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reiche Zukunft“, die für Sie von größtem
Intereſſe ſein dürfte, zuſenden und Ihnen
mitteilen, ob Sie zum Zeichnen Talent haben oder
nicht. Aber auch, wenn Sie glauben. talentlos zu
fein, machen Sie, Herr oder Dame, jung oder al,
den Verſuch, unſere Vorlage nachzuzeichnen, denn
in unſrer Broſchüre wollen wir Ihnen Wege zu Fünit:
leriſchen und praktiſchen Erfolgen weiſen, über die
Sie erſtaunt ſein werden. Wir wiſſen aus Er⸗
fahrung, daß oft gerade da ein Talent ſchlummert,
wo es niemand ahnt. Erfolg im Zeichnen aber
heißt, ſeine Lebenslage verbeſſern!
Zögern Sie deshalb nicht, wo es fih viel-
leicht um eine ausſichtsreiche Zukunft für Sie
handelt und ſenden Sie uns noch heute Ihre Zeichnung
„ein! Adreſſieren Sie Ihren Brief genau wie folgt:
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Wirkungskraft. Wegen der Injertionspreife, insbejondere der Preife für vorzugsſeiten,
wende man fich an die Anzeigengeſchäftsſtelle der „Bibliothek der Unterhaltung und des
wi.iſſens“ in Berlin SW 61, Blücherſtraße 31. 1 π⏑ tl
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Heiserkeit, Katarrh,
Verschleimung,
Rachen-Katarrh,
Krampf- u. Keuchhusten
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Kein ähnliches Präparat vermag solche
Erfolge aufzuweisen.
not. begl. Zeugnisse von Ärzten und Pri-
vaten liefern den besten Beweis für die
sichere Wirkung u. allgemeine Beliebtheit.
Paket 25 Pfg., Dose 50 Pfg., in Osterreich Paket EX 7
20 u. 40 Heller, Dose 60 Heller zu haben inden f wE
Apotheken, Drogerien und besseren Kolonial-
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währten Kaiser's Brust-Caramellen nicht kauf-
lich sind, wende man sich zur Angabe der-
nächsten Verkaufsstelle direkt an die Fabriken
in Deutschland Fr. Kaiser, Waiblingen-Stuktgart,
in Österreich-Ungarn Fr. Kaiser, Bregenz-Vorarlberg,
in der Schweiz Fr. Kaiser, St. Margrethen (st. Gatien). 5
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leriſchen und praktiſchen Erfolgen weiſen, über die
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fahrung, daß oft gerade da ein Talent ſchlummert,
wo es niemand ahnt. Erfolg im Zeichnen aber
heißt, ſeine Lebenslage verbeſſern!
Zögern Sie deshalb nicht, wo es ſich viel⸗
leicht um eine ausſichtsreiche Zukunft für Sie
handelt und fenden Sie uns noch heute Ihre Zeichnung
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Millionen Menschen
gebrauchen zu ihrem eigenen Wohle
Heiserkeit, Katarrh,
Verschleimung,
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in Deutschland Fr. Kaiser, Waiblingen-Stuktgart,
in Österreich-Ungarn Fr. Kaiser, Bregenz-Vorarlberg,
in der Schweiz Fr. Kaiser, St. Margrethen (st. Gatien).
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Schünheit
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und ein blendend schöner Teint. — Alles dies erzeugt die echte
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Cream) rote und spröde Haut weiß und sammetweich. Tube 50 Pfg.
Entwicklung und Befestigung der Büste
furt unseren unübertroffenen Büsfenenttidler!?
Schon immer war es der höchste Wunsch einer jeden Dame, eine schöne, volle
Büste zu besitzen. Nun ist gerade in dieser Hinsicht die größte Mehrzahl unserer
Damen stiefmütterlich bedacht worden, so daß dieses Manko weidlich von ge-
wissen Leuten ausgenutzt wird, um Salben, Pil-
len und Tränklein zu horrenden Preisen an den
Mann zu bringen; leider helfen diese Sachen nur
immer dem Verkäufer, niemals aber der Käuferin.
Wir behaupten hiermit, daß jeder Creme voll-
ständig wertlos ist. Warum? Weilnur die Mas-
sage, welche selbstverständlich bei jeder Ein-
reibung ausgeübt werden muß, von Wert ist.
Diese Massage können Sie auch mit Vaseline
usw. ausüben, aber bedeutend billiger.
Unser Büstenentwickler „Thilossia“, gesetz-
lich geschützt, ist nun ein Produkt jahrelanger
Forschung der bedeutendsten Professoren, so
daß selbst jeder Laie sofort davon überzeugt
wird,daß mit einem Thilossia-Apparat ein wirk-
/ licher Nutzen, also Vergrößerung und Befestigung
der Büste erreicht werden muß. Unser Thilossia-
Vorher Nachher Apparat saugt täglich mehrmals frisches Blut
in die Brüste, dieselben werden voll, straff und
üppig, magere Arme und Schulterknochen verschwinden, kurz, ein nie geahnter
Erfolg tritt ein. Wir haben bisher viele Tausende verkauft und sind die jüngsten
Mädchen wie ältere Damen gleich entzückt und befriedigt, wie die zahllosen An-
erkennungen bezeugen. Bei Nichterfolg Geld zurück laut Garantieschein. Preis des
komple tten A parates inklusive Massagecreme in Verpackung nur 7,50 M., Porto
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wird und immer gebrauchsfertig ist, von jeder Dame ohne Hilfe anzuw enden. Be-
vor Sie Ihr Geld für nutzlose Quac ksalbereien ausgehen, machen Sie mit 1 m
Apparat einen Versuch. Bei Bestellung Körperumfang unter den Armen rings-
herum um den Brustkorb angeben. Dr. G. Weisbrod & C omp., Waidmannslust.
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„Der Gute Kamerad“ kann auch als Zeitſchrift in 52 wöchentlichen Num-
mern bezogen werden.
Das Buch verdient in der Tat ſeinen Namen. In ihm haben alle Gebiete
der Naturgeſchichte, der Technik, des Sports und der Weltgeſchichte Berück—
ſichtigung geſunden. Wir können dem Werke nur unſere beſten Empfehlungen
mit auf den Weg geben. (National-Zeitung, Berlin.)
eni: 7 : Eine Erzählung für die reifere Jugend.
IN Der | lunge Von Graf Vernſtorff, Korvettenkapi⸗
tän a. D. Mit einem Titelbild und 25 Tert-
illuſtrationen von A. Wald. Elegant gebunden 4 Mark 50 Pf.
Geſunde, lebensfriſche Knaben verlangen nach einer Lektüre, die ihrem
natürlichen Tatendrang entgegenkommt, ſie Fahrten und Abenteuer miterleben
läßt. Graf Bernſtorff verſteht es, dieſen Wünſchen gerecht zu werden; er ſteht
dabei, aus Selbſterfahrenem ſchöpfend, ſtets auf dem Boden der Wirklichkeit
und überſchreitet nirgends die Grenzen, deren Einhaltung ein Merkmal guter
Jugenderzählungen iſt.
Yeutiher Knaben⸗Kalen. | Deutiher Müdchen⸗Ka⸗
der „Der Gute Kame⸗ lender „Das Kränz⸗
44 Ein praktiſcher Ab: Ein praktiſcher Ab:
Tad den
reißkalender für das reißkalender für das
Jahr 1914. Mit 27 ein- Jahr 1914. Mit 27
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Der letzte Roman der Heimburg erſchien ſoeben.
Letzter Roman von W. Heimburg. Geheftet 3 Mark,
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penmüllerd Lieschen. Bd. 3. Kloſter Wendhuſen. — Urſula. Bd. 4. Ein
armes Mädchen. — Das Fräulein Pate. Bd. 5. Trudchens Heirat. — Im
Banne der Muſen. Bd. 6. Die Andere. — Unverſtanden. Bd. 7. Herzens⸗
kriſen. Bd. 8. Lore von Tollen. Bd. 9. Eine unbedeutende Frau. Bd. 10.
Unter der Linde. Zwölf Novellen.
Zweite Sammlung. 10 Bände, elegant gebunden. In feiner Leinwand⸗
truhe 40 Mark. Jeder Band iſt auch einzeln zum Preiſe von 4 Mark käuflich.
Inhalt: Bd. 1. Mamſell unnütz. Bd. 2. Um fremde Schuld. Bd. 3. Ers
zählungen. Bd. 4. Haus Weegen. Bd. 5. Trotzige Herzen. Bd. 6. Antons
Erben. Bd. 7. Im Waſſerwinkel. Bd. 8. Sette Oldenroths Liebe. Bd. 9.
Doktor Dannz und feine Frau. Bd. 10. Alte Liebe. — Großmutters Ka:
thrin. — Rori Lorenſen. — Originale. — Maiblumen. — Hilgendorf. —
In Erinnerung.
Das Drei eſtirn Volksroman aus der Zeit der Befreiungskriege. Von
N + Hanns v. Zobeltitz. Geheftet 3 Mark 50 Pf., elegant
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Das Krän chen Illuſtriertes Mädchen⸗Jahrbuch. Band 25. Ein
{ 3 + 823 Seiten ſtarker Quartband mit vielen Illuſtrationen
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„Das Kränzchen“ kann auch als Zeitſchrift in 52 wöchentlichen Nummern
bezogen werden. Preis vierteljährlich 2 Mark.
Es gibt kaum für die Mädchen wiſſenswerte und unterhaltende Dinge, die
in dem reichhaltigen Mädchen-Jahrbuch nicht enthalten wären. i
Münchner Neueſte Nachrichten.)
Der Ju end arten Eine Feſtgabe für Mädchen im Alter von
9 0 + 9 bis 14 Jahren. Erzählungen ernſten und Hei-
teren Inhalts, Gedichte, Unterweiſungen aus Natur, Haus und Geſchichte,
Beſchäftigungen, Sport und Spiele. 38. Wand. Mit 126 ein: und mehr⸗
farbigen Abbildungen. Elegant gebunden 5 Mark.
Vill Trauth im Eine Erzählung für junge Mädchen. Von Berta
l E + Clément. Mit einem Titelbild und 24 Textilluſtra⸗
tionen von R. Gutſchmidt. Elegant gebunden 4 Mark 50 Pf.
Das arme Komteſſel Eine Erzählung für junge Mädchen. Von Gräfin
+ Helene Gyldenſteen. Mit einem Titelbild und
24 Textilluſtrationen von Jo ſ. J. Lonkota. Elegant gebunden 4 Mark 50 Pf.
Dieſe Erzählungen haben bei ihrem Erſcheinen im „Kränzchen“ eine ſo gute
Aufnahme geſunden, daß deren Bandausgaben den jungen Leſerinnen ſehr
willkommen ſein werden.
Schelmuffsky „Memoiren“ eines Backfiſches. Eine Erzählung für junge
Mädchen. Von Tore Sarwey. Mit 4 Einſchaltbildern von
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Die Verfaſſerin hat mit ihrem vorausgegangenen Erſtlingsbuch „Eh' Mutter
wiederkam!“ ſich gut eingeführt und viel Lob geerntet. Mit „Schelmuſſsky“
wendet ſie ſich je: an eine reiſere Altersſtuſe, und da fie nicht fabuliert, ſondern
wie immer in frifcher Urſprünglichkeit aus dem Leben erzählt, wird auch dieſes
neue Buch bald eine ſtarke Verbreitung finden.
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druck der Union deutſche verlagsgeſellſchaſt in Stuttgart
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Inhalts⸗ Verzeichnis.
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Frau Wallis Freiersfahrt. |
Eine wahre Geſchichte. Von B. Rittweger. Mit Bil-
dern von J. Mukarobvs as 5
Das Noſazimmer.
Venezianiſcher Roman von E. v. Adlersfeld⸗Balleſtrem
(Fortſetzu nnd 19
Seite
-= Tango.
Eine Tanzftudie. Von R. Hendrichs. Mit 5 Bildern 89
Das Weib an der Krücke.
Novelle von Carola v. Eynatten . . 99
Der Berliner Tiergarten.
Von Ernſt Seiffert. Mit 8 Bildern . » x... 155
henkersrecht.
Eine Erzählung aus der en alten Zeit. Von
Wilhelm Hille e
Wohlfeile Schmuckfebern.
Von Gerd Harmstorf. Mit 18 Bildern. . 187
Mannigfaltiges:
Das rätfelhafte Armband . . d 202
Fingierte Stummbeit . s e s ee e e e e 208
Laufende Blätter » er 11
Mit 2 Bildern.
Wie vor zweihundertfünfzig Jahren ein Verwalter
angeſtellt wurde. 213
Snbalts-Derzeichnis. ¹
Die geheimnisvollen Brie·frt “ec
Die KNataſtrophe von Para-Dfþhala . » . . 216
Aus einer Mönchrepub lik . 221
Mit Bild.
Das Lampenfiebrrrteeeeeee 223
Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel 224
Eine Königin als erſte Perückenmacherin . 227
Sechs Stunden von Potsdam g . . 228
Weihnachtsnarziſſe n. 228
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Cartouche in Oeutſchland d . 230
Eines der finnigften Geſchentte« 832
Giftia dd 234
Tage der RRoe n 8257
Eine ſchwierige Aufgadte 238
Teure Liebesbriec fc 239
Ein Kaiſer, der befiehlt, und ein zweiter, der geporgt 240
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Frau Wallis Freiersfahrt.
Eine wahre Geſchichte. Don 8. Rittweger.
mit Bildern von 7
J. Mukarovsky. (Nahörud verboten.)
Fs Walli Kampel ſaß mit nachdenklicher Miene
bei ihrem Nachmittagskaffee. Sie tauchte einen
Butterkringel in das wohlgeſüßte Getränk und biß mit
ihren blanken Zähnen ein Stück nach dem anderen da—
von ab. Zwiſchendurch ſeufzte ſie tief auf.
Sonderbar! Sie hatte es doch nach Anſicht ihrer
ſämtlichen Bekannten ſehr gut. Der ſelige Kampel
hatte ihr ein ſchönes Vermögen hinterlaſſen. Sie
konnte leben, wie fie wollte, konnte fih hübſch an-
ziehen, ins Theater gehen, Reiſen machen — jawohl,
alles das konnte ſie. Aber es genügte ihr nicht, ſie
ſehnte ſich nach mehr. f
Nach einem zweiten Mann?
Nun ja, es wäre ihr ſchon recht, wenn ſich ein
paſſender fände. Das Glück ihrer erſten Ehe war nur
ein ſehr mageres Glück geweſen. Auf Zureden ihres
Vormunds hatte das junge, hübſche Ding Herrn Anton
Kampel geheiratet und hatte mit dem ſchon ältlichen
Mann eine ganz friedliche Ehe geführt, zwölf Jahre lang,
bis zu Herrn Kampels vor vier Jahren erfolgtem Tod.
Nun war ſie ſechsunddreißig und eigentlich, wenn ſie's
recht überlegte, noch viel zu jung, um nur zu ihrem
eigenen Behagen auf der Welt zu ſein. Sie war ge—
6 E Frau Wallis Freiersfahrt. A
ſund und kräftig und hätte gern ihre Kräfte nutzbringend
verwendet.
Natürlich fehlte es ihr nicht an Gelegenheit, ſich
wieder zu verheiraten, doch immer war etwas dabei,
was fie ſtörte. Auf ſchwärmeriſche Leidenſchaft konnte
ſie natürlich nicht mehr rechnen, trotzdem ſie noch eine
recht anſehnliche Perſon war, friſch, geſund, nur etwas
zu rundlich. Bei dem gar zu bequemen Leben, das ſie
führte, kein Wunder!
Alſo einen Mann hätte ſie ſchon längſt wieder haben
können. Aber die Art, wie die verſchiedenen Freier
ſich ihr näherten oder ihr von befreundeter Seite
näher gebracht wurden, war ihr doch gar zu plump.
Nein, fie wollte lieber das Steuer ihres Lebensſchiff—
leins ſelbſt in die Hand nehmen, anitatt fih von anderen
führen zu laſſen.
Seit längerer Zeit ſchon durchſchaute Sii Walli
Kampel — ſchon um dieſen gräßlichen Namen loszu-
werden, wünſchte fie ſich zu verändern — täglich die
„Neueſten Nachrichten“, ihr Leibblatt, nach Heirats-
geſuchen. Aber ſie hatte bis jetzt keines gefunden, das
ſie gereizt hätte.
Frau Walli überdachte das alles bei ihrem Nach-
mittagskaffee, und gerade, als ſie mit dem zweiten
Butterkringel zu Ende war und wieder einen tiefen
Seufzer ausſtieß, ertönte die Flurglocke. Halb vier, da
ſteckte die Zeitungsfrau die „Neueſten“ in den Kaſten!
Frau Walli erhob ſich raſch, denn ſie war jetzt täglich
geſpannt auf ihr Blatt, durch das ſie ſchließlich doch ihr
Ziel zu erreichen hoffte. Sie holte ſich dann auch ſofort
die Zeitung aus dem Kaſten und machte ſich an die
Lektüre. Ihre Augen gingen haſtig über die Spalten
mit den Heiratsgeſuchen. „Witwer mit drei Kindern,
nahrhaftes Handwerk“ — nichts! „Reiſender, der ſich
o Von B. Rittweger. ER;
ſelbſtändig machen möchte in der Schuhwarenbranche“
— nein, Ledergeruch war ihr von jeher verhaßt. „Aka-
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demiker ſucht paſſende Gefährtin, nicht über dreißig
Sabre“ — „Techniker wünſcht Briefwechſel mit ſchlanker
Blondine behufs ſpäterer Heirat. Vermögen er-
wünſcht.“ Walli aber war brünett und — ſchlank,
8 Frau Wallis Freiersfahrt. o
nein, auf dieſes Beiwort konnte fie auch keinen Anſpruch
machen! Aber da — das klang annehmbar: „Gaſt-
hofbeſitzer in aufblühender Thüringer Sommerfriſche,
Witwer, ſtattlicher Manni, achtünddreißig ig Jahre alt,
mit zwei Kindern, Sohn und Tochter im Alter von
ſechs und acht Jahren, wünſcht die Bekanntfchaft einer
geſunden, tatkräftigen Witwe ohne · Anhang oder eines
— nicht unter dreißig Jahren zu machen. Ber-
mögen erforderlich, da Suchender feinen Gaſthof ver-
größern möchte. Offerten unter „„ an
die Expedition dieſes Blattes erbeten,“ ; k
Frau Walli las dieſes Geſuch wieder und wieder, und
dabei tauchten vor ihren geiſtigen Augen dunkle Tannen
und grünleuchtende Waldwieſen auf, fie hörte das Mur-
meln eines Forellenbachs und das melodiſch abgeſtimmte
Geläut der Kuhglocken. Ach, ein einziges Mal war ſie mit
dem ſeligen Kampel in Thüringen geweſen, und: mit ſtiller
Sehnſucht hatte ſie oft an all dieſe Herrlichkeiten zurüd-
gedacht. Entſchieden — dieſem Geſuch wollte ſie näher⸗
treten! Es gefiel ihr i in ſeiner ungeſchminkten Offenheit.
And ſie war ja nicht ganz unerfahren in der Branche.
Ihr Vormund hatte ein Reſtaurant gehabt, und fid
hatte von ihrer Konfirmation an bis zu ihrer Deri
heiratung in ſeinem Hauſe gelebt und tüchtig mit-
helfen müſſen. Oh, dazu würde fie fih gut eignen,
einem Hotel in einer Sommerfriſche vorzuſtehen! Daş
lockte ſie mächtig. Und die Kinder, nicht zu groß, nicht
zu klein, ein Bub und ein Mädel — wie das paßte! Frau
Walli war ſehr für Kinder, aber mit ganz kleinen wär's
ihr doch wohl zu beſchwerlich geweſen.
Frau Walli war nicht für langes Zögern, wenn ſie
einmal etwas beſchloſſen hatte. So ging denn bereits
eine Stunde ſpäter der Brief unter „Sommerfriſche“
an die Expedition der „Neueſten“ ab.
2 Von B. Rittweger. 9
Die Antwort ließ nicht lange auf ſich warten. Nach
drei Tagen ſchon erhielt ſie einen Brief aus Thüringen,
den ſie mit hochklopfendem Herzen öffnete. Eine Photo-
graphie fiel heraus — ach, ein hübſcher Mann mit
kühner Nafe, hellen Augen und einem flotten Schnurr-
bart. Wäre Frau Walli nicht gar zu neugierig auf den
Inhalt des Briefes geweſen, ſie hätte ſich gar nicht
von dem Bild wieder losreißen können.
Zuerſt ſuchte ihr Blick die Unterſchrift: Walter
Vogelſang — Himmel, dieſer entzückende Name! Alles,
was an Poeſie in Frau Walli verborgen ſchlummerte,
erwachte, und ihr Antlitz überzog ſich mit hellem Freuden-
rot. Walter Vogelſang — Anton Kampel, welch ein
Anterſchied!
Nun aber erſt leſen, was dieſer Walter Vogelſang
ſchrieb.
„Geehrte Frau! Habe mit Vergnügen aus Ihrem
werten Schreiben erſehen, daß Sie nicht abgeneigt
find, meine Frau zu werden. Was Sie über Ihre Ber-
hältniſſe geſchrieben haben, freut mich ſehr, und werde
ich in acht Tagen bei Ihnen vorſprechen, wenn es Ihnen
recht iſt. Bitte ſehr um baldige Antwort. Wenn wir
miteinander fertig werden, dann könnte bald Hochzeit
ſein, damit der Bau noch vor Winter unter Dach kommt.
Es grüßt einſtweilen
Ihr geneigter
Walter Vogelſang, Gaſtwirt.“
Der Brief war nicht beſonders gewandt geſchrieben,
aber das ſtörte Frau Walli nicht. Sie ſtand ſelbſt mit
der Rechtſchreibung auf etwas geſpanntem Fuß, trotz-
dem fie eine Mittelſchule beſucht und fogar etwas von
Walther ron der Vogelweide gehört hatte. Und „Walter
Vogelſang“ klang beinahe ebenſo ſchön.
Nach einem halben Stündchen hatten ſich die er—
10 Frau Wallis Freiersfahrt. oo
regten Wogen in Frau Wallis Gefühlen fo weit ge-
glättet, daß fie daran denken konnte, ihrem Minneſänger
zu antworten. Sie ſchrieb und zerriß den erſten Bogen,
den zweiten, den dritten — nein, es war doch ſchwerer,
als ſie gedacht, die rechten Worte zu finden.
Plötzlich warf ſie die Feder weg und lachte fröhlich
auf. Sie wollte gar nicht ſchreiben, ſie wollte auch
nicht warten, bis Walter Vogelſang ſie aufſuchte —
nein, in den nächſten Tagen ſchon, am beiten gleich über-
morgen wollte ſie nach Thüringen fahren, um ihren
künftigen Wohnort kennen zu lernen. Sie hatte von
dieſem Ort, der am Kopf des Briefbogens ſtand, noch
niemals etwas gehört, aber die Spielwarenſtadt, in
deren Nähe er, wie gleichfalls angegeben war, lag, war
ihr dem Namen nach wohl bekannt.
Ohne große Mühe fand fie im Kursbuch ihre Reife-
route. In ſechs Stunden Bahnfahrt war die Stadt
zu erreichen und, einmal dort, würde ſie ſchon erfahren,
wie ſie an ihr Ziel gelangte. Oh, Frau Walli war nicht
unbewandert in Reiſe angelegenheiten. Anton Kampel
war febr bequem geweſen und hatte ihr, wenn fie zu-
ſammen ins Bad reiſten, ſtets alles überlaſſen.
Eifrig traf fie ihre Vorbereitungen. Nicht nur Un-
geduld war's, die ſie zu dieſer Reiſe trieb, ſie hielt's
auch für richtig, ſich von der Stätte ihres künftigen
Glücks durch den Augenſchein zu überzeugen. Es
handelte ſich doch nicht nur um den Mann, es war noch
gar vieles ſonſt zu bedenken, das Anweſen, die Kinder,
der Ort vor allen Dingen. Sie durfte ſich doch nicht
unbeſonnen wie ein junges Mädchen benehmen. Fetzt, bei
dieſem herrlichen Frühſommerwetter war ja eine Reiſe
in die Sommerfriſche durchaus nichts Ungewöhnliches.
So fuhr denn Frau Walli an dem beſtimmten Tag
frühmorgens ab und langte mittags wohlbehalten in
ô Von B. Rittweger. u 11
der Spielwarenſtadt an. Sie aß am Bahnhof etwas
Warmes und erkundigte ſich dann beim Portier, wie
ſie das Ziel ihrer Sehnſucht am beſten erreichen könnte.
Ob vielleicht eine Poſt ginge? — Nein, das kleine Neſt
lag nicht an der Poſtſtraße, ſie mußte ſich einen Wagen
nehmen, anders ging's nicht. Es waren immerhin
drei gute Wegſtunden.
Der Portier erbot ſich, ihr einen Wagen zu beſorgen.
Ob die Sommerfriſche wohl in dieſer Saiſon gut be—
12 Frau Wallis Freiersfahrt. l o
fucht fei, fragte Frau Walli noch. „Ja, darüber kann
ich Ihnen nichts verraten, ich hab' überhaupt noch gar
nichts davon gehört, daß Sommerfriſchler dahin gehen,“
lautete die Antwort.
Nun, was kümmerte der Mann fig ſchließlich um
Sommerfriſchen!n -
Eine halbe Stunde fpäter jab Frau Walli im Wagen
und fuhr zwiſchen tannenbeſtandenen Bergen, unter
ſonnenhellem Himmel, an grünen,, von einem filber-
hellen Bach durchſchnittenen Wieſen voxüber ihrem
Ziel zu. Es war ein ganz wonniger Sommertag, und es
wurde ihr förmlich andächtig zu Sinn.
Dazwiſchen überkam ſie a doch ein Linas bäng-
liches Gefühl. Vielleicht war's doch nicht ganz richtig
geweſen, ſo ins Blaue hinein Der Breiersfapt anzu-
treten!
In ſolchen Augenblicken des Zweifels zog ſie Walter
Vogelſangs Vildchen aus der Taſche, und die hübſchen
Züge, die hellen, treuherzigen Augen, die ſie daraus
anſchauten, gaben ihr neuen Mut. Und beim Ge—
danken an die N Kinder wurde ihr das Herz
warm.
Man kam jetzt durch einen ſtattlichen Ort. Der
Kutſcher fuhr langſamer, drehte ſich um und fragte:
„Will die Madame vielleicht 'ne Taſſé Kaffee trinken?
Das Wirtshaus iſt gut, und meine Gäul' waren ſchon
heut früh auf der Tour, denen tut's auch gut, denn 's ift
noch 'ne gehörige Steige bis 'nauf.“
Der Vorſchlag kam Frau Walli ſehr gelegen. Sie
konnte bei der Taſſe Kaffee vielleicht unter der Hand
ſchon etwas Näheres über den Schauplatz ihrer Zukunft
erfahren. In Thüringen ſind die Menſchen leicht zu—
gänglich und tragen das Herz auf der Zunge.
Und ſiehe da — ſie traf's gut. Es waren keine Gäſte
o Von B. Rittweger. 13
weiter da; der Wirt, ein ſchon ziemlich bejahrter Mann,
ſaß mit einer kurzen Pfeife bei der Zeitung. Während
ſeine Frau hin und her ging und den Kaffee beſorgte,
knüpfte Walli eine Unterhaltung mit dem Mann an.
Sie fragte, wie weit ſie wohl noch zu fahren hätte, und
er meinte, anderthalb Stunden. ſei 8 ſchon noch, da es
gar fo arg ſteige
„And wo kehrt man am fin ene Ich meine, in
welchem Hotel? 6
„Hotel?“ Der Wirt lachte. i „Ja, ſehn Sie, ein
Hotel werden Sie da oben vergeblich ſuch en.“?
: „Aber die Sommerfriſchler paien doch irgendwo
wohnen?“?
„Sommerfriſchlers Nu ja, ſo ein Berliner N
hat die Jagd da oben und hat ſich 'n Jagdhaus am
Wald bauen laſſen, und der kommt jeden Sommer mi
ſeiner Familie und bringt manchmal noch ein paar
gute. Freunde mit. Die nehmen halt fürlieb im Wirte-
haus.“ „
„Beim Bogelfangt“ . = |
„Nee, ber hat keine Loſchiergelegenheit. Aber der
Ziegenkäs, der 8 Wirt, por ſich für Gäſte ein-
gerichtet“
„Aber ich. hörte ne der "Yogelfang wolle fein
Anweſen vergrößern. Da muß doch der Gaſthof ſehr
deſlicht fein?“
Der Wirt lachte 15 ließ ‘feine Zeitung ſinken: „Nu,
der Walter ſteckt alle Sonntag fein Bierfaß an, und
wenn's nicht- alle wird, zieht er den Reſt auf Flafchen.
Die holen die Leute die Woche über. Das iſt der ganze
Betrieb.“
„Aber davon kann doch keine Familie leben?“
„Nee, davon lebt der Vogelſang auch nicht. Er malt
halt Docken für die Fabrik.“
14 Frau Wallis Freiersfahrt. a
„Docken?“
„Nu ja, Puppen malt er, wie alle Leute da 'rum.“
„Iſt denn eine Puppenfabrik im Ort?“
ae die iſt in der Stadt.“
„Da hat der Vogelſang wohl Pferd und Wagen?“
„Haha, Pferd und Wagen! Nee, die Dogen werden
mit dem Buckelkorb hin und her getragen, alle Wochen
ein- bis zweimal. Solange dem Vogelſang ſeine Frau
— — — —
a. Von B. Rittweger. 15
noch halbwegs geſund war, hat die's getan, nachher
hat er ſich anders helfen müſſen. Nun iſt die Frau ſchon
beinahe ein ganzes Jahr tot, und er möcht' wieder
heiraten, eine mit Geld, daß er einen Tanzſaal bauen
kann. Wo getanzt wird, da gibt's mehr Einkehr und
beſſeren Verdienſt. Ja, ja, der Vogelſang iſt fleißig und
möcht's gern weiterbringen. Aber wenn Sie ſich da
oben einlogieren wollen, da müſſen Sie's ſchon beim
Ziegenkäs probieren. Schönen Wald und gute Luft
gibt's ſchon.“ |
Frau Wallis friſche Wangen waren bei dieſer an-
ſchaulichen Schilderung des geſprächigen Wirts erblaßt.
Es wurde ihr ſehr ſchwer, den Kaffee, der inzwiſchen
fertig geworden war, hinunterzubringen. Dann be—
zahlte ſie für ſich und den Kutſcher, der auf einer Bank
vor dem Wirtshaus ein Glas Bier getrunken hatte,
und die unterbrochene Fahrt konnte fortgeſetzt werden.
Als ſie den Ort ſchon eine ganze Weile hinter ſich
hatten und wieder durch den ſchönſten Hochwald fuhren,
erhob ſich Frau Walli plötzlich und klopfte dem Kutſcher
auf die Schulter.“)
„Nu, was gibt's denn ſchon wieder?“
„Ich will umkehren, hab' mir die Sache anders
überlegt. Es ſcheint, mit der Sommerfriſche iſt's da
oben nicht weit her, da geh' ich lieber nach Oberhof oder
nach Elgersburg.“
„Na, mir kann's recht ſein, aber beim ausgemachten
Preis bleibt's, ich kann doch heut nichts weiter mehr
anfangen.“
„Natürlich bleibt's dabei!“
Der Kutſcher wendete den Wagen, bremſte und
langſam ging's bergab.
Aus Frau Wallis Augen rollten dicke Tränen.
*) Siehe das Titelbild,
16 Frau Wallis Freiersfahrt. 2
Ade, du ſchöner Traum von neuem Glück und friſcher
Tätigkeit — ade! Sie war aus allen Himmeln gefallen.
Nein, ſo ein abſcheulicher Betrug!
Betrug? Am Ende doch nicht. Walter Vogelſang
hätte ihr gewiß bei ſeinem Beſuch reinen Wein über
feine Verhältniſſe eingeſchenkt. Bei Heiratsgeſuchen
wird natürlich immer etwas ſchön gefärbt — immer!
And Gaſthofbeſitzer war er ja doch wirklich, wenn's
auch nur ein ſehr kleiner Betrieb war. Und konnte man
nicht mit Fug und Recht den Bau eines Tanzſaales
Vergrößerung des Betriebs nennen? Aufblühende
Sommerfriſche? Nun ja, wenn einmal drei, vier Stadt-
leute regelmäßig kommen, die ziehen ſicher mit der Zeit
noch mehr nach ſich. Nein, Lug und Trug war's nicht,
das Geſuch!
Frau Walli ſeufzte und zog aus ihrer Taſche die
Photographie des Mannes mit dem herrlichen Namen.
Wie der Name hierher paßte in dieſe wundervolle
Waldgegend! Von der ſie nun wieder Abſchied nehmen
mußte, um in das Häuſermeer der großen Stadt zurück-
zukehren, in das alte, leere Dafein, wie ſie's nun ſchon
feit vier Fahren als Witwe Kampel führte! Für nie-
mand zu ſorgen, nur dazu da, zu eſſen und zu trinken
und die Zeit totzuſchlagen.
Ganze Kaften voll geſtickte und gehäkelte Decken,
Spitzen und Einſätze hatte ſie ſchon liegen — ach, für
ſechs Logierzimmer würden ſie reichen. Jedesmal zwei
aufs Sofa, eine auf den Tiſch. Und die Spitzen und
Einſätze fürs Bettzeug!
Wieder ein leiſer Seufzer. Aber es war ein er-
löſender. Und ſchon huſchte ein Lächeln über ihr eben
noch ſo bekümmertes Antlitz. Mußte ſie denn wirklich
ihren ſchönen Plänen entſagen? Konnte man nicht
an Stelle eines Tanzſaales einen Anbau mit Zimmern
o Von B. Rittweger. 17
für Sommerfriſchler errichten? Wo doch der Platz ein-
mal da war? Und wenn ſie dann zunächſt ihre guten
Bekannten hierher lockte — ſonderbar müßt's zugehen,
ſollte es ihr nicht gelingen, aus dem kleinen Neſt eine
wirkliche Sommerfriſche zu machen?
Wieder klopfte ſie dem Kutſcher auf die Schulter.
„Drehen Sie nur wieder um. Ich hab' mich doch noch
entſchloſſen, mir die Sache wenigſtens anzuſehen.“
„Meinetwegen. Aber natürlich müſſen Sie mir noch
drei Mark zulegen, denn für nix fahr' ich den Berg nicht
noch einmal 'rauf!“
„Schön. Die drei Mark bekommen Sie.“
Deer Roſſelenker ſchmunzelte. Das war gefundenes
Geld, von dem ſein Herr nichts zu erfahren brauchte.
Wirklich ein Glück, daß es ſo verrückte Frauenzimmer
gab, die nicht wußten, was ſie wollten! |
Aber Frau Walli wußte ganz genau, was fie wollte.
Sie wollte hier in dieſem lieblichen Thüringen bleiben,
und ſie wollte dem hübſchen Mann mit dem herrlichen
Namen helfen, daß er aus ſeiner kümmerlichen Enge
herauskam, und ſeinen Kindern wollte ſie eine gute
Mutter werden.
Wozu hatte ſie ihr Geld und ihre Kraft? Beides
wollte ſie nützen.
Es wurde ihr ganz fromm im Sinn. Mit gefalteten
Händen ſaß ſie im Wagen und ſchaute zu den dunklen
Tannen auf, über denen der Himmel blaute. Und ſie
ſummte, ohne es recht zu wiſſen: „Wer hat dich, du
ſchöner Wald, aufgebaut ſo hoch da droben!“
Und dann, als es ihr zum Bewußtſein kam, mußte
fie lächeln. Dieſes Lied hatte das Quartett des Männer-
gefangvereins „Eintracht“ ihrem feligen Kampel zum
fünfzigſten Geburtstag geſungen — im Hausflur!
Frau Wallis Rührung machte nach und nach einer
1914. v. 2
18 Frau Wallis Freiersfahrt. o
stillen Heiterkeit und Zuverſicht Platz und frohgemut
ſah ſie dem Kommenden entgegen.
Faſt zwanzig Jahre find ſeit Frau Wallis Freiers-
fahrt vergangen. Heute iſt das früher ſo unbedeutende
Walddörfchen eine gut beſuchte Sommerfriſche. Das
Hotel „Zur Vogelweide“, ſo genannt auf Frau Wallis
beſonderen Wunſch, ift ſtets beſetzt. Herr Walter Vogel-
ſang und Frau ſind noch rüſtig und ſchaffensfroh und
freuen ſich an Kindern und Enkeln. Daß es nicht ihre
leiblichen ſind, ſtört Frau Walli nicht, denn ſie wird
von ihnen geliebt und geehrt wie eine rechte Mutter
und Großmutter.
Wenn ſie beſonders gut a iſt, dann gibt ſie
den bevorzugten unter ihren Gäſten die Geſchichte von
ihrer Freiersfahrt gern zum beſten.
*
Se Sie Sie | 5%
ee
Das Rofazimmer.
venezianiſcher Roman von E. v. Adlersfeld-
Balleſtrem.
($ortfetsung.) * N nachoͤruck verboten.
m frühen Morgen des folgenden Tages, dem frühen
Morgen der Milchwagen, der Bäckerjungen und
der Straßenkehrer, langte don Gian in Rom an. Er
fand den Miniſter ſeiner wartend, denn er wurde ſo—
fort und ohne Meldung in deſſen Privatkabinett geführt.
Seine Exzellenz, der Conte San Maurizio, war trotz
der frühen Stunde nicht allein. In einem der tiefen
Lederſeſſel, die um den großen Witteltiſch ſtanden, fa
ein älterer Herr mit glattraſiertem Geſicht und ſcharfen
Zügen, der Don Gian bekannt vorkam, ohne daß er
ihn im Augenblick hätte nennen können. Er erhob ſich
zwar zu einer leichten Verbeugung beim Eintritt des
jungen Diplomaten, aber da der Miniſter es anſcheinend
vergaß, die Vorſtellung zu übernehmen, ſo blieb Don
Gian auch vorläufig im dunkeln über die Perſönlichkeit
dieſes Beſuches zu einer Stunde, die die meiſten Leute
noch zur Nacht zu rechnen pflegen.
„Ah — da iſt er ja!“ rief Exzellenz aus, als Gian
eingetreten war. Er erhob ſich nicht und ſtreckte dem
jungen Mann auch nicht die Hand entgegen, was dieſer
mit Recht als ein ernſtes Zeichen ſeiner Ungnade anſah
— das erſte wahrſcheinlich von vielen folgenden. Aber
er war ja darauf vorbereitet, daß er ſich zu rechtfertigen
20 Das Rofazimmer. u
hatte, ſich rechtfertigen mußte, ehe er den Kopf wieder
erheben durfte.
„Ich habe Ihre höchſt erſtaunliche und peinliche
Mitteilung erhalten, Marcheſe Terraferma,“ fuhr der
Miniſter fort, und Don Gian zuckte wieder zuſammen,
denn bisher hatte ſein Chef ihm ſeinen Titel niemals
gegeben. „Sind Sie fih der Tragweite derſelben be-
wußt?“
„Voll bewußt, Exzellenz,“ erwiderte Don Gian heiſer
vor innerer Erregung. „Durch Ihre eigene Inſtruktion
ſowie durch meine perſönliche Auffaſſung. Vermöge
dieſer Erkenntnis war ich gezwungen, dem Verdacht
Worte zu geben, den ich ſonſt kaum ausgeſprochen haben
würde.“ |
„Wir werden darauf zurückkommen,“ fiel der Mi-
niſter ein. „Wiederholen Sie jetzt Ihren telegraphiſchen
Bericht mündlich.“
Don Gian ſchöpfte Atem und trat einen Schritt
näher, indem er den Fremden anſah, der kaltblütig
ein Notizbuch hervorzog und offen vor ſich hinlegte.
„ der Herr Doktor ift eingeweiht,“ ſagte der Minifter,
den Blick auffangend. „Wenn einer dies Myſterium,
wie Sie es etwas konfus ſchildern, löſen, das verlorene
Dokument zurückbringen kann, ſo iſt er es. Er hat die
Güte gehabt, dieſen Fall zu übernehmen, Sie mög-
licherweiſe von einer ſchweren Anklage zu reinigen,
Terraferma. Sie werden daher gut tun, etwaige Fragen
des Herrn rückhaltlos zu beantworten!“
Jetzt begriff Don Gian: es hatte ihm jemand ein-
mal dieſen Mann genannt und gezeigt als einen in
Rom wohnenden deutſchen Gentleman Detektiv, der
ſchon viele ſcheinbar hoffnungsloſe Fälle gelöſt, man-
chem Verzweifelten die Hoffnung und das Leben wie-
dergegeben hatte. Und gleichzeitig hörte Don Gian
o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 21
in dem diesmal fortgelaffenen Titel vor feinem Namen
und in einem vielleicht nur ſeinem empfindlichen Ohr
bemerkbaren Unterton in der Anrede feines Chefs etwas
heraus, das ſeine Lebensgeiſter wieder erfriſchte: er
hielt ihn nicht für einen Landesverräter, nicht für einen
läſſigen Beamten, ſondern er glaubte an ihn. Eine
leichte Röte ſtieg bei dieſem Gedanken in ſein blaſſes,
übernächtiges Geſicht, und ein dankbarer Blitz leuchtete
aus ſeinen Augen.
„Windmüller,“ murmelte der Fremde, ſich ſelbſt
vorſtellend, und dann plötzlich ſcharf aufblickend fuhr
er mit dem leiſen, klaren Tonfall des Gebildeten fort:
„Herr Marcheſe, es find vierundzwanzig Stunden, viel-
leicht dreißig ſchon über dem Verſchwinden des Dotu-
ments vergangen — Zeit genug, um feine Wieder-
erlangung unmöglich zu machen. Sie dürfen von mir
keine Zauberkünſte erwarten, ſondern nur die Möglich-
keiten eines für ſolche Dinge geſchulten Kopfes. Wollen
Sie, bitte, Ihre Erfahrungen von Anfang an erzählen,
auch nicht übergehen, was Ihnen vor Ihrer Ankunft
in Venedig aufgefallen oder nachträglich eingefallen iſt.
Sind Sie ſicher, daß das Dokument noch in Ihrem
Beſitze war, als Sie in Venedig eintrafen?“
„Ganz ſicher,“ erwiderte Don Gian ohne Zögern.
„Ich habe mich davon noch überzeugt, als ich in der
Gondel nach meinem Hauſe fuhr. Ich hatte das Ab-
teil ganz allein für mich, habe mir das Eſſen aus dem
Speiſewagen bringen laſſen und keinen Augenblick ge-
ſchlafen. Ich habe auch keinen Wein getrunken, ſondern
nur Mineralwaſſer, deſſen Flaſche der Kellner vor
meinen Augen geöffnet hat. Ich habe mich von dem
Vorhandenſein des Dokuments in ſeinem verſiegelten
Umſchlage in der inneren, zugeknöpften Taſche meiner
Weſte überzeugt, als ich mein Zimmer für die Nacht
22 Das Rofazimmer. a
betrat, und war entſchloſſen, diefe wachend zuzu-
bringen —“
„Gut. Fangen Sie jetzt mit Ihrer Ankunft in
Venedig an,“ unterbrach ihn Doktor Windmüller mit
dem kurzen Ton eines Menſchen, der es gewohnt iſt,
zu befehlen und ſeine Wünſche geltend zu machen.
Don Gian hatte etwas bei dieſem Ton hinunterzu—
ſchlucken, denn dieſer Mann war doch ſchließlich nicht
ſein Vorgeſetzter; aber Don Gian war ein Menſch, der
Selbſtbeherrſchung gelernt hatte, und überdies ver-
nünftig genug, um ſofort zu begreifen, daß der Mann
dort genau fo einſchneidend feine Intereſſen vertreten
wollte und konnte wie die des Staates, der der erſte
Leidtragende in dieſer furchtbaren Sache war. Er
überwand daher, ſo ſchnell wie ſie gekommen, die
Auflehnung gegen den Kommandoton des fremden
Nothelfers und begann ſeine Erzählung, die nur ein
paarmal durch dazwiſchengeworfene Fragen Doktor
Windmüllers unterbrochen wurde.
„Und wie kommen Sie darauf, Ihre Schwägerin
mit dem Verſchwinden des Dokuments in Verbindung
zu bringen?“ fragte der Miniſter.
„Ich weiß in der Tat nicht, was ich darauf antworten
foll, Exzellenz,“ erwiderte Terraferma offen. „Es iſt
ein Verdacht, nichts weiter.“
„Aber man muß doch für einen Verdacht mindeſtens
einen Grund haben! Wer A jagt, muß auch B fagen
— heraus mit der Sprache! Es hängt zuviel davon
ab, als daß Sie etwas zurückhalten dürften!“
Don Gian holte tief Atem. „Ich weiß das alles,
Exzellenz, und doch — ich habe ſo wenig dazu zu ſagen.
Meine Schwägerin hat von Hauſe aus nichts — ſie iſt
ohne jede Mitgift in unſere Familie getreten, hat viel
verbraucht, und mein Bruder hat auch noch Schulden
o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 23
ihres Vaters bezahlt. Ihr Wittum ift kein ſehr glän-
zendes — es würde für beſcheidene Anſprüche und mit
der Wohnung in Venedig ſtandesgemäß geweſen ſein,
aber meine Schwägerin erklärte, in dem düſteren
Palaſte umkommen zu müſſen, und zog nach Rom
zurück, wo ſie ja auch mit ihrem Gatten, meinem
Bruder, gelebt — über ihre Verhältniſſe, wie ſich's
nach ſeinem Tode herausſtellte. Und in Rom trat ſie
nach kurzer Zeit mit dem Luxus einer Frau mit un-
beſchränkten Mitteln auf; fie zeigte Juwelen, die ich
nie an ihr zuvor geſehen; ſie führte einen Haushalt,
der Rieſenſummen koſten mußte — kurz, ich, der ich
doch nur zu genau weiß, was ſie hat, ich mußte mich
fragen: Woher auf einmal das viele Geld?“
„Hm,“ machte Doktor Windmüller trocken.
„Es iſt mir aber nie ein Skandal über meine Schwä-
gerin zu Ohren gekommen,“ beantwortete Don Gian
prompt den Laut ohne Worte. | |
„Mir auch nicht,“ fiel der Minifter ein. „And ich
habe genug Klatſchbaſen, männliche wie weibliche, in
meiner Verwandtſchaft, die ſicher gewußt hätten, wenn
es etwas zu klatſchen gegeben hätte. Und die Prin-
cipeſſa hat Ihnen nie eine Erklärung ihrer glänzenden
Lage gegeben?“
„Nie. Ich habe mich auch, als ich mir darüber klar
war, ſehr von ihr zurückgezogen,“ erklärte Don Gian.
„Aber man macht ſich doch ſeine Gedanken, und dann
— dann habe ich einmal bei einem Diner, bei dem ich
unerwartet mit meiner Schwägerin zuſammentraf,
einen Blick aufgefangen, den ſie mit dem gleichfalls
anweſenden türkiſchen Geſandten wechſelte — einen
Blick, der mich auf eine Spur zu leiten ſchien und mich
veranlaßte, mich noch mehr, in faſt unhöflicher Weiſe
von ihr fernzuhalten.“
24 Das Roſazimmer. 11
„Hm,“ machte Doktor Windmüller wieder und ſetzte
dann hinzu: „Es wäre vielleicht im Gegenteil weiſer
geweſen —“
„Es widerſtrebte mir, bei meines Bruders Witwe
den Spion zu ſpielen,“ erwiderte Don Gian ruhig und
mit Anſtand.
„Das ift begreiflich. — Nun noch eine Frage: Ihre
Frau Schwägerin hat in Ihrem venezianiſchen Palaſte
jedenfalls ein Abſteigequartier. Liegt dieſes weit von
dem Ihrigen ab?“
„Ja. Es liegt im dritten Stock über den Wohn-
räumen meiner Großmutter, wo es ihr auf eigenen
Wunſch nach dem Tode meines Bruders eingeräumt
wurde. Letzterer hatte früher die öſtliche Zimmerſeite
bewohnt, von der ich mir dann zwei Räume zum eigenen
Gebrauch nahm. Aber meine Schwägerin hat, als ſie
vorgeſtern ſo unerwartet in Venedig eintraf, ihre
Zimmer nicht bezogen, ſondern in ihrer Launenhaftig-
keit im erſten Stock, dem Piano nobile, zu wohnen
verlangt.“
„Ah!“ machte Doktor Windmüller ſehr intereſſiert.
„Warum erwähnten Sie dieſen Umſtand nicht vorher?“
„ont er von Wichtigkeit?“
„Es iſt alles von Wichtigkeit in ſolchen Fällen, Herr
Marcheſe. — Darf ich weiter fragen: Wo liegen dieſe
Zimmer, die die Principeſſa während der verhängnis-
vollen Nacht bewohnte?“
„Genau unter den meinen.“
„Ich nehme an, daß das Piano nobile bei Ihnen
wie in den meiſten Paläſten Italiens der Repräſentation
dient. Es mußte wohl demnach erſt ein Bett für die
Principeſſa dort aufgeſtellt werden?“
„Nein,“ entgegnete Don Gian, „das Piano nobile
enthält ein ſogenanntes Staatsſchlafzimmer, das feiner-
uu Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 25
zeit für den Beſuch der Königin von Polen und Kur-
fürſtin von Sachſen, Maria FJoſepha von Sſterreich,
eigens eingerichtet wurde und mit ſeinem thronartigen
Bett und ſeinem Silbergeſchirr auf der Toilette ſo blieb.
Mein Bruder wollte nach ſeiner Verheiratung die
Zimmerreihe, in der ſich dieſes Schlafgemach befindet,
mit ſeiner jungen Gemahlin beziehen, aber meine
Schwägerin behauptete damals, die Farbe der Tapeten
und Vorhänge in dieſem Zimmer ſtände ihr nicht, und
fo wurde der öſtliche Teil des darüberliegenden Stock-
werks eingerichtet. Offen geſagt, die Laune meiner
Schwägerin, auf einmal das Roſazimmer zu bevor-
zugen, hat mich vorgeſtern geärgert —“
„Ah!“ machte Doktor Windmüller wieder. „Dem-
nach alſo liegt dieſes Staatsſchlafgemach, das Ihre Frau
Schwägerin plötzlich haben wollte, ſo ziemlich unter
Ihren Zimmern, Herr Marcheſe?“
„Es liegt genau unter meinem eigenen Schlaf-
zimmer.“
„Aha! Fit Ihnen dieſer Umſtand nicht aufgefallen?“
Don Gian ſah den Detektiv erſtaunt an. „Ehrlich
geſtanden — nein,“ erklärte er kopfſchüttelnd. „Und
warum hätte er mir auffallen ſollen? Es beſteht doch
keine Verbindung der beiden Zimmer miteinander.“
„Wiſſen Sie das genau?“
Jetzt ging Don Gian ein Licht auf, worauf Doktor
Windmüller hinzielte. „Das wäre in der Tat eine
Möglichkeit zur Löſung des Rätſels,“ rief er lebhaft.
„Aber,“ ſetzte er gleich hinzu, „dann hätte ich dieſe
Verbindung doch finden müſſen! Ich ſagte ſchon, daß
ich keinen Fleck nach einem geheimen Eingang in meine
Zimmer ununterſucht gelaſſen habe.“
„Das will noch nichts fagen,“ entgegnete Windmüller
trocken. „Geſetzt den Fall, Sie haben recht mit Ihrem
26 Das Rofazimmer. D
Verdachte, daß Ihre Frau Schwägerin Ihnen das
Dokument geraubt, ſo muß ſie auf einem ihr bekannten
Wege in Ihre Zimmer gelangt fein und außerdem noch
auf einem ebenſolchen geheimen Wege das Haus ver-
laffen haben, falls Ihr Vertrauen, das Sie in Ihre
Dienerſchaft ſetzen, Sie nicht getäuſcht hat.“
„Das denke ich nicht,“ entgegnete Don Gian. „Bei
näherer Überlegung habe ich gefunden, daß eine ſolche
Täuſchung eine ganz überflüſſige Sache geweſen wäre.
Donna Xenia hat ja einen Brief hinterlaſſen, daß fie
fort müſſe — ſie hatte es alſo gar nicht nötig, meinen
Portier, der die Schlüſſel verwahrt, zu beſtechen. Sie
brauchte ihn nur zu wecken und ihm zu befehlen, das
Tor zu öffnen. Aber ſie hat das nicht getan. Wie
alfo ift fie aus dem Haufe gekommen? Die Idee, daß
ſie die Zeit verſchlafen hat und ſich dann verbarg, um
Fragen zu entgehen, iſt mir ja auch gekommen, aber der
Portier hatte Befehl, die Ausgänge und Waſſerpforten
verſchloſſen zu halten. Tatſache iſt, daß bis zur Stunde
meiner Abreiſe geſtern, alfo bis mittags, Donna Xenia
keinen Verſuch gemacht hat, das Haus zu verlaſſen.
Daß fie mit dem von ihr bezeichneten Zug nicht ab-
gereiſt iſt, ſteht ebenſo feſt —“ |
„Wie die Tatſache, daß fie geſtern abend in Rom
nicht eingetroffen iſt und auch nicht das Schiff benützt
hat, mit dem Sie nach Trieſt abreiſen ſollten,“ fiel der
Miniſter ein.
„An das Schiff habe ich gar nicht gedacht,“ rief Hon
Gian.
„Aber ich,“ ſagte der Minifter trocken. „Ich habe
das gleich nach Eingang Ihrer Depeſche feſtgeſtellt
— durch unſere Trieſter Agenten. Donna Kenia hat
zweifellos Kenntnis von einem verborgenen Ausgang
aus Ihrem Haufe und dieſen benützt. Anſer koſtbares
o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 27
Dokument ift wahrſcheinlich ſchon im Beſitze unſerer
Gegner. — Nun,“ fekte er hinzu, als Don Gian, un-
fähig, ſich länger zu halten, auf den nächſten Stuhl ſank
und ſtöhnend das Geſicht mit den Händen bedeckte,
„nun, Terraferma, nehmen Sie ſich zuſammen. Ich
glaube nämlich an Ihre Schuldloſigkeit — bis man
mir das Gegenteil beweiſt. Ich kann es Ihnen nicht
einmal zur Laſt legen, daß Sie mit Ihrem Verdacht
gegen Ihre Schwägerin nicht früher herausrüdten, denn
Sie haben nach Ihrer Ausſage alles getan, ſich gegen
einen nächtlichen Überfall zu ſchützen, und wer wird
an ſolche Teufeleien denken, wenn er in ſeinem eigenen
Hauſe Fruchtſaft mit Sodawaſſer trinkt? Wir haben
eben den Fehler begangen, den Feind auf einer anderen
Stelle zu vermuten, und find auf die ſehr geſchickt
gelegte Falle, die Tatarennachricht, daß auf der Strecke
zwiſchen Pontebba und Wien eine Attacke gegen das
Dokument beziehungsweiſe feinen Überbringer geplant
war, glatt hereingefallen. Wo wir den Feind im eigenen
Haufe zu ſuchen haben, der es — früher wie Sie, Terra-
ferma — erfahren hat, wann und durch wen der Ber-
trag nach Wien befördert werden ſoll, dieſe Aufgabe
zu löſen, hat Doktor Windmüller übernommen, denn
das Objekt ſelbſt, das durch ſolch raffinierte Gegenmine
uns entriffen wurde, wiederzuerlangen, ſcheint mir eine
Unmöglichkeit, wennſchon wir wiſſen, daß Sie, Herr
Doktor, der Mann der unbegrenzten Möglichkeiten
ſind.“
Windmüller lächelte fein. „Exzellenz, ein jeder
Menſch hat ſeine Grenzen — er muß nur wiſſen, wo
ſie ihm gezogen ſind. Es iſt wahr — ich habe ſchon
mehrere ſolche diplomatiſchen Dokumente wieder-
erlangen können, aber ich kann natürlich nicht dafür
bürgen, daß es mir auch mit dieſem gelingt, denn es
28 Das Rofazimmer. u
ift ſchon zuviel koſtbare Zeit darüber verloren worden.
Aber meine Fühler ſind trotzdem ſo ausgeſtreckt, daß
eine direkte Unmöglichkeit noch nicht behauptet werden
kann. Wenn es nicht verlorene Zeit wäre, forſchte ich
am liebſten nach, wie das Myſterium im Palazzo Terra-
ferma ſich vollzogen —“
„Ich werde ihn niederreißen laffen, um es zu er-
gründen!“ rief Don Gian, bei dem die Überreizung der
Nerven anfing, ſich merkbar zu machen.
„Sie werden das hübſch bleiben laffen, denn man
kann ſolche Dinge ſchon noch etwas weniger draſtiſch
ergründen,“ entgegnete Windmüller, indem er ſich erhob.
„Einſtweilen aber, bis ich einige telegraphiſche Nach-
richten erhalten kann, auf die ich warten muß, möchte
ich Sie, Herr Marcheſe, bitten, mit mir der Wohnung
Ihrer Frau Schwägerin einen Beſuch abzuſtatten.
Sie wohnt im Palazzo Barberini — nicht wahr?“
„Gewiß. Aber ich kann doch in ihrer Abweſenheit
nicht —“
„Doch, Sie können,“ fiel Windmüller ſeelenruhig
ein. „Mehr noch — Sie müſſen. Ich glaube freilich
nicht, daß wir in der Wohnung einer Dame von ihrer
Qualität, ihrer Umſicht und ihren Inſtinkten große
Schätze heben werden, aber meiner langjährigen Er-
fahrung nach find es gerade ſolche Leute, die im Ber-
trauen auf ihre Umſicht und Geriſſenheit Spuren über-
ſehen und für unwichtig halten, die für Leute meiner
Qualität geradezu als Wegweiſer wirken. Wer weiß
— alfo gehen wir. Und um es vorweg zu fagen: er-
ſchweren oder vereiteln Sie mir meine Arbeit, die ja
auch in Ihrem Zntereſſe geſchieht, nicht durch Ein-
wände und Zweifel, ſondern laſſen Sie mich ruhig tun,
was ich für gut halte, ſelbſt wenn es Ihnen unbegreif-
lich oder — nicht ſchick erſcheinen ſollte.“
o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 29
Don Gian begriff und nachdem er die ihm jetzt
gereichte Hand ſeines Chefs vor innerer Erregung faſt
zerdrückt, folgte er dem Oetektiv, von deffen Fähigkeiten
und Erfolgen er ſchon Wunderdinge gehört hatte.
Sie ſtiegen, auf der Straße angelangt, in den
nächſten freien Taxameter ein, der ſie bald vor den
Palazzo Barberini in der Via Quattro Fontane brachte.
Kein Menſch, der es nicht geſehen, hat eine Ahnung
von der geradezu fabelhaften Größe dieſes Gebäudes,
das zwar ſeine berühmte Vildergalerie behalten hat,
von den Erben des ausgeſtorbenen Geſchlechtes der
Barberini nun aber zur Vermietung geſtellt iſt. Von
Carlo Maderna um die Mitte des ſiebzehnten Jahr-
hunderts durch Papſt Urban VIII. Barberini errichtet,
iſt der Palaſt eines der Wahrzeichen der vergangenen
Größe Roms; er hat nicht nur Raum für die Repräfen-
tations- und Wohnräume einer Geſandtſchaft, die kleinſte
der zahlreichen anderen Mietwohnungen darin enthält
mindeſtens zwanzig Zimmer, und wenn auch die ftatt-
liche Bibliothek durch Kauf der vatikaniſchen Bibliothek
einverleibt wurde, ſo bleiben darin immer noch die
Gemäldeſammlung, die Fresken Cortonas in der riefen-
haften Halle, die Statuen, Büſten und andere Antiken.
In dieſem Palaſt ſtiegen Don Gian Terraferma
und Doktor Windmüller die lange Flucht der weißen,
bequemen Marmortreppen zu der Wohnung der Prin-
cipeſſa hinauf — erſterer mit dem natürlichen Wider-
willen des Gentlemans, in Räume einzudringen, in
denen er kein Recht hat.
Fhr Einkommen würde vielleicht gerade dazu rei-
chen, dieſe Wohnung zu bezahlen — woher alſo kommt
das übrige?“ fragte er ſich zum hundertſten Male.
„Gott weiß, daß ich ihr kein Unrecht tun möchte, aber
was bleibt mir zu denken und zu glauben übrig?“
30 Das Rofazimmer. u
„Vielleicht hat ſie eine Erbſchaft gemacht,“ beant-
wortete Windmüller laut dieſe Gedanken, ſo daß Don
Gian zuſammenfuhr und ſeinen Begleiter faſt entſetzt
anſah. „Man muß allen Möglichkeiten Raum laſſen.
Indeſſen — ah, da ſind wir ja!“
Eine junge, zierliche Kammerzofe war es, die endlich
nach wiederholtem Läuten die Tür öffnete.
„Iſt meine Schwägerin, die Frau Prinzeſſin, zu
Haus?“ fragte Don Gian die ſichtlich ob des frühen
Beſuches Überraſchte kurz.
„Aber nein, Herr Marcheſe,“ war die in entſchieden
anklagendem Ton gegebene Antwort. „Altezza ſind
vorgeſtern abend verreiſt und wollten geſtern abend
zum Baſar bei der Signora Conteſſa zurück ſein, ſind
aber nicht angekommen, haben keine Nachricht gegeben,
und Herr Marcheſe ſehen mich in größter Beſtürzung
— ich weiß nicht, was ich denken ſoll.“
Durch Windmüller vorher inſtruiert, trat Don Gian,
von ſeinem Begleiter gefolgt, ohne weiteres in den
mit orientaliſchen Teppichen und Waffen geſchmückten
großen Vorraum ein.
„Nun, ich denke, die Frau Prinzeſſin wird wohl in
dieſem Falle aufgehalten worden ſein,“ murmelte er
unbehaglich.
„Aber Durchlaucht haben nur einen ganz, ganz
kleinen Koffer mit dem Nötigſten für eine Nacht mit-
genommen,“ erwiderte die Zofe ratlos.
„So?“ fragte Don Gian. „Wie kommt es aber,
daß Sie öffnen, Ceſarine? Wo iſt denn der Diener?“
„Er iſt ſchon ganz früh fort, um auf den Bahnhof
zu gehen, für den Fall, daß Durchlaucht die Nacht
gereiſt ſein ſollten,“ erklärte Ceſarine gekränkt. „Er
ift noch nicht zurück, der hohe Herr Jwan! Natürlich
hat er den zweiten Diener mit einer Menge Aufträge
o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 31
fortgeſchickt, und ich muß nun jedesmal laufen, wenn
es läutet!“
„Der erſte Diener ift ein Ruffe?” warf Windmüller
zu Don Gian gewendet ein, und als dieſer nickte, trat
er in Aktion. „Hören Sie mich an, Mademoiſelle
Ceſarine,“ wendete er ſich in ihrer Landesſprache an
die Franzöſin, die er vorher ſcharf beobachtet. „Wir —
der Herr Marcheſe und ich — haben natürlich gehofft,
die Frau Prinzeſſin anzutreffen, da ſie aber verreiſt
iſt und Sie ohne Nachricht über ihren Verbleib ſind,
ſo beunruhigt uns das einigermaßen. Sie müſſen uns
daher genau und wahrheitsgetreu ſagen, was Sie über
dieſe plötzliche Abreiſe Ihrer Herrin wiſſen, und je auf-
richtiger Sie das tun, um ſo weniger ſoll dies Ihr
Schade fein.“
Das Aufleuchten in den ſchwarzen Augen der Fran-
zöſin belehrte Windmüller, daß ſein Scharfblick ihn nicht
getäuſcht, als er das Mädchen auf den erſten Blick als
habgierig taxierte.
„Aber ich weiß ja nichts, gar nichts!“ jammerte
Ceſarine. „Durchlaucht ſagten plötzlich: „Ich verreiſe in
einer Stunde, packe mir Nachtzeug und eine einfache
Abendtoilette ein‘ — das war alles! Nicht eine Silbe,
wohin Madame reifen will — nur den Befehl: ‚Lege
mir das Zigeunerinnenkoſtüm für den Baſar zurecht,
ich werde zur rechten Zeit morgen abend zurück fein‘ —
nichts, nichts weiter! Aber unter uns, Monſieur —
Iwan, der Kammerdiener, der verſtockte Menſch, weiß
ſicher mehr — ſicher! Er hat Madame auf den Bahn-
hof begleitet, er muß wiſſen, wohin ſie gereiſt iſt, er
hat Madames Vertrauen. Einmal wird es ihm ja
belieben, zurückzukommen, und wenn Monſieur warten
können —“
Monſieur wollte nicht warten — im Gegenteil, er
32 Das Rofazimmer. o
pries feinen guten Stern, der ihm den Kammerdiener
aus dem Wege geräumt, und hoffte inbrünſtig von
eben dieſem guten Stern, daß ſeine „Geſchäfte“ den
Würdigen noch für eine Weile fernhalten würden.
„Was Sie mir fagen können, würde Jwanwahrſchein-
lich nicht wiſſen,“ erwiderte er in dem überzeugend zu-
redenden Ton, der ihm ſchon fo oft gute Dienſte ge-
leiſtet hatte. „Oer Herr Marcheſe iſt, wie er mir ſagte,
der Frau Prinzeſſin am Nachmittag vor ihrer Abreiſe
in der Villa Borgheje begegnet, und fie ſchien damals
noch nichts von dieſer plötzlichen Reiſe zu wiſſen. Sie
ſcheinen mir aber eine kluge Perſon zu ſein, die ein
Paar ſcharfe Augen im Kopf hat. Aber ſicher — ich
ſchmeichle Ihnen nicht, Mademoiſelle — ich ſehe, was
ich ſehe. Nun wohl — Sie müſſen doch etwas gemerkt
haben, was Ihnen dieſen plötzlichen Entſchluß Ihrer
Herrin begreiflich gemacht hat — nicht?“
„Oh — wenn es das iſt, was Monſieur wiſſen will
— voilà!“ machte Ceſarine mit raſchem Verſtändnis.
Dann ſchloß ſie die noch offene Tür des Vorraums,
nicht ohne vorher nach der Treppe gehorcht zu haben,
und ſchob einen Riegel vor — eine ſcheinbar überflüſſige
Handlung, die ſich der alles ſehende Detektiv ſehr richtig
dahin deutete, daß Mademoiſelle Ceſarine ſich bei dem,
was ſie auszuplaudern entſchloſſen ſchien, nicht von dem
gefürchteten Kammerdiener überraſchen laſſen wollte.
„Hören Sie alfo, Monſieur! Madame kamen vor-
geſtern — nein, vorvorgeſtern von ihrer Ausfahrt zurück,
und ich öffnete ihr die Tür, weil der Herr Jwan wieder
einmal nicht da war und Beppino, der zweite Diener,
gerade den Tiſch deckte. Madame waren kaum über
der Schwelle, als ein Herr ſchnell die Treppe herauf-
kam, Madame ein paar Worte in der barbariſchen
Sprache zurief, in der Madame immer mit dem Jwan
a} Roman von E. v. Ablersfeld-Balleftrem. 33
ſpricht, und ihr einen Brief überreichte, worauf er wieder
die Treppe hinablief —“
„Wer war der Herr?“ warf Windmüller ein.
„Weiß ich nicht,“ entgegnete Ceſarine achſelzuckend.
„Ich habe ihn nie vorher geſehen, und Madame em-
pfängt oft Beſuche, die ihren Namen nicht ſagen, die
gehen, ohne wiederzukommen, mit denen ſie Ruſſiſch
redet, ſo daß man nicht au kann, warum fie samen
und was fie wollen, kurz — “
„Rückſichtslos gegen Sie, Mademoiselle . i agte Wind-
müller teilnahmvoll. „Nun, und die Gran Prinzeſſin
las den Brief natürlich und —“
„Gewiß,“ fiel Ceſarine bereitwillig ein. „Madame
öffnete den Brief gleich hier, überflog ihn, und ohne
ſich Zeit zu nehmen, Hut und Mantel abzulegen, ſetzte
ſie ſich damit vor das Tiſchchen dort am Kamin, zog
die Handſchuhe aus und las den Brief mindeſtens zehn-
mal durch, Monſieur, denn ich ſchielte natürlich hin,
während ich die Handſchuhe aufnahm, und ſah ganz
genau, daß er nur wenige Zeilen enthielt. Eh bien,
Madame achtete nicht auf mich, ſchien mich évidemment
ganz vergeſſen zu haben, und natürlich blieb ich, wo
ich war, denn ich mußte doch meine Befehle abwarten
— nicht?“ | |
„Sehr korrekt, ſehr!“ lobte Windmüller mit
Enthuſiasmus. u
„Ich ſehe, Monſieur haben den richtigen Sinn für
meine Pflicht,“ fuhr Ceſarine mit einem nur einer
Franzöſin möglichen Augenaufſchlag fort. „Eh bien,
Madame nahmen, was mich natürlich ſehr wunderte,
nachdem ſie über dem Brief eine Weile gegrübelt, einen
der Papierbogen, die immer hier bereit liegen, für den
Fall, daß ein Beſuch, der Madame nicht antrifft, eine
Votſchaft hinterlaſſen will, den daneben liegenden Biei-
1914. v. 3
34 Das Roſazimmer. DO
— ——ꝛ ——— — — — .
ſtift, zog damit über das Blatt lauter Quadrate und
ſchrieb Nummern hinein, und dann, den Brief in der
Hand, ſchien ſie ihn abzuſchreiben, aber nicht etwa in
einer Linie, ſondern einmal ein Wort hier, ein Wort“
da, ganz durcheinander —“
„Ganz merkwürdig!“ meinte Windmüller. „Und
dann —2“
„Dann tippte ſie mit dem Stift auf die Quadrate,
in die ſie geſchrieben — in das eine zwei, drei Worte,
in andere wieder nichts, ſah plötzlich auf und fuhr mich
an, was ich hier mache, lachte dann kurz auf, tippte noch
einmal das ſonderbare Geſchreibſel mit dem Bleiſtift
ab, ballte den Bogen zuſammen und warf ihn ins Feuer,
denn es iſt ſchon kühl am Abend, und wir müſſen immer
den Kamin hier heizen —“
„Natürlich!“ fiel Windmüller ein. „Und nachdem
der Bogen verbrannt war —“
„Hab Madame den Befehl, zu packen. Voilà tout!“
Windmüller zog ein Goldſtück aus der Weſtentaſche
und drückte es in Ceſarines raſch hingehaltene Hand.
* *.
„And was machte Madame mit dem Briefe, den fie
erhalten?“ fragte er in gewinnendem Ton.
„Das weiß ich nicht. Ich habe darauf nicht geachtet,“,
war die ſichtlich ehrliche Antwort. „Sie wird ihn wohl
mit dem Bogen verbrannt haben.“ f
„Jedenfalls — jedenfalls,“ ſtimmte Windmüller zu,
indem er in ſeiner Weſtentaſche herumfingerte und den
gierigen Blick auffing, mit dem Ceſarine das verfolgte.
„Nun, das wäre wohl alles. Hm. Ja, was ich noch
ſagen wollte — die Signora Principeſſa iſt dann wohl
in dem Anzuge abgereiſt, den ſie am Nachmittag trug?“
„Aber Monſieur!“ machte die Zofe mit Entſetzen.
„Madame hatte ein weißes Tuchkleid an, eine Robe,
die erſt tags zuvor aus Paris gekommen war, ein Traum
a Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 35
von einer Robe — Rod, Paletot und Weſte mit Geiden-
galonen beſetzt. Das hätte gut ausgeſehen nach einer
Fahrt in der Eiſenbahn! Und von dem weißen Hute
gar nicht zu reden, Faſſon Marquis, mit einer köſtlichen
weißen Pleureuſe darauf. Nein, nein, Monſieur, ſie
hat. gewechſelt und ein graues Reiſekleid mit grauem
Staubmantel angezogen, während ich den kleinen Koffer
packte.“
Windmüller lächelte gewinnend. „Ja, wenn ich
gewußt hätte, daß Madame ein weißes Kleid anhatte,
ehe ſie abreiſte, dann hätte ich die dumme Frage nicht
getan,“ ſagte er mit rührender Einfachheit. „Alſo ein
„Traum“ war dieſes Kleid! Ich ſchwärme für ſolche
Träume, Mademoiſelle —“ wieder fingerte er in ſeiner
Weſtentaſche und zog noch ein Zwanziglireſtück hervor.
„Sehen Sie,“ machte er naiv, „da habe ich ja noch
ſolch ein Ding hier — hübſche Münzen, Mademoiſelle
— nicht wahr? Zch gäbe dieſes Stück darum, wenn ich
das neue weiße Koſtüm der Frau Prinzeſſin aus Paris
einmal ſehen könnte.“ |
„Wenn es weiter nichts ift, Monſieur — ich hole
das Koſtüm ſofort,“ rief Ceſarina mit funkelnden Augen.
„Madame hat es ſelbſt in der Garderobe aufgehängt,
während ich den Koffer packte, denn ſie iſt ſehr eigen
mit ihren Sachen.“ |
Windmüller hob beide Hände beſchwörend auf.
„Wie würde ich Sie ſelbſt bemühen wollen, Made-
moiſelle!“ rief er in dem Tone eines Menſchen, dem
man eine Unwürdigkeit zumuten will. „Das ſei fern
von mir! Zudem müſſen Sie doch hier an der Tür
ſein, für den Fall der Herr Kammerdiener zurückkehrt,
der ſicher die Hintertreppe verſchmähen dürfte — wenig-
ſtens ſolange Ihre Herrin nicht da iſt! Nein, nein,
nein! Ich gehe ſelbſt, dieſen Traum von einer Pariſer
2.
36 Das Rofazimmer. o
Robe zu bewundern — natürlich in Geſellſchaft des
Herrn Marcheſe — — Oh, haben Sie ſich erkältet?“
unterbrach er fih teilnahmvoll, durch einen Huften-
anfall Don Gians veranlaßt, deſſen blaſſes Geſicht
plötzlich purpurrot geworden war. „Nicht erkältet, fon-
dern nur die Luft verfangen?“ erläuterte er ein un-
deutliches Murmeln des ſichtlich wortloſen Diplomaten.
„Hm — deſto beſſer. Alſo haben Sie die Güte, Herr
Marcheſe, mir den Weg zu zeigen. — Und Sie, Made-
moiſelle, würden mich unendlich verbinden, für den Fall,
daß der Herr Kammerdiener zurückkehrt, ehe wir den
„Traum“ geſehen haben, wenn Sie dieſen Würdigen
mit Ihrer Konverſationsgabe aufhalten wollten, bis
ich fertig bin. Sie verſtehen mich — nicht wahr?“
Ceſarine nickte mit blitzenden Augen — ſie verſtand.
Mit ſehr widerſtreitenden Gefühlen folgte Don Gian
einer einladenden Handbewegung des mild lächelnden
Detektivs und ging ihm voraus. Durch eine Reihe
eleganter Salone, alle mit ausgeſuchtem Geſchmack ein-
gerichtet, führte er ihn unter einem Schweigen, das
eine Exploſion verhindern ſollte.
In der offenen Tür des raffiniert luxuriöſen Schlaf-
gemachs aber ſtand er ſtill. „Herr Dottor, wollen Sie
mir jetzt erklären —“ begann er.
Aber Windmüller ſchob ihn einfach zur Seite.
„Später, lieber Marcheſe, ſpäter. Es iſt jetzt keine
Zeit dazu, Ihnen meine Methode auseinanderzuſetzen.
Wir müſſen fertig ſein, ehe der Spion kommt. —
Jawohl, Zwan, der Kammerdiener! Ich kenne ihn
und er mich, was weſentlich dazu beiträgt, daß ich vor
ihm zum Tempel wieder hinaus ſein möchte. Nicht,
daß ich ihn fürchte, aber warum einen Zuſammenſtoß
heraufbeſchwören, wenn er zu vermeiden ift! — Hm —
dieſes Schlafzimmer iſt ſehr gut aufgeräumt — wir
6 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 37
können darüber zur Tagesordnung übergehen, denn
hier dürfte Ceſarine, diefe Perle, ſchon Muſterung ge-
halten haben. Welches iſt die Tür zur Garderobe?
Ah, das können Sie natürlich nicht wiſſen, alſo öffnen
wir die erſte — mir ſcheint, wir haben die richtige
gefunden. Mein altes Glück, Herr Marcheſe! Hoffen
wir, daß es mir auch mit dem „Traum aus Paris“ zur
Seite bleibt.“
Es war ein hübſch proportioniertes e das
in langer Reihe die Garderobenſchränke, einen dreh-
baren, dreiteiligen großen Spiegel mit Teppich davor
und ein niedriges Sofa enthielt. Windmüller machte
ohne Federleſens den erſten dieſer Schränke auf, in
dem auf breiten hölzernen Bügeln an meſſingener
Stange eine Reihe von Kleidern hing und darunter ein
weißes von feinem Tuch mit ſeidenen Galonen beſetzt.
„Mir ſcheint, das war's, das meine Schwägerin am
Vorabend ihrer Abreiſe trug,“ ſagte Don Gian darauf
deutend.
Vb Ah — ein perfektes Schneiderkleid!⸗ machte Wind-
müller bewundernd, indem er mit geübten und ge-
ſchickten Fingern an den Säumen des fußfreien, engen
Rodes entlang fuhr. „Natürlich hat es keine Taſche —
in einer ſolchen Schlangenhaut würde ja ein Bogen
Papier ſchon die Faſſon verderben. Auch im Paletot
nichts von ſolch einem nützlichen Behältnis. Dieſe
Taſchenklappen an den Vorderteilen ſind Blendwerk
der Hölle, nichts weiter. Wird dasſelbe mit dieſer
ärmelloſen, eleganten Weſte ſein, die gleichfalls durch
ſchneidige Klappen Taſchen heuchelt — alfo eine ver-
gebliche Hoffnung, die mit zwanzig Lire in Gold zwar
etwas teuer bezahlt ift, doch das muß man eben ris-
tieren. — Halt! Was bedeutet dieſer durch Druckknopf
geſchloſſene Schlitz? Eine ſehr geſchickt und raffiniert
I
38 Das Rofazimmer.
87
angebrachte Bruſttaſche! Und in dieſer Bruſttaſche ein
etwas läſſig gefaltetes Papier — — Herr Marcheſe,“
ſchloß Windmüller faſt andächtig ſeinen Monolog, „hier
haben Sie wieder einmal den Beweis, wie unvorſichtig
vorſichtige Leute fein können! Wenn wir uns den Vor-
gang rekonſtruieren, ſo können wir ſehen, wie Ihre Frau
Schwägerin, in Gedanken verſunken, auf dem langen
Wege bis zu ihrem Schlafzimmer das dünne Blatt
überſeeiſchen Papiers, das ihr der Unbekannte im
Augenblick ihrer Heimkehr überreicht, dieſer Taſche an-
vertraut, von deren Exiſtenz Ceſarine wahrſcheinlich
keine Notiz genommen hat. Während die Perle ein-
packt, entledigt ſich die Herrin ſelbſt des Pariſer Trau-
mes‘, hängt das Kleid ſelbſt, da fie ſehr ordentlich iſt,
in dem Schranke auf, des Papiers darin vergeſſend,
das ihr eine Aufgabe ſtellt, die ihre ganze Aufmerkſam-
keit, ihr ganzes, fieberhaft arbeitendes Gehirn in An-
ſpruch nimmt — — es fällt ihr wahrſcheinlich erft auf
der Reiſe ein, daß ſie dieſes wichtige Papier vergeſſen
hat, und ſie tröſtet ſich damit, daß Ceſarine kaum das
Kleid berühren wird, und ſelbſt wenn ſie es tut, würde
ihr dieſes Blatt nichts ſagen, ſie um nichts klüger machen,
denn wie käme ſie auf den Gedanken, daß ein gewiſſer
Franz Xaver Windmüller fo verrückt fein könnte, die
neueſte Schöpfung ihres Schneiders bewundern zu
wollen?“
Don Gian trat haſtig einen Schritt näher. „Herr
Doktor — glauben Sie, daß es in der Tat dieſer Brief
ift?“ fragte er mit erwachtem Intereſſe, das feinen
ſtummen Proteſt gegen die „Methoden“ des Oetektivs
völlig überragte.
„Irren ift menfchlih, Herr Marcheſe. Unter dieſer
Reſerve glaube ich Ihre Frage bejahen zu können,“
erwiderte Windmüller, das Blatt ſorgfältig in ſeiner
o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 39
Brieftaſche verwahrend. „Es ift hier nicht der Ort,
die Probe aufs Exempel zu machen. Laſſen Sie uns
daher dies leere Neſt verlaſſen und zu mir fahren, wo
Sie außer der Löſung des Rätſels auch ein Frühſtück
erhalten ſollen, das Ihren Lebensgeiſtern, wie ich ſehe,
ſehr vonnöten iſt. Wie lange haben Sie denn nichts
mehr an leiblicher Nahrung zu ſich genommen?“
„Seit geſtern mittag nichts mehr — aber das ijt
Nebenſache und —“
„Pardon, wenn ich widerſpreche: es ift von weſent-
licher Bedeutung, wenn Sie Ihre Nerven in dieſem
Falle nicht verlieren, Herr Marcheſe. Sie würden bald
abgewirtſchaftet haben, wenn Sie unterlaſſen, Ihrem
Körper und Ihrem Gehirn die notwendige Nahrung
zuzuführen. Sie müſſen mir ſchon verzeihen, wenn
ich mich auch darum kümmere. Ich betrachte Sie eben
als meinen Klienten, weil die Sache Sie doch verteufelt
nahe angeht, und es iſt Gewohnheit bei mir geworden,
auch ein wenig über das leibliche Wohl derer zu wachen,
deren moraliſchen Zuſtand ins Gleichgewicht zu bringen
die ideale Seite meines Berufes iſt.“
Don Gian ſah den Detektiv erſtaunt an. „Ihr
Klient?“ wiederholte er. „Sie ſind doch beauftragt
worden, herauszubekommen, ob nicht vielleicht ich ſelbſt
das Dokument veruntreut und — und verkauft habe?“
Windmüller machte eine Bewegung. „Das war
nur eine Möglichkeit, mit der gerechnet werden mußte,
weil die menſchliche Seele Tiefen verbergen kann, die
man in ihr nicht vermutet,“ ſagte er ernſt. „Ihr Chef
hat dieſe Möglichkeit nicht zugeben wollen und iſt von
vornherein mit großer Loyalität für Sie eingetreten.
Ich indes, der mit der dunklen Seite der menſchlichen
Seele zu tun hat, mußte mich erſt überzeugen, und
ich freue mich, ſagen zu können, daß ich jetzt ganz auf
40 Das Roſazimmer. u
Ihrer Seite ſtehe. Ob es möglich ſein wird, das ver-
lorene Dokument wieder zu erhalten, kann ich jetzt noch
nicht fagen, aber ich denke, daß Ihre Unſchuld zu be-
weiſen nur noch eine Frage von kürzeſter Zeitdauer
iſt. Wenn mich nicht alles täuſcht, habe ich dieſen
Beweis hier in meiner Brieftaſche. — Alſo eilen wir,
ihn der Prüfung zu unterwerfen!“
Don Gian verlor keine Worte. Stumm reichte er
dem Detektiv zu kräftigem Drucke die Hand und folgte
ihm mit einem Gefühl der Erleichterung, als ob jemand
ihm eine unerträglich werdende Laſt von den Schultern
genommen hätte. Weil er aber ein guter Menſch mit
tiefem Gemüt war, ſo miſchte ſich in die perſönliche
Erleichterung die Trauer darüber, daß ſeine eigene
Rehabilitierung auf Koſten der Witwe ſeines Bruders
zu geſchehen hatte.
Im Vorzimmer fanden ſie Cefa arine auf ihrem Poſten
vor. Der Kammerdiener war noch nicht zurückgekehrt,
und mit wiederholten Knickſen nahm ſie ihr zweites
Goldſtück von Windmüller entgegen.
„Die Robe von Madame iſt in der Tat ein Traum, “
ſagte letzterer. „Aber fie hat doch einen Fehler — ſie
beſitzt keine Taſchen!“
„Aber Monſieur!“ rief Ceſarine, den Simmel mit
unnachahmlichem Augenaufſchlag zum Zeugen für ſolch
eine Barbarei anrufend. „Madame iſt doch keine
Bäckersfrau, die ſich ihre Taſchen mit allem möglichen
vollſtopft! Madame ſteckt ihr Taſchentuch in den Armel
und trägt die Börſe in ihrem Ledertäſchchen. Und wo
wollen Monſieur, daß man Taſchen in einem modernen
Kleide anbringen ſoll, das wie ein Handſchuh ſitzen muß?“
„Ah ja, natürlich! Daran denkt man als Mann
nicht, wenn man nicht zufällig ein Schneider iſt,“ er-
widerte Windmüller.
o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 41
AAA ————Äů ————«—ke, r. .—.—— — — — —
Vp So iſt's!“ beſtätigte Ceſarine, indem fie mit einem
Knicks die Tür hinter den beiden Herren zuſchloß, von
denen fie den älteren entſchieden bevorzugte. Liebe-
voll klimperte ſie mit ihren beiden Goldſtücken in dem
Täſchchen ihrer koketten Schürze und pries ihr Glück,
das den Kammerdiener weggeführt hatte. „Alſo Taſchen
hat er in dem Kleide geſucht!“ dachte ſie achſelzuckend.
„Ich hätte ihm die Mühe ſparen können, wenn es das war,
was er wollte. — Taſchen! Wenn das Kleid Taſchen
hätte, wären fie von mir längſt nachgeſehen worden!“ —
„Woraus erhellt,“ murmelte Windmüller noch auf
der Treppe, „daß auch einem Schneider Ideen kommen
können, die ihm ſelbſt eine Kammerfrau nicht zutraut!“
* *
Auf der Straße vor dem Palaſte angelangt, hielt
Windmüller ein vorüberfahrendes leeres Auto an und
gab dem Chauffeur die Adreſſe feiner Villa am Jani-
culus mit der Weiſung, daß er ya a würde
zu warten haben.
V dch vermute nämlich, daß wir Ihrem Chef P
mitzuteilen haben werden,“ fagte er, als fih das Auto
in Bewegung geſetzt hatte, indem er feine Brieftaſche
hervorzog und das Blatt daraus entnahm, das er in
der Garderobe der Marcheſa v. Terraferma entdeckt.
Er ſah es eine Weile an und reichte es dann Don Gian.
„Was machen Sie daraus?“ fragte er. |
„das ift in deutſcher Sprache geſchrieben!“ rief der
junge Diplomat überraſcht. „Ich wußte nicht, daß
meine Schwägerin Oeutſch verſteht.“
„Die meiſten gebildeten Ruſſen ſprechen Deutfch,“ “
erwiderte Windmüller. „Donna Kenia hatte in Ihrer
Familie vielleicht nur keine Gelegenheit, dieſe Kenntnis
anzuwenden.“
42 Das Rofazimmer. a
„Doch, fie wußte, daß ich febr eifrig deutſche Sprach-
ſtudien treibe, die mir für meinen Beruf neben dem
Franzöſiſchen und Engliſchen ſehr von Wert ſind.“
„Natürlich — ein Diplomat muß alle Sprachen
kennen. — Bitte, leſen Sie das Blatt durch und ſagen
Sie mir, was Sie daraus machen.“
Don Gian tat, wie ihm geheißen, und las folgendes:
Braunschweig, 27. Februar 1912.
Morgen (erlangt) Zug sofort Festland (sie) Venedig
Meldung eintreffen Frühschiff (Nachtzug) mit Reisen
cheut) Weiterreise wahrscheinlich (Rom) voraussichtlich
wird (Wenn) nächsten Venedig Abend (Objekt) Triest. —
Don Gian gab das Blatt, nachdem er es geleſen,
mit einem Achſelzucken der Enttäuſchung zurück. „Ge—
heimſchrift natürlich, für die ſich vielleicht der Schlüſſel
finden ließe. Aber wozu? Das Billett ift über ein
halbes Jahr alt, kann alfo das nicht fein, welches meine
Schwägerin zu ihrer plötzlichen Abreiſe veranlaßt hat,
wenn ſchon das Wort „Venedig“ zweimal darin vor-
kommt. Eine alte Mitteilung, vom 27. Februar
datiert, die Donna Kenia in ihrem Kleide vergeſſen
hat.“
„Das war auch mein erſter Gedanke, als ich das
Blatt überflog,“ gab Windmüller zu. „Indes, mein
Beruf weiſt darauf hin, nichts zu überhören und nichts
zu vergeſſen, und darum fiel mir auch gleich wieder
ein, daß Ceſarine geſagt, ihre Herrin habe das Kleid,
dies weiße Kleid mit Paletot und Weſte, erſt vor ein
paar Tagen aus Paris erhalten. Wäre es anzunehmen,
daß Donna Kenia Zeit gehabt hätte, ein altes Schreiben
in dieſe verborgen angebrachte Taſche zu ſtecken, ſelbſt
den Fall geſetzt, daß es ihr ‚zufällig‘ beim Auskleiden
in den Weg gekommen iſt? — Kaum! Ferner iſt das
Papier hier nicht verlegen, nicht monatelang irgendwo
2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 43
aufbewahrt worden — es iſt ganz friſch; nicht weich
geworden wie altes Papier, ſondern glatt und tadellos
weiß. Die Tinte“ — damit zog er ein Vergrößerungs-
glas hervor und betrachtete damit genau die Schrift —
„die Tinte iſt friſch, wenige Tage nur auf dem Blatt
— oh, ich kann das genau beſtimmen. Dies Spezial-
ſtudium gehört zu meinem Beruf. Folglich iſt das
Datum nur ein Blender, beſtimmt, irrezuführen für
den Fall, daß die Mitteilung in unrechte Hände ge-
raten wäre, oder — beim Zeus, ich hab's! — es ent-
hält den Schlüſſel für die chiffrierte Mitteilung ſelbſt!“
„Den Schlüſſel?“ wiederholte Don Gian elektriſiert.
„Es kann das nur ſein,“ entgegnete Windmüller
mit einer bei ihm ungewöhnlichen Erregung. „Der
Umſtand, die Mitteilung, die durch perſönlichen Boten
in Rom am 6. September überbracht wurde, von Braun-
ſchweig mit einem über ein halbes Jahr alten Datum
zu verſehen, kann nur einen ganz beſtimmten Zweck
verfolgen, und daß dieſes Blatt wirklich nicht vor ſechs
Monaten geſchrieben worden iſt, dafür ſtehe ich mit
Hilfe dieſer allerſchärfſten Vergrößerungslinſe ein! —
Erinnern Sie ſich, daß Ceſarine beobachtet hat und
uns genau beſchrieb, wie Donna Kenia nach Empfang
des Billetts fih in der Vorhalle hinſetzte, einen Bogen
Papier mit Quadraten einteilte, dieſe numerierte und
dann, das Billett in der Hand, in dieſe Quadrate ſchrieb?
Wohl, es war nicht (hwer zu erraten, daß fie die er-
haltene Mitteilung dechiffrierte. Das bedarf kaum der
Erwähnung, aber daß es dieſes Blatt war, das fie ent-
zifferte, daß ſie es auf dem Weg in ihr Schlafzimmer
‚einjtweilen‘ in die Bruſttaſche ihrer Weite ſteckte, end-
lich, daß gerade dieſes irreführende Datum den Schlüſſel
der Chiffre enthält — dafür möchte ich das ſchönſte
Stück meiner Sammlung verwetten! — Wo ſind wir
44 Das Rofazimmer. Ü
eben? Oh, erft auf der Piazza Cairoli! Alſo laffen
Sie uns keine Zeit verlieren und den Reſt des Wegs
dazu benützen, dem Rätſel nachzuſinnen!“
Und das Billett in der Hand, den Blick feſt darauf
richtend, verſank der berühmte Gentlemandetektiv in
ein tiefes Kombinationsſtudium, aus dem er erſt auf-
ſah, als das Automobil vor der kleinen, hübſchen Villa
auf der halben Höhe des Janiculus jenſeits des Tibers
vorfuhr.
Windmüller befahl dem Chauffeur, zu warten,
öffnete die verſchloſſene Pforte zu dem zierlich be-
pflanzten Gärtchen, das die Villa umſchloß, mit einem
Patentſchlüſſel, während er gleichzeitig die elektriſche
Glocke drückte, und bat Don Gian, einzutreten.
Ehe die Herren den kurzen, mit Blumenrabatten
eingefaßten Gang bis zu dem Hauſe zurückgelegt, wurde
deſſen Tür von einem kleinen, drollig ausſehenden
Menſchen mit beweglicher Spitzmausphyſiognomie und
kleinen, funkelnden Schweinsaugen geöffnet, den die
ruhige, dunkle Livree, die er trug, wie etwas Ungu-
gehöriges kleidete, beſonders da er die Ankommenden
mit militäriſchem Gruß empfing.
„Der Kerl kann ſich die Faxen nicht abgewöhnen,“
murmelte Windmüller ärgerlich. — „Schnell ein Früh-
ſtück in mein Arbeitszimmer, Pfifferling!“ befahl er,
noch auf der Türſchwelle. „Tee, Gebäck, Schinken,
Eier — aber raſch! Jemand hier geweſen? Briefe
gekommen?“ |
„Verſteht ſich, Herr Doktor,“ verſicherte Pfifferling
höchſt inkorrekt — für feine Livree. „Briefe, mehrere
Telegramme und ein zierliches Schreiben, für das ich
dem Überbringer, einem ſchäbigen Individibum, eine
Quittung ſchreiben mußte. Es liegt noch keine zehn
Minuten oben.“
(a) Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 45
„Gut. Nehmen Sie dem Herrn hier Paletot und
Hut ab und trollen Sie ſich. Verſtanden?“
ö „Vollkommnement, Herr Doktor!“ erwiderte
Pfifferling mit einem Kratzfuß, der in einer Poſſe auf
einer Volksbühne Effekt gemacht hätte. „Ich ver-
dufte!“ Zu.
„Wenn Sie mal einen korrekten Diener brauchen
ſollten, Herr Marcheſe, dann holen Sie fih den Men-
ſchen,“ ſagte Windmüller lachend, als er ſeinen Gaſt
die Treppe hinaufgeleitete, die wie die kleine Vorhalle
mit ſeltenen alten Waffen aller Länder dekoriert war,
„Die Livree ift aber nur Blendwerk — Pfifferling ift
nämlich mein Faktotum, zu dem er ſich aus eigener
Machtvollkommenheit gemacht hat. Er führt mit mir das
alte Märchen von Sintbad, dem Meerfahrer, auf, in-
dem er den Meergreis mimt, den ich nicht mehr los-
werden kann. Aber er fängt an, ſich zu machen, was
ſeine beſcheidene Mitwirkung an meiner Arbeit betrifft
— zum Diener hat unfer Herrgott ihn in feinem Borne
werden laſſen.“
Don Gian folgte ſeinem Wirte mit unwillkürlich
erwachter Aufmerkſamkeit in das Gemach, das er als
ſein Arbeitszimmer bezeichnet hatte. Es war mehr
eine Bibliothek, denn die Wände waren mit Bücher-
regalen bis auf Manneshöhe bedeckt und zuoberſt mit
allen nur möglichen Gegenſtänden beſtellt: Büſten, Vaſen,
antiken Fragmenten; Gemälde wechſelten in zwangloſer
Reihe miteinander ab, aber in dem ganzen Arrangement
verriet ſich der wohlgeſchulte Liebhaber, der ſeine Schätze
nicht wahllos hier aufgeſtapelt. In der Mitte des
ſchönen, großen Raumes ſtand ein großer, koſtbarer
Schreibtiſch von Boule, bedeckt mit Papieren, Akten-
faſzikeln, Büchern, und auf der ledernen Mappe mit
dem davorgeſchobenen Lehnſeſſel, einem Prachtſtück des
46 Das Roſazimmer. | ao
Cinquecento, lagen wohlgeordnet die eingelaufenen
Briefe und Telegramme.
Windmüller bat feinen Gaſt, vor einem leeren ein-
gelegten Tiſch in der einen Fenſterniſche Platz zu neh-
men, und ſetzte ſich dann ſelbſt vor ſeinen Schreibtiſch,
um die Depeſchen zu durchfliegen, die er nebſt dem
einen markenloſen Briefe mit einem Stück orientaliſchen
Jaſpis beſchwert neben ſich hinlegte, und Don Gian,
der ihm mit unverhohlen brennendem Intereſſe zuſah,
machte die Beobachtung, daß ſein Wirt während dieſer
mit Methode betriebenen Beſchäftigung febr nachdent-
lich ausſah, als ob ihm ein neues Rätſel in den Weg
getreten wäre.
„Alles zu feiner Zeit, Herr Marcheſe,“ ſagte Wind-
müller, das Geſicht ſeinem Gaſt zuwendend, der erſtaunt
zurückfuhr und fidh fragte, ob er feine Beobachtung un-
bewußt in Worte gekleidet. „Es ſcheint in der Tat, als
ob wir in eine neue Phaſe der Angelegenheit getreten
wären. Ehe wir jedoch auf dieſe eingehen, müſſen
wir ſuchen, das chiffrierte Billett zu enträtſeln. Wenn
der Schlüſſel paßt, auf den ich unterwegs geraten
bin, dann werden wir bald klüger ſein. Ich habe ſo
viel mit Geheimſchriften zu tun, die ein ganzes
Studium für mich gebildet haben und immer noch
bilden, daß mir ſo leicht keine unzugänglich iſt. Alſo,
ans Werk!“
Don Gian ſah mit fieberhafter Spannung zu, wie
Windmüller einen leeren Papierbogen in Quadrate mit
dem Bleiſtift einteilte, diefe Quadrate von 1 bis 24
numerierte und dann, den linken Zeigefinger gewiljer-
maßen als Weiſer auf dem chiffrierten Blatte führend,
in die Quadrate zu ſchreiben begann.
Er war damit noch eifrig beſchäftigt, als Pfifferling
mit dem Frühſtück erſchien, das Brett auf einen Wink
2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 47
ſeines Brotherrn auf den Tiſch vor den Gaſt ſtellte
und dann ſchleunigſt wieder verſchwand.
Mechaniſch goß Don Gian ſich eine Taſſe Tee ein
und trank ſie raſch aus, aber ſeine Nerven waren in
einem Zuſtande der Erwartung, daß er vorläufig noch
keinen Biffen hinuntergebracht hätte.
Da ſah Windmüller auf. „Die Sache war einfacher,
als ich gedacht,“ ſagte er. „Das Datum iſt's, das den
Schlüſſel enthält, wie ich es angenommen; es war der
„Vogel, der die Geſchichte verraten hat‘. Einen Augen-
blick wollten mich die eingeklammerten, einfach und
doppelt unterſtrichenen Worte aus dem Sattel heben,
aber auch ſie fügten ſich dann wie von ſelbſt dem Ganzen
ein. Doch ich will Sie nicht länger auf die Folter
ſpannen. Der dechiffrierte Inhalt des Villetts lautet:
„‚Feſtland“ — das ift die deutſche Überſetzung Ihres
Namens Terraferma — ‚Feitland wird morgen abend
vorausſichtlich Venedig eintreffen. Weiterreiſe Trieſt
Frühſchiff wahrſcheinlich. Reifen Sie heut mit Nacht-
zug Venedig. Wenn Objekt erlangt, nächſten Zug Rom.
Sofort Meldung.“ — Nun, Herr Marcheſe, dieſes toft-
bare Blättchen beſtätigt zwar Ihren Verdacht über
die Beſchäftigung und Einnahmequellen Ihrer Frau
Schwägerin, aber es iſt auch Ihre eigene, vollſtändige
Rechtfertigung, zu der ich Sie von Herzen beglüd-
wünſche —“
„Und die Beſtätigung, daß dieſes inhaltſchwere
Dokument in den Händen derer iſt, die es gegen mein
Vaterland bis zum äußerſten ausnützen werden!“ rief
Don Gian aufſpringend.
„In dieſer Beziehung iſt das letzte Wort noch nicht
geſprochen,“ erwiderte Windmüller mit Nachdruck. „Auf
alle Fälle ſtehen Sie rein da; Sie ſind das Opfer eines
Verrates und einer Intrigantin geworden, die ihre
48 "Das Rofazimmer. a]
Netze mit einer Berechnung gelegt hat, die fait alles
Dageweſene überſteigt. Doch davon ſpäter. Hier dieſe
Depefhen meiner Agenten melden mir, daß Donna
Kenia auf keiner der Etappen, die fie auf ihrer vermut-
lichen Weiterreiſe berühren mußte, eingetroffen iſt.
Eine Verkleidung, die ja eigentlich anzunehmen war,
ſcheint nach den Berichten zwar ausgeſchloſſen, aber es
iſt immerhin möglich, daß ſie unter einer ſolchen doch
noch durchgeſchlüpft iſt. Nun aber ſehen wir aus dieſem
chiffrierten Billett, daß Donna Kenia den Befehl hatte,
mit dem erlangten Objekt nach Rom zurückzukehren und
ſich damit ſofort bei ihren Auftraggebern zu melden. Daß
fie in ihrer Wohnung jedoch nicht eingetroffen ift, da-
von haben wir uns vorhin überzeugt, und dieſer Zettel,
den mein Agent vor unſerer Ankunft in meinem Hauſe
hier abgegeben hat, meldet mir, „daß das Ausbleiben
der Marcheſa Terraferma an zuſtändiger Stelle‘ — um
keine Namen zu nennen — „Unruhe und Beſtürzung
verurſacht hat“. Mithin ift ‚man‘ auch dort ohne Nach-
richt über fie, hat — was für Ihre Regierung das
Weſentliche iſt — das bewußte Dokument nicht oder
wenigſtens noch nicht in Händen.“
Windmüller hielt ein und ſah ſeinen Gaſt an, der
näher getreten war und ſich über den Schreibtiſch a
überlehnte.
„Sie hatte Befehl, nach Rom mit dem Hokument
zurückzukehren, und hat es nicht getan!“ rief Gian aus.
„da, um alles in der Welt — wo aS fie dann þin-
gekommen?“
„Das zu ergründen, wird meine Arbeit ſein,“ er-
widerte Windmüller ſinnend. „Es gibt — ſoweit ich
es im Augenblick überſehen kann — drei Möglichkeiten:
fie ift beſeitigt worden von Leuten, die auch ein Inter-
effe an dem Dokument haben, oder fie hat dieſer an-
(s) Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 49
deren Seite das Dokument freiwillig ausgeliefert und
findet nun für gut, ſich ihren Auftraggebern zu ent-
ziehen, bis es wieder ſicher iſt —“
„Meine Schwägerin hat ihren kleinen Koffer, der
nur das Nötigſte für die Nacht und eine einzige Abend-
toilette enthält, in Venedig zurückgelaſſen,“ unterbrach
ihn Don Gian kopfſchüttelnd. „Eine Perſon von ihren
Anſprüchen geht nicht mit ſozuſagen nichts auf eine
Reife von unbeſtimmter Dauer.“
„Mit Geld in der Hand kann man alles kaufen, was
man braucht oder zu brauchen glaubt,“ entgegnete Wind-
müller ruhig. „Es war ſehr geſchickt, den Trick, wenn
ſie einen beabſichtigt hat, ohne Reiſegepäck auszuführen.
Das macht den Verdacht einer Beſeitigung wahrſchein-
licher, und der Befehl für Ceſarine, das Maskenkoſtüm
für den Baſar zu geſtern abend bereitzulegen, unterſtützt
ihn, unterſtreicht ihn gewiſſermaßen. Anderſeits blieb
ihr nichts anderes übrig, als Ihr Haus in Venedig
unbeſchwert von jedem Reiſegepäck zu verlaſſen, wenn
ſie es unbeobachtet tun wollte, tun mußte, um heil
und ungefragt herauszukommen. — Und dann iſt noch
die dritte, aber unwahrſcheinlichſte Möglichkeit, daß
Donna Kenia ſich dadurch, daß ſie alle Ausgänge des
Hauſes verſchloſſen fand, genötigt fah, fih in demſelben
zu verbergen, bis die Gelegenheit ſich bot, unbemerkt
hinauszuſchlüpfen.“
„Das iſt ſo ungefähr, was mein Portier behauptete,“
ſagte Don Gian kopfſchüttelnd. „Ich glaube zwar nicht
daran, habe aber für alle Fälle einen Geheimpoliziſten
in mein Haus genommen, der die Ausgänge nicht nur
zu bewachen, ſondern auch zu verhindern hat, daß
Donna Xenia den Palaſt verläßt. Ob das erlaubt ift
oder nicht, darum konnte ich mich nicht kümmern. Meine
Großmutter verſprach mir, auf alle Fälle =. zu
1914. v.
50 Das Rofazimmer. o
geben, und diefe liegt wohl jetzt ſchon in meiner Woh-
nung. Ich zweifle nicht, daß fie eine negative ift, denn
meine Schwägerin dürfte ſich vorher verſichert haben,
wie und auf welchem Wege fie das Haus verlaſſen
konnte. Sie hat es ſicher nicht darauf ankommen laſſen,
ob ſie die Schlüſſel in den Schlöſſern der Ausgänge
finden würde oder nicht, ſondern ſich vorgeſehen. Das
Sonderbare dabei ift — und es gibt Ihrer dritten Mög-
lichkeit das meiſte Recht — daß mein Portier darauf
ſchwört, alle Ausgänge ſeien früh innen verriegelt ge-
weſen.“
„Was für einen Ihnen unbekannten geheimen Aus-
gang ſpräche,“ ſchloß Windmüller aufſtehend. „Und
nun, Herr Marcheſe, effen Sie ſchnell etwas — einen
Biſſen Schinken, ein paar Eier. Ich helfe Ihnen dabei,
und dann wollen wir über Ihre Wohnung, um dort
nachzuſehen, ob und welche Botſchaft Sie von daheim
erwartet, zu Ihrem Chef zurückkehren und ihm Bericht
erſtatten. Und da es ihn freuen wird, Sie frei von
jedem Verdachte zu wiſſen, ſo wollen wir uns beeilen
— abgeſehen davon, daß auch ich ſo raſch wie möglich
in Aktion treten muß, um zu verſuchen, das geraubte
Dokument wiederzuerlangen.“ |
Don Gian fah ein, daß gegen Windmüllers menjden-
freundliche Anordnung nichts zu wollen war, und zwang
ſich, das vorgeſetzte Frühſtück zu ſich zu nehmen.
In der Tat fühlte er ſich danach und nicht zum
mindeſten im Verein mit dem in Windmüllers Bruſt-
taſche ruhenden Beweis feiner Schuldloſigkeit wejent-
lich gekräftigt, als er nach wenigen Minuten wieder
neben dem Detektiv im Automobil fap und zunächſt
ſeiner Wohnung an der Piazza Colonna auf dem
kürzeſten Wege entgegenfuhr.
Windmüller ſprach unterwegs keine zehn Worte;
o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 51
—
er war in tiefes Sinnen verſunken, und Don Gian hatte
auch genug zu denken, um ein Geſpräch zu vermiſſen.
Als das Auto vor dem alten Palaſt, in dem er ſeine
Mietwohnung hatte, hielt, eilte er allein hinauf, um
nach einer etwa eingetroffenen Nachricht zu ſehen.
Er fand ein Telegramm ſeiner Großmutter, in früher
Morgenſtunde aufgegeben, vor, das, wie er es eigent-
lich ja auch erwartet hatte, nur die Worte enthielt:
„Von Kenia nichts gehört und geſehen. Grüße. Nonna.“
Er eilte damit wieder zu dem Wartenden zurück und
fuhr mit ihm zu feinem Chef, der die Gemeldeten fo-
fort vorließ und ihnen mit einem, feine Ungeduld ver-
ratenden „Nun — was gibt's Neues?“ entgegentrat.
„Viel und — nichts,“ erwiderte Windmüller und
erſtattete ohne Verweilen ſeinen Bericht, indem er das
gefundene Billett und deffen Oechiffrierung vorlegte.
„Exzellenz haben damit auch die nicht ganz wertloſe
Kenntnis der angewendeten Geheimſchrift erlangt,“
ſchloß er. „Dieſe muß ja natürlich gewechſelt werden,
wie wir Eingeweihten alle wiſſen — um dem Vorteil
vorzubeugen, den die nicht Zuſtändigen daraus bei
einem etwaigen Verrat ziehen können; indes wird dieſe
Formel wohl jetzt die ‚dort‘ angewendete bleiben, falls
der Verdacht, daß dieſes Billett in unſere Hände ge-
fallen iſt, nicht zur Gewißheit wird. Die Ohren jedoch,
die gehört haben, daß der Marcheſe Terraferma be-
auftragt werden würde, das bewußte Dokument nach
Wien zu bringen, können in dieſem Augenblick auch
hören, daß der Auftrag an die Principeſſa in unſeren
Händen und der Schlüſſel der Geheimſchrift gefunden iſt.“
„Ich hoffe und glaube das nicht,“ erwiderte der
Minifter grimmig. „Ich habe vor kaum einer halben
Stunde den Bericht des Chefs unſerer Geheimpolizei
erhalten, daß ſich an dem verhängnisvollen Tage, an
52 Das Rofazimmer. D
welchem die Reife Terrafermas beſchloſſen wurde, unter
den Arbeitern, die hier im Miniſterium eine neue elektri-
ſche Anlage zu machen hatten, ein Mann befand, der ſich
nach Angabe der Dienerſchaft mehrmals in dem großen
Haufe ‚verirrt‘ haben wollte. So gab er wenigſtens
an, als er zu wiederholten Malen in dieſem Teil des
Palaſtes betroffen wurde. Der Mann, der Baſilio
Mamerti zu heißen vorgab, war den anderen Arbeitern
unbekannt und nach ihnen erſchienen mit der Angabe,
daß der Padrone des Geſchäfts ihn nachgeſandt habe,
um gewiſſe Teile der Anlage nachzuprüfen. Dieſe an
ſich recht unglaubwürdige Angabe wurde indes an-
ſtandslos hingenommen, und ich zweifle nicht, daß dieſer
Mann es war, der — wahrſcheinlich mit Hilfe eines
beſtochenen Individuums — in dem Haufe einen be-
quemen Lauſcherpoſten fand.“
„Daran zweifle ich auch nicht,“ meinte Windmüller
trocken. „Hoffen wir alfo, daß dieſer Poſten im Augen-
blick unbeſetzt iſt, denn wenn auch die Geheimpolizei
nach dem ſchönen Grundſatz: „Eile mit Weile“ dieſen
rätſelhaften Baſilio Mamerti jedenfalls nicht im Geiſte
dingfeſt gemacht haben dürfte, wobei es ja auch bleiben
wird, fo hat doch der Mann inzwiſchen längſt Zeit ge-
habt, zu verduften. Allein er liegt außer dem Bereiche
meiner Aufgabe, die jetzt wohl einzig und allein darin
beſteht, die Marcheſa Terraferma zu ſuchen. Daß ſie von
— von der Seite, in deren Auftrage ſie ihre Fahrt nach
Venedig unternahm, vermißt wird, wiſſen wir —“
„So ſagten Sie,“ unterbrach ihn der Miniſter. „Darf
ich fragen, wie Sie zu dieſer Information gekommen
ſind?“
„Gewiß dürfen Exzellenz fragen,“ erwiderte Wind-
müller liebenswürdig, „aber eigentlich dürfte ich darauf
nicht antworten. Indes erkenne ich das Recht an, mit
2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 53
dem Exzellenz eine Garantie für die Zuverläſſigkeit
dieſer Angabe verlangen können. Nun, ich habe an
eben jener Stelle, welche die Marcheſa Terraferma als
politiſche Agentin beſchäftigt, eine kleine Aufgabe zu
löſen — oh, keine politiſche, nichts, was unſere Sache
ſtört, nur ein ganz gewöhnlicher Fall von — hm —
Kleptomanie. Da ich es für Kraftvergeudung halte,
mir meine Zeit damit zu vertrödeln, ſo habe ich einen
meiner Agenten in der hübſchen und netten Rolle eines
Kronleuchterreinigers, der gerade dort gebraucht wurde,
eingeſchmuggelt. Er iſt ein intelligenter und geſchickter
Mann, mein Agent, der ſeine Ohren und Augen zu
gebrauchen weiß — ein hübſcher Menſch außerdem, der
dieſen Vorzug bei Stubenmädchen und Kammerzofen
zur Geltung zu bringen verſteht. Die Hauptſache aber
ift: er ift ſehr zuverläſſig in feinen Angaben, und —
er wird noch ein paar Tage mit dem Reinigen der vielen
Kronleuchter in dem Botſchaftspalaſte zu tun haben,
ſo daß die Nachrichten über die Marcheſa Donna Kenia
uns ganz warm erreichen werden — Sie wenigſtens,
Exzellenz, denn ich werde mich unverzüglich auf die
Suche nach ihr begeben und als Ausgangspunkt Venedig
wählen, wo ich mir eine kurze Gaſtfreundſchaft von dem
Herrn Marcheſe erbitte.“
Don Gian wollte ſofort bejahend antworten, aber
der Miniſter fiel ihm ins Wort.
„Sie ſollen den Herrn Doktor begleiten, Terraferma,“
rief er freundlich. „Einmal dürfte Ihre Anweſenheit
dort an ſich von Nutzen ſein, und dann ſollen Sie ſich
daheim bei den Ihrigen von dem Nervenchok erholen,
der, wie ich nur zu gut ſehe, ſelbſt Ihre geſunde Natur
ſtark ins Wanken gebracht hat. Ja, ja, Sie haben Ur-
laub — ich will mir meinen Sekretär erhalten und
ihn nicht gleich in das Joch der Arbeit ſpannen — Sie
54 Das Rofazimmer. o
würden ja doch jetzt nichts leiſten können. — Nein,
faſſen Sie es nicht falſch auf: Sie haben mein volles
Vertrauen und hatten es ſelbſt im Augenblick des erſten
Schreckens, und niemand freut ſich mehr als ich, daß
Ihre Schuldloſigkeit, für die ich gleich und ohne Zögern
eingetreten bin, ſo glänzend bewieſen worden iſt. Doktor
Windmüller iſt mein Zeuge, daß ich an Ihnen nicht
gezweifelt habe, und wenn er erſt ſehen und prüfen
wollte und mußte, ſo war dies nicht mehr, als auch
ich zu tun verpflichtet war. — Es iſt Ihnen doch recht,
Herr Doktor, daß der Marcheſe Sie begleitet?“
„Exzellenz ſind mir damit zuvorgekommen — ich
hatte darum bitten wollen,“ erwiderte Windmüller ver-
bindlich. „Und nun laſſen Sie uns keine Zeit verlieren
— wir können den Mittagszug noch erreichen.“
„Sie haben jedenfalls aber noch Zeit, um mir
einen Wink über den Schlüſſel der Chiffre dieſes wich-
tigen Billetts geben zu können,“ bemerkte der Miniſter,
auf das im Kleide der Marcheſa gefundene Schriftſtück
deutend, das auf ſeinem Schreibtiſche lag.
„Gern,“ entgegnete Windmüller mit einem Blick
auf die Uhr. „Die Sache iſt eigentlich von größter
Einfachheit — wenn man fie erſt weg hat. Das Datum
war's, das mir auf die Spur half — das Datum vom
27. Februar auf einem friſchen Papier mit ebenſo
friſcher Tinte geſchrieben — und dieſer Zettel in einem
Kleide, das erſt vor ein paar Tagen vom Schneider
aus Paris gekommen iſt. Ferner die von der Zofe
beobachtete Einteilung eines anderen Papiers in Qua-
drate, das Numerieren derſelben. Gut. Ich numerierte
auch — von 1 bis 25, fo viel Ziffern, als das Alphabet
Buchſtaben hat. Und dann verſuchte ich, die Worte
der chiffrierten Botſchaft in der Reihe, in der fie ſtanden,
in die Quadrate einzutragen. Doch das klappte nicht,
u Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 55
und ich ſah, daß die eingeklammerten, einfach und
doppelt unterſtrichenen Worte ihren beſonderen Sinn
haben mußten. Nochmals das Datum durchprüfend,
kam mir die Erleuchtung: es enthält mehrere Buchſtaben
doppelt, einen, das r, dreifach, zwei Buchſtaben fogar
vierfach, denn die Ziffern in 27 und 1912 ſind natürlich
gleichbedeutend mit den entſprechenden Lettern der
Alphabetreihe. Die Klammern und Unterſtreichungen
konnten alſo nur die erſte, zweite, dritte und vierte
Wiederholung desſelben Buchſtabens bedeuten, und ſo
trug ich denn den Wortlaut des Billetts nach dem
Schlüſſel des Datums oder Buchſtabenzeigers in die
entſprechend bezifferten Quadrate ein, das zweite a,
b, u, r einklammernd, das dritte einfach, das vierte
zweimal unterſtreichend, las dann, abermals der Buch-
ſtabenfolge des Datums nachgehend, den Text im Zu-
ſammenhange ab und ſchrieb ihn ſo unter die Chiffre,
wie er vor Ihnen liegt.“
„Höchſt geiſtvoll!“ rief der Miniſter, welcher der
Erklärung mit dem Stift in der Hand gefolgt war und
das gleiche Reſultat wie die ihm vorliegende Ent-
zifferung erzielt hatte. „Und zu dieſer Löſung, die
unſere Experten vielleicht eine Woche und dann noch
ohne Reſultat beſchäftigt hätte, haben Sie eine halbe
Stunde gebraucht! Es iſt wunderbar!“
„Exzellenz — Sie ſchmeicheln mir,“ rief Windmüller
abwehrend, aber doch nicht ohne ein befriedigtes
Schmunzeln. „Zwiſchen mir und Ihren Sachver-
ſtändigen iſt eben der Unterſchied, daß hinter ihnen
nicht die Notwendigkeit der Eile ſteht, die bei mir die
Rolle des Wetzſteines für die Klinge meiner Gehirn-
tätigkeit ſpielt. In einem Falle wie dieſem, wo jede
Stunde von dringendfter Wichtigkeit für ſchnelles Han-
deln iſt, darf man die Löſung eines im Wege ſtehenden
56 Das Rofazimmer. Ea 1
Rätſels nicht einer weitſchichtigen Analyſe unterziehen,
ſondern muß ſich aufs Raten verlegen. Es gibt ſehr
kluge und ſehr gelehrte Leute, die im Leben nicht im-
ſtande ſind, die einfachſte Scharade zu raten, und
wiederum notoriſch Beſchränkte, die ſofort auf das
richtige Wort kommen. Zwiſchen dieſen beiden Sorten
ſtehe ich; ich lebe von meiner Fähigkeit, raſch zu denken,
und ſchließlich ift ja alles im Leben nur Übungs- und
Gewohnheitsſache. — Nun aber wollen wir uns emp-
fehlen, Exzellenz, denn ich muß noch heim, um meine
Befehle zu geben für die Zeit meiner Abweſenheit.“
* *
*
Das wartende Automobil entführte Windmüller
allein nach ſeinem Hauſe, während Don Gian den kurzen
Weg nach ſeiner Wohnung zu Fuß zurücklegte, dort
noch einige Sachen packte, auf den Bahnhof fuhr und
dort, nachdem er fein Gepäck aufgegeben und die Fabr-
karten für ſich und Windmüller beſorgt hatte, auf den
letzteren, wie verabredet, am Eingang bei dem Zeitungs-
verkauf wartete.
Die Zeit drängte nicht gerade, aber ſie ſchritt doch
merklich vor, und Don Gian fing an beſorgt zu wer-
den, ob ſein Begleiter auch noch rechtzeitig eintreffen
würde. Um das Warten abzukürzen, kaufte er die
neueſten Zeitungen, und als er ſich damit umwendete,
ſtand er dem ruſſiſchen Kammerdiener ſeiner Schwä-
gerin gegenüber, der eben in die Eingangshalle getreten
war und beim plötzlichen Anblick des jungen Diplomaten
zwar ſofort den Hut zog, aber den Ausdruck ſeiner
Überraſchung über diefe unerwartete Begegnung nicht
verbergen konnte.
„Der Herr Marcheſe wollen die Frau Marcheſa auch
empfangen?“ fragte er zwar reſpektvoll, aber doch ſo
Z er — —— — 1
1 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 57
dringlich, daß Don Gian den Mann etwas hochmütig
muſterte, ehe er, ganz auf der Hut, nach einer kleinen
Pauſe antwortete: „Erwarten denn Sie die Frau
Marcheſa jetzt?“
Der Kammerdiener räuſperte ſich. „Durchlaucht
haben zwar nicht befohlen, aber ich denke doch, fie wer-
den mit dem Expreßzug jetzt eintreffen, und daher
wollte ich nicht ermangeln, auf alle Fälle zur Stelle
zu ſein.“
„Sehr richtig,“ murmelte Don Gian ſcheinbar un-
intereſſiert, indem er ſich mit einem Kopfnicken ab-
wandte und Windmüller langſam folgte, der, während
Zwan ſprach, hinter ihm in die Halle getreten war
und ſeinem Reiſegefährten ein Zeichen gemacht hatte,
das dieſer nicht mißverſtand.
Der vorausgehende Detektiv hatte ſich inzwiſchen
{hon mit dem Mann an der Bahnſteigſperre verſtändigt
und war, als Don Gian dieſem die beiden Fahrkarten
vorwies, ſamt ſeiner Reiſetaſche, die er ſelbſt trug,
ſchon weit vorausgeeilt und in ein leeres Abteil erſter
Klaſſe geſtiegen.
„Tun Sie, als ob Sie nicht zu mir gehörten,“ ſagte
er haſtig, als Don Gian ſich gleichfalls anſchickte, ein-
zuſteigen. „Gehen Sie in ein anderes Abteil und
kommen Sie erft während der Fahrt hier herein. Iwan
dürfte ſeine Bahnſteigkarte ſchon haben, aber ich glaube
nicht, daß er mich geſehen hat.“
» Oon Gian tat, als ob er fih eines anderen beſonnen
hätte, und ſchlenderte zum nächſten Wagen, aber ein
raſcher Blick nach dem Eingang hatte ihn davon über-
zeugt, daß Jwan in der Tat den Bahnſteig ſchon ber.
treten hatte. Die Abſicht war klar, denn da der Eilzug
Venedig — Mailand auf einem anderen Gleis einlief,
ſo war es nicht ſchwer zu erraten, daß er zu wiſſen
58 Das Rofazimmer. 2
wünſchte, ob der Schwager ſeiner Herrin mit dieſem
Zuge abreiſen oder jemand Abreiſenden ſehen wolle.
Da es nun unvermeidlich ſchien, dem Manne dieſe
Gewißheit zu verſchaffen, ſo blieb Don Gian nichts
übrig, als in den Zug zu ſteigen, aber er lehnte ſich,
ſcheinbar das Publikum betrachtend, aus dem Fenſter,
um fidh zu vergewiſſern, ob Zwan ſonſt noch die Reifen-
den zu beobachten die Abſicht hatte. Natürlich wußte
er, daß Windmüller nur auf den Gang auf der dem
Bahnſteig abgekehrten Seite des Wagens zu treten
brauchte, um ſich dem Blick des Kammerdieners zu
entziehen, aber es war doch immer gut, zu wiſſen, ob
er von dem letzteren doch vorher geſehen worden war.
Es ſchien ja nichts darauf zu deuten, indes wollte das
noch nichts ſagen.
„Ich glaube nicht, daß er mich geſehen, wenigſtens
nicht, daß er mich beachtet hat,“ war Windmüllers
erſtes Wort, als Don Gian, nachdem der Zug den
Bahnhof verlaſſen, herüber in ſein Abteil gekommen
war. „Ich fab ihn dermaßen in Ihren Anblick verſenkt,
daß ich, wie ich denke, unbeachtet an ihm vorbeihaſten
konnte. Was wollte denn der Menſch von Ihnen?“
„Iwan war fo überraſcht, mich auf dem Bahnhof
zu finden, daß er ſich ſo weit vergaß, mich zu fragen,
ob ich die Frau Marcheſa auch zu empfangen käme.
Demnach iſt ſie nicht nur nicht inzwiſchen eingetroffen,
ſondern man weiß im Hauptquartier auch noch nicht,
wo ſie iſt. Noch nicht!“
„Ich möchte danach prophezeien, daß ‚man‘ dar-
über auch noch einige Zeit in Ungewißheit bleiben
wird,“ meinte Windmüller nachdenklich. „Die Sache
fängt nun nachgerade an, ein ernſtes Geſicht anzu—
nehmen. Die Möglichkeit, daß Ihrer Schwägerin etwas
zugeſtoßen iſt, tritt vor der Annahme, ſie könnte mit
2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 59
dem Dokument eigene Zwecke verfolgt haben, ſtärker
in den Vordergrund. Fn beiden Fällen aber ſcheint
es faſt ſicher, daß jemand anderes dem Dokument nach-
geſtellt hat, um es wahrſcheinlich für ſeinen eigenen
Nutzen zu verwerten, entweder alſo es den Abſendern
zum Rückkauf oder den Intereſſenten für einen Phan-
taſiepreis anzubieten. Natürlich iſt damit noch nicht
gejagt, daß eine Mitwirkung von Donna Xenia aus-
geſchloſſen iſt, obwohl ich perſönlich dieſe Annahme
ausſchalten möchte. Ich kenne die Dame nicht, kann
alſo für ihre Integrität nicht eintreten, aber wenn ſie
ſo klug iſt, wie ſie ſein muß, um von jener Seite politiſch
beſchäftigt zu werden, fo wird fie wiſſen, daß die Ge-
fährlichkeit eines ſolchen Spieles mit dem Einſatz in
keinem Verhältnis ſteht.“
Don Gian zuckte die Achſeln. „Meine Schwägerin
poſiert als ‚kapriziöſe Frau“, aber fie ift dreimal fo klug,
als ſie launiſch und unberechenbar iſt. Sie wird ſicher
ihren Hals nicht in eine Schlinge legen, die ſich zu-
ziehen könnte. Ich habe keine anderen Sympathien
für ſie, als daß ſie meines Bruders Witwe iſt, aber
aus dieſem letzteren Grunde und rein menſchlich ge-
ſprochen, hoffe ich von Herzen, daß ihr nichts — zu-
geſtoßen iſt, wie Sie eben ſagten.“
„Es deutet alles darauf hin, Herr Marcheſe,“ er-
widerte Windmüller ernſt. „Damit brauchen wir frei-
lich noch nicht gleich das Schliminſte anzunehmen.“
„Aber man läßt die Leute doch heutzutage in einem
Kulturſtaate nicht mehr einfach en “ fiel Don
Gian ein.
„Hm — meinen Sie?“ fragte Windmüller trocken.
„Wir müſſen jedenfalls auch mit dieſer Möglichkeit rech-
nen, und wenn ſie Wirklichkeit iſt, ſo werden wir ſehr
bald darüber hören. Wie die Sachen ſich bis zur Stunde
60 Das Rofazimmer. o
entwickelt haben, dürfen Sie aber nicht unbedingt dar-
auf rechnen, daß ich das Rätſel werde löſen können.
Einer kürzlich veröffentlichten Statiſtik zufolge ver-
ſchwinden jährlich ungefähr zweitauſend Perſonen ſo
ſpurlos, als ob die Erde ſie verſchlungen hätte. Freilich
beſteht der größte Prozentſatz dieſer Vermißten aus
Vergnügungsreiſenden. Ich gebe jedenfalls keine
Schlacht für verloren, ehe ich mich nicht geſchlagen
fühle, und das tue ich im Falle der Donna Kenia durch-
aus noch nicht. Ich bezweifle zunächſt, daß die Marcheſa
mit dem Zuge, der den unſeren eben gekreuzt hat, in
Rom eintrifft; wir werden es in Florenz, wohin ich
mir eine Depeſche beſtellt habe, erfahren. Aber ich
zweifle nicht, daß man, dank dem Herrn Zwan, in
ſeinem Hauptquartier jetzt ſchon weiß, daß Sie mit
dieſem Zuge abgereiſt ſind; daß ich mit Ihnen in der
Wohnung der Marcheſa war, weiß man feit Stunden
ſchon, denn Ceſarine, diefe Perle, wird mit ihrer Per-
ſonalbeſchreibung vor dem Kammerdiener ebenſo be-
redt geweſen ſein, wie ich ſelbſt ſie gefunden, beſonders
wenn — was ich annehme — der Herr Jwan diefe Be-
redſamkeit gut bezahlt hat.“
Wie Windmüller es vorausgeſehen, enthielt das ihn
in Florenz erwartende Telegramm die Nachricht, daß
Donna Kenia in Rom wiederum nicht eingetroffen war,
und damit begann Don Gian eigentlich zum erſten Male
eine gewiſſe Beunruhigung in bezug auf ſeine Schwä-
gerin zu empfinden.
„Es muß ihr in der Tat etwas zugeſtoßen ſein,“
bemerkte er unbehaglich.
„Ich fürchte es auch,“ gab Wind müller lakoniſch zu.
In Bologna ſtieg er aus, um beim Bahnhofvor-
ſteher ein zweites und drittes Telegramm, die dort
auf ihn warteten, in Empfang zu nehmen. Er gab beide
u Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 61
Don Gian zu lefen. Das erſte war von dem Minifter
und teilte mit, daß keinerlei Anzeichen gemeldet worden
wären, die darauf ſchließen ließen, daß das bewußte
Dokument in den Händen oder zur Kenntnis der türti-
ſchen Regierung gelangt ſei.
„Gott ſei Lob und Dank dafür!“ kam es Don Gian
dabei aus vollſter Seele. „Und doch kann die nächſte
Stunde ſchon das Gefürchtete bringen. Und ich bin
die mittelbare Urſache dazu!“
„Wie der Blitzableiter, den man vergeſſen hat zu
vergolden, und trotz welchem es nun in der Kirche ein-
ſchlägt,“ bemerkte Windmüller und ſetzte ſcharf hinzu:
„Verrennen Sie ſich nicht in dieſe Vorſtellung, Herr
Marcheſe! Sie find an der ganzen Sache fo ſchuldlos
wie ein neugeborenes Kind, und ſolange Ihr Gewiſſen
Sie von der kleinſten Nachläſſigkeit freiſpricht, dürfen
und ſollen Sie eine ſolche Laſt nicht auf ſich laden!“
Don Gian ſeufzte und las das zweite Telegramm,
das Windmüller ihm reichte. Es kam von ſeinem Agenten
und berichtete, daß in Rom die Unruhe und Beſorgnis
über das Ausbleiben Donna Kenias im Zunehmen
begriffen ſei, um ſo mehr, als die Rückkehr des Marcheſe
Terraferma und ſeine neue Abreiſe, namentlich aber
ſein Beſuch in früher Morgenſtunde in der Wohnung
ſeiner Schwägerin als ein Beweis, daß auch er nichts
über den Verbleib der Dame wüßte, geradezu Be-
ſtürzung hervorgerufen habe.
Beide Herren ſchwiegen und lehnten ſich in ſchweren
Gedanken in ihre Ecken zurück. Gian wurden die Augen
ſchwer; ſie brannten ihm vor Übermüdung, aber die
Gedanken hielten ihn wach, alle Nerven in ihm bebten
— freilich war ja der Verdacht von ihm genommen,
ein Landesverräter zu ſein, aber noch ſchwebte das
Damoklesſchwert unberechenbarer Folgen über feinem
62 Das Rofazimmer. a]
Vaterlande, falls das Dokument nicht wiedergefunden
wurde, und ein Mitglied ſeiner Familie war es, das
den Verrat ausgeübt, ſich für ihn hatte — bezahlen
laſſen! Darüber kam er nicht weg: ſeines eigenen
geliebten und betrauerten Bruders Witwe eine bezahlte
Spionin gegen das Land, dem ſie geſetzlich angehörte!
Die alte Marcheſa hatte ſchon recht: dieſe ausländiſchen
Heiraten brachten keinen Segen! Und das früher be-
ſtandene Verbot, nach dem ein Diplomat keine Aus-
länderin heiraten durfte, war ein ſehr richtiges. Natür-
lich, da der verſtorbene Marcheſe Terraferma nicht in
der diplomatiſchen Laufbahn ſich befunden, war dieſe
Betrachtung auch nicht zur Sache gehörig; Don Gian
aber hatte damit einen Rückblick verbunden, indem er
vor Jahr und Tag ſelbſt drauf und dran geweſen war,
eine ſehr hübſche und ſteinreiche Amerikanerin aus
gutem Hauſe zu heiraten. Sie hatte unverhohlen mit
ihm geflirtet und ihm dadurch ebenſo unverhohlen ge-
ſchmeichelt, doch als er ſo weit mit ſich im reinen war,
das entſcheidende Wort zu ſprechen, teilte fie ihm freund-
licherweiſe ſelbſt mit, daß ſie ſich mit einem engliſchen
Herzog verlobt habe.
Dieſes Erlebnis hatte Don Gian — wie der Menſch
nun einmal ift — im Zuſammentreffen mit der ihm
jo unſympathiſchen Schwägerin gegen das Ausländer-
tum im allgemeinen und gegen feine weiblichen Ver-
treterinnen im beſonderen ungünſtig beeinflußt. Nicht,
daß ſein Herz ſonderlich beteiligt geweſen wäre. Er
hatte die hübſche, muntere Amerikanerin eben durch-
aus ſchick gefunden und feſt geglaubt, auch ohne jenes
tiefere Gefühl, das man die Liebe nennt, die Reife
durchs Leben machen zu können und auf dem Fuße
einer ausgezeichneten Kameradſchaft mit ihr das be-
rühmte „große Los“ zu ziehen — — das war alles
o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. | 63
auf dem Hintergrunde ihres Reichtums, der ihm für
feine Laufbahn recht wünſchenswert erſchien. Was alfo
bei dieſer Angelegenheit ihn traf, war die Verletzung
ſeiner Eitelkeit und Eigenliebe, denn auch der beſte
Menſch iſt nicht frei davon.
Don Gians Gedanken gingen immer weiter ſpazieren,
und endlich ſchloß er die ſchmerzenden, brennenden
Augen und zwang ſein Sinnen auf lauter nichtige,
unweſentliche Dinge und Perſonen. Aber ſobald er
ſich eine ſolche recht deutlich vorgeſtellt, verwandelte
ſie ſich in die kleine, elfenhafte Geſtalt ſeiner Schwägerin
mit ihren gleitenden Bewegungen, die ihn immer an
die einer Schlange erinnerten; er ſah ihr kleines, feines,
blaſſes Geſichtchen mit den übergroßen Augen vor ſich
— ſie ſchienen ihn flehend anzublicken, der ſüße Mund
öffnete ſich, um zu ſprechen — und mit einem Schrei
fuhr er in die Höhe. Er war eingeſchlafen und hatte
geträumt.
Es war lange nach Mitternacht, als der Zug in
Venedig anlangte. Da Don Gian feine und Wind-
müllers Ankunft telegraphiſch gemeldet, ſo erwartete
ſie die Gondel der alten Marcheſa, und die beiden
Ruderer brachten das lange, ſchlanke Fahrzeug durch
die jetzt ganz ſtillen und verlaſſenen Kanäle raſch vor
den Palazzo Terraferma dalla Luna, in deſſen Portal
Agoſtino, der Portier, der Kammerdiener ſowie ein
Lakai wartend ſtanden, um das Gepäck in Empfang
zu nehmen und die Herren in ihre Zimmer zu führen.
„Ihre Exzellenz die Frau Marcheſa und Donna
Loredana find auf den Wunſch des Herrn Marcheſe
ſchlafen gegangen und haben nicht gewartet,“ meldete
Sebaſtiano, der Kammerdiener, in dem diskreten Ton
des Dieners eines großen Hauſes. „Ein kalter Imbiß
für die Herren ſteht in ihren Zimmern ſerviert.“
Neues? Die Signora Principeſſa ift nicht wieder-
gekommen?“
„Nein, Herr Marcheſe. Es iſt auch keine Order
gekommen, ob und wohin der Koffer von Altezza zu
ſenden iſt,“ erwiderte Sebaſtiano, indem er zur Treppe
vorausſchritt.
Don Gian ſah Windmüller an, aber dieſer ſchien
in den Anblick der rieſigen Halle verſenkt, in die ſie
direkt aus der Gondel eingetreten waren, eine Halle,
wie ſie nur ein venezianiſcher Palaſt haben kann,
mit Marmorflieſen, einer Decke von vergoldeten und
bemalten Balken, von der ſchmiedeeiſerne Laternen in
rieſigen Dimenſionen herabhingen, und wenn das elek-
triſche Licht fih auch darin als ein Zeichen der Neu-
zeit eingeſchlichen hatte, ſo konnte auch dieſes nur einen
gewiſſen Radius durchdringen, und in all den ent-
fernteren Ecken und Winkeln ſchliefen die Schatten der
Vergangenheit und hüllten fie in tiefes, geheimnis-
volles Dunkel, während in dem Hofe der uralte Brunnen
über der längſt geſchloſſenen Ziſterne von dem darüber
ſtehenden goldenen Monde phantaſtiſch beleuchtet wurde,
um die den Hof umgebenden Säulenhallen in um ſo
tieferer, faſt ſamtſchwarzer Finſternis erſcheinen zu
laſſen.
„Darf ich bitten, Herr Doktor?“ lud Don Gian ſeinen
Gaſt ein, ihm voranzugehen. — „Oh, und ehe ich's
vergeſſe,“ ſetzte er, zu dem Majordomo gewendet, hinzu,
„ich ſah beim Kommen von der Gondel aus oben im
erſten Stock ein Fenſter offenſtehen, ein Fenſter des
Roſazimmers. Es ift wohl vergeſſen worden, beim
Aufräumen zu ſchließen?“
„Nein, Herr Marcheſe,“ erwiderte Sebaſtiano mit
ſichtlicher Verlegenheit. „Die — die fremden Herr-
2 Roman von E. v. Adlersfeld Balleſtrem. 65
ſchaften find heute nachmittag im Piano nobile ein-
gezogen und —“
„Die fremden Herrſchaften?“ wiederholte Don Gian
ſtehen bleibend. „Welche fremden Herrſchaften?“
„Herr Marcheſe haben alfo den Brief Ihrer Erzel-
lenz doch nicht mehr erhalten! Ich ſagte es gleich, als
das Telegramm des Herrn Marcheſe heute mittag ein-
traf —“
„Einen Brief? Nein, ich habe keinen Brief mehr
erhalten. Der liegt jedenfalls ruhig im Briefkaſten
meiner Wohnung — ich habe in der Eile vergeſſen,
nachzuſehen. Alſo, wer iſt angekommen und wohnt im
Piano nobile?“
„Herr Marcheſe halten zu Gnaden, aber den fremden
Namen habe ich noch nicht ausſprechen gelernt,“ er-
widerte der Kammerdiener kopfſchüttelnd. „Die Frau
Gräfin v. Candiani kamen, kaum daß Herr Marcheſe
vorgeſtern abgereiſt waren, mit den Herrſchaften her,
und diefe haben das Piano nobile, das heißt den ein-
gerichteten Teil, gemietet und ſind heute nachmittag
eingezogen!“
„Das Piano nobile alſo vermietet!“ murmelte Don
Gian beſtürzt. Die Vermietung war ja verabredet und
beſchloſſen und doch berührte ihn die Tatſache wie
etwas Wehes, Widerſtrebendes, etwas, das ihm auf
die Nerven ging und ihm das Herz zuſammenzog.
„So, ſo!“ ſagte er laut. „Und meine Tante Candiani
hat die Herrſchaften ſelbſt hergebracht? Afo müſſen
es doch Bekannte von ihr ſein, eh?“
„Gewiß, Herr Marcheſe,“ beſtätigte Sebaſtiano, aber
ohne ſonderliche Begeiſterung. „Die Frau Gräfin reiſen
ſo viel im Auslande und kennen ſo viele, viele Leute.
Sie empfangen immer wieder neue.“ —
Don Gian kannte dieſe Manie ſeiner Tante, aber
1914. V. 5
66 Das Rofazimmer. 2
er wußte auch, daß ſie trotzdem wähleriſch war. Darin
lag eine gewiſſe Garantie. Sie würde ſicherlich nicht
eine beliebige „Rotte Korah“ in ſein Haus gebracht
haben. „Sind es viele Perſonen?“ fragte er, den
unterbrochenen Weg wieder aufnehmend.
„Nur drei. Ein alter Herr, eine alte und eine junge
Dame — Deutſche,“ berichtete Sebaſtiano, ſichtlich über
die geringe Zahl befriedigt. „Und eine Kammerzofe,“
ſetzte er hinzu.
Don Gian war nicht neugierig; da ſeine Großmutter
für gut befunden hatte, dieſen Leuten das Piano nobile
zu vermieten, fo mußten ihre Referenzen auch befriedi-
gende ſein. Der Name war dabei gleichgültig.
„Die Hauptſache iſt, daß Ihnen, Herr Doktor, da-
mit der Weg zu den Zimmern abgeſchnitten iſt, die
meine Schwägerin hier zuletzt bewohnt hat,“ wandte
er ſich in franzöſiſcher Sprache an ſeinen Gaſt.
„Durchaus nicht,“ erwiderte Windmüller gleich-
mütig. „Auf derartige kleine Hinderniſſe muß ich
immer gefaßt ſein. Sie ſind nicht der Rede wert!“
„Va bene!“ murmelte Don Gian, nicht ganz über-
zeugt, denn er konnte ſich nicht gut vorſtellen, wie man
fremden Leuten ohne weiteres und doch ſicherlich ohne
genügende Begründung „auf die Bude“ rücken wollte.
„Die Begründung liegt ganz auf der Hand,“ be-
antwortete Windmüller dieſen Gedanken, als ob Don
Gian ihn ausgeſprochen hätte. „Übrigens, ich vergaß,
Ihnen zu ſagen, daß ich der Architekt bin, den Sie ſich
mitgebracht haben, um in dieſem Haufe einige Ande-
rungen zu begutachten. Was war es doch, das Sie längſt
beabſichtigten hier machen zu laſſen?“
„Einen Perſonenaufzug!“ erwiderte Don Gian
prompt. Er hatte begriffen.
„Richtig. Ich werde alfo wegen des Perfonenauf-
D Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 67
zugs morgen den Palaſt gründlich beſichtigen,“ fagte
Windmüller italieniſch zur Befriedigung Sebaſtianos,
der aber ſtill für ſich den Kopf ſchüttelte. Denn wozu
ein Aufzug, wenn doch das Piano nobile vermietet
wurde? Freilich, der alten Exzellenz wurden die Treppen
ſchon recht ſauer, aber die Ausgabe, das ſchwere, ſchöne
Geld, das ſolch ein Aufzug koſtete! Und Sebaſtiano
ſeufzte ſchwer, denn die Ausgaben und finanziellen
Schwierigkeiten des Hauſes Terraferma gingen dem
treuen alten Diener und Vertrauten aller dieſer Sor-
gen ſehr zu Herzen.
Inzwiſchen waren die Angekommenen oben im
zweiten Stockwerk angelangt, und Don Gian führte
ſeinen Gaſt in die ihm beſtimmten Fremdenzimmer,
die unmittelbar an ſein eigenes Schlafzimmer anſtießen,
wünſchte ihm eine gute Nacht und zog ſich in ſeine
Wohnung zurück. Dort fiel ſein erſter Blick mit einem
Schauder des Entſetzens auf die zurechtgeſtellte Flaſche
mit Fruchtſaft, die ihm die im Nebenzimmer in
tiefem, unnatürlichem Schlafe verbrachte Nacht fo leb-
haft wieder ins Gedächtnis zurückführte, daß es ihm
ſchien, als wollte die Luft in den geſchloſſenen Räumen
ihn erſticken.
Er machte das eine der Fenſter auf, und den Riegel
des Ladens zurückſtoßend, wollte er dieſen eben heftig
zurückſchlagen, um der Nachtluft, der ſchönen, reinen,
ſalzgetränkten Nachtluft Venedigs Eingang zu ver-
ſchaffen, als er ſich erinnerte, daß ja das Zimmer, das
Roſazimmer, unter ihm bewohnt war und er ein Fenſter
drunten offen geſehen hatte. Um alſo den Inhaber
dieſes Zimmers nicht in ſeinem Schlafe zu ſtören, legte
er die Läden leiſe und vorſichtig zurück und lehnte ſich
dann ſelbſt hinaus, um Luft zu ſchöpfen.
Der Mond ſtand hoch am dunkelblauen, ſternen⸗
68 Das Rofazimmer. 2
geſtickten Himmel und ſtreute Tauſende von ſchimmern-
den Goldflittern auf das dunkle, von der Nachtbriſe
leichtgekräuſelte Waſſer der Kanäle, die ſich an der Ecke
des Palaſtes kreuzten. Kein Ton, kein Klang unter-
brach die Stille der weit vorgerückten Nacht, nur das
leiſe, leiſe Plätſchern der ſteigenden Flut, wenn das
Waſſer ſich an den Ecken der Häuſer brach oder gegen
die Marmorſtufen vor den Waſſertoren ſchlug, gab
Zeugnis davon, daß alles Leben nicht erſtorben war,
machte die tiefe, tiefe Stille nicht laſtend. Don Gians
müde, übernächtige Augen folgten dem flimmernden
Spiel des Mondlichtes auf dem Waſſer in dem Sad-
kanal unter ſich, und im ſelben Augenblick zog ſich
ſein Kopf mit einem Ruck zurück. Er hatte unter ſich
einen anderen Kopf geſehen, der aus dem Fenſter
des Roſazimmers herausſchaute.
Einen Kopf, den Ströme von lichtem Haar um-
floſſen, das im Mondſchein wie flüſſiges Platina ausſah.
Leiſe beugte er ſich von neuem hinaus, um dieſes
krauſe, metalliſch ſchimmernde Haar noch einmal zu
ſehen, weil ihm ein ähnliches noch nie im Leben vor-
gekommen war und ihm das Bild der auf der Welt-
kugel thronenden Venezia von Paul Veroneſe im Dogen-
palafte dabei in den Sinn kam, das auch ſolche Haare
hatte. |
In der kleinen Pauſe aber, die zwiſchen feinem erſten
und zweiten Herauslehnen aus dem Fenſter lag, hatte
ſich das Bild unter ihm verändert: zwei weißbekleidete
Arme hatten ſich mit ineinandergeſchlungenen ſchlanken,
weißen Händen über die Fenſterbrüſtung geſtreckt, und
der Kopf mit der Flut metalliſch ſchimmernden Blond-
haares hatte ſich müde darauf geſtützt. Das Haar, auf
das der Mond gerade ſchien, legte ſich wie ein Mantel
halb über die rechte Schulter ſeiner Beſitzerin, ſo daß
o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 69
von oben von ihrem Profil nichts zu ſehen war; aber
Don Gian fürchtete, daß durch einen Blick unter dem
ſchimmernden Schleier zu ihm ſelbſt heraufgeſehen
werden könnte, und lautlos zog er ſich wieder zurück.
„Solches Haar! Ich hätte nie geglaubt, daß es
ſolches Haar geben könnte, das Haar der ‚Venezia‘ des
Veroneſe!“ dachte er lächelnd — zum erſten Male
lächelnd ſeit — ſeit er mit ſeiner Schweſter geſprochen.
Ob's dieſes Lächeln war, ob ein Zauber von dieſem
mondlichtbeleuchteten Haar ausging, das den eiſernen
Bann brach, der ihm Herz und Seele umklammert
hielt, — er wußte es nicht und fragte auch nicht danach.
Ohne den im Nebenzimmer bereitſtehenden Imbiß zu
berühren, kleidete er ſich raſch aus, legte ſich zu Bett,
und der Schlaf völligſter Erſchöpfung rettete ihn in das
traumloſe Land der zur dringenden Notwendigkeit ge-
wordenen Erholung hinüber.
* *
*
Als Gian die Augen wieder aufſchlug mit dem Unter-
bewußtſein, daß irgend eine gegenwärtige Perſon
wegen irgend einer Pflicht ihn geweckt, war es heller
Tag, aber ſpät konnte es noch nicht ſein, denn die
Sonne war noch nicht über das gegenüberliegende Ge-
bäude geſtiegen.
„Eh?“ machte er erſtaunt, als feine noch halb ge-
ſchloſſenen Augen von dem offenen Fenſter an das
Fußende ſeines Bettes glitten, denn dort auf dem
davorſtehenden Stuhl ſaß Doktor Windmüller, die
Hände überm Knie gefaltet, und ſah ihn wohlwollend an.
„Es tut mir ſehr leid, lieber Herr Marcheſe, Ihnen
den ſo notwendigen Schlaf verkürzen zu müſſen,“ ſagte
er mit ſeinem wohlmodulierten Organ, das auch ein
Vorrecht oder eine Errungenſchaft der Bildung iſt. „Da
70 Das Roſazimmer. 2
Sie aber die ſchlechte Gewohnheit haben, bei offenen
Türen zu ſchlafen —“
„Warum hätte ich fie denn zuſchließen follen?“ unter-
brach ihn Don Gian, im Bette aufſitzend. „Ich habe
ja heute nichts bei mir, was mir hätte geſtohlen werden
können! Schlimm genug, daß ich für eine Nacht in
meinem eigenen Hauſe das Gefühl der Notwendigkeit
hatte, mich gegen eine eigene Verwandte verrammeln
zu müſſen — mit welchem Erfolge, wiſſen Sie ja! Ich
hätte ebenſogut, vielleicht ſicherer, auf offener Straße
ſchlafen können.“
„Vermutlich ſicherer im Eiſenbahnwagen,“ gab Wind-
müller unumwunden zu. „Aber die Gewohnheit des
Schlafens bei offenen Türen iſt doch eine ſchlechte, ſelbſt
im eigenen Hauſe. Beſonders in Ihrem Falle. Indes,
das war nur eine Nebenbemerkung, eine pädagogiſche
Abſchweifung. Alſo, ich fand Ihre Tür offen — ſie
war nicht einmal eingeklinkt — und trat ein, um Sie
zu wecken. Es ift noch früh am Tage, wenigſtens für
Leute, die nichts zu tun haben; weil wir aber in Ge-
ſchäften hier find, die uns über die notwendigſte Raft
nicht erlauben hinauszugehen, ſo mußte ich mir die
Freiheit ſchon nehmen. — Der anſtoßende Raum ift
Ihr Wohnzimmer, nicht wahr? Und vor dem großen
runden Tilh ſchliefen Sie Ihren verhängnisvollen
Schlaf, wenn mir recht iſt. Hm. Zeit iſt nicht nur
Geld, lieber Herr Marcheſe, ſondern auch Wiſſen. Wäh-
rend Sie ſich alſo anziehen, werde ich die Topographie
Ihres Wohnzimmers ſtudieren — die des Vorraums
für Ihr Schlafzimmer habe ich ſchon, allerdings nur
oberflächlich, in Augenſchein genommen. — Nein, be-
mũhen Sie den Diener nicht, ich werde die Fenſterläden
ſelbſt öffnen. — Übrigens ſind dieſe Patenttürſperrer,
deren Sie ſich bedienten, noch verbeſſerungsfähig, denn
o Roman von E. v. Ablersfeld-Balleftrem. 71
ſie haben, wie ich wenigſtens an der Tür dort ſebe,
das Holz leicht verkratzt.“
„Ich war wohl beim Abnehmen ein wenig haftig in
der Aufregung — es iſt meine Schuld,“ murmelte Don
Gian, der ſich durch ſeinen Gaſt etwas geniert fühlte,
nachdem er heroiſch einen inneren Proteſt über deſſen
ungeniertes Eindringen in ſein Schlafzimmer unter-
drückt hatte.
„Ah ja, natürlich — Sie mußten ja ſelbſt die Dinger
wieder entfernen, die ſonſt entſchieden einen Einbrecher
ſtark aufgehalten hätten,“ meinte Windmüller, der in-
zwiſchen aufgeſtanden war und die Augen in dem
Schlafzimmer herumſchweifen ließ. „Die Bettitelle iſt
ſchwer — ſie ließe ſich ſelbſt von einer kräftigen Frau
nicht ohne Anſtrengung und Geräuſch abrücken, weil
die Füße, die ſehr niedrig ſind, keine Rollen haben,“
bemerkte er, das Möbel prüfend anſehend.
Don Gian machte eine abwehrende Bewegung. „Ich
habe das Bett abrücken laſſen, um nachzuſehen, ob
darunter, dahinter oder daneben jemand eindringen
könnte,“ verſicherte er lebhaft. „Ich fand nur glatten,
undurchbrochenen Steinboden, ſolide Wände, glatt mit
der Tapete beſpannt, die Sie im ganzen Zimmer ſehen.
Nichts — nichts, was auch nur den Verdacht, hier möchte
eine verborgene Tür ſein, erwecken könnte.“
„Und die Tür, die in mein Schlafzimmer geht,
trägt, wie ich ſehe, noch den Patentſperrer,“ ſagte Wind-
müller, der den verhüllenden Vorhang zurückgeſchlagen
hatte. „Überdies habe ich ſchon von meiner Seite
feſtgeſtellt, daß die Tür ſehr lange nicht mehr geöffnet
worden iſt,“ fuhr er fort. „Es liegt Staub auf der
Schwelle jenſeits der geſchloſſenen Flügel, alter, un-
berührter Staub. O ja, mangelhaft aufräumende
Stubenmadchen haben ſchon oft geholfen, ſolch wichtige
72 Das Rofazimmer. u
Dinge zweifellos feſtzuſtellen. Auch fand ich an der
ganzen Wand nichts, was darauf ſchließen laſſen könnte,
daß ſie vielleicht den Vermittler geſpielt. Aha, und
dort ſteht auch die Saftflaſche, deren Sie erwähnten —
diesmal unberührt, wie ich ſehe. Ich vermute, es
wird Zeit brauchen, bis Sie ſich wieder überwinden
werden können, Saft aus ſolch einer Flaſche in Ihr
Sodawaſſer zu gießen — fo etwas bleibt lange an einem
hängen, kann einem den unſchuldigſten Genuß gründ-
lich verleiden. — Ah, was haben wir denn da?“ unter⸗
brach er ſeine Betrachtung, die dem armen jungen
Diplomaten die ganze Bitterkeit feines Erlebniſſes
zurückbrachte.
Mit Verwunderung ſah er dem berühmten Manne
zu, wie dieſer ſich neben dem Tiſchchen, auf dem das
Tablett mit den Flaſchen und dem Glaſe, der Zucker-,
ſchale und der diesmal nicht fehlenden Zitrone ſtand,
auf die Knie niederließ und den Boden von glatter,
bunter Breccia, dem zuſammengeſetzten Marmorguß,
aus dem die Fußböden hergeſtellt werden, mit tief
herabgebeugtem Kopfe betrachtete, denn der große,
türkiſche Teppich, der das Zimmer bedeckte, ließ rings
um die Wände einen faſt meterbreiten Streifen frei,
auf dem die Kaſtenmöbel und eben der erwähnte Tiſch
ſtanden. Don Gian konnte um die Welt nicht ſehen,
was Doktor Windmüller dort zu betrachten fand, aber
er hatte doch ſchon etwas über die verſchiedenen Me-
thoden von Oetektiven gehört, und vermutete alfo feinen
Gaſt nicht mit Unrecht auf einer ſogenannten „Spur“.
„Nein,“ beantwortete der letztere laut dieſen Ge-
danken. „Nach dem, was wir wiſſen, iſt das keine Spur
mehr, ſondern einfach eine Beſtätigung. Können Sie
von dort aus dieſen matten Fleck auf der glänzenden
Breccia ſehen? Er iſt etwa ſo groß und rund wie ein
u Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 73
Liraſtück. Gut. Nun, wenn wir noch nicht wüßten,
daß Ihnen in jener Nacht mit dem Fruchtſaft ein Schlaf-
trunk beigebracht worden iſt, wenn noch ein Zweifel
darüber wäre, dann würde dieſer Flecken uns helfen.
So wird er uns jedenfalls ſagen können, womit man
Sie unſchädlich gemacht hat. Der Fleck hier iſt ein
Tropfen, ein großer, reichlicher Tropfen, der unbeachtet
beim Einfüllen des Schlafmittels daneben gefallen und
ſpäter beim Reinigen des Zimmers unbeachtet geblieben
iſt. Zimmermädchen, lieber Herr Marcheſe, beachten
gemeinhin nur das, was ſie nichts angeht. Der Tropfen
iſt ziemlich dick an den Rändern und nach der Mitte
konkav, alſo beſteht er aus einer dickflüſſigen Maſſe,
die, wie ich ſehe, noch nicht ganz trocken, ſondern noch
ziemlich zähe iſt.“
Windmüller zog ein Taſchenmeſſer mit vielen
Klingen hervor, klappte von dieſen eine lange, ſehr
dünne auf, hob damit den Tropfen von dem glatten
Grunde ab, ſtrich die Maſſe auf ein Stückchen weißes
Pergamentpapier, das er aus ſeiner Brieftaſche nahm,
faltete das Papier ſorgfältig zuſammen und ſteckte es
zu ſich. |
„Ich vermute, es iſt eine ſirupartige Chlorallöſung,
was ja auch der brennende Geſchmack, deffen Sie er-
wähnten, beſtätigen würde,“ ſagte er, das Meſſer mit
dem Taſchentuche reinigend. „Viel Wert, es zu er-
fahren, hat das ja nicht mehr, indeſſen — wer weiß?
Man ſoll den Pfennig, den man am Wege findet, nicht
liegen laſſen, denn er fehlt dann am Ende, um den
Taler voll zu machen. — So, und nun verlaſſe ich Sie,
damit Sie aufſtehen können. — Was das für eine
auffallend dicke Wand zwiſchen Ihren beiden Zimmern
iſt! Ich meine, ſie ſei viel dicker als die, die Ihr
Schlafzimmer von dem meinen trennt.“
74 Das Rofazimmer. u
„Glauben Sie?“ fragte Don Gian zweifelnd. „Mir
iſt in — in jener Nacht eigentlich zum erſten Male
dieſe tiefe Türniſche aufgefallen —“
„Ja — fie ift tiefer wie zum Beiſpiel jene, die in
das jenſeitige Zimmer führt,“ beſtätigte Windmüller.
„Ich ſchätze natürlich nur nach dem Augenmaß. Alſo
entweder ift diefe enorm dicke Wand eine architektoniſch-
techniſche Notwendigkeit geweſen, oder — ſie hat einen
anderen Zweck —“
„Das war auch meine Idee,“ fiel Don Gian ein.
„Aber dann würde ſie oder die Holzverſchalung des
Türdurchbruchs hohl klingen. Ich habe überall ver-
ſucht — es iſt alles ſolides Mauerwerk!“
„Es ſcheint ſo,“ bemerkte Windmüller, mit dem
Taſchenmeſſer die hölzernen, mit ſchönſter Intarſia-
arbeit verzierten Paneele zwiſchen den Türrahmen be-
klopfend, mit geübten Fingern Ritzen befühlend und
dem eingelegten Muſter folgend, hie und da auch feſt
darauf drückend. „Es ſcheint wirklich alles in Richtig
keit, womit natürlich das letzte Wort noch nicht ge-
ſprochen fein foll. Wir wollen fpäter darauf zurück-
kommen. Und jetzt laffe ich Sie allein.“ |
Don Gian beeilte ſich mit feiner Toilette und trat
nach ihrer Beendung in ſein Wohnzimmer, in dem
er Windmüller am offenen Fenſter ſtehend vorfand.
„Oh,“ machte er mit einem Blick auf den unberührt
auf dem Tiſch ſtehenden Imbiß, „da haben Sie bei
meiner verſchmähten Mahlzeit von geſtern abend ſein
müſſen! Wie ekelhaft das kalte Fleiſch doch gleich aus-
ſieht, wenn es der Luft ausgeſetzt war und — den
Fliegen! Wollen wir zum Frühſtück in den Speiſeſaal
hinübergehen, oder wünſchen Sie es hier ſerviert?“
„Hier, wenn es Ihnen recht iſt,“ erwiderte Wind-
müller. „Dieſe dicke Wand dort intereſſiert mich —
D Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 75
ich hoffe noch auf eine Inſpiration durch ſie. Ja. Ja,
und noch eines: ich möchte gern den Koffer ſehen, den
Ihre Frau Schwägerin hier zurückgelaſſen hat. Macht
es Mühe, ihn hierher zu bringen?“
„Durchaus nicht,“ verſicherte Don Gian, indem er
läutete und dem alsbald erſcheinenden Diener ſeine
Befehle gab.
Während der Mann abräumte und bis das Frühſtück
kam, redete Windmüller nur von allgemeinen Dingen,
er ſtreifte mit einigen ſcheinbar unweſentlichen Fragen
die Topographie des Palaſtes und feiner Umgebung,
und aß fein Frühſtück methodiſch und ohne Haft. Wäh-
rend desſelben wurden ihm zwei Telegramme über-
geben, die er, nachdem er ſie geleſen, ſeinem Wirte
über den Tiſch (hob. Das eine von dem Miniſter ent-
hielt die Mitteilung, daß über den Verbleib des Doku-
ments noch nichts bekannt und eine beunruhigende
Nachricht nicht eingelaufen fei; das andere von Wind-
müllers Agenten berichtete, daß Donna Kenia in Rom
immer noch nicht angekommen und man ohne jede
Nachricht von ihr ſei. | |
„Das wären nun, rund gerechnet, ſechsunddreißig
Stunden, feit die Botin mit ihrem Naube fällig ift —
die Zeit ungerechnet, die fie zur Reife gebraucht hätte,“
beantwortete Windmüller den beunruhigten Blick des
Diplomaten. „Die Annahme, daß noch etwas mit dem
Dokument beabſichtigt und in Vorbereitung iſt, wird
damit noch nicht hinfällig, denn es können ja uner-
wartete Gründe zu der Verzögerung eingetreten ſein.
Anderſeits iſt es aber auch möglich, daß eine Attacke
auf die Agentin inſofern mißglückt ift, als diefe viel-
leicht noch in der Lage war, das koſtbare Schriftſtück
zu verbergen oder — zu vernichten, ehe ſie das Opfer
eines Anſchlages darauf wurde. Das ſind aber alles
76 Das Rofazimmer. o
nur Theorien, Herr Marcheſe. — Ah,“ unterbrach er
ſich, „da kommt der Koffer. Ja, laſſen Sie ihn nur
auf den erſten beſten Stuhl ſtellen!“
Windmüller hielt fich bei feinem Frühſtück nicht mehr
auf, nachdem der Diener den eleganten Handkoffer
von dunkelrotem Juchtenleder niedergeſtellt und ſich
entfernt hatte. Haſtig trank er ſeine Taſſe aus, zog
den Stuhl, darauf das Kofferchen niedergeſtellt war,
neben den ſeinen und prüfte das Schloß.
„Zugeſchloſſen!“ ſtellte er feft. „Den Schlüſſel hat
die Beſitzerin mitgenommen, ſetze ich voraus. Ganz
richtig, ſie hat den Koffer gepackt, ehe ſie ſich entfernt
— und Sie haben ihn ſo vorgefunden, wie er hier iſt.
Hm. Das Schloß ift gut, aber zum Glück nicht un-
überwindlich. Ordentliche Handarbeit — dieſer Koffer.
Ruſſiſche Arbeit ſchätze ich.“
Damit zog er aus der Weſtentaſche einen kleinen,
flachen Haken, ſchob ihn in den ſchmalen Schlüſſelritz
des Patentſchloſſes ein und klappte im nächſten Augen-
blick den Koffer auseinander, aus dem der feine und
doch ſo ſchwere, ſchwüle, exotiſche Duft von Gardenien
herausſtieg und faſt das ganze Zimmer erfüllte.
„Per Bacco! War das nötig?“ fuhr Don Gian auf.
Jetzt mußte Windmüller lachen. „Ich meine ſchon,
daß es nötig war, da meine Augen ja leider keine
X -Strahlen find, die den Inhalt eines Juchtenkoffers
durchleuchten können! Wenn Sie mir das aber zu-
getraut haben, fo danke ich Ihnen für dieje hohe Mei-
nung meiner Fähigkeiten.“
„Pardon!“ murmelte Don Gian beſchämt. „Es iſt
nur, weil es für unſereins ſo ungewohnt iſt, fremder
Leute Eigentum zu — zu —“
„Durchſtöbern,“ half Windmüller ein. „Meine
Privatleidenſchaft iſt das auch nicht, aber im Namen
n Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 77
des Geſetzes, das mich beauftragt, darf man ſich nicht
mit ſolchen Bedenken aufhalten.“
„Glauben Sie, daß meine Schwägerin ihren Naub
hier in dieſem Koffer —“
„Hm, es wäre das eine kühne Idee geweſen, frei
von dieſem gefährlichen Schatz die Reife zu machen
und ſich ihn harmlos in dieſem Köfferchen nachſchicken
zu laffen!“ meinte Windmüller. „Eine kühne Idee,
die ins Konverſationslexikon zu kommen verdiente. —
Nein, ich glaube nicht, daß wir das Dokument hier
finden werden, aber vielleicht doch ein paar nützliche
Winke. Laſſen Sie uns nachſehen. Dieſe Abteilung
enthält ein ſchwarzes Kleid, wie ich meine, ein, Traum“
von ſpinnwebdünnem Florſtoff mit Pailletten geſtickt.“
„Das trug ſie an dem Abend, als ich in Venedig
eintraf,“ rief Don Gian.
„Ah ſo! — In dem Täſchchen der Klappe des anderen
Abteils iſt, wie Sie ſehen, Briefpapier, ein paar Bogen
nur und paſſende Umfchläge. Sonſt nichts? — Nein. —
Gehen wir weiter. Das verſchloſſene Abteil enthält —
was? Ein unbenütztes Nachthemd — unbenützt! Sie
hatte alſo gar nicht die Abſicht, hier zu ſchlafen. Kämme,
Bürſten, Handſpiegel von getriebenem Silber und Elfen-
bein — Taſchentücher, davon einige benützte in die Ecken
geſtopft — einen Spitzenſchal, ſeidene Strümpfe —
was man ſo für einen kurzen Ausflug braucht. Nichts
weiter. — Doch! Hier in dieſem gebrauchten Taſchentuch
iſt etwas Hartes — eine Flaſche! Eine ganz gewöhnliche,
leere Apothekerflaſche, ohne Etikette, ſogar ohne Stöpſel,
Inhalt hundertfünfzig Gramm. Und ein kleiner Reit
ihres ehemaligen Inhalts noch auf dem Boden —“
Windmüller ließ von dem kleinen Neft, der langſam
floß, ein paar Tropfen auf ſeinen Handrücken fallen
und koſtete davon.
18 Das Rofazimmer. 2
„Pfui Teufel!“ machte er. „Wiſſen Sie, was das
ift, Herr Marcheſe? Eine febr ſtarke Chloralhydrat-
löſung! Glauben Sie, daß Donna Xenia die ſelbſt
gebraucht hat? Ich nicht. Chloralhydrat nimmt man,
um ſchlafen zu können, was ſie doch nicht vorhatte.
Hm. Wenn die Flaſche hier voll war, als fie den In-
halt in Ihre Fruchtſaftkaraffe ausleerte, dann wundert
es mich nicht, daß Sie von der genoſſenen Portion
wie ein Siebenſchläfer geſchlafen haben! Ein Glück
nur, daß Sie nicht noch eine zweite Gabe nachſtürzten,
ſonſt hätten Sie das Aufwachen ohne Schwierigkeit
ganz vergeſſen können! Ein recht nettes Kapitel,
‚Ihwägerlihe Fürſorge“ betitelt. Na, dafür iſt's noch
gnädig abgelaufen! — So, dieſe Abteilung hat uns
ſonſt weiter nichts zu fagen. Laſſen Sie uns nun ein-
mal das Kleid betrachten. Es ift ordentlich zufammen-
gelegt. Wenn ich's ſo nicht wieder hineinbringe, kann
ich nicht helfen. Hm. Ceſarina würde dies Gebilde
wohl auch einen „Traum“ nennen, trotzdem der Saum
mitſamt dem des ſeidenen Untergewandes recht ſtarke
Spuren des Gebrauchs zeigt. Sehr intereſſante Spuren!
— Wofür halten Sie dieſen Schmutz, Herr Marcheſe?“
„Für Staub, dicken Staub,“ erklärte Don Gian,
der noch mit einem gewiſſen Übelkeitsgefühl kämpfte,
das die leere Flaſche und — Windmüllers Kommentar
dazu in ihm wachgerufen hatten.
„Staub!“ entgegnete der Detektiv energiſch. „Ja,
es iſt Staub, gewiß, aber vermoderter, verrotteter
Staub, den kein Beſen, keines Menſchen Schritt ſeit
Generationen aus feiner Ruhe geſtört! Und Donna
Kenia hat ihn mit ihrer eleganten, glitzernden, ſchwarzen
Chiffonrobe mitgenommen, ehe ſie ſich anſchickte, den
Palaſt zu verlaſſen — das ift ſehr verdächtig, nicht wahr?
Weil es verrät, daß ſie auf einem nur ihr bekannten,
u Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 79
verborgenen Wege in Ihr Zimmer drang, wahrſchein-
lich in der Zeit, während Sie bei Ihrer Schweſter waren,
um Ihnen den Trank für die Nacht zu mifchen. — Und
ſehen Sie das Spinngewebe, das hier in dieſer Nanke
der Paillettenſtickerei hängen geblieben iſt? Daran ſind
Ihre Zimmermädchen unſchuldig: es iſt ſchwer, zum
dichten Stoff geworden durch denſelben vermoderten
Staub, den der Saum des Kleides zuſammengefegt
hat. — Eine ſehr intereſſante Dame, Ihre Frau Schwä-
gerin, und abſolut ſkrupellos. Es wäre ganz logiſch,
wenn ihr ein gleich ſkrupelloſer Gegner gegenüber-
getreten wäre — und ich fürchte, daß dies ihr Schickſal
war!“ |
Don Gian fab wie im Traume zu, während Wind-
müller das Kleid in den Koffer hineinſtopfte und dieſen
dann mit ſeinem Patentſchloßdietrich wieder zuſchloß.
„Aber ich muß wiſſen, wie ſie hier eingedrungen iſt!“
rief Don Gian, ratlos die vier Wände betrachtend.
„Das hat Zeit, Herr Marcheſe. Es iſt jetzt viel
weſentlicher, zu wiſſen, wie ſie aus dem Hauſe hinaus-
gekommen iſt. Iſt es Ihnen recht, wenn wir jetzt gleich
einmal die Topographie des Palaſtes ſtudieren? Wenn
Sie aber jetzt lieber oben bleiben, kann ich das unter
der Führung Ihres Majordomo auch allein beſorgen.“
„Nein, nein — ich begleite Sie natürlich!“ raffte
Don Gian fih aus feinem Hinbrüten auf. „Ich bin
als Knabe in dem großen Haufe überall berum-
gekrochen und weiß annähernd Beſcheid darin, aber
ich denke, wir nehmen Sebaſtiano dennoch mit, denn
dieſe alten Diener kennen die Traditionen oft beſſer
als ihre eigene Herrſchaft, die dafür leider — wie zum
Beiſpiel ich — den Sinn, das Gedächtnis und das
Intereſſe für ſolche Dinge nicht hat. Meine Entſchuldi-
gung, wenn's dafür gelten kann, iſt, daß ich ja bis vor
80 Das Rofazimmer. a
einem Fahre der jüngere Sohn, nicht der Erbe war,
früh aus dem Haus kam, um zu ſtudieren und einen
Beruf zu ergreifen. Mein Bruder kannte die Geſchichte
unſeres Hauſes nicht nur aus dem Grunde, ſondern auch
die des Palaſtes, ſeiner Legenden und vielleicht auch
ſeiner Geheimniſſe. Ich bin überzeugt, daß dieſes alte
Haus ſolche hat, denn alle unſere Paläſte haben ſie,
trotzdem man das heute gern ins Reich der Märchen ver-
weiſen möchte.“
„An die die Leugner nur darum nicht glauben,
weil ſie nie etwas anderes als die nüchterne Luft ihrer
reizloſen Miethäuſer eingeatmet und gekannt haben,“
fiel Windmüller ein. „Die Geheimniſſe der alten
Paläſte ſind eine ganz logiſche Folge der Zeiten, die
über ſie hingegangen ſind: ſie waren genötigt, Geheim-
niſſe zu haben. Manche werden von ſpäteren Gene-
rationen entdeckt, die meiſten bleiben, was ſie waren
— Geheimniſſe. Als ob unſere Generation keine hätte!
Das weiß niemand beſſer als ich, deſſen Beruf es iſt,
gelegentlich eines oder das andere ans Licht zu bringen.“
Die Herren waren inzwiſchen hinausgetreten und
die Treppe zum erſten Stockwerk hinabgeſtiegen, wo
Sebaftiano mit einem großen Schlüſſelbunde bewaffnet
auf den ſchon vorher erteilten Befehl ſeines Herrn hin
wartete.
„So iſt's recht,“ ſagte Windmüller, den Mann freund-
lich grüßend. „Dieſe Schlüſſelſammlung verſpricht ja
eine kleine Reiſe. Zeigen Sie uns nur alles, Signor
Majordomo, ganz beſonders aber verborgene Gelaſſe
und Winkel, die man, ohne die Zimmerflucht zu ſtören,
etwa für den — hm — Perſonenaufzug benützen
könnte.“
„Zu Befehl, Signor,“ erwiderte Sebaſtiano, indem
er den Marcheſe mit einem Blick anſah, der eine Welt
a) Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 81
von Vorwurf ausdrückte. Dann räuſperte er ſich und
ſagte reſpektvoll, aber mit Entſchloſſenheit: „Wollen
gnädigſt entſchuldigen, wenn ich mir erlaube daran zu
erinnern, daß der Herr Architekt, der im vorigen Jahre
wegen des Aufzuges hier war, die Niſche neben der
Treppe in der Halle für ſehr geeignet erklärte, weil die
Decken bis zum Oberſtock ſich auf dieſer Stelle leicht
durchbrechen laffen, ohne daß die Zimmer dadurch ge-
ſtört werden. Es würde in jedem Stock nur ein Teil
der dunklen Garderoben fortfallen. Der Herr Architekt
meinten, den Aufzug in dem ganz unbewohnten Nord-
trakt anzubringen, hätte wegen der damit verbundenen
Unbequemlichkeit für die Herrſchaft keinen Zweck.“
„Das wollen wir eben nachprüfen,“ entgegnete
Windmüller ruhig.
Was der letztere aber mißverſtanden, hatte Don
Gian aus Sebaſtianos Blick ſofort begriffen. „Was
hut dir die Marcheſa, meine Großmutter, über den
Beſuch des Herrn hier geſagt?“ fragte er, als ſie das
erſte der aufzuſchließenden Gelaſſe betreten hatten, in-
dem er dem Manne die Hand auf die Schulter legte.
Aber das glattrafierte Geſicht des alten Dieners
ging es wie Wetterleuchten von widerſtreitenden Ge-
fühlen. „Don Gian — wollte fagen Herr Marcheſe,“ ent-
gegnete er nach einer Pauſe der Unentfchloffenbeit, „Ihre
Exzellenz haben mir eigentlich nichts geſagt, weil ſie
ſelbſt nicht wußten, was der Signor hier wollten. Aber
Eccellenza haben mich oft mit Ihrem Vertrauen beehrt
und ließen durchblicken, daß der Signor wahrſcheinlich
wegen der Abreiſe der Frau Principeſſa herkämen.
Altezza ſeien nämlich nicht in Rom eingetroffen, geruhten
Eccellenza mir vertraulich mitzuteilen. Ich habe natür-
lich niemand etwas davon mitgeteilt. Die Angelegen-
heiten meiner Herrſchaft ſind gut bei mir aufgehoben
1914. V. 6
82 Das Roſazimmer. u
und Eccellenza wiſſen das. Bene. Als nun der Signor
geſtern abend bei der Ankunft ſagten, er käme wegen
des Aufzuges, dachte ich im Augenblick auch nichts anderes,
dann aber überlegte ich mir, daß der Herr Marcheſe
wegen dieſer Sache die Neiſe von Rom zweimal in
ſechsunddreißig Stunden nicht machen würden, indem
der Herr Marcheſe doch Ihren Beruf haben. Alſo,
dachte ich mir, wenn ich den fremden Signor in dem
Teil des Palazzo herumführen ſoll, wo höchſtens die
Ratten einen Aufzug brauchen, ſo werden ſchon
Eccellenza wohl recht haben, und der Herr Marcheſe
hätten dem alten Sebaſtiano, der ihn als Kind auf
den Armen herumgetragen hat, ein klein wenig mehr
Vertrauen ſchenken können.“
Zu Windmüllers Entſetzen umarmte Don Gian den
Majordomo kurzweg und rief, ehe ſein Gefährte ihm
noch ein Zeichen machen konnte: „Du haft recht, mein
Alter — alles Vertrauen will ich dir ſchenken! Ja, der
Signor Dottore hier iſt gekommen, um zu erfahren,
was aus Donna Kenia geworden iſt —“
Wpardon,“ fiel Windmüller, vor Ungeduld in die
Hände ſchlagend, ein, „meinen Sie nicht, Herr Mar-
cheſe, daß wir dieſe — dieſe Dinge beſſer etwas leiſer
beſprächen? Soweit ich mich orientiere, ſtößt dieſer
Naum, in dem wir ſtehen, direkt an die Zimmerflucht
an, die geſtern von ſtockfremden Menſchen mietweiſe
bezogen worden ſind. Zum mindeſten geht dieſe Leute
doch nichts an, was Sie und mich nach Venedig ge-
bracht hat — nicht wahr?“
Her Bacco! An diefe fremden Leute habe ich nicht
mehr gedacht!“ rief Don Gian überraſcht aus. „Wie
ſollte ich auch? Sie ſind eine ſolche Neuheit hier im
Hauſe! Aber wie ſollten ſie uns hier gehört haben?
Neben dem Roſazimmer liegt zwiſchen ihm und dem
u Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 83
Saal, in dem wir ſtehen, ein ziemlich großer Raum,
deſſen Türen mit ſchweren Samtvorhängen verſehen
ſind, die den Schall abſolut dämpfen —“
„Wenn ſie zugezogen ſind,“ murmelte Windmüller
grimmig.
„Und die Tür iſt abgeſchloſſen — hier iſt der
Schlüſſel,“ ſagte Sebaſtiano. „Ich habe alles nach-
geſehen und beſorgt, ehe die fremden Herrſchaften ein-
zogen. Sie haben gerade die Hälfte der Räume —
zehn im ganzen, aber ihr Teil iſt größer, weil ja der
große Saal über der Halle dabei iſt. Ebbene, der Signor
Dottore ſoll den unbewohnten Teil ſehen, wie er es
wünſcht. Es gibt darin ein paar ſehr gut und geſchickt
verſteckte Kammern zur Aufbewahrung von Koſtbar-
keiten und als Verſtecke, das ift richtig, aber als Aus-
gang kann die Signora Principeſſa ſie nicht benutzt
haben — gewiß nicht!“
„Das eben wollen wir feſtſtellen,“ erwiderte Wind-
müller, der inzwiſchen den Fußboden in dem Saal, in
dem ſie ſtanden, einer genauen Prüfung unterzogen
hatte. Er war, wie die Zimmer alle, von Breccia“),
ungewichſt, jedoch ganz ſtaubfrei. „Es iſt hier unlängſt
ausgekehrt worden,“ bemerkte er, fich in dem nur ſpär-
lich möblierten Naum umſehend, wie nebenbei.
„Ich habe reinmachen laſſen, als ich geſtern zuſah,
ob die Tür nach der vorderen Flucht auch abgeſchloſſen
fei,“ erwiderte Sebaſtiano und ſetzte achſelzuckend hinzu:
„Sie war natürlich zu.“ |
„Natürlich!“ murmelte Windmüller. „Sind die
anderen Zimmer auch reingemacht worden? Ich meine
die nichtvermieteten.“
„Nein, Signor
wenigſtens jetzt nicht,“ erklärte
*) Marmorguß.
nn
84 Das Rofazimmer. o
der Majordomo bereitwilligſt. „Es kommt das ganze
Jahr kein Menſch hier herein,“ fuhr er entſchuldigend
fort, „für wen ſollte man da immerzu ein Heer von
Leuten beſchäftigen? Zwei-, dreimal im Jahre wird
alles nachgeſehen und geputzt und gelüftet — ja, zu
Zeiten des Herrn Marcheſe Federigo, Don Gians Groß-
vater, da wurden noch Feſte, große Feſte im Palazzo
Terraferma gegeben, Feſte, von denen die Leute in
ganz Venedig ſprachen, und da waren alle dieſe Zimmer
und Säle offen, und man hatte alle Hände voll zu tun,
um ſie in Ordnung zu halten. Aber ſchon der Herr
Marcheſe felig — ich meine Don Gians Vater —
waren ja nur ſelten hier, und Don Pietro — vielmehr
die Frau Principeſſa hat es ja länger als ein paar Tage
hintereinander in Venedig nicht ausgehalten. Die
fremde Herrſchaft hätte dieſe Hälfte des Piano nobile
auch noch mieten follen, dann wäre fie bewohnt geweſen,
und das iſt gut gegen Mäuſe, Motten und Moder.“
Sebaſtiano war, während er mehr vor ſich hin als
zu den anderen redete, vorausgegangen und öffnete
die Fenſterläden. Das ſelten in dieſe Zimmerreihe
eingelaſſene Tageslicht machte fie aber nicht freund-
licher, ſondern beleuchtete nur ihre Verlaſſenheit, die
ihnen durchweg den Stempel aufdrückte, um ſo mehr
als diefe Flucht wohl immer nur der Repräjentation
gewidmet geweſen war. Dementſprechend war die Ein-
richtung auch nur die, wie man ſie in ſolchen Räumen zu
ſehen gewohnt iſt: Sofa, Lehnſtühle und Taburette an
den Wänden aufgereiht, mit Marmorplatten verſehene
Konſoltiſche zwiſchen den Fenſtern, hie und da ein
koſtbar eingelegter und geſchnitzter Schrank, ein paar
Gueridons, ein paar Poſtamente mit Bronze- oder
Marmorbüſten darauf, an den mit gepreßten Leder-
tapeten oder Seidendamaſt beſpannten Wänden große,
o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 85
ſtark nachgedunkelte Gemälde, da und dort ein Spiegel
in geſchliffenem Glasrahmen, und von den Degen, die
noch zumeiſt die urſprünglichen dekorierten Balken auf-
wieſen, hingen Glaslüſter von Murano herab. Die
hohen, ſchmalen Spitzbogenfenſter mit ihrer arabifieren-
den Form venezianiſcher Gotik, die allen liebevoll be-
obachtenden Freunden der Lagunenſtadt ſo vertraut
iſt, ließen von Oſten und Norden nur ein ſpärliches
Licht in dieſe verlaſſenen Räume durch halberblindete
Fenſterſcheiben fallen, und auf den teppichloſen fteiner-
nen Böden ſchallten die Schritte der drei Männer wie
eine Entweihung der Grabesruhe und weckten allent-
halben leiſe, geiſterhafte Echo auf.
Doktor Windmüller hatte nur flüchtige, wenn auch
alles umfaſſende Blicke für die Einrichtung der Räume;
er ſchien auch nur ein ganz geringes Zntereſſe für
die verborgenen Kämmerchen und Winkel zu haben,
die Sebaſtiano mit Wichtigkeit zeigte — feine Aufmerk-
ſamkeit galt vor allem den ſteinernen Böden, auf denen
wie ein ganz feiner, dünner Schleier die Staubſchicht
lag, die ſich ſeit der letzten Reinigung mit dem Beſen
darauf angeſammelt. |
In Venedig gibt es den Staub der Städte nicht,
in denen der Straßenverkehr die Lungen der Einwohner
mit Bazillen und Bakterien füllt; man kann dort tage-
lang umherlaufen, ehe die Schuhe den Glanz verlieren.
Aber natürlich wird auch der verrottende Kehricht in
den Callen und auf den Plätzen zu Staub und der Wind
trägt ihn in die Häuſer, und wenn ihm Zeit gelaſſen
wird, ſich zu ſetzen, dann wird er zu der feinen, fchleier-
artigen Patina, die den alten Spiegeln und Lüſtern
von Murano, den Vergoldungen und Skulpturen das
„cachet“ der Zeit verleiht, das dem Auge des Lieb-
habers und Kenners ſo lieb und wert iſt.
80 Das Roſazimmer. | | ü
„Rein,“ fagte Windmüller, als fie, aus den wenigen
weſtlichen Zimmern zurückgekehrt, in den großen Saal
traten, der den Hauptteil der Nordfront einnahm, „nein,
Donna Kenia hat, welchen Ausgang ſie auch gewählt,
dieſe Zimmer dazu nicht berührt. Es iſt nicht eine
Stelle des Fußbodens, die darauf ſchließen ließe, denn
der wenige Staub, der in den zwei Tagen darauf ge-
fallen iſt, würde nicht hinreichen, ihre Spuren zu ver-
wiſchen. Wenigſtens hier in Venedig nicht und oben-
drein in Räumen, die fo abgeſchloſſen find wie diefe.
Wir müſſen uns alſo anderswo nach einem Ausgang
umſehen, denn es ſteht außer jedem Zweifel, daß
Donna Kenia einen ſolchen gekannt — kennt und
benützt hat.“
„Mit Verlaub, Signor — warum ſteht das außer
Zweifel, wenn die Signora Principeſſa doch nur den
Agoſtino zu wecken brauchte, um durch die Tür hinaus-
zugehen, die ſie zu benützen wünſchte?“ fragte der
Majordomo.
„Hm — da fie das aber niht getan hat, fo haben
jedenfalls gute Gründe ſie bewogen, dieſen einfachen
Weg nicht zu wählen,“ erwiderte Windmüller trocken.
„Und da die Signora Principeſſa ſich auch nicht gut
faſt drei Tage lang ohne jede Nahrung im Hauſe ver—
bergen kann, ſo liegt es ganz nahe, daß ſie es eben auf
einem nur ihr bekannten Wege verlaſſen hat —“
„Wozu aber auch eine Tür gehört,“ warf Don Gian
achſelzuckend ein.
„Oder ein Fenſter!“
„Signor Dottore, die Fenſter im n erſten Stock waren
alle geſchloſſen und die des Erdgeſchoſſes ſind ſämtlich
vergittert!“ rief Sebaſtiano, über die Hartnäckigkeit des
Gaſtes in ſeinem Innern empört. „Bleiben nur noch
die Keller auf den Landſeiten — doch dort kommt keine
2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 87
Ratte hinaus, wenn fie einmal drin ift. Proprio! Mein
Großvater ſelig, der ſchon Majordomo im Palazzo
Terraferma war und uns Kindern oft davon erzählte,
wie herrlich es zu ſeiner Jugend darin zugegangen,
kannte auch alle die alten Legenden und Geſchehniſſe
aus früherer Zeit und verſtand ſchön davon zu reden.
Von geheimen Zimmern hat er geſprochen, und daß
die Leute aus den drei Stockwerken zueinander gelangen
konnten, ohne die Treppen zu benützen —“
„Ah!“ rief Windmüller aufmerkſam.
„Ja, aber er ſagte nicht, wie und wo das geſchehen
konnte,“ fuhr Sebaſtiano geſchmeichelt fort. „Er hat
es wohl ſelbſt nicht gewußt. Er erzählte auch, daß es
in dem Palaſte eine Trappola geben ſollte, eine Falle
für — für Menſchen —“
„Anfinn! Eine Oubliette hier im Haufe!“ fiel Don
Gian ein. |
„Warum Anſinn?“ fragte Windmüller. „Dieſe
menſchenfreundlichen Vorrichtungen gegen unbequeme
Zeitgenoſſen waren namentlich in der Renaiſſance febr
beliebt. Ich kann Ihnen in Rom wenigſtens zehn
Paläſte nennen, wo Oublietten exiſtiert haben, von den
Bergſchlöſſern ganz zu ſchweigen —“
„Gewiß, Signor!“ rief Sebaſtiano. „Auch hier in
Venedig gibt's ſolche Trappole! Hat man im Palazzo
Candiani nicht eine gefunden, als man den Aufzug
dort anlegte? Gefüllt mit Skeletten! Der Herr Mar-
cheſe werden ſich erinnern, welches Aufſehen der Fund
machte — es ſind noch keine drei Jahre her!“
„Ja, ja, ich erinnere mich!“ gab Don Gian un—
behaglich zu. „Aber hier im Haufe! Davon müßte ich
doch etwas gehört haben!“
„Wer hatte es im Palazzo Candiani gewußt, Herr
Marcheſe? Kein Menſch. Mein Großvater ſelig hat's
88 Das Rofazimmer. a
noch von ſeinem eigenen Großvater gehört als ein
großes Geheimnis.“
„Was es meinetwegen auch bleiben darf,“ ſagte
Windmüller. „Mich intereſſiert es mehr, wieſo und wo
die Leute hier im Hauſe ungeſehen und ohne die Treppen
zu benützen in die verſchiedenen Stockwerke kommen
und ebenſo das Haus verlaſſen konnten. Ich fürchte,
ich werde die fremden Herrſchaften in der Rolle des
Architekten doch noch inkommodieren müſſen. Später.
Es eilt jetzt nicht. Ich werde jetzt einmal ausgehen,
und wenn Sie mich begleiten wollen, Herr Marcheſe,
ſo ſoll's mir recht ſein. Nötig iſt es nicht, falls Sie etwas
anderes vorhaben, Ihre Verwandten begrüßen wollen
oder —“
„In der Tat — ich möchte meiner Großmutter und
meiner Schweſter guten Tag ſagen,“ erwiderte Don
Gian unentſchloſſen. „Doch nein — das muß warten,“
ſetzte er hinzu, ſeinen Gefühlen als Menſch Zwang
antuend. — „Sebaſtiano, du ſollſt der Frau Marcheſa
und Donna Loredana ſagen, daß ich mit dem Herrn
Doktor ausgehen mußte. FIſt die Gondel zur Stelle?“
„Ich werde ſie ſogleich beſtellen, Signor Marcheſe.“
(Jortſetzung folgt.)
2
*
DA | DÆ | DA
u i
Tango.
Eine Tanzftudie. Von R. Hendrichs.
mit 5 Bildern. v (nachdruck verboten.)
E⸗ mögen ungefähr zehn Fahre vergangen fein,
ſeildem die große Revolution in unſeren Ball-
ſälen ihren Anfang nahm, und wie alle gewaltſamen
Umwälzungen zunächſt das Chaos an die Stelle der ab-
geſchafften Ordnung zu ſetzen pflegen, ſo wurde uns
auch auf dem Gebiet des modernen Geſellſchaftstanzes
ſtatt der alten, angeblich überlebten Formen ein Wirr-
warr von Seltſamkeiten beſchert, aus dem fih — wenig-
ſtens ſo weit es ſich um deutſches Empfinden handelt —
der neue, wirklich zeitgemäße Tanz noch nicht hat ent-
wickeln können.
Seitdem Herr Philipp Souſa aus New Vork unſere
für amerikaniſche Vorbilder begeiſterte Jugend mit
ſeiner „berühmten“ Waſhingtonpoſt in helles Ent—
zücken verſetzte, haben wir unſere Salone bereitwillig
allem geöffnet, was von der anderen Seite des großen
Waſſers an neuen Tanzformen zu uns herüber kam.
Je ſtumpfſinniger und geſchmackloſer die Schöpfungen
der eigen gearteten Vankeephantaſie auf dieſem Ge-
biete waren, deſto freudiger wurden ſie aufgenommen
und von hoch und gering zur „großen Mode“ erhoben.
Nichts war ſo ungraziös, ſo widerwärtig oder ſo dumm,
daß fih ihm die Ballſäle unſerer guten Geſellſchaft
verſchloſſen hätten. Cakewalk und Machiche, Boſton
90 Tango. 2
und Twoſtep löſten einander ab, um, wenn auch jeder
nur für eine knapp bemeſſene Zeitdauer, unumſchränkt
zu regieren und unſeren Tanzveranſtaltungen ein nichts
weniger als anmutiges und erfreuliches Gepräge zu
geben.
Sehr hübſch und liebenswürdig hat ſich eine der
gefeiertſten und originellſten Tanzkünſtlerinnen unſerer
Zeit, die ſchöne Madame Saharet, jüngſt über die fieg-
reihe Invaſion des Zweivierteltakts geäußert. Sie
ſagt: „Der arme Walzer! Er ift wirklich pafje. Er war
ja eine Welt für ſich, war leiſes Wiegen, träumendes
Schweben, ſüßes Dahingleiten. Der Walzer, das war
das goldene Wien — Wien mit ſeiner koſenden, weichen,
zerfließenden Stimmung. Es war die ſchönſte, ſanfte,
gute alte Zeit. Der Twoſtep iſt Moderne. Kein Wiegen,
kein Schweben, kein Träumen — er iſt Draufgehen.
Der Walzer, das war Wien — der Twoſtep, das iſt
Amerika. Die Biedermeierei hat ausgeſeufzt. Die Flöte
wird an die Wand gehängt. Wir laſſen die Pauken
bumbſen und die Trompeten ſchmettern.
Neue Zeiten künden ſich in neuen Tänzen an. In
neuen Rhythmen, neuen ‚Bewegungen‘ der Menſch-
heit. ‚Heil dem, der neue Tänze ſchafft!“ ruft Bara-
thuſtra, weil ſie die Herolde neuer Zukunft ſind. Die
junge Generation hätte den Twoſtep nicht mit fo viel
Enthuſiasmus akzeptiert, wenn ihr ſein Rhythmus nicht
ſchon im Blute geſchlummert hätte. Denn fie iſt un-
romantiſch. Sie will nichts mehr wiſſen von Träumen
und Walzeridyllen. Sie iſt auf dem Aſphalt erwachſen,
wo man feſter auftreten muß, wo das Leben nach
neuen, ſtrafferen Rhythmen pulſt. Die neue Genera—
tion und der Twoſtep und feine Geſchwiſter, der Bären-
tanz und der Tango — ſie gehören zueinander.
Hier fand ſich, was fidh finden mußte: Fſadora
92 Tango. o
Duncan, ihr bolben Schweſtern Wieſenthal und Ihr,
Profeſſor Dalcroze! Euer Mühen um eine neue deutſche
Rhythmen- und Tanzkunſt ift umſonſt. Was und wie
die Völker tanzen, das bringen ihnen keine Schulen bei.
Ba ſſano.
Fig. 2.
Sie lernen es ſelber. Tänze werden nicht anerzogen.
Sie kommen wie die neuen Zeiten, die neuen Genera—
tionen, von ganz allein. Kommen und verſchwinden.
Jetzt iſt der Walzer im Sterben. Der ſchöne, liebe Walzer
mit ſeinen weichen Melodien und ſeinen fließenden
Linien. Es geht viel Schönes mit ihm aus der Welt,
viel Zartes und Feines. Der Twoſtep regiert, der
eckige, kantige, derbe Twoſtep. Die Welt iſt eben
ſtraffer geworden. Wir müſſen uns darein finden. Der
o Von R. Hendrichs. 93
Twoſtep hat geſiegt. Mit Pauken und Trompeten iſt
er gekommen — wie eben Sieger kommen.“
Das iſt, wie geſagt, ſehr hübſch, aber doch wohl
glücklicherweiſe nicht ganz zutreffend. Sicherlich kommt
der Geiſt einer Zeit auch in der Art ihrer Tänze zum
Ausdruck, und wir können rückſchauend die mannig-
fachſten Wandlungen der Tanzformen verfolgen. So
gering aber können wir von dem Geiſt unſerer Zeit
denn doch nicht denken, daß wir in den Barbareien
Baſſano.
Fig. 3.
amerikaniſcher Unkultur fein getreues Spiegelbild zu
erblicken vermöchten. Man möge ſich dieſe aus Amerika
importierten „Tänze“ doch nur auf ihren Urſprung hin
anſehen. Der eine entnahm ſeine Figuren den grotesken
94 Tango. o
Sprüngen und Gliederverrenkungen der Negerftlaven,
die anderen benützten als Vorbilder mimiſche Indianer-
tänze, in denen das Gebaren von Tieren nachgeahmt
wurde. Solche Tänze werden ja bekanntlich von den
Naturvölkern oft mit erſtaunlicher Meiſterſchaft aus-
geführt, und wenn ein Indianer die Bewegungen des
Bären oder das Liebeswerben des Truthahns tanzend
darzuſtellen ſucht, ſo wird er ſchon durch ſeine genaue
Naturkenntnis vor allen Abgeſchmacktheiten und wider-
wärtigen Plumpheiten bewahrt. Aber man ſehe ſich
dieſen Bären- oder Truthahntanz in einem modernen
Ballſaal an! Kann man ſich überhaupt noch etwas
Abſcheulicheres denken? Auch in Deutſchland haben
ſich ja noch einige Volkstänze erhalten, die nichts anderes
als eine mimiſche Darſtellung von Vorgängen aus dem
Tierleben bedeuten. Der bekannteſte von ihnen iſt
der oberbayriſche Schuhplattler, in deffen Figuren jeder
Weidmann ſofort das halb leidenſchaftliche und halb
drollige Liebeswerben des Birkhahns oder des Auer-
hahns erkennt. Warum, wenn man doch die Natur-
tänze der Neger und der Indianer nachmacht, iſt man
noch nicht auf die naheliegende Idee verfallen, auch den
Schuhplattler in unſeren eleganten Ballſälen heimiſch
zu machen? Vielleicht, weil die ungeheure Einfältig-
keit und Geſchmackloſigkeit ſolchen äffiſchen Gebarens
dann ſogleich auch dem Blödeſten offenbar werden
müßte. Gerade um dieſer unausbleiblichen Wirkung
willen wäre der Verſuch auf das wärmſte zu empfehlen.
Aber man ſucht neuerdings ſeine Vorbilder für den
wahrhaft „modernen“ Tanz, der ſich trotz aller heißen
Bemühungen noch immer nicht zu feſten und bleiben—
den Formen geſtalten will, nicht bloß bei den Natur-
völkern, ſondern man fängt an, ſich auch unter den
exotiſchen Nationaltänzen umzuſehen. Dieſen Be-
2 Bon R. Hendrichs. 95
ſtrebungen verdanken wir die allerneuſte Errungenſchaft,
den argentiniſchen Tango, der von Paris aus ſeinen
Siegeszug durch das alte Europa angetreten und ſich
in Ermanglung eines würdigen Nachfolgers bis heute
Baſſano.
Fig. 4.
auf dem Parkett unſerer Salone und in unſeren öffent—
lichen Tanzlokalen behauptet hat.
Wit Cakewalk, Bären- und Truthahntanz hat er
allerdings nichts gemein, und wenn er von geſchmeidigen
Südamerikanerinnen, denen das ſpaniſche Blut heiß
durch die Adern ſtrömt, in Buenos Aires, Cordoba oder
Santa Fe nach den Klängen einer feurigen Habanera
getanzt wird, mag er wohl auch dem Auge des Zu—
ſchauers höchſt erfreulich ſein. Denn er beſteht aus
94 Tango. 2
Sprüngen und Gliederverrenkungen der Negerſklaven,
die anderen benützten als Vorbilder mimiſche Indianer—
tänze, in denen das Gebaren von Tieren nachgeahmt
wurde. Solche Tänze werden ja bekanntlich von den
Naturvölkern oft mit erſtaunlicher Meiſterſchaft aus-
geführt, und wenn ein Indianer die Bewegungen des
Bären oder das Liebeswerben des Truthahns tanzend
darzuſtellen ſucht, ſo wird er ſchon durch ſeine genaue
Naturkenntnis vor allen Abgeſchmacktheiten und wider-
wärtigen Plumpheiten bewahrt. Aber man ſehe ſich
dieſen Bären- oder Truthahntanz in einem modernen
Ballſaal an! Kann man ſich überhaupt noch etwas
Abſcheulicheres denken? Auch in Oeutſchland haben
ſich ja noch einige Volkstänze erhalten, die nichts anderes
als eine mimiſche Darſtellung von Vorgängen aus dem
Tierleben bedeuten. Der bekannteſte von ihnen iſt
der oberbayriſche Schuhplattler, in deffen Figuren jeder
Weidmann ſofort das halb leidenſchaftliche und halb
drollige Liebeswerben des Birkhahns oder des Auer-
hahns erkennt. Warum, wenn man doch die Natur-
tänze der Neger und der Indianer nachmacht, iſt man
noch nicht auf die naheliegende Idee verfallen, auch den
Schuhplattler in unſeren eleganten Ballſälen heimiſch
zu machen? Vielleicht, weil die ungeheure Einfältig-
keit und Geſchmackloſigkeit ſolchen äffiſchen Gebarens
dann ſogleich auch dem Blödeſten offenbar werden
müßte. Gerade um dieſer unausbleiblichen Wirkung
willen wäre der Verſuch auf das wärmſte zu empfehlen.
Aber man ſucht neuerdings ſeine Vorbilder für den
wahrhaft „modernen“ Tanz, der ſich trotz aller heißen
Bemühungen noch immer nicht zu feſten und bleiben-
den Formen geſtalten will, nicht bloß bei den Natur—
völkern, ſondern man fängt an, ſich auch unter den
exotiſchen Nationaltänzen umzuſehen. Dieſen Be—
2 Bon R. Hendrichs. 95
ſtrebungen verdanken wir die allerneuſte Errungenſchaft,
den argentiniſchen Tango, der von Paris aus ſeinen
Siegeszug durch das alte Europa angetreten und ſich
in Ermanglung eines würdigen Nachfolgers bis heute
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5 A `
Baſſano.
Fig. 4.
auf dem Parkett unſerer Salone und in unſeren öffent—
lichen Tanzlokalen behauptet hat.
Wit Cakewalk, Bären- und Truthahntanz hat er
allerdings nichts gemein, und wenn er von geſchmeidigen
Südamerikanerinnen, denen das ſpaniſche Blut heiß
durch die Adern ſtrömt, in Buenos Aires, Cordoba oder
Santa Fe nach den Klängen einer feurigen Habanera
getanzt wird, mag er wohl auch dem Auge des Zu—
ſchauers höchſt erfreulich ſein. Denn er beſteht aus
96 Tango. A
einer Reihe von Figuren, die in ihrem phantaſtiſchen
Wechſel reiche Gelegenheit zu leichten und graziöſen
Bewegungen bieten. Nicht weniger als zehn Varia-
tionen, die ſich auf einer geſchickten Verwendung des
Polkaſchritts aufbauen, löſen ſich in bunter Folge ab
und bieten gewandten Tänzern die Möglichkeit, eine
ganze Skala ſeeliſcher Empfindungen vorzuführen.
Daß man aber dieſen Tango auf einer unſerer
gewöhnlichen Tanzgeſellſchaften niemals zu ſehen be—
kommt, braucht kaum erſt geſagt zu werden. Was da
unter ſeinem Namen geht, iſt zumeiſt nichts weniger
als erbaulich, und wenn man auch über die Zweckmäßig-
keit polizeilicher Zenſur im Ballſaal ſehr verſchiedener
Meinung fein kann, fo wäre es doch durchaus wünſchens—
wert, wenn der gute Geſchmack hier die Rolle des
Zenſors übernehmen und allen häßlichen Auswüchſen,
die der Tango gleich den berüchtigten „Schiebetänzen“,
bereits gezeitigt hat, durch entſchiedenſte Mißbilligung
ein Ende machen würde. Als Kunſttanz aber wird
man den Tango viel eher gelten laſſen dürfen als alle
ſeine Vorgänger aus den letzten fünf oder ſechs Jahren,
und wo er als Schauſtück von geſchmackvollen Berufs-
tänzern vorgeführt wird, kann man an ihm wohl eine
reine äſthetiſche Freude haben. Die beigefügten Abbil-
dungen Figur 1 bis 5 veranſchaulichen einige beſonders
charakteriſtiſche Poſen eines ſolchen kunſtmäßig aus-
geführten Tango, und wenn ſie auch keine erſchöpfende
Vorſtellung von dem Weſen dieſes argentiniſchen
Tanzes geben können, ſo dürften ſie doch immerhin
dartun, daß die Ausführung nicht jedermanns Sache iſt.
Denen aber, die ſo laut nach einer angemeſſenen
Ausdrucksform des modernen Geiſtes auch im Tanze
rufen, möchten wir zu bedenken geben, daß gerade
dem Geſellſchaftstanz mehr als allen anderen Er-
1914. V.
7
Baſſano.
98 Tango. å
ſcheinungsformen des öffentlichen Lebens ein febr
konſervativer Zug eigen iſt, und daß erfahrungsgemäß
allen neuen Tänzen und Tanzarten gegenüber die alten
Völker- und Nationaltänze mit der en immer wieder
das Übergewicht gewinnen.
Vielleicht alſo ift der liebe alte Walzer doch noch
nicht ganz tot, ſondern erlebt eines Tages, wenn wir
uns aus unſerer Amerikaſchwärmerei heraus wieder ein
wenig auf uns ſelbſt beſonnen haben, eine deſto fröh-
lichere Auferſtehung.
Sr
*
Das Weib an der Krücke.
| Novelle von Carola v. Eynatten.
*
nachoͤruck verboten.)
Si waren beide verſtimmt. Vielleicht trug das
Wetter die Schuld. Obgleich ſeit einigen Tagen
die Septembermitte überſchritten war, lag eine brü—
tende, lähmende Schwüle über Waſſer und Land. Matt
hing das Laub an Baum und Strauch vom Geäſte,
die Dünen, ſcheinbar dem hochgelegenen Garten greif—
bar nahe, brannten gelb in der Sonnenglut, und die
Nordſee dahinten dehnte ſich grau und ſchwer wie did-
flüſſiges Blei. Kein Segel weit und breit, nicht einmal
eine kreiſende Möwe. So hielt ſich das Wetter ſchon
ſeit Tagen, nur daß die Queckſilberſäule mit jedem
Tage höhere Grade zeigte und das Ausſehen des Meeres
immer drohender wurde.
Über eine halbe Stunde war verſtrichen, ohne daß
ein Wort zwiſchen dem Maler Franz Wels und ſeiner
Frau Nina gewechſelt wurde. Sie gähnte abwechſelnd
hinter der vorgehaltenen Hand, abwechſelnd verſetzte ſie
die aus himmelblauen Seidenſchnüren geknüpfte Hänge-
matte in ſchwingende Bewegung, um ſich ein wenig
Kühlung zu verſchaffen. Er ſaß mit breit aufgelegtem
Ellbogen ihr zur Seite an einem Marmortiſchchen,
eine Kanne Eislimonade vor ſich, und ſchaute unter
leicht geſenkten Wimpern hervor ins Weite, hinaus aufs
Meer, deſſen Waſſer hier und dort im metalliſchen
100 Das Weib an der Krücke. *
Glanze ſchimmerten unter dem Überfluß an Sonnen-
ſchein.
Wieder hob ſich die über den Rand der Hängematte
niederhängende Hand, um ein Gähnen zu verdecken,
dann endlich ſagte Nina leiſe, matt: „Troſtlos, dieſe
Hitze!“ i
Ob er es wohl gehört hatte? Er blieb fo regungslos
wie bisher, kein Zug feines verträumten Geſichtes ver-
änderte ſich.
„Franz!“
Dieſer Ruf fand fo wenig ein Echo wie die Be-
merkung von vorhin.
Und wieder, noch lauter: „Franz!“
Ein leiſes Regen wie bei einem aus tiefem Schlafe
Geweckten ging durch ſeine Züge, dann durch ſeine
Geſtalt. Langſam drehte er ihr den Kopf zu und fragte:
„Haſt du etwas geſagt, Liebe?“
„Daß diefe Hitze troſtlos ift!“ antwortete fie un-
geduldig, diesmal ohne jeden Beiklang von Mattigteit.
Wels nickte. „Ja, das iſt ſie. Sie wird Herr über uns,
wir mögen uns noch ſo wehren! Seit geſtern kann
ich nicht einmal arbeiten, und das iſt das Schlimmſte!“
Seine Frau machte eine jähe, unmutige Bewegung,
die ihr Ruhelager in kräftige Schwingung brachte.
„Nein,“ rief ſie, „das Schlimmſte iſt die Langweile,
die ſich bei einer, derartigen Temperatur noch härter
erträgt!“
„Ich habe keine Langweile — natürlich nicht,“
ſetzte er raſch hinzu, wie entſchuldigend. „Wenn wir
von einer allbeherrſchenden Idee erfüllt find, ift und
gibt ſich uns alles anders, ſind unſere Bedürfniſſe,
ſind wir ſelber andere.“
Nina hob die Schultern. Sie ſah ſehr unmutig aus.
„Ich verſtehe nicht, wie man ſich und anderen zur Qual
(a) Novelle von Carola v. Eynatten. 101
jahrelang einem Phantom nachjagen mag!“ fagte fie
und machte auf ihrem luftigen Lager eine halbe Wen-
dung, die ſie ihrem Manne näher brachte.
Mehr und mehr verlor ſich der verträumte, ver-
ſunkene Ausdruck in ſeinen Augen, und leiſe den Kopf
ſchüttelnd antwortete er überzeugt: „Es tut mir leid,
Nina, daß du ſo denkſt, denn es iſt kein Phantom, dem
ich nachjage. Damals, an jenem Januarmorgen auf
San Hilario, war ich fogar recht nüchtern geſtimmt.
Der Anblick der ſo zahlreich vor der Kirche verſammelten
Eſel, die der prieſterlichen Weihe warteten, intereſſierte
mich ungemein, und ich machte zu Rudolf Leinz gerade
eine Bemerkung darüber, als ein Wagen vor die Kirch-
tür fuhr und zwei hinzuſpringende Männer voll Bor-
ſicht und Ehrfurcht einen uralten Mann im bunten
Flickenmantel heraushoben und in das Gotteshaus
führten. Verwundert ſchauten wir ihm nach, als ein
wunderliebes Mädchen, halb noch ein Kind, an uns
vorüberhuſchte und ebenfalls in der Kirche verſchwand
— dicht hinter dem Greiſe und ſeinen Führern. Ich
ſtand wie gebannt, während es mir durch den Kopf
zuckte: Da — das ift deine „Verheißung“, die du ſchon
ſo lange ſuchſt, ohne ſie finden zu können!“
Wels ſeufzte tief auf, und ſein Blick wollte ſich ins
Weite, ins Unbeſtimmte verlieren.
Nina aber rief ungeduldig: „Das weiß ich alles,
du haft mir diefe Geſchichte ſchon dutzendmal erzählt!
— Ich weiß aber auch, daß dein Vetter Leinz dir in
meinem Veiſein wiederholt ſagte, du bildeſt dir diefe
wunderbare Erſcheinung bloß ein. Mit dem armſeligen
Alten hätte es ſeine Richtigkeit, gefolgt wäre ihm aber
keine Seele, und das hätten auch alle die Umſtehenden
beſtätigt, das hätteſt du ſelbſt ſehen müſſen, als die
Leute nach beendetem Gottesdienſt die Kirche wieder
102 Das Weib an der Krücke. D
verließen, denn der Alte wäre allein herausgekommen,
wie er hineingegangen war.“
„Das alles mag ſeine Richtigkeit haben — geſehen
habe ich meine Verheißung aber doch, freilich nur wäh-
rend eines flüchtigen Augenblicks und — nie mehr
wieder!“ ſagte der Maler bekümmert. Dann ſetzte er
wie in jäher Entſchloſſenheit hinzu: „Ich werde ſie
aber trotz allem wiederfinden, denn ich muß es!
Ich finde keine Ruhe, ehe ich mir die Verheißung
von der Seele gemalt habe, ich werde auch nicht eher
etwas wirklich Bedeutendes, künſtleriſch Vollkommenes
leiſten!“ |
Die junge Frau fab febr unglücklich aus. In ihrer
Sorge die Hände ineinander preſſend ſagte fie: „Ein-
bildungen — nichts als Einbildungen! — Geh in dein
Atelier, ſtelle alle die „Verheißungen“, die du ſeither
verſucht haſt, nebeneinander und betrachte ſie ohne
Vorurteil. Du wirſt ſehen, daß wundervolle Stücke
dabei ſind, denen ein beſſeres Los gebührte, als gegen
die Wand gelehnt zu ſtehen. Die aus blitzdurchzuckter
Nebelwand herausſchwebende Verheißung iſt ein Meifter-
werk, das ſagen alle — deine Genoſſen, deine alten
Lehrer, die Kritiker, die Kunſtkenner von Ruf. Sie
würde dich in die vorderſte Reihe der Maler ſtellen,
könnteſt du dich entſchließen, ſie fertig zu malen!“
Nina hatte ſich ſo heiß geredet, daß ſie die äußere
Hitze im Augenblick nicht mehr empfand. Ihr Mann
mußte zur Einſicht gebracht, mußte überzeugt werden.
Bei ihrer gegenwärtigen Lebensweiſe ging er künſt—
leriſch zugrunde, und ſie — ſie hielt es einfach nicht mehr
aus, kein Jahr, kein Vierteljahr mehr. Dieſe Lang—
weile, dieſe Ode um ſie, das Verlangen nach der Welt,
nach Verkehr mit gebildeten Menſchen tötete ſie, ſo
übermächtig war es ſchon!
D Novelle von Carola v. Eynatten. 103
Er hatte eine Weile ſtill vor ſich hin geſchaut, jetzt
erwiderte er melancholiſch: „Es mag ja ſein, daß unter
den Entwürfen manches Gute vertreten iſt, für mich
aber ſind ſie alle Stümperwerk, denn ſie bleiben
meilenweit hinter dem zurück, was ich will, was mir
vorſchwebt, was ich oft greifen zu können glaube und
doch weder aufs Papier noch auf die Leinwand bringe!“
Eine ſolche Erregung war über die junge Frau ge-
kommen, daß jeder Nerv in ihr hüpfte, ſie ſich erſt
beruhigen, ſammeln mußte, ehe ſie wieder ſprechen
konnte. Und als es fo weit war, ſagte fie ſanft und über-
redend: „Sei doch vernünftig, Franz, überlege und
ſage dir dann ſelbſt, ob es ſo bleiben kann!“
„Sobald ich ſie gefunden habe, wird es anders
werden, eher nicht!“ verſetzte er hartnäckig.
„Hör mich doch nur an —“
„Jedes Wort iſt überflüſſig, ich ändere nichts, ich
weiche, ich ruhe nicht, bis ich am Ziele bin, bis meine
Verheißung ſo vor mir auf der Leinwand ſteht, wie ich
ſie vor mir ſehe!“
„Denk doch an deinen Künſtlerruf! Du kommſt
ja in Vergeſſenheit, alle Mühen, alle Arbeit deiner
früheren Jahre gehen dir verloren, ſpielſt du fortgeſetzt
den Einſiedler!“
„um mich ift dir's ja gar nicht zu tun — nur um dich!
Nach München möchteſt du wieder, dich feiern ie —
das iſt's!“
Mit einem Ruck ſchwang ſich die junge Frau aus
der Hängematte und ſtand vor dem Ciſchchen. „Dieſer
Vorwurf iſt ungerecht! Ich habe dir zur Genüge be-
wieſen, denke ich, daß ich auf das Gefeiertwerden ver-
zichten kann. Wenn es aber auch ſo wäre, dürfteſt du,
dürfte irgendwer es mir verargen? Ich bin noch keine
fünfundzwanzig, ich bin weltgewöhnt, ich bin Künſt—
104 Das Weib an der Krücke. D
lerin fo gut, wie du Künſtler biſt, dennoch habe ich feit
zwei Jahren auf alle Gaben, die mir die Welt bietet,
verzichtet und mich mit dir, um deinetwillen in dieſer
Einſamkeit begraben. Für einen einzigen Winter
wollten wir München verlaffen —“
„Vorausſichtlich, habe ich damals geſagt — voraus-
ſichtlich!“
„Vitte, bis April wollten wir in Nervi bleiben, dann
vielleicht noch für etliche Monate in Rom — ſo haſt
du gejagt! — Und Rom, das wäre auch etwas geweſen.
Wir ſind aber nicht nach Rom gegangen. Wir gingen
von dem gräßlichen Nervi direkt nach Tirol, weil du
dich nach der ‚erhabenen Ruhe“ des Hochgebirges
ſehnteſt, und dort haben wir uns in einem unter Schnee
und Eis verſunkenen Einödhof eingerichtet. Nach der
Ode des Klauſentales begann die noch troſtloſere
Strandidylle, die wir heute noch genießen —“
„Im November nimmt auch ſie ein Ende.“
„Gott ſei Dank!“
„Ich will es dann noch einen Winter mit Nervi
verſuchen und dann —“ |
Nina ließ ihn nicht ausreden. Entſchieden erklärte
ſie: „Da tue ich nicht mehr mit, Franz! Wieder den
ganzen Tag allein in einem froſtigen Hotelzimmer
oder unten an der Marina ſitzen, während du von
Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang deiner Ber-
heißung“ nachläufſt, die ſich nirgends wiederfindet, weil
ſie niemals exiſtierte — nein, dazu bringſt du mich nicht!“
Des Malers Züge verfinſterten ſich wie unter
einem ſchweren Wolkenſchatten. Aber ruhig, als wäre
es ſo ſelbſtverſtändlich, ſagte er: „Halte das, wie du
willſt. Ich zwinge dich nicht zum Witgehen, wenn dir's
widerſtrebt, obgleich ich das volle Recht hätte —“
„Bitte, das haft du nicht, denn du wußteſt, daß
0 Novelle von Carola v. Eynatten. 105
eine Geigenkünſtlerin in der Welt leben muß. Und ich
habe mir zudem die fernere Ausübung meiner Kunſt
vorbehalten. Woher alſo willſt du das Recht nehmen,
mich daran zu hindern?“
„Laß das! Es iſt zwecklos, ſich um Nebendinge zu
zanken. Ich gehe unter allen Umſtänden wieder nach
Nervi. Vorige Woche war ich in drei einander folgenden
Nächten dort, und jedesmal habe ich das Mädchen von
San Hilario genau ſo wiedergeſehen wie damals —“
„Aber, Franz, das iſt doch kraſſer Aberglaube!“
rief Nina entſetzt.
Läſſig hob er die Schultern. „Mag fein. Ich habe
aber auch noch mehr im Traum erſchaut in den drei
aufeinander folgenden Nächten. Daß ich nach Nervi
gehe, ſteht alſo feſt — du aber kannſt meinetwegen für
den nächſten Winter nach München oder wohin du ſonſt
willſt. Im Frühling zeigt ſich's dann, was ich weiter
tue. — Biſt du damit einverſtanden?“
Die Augen der jungen Frau waren immer weiter,
ihre Züge waren immer bleicher geworden. Er ſah
es nicht, er ſchaute wieder hinaus aufs Meer.
Alles hätte ſie erwartet — alles, nur das Angebot
einer Trennung nicht. Sie zauderte mit der Entſchei⸗
dung. Die Großſtadt, das Leben lockten mächtig, Nervi
grinſte fie an wie eine Fratze aus hohlen, leeren Augen-
höhlen — aber es iſt nicht leicht, ein Band zu lockern,
das fürs Leben geknüpft wurde. Sie hatte die Emp-
findung, daß ihr Mann ſie vor eine ſchwerwiegende,
folgenreiche Entſcheidung geſtellt habe. Dann ſtand
auch der Trotz auf. Wenn ihm nichts an der Trennung
lag, wenn er nur an fih und feine perſönlichen Inter-
eſſen dachte, wenn er vielleicht lieber allein —
„Ich bin einverſtanden, ich gehe nach München!“
erklärte ſie feſt.
104 Das Weib an der Krücke. o
lerin fo gut, wie du Künſtler bift, dennoch habe ich feit
zwei Jahren auf alle Gaben, die mir die Welt bietet,
verzichtet und mich mit dir, um deinetwillen in dieſer
Einſamkeit begraben. Für einen einzigen Winter
wollten wir München verlaſſen —“
„Vorausſichtlich, habe ich damals geſagt — voraus-
ſichtlich!“
„Bitte, bis April wollten wir in Nervi bleiben, dann
vielleicht noch für etliche Monate in Rom — ſo haſt
du gejagt! — Und Rom, das wäre auch etwas geweſen.
Wir ſind aber nicht nach Rom gegangen. Wir gingen
von dem gräßlichen Nervi direkt nach Tirol, weil du
dich nach der ,‚erhabenen Ruhe“ des Hochgebirges
ſehnteſt, und dort haben wir uns in einem unter Schnee
und Eis verſunkenen Einödhof eingerichtet. Nach der
Ode des Klauſentales begann die noch troſtloſere
Strandidylle, die wir heute noch genießen —“
„Im November nimmt auch ſie ein Ende.“
„Gott ſei Dank!“
„Ich will es dann noch einen Winter mit Nervi
verſuchen und dann —“
Nina ließ ihn nicht ausreden. Entſchieden erklärte
ſie: „Da tue ich nicht mehr mit, Franz! Wieder den
ganzen Tag allein in einem froſtigen Hotelzimmer
oder unten an der Marina ſitzen, während du von
Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang deiner Ber-
heißung“ nachläufſt, die fih nirgends wiederfindet, weil
ſie niemals exiſtierte — nein, dazu bringſt du mich nicht!“
Des Malers Züge verfinſterten ſich wie unter
einem ſchweren Wolkenſchatten. Aber ruhig, als wäre
es ſo ſelbſtverſtändlich, ſagte er: „Halte das, wie du
willſt. Ich zwinge dich nicht zum Mitgehen, wenn dir's
widerſtrebt, obgleich ich das volle Recht hätte —“
„Ditte, das haft du nicht, denn du wußteſt, daß
2 Novelle von Carola v. Eynatten. 105
eine Geigenkünſtlerin in der Welt leben muß. Und ich
habe mir zudem die fernere Ausübung meiner Kunſt
vorbehalten. Woher alſo willſt du das Recht nehmen,
mich daran zu hindern?“
„Laß das! Es iſt zwecklos, ſich um Nebendinge zu
zanken. Ich gehe unter allen Umftänden wieder nach
Nervi. Vorige Woche war ich in drei einander folgenden
Nächten dort, und jedesmal habe ich das Mädchen von
San Hilario genau ſo wiedergeſehen wie damals —“
„Aber, Franz, das iſt doch kraſſer Aberglaube!“
rief Nina entſetzt.
Läſſig hob er die Schultern. „Mag ſein. Ich habe
aber auch noch mehr im Traum erſchaut in den drei
aufeinander folgenden Nächten. Daß ich nach Nervi
gehe, ſteht alſo feſt — du aber kannſt meinetwegen für
den nächſten Winter nach München oder wohin du ſonſt
willſt. Im Frühling zeigt ſich's dann, was ich weiter
tue. — Biſt du damit einverſtanden?“
Die Augen der jungen Frau waren immer weiter,
ihre Züge waren immer bleicher geworden. Er ſah
es nicht, er ſchaute wieder hinaus aufs Meer.
Alles hätte ſie erwartet — alles, nur das Angebot
einer Trennung nicht. Sie zauderte mit der Entſchei⸗
dung. Die Großſtadt, das Leben lockten mächtig, Nervi
grinſte fie an wie eine Fratze aus hohlen, leeren Augen-
höhlen — aber es iſt nicht leicht, ein Band zu lockern,
das fürs Leben geknüpft wurde. Sie hatte die Emp-
findung, daß ihr Mann ſie vor eine ſchwerwiegende,
folgenreiche Entſcheidung geſtellt habe. Dann ſtand
auch der Trotz auf. Wenn ihm nichts an der Trennung
lag, wenn er nur an fih und feine perſönlichen Inter-
eſſen dachte, wenn er vielleicht lieber allein —
„Ich bin einverftanden, ich gehe nach München!“
erklärte ſie feſt.
106 Das Weib an der Krücke. D
Wels nickte. „Gut. Willſt du gleich gehen oder war-
ten bis nach Vollendung meiner angefangenen Bilder?“
„Wie es dir lieber iſt.“
„Mir iſt's gleichgültig. Ich überlaſſe es dir, zu be-
ſtimmen.“
Wieder zögerte Nina, dann ſagte ſie: „Ich warte.“
„Gut. Es wird aber wahrſcheinlich November
werden, bis ich zum Aufbruch bereit bin.“
„Habe ich hier ſo lange ausgehalten, ſo halte ich's
auch noch ein paar Wochen länger aus.“
„Wie du willſt,“ erwiderte er aufſtehend. „Das
übrige zu beſprechen und zu regeln, bleibt uns noch
lange Zeit.“
Damit wendete er ſich und ging dem Hauſe zu, in
dem er verſchwand.
Nina Wels warf ſich wieder in die Hängematte —
fo ungeſtüm, daß fie eine ganze Weile heftig ſchwang.
Eine tiefe, eine brennende Bitterkeit quoll in ihr auf.
Franz ſah, dachte und fühlte ſeit zwei Jahren nichts
als ſeine Verheißung, die ein ewiger Traum zu bleiben
drohte. Dieſer Egoiſt! Ob ſie ſich in Langweile, in
Sehnſucht verzehrte, ob ſie in dieſer ihr aufgezwungenen
troſtloſen Einſamkeit als Künſtlerin zugrunde ging,
dafür hatte er keinen Gedanken übriggehabt, nicht
einen einzigen! Es war empörend — empörend!
And fie redete fidh fo hinein in ihre Bitterkeit, daß
das erſt nur Gedachte ſich in Gefühle umſetzte, die
ſie bis zur Unempfindlichkeit gegen alles Außerliche
beherrſchten.
Wer ihr dieſe Wendung vorhergeſagt hätte, als ſie,
die raſch der Ruhmeshöhe entgegengehende junge.
Künſtlerin, dem preisgekrönten Maler der gen Himmel
ſchwebenden „Sehnſucht“ zum Altar gefolgt war! Wer
es ihr vorhergeſagt hätte!
o Novelle von Carola v. Eynatten. 107
Als wäre es erft vor wenigen Wochen gewefen, fo
deutlich ſtand der Tag vor ihr, an dem fie ihn zum erſten
Male geſehen, und der ſie ſofort zu ſeiner Braut gemacht
hatte. Es war der Mittag nach ihrem zweiten Münche-
ner Konzert geweſen, als er vor ſie hin getreten war
und ohne jede Einleitung ernſt und ſchlicht gefragt
hatte: „Nina Brückner, Sie ſind für mich die Erfüllung
des Frauenideals, Sie ſind die Künſtlerin mit der echt
weiblichen Seele — wollen Sie meine Frau werden? —
Meine „‚Sehnſucht“ — fie ift der Ausdruck der in mir
webenden — hat mich zum bekannten Maler gemacht,
meine, Verheißung“ wird mich zum berühmten machen.
Sie iſt zwar bis jetzt nur ein mich umſchwebender
Traum, aber ſie wird Wirklichkeit werden. Ob in einem,
ob in zwei, ob erſt in zehn Jahren bleibt ſich gleich,
denn mein Onkel, der Großinduſtrielle Edelmeyer in
Nürnberg, bewilligt mir mit meiner Verheiratung eine
Jahresrente von zwölftauſend Mark. Davon läßt ſich's
leben. Auch habe ich ſelbſt ein kleines Kapital und
verdiene ſchon jetzt ein paar tauſend — wollen Sie
alfo?“
Und fie hatte, fortgeriſſen von den Impulſen des
Augenblicks, fortgeriſſen von ihrer Bewunderung für
ſeine „Sehnſucht“, geantwortet: „Ich will es, Franz
Wels! Nur will ich nicht, daß Sie ſich an mich binden,
ohne mich zu kennen. Wir wollen uns in einem halben
Jahr verloben.“
„Nein, heute noch ſoll es geſchehen. Ich habe Sie
geſtern ſpielen hören, und Ihre Geige hat mir geſagt,
daß in Ihnen alles wohnt, was gut iſt auf Erden.“
So war ſie ſeine Braut geworden, wenige Stunden
nachdem er zu ihr gekommen, und keine Sorge für die
Zukunft war in ihr wach geworden, kein Zweifel an
ihm, kein Zweifel am Glück. Wer die Sehnſucht fo
108 Das Weib an der Krücke. D
groß, fo edel darzuſtellen wußte, war noch mehr als
ein guter Menſch!
Drei Monate ſpäter hatte ſie an einem Samstag
die von Neugierigen dicht beſetzte Frauenkirche an
ſeinem Arm als ſein Weib verlaſſen, und dieſem Gange
war ein Jahr brauſenden Glücks gefolgt.
Sie hatten es in München verlebt unter mancherlei
künſtleriſchen Erfolgen, unter unermüdlicher Arbeit,
unter unermüdlichem Streben.
„Daß ihr beide euch gefunden habt, iſt ein großes
Glück — beſonders für Franz!“ hatte Onkel Edelmeyer
allemal geſagt, wenn er zu ihnen nach der Reſidenz
und wenn ſie zu ihm nach Nürnberg gekommen waren.
Als aber das zweite Weihnachtsfeſt, das ſie als
Mann und Frau begingen, herankam, da hatte ihn die
Erinnerung an das „Mädchen von San Hilario“, da
hatte ihn auch die unbezwingliche Ztalienſehnſucht ge-
packt, die dem Germanen unausrottbar im Blute liegt
— da hatte er nicht geruht, bis ſie eingewilligt, das
traute Feſt auf fremdem Boden mit ihm zu feiern.
Wochenlang hatte er ihr vorgeſchwärmt von dem Zauber
Nervis, vom Zauber der liguriſchen Küſte, die ſich
unermeßlich dehnt in ihrer tiefen und doch kriſtall-
klaren Bläue, daß ſie ſchließlich freudig gegangen war —
ihrem Elend entgegen.
Die Feſttage waren ihre letzten Glückstage geweſen,
dann hatte die atemloſe Jagd nach dem „Mädchen von
San Hilario“ begonnen, dann hatte ſich der Raum, den
ſie im Leben ihres Mannes einnahm, von Tag zu Tag
enger zuſammengezogen. Heute nun ſtand ſie vor
der Trennung von ihm. Nur vor einer zeitweiligen,
aber es konnte doch nie wieder ſo zwiſchen ihnen werden,
wie es geweſen war! —
Gegen Abend wurde die Schwüle noch unerträg—
o Novelle von Carola v. Eynatten. 109
licher, obgleich der Himmel allmählich die Farbe des
Meeres angenommen hatte, die Sonne hinter dichten
Dunſtſchleiern in die Flut ſank. Nina, hingenommen
von ihren Gedanken und gärenden Gefühlen, empfand
es nicht. Sie ſchaukelte läſſig weiter in ihrer Hänge-
matte, ankämpfend gegen das heiße Naß, das ſich
unter ihren dunklen Wimpern hervordrängen wollte.
Erſt als die Dämmerung ſtärker wurde, ſuchte auch
ſie das Haus auf.
Ninas Zimmer, die gemeinſchaftlichen Wohn-
räume und die Wirtſchaftsgelaſſe befanden fih im Erd-
geſchoſſe, der obere Stock und die ihm als Atelier
dienende Giebelſtube waren Wels allein überlaſſen.
Er wollte ganz ungeſtört ſein, niemand ſehen noch
hören, wenn er nicht ſelbſt Geſellſchaft ſuchte.
In ihrem Studio, wie fie das neben dem Schlaf-
zimmer liegende Gemach nannte, war es erſtickend heiß,
und ihr erſter Weg führte nach den einander gegenüber-
liegenden Fenſtern, deren eines der See, deren anderes
dem Lande zugekehrt war. Weit ſchlug ſie beide zurück,
jo daß ein Lufthauch kühlend den Raum durchzog,
fie doch wieder atmen konnte. Heute, unter dem Doppel-
druck der Gemütsverſtimmung und der großen Hitze,
heute, wo ihr zumute war, als hätte ſie jemand ſehr,
ſehr Liebes begraben, war ihr der Atem ohnehin
beengt.
Dann trat ſie an ein Hängeſchränkchen an der
Wand und holte ihre Geige heraus, ein unſcheinbares
Inſtrument im ſchlichten, gebrauchsſchwarzen Holz-
gehäuſe und doch Tauſende wert, denn es war eine
Alt- Cremoneſer Geige. Zärtlich betrachtete fie die treue
Freundin, die ſie ſo lange nicht mehr beachtet hatte
aus Nüdficht für ihren Mann, den jeder Laut in der
Umgebung des Hauſes ſtörte und verdroß.
—
110 Das Weib an der Krücke. D
Jetzt konnte fie nicht anders, jetzt mußte fie fie hervor-
holen und in der Zwieſprache mit ihr dem Ausdruck
geben, was in ihr wogte und nagte.
Ob ſie wohl noch ſpielen konnte wie ſonſt, oder ob
ihre Kunſt gelitten hatte in dieſer öden Dünen; und
Waſſerwildnis? Eine jähe Angſt befiel ſie. Am offenen
Fenſter ſtehend, führte ſie den Bogen faſt zaghaft
prüfend über die leiſe erklingenden Saiten.
Es ging noch!
Bald quollen die Töne wie Perlen unter dem wieder
feſt und ſicher geführten Strich — ihre Geige hatte das
Klagen und Weinen, das Singen und Jauchzen noch
nicht verlernt, der Bogen gehorchte ihrem Willen wie
zuvor, wie in ihrer beſten Zeit.
Sich ſelbſt vergeſſend, ſpielte und ſpielte ſie, ſpielte
ſie ſich die Ruhe, ſpielte ſie ſich ein neues Hoffen in die
gequälte Seele hinein.
Brauſend flog ein Windſtoß um das Bohlenhaus,
rüttelte in zügelloſer Wut an Türen und Fenſtern,
ein wilder Vorreiter des heraufſteigenden Kampfes der
Elemente. Nina hörte, fühlte ihn nicht. Blitze ſchoſſen
über den Himmel, der Donner miſchte ſich mit dem
Brauſen und Heulen der vom Sturm aufgepeitſchten
Fluten zu einer erſchütternden Sinfonie. Nina achtete
nicht darauf. Die Geige jauchzte, triumphierte hinein
in den Aufruhr der Natur, als könnte ſie ihn mit ihrem
Singen und Klingen meiſtern, übertönen.
Ihre Kunſt wenigſtens beſaß ſie noch und mit u.
auch ein gut Teil Glück!
Und fie war es auch nicht, die das Geſpenſt berbei-
gerufen, das heute zwiſchen fie und Franz getreten.
Vielleicht hatte er es ebenſowenig gerufen, war es
von ſelbſt gekommen. Daß ſie endlich ungeduldig
geworden, daß ſie ſich nach dem Klausnerleben, das
o Novelle von Carola v. Eynatten. 111
hinter ihr lag, geweigert hatte, nochmals nach Nervi
zu gehen, konnte ihr wirklich nicht angerechnet werden.
An dieſem Abend ſah ſie ihren Mann nicht mehr.
Wie ſo oft in letzter Zeit ließ er ſich die Mahlzeit
in ſeine Arbeitsräume hinaufbringen, in denen er auch
die Nacht auf einem Schlafdiwan zubrachte. Das war
ebenfalls nichts Neues, alſo ohne tiefere Bedeutung.
Es geſchah allemal, wenn eine Idee ſich zu feſter Geſtalt
verdichten wollte und er jede Ablenkung ſcheute.
Am anderen Morgen kam er zum Frühſtück herunter,
und ſeine erſten Worte waren: „Du haſt geſtern abend
wundervoll geſpielt, Nina.“
Sie errötete vor Vergnügen.
Er aber fuhr fort: „Willſt du mir einen Gefallen
tun, ſo ſpiele jeden Abend um die Zeit wie geſtern.
Es erleichtert mir das geiſtige Geſtalten.“
Von da ab ſpielte Nina Abend für Abend, und als
es zu kühl wurde, um am offenen Fenſter den Bogen
zu führen, öffnete ſie die Tür nach dem Vorraum, wie
Wels es oben in ſeinem Atelier tat.
Dieſes Spielen und dieſes Lauſchen war aber ſo
ziemlich die einzige Beziehung zwiſchen ihr und ihm.
Sie ſahen ſich felten, höchſtens bei Tiſche, und wenn er
zu den Mahlzeiten im Eßzimmer erſchien, war er faſt
ſtets wortkarg, in ſich verſunken und hielt ſich ſelten
lange unten auf. Von ſeinen Winterplänen ſprach er
ſo wenig, als er nach den ihrigen fragte, und auch über
ſein künſtleriſches Schaffen äußerte er ſich nicht. Sie
wußte nicht einmal, was ihn gegenwärtig beſchäftigte,
woran er arbeitete, bis ſie eines Tages ſich danach
erkundigte.
„An meiner „Verheißung“ natürlich, und ich glaube,
ſo nahe wie diesmal bin ich dem mir vorſchwebenden
Bilde noch nie gekommen,“ erwiderte er.
112 Das Weib an der Krücke. 2
„Wie mich das freut!“ rief Nina voll Wärme.
„Komm mit hinauf,“ forderte Wels ſie auf. „Das
Bild iſt zwar noch nicht fertig, aber was noch fehlt, ſind
Kleinigkeiten, deren Mangel weiter nicht ſtört.“
Die junge Frau blieb auf der Schwelle überrafcht
ſtehen. Alle Staffeleien waren beſetzt mit mehr oder
minder vorgeſchrittenen Gemälden, und an den Wänden
hingen mehrere vollendete, die ihr gleichfalls fremd
waren. Er mußte ſehr — ſehr fleißig geweſen ſein
in der letzten Zeit.
„So habe ich wenigſtens nicht umſonſt in dieſer
Einſamkeit vegetiert!“ dachte ſie ehrlich erfreut.
Während ihre Augen langſam den beinahe faal-
artigen Naum durchliefen, den der Maler fih durch
das Niederlegen zweier der hölzernen Zwiſchenwände
geſchaffen, hatte er eine gewaltige Doppelſtaffelei, auf
der eine Leinwand von mehreren Quadratmetern ſtand,
vorſichtig herumgeſchoben, ſo daß das volle Licht auf die
bemalte Fläche fiel, und nun wies er ſeiner Frau einen
Platz an, von dem aus ſie ſein Werk beſichtigen ſollte.
Eine feine Nöte floß über ihr ausdrucksvolles Ge—
ſicht, als fie ſtumm, mit verſchlungenen Händen davor-
ſtand, und in ihren dunklen Augen leuchtete freudige
Bewunderung auf.
Dann wendete fie fih zu Wels und ſagte ſtrahlend,
lebhaft bewegt: „Franz, diefe auf goldig durchleuch-
teter Wolke erdenwärts ſchwebende „Verheißung“ über-
trifft deine berühmte „‚Sehnſucht“ noch bei weitem! —
Dieſes Werk wird dich unter die größten Meiſter deiner
Kunſt reihen!“
Der Schimmer eines Lächelns ging über ſeine
bleichen, ernſten Züge, und er ſagte leiſe: „Kleine
Enthuſiaſtin! Wenn nicht ich das Bild gemalt hätte,
würdeſt du viel nüchterner und richtiger urteilen!“
o Novelle von Carola v. Eynatten. 113
„Du biſt doch nicht unzufrieden damit?“ rief fie
faſt angſtvoll.
„Ja und nein. Es ift kein erſtklaſſiges Meiſterwerk
nach meiner Schätzung, aber es iſt ein gutes Bild.
Das aber, was ich will, was vor mir ſteht, ift es jeden-
falls noch immer nicht, und ſolange mir feine Verwirk—
lichung nicht gelungen iſt, werde ich immer wieder von
vorne anfangen,“ erwiderte er.
„So ſoll auch dieſe „Verheißung“ in eine Ede wan-
dern?“ fragte Nina bekümmert.
„Höchſt wahrſcheinlich wird das ihr Los ſein.“
Nina ſah bitter enttäuſcht und unglücklich aus.
Ihres Mannes fixe Idee ſchien unheilbar — er ging
noch zugrunde an ihr.
Er aber, als hätte er erraten, was ſie dachte, was in
ihr vorging, verſetzte: „Heute hältſt du mich für einen
Narren — ich hoffe jedoch, es wird ein Tag kommen, an
dem du dich freuſt, daß ich deiner Verſucherſtimme kein
Gehör gegeben habe.“
Nina ſah nicht aus, als ob ſie daran glaubte.
„Du biſt doch auch nie vors Publikum getreten, ehe
du die zum Vortrag gewählten Stücke nicht ſo ſpielen
konnteſt, daß du vollſtändig zufrieden mit dir warſt!“
„Gewiß nicht, nur war ich nicht ſo anſpruchsvoll,“
antwortete ſie. |
„Im!“ |
„Auch du warſt es früher nicht, Franz, ſonſt hätteſt
du nicht die, Sehnſucht“ hinausgehen laſſen, die, ſo ſchön
ſie iſt, doch nicht heranreicht an dieſes überwältigende
Bild.“
„Damals war ich drei oder vier Jahre jünger, als
ich heute bin. Die Leiſtungen müſſen mit den Jahren
ſteigen. Zudem kann ich nicht anders, ich muß ſuchen —
ſuchen und verſuchen. Es zwingt mich dazu, es iſt
1914. V. 8
114 Das Weib an der Krücke. a
ſtärker als ich! Die Kunſt ift keine Magd, die uns dient
— ſie iſt eine abſolute Herrſcherin, die uns zertritt,
ſind wir ihr nicht blind untertan.“
Nina, die ihren Mann während dieſer Rede nicht
aus den Augen gelaſſen, erſchrak über ſein Ausſehen,
über die ſeltſame, die beinahe fanatiſche Glut ſeiner
Augen. Wenn er ſo weitermachte, verzehrte er ſich
in dem Ringen um etwas, das wohl unerreichbar war.
Sie ſchwieg aber, ſie ſchwieg aus der Überzeugung
heraus, daß jedes weitere Wort verloren wäre, ihn bloß
aufregen würde.
So trat ſie ohne eine Bemerkung vor die übrigen,
ihr noch unbekannten Gemälde ihres Mannes, die alle
die ſichere Hand des Meifters, den edlen Charakter
zeigten, der alle ſeine Werke auszeichnete.
„Eines ſo ſchön wie das andere!“ ſagte ſie endlich
halblaut, mehr zu fih als zu ihm.
„Lückenbüßer — Alltagskitſch, wie er von Taufenden
fabriziert wird! Ich habe ſie nur gemalt, um wieder
einmal genannt zu werden, ein paar Bilder zu ver-
kaufen,“ ſagte er abweiſend.
Über eine Stunde hatte der Beſuch im Atelier ge-
dauert, und als Nina ging, ſagte Wels: „Heute und
morgen arbeite ich noch, dann geht's ans Packen.“
„Und an die Trennung!“ ſetzte ſie in Gedanken
hinzu. — | Eou
Am anderen Tag ftieg fie ungerufen in den oberen
Stock hinauf und leiſtete Wels ſtillſchweigend Gebilfen-
dienſte beim Einpacken, die ebenſo ſchweigend an—
genommen wurden.
Dabei beſſerte ſich aber ſeine Stimmung ſichtlich.
Er nahm an den Mahlzeiten wieder regelmäßig teil,
begleitete feine Frau bei ihren gewohnten Spazier-
gängen am Strand, und des Abends ſaßen ſie zuſammen
OD Novelle von Carola v. Eynatten. 115
in dem behaglichen Wohnzimmerchen im Kajütenſtil.
Dann holte Nina ihre Geige, oder Wels plauderte von
Nervi und von ſeinem Verlangen, die ihm ſo liebe
Stätte wiederzuſehen, wieder hinauszuſchauen auf die
ſaphirblauen Fluten des Liguriſchen Meeres, wieder
unter Olbäumen und Palmen zu ſitzen.
Nichts aber in feinen Äußerungen ließ erkennen,
ob er noch mit einer längeren Trennung von ihr rech-
nete, ob er dieſen Gedanken aufgegeben oder ob er
die ganze Sache vergeſſen hatte. —
Das Packen der Bilder, der Geräte und der vielen
präparierten Seetiere, die der Maler im Laufe der
Zeit gekauft hatte, war eine heikle Arbeit und nahm
länger in Anſpruch, als er gedacht hatte. Dann kam noch
die Übergabe des Haufes an den Bevollmächtigten des
Beſitzers, eines Handelskapitäns, und an einem trüben,
feuchten Novembermorgen ſtand endlich der Wagen
vor der Tür, der das Ehepaar nach der Bahnſtation
bringen ſollte. |
Nina ſtand reiſefertig im Eßzimmer, und Wels legte
eine zierliche Brieftaſche von Schlangenhaut vor ſie
auf den Tiſch.
„Nimm das,“ ſagte er. „Es ſind tauſend Mark
drinnen. Bis zum Erſten wirſt du mit ihnen auskommen,
denke ich. Unſere Münchener Wohnung iſt ja mit
allem Nötigen ſo reichlich verſehen, daß du nicht viel
anzuſchaffen haben wirſt, und bis Frankfurt am Main
geht die Neiſe auf meine Koſten.“
Alfo doch Trennung! N
Nina ſchob die Brieftaſche zurück und ſagte leiſe:
„Danke — es ift überflüſſig. Du weißt, meine Erſpar—
niſſe und mein Erbe liegen auf der Bank und bilden ein
ſehr anſtändiges Kapital.“
Er aber wiederholte: „Nimm! Ich will nicht, daß
116 Das Weib an der Krücke. D
meine Frau aus ihrer Taſche lebt. Du erhältſt jeden
Monat fünfhundert .
„Es iſt nicht nötig —
„Bitte!“ fiel er ihr mit einer eee Ge-
bärde ins Wort.
Die junge Frau fügte fih. Als aber der Wagen ſchon
ſeit einer längeren Weile die naſſe Landſtraße entlang
fuhr, begann ſie doch nochmals: „Getrennt von dir,
iſt es mir peinlich, von deinem Gelde zu leben, Franz.
Nicht deinetwegen, mir iſt's um Onkel Karl. Er hat
ſeine eigenen Anſichten und wird es höchſt unpaſſend
finden, daß wir für einen ganzen Winter auseinander
gehen.“
„Das kommt anderswo auch vor. Ich werde ihm
die erforderlichen Erklärungen geben.“
„Er wird fie nicht gelten laffen, und nach allem, was
er für uns tut, (hulden wir ihm große Rückſicht. — Du
willſt aber wohl jedenfalls lieber allein nach Nervi
gehen?“
Man hörte die ſchwere Überwindung, die dieſe
Frage ſie koſtete.
„Ja,“ antwortete er ruhig, „mir iſt's lieber, wenn
du's bei den Veſtimmungen bewenden läßt, die wir
getroffen haben. Ich werde tagelang, mitunter viel-
leicht wochenlang von Nervi abweſend ſein, und es
wäre mir peinlich, dich allein dort zu wiſſen. Begleiten
aber könnteſt du mich auf den Streifereien, wie ich
ſie vorhabe, auch nicht.“
„Gut,“ ſagte Nina mit einem ſtolzen Neigen ihres
Kopfes, „für mich ift München natürlich weit an-.
genehmer.“
„Das denke ich auch.“
Sie war tief verletzt. Wie töricht, daß fie ihm wenig-
ſtens indirekt ihre Begleitung angeboten hatte! Er
ao Novelle von Carola v. Eynatten. 117
wünſchte fie doch gar nicht, er wollte allein fein — und
ſie hätte das wiſſen können, wiſſen müſſen. |
Nun, er follte feinen Willen haben, fie war ſogar
jetzt zu einer dauernden Trennung bereit! Als Künſt—
lerin konnte ſie ihr nur vorteilhaft ſein!
Der Winter war raſch vergangen, war ſchon bis
in die letzte Faſchingswoche vorgerückt. Wenige Wochen
noch, dann brach der Frühling an, wenigſtens der
Kalenderfrühling.
Als fie das überdachte, fak Nina Wels im Ankleide-
zimmer ihrer eleganten Münchener Wohnung und ließ
ſich von einem Friſeur den hübſchen, edel geformten
Kopf in ein Meduſenhaupt verwandeln. Heute hielten
die Münchener Künſtler ihr großes Maskenfeſt ab, zu
dem auch ſie geladen war. Sie wollte als Meduſa
erſcheinen in einem weißen Griechengewand von
Leinenbatiſt, von deſſen Gürtel ſich einige Dutzend
Schlangen bis an den breiten Purpurſaum nieder-
ringelten.
Sie hatte fich febr gut abgefunden mit ihrer Stroh-
witwenſchaft. Über die erſte, die ſchwerſte Zeit hatten
ihr die Verſtimmung über die ihr widerfahrene Krän—
kung, über ihres Mannes Gleichgültigkeit und der
enthuſiaſtiſche Empfang hinweggeholfen, den ihre
Freunde, den die Münchener Geſellſchaft ihr bereitet
hatten. Dann waren die Gewohnheit gekommen und die
Zerſtreuungen eines ſehr lebhaften Verkehrs. Sie war
in die Fluten des geſellſchaftlichen Treibens viel tiefer
hineingezogen worden, als fie gewollt hatte. Sie ver-
brachte nur ſelten einmal einen Abend allein daheim.
Auch öffentlich geſpielt hatte ſie ſchon zweimal, freilich
nur in Wohltätigkeitskonzerten größten Stiles. Das
ſchadete aber nicht. Mit dem Verdienen hatte ſie es
118 Das Weib an der Krücke. o
nicht eilig, und der Erfolg war nicht ausgeblieben.
Die Zuhörerſchaft und die Preſſe hatten ihre Dar-
bietungen mit ungeteilter Begeiſterung aufgenommen.
Wo ſie ſich zeigte, wurde fie noch eifriger, noch ftürmi-
ſcher umdrängt, umſchmeichelt, umworben als vor ihrer
Verheiratung. Ihrer Kunſt und deren Wirkung auf
die Gemüter, ihrer geſellſchaftlichen Stellung war fie
ſicher, und das war gut, denn ihr Mann ſtrebte offenbar
nach der Wiedererlangung ſeiner Freiheit, und ſie mochte
nicht lebenslang ſeine Penſionärin ſein. Auf eigenen
Füßen wollte ſie ſtehen, ſelbſtändig nach jeder Rich-
tung, und ihre dreijährige Ehegemeinſchaft mit Franz
Wels als eine Epiſode betrachten, die nur kurze Zeit
ein flammendes Licht in ihr Leben getragen hatte.
Sie wußte ſehr wenig von ihrem Manne. Briefe
hatte ſie ganze drei erhalten, die zwar einige Seiten
lang waren, doch ſo wenig enthielten wie ſeine zweimal
in der Woche pünktlich eintreffenden Anſichtskarten,
die ſie regelmäßig, aber ebenſo kurz beantwortete.
Es ginge ihm gut, er ſei zufrieden und arbeite ſehr viel,
das war der ganze Inhalt ſeiner Mitteilungen. Das
war auch alles, was ſie wußte, freilich nicht alles, was
ſie vermutete. Denn ſie las zwiſchen den Zeilen, daß
er ſich in der gehobenſten Stimmung befand, und ſie
ſchloß daraus, daß er ſich ſeines Alleinſeins freute.
Seit etwa zehn Tagen vermutete ſie auch, daß er allein
zu bleiben, die zeitweilige Trennung in eine dauernde
zu wandeln wünſchte.
Das kam ſo.
Der Impreſario Robitſchek hatte ihr vor einigen
Wochen eine ſommerliche Konzertreiſe durch die deut-
ſchen und öſterreichiſchen Alpenländer vorgeſchlagen,
und ihr Mann ließ ihr freie Hand. Ohne ſeiner ferneren
Pläne nur andeutungsweiſe zu gedenken, hatte er ihr
o Novelle von Carola v. Eynatten: 119
geſchrieben: „Auch mir erſcheint Nobitſcheks Angebot
äußerſt vorteilhaft, und ich bitte dich in dieſer Angelegen-
heit, unbekümmert um mich, nur deinen perſönlichen
Wünſchen zu folgen. Ich will und kann mich dir nicht
hemmend in den Weg ſtellen. Handle, als wäreſt du
nicht verheiratet, und ſei verſichert, daß ich mich über
deine zweifellos großen Erfolge herzlich freuen werde.“
Das war doch ſonnenklar, Vetter Leinz mochte noch
ſo entſchieden das Gegenteil behaupten! Es hieß nicht
mehr und nicht weniger als: „Geh du deine Wege, wie
ich die meinigen gehe!“
Als ſchlangenſtarrende Meduſa ſtand nun die junge
Frau vor dem Spiegel, als Zetti, ihr Mädchen, ein
buntprächtiges Chamäleon hereinführte. Es war Vetter
Leinz, der bevorzugte Maler ſchöner Frauen.
Er blieb unter dem hellen Türbehang ſtehen und
rief: „Unheimlich ſchön!“
Über Ninas Geſicht flog ein Lächeln der Freude.
„Hat dir Franz das Koſtüm entworfen?“
Nina wendete halb den Kopf und antwortete ſpöttiſch:
„Als ob er ſeiner Würde ſo ſehr vergeſſen könnte!“
„Wenn's für dich iſt!“
„Viſt du naiv!“ entgegnete fie mit ſcharfem Lachen.
Da wußte Rudolf Leinz, daß ſich die Wolken noch
nicht verflüchtigen wollten. „Ich glaube, du kennſt
Franz trotz eures dreijährigen Zuſammenlebens noch
recht wenig,“ ſagte er vorwurfsvoll. „Er iſt der beſte
Menſch auf der Welt und hat ein ſo anhängliches
Gemüt wie wenige.“
„Er beweiſt es mir ja täglich!“
„Nina!“ bat Leinz bekümmert.
„Warte nur feine Antwort auf meinen nächſten
Brief ab, in dem ich ihm die gerichtliche Löſung unſerer
Ehe anbieten werde.“
120 Das Weib an der Krücke. o
Áe
„Nein, das wirft du nicht tun!“ rief der Malcr
außer ſich.
Sie trat vor ihn hin und bohrte ihre aufflammenden
Augen in die ſeinigen. „Glaubſt du, ich gehöre zu jenen
Frauen, die fih jo allgemach, gewiſſermaßen auf Um-
wegen abſchütteln laſſen, wenn man ihrer überdrüſſig
geworden iſt?“
„Franz iſt deiner nicht überdrüſſig, will dich nicht
abſchütteln! Daß fein Betragen ſonderbar ift, gebe ich
ja zu, und hätteſt du es erlaubt, ſo würde ich ihn längſt
zur Rede geſtellt haben. Ich feke aber nur ein Miş-
verſtändnis voraus und —“
„Darum müßte ich wiſſen!“
„Das iſt nicht geſagt.“
„Das iſt nicht geſagt? Bei einem ſolchen Egoiſten!“
„In gewiſſem Sinne iſt jeder Künſtler ſelbſtſüchtig.
Er muß es ſein, denn er unterſtellt ſeiner Kunſt alles,
auch das eigene Behagen. Tut er's nicht, fo leidet
ſeine künſtleriſche Entwicklung not.“
Was Leinz aber auch ins Treffen führen mochte,
es blieb ohne Wirkung.
Das Feſt ſtand auf ſeinem 9 der Nauſch
des Mumenſchanzes hatte auch die Ernſten, die Älteren
ergriffen, und prickelnde Witzreden ſchwirrten wie Leucht-
kugeln durch die in das Brillantfeuer elektriſcher Licht-
fluten getauchten Säle.
Wie verſtimmt auch Nina Wels gekommen war, ſie
erlag ſchließlich doch der Anſteckung, die von den über-
mutstollen Männlein und Weiblein ausging. Sie
wurde fortgeriſſen von der ſprühenden Luſt ringsum,
vom Humor, vom Witz und Geiſt, deren Gaben ver—
ſchwenderiſch ausgeſtreut wurden, fortgeriſſen auch von
dem wogenden Formen- und Farbenmeer, das feinen
o Novelle von Carola v. Eynatten. 121
Zauber vor ihr entfaltete. Sie machte ſchließlich mit,
ſie überbot ſich gar an launigen Einfällen. Das bunte
Treiben wurde ihr zum Ventil, das der künſtlich nieder-
gehaltenen Erregung der beiden letzten Wochen einen
Ausweg gewährte.
Rudolf Leinz beobachtete ſie kopfſchüttelnd.
War das herzloſer Leichtſinn oder die verzweifelte
Fröhlichkeit jener, die jauchzend und jubilierend dem
Abgrunde entgegentanzen, den ſie ſich wahngeſpornt
ſelber gruben?
Er kannte die Frau ſeines Vetters zu wenig, um
ih ein Urteil zu bilden.
Aber er wollte ſie kennen lernen! —
Ein von Straußen gezogener RNoſenwagen wurde
kurz vor der großen Pauſe in den Saal gefahren, um-
geben von weißgekleideten Genien. Einige Pierrots,
die Nina ſeit einer längeren Zeit ſchon umſchwirrten,
ſchloſſen jetzt einen Kreis um ſie und baten, ſie auf ihren
Thron heben zu dürfen. Und ehe ſie noch antworten
konnte, fühlte ſie ſich ſchon auf eine rieſige Geige ge—
hoben und unter dem Rufe: „Heil der Geigenkönigin!“
nach dem Wagen getragen. Hier richtete einer aus der
geflügelten Schar eine kurze Anſprache an ſie, ſich und
ſeine Brüder in ihre Dienſte ſtellend, dann überreichte
er ihr eine Geige, ein wundervolles altes Inſtrument,
deſſen Wert den der ihrigen wohl 12 überſteigen
mochte.
Nina, die ungeachtet ihrer Verblüffung ſogleich be-
griff, daß es ſich um eine ihr vom Feſtkomitee zu-
gedachte Huldigung handelte, zögerte mit ihrem Dank
nicht. Stolzerfüllt, mit ſtärker ſchlagendem Herzen
und ſchneller kreiſendem Blute hob ſie die Geige an
das Kinn, während der Wagen langjam mit ihr weiter-
zog. Einige prüfende Striche, dann ſetzte ſie mit voller
122 Das Weib an der Krücke. OD
Kraft ein, umbrauſt von ſtrömenden Melodien, be-
feuert von dem Gedanken: „Jetzt gilt's, dein Beſtes
zu geben!“
And fie ſpielte, wie fie in ihrem ganzen Leben noch
nicht geſpielt hatte. Ein Schluchzen, ein Singen und
Klingen, ein Jubeln und Jauchzen ſtieg aus den Saiten
des Inſtruments hervor, daß es ihr ſelbſt bald wie Eis,
bald wie glühendes Entzücken durch die Adern rann.
Als Ninas Vortrag beim Stilleſtehen des be—
täubende Wohlgerüche aushauchenden Gefährtes an
ſeinem Ausgangspunkte jäh abbrach, ſprach ihr der
Genius, der die Begrüßungsrede gehalten, im Namen
der geſamten Münchener Künſtlerſchaft ſeinen Dank aus.
Die Pierrots mit der Rieſengeige ſtanden bereit, ſie
wurde wieder darauf gehoben und in der gleichen
Weiſe wie vorhin in den Speiſeſaal und an die Tafel
des Komitees getragen, wo ihrer ein mit Blumen-
gewinden umflochtener Ehrenſitz wartete.
Die Tafelgenoſſen erhoben die Sektkelche, die hell
zuſammenklangen unter dem Rufe: „Heil der großen
Geigenkönigin!“ |
Wer an den übrigen Tiſchen fak, wer fih zwifchen
ihnen bewegte, ſtimmte ein in dieſen Nuf, und Nina,
durchſtrömt von einer ſtolzen Freude, einem Triumph-
gefühl wie nie zuvor, neigte ſich dankend nach allen
Seiten.
Sie beſaß den höchſten Schatz, der Menſchen werden
kann: die Kunſt, die Herz und Sinne beſtrickende Kunſt
der Töne! Was blieb ihr noch zu wünſchen?
„Tanzen und ſpielen tuſt, feiern und umanand
tragen laßt di, dein’ Mann aber hat 's Unglück beim
Krawattl packt! — Schamft di net, du!“ ziſchelte es
ſchadenfroh in ihre überſchäumende Siegesfreude, in
ihren Künſtlerjubel hinein.
o Novelle von Carola v. Eynatten. 123
Mit einem haſtigen Ruck wendete Nina den Kopf,
durch das Gewühl der ub und zu ſtrömenden Masken
ſchob ſich eilig die in graue Lumpen gehüllte gebückte
Geſtalt eines alten Weibes, das an einer Krücke bum-
pelte.
Was war das? Franz ſollte im 1 Anglück ſein —
fern von ihr? | |
Der Kopf wirbelte ihr.
Hatte ſie nur das Geziſchel der Bosheit, des Neides
vernommen, das ihr den eben erlebten Triumph ver-
gällen wollte? Aber ſicher, es war nichts weiter, es
konnte nichts weiter ſein! Wie es auch ſtand zwiſchen
ihrem Mann und ihr — ein Unglück hätte er ihr doch
nicht verſchwiegen!
Oder — ſollte es plötzlich über ihn gekommen ſein,
konnte ſie es noch nicht wiſſen? Wie aber wußte es dann
die häßliche Sorgengeſtalt an der Krücke? l
Der Gemütserſchütterung folgte eine ſtachelnde Un-
ruhe. Mit ſtarrem Lächeln ſaß Nina an der. Tafel,
nahm fie die Liebenswürdigkeiten der Komiteemit⸗
glieder auf. Sie plauderte zwar auch, doch nur mecha-
niſch, und ihr Auge glitt immer wieder durch den Saal
auf der Suche nach Leinz. Er war nicht zu ſehen, und
in ſeiner auffallenden Maske hätte ſie ihn ſicher bald
gefunden.
Faſt vier Uhr wurde es, als er endlich hinter ihrem
Rofenfiße auftauchte, fie erlöſend aus einer namen-
loſen Pein.
„Willſt du heimfahren, oder bleibſt du noch?“ fragte
Leinz.
Die junge Frau ſtand ſofort auf, ohne auf die
ſtürmiſchen Proteſte der Tafelgenoſſen nur zu ant—
worten. Sie vernahm ſie kaum, beherrſcht von dem
einzigen Gedanken: Franz im Unglück!
124 Das Weib an der Krücke. D
An Rudolfs Arm und geleitet von mehreren Romitee-
herren durchſchritt fie den Gual und ſtieg die breite
Steintreppe hinunter. Der Wagen kam auf den Nuf
eines Dieners vors Portal, Ninas Geduldprobe war
aber damit noch nicht zu Ende. Ihre Begleiter dankten
ihr nochmals für den Genuß, den ſie den Feſtgäſten
bereitet hatte, eine neue Flut liebenswürdigſter
Schmeicheleien rauſchte über ſie hin.
Endlich klappte der Wagenſchlag, und die Pferde
zogen an.
„Weißt du, daß Franz im Unglück ift — weißt du,
was ihm zugeſtoßen iſt, ob er krank oder was es ſonſt
iſt?“ ſtieß ſie angſtvoll heraus und preßte die Hand
ihres Begleiters.
„Seit wann leideſt du an Halluzinationen, Frau
Nina?“ verſetzte er ſcherzend.
Mitt haſtigen Worten berichtete fie ihm ihr Erlebnis
mit dem Weib an der Krücke.
Da ſagte er mit einem zwar nur flüchtigen, doch
merkbaren Zögern: „Aber ich bitte dich — was wird
es fein? Ein Schabernack, den eine Konkurrentin, eine
Neiderin dir ſpielen wollte — vielleicht aber auch bloß
ein Dummerjungenſtreich. Mir wenigſtens iſt nichts
bekannt. Die letzte Karte von Franz war ganz
munter, die fällige läßt freilich länger auf ſich war-
ten als ſonſt, doch ſcheint mir das eher ein gutes als
ein ſchlechtes Zeichen zu ſein. Wem es übel geht,
der ſchreibt.“
„Es kommt auf den Charakter an. Franz iſt anders
als andere. Es mag ja töricht ſein, aber ich bin in
ſchwerer Sorge. Wie eine Hexe wirkte das abſcheuliche
Weib auf mich, als es ſo eilig davonhinkte.“
Rudolf Leinz lachte. „Du biſt doch ſonſt nicht ſo
ſchreckhaft!“
D Novelle von Carola v. Eynatten. 125
„Nichts weniger als das, aber ich kann mir nicht
helfen — T ö
„So ſchicke eine Depeſche nach Nervi,“
„Weiß ich denn, ob Franz mir die Wahrheit be- .
richtet? Er iſt mitunter ſo ſonderbar, und in der letzten
Zeit vor unſerer Trennung konnte ich öfter ein gewiſſes
Mißtrauen an ihm beobachten.“
„Nun, krank iſt er nicht, deſſen bin ich ſicher. Wann
ſollteſt du wieder Nachricht von ihm haben?“
„Am Freitag.“
„Alſo übermorgen. — Warte ſie zunächſt einmal ab,
dann wird ſich ja zeigen, was iſt.“
„Sollte ihm wirklich ein Unglück begegnet ſein,
wüßte ich dann gar nichts, hätte aber zwei koſtbare
Tage verloren. Darum denke ich, das beſte wird ſein,
ich fahre ſelbſt nach Nervi.“
„Aber bedenke doch, daß ſich das kaum paßt, wenn
man — die Scheidung einleiten will,“ erwiderte Leinz
ſpöttiſch.
„Das iſt eine Sache für ſich, und in einem ſolchen
Fall kommt ſie ſchon gar nicht in Betracht.“
„Ich verſtehe wirklich nicht, wie du ein dummes
Maskengeſchwätz fo tragiſch nehmen kannſt!“
„Ich verſtehe es auch nicht, aber es iſt nun einmal
jo — und fo bleibt es bei der Reife.“
Der Wagen bog in die Leopoldſtraße ein, in der ſich
Ninas Wohnung befand, und die junge Frau bat:
„Komm mit, Rudolf, und hilf mir ordnen. Ich muß
manches verſchließen und meinen Koffer packen.“
„Aber —“
„Sag nichts mehr dagegen! Ich würde ſchon mit
dem erſten Zug fahren, müßte ich nicht auf der Bank
Geld erheben.“
„Dieſen Gang kannſt du ſparen. Ich bin zufällig
126 Das Weib an der Rrüde. o
bei Kaſſe und ftrede dir vor, was du brauchſt,“ erbot
ſich der Maler.
„Danke. Ich will eine bedeutende Summe mit-
nehmen — für alle Fälle, denn man weiß nicht, wie
man ſie braucht.“
Der Wagen hielt, und die verſchlafen dreinſchauende
Jetti machte ein äußerſt verblüfftes Geſicht, als ihre
Dame ihr erklärte, an Schlaf ſei für dieſe Nacht nicht
mehr zu denken. Sie müßten ſofort ans Packen gehen.
„Vorher aber kochſt du raſch für uns einen ſtarken Kaffee
und bringſt alles herbei, was ſich Eßbares im Hauſe
findet.“
Dabei ſchob ſie dem Mädchen ein Fünfmarkſtück in
die Hand als Entſchädigung für den Raub ihrer Nacht-
ruhe.
„Und jetzt an die Arbeit!“ ſetzte fie zu dem Vetter
gewendet hinzu.
„In dieſem wundervollen Koſtüm?“
Auf den Lippen der jungen Frau erſchien ein mattes
Lächeln, als ſie mit der Hand über die Stirn ſtreichend
ſagte: „Natürlich werde ich mich zuvor umkleiden, ich
dachte nur im Augenblick nicht daran. Bitte, ſieh in-
zwiſchen den Fahrplan nach — er hängt im Vorzimmer.“
„Du ſollteſt ein paar Stunden wenigſtens ſchlafen!“
„Dazu habe ich im Zuge Zeit genug. Wenn aber
du müde biſt —“
„Mir kommt's auf eine durchwachte Nacht nicht
an.“
Als Nina eine Viertelſtunde ſpäter in einem grau—
wollenen Schneiderkleide wieder erſchien, wurde ſie
von Rudolf mit der Bemerkung empfangen, daß um
zehn Uhr ein direkter Schnellzug abginge.
„Das paßt mir — ich danke.“
Zimmer für Zimmer wurde vorgenommen, dabei
ü Novelle von Carola v. Eynatten. 127
gab es für den Maler jedoch nichts weiter zu tun, als
die feiner Obhut beſtimmten Schlüffel zu den Schränken
und Truhen in Empfang zu nehmen, in denen die junge
Frau alles einſchloß, was ſie an Wertſtücken beſaß.
„Kann ich dir denn ſonſt gar nichts helfen?“ fragte
er nach einer Weile.
Nina ſchüttelte den Kopf. „Du hilfſt mir durch dein
Hierſein,“ antwortete ſie. „Es bannt wenigſtens
einigermaßen die mich verfolgenden unheimlichen Ge-
danken. Verzeihe nur, daß ich dich aus ſo ſelbſtſüchtigen
Gründen des Schlafes beraube.“
„Im Gegenteil, ich freue mich, wenigſtens zu etwas
nütze zu fein. — Was find denn das aber nur für un-
heimliche Gedanken?“
Ein brennendes Rot breitete ſich jählings über ihre
Wangen, kroch die Stirn hinan. Leiſe, zögernd ant-
wortete ſie: „Ich fürchte — das heißt ich denke — ſeine
Nervoſität könnte um ſich gegriffen, bedenkliche Er-
ſcheinungen hervorgerufen haben —“
„Heißt im ehrlichen Deutſch: Du fürchteſt, Franz
könnte verrückt geworden ſein?“
Nina umging eine direkte Antwort und ſagte
ſtockend: „Denke doch an die abſonderliche Art ſeiner
einſtigen Werbung, denke an das Mädchen von San
Hilario, an unſere Lebensführung in den beiden Jahren
unſeres Beiſammenſeins. Wie er es trieb, wie fonder-
bar er war, habe ich dir ja erzählt.“
„Das hat nichts zu bedeuten, Bäslein,“ meinte Leinz
beruhigend, denn quälende Angſt ſprang aus jedem
ihrer Züge. „Wie ich ſchon geſagt habe, Franz ſtand und
ſteht vielleicht noch heute im Bann einer großen Idee,
die ſich nicht klar und feſt geſtalten wollte. Darum hatte
er keine Ruhe, darum wollte er niemand ſehen, nichts
hören — die Scheu vor der Ablenkung, vor dem Ein—
128 Das Weib an der Rrüde. a)
greifen der Außenwelt in die feiner Gedanken. — Nein,
krank iſt er nicht, eher vermute ich Geldſorgen.“
Nina ſah ſehr verwundert aus bei dieſer Eröffnung.
„Daran habe ich noch mit keinem Gedanken gedacht,
und ich glaube das auch am wenigſten. Er ift anſpruchs-
los und ſparſam. Auch erhalte ich mein Geld pünktlich
an jedem Erſten.“
„Auch jetzt noch?“
„Ja.“
„Und doch bleibe ich bei meiner Vermutung.“
Nina blieb einige Augenblicke ſtill, ehe ſie antwortete:
„Ich kann mich ihr nicht anſchließen. Franz war ſo
nervös —“
„Alſo, dann ſollſt du alles erfahren, was ich weiß.
Mit Onkel Edelmeyer ſoll es — das bleibt aber unter
uns — ſehr ſchlecht ſtehen, und Tatſache iſt, daß der alte
Herr das letzte Mal, da ich ihn geſehen, ſehr ſorgenvoll
war. Er hat große geſchäftliche Verluſte gehabt. Ob
der Zuſammenbruch der Fabrik noch abwendbar iſt,
erſcheint ſehr fraglich, und ſo dürfte er gegenwärtig
kaum in der Lage ſein, die Franz ausgeworfene Rente
weiterzuzahlen.“
In Ninas Augen ſtrahlte es auf. „Wenn das alles
wäre, welch ein Glück!“ rief ſie tief atmend.
„Na, das Glück wäre doch recht mäßig!“
„Sit die Geſundheit nicht unvergleichlich mehr wert?
Zudem brauchen wir die Rente ja gar nicht. Franz
hat ein kleines Vermögen, ich habe ein ganz anſehn—
liches Bankdepot, und wir können beide tüchtig ver—
dienen. — Hätteſt du's doch gleich geſagt, ſtatt mich in
dieſer Angſt zu laſſen!“ |
„Ich wußte nicht, wie du es aufnehmen würdeſt.“
Ein finſterer Schatten überflog ihr Geſicht, und ſie
rief heftig: „Du — das iſt eigentlich eine Beleidigung!
U Novelle von Carola v. Eynatten. 129
Ich habe Franz doch nicht wegen feiner Rente ge-
heiratet!“
„Das hab' ich auch nicht behauptet —“
„Na, viel beſſer war das, was du ſoeben ſagteſt,
nicht!“
Leinz zuckte die Schultern. „Die Verhältniſſe liegen
eben heute ganz anders als vor drei Fahren, ihr ſteht
nicht mehr, wie ihr damals zuſammen geſtanden habt.“
„Eine Verſtimmung — nichts weiter, die fih augen-
blicklich ausgleicht, wenn ein bedeutungsvolles Ereignis
eintritt! Und bedeutungsvoll wäre ja der Verluſt der
Rente, nur meine ich, daß er eher eine glückliche, als
eine unglückliche Bedeutung hätte.“
„Das iſt eine überraſchende Auffaſſung!“
Nina ſchüttelte den Kopf. „Gar nicht fo über-
raſchend, wie es ſcheinen will,“ widerſprach fie lebhaft.
„Gezwungen, ans Verdienen zu denken, werden ſich
ſeine Schrullen verlieren, wird Franz das Geſpenſt von
San Hilario laufen laffen, fih mit feiner letzten wunder-
baren „Verheißung“ begnügen, fie an die Öffentlichkeit
bringen und mit einem Schlage ein ganz Großer ſein!“
„Du marſchierſt in flottem Tempo!“
„Hätteſt du das Bild geſehen, ſo würdeſt du dasſelbe
ſagen — es iſt von überwältigender Wirkung!“
„Und du glaubſt, daß Franz auch gleich einen Käufer
dafür findet?“
„Das weiß ich nicht, und es iſt mir auch gleichgültig.
Verkauft er vorerſt weder dieſes noch ein anderes, ſo
leben wir eben von dem, was ich verdiene.“
„Das wird er nicht wollen.“
„Nein, ich werde wohl Mühe haben, ihn zur Ver—
nunft zu bringen, aber ich ſetze es ſchon durch. Daß er
ſo wurde, liegt zum Teil auch an mir, ich hätte ſchon
damals, als wir zuſammen in Nervi waren, meinen
1914. V. 9
130 Das Weib an der Krücke. 2
ganzen Einfluß aufbieten follen, um ihn von dem Un-
finn loszueiſen. Ich habe mich aber anſtecken laffen
von ſeinem Wahn. Übrigens werde ich noch vor meiner
Abreiſe dem Robitſchek mitteilen, daß ich nächſte Woche
die Unterhandlungen wegen der vorgeſchlagenen Kon-
zertreiſen aufnehme.“
„Nichts überſtürzen, Nina! Ich würde erft Franz
hören, ehe ich mich bände,“ warnte der Vetter.
„Ich binde mich nicht, will aber auch nichts ver-
ſäumen,“ antwortete ſie, entflammt für den Plan, der
ihr bedeutende Einnahmen in Ausſicht ſtellte. —
Fünf Stunden ſpäter ſtand Rudolf Leinz in der
Ausfahrthalle des Bahnhofs. Mit lächelnder Miene
ſchaute er dem Schnellzuge nach, der Nina Wels nach
Genua entführte.
Mit ängſtlich klopfendem Herzen ließ Nina die
freudige Begrüßung des lebhaften Signor Amati über
ſich ergehen, als ſie am anderen Tage das Hotel Colombo
in Nervi betrat, in dem ſich ihr Mann auch diesmal
wieder häuslich eingerichtet hatte.
Wels war wie immer, ſolange die Sonne am Him-
mel ſtand, oben an der Arbeit. Einen fleißigeren
Pittore hatte Herr Amati noch in ſeinem ganzen Leben
nicht geſehen, er gönnte ſich keine Erholung, keine Ruhe,
und das Gemälde — wunderbar — überirdiſch — unver-
gleichlich! Wenn es ſeinen Schöpfer nicht weit über die
Grenzen Europas zu einem berühmten Maler machte,
dann verſtand die Welt nichts mehr von Kunſt und
Malerei. Die Signora käme wohl, es zu ſehen, ehe es
verpackt und fortgeſchickt würde?
Nina verging faſt vor Ungeduld bei dem haſtigen
Geplauder ihres alten Freundes, den ſie durch eine
Unterbrechung nicht kränken mochte. Als aber der Rede—
o Novelle von Carola v. Eynatten. 131
ſtrom beim Treppenſteigen ſtockte, fragte fie, ob ihr
Mann trotz der vielen Arbeit geſund und munter wäre.
Die heilige Jungfrau und die lieben Heiligen feien
geprieſen, Signor Wels wußte nicht, was Unwohlſein
oder üble Laune war. Überhaupt genöſſen die deutſchen
Künſtler einer beſonderen Gnade, ſie hielten mehr aus
als alle anderen.
Dabei öffnete der Hotelbeſitzer ihr die Tür eines
faſt ſaalartigen Raumes. Drei Perſonen waren
drinnen. Eine ſtrickende Alte, Franz Wels, der, auf
einer Treppenleiter rittlings ſitzend, an einem Gemälde
von etwa drei Meter Höhe arbeitete, und auf einer
teppichumhangenen Kiſte wie auf einem Throne der
Schönheit ein junges Mädchen, eine liebreizende,
ſtrahlende Erſcheinung.
Das Herz der jungen Frau ſchlug heftig. Sie war
ſo aufgeregt, daß ſie kaum hörte, als der Wirt ſchmetternd
rief: „La Signora!“ Vor ihren Augen lag ein Schleier,
ſie ſah nur ſchattenhaft, wie ihr Mann herunterſprang
von ſeinem Sitze; wie die beiden Frauen ſie neugierig
betrachteten.
„Nina mia!“ rief Wels und umſchlang fie, küßte
ihren Mund, ihre Augen, ihre Wangen. „Nina mia!
Nina mia!“
Und den Arm unter den ihrigen ſchiebend, führte
er fie im weiten Bogen um das auf dem Boden auf-
ſtehende Gemälde und gab ihr dicht an der jenſeitigen
Wand ihren Platz, daß ſie die ganze Leinwandfläche
mit einem Blicke zu überſchauen vermochte.
Aus ſtrahlendem Atherblau, in einem Halbkranz
muſizierender Engelchen ſchwebte in duftigen Schleiern,
getragen von goldig durchleuchteten Flügeln die fadel-
ſchwingende „Verheißung“ zu der tief unter ihr
grünenden Erde. Es war das Mädchen auf der Kiſte,
152 Das Weib an der Krücke. o
durchgeiſtigt, idealiſiert und doch kenntlich auf den
erſten Blick.
Mehrere Minuten ſtand Nina Wels wortlos vor
der neueſten Schöpfung ihres Mannes, und als ſie
ſich zu ihm wendete, ihm ſtill die Hand gab, ſtanden
ihr die Augen voll Tränen der Freude.
Er beugte ſich über ihre Hand und küßte ſie.
„Du haſt recht gehabt, Franz, als du dich weigerteſt,
die Vorgängerin dieſer „Verheißung“ in die Welt zu
ſchicken. — Sft fie das Mädchen von San Hilario?“
„Ja — Giulietta Zerbi ift das Kind einer genueſiſchen
Brezelverkäuferin, die Alte hier ihre Großmutter, die
ich mit ihr hier im Hauſe eingemietet habe.“ Und ihre
beiden Hände in die feinen faſſend, fuhr er fort: „Und
was bringt dich in das verabſcheute Nervi, du meine
ſchöne Königin?“
And als fie ihren geflüſterten Bericht beendet hatte,
rief er froh: „Gerade das Gegenteil iſt wahr, Nina —
ich ſitze dem Glück im Schoße wie nie zuvor. Die Rente
iſt allerdings verloren — vielleicht für immer, denn der
arme Onkel weiß es ſelbſt noch nicht. Doch das iſt jetzt
belanglos. — Sei gütig zu Giulietta — willſt du? Sie
iſt ein liebes, ein braves Kind!“
Ein Händedruck Ninas, begleitet von einem freund-
lichen Blick auf das junge Mädchen, verſprach es ihm.
„Und geſegnet fei das „Weib an der Krücke“, das dich
mir wieder in die Arme geführt hat!“ jubelte er jetzt
und hob ſein junges Weib in die Höhe — ſeiner „Ver—
heißung“ entgegen.
<a
Der Serliner Tiergarten.
von Ernſt Seiffert.
mit s Bildern. * (Nahörud verboten.)
Bean hat fünf größere Parkanlagen: für den
Weſten den Tiergarten, für den Norden den
Humboldthain, im Nordoſten den Friedrichshain, im
Often den Treptower Park und im Süden den Vit-
toriapark mit dem Kreuzberg.
Auf dem Stadtplan geſehen, erſcheinen ihre gerad—
linigen, wohlverteilten Komplexe wie die Atmungs—
organe des ſtädtiſchen Rieſengebildes.
Obwohl nun die anderen vier Parkanlagen an
Größe dem Tiergarten zum Teil nicht viel nachſtehen,
an landſchaftsgärtneriſcher Kunſt ihn ſogar in manchen
Fällen übertreffen, hat der Tiergarten es doch nur
allein zu nationalem und internationalem Rufe bringen
können.
Das hat ſeine guten Gründe.
Bedeutungsvoll für den Tiergarten iſt vor allem
natürlich feine Tradition — ein gut Stück preußiſch-ber⸗
lineriſcher Geſchichte knüpft ſich an ihn. Er, deſſen grüne
Front ſich am Brandenburger Tor, am Reichstags—
gebäude, dann am Schloß Bellevue bis hin zum
Zoologiſchen Garten zieht, er, der die Verbindungs-
ſtraßen zur weſtlich gelegenen Nachbarreſidenz Pots—
dam in ſich aufnimmt — heute merkt man ja wenig
mehr davon, aber einſtmals war dieſe Straße für den
`
154 Der Berliner Tiergarten. 2
Verkehr zwiſchen beiden Städten ſehr wichtig — er
war ſchon durch dieſe Lage von Anbeginn an der
geeignetſte Tummelplatz für die elegante Welt der
Hauptſtadt. Unzählige Male find die farbenprächtigen
Bilder höfiſchen Prunkes durch ſeine grünen Alleen
gezogen, mehr und mehr erhielt dadurch der Tiergarten
im Laufe der Jahre ſeinen heutigen hohen hiſtoriſchen
Reiz.
Vornehmlich durch ihn wurde der „Weſten“ der
feine Stadtteil Berlins. Wohnte der Kronadel einft-
mals faſt ausſchließlich in der inneren Stadt, namentlich
Unter den Linden, fo ließ er nun feine Paläſte und
Villen in den Straßen bauen, die den Tiergarten ein-
ſäumen. Als dann der große wirtſchaftliche Aufſchwung
Deutſchlands und damit Berlins gekommen war, da
dauerte es denn gar nicht lange, bis fih zu den beſtehen⸗
den Ariſtokratenvillen die der Hochfinanz gefunden
hatten, und heute ſehen wir alſo die Tiergartenſtraße
mit ihren vielen vornehmen Nebenſtraßen, die Straße
In den Zelten — kurz alles, was um den weit—
gedehnten Park herumgelagert ift, als Berlins vor-
nehmſten Stadtteil unter dem Namen „Tiergarten
viertel“ vereinigt.
Dabei iſt der Tiergarten ſtets volkstümlich geblieben.
Hierin alſo iſt ſein Vorrang zu ſuchen, gelingt es
doch ſelten, einer Sache durchaus feinen Charakter zu
geben und ihr dabei die populäre Geſtaltung nicht zu
nehmen.
Es war mit Rückſicht auf diefe Prinzipien daher
nicht ungeſchickt, daß man mit zahlreichen Denkmälern
dem Tiergarten eine gewiſſe Feierlichkeit gab, ihm
gewiſſermaßen ſeinen hiſtoriſchen Wert in Stein ge—
meißelt beſcheinigte. Für die aus grünen Büſchen
grüßenden weißen Marmorbilder wußte man maleriſche
D Von Ernſt Seiffert. 135
Plätze zu finden. So ſind in der Siegesallee der Hohen—
zollern, nicht weit davon die wundervollen Standbilder
der Königin Luiſe und König Friedrich Wilhelms III.
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Reitweg am Zoologiſchen Garten,
aufgeſtellt, am Goldfiſchteich find Haydn, Mozart,
Beethoven zu einem Komponiſtendenkmal vereinigt,
an der Steingartenſtraße fand Richard Wagners Monu-
ment den gebührenden Platz, und mitten im Grünen,
an einem der ſtillen Teiche ſteht Lortzings Ebenbild.
136 Der Berliner Tiergarten. o
Viele andere Gruppen, Tuaillons „Amazone“, die
Jagdgruppen am Großen Stern, einzelne Tiergruppen
ſtehen dazwiſchen.
Der Tiergarten hat im Sommer nur wenige ſtille
Augenblicke. Kaum ift die fünfte Morgenſtunde an-
gebrochen, fo öffnen die Neithäuſer am Kurfürſtendamm,
am Zoologiſchen Garten, am Brandenburger Tor ihre
Pforten, und ganze Scharen reitluſtiger Frühaufſteher
ſtrömen aus. Zu denen gefellt fih noch das edle Pferde-
material privater Ställe, die Offizierburſchen warten
ihrer Herren mit den Dienſtpferden, und nun dauert
es kaum ein halbes Stündchen, bis eines der glänzend-
ſten Bilder weltſtädtiſcher Eleganz aufgerollt iſt. Durch
die gutgepflegten Reitwege, die meiſt von geſchorenen
Hecken eingeſäumt ſind und längs deren Fußgängerwege
führen, galoppieren ganze Kavalkaden. Hier ſieht man
luftige Geheimratstöchterchen an einem bedächtig
trabenden Trupp ſorgenſchwerer Diplomaten vorbei-
ſprengen, zwiſchen den ſchneidigen Rennreitern der
Garde ſieht man Miniſter, den Reichskanzler, dazwiſchen
finden ſich Könige der Börſe bei dem Morgenritt,
Schauſpieler und Brettlſterne fehlen auch nicht — kurz,
es iſt ein Bild, vielgeſtaltiger und geſellſchaftlicher
kaum auszudenken. Um die ſechſte Stunde nähert ſich
vom Schloß den Reitweg der Linden entlang zu—
meiſt der Kaiſer mit ſeinem Gefolge. Früher befand
ſich faſt immer unſer Prinzeßchen dabei, nun aber
muß der Tiergarten dieſen liebenswürdigen Gaſt ent—
behren.
Von Spaziergängern ift der Park in dieſer Zeit
noch faſt völlig frei. Hie und da ſieht man einen
Frühaufſteher einſame Wege gehen, meiſt aber find
die Fußwege unbelebt.
Umſäumt von üppigen Büſchen liegt der Hippo-
bia wow] pu sado saq aUssIoNE
Von Ernſt Seiffert.
chen Bahn-
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Platz,
hof Tiergarten und dem des Zoologiſchen Gartens, hat
drom. Dieſer weite, weichſandige
138 Der Berliner Tiergarten. u
Rund- und Hindernisbahnen, Hecken, Waſſergräben,
Sprunghügel, wie es ſich eben für den erſtklaſſigen
Reitplatz Berlins gehört. In der Mitte der grok-
zügigen Anlage ſteht der Muſikpavillon, den der Kaiſer
Im Hippodrom.
errichten ließ, um durch Kavalleriemuſik dem reiter—
lichen Berlin ein Morgenkonzert geben laſſen zu können.
Mit Freuden wurde damals dieſe unterhaltſame Neue—
rung aufgenommen, man nannte fie „das Konzert-
reiten“ und erhob fie zum großen Stelldichein der vor-
nehmſten Welt. Bei dieſer Gelegenheit gab es neben
den geſellſchaftlich bemerkenswerten auch originelle
ſportliche Momente, beſonders an den Sprüngen. Be—
ſtaunt und beneidet jagte der nun nach außerhalb ver-
a Von Ernſt Seiffert. 139
ſetzte Herrenreiter Champion Graf Hold feinen Voll-
blüter über den Kurs, an anderer Stelle übte der be—
liebte Hofſchauſpieler Karl Clewing feinen ſchnee—
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Morgenpromenade der Füngſten von Berlin W.
weißen Zelter im Hügelſprung, tüchtig gefolgt von
dem überall ſcharmanten und in allen Sätteln gerechten
Metropoltheater-Star Madge Leſſing.
Die in immer kürzeren Zwiſchenräumen vorbei—
140 Der Berliner Tiergarten. fa)
brauſenden Stadtbahnzüge zeigen das Erwachen der
werktätigen Großſtadt an, langſam verliert fih nun der
Reiterſchwarm. An der „Giftbude“ wird noch ſchnell
ein Satteltrunk eingenommen, dann traben ſie davon —
der Offizier in den Dienſt, der Geſchäftsmann zu ſeiner
Frühpoſt, das Geheimratstöchterchen ins Bad. Hof-
geſellſchaft und hohe Diplomaten ſind längſt wieder
verſchwunden, ſie hatten ſogar meiſt kaum Zeit, der
„Giftbude“ den eigentlich ſelbſtverſtändlichen Beſuch zu
machen.
Das ſeltſame, ganz im Laubwerk verſteckte Lokal
kennen ſelbſt die meiſten Berliner nicht, denn eigentlich
iſt es nur eine höchſt primitive Wirtſchaft, der man ihre
hohe Kundſchaft gewiß nicht zutrauen würde. So klein
iſt ſie, ſo inmitten reitwegumfaßter hoher Sträucher und
Laubbäume liegt ſie, daß der Fußgänger ſie gar nicht
wahrnehmen kann.
Gegen die neunte Morgenſtunde bekommt der Tier-
garten ein anderes Bild. Wohl huſchen noch ſchnelle
Reiter lautlos zwiſchen den Gebüſchen vorbei, bald
aber ſind auch dieſe Nachzügler nicht mehr zu ſehen.
Inzwiſchen iſt das Heer der Ammen, Kindermädchen
und Bonnen mit ihren Schutzbefohlenen angerüdt..
Keine der vielen Bänke bleibt unbeſetzt, Kinderwagen
und Kinderlachen ſind überall.
Langſam ziehen nun auch würdige alte Rentier—
geſtalten ihres Weges, bleiben hie und da vor einem
Kinderwagen ſtehen und freuen ſich an der jungen,
roſigen Menfchheit, Eine warme, weiche Stimmung
liegt um dieſe Zeit auf allen .
Dort, wo die ſogenannten „Buddelplätze“ ſind,
findet ſich dann das Kindervolk zuſammen. Emſig
ſieht man Hunderte kleiner Hände fih regen, um Sand-
bäckereien, Burgen oder ſonſt was zu ſchaffen; rings-
141
Don Ernſt Seiffert.
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142 Der Berliner Tiergarten. u
durch die Büſche. Von der fernen Siegesallee klingt
ein luſtiger Reitermarſch der heimkehrenden Garde-
ulanen herüber.
Auch die Alten hören die Weiſen, auch ſie wiegen
Kopf und Hände ein wenig nach dem Rhythmus der
Militärmuſik, deren Klänge weiter und unbeſtimmter
werden. Längſt ift die Wärme der Vormittagſonnen-
ſtrahlen zu fühlen, die koſend und zitternd zwiſchen
Stämme und Blätter helle tanzende Lichtflecken malen.
Im „Roſarium“ — es liegt an der Straße, die Char-
lottenburg mit dem Brandenburger Tor verbindet —
iſt das bunte Blühen aufgewacht. Aber Tauſende edler
Rofen leuchten mit brennenden Blättergründen der
Sommerſonne entgegen, ungezählte Knoſpen ſieht man
ſchwellen, ſich dehnen, aufbrechen. Es liegt eine mär-
chenhafte Poeſie in dieſem Noſengarten Berlins.
Zwiſchen dunklen Teichen ſchwermütiger Waffer-
roſen ſteigt ſchlank und weiß das Marmorbild unſerer
Kaiſerin auf. Duftbetäubt geht man mit leiſe fnir-
ſchendem Schritt auf den gelben Kieswegen und läßt
ſich gern ganz hinnehmen von dem weichen Zauber.
Schwerer fängt die Sonne an zu lajten, und tiefe
Stille wird umher; nur dann und wann tönt von der
Straße der jähe Warnungston eines Automobils.
Die Tiſchzeit rückt heran, es leert ſich der große
Park. Aber nur wenige Stunden, ſo rauſcht wieder der
Menſchenſtrom durch ſeine Wege, ſeine Adern, diesmal
Fremde im Schwarm. Das Leben in den „Zelten“
beginnt, Nachmittagskonzerte tönen, ſchon ſieht man
auch Einheimiſche ſpazierengehend den frühen Feier-
abend nützen.
Nun wird mit den neigenden Spätnachmittag—
ſtunden der Tiergarten im wahrſten Sinne Volkspark.
Ungewöhnliches Leben herrſcht auf allen Wegen, Ge—
D Von Ernſt Seiffert. | 143
ſchäftsdebatten, Klatſch, Familienrat, tändelnde Flir—
terei — das alles rauſcht an dem Ohr vorüber.
Am Neuen See.
Der Berliner Tiergarten, o
In dem neueren Teil des Tiergartens, am fo-
genannten Neuen See, der im Winter die ſchönſte Eis—
Tiergarten im Nebel.
bahn iſt, entwickelt ſich friſches Leben auf dem Waſſer.
Überall plätſchern Mietsgondeln umher, und Scherz-
worte fliegen hinüber und herüber. Schließlich ſieht
— — — —
z Don Ernſt Seiffert. 145
man ein Boot, „bemannt“ mit lauter Warenhaus-
dämchen, mit dem anderen übermütiger Studenten um
die Wette rudern. Wer weiß, welches das Ziel ſein
wird? | |
Langſam kommt der Abend herauf. An der Peri-
Das Brandenburger Tor im Schnee.
pherie des Tiergartens blitzen die Lichter der Lokale
auf, mit vollen Händen werfen ganze Lichtgarben die
„Zelte“ herüber. Im Augenblick ſpäter flackern auch
die weißen Bogenlampen an den Hauptwegen empor
und gießen ihre weißes Licht magiſch durch die Dunkel-
heit. Das laute Sprechen, das laute Lachen, die vielen
Menſchen haben ſich verſtreut, nur tiefgeheimſte Heim-
1914. 10
146 Her Berliner Tiergarten. u
lichkeit flüſtert an den Wegen, und nur ſelten geht ein
Einſamer.
Nur auf den Alleen brandet noch Leben. Das
Publikum ſieht man in Gruppen vorübergehen, die
vom Theater nach Haufe ſtreben.
Auf Bänken die Pärchen
In Liebe verſunken,
Schäfer und Schäferin
Grad wie im Märchen.
Wie lange dauert's, dann ſchickt der Morgen ſeine
jungen Strahlen, und der neue Tag erwacht.
Im Winter und bei nebeligem Wetter liegt der
Rieſenpark freilich meiſt ſtumm da. Nur wenige Sonder-
linge finden ſich dann, ihn zu beſuchen, aber, wahrlich,
ſie haben nicht das ſchlechteſte Teil erwählt!
Jedem Städter liegt etwas wie Stolz im Wort,
ſpricht er von dem Park ſeines Ortes — wer wollte
es den Berlinern verdanken, daß ſie mit der weichen
Betonung liebevoller Anhänglichkeit fagen: „Anſer Tier-
garten!“ Und fo weit geht des Berliners Freude an ihm,
daß er in ihm ſogar ſeine bekannten Unſitten vergißt:
Papiere liegen zu laffen und Zweige abzureißen.
NS
DE
EEEREN
Henkersrecht.
Eine Erzählung aus der guten alten Zeit.
von Wilhelm hille.
* (Nachoͤruck verboten.)
Och habe es noch gekannt, das „Henkerhaus“, wie wir
N es nannten. Es lag unweit des heutigen Prinzen-
parkes im Oſten der alten Welfenſtadt Braunſchweig,
ziemlich genau da, wo fih heute die neue Garnijon-
kirche erhebt. In meinen Erinnerungen ſteht ein un-
geſchickt gewölbtes ſteinernes Tor, in deren Ritzen wir
Knaben Spinnen von außergewöhnlicher Dicke fingen;
über dem Tore ein in den Stein gehauenes Rad, das
ringsum mit Buchſtaben beſetzt war, von denen mir
mein Vater einmal ſagte, ſie bedeuteten das Wort
justicia, und das heiße Gerechtigkeit; und neben dem
Tore, rechts und links, zwei große Akazien, die ihre Arme
weit über das bröcklige Mauerwerk ausſtreckten und es
im Frühling mit ihren wohlriechenden Blüten be-
ſtreuten.
Dieſe Akazien hat Meiſter Andreas Wetzel, Scharf-
richter der Stadt Braunſchweig, um das Ende des
ſiebzehnten Jahrhunderts eigenhändig gepflanzt. |
Das Henkerhaus lag eine gute Viertelſtunde vor
dem Tore. Fünf Minuten weiter entfernt, begann der
Wald, ein ungeheurer, meilenweiter Wald, von dem
die heute noch vorhandene „Buchhorf “ ein geringes
148 Henkersrecht. u
Bruchſtüͤck ift. Dieſe Waldungen gehörten den Herzögen
von Wolfenbüttel; auf Wilddieberei in ihnen ſtand die
Todesſtrafe.
Der Henker war damals unehrlich, auf feinem Ge-
werbe ruhte die Verachtung der Menſchen. Die Henkers
familien verkehrten infolgedeſſen nur untereinander und
heirateten ineinander. Aber trotz dieſer Ehrloſigkeit,
die ſie wohl mitunter ſchwer empfinden mußten,
hüteten fie das Richtſchwert ſorgfältig und waren darauf
bedacht, daß das einträgliche Amt bei der Familie blieb.
Vom Vater auf den Sohn vererbte der ſchwere Beruf; ja,
erwurde ſogar gelegentlich auf Minderjährige übertragen.
So berichtet der bekannte Scharfrichter Sanſon in ſeinen
Memoiren, daß einer ſeiner Vorfahren als achtjähriger
Knabe auf Betreiben der Familie offiziell zum „Meiſter
von Paris“ ernannt worden ſei und als ſolcher bei allen
Exekutionen und Folterungen zugegen ſein und die
Protokolle unterzeichnen mußte, während ſeine Gehilfen
bis zu ſeiner Großjährigkeit die Hantierungen allein
beſorgten.
In einigen Städten, zu denen auch Braunſchweig
gehörte, beſaß der Henker noch ein beſonderes Privi-
legium, das ihn faſt in eine Reihe mit den reichs-
unmittelbaren Herren ſtellte. Er hatte die Jurisdiktion
über die in ſeiner eigenen Sippe, wozu auch das
Dienſtperſonal gerechnet wurde, vorkommenden Ver—
gehen. Nur mußte er jeden ſolchen Fall nachher dem
Gericht melden und nachweiſen, daß er „geziemend
nach gutem Henkersrecht“ gehandelt. Man wollte wohl
mit dieſem uns ſeltſam anmutenden Henkersrechte ein
Gegengewicht gegen die allgemeine Verachtung ſchaffen,
die der Henker zu tragen hatte. Auch mochte es not—
wendig erſcheinen, ihn ſeinen Knechten gegenüber, meiſt
rohen Burſchen, mit erhöhter Machtvollkommenheit aus-
o Von Wilhelm Hille. 149
zuſtatten. Furcht und Schrecken allein konnte dieſe
Geſellen in Schranken halten; die Folterwerkzeuge,
Galgen und Rad, konnten ſich auf einen Wink des
Meiſters gegen ſie ſelber kehren, das wußten ſie, und
das hielt ſie im Zaume.
An einem Juniabend des Jahres 1673 hatte fich die
ganze Familie des Meiſters Andreas Wetzel in einem
an das eigentliche Haus angebauten niedrigen, faal-
artigen Gemadh, das man die gute Stube nannte, ver-
ſammelt. 9
Jedesmal, wenn eine Hinrichtung ſtattfand, wurde
am Abend vorher im Henkerhauſe gebetet. Das war
ſo Brauch ſeit undenklichen Zeiten.
Die drei breiten, nach der Rückſeite des Hauſes hin
liegenden Fenſter waren durch dichte ſchwarze Vor-
hänge verhüllt. In den vier Ecken des Raumes brannten
Fackeln, deren Qualm an den Wänden emporſtieg und
oben an der Decke aus mehreren dachlukenförmigen
Offnungen abzog. An der Hinterwand hing, als einzige
Verzierung, ein großes Kruzifix. Aus vielen Wunden
blutend ſah der Heiland mit bereits brechenden Augen
auf einen Altar herab, der mit ſchwarzem Samt aus-
gelegt war. Auf dem Altar lagen eine Bibel, ein zu-
ſammengefaltetes Schreiben und ein Strick.
Vor dem Altar ſtand Meiſter Andreas. Man hätte
ihn für einen Geiſtlichen halten können, ſo ehrwürdig
ſah er aus in ſeinem weitärmeligen, bis auf die Knie
herabreichenden Samtrocke und dem entblößten Haupte,
das bereits an einigen Stellen zu ergrauen anfing.
Aber freilich ein Blick auf die großen, harten Hände, auf
die muskulöſen Arme und den Stiernacken belehrte den
Unkundigen bald darüber, daß dieſer Mann gewohnt
war, mehr mit den Händen als mit den Lippen zu
predigen.
150 Henkersrecht. u
Dicht neben dem Altar ſaß in einem Lehnſtuhl die
ſtocktaube Großmutter, Verſe aus alten Kirchenliedern
vor ſich hin murmelnd. Hinter ihrem Stuhle ſtanden die
beiden Söhne des Scharfrichters. Der Ältere, nach
ſeinem Vater Andreas genannt, ein ſtämmiger Burſche
mit grober Haut und luſtigen, gutmütigen Zügen,
mochte vierzehn Jahre zählen. Dem Jüngeren, einem
niedlichen Knaben von neun Jahren, fab man das
Mutterſöhnchen an. Seine reichen, wohlgepflegten
Locken, der weiße Teint ſtanden in auffälligem Gegen-
ſatz zu dem bäueriſchen Ausſehen ſeines Bruders. Die
mütterliche Eitelkeit hatte es ſich nicht nehmen laſſen,
ihn zu dieſem feierlichen Akte gebührend herauszu—
putzen. Er trug blaue Kniehoſen aus Kattun, die unten
mit ſilbernen Schnallen geſchloſſen waren. An ſeinem
Halſe hing, von einer roten Korallenkette gehalten,
ein ſilbernes „Nürnberger Eilein“, wie man die vor
kurzem aufgekommenen Taſchenuhren nannte.
An den Wänden entlang reihten ſich die Knechte
und die Mägde. Frau Magdalene, die Mutter des
Hauſes, ſaß abſeits von ihnen in einer Fenſterniſche
und drückte ein buntbemaltes Taſchentuch gegen die
Augen.
Meiſter Andreas las mit eintöniger Stimme den
Bußpſalm Davids aus der geöffneten Bibel vor. Er
las geläufig, denn die edle Schreib- und Leſekunſt war
ſeit jeher in ſeiner Familie heimiſch. Dann entfaltete
er das Schreiben und las es ebenfalls vor.
„An Ludicke Hollandt, den Ratsherrn: Hat der ge-
fangene Hans Ebenſtein von Kremlingen, genannt der
lahme Hans, nachdem er von Euch geziemenderweiſe
peinlich befragt worden, bekannt, daß er den Müller
Adam von Kremlingen erſtochen und zwölf Gulden
geraubet, und iſt Inquiſit auf dieſem ſeinem Bekenntnis
u Von Wilhelm Hille. 151
freiwillig verblieben, ſo möchte er der Übeltat wegen
an ſeinem Halſe aufgehängt werden. Vorher peinlich
zu befragen, ob er Mitſchuldige gehabt und wie ſolche
heißen. Von Rechts wegen.
| Die Braunſchweigiſchen Freiſchöffen.“
Die Worte „von Rechts wegen“ las der Henker mit
erhobener Stimme. Dann ergriff er den auf dem Altar
liegenden Strick und tauchte das eine Ende in ein Gefäß
mit Waſſer, das neben dem Altar ſtand, indem er drei-
mal das Zeichen des heiligen Kreuzes machte. Darauf
zog er ein Meſſer hervor und ſchnitt ein Stück von
dem Strick ab.
„Dem Sünder zur Buße, dem Gericht zur Ehre,
dem Kranken zur Geneſung!“ ſagte er und warf das
Stück dem vortretenden erſten Gehilfen Gros zu. Der
ſchnitt ebenfalls etwas davon ab und reichte es weiter.
Es machte die Runde. Feder ahmte ſeinem Beiſpiele
nach und verbarg die Reliquie ſorgfältig an ſeiner Bruſt.
Der Henker ergriff nun den Strick, machte noch ein-
mal das Zeichen des Kreuzes über ihm und ſprach:
„Mögeſt du dem Sünder nicht zum ewigen Verderben
gereichen! Amen!“ |
Damit war die Zeremonie beendet. Die Dienft-
boten und Knechte verließen das Zimmer.
„Andreas,“ ſagte der Meiſter zu ſeinem Alteſten,
„morgen gehſt du mit!“
Die Augen des Knaben funkelten vor Vergnügen.
Es war ſchon ſeit Jahren fein heimlicher Wunſch ge-
weſen, endlich alles zu ſehen, wovon die Knechte ſo
ſchauerlich zu erzählen wußten.
Die Mutter blickte ihren Gatten erſchrocken an.
„Morgen ſchon?“ ſeufzte ſie.
„Ja, morgen! Zch meine, er iſt alt genug. Es wird
Zeit, daß er die Hantierung kennen lernt. So hat's mein
152 Henkersrecht. n
Vater auch mit mir gehalten. Vom fünfzehnten bis
zwanzigſten Jahre erlernte ich das Handwerk, und mit
einundzwanzig machte ich mein Meiſterſtück.“
Das Weib wußte nichts mehr einzuwenden. Plöß-
lich aber umfchlang fie den kleinen Knaben und rief:
„Du ſollſt kein Henker werden! Du ſollſt ein ehrliches
Gewerbe lernen!“
„Aber ich will einer werden!“ entgegnete der Kleine
lebhaft. „Und morgen will ich auch mit und ſehen, wie
es gemacht wird.“
„Bravo!“ ſagte der Meiſter beifällig und klopfte
ſeinem Sprößling auf die Schulter. „Ja, du ſollſt's
auch lernen, wenn auch morgen noch nicht. Es iſt ein
edles Handwerk, was die Leute auch ſagen mögen.
Doch nun ins Bett mit euch!“ —
Als die beiden Knaben ſich in ihrer Kammer ent—
kleideten, waren ſie in gewaltiger Aufregung. Andreas
freute fih auf den morgigen Tag wie auf einen eft-
tag, er war ganz ſtolz auf feine neue Würde als Scharf-
richterlehrling.
Der kleine Hans beneidete ihn gewaltig. „Andreas,“
flüſterte er, als ſie in ihrem gemeinſchaftlichen Bette
lagen, „verſprich mir, alles zu erzählen und zu zeigen,
was du geſehen haſt.“
„Ich werde dir's erzählen.“
„Aber auch zeigen?“ beharrte Hans.
„Auch zeigen!“ antwortete Andreas gähnend und
zog fih die Bettdecke über die Ohren.
* *
*
Vater und Sohn ſprachen kein Wort miteinander, als
fie der Stadt zuſchritten. Der Meiſter, düſter und in
ſich gekehrt, hielt den Blick auf den Boden geheftet,
Andreas, der den Vater ſo ungeneigt zum Plaudern
o Von Wilhelm Hille. f 155
fand, blieben die zahlreichen Fragen, die er auf dem
Herzen hatte, in der Kehle ſtecken.
Es war ein herrlicher Junimorgen. Noch lagen
feuchte Dünſte über den Feldern und trübten den Hori-
zont. Die von einem nächtlichen Regenguß erquickten
Kräuter begannen fih unter der Wirkung des neu er-
wachten Lichtes aufzurichten und hauchten jenen un-
nennbaren Duft aus, der die wiedererwachende Lebens-
kraft der Natur ſelbſt zu ſein ſcheint. Mitten in den
ruhigen Atemzug der noch ſchlafenden Natur hinein
erklang von der Stadt her ein einſames Glöcklein, dürr
und hart wie die Herzen der Menſchen, ſchneidend
und wimmernd wie die Klage des Verdammten.
„Nimm die Mütze ab, Andreas,“ ſagte der Meiſter
und entblößte ſein Haupt.
„Was iſt denn das für ein Glöcklein, Vater?“
„Das Armeſünderglöcklein. Wir müſſen eilen.“
Je näher ſie der Stadt kamen, deſto belebter
wurde die Straße. Aus den umliegenden Dörfern
kam's herbeigeſtrömt in hellen Haufen. Landleute,
Marktweiber, Handwerker ließen ihre Arbeit im Stich,
um den lahmen Hans hängen zu ſehen. Das Glöcklein
erklang auch gar ſo einladend.
In der Nähe des Rathauſes nahm der Tumult über-
hand. Da begann Meiſter Andreas zu rufen: „Platz
dem Henker! Platz dem Henker!“
Und wie der Berg Seſam auf ſeine Zauberformel,
ſo öffnete ſich auf dieſen Ausruf die lebendige Mauer.
Erſchrocken drängten die Neugierigen zurück und ließen
für Vater und Sohn einen breiten Raum. Alle, die der
Henker am Rocke geſtreift hatte, blieſen dreimal darüber
und bekreuzigten ſich.
Auf dem Hagenmarkte, dem RNathauſe gegenüber,
war der Galgen errichtet, an deſſen Fuß der Karren des
154 Henkersrecht. u
Scharfrichters, von zwei Knechten bewacht, hielt. Sie
vertrieben ſich die Zeit damit, das Volk zu necken und
den Mutigſten, die ſich am weiteſten vorgewagt hatten,
den Inhalt des Karrens zu zeigen und zu erläutern.
„Iſt Gros ſchon unten?“ fragte der Meiſter, der
einen prüfenden Blick auf den Galgen und den Karren
geworfen hatte.
„Ja, Meiſter,“ antworteten die Gehilfen.
„So komm!“ ſagte er zu dem Knaben.
Sie betraten das Nathaus und bogen in einen
langen finſteren Gang ein. Am Ende dieſes Ganges
war eine Treppe, die nach unten führte, von einer an
der Decke hängenden Ampel trübe beleuchtet. Unten,
am Fuße der Treppe, ſtand ein Mann, der dem Henker
ein Zeichen machte, worauf dieſer mit einem Kopf-
nicken antwortete. Abermals gingen ſie einen langen
ſchmalen Gang entlang. Die Luft war hier eiſig. An
den Wänden liefen langſam Waſſertropfen nieder. Am
Ende dieſes zweiten Ganges war eine eiſerne Tür,
hinter der man Gemurmel wie von ſehr fernen Stimmen
hörte.
Der Knabe zitterte. „Was iſt hinter dieſer Tür,
Vater?“ fragte er mit unſicherer Stimme.
„Die Hölle!“ antwortete Meiſter Andreas. „Aber
der Gerechte geht ohne Zagen auch durch die Hölle.“
Er klopfte dreimal an die eiſerne Tür.
Da tat ſich die Folterkammer vor ihnen auf.
* *
%
Eine Stunde Später wurde der lahme Hans nach
allen Regeln der Kunſt aufgehängt. Als er auf dem
Platze erſchien, halb geſchleift, halb getragen, denn ſeine
Beine hatten die „ſpaniſchen Stiefel“ ſchlecht ver-
tragen, brach ein endloſer Beifallſturm aus. Frauen
o Von Wilhelm Hille. 155
hoben ihre Kinder in die Höhe, damit ihnen nichts von
dem herrlichen Schauſpiel verloren ginge. Alle dieſe
gutmütigen Bürger, dieſe zärtlichen Frauen und
Mütter waren in Tiger und Hyänen verwandelt.
Der Delinquent ſtellte diefe Betrachtung nicht an;
er dachte nicht mehr, er fühlte nur noch. Seine glanz⸗
loſen Augen ruhten, ohne zu begreifen, auf der großen
ſchwarzen Leiter, vor der man halt machte, ſein Geſicht
hatte bereits die Farbe des Todes.
Und doch war einer unter der Menge, der faſt
ebenſo blaß war wie der lahme Hans. Das war der
junge Scharfrichterbub.
Er war ſo blaß, weil er die Hölle geſehen hatte.
Meiſter Andreas ſtieß den Burſchen unſanft an.
„Aufgeſchaut!“ rief er. „Ich mache jetzt den Knoten
in die Schlinge. Iſt ein Geheimnis unter uns Henkern,
mein Sohn! Er muß ſich ihm ſo um den Hals legen,
daß er ihm die Hauptader zuſammendrückt. Das hat
uns ſchon mancher Spitzbube zu Dank gewußt, der
ſonſt lange hätte zappeln müſſen. Nur der Henker
kann recht henken. Siehſt du — ſo! — Nun mache du
den Knoten auch einmal! In deiner Schlinge foll
der lahme Hans heute zappeln.“
Mit zitternder Hand zog Andreas die Strickenden
zuſammen.
„Bravo!“ rief ſein Vater, ihm auf die Schulter
klopfend. „Gleich zum erſten Male den rechten Henters-
knoten getroffen! Hab's meiner Zeit nicht ſo ſchnell
begriffen.“
And er zeigte die Arbeit ſeines gelehrigen Schülers
den Gehilfen.
Da röteten ſich die bleichen Wangen des Burſchen
wieder. Seine Eitelkeit war erwacht und begann über
die Menſchlichkeit den Sieg davonzutragen.
156 Henkersrecht. u
Meiſter Andreas fah mit Vergnügen die Umwand-
lung, die ſich in der Bruſt ſeines Sprößlings vollzog;
er glaubte daher, ihm den Schlußakt des Dramas nicht
länger vorenthalten zu dürfen.
Er gab den Gehilfen ein Zeichen. Die Knechte
bemächtigten ſich des lahmen Hans und zogen ihn die
Leiter hinauf. Sie ſchienen in ihrer Eile nicht mit der
nötigen Vorſicht verfahren zu fein, denn der Ber-
urteilte ſtieß ein lautes Gebrüll aus und griff nach
ſeinem rechten Bein. Ein donnernder Beifallſturm
tönte als Echo von unten herauf. Schnell ward dem
armen Sünder das Kunſtwerk des jungen Andreas
um den Hals gelegt, und ſowie es in der richtigen Lage
war, ſtießen ihn die Gehilfen von der Leiter herunter.
In demſelben Augenblicke ſprang einer von ihnen
dem mit dem Tode Ringenden auf die Schulter, ein
anderer hängte ſich an ſeine Beine, um das Ende zu
beſchleunigen.
Das war zu viel für den armen Andreas. Er fiel
in Ohnmacht.
* *
*
„So, nun will ich es dir zeigen!“
Mit dieſen Worten ſetzte Andreas den großen Korb,
den ihnen die Mutter mitgegeben hatte, um beim
Waldhüter Klaus Erdbeeren zu holen, auf die Erde.
Sie befanden fih an einer lichten Stelle im Tannen-
wald, etwa eine halbe Stunde vom Hauſe entfernt.
Hänschen ſtrahlte vor Freude. Sein Bruder hatte
ihm alles haarklein berichtet, was er geſtern erlebt:
vom lahmen Hans, wie er gebrüllt hatte in der Folter-
kammer und gezappelt am Galgen, von der Schlinge
mit ihrem wunderlichen Knoten, und wie er ſelbſt den
Delinquenten darin gehängt habe. Nur eines hatte er
o Von Wilhelm Hille. 157
verſchwiegen, weil er fühlte, daß es der großartigen
Rolle, die er geſpielt, einigen Abbruch tat: bab er dabei
in Ohnmacht gefallen war.
Aber Hänschen wollte nicht nur hören, er wollte
auch ſehen.
Andreas zog alſo einen ſtarken Bindfaden aus der
Taſche, den er zu dem Zwecke mitgenommen hatte,
und begann ſeine kunſtgerechte Schlinge zu machen.
Als er damit zuſtande gekommen war, ging er auf eine
kleine Tanne zu, ſuchte einen geeigneten Zweig aus
und prüfte ihn auf ſeine Feſtigkeit, indem er ſich daran
hing. Dann befeſtigte er den Bindfaden an dem Zweige,
ſtellte den Korb unter den improviſierten Galgen und
lud ſeinen Bruder ein, hinaufzuſteigen und den Kopf
in die Schlinge zu ſtecken.
Dem Kleinen kam die Sache nicht recht geheuer vor.
„Wenn der Korb nun aber umfällt?“ meinte er mit
bedenklicher Miene.
„Dann reißt der Bindfaden,“ beſchwichtigte An-
dreas. „Meinſt du vielleicht, daß der hielte? Man
kann ihn ja mit den Händen zerreißen.“ Und er tat,
als wollte er ihn zerreißen.
Das leuchtete Hänschen ein. Er ſtieg auf den Korb.
Als ihm aber ſein Bruder die Schlinge um den Hals
werfen wollte, zog er ſchnell den Lockenkopf weg und
ſprang auf die Erde.
„Ich fürchte mich!“ ſagte er. „Komm, laß uns zum
Vater Klaus gehen.“
Andreas aber hatte ſich ſchon darauf gefreut, den
Lehrer zu ſpielen. Er blickte mit Verachtung auf ſeinen
Bruder. „Pfui, biſt du feige!“ ſagte er.
Das half. Hänschen kletterte aufs neue auf den
Korb, und diesmal ſteckte er den Kopf in die Schlinge.
Und wie er's einmal gewagt hatte, fand er nichts
158 Henkersrecht. o
Schlimmes mehr darin. Er lächelte feinem Bruder zu,
und dann zog er den Kopf wieder heraus.
„Du mußt aber die Kette mit dem Nürnberger
Eilein abmachen,“ ſagte Andreas. „Sonſt kann ich
dir nicht zeigen, wie die Schlinge ſitzen muß.“
Der Kleine löſte das Kettlein vom Halſe und legte
das Schmuckſtück neben dem Korb ins Gras. Dann
ſtieg er wieder hinauf und ſteckte abermals den Kopf
in die Schlinge.
Andreas zog den Knoten nach hinten. „So, und
nun will ich dir das letzte zeigen,“ ſagte er lachend
und ſtieß den Korb um.
Da geſchah etwas Unerwartetes. Hänschen ſtieß
keinen Schrei aus, er zappelte auch nicht. Er ſchloß
nur die Augen, als wenn ihn eine Müdigkeit über-
kommen hätte, und hing regungslos da.
Erſchrocken griff Andreas nach feinem Taſchen-
meſſer, um den Bindfaden, deſſen Haltbarkeit ſich ſo
gut bewährte, zu zerſchneiden. Er fuhr in die rechte,
er fuhr in die linke Hoſentaſche; es war nicht da. Von
tödlicher Angſt ergriffen ſtürzte er ſich auf ſeinen Bruder,
hob ihn in die Höhe und verſuchte die Schlinge zu
löſen, die ſich feſt um den dünnen Hals des Knaben
zugezogen hatte. Vergebens! Er entfernte den Bind-
faden von dem Aſte, legte den kleinen Körper auf ſeine
Knie und bemühte ſich, die Schlinge mit den Zähnen
zu zerbeißen. Endlich gab ſie nach.
Es war zu ſpät.
Da dämmerte in ihm die Einſicht, daß er den Scharf-
richterknoten in feiner Wirkung unterſchätzt hatte. Er
ließ den Leichnam fahren. Jetzt fab er noch bleicher aus
als geſtern, da der lahme Hans abgetan wurde.
Wie angewurzelt ſaß er da und ſtierte auf den
kleinen Gehängten. Es war ihm, als wäre die ganze
2 Von Wilhelm Hille. 159
Welt untergegangen und er mit dem Leichnam allein
übriggeblieben. l
Plötzlich überkam ihn das Grauſen. Da ſtieß er
einen lauten Schrei aus und ſtürmte in den finſter
werdenden Wald hinein.
* *
*
Im Scharfrichterhauſe wunderte man ſich, daß die
Kinder fo lange ausblieben, und als die Nacht herein-
brach, verwandelte ſich die Verwunderung in Sorge
und die Sorge in Beſtürzung. Frau Magdalene
jammerte die ganze Nacht, und als der Tag graute,
machte ſich Meiſter Andreas ſelbſt mit den Knechten auf
die Suche nach den Verlorenen. Er ſchimpfte und
fluchte dabei unaufhörlich und erklärte, er werde den
unnützen Buben, wenn er ſie finde, die Knochen im
Leibe zerſchlagen; aber in der Stille ſeines Herzens
folterte ihn die Sorge, denn er war nicht nur ein guter
Henker, ſondern auch ein guter, wenn auch ſtrenger
Familienvater.
Als man einige Stunden lang im Walde geſucht
hatte, ſah man unter einer mächtigen Eiche einen jungen
Schläfer liegen, der mit halbgeöffnetem Munde atmete.
Sein Geſicht war vom Tau der Nacht beſprengt.
Glückliche Jugend, die in tiefen Schlaf verfällt,
nachdem ihr das Schlimmſte zugeſtoßen iſt!
„Geht, Leute!“ ſagte der Henker. „Es hat nichts
mehr zu fagen. Bringt der Mutter die Botichaft, daß
alles gut iſt. Aber eine Tracht Prügel hat er verdient.“
Er ſchnitt ſich im nahen Geſtrüpp eine tüchtige Gerte
ab, während die Knechte ſich entfernten. Dann trat
er dicht an den Schläfer, holte weit aus und ließ die
elaſtiſche Rute pfeifend auf die ſtraffen ledernen Hoſen
des Burſchen niederſauſen. Der fuhr mit einem
—
160 Henkersrecht. D
Schmerzensſchrei in die Höhe und ſtarrte das zornige
Geſicht des Vaters an.
„Daß Gott dich ſtrafe, verdammter Schlingel! Wer
heißt dich bei Nacht und Nebel im Buſch liegen! Sprich,
wo iſt Hans?“
Bei dieſen Worten zuckte Andreas zuſammen. Mit
grauſiger Deutlichkeit ſtand plötzlich alles, was ſich er-
eignet hatte, vor ſeinen Augen. Er ſah ſein Brüderchen,
bleich und mit weitoffenem Munde, vor ſich auf der
Erde liegen, mit dem dünnen, unſcheinbaren Bindfaden
um den Hals, er erinnerte ſich an die wahnſinnige Angſt,
mit der er nach ſeinem Taſchenmeſſer geſucht hatte,
an das blinde, zielloſe Umberirren im Walde, bis ihn
die Erſchöpfung niedergeworfen hatte. Und fo gewalt-
ſam wirkte die plötzliche Erleuchtung, daß er, wie ein
vom Blitz Getroffener, alles Gefühl des Dajeins verlor.
Er merkte es nicht, wie ein Hieb nach dem anderen auf
ihn niederſauſte; wie aus weiter Ferne ſchien ihm die
Stimme des Vaters zu kommen, der zwiſchen jedem
neuen Hiebe brüllte: „Bube, Satansbengel, fo ſprich
doch! Wo iſt dein Bruder?“
Die ſtumpfe Gleichgültigkeit, mit der ſein Sohn die
Züchtigung hinnahm, begann den Meiſter allgemach
zu verwundern. Er zerbrach die Gerte und warf die
Enden von ſich. Dann faßte er den Jungen unter das
Kinn und betrachtete ihn aufmerkſam. Er las in ſeinen
Augen einen Ausdruck, den er vorher nicht darin be—
merkt hatte.
„Nun, Andreas, es war nicht ſo ſchlimm gemeint!“
ſagte er begütigend. „Den kleinen Oenkzettel mußt
du ſchon hinnehmen für die Sorge, die du mir und
der Mutter gemacht Daft. Aber nun fag auch, wo du
deinen Bruder gelaſſen baft!“
Bei den milden Worten brach plötzlich der Burſche
o Von Wilhelm Hille. 161
in Schluchzen aus, und ſchon wollte er dem Vater das
ganze gräßliche Unglück erzählen, da begann dieſer
aufs neue.
„Hat ihm jemand was zuleid getan? Wer das ge—
wagt hätte, wäre übel beraten geweſen. Wehe dem,
der dem Sohne des Henkers ein Härchen krümmte!
Er ſollte ſterben, wie noch niemand geſtorben ift!“
Ein eiſiger Schauder drang dem Burſchen ins Herz.
Wer tötete, verfiel dem Henker! Hatte er nicht getötet?
Hatte er nicht vor zwei Tagen mit eigenen Augen
geſehen, was es bedeutete, dem Henker zu verfallen?
Da ſchlug er die Augen nieder, und als der Vater
nochmals in ihn drang, ihm zu ſagen, was mit Hänschen
ſei, antwortete er wie Kain: „Ich weiß es nicht.“
Da kamen die Knechte zurück und ſchleppten etwas
wie eine Tragbahre mit ſich.
Der Henker erbebte und biß die Zähne zuſammen.
Auf der Tragbahre lag eine kleine Leiche, außerdem
trug einer der Männer einen Handkorb und einen Bind-
faden. Sie ſetzten ihren traurigen Fund ſchweigend
nieder und nahmen die Mütze ab.
Lange ſtarrte der Vater auf den entſeelten Körper
ſeines Zweitgeborenen. Er war furchtbar anzuſehen;
feine dunklen Augen ſtrahlten ein unheimliches Feuer
aus, ſeine kurzen Haare waren gejträubs, fein Geſicht
glänzte wie rötliche Bronze.
„Wehe dem Mörder!“ ſagte er feierlich. Dann
wandte er ſich an Andreas. „Erzähle uns alles, was
du weißt!“
„Ich weiß aber nichts, ich weiß nichts!“ ſchrie An-
dreas mit ſo unverkennbarer Angſt, daß in ſeinem Vater
ein unbeſtimmter Verdacht aufſtieg.
„Du weißt nichts? Junge, wirſt du das auch vor
Ludicke Hollandt fagen? Haft du ſchon . was
1914. V.
162 Henkersrecht. u
wir mit dem lahmen Hans gemacht haben? Willſt
du mich zwingen, meinem eigenen Fleiſch und Blut
die ſpaniſchen Stiefel anzuziehen? Sprich, oder ſo
wahr ich der Henker bin —“
„Meiſter,“ ſagte Gros, der die kleine Leiche auf-
merkſam betrachtet hatte, „ich glaube, es gibt da ein
Indizium, wie Herr Ludicke Hollandt es nennt.“
„Ein Indizium?“
„Ja. Hatte Euer Kleiner nicht immer ein ſilbernes
Eilein aus Nürnberg an ſeinem Halſe hängen? — Nun,
dies Eilein iſt nicht mehr da!“
So war es. Man drehte die Leiche nach allen Seiten
hin, man kehrte ihre Taſchen um, das ſilberne Ding war
verſchwunden.
„Da das Eilein fort iſt,“ fuhr Gros fort, „ſo muß es
geſtohlen ſein. Da es geſtohlen iſt, ſo gibt es einen Dieb,
und ein Dieb, wie Ihr wißt, Meiſter, iſt oft zugleich
ein Mörder.“
Die Logik in dieſer Beweisführung war ſchlagend.
Auf Andreas aber übte ſie eine Wirkung aus, die der
Sprecher nicht beabſichtigt hatte. Der Burſche hatte
begriffen, was ſeine Rettung ſein konnte und ſein
mußte. Ohne Phantaſie und etwas beſchränkt, wie er
war, wäre er von ſelbſt gar nicht auf die Idee gekommen,
eine Geſchichte zu erfinden. Gros hatte ihn erſt darauf
gebracht. Und ſo begann er dann, auf nochmaliges
Befragen, ein Märchen zu erzählen von einem großen,
ſtruppigen Kerl mit einem dicken Knotenſtock, der Hans
das Eilein hätte wegnehmen wollen. Da ſeien ſie beide
davongelaufen, und ſchließlich ſei es dunkel geworden,
und da habe er ſeinen Bruder aus den Augen verloren.
„Und warum haſt du uns das nicht gleich erzählt,
Schlingel?“ rief der Henker, als ſein Sohn ihm das Mär—
chen aufgetiſcht hatte.
2 Von Wilhelm Hille. 163
„Weil ich mich ſchämte, daß ich Hans im Stich ge-
laſſen habe.“
Das klang nicht unglaubhaft.
„Gut, wir werden den Kerl finden. — Kommt jetzt
nach Hauſe, Leute! Und du, Gros, gehe in die Stadt
und melde Herrn Ludicke Hollandt, was ſich zugetragen
hat.“ l
„Meiſter,“ murmelte Gros zitternd, „ich glaube,
wir brauchen nach dem Mörder nicht zu ſuchen.“
„Warum, Gros?“
„Der Mörder iſt unter uns.“
„Unter uns?“ rief der Scharfrichter, mit gräßlichem
Blick die Knechte muſternd.
„Ja, ſeht Euch doch den Bindfaden genauer an.“
Der junge Andreas erbleichte. Sein Vater beugte
ſich über den dünnen Faden, der das ganze Unglück
angerichtet hatte.
„Wahrhaftig, das iſt merkwürdig!“ murmelte er,
Gros anſehend. l
„Der echte Scharfrichterknoten, das Geheimnis
unſerer Zunft. Außer Euch und mir kennt niemand
im Umkreiſe von mindeſtens dreißig Meilen dieſen
Knoten. Wenn Ihr alfo den Kleinen nicht mit eigener
Hand erwürgt habt, ſo muß ich es geweſen ſein.“
„Du, Gros?“
„Ja, ich — würde Herr Ludicke Hollandt ſagen.“
„Aber das iſt ja unmöglich!“
„Warum, lieber Meiſter?“
„Weil du den ganzen geſtrigen Nachmittag bei mir
geweſen biſt. Bis Mittag waren wir in der Folter-
kammer. Als wir zurückgekehrt waren, haben wir
im Schuppen aufgeräumt; als wir aufgeräumt hatten,
aßen wir zu Abend; als wir zu Abend gegeſſen hatten —“
Der Meiſter ſtockte.
164 Henkersrecht. D
„Bliebet Ihr zu Haufe, was ſonſt Eure Gewohnheit
nicht iſt, und hießet mich an Eurer Stelle zur Stadt
gehen und die Befehle des Richters einholen. Eine
volle Stunde war ich allein. Glaubt Ihr nicht, daß
eine Stunde hinreichen würde, in den Wald zu laufen,
Euren Kleinen zu erwürgen und zurückzukehren?“
Der Scharfrichter warf ſeinem erſten Gehilfen einen
ſchrecklichen Blick zu.
Gros lächelte. „Eine Stunde würde hinreichen.
Aber wißt Ihr, wozu fie nicht hingereicht hätte? Um
zugleich zum Markt zu gehen und Euch die verſiegelte
Inſtruktion zu bringen.“
„Alſo kannſt du es nicht geweſen ſein,“ ſagte der
Henker, tief Atem holend. „Wie ſollteſt du auch fo
etwas tun, Gros, du, der die Redlichkeit ſelber iſt, der
ſo reichen Lohn von mir erhält, daß er ſich jeden Monat
ein Nürnberger Eilein kaufen könnte, ohne deswegen
Hunger zu leiden!“
„Ach was, ein genkersknecht iſt zu allem fähig!
So ſagen wenigſtens die Leute. Und ſeht, Meiſter, wie
gut es mein Schickſal mit mir gemeint hat. Ich bat
Euch geſtern um Urlaub, und Ihr ſchluget es ab.
Hättet Ihr mir den Urlaub gegeben, ſo wäre ich heute
verloren. Nichts hätte mich vor dem ſpaniſchen Stiefel
geſchützt, und wer den erſt auf dem Schienbeine ſitzen
hat, der bekennt alles, was er bekennen ſoll.“
„Gros,“ ſagte Meiſter Andreas leiſe, „es gibt außer
dir und mir noch ee der den echten Scharfrichter-
knoten kennt.“
„Ja,“ flüſterte Gros und warf einen eigentüm—
lichen Blick auf den Jungen, „der ihn ſeit zwei Tagen
kennt, der die Schlinge gemacht hat, mit der wir den
lahmen Hans henkten.“
Der Weiſter antwortete nicht, er trat an feinen
2 Von Wilhelm Hille. 165
Sohn heran, faßte ihn mit der rechten Hand unter das
Kinn und ſchaute ihn länger als eine Minute unver-
wandt an.
Das war eine furchtbare Minute. Andreas wußte,
daß er verloren war, wenn er mit der Wimper zuckte.
Die Todesangſt verlieh ihm eine übernatürliche Kraft,
und er hielt den forſchenden Blick dieſer mächtigen
Augen, die Herz und Nieren zu ergründen ſchienen,
mit wildem Trotz aus, während ihm der kalte Angſt-
ſchweiß an den Gliedern klebte.
„Durchſuche ſeine Taſchen, Gros,“ ſagte der Henker.
„Er wird es fortgeworfen haben,“ meinte der Ge-
hilfe, indem er dem Gebote nachkam.
Das Nürnberger Eilein fand ſich nicht.
„Er iſt unſchuldig,“ ſagte Meiſter Andreas. „Ich
habe es in ſeinen Augen geleſen. Nein, ſo verderbt
ſind auch die Kinder eines Henkers nicht, daß ſie ein—
ander erwürgten um eines elenden Spielzeugs willen.
Das mit dem Knoten kann Zufall fein. Meiſter Boll-
hardt in Düfjeldorf und Meiſter Emmerich in Magde—
burg machen auch ſolche Knoten. Vielleicht, daß einer
ihrer Knechte auf der Wanderſchaft hier durchgekommen
ift. — Kommt nach Haufe. — Und du, Gros, melde die
Untat Herrn Ludicke Hollandt, ſchweig aber über den
Knoten. Gott wird's ſchon ans Licht bringen.“
* *
K
Es nimmt alles ein Ende. Das Menſchenherz wird
es müde, fruchtlos mit ſeinem Schickſal zu hadern.
Man erträgt, was nicht zu ändern iſt, macht einen
Strich durch die Vergangenheit und ſchaut in die Zu—
kunft.
Als der kleine Hans begraben war, als die friſchen
Rofen, mit denen die liebende Mutterhand den kleinen
166 Henkersrecht. o
Hügel beſtreut hatte, ſich zum Verwelken neigten,
gingen die Geſchäfte im Scharfrichterhauſe wieder
ihren gewohnten Gang. Meifter Andreas Wetzel ſah
noch etwas härter und menſchenfeindlicher aus als
früher, wenn er in Ausübung ſeines Amtes ſchraubte,
brannte und peitſchte. Frau Magdalena weinte noch
häufiger als ſonſt und betete fleißiger mit der tauben
Großmutter. Und Andreas wurde ein fleißiger, brauch-
barer Scharfrichterlehrling, der dem Vater geſchickt
zur Hand ging.
Er war kein fröhlicher Knabe, man hörte ihn nicht
mehr lachen. |
Er trug an feiner Schuld.
Früher, wenn die häuslichen Verrichtungen, zu
denen er herangezogen wurde, abgetan waren, ſchlug
er ſich zum Hausgeſinde oder trieb allerhand Kurzweil;
jetzt ſchlich er, ſobald der Vater ihn freigegeben, in ſein
Kämmerlein, warf ſich aufs Lager und brütete ſtill
vor ſich hin. Er ſchrak zuſammen, wenn er unvermutet
dem Vater begegnete; ſelbſt die Mutter, deren ſanfte
Augen ihn oft mit einem ſo ſonderbaren Ausdrucke
ſtiller Trauer anſchauten, mied er nach Möglichkeit.
Es kam ihm immer vor, als ob ſie das Geheimnis ahne,
das ſeine Seele bedrückte.
Aber Frau Magdalena ahnte nichts.
Sie ſah wohl die Veränderung, die im Innern
ihres Sohnes eingetreten war, aber ſie ſchrieb es dem
ſchrecklichen Beruf zu, auf den der junge Mann ſich
vorbereitete.
„Siehſt du nun, was du angerichtet haſt?“ fragte
ſie eines Tages ihren Mann. „Warum hörteſt du nicht
auf mich, als ich dich bat, ihn noch einige Jahre davon—
zulaſſen? Du haſt ſeine Seele verdorben. Er wird
von Tag zu Tag roher, mürriſcher. Und er kennt kein
o Von Wilhelm Jille. 167
Mitleid mehr. Vater Klaus ſagt, er fange Kaninchen
und zerquetſche ihnen im Schraubſtock die Pfoten.“
Der Meiſter zuckte die Achſel. „Oer Henker muß
hart werden, liebes Weib! Hab's dem Jungen ſelbſt
geraten, ſich an Tieren zu üben.“
„Oh,“ klagte ſie, „dann wollte ſicherlich der liebe
Gott, als er mir meinen Liebling, meinen kleinen Hans
nahm, ſeine Seele retten! Er wollte einen Engel
aus ihm machen. Du dagegen machſt einen Teufel
aus dem anderen. Du biſt ſelbſt ein Teufel, ein Un-
geheuer!“
„Ich bin das unwürdige Werkzeug der irdiſchen
Gerechtigkeit,“ erwiderte der Henker gelaſſen. „Man
befiehlt mir zu ſchlagen, und ich ſchlage, man ſagt mir:
Foltere!“ und ich foltere, man ſagt mir: Töte!“ und ich
töte. Der Verbrecher, der dem Henker fluchen wollte,
wäre wie das Kind, das den Tiſch verflucht, an dem es
ſich geſtoßen. Die Geſetze ſind grauſam, nicht der Henker.
Weib, Weib, mit deinem Erbarmen im Herzen wäre
ich hundertmal grauſamer, als ich es jetzt bin! Die
barmherzige Hand zittert, wenn ſie töten ſoll, ein
gerührtes Auge ſieht ſchlecht. Gott behüte mich davor,
einen mitleidigen Henker zum Sohne zu haben!“
In der Tat ſchien dieſe furchtbare Gefahr, vor der der
Henker zitterte, an ihm vorüberzugehen. In der Er-
tötung aller der Triebe, die man unter dem Namen
„Menſchlichkeit“ zuſammenfaßt, machte Andreas berr-
liche Fortſchritte. Es wandelte ihn jetzt keine Schwäche
mehr an in der Folterkammer; die Bläſſe der gemarter-
ten Unglücklichen teilte ſich ſeinen Wangen nicht mehr
mit. Er legte kräftig Hand mit an, wenn es galt, den
Angeſchuldigten auf der Bank feſtzubinden, mit ge-
waltigen Hieben den Keil in den ſpaniſchen Stiefel
zu treiben, ſo daß das Blut zwiſchen den Fugen des
168 Henkersrecht. 0
Inſtrumentes hervorſchoß. Kurz, er verſprach ein tüd-
tiger Henker zu werden, der ſeinem Amte Ehre machte.
* *
*
Zwei Jahre waren vergangen.
Da kam eines Abends Meifter Andreas Wetzel in
ſonderbarer Aufregung nach Hauſe zurück. Die ſonſt
ſchon etwas gebückte Geſtalt war hoch aufgerichtet,
feine Augen glänzten. Er hatte fih etwas verſpätet.
Frau Magdalena, der Gehilfe Gros und der junge
Andreas ſaßen bereits um den runden, weißgeſcheuerten
Tiſch und verzehrten aus einer großen irdenen Schüſſel
den in Milch gekochten Roggenbrei. Dazu aßen ſie
Brot. |
„Hol die Bibel aus der guten Stube, Andreas,“
ſagte der Henker und warf Mütze und Überrod von fid).
Andreas ſtand ſchweigend auf. Die Frau warf einen
ängſtlichen Blick auf ihren Gatten. Es hatte immer
etwas zu bedeuten, wenn der Henker betete.
And dann ſchlug der Meiſter das große Bibelbuch
beim hundertunddritten Pſalm auf und begann mit
lauter Stimme: „Lobe den Herrn, meine Seele, und,
was in mir iſt, ſeinen heiligen Namen!“ Er las den
ganzen Pſalm, darauf ſchloß er das Buch und fügte
hinzu: „Ich danke dir, Gott, daß du ihn in meine
Hände gegeben haft. Gott, du biſt gerecht! Gott, du
biſt weiſe! Die Untat bringſt du ans Licht, den Ber-
brecher überantworteſt du der Strafe. Und ob ſie
flöhen vor dir auf den Flügeln der Morgenröte, dein
Arm ereilet ſie dennoch. Gott, gelobt ſei dein Name!
Amen!“
Wie verſteinert ſaß der junge Andreas da. Frau
Magdalena aber brach in Schluchzen aus. Da breitete
der Henker mit einem bei ihm ſo ſeltenen Ausbruche
| D Don Wilhelm Hille. 169
von Zärtlichkeit die Arme aus, zog fie an fih und drückte
einen Kuß auf ihre blaſſe Stirn. „Ja, weine, arme
Mutter!“ ſagte er. „Weine vor Freude! Ich habe
den Mörder meines Sohnes gefunden.“
„Steht nicht geſchrieben: Mein iſt die Rache, ich
will vergelten, ſpricht der Herr?“ flüſterte ſie.
„Ja, aber es ſteht auch geſchrieben: Auge um Auge,
Zahn um Zahn, Blut um Blut! Wehe dem Mifie-
täter, dem der Henker zugleich der beleidigte Vater iſt!
Auf dem Rade ſoll er ſterben, und die Vögel ſollen ſich
an ſeinen Eingeweiden ſättigen.“ |
„Erzählet uns, lieber Meiſter, wie Ihr ihn gefunden
habt,“ ſagte der immer nüchterne Gros.
„Hab's meinem geſtrengen Herrn Ludicke Hollandt
zu verdanken, der in der Stille fleißig der Tat nach-
geforſcht. Heute abend, als ich mir die Inſtruktion
holte, ließ er mich in ſeine Stube kommen und fragte
mich: „Kennt Ihr dies Spielzeug, Meiſter Andreas?“
Dabei hielt er mir ein kleines Nürnberger Eilein
vor die Augen. Es war dasſelbe, das ich einſt dem
Kleinen geſchenkt, erkannte es an den Buchſtaben des
Wortes justitia, die ich mit eigener Hand hineingeritzt
habe. Als nun Ludicke Hollandt mein Erſtaunen ſah,
fuhr er fort: „So merket denn den Finger Gottes,
Meiſter Andreas, denn dies Eilein hat geſtern der
Windmüllersſohn Peter Zeidler, ſo ſchon zweimal
wegen Vogelſtellens von Euch mit Ruten geſtrichen
worden iſt, an Martin Broſchen, den Silberſchmied,
verkaufen wollen, der ſich aber des Handels nicht
trauete und es dem Gerichte meldete. Den Zeidler
habe ich nun ins Gewahrſam führen laffen, und wie-
wohl er dabei bleibt, daß er das Kleinod im Wald ge-
funden habe und von ſonſt nichts wiſſe, wollen wir die
Wahrheit jego ſchon ans Licht bringen.“ So ſagte
170 Henkersrecht. u
Ludicke Hollandt und reichte mir die Hand, da niemand
weiter im Zimmer war, der es ſehen konnte, daß er den
Henker berührte. Und morgen iſt das erſte Verhör.
Ah, Ludicke Hollandt hat recht, wir werden es ſchon
ans Licht bringen! — Nicht wahr, Andreas?“
Der Burſche nickte ſchweigend und wich dem Blick
des Vaters aus, der tapfer dem Roggenbrei zuſprach.
In der ſchon herrſchenden Dämmerung konnte man nicht
ſehen, wie blaß er geworden war.
Er benützte denn auch die erſte Gelegenheit, die ſich
ihm bot, in ſein Dachkämmerchen hinaufzuſteigen.
Aufrichtig freuen tat ſich außer dem Henker nur
noch Gros, der immer im geheimen befürchtet hatte,
wegen der merkwürdigen Beſchaffenheit des Knotens
in der damals neben der Leiche gefundenen Schlinge
doch noch ſelbſt in Verdacht zu kommen.
Frau Magdalena hatte ein zu weiches Gemüt, um
fich an dem Gefühle der bevorſtehenden Rache berau-
ſchen zu können. Ihr Knabe wurde ja dadurch doch
nicht wieder lebendig.
* *
*
Wenn der Unterſuchungsrichter Ludicke Hollandt
gemeint hatte, daß nun alles ans Licht kommen werde,
ſo hatte er ſich in einem bedauerlichen Irrtum befunden.
Der Windmüllersſohn gab ihm eine harte Nuß zu
knacken auf. Seine Ausſage lautete klar und beſtimmt.
Er habe vor einigen Wochen das ſilberne Spielzeug
in der Nähe der Stelle gefunden, wo man vor Jahren
die Leiche des Knaben aufgeleſen habe. Von dem
Morde wiſſe er nichts und könne nichts darüber an—
geben. Daß das Eilein lange Zeit im Walde gelegen
habe, könne man ihm anſehen. Befragt, warum er
feinen Fund nicht ſogleich zu Gelde zu machen ver-
o Von Wilhelm Hille. 171
ſucht habe, erklärte er, er habe ſich nicht ſogleich getraut,
das zu tun, um nicht in den Verdacht zu kommen, das
Ding geſtohlen zu haben. Bei dieſer Ausſage blieb er,
und alle Verſuche, ihm einen Widerſpruch nachzu-
weiſen, waren vergebens.
Um ſo verworrener waren die Angaben des jungen
Andreas, den man dem Angeſchuldigten gegenüber-
ſtellte. Befragt, ob er den Angeklagten in dem Manne,
der ſie damals verfolgt habe, wiedererkenne, erklärte
er, ſich nicht mehr erinnern zu können. Seine Dar-
ſtellung des damaligen Vorganges war unbeſtimmt,
lückenhaft und widerſprach in wichtigen Punkten ſeinen
früher abgegebenen Ausſagen. Kurz, er verſagte als
Belaſtungszeuge vollſtändig, zum größten Verdruſſe
Meiſter Wetzels, der dem Verhöre beiwohnen durfte.
„Das iſt eine ſchwierige Sache, lieber Meiſter,“
ſagte der Unterſuchungsrichter nachdenklich, als der An-
geklagte abgeführt worden war. „Wenn wir keine
anderen Indizia finden, werden wir ihn laufen laſſen
müſſen.“
„Laufen laſſen?“ ſchrie der Henker. „Ei, warum
laßt Ihr mich nicht machen, anſtatt viele Worte zu ver-
lieren? Einige Schrauben, einige Keile, und alles iſt
glatt und klar.“
„Ihr kennt die Geſetze nicht, ſonſt würdet Ihr nicht
alſo ſprechen,“ entgegnete der würdige Richter. „Wir
dürfen nur peinlich fragen, wenn indicia gravia et
praegnantia et sufficientia ad torturam vorliegen.
Käme ſonſt mancher Unglückliche in Eure Hände, der's
nicht verdient hat. Die Folter ſoll nur die Indizien
beſtätigen.“
poit das Eilein kein Indizium?“
„Es iſt ein Indizium, ob aber grave et praegnans
et sufficiens ad torturam — darüber muß vorerſt das
172 E Henkersrecht. a
Obergericht entſcheiden. Alfo faſſet Euch in Geduld
und greifet nicht der irdiſchen Gerechtigkeit vor, der
Ihr, wie wir alle, untertan ſeid.“ —
Als der Scharfrichter um Mittag nach Hauſe kam,
war er in ſehr ſchlechter Laune. Schweigend verzehrte
er ſein Eſſen. Niemand wagte ein Wort zu ſprechen.
Als Frau Magdalena ihm Wein einſchenkte, hatte er
des nicht acht und ſtieß den Krug um, daß der Wein
über den Tiſch floß. Da ergriff er zornig den Krug
und ſchleuderte ihn auf den Boden, daß die Scherben
in der Stube umherflogen.
„Der Satan mag Ludicke Hollandt holen!“ ſchrie
er grimmig. „Brauchte mich bloß ein bißchen ſchrauben
zu laſſen, ſo wäre das Ding fertig. Aber wahrlich, wenn
der Zeidler es fertig bringt, dem Gerichte eine Naſe
zu drehen, mir ſoll er doch nicht entwiſchen! Und wenn
ich ſelbſt darum aufs Schafott müßte! Ich werde ihm
auflauern, ich werde ihn fangen. In der guten Stube
werden wir das Hochgericht halten, unter dem Kruzifix
werde ich ihn aufs Rad flechten, ſo wahr ich der Henker
bin!“
Sein zornentflammtes Auge traf auf den jungen
Andreas, der erbleichend aufſtand, um die Stube zu
verlaſſen.
Da bückte ſich der Meiſter, las eine Scherbe vom.
Fußboden auf und warf damit nach ſeinem Sohne.
„Und du Elender biſt an allem ſchuld!“ brüllte er.
„Halt wie ein Jammerlappen vor Ludicke Hollandt
ausgeſagt. Wie ein altes Weib haſt du gezittert, als du
deinen leiblichen Bruder rächen ſollteſt. Ah, warum
hat der Zeidler nicht dich erwürgt, ſtatt des anderen! —
Fort mit dir, du Feigling!“
Andreas flüchtete ſich auf ſeine Kammer und warf
fich laut ſchluchzend auf fein Strohlager. Zn dieſer
——— —-—ßw1uu— —— — =
u Von Wilhelm Hille, 173
Nacht tat er kein Auge zu und litt Folterqualen, die
denen des Miſſetäters auf dem Rade gewiß nicht viel
nachgaben. Sein einziger Wunſch war, daß Gott ihn
möchte ſterben laſſen.
Sterben, wie andere Menſchen ſterben, nur nicht
von der Hand des Henkers! f
* *
* 1
Sechs Tage lang lag finſteres Gewölk auf Meiſter
Wetzels Stirn, wenn er zum Mittagefien heimkam,
ſechs Tage lang ſchalt er auf die Federfuchſerei und
lahme Juſtiz ſeines Herrn Ludicke Hollandt.
Am ſiebenten Tage aber ſchwenkte er den Hut und
umarmte, kaum daß er ihrer anſichtig geworden, ſeine
Frau mit jugendlichem UAngeſtüm. „Gerechtigkeit!“
rief er aus und warf ein großes Schriftſtück auf den
Tiſch. „Rufe Andreas und das Geſinde zuſammen,
daß ſie's alle vernehmen!“
Schnell füllte ſich das Zimmer. Die Knechte
blieben, die Mütze in der Hand, an der Tür ſtehen.
Andreas, von geheimem Schrecken erfüllt, drückte ſich
in den entfernteſten Winkel. Ach, er hatte ſchon gehofft,
man würde das Verfahren gegen den unglücklichen
Finder des Eileins einſtellen.
Der Meiſter warf einen triumphierenden Blick auf
die Runde, dann entfaltete er das Schreiben und las:
„„An den Ratsherrn Ludide Hollandt. Auf ergangene
Anfrage in Sachen Peter Zeidlers, des Windmüllers-
ſohnes, Ew. Liebden zum Beſcheide, daß der Angeklagte
propter gravem facinoris suspicionem peinlich von
Euch zu befragen ift.
Die Braunſchweigiſchen Freiſchöffen.“
And nun laſſet uns fingen,“ ſagte der Meiſter, als
er ausgeleſen hatte. Und er begann anzuſtimmen:
174 Henkersrecht. o
„Run dantet alle Gott
Mit Herzen, Mund und Händen,“
Die Knechte fielen mit ihren rauhen Stimmen ein,
und auch Frau Magdalena, deren weiches Gemüt die
Befriedigung geſättigter Nahe nicht kannte, fang an-
dächtig mit.
Aber ein anderer, ſeltſamer Ton, erſt leiſe, halb
erſtickt, dann immer lauter, miſchte ſich in den freudigen
Choral, ein Ton, der wie ein qualvolles Stöhnen klang
und aus der Tiefe des Zimmers hervorkam, wohin der
junge Andreas ſich geflüchtet hatte.
Der Scharfrichter erblaßte. Wie ein wildes Tier
ſtürzte er auf den unglücklichen Knaben zu und riß ihm
den Kopf in die Höhe. Als er das von Tränen ganz
durchnäßte Geſicht des Burſchen gewahrte, bemächtigte
ſich ſeiner eine ſinnloſe Wut. „Bube! Bube!“ ſchrie
er und rang nach Atem. Dann riß er den kurzen Dolch,
den er immer bei ſich trug, aus der Scheide und ziſchte
ſeinem Sohne ins Ohr: „Wer den Mörder ſeines
Bruders beweint, ſoll ſterben! — Sterben ſoll er,
verſtehſt du?“
„Mann, lieber Mann!“ kreiſchte die Frau auf und
warf ſich auf den Henker.
„Laß nur, Mutter!“ ſagte plötzlich Andreas, deſſen
Tränen zu fließen aufgehört hatten. Dann riß er ſich
mit einem heftigen Nude das Lederwams auf, ent-
blößte die Bruſt und ſagte: „Stoß zu, Vater! Ich
will gerne ſterben.“
Klirrend fiel der Dolch zu Boden. Vater und Sohn
ſahen ſich an. Die Knechte wagten nicht zu atmen.
„Weshalb willſt du ſterben?“ fragte plötzlich der
Henker mit harter Stimme.
„Weil ich dich haſſe!“ antwortete Andreas.
„Und weshalb haſſeſt du mich?“
(2) Bon Wilhelm Hille. 175
„Weil du der Henker biſt!“
Scharf wie ein zweiſchneidiges Schwert kam es
von des Burſchen Lippen.
Der Henker zuckte zuſammen; wie eine Wolke ſenkte
ſich einen Augenblick die ungeheure Schmach ſeines
Gewerbes auf ihn nieder. Aber nur einen Augenblick.
Dann richtete er ſich ſtolz in die Höhe. „Entferne dich!“
ſagte er kalt. „Wollte Gott, daß ich keine Kinder ge-
habt hätte!“
Andreas verließ das Zimmer. Sein Schritt war
zum erſten Male wieder feſt. Seine Augen glänzten.
Er hatte einen Sieg erfochten, der ſelten jemand
gelingt. Er hatte die Furcht vor dem Sterben beſiegt.
* *
%
Wieder ſchritten Vater und Sohn in der Frühe des
Morgens der Stadt zu. Der Wagen mit den Folter-
werkzeugen und den Knechten war vorausgefahren.
Wie innig hatte Meiſter Andreas Wetzel den heutigen
Tag herbeigeſehnt, der ſeinen heißen Rachedurſt be—
friedigen ſollte! Und nun es ſo weit war, wollte es
ihn nimmer freuen. Hatte ihm doch der glückliche Tag
zugleich die Erkenntnis gebracht, daß ſein einziger Sohn
für den Beruf verdorben war. Von ſeinem eigenen
Fleiſch und Blut ward er verachtet! Das Vorurteil
der Welt gegen den Henker war in den Schoß ſeiner
Familie gedrungen, bis an den häuslichen Herd ver-
folgte ihn die Ehrloſigkeit des Amtes!
Schweigend gingen die beiden nebeneinander her.
Plötzlich begann der Alte: „Alſo du haſſeſt mich, weil
ich der Henker bin?“ | j
Andreas nickte.
„Weißt du nicht, daß der Henker der Diener der
Gerechtigkeit iſt, und daß es kein höheres Amt gibt als
176 Henkersrecht. o
das, der Vollſtrecker der irdiſchen Gerechtigkeit zu fein,
wie Gott der Vollſtrecker der himmliſchen Gerechtig-
keit ift?“
Andreas ſchwieg eine Weile. Dann antwortete er:
„Du biſt aber kein gerechter Henker.“
Meiſter Wetzel runzelte die Stirn, auf der die Born-
ader anzuſchwellen begann. Aber er tat ſich Gewalt
an und ſagte: „Haſt du mich ſchon jemals einen foltern
ſehen, der nicht alles bekannt hat? Haſt du mich ſchon
jemals einen hinrichten ſehen, der nicht auf dem Be-
kenntnis ſeiner Schuld freiwillig verblieben iſt?“
„Du würdeſt auch bekennen, was man will, wenn
man dir die ſpaniſchen Stiefel und die Mundbirne
gäbe,“ ſagte der Burſche.
„Junge, Junge,“ rief der Alte unwillig, „willſt du
klüger fein als Ludicke Hollandt? Willſt du beffer
wiſſen, wer ſchuldig iſt und wer nicht, als die hoch-
gelehrten Freiſchöffen? Meinſt du, wir prüfen nicht
ſorgfältig, ehe wir die peinliche Frage verhängen? —
Ich ein ungerechter Henker! Jefus! Kennſt du die Ge-
ſchichte von Matthias Ehrenberg, der vor zwölf Jahren
wegen Hexerei gebrannt wurde?“
„Nein.“
„Sieh, das war ein guter, wackerer Mann und Ge—
lehrter, um den es ſelbſt dem Henker in der Seele leid
tat. Glaub's noch heute, daß er nur durch die Lift bös-
williger Leute auf den Scheiterhaufen gekommen iſt.
Als er auf der Marterbank feſtgebunden war und
Ludicke Hollandt mir zurief: „Schraubet!“ da ſagte er
zu mir: „‚Meiſter, ich weiß, daß Ihr ein ehrlicher Mann
ſeid. So Ihr nun glaubet, daß ich der Tat ſchuldig bin,
ſo ſchraubet getroſt. Gott wird mich ſtärken. So Ihr
aber zweifelt und Eurer Sache ungewiß ſeid, ſo wird
mein Blut über Euch und Eure Kinder kommen.“
— ———— —jä—4
o Don Wilhelm Hille. 177
Als er fo ſprach, winkte ich den Knechten, ihn loszu-
binden, und erklärte meinem geſtrengen Herrn Richter,
ich müſſe auch meiner Seele Seligkeit bedenken.
Wollten mich von Amt und Brot jagen wegen der
Geſchichte. Aber Ludicke Hollandt nahm mich insgeheim
vor und redete mir zu, ich ſolle ſagen, ein plötzliches
Gebreſten habe mich befallen, ſo daß ich nicht habe
meines Amtes walten können. Wußte wohl, daß er
ſobald keinen beſſeren Henker bekommen würde. Und
ſie ließen Meiſter Bollhardt aus Düſſeldorf kommen,
dem ich für die Reiſe dreiunddreißig Taler bezahlen
mußte. Tat's aber gern, um der Sache loszukommen
und in meinem Gewiſſen nicht beſchwert zu ſein. —
Nein, Junge, niemals war dein Vater ein ungerechter
Henker und wird's auch nie ſein, ſo wahr ihm Gott
helfe! Und auch du, wenn du einmal an meiner Statt
hier die Sprüche der Freiſchöffen vollſtreckſt, ſollſt
immer dein Gewiſſen fragen, ob's auch recht gerichtet
iſt oder nicht, und lieber ſelbſt den Kopf auf den Block
legen, als den Anſchuldigen foltern und töten. Das ift
die wahre Henkersehre, mein Sohn, und die iſt, wie
die Ehre der Ritter, von Gott ſelbſt dem Stande ge-
geben, was auch die Menſchen ſagen mögen, und wir
ſollen ſie rein und unbefleckt erhalten und vererben
von Vater auf Sohn und von Sohn auf Enkel.“
Der Henkersſohn hatte aufmerkſam zugehört. Als
der Alte ſchwieg, warf er ſtolz das Haupt zurück und
ſagte: „Gut, Vater, ich werde es ebenſo machen wie
du. Ich werde den Zeidler nicht foltern.“
„Den Zeidler nicht foltern? Viſt du verrückt, Junge?
Dieſen Nichtswürdigſten aller Nichtswürdigen, den Mör-
der deines Bruders nicht foltern? Und warum nicht?“
„Weil er unſchuldig iſt und weil du ſelber geſagt
haft, ich folle nicht wider mein Gewiſſen foltern.“
1914. v. 12
178 genkersrecht. a
„Ich habe das geſagt, weil ich nicht wußte, daß ich
einen ſolchen Narren wie du zum Sohne habe. Hätte
ich das gewußt, ſo hätte ich noch hinzugefügt, daß ein
Bengel von ſechzehn Jahren noch kein Urteil über
ſchuldig und unſchuldig haben kann, daß er ſich dem
Spruche erfahrener Männer zu beugen hat.“
„Ich weiß aber, daß er unſchuldig iſt!“
„Bube!“ ſchrie der Meiſter, unfähig, ſich länger zu
beherrſchen. „Du wirſt ihn foltern, wie ich ihn foltere,
oder —“
„Oder?“
Vater und Sohn blieben ſtehen und ſahen ſich an.
Und da erſchrak Meiſter Wetzel über die Wildheit und
Kraft, die ihm aus den Augen ſeines Erſtgeborenen
entgegenleuchteten. Es war nicht mehr der Knabe, der
vor ihm ſtand, es war der plötzlich zum Manne Ge—
wordene. Es war er ſelbſt, ſeine eigene wilde Raſſe,
die ihm den Krieg erklärte.
„Gut,“ ſagte der Henker nach einer Weile mit
veränderter Stimme, „ich will dich nicht zwingen.
Was ich geſagt habe, habe ich geſagt. Da du ihn für
unſchuldig hältſt, magſt du die Hände von ihm laſſen.
Ich und Gros werden es ſelbſt beſorgen. Aber du ſollſt
mit dabei fein, damit du von feinen Lippen fein Schuld-
bekenntnis hörſt.“
„Und auch du wirſt ihn nicht foltern, Vater! Nein,
du wirſt es nicht tun!“ rief Andreas. „Verſprich mir,
es nicht zu tun, und ich verſpreche dir, ein tüchtiger
Henker zu werden. Ich werde dir Ehre machen. Nächſtes
Jahr werde ich mein Geſellenſtück ablegen. Bitte,
lieber Vater, tue es nicht!“
Ein Hohngelächter war die Antwort des Henkers
auf dieſen Appell an ſein Herz. „Verrückter Bengel!“
ſchrie er. „Dir verſprechen, den Mörder meines Kindes
o Von Wilhelm Hille. 179
nicht zu foltern! Amt, Ehre, Gewiſſen fahren laſſen
um einer elenden Knabenlaune willen! Ah, lieber
wollte ich mir meine zehn Finger einzeln abſägen
laſſen, als darauf verzichten, den Zeidler unter den
Daumenſchrauben wimmern zu hören! Und nun will
ich nichts mehr von dir hören! Wenn du zur Vernunft
zurückgekehrt biſt, wollen wir wieder miteinander
ſprechen.“
Andreas ſchwieg. Eine harte Falte legte ſich um
ſeinen Mund.
So kamen fie am Rathauſe an.
* *
*
„Somit übergebe ich dich der peinlichen Frage, bis
du bekannt haft. Meiſter Andreas Wetzel, nehmt ihn
in Eure Hände und tut mit ihm nach Eurem Amte.“
Alſo ſprach Ludicke Hollandt und zerbrach den
birkenen Stab, mit dem er auf den CTiſch geklopft, zum
Zeichen, daß die Verhandlung ihren Anfang genommen
habe.
Der Unglückliche, dem die Anrede des Richters galt,
lag bereits mit vollſtändig entblößtem Oberkörper auf
der Folterbank. Dieſe befand ſich in der Mitte des
großen düſteren Raumes, dem Richtertiſche gegenüber,
und hatte ungefähr die Form einer Dachrinne, in die
der Körper des zu Befragenden gerade hineingezwängt
werden konnte. Sie lief ſchräg aufwärts, aber ſo, daß
der Kopf tiefer lag als die Füße, die etwas über das
obere Ende hinaushingen. Schon das längere Liegen
in dieſer Mulde mußte äußerſt qualvoll ſein.
Peter Zeidler, der junge Windmüller, war ein
kräftig gebauter Menſch von etwa fünfundzwanzig
Jahren, von dem man wohl erwarten konnte, daß er
ſich nicht ohne Kampf in ſein Schickſal ergeben würde.
180 Henkersrecht. TE o
Er war totenbleih, aber feine Lippen waren feft
geſchloſſen.
Meifter Andreas, der mit Gros und feinem Sohne
neben der Folterbank ſtand, ergriff die Hände des
Delinquenten und legte die Daumen, mit der Rück-
ſeite aneinander gepreßt, in den Schraubſtock. Dann
ſah er erwartungsvoll zu dem Richtertiſche auf.
Ludicke Hollandt hatte mit den Beiſitzern zu ſeiner
Rechten und Linken geſprochen und erhob ſich: „So
frage ich dich, Peter Zeidler, zum letzten Male, ob du
in Güte bekennen willſt?“
Der Angeklagte ſchüttelte den Kopf und biß die
Zähne aufeinander.
„So ſchraubet, Meiſter,“ ſagte der Richter gelaſſen
und ſetzte ſich wieder.
Der Henker ergriff die Kurbel des Schraubſtockes.
Da flüſterte ihm eine Stimme ins Ohr: „Laßt es
nicht bis zum Außerſten kommen, Vater! Ihr würdet
es hernach bereuen.“
Sinnlos vor Zorn wandte ſich der Henker um. Und
wie er ſeinen Erſtgeborenen bleich und mit flehend
emporgeſtreckten Armen vor ſich ſtehen ſah, verließ
ihn die Beſonnenheit. Er holte weit aus und gab ihm
eine ſchallende Ohrfeige, daß Andreas zurücktaumelte.
Dann drehte er dreimal die Kurbel um.
Peter Zeidler ſtieß einen einzigen kurzen Schrei
aus; ſeine Augen ſchloſſen ſich. Zwiſchen den Fugen
des Marterinſtrumentes fab man das Blut hervor-
quellen.
Da trat der junge Andreas vor den Richtertiſch und
ſagte mit feſter Stimme: „Fit es auch erlaubt, einen
Unſchuldigen peinlich zu fragen?“
Überrafcht ſahen ſich die Richter an.
Ludicke Hollandt aber ſprach zornig: „Was foll
o Von Wilhelm Hille. 181
das heißen, Burſche, daß du das Gericht zu unter-
brechen dich erdreiſteſt?“
„Das ſoll heißen,“ rief Andreas laut, „daß Peter
Zeidler der Tat unſchuldig iſt. Denn ich bin's geweſen.“
„Er lügt!“ ſchrie Meiſter Andreas, vorſtürzend. „Er
hat ſich's in den Kopf geſetzt, den Zeidler der Strafe
zu entziehen. Überlaßt ihn mir! Eine tüchtige Tracht
Prügel wird ihm feinen gefunden Verſtand wieder-
geben.“
„Ich lüge nicht, ich bin wohl bei Sinnen,“ ſagte
der junge Mann. „Und wenn Euer Gnaden mir den
Bindfaden vorlegen würden, mit dem mein armer
Bruder erwürgt worden, ſo wollte ich es bald beweiſen,
daß ich die Wahrheit ſpreche. Darum nehmt mich in
Haft und tut mit mir, wie ich's verdient habe. Ich
will alles erdulden, nur daß kein Unſchuldiger ge-
peinigt wird.“
Der Richter ſprach mit den Beiſitzern, dann klopfte
er auf den Tiſch und gebot Stille. „Schraubet den
Angeklagten los, Meiſter,“ ſagte er zu dem wie ver-
ſteinert daſtehenden Scharfrichter. „Die peinliche Frage
iſt für heute aufgehoben. — And du, Burſche,“ wandte
er ſich an den jungen Andreas, „kommſt mit uns hinauf
in das Ratszimmer, wo du uns alles berichten magſt,
was ſich begeben hat. — Ihr aber, Meiſter Andreas,
haltet Euch hier zur Verfügung des Gerichtes, falls
man Euer bedürfen ſollte.“
* *
*
„Alſo entſcheidet Euch, Meiſter Andreas,“ ſagte der
Richter. „Denn ob der Knabe auch freimütig feine
Schuld bekannt, und obgleich erhellet, daß er nicht in
böſem Willen, ſondern in kindiſchem Anverſtande die
SGreueltat vollbracht, fo ift er doch nach dem Geſetze
182 Henkersrecht. u
des Todes ſchuldig. Wollt Ihr ihn nun mit Euch nehmen
und richten nach Henkersrecht, ſo habt Ihr mir, bis daß
die Sonne untergegangen, anzuzeigen, daß der Ge-
rechtigkeit Genüge geſchehen; wo nicht, ſo bleibt er
hier in Verhaft, bis das Obergericht ſeinen Spruch
gefällt.“
„Ich will ihn richten nach Henkersrecht,“ erklärte
der Meiſter mit ruhiger Stimme. Er hatte ſich feſt
in der Gewalt. Keine Muskel in ſeinem harten Geſichte
zuckte; nur in den Augen brannte ein düſteres Feuer.
„Somit werde ich dem Büttel anbefehlen, daß er
den Knaben dem Henker übergebe. Meiſter, es er-
barmt mich über Euch, aber das Geſetz ift ſtreng. Be-
denket es wohl: bis die Sonne untergegangen. Saget
dem Knaben, daß er die Zeit gut ausnütze.“
* *.
*
Auf dem Heimwege ſprachen Vater und Sohn kein
Wort miteinander. Jeder wußte, was kommen mußte.
Der Alte, der vor Ludicke Hollandt feine Haltung be-
wahrt hatte, ging jetzt gebückt und atmete ſchwer; der
Junge, hoch aufgerichtet, die Hände auf dem Rücken
gefeſſelt, ſchritt neben ihm her wie der Sieger neben
dem Beſiegten. In feiner Seele lag kein Grauen,
ſondern eine unausſprechliche Erleichterung darüber,
daß er die Laſt, die er feit zwei Jahren getragen, end-
lich von ſich abgewälzt hatte. Mochte nun kommen, was
da wolle: er fühlte es, er war über das Schwerſte
hinaus.
Als ſie vor dem Henkerhauſe angekommen waren,
zog Meiſter Andreas mit einem heftigen Ruck ſeinen
Dolch aus der Scheide. Der Sohn ſah ihn an und
lächelte. Aber es war noch nicht das, was er erwartete.
Der Alte ſchnitt die Feſſeln durch. „Der Mutter
o Von Wilhelm Hille. 183
wegen!“ ſagte er herb. „Sie ſoll nichts erfahren, ver-
ſtehſt du? Will nicht um der Geſchichte willen auch noch
die Frau verlieren, wie ich meine Kinder verloren
habe.“
Andreas ſah, wie eine große Träne an der harten,
verwitterten Wange herablief. Da überkam es ihn wie
Reue. „Verzeih mir, Vater,“ murmelte er, die ſchlaff
herabhängende Hand des Alten ergreifend. „Ich konnte
nicht anders. Haft du nicht ſelbſt mir geſagt, die wahre
Henkersehre beſtehe darin, keinen Unſchuldigen leiden
zu laſſen?“
Der Meifter entzog ihm die Hand. „Schweig!“
ſagte er rauh. „Was geſchehen iſt, iſt geſchehen, und wir
müſſen beide die Folgen tragen. Biſt du bereit?“
„Ja.“
„Alſo heute abend in der guten Stube, wenn die
Veſper einläutet. Du haſt noch drei Stunden. Geh in
den Wald bis dahin, daß dich die Mutter nicht ſieht.“
„Ich darf mich nicht von ihr verabſchieden?“
„Nein. Und noch eins! Die letzten Worte von
Ludicke Hollandt waren: ‚Saget dem Knaben, daß er die
Zeit gut benütze.“ Merke dir die Worte. Und nun geh!“
Er wandte, kurz entſchloſſen, dem Burſchen den
Rüden und trat ins Haus. In der Wohnſtube ange-
kommen, ließ er ſich in den Stuhl niederfallen, der vor
dem gedeckten Tiſche ſtand.
Frau Magdalena ſchrie, als ſie ihres Mannes
anſichtig geworden war, entſetzt auf. So verſtört hatte
ſie ihn noch nie geſehen.
Mechaniſch ergriff er den hölzernen Löffel und aß
ſeine Suppe. Dann ſtützte er den Kopf in die Hände
und verſank in tiefes Brüten.
„ums Himmels willen, Mann, was ift geſchehen?“
rief ſie.
184 Henkersrecht. u
„Mach die gute Stube zurecht, Frau,“ ſagte er auf-
ſchauend. „Wir beten heute abend.“
„Für den Zeidler?“
„Für den Mörder meines Sohnes!“ ſprach der
Henker mit dumpfer Stimme.
* *
%
Andreas ſtrich planlos im Walde umher. Dann,
als er eine kleine Lichtung erreicht hatte, von der aus
man das väterliche Gehöft ſehen konnte, warf er ſich
ins Gras und ſtarrte vor ſich hin.
Ach, wie hatte er ſich die ganzen letzten beiden
Jahre hindurch vor dem Sterben gefürchtet! Und jetzt,
da es ſo weit war, ſchien es ihm nichts zu ſein. Er hätte
weinen mögen und fühlte ſich doch ſo frei, ſo giugno,
dak er mit niemand hätte taufhen mögen.
Sein Selbſterhaltungstrieb war in der langen
Seelenpein ertötet. Ja, er wollte ſterben und mit
allem Schluß machen. So kam ihm denn gar nicht der
Gedanke, ob es denn ſo ausgemacht und ſicher ſei, daß
ein Vater ſein eigenes Kind töten würde. Und noch
ein anderer Gedanke, der ſo nahe lag, kam ihm gar nicht:
ſich einfach in den dunklen Wald zu ſtürzen und ſich dem
Arme der Juſtiz zu entziehen. Ei, man hätte ihn lange
ſuchen können hier! Er kannte ſeinen Wald; hier konnte
er ſich wochenlang verbergen und dann in die weite
Welt hinauswandern. Als ſtarker, kräftiger Burſche
konnte er ſich anwerben laſſen und vielleicht gar ſein
Glück machen.
Wie geſagt, er kam nicht auf dieſen Gedanken. In
der wunderlichen Stimmung, die ſich ſeiner bemächtigt
hatte, fühlte er ſich wie eins geworden mit der Natur
um ihn und als wäre er ebenſo unſterblich wie ſie.
Eine nie gekannte Zärtlichkeit gegen alles Lebende
o Don Wilhelm Hille. 185
bemächtigte fidh feiner. Ein großer goldgelber Käfer
kletterte an ſeinem Schuh empor; er hob ihn ſorgfältig
auf und ließ ihn fliegen. In einiger Entfernung eilte
ein Reh dahin; er breitete die Arme nach ihm aus und
hätte es am liebſten ans Herz gedrückt.
Plötzlich fielen ihm die vielen Kaninchen ein, denen
er die Pfoten im Schraubſtock zerquetſcht hatte, und er
begann bitterlich zu weinen. Aber bald erhob er ſich,
riß einige Blätter Sauerampfer ab, der am Wege wuchs,
und trocknete damit ſein naſſes Geſicht.
„Gott wird mir verzeihen, was ich Böſes getan habe,“
murmelte er. „Ich fühle es, daß er mir verziehen hat.
Ich würde mich ſonſt mehr vor dem Tode fürchten.“
Da begann von der Stadt her die Veſper zu läuten.
„Oh, ich muß eilen,“ ſagte er zu ſich. „Man wird
ſchon auf mich warten.“
And er begann zu laufen, erſt langſam und dann
immer ſchneller.
Da kam von ferne ein Mann auf ihn zu, der einen
Sack in der Hand trug. Der Mann winkte ihm, epen
zu bleiben.
Es war fein Vater. |
Was wollte der hier? Kam er, ihn zu holen, weil
es ſchon ſo ſpät war?
Demütig und mit niedergeſchlagenen Augen ſtand
der Burſche da. Meiſter Andreas Wetzel betrachtete
mit einem verwunderten Ausdrucke ſeinen Erſtgeborenen.
Dann holte er weit aus mit der harten Rechten und ver-
ſetzte ihm eine Ohrfeige, die an Spürbarkeit der vom
Vormittage in der Folterkammer nichts nachgab.
„Da, nimm das für alles!“ rief er aus.
Andreas taumelte, aber er hielt ſich auf den Beinen.
„Oh, du Hansnarr!“ fhalt der Alte. „Kannſt du
denn gar nichts begreifen? Muß der Henker ſelber dir
186 Henkersrecht. u
noch Beine machen? War es nicht deutlich genug, als ich
dir ſagte, du ſollteſt die Zeit bis zur Veſper gut benützen?
Sitzt der nichtsnutzige Bengel da ſtundenlang im Graſe
und träumt, während die Häſcher ſchon auf dem Wege
find! Konnteſt ſchon über die Grenze fein, Dummkopf!“
Andreas ſtarrte den Vater verſtändnislos an.
„Doch nun nicht gefadelt, Junge,“ fuhr der Henker
fort. „Ludicke Hollandt hat dir nur bis zur Veſper
Friſt gegeben. Er will dir auch nicht gern ans Leben,
hätte dich ſonſt gleich in Haft behalten. Hier, nimm den
Sack. Die Mutter hat ihn gepackt. Hüte das Geld wohl,
es find bei dreißig Taler. Frage dich auf Umwegen durch
nach Magdeburg zu Meiſter Emmerich, der einen Ge—
hilfen braucht. Leb wohl, Junge! Wir wollen das
übrige vergeſſen. War eine Schickung des Himmels.“
Der Henker ſeufzte tief auf und drückte einen Kuß
auf die Stirn ſeines Jungen.
„Grüß die Mutter!“ ſagte Andreas und wandte
fih zum Gehen. Er verſtand noch nicht alles. Nur das
Eine, Wunderbare, ſah er ein, daß er weiterleben ſollte.
Langſam, mit ſchwankenden Schritten, ſchlug er den
Waldpfad ein. Da hörte er den Vater pfeifen. Er
wandte ſich um. Der Alte ſtand noch an derſelben
Stelle und wies mit dem Finger nach der Landſtraße,
wo in der Ferne drei Geſtalten auftauchten, die der
Scharfrichterei zuſtrebten.
Waren das die Häſcher, die kamen, um ihn zu holen?
Da trat das Bild des Todes wieder vor ſeine Seele.
Jetzt aber hatte es ſo abſchreckende, furchtbare Züge,
daß ihn ein unnennbares Grauen erfaßte.
Da begann er zu laufen, wie er noch nie in ſeinem
Leben gelaufen war.
Ne
>.
090900
NANAS YINYIN YINYIN
eee
Wohlfeile Schmuckfedern.
von Gerd Harmstorf.
Mit 18 Sildern. y (Nahdrud verboten.)
Esgebnielos, wie es noch jeder Männerkampf gegen
eine eben herrſchende Frauenmode geweſen iſt,
waren alle tierfreundlichen Bemühungen, der Der-
wendung von Vogelfedern und Vogelbälgen als Hut-
ſchmuck gewiſſe vernünftige Grenzen zu ziehen. Die
Agitation zugunſten der erbarmungslos hingefchlachteten
und vielfach fogar mit vollſtändiger Ausrottung be-
drohten Vogelgattungen war gewiß zu loben; aber
nur ein ſehr naives Gemüt konnte ſich der Hoffnung
hingeben, daß ihr auch nur der beſcheidenſte Erfolg
vergönnt ſein werde.
Das Opfer der Auflehnung gegen eine herrſchende
Mode iſt eben das einzige, das man niemals von einer
Frau fordern darf. Hier verſagt der Appell an die
geſunde Vernunft ebenſo vollſtändig wie die Berufung
auf die Güte und das Mitleid des weiblichen Herzens.
Auf alles kann die normal veranlagte Frau ſchließlich
verzichten, nur nicht auf das Vorrecht ihres Geſchlechts,
ſich kleidſam anzuziehen.
Und kleidſam ift nach ihren Begriffen nur das,
was modern iſt. Hier iſt dem männlichen Einfluß
eine Schranke geſetzt, die wohl bis in alle Ewigkeit
unüberſteiglich bleiben wird. Darum müſſen wir uns
wohl oder übel damit abfinden, daß eine von der Mode-
laune lebende Induſtrie fortfährt, rückſichtslos unter
188 Wohlfeile Schmuckfedern. a
den ſchönſten und ſeltenſten Vogelarten, unter Edel-
reihern, Paradiesvögeln, Kolibri und fo weiter auf-
zuräumen, und nicht auf die Einſicht oder die Warm-
herzigkeit des zarten Geſchlechts, ſondern einzig auf
die Wandelbarkeit des Modegeſchmacks dürfen wir eine
Hoffnung auf das endliche Aufhören dieſer ſinnloſen
Maſſenmorde
gründen.
Eines frei-
lich kommt den
Beſtrebungen
der Tierfreunde
ſchon heute wirt-
ſam zu Hilfe,
die Koſtſpielig-
keit jenes Fe-
derſchmuckes
nämlich, der nur
durch die Lö-
tung ſeltener
Vögel gewon-
nen werden
kann. Eine Hut-
Großer, weicher Schweif aus ſchwarzen ier a 3
Hahnenfedern mit grünlich ſchillernden ô i Ä
Spitzen. oder Paradies-
vogelfedern iſt
ſo teuer, daß nur verhältnismäßig wenige das hohe Glück
auskoſten dürfen, mit ihr zu prunken. Die Modeinduſtrie,
die in ſolchen Fällen immer darauf bedacht fein muß,
auch den Bedürfnifjen der minderbemittelten Frauenwelt
Rechnung zu tragen, war alſo genötigt, ſich nach wohl-
feileren Erſatzmitteln umzutun, die ſich im Ausſehen nicht
allzuſehr von jenen unerſchwinglichen Koſtbarkeiten
unterſcheiden. Ein Blick auf die Auslagen der groß—
o | Von Gerd Harmstorf. 189
ſtädtiſchen Putzgeſchäfte muß uns überzeugen, daß
der Erfolg ſolchen Bemühens geradezu erſtaunlich
geweſen iſt. |
Wie das unſcheinbare Fell unſeres in unerſchöpf—
licher Menge zur Verfügung ſtehenden Kaninchens mit
beſtem Gelingen zur Herſtellung der „edelſten“ und
Weiches Pikett aus Hahnenfedern mit farbig
ſchillernden Spitzen.
„ſeltenſten“ Pelzarten verarbeitet wird, ſo iſt man
neuerdings dahintergekommen, aus dem Federkleid
unſeres in der Hauptſache ganz anderen Zwecken
dienenden Nutzgeflügels Hutzierden herzuſtellen, die
zwar keine Straußen-, Reiher- oder Paradiesvogel-
federn vortäuſchen können, in Form und Farbe aber
vielfach ſo reizvoll und gefällig wirken, daß ſie einen
Vergleich mit jenen um fo vieles teureren Schmuck-
ſtücken nicht zu ſcheuen brauchen.
190 Wohlfeile Schmuckfedern. o
Nur eine kleine Ausleſe aus der Fülle folcher durch
die herrſchende Mode hervorgerufenen Phantaſie—
ſchöpfungen iſt es, die wir unſeren Leſerinnen mit
den beigegebenen Abbildungen vorführen können. Es
mangelt ihnen überdies wegen der Unmöglichkeit, die
Großer Schweif aus Hahnenfedern mit farbig
ſchillernden Spitzen.
mannigfachen Farbentönungen auf der photographi—
ſchen Platte wiederzugeben, ein ſehr weſentlicher
Reiz der Originale. Immerhin aber werden auch dieſe
Bilder hinreichen, die Richtigkeit der Behauptung zu
erweiſen, daß fidh mit dem nötigen Geſchmack und Ge-
ſchick auch aus ſimplen Hahnen-, Gänſe- und Enten-
federn allerliebſte Gebilde verfertigen laffen, die vor
der unleugbaren Eintönigkeit der Straußfederpleu—
reuſen und der Reiherſtutze neben der größeren Wohl-
Digitized by G oogle
2
D Von Gerd Harmstorf. 191
feilheit auch noch den Vorzug ſchier unbegrenzter Ab-
wechſlungsmöglichkeiten voraus haben.
Solange die Alleinherrſchaft der wagenradgroßen
Rieſenhüte währte, ſtanden der Verwendung dieſes
billigeren Materials beträchtliche Schwierigkeiten ent—
gegen, weil ſich gefällige Gebilde von der zum Schmuck
dieſer Ungeheuer
erforderlichen
Länge und Größe
aus ihm nicht wohl
herſtellen laffen.
Mit der Rückkehr
zu vernünftigen,
den Maßen der
menſchlichen Ge—
ſtalt einigermaßen
entſprechenden
Kopfbedeckungen
aber hat die Mode
der Schmuͤckfe—
derninduſtrie ein
Betätigungsgebiet
eröffnet, auf dem
mit den allerein—
fachſten Mitteln
die hübſcheſten und überraſchendſten Leiſtungen her—
vorgebracht werden können.
In wie verſchiedenartiger und wirkſamer Weiſe ſich
die Schweiffedern unſeres gewöhnlichen Haushahns
verwenden laffen, lehren uns die fünf erſten Abbil-
dungen, deren Originale zum Schmuck der mannig-
fachſten Hutformen beſtimmt ſind und ſich durchweg
als äußerſt kleidſam erwieſen haben. Fſt es bei dem
kühn gebogenen, großen Schweif aus ſchwarzen und
Puff aus gebrannten ſchwarzen
Hahnenfedern.
192 Wohlfeile Schmuckfedern. o
dem fanfter geſchwungenen aus weißen Hahnenfedern
mit farbigen Spitzen neben der hübſchen Linie der
dieſem Gefieder eigene metalliſche Schimmer, den man
als charakteriſtiſche Beſonderheit anſprechen kann, ſo
nimmt das weiche, von jedem Windhauch bewegte
Pikett durch ſeine anmutige Leichtigkeit für ſich ein.
Großer Schweif aus gebrannten ſtrohgelben
Hahnenfedern (Paradiesvogelnachahmung).
And von ausgeſprochener Eigenart ift der Puff aus
„gebrannten“ ſchwarzen Hahnenfedern, deſſen pikante
Wirkung ſich durch die photographiſche Nachbildung
leider nur ſehr unvollkommen wiedergeben läßt. Der
Eindruck des Zerzauſten und Borftigen, der auf dem
Vilde etwas zu ſtark hervortritt, wird bei dem Original
vollſtändig aufgehoben durch die graziöſe Feinheit und
Digitized by Google
o- Von Gerd Harmstorf. 193
Zartheit der einzelnen Federn,
die jedes Lüftchen und jede leichte
Kopfbewegung der Trägerin in
launenhafte Schwingungen ver—
ſetzt. |
Wenn ſchon in diefem Buff
faſt die Wirkung des Paradies—
vogelgefieders erreicht ift, fo er-
ſcheint fie bis zur wirklichen Täu-
ſchung geſteigert in dem großen
Schweif aus gebrannten, ſtroh—
gelben Hahnenfedern auf dem
nächſten Bilde. Hier iſt ſogar
nach unſerem Dafürhalten ſchon
die Grenze des bei der Verwen—
dung eines minderwertigen Ma—
terials Zuläſſigen überſchritten.
Flaumiger Pompon
aus Hühnerfedern.
Großer Schweif aus Gänſe- und Entenfedern.
1914. V.
13
194 Wohlfeile Schmuckfedern. o
Aus dem Beſtreben, die vorhandenen natürlichen Reize
dieſes Materials durch geſchickte Anordnung und Bu-
ſammenſtellung zur Geltung zu bringen, iſt die bewußte
Abſicht geworden, ein edleres und koſtbareres Natur-
produkt vorzutäuſchen — ein Bemühen, das niemals
Locker angeordnetes Pikett aus an den Spitzen
gekräuſelten Gänſefedern.
den Beifall einer geſchmackvollen Käuferin finden wird.
Sehr anſpruchslos und trotzdem gewiß nicht weniger
anſprechend wirkt dagegen der nette Pompon aus
weißen, flaumigen Hühnerfedern, der aus ſieben kleinen,
zu einem weichen, duftigen Federball vereinigten Einzel—
piketts beſteht und ſich namentlich zu dem Geſicht einer
ſehr jugendlichen Trägerin wunderhübſch ausnimmt.
Der heimiſche Geflügelhof aber liefert der modernen
o Von Gerd Harmstorf. 195
Putzfederninduſtrie nicht nur Hahnen- und Hübner-
federn, denn auch das ſchlichte Gefieder der weniger
um ihrer äußerlichen Schönheit als um ihrer Schmad-
haftigkeit willen geſchätzten Gans und der noch be—
ſcheideneren Ente kann bei richtiger Verarbeitung als
Pikett aus weißen Truthahnfedern, durchſetzt mit
blumenförmig angeordneten Gänſefedern.
Schmuck und Zier für unſere holden Frauen Ver—
wendung finden. Der abgebildete Schweif aus Gänſe—
und Entenfedern wirkt durch die graue Färbung der
letzteren ſehr lebhaft und gefällig; auch iſt er von einer
Schmiegſamkeit und Leichtigkeit, die der einer Strauß
federpleureufe um nichts nachſteht.
Sehr hübſch iſt auch das locker angeordnete Pikett
aus weichen, mittellangen Gänſefedern, die an den
Spitzen ein wenig gerollt und gekräuſelt ſind. Das
196 Wohlfeile Schmudfebern. a
Arrangement hat den beſonderen Vorzug, daß ſich den
einzelnen Federn mit Leichtigkeit jede gewünſchte Stel-
lung geben läßt,
wie es die Form
des Hutes und das
Geſicht der Trä-
gerin eben wün-
ſchenswert machen.
Auch eine Art von
Nachahmung, aber
ohne eigentliche
Täuſchungsabſicht,
ſtellt das große
Pikett aus zarten
Truthahn? und
kurzen Gänſefe-
dern dar, das auf
den erſten flüchti-
gen Blick wohl wie
ein Gebild aus
Marabufedern er-
ſcheinen mag. Was
die Zuſammen-
ſtellung beſonders
originell macht, iſt
der Einfall, die
matt glänzenden
Gänſefedern zu
blumenartigen Ge-
bilden zu vereini-
Sehr große Flügel aus Schwanen, Enten- und Gänſefedern.
gen, die dem Auge in dem etwas ſtumpfen Weiß des
Truthahnflaums angenehme Ruhepunkte bieten.
Aus Gänſe-, Enten- und Schwanenfedern ſehr
kunſtvoll zuſammengeſetzt ſind die beiden großen blau—
o Von Gerd Harmstorf. 197
gefärbten Flügelauf
dem nächſten Bilde.
Man kann ſich leicht
vorſtellen, daß ſie
ſehr impoſant wir-
ken und darum nicht
für jede Hutform
und nicht für jede
Trägerin geeignet
ſind. Zierlicher und
reizvoller wollen
uns die beiden „Pal-
men“ aus pfauen-
blau gefärbten
Gänſefedernerſchei—
nen, die ſehr ge—
ſchickt mit einem
breiten aD? an Palmen aus pfauenblauen Gänfefedern,
„gebrannten“ En- mit gebrannten Entenfedern beſetzt.
2
SE
Phantaſtiſche Flügel aus Gänſefedern.
198 Wohlfeile Schmuckfedern. D
tenfedern beſetzt find. Die Verbindungsſtelle der beiden
Palmen verbirgt ſich unter einem Tuff ganz kurzer, in
zwei Farben getönter Schwanenfedern, und das ganze
Arrangement iſt von ſo vornehmer Wirkung, daß man
* * 2
$ z 5
Bi RESET NEE |
Aus Schwanen-, Gänſe-, Einfache Flügel aus Schwanen-,
Enten-, Pfauen- und Fa- Enten- und Gänſefedern.
ſanenfedern hergeſtellte
Flügel.
dem Material nichts mehr von der Beſcheidenheit fei-
ner Herkunft anmerkt.
Sehr auffallend und darum wohl nicht nach dem
Geſchmack jeder Dame ſind zwei rieſenhafte Flügel aus
maulwurfsgrauen Gänſefedern, die durch eine gigan-
tiſche runde Agraffe zuſammengehalten werden und
wegen ihrer Dimenſionen nicht eben als praktiſch be-
zeichnet werden können. Um ſo größeren Beifall
fanden mit vollem Recht zwei durch die aufgewandte
Arbeit allerdings ziemlich koſtſpielig gewordene Flügel,
a =——o u —— ——
— — —
o Von Gerd Harmstorf. 199
zu deren Herſtellung Schwanen, Gänje-, Enten,
Pfauen- und Faſanenfedern Verwendung gefunden
hatten. Nur eine farbige Wiedergabe könnte den da—
durch erzielten Effekt anſchaulich machen. Namentlich
die beiden nach der Art von Schmetterlingsfühlern an—
gebrachten Pfauenfedern machen dies hübſche Gebilde
zu einem überaus heiter und anmutig wirkenden Hut-
ſchmuck.
ungleich einfacher, aber ebenfalls von gutem Ge-
Buſch aus ringförmig Agraffe aus dachziegelartig
gekräuſelten Bfauen- übereinander gelegten
federn. Taubenfedern.
ſchmack find die aus Schwanen, Enten- und Gänſe—
federn gebildeten künſtlichen Flügel auf dem nächſten
Bilde. Zur Garnierung eines wohlfeilen Hutes be-
ſtimmt, wollen ſie nicht für mehr gelten, als ſie ſind,
200 Wohlfeile Schmuckfedern. 2
und ſind
darum be—
ſonders ge—
eignet, ein
ſchlichtes
Straßenko—
ſtüm zu ver-
vollitändi-
gen. Die
DPfauenfe-
| der allein
5 erſcheint
Ey trotz ihrer
| Fi | | Farben-
11ͤ » pvpracht als
Perlhuhnflugel in Form eines Schiffſegels, Hutzierd €
mit Schwanenfedern beſetzt. wenig an-
gebracht, weil fie p
ſich wegen ihrer
Steifheit zu Ar-
rangements von
reizpollem Li-
nienſpiel kaum
verarbeiten läßt.
Immerhin hat es
nicht an mehr
oder weniger ge-
lungenen Verſu—
chen gefehlt, ſie
ebenfalls für die
gegenwärtige Ti :
Moderichtung | i [ee
Dunn an ma' gleine Flügel aus Perlhuhnfedern, mit
chen. Wir führen Medaillons aus Entenfedern verziert.
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— u — — —— nn 0 en en nn —— — — — nn ꝑͥ hl.. = =
o Von Gerd Harmstorf. 201
mit dem im Bilde wiedergegebenen Buſch aus ring-
förmig gekräuſelten Pfauenfedern ein Beiſpiel dafür
an, glauben aber nicht, daß der Erfolg des Experiments
danach angetan iſt, zur Nachahmung zu reizen.
Damit nicht eine einzige Gattung unſeres heimiſchen
Nutzgeflügels unbeſteuert bleibe, hat man auch für
die Federn der Taube wie für die des Perlhuhns eine
zweckentſprechende Verwendung geſucht und gefunden.
Daß etwas ſonderlich Beſtechendes dabei nicht heraus-
kommen konnte, liegt freilich auf der Hand. Die aus
vier Reihen dachziegelartig übereinander gelegter Tau—
benfedern beſtehende Agraffe iſt zwar nicht ohne eine
gewiſſe Keckheit, wird ſich der Gunſt ihrer Trägerin
aber ſicherlich nicht allzulange zu erfreuen haben, und
der mit Schwanenflaum beſetzte Perlhuhnflügel in
Form eines Schiffſegels iſt ebenſo wie das mit bunten,
metalliſch ſchillernden Entenfedern in Form kleiner
Medaillons geſchmückte Flügelpaar aus dem gleichen
Material nur für die Befriedigung beſcheidener An-
ſprüche berechnet.
\
*
Mannigfaltiges.
+
(nachoͤruck verboten.)
Das rätſelhafte Armband. — Herr Weißenberg junior
ſaß hinter dem Ladentiſch über die Glasplatte gebeugt, hielt
die Lupe vor das rechte Auge und prüfte mit Kennerblick eine
Anzahl kleiner roher Edelſteine, die ihm von einem Händler
laut des beigefügten Verzeichniſſes zum Rauf angeboten worden
waren. Ihm den Rücken zuwendend, machte ſich ein junger
Mann, Herr Adolf Meyer, die erprobte Stütze der Firma, in
dem großen Spind mit dem Tafelſilber zu ſchaffen, und in dem
an den Laden grenzenden Kontor ſaß Herr Weißenberg ſenior
an ſeinem Schreibpult und ſah die angekommene Poſt durch.
Das Zuweliergeſchäft Elias Weißenberg Söhne gehörte
zu den älteſten und angeſehenſten Berlins, aber heute war es
noch ziemlich früh am Vormittag, und Kundſchaft ließ ſich
alſo noch nicht blicken. Der Laden Unter den Linden und ſein
großartiges, durch ein Gitter geſchütztes Schaufenſter mit den
vielen darin aufgeſtapelten Koſtbarke iten zählte geradezu zu
den Sehenswürdigkeiten. Es war ein ſchöner Herbſttag, der
Berliner Fremdenverkehr ſtand auf der Höhe, die Hotels waren
überfüllt. Unter ſolchen Umſtänden pflegte die bekannte
Firma die beſten Geſchäfte zu machen.
Gerade hatte Herr Weißenberg junior einen apfelgrünen
Smaragd unter der Lupe, deſſen Schönheit leider durch ein
eingewachſenes Glimmerblättchen beeinträchtigt wurde, als
ein ſehr elegant gekleideter noch junger Herr in den Laden
eintrat. Er trug Zylinderhut, Monokel, einen Stock mit goldener
Krücke — die übliche Kavaliererſcheinung.
Weißenberg ließ ſeine Steine Steine ſein, verſchloß ſie in
eine der vielen flachen Schubladen, die auf der Rüdfeite des
u Mannigfaltiges. 203
Ladentiſches angebracht waren, und fragte, womit er dem
Herrn dienen könne.
Der Fremde nahm den Hut ab, wobei fein rötliches wohl-
geſcheiteltes Haar zum Vorſchein kam, ſtrich ſich den Schnurr-
bart und ſagte mit näſelnder Stimme: „Möchte einen Schmuck-
gegenſtand haben — für eine Dame.“
„Bitte recht ſehr. Was darf es ſein? Ein Armband? Ein
Kollier? Ein Ring?“
„Ein Armband!“
Herr Meyer war näher herangetreten, auch Weißenberg
ſenior erſchien nun im Hintergrunde. Mannigfache unliebſame
Vorgänge im Zuweliergewerbe in der jüngſten Zeit forderten
Unbekannten gegenüber zur Vorſicht auf, und ſechs Augen
ſahen mehr als zwei. |
„Darf ich wiſſen, in welcher Preislage?“ ſetzte Weißenberg
junior ſeine Fragen fort.
„Der Preis ſoll keine Rolle ſpielen,“ erwiderte der Fremde
mit vornehmer Gelaſſenheit.
„Sehr wohl!“
Gleich darauf öffnete der Juwelier vor ſeinem Kunden
eine Anzahl Etuis mit ſchimmernden Brillanten, Rubinen,
Smaragden und Saphiren. Es waren die teuerſten Sachen.
Mit Kennerblick nahm der Fremde ein Stück nach dem anderen
in die Hand, trat damit an die Tür, ließ die Steine in der Sonne
ſpielen und unterließ auch nicht, die Faſſungen genau zu ftu-
dieren. |
Endlich nach langem Wählen entſchied er ſich für ein drei-
reihiges Brillantenarmband, das nicht nur durch die Schön-
heit und Reinheit der Steine, ſondern auch durch den Geſchmack
und die Zierlichkeit der Arbeit ausgezeichnet war. Von allen
vorgelegten Sachen gehörte es mit zu den wertvollſten. Die
Wahl machte ſeinem fachmänniſchen Verſtändnis alle Ehre.
„Vas ſoll das koſten?“ erkundigte er ſich.
Weißenberg junior beſah ſich den kleinen dem Zuwel
angehängten Zettel. „Sechstauſendvierhundert Mark,“ lautete
ſeine Antwort.
„alt dies der äußerſte Preis?“
204 Mannigfaltiges. u
„Der alleräußerſte, mein Herr.“
„Ich möchte bitten, daß das Armband an eine gewiſſe
Adreſſe geſchickt wird. Kann das geſchehen?“
„Aber ſelbſtverſtändlich.“
„Bedingung für mich wäre, daß mein Name nicht genannt
wird. Kann ich darauf rechnen?“
„Ganz gewiß, mein Herr.“
„Die Adreſſe lautet: Fräulein Alice Vanderport, Bellevue-
ſtraße 70.“
Herr Weißenberg, der ſich ſchon zum Schreiben angeſchickt
hatte, hielt inne. Er bemühte ſich, ein gewiſſes Erſtaunen zu
verhehlen. „Fräulein Vanderport von der Hofoper?“ fragte
er höflich.
„Jawohl. Um elf Uhr begibt ſich Fräulein Vanderport
zur Probe. Kann ſie das Armband bis dahin erhalten haben?“
„Gewiß!“
„Alſo ich verlaſſe mich darauf — bis elf Uhr! Ich will auch
gleich bezahlen.“ Der Fremde griff in ſeine Bruſttaſche, ſtutzte,
griff in eine andere und ſagte dann: „Ich ſehe, ich habe meine
Brieftaſche in meinem Hotel liegen laffen, Hier meine Difiten-
karte. Wollen Sie den Betrag zwiſchen elf und zwölf im
Hotel Briſtol abholen laſſen. Aber die Sendung erleidet
dadurch doch keine Verzögerung?“
Graf Stillfried, wie er laut der Viſitenkarte hieß, griff nach
Hut und Stock, nickte noch einmal mit ſeiner nachläſſigen
Vornehmheit und verließ den Laden.
Wer in Berlin kannte nicht die berühmte Vanderport?
Der Ruhm dieſer Sängerin war ja in der ganzen Welt ver-
breitet. Das Erſtaunen von Herrn Weißenberg, als er ihren
Namen hörte, hatte nur darin ſeinen Grund, daß die berühmte
Künſtlerin zufällig eine Kundin ſeines Hauſes war, daß er ſie
perſönlich gut kannte, auch ihren Lebensgewohnheiten nach,
die gut bürgerlich und gänzlich einwandfrei waren, und daß
ſie, was dieſen letzteren Geſichtspunkt betraf, wenigſtens nach
Herrn Weißenbergs Wiſſen nicht zu denjenigen Vertreterinnen
ihres Berufes gehörte, denen von der Herrenwelt derartige
Geſchenke zu Füßen gelegt werden durften.
D Mannigfaltiges. 205
„Alſo die Vanderport!“ ſchmunzelte Weißenberg junior,
nachdem ſich hinter dem Grafen die Tür geſchloſſen hatte.
„Nu ſieh einer an! Alſo einen Verehrer hat ſie ſich nun doch
noch angeſchafft!“
„Jetzt auf ihre alten Tage?“ erlaubte fih Meyer, der in
Theaterdingen Autorität war, dazu zu bemerken.
„Warum ſoll ſie nicht?“ entſchied der alte Weißenberg aus
dem Schatze ſeiner Lebenserfahrungen heraus. „Sie iſt doch
unberufen noch eine ganz ſtattliche Perſon. Vielleicht handelt
ſich's um eine Heirat!“
„Aber er will ja nicht mal ſeinen Namen genannt haben!“
ſagte ſkeptiſch Weißenberg junior.
„Sie wird ſchon wiſſen, von wem das Armband kommt,“
meinte Meyer.
Weißenberg ſah auf die Ahr. „Wenn ſie das Armband
bis elf Uhr haben ſoll, dann muß es gleich hingeſchickt werden.
Oder ob man nicht lieber wartet, bis das Geld bezahlt iſt?
Man kennt doch dieſen Grafen Stillfried nicht!“
„Was kann da paſſieren?“ beſänftigte der alte Herr das
Mißtrauen ſeines Sprößlings. „Selbſt angenommen, man hätte
es mit einem Schwindler zu tun — die Vanderport iſt uns
doch gut dafür. Kriegen wir das Geld nicht — ſchön, holen wir
das Armband wieder von ihr ab. Sie läuft uns nicht fort.
Jedenfalls kann man im Briſtol anklingeln, ob dort ein Gaſt
mit dieſem Namen überhaupt abgeſtiegen iſt.“
Dies geſchah. Ein Graf Stillfried war in der Tat im Hotel
Briſtol abgeſtiegen. Um übrigens ganz ſicher zu gehen, ſollte
nicht der Hausdiener zu Fräulein Vanderport geſchickt werden,
ſondern Meyer ſelbſt ſollte ſich mit dem Schmuckſtück zu der
Dame begeben. Meyer kannte Fräulein Vanderport perſönlich,
und keiner anderen als ihr perſönlich ſollte er es in die Hände
geben. —
Graf Stillfried mußte über Fräulein Vanderport falſch
berichtet geweſen ſein — wenigſtens in einem Punkte. Es war
gar nicht wahr, daß fie um elf Uhr zur Probe mußte. Sie hatte
heute überhaupt keine Probe. Vielmehr ſaß ſie, als ihr Herrn
Meyers Beſuch gemeldet wurde, nach ihrer Gewohnheit am
206 Mannigfaltiges. u
Klavier und übte. Schon die ganze Einrichtung des Zimmers
wies darauf hin, von welchem korrekt- bürgerlichen Geiſte feine
berühmte Bewohnerin beſeelt war. Alles blitzte und funkelte
darin vor ſtrenger Sauberkeit und Sachlichkeit. Das altmodiſche
Polſtermobiliar, ein Erbſtück von einer Tante, war ſorgſam
mit gehäkelten Deckchen behängt, keine prunkenden Lorbeer-
kränze mit goldbedrudten Atlasſchleifen zierten die Wände,
und ein Bild gutbürgerlicher Solidität bot auch die große
Künſtlerin ſelbſt. Ihre ſtrengen Geſichtszüge, denen erſt die
Schminke, das Koſtüm und das künſtliche Rampenlicht einen
gewiſſen verführeriſchen Reiz verliehen, hatten jetzt im nüd-
ternen Lichte des frühen Vormittages und in der proſaiſchen
Gewandung eines ſelbſtgeſchneiderten Negliges faſt etwas
Nonnenhaftes, und ihre hohe Geſtalt hielt jeden Gedanken an
irgendwelche Zärtlichkeiten meilenfern. Eine böſe Jugend-
erfahrung hatte ſie ein für allemal zu einer grundſätzlichen
Männerfeindin gemacht, und gerade darin beſtand die Tragik
ihres Lebens, daß fie fo häufig dem Publikum Gefühle vor-
heucheln mußte, die in ihrem Innerſten nicht den geringſten
Widerhall fanden.
Ein grenzenloſes Erſtaunen malte ſich in ihrem Geſicht,
als Meyer ſich ſeines Auftrages entledigte.
„Das muß ein Frrtum, das muß eine Verwechſlung fein,“
waren ihre erſten Worte.
„Pardon, mein gnädiges Fräulein,“ erwiderte Meyer
taktvoll, „ein Irrtum iſt ausgeſchloſſen!“
„Und ich ſoll nicht einmal erfahren, wer der Abſender iſt?“
„Wie geſagt, Verſchwiegenheit iſt uns zur Pflicht gemacht,
mein gnädiges Fräulein!“
„Iſt es ein Herr oder eine Dame?“
„Ich bedaure, mein gnädiges Fräulein, aber eine Antwort
darauf würde meine Befugniſſe überſchreiten!“
„Geſchenke von Unbekannten nehme ich nicht an. Nehmen
Sie das Armband wieder mit!“
„Gnädiges Fräulein verzeihen, aber in dieſem Falle müßte
ich darum bitten, daß Sie ſich ſchon ſelbſt in unſer Geſchäft
bemühen und das Armband dort zurückgeben. Ich bin nur
2 Mannigfaltiges. 207
Angeſtellter meiner Firma. Ich habe mich nur meines Auf-
trages zu entledigen. Empfehle mich, mein gnädiges Fräulein!“
„Aber ich wiederhole Ihnen, hier hat eine Verwechflung,
ein Irrtum ſtattgefunden!“ ö
„Selbſt wenn dies wirklich der Fall ſein ſollte, mein gnädiges
Fräulein,“ bemühte ſich nun Meyer mit gut geſpielter Schein
heiligkeit auf die offenbare Komödie, die ihm die Dame nach
ſeiner Auffaſſung vormimte, einzugehen, „ſo ließe ſich ja dieſer
Irrtum jederzeit leicht rückgängig machen. Wir laſſen dann das
Armband einfach wieder abholen — Adieu, mein gnädiges
Fräulein, empfehle mich!“
Alice Vanderport war wieder allein, und nun trat Minna
herein, um ihre Herrin zu fragen, was zu Mittag gekocht
werden ſollte. l
„Das ift mir ganz egal,“ erwiderte Alice ungeduldig, „ich
wünſche jetzt nicht geſtört zu werden.“
Sie war in Nachdenken verſunken. Wie hübſch das Arm-
band war — und wie wertvoll! Sie war Kennerin in dieſem
Artikel und beſaß ſelbſt ſchon mehrere derartige koſtbare Schmuck-
ſtücke, die ſie bei ihren Gaſtſpielen an großen Hoftheatern ſtatt
des Honorars erhalten hatte. Andere große Künſtlerinnen,
wenn ſie ohne Honorar auftraten, ließen ſich dafür einen Orden
geben. Alice aber zog das Praktiſche vor.
Wenn es nun doch kein Irrtum war? Aber wer konnte
dann dieſer Unbekannte fein? Wie reich mußte er fein — und
wie taktvoll! Der großen Künſtlerin, die ſonſt die Männer
verachtete, wurde es plötzlich ganz weich ums Herz.
Mitten in dieſem Gedankengange wurde ſie unterbrochen.
Es hatte eben geſchellt und abermals erſchien nun Minna,
um zu melden, draußen ſei ein Herr, der das gnädige Fräulein
ſehr dringend zu ſprechen wünſche. Sie hätte dem Herrn
geſagt, das gnädige Fräulein wünſche nicht geſtört zu werden,
aber der Herr ließe ſich nicht abweiſen. Er käme von der Firma
Weißenberg wegen des Armbandes, das vorhin an das gnädige
Fräulein abgeliefert worden ſei.
„Laſſen Sie den Herrn herein!“
Kaum hatte Alice Zeit, ihr hochklopfendes Herz zu beruhigen,
208 Mannigfaltiges. D
denn fie erwartete nun des Rätjels Löſung, als die Tür ſich
öffnete und der Gemeldete erſchien. Es war ein elegant ge-
kleideter noch junger Mann, deſſen beſonderes Kennzeichen
fein rötliches Ropfhaar war.
„Pardon, mein gnädiges Fräulein,“ ſagte er, und man
merkte ihm eine gewiſſe Verlegenheit an, „ich komme von der
Firma Elias Weißenberg —“
„Wegen des Armbandes?“
„Ich habe tauſendmal um Entſchuldig ung zu bitten, aber
es ift mit dem Armbande ein Irrtum paſſiert.“
„Ein Irrtum? Das Armband iſt alſo falſch abgegeben
worden? Es ift gar nicht für mich?“ fragte fie mit bewunderns-
werter Ruhe.
„Allerdings, mein gnädiges Fräulein. Der Irrtum iſt
nämlich auf folgende Weiſe geſchehen —“
„Bitte, Sie brauchen mir gar nichts zu erklären,“ fiel die
Künſtlerin dem Abgeſandten ins Wort. „Hier haben Sie das
Armband!“
„Nochmals, mein gnädiges Fräulein, tauſendmal Pardon!“
„Aber bitte!“
„Ich habe die Ehre!“
„Adieu!“
Als Herr Meyer im Hotel Briſtol erſchien und nach dem
Grafen Stillfried fragte, erhielt er zu ſeinem Erſtaunen den
Beſcheid, der Herr Graf ſei plötzlich abgereiſt. Sofort nahm
Meyer ein Auto und fuhr zu Fräulein Vanderport. Aber
dort mußte er erfahren, daß das Armband bereits von einem
Kollegen von ihm abgeholt worden ſei. Hatte Fräulein
Vanderport ihm nicht gleich geſagt, daß es ein Irrtum ſein
mußte?
Elias Weißenberg Söhne warten noch heute auf die Be-
zahlung des Armbandes, das der großen Künſtlerin ein ſo
intereſſantes Nätfel aufgegeben hatte. H. Lee.
Fingierte Stummheit. — Im Lande des Spleens haben
fih innerhalb des letzten Jahrzehnts mehrere Fälle ereignet, bei
denen Mädchen, die mit vollkommen geſunden Sprechwerkzeugen
2 ö Mannigfaltiges. 209
begabt waren, Stummheit fimulierten, und zwar beide Male,
um einen Mann zu bekommen.
Das erſte Mal handelte es ſich um eine nicht mehr ganz
junge Liverpoolerin. Sie lernte in einem befreundeten Hauſe
einen ſchon bejahrten Mann kennen, der ihr ſo gut gefiel, daß
ſie ihn zu heiraten wünſchte. Sie hatte erfahren, daß er Witwer
war, aber nicht abgeneigt fei, eine zweite Verbindung einzu-
gehen. Nur hatte er von Anfang feiner Witwerſchaft an er-
klärt, er würde ſich zu dieſem Schritte nur dann entſchließen,
wenn er eine Stumme fände, die ihn haben wolle, denn ſeine
erſte Frau ſei tagaus, tagein keine Minute ſtill geweſen und
habe ihn faſt zu Tode geredet.
Die Heiratsluſtige blieb von Stund' an ſtumm und die Ver-
bindung kam zuſtande. Ihr Gatte lebte mit ſeiner „ſtummen“
Frau febr glücklich und hinterließ ihr fein ganzes großes Ber-
mögen.
Der zweite Fall verlief etwas anders. Von zwei Zwillings-
ſchweſtern in Birmingham war eine ſtumm. Sie lernten einen
Mann kennen, in den ſich beide verliebten. Er aber liebte die
Stumme, warb um ſie und verlobte ſich mit ihr. Als ſie dicht
vor der Hochzeit ſtanden, ſtarb die Braut gänzlich unerwartet.
Die beiden Mädchen, die ſich zum Verwechſeln ähnlich
ſahen, wohnten ganz allein, und ſo ſpielte die übrigbleibende
die Rolle der Verſtorbenen, ließ für die andere den Totenſchein
auf ihren, der Lebenden, Namen ausſtellen und zeigte dem in
London wohnenden Bräutigam den Tod nicht ſeiner Braut,
jondern feiner zukünftigen Schwägerin an. Infolge ihrer
Ahnlichkeit mit der Verſtorbenen merkte auch der junge Mann
nichts von dem Betrug, und die ſonſt febr Redeluſtige brachte
es fertig, die Stummheit der Verſtorbenen durchaus natürlich
nachzuahmen. Die Hochzeit fand ſtatt, und die jungen Gatten
lebten ſich gut miteinander ein.
Auf die Dauer konnte aber die glückliche junge Frau das
ewige Schweigen doch nicht aushalten. Sie beendete die eine
Täuſchung durch eine zweite, indem ſie ein Jahr nach der
Hochzeit ſich ſtellte, als gewinne ſie nach und nach die Sprache
wieder.
1914. v. 14
210 Mannigfaltiges. | u
Ihr Mann war nun doppelt glücklich.
Eine unechte Stumme hat auch Amerika aufzuweiſen.
Hier war aber ſowohl der Anlaß wie der Ausgang verſchieden
von den beiden engliſchen Vorkommniſſen. In der Nähe von
Boſton ſollte im Juli des Jahres 1852 der Liebesbund zweier
junger Herzen durch die Hochzeit gekrönt werden. Die Braut
war eine Miß Guilford, ein zwanzigjähriges Mädchen aus
gutem Hauſe, der Bräutigam ein Mr. William Simpſon,
Lehrer im Orte. In letzter Stunde aber zogen die Eltern ihre
Einwilligung zurück, weil in dem kleinen Städtchen plötzlich
allerhand Ungünftiges über den Bräutigam gemunkelt wurde
— wie ſich ſpäter herausſtellte durch grundloſe Verleumdungen.
Die Braut hing von ganzem Herzen an dem Lehrer und ſchwur
ihren Eltern: „Laßt ihr mich ihn nicht heiraten, ſo will ich
fünfzig Jahre lang kein Wort ſprechen.“
Man nahm die Drohung nicht ernſt, ſondern hob die Ver-
lobung auf.
Miß Guilford hielt jedoch ihr Wort. Von Stund' an ver-
nahm niemand mehr eine Silbe von ihr. Ihre Eltern ſtarben,
fie zog nach und nach von einem aus ihrem Geſchwiſter-
kreiſe zum anderen, machte ſich überall nützlich, war überall
gern geſehen; nur zum Sprechen war ſie nicht zu bewegen.
An dem Tage, da fie eigentlich ihre goldene Hochzeit hätte
feiern müſſen, am 18. Juli 1902, verſammelten ſich all ihre
Freunde und Verwandten um ſie, weil ſie Zeugen ſein wollten,
wenn ſie ihrem Schwur gemäß wieder zu ſprechen anfangen
würde. Um zwei Uhr, der urſprünglich feſtgeſetzten Stunde
der Trauung, trat ſie lächelnd in den feſtlich geſchmückten Kreis,
auch ihrerſeits geſchmückt mit den damals für ſie angefertigten
Brautgewändern, und machte den Mund auf, um die Anweſen—
den zu begrüßen.
Aber ſiehe da — auch nicht einen Ton konnte fie heraus-
bringen! Die Stimmbänder, die fo lange Jahre nicht gebraucht
worden waren, verſagten jetzt völlig den Dienſt. Der Schreck
machte ſie krank, ſo daß der Arzt geholt werden mußte. Die
Sprache konnte er ihr nicht zurückgeben. Das konnten auch die
Boſtoner Spezialärzte nicht, in deren Behandlung ſie ſich gab,
2 Mannigfaltiges. 211
und ſo mußte ſie ſich darein ergeben, bis an ihr Ende das Miß—
geſchick weiter zu tragen, das fie vor einem halben Jahrhundert
in Trotz und Arger freiwillig über ſich verhängt hatte. C. D.
Laufende Blätter. — Es gibt eine ganze Anzahl von
Inſekten, deren Zugehörigkeit zur Tierwelt auch einem fcharfen
Auge entgehen kann, weil ſie aufs täuſchendſte in der Färbung
und Form den Blättern oder ſonſtigen Pflanzenteilen gleichen,
auf denen ſie ſich für gewöhnlich aufzuhalten pflegen. Erſt
Photo. W. S. Berridge.
Ein Schmetterling, der einem Laubblatt gleicht.
wenn ſie zu laufen beginnen, merkt man, daß man nicht ein
Zaubblatt, ein Blütenblatt, ein Borkenſtück oder einen abge-
brochenen und vertrockneten Zweig, ſondern ein Tier vor ſich
hat.
Dieſe Anähnelung an die als Wohnſitz dienende Unterlage
iſt ein Schutzmittel gegen Feinde, die durch die Überein-
ſtimmung von Inſekt und Pflanzenteil irregeführt und von
einem Angriff abgelenkt werden.
Erklärlich wird die Nachahmung pflanzlicher Gebilde durch.
Inſekten durch die natürliche Ausleſe. Im Laufe der Zeiten
wurden diejenigen Vertreter einer Art, welche von ihrem
212 Mannigfaltiges. o
a He
MWohnfi durch Färbung und Form auffällig abſtachen, von
ihren Feinden, wie Vögeln, in erſter Linie erbeutet. Exemplare,
die der Unterlage bereits etwas glichen, entgingen den Nach-
Photo. W. S. Berridge.
Schmetterlinge, die dem Blütenblatt einer Orchidee gleichen.
ſtellungen ſchon leichter. Sie übertrugen ihre ſchützenden
Eigenſchaften auf ihre Nachkommen, von denen einige dem
Aufenthaltsort noch mehr als ihre Vorfahren ähnelten. Wieder
blieben die geſchützteren eher erhalten als die weniger geſchützten,
u Mannigfaltiges. 213
und abermals hatten jene gewiſſe Nachkommen, bei denen die
Übereinſtimmung noch größer war. Durch die zahlloſe Wieder-
holung dieſer natürlichen Ausleſe bildete ſich allmählich der
heutige Zuſtand heraus.
Die Formenverſchiedenheit auf dem Gebiet der Nach-
äffung, wie man die Erſcheinung genannt hat, iſt ziemlich
anſehnlich. So gleicht eine braſilianiſche Rindenwanze in den
graugrünen Farbentönen und den ſcheinbaren Riſſen und
höckerigen Erhebungen völlig der Borke des Baumes, auf dem
fie hauſt. Die Raupe unſeres Holunderfpanners täuſcht ein
vertrocknetes, braunes Zweigſtück vor, ein oſtindiſcher Schmetter⸗
ling erweckt die Vorſtellung eines dürren, graubraunen Blattes,
das am Strauch ſitzen blieb, und ein ſüdamerikaniſcher Schmetter-
ling gleicht in der Ruheſtellung einem verwelkenden grüngelb-
lichen Blatt, das angefreſſen iſt. Unſere Bilder geben zwei
Schmetterlinge wieder, von denen der erſtere bis auf die Blatt-
rippen mit einem grünen Laubblatt übereinſtimmt, der zweite
durch die eigenartige Form und ſeine gelbe und rote Farbe das
Blütenblatt einer Orchidee naturgetreu nachahmt. Th. S.
Wie vor zweihundertfünfzig Jahren ein Verwalter an⸗
geſtellt wurde. — Einen kulturgeſchichtlich intereſſanten Rüd-
blick gewährt eine aus dem Jahre 1663 datierende „Beſtallung“
eines Gutsverwalters im Kurfürſtentum Sachſen. Sie gibt
ein anſchauliches Bild von den Rechten und Pflichten eines
ſolchen Beamten wenige Jahre nach Beendigung des Dreißig-
jährigen Krieges.
Sie lautet wortgetreu, mit nur einigen Abänderungen in
der Schreibweiſe: „In nomine Jesu! 5b, Johann Georg
v. Meußbach auf Frießnitz hiermit urkunde und beſtimme, daß
ich Johann Heſſelbarthen, von Niederpöllnitz bürtig, über die
mir von Gott beſcherten Güter und meine anderweit habende
Dorf- und Pfandſchaften, zu einem Verwalter beſtellet und
angenommen habe, dergeſtalt, daß er zuvörderſt gottesfürchtig
mir und denen Meinigen treu, hold und gewahrſam fein,
meinen Nutz und Beſtes werben und befördern, dagegen aber
Schaden, Schimpf und Nachteil ſeinem möglichſten Verſtande
nach wenden und verhüten, daß ihm untergebene Geſinde zu
214 Mannigfaltiges. 2
fleißigſtem Gebet und Arbeit anhalten, alles was ihm auf-
getragen und anbefohlen, treulich, fleißig und nach ſeinem
Vermögen unnachläßig verrichten, es betreffe ſolches meine
Güter, die Beſtellung und Beſamung, das Getreydig, Saat
und Ernte, Dreſchen und Aufheben, Erb-Getreide und davon
außenſtehende Kapitalienzinſen, Wieſenwachs, Teiche, Gehölze,
Pachtgeld von denen Mühlen, Schäfereien, vermieteten Fiſch⸗
waſſern, Lehengeld und anderes mehr, in Summa er ſich alſo
erzeigen und beweiſen ſoll, wie einem treuen, frommen und
fleißigen Verwalter geziemet und oblieget und ich deßfalls
in ſeine Perſon mein ſonderliches Vertrauen geſetzt habe,
auch damit er ſolchen allen fleißiger vorſein möge ohne meine
Verlaubnis nicht verreiſen, und von allen dem, fo ihm anver-
trauet wird oder er ſelbſten erfähret, auch bereits erfahren hat,
ohne meinen Vorbewuſt und Willen niemanden das geringſte
eröffnen, ſondern bis in ſeine Grube verſchwiegen halten ſoll.
Weil er denn ſolches alles treulich inhalten mit einem leib-
lichen Eide beſchworen, tue ich ihme nicht allein in dieſer ſeiner
Verwaltung möglichſten Schutz verſprechen, ſondern will ihm
auch zu einer ordentlichen Jahresbeſtallung reichen und folgen
laſſen: fünfzig Gulden an Gelde, 12 Scheffel Korn, zweitauiſch
Gemäß, 5 Viertel Faß Bier (tut 15 Eimer), 1 halben Zentner
Karpfen, einen Stein Hechte, ein jährig Schwein, ein Kalb,
zwei Schöpſe, zehn alte Hühner oder zwanzig Fullhühner,
ſechs Klaftern Scheit- und 12 Schock Reißholz. Und iſt ihm
nachgelaſſen von jedem Scheffel verkauften Getreidig 4 Pfen-
nige vom Käufer zu empfangen. Hierüber wird ihm eine Kuh,
ſo ſein eigen, in Futter gehalten. Zu Kraut, Rüben, Lein und
dergleichen ſoll ihm ein ſechſtel Feld eingeräumt werden. Und
weil ſeine Verrichtungen etwas weitläufig, er auch hierzu zu—
weilen verreiſen muß, ſoll ihm ein Klepper aus dem Stall,
oder aber, wenn er fein eigen Pferd hält, zu deffen Verhaltung
jährlich 20 Scheffel Haaber und vier Gulden zu Heu gegeben
werden. Und hat er über dieſes von allen Käufen, Lehenſcheinen,
Verzichten, Quittungen, Vormundſchafts-Beſtätigungen, Erb-
teilungen, Geburtsbriefen und dergleichen, ſo unter denen
zuvor geſetzten Gütern gehörigen Untertanen und Lehenleuten
D Mannigfaltiges. 215
vorgehen, die gewöhnlichen Kopiales einzuheben. Und weil
neben meinen Dienſten er auch die Chur- und Fürſtl. Steuern
von meinen Untertanen in Ober- und Unter-Gerichten ein-
nehmen und an gehörige Oerter überliefern muß, ſo ſoll er
nicht Reſte aufwachſen laſſen, dadurch hernach die Untertanen
ruiniret werden möchten, dargegen ihme die deswegen ge-
bräuchlichen Gebühren gegönnet werden ſollen.
Um deſto beſſerer Nachricht willen iſt dieſe Beſtallung unter
meiner Hand und Siegel ihm ausgeſtellt worden, am Tage
Lichtmeß des 1663ften Jahres.“ v. E.
Die geheimnisvollen Briefe. — Nach dem polniſchen Auf-
ſtand war ein erheblicher Teil des polniſchen Adels nach Frankreich
ausgewandert und lebte dort in einem meiſt recht bitteren
Exil. In dieſem Falle befand ſich auch ein junger polniſcher
Graf, der ſich in der Hauptſache mit Unterrichterteilen mühſam
durchbrachte. Bei einem Pariſer Poſtamte kam nun mehrere
Jahre lang regelmäßig in den erſten Tagen des Quartals ein
poſtlagernder Brief aus irgendeinem ſibiriſchen Orte, bald
aus dieſem, bald aus jenem, an dieſen jungen Mann adreſſiert.
Der Pole erſchien auch ſtets am Schalter, erhielt den Brief
vorgelegt und ſollte nun den ſehr erheblichen Portobetrag —
es handelte ſich immer um mehrere Franken — zahlen. Langſam
zog jedesmal der Pole ſeine Börſe und beſah ſich währenddeſſen
die Adreſſe. Merkwürdigerweiſe fand es ſich dann aber immer,
daß der Brief nicht für ihn beſtimmt war. Die Adreſſe ſtimmte
angeblich nicht ganz, ein Vorname war anders, kurz, der
junge Mann gab das Schreiben immer zurück.
Es konnte nicht ausbleiben, daß diefe ſeltſame, fih regel-
mäßig wiederholende Erſcheinung ſchließlich eine Unter-
ſuchung veranlaßte. Wenn man die Briefe aber öffnete, ſo
enthielten ſie ſtets nur weißes, unbeſchriebenes Papier. Die
ganze Sache mußte geradezu rätſelhaft erſcheinen. Was war
der Zweck dieſer Briefe? Man verhaftete alſo kurzerhand beim
nächſten Eintreffen eines ſolchen geheimnisvollen Schreibens
den wieder am Schalter erſcheinenden Polen, und nun be-
quemte ſich dieſer dazu, das Rätſel dieſer Briefe zu löſen.
Er gehörte einer Familie an, deren ſämtliche Glieder,
216 Mannigfaltiges. o
fein Vater, drei Brüder und zwei Oheime, infolge der Creig-
niſſe während des Aufſtandes nach Sibirien verbannt worden
waren. Ihm allein war es gelungen zu entkommen. Da nun
weder feine Verwandten noch er die Mittel zu einer Korre-
ſpondenz beſaßen, die in jenen Zeiten noch außerordentlich
teuer war, hatte man ein ebenſo einfaches, als kluges Aus-
kunftsmittel erſonnen. Jedes verbannte Familienmitglied ſchrieb
ein Wort an der Adreſſe, ſo daß er, der ihre Handſchriften
genau kannte, beim bloßen Leſen der Adreſſe ſofort wußte,
daß alle feine Lieben noch am Leben waren. Aus dem Poft-
ſtempel der Aufgabe erfuhr er überdies ihren jeweiligen Aufent-
haltsort.
Die franzöſiſchen Poſtbeamten waren ſehr gerührt, aber
die Fortſetzung dieſer ſonderbaren Korreſpondenz konnten ſie
trotzdem nicht geſtatten. O. Th. St.
Die Kataſtrophe von Para⸗Dſchala. — Bereits im Jahre
1851, als die Oſtindiſche Kompanie, damals noch die eigent-
liche Herrin des indiſchen Kolonialreichs, die erſte Eiſenbahn
von Bombay nach Tanna bauen ließ, wurden ihr von ſeiten
der eingeborenen Bevölkerung Schwierigkeiten in den Weg
gelegt. Fürchteten die Inder doch nicht mit Unrecht, daß die
Herſtellung eines Schienennetzes, das die ſchnelle Herbei-
ſchaffung von Truppen und Kriegsmaterial aller Art in das
Innere des Landes geſtattete, ihre letzte Hoffnung auf eine
Befreiung von dem engliſchen Zoch endgültig zerſtören würde.
Zunächſt war es faſt unmöglich, die nötigen Arbeiter für
jenen Streckenbau anzuwerben. Dann wurden ſpäter auch die
fertiggeſtellten Teile des Schienenſtranges nachts immer wieder
aufgeriſſen und zerſtört, Brücken verbrannt und die leitenden
Ingenieure aus dem Hinterhalt niedergeſchoſſen. Schließlich
mußte die Oſtindiſche Kompanie, um das Projekt überhaupt
ausführen zu können, den Schienenweg Tag und Nacht durch
Militär überwachen laffen. So kam es, daß die nur 32 Rilo-
meter lange Strecke erſt nach faſt zweijähriger Bauzeit beendet
werden konnte. Die ſcharfe Bewachung des Schienenſtranges
mußte aber noch jahrelang fortgeſetzt werden.
Wer als treibendes Element hinter dieſem gefährlichen,
D Mannigfaltiges. 217
offenbar febr gut organiſierten Widerſtand gegen den Bahn-
bau geſteckt hatte, iſt nie herausgekommen, obwohl nach dem
Bericht des damaligen Generalgouverneurs von Indien, Earl
Dalhouſies, nicht weniger als dreiundvierzig Eingeborene allein
wegen der Mordanſchläge, die ſie auf die Ingenieure verübt
hatten, gehängt wurden, nachdem man ihnen vergeblich durch
das Verſprechen gänzlicher Begnadigung ein Geſtändnis abzu-
locken verſucht hatte.
Schon zu jener Zeit gab es eben wie noch heute in Indien
eine große Anzahl von Geheimgeſellſchaften, die lediglich das
Ziel verfolgten, ihre Heimat von den fremden Eindringlingen
zu ſäubern. Und Mitglieder einer ſolchen Vereinigung waren
es auch zweifellos, die der Oſtindiſchen Kompanie das Anlegen
dieſes erſten Schienenweges nach Möglichkeit zu erſchweren
wußten und auf deren Konto auch die furchtbare Kataſtrophe
von Para-Oſchala zu ſetzen ift.
Ein Jahr ſpäter wurde trotz dieſer ſchlechten Erfahrungen
der Bau einer zweiten Eiſenbahnlinie von Bombay nach
Manmad beſchloſſen. Im Mai 1854 hatten die Ingenieure
die neue Strecke vermeſſen und abgeſteckt, eine Aufgabe, deren
Löſung wiederum nicht ohne allerlei unliebſame Zwifchen-
fälle vonſtatten ging. Dann begann die eigentliche Bau—
ausführung. Das ſchwierigſte Geländehindernis bot das Sinpan-
gebirge, das man nicht umgehen, ſondern durchſchneiden mußte.
Zu dieſem Zweck war es nötig, den Para-Oſchala, den Heiligen
Berg, einen ſchlanken Bergkegel, auf dem ſich ein uralter Hindu-
tempel befand, zum Teil wegzuſprengen. N
Im Herbſt 1855 hatte man die Arbeit ſo weit gefördert,
daß die erſten Sprenglöcher in das Geſtein des Para- DOſchala
getrieben werden konnten. Wir folgen bei der weiteren Schilde
rung der Ereigniſſe einem 1885 in London erſchienenen Buche
des engliſchen Ingenieurs Thomas Marling, eines der Ru
Überlebenden der PBara-Dfchala-Rataftrophe.
„Vom 14. November 1855 ab verging keine Woche, in der
wir nicht ein paar Mann durch heimtückiſche Kugeln verloren
hätten. Wir lebten wie im Kriege, nur daß wir von unſeren
Gegnern höchſt ſelten etwas zu ſehen bekamen. Die wild—
214 Mannigfaltiges. u
fleißigſtem Gebet und Arbeit anhalten, alles was ihm auf-
getragen und anbefohlen, treulich, fleißig und nach ſeinem
Vermögen unnachläßig verrichten, es betreffe ſolches meine
Güter, die Beſtellung und Beſamung, das Getreydig, Saat
und Ernte, Dreſchen und Aufheben, Erb-Getreide und davon
außenſtehende Kapitalienzinſen, Wieſenwachs, Teiche, Gehölze,
Pachtgeld von denen Mühlen, Schäfereien, vermieteten Fiſch-
waſſern, Lehengeld und anderes mehr, in Summa er ſich alſo
erzeigen und beweiſen ſoll, wie einem treuen, frommen und
fleißigen Verwalter geziemet und oblieget und ich deßfalls
in ſeine Perſon mein ſonderliches Vertrauen geſetzt habe,
auch damit er ſolchen allen fleißiger vorſein möge ohne meine
Verlaubnis nicht verreifen, und von allen dem, fo ihm anver-
trauet wird oder er ſelbſten erfähret, auch bereits erfahren hat,
ohne meinen Vorbewuſt und Willen niemanden das geringſte
eröffnen, ſondern bis in ſeine Grube verſchwiegen halten ſoll.
Weil er denn ſolches alles treulich inhalten mit einem leib-
lichen Eide beſchworen, tue ich ihme nicht allein in dieſer ſeiner
Verwaltung möglichſten Schutz verſprechen, ſondern will ihm
auch zu einer ordentlichen Jahresbeſtallung reichen und folgen
laſſen: fünfzig Gulden an Gelde, 12 Scheffel Korn, zweitauiſch
Gemäß, 5 Viertel Faß Bier (tut 15 Eimer), 1 halben Zentner
Karpfen, einen Stein Hechte, ein jährig Schwein, ein Kalb,
zwei Schöpſe, zehn alte Hühner oder zwanzig Fullhühner,
ſechs Klaftern Scheit- und 12 Schock Reißholz. Und iſt ihm
nachgelaſſen von jedem Scheffel verkauften Getreidig 4 Pfen-
nige vom Käufer zu empfangen. Hierüber wird ihm eine Kuh,
ſo ſein eigen, in Futter gehalten. Zu Kraut, Rüben, Lein und
dergleichen ſoll ihm ein ſechſtel Feld eingeräumt werden. Und
weil feine Verrichtungen etwas weitläufig, er auch hierzu zu-
weilen verreiſen muß, ſoll ihm ein Klepper aus dem Stall,
oder aber, wenn er fein eigen Pferd hält, zu deſſen Verhaltung
jährlich 20 Scheffel Haaber und vier Gulden zu Heu gegeben
werden. Und hat er über dieſes von allen Käufen, Lehenſcheinen,
Verzichten, Quittungen, Vormundſchafts-Beſtätigungen, Erb-
teilungen, Geburtsbriefen und dergleichen, ſo unter denen
zuvor geſetzten Gütern gehörigen Untertanen und Lehenleuten
D Mannigfaltiges. 215
vorgehen, die gewöhnlichen Kopiales einzuheben. Und weil
neben meinen Dienſten er auch die Chur- und Fürſtl. Steuern
von meinen Untertanen in Ober- und Unter-Gerichten ein-
nehmen und an gehörige Oerter überliefern muß, ſo ſoll er
nicht Reſte aufwachſen laſſen, dadurch hernach die Untertanen
ruiniret werden möchten, dargegen ihme die deswegen ge-
bräuchlichen Gebühren gegönnet werden follen.
Um deſto beſſerer Nachricht willen iſt dieſe Beſtallung unter
meiner Hand und Siegel ihm ausgeſtellt worden, am Tage
Lichtmeß des 1663ften Jahres.“ v. E.
Die geheimnisvollen Briefe. — Nach dem polniſchen Auf-
ſtand war ein erheblicher Teil des polniſchen Adels nach Frankreich
ausgewandert und lebte dort in einem meiſt recht bitteren
Exil. In dieſem Falle befand ſich auch ein junger polniſcher
Graf, der ſich in der Hauptſache mit Unterrichterteilen mühſam
durchbrachte. Bei einem Pariſer Poſtamte kam nun mehrere
Jahre lang regelmäßig in den erſten Tagen des Quartals ein
poſtlagernder Brief aus irgendeinem ſibiriſchen Orte, bald
aus dieſem, bald aus jenem, an dieſen jungen Mann adreſſiert.
Der Pole erſchien auch ſtets am Schalter, erhielt den Brief
vorgelegt und ſollte nun den ſehr erheblichen Portobetrag —
es handelte fih immer um mehrere Franken — zahlen. Langſam
zog jedesmal der Pole ſeine Börſe und beſah ſich währenddeſſen
die Adreſſe. Merkwürdigerweiſe fand es ſich dann aber immer,
daß der Brief nicht für ihn beſtimmt war. Die Adreſſe ſtimmte
angeblich nicht ganz, ein Vorname war anders, kurz, der
junge Mann gab das Schreiben immer zurück.
Es konnte nicht ausbleiben, daß dieſe ſeltſame, ſich regel-
mäßig wiederholende Erſcheinung ſchließlich eine Unter-
ſuchung veranlaßte. Wenn man die Briefe aber öffnete, ſo
enthielten ſie ſtets nur weißes, unbeſchriebenes Papier. Die
ganze Sache mußte geradezu rätſelhaft erſcheinen. Was war
der Zweck dieſer Briefe? Man verhaftete alſo kurzerhand beim
nächſten Eintreffen eines ſolchen geheimnisvollen Schreibens
den wieder am Schalter erſcheinenden Polen, und nun be-
quemte ſich dieſer dazu, das Rätſel dieſer Briefe zu löſen.
Er gehörte einer Familie an, deren ſämtliche Glieder,
216 Mannigfaltiges. o
fein Vater, drei Brüder und zwei Oheime, infolge der Creig-
niſſe während des Aufſtandes nach Sibirien verbannt worden
waren. Ihm allein war es gelungen zu entkommen. Da nun
weder feine Verwandten noch er die Mittel zu einer Korre-
ſpondenz beſaßen, die in jenen Zeiten noch außerordentlich
teuer war, hatte man ein ebenſo einfaches, als kluges Aus-
kunftsmittel erſonnen. Jedes verbannte Familienmitglied ſchrieb
ein Wort an der Adreſſe, ſo daß er, der ihre Handſchriften
genau kannte, beim bloßen Leſen der Adreſſe ſofort wußte,
daß alle feine Lieben noch am Leben waren. Aus dem Poft-
ſtempel der Aufgabe etfuhr er überdies ihren jeweiligen Aufent-
haltsort.
Die franzöſiſchen Poſtbeamten waren ſehr gerührt, aber
die Fortſetzung dieſer ſonderbaren Korreſpondenz konnten ſie
trotzdem nicht geſtatten. O. Th. St.
Die Kataſtrophe von Para⸗Dſchala. — Bereits im Fahre
1851, als die Oſtindiſche Kompanie, damals noch die eigent-
liche Herrin des indiſchen Kolonialreichs, die erſte Eiſenbahn
von Bombay nach Tanna bauen ließ, wurden ihr von ſeiten
der eingeborenen Bevölkerung Schwierigkeiten in den Weg
gelegt. Fürchteten die Inder doch nicht mit Unrecht, daß die
Herſtellung eines Schienennetzes, das die ſchnelle Herbei—
ſchaffung von Truppen und Kriegsmaterial aller Art in das
Innere des Landes geſtattete, ihre letzte Hoffnung auf eine
Befreiung von dem engliſchen Zoch endgültig zerſtören würde.
Zunächſt war es faſt unmöglich, die nötigen Arbeiter für
jenen Streckenbau anzuwerben. Dann wurden ſpäter auch die
fertiggeſtellten Teile des Schienenſtranges nachts immer wieder
aufgeriſſen und zerſtört, Brücken verbrannt und die leitenden
Ingenieure aus dem Hinterhalt niedergeſchoſſen. Schließlich
mußte die Oſtindiſche Kompanie, um das Projekt überhaupt
ausführen zu können, den Schienenweg Tag und Nacht durch
Militär überwachen laffen. So kam es, daß die nur 32 Rilo-
meter lange Strecke erft nach faſt zweijähriger Bauzeit beendet
werden konnte. Die fharfe Bewachung des Schienenſtranges
mußte aber noch jahrelang fortgeſetzt werden.
Wer als treibendes Element hinter dieſem gefährlichen,
D Mannigfaltiges. 217
offenbar febr gut organiſierten Widerſtand gegen den Bahn-
bau geſteckt hatte, iſt nie herausgekommen, obwohl nach dem
Bericht des damaligen Generalgouverneurs von Indien, Earl
Dalhouſies, nicht weniger als dreiundvierzig Eingeborene allein
wegen der Mordanſchläge, die ſie auf die Ingenieure verübt
hatten, gehängt wurden, nachdem man ihnen vergeblich durch
das Verſprechen gänzlicher Begnadigung ein Geſtändnis abzu-
locken verſucht hatte.
Schon zu jener Zeit gab es eben wie noch heute in Indien
eine große Anzahl von Geheimgeſellſchaften, die lediglich das
Ziel verfolgten, ihre Heimat von den fremden Eindringlingen
zu ſäubern. Und Mitglieder einer ſolchen Vereinigung waren
es auch zweifellos, die der Oſtindiſchen Kompanie das Anlegen
dieſes erſten Schienenweges nach Möglichkeit zu erſchweren
wußten und auf deren Konto auch die furchtbare Kataſtrophe
von Para-Oſchala zu ſetzen ift.
Ein Fahr fpäter wurde trotz dieſer ſchlechten Erfahrungen
der Bau einer zweiten Eiſenbahnlinie von Bombay nach
Manmad beſchloſſen. Im Mai 1854 hatten die Ingenieure
die neue Strecke vermeſſen und abgeſteckt, eine Aufgabe, deren
Löſung wiederum nicht ohne allerlei unliebſame Zwifchen-
fälle vonſtatten ging. Dann begann die eigentliche Bau-
ausführung. Das ſchwierigſte Geländehindernis bot das Sinpan-
gebirge, das man nicht umgehen, ſondern durchſchneiden mußte.
Zu dieſem Zweck war es nötig, den Para-Oſchala, den Heiligen
Berg, einen ſchlanken Bergkegel, auf dem ſich ein uralter Hindu-
tempel befand, zum Teil wegzuſprengen.
Im Herbſt 1855 hatte man die Arbeit ſo weit gefördert,
daß die erſten Sprenglöcher in das Geſtein des Para-Oſchala
getrieben werden konnten. Wir folgen bei der weiteren Schilde-
rung der Ereigniſſe einem 1885 in London erſchienenen Buche
des engliſchen Ingenieurs Thomas Marling, eines der Fo
Überlebenden der Para-Oſchala-Kataſtrophe.
„Vom 14. November 1855 ab verging keine Woche, in der
wir nicht ein paar Mann durch heimtückiſche Kugeln verloren
hätten. Wir lebten wie im Kriege, nur daß wir von unſeren
Gegnern höchſt ſelten etwas zu ſehen bekamen. Die wild—
218 Mannigfaltiges. D
zerklüftete Natur des Sinpangebirges kam unſeren fanatiſchen
Feinden ſehr gelegen. Da gab es Schleichwege, von denen
wir keine Ahnung hatten, weite unterirdiſche Höhlengänge, in
denen die meuchleriſchen Schützen wie Geſpenſter verſchwanden.
Das uns reichlich zugeteilte Militär half wenig. Am Tage
hielt es uns die erbitterten Eingeborenen wohl vom Leibe,
kam aber die Nacht, ſo kamen die Schrecken. Wir alle waren
in kurzer Zeit in faſt lächerlicher Weiſe nervös geworden.
Rieſelndes Erdreich, ein rollendes Steinchen trieb uns das
Blut aus den Wangen. Gewiß, bisweilen glückte es uns auch,
dieſen oder jenen der braunen Bande abzufaſſen. Dann wurde
kurzer Prozeß gemacht. Er wurde an dem Gerüſt eines der
Geſteinsbohrer aufgeknüpft. Tagelang ließen wir die Leichen
dort baumeln, um die anderen abzuſchrecken. Es half nichts.
Jede Nacht dasſelbe Spiel. Bald hier, bald da laute, in den
Felstälern widerhallende Schüſſe. Und zumeiſt waren wir
die Leidtragenden bei der Partie.
Dabei blieb's jedoch nicht. Wir hatten über die beiden
Quellflüßchen des Godawari zwei Brücken gebaut, zur Vor-
ſicht ſchon in Eiſenkonſtruktion, da unſere Erfahrungen, die wir
bei der Strecke Bombay —Tanna mit Holzbrücken ſammeln
durften, nicht gerade ermutigend geweſen waren. Eines Tages
traf dann an unſerer Arbeitſtelle die Nachricht ein, daß beide
Brücken in einer Nacht in die Luft geſprengt worden waren,
nachdem man die dort poſtierten Wachen, je fünf Mann und
einen Unteroffizier, hinterrücks erſchoſſen hatte. Das war ein
harter Schlag für uns. Denn nunmehr waren wir für lange
Wochen von der Küſte ſo gut wie abgeſchnitten und mußten
außerdem die Arbeit am Para-Oſchala vorläufig einſtellen.
Erſt Anfang Dezember waren die Brücken wieder ausgeflickt,
und der Tanz am Heiligen Berge konnte aufs neue beginnen.
Die Weſtſeite des Para-Dſchala mußte auf eine Ausdehnung
von etwa dreihundert Meter niedergelegt werden.
Unſere Widerſacher blieben rührig wie vorher. Die ewigen
Beläſtigungen durch pfeifende Kugeln hörten nicht auf. Über
ganz Indien lagerte es ja damals ſchon wie eine drohende
Gewitterwolke. Dieſe Anfeindungen, denen wir Eiſenbahner
D Mannigfaltiges. 219
ſtändig ausgeſetzt waren, bildeten ſozuſagen das warnende
Grollen des Unwetters, das fih kaum ſechs Monate ſpäter in
Geſtalt des großen Aufſtandes über ganz Zndien entladen
ſollte. Die Eingeborenen ſchlichen um uns herum wie mord-
gierige Raken. Ihre Mienen waren freundlich, aber in ihren
Augen brannte tödlicher Haß. Und die mutigſten, die fanatiſch-
ften und — ehrlich geſagt — die begeiſtertſten Vaterlands-
freunde von ihnen waren eben die, die nachts mit der modernen
Feuerwaffe in der Hand unſern Schlaf ſtörten und unſeren
Spaten unliebfaine Arbeit zum Gräberauswerfen gaben.
Nachdein wir in der erſten Januarhälfte des Jahres 1856
genügend Sprenglöcher gebohrt hatten, um einen $elsvor-
ſprung, den wir ſcherzend ‚die Naſe“ getauft hatten, als erſtes
Hindernis beiſeite zu räumen, wurden die Zündfchnüre gelegt
und alles für den Morgen des 17. für die Sprengung bereit-
gemacht. Dieſe gelang vollſtändig. Die „Naſe“ war ver-
ſchwunden. Nun ging es rüſtig vorwärts. Anfang April hatten
wir in dem Para-Oſchala ſchon eine recht erhebliche Aus-
buchtung freigelegt und auch bereits gegen zweihundert Meter
Geleis eingefügt. Es galt jetzt nur noch die letzten ſiebzig Meter
zu bewältigen. Dieſe gedachte unſer leitender Ingenieur auf
einmal zu erledigen. Hatten wir doch mit der Zeit ſo viel
Neues hinſichtlich der Anlage der Sprengſchüſſe hinzugelernt,
daß uns die Aufgabe gar nicht ſo rieſengroß vorkam, wie es
dem Laien ſcheinen mag. Es handelte ſich nach unſeren Be-
rechnungen um ungefähr fünfzehnhundert Kubikmeter Geſtein,
die zu ‚bewegen‘ waren, wie der Fachmann ſagt. Nicht weniger
als achtzig Sprenglöcher, die meiſten bis zu drei bis vier Meter
Tiefe, wurden in den Heiligen Berg getrieben und dann im
Laufe des 18. April mit Pulver gefüllt, wovon wir genau
hundertundacht Zentner verbrauchten. Am folgenden Tage
legte ich mit Hilfe zweier Kollegen die Zündſchnüre und Pulver-
bahnen. Aber ein Regenguß, der am Abend einſetzte und
einige Stunden andauerte, machte unſere ganze Mühe zu-
ſchanden. Die Zündſchnüre waren durchgeweicht und die
Pulverbahnen, die das gleichzeitige Explodieren aller Ladungen
herbeiführen ſollten, weggewaſchen.
220 Mannigfaltiges. 2
Dann brach der Unglüdstag, der 19. April 1856, an. Die
Nacht war kühl und ſternenklar geweſen und ohne jede Störung
verlaufen. Der Morgen brachte warmen Sonnenſchein.
Unſere Arbeiter ſollten zuerſt die über den Felsabhang ver-
teilten Sprenglöcher nachprüfen, ob auch kein Waſſer ein-
gedrungen war. Der leitende Ingenieur und meine ſieben
Kollegen verließen gleichzeitig mit ihnen unſer Lager, das etwa
ſechshundert Meter von der Bauſtelle entfernt war. Zch ſelbſt
verſpätete mich etwas. Dies ſollte meine Rettung werden.
Denn als; gerade aus dem Talgrunde emporſtieg, erſchütterte
urplötzlich ein ungeheurer Krach die Luft. Gleichzeitig fühlte
ich mich wie ein Federball hochgehoben und fortgeſchleudert.
Ich verlor die Beſinnung und erwachte erſt wieder nach
Stunden in meinem Zelt. Mein rechter Arm war gebrochen,
und an der Stirn klaffte mir eine große Wunde. Soldaten
unſeres Bedeckungskommandos hatten mich gefunden und fort-
geſchafft. Einer von ihnen war es auch, der den Verlauf dieſer
furchtbaren Kataſtrophe aus der Ferne mitangeſehen hatte.
Aus ſeinen Angaben ging folgendes hervor: Als unſere
Arbeiter und die Ingenieure bis dicht an die Sprengſtelle
gelangt waren, tauchte mit einem Male hinter einem Felſen
ein Hindu auf, der eine brennende Fackel drohend um den
Kopf ſchwang. Noch ahnte niemand etwas Böſes. Da rief
der Inder unſeren Leuten ein paar Worte entgegen und ſtieß
urplötzlich die Fackel auf die Erde. In demſelben Augenblick
ſchoß es wie feurige Schlangen über den Abhang hin, das Ge-
ſtein wankte, Pulverdampf und Steinſplitter verfinſterten die
Luft. Als es wieder klar wurde, bot fih den Augen der ent-
fegt herbeieilenden Soldaten, die in weitem Umkreiſe wie täg-
lich Poſten geſtanden hatten, ein grauenvoller Anblick. Nicht
einer von all den Menſchen, die fih in der Nähe der Spreng-
ſtelle befunden hatten, war mit dem Leben davongekommen.
Einhundertvierundzwanzig zum Teil bis zur Unkenntlichkeit
zerfetzte Leichen lagen dort umher. Das Felsgeröll war weit-
hin mit Blut beſpritzt.
Der Para-Oſchala hatte den fremden Eindringlingen den
Weg freigegeben, aber unter welchen Opfern!“
u Mannigfaltiges. | 221
So weit Thomas Marling, der glücklich dieſem in der
Geſchichte des Eiſenbahnbaues einzig daſtehenden Attentat
entrann. Deſſen Urheber ſind nie entdeckt worden, trotzdem
der Generalgouverneur mit aller Energie und rückſichtsloſer
Strenge die Unterſuchung betrieb, denn bereits am 10. Mai
desſelben Jahres brach der große indiſche Aufſtand aus, der
mit feinen Tauſenden von Opfern das Blutbad von Para-
Oſchala ſchnell in den Hintergrund drängte. Der Bau der
Bahnſtrecke Bombay - Manmad wurde erft acht Jahre ſpäter
wieder aufgenommen. Bis dahin hatte England alle Hände
voll zu tun, um die rebelliſchen Völker Indiens niederzuzwingen.
Am 5. März 1866 dampfte dann der erſte Eiſenbahnzug von
Bombay nach Manmad ab. Auf Befehl des Vizekönigs hielt er
am Para-Oſchala, und in würdiger Weiſe wurde eine dort in
die Felswand eingelaſſene Erztafel enthüllt, die die Aufſchrift
trägt: „Zur Erinnerung an den 19. April 1856“. W. K.
Aus einer Mönchrepublik. — Einzig in ihrer Art iſt die
Mönchrepublik auf dem Bergmaſſiv des Athos und der zuge-
hörigen Landzunge, die als der öſtlichſte der drei Finger der
Halbinſel Chalcidice in das Agäiſche Meer hinausgreift. Bis
jetzt zahlte dieſe große Mönchvereinigung noch einen Tribut
an die Türkei. Infolge des Balkankrieges beabſichtigten aber
Rußland und Griechenland, auch dieſes lockere Abhängigkeits-
verhältnis aufzuheben und für die Mönche völlige Selbſtändig⸗
keit herbeizuführen.
Nicht weniger als 20 Klöſter, 11 Mönchdörfer, 250 Zellen
und 150 Einfiedeleien find über den bis zu 1935 Metern auf-
ſteigenden Athos und ſein von prächtigen Laubwäldern, üppigen
Wieſen und fruchtbaren Obſtgärten bedecktes Hinterland
verſtreut. Der Nationalität nach ſind die Mönche Griechen,
Bulgaren, Serben und Ruſſen. Das ganze Gebiet wird von
ungefähr 3000 Mönchen und Einſiedlern bewohnt.
Die Klöſter wurden in der Zeit von 970 bis 1385 erbaut.
Den Ruſſen gehört eines der ſchönſten Klöſter, Vatopädi.
In ihm blühte im 18. Jahrhundert eine gelehrte Akademie,
die beſonders durch den Korfioten Eugenius Bulgari gehoben
wurde. Er verſammelte gegen 200 Schüler um ſich. Jedoch
DR Mannigfaltiges. o
wurde er wegen feiner philoſophiſchen Anſchauungen ge-
zwungen, ſein Amt niederzulegen, und die Akademie wurde
aufgelöſt.
Die ruſſiſchen Mönche in Vatopädi ſtehen unter einem Abt,
dem Hegumenos. Sie erhalten alle ihre Bedürfniſſe vom
Kloſter geliefert. Ihre Mahlzeiten beſtehen nur aus Gemüſe,
Brot und Waſſer. Der Genuß von Fleiſch iſt verboten. Der
re
4 3
1
Ruſſiſche Mönche vom Kloſter Vatopädi auf dem Athos.
Gottesdienſt dauert für gewöhnlich ſechs, an Feſttagen zwölf
Stunden. In der Mußezeit beſchäftigen ſich die Mönche mit
Ackerbau und Gartenarbeit; auch ſchnitzen ſie Heiligenbilder.
Vatopädi hat in Rußland große Beſitzungen, die von
Mönchen verwaltet werden. Die Einkünfte werden an das
Kloſter abgeliefert.
Kürzlich brach in Vatopädi zwiſchen dem Hegumenos und
den Mönchen wegen einer religiöſen Frage ein Streit aus,
der ſich ſo zuſpitzte, daß der Hegumenos das Kloſter verlaſſen
mußte. Th. S.
D Mannigfaltiges. 223
Das Lampenfieber, dieſer oft ins Lächerliche gezogene
Erregungszuſtand mancher Künſtler und der meiſten anderen
Sterblichen vor einem öffentlichen Auftreten, iſt, wie der
Turiner Profeſſor Moſſo durch langjährige Beobachtungen und
verſchiedene Verſuche feſtgeſtellt hat, tatſächlich als eine be-
ſondere Krankheitsform anzuſehen, die durch Störungen im
Blutkreislauf entſteht und in ihren Einzelerſcheinungen einem
wirklichen Fieberanfall vollſtändig gleichkommt.
In einer Turiner Theaterſchule fand der genannte Gelehrte
die beſte Gelegenheit, die Schüler bei den Aufführungen auf
ihr jeweiliges körperliches Befinden zu unterſuchen. Bei den
meiſten Anfängern ſtellte er ſchon vor der Vorſtellung eine
Vermehrung der Pulsſchläge um etwa ein Drittel feſt. So-
fort nach der Vorſtellung hatte der Puls der meiſten eine
Frequenz von über 150 Schlägen in der Minute, ebenſo war
auch die Körpertemperatur regelmäßig bis auf 38 Grad ge-
ſtiegen. Im Verein mit der trockenen Haut und der unnatür-
lichen Rötung des Geſichts ergab dies das vollſtändige Bild
leichter Fiebererkrankungen.
Erſt nach häufigem Auftreten verloren fih diefe Erſchei-
nungen bei einem Teil der Schüler vollſtändig, während durch-
ſchnittlich zwei Drittel das Lampenfieber niemals überwanden.
Bei einigen fteigerte es fih fogar von Aufführung zu Auf-
führung derart, daß ſich infolge der wachſenden Erregungs-
zuſtände Gedankenflucht, Stottern und ſogar gänzliches Verſagen
des Gedächtniſſes einſtellten.
Der Gelehrte ging noch weiter und beauftragte einige ſeiner
Schüler, an feiner Stelle die Vorleſungen abzuhalten. Hier-
bei fand er, daß einer dieſer jungen Leute ſchon vor dem Be-
treten des Hörſaals 116 Pulsſchläge, nach Abhalten der Bor-
leſung ſogar 139 hatte. Ein zweiter hatte eine Minute vor
ſeinem erſten öffentlichen Vortrag Fieber mit 156 Pulsſchlägen
und 37,8 Grad Körperwärme, nach Beendigung 160 Schläge
und 38,7 Grad. |
Umgekehrt konnte Profeſſor Moſſo aber auch konſtatieren,
daß bei Leuten, die keine Neigung zu Lampenfieber zeigen,
ſogar eine Abnahme der Pulsſchläge zu beobachten iſt. Das
224 Mannigfaltiges. o
befte Beiſpiel hierfür bietet der italieniſche Abgeordnete Ferri,
der vor, während und nach einer Parlamentsrede nur 36 bis
58 Pulsſchläge gegen 68 bis 73 feiner normalen Anzahl hatte.
Dabei macht der berühmte Redner auf der Tribüne ſtets den
Eindruck, als ob jedes ſeiner Worte einem leidenſchaftlich
erregten Geiſte entſpränge. Erinnert ſei hier daran, daß
ſchon Profeſſor Schweninger, der Leibarzt Bismarcks, ähn-
liches bei dieſem feſtſtellte. Bismarck hatte eine außergewöhnlich
hohe Pulszahl, 85 bis 85, die ſich jedoch bei großer geiſtiger
Anſpannung, ſo hauptſächlich während ſehr lebhafter Parla-
mentsdebatten und längerer Reden, bis auf 73, die normale
Durchſchnittszahl jedes erwachſenen Mannes, verringerte.
Auch bei Napoleon I., der ohnehin nur die anormal niedrige
Pulsfrequenz von 45 bis 48 Schlägen in der Minute hatte,
wurde von ſeinem Leibarzt Hervieux ähnliches beobachtet.
So ſchrieb Hervieux: „Wie ſeltſam die Herztätigkeit des Kaiſers
von ſtarken Aufregungen beeinflußt wurde, zeigte ſich mir am
deutlichſten nach der verlorenen Schlacht bei Leipzig. Als
Napoleon die Nachricht von dem Eindringen der Verbündeten
in die Mauern der heiß umkämpften Stadt erhielt und er
nun einſah, daß er das ungeheure, tagelange Ringen verloren
hatte, überlief ein minutenlanges Zittern ſeine Geſtalt. Wir
ſtanden damals auf einem Hügel, von wo aus deutlich die
Flammen der brennenden Vorſtädte ſichtbar waren. Der
Kaiſer wies mit der Hand nach jener Richtung hin und ſagte
dumpfen Tones: ‚Alles vergeblich!“ Dann ließ er fih fein
Pferd vorführen und ſtieg in den Sattel. Zch merkte, daß
ſein ganzer Körper wiederum von einer furchtbaren Erregung
hin und her geſchüttelt wurde. Angſtlich geworden bat ich
ihn, ihm den Puls fühlen zu dürfen. Er ſtreckte mir die Rechte
hin, wobei ein Lächeln über fein Geſicht glitt. ‚Es wird nicht
anders ſein als ſonſt, meinte er. Wirklich hatte er auch in
dieſem Augenblick, wo er feinen Thron zum erſten Male er-
ſchüttert ſah, nur 39 Pulsſchläge.“ W. K.
Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel kann
der Menſch mit ſeinen verkümmerten Sinnesorganen ſich kaum
eine Vorſtellung machen. Während Gehör und Geruch bei
2 Mannigfaltiges. 225
den gefiederten Räubern nicht über das Normale ausgebildet
find, beſitzen ihre Augen eine Sehſtärke, die nach den Beob-
achtungen des Pariſer Zoologen Vaular die eines mit vor-
züglichen Augen ausgeſtatteten Menſchen etwa um das Zwanzig-
fache übertrifft.
Der genannte Forſcher hat in feiner Schrift „Der Raub-
vogel und fein Schutzorgan“ ein reiches Material von Erleb-
niſſen aus aller Herren Ländern geſammelt. „Die peruaniſchen
Bauern,“ heißt es an einer Stelle, „pflegen Adler, Geier und
kleinere Raubvögel, die ihrem Viehſtande ſchädlich werden
können, auf folgende Art zu jagen. An einem beſonders klaren
Tage werden auf einem freien Felde ungefähr fünfzig Meter
von einer durch Geſträuch verdeckten, niedrigen Hütte die Ein-
geweide von Rindern, Schafen ufw., kurz alles, was man gerade
an größeren Fleiſchabfällen zur Hand hat, vergraben und
zwar ſo, daß nachher die Erde über der Grube wieder glatt
eingeebnet wird. Läßt man nämlich das Geſcheide offen auf
dem Boden liegen, ſo kann man vergeblich ſtundenlang auf
einen der ſehr argwöhniſchen Vögel warten. Die Arbeit des
Eingrabens müſſen mindeſtens ſechs Perſonen beſorgen.
Während ſich dann fünf nachher entfernen, verbirgt ſich der
ſechſte, der eigentliche Jäger, in der FJagdhütte. Würde man
diefe Vorbereitungen mit Hilfe von nur zwei oder drei Per-
ſonen treffen, ſo bliebe der Erfolg ebenſo aus, als wenn man
die Fleiſchabfälle nur auf den Boden wirft.
Hierfür gibt es meines Erachtens nur eine Erklärung: Die
Raubvögel, die in unendlichen Höhen im Ather ſchweben und
alle Vorgänge auf der Erde genau verfolgen, haben ſehr bald
geſehen, daß an der bewußten Stelle reichliche, unſchwer zu
erlangende Nahrung verſcharrt wird, und beobachten daher
das Tun und Treiben der ſich dort hin und her bewegenden
Menſchen beſonders genau. Handelt es ſich hierbei vielleicht
nur um drei Perſonen, von denen ſchließlich nur zwei den
Platz wieder verlaffen, dann merken die Vögel das Fehlen der
einen Perſon ſehr wohl, wodurch ihr Argwohn ſofort rege
wird, jo daß fie fih hüten, auf den lockenden Köder herabzu—
ſtoßen. Ich möchte daher nach meinen Erfahrungen geradezu
1914. V. 15
226 Mannigfaltiges. | 1
behaupten, daß die gefiederten Räuber und ſo wohl auch
die meiſten übrigen Vögel außerftande find, eine Gruppe von
Menſchen, deren Zahl über fünf beträgt, auf ihre Anzahl hin
zu ſchätzen, während ihnen dies bei nur vier Perſonen noch
möglich iſt. Anders ausgedrückt: Die Vögel können höchſtens
bis vier zählen. Jede darüber hinausgehende Anzahl von
Menſchen oder Gegenſtänden verſchmilzt für ſie zu einer ihrer
Zuſammenſetzung nach nicht mehr zu zerlegenden Gruppe.
Viermal war mir Gelegenheit gegeben, diefe Jagdmethode
perſönlich auszuprobieren. Regelmäßig habe ich dabei, wahrend
meine Begleiter das Geſcheide eingruben, mit einem guten
Glaſe den Himmel abgeſucht, um die Anweſenheit etwaiger
Raubvögel feſtzuſtellen, was mir aber nur zweimal gelang.
Im übrigen ſchien, ſoweit meine bewaffneten Augen reichten,
der Ather ausgeſtorben zu ſein. Schien — denn kaum hatte
ich nachher etwa eine Viertelſtunde in der Jagdhütte geſeſſen,
als auch ſchon mit leiſem Rauſchen der erſte geflügelte Räuber,
bald ein Adler, bald ein Geier, ſich wenige Meter von dem
verſcharrten Geſcheide niederließ und ſich dann vorſichtig der
Stelle näherte. Meiſt folgte dem erſten Vogel umgehend ein
zweiter, bis dann im Verlaufe von weiteren zehn Minuten
ſtets acht bis zehn Tiere der verſchiedenſten Arten verſammelt
waren, unter denen ich mir in aller Ruhe ein Opfer für meine
Kugel auswählen konnte. In kurzer Zeit hatten die Vögel
die Erde über dem Aaſe fortgekratzt und begannen krächzend
und ſich ſtreitend ihr ekles Mahl, bis der Knall meiner Büchſe
die ganze Geſellſchaft, mit Ausnahme des erlegten, für alle
Zeiten verſcheuchte. Nie werden Raubvögel einen ſolchen
Hinterhalt, der einem der Fhren das Leben koſtete, zum
zweiten Male aufſuchen. Die Peruaner, beſonders aber die
viehzuchttreibenden Indianer an den Weſtabhängen der
Anden, pflegen daher auch mit Schrotflinten ſehr großen
Kalibers, deren Ladung aus gehacktem Blei beſteht, unter die
verſammelten Vögel zu ſchießen, wobei ſie dann meiſt drei
bis vier Tiere derart verletzen, daß ſie nicht abſtreichen und
leicht vollends getötet werden können.“
In dem die europäiſche Raubvogelwelt behandelnden
1 Mannigfaltiges. 227
Kapitel berichtet der franzöſiſche Zoologe über den über ganz
Europa verbreiteten Habicht folgendes: „Auf dem Landſitz
eines Bekannten in der Nähe von Paris machten wir auf
meine Veranlaſſung hin einige Male ein etwas grauſames
Experiment, um die Sehſchärfe des Habichts, der in der dortigen
Gegend ziemlich häufig iſt, zu erproben. Wir begaben uns
auf ein abgeerntetes Feld und ließen dort zunächſt einige
Tauben in längeren Abſtänden aufſteigen. Die Tauben kehrten
ſtets, ſich der ihnen drohenden Gefahr wohl bewußt, in pfeil
ſchnellem Fluge niedrig dahinſtreichend, zu ihrem nahen Stalle
zurück. Dann ſuchten wir mit unſeren Gläſern den Himmel
ab. Bemerkten wir einen in der Höhe kreiſenden Habicht, ſo
führten wir das Experiment nicht zu Ende. Nur wenn wir
nirgends eine Spur des gefährlichen, windſchnellen Geſellen
entdeckten, gaben wir die letzte unſerer Tauben frei, der wir
vorher die Flügel zuſammengebunden hatten, ſo daß ſie nur
etwa einen Meter vom Boden hochflattern konnte. Sodann
faßten wir in einem nahen Wäldchen Poſto und warteten das
weitere ab. Nie vergingen mehr als fünf Minuten, bis ein
Habicht urplötzlich über der ängſtlich flatternden Taube auf-
tauchte, erſt langſam in immer enger werdenden Kreiſen ſich
herabwand und ſchließlich wie ein losgeſchnellter Pfeil auf ſein
Opfer herabſtieß. Der Raubvogel hatte alſo zweifellos aus
einer Höhe, in die ſogar unſere bewaffneten Augen nicht zu
dringen vermochten, zuerſt das Auffliegen der erſten Tauben
bemerkt, uns dann weiter beobachtet und ſo auch ſein gefeſſeltes
Opfer erſpäht.“ W. K.
Eine Königin als erſte Perückenmacherin. — Ludwig der
Heilige, König von Frankreich, ift der Schutzpatron der Perücken
macher. Als nämlich der Monarch von dem ſechſten Kreuzzuge
(1248 — 1254), den er angeführt hatte, nach feinem Lande
zurückkehrte, war er ein Kahlkopf. Eine Krankheit in dem
mörderiſchen Klima Afrikas hatte ihm feinen ganzen Haar-
ſchmuck geraubt. Künſtliche Perücken gab es damals noch nicht,
Mutterliebe aber macht erfinderiſch. Des Königs Mutter,
Königin Bianka von Kaſtilien, konnte die Entſtellung ihres
Sohnes nicht mitanſehen. Sie erſuchte jeden ihrer Höflinge,
224 Mannigfaltiges. o
befte Beiſpiel hierfür bietet der italienische Abgeordnete Ferri,
der vor, während und nach einer Parlamentsrede nur 36 bis
58 Pulsſchläge gegen 68 bis 75 ſeiner normalen Anzahl hatte.
Dabei macht der berühmte Redner auf der Tribüne ſtets den
Eindruck, als ob jedes ſeiner Worte einem leidenſchaftlich
erregten Geiſte entſpränge. Erinnert ſei hier daran, daß
ſchon Profeſſor Schweninger, der Leibarzt Bismarcks, ähn-
liches bei dieſem feſtſtellte. Bismarck hatte eine außergewöhnlich
hohe Pulszahl, 85 bis 85, die fih jedoch bei großer geiſtiger
Anſpannung, fo hauptſächlich während febr lebhafter Parla-
mentsdebatten und längerer Reden, bis auf 73, die normale
Durchſchnittszahl jedes erwachſenen Mannes, verringerte.
Auch bei Napoleon I., der ohnehin nur die anormal niedrige
Pulsfrequenz von 45 bis 48 Schlägen in der Minute hatte,
wurde von ſeinem Leibarzt Hervieux ähnliches beobachtet.
So ſchrieb Hervieux: „Wie ſeltſam die Herztätigkeit des Kaiſers
von ſtarken Aufregungen beeinflußt wurde, zeigte ſich mir am
deutlichſten nach der verlorenen Schlacht bei Leipzig. Als
Napoleon die Nachricht von dem Eindringen der Verbündeten
in die Mauern der heiß umkämpften Stadt erhielt und er
nun einſah, daß er das ungeheure, tagelange Ringen verloren
hatte, überlief ein minutenlanges Zittern ſeine Geſtalt. Wir
ſtanden damals auf einem Hügel, von wo aus deutlich die
Flammen der brennenden Vorſtädte ſichtbar waren. Der
Kaiſer wies mit der Hand nach jener Richtung hin und ſagte
dumpfen Tones: „Alles vergeblich! Dann ließ er fih fein
Pferd vorführen und ſtieg in den Sattel. Zh merkte, daß
ſein ganzer Körper wiederum von einer furchtbaren Erregung
hin und her geſchüttelt wurde. Angſtlich geworden bat ich
ihn, ihm den Puls fühlen zu dürfen. Er ſtreckte mir die Rechte
hin, wobei ein Lächeln über fein Geſicht glitt. ‚Es wird nicht
anders fein als ſonſt,“ meinte er. Wirklich hatte er auch in
dieſem Augenblick, wo er ſeinen Thron zum erſten Male er-
ſchüttert ſah, nur 39 Pulsſchläge.“ W. K.
Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel kann
der Menſch mit ſeinen verkümmerten Sinnesorganen ſich kaum
eine Vorſtellung machen. Während Gehör und Geruch bei
2 Mannigfaltiges. 225
den gefiederten Räubern nicht über das Normale ausgebildet
find, beſitzen ihre Augen eine Sehſtärke, die nach den Beob-
achtungen des Pariſer Zoologen Vaular die eines mit vor-
züglichen Augen ausgeftatteten Menſchen etwa um das Zwanzig-
fache übertrifft.
Der genannte Forſcher hat in feiner Schrift „Der Raub-
vogel und fein Schutzorgan“ ein reiches Material von Erleb-
niſſen aus aller Herren Ländern geſammelt. „Die peruaniſchen
Bauern,“ heißt es an einer Stelle, „pflegen Adler, Geier und
kleinere Raubvögel, die ihrem Viehſtande ſchädlich werden
können, auf folgende Art zu jagen. An einem beſonders klaren
Tage werden auf einem freien Felde ungefähr fünfzig Meter
von einer durch Geſträuch verdeckten, niedrigen Hütte die Ein-
geweide von Rindern, Schafen uſw., kurz alles, was man gerade
an größeren Fleiſchabfällen zur Hand hat, vergraben und
zwar ſo, daß nachher die Erde über der Grube wieder glatt
eingeebnet wird. Läßt man nämlich das Geſcheide offen auf
dem Boden liegen, ſo kann man vergeblich ſtundenlang auf
einen der ſehr argwöhniſchen Vögel warten. Die Arbeit des
Eingrabens müſſen mindeſtens ſechs Perſonen beſorgen.
Während ſich dann fünf nachher entfernen, verbirgt ſich der
ſechſte, der eigentliche Jäger, in der FJagdhütte. Würde man
diefe Vorbereitungen mit Hilfe von nur zwei oder drei Per-
ſonen treffen, ſo bliebe der Erfolg ebenſo aus, als wenn man
die Fleiſchabfälle nur auf den Boden wirft.
Hierfür gibt es meines Erachtens nur eine Erklärung: Die
Raubvögel, die in unendlichen Höhen im Ather ſchweben und
alle Vorgänge auf der Erde genau verfolgen, haben ſehr bald
geſehen, daß an der bewußten Stelle reichliche, unſchwer zu
erlangende Nahrung verſcharrt wird, und beobachten daher
das Tun und Treiben der ſich dort hin und her bewegenden
Menſchen beſonders genau. Handelt es ſich hierbei vielleicht
nur um drei Perſonen, von denen ſchließlich nur zwei den
Platz wieder verlaſſen, dann merken die Vögel das Fehlen der
einen Perſon ſehr wohl, wodurch ihr Argwohn ſofort rege
wird, fo daß fie fih hüten, auf den lodenden Köder herabzu-
ſtoßen. Ich möchte daher nach meinen Erfahrungen geradezu
1914. V, 15
226 Mannigfaltiges. | 2
behaupten, daß die gefiederten Räuber und ſo wohl auch
die meiſten übrigen Vögel außerſtande find, eine Gruppe von
Menſchen, deren Zahl über fünf beträgt, auf ihre Anzahl hin
zu ſchätzen, während ihnen dies bei nur vier Perſonen noch
möglich iſt. Anders ausgedrückt: Die Vögel können höchſtens
bis vier zählen. Jede darüber hinausgehende Anzahl von
Menſchen oder Gegenſtänden verſchmilzt für fie zu einer ihrer
Zuſammenſetzung nach nicht mehr zu zerlegenden Gruppe.
Viermal war mir Gelegenheit gegeben, diefe Jagdmethode
perſönlich auszuprobieren. Regelmäßig habe ich dabei, während
meine Begleiter das Geſcheide eingruben, mit einem guten
Glaſe den Himmel abgeſucht, um die Anweſenheit etwaiger
Raubvögel feſtzuſtellen, was mir aber nur zweimal gelang.
Im übrigen ſchien, ſoweit meine bewaffneten Augen reichten,
der Ather ausgeſtorben zu ſein. Schien — denn kaum hatte
ich nachher etwa eine Viertelſtunde in der Jagdhütte geſeſſen,
als auch ſchon mit leiſem Rauſchen der erſte geflügelte Räuber,
bald ein Adler, bald ein Geier, ſich wenige Meter von dem
verſcharrten Geſcheide niederließ und ſich dann vorſichtig der
Stelle näherte. Meiſt folgte dem erſten Vogel umgehend ein
zweiter, bis dann im Verlaufe von weiteren zehn Minuten
ſtets acht bis zehn Tiere der verſchiedenſten Arten verſammelt
waren, unter denen ich mir in aller Ruhe ein Opfer für meine
Kugel auswählen konnte. In kurzer Zeit hatten die Vögel
die Erde über dem Aaſe fortgekratzt und begannen krächzend
und ſich ſtreitend ihr ekles Mahl, bis der Knall meiner Büchſe
die ganze Geſellſchaft, mit Ausnahme des erlegten, für alle
Zeiten verſcheuchte. Nie werden Raubvögel einen ſolchen
Hinterhalt, der einem der Ihren das Leben koſtete, zum
zweiten Male aufſuchen. Die Peruaner, beſonders aber die
viehzuchttreibenden Indianer an den Weſtabhängen der
Anden, pflegen daher auch mit Schrotflinten ſehr großen
Kalibers, deren Ladung aus gehacktem Blei beſteht, unter die
verſammelten Vögel zu ſchießen, wobei ſie dann meiſt drei
bis vier Tiere derart verletzen, daß ſie nicht abſtreichen und
leicht vollends getötet werden können.“
In dem die europäiſche Raubvogelwelt behandelnden
ü Mannigfaltiges. 227
Kapitel berichtet der franzöſiſche Zoologe über den über ganz
Europa verbreiteten Habicht folgendes: „Auf dem Landſitz
eines Bekannten in der Nähe von Paris machten wir auf
meine Veranlaſſung hin einige Male ein etwas grauſames
Experiment, um die Sehſchärfe des Habichts, der in der dortigen
Gegend ziemlich häufig iſt, zu erproben. Wir begaben uns
auf ein abgeerntetes Feld und ließen dort zunächſt einige
Tauben in längeren Abſtänden aufſteigen. Die Tauben kehrten
ſtets, fih ber ihnen drohenden Gefahr wohl bewußt, in pfcil-
ſchnellem Fluge niedrig dahinſtreichend, zu ihrem nahen Stalle
zurück. Dann ſuchten wir mit unſeren Gläſern den Himmel
ab. Bemerkten wir einen in der Höhe kreiſenden Habicht, ſo
führten wir das Experiment nicht zu Ende, Nur wenn wir
nirgends eine Spur des gefährlichen, windſchnellen Geſellen
entdeckten, gaben wir die letzte unſerer Tauben frei, der wir
vorher die Flügel zuſammengebunden hatten, ſo daß ſie nur
etwa einen Meter vom Boden hochflattern konnte. Sodann
faßten wir in einem nahen Wäldchen Poſto und warteten das
weitere ab. Nie vergingen mehr als fünf Minuten, bis ein
Habicht urplötzlich über der ängſtlich flatternden Taube auf-
tauchte, erſt langſam in immer enger werdenden Kreiſen ſich
herabwand und ſchließlich wie ein losgeſchnellter Pfeil auf ſein
Opfer herabſtieß. Der Raubvogel hatte alſo zweifellos aus
einer Höhe, in die ſogar unſere bewaffneten Augen nicht zu
dringen vermochten, zuerſt das Auffliegen der erſten Tauben
bemerkt, uns dann weiter beobachtet und ſo auch ſein gefeſſeltes
Opfer erſpäht.“
Eine Königin als erſte Perückenmacherin. — Ludwig der
Heilige, König von Frankreich, ift der Schutzpatron der Perücken
macher. Als nämlich der Monarch von dem ſechſten Kreuzzuge
(1248 — 1254), den er angeführt hatte, nach feinem Lande
zurückkehrte, war er ein Kahlkopf. Eine Krankheit in dem
mörderiſchen Klima Afrikas hatte ihm feinen ganzen Haar-
ſchmuck geraubt. Künſtliche Perücken gab es damals noch nicht,
Mutterliebe aber macht erfinderiſch. Des Königs Mutter,
Königin Bianka von Kaſtilien, konnte die Entſtellung ihres
Sohnes nicht mitanſehen. Sie erſuchte jeden ihrer Höflinge,
228 Mannigfaltiges. o
der Haare von der Farbe Ludwigs beſaß, um eine Locke von
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feinem Haupt, die ihr natürlich mit ſtolzem Eifer geſpendet
wurde. Eigenhändig nähte fie nun ein Haar nach dem anderen
auf eine feine Stoffkappe und brachte fo die erſte Perücke zu-
ſtande, die denn auch ihren Zweck ganz gut erfüllte, wenn ſie
auch gewiß noch viele Mängel an ſich gehabt hat. Der erſte
Träger dieſes neuen Kopfſchmuckes und zugleich der erſte
Kunde der erſten Perückenmacherin, eben der heilige Ludwig,
wurde deshalb von der fich ſpäter bildenden Zunft der Perücken
macher zu ihrem Schutzpatron ernannt. C. D.
Sechs Stunden von Potsdam. — Die preußiſche Garde-
landwehr ſtellte im Deutſch-Franzöſiſchen Kriege öfters die
Ehrenwachen beim König und beim Generalſtabe und vertrieb
ſich in den Mußeſtunden gern die Zeit durch theatraliſche
Vorſtellungen.
Auch Moltke wohnte mit ſeiner Umgebung eines Abends
einer ſolchen Aufführung bei, unterhielt ſich köſtlich und ließ
ſich ſchließlich einen Unteroffizier vorſtellen, der in einer Perſon
Dichter, Hauptdarſteller und Regiſſeur war. In ſtreng dienft-
licher Haltung, die Hände an den Hoſennähten, trat der Mann
mit ernſtem Geſichtsausdruck an den General heran.
„Ihre Vorſtellung war ſehr nett. Wie heißen Sie denn?“
fragte Moltke gütig. N
„Zu Befehl, Exzellenz — Schulze.“
„Wo ſind Sie denn her?“
„Sechs Stunden von Potsdam, Exzellenz,“ lautete die
Antwort.
Moltke lächelte und fragte weiter im Potsdamer Dialekt:
„So — ſechs Stunden von Potsdam? Wie hecht denn det
Neſt?“
Der Feldherr und ſein ganzer großer Generalſtab brachen
in lautes Lachen aus über die mit unerſchütterlich dienſtlichem
Ernſt abgegebene Antwort des militäriſchen Komikers. O. v. B.
Weihnachtsnarziſſen. — Die Blumenzwiebelzüchtereien
in Holland ſind in den letzten Jahren beſtrebt geweſen, nicht
nur die alten Zwiebelarten zu vervollkommnen und ihnen
„Berlin, wenn Sie et noch nich kennen ſollten, Exzellenz!“
2 Mannigfaltiges. 229
in Farbe und Form ein neues Gewand zu geben, ſondern ſie
haben auch Blumen herangezogen, die bereits im Frühwinter
ihren Flor entfalten. Dahin gehören auch die Weihnachts-
narziſſen. |
Die Weihnachtsnarziſſe gehört zu den fogenannten Erom-
Weihnachtsnarziſſe.
petennarziſſen, die wegen ihrer großen Blütenform und ihrer
leuchtenden Farbe fih der beſonderen Beliebtheit der Garten-
freunde erfreuen. Die Weihnachtsnarziſſe ift von hellprimel-
gelber Farbe und ſetzt mit ihrem Flor bereits Ende Dezember
bis Mitte Januar ein. Als Gartenpflanze blühen ihre Blumen
230 Mannigfaltiges. 2
von allen zuerſt. Auf Beeten halten ſie im Winter ohne jede
Deckung aus. Will man aber gleichwohl ſicher gehen, ſo genügt
ein leichter Schutz von trockenem Laub. Will man ſie im Topfe
und im Zimmer im Frühwinter zur Blüte bringen, ſo füllt
man im Herbſt Töpfe oder Schalen mit lockerer leichter Erde,
Sand oder Torfmull bis an den Rand und drückt ſie mäßig an.
Sodann macht man in der Mitte ein der Größe der Zwiebel
entſprechendes Loch, legt auf ſeinen Boden etwas Sand,
ſetzt die Zwiebel auf, drückt ſie ein wenig an, ſo daß der Kopf
mit dem Rande des Topfes in gleicher Höhe iſt und füllt nun
die Erde darum mäßig auf, daß ein etwa ein Zentimeter hoher
Rand zum Gießen übrig bleibt. Die benützte Erde muß mäßig
feucht ſein. Dann ſtellt man den Topf an einen kühlen und
dunklen Ort. Haben die Wurzeln die Topferde ganz durch-
zogen, ſo kommen die Töpfe, in denen der Keim bereits aus
dem Zwiebelkopf hervorgetreten iſt, zum Antreiben, das heißt
ſie werden im Zimmer untergebracht. Zuerſt werden ſie
kühler geſtellt und nach acht bis zehn Tagen ans Fenſter des
Wohnzimmers gebracht. Zunächſt deckt man kleine Häubchen
von Pappe oder Papier darüber und gießt regelmäßig. —dt.
Cartouche in Deutſchland. — Der berühmte franzöſiſche
Gaunethäuptling Louis Dominique Cartouche (geboren 1693 in
Paris, daſelbſt 1721 gerädert) hat, was weniger bekannt iſt,
als die franzöſiſche Regierung einen Preis von hunderttauſend
Franken auf ſeinen Kopf geſetzt hatte, eine Gaſtſpielreiſe nach
Deutſchland unternommen, die ihn nach Wien, Dresden und
Leipzig führte.
In Wien machte Cartouche, der mit Hilfe von ge—
fälſchten Empfehlungsſchreiben als franzöſiſcher Marquis auf-
trat, die Bekanntſchaft eines Grafen v. Schönfeld, der den
vornehmen, geiſtreichen Fremden in ſeinen Zirkel zog, wo
dieſer durch feine glänzende Unterhaltungsgabe bald der Lieb-
ling der Damen wurde. Eines Tages weilte man in großer
Geſellſchaft auf dem Landſitze des Grafen. Cartouche hatte
ſeine Equipage und ſeine Dienerſchaft, die aus ſeinen beſten
Genoſſen beſtand, bereits insgeheim nach Dresden voraus-
geſchickt; nur fein „Rammerdiener“ weilte bei ihm. Mit dieſem
u Mannigfaltiges. 231
erſchien er gut beritten im gräflichen Schloß. Cartouche war
an dieſem Tag in glänzender Laune und unterhielt die vor-
nehme Geſellſchaft, die ein Vermögen in Gold und Edelſteinen
an ſich trug, von ſeinen eigenen Heldentaten. Man erging ſich
in bewundernden Ausdrücken über die Verſchlagenheit dieſes
kühnen Verbrechers. |
„Er ift ein Zauberer,“ ſagte Cartouche. „Zch ſelbſt war
Zeuge, wie er in einer Geſellſchaft ſich eine große Anzahl Ringe,
Hals- und Armbänder, Uhren uſw. geben ließ, dieſelben in
ſeinen Hut tat, ſich in ein Nebenzimmer einſchließen ließ und
von dort durch die Türe alle Schmuckgegenſtände wieder ihren
Beſitzern zuſtellte. Einem meiner Freunde hat er das Geheim-
nis dieſes Kunſtſtückes offenbart. Darf ich es Ihnen zeigen?“
Er ergriff ſeinen mit einer wundervollen Diamantagraffe
verzierten Hut und ſammelte die wertvollſten Kolliers, Ringe
und Uhren ein, die man lachend dem Freund des Grafen an-
vertraute. Dann ließ er ſich in einem Nebenzimmer einſchließen,
nachdem er der Geſellſchaft angekündigt hatte, das Kunſtſtück
beanſpruche nur zehn Minuten Geduld. Man wartete an-
ſtandshalber fünfzehn Minuten, die Cartouche vortrefflich be-
nützt hatte. Eine ſeidene Strickleiter kündete der Geſellſchaft
das Geheimnis des Kunſtſtückes Cartouches an, der auf ſchnellem
Roß in dieſer Nacht einen ſolchen Vorſprung gewann, daß er
die Verfolger weit hinter ſich ließ.
Einige Wochen ſpäter tauchte er in Dresden und dann in
Leipzig auf. Hier fuhr er in ſpäter Abendſtunde vor dem Ge-
wölbe eines reichen Juwelenhändlers vor, deffen Leute gerade
im Begriff waren, das Gewölbe zu ſchließen. Der Beſitzer
wollte den vornehmen Fremden, der für tauſend Taler Juwelen
kaufte, nicht abweiſen und machte ihn ſo nicht nur mit ſeinen
Vorkehrungen gegen Einbrecher, ſondern ſelbſt auch ſcherzend
mit einem kleinen Hund bekannt, den er Cartouche als ſeinen
treueſten und tüchtigſten Wächter vorſtellte.
Zehn Tage ſpäter erhielt der Juwelier einen gewichtigen
Wertbrief aus Dresden, der Wappen und Vnterſchrift eines
bekannten ruſſiſchen Fürſten trug. Der Fürſt benachrichtigte
ihn, daß er, da er ſein Haus als ſolid kenne, einen Koffer mit
232 Mannigfaltiges. ca
Pretioſen ihm mit der Bitte überſenden werde, ihm denſelben
bis zu feiner Ankunft in Leipzig in feinem feuerſicheren Ge-
wölbe aufzubewahren. Zum Zeichen ſeines Dankes ſende er
anbei vorläufig einen Ring. Der Ring war koſtbar. Er war
der einzige, den Cartouche noch von ſeinem Gaſtſpiel im Schloſſe
des Grafen Schönfeld übrig hatte.
Eine Woche ſpäter wurde der angekündigte Koffer, ein
mit Eiſenbändern und großen Vorlegeſchlöſſern verſehenes
ſchweres Monſtrum, von „Poſtknechten“ gebracht und von dem
durch die Gnade und das Vertrauen des ruſſiſchen Fürſten ganz
betörten Juwelier angenommen. Seine Leute machten fih
über das Ungeheuer luftig und bezweifelten beffen Inhalt,
den man doch unterſuchen ſollte, wie einer riet. Der Zuwelier
machte dieſen Witzeleien ein Ende, indem er Befehl gab, das
Gewölbe zu ſchließen und den Hund hereinzulaſſen, der ſich
über ſein bereitſtehendes Freſſen hermachte. Einige Stunden
ſpäter vernahm ein über dem Gewölbe ſchlafender Diener das
wütende Gebell des Hundes. Er alarmierte ſofort feine Kame-
raden und ſeinen Herrn. Das Hündchen bellte und ſchnüffelte
um den Koffer herum und war auf keine Weiſe zu beruhigen.
Da die Sache verdächtig ſchien, machte einer den Vorſchlag,
den geheimnisvollen Koffer aufzubrechen. Da repetierte eine
Taſchenuhr deutlich die zwölfte Stunde aus dem Koffer. Alle
lachten über das wütende Gebell des Hundes, und beruhigt
ging man ſchlafen. Es waren alſo Uhren in dem Koffer, deren
Repetieren den Hund alarmiert hatte!
Eine Stunde ſpäter entſtieg Cartouche dem Koffer. Das
Bellen des Hundes beunruhigte jetzt niemanden mehr. Der
kühne Räuber tötete ſofort den Hund und plünderte das Ge—
wölbe ſo gründlich aus, daß ihm für mehr als hunderttauſend
Taler Schmuck und Edelſteine in die Hände fielen. Einige
Wochen ſpäter war er in Amſterdam, wo er ſeinen Raub ver—
ſilberte; von dort begab er ſich wieder nach Paris zurück. Als
hier ſeine Wiener und Leipziger Verbrechen bekannt wurden,
erkannte man ſofort den Löwen an ſeinen Krallen. W. F.
Eines der ſinnigſten Geſchenke, die je gemacht wurden,
war das Geſchenk des Großherzogs Georg Friedrich von Meck—
o Mannigfaltiges. 233
lenburg-Strelitz an Goethe, als dieſer im Jahre 1825 die Feier
ſeines fünfzigjährigen Aufenthaltes in Weimar beging. Der
gemütvolle Fürſt gab ſeinem Geſchäftsträger in Frankfurt
am Main Auftrag, ein Stück von der längſt verkauften Wirt-
ſchaft des Goetheſchen Hauſes zu beſchaffen, das geeignet ſei,
in dem greiſen Dichter eine lebhafte Erinnerung an ſeine
ſchöne Jugendzeit zu erwecken.
Dem Beauftragten gelang es, die große alte Schlaguhr
mit dem ſtattlichen Gehäuſe zu erwerben, die in der Familien-
ſtube des Ratsherrn Goethe zu Frankfurt geſtanden hatte.
Sie wurde nach Weimar geſchafft und abends vor dem Zubel-
tage, ohne daß Goethe es ahnte, in ſein Haus gebracht. Der
treue Diener Friedrich ſtellte fie, während der Dichter ſchlief,
in den kleinen Vorraum des Schlafzimmers.
Um fünf Uhr des Morgens pflegte Goethe aufzuſtehen;
auf ein paar Minuten vor fünf wurden die Zeiger der alten
Uhr geſtellt. Im richtigen Augenblick ſollte der Diener den
Pendel in Bewegung ſetzen.
Goethe war eben erwacht. Plötzlich hebt im Vorzimmer
das ſonore Schlagwerk der Uhr aus, und durch die tiefe Stille
tönt ein lang ausſummender Schlag. Der Dichter horcht,
noch halb im Schlafe. Träumt er, daß er im e ſei
und die Uhr ihn mahne, fih zu erheben?
Wieder klingt der Ton an ſein Ohr. Nein, das iſt kein
Traum! Goethe richtet ſich in ſeinen Kiſſen auf; er fühlt,
daß er wacht. Ein dritter Schlag folgt, ein vierter, ein fünfter.
Der Dichter läßt ihn verklingen; er lauſcht begierig dem Aus-
zittern der Tonwelle.
Dann aber zieht er die Klingel, und als der längſt wartende
Diener eintritt, ruft er ihm in jubelndem Erſtaunen zu: „Aber
Friedrich, was war denn das? Zch hörte eben die Uhr aus
meinem Elternhauſe ſchlagen.“
Der Diener nickte lächelnd und wies mit der Hand nach
dem Vorzimmer. „Die Uhr ſteht wirklich da, Exzellenz!“ ſagte er.
Mit einem Sprung iſt der rüſtige Greis aus dem Bett
und eilt ins Vorzimmer. Da ſieht er die Uhr aus dem Eltern-
hauſe am Hirſchgraben in Frankfurt vor ſich. Feucht ſchimmern
234 Mannigfaltiges. og
feine großen blauen Augen, und lange bleibt er vor der Uhr
ſtehen und horcht auf ihr gravitätiſches Ticktack, auf dieſen
Herzſchlag des Elternhauſes. H. W.
Giftjagd. — Anſerer Damenwelt, die ſich nur zu gern
mit koſtbarem Pelzwerk ſchmückt, dürfte kaum bekannt ſein,
auf welch beſondere Art und Weiſe ein großer Teil der natür-
lichen Lieferanten des vielbegehrten Rauchwerks erlegt wird,
damit die Felle ganz unbeſchädigt bleiben und ihren ſeidigen
Glanz in voller Stärke behalten.
„Die Anſicht, daß die meiſten Pelztiere in Fallen gefangen
werden, iſt überaus irrig,“ ſagte Doktor Akimoff, der zwei
Winter hindurch die ſibiriſchen Jagdreviere bereiſt hat. „Die
von den großen Pelzgeſchäften in die nördlichen Einöden ent-
ſandten Jäger pflegen nur in der erſten Zeit, ſozuſagen als
Neulinge ihres Handwerks, fih der Tellereiſen und der Raften-
fallen zu bedienen. Sehr bald eignen fie fih jene Fagdmethode
an, wie ich fie bei den Tunguſen, ZJakuten und den an der Kälte-
grenze hauſenden Kirgiſenſtämmen gefunden habe. Dieſe hat
vor allen übrigen Fangarten nach übereinſtimmender Anſicht
aller Jäger, mit denen ich auf meinen Wanderzügen zuſammen-
traf, den großen Vorteil, daß dabei auch nicht ein einziges
Fell verdorben wird. Gerät ein Tier zum Beiſpiel in ein
Tellereiſen, ſo wird es regelmäßig bei ſeinen verzweifelten
Befreiungsverſuchen ſein Haarkleid an den Kanten des eiſernen
Fanggerätes mehr oder weniger ſcheuern, wodurch der Pelz
erheblich an Wert verliert. Nicht viel beſſer verhält es ſich
mit den Kaſtenfallen, die man für die kleinſten Pelzträger,
wie Hermelin, Zobel und Nerz benützt. Jedes darin feft-
gehaltene Tier ſucht ſich mit Krallen und Zähnen durch das
Holz einen Ausweg zu bahnen, raſt in ſeiner Todesangſt in
dem engen Behälter umher und verdirbt hierbei ſein koſtbares
Haarkleid ſehr häufig derart, daß der Pelz nur noch als Ware
zweiter Güte in den Handel gebracht werden kann.
Alle dieſe Nachteile vermeidet man bei der ſogenannten
Giftjagd, die unter den ſibiriſchen Jägervölkern ſchon feit un-
denklichen Zeiten üblich iſt. Es handelt ſich nicht etwa um eine
bloße Tötung der Tiere durch ein ſchnellwirkendes Gift, ſondern
u Mannigfaltiges. 235
um eine fraglos erſt nach längeren Verſuchen ausgeklügelte
Methode, die vierbeinigen Pelzträger zu lähmen und zwar
durch ein Mittel, das nicht wie die meiſten übrigen Gifte den
Balg glanzlos macht und ſpäteren Haarausfall herbeiführt.
Dieſes Mittel beſitzen die Eingeborenen Sibiriens in dem
ſüßlichen Safte der Wurzel des ſogenannten Buſcheppaſtrauches,
der hauptſächlich auf Moorboden wächſt, aber nicht allzu häufig
iſt. Der Saft der Buſcheppa trocknet an der Luft zu kleinen,
harzigen, völlig geſchmackloſen Klümpchen zufammen und
wirkt ähnlich wie das bekannte Kurare, das Pfeilgift der füd-
amerikaniſchen Indianer, das heißt, er lähmt, ſobald er auch
nur in ganz geringen Mengen in die Blutbahn gerät, die
Bewegungsnerven, ohne jedoch ſofort zu töten. i
Hat man es nun auß die kleinſten Pelztiere abgeſehen, fo
werden kleine Fleiſchſtückchen durch an beiden Seiten an-
geſpitzte, unſichtbare Eiſenſtacheln zuſammengeheftet. In die
Mitte dieſes Köders ſteckt man geringe Mengen des Giftes.
Die ſo zurechtgemachten Brocken läßt man dann, um den
Geruch der menſchlichen Hände, durch den das Raubzeug leicht
abgeſchreckt wird, zu vertreiben, einige Zeit in Tierblut liegen,
worauf die Fleiſchſtückchen mit Stäbchen herausgefiſcht und in
einen gleichfalls mit Blut ausgeſchmierten Lederbeutel getan
werden. Sodann wartet der Jäger einen froſtklaren Tag ab,
an dem Schneefall nicht zu befürchten iſt, und begibt ſich mit
dem Köderbeutel frühmorgens in ſein Revier, wo ihm die
Standorte und die Wechſel der Pelztiere genau bekannt ſind.
Dort werden an den ausſichtsreichſten Plätzen oft gegen ſechzig
ſolcher Giftbrocken, wieder mit Hilfe von Holzſtäbchen, aus-
gelegt. ö n
Der Erfolg der Jagd hängt nun ganz von der Beftändig-
keit der Witterung ab. Bleibt der Himmel den Tag und die
nächſtfolgende Nacht über klar, ſo ſteht gute Beute in Aus-
ſicht. Schneit es dagegen, dann ift meiſtenteils die Mühe um-
ſonſt geweſen, ja der Jäger wird dann nicht einmal feine Röder-
ſtückchen wiederfinden, eine herbe Einbuße, da die Eifen-
ſtacheln mit verloren gehen und daher neue hergeſtellt wer-
den müſſen.
234 Mannigfaltiges. o
feine großen blauen Augen, und lange bleibt er vor der Ahr
ſtehen und horcht auf ihr gravitätiſches Ticktack, auf dieſen
Herzſchlag des Elternhauſes. H. W.
Giftjagd. — Unſerer Damenwelt, die ſich nur zu gern
mit koſtbarem Pelzwerk ſchmückt, dürfte kaum bekannt ſein,
auf welch beſondere Art und Weiſe ein großer Teil der natür-
lichen Lieferanten des vielbegehrten Rauchwerks erlegt wird,
damit die Felle ganz unbeſchädigt bleiben und ihren ſeidigen
Glanz in voller Stärke behalten.
„Die Anſicht, daß die meiſten Pelztiere in Fallen gefangen
werden, iſt überaus irrig,“ ſagte Doktor Akimoff, der zwei
Winter hindurch die ſibiriſchen Jagdreviere bereiſt hat. „Die
von den großen Pelzgeſchäften in die nördlichen Einöden ent-
ſandten Jäger pflegen nur in der erſten Zeit, ſozuſagen als
Neulinge ihres Handwerks, fich der Tellereiſen und der Raften-
fallen zu bedienen. Sehr bald eignen fie fih jene Fagdmethode
an, wie ich fie bei den Tunguſen, Jakuten und den an der Kälte-
grenze hauſenden Kirgiſenſtämmen gefunden habe. Dieſe hat
vor allen übrigen Fangarten nach übereinſtimmender Anſicht
aller Jäger, mit denen ich auf meinen Wanderzügen zuſammen-
traf, den großen Vorteil, daß dabei auch nicht ein einziges
Fell verdorben wird. Gerät ein Tier zum Beiſpiel in ein
Tellereiſen, ſo wird es regelmäßig bei ſeinen verzweifelten
Befreiungsverſuchen ſein Haarkleid an den Kanten des eiſernen
Fanggerätes mehr oder weniger ſcheuern, wodurch der Pelz
erheblich an Wert verliert. Nicht viel beſſer verhält es ſich
mit den Kaſtenfallen, die man für die kleinſten Pelzträger,
wie Hermelin, Zobel und Nerz benützt. Jedes darin feft-
gehaltene Tier ſucht ſich mit Krallen und Zähnen durch das
Holz einen Ausweg zu bahnen, raſt in ſeiner Todesangſt in
dem engen Behälter umher und verdirbt hierbei ſein koſtbares
Haarkleid ſehr häufig derart, daß der Pelz nur noch als Ware
zweiter Güte in den Handel gebracht werden kann.
Alle dieſe Nachteile vermeidet man bei der ſogenannten
Giftjagd, die unter den ſibiriſchen Fägervölkern ſchon feit un-
denklichen Zeiten üblich iſt. Es handelt ſich nicht etwa um eine
bloße Tötung der Tiere durch ein ſchnellwirkendes Gift, ſondern
u | Mannigfaltiges. 255
um eine fraglos erft nach längeren Verſuchen ausgeklügelte
Methode, die vierbeinigen Pelzträger zu lähmen und zwar
durch ein Mittel, das nicht wie die meiſten übrigen Gifte den
Balg glanzlos macht und ſpäteren Haarausfall herbeiführt.
Dieſes Mittel beſitzen die Eingeborenen Sibiriens in dem
ſüßlichen Safte der Wurzel des ſogenannten Buſcheppaſtrauches,
der hauptſächlich auf Moorboden wächſt, aber nicht allzu häufig
iſt. Der Saft der Buſcheppa trocknet an der Luft zu kleinen,
harzigen, völlig geſchmackloſen Klümpchen zufammen und
wirkt ähnlich wie das bekannte Kurare, das Pfeilgift der jüd-
amerikaniſchen Indianer, das heißt, er lähmt, ſobald er auch
nur in ganz geringen Mengen in die Blutbahn gerät, die
Bewegungsnerven, ohne jedoch ſofort zu töten. i
Hat man es nun auf die kleinſten Pelztiere abgeſehen, ſo
werden kleine Fleiſchſtückchen durch an beiden Seiten an-
geſpitzte, unſichtbare Eiſenſtacheln zuſammengeheftet. In die
Mitte dieſes Köders ſteckt man geringe Mengen des Giftes.
Die ſo zurechtgemachten Brocken läßt man dann, um den
Geruch der menſchlichen Hände, durch den das Raubzeug leicht
abgeſchreckt wird, zu vertreiben, einige Zeit in Tierblut liegen,
worauf die Fleiſchſtückchen mit Stäbchen herausgefiſcht und in
einen gleichfalls mit Blut ausgeſchmierten Lederbeutel getan
werden. Sodann wartet der Jäger einen froſtklaren Tag ab,
an dem Schneefall nicht zu befürchten iſt, und begibt ſich mit
dem Köderbeutel frühmorgens in ſein Revier, wo ihm die
Standorte und die Wechſel der Pelztiere genau bekannt ſind.
Dort werden an den ausſichtsreichſten Plätzen oft gegen ſechzig
ſolcher Giftbrocken, wieder mit Hilfe von Holzſtäbchen, aus-
gelegt. |
Der Erfolg der Jagd hängt nun ganz von der Beſtändig—
keit der Witterung ab. Bleibt der Himmel den Tag und die
nächſtfolgende Nacht über klar, fo ſteht gute Beute in Aus-
ſicht. Schneit es dagegen, dann ift meiſtenteils die Mühe um-
ſonſt geweſen, ja der Zäger wird dann nicht einmal feine Röder-
ſtückchen wiederfinden, eine herbe Einbuße, da die Eiſen—
ſtacheln mit verloren gehen und daher neue hergeſtellt wer—
den müſſen.
2356 Mannigfaltiges. o
In der Nähe des Städtchens Sion am Zanafluffe hatte ich
einmal Gelegenheit, einen Pelzjäger zu begleiten, als er nach
zwei ſchneefreien Tagen ſein Gebiet abſuchte. Wir fanden im
ganzen ſieben kleine Räuber auf, die regungslos dalagen und
die mein Begleiter dann durch einen ſcharfen Schlag auf den
Kopf erſt vollends tötete. Darunter waren zwei Hermeline,
ein ſeltener Glücksfall, wie mir der Jäger ſchmunzelnd er-
klärte.
Bei einigen Tieren habe ich das Maul genauer unterſucht,
um mir die Verletzungen anzuſehen, die die Eiſenſtacheln beim
Hineinbeißen in den Köder verurſacht hatten. Es waren zu-
meiſt kaum bemerkbare Wunden. Das Buſcheppagift muß alſo,
da die Tiere, wie aus den Fährten hervorging, kaum noch
dreißig Schritt gelaufen waren, faſt augenblicklich gewirkt
haben. Allerdings ſind die meiſten dieſer kleinen Räuber,
wie mir mein Begleiter zu ſagen wußte und ich ſpäter auch
ſelbſt geſehen habe, ſo gierig nach den blutigen Fleiſchſtücken,
daß fie trotz der Stacheln häufig weiterfreſſen und diefe ent-
weder wieder ausſpeien oder mit hinunterwürgen.
In ähnlicher Weiſe geht man auch dem ſibiriſchen Fuchs,
ja ſogar, wenn man Pulver und Blei vermeiden will, dem
Bären zu Leibe, nur daß man für dieſe Raubtiere die Stacheln
und die Fleiſchſtücke größer wählt. Zn einzelnen ſibiriſchen
Gouvernements iſt dieſe Fangart neuerdings jedoch verboten
und unter Strafe geſtellt worden, wahrſcheinlich deswegen,
weil die Regierung eine zu ſchnelle Ausrottung des wertvollen
Raubwildes durch die profeſſionellen Jäger der Pelzexport-
häuſer befürchtet, eine Beſorgnis, die nicht ganz unberechtigt
ift, da nachweislich bei der Fallenjagd nicht halb fo viel air
gemacht wird wie bei dem Giftfang.
Überall geſtattet iſt aber noch heute die grauſame Aus-
rottungsmethode, wie ſie von den Bewohnern Sibiriens gegen
die Wölfe, beſonders in harten Wintern, angewendet wird.
Auch hierbei finden mittelgroße Fleiſchſtücke, wie ſie ein Wolf
bequem hinunterſchlingen kann, Verwendung, in denen man
an beiden Enden angeſpitzte, eng zuſammengerollte Fiſchbein-
ſtäbe verbirgt. In der eiſigen Kälte gefrieren die Fleiſchſtücke
0 Mannigfaltiges. 237
ſehr bald und halten die elaſtiſchen Fiſchbeinſtäbchen in ihrer
Lage feſt. Würgt nun ein heißhungriger Wolf einen ſolchen
Köder hinunter, fo taut das Fleiſch im Magen auf, der Filh-
beinſtab ſchnellt auseinander und durchbohrt die Magenwand,
ſo daß das Tier unter furchtbaren Qualen eingeht. Tunguſen
haben mir verſichert, daß Wolfsrudel, die einige Tiere auf
dieſe Weiſe verloren haben, von paniſchem Schrecken ergriffen
werden und ſchleunigſt in ein anderes Revier überwechſeln.
Auch dieſes ebenſo primitive wie unmenſchliche Vernichtungs-
mittel dürfte ſchon alten Datums ſein. Es wird zum Beiſpiel
bereits in einem 1814 in Moskau erſchienenen Werke Tatu-
ſcheffs erwähnt.“
Auch dem Silberreiher, der ſeiner Schmuckfedern wegen,
aus denen die wertvollen Reiherbüſche zuſammengeſtellt
werden, eifrig gejagt wird, geht man in den Ländern um das
Kaſpiſche Meer, wo er am häufigſten zu finden iſt, mit Gift
zu Leibe, da bei der Anwendung der Schußwaffe es nur zu
häufig geſchieht, daß die koſtbaren Federn beim Sturze auf
die Erde geknickt werden. Man verwendet mit Strychnin ver-
giftete Fiſche, die in der Nähe der Reiherhorſte ausgelegt
werden. Merkt der Vogel die Wirkungen des Giftes, ſo läßt
er ſich auf die Erde nieder und geht dort ſehr bald ein, ohne daß
ſein Federſchmuck irgendwelchen Schaden erleidet. W. K.
Tage der Roſen. — Anbeſchwert von Sorgen zu ſein,
Gegenwart und Zukunft in ſonnigem Licht zu ſchauen, ſich des
berauſchenden Hochgefühls, das fie erfüllt, zu freuen, in ver-
ſchönender Liebe ſich zu umwerben, iſt das glückliche Vorrecht
der Jugend, und darum ſingt ſie jauchzend:
„Noch iſt die blühende, goldene Zeit,
Noch ſind die Tage der Roſen.“
So lange jugendliche Menſchenherzen ſchlagen, ſo lange
ſind ſie von den gleichen erhebenden Empfindungen beſeligt
worden, und immer hat ſich der Sinn auch der Stärkſten der
Macht der Liebe gebeugt.
In anmutiger Form gibt dieſem Gedanken ſchon ein Lied
aus dem ſechzehnten Jahrhundert Ausdruck, das in unſerer
heutigen Sprache lautet:
238 Mannigfaltiges. a
Es fang ein Vöglein im Roſenhag
Am blauenden, ſtrahlenden Sommertag.
Es fang von wonniger Liebe.
Da fab es kommen ein junges Paar,
Sie roſenrot mit goldigem Haar,
Er narbig durch Schwerterhiebe.
Das Vöglein dachte: „Das iſt ein Held,
Auf ſeine trotzige Kraft geſtellt,
Ihn mußt du zur Liebe bekehren!“
Da, eh' es aufs neue ſein Lied beginnt,
Vernimmt es vom Kriegsmann flehend lind:
„Ihr werdet's, Fräulein, mir nicht wehren,
Wenn in den Tagen der Roſenglut
Ich Liebe vertauſchte mit Schlachtenmut,
Aufs innigſte Euch muß beſchwören,
Mein Sehnen gnädig zu erhören.“
Das Vöglein ift davongeſchwirrt
Und dachte: „Ich hab' mich ſchwer geirrt,
Den braucht' ich die Liebe nicht mehr zu lehren,
Er tat ſich ſchon ſelbſt zu ihr bekehren.“
Ein ähnliches Liebesidyll in den Tagen der Roſen ſtellt
auch unfer diesjähriges Kunſtblatt dar, das auf der anliegen-
den Beilage an erſter Stelle wiedergegeben ift. Ein Reiters-
mann aus dem Dreißigjährigen Kriege bekennt dem adeligen
Fräulein ſeine Liebe. — Allen unſeren Leſern und Freunden
ſteht die in freudigen Farben gehaltene Oldruckreproduktion,
die einen prächtigen Zimmerſchmuck bildet, zu dem niedrigen
Preis von 1 Mark 50 Pfennig zur Verfügung. Th. S.
Eine ſchwierige Aufgabe. — Der Hamburger Rechtsanwalt
M., der ſchon häufig in ſeiner Praxis die Erfahrung gemacht hatte,
wie ſehr und oft ſich die Zeugen bei ihren Ausſagen in der
Angabe von Zeiten irren, wollte ſich in einem wichtigen Prozeß
davon überzeugen, wie es in dieſer Hinſicht mit der Glaub-
würdigkeit eines der Hauptzeugen beſtellt war. Es handelte ſich
um eine Schiffskataſtrophe, die durch den Zuſammenſtoß zweier
Fahrzeuge verurſacht worden war. Der betreffende Zeuge, der
dabei Verletzungen erlitten hatte, lag noch im Krankenhaus.
2 Mannigfaltiges. 239
Der Rechtsanwalt begab ſich zu dem Patienten, trat an ſein
Bett und fragte ihn: „Können Sie mir ſagen, wie lange Zeit
verfloſſen iſt von dem Augenblick an, da das Schiff von der
Landungsbrücke abfuhr bis zu dem Zuſammenſtoß?“
„Nun, es mögen zehn Minuten geweſen ſein,“ lautete die
Erwiderung.
„Was meinen Sie, wie lange zehn Minuten dauern?“
„Nun — zehn Minuten!“ lautete die ſehr richtige Antwort.
„Gewiß — ſchon recht, ich will aber einmal feſtſtellen, wie
lange Ihnen das ſcheint. Das iſt nämlich die Hauptſache. Ich
ſtelle mich jetzt an das Fußende Ihres Bettes, nehme meine
Uhr in die Hand, und wenn Sie glauben, daß zehn Minuten
verſtrichen ſind, rufen Sie: Halt.“
Der Patient war einverſtanden, legte fih wieder bequem
zurecht und ſah den Rechtsanwalt an, der ihm gegenüber
am Fußende des Bettes ſtand und die Uhr in der Hand hielt.
Nach Verlauf einiger Minuten ſagte der Anwalt: „Nun,
wie ſteht es — wie lange ſoll ich denn noch warten?“
Der Kranke lächelte nur verſchmitzt und warf einen verſtoh-
lenen Blick auf die große Wanduhr, die an der ſeinem Bette gegen-
überliegenden Wand hing und der der Anwalt den Rüden drehte.
Als der Zeiger endlich auf dem richtigen Punkt ſtand,
rief der Kranke: „Halt, jetzt ſind es zehn Minuten!“
Der Rechtsanwalt war ſtarr vor Staunen und meinte
bewundernd: „Hören Sie, lieber Freund, von allen Zeugen,
die mir in meiner langen Praxis gegenübergeſtanden haben,
können Sie die Zeit am genaueſten angeben.“ A. Sch.
Teure Liebesbriefe. — Ein Liebesbrief, der vierzehntauſend
Mark koſtet, wird wohl nicht alle Tage verſandt. Eine junge
Dame in Kalkutta empfing kürzlich einen Liebesbrief, der
nach dem Berichte einer engliſchen Zeitung mehr ein Beweis
von der Kunſtfertigkeit des Goldſchmiedes, als ihres Verehrers
war. Es war eine dünne Goldplatte, auf der ein kurzer, aber
zärtlicher Gruß in Diamanten innerhalb eines Herzens von
mattem Silber eingraviert war.
Ein bekannter Komponiſt ſandte von einer Konzertreiſe
nicht weniger als ein Dutzend Liebesbriefe an ſeine Braut.
240 Mannigfaltiges. 0
Zeder koſtete fehshundert Mark. Zärtliche Worte bildeten den
Text zu gefühlvollen Noten, und das Manuftript war reich
vergoldet und mit koſtbaren Malereien eingefaßt. Vergoldung
und Ausſtattung waren von einem japaniſchen Künſtler, der
auch das Käſtchen dekoriert hatte, in dem ſie geſandt wurden.
Ein anderer Verehrer feſſelte die Geliebte ſeines Herzens
dadurch, daß er ſchöne Spitzenkragen nach dem Muſter eines
Herzens arbeiten ließ, deren jeder einige ſpinnwebfeine Worte
der treueſten Liebe enthielt. Jede der Spitzenweberinnen erhielt
vierhundert Mark, und ein Umſchlag von Gold und Seide koſtete
weitere hundertundfünfzig Mark. Dann kam ein ſchönes Käſtchen,
und der ſpinnwebartige Liebesbrief wurde abgeſandt. Z. W.
Ein Kaiſer, der befiehlt, und ein zweiter, der gehorcht. —
Kaiſer Franz Joſef von Sſterreich und Kaiſer Wilhelm I.
hatten in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
zu gleicher Zeit die Kur in Bad Gaſtein gebraucht. Der öfter-
reichiſche Kaiſer war eher fertig und verabſchiedete ſich mit
ſeiner Gemahlin von dem deutſchen Monarchen.
Letzterer wollte es ſich nun nicht nehmen laſſen, das ſcheidende
Paar noch eine Strecke Weges zu begleiten. Franz Zoſef aber
fürchtete, der greiſe Freund möchte ſich dabei überanſtrengen
und bat ihn daher, davon abzuſehen. Alles Abraten aber wollte
nichts helfen.
Da richtete er ſich in ſeiner ganzen Höhe auf, nahm ſeine
ernſteſte Miene an und ſagte, mit einem bezeichnenden Blick
auf die Uniform eines öſterreichiſchen Oberſten, die Kaiſer
Wilhelm der Begegnung zu Ehren angelegt hatte, während
er ſelbſt Feldmarſchalluniform trug: „Hiermit befehle ich dem
Herrn Oberſt, hier zu bleiben!“
Da blieb Kaiſer Wilhelm ſtehen, ſchlug die Hacken zuſammen und
ſagte, militäriſch grüßend und leiſe lächelnd: „Zu Befehl, Exzellenz
— da bleibt mir freilich nichts anderes übrig, wie zu gehorchen.“
In fröhlichſter Stimmung ſchieden die Monarchen von-
einander. C. D.
Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von
Theodor Freund in Stuttgart,
in Oſterreich⸗Ungarn verantwortlich Dr. Ernſt Perles in Wien.
re, NLD S O R B , e ee
. 7 0 5
Der Wunſch Klavierſpielen zu
können iſt allgemein!
Weshalb
aber müſſen Tauſende und aber
Tauſende es ſich verſagen dieſe
ſchöne Kunſt auszuüben, wo doch
die Schwierigkeiten, die ſich der
Erlernung des Klavierſpiels bis⸗
her entgegenſtellten, durch die
ſeit Jahren beſtens bewährte und
man alle in der
tauſendfach anerkannte Taſten⸗
ſchrift vollſtändig behoben ſind.
Nicht einmal Notenkenntniſſe
find bei Erlernung des Klavier-
ſpiels nach der Taſtenſchrift er⸗
forderlich. Dieſes einzigartige
Syſtem bietet jedem die Möglich⸗
keit, das Klavierſpiel in kürzeſter
Zeit und ohne fremde Hilfe indi⸗
viduell, d. h. ſo zu erlernen, daß
aſtenſchrift bis⸗
her erſchienenen Muſikalien, und
das ſind annähernd 500, ohne
weiteres flott vom
Blatt ſpielen ka °
Detiege mm Gratis
ſpieler kann aljı
11)
Fall und Gilbert. Von letzterem ſind ;
u. a. joeben die beliebten Schlager
aus „Autoliebchen“, „Puppchen“
und „Kinokönigin“ herausgebracht.
Die in Taſtenſchrift erſchienenen
Muſikalien zeichnen ſich durch eine
volltönige und nicht etwa dünn⸗
klingende Muſik aus. Die Taſten⸗
ſchrift iſt ein ernſt zu nehmendes
Klavierſpielſyſtem, das heute be⸗
reits etwa 38 000 Anhänger zählt
und inzwiſchen auch Anerkennung
in pädagogiſchen Kreiſen gefunden
hat. Das komplette Werk, das ne⸗
ben allen zur Erlernung des Kla⸗
vier⸗ und Harmoniumſpiels not⸗
wendigen Einzelheiten auch noch
etwa 30 vollſtändige Muſikſtücke,
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