „Rufen Sie Herrn Baumeiſter 
— ſofort! Das gnädige Fräulein iſt erkrankt.“ 

Das hatte Kenia gehört, eine plötzliche Veränderung 
war mit ihr vorgegangen. Der traumhafte Zuſtand, 
in dem ſie ſich eben noch befunden, ſchien gelöſt. Sie 
trat auf Sophie zu. „Ich bin nicht krank. Aber Sie 
ſind ſchlecht. Sie haben mein Vertrauen mißbraucht, 
haben mich verraten. Zetzt verſtehe ich erſt, was Karl 
Karlowitſch andeutete — pfui!“ | 

Sophie hörte nicht auf fie, jo geſpannt horchte fie 


40 Die ſchöne Trebnitz. U 


nach der Tür. Sie zitterte und hätte ſich Baumeiſter, 
der endlich durch die offengebliebene Tür ſtürzte, faſt 
in die Arme geworfen. 

„Endlich, Herr Baumeiſter! — Kenia 0 krank, ſie 
fiebert — helfen Sie!“ 

Sie wußte kaum, was ſie ſprach. 

Baumeiſter begriff ſofort, was geſchehen ſein konnte. 
Er ſah Kenia mitten im Zimmer ſtehen, die Augen 
zornig auf Sophie gerichtet, die Hand wie anklagend 
gegen ſie erhoben. 

Auch ihm gegenüber, als er ihr den Tod des Stu- 
denten mitgeteilt, hatte Xenia ſich leidenſchaftlich ge- 
zeigt, geweint und geklagt, allerlei phantaſtiſches Zeug 
geſprochen, ſo daß es ſeiner ganzen Autorität bedurft 
hatte, um fie zu beruhigen. Jetzt ſah er, daß ihm das 
doch nicht ganz gelungen, daß es ernſter war, als er 
ſich vorgeſtellt, daß das Kind, wofür er ſie noch immer 
genommen, wohl doch ſchon den Einflüſterungen jenes 
Anſeligen erlegen war. 

Dieſe Überlegung kam ihm erſt jetzt, denn vorher 
hatte er nur Augen und Sinne für Sophie gehabt. 

Wie eine heiße Wolke hatte es ihn umhüllt, als die 
Frau, die er liebte, ihm ſo hilflos entgegengeſtürzt war, 
bei ihm Schutz ſuchen wollte. Ein ſehnſüchtiges Ver- 
langen war in ihm geweſen, die Arme auszubreiten, 
ſie an ſich zu reißen. Ein Glück, an das er nicht glauben, 
nicht denken gewollt, hatte ihn durchzuckt. 

Nun war der Rauſch vorüber, er hatte ſich wieder 
in der Gewalt. 

„Sophie Karlowna, was iſt geſchehen?“ 

Sophie zeigte auf Kenia. „Sie iſt krank, fie fiebert!“ 

Kenia ließ den erhobenen Arm ſinken. „Sch bin 
nicht krank, Sie können nur nicht begreifen, was in 
mir vorgeht.“ 


2 Roman von Hans Becker. 41 


Ihre Stimme berührte Sophie fremd. Etwas noch 
nie Gehörtes, etwas Tragiſches lag darin. 

Baumeiſter war zu Kenia getreten und faßte nach 
ihrer Hand. „Kommen Sie, Kenia, Sie müſſen ſchlafen. 
Ich ſchicke Ihnen Anjuta, die ſoll bei Ihnen bleiben, 
damit Sie nicht allein ſind.“ 

Kenia trat zurück. Ihre Wangen waren jetzt heiß 
gerötet, ihre Augen funkelten. „Ich will nicht ſchlafen, 
ich muß wachen —“ 

Plötzlich warf ſie die Arme in die Luft und wäre 
hingeſtürzt, wenn Baumeiſter fie nicht aufgefangen 
hätte. 

Auf feinen Armen trug er fie zur Tür. 

Als wenn er ſich erſt jetzt wieder Sophies erinnerte, 
blieb er dort ſtehen. „Sophie Karlowna — verzeihen 
Sie, wünſchen Sie noch etwas?“ 

Seine Frage erſchien Sophie kühl, erzwungen, als 
ob ein Vorwurf darin ſteckte, ein Tadel, daß ſie ſich 
nicht beſſer beherrſcht hatte. 

„Nein — danke!“ 

Sie ſchloß die Tür hinter ihm, laut, geräuſchvoll, 
damit er verſtehen ſollte, daß ſie von ihm keinen Schutz, 
keine Hilfe mehr erwarte, entkleidete ſich haſtig und 
legte ſich zu Bett. 

Die Dede zog fie über den Kopf. Nur nichts mehr 
hören und ſehen von dieſer Wirtſchaft hier! 


Noch in der Nacht ſchickte Baumeiſter einen Wa- 
gen zum Arzt und einen reitenden Boten zu Boris 
Safronow. 

Der alte Herr kam ſchon am Morgen angefahren. 
„Was habt ihr denn hier wieder?“ rief er noch vom 
Wagen aus. „Nicht einmal ſchlafen kann man!“ 


42 Die ſchöne Trebnitz. oO 


„Verzeihen Sie, Boris Boriſowitſch — Ihre Enkelin 
iſt erkrankt.“ 

„Was fehlt ihr denn?“ 

„Sie fiebert ſtark, hat phantaſiert —“ 

„Wer iſt bei ihr? Wohl die ſchöne Frau, die Trebnitz? 
Da will ich doch gleich ——?“ 

„Frau v. Trebnitz hat ſich ſelbſt ſtark erregt, ich 
wollte fie —“ 

„Wie beſorgt Sie find!" Er kniff das linke Auge 
zu und lächelte Baumeiſter an. „Wohl 'n bißchen 
verliebt — was? Schade, daß ſie nicht da iſt. 
Hätte gern mit ihr gefrühſtückt. Alſo wollen wir ohne 
fie nach Xenia ſehen.“ 

Anjuta, die an Kenias Bett ſaß, berichtete, daß das 
gnädige Fräulein viel phantaſiert habe — jetzt erſt ſei 
ſie ſtill geworden. 

Safronow ſchüttelte den Kopf. „Da iſt's wohl 
beſſer, wir gehen wieder. Können ja doch nichts helfen. 
Zu dumm, daß meine Tochter nicht zu Hauſe iſt!“ 
wendete er ſich an Baumeiſter. „Ewig dieſe Reiſerei, 
die Kinder allein —“ 

„Aber ich bin doch —“ 

„Verzeihen Sie, Karl Karlowitſch, ich meine das 
nicht ſo, Sie ſind ja da, tun natürlich alles, ja, ja — 
Sie verſäumen nichts — ah —“ 

Die Tür hatte ſich geöffnet, vor ihm ſtand Sophie. 

„Guten Morgen, meine Gnädigſte!“ 

Baumeiſter ſah, wie die Augen des alten Herrn 
glänzten. Er empfand dabei kaum Eiferſucht, hatte 
nur das Empfinden, daß jener in dieſem Augenblick 
doch weniger Kavalier und mehr beſorgter Verwandter 
ſein müßte, hatte er doch ſelbſt all ſeine Gefühle für 
Sophie zurückgedrängt in der Sorge um die Erkrankte. 

Auch mit Sophie war Baumeiſter nicht zufrieden; 


2 Roman von Hans Becker. 43 


ſie ſchien beim Anblick Safronows gleichfalls die Kranke 
vergeſſen zu haben, denn ſtatt weiter in das Zimmer 
zu treten, blieb ſie in der geöffneten Tür ſtehen. 

„Erlauben Sie, Sophie Karlowna,“ ſagte er, „daß 
ich die Tür ſchließe. Die Zugluft könnte der Kranken 
ſchaden.“ 

Sophie glaubte in dieſen Worten ſchon wieder einen 
Vorwurf zu hören, fühlte jedoch gleichzeitig ſelbſt, daß 
ſie im Unrecht war, geſtern wie heute. Sie kannte den 
Mann doch, wußte, daß ihm in erſter Reihe ſtets die 
Pflicht ſtand. Schnell ging ſie auf das Bett Kenias zu. 

Baumeiſter ſchloß die Tür. 

Safronow hatte von dem kleinen Gefecht, das ſich 
zwiſchen den beiden abgeſpielt, nichts gemerkt. „Gnä⸗- 
digſte haben wohl auch noch nicht gefrühſtückt?“ fragte 
er. „Wenn Sie geſtatten, werde ich warten, um in 
Ihrer Geſellſchaft —“ 

Wieder dieſer Kavalierton! Baumeiſter fühlte jetzt 
gehörigen Ärger, ja noch mehr, er empfand nun doch 
Eiferſucht. Während er, den Kopf voll Sorgen, herum- 
laufen mußte, würden die beiden in Gemütsruhe am 
Frühſtückstiſche ſitzen. Wer konnte wiſſen, wozu ſich 
Safronow hinreißen ließ! Oer joviale alte Herr er- 
ſchien ihm plötzlich wie ein alberner Geck. 

Er führte ihn ins Speiſezimmer, forderte ihn auf, 
Platz zu nehmen, und ging dann, um Paul zu ſuchen. 

Auf ſeinem Rückwege begegnete er im Korridor 
Sophie, die aus Kenias Zimmer herausgekommen 
war. 

Er wollte mit kurzem Gruße an ihr vorüber. Sie 
hielt ihn an. Die Szene vorher, als er ſie an ihre Pflicht 
zu erinnern ſchien, ſtand ihr vor Augen, auch das, was 
ſie gedacht, war wieder zurückgekehrt. 

„Sind Sie mir böſe, Karl Karlowitſch? Ich konnte 


44 Die ſchöne Trebnitz. 0 


doch den alten Herrn nicht einfach ſtehen laſſen, mußte 
ihm doch antworten —“ 

Baumeiſter war ſchon wieder verſöhnt. Er freute 
ſich, daß ſie ihn begriffen. Er reichte ihr die Hand. 
„Ich habe Ihnen noch gar nicht guten Morgen ge— 
wünſcht. Wie haben Sie geſchlafen? Geſtern abend 
kam ich gar nicht dazu, mich —“ 

„Ach Gott, die arme Kenia! Wenn es nur bald 
beſſer würde!“ 

Das klang wieder recht oberflächlich. War ſie doch 
ohne tieferes Gefühl? 

Er hob die Schultern. „Man muß erſt den Arzt 
hören. Sch rufe Sie, ſobald er kommt.“ 

Sie nickte, ging ſchnell vorwärts, denn die Tür des 
Speiſezimmers hatte ſich geöffnet, und in ihr zeigte 
ſich die hohe Geſtalt Safronows. 

Baumeiſter ſah, wie ſich Safronow tief vor ihr ver- 
neigte, zurücktrat, ihr den Eintritt freigab und dann 
die Tür hinter ihnen ſchloß. 

Ein Bild aus ſeinem Studentenleben fiel ihm ein, 
ganz plötzlich wuchs das vor ihm auf. Er hatte einer 
kleinen Sängerin von einem Café chantant den Hof 
gemacht, war toll verliebt geweſen in ſie, ſie auch in 
ihn — bis ſie die Bekanntſchaft eines reichen Börſianers 
machte. Da zog ſie ſich ſachte zurück. Erſt log ſie ihn 
an, hatte hundert Ausreden, wenn ſie ſich ein paar 
Tage nicht hatte ſehen laſſen, bis er mißtrauiſch ge- 
worden war und ihr eines Nachts vor dem Cafe auf- 
lauerte. Es war im Winter, eine kalte Nacht — er 
erinnerte ſich noch genau, wie ihm die Füße faſt zu 
Eis erſtarrten, als er in der Straße auf und ab lief. 

Endlich war ſie herausgekommen — am Arm ihres 
neuen Verehrers. Ein Auto rollte heran, ſie ſtiegen 
ein, die Tür des Wagens klappte zu — mit einem 


Geräuſch, das er noch heute nicht vergeſſen, das er 
noch eben zu hören geglaubt, als ſich die Tür des 
Eßzimmers hinter jenen beiden geſchloſſen hatte. 

Was für Dummheiten! Wie kam ihm nur die Ge— 
ſchichte jetzt in den Kopf? War da eine Ahnlichkeit, 
ein Vergleich möglich? 

Er ſtrich ſich über die Stirn, fühlte, daß ihm der 
kalte Schweiß ausgebrochen war. 


Sophie und Boris Safronow frühſtückten mit vollem 
Behagen, mit keinem Gedanken dachten ſie in dieſer 
Stunde an das Krankenzimmer. 

Der alte Herr zeigte ſich von ſeiner beſten Seite. 
Hatte er ſich in Gegenwart Baumeiſters noch zurück- 
gehalten, ſo war er jetzt ganz der galante Kavalier von 
ehemals. Er fühlte ſich wieder jung und verſtand ſelbſt 
nicht, wie er ſich als alter Mummelgreis auf ſein Gut 
hatte ſetzen und ſeine Gicht pflegen wollen. 

Sie plauderten über Reiſen, über Paris, über Berlin. 
Dabei wanderten feine Augen unausgeſetzt über ihr 
Geſicht, über ihre herrliche Figur, über ihre Hände — 
wie die ſchlanken Finger ein Brötchen zurechtmachten 
und zum Munde führten, wie ſie die Taſſe hoben. So 
was gab's einfach nicht mehr in der Welt — eine ſo 
vollkommene Schönheit. 

Sophie fühlte die Huldigung, die in ſeinen Blicken 
lag. Schon gedachte Gedanken ſtiegen von neuem in 
ihr auf. War dieſer Mann ihr Schickſal? 

Bilder eines ſonnigen Lebens flogen an ihr vor- 
über, ſie glaubte die Macht, die ſie über ihn beſaß, zu 
erkennen. Würde eine Frau in ihrer Lage noch Zweifel 
hegen, was ſie tun ſollte, tun mußte? | 

Sie beobachtete ihn ihrerſeits. Ein ftattlicher, im- 


46 Die ſchöne Trebnitz. u 


poſanter Mann war er immer noch. Einige Atem- 
züge lang verdunkelten ſich ihre Augen. Ein anderes 
Geſicht trat in ihre Erinnerung, ein Geſicht, an das 
ſie nicht, nie mehr hatte denken wollen — das Geſicht 
ihres Mannes in Jugend, in Schönheit ſtrahlend. 

Aber ihre Lippen hoben ſich verächtlich. Was hatte 
ſeine Jugend, ſeine Schönheit ihr gegeben? 

Sie atmete tief auf, ihre Naſenflügel bebten. Ein 
Entſchluß regte ſich in ihr. 

Sie ſtieß die Hand, die ſich leiſe auf die ihrige ge- 
legt, nicht zurück. Sie lauſchte geſpannt, begierig auf 
die Worte, die neben ihr ertönten. 

„Sophie Karlowna, welch ſchlimme Gedanken be— 
wegen Sie fo plötzlich? Darf ich es nicht wiſſen? Wollen 
Sie mich nicht mit Ihrem Vertrauen beehren? Viel- 
leicht kann ich helfen — 

Die Erinnerung war ſchon wieder ausgelöſcht. 
Sophie konnte lächeln. „Ich danke Ihnen herzlich. 
Aber wie könnten Sie mir helfen? Ich fühle mich hier 
unglücklich — ich fürchte mich. Keinen Schritt wage 
ich zu tun, eine Gefangene bin ich hier —“ 

Safronow beugte ſich näher zu ihr. „Eine Ge— 
fangene? Wenn Ihnen nun angeboten würde, dieſe 
Gefangenſchaft mit einer anderen, weit angenehmeren 
zu vertauſchen? — Sie lächeln, darf ich mir das günftig 
deuten, darf ich weiterſprechen?“ 

Ohne Antwort blickte ſie vor ſich nieder. 

Da zog er ihre Hand an ſeine Lippen. „Würden 
Sie mir dies Händchen anvertrauen, ſich von mir führen 
laſſen — fort von hier in die Welt, wohin Sie be- 
ſtimmen?“ 

Sophie ſah auf, ihre Blicke begegneten ſich. Sie 
wollte antworten, ein Klopfen an der Tür en bielt 
fie zurück. 


. Roman von Hans Becker. 47 


Ein Diener meldete, daß der Arzt gekommen ſei 
und Herr Baumeiſter Frau v. Trebnitz bitten ließe. 

Sophie hatte Safronow ihre Hand entzogen und 
ſich ſchnell erhoben. Nur mit einer Bewegung ihres 
Kopfes gab fie zu erkennen, daß fie ihn nicht abwies — 
dann folgte fie dem Diener. | 

Safronow blieb am Tiſche ſitzen. Die Erregung 
hatte ſein Geſicht gerötet. So leicht hatte er ſich die 
Sache nicht vorgeſtellt. Aber ſchließlich — ſie bleiben 
ſich doch alle gleich, die Weiber. 

Er brauchte nicht einmal beſonders ſtolz zu ſein auf 
ſeinen Sieg. Gewiß — ſie war ſchön und herrlich, aber 
doch nur eine Geſellſchafterin. 

Plötzlich fuhr ein Gedanke in ihm auf. Am Ende 
hatte ſie den Antrag anders aufgefaßt, dachte an eine 
Heirat! Das wäre — 

Erregt lief er im Zimmer umher. Da wäre er ja 
in einer netten Patſche! Heiraten — fiel ihm ja gar 
nicht ein! 

Am liebſten hätte er ſich in ſeinen Wagen geſetzt 
und wäre davongefahren. 

Aber was half ein ſolches Vogelſtraußſpiel? Alſo 
beſſer, ihre Rückkehr abwarten, ein vernünftiges Wort 
mit ihr reden — den Kopf konnte es nicht koſten. 

Ihm wurde doch bange bei dem Gedanken. Sie 
hatte ſo etwas an ſich, war ſo ganz große Dame — an 
ihre Schönheit durfte er ſchon gar nicht denken. Wenn 
ſie wieder vor ihm ſtand oder neben ihm ſaß, machte 
er ſicher von neuem Dummheiten! — Alſo doch beſſer: 
ſchnell fort, ſich die Sache erſt ordentlich zurechtlegen, 
das Blut abkühlen laſſen! 

Er ſchlich zur Tür. 

Zu ſpät — er hörte ſie den Gang herunterkommen. 

Freudig erregt kam ihm Sophie entgegen. 


48 Die ſchöne Trebnitz. 2 


Um des Himmels willen — jetzt würde ſie ſich an 
ſeine Bruſt werfen, die Geſchichte war fertig! 

Eine Sekunde lang war er entſchloſſen, alles über 
ſich ergehen zu laſſen, auch zu heiraten. Das Weib 
war zu herrlich — mochten die Leute die Mäuler auf- 
reißen! 

Doch nichts geſchah. 

„Gott ſei Dank,“ ſagte fie nur, „mit Kenia geht es 
beſſer. In einigen Tagen wird ſie geſund ſein.“ 

Das gab ihm die Haltung zurück. „Ausgezeichnet! 
Werde gleich ſelbſt zu ihr — “ 

Damit wollte er ſich davonmachen. 

Doch ſie blieb dicht vor ihm ſtehen. 

Da ergriff er entſchloſſen ihre beiden Hände. „Sophie 
Karlowna — wir haben uns doch vorhin verſtanden? 
Mein Antrag —“ 

Die Worte wollten doch nicht recht heraus, er mußte 
all ſeinen Mut zuſammennehmen. 

„Sophie Karlowna — wollen Sie mit mir kommen? 
Ich nehme Sie von hier fort, wir gehen auf Reifen, 
nach Paris, nach Berlin — wohin Sie befehlen. Ich 
will für Sie ſorgen, Sie follen ſich nicht mehr herum- 
ſtoßen laſſen, ich kann das nicht dulden —“ 

Er trat ihr näher, ſchien ſie an ſich ziehen zu wollen. 

Da hatte ſie begriffen. 5 ſtieß fie ihn 
zurück. „Wie können Sie es wagen — 

„Sophie Karlowna, bedenken Sie doch — 

Sie trat vor mit erhobener Hand. Er glaubte, ſie 
wolle ihm ins Geſicht ſchlagen. 

Sein Geſicht veränderte ſich, bekam etwas Greifen- 
haftes, die hohe Geſtalt ſank in ſich zuſammen. Ohne 
ein Wort ſchlich er davon. 

Sophie rang ſchluchzend die Hände. Ein großes 
Entſetzen kam über ſie. | 


c Roman von Hans Becker. Ä 49 


Durch ihre eigene Schuld war's geſchehen. Warum 
hatte ſie es ſo weit kommen laſſen? 

Sie wäre ſeine Frau geworden — ohne Liebe für 
ihn, ohne Neigung, nur um einen Halt zu gewinnen, 
ſich nicht herumſtoßen laſſen zu müſſen, hatte es ſchon 
als Glück angeſehen, als großes Glück, war eilig zurück- 
gekommen, um ihm auf ſeine Frage bejahende Ant- 
wort zu geben. Und nun dieſe Schmach! 

Aber fie war ja nur eine Erzieherin, eine Geſell- 
ſchafterin — der durfte man das bieten! 

Sie ſtarrte vor ſich hin. Was nun? 

Zukunftlos, heimatlos — ihres Bleibens war doch 
kaum hier noch! 

Aber wo ſollte ſie hin? Sie hatte doch ſchon alles 
bedacht, ſich die Troſtloſigkeit einer Rückkehr nach Deutſch⸗ 
land klargemacht, war auch ſchon halb entſchloſſen 
geweſen, hier ruhig auszuhalten! 

Wenn Laſarews erſt angekommen ſein würden, wäre 
es ja auch nicht mehr ſo ſchrecklich geweſen, ſie wären 
wohl bald von hier fortgegangen nach Moskau oder 
Petersburg. Auch Kenia hatte ſich vorhin wieder lieb 
und gut zu ihr gezeigt. Sie hatte ihr feſt die Hand 
gepreßt, ſie gar nicht mehr loslaſſen wollen — es lag 
darin wohl eine Bitte um Verzeihung. 

Es war alles ſchon wieder gut geweſen, Sophie 
hatte ſich von neuem zu Kenia hingezogen gefühlt, 
vielleicht mehr noch in dem Gedanken, daß ſie ihr eine 
Verwandte werden ſollte. 

Daran dachte ſie jetzt wieder, und dabei fiel ihr ein, 
daß fie ja die Großmutter Kenias hatte werden wollen. 
Der Gedanke erſchien ihr ſo ſpaßhaft, daß ſie trotz 
ihrer Verzweiflung lächeln mußte. 

Das ließ ſie den Auftritt von vorhin milder, leichter 
beurteilen. Der alte Herr, der faſt ſchon mit dem 

1918. XII. 4 


50 Die ſchöne Trebnitz. 4 


Leben abgeſchloſſen, hatte ſich eben durch ihre Schön- 
heit entflammen laſſen. Warum nahm ſie das ſo 
tragiſch? Wenn jemand ſich zu ſchämen hatte, war 
doch er es! 

Sie tat alſo doch wohl beſſer, zu bleiben. 

Leiſe wurde die Tür geöffnet. Pauls Kopf erſchien 
in der Spalte. „Guten Morgen, Sophie Karlowna! 
Sind Sie allein — Karl Karlowitſch nicht hier?“ 

„Fürchten Sie ſich vor Karl Karlowitſch? Zit er fo 
böſe?“ 

Paul hob die Hand. „Gott bewahre — er iſt herzens- 
gut. Das heißt beim Unterricht kann er manchmal 
fuchswild werden. Wiſſen Sie, wenn ich nicht gleich 
begreife oder nicht gelernt habe. Na und heut — er 
hatte mich auf neun Uhr beſtellt, es iſt jetzt elf vor- 
bei —“ 

Plötzlich ſtellte er ſein Teeglas, das ihm Sophie 
eingeſchenkt und das er eben zum Munde führen wollte, 
wieder hin. 

„Ach, Sophie Karlowna, in Ihrer Gegenwart kann 
man doch gar nicht ſchelten, Sie find fo ſchön, daß —“ 

Er beendete ſeinen Satz nicht, ſprang auf, griff nach 
ihrer Hand und wollte dieſe küſſen. 

Sophie entzog ihm die Hand heftig. „Paul — was 
fällt Ihnen ein! Wenn ich das Karl Karlowitſch er- 
zähle —“ 

Dabei mußte ſie doch lachen. Erſt der Großvater, 
jetzt der Enkel! War fie denn wirklich eine ſo gefähr- 
liche Schönheit? 

Paul war auf ſeinen Platz cd ele er ſchämte 
ſich und fürchtete, daß ſie darüber ſprechen könnte. 
Anter halbgeſchloſſenen Augenlidern ſchielte er nach ihr 
hinüber, und als er ſah, daß ſie es nicht böſe meinte, 
lachte auch er. „Es war ja nur ein Scherz, Sophie 


2 Roman von Hans Becker. 51 


— — — — — 


Karlowna. Sie werden doch nichts ſagen? Ich wollte 
doch nur, ich —“ 

Baumeiſter erſchien in der Tür. 

„Alſo hier ſteckſt du? — Entſchuldigen Sie, Sophie 
Karlowna, wenn ich hier in Ihrer Gegenwart ein Straf: 
gericht halte.“ 

Sophie wollte Paul zu Hilfe kommen. „Laſſen 
Sie nur, denn ich trage die Schuld. Paul hatte mich 
geſtern gebeten, ihn bei Ihnen zu entſchuldigen, wenn 
er heute länger ſchliefe, da er ſich angegriffen fühle. 
Er ſagte mir das, als wir zuſammen von der Veranda 
gingen.“ 

„Das iſt etwas anderes.“ Dann, ſich zu Paul 
wendend, fuhr er fort: „Wir wollen jetzt an die Arbeit 
gehen. Wir müſſen uns eilen, ein paar Stunden mehr 
werden es heute ſchon werden.“ 


Nach einigen Tagen kam Frau v. Laſarewa an. 
Sie war über Petersburg gereiſt, ihr Mann dort zurück- 
geblieben. Doch ſie kam nicht allein, in ihrer Begleitung 
befand ſich ihr Schwager, ein jüngerer Bruder ihres 
Mannes. 

Frau v. Laſarewa war ſehr aufgeregt, ihre Nerven, 
wie ſie erklärte, aufs äußerſte angeſpannt — nicht nur 
durch die Nachrichten über die Bauerngeſchichten, mehr 
noch durch die überhaſtete Reiſe. Sie war glücklich, 
Kenia wieder wohl und munter zu finden, von Bau- 
meiſter zu hören, daß auch ſonſt alles wieder ruhig 
wäre, 

Slleich in der erſten Stunde erzählte fie, daß fie 
demnächſt alle nach Petersburg überſiedeln, Herbſt und 
Winter in der Hauptſtadt zubringen würden, denn ihr 
Mann ſei ins Miniſterium der Landwirtſchaft berufen 


52 Die ſchöne Trebnitz. ö 2 


worden, da große Veränderungen in den Krongeſtüten 
bevorſtänden, wobei man feinen Rat verlange. 

Sophie war über den plötzlich aufgetauchten Schwa- 
ger ſehr erſtaunt. Bisher hatte noch niemand von ihm 
geſprochen. Oder doch? Richtig — Paul hatte einmal 
von einem Onkel erzählt, der in Paris ſei. 

Nikolai v. Laſarew war ein auffallend hübſcher 
Menſch. Groß, ſchlank, mit dunklem, ſorgſam gepfleg- 
tem Haar, glatt raſiert, mit ſchöngeformtem Mund, wäre 
er eine der Geſtalten geweſen, wie man ſie unter den 
Botſchaftsattachés aller Länder zu Dutzenden findet — 
feine beſondere Schönheit lag in den Augen, wunder- 
baren dunklen, orientaliſchen Augen, die beim erſten 
Sehen gefangennahmen. 

Wohl ohne daß er es wollte oder wußte, ſchienen 
fie zu liebkoſen, zu werben, fo daß Sophie faſt verblüfft 
war, als er ihr vorgeſtellt wurde. 

Er aber auch. Zwei echte Raſſemenſchen ſtanden 
ſich gegenüber. 

Seine Schwägerin hatte ihn ſchon gewarnt und ihm 
geſagt: „Die neue Geſellſchafterin bei uns iſt eine ſehr 
ſchöne Frau. Daß Sie keine Dummheiten machen, 
Nikolai! Vergeſſen Sie nicht, daß Sie verlobt ſind!“ 

Er hatte gelacht. „Fürchten Sie nichts, meine liebe 
Natalie. Ich komme aus Paris und bin unangetaſtet 
geblieben, für deutſche Schönheit habe ich nichts übrig.“ 

geht, als er Sophie geſehen, ging eine Wandlung 
in ihm vor. Seine Gedanken flogen zu feiner Ver- 
lobten, verglichen und machten ihn verdrießlich. Es 
gab alſo doch noch mehr Schönheit — hier dieſe Frau. 
Alle mußten fie dagegen einpacken, auch Komteſſe 
Dalenkowa, ſeine Braut. 

Er war wirklich verdrießlich, ſchon darüber, daß er 
einen Vergleich zwiſchen dieſer und einer deutſchen 


2 Roman von Hans Becker. 53: 


Geſellſchafterin angeſtellt. Er nahm feine hochmütigſte 
Miene an, verbeugte ſich ſteif, konnte aber ſeinen Augen 
nicht wehren. 

Ein paar Tage hielt er ſich zurück, dann fing er 
an zu begreifen, daß er in ihrer Nähe nicht ruhig bleiben 
würde. Alſo entweder fort oder — 

Er blieb bei dem „oder“. Warum auch nicht? Eine 
ganz nette Zerſtreuung für die paar Wochen auf dem 
Lande. Bei aller Schönheit würde ſie in ihrer Stellung 
leicht zu erobern ſein. 

Eines Morgens forderte er die Damen zu einem 
Ausritt auf. Natürlich ritt Kenia mit. Das ſtörte ja, 
aber er würde ſchon Gelegenheit finden, mit Sophie 
allein zu ſein. 

Dreimal ritt Xenia mit, dann erklärte ſie, als die 
Pferde ſchon vor der Tür ſtanden, daß ſie heute nicht 
reiten könne, Onkel Nikolai und Sophie Karlowna 
ſollten ohne ſie reiten. 

Natürlich wollte nun auch Sophie zurückbleiben, aber 
Kenia drang in ſie, ihretwegen den Morgenritt nicht 
aufzugeben, ſie lege ſich für einige Stunden, wolle 
gern allein ſein. 

Sophie gab nach und ritt mit Nikolai fort. 

Er hatte der Unterhandlung zwiſchen Sophie und 
Kenia ruhig zugehört, kein Wort geſagt, ſprach auch 
jetzt, während ſie durch das Dorf ritten, nicht, hatte 
immerfort mit dem Sattelgurt zu tun — es ſchien da 
etwas nicht in Ordnung. 

Erſt als ſie den Wald erreicht hatten, ſich in völliger 
Einſamkeit befanden, fing er an: „Wir können heute kaum 
galoppieren, denn der Gurt an meinem Sattel ſitzt nicht 
feſt genug. Ich bringe Sie um Ihr Vergnügen —“ 

Sie ſchüttelte den Kopf. „Durchaus nicht. Wir 
können auch im Schritt reiten.“ 3 


54 | Die ſchöne Trebnitz. | 2 


Sie fühlte ſich aber doch befangen, denn ſie war 
das erſte Mal mit ihm allein. 

Wie er über fie, hatte ſie in den vergangenen Tagen 
über ihn nachgedacht. Erſt ſpöttiſch, als ſie bemerkt, 
wie er ſie mit ſeinen Blicken verfolgte, dann, als ſie 
wahrnehmen mußte, daß ihr Spott nicht ſtandhielt, 
mit Furcht. Sie wollte ſich nicht eingeſtehen, daß ſie 
Gefallen an ihm fand. 

Nur das nicht! Sie glaubte an nichts Tieferes, 
nichts Ernſteres und zitterte doch der Minute entgegen, 
die ſie mit ihm zuſammenführte. 

Sie war überzeugt geweſen, nie mehr lieben zu 
können. Durch die Härte, mit der ſie vom Schickſal 
behandelt worden war, ſchien ihr Herz erſtarrt. Sie 
hielt es für undenkbar, daß es noch einmal zum Leben 
erwachen könnte. 

Dieſer Gedanke hatte ſie geleitet, als der alte 
Safronow ihr ſeinen Antrag gemacht, als ſie geglaubt 
hatte, daß er ſie heiraten wolle. Eine Verſorgung bot 
ſich ihr an, eine vornehme Verſorgung. Das war es, 
was ſie für ſich noch wünſchen zu dürfen glaubte. 

Nikolai v. Laſarew hielt plötzlich ſein Pferd an und 
ſprang ab. „Ich muß um Verzeihung bitten. Da 
haben wir's — der Sattelgurt iſt geplatzt, ich muß 
nebenher laufen.“ 

Auch Sophie hatte ihr Pferd angehalten und ſah 
ſchweigend zu, wie er ſich abmühte. 

„So ſteige ich auch ab,“ ſagte ſie endlich. „Wir 
wollen zu Fuß zurückgehen.“ 

„Ich bitte ſehr, Sophie Karlowna — das darf ich 
nicht dulden.“ 

Sie war ſchon herunter vom Pferd und ſtand neben 
ihm. 

Prachtvoll ſah fie aus in dem grauen, für den Herren- 


2 Roman von Hans Becker. 55 


ſattel gefertigten Koſtüm. Sie fühlte, während ſie noch 
an dem Zügel ihres Pferdes ordnete, ohne aufzuſehen, 
wie ſein Blick auf ihr ruhte. Ein Etwas, wofür ſie 
keine Erklärung fand, danach nicht ſuchen wollte, erregte 
ſie, ſo daß ſie mit ihrer Arbeit nicht zurechtkam. 

Nikolai trat heran, griff nach dem Zügel. Dabei 
berührten ſich ihre Hände. Ein Zittern ging durch 
ihren Körper — ſie empfand die einfache, kleine Hilfe, 
die er leiſtete, wie einen kraftvollen Schutz, unter dem 
zu leben ſie ſich ſehnte. Zaghaft blickte ſie zu ihm auf. 
Da begegneten ſich ihre Augen, dieſe wunderbaren, 
ſchmeichelnden Augen, die auf ihr ruhten, über ſie 
hinglitten, ſie bannten, daß ſie ſchweigend verharrte, 
ſich nicht rühren konnte, als er den Arm um ſie legte 
und ſie küßte. 

„Sophie, ich liebe Sie —“ 

Sie antwortete nicht, ſie wehrte ſich nicht, ſie lag 
in ſeinen Armen. Alles, was ſie erduldet, alles, was 
ihr das Leben angetan, war vergeſſen — auf Umwegen 
war das Glück jetzt zu ihr gekommen. 

Ein leiſes Lachen ſchreckte ſie auf. Sie entwand 
ſich ihm, ſah ihn verwundert an. 

Er lachte — ein ſo frohes, faſt jungenhaftes Lachen, 
das ſeinen Augen einen anderen, neuen Ausdruck gab. 

„Können Sie mir vergeben, daß ich Sie getäuſcht —“ 

Wieder ſchrak ſie zuſammen. Sie verſtand ihn nicht. 
Hatte er nur mit ihr geſpielt? 

„Mein Sattelgurt iſt nämlich ganz heil. Ich wollte 
Sie nur vom Pferde haben, denn ich ſehnte mich da— 
nach, Sie in meine Arme zu nehmen.“ Er zog ſie 
wieder an ſich. „Sophie, Sie vergeben mir —“ 

Unter ſeinen Küſſen verſuchte ſie zu lächeln. Es 
gelang nicht. Etwas Schweres war in ihr zurück- 
geblieben, ſie konnte ſich nicht zurechtfinden. 


56 Die ſchöne Trebnitz. 2 


— —— — — en 


Er bemerkte das, begriff, daß er gutmachen mußte. 
„Vergeben Sie mir! Soll ich niederknieen? Sie 
glauben doch an meine Liebe, ich ſehe es ja, Sie ver- 
zeihen mir —“ 

Sie blieb immer noch ſtumm. 

„Sophie — es war doch nichts Böſes. Sophie, 
ſeien Sie wieder gut —“ 

Sie wollte ihm ſo gern glauben, ſich von ihrer Liebe 
überreden laſſen, daß alles wieder gut ſei, daß das, 
was er getan, dieſe Liſt, die er gebraucht, ihm nur von 
ſeiner Liebe für ſie eingegeben war. Das Schwere, 
das ſie ergriffen, das ſie drückte, wich nicht — der 
Gedanke, daß fie wieder getäuſcht, viel ſchwerer ge- 
täuſcht ſei, erweckte in ihr einen faſſungsloſen Schmerz. 
Wie eine Verzweifelte ſchluchzte ſie auf. 

Er preßte ſie nur um ſo feſter an ſich. „Sophie, 
warum weinen Sie? Vergeſſen Sie, was ich getan, 
ich habe doch reumütig gebeichtet! Zch will ja alles 
gutmachen, nur weinen Sie nicht. Wozu Tränen, wenn 
zwei ſich lieben —“ 

Einen Augenblick kam ihr der Gedanke, all ihren 
Mut zuſammenzunehmen, auszuſprechen, was fie fait 
erdrückte, ſich Gewißheit zu verſchaffen. 

Langſam löſte ſie ſich von ihm, ſuchte nach Worten, 
fühlte ſofort das Unmögliche ſolchen Tuns, empfand, 
daß die Scham fie nicht ſprechen laſſen, fie den quälen- 
den Zweifel, der in ihr erwacht, leichter ertragen könnte, 
als in dieſer Minute an etwas rühren, was jede Frau 
mit Scheu in ſich verſchließt — die brutale Frage, wie 
ſie ſein Geſtändnis aufzufaſſen habe. 

Als ob ſie daran noch Zweifel hegen dürfte! 

Das Blut ſchoß ihr in die Stirn, als ſie ſich darauf 
beſann, ſich vorſtellte, daß ſie daran auch nur eine 
Sekunde hatte denken können. 


u Roman von Hans Becker. 57 


Das war ſo in ihr aufgeſtiegen bei dem Erinnern 
an den alten Safronow, an die Schmach, die ihr dieſer 
bereitet — ein gehetztes Wild kehrt ſich auch gegen feinen 
Erretter. 

Gott ſei Dank — er konnte nicht wiſſen, was in 
ihr vorgegangen. Sie würde ſich den Tod geben, wenn 
er es auch nur ahnen könnte. 

So fand ſie ihre Beherrſchung zurück und ging auf 
ſeinen Ton ein. „Ich habe ſchon verziehen. Jetzt 
laſſen Sie uns aber vernünftig ſein.“ 

Sie ließ es geſchehen, daß er ſie, als er ihr in den 
Sattel half, nochmals küßte. 

Kaum ſaß ſie aber, da drückte ſie die Gerte feſter 
an den Leib ihres Pferdes, hob ihm den Kopf und 
ſetzte zum Galopp an. 

Als ob ſie ihm entfliehen wollte. 

Sofort war er neben ihr. Sie trieb ihr Pferd zu 
wilder Eile an, minutenlang raſten ſie nebeneinander 
her, bis ſie plötzlich parierte und ihr Pferd nach kurzem 
Trab in Schritt fallen ließ. 

Der ſchnelle Ritt hatte ihr Blut erregt, ſie fühlte 
ſich freier, eine ſtarke Lebensluſt war in ihr, ſie wollte 
nicht mehr an Häßliches denken. 

Der da neben ihr ritt, liebte fie. Er hatte es ihr 
ja geſagt. 

Sie liebte ihn auch, ihr ganzes Sehnen zog ſie zu 
ihm. Welch köſtliche Zukunft ſtand ihr bevor! 

Ruhig plauderten ſie jetzt, als ob alles zwiſchen 
ihnen klar und ausgeglichen ſei, nur noch beſprochen 
werden müßte, welches der nächſte Schritt ſein würde, 
um ihre Liebe ihrer Umgebung zu bekennen. 

Darauf wartete fie im ſtillen und verfiel faſt wieder 
in ihre frühere Stimmung, als Nikolai nichts davon 
ſagte, nur von ſeiner großen Leidenſchaft ſprach, immer 


58 Die ſchöne Trebnitz. | 2 


von neuem verlangte, daß auch ſie ihm wiederholen 
ſolle, daß ſie ihn liebe. 

Es erſchien faſt wie Abſicht, als ob er etwas anderes 
nicht aufkommen laſſen wollte. | 

So ging es, bis fie vor der Treppe des Gutshauſes 
anlangten. Kein entſcheidendes Wort, das fie fo er- 
ſehnte, war gefallen. 

Er hob ſie aus dem Sattel, preßte ſie eine Sekunde 
lang an ſich. Sophie entzog ſich ihm ſchnell, ſie hatte 
Kenia oben auf der Treppe geſehen. 


Das Wetter hatte in der Nacht umgeſchlagen, der 
Regen klatſchte herunter, der Wind heulte um das 
Haus. 

„Das kenne ich,“ ſagte Frau v. Laſarewa bei Tiſch. 
„Wir haben hier nicht mehr viel zu erwarten. Viel- 
leicht noch einige ſchöne Tage — dann iſt es vorbei. 
Das halten meine Nerven nicht aus, ich muß in die 
Stadt. Laſſen Sie, bitte, alles fertigmachen, Karl 
Karlowitſch, übermorgen wollen wir fort.“ 

Baumeiſter verneigte ſich zuſtimmend. 

Sie wendete ſich an ihren Schwager. „Ihnen, 
Nikolai, wird es gewiß recht fein, den Reit Ihres Ur- 
laubs in Petersburg zu verleben. Vielleicht kommen 
auch Dalenkows bald zurück. Wann erwarten Sie Ihre 
Braut? Oder wollen Sie, ehe Sie Ihren Londoner 
Poſten antreten, nochmals nach Biarritz?“ 

Nikolai wagte nicht, Sophie anzuſehen. Nur ein 
ſchneller Blick hatte fie geſtreift, und er glaubte wahr- 
genommen zu haben, daß ſie geiſterbleich ausſah. 

Verwünſcht — er hatte über ſeine Liebelei mit ihr 
faſt die Braut vergeſſen! Bisher war alles ſo glatt 
gegangen, in Sophies Gegenwart nicht die Nede davon 


u Roman von Hans Becker. 59 


— ———— äU—ä— — — — — Benin 


geweſen, mußte nun die Schwägerin auch gerade jetzt 
damit herauskommen! 

Er fühlte ſich ſo unbehaglich wie möglich. Es half 
nichts, daß er ſich einzureden ſuchte, er würde ſchon 
darüber hinwegkommen, etwas anderes, Neues quälte 
ihn: er begriff plötzlich, daß es ſich für ihn durchaus 
nicht nur um eine Liebelei handelte, die er angefangen, 
um ſich eine Woche angenehm zu unterhalten, ſondern 
daß er die Frau, die ihn von dieſem Augenblicke an 
haſſen mußte, liebte, jo ernſthaft, wie er kaum je ge- 
glaubt hatte, lieben zu können. 

Er hatte gemeint, Herr über ſich zu bleiben, mußte 
jetzt aber einſehen, daß er es nicht mehr war, daß er 
alles aufgeben würde, um ſie nicht zu verlieren. 

Er war von den Frauen verwöhnt, denn ſtets waren 
ſie ihm entgegengekommen, müheloſe Siege hatte er 
errungen, die Pariſerinnen hatten ſich um den ſchönen 
ruſſiſchen Attaché geſtritten, jetzt ſaß er hier und fürchtete 
ſich, ſeine Augen zu einer deutſchen Geſellſchafterin 
zu erheben. Er wußte, was er darin leſen würde: 
Verachtung. 

Frau v. Laſarewa hob endlich die Tafel auf, er 
hatte wieder Bewegungsfreiheit, brauchte hier nicht 
mehr wie auf Nadeln zu ſitzen. 

Ohne nach ihr hinzuſehen, hörte er, wie Sophie 
ſich bei der Hausherrin für den Abend entſchuldigte. 
Sie habe ſtarke neuralgiſche Schmerzen, und wenn Frau 
v. Laſarewa erlaube, möchte ſie ſich hinlegen. 

„Leiden Sie oft daran?“ 

„Nein, Gott ſei Dank nicht, nur bei jahem Wetter- 
umſchlag.“ 

„Ich werde Ihnen ein Pulver hinaufſchicken, nehmen 
Sie das. Der Berliner Sanitätsrat hat es mir für meine 
Nervenſchmerzen gegeben, es wird auch Ihnen helfen. 


60 Die ſchöne Trebnitz. 


0 
— Auf Wiederſehen alſo, und gute Beſſerung! Ich 
lege mich auch hin — ja, ja das Wetter!“ 

Sophie dankte und ging. Nikolai ſah ihr nach, ihm 
ſchien, als ob ſie ſchwanke. 

Auch Baumeiſter hatte das wohl bemerkt. Er folgte 
ihr ſofort und ſprach leiſe auf ſie ein. 

Das ärgerte Nikolai. Die Eiferſucht regte ſich in 
ihm. Es war ihm ſchon die ganze Zeit über nicht 
entgangen, daß der Erzieher verliebt in ſie war. 

Aber jener hatte das Recht, oder hatte ſich doch 
das Recht genommen, ihr ſeinen Beiſtand anzubieten; 
er ſelbſt durfte es nicht wagen nach dem, was ſie 
eben erfahren, er mußte ſtehen bleiben und ſich die 
Geliebte von einem anderen vor der Naſe wegführen 
laſſen. 

Ein Entſchluß reifte in ihm. Er mußte ſie heute 
noch ſprechen, wollte ihr nach einer Weile nachgehen 
und ſie auf ihrem Zimmer aufſuchen, ſobald er wußte. 
daß ſie wieder allein war. 

Er ging mit Kenia und Paul ins Bibliothekzimmer, 
denn dorthin, wo ſein Zögling war, würde Baumeiſter 
ja wohl auch kommen. 

Nikolai war unzufrieden mit ſich. Zum Teufel — 
was hatte dieſe Frau aus ihm gemacht! 

Als Baumeiſter kam, ſuchte Nikolai ſofort nach 
einem Vorwand, das Zimmer zu verlaſſen. Er, der 
ſonſt keine Rückſicht nahm, ſicher keine Rückſicht auf 
einen Erzieher, der in feinen Augen nichts als ein Be- 
dienſteter war, fühlte auf einmal das Bedürfnis, für 
ſein Fortgehen eine Entſchuldigung vorzubringen. 

„Meine Schwägerin hat recht, das ſchreckliche Wetter 
fühle ich auch ſchon in allen Rnochen. Werde mich bis 
zum Tee ebenfalls hinlegen.“ 

Auf dem Korridor blieb er ſtehen und horchte. Es 


0 Roman von Hans Becker. 61 


war alles ſtill, die Dienſtleute wohl in der Küche zum 
Eſſen verſammelt. Leiſe ſtieg er die Treppe hinauf. 
Der dicke Läufer dämpfte ſeine Schritte, ungeſehen kam 
er bis zur Tür von Sophies Zimmer. 

Ob ſie ſich eingeſchloſſen hatte? Dann war nichts 
zu hoffen, denn nach dem, was ſie erfahren, würde 
ſie auf ſein Klopfen nicht öffnen. 

Alſo entweder — oder! 

Drinnen im Zimmer hörte er Schritte. Er taſtete 
nach dem Türgriff — ein Druck, die Tür gab nach. 
Er ſtand Sophie gegenüber. | 

Sie war erſchrocken ſtehen geblieben, die weit- 
geöffneten Augen ſtarrten ihn an, ihre Lippen bewegten 
ſich, bebten, als ob ſie um Hilfe rufen wollte. 

Er war ſchon bei ihr, ſchlang ſeinen Arm um ſie. 
„Sophie — ich mußte Sie ſprechen! Verzeihen Sie 
mir, daß ich hier eingedrungen! Was ſollte ich tun?“ 

Sie drängte ihn von ſich ab, verzweifelt, keuchend 
ſtieß fie heraus: „Gehen Sie, gehen Sie ſofort. oder —“ 

Er hörte nicht auf ſie, er hatte ſie wieder umfaßt 
und an ſich gepreßt. „Wenn ich Ihnen doch ſage, daß 
ich Sie ſprechen muß, Ihnen nicht wie ein Schuft 
erſcheinen will! Verſtehen Sie denn nicht, daß ich 
gekommen bin, um —“ | 

Sie wand fih in feinem Arm. „Sie haben mir 
nichts mehr zu ſagen! Was wollen Sie noch von mir? 
Gehen Sie fort, gehen Sie zu — Ihrer Verlobten! 
Verſuchen Sie nicht, mich von neuem zu belügen —“ 

Er ließ ſie nicht los. „Ich belüge Sie nicht! Hören 
Sie mich doch an!“ 

Wie zwei Gegner kämpften ſie, in beiden ſtieg die 
Erregung mächtig auf. 

Eine plötzliche Schwäche, die Sophie befiel, ſie einer 
Ohnmacht nahe brachte, gab ihm Gewalt über ſie, auf 


62 Die ſchöne Trebnitz. 2 


— — — — —U—ñFb .,. 


ſeinen Armen trug er ſie zu dem nahe ſtehenden Seſſel 
und wollte ſie darauf niederlegen. Sie wehrte ſich 
und blieb aufrecht ſitzen. Da warf er ſich vor ihr auf 
den Boden, umſchlang ihre Knie und preßte ſeinen 
Kopf in ihren Schoß. 

„Sophie — Sie müſſen mich hören! Was habe 
ich denn getan? Ihnen verheimlicht, daß ich verlobt 
bin — nein, nicht verlobt bin, nur verlobt war, denn 
ich bin es nicht mehr, in dieſem Augenblick nicht mehr. 
Können Sie mir nicht glauben, begreifen Sie nicht, 
daß ich —“ 

Sie hatte den Kopf an die Lehne gepreßt, ihre 
Arme hingen ſchlaff nieder. Eine Ahnung, ein all- 
mähliches Begreifen fing an ſie zu erfüllen. Aber nicht 
das allein — eine ſelige Wonne kam über ſie. Nicht 
nur ſeine Worte waren es, die ſie ſo ergriffen — nein, 
das Bewußtſein, daß ſie dieſen Mann liebte, verſchlang 
alle Zweifel in ihr. Sie beugte ſich zu ihm herab 
und drückte ihren heißen Mund auf fein Haar. 

Ein paar Sekunden hielten ſie ſich in köſtlicher, 
traumhafter Verſunkenheit umſchlungen. 

Dann ſchnellte er auf, denn er fühlte, wie ſie ihn 
zurückſtieß. Ihr Geſicht war totenbleich, jede Spur 
der Erregung daraus gewichen — heiſer, unveritänd- 
lich kam es von ihren Lippen: „Gehen Sie — gehen 
Sie ſofort!“ 

Sie hatte in ſein Geſicht geblickt, in ſeine Augen. 
Doch das waren nicht mehr ſeine verführeriſchen, 
ſchmeichelnden Augen, das waren die erlöſchenden 
Augen eines ſterbenden Knaben, ihres Knaben. 

Das hatte jäh alles Fühlen in ihr erſtickt, nur einen 
Schauder zurüdgelaffen. Sie war erwacht. 

Er konnte nicht gleich faſſen, was geſchehen, wollte 
ſie von neuem an ſich ziehen. 


a Roman von Hans Becker. 63 


Mit weit vorgeſtreckten Händen wehrte ſie ihn ab. 
„Nicht ſo, Nikolai — gehen Sie! Es darf nicht ſein, 
wir müſſen uns trennen!“ 

Ihre Worte klangen aber jetzt weich, nichts mehr 
war darin von Zorn, von Härte wie vorhin. Aber 
auch nichts tönte daraus zurück von dem Fühlen, das 
ſie mit fortgeriſſen. 

Er ſtand vor ihr, beſchämt, in Verlegenheit. Auch 


ihm kam jetzt die Beſinnung zurück. Ein Fröſteln ging 


durch feinen Körper. Was hatte er gejagt, was ſchwören 
wollen? War er wahnſinnig geweſen? Seine Ver- 
lobung aufheben, ſeine Zukunft zerſtören? 

Er fühlte, daß er nichts mehr ſagen, nichts mehr 
ſprechen durfte, daß alles, was er jetzt noch vorbringen 
konnte, leere Phraſen ſein würden, an die nicht ſie, 
nicht er glauben konnte. 


Er bewunderte die Frau vor ſich, er glühte nicht 


mehr für ſie in Leidenſchaft, er hatte Achtung 
vor ihr. 

Faſt demütig ging er zu ihr hin, küßte ihr die Hand. 
„Sophie Karlowna, vergeben Sie mir!“ 


Der Diener hatte nach dem Eſſen das Zimmer 
verlaſſen. Sophie ſaß noch immer auf ihrem Platz, 
Kenia ihr gegenüber. N 

Da fühlte Sophie plötzlich Kenias Arme um ihren 
Hals. „Sophie Karlowna, find Sie mir noch böſe? 
Wir haben uns noch nicht ausgeſprochen ſeit damals, 
als ich krank war. Ich wußte doch gar nicht, was ich 
ſagte, erſt ſpäter habe ich mich erinnert. Sind Sie 
mir nun wieder gut? Sonſt wage ich nicht — ich habe 
eine große Bitte an Sie!“ | 

Sophie zog Xenia an ſich und küßte fie. „Xenia 


64 Die ſchöne Trebnitz. 2 


— warum ſoll ich Ihnen böſe ſein? Alles, was ich tun 
kann, will ich für Sie tun!“ 

„Sophie Karlowna, ich muß — ich will zum Kirch- 
hof, ich muß ſein Grab ſehen, mir meine Ruhe holen!“ 

Sophie mußte lächeln. Sie war alſo noch nicht 
geheilt. noch immer phantaſtiſch! Aber vielleicht war 
gut, was ſie wollte, und ſie holte ſich wirklich Ruhe. 

Kenia ſprach weiter: „Ich habe viel nachgedacht für 
mich allein — ich durfte mich doch keinem anvertrauen, 
auch Ihnen nicht, auch Karl Karlowitſch nicht — ich 
habe auch gefürchtet, daß Sie oder Karl Karlowitſch 
meiner Mama etwas ſagen könnten, und davor habe 
ich mich am meiſten gefürchtet. Mama könnte das 
nie begreifen, ſie iſt ſo ſtolz, ſie verachtet das Volk, 
ſie würde mich in eine Nervenheilanſtalt ſchicken —“ 

Sophie wurde es unheimlich. Zu allem eigenen 
Kummer auch das noch! Aber ſie mußte einen Ent- 
ſchluß faſſen, mußte antworten. 

„Ich will mitgehen,“ ſagte ſie. „Aber bedenken 
Sie —“ 

„Sie fürchten fih, Sophie Karlowna? Das iſt nicht 
nötig, es wird Ihnen nichts geſchehen. Es iſt jetzt 
alles ruhig, Karl Karlowitſch hat es Mama geſagt. 
Sie haben es ja auch ſelbſt geſehen, als wir ausritten, 
wie uns die Bauern grüßten. Kein einziger wird — 
ich weiß das von — von ihm, von dem Toten —“ 

„Xenia, denken Sie nicht mehr daran, vergeſſen 
Sie doch dieſe ſchrecklichen Dinge! Sie, ein junges, 
vornehmes, ſchönes Mädchen, dem alles Glück noch 
bevorſteht — was kümmern Sie ſich um dieſe Sachen! 
Und jenen, der Ihnen das alles eingeredet, müſſen 
Sie auch vergeſſen! Gott hat ihn geſtraft, begreifen 
Sie das nicht?“ | 

Kenia ſann vor ſich hin. „Gott hat ihn geftraft! — 


2 Roman von Hans Becker. 65 


Vielleicht iſt es fo, wie Sie jagen, ich finde mich nicht 
mehr zurecht, ich bin ſo unglücklich —“ 

Sophie glaubte herauszufühlen, daß der Einfluß 
jenes Menſchen doch ſchon im Schwinden war. Immer 
wieder mußte ſie bei ſich denken, daß von ernſter Liebe 
wohl überhaupt hier kaum die Rede geweſen ſein konnte. 
Was wußte dieſes Mädchen davon? Krankhafte Über- 
ſpanntheit war's, nichts weiter. 

Sollte fie ihr trotzdem den Gang zum Kirchhof 
abſchlagen? ö 

Sie überlegte noch, da fragte Kenia ſchon wieder: 
„Alſo Sie kommen mit, Sophie Rarlomna?“ 

Sophie nahm Kenias Hand. „Gut, ich gehe mit, 
aber wir müſſen Karl Karlowitſch mitnehmen.“ 

Kenia trat raſch von ihr fort, ihre Mienen ver- 
finſterten ſich. 

Sophie folgte ihr. „Kenia, laufen Sie doch nicht 
gleich fort! Sie dürfen mir das nicht verübeln — 
ſehen Sie, ich bin doch fremd hier, auf mich hat der 
Überfall damals einen ſchrecklichen Eindruck gemacht, 
den kann ich immer noch nicht loswerden.“ 

„Ich ſagte Ihnen doch, es wird Ihnen nichts ge- 
ſchehen. Zch will nicht, daß Karl Karlowitſch etwas 
weiß, er wird —“ 

„Fürchten Sie nichts, ich werde mit ihm ſprechen.“ 

Sophie ging, um Baumeiſter aufzuſuchen. 

Nach einer Weile kam ſie zurück. „Es iſt alles in 
Ordnung. Karl Karlowitſch geht mit. Kommen Sie!“ 

Nach dem Regen war das Vetter kühl und neblig. 
Sophie und Kenia hatten Regenmäntel angezogen, 
Baumeiſter einen Gummirock. Wie Schattengeſtalten 
erſchienen die drei in dem dichten Nebel. 

Im Dorf, durch das fie gehen mußten, war es ftill, 
die kleinen Häuschen und Hütten mit ihren von Luft 

1918. XII. 5 


66 Die fhöne Trebnitz. 2 


und Wetter grau gewordenen Strohdächern ſahen trüb- 
ſelig aus, die Straße war ſchmutzig, der Boden durch 
den Regen der letzten Tage aufgeweicht. 

Hin und wieder ſtießen ſie auf einen Haufen Kinder 
mit nackten Füßen. Hühner flohen gackernd vor ihnen 
her, wenn ſie plötzlich aus dem Nebel auftauchten. Da 
und dort ſtanden vor dem Waſchtrog alte Weiber, die 
ſich bei ihrem Herannahen ſchnell die Hände am Node 
abtrockneten, um ſich dann unaufhörlich, auch wenn 
die drei ihnen längſt den Rücken gekehrt, zu verneigen. 

Aus einem der Häuſer erſchallte eintöniger Geſang, 
die Stimme des Popen, der einen Toten einſegnete. 
Vor der Tür ſtand eine Anzahl von Männern und 
Weibern, die ſich auf die Zehenſpitzen geſtellt hatten, 
mit den Fingern an dem Papier, das die zerbrochenen 
Fenſterſcheiben erſetzte, kratzten, um ein Loch zu machen 
und einen Blick auf die Leiche werfen zu können. 

An der kleinen Kirche vorbei gelangten die drei zu 
einem von einem halbverfallenen Zaune eingefriedigten 
Platz, auf dem ſich graue, faſt formloſe Haufen erhoben, 
daneben kleine hölzerne, ſchiefſtehende Kreuze — der 
Kirchhof. 

Baumeiſter blieb ſtehen und ſah fragend auf Sophie 
und Kenia. 

Kenia bat: „Bleiben Sie hier ſtehen, Karl Rarlo- 
witſch!“ Dann nahm fie Sophies Arm und zog fie 
mit ſich. 

Durch eine lange Reihe der kleinen, unſcheinbaren 
Hügel gingen fie. Immer weiter führte Xenia; fie 
wußte, wo ſie das Grab des Unbekannten, Namenloſen 
zu ſuchen hatte. 

Ganz am Ende des Friedhofs, dicht an der Mauer 
ſahen fie einen friſch aufgeworfenen Erdhaufen. 

Kenia achtete nicht des naſſen, ſchmutzigen Bodens, 


u Roman von Hans Becker. 67 


ſie kniete nieder, ſprach leiſe Worte — einmal beugte 
ſie ſich vor und küßte die Erde. Sophie ſtand dabei, 
fröſtelnd, traurig, von Mitleid erregt. Sie ſah auf 
die betende Kenia, auf den troſtloſen Haufen Erde, 
unter dem ein wildbewegtes Herz ſeine Ruhe gefunden. 

Sie konnte es nicht länger ertragen, ſie wollte 
Kenia anrufen, als fie plötzlich Karl e neben 
ſich ſah. 

Er trat auf Kenia zu und richtete fie auf. „Kenia, 
eilen Sie ſich, es kommen Menſchen — ein Begräbnis, 
man darf Sie hier nicht ſehen —“ 

Kenia gehorchte ſtill, noch einen Blick warf ſie auf 
den Haufen Erde zurück, dann ließ ſie ſich von Bau— 
meiſter fortführen. 

Als fie den Friedhof verließen, kam ihnen der Leichen- 
zug entgegen. 

Voran ein Bauer, den Sargdeckel auf eh Ropfe 
tragend, eine Schar ſingender Knaben, fünf, ſechs halb- 
wüchſige Zungen, dann der Pope im Kirchenornat mit 
ſeinem Gehilfen, vor ihnen ein Zunge, den Weihrauch- 
keſſel ſchwenkend, gleich dahinter der offene, von Bauern 
getragene Sarg, ein gelbangeſtrichener, ſchmaler, flacher 
Holzkaſten, der Körper des Toten darin nur bis zur 
Bruſt mit der gelben Totendecke verhüllt, ſo daß das 
Geſicht hervorragte. 

Sophie erſchauerte und wendete ſich ab. Kenia 
blieb am Wege ſtehen und bekreuzigte ſich, Baumeiſter 
hatte ſeine Mütze vom Kopf gezogen. 

Wie ein Geſpenſterzug ging alles an ihnen vorüber, 
gleich wieder vom Nebel verſchluckt. 


Am nächſten Tage reiſten ſie ab. 
Nur bis Moskau fuhren ſie zunächſt, denn Frau 


68 Die ſchöne Trebnitz. 2 


v. Laſarewa wollte hier einen Tag ruhen und erſt am 
anderen Abend die Reiſe nach Petersburg fortſetzen. 

In einem Hotel wurde abgeſtiegen, da der ganze 
Troß der Diener, Köche, Hausmädchen und ſo weiter, 
bereits am Tage vorher nach Petersburg vorausgeſchickt 
worden und nur eine Jungfer für Frau v. Laſarewa 
zurückbehalten war. Der eine Tag im eigenen Hauſe 
hätte nur Unbequemlichkeiten gemacht. 

Einen ſeltſamen Eindruck empfing Sophie von der 
großen Stadt, als vom Bahnhof ins Hotel gefahren 
wurde. 

Durch eine lange, unendlich lange Straße ging's 
mit einem Gewimmel von Menſchen und Fuhrwerken, 
aber alles unſchön, nichts das Auge erfreuend. Immer 
wieder Bauern, wie auf dem Dorfe, das fie eben ver- 
laſſen, lange Züge einſpänniger Laſtwagen, ſchmutzige, 
wackelnde Droſchken, nur ab und zu ein paar beſſer 
gekleidete Leute, ein elegantes Geſpann, der dicke 
Kutſcher mit Geſchrei und Rufen ſich Raum F 
rückſichtslos dazwiſchenjagend. 

Sie atmete auf, als man auf einem großen, freien 
Platz, der rings von mächtigen Gebäuden — den 
Theatern, wie Paul ihr erklärte — umitenden war, 
anlangte und vor dem Hotel vorfuhr. 

Das vornehm eingerichtete Haus heimelte ſie an. 
Schon, als ſie den erſten Tritt in die Halle geſetzt, 
fühlte ſie ſich wie erlöſt. Koſtbare Teppiche bedeckten 
die Treppen, ein gutgeſchultes Perſonal, zahlreicher 
faſt noch wie in Berlin, umringte die Ankommenden. 

Neben Kenias Zimmer erhielt Sophie das ihrige 
angewieſen, einen hübſchen großen Raum, der in ihr 
die Luſt erweckte, darin zu bleiben bis zur Weiterreiſe 
und keinen Fuß auf die Straße zu ſetzen. 

Doch ſchon nach einer kurzen Weile klopfte Xenia 


2 Roman von Hans Becker. 69 


bei ihr. „Haben Sie ſich umgezogen, Sophie ar 
lowna? Wollen wir fahren?“ 

„Wohin?“ Sophie war verwundert, denn fie 128 
völlig vergeſſen, daß Kenia davon geſprochen hatte, 
ihr Moskau zeigen zu wollen. 

Was galt ihr dieſe Stadt, dieſer Häuſerhaufen? 
Sie hatte ſchon jetzt genug davon. 

Doch fie mußte mit, es half nichts. Kenia ſchwärmte 
ihr von „ihrem lieben Moskau“ vor, wo ſie geboren 
war, wo ſie immer ſo gern weilte. 

Sophie legte die Zigarette, die ſie geraucht, in den 
Aſchenbecher und zog ſich ſeufzend an. Das Frühſtück, 
das man ihr gebracht hatte, ſtand noch unberührt. 

Xenia bemerkte das jetzt erſt. „Aber Sie haben 
ja noch nichts gegeſſen!“ 

Sophie raffte ſich auf. „Ich hole das ſchnell nach. 
Einen Augenblick nur!“ 

Sie ſchenkte ſich eine Taſſe Tee ein, trank haſtig, 
nahm ein Brötchen, und noch kauend verließ ſie mit 
Xenia ihr Zimmer. 

Vor dem Hotel erwartete fie ein vierſitziger Lan- 
dauer. Sophie ſchlug das Herz. Der große Wagen 
für fie und Kenia? Sollte noch jemand mitfahren — 
Nikolai? 

Fragen mochte ſie nicht, ſie ließ Xenia einſteigen 
und folgte ihr. Kenia rief dem Kutſcher einen Befehl 
zu, die Pferde zogen an. 

Sie fuhren alſo allein. 

Hatte Sophie vorher das Herz geklopft in Furcht, 
daß Nikolai mitfahren würde, ſo fühlte ſie jetzt faſt 
Enttäuſchung. 

Mas bedeutete nun das wieder? Kaum eine halbe 
Stunde vorher hatte fie es wie einen Druck empfunden, 
denken zu müſſen, daß fie noch Tage mit Nikolai zu- 


70 Die ſchöne Trebnitz. u 


ſammen ſein müſſe, vor ein paar Winuten hatte ſie 
ſich gefürchtet, mit ihm in einem Wagen zu ſitzen, und 
nun gleich hinterher verſpürte ſie Enttäuſchung, faſt 
Bedauern, daß dies nicht geſchah! 

Das war ja eine Qual! Sollte ſie denn nie mehr 
zur Ruhe kommen, wußte ſie nicht mehr, was ſie wollte, 
was ſie nicht wollte? Wenn ſie doch hätte allein ſein 
können in dem behaglichen Hotelzimmer! Sie hatte 
es ſich ſo nett ausgemalt, eine Weile nicht ſprechen zu 
müſſen, ganz für ſich allein zu ſein. 

Statt deſſen ſaß fie hier neben Kenia, mußte jeden 
Augenblick hören: „Das iſt die Schmiedebrücke, hier 
die Paſſagen, ſehen Sie das große Pelzgeſchäft dort 
neben dem Laden mit den Brillanten —“ 

Teilnahmlos warf Sophie einen Blick hierhin und 
dorthin. Das Straßenbild hatte ſich gegen früher etwas 
verändert. Schönere Häuſer, beſſeres Publikum waren 
zu ſehen. 

Aber ſie nahm nichts in ſich auf, ſie war zufrieden, 
als Kenia eine Weile ſchwieg. 

Plötzlich hielt der Wagen, und Sophie blickte auf. 
Vor ihr lag eine Mauer mit zwei Durchfahrten, da- 
zwiſchen eine Kapelle, die innen hell erleuchtet war. 

Kenia war ſchon ausgeſtiegen, ſtand und wartete. 
Als Sophie bei ihr war, ſagte ſie: „Das iſt die Kapelle 
der Iberiſchen Gottesmutter. Kommen Sie!“ 

Vor der Kapelle drängte ſich ein Haufen von Frauen 
und Männern. Sophie und Kenia mußten warten, 
konnten nicht gleich eintreten, nur bis zu dem vor der 
Kapelle ſtehenden Tiſche, auf dem geweihte Kerzen 
zum Verkaufe auslagen, gelangten ſie. 

Kenia nahm drei Kerzen, hielt Sophie eine davon 
hin. Dabei fragte ſie zaudernd: „Wollen Sie nicht 
auch — 4 


2 Roman van Hans Becker. 71 


Sophie nickte. Warum ſollte ſie das nicht mitmachen? 
Sie verletzte das Mädchen wohl, wenn ſie es nicht tat. 

Als ſie endlich in der Kapelle waren, ſtellte Xenia 
ihre Lichter, die fie angezündet hatte, vor dem Mutter- 
gottesbilde auf, kniete nieder und betete. Auch Sophie 
hatte einen Platz für ihre Kerze gefunden, ſtand jetzt 
ſtill hinter Kenia und ſah vor ſich hin. N 

Immer neue Menſchen kamen herein, opferten ihre 
Lichtchen und beteten. In dem kleinen Raume war 
eine unerträgliche Hitze, es roch nach Wachs, Veihrauch 
und feuchten Kleidern. Sophie wurde der Kopf ganz 
dumpf. 

Endlich erhob ſich Xenia. Sie gingen ins Freie 
und beſtiegen den Wagen. 

Erſt jetzt ſprach Kenia wieder. „Haben Sie an 
jemand gedacht, als Sie Ihr Licht aufſteckten?“ Sie 
wartete die Antwort nicht ab, ſondern fuhr eifrig fort: 
„Die eine Kerze habe ich für — ihn geſteckt. Die 
Muttergottes wird ſich ſeiner annehmen, denn er hat 
doch nur Gutes gewollt. Die andere —“ Sie ſchwieg 
ein paar Augenblicke, als ob ſie nicht ausſprechen wollte, 
was ſie dachte, ſagte dann aber doch: „Die andere brennt 
für unſer Volk, dem er ſich geopfert hat.“ 

Sophie ſchmerzte der Kopf, ſie konnte kaum denken. 
Sie antwortete nichts, ſie ſah auch kaum hin, als der 
Wagen vor dem Kreml hielt. 

„Das iſt das Schloß,“ erklärte Kenia. „Dort ſehen 
Sie die große Glocke des Zwan Weliki, die herunter- 
geſtürzt iſt — mit dem herausgebrochenen Stück. Dieſe 
Kirche hier rechts —“ 

„Sehr ſchön, prachtvoll!“ 

„Wollen wir hineingehen?“ 

Sophie preßte die Hände gegen die Schläfen. „Ver- 
zeihen Sie, Kenia — ich kann nicht mehr!“ 


72 Die ſchöne Trebnitz. 2 


Was galten ihr alle Schlöſſer dieſer Welt, ſie fühlte 
ſich elend, ſehnte ſich nach Ruhe, nach Alleinſein! Was 
hatte ſie mit dieſer Stadt zu tun, die ſie gleich wieder 
verlaſſen, in die ſie nie zurückkehren würde! Nichts 
mehr ſehen, nichts mehr hören mochte ſie davon. Von 
dem ganzen Lande nicht, dieſem Rußland, in dem man 
ſie gedemütigt — erſt dieſer alte Mann, dann der andere, 
den ſie geliebt, von dem ſie ſich geliebt geglaubt, der 
ſie aber nur belügen und betrügen wollte. Ja, be— 
lügen und betrügen! Wie hatte ſie nur eine Sekunde 
glauben, ſich ein Glück ausmalen können! In einen 
ſo erregten Zuſtand hatte ſie ſich hineingedacht, daß 
fie nahe daran war, Kenia anzuflehen: „Helfen Sie 
mir fort von hier, fort aus Rußland! Ich will nach 
Deutſchland, ich ſehne mich nach Hauſe!“ 

Aber fie hatte ja gar kein „zu Haufe“! Was wollte 
ſie in Deutſchland? — Verhungern? Sie mußte froh 
ſein, daß ſie hier war, zu eſſen und zu trinken hatte, 
in einem ſchönen Wagen fahren durfte. 

Sie ſtöhnte plötzlich ſo leidenſchaftlich auf, daß Kenia 
nach ihrer Hand griff. „Haben Sie fo heftige Schmer- 
zen? Warum haben Sie das nicht früher gejagt?“ 

Sie fuhren ins Hotel zurück. | 

Kenia begleitete Sophie auf ihr Zimmer. „Sie 
müſſen ſich ſofort legen,“ ſagte ſie. „Ich mache Ihnen 
einen Umſchlag.“ 

Sophie ließ alles mit ſich geſchehen, genoß es wie 
eine Wohltat, ſich wie ein krankes Kind umſorgen zu 
laffen, obgleich fie ſich ſchämte über die herzliche Güte 
des Mädchens, das ſie nicht verſtand, dem ſie zürnte, 
weil es ſeine junge Liebe nicht vergeſſen konnte, daran 
feſthielt, was es für gut und edel anſah, deſſen Herz 
von Mitleid erfüllt war. Armes Ding! Wohin wird 
dich das Mitleid noch führen? — 


u Roman von Hans Bccker. 73 


Mit dem Nachtzuge wurde die Reiſe fortgeſetzt. 

„Gott ſei Dank!“ dachte Sophie, als fie in Peters 

burg angekommen waren und vom Bahnhofe durch 
die Stadt fuhren, durch eine wirkliche Großſtadt. Hier 
war man doch unter Menſchen, unter wirklichen Men- 
ſchen! 
Das Wetter war ſonnig, noch warm. Auf dem 
Newskij-Proſpekt, über den fie fuhren, ein Leben und 
Treiben wie in Berlin Unter den Linden. Faſt noch 
gewaltiger erſchien es im erſten Augenblick. Unabſeh- 
bare Reihen von Wagen und Autos, rechts und links 
Paläſte, dazwiſchen elegante Magazine — Sophie fühlte 
ſich für den Augenblick beinahe verſöhnt mit Rußland, 
mit dieſem Lande, in dem fie ſich wie in der Ver- 
bannung vorgekommen war. 
Auch in Petersburg beſaßen die Laſarew ihr eigenes 
Haus. Als der Wagen vor dem Portal hielt, die be- 
kannten Geſichter der Dienerſchaft, die noch vor ein 
paar Tagen auf dem Gute um ſie herum geweſen, 
ſich zeigten, ſie das Innere des Hauſes betraten, in 
dem nichts erkennen ließ, daß es lange unbewohnt 
geweſen war, alles ſo daſtand, als ob man nur für 
eine Stunde ausgegangen geweſen ſei — da kam ſich 
Sophie einige Minuten wirklich wie in einem Mär- 
chen vor. 

Schon am anderen Tage empfing Frau v. Laſarewa 
zur Teeſtunde. Sophie lernte eine Menge Leute 
kennen, Namen der höchſten ruſſiſchen Ariſtokratie 
ſchwirrten vor ihren Ohren. 

Und wieder wie damals, als fie ſich in Berlin im 
Hotel vorgeſtellt, fühlte ſie ſich frei, eine Gleiche unter 
Gleichen, mit keinem Wort, mit keiner Silbe oder Blick 
ließ man ſie merken, daß ſie doch ſchließlich nur eine 
Geſellſchafterin war. 


74 Die ſchöne Trebnitz. . 


Das verdankte ſie Frau v. Laſarewa, die, wenn ſie 
ſie vorſtellte, ſtets hinzufügte: „Frau v. Trebnitz, die 
ſo liebenswürdig war, uns hierher zu begleiten.“ 

Die Leute, denen das geſagt wurde, verſtanden 
wohl, welche Stellung Sophie im Hauſe einnahm, ſie 
begriffen aber auch, wie die Hausherrin dieſe Stellung 
aufgefaßt wiſſen wollte. 

Daß Frau v. Laſarewa hier in der Stadt weniger 
von ihren Nerven gequält wurde wie auf dem Lande, 
war eine für Sophie ſehr erfreuliche Zugabe zu dem 
ſich täglich angenehmer geſtaltenden Leben. Frau 
Laſarewa fühlte ſich hier wohl angeregter, ſie zeigte 
wenigſtens nicht mehr das Bedürfnis, ſtundenlang auf 
dem Sofa zu liegen. Jeder ſchöne Tag wurde zu Aus— 
fahrten benützt. Aber auch den Beſuch der eleganteren 
Magazine verſchmähte die Hausherrin nicht, ſtets be— 
gleitet von Kenia und Sophie — das Leben war wirk- 
lich recht angenehm. 

(Jortſetzung folgt.) 


2 
* 


Dreißig Jahre Explofionsmotor. 
von Max Hentwich. 


mit 11 Bildern. * nacho ruck erde 


Wer jetzt durch die Straßen einer Großſtadt geht, 


dem fällt kaum mehr auf, wieviele Geſchäfts- 
motorräder an ihm vorüberknattern, wie lärmende 
Autobuſſe über das Aſphaltpflaſter ſauſen, wie unge- 
zählte „Autos“ ihren Weg mit Sicherheit und Schnellig- 
keit nehmen in einem Gewühl, in dem das unmodern 
gewordene Pferd eine ſehr dürftige Rolle ſpielt. Hoch 
über den Dächern ziehen Lenkballone ihre Kreiſe, ganz 
oben im blauen Ather ſchwebt ein ſurrender Vogel, auf 
dem der kühne Menſch die eroberte Luft durchfliegt, 
und unten auf dem Waſſer durchſchneidet ein Motor- 
boot die Fluten zu eiliger Fahrt. 

Unferer jüngſten Generation fällt daran kaum mehr 
etwas auf; ſie kennt den Verkehr von heute kaum anders 
als in dieſer vielgeſtaltigen, kraftgebändigten Form. 
Wer aber ein paar Jahrzehnte des „Daſeins ſüße Ge— 
wohnheit“ nicht ganz gedankenlos verbrachte, der wird 
bei jedem Gang durch die Straßen ſein Staunen kaum 
unterdrücken können: dieſe ganze moderne Verkehrs- 
technik iſt ein Werk der letzten fünfzehn Jahre! 

An dem Verdienſt, fie geſchaffen zu haben, be- 
teiligen ſich wie an allen großen, bedeutungsvollen 

Neuerungen verſchiedene Machtfaktoren, deren zeit— 
liches und intellektuelles Zuſammenwirken den glänzen 


76 Oreißig Jahre Exploſionsmotor. 2 


den Aufſchwung unſerer Verkehrstechnik ſchufen. Jeder 
einzelne Zweig hat, abgeſehen von den theoretiſchen 
Vorarbeiten, eine ganze Anzahl beteiligter Erfinder, 
Konſtrukteure, Verbeſſerer, bevor er ſich bis zur heu— 


Der erſte, von Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach 
im Jahre 1883 konſtruierte leichte Diertatt- 
Benz ine xploſionsmotor. 


tigen Vervollkommnung durcharbeiten konnte. Die 
Verbeſſerung der Stahlverarbeitung, die Verbilligung 
des Aluminiums, die Erfindung des Pneumatiks, die 
aeroſtatiſchen Erfahrungen, vor allem der Wiflens- 
und Verſuchsdrang vieler Erfinder, deren Konſtruk- 
tionen der Erfolg verſagt blieb, die aber dennoch einen 
Schritt vorwärts getan haben, die, wie Lilienthal und 
Wölfert, die Pioniere in den beiden Hauptfächern des 
Flugweſens, ein jeder das entſcheidende Moment ſeiner 
Kunſt richtig erfaßt und doch noch vor dem endgültigen 
Gelingen ihres Werkes ihren Forſchungseifer mit dem 


1 Don Max Nentwid. 77 


Leben bezahlten — fie alle find beteiligt an der genialen 
Entwicklung des modernen Verkehrsweſens, das in der 
kurzen Zeit ſeines Beſtehens Umwälzungen hervorrief 
und Neuinduſtrien ſchuf, die ähnlich gewaltig nur in 
der Telephon; und Elektriz itätsbranche zu verzeichnen 
waren. 

Trotz der mannigfach geteilten Verdienſte läßt ſich 
aber doch ein Zeitpunkt feſtſtellen, von dem die neu- 
zeitliche Entwicklung ihren Ausgang nahm, und zwar 
jener Zeitpunkt, an dem es — wiederum mehreren 
Erfindern — gelang, die Seele jeglicher Bewegung, 
die Kraft, in einer für das Verkehrsweſen geeigneten 
Weiſe darzuſtellen. Kraftmaſchinen an ſich waren ja 
ſchon ſeit längerem bekannt, getrieben durch Dampf, 


ä 


— 


Das erſte, von Gottlieb Daimler 1885 konſtruierte Motorrad. 


ſogar auch bereits durch flüſſige Brennſtoffe, wie 
Petroleum, oder auch durch Gas; hier reichen die erſten 
Verſuche bis 1791 zurück. Auch beſtand ſeit längerem 
ſchon Neigung, dieſe motoriſche Kraft auf Gefährte zu 


78 Dreißig Jahre Exploſionsmotor. u 


Gottlieb Daimler (f 1900) konſtruierte mit Wilhelm Maybach 
den erſten leichten Benzinexploſionsmotor im Fahre 1885. 


übertragen. Zunächſt waren es Dampfwagen, wie 
Cugnot 1769 bereits einen konſtruierte; ihm folgten 
einige andere Syſteme, und es ſollen im Jahre 1851 
in London etwa zwanzig ſolcher Dampfwagen im Be— 


2 Von Max Nentwich. 79 


Wilhelm Maybach. 


trieb geweſen ſein, die ſpäter behördlicherſeits durch 
eine ins Lächerliche herabgeminderte Geſchwindigkeit 
zur Untätigkeit verurteilt wurden. 

Benz verſuchte 1880, ſeinen Zweitaktmotor auf einen 
Wagen aufzumontieren, und mit Erwähnung dieſes 


80 Hreißig Jahre Erplofionsmotor, [> 


Verſuches nähern wir uns in der geſchichtlichen Ent- 
wicklung jener Zeit, in welche die Schaffung des lang- 
Rerſehnten leichten Exploſionsmotors fällt. Es mag 
geſtattet fein, einem der verdienſtvollen Väter dieſer 
bedeutſamen Neukonſtruktion das Wort über jene Vor- 
gänge zu geben. Direktor Wilhelm Maybach ſchreibt 
mir über die Arbeiten in jener Zeit: „Brauchbare 
Exploſionskraftmotoren gab es ja ſchon ſeit Anfang der 
ſechziger Fahre. 1867 erhielten die Herren Otto und 
Langen in Köln auf der Weltausſtellung in Paris die 
goldene Medaille für ihre ſehr intereſſante und öko- 
nomiſch arbeitende atmoſphäriſche Gaskraftmaſchine; 
ſie hatte einen Gasverbrauch von nur 97 Kubikmetern 
pro Pferdeſtärke Stunde, wogegen die franzöſiſche 
Konkurrenzmaſchine von Lenoir einen dreimal größeren 
Verbrauch aufwies. 

Im Jahre 1872 wurde von den Herren Otto und 
Langen Herr Gottlieb Daimler als Direktor und ich 
als Chefkonſtrukteur für die Gasmotorenfabrik Deutz 
engagiert zur rationellen Herſtellung ihrer atmoſphäri— 
ſchen Gaskraftmaſchine. Dieſe konnte nur in den Größen 
1/, bis 4 Pferdeſtärken ausgeführt werden, fand aber 
vielfache Verwendung und große Verbreitung in der 
Kleininduſtrie. 

Herr Otto widmete ſich in feiner Stellung als fauf- 
männiſcher Direktor nebenbei immer noch der Weiter- 
entwicklung des von ihm erfundenen atmoſphäriſchen 
Gasmotors, was im Jahre 1876 zur Konſtruktion des 
heute allgemein verwendeten Viertaktmotors führte. 
Schon mit dem atmoſphäriſchen Gasmotor dachte Herr 
Langen an die Verwendung desſelben für Fahrzeuge; 
es wurden ſogar auf ſeine Verwendung hin in Lüttich 
von einem ſeiner Freunde Verſuche in dieſer Richtung 
mit einem Trambahnwagengeſtell gemacht, die aber 


D Von Mar Nentwich. 81 


fehlſchlugen, weil die Kraft zu klein und das Gewicht 
zu groß war. Desgleichen dachte er und andere daran, 
mit dem nun zweckmäßigeren Viertaktmotor Wagen 
anzutreiben; aber auch dieſer Motor war zu ſchwer: 
4 Pferdeſtärken wogen 1200 Kilogramm. 

Bei der gemeinſamen Arbeit von Herrn Daimler 


Das von Gottlieb Daimler 1885 erbaute vierräderige Auto. 
Im Wagen Gottlieb Daimler, am Steuer fein Sohn. 


und mir vom Fahre 1882 ab handelte es ſich hauptſäch- 
lich nur um die Ausgeſtaltung des Viertaktmotors zu 
einem für Fahrzeuge geeigneten leichten Motortyp. 
Dank meiner elfjährigen Tätigkeit und den vielfachen 
Verſuchen in Oeutz gelang es mir, durch die Glührohr— 
zündung die gewünſchte höhere Tourenzahl zu ermög- 
lichen und dadurch den geeigneten Motor zu bauen. 
Ferner verwertete ich auch meine Erfahrungen von 
1913. XII. 6 


82 Dreißig Jahre Exploſionsmotor. 


Deutz im Bau von Benzinverdunſtungsapparaten, und 
es entſtand hieraus der kleine Schwimmerapparat, der 
längere Jahre verwendet wurde, bis ich ſchließlich den 
heute allgemein gebräuchlichen Spritzdüſenvergaſer er- 
fand.“ 

Es entbehrt nicht eines gewiſſen Humors, daß 


2 * N . 


6-Pferdeſtärken-Daimler-„Rennwagen“ von 1898, der erſte 
feiner Art, mit dem im erſten öſterreichiſchen Automobil- 
rennen der Sieg erkämpft wurde. 


die, natürlich geheimgehaltene gemeinſchaftliche Arbeit 
Daimler-Maybachs die hochwohllöbliche Behörde von 
Cannſtatt auf die Beine brachte, die die beiden ver— 
meintlichen Falſchmünzer eines Abends in ihrem ver- 
ſteckten Gartenhäuschen kurzerhand zu verhaften ge— 
dachte. Die anfänglich peinliche Situation endete mit 
allgemeiner Heiterkeit, als die hohe Obrigkeit gleichſam 
die Zeugenſchaft übernahm für den erſten ſchnell— 
laufenden Benzinexploſionsmotor von 1885. 


| 


i Bon Max Nentwich. 83 


Gottlieb Daimler baute zwei Jahre ſpäter einen 
gleichen Motor in den Rahmen eines hölzernen Zwei— 
rades — der erſte, noch etwas unbeholfene Repräfentant 
der hurtigen Motorräder — und noch in demſelben 
Jahre 1885 wurde auch das erſte vierräderige Auto- 
mobil gebaut, das, gleichfalls noch auf Holzrädern, in 
den Straßen von Cannſtatt ſeine Probefahrten glänzend 
zurücklegte. Ihm folgte alsbald ein auf Stahlrädern 
aufmontiertes Auto, das ſogar ſchon vier Schnellig— 
keiten mittels verſchiebbarer Zahnräder entwickelte. 
Auch zur Fortbewegung auf Eiſenbahnſchienen wurde 


Das erſte, nach den Ratſchlägen des öſterreichiſchen 
Generalkonſuls Zellinet-Mercedes konſtruierte und nach 
ihm benannte Auto. 


einer Draiſine Motorantrieb verliehen. Sie alle ſtellen 
die erſten Typen der Daimler-Maybach-Autos dar. 
Man kann aber auch hier von einer Duplizität der 
Ereigniſſe ſprechen. Zur ſelben Zeit, da dieſe beiden 
Konſtrukteure in Cannſtatt ihre vorläufig noch nicht 
recht anerkannten Schöpfungen ans Tageslicht brachten, 


84 Oreißig Zahre Exp loſions motor. a 


befaßte ſich, völlig unabhängig von ihnen, der Ingenieur 
Carl Benz in feiner Mannheimer Fabrik mit der Ver- 
beſſerung des Exploſionsmotors und mit der Verwen- 
dung dieſer Kraft zum Antrieb von Fahrzeugen, und 
auch er konſtruierte im ſelben Jahre 1885 ſeinen erſten 
dreiräderigen Stahlmotorwagen, der in den Straßen 
von Mannheim Probe lief. 

In jenen Zeiten wurde viel verbeſſert und geändert; 
jede Maſchine und jeder Wagen waren ein neuer Typ, 
und jeder der Erfinder war auf rationelle Brauchbar- 
machung des neuen Gefährtes bedacht. 

Aber ähnlich wie bei der Erfindung des Telephons 
nach den erſten Reisſchen erfolgreichen Verſuchen lange 
Jahre vergingen, bevor die überaus wichtigen Arbeiten 
die ihnen zukommende Weiterverwertung fanden, ſo 
erging es auch den erſten Automobilen von 1885, die 
erſt ein volles Jahrzehnt ſpäter jene Würdigung er- 
fuhren, die ihnen gebührte. Auch war ohne den Pneu— 
matik die Vervollkommnung des Autos zu ſeiner jetzigen 
Brauchbarkeit nicht denkbar. Es ſei ferner der Ver- 
dienſte des öſterreichiſch- ungariſchen Generalkonſuls 
Jellinek-Mercedes gedacht, den Maybach 1896 kennen 
lernte, und auf deſſen Anraten ſowohl der maſchinelle 
Unterbau, das Chaſſis, bedeutend erleichtert als auch 
der Motor durch ein Vierzylinderſyſtem zu viel größerer 
Kraftentfaltung gebracht werden ſollte. 1901 kam der 
nach dieſen Ratſchlägen erbaute, wegen ſeiner immenſen 
Kraft von 35 Pferdeſtärken nicht wenig angeſtaunte 
Wagen heraus; er führte nach ſeinem Urheber den 
Namen „Mercedes“, bewährte ſich ganz hervorragend, 
ſtieg in ſeiner Kraftentfaltung ſchnell aufwärts bis zu 
120 Pferdeſtärken und ſtellt bis heute einen beſonderen 
Typ mit anerkannten Vorzügen dar. 

Der gewiſſenhafte Chroniſt kann aber nicht uner- 


E 


a Von Max Nentwid. 85 


wähnt laſſen, daß während des Stockens in der An- 
fangszeit ſich das Ausland mit vielem Eifer und vielem 


.... 


Carl Benz fuhr bereits 1885 auf einem von ihm 
ſelbſt konſtruierten Auto (Dreirad) in den 
Straßen von Mannheim. 


Erfolg der Konſtruktion des Automobils zuwendete, 
und daß die erſten Rennen und Konkurrenzen, die die 
zweifelloſe Überlegenheit des neuen Gefährtes darzutun 
geeignet waren, im Ausland ſtattfanden, während das 


* 


86 Oreißig Jahre Exploſions motor. u 


Auto in ſeiner Heimat bei weitem nicht in gebührender 
Weiſe anerkannt wurde. So gewann das Ausland auf 
dieſem Gebiete einen Vorſprung von Anfang an; aber 
auch dieſe ſeltſame Verkehrung wurde durch deutſchen 
Fleiß und beſonders durch die Gründlichkeit wieder 
wettgemacht. Heute genießen die heimatlichen Pro- 
dukte Weltruf. 

In mannigfachen Neukonſtruktionen hat dann der 
Automobilismus ſich zu jener Machtſtellung in unſerem 
modernen Verkehrsweſen ausgebildet, die wir heute an 
ihm bewundern. Wir kennen ſeine ſchlechterdings nicht 
mehr zu überbietende Schnelligkeit (Weltrekord 228 Kilo- 
meter in der Stunde), ſeine unbedingte Zuverläſſigkeit 
bei elementaren Ereigniſſen, Schneefällen und ſo weiter, 
und feine durch die immenſe Kraft bedingte Brauch- 
barkeit zu bisher unmöglichen Leiſtungen (Laſtzüge, 
Armeedienit- und Feuerwehrwagen, kombinierte Wagen- 
pumpen, drahtloſe Telephon, Panzer-, Turmwagen 
und ſo weiter), es iſt „das“ Gefährt von heute, vom 
vornehmen Luxuswagen bis zum ſchwer arbeitenden 
Laſtfuhrwerk. 

Als es erſt möglich geworden war, wirklich leichte, 
dabei aber ſehr kräftige Motoren zu bauen, konnte auch 
die Aviatik ihr ſeit Jahrtauſenden immer wieder er- 
wachendes Sehnen der Erfüllung näher bringen. 

In richtiger Wertſchätzung ſeiner Erfindung führte 
Gottlieb Daimler im Jahre 1887 feinen neuen Motor- 
typ der Luftſchifferabteilung vor, die trotz ihres Inter- 
eſſes nicht wußte, was damit anzufangen war. Erſt am 
1. September 1888 benützte der forſchungsfrohe Leip- 
ziger Buchhändler Dr. Wölfert einen derartigen Motor 
zu feinen Lenkballonverſuchen, die vom Hofe der Daim- 
lerſchen Fabrik auf dem Seelberg in Cannſtatt vor— 
genommen wurden. Ein kleiner, nur 4 Pferdeſtärken 


87 


Von Mar Nentwich. 


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ganz leichter Motor trieb eine aus einem 


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Holzgerippe und Stoffüberzug hergeſtellte Schraube an; 


mächtiger, 


88 Oreißig Jahre Exploſionsmotor. 2 


doch dieſer erſte Aufſtieg vollzog ſich nicht ohne ein ge- 
wiſſes heiteres Geleite. „Es zeigte ſich nämlich, daß 
Dr. Wölfert für ſeinen kleinen Ballon zu ſchwer war, 
weshalb dieſe Fahrt von feinem etwas leichteren ©e- 
hilfen allein ausgeführt wurde, der ſich auch noch aller 
entbehrlichen Kleidungsſtücke und ſogar der Stiefel 
und — des Portemonnaies entledigen mußte. Indeſſen 
der Ballon ſtieg und ging hinter dem Burgholzhof, in 
einer Entfernung von etwa 4 Kilometern, nieder.“ 

Nur der Mangel an Betriebskapital hinderte Wölfert 
am Bau eines hinreichend großen Ballons, deſſen Ein- 
richtungen mehr Erfolg verſprachen, deſſen Abmeſſungen 
aber die Gefahr der Exploſion des Ballons vielleicht 
völlig verhindert hätten. Dr. Wölfert iſt, wie wohl 
noch erinnerlich, am 12. Juni 1897 mit feinem Mecha- 
niker bei einem Aufſtieg vom Tempelhofer Felde aus 
durch Exploſion des Ballons ums Leben gekommen. 
Doch die Fortichritte waren ſchon zu groß, als daß 
dieſes erſte Lenkballonunglück die weiteren Arbeiten 
auf dem von Wölfert beſchrittenen Wege verhindern 
konnte. 

Es war aber auch hier wieder das Zuſammentreffen 
und Zuſammenarbeiten verſchiedener Momente, die 
ſchließlich zu den großen Erfolgen führten: vor allem 
die unbeugſame, zähe, man möchte ſagen dickköpfige 
Energie des Grafen Zeppelin, den alles Mißgeſchick, alles 
elementare Unglück, alle anfänglichen Mißerfolge, das 
Lächeln ſeiner „guten Freunde“ und immer wieder 
das ihn verfolgende „Pech“ doch nicht von dem als 
einzig richtig erkannten Weg abbringen konnten. Schließ 
lich hat ſich das Unglück zum Glück gewendet, als nach 
der Kataſtrophe von Echterdingen das deutſche Volk 
die große Flugſpende für Zeppelin zuſammentrug und 
damit den energiſchen und unverdroſſenen Herrn, ihm 


D Don Mar Nentwich. 89 


gleichſam fein Vertrauen erweiſend, auch materiell un- 
abhängig für ſeine weitere Arbeit machte. Über die 
hohen Eigenſchaften des Zeppelinſchen Luftſchiffs, das 
als der vollendetſte Lenkballon der Gegenwart gilt, iſt 
ſich die ganze Welt einig. 

Auch die anderen erſtklaſſigen Syſteme: Parſeval, 


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Mit Daimlermotor ausgeftattete Antriebseinrichtung des 
Wölfertſchen Lenkballons, der am 1. September 1888 ſeinen 
erſten Aufſtieg in Cannſtatt unternahm. 


Groß und in neuerer Zeit Schütte-Lanz, ſowie die vielen 
Ausländer, die gleich zu Anfang die deutſchen Motoren 
richtig einſchätzten und verwendeten, waren auf den 
leichten, kräftigen Exploſions motor angewieſen. 

Und nun gar das Flugzeugweſen, das Wunderkind 
der jüngſten Zeit; ihm war Lebensfähigkeit überhaupt 


90 Dreißig Jahre Exploſionsmotor. a 


nur befchieden, wenn bei verhältnismäßig ganz gering- 
fügigem Gewicht eine außerordentliche Kraftentfaltung 
des Motors erreicht werden konnte. 

Wir alle wiſſen noch von der mißtrauiſchen Auf— 
nahme jener Nachrichten, die von der Wrightſchen Flug- 
maſchine verbreitet wurden, etwa ein Jahrzehnt nach 
Lilienthals Todesflug. Dann kamen nach den Hüpfver- 
ſuchen Zipfels die beiden Wright wirklich nach Deutich- 
land, und man ſah den Jahrtauſende alten Traum er— 
füllt, ſah Menſchen auf ihren Apparaten wirklich durch 
die Luft fliegen. Es währte nur noch Wochen und 
Monate, und, wie aus dem Boden geſtampft, erſchien 
ein Flugzeugſyſtem nach dem anderen; Erfolg reihte ſich 
an Erfolg, und zu Land- und Waſſerwegen geſellte fi 
der jeder vorgeſchriebenen Bahn entbehrende gerad- 
linige Flug durch die Luft als neue Verbindung der 
Völker. Wie leſen ſich heute die Zeitungsnachrichten 
aus jener Zeit: „Weltrekord 2500 Meter Höhe“, 
„Dauerflug von einer Stunde“ und ſo weiter — heute 
ſind das gar nicht erwähnenswerte Alltäglichkeiten und 
waren vor fünf Jahren noch Triumphnachrichten. 

Es war auch das Erfolgreiche in der Aviatik das 
Zuſammenarbeiten vieler Kräfte und die Unbeugſamkeit 
des menſchlichen Willens trotz ungezählter Todesopfer. 

Was gegenwärtig an die Leiſtungsfähigkeit eines 
Flugmotors für Anforderungen geſtellt werden, geht 
am beſten aus den Bedingungen im Wettbewerb um 
den Kaiſerpreis hervor. Erſtens: Aufbau innerhalb drei 
Tagen. Zweitens: Vorprobe: Halbſtündiges Voll- 
laufen in horizontaler Lage, !/, Stunde Volllaufen bei 
15 Prozent Steigung der Achſe, ½ Stunde Volllaufen 
mit Neigung abwärts bei möglichſt verminderter Touren- 
zahl (dem Gleitflug entſprechend). Drittens: Sieben- 
ſtündiger Volllauf ohne Unterbrechung bei Vollbrem— 


2 Don Max Nentwich. 91 


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in horizontaler Lage, ½ Stunde Pauſe, nochmals 


Blick in die Fräſerei einer modernen Automobilfabrik. 


92 Oreißig Jahre Exploſionsmotor. 1 


2½ Stunden Volllauf und ½ Stunde Volllauf mit 
erhöhter Tourenzahl durch künſtlich erzeugten Gegen- 
wind. 

Und ſchon find die noch weitergehenden Bedingungen 
ausgeſchrieben für den in dieſem Sommer jtattfinden- 
den Wettbewerb der Waſſerflugzeuge. 

Auch hier iſt kein Stillſtand, ſondern eifriges Vor- 
wärtsſchreiten, und die Mitwelt iſt jeden Tag zum 
Zeugen berufen für die Fülle von Errungenſchaften, 
zu denen die Konſtruktion des leichten Exploſions- 
motors erſt die Möglichkeit gegeben. 


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EIESEIEHE? 


Eigenland. 


Novelle von Otto Hoeder. 


* nach ruck verboten.) 


1 


m Fenſter des ihm als Wohnung dienenden Well- 

blechhäuschens ſtand Gordon Harland, der neue 
Betriebsleiter einer im mittleren Weiten der Ver— 
einigten Staaten im Bau begriffenen gewaltigen Tal- 
ſperre, neben ſeinem von ihm abgelöſten Vorgänger. 
Mit nachdenklicher Miene ließ er das ihm ungewohnte, 
fremdartige Wüſtenpanorama auf ſich einwirken. 

Vor ſeinen Blicken dehnte ſich im Sonnenbrande, 
an die dreißig Meilen breit und in zumindeſt doppelter 
Länge, eine troſtloſe Einöde, die ringsum von hohen 
Lavafelſen eingeſchloſſen wurde. Sie ſollte durch die 
rieſige Staubeckenanlage in ihrer Geſamtausdehnung 
bewäſſert und dadurch aus hunderttauſendjährigem 
Schlafe aufgeweckt und fruchtbar gemacht werden. 

„Well, wir können uns über die ſeither erzielten 
Fortſchritte nicht beklagen,“ meinte der bisherige Be— 
triebsleiter, zu deſſen Ablöſung der jüngere Kollege 
aus New Vork gekommen war. „Bisher iſt alles wie 
geſchmiert gegangen — mit alleiniger Ausnahme jenes 
alten Querkopfs da oben, des Tom Dugan!“ ſchränkte 
er mit einer Verwünſchung ein. „Der Mann betreibt 
eine Viehranch, etwa zehn Meilen weiter ſtromauf in 
den Bergen. Er verſucht uns aufzuhalten, natürlich 


94 Eigenland. 2 


mit ebenſowenig Erfolg, wie etwa ein ſtörriger Büffel 
ſich dem heranbrauſenden Schnellzuge gegenüberſtellen 
würde. Aber wir werden gerade noch genug Verdruß 
mit ihm haben — oder vielmehr Sie, Harland,“ wendete 
er ſich augenzwinkernd an ſeinen Nachfolger. „Denn 
ich will die Stunde ſegnen, wo ich dieſer Hölle den 
Rücken wenden darf. Hab' mir gerade lange genug 
hier draußen die Haut dörren laſſen!“ 
Rittlings ſetzte er ſich auf einen Stuhl und muſterte 
wohlgefällig den nunmehrigen Betriebsleiter. 
„Merkwürdig,“ begann er dann wieder, „wo man 
auch baut und bohrt, immer trifft man fo 'n vorfint- 
flutliches Foſſil an! Sie wurden ſchon aus der Arche 
mit den übrigen ODickhäutern verladen und ſiedelten 
ſich an, ehe noch das Waſſer ſich völlig verlaufen hatte. 
Laſſen ihr Vieh an die dreißig Jahre auf einem halben 
Königreich an Ausdehnung koſtenlos weiden, leben ihren 
guten Tag und bilden ſich ein, daß Gott und die Welt 
ihnen gehöre. Wie dieſer Tom Dugan da oben. Wir 
mußten ihm den Stromlauf ableiten und damit ſeine 
Waſſerzufuhr beſchneiden — das iſt richtig. Natürlich 
wollten wir ihn anſtändig entſchädigen, aber er will 
ſich auf nichts einlaffen, ſondern behauptet, er ſei zuerſt 
dageweſen, und das Land gehöre ihm. Wir ſollten 
ihn nur von ſeinem Grund und Boden zu vertreiben 
ſuchen! Nun haben wir Klage gegen ihn angeſtrengt. 
Natürlich verliert er den Prozeß, aber bis zu deſſen 
endlichem Austrag müſſen wir ſeine angeblichen Rechte 
reſpektieren und kommen nur langſam vom Flecke.“ 
Er lachte grimmig auf. „Ginge es nach mir, ſo wollt' 
ich den Fuchs bald aus ſeinem Bau vertreiben!“ 
„Wie wollten Sie denn das anfangen?“ erkundigte 
ſich Gordon lächelnd. 
„Ich baute den Staudamm einfach zehn Fuß höher. 


u Novelle von Otto Hoecker. 95 


In Wirklichkeit liegt die Duganranch nicht viel höher 
als die Wüſte, aber um zu ihr zu gelangen, muß man 
die Lavaberge überklettern. Der ganze Grund und 
Boden iſt vulkaniſchen Urſprungs. Well, baute man 
nun den Staudamm um zehn Fuß höher als geplant, 
dann würde mit Fertigſtellung der Talſperre auch das 
Loch, in dem jener Dugan hauſt, unter Waſſer geſetzt 
werden. Dann aber hätte er entweder nach unſerer 
Pfeife zu tanzen oder — er würde gleich einer Ratte 
erſäuft werden.“ 

„Nun, zu ſolch draſtiſchen Auskunftsmitteln werden 
wir hoffentlich nicht unſere Zuflucht nehmen müſſen,“ 
meinte Gordon ſorglos, während er ſich in Begleitung 
ſeines Vorgängers nach der kleinen Veranda vor dem 
Häuschen begab. | 

Im funkelnden Sonnenſcheine draußen ächzte der 
Steinzermalmer und ſchleuderte weiße Staubwolken 
gen Himmel. Vom Fluß her kam das Schrillen der 
an langgeſtreckten Kabeldrähten hin und zurück ſchwe⸗ 
benden Zementbütten, und zur Rechten ſchlängelten 
ſich wie die Fäden eines weitmaſchigen Netzes die 
künftigen Abzugskanäle an den ſteilen Felswänden hoch, 
bis ſie oben in der ſtaubgeſättigten, amethyſtfarbigen 
Luft verſchwanden. 

Der abgelöſte Ingenieur deutete auf die in Mittags- 
gluten ſchmachtende Talwüſte. „Was für Zukunfts- 
möglichkeiten liegen dort im Mutterſchoß der Erde noch 
vergraben,“ ſagte er zuverſichtlich. „Wie lange wird's 
noch dauern, ſo zieht die Eiſenbahn dort, wo jetzt nichts 
als muffiges Heidekraut wuchert, ihre Schienenſtränge. 
Vielleicht in fünf Jahren dehnt ſich hier eine aufblühende 
Stadt, und man verkauft Eckbauſtellen zu tauſend Dollar 
das Stück. An die tauſend Anſiedler gewinnen der 
neuen Heimatſcholle hundertfältigen Ertrag ab — und 


96 | Eigenland. 2 


da will uns ſolch ein Dickkopf in die Quere kommen 
und meint, wir müßten die Hände von alledem laſſen, 
nur weil feine Viehherden ſeit einer Reihe von Jahren 
hier geweidet haben?! Den Zahn müſſen Sie ihm 
ausziehen, Harland — und das bald. Zch ſelbſt habe 
den Karren bei ihm verfahren und will nur hoffen, 
daß Sie beſſer mit ihm fertig werden!“ 

Als Gordon zuſtimmend nickte, umſpielte ein Lächeln 
feſter Entſchloſſenheit ſeinen kräftig geformten Mund. 
Er war ein ſtämmiger junger Mann mit einer dichten 
braunen Haarmähne, vorſpringendem Kinn und klug 
blickenden Augen. 

„Da ich vor Montag die Oberleitung doch nicht 
übernehmen werde und am morgigen Sonntag ohne- 
hin gefeiert wird, ſo gedenke ich meinen Antrittsbeſuch 
oben in der Duganranch noch heute Mn zu 
machen,“ entſchied er. 

„Viel Glück auf den Weg!“ ſtimmte ſein Vorgänger 
zu. Aber das feine Lippen umſpielende ſarkaſtiſche 
Lächeln kündete unverhohlen genug, welchen Erfolg er 
einem ſolchen Annäherungsverſuche vorausſagte. 


Es war unberührte Natur, durch die Gordon Har- 
land eine Stunde ſpäter auf dem Rücken eines flinken 
Maultiers trabte — braun, ſonnenverbrannt und end- 
los wie die See. Kein Hausdach grüßte, kein Baum 
ſtreckte ſchattenſpendend ſeine Zweige, nicht ein grünes 
Fleckchen, wohin ſein Blick auch immer wandern mochte. 
Die Luft war dünn und unglaublich klar; er wähnte 
hundert Meilen weit ſehen zu können und hatte das 
Gefühl, als vermöchte er bis zu den Stiefelſohlen hin— 
unter zu atmen. 

Nachdem ſein Tier an die zwei Stunden unabläſſig 


0 ö Novelle von Otto Hoecker. 97 


auf kaum gebahntem Saumpfade bergauf geklettert war, 
erreichte er den Gipfel und blieb nun mit jähem Rucke 
ſtehen, denn vor feinen Hufen gähnte, wohl tauſend 
Fuß tief, der Abgrund. Als Harland ſich ſpähend über 
die dünne Halsmähne des Tieres beugte, da ſchaute 
er zu feiner Überraſchung in einen geräumigen Tal- 
keſſel, den die Lavarieſen von allen Seiten abſchloſſen. 
Unten in der Tiefe, wo in breitem Strombett dürftiges 
Waſſergerinnſel ſich durch grüne Fluren ſchlängelte, lag 
ein Ranchhaus mit ſeinen Nebenbauten. Schattige 
Bäume umſtanden es, deutlich vermochte Gordon einen 
ausgedehnten Gemüſegarten, ferner mit Kartoffeln und 
Getreide bepflanztes Land zu erkennen. Daran ſchloſſen 
ſich die Weidekoppel und endloſe Kleefelder — alles 
wie eine liebliche Oaſe in die nackte, ſtarre Lava ringsum 
eingebettet. 

Von der oberen Talbuchtung, etwa eine halbe Meile 
ſtromauf, wo wieder Salbeibüſche zu wuchern begannen, 
kam dumpfes Gepolter. Eine gelbe, raſch an Umfang 
zunehmende Staubwolke flog voran, und hinter ihr 
her ſtürmte, wie Gordon bald wahrzunehmen vermochte, 
eine buntſcheckige Viehherde, die ſich fächergleich aus- 
breitete, ſobald fie den noch durch den Stromlauf ver- 
engerten Zugangspaß hinter ſich hatte und nun in den 
geräumigen Talkeſſel einbog. 

Dazwiſchen tummelten ſich wohl ein Dutzend flinke 
Reiter. Hin und her, auf und nieder durch die dicken 
Staubwolken ritten fie, trieben an und ſchnitten wie- 
derum den von der Herde ſich ſondernden, wildgewor- 
denen Rindern mit lautem Peitſchenknallen den Flucht- 
weg ab. 

Harland ſäumte nicht länger oben, ſondern lenkte 
fein Tier nach der Zickzackſpur, die in endloſen Win- 
dungen ins Tal hinunterführte. Bald hatte er die 

1913. XII. 7 


98 Eigen land. u 


—— — 


Korralumzäunung unten erreicht und hielt nun neben 
dem Gatter, um mit wachſendem Zntereſſe das nie 
zuvor von ihm erſchaute, aufregende Schauſpiel zu 
verfolgen. 

Die ſcheue Herde, das kaum mit den Blicken zu 
verfolgende Durcheinander von Reitern und brüllen 
den Rindern, ſämtlich ſchleiergleich von Staubwolken 
eingehüllt, die natürliche Grazie und lebhafte Beweg⸗ 
lichkeit der die Laſſo ſchleudernden Männer, das trotzige 
Aufbäumen der eingefangenen Zährlinge, die indeſſen 
gar bald vollends gefeſſelt wurden, um zum lodernden 
Feuerſtoß geſchleift und dort mit dem Brandeiſen ge- 
kennzeichnet zu werden und auch die Duganmarke mit 
jähem Meſſerzucken durchs linke Ohr geſchlitzt zu erhalten, 
das dumpfe Schmerzgebrüll der alſo Gebrandmarkten, 
der brenzlige Geruch von hochaufflammendem Galbei- 
holz und verbranntem Fell — das alles ſchien in dem 
Zuſchauer Inſtinkte zu wecken, die ihm ohne fein Vor— 
wiſſen längſt im Herzen geſchlummert hatten. 

Immer näher an die Korraleinzäunung kam die 
Jagd herangebrauſt. 

Plötzlich vermochte ein beſonders ſtörriger Jähr— 
ling durch einen geſchickten Seitenſprung der ſchon über 
ihn herabfallenden Laſſoſchlinge noch im letzten Augen- 
blick zu entgehen. Nun kam er mit tiefgeſenktem Kopf 
gerade auf Gordon Harland herangeſtampft. Deſſen 
Tier ſcheute ſeitwärts, und wie er ſelbſt noch nach den 
flatternden Zügeln haſchte, überrannte ihn auch ſchon 
der junge Stier. 

Wohl ſchoß der alſo Überrumpelte der Länge nach 
ins Gras, aber er blieb geiſtesgegenwärtig genug, um 
den ungehobelten Geſellen bei dem einen Hinterbein zu 
packen und ihn, unbeſchadet darum, daß er eine Strecke 
weit mit fortgeſchleift wurde, daran feſtzuhalten. 


a) Novelle von Otto Hoeder. 


8 


Da kam es auch ſchon mit ſtiebendem Hufſchlag 
heran, einer der Reiter warf das Fangſeil, und diesmal 
verſtrickte ſich der Ausreißer hoffnungslos in der Schlinge. 

Jetzt richtete ſich der Ingenieur wieder auf und 
ſtimmte in das Lachen des ihn mit beluſtigten Blicken 
muſternden jungen Reiters ein, als dieſer ihm ein ver- 
trauliches „Hallo, Freundchen!“ zurief. 

Hinter ihm tauchte ein zweiter Reiter auf, ein hagerer 
Graukopf, der wie verwachſen mit ſeinem Pferde im 
Sattel ſaß und das grimmige, von einem ſtruppigen 
Schnurrbart beinahe in zwei Hälften geteilte, lederhart 
gegerbte Geſicht vergnüglich verzogen hatte. 

„Hallo, Fremder!“ ſchrie er lachend. „Ihr hättet 
den Ausreißer beim Schwanzende packen müſſen. Dann 
noch 'ne Doſe Salz draufgeſtreut — und das Bieſt 
hätt' alle viere von ſich geſtreckt! Hoho, da möchte 
man doch gleich Klapperſchlaͤngen ſchlucken! Auf Eure 
Fangmethode müßt Ihr 'n Patent nehmen!“ 

Zuerſt hielt Harland den verwitterten Kumpan für 
den Beſitzer der Ranch, aber er änderte ſeine Meinung 
raſch, als nun noch ein dritter Reiter herangeſprengt 
kam, ein alter, ſehniger Mann, der auf einem beſonders 
hochbeinigen Tier hockte. | 

Harland konnte ſich nicht entſinnen, jemals zuvor 
ſchon in ein derartig wie aus Stahl gefügtes Männer- 
antlitz geſchaut zu haben. Das Alter hatte die in dieſem 
Manne lodernde Leidenſchaft noch nicht zu zügeln ver- 
mocht, gleichwohl lag in ſeinen Zügen wiederum eine 
gewiſſe rauhe Biederkeit, und wenn er lachte, wie dies 
eben geſchah, gewannen feine Mienen ſelbſt einen gut- 
mütigen Ausdruck. 

„Woher des Wegs, Fremder?“ begrüßte er Harland, 
ohne ſich ſelbſt vorzuſtellen, was er für überflüffig halten 
mochte. „Oer neue Ingenieur — eh?“ 


100 Eigenland. 2 


Gordon Harland nannte feinen Namen. „Ich wollte 
Ihnen meinen Beſuch abſtatten,“ fuhr er fort, heimlich 
darauf gefaßt, daß ſich die freundſchaftliche Haltung des 
Alten nunmehr raſch ins Gegenteil wandeln würde. 

Aber nichts Dergleichen geſchah, ſondern Tom Dugan 
ſtreckte ihm die Hand zum Willkommgruße entgegen. 
„Ihr kommt aus dem Oſten?“ erkundigte er ſich, in- 
dem er lächelnd die durch den Fall in Unordnung ge- 
ratene ſtädtiſche Kleidung ſeines Beſuchers muſterte. 

„ga, ich bin, was man hierzulande wohl ein Grün- 
horn nennt — kaum je aus der Großſtadt heraus- 
gekommen!“ 

„Well, überall iſt Gottes Gegend,“ meinte der Alte, 
deſſen klarer Blick noch immer den anderen muſterte. 
„Auch ich kam vom Oſten hierher, war jung in Chicago 
und urſprünglich Schriftſetzer. Iſt aber unwahrfchein- 
lich lange her und dünkt mich wie 'n Traum. Schalte 
nun ſchon dreißig Jahre auf der eigenen Scholle, da 
wurzelt man im Boden und wird eins mit ihm. — 
Aber nichts für ungut, Herr,“ unterbrach er ſich. indem 
er nach den ragenden Felshöhen, hinter denen eben 
die Sonne verſchwand, hinaufſpähte. „Es wird wohl 
bald dunkel werden. Das geſchieht hier draußen ganz 
plötzlich, und wir müſſen noch einen letzten Trieb reiten. 
Laßt Euch einſtweilen die Zeit nicht lang werden!“ 

Damit riß er ſeinen Gaul wieder herum, die beiden 
anderen Reiter folgten ſeinem Beiſpiel, und die wilde 
Jagd erneuerte ſich, ohne daß das Dreiblatt die Gegen- 
wart Harlands weiter beachtet hätte. 

Als dann die Nacht mit raſchen Schritten heran- 
kam, bot ſich dem Neuling ein anderer ungewohnter 
Anblick. 

Für den eigenen Bedarf wurde eines der Rinder 
an Ort und Stelle geſchlachtet. 


u Novelle von Otto Hoecker. 101 


— — — — — 


— — — 


Ein raſcher Laſſowurf des jungen Dugan brachte 
einen Stier nieder. Sofort trieb der Reiter fein Pferd 
an, und das hilflos an Kopf und Vorderfüßen gefeſſelte 
Schlachtopfer wurde eine Strecke weit bis in die Nähe 
des flackernden Holzſtoßes durch den Staub geſchleift. 

Ein paar betäubende Schläge auf den Kopf, ein 
die Halsader durchſchneidender Meſſerſtich des alten 
Joe, und ein Strom rauchenden Blutes ſchoß in den 
Staub. Die Herde ſog witternd und dumpf brüllend 
den Blutgeruch ein und drängte langſam zurück. Nie- 
mand bekümmerte ſich länger um fie, nun das Tag- 
werk vollbracht war. 

Selbſtverſtändlich mußte Harland über Nacht die 
Gaſtfreundſchaft des Ranchers annehmen, denn bei der 
nunmehr herrſchenden Finſternis hätte er ohnehin an 
einen Heimritt nicht denken können. 

Tintenſchwarz erſchienen die wie Zähne einer Säge 
gezackten Spitzen der Lavafelſen, und von der Schlucht 
blies der Nachtwind balſamiſche Düfte hinter ihnen her. 
Als ſich die Reiter dem Ranchhauſe näherten, lugte die 
ſchmale Sichel des Mondes über den Bergrand, und 
über ihm begannen die Sterne zu blinken. 

Auf der vorderen Veranda ſtand ein offenes, waſſer— 
gefülltes Faß, das nun als Waſchbecken diente, und 
nicht minder gemeinſchaftlich wanderten auch Hand- 
tuch und der nahezu zinkenloſe Kamm aus einer Hand 
in die andere. 

In dem von einer Petroleumhängelampe freundlich 
erhellten Wohnzimmer, wo es gar angenehm nach friſch⸗ 
bereitetem Kaffee und geröſteten Speckſcheiben roch, 
wies Tom Dugan mit ſtummer Handbewegung dem 
Gaſt den Platz zu ſeiner Linken an; ſein Sohn und der 
alte Cowboy ſetzten ſich nebeneinander oben an die 
eine lange Tiſchſeite, und der Reſt der Männer füllte 


102 Eigenland. u 


bald die übrigen Plätze an der langen Tafel. Nur zur 
Rechten des Ranchers blieb der ihm zunächſt ſtehende 
Stuhl unbeſetzt, und um feine Rücklehne war, eigen- 
tümlich genug, eine ſchwarze Tuchſchleife gebunden. 

Es entging dem Ingenieur nicht, wie der alte Ran- 
cher, als ſein Blick den umflorten Stuhl ſtreifte, leicht 
nickte, als wollte er eine unſichtbare Perſon vertraulich 
begrüßen. 

Tom Dugan mochte wohl leiſes Befremden in feines 
Beſuchers Zügen wahrgenommen haben, denn als er 
ſich nun vorneigte und die eine Hand auf die umflorte 
Stuhllehne legte, meinte er: „Kehrt Euch nicht daran, 
hier ſaß meine Mary — er iſt mir heilig, dieſer Platz, 
denn ſie war eine gute Frau. Und manchmal hab' 
ich's im Gefühl, als ſäße ſie immer noch neben mir, 
nur daß wir's nicht ſehen können.“ 

Gordon kam zu keiner Erwiderung, denn eben öffnete 
ſich von der Küche her eine Tür, und auf der Schwelle 
erſchien ein ſchlankes, hübſches Mädchen. Sie trug 
eine große Schüſſel mit eben dem Herd entnommenen 
heißen Brotſchnitten, gönnte beim Vorüberſchreiten dem 
Gaſt ein freundliches Lächeln und ſetzte ihre Laſt mit 
ſchlichtem Abendgruße auf den Tiſch. 

unwillkürlich hatte der Ingenieur ſich bei ihrem 
Eintritt von ſeinem Sitz erhoben, und mit Staunen 
nahm er wahr, daß kein Gedeck für das Mädchen auf- 
gelegt war. „Darf ich Ihnen meinen Stuhl anbieten, 
denn ich habe wohl die Ehre, Miß Dugan vor mir zu 
ſehen?“ fragte er. 

Das Mädchen nickte. „Ja, ich bin Emily Dugan,“ 
ſagte ſie ſchlicht. „Aber laſſen Sie ſich nicht ſtören, ich 
pflege immer in der Küche nachzueſſen.“ 

„Emily ißt nicht gern mit uns, es geht ihr bei uns 
nicht fein genug zu,“ zog ſie ihr Bruder lachend auf. 


2 Novelle von Otto Hoecker. 103 


„Unſereiner hat eben keine Zeit, fich erſt lange heraus- 
zuputzen.“ | 

„Kunſtſtück,“ knurrte der alte Joe, „wenn man ab- 
geradert und ausgehungert genug iſt, um Klapper- 
ſchlangen zu futtern!“ 

„Bitte, nehmen Sie nur wieder Platz!“ drängte 
das Mädchen. Mit freundlicher Zuvorkommenheit 
wartete es dem Gaſte auf. „Lieben Sie Honig?“ Sie 
reichte ihm ein Glasgefäß. „Selbſtgewonnen, wie über- 
haupt alles auf dem Tiſche hausgemacht iſt.“ 

Gordon kam aus dem Staunen nicht heraus. Die 
ruhige Sicherheit des Mädchens imponierte ihm um ſo 
mehr, als ihr ganzes Weſen vorteilhaft von der zwang- 
loſen Art der um den Tiſch hockenden und mit vollen 
Backen kauenden Männer abſtach. Weit weniger wäre 
fie in New Yorker Geſellſchaftskreiſen als in dieſem 
weltfernen Ranchhauſe aufgefallen. 

Schweigend wurde nunmehr die Mahlzeit verzehrt. 
Die Eſſenden gingen mit derſelben ernſthaften Gründ- 
lichkeit zu Werke, die Gordon ſchon zuvor bei ihnen 
draußen während der Arbeit beobachtet gehabt hatte. 

Als ſich dann der Rancher erhob, ſtanden auch die 
übrigen unter lautem Fußſcharren und Schemelrücken 
auf und begaben ſich mit kurzem Nicken aus dem Zimmer. 

Auch der Rancher ſelbſt wendete ſich der Tür zu. 
„Bin gleich wieder zurück,“ äußerte er zu feinem Be- 
ſucher, „will nur einen Abendtrunk aus dem Keller 
heraufholen.“ 

Als er wenige Minuten ſpäter wieder ins Zimmer 
zurückkam, wo inzwiſchen feine Tochter dem Gaſt Ge— 
ſellſchaft geleiſtet und gleichzeitig mit flinker Hand den 
Tiſch abgeräumt hatte, brachte er einen Steinkrug, mit 
einem ſchäumenden Getränke bis zum Rande gefüllt, 
mit und ſetzte ihn auf den Tiſch. 


104 Eigenland. u 

Hurtig ſtellte Emily Gläſer bereit, rückte noch ein 
Feuerzeug in handliche Nähe des Beſuchers und ſchloß 
dann hinter ſich die Küchentür. Bald verriet von dorther 
kommendes Tellergeklapper ihre fleißige Tätigkeit — 
ſehr zur geheimen Enttäuſchung Harlands, der beſtimmt 
auf die Geſellſchaft des liebenswürdigen Mädchens ge- 
rechnet hatte. 

Bedächtig ſchenkte der Rancher die Gläſer voll. 
„Selbſtgebraut,“ meinte er dann nicht ohne Stolz. 
„Mein Vater ſelig war ein Irländer, die Mutter da- 
gegen deutſch — und beides zuſammen gibt 'ne ſchlechte 
Miſchung, denn trockene Lebern haben beide. Koſtet 
nur, es iſt zwar kein eigentliches Bier und berauſcht 
auch nicht, aber es löſcht den Durſt ausgezeichnet und 
ſchmeckt nicht übel.“ 

Darüber war Gordon Harland nun freilich anderer 
Anſicht, denn das Zeug ſchmeckte ſtark nach Heilkräutern 
und mundete nicht beſſer als der Tabak, den der Rancher 
nun in einem mächtigen Steintopf auf den Tiſch ſetzte 
und der gleichfalls auf der Ranch gewachſen, an der 
Sonne getrocknet und rauchfertig gemacht worden war. 
Aber er hielt mit jeder Kritik zurück, ſtopfte vielmehr 
das Pfeifchen, das er immer in der Taſche nachtrug, 
und qualmte ergebungsvoll darauflos. 

„Well,“ begann der alte Mann, indem er die Gläſer 
wieder vollſchenkte, „Ihr wißt's vermutlich ſchon, daß 
ich mit Euren Leuten drunten im Prozeß liege — eh? 
Kalkulierte wenigſtens ſo, als ich Euch kommen ſah,“ 
ſetzte er bedächtig hinzu, als Gordon zuſtimmend genickt 
hatte. „Kann mir auch denken, warum Ihr gekommen 
ſeid. Aber gebt Euch keine Mühe, den alten Tom Dugan 
macht keiner dumm. Das Recht iſt auf meiner Seite, 
und niemand kann mich von der eigenen Scholle ver- 
lreiben. — Nur ſachte,“ ſetzte er mit erhobener Stimme 


u Rovelle von Otto Hoecker. 105 


hinzu, als der andere ihn unterbrechen wollte, „laßt 
mich ausreden! Ich dächte, ich hätte Euch gezeigt, daß 
ich nichts gegen Euch habe, denn Ihr habt Eure Pflicht 
zu tun, dafür werdet Ihr bezahlt. Ich ſelbſt bin ein 
friedliebender Mann, ſeh' zuweilen auch gern ein frem- 
des Geſicht um mich, aber im übrigen ſoll man mich 
in Frieden laſſen. Die Ranch iſt mein eigen, und ſo 
Gott will, bettet man mich einmal neben meine Mary 
zum letzten Schlafe.“ 

Je länger Gordon die Mienen und Blicke des Alten 
ſtudierte, deſto deutlicher begriff er, daß man ihn einer 
Aufgabe gegenübergeſtellt hatte, deren Löſung nahezu 
unmöglich und entſchieden nicht auf dem Wege güt- 
licher Vorſtellungen zu erreichen war. 

„In einer Zeit wie der unſerigen,“ wendete er nach 
einer Weile ein, „da die Menſchheit einen weiten Schritt 
vorwärts macht, muß das Zntereſſe des einzelnen ſich 
dem der Allgemeinheit unterordnen.“ 

„Möglich,“ knurrte der Alte, „aber ich weiß, daß 
ich mir jeden Fußbreit Land erarbeitet habe, zuerſt 
mit der Schaufel, Herr — und ich weiß ferner, daß 
ich mein Lebtag gefront habe, Herr — und da kommt 
plötzlich hergelaufenes Volk, ſpielt ſich als die Herren 
auf, leitet mir das Waſſer ab, ſo daß ich keines mehr 
für mein Land habe und zuſchauen muß, wie fruchtbarer 
Boden ſich wieder zur Wüſtenei zurückwandelt und 
meine Herde zehn Meilen weit zur Tränke und wieder 
zurückgetrieben werden muß.“ 

„Well,“ ſuchte Harland zu begütigen, „dafür werden 
viele Hunderte Farmer ein mächtiges Wüſtengebiet für 
die Kultur erobern, nahezu eine halbe Million Acker 
werden dem Pflug gewonnen werden!“ 

Tom Dugan ſpie verächtlich zur Seite. „Farmer 
nennt Ihr das Pack?“ fragte er kurz. „Maulwürfe, die 


106 Eigenland. 1 


— 


im Sand graben, ſind es, nichts anderes! Wir brauchen 
hier keine Farmer! Die Gegend hier iſt Weideland — 
mehr noch, ſie iſt mein Land!“ 

Er war ans offene Fenſter getreten, winkte Harland 
zu ſich und deutete dann auf eine Ecke des im Mondglanz 
liegenden Obſtgartens, wo ſich ein kurios geformter 
Steinhaufen erhob. 

„Dort ſchläft ſie,“ ſagte er leiſe. 

„Wer?“ fragte Harland, der nicht gleich feine Mei- 
nung erriet. 

„Meine Mary. Dort unter dem Steinhaufen ſchläft 
ſie, ich habe ihr ſelbſt das Grab mit der Pickaxt in die 
Felſen geſchlagen. War ein herzliebes Weib, meine 
Mary.“ | 

Eine Weile verharrte er ſchweigend und ſog an der 
Pfeife. 

Dann meinte er in ruhigerem Tone: „Ihr ſpielt 
wie die Kinder mit dem Feuer, ihr kennt den Fluß 
und ſeine Tücken nicht ſo wie ich. Dazu muß man ihn 
durch lange Jahre ſtudiert haben. Wartet's nur ab, 
bis eines Frühjahrs wieder die Chinookwinde zu blaſen 
beginnen und den hoch in den Bergſchluchten liegenden 
Schnee in einer Nacht ſchmelzen machen — zweimal 
hab' ich's ſchon miterlebt. Damm oder nicht, das bleibt 
ſich gleich! — Aber kommt mit hinaus, in der Stube 
wird mir's zu eng,“ unterbrach er ſich. 

Damit ging er, gefolgt von ſeinem Gaſte, ins Freie 
hinaus. 

Dort, wo der Grabhügel ſeiner Lebensgefährtin ſich 
türmte, ſtand eine Bank. Auf ihr ließ der alte Mann 
ſich nieder und bedeutete dem anderen, neben ihm 
Platz zu nehmen. 

„Hier ſitz' ich oft,“ begann der Rancher nach einer 
Weile. Er hatte ſeine kurze Pfeife ausgeraucht, nun 


D Novelle von Otto Hoecker. 107 


— man nn te 


klopfte er fie aus und ftedte fie in die Taſche. „Hit 
mir dann immer, als wär' meine Mary mir näher. 
Kurioſes Gefühl das, jemand plötzlich nicht mehr um 
ſich zu haben, der einem ſo notwendig wie die Luft zum 
Leben war. Ich ſeh' fie aber alle Tage, fie ſcheint 
immer vor mir zu ſtehen, zum Greifen nahe.“ 

„Ihre Gattin war Farmerstochter — nicht wahr?“ 
erkundigte ſich der Ingenieur mehr aus Höflichkeit als 
wirklich intereſſiert. 

Tom Dugan ſchüttelte den Kopf. „Sie war ein 
kleines Ladenmädel, meine Mary,“ hub er dann an, 
„hatte einen tüchtigen Schulſack und wollte Lehrerin 
werden. Aber dann ſtarb der Vater. Wie das ſo geht, 
ſie mußte ihre gelähmte Mutter ernähren und hungerte 
ſich mit ihr durch, bis wir uns fanden und heirateten. 
Anfänglich verdiente ich auskömmlich. Kann wohl ſagen, 
daß ich ein geſchickter Setzer war. Bis der große Brand 
halb Chicago verheerte und Hunderttauſende brotlos 
machte. Darunter auch mich. Nun ja, da fing das 
Hungern erſt recht an. Schwamm drüber! Eines Tages 
ſtanden wir völlig mittellos, unſer Kind war dahin— 
geſiecht, und auf der Suche nach einer Stelle, die ſich 
nicht finden laſſen wollte, lief ich Tag um Tag mit 
durchlöcherten Sohlen auf dem Straßenpflafter herum. 
Damals entſchloſſen wir uns, nach dem Welten aus- 
zuwandern — natürlich zu Fuß, denn Geld zum Fahren 
beſaßen wir keines. Was wir damals an Mühſalen 
zu ertragen hatten, das kann ich nicht beſchreiben. So 
was muß man ſelbſt durchlebt haben, um ſich einen 
Begriff davon zu machen, wie uns die Füße ſchmerzten. 
Als einen der ſchaurigſten Orte in der Hölle, wo Satan 
ſich am vergnüglichſten an den Leiden der ihm Ver- 
fallenen ergötzen mag, ſtelle ich mir einen ſteinigen, 
ſteilen Weg vor, über den die Verdammten mit wunden, 


108 Eigenland. 2 


blutenden Füßen wandern müſſen — immerzu und 
endlos wandern! Solch einen Weg gingen wir.“ 

Er ſeufzte tief auf, ſtützte den Kopf in die aufs Knie 
gelegten Hände und ſtarrte eine Weile ſchweigſam vor 
ſich hin. Dann deutete er hinauf zu den ſteilen Berg- 
höhen, die der Mond eben mit unirdiſchem Glanze 
umwob. a 

„Endlich kam der Tag, wo wir dort ſtanden und in 
dieſes Tal hinunterſchauen durften. Nach vierzig langen 
Monaten unſerer Wanderſchaft. Seitdem haben wir 
hier gelebt, zuerſt in einer Höhle, die wir entdeckten 
und wohnlich machten, bis wir unſer Haus erbauen 
konnten — nicht dieſes Haus, nein, das kam erſt im 
Laufe der Jahre. Dort hinter dem Hauſe, wo jetzt 
ein Milchkeller iſt, entdeckten wir eine Felshöhle, in ihr 
hauſten wir ein volles Jahr, dort wurde auch unſer 
Sohn geboren. Wie arbeiteten und ſchafften wir! 
Ganz allein auf uns angewieſen, ohne Erfahrung und 
Mittel. Nichts als eine Schaufel hatten wir zum An- 
fang — und unſere Hände. Dann lief uns eine ver- 
irrte Kuh mit ihrem Kalb zu, das war der Beginn unſerer 
heutigen Herden. Jeder Stein dort am Haus iſt von 
mir aus den Felſen geſchlagen, zurechtgehauen und 
gemauert worden. Meine Mary wanderte zwanzig 
Stunden weit, um die Ableger zu den ſchattigen Obſt— 
bäumen von heute vom nächſten Nachbarn zu holen. 
Das waren gute Leute, ſie ſchenkten uns ein Beil, etwas 
Bettzeug und Ausſaat, ſpäter noch ein halb Dutzend 
Hühner. Und ſo fingen wir an, ich mit der Schaufel, 
und Mary machte unſere Höhlenwohnung aus nichts 
zurecht, fertigte Betten aus Moos und Laub — und 
es ging. Eine Büchſe hatte ich ja, und ein guter Schütze 
war ich von jeher geweſen. Wild gab's genug, und der 
Fluß bot Fiſche im Überfluß.“ 


| Novelle von Otto Hoecker. 109 


Er hatte ſich immer wärmer geſprochen und ſeine 
Worte mit lebhaften Handbewegungen begleitet. 

„Ah, Fremder,“ meinte er nun, „ich kann Euch das 
Entzücken nicht ausmalen, das unſere Herzen erfüllte, 
als wir den erſten Mais aus dem Boden kommen ſahen. 
An einem Sonntagmorgen war's. Wie wir vom Früh- 
ſtück aufſtanden — damals hatte ich ſchon einen Tiſch 
und zwei Schemel zurechtgezimmert — da gingen wir 
Hand in Hand nach den Feldern. Mary ſah die Mais- 
halme zuerſt, wir hatten in regelmäßigen Reihen geſät, 
und aus den handgeformten Erdhügeln lugten ſpannen- 
lange blaßgrüne Hälmchen — und dann ſahen wir ſie 
Tag für Tag wachſen, keine Mutter konnte ſtolzer auf 
ihre Kinder ſein! Bis der Tag der erſten Ernte kam 
— das war ein Freudentag!“ 

Verſonnen ſchaute er um ſich, es war ihm anzu— 
ſehen, wie er im Geiſte in die Vergangenheit zurück- 
ſchaute und wieder durchzuleben meinte, was damals 
geſchehen war. 

„Ah, wie viel Glück wohnte gleich von Anbeginn 
mit uns hier im Tal! Da hatte ſich unter die erſte Mais- 
ausfaat ein fremdes Samenkorn verirrt. Als es aus 
dem Boden wuchs — drei kleine grüne Blättchen — 
wußten wir nicht, was es ſein konnte. Aber wir ließen's 
wachſen, ich häufelte hübſch die Erde ringsherum, und 
plötzlich begann's zu ranken. Da wußten wir freilich, 
was es war, eine Waſſermelone.“ Er lachte leiſe vor 
ſich hin. „Meiner Treu, ich glaube, ein Junge vergißt 
nie, wie man Obſt ſtiebitzen oder ſchwimmen muß — 
und Waſſermelonen ſchmecken ganz beſonders gut. 
Dreizehn kleine Melonen entwickelten ſich aus den 
Blüten, aber eines Nachts trampelte unſer Kalb dar- 
über, und vier davon wurden zerquetſcht. Heute weiß 
ich, daß es beſſer geweſen wäre, wenn's die anderen 


110 Eigenland. 2 


— un nn un nee nn 


neun zertreten und nur vier Fruchtanſätze verſchont 
hätte, weil nämlich der Stock ſo viele Früchte gar nicht 
reifen kann. Am erſten September war meiner Mary 
Geburtstag, und heimlich ſchlich ich mich in den Mais, 
der damals ſchon übermannshoch ſtand, und ſchaute 
nach den Melonen, denn ich wollte ihr doch ein kleines 
Angebinde geben. Dunkelgrün ſchimmerte die dickſte 
Frucht durch die Blätter. Ich klopfte gegen das Ge— 
häuſe, wurde aber nicht klug daraus, ob's den richtigen 
Reifellang gab. Da nahm ich mein Taſchenmeſſer zu 
Hilfe — und richtig, wie ich einen Kerb hineinſchnitt, 
zeigte ſich rotes, ſaftiges Fleiſch.“ Ordentlich behaglich 
lachte er vor ſich hin. „War das eine Freude damals! 
Meine Mary weinte vor Glück, als ich ihr die Melone 
brachte, die erſte köſtliche Frucht vom eigenen Land.“ 

Er hatte ſich erhoben und ſtand nun im Mondlicht 
in förmlich rieſenhaften Umriſſen vor Harland. 

„Vielleicht erzähl’ ich's Euch ein andermal aus- 
führlich, Fremder, wie wir aus einer Wüſtenei frucht- 
bares Land und allmählich Behagen um uns ſchufen. 
Aber ich wiederhole Euch, ich ſtehe auf eigenem Land, 
zu dem der Herrgott uns den Weg gewieſen hat. Auf 
dieſer Schwelle waltete mein Weib, unter ihren Füßen 
wurde jeder Fußbreit geſegneter Boden. Unter dieſen 
Steinen ſchläft ſie und ich“ — er richtete ſich ſtarr auf, 
und in ſeine Mienen kam ein drohender Ausdruck — 
„ich hüte ihren Schlaf, und wehe dem, ſei er hoch oder 
niedrig, der mich aus meinem Eigenen zu vertreiben 
unternimmt! Freiwillig weiche ich nicht — und braucht 
ihr Gewalt, ſo hat's die harte Not mich gelehrt, wie 
man mit Hausräubern und Friedensbrechern um- 
ſpringen muß. Meine Hand iſt ſicher, und meine Büchſe 
hat ihr Ziel noch niemals gefehlt!“ 

Ein Schauer beſchlich Gordon Harland, als er den 


u Novelle von Otto Hoecker. 111 


— — 


alten Mann nun mit lang ausgreifenden Schritten in 
der Richtung nach dem Viehkorral davonſchreiten ſah. 
Im flimmernden Mondlicht ſchien feine Geſtalt noch 
zu wachſen und übermenſchliche Formen anzunehmen, 
bis ſie endlich im vorſpringenden Mauerſchatten ver- 
ſchwand. 


2: 


Als Harland langſam zum Wohnhauſe zurückſchritt, 
erblickte er auf der Veranda die Rancherstochter, und 
artig ſchritt er auf ſie zu. Sie hatte einen Arm um den 
einen Verandaſtützbalken geſchlungen und ſtand ſo, daß 
der Mond wohl ihr dunkles Haar wie mit einer Gloriole 
umwob, aber ihre Geſichtszüge im Schatten blieben. 

„Kommt Ihnen ungewohnt bei uns vor — nicht 
wahr?“ ſprach ſie den Ingenieur an. 

„Es iſt wunderſchön hier oben,“ verſicherte er. „Der 
Bruder ſchon ſchlafen gegangen?“ 

„Bill iſt müde. Halten Sie meinen Bruder nicht 
für ungaſtlich, aber er iſt ſeit einer Woche kaum zum 
Schlafen gekommen.“ 

„Das war ihm nicht einmal anzumerken,“ meinte 
Harland. „Er verrichtete ja wahre Wunder an Geſchick- 
lichkeit im Laſſowerfen, und reiten kann er noch beſſer!“ 

Sie lachte fröhlich. „Kein Wunder, er treibt ja 
nichts anderes!“ 

Harland hatte ſich auf die oberſte Treppenſtufe ge- 
ſetzt. Zutraulich ließ ſie ſich nun neben ihm nieder, 
faltete die Hände im Schoße und ſchaute ihn unbe— 
fangen an. 

Sie ſchien etwas Beſonderes ſagen zu wollen, 
zögerte aber noch eine Weile, bevor ſie geradezu fragte: 
„Glauben auch Sie, daß Vater unſere Ranch an Ihre 
Geſellſchaft verkaufen muß?“ Dann, als er beſtätigend 


1 12 Eigenland. u 


nickte, verſicherte ſie lebhaft: „Das geſchieht freiwillig 
nie! Sie können eher jene Felsrieſen dort nieder- 
zwingen, als Vaters Sinn ändern.“ Seufzend ſchwieg 
ſie wieder, fragte aber bald darauf unvermittelt: „Wie 
lange wird's noch dauern, bis die Talſperre voll- 
endet iſt?“ 

„Ein Jahr wird bis dahin noch ſicher vergehen, 
vielleicht aber auch zwei oder gar drei Jahre.“ 

„Ein Jahr!“ Ein Seufzer kam über ihre Lippen. 
„Vielleicht nur noch ein Jahr und dann —“ 

Gedankenvoll ſtarrte ſie auf den in Dunkel gehüllten, 
wie unſichtbar vorüberrauſchenden Fluß und die da- 
hinter tintenſchwarz ſich ſtreckenden Lavafelſen. 

„Manchmal faßt mich erſchauernd die Frage an, 
was wohl von alledem das Ende ſein wird,“ fuhr ſie 
dann fort. „Dieſes Tal war immer unſer eigen. Mochte 
draußen in der Welt paſſieren, was da wollte, Handel 
und Wandel, Krieg oder Frieden kümmerten uns nicht, 
denn wir herrſchten auf der eigenen Scholle. Mag 
ſein, daß das geltende Geſetz Sie dazu berechtigt, uns 
von hier zu vertreiben; aber ein himmelſchreiendes 
Unrecht bleibt es darum doch, dieſes Stück Erden- 
paradies, das die Lebensarbeit meiner Eltern zu einem 
ſolchen gemacht hat, wieder zu vernichten. Ich kenne 
meinen Vater, ich liebe ihn und — und mir iſt bange 
um ihn. Indem Sie zerſtören, was er mühſam auf- 
gebaut hat, machen Sie ſein Leben wertlos, Sie merzen 
es aus dem Buch der Menſchheit aus — und ein ſolcher 
Gewaltakt läßt ſich mit einer Geldentſchädigung nicht 
ausgleichen.“ 

Sie war aufgeſtanden. 

„Es iſt ſchon ſpät geworden,“ äußerte ſie gelaſſen, 
„vielleicht iſt es Ihnen angenehm, wenn ich Ihnen jetzt 
Ihren Schlafraum anweiſe?“ 


D Novelle von Otto Hoecker. 113 


Harland wußte kaum, was er darauf antworten 
ſollte, ihm war eigentümlich zumute. Er hatte die 
Empfindung, als habe ſich etwas von dem, was in 
Emily Dugans Seele lebte, zu ihm verirrt, als würden 
nun das monderhellte Tal, die lampenbeſchienene 
Veranda, das ſchlafend liegende Haus von ihrer Gegen- 
wart und ihrem Empfinden geſättigt. Die ſpitzen Berg- 
konturen wandelten ſich zu Vorpoſten, die eiferſüchtig 
den Talfrieden bewachten, durch das Rauſchen der vom 
Nachtwind bewegten Baumkronen ging ein ihm un- 
freundliches Geraune, ſelbſt die mit ſüßem Duft er- 
füllte Luft ſchien in ihm den künftigen Zerſtörer zu 
wittern und ſich ihm darum feindlich ſchwer auf die 
Lungen zu legen. 

Dieſe Empfindung verließ ihn auch dann nicht, als 
er ſich in Emilys Stübchen, das ſie ihm die Nacht über 
abgetreten hatte, wiederfand. Es lag unmittelbar hinter 
dem Eßzimmer, war ſchlicht eingerichtet und enthielt 
nichts als ein ſchmales Bett, eine einfache Antleide- 
kommode und das übliche Moskitonetz rings um das 
Bett. Hinter einer Gardine aus buntem Zitzkattun hin- 
gen an der Wand einige Kleidungsſtücke und in fried- 
lichem Nebeneinander entdeckte er auf einem kleinen 
Wandgeſtell verſchiedene Bücher, einige Bände von 
Coopers Prärieerzählungen, daneben ein Lehrbuch der 
Algebra, ein populärer Wegweiſer durch die verſchie— 
denen philoſophiſchen Syſteme, die Weihnachtsnummer 
eines Frauenmagazins, eine kleine, abgegriffene Hand- 
bibel und eine nach Veilchen duftende Broſchüre über 
die „Kunſt, ſchön zu ſein“. 

In dem kleinen Raume war es heiß und dumpf. 
Eine geraume Weile lag Gordon Harland wach und 
mit offenen Sinnen lauſchte er auf die Nachtgeräuſche, 
das dumpfe Brüllen der Rinder, das e Fluß- 

1913. XII. 


114 eigenland. fe] 


gemurmel, den gelegentlichen Schrei eines Coyoten — 
das alles ſchien ſeinen Ohren, die an das auch bei Nacht 
nicht abebbende geräuſchvolle Großſtadtgetriebe ge- 
wöhnt waren, ebenſo ungewohnt wie unirdiſch geheim 
nisvoll. Es waren Klänge aus einer anderen Welt, 
von deren Exiſtenz er bisher keine Ahnung gehabt hatte, 
und die ihn nun bereits in ihren Bann zu ziehen ver- 
ſuchte. 

Schließlich litt es ihn nicht länger im engen Raum. 
Leiſe erhob er ſich, und unhörbar öffnete er die ins 
Eßzimmer führende Tür. An deſſen ihm entgegen- 
geſetzter Schmalwand war ein Fenſter eingelaſſen, es 
ſtand offen, und hell wie Mondlicht funkelten die Sterne 
ins Zimmer herein. Sie beleuchteten ein unter dem 
Fenſter befindliches altes Sofa und Emilys Angeſicht. 
Sie lag vollſtändig angekleidet mit im Schlafe halb- 
geöffneten Lippen, die Hände über der Bruſt zufammen- 
gelegt, und ſchlummerte friedlich. 

Behutſam zog ſich Harland wieder nach dem ihm 
zugewieſenen Raum zurück. Nun er ſich wieder nieder- 
legte, überkam ihn bald darauf der Schlaf. Erſt das 
Brüllen der Rinderherden weckte ihn wieder. Als er 
ſich im Bett aufrichtete, ſchien ihm die helle Sonne 
ins Geſicht. 

Im Eßzimmer befand ſich niemand, der Frühftüds- 
tiſch war ſchon abgeräumt, nur für ihn ſelbſt lag noch 
ein Gedeck auf — Schinken und Rauchfleiſch, ein halbes 
kaltes Huhn, daneben Kaffee, Wilch, goldgelbe Butter 
und Honig, ſelbſt ein Strauß friſchgepflückter Blumen 
fehlte nicht. 

Suchend trat Harland auf die Veranda. Die näm- 
liche gelbe Staubwolke, die er am Vortag vom Gipfel 
der Lavafelſen aus erſpäht gehabt, gewahrte er wieder, 
mindeſtens eine Meile talaufwärts. Obwohl es Sonn- 


1 Novelle von Otto Hoecker. 115 


— er rn 


tag war, tummelten ſich dort die Reiter, um dem Reit 
der noch nicht gezeichneten Jährlinge mit glühenden 
Brandeiſen und Meſſern die Ranchmarke aufzudrücken. 

Aber den Hof kam Emily auf die Veranda zu— 
geſchritten. Sie begrüßte Gordon ſchon von weitem 
mit kameradſchaftlichem Handwinken. Im linken Arm 
trug ſie ein rundes Körbchen, gefüllt mit vermutlich 
eben zuſammengeſuchten friſchgelegten Eiern. Wie ſie 
durch den Sonnenſchein näherkam, vermeinte Gordon 
noch nie zuvor ein ſolch anmutiges Geſchöpf erblickt zu 
haben. Raſſig, kerngeſund, kindlich naiv und wiederum 
ihren Jahren und ihrer Umgebung weit voraus, ihre 
taufriſche Schönheit noch gehoben durch das fürſorglich 
Mütterliche in ihrem ganzen Weſen. 

Als er ſie auf ſich zukommen ſah, glaubte Harland 
in die Vergangenheit zu ſchauen und ſtatt ihrer die 
Mutter, damals nicht minder jung und ſchön, dem 
verheißenen Lande an ihres Mannes Seite entgegen- 
wandern zu ſehen. 

Und da war es, als verſchleierte ſich ſein Blick, als 
ſchiene das Tagesgeſtirn nicht mehr ſo hell, als noch 
eben zuvor. Sein Blick wanderte zu dem ſteingetürmten 
Grabe der Mutter. Sie hatte ſich im Verein mit ihrem 
Manne eine eigene kleine Welt geſchaffen, aber die 
große Welt war hinter ihnen hergezogen, und ſie ſollte 
nun dort, wo ſie gelebt und ſegensreich gewirkt, nicht 
mehr ſchlafen dürfen — eines Tages würden braufende 
Waſſer in dieſem Talfrieden hochſteigen und alles darin 
Befindliche fortwaſchen, auch das Grab dort. Da gab 
es kein Entrinnen. Sein moderner Standpunkt ließ 
ihn aber kein Unrecht darin erkennen. Der einzelne 
muß fein Intereſſe der Allgemeinheit unterordnen, das 
iſt der Lauf der Dinge. Aber ſein ſeltſam beunruhigtes 
Herz weisſagte ihm, daß dieſe ſteilen Felshänge, die 


116 Eigenlanb. 


\ 
5 2 


heute eine im Sonnenſchein prangende liebliche Idylle 
umſpannten, auch Zeugen einer Tragödie ſein würden. 

Gleich nach eingenommenem Frühſtück brach der 
junge Ingenieur auf, und Emily gab ihm bis zum Außen- 
gatter das Geleit. Dann, als er ſich in den Sattel 
geſchwungen hatte und ihr die Hand nochmals reichte, 
ging ein neckiſches Lächeln durch ſeine ſonſt ernſten Züge. 

„Well,“ meinte er keck, „ich wünſchte wohl, Sie 
würden mir geſtatten, hier zuweilen Einkehr halten 
zu dürfen.“ 

Sie nickte freundlich. „Aber gewiß, wie Vater ſchon 
ſagte. Jeder muß ſeine Pflicht tun, Sie arbeiten gegen 
uns, aber darum können wir doch Freunde ſein. — 
Vielleicht,“ ſetzte ſie ſtockend hinzu, „hat Sie der Himmel 
zu uns geſchickt. Vater ſchien geſtern abend Gefallen 
an Ihrer Geſellſchaft zu finden. Ah, wenn man ihm's 
nur klar machen könnte, daß niemand gegen die Über- 
macht ankämpfen kann. Aber ich fürchte, ich fürchte —“ 

Sie ſprach nicht weiter, ſondern winkte zum Ab- 
ſchied, wendete ſich und ſchritt zurück. Erſt in einiger 
Entfernung ſchaute ſie ſich wieder nach ihm um. Als 
ſie ihn noch am gleichen Flecke halten ſah, wehte ſie 
mit dem CTaſchentuche. 

„Vater wird ſich freuen, wenn Sie wiederkommen,“ 
rief ſie. „Alſo auf Wiederſehen!“ 

„Auf baldiges Wiederſehen!“ gab er zurück. Sein 
Geſicht ſtrahlte vor Vergnügen. — 

Schon näherte ſich Gordon auf ſeinem Heimritte 
der zu den Talſperrbauten führenden breiten Landſtraße, 
als er vom Arbeiterlager her einen Reiter auf ſich zu- 
kommen ſah, in dem er bald darauf den jungen Dugan 
erkannte. Wie ſich alsbald herausſtellte, war Bill, wie 
allſonntäglich, zum Empfang der während der Woche 
eingelaufenen Poſt heruntergeritten. 


0 Novelle von Otto Hoeder. 117 


Schon aus einiger Entfernung winkte der Randher- 
ſohn ſeinem neuen Bekannten mit einem Briefe in 
der hochgeſtreckten Rechten zu. 

„Botſchaft von Vaters Anwalt! Wer weiß, vielleicht 
iſt eure Geſellſchaft zu Kreuze gekrochen,“ ſagte er lachend, 
als er neben Gordon ſeinen Gaul verſchnaufen ließ. 

Mit wehmütigem Lächeln wehrte der Ingenieur ab. 
„Die Entſcheidung über Ihren ſtillen Talwinkel iſt längſt 
gefallen und unwiderruflich. Dahin kommt unſer 
Hauptwaſſerreſervoir. So leid mir's auch tut, Ihres 
Vaters Lebenswerk zerſtören zu müſſen, ſo können und 
dürfen derartige ſentimentalen Anwandlungen doch nicht 
das Zuſtandekommen einer ſo wichtigen Kulturarbeit 
aufhalten.“ 

„Dann iſt's alſo unwiderruflich entſchieden, daß wir 
unſer Ränzel ſchnüren und uns trollen müſſen?“ fragte 
Bill mit verfinſterten Mienen. 

„Daran läßt ſich nichts mehr ändern,“ betonte Har- 
land und legte dem anderen freundſchaftlich die Hand 
auf den Arm. „Wenn Sie's wirklich gut mit Ihrem 
Vater meinen, fo reden Sie ihm zu, ſich in das unver- 
meidlich Gewordene zu fügen, zumal ihm ja auch gar 
nichts anderes zu tun übrig bleibt.“ 

Bill ſchob die Schultern hoch. „Ich wüßt' keinen 
Menſchen, der Vaters Sinn ändern könnte,“ meinte er 
dann niedergeſchlagen. „Die Mutter hätt's vielleicht 
fertig gebracht, aber die iſt lang ſchon tot — und muß 
Vater die Ranch hergeben, ſo iſt's auch ſein Tod. Es 
iſt hart für ihn wie für uns Geſchwiſter. — Doch nichts 
für ungut,“ brach er ab, „aber ich denk' darüber genau 
ſo wie der Vater auch. Nur daß ich jünger bin und es 
einſeh', daß in dieſer Welt nun einmal Gewalt vor 
Recht geht. Aber damit bleibt euer Waſſerwerk doch 
immer ein Verbrechen an uns Dugans.“ 


118 ‚&igenlanb. u 


Nach flüchtigem Handdrucke galoppierte er davon, 
und bald hielt er vor der Ranch. 

Mit einem Seufzer der Erleichterung trat er in die 
Küche, wo er ſeine Schweſter emſig beſchäftigt fand. 
Er ſetzte ſich, nahm den breitrandigen Filzhut vom 
Kopf und wiſchte ſich mit dem Handrücken den Schweiß 
von der Stirn. „Hab' Vater mit den Boys ganz oben 
erſpäht. Begreif' nicht, daß er's plötzlich ſo eilig hat. 
Früher gönnte er doch Menſch und Tier wenigſtens 
am Sonntag die wohlverdiente Ruh'.“ 

Seine Schweſter antwortete nichts darauf. Eine 
Weile hantierte fie am Herde, dann fragte fie: „Trafſt 
du unterwegs Mr. Harland?“ 

„Den neuen Ingenieur?“ fragte ihr Bruder un- 
intereſſiert zurück. „Ja, wir ſprachen ein paar Worte 
mit' nander. Scheint ſo weit 'n ganz netter Kerl zu 
fein. Haft du dich geſtern abend noch mit ihm unter- 
halten — eh?“ 

Ihm entging das flüchtige Erröten Emilys, die ſich 
eifriger als zuvor am Bratofen zu ſchaffen machte. 

„Er muß Vater gefallen haben, denn ſie plauderten 
eine lange Weile miteinander,“ äußerte ſie dann, ohne 
von ihrer Beſchäftigung aufzublicken. 

„Um ſo beſſer.“ Bill zuckte die Schultern. „Aber 
kurz oder lang muß ſich Vater doch mit der neuen 
Ordnung der Dinge abfinden, das hilft nun nichts. 
Ich hab' übrigens einen Brief für Vater mitgebracht. 
Von ſeinem Anwalt. Wollt' der Himmel, er hätt' den 
Wiſch ſchon geleſen, denn trifft ein ſolcher bei uns ein, 
gibt's immer acht Tage Regenwetter.“ 

„Vielleicht meldet der Anwalt Günſtiges,“ wendete 
Emily zagend ein. 

„Nicht daran zu denken. Der neue Ingenieur hat 
mir's auch dürr herausgeſagt, daß unſere Tage hier 


D Novelle von Otto Hoeder. 119 


oben gezählt ſeien. Wir müſſen den Vater 'rumkriegen, 
Emily; was ſoll ſonſt werden?“ 

Er hatte inzwiſchen den von ihm mitgebrachten 
Brief aus der Taſche gezogen und reichte ihn nun der 
Schweſter. 

„Am beſten gibſt du ihm den Brief, von dir nimmt 
er's noch am leichteſten.“ Dann ſeufzte er auf. „Lebte 
nur die Mutter noch!“ ſagte er niedergeſchlagen. „Sie 
hätt' den Vater ſicher 'rumgekriegt!“ 

„Vielleicht hilft ſie uns auch jetzt noch,“ ſagte da 
Emily ordentlich feierlich und faßte ihn bei der Hand. 
„Gerad' wie Vater werde auch ich das Gefühl nicht 
los, als weilte Mutter immer noch in unſerer Mitte 
und wir könnten ſie nur nicht ſehen.“ 

Eine Weile blieb es ſtill, dann hörten ſie draußen 
Pferdegetrappel. Hurtig wendete Bill ſich der Wohn- 
ſtubentür zu. 

„Du, ich mach' mich unſichtbar, bis Vater den Wiſch 
geleſen hat,“ ſagte er. „Gib du ihm den Brief, ich dien’ 
nicht gerne als Blitzableiter.“ 

Draußen klangen ſchon die ſporenklirrenden Schritte 
des alten Ranchers. 

Kaum war Bill hinter der Tür zum Eßzimmer ver— 
ſchwunden, trat ſein Vater auch ſchon in die Küche. 
Fragend irrten feine Blicke durch den Raum. 

„War's Bill, der vorhin gekommen iſt?“ erkundigte 
er ſich. „Ich ſah jemanden den Berg herunterreiten.“ 

„Ja, Bill kam vor einer Viertelſtunde,“ berichtete 
das Mädchen, indem es dem Vater ein Gefäß zum 
Waſchen bereitſtellte. „Iſt hier kühler, als vorn auf 
der Veranda, wo die Sonne niederbrennt — hier iſt 
auch 'n Handtuch, Vater.“ 

Der Rancher war ſchon dabei, das Hemd zu öffnen 
und Kopf und Nacken in dem erfriſchenden Naß zu 


120 Eigenland. | 


baden. „Wo ſteckt Bill denn?“ erkundigte er ſich dann, 
als er mit dem derben Handtuch Geſicht und Hals 
bearbeitete. „War was auf der Poſt?“ 

„Ja, Bill hat auch einen Brief für dich mitgebracht,“ 
ſagte das Mädchen. 

Tom Dugan ballte das Handtuch zu einem Knäuel 
zuſammen und warf es achtlos in die Ecke. „Laß ſchauen,“ 
meinte er und griff begierig nach dem Brief, den er 
weit von den Augen entfernt hielt. „Von dem Rechts- 
verdreher!“ brummte er, nachdem er die Adreſſe ent- 
ziffert hatte, mehr zu ſich ſelbſt gewendet. 

Ohne weiter auf die Tochter zu achten, trat er vor 
die Tür in den Sonnenſchein, öffnete dort den Brief 
und las ſeinen kurzen Inhalt bedächtig durch. Wie er 
dann wieder in die Küche zurückkam, waren ſeine Züge 
abſchreckend finſter geworden, und die Brauen hatten 
ſich drohend zuſammengezogen. 

„Keine guten Nachrichten, Vater?“ ſtammelte Emily. 

„Sie ſtecken alle unter einer Dede,“ rief der alte 
Mann, ohne auf ihre Frage Beſcheid zu geben. „Da 
knöpft mir dieſer Rechtsverdreher erſt Hunderte von 
Dollar ab, um zum Gouverneur zu fahren und ihm 
meine Not vorſtellen zu können, und nun hat er die 
Stirn, mir rundweg zu ſchreiben, daß gegen das Geſetz 
nichts auszurichten wäre und ich mich ins Unvermeid- 
liche ſchicken müßte. Rät mir zu einem Vergleich, der 
Tropf!“ Er lachte grimmig auf, ballte den Brief zu- 
ſammen und warf ihn ins Herdfeuer. „Das Geſchreibſel 
hätt' er ſich ebenſo ſparen können, wie ich mein Geld 
oder die Herren ſich das Hierherkommen. Nächſter 
Tage kommt nämlich eine Kommiſſion, um die Ent- 
ſchädigung feſtzuſetzen, jo ſchreibt der Anwalt wenig- 
ſtens. Sorg dafür, Emily, daß wir den Herren etwas 
vorzuſetzen haben, es ſoll keiner ſagen dürfen, daß er 


u Novelle von Otto Hoecker. 121 


die Dugan-Ranch unbewirtet verlaſſen mußte, ganz 
einerlei, was ihn zum Hierherkommen veranlaßt hat.“ 

Sie war auf ihn zugetreten. „Vielleicht machen 
dir die Herren einen ſo guten Vorſchlag, daß du ihn 
annehmen kannſt, Dad — ach, dann wären wir mit 
einem Schlage alle Sorgen los!“ 

Doch erſchrocken hielt ſie wieder inne, als ſie ſeinen 
Blick mit dräuendem Funkeln auf ſich gerichtet fühlte. 

Der alte Mann lachte mißklingend auf. „Viſt doch 
ſonſt 'n kluges Mädel, Emily, warum redeſt du jetzt 
ſolchen Unſinn?“ verwies er fie barſch. „Wenn mir 
die Bahngeſellſchaft meinen geſamten Grund und Boden 
mit funkelnden Goldſtücken belegen wollte, eines dicht 
neben dem anderen, ſo würd' ich ihr keinen Zollbreit 
davon abgeben. Es iſt mein Land, und es bleibt's 
auch, ſolang' ich noch einen Atemzug tun kann — ſtill, 
darüber brauchen wir uns nicht mehr zu unterhalten,“ 
lenkte er in freundlich klingendem Tone ein, als er 
helle Tränen in ihren Augen erblickte. „Oas iſt ein 
für allemal erledigt. Laß nur erſt wieder die Chinook- 
winde blaſen, dann wollen wir ſehen, wer ſein Bündel 
zu ſchnüren hat — ſie oder ich!“ 

Mit nachdrücklichem Nicken ſchritt er an der Tochter 
vorüber ins Wohnzimmer, wo er ſeinen Sohn vorfand. 
Bill ſchaute zum Fenſter hinaus und war anſcheinend 
in eine angelegentliche Betrachtung des jungen Pflan- 
zenwuchſes draußen im Gemüſegarten vertieft. 

„War en nichtsnutziger Brief, den du mitgebracht 
haſt, Bill,“ knurrte der Alte, indem er ſich vor ſeinem 
Tiſchplatz niederließ, beide Arme aufſtützte und das Kinn 
auf die zuſammengefalteten Hände legte. 

„Tut mir leid, Vater,“ gab der Sohn zurück und 
ließ ſich gleichfalls am Tiſche nieder. „Was hat der 
Anwalt eigentlich geſchrieben?“ 


122 Eigenland. a 


„Man will nun Ernſt machen und eine Kommiſſion 
heraufſchicken, die ſoll die Ranch abſchätzen und mir 
dann den Stuhl vor die Tür ſetzen.“ Dugan lachte 
grimmig auf. „Die Herren ſollen ſich verrechnet haben!“ 

Bill antwortete nicht gleich, ſondern ſchaute ſeiner 
Schweſter zu, die nun die dampfende Suppenſchüſſel, 
Braten und Kartoffelgemüſe auftrug. 

„Glaub's nicht, daß ſie ſich verrechnet haben,“ meinte 

er dann gedrückt. „Sie ſtellen immer mehr Arbeiter ein.“ 
„„ dieſe Maulwürfe!“ Der Rancher lachte gering- 
ſchätzig. 

In raſcher Aufeinanderfolge kamen die Cowboys, 
als erſter Onkel Joe, ins Zimmer und ließen ſich nach 
geräuſchvollem Zurechtrücken der Schemel und lang- 
anhaltendem Fußgeſcharr an ihren Plätzen nieder, um 
ſich alsdann mit wahrer Wolfsgier an das Auslöffeln 
der lecker duftenden Brühe zu machen. 

Emily eilte ab und zu und ſchenkte den Schmaufen- 
den nach Bedarf Apfelwein ſtatt des an Wochentagen 
üblichen Waſſers in die bauchigen Gläſer. Sonſt hörte 
man nur Schmatzen und ſah allenthalben geſchäftig 
kauende Kinnbacken. Erſt als der Rancher mit dem 
Austeilen des Bratens begann, unterbrach Bill das 
feierliche Stillſchweigen. 

„Ich hab' heut früh einen Umweg hinauf nach den 
Dammbauten gemacht, Vater,“ äußerte er zögernd. 
„Du müßteſt auch einmal hinaufreiten und dich um- 
ſehen. Das iſt keine Maulwurfsarbeit mehr, Vater, 
ſondern was ſie dort zuſammengebaut haben, ſcheint 
für die Ewigkeit errichtet zu ſein. Ich ſah hunderte in 
die Lavafelſen geſprengte Kanäle, ein ganzes Neb- 
werk, das ſich durch Meilen hinzieht und die Bergwände 
an die zweitaufend Fuß bis hinunter zur Talſperre 
bedeckt. Ich hab' mir auch erklären laſſen, wie all dieſe 


u Novelle von Otto Hoecker. 123 


Kanäle miteinander verbunden ſind. Es bedarf nur 
eines Hebelrucks, dann ſchließen ſich die Schleuſen und 
ebenſo leicht können ſie geöffnet werden. Es iſt ein 
Wunderwerk, Vater, und kein Chinookwind kann Schnee 
genug ſchmelzen, um all dieſe Abzugskanäle zum Über- 
laufen zu bringen. Aber uns nehmen ſie, ſobald die 
Stauwerke betrieben werden, den letzten Tropfen 
Waſſer fort. Das währt, ſobald ſie Ernſt machen, keinen 
Tag, dann haben wir hier im Tal nicht länger mehr 
einen Fluß und ebenſowenig mehr Weiden oder Trank- 
ſtätten — das ganze Gebirge wird zur waſſerloſen 
Wüſtenei, damit ſie um ſo mehr davon fürs Tal zur 
Verfügung haben.“ 

Der Rancher antwortete nur mit einem gering- 
ſchätzigen Achſelzucken. 

„Sie machen uns trocken, ſag' ich dir,“ fuhr Bill 
fort, „das iſt noch der günſtigſte Fall. Aber unten im 
Lager ſprechen ſie von nichts anderem, als daß die 
Dammbauten um volle zehn Fuß höher gebaut und 
die Sammelwaſſer ſogar auch in unſer Tal geleitet 
werden ſollen. Kommt's dazu, fo erſäufen fie uns wie 
Ratten.“ 

Tom Ougan lachte verächtlich. „Laß ſie's verſuchen 
— — es gibt noch Recht auf Erden! Hilft ſelbſt der 
Gouverneur dazu, daß mein heiliges Recht gebeugt 
wird, ſo gibt es noch Richter in Waſhington.“ Er ſchlug 
mit der flachen Hand hart auf die Tiſchplatte. „In 
alle Welt will ich's hinausſchreien, welch himmel- 
ſchreiendes Unrecht fie mir antun wollen! Ich war 
nicht umſonſt einmal Schriftſetzer, ich kenne die Macht 
der öffentlichen Meinung — und wir leben in einem 
freien Land, wo keiner, auch der niedrigſte und ärmſte 
nicht, bedrückt oder gar ruiniert werden darf!“ 

Er hatte ſich immer wärmer geſprochen, und als 


124 Eigenland. u 


er Joe vergnüglich vor ſich hinlächeln ſah, unterbrach 
er ſich ſtirnrunzelnd. 

„Könnteſt auch was Geſcheiteres tun, du alter Hans- 
narr, als ſo blödſinnig grinſen!“ zürnte er. „Aber 
du haft nichts im Kopf wie deine Schnurren!“ Un- 
gehalten legte er ihm einige Rieſenſchnitte Braten auf 
den Teller. „Stopf dir lieber den Mund!“ 

Jedoch der alte Cowboy lachte noch immer. „Wenn 
ich hier Boß wäre,“ ſagte er dann, „ſo ließ ich mich 
auszahlen, denn wenn ich auch mein Lebtag für Waſſer 
nicht viel Verwendung gehabt hab', ſo muß doch das 
Rindvieh Waſſer zum Saufen haben. Warum? Eben 
weil's Vieh iſt. Uns Menſchen aber hat der Himmel 
nicht nur was Stärkeres, ſondern auch Verſtand ge- 
geben. Warum? Damit wir 'n brauchen follen — 
und was ich von Grüße im Schädel hab', mag nicht 
der Red’ wert fein, aber es ſagt mir, daß man mit 
dem Kopf nicht durch die Wand rennen und Vieh nicht 
auf waſſerloſer Wüſte halten kann.“ 

Einen Augenblick duckte ſich Joe, denn der Rancher, 
deſſen Züge immer düſterer geworden waren, hatte 
den vor ihm liegenden großen Brotlaib mit einer Be- 
wegung, als wollte er ihn als Wurfgeſchoß benützen, 
ergriffen. Doch ließ er den Laib wieder ſinken, erhob 
ſich und ging, ohne ein Wort zu ſagen oder jemand 
dabei anzuſehen, in eee Haltung aus dem 
Zimmer. 

Wie er aus dem Hauſe trat, da eilte er mit immer 
ſchnelleren Schritten durch den glühenden Sonnenbrand 
nach jenem vertrauten Winkel, wo ſeine Lebensgefährtin 
unter den Steinen ſchlief. 

Dort ſetzte er ſich auf die Bank und verharrte eine 
lange Weile regungslos. Nur in feinen Zügen arbeitete 
es gewaltig. Dann prägte ſich in ihnen hilfloſe Ver- 


2 Novelle von Otto Hoecker. 125 


zweiflung aus, und er faltete die ſchwieligen Hände 
über den Grabſteinen. 

„Mutter, ſo hilf mir doch, denn ich weiß nimmer 
aus noch ein!“ kam es gebrochen von ſeinen Lippen. 
„Selbſt die Kinder ſind im Herzen gegen mich — und 
was ſoll ich gegen die Gewalt ausrichten? Aber ich 
kann nicht von der Scholle weichen, denn das wär’ 
ſchlimmer, als nie gelebt zu haben, Mutter! Aber wie 
ſoll ich unſer heiliges Recht behaupten, wenn du mir 
nicht hilfft, Mutter?“ 

Aber der verzweifelte Mann vernahm nur ſeine 
eigenen rauhen, halb gebrochenen Laute. 


3. 


Als Tom Dugan eines Nachmittags mit ſorgen- 
voller Miene am Wohnzimmerfenſter ſtand, hörte er 
draußen Hufſchlag und ſah gleich darauf eine kleine 
Reitergruppe herangeſprengt kommen. Hurtig trat er 
durch die Verbindungstür in die Küche und wendete 
ſich an ſeine dort beſchäftigte Tochter. 

„Es find die Gerichtsherren, Em'ly,“ ſagte er gleich- 
gültig. „Oer neue Ingenieur iſt auch dabei. Die Leute 
werden hungrig ſein, ſchau zu, daß du was Ordentliches 
vorſetzen kannſt.“ 

Ohne auf ihre Antwort zu warten, durchſchritt er 
wieder das Wohnzimmer und begab ſich zum Empfang 
ſeiner Beſucher auf den Hof hinaus. Dort kam er gerade 
zurecht, als die vier Kommiſſions mitglieder von ihren 
Pferden ſtiegen. Bis auf Gordon Harland handelte 
es ſich um lauter ihm unbekannte Geſichter, Beamte 
vom Bundesdienſt, die ihr Abſchätzerberuf durch alle 
Staaten der Union führte. 

Die gegenſeitige Begrüßung fiel ganz freundfchaft- 
lich aus. Der Rancher reichte in ſeiner ſchlichten Art 


126 Eigenland. u 


ſeinen Beſuchern der Reihe nach die Hand und äußerte 
einige Worte des Willkomms, die der Obmann der 
Kommiſſion, ein korpulenter Fünfziger, obwohl er mit 
dem Schweißabtrocknen nicht fertig werden konnte, in 
jovialer Weiſe erwiderte. 

„Well, unter uns gejagt, in dieſem Lavaloch be- 
kommt man 'nen gelinden Vorgeſchmack von den uns 
im Senfeits erwartenden Freuden,“ meinte er unter 
geräuſchvollem Lachen. „Wirklich, Mann, hier oben iſt's 
unvernünftig heiß, auf dem Ritt hierher bin ich ſchier 
geſchmolzen! — Recht ſo,“ unterbrach er ſich, als Joe 
die Pferde in den Hausſtall zu führen Miene machte, 
„reibt ſie tüchtig ab, aber gebt ihnen nicht zu ſaufen, 
ehe ſie nicht völlig abgekühlt ſind.“ 

Joe lachte verſchmitzt, der Rancher aber ſchob die 
Schultern hoch und ſchaute plötzlich wieder ernſthaft 
darein. 

„Angſtigt Euch nicht nutzlos, Herr,“ ſagte er. „Was 

Eure Gäule hier oben bei uns zu ſaufen bekommen 
werden, läßt ſich mit Fingerhüten ausmeſſen. Ihr habt 
dafür geſorgt, daß Waſſer bei uns koſtbar iſt.“ 

„O weh!“ Der Dicke puſtete. „Da hätten wir 
uns vorſehen müſſen! — Donnerwetter, ſprechen Sie 
im Ernſt, Mann? — Ich hab' 'nen Durft wie 'n Heu- 
pferd, und wenn ich auch ſonſt nicht gerade für Waſſer 
ſchwärme —? 

„Für die Herren iſt geſorgt,“ beſchwichtigte Dugan 
ſeine Bedenken. „In meinem Felſenkeller hält ſich 
der Apfelwein eiskalt, und der mundet beſſer als Waſſer,“ 
ſetzte er mit einem Verſuch zum Scherzen hinzu. „Ihr 
ſollt nicht durſten müſſen. Aber um die Kreatur iſt's 
ſchlimm beſtellt.“ Vorwurfsvoll ſuchte ſein Blick Gordon. 
„Solange ich hier oben hauſe, verſiegte der Strom zum 
erſten Male völlig in dieſem Sommer. Und nicht nur 


2 Novelle von Otto Hoecker. 127 


hier im Tal, ſondern auch droben in den Bergen, wo 
es früher immer Waſſer im Überfluß gab, ſickern die 
Quellen nur noch ſpärlich — ich hab' kurzerhand den 
größten Teil meines Viehbeſtandes losſchlagen müſſen, 
wollt' ich die Kühe nicht elend umkommen laſſen. Ja, 
ja, ihr Herren, ſtatt vierzehn Cowboys, wie noch vor 
wenigen Wochen, beſchäftige ich ihrer nur noch drei — 
und dieſe haben kaum zu tun. Sagt ſelbſt, was hat 
Euch die arme Kreatur getan?“ 

„Sie brauchte wahrlich nicht zu leiden, wenn Ihr 
Euch ins Unvermeidliche ſchicken wolltet,“ äußerte nun 
Gordon, indem er den Rancher überredend beim Arme 
faßte. „Ihr ſolltet einlenken, ſo lange es noch Zeit 
für Euch iſt, Eure eigenen Bedingungen zu machen. 
Schon um Eurer Kinder willen ſolltet Ihr die Euch 
zu freundſchaftlicher Verſtändigung gebotene Hand nicht 
zurückweiſen. Der eigene Verſtand ſollte Euch doch 
ſagen müſſen, daß man mit dem Kopf nicht durch die 
Wand rennen kann. Mögt Ihr nun wollen oder nicht, 
ſo müßt Ihr Euch den unabwendbaren Tatſachen 8 
fügen lernen.“ 

„Wollen's abwarten,“ entgegnete der Rancher db 
weiſend. „Alle fünf oder ſechs Jahre blaſen die Chinoof- 
winde. Im nächſten Frühjahr ſind ſie ungefähr wieder 
fällig. Haben fie geblaſen, wollen wir weiter mit' nander 
ſprechen.“ 

Dann wurden ſeine Mienen wieder jovial, und er 
wendete ſich an die peinlich berührt ſtehenden Kom- 
miſſionsmitglieder. 

„Nichts für ungut, ihr Herren. Vor allen Dingen 
werden Sie hungrig und durſtig ſein — und was euch 
auch ſonſt zu mir geführt haben mag, darum iſt 
mein Tiſch doch für euch gedeckt. Wenn's alſo ge⸗ 
fällig iſt?“ | > 


128 Eigenland. 2 


— mn nn 


Einladend wies er mit der Hand nach dem Haus 
und ſchritt als erſter dorthin voran. 

Umſonſt hatte Gordon ſich bisher nach Emily um- 
geſchaut. All die langen Wochen über hatte er faſt 
täglich einen Ausflugsritt nach der Ranch geplant ge- 
habt, doch die Fülle der von ihm zu bewältigenden 
Berufs arbeiten hatte ihn nicht dazu kommen laſſen. 
Nun war er doppelt ungeduldig, das liebliche Mädchen, 
das auf ihn bei ihrer erſten Begegnung einen ſo tiefen 
Eindruck gemacht gehabt, wiederſehen zu dürfen. Da 
er ſich des rückwärtigen Eingangs durch die Küche er- 
innerte, ſo ſchloß er ſich den die vordere Veranda 
Paſſierenden nicht an, ſondern umſchritt das Haus. 

Wie die in reger Tätigkeit am Herd Beſchäftigte 
ihn unvermutet im Rahmen der rückwärtigen Küchen- 
tür auftauchen ſah, erglühte fie dunkel. Einen Augen- 
blick ſäumte fie in hilfloſer Verlegenheit. Dann wiſchte 
ſie hurtig die Hand an der Schürze ab und trat mit 
ſchnell wiedergewonnener Faſſung und einem freund- 
lichen Lächeln um die Lippen auf ihn zu. 

„Willkommen bei uns,“ ſagte ſie einfach. 

Sie kam nicht dazu, mehr zu äußern. Kaum daß 
ſie ihm die Hand eine Sekunde überlaſſen konnte. Ihr 
Vater hatte die Verbindungstür zum Wohnzimmer halb 
geöffnet und nickte ihr nun auffordernd zu. 

„Spute dich, Em'ly, die Herren ſind hungrig. Ich 
will inzwiſchen Zider aus dem Keller holen und dann 
den Tiſch decken.“ 

„Kann das nicht Bill beſorgen — oder iſt er mit 
Joe nicht nach Hauſe gekommen?“ fragte das Mädchen 
zurück. 

„Nein, er hat noch oben in den Bergen zu tun 
und kommt ſchwerlich vor Abend heim. In fünfzehn 
Meilen Entfernung fanden wir die erſte Waſſerlache. 


D Novelle von Otto Hoeder. 129 


— Wollt Ihr nicht eintreten, Herr?“ wendete er 
ſich fragend an den Ingenieur. 

„Ich wollte Miß Emily raſch guten Tag ſagen,“ 
erklärte Gordon. „Aber darf ich Euch behilflich ſein? 
Aufs Abzapfen verſteh' ich mich, denn mein alter Herr 
wußte einen guten Tropfen zu ſchätzen, ſo mäßig es 
auch bei uns zuging — und Tiſch decken kann ich nicht 
minder.“ 

„Werd' ſchon allein fertig, Herr,“ beſchied ihn ab- 
lehnend der Rancher. „Vielleicht aber kann Euch Em'ly 
brauchen. Laßt Euch von ihr eine Schürze umbinden.“ 
Er lachte kurz auf. „Ich decke nur für ſechs, die fünf 
Beſucher und mich. Joe kann hier draußen eſſen, man 
iſt ohnehin vor ſeinem Schwatzmaul nie ſicher,“ ſagte 
er noch beim Verlaſſen der Küche. 

„Darf ich Ihnen wirklich helfen?“ erkundigte ſich 
Gordon, kaum daß die Schritte des Alten verhallt waren. 
„Ob ich's auch kann? — Oho, Fräulein Emily, unter- 
ſchätzen Sie meine Künſte nicht. Als Student war ich 
meiner Beefſteaks wegen berühmt — Sie wiſſen ja, 
erſt muß die Butter braun werden, dann mit ihr immer 
übergießen und 'ne Handvoll Zwiebeln in die Pfanne, 
wenn man die Fleiſchſchnitte umdreht, dann werden ſie 
ſchön ſaftig und goldbraun.“ 

Nun mußte ſie doch lachen, ſie war gerade dabei, 
gevierteilte Hühner am Spieße zu braten, und duldete 
es gern, daß Harland ſie ablöſte. 

„Wahrhaftig, Sie ſtellen ſich ganz geſchickt an!“ 
erkannte ſie an, nun eifrig mit Salatanmachen beſchäftigt. 
„Die Herren müſſen heute ſchon fürlieb nehmen, da 
ſie unangemeldet gekommen ſind.“ 

„Die Kommiſſion wurde aufgehalten,“ erläuterte 
der Ingenieur, der mit wirklicher Sachkenntnis den 
Bratſpieß über den lohenden Holzſcheiten drehte. „Ich 

1918. XII. 9 


150 Eigenland. e 


ſelbſt wäre ſchon ein dutzendmal gerne heraufgekommen. 
Aber Sie glauben gar nicht, was unſereiner alles zu 
tun hat — übrigens, mach' ich's auch recht?“ unterbrach 
er ſich, „die Dinger fangen an, etwas ſehr dunkel zu 
werden!“ 

Sie ſtieß einen leichten Schrei aus, denn ſie kam 
gerade noch zur rechten Zeit, um die Hühner vor dem 
Verbrennen zu bewahren. 

Natürlich wollte es Emily nicht zugeben, daß Gordon 
ihr auch beim Auftragen der Speiſen half, aber er hatte 
ſchon die Schüſſel mit den Hühnern darauf ergriffen 
und trug fie lachend ins Eßzimmer zu den dort harren- 
den Kommiſſionsmitgliedern, die ihn mit lautem Hallo 
empfingen. 

Die Mahlzeit verging unter angeregtem Geplauder. 
Der ſtarke Zider übte eine belebende Wirkung aus. Bald 
merkte man es auch dem alten Rancher, der zuſehends 
auftaute, nicht mehr an, daß in ihm das niederdrückende 
Bewußtſein lebte, wie die um ſeinen gaſtlich gedeckten 
Tiſch verſammelten Männer das Verdammungsurteil 
über ſein Lebenswerk zu ſprechen berufen waren. Er 
plauderte von dem und jenem und gab auf die ein- 
geſtreuten Fragen ſeiner Gäſte willig Beſcheid. 

Der Obmann probte bei jedem neuen Glaſe den 
ihm vorgeſetzten Zider, roch daran, ſchmeckte und ſchüttelte 
mit wachſendem Mißtrauen den Kopf. „Das Weinchen 
hat's in ſich,“ meinte er anerkennend. „Wüßte ich nicht, 
daß Ihr uns Apfelwein vorgeſetzt habt, ſo würde ich 
von den erhitzten Köpfen meiner Kollegen ſchließen, 
daß wir den ſtärkſten Rheinwein tränken.“ 

Tom Dugan lachte und nötigte wieder zum Aus- 
trinken. „Well, Herr,“ ſagte er nedend, „vergeßt fein 
den eigenen Kopf nicht, denn der glüht auch wie ſanftes 
Abendrot.“ 


2 Novelle von Otto Hoeder. 131 


Nun lachte natürlich die Tafelrunde beluſtigt auf 
Koſten des Obmanns. 

Der Rancher aber ſchwenkte den Reſt in ſeinem 
Glaſe. „Es iſt wirklich ein trinkbarer Tropfen,“ fuhr 
er bedächtig fort, „jetzt bald dreijährig und durchs Lagern 
edel geworden — übrigens Euer Vergleich mit Rhein- 
wein hinkt nicht, nur daß der Zider hier wohl noch 
ſtärker iſt. Sonſt miſch' ich ihn mit Waſſer, aber das 
iſt unerſchwinglich geworden, ihr Herren wißt ja, 
warum,“ ſchloß er, in ſeinen gewohnten Ernſt zurück- 
fallend. 

Aber feine Beſucher waren in viel zu angeregte 
Stimmung geraten, als daß ſie auf ſeine zunehmende 
Schweigſamkeit geachtet hätten. Die Ausgelaſſenheit 
wuchs noch, als Gordon von dem ſelbſtgezogenen Rauch- 
tabake zu ſprechen begann und in den Kommiſſions- 
mitgliedern den Wunſch nach einem Verſuche rege 
machte. 

Dann freilich, als man die kurzen Pfeifen in Brand 
geſetzt hatte, prägte ſich in den verſchiedenen Mienen 
ſchmerzliches Erſtaunen aus und einer nach dem anderen 
ließ die Pfeife wieder ausgehen. Man holte ſchleunigſt 
Zigarren zum Erſatz hervor. Auch Tom Dugan, der 
nicht länger auf das Treiben ſeiner Gäſte achtete, zündete 
ſich rein mechaniſch die ihm gebotene Regalia an. Aber 
nur, um ſie nach wenigen Zügen mit einem leichten 
Erſchauern zur Seite zu legen und ſich die Pfeife mit 
ſeinem ſelbſtgezogenen Tabak zu füllen. 

„Hoffentlich ſeid ihr Herren beſſer als euer nichts 
nutziges Kraut,“ meinte er, ohne Notiz von der Ver- 
blüffung, die ſeine Worte bei den Gäſten hervorrief, 
zu nehmen. „Das iſt der echte Stoff!“ — ſtolz ſchlug 
er auf den Steintopf, deſſen Inhalt Gordon Harland 
ſchon bei feinem erſten Beſuche unüberwindliche Ab— 


- 


152 Eigenland. Oo 


neigung eingeflößt hatte — „und zum Abſchiedstrunk 
ſollt ihr ein Glas von meinem ſelbſtgebrauten Vier 
vorgeſetzt bekommen — mehr nicht, denn der Vorrat 
iſt bald erſchöpft und zum Brauen fehlt's an Waſſer.“ 

Nach Tiſche willigte der Rancher ein, die Kommiſſion 
auf ihrem Rundritte durch ſein Gebiet zu begleiten. 

Von dieſem Umritt ſchloß ſich Gordon Harland aus; 
ihn reizte es mehr, inzwiſchen Emily Geſellſchaft zu 
leiſten. Das mußte freilich in der Küche geſchehen, wo 
ſie wieder eifrig tätig war. 

Als Gordon fie Anſtalten zum Geſchirrwaſchen tref- 
fen ſah, wollte er ihr auch dieſe Arbeit durchaus ab- 
nehmen. Aber davon wollte ſie nichts wiſſen; nicht 
einmal beim Abtrocknen ſollte er ihr helfen dürfen. 

„Aber wir Jungen mußten im Elternhauſe feſt mit 
anfaſſen,“ erklärte er. „Vater ging uns ſelbſt mit gutem 
Beiſpiel voran und meinte, wir könnten uns nicht früh 
genug auf unſere Pflichten als zukünftige Ehemänner 
vorbereiten. Wir trugen Kohlen, putzten Fenſter, klopf— 
ten die Teppiche, weil das keine Arbeiten für eine auf 
Selbſtachtung haltende Lady ſeien, wie unſer Dienſt— 
mädchen ſo ſchön zu ſagen pflegte.“ 

„Hier oben bei uns muß man umlernen,“ verſuchte 
Emily auf ſeinen ſcherzenden Ton einzugehen. „Man 
darf das Waſſer nur tropfenweiſe verbrauchen. Seit- 
dem unſer Ziehbrunnen täglich nur noch drei Eimer 
voll hergibt, wird das Geſchirrſpülen zur halben Wiſſen⸗ 
ſchaft.“ 

Das ſollte luſtig klingen, aber es zitterte viel geheime 
Wehmut durch ihre Worte. 

Mitleidig ſah Harland fie an, wie fie nun mit auf- 
geſchürzten Armeln an der Spülbank ſtand und flink 
den vor ihr hochgehäuften Berg von Schüſſeln und 
Tellern zu reinigen begann. Manches liebe Wort, mit 


o Novelle von Otto Hoecker. 133 


dem er fie gerne getröftet hätte, ſchwebte ihm auf der 
Zunge; aber er unterdrückte es. Sie hatte fo viel eigenen 
Sonnenſchein im Herzen und war ſo kerngeſund in 
ihren Anſichten und Meinungen, daß ſie keines fremden 
Troſtes bedurfte. 

„Well, es geht alles vorüber und an geſegneten 
Gegenden mit Waſſerüberfluß iſt hier im Weſten kein 
Mangel,“ äußerte er leichthin. „Ihr Vater wird ſchon 
mit ſich reden laſſen. Schließlich iſt er doch ein einfichts- 
voller Mann, der begreifen muß, daß man auf die 
Dauer gegen die Übermacht nicht ankämpfen kann.“ 

Er glaubte ſelbſt nicht an das, was er ſagte, und 
ihr Seufzer bewies ihm, daß fie darin mit ihm über- 
einſtimmte. Geſchickt änderte er darum das verfäng— 
liche Geſpräch und kam auf die ungeheuerliche Hitze 
und die ſchweren Gewitter zu fprechen, die er wäh- 
rend feiner kurzen Anweſenheit ſchon hatte mitmachen 
müſſen. 

„Wir New Yorker glauben, Hitze und Unwetter ganz 
für uns allein gepachtet zu haben; kommt man aber 
hierher nach dem Weſten, ſo ändert man ſeine Anſicht,“ 
meinte er, trotz ihrer Einwendungen eifrig dabei, Ge— 
ſchirr und Beſtecke abzutrocknen. „Das ſchickt ſich nicht 
für mich, meinen Sie? — Well, ich tu’s gern — am 
liebſten möcht' ich's immer für Sie tun, Miß Emily,“ 
platzte er heraus und errötete dann womöglich noch 
mehr als fie. „Wirklich,“ ſuchte er unſicher ein- 
zulenken, „es iſt eine Abwechſlung nach dem ewigen 
Einerlei. Man bekommt ja in der Lavawüſte keinen 
vernünftigen Menſchen zu ſehen. — So, da wären wir 
ſchon fertig,“ unterbrach er ſich fröhlich, als die Schüſſeln 
und Teller, Gläſer und Beſtecke wieder auf den ver- 
ſchiedenen Simſen, Wandbrettern und in den Schränken 
untergebracht worden waren. „Womit beginnen wir 


134 Eigenland. 2 


nun? Etwa Kaffeekochen? Das verſteh' ich nämlich 
ebenfalls vortrefflich.“ 

„Tut mir leid, aber zum Kaffeekochen braucht man 
Waſſer.“ Sie lachte. „Sie glauben gar nicht, wie wir 
uns damit einſchränken müſſen! Ich ſchäme mich, wie 
die Fenſter ausſehen. Aber was ſoll man machen? 
Bei dieſer ſchrecklichen Trockenheit gehen die Regen- 
fäſſer aus den Fugen. — Sind Sie müde und wollen 
Sie ruhen?“ fragte ſie unvermittelt. 

„Erwarten Sie von mir dieſelbe Frage?“ erkundigte 
er ſich lachend. „Ich bin friſch und munter.“ 

„Dann begleiten Sie mich vielleicht auf einem 
kurzen Ritt? Darin beſteht nämlich mein tägliches Ver 
gnügen. Nach dem Abwaſchen hab' ich zwei Stunden 
für mich — Vater dürfte mit den Herren ſchwerlich 
früher zurück ſein. Ich vermute, daß die Kommiſſion 
gleichzeitig auch die Kanalläufe oben in den Bergen 
zu beſichtigen wünſcht?“ 

„Erraten!“ ſtimmte Gordon bei. „Hoffentlich pro- 
fitiert Ihr Vater von dieſem Anſchauungsunterricht.“ 
Als ſie nur wehmütig den Kopf ſchüttelte, ſetzte er eifrig 
hinzu: „Nichts für ungut, aber ich verſtehe die Hart— 
näckigkeit Ihres Vaters wirklich nicht. Zugegeben, dieſer 
Fleck Erde hier mag ihm durch Erinnerung und An- 
gewöhnung teuer geworden ſein. Aber man wird ihm 
doch eine bedeutende Summe als Entſchädigung bieten, 
mehr als genügend, um ſich damit in ungleich wert- 
vollerer Bodenlage damit ankaufen zu können. Er 
müßte doch auch an die Zukunft ſeiner Kinder denken 
— nehmen Sie mir's nicht übel, Fräulein Emily, aber 
ich werde die Vorſtellung nicht los, als nützte Sie Ihr 
Vater aus.“ 

„Nein — o nein!“ verwahrte ſie ſich ganz entſetzt. 
„Wir haben unſeren Vater lieb, könnten uns ohne ihn 


2 Novelle von Otto Hoecker. 135 


gar nicht das Leben denken. Es war ſchon hart genug 
für uns, als wir die Mutter hergeben mußten. Nun 
ſind wir ihm doppelt notwendig!“ 

Sie hatten inzwiſchen das Haus verlaſſen. 

Der alte Joe ſattelte auf Emilys Wunſch bereitwillig 
die beiden Pferde, und als ſeine Begleitung dankend 
zurückgewieſen worden war, ſchmunzelte er gar viel- 
ſagend hinter ihnen her, als fie nun im Zuckeltrab neben- 
einander das Tal hinaufſteuerten. 

„Mag fein, wir Dugans hängen deshalb fo anein- 
ander, weil wir nie in Verkehr mit anderen Menſchen 
traten, ſondern immer allein auf uns angewieſen 
waren,“ nahm das Mädchen den Geſprächsfaden unter- 
wegs wieder auf. „Daraus entſtand mehr als bloße 
Familiengemeinſchaft. Wir ſind einander im Laufe 
der Zeit unentbehrlich geworden. Nun gar der Vater, 
der überhaupt nur auf der Herzensſeite geht.“ 

Harland ſchaute ſie zweifelnd an. 

„Ja, das tut er,“ beteuerte ſie. „Seine Rauheit 
iſt nur äußerlich. Freilich, er gerät leicht in Zorn, aber 
ich meine, das iſt bei gutherzigen Menſchen zumeiſt 
der Fall. Mutters Heimgang hat ihn getroffen wie 
der Blitz die knorrige Eiche. Ihr Tod hinterließ in 
ſeinem Herzen eine klaffende Wunde, die ſich nimmer 
ſchließen kann. Dann kamen die Sorgen dazu.“ 

Ihre Stimme hatte immer unſicherer geklungen, 
nun ſchwieg ſie eine ganze Weile. 

„Nein, wir bringen unſerem Vater kein Opfer,“ 
fuhr ſie dann leiſe und in erſichtlicher Befangenheit 
wieder fort, „es beglückt uns, um ihn ſein und ihm 
ſein hartes Los erleichtern zu dürfen. Aber wir können 
ja ſo wenig tun. Zu unſerem Untergang ſcheint ſich 
alles verſchworen zu haben — aber nein, das ſollen 
Sie nicht ſo tragiſch auffaſſen, es entfuhr mir nur ſo,“ 


136 Eigenland. 1 


rief ſie und wie abbittend ſtreckte ſie die Hand nach 
ihm aus. — „Ich will Ihnen jetzt mein Lieblings- 
plätzchen zeigen. Es kennen's nicht viele, wir müſſen 
auch ein gut Teil klettern. Aber daran ſind Sie bei 
den New Vorker Wolkenkratzern ja ſicherlich gewöhnt,“ 
ſchloß ſie ſcherzend. 

| Gern ging er auf ihren Ton ein. „Mit der größten 
Leichtigkeit und fabelhaft ſchnell erklimme ich die höchſten 
Gebäude — natürlich im Fahrſtuhl. Ich befürchte nur, 
daß ein ſolcher ſchwerlich zu Ihrem Lieblingsplätzchen 
hinaufführen dürfte.“ 

„Um ſo lohnender iſt die Ausſicht, die ich Ihnen 
oben verſprechen kann, zumal wir heute klare Luft 
haben.“ 

Schweigend trabten fie eine Weile den Weg ent- 
lang. Dann hielt Emily mit kurzem Zügelrude ihr 
Pferd an. 

„Am beſten ſteigen wir hier ab,“ meinte ſie, indem 
ſie zugleich auf eine Art Gemſenpfad deutete, der an 
der ſteilen Felswand in vielgewundenem Zickzackwege 
bis zum Gipfel hochführte. 

Gordon war ihrem Beiſpiele gefolgt. Nun ſchaute 
er mit dem Ausdrucke komiſcher Verzweiflung in den 
Mienen zu dem in ſchwindelnder Höhe über ihnen ſich 
türmenden Felsgipfel hinauf. 

„Da hinauf ſollen wir klettern?“ rief er und rang 
die Hände. „Wenn der Himmel wenigſtens Einſicht 
haben und uns ein Luftſchiff beſorgen wollte, wenn 
ſchon kein Lift vorhanden iſt!“ 

„Es geht auch ſo, man muß nur ein wenig Aus- 
dauer und vor allem den guten Willen dazu haben,“ 
antwortete fie in gleich ſcherzhaftem Tone. 

„Sollte ſich Ihr Vater eigentlich ins Stammbuch 
ſchreiben,“ konnte ſich Harland zu bemerken nicht ent- 


Novelle von Otto Hoeder. 137 


halten, ſetzte aber raſch einlenkend hinzu, als er ihren 
heiteren Geſichtsausdruck ſich verdüſtern ſah, „das fuhr 
auch mir nur ſo heraus. — Aber im Ernſt geſprochen, 
Miß Emily, ich gebe wirklich die Hoffnung nicht auf, 
daß ſich zu guter Letzt alle Mißklänge noch in Wohl- 
gefallen auflöſen werden.“ 

„Nein, nein — nicht bei uns!“ 

Das klang herb, und ihr Mienenſpiel war noch ernſter 
geworden. Doch nur wenige Sekunden hielt ihre Nieder- 
geſchlagenheit an, dann ſiegte wieder ihre natürliche 
Heiterkeit. 

„Laſſen wir all die Alltagsſorgen hinter uns — ich 
habe Ihnen verſprochen, Sie zu meinem Lieblings- 
plätzchen zu führen. Alſo vorwärts.“ 

„Bereits hatte ſie um einen vor Jahren vom Blitz 
zerſchmetterten Baumſtamm den Pferdezügel gewun- 
den, und Gordon Harland folgte ihrem Beiſpiele. 

Unter Lachen und Scherzen ging es nunmehr den 
Gemſenpfad hinauf, ſie ihrem Begleiter immer um ein 
halb Dutzend Schritte voraus. 

Leichtfüßig und dabei ſo ſicher ſich bewegend, als 
ſchritte fie über einen glattgebohnten Stubenboden da- 
hin, ſchwang ſich Emily von einem Halt zum nädhit- 
höheren. Harland dagegen fiel das Klettern trotz ſeiner 
turneriſchen Gewandtheit recht ſchwer. Zuweilen mußte 
er ſich krampfhaft an vorſpringenden Felsecken feſthalten, 
um nicht ins Rutſchen zu kommen. Dabei rieſelte ihm 
der Schweiß reichlich von der Stirn und blendete ihm 
zuweilen ſogar den Blick. 

Alle dieſe kleinen Widerwärtigkeiten vermochten aber 
nicht in ihm das Hochgefühl zu erſticken, das die Gegen- 
wart des lieben Mädchens in ihm ausgelöſt hatte. Nicht 
müde wurde er, ihre graziöſen Bewegungen zu be- 
wundern. Antilopenartig überwand ſie die ſteilſten 


138 Eigenland. ao 


—— — nn 


Stellen, die er nur mit geſchloſſenen Augen zu nehmen 
wagte, um nicht einem tückiſchen Schwindelanfall zu 
erliegen und von dem zuweilen kaum fußbreiten Pfade 
in die Tiefe abzuſtürzen. 

Während Gordon noch mit dem letzten Wegviertel 
zu kämpfen hatte und immer häufiger ſich ruhen und 
verſchnaufen mußte, erreichte ihn vom Gipfel her ſchon 
ihr froher, jauchzender Zuruf. 

„Da wären wir oben! Oh, die Ausſicht iſt prächtig, 
noch viel ſchöner und klarer, als ich gedacht hatte,“ ver- 
ſicherte ſie. „Kommen Sie nur ſchnell, Mr. Harland! 
Schade um jede Minute, die wir uns hier oben ver- 
kürzen müſſen!“ 

Als Gordon kurz darauf den ſchmalen Felsgrat, der 
ihnen kaum ausreichend Platz zum Nebeneinanderſtehen 
darbot, gleichfalls erreicht hatte, mußte er ſich not- 
gedrungen erſt den Schweiß aus den Augen wiſchen 
und herzhaft Atem ſchöpfen, ehe er an eine Bewunde- 
rung des zu ihren Füßen ſich ausbreitenden großartigen 
Landſchaftsbildes gelangen konnte. 

Dann freilich entrang auch ihm ſich ein Ausruf des 
Entzückens. 

Eine ganze Welt ſchien ſich vor ihnen zu entrollen. 
Wohin ihr Blick auch ſchweifen mochte, ſchien er ins 
Unermeßliche zu reichen. 

Sonnenglanz ringsum. Kein Wölkchen trübte die 
wunderbare Himmelsbläue. Heilige, unentweihte Stille, 
der etwas Unirdiſches anhaftete. Von dieſer luftigen 
Höhe aus geſehen, wohnte der einförmigen Talwüſte, die 
ſich in ihrer ganzen Ausdehnung den Blicken der beiden 
darbot, etwas poetiſch Verklärtes inne. Ein ſanfter 
Wind ſtrich über die graugrün ſchimmernde Ebene und 
verwandelte ſie in eine mäßig bewegte See, deren breite 
Wogen ſich in der Unendlichkeit zu verlieren ſchienen. 


Novelle von Otto Hoeder. 139 


Emily hatte für ihren Begleiter einen Feldſtecher 
mitgebracht. Sie ſelbſt bedurfte keiner künſtlichen Nach- 
hilfe. Wie ſie zu ihren Worten erläuternd bald dahin, 
bald dorthin deutete, erſchaute fie mit bloßem Blicke 
Dinge, die ihr Begleiter ſelbſt durch das ſcharfe Fern 
glas nur nach eifrigem Suchen zu entdecken vermochte. 

„Sehen Sie ganz in der Ferne das dünne Rauch- 
wölkchen — kerzengerade ſteigt es zum Himmel empor? 
Well, dort wohnt ein guter Freund meines Bruders 
— er hat ſich erſt vor wenigen Wochen verheiratet. 
Ich hatte mir ſchon immer einmal vorgenommen, ſeine 
junge Frau zu beſuchen. Aber wie das nun einmal ſo 
geht, vor lauter guten Vorſätzen kommt man nicht zur 
Ausführung,“ ſchloß ſie unter ſchelmiſchem Auflachen. 

„Sie ſollten ſich wirklich Zeit zur Erholung laſſen. 
Aber dafür find Sie eben ein viel zu gutes Hausmütter- 
chen, Miß Emily,“ ſagte Gordon mit einem bewun- 
dernden Blicke auf ſie. „Ich habe tagtäglich an Sie 
und Ihr trautes, geſchäftiges Walten denken müſſen — 
wahrhaftig, das habe ich getan. Jammerſchade iſt es, 
daß Sie Ihr junges Leben in dieſer Einſamkeit ver- 
bringen und all den Freuden und Genüſſen, die die 
Welt auch Ihnen zu bieten hat, entſagen müſſen!“ 

Ganz erſtaunt ſah ſie ihn an. „Und das ſagen Sie 
mir hier an dieſer Stelle?“ gab fie mit leichtem Kopf- 
ſchütteln zurück. „Kann es ein ſchöneres Leben geben, 
als wir es bisher in unſerem ſtillen, friedlichen Tale 
führen durften? Kann die laute Welt draußen reinere 
Genüſſe bieten, als etwa hier dieſe Ausſicht? Man 
fühlt ſich hier dem Himmel ſo unmittelbar nahe und 
verwandt — ich will nicht ſagen, daß man ſich darum 
beſſer als andere Menſchen dünkt, die im Staub des 
Alltags dahinleben müſſen, aber man kommt ſich wie 
auserwählt vor. — Da, ſchauen Sie dorthin,“ unter- 


140 Eigenland. a 


brach fie ſich plötzlich und deutete mit der weitaus- 
geſtreckten Rechten nach der entgegengeſetzten Richtung, 
wo ſich ſchwarze Rieſenflecke mißtönig von dem farben- 
frohen Gepränge des ſonnenheiteren Landſchaftsbildes 
abhoben. „Das dort iſt der Alltag, wie Ihre Welt 
ihn uns zu leben zwingt — und den haben Sie uns 
in unſere friedvolle Abgeſchiedenheit gebracht!“ 

Harland antwortete nicht gleich. Durch das Fern- 
glas ſchaute er nach der ihm bezeichneten Richtung. 
Tief in die Bergfelſen eingebettet, lagen dort die ſich 
bis zum Tal hinabziehenden flachen Wohn- und Schlaf- 
ſchuppen der Minenarbeiter. Bei ſchärferem Zuſchauen 
vermochte er ſogar feine eigene unweit des Schlucht- 
ausganges auf vorgeſchobenem niedrigen Felshügel ſich 
erhebende Hütte zu erkennen. In den Fenſterſcheiben 
blitzte der Sonnenſchein, und dieſes Funkeln erinnerte 
Gordon — warum eigentlich, darüber wußte er ſich 
ſelbſt keine Rechenſchaft zu geben — an das ernit- 
mahnende Licht eines rings von brüllender Flut um- 
tobten Leuchtturms. 

„Die ganze Schlucht ſieht beinahe wie ein aus— 
getrocknetes Strombett aus,“ bemerkte er zu ſeiner 
Begleiterin. „Mit einiger Phantaſie kann man ſie ſich 
mit ſchäumenden Wogen gefüllt vorſtellen.“ 

„Dazu bedarf es keiner ſonderlichen Einbildungs- 
kraft, denn ich ſelbſt habe ſchon den zur verheerenden 
Hochflut angewachſenen Fluß ſeine gewaltigen Waſſer- 
maſſen durch die Schlucht wälzen ſehen,“ gab Emily 
zurück. „Zum Glück macht der Fluß nur ſelten von 
ſeinem Vorrecht, ſich derart ungebührlich zu benehmen, 
Gebrauch.“ 

Nebeneinander hatten ſie auf einem Felsvorſprung 
Platz genommen, und während Gordon nicht müde 
wurde, das wunderbare Landſchaftsbild tief unter feinen 


u Novelle von Otto Hoecker. 141 


— 


Füßen immer von neuem wieder anzuſtaunen, kam er 
ins Erzählen, berichtete von feiner eigenen, in der Groß- 
ſtadt verbrachten Jugend, deren ſeltenen Lichtpunkten, 
und ſchilderte ſchließlich den nachhaltig tiefen Eindruck, 
den die ihn nunmehr umgebende großartige Gebirgs- 
welt auf ihn ausübte. 

Auch Emily erzählte in ſchlichter Weiſe von ihrem 
Daſein. Darüber verging der Nachmittag, ohne daß 
ſie es gemerkt hätten. Sie kamen aus dem Hundertſten 
ins Tauſendſte, fühlten ſich einander ſo vertraut, als 
ob ſie nicht erſt zum zweiten Male nebeneinanderſäßen, 
und plauderten, bis Emily plötzlich mit einem kurzen 
Ausruf der Beſtürzung aufſprang und ins Tal, wo ihre 
Pferde weideten, hinunterdeutete. 

„Dort kommt Vater mit den Kommiſſionsherren 
ſchon zurück. Wir müſſen uns ſputen, wenn wir ſie 
noch unterwegs einholen wollen.“ 

Mit einem halben Seufzer erhob ſich Gordon. 

„Na, Miß Emily, das wird 'n nettes Abſtiegver— 
gnügen geben. Sollte ich Hals über Kopf an Ihnen 
vorübergeflogen kommen, fo wünſchen Sie mir glüd- 
liche Reiſe,“ ſcherzte er nicht ganz aufrichtig. 

Sie lachte nur zu ſeinen Bedenken, die ſich zu ſeiner 
großen Erleichterung auch wirklich unbegründet er— 
wieſen, da der Abſtieg ungleich leichter als zuvor der 
Aufſtieg von ſtatten ging. 


* * 
K* 


„Macht was ihr wollt, ihr Herren,“ erklärte der 
Rancher bei der Verabſchiedung, „aber wenn ihr auch 
alles Geld in der Welt für mich hinterlegen wolltet, 
ſo würdet ihr meinen Entſchluß dadurch doch nicht be— 
einfluſſen können. Ich hab's ſchwarz auf weiß bewieſen, 
daß ich von der Regierung mein Land auf ewige Zeiten, 


142 Eigenland. 2 


wie es in den Schriftſätzen ausdrücklich angegeben ſteht, 
gekauft habe, und zwar ſchon vor dreißig Jahren, als 
die Mehrzahl von euch Herren noch die Schulbank 
drückte — und ihr bildet euch wohl ſelbſt nicht ein, daß 
ihr durch einen Machtſpruch mein beſiegeltes Recht 
ungültig machen könnt. Zum letzten Male alſo, ihr 
Herren: mein Ranch iſt mir nicht feil. Mag ſein, daß 
ich euch nicht daran hindern kann, mich zum Bettler 
zu machen, mein Vieh zugrunde zu richten, mir den 
letzten Tropfen Waſſer zu rauben. Aber es gibt keine 
Macht in der Welt, die mich von meinem Grund und 
Boden vertreiben kann. Damit Gott befohlen, ihr 
Herren!“ 

Auf Gordon Harlands Bitten hatte Emily ein- 
gewilligt, ihnen bis zur Wegſcheide, wo der Gerpen- 
tinenpfad ſich hochzog, das Geleit zu geben. 

Natürlich wußte er es einzurichten, daß er mit ſeiner 
Begleiterin bald hinter den eifrig miteinander debattie- 
renden Kommiſſionsmitgliedern zurückblieb. Er hatte 
die Empfindung, als müßte er, bevor er wieder im 
Werkeltagsſtaube untertauchte, mit jeder Minute, die 
er noch in Emilys Geſellſchaft zubringen durfte, geizen. 
So viele ſchöne und begehrenswerte Mädchen er auch 
im Oſten kennen gelernt, keines davon hatte ſein Herz 
in ſolch ſtürmiſche Schwingungen zu verſetzen vermocht 
als das liebe, ſchlichte Naturkind mit feinem kamerad- 
ſchaftlich vertrauten, von jeglicher berechneten Koketterie 
meilenweit entfernten herzlichen Weſen. 

„Darf ich bald einmal wiederkommen?“ fragte er, 
als vor ihnen zur Rechten die ſich zur Berghöhe hoch- 
ziehende ftaubige Wegſpur auftauchte. 

Sie lächelte befangen. „Was könnte Sie in unſere 
Einſamkeit ziehen,“ fagte fie mit abgewendetem Geſicht. 

„Die Ausſicht oben an Ihrem Lieblingsplätzchen 


2 Novelle von Otto Hoeder. 143 


hat mir's angetan, Miß Emily,“ raunte er ihr ins Ohr, 
um das ſich wirr die braunen Löckchen kräuſelten, und 
er bedurfte ſeiner geſamten Willenskraft, um ſie nicht 
darauf zu küſſen. „Werden Sie mir geſtatten, demnächſt 
wieder die Ausſicht zu bewundern?“ 

„Dazu bedarf es doch keiner Erlaubnis,“ entgegnete 
ſie und wurde unvernünftig rot dabei. 

„Ja, es iſt nur — hm, ja“ — er räuſperte ſich ver- 
legen — „wegen meiner Kurzſichtigkeit. Ich komme 
ohne ein Fernglas nicht zurecht — und ich höre Sie 
jo gerne die Gegend erklären. Da kann man ſich fo 
vorzüglich orientieren. Hm ja, Miß Em' ly — was ich 
ſagen wollte! Könnten Sie's nicht ſo einrichten, daß 
wir vielleicht nächſte Woche — oder übermorgen — 
hm, am beſten paßte es mir eigentlich ſchon morgen,“ 
verbeſſerte er ſich haſtig, „ein Stündchen abkommen 
könnten? Es war doch zu reizend heute nachmit- 
tag!“ 

Als er ihr tiefes Erröten gewahrte, wurde er ſelbſt 
bis unter die Haarwurzeln rot und ſchwieg hilflos, ſo 
redegewandt er all den glänzenden Damen ſeiner Be- 
kanntſchaft gegenüber ſich immer erwieſen hatte. 

„Hallo, kommen Sie mit oder nicht?“ hörte er ſich 
anrufen. | 

Es war der Obmann, der mit feinen Begleitern 
ſchon in den Bergpfad eingebogen war und nun auch 
Emily einen letzten Abſchiedsgruß zurief. 

„Ich muß umkehren,“ ſtammelte das Mädchen und 
wollte ihm verwirrt die Hand entziehen. 

Aber er hielt ſie feſt. „Sie haben mir noch keine 
Antwort gegeben, Miß Emily,“ drang er in fie. „Wer- 
den wir uns morgen treffen?“ 

„Aber — warum denn ſchon fo bald wieder?“ ent- 
fuhr es ihr zaghaft. 


144 Eigenland. a 


Als fie dann feinem bittenden Blicke begegnete, 
erglühte fie wieder. 

„Vielleicht!“ hauchte fie, warf ihr Maultier herum 
und galoppierte nach der Ranch zurück, ohne ſich auch 
nur ein einziges Mal umzuſchauen. — 

Als Emily in den Hofraum zwiſchen Wohnhaus und 
Stallgebäuden geſprengt kam, ſah fie ihren Vater ge- 
dankenverloren auf den Stufen der Vorderveranda 
ſitzen. 

Tom Dugan hörte das Geräuſch der Hufſchläge nicht, 
und ebenſowenig achtete er auf ſeine Tochter, als dieſe 
mit dem Pferd am Zügel nach dem Hausſtall ſchritt. 

Erſt als Emily über den Hof zurückkehrte, vor ihm 
ſtehen blieb und ihm die Hand auf die Schulter legte, 
fuhr er aus tiefem Sinnen auf und ſtarrte ſie verſtört an. 

Eine ganze Weile dauerte es, bis er ſich darauf 
beſinnen konnte, wer eigentlich vor ihm ſtand. ö 

„Ich hab' gedacht, es wär' deine Mutter — Kind,“ 
ſagte er dann mit ſeltſam zitterig klingender Stimme. 
„Es iſt ſchier unheimlich, wie ähnlich du ihr ſiehſt!“ 

Sie ſetzte ſich neben ihn, nahm feine zögernd wider- 
ſtrebende Hand und drückte ſie innig. „Ach, Vater, ich 
wollte wohl, ich hätte etwas von Mutters gutem Ein- 
fluß auf dich geerbt. Ich möcht' dir ja ſo gerne zur 
Seite ſtehen, Vater, wenn ich nur ein Wort zu erdenken 
wüßte, überzeugend genug, um dich zu einer Sinnes- 
änderung bewegen zu können.“ 

Er ſchaute ſie von der Seite an, und mit kurzem 
Ruck entzog er ihr dann die Hand und rückte etwas 
von ihr ab. „Bläſt auch du ins gleiche Horn?“ fragte 
er fie barſch. „Fſt's nicht ſchon ſchlimm genug, wenn 
die Welt Unfrieden zu mir hereinbringt, muß mein 
eigen Fleiſch und Blut ſich wider mich empören?“ 

Das Mädchen ließ ſich durch feine bitteren Bemer— 


2 Novelle von Otto Boecker. 145 


kungen nicht abſchrecken. „Du kennſt die Welt beſſer 
als ich, Vater,“ ſuchte ſie ihn zu beſänftigen, „aber an 
deinen Kindern brauchſt du niemals irre werden.“ 

„Ach, ſchweig mir von eurer Kindesliebe!“ brauſte 
er ungehalten auf, als ſie mit tränenſchimmernden 
Augen zu ihm aufſchaute und er aus ihren Blicken einen 
unausgeſprochenen Vorwurf zu leſen glaubte. „Kinder 
hat man nur fo lange, als man ihnen Wohltaten er- 
weiſen kann. Sind ſie noch klein, muß man ſie mit 
Süßigkeiten kirren, fühlen ſie ſich groß, ihnen demütig 
zu Willen ſein — oder man verliert ſeine Kinder. 
Meinſt du, ich könnt' in deiner Seele nicht leſen? Hoho, 
der Tag wird kommen, wo du leichtherzig in deines 
Mannes Welt gehen wirſt.“ 

Sie wurde rot und blaß, fuhr mit der Hand nach 
dem Herzen, wollte reden und ſchwieg doch wie ſchuld— 
bewußt wieder. 

„Es könnt' doch alles ſo ganz anders ſein, Vater,“ 
begann fie endlich nach einer Weile bedrückenden Still- 
ſchweigens in zagendem Tone. „Sieh, die Leute meinen 
es wirklich gut mit uns. Mr. Harland ſagte erſt vorhin 
noch beim Abſchied, daß du mit der dir zur Verfügung 
geſtellten Abfindung dich überall ankaufen könnteſt, 
falls du nicht von den Kapitalzinſen leben wollteſt.“ 

„Ich bin kein Faulenzer, der die Hände in den 
Schoß legt,“ knurrte er. „Solange mein Tag ſcheint, 
rühr' ich mich.“ 

Unter hervorſtrömenden Tränen faßte fie trotz feines 
Widerſtrebens ſeine beiden Hände. „Vater, mach dieſem 
ſchrecklichen Zuſtande ein Ende!“ flehte ſie mit von 
Schluchzen halberſtickter Stimme. „Lebte unſere gute 
Mutter noch, fie wäre die erſte, die dir riete, nachzu- 
geben.“ 

Er fuhr nach ihr herum und ſtarrte fie an. „Lebte 

1918, XII. 10 


146 Eigenland. a 


deine Mutter noch, dann wär' freilich alles anders,“ 
ſagte er aufſeufzend. „Sie brauchte nur ein Wort zu 
ſagen, und ich griffe zum Wanderſtab. Was gält' mir 
hier das Land, ſo teuer es unſer Fleiß auch erkauft 
haben mag. Überall ift Gottes Erde, und weihte fie 
deiner Mutter Fuß und ſtände ſie, die mir mehr als 
Leben und Ewigkeit geweſen iſt, wieder neben mir — 
bettelarm wollt’ ich von dannen gehen, den Staub von 
meinen Füßen ſchuͤtteln und mit friſcher Kraft anderswo 
wieder anfangen. Könnt' ich für deine Mutter ſchaffen 
und ſie mit mir nehmen — Kind, alle Mühſal ſollte 
mir Seligkeit bereiten, denn durch deine Mutter erſt 
wurde das Land hier meine Heimat — und weil ſie 
hier in der Erde ſchläft, darum kann ich auch vom Boden 
nicht laſſen und keine Macht auf Erden kann mich von 
ihm vertreiben!“ | 

Aufſtöhnend barg er das Geſicht in beide Hände. 
Er ſpürte es kaum, wie ſich ſeine Tochter an ihn ſchmiegte 
und erſt nach einer Weile hörte er wieder, was ſie zu 
ihm ſprach. 

„Aber es muß doch ſein!“ ſtellte ſie ihm vor. „Du 
kannſt nicht gegen das Geſetz ankämpfen, das iſt un- 
möglich — man wird uns ſchließlich mit Gewalt ver- 
treiben.“ 

Er nickte kurz. „Mag ſein.“ 

„Ach, Vater, es weht doch überall Gottes Odem, 
und wohin wir auch gehen mögen, im Geiſte geht 
unſere tote Mutter mit uns.“ 

Er ſeufzte, ſtrich ſich mit der Hand langſam über 
das Geſicht und ſchüttelte dann den Kopf. „Kind, du 
kannſt mich nicht verſtehen,“ ſagte er dumpf. „Mein 
Leben hat nicht die Aufeinanderfolge von Tagen und 
Nächten, Wochen, Monaten und Fahren ausgemacht, 
ſondern was in ihm wertvoll war, das ging von deiner 


2 Novelle von Otto Hoecker. 147 


Mutter aus. Sie war mein guter Engel — und Gott 
weiß, wie bettelarm er mich hat werden laſſen, als er 
ſie von mir nahm.“ 

Er faßte Emily bei der Hand und führte ſie vor 
das Grab. Schweratmend legte er dort die Hand auf 
die Steine. 

„Wie ſoll ich dir nur erklären, Kind, was mich an 
unſere Scholle bannt,“ begann er leiſe. „Denn hier 
iſt deine Mutter für mich nicht tot — nicht einmal fern 
iſt ſie, ſondern ſie wandert auf Schritt und Tritt mit 
mir, jeder Fußbreit Erde erinnert mich an fie, ich brauch 
nur die Augen zu ſchließen, dann ſeh' ich ſie wieder 
vor mir, wie fie Blumen gepflanzt oder Unkraut ge- 
jätet hat, hör' ihre Stimme wieder, vertraut und lieb, 
denn ſo ſehr die Arbeit auch drängen mochte und wie 
unermüdlich fleißig ſie auch ſchaffte, für ein gutes Wort 
zu mir gebrach ihr's nie an Zeit. Die innige Gemein- 
ſchaft mit deiner Mutter, die ich immer um mich weiß, 
wenn ich mit meinen Sinnen ſie auch nicht ſehen und 
fühlen kann, hält mich ganz allein noch auf Erden. 
Darum kann ich von der Scholle nicht fort, denn ginge 
ich in die Welt hinaus, ſo ginge deine Mutter nicht mit 
mir — und ich hab' ſie notwendig, deine Mutter,“ 
ſchrie er auf. „Ich könnt' mir das Leben denken, ohne 
atmen zu müſſen, aber nur einen Tag lang weiter leben 
zu ſollen, ohne deine Mutter um mich zu wiſſen, ſie 
treulos allein und unbeſchützt auf der Stätte ſchlafen 
zu laſſen, wo wir miteinander glücklich waren, hofften, 
ſtrebten und aufbauten, wo um uns das Glück lebendig 
zu werden begann — nein, ich wiederhol' es dir, Kind, 
ſcheiden von dieſem Grab, das kann ich nicht!“ | 

Ein dumpfer, halberſtickter Laut entrang fich feinen 
Lippen. Nicht länger ſeiner ſelbſt mächtig, warf er 
ſich über die rauhen Steine. 


148 Eigenland. 2 


4. 


Hatten die Bewohner der Duganranch früher ſchon 
die Mahlzeiten in gemeſſenem Stillſchweigen einge- 
nommen, fo herrſchte nun meiſt eine trübſelige Kirch- 
hofſtimmung bei Tiſche. 

Als Joe ſich eines Morgens wieder wortlos vom 
Frühſtückstiſche erhoben hatte und, wie gewöhnlich, mit 
ſtampfenden Schritten der Ausgangstür zuſchritt, blieb 
er nahe dieſer ſtehen und kehrte ſich nach dem Rancher 
um, der bereits wieder die abgegriffene Hausbibel zur 
Hand genommen hatte und ſich mit ihr gerade in den 
Lehnſtuhl neben dem Fenſter ſetzen wollte. 

„Werd' mich demnächſt verändern müſſen, Boß,“ 
meinte er kurz. 

Tom Dugan hatte gerade die Brille aufſetzen wollen. 
Nun ließ er die Hand mit den Gläſern auf den ihm 
im Schoße liegenden Band herabſinken und ſchaute den 
alten Cowboy, der in langen Jahren enger Zuſammen- 
gehörigkeit förmlich zu einem Inventarſtück der Ranch 
geworden war, ſcharf an. „Gehen willſt du? Hab' 
ich dir's an etwas fehlen laſſen? Schmeckt dir's Eſſen 
nicht mehr? Oder zahl' ich dir zu wenig?“ 

Joe wehrte mit beiden Händen ab. „Gerad' das 
Gegenteil. Ich werd' fürs Faulenzen bezahlt. Nicht 
das Salz in der Suppe verdien’ ich mehr. Das wurmt 
mich, Boß. Komm mir wie 'n Bummler vor, der Euch 
das Geld aus der Taſche ſtiehlt.“ 

Nun lachte Tom Dugan kurz auf. „Sieh einmal 
an, unſer alter Joe hat ſein Gewiſſen entdeckt!“ Dann 
wurde er ſchnell wieder ernſt. „Wenn das deine ganzen 
Bedenken ſind, dann bleib' nur ruhig — falls du Luſt 
dazu haſt. Sonſt geh, ich zwing' keinen Menſchen zum 
Bleiben.“ | 


2 Novelle von Otto Hoecker. 149 


Joe kraute ſich hinterm Ohr, trat von einem Fuß 
auf den anderen und wiegte unmutig den Kopf. „Wer 
ſpricht davon! Ihr ſolltet's am beſten wiſſen, daß ich 
am liebſten bliebe. Bin ich hier nicht daheim? An 
Eurer Behandlung liegt's nicht. Sie iſt ſo, daß ich 
mir einbilden könnte, ſelbſt Boß zu ſein.“ 

„Nun alſo!“ 

„Sagt aber ſelbſt, Voß, es gibt ja nichts mehr zu 
tun, nun wir kaum mehr Vieh oben haben. Für jede 
Hantierung ſind drei Mann da, man tritt einander die 
Hühneraugen ab, nur um auch 'ran zu kommen! Und 
wenn noch Hoffnung wäre, daß wieder beſſere Zeiten 
kommen! Aber ſtatt deſſen wird's mit jedem neuen 
Tage ſchlechter. Muß es ja auch werden. Hier oben 
gedeiht kein Gras mehr und — und Statt deſſen wächſt 
einem das Maul zu. Man verlernt auch das Reiten, 
Boß. Das iſt's. Man wird ſteif. Unſereiner hält ſich 
nur im Sattel jung. Ja, wenn Ihr friſch beginnen 
wolltet, irgendwo draußen, wo der Herrgott die Men- 
ſchenpeſt noch fernhält — da ſollt' mich ſelbſt Euer 
Wille nicht von Euch trennen können. Aber hier hat's 
keinen Zweck. Ich komm' mir nicht nur überflüſſig 
vor, ſondern bin's auch wirklich.“ 

„Dann geh!“ Weder Miene noch ak des 
Ranchers ließen erkennen, was in ihm vorging. Aus 
einer Schrankſchublade nahm er ein altes, abgegriffenes 
Schreibheft zur Hand, in dem er ſeit langen Jahren 
alle wichtigen Daten vermerkt hatte. Er blätterte eine 
Weile in dem Heft. „Richtig,“ ſagte er dann, „da 
ſteht's. Biſt am erſten Oktober eingetreten, dein Jahr 
geht mit dem Septemberletzten zu Ende. Alſo ab- 
gemacht, am letzten September gehſt du — das iſt 
gerad' heut über vier Wochen,“ ſchloß er nach einem 
informierenden Blicke auf den Wandkalender. 


150 Eigenland. U 


„Well, dann geh' ich,“ ſagte Joe, der auf eine ſolch 
bereitwillige Annahme ſeiner Kündigung kaum gefaßt 
geweſen ſein mochte, denn vor Verblüffung ſtand ihm 
der Mund halb offen. 

Für den Rancher war die Angelegenheit erledigt. 
Er vertiefte ſich in ſeine Bibel und achtete nicht weiter 
darauf, daß Joe noch eine kurze Weile überlegend neben 
der Tür ſtehen blieb, um dieſe dann beim Verlaſſen 
des Zimmers derber, als es durchaus notwendig ge— 
weſen wäre, ins Schloß zu wettern. 

Um ſo erſchrockener war Emily, die inzwiſchen den 
Tiſch abgeräumt und dabei die Unterredung zwiſchen 
den beiden Männern mitangehört hatte. Als ſie den 
alten Cowboy an der Küche vorüberſchreiten ſah, winkte 
ſie ihm eifrig zu. 

„Aber Onkel Joe,“ meinte ſie vorwurfsvoll, als er 
nähergekommen war, „hab' ich recht gehört, du willſt 
uns verlaſſen?“ 

Der Gefragte nickte energiſch. „Kalkulier' ſo.“ Er 
lachte kurz vor ſich hin. „Wird wohl am beſten ſein 
— man kann ja nicht wiſſen, ob's für immer iſt. Noah 
ſchickte auch 'ne Taube aus, bevor er feine Arche ver- 
ließ. Und wer weiß, ob dein Vater nicht noch mal 
das bewußte Olblatt brauchen kann.“ Sein Lachen 
verſtärkte ſich und die durchtriebenen Spitzbubenfältchen 
kamen in ſeinem vielgerunzelten Geſicht wieder zur 
Geltung. Vielſagend zwinkerte er dem Mädchen zu. 
„Lange macht's ja dein Vater hier oben ohnehin nicht 
mehr, denn kommt hier ins Tal die Sintflut, dann hilft 
nicht mal 'ne Arche. Da heißt's einfach fortlaufen. He?“ 

„Verſteh' dich nicht ganz, Joe. Meinſt du wegen 
der Talſperre?“ 

„Well, das Waſſer treibt ihn fort, und wenn fein 
Schädel härter wär' als die Felſen ringsum. Aber ſo 


u Novelle von Otto Hocder. 151 


lange dauert's vermutlich gar nicht. Will er nicht allein 
Trübſal blaſen, muß er ſchon früher ans Einpacken 
denken, der Vater. Hähähä, in vier Wochen ſchnür' 
ich mein Bündel, und was 'ne gewiſſe junge Lady 
anbetrifft, die neulich ſtatt Zucker Gipsmehl in den 
Pudding gerührt und die Geſchichte auf den Tiſch ge- 
bracht hat, ohne es überhaupt zu bemerken —“ 

Bei der ihr wohl verſtändlichen Anſpielung des 
Alten war Emily purpurrot geworden. Nun ſchaute 
ſie ihn entrüſtet an. „So nachtragend biſt du, Joe? 
Sollteſt dich was ſchämen! Als ob man ſich in der 
Eile nicht einmal vergreifen könnte!“ 

„Beſonders wenn man's eilig hat, nach einem ge— 
wiſſen Ausſichtspunkt zu kommen, hähä! Wie neulich, 
wo du in der Zerſtreutheit zwei Pfund Salz und 'ne 
Handvoll Mehl in die Klöße gerührt haft. Hoho, hat 
das prächtig geſchmeckt! Bei jungen Leuten nennt man 
'n ſolches Vergreifen nicht Zerſtreutheit, ſondern —“ 

„Still! Ich will's nicht hören!“ 

„Das ändert an der Tatſache nicht das geringſte — 
und wenn ich mir vorſtellen könnt', in welches Manns- 
bild eigentlich, ſo nähm' ich einen Schwur darauf, daß 
unſere Em'ly nicht minder verliebt iſt, wie“ — da 
unterbrach er ſich plötzlich, beſchattete die Augen mit 
der Hand und ſpähte den Talkeſſel hinab, wo ſich eben 
eine hochaufwirbelnde, ſich raſch dem Hauſe nähernde 
Staubwolke zeigte — „nun ja, wie etwa der gewiſſe 
Jemand dort, der da ſo eilig herangaloppiert kommt.“ 

Einen Augenblick weidete ſich Joe noch an der hilf- 
loſen Verlegenheit des Mädchens, dann nickte er ihr 
gutmütig zu. 

Emily gab ihm keine Antwort und eilte mit allen 
Anzeichen großer Verwirrung nach ihrem Stübchen, 
in das ſie ſich einriegelte. Auch als Joe bald darauf 


152 Eigenland. oQ 


meldete, daß Gordon Harland zu Beſuch gekommen fei, 
wollte ſie zuerſt nicht wieder zum Vorſchein kommen. 
Es bedurfte erſt des ärgerlichen Zurufs ihres Vaters, 
der dem Gaſte eine Erfriſchung vorzuſetzen gebot, daß 
ſie ſich zum Verlaſſen ihres Zufluchtsortes entſchloß. 

Sie fand den Ingenieur noch auf der Vorder— 
veranda, eifrig mit dem Abſtäuben ſeiner Kleidung 
beſchäftigt, während ihr Vater unter der offenen Tür 
ſtand, unverhohlenes Befremden über den unerwar— 
teten Beſuch in ſeinen Mienen. 

Als er ſeiner Tochter wiederholt Anweiſung geben 
wollte, einen Imbiß bereitzuſtellen, wehrte Gordon 
dankend ab, indem er zugleich auf Emily zuſchritt und 
der mit ſeltſamer Befangenheit ihn Anblickenden beide 
Hände zum Gruß entgegenſtreckte. 

„Nein, nein, ich bin nicht im mindeſten hungrig, 
und auch der Durſt plagt mich nur wenig — mich führt 
auch keine beſondere Sache hierher, ſondern ich bin nur 
gekommen, um mich nach dem Befinden meiner lieben 
Bekannten zu erkundigen und nebenbei herauszuhören, 
ob wir uns die Sache nicht inzwiſchen überlegt haben. 
Die Kommiſſion dringt nämlich auf Entſcheidung.“ 

Ein ſpöttiſches Lächeln kräuſelte des Ranchers Lippen. 
„Schön von Euch, Herr — wie Ihr ſeht, ſind wir noch 
nicht völlig verdurſtet, was freilich wieder nicht Euer 
Verdienſt iſt,“ äußerte er ſarkaſtiſch. „Und was die 
gewünſchte Entſcheidung anbelangt, jo hab' ich fie den 
Kommiſſionsherren längſt mit deutlichen Worten ge- 
geben. — Aber nehmt Platz und ruht Euch ein Weilchen 
— wo ſteckt denn Billy?“ wendete er ſich fragend an 
feine Tochter, die ihm indeſſen nur mit einem Achſel— 
zucken antwortete. 

„Ach ja, wird wohl hinuntergeritten ſein. Schade, 
er wäre vielleicht für Euch ein beſſerer Geſellſchafter 


2 Novelle von Otto Hoecker. 153 


als ich. Mich müßt Ihr ſchon entſchuldigen — es geht 
einem ſo manches durch den Kopf, was einem das 
müßige Schwatzen verleidet.“ | 
V„Begegneten Sie meinem Bruder nicht?“ erkundigte 
ſich Emily mit unſicher klingender Stimme. 

„Ja, wir begegneten einander auf halbem Wege. 
Er ritt nach der Station hinunter, wie er ſagte.“ 

„Nun, tiſch endlich was auf, Em'ly!“ heiſchte Tom 
Dugan ungeduldig. „Was du gerade zur Hand haſt. 
Große Auswahl gibt's bei uns nicht mehr,“ ſagte er, 
zu Gordon gewendet, im Tone halber Entſchuldigung. 

„Aber ich — übrigens ich“ — des Beſuchers Stimme 
wurde immer ſtockender, als er nun Emily hurtig nach 
der Küche eilen ſah — „ich will doch raſch mal nach 
meinem Pferd ſehen, es hat ſich warm gelaufen. — 
Merkwürdig heiß für 'nen Septembertag heute — 
findet Ihr nicht?“ 

„Indianerſommer!“ brummte Tom Dugan, der im 
Begriffe ſtand, ſich wieder auf ſeinem Fenſterſitze nieder- 
zulaſſen. „Man ſagt vom September nicht umſonſt, 
daß er der „Brater“ iſt. Wären die kühleren Nächte 
nicht, ſo wäre er noch ſchlimmer als der Hochſommer. 
— Aber ſo bleibt doch,“ rief er hinter ſeinem Beſucher 
her, „Joe kann nach Euerm Gaul ſehen — klagt ohne- 
hin übers Nichtstun, der Alte.“ 

Dann, als er ſah, daß ſein Zuruf unbeachtet blieb, 
zuckte er gleichmütig die Achſeln und ſetzte ſich nieder. 
Aber zur Bibel griff er vorläufig nicht wieder, ſondern 
ſtarrte müßig durchs Fenſter und ſeine Mienen nahmen 
raſch einen nachdenklichen Ausdruck an. 

Darüber ſchien er gar nicht gewahr zu werden, daß 
Emily keine Anſtalten zum Tiſchdecken machte, wie er 
ihr doch anbefohlen hatte, und ebenſowenig der In- 
genieur ins Zimmer zurückkehrte. Dafür hörte er die 


154 Eigenland. 0 


beiden mit gedämpften Stimmen miteinander draußen 
in der Küche verhandeln. 

„Es ſteht geſchrieben, daß das Weib Vater und 
Mutter verlaſſen foll, um dem Manne anzuhangen,“ 
ſagte er leiſe vor ſich hin. „Aber daß die eigenen 
Kinder gerade den Feinden, den Maulwürfen, die mit 
aller erdenklichen Liſt mein Lebenswerk untergraben 
und zerſtören, anhängen müſſen — das tut weh!“ 

Er ſchaute zum Fenſter hinaus nach dem Steinhügel 
und nickte grüßend hinüber. „Du haſt's gut, Mutter 
— ich wollt', ich dürft' bei dir liegen!“ 

Dann ſetzte er wieder die Brille auf und verſenkte 
ſich in feine Lektüre, ohne der Anweſenheit feines Be— 
ſuchers auf der Ranch weitere Beachtung zu ſchenken. — 

„Warum haben Sie ſich die ganze Woche über nicht 
ſehen laſſen?“ ſragte draußen in der Küche Gordon 
die eifrig ſchaffende Emily. „Ach, wenn Sie wüßten, 
mit welcher Ungeduld ich Ihre Antwort auf meine Frage 
erwartet habe,“ ſetzte er mit nicht länger zu verhehlender 
Erregung hinzu. „Haben Sie bedacht, wie viele fchlaf- 
loſe Nächte und Herzenspein mir Ihr Fernbleiben ver- 
urſacht hat? Muß ich darin ein Ausweichen oder gar, 
was der Himmel verhüten möge, eine Ablehnung meines 
ehrlichen Werbens erblicken?“ 

Wieder ſtand Emily blutübergoſſen. Sie Ba ihm 
nicht zu wehren, als er nun bittend ihre beiden Hände 
faßte, aber auch fein inniger Druck vermochte ihm nicht 
ihre Blicke zuzuwenden. Dieſe ſchauten vielmehr an 
ihm vorüber, ſuchend und wie wehmütig darüber 
trauernd, daß fie aus einem holden Traume hatte zur 
rauhen Wirklichkeit zurückerwachen müſſen. Gordons 
Welt war ja eine andere als die ihrige, in der ſie mit 
allen Faſern ihres Seins haftete. Das hatte fie ſchon 
damals gewußt, als er um ſie warb, aber ſie hatte es 


U Novelle von Otto Hoeder. 155 


ihm nicht ſagen können, der Gedanke an die unvermeid- 
liche Enttäuſchung, die ſie ihm bereiten mußte, hatte 
ſie immer wieder zum Schweigen gezwungen gehabt. 
Das war zugleich auch der Grund, warum ſie ſeitdem 
ihre Ritte nach ihrem Lieblingsplatz aufgegeben hatte. 
Hätte ſie doch dort Gordon Harland ihrer harrend 
antreffen und ihm dann notgedrungen künden müſſen, 
daß ihrem ſchönen Traume nunmehr das unausbleib- 
liche Erwachen folgen mußte. 

Als fie endlich, wie einem magiſchen Zwange ge- 
horchend, ſeinem heißen Liebesblicke begegnete, da 
ſchwand die Röte aus ihren Wangen und gab jäher 
Bläſſe Raum. Tränen füllten ihre Augen. „Ja, 
Gordon,“ hauchte ſie, „Sie haben meinen Grund, der 
mich ein weiteres Zuſammentreffen mit Ihnen ver- 
meiden ließ, richtig erraten. Dürfte ich unbeirrt nur 
der Stimme meines Herzens folgen, ſo würde meine 
Antwort vielleicht anders lauten. Aber ich habe Pflichten 
gegen den Vater zu erfüllen. Er braucht mich, ich bin 
ihm notwendig — darum darf ich nicht von ihm gehen.“ 

„Aber du liebſt mich doch,“ raunte er ihr heiß ins 
Ohr. „Ja, da hilft kein Ableugnen, magſt du auch den 
Kopf noch ſo entſchieden ſchütteln, deine Blicke verraten 
dich doch — nein, nein, es hilft auch nichts, wenn du 
zur Seite ſchauſt, denn fie haben mir's ja ſchon viel 
früher verraten. Süßes Kind, ich liebe dich und du 
haſt mich lieb — und mit meinem letzten Tropfen 
Herzblut werde ich unſer Glück zu erringen wiſſen! 
Warum dein junges Leben einem Wahne opfern? Denn 
was iſt die Hartnäckigkeit, mit der dein Vater Geſetz 
und Recht zu leugnen ſich anmaßt, im Grunde genom- 
men anderes? In ſpäteſtens einem Fahre haben ſich 
die Verhältniſſe hier oben ohnehin geklärt, und hat ſich 
dein Vater bis dahin nicht eines beſſeren beſonnen —“ 


156 Eigenland. u 


„Niemals!“ widerſprach Emily ihm. „Daß das un- 
vermeidliche Ende kommen muß, ſagt mir mein eigenes 
Empfinden, aber was alsdann geſchehen wird, daran 
wage ich nicht zu denken. Ich weiß nur, daß ich zu 
meinem Vater halten muß — und bräche mir darüber 
auch das Herz!“ 

Sie wollte ſich von ihm losmachen, als er ſie bei 
der Hand nahm und mit ſanfter Gewalt der Wohn- 
ſtubentür zuführen wollte. Aber da wurde die Tür 
ſchon von innen geöffnet, und auf der Schwelle erſchien 
der Rancher. 

„Was ſoll das Verſteckſpielen?“ fuhr er die Tochter 
barſch an, als dieſe ſich erſchreckt von Gordons Hand 
losreißen wollte. „Daß die Verſtellung euch Frauen- 
zimmern doch immer im Blute liegt — ſogar deine 
gute Mutter hat ſich zieren müſſen, ehe ſie mein Weib 
wurde. Na, darum brauchſt du dich nicht zu entichul- 
digen, hab's lange vorausgeſehen, daß es ſo kommen 
mußte, denn um unſerer guten Waſſerverhältniſſe wegen 
iſt Freund Harland ſicherlich nicht jo oft zu uns herauf— 
gekommen!“ 

Dabei lachte er ſo bitter auf, daß Emily ſein Lachen 
ins Herz ſchnitt. Sie hatte ſich inzwiſchen energiſch 
von Gordons Hand befreit. Nun eilte ſie zu ihrem 
Vater und ſtellte ſich neben ihn. 

„Du brauchſt nicht ſchlecht von mir zu denken, Vater,“ 
ſagte ſie in großer Haſt. „Mr. Harland hat mir ge— 
ſagt, daß — daß ich ihm nicht gleichgültig ſei, aber ich 
habe ihm rundweg zu verſtehen gegeben, daß ich deine 
Tochter bin und ihm darum in alle Ewigkeit nichts ſein 
kann.“ 

Fragend ſchweifte Tom Dugans Blick zu dem jungen 
Ingenieur. 

Dieſer trat mit einem tiefen Atemzuge näher an 


o Novelle von Otto Hoeder. 157 


den Rancher heran. „Emily liebt mich, wie ich fie 
liebe,“ begann er. „Aus mißverſtandener Kindespflicht 
glaubt ſie uns unglücklich machen zu müſſen, weil ich 
im Dienſte der Geſellſchaft ſtehe, die Euer Beſitztum 
beanſprucht, aber ich weiß, daß es nur Eurer Einwilli— 
gung bedarf, um das liebe Mädchen anderen Sinnes 
zu machen. Wollt Ihr mir Eure Tochter zur Frau 
geben?“ 

„Wollt Ihr meiner Ranch das ihr gebührende Waſſer 
zurückgeben und mir ihren Beſitz verbürgen, Herr?“ 
fragte der Alte rauh zurück. 

„Ihr wißt recht gut, daß Ihr von mir Unmögliches 
verlangt!“ 

„Nun, dann habt Ihr Euch die Antwort mit Euren 
eigenen Worten gegeben. Verſteht mich recht. Ihr 
ſelbſt ſcheint mir ein wackerer Mann zu fein, und ge- 
hörtet Ihr nicht zu jenen, die mein Lebenswerk unter- 
graben, ſo möcht' ich Euch wohl als Eidam willkommen 
heißen. So aber kann zwiſchen Euch und mir keine 
Gemeinſchaft beſtehen.“ 

Entrüſtet flammte es in Gordons Augen auf. „Aber 
das iſt ja unmenſchliche Härte! So nehmt doch Ver- 
nunft an, Mann!“ rief er. 

Mit ſchroffer Handbewegung unterbrach ihn der 
Rancher. „Was berechtigt Euch zu der Annahme, daß 
ich unvernünftig rede?“ gab er ſcharf zurück. „Ich 
kann keinen Schwiegerſohn brauchen, der mit an meinem 
Untergange gräbt. Und ich kann auch keine Tochter 
brauchen, die zu meinen Widerſachern hält — ſtill, 
wart’ bis du gefragt wirſt!“ fuhr er Emily rauh an, 
als ſie die Lippen zu einer Rechtfertigung öffnen wollte. 
— „Zch ſag' nicht, Herr,“ fuhr er mit ſtarker Stimme 
fort, „daß ich meiner Tochter verbiete, Euer Weib zu 
werden — nein! Em'ly ſoll ſich aus freien Stücken 


158 Eigenland. 2 


entſchließen, genau ſo, wie Herz und Gewiſſen ihr's 
vorſchreiben — und will ſie Euer Weib werden, ſo ſoll 
ihr das väterliche Erbe einmal nicht vorenthalten 
werden. Aber nicht mehr und nicht weniger kommt 
ihr von mir zu, ſonſt weder Segen noch Fluch. Aber 
ſie kann alsdann meine Tochter nicht länger ſein — 
das iſt alles. Ich kann um mich keine lauen Menſchen 
brauchen — für oder wider mich. Und nun fragt ſie 
ſelbſt!“ 

Da löſte ſich das Mädchen von des Vaters Bruſt, 
wendete ſich langſam nach dem geliebten Manne um 
und ſchaute ihn mit einem erloſchenen Blicke an. „Nr. 
Harland, ich habe Euch keine Erlaubnis erteilt, bei 
meinem Vater um mich zu werben,“ brachte ſie tonlos 
hervor. „Wenn Ihr für mich im Herzen wirklich etwas 
übrig habt, ſo verlaßt unſere Ranch und kommt nie 
und nimmer wieder zu uns.“ 

Gordon Harland ſtand wie vom Donner gerührt. 
Er vermochte fie nur ungläubig anzuftarren. 

„Übereil dich nicht!“ mahnte der Rancher. „Keinem 
zulieb oder zuleid ſollſt du dich entſcheiden. Auch wenn 
jener Mann dort mir willkommen wäre und ich eure 
Hände ſegnend zuſammenlegen könnte, müßte ich dich 
doch an ihn verlieren. Das hat nun einmal der Himmel 
ſo gefügt, daß die Frau ihre neue Welt im Manne und 
ſpäter in ihrer eigenen Familie findet. Ich wiederhole 
dir: ich will von dir kein Opfer gebracht haben — und 
wenn wir uns künftig auch fremd werden müſſen, ſo 
denk' ich darum nicht geringer von dir.“ 

„Mein Entſchluß iſt gefaßt,“ ſagte die leiſe vor ſich 
hin weinende Emily. „Ich bleibe bei dir, Vater.“ 

„Etwa, weil du's deiner ſeligen Mutter in ihrer 
Sterbeſtunde verſprochen haſt?“ fragte der Rancher. 

„Nein, Vater, die Mutter war ja ſo gut, daß ſie 


— — — — — 


= Novelle von Otto Hocder. 159 


mir ſelbſt verzeihen würde, bräche ich ein ihr gegebenes 
Verſprechen,“ rief ſie bewegt. „Aber ich will bei dir 
bleiben, weil ich nicht anders kann. Du müßteſt mich 
gerade von dir treiben und ſelbſt dann — käm' ich doch 
wieder!“ ſchluchzte ſie laut hinaus. | 

Eine Weile blieb es ftill im Zimmer. Man hörte 
nur das ſchwere Atmen des in felten bei ihm wahr- 
zunehmender Rührung auf feine Tochter herabſchauen- 
den Ranchers und deren Weinen. 

Dann ließ Tom Dugan den Blick nach dem verſtört 
ſtehenden Freier ſchweifen. „Ihr habt die Entſcheidung 
meines Kindes gehört?“ fragte er. 

„Nein — nein, das kann nicht Emilys wahre Mei- 
nung fein!“ widerſprach Gordon heftig. „Ich weiß, 
daß fie mich liebt und nicht fähig iſt, mit meinen bei- 
ligſten Empfindungen nur ein ſchnödes Spiel zu treiben.“ 

Bittend wollte er ſich dem das Geſicht an der Bruſt 
des Vaters verbergenden Mädchen nähern. Doch Tom 
Dugans abwehrend erhobene Hand hielt ihn zurück. 

„Mit Verlaub, Herr, laßt mich erſt ausſprechen,“ 
ſagte der Rancher rauh. „Wir waren immer ehrliche 
Gegner, und ich denke, wir werden's auch in Zukunft 
bleiben. Verlaßt Euch auf mein Wort, in keiner 
Weiſe werde ich Em'ly zureden oder fie irgendwie zu 
beeinfluſſen ſuchen — fie bleibt freie Herrin ihrer Ent- 
ſchlüſſe, ob heute oder ſpäter, das bleibt ſich gleich. 
Leichtſinn wäre es geradezu, wollte ſie über ihr ganzes 
zukünftiges Schickſal unüberlegt entſcheiden. Aber ich 
kenne meine Tochter, ſie wird mit ſich ins reine kommen. 
Der über uns allen regiert, wird ihr dazu helfen — 
und wie immer ihr Entſchluß auch ausfallen mag, ich 
laß ihn Euch wiſſen.“ | 

Emily richtete ſich auf. „Zürnt mir nicht,“ wendete 
fie ſich zu Gordon. „Ich könnte nicht glücklich an Eurer 


160 Eigenland. 0 


Seite werden. Laßt meinem Vater ſein Eigenland, 
rührt nicht an meiner heiligen Heimatfcholle, und ich 
will Euch gehören. Und nun ſei Gott mit Euch!“ 
ſchluchzte ſie auf. 

Gordon Harland nahm feinen Hut vom Tiſche, ver- 
neigte ſich ſtumm und verließ ohne ein weiteres Wort 
zu äußern das Zimmer. 

Nach einer kurzen Weile ſah ihn der Rancher mit 
verhängten Zügeln davonreiten. 


5. 


Die Chinookwinde blieſen. 

Eiſig kalt und froſterſtarrt hatte ſich noch der ſpäte 
Märzmorgen angelaſſen. Hinter dichten Dunftichleiern 
war die Sonne verborgen geblieben, bis um die frühe 
Nachmittagsſtunde unvermittelt ein tiefer Atemzug durch 
die noch im Winterſchlafe liegende Natur gegangen 
war. Mit einem zweiten ſchwülen Atemzuge war die 
Erde wach geworden, hatte die Bruſt geweitet und ſich 
gereckt. Und dann hatte es zu blaſen begonnen, gleich 
zu Beginn verſengend warm. Mit jeder weiteren 
Stunde hatte der Sturm an Stärke gewonnen und 
ſchließlich mit vollen Backen Feuersgluten über das 
winterliche Land getragen. Dann hatten ſich die himm- 
liſchen Schleuſen geöffnet, und die wolkenbruchartigen 
Regenmaſſen waren vom glühenden Windhauch an— 
gewärmt worden. 

Als früh die Nacht herniederſank, da weinte der 
Schnee nicht länger. In ſeine fußhohen Mauern war 
nicht nur Breſche gelegt, ſondern abertauſend Bäche 
ergoſſen ſich aus ihnen über Weg und Steg, duckten ſich 
unter den heulenden Windſtößen und ſtoben kaskaden— 
gleich vor ihnen her. 

Die Chinookwinde blieſen. 


u Novelle von Otto Hoecker. 161 


In ihr Heulen miſchte ſich dumpfes Donnerrollen. 
Je weiter die Nacht voranſchritt, deſto häufiger zuckten 
flammende Blitzgarben durch die Finſternis und krachten 
brüllende Donnerſchläge hinterdrein. 

Kein Auge ſchloß ſich in dieſer Schreckensnacht in 
der Duganranch. 

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit war Bill, un- 
geachtet der flehentlichen Bitte ſeiner Schweſter, zu 
Pferde nach dem oberen Tal, wo der Reit ihrer früher 
ſo ſtattlichen Viehherde untergebracht war, aufgebrochen, 
um den Ausbruch einer Stampede zu verhindern, ob- 
wohl er im Falle des Scheuwerdens und Ausbrechens 
der Tiere als einzelner wenig oder gar nichts auszu- 
richten vermochte. 

Emily weilte mit ihrem Vater im Wohnzimmer. 
Aber obwohl dort die Hängelampe trauliches Licht ver- 
breitete und die Außenläden geſchloſſen waren, leuchtete 
der Widerſchein der Blitze immer häufiger durch die 
Ritzen. 

Der alte Rancher ſchritt mit auf dem Rücken zu- 
ſammengelegten Händen in der Stube hin und her. 
Das zunehmende Wüten der draußen entfeſſelten Ele- 
mente hatte ihn ruhelos gemacht; aber er wurde nicht 
müde, mit geneigtem Kopfe auf das Sturmgeheul und 
die mit jeder neuen Minute an Heftigkeit zunehmende 
himmliſche Kanonade zu lauſchen. 

„Wäre nur wenigſtens Bill daheim!“ klagte Emily, 
als die Oonnerſchläge draußen nicht mehr aufhören 
wollten, ſondern ſich wie gegen eine belagerte Feſtung 
gerichtetes ſchweres Geſchützfeuer anhörten und da— 
zwiſchen der zum Orkan erſtarkte Sturm mit gewaltigen 
Fäuſten an den Grundmauern des Hauſes rüttelte. 
„Wo willſt du hin, Vater?“ unterbrach ſie ſich dann 
erſchreckt, als ſie wahrnahm, wie der alte Mann ſeinen 

1918. XII. 11 


162 Eigenland. a 


Kragen hochſchlug und den breitrandigen Hut tief in 
die Stirn drückte. 

Tom Dugan trat auf ſein Kind zu, und mit un— 
gewohnter Zärtlichkeit ſtreichelte er ihre bleichen Wan- 
gen. „Viſt doch ſonſt fo klug und tapfer, Em'ly,“ ſagte 
er in aufmunterndem Tone. „Warum willſt du jetzt 
verzagen, wo unſere Befreier im Anzug ſind — eh? 
Hab' ich's nicht immer geſagt, daß die Chinookwinde 
blaſen würden? Nun find fie da, und ich will fie be- 
grüßen gehen!“ 

„Die Chinookwinde —“ 

„Hörſt du das orgeltönige Brauſen? Ja, das ſind 
ſie! Nun mögen die Herren da unten ihre Dämme 
hüten!“ | 

Er Schritt zur Tür hinaus. Doch ſchon wenige Mi- 
nuten ſpäter kam er zurück. 

„Der Fluß ſteigt gewaltig,“ ſagte er. „Er hat den 
Aferrand beinahe ſchon erreicht. Aber ſollte er auch 
austreten, ſo laß dich's nicht kümmern. Einmal, als 
du noch in der Wiege lagjt, hatten wir das Waſſer ſogar 
fußhoch hier in der Stube, bis es ſich mit dem ſchwin⸗ 
denden Unwetter wieder verlief. Das da iſt die Höhen- 
marke, höher kann das Waſſer nicht ſteigen. Dafür 
ſorgen die unterirdiſchen Abflüſſe.“ 

Damit trat der alte Mann wieder in die Nacht 
hinaus. 

Vom Himmel goß es in Strömen, und in ſchier 
unaufhörlicher Folge flimmerten die Blitze von einem 
Talende zum anderen und hüllten es in unirdiſche, 
blaugrüne Beleuchtung. Der Rancher achtete kaum 
darauf. Er ſpürte auch die Waſſergüſſe nicht, die der 
heulende Sturm ihm ins Geſicht peitſchte. Der Fluß 
begann immer raſcher zu ſteigen. Davon überzeugte 
ſich der Rancher bei neuem Blitzesleuchten, als ſein 


2 Novelle von Otto Hoecker. 165 


Blick das gewohnte ſchmale Flußbett ſuchte und ſtatt 
ſeiner eine bewegte, ſtrudelnde Waſſerfläche, die ſchon 
den Korral erreicht hatte und wie einziehende Flut 
Wellchen um Wellchen weiter voranwarf, wahrnahm. 

Sein Herz frohlockte. Die unnatürliche Schwüle in 
der Luft erfüllte ihn mit wohligem Behagen. 

Die Chinookwinde blieſen. | 

Sie raunten ihm verheißend in die Ohren, was 
ſie wirken und ſchaffen würden. Hei, wie ſie von den 
Höhen herabfegten! Lauter ungebändigte Rieſen, die 
ſpielend jedes Hindernis nahmen und zerdrückten, das 
ihrem Siegeszuge Einhalt gebieten wollte; die von den 
Wegen, die ſie ſeit urewiger Zeit gezogen, nicht ließen; 
die den zu reißenden Bergſtrömen gewandelten Schnee 
in die alten Bahnen treiben würden. Und dann kam 
die Stunde des Gerichts! Wenn die mauerdiden dämme 
ins Wanken gerieten, wenn die wilden, ungebärdig tal- 
wärts ſchießenden Waſſermaſſen ſich nicht länger in 
den künſtlich für fie geſchaffenen Kanalläufen eindäm- 
men ließen, wenn mit ihnen die ſchwere Artillerie 
kam, die entwurzelten Rieſenſtämme, die aus hundert- 
tauſendjähriger Ruhe losgebröckelten Felſen! In ihrem 
unaufhaltſamen Zerſtörungslaufe zerrieben ſie im Laufe 
einer einzigen Nacht, was Hunderte von Menſchen— 
zwergen im Laufe von Jahren geſchaffen hatten, machten 
die entweihte, bedrohte Erde wieder zu Gottes Land, 
verhalfen dem Herrn der Scholle zu gerechtem Siege 
über ſeine Bedränger und Widerſacher! 

Mit wehendem Haar, das Geſicht von Sturm und 
Regen gepeitſcht, ſtand Tom Dugan vor dem Grabe 
ſeiner Frau und rüttelte an den ſchweren Felsſteinen, 
als wollte er die Schläferin darunter zur Witwiſſerin 
des ſeine Seele mit übermächtigem Drange erfüllenden 
Jubels machen. 


164 Eigenland. a) 


„Mutter, die Chinookwinde blaſen! Sie halten Ge- 
richt, Mutter — ſie ſorgen dafür, daß niemand deine 
Ruheſtätte ſtören darf!“ 5 

Je näher die Mitternacht heraufzog, deſto entfeſſelter 
wüteten die Elemente. Von den Höhen kam es mit 
Brauſen. Die Schneekronen wankten und ſtürzten, und 
ſtatt ihrer plätſcherte es kaskadengleich die ſteilen Lava- 
wände herab, kamen die unterwaſchenen Gipfel ſelbſt 
unter polterndem Getöſe herunter. 

Jauchzend breitete der alte Mann die Arme nach 
den leuchtenden Blitzen und den zum Tale nieder— 
ſtrömenden Waſſermaſſen aus. 

Seine Retter und Befreier! 

Sie meinten es freilich beinahe allzu gut. Aber Tom 
Dugan lachte ſorglos, als die Haustür aufgeriſſen wurde, 
in deren Rahmen die zitternde Geſtalt Emilys ſichtbar 
wurde, das aus der Wohnzimmertür ſtrömende Licht 
in ſchwärzliches Gewäſſer blinkte und er die unterſte 
Verandaſtufe ſchon von der bereits an der nächſt höheren 
leckenden Flut bedeckt ſah. 

„Hat nichts zu ſagen, Kind, ängſtige dich nicht!“ 
rief er. „Mag ja ſein, daß wir einen naſſen Eſtrich 
bekommen — das ſpart ein Aufwaſchen! Hohoho, nun 
haben wir wieder Waſſer — und glaub mir, daran 
wird es in unſerem Tale nun nimmer fehlen!“ 

Nur weitergeblaſen, ihr Chinookwinde! Schafft 
gründliche, ganze Arbeit! 

Gordon Harland war mit einem Häuflein Frei— 
williger nach der Duganranch unterwegs. Die Sorge 
um das Schickſal Emilys und ihrer Angehörigen hatte 
ihn die Gefahren eines Nachtritts verachten laſſen. Eine 
kleine Schar beherzter Männer hatte ſich ihm ange— 
ſchloſſen, um der hartbedrängten Rancherfamilie Hilfe 


— — 


2 Novelle von Otto Hoecker. 165 


und Rettung zu bringen. Mitleidlos trieb Gordon Har- 
land feinen Gaul immer wieder zu erhöhter Schnellig- 
keit an. | 

Auf einmal, noch ungleich plößlicher als er zum 
erſten Male tief unter fich die Duganranch erblickt gehabt, 
ſah er fie wieder, graugrün im unirdiſchen Lichte der 
niederzüngelnden Blitze. Dann, als lichtloſe Finſternis 
ſie wieder umgab, da hörten die Reiter durch das 
Krachen der Oonnerſchläge und das Heulen des fie mit 
heimtückiſchen Stößen zuweilen ſchier aus den Sätteln 
ſchleudernden Orkans von unten herauf dumpfes 
Rindergebrüll. 

In ſauſendem Lauf ging es den Zickzackweg hin- 
unter. Faſt unaufhörlich leuchteten die Blitze den 
Pferden. Unten trafen die Reiter mit Bill Dugan 
zuſammen, der unter lautem Geſchrei und Beitichen- 
knallen die vielhornige, im Leuchten der Blitze ſich wie 
eine kompakte Maſſe ausnehmende Herde den Ser— 
pentinenweg hinaufzutreiben verſuchte. 

Sie reichten ſich ſtumm die Hände. 

„Reitet voran!“ rief Bill dann rauh. „Ich muß 
das Vieh erſt noch in Sicherheit bringen! Steht meinen 
Leuten bei!“ Seine Stimme zitterte plötzlich. „Oer 
obere Taleingang iſt durch Stämme und Felsſteine 
wie vermauert, ſonſt hätten wir die volle Uberſchwem- 
mung ſchon hier unten! Aber wie lange widerſtehen 
ſie dem Waſſer? Ich fürchte, daß für unſer Tal der 
Jüngſte Tag angebrochen iſt!“ 

Weiter jagten Gordon Harland und ſeine Leute mit 
verhängten Zügeln. Den Tallauf hinunter. Als ſie 
den freien Platz vor dem Ranchhaus erreichten, ſpürten 
fie, wie ihre Pferde mit den Hufen im Waſſer planſchten. 
Wie fie abſprangen, reichte ihnen das heftig ftrudelnde 
Waſſer ſchon bis zu den Knien. 


166 Eigenland. a) 


Ein greller Blitz zeigte Gordon den Rancher. Wie 
verzückt ſtand dieſer auf der Vorderveranda, deren 
oberſte Stufe ſchon in der einen weiten See bildenden 
Flut verſchwunden war, und ohne auf den Ankömm— 
ling, den er für ſeinen Sohn halten mochte, weiter zu 
achten, breitete er begrüßend die Arme nach den gur- 
gelnden Waſſermaſſen aus. 

„Gerichtstag!“ rief er mit vor Bewegung zitternder 
Stimme. 

„— und Verſöhnungstag!“ ging es Gordon Harland 
durch den Sinn. 

Er hielt ſich nicht länger bei dem Rancher auf, denn 
unter der Wohnzimmertür erblickte er Emily. 

Als dieſe ihn erkannte, kam ein leichter Schrei über 
ihre Lippen. Verſtört wich ſie ins Zimmer zurück. 

„Ihr habt geſiegt!“ ſchluchzte ſie auf. Geblendet 
von einem niederflammenden Blitzſtrahl ſchlug ſie die 
Hände vor das Geſicht. Der zugleich dröhnende Donner 
ſchien das Haus zerſplittern zu wollen. „Ah, das iſt 
unſer Letztes — nun kommt das Ende!“ 

Aber Gordon packte ſie beſchwörend beim Arm. 
„Jetzt iſt keine Zeit zu unnützem Klagen!“ rief er ihr 
zu. „Wir wollen das Wertvollſte zu packen und zu 
retten ſuchen. — Faßt tüchtig mit an,“ wendete er ſich 
an ſeine ihm ins Zimmer nachgefolgten Begleiter. „In 
ſpäteſtens einer halben Stunde muß das Haus aus— 
geräumt und wir wieder unterwegs ſein!“ Dann wieder 
zu Emily gewendet: „Bill hab' ich weiter oben ge- 
ſprochen — er wird bald hier ſein und uns helfen.“ 

Da kam er auch ſchon herangepreſcht. Waſſergarben 
ſpritzten an dem vor der überſchwemmten Veranda ſein 
Pferd Zügelnden hoch. 

„Kommt mit, wir werden die Pferde vor den großen 
Wagen ſpannen!“ rief er Gordon zu. 


2 Novelle von Otto Hoecker. 167 


„Unſinn!“ unterbrach ihn der herzutretende Rancher. 
„Laß dich nicht einſchüchtern, Bill — das Waſſer kann 
nicht höher ſteigen, es hat ſeine Höchſtmarke bereits 
erreicht!“ 

„Das Waſſer hat ja erſt zu ſteigen begonnen!“ rief 
Gordon Harland. „Wollt FIhr's noch immer nicht be— 
greifen, daß kein Abfluß mehr exiſtiert, Mann? Das 
Waſſer von den Höhen bleibt hier im Tal und wandelt 
es zum See!“ 

„Das lügt Ihr, Mann!“ ſchrie Tom Dugan. „Ich 
hab' es ſteigen und wieder fallen ſehen, da waret Ihr 
noch nicht geboren! So hoch war's wie heute auch 
und fiel doch wieder. Hinten im Felswinkel ſtürzt der 
Fluß in die Tiefe, und dorthin ziehen die Waſſer ab!“ 

Ungeduldig rang Gordon die Hände. „Früher wohl, 
aber heute nicht mehr! Heute wehrt ihnen die Tal- 
ſperre den Ablauf. Eure Chinookwinde haben nur 
verfrüht zuſtande gebracht, was die Talſperre nach 
ihrer Vollendung für immer bewirken wird: in wenigen 
Stunden wird Euer Tal zum See!“ 

Das fanatiſche Lachen des alten Mannes unterbrach 
ihn. „Es braucht ſtärkere Leute als euch, um mit den 
Chinookwinden fertig zu werden!“ rief er. „Schaut 
zu, was morgen aus euern Dämmen geworden iſt!“ 

Vorüber an ihm eilte Gordon wieder ins Haus, 
während Bill draußen einen harten Kampf mit den 
geängſtigten Pferden zu beſtehen hatte. Was immer 
ihm in die Hand kam, trug Gordon hinaus und brachte 
es in dem inzwiſchen von Bill vor die Veranda ge— 
ſchobenen Wagen unter. Geiſterbleich, mit ſtoßweiſen 
Atemzügen wie ein vor ſich hinſchluchzendes Kind half 
Emily den im Schweiße ihres Angeſichts ſchaffenden 
Männern. 

Es blieb nicht mehr viele Zeit übrig. Nur die leich- 


168 Eigenland. a 


teren Möbelſtücke, ferner Kleider, Haus- und Küchen- 
gerät in Körben und Säcken konnte man noch unter 
die waſſerdichte Wagenplane ſchaffen. 

Schließlich war das Waſſer an den im Zimmer 
Weilenden ſchon kniehoch gekrochen. Nur mit Mühe 
konnte Emily ſich noch aufrecht halten. Unausgeſetzt 
rüttelte das verheerende Element an den Grundpfeilern 
des Hauſes, immer bedrohlicher gerieten die Mauern, 
ſo feſt gefügt ſie auch waren, ins Wanken. 

„Das geht vorüber. Mit dem Morgen zieht das 
Waſſer wieder ab!“ erklärte Tom Dugan. 

„Dann kehren auch wir wieder zurück!“ rief Bill 
von draußen. „Jetzt aber kommt — kommt endlich!“ 

„Flieht ihr,“ ſagte Tom Dugan, „ich hüte mein 
Haus!“ 

„Aber das iſt ja der helle Wahnſinn!“ rief Gordon. 

Emily warf ſich dem Vater ſchluchzend an die Bruſt. 
„Komm, Vater — oder ich bleib' bei dir!“ 

„Ich hüte mein Haus!“ beharrte der alte Mann. 
„Geht ihr nur — ich fürchte mich nicht. Das Waſſer 
verläuft ſich — und morgen iſt alles, wie es war, ehe 
ihr mit eurer Talſperre kamt!“ 

„So geht an Euerm Eigenſinn zugrunde, wenn FIhr's 
durchaus ſo haben wollt! Aber Emily darf nicht blei- 
ben — fie gehört mir! Verſteht Ihr, mir gehört fie — 
und ich rette ſie auch gegen ihren Willen!“ 

In großer Erregung ſuchte Gordon die Geliebte 
von ihrem Vater loszumachen. 

Aber ſie klammerte ſich laut aufſchluchzend an deſſen 
Bruſt. „Laßt mich — ich will bleiben, mit meinem 
Vater will ich leben und ſterben!“ ſchluchzte fie krampf— 
haft auf. 

Aber Harland ließ in ſeinen Bemühungen nicht 
nach. „Magſt mich hinterher ſchelten, fo viel du willſt,“ 


o Novelle von Otto Hoeder. 169 


raunte er ihr zu, „aber jetzt mußt du dich von mir in 
Sicherheit bringen laſſen — komm!“ 

„Ich bleib’, wo mein Vater iſt!“ ſchrie fie noch ein- 
mal verzweifelt. 

„Wollt Ihr Euer eigen Fleiſch und Blut morden?“ 
ſchrie der Ingenieur den Rancher nun an. „Soll das 
liebe Mädel Eures Dickkopfs halber elendiglich ertrinken 
müſſen?“ 

Wie aus einem Traume erwachend, ſtarrte Tom 
Dugan mit weitgeöffneten Blicken um ſich. „Em'ly — 
mein Kind — mein Liebling!“ ſtöhnte er auf. 

„Ich bleib' bei dir, Vater — und muß es geſtorben 
ſein, ſo erbarme Gott ſich unſer. Ich verlaſſ' dich nicht!“ 

Noch eine Sekunde voll verzweifelten Seelen 
kampfes verſtrich. Dann preßte Tom Dugan fein Kind 
an ſich und hob es hoch. „Nein, Em''ly, ſterben ſollſt 
du nicht müſſen! Wie ſollt' ich ſonſt der Mutter unter 
die Augen treten können — komm!“ | 

Mit Emily in den Armen watete er zur Tür. 

Gordon wollte die Hängelampe auslöſchen. 

Da wehrte er mit energiſchem Kopfſchütteln ſeinem 
Vorhaben. „Wenn ſchon mein Glück untergehen muß, 
jo mag’s mit brennenden Lichtern geſchehen!“ ſagte 
er dumpf. 

Als letzter, immer noch die an feinem Herzen wei- 
nende Tochter im Arme, verließ er das Haus. Das 
Tor konnte er nicht mehr ſchließen, denn das Waſſer 
ſtand ſchon über dem Türſchloß. 

Unter dumpfem Angſtgewieher zogen die Pferde 
an. Als das Gefährt ſich ſeinen Weg durch die ſtrudelnde 
Flut, vorüber am wellenumtoſten Grabe, mühſelig er— 
kämpfte, kam ein Schluchzen über die Lippen des 
alten Mannes, der neben dem Wagen einherritt, ohne 
Emilys Hand loszulaſſen. a 


170 Eigenland. 2 


„Mutter, ich komm' wieder zu dir — wir bleiben 
beiſammen, Mutter!“ ſchrie er durch das Brüllen der 
Donnerſchläge. 

Nun ging es das Tal hinauf, und endlich war die 
ſichere Höhe erreicht, und die abgerackerten Pferde 
durften ſich verſchnaufen. 

Das Gewitter hatte ſich ausgetobt, und auch der 
Sturm ebbte ab. Dafür ſenkten ſich rieſige Wolten- 
maſſen tief zur Erde, und der Regen goß weiter. Auch 
die laſtende Schwüle hielt an, und ſtatt der grollenden 
Donnerſchläge hörte man nun das geſchwätzige Plät- 
ſchern der an den Felsmauern niederrieſelnden Schnee- 
gewäſſer und das hohle Raufchen des unten im Tal- 
keſſel noch unabläſſig ſteigenden Fluſſes. 

Emily litt es nicht länger im Wagen. Sie ſprang 
ab und trat dicht an den Abgrundrand, wo bereits 
Gordon Harland ſtand, der ſein Pferd mit der einen 
Hand beim Zügel gefaßt hielt. 

Von unten herauf grüßte noch immer das von der 
Hängelampe im Wohnzimmer ausſtrahlende Licht. 
Durch die Fenſter, bis zu deren Simſen die gefräßige 
Flut bereits hochgeſtiegen war, leuchtete die Lampe 
auf ein wildbewegtes und unüberſehbares Meer. 

Durch die ſchweren Wolken begann der junge Tag 
zu dämmern und ließ die Taltiefe noch ſchwärzer und 
troſtloſer verlaſſen erſcheinen. 

„Verloren — heimatlos!“ kam es aufſchluchzend 
von Emilys Lippen. | 

„Das Tal unten konnte nicht immer grünen — feine 
Zeit iſt um!“ ſagte Gordon ernſt. „Aber heimatlos 
biſt du darum doch nicht geblieben, arme liebe Emily. 
Datf ich dir fortan Vaterhaus und Heimat erſetzen, 
darf ich deines Vaters Sohn werden — willſt du?“ 

Als er ſie an ſich zog, da fühlte er keinen Widerſtand 


2 Novelle von Otto Hoecker. 171 


mehr. Weinend ließ ſie ſich von ihm an die Bruſt ziehen, 
und mit geſchloſſenen Augen, wie um das Schreckliche 
unten in der Tiefe nicht länger ſehen zu müſſen, ruhte 
ſie an ſeinem Herzen. 

Auch Tom Dugan war vom Pferd geſtiegen und 
bis dicht an den Abgrundrand vorgetreten — wie 
damals vor langen Fahren, als ſein verheißenes Land 
ihn zum erſten Male von der nämlichen Stelle gegrüßt 
hatte. Damals war ſein junges Weib neben ihm ge— 
ſtanden, hatte verklärt lächelnd ihn angeblickt, zum Tal 
hinuntergedeutet und geſagt: „Dort ſoll unſere Heimat 
ſein!“ 

Für die Ewigkeit hatten ſie geplant und gebaut. 
Nun wankte unten das Haus. Das Waſſer wuſch 
zwiſchen den aufeinandergetürmten Steinen. Längſt 
hatte es die Scheiben eingedrückt. Das Wohnzimmer 
war noch der einzige lichte Fleck. Und jetzt begann auch 
die Lampe zu flackern. Vom Waſſer getragen hob ſich 
der Tiſch, der ein Menſchenalter unter ihr geſtanden, 
zu ihr empor. Nun ſtieß er gegen ſie, und ſie begann 
pendelnd zu ſchwanken. Immer ſtärker flackerte die 
Flamme — und dann erloſch ſie plötzlich. 

Nun war es völlig Nacht da unten geworden. Da 
unten ſtarb, was ſie liebgehabt — ſie konnten es nicht 
abwenden. 

Dann kam aus der Tiefe ein Krachen und Splittern, 
dazwiſchen das klatſchende Anſchlagen hochſpritzender 
Wellen. f 

Angſtvoll ſuchte Tom Dugans Blick die Stelle, wo 
er das Grab ſeines Weibes wußte. Fahl leuchtete nun 
der junge Morgendämmer auch in die Tiefe. Dort 
war jetzt alles verſchwommen grau in grau. An den 
feſtgetürmten Steinen kroch die zerſtörende Flut hoch. 
Wenn zuweilen eine Giſchtwelle brandend hochſchlug, 


12: = Eigenland. 2 


konnte man meinen, auf den Steinen ſtände eine weiß— 
verſchleierte Geſtalt und winke. 

Tom Dugan ſtand mit weitgeöffneten, ſtarren Augen. 
Er wenigſtens ſah ſein verklärtes Weib in ſchimmernd— 
weißem Gewande auf dem Grabhügel ſtehen und ihm 
zuwinken. Durch das ungewiſſe Dämmerlicht glaubte 
er ihre vertrauten Züge, ihre winkenden Hände deut- 
lich erkennen zu können. 

Bis die Flutmaſſen auch am Grabe ihr Zerſtörungs- 
werk vollendet und die hochgetürmten Steine unter- 
wühlt hatten. Wie ſie nun auseinanderbrachen und 
in der hochaufſchäumenden Flut verſchwanden, da ſah 
es ſich beinahe an, als ſchwebe über ihnen ein weißes, 
ſchleierhaftes Gebilde, winke und flöge aufwärts zu 
den in ergriffenem Schweigen Stehenden. 

Der Wind ſchlug plötzlich um und wehte den Regen 
gegen die Geſichter der kleinen Gruppe, weich und 
lind, als wolle er ſie tröſtend liebkoſen. | 

Ein Schauer ging durch Tom Dugans mächtige 
Geſtalt, und er ſtreckte die Hände aus, als wolle er etwas 
Unfichtbares, das plötzlich neben ihm ſtand, begrüßen. 

„Mutter — nun verſteh' ich deine Meinung!“ 
flüſterte er und blickte ſo ſeltſam eigen, als ſchaue er 
in ein gütiges Lächeln, das außer ihm niemand ſehen 
konnte. „Du weilſt nicht länger mehr da unten, du 
kamſt zu mir und — du bleibſt bei mir! — Ach, Mutter, 
nun mögen die Waſſer brauſen! Ich hab' dich und 
ich halt' dich — du biſt wieder bei mir!“ 

Der Rancher achtete nicht auf die verwunderten 
Blicke der um ihn Stehenden. Wie er ihnen zunickte, 
waren ſeine Augen klar wie immer. 

„Vorwärts!“ ſagte er. „Wir ſind wieder beiſammen, 
keiner fehlt uns mehr — und nun des Weges weiter, 
wohin der Herr uns führt!“ 

* 


* 
% 


2 Novelle von Otto Hoecker. 173 


Gordon ſuchte den Rancher in der Bretterhütte auf, 
in der die Familie einſtweilen Unterkunft gefunden, 
nachdem ſich herausgeſtellt hatte, daß das Hochwaſſer 
fein Zerſtörungswerk gründlich beſorgt und den Tal— 
keſſel dauernd unter Waſſer geſetzt hatte. 

Mit einem Briefe in der Hand trat er vor den alten 
Mann. 

„Joe hat an mich geſchrieben,“ ſagte er mit einem 
ſtrahlenden Seitenblicke auf die errötende Emily, „er 
weilt jetzt in Neumexiko, und ſeiner Behauptung nach 
gibt es dort gutes Land zu wahren Spottpreiſen zu 
kaufen. Er läßt Euch durch mich den Vorſchlag machen, 
dorthin zu kommen und Euch dort anzukaufen. Was 
meint Ihr dazu?“ 

In den letzten Wochen war Tom Dugan ein ganz 
anderer geworden. Er hatte in ſeiner Streitſache mit 
der Baugeſellſchaft dem Ingenieur völlig freie Hand 
gelaſſen und die ihm bewilligte Entſchädigungsſumme 
angenommen, ohne ein Wort dazu zu ſagen. 

„Überall iſt Gottes Erde,“ erklärte er nun, „und 
Joe weiß, was wir für Land gebrauchen. Nun die 
Mutter wieder bei mir iſt, geh' ich bis an das Ende 
der Welt. Aber was ſoll aus Euch werden, Gordon — 
ich kann mich nicht von Emily trennen!“ 

„Das ſollt Ihr auch nicht, denn wir bleiben bei— 
ſammen!“ erklärte Gordon im Tone freudiger Zu— 
verſicht. „Ich habe von der Geſellſchaft meine Ent— 
laſſung erbeten und erhalten. Die Dammbauten ſind 
ohnehin nahezu fertig und haben die Waſſerprobe glän- 
zend beſtanden. Was noch zu tun bleibt, kann auch 
ein anderer vollbringen. Laßt mich Euer Sohn ganz 
fein — Eure rechte Hand im Verein mit Bill auch bei 
der Arbeit. Die Erde lockt und ruft mich. Nachdem 
ich die Freiheit gekoſtet, mag ich nicht mehr zum Bann 


174 Eigenland. | 2 


der Großſtadt zurückkehren — ein freies, glückliches 
Daſein an Emilys Seite winkt mir als höchſtes Lebens- 
glück!“ 

Da ſchlug Tom Dugan wortlos in die ihm dar- 
gebotene Hand. Er war viel zu bewegt, um ſprechen 
zu können, und als die Liebenden ſich in ſeliger Am- 
armung hielten, nickte er immer wieder vor ſich hin. 

„Mutter,“ flüſterte er mit zitternder Stimme, „nun 
hat uns der Himmel noch einen neuen, lieben Sohn 
dazugeſchenkt. Nun wird auch unſere Emily wieder 
klare Augen bekommen — und morgen gehen wir. 
wieder zuſammen auf die Suche nach neuem Eigen- 
land, du und ich, zuſammen mit unſeren lieben Kindern.“ 


2 
Ir 


Be | ee 


> 


Darifer Straßenberufe. 
von A. O. Klaußmann. 


mit 9 Bildern. Y (nachdruck verboten.) 


Mi vollem Recht hat man die Boulevards von 
Paris, beſonders die großen Boulevards, das 
„Herz Frankreichs“ genannt. Auf dieſen breiten, zu- 
ſammenhängenden Straßenzügen, die Napoleon III. 
durch ſeinen Präfekten Haußmann durch das Gewirr 
der engen und ſchmutzigen Gaſſen der Pariſer Altſtadt 
brechen ließ, ſpinnt ſich in der Tat bei Tage und bei 
Nacht das Leben und Treiben des Pariſers ab, ſowohl 
deſſen, der feinen Beſchäftigungen nachgeht, als des- 
jenigen, dem es feine Verhältniſſe geſtatten, zu „Tla- 
nieren“. Die Elyſäiſchen Felder und der Zuilerien- 
garten ſind der große Feſtplatz von Paris, auf dem 
ſich die offiziellen Veranſtaltungen abſpielen. Aber wer 
das eigentliche Leben und Treiben der Bevölkerung 
von Paris kennen lernen will, der muß ſeine Studien 
auf den Boulevards machen. | 

Beginnen wir unfere Wanderung auf dem Baſtille- 
platz, und gehen wir den Boulevard Beaumarchais hin- 
auf. Hier begegnen uns eine Menge von Menſchen, 
denen man es anſieht, daß fie nicht nur zum Spazieren- 
gehen, ſondern ihrer Geſchäfte halber unterwegs ſind. 
Man findet bei ihnen nicht das überhaſtete Eilen des: 
Berliners, noch den finſteren Geſchäftsernſt des Eng— 
länders. Dieſe Leute haben noch einen Augenblick Zeit 


176 Pariſer Straßenberufe. a) 


übrig neben ihren Geſchäften. Auf den GStraßen- 
dämmen flutet ein ungeheurer Verkehr von Omnibuſſen, 
Straßenbahnwagen, Droſchken und Equipagen. Die 
fünf- bis ſiebenſtöckigen Häuſer zur Rechten und Linken 
des breiten Fahrdammes weiſen in ihren Erdgeſchoſſen 
ausnahmslos glänzende Läden auf. Es fällt uns vor 
allem auf, daß Schuhwaren, Korſette, Delikateſſen, Hüte 
und Modewaren zum Verkauf gehalten werden, und 
ſchon nach kurzer Zeit entdecken wir, daß es ungemein 
viele Friſeure und Haarhändler in Paris gibt. 

Man ſollte alſo kaum glauben, daß auf den Boule- 
vards noch ein anderer Verkauf als in dieſen glänzen— 
den, mit allem Raffinement der Schaufenſterdekoration 
und des modernen Komforts ausgeſtatteten Läden mög- 
lich wäre. Aber es drängen ſich uns neben den Blumen- 
verkäuferinnen und den Camelots, die beſonders Zei— 
tungen und politiſche Flugblätter verkaufen, noch andere 
Typen auf, ſo charakteriſtiſch und eigenartig, wie man 
ſie eben nur auf den Pariſer Boulevards finden kann. 

Das find Leute, die ihr tägliches Brot auf den Boule- 
vards erwerben, die ſich ihre Einnahme dadurch ver- 
ſchaffen, daß fie in origineller Weile etwas zum Ver- 
kaufe anbieten oder eine Kunſt vorführen. Erfolge 
für ſie ſind nur bei einem Publikum möglich, das den 
Wohltätigkeitsſinn hat, den der Pariſer, noch mehr aber 
die Pariſerin beſitzt. Sie ſind nur möglich dort, wo eine 
außerordentlich nachſichtige Polizei niemand etwas 
in den Weg legt, der die Abſicht hat, ſich ein paar 
Centimes zu verdienen, ſelbſt wenn ſein Gewerbe nichts 
anderes iſt als ein verkappter Bettel. Aber die Paſſanten 
ſowohl wie die Poliziſten gönnen dem Unglücklichen den 
„Selbſtbetrug, der durch fein Gebaren glaubt, er ſei ein 
„Händler“ oder ein „Künſtler“, während er doch nichts 
weiter tut, als Almoſen zu fordern. 


2 Von A. O. Klaußmann. 177 


Gegen ſolche Zumutung würde ſich zwar gewiß der 
„Geſchäftsmann“ ſträuben, der eine Menſchenmenge 
um ſich verfammelt, um auf einer ſchwarzen Tafel mit 
Kreide Rechenexempel niederzuſchreiben und zu löſen. 
Wir ſehen es auf dem Bilde, daß ſich kein weibliches 


Der Erfinder eines neuen Rechenſyſtems erklärt feine | 
Methode, bevor er ſeine Broſchüre anbietet. 
Weſen für ſeine Künſte intereſſiert; aber die Männer, 
beſonders die jüngeren, lauſchen ſeinen Erklärungen 
und haben Intereſſe daran, denn er zeigt eine neue 
Methode des Rechnens, ein abgekürztes Verfahren für 
Subtraktionen, Multiplikationen und Diviſionen. Für 
den Mathematiker und den routinierten Kaufmann ſind 
dieſe abgekürzten, angeblich neuen Methoden etwas 
1918. XII. 12 


178 Pariſer Straßenberufe. ¹ 


ſehr Altes; das Publikum aber, vor dem der Rechen- 
künſtler ſeine Gratisvorleſung hält, folgt gerne ſeinen 
Ausführungen, denn es ſcheinen da allerlei Vorteile 
in der ſchwierigen Kunſt des Rechnens geboten zu 
werden. Natürlich erzählt der Rechenkünſtler auch von 
ungeheuren Vorteilen, welche die abgekürzte Methode 
bringen werde; er verſpricht den Zuhörern, ſie würden 
ſich niemals verrechnen, wenn ſie ſich ſeiner Methode 
bedienten, und ſchließlich greift er in die Taſche und 
bietet Broſchüren an, in denen das „neue“ Rechen- 
ſyſtem erklärt und mit Beiſpielen und Erläuterungen 
verſehen iſt. Sein ganzes Jackett hat inwendig Taſchen, 
die dick mit dieſen Broſchüren vollgeſtopft ſind, die nur 
wenige Centimes koſten und von Intereſſenten gekauft 
werden, weil das Riſiko eben kein allzu großes iſt. 
Weiter oben an dem alten Triumphbogen der Porte 
St. Denis, auf dem Boulevard gleichen Namens, ſehen 
wir wieder einen Haufen Menſchen um einen Mann 
verſammelt, der auf der Erde hockt und große weiße 
Bogen mit Schriftzügen bedeckt. Er hat dieſe weißen 
Bogen mit Steinen beſchwert, damit ſie der Wind nicht 
entführt. Mit kühnem Schwung und kräftiger Hand 
zieht er Schriftzüge auf die weißen Bogen — es iſt 
ein Händler mit Füllfederhaltern, der hier ſeinen Zu— 
ſchauern vor Augen führt, welch wundervolle Leiſtungen 
man mit den bei ihm gekauften Schreibwerkzeugen 
erzielen kann. Es iſt freilich wohl hundert gegen eins 
zu wetten, daß der Füllfederhalter, mit dem der Händler 
ſchreibt, der beſte ſeines ganzen Vorrats iſt, daß die 
anderen Exemplare, die er für billigen Preis verkauft, 
an Schreibfähigkeit und Dauerhaftigkeit dem Parade— 
füllfederhalter, den er da vorführt, bei weitem nicht 
gleichkommen, und daß ſie in noch höherem Maße 
als ſonſt alle die Tücken beſitzen, durch die ein Füll- 


u Von A. O. Klaußmann. 179 


federhalter ſeinen Beſitzer über kurz oder ng zur Der- 
zweiflung zu bringen pflegt. 

Wir haben den Boulevard des Ftaliens . und 
kommen an der Oper vorüber. Jetzt find wir auf dem 
Höhepunkte der großen Boulevards, dem Dorado der 


Ein Verkäufer von Füllfederhaltern breitet ſeine 
Schriftproben auf der Erde aus. 


Fremden, dem Hauptquartier der vornehmen Flaneure, 
die hierher kommen, um zu ſehen und geſehen zu wer- 
den, und für welche die Arbeit keine Notwendigkeit iſt. 
Man ſieht es auch den zahlreichen Paſſanten an, daß 
ſie lediglich ihrem Vergnügen und nicht einer ernſten 
Beſchäftigung nachgehen. Sie find alle in beſter Stim- 


180 Pariſer Straßenberufe. 2 


mung, ſie haben Geld in der Taſche und huldigen dem 
Grundſatz: Leben und leben laſſen. 

Wieder eine Menſchenanſammlung, die ſich be- 
ſtändig vergrößert. Wir treten neugierig heran und 


es 


” LER , 
„ 82 
- ö A *. ER 


Der „Weltweiſe aus dem Morgenlande“ verſammelt eine 
ungeheure Menge, um nachher Zigarettenpapier 
zu verkaufen. 


trauen unſeren Augen nicht, als wir inmitten der 
Menſchenmenge, die ſich langſam fortſchiebt, einen echten 
Magier erblicken. Wir kennen ja aus den Märchen- 
büchern und von der Bühne her das Koſtüm des Ma— 
giers, zu dem nach ungeſchriebenem Geſetze ein lang 
herabwallendes, talarartiges Gewand in bunten Farben 
und eine hohe ſpitze Mütze gehört. Einen ſolchen Magier 


2 Von A. O. Rlaußmann. 181 


haben wir vor uns. Der lange Bart paßt vortrefflich 
zu dem Magiergewande, und das Benehmen dieſes 
Weiſen aus dem Morgenlande iſt ein höchſt ſonderbares. 
Hängt er geheimnisvollen Zauberproblemen nach, ſucht 
er den Stein der Weiſen, iſt er der Welt entrückt durch 
die ernſten Gedanken, die ihn bewegen? Er blickt zu 
Boden, bleibt endlich ſtehen, geſtikuliert, murmelt un- 
verſtändliche Worte und geht weiter. Die neugierige 
Menge folgt ihm. Wiederum bleibt der Magier ſtehen, 
hebt die Hände beſchwörend zum Himmel empor, 
wenigſtens die eine Hand, denn in der anderen trägt 
er einen großen Karton, und blickt nach den Dächern 
und den zahlreichen Kaminröhren, die auf jeden Schorn- 
ſtein des Pariſer Hauſes aufgeſetzt ſind. 

Auf den Geſichtern der Leute, die dem Magier 
neugierig folgen, ſieht man ein liebenswürdiges Lächeln. 
Nirgends hört man ein Wort der Verhöhnung oder 
des Spottes. Jetzt bleibt der Magier ſtehen und be- 
ginnt zu reden. Ein zehnfacher Kreis von Neugierigen 
umſteht ihn. Er ſpricht gut und mit dem ganzen Pathos 
und dem lebhaften Gebärdenſpiel des Franzoſen. Er 
erzählt in humoriſtiſchem Tone von den Forſchungen, 
die er auf dem Gebiete der höheren Magie gemacht 
hat, und — bietet dann aus ſeinem Karton Zigaretten 
papier zum Kauf an. Die Käufer find überraſcht, aber 
ſie lachen. Zigarettenpapier braucht jedermann, denn 
der Pariſer dreht ſich ſelbſt feine Zigaretten, um nicht 
für die Zigaretten, die aus den Staatsmonopolfabriken 
ſtammen und die teuer und ſchlecht ſind, unnützes Geld 
auszugeben. Es hat zwar wohl jeder der Raucher, die 
anweſend find, ein oder mehrere Pakete Zigaretten- 
papier bei ſich, aber ſie kaufen doch. Sie freuen ſich 
über die originelle Art und Weiſe, in der dieſer Mann 
ſeine Ware loszuwerden ſucht. Und nicht nur Ware 


182 Pariſer Straßenberufe. u 


und Geld werden zwiſchen dem Magier und den Käufern 
ausgetauſcht, ſondern auch verbindliche, höfliche Redens- 
arten. | 

Der lange Marſch hat uns müde gemacht; wir be- 
ſchließen, auf der Terraſſe eines Cafés auszuruhen. 


Der Degenfchluder, der ſich vor einem Café produziert. 


Das Wort „Terraſſe“ muß man nicht in dem Sinne 
verſtehen wie bei uns in Deutſchland. Die Cafetiers, 
welche ſich an gewiſſen Stellen der Boulevards faſt in 
jedem Hauſe finden, ſetzen einfach im Sommer einen Teil 
ihrer Stühle und Tiſche auf das Trottoir, ſpannen ein 
Leinwandſchutzdach darüber — und fertig iſt die 
„Terraſſe“. Es ſitzt ſich köſtlich in dieſen Pariſer Kaffee- 


u Von A. O. Rlaugmann. 183 


häuſern auf den Boulevards, weil man hier wie in 
einer Theaterloge das geſamte Auf- und Abfluten des 
Pariſer Lebens ſo bequem beobachten kann. 

Da erſcheint ein Mann, der ſich vor den Tiſchen 
aufſtellt, ſich höflichſt verbeugt, ſeinen Strohhut auf die 
Erde legt, unter ſeinem etwas fadenſcheinigen Jackett 
einen Degen mit dünner Klinge herausholt und ſich 
dann hinſtellt, um dieſen Degen durch den Mund regel- 
recht in die Speiſeröhre hinabgleiten zu laſſen. Es iſt ein 
ſogenannter Oegenſchlucker, der feine Künſte produziert. 
Er ſpricht kein Wort, er ſchreit nicht, er geht auch nicht 
etwa, nachdem er den Degen wieder aus dem Leibe 
herausgezogen hat, mit dem Hute in der Hand ſammeln. 
Aber hier und dort von den Tiſchen winkt man ihn 
heran und drückt ihm ein Kupferſtück in die Hand. 
Einen Sou hat man für einen ſolchen Mann immer 
übrig. Manchem Kaffeehausbeſucher und mancher Be- 
ſucherin mag es unappetitlich geweſen ſein, dem Mann 
bei ſeiner Degenſchluckerei zuzuſehen; aber ſie äußern 
ſich nicht abfällig über ihn, noch weniger machen ſie 
ihm Vorwürfe, und ſchließlich reichen ſie ihm doch eine 
Kupfermünze. | 

Wir nehmen unſeren Spaziergang wieder auf und 
gehen nach Nordweſten über den Boulevard Haußmann, 
bis wir nördlich von dem Platze, auf dem der Triumph- 
bogen ſteht, in die ſogenannten Außenboulevards ge- 
langen, die wir nunmehr nach entgegengeſetzter Him- 
melsrichtung als bisher verfolgen. Über die Boulevards 
de Courcelles und de Batignolles gelangen wir in die 
Arbeiter- und Studentenviertel von Paris. Noch immer 
ſind die Boulevards gewaltig breit und von hohen 
Häuſern beſetzt; auch die doppelten Baumreihen fehlen 
nicht, und ſelbſt hier wird man Eleganz und verlockende 
Aufmachung in den Läden nicht vermiſſen, wenn auch 


184 Pariſer Straßenberufe. u 


natürlich die Ausſchmückung und die ausgeſtellten Waren 
ſich mit den Schaufenſtern auf den großen Boulevards 
nicht meſſen können. 

Hier fallen uns unter den Paſſanten die Soldaten 
aus den benachbarten Kaſernen auf, die Kindermädchen, 


Der Feſſelungskünſtler auf einem der äußeren Boulevards. 


die Dienſtmädchen und Köchinnen, die Arbeiterfrauen, 
die Studenten, die Künſtler in ihren etwas gewagten 
Koſtümen. Hier hat man nicht viel Zeit zum Flanieren 
und Bummeln, aber doch immerhin noch ſo viel Zeit, 
um ſeine Neugier zu befriedigen. Hier finden ſich die 
eigenartigen Darbietungen der Leute, die ſich ein paar 
Centimes verdienen wollen, in derberer Geſtalt und 


QO Von A. O. Klaußmann. 185 


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eben auf ein anderes Publikum berechnet als auf den 
großen Boulevards. Und mit wie geringen Mitteln 
werden dieſe Vorführungen inszeniert! Unſer Bild 
auf Seite 184 zeigt uns einen Feſſelungskünſtler oder 
vielmehr einen Befreiungskünſtler. Ein altes Stück Pack- 
leinwand wird auf die Erde gelegt. Der Befreiungs- 
künſtler benützt dieſe Packleinwand als Unterlage und 


Ein Kopfakrobat auf den Boulevards. 
wird von feinem Genoſſen (links auf dem Bilde) nach 
allen Regeln der Kunſt ſo gefeſſelt, daß es unmöglich 
ſcheint, ſich ohne fremde Hilfe zu befreien. Während 
aber dann der Gehilfe des Feſſelungskünſtlers plaudernd 
im Kreiſe der Neugierigen herumgeht, um ihre Auf- 


186 Pariſer Straßenberufe. a 


merkſamkeit auf fich zu lenken, hat ſich der Feffelungs- 
künſtler mit einigen kühnen Griffen raſch fo weit be- 
freit, daß er von ſelbſt aufſtehen und einige Ze 
herumgehen kann. 

Man ſpendet einige Kupferſtücke, und die beiden 
Geſchäftsleute nehmen die Stricke und die alte Badlein- 
wand auf, um eine Strecke weiter ihre Künſte von neuem 
zu produzieren. Der Pariſer iſt eben wohlwollend, auf 
den Außenboulevards vielleicht noch wohlwollender als 
dort, wo die vornehme Welt ſich ein Rendezvous gibt; 
ſagt doch das Sprichwort, das bei allen Völkern Gültig- 
keit hat: „Ein armer Menſch hat ein gutes Herz.“ Des- 
halb findet auch noch der „Gamin“ eine kleine Ein- 
nahme, der vor den Kaffeehäuſern der äußeren Boule- 
vards Rad ſchlägt, auf dem Kopfe ſteht oder andere 
Künſte ſehen läßt, die beweiſen, daß der menſchliche 
Kopf ebenſogut als Ramme und Hammer, wie zum 
Denken benützt werden kann. 

Eine verſteckte Bettelei und nichts weiter betreibt 
die Wahrſagerin, die an einer Hauswand ſitzt, ſich von 
den Paſſanten die Hand zeigen läßt und dann für zehn 
Centimes dem Bezahlenden auf einen Zettel Angaben 
niederſchreibt, wie ſich ſeine Zukunft geſtalten wird. 
Der Franzoſe iſt abergläubiſch, und es macht ihm Spaß, 
den Zettel, der Andeutungen über ſeine Zukunft ent- 
hält, ſeinen Familienangehörigen und ſeinen Freunden 
zu zeigen. Er weiß auch, daß die Prophezeiung für 
die Zukunft um ſo beſſer ausfällt, je wertvoller das 
Geldſtück iſt, das man in die Hände der alten Sibylle 
legt, und deshalb hat dieſe Pariſer Boulevardpythia 
wahrſcheinlich eine vielfach größere Einnahme, als wenn 
ſie nur die Hand ausſtrecken würde, um eine Gabe zu 
heiſchen. 


Gutmütige Menſchen ſind auch immer ſentimental 


u Von A. O. Klaußmann. 187 


und ſind dankbar, wenn man ihnen etwas Sentimentales 
bietet, ihnen vielleicht ſogar Tränen der Rührung ent- 
lockt. Das haben ſich auch die beiden Straßenmuſikanten 


Eine Wahrſagerin ſchreibt jedem zntereſſenten feine 
Zukunft auf. 

daß ſentimentaler Geſang noch rührender wirkt, wenn 
er von den ſanften, klagenden Tönen eines Harmoniums 
begleitet wird. Mit großer Geſchicklichkeit haben ſie ſich 
ein altes Harmonium ſo hergerichtet, daß ſie es mit 
Leichtigkeit in den Straßen herumtragen können. Ein 
zuſammenklappbarer Stuhl für den Harmoniumſpieler, 
ein Kaſten, der die Noten enthält, wird von den beiden 


188 Pariſer Straßenberufe. 2 


. * 
kräftigen Männern leicht mitgetragen. In den Arbeiter- 
vierteln, in der Nähe von Kaſernen und Hoſpitälern 
ſetzen ſie das Harmonium mitten auf die Straße nieder 
und beginnen ihre Vorführungen. Bald iſt auch ein 


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Pariſer Straßenmuſikanten, die ein Harmonium 
mit ſich führen. 


zahlreiches Publikum verſammelt, das andächtig laufcht. 
Der „Piou-Piou““) denkt bei dem ſentimentalen Ge— 
ſang an die ferne Heimat und an das liebe Mädchen, 
das er dort zurüdgelafjen hat, und die auf einem Ein- 
kaufsgange begriffene Köchin erinnert ſich vielleicht bei 
dem Geſang mit Rührung des Ungetreuen, der ſie erſt 


*) Spottname für den franzöſiſchen Infanteriſten. 


u Von A. O. Nlaußmann. 189 


vor kurzem ſitzen ließ. Sie alle haben eine Kupfermünze 
übrig für die ausübenden Künſtler, die mit Muſik und 
Geſang ſich in ihr Herz ſtehlen und ihre Rührung wecken. 

Längſt haben wir unſere Schritte nach Süden ge- 
lenkt und find auf den Boulevard de Sébaſtopol ge- 
langt, der uns an den rieſigen Markthallen vorüber- 
führt. Außer den Gemüſeverkäuferinnen, die den 
prunkenden Namen „Händler der vier Jahreszeiten“ 


Der Verkäufer eines neuen Schuhknöpfers. 


führen, und den Suppenverkäufern, die eine dunkle, 
nicht übel duftende Suppe, nach deren Zutaten man 
ſich nur nicht allzu genau erkundigen darf, an Lieb- 
haber abgeben, finden wir noch einen abſonderlichen 


190 Pariſer Straßenberufe. 2 


Verkäufer, der Schuhknöpfer an Mann und Frau bringen 
will. Die liebe Weiblichkeit und Männlichkeit in Paris 
hält außerordentlich viel auf ihr Außeres und verſteht 
ſelbſt mit geringen Mitteln ſich modern und elegant 
herauszuſtaffieren. Weil geknöpfte Schuhe einen ele- 
ganten Fuß machen, iſt der Knöpfſchuh, den man bei 
uns ſelten findet, in Paris allgemein verbreitet. Einen 
Schuhknöpfer braucht daher jedermann, und ein neu- 
artiger Schuhknöpfer, mit deſſen Hilfe man raſcher fertig 
wird als mit dem alten Modell, kann immer auf Käufer 
rechnen. Die Hauptſache iſt, daß man dem Publikum 
praktiſch vorführt, wie ſehr ſich der Schuhknöpfer be- 
währt. 

Der Verkäufer hat ſich ein dreibeiniges Stativ aus 
Eiſenſtangen hergerichtet, das er überall leicht auf- 
ſchlagen kann, und das zur Stütze für den Fuß dient, 
deſſen Schuh er knöpfen will. Natürlich muß der Ver- 
käufer einen kleinen eleganten Fuß und neue elegante 
Fußbekleidung haben und große Gewandtheit im Auf— 
und Zuknöpfen der Schuhe beſitzen. Dann zieht er nicht 
nur Neugierige, ſondern auch Käufer heran und kann 
mit ſeinem Tagewerk zufrieden ſein, wenn das Nacht- 
dunkel wie eine Wolke von oben her in die Straßen 
hineinſinkt und überall die elektriſchen Lichter auf- 
flammen. 


% 


Der Gewiſſensdoktor. 
Eine Geſchichte zum Nachoͤenken. von A. Erbſtein. 


1 


[Nachoͤruck verboten.) 


(Ki Kaſpar, feit einem halben Jahre wohlbeſtallter 
Doktor der Philoſophie, ſaß ſehr traurig auf ſeiner 
Bude. Seine Niedergeſchlagenheit war leicht begreif- 
lich, denn er litt buchſtäblich Hunger. Sein reiches 
Wiſſen nützte ihn gar nichts, mit dem Beweiſe, daß in 
einem Kubikzentimeter Gas ſiebenundzwanzig Trillionen 
Atome enthalten ſind, konnte er kein Brot ſchaffen, kein 
Schneider gab ihm Kleider für die Mitteilung, daß die 
Apfelbäume zu blühen beginnen, wenn im Erdboden 
in einer Tiefe von einem halben Meter eine Tempe- 
ratur von zehn Grad Celſius herrſcht. 

Sein Sinnen und Brüten endete ſchließlich mit dem 
Entſchluſſe, am nächſten Tage die Stelle eines Schaff- 
ners bei der ſtädtiſchen Straßenbahn anzunehmen, wenn 
ihm bis dahin nichts Beſſeres einfallen ſollte. 

Während er aber die Lampe ausdrehte, was er aus 
Sparſamkeit ſtets ſchon vor dem Auskleiden tat, er- 
heiterte ſich plötzlich ſeine Miene. Er hatte einen guten 
Gedanken. 

Am nächſten Morgen ging er in der Tat nicht zur 
Direktion der ſtädtiſchen Straßenbahnen, ſondern in 
ein Zeitungsbureau und gab dort folgende Anzeige auf: 
„Gewiſſensdoktor befreit nach einer ſtreng wiſſenſchaft— 


192 Her Gewiſſensdoktor. | 2 


lichen Methode von jeder Seelenangſt, heilt alle Her- 
zenswunden, löſt peinigende Zweifel, vertreibt Ge- 
wiſſensbiſſe und gibt dem Leben die wahre Richtung.“ 
Er fügte noch ſeine Adreſſe und die Aufforderung hinzu, 
für den erſten Rat eine Zehnmarknote beizuſchließen. 

Dann bezahlte er das Inſerat mit den letzten Nickel- 
ſtücken, die ihm in dem vorhergegangenen Kampfe ums 
Daſein geblieben waren, und ging in gehobener Stim- 
mung heim. Kein Zweifel, dachte er ſich, es gibt genug 
Leute, die von irgendwelchen Gewiſſensbiſſen gequält 
werden, denen an einer Banknote nichts liegt, die eine 
Hilfe brauchen, die nur der geben kann, der ſo wie ich 
alle Geheimniſſe des Lebens kennt. Ich will die Sache 
ganz ehrlich treiben. Wo kein Rat zu geben iſt, will 
ich auch kein Geld nehmen. So wird Leiſtung gegen 
Leiſtung ſtehen, ich muß nicht mehr am Hungertuche 
nagen und kann vielleicht auch Gutes ſtiften. 

Der Erfolg ſeiner Idee war bald ſo groß geworden, 
daß er eine geräumige Wohnung ſuchen mußte, denn 
die meiſten Hilfsbedürftigen wendeten ſich nicht, wie 
er gedacht hatte, ſchriftlich an ihn, ſondern kamen per- 
ſönlich. Nach Ablauf einiger Wochen hatte er ſchon 
ſo viele Fälle, daß er zur Erledigung der ſchriftlichen 
Behandlung einen Sekretär aufnehmen mußte, dem er 
bald auch die einfacheren Sachen zur ſelbſtändigen Ent- 
ſcheidung überließ. 

Heute herrſchte in dem Vorzimmer des vornehmen 
Empfangsraumes ein beſonders lebhaftes Treiben. 
Lauter vornehme Leute waren gekommen. Arme 
Schlucker erſchienen überhaupt ſehr ſelten, woraus der 
Doktor den kühnen Schluß zog, daß die Reichen ent 
weder häufiger ein belaftetes Gewiſſen haben oder doch 
mehr Zeit zu ſeiner Erforſchung und mehr Geld zu 


oO Von A. Erbſtein. 193 


ſeiner Erleichterung verwenden können. Dieſe nicht 
ſehr tiefſinnige Betrachtung machte ſeinem Rufe als 
Wunderdoktor allerdings wenig Ehre, die Tatſache aber, 
an die ſich dieſe Betrachtung knüpfte, füllte prächtig 
ſeinen Beutel. Auf der ſilbernen Schüſſel, die auf 
dem Tiſche in ſeinem Sprechzimmer ſtand, lagen wieder 
eine Menge Banknoten; es war ein ergiebiger Tag 
geweſen, und alle Kunden bis auf zwei, die noch draußen 
im Vorzimmer warteten, waren in zweifacher Hinſicht 
erleichtert von dannen gegangen. 

Auf das Glockenzeichen des Doktors trat der erſte 
der beiden, ein älterer, vornehm gekleideter Mann, ins 
Sprechzimmer ein. Nach der Begrüßung und einigen 
Fragen und Antworten ſchilderte er feinen Fall folgen- 
dermaßen. „Ich verſtehe mich ſelbſt nicht, denn ich 
fange an, an mir zu verzweifeln,“ ſagte er traurig. 
„Ich habe eine liebe, gute Frau und eine reizende 
Tochter. Ich bin beiden ſehr zugetan, doch es vergeht 
kaum ein Tag, an dem ich nicht durch einen unver- 
nünftigen Wutausbruch, durch meinen Jähzorn meine 
Frau oder meine Tochter unglücklich und mich ſelbſt 
verabſcheuungswürdig mache. So vergifte ich unauf- 
hörlich das Leben der beiden Menſchen, die ich am 
liebſten auf Erden habe. Sehen Sie, Herr Doktor, 
erſt heute früh habe ich meiner Tochter ein mit Honig 
und Butter beſtrichenes Brot an den Kopf geworfen. 
Ich weiß, daß ich eine Strafe verdiene. Helfen Sie mir, 
und ſtrafen Sie mich meinetwegen!“ 

„Können Sie denn Ihr Temperament gar nicht 
zügeln?“ fragte der Doktor. 

„Ich ſtrenge mich mächtig an, es zuwege zu bringen, 
aber —“ 

„Wenn es ſo iſt, dann geſtatte ich mir die Frage: 
Sind Sie ein Freund vom Gehen in AT ar 
1918. XII. 


194 Der Gewiſſensdoktor. u 


„Nein — das bin ich keineswegs,“ beteuerte der 
Mann. Er ſagte aber nicht, daß er ſeine Laufbahn 
als Laufburſche begonnen hatte zu einer Zeit, da nur 
wenige Verkehrsmittel vorhanden waren, und daß er 
ſeither zum Unterſchiede von dieſer beſcheidenen An- 
fangsſtellung keinen Schritt mehr zu Fuß machte, wenn 
er es irgend vermeiden konnte. 

„Sie haſſen alſo die Bewegung. Nun, ich kann 
Ihnen aber leider nicht helfen: Sie müſſen von heute 
an jeden Tag mindeſtens zehn und an jedem Sonntag 
mindeſtens zwanzig Kilometer zurücklegen!“ 

„Das iſt ein bißchen arg, Herr Doktor — meinen 
Sie nicht?“ 

„Es iſt genau die Zahl, die Ihrem Falle ent- 
ſpricht.“ 

„Sie faſſen aber Ihre Patienten gar zu ſcharf an!“ 

„Sie bezahlen mich für einen ſtreng wiſſenſchaft— 
lichen Rat, und ich darf Ihnen keinen anderen geben. 
— Guten Tag, mein Herr!“ 

„Würde ich nicht das gleiche durch eine große Spende 
für einen wohltätigen Zweck erreichen?“ 

„Ganz gewiß nicht. Zehn Kilometer täglich, am 
Sonntag das Doppelte — das iſt das einzige wirkſame 
Mittel. Nun wollen Sie mich aber entſchuldigen. Es 
wartet noch eine Dame draußen.“ 

Er ging, befolgte den Rat des Doktors und wurde 
ſchon nach einigen Wochen der beſte und liebenswürdigſte 
Menſch. 

Nach dem Fähzornigen trat ein ſchlankes Fräulein 
beim Doktor ein. Ihr ſchönes Geſicht war in dieſem 
Augenblicke ſo weiß wie ihr koſtbarer Schleier. Sie war 
anſcheinend eines der zarten Geſchöpfe, die viel Liebe 
und Sonnenſchein brauchen, denn ihre Augen ſchauten 
ſo furchtſam in die Welt, als ob ſie Angſt hätten, auf 


a Von A. Erbſtein. 195 


die unrichtige Welt gekommen zu ſein, wo es gar nicht 
ſo viel Liebe gibt, als ſie täglich brauchen. 

„Kennen Sie mich, wiſſen Sie, wer ich bin?“ fragte 
ſie ſogleich mit ihrer glockenhellen Stimme. 

„Nein,“ ſagte der Doktor ruhig und ſah ſie ſchaͤrf 
an, ſich wundernd, daß ein ſo herrliches Mädchen etwas 
auf dem Gewiſſen haben könne. 

„Oh, da bin ich ſehr froh!“ rief ſie aus. „Ich fürchtete 
nämlich, Sie wüßten, wer ich bin. — Darf ich mir 
Ihren Rat erbitten?“ Sie legte bei dieſen Worten 
eine blaue Banknote auf den Tiſch. 

„Bitte, nehmen Sie Platz!“ antwortete der Doktor 
in freundlichem Tone. „Am beiten iſt wohl, Sie er- 
zählen mir Ihre Geſchichte ohne Umſchweife.“ 

„Ich glaube eigentlich nicht, daß ich etwas Unrechtes 
getan habe,“ ſagte ſie. „Ich bin mir keiner Schuld 
bewußt; aber ich brauche Ihren Rat, der fo leidenſchafts- 
los, oder beſſer geſagt, ſo unparteiiſch als möglich ſein 
ſoll. Sie dürfen aber dabei nicht gewöhnlich oder 
hausbacken zu mir reden, ſondern müſſen meinen Fall 
im ſtreng ethiſchen Sinne behandeln.“ 

„Gewiß, mein Fräulein, dafür haben Sie mich doch 
bezahlt. Rein wiſſenſchaftlich, nach den ehernen Ge- 
ſetzen der Ethik will ich Ihren Fall prüfen.“ 

„Fangen wir alſo an!“ meinte fie. „Ich bin ver- 
lobt.“ 

„Darf ich Ihnen gratulieren?“ 

„Nein!“ rief ſie ärgerlich aus. „Das iſt ja die Sache. 
Ich liebe den Mann, mit dem ich verlobt bin, nicht in 
dem Maße, wie ich einen anderen liebe.“ 

„Warum heiraten Sie dann nicht den anderen?“ 

„Ich will ja eben von Ihnen hören, welchen von 
den beiden ich nehmen ſoll, was das Richtige iſt in einem 
ſolchen Falle. Ich kann ja meinen Bräutigam ſo weit 


196 Der Gewiſſensdoktor. o 


ganz gut leiden, aber den anderen liebe ich. Verſtehen 
Sie mich, Herr Doktor? Den anderen bete ich heim- 
lich an!“ 

Eine lebhafte Röte ſchoß bei Ra Morten in a 
zarten Wangen. 

„Und die Schwierigkeit?“ 

„Geld.“ 

Der Doktor ſah enttäuſcht darein. Mit ſolchen Dingen 
hatte er doch nichts zu Schaffen! Aber es ſchien ihm 
immerhin eine grauſame Sache, daß dieſes ſchöne Mäd- 
chen verſchachert werden ſollte. 

Sie erriet ſeine Gedanken und ſagte: „Es iſt nicht 
ſo einfach, wie Sie glauben. — Sollen die Kinder den 
Eltern unbedingt folgen?“ 

„Wenn die Eltern im Rechte ſind — ja.“ 

„Mein Vater hat mich ſehr gerne, verhätſchelt mich 
in jeder Hinſicht, und nur ſeine Liebe zu mir iſt der 
Beweggrund zu dem Wunſche, daß ich den Mann 
heirate, mit dem ich verlobt bin. Er will nicht, daß 
ich jemals Not leide. Ich bin übrigens auch gar nicht 
erzogen worden, um die Frau eines armen Mannes 
ſein zu können. Es wäre daher wohl auch nicht ſchön 
von mir, den anderen zu heiraten — nicht wahr?“ 

„Wie arm iſt denn der andere?“ 

„Er hat ein Einkommen von zehntauſend Mark 
jährlich. Ich muß aber hinzufügen, daß ich beinahe 
mehr für meine Kleidung brauche.“ 

Der Doktor ſah ſinnend vor ſich hin. 

„Nun, was ſoll ich tun?“ fragte die Beſucherin 
ungeduldig. 

„Was würden Sie tun, wenn der Arme heute abend 
auf dem Heimwege getötet würde? Nehmen Sie an, 
Sie würden ihn nie wiederſehen, niemals wieder mit 
ihm ſprechen.“ 


u Von A. Erbſtein. 197 


„Ich weiß wirklich nicht, was ich da —“ 

„Mehr können Sie mir nicht ſagen?“ 

„Verzeihung, aber er wird ja doch nicht getötet!“ 

„Ah, Sie weichen meiner Frage aus! Sie wollen 
alſo dieſer Möglichkeit gar nicht in die Augen ſehen. 
Oder doch? Was würden Sie alſo tun?“ 

„Ich glaube, ich würde überhaupt nichts mehr tun, 
denn ich ſtürbe vor Schreck.“ | 

„Nun, dann iſt doch die Sache ſehr einfach. Da 
gibt es gar keinen Zweifel mehr.“ 

„Er kann mich aber nicht erhalten, wie ich es ge- 
wohnt bin.“ 

„Wenn ich mich nicht täuſche, find Sie aus den glei- 
chen Stoffen wie die anderen Menſchen gemacht: aus 
Kohlenſtoff, Sauerſtoff, Stickſtoff und —“ 

„Natürlich!“ rief ſie lachend. 

„Wieſo kann er Sie dann nicht erhalten? Eine 
Ausgabe von zehn Mark wöchentlich genügt reichlich 
zur Beſchaffung von Nahrung für den normalen menfch- 
lichen Organismus, erhält ihn geſund und glücklich. 
Sie ſehen alſo, daß er Sie wunderſchön erhalten könnte.“ 

„Der Mantel, den ich anhabe, koſtet mehr, als er 
in einem Jahre verdient. Wenn ich ihn jetzt beim 
nächſten Kürſchner verkaufe, verlange ich mindeſtens 
achttauſend Mark dafür.“ 

„Verkaufen Sie ihn und bauen Sie mit dem Er- 
löſe das Haus, in dem Sie mit ihm leben werden! Es 
wird ein waſſerdichtes Dach und einen ausreichenden 
Faſſungsgehalt für e Luft haben. Was brauchen 
Sie nv 

„Aber —“ 

„Liebt er Sie?“ fuhr der Doktor unerbittlich fort. 

„Er hat es mir oft beteuert,“ antwortete ie er- 
rötend. 


198 Der Gewiſſensdoktor. 0 


„Und was glauben Sie, wie wird ihm zumute fein, 
wenn er Sie verliert?“ 

„Aber ich werde ihn doch auch verlieren!“ 

„Nein, Sie werden ihn verkaufen, oder beſſer ge- 
ſagt, Sie werden ſich ſelbſt verkaufen — für Hermelin- 
mäntel, glitzernde. Stücke von Kohlenſtoff, genannt 
Diamanten, für ausgeſuchte ſeltene Gerichte, die Ihren 
Gaumen kitzeln und Ihre Verdauung verſchlechtern. 
Und dabei gedeiht das Weſen, das man auch Menſch 
nennt, am beſten bei einfacher Nahrung, lebt dabei 
auch länger und iſt glücklicher.“ 

„Sie ſagen das ſo ſchrecklich!“ 

„Mag ſein, doch es iſt wahr.“ 

„Was könnte ich ihm ſein?“ wendete ſie hierauf 
ein. „Ich kann nicht kochen, nicht flicken, ich weiß nicht, 
wie man ein Haus in Ordnung hält, ich verſtehe mich 
nicht auf das Einkaufen. Er würde binnen ſechs Mo- 
naten bankrott ſein.“ 

„Ah, jetzt wollen Sie mir gar einreden, daß Sie 
dumm und ungeſchickt ſeien!“ 

„Ich habe nichts Dergleichen geſagt. Warum kanzeln 
Sie mich wie ein Schulmeiſter ab? Ich wollte von 
Ihnen einen unparteiiſchen Nat!“ 

„Hören Sie mich nur weiter an. Sie können, wenn 
Sie eine Perſon von durchſchnittlicher Intelligenz ſind 
— was ich nicht im mindeſten bezweifle — das Kochen 
binnen ſechs Wochen erlernen, die Kunſt des Flickens 
in einer Stunde, Sie können Ihre Einkäufe in einem 
der großen Kaufhäuſer machen, wo Sie alles zum 
genauen Marktpreis erhalten und nicht nach Hauſe 
tragen müſſen. Was Fhre teuren Kleider anbelangt, 
iſt nur zu bemerken, daß ſie genau ebenſo notwendig 
für das Daſein find als Kaviar und Auſtern. Eine ge- 
ſtrickte Jacke iſt, wenn fie aus guter Schafwolle beſteht, 


Oo Von A. Erbſtein. 199 


ebenſo geeignet, den Zweck der Kleidung zu erfüllen, 
als ein Zobelpelz, und fie iſt überdies noch viel ge- 
ſünder, weil ſie gewaſchen werden kann. Folglich iſt 
ein Mann mit zehntauſend Mark Einkommen imſtande, 
ſeiner Frau nicht nur genügend Kleider zu kaufen, er 
würde auch — 

„Aber das —“ | 

„Sind Sie gewillt,“ unterbrach er ihren Einwurf, 
„das einzig zufriedenſtellende Ding auf Erden, das 
billigſte, köſtlichſte und erhebendſte zugleich, die Liebe, 
aufzugeben, um ſich weiterhin mit Häuten von nor- 
diſchen Tieren vor dem natürlichen Wärmeverluſt zu 
ſchützen? Sind Sie in Wirklichkeit ein ziviliſiertes Weſen 
oder eine Wilde?“ 

„Ich glaube nicht, daß ich zu den Wilden gezählt wer- 
den kann,“ erwiderte ſie eingeſchüchtert, „und es iſt doch 
auch gar nicht barbariſch, ſich ſchöne Sachen zu wünſchen!“ 

„Dann nicht, wenn man ſie ohne Opfer erſtehen 
kann. Doch der Preis, den Sie dafür zahlen wollen, 
iſt: lebenslängliches Unglück! Das iſt viel zu hoch! — 
Warten Sie noch einen Augenblick!“ fügte er ruhiger 
hinzu. „Ich habe noch etwas über die Nahrung zu 
ſagen. Sie eſſen, um den Abgang zu decken, der durch 
die Betätigung Ihrer Energien und durch die Wärme- 
erzeugung im Körper entſteht. Einen anderen ein- 
wandfreien Grund für das Eſſen gibt es nicht. Nun, 
gerade die einfachſten und billigſten Nahrungsmittel 
ſind die beſten, find diejenigen, die eine große Arbeits- 
kraft und das körperliche Wohlbefinden am meiſten 
gewährleiſten. Müſſen Sie da weiterhin hren Gaumen 
an immer neue Leckerbiſſen gewöhnen, die gar nicht 
zuträglich und ſündhaft teuer ſind?“ 

„So hat mit mir noch niemand geſprochen,“ 140 5 
ſie kleinlaut. 


200 Der Gewiſſensdoktor. u 


„Wirklich? Nun, dann war es hohe Zeit, daß es 
geſchah. Sie wollten ja auch von mir einen wiſſenſchaft- 
lichen Rat, ob Sie des Geldes wegen oder aus Liebe 
heiraten ſollen. Sie haben mich für dieſen Rat bezahlt, 
und ich tat mein Beſtes.“ | 

„Aber wir müßten ja dann in irgend einer ſchrecklichen 
Vorſtadt leben, wo lauter ſchmutzige Häuſer ſtehen!“ 

„Auch das iſt nicht richtig. Mit zehntauſend Mark 
können Sie ein kleines Landhaus vor der Stadt mieten, 
zwei Oienſtboten halten und ſich an den Feiertagen ein 
Vergnügen gönnen, eine Partie machen oder manch- 
mal ſogar im Kraftwagen fahren. Ja, ich würde Ihnen 
auch raten, den Auserwählten Ihres Herzens zu hei— 
raten, wenn er nur die Hälfte ſeines gegenwärtigen 
Einkommens hätte. Sie müßten dann freilich auf die 
zweite Magd verzichten und könnten ſich keine Spazier- 
fahrt gönnen, aber Ihr Herz wäre glücklich dabei, und 
Sie würden ein herrliches Leben führen.“ 

„Was würden aber meine Bekannten dazu ſagen? 
Sie würden mich nicht mehr anſchauen!“ 

„Sagen Sie mir auf Ehre und Gewiſſen: werden 
Sie ſich um das Gerede dieſer Narren kümmern, wenn 
Sie glücklich verheiratet ſind?“ | 

„Nicht ſehr viel,“ erwiderte fie in beſtimmtem Tone. 

„Ich habe keine andere Antwort erwartet. Und 
jetzt iſt eigentlich nichts mehr darüber zu ſagen.“ 

„Aber es wäre doch ein plötzlicher und großer Wechſel 
in allen Gewohnheiten! Und wenn er nun aufhört, 
mich zu lieben?“ 

„Das hat nichts mit unſerer Sache zu tun. Seine. 
Liebe kann weitergehen, auch wenn er des Kaiſers 
erſter Miniſter wäre. Sie haben jetzt nur zwiſchen 
Naſenringen, Armſpangen und den Schwänzen fetter 
Schafe einerſeits und warmen, einfachen Kleidern — 


0 Von A. Erbſtein. 201 


die auch ſehr ſchön ſein können — ſowie einer geſunden, 
kräftigen Nahrung anderſeits zu wählen.“ 

„Naſenringe — Schwänze fetter Schafe? Das iſt 
ja ſchrecklich!“ 

„Aber wahr! Die vornehmen Leute mancher Länder 
unferer Erde geben keinen Pfifferling für einen Her- 
melinpelz oder eine Trüffelpaſtete. Dieſe Ariſtokraten 
kaufen ſich kupferne Ringe für ihre Naſen, und der 
Schwanz eines fetten Schafes iſt ihr feinſtes Gericht. 
Ländlich — ſittlich! Die Mode iſt verſchieden, der 
Grundgedanke iſt aber überall der gleiche.“ 

„Nun hören Sie aber gefälligſt auf! Ich bin ſchon 
ganz gelehrig. Allerdings muß ich Ihnen noch ge- 
ſtehen: wenn Ihr Arteil gelautet hätte, ich ſoll die 
Liebe fahren laſſen, hätte ich es zwar nicht getan — 
nein, gewiß nicht, aber ich hätte auch zeit meines 
Lebens kein ruhiges Gewiſſen wegen des Ungehorſams 
gegen den Vater gehabt. Dieſer Zweifel iſt nun weg. 
Sie nahmen einen ſchweren Hammer und ſchlugen ſo 
lange auf meine Seele los, bis alle ihre Schlacken 
beſeitigt waren und ihr Erz von der friſchen, freien 
Luft umweht wurde. So wird es wohl immer bleiben. 
And dafür will ich Ihnen danken. Ich weiß, daß ich 
es nie genug tun kann.“ 

„Bravo! Sie werden alſo nicht den reichen Mann 
heiraten?“ 

„Nein. Er iſt dick, alt, und er tyranniſiert mich. 
Ich kenne ihn ſchon ſeit meiner Kindheit, und ich er- 
ſchrak, als ich hörte, ich ſolle ihn heiraten.“ 

„Gott ſei Dank! Nun leben Sie wohl, mein Fräu- 
lein, ich habe noch dringend zu tun. Laſſen Sie Ihre 
Seele weiterwachſen!“ 

„Ich will ſie zunächſt aus ihrer Pelzhülle befreien, 
mehr braucht ſie wahrſcheinlich nicht.“ 


202 Oer Gewiſſensdoktor. =) 


„Da dürften Sie recht haben.“ 

Sie reichte ihm nun die Hand, die er lebhaft ſcuttette 
Dann ging ſie glücklich lächelnd fort. — 

Einige Wochen ſpäter ſandte ſie ihm ein Stück ihres 
Hochzeitskuchens. Ein Briefchen lag dabei. „Ich habe 
ihn,“ ſchrieb ſie, „ſelbſt gebacken, und ich meine, er iſt 
nicht ſchlecht ausgefallen. Mein Gatte — den ich Ihnen 
übrigens ſicher ſende, wenn er ſich einmal nicht gut 
aufführen ſollte — mein Männchen iſt mittlerweile 
Geſchäftsteilhaber geworden, und wir haben nun mehr 
als das doppelte Einkommen und denken faſt ſchon 
daran, einen feinen Kraftwagen zu kaufen. Aber das 
Kochen will ich dennoch nicht laſſen, denn er ſagt, ich 
koche wunderbar. Ja, wozu ſo eine Perſon von durch- 
ſchnittlicher Intelligenz alles imſtande iſt! Sie wiſſen 
vielleicht gar nicht mehr, von wem dieſer Brief iſt. 
Das wäre abſcheulich! Aber ich werde Sie nie ver- 
geſſen! Sie waren ſo ergötzlich grob und ſo wahrhaftig 


ehrlich!“ 


D 
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7 ³oW Add A 


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häusliche Käſebereitung. 
von Th. v. Wittembergk. 


Mit s Sildern. 7 lnachdruck verboten.) 


Se viele Käſeſorten, wie Brie, Camembert, Chefter- 
käſe, Parmeſankäſe, Roquefort, Gorgonzola uſw., 
es auch gibt, die zumeiſt verhältnismäßig teuer be- 
zahlt werden müſſen, ſo wird doch ein guter, reiner 
Kuhkäſe hinter dieſen Delikateßkäſen im Wohlgeſchmack 
nicht zurückſtehen, ja zahlreiche Liebhaber des Käſes 
werden ihn vielleicht ſogar den Würzkäſen vorziehen. 

Leider iſt aber fetter Kuhkäſe ziemlich ſelten ge- 
worden. Infolge der Milchablieferung in die Städte 
iſt die Herſtellung von Käſe auf dem Lande beträchtlich 
zurückgegangen, oder man fertigt in den genoſſenſchaft- 
lichen Molkereien nur zur Hauptſache Magerkäſe an. 
Es wird daher den Hausfrauen gewiß zur Freude ge- 
reichen, im nachfolgenden eine Anleitung zu finden, 
die es ihnen ermöglicht, im eigenen Haushalt einen 
ſehr ſchmackhaften Kuhkäſe ohne große Umftände und 
für einen billigen Preis anzufertigen. 

Zunächſt braucht man dazu friſchen Rahm, den man 
an einem kühlen Ort in einem größeren Tontopf im 
Winter fünf Tage, im Sommer höchſtens drei Tage 
aufbewahrt. Zu dieſem Rahm kommt dann nicht ab- 
gerahmte Milch, und zwar in dem Verhältnis, daß auf 
zwei Teile Rahm drei Teile Milch verwendet werden. 
Am beiten iſt es, wenn man die Milch kuhwarm be- 


204 Häusliche Käſebereitung. 2 


ziehen kann. Wo dies nicht angängig iſt, muß man 
fie im Waſſerbad erwärmen, da zu kalte Milh die 
Käſebereitung erſchwert. N 

Man geht nun folgendermaßen zu Werke. In 


Abfüllen des Rahms. 


einen kleinen Tontopf von ungefähr 2 Liter Inhalt 
ſchüttet man mit einem Kochlöffel, deſſen Faſſungsraum 
man aus Erfahrung kennt, etwa °/,, Liter Rahm. Jetzt 
füllt man den kleinen Topf vollends mit unabge— 
rahmter Milch, wovon alſo 1 O Liter nötig find. Mit 
dem Kochlöffel rührt man darauf tüchtig die Mi- 
ſchung um. 

Die angegebenen Mengen genügen zur Herſtellung 
eines Käſes. Natürlich braucht man ſie nur zu ver— 
doppeln, verdreifachen und vervierfachen, wenn man 
zwei, drei oder vier Käſe anfertigen will. 

Haben ſich Rahm und Wilch gut miteinander ver— 
miſcht, ſo ſchüttet man in den Topf, auf je einen Käſe 


— 


u Von Th. v. Wittembergk. 205 


berechnet, ſechs bis acht Tropfen Labflüſſigkeit zum 
Zweck des Gerinnens. Zur bequemen Verwendung 
verwahrt man die Labflüſſigkeit in einer Glasflaſche, 
deren Kork, um den Zutritt von Luft zu geſtatten, 
der Länge nach eingekerbt und deſſen Mitte durchbohrt 
iſt. Durch dieſes ebenfalls in der Länge des Pfropfens 
verlaufende Bohrloch wird eine dünne Glasröhre ge— 
ſchoben. Statt ihrer kann man ſich auch eines an den 
Enden abgeſchnittenen Gänſekiels bedienen. Dadurch 
fließt die Labflüſſigkeit nur tropfenweiſe heraus. 

Man verrührt nun die Labflüſſigkeit innig mit dem 
Inhalt des Topfes mittels des Kochlöffels. Iſt dieſes 
geſchehen, ſo trägt man den Topf nach einem Raum, 


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Hinzufügung der Milch zum Rahm. 
der eine Temperatur von 15 bis 18 Grad Celſius auf- 
weiſt, und läßt ihn dort ungefähr zwölf Stunden ſtehen. 
Nach Ablauf dieſer Zeit hat ſich der Quark gebildet, 
der nunmehr zum Käſe geformt werden ſoll. Man 


206 Häusliche Räfebereitung. u 
—— — — ——— — — — — — — 5 


bedarf dazu einer Käſeform aus Weidengeflecht. Die 
Form muß einen Durchmeſſer von 15 Zentimeter und 
eine Tiefe von 10 Zentimeter haben. Hat man größere 
Mengen von Rahm und Milch verarbeitet, fo iſt felbft- 


— — 


Umrühren der Mijchung. 


verſtändlich eine dementſprechende Anzahl von Käſe— 
formen anzuſchaffen. Ferner braucht man für eine 
jede Form ein vierediges Stück Gaze oder dünne Lein- 
wand, deren Rand etwa 40 Zentimeter zu meſſen hat. 
Da der ungebrauchte Stoff meiſt etwas ſteif iſt, ſo 
taucht man ihn in Waſſer und drückt ihn kräftig aus. 
Auf dieſe Weiſe wird er geſchmeidiger und ſchmiegt 
ſich beſſer der Käſeform an. Auch bleibt der Quark 
weniger an dem Gewebe haften. Durch die Derwen- 
dung des Stoffſtückes wird verhindert, daß der Quark 
zwiſchen das Weidengeflecht eindringt und ſich dort 
feſtſetzt. 


Man legt nun das Innere der Form mit dem Stoff- 


2 Von Th. v. Wittembergk. 207 


ſtück aus, ſtellt dieſe auf einen Teller und füllt den 
Quark mit einem Schaumlöffel in die Form. Darauf 
wird die Form nach der Speiſekammer oder einem 
anderen kühlen Raum getragen, wo man ſie auf ein 
Seihblech oder eine weidene Käſehürde ſetzt, damit die 
Molke leicht ablaufen kann. 

Schon nach einer Stunde iſt der Quark beträchtlich 
zuſammengeſunken. Es iſt daher nötig, mit dem noch 
verbliebenen Quark nachzufüllen. Dann läßt man die 
gefüllte Form in dem kühlen Raum ſommers wie 
winters etwa vierundzwanzig Stunden auf der Käſe- 
hürde ruhig ſtehen. 

Nach dieſer Zeit iſt der in der Form befindliche Käſe 


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Zugießen der Labflüffigkeit zur Miſchung. 


nur noch halb ſo dick wie vorher der Quark, und jetzt 
iſt der Augenblick gekommen, da man ihn ſalzen muß. 
Zunächſt legt man die Käſehürde auf die Offnung der 
Form und ſchlägt die überſtehenden Ränder des Stoff- 


208 Häusliche Käſebereitung. Oo 


ſtückes nach unten um. Darauf hält man die Käſe— 
hürde mit der linken Hand feſt, ergreift die Form mit 
der rechten, dreht jetzt das Ganze um und legt die 
Hürde auf die Tiſchplatte. Nun faßt man die Form 


Einfüllen des Quarks in die Räfeform. 


und die Ränder des umgeſchlagenen Stoffſtückes, hebt 
alles vorſichtig empor, und zwar nur auf der einen 
Seite, und verſetzt der Form ruckende Stöße, damit 
ſich der Käſe ablöſt und auf die Hürde fällt. Doch darf 
man die Form nicht zu weit hoch heben, da ſonſt der 
Käſe ſeine Geſtalt verliert oder beim Herausfallen zer— 
bricht. | 

Iſt ſo der Käſe auf die Hürde gebracht, dann be- 
ginnt die Salzung. Man nimmt eine kleine Priſe 
körnigen Salzes, ſtreut es über die Oberfläche des Käſes 
und drückt es mit den Fingern in dieſen hinein, damit 
der Käſeteig vom Salz durchdrungen wird. 

Nun nimmt man eine zweite Käſehürde, legt ſie 


D Von Th. v. Wittembergk. 209 


über den Käſe, ergreift beide Hürden mit den Händen, 
dreht ſie um und legt ſie ſo auf die Tiſchplatte, daß ſich 
die Hürde, die früher oben war, unten befindet. Nach 
ihrer Abhebung wird die bisher noch nicht geſalzene 
Hälfte des Käſes in der gleichen Weiſe geſalzen wie 
vorher die andere. 

Die Menge des Salzes muß man nach dem Ge— 
ſchmack deſſen beſtimmen, der den Käſe eſſen will. Im 
allgemeinen iſt es aber empfehlenswerter, lieber etwas 
mehr als zu wenig Salz zu verwenden. Schärfer ge- 
ſalzener Käſe iſt ſchmackhafter und hält ſich beſſer. Zu 
ſchwach geſalzener Käſe verfärbt ſich unangenehm und 
nimmt auch bald einen bitteren Geſchmack an. 


Leeren der Form auf die Hürde. 


Man bringt nun den Käſe auf der Hürde wieder 
nach dem kühlen Aufbewahrungsraum und hat dann 
in den nächſten drei bis vier Wochen weiter nichts zu 
tun, als ihn zu wenden. Es geſchieht dies mit Hilfe 

1918. XII. 14 


210 Häusliche Räfebereitung. oO 


einer zweiten Hürde nach dem Verfahren, wie es eben 
beim Salzen beſchrieben wurde. Das Wenden iſt täg— 
lich zweimal, morgens und abends, auszuführen. Die 
Hürden, die man dabei benützt, ſind ſorgfältig mit einer 
feuchten Bürſte zu reinigen und danach in heißem 
Waſſer abzuſpülen. Bei einer derartigen Behandlung 


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Salzen des Käſes. 


bleiben die Hürden ſtets ſauber und geruchlos. Ver— 
nachläſſigt man das Wenden der Käſe, ſo werden ſie 
leicht mißfarbig, beginnen zu zerfließen und erhalten 
einen bitteren Beigeſchmack, auch wenn man ſie ge— 
nügend geſalzen hat. 

Wie ſchon angedeutet, ſind die Käſe nach drei bis 
vier Wochen reif. Sie ſind dann fett und weich, ohne 
aber zu einem zerfließenden Brei zu werden. Nach 
der Reife ſollte man die Käſe ſtets innerhalb der nächſten 
vierzehn Tage verzehren. Denn etwa ſechs Wochen 
nach ihrer Herſtellung vermindert ſich die Feinheit ihres 
Geſchmackes. 


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Von Th. v. Wittembergk. 211 


Am beſten werden die Käſe in den Monaten April, 
Mai und beſonders Oktober geraten. Im Sommer 
halten fie ſich wegen der Hitze ſchlechter, und es be- 
ſteht hier auch die Gefahr, daß herumſchwärmende 
Fliegen ihre Eier in ihnen ablagern und ſie ſo von 
Maden befallen werden. Aus dieſem Grunde follte . 


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Wenden des Käſes mittels zweier Hürden. 
man im Sommer die reifen Käſe wenigſtens ſo ſchnell 
als möglich wegeſſen, alſo auch nicht größere Mengen 
auf einmal herſtellen. Im ſtrengen Winter wiederum 
iſt die Zubereitung wegen der Kälte mit Schwierig- 
keiten verknüpft. Als die geeignetſten Zeiten ergeben 
ſich daher der Frühling und der Herbſt. 


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* 


8 


Mannigfaltiges. 


* 


(Nahödrud verboten.) 

Ein berühmter Meineid. — Im Zahre 1774 hatte der 
Berliner Privatier Heuberle, dem man allgemein nachſagte, 
daß er ſein Vermögen nur durch Wuchergeſchäfte erworben 
habe, den Schneidermeiſter Törning wegen Rüderftattung eines 
Darlehns von dreihundert Talern verklagt. Törning behauptete 
jedoch in der im Oktober desſelben Jahres ſtattfindenden 
Gerichtsverhandlung, er habe dem Gläubiger die Summe 
bereits zurückerſtattet; leider ſei er aber fo unvorſichtig ge- 
weſen, die Quittung, die Heuberle ihm ausgeſtellt habe, ſo 
ſchlecht zu verwahren, daß er ſie nicht mehr finden könne. 
Als der Richter ihn fragte, ob er nicht Zeugen zu benennen 
imftande fei, die zugegen geweſen wären, als er Heuberle die 
Schuld bezahlt habe, verneinte der arme Mann mit Tränen 
in den Augen. 

Zu dieſen Behauptungen lächelte Heuberle nur ſpöttiſch. 
„Nichts als Ausflüchte!“ erklärte er N wieder mit größter 
Beſtimmtheit. 

Die Sache des Schneiderleins ſtand ſchlecht, obwohl er einen 
völlig glaubwürdigen Eindruck auf den Richter machte. Dieſer 
überlegte hin und her, wie dem Manne zu helfen ſei, fand aber 
keinen Ausweg. Schließlich vertagte er die Sache, um Törning 
nochmals Zeit zu geben, nach der verlegten Quittung zu ſuchen. 

Heuberle war ganz damit einverſtanden. „Er wird die 
Quittung zwar nicht finden, denn ſie exiſtiert eben nicht,“ meinte 
er mit der Miene eines Biedermannes, „aber vielleicht ge- 
langt er dann endlich zu der Überzeugung, daß ich in meinem 
Recht bin.“ — 

Nach acht Tagen ſtellten ſich die Parteien wieder vor dem 


2 Mannigfaltiges. 213 


Richter ein. Der Schneidermeiſter war noch niedergeſchlagener 
als das erſte Mal. Die Quittung hatte er nirgends entdecken 
können. 

Der Richter befragte die Prozeßgegner wiederum nach dem 
genauen Sachverhalt und vermahnte ſie ernſtlich, ja die volle 
Wahrheit zu ſagen. Aber jeder blieb bei ſeiner Behauptung. 
Nunmehr mußte der Kläger nach den damaligen Prozeß- 
beſtimmungen den Eid leiſten. Heuberle ſollte ſchwören, daß 
er Törning dreihundert Taler gegeben und dieſe Summe noch 
nicht zurückerhalten habe. 

„Will Er dieſen Eid leiſten?“ fragte der Richter den Kläger, 
der neben dem Bellagten vor der Schranke ſtand. 

„Jawohl,“ erllärte Heuberle. 

„Dann leg Er feine rechte Hand auf das Kruzifix hier und 
ſpreche Er mir die Eidesformel nach. Bedenke Er aber genau, 
welche Folgen ein Meineid für Ihn haben würde,“ 

Heuberle hatte in feiner Rechten einen dicken Bambusſtock 
mit goldenem Knopf, den er jetzt feinem Prozeßgegner mit der 
Bitte reichte, dieſer möge ihm das Rohr doch für einen Augen- 
blick abnehmen. Und dann leiſtete er den Eid, während Törning 
ihm gutmütig den Bambusſtock hielt. 

Hiernach wurde der Schneidermeiſter zur Rückzahlung des 
Oarlehns verurteilt, da es durch den Eid des Klägers für er- 
wieſen gelten mußte, daß die Schuld noch nicht beglichen ſei. 

Als der Wucherer nach dieſem für ihn fo günſtigen Prozeß 
ausgang das Gerichtsgebäude verließ, wurde er draußen auf 
der Straße von einer erregten Menſchenmenge, die neugierig 
das Ende der Verhandlung abgewartet hatte, mit lauten Der- 
wünſchungen empfangen. Denn allgemein war man der 
Anſicht, er habe in dieſer Sache mit vollem Bewußtſein einen 
Meineid geleiſtet. Um ſich einen Weg durch die Menge zu 
bahnen, erhob Heuberle drohend ſeinen Stock. Da ſprang 
aber auch ſchon ein junger Burſche auf ihn zu, entriß ihm das 
Bambusrohr und ſchleuderte es auf das Pflaſter, ſo daß es 
in mehrere Stücke zerſplitterte. Zu aller Erſtaunen rollten 
eine Menge Goldſtücke auf die Straße, die vorher, wie man 
jetzt ſah, in dem hohlen Stock verborgen geweſen waren. 


214 Mannigfaltiges. 2 


Bleich und zitternd ſtand Heuberle inmitten der ihn um- 
drängenden Menſchen. Das Schuldbewußtſein war ihm jetzt 
ſo deutlich vom Geſicht abzuleſen, daß einige der Leute ihn 
kurzerhand ergriffen und abermals vor den Richter führten, 
ohne jedoch zu ahnen, in welchem Zuſammenhang das gold- 
gefüllte Bambusrohr zu dem eben erledigten Rechtsſtreit ſtehen 
könne. 

Der Richter hatte kaum die merkwürdige Geſchichte von 
dem mit Goldſtücken gefüllten Stock vernommen, als ihm auch 
ſofort klar wurde, aus welchem Grunde Heuberle vorhin dem 
armen Schneider vor der Eidesleiſtung das Rohr zum Halten 
gegeben hatte. Auf die ſtrengen Vorhaltungen des Richters, 
hauptſächlich aber wohl, weil ihm fo ſchnell keine glaubwüͤrdige 
Erklärung für die Aufbewahrung der Goldſtücke in dem Stocke 
einfiel, legte der in die Enge getriebene Vucherer ein volles 
Geſtändnis ab. Danach hatte der Schneidermeiſter ſeine Schuld 
wirklich längſt bezahlt. Auf den Gedanken, die Summe noch- 
mals einzuklagen, war Heuberle erſt durch einen von Törning 
entlaſſenen Geſellen gebracht worden. Dieſer, ein fauler, dem 
Trunke ergebener Meuſch, hatte dann feinem Meijter die Quit- 
tung aus Rachſucht entwendet und war damit zu dem Wucherer 
gekommen, worauf die beiden Ehrenmänner in dieſer un- 
ſauberen Sache Halbpart zu machen beſchloſſen. Begünſtigt 
wurde ihr Plan noch durch den Umſtand, daß bei der Rüd- 
zahlung der Darlehnsſchuld keine Zeugen zugegen geweſen 
waren. Heuberle gab dann auch weiter zu, daß er die drei— 
hundert Taler in Gold nach der erſten Verhandlung nur des— 
wegen in dem Stock untergebracht habe, um, nachdem er 
ſeinem Prozeßgegner das goldgefüllte Rohr in die Hand ge— 
ſpielt hatte, guten Gewiſſens beſchwören zu können, der 
Schneider habe die dreihundert Taler noch, was ja auch 
inſofern ſtimmte, als Törning mit dem Stock zugleich auch 
die dreihundert Taler in Gold Heuberles während der Eides- 
leiſtung in ſeinen Händen gehabt hatte. 

Heuberle und der rachſüchtige Geſelle kamen ſchon drei 
Wochen ſpäter vor das Kriminalgericht. Dieſes verurteilte den 
Geſellen wegen des Diebſtahls und der Teilnahme an einem 


2 Mannigfaltiges. 215 


Betrugsverſuch zu vier Fahren, Heuberle dagegen wegen Mein- 
eides und verſuchten Betruges zu fünf Jahren Kerker. 

Friedrich der Große, der die merkwürdigen Einzelheiten 
dieſes Prozeſſes bereits vorher erfahren hatte, ließ ſich das 
Urteil vorlegen, ſtrich darin das zuerkannte Strafmaß aus 
und beſtimmte für den Geſellen ſechs Jahre, für Heuberle acht 
Jahre Kerker. Außerdem ſollte des letzteren Vermögen ein- 
gezogen und an die Armen Berlins verteilt werden. An den 
Rand des Urteils ſchrieb er als Begründung: „Zur Schreckung 
for ähnliche Kanaljen und for die beſſere Aſtimierung des 
Eides.“ W. N. 
Raubtiere als Beſchützer ihrer Herren. — Die Anhänglich⸗ 
keit mancher Raubtiere an ihre Oreſſeure und Herren iſt bis- 
weilen geradezu bewundernswert. In den Tropen, beſonders 
in Südafrika, hat der Reiſende häufig Gelegenheit, Mitglieder 
der Familie der großen Katzen als zahme Hausgenoſſen an- 
zuſtaunen. So werden auf den Burenfarmen in Transvaal 
vielfach Leoparden an ſtarken, eiſernen Halsbändern wie Hof- 
hunde gehalten. 

Unlängſt brachte eine engliſche Zeitung einen Bericht von 
einem Vorkommnis, das die Treue und Anhänglichkeit dieſer 
ſonſt meiſt als heimtückiſch verſchrienen Raubtiere aufs beſte 
dartut. Auf der Farm des Buren van Hoeften, die am 
Zandfluſſe dicht an der Grenze des Matabelelandes liegt, fand 
ſich eines Tages eine Schar von acht Schwarzen ein, die Pulver 
und Blei einhandeln wollten. Da van Hoeften mit feinen 
beiden Knechten gerade einen Transport Getreide nach dem 
nahen Städtchen brachte, wollte ſeine Frau, die mit ihren 
halbwüchſigen Kindern und zwei farbigen Dienerinnen ohne 
jeden männlichen Schutz zurückgeblieben war, die zu dem übel 
berüchtigten Stamme der Matabele gehörigen Schwarzen mög- 
lichſt ſchnell wieder los werden und händigte ihnen daher das 
Verlangte trotz der dürftigen Bezahlung, die in ſchlechtgegerbten 
Tierfellen beſtand, ohne Widerrede aus. 

Anſcheinend wußten die Matabele aber, daß van Hoeften 
und ſeine Leute nicht anweſend waren und auch erſt nach 
einigen Tagen zurüderwartet wurden. Sie zeigten ſich immer 


216 Mannigfaltiges. 2 


zudringlicher und frecher, verlangten ſchließlich ſogar, die 
Farmerfrau ſolle ihnen auch die an der Wand hängenden, 
Schußwaffen „eintauſchen“. 

Da einige der ſchwarzen Spitzbuben inzwiſchen bereits ihnen 
nützlich ſcheinende Gegenſtände einfach hatten verſchwinden 
laſſen, ſuchte die reſolute Frau die gefährliche Geſellſchaft durch 
die Drohung, ſie habe bereits ihren Mann vom Felde herbei- 
holen laſſen, zu vertreiben. Aber die Kerle fühlten ſich offenbar 
ganz ſicher und dachten nicht daran, das Feld zu räumen. Sie 
hatten bereits die Gewehre von der Wand genommen, ſich 
übergehängt und begannen eben nach den nötigen Patronen 
zu ſuchen, als der Farmerfrau ein rettender Gedanke kam. 

Leiſe flüſterte ſie ihrem Alteſten, einem zwölfjährigen 
Zungen, einige Worte zu. Dieſer eilte nach dem Wirtſchafts- 
hofe, wo in einem Verſchlage zwei zahme, ausgewachſene 
Leoparden gehalten wurden. Der Knabe nahm die beiden 
gelben Katzen an die Kette und lief mit ihnen ins Haus zurück. 

Die ſchwarze Bande war gerade dabei, den in dem großen 
Wohnraum ſtehenden Schreibtiſch aufzubrechen, da erſchien 
Frau van Hoeften in der Tür, gefolgt von den beiden Leo- 
parden, die ſie ſeinerzeit mit der Flaſche großgezogen hatte, 
und die daher ihrem leiſeſten Winke gehorchten. Ein Zuruf, 
und die gelben Körper ſchnellten durch die Luft — zwei Schreie, 
ein Angſtgebrüll, fplitternde Fenſterſcheiben. Zwei der Mata- 
bele lagen am Boden, die anderen hatten ſich durch die Fenſter 
ſchleunigſt davongemacht. — 

Die meiſte Gelegenheit, das Anhänglichkeitsgefühl mancher 
Raubtiere zu erproben, iſt aber wohl berufsmäßigen Tier- 
bändigern gegeben. Dieſe wiſſen denn auch allerlei ebenſo 
aufregende wie rührende Erlebniſſe zu berichten. 

So hatte einmal der Menageriebeſitzer Helfort einen ihm 
als völlig zahm angeprieſenen Bären gekauft und in einem 
aus zwei Abteilungen beſtehenden Raubtierwagen untergebracht. 
In der anderen Abteilung befand ſich eine dreſſierte Hyäne. 
Der Bär fing nun ſofort an, die die beiden Abteilungen trennende 
Schiebetür mit Zähnen und Krallen zu bearbeiten, um ſich zu 
der von ihm gewitterten Hyäne einen Zugang zu verſchaffen. 


e Mannigfaltiges. 217 


Am nächſten Morgen war das Loch bereits ſo groß, daß der 
Bär den Kopf bequem hindurchſtecken konnte. Als durch das 
angſtvolle Heulen der Hyäne das Menagerieperſonal aufmerk- 
ſam geworden war, begab ſich Helfort in den Käfig des Bären, 
um dieſen anderswo unterzubringen. In demſelben Augenblick 
aber ſtürzte ſich der Bär auf ihn und warf ihn zu Boden. 
Von dem zu Hilfe eilenden Perſonal wurde das wütende Tier 
von außen mit Eiſengabeln und Stangen bearbeitet, ohne daß 
es gelang, es von ſeinem Opfer abzubringen. Da zwängte 
ſich die Hyäne, die von dem Menageriebeſitzer dreſſiert war 
und mit großer Liebe an ihm hing, durch die Offnung in der 
Schiebetür hindurch und ſtürzte ſich wütend auf den Angreifer 
ihres Herrn. Wirklich ließ der Bär von Helfort ab und wandte 
ſich gegen die Hyäne, die er dann auch mit wenigen Biſſen 
abtat. Inzwiſchen gelang es den Leuten aber, ihren Direktor 
in Sicherheit zu bringen. 

Die Bändigerin H. erzählt folgendes: „Ich arbeitete bis 
vor einigen Fahren mit einer Gruppe von Löwen und ben- 
galiſchen Tigern. Trotzdem ich meine Tiere mit großer Liebe 
behandelte, war mir eine Tigerin nicht gerade ſonderlich gut 
gewogen. Sie machte auch kein Hehl aus ihrer Abneigung 
mir gegenüber. Eines Abends verſagte aus irgend einem 
Grunde plötzlich das Licht, und der Zirkus war ganz unerwartet 
in undurchdringliche Finſternis gehüllt. Ich lag eben auf der 
Schaukel, vor mir und hinter mir je ein Tiger und über mir 
auf zwei Säulen ſtehend ein Löwe. Die Tiger, durch die plöß- 
liche Dunkelheit unruhig geworden, ſprangen mit einem Satz 
ab, ich tat dasſelbe und verſuchte, mich rückwärts taſtend, meinen 
Rücken an dem die Manege einfaſſenden Gitter zu decken. 
Kaum dort angelangt, ſah ich auch ſchon zwei glühende Augen 
auf mich zukommen. Die Lage war nicht gerade angenehm, 
zumal ich nicht die geringſte Waffe in der Hand hatte, denn 
die Peitſche legte ich ſtets beiſeite, wenn ich die Schaukel be- 
ſtieg. Da rief ich meinen Lieblingslöwen Fauſt herbei, der 
mir ſchon manche Probe ſeiner Anhänglichkeit gegeben hatte. 
Mit einem Sprung war er unten, ſtellte ſich dicht vor mich, 
und ſich in die Höhe richtend, verabfolgte er der ſich anſchlei— 


218 Mannigfaltiges. 2 


chenden Tigerin ein paar derartige Ohrfeigen, daß ihr die Luſt 
zu jedem weiteren Angriff verging. Es waren kaum ein paar 
Minuten verfloſſen, bis das Licht wieder eingeſchaltet wurde; 
aber dieſe Minuten erſchienen mir wie eine kleine Ewigkeit. 
Nachher konnte ich meine Vorführungen ruhig beenden. Die 
Tigerin war wieder ganz brav geworden. In Zukunft war 
ich aber doch vorfichtiger und trug ſtets einen geladenen Re- 
volver in der Kleidertaſche. Denn wir Bändiger laſſen es das 
Publikum ungern merken, daß unſere vierbeinigen Schüler 
doch nicht ſo ganz ungefährlich ſind, wie es dem Laien ſcheint.“ 

Tiger ſind überhaupt die Schmerzenskinder der Bändiger. 
Hinrichſon führte vor wenigen Jahren regelmäßig zum Schluß 
ſeines Dreſſuraktes einen mächtigen bengaliſchen Tiger namens 
Nero vor, deſſen furchtbare Wildheit er trotz aller Verſuche 
nur ſo weit hatte brechen können, daß er die zähnefletſchende 
Beſtie unter atemloſer, banger Stille des Publikums einmal 
vor ſich her um den Manegenkäfig trieb, und dies unter ganz 
ungewöhnlichen Vorſichtsmaßregeln. Zu letzteren gehörte auch, 
daß Hinrichſon zu feinem Schutz ſtets feinen Lieblingslöwen 
Paſcha im Käfig behielt, während die anderen Raubtiere vorher 
in ihre Transportbehälter zurückgetrieben wurden. Paſcha ſaß 
dann regelmäßig auf einer der Holzſäulen, die mit den anderen 
Dreſſurgerätſchaften in der Mitte der Manege auf einem 
Haufen zuſammengerückt wurden. 

Bei einer Vorſtellung in Petersburg war es, wo Hinrichſon 
beinahe ein böſes Schickſal ereilt hätte. Wie immer ſchloß 
Hinrichſon feine Nummer mit der Vorführung des Tigers 
Nero. Eine nervöſe Dame brach beim Anblick der fauchenden 
und ſich ungewöhnlich wild gebärdenden Beſtie, die gerade 
ihren ſchlechten Tag hatte, plötzlich in Schreikrämpfe aus. 
Durch dieſe gellenden Töne wurde der Tiger offenbar zur 
höchſten Wut gereizt. Er duckte ſich zum Sprunge zuſammen 
und hätte den Bändiger ſicher niedergeworfen und zerfleiſcht, 
wenn dieſer nicht in der Erkenntnis, daß er die Gewalt über 
das Tier völlig verloren hatte, ſich blitzſchnell hinter die auf- 
geſtellten Gerätſchaften geflüchtet haben würde. In demſelben 
Augenblick ſprang auch ſchon der Löwe Paſcha, ohne daß ſein 


2 NMannigfaltiges. 219 


Herr ihn durch einen Zuruf anzutreiben brauchte, von ſeinem 
Sitz in die Manege hinab und fiel über den Tiger her. Merk- 
würdigerweiſe ſetzte der Tiger ſich faſt gar nicht zur Wehr, 
vielleicht geblendet durch den ſcharfen Waſſerſtrahl, den man 
jetzt unaufhörlich auf ſeinen Kopf richtete. Jedenfalls gelang 
es dem Bändiger und ſeinen Leuten, die ſich mit langen, 
brennenden Fackeln bewaffnet hatten, ſehr ſchnell, die Raub- 
tiere zu trennen und den Tiger in ſeinen Käfig zurückzutreiben. 
Hinrichſon hat noch an demſelben Abend ſich zu einem 
Reporter dahin geäußert, daß er bei jener Vorſtellung für ſein 
Leben zum erſten Male wirklich ernſtlich gefürchtet habe, und 
daß er ohne Paſchas Eingreifen ſicher verloren geweſen wäre. 
Er iſt dann auch nie wieder mit Nero öffentlich aufgetreten, 
den ihm zwei Monate ſpäter der Petersburger zoologiſche 
Garten abkaufte. W. K. 
Das Alter unſerer Kinderſpiele. — Die Bedeutung unſerer 
Rinderfpiele und ihres erzieheriſchen Wertes wird heute nicht 
mehr unterſchätzt. Der Kinder Spiel iſt der Kinder Arbeit. 
Es liegt aber noch ein tieferer Sinn im kindlichen Spiel, als 
die meiſten ahnen. Es gibt vielleicht nichts anderes in der 
Kulturgeſchichte der Menſchheit, in dem ſich die Vergangenheit 
ſo betätigt, nichts, in dem ſich glänzender als gerade hier das 
Wort: „Was du ererbt von deinen Vätern haſt, erwirb 
es, um es zu beſitzen“ beweiſt. Denn unſere Kinderſpiele 
reichen nicht nur in das homeriſche Zeitalter, ſondern ſie haben 
ſich auch rein erhalten, wie ſonſt nichts in der Welt. Das Kind 
ist in feinen Spielen und in feinen beſten Märchen fo eigen- 
artig und im beften Sinne des Wortes konſervativ und hängt 
in dieſer Beziehung ſo ſehr am Althergebrachten, daß ſich ihm 
hier nicht nur Schule und Haus, ſondern auch die Induſtrien 
beugen müſſen. Unſer Bild auf Seite 221 iſt beinahe drei- 
hundert Jahre alt, ein alter ſeltener holländiſcher Stich aus 
dem Jahre 1627, aber wir finden auf ihm faſt alle Spiele 
unſerer modernen Kinder! Vorn links ſpielt eine Gruppe 
Mädchen mit der Puppe, die bemuttert und erzogen wird. 
Das eine Kind macht das Bettchen im Puppenwagen, während 
das andere nach tüchtiger Roch- und Backarbeit und leckerem 


220 Mannigfaltiges. 2 


Mahl ſeinem „Kind“ zuredet, hübſch artig zu ſchlafen. Dicht 
dahinter ein Knabe, der den Kreiſel treibt, neben ihm ein 
anderer, der Seifenblaſen fliegen läßt. Hinter dieſen (links) 
zwei, die eine Rinderblaſe aufblaſen, um ſie zum Platzen zu 
bringen, und ein Knabe, der einen an einem Faden feſtgeb un- 
denen künſtlichen Vogel fliegen läßt. Dahinter rechts ſpielt ein 
Geſchwiſterpaar Kutſcher und Pferd, reitet ein Bub fein Stecken 
pferd, tollt ein anderer mit dem Hund, jagt ein dritter den 
Reifen. Oer eine ſchlägt einen Purzelbaum, der andere läßt 
einen Drachen ſteigen, während andere mit der „Windmühle“ 
laufen und (an dem Kiosk) Kegel ſchieben, die Violine ſpielen, die 
Kinderſchere ſchnellen, übers Seil ſpringen. Die eine Kinderſchar 
im Vordergrund ſpielt Soldaten, die andere Blindekuh. Ganz 
im Hintergrund endlich müht ſich ein Junge damit ab, ſeinem 
Hunde Kunſtſtücke beizubringen. Das bei alt und jung fo über- 
aus beliebte Stelzenlaufen wird geübt uſw. — ganz wie jetzt 
auch noch. 
Faſt alle unſere Kinderſpiele find fo alt wie die Kultur- 
menſchheit überhaupt. Schon die griechiſchen und römiſchen 
Knaben ſpielten gern mit dem Kreiſel, die Mädchen mit Ball 
und Puppe. Ihr Nußſpiel ähnelte unſerem Murmelſpiel; ſie 
machten einen kleinen Kreis oder eine kleine Grube in den 
Boden und warfen mit Nüſſen danach. Wer ſeine Nuß in 
den Kreis oder die Grube warf, gewann die übrigen, die vor- 
beigerollt waren. Auch das „Orachenſteigenlaſſen“ war im 
Herbſt im alten Griechenland ein beliebter Fugendſport. Blinde- 
kuh, das Pfahlſpiel oder Pflöcken, faſt alle unſere Bewegungs- 
ſpiele wurden bei den Griechen von der Schule gepflegt. Der 
Lexikograph Pollux nennt etwa fünfzig Spiele, die zum großen 
Teil auf uns gekommen ſind und heute noch nach denſelben 
Regeln geſpielt werden wie vor mehr als zweitauſend Jahren. 
Im Harpaſton oder Epikoinos, einem Ballſpiel, in dem ein 
Ball von mehreren Spielern gemeinſam geſpielt wurde, haben 
wir das Fußballſpiel der Alten zu erblicken. Bei den Römern 
wurden die beiden Cato, Julius Cäſar, Mare Aurel und 
Alexander Severus als Meiſter im Ballſpiel, dem „Lieb- 
lingsſpiel der Götter“, gefeiert. Wie Zettler erwähnt, waren 


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u Mannigfaltiges. 221 


auch die alten Agypter leidenſchaftliche Ballſpieler. Man gab 
den Toten ſogar Bälle mit. Ein dreitauſend Jahr altes ägyp- 


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tiſches Grabbildzeichen ſtellt vier Mädchen dar, die gleichzeitig 
zwei und drei Bälle auffingen. Selbſt in den germaniſchen 


Die Kinderſpiele vor dreihundert Jahren. 
Nach einem holländiſchen Stich aus dem Jahre 1627. 


222 Mannigfaltiges. 84 


Urwäldern war das Ballſpiel bekannt, wie dieſes Spiel über- 
haupt ſo kosmopolitiſch war, daß es zur Zeit der Entdeckung 
Amerikas auch dort überall gefpielt wurde. Die alten Mexikaner 
hatten ſogar ihre Ballhäuſer, in denen ſie eifrig Ball ſpielten. 

Auch im Mittelalter war das Ballſpiel, insbeſondere das 
Raketenballſpiel, der Vorläufer des modernen Lawn. Tennis, 
ſo beliebt, daß man überall Ballhäuſer baute: in Berlin auf 
dem Werder und im Luſtgarten; in Dresden an der Weſtſe ite 
des Schloſſes und am Opernhaus; in Hannover auf dem 
St. Gallenhof; in Kaſſel am Schloßplatz; in Darmſtadt und in 
Mannheim auf dem Schloßplatz; in Leipzig in der Reichsſtraße 
und in der Petersſtraße; zu Breslau in der Neuſtadt; in Halle 
vor der Moritzburg; in Straßburg in der heutigen Ballhaus- 
gaſſe; in Heidelberg in der Hiegelgaſſe, am Burgweg und am 
Hirſchgraben; in Hamburg in der Neuſtädter Fuhlentwiete; in 
Würzburg im Hofgarten; zu Stuttgart an der Planie, Ecke der 
Königſtraße. Das Ballhaus in Wien wurde dort erbaut, wo 
heute das Burgtheater ſteht. Straßburg hat noch heute ſeine 
Ballhausgaſſe, Breslau die Ballhauskaſerne, Wien eine Ball- 
gaſſe und einen Ballhofplatz. 

Als das Ballſpiel im 18. Jahrhundert bei den Erwachſenen 
aus der Mode kam, wurden die Ballhäuſer umgebaut und an- 
derer Beſtimmung zugeführt, aber keines war, wie der Laie 
noch heute annimmt, ein Tempel der Göttin des Tanzens. 
„In unſeren Tagen,“ ſagt Hachmeiſter, „wo das Ballſpiel als 
beliebte Unterhaltung und zweckmäßige Leibesübung auch bei 
den Erwachſenen ſeine alten Rechte wieder geltend macht, 
beherrſcht es tatſächlich alle Spielplätze unſerer Jugend... 
Auch hat keine andere körperliche Übung für die Bildung von 
beſonderen Spielvereinigungen auch nur annähernd einen 
gleichen Erfolg gehabt wie das Ballſpiel.“ 

Die Treue, womit die Zugend an ihren alten Spielen hängt, 
iſt charakteriſtiſch für das Seelenleben des Kindes. Noch ſchärfer 
äußerte ſich der Nachahmungstrieb, wenn auch nur vorüber— 
gehend, im Kinderſpiel, und das zu allen Zeiten. Heute ſpielt 
man „Zeppelin“, wohl die ſchönſte Huldigung für den greiſen 
Eroberer der Lüfte. Vor vierzig Fahren kämpften die ein- 


D Mannigfaltiges. 223 


zelnen Schulen den „großen Krieg“ als Deutſche und Fran- 
zoſen unter ſich aus. Unſer „Kommandeur“ war der leider 
zu früh verſtorbene Gouverneur von Tſingtau. So oft ich mit 
ihm zuſammenkam, unterhielten wir uns vergnüglich über 
unfere damaligen Heldentaten, ein Beweis dafür, wie feſt 
Derartiges in der Erinnerung ſich hält. 

Am 22. Juni 1650 beteiligten ſich die ſämtlichen Nürnberger 
Knaben auf ihre Weiſe am Friedensfeſt, indem ſie in geſchloſſener 
Kavalkade auf ihren Steckenpferden durch die Stadt ritten. 
„Dafür bekam ein jeder einen ſilbernen viereckigen Friedens- 
pfennig.“ W. F. 

Der Kurfürſt mit den zwei Frauen. — Es war dies der 
ſächſiſche Kurfürſt Johann Georg IV., der Vorgänger Auguſt 
des Starken. Er hatte ein Fräulein Sibylle v. Neidſchütz zu 
ſeiner rechtmäßigen Frau ernannt, obwohl er mit ihr nicht 
rechtmäßig getraut war. Als er darauf zu einer ſtandesgemäßen 
zweiten Ehe mit der verwitweten Markgräfin Eleonore von 
Ansbach und Baireuth ſchritt, ſtellte er, um die Rechte der 
erſten Frau zu ſichern, folgende eigenhändig geſchriebene Ur- 
kunde aus, die ſich noch heute in der Königlichen Bibliothek 
in Dresden befindet. 

„Kund und zu wiſſen, daß ich ſolches für eine rechte Ehe 
halte und erkenne. Sollte uns alſo Gott in dieſem unſern 
Eheſtande ſegnen, ſo bekennen wir frei vor männiglich, daß 
ſolche vor meine rechte und nicht unrechte Kinder zu halten 
ſein. Um aber keine Zerreitung und Streitigkeit in dem Kur- 
hauſe anzufangen, ſollen dieſe meine rechten Kinder keinen 
Theil an denen Landen und Kurwürden haben, und allein 
dieſe meine Ehefrau Sräffin und ſie Gräffen genannt werden, 
den Namen und Schild verbinde mich bei kaiſerlicher Majeſtät 
auszumachen, kann ihn alſo hier herein und noch bis dato 
nicht ſetzen. Ferner auch will ich mir ausgenommen haben 
frei zu ſein, noch eine Frau zu nehmen und zwar von gleichem 
Rang mit mir, welche der. Namen vom Kurfürſt führen und 
ihre durch Gottes Gnade mir geſchenkte Kinder die rechtmäßigen 
Erben dieſer Kur und Lande ſein ſollen. Doch haben wir 
geboten, ſolche Schrift niemanden zu weiſen, es ſei denn 


224 Mannigfaltiges. o 


höchſt nöthig, fondern fie unſern Kindern zu ihrem Ausweifen 
und beſſerer Sicherheit verwahren, welchen denn neben ihrer 
Mutter, meiner vor Gott rechtmäßige Frauen, ehrlich Aus- 
kommen bei meinem Leben verſprochen und nach meinem 
Tode alſo geſorgt haben will, daß ſie ſich meiner nicht zu ſchämen 
haben, ſondern auch von allem rechtmäßigen Anſpruch meiner 
Successores befreit fein ſollen. Und obwohl fie mit eben dieſem 
meinen Verſprechen, ob es wohl mündlich geweſen, zufrieden 
geſtanden; ſo habe dennoch ſolches zu ihrer wahren Verſicherung 
nochmals ſchriftlich an Eidesſtatt geben wollen, und iſt dieſes 
Alles meine ernſte Meinung, ſo wahr mir Gott helfe. Dieſes 
Alles habe zu mehrer Urkund nochmalen eigenhändig unter- 
zeichnet und mein Kur- und Daumen Secret vorgedruckt. So 
geſchehen Dresden den 16. Febr. 1691. Johann Georg Kur- 
fürſt. — zen. 

Hygieniſche Bedeutung der Gewitter. — Schwer laſtet 
des Sommers Schwüle auf Körper und Geiſt. Ze länger die 
Hitze andauert, um ſo geſättigter wird der Feuchtigkeitsgehalt 
der Luft, und dem Organismus fällt es immer ſchwerer, ſeinen 
Schweiß nach außen zu verdunſten. Es treten dann leicht 
Fälle von Hitzſchlag ein, der nichts anderes iſt als das Ergebnis 
innerer Wärmeſtauung. Dazu nimmt die elektriſche Spannung 
in der Atmoſphäre in beängſtigender Weile zu, bis ein er- 
löfendes Gewitter allen dieſen Schädlichkeiten ein Ende bereitet. 

Durch die gewaltigen Regengüſſe wird der heiße Staub der 
Luft, werden Krankheitserreger, Fäulnisſtoffe und trockener 
Schmutz der Straßen in die Kanäle geſchwemmt oder ſickern 
in tiefere Erdſchichten, fo daß fie jedenfalls unſchädlich werden. 
Ein großer Teil der Waſſermaſſen verdunſtet, wodurch ſo viele 
Wärme verbraucht wird, daß die Entwärmung des Körpers 
nun leicht vonſtatten geht. Das heiße Straßenpflaſter, die 
ſonnendurchglühten Häuſerwände kühlen ſich ab, und bald bläſt 
ein friſcher Hauch erquickender Luft in unſere ſchwuͤlen, dunſtigen 
Wohnungen. 

So ſtellt ſich das Gewitter als luftreinigender „himmliſcher“ 
Sendling dar, deſſen wohltätige Wirkungen man durch die 
weitgeöffneten Fenſter mit tiefen Atemzügen aufnehmen ſoll. 


a Mannigfaltiges. 225 


Luftreinigenden Einfluß übt das Gewitter auch durch die 
Bildung des Ozon aus, jenes energiſchen Oxydationsmittels, 
das auf alle Miasmen, Fäulnis- und Krankheitserreger abtötend 
wirkt. Überhaupt bringt der Blitz ganz gewaltige chemiſche 
Veränderungen in der Zuſammenſetzung der Luft hervor, deren 
günſtige Einwirkung auf den Körper wir wohl fühlen, aber noch 
nicht genügend erklären können. Wir wiſſen zum Beifpiel, 
daß der Stickſtoff mit dem Wafferftoff des Regens unter Mit- 
hilfe des Blitzes Ammoniak bildet, und mit dem Sauerſtoff 
ſalpetrige Säure. Dieſe Entladungen der Luftelektrizität ſind 
für unſeren Körper jedenfalls ſehr bedeutungsvoll; ſie bilden 
mächtige Lebensreize, die eine kräftige Umftimmung in unferem 
Wohlbefinden verurſachen, wie jeder nach einem Gewitter mit 
großem Behagen fühlt. 

Auf einer Wirkung der atmoſphäriſchen elektriſchen Span- 
nung auf die Nerven beruht wohl auch die Gewitterfurcht 
ſenſibler, nervöſer Perſonen, die ein Gewitter oft ſchon lange 
vor dem Ausbruch als Beklemmung und Bangigkeit „in den 
Gliedern“ fühlen. Erwachſene ſollen aber wenigſtens vor 
Kindern ſich nichts davon merken laſſen, ſondern bei dieſen 
der abergläubiſchen Gewitterfurcht durch Aufklärung vorbeugen, 
indem fie ihnen die höchſt wohltätigen geſundheitlichen Eigen- 
ſchaften des Gewitters ſchildern. Die gewaltig erſchütternden 
Erſcheinungen von Blitz und Donner find eben die notwen- 
digen Naturwehen, die eine neue reine Lebensluft hervor- 
bringen. Dr. Th. 

Der hiſtoriſche Moment. — „Eines Tages,“ fo erzählte 
Alexander Dumas, „hatten ich und Viktor Hugo beim Herzog 
Decazes geſpeiſt. Unter den Gäſten befanden ſich auch Lord 
und Lady Palmerſton. Um 10 Uhr ging man in den Salon, 
wo man den Tee nahm. Hugo und ich ſaßen etwas abſeits 
nebeneinander auf Lehnſtühlen. Lord und Lady Palmerſton 
waren etwas ſpät gekommen. Man hatte nicht Zeit gehabt, 
uns ihnen vor dem Eſſen vorzuſtellen, und als das Eſſen zu 
Ende war, hatte der Herr des Hauſes ganz vergeſſen, die 
Vorſtellung zu beſorgen. Nach engliſcher Sitte konnte nun 
das Ehepaar nicht das Wort an uns richten. Da kam der junge 

1918. XII. 15 


226 Mannigfaltiges. 2 


Herzog Decazes zu mir. „Lieber Dumas,‘ fagte er, „Lord 
Palmerſton läßt fragen, ob zwiſchen Ihnen und Hugo vielleicht 
ein Sitz frei wäre?“ — Natürlich,“ erwiderte ich auf die Frage 
des Lords. Es wurde ein leerer Seſſel hingeſtellt. Nun erhob 
ſich endlich Lord Palmerſton, reichte der Lady Palmerſton 
den Arm, führte ſie zu uns hin und forderte ſie auf, auf dem 
leeren Seſſel Platz zu nehmen. Darauf ſprach er, ohne an 
uns das Wort zu richten: „Mylady, ſehen Sie auf die Ahr.“ 
Mylady ſah auf die Uhr. ‚Wie ſpät iſt es? fragte Lord Pal- 
merſton. „10 Uhr 35, erwiderte Mylady. ‚Merten Sie ſich 
alſo, Mylady, daß Sie ſoeben einen hiſtoriſchen Moment er- 
leben, daß Sie um 10 Uhr 35 abends zwiſchen den Herren 
Hugo und Dumas ſaßen, und daß dies eine Ehre iſt, die Sie 
in Ihrem Leben wahrſcheinlich nie mehr haben werden.“ 
Sprach's, reichte feiner Gattin wieder den Arm und führte 
ſie auf ihren Platz zurück, ohne auch nur eine Silbe mit uns 
zu ſprechen. Denn wir waren ihm ja nicht vorgeſtellt wor- 
den.“ O. v. B. 

Eine Parade in Katmandu. — In dem der angloindiſchen 
Regierung tributpflichtigen Himalajaſtaate Nepal, dem bisher 
einen Beſuch abzuſtatten nur wenigen Europäern vergönnt 
geweſen iſt, legt man auf den Beſitz eines tüchtigen, modern 
ausgebildeten Heeres den höchſten Wert. 

Der Weltreiſende Otte Ehlers, der leider bei der Hurch⸗ 
querung Neu-Guineas den Tod fand, hielt ſich längere Zeit 
in Katmandu, der Hauptſtadt Nepals, auf und wurde, da er 
die beſten Empfehlungen feitens der indiſchen Regierung be- 
ſaß, als geehrter Gaſt behandelt. Er erteilt den Nepaler Streit- 
kräften und ihren Offizieren hohes Lob und hatte auch Ge- 
legenheit, eine Parade der Truppen vor dem Obergeneral 
Dep Scham Schir beizuwohnen, die auf dem Paradeplatz zu 
Katmandu ſtattfand. 

Er erzählt darüber folgendes: Gegen fünf Uhr waren 
13,000 Mann mit mehreren Muſikkorps verſammelt, die in 
Zug- oder Nompaniekolonnen auf und ab marfchierten, während 
ſich nach und nach etwa zwei Dutzend Generale auf einem 
großen gemauerten Rondell, in deſſen Mitte ſich ein breit 


oO Mannigfaltiges. 227 


kroniger Baum erhebt, einfanden. Sie kamen nicht zu Pferde, 
ſondern in Wagen oder zu Fuß, jeder von einem Träger be- 
gleitet, der einen rieſenhaften, bunten Sonnenſchirm über ihn 
hielt. Sobald ein neuer General anlangte, machten die Truppen 
halt, wo fie ſich gerade befanden, präfentierten, und während 
die betreffende Exzellenz zum Rundell hinaufſtieg und gravi- 
tätiſch um den Baum herumſchritt, ſchmetterten die Mufil- 
korps eine Begrüßungsfanfare. Die Uniform der Truppen 
beſteht teils aus ſchwarzen, teils aus weißen baumwollenen, 
oben weiten und an den Waden enganliegenden Hofen und 
ſchwarzen oder blauen wollenen Kitteln. Als Fußbekleidung 
Lederſchuhe, auf dem Kopfe ſchwarze Turbane mit umlaufen- 
dem Wulſt aus feinem Silberdraht. Bei den Offizieren iſt 
dieſer Wulſt aus Golddraht. An ihm befeſtigt iſt vorne ein 
etwa 7 Zentimeter hohes und 6 Zentimeter breites ſilbernes 
Schild mit getriebenem Wappen. Die Offiziere führen an 
Stelle ſilberner Schilder ſolche aus maſſivem Gold mit hafel- 
nußgroßen Edelſteinen: bei dem Leutnant in der Mitte des 
Schildes als Rangabzeichen ein Smaragd, bei den Hauptleuten 
zwei, beim Major vier, beim Oberſtleutnant fünf, die aber 
loſe am unteren Rande des Schildes hängen. Die Oberſten 
haben brillantenbeſetzte Schilder, an denen noch je drei un- 
geſchliffene Smaragde hängen. Die Generalskopfbedeckungen 
aber ſtellen eine Art Helm dar, der über und über mit echten 
Perlen beſetzt iſt, und an denen ganze Trauben ungeſchliffener 
Edelſteine von ungewöhnlicher Größe herabbaumeln. Alle 
dieſe Abzeichen ſind Staatseigentum und repräſentieren bei 
einem ſtehenden Heere von im ganzen 20,000 Mann ein ge- 
waltiges Kapital. 

Als der Generaliſſimus endlich erſchienen war, formierten 
die Truppen ein Viereck, deſſen Mittelpunkt das oben erwähnte 
Rundell bildete, und nun kam der Haupt- und Glanzpunkt 
der Parade, nämlich eine ſymboliſch-allegoriſche Vorſtellung, 
durch die der Sieg der Nepaler über ihre Feinde verfinnbild- 
licht wird. Auf ein Zeichen des Höchſtkommandierenden wurde 
aus einem in der Nähe ſtehenden Käfig eine Antilope heraus- 
gelaſſen, während von der einen Seite des Vierecks vier Wind- 


228 Mannigfaltiges. u 


hunde in langen Sätzen heranjagten, und womit eine Jagd 
begann, die auf den europäiſchen Zuſchauer recht widerwärtig 
wirkte. Die Antilope, die an Schnelligkeit ihren Verfolgern 
weit überlegen war, ſuchte in blitzartigen Bewegungen hin und 
her ſchießend zu entkommen; wo immer ſie jedoch durch das 
Viereck durchzuſchlüpfen ſuchte, überall fand ſie ſich von einem 
Wall von Bajonetten umgeben. In einem verzweifelten Augen- 
blicke ſchien ſie über die Linie der Soldaten hinwegſetzen zu 
wollen, aber ſobald ſie ſich zum Sprunge anſchickte, brach die 
geſamte Mannſchaft in ein ohrenbetäubendes Geſchrei aus, ſo 
daß das entſetzte Tier ſeinen Entſchluß änderte und wieder 
kehrt machte. Dieſe Hetzerei mochte etwa eine Viertelſtunde 
gedauert haben, als der Befehl erteilt wurde, das Viereck zu 
verkleinern; aber erſt als es allmählich auf ein Drittel feiner 
urſprünglichen Größe verringert worden war, gelang es den 
Hunden unter dem lauten Jubel der Soldaten das aus Er- 
ſchöpfung bereits dem Verenden nahe Tier zu packen und zu 
zerreißen. 

Damit war das militäriſche Schauſpiel beendet, die Generale 
ſetzten ſich unter dem Tuſchblaſen der Wilitärkapellen wieder 
in ihre Wagen, und mit Sang und Klang zogen die Regimenter 
in ihre Quartiere zurück. 

Als höchſt merkwürdig muß noch erwähnt werden, daß die 
Anterhaltung dieſes Heeres — ſoweit der gemeine Mann in 
Frage kommt — dem Staate nicht nur nichts koſtet, ſondern 
noch etwas einbringt. Der Soldat erhält nämlich keinen Sold, 
ſondern ein Stück Regierungsland in Pacht, das er bearbeitet 
und für das er noch Steuern zu zahlen hat. Nur die Beſoldung 
der hohen Offiziere iſt koſtſpielig, da zum Beiſpiel ein Oberſt 
monatlich 10,000 Rupien, das heißt etwa 14,000 Mark, er- 
hält. F. 8. 

Naſenformen und Naſenformungen. — Eine ausſchlag⸗ 
gebende Rolle für den Geſamteindruck des menſchlichen Ge— 
ſichtes ſpielt die Naſe, fie kann für ihren Träger zur Glüd- und 
Unglüdbringerin werden. Tiefe Schatten ſenken ſich auf die 
Seele Heranwachſender, wenn fie gewahren, daß der im wahrſten 
Sinne des Wortes hervorragendſte Teil des Antlitzes dieſem 


0 Mannigfaltiges. 229 


ein Gepräge verleiht, das im Widerſpruch mit dem eigentlichen 
Weſen ihrer Perſönlichkeit ſteht. Es dürfen daher ärztliche Be⸗ 
ſtrebungen, die darauf abzielen, zufällige Mißbildungen dieſes 
Organs zu verbeſſern und aus einem ſonſt vollendet geformten 
Geſicht zu entfernen, gro- 
ßer Anerkennung und des 
Intereſſes weiter Kreiſe 
ſte ts ſicher ſein. 

Die Naſenkorrektur, 
ein kleiner Zweig am 
großen Baume der Ortho- 
pädie, hat, trotzdem fie erſt 
vor kaum mehr als einem gig. 1 
Sahrzehnt in Aufnahme un 
gekommen ift, bereits überraſchende Ergebniſſe aufzuweiſen. 
Selbſt die ärgſten Mißbildungen infolge fehlerhafter Struktur 
des Naſenknochens gelang es durch operativen Eingriff zu be- 
ſeitigen oder doch weſentlich zu mildern. Nicht weniger er- 
folgreich erwies ſich die mechaniſche Behandlung bei den weit 
häufiger vorkommenden einfacheren Naſenfehlern, welche im 
Fleiſch beziehungsweiſe Knorpel liegen. Ihnen ſuchte man 
zunächſt mittels Maſſage beizukommen, und es läßt ſich nicht 
leugnen, daß in geeigne- 
ten Fällen und mit der 
nötigen Ausdauer auf 
dieſem Wege Erfprieß- 
liches erreicht werden 
kann. Weit ſchnellere und 
nachhaltigere Reſultate 
ergaben ſich jedoch bei 
gi 2 Gebrauch ſinnreicher klei- 

e ner Apparate, als deren 
vollkommenſter Typus wohl der von dem Speziäaliſten 
L. M. Baginski in Berlin angefertigte Naſenformer „Zello“ 
angeſprochen werden darf. Es iſt dies ein wohldurchdachter 
Mechanismus, der des Nachts auf die Naſe geſetzt und 
mittels zwei oder drei Riemen feſtgeſchnallt wird. Auf dieſe 


250 Mannigfaltiges. 2 


Weiſe wird die Naſe in eine normale Lage gebracht. Zit fie 
zum Beiſpiel an der Spitze etwas zu ſtark und hochſtehend, ſo 
wird durch den Former ein ſeitlich wie nach unten wirkender 
Druck ausgeübt und ſo allmählich eine natürliche Geſtaltung 
der Nafe herbeigeführt, wie dies aus den beigegebenen Bildern 
Fig. 1 und 2 deutlich erſichtlich iſt. Analog verhält es ſich mit 
einer hängenden, breiten oder etwas eingedrückten Naſe. Die 
Umformung geht dabei in allen Fällen ganz naturgemäß vor 
ſich. Durch den Druck, den der Former erzeugt, werden die 
Gewebezellen in der Naſe verkleinert und durch die fortwährende 
Zirkulation des Blutes wird dann nach und nach alles „Zuviel“ 
hinweggenommen. 

Der Naſenformer „Zello“ (vgl. auch das Inſerat in dieſem 
Bande) iſt ein auf wiſſenſchaftlicher Grundlage nach den An- 
gaben bekannter Naſenärzte hergeſtellter orthopädiſcher Apparat, 
der nicht nur vielen bereits wertvolle und dankbar anerkannte 
Dienſte geleiſtet hat, ſondern auch von zahlreichen Profeſſoren 
und Arzten ſtändig angewandt, verordnet und warm empfohlen 
wird. Der Former wird, wenn die Länge des Naſenrückens 
nicht angegeben wird, in einer Normalform geliefert, die faſt 
immer paßt. Für ganz komplizierte Naſenfehler werden auch 
nach Gipsabdrücken, Photographien oder Zeichnungen befon- 
dere Apparate angefertigt. B. 

Den eigenen Tod gemeldet. — Während der Schlacht bei 
Colombey am 14. Auguſt 1870 hielt General v. Glümer, Kom- 
mandeur der 25. Brigade, weſtlich von dem Dorfe Colombey 
auf einem Hügel innerhalb der Feuerlinie. Zu den Adjutanten 
des Generals gehörten zwei vor ganz kurzer Zeit zu Haupt- 
leuten beförderte Offiziere, die beide Müller hießen. Den 
einen hatte der General vor etwa einer halben Stunde zu einem 
der Bataillone in die vorderſte Schützenlinie geſchickt, um einen 
Befehl zu überbringen. Als der Ordonnanzoffizier nicht zurück- 
kehrte, mußte der andere Hauptmann Müller ihm nachreiten, 
um feſtzuſtellen, ob fein Kamerad den Bataillonskommandeur 
auch wirklich erreicht habe oder, was zu befürchten ſtand, vorher 
gefallen ſei. Wieder verging eine Viertelſtunde. Dann bog 
ein Reiter um das kleine Gehölz am Veſtausgange von Colombey 


u Mannigfaltiges. 231 


und ſprengte auf den General zu. Es war der zuletzt abgeſchickte 
Hauptmann. 

Dicht vor General v. Glümer parierte er ſein Pferd und 
meldete kurz und ernſt: „Befehl ausgeführt. Hauptmann Müller 
tot.“ 

Sn demſelben Augenblick wankte er im Sattel und fiel 
vornüber auf den Hals des Pferdes. Eine Chaſſepotkugel hatte 
ihm, an der linken Schläfe eindringend, den Kopf durchbohrt. 

Auch aus den Napoleoniſchen Kriegen wird ein ähnlicher 
Vorgang berichtet. Es war am 28. Auguſt 1809 vor Regens- 
burg. Die Franzoſen kämpften mit den Sſterreichern, die ihnen 
vier Tage vorher dieſe Stadt entriſſen hatten, abermals mit 
höchſter Erbitterung um den Beſitz der alten Biſchofsfeſte. 
Napoleon, der mit ſeinem Stabe in der Nähe der. Kartauſe 
Prüll hielt, war ſoeben von einer verirrten Kugel leicht am 
Bein verwundet worden — bekanntlich die einzige Schuß 
verletzung, die er in all ſeinen Kriegen empfangen hat — 
und befand ſich daher in ſchlechteſter Laune. Fortwährend ſchickte 
er feine Adjutanten nach vorn, um Nachricht über den Ver- 
lauf des Kampfes einholen zu laſſen. Einer dieſer Offiziere, 
der Oberſt Graf Montfort, kam mit auf der Bruſt völlig blut- 
getränkter Uniform im ſchärfſten Galopp zurückgeſprengt. 

„Regensburg iſt unſer, Sire!“ rief er mit brechender Stimme, 
während ſein Geſicht jede Spur von Farbe verlor und große 
Schweißperlen ihm über das Geſicht rannen. 

„Sind Sie verwundet?“ fragte Bonaparte nicht ohne Teil- 
nahme. ö 

„Nein, Sire — ich bin getötet,“ ſtieß der Oberſt pfeifenden 
Atems mit letzter Kraft hervor und fiel tot vom Pferde. 

Eine ähnliche Geſchichte berichtet der Engländer Burke in 
ſeiner Lebensbeſchreibung des mexikaniſchen Präſidenten 
Juarez, auf deſſen Befehl am 19. Juni 1867 der unglückliche 
Kaiſer Maximilian erſchoſſen wurde. Am Tage nach der Urteils- 
vollſtreckung an dem öſterreichiſchen Kaiſerſohn ſollten drei 
mexikaniſche Offiziere, die zuerſt in der Armee Zuarez’ Dienſte 
getan hatten, dann aber zu Maximilian übergegangen waren, 
gleichfalls erſchoſſen werden. Auf ihre Bitten wurden die drei 


232 Mannigfaltiges. oO 


ungefefjelt an die Mauer des Kaſernenhofes in Queretaro 
geſtellt. Ihnen gegenüber ſtand eine Abteilung Infanterie 
mit geladenem Gewehre bei Fuß. Aber noch immer zögerte 
der kommandierende Offizier, ein Oberſt namens Alvaro. Man 
wartete auf Juarez, der der Hinrichtung hatte beiwohnen 
wollen. Nachdem eine peinvolle halbe Stunde vergangen 
war, traf ein Bote mit der Nachricht ein, daß der Präſident 
nicht erſcheinen würde. Die Exekution ſolle aber ſofort voll- 
zogen werden. Man wollte nun den drei Verurteilten, die 
leichenblaß an der Mauer lehnten, die Augen verbinden. Auch 
dies unterblieb auf ihre Bitten. 

Da trat einer der Todeskandidaten, ein Hauptmann namens 
Salteſta, ſicheren Schrittes dicht an Oberſt Alvaro heran und 
ſagte laut: „Ich wollte meine letzte Meldung eigentlich Benito 
Juarez erſtatten. Nehmen Sie ſie für dieſen Mordbuben 
entgegen. — Oberſt Alvaro und Hauptmann Salteſta ſind tot!“ 

Damit riß er einen bereitgehaltenen Dolch aus der Taſche 
und ſtieß ihn dem Oberſt mitten ins Herz. Wenige Minuten 
ſpäter war auch Salteſta eine Leiche. W. K. 

Die ſächſiſchen Schöppen galten im Mittelalter als die 
grauſamſten. So war im Fahre 1697 ganz Deutjchland empört, 
als der kurfürſtliche Schöppenſtuhl von Leipzig die „Maria 
Reinlerin, auf ihrem gethanenen Bekenntniß vor öffentlich 
gehegtem Peinlichen Hals-Gericht“ wegen Gattenmords ver- 
urteilte, „zufammt einem Hunde, Hahn, Schlangen und einer 
Katzen in einen Sack geſtecket, ins Waſſer geworfen und ertränket 
zu werden“. Dieſe Empörung war berechtigt, weil der 
Ermordete ein unverbeſſerlicher Spitzbube war, der ſeine junge 
Frau zu Verbrechen aller Arten zwingen wollte, und weil trotz 
dieſer Milderungsgründe „das Geſuch der Reinlerin um Ver— 
wandelung dieſer grauſigen Strafe in die des Schwertes“ vom 
Kurfürſten abgeſchlagen worden war. Der Dresdener Regijtra- 
turakt vom 23. Juli 1697 beſagt: „Nachdem Maria Reinlerin 
auf ihrem gethanen Belenntniß vor öffentlich gehegtem Hals- 
gericht nochmals freiwillig verharret, fo iſt fie dem Urthel zu- 
folge mit dem Gethier in einen Sakt geſtecket, in die Elbe 
geworfen und ertränket worden“. 


N Mannigfaltiges. 233 


Die „Hals- oder Peinliche Gerichtsordnung“ Kaiſer Karls V. 
ſah für Gattenmord nur die einfache Strafe des Erſäufens vor, 
wie ſie noch heute gegen ungetreue Frauen im Orient üblich 
iſt. Es war dies die alte römiſche Strafe gegen Elternmörder, 
die Raifer Konſtantin erſtmals auf Gattenmörderinnen aus- 
dehnte, und zwar mit der Verſchärfung, daß entweder ein Affe 
mit einer Schlange oder ein Hund mit einer Katze der Ver- 
brecherin in den Sack beigegeben werden ſollten. Auch be- 
ſtimmte er, daß der Sack mit den Tieren, die furchtbar um ſich 
kratzten und biſſen, ſtark und luftdicht ſein müſſe, ſo daß es 
ſtundenlang dauerte, bis er ſank. Die Empörung des Publikums 
über die Grauſamkeit der ſächſiſchen Schöppen war alſo be- 
greiflich. 

Trotzdem tat man ihnen unrecht, da es ihnen mehr um 
die Abſchreckung als um die Strafe ſelbſt zu tun war, wie aus 
der Liquidation des mit der Hinrichtung der Reinlerin beauf- 
tragten „Scharf; und Nachrichters der Churf. Sächſ. Nefidenz 
Veſtung Stadt Dresden Benediktus Wahl“ hervorgeht. Dieſer 
liquidierte nämlich wörtlich: „3 Groſchen vor Stricke und Leinen 
bei der Säckung, 4 Groſchen 6 Pfennige vor Verfertigung 
eines Hundes, Katzens, Hahns und Schlangen dem Bildhauer 
Johannes Richtern“, woraus hervorgeht, daß der Unglücklichen 
nur künſtliche Tiere beigegeben wurden. 

Auch der Vorſitzende des Leipziger Schöppenſtuhls, Benedikt 
Carpzow (geb. 27. Mai 1595, geſt. 50. Auguſt 1666), dem man 
nachredet, an 20,000 Todesurteile gefällt zu haben, war beſſer 
als fein Ruf. Dadurch, daß er ſchon 1635 in einer feiner vielen 
Schriften „größere Strenge in Beobachtung der rechtlichen 
Formen, in Berückſichtigung der erforderlichen Indizien und 
in der Begründung des Tatbeſtandes“ forderte, hat er mehr 
Unheil verhütet, als er im Geiſte der fürchterlichen Zeit, in 
der er als oberſter Richter lebte, anſtiften mußte. W. F. 

Der japaniſche Kronprinz. — Hirohito oder, wie er 
vor ſeiner Erklärung zum Kronprinzen hieß, Michi no 
Miya, der älteſte Sohn des Kaiſers Voſhihito und der Kai- 
ſerin Sadako, einer Tochter des Fürſten Kujo Wichitaka, foll 
demnächſt, wie verlautet, in Begleitung eines größeren Ge— 


Mannigfaltiges. 


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Der japaniſche Kronprinz Hirohito als Unterleutnant der Marine. 


folges den europäiſchen Höfen einen Beſuch abſtatten, um ſich 
vorzuſtellen und zugleich die ſtaatlichen Einrichtungen und die 


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2 


1 Mannigfaltiges. 235 


bedeutendſten induſtriellen Unternehmungen der einzelnen 
Länder kennen zu lernen, eine Abſicht, die im gemeinſamen 
Intereſſe freudig zu begrüßen iſt. 

Er wurde am 29. April 1901 in Tokio geboren. Anfänglich 
von zarter Geſundheit, hat er ſich durch die Einreihung in das 
Kadettenkorps, wo man auf die Hebung und Schulung ſeiner 
Kräfte beſondere Sorgfalt verwendete, jetzt überraſchend er- 
holt, ſo daß er über ſein Alter hinaus entwickelt ausſieht. 
Von den europäiſchen Sprachen hat er namentlich das Eng- 
liſche getrieben. Nachdem ihm an ſeinem zehnten Geburtstag 
der Rang eines Unterleutnants der Infanterie verliehen 
worden war, iſt er kürzlich auch zum Anterleutnant der 
Marine ernannt worden. Hirohito beſitzt noch zwei Brüder und 
vier Schweſtern. Th. S. 

Eine Liebe iſt der anderen wert. — Eine luſtige kleine 
Geſchichte aus dem Eheleben Walter Scotts erzählt eine Lon- 
doner Zeitſchrift. Eines Tages kam ſeine Frau außer ſich zu 
ihm und ſagte: „Nun werde ich die Kinder aber einmal ge- 
hörig züchtigen müſſen!“ 

„Was iſt denn los, Schatz?“ fragte Scott. 

„Sie haben mir meinen Nähtiſch in ſchreckliche Unordnung 
gebracht. Nichts, aber auch gar nichts liegt auf ſeinem Platz. 
Nadeln, Garnrollen, Schere, Wolle — alles iſt durcheinander 
geworfen. Man könnte geradezu wahnſinnig werden.“ 

Scott neigt ſich wohlwollend zu ſeiner beſſeren Hälfte: 
„Mein Lieb, das waren nicht die Kinder, das habe ich getan!“ 

„Aber warum denn?“ 

„Ach, nur in dem Vunſche, deine liebevolle Sorgfalt zu 
erwidern. Nachdem du meinen Schreibtiſch ſo ſchön aufgeräumt 
und alle Papiere geordnet haſt, war es mir ein Herzensbedürfnis, 
auf dieſelbe Weiſe auch deinen Nähtiſch in Ordnung zu 
bringen.“ O. v. B. 

Ein ſchottiſcher Münchhauſen. — Auch in Schottland hat 
es einen „Münchhauſen“ gegeben; es war ein Grundbeſitzer, 
der Laird Durham, der im 18. Jahrhundert lebte und bei ſeinen 
Zeitgenoſſen in dem Rufe ſtand, die graue Wirklichkeit vermöge 
ſeiner reichen Phantaſie gern etwas farbiger erſcheinen zu laſſen. 


236 Mannigfaltiges. | oO 


Eines Tages trat Peter, fein langjähriger treuer Diener, 
zu ihm ins Zimmer und ſagte: „Hiermit kündige ich zum 
nächſten Termin.“ | 

„Du willſt gehen, Peter?“ ſagte der Laird erſtaunt. „Habe 
ich dich nicht immer gut behandelt? Habe ich nicht erſt neulich 
deinen Lohn erhöht? Worüber haſt du alſo zu klagen?“ 

„Ich bin mit allem zufrieden, aber das ärgert mich, daß 
die Leute von mir ſagen, der dient bei jemandem, der ein 
Aufſchneider iſt.“ 

„Richtig, Peter, ich ſehe wohl, daß ich mich mehr zuſammen- 
nehmen muß. Ich will dir etwas ſagen: wenn du bei Tiſch 
hinter meinem Stuhle ſtehſt und hörſt, daß ich anfange auf- 
zuſchneiden, ſo gib mir heimlich einen kleinen Knuff in den 
Rücken; dann lenke ich wieder ein, und wir beide werden 
uns ſchon noch länger vertragen.“ 

Peter empfahl ſich befriedigt. 

Bald darauf hatte der Laird einige Gäſte zu Tiſch, und 
das Geſpräch kam auf das für die Wahrheitsliebe von jeher 
gefährliche Gebiet der Reiſe- und Zagderlebniffe. „Ja, auf 
der Reiſe, von der ich erzähle,“ ſagte der Laird, „habe ich 
Füchfe mit Schwänzen geſehen, die ihre zwölf Fuß lang waren.“ 

In dieſem Augenblick fühlte er einen kräftigen Stoß von 
Peters Fauſt. 

„Was ſage ich,“ berichtigte ſich nun der Laird, „ſechs Fuß 
waren ſie lang.“ 

Neuer Stoß von Peter. 

„Ich irre mich,“ fuhr der Erzähler fort, „drei Fuß meine ich.“ 

Dritter Stoß von Peter. 

Da drehte ſich der Laird zu feinem Diener um und 
ſagte laut: „Aber Peter, wenn ich die Schwänze nun noch 
kürzer mache, dann iſt ja die ganze Geſchichte nichts mehr 
wert!“ O. v. B. 

Die kleine Zehe. — Zu den am meiſten mißhandelten 
Gliedern des menſchlichen Körpers gehört ohne Zweifel die 
kleine Zehe. Durch den Druck des enganliegenden Lederſtiefels 
wird ſchon bei Kindern eine Verunſtaltung der kleinen Zehe 
hervorgerufen, die mit den Fahren zunimmt und mit Beginn 


* 


. Mannigfaltiges. 237 


der Oreißiger ihren Höhepunkt erreicht hat: die kleine Zehe 
iſt dann in den weitaus meiſten Fällen ein bogenförmig 
gekrümmtes, völlig plattgequetſchtes und halb über die Nach- 
barzehe hinübergedrücktes Glied geworden, an deſſen Spitze 
nur noch ein winziger Reſt von einem Nagel wuchert. 

Niemand wird dieſem vollſtändig verbildeten Beſtandteil des 
menſchlichen Fußes dann noch anſehen, daß er — was den meiſten 
überhaupt wohl unbekannt ſein dürfte — drei Gelenke beſitzt im 
Gegenſatz zu der großen Zehe, die nur zweigelenkig iſt. 

Bereits 1824 ſtellte der Pariſer Anatom Huguet nun feſt, 
daß bei manchen Menſchen die kleine Zehe ebenfalls nur 
zweigelenkig iſt. Dieſelbe Beobachtung machte auch ver- 
ſchiedentlich der Wiener Profeſſor der Medizin Schennler, der 
1854 über dieſe immerhin auffallende Erſcheinung eine Arbeit 
veröffentlichte, in welcher er die Schuld an dieſer Verwachſung 
des Endgliedes mit dem Mittelgliede dem Druck des Schuh- 
werkes zuſchreibt. 0 

In neuerer Zeit hat man dieſem auffälligen Vorgang er- 
höhte Beachtung geſchenkt, und da iſt die Wiſſenſchaft an der 
Hand eines reichlichen Materials, das nicht nur in Kultur- 
ländern, ſondern auch unter unziviliſierten, feſten Schuhwerks 
ungewohnten Völkerſchaften geſammelt worden war, zu er- 
heblich anderen und daher weit intereſſanteren Schlüſſen ge- 
kommen. Beſonders der Anatom Wilhelm Pfitzner ſtellte feſt, 
daß dieſe Umwandlung der kleinen Zehe in ein zweigelenkiges 
Glied ebenſo häufig bei Menſchenraſſen auftritt, die ſtets barfuß 
gehen, bei den malaiiſchen Völkern, den Negerſtämmen Afrikas 
und den ſüdamerikaniſchen Indianern, daß mithin der dauernde 
Oruck der feſtanliegenden Schuhe nicht als Urſache dieſer 
Knochenverwachſung angeſehen werden könne. Oagegen ſpricht 
nach Pfitzner auch das geſunde Ausſehen der verwachſenen 
Knochenteile, ſodann aber auch die Tatſache, daß zweigelenkige 
kleine Zehen ſchon bei Kindern im zarteſten Alter ebenſo häufig 
wie bei älteren Perſonen angetroffen werden. Ferner iſt ſta- 
tiſtiſch nachgewieſen — und dies iſt von größter Wichtigkeit —, 
daß die Zahl der Menſchen mit zweigelenkigen Zehen in den 
letzten fünfzig Jahren erheblich zugenommen hat. 


238 Mannigfaltiges. u 


Es kann ſich hier nur um einen naturgemäßen Vorgang 
handeln, worauf auch die Art der Verwachſung der beiden 
Zehenglieder mit Sicherheit hinweiſt, alſo um eine Rückbildung, 
in der die menſchliche kleine Zehe begriffen iſt, und die als ein 
neues Raſſenmerkmal angeſehen werden muß, das aus einer 
bisher noch nicht aufgeklärten Veranlaſſung auftritt. W. K. 

Wann darf eine franzöſiſche Frau Männerkleidung tragen? 
— Es gibt bekanntlich eine franzöſiſche Frau, die regelmäßig 
Männerkleidung trägt. Oies iſt die bekannte Schriftſtellerin 
Frau Dieulafoy. Sie iſt zum Gebrauche dieſer Tracht von 
der Pariſer Polizeipräfektur ausdrücklich ermächtigt worden. 

Dies hat nun einen Neugierigen auf den Gedanken ge- 
bracht, bei der Präfektur anzufragen, unter welchen Bedin- 
gungen denn einer franzöſiſchen Frau die Ermächtigung zum 
Tragen der Männerlleidung zuerteilt wird. Die Beamten der 
Präfektur zeigten ſich dem Frageſteller gegenüber ziemlich 
zurückhaltend. Schließlich aber rückten ſie mit der Mitteilung 
heraus, es gebe nur einen einzigen geſetzlichen Grund, der 
Frau die Hoſentracht zu erlauben, und dieſer beſtehe darin, 
daß die Frau einen Bart habe. Die Tatſache bleibt alſo, daß 
in Frankreich eine Frau mit einem Barte das Recht auf die 
Hoſentracht hat. Die betreffende Verfügung ſoll noch aus 
der Schreckenszeit ſtammen. O. v. B. 

Nicht zu verblüffen. — Nach Schluß eines Manövers, bei 
dem das dritte Armeekorps dem Gardekorps gegenũbergeſtanden 
hatte, erhielt Oberſt v. S. den Befehl, ſich bei dem bereits 
hochbetagten ruſſiſchen Feldmarſchall Grafen Berg, der dem 
Manöver beigewohnt und dem Kaiſer Wilhelm das Regiment 
des Oberſten verliehen hatte, zu melden, um ſeinen Befehl 
zu vernehmen, wann er ein Bataillon des Regiments, das 
noch in Berlin ſtand, beſichtigen wolle. 

Graf Berg beſtimmte die Zeit der Beſichtigung und ſagte 
dabei zu dem Regimentskommandeur: „Ziehen Sie, bitte, die 
Kompanien auseinander, Herr Oberſt, damit ich nicht genötigt 
bin, das Bataillon im ganzen anzureden, da hierzu meine ſchon 
ſchwachgewordenen Stimmmittel nicht mehr ausreichen würden.“ 

Dies geſchah, und die Kompanien ſtanden auseinander- 


u Mannigfaltiges. 239 


gezogen in Parade, als der ruſſiſche Feldmarſchall herankam. 
Dieſer hatte ſchon vieles von dem Inſtitut des Einjährig-Frei- 
willigendienſtes und dem großen Nutzen, den dasſelbe dem 
preußiſchen Heere brächte, vernommen und war daher begierig, 
einige Einjährig-Freiwillige kennen zu lernen und zu erfahren, 
wie ſtark ihre Zahl wohl in dieſem Bataillon ſein möchte. 

Er wandte ſich daher, während er mit dem Oberſten die 
Front einer Kompanie abſchritt, plötzlich an einen intelligent 
ausſehenden Mann mit der Frage: „Wo haben Sie ſtudiert?“ 

„In Halle!“ lautete die ſchlagfertige Antwort, bei der 
Oberſt v. S. Mühe hatte, nicht laut aufzulachen. Denn der 
Gefragte war von Beruf Lackier und mochte wohl in Halle ſein 
Handwerk erlernt und ausgeübt haben, hatte aber ſchwerlich 
jemals dort akademiſche Vorleſungen gehört. 

Graf Berg fragte einen zweiten: „Und Sie? Wo haben 
Sie ſtudiert?“ 

„In Greifswald!“ 

Der Mann war Schneider. 

„Und Sie?“ wandte ſich der Feldmarſchall an einen dritten. 

„on Berlin und Göttingen!“ 

Dieſer „Akademiker“ war Tapezier, übrigens wie alle übri- 
gen Angeſprochenen ein Berliner. 

Auch in anderen Kompanien richtete Graf Berg noch ſeine 
Frage an verſchiedene Soldaten, deren Ausſehen ihm einen 
höheren Bildungsgrad zu verraten ſchien, und erhielt jedesmal 
prompte Antwort. 

Da ſprach er voll Bewunderung zu dem Oberſten: „Ja, 
nun kann ich mir die großen Erfolge erklären, die Sie in Frank- 
reich errungen haben, nachdem ich mich ſelbſt davon überzeugte, 
daß Ihre Armee in einem einzigen Bataillon faſt ein halbes 
Hundert Leute mit akademiſcher Bildung beſitzt.“ 

Einige Tage danach hatte ſich Oberſt v. S., da das Bataillon 
Berlin verlaſſen mußte, bei dem allerhöchſten Kriegsherrn ab- 
zumelden. Bei dieſer Gelegenheit richtete Raifer Wilhelm an 
ihn die Frage: „Sagen Sie mir doch, wie verhält es ſich denn 
eigentlich mit dem halben Hundert Akademiker in dem Ba- 
taillon, von dem mir Graf Berg erzählte?“ 


240 Mannigfaltiges. A 


Nun berichtete Oberſt v. S. dem Kaiſer den geſchilderten 
Hergang, und auf welche Veiſe Graf Berg die zahlreichen 
ſtudierten Leute ermittelt hatte. 

Der Kaiſer lachte herzlich und ſagte: „Ja, meine Berliner 
laſſen ſich fo leicht nicht verblüffen.“ R. v. B. 

Bauernſchlauheit. — Wie oft begegnet man in Wald und 
Flur jenen warnenden Tafeln, mit denen die Grundbeſitzer 
das Publikum davon abzuhalten ſuchen, die Landſtraße durch 
den geraden Weg über die Wieſen abzuſchneiden. Nicht immer 
jedoch mit Erfolg, denn ohne hoſengefährdende Stacheldraht 
zäune gelingt's in den ſeltenſten Fällen. 

Ein Bäuerlein in einem Seitentale des Inn hat ſich ſehr einfach 
zu helfen gewußt. An einer Stelle, wo jeder Wanderer bisher 
nach einigen mathematiſchen Überlegungen zu dem Ergebnis kam, 
daß eine gerade Linie immer der kürzeſte Weg zwiſchen zwei 
Punkten iſt, ftellte unſer Bauer eine Tafel auf, die die freundliche 
Einladung ausſprach: „Das Rindviech darf hier ins Gras gehen.“ 

Er ſoll ſeinen Zweck vollkommen erreicht haben. O. v. B. 

Die Gabe der kleinen Mädchen. — Als im Jahre 1870 
überall für die Verwundeten geſammelt wurde, da lief auch 
bei dem Berliner Zentralkomitee eine Gabe von acht Talern 
ein, die von einem Verein „kleiner Mädchen“, die eine Lotterie 
veranſtaltet hatten, eingeſandt waren. Die Geldſpende war 
von folgenden Verſen begleitet: 

Orei Pfennige nahmen wir für das Los, 

Die Einnahme war trotzdem ſehr groß. 

Acht richtige Taler ſind's, die wir 

Dem Komitee überſenden hier. 

Acht Taler, das lehrt uns das Rechenbuch ſchon, 

Sind weit mehr als ein Napoleon. 

Und wenn wir ihn, den ja nichts ſoll zügeln, 

Mit unſern Oreiern ſchon überflügeln, 

Wir kleinen Mädchen — na guten Morgen! — 

Wie werden's ihm erſt unſere Soldaten beſorgen! —zen. 


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von 
Theodor Freund in Stuttgart, 
in Oſterreich⸗Ungarn verantwortlich Dr. Ernſt Perles in Wien. 


[ 


verleiht ein 


rosiges, jugendfrischer 


Antlitz und einreiner, zarter, schönes 
Dies erzeugt die alleın echte 


Teint. 


Das Klavier ift heute nicht nur das 


4 Lieblingsinſtrument der deutſchen Fa⸗ 


milie, ſondern ein Luxusgegenſtand jeder 
— bürgerlichen Einrichtung. Gerade 
em letzteren Umſtande iſt es zuzuſchrei⸗ 


m ben, daß heute ein großer Teil aller In⸗ 


ſtrumente ihren eigentlichen Zweck nicht 
erfüllen, denn es gibt Tauſende und 
Abertauſende, die das Klavierſpiel wohl 
ſchon verſucht haben zu erlernen, es aber 
trotzdem nicht zu dem bringen konnten, 
was ſie erſehnten. Der hauptſächlichſte 
Grund, weshalb die meiſten nach kürzerer 
oder auch längerer Zeit ihre Verſuche 
wieder einſtellten, dürfte in allererſter 
Linie auf das umſtändliche Erlernen des 
ſeitherigen Notenſyſtems zurückzuführen 
ſein. Außerdem empfinden ſehr viele, 
namentlich ſolche Leute, die ihrem Er⸗ 
werbsleben nicht allzuviel freie Zeit ab⸗ 
gewinnen können, es als einen läſtigen 
Uebelſtand, beim Lernen ſich ſyſtematiſch 
fremder Hilfe zu bedienen. Es dürfte 
wohl nur wenige geben, deren Zeit es 
erlaubt regelmäßig Muſikunterricht zu 
nehmen. Ueber alle Uebelſtände, die alſo 
bisher das Klavierſpiel erſchwerten, hilft 
nun mit einem Schlage die rühmlichſt 
bekannte und tauſendfach bewährte 
„Taſtenſchrift“ hinweg. Der Haupt⸗ 
wert dieſer Methode, nach der man das 
Klavierſpiel wirklich individuell und in 
allerkürzeſter Zeit ohne fremde Hilfe 
erlernen kann, liegt darin, daß man 
vorheriger Notenkenntnis keines⸗ 
wegs bedarf. n der Taſtenſchrift 
hat das bisherige Notenſyſtem eine un⸗ 
geahnte Vereinfachung gefunden; ſie 
macht ſich dadurch von dem früheren 
Syſtem unterſchiedlich, daß ſie weder Vor⸗ 
zeichen, noch Auflöſungs⸗ oder Ernied— 
rigungszeichen hat. Hier ſieht man bei 
der eigenartigen Anordnung der fünf 
Notenlinien jede Taſte, die anzuſchlagen 


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iſt, auf dem Notenblatt bildlich vor ſich. 
Wer nach der Taſtenſchrift lernt, treibt 
nicht einſeitige Muſikſtümperei, ſondern 
bildet ſich genau, wie nach den Schulen 
des bisherigen Notenſyſtems zu einem 
perfekten Klavierſpieler aus, wie er über⸗ 
all beliebt iſt und auch gern gehört wird. 
Natürli iſt die Taſtenſchrift 
auch für das Har monium zu ver⸗ 
wenden. 4 den hervorragenden Wert 
der Taſtenſchrift zeugt am beſten die 
Tatſache, daß unlängſt bereits die 5. Auf⸗ 
lage (31. bis 40. Tauſend) herausgegeben 
werden konnte. Aus den Kreiſen der 
nach Tauſenden zählenden Anhänger der 
Taſtenſchrift gehen dem untenſtehenden 
Verlag täglich 
kennungsſchreiben zu, von de en nur ein 
einziges an dieſer Stelle Veröffentlichung 
finden ſoll: 

Herr Friedrich G. aus Berlin ſchreibt 
am 9. 12. 12: 

„Das Werk habe ich erbalten und teile mit, daß 
es uns ſehr gut gefällt; es iſt alles leicht begreif⸗ 
lich und muß einer ſchon ſchwer von Begriff ſein, 
wenn er mit Ihrer Taſtenſchrift nicht einig wird.“ 

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zur Erlernung notwendigen Einzelheiten 
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Einſendung des Betrags oder Nachnahme 
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