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Full text of "Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens 1914, Band 5"

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Über dieses Buch 


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ſchicken Sie uns die Zeichnung mit Ihrer 
genauen Adieſſe ein! Wir werden Ihnen 4 
dann koſtenlos unſere Broſchüre „Ansfihts- 
reiche Zukunft“, die für Sie von größtem 
Intereſſe ſein dürfte, zuſenden und Ihnen 
mitteilen, ob Sie zum Zeichnen Talent haben oder 
nicht. Aber auch, wenn Sie glauben. talentlos zu 
fein, machen Sie, Herr oder Dame, jung oder al, 
den Verſuch, unſere Vorlage nachzuzeichnen, denn 
in unſrer Broſchüre wollen wir Ihnen Wege zu Fünit: 
leriſchen und praktiſchen Erfolgen weiſen, über die 
Sie erſtaunt ſein werden. Wir wiſſen aus Er⸗ 
fahrung, daß oft gerade da ein Talent ſchlummert, 
wo es niemand ahnt. Erfolg im Zeichnen aber 
heißt, ſeine Lebenslage verbeſſern! 
Zögern Sie deshalb nicht, wo es fih viel- 
leicht um eine ausſichtsreiche Zukunft für Sie 
handelt und ſenden Sie uns noch heute Ihre Zeichnung 
„ein! Adreſſieren Sie Ihren Brief genau wie folgt: 


Mal -u. Zeichen - Anterricht e.. 5. 3, Abt. 149, Berlin W. 9. 


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Wirkungskraft. Wegen der Injertionspreife, insbejondere der Preife für vorzugsſeiten, 
wende man fich an die Anzeigengeſchäftsſtelle der „Bibliothek der Unterhaltung und des 


wi.iſſens“ in Berlin SW 61, Blücherſtraße 31. 1 π⏑ tl 


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gebrauchen zu ihrem eigenen Wohle 
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Heiserkeit, Katarrh, 
Verschleimung, 


Rachen-Katarrh, 
Krampf- u. Keuchhusten 


Raisers Brust-Caramellen mit den „3 Tannen. 


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Kein ähnliches Präparat vermag solche 
Erfolge aufzuweisen. 


not. begl. Zeugnisse von Ärzten und Pri- 
vaten liefern den besten Beweis für die 
sichere Wirkung u. allgemeine Beliebtheit. 


Paket 25 Pfg., Dose 50 Pfg., in Osterreich Paket EX 7 
20 u. 40 Heller, Dose 60 Heller zu haben inden f wE 
Apotheken, Drogerien und besseren Kolonial- 
warenhandlungen. Wo die millionenfach be- 
währten Kaiser's Brust-Caramellen nicht kauf- 
lich sind, wende man sich zur Angabe der- 
nächsten Verkaufsstelle direkt an die Fabriken 


in Deutschland Fr. Kaiser, Waiblingen-Stuktgart, 
in Österreich-Ungarn Fr. Kaiser, Bregenz-Vorarlberg, 
in der Schweiz Fr. Kaiser, St. Margrethen (st. Gatien). 5 


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den Verſuch, unſere Vorlage nachzuzeichnen, denn 
in unfrer Broſchüre wollen wir Ihnen Wege zu künſt⸗ 
leriſchen und praktiſchen Erfolgen weiſen, über die 
Sie erſtaunt ſein werden. Wir wiſſen aus Er⸗ 
fahrung, daß oft gerade da ein Talent ſchlummert, 
wo es niemand ahnt. Erfolg im Zeichnen aber 
heißt, ſeine Lebenslage verbeſſern! 

Zögern Sie deshalb nicht, wo es ſich viel⸗ 
leicht um eine ausſichtsreiche Zukunft für Sie 
handelt und fenden Sie uns noch heute Ihre Zeichnung 

' „ein! Adreſſieren Sie Ihren Brief genau wie folgt: 


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Wirkungskraft. Wegen der Inſertionspreiſe, insbeſondere der preiſe für vorzugsſeiten, 


wende man ſich an die Anzeigengeſchäftsſtelle der „Bibliothek der Unterhaltung und des 
wiſſens“ in Berlin SW 61, Blücherjtraße 31. CC 


Millionen Menschen 


gebrauchen zu ihrem eigenen Wohle 


Heiserkeit, Katarrh, 
Verschleimung, 


Rachen-Katarrh, 
Krampf- u. Keuchhusten 


Raisers Brsi-Laramellen mit aen „3 Tannen. 


| not..begl. Zeugnisse von Ärzten und Pri- 
] vaten liefern den besten Beweis für die 
sichere Wirkung u. allgemeine Beliebtheit. 


Kein ähnliches Präparat vermag solche 
Erfolge aufzuweisen. 


Paket 25 Pfg., Dose 50 Pfg., in Osterreich Paket EX Ga — 
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nächsten Verkaufsstelle direkt an die Fabriken | 


in Deutschland Fr. Kaiser, Waiblingen-Stuktgart, 
in Österreich-Ungarn Fr. Kaiser, Bregenz-Vorarlberg, 
in der Schweiz Fr. Kaiser, St. Margrethen (st. Gatien). 


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Schünheit 


verleiht ein zartes reines Gesicht, rosiges jugendfrisches Aussehen 
und ein blendend schöner Teint. — Alles dies erzeugt die echte 


Steckenpferd Seife 


(die beste Lilienmilchseife), von Bergmann & Co., Radebeul, 
à Stück 50 Pfg. Ferner macht der Cream „Dada“ (Lilienmilch- 
Cream) rote und spröde Haut weiß und sammetweich. Tube 50 Pfg. 


Entwicklung und Befestigung der Büste 


furt unseren unübertroffenen Büsfenenttidler!? 

Schon immer war es der höchste Wunsch einer jeden Dame, eine schöne, volle 
Büste zu besitzen. Nun ist gerade in dieser Hinsicht die größte Mehrzahl unserer 
Damen stiefmütterlich bedacht worden, so daß dieses Manko weidlich von ge- 
wissen Leuten ausgenutzt wird, um Salben, Pil- 
len und Tränklein zu horrenden Preisen an den 
Mann zu bringen; leider helfen diese Sachen nur 
immer dem Verkäufer, niemals aber der Käuferin. 

Wir behaupten hiermit, daß jeder Creme voll- 
ständig wertlos ist. Warum? Weilnur die Mas- 
sage, welche selbstverständlich bei jeder Ein- 
reibung ausgeübt werden muß, von Wert ist. 
Diese Massage können Sie auch mit Vaseline 
usw. ausüben, aber bedeutend billiger. 

Unser Büstenentwickler „Thilossia“, gesetz- 
lich geschützt, ist nun ein Produkt jahrelanger 
Forschung der bedeutendsten Professoren, so 
daß selbst jeder Laie sofort davon überzeugt 
wird,daß mit einem Thilossia-Apparat ein wirk- 
/ licher Nutzen, also Vergrößerung und Befestigung 

der Büste erreicht werden muß. Unser Thilossia- 
Vorher Nachher Apparat saugt täglich mehrmals frisches Blut 
in die Brüste, dieselben werden voll, straff und 
üppig, magere Arme und Schulterknochen verschwinden, kurz, ein nie geahnter 
Erfolg tritt ein. Wir haben bisher viele Tausende verkauft und sind die jüngsten 
Mädchen wie ältere Damen gleich entzückt und befriedigt, wie die zahllosen An- 
erkennungen bezeugen. Bei Nichterfolg Geld zurück laut Garantieschein. Preis des 
komple tten A parates inklusive Massagecreme in Verpackung nur 7,50 M., Porto 
extra. Unser Verfahren ist das Billigste, weil der Apparat nur einmal angeschafft 
wird und immer gebrauchsfertig ist, von jeder Dame ohne Hilfe anzuw enden. Be- 
vor Sie Ihr Geld für nutzlose Quac ksalbereien ausgehen, machen Sie mit 1 m 
Apparat einen Versuch. Bei Bestellung Körperumfang unter den Armen rings- 
herum um den Brustkorb angeben. Dr. G. Weisbrod & C omp., Waidmannslust. 


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° 34. Band. Die intereſſanteſten Erfindungen 
Ing Neue Univerſum und Entdeckungen auf allen Gebieten, ſowie 
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beſchäftigung: „Häus⸗ 
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für die reifere Jugend 
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die bemerkenswerteſten Er— 
findungen u. Entdeckungen 
auf allen Gebieten behan— 
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ſchreibungen, Jagd- und x“ 
Abenteuergeſchichten in i 
großer Auswahl enthält. Die Unterſchreibmaſchine. 
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dem Titel „Häusliche Werkſtatt“ zur Selbſtbeſchäftigung anleitende Anhang. 
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Der Güte Kamera Ein 828 Seiten ſtarker Quartband mit vielen- 
+ Illuſtrationen und 17 Kunſtbeilagen. Elegant 

gebunden 10 Mark. 


„Der Gute Kamerad“ kann auch als Zeitſchrift in 52 wöchentlichen Num- 
mern bezogen werden. 

Das Buch verdient in der Tat ſeinen Namen. In ihm haben alle Gebiete 
der Naturgeſchichte, der Technik, des Sports und der Weltgeſchichte Berück— 
ſichtigung geſunden. Wir können dem Werke nur unſere beſten Empfehlungen 
mit auf den Weg geben. (National-Zeitung, Berlin.) 


eni: 7 : Eine Erzählung für die reifere Jugend. 

IN Der | lunge Von Graf Vernſtorff, Korvettenkapi⸗ 
tän a. D. Mit einem Titelbild und 25 Tert- 

illuſtrationen von A. Wald. Elegant gebunden 4 Mark 50 Pf. 


Geſunde, lebensfriſche Knaben verlangen nach einer Lektüre, die ihrem 
natürlichen Tatendrang entgegenkommt, ſie Fahrten und Abenteuer miterleben 
läßt. Graf Bernſtorff verſteht es, dieſen Wünſchen gerecht zu werden; er ſteht 
dabei, aus Selbſterfahrenem ſchöpfend, ſtets auf dem Boden der Wirklichkeit 
und überſchreitet nirgends die Grenzen, deren Einhaltung ein Merkmal guter 
Jugenderzählungen iſt. 


Yeutiher Knaben⸗Kalen. | Deutiher Müdchen⸗Ka⸗ 
der „Der Gute Kame⸗ lender „Das Kränz⸗ 


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reißkalender für das reißkalender für das 
Jahr 1914. Mit 27 ein- Jahr 1914. Mit 27 


und mehrfarbigen Anſichtspoſtkar— cin- und mehrfarbigen Anſichts— 
ten. Preis 1 Mark 25 Pf. poſtkarten. Preis 1 Mark 25 Pf. 


o Zu haben in allen Buchhandlungen. = 


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Der letzte Roman der Heimburg erſchien ſoeben. 


Letzter Roman von W. Heimburg. Geheftet 3 Mark, 
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W. Heimburgs Romane und Novellen. Feste Sammlung. ro 


Bände, elegant gebunden. In feiner Leinwandtruhe 40 Mart. Jeder Band 

iſt auch einzeln zum Preiſe von 4 Mark käuflich. 

Inhalt: Bd. 1. Aus dem Leben meiner alten Freundin. Bd. 2. Qum: 
penmüllerd Lieschen. Bd. 3. Kloſter Wendhuſen. — Urſula. Bd. 4. Ein 
armes Mädchen. — Das Fräulein Pate. Bd. 5. Trudchens Heirat. — Im 
Banne der Muſen. Bd. 6. Die Andere. — Unverſtanden. Bd. 7. Herzens⸗ 
kriſen. Bd. 8. Lore von Tollen. Bd. 9. Eine unbedeutende Frau. Bd. 10. 
Unter der Linde. Zwölf Novellen. 


Zweite Sammlung. 10 Bände, elegant gebunden. In feiner Leinwand⸗ 

truhe 40 Mark. Jeder Band iſt auch einzeln zum Preiſe von 4 Mark käuflich. 

Inhalt: Bd. 1. Mamſell unnütz. Bd. 2. Um fremde Schuld. Bd. 3. Ers 
zählungen. Bd. 4. Haus Weegen. Bd. 5. Trotzige Herzen. Bd. 6. Antons 
Erben. Bd. 7. Im Waſſerwinkel. Bd. 8. Sette Oldenroths Liebe. Bd. 9. 
Doktor Dannz und feine Frau. Bd. 10. Alte Liebe. — Großmutters Ka: 
thrin. — Rori Lorenſen. — Originale. — Maiblumen. — Hilgendorf. — 
In Erinnerung. 


Das Drei eſtirn Volksroman aus der Zeit der Befreiungskriege. Von 
N + Hanns v. Zobeltitz. Geheftet 3 Mark 50 Pf., elegant 
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Das Krän chen Illuſtriertes Mädchen⸗Jahrbuch. Band 25. Ein 
{ 3 + 823 Seiten ſtarker Quartband mit vielen Illuſtrationen 
und 17 Kunſtbeilagen. Elegant gebunden 10 Mark. 


„Das Kränzchen“ kann auch als Zeitſchrift in 52 wöchentlichen Nummern 
bezogen werden. Preis vierteljährlich 2 Mark. 
Es gibt kaum für die Mädchen wiſſenswerte und unterhaltende Dinge, die 
in dem reichhaltigen Mädchen-Jahrbuch nicht enthalten wären. i 
Münchner Neueſte Nachrichten.) 


Der Ju end arten Eine Feſtgabe für Mädchen im Alter von 
9 0 + 9 bis 14 Jahren. Erzählungen ernſten und Hei- 
teren Inhalts, Gedichte, Unterweiſungen aus Natur, Haus und Geſchichte, 
Beſchäftigungen, Sport und Spiele. 38. Wand. Mit 126 ein: und mehr⸗ 
farbigen Abbildungen. Elegant gebunden 5 Mark. 


Vill Trauth im Eine Erzählung für junge Mädchen. Von Berta 
l E + Clément. Mit einem Titelbild und 24 Textilluſtra⸗ 
tionen von R. Gutſchmidt. Elegant gebunden 4 Mark 50 Pf. 


Das arme Komteſſel Eine Erzählung für junge Mädchen. Von Gräfin 

+ Helene Gyldenſteen. Mit einem Titelbild und 

24 Textilluſtrationen von Jo ſ. J. Lonkota. Elegant gebunden 4 Mark 50 Pf. 

Dieſe Erzählungen haben bei ihrem Erſcheinen im „Kränzchen“ eine ſo gute 

Aufnahme geſunden, daß deren Bandausgaben den jungen Leſerinnen ſehr 
willkommen ſein werden. 


Schelmuffsky „Memoiren“ eines Backfiſches. Eine Erzählung für junge 
Mädchen. Von Tore Sarwey. Mit 4 Einſchaltbildern von 
E. Roſenſtand. Elegant gebunden 3 Mark. 


Die Verfaſſerin hat mit ihrem vorausgegangenen Erſtlingsbuch „Eh' Mutter 
wiederkam!“ ſich gut eingeführt und viel Lob geerntet. Mit „Schelmuſſsky“ 
wendet ſie ſich je: an eine reiſere Altersſtuſe, und da fie nicht fabuliert, ſondern 
wie immer in frifcher Urſprünglichkeit aus dem Leben erzählt, wird auch dieſes 
neue Buch bald eine ſtarke Verbreitung finden. 


o Zu haben in allen Buchhandlungen. o 


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Bibliothek 
der Unterhaltung 
und des Wiſſens 


** 


ENIR REO manga 


Zu der Erzählung „Frau Wallis Freiersfahrt“ 
von B. Rittweger. (S. 15) 


Originalzeichnung von 3. Mukarovsky. 


ibliothek 
der Unterhaltung 
und des Wiſſens 


Mit 
Original beiträgen 
der hervorragenoͤſten 
Schriſtſteller und Gelehrten 
ſowie zahlreichen 
Aluſtrationen 
> 


Jahrgang 1914 + Fünfter Band 


Union Deutſche verlagsgeſellſchaft 
Stuttgart + Berlin + Leipzig 


Copyright 1913 by Union deutſche verlagsgeſellſchaſt in Stuttgart 
druck der Union deutſche verlagsgeſellſchaſt in Stuttgart 


— —— 


EEE 


Inhalts⸗ Verzeichnis. 
Y 


Frau Wallis Freiersfahrt. | 
Eine wahre Geſchichte. Von B. Rittweger. Mit Bil- 
dern von J. Mukarobvs as 5 
Das Noſazimmer. 
Venezianiſcher Roman von E. v. Adlersfeld⸗Balleſtrem 


(Fortſetzu nnd 19 


Seite 


-= Tango. 


Eine Tanzftudie. Von R. Hendrichs. Mit 5 Bildern 89 
Das Weib an der Krücke. 


Novelle von Carola v. Eynatten . . 99 


Der Berliner Tiergarten. 
Von Ernſt Seiffert. Mit 8 Bildern . » x... 155 
henkersrecht. 
Eine Erzählung aus der en alten Zeit. Von 
Wilhelm Hille e 


Wohlfeile Schmuckfebern. 
Von Gerd Harmstorf. Mit 18 Bildern. . 187 
Mannigfaltiges: 


Das rätfelhafte Armband . . d 202 
Fingierte Stummbeit . s e s ee e e e e 208 


Laufende Blätter » er 11 
Mit 2 Bildern. 


Wie vor zweihundertfünfzig Jahren ein Verwalter 
angeſtellt wurde. 213 


Snbalts-Derzeichnis. ¹ 


Die geheimnisvollen Brie·frt “ec 
Die KNataſtrophe von Para-Dfþhala . » . . 216 


Aus einer Mönchrepub lik . 221 
Mit Bild. 


Das Lampenfiebrrrteeeeeee 223 
Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel 224 
Eine Königin als erſte Perückenmacherin . 227 
Sechs Stunden von Potsdam g . . 228 


Weihnachtsnarziſſe n. 228 
Mit Bild. 


Cartouche in Oeutſchland d . 230 
Eines der finnigften Geſchentte« 832 
Giftia dd 234 
Tage der RRoe n 8257 
Eine ſchwierige Aufgadte 238 
Teure Liebesbriec fc 239 
Ein Kaiſer, der befiehlt, und ein zweiter, der  geporgt 240 


S 
* 


Frau Wallis Freiersfahrt. 
Eine wahre Geſchichte. Don 8. Rittweger. 


mit Bildern von 7 

J. Mukarovsky. (Nahörud verboten.) 

Fs Walli Kampel ſaß mit nachdenklicher Miene 
bei ihrem Nachmittagskaffee. Sie tauchte einen 

Butterkringel in das wohlgeſüßte Getränk und biß mit 

ihren blanken Zähnen ein Stück nach dem anderen da— 

von ab. Zwiſchendurch ſeufzte ſie tief auf. 

Sonderbar! Sie hatte es doch nach Anſicht ihrer 
ſämtlichen Bekannten ſehr gut. Der ſelige Kampel 
hatte ihr ein ſchönes Vermögen hinterlaſſen. Sie 
konnte leben, wie fie wollte, konnte fih hübſch an- 
ziehen, ins Theater gehen, Reiſen machen — jawohl, 
alles das konnte ſie. Aber es genügte ihr nicht, ſie 
ſehnte ſich nach mehr. f 

Nach einem zweiten Mann? 

Nun ja, es wäre ihr ſchon recht, wenn ſich ein 
paſſender fände. Das Glück ihrer erſten Ehe war nur 
ein ſehr mageres Glück geweſen. Auf Zureden ihres 
Vormunds hatte das junge, hübſche Ding Herrn Anton 
Kampel geheiratet und hatte mit dem ſchon ältlichen 
Mann eine ganz friedliche Ehe geführt, zwölf Jahre lang, 
bis zu Herrn Kampels vor vier Jahren erfolgtem Tod. 
Nun war ſie ſechsunddreißig und eigentlich, wenn ſie's 
recht überlegte, noch viel zu jung, um nur zu ihrem 
eigenen Behagen auf der Welt zu ſein. Sie war ge— 


6 E Frau Wallis Freiersfahrt. A 


ſund und kräftig und hätte gern ihre Kräfte nutzbringend 
verwendet. 

Natürlich fehlte es ihr nicht an Gelegenheit, ſich 
wieder zu verheiraten, doch immer war etwas dabei, 
was fie ſtörte. Auf ſchwärmeriſche Leidenſchaft konnte 
ſie natürlich nicht mehr rechnen, trotzdem ſie noch eine 
recht anſehnliche Perſon war, friſch, geſund, nur etwas 
zu rundlich. Bei dem gar zu bequemen Leben, das ſie 
führte, kein Wunder! 

Alſo einen Mann hätte ſie ſchon längſt wieder haben 
können. Aber die Art, wie die verſchiedenen Freier 
ſich ihr näherten oder ihr von befreundeter Seite 
näher gebracht wurden, war ihr doch gar zu plump. 
Nein, fie wollte lieber das Steuer ihres Lebensſchiff— 
leins ſelbſt in die Hand nehmen, anitatt fih von anderen 
führen zu laſſen. 

Seit längerer Zeit ſchon durchſchaute Sii Walli 
Kampel — ſchon um dieſen gräßlichen Namen loszu- 
werden, wünſchte fie ſich zu verändern — täglich die 
„Neueſten Nachrichten“, ihr Leibblatt, nach Heirats- 
geſuchen. Aber ſie hatte bis jetzt keines gefunden, das 
ſie gereizt hätte. 

Frau Walli überdachte das alles bei ihrem Nach- 
mittagskaffee, und gerade, als ſie mit dem zweiten 
Butterkringel zu Ende war und wieder einen tiefen 
Seufzer ausſtieß, ertönte die Flurglocke. Halb vier, da 
ſteckte die Zeitungsfrau die „Neueſten“ in den Kaſten! 
Frau Walli erhob ſich raſch, denn ſie war jetzt täglich 
geſpannt auf ihr Blatt, durch das ſie ſchließlich doch ihr 
Ziel zu erreichen hoffte. Sie holte ſich dann auch ſofort 
die Zeitung aus dem Kaſten und machte ſich an die 
Lektüre. Ihre Augen gingen haſtig über die Spalten 
mit den Heiratsgeſuchen. „Witwer mit drei Kindern, 
nahrhaftes Handwerk“ — nichts! „Reiſender, der ſich 


o Von B. Rittweger. ER; 


ſelbſtändig machen möchte in der Schuhwarenbranche“ 
— nein, Ledergeruch war ihr von jeher verhaßt. „Aka- 


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demiker ſucht paſſende Gefährtin, nicht über dreißig 
Sabre“ — „Techniker wünſcht Briefwechſel mit ſchlanker 
Blondine behufs ſpäterer Heirat. Vermögen er- 
wünſcht.“ Walli aber war brünett und — ſchlank, 


8 Frau Wallis Freiersfahrt. o 


nein, auf dieſes Beiwort konnte fie auch keinen Anſpruch 
machen! Aber da — das klang annehmbar: „Gaſt- 
hofbeſitzer in aufblühender Thüringer Sommerfriſche, 
Witwer, ſtattlicher Manni, achtünddreißig ig Jahre alt, 
mit zwei Kindern, Sohn und Tochter im Alter von 
ſechs und acht Jahren, wünſcht die Bekanntfchaft einer 
geſunden, tatkräftigen Witwe ohne · Anhang oder eines 

— nicht unter dreißig Jahren zu machen. Ber- 
mögen erforderlich, da Suchender feinen Gaſthof ver- 
größern möchte. Offerten unter „„ an 
die Expedition dieſes Blattes erbeten,“ ; k 

Frau Walli las dieſes Geſuch wieder und wieder, und 
dabei tauchten vor ihren geiſtigen Augen dunkle Tannen 
und grünleuchtende Waldwieſen auf, fie hörte das Mur- 
meln eines Forellenbachs und das melodiſch abgeſtimmte 
Geläut der Kuhglocken. Ach, ein einziges Mal war ſie mit 
dem ſeligen Kampel in Thüringen geweſen, und: mit ſtiller 
Sehnſucht hatte ſie oft an all dieſe Herrlichkeiten zurüd- 
gedacht. Entſchieden — dieſem Geſuch wollte ſie näher⸗ 
treten! Es gefiel ihr i in ſeiner ungeſchminkten Offenheit. 

And ſie war ja nicht ganz unerfahren in der Branche. 
Ihr Vormund hatte ein Reſtaurant gehabt, und fid 
hatte von ihrer Konfirmation an bis zu ihrer Deri 
heiratung in ſeinem Hauſe gelebt und tüchtig mit- 
helfen müſſen. Oh, dazu würde fie fih gut eignen, 
einem Hotel in einer Sommerfriſche vorzuſtehen! Daş 
lockte ſie mächtig. Und die Kinder, nicht zu groß, nicht 
zu klein, ein Bub und ein Mädel — wie das paßte! Frau 
Walli war ſehr für Kinder, aber mit ganz kleinen wär's 
ihr doch wohl zu beſchwerlich geweſen. 

Frau Walli war nicht für langes Zögern, wenn ſie 
einmal etwas beſchloſſen hatte. So ging denn bereits 
eine Stunde ſpäter der Brief unter „Sommerfriſche“ 
an die Expedition der „Neueſten“ ab. 


2 Von B. Rittweger. 9 


Die Antwort ließ nicht lange auf ſich warten. Nach 
drei Tagen ſchon erhielt ſie einen Brief aus Thüringen, 
den ſie mit hochklopfendem Herzen öffnete. Eine Photo- 
graphie fiel heraus — ach, ein hübſcher Mann mit 
kühner Nafe, hellen Augen und einem flotten Schnurr- 
bart. Wäre Frau Walli nicht gar zu neugierig auf den 
Inhalt des Briefes geweſen, ſie hätte ſich gar nicht 
von dem Bild wieder losreißen können. 

Zuerſt ſuchte ihr Blick die Unterſchrift: Walter 
Vogelſang — Himmel, dieſer entzückende Name! Alles, 
was an Poeſie in Frau Walli verborgen ſchlummerte, 
erwachte, und ihr Antlitz überzog ſich mit hellem Freuden- 
rot. Walter Vogelſang — Anton Kampel, welch ein 
Anterſchied! 

Nun aber erſt leſen, was dieſer Walter Vogelſang 
ſchrieb. 

„Geehrte Frau! Habe mit Vergnügen aus Ihrem 
werten Schreiben erſehen, daß Sie nicht abgeneigt 
find, meine Frau zu werden. Was Sie über Ihre Ber- 
hältniſſe geſchrieben haben, freut mich ſehr, und werde 
ich in acht Tagen bei Ihnen vorſprechen, wenn es Ihnen 
recht iſt. Bitte ſehr um baldige Antwort. Wenn wir 
miteinander fertig werden, dann könnte bald Hochzeit 
ſein, damit der Bau noch vor Winter unter Dach kommt. 
Es grüßt einſtweilen 

Ihr geneigter 
Walter Vogelſang, Gaſtwirt.“ 

Der Brief war nicht beſonders gewandt geſchrieben, 
aber das ſtörte Frau Walli nicht. Sie ſtand ſelbſt mit 
der Rechtſchreibung auf etwas geſpanntem Fuß, trotz- 
dem fie eine Mittelſchule beſucht und fogar etwas von 
Walther ron der Vogelweide gehört hatte. Und „Walter 
Vogelſang“ klang beinahe ebenſo ſchön. 

Nach einem halben Stündchen hatten ſich die er— 


10 Frau Wallis Freiersfahrt. oo 


regten Wogen in Frau Wallis Gefühlen fo weit ge- 
glättet, daß fie daran denken konnte, ihrem Minneſänger 
zu antworten. Sie ſchrieb und zerriß den erſten Bogen, 
den zweiten, den dritten — nein, es war doch ſchwerer, 
als ſie gedacht, die rechten Worte zu finden. 

Plötzlich warf ſie die Feder weg und lachte fröhlich 
auf. Sie wollte gar nicht ſchreiben, ſie wollte auch 
nicht warten, bis Walter Vogelſang ſie aufſuchte — 
nein, in den nächſten Tagen ſchon, am beiten gleich über- 
morgen wollte ſie nach Thüringen fahren, um ihren 
künftigen Wohnort kennen zu lernen. Sie hatte von 
dieſem Ort, der am Kopf des Briefbogens ſtand, noch 
niemals etwas gehört, aber die Spielwarenſtadt, in 
deren Nähe er, wie gleichfalls angegeben war, lag, war 
ihr dem Namen nach wohl bekannt. 

Ohne große Mühe fand fie im Kursbuch ihre Reife- 
route. In ſechs Stunden Bahnfahrt war die Stadt 
zu erreichen und, einmal dort, würde ſie ſchon erfahren, 
wie ſie an ihr Ziel gelangte. Oh, Frau Walli war nicht 
unbewandert in Reiſe angelegenheiten. Anton Kampel 
war febr bequem geweſen und hatte ihr, wenn fie zu- 
ſammen ins Bad reiſten, ſtets alles überlaſſen. 

Eifrig traf fie ihre Vorbereitungen. Nicht nur Un- 
geduld war's, die ſie zu dieſer Reiſe trieb, ſie hielt's 
auch für richtig, ſich von der Stätte ihres künftigen 
Glücks durch den Augenſchein zu überzeugen. Es 
handelte ſich doch nicht nur um den Mann, es war noch 
gar vieles ſonſt zu bedenken, das Anweſen, die Kinder, 
der Ort vor allen Dingen. Sie durfte ſich doch nicht 
unbeſonnen wie ein junges Mädchen benehmen. Fetzt, bei 
dieſem herrlichen Frühſommerwetter war ja eine Reiſe 
in die Sommerfriſche durchaus nichts Ungewöhnliches. 

So fuhr denn Frau Walli an dem beſtimmten Tag 
frühmorgens ab und langte mittags wohlbehalten in 


ô Von B. Rittweger. u 11 


der Spielwarenſtadt an. Sie aß am Bahnhof etwas 
Warmes und erkundigte ſich dann beim Portier, wie 
ſie das Ziel ihrer Sehnſucht am beſten erreichen könnte. 


Ob vielleicht eine Poſt ginge? — Nein, das kleine Neſt 
lag nicht an der Poſtſtraße, ſie mußte ſich einen Wagen 
nehmen, anders ging's nicht. Es waren immerhin 
drei gute Wegſtunden. 

Der Portier erbot ſich, ihr einen Wagen zu beſorgen. 
Ob die Sommerfriſche wohl in dieſer Saiſon gut be— 


12 Frau Wallis Freiersfahrt. l o 


fucht fei, fragte Frau Walli noch. „Ja, darüber kann 
ich Ihnen nichts verraten, ich hab' überhaupt noch gar 
nichts davon gehört, daß Sommerfriſchler dahin gehen,“ 
lautete die Antwort. 

Nun, was kümmerte der Mann fig ſchließlich um 
Sommerfriſchen!n - 

Eine halbe Stunde fpäter jab Frau Walli im Wagen 
und fuhr zwiſchen tannenbeſtandenen Bergen, unter 
ſonnenhellem Himmel, an grünen,, von einem filber- 
hellen Bach durchſchnittenen Wieſen voxüber ihrem 
Ziel zu. Es war ein ganz wonniger Sommertag, und es 
wurde ihr förmlich andächtig zu Sinn. 

Dazwiſchen überkam ſie a doch ein Linas bäng- 
liches Gefühl. Vielleicht war's doch nicht ganz richtig 
geweſen, ſo ins Blaue hinein Der Breiersfapt anzu- 
treten! 

In ſolchen Augenblicken des Zweifels zog ſie Walter 
Vogelſangs Vildchen aus der Taſche, und die hübſchen 
Züge, die hellen, treuherzigen Augen, die ſie daraus 
anſchauten, gaben ihr neuen Mut. Und beim Ge— 
danken an die N Kinder wurde ihr das Herz 
warm. 

Man kam jetzt durch einen ſtattlichen Ort. Der 

Kutſcher fuhr langſamer, drehte ſich um und fragte: 
„Will die Madame vielleicht 'ne Taſſé Kaffee trinken? 
Das Wirtshaus iſt gut, und meine Gäul' waren ſchon 
heut früh auf der Tour, denen tut's auch gut, denn 's ift 
noch 'ne gehörige Steige bis 'nauf.“ 
Der Vorſchlag kam Frau Walli ſehr gelegen. Sie 
konnte bei der Taſſe Kaffee vielleicht unter der Hand 
ſchon etwas Näheres über den Schauplatz ihrer Zukunft 
erfahren. In Thüringen ſind die Menſchen leicht zu— 
gänglich und tragen das Herz auf der Zunge. 

Und ſiehe da — ſie traf's gut. Es waren keine Gäſte 


o Von B. Rittweger. 13 


weiter da; der Wirt, ein ſchon ziemlich bejahrter Mann, 
ſaß mit einer kurzen Pfeife bei der Zeitung. Während 
ſeine Frau hin und her ging und den Kaffee beſorgte, 
knüpfte Walli eine Unterhaltung mit dem Mann an. 
Sie fragte, wie weit ſie wohl noch zu fahren hätte, und 
er meinte, anderthalb Stunden. ſei 8 ſchon noch, da es 
gar fo arg ſteige 

„And wo kehrt man am fin ene Ich meine, in 
welchem Hotel? 6 

„Hotel?“ Der Wirt lachte. i „Ja, ſehn Sie, ein 
Hotel werden Sie da oben vergeblich ſuch en.“? 
: „Aber die Sommerfriſchler paien doch irgendwo 
wohnen?“? 

„Sommerfriſchlers Nu ja, ſo ein Berliner N 
hat die Jagd da oben und hat ſich 'n Jagdhaus am 
Wald bauen laſſen, und der kommt jeden Sommer mi 
ſeiner Familie und bringt manchmal noch ein paar 
gute. Freunde mit. Die nehmen halt fürlieb im Wirte- 
haus.“ „ 

„Beim Bogelfangt“ . = | 

„Nee, ber hat keine Loſchiergelegenheit. Aber der 
Ziegenkäs, der 8 Wirt, por ſich für Gäſte ein- 
gerichtet“ 

„Aber ich. hörte ne der "Yogelfang wolle fein 

Anweſen vergrößern. Da muß doch der Gaſthof ſehr 
deſlicht fein?“ 
Der Wirt lachte 15 ließ ‘feine Zeitung ſinken: „Nu, 
der Walter ſteckt alle Sonntag fein Bierfaß an, und 
wenn's nicht- alle wird, zieht er den Reſt auf Flafchen. 
Die holen die Leute die Woche über. Das iſt der ganze 
Betrieb.“ 

„Aber davon kann doch keine Familie leben?“ 

„Nee, davon lebt der Vogelſang auch nicht. Er malt 
halt Docken für die Fabrik.“ 


14 Frau Wallis Freiersfahrt. a 


„Docken?“ 
„Nu ja, Puppen malt er, wie alle Leute da 'rum.“ 
„Iſt denn eine Puppenfabrik im Ort?“ 


ae die iſt in der Stadt.“ 

„Da hat der Vogelſang wohl Pferd und Wagen?“ 

„Haha, Pferd und Wagen! Nee, die Dogen werden 
mit dem Buckelkorb hin und her getragen, alle Wochen 
ein- bis zweimal. Solange dem Vogelſang ſeine Frau 


— — — — 


a. Von B. Rittweger. 15 


noch halbwegs geſund war, hat die's getan, nachher 
hat er ſich anders helfen müſſen. Nun iſt die Frau ſchon 
beinahe ein ganzes Jahr tot, und er möcht' wieder 
heiraten, eine mit Geld, daß er einen Tanzſaal bauen 
kann. Wo getanzt wird, da gibt's mehr Einkehr und 
beſſeren Verdienſt. Ja, ja, der Vogelſang iſt fleißig und 
möcht's gern weiterbringen. Aber wenn Sie ſich da 
oben einlogieren wollen, da müſſen Sie's ſchon beim 
Ziegenkäs probieren. Schönen Wald und gute Luft 
gibt's ſchon.“ | 

Frau Wallis friſche Wangen waren bei dieſer an- 
ſchaulichen Schilderung des geſprächigen Wirts erblaßt. 
Es wurde ihr ſehr ſchwer, den Kaffee, der inzwiſchen 
fertig geworden war, hinunterzubringen. Dann be— 
zahlte ſie für ſich und den Kutſcher, der auf einer Bank 
vor dem Wirtshaus ein Glas Bier getrunken hatte, 
und die unterbrochene Fahrt konnte fortgeſetzt werden. 

Als ſie den Ort ſchon eine ganze Weile hinter ſich 
hatten und wieder durch den ſchönſten Hochwald fuhren, 
erhob ſich Frau Walli plötzlich und klopfte dem Kutſcher 
auf die Schulter.“) 

„Nu, was gibt's denn ſchon wieder?“ 

„Ich will umkehren, hab' mir die Sache anders 
überlegt. Es ſcheint, mit der Sommerfriſche iſt's da 
oben nicht weit her, da geh' ich lieber nach Oberhof oder 
nach Elgersburg.“ 

„Na, mir kann's recht ſein, aber beim ausgemachten 
Preis bleibt's, ich kann doch heut nichts weiter mehr 
anfangen.“ 

„Natürlich bleibt's dabei!“ 

Der Kutſcher wendete den Wagen, bremſte und 
langſam ging's bergab. 

Aus Frau Wallis Augen rollten dicke Tränen. 


*) Siehe das Titelbild, 


16 Frau Wallis Freiersfahrt. 2 
Ade, du ſchöner Traum von neuem Glück und friſcher 
Tätigkeit — ade! Sie war aus allen Himmeln gefallen. 
Nein, ſo ein abſcheulicher Betrug! 

Betrug? Am Ende doch nicht. Walter Vogelſang 
hätte ihr gewiß bei ſeinem Beſuch reinen Wein über 
feine Verhältniſſe eingeſchenkt. Bei Heiratsgeſuchen 
wird natürlich immer etwas ſchön gefärbt — immer! 
And Gaſthofbeſitzer war er ja doch wirklich, wenn's 
auch nur ein ſehr kleiner Betrieb war. Und konnte man 
nicht mit Fug und Recht den Bau eines Tanzſaales 
Vergrößerung des Betriebs nennen? Aufblühende 
Sommerfriſche? Nun ja, wenn einmal drei, vier Stadt- 
leute regelmäßig kommen, die ziehen ſicher mit der Zeit 
noch mehr nach ſich. Nein, Lug und Trug war's nicht, 
das Geſuch! 

Frau Walli ſeufzte und zog aus ihrer Taſche die 
Photographie des Mannes mit dem herrlichen Namen. 
Wie der Name hierher paßte in dieſe wundervolle 
Waldgegend! Von der ſie nun wieder Abſchied nehmen 
mußte, um in das Häuſermeer der großen Stadt zurück- 
zukehren, in das alte, leere Dafein, wie ſie's nun ſchon 
feit vier Fahren als Witwe Kampel führte! Für nie- 
mand zu ſorgen, nur dazu da, zu eſſen und zu trinken 
und die Zeit totzuſchlagen. 

Ganze Kaften voll geſtickte und gehäkelte Decken, 
Spitzen und Einſätze hatte ſie ſchon liegen — ach, für 
ſechs Logierzimmer würden ſie reichen. Jedesmal zwei 
aufs Sofa, eine auf den Tiſch. Und die Spitzen und 
Einſätze fürs Bettzeug! 

Wieder ein leiſer Seufzer. Aber es war ein er- 
löſender. Und ſchon huſchte ein Lächeln über ihr eben 
noch ſo bekümmertes Antlitz. Mußte ſie denn wirklich 
ihren ſchönen Plänen entſagen? Konnte man nicht 
an Stelle eines Tanzſaales einen Anbau mit Zimmern 


o Von B. Rittweger. 17 


für Sommerfriſchler errichten? Wo doch der Platz ein- 
mal da war? Und wenn ſie dann zunächſt ihre guten 
Bekannten hierher lockte — ſonderbar müßt's zugehen, 
ſollte es ihr nicht gelingen, aus dem kleinen Neſt eine 
wirkliche Sommerfriſche zu machen? 

Wieder klopfte ſie dem Kutſcher auf die Schulter. 
„Drehen Sie nur wieder um. Ich hab' mich doch noch 
entſchloſſen, mir die Sache wenigſtens anzuſehen.“ 

„Meinetwegen. Aber natürlich müſſen Sie mir noch 
drei Mark zulegen, denn für nix fahr' ich den Berg nicht 
noch einmal 'rauf!“ 

„Schön. Die drei Mark bekommen Sie.“ 

Deer Roſſelenker ſchmunzelte. Das war gefundenes 
Geld, von dem ſein Herr nichts zu erfahren brauchte. 
Wirklich ein Glück, daß es ſo verrückte Frauenzimmer 
gab, die nicht wußten, was ſie wollten! | 

Aber Frau Walli wußte ganz genau, was fie wollte. 
Sie wollte hier in dieſem lieblichen Thüringen bleiben, 
und ſie wollte dem hübſchen Mann mit dem herrlichen 
Namen helfen, daß er aus ſeiner kümmerlichen Enge 
herauskam, und ſeinen Kindern wollte ſie eine gute 
Mutter werden. 

Wozu hatte ſie ihr Geld und ihre Kraft? Beides 
wollte ſie nützen. 

Es wurde ihr ganz fromm im Sinn. Mit gefalteten 
Händen ſaß ſie im Wagen und ſchaute zu den dunklen 
Tannen auf, über denen der Himmel blaute. Und ſie 
ſummte, ohne es recht zu wiſſen: „Wer hat dich, du 
ſchöner Wald, aufgebaut ſo hoch da droben!“ 

Und dann, als es ihr zum Bewußtſein kam, mußte 
fie lächeln. Dieſes Lied hatte das Quartett des Männer- 
gefangvereins „Eintracht“ ihrem feligen Kampel zum 
fünfzigſten Geburtstag geſungen — im Hausflur! 

Frau Wallis Rührung machte nach und nach einer 

1914. v. 2 


18 Frau Wallis Freiersfahrt. o 


stillen Heiterkeit und Zuverſicht Platz und frohgemut 
ſah ſie dem Kommenden entgegen. 

Faſt zwanzig Jahre find ſeit Frau Wallis Freiers- 
fahrt vergangen. Heute iſt das früher ſo unbedeutende 
Walddörfchen eine gut beſuchte Sommerfriſche. Das 
Hotel „Zur Vogelweide“, ſo genannt auf Frau Wallis 
beſonderen Wunſch, ift ſtets beſetzt. Herr Walter Vogel- 
ſang und Frau ſind noch rüſtig und ſchaffensfroh und 
freuen ſich an Kindern und Enkeln. Daß es nicht ihre 
leiblichen ſind, ſtört Frau Walli nicht, denn ſie wird 
von ihnen geliebt und geehrt wie eine rechte Mutter 
und Großmutter. 

Wenn ſie beſonders gut a iſt, dann gibt ſie 
den bevorzugten unter ihren Gäſten die Geſchichte von 
ihrer Freiersfahrt gern zum beſten. 


* 


Se Sie Sie | 5% 
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Das Rofazimmer. 


venezianiſcher Roman von E. v. Adlersfeld- 
Balleſtrem. 


($ortfetsung.) * N nachoͤruck verboten. 


m frühen Morgen des folgenden Tages, dem frühen 
Morgen der Milchwagen, der Bäckerjungen und 
der Straßenkehrer, langte don Gian in Rom an. Er 
fand den Miniſter ſeiner wartend, denn er wurde ſo— 
fort und ohne Meldung in deſſen Privatkabinett geführt. 
Seine Exzellenz, der Conte San Maurizio, war trotz 
der frühen Stunde nicht allein. In einem der tiefen 
Lederſeſſel, die um den großen Witteltiſch ſtanden, fa 
ein älterer Herr mit glattraſiertem Geſicht und ſcharfen 
Zügen, der Don Gian bekannt vorkam, ohne daß er 
ihn im Augenblick hätte nennen können. Er erhob ſich 
zwar zu einer leichten Verbeugung beim Eintritt des 
jungen Diplomaten, aber da der Miniſter es anſcheinend 
vergaß, die Vorſtellung zu übernehmen, ſo blieb Don 
Gian auch vorläufig im dunkeln über die Perſönlichkeit 
dieſes Beſuches zu einer Stunde, die die meiſten Leute 
noch zur Nacht zu rechnen pflegen. 

„Ah — da iſt er ja!“ rief Exzellenz aus, als Gian 
eingetreten war. Er erhob ſich nicht und ſtreckte dem 
jungen Mann auch nicht die Hand entgegen, was dieſer 
mit Recht als ein ernſtes Zeichen ſeiner Ungnade anſah 
— das erſte wahrſcheinlich von vielen folgenden. Aber 
er war ja darauf vorbereitet, daß er ſich zu rechtfertigen 


20 Das Rofazimmer. u 


hatte, ſich rechtfertigen mußte, ehe er den Kopf wieder 
erheben durfte. 

„Ich habe Ihre höchſt erſtaunliche und peinliche 
Mitteilung erhalten, Marcheſe Terraferma,“ fuhr der 
Miniſter fort, und Don Gian zuckte wieder zuſammen, 
denn bisher hatte ſein Chef ihm ſeinen Titel niemals 
gegeben. „Sind Sie fih der Tragweite derſelben be- 
wußt?“ 

„Voll bewußt, Exzellenz,“ erwiderte Don Gian heiſer 
vor innerer Erregung. „Durch Ihre eigene Inſtruktion 
ſowie durch meine perſönliche Auffaſſung. Vermöge 
dieſer Erkenntnis war ich gezwungen, dem Verdacht 
Worte zu geben, den ich ſonſt kaum ausgeſprochen haben 
würde.“ | 

„Wir werden darauf zurückkommen,“ fiel der Mi- 
niſter ein. „Wiederholen Sie jetzt Ihren telegraphiſchen 
Bericht mündlich.“ 

Don Gian ſchöpfte Atem und trat einen Schritt 
näher, indem er den Fremden anſah, der kaltblütig 
ein Notizbuch hervorzog und offen vor ſich hinlegte. 
„ der Herr Doktor ift eingeweiht,“ ſagte der Minifter, 
den Blick auffangend. „Wenn einer dies Myſterium, 
wie Sie es etwas konfus ſchildern, löſen, das verlorene 
Dokument zurückbringen kann, ſo iſt er es. Er hat die 
Güte gehabt, dieſen Fall zu übernehmen, Sie mög- 
licherweiſe von einer ſchweren Anklage zu reinigen, 
Terraferma. Sie werden daher gut tun, etwaige Fragen 
des Herrn rückhaltlos zu beantworten!“ 

Jetzt begriff Don Gian: es hatte ihm jemand ein- 
mal dieſen Mann genannt und gezeigt als einen in 
Rom wohnenden deutſchen Gentleman Detektiv, der 
ſchon viele ſcheinbar hoffnungsloſe Fälle gelöſt, man- 
chem Verzweifelten die Hoffnung und das Leben wie- 
dergegeben hatte. Und gleichzeitig hörte Don Gian 


o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 21 


in dem diesmal fortgelaffenen Titel vor feinem Namen 
und in einem vielleicht nur ſeinem empfindlichen Ohr 
bemerkbaren Unterton in der Anrede feines Chefs etwas 
heraus, das ſeine Lebensgeiſter wieder erfriſchte: er 
hielt ihn nicht für einen Landesverräter, nicht für einen 
läſſigen Beamten, ſondern er glaubte an ihn. Eine 
leichte Röte ſtieg bei dieſem Gedanken in ſein blaſſes, 
übernächtiges Geſicht, und ein dankbarer Blitz leuchtete 
aus ſeinen Augen. 

„Windmüller,“ murmelte der Fremde, ſich ſelbſt 
vorſtellend, und dann plötzlich ſcharf aufblickend fuhr 
er mit dem leiſen, klaren Tonfall des Gebildeten fort: 
„Herr Marcheſe, es find vierundzwanzig Stunden, viel- 
leicht dreißig ſchon über dem Verſchwinden des Dotu- 
ments vergangen — Zeit genug, um feine Wieder- 
erlangung unmöglich zu machen. Sie dürfen von mir 
keine Zauberkünſte erwarten, ſondern nur die Möglich- 
keiten eines für ſolche Dinge geſchulten Kopfes. Wollen 
Sie, bitte, Ihre Erfahrungen von Anfang an erzählen, 
auch nicht übergehen, was Ihnen vor Ihrer Ankunft 
in Venedig aufgefallen oder nachträglich eingefallen iſt. 
Sind Sie ſicher, daß das Dokument noch in Ihrem 
Beſitze war, als Sie in Venedig eintrafen?“ 

„Ganz ſicher,“ erwiderte Don Gian ohne Zögern. 
„Ich habe mich davon noch überzeugt, als ich in der 
Gondel nach meinem Hauſe fuhr. Ich hatte das Ab- 
teil ganz allein für mich, habe mir das Eſſen aus dem 
Speiſewagen bringen laſſen und keinen Augenblick ge- 
ſchlafen. Ich habe auch keinen Wein getrunken, ſondern 
nur Mineralwaſſer, deſſen Flaſche der Kellner vor 
meinen Augen geöffnet hat. Ich habe mich von dem 
Vorhandenſein des Dokuments in ſeinem verſiegelten 
Umſchlage in der inneren, zugeknöpften Taſche meiner 
Weſte überzeugt, als ich mein Zimmer für die Nacht 


22 Das Rofazimmer. a 


betrat, und war entſchloſſen, diefe wachend zuzu- 
bringen —“ 

„Gut. Fangen Sie jetzt mit Ihrer Ankunft in 
Venedig an,“ unterbrach ihn Doktor Windmüller mit 
dem kurzen Ton eines Menſchen, der es gewohnt iſt, 
zu befehlen und ſeine Wünſche geltend zu machen. 
Don Gian hatte etwas bei dieſem Ton hinunterzu— 
ſchlucken, denn dieſer Mann war doch ſchließlich nicht 
ſein Vorgeſetzter; aber Don Gian war ein Menſch, der 
Selbſtbeherrſchung gelernt hatte, und überdies ver- 
nünftig genug, um ſofort zu begreifen, daß der Mann 
dort genau fo einſchneidend feine Intereſſen vertreten 
wollte und konnte wie die des Staates, der der erſte 
Leidtragende in dieſer furchtbaren Sache war. Er 
überwand daher, ſo ſchnell wie ſie gekommen, die 
Auflehnung gegen den Kommandoton des fremden 
Nothelfers und begann ſeine Erzählung, die nur ein 
paarmal durch dazwiſchengeworfene Fragen Doktor 
Windmüllers unterbrochen wurde. 

„Und wie kommen Sie darauf, Ihre Schwägerin 
mit dem Verſchwinden des Dokuments in Verbindung 
zu bringen?“ fragte der Miniſter. 

„Ich weiß in der Tat nicht, was ich darauf antworten 
foll, Exzellenz,“ erwiderte Terraferma offen. „Es iſt 
ein Verdacht, nichts weiter.“ 

„Aber man muß doch für einen Verdacht mindeſtens 
einen Grund haben! Wer A jagt, muß auch B fagen 
— heraus mit der Sprache! Es hängt zuviel davon 
ab, als daß Sie etwas zurückhalten dürften!“ 

Don Gian holte tief Atem. „Ich weiß das alles, 
Exzellenz, und doch — ich habe ſo wenig dazu zu ſagen. 
Meine Schwägerin hat von Hauſe aus nichts — ſie iſt 
ohne jede Mitgift in unſere Familie getreten, hat viel 
verbraucht, und mein Bruder hat auch noch Schulden 


o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 23 


ihres Vaters bezahlt. Ihr Wittum ift kein ſehr glän- 
zendes — es würde für beſcheidene Anſprüche und mit 
der Wohnung in Venedig ſtandesgemäß geweſen ſein, 
aber meine Schwägerin erklärte, in dem düſteren 
Palaſte umkommen zu müſſen, und zog nach Rom 
zurück, wo ſie ja auch mit ihrem Gatten, meinem 
Bruder, gelebt — über ihre Verhältniſſe, wie ſich's 
nach ſeinem Tode herausſtellte. Und in Rom trat ſie 
nach kurzer Zeit mit dem Luxus einer Frau mit un- 
beſchränkten Mitteln auf; fie zeigte Juwelen, die ich 
nie an ihr zuvor geſehen; ſie führte einen Haushalt, 
der Rieſenſummen koſten mußte — kurz, ich, der ich 
doch nur zu genau weiß, was ſie hat, ich mußte mich 
fragen: Woher auf einmal das viele Geld?“ 

„Hm,“ machte Doktor Windmüller trocken. 

„Es iſt mir aber nie ein Skandal über meine Schwä- 
gerin zu Ohren gekommen,“ beantwortete Don Gian 
prompt den Laut ohne Worte. | | 

„Mir auch nicht,“ fiel der Minifter ein. „And ich 
habe genug Klatſchbaſen, männliche wie weibliche, in 
meiner Verwandtſchaft, die ſicher gewußt hätten, wenn 
es etwas zu klatſchen gegeben hätte. Und die Prin- 
cipeſſa hat Ihnen nie eine Erklärung ihrer glänzenden 
Lage gegeben?“ 

„Nie. Ich habe mich auch, als ich mir darüber klar 
war, ſehr von ihr zurückgezogen,“ erklärte Don Gian. 
„Aber man macht ſich doch ſeine Gedanken, und dann 
— dann habe ich einmal bei einem Diner, bei dem ich 
unerwartet mit meiner Schwägerin zuſammentraf, 
einen Blick aufgefangen, den ſie mit dem gleichfalls 
anweſenden türkiſchen Geſandten wechſelte — einen 
Blick, der mich auf eine Spur zu leiten ſchien und mich 
veranlaßte, mich noch mehr, in faſt unhöflicher Weiſe 
von ihr fernzuhalten.“ 


24 Das Roſazimmer. 11 


„Hm,“ machte Doktor Windmüller wieder und ſetzte 
dann hinzu: „Es wäre vielleicht im Gegenteil weiſer 
geweſen —“ 

„Es widerſtrebte mir, bei meines Bruders Witwe 
den Spion zu ſpielen,“ erwiderte Don Gian ruhig und 
mit Anſtand. 

„Das ift begreiflich. — Nun noch eine Frage: Ihre 
Frau Schwägerin hat in Ihrem venezianiſchen Palaſte 
jedenfalls ein Abſteigequartier. Liegt dieſes weit von 
dem Ihrigen ab?“ 

„Ja. Es liegt im dritten Stock über den Wohn- 
räumen meiner Großmutter, wo es ihr auf eigenen 
Wunſch nach dem Tode meines Bruders eingeräumt 
wurde. Letzterer hatte früher die öſtliche Zimmerſeite 
bewohnt, von der ich mir dann zwei Räume zum eigenen 
Gebrauch nahm. Aber meine Schwägerin hat, als ſie 
vorgeſtern ſo unerwartet in Venedig eintraf, ihre 
Zimmer nicht bezogen, ſondern in ihrer Launenhaftig- 
keit im erſten Stock, dem Piano nobile, zu wohnen 
verlangt.“ 

„Ah!“ machte Doktor Windmüller ſehr intereſſiert. 
„Warum erwähnten Sie dieſen Umſtand nicht vorher?“ 

„ont er von Wichtigkeit?“ 

„Es iſt alles von Wichtigkeit in ſolchen Fällen, Herr 
Marcheſe. — Darf ich weiter fragen: Wo liegen dieſe 
Zimmer, die die Principeſſa während der verhängnis- 
vollen Nacht bewohnte?“ 

„Genau unter den meinen.“ 

„Ich nehme an, daß das Piano nobile bei Ihnen 
wie in den meiſten Paläſten Italiens der Repräſentation 
dient. Es mußte wohl demnach erſt ein Bett für die 
Principeſſa dort aufgeſtellt werden?“ 

„Nein,“ entgegnete Don Gian, „das Piano nobile 
enthält ein ſogenanntes Staatsſchlafzimmer, das feiner- 


uu Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 25 


zeit für den Beſuch der Königin von Polen und Kur- 
fürſtin von Sachſen, Maria FJoſepha von Sſterreich, 
eigens eingerichtet wurde und mit ſeinem thronartigen 
Bett und ſeinem Silbergeſchirr auf der Toilette ſo blieb. 
Mein Bruder wollte nach ſeiner Verheiratung die 
Zimmerreihe, in der ſich dieſes Schlafgemach befindet, 
mit ſeiner jungen Gemahlin beziehen, aber meine 
Schwägerin behauptete damals, die Farbe der Tapeten 
und Vorhänge in dieſem Zimmer ſtände ihr nicht, und 
fo wurde der öſtliche Teil des darüberliegenden Stock- 
werks eingerichtet. Offen geſagt, die Laune meiner 
Schwägerin, auf einmal das Roſazimmer zu bevor- 
zugen, hat mich vorgeſtern geärgert —“ 

„Ah!“ machte Doktor Windmüller wieder. „Dem- 
nach alſo liegt dieſes Staatsſchlafgemach, das Ihre Frau 
Schwägerin plötzlich haben wollte, ſo ziemlich unter 
Ihren Zimmern, Herr Marcheſe?“ 

„Es liegt genau unter meinem eigenen Schlaf- 
zimmer.“ 

„Aha! Fit Ihnen dieſer Umſtand nicht aufgefallen?“ 

Don Gian ſah den Detektiv erſtaunt an. „Ehrlich 
geſtanden — nein,“ erklärte er kopfſchüttelnd. „Und 
warum hätte er mir auffallen ſollen? Es beſteht doch 
keine Verbindung der beiden Zimmer miteinander.“ 

„Wiſſen Sie das genau?“ 

Jetzt ging Don Gian ein Licht auf, worauf Doktor 
Windmüller hinzielte. „Das wäre in der Tat eine 
Möglichkeit zur Löſung des Rätſels,“ rief er lebhaft. 
„Aber,“ ſetzte er gleich hinzu, „dann hätte ich dieſe 
Verbindung doch finden müſſen! Ich ſagte ſchon, daß 
ich keinen Fleck nach einem geheimen Eingang in meine 
Zimmer ununterſucht gelaſſen habe.“ 

„Das will noch nichts fagen,“ entgegnete Windmüller 
trocken. „Geſetzt den Fall, Sie haben recht mit Ihrem 


26 Das Rofazimmer. D 
Verdachte, daß Ihre Frau Schwägerin Ihnen das 
Dokument geraubt, ſo muß ſie auf einem ihr bekannten 
Wege in Ihre Zimmer gelangt fein und außerdem noch 
auf einem ebenſolchen geheimen Wege das Haus ver- 
laffen haben, falls Ihr Vertrauen, das Sie in Ihre 
Dienerſchaft ſetzen, Sie nicht getäuſcht hat.“ 

„Das denke ich nicht,“ entgegnete Don Gian. „Bei 
näherer Überlegung habe ich gefunden, daß eine ſolche 
Täuſchung eine ganz überflüſſige Sache geweſen wäre. 
Donna Xenia hat ja einen Brief hinterlaſſen, daß fie 
fort müſſe — ſie hatte es alſo gar nicht nötig, meinen 
Portier, der die Schlüſſel verwahrt, zu beſtechen. Sie 
brauchte ihn nur zu wecken und ihm zu befehlen, das 
Tor zu öffnen. Aber ſie hat das nicht getan. Wie 
alfo ift fie aus dem Haufe gekommen? Die Idee, daß 
ſie die Zeit verſchlafen hat und ſich dann verbarg, um 
Fragen zu entgehen, iſt mir ja auch gekommen, aber der 
Portier hatte Befehl, die Ausgänge und Waſſerpforten 
verſchloſſen zu halten. Tatſache iſt, daß bis zur Stunde 
meiner Abreiſe geſtern, alfo bis mittags, Donna Xenia 
keinen Verſuch gemacht hat, das Haus zu verlaſſen. 
Daß fie mit dem von ihr bezeichneten Zug nicht ab- 
gereiſt iſt, ſteht ebenſo feſt —“ | 

„Wie die Tatſache, daß fie geſtern abend in Rom 
nicht eingetroffen iſt und auch nicht das Schiff benützt 
hat, mit dem Sie nach Trieſt abreiſen ſollten,“ fiel der 
Miniſter ein. 

„An das Schiff habe ich gar nicht gedacht,“ rief Hon 
Gian. 

„Aber ich,“ ſagte der Minifter trocken. „Ich habe 
das gleich nach Eingang Ihrer Depeſche feſtgeſtellt 
— durch unſere Trieſter Agenten. Donna Kenia hat 
zweifellos Kenntnis von einem verborgenen Ausgang 
aus Ihrem Haufe und dieſen benützt. Anſer koſtbares 


o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 27 


Dokument ift wahrſcheinlich ſchon im Beſitze unſerer 
Gegner. — Nun,“ fekte er hinzu, als Don Gian, un- 
fähig, ſich länger zu halten, auf den nächſten Stuhl ſank 
und ſtöhnend das Geſicht mit den Händen bedeckte, 
„nun, Terraferma, nehmen Sie ſich zuſammen. Ich 
glaube nämlich an Ihre Schuldloſigkeit — bis man 
mir das Gegenteil beweiſt. Ich kann es Ihnen nicht 
einmal zur Laſt legen, daß Sie mit Ihrem Verdacht 
gegen Ihre Schwägerin nicht früher herausrüdten, denn 
Sie haben nach Ihrer Ausſage alles getan, ſich gegen 
einen nächtlichen Überfall zu ſchützen, und wer wird 
an ſolche Teufeleien denken, wenn er in ſeinem eigenen 
Hauſe Fruchtſaft mit Sodawaſſer trinkt? Wir haben 
eben den Fehler begangen, den Feind auf einer anderen 
Stelle zu vermuten, und find auf die ſehr geſchickt 
gelegte Falle, die Tatarennachricht, daß auf der Strecke 
zwiſchen Pontebba und Wien eine Attacke gegen das 
Dokument beziehungsweiſe feinen Überbringer geplant 
war, glatt hereingefallen. Wo wir den Feind im eigenen 
Haufe zu ſuchen haben, der es — früher wie Sie, Terra- 
ferma — erfahren hat, wann und durch wen der Ber- 
trag nach Wien befördert werden ſoll, dieſe Aufgabe 
zu löſen, hat Doktor Windmüller übernommen, denn 
das Objekt ſelbſt, das durch ſolch raffinierte Gegenmine 
uns entriffen wurde, wiederzuerlangen, ſcheint mir eine 
Unmöglichkeit, wennſchon wir wiſſen, daß Sie, Herr 
Doktor, der Mann der unbegrenzten Möglichkeiten 
ſind.“ 

Windmüller lächelte fein. „Exzellenz, ein jeder 
Menſch hat ſeine Grenzen — er muß nur wiſſen, wo 
ſie ihm gezogen ſind. Es iſt wahr — ich habe ſchon 
mehrere ſolche diplomatiſchen Dokumente wieder- 
erlangen können, aber ich kann natürlich nicht dafür 
bürgen, daß es mir auch mit dieſem gelingt, denn es 


28 Das Rofazimmer. u 


ift ſchon zuviel koſtbare Zeit darüber verloren worden. 
Aber meine Fühler ſind trotzdem ſo ausgeſtreckt, daß 
eine direkte Unmöglichkeit noch nicht behauptet werden 
kann. Wenn es nicht verlorene Zeit wäre, forſchte ich 
am liebſten nach, wie das Myſterium im Palazzo Terra- 
ferma ſich vollzogen —“ 

„Ich werde ihn niederreißen laffen, um es zu er- 

gründen!“ rief Don Gian, bei dem die Überreizung der 
Nerven anfing, ſich merkbar zu machen. 
„Sie werden das hübſch bleiben laffen, denn man 
kann ſolche Dinge ſchon noch etwas weniger draſtiſch 
ergründen,“ entgegnete Windmüller, indem er ſich erhob. 
„Einſtweilen aber, bis ich einige telegraphiſche Nach- 
richten erhalten kann, auf die ich warten muß, möchte 
ich Sie, Herr Marcheſe, bitten, mit mir der Wohnung 
Ihrer Frau Schwägerin einen Beſuch abzuſtatten. 
Sie wohnt im Palazzo Barberini — nicht wahr?“ 

„Gewiß. Aber ich kann doch in ihrer Abweſenheit 
nicht —“ 

„Doch, Sie können,“ fiel Windmüller ſeelenruhig 
ein. „Mehr noch — Sie müſſen. Ich glaube freilich 
nicht, daß wir in der Wohnung einer Dame von ihrer 
Qualität, ihrer Umſicht und ihren Inſtinkten große 
Schätze heben werden, aber meiner langjährigen Er- 
fahrung nach find es gerade ſolche Leute, die im Ber- 
trauen auf ihre Umſicht und Geriſſenheit Spuren über- 
ſehen und für unwichtig halten, die für Leute meiner 
Qualität geradezu als Wegweiſer wirken. Wer weiß 
— alfo gehen wir. Und um es vorweg zu fagen: er- 
ſchweren oder vereiteln Sie mir meine Arbeit, die ja 
auch in Ihrem Zntereſſe geſchieht, nicht durch Ein- 
wände und Zweifel, ſondern laſſen Sie mich ruhig tun, 
was ich für gut halte, ſelbſt wenn es Ihnen unbegreif- 
lich oder — nicht ſchick erſcheinen ſollte.“ 


o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 29 


Don Gian begriff und nachdem er die ihm jetzt 
gereichte Hand ſeines Chefs vor innerer Erregung faſt 
zerdrückt, folgte er dem Oetektiv, von deffen Fähigkeiten 
und Erfolgen er ſchon Wunderdinge gehört hatte. 

Sie ſtiegen, auf der Straße angelangt, in den 
nächſten freien Taxameter ein, der ſie bald vor den 
Palazzo Barberini in der Via Quattro Fontane brachte. 

Kein Menſch, der es nicht geſehen, hat eine Ahnung 
von der geradezu fabelhaften Größe dieſes Gebäudes, 
das zwar ſeine berühmte Vildergalerie behalten hat, 
von den Erben des ausgeſtorbenen Geſchlechtes der 
Barberini nun aber zur Vermietung geſtellt iſt. Von 
Carlo Maderna um die Mitte des ſiebzehnten Jahr- 
hunderts durch Papſt Urban VIII. Barberini errichtet, 
iſt der Palaſt eines der Wahrzeichen der vergangenen 
Größe Roms; er hat nicht nur Raum für die Repräfen- 
tations- und Wohnräume einer Geſandtſchaft, die kleinſte 
der zahlreichen anderen Mietwohnungen darin enthält 
mindeſtens zwanzig Zimmer, und wenn auch die ftatt- 
liche Bibliothek durch Kauf der vatikaniſchen Bibliothek 
einverleibt wurde, ſo bleiben darin immer noch die 
Gemäldeſammlung, die Fresken Cortonas in der riefen- 
haften Halle, die Statuen, Büſten und andere Antiken. 

In dieſem Palaſt ſtiegen Don Gian Terraferma 

und Doktor Windmüller die lange Flucht der weißen, 
bequemen Marmortreppen zu der Wohnung der Prin- 
cipeſſa hinauf — erſterer mit dem natürlichen Wider- 
willen des Gentlemans, in Räume einzudringen, in 
denen er kein Recht hat. 
Fhr Einkommen würde vielleicht gerade dazu rei- 
chen, dieſe Wohnung zu bezahlen — woher alſo kommt 
das übrige?“ fragte er ſich zum hundertſten Male. 
„Gott weiß, daß ich ihr kein Unrecht tun möchte, aber 
was bleibt mir zu denken und zu glauben übrig?“ 


30 Das Rofazimmer. u 


„Vielleicht hat ſie eine Erbſchaft gemacht,“ beant- 
wortete Windmüller laut dieſe Gedanken, ſo daß Don 
Gian zuſammenfuhr und ſeinen Begleiter faſt entſetzt 
anſah. „Man muß allen Möglichkeiten Raum laſſen. 
Indeſſen — ah, da ſind wir ja!“ 

Eine junge, zierliche Kammerzofe war es, die endlich 
nach wiederholtem Läuten die Tür öffnete. 

„Iſt meine Schwägerin, die Frau Prinzeſſin, zu 
Haus?“ fragte Don Gian die ſichtlich ob des frühen 
Beſuches Überraſchte kurz. 

„Aber nein, Herr Marcheſe,“ war die in entſchieden 
anklagendem Ton gegebene Antwort. „Altezza ſind 
vorgeſtern abend verreiſt und wollten geſtern abend 
zum Baſar bei der Signora Conteſſa zurück ſein, ſind 
aber nicht angekommen, haben keine Nachricht gegeben, 
und Herr Marcheſe ſehen mich in größter Beſtürzung 
— ich weiß nicht, was ich denken ſoll.“ 

Durch Windmüller vorher inſtruiert, trat Don Gian, 
von ſeinem Begleiter gefolgt, ohne weiteres in den 
mit orientaliſchen Teppichen und Waffen geſchmückten 
großen Vorraum ein. 

„Nun, ich denke, die Frau Prinzeſſin wird wohl in 
dieſem Falle aufgehalten worden ſein,“ murmelte er 
unbehaglich. 

„Aber Durchlaucht haben nur einen ganz, ganz 
kleinen Koffer mit dem Nötigſten für eine Nacht mit- 
genommen,“ erwiderte die Zofe ratlos. 

„So?“ fragte Don Gian. „Wie kommt es aber, 
daß Sie öffnen, Ceſarine? Wo iſt denn der Diener?“ 

„Er iſt ſchon ganz früh fort, um auf den Bahnhof 
zu gehen, für den Fall, daß Durchlaucht die Nacht 
gereiſt ſein ſollten,“ erklärte Ceſarine gekränkt. „Er 
ift noch nicht zurück, der hohe Herr Jwan! Natürlich 
hat er den zweiten Diener mit einer Menge Aufträge 


o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 31 


fortgeſchickt, und ich muß nun jedesmal laufen, wenn 
es läutet!“ 

„Der erſte Diener ift ein Ruffe?” warf Windmüller 
zu Don Gian gewendet ein, und als dieſer nickte, trat 
er in Aktion. „Hören Sie mich an, Mademoiſelle 
Ceſarine,“ wendete er ſich in ihrer Landesſprache an 
die Franzöſin, die er vorher ſcharf beobachtet. „Wir — 
der Herr Marcheſe und ich — haben natürlich gehofft, 
die Frau Prinzeſſin anzutreffen, da ſie aber verreiſt 
iſt und Sie ohne Nachricht über ihren Verbleib ſind, 
ſo beunruhigt uns das einigermaßen. Sie müſſen uns 
daher genau und wahrheitsgetreu ſagen, was Sie über 
dieſe plötzliche Abreiſe Ihrer Herrin wiſſen, und je auf- 
richtiger Sie das tun, um ſo weniger ſoll dies Ihr 
Schade fein.“ 

Das Aufleuchten in den ſchwarzen Augen der Fran- 
zöſin belehrte Windmüller, daß ſein Scharfblick ihn nicht 
getäuſcht, als er das Mädchen auf den erſten Blick als 
habgierig taxierte. 

„Aber ich weiß ja nichts, gar nichts!“ jammerte 
Ceſarine. „Durchlaucht ſagten plötzlich: „Ich verreiſe in 
einer Stunde, packe mir Nachtzeug und eine einfache 
Abendtoilette ein‘ — das war alles! Nicht eine Silbe, 
wohin Madame reifen will — nur den Befehl: ‚Lege 
mir das Zigeunerinnenkoſtüm für den Baſar zurecht, 
ich werde zur rechten Zeit morgen abend zurück fein‘ — 
nichts, nichts weiter! Aber unter uns, Monſieur — 
Iwan, der Kammerdiener, der verſtockte Menſch, weiß 
ſicher mehr — ſicher! Er hat Madame auf den Bahn- 
hof begleitet, er muß wiſſen, wohin ſie gereiſt iſt, er 
hat Madames Vertrauen. Einmal wird es ihm ja 
belieben, zurückzukommen, und wenn Monſieur warten 
können —“ 

Monſieur wollte nicht warten — im Gegenteil, er 


32 Das Rofazimmer. o 


pries feinen guten Stern, der ihm den Kammerdiener 
aus dem Wege geräumt, und hoffte inbrünſtig von 
eben dieſem guten Stern, daß ſeine „Geſchäfte“ den 
Würdigen noch für eine Weile fernhalten würden. 
„Was Sie mir fagen können, würde Jwanwahrſchein- 
lich nicht wiſſen,“ erwiderte er in dem überzeugend zu- 
redenden Ton, der ihm ſchon fo oft gute Dienſte ge- 
leiſtet hatte. „Oer Herr Marcheſe iſt, wie er mir ſagte, 
der Frau Prinzeſſin am Nachmittag vor ihrer Abreiſe 
in der Villa Borgheje begegnet, und fie ſchien damals 
noch nichts von dieſer plötzlichen Reiſe zu wiſſen. Sie 
ſcheinen mir aber eine kluge Perſon zu ſein, die ein 
Paar ſcharfe Augen im Kopf hat. Aber ſicher — ich 
ſchmeichle Ihnen nicht, Mademoiſelle — ich ſehe, was 
ich ſehe. Nun wohl — Sie müſſen doch etwas gemerkt 
haben, was Ihnen dieſen plötzlichen Entſchluß Ihrer 
Herrin begreiflich gemacht hat — nicht?“ 
„Oh — wenn es das iſt, was Monſieur wiſſen will 
— voilà!“ machte Ceſarine mit raſchem Verſtändnis. 
Dann ſchloß ſie die noch offene Tür des Vorraums, 
nicht ohne vorher nach der Treppe gehorcht zu haben, 
und ſchob einen Riegel vor — eine ſcheinbar überflüſſige 
Handlung, die ſich der alles ſehende Detektiv ſehr richtig 
dahin deutete, daß Mademoiſelle Ceſarine ſich bei dem, 
was ſie auszuplaudern entſchloſſen ſchien, nicht von dem 
gefürchteten Kammerdiener überraſchen laſſen wollte. 
„Hören Sie alfo, Monſieur! Madame kamen vor- 
geſtern — nein, vorvorgeſtern von ihrer Ausfahrt zurück, 
und ich öffnete ihr die Tür, weil der Herr Jwan wieder 
einmal nicht da war und Beppino, der zweite Diener, 
gerade den Tiſch deckte. Madame waren kaum über 
der Schwelle, als ein Herr ſchnell die Treppe herauf- 
kam, Madame ein paar Worte in der barbariſchen 
Sprache zurief, in der Madame immer mit dem Jwan 


a} Roman von E. v. Ablersfeld-Balleftrem. 33 


ſpricht, und ihr einen Brief überreichte, worauf er wieder 
die Treppe hinablief —“ 

„Wer war der Herr?“ warf Windmüller ein. 

„Weiß ich nicht,“ entgegnete Ceſarine achſelzuckend. 
„Ich habe ihn nie vorher geſehen, und Madame em- 
pfängt oft Beſuche, die ihren Namen nicht ſagen, die 
gehen, ohne wiederzukommen, mit denen ſie Ruſſiſch 
redet, ſo daß man nicht au kann, warum fie samen 
und was fie wollen, kurz — “ 

„Rückſichtslos gegen Sie, Mademoiselle . i agte Wind- 
müller teilnahmvoll. „Nun, und die Gran Prinzeſſin 
las den Brief natürlich und —“ 

„Gewiß,“ fiel Ceſarine bereitwillig ein. „Madame 
öffnete den Brief gleich hier, überflog ihn, und ohne 
ſich Zeit zu nehmen, Hut und Mantel abzulegen, ſetzte 
ſie ſich damit vor das Tiſchchen dort am Kamin, zog 
die Handſchuhe aus und las den Brief mindeſtens zehn- 
mal durch, Monſieur, denn ich ſchielte natürlich hin, 
während ich die Handſchuhe aufnahm, und ſah ganz 
genau, daß er nur wenige Zeilen enthielt. Eh bien, 
Madame achtete nicht auf mich, ſchien mich évidemment 
ganz vergeſſen zu haben, und natürlich blieb ich, wo 
ich war, denn ich mußte doch meine Befehle abwarten 
— nicht?“ | | 

„Sehr korrekt, ſehr!“ lobte Windmüller mit 
Enthuſiasmus. u 

„Ich ſehe, Monſieur haben den richtigen Sinn für 
meine Pflicht,“ fuhr Ceſarine mit einem nur einer 
Franzöſin möglichen Augenaufſchlag fort. „Eh bien, 
Madame nahmen, was mich natürlich ſehr wunderte, 
nachdem ſie über dem Brief eine Weile gegrübelt, einen 
der Papierbogen, die immer hier bereit liegen, für den 
Fall, daß ein Beſuch, der Madame nicht antrifft, eine 
Votſchaft hinterlaſſen will, den daneben liegenden Biei- 

1914. v. 3 


34 Das Roſazimmer. DO 
— ——ꝛ ——— — — — . 


ſtift, zog damit über das Blatt lauter Quadrate und 
ſchrieb Nummern hinein, und dann, den Brief in der 


Hand, ſchien ſie ihn abzuſchreiben, aber nicht etwa in 
einer Linie, ſondern einmal ein Wort hier, ein Wort“ 


da, ganz durcheinander —“ 

„Ganz merkwürdig!“ meinte Windmüller. „Und 
dann —2“ 

„Dann tippte ſie mit dem Stift auf die Quadrate, 
in die ſie geſchrieben — in das eine zwei, drei Worte, 
in andere wieder nichts, ſah plötzlich auf und fuhr mich 
an, was ich hier mache, lachte dann kurz auf, tippte noch 
einmal das ſonderbare Geſchreibſel mit dem Bleiſtift 
ab, ballte den Bogen zuſammen und warf ihn ins Feuer, 
denn es iſt ſchon kühl am Abend, und wir müſſen immer 
den Kamin hier heizen —“ 

„Natürlich!“ fiel Windmüller ein. „Und nachdem 
der Bogen verbrannt war —“ 

„Hab Madame den Befehl, zu packen. Voilà tout!“ 

Windmüller zog ein Goldſtück aus der Weſtentaſche 
und drückte es in Ceſarines raſch hingehaltene Hand. 


* *. 


„And was machte Madame mit dem Briefe, den fie 


erhalten?“ fragte er in gewinnendem Ton. 


„Das weiß ich nicht. Ich habe darauf nicht geachtet,“, 


war die ſichtlich ehrliche Antwort. „Sie wird ihn wohl 
mit dem Bogen verbrannt haben.“ f 
„Jedenfalls — jedenfalls,“ ſtimmte Windmüller zu, 
indem er in ſeiner Weſtentaſche herumfingerte und den 
gierigen Blick auffing, mit dem Ceſarine das verfolgte. 
„Nun, das wäre wohl alles. Hm. Ja, was ich noch 
ſagen wollte — die Signora Principeſſa iſt dann wohl 
in dem Anzuge abgereiſt, den ſie am Nachmittag trug?“ 
„Aber Monſieur!“ machte die Zofe mit Entſetzen. 
„Madame hatte ein weißes Tuchkleid an, eine Robe, 
die erſt tags zuvor aus Paris gekommen war, ein Traum 


a Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 35 


von einer Robe — Rod, Paletot und Weſte mit Geiden- 
galonen beſetzt. Das hätte gut ausgeſehen nach einer 
Fahrt in der Eiſenbahn! Und von dem weißen Hute 
gar nicht zu reden, Faſſon Marquis, mit einer köſtlichen 
weißen Pleureuſe darauf. Nein, nein, Monſieur, ſie 
hat. gewechſelt und ein graues Reiſekleid mit grauem 
Staubmantel angezogen, während ich den kleinen Koffer 
packte.“ 

Windmüller lächelte gewinnend. „Ja, wenn ich 
gewußt hätte, daß Madame ein weißes Kleid anhatte, 
ehe ſie abreiſte, dann hätte ich die dumme Frage nicht 
getan,“ ſagte er mit rührender Einfachheit. „Alſo ein 
„Traum“ war dieſes Kleid! Ich ſchwärme für ſolche 
Träume, Mademoiſelle —“ wieder fingerte er in ſeiner 
Weſtentaſche und zog noch ein Zwanziglireſtück hervor. 
„Sehen Sie,“ machte er naiv, „da habe ich ja noch 
ſolch ein Ding hier — hübſche Münzen, Mademoiſelle 
— nicht wahr? Zch gäbe dieſes Stück darum, wenn ich 
das neue weiße Koſtüm der Frau Prinzeſſin aus Paris 
einmal ſehen könnte.“ | 

„Wenn es weiter nichts ift, Monſieur — ich hole 
das Koſtüm ſofort,“ rief Ceſarina mit funkelnden Augen. 
„Madame hat es ſelbſt in der Garderobe aufgehängt, 
während ich den Koffer packte, denn ſie iſt ſehr eigen 
mit ihren Sachen.“ | 

Windmüller hob beide Hände beſchwörend auf. 
„Wie würde ich Sie ſelbſt bemühen wollen, Made- 
moiſelle!“ rief er in dem Tone eines Menſchen, dem 
man eine Unwürdigkeit zumuten will. „Das ſei fern 
von mir! Zudem müſſen Sie doch hier an der Tür 
ſein, für den Fall der Herr Kammerdiener zurückkehrt, 
der ſicher die Hintertreppe verſchmähen dürfte — wenig- 
ſtens ſolange Ihre Herrin nicht da iſt! Nein, nein, 
nein! Ich gehe ſelbſt, dieſen Traum von einer Pariſer 


2. 


36 Das Rofazimmer. o 


Robe zu bewundern — natürlich in Geſellſchaft des 
Herrn Marcheſe — — Oh, haben Sie ſich erkältet?“ 
unterbrach er fih teilnahmvoll, durch einen Huften- 
anfall Don Gians veranlaßt, deſſen blaſſes Geſicht 
plötzlich purpurrot geworden war. „Nicht erkältet, fon- 
dern nur die Luft verfangen?“ erläuterte er ein un- 
deutliches Murmeln des ſichtlich wortloſen Diplomaten. 
„Hm — deſto beſſer. Alſo haben Sie die Güte, Herr 
Marcheſe, mir den Weg zu zeigen. — Und Sie, Made- 
moiſelle, würden mich unendlich verbinden, für den Fall, 
daß der Herr Kammerdiener zurückkehrt, ehe wir den 
„Traum“ geſehen haben, wenn Sie dieſen Würdigen 
mit Ihrer Konverſationsgabe aufhalten wollten, bis 
ich fertig bin. Sie verſtehen mich — nicht wahr?“ 

Ceſarine nickte mit blitzenden Augen — ſie verſtand. 

Mit ſehr widerſtreitenden Gefühlen folgte Don Gian 
einer einladenden Handbewegung des mild lächelnden 
Detektivs und ging ihm voraus. Durch eine Reihe 
eleganter Salone, alle mit ausgeſuchtem Geſchmack ein- 
gerichtet, führte er ihn unter einem Schweigen, das 
eine Exploſion verhindern ſollte. 

In der offenen Tür des raffiniert luxuriöſen Schlaf- 
gemachs aber ſtand er ſtill. „Herr Dottor, wollen Sie 
mir jetzt erklären —“ begann er. 

Aber Windmüller ſchob ihn einfach zur Seite. 
„Später, lieber Marcheſe, ſpäter. Es iſt jetzt keine 
Zeit dazu, Ihnen meine Methode auseinanderzuſetzen. 
Wir müſſen fertig ſein, ehe der Spion kommt. — 
Jawohl, Zwan, der Kammerdiener! Ich kenne ihn 
und er mich, was weſentlich dazu beiträgt, daß ich vor 
ihm zum Tempel wieder hinaus ſein möchte. Nicht, 
daß ich ihn fürchte, aber warum einen Zuſammenſtoß 
heraufbeſchwören, wenn er zu vermeiden ift! — Hm — 
dieſes Schlafzimmer iſt ſehr gut aufgeräumt — wir 


6 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 37 


können darüber zur Tagesordnung übergehen, denn 
hier dürfte Ceſarine, diefe Perle, ſchon Muſterung ge- 
halten haben. Welches iſt die Tür zur Garderobe? 
Ah, das können Sie natürlich nicht wiſſen, alſo öffnen 
wir die erſte — mir ſcheint, wir haben die richtige 
gefunden. Mein altes Glück, Herr Marcheſe! Hoffen 
wir, daß es mir auch mit dem „Traum aus Paris“ zur 
Seite bleibt.“ 

Es war ein hübſch proportioniertes e das 
in langer Reihe die Garderobenſchränke, einen dreh- 
baren, dreiteiligen großen Spiegel mit Teppich davor 
und ein niedriges Sofa enthielt. Windmüller machte 
ohne Federleſens den erſten dieſer Schränke auf, in 
dem auf breiten hölzernen Bügeln an meſſingener 
Stange eine Reihe von Kleidern hing und darunter ein 
weißes von feinem Tuch mit ſeidenen Galonen beſetzt. 

„Mir ſcheint, das war's, das meine Schwägerin am 
Vorabend ihrer Abreiſe trug,“ ſagte Don Gian darauf 
deutend. 

Vb Ah — ein perfektes Schneiderkleid!⸗ machte Wind- 
müller bewundernd, indem er mit geübten und ge- 
ſchickten Fingern an den Säumen des fußfreien, engen 
Rodes entlang fuhr. „Natürlich hat es keine Taſche — 
in einer ſolchen Schlangenhaut würde ja ein Bogen 
Papier ſchon die Faſſon verderben. Auch im Paletot 
nichts von ſolch einem nützlichen Behältnis. Dieſe 
Taſchenklappen an den Vorderteilen ſind Blendwerk 
der Hölle, nichts weiter. Wird dasſelbe mit dieſer 
ärmelloſen, eleganten Weſte ſein, die gleichfalls durch 
ſchneidige Klappen Taſchen heuchelt — alfo eine ver- 
gebliche Hoffnung, die mit zwanzig Lire in Gold zwar 
etwas teuer bezahlt ift, doch das muß man eben ris- 
tieren. — Halt! Was bedeutet dieſer durch Druckknopf 
geſchloſſene Schlitz? Eine ſehr geſchickt und raffiniert 


I 


38 Das Rofazimmer. 


87 


angebrachte Bruſttaſche! Und in dieſer Bruſttaſche ein 
etwas läſſig gefaltetes Papier — — Herr Marcheſe,“ 
ſchloß Windmüller faſt andächtig ſeinen Monolog, „hier 
haben Sie wieder einmal den Beweis, wie unvorſichtig 
vorſichtige Leute fein können! Wenn wir uns den Vor- 
gang rekonſtruieren, ſo können wir ſehen, wie Ihre Frau 
Schwägerin, in Gedanken verſunken, auf dem langen 
Wege bis zu ihrem Schlafzimmer das dünne Blatt 
überſeeiſchen Papiers, das ihr der Unbekannte im 
Augenblick ihrer Heimkehr überreicht, dieſer Taſche an- 
vertraut, von deren Exiſtenz Ceſarine wahrſcheinlich 
keine Notiz genommen hat. Während die Perle ein- 
packt, entledigt ſich die Herrin ſelbſt des Pariſer Trau- 
mes‘, hängt das Kleid ſelbſt, da fie ſehr ordentlich iſt, 
in dem Schranke auf, des Papiers darin vergeſſend, 
das ihr eine Aufgabe ſtellt, die ihre ganze Aufmerkſam- 
keit, ihr ganzes, fieberhaft arbeitendes Gehirn in An- 
ſpruch nimmt — — es fällt ihr wahrſcheinlich erft auf 
der Reiſe ein, daß ſie dieſes wichtige Papier vergeſſen 
hat, und ſie tröſtet ſich damit, daß Ceſarine kaum das 
Kleid berühren wird, und ſelbſt wenn ſie es tut, würde 
ihr dieſes Blatt nichts ſagen, ſie um nichts klüger machen, 
denn wie käme ſie auf den Gedanken, daß ein gewiſſer 
Franz Xaver Windmüller fo verrückt fein könnte, die 
neueſte Schöpfung ihres Schneiders bewundern zu 
wollen?“ 

Don Gian trat haſtig einen Schritt näher. „Herr 
Doktor — glauben Sie, daß es in der Tat dieſer Brief 
ift?“ fragte er mit erwachtem Intereſſe, das feinen 
ſtummen Proteſt gegen die „Methoden“ des Oetektivs 
völlig überragte. 

„Irren ift menfchlih, Herr Marcheſe. Unter dieſer 
Reſerve glaube ich Ihre Frage bejahen zu können,“ 
erwiderte Windmüller, das Blatt ſorgfältig in ſeiner 


o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 39 


Brieftaſche verwahrend. „Es ift hier nicht der Ort, 
die Probe aufs Exempel zu machen. Laſſen Sie uns 
daher dies leere Neſt verlaſſen und zu mir fahren, wo 
Sie außer der Löſung des Rätſels auch ein Frühſtück 
erhalten ſollen, das Ihren Lebensgeiſtern, wie ich ſehe, 
ſehr vonnöten iſt. Wie lange haben Sie denn nichts 
mehr an leiblicher Nahrung zu ſich genommen?“ 

„Seit geſtern mittag nichts mehr — aber das ijt 
Nebenſache und —“ 

„Pardon, wenn ich widerſpreche: es ift von weſent- 
licher Bedeutung, wenn Sie Ihre Nerven in dieſem 
Falle nicht verlieren, Herr Marcheſe. Sie würden bald 
abgewirtſchaftet haben, wenn Sie unterlaſſen, Ihrem 
Körper und Ihrem Gehirn die notwendige Nahrung 
zuzuführen. Sie müſſen mir ſchon verzeihen, wenn 
ich mich auch darum kümmere. Ich betrachte Sie eben 
als meinen Klienten, weil die Sache Sie doch verteufelt 
nahe angeht, und es iſt Gewohnheit bei mir geworden, 
auch ein wenig über das leibliche Wohl derer zu wachen, 
deren moraliſchen Zuſtand ins Gleichgewicht zu bringen 
die ideale Seite meines Berufes iſt.“ 

Don Gian ſah den Detektiv erſtaunt an. „Ihr 
Klient?“ wiederholte er. „Sie ſind doch beauftragt 
worden, herauszubekommen, ob nicht vielleicht ich ſelbſt 
das Dokument veruntreut und — und verkauft habe?“ 

Windmüller machte eine Bewegung. „Das war 
nur eine Möglichkeit, mit der gerechnet werden mußte, 
weil die menſchliche Seele Tiefen verbergen kann, die 
man in ihr nicht vermutet,“ ſagte er ernſt. „Ihr Chef 
hat dieſe Möglichkeit nicht zugeben wollen und iſt von 
vornherein mit großer Loyalität für Sie eingetreten. 
Ich indes, der mit der dunklen Seite der menſchlichen 
Seele zu tun hat, mußte mich erſt überzeugen, und 
ich freue mich, ſagen zu können, daß ich jetzt ganz auf 


40 Das Roſazimmer. u 


Ihrer Seite ſtehe. Ob es möglich ſein wird, das ver- 
lorene Dokument wieder zu erhalten, kann ich jetzt noch 
nicht fagen, aber ich denke, daß Ihre Unſchuld zu be- 
weiſen nur noch eine Frage von kürzeſter Zeitdauer 
iſt. Wenn mich nicht alles täuſcht, habe ich dieſen 
Beweis hier in meiner Brieftaſche. — Alſo eilen wir, 
ihn der Prüfung zu unterwerfen!“ 

Don Gian verlor keine Worte. Stumm reichte er 
dem Detektiv zu kräftigem Drucke die Hand und folgte 
ihm mit einem Gefühl der Erleichterung, als ob jemand 
ihm eine unerträglich werdende Laſt von den Schultern 
genommen hätte. Weil er aber ein guter Menſch mit 
tiefem Gemüt war, ſo miſchte ſich in die perſönliche 
Erleichterung die Trauer darüber, daß ſeine eigene 
Rehabilitierung auf Koſten der Witwe ſeines Bruders 
zu geſchehen hatte. 

Im Vorzimmer fanden ſie Cefa arine auf ihrem Poſten 
vor. Der Kammerdiener war noch nicht zurückgekehrt, 
und mit wiederholten Knickſen nahm ſie ihr zweites 
Goldſtück von Windmüller entgegen. 

„Die Robe von Madame iſt in der Tat ein Traum, “ 
ſagte letzterer. „Aber fie hat doch einen Fehler — ſie 
beſitzt keine Taſchen!“ 

„Aber Monſieur!“ rief Ceſarine, den Simmel mit 
unnachahmlichem Augenaufſchlag zum Zeugen für ſolch 
eine Barbarei anrufend. „Madame iſt doch keine 
Bäckersfrau, die ſich ihre Taſchen mit allem möglichen 
vollſtopft! Madame ſteckt ihr Taſchentuch in den Armel 
und trägt die Börſe in ihrem Ledertäſchchen. Und wo 
wollen Monſieur, daß man Taſchen in einem modernen 
Kleide anbringen ſoll, das wie ein Handſchuh ſitzen muß?“ 

„Ah ja, natürlich! Daran denkt man als Mann 
nicht, wenn man nicht zufällig ein Schneider iſt,“ er- 
widerte Windmüller. 


o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 41 
AAA ————Äů ————«—ke, r. .—.—— — — — — 

Vp So iſt's!“ beſtätigte Ceſarine, indem fie mit einem 
Knicks die Tür hinter den beiden Herren zuſchloß, von 
denen fie den älteren entſchieden bevorzugte. Liebe- 
voll klimperte ſie mit ihren beiden Goldſtücken in dem 
Täſchchen ihrer koketten Schürze und pries ihr Glück, 
das den Kammerdiener weggeführt hatte. „Alſo Taſchen 
hat er in dem Kleide geſucht!“ dachte ſie achſelzuckend. 
„Ich hätte ihm die Mühe ſparen können, wenn es das war, 
was er wollte. — Taſchen! Wenn das Kleid Taſchen 
hätte, wären fie von mir längſt nachgeſehen worden!“ — 

„Woraus erhellt,“ murmelte Windmüller noch auf 
der Treppe, „daß auch einem Schneider Ideen kommen 
können, die ihm ſelbſt eine Kammerfrau nicht zutraut!“ 


* * 

Auf der Straße vor dem Palaſte angelangt, hielt 
Windmüller ein vorüberfahrendes leeres Auto an und 
gab dem Chauffeur die Adreſſe feiner Villa am Jani- 
culus mit der Weiſung, daß er ya a würde 
zu warten haben. 

V dch vermute nämlich, daß wir Ihrem Chef P 
mitzuteilen haben werden,“ fagte er, als fih das Auto 
in Bewegung geſetzt hatte, indem er feine Brieftaſche 
hervorzog und das Blatt daraus entnahm, das er in 
der Garderobe der Marcheſa v. Terraferma entdeckt. 
Er ſah es eine Weile an und reichte es dann Don Gian. 
„Was machen Sie daraus?“ fragte er. | 

„das ift in deutſcher Sprache geſchrieben!“ rief der 
junge Diplomat überraſcht. „Ich wußte nicht, daß 
meine Schwägerin Oeutſch verſteht.“ 

„Die meiſten gebildeten Ruſſen ſprechen Deutfch,“ “ 
erwiderte Windmüller. „Donna Kenia hatte in Ihrer 
Familie vielleicht nur keine Gelegenheit, dieſe Kenntnis 
anzuwenden.“ 


42 Das Rofazimmer. a 


„Doch, fie wußte, daß ich febr eifrig deutſche Sprach- 
ſtudien treibe, die mir für meinen Beruf neben dem 
Franzöſiſchen und Engliſchen ſehr von Wert ſind.“ 

„Natürlich — ein Diplomat muß alle Sprachen 
kennen. — Bitte, leſen Sie das Blatt durch und ſagen 
Sie mir, was Sie daraus machen.“ 

Don Gian tat, wie ihm geheißen, und las folgendes: 

Braunschweig, 27. Februar 1912. 

Morgen (erlangt) Zug sofort Festland (sie) Venedig 
Meldung eintreffen Frühschiff (Nachtzug) mit Reisen 
cheut) Weiterreise wahrscheinlich (Rom) voraussichtlich 
wird (Wenn) nächsten Venedig Abend (Objekt) Triest. — 

Don Gian gab das Blatt, nachdem er es geleſen, 
mit einem Achſelzucken der Enttäuſchung zurück. „Ge— 
heimſchrift natürlich, für die ſich vielleicht der Schlüſſel 
finden ließe. Aber wozu? Das Billett ift über ein 
halbes Jahr alt, kann alfo das nicht fein, welches meine 
Schwägerin zu ihrer plötzlichen Abreiſe veranlaßt hat, 
wenn ſchon das Wort „Venedig“ zweimal darin vor- 
kommt. Eine alte Mitteilung, vom 27. Februar 
datiert, die Donna Kenia in ihrem Kleide vergeſſen 
hat.“ 

„Das war auch mein erſter Gedanke, als ich das 
Blatt überflog,“ gab Windmüller zu. „Indes, mein 
Beruf weiſt darauf hin, nichts zu überhören und nichts 
zu vergeſſen, und darum fiel mir auch gleich wieder 
ein, daß Ceſarine geſagt, ihre Herrin habe das Kleid, 
dies weiße Kleid mit Paletot und Weſte, erſt vor ein 
paar Tagen aus Paris erhalten. Wäre es anzunehmen, 
daß Donna Kenia Zeit gehabt hätte, ein altes Schreiben 
in dieſe verborgen angebrachte Taſche zu ſtecken, ſelbſt 
den Fall geſetzt, daß es ihr ‚zufällig‘ beim Auskleiden 
in den Weg gekommen iſt? — Kaum! Ferner iſt das 
Papier hier nicht verlegen, nicht monatelang irgendwo 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 43 


aufbewahrt worden — es iſt ganz friſch; nicht weich 
geworden wie altes Papier, ſondern glatt und tadellos 
weiß. Die Tinte“ — damit zog er ein Vergrößerungs- 
glas hervor und betrachtete damit genau die Schrift — 
„die Tinte iſt friſch, wenige Tage nur auf dem Blatt 
— oh, ich kann das genau beſtimmen. Dies Spezial- 
ſtudium gehört zu meinem Beruf. Folglich iſt das 
Datum nur ein Blender, beſtimmt, irrezuführen für 
den Fall, daß die Mitteilung in unrechte Hände ge- 
raten wäre, oder — beim Zeus, ich hab's! — es ent- 
hält den Schlüſſel für die chiffrierte Mitteilung ſelbſt!“ 

„Den Schlüſſel?“ wiederholte Don Gian elektriſiert. 

„Es kann das nur ſein,“ entgegnete Windmüller 
mit einer bei ihm ungewöhnlichen Erregung. „Der 
Umſtand, die Mitteilung, die durch perſönlichen Boten 
in Rom am 6. September überbracht wurde, von Braun- 
ſchweig mit einem über ein halbes Jahr alten Datum 
zu verſehen, kann nur einen ganz beſtimmten Zweck 
verfolgen, und daß dieſes Blatt wirklich nicht vor ſechs 
Monaten geſchrieben worden iſt, dafür ſtehe ich mit 
Hilfe dieſer allerſchärfſten Vergrößerungslinſe ein! — 
Erinnern Sie ſich, daß Ceſarine beobachtet hat und 
uns genau beſchrieb, wie Donna Kenia nach Empfang 
des Billetts fih in der Vorhalle hinſetzte, einen Bogen 
Papier mit Quadraten einteilte, dieſe numerierte und 
dann, das Billett in der Hand, in dieſe Quadrate ſchrieb? 
Wohl, es war nicht (hwer zu erraten, daß fie die er- 
haltene Mitteilung dechiffrierte. Das bedarf kaum der 
Erwähnung, aber daß es dieſes Blatt war, das fie ent- 
zifferte, daß ſie es auf dem Weg in ihr Schlafzimmer 
‚einjtweilen‘ in die Bruſttaſche ihrer Weite ſteckte, end- 
lich, daß gerade dieſes irreführende Datum den Schlüſſel 
der Chiffre enthält — dafür möchte ich das ſchönſte 
Stück meiner Sammlung verwetten! — Wo ſind wir 


44 Das Rofazimmer. Ü 


eben? Oh, erft auf der Piazza Cairoli! Alſo laffen 
Sie uns keine Zeit verlieren und den Reſt des Wegs 
dazu benützen, dem Rätſel nachzuſinnen!“ 

Und das Billett in der Hand, den Blick feſt darauf 
richtend, verſank der berühmte Gentlemandetektiv in 
ein tiefes Kombinationsſtudium, aus dem er erſt auf- 
ſah, als das Automobil vor der kleinen, hübſchen Villa 
auf der halben Höhe des Janiculus jenſeits des Tibers 
vorfuhr. 

Windmüller befahl dem Chauffeur, zu warten, 
öffnete die verſchloſſene Pforte zu dem zierlich be- 
pflanzten Gärtchen, das die Villa umſchloß, mit einem 
Patentſchlüſſel, während er gleichzeitig die elektriſche 
Glocke drückte, und bat Don Gian, einzutreten. 

Ehe die Herren den kurzen, mit Blumenrabatten 
eingefaßten Gang bis zu dem Hauſe zurückgelegt, wurde 
deſſen Tür von einem kleinen, drollig ausſehenden 
Menſchen mit beweglicher Spitzmausphyſiognomie und 
kleinen, funkelnden Schweinsaugen geöffnet, den die 
ruhige, dunkle Livree, die er trug, wie etwas Ungu- 
gehöriges kleidete, beſonders da er die Ankommenden 
mit militäriſchem Gruß empfing. 

„Der Kerl kann ſich die Faxen nicht abgewöhnen,“ 
murmelte Windmüller ärgerlich. — „Schnell ein Früh- 
ſtück in mein Arbeitszimmer, Pfifferling!“ befahl er, 
noch auf der Türſchwelle. „Tee, Gebäck, Schinken, 
Eier — aber raſch! Jemand hier geweſen? Briefe 
gekommen?“ | 

„Verſteht ſich, Herr Doktor,“ verſicherte Pfifferling 
höchſt inkorrekt — für feine Livree. „Briefe, mehrere 
Telegramme und ein zierliches Schreiben, für das ich 
dem Überbringer, einem ſchäbigen Individibum, eine 
Quittung ſchreiben mußte. Es liegt noch keine zehn 
Minuten oben.“ 


(a) Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 45 


„Gut. Nehmen Sie dem Herrn hier Paletot und 
Hut ab und trollen Sie ſich. Verſtanden?“ 

ö „Vollkommnement, Herr Doktor!“ erwiderte 
Pfifferling mit einem Kratzfuß, der in einer Poſſe auf 
einer Volksbühne Effekt gemacht hätte. „Ich ver- 
dufte!“ Zu. 

„Wenn Sie mal einen korrekten Diener brauchen 
ſollten, Herr Marcheſe, dann holen Sie fih den Men- 
ſchen,“ ſagte Windmüller lachend, als er ſeinen Gaſt 
die Treppe hinaufgeleitete, die wie die kleine Vorhalle 
mit ſeltenen alten Waffen aller Länder dekoriert war, 
„Die Livree ift aber nur Blendwerk — Pfifferling ift 
nämlich mein Faktotum, zu dem er ſich aus eigener 
Machtvollkommenheit gemacht hat. Er führt mit mir das 
alte Märchen von Sintbad, dem Meerfahrer, auf, in- 
dem er den Meergreis mimt, den ich nicht mehr los- 
werden kann. Aber er fängt an, ſich zu machen, was 
ſeine beſcheidene Mitwirkung an meiner Arbeit betrifft 
— zum Diener hat unfer Herrgott ihn in feinem Borne 
werden laſſen.“ 

Don Gian folgte ſeinem Wirte mit unwillkürlich 
erwachter Aufmerkſamkeit in das Gemach, das er als 
ſein Arbeitszimmer bezeichnet hatte. Es war mehr 
eine Bibliothek, denn die Wände waren mit Bücher- 
regalen bis auf Manneshöhe bedeckt und zuoberſt mit 
allen nur möglichen Gegenſtänden beſtellt: Büſten, Vaſen, 
antiken Fragmenten; Gemälde wechſelten in zwangloſer 
Reihe miteinander ab, aber in dem ganzen Arrangement 
verriet ſich der wohlgeſchulte Liebhaber, der ſeine Schätze 
nicht wahllos hier aufgeſtapelt. In der Mitte des 
ſchönen, großen Raumes ſtand ein großer, koſtbarer 
Schreibtiſch von Boule, bedeckt mit Papieren, Akten- 
faſzikeln, Büchern, und auf der ledernen Mappe mit 
dem davorgeſchobenen Lehnſeſſel, einem Prachtſtück des 


46 Das Roſazimmer. | ao 


Cinquecento, lagen wohlgeordnet die eingelaufenen 
Briefe und Telegramme. 

Windmüller bat feinen Gaſt, vor einem leeren ein- 
gelegten Tiſch in der einen Fenſterniſche Platz zu neh- 
men, und ſetzte ſich dann ſelbſt vor ſeinen Schreibtiſch, 
um die Depeſchen zu durchfliegen, die er nebſt dem 
einen markenloſen Briefe mit einem Stück orientaliſchen 
Jaſpis beſchwert neben ſich hinlegte, und Don Gian, 
der ihm mit unverhohlen brennendem Intereſſe zuſah, 
machte die Beobachtung, daß ſein Wirt während dieſer 
mit Methode betriebenen Beſchäftigung febr nachdent- 
lich ausſah, als ob ihm ein neues Rätſel in den Weg 
getreten wäre. 

„Alles zu feiner Zeit, Herr Marcheſe,“ ſagte Wind- 
müller, das Geſicht ſeinem Gaſt zuwendend, der erſtaunt 
zurückfuhr und fidh fragte, ob er feine Beobachtung un- 
bewußt in Worte gekleidet. „Es ſcheint in der Tat, als 
ob wir in eine neue Phaſe der Angelegenheit getreten 
wären. Ehe wir jedoch auf dieſe eingehen, müſſen 
wir ſuchen, das chiffrierte Billett zu enträtſeln. Wenn 
der Schlüſſel paßt, auf den ich unterwegs geraten 
bin, dann werden wir bald klüger ſein. Ich habe ſo 
viel mit Geheimſchriften zu tun, die ein ganzes 
Studium für mich gebildet haben und immer noch 
bilden, daß mir ſo leicht keine unzugänglich iſt. Alſo, 
ans Werk!“ 

Don Gian ſah mit fieberhafter Spannung zu, wie 
Windmüller einen leeren Papierbogen in Quadrate mit 


dem Bleiſtift einteilte, diefe Quadrate von 1 bis 24 


numerierte und dann, den linken Zeigefinger gewiljer- 
maßen als Weiſer auf dem chiffrierten Blatte führend, 
in die Quadrate zu ſchreiben begann. 

Er war damit noch eifrig beſchäftigt, als Pfifferling 
mit dem Frühſtück erſchien, das Brett auf einen Wink 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 47 


ſeines Brotherrn auf den Tiſch vor den Gaſt ſtellte 
und dann ſchleunigſt wieder verſchwand. 

Mechaniſch goß Don Gian ſich eine Taſſe Tee ein 
und trank ſie raſch aus, aber ſeine Nerven waren in 
einem Zuſtande der Erwartung, daß er vorläufig noch 
keinen Biffen hinuntergebracht hätte. 

Da ſah Windmüller auf. „Die Sache war einfacher, 
als ich gedacht,“ ſagte er. „Das Datum iſt's, das den 
Schlüſſel enthält, wie ich es angenommen; es war der 
„Vogel, der die Geſchichte verraten hat‘. Einen Augen- 
blick wollten mich die eingeklammerten, einfach und 
doppelt unterſtrichenen Worte aus dem Sattel heben, 
aber auch ſie fügten ſich dann wie von ſelbſt dem Ganzen 
ein. Doch ich will Sie nicht länger auf die Folter 
ſpannen. Der dechiffrierte Inhalt des Villetts lautet: 
„‚Feſtland“ — das ift die deutſche Überſetzung Ihres 
Namens Terraferma — ‚Feitland wird morgen abend 
vorausſichtlich Venedig eintreffen. Weiterreiſe Trieſt 
Frühſchiff wahrſcheinlich. Reifen Sie heut mit Nacht- 
zug Venedig. Wenn Objekt erlangt, nächſten Zug Rom. 
Sofort Meldung.“ — Nun, Herr Marcheſe, dieſes toft- 
bare Blättchen beſtätigt zwar Ihren Verdacht über 
die Beſchäftigung und Einnahmequellen Ihrer Frau 
Schwägerin, aber es iſt auch Ihre eigene, vollſtändige 
Rechtfertigung, zu der ich Sie von Herzen beglüd- 
wünſche —“ 

„Und die Beſtätigung, daß dieſes inhaltſchwere 
Dokument in den Händen derer iſt, die es gegen mein 
Vaterland bis zum äußerſten ausnützen werden!“ rief 
Don Gian aufſpringend. 

„In dieſer Beziehung iſt das letzte Wort noch nicht 
geſprochen,“ erwiderte Windmüller mit Nachdruck. „Auf 
alle Fälle ſtehen Sie rein da; Sie ſind das Opfer eines 
Verrates und einer Intrigantin geworden, die ihre 


48 "Das Rofazimmer. a] 


Netze mit einer Berechnung gelegt hat, die fait alles 
Dageweſene überſteigt. Doch davon ſpäter. Hier dieſe 
Depefhen meiner Agenten melden mir, daß Donna 
Kenia auf keiner der Etappen, die fie auf ihrer vermut- 
lichen Weiterreiſe berühren mußte, eingetroffen iſt. 
Eine Verkleidung, die ja eigentlich anzunehmen war, 
ſcheint nach den Berichten zwar ausgeſchloſſen, aber es 
iſt immerhin möglich, daß ſie unter einer ſolchen doch 
noch durchgeſchlüpft iſt. Nun aber ſehen wir aus dieſem 
chiffrierten Billett, daß Donna Kenia den Befehl hatte, 
mit dem erlangten Objekt nach Rom zurückzukehren und 
ſich damit ſofort bei ihren Auftraggebern zu melden. Daß 
fie in ihrer Wohnung jedoch nicht eingetroffen ift, da- 
von haben wir uns vorhin überzeugt, und dieſer Zettel, 
den mein Agent vor unſerer Ankunft in meinem Hauſe 
hier abgegeben hat, meldet mir, „daß das Ausbleiben 
der Marcheſa Terraferma an zuſtändiger Stelle‘ — um 
keine Namen zu nennen — „Unruhe und Beſtürzung 
verurſacht hat“. Mithin ift ‚man‘ auch dort ohne Nach- 
richt über fie, hat — was für Ihre Regierung das 
Weſentliche iſt — das bewußte Dokument nicht oder 
wenigſtens noch nicht in Händen.“ 

Windmüller hielt ein und ſah ſeinen Gaſt an, der 
näher getreten war und ſich über den Schreibtiſch a 
überlehnte. 

„Sie hatte Befehl, nach Rom mit dem Hokument 
zurückzukehren, und hat es nicht getan!“ rief Gian aus. 
„da, um alles in der Welt — wo aS fie dann þin- 
gekommen?“ 

„Das zu ergründen, wird meine Arbeit ſein,“ er- 
widerte Windmüller ſinnend. „Es gibt — ſoweit ich 
es im Augenblick überſehen kann — drei Möglichkeiten: 
fie ift beſeitigt worden von Leuten, die auch ein Inter- 
effe an dem Dokument haben, oder fie hat dieſer an- 


(s) Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 49 


deren Seite das Dokument freiwillig ausgeliefert und 
findet nun für gut, ſich ihren Auftraggebern zu ent- 
ziehen, bis es wieder ſicher iſt —“ 

„Meine Schwägerin hat ihren kleinen Koffer, der 
nur das Nötigſte für die Nacht und eine einzige Abend- 
toilette enthält, in Venedig zurückgelaſſen,“ unterbrach 
ihn Don Gian kopfſchüttelnd. „Eine Perſon von ihren 
Anſprüchen geht nicht mit ſozuſagen nichts auf eine 
Reife von unbeſtimmter Dauer.“ 

„Mit Geld in der Hand kann man alles kaufen, was 
man braucht oder zu brauchen glaubt,“ entgegnete Wind- 
müller ruhig. „Es war ſehr geſchickt, den Trick, wenn 
ſie einen beabſichtigt hat, ohne Reiſegepäck auszuführen. 
Das macht den Verdacht einer Beſeitigung wahrſchein- 
licher, und der Befehl für Ceſarine, das Maskenkoſtüm 
für den Baſar zu geſtern abend bereitzulegen, unterſtützt 
ihn, unterſtreicht ihn gewiſſermaßen. Anderſeits blieb 
ihr nichts anderes übrig, als Ihr Haus in Venedig 
unbeſchwert von jedem Reiſegepäck zu verlaſſen, wenn 
ſie es unbeobachtet tun wollte, tun mußte, um heil 
und ungefragt herauszukommen. — Und dann iſt noch 
die dritte, aber unwahrſcheinlichſte Möglichkeit, daß 
Donna Kenia ſich dadurch, daß ſie alle Ausgänge des 
Hauſes verſchloſſen fand, genötigt fah, fih in demſelben 
zu verbergen, bis die Gelegenheit ſich bot, unbemerkt 
hinauszuſchlüpfen.“ 

„Das iſt ſo ungefähr, was mein Portier behauptete,“ 
ſagte Don Gian kopfſchüttelnd. „Ich glaube zwar nicht 
daran, habe aber für alle Fälle einen Geheimpoliziſten 
in mein Haus genommen, der die Ausgänge nicht nur 
zu bewachen, ſondern auch zu verhindern hat, daß 
Donna Xenia den Palaſt verläßt. Ob das erlaubt ift 
oder nicht, darum konnte ich mich nicht kümmern. Meine 
Großmutter verſprach mir, auf alle Fälle =. zu 

1914. v. 


50 Das Rofazimmer. o 


geben, und diefe liegt wohl jetzt ſchon in meiner Woh- 
nung. Ich zweifle nicht, daß fie eine negative ift, denn 
meine Schwägerin dürfte ſich vorher verſichert haben, 
wie und auf welchem Wege fie das Haus verlaſſen 
konnte. Sie hat es ſicher nicht darauf ankommen laſſen, 
ob ſie die Schlüſſel in den Schlöſſern der Ausgänge 
finden würde oder nicht, ſondern ſich vorgeſehen. Das 
Sonderbare dabei ift — und es gibt Ihrer dritten Mög- 
lichkeit das meiſte Recht — daß mein Portier darauf 
ſchwört, alle Ausgänge ſeien früh innen verriegelt ge- 
weſen.“ 

„Was für einen Ihnen unbekannten geheimen Aus- 
gang ſpräche,“ ſchloß Windmüller aufſtehend. „Und 
nun, Herr Marcheſe, effen Sie ſchnell etwas — einen 
Biſſen Schinken, ein paar Eier. Ich helfe Ihnen dabei, 
und dann wollen wir über Ihre Wohnung, um dort 
nachzuſehen, ob und welche Botſchaft Sie von daheim 
erwartet, zu Ihrem Chef zurückkehren und ihm Bericht 
erſtatten. Und da es ihn freuen wird, Sie frei von 
jedem Verdachte zu wiſſen, ſo wollen wir uns beeilen 
— abgeſehen davon, daß auch ich ſo raſch wie möglich 
in Aktion treten muß, um zu verſuchen, das geraubte 
Dokument wiederzuerlangen.“ | 

Don Gian fah ein, daß gegen Windmüllers menjden- 
freundliche Anordnung nichts zu wollen war, und zwang 
ſich, das vorgeſetzte Frühſtück zu ſich zu nehmen. 

In der Tat fühlte er ſich danach und nicht zum 
mindeſten im Verein mit dem in Windmüllers Bruſt- 
taſche ruhenden Beweis feiner Schuldloſigkeit wejent- 
lich gekräftigt, als er nach wenigen Minuten wieder 
neben dem Detektiv im Automobil fap und zunächſt 
ſeiner Wohnung an der Piazza Colonna auf dem 
kürzeſten Wege entgegenfuhr. 

Windmüller ſprach unterwegs keine zehn Worte; 


o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 51 


— 


er war in tiefes Sinnen verſunken, und Don Gian hatte 
auch genug zu denken, um ein Geſpräch zu vermiſſen. 
Als das Auto vor dem alten Palaſt, in dem er ſeine 
Mietwohnung hatte, hielt, eilte er allein hinauf, um 
nach einer etwa eingetroffenen Nachricht zu ſehen. 

Er fand ein Telegramm ſeiner Großmutter, in früher 
Morgenſtunde aufgegeben, vor, das, wie er es eigent- 
lich ja auch erwartet hatte, nur die Worte enthielt: 
„Von Kenia nichts gehört und geſehen. Grüße. Nonna.“ 
Er eilte damit wieder zu dem Wartenden zurück und 
fuhr mit ihm zu feinem Chef, der die Gemeldeten fo- 
fort vorließ und ihnen mit einem, feine Ungeduld ver- 
ratenden „Nun — was gibt's Neues?“ entgegentrat. 

„Viel und — nichts,“ erwiderte Windmüller und 
erſtattete ohne Verweilen ſeinen Bericht, indem er das 
gefundene Billett und deffen Oechiffrierung vorlegte. 
„Exzellenz haben damit auch die nicht ganz wertloſe 
Kenntnis der angewendeten Geheimſchrift erlangt,“ 
ſchloß er. „Dieſe muß ja natürlich gewechſelt werden, 
wie wir Eingeweihten alle wiſſen — um dem Vorteil 
vorzubeugen, den die nicht Zuſtändigen daraus bei 
einem etwaigen Verrat ziehen können; indes wird dieſe 
Formel wohl jetzt die ‚dort‘ angewendete bleiben, falls 
der Verdacht, daß dieſes Billett in unſere Hände ge- 
fallen iſt, nicht zur Gewißheit wird. Die Ohren jedoch, 
die gehört haben, daß der Marcheſe Terraferma be- 
auftragt werden würde, das bewußte Dokument nach 
Wien zu bringen, können in dieſem Augenblick auch 
hören, daß der Auftrag an die Principeſſa in unſeren 
Händen und der Schlüſſel der Geheimſchrift gefunden iſt.“ 

„Ich hoffe und glaube das nicht,“ erwiderte der 
Minifter grimmig. „Ich habe vor kaum einer halben 
Stunde den Bericht des Chefs unſerer Geheimpolizei 
erhalten, daß ſich an dem verhängnisvollen Tage, an 


52 Das Rofazimmer. D 


welchem die Reife Terrafermas beſchloſſen wurde, unter 
den Arbeitern, die hier im Miniſterium eine neue elektri- 
ſche Anlage zu machen hatten, ein Mann befand, der ſich 
nach Angabe der Dienerſchaft mehrmals in dem großen 
Haufe ‚verirrt‘ haben wollte. So gab er wenigſtens 
an, als er zu wiederholten Malen in dieſem Teil des 
Palaſtes betroffen wurde. Der Mann, der Baſilio 
Mamerti zu heißen vorgab, war den anderen Arbeitern 
unbekannt und nach ihnen erſchienen mit der Angabe, 
daß der Padrone des Geſchäfts ihn nachgeſandt habe, 
um gewiſſe Teile der Anlage nachzuprüfen. Dieſe an 
ſich recht unglaubwürdige Angabe wurde indes an- 
ſtandslos hingenommen, und ich zweifle nicht, daß dieſer 
Mann es war, der — wahrſcheinlich mit Hilfe eines 
beſtochenen Individuums — in dem Haufe einen be- 
quemen Lauſcherpoſten fand.“ 

„Daran zweifle ich auch nicht,“ meinte Windmüller 
trocken. „Hoffen wir alfo, daß dieſer Poſten im Augen- 
blick unbeſetzt iſt, denn wenn auch die Geheimpolizei 
nach dem ſchönen Grundſatz: „Eile mit Weile“ dieſen 
rätſelhaften Baſilio Mamerti jedenfalls nicht im Geiſte 
dingfeſt gemacht haben dürfte, wobei es ja auch bleiben 
wird, fo hat doch der Mann inzwiſchen längſt Zeit ge- 
habt, zu verduften. Allein er liegt außer dem Bereiche 
meiner Aufgabe, die jetzt wohl einzig und allein darin 
beſteht, die Marcheſa Terraferma zu ſuchen. Daß ſie von 
— von der Seite, in deren Auftrage ſie ihre Fahrt nach 
Venedig unternahm, vermißt wird, wiſſen wir —“ 

„So ſagten Sie,“ unterbrach ihn der Miniſter. „Darf 
ich fragen, wie Sie zu dieſer Information gekommen 
ſind?“ 

„Gewiß dürfen Exzellenz fragen,“ erwiderte Wind- 
müller liebenswürdig, „aber eigentlich dürfte ich darauf 
nicht antworten. Indes erkenne ich das Recht an, mit 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 53 


dem Exzellenz eine Garantie für die Zuverläſſigkeit 
dieſer Angabe verlangen können. Nun, ich habe an 
eben jener Stelle, welche die Marcheſa Terraferma als 
politiſche Agentin beſchäftigt, eine kleine Aufgabe zu 
löſen — oh, keine politiſche, nichts, was unſere Sache 
ſtört, nur ein ganz gewöhnlicher Fall von — hm — 
Kleptomanie. Da ich es für Kraftvergeudung halte, 
mir meine Zeit damit zu vertrödeln, ſo habe ich einen 
meiner Agenten in der hübſchen und netten Rolle eines 
Kronleuchterreinigers, der gerade dort gebraucht wurde, 
eingeſchmuggelt. Er iſt ein intelligenter und geſchickter 
Mann, mein Agent, der ſeine Ohren und Augen zu 
gebrauchen weiß — ein hübſcher Menſch außerdem, der 
dieſen Vorzug bei Stubenmädchen und Kammerzofen 
zur Geltung zu bringen verſteht. Die Hauptſache aber 
ift: er ift ſehr zuverläſſig in feinen Angaben, und — 
er wird noch ein paar Tage mit dem Reinigen der vielen 
Kronleuchter in dem Botſchaftspalaſte zu tun haben, 
ſo daß die Nachrichten über die Marcheſa Donna Kenia 
uns ganz warm erreichen werden — Sie wenigſtens, 
Exzellenz, denn ich werde mich unverzüglich auf die 
Suche nach ihr begeben und als Ausgangspunkt Venedig 
wählen, wo ich mir eine kurze Gaſtfreundſchaft von dem 
Herrn Marcheſe erbitte.“ 
Don Gian wollte ſofort bejahend antworten, aber 
der Miniſter fiel ihm ins Wort. 
„Sie ſollen den Herrn Doktor begleiten, Terraferma,“ 
rief er freundlich. „Einmal dürfte Ihre Anweſenheit 
dort an ſich von Nutzen ſein, und dann ſollen Sie ſich 
daheim bei den Ihrigen von dem Nervenchok erholen, 
der, wie ich nur zu gut ſehe, ſelbſt Ihre geſunde Natur 
ſtark ins Wanken gebracht hat. Ja, ja, Sie haben Ur- 
laub — ich will mir meinen Sekretär erhalten und 
ihn nicht gleich in das Joch der Arbeit ſpannen — Sie 


54 Das Rofazimmer. o 


würden ja doch jetzt nichts leiſten können. — Nein, 
faſſen Sie es nicht falſch auf: Sie haben mein volles 
Vertrauen und hatten es ſelbſt im Augenblick des erſten 
Schreckens, und niemand freut ſich mehr als ich, daß 
Ihre Schuldloſigkeit, für die ich gleich und ohne Zögern 
eingetreten bin, ſo glänzend bewieſen worden iſt. Doktor 
Windmüller iſt mein Zeuge, daß ich an Ihnen nicht 
gezweifelt habe, und wenn er erſt ſehen und prüfen 
wollte und mußte, ſo war dies nicht mehr, als auch 
ich zu tun verpflichtet war. — Es iſt Ihnen doch recht, 
Herr Doktor, daß der Marcheſe Sie begleitet?“ 

„Exzellenz ſind mir damit zuvorgekommen — ich 
hatte darum bitten wollen,“ erwiderte Windmüller ver- 
bindlich. „Und nun laſſen Sie uns keine Zeit verlieren 
— wir können den Mittagszug noch erreichen.“ 

„Sie haben jedenfalls aber noch Zeit, um mir 
einen Wink über den Schlüſſel der Chiffre dieſes wich- 
tigen Billetts geben zu können,“ bemerkte der Miniſter, 
auf das im Kleide der Marcheſa gefundene Schriftſtück 
deutend, das auf ſeinem Schreibtiſche lag. 

„Gern,“ entgegnete Windmüller mit einem Blick 
auf die Uhr. „Die Sache iſt eigentlich von größter 
Einfachheit — wenn man fie erſt weg hat. Das Datum 
war's, das mir auf die Spur half — das Datum vom 
27. Februar auf einem friſchen Papier mit ebenſo 
friſcher Tinte geſchrieben — und dieſer Zettel in einem 
Kleide, das erſt vor ein paar Tagen vom Schneider 
aus Paris gekommen iſt. Ferner die von der Zofe 
beobachtete Einteilung eines anderen Papiers in Qua- 
drate, das Numerieren derſelben. Gut. Ich numerierte 
auch — von 1 bis 25, fo viel Ziffern, als das Alphabet 
Buchſtaben hat. Und dann verſuchte ich, die Worte 
der chiffrierten Botſchaft in der Reihe, in der fie ſtanden, 
in die Quadrate einzutragen. Doch das klappte nicht, 


u Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 55 


und ich ſah, daß die eingeklammerten, einfach und 
doppelt unterſtrichenen Worte ihren beſonderen Sinn 
haben mußten. Nochmals das Datum durchprüfend, 
kam mir die Erleuchtung: es enthält mehrere Buchſtaben 
doppelt, einen, das r, dreifach, zwei Buchſtaben fogar 
vierfach, denn die Ziffern in 27 und 1912 ſind natürlich 
gleichbedeutend mit den entſprechenden Lettern der 
Alphabetreihe. Die Klammern und Unterſtreichungen 
konnten alſo nur die erſte, zweite, dritte und vierte 
Wiederholung desſelben Buchſtabens bedeuten, und ſo 
trug ich denn den Wortlaut des Billetts nach dem 
Schlüſſel des Datums oder Buchſtabenzeigers in die 
entſprechend bezifferten Quadrate ein, das zweite a, 
b, u, r einklammernd, das dritte einfach, das vierte 
zweimal unterſtreichend, las dann, abermals der Buch- 
ſtabenfolge des Datums nachgehend, den Text im Zu- 
ſammenhange ab und ſchrieb ihn ſo unter die Chiffre, 
wie er vor Ihnen liegt.“ 

„Höchſt geiſtvoll!“ rief der Miniſter, welcher der 
Erklärung mit dem Stift in der Hand gefolgt war und 
das gleiche Reſultat wie die ihm vorliegende Ent- 
zifferung erzielt hatte. „Und zu dieſer Löſung, die 
unſere Experten vielleicht eine Woche und dann noch 
ohne Reſultat beſchäftigt hätte, haben Sie eine halbe 
Stunde gebraucht! Es iſt wunderbar!“ 

„Exzellenz — Sie ſchmeicheln mir,“ rief Windmüller 
abwehrend, aber doch nicht ohne ein befriedigtes 
Schmunzeln. „Zwiſchen mir und Ihren Sachver- 
ſtändigen iſt eben der Unterſchied, daß hinter ihnen 
nicht die Notwendigkeit der Eile ſteht, die bei mir die 
Rolle des Wetzſteines für die Klinge meiner Gehirn- 
tätigkeit ſpielt. In einem Falle wie dieſem, wo jede 
Stunde von dringendfter Wichtigkeit für ſchnelles Han- 
deln iſt, darf man die Löſung eines im Wege ſtehenden 


56 Das Rofazimmer. Ea 1 


Rätſels nicht einer weitſchichtigen Analyſe unterziehen, 
ſondern muß ſich aufs Raten verlegen. Es gibt ſehr 
kluge und ſehr gelehrte Leute, die im Leben nicht im- 
ſtande ſind, die einfachſte Scharade zu raten, und 
wiederum notoriſch Beſchränkte, die ſofort auf das 
richtige Wort kommen. Zwiſchen dieſen beiden Sorten 
ſtehe ich; ich lebe von meiner Fähigkeit, raſch zu denken, 
und ſchließlich ift ja alles im Leben nur Übungs- und 
Gewohnheitsſache. — Nun aber wollen wir uns emp- 
fehlen, Exzellenz, denn ich muß noch heim, um meine 
Befehle zu geben für die Zeit meiner Abweſenheit.“ 


* * 
* 


Das wartende Automobil entführte Windmüller 
allein nach ſeinem Hauſe, während Don Gian den kurzen 
Weg nach ſeiner Wohnung zu Fuß zurücklegte, dort 
noch einige Sachen packte, auf den Bahnhof fuhr und 
dort, nachdem er fein Gepäck aufgegeben und die Fabr- 
karten für ſich und Windmüller beſorgt hatte, auf den 
letzteren, wie verabredet, am Eingang bei dem Zeitungs- 
verkauf wartete. 

Die Zeit drängte nicht gerade, aber ſie ſchritt doch 
merklich vor, und Don Gian fing an beſorgt zu wer- 
den, ob ſein Begleiter auch noch rechtzeitig eintreffen 
würde. Um das Warten abzukürzen, kaufte er die 
neueſten Zeitungen, und als er ſich damit umwendete, 
ſtand er dem ruſſiſchen Kammerdiener ſeiner Schwä- 
gerin gegenüber, der eben in die Eingangshalle getreten 
war und beim plötzlichen Anblick des jungen Diplomaten 
zwar ſofort den Hut zog, aber den Ausdruck ſeiner 
Überraſchung über diefe unerwartete Begegnung nicht 
verbergen konnte. 

„Der Herr Marcheſe wollen die Frau Marcheſa auch 
empfangen?“ fragte er zwar reſpektvoll, aber doch ſo 


Z er — —— — 1 


1 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 57 


dringlich, daß Don Gian den Mann etwas hochmütig 
muſterte, ehe er, ganz auf der Hut, nach einer kleinen 
Pauſe antwortete: „Erwarten denn Sie die Frau 
Marcheſa jetzt?“ 

Der Kammerdiener räuſperte ſich. „Durchlaucht 
haben zwar nicht befohlen, aber ich denke doch, fie wer- 
den mit dem Expreßzug jetzt eintreffen, und daher 
wollte ich nicht ermangeln, auf alle Fälle zur Stelle 
zu ſein.“ 

„Sehr richtig,“ murmelte Don Gian ſcheinbar un- 
intereſſiert, indem er ſich mit einem Kopfnicken ab- 
wandte und Windmüller langſam folgte, der, während 
Zwan ſprach, hinter ihm in die Halle getreten war 
und ſeinem Reiſegefährten ein Zeichen gemacht hatte, 
das dieſer nicht mißverſtand. 

Der vorausgehende Detektiv hatte ſich inzwiſchen 
{hon mit dem Mann an der Bahnſteigſperre verſtändigt 
und war, als Don Gian dieſem die beiden Fahrkarten 
vorwies, ſamt ſeiner Reiſetaſche, die er ſelbſt trug, 
ſchon weit vorausgeeilt und in ein leeres Abteil erſter 
Klaſſe geſtiegen. 

„Tun Sie, als ob Sie nicht zu mir gehörten,“ ſagte 
er haſtig, als Don Gian ſich gleichfalls anſchickte, ein- 
zuſteigen. „Gehen Sie in ein anderes Abteil und 
kommen Sie erft während der Fahrt hier herein. Iwan 
dürfte ſeine Bahnſteigkarte ſchon haben, aber ich glaube 
nicht, daß er mich geſehen hat.“ 

» Oon Gian tat, als ob er fih eines anderen beſonnen 
hätte, und ſchlenderte zum nächſten Wagen, aber ein 
raſcher Blick nach dem Eingang hatte ihn davon über- 
zeugt, daß Jwan in der Tat den Bahnſteig ſchon ber. 
treten hatte. Die Abſicht war klar, denn da der Eilzug 
Venedig — Mailand auf einem anderen Gleis einlief, 
ſo war es nicht ſchwer zu erraten, daß er zu wiſſen 


58 Das Rofazimmer. 2 


wünſchte, ob der Schwager ſeiner Herrin mit dieſem 
Zuge abreiſen oder jemand Abreiſenden ſehen wolle. 

Da es nun unvermeidlich ſchien, dem Manne dieſe 
Gewißheit zu verſchaffen, ſo blieb Don Gian nichts 
übrig, als in den Zug zu ſteigen, aber er lehnte ſich, 
ſcheinbar das Publikum betrachtend, aus dem Fenſter, 
um fidh zu vergewiſſern, ob Zwan ſonſt noch die Reifen- 
den zu beobachten die Abſicht hatte. Natürlich wußte 
er, daß Windmüller nur auf den Gang auf der dem 
Bahnſteig abgekehrten Seite des Wagens zu treten 
brauchte, um ſich dem Blick des Kammerdieners zu 
entziehen, aber es war doch immer gut, zu wiſſen, ob 
er von dem letzteren doch vorher geſehen worden war. 
Es ſchien ja nichts darauf zu deuten, indes wollte das 
noch nichts ſagen. 

„Ich glaube nicht, daß er mich geſehen, wenigſtens 
nicht, daß er mich beachtet hat,“ war Windmüllers 
erſtes Wort, als Don Gian, nachdem der Zug den 
Bahnhof verlaſſen, herüber in ſein Abteil gekommen 
war. „Ich fab ihn dermaßen in Ihren Anblick verſenkt, 
daß ich, wie ich denke, unbeachtet an ihm vorbeihaſten 
konnte. Was wollte denn der Menſch von Ihnen?“ 

„Iwan war fo überraſcht, mich auf dem Bahnhof 
zu finden, daß er ſich ſo weit vergaß, mich zu fragen, 
ob ich die Frau Marcheſa auch zu empfangen käme. 
Demnach iſt ſie nicht nur nicht inzwiſchen eingetroffen, 
ſondern man weiß im Hauptquartier auch noch nicht, 
wo ſie iſt. Noch nicht!“ 

„Ich möchte danach prophezeien, daß ‚man‘ dar- 
über auch noch einige Zeit in Ungewißheit bleiben 
wird,“ meinte Windmüller nachdenklich. „Die Sache 
fängt nun nachgerade an, ein ernſtes Geſicht anzu— 
nehmen. Die Möglichkeit, daß Ihrer Schwägerin etwas 
zugeſtoßen iſt, tritt vor der Annahme, ſie könnte mit 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 59 


dem Dokument eigene Zwecke verfolgt haben, ſtärker 
in den Vordergrund. Fn beiden Fällen aber ſcheint 
es faſt ſicher, daß jemand anderes dem Dokument nach- 
geſtellt hat, um es wahrſcheinlich für ſeinen eigenen 
Nutzen zu verwerten, entweder alſo es den Abſendern 
zum Rückkauf oder den Intereſſenten für einen Phan- 
taſiepreis anzubieten. Natürlich iſt damit noch nicht 
gejagt, daß eine Mitwirkung von Donna Xenia aus- 
geſchloſſen iſt, obwohl ich perſönlich dieſe Annahme 
ausſchalten möchte. Ich kenne die Dame nicht, kann 
alſo für ihre Integrität nicht eintreten, aber wenn ſie 
ſo klug iſt, wie ſie ſein muß, um von jener Seite politiſch 
beſchäftigt zu werden, fo wird fie wiſſen, daß die Ge- 
fährlichkeit eines ſolchen Spieles mit dem Einſatz in 
keinem Verhältnis ſteht.“ 

Don Gian zuckte die Achſeln. „Meine Schwägerin 
poſiert als ‚kapriziöſe Frau“, aber fie ift dreimal fo klug, 
als ſie launiſch und unberechenbar iſt. Sie wird ſicher 
ihren Hals nicht in eine Schlinge legen, die ſich zu- 
ziehen könnte. Ich habe keine anderen Sympathien 
für ſie, als daß ſie meines Bruders Witwe iſt, aber 
aus dieſem letzteren Grunde und rein menſchlich ge- 
ſprochen, hoffe ich von Herzen, daß ihr nichts — zu- 
geſtoßen iſt, wie Sie eben ſagten.“ 

„Es deutet alles darauf hin, Herr Marcheſe,“ er- 
widerte Windmüller ernſt. „Damit brauchen wir frei- 
lich noch nicht gleich das Schliminſte anzunehmen.“ 

„Aber man läßt die Leute doch heutzutage in einem 
Kulturſtaate nicht mehr einfach en “ fiel Don 
Gian ein. 

„Hm — meinen Sie?“ fragte Windmüller trocken. 
„Wir müſſen jedenfalls auch mit dieſer Möglichkeit rech- 
nen, und wenn ſie Wirklichkeit iſt, ſo werden wir ſehr 
bald darüber hören. Wie die Sachen ſich bis zur Stunde 


60 Das Rofazimmer. o 


entwickelt haben, dürfen Sie aber nicht unbedingt dar- 
auf rechnen, daß ich das Rätſel werde löſen können. 
Einer kürzlich veröffentlichten Statiſtik zufolge ver- 
ſchwinden jährlich ungefähr zweitauſend Perſonen ſo 
ſpurlos, als ob die Erde ſie verſchlungen hätte. Freilich 
beſteht der größte Prozentſatz dieſer Vermißten aus 
Vergnügungsreiſenden. Ich gebe jedenfalls keine 
Schlacht für verloren, ehe ich mich nicht geſchlagen 
fühle, und das tue ich im Falle der Donna Kenia durch- 
aus noch nicht. Ich bezweifle zunächſt, daß die Marcheſa 
mit dem Zuge, der den unſeren eben gekreuzt hat, in 
Rom eintrifft; wir werden es in Florenz, wohin ich 
mir eine Depeſche beſtellt habe, erfahren. Aber ich 
zweifle nicht, daß man, dank dem Herrn Zwan, in 
ſeinem Hauptquartier jetzt ſchon weiß, daß Sie mit 
dieſem Zuge abgereiſt ſind; daß ich mit Ihnen in der 
Wohnung der Marcheſa war, weiß man feit Stunden 
ſchon, denn Ceſarine, diefe Perle, wird mit ihrer Per- 
ſonalbeſchreibung vor dem Kammerdiener ebenſo be- 
redt geweſen ſein, wie ich ſelbſt ſie gefunden, beſonders 
wenn — was ich annehme — der Herr Jwan diefe Be- 
redſamkeit gut bezahlt hat.“ 

Wie Windmüller es vorausgeſehen, enthielt das ihn 
in Florenz erwartende Telegramm die Nachricht, daß 
Donna Kenia in Rom wiederum nicht eingetroffen war, 
und damit begann Don Gian eigentlich zum erſten Male 
eine gewiſſe Beunruhigung in bezug auf ſeine Schwä- 
gerin zu empfinden. 

„Es muß ihr in der Tat etwas zugeſtoßen ſein,“ 
bemerkte er unbehaglich. 

„Ich fürchte es auch,“ gab Wind müller lakoniſch zu. 

In Bologna ſtieg er aus, um beim Bahnhofvor- 
ſteher ein zweites und drittes Telegramm, die dort 
auf ihn warteten, in Empfang zu nehmen. Er gab beide 


u Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 61 


Don Gian zu lefen. Das erſte war von dem Minifter 
und teilte mit, daß keinerlei Anzeichen gemeldet worden 
wären, die darauf ſchließen ließen, daß das bewußte 
Dokument in den Händen oder zur Kenntnis der türti- 
ſchen Regierung gelangt ſei. 

„Gott ſei Lob und Dank dafür!“ kam es Don Gian 
dabei aus vollſter Seele. „Und doch kann die nächſte 
Stunde ſchon das Gefürchtete bringen. Und ich bin 
die mittelbare Urſache dazu!“ 

„Wie der Blitzableiter, den man vergeſſen hat zu 
vergolden, und trotz welchem es nun in der Kirche ein- 
ſchlägt,“ bemerkte Windmüller und ſetzte ſcharf hinzu: 
„Verrennen Sie ſich nicht in dieſe Vorſtellung, Herr 
Marcheſe! Sie find an der ganzen Sache fo ſchuldlos 
wie ein neugeborenes Kind, und ſolange Ihr Gewiſſen 
Sie von der kleinſten Nachläſſigkeit freiſpricht, dürfen 
und ſollen Sie eine ſolche Laſt nicht auf ſich laden!“ 

Don Gian ſeufzte und las das zweite Telegramm, 
das Windmüller ihm reichte. Es kam von ſeinem Agenten 
und berichtete, daß in Rom die Unruhe und Beſorgnis 
über das Ausbleiben Donna Kenias im Zunehmen 
begriffen ſei, um ſo mehr, als die Rückkehr des Marcheſe 
Terraferma und ſeine neue Abreiſe, namentlich aber 
ſein Beſuch in früher Morgenſtunde in der Wohnung 
ſeiner Schwägerin als ein Beweis, daß auch er nichts 
über den Verbleib der Dame wüßte, geradezu Be- 
ſtürzung hervorgerufen habe. 

Beide Herren ſchwiegen und lehnten ſich in ſchweren 
Gedanken in ihre Ecken zurück. Gian wurden die Augen 
ſchwer; ſie brannten ihm vor Übermüdung, aber die 
Gedanken hielten ihn wach, alle Nerven in ihm bebten 
— freilich war ja der Verdacht von ihm genommen, 
ein Landesverräter zu ſein, aber noch ſchwebte das 
Damoklesſchwert unberechenbarer Folgen über feinem 


62 Das Rofazimmer. a] 


Vaterlande, falls das Dokument nicht wiedergefunden 
wurde, und ein Mitglied ſeiner Familie war es, das 
den Verrat ausgeübt, ſich für ihn hatte — bezahlen 
laſſen! Darüber kam er nicht weg: ſeines eigenen 
geliebten und betrauerten Bruders Witwe eine bezahlte 
Spionin gegen das Land, dem ſie geſetzlich angehörte! 
Die alte Marcheſa hatte ſchon recht: dieſe ausländiſchen 
Heiraten brachten keinen Segen! Und das früher be- 
ſtandene Verbot, nach dem ein Diplomat keine Aus- 
länderin heiraten durfte, war ein ſehr richtiges. Natür- 
lich, da der verſtorbene Marcheſe Terraferma nicht in 
der diplomatiſchen Laufbahn ſich befunden, war dieſe 
Betrachtung auch nicht zur Sache gehörig; Don Gian 
aber hatte damit einen Rückblick verbunden, indem er 
vor Jahr und Tag ſelbſt drauf und dran geweſen war, 
eine ſehr hübſche und ſteinreiche Amerikanerin aus 
gutem Hauſe zu heiraten. Sie hatte unverhohlen mit 
ihm geflirtet und ihm dadurch ebenſo unverhohlen ge- 
ſchmeichelt, doch als er ſo weit mit ſich im reinen war, 
das entſcheidende Wort zu ſprechen, teilte fie ihm freund- 
licherweiſe ſelbſt mit, daß ſie ſich mit einem engliſchen 
Herzog verlobt habe. 

Dieſes Erlebnis hatte Don Gian — wie der Menſch 
nun einmal ift — im Zuſammentreffen mit der ihm 
jo unſympathiſchen Schwägerin gegen das Ausländer- 
tum im allgemeinen und gegen feine weiblichen Ver- 
treterinnen im beſonderen ungünſtig beeinflußt. Nicht, 
daß ſein Herz ſonderlich beteiligt geweſen wäre. Er 
hatte die hübſche, muntere Amerikanerin eben durch- 
aus ſchick gefunden und feſt geglaubt, auch ohne jenes 
tiefere Gefühl, das man die Liebe nennt, die Reife 
durchs Leben machen zu können und auf dem Fuße 
einer ausgezeichneten Kameradſchaft mit ihr das be- 
rühmte „große Los“ zu ziehen — — das war alles 


o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. | 63 


auf dem Hintergrunde ihres Reichtums, der ihm für 
feine Laufbahn recht wünſchenswert erſchien. Was alfo 
bei dieſer Angelegenheit ihn traf, war die Verletzung 
ſeiner Eitelkeit und Eigenliebe, denn auch der beſte 
Menſch iſt nicht frei davon. 

Don Gians Gedanken gingen immer weiter ſpazieren, 
und endlich ſchloß er die ſchmerzenden, brennenden 
Augen und zwang ſein Sinnen auf lauter nichtige, 
unweſentliche Dinge und Perſonen. Aber ſobald er 
ſich eine ſolche recht deutlich vorgeſtellt, verwandelte 
ſie ſich in die kleine, elfenhafte Geſtalt ſeiner Schwägerin 
mit ihren gleitenden Bewegungen, die ihn immer an 
die einer Schlange erinnerten; er ſah ihr kleines, feines, 
blaſſes Geſichtchen mit den übergroßen Augen vor ſich 
— ſie ſchienen ihn flehend anzublicken, der ſüße Mund 
öffnete ſich, um zu ſprechen — und mit einem Schrei 
fuhr er in die Höhe. Er war eingeſchlafen und hatte 
geträumt. 

Es war lange nach Mitternacht, als der Zug in 
Venedig anlangte. Da Don Gian feine und Wind- 
müllers Ankunft telegraphiſch gemeldet, ſo erwartete 
ſie die Gondel der alten Marcheſa, und die beiden 
Ruderer brachten das lange, ſchlanke Fahrzeug durch 
die jetzt ganz ſtillen und verlaſſenen Kanäle raſch vor 
den Palazzo Terraferma dalla Luna, in deſſen Portal 
Agoſtino, der Portier, der Kammerdiener ſowie ein 
Lakai wartend ſtanden, um das Gepäck in Empfang 
zu nehmen und die Herren in ihre Zimmer zu führen. 

„Ihre Exzellenz die Frau Marcheſa und Donna 
Loredana find auf den Wunſch des Herrn Marcheſe 
ſchlafen gegangen und haben nicht gewartet,“ meldete 
Sebaſtiano, der Kammerdiener, in dem diskreten Ton 
des Dieners eines großen Hauſes. „Ein kalter Imbiß 
für die Herren ſteht in ihren Zimmern ſerviert.“ 


Neues? Die Signora Principeſſa ift nicht wieder- 
gekommen?“ 

„Nein, Herr Marcheſe. Es iſt auch keine Order 
gekommen, ob und wohin der Koffer von Altezza zu 
ſenden iſt,“ erwiderte Sebaſtiano, indem er zur Treppe 
vorausſchritt. 

Don Gian ſah Windmüller an, aber dieſer ſchien 
in den Anblick der rieſigen Halle verſenkt, in die ſie 
direkt aus der Gondel eingetreten waren, eine Halle, 
wie ſie nur ein venezianiſcher Palaſt haben kann, 
mit Marmorflieſen, einer Decke von vergoldeten und 
bemalten Balken, von der ſchmiedeeiſerne Laternen in 
rieſigen Dimenſionen herabhingen, und wenn das elek- 
triſche Licht fih auch darin als ein Zeichen der Neu- 
zeit eingeſchlichen hatte, ſo konnte auch dieſes nur einen 
gewiſſen Radius durchdringen, und in all den ent- 
fernteren Ecken und Winkeln ſchliefen die Schatten der 
Vergangenheit und hüllten fie in tiefes, geheimnis- 
volles Dunkel, während in dem Hofe der uralte Brunnen 
über der längſt geſchloſſenen Ziſterne von dem darüber 
ſtehenden goldenen Monde phantaſtiſch beleuchtet wurde, 
um die den Hof umgebenden Säulenhallen in um ſo 
tieferer, faſt ſamtſchwarzer Finſternis erſcheinen zu 
laſſen. 

„Darf ich bitten, Herr Doktor?“ lud Don Gian ſeinen 
Gaſt ein, ihm voranzugehen. — „Oh, und ehe ich's 
vergeſſe,“ ſetzte er, zu dem Majordomo gewendet, hinzu, 
„ich ſah beim Kommen von der Gondel aus oben im 
erſten Stock ein Fenſter offenſtehen, ein Fenſter des 
Roſazimmers. Es ift wohl vergeſſen worden, beim 
Aufräumen zu ſchließen?“ 

„Nein, Herr Marcheſe,“ erwiderte Sebaſtiano mit 
ſichtlicher Verlegenheit. „Die — die fremden Herr- 


2 Roman von E. v. Adlersfeld Balleſtrem. 65 


ſchaften find heute nachmittag im Piano nobile ein- 
gezogen und —“ 

„Die fremden Herrſchaften?“ wiederholte Don Gian 
ſtehen bleibend. „Welche fremden Herrſchaften?“ 

„Herr Marcheſe haben alfo den Brief Ihrer Erzel- 
lenz doch nicht mehr erhalten! Ich ſagte es gleich, als 
das Telegramm des Herrn Marcheſe heute mittag ein- 
traf —“ 

„Einen Brief? Nein, ich habe keinen Brief mehr 
erhalten. Der liegt jedenfalls ruhig im Briefkaſten 
meiner Wohnung — ich habe in der Eile vergeſſen, 
nachzuſehen. Alſo, wer iſt angekommen und wohnt im 
Piano nobile?“ 

„Herr Marcheſe halten zu Gnaden, aber den fremden 
Namen habe ich noch nicht ausſprechen gelernt,“ er- 
widerte der Kammerdiener kopfſchüttelnd. „Die Frau 
Gräfin v. Candiani kamen, kaum daß Herr Marcheſe 
vorgeſtern abgereiſt waren, mit den Herrſchaften her, 
und diefe haben das Piano nobile, das heißt den ein- 
gerichteten Teil, gemietet und ſind heute nachmittag 
eingezogen!“ 

„Das Piano nobile alſo vermietet!“ murmelte Don 
Gian beſtürzt. Die Vermietung war ja verabredet und 
beſchloſſen und doch berührte ihn die Tatſache wie 
etwas Wehes, Widerſtrebendes, etwas, das ihm auf 
die Nerven ging und ihm das Herz zuſammenzog. 
„So, ſo!“ ſagte er laut. „Und meine Tante Candiani 
hat die Herrſchaften ſelbſt hergebracht? Afo müſſen 
es doch Bekannte von ihr ſein, eh?“ 

„Gewiß, Herr Marcheſe,“ beſtätigte Sebaſtiano, aber 
ohne ſonderliche Begeiſterung. „Die Frau Gräfin reiſen 
ſo viel im Auslande und kennen ſo viele, viele Leute. 
Sie empfangen immer wieder neue.“ — 

Don Gian kannte dieſe Manie ſeiner Tante, aber 

1914. V. 5 


66 Das Rofazimmer. 2 


er wußte auch, daß ſie trotzdem wähleriſch war. Darin 
lag eine gewiſſe Garantie. Sie würde ſicherlich nicht 
eine beliebige „Rotte Korah“ in ſein Haus gebracht 
haben. „Sind es viele Perſonen?“ fragte er, den 
unterbrochenen Weg wieder aufnehmend. 

„Nur drei. Ein alter Herr, eine alte und eine junge 
Dame — Deutſche,“ berichtete Sebaſtiano, ſichtlich über 
die geringe Zahl befriedigt. „Und eine Kammerzofe,“ 
ſetzte er hinzu. 

Don Gian war nicht neugierig; da ſeine Großmutter 
für gut befunden hatte, dieſen Leuten das Piano nobile 
zu vermieten, fo mußten ihre Referenzen auch befriedi- 
gende ſein. Der Name war dabei gleichgültig. 

„Die Hauptſache iſt, daß Ihnen, Herr Doktor, da- 
mit der Weg zu den Zimmern abgeſchnitten iſt, die 
meine Schwägerin hier zuletzt bewohnt hat,“ wandte 
er ſich in franzöſiſcher Sprache an ſeinen Gaſt. 

„Durchaus nicht,“ erwiderte Windmüller gleich- 
mütig. „Auf derartige kleine Hinderniſſe muß ich 
immer gefaßt ſein. Sie ſind nicht der Rede wert!“ 

„Va bene!“ murmelte Don Gian, nicht ganz über- 
zeugt, denn er konnte ſich nicht gut vorſtellen, wie man 
fremden Leuten ohne weiteres und doch ſicherlich ohne 
genügende Begründung „auf die Bude“ rücken wollte. 

„Die Begründung liegt ganz auf der Hand,“ be- 
antwortete Windmüller dieſen Gedanken, als ob Don 
Gian ihn ausgeſprochen hätte. „Übrigens, ich vergaß, 
Ihnen zu ſagen, daß ich der Architekt bin, den Sie ſich 
mitgebracht haben, um in dieſem Haufe einige Ande- 
rungen zu begutachten. Was war es doch, das Sie längſt 
beabſichtigten hier machen zu laſſen?“ 

„Einen Perſonenaufzug!“ erwiderte Don Gian 
prompt. Er hatte begriffen. 

„Richtig. Ich werde alfo wegen des Perfonenauf- 


D Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 67 


zugs morgen den Palaſt gründlich beſichtigen,“ fagte 
Windmüller italieniſch zur Befriedigung Sebaſtianos, 
der aber ſtill für ſich den Kopf ſchüttelte. Denn wozu 
ein Aufzug, wenn doch das Piano nobile vermietet 
wurde? Freilich, der alten Exzellenz wurden die Treppen 
ſchon recht ſauer, aber die Ausgabe, das ſchwere, ſchöne 
Geld, das ſolch ein Aufzug koſtete! Und Sebaſtiano 
ſeufzte ſchwer, denn die Ausgaben und finanziellen 
Schwierigkeiten des Hauſes Terraferma gingen dem 
treuen alten Diener und Vertrauten aller dieſer Sor- 
gen ſehr zu Herzen. 

Inzwiſchen waren die Angekommenen oben im 
zweiten Stockwerk angelangt, und Don Gian führte 
ſeinen Gaſt in die ihm beſtimmten Fremdenzimmer, 
die unmittelbar an ſein eigenes Schlafzimmer anſtießen, 
wünſchte ihm eine gute Nacht und zog ſich in ſeine 
Wohnung zurück. Dort fiel ſein erſter Blick mit einem 
Schauder des Entſetzens auf die zurechtgeſtellte Flaſche 
mit Fruchtſaft, die ihm die im Nebenzimmer in 
tiefem, unnatürlichem Schlafe verbrachte Nacht fo leb- 
haft wieder ins Gedächtnis zurückführte, daß es ihm 
ſchien, als wollte die Luft in den geſchloſſenen Räumen 
ihn erſticken. 

Er machte das eine der Fenſter auf, und den Riegel 
des Ladens zurückſtoßend, wollte er dieſen eben heftig 
zurückſchlagen, um der Nachtluft, der ſchönen, reinen, 
ſalzgetränkten Nachtluft Venedigs Eingang zu ver- 
ſchaffen, als er ſich erinnerte, daß ja das Zimmer, das 
Roſazimmer, unter ihm bewohnt war und er ein Fenſter 
drunten offen geſehen hatte. Um alſo den Inhaber 
dieſes Zimmers nicht in ſeinem Schlafe zu ſtören, legte 
er die Läden leiſe und vorſichtig zurück und lehnte ſich 
dann ſelbſt hinaus, um Luft zu ſchöpfen. 

Der Mond ſtand hoch am dunkelblauen, ſternen⸗ 


68 Das Rofazimmer. 2 


geſtickten Himmel und ſtreute Tauſende von ſchimmern- 
den Goldflittern auf das dunkle, von der Nachtbriſe 
leichtgekräuſelte Waſſer der Kanäle, die ſich an der Ecke 
des Palaſtes kreuzten. Kein Ton, kein Klang unter- 
brach die Stille der weit vorgerückten Nacht, nur das 
leiſe, leiſe Plätſchern der ſteigenden Flut, wenn das 
Waſſer ſich an den Ecken der Häuſer brach oder gegen 
die Marmorſtufen vor den Waſſertoren ſchlug, gab 
Zeugnis davon, daß alles Leben nicht erſtorben war, 
machte die tiefe, tiefe Stille nicht laſtend. Don Gians 
müde, übernächtige Augen folgten dem flimmernden 
Spiel des Mondlichtes auf dem Waſſer in dem Sad- 
kanal unter ſich, und im ſelben Augenblick zog ſich 
ſein Kopf mit einem Ruck zurück. Er hatte unter ſich 
einen anderen Kopf geſehen, der aus dem Fenſter 
des Roſazimmers herausſchaute. 

Einen Kopf, den Ströme von lichtem Haar um- 
floſſen, das im Mondſchein wie flüſſiges Platina ausſah. 

Leiſe beugte er ſich von neuem hinaus, um dieſes 
krauſe, metalliſch ſchimmernde Haar noch einmal zu 
ſehen, weil ihm ein ähnliches noch nie im Leben vor- 
gekommen war und ihm das Bild der auf der Welt- 
kugel thronenden Venezia von Paul Veroneſe im Dogen- 
palafte dabei in den Sinn kam, das auch ſolche Haare 
hatte. | 

In der kleinen Pauſe aber, die zwiſchen feinem erſten 
und zweiten Herauslehnen aus dem Fenſter lag, hatte 
ſich das Bild unter ihm verändert: zwei weißbekleidete 
Arme hatten ſich mit ineinandergeſchlungenen ſchlanken, 
weißen Händen über die Fenſterbrüſtung geſtreckt, und 
der Kopf mit der Flut metalliſch ſchimmernden Blond- 
haares hatte ſich müde darauf geſtützt. Das Haar, auf 
das der Mond gerade ſchien, legte ſich wie ein Mantel 
halb über die rechte Schulter ſeiner Beſitzerin, ſo daß 


o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 69 


von oben von ihrem Profil nichts zu ſehen war; aber 
Don Gian fürchtete, daß durch einen Blick unter dem 
ſchimmernden Schleier zu ihm ſelbſt heraufgeſehen 
werden könnte, und lautlos zog er ſich wieder zurück. 

„Solches Haar! Ich hätte nie geglaubt, daß es 
ſolches Haar geben könnte, das Haar der ‚Venezia‘ des 
Veroneſe!“ dachte er lächelnd — zum erſten Male 
lächelnd ſeit — ſeit er mit ſeiner Schweſter geſprochen. 
Ob's dieſes Lächeln war, ob ein Zauber von dieſem 
mondlichtbeleuchteten Haar ausging, das den eiſernen 
Bann brach, der ihm Herz und Seele umklammert 
hielt, — er wußte es nicht und fragte auch nicht danach. 
Ohne den im Nebenzimmer bereitſtehenden Imbiß zu 
berühren, kleidete er ſich raſch aus, legte ſich zu Bett, 
und der Schlaf völligſter Erſchöpfung rettete ihn in das 
traumloſe Land der zur dringenden Notwendigkeit ge- 
wordenen Erholung hinüber. 


* * 
* 


Als Gian die Augen wieder aufſchlug mit dem Unter- 
bewußtſein, daß irgend eine gegenwärtige Perſon 
wegen irgend einer Pflicht ihn geweckt, war es heller 
Tag, aber ſpät konnte es noch nicht ſein, denn die 
Sonne war noch nicht über das gegenüberliegende Ge- 
bäude geſtiegen. 

„Eh?“ machte er erſtaunt, als feine noch halb ge- 
ſchloſſenen Augen von dem offenen Fenſter an das 
Fußende ſeines Bettes glitten, denn dort auf dem 
davorſtehenden Stuhl ſaß Doktor Windmüller, die 
Hände überm Knie gefaltet, und ſah ihn wohlwollend an. 

„Es tut mir ſehr leid, lieber Herr Marcheſe, Ihnen 
den ſo notwendigen Schlaf verkürzen zu müſſen,“ ſagte 
er mit ſeinem wohlmodulierten Organ, das auch ein 
Vorrecht oder eine Errungenſchaft der Bildung iſt. „Da 


70 Das Roſazimmer. 2 


Sie aber die ſchlechte Gewohnheit haben, bei offenen 
Türen zu ſchlafen —“ 

„Warum hätte ich fie denn zuſchließen follen?“ unter- 
brach ihn Don Gian, im Bette aufſitzend. „Ich habe 
ja heute nichts bei mir, was mir hätte geſtohlen werden 
können! Schlimm genug, daß ich für eine Nacht in 
meinem eigenen Hauſe das Gefühl der Notwendigkeit 
hatte, mich gegen eine eigene Verwandte verrammeln 
zu müſſen — mit welchem Erfolge, wiſſen Sie ja! Ich 
hätte ebenſogut, vielleicht ſicherer, auf offener Straße 
ſchlafen können.“ 

„Vermutlich ſicherer im Eiſenbahnwagen,“ gab Wind- 
müller unumwunden zu. „Aber die Gewohnheit des 
Schlafens bei offenen Türen iſt doch eine ſchlechte, ſelbſt 
im eigenen Hauſe. Beſonders in Ihrem Falle. Indes, 
das war nur eine Nebenbemerkung, eine pädagogiſche 
Abſchweifung. Alſo, ich fand Ihre Tür offen — ſie 
war nicht einmal eingeklinkt — und trat ein, um Sie 
zu wecken. Es ift noch früh am Tage, wenigſtens für 
Leute, die nichts zu tun haben; weil wir aber in Ge- 
ſchäften hier find, die uns über die notwendigſte Raft 
nicht erlauben hinauszugehen, ſo mußte ich mir die 
Freiheit ſchon nehmen. — Der anſtoßende Raum ift 
Ihr Wohnzimmer, nicht wahr? Und vor dem großen 
runden Tilh ſchliefen Sie Ihren verhängnisvollen 
Schlaf, wenn mir recht iſt. Hm. Zeit iſt nicht nur 
Geld, lieber Herr Marcheſe, ſondern auch Wiſſen. Wäh- 
rend Sie ſich alſo anziehen, werde ich die Topographie 
Ihres Wohnzimmers ſtudieren — die des Vorraums 
für Ihr Schlafzimmer habe ich ſchon, allerdings nur 
oberflächlich, in Augenſchein genommen. — Nein, be- 
mũhen Sie den Diener nicht, ich werde die Fenſterläden 
ſelbſt öffnen. — Übrigens ſind dieſe Patenttürſperrer, 
deren Sie ſich bedienten, noch verbeſſerungsfähig, denn 


o Roman von E. v. Ablersfeld-Balleftrem. 71 
ſie haben, wie ich wenigſtens an der Tür dort ſebe, 
das Holz leicht verkratzt.“ 

„Ich war wohl beim Abnehmen ein wenig haftig in 
der Aufregung — es iſt meine Schuld,“ murmelte Don 
Gian, der ſich durch ſeinen Gaſt etwas geniert fühlte, 
nachdem er heroiſch einen inneren Proteſt über deſſen 
ungeniertes Eindringen in ſein Schlafzimmer unter- 
drückt hatte. 

„Ah ja, natürlich — Sie mußten ja ſelbſt die Dinger 
wieder entfernen, die ſonſt entſchieden einen Einbrecher 
ſtark aufgehalten hätten,“ meinte Windmüller, der in- 
zwiſchen aufgeſtanden war und die Augen in dem 
Schlafzimmer herumſchweifen ließ. „Die Bettitelle iſt 
ſchwer — ſie ließe ſich ſelbſt von einer kräftigen Frau 
nicht ohne Anſtrengung und Geräuſch abrücken, weil 
die Füße, die ſehr niedrig ſind, keine Rollen haben,“ 
bemerkte er, das Möbel prüfend anſehend. 

Don Gian machte eine abwehrende Bewegung. „Ich 
habe das Bett abrücken laſſen, um nachzuſehen, ob 
darunter, dahinter oder daneben jemand eindringen 
könnte,“ verſicherte er lebhaft. „Ich fand nur glatten, 
undurchbrochenen Steinboden, ſolide Wände, glatt mit 
der Tapete beſpannt, die Sie im ganzen Zimmer ſehen. 
Nichts — nichts, was auch nur den Verdacht, hier möchte 
eine verborgene Tür ſein, erwecken könnte.“ 

„Und die Tür, die in mein Schlafzimmer geht, 
trägt, wie ich ſehe, noch den Patentſperrer,“ ſagte Wind- 
müller, der den verhüllenden Vorhang zurückgeſchlagen 
hatte. „Überdies habe ich ſchon von meiner Seite 
feſtgeſtellt, daß die Tür ſehr lange nicht mehr geöffnet 
worden iſt,“ fuhr er fort. „Es liegt Staub auf der 
Schwelle jenſeits der geſchloſſenen Flügel, alter, un- 
berührter Staub. O ja, mangelhaft aufräumende 
Stubenmadchen haben ſchon oft geholfen, ſolch wichtige 


72 Das Rofazimmer. u 


Dinge zweifellos feſtzuſtellen. Auch fand ich an der 
ganzen Wand nichts, was darauf ſchließen laſſen könnte, 
daß ſie vielleicht den Vermittler geſpielt. Aha, und 
dort ſteht auch die Saftflaſche, deren Sie erwähnten — 
diesmal unberührt, wie ich ſehe. Ich vermute, es 
wird Zeit brauchen, bis Sie ſich wieder überwinden 
werden können, Saft aus ſolch einer Flaſche in Ihr 
Sodawaſſer zu gießen — fo etwas bleibt lange an einem 
hängen, kann einem den unſchuldigſten Genuß gründ- 
lich verleiden. — Ah, was haben wir denn da?“ unter⸗ 
brach er ſeine Betrachtung, die dem armen jungen 
Diplomaten die ganze Bitterkeit feines Erlebniſſes 
zurückbrachte. 

Mit Verwunderung ſah er dem berühmten Manne 
zu, wie dieſer ſich neben dem Tiſchchen, auf dem das 
Tablett mit den Flaſchen und dem Glaſe, der Zucker-, 
ſchale und der diesmal nicht fehlenden Zitrone ſtand, 
auf die Knie niederließ und den Boden von glatter, 
bunter Breccia, dem zuſammengeſetzten Marmorguß, 
aus dem die Fußböden hergeſtellt werden, mit tief 
herabgebeugtem Kopfe betrachtete, denn der große, 
türkiſche Teppich, der das Zimmer bedeckte, ließ rings 
um die Wände einen faſt meterbreiten Streifen frei, 
auf dem die Kaſtenmöbel und eben der erwähnte Tiſch 
ſtanden. Don Gian konnte um die Welt nicht ſehen, 
was Doktor Windmüller dort zu betrachten fand, aber 
er hatte doch ſchon etwas über die verſchiedenen Me- 
thoden von Oetektiven gehört, und vermutete alfo feinen 
Gaſt nicht mit Unrecht auf einer ſogenannten „Spur“. 

„Nein,“ beantwortete der letztere laut dieſen Ge- 
danken. „Nach dem, was wir wiſſen, iſt das keine Spur 
mehr, ſondern einfach eine Beſtätigung. Können Sie 
von dort aus dieſen matten Fleck auf der glänzenden 
Breccia ſehen? Er iſt etwa ſo groß und rund wie ein 


u Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 73 


Liraſtück. Gut. Nun, wenn wir noch nicht wüßten, 
daß Ihnen in jener Nacht mit dem Fruchtſaft ein Schlaf- 
trunk beigebracht worden iſt, wenn noch ein Zweifel 
darüber wäre, dann würde dieſer Flecken uns helfen. 
So wird er uns jedenfalls ſagen können, womit man 
Sie unſchädlich gemacht hat. Der Fleck hier iſt ein 
Tropfen, ein großer, reichlicher Tropfen, der unbeachtet 
beim Einfüllen des Schlafmittels daneben gefallen und 
ſpäter beim Reinigen des Zimmers unbeachtet geblieben 
iſt. Zimmermädchen, lieber Herr Marcheſe, beachten 
gemeinhin nur das, was ſie nichts angeht. Der Tropfen 
iſt ziemlich dick an den Rändern und nach der Mitte 
konkav, alſo beſteht er aus einer dickflüſſigen Maſſe, 
die, wie ich ſehe, noch nicht ganz trocken, ſondern noch 
ziemlich zähe iſt.“ 

Windmüller zog ein Taſchenmeſſer mit vielen 
Klingen hervor, klappte von dieſen eine lange, ſehr 
dünne auf, hob damit den Tropfen von dem glatten 
Grunde ab, ſtrich die Maſſe auf ein Stückchen weißes 
Pergamentpapier, das er aus ſeiner Brieftaſche nahm, 
faltete das Papier ſorgfältig zuſammen und ſteckte es 
zu ſich. | 

„Ich vermute, es iſt eine ſirupartige Chlorallöſung, 
was ja auch der brennende Geſchmack, deffen Sie er- 
wähnten, beſtätigen würde,“ ſagte er, das Meſſer mit 
dem Taſchentuche reinigend. „Viel Wert, es zu er- 
fahren, hat das ja nicht mehr, indeſſen — wer weiß? 
Man ſoll den Pfennig, den man am Wege findet, nicht 
liegen laſſen, denn er fehlt dann am Ende, um den 
Taler voll zu machen. — So, und nun verlaſſe ich Sie, 
damit Sie aufſtehen können. — Was das für eine 
auffallend dicke Wand zwiſchen Ihren beiden Zimmern 
iſt! Ich meine, ſie ſei viel dicker als die, die Ihr 
Schlafzimmer von dem meinen trennt.“ 


74 Das Rofazimmer. u 

„Glauben Sie?“ fragte Don Gian zweifelnd. „Mir 
iſt in — in jener Nacht eigentlich zum erſten Male 
dieſe tiefe Türniſche aufgefallen —“ 

„Ja — fie ift tiefer wie zum Beiſpiel jene, die in 
das jenſeitige Zimmer führt,“ beſtätigte Windmüller. 
„Ich ſchätze natürlich nur nach dem Augenmaß. Alſo 
entweder ift diefe enorm dicke Wand eine architektoniſch- 
techniſche Notwendigkeit geweſen, oder — ſie hat einen 
anderen Zweck —“ 

„Das war auch meine Idee,“ fiel Don Gian ein. 
„Aber dann würde ſie oder die Holzverſchalung des 
Türdurchbruchs hohl klingen. Ich habe überall ver- 
ſucht — es iſt alles ſolides Mauerwerk!“ 

„Es ſcheint ſo,“ bemerkte Windmüller, mit dem 
Taſchenmeſſer die hölzernen, mit ſchönſter Intarſia- 
arbeit verzierten Paneele zwiſchen den Türrahmen be- 
klopfend, mit geübten Fingern Ritzen befühlend und 
dem eingelegten Muſter folgend, hie und da auch feſt 
darauf drückend. „Es ſcheint wirklich alles in Richtig 
keit, womit natürlich das letzte Wort noch nicht ge- 
ſprochen fein foll. Wir wollen fpäter darauf zurück- 
kommen. Und jetzt laffe ich Sie allein.“ | 

Don Gian beeilte ſich mit feiner Toilette und trat 
nach ihrer Beendung in ſein Wohnzimmer, in dem 
er Windmüller am offenen Fenſter ſtehend vorfand. 

„Oh,“ machte er mit einem Blick auf den unberührt 
auf dem Tiſch ſtehenden Imbiß, „da haben Sie bei 
meiner verſchmähten Mahlzeit von geſtern abend ſein 
müſſen! Wie ekelhaft das kalte Fleiſch doch gleich aus- 
ſieht, wenn es der Luft ausgeſetzt war und — den 
Fliegen! Wollen wir zum Frühſtück in den Speiſeſaal 
hinübergehen, oder wünſchen Sie es hier ſerviert?“ 

„Hier, wenn es Ihnen recht iſt,“ erwiderte Wind- 
müller. „Dieſe dicke Wand dort intereſſiert mich — 


D Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 75 


ich hoffe noch auf eine Inſpiration durch ſie. Ja. Ja, 
und noch eines: ich möchte gern den Koffer ſehen, den 
Ihre Frau Schwägerin hier zurückgelaſſen hat. Macht 
es Mühe, ihn hierher zu bringen?“ 

„Durchaus nicht,“ verſicherte Don Gian, indem er 
läutete und dem alsbald erſcheinenden Diener ſeine 
Befehle gab. 

Während der Mann abräumte und bis das Frühſtück 
kam, redete Windmüller nur von allgemeinen Dingen, 
er ſtreifte mit einigen ſcheinbar unweſentlichen Fragen 
die Topographie des Palaſtes und feiner Umgebung, 
und aß fein Frühſtück methodiſch und ohne Haft. Wäh- 
rend desſelben wurden ihm zwei Telegramme über- 
geben, die er, nachdem er ſie geleſen, ſeinem Wirte 
über den Tiſch (hob. Das eine von dem Miniſter ent- 
hielt die Mitteilung, daß über den Verbleib des Doku- 
ments noch nichts bekannt und eine beunruhigende 
Nachricht nicht eingelaufen fei; das andere von Wind- 
müllers Agenten berichtete, daß Donna Kenia in Rom 
immer noch nicht angekommen und man ohne jede 
Nachricht von ihr ſei. | | 

„Das wären nun, rund gerechnet, ſechsunddreißig 
Stunden, feit die Botin mit ihrem Naube fällig ift — 
die Zeit ungerechnet, die fie zur Reife gebraucht hätte,“ 
beantwortete Windmüller den beunruhigten Blick des 
Diplomaten. „Die Annahme, daß noch etwas mit dem 
Dokument beabſichtigt und in Vorbereitung iſt, wird 
damit noch nicht hinfällig, denn es können ja uner- 
wartete Gründe zu der Verzögerung eingetreten ſein. 
Anderſeits iſt es aber auch möglich, daß eine Attacke 
auf die Agentin inſofern mißglückt ift, als diefe viel- 
leicht noch in der Lage war, das koſtbare Schriftſtück 
zu verbergen oder — zu vernichten, ehe ſie das Opfer 
eines Anſchlages darauf wurde. Das ſind aber alles 


76 Das Rofazimmer. o 


nur Theorien, Herr Marcheſe. — Ah,“ unterbrach er 
ſich, „da kommt der Koffer. Ja, laſſen Sie ihn nur 
auf den erſten beſten Stuhl ſtellen!“ 

Windmüller hielt fich bei feinem Frühſtück nicht mehr 
auf, nachdem der Diener den eleganten Handkoffer 
von dunkelrotem Juchtenleder niedergeſtellt und ſich 
entfernt hatte. Haſtig trank er ſeine Taſſe aus, zog 
den Stuhl, darauf das Kofferchen niedergeſtellt war, 
neben den ſeinen und prüfte das Schloß. 

„Zugeſchloſſen!“ ſtellte er feft. „Den Schlüſſel hat 
die Beſitzerin mitgenommen, ſetze ich voraus. Ganz 
richtig, ſie hat den Koffer gepackt, ehe ſie ſich entfernt 
— und Sie haben ihn ſo vorgefunden, wie er hier iſt. 
Hm. Das Schloß ift gut, aber zum Glück nicht un- 
überwindlich. Ordentliche Handarbeit — dieſer Koffer. 
Ruſſiſche Arbeit ſchätze ich.“ 

Damit zog er aus der Weſtentaſche einen kleinen, 
flachen Haken, ſchob ihn in den ſchmalen Schlüſſelritz 
des Patentſchloſſes ein und klappte im nächſten Augen- 
blick den Koffer auseinander, aus dem der feine und 
doch ſo ſchwere, ſchwüle, exotiſche Duft von Gardenien 
herausſtieg und faſt das ganze Zimmer erfüllte. 

„Per Bacco! War das nötig?“ fuhr Don Gian auf. 

Jetzt mußte Windmüller lachen. „Ich meine ſchon, 
daß es nötig war, da meine Augen ja leider keine 
X -Strahlen find, die den Inhalt eines Juchtenkoffers 
durchleuchten können! Wenn Sie mir das aber zu- 
getraut haben, fo danke ich Ihnen für dieje hohe Mei- 
nung meiner Fähigkeiten.“ 

„Pardon!“ murmelte Don Gian beſchämt. „Es iſt 
nur, weil es für unſereins ſo ungewohnt iſt, fremder 
Leute Eigentum zu — zu —“ 

„Durchſtöbern,“ half Windmüller ein. „Meine 
Privatleidenſchaft iſt das auch nicht, aber im Namen 


n Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 77 


des Geſetzes, das mich beauftragt, darf man ſich nicht 
mit ſolchen Bedenken aufhalten.“ 

„Glauben Sie, daß meine Schwägerin ihren Naub 
hier in dieſem Koffer —“ 

„Hm, es wäre das eine kühne Idee geweſen, frei 
von dieſem gefährlichen Schatz die Reife zu machen 
und ſich ihn harmlos in dieſem Köfferchen nachſchicken 
zu laffen!“ meinte Windmüller. „Eine kühne Idee, 
die ins Konverſationslexikon zu kommen verdiente. — 
Nein, ich glaube nicht, daß wir das Dokument hier 
finden werden, aber vielleicht doch ein paar nützliche 
Winke. Laſſen Sie uns nachſehen. Dieſe Abteilung 
enthält ein ſchwarzes Kleid, wie ich meine, ein, Traum“ 
von ſpinnwebdünnem Florſtoff mit Pailletten geſtickt.“ 

„Das trug ſie an dem Abend, als ich in Venedig 
eintraf,“ rief Don Gian. 

„Ah ſo! — In dem Täſchchen der Klappe des anderen 
Abteils iſt, wie Sie ſehen, Briefpapier, ein paar Bogen 
nur und paſſende Umfchläge. Sonſt nichts? — Nein. — 
Gehen wir weiter. Das verſchloſſene Abteil enthält — 
was? Ein unbenütztes Nachthemd — unbenützt! Sie 
hatte alſo gar nicht die Abſicht, hier zu ſchlafen. Kämme, 
Bürſten, Handſpiegel von getriebenem Silber und Elfen- 
bein — Taſchentücher, davon einige benützte in die Ecken 
geſtopft — einen Spitzenſchal, ſeidene Strümpfe — 
was man ſo für einen kurzen Ausflug braucht. Nichts 
weiter. — Doch! Hier in dieſem gebrauchten Taſchentuch 
iſt etwas Hartes — eine Flaſche! Eine ganz gewöhnliche, 
leere Apothekerflaſche, ohne Etikette, ſogar ohne Stöpſel, 
Inhalt hundertfünfzig Gramm. Und ein kleiner Reit 
ihres ehemaligen Inhalts noch auf dem Boden —“ 

Windmüller ließ von dem kleinen Neft, der langſam 
floß, ein paar Tropfen auf ſeinen Handrücken fallen 
und koſtete davon. 


18 Das Rofazimmer. 2 


„Pfui Teufel!“ machte er. „Wiſſen Sie, was das 
ift, Herr Marcheſe? Eine febr ſtarke Chloralhydrat- 
löſung! Glauben Sie, daß Donna Xenia die ſelbſt 
gebraucht hat? Ich nicht. Chloralhydrat nimmt man, 
um ſchlafen zu können, was ſie doch nicht vorhatte. 
Hm. Wenn die Flaſche hier voll war, als fie den In- 
halt in Ihre Fruchtſaftkaraffe ausleerte, dann wundert 
es mich nicht, daß Sie von der genoſſenen Portion 
wie ein Siebenſchläfer geſchlafen haben! Ein Glück 
nur, daß Sie nicht noch eine zweite Gabe nachſtürzten, 
ſonſt hätten Sie das Aufwachen ohne Schwierigkeit 
ganz vergeſſen können! Ein recht nettes Kapitel, 
‚Ihwägerlihe Fürſorge“ betitelt. Na, dafür iſt's noch 
gnädig abgelaufen! — So, dieſe Abteilung hat uns 
ſonſt weiter nichts zu fagen. Laſſen Sie uns nun ein- 
mal das Kleid betrachten. Es ift ordentlich zufammen- 
gelegt. Wenn ich's ſo nicht wieder hineinbringe, kann 
ich nicht helfen. Hm. Ceſarina würde dies Gebilde 
wohl auch einen „Traum“ nennen, trotzdem der Saum 
mitſamt dem des ſeidenen Untergewandes recht ſtarke 
Spuren des Gebrauchs zeigt. Sehr intereſſante Spuren! 
— Wofür halten Sie dieſen Schmutz, Herr Marcheſe?“ 

„Für Staub, dicken Staub,“ erklärte Don Gian, 
der noch mit einem gewiſſen Übelkeitsgefühl kämpfte, 
das die leere Flaſche und — Windmüllers Kommentar 
dazu in ihm wachgerufen hatten. 

„Staub!“ entgegnete der Detektiv energiſch. „Ja, 
es iſt Staub, gewiß, aber vermoderter, verrotteter 
Staub, den kein Beſen, keines Menſchen Schritt ſeit 
Generationen aus feiner Ruhe geſtört! Und Donna 
Kenia hat ihn mit ihrer eleganten, glitzernden, ſchwarzen 
Chiffonrobe mitgenommen, ehe ſie ſich anſchickte, den 
Palaſt zu verlaſſen — das ift ſehr verdächtig, nicht wahr? 
Weil es verrät, daß ſie auf einem nur ihr bekannten, 


u Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 79 


verborgenen Wege in Ihr Zimmer drang, wahrſchein- 
lich in der Zeit, während Sie bei Ihrer Schweſter waren, 
um Ihnen den Trank für die Nacht zu mifchen. — Und 
ſehen Sie das Spinngewebe, das hier in dieſer Nanke 
der Paillettenſtickerei hängen geblieben iſt? Daran ſind 
Ihre Zimmermädchen unſchuldig: es iſt ſchwer, zum 
dichten Stoff geworden durch denſelben vermoderten 
Staub, den der Saum des Kleides zuſammengefegt 
hat. — Eine ſehr intereſſante Dame, Ihre Frau Schwä- 
gerin, und abſolut ſkrupellos. Es wäre ganz logiſch, 
wenn ihr ein gleich ſkrupelloſer Gegner gegenüber- 
getreten wäre — und ich fürchte, daß dies ihr Schickſal 
war!“ | 

Don Gian fab wie im Traume zu, während Wind- 
müller das Kleid in den Koffer hineinſtopfte und dieſen 
dann mit ſeinem Patentſchloßdietrich wieder zuſchloß. 
„Aber ich muß wiſſen, wie ſie hier eingedrungen iſt!“ 
rief Don Gian, ratlos die vier Wände betrachtend. 

„Das hat Zeit, Herr Marcheſe. Es iſt jetzt viel 
weſentlicher, zu wiſſen, wie ſie aus dem Hauſe hinaus- 
gekommen iſt. Iſt es Ihnen recht, wenn wir jetzt gleich 
einmal die Topographie des Palaſtes ſtudieren? Wenn 
Sie aber jetzt lieber oben bleiben, kann ich das unter 
der Führung Ihres Majordomo auch allein beſorgen.“ 

„Nein, nein — ich begleite Sie natürlich!“ raffte 
Don Gian fih aus feinem Hinbrüten auf. „Ich bin 
als Knabe in dem großen Haufe überall berum- 
gekrochen und weiß annähernd Beſcheid darin, aber 
ich denke, wir nehmen Sebaſtiano dennoch mit, denn 
dieſe alten Diener kennen die Traditionen oft beſſer 
als ihre eigene Herrſchaft, die dafür leider — wie zum 
Beiſpiel ich — den Sinn, das Gedächtnis und das 
Intereſſe für ſolche Dinge nicht hat. Meine Entſchuldi- 
gung, wenn's dafür gelten kann, iſt, daß ich ja bis vor 


80 Das Rofazimmer. a 


einem Fahre der jüngere Sohn, nicht der Erbe war, 
früh aus dem Haus kam, um zu ſtudieren und einen 
Beruf zu ergreifen. Mein Bruder kannte die Geſchichte 
unſeres Hauſes nicht nur aus dem Grunde, ſondern auch 
die des Palaſtes, ſeiner Legenden und vielleicht auch 
ſeiner Geheimniſſe. Ich bin überzeugt, daß dieſes alte 
Haus ſolche hat, denn alle unſere Paläſte haben ſie, 
trotzdem man das heute gern ins Reich der Märchen ver- 
weiſen möchte.“ 

„An die die Leugner nur darum nicht glauben, 
weil ſie nie etwas anderes als die nüchterne Luft ihrer 
reizloſen Miethäuſer eingeatmet und gekannt haben,“ 
fiel Windmüller ein. „Die Geheimniſſe der alten 
Paläſte ſind eine ganz logiſche Folge der Zeiten, die 
über ſie hingegangen ſind: ſie waren genötigt, Geheim- 
niſſe zu haben. Manche werden von ſpäteren Gene- 
rationen entdeckt, die meiſten bleiben, was ſie waren 
— Geheimniſſe. Als ob unſere Generation keine hätte! 
Das weiß niemand beſſer als ich, deſſen Beruf es iſt, 
gelegentlich eines oder das andere ans Licht zu bringen.“ 

Die Herren waren inzwiſchen hinausgetreten und 
die Treppe zum erſten Stockwerk hinabgeſtiegen, wo 
Sebaftiano mit einem großen Schlüſſelbunde bewaffnet 
auf den ſchon vorher erteilten Befehl ſeines Herrn hin 
wartete. 

„So iſt's recht,“ ſagte Windmüller, den Mann freund- 
lich grüßend. „Dieſe Schlüſſelſammlung verſpricht ja 
eine kleine Reiſe. Zeigen Sie uns nur alles, Signor 
Majordomo, ganz beſonders aber verborgene Gelaſſe 
und Winkel, die man, ohne die Zimmerflucht zu ſtören, 
etwa für den — hm — Perſonenaufzug benützen 
könnte.“ 

„Zu Befehl, Signor,“ erwiderte Sebaſtiano, indem 
er den Marcheſe mit einem Blick anſah, der eine Welt 


a) Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 81 


von Vorwurf ausdrückte. Dann räuſperte er ſich und 
ſagte reſpektvoll, aber mit Entſchloſſenheit: „Wollen 
gnädigſt entſchuldigen, wenn ich mir erlaube daran zu 
erinnern, daß der Herr Architekt, der im vorigen Jahre 
wegen des Aufzuges hier war, die Niſche neben der 
Treppe in der Halle für ſehr geeignet erklärte, weil die 
Decken bis zum Oberſtock ſich auf dieſer Stelle leicht 
durchbrechen laffen, ohne daß die Zimmer dadurch ge- 
ſtört werden. Es würde in jedem Stock nur ein Teil 
der dunklen Garderoben fortfallen. Der Herr Architekt 
meinten, den Aufzug in dem ganz unbewohnten Nord- 
trakt anzubringen, hätte wegen der damit verbundenen 
Unbequemlichkeit für die Herrſchaft keinen Zweck.“ 

„Das wollen wir eben nachprüfen,“ entgegnete 
Windmüller ruhig. 

Was der letztere aber mißverſtanden, hatte Don 
Gian aus Sebaſtianos Blick ſofort begriffen. „Was 
hut dir die Marcheſa, meine Großmutter, über den 
Beſuch des Herrn hier geſagt?“ fragte er, als ſie das 
erſte der aufzuſchließenden Gelaſſe betreten hatten, in- 
dem er dem Manne die Hand auf die Schulter legte. 

Aber das glattrafierte Geſicht des alten Dieners 
ging es wie Wetterleuchten von widerſtreitenden Ge- 
fühlen. „Don Gian — wollte fagen Herr Marcheſe,“ ent- 
gegnete er nach einer Pauſe der Unentfchloffenbeit, „Ihre 
Exzellenz haben mir eigentlich nichts geſagt, weil ſie 
ſelbſt nicht wußten, was der Signor hier wollten. Aber 
Eccellenza haben mich oft mit Ihrem Vertrauen beehrt 
und ließen durchblicken, daß der Signor wahrſcheinlich 
wegen der Abreiſe der Frau Principeſſa herkämen. 
Altezza ſeien nämlich nicht in Rom eingetroffen, geruhten 
Eccellenza mir vertraulich mitzuteilen. Ich habe natür- 
lich niemand etwas davon mitgeteilt. Die Angelegen- 
heiten meiner Herrſchaft ſind gut bei mir aufgehoben 

1914. V. 6 


82 Das Roſazimmer. u 


und Eccellenza wiſſen das. Bene. Als nun der Signor 
geſtern abend bei der Ankunft ſagten, er käme wegen 
des Aufzuges, dachte ich im Augenblick auch nichts anderes, 
dann aber überlegte ich mir, daß der Herr Marcheſe 
wegen dieſer Sache die Neiſe von Rom zweimal in 
ſechsunddreißig Stunden nicht machen würden, indem 
der Herr Marcheſe doch Ihren Beruf haben. Alſo, 
dachte ich mir, wenn ich den fremden Signor in dem 
Teil des Palazzo herumführen ſoll, wo höchſtens die 
Ratten einen Aufzug brauchen, ſo werden ſchon 
Eccellenza wohl recht haben, und der Herr Marcheſe 
hätten dem alten Sebaſtiano, der ihn als Kind auf 
den Armen herumgetragen hat, ein klein wenig mehr 
Vertrauen ſchenken können.“ 

Zu Windmüllers Entſetzen umarmte Don Gian den 
Majordomo kurzweg und rief, ehe ſein Gefährte ihm 
noch ein Zeichen machen konnte: „Du haft recht, mein 
Alter — alles Vertrauen will ich dir ſchenken! Ja, der 
Signor Dottore hier iſt gekommen, um zu erfahren, 
was aus Donna Kenia geworden iſt —“ 
Wpardon,“ fiel Windmüller, vor Ungeduld in die 
Hände ſchlagend, ein, „meinen Sie nicht, Herr Mar- 
cheſe, daß wir dieſe — dieſe Dinge beſſer etwas leiſer 
beſprächen? Soweit ich mich orientiere, ſtößt dieſer 
Naum, in dem wir ſtehen, direkt an die Zimmerflucht 
an, die geſtern von ſtockfremden Menſchen mietweiſe 
bezogen worden ſind. Zum mindeſten geht dieſe Leute 
doch nichts an, was Sie und mich nach Venedig ge- 
bracht hat — nicht wahr?“ 

Her Bacco! An diefe fremden Leute habe ich nicht 
mehr gedacht!“ rief Don Gian überraſcht aus. „Wie 
ſollte ich auch? Sie ſind eine ſolche Neuheit hier im 
Hauſe! Aber wie ſollten ſie uns hier gehört haben? 
Neben dem Roſazimmer liegt zwiſchen ihm und dem 


u Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 83 


Saal, in dem wir ſtehen, ein ziemlich großer Raum, 
deſſen Türen mit ſchweren Samtvorhängen verſehen 
ſind, die den Schall abſolut dämpfen —“ 

„Wenn ſie zugezogen ſind,“ murmelte Windmüller 
grimmig. 

„Und die Tür iſt abgeſchloſſen — hier iſt der 
Schlüſſel,“ ſagte Sebaſtiano. „Ich habe alles nach- 
geſehen und beſorgt, ehe die fremden Herrſchaften ein- 
zogen. Sie haben gerade die Hälfte der Räume — 
zehn im ganzen, aber ihr Teil iſt größer, weil ja der 
große Saal über der Halle dabei iſt. Ebbene, der Signor 
Dottore ſoll den unbewohnten Teil ſehen, wie er es 
wünſcht. Es gibt darin ein paar ſehr gut und geſchickt 
verſteckte Kammern zur Aufbewahrung von Koſtbar- 
keiten und als Verſtecke, das ift richtig, aber als Aus- 
gang kann die Signora Principeſſa ſie nicht benutzt 
haben — gewiß nicht!“ 

„Das eben wollen wir feſtſtellen,“ erwiderte Wind- 
müller, der inzwiſchen den Fußboden in dem Saal, in 
dem ſie ſtanden, einer genauen Prüfung unterzogen 
hatte. Er war, wie die Zimmer alle, von Breccia“), 
ungewichſt, jedoch ganz ſtaubfrei. „Es iſt hier unlängſt 
ausgekehrt worden,“ bemerkte er, fich in dem nur ſpär- 
lich möblierten Naum umſehend, wie nebenbei. 

„Ich habe reinmachen laſſen, als ich geſtern zuſah, 
ob die Tür nach der vorderen Flucht auch abgeſchloſſen 
fei,“ erwiderte Sebaſtiano und ſetzte achſelzuckend hinzu: 
„Sie war natürlich zu.“ | 

„Natürlich!“ murmelte Windmüller. „Sind die 
anderen Zimmer auch reingemacht worden? Ich meine 
die nichtvermieteten.“ 

„Nein, Signor 


wenigſtens jetzt nicht,“ erklärte 


*) Marmorguß. 


nn 


84 Das Rofazimmer. o 
der Majordomo bereitwilligſt. „Es kommt das ganze 
Jahr kein Menſch hier herein,“ fuhr er entſchuldigend 
fort, „für wen ſollte man da immerzu ein Heer von 
Leuten beſchäftigen? Zwei-, dreimal im Jahre wird 
alles nachgeſehen und geputzt und gelüftet — ja, zu 
Zeiten des Herrn Marcheſe Federigo, Don Gians Groß- 
vater, da wurden noch Feſte, große Feſte im Palazzo 
Terraferma gegeben, Feſte, von denen die Leute in 
ganz Venedig ſprachen, und da waren alle dieſe Zimmer 
und Säle offen, und man hatte alle Hände voll zu tun, 
um ſie in Ordnung zu halten. Aber ſchon der Herr 
Marcheſe felig — ich meine Don Gians Vater — 
waren ja nur ſelten hier, und Don Pietro — vielmehr 
die Frau Principeſſa hat es ja länger als ein paar Tage 
hintereinander in Venedig nicht ausgehalten. Die 
fremde Herrſchaft hätte dieſe Hälfte des Piano nobile 
auch noch mieten follen, dann wäre fie bewohnt geweſen, 
und das iſt gut gegen Mäuſe, Motten und Moder.“ 

Sebaſtiano war, während er mehr vor ſich hin als 
zu den anderen redete, vorausgegangen und öffnete 
die Fenſterläden. Das ſelten in dieſe Zimmerreihe 
eingelaſſene Tageslicht machte fie aber nicht freund- 
licher, ſondern beleuchtete nur ihre Verlaſſenheit, die 
ihnen durchweg den Stempel aufdrückte, um ſo mehr 
als diefe Flucht wohl immer nur der Repräjentation 
gewidmet geweſen war. Dementſprechend war die Ein- 
richtung auch nur die, wie man ſie in ſolchen Räumen zu 
ſehen gewohnt iſt: Sofa, Lehnſtühle und Taburette an 
den Wänden aufgereiht, mit Marmorplatten verſehene 
Konſoltiſche zwiſchen den Fenſtern, hie und da ein 
koſtbar eingelegter und geſchnitzter Schrank, ein paar 
Gueridons, ein paar Poſtamente mit Bronze- oder 
Marmorbüſten darauf, an den mit gepreßten Leder- 
tapeten oder Seidendamaſt beſpannten Wänden große, 


o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 85 


ſtark nachgedunkelte Gemälde, da und dort ein Spiegel 
in geſchliffenem Glasrahmen, und von den Degen, die 
noch zumeiſt die urſprünglichen dekorierten Balken auf- 
wieſen, hingen Glaslüſter von Murano herab. Die 
hohen, ſchmalen Spitzbogenfenſter mit ihrer arabifieren- 
den Form venezianiſcher Gotik, die allen liebevoll be- 
obachtenden Freunden der Lagunenſtadt ſo vertraut 
iſt, ließen von Oſten und Norden nur ein ſpärliches 
Licht in dieſe verlaſſenen Räume durch halberblindete 
Fenſterſcheiben fallen, und auf den teppichloſen fteiner- 
nen Böden ſchallten die Schritte der drei Männer wie 
eine Entweihung der Grabesruhe und weckten allent- 
halben leiſe, geiſterhafte Echo auf. 

Doktor Windmüller hatte nur flüchtige, wenn auch 
alles umfaſſende Blicke für die Einrichtung der Räume; 
er ſchien auch nur ein ganz geringes Zntereſſe für 
die verborgenen Kämmerchen und Winkel zu haben, 
die Sebaſtiano mit Wichtigkeit zeigte — feine Aufmerk- 
ſamkeit galt vor allem den ſteinernen Böden, auf denen 
wie ein ganz feiner, dünner Schleier die Staubſchicht 
lag, die ſich ſeit der letzten Reinigung mit dem Beſen 
darauf angeſammelt. | 

In Venedig gibt es den Staub der Städte nicht, 
in denen der Straßenverkehr die Lungen der Einwohner 
mit Bazillen und Bakterien füllt; man kann dort tage- 
lang umherlaufen, ehe die Schuhe den Glanz verlieren. 
Aber natürlich wird auch der verrottende Kehricht in 
den Callen und auf den Plätzen zu Staub und der Wind 
trägt ihn in die Häuſer, und wenn ihm Zeit gelaſſen 
wird, ſich zu ſetzen, dann wird er zu der feinen, fchleier- 
artigen Patina, die den alten Spiegeln und Lüſtern 
von Murano, den Vergoldungen und Skulpturen das 
„cachet“ der Zeit verleiht, das dem Auge des Lieb- 
habers und Kenners ſo lieb und wert iſt. 


80 Das Roſazimmer. | | ü 


„Rein,“ fagte Windmüller, als fie, aus den wenigen 
weſtlichen Zimmern zurückgekehrt, in den großen Saal 
traten, der den Hauptteil der Nordfront einnahm, „nein, 
Donna Kenia hat, welchen Ausgang ſie auch gewählt, 
dieſe Zimmer dazu nicht berührt. Es iſt nicht eine 
Stelle des Fußbodens, die darauf ſchließen ließe, denn 
der wenige Staub, der in den zwei Tagen darauf ge- 
fallen iſt, würde nicht hinreichen, ihre Spuren zu ver- 
wiſchen. Wenigſtens hier in Venedig nicht und oben- 
drein in Räumen, die fo abgeſchloſſen find wie diefe. 
Wir müſſen uns alſo anderswo nach einem Ausgang 
umſehen, denn es ſteht außer jedem Zweifel, daß 
Donna Kenia einen ſolchen gekannt — kennt und 
benützt hat.“ 

„Mit Verlaub, Signor — warum ſteht das außer 
Zweifel, wenn die Signora Principeſſa doch nur den 
Agoſtino zu wecken brauchte, um durch die Tür hinaus- 
zugehen, die ſie zu benützen wünſchte?“ fragte der 
Majordomo. 

„Hm — da fie das aber niht getan hat, fo haben 
jedenfalls gute Gründe ſie bewogen, dieſen einfachen 
Weg nicht zu wählen,“ erwiderte Windmüller trocken. 
„Und da die Signora Principeſſa ſich auch nicht gut 
faſt drei Tage lang ohne jede Nahrung im Hauſe ver— 
bergen kann, ſo liegt es ganz nahe, daß ſie es eben auf 
einem nur ihr bekannten Wege verlaſſen hat —“ 

„Wozu aber auch eine Tür gehört,“ warf Don Gian 
achſelzuckend ein. 

„Oder ein Fenſter!“ 

„Signor Dottore, die Fenſter im n erſten Stock waren 
alle geſchloſſen und die des Erdgeſchoſſes ſind ſämtlich 
vergittert!“ rief Sebaſtiano, über die Hartnäckigkeit des 
Gaſtes in ſeinem Innern empört. „Bleiben nur noch 
die Keller auf den Landſeiten — doch dort kommt keine 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 87 


Ratte hinaus, wenn fie einmal drin ift. Proprio! Mein 
Großvater ſelig, der ſchon Majordomo im Palazzo 
Terraferma war und uns Kindern oft davon erzählte, 
wie herrlich es zu ſeiner Jugend darin zugegangen, 
kannte auch alle die alten Legenden und Geſchehniſſe 
aus früherer Zeit und verſtand ſchön davon zu reden. 
Von geheimen Zimmern hat er geſprochen, und daß 
die Leute aus den drei Stockwerken zueinander gelangen 
konnten, ohne die Treppen zu benützen —“ 

„Ah!“ rief Windmüller aufmerkſam. 

„Ja, aber er ſagte nicht, wie und wo das geſchehen 
konnte,“ fuhr Sebaſtiano geſchmeichelt fort. „Er hat 
es wohl ſelbſt nicht gewußt. Er erzählte auch, daß es 
in dem Palaſte eine Trappola geben ſollte, eine Falle 
für — für Menſchen —“ 

„Anfinn! Eine Oubliette hier im Haufe!“ fiel Don 
Gian ein. | 

„Warum Anſinn?“ fragte Windmüller. „Dieſe 
menſchenfreundlichen Vorrichtungen gegen unbequeme 
Zeitgenoſſen waren namentlich in der Renaiſſance febr 
beliebt. Ich kann Ihnen in Rom wenigſtens zehn 
Paläſte nennen, wo Oublietten exiſtiert haben, von den 
Bergſchlöſſern ganz zu ſchweigen —“ 

„Gewiß, Signor!“ rief Sebaſtiano. „Auch hier in 
Venedig gibt's ſolche Trappole! Hat man im Palazzo 
Candiani nicht eine gefunden, als man den Aufzug 
dort anlegte? Gefüllt mit Skeletten! Der Herr Mar- 
cheſe werden ſich erinnern, welches Aufſehen der Fund 
machte — es ſind noch keine drei Jahre her!“ 

„Ja, ja, ich erinnere mich!“ gab Don Gian un— 
behaglich zu. „Aber hier im Haufe! Davon müßte ich 
doch etwas gehört haben!“ 

„Wer hatte es im Palazzo Candiani gewußt, Herr 
Marcheſe? Kein Menſch. Mein Großvater ſelig hat's 


88 Das Rofazimmer. a 


noch von ſeinem eigenen Großvater gehört als ein 
großes Geheimnis.“ 

„Was es meinetwegen auch bleiben darf,“ ſagte 
Windmüller. „Mich intereſſiert es mehr, wieſo und wo 
die Leute hier im Hauſe ungeſehen und ohne die Treppen 
zu benützen in die verſchiedenen Stockwerke kommen 
und ebenſo das Haus verlaſſen konnten. Ich fürchte, 
ich werde die fremden Herrſchaften in der Rolle des 
Architekten doch noch inkommodieren müſſen. Später. 
Es eilt jetzt nicht. Ich werde jetzt einmal ausgehen, 
und wenn Sie mich begleiten wollen, Herr Marcheſe, 
ſo ſoll's mir recht ſein. Nötig iſt es nicht, falls Sie etwas 
anderes vorhaben, Ihre Verwandten begrüßen wollen 
oder —“ 

„In der Tat — ich möchte meiner Großmutter und 
meiner Schweſter guten Tag ſagen,“ erwiderte Don 
Gian unentſchloſſen. „Doch nein — das muß warten,“ 
ſetzte er hinzu, ſeinen Gefühlen als Menſch Zwang 
antuend. — „Sebaſtiano, du ſollſt der Frau Marcheſa 
und Donna Loredana ſagen, daß ich mit dem Herrn 
Doktor ausgehen mußte. FIſt die Gondel zur Stelle?“ 

„Ich werde ſie ſogleich beſtellen, Signor Marcheſe.“ 

(Jortſetzung folgt.) 


2 
* 


DA | DÆ | DA 


u i 


Tango. 
Eine Tanzftudie. Von R. Hendrichs. 


mit 5 Bildern. v (nachdruck verboten.) 


E⸗ mögen ungefähr zehn Fahre vergangen fein, 
ſeildem die große Revolution in unſeren Ball- 
ſälen ihren Anfang nahm, und wie alle gewaltſamen 
Umwälzungen zunächſt das Chaos an die Stelle der ab- 
geſchafften Ordnung zu ſetzen pflegen, ſo wurde uns 
auch auf dem Gebiet des modernen Geſellſchaftstanzes 
ſtatt der alten, angeblich überlebten Formen ein Wirr- 
warr von Seltſamkeiten beſchert, aus dem fih — wenig- 
ſtens ſo weit es ſich um deutſches Empfinden handelt — 
der neue, wirklich zeitgemäße Tanz noch nicht hat ent- 
wickeln können. 

Seitdem Herr Philipp Souſa aus New Vork unſere 
für amerikaniſche Vorbilder begeiſterte Jugend mit 
ſeiner „berühmten“ Waſhingtonpoſt in helles Ent— 
zücken verſetzte, haben wir unſere Salone bereitwillig 
allem geöffnet, was von der anderen Seite des großen 
Waſſers an neuen Tanzformen zu uns herüber kam. 
Je ſtumpfſinniger und geſchmackloſer die Schöpfungen 
der eigen gearteten Vankeephantaſie auf dieſem Ge- 
biete waren, deſto freudiger wurden ſie aufgenommen 
und von hoch und gering zur „großen Mode“ erhoben. 
Nichts war ſo ungraziös, ſo widerwärtig oder ſo dumm, 
daß fih ihm die Ballſäle unſerer guten Geſellſchaft 
verſchloſſen hätten. Cakewalk und Machiche, Boſton 


90 Tango. 2 


und Twoſtep löſten einander ab, um, wenn auch jeder 
nur für eine knapp bemeſſene Zeitdauer, unumſchränkt 
zu regieren und unſeren Tanzveranſtaltungen ein nichts 
weniger als anmutiges und erfreuliches Gepräge zu 
geben. 

Sehr hübſch und liebenswürdig hat ſich eine der 
gefeiertſten und originellſten Tanzkünſtlerinnen unſerer 
Zeit, die ſchöne Madame Saharet, jüngſt über die fieg- 
reihe Invaſion des Zweivierteltakts geäußert. Sie 
ſagt: „Der arme Walzer! Er ift wirklich pafje. Er war 
ja eine Welt für ſich, war leiſes Wiegen, träumendes 
Schweben, ſüßes Dahingleiten. Der Walzer, das war 
das goldene Wien — Wien mit ſeiner koſenden, weichen, 
zerfließenden Stimmung. Es war die ſchönſte, ſanfte, 
gute alte Zeit. Der Twoſtep iſt Moderne. Kein Wiegen, 
kein Schweben, kein Träumen — er iſt Draufgehen. 
Der Walzer, das war Wien — der Twoſtep, das iſt 
Amerika. Die Biedermeierei hat ausgeſeufzt. Die Flöte 
wird an die Wand gehängt. Wir laſſen die Pauken 
bumbſen und die Trompeten ſchmettern. 

Neue Zeiten künden ſich in neuen Tänzen an. In 
neuen Rhythmen, neuen ‚Bewegungen‘ der Menſch- 
heit. ‚Heil dem, der neue Tänze ſchafft!“ ruft Bara- 
thuſtra, weil ſie die Herolde neuer Zukunft ſind. Die 
junge Generation hätte den Twoſtep nicht mit fo viel 
Enthuſiasmus akzeptiert, wenn ihr ſein Rhythmus nicht 
ſchon im Blute geſchlummert hätte. Denn fie iſt un- 
romantiſch. Sie will nichts mehr wiſſen von Träumen 
und Walzeridyllen. Sie iſt auf dem Aſphalt erwachſen, 
wo man feſter auftreten muß, wo das Leben nach 
neuen, ſtrafferen Rhythmen pulſt. Die neue Genera— 
tion und der Twoſtep und feine Geſchwiſter, der Bären- 
tanz und der Tango — ſie gehören zueinander. 

Hier fand ſich, was fidh finden mußte: Fſadora 


92 Tango. o 


Duncan, ihr bolben Schweſtern Wieſenthal und Ihr, 
Profeſſor Dalcroze! Euer Mühen um eine neue deutſche 
Rhythmen- und Tanzkunſt ift umſonſt. Was und wie 
die Völker tanzen, das bringen ihnen keine Schulen bei. 


Ba ſſano. 


Fig. 2. 


Sie lernen es ſelber. Tänze werden nicht anerzogen. 
Sie kommen wie die neuen Zeiten, die neuen Genera— 
tionen, von ganz allein. Kommen und verſchwinden. 
Jetzt iſt der Walzer im Sterben. Der ſchöne, liebe Walzer 
mit ſeinen weichen Melodien und ſeinen fließenden 
Linien. Es geht viel Schönes mit ihm aus der Welt, 
viel Zartes und Feines. Der Twoſtep regiert, der 
eckige, kantige, derbe Twoſtep. Die Welt iſt eben 
ſtraffer geworden. Wir müſſen uns darein finden. Der 


o Von R. Hendrichs. 93 


Twoſtep hat geſiegt. Mit Pauken und Trompeten iſt 
er gekommen — wie eben Sieger kommen.“ 

Das iſt, wie geſagt, ſehr hübſch, aber doch wohl 
glücklicherweiſe nicht ganz zutreffend. Sicherlich kommt 
der Geiſt einer Zeit auch in der Art ihrer Tänze zum 
Ausdruck, und wir können rückſchauend die mannig- 
fachſten Wandlungen der Tanzformen verfolgen. So 
gering aber können wir von dem Geiſt unſerer Zeit 
denn doch nicht denken, daß wir in den Barbareien 


Baſſano. 


Fig. 3. 


amerikaniſcher Unkultur fein getreues Spiegelbild zu 
erblicken vermöchten. Man möge ſich dieſe aus Amerika 
importierten „Tänze“ doch nur auf ihren Urſprung hin 
anſehen. Der eine entnahm ſeine Figuren den grotesken 


94 Tango. o 


Sprüngen und Gliederverrenkungen der Negerftlaven, 
die anderen benützten als Vorbilder mimiſche Indianer- 
tänze, in denen das Gebaren von Tieren nachgeahmt 
wurde. Solche Tänze werden ja bekanntlich von den 
Naturvölkern oft mit erſtaunlicher Meiſterſchaft aus- 
geführt, und wenn ein Indianer die Bewegungen des 
Bären oder das Liebeswerben des Truthahns tanzend 
darzuſtellen ſucht, ſo wird er ſchon durch ſeine genaue 
Naturkenntnis vor allen Abgeſchmacktheiten und wider- 
wärtigen Plumpheiten bewahrt. Aber man ſehe ſich 
dieſen Bären- oder Truthahntanz in einem modernen 
Ballſaal an! Kann man ſich überhaupt noch etwas 
Abſcheulicheres denken? Auch in Deutſchland haben 
ſich ja noch einige Volkstänze erhalten, die nichts anderes 
als eine mimiſche Darſtellung von Vorgängen aus dem 
Tierleben bedeuten. Der bekannteſte von ihnen iſt 
der oberbayriſche Schuhplattler, in deffen Figuren jeder 
Weidmann ſofort das halb leidenſchaftliche und halb 
drollige Liebeswerben des Birkhahns oder des Auer- 
hahns erkennt. Warum, wenn man doch die Natur- 
tänze der Neger und der Indianer nachmacht, iſt man 
noch nicht auf die naheliegende Idee verfallen, auch den 
Schuhplattler in unſeren eleganten Ballſälen heimiſch 
zu machen? Vielleicht, weil die ungeheure Einfältig- 
keit und Geſchmackloſigkeit ſolchen äffiſchen Gebarens 
dann ſogleich auch dem Blödeſten offenbar werden 
müßte. Gerade um dieſer unausbleiblichen Wirkung 
willen wäre der Verſuch auf das wärmſte zu empfehlen. 

Aber man ſucht neuerdings ſeine Vorbilder für den 
wahrhaft „modernen“ Tanz, der ſich trotz aller heißen 
Bemühungen noch immer nicht zu feſten und bleiben— 
den Formen geſtalten will, nicht bloß bei den Natur- 
völkern, ſondern man fängt an, ſich auch unter den 
exotiſchen Nationaltänzen umzuſehen. Dieſen Be- 


2 Bon R. Hendrichs. 95 


ſtrebungen verdanken wir die allerneuſte Errungenſchaft, 
den argentiniſchen Tango, der von Paris aus ſeinen 
Siegeszug durch das alte Europa angetreten und ſich 
in Ermanglung eines würdigen Nachfolgers bis heute 


Baſſano. 


Fig. 4. 


auf dem Parkett unſerer Salone und in unſeren öffent— 
lichen Tanzlokalen behauptet hat. 

Wit Cakewalk, Bären- und Truthahntanz hat er 
allerdings nichts gemein, und wenn er von geſchmeidigen 
Südamerikanerinnen, denen das ſpaniſche Blut heiß 
durch die Adern ſtrömt, in Buenos Aires, Cordoba oder 
Santa Fe nach den Klängen einer feurigen Habanera 
getanzt wird, mag er wohl auch dem Auge des Zu— 
ſchauers höchſt erfreulich ſein. Denn er beſteht aus 


94 Tango. 2 


Sprüngen und Gliederverrenkungen der Negerſklaven, 
die anderen benützten als Vorbilder mimiſche Indianer— 
tänze, in denen das Gebaren von Tieren nachgeahmt 
wurde. Solche Tänze werden ja bekanntlich von den 
Naturvölkern oft mit erſtaunlicher Meiſterſchaft aus- 
geführt, und wenn ein Indianer die Bewegungen des 
Bären oder das Liebeswerben des Truthahns tanzend 
darzuſtellen ſucht, ſo wird er ſchon durch ſeine genaue 
Naturkenntnis vor allen Abgeſchmacktheiten und wider- 
wärtigen Plumpheiten bewahrt. Aber man ſehe ſich 
dieſen Bären- oder Truthahntanz in einem modernen 
Ballſaal an! Kann man ſich überhaupt noch etwas 
Abſcheulicheres denken? Auch in Oeutſchland haben 
ſich ja noch einige Volkstänze erhalten, die nichts anderes 
als eine mimiſche Darſtellung von Vorgängen aus dem 
Tierleben bedeuten. Der bekannteſte von ihnen iſt 
der oberbayriſche Schuhplattler, in deffen Figuren jeder 
Weidmann ſofort das halb leidenſchaftliche und halb 
drollige Liebeswerben des Birkhahns oder des Auer- 
hahns erkennt. Warum, wenn man doch die Natur- 
tänze der Neger und der Indianer nachmacht, iſt man 
noch nicht auf die naheliegende Idee verfallen, auch den 
Schuhplattler in unſeren eleganten Ballſälen heimiſch 
zu machen? Vielleicht, weil die ungeheure Einfältig- 
keit und Geſchmackloſigkeit ſolchen äffiſchen Gebarens 
dann ſogleich auch dem Blödeſten offenbar werden 
müßte. Gerade um dieſer unausbleiblichen Wirkung 
willen wäre der Verſuch auf das wärmſte zu empfehlen. 

Aber man ſucht neuerdings ſeine Vorbilder für den 
wahrhaft „modernen“ Tanz, der ſich trotz aller heißen 
Bemühungen noch immer nicht zu feſten und bleiben- 
den Formen geſtalten will, nicht bloß bei den Natur— 
völkern, ſondern man fängt an, ſich auch unter den 
exotiſchen Nationaltänzen umzuſehen. Dieſen Be— 


2 Bon R. Hendrichs. 95 


ſtrebungen verdanken wir die allerneuſte Errungenſchaft, 
den argentiniſchen Tango, der von Paris aus ſeinen 
Siegeszug durch das alte Europa angetreten und ſich 


in Ermanglung eines würdigen Nachfolgers bis heute 


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Baſſano. 
Fig. 4. 
auf dem Parkett unſerer Salone und in unſeren öffent— 
lichen Tanzlokalen behauptet hat. 

Wit Cakewalk, Bären- und Truthahntanz hat er 
allerdings nichts gemein, und wenn er von geſchmeidigen 
Südamerikanerinnen, denen das ſpaniſche Blut heiß 
durch die Adern ſtrömt, in Buenos Aires, Cordoba oder 
Santa Fe nach den Klängen einer feurigen Habanera 
getanzt wird, mag er wohl auch dem Auge des Zu— 
ſchauers höchſt erfreulich ſein. Denn er beſteht aus 


96 Tango. A 


einer Reihe von Figuren, die in ihrem phantaſtiſchen 
Wechſel reiche Gelegenheit zu leichten und graziöſen 
Bewegungen bieten. Nicht weniger als zehn Varia- 
tionen, die ſich auf einer geſchickten Verwendung des 
Polkaſchritts aufbauen, löſen ſich in bunter Folge ab 
und bieten gewandten Tänzern die Möglichkeit, eine 
ganze Skala ſeeliſcher Empfindungen vorzuführen. 
Daß man aber dieſen Tango auf einer unſerer 
gewöhnlichen Tanzgeſellſchaften niemals zu ſehen be— 
kommt, braucht kaum erſt geſagt zu werden. Was da 
unter ſeinem Namen geht, iſt zumeiſt nichts weniger 
als erbaulich, und wenn man auch über die Zweckmäßig- 
keit polizeilicher Zenſur im Ballſaal ſehr verſchiedener 
Meinung fein kann, fo wäre es doch durchaus wünſchens— 
wert, wenn der gute Geſchmack hier die Rolle des 
Zenſors übernehmen und allen häßlichen Auswüchſen, 
die der Tango gleich den berüchtigten „Schiebetänzen“, 
bereits gezeitigt hat, durch entſchiedenſte Mißbilligung 
ein Ende machen würde. Als Kunſttanz aber wird 
man den Tango viel eher gelten laſſen dürfen als alle 
ſeine Vorgänger aus den letzten fünf oder ſechs Jahren, 
und wo er als Schauſtück von geſchmackvollen Berufs- 
tänzern vorgeführt wird, kann man an ihm wohl eine 
reine äſthetiſche Freude haben. Die beigefügten Abbil- 
dungen Figur 1 bis 5 veranſchaulichen einige beſonders 
charakteriſtiſche Poſen eines ſolchen kunſtmäßig aus- 
geführten Tango, und wenn ſie auch keine erſchöpfende 
Vorſtellung von dem Weſen dieſes argentiniſchen 
Tanzes geben können, ſo dürften ſie doch immerhin 
dartun, daß die Ausführung nicht jedermanns Sache iſt. 
Denen aber, die ſo laut nach einer angemeſſenen 
Ausdrucksform des modernen Geiſtes auch im Tanze 
rufen, möchten wir zu bedenken geben, daß gerade 
dem Geſellſchaftstanz mehr als allen anderen Er- 


1914. V. 


7 


Baſſano. 


98 Tango. å 


ſcheinungsformen des öffentlichen Lebens ein febr 
konſervativer Zug eigen iſt, und daß erfahrungsgemäß 
allen neuen Tänzen und Tanzarten gegenüber die alten 
Völker- und Nationaltänze mit der en immer wieder 
das Übergewicht gewinnen. 

Vielleicht alſo ift der liebe alte Walzer doch noch 
nicht ganz tot, ſondern erlebt eines Tages, wenn wir 
uns aus unſerer Amerikaſchwärmerei heraus wieder ein 
wenig auf uns ſelbſt beſonnen haben, eine deſto fröh- 
lichere Auferſtehung. 


Sr 
* 


Das Weib an der Krücke. 


| Novelle von Carola v. Eynatten. 


* 
nachoͤruck verboten.) 


Si waren beide verſtimmt. Vielleicht trug das 
Wetter die Schuld. Obgleich ſeit einigen Tagen 
die Septembermitte überſchritten war, lag eine brü— 
tende, lähmende Schwüle über Waſſer und Land. Matt 
hing das Laub an Baum und Strauch vom Geäſte, 
die Dünen, ſcheinbar dem hochgelegenen Garten greif— 
bar nahe, brannten gelb in der Sonnenglut, und die 
Nordſee dahinten dehnte ſich grau und ſchwer wie did- 
flüſſiges Blei. Kein Segel weit und breit, nicht einmal 
eine kreiſende Möwe. So hielt ſich das Wetter ſchon 
ſeit Tagen, nur daß die Queckſilberſäule mit jedem 
Tage höhere Grade zeigte und das Ausſehen des Meeres 
immer drohender wurde. 

Über eine halbe Stunde war verſtrichen, ohne daß 
ein Wort zwiſchen dem Maler Franz Wels und ſeiner 
Frau Nina gewechſelt wurde. Sie gähnte abwechſelnd 
hinter der vorgehaltenen Hand, abwechſelnd verſetzte ſie 
die aus himmelblauen Seidenſchnüren geknüpfte Hänge- 
matte in ſchwingende Bewegung, um ſich ein wenig 
Kühlung zu verſchaffen. Er ſaß mit breit aufgelegtem 
Ellbogen ihr zur Seite an einem Marmortiſchchen, 
eine Kanne Eislimonade vor ſich, und ſchaute unter 
leicht geſenkten Wimpern hervor ins Weite, hinaus aufs 
Meer, deſſen Waſſer hier und dort im metalliſchen 


100 Das Weib an der Krücke. * 


Glanze ſchimmerten unter dem Überfluß an Sonnen- 
ſchein. 

Wieder hob ſich die über den Rand der Hängematte 
niederhängende Hand, um ein Gähnen zu verdecken, 
dann endlich ſagte Nina leiſe, matt: „Troſtlos, dieſe 
Hitze!“ i 

Ob er es wohl gehört hatte? Er blieb fo regungslos 
wie bisher, kein Zug feines verträumten Geſichtes ver- 
änderte ſich. 

„Franz!“ 

Dieſer Ruf fand fo wenig ein Echo wie die Be- 
merkung von vorhin. 

Und wieder, noch lauter: „Franz!“ 

Ein leiſes Regen wie bei einem aus tiefem Schlafe 
Geweckten ging durch ſeine Züge, dann durch ſeine 
Geſtalt. Langſam drehte er ihr den Kopf zu und fragte: 
„Haſt du etwas geſagt, Liebe?“ 

„Daß diefe Hitze troſtlos ift!“ antwortete fie un- 
geduldig, diesmal ohne jeden Beiklang von Mattigteit. 

Wels nickte. „Ja, das iſt ſie. Sie wird Herr über uns, 
wir mögen uns noch ſo wehren! Seit geſtern kann 
ich nicht einmal arbeiten, und das iſt das Schlimmſte!“ 

Seine Frau machte eine jähe, unmutige Bewegung, 
die ihr Ruhelager in kräftige Schwingung brachte. 
„Nein,“ rief ſie, „das Schlimmſte iſt die Langweile, 
die ſich bei einer, derartigen Temperatur noch härter 
erträgt!“ 

„Ich habe keine Langweile — natürlich nicht,“ 
ſetzte er raſch hinzu, wie entſchuldigend. „Wenn wir 
von einer allbeherrſchenden Idee erfüllt find, ift und 
gibt ſich uns alles anders, ſind unſere Bedürfniſſe, 
ſind wir ſelber andere.“ 

Nina hob die Schultern. Sie ſah ſehr unmutig aus. 
„Ich verſtehe nicht, wie man ſich und anderen zur Qual 


(a) Novelle von Carola v. Eynatten. 101 


jahrelang einem Phantom nachjagen mag!“ fagte fie 
und machte auf ihrem luftigen Lager eine halbe Wen- 
dung, die ſie ihrem Manne näher brachte. 

Mehr und mehr verlor ſich der verträumte, ver- 
ſunkene Ausdruck in ſeinen Augen, und leiſe den Kopf 
ſchüttelnd antwortete er überzeugt: „Es tut mir leid, 
Nina, daß du ſo denkſt, denn es iſt kein Phantom, dem 
ich nachjage. Damals, an jenem Januarmorgen auf 
San Hilario, war ich fogar recht nüchtern geſtimmt. 
Der Anblick der ſo zahlreich vor der Kirche verſammelten 
Eſel, die der prieſterlichen Weihe warteten, intereſſierte 
mich ungemein, und ich machte zu Rudolf Leinz gerade 
eine Bemerkung darüber, als ein Wagen vor die Kirch- 
tür fuhr und zwei hinzuſpringende Männer voll Bor- 
ſicht und Ehrfurcht einen uralten Mann im bunten 
Flickenmantel heraushoben und in das Gotteshaus 
führten. Verwundert ſchauten wir ihm nach, als ein 
wunderliebes Mädchen, halb noch ein Kind, an uns 
vorüberhuſchte und ebenfalls in der Kirche verſchwand 
— dicht hinter dem Greiſe und ſeinen Führern. Ich 
ſtand wie gebannt, während es mir durch den Kopf 
zuckte: Da — das ift deine „Verheißung“, die du ſchon 
ſo lange ſuchſt, ohne ſie finden zu können!“ 

Wels ſeufzte tief auf, und ſein Blick wollte ſich ins 
Weite, ins Unbeſtimmte verlieren. 

Nina aber rief ungeduldig: „Das weiß ich alles, 
du haft mir diefe Geſchichte ſchon dutzendmal erzählt! 
— Ich weiß aber auch, daß dein Vetter Leinz dir in 
meinem Veiſein wiederholt ſagte, du bildeſt dir diefe 
wunderbare Erſcheinung bloß ein. Mit dem armſeligen 
Alten hätte es ſeine Richtigkeit, gefolgt wäre ihm aber 
keine Seele, und das hätten auch alle die Umſtehenden 
beſtätigt, das hätteſt du ſelbſt ſehen müſſen, als die 
Leute nach beendetem Gottesdienſt die Kirche wieder 


102 Das Weib an der Krücke. D 


verließen, denn der Alte wäre allein herausgekommen, 
wie er hineingegangen war.“ 

„Das alles mag ſeine Richtigkeit haben — geſehen 
habe ich meine Verheißung aber doch, freilich nur wäh- 
rend eines flüchtigen Augenblicks und — nie mehr 
wieder!“ ſagte der Maler bekümmert. Dann ſetzte er 
wie in jäher Entſchloſſenheit hinzu: „Ich werde ſie 
aber trotz allem wiederfinden, denn ich muß es! 
Ich finde keine Ruhe, ehe ich mir die Verheißung 
von der Seele gemalt habe, ich werde auch nicht eher 
etwas wirklich Bedeutendes, künſtleriſch Vollkommenes 
leiſten!“ | 

Die junge Frau fab febr unglücklich aus. In ihrer 
Sorge die Hände ineinander preſſend ſagte fie: „Ein- 
bildungen — nichts als Einbildungen! — Geh in dein 
Atelier, ſtelle alle die „Verheißungen“, die du ſeither 
verſucht haſt, nebeneinander und betrachte ſie ohne 
Vorurteil. Du wirſt ſehen, daß wundervolle Stücke 
dabei ſind, denen ein beſſeres Los gebührte, als gegen 
die Wand gelehnt zu ſtehen. Die aus blitzdurchzuckter 
Nebelwand herausſchwebende Verheißung iſt ein Meifter- 
werk, das ſagen alle — deine Genoſſen, deine alten 
Lehrer, die Kritiker, die Kunſtkenner von Ruf. Sie 
würde dich in die vorderſte Reihe der Maler ſtellen, 
könnteſt du dich entſchließen, ſie fertig zu malen!“ 

Nina hatte ſich ſo heiß geredet, daß ſie die äußere 
Hitze im Augenblick nicht mehr empfand. Ihr Mann 
mußte zur Einſicht gebracht, mußte überzeugt werden. 
Bei ihrer gegenwärtigen Lebensweiſe ging er künſt— 
leriſch zugrunde, und ſie — ſie hielt es einfach nicht mehr 
aus, kein Jahr, kein Vierteljahr mehr. Dieſe Lang— 
weile, dieſe Ode um ſie, das Verlangen nach der Welt, 
nach Verkehr mit gebildeten Menſchen tötete ſie, ſo 
übermächtig war es ſchon! 


D Novelle von Carola v. Eynatten. 103 


Er hatte eine Weile ſtill vor ſich hin geſchaut, jetzt 
erwiderte er melancholiſch: „Es mag ja ſein, daß unter 
den Entwürfen manches Gute vertreten iſt, für mich 
aber ſind ſie alle Stümperwerk, denn ſie bleiben 
meilenweit hinter dem zurück, was ich will, was mir 
vorſchwebt, was ich oft greifen zu können glaube und 
doch weder aufs Papier noch auf die Leinwand bringe!“ 

Eine ſolche Erregung war über die junge Frau ge- 
kommen, daß jeder Nerv in ihr hüpfte, ſie ſich erſt 
beruhigen, ſammeln mußte, ehe ſie wieder ſprechen 
konnte. Und als es fo weit war, ſagte fie ſanft und über- 
redend: „Sei doch vernünftig, Franz, überlege und 
ſage dir dann ſelbſt, ob es ſo bleiben kann!“ 

„Sobald ich ſie gefunden habe, wird es anders 
werden, eher nicht!“ verſetzte er hartnäckig. 

„Hör mich doch nur an —“ 

„Jedes Wort iſt überflüſſig, ich ändere nichts, ich 
weiche, ich ruhe nicht, bis ich am Ziele bin, bis meine 
Verheißung ſo vor mir auf der Leinwand ſteht, wie ich 
ſie vor mir ſehe!“ 

„Denk doch an deinen Künſtlerruf! Du kommſt 
ja in Vergeſſenheit, alle Mühen, alle Arbeit deiner 
früheren Jahre gehen dir verloren, ſpielſt du fortgeſetzt 
den Einſiedler!“ 

„um mich ift dir's ja gar nicht zu tun — nur um dich! 
Nach München möchteſt du wieder, dich feiern ie — 
das iſt's!“ 

Mit einem Ruck ſchwang ſich die junge Frau aus 
der Hängematte und ſtand vor dem Ciſchchen. „Dieſer 
Vorwurf iſt ungerecht! Ich habe dir zur Genüge be- 
wieſen, denke ich, daß ich auf das Gefeiertwerden ver- 
zichten kann. Wenn es aber auch ſo wäre, dürfteſt du, 
dürfte irgendwer es mir verargen? Ich bin noch keine 
fünfundzwanzig, ich bin weltgewöhnt, ich bin Künſt— 


104 Das Weib an der Krücke. D 


lerin fo gut, wie du Künſtler biſt, dennoch habe ich feit 
zwei Jahren auf alle Gaben, die mir die Welt bietet, 
verzichtet und mich mit dir, um deinetwillen in dieſer 
Einſamkeit begraben. Für einen einzigen Winter 
wollten wir München verlaffen —“ 

„Vorausſichtlich, habe ich damals geſagt — voraus- 
ſichtlich!“ 

„Vitte, bis April wollten wir in Nervi bleiben, dann 
vielleicht noch für etliche Monate in Rom — ſo haſt 
du gejagt! — Und Rom, das wäre auch etwas geweſen. 
Wir ſind aber nicht nach Rom gegangen. Wir gingen 
von dem gräßlichen Nervi direkt nach Tirol, weil du 
dich nach der ‚erhabenen Ruhe“ des Hochgebirges 
ſehnteſt, und dort haben wir uns in einem unter Schnee 
und Eis verſunkenen Einödhof eingerichtet. Nach der 
Ode des Klauſentales begann die noch troſtloſere 
Strandidylle, die wir heute noch genießen —“ 

„Im November nimmt auch ſie ein Ende.“ 

„Gott ſei Dank!“ 

„Ich will es dann noch einen Winter mit Nervi 
verſuchen und dann —“ | 

Nina ließ ihn nicht ausreden. Entſchieden erklärte 
ſie: „Da tue ich nicht mehr mit, Franz! Wieder den 
ganzen Tag allein in einem froſtigen Hotelzimmer 
oder unten an der Marina ſitzen, während du von 
Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang deiner Ber- 
heißung“ nachläufſt, die ſich nirgends wiederfindet, weil 
ſie niemals exiſtierte — nein, dazu bringſt du mich nicht!“ 

Des Malers Züge verfinſterten ſich wie unter 
einem ſchweren Wolkenſchatten. Aber ruhig, als wäre 
es ſo ſelbſtverſtändlich, ſagte er: „Halte das, wie du 
willſt. Ich zwinge dich nicht zum Witgehen, wenn dir's 
widerſtrebt, obgleich ich das volle Recht hätte —“ 

„Bitte, das haft du nicht, denn du wußteſt, daß 


0 Novelle von Carola v. Eynatten. 105 


eine Geigenkünſtlerin in der Welt leben muß. Und ich 
habe mir zudem die fernere Ausübung meiner Kunſt 
vorbehalten. Woher alſo willſt du das Recht nehmen, 
mich daran zu hindern?“ 

„Laß das! Es iſt zwecklos, ſich um Nebendinge zu 
zanken. Ich gehe unter allen Umſtänden wieder nach 
Nervi. Vorige Woche war ich in drei einander folgenden 
Nächten dort, und jedesmal habe ich das Mädchen von 
San Hilario genau ſo wiedergeſehen wie damals —“ 

„Aber, Franz, das iſt doch kraſſer Aberglaube!“ 
rief Nina entſetzt. 

Läſſig hob er die Schultern. „Mag fein. Ich habe 
aber auch noch mehr im Traum erſchaut in den drei 
aufeinander folgenden Nächten. Daß ich nach Nervi 
gehe, ſteht alſo feſt — du aber kannſt meinetwegen für 
den nächſten Winter nach München oder wohin du ſonſt 
willſt. Im Frühling zeigt ſich's dann, was ich weiter 
tue. — Biſt du damit einverſtanden?“ 

Die Augen der jungen Frau waren immer weiter, 
ihre Züge waren immer bleicher geworden. Er ſah 
es nicht, er ſchaute wieder hinaus aufs Meer. 

Alles hätte ſie erwartet — alles, nur das Angebot 
einer Trennung nicht. Sie zauderte mit der Entſchei⸗ 
dung. Die Großſtadt, das Leben lockten mächtig, Nervi 
grinſte fie an wie eine Fratze aus hohlen, leeren Augen- 
höhlen — aber es iſt nicht leicht, ein Band zu lockern, 
das fürs Leben geknüpft wurde. Sie hatte die Emp- 
findung, daß ihr Mann ſie vor eine ſchwerwiegende, 
folgenreiche Entſcheidung geſtellt habe. Dann ſtand 
auch der Trotz auf. Wenn ihm nichts an der Trennung 
lag, wenn er nur an fih und feine perſönlichen Inter- 
eſſen dachte, wenn er vielleicht lieber allein — 

„Ich bin einverſtanden, ich gehe nach München!“ 
erklärte ſie feſt. 


104 Das Weib an der Krücke. o 


lerin fo gut, wie du Künſtler bift, dennoch habe ich feit 
zwei Jahren auf alle Gaben, die mir die Welt bietet, 
verzichtet und mich mit dir, um deinetwillen in dieſer 
Einſamkeit begraben. Für einen einzigen Winter 
wollten wir München verlaſſen —“ 

„Vorausſichtlich, habe ich damals geſagt — voraus- 
ſichtlich!“ 

„Bitte, bis April wollten wir in Nervi bleiben, dann 
vielleicht noch für etliche Monate in Rom — ſo haſt 
du gejagt! — Und Rom, das wäre auch etwas geweſen. 
Wir ſind aber nicht nach Rom gegangen. Wir gingen 
von dem gräßlichen Nervi direkt nach Tirol, weil du 
dich nach der ,‚erhabenen Ruhe“ des Hochgebirges 
ſehnteſt, und dort haben wir uns in einem unter Schnee 
und Eis verſunkenen Einödhof eingerichtet. Nach der 
Ode des Klauſentales begann die noch troſtloſere 
Strandidylle, die wir heute noch genießen —“ 

„Im November nimmt auch ſie ein Ende.“ 

„Gott ſei Dank!“ 

„Ich will es dann noch einen Winter mit Nervi 
verſuchen und dann —“ 

Nina ließ ihn nicht ausreden. Entſchieden erklärte 
ſie: „Da tue ich nicht mehr mit, Franz! Wieder den 
ganzen Tag allein in einem froſtigen Hotelzimmer 
oder unten an der Marina ſitzen, während du von 
Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang deiner Ber- 
heißung“ nachläufſt, die fih nirgends wiederfindet, weil 
ſie niemals exiſtierte — nein, dazu bringſt du mich nicht!“ 

Des Malers Züge verfinſterten ſich wie unter 
einem ſchweren Wolkenſchatten. Aber ruhig, als wäre 
es ſo ſelbſtverſtändlich, ſagte er: „Halte das, wie du 
willſt. Ich zwinge dich nicht zum Mitgehen, wenn dir's 
widerſtrebt, obgleich ich das volle Recht hätte —“ 

„Ditte, das haft du nicht, denn du wußteſt, daß 


2 Novelle von Carola v. Eynatten. 105 


eine Geigenkünſtlerin in der Welt leben muß. Und ich 
habe mir zudem die fernere Ausübung meiner Kunſt 
vorbehalten. Woher alſo willſt du das Recht nehmen, 
mich daran zu hindern?“ 

„Laß das! Es iſt zwecklos, ſich um Nebendinge zu 
zanken. Ich gehe unter allen Umftänden wieder nach 
Nervi. Vorige Woche war ich in drei einander folgenden 
Nächten dort, und jedesmal habe ich das Mädchen von 
San Hilario genau ſo wiedergeſehen wie damals —“ 

„Aber, Franz, das iſt doch kraſſer Aberglaube!“ 
rief Nina entſetzt. 

Läſſig hob er die Schultern. „Mag ſein. Ich habe 
aber auch noch mehr im Traum erſchaut in den drei 
aufeinander folgenden Nächten. Daß ich nach Nervi 
gehe, ſteht alſo feſt — du aber kannſt meinetwegen für 
den nächſten Winter nach München oder wohin du ſonſt 
willſt. Im Frühling zeigt ſich's dann, was ich weiter 
tue. — Biſt du damit einverſtanden?“ 

Die Augen der jungen Frau waren immer weiter, 
ihre Züge waren immer bleicher geworden. Er ſah 
es nicht, er ſchaute wieder hinaus aufs Meer. 

Alles hätte ſie erwartet — alles, nur das Angebot 
einer Trennung nicht. Sie zauderte mit der Entſchei⸗ 
dung. Die Großſtadt, das Leben lockten mächtig, Nervi 
grinſte fie an wie eine Fratze aus hohlen, leeren Augen- 
höhlen — aber es iſt nicht leicht, ein Band zu lockern, 
das fürs Leben geknüpft wurde. Sie hatte die Emp- 
findung, daß ihr Mann ſie vor eine ſchwerwiegende, 
folgenreiche Entſcheidung geſtellt habe. Dann ſtand 
auch der Trotz auf. Wenn ihm nichts an der Trennung 
lag, wenn er nur an fih und feine perſönlichen Inter- 
eſſen dachte, wenn er vielleicht lieber allein — 

„Ich bin einverftanden, ich gehe nach München!“ 
erklärte ſie feſt. 


106 Das Weib an der Krücke. D 


Wels nickte. „Gut. Willſt du gleich gehen oder war- 
ten bis nach Vollendung meiner angefangenen Bilder?“ 

„Wie es dir lieber iſt.“ 

„Mir iſt's gleichgültig. Ich überlaſſe es dir, zu be- 
ſtimmen.“ 

Wieder zögerte Nina, dann ſagte ſie: „Ich warte.“ 

„Gut. Es wird aber wahrſcheinlich November 
werden, bis ich zum Aufbruch bereit bin.“ 

„Habe ich hier ſo lange ausgehalten, ſo halte ich's 
auch noch ein paar Wochen länger aus.“ 

„Wie du willſt,“ erwiderte er aufſtehend. „Das 
übrige zu beſprechen und zu regeln, bleibt uns noch 
lange Zeit.“ 

Damit wendete er ſich und ging dem Hauſe zu, in 
dem er verſchwand. 

Nina Wels warf ſich wieder in die Hängematte — 
fo ungeſtüm, daß fie eine ganze Weile heftig ſchwang. 
Eine tiefe, eine brennende Bitterkeit quoll in ihr auf. 

Franz ſah, dachte und fühlte ſeit zwei Jahren nichts 
als ſeine Verheißung, die ein ewiger Traum zu bleiben 
drohte. Dieſer Egoiſt! Ob ſie ſich in Langweile, in 
Sehnſucht verzehrte, ob ſie in dieſer ihr aufgezwungenen 
troſtloſen Einſamkeit als Künſtlerin zugrunde ging, 
dafür hatte er keinen Gedanken übriggehabt, nicht 
einen einzigen! Es war empörend — empörend! 

And fie redete fidh fo hinein in ihre Bitterkeit, daß 
das erſt nur Gedachte ſich in Gefühle umſetzte, die 
ſie bis zur Unempfindlichkeit gegen alles Außerliche 
beherrſchten. 

Wer ihr dieſe Wendung vorhergeſagt hätte, als ſie, 


die raſch der Ruhmeshöhe entgegengehende junge. 


Künſtlerin, dem preisgekrönten Maler der gen Himmel 
ſchwebenden „Sehnſucht“ zum Altar gefolgt war! Wer 
es ihr vorhergeſagt hätte! 


o Novelle von Carola v. Eynatten. 107 


Als wäre es erft vor wenigen Wochen gewefen, fo 
deutlich ſtand der Tag vor ihr, an dem fie ihn zum erſten 
Male geſehen, und der ſie ſofort zu ſeiner Braut gemacht 
hatte. Es war der Mittag nach ihrem zweiten Münche- 
ner Konzert geweſen, als er vor ſie hin getreten war 
und ohne jede Einleitung ernſt und ſchlicht gefragt 
hatte: „Nina Brückner, Sie ſind für mich die Erfüllung 
des Frauenideals, Sie ſind die Künſtlerin mit der echt 
weiblichen Seele — wollen Sie meine Frau werden? — 
Meine „‚Sehnſucht“ — fie ift der Ausdruck der in mir 
webenden — hat mich zum bekannten Maler gemacht, 
meine, Verheißung“ wird mich zum berühmten machen. 
Sie iſt zwar bis jetzt nur ein mich umſchwebender 
Traum, aber ſie wird Wirklichkeit werden. Ob in einem, 
ob in zwei, ob erſt in zehn Jahren bleibt ſich gleich, 
denn mein Onkel, der Großinduſtrielle Edelmeyer in 
Nürnberg, bewilligt mir mit meiner Verheiratung eine 
Jahresrente von zwölftauſend Mark. Davon läßt ſich's 
leben. Auch habe ich ſelbſt ein kleines Kapital und 
verdiene ſchon jetzt ein paar tauſend — wollen Sie 
alfo?“ 

Und fie hatte, fortgeriſſen von den Impulſen des 
Augenblicks, fortgeriſſen von ihrer Bewunderung für 
ſeine „Sehnſucht“, geantwortet: „Ich will es, Franz 
Wels! Nur will ich nicht, daß Sie ſich an mich binden, 
ohne mich zu kennen. Wir wollen uns in einem halben 
Jahr verloben.“ 

„Nein, heute noch ſoll es geſchehen. Ich habe Sie 
geſtern ſpielen hören, und Ihre Geige hat mir geſagt, 
daß in Ihnen alles wohnt, was gut iſt auf Erden.“ 

So war ſie ſeine Braut geworden, wenige Stunden 
nachdem er zu ihr gekommen, und keine Sorge für die 
Zukunft war in ihr wach geworden, kein Zweifel an 
ihm, kein Zweifel am Glück. Wer die Sehnſucht fo 


108 Das Weib an der Krücke. D 


groß, fo edel darzuſtellen wußte, war noch mehr als 
ein guter Menſch! 

Drei Monate ſpäter hatte ſie an einem Samstag 
die von Neugierigen dicht beſetzte Frauenkirche an 
ſeinem Arm als ſein Weib verlaſſen, und dieſem Gange 
war ein Jahr brauſenden Glücks gefolgt. 

Sie hatten es in München verlebt unter mancherlei 
künſtleriſchen Erfolgen, unter unermüdlicher Arbeit, 
unter unermüdlichem Streben. 

„Daß ihr beide euch gefunden habt, iſt ein großes 
Glück — beſonders für Franz!“ hatte Onkel Edelmeyer 
allemal geſagt, wenn er zu ihnen nach der Reſidenz 
und wenn ſie zu ihm nach Nürnberg gekommen waren. 

Als aber das zweite Weihnachtsfeſt, das ſie als 
Mann und Frau begingen, herankam, da hatte ihn die 
Erinnerung an das „Mädchen von San Hilario“, da 
hatte ihn auch die unbezwingliche Ztalienſehnſucht ge- 
packt, die dem Germanen unausrottbar im Blute liegt 
— da hatte er nicht geruht, bis ſie eingewilligt, das 
traute Feſt auf fremdem Boden mit ihm zu feiern. 
Wochenlang hatte er ihr vorgeſchwärmt von dem Zauber 
Nervis, vom Zauber der liguriſchen Küſte, die ſich 
unermeßlich dehnt in ihrer tiefen und doch kriſtall- 
klaren Bläue, daß ſie ſchließlich freudig gegangen war — 
ihrem Elend entgegen. 

Die Feſttage waren ihre letzten Glückstage geweſen, 
dann hatte die atemloſe Jagd nach dem „Mädchen von 
San Hilario“ begonnen, dann hatte ſich der Raum, den 
ſie im Leben ihres Mannes einnahm, von Tag zu Tag 
enger zuſammengezogen. Heute nun ſtand ſie vor 
der Trennung von ihm. Nur vor einer zeitweiligen, 
aber es konnte doch nie wieder ſo zwiſchen ihnen werden, 
wie es geweſen war! — 

Gegen Abend wurde die Schwüle noch unerträg— 


o Novelle von Carola v. Eynatten. 109 
licher, obgleich der Himmel allmählich die Farbe des 
Meeres angenommen hatte, die Sonne hinter dichten 
Dunſtſchleiern in die Flut ſank. Nina, hingenommen 
von ihren Gedanken und gärenden Gefühlen, empfand 
es nicht. Sie ſchaukelte läſſig weiter in ihrer Hänge- 
matte, ankämpfend gegen das heiße Naß, das ſich 
unter ihren dunklen Wimpern hervordrängen wollte. 

Erſt als die Dämmerung ſtärker wurde, ſuchte auch 
ſie das Haus auf. 

Ninas Zimmer, die gemeinſchaftlichen Wohn- 
räume und die Wirtſchaftsgelaſſe befanden fih im Erd- 
geſchoſſe, der obere Stock und die ihm als Atelier 
dienende Giebelſtube waren Wels allein überlaſſen. 
Er wollte ganz ungeſtört ſein, niemand ſehen noch 
hören, wenn er nicht ſelbſt Geſellſchaft ſuchte. 

In ihrem Studio, wie fie das neben dem Schlaf- 
zimmer liegende Gemach nannte, war es erſtickend heiß, 
und ihr erſter Weg führte nach den einander gegenüber- 
liegenden Fenſtern, deren eines der See, deren anderes 
dem Lande zugekehrt war. Weit ſchlug ſie beide zurück, 
jo daß ein Lufthauch kühlend den Raum durchzog, 
fie doch wieder atmen konnte. Heute, unter dem Doppel- 
druck der Gemütsverſtimmung und der großen Hitze, 
heute, wo ihr zumute war, als hätte ſie jemand ſehr, 
ſehr Liebes begraben, war ihr der Atem ohnehin 
beengt. 

Dann trat ſie an ein Hängeſchränkchen an der 
Wand und holte ihre Geige heraus, ein unſcheinbares 
Inſtrument im ſchlichten, gebrauchsſchwarzen Holz- 
gehäuſe und doch Tauſende wert, denn es war eine 
Alt- Cremoneſer Geige. Zärtlich betrachtete fie die treue 
Freundin, die ſie ſo lange nicht mehr beachtet hatte 
aus Nüdficht für ihren Mann, den jeder Laut in der 
Umgebung des Hauſes ſtörte und verdroß. 


— 


110 Das Weib an der Krücke. D 


Jetzt konnte fie nicht anders, jetzt mußte fie fie hervor- 
holen und in der Zwieſprache mit ihr dem Ausdruck 
geben, was in ihr wogte und nagte. 

Ob ſie wohl noch ſpielen konnte wie ſonſt, oder ob 
ihre Kunſt gelitten hatte in dieſer öden Dünen; und 
Waſſerwildnis? Eine jähe Angſt befiel ſie. Am offenen 
Fenſter ſtehend, führte ſie den Bogen faſt zaghaft 
prüfend über die leiſe erklingenden Saiten. 

Es ging noch! 

Bald quollen die Töne wie Perlen unter dem wieder 
feſt und ſicher geführten Strich — ihre Geige hatte das 
Klagen und Weinen, das Singen und Jauchzen noch 
nicht verlernt, der Bogen gehorchte ihrem Willen wie 
zuvor, wie in ihrer beſten Zeit. 

Sich ſelbſt vergeſſend, ſpielte und ſpielte ſie, ſpielte 
ſie ſich die Ruhe, ſpielte ſie ſich ein neues Hoffen in die 
gequälte Seele hinein. 

Brauſend flog ein Windſtoß um das Bohlenhaus, 
rüttelte in zügelloſer Wut an Türen und Fenſtern, 
ein wilder Vorreiter des heraufſteigenden Kampfes der 
Elemente. Nina hörte, fühlte ihn nicht. Blitze ſchoſſen 
über den Himmel, der Donner miſchte ſich mit dem 
Brauſen und Heulen der vom Sturm aufgepeitſchten 
Fluten zu einer erſchütternden Sinfonie. Nina achtete 
nicht darauf. Die Geige jauchzte, triumphierte hinein 
in den Aufruhr der Natur, als könnte ſie ihn mit ihrem 
Singen und Klingen meiſtern, übertönen. 

Ihre Kunſt wenigſtens beſaß ſie noch und mit u. 
auch ein gut Teil Glück! 

Und fie war es auch nicht, die das Geſpenſt berbei- 
gerufen, das heute zwiſchen fie und Franz getreten. 
Vielleicht hatte er es ebenſowenig gerufen, war es 
von ſelbſt gekommen. Daß ſie endlich ungeduldig 
geworden, daß ſie ſich nach dem Klausnerleben, das 


o Novelle von Carola v. Eynatten. 111 


hinter ihr lag, geweigert hatte, nochmals nach Nervi 
zu gehen, konnte ihr wirklich nicht angerechnet werden. 

An dieſem Abend ſah ſie ihren Mann nicht mehr. 
Wie ſo oft in letzter Zeit ließ er ſich die Mahlzeit 
in ſeine Arbeitsräume hinaufbringen, in denen er auch 
die Nacht auf einem Schlafdiwan zubrachte. Das war 
ebenfalls nichts Neues, alſo ohne tiefere Bedeutung. 
Es geſchah allemal, wenn eine Idee ſich zu feſter Geſtalt 
verdichten wollte und er jede Ablenkung ſcheute. 

Am anderen Morgen kam er zum Frühſtück herunter, 
und ſeine erſten Worte waren: „Du haſt geſtern abend 
wundervoll geſpielt, Nina.“ 

Sie errötete vor Vergnügen. 

Er aber fuhr fort: „Willſt du mir einen Gefallen 
tun, ſo ſpiele jeden Abend um die Zeit wie geſtern. 
Es erleichtert mir das geiſtige Geſtalten.“ 

Von da ab ſpielte Nina Abend für Abend, und als 
es zu kühl wurde, um am offenen Fenſter den Bogen 
zu führen, öffnete ſie die Tür nach dem Vorraum, wie 
Wels es oben in ſeinem Atelier tat. 

Dieſes Spielen und dieſes Lauſchen war aber ſo 
ziemlich die einzige Beziehung zwiſchen ihr und ihm. 
Sie ſahen ſich felten, höchſtens bei Tiſche, und wenn er 
zu den Mahlzeiten im Eßzimmer erſchien, war er faſt 
ſtets wortkarg, in ſich verſunken und hielt ſich ſelten 
lange unten auf. Von ſeinen Winterplänen ſprach er 
ſo wenig, als er nach den ihrigen fragte, und auch über 
ſein künſtleriſches Schaffen äußerte er ſich nicht. Sie 
wußte nicht einmal, was ihn gegenwärtig beſchäftigte, 
woran er arbeitete, bis ſie eines Tages ſich danach 
erkundigte. 

„An meiner „Verheißung“ natürlich, und ich glaube, 
ſo nahe wie diesmal bin ich dem mir vorſchwebenden 
Bilde noch nie gekommen,“ erwiderte er. 


112 Das Weib an der Krücke. 2 


„Wie mich das freut!“ rief Nina voll Wärme. 

„Komm mit hinauf,“ forderte Wels ſie auf. „Das 
Bild iſt zwar noch nicht fertig, aber was noch fehlt, ſind 
Kleinigkeiten, deren Mangel weiter nicht ſtört.“ 

Die junge Frau blieb auf der Schwelle überrafcht 
ſtehen. Alle Staffeleien waren beſetzt mit mehr oder 
minder vorgeſchrittenen Gemälden, und an den Wänden 
hingen mehrere vollendete, die ihr gleichfalls fremd 
waren. Er mußte ſehr — ſehr fleißig geweſen ſein 
in der letzten Zeit. 

„So habe ich wenigſtens nicht umſonſt in dieſer 
Einſamkeit vegetiert!“ dachte ſie ehrlich erfreut. 

Während ihre Augen langſam den beinahe faal- 
artigen Naum durchliefen, den der Maler fih durch 
das Niederlegen zweier der hölzernen Zwiſchenwände 
geſchaffen, hatte er eine gewaltige Doppelſtaffelei, auf 
der eine Leinwand von mehreren Quadratmetern ſtand, 
vorſichtig herumgeſchoben, ſo daß das volle Licht auf die 
bemalte Fläche fiel, und nun wies er ſeiner Frau einen 
Platz an, von dem aus ſie ſein Werk beſichtigen ſollte. 

Eine feine Nöte floß über ihr ausdrucksvolles Ge— 
ſicht, als fie ſtumm, mit verſchlungenen Händen davor- 
ſtand, und in ihren dunklen Augen leuchtete freudige 
Bewunderung auf. 

Dann wendete fie fih zu Wels und ſagte ſtrahlend, 
lebhaft bewegt: „Franz, diefe auf goldig durchleuch- 
teter Wolke erdenwärts ſchwebende „Verheißung“ über- 
trifft deine berühmte „‚Sehnſucht“ noch bei weitem! — 
Dieſes Werk wird dich unter die größten Meiſter deiner 
Kunſt reihen!“ 

Der Schimmer eines Lächelns ging über ſeine 
bleichen, ernſten Züge, und er ſagte leiſe: „Kleine 
Enthuſiaſtin! Wenn nicht ich das Bild gemalt hätte, 
würdeſt du viel nüchterner und richtiger urteilen!“ 


o Novelle von Carola v. Eynatten. 113 


„Du biſt doch nicht unzufrieden damit?“ rief fie 
faſt angſtvoll. 

„Ja und nein. Es ift kein erſtklaſſiges Meiſterwerk 
nach meiner Schätzung, aber es iſt ein gutes Bild. 
Das aber, was ich will, was vor mir ſteht, ift es jeden- 
falls noch immer nicht, und ſolange mir feine Verwirk— 
lichung nicht gelungen iſt, werde ich immer wieder von 
vorne anfangen,“ erwiderte er. 

„So ſoll auch dieſe „Verheißung“ in eine Ede wan- 
dern?“ fragte Nina bekümmert. 

„Höchſt wahrſcheinlich wird das ihr Los ſein.“ 

Nina ſah bitter enttäuſcht und unglücklich aus. 
Ihres Mannes fixe Idee ſchien unheilbar — er ging 
noch zugrunde an ihr. 

Er aber, als hätte er erraten, was ſie dachte, was in 
ihr vorging, verſetzte: „Heute hältſt du mich für einen 
Narren — ich hoffe jedoch, es wird ein Tag kommen, an 
dem du dich freuſt, daß ich deiner Verſucherſtimme kein 
Gehör gegeben habe.“ 

Nina ſah nicht aus, als ob ſie daran glaubte. 

„Du biſt doch auch nie vors Publikum getreten, ehe 
du die zum Vortrag gewählten Stücke nicht ſo ſpielen 
konnteſt, daß du vollſtändig zufrieden mit dir warſt!“ 

„Gewiß nicht, nur war ich nicht ſo anſpruchsvoll,“ 
antwortete ſie. | 

„Im!“ | 

„Auch du warſt es früher nicht, Franz, ſonſt hätteſt 
du nicht die, Sehnſucht“ hinausgehen laſſen, die, ſo ſchön 
ſie iſt, doch nicht heranreicht an dieſes überwältigende 
Bild.“ 

„Damals war ich drei oder vier Jahre jünger, als 
ich heute bin. Die Leiſtungen müſſen mit den Jahren 
ſteigen. Zudem kann ich nicht anders, ich muß ſuchen — 
ſuchen und verſuchen. Es zwingt mich dazu, es iſt 

1914. V. 8 


114 Das Weib an der Krücke. a 


ſtärker als ich! Die Kunſt ift keine Magd, die uns dient 
— ſie iſt eine abſolute Herrſcherin, die uns zertritt, 
ſind wir ihr nicht blind untertan.“ 

Nina, die ihren Mann während dieſer Rede nicht 
aus den Augen gelaſſen, erſchrak über ſein Ausſehen, 
über die ſeltſame, die beinahe fanatiſche Glut ſeiner 
Augen. Wenn er ſo weitermachte, verzehrte er ſich 
in dem Ringen um etwas, das wohl unerreichbar war. 
Sie ſchwieg aber, ſie ſchwieg aus der Überzeugung 
heraus, daß jedes weitere Wort verloren wäre, ihn bloß 
aufregen würde. 

So trat ſie ohne eine Bemerkung vor die übrigen, 
ihr noch unbekannten Gemälde ihres Mannes, die alle 
die ſichere Hand des Meifters, den edlen Charakter 
zeigten, der alle ſeine Werke auszeichnete. 

„Eines ſo ſchön wie das andere!“ ſagte ſie endlich 
halblaut, mehr zu fih als zu ihm. 

„Lückenbüßer — Alltagskitſch, wie er von Taufenden 
fabriziert wird! Ich habe ſie nur gemalt, um wieder 
einmal genannt zu werden, ein paar Bilder zu ver- 
kaufen,“ ſagte er abweiſend. 

Über eine Stunde hatte der Beſuch im Atelier ge- 
dauert, und als Nina ging, ſagte Wels: „Heute und 
morgen arbeite ich noch, dann geht's ans Packen.“ 

„Und an die Trennung!“ ſetzte ſie in Gedanken 
hinzu. — | Eou 

Am anderen Tag ftieg fie ungerufen in den oberen 
Stock hinauf und leiſtete Wels ſtillſchweigend Gebilfen- 
dienſte beim Einpacken, die ebenſo ſchweigend an— 
genommen wurden. 

Dabei beſſerte ſich aber ſeine Stimmung ſichtlich. 
Er nahm an den Mahlzeiten wieder regelmäßig teil, 
begleitete feine Frau bei ihren gewohnten Spazier- 
gängen am Strand, und des Abends ſaßen ſie zuſammen 


OD Novelle von Carola v. Eynatten. 115 


in dem behaglichen Wohnzimmerchen im Kajütenſtil. 
Dann holte Nina ihre Geige, oder Wels plauderte von 
Nervi und von ſeinem Verlangen, die ihm ſo liebe 
Stätte wiederzuſehen, wieder hinauszuſchauen auf die 
ſaphirblauen Fluten des Liguriſchen Meeres, wieder 
unter Olbäumen und Palmen zu ſitzen. 

Nichts aber in feinen Äußerungen ließ erkennen, 
ob er noch mit einer längeren Trennung von ihr rech- 
nete, ob er dieſen Gedanken aufgegeben oder ob er 
die ganze Sache vergeſſen hatte. — 

Das Packen der Bilder, der Geräte und der vielen 
präparierten Seetiere, die der Maler im Laufe der 
Zeit gekauft hatte, war eine heikle Arbeit und nahm 
länger in Anſpruch, als er gedacht hatte. Dann kam noch 
die Übergabe des Haufes an den Bevollmächtigten des 
Beſitzers, eines Handelskapitäns, und an einem trüben, 
feuchten Novembermorgen ſtand endlich der Wagen 
vor der Tür, der das Ehepaar nach der Bahnſtation 
bringen ſollte. | 

Nina ſtand reiſefertig im Eßzimmer, und Wels legte 
eine zierliche Brieftaſche von Schlangenhaut vor ſie 
auf den Tiſch. 

„Nimm das,“ ſagte er. „Es ſind tauſend Mark 
drinnen. Bis zum Erſten wirſt du mit ihnen auskommen, 
denke ich. Unſere Münchener Wohnung iſt ja mit 
allem Nötigen ſo reichlich verſehen, daß du nicht viel 
anzuſchaffen haben wirſt, und bis Frankfurt am Main 
geht die Neiſe auf meine Koſten.“ 

Alfo doch Trennung! N 

Nina ſchob die Brieftaſche zurück und ſagte leiſe: 
„Danke — es ift überflüſſig. Du weißt, meine Erſpar— 
niſſe und mein Erbe liegen auf der Bank und bilden ein 
ſehr anſtändiges Kapital.“ 

Er aber wiederholte: „Nimm! Ich will nicht, daß 


116 Das Weib an der Krücke. D 


meine Frau aus ihrer Taſche lebt. Du erhältſt jeden 
Monat fünfhundert . 

„Es iſt nicht nötig — 

„Bitte!“ fiel er ihr mit einer eee Ge- 
bärde ins Wort. 

Die junge Frau fügte fih. Als aber der Wagen ſchon 
ſeit einer längeren Weile die naſſe Landſtraße entlang 
fuhr, begann ſie doch nochmals: „Getrennt von dir, 
iſt es mir peinlich, von deinem Gelde zu leben, Franz. 
Nicht deinetwegen, mir iſt's um Onkel Karl. Er hat 
ſeine eigenen Anſichten und wird es höchſt unpaſſend 
finden, daß wir für einen ganzen Winter auseinander 
gehen.“ 

„Das kommt anderswo auch vor. Ich werde ihm 
die erforderlichen Erklärungen geben.“ 

„Er wird fie nicht gelten laffen, und nach allem, was 
er für uns tut, (hulden wir ihm große Rückſicht. — Du 
willſt aber wohl jedenfalls lieber allein nach Nervi 
gehen?“ 

Man hörte die ſchwere Überwindung, die dieſe 
Frage ſie koſtete. 

„Ja,“ antwortete er ruhig, „mir iſt's lieber, wenn 
du's bei den Veſtimmungen bewenden läßt, die wir 
getroffen haben. Ich werde tagelang, mitunter viel- 
leicht wochenlang von Nervi abweſend ſein, und es 
wäre mir peinlich, dich allein dort zu wiſſen. Begleiten 
aber könnteſt du mich auf den Streifereien, wie ich 
ſie vorhabe, auch nicht.“ 

„Gut,“ ſagte Nina mit einem ſtolzen Neigen ihres 
Kopfes, „für mich ift München natürlich weit an-. 
genehmer.“ 

„Das denke ich auch.“ 

Sie war tief verletzt. Wie töricht, daß fie ihm wenig- 
ſtens indirekt ihre Begleitung angeboten hatte! Er 


ao Novelle von Carola v. Eynatten. 117 


wünſchte fie doch gar nicht, er wollte allein fein — und 
ſie hätte das wiſſen können, wiſſen müſſen. | 

Nun, er follte feinen Willen haben, fie war ſogar 
jetzt zu einer dauernden Trennung bereit! Als Künſt— 
lerin konnte ſie ihr nur vorteilhaft ſein! 

Der Winter war raſch vergangen, war ſchon bis 
in die letzte Faſchingswoche vorgerückt. Wenige Wochen 
noch, dann brach der Frühling an, wenigſtens der 
Kalenderfrühling. 

Als fie das überdachte, fak Nina Wels im Ankleide- 
zimmer ihrer eleganten Münchener Wohnung und ließ 
ſich von einem Friſeur den hübſchen, edel geformten 
Kopf in ein Meduſenhaupt verwandeln. Heute hielten 
die Münchener Künſtler ihr großes Maskenfeſt ab, zu 
dem auch ſie geladen war. Sie wollte als Meduſa 
erſcheinen in einem weißen Griechengewand von 
Leinenbatiſt, von deſſen Gürtel ſich einige Dutzend 
Schlangen bis an den breiten Purpurſaum nieder- 
ringelten. 

Sie hatte fich febr gut abgefunden mit ihrer Stroh- 
witwenſchaft. Über die erſte, die ſchwerſte Zeit hatten 
ihr die Verſtimmung über die ihr widerfahrene Krän— 
kung, über ihres Mannes Gleichgültigkeit und der 
enthuſiaſtiſche Empfang hinweggeholfen, den ihre 
Freunde, den die Münchener Geſellſchaft ihr bereitet 
hatten. Dann waren die Gewohnheit gekommen und die 
Zerſtreuungen eines ſehr lebhaften Verkehrs. Sie war 
in die Fluten des geſellſchaftlichen Treibens viel tiefer 
hineingezogen worden, als fie gewollt hatte. Sie ver- 
brachte nur ſelten einmal einen Abend allein daheim. 
Auch öffentlich geſpielt hatte ſie ſchon zweimal, freilich 
nur in Wohltätigkeitskonzerten größten Stiles. Das 
ſchadete aber nicht. Mit dem Verdienen hatte ſie es 


118 Das Weib an der Krücke. o 


nicht eilig, und der Erfolg war nicht ausgeblieben. 
Die Zuhörerſchaft und die Preſſe hatten ihre Dar- 
bietungen mit ungeteilter Begeiſterung aufgenommen. 
Wo ſie ſich zeigte, wurde fie noch eifriger, noch ftürmi- 
ſcher umdrängt, umſchmeichelt, umworben als vor ihrer 
Verheiratung. Ihrer Kunſt und deren Wirkung auf 
die Gemüter, ihrer geſellſchaftlichen Stellung war fie 
ſicher, und das war gut, denn ihr Mann ſtrebte offenbar 
nach der Wiedererlangung ſeiner Freiheit, und ſie mochte 
nicht lebenslang ſeine Penſionärin ſein. Auf eigenen 
Füßen wollte ſie ſtehen, ſelbſtändig nach jeder Rich- 
tung, und ihre dreijährige Ehegemeinſchaft mit Franz 
Wels als eine Epiſode betrachten, die nur kurze Zeit 
ein flammendes Licht in ihr Leben getragen hatte. 

Sie wußte ſehr wenig von ihrem Manne. Briefe 
hatte ſie ganze drei erhalten, die zwar einige Seiten 
lang waren, doch ſo wenig enthielten wie ſeine zweimal 
in der Woche pünktlich eintreffenden Anſichtskarten, 
die ſie regelmäßig, aber ebenſo kurz beantwortete. 
Es ginge ihm gut, er ſei zufrieden und arbeite ſehr viel, 
das war der ganze Inhalt ſeiner Mitteilungen. Das 
war auch alles, was ſie wußte, freilich nicht alles, was 
ſie vermutete. Denn ſie las zwiſchen den Zeilen, daß 
er ſich in der gehobenſten Stimmung befand, und ſie 
ſchloß daraus, daß er ſich ſeines Alleinſeins freute. 
Seit etwa zehn Tagen vermutete ſie auch, daß er allein 
zu bleiben, die zeitweilige Trennung in eine dauernde 
zu wandeln wünſchte. 

Das kam ſo. 

Der Impreſario Robitſchek hatte ihr vor einigen 
Wochen eine ſommerliche Konzertreiſe durch die deut- 
ſchen und öſterreichiſchen Alpenländer vorgeſchlagen, 
und ihr Mann ließ ihr freie Hand. Ohne ſeiner ferneren 
Pläne nur andeutungsweiſe zu gedenken, hatte er ihr 


o Novelle von Carola v. Eynatten: 119 


geſchrieben: „Auch mir erſcheint Nobitſcheks Angebot 
äußerſt vorteilhaft, und ich bitte dich in dieſer Angelegen- 
heit, unbekümmert um mich, nur deinen perſönlichen 
Wünſchen zu folgen. Ich will und kann mich dir nicht 
hemmend in den Weg ſtellen. Handle, als wäreſt du 
nicht verheiratet, und ſei verſichert, daß ich mich über 
deine zweifellos großen Erfolge herzlich freuen werde.“ 

Das war doch ſonnenklar, Vetter Leinz mochte noch 
ſo entſchieden das Gegenteil behaupten! Es hieß nicht 
mehr und nicht weniger als: „Geh du deine Wege, wie 
ich die meinigen gehe!“ 

Als ſchlangenſtarrende Meduſa ſtand nun die junge 
Frau vor dem Spiegel, als Zetti, ihr Mädchen, ein 
buntprächtiges Chamäleon hereinführte. Es war Vetter 
Leinz, der bevorzugte Maler ſchöner Frauen. 

Er blieb unter dem hellen Türbehang ſtehen und 
rief: „Unheimlich ſchön!“ 

Über Ninas Geſicht flog ein Lächeln der Freude. 

„Hat dir Franz das Koſtüm entworfen?“ 

Nina wendete halb den Kopf und antwortete ſpöttiſch: 
„Als ob er ſeiner Würde ſo ſehr vergeſſen könnte!“ 

„Wenn's für dich iſt!“ 

„Viſt du naiv!“ entgegnete fie mit ſcharfem Lachen. 

Da wußte Rudolf Leinz, daß ſich die Wolken noch 
nicht verflüchtigen wollten. „Ich glaube, du kennſt 
Franz trotz eures dreijährigen Zuſammenlebens noch 
recht wenig,“ ſagte er vorwurfsvoll. „Er iſt der beſte 
Menſch auf der Welt und hat ein ſo anhängliches 
Gemüt wie wenige.“ 

„Er beweiſt es mir ja täglich!“ 

„Nina!“ bat Leinz bekümmert. 

„Warte nur feine Antwort auf meinen nächſten 
Brief ab, in dem ich ihm die gerichtliche Löſung unſerer 
Ehe anbieten werde.“ 


120 Das Weib an der Krücke. o 


Áe 


„Nein, das wirft du nicht tun!“ rief der Malcr 
außer ſich. 

Sie trat vor ihn hin und bohrte ihre aufflammenden 
Augen in die ſeinigen. „Glaubſt du, ich gehöre zu jenen 
Frauen, die fih jo allgemach, gewiſſermaßen auf Um- 
wegen abſchütteln laſſen, wenn man ihrer überdrüſſig 
geworden iſt?“ 

„Franz iſt deiner nicht überdrüſſig, will dich nicht 
abſchütteln! Daß fein Betragen ſonderbar ift, gebe ich 
ja zu, und hätteſt du es erlaubt, ſo würde ich ihn längſt 
zur Rede geſtellt haben. Ich feke aber nur ein Miş- 
verſtändnis voraus und —“ 

„Darum müßte ich wiſſen!“ 

„Das iſt nicht geſagt.“ 

„Das iſt nicht geſagt? Bei einem ſolchen Egoiſten!“ 

„In gewiſſem Sinne iſt jeder Künſtler ſelbſtſüchtig. 
Er muß es ſein, denn er unterſtellt ſeiner Kunſt alles, 
auch das eigene Behagen. Tut er's nicht, fo leidet 
ſeine künſtleriſche Entwicklung not.“ 

Was Leinz aber auch ins Treffen führen mochte, 
es blieb ohne Wirkung. 

Das Feſt ſtand auf ſeinem 9 der Nauſch 
des Mumenſchanzes hatte auch die Ernſten, die Älteren 
ergriffen, und prickelnde Witzreden ſchwirrten wie Leucht- 
kugeln durch die in das Brillantfeuer elektriſcher Licht- 
fluten getauchten Säle. 

Wie verſtimmt auch Nina Wels gekommen war, ſie 
erlag ſchließlich doch der Anſteckung, die von den über- 
mutstollen Männlein und Weiblein ausging. Sie 
wurde fortgeriſſen von der ſprühenden Luſt ringsum, 
vom Humor, vom Witz und Geiſt, deren Gaben ver— 
ſchwenderiſch ausgeſtreut wurden, fortgeriſſen auch von 
dem wogenden Formen- und Farbenmeer, das feinen 


o Novelle von Carola v. Eynatten. 121 


Zauber vor ihr entfaltete. Sie machte ſchließlich mit, 
ſie überbot ſich gar an launigen Einfällen. Das bunte 
Treiben wurde ihr zum Ventil, das der künſtlich nieder- 
gehaltenen Erregung der beiden letzten Wochen einen 
Ausweg gewährte. 

Rudolf Leinz beobachtete ſie kopfſchüttelnd. 

War das herzloſer Leichtſinn oder die verzweifelte 
Fröhlichkeit jener, die jauchzend und jubilierend dem 
Abgrunde entgegentanzen, den ſie ſich wahngeſpornt 
ſelber gruben? 

Er kannte die Frau ſeines Vetters zu wenig, um 
ih ein Urteil zu bilden. 

Aber er wollte ſie kennen lernen! — 

Ein von Straußen gezogener RNoſenwagen wurde 
kurz vor der großen Pauſe in den Saal gefahren, um- 
geben von weißgekleideten Genien. Einige Pierrots, 
die Nina ſeit einer längeren Zeit ſchon umſchwirrten, 
ſchloſſen jetzt einen Kreis um ſie und baten, ſie auf ihren 
Thron heben zu dürfen. Und ehe ſie noch antworten 
konnte, fühlte ſie ſich ſchon auf eine rieſige Geige ge— 
hoben und unter dem Rufe: „Heil der Geigenkönigin!“ 
nach dem Wagen getragen. Hier richtete einer aus der 
geflügelten Schar eine kurze Anſprache an ſie, ſich und 
ſeine Brüder in ihre Dienſte ſtellend, dann überreichte 
er ihr eine Geige, ein wundervolles altes Inſtrument, 
deſſen Wert den der ihrigen wohl 12 überſteigen 
mochte. 

Nina, die ungeachtet ihrer Verblüffung ſogleich be- 
griff, daß es ſich um eine ihr vom Feſtkomitee zu- 
gedachte Huldigung handelte, zögerte mit ihrem Dank 
nicht. Stolzerfüllt, mit ſtärker ſchlagendem Herzen 
und ſchneller kreiſendem Blute hob ſie die Geige an 
das Kinn, während der Wagen langjam mit ihr weiter- 
zog. Einige prüfende Striche, dann ſetzte ſie mit voller 


122 Das Weib an der Krücke. OD 


Kraft ein, umbrauſt von ſtrömenden Melodien, be- 
feuert von dem Gedanken: „Jetzt gilt's, dein Beſtes 
zu geben!“ 

And fie ſpielte, wie fie in ihrem ganzen Leben noch 
nicht geſpielt hatte. Ein Schluchzen, ein Singen und 
Klingen, ein Jubeln und Jauchzen ſtieg aus den Saiten 
des Inſtruments hervor, daß es ihr ſelbſt bald wie Eis, 
bald wie glühendes Entzücken durch die Adern rann. 

Als Ninas Vortrag beim Stilleſtehen des be— 
täubende Wohlgerüche aushauchenden Gefährtes an 
ſeinem Ausgangspunkte jäh abbrach, ſprach ihr der 
Genius, der die Begrüßungsrede gehalten, im Namen 
der geſamten Münchener Künſtlerſchaft ſeinen Dank aus. 
Die Pierrots mit der Rieſengeige ſtanden bereit, ſie 
wurde wieder darauf gehoben und in der gleichen 
Weiſe wie vorhin in den Speiſeſaal und an die Tafel 
des Komitees getragen, wo ihrer ein mit Blumen- 
gewinden umflochtener Ehrenſitz wartete. 

Die Tafelgenoſſen erhoben die Sektkelche, die hell 
zuſammenklangen unter dem Rufe: „Heil der großen 
Geigenkönigin!“ | 

Wer an den übrigen Tiſchen fak, wer fih zwifchen 
ihnen bewegte, ſtimmte ein in dieſen Nuf, und Nina, 
durchſtrömt von einer ſtolzen Freude, einem Triumph- 
gefühl wie nie zuvor, neigte ſich dankend nach allen 
Seiten. 

Sie beſaß den höchſten Schatz, der Menſchen werden 
kann: die Kunſt, die Herz und Sinne beſtrickende Kunſt 
der Töne! Was blieb ihr noch zu wünſchen? 

„Tanzen und ſpielen tuſt, feiern und umanand 
tragen laßt di, dein’ Mann aber hat 's Unglück beim 
Krawattl packt! — Schamft di net, du!“ ziſchelte es 
ſchadenfroh in ihre überſchäumende Siegesfreude, in 
ihren Künſtlerjubel hinein. 


o Novelle von Carola v. Eynatten. 123 


Mit einem haſtigen Ruck wendete Nina den Kopf, 
durch das Gewühl der ub und zu ſtrömenden Masken 
ſchob ſich eilig die in graue Lumpen gehüllte gebückte 
Geſtalt eines alten Weibes, das an einer Krücke bum- 
pelte. 

Was war das? Franz ſollte im 1 Anglück ſein — 
fern von ihr? | | 

Der Kopf wirbelte ihr. 

Hatte ſie nur das Geziſchel der Bosheit, des Neides 
vernommen, das ihr den eben erlebten Triumph ver- 
gällen wollte? Aber ſicher, es war nichts weiter, es 
konnte nichts weiter ſein! Wie es auch ſtand zwiſchen 
ihrem Mann und ihr — ein Unglück hätte er ihr doch 
nicht verſchwiegen! 

Oder — ſollte es plötzlich über ihn gekommen ſein, 
konnte ſie es noch nicht wiſſen? Wie aber wußte es dann 
die häßliche Sorgengeſtalt an der Krücke? l 

Der Gemütserſchütterung folgte eine ſtachelnde Un- 
ruhe. Mit ſtarrem Lächeln ſaß Nina an der. Tafel, 
nahm fie die Liebenswürdigkeiten der Komiteemit⸗ 
glieder auf. Sie plauderte zwar auch, doch nur mecha- 
niſch, und ihr Auge glitt immer wieder durch den Saal 
auf der Suche nach Leinz. Er war nicht zu ſehen, und 
in ſeiner auffallenden Maske hätte ſie ihn ſicher bald 
gefunden. 

Faſt vier Uhr wurde es, als er endlich hinter ihrem 
Rofenfiße auftauchte, fie erlöſend aus einer namen- 
loſen Pein. 

„Willſt du heimfahren, oder bleibſt du noch?“ fragte 
Leinz. 

Die junge Frau ſtand ſofort auf, ohne auf die 
ſtürmiſchen Proteſte der Tafelgenoſſen nur zu ant— 
worten. Sie vernahm ſie kaum, beherrſcht von dem 
einzigen Gedanken: Franz im Unglück! 


124 Das Weib an der Krücke. D 


An Rudolfs Arm und geleitet von mehreren Romitee- 
herren durchſchritt fie den Gual und ſtieg die breite 
Steintreppe hinunter. Der Wagen kam auf den Nuf 
eines Dieners vors Portal, Ninas Geduldprobe war 
aber damit noch nicht zu Ende. Ihre Begleiter dankten 
ihr nochmals für den Genuß, den ſie den Feſtgäſten 
bereitet hatte, eine neue Flut liebenswürdigſter 
Schmeicheleien rauſchte über ſie hin. 

Endlich klappte der Wagenſchlag, und die Pferde 
zogen an. 

„Weißt du, daß Franz im Unglück ift — weißt du, 
was ihm zugeſtoßen iſt, ob er krank oder was es ſonſt 
iſt?“ ſtieß ſie angſtvoll heraus und preßte die Hand 
ihres Begleiters. 

„Seit wann leideſt du an Halluzinationen, Frau 
Nina?“ verſetzte er ſcherzend. 

Mitt haſtigen Worten berichtete fie ihm ihr Erlebnis 
mit dem Weib an der Krücke. 

Da ſagte er mit einem zwar nur flüchtigen, doch 
merkbaren Zögern: „Aber ich bitte dich — was wird 

es fein? Ein Schabernack, den eine Konkurrentin, eine 
Neiderin dir ſpielen wollte — vielleicht aber auch bloß 
ein Dummerjungenſtreich. Mir wenigſtens iſt nichts 
bekannt. Die letzte Karte von Franz war ganz 
munter, die fällige läßt freilich länger auf ſich war- 
ten als ſonſt, doch ſcheint mir das eher ein gutes als 
ein ſchlechtes Zeichen zu ſein. Wem es übel geht, 
der ſchreibt.“ 

„Es kommt auf den Charakter an. Franz iſt anders 
als andere. Es mag ja töricht ſein, aber ich bin in 
ſchwerer Sorge. Wie eine Hexe wirkte das abſcheuliche 
Weib auf mich, als es ſo eilig davonhinkte.“ 

Rudolf Leinz lachte. „Du biſt doch ſonſt nicht ſo 
ſchreckhaft!“ 


D Novelle von Carola v. Eynatten. 125 


„Nichts weniger als das, aber ich kann mir nicht 
helfen — T ö 

„So ſchicke eine Depeſche nach Nervi,“ 

„Weiß ich denn, ob Franz mir die Wahrheit be- . 
richtet? Er iſt mitunter ſo ſonderbar, und in der letzten 
Zeit vor unſerer Trennung konnte ich öfter ein gewiſſes 
Mißtrauen an ihm beobachten.“ 

„Nun, krank iſt er nicht, deſſen bin ich ſicher. Wann 
ſollteſt du wieder Nachricht von ihm haben?“ 

„Am Freitag.“ 

„Alſo übermorgen. — Warte ſie zunächſt einmal ab, 
dann wird ſich ja zeigen, was iſt.“ 

„Sollte ihm wirklich ein Unglück begegnet ſein, 
wüßte ich dann gar nichts, hätte aber zwei koſtbare 
Tage verloren. Darum denke ich, das beſte wird ſein, 
ich fahre ſelbſt nach Nervi.“ 

„Aber bedenke doch, daß ſich das kaum paßt, wenn 
man — die Scheidung einleiten will,“ erwiderte Leinz 
ſpöttiſch. 

„Das iſt eine Sache für ſich, und in einem ſolchen 
Fall kommt ſie ſchon gar nicht in Betracht.“ 

„Ich verſtehe wirklich nicht, wie du ein dummes 
Maskengeſchwätz fo tragiſch nehmen kannſt!“ 

„Ich verſtehe es auch nicht, aber es iſt nun einmal 
jo — und fo bleibt es bei der Reife.“ 

Der Wagen bog in die Leopoldſtraße ein, in der ſich 
Ninas Wohnung befand, und die junge Frau bat: 
„Komm mit, Rudolf, und hilf mir ordnen. Ich muß 
manches verſchließen und meinen Koffer packen.“ 

„Aber —“ 

„Sag nichts mehr dagegen! Ich würde ſchon mit 
dem erſten Zug fahren, müßte ich nicht auf der Bank 
Geld erheben.“ 

„Dieſen Gang kannſt du ſparen. Ich bin zufällig 


126 Das Weib an der Rrüde. o 


bei Kaſſe und ftrede dir vor, was du brauchſt,“ erbot 
ſich der Maler. 

„Danke. Ich will eine bedeutende Summe mit- 
nehmen — für alle Fälle, denn man weiß nicht, wie 
man ſie braucht.“ 

Der Wagen hielt, und die verſchlafen dreinſchauende 
Jetti machte ein äußerſt verblüfftes Geſicht, als ihre 
Dame ihr erklärte, an Schlaf ſei für dieſe Nacht nicht 
mehr zu denken. Sie müßten ſofort ans Packen gehen. 
„Vorher aber kochſt du raſch für uns einen ſtarken Kaffee 
und bringſt alles herbei, was ſich Eßbares im Hauſe 
findet.“ 

Dabei ſchob ſie dem Mädchen ein Fünfmarkſtück in 
die Hand als Entſchädigung für den Raub ihrer Nacht- 
ruhe. 

„Und jetzt an die Arbeit!“ ſetzte fie zu dem Vetter 
gewendet hinzu. 

„In dieſem wundervollen Koſtüm?“ 

Auf den Lippen der jungen Frau erſchien ein mattes 
Lächeln, als ſie mit der Hand über die Stirn ſtreichend 
ſagte: „Natürlich werde ich mich zuvor umkleiden, ich 
dachte nur im Augenblick nicht daran. Bitte, ſieh in- 
zwiſchen den Fahrplan nach — er hängt im Vorzimmer.“ 

„Du ſollteſt ein paar Stunden wenigſtens ſchlafen!“ 

„Dazu habe ich im Zuge Zeit genug. Wenn aber 
du müde biſt —“ 

„Mir kommt's auf eine durchwachte Nacht nicht 
an.“ 

Als Nina eine Viertelſtunde ſpäter in einem grau— 
wollenen Schneiderkleide wieder erſchien, wurde ſie 
von Rudolf mit der Bemerkung empfangen, daß um 
zehn Uhr ein direkter Schnellzug abginge. 

„Das paßt mir — ich danke.“ 

Zimmer für Zimmer wurde vorgenommen, dabei 


ü Novelle von Carola v. Eynatten. 127 


gab es für den Maler jedoch nichts weiter zu tun, als 
die feiner Obhut beſtimmten Schlüffel zu den Schränken 
und Truhen in Empfang zu nehmen, in denen die junge 
Frau alles einſchloß, was ſie an Wertſtücken beſaß. 

„Kann ich dir denn ſonſt gar nichts helfen?“ fragte 
er nach einer Weile. 

Nina ſchüttelte den Kopf. „Du hilfſt mir durch dein 
Hierſein,“ antwortete ſie. „Es bannt wenigſtens 
einigermaßen die mich verfolgenden unheimlichen Ge- 
danken. Verzeihe nur, daß ich dich aus ſo ſelbſtſüchtigen 
Gründen des Schlafes beraube.“ 

„Im Gegenteil, ich freue mich, wenigſtens zu etwas 
nütze zu fein. — Was find denn das aber nur für un- 
heimliche Gedanken?“ 

Ein brennendes Rot breitete ſich jählings über ihre 
Wangen, kroch die Stirn hinan. Leiſe, zögernd ant- 
wortete ſie: „Ich fürchte — das heißt ich denke — ſeine 
Nervoſität könnte um ſich gegriffen, bedenkliche Er- 
ſcheinungen hervorgerufen haben —“ 

„Heißt im ehrlichen Deutſch: Du fürchteſt, Franz 
könnte verrückt geworden ſein?“ 

Nina umging eine direkte Antwort und ſagte 
ſtockend: „Denke doch an die abſonderliche Art ſeiner 
einſtigen Werbung, denke an das Mädchen von San 
Hilario, an unſere Lebensführung in den beiden Jahren 
unſeres Beiſammenſeins. Wie er es trieb, wie fonder- 
bar er war, habe ich dir ja erzählt.“ 

„Das hat nichts zu bedeuten, Bäslein,“ meinte Leinz 
beruhigend, denn quälende Angſt ſprang aus jedem 
ihrer Züge. „Wie ich ſchon geſagt habe, Franz ſtand und 
ſteht vielleicht noch heute im Bann einer großen Idee, 
die ſich nicht klar und feſt geſtalten wollte. Darum hatte 
er keine Ruhe, darum wollte er niemand ſehen, nichts 
hören — die Scheu vor der Ablenkung, vor dem Ein— 


128 Das Weib an der Rrüde. a) 


greifen der Außenwelt in die feiner Gedanken. — Nein, 
krank iſt er nicht, eher vermute ich Geldſorgen.“ 

Nina ſah ſehr verwundert aus bei dieſer Eröffnung. 
„Daran habe ich noch mit keinem Gedanken gedacht, 
und ich glaube das auch am wenigſten. Er ift anſpruchs- 
los und ſparſam. Auch erhalte ich mein Geld pünktlich 
an jedem Erſten.“ 

„Auch jetzt noch?“ 

„Ja.“ 

„Und doch bleibe ich bei meiner Vermutung.“ 

Nina blieb einige Augenblicke ſtill, ehe ſie antwortete: 
„Ich kann mich ihr nicht anſchließen. Franz war ſo 
nervös —“ 

„Alſo, dann ſollſt du alles erfahren, was ich weiß. 
Mit Onkel Edelmeyer ſoll es — das bleibt aber unter 
uns — ſehr ſchlecht ſtehen, und Tatſache iſt, daß der alte 
Herr das letzte Mal, da ich ihn geſehen, ſehr ſorgenvoll 
war. Er hat große geſchäftliche Verluſte gehabt. Ob 
der Zuſammenbruch der Fabrik noch abwendbar iſt, 
erſcheint ſehr fraglich, und ſo dürfte er gegenwärtig 
kaum in der Lage ſein, die Franz ausgeworfene Rente 
weiterzuzahlen.“ 

In Ninas Augen ſtrahlte es auf. „Wenn das alles 
wäre, welch ein Glück!“ rief ſie tief atmend. 

„Na, das Glück wäre doch recht mäßig!“ 

„Sit die Geſundheit nicht unvergleichlich mehr wert? 
Zudem brauchen wir die Rente ja gar nicht. Franz 
hat ein kleines Vermögen, ich habe ein ganz anſehn— 
liches Bankdepot, und wir können beide tüchtig ver— 
dienen. — Hätteſt du's doch gleich geſagt, ſtatt mich in 
dieſer Angſt zu laſſen!“ | 

„Ich wußte nicht, wie du es aufnehmen würdeſt.“ 

Ein finſterer Schatten überflog ihr Geſicht, und ſie 
rief heftig: „Du — das iſt eigentlich eine Beleidigung! 


U Novelle von Carola v. Eynatten. 129 


Ich habe Franz doch nicht wegen feiner Rente ge- 
heiratet!“ 

„Das hab' ich auch nicht behauptet —“ 

„Na, viel beſſer war das, was du ſoeben ſagteſt, 
nicht!“ 

Leinz zuckte die Schultern. „Die Verhältniſſe liegen 
eben heute ganz anders als vor drei Fahren, ihr ſteht 
nicht mehr, wie ihr damals zuſammen geſtanden habt.“ 

„Eine Verſtimmung — nichts weiter, die fih augen- 
blicklich ausgleicht, wenn ein bedeutungsvolles Ereignis 
eintritt! Und bedeutungsvoll wäre ja der Verluſt der 
Rente, nur meine ich, daß er eher eine glückliche, als 
eine unglückliche Bedeutung hätte.“ 

„Das iſt eine überraſchende Auffaſſung!“ 

Nina ſchüttelte den Kopf. „Gar nicht fo über- 
raſchend, wie es ſcheinen will,“ widerſprach fie lebhaft. 
„Gezwungen, ans Verdienen zu denken, werden ſich 
ſeine Schrullen verlieren, wird Franz das Geſpenſt von 
San Hilario laufen laffen, fih mit feiner letzten wunder- 
baren „Verheißung“ begnügen, fie an die Öffentlichkeit 
bringen und mit einem Schlage ein ganz Großer ſein!“ 

„Du marſchierſt in flottem Tempo!“ 

„Hätteſt du das Bild geſehen, ſo würdeſt du dasſelbe 
ſagen — es iſt von überwältigender Wirkung!“ 

„Und du glaubſt, daß Franz auch gleich einen Käufer 
dafür findet?“ 

„Das weiß ich nicht, und es iſt mir auch gleichgültig. 
Verkauft er vorerſt weder dieſes noch ein anderes, ſo 
leben wir eben von dem, was ich verdiene.“ 

„Das wird er nicht wollen.“ 

„Nein, ich werde wohl Mühe haben, ihn zur Ver— 
nunft zu bringen, aber ich ſetze es ſchon durch. Daß er 
ſo wurde, liegt zum Teil auch an mir, ich hätte ſchon 
damals, als wir zuſammen in Nervi waren, meinen 

1914. V. 9 


130 Das Weib an der Krücke. 2 


ganzen Einfluß aufbieten follen, um ihn von dem Un- 
finn loszueiſen. Ich habe mich aber anſtecken laffen 
von ſeinem Wahn. Übrigens werde ich noch vor meiner 
Abreiſe dem Robitſchek mitteilen, daß ich nächſte Woche 
die Unterhandlungen wegen der vorgeſchlagenen Kon- 
zertreiſen aufnehme.“ 

„Nichts überſtürzen, Nina! Ich würde erft Franz 
hören, ehe ich mich bände,“ warnte der Vetter. 

„Ich binde mich nicht, will aber auch nichts ver- 
ſäumen,“ antwortete ſie, entflammt für den Plan, der 
ihr bedeutende Einnahmen in Ausſicht ſtellte. — 
Fünf Stunden ſpäter ſtand Rudolf Leinz in der 
Ausfahrthalle des Bahnhofs. Mit lächelnder Miene 
ſchaute er dem Schnellzuge nach, der Nina Wels nach 
Genua entführte. 


Mit ängſtlich klopfendem Herzen ließ Nina die 
freudige Begrüßung des lebhaften Signor Amati über 
ſich ergehen, als ſie am anderen Tage das Hotel Colombo 
in Nervi betrat, in dem ſich ihr Mann auch diesmal 
wieder häuslich eingerichtet hatte. 

Wels war wie immer, ſolange die Sonne am Him- 
mel ſtand, oben an der Arbeit. Einen fleißigeren 
Pittore hatte Herr Amati noch in ſeinem ganzen Leben 
nicht geſehen, er gönnte ſich keine Erholung, keine Ruhe, 
und das Gemälde — wunderbar — überirdiſch — unver- 
gleichlich! Wenn es ſeinen Schöpfer nicht weit über die 
Grenzen Europas zu einem berühmten Maler machte, 
dann verſtand die Welt nichts mehr von Kunſt und 
Malerei. Die Signora käme wohl, es zu ſehen, ehe es 
verpackt und fortgeſchickt würde? 

Nina verging faſt vor Ungeduld bei dem haſtigen 
Geplauder ihres alten Freundes, den ſie durch eine 
Unterbrechung nicht kränken mochte. Als aber der Rede— 


o Novelle von Carola v. Eynatten. 131 


ſtrom beim Treppenſteigen ſtockte, fragte fie, ob ihr 
Mann trotz der vielen Arbeit geſund und munter wäre. 

Die heilige Jungfrau und die lieben Heiligen feien 
geprieſen, Signor Wels wußte nicht, was Unwohlſein 
oder üble Laune war. Überhaupt genöſſen die deutſchen 
Künſtler einer beſonderen Gnade, ſie hielten mehr aus 
als alle anderen. 

Dabei öffnete der Hotelbeſitzer ihr die Tür eines 
faſt ſaalartigen Raumes. Drei Perſonen waren 
drinnen. Eine ſtrickende Alte, Franz Wels, der, auf 
einer Treppenleiter rittlings ſitzend, an einem Gemälde 
von etwa drei Meter Höhe arbeitete, und auf einer 
teppichumhangenen Kiſte wie auf einem Throne der 
Schönheit ein junges Mädchen, eine liebreizende, 
ſtrahlende Erſcheinung. 

Das Herz der jungen Frau ſchlug heftig. Sie war 
ſo aufgeregt, daß ſie kaum hörte, als der Wirt ſchmetternd 
rief: „La Signora!“ Vor ihren Augen lag ein Schleier, 
ſie ſah nur ſchattenhaft, wie ihr Mann herunterſprang 
von ſeinem Sitze; wie die beiden Frauen ſie neugierig 
betrachteten. 

„Nina mia!“ rief Wels und umſchlang fie, küßte 
ihren Mund, ihre Augen, ihre Wangen. „Nina mia! 
Nina mia!“ 

Und den Arm unter den ihrigen ſchiebend, führte 
er fie im weiten Bogen um das auf dem Boden auf- 
ſtehende Gemälde und gab ihr dicht an der jenſeitigen 
Wand ihren Platz, daß ſie die ganze Leinwandfläche 
mit einem Blicke zu überſchauen vermochte. 

Aus ſtrahlendem Atherblau, in einem Halbkranz 
muſizierender Engelchen ſchwebte in duftigen Schleiern, 
getragen von goldig durchleuchteten Flügeln die fadel- 
ſchwingende „Verheißung“ zu der tief unter ihr 
grünenden Erde. Es war das Mädchen auf der Kiſte, 


152 Das Weib an der Krücke. o 
durchgeiſtigt, idealiſiert und doch kenntlich auf den 
erſten Blick. 

Mehrere Minuten ſtand Nina Wels wortlos vor 
der neueſten Schöpfung ihres Mannes, und als ſie 
ſich zu ihm wendete, ihm ſtill die Hand gab, ſtanden 
ihr die Augen voll Tränen der Freude. 

Er beugte ſich über ihre Hand und küßte ſie. 

„Du haſt recht gehabt, Franz, als du dich weigerteſt, 
die Vorgängerin dieſer „Verheißung“ in die Welt zu 
ſchicken. — Sft fie das Mädchen von San Hilario?“ 

„Ja — Giulietta Zerbi ift das Kind einer genueſiſchen 
Brezelverkäuferin, die Alte hier ihre Großmutter, die 
ich mit ihr hier im Hauſe eingemietet habe.“ Und ihre 
beiden Hände in die feinen faſſend, fuhr er fort: „Und 
was bringt dich in das verabſcheute Nervi, du meine 
ſchöne Königin?“ 

And als fie ihren geflüſterten Bericht beendet hatte, 
rief er froh: „Gerade das Gegenteil iſt wahr, Nina — 
ich ſitze dem Glück im Schoße wie nie zuvor. Die Rente 
iſt allerdings verloren — vielleicht für immer, denn der 
arme Onkel weiß es ſelbſt noch nicht. Doch das iſt jetzt 
belanglos. — Sei gütig zu Giulietta — willſt du? Sie 
iſt ein liebes, ein braves Kind!“ 

Ein Händedruck Ninas, begleitet von einem freund- 
lichen Blick auf das junge Mädchen, verſprach es ihm. 

„Und geſegnet fei das „Weib an der Krücke“, das dich 
mir wieder in die Arme geführt hat!“ jubelte er jetzt 
und hob ſein junges Weib in die Höhe — ſeiner „Ver— 
heißung“ entgegen. 


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Der Serliner Tiergarten. 
von Ernſt Seiffert. 


mit s Bildern. * (Nahörud verboten.) 
Bean hat fünf größere Parkanlagen: für den 


Weſten den Tiergarten, für den Norden den 
Humboldthain, im Nordoſten den Friedrichshain, im 
Often den Treptower Park und im Süden den Vit- 
toriapark mit dem Kreuzberg. 

Auf dem Stadtplan geſehen, erſcheinen ihre gerad— 
linigen, wohlverteilten Komplexe wie die Atmungs— 
organe des ſtädtiſchen Rieſengebildes. 

Obwohl nun die anderen vier Parkanlagen an 
Größe dem Tiergarten zum Teil nicht viel nachſtehen, 
an landſchaftsgärtneriſcher Kunſt ihn ſogar in manchen 
Fällen übertreffen, hat der Tiergarten es doch nur 
allein zu nationalem und internationalem Rufe bringen 
können. 

Das hat ſeine guten Gründe. 

Bedeutungsvoll für den Tiergarten iſt vor allem 
natürlich feine Tradition — ein gut Stück preußiſch-ber⸗ 
lineriſcher Geſchichte knüpft ſich an ihn. Er, deſſen grüne 
Front ſich am Brandenburger Tor, am Reichstags— 
gebäude, dann am Schloß Bellevue bis hin zum 
Zoologiſchen Garten zieht, er, der die Verbindungs- 
ſtraßen zur weſtlich gelegenen Nachbarreſidenz Pots— 
dam in ſich aufnimmt — heute merkt man ja wenig 
mehr davon, aber einſtmals war dieſe Straße für den 


` 


154 Der Berliner Tiergarten. 2 


Verkehr zwiſchen beiden Städten ſehr wichtig — er 
war ſchon durch dieſe Lage von Anbeginn an der 
geeignetſte Tummelplatz für die elegante Welt der 
Hauptſtadt. Unzählige Male find die farbenprächtigen 
Bilder höfiſchen Prunkes durch ſeine grünen Alleen 
gezogen, mehr und mehr erhielt dadurch der Tiergarten 
im Laufe der Jahre ſeinen heutigen hohen hiſtoriſchen 
Reiz. 

Vornehmlich durch ihn wurde der „Weſten“ der 
feine Stadtteil Berlins. Wohnte der Kronadel einft- 
mals faſt ausſchließlich in der inneren Stadt, namentlich 
Unter den Linden, fo ließ er nun feine Paläſte und 
Villen in den Straßen bauen, die den Tiergarten ein- 
ſäumen. Als dann der große wirtſchaftliche Aufſchwung 
Deutſchlands und damit Berlins gekommen war, da 
dauerte es denn gar nicht lange, bis fih zu den beſtehen⸗ 
den Ariſtokratenvillen die der Hochfinanz gefunden 
hatten, und heute ſehen wir alſo die Tiergartenſtraße 
mit ihren vielen vornehmen Nebenſtraßen, die Straße 
In den Zelten — kurz alles, was um den weit— 
gedehnten Park herumgelagert ift, als Berlins vor- 
nehmſten Stadtteil unter dem Namen „Tiergarten 
viertel“ vereinigt. 

Dabei iſt der Tiergarten ſtets volkstümlich geblieben. 

Hierin alſo iſt ſein Vorrang zu ſuchen, gelingt es 
doch ſelten, einer Sache durchaus feinen Charakter zu 
geben und ihr dabei die populäre Geſtaltung nicht zu 
nehmen. 

Es war mit Rückſicht auf diefe Prinzipien daher 
nicht ungeſchickt, daß man mit zahlreichen Denkmälern 
dem Tiergarten eine gewiſſe Feierlichkeit gab, ihm 
gewiſſermaßen ſeinen hiſtoriſchen Wert in Stein ge— 
meißelt beſcheinigte. Für die aus grünen Büſchen 
grüßenden weißen Marmorbilder wußte man maleriſche 


D Von Ernſt Seiffert. 135 


Plätze zu finden. So ſind in der Siegesallee der Hohen— 
zollern, nicht weit davon die wundervollen Standbilder 
der Königin Luiſe und König Friedrich Wilhelms III. 


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Reitweg am Zoologiſchen Garten, 


aufgeſtellt, am Goldfiſchteich find Haydn, Mozart, 
Beethoven zu einem Komponiſtendenkmal vereinigt, 
an der Steingartenſtraße fand Richard Wagners Monu- 
ment den gebührenden Platz, und mitten im Grünen, 
an einem der ſtillen Teiche ſteht Lortzings Ebenbild. 


136 Der Berliner Tiergarten. o 


Viele andere Gruppen, Tuaillons „Amazone“, die 
Jagdgruppen am Großen Stern, einzelne Tiergruppen 
ſtehen dazwiſchen. 

Der Tiergarten hat im Sommer nur wenige ſtille 
Augenblicke. Kaum ift die fünfte Morgenſtunde an- 
gebrochen, fo öffnen die Neithäuſer am Kurfürſtendamm, 
am Zoologiſchen Garten, am Brandenburger Tor ihre 
Pforten, und ganze Scharen reitluſtiger Frühaufſteher 
ſtrömen aus. Zu denen gefellt fih noch das edle Pferde- 
material privater Ställe, die Offizierburſchen warten 
ihrer Herren mit den Dienſtpferden, und nun dauert 
es kaum ein halbes Stündchen, bis eines der glänzend- 
ſten Bilder weltſtädtiſcher Eleganz aufgerollt iſt. Durch 
die gutgepflegten Reitwege, die meiſt von geſchorenen 
Hecken eingeſäumt ſind und längs deren Fußgängerwege 
führen, galoppieren ganze Kavalkaden. Hier ſieht man 
luftige Geheimratstöchterchen an einem bedächtig 
trabenden Trupp ſorgenſchwerer Diplomaten vorbei- 
ſprengen, zwiſchen den ſchneidigen Rennreitern der 
Garde ſieht man Miniſter, den Reichskanzler, dazwiſchen 
finden ſich Könige der Börſe bei dem Morgenritt, 
Schauſpieler und Brettlſterne fehlen auch nicht — kurz, 
es iſt ein Bild, vielgeſtaltiger und geſellſchaftlicher 
kaum auszudenken. Um die ſechſte Stunde nähert ſich 
vom Schloß den Reitweg der Linden entlang zu— 
meiſt der Kaiſer mit ſeinem Gefolge. Früher befand 
ſich faſt immer unſer Prinzeßchen dabei, nun aber 
muß der Tiergarten dieſen liebenswürdigen Gaſt ent— 
behren. 

Von Spaziergängern ift der Park in dieſer Zeit 
noch faſt völlig frei. Hie und da ſieht man einen 
Frühaufſteher einſame Wege gehen, meiſt aber find 
die Fußwege unbelebt. 

Umſäumt von üppigen Büſchen liegt der Hippo- 


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Von Ernſt Seiffert. 


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Platz, 


hof Tiergarten und dem des Zoologiſchen Gartens, hat 


drom. Dieſer weite, weichſandige 


138 Der Berliner Tiergarten. u 


Rund- und Hindernisbahnen, Hecken, Waſſergräben, 
Sprunghügel, wie es ſich eben für den erſtklaſſigen 
Reitplatz Berlins gehört. In der Mitte der grok- 
zügigen Anlage ſteht der Muſikpavillon, den der Kaiſer 


Im Hippodrom. 


errichten ließ, um durch Kavalleriemuſik dem reiter— 
lichen Berlin ein Morgenkonzert geben laſſen zu können. 
Mit Freuden wurde damals dieſe unterhaltſame Neue— 
rung aufgenommen, man nannte fie „das Konzert- 
reiten“ und erhob fie zum großen Stelldichein der vor- 
nehmſten Welt. Bei dieſer Gelegenheit gab es neben 
den geſellſchaftlich bemerkenswerten auch originelle 
ſportliche Momente, beſonders an den Sprüngen. Be— 
ſtaunt und beneidet jagte der nun nach außerhalb ver- 


a Von Ernſt Seiffert. 139 


ſetzte Herrenreiter Champion Graf Hold feinen Voll- 
blüter über den Kurs, an anderer Stelle übte der be— 
liebte Hofſchauſpieler Karl Clewing feinen ſchnee— 


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Morgenpromenade der Füngſten von Berlin W. 


weißen Zelter im Hügelſprung, tüchtig gefolgt von 
dem überall ſcharmanten und in allen Sätteln gerechten 
Metropoltheater-Star Madge Leſſing. 


Die in immer kürzeren Zwiſchenräumen vorbei— 


140 Der Berliner Tiergarten. fa) 
brauſenden Stadtbahnzüge zeigen das Erwachen der 
werktätigen Großſtadt an, langſam verliert fih nun der 
Reiterſchwarm. An der „Giftbude“ wird noch ſchnell 
ein Satteltrunk eingenommen, dann traben ſie davon — 
der Offizier in den Dienſt, der Geſchäftsmann zu ſeiner 
Frühpoſt, das Geheimratstöchterchen ins Bad. Hof- 
geſellſchaft und hohe Diplomaten ſind längſt wieder 
verſchwunden, ſie hatten ſogar meiſt kaum Zeit, der 
„Giftbude“ den eigentlich ſelbſtverſtändlichen Beſuch zu 
machen. 

Das ſeltſame, ganz im Laubwerk verſteckte Lokal 
kennen ſelbſt die meiſten Berliner nicht, denn eigentlich 
iſt es nur eine höchſt primitive Wirtſchaft, der man ihre 
hohe Kundſchaft gewiß nicht zutrauen würde. So klein 
iſt ſie, ſo inmitten reitwegumfaßter hoher Sträucher und 
Laubbäume liegt ſie, daß der Fußgänger ſie gar nicht 
wahrnehmen kann. 

Gegen die neunte Morgenſtunde bekommt der Tier- 
garten ein anderes Bild. Wohl huſchen noch ſchnelle 
Reiter lautlos zwiſchen den Gebüſchen vorbei, bald 
aber ſind auch dieſe Nachzügler nicht mehr zu ſehen. 
Inzwiſchen iſt das Heer der Ammen, Kindermädchen 
und Bonnen mit ihren Schutzbefohlenen angerüdt.. 
Keine der vielen Bänke bleibt unbeſetzt, Kinderwagen 
und Kinderlachen ſind überall. 

Langſam ziehen nun auch würdige alte Rentier— 
geſtalten ihres Weges, bleiben hie und da vor einem 
Kinderwagen ſtehen und freuen ſich an der jungen, 
roſigen Menfchheit, Eine warme, weiche Stimmung 
liegt um dieſe Zeit auf allen . 

Dort, wo die ſogenannten „Buddelplätze“ ſind, 
findet ſich dann das Kindervolk zuſammen. Emſig 
ſieht man Hunderte kleiner Hände fih regen, um Sand- 
bäckereien, Burgen oder ſonſt was zu ſchaffen; rings- 


141 


Don Ernſt Seiffert. 


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142 Der Berliner Tiergarten. u 


durch die Büſche. Von der fernen Siegesallee klingt 
ein luſtiger Reitermarſch der heimkehrenden Garde- 
ulanen herüber. 

Auch die Alten hören die Weiſen, auch ſie wiegen 
Kopf und Hände ein wenig nach dem Rhythmus der 
Militärmuſik, deren Klänge weiter und unbeſtimmter 
werden. Längſt ift die Wärme der Vormittagſonnen- 
ſtrahlen zu fühlen, die koſend und zitternd zwiſchen 
Stämme und Blätter helle tanzende Lichtflecken malen. 
Im „Roſarium“ — es liegt an der Straße, die Char- 
lottenburg mit dem Brandenburger Tor verbindet — 
iſt das bunte Blühen aufgewacht. Aber Tauſende edler 
Rofen leuchten mit brennenden Blättergründen der 
Sommerſonne entgegen, ungezählte Knoſpen ſieht man 
ſchwellen, ſich dehnen, aufbrechen. Es liegt eine mär- 
chenhafte Poeſie in dieſem Noſengarten Berlins. 

Zwiſchen dunklen Teichen ſchwermütiger Waffer- 
roſen ſteigt ſchlank und weiß das Marmorbild unſerer 
Kaiſerin auf. Duftbetäubt geht man mit leiſe fnir- 
ſchendem Schritt auf den gelben Kieswegen und läßt 
ſich gern ganz hinnehmen von dem weichen Zauber. 

Schwerer fängt die Sonne an zu lajten, und tiefe 
Stille wird umher; nur dann und wann tönt von der 
Straße der jähe Warnungston eines Automobils. 

Die Tiſchzeit rückt heran, es leert ſich der große 
Park. Aber nur wenige Stunden, ſo rauſcht wieder der 
Menſchenſtrom durch ſeine Wege, ſeine Adern, diesmal 
Fremde im Schwarm. Das Leben in den „Zelten“ 
beginnt, Nachmittagskonzerte tönen, ſchon ſieht man 
auch Einheimiſche ſpazierengehend den frühen Feier- 
abend nützen. 

Nun wird mit den neigenden Spätnachmittag— 
ſtunden der Tiergarten im wahrſten Sinne Volkspark. 
Ungewöhnliches Leben herrſcht auf allen Wegen, Ge— 


D Von Ernſt Seiffert. | 143 


ſchäftsdebatten, Klatſch, Familienrat, tändelnde Flir— 
terei — das alles rauſcht an dem Ohr vorüber. 


Am Neuen See. 


Der Berliner Tiergarten, o 


In dem neueren Teil des Tiergartens, am fo- 
genannten Neuen See, der im Winter die ſchönſte Eis— 


Tiergarten im Nebel. 


bahn iſt, entwickelt ſich friſches Leben auf dem Waſſer. 
Überall plätſchern Mietsgondeln umher, und Scherz- 
worte fliegen hinüber und herüber. Schließlich ſieht 


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z Don Ernſt Seiffert. 145 


man ein Boot, „bemannt“ mit lauter Warenhaus- 
dämchen, mit dem anderen übermütiger Studenten um 
die Wette rudern. Wer weiß, welches das Ziel ſein 
wird? | | 

Langſam kommt der Abend herauf. An der Peri- 


Das Brandenburger Tor im Schnee. 


pherie des Tiergartens blitzen die Lichter der Lokale 
auf, mit vollen Händen werfen ganze Lichtgarben die 
„Zelte“ herüber. Im Augenblick ſpäter flackern auch 
die weißen Bogenlampen an den Hauptwegen empor 
und gießen ihre weißes Licht magiſch durch die Dunkel- 
heit. Das laute Sprechen, das laute Lachen, die vielen 
Menſchen haben ſich verſtreut, nur tiefgeheimſte Heim- 
1914. 10 


146 Her Berliner Tiergarten. u 


lichkeit flüſtert an den Wegen, und nur ſelten geht ein 
Einſamer. 

Nur auf den Alleen brandet noch Leben. Das 
Publikum ſieht man in Gruppen vorübergehen, die 
vom Theater nach Haufe ſtreben. 

Auf Bänken die Pärchen 
In Liebe verſunken, 
Schäfer und Schäferin 
Grad wie im Märchen. 


Wie lange dauert's, dann ſchickt der Morgen ſeine 

jungen Strahlen, und der neue Tag erwacht. 
Im Winter und bei nebeligem Wetter liegt der 
Rieſenpark freilich meiſt ſtumm da. Nur wenige Sonder- 
linge finden ſich dann, ihn zu beſuchen, aber, wahrlich, 
ſie haben nicht das ſchlechteſte Teil erwählt! 

Jedem Städter liegt etwas wie Stolz im Wort, 
ſpricht er von dem Park ſeines Ortes — wer wollte 
es den Berlinern verdanken, daß ſie mit der weichen 
Betonung liebevoller Anhänglichkeit fagen: „Anſer Tier- 
garten!“ Und fo weit geht des Berliners Freude an ihm, 
daß er in ihm ſogar ſeine bekannten Unſitten vergißt: 
Papiere liegen zu laffen und Zweige abzureißen. 


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Henkersrecht. 


Eine Erzählung aus der guten alten Zeit. 
von Wilhelm hille. 


* (Nachoͤruck verboten.) 


Och habe es noch gekannt, das „Henkerhaus“, wie wir 
N es nannten. Es lag unweit des heutigen Prinzen- 
parkes im Oſten der alten Welfenſtadt Braunſchweig, 
ziemlich genau da, wo fih heute die neue Garnijon- 
kirche erhebt. In meinen Erinnerungen ſteht ein un- 
geſchickt gewölbtes ſteinernes Tor, in deren Ritzen wir 
Knaben Spinnen von außergewöhnlicher Dicke fingen; 
über dem Tore ein in den Stein gehauenes Rad, das 
ringsum mit Buchſtaben beſetzt war, von denen mir 
mein Vater einmal ſagte, ſie bedeuteten das Wort 
justicia, und das heiße Gerechtigkeit; und neben dem 
Tore, rechts und links, zwei große Akazien, die ihre Arme 
weit über das bröcklige Mauerwerk ausſtreckten und es 
im Frühling mit ihren wohlriechenden Blüten be- 
ſtreuten. 

Dieſe Akazien hat Meiſter Andreas Wetzel, Scharf- 
richter der Stadt Braunſchweig, um das Ende des 
ſiebzehnten Jahrhunderts eigenhändig gepflanzt. | 

Das Henkerhaus lag eine gute Viertelſtunde vor 
dem Tore. Fünf Minuten weiter entfernt, begann der 
Wald, ein ungeheurer, meilenweiter Wald, von dem 
die heute noch vorhandene „Buchhorf “ ein geringes 


148 Henkersrecht. u 


Bruchſtüͤck ift. Dieſe Waldungen gehörten den Herzögen 
von Wolfenbüttel; auf Wilddieberei in ihnen ſtand die 
Todesſtrafe. 

Der Henker war damals unehrlich, auf feinem Ge- 
werbe ruhte die Verachtung der Menſchen. Die Henkers 
familien verkehrten infolgedeſſen nur untereinander und 
heirateten ineinander. Aber trotz dieſer Ehrloſigkeit, 
die ſie wohl mitunter ſchwer empfinden mußten, 
hüteten fie das Richtſchwert ſorgfältig und waren darauf 
bedacht, daß das einträgliche Amt bei der Familie blieb. 
Vom Vater auf den Sohn vererbte der ſchwere Beruf; ja, 
erwurde ſogar gelegentlich auf Minderjährige übertragen. 
So berichtet der bekannte Scharfrichter Sanſon in ſeinen 
Memoiren, daß einer ſeiner Vorfahren als achtjähriger 
Knabe auf Betreiben der Familie offiziell zum „Meiſter 
von Paris“ ernannt worden ſei und als ſolcher bei allen 
Exekutionen und Folterungen zugegen ſein und die 
Protokolle unterzeichnen mußte, während ſeine Gehilfen 
bis zu ſeiner Großjährigkeit die Hantierungen allein 
beſorgten. 

In einigen Städten, zu denen auch Braunſchweig 
gehörte, beſaß der Henker noch ein beſonderes Privi- 
legium, das ihn faſt in eine Reihe mit den reichs- 
unmittelbaren Herren ſtellte. Er hatte die Jurisdiktion 
über die in ſeiner eigenen Sippe, wozu auch das 
Dienſtperſonal gerechnet wurde, vorkommenden Ver— 
gehen. Nur mußte er jeden ſolchen Fall nachher dem 
Gericht melden und nachweiſen, daß er „geziemend 
nach gutem Henkersrecht“ gehandelt. Man wollte wohl 
mit dieſem uns ſeltſam anmutenden Henkersrechte ein 
Gegengewicht gegen die allgemeine Verachtung ſchaffen, 
die der Henker zu tragen hatte. Auch mochte es not— 
wendig erſcheinen, ihn ſeinen Knechten gegenüber, meiſt 
rohen Burſchen, mit erhöhter Machtvollkommenheit aus- 


o Von Wilhelm Hille. 149 


zuſtatten. Furcht und Schrecken allein konnte dieſe 
Geſellen in Schranken halten; die Folterwerkzeuge, 
Galgen und Rad, konnten ſich auf einen Wink des 
Meiſters gegen ſie ſelber kehren, das wußten ſie, und 
das hielt ſie im Zaume. 

An einem Juniabend des Jahres 1673 hatte fich die 
ganze Familie des Meiſters Andreas Wetzel in einem 
an das eigentliche Haus angebauten niedrigen, faal- 
artigen Gemadh, das man die gute Stube nannte, ver- 
ſammelt. 9 

Jedesmal, wenn eine Hinrichtung ſtattfand, wurde 
am Abend vorher im Henkerhauſe gebetet. Das war 
ſo Brauch ſeit undenklichen Zeiten. 

Die drei breiten, nach der Rückſeite des Hauſes hin 
liegenden Fenſter waren durch dichte ſchwarze Vor- 
hänge verhüllt. In den vier Ecken des Raumes brannten 
Fackeln, deren Qualm an den Wänden emporſtieg und 
oben an der Decke aus mehreren dachlukenförmigen 
Offnungen abzog. An der Hinterwand hing, als einzige 
Verzierung, ein großes Kruzifix. Aus vielen Wunden 
blutend ſah der Heiland mit bereits brechenden Augen 
auf einen Altar herab, der mit ſchwarzem Samt aus- 
gelegt war. Auf dem Altar lagen eine Bibel, ein zu- 
ſammengefaltetes Schreiben und ein Strick. 

Vor dem Altar ſtand Meiſter Andreas. Man hätte 
ihn für einen Geiſtlichen halten können, ſo ehrwürdig 
ſah er aus in ſeinem weitärmeligen, bis auf die Knie 
herabreichenden Samtrocke und dem entblößten Haupte, 
das bereits an einigen Stellen zu ergrauen anfing. 
Aber freilich ein Blick auf die großen, harten Hände, auf 
die muskulöſen Arme und den Stiernacken belehrte den 
Unkundigen bald darüber, daß dieſer Mann gewohnt 
war, mehr mit den Händen als mit den Lippen zu 
predigen. 


150 Henkersrecht. u 


Dicht neben dem Altar ſaß in einem Lehnſtuhl die 
ſtocktaube Großmutter, Verſe aus alten Kirchenliedern 
vor ſich hin murmelnd. Hinter ihrem Stuhle ſtanden die 
beiden Söhne des Scharfrichters. Der Ältere, nach 
ſeinem Vater Andreas genannt, ein ſtämmiger Burſche 
mit grober Haut und luſtigen, gutmütigen Zügen, 
mochte vierzehn Jahre zählen. Dem Jüngeren, einem 
niedlichen Knaben von neun Jahren, fab man das 
Mutterſöhnchen an. Seine reichen, wohlgepflegten 
Locken, der weiße Teint ſtanden in auffälligem Gegen- 
ſatz zu dem bäueriſchen Ausſehen ſeines Bruders. Die 
mütterliche Eitelkeit hatte es ſich nicht nehmen laſſen, 
ihn zu dieſem feierlichen Akte gebührend herauszu— 
putzen. Er trug blaue Kniehoſen aus Kattun, die unten 
mit ſilbernen Schnallen geſchloſſen waren. An ſeinem 
Halſe hing, von einer roten Korallenkette gehalten, 
ein ſilbernes „Nürnberger Eilein“, wie man die vor 
kurzem aufgekommenen Taſchenuhren nannte. 

An den Wänden entlang reihten ſich die Knechte 
und die Mägde. Frau Magdalene, die Mutter des 
Hauſes, ſaß abſeits von ihnen in einer Fenſterniſche 
und drückte ein buntbemaltes Taſchentuch gegen die 
Augen. 

Meiſter Andreas las mit eintöniger Stimme den 
Bußpſalm Davids aus der geöffneten Bibel vor. Er 
las geläufig, denn die edle Schreib- und Leſekunſt war 
ſeit jeher in ſeiner Familie heimiſch. Dann entfaltete 
er das Schreiben und las es ebenfalls vor. 

„An Ludicke Hollandt, den Ratsherrn: Hat der ge- 
fangene Hans Ebenſtein von Kremlingen, genannt der 
lahme Hans, nachdem er von Euch geziemenderweiſe 
peinlich befragt worden, bekannt, daß er den Müller 
Adam von Kremlingen erſtochen und zwölf Gulden 
geraubet, und iſt Inquiſit auf dieſem ſeinem Bekenntnis 


u Von Wilhelm Hille. 151 


freiwillig verblieben, ſo möchte er der Übeltat wegen 

an ſeinem Halſe aufgehängt werden. Vorher peinlich 

zu befragen, ob er Mitſchuldige gehabt und wie ſolche 
heißen. Von Rechts wegen. 

| Die Braunſchweigiſchen Freiſchöffen.“ 

Die Worte „von Rechts wegen“ las der Henker mit 
erhobener Stimme. Dann ergriff er den auf dem Altar 
liegenden Strick und tauchte das eine Ende in ein Gefäß 
mit Waſſer, das neben dem Altar ſtand, indem er drei- 
mal das Zeichen des heiligen Kreuzes machte. Darauf 
zog er ein Meſſer hervor und ſchnitt ein Stück von 
dem Strick ab. 

„Dem Sünder zur Buße, dem Gericht zur Ehre, 
dem Kranken zur Geneſung!“ ſagte er und warf das 
Stück dem vortretenden erſten Gehilfen Gros zu. Der 
ſchnitt ebenfalls etwas davon ab und reichte es weiter. 
Es machte die Runde. Feder ahmte ſeinem Beiſpiele 
nach und verbarg die Reliquie ſorgfältig an ſeiner Bruſt. 

Der Henker ergriff nun den Strick, machte noch ein- 
mal das Zeichen des Kreuzes über ihm und ſprach: 
„Mögeſt du dem Sünder nicht zum ewigen Verderben 
gereichen! Amen!“ | 

Damit war die Zeremonie beendet. Die Dienft- 
boten und Knechte verließen das Zimmer. 

„Andreas,“ ſagte der Meiſter zu ſeinem Alteſten, 
„morgen gehſt du mit!“ 

Die Augen des Knaben funkelten vor Vergnügen. 
Es war ſchon ſeit Jahren fein heimlicher Wunſch ge- 
weſen, endlich alles zu ſehen, wovon die Knechte ſo 
ſchauerlich zu erzählen wußten. 

Die Mutter blickte ihren Gatten erſchrocken an. 
„Morgen ſchon?“ ſeufzte ſie. 

„Ja, morgen! Zch meine, er iſt alt genug. Es wird 
Zeit, daß er die Hantierung kennen lernt. So hat's mein 


152 Henkersrecht. n 


Vater auch mit mir gehalten. Vom fünfzehnten bis 
zwanzigſten Jahre erlernte ich das Handwerk, und mit 
einundzwanzig machte ich mein Meiſterſtück.“ 

Das Weib wußte nichts mehr einzuwenden. Plöß- 
lich aber umfchlang fie den kleinen Knaben und rief: 
„Du ſollſt kein Henker werden! Du ſollſt ein ehrliches 
Gewerbe lernen!“ 

„Aber ich will einer werden!“ entgegnete der Kleine 
lebhaft. „Und morgen will ich auch mit und ſehen, wie 
es gemacht wird.“ 

„Bravo!“ ſagte der Meiſter beifällig und klopfte 
ſeinem Sprößling auf die Schulter. „Ja, du ſollſt's 
auch lernen, wenn auch morgen noch nicht. Es iſt ein 
edles Handwerk, was die Leute auch ſagen mögen. 
Doch nun ins Bett mit euch!“ — 

Als die beiden Knaben ſich in ihrer Kammer ent— 
kleideten, waren ſie in gewaltiger Aufregung. Andreas 
freute fih auf den morgigen Tag wie auf einen eft- 
tag, er war ganz ſtolz auf feine neue Würde als Scharf- 
richterlehrling. 

Der kleine Hans beneidete ihn gewaltig. „Andreas,“ 
flüſterte er, als ſie in ihrem gemeinſchaftlichen Bette 
lagen, „verſprich mir, alles zu erzählen und zu zeigen, 
was du geſehen haſt.“ 

„Ich werde dir's erzählen.“ 

„Aber auch zeigen?“ beharrte Hans. 

„Auch zeigen!“ antwortete Andreas gähnend und 
zog fih die Bettdecke über die Ohren. 


* * 
* 


Vater und Sohn ſprachen kein Wort miteinander, als 
fie der Stadt zuſchritten. Der Meiſter, düſter und in 
ſich gekehrt, hielt den Blick auf den Boden geheftet, 
Andreas, der den Vater ſo ungeneigt zum Plaudern 


o Von Wilhelm Hille. f 155 


fand, blieben die zahlreichen Fragen, die er auf dem 
Herzen hatte, in der Kehle ſtecken. 

Es war ein herrlicher Junimorgen. Noch lagen 
feuchte Dünſte über den Feldern und trübten den Hori- 
zont. Die von einem nächtlichen Regenguß erquickten 
Kräuter begannen fih unter der Wirkung des neu er- 
wachten Lichtes aufzurichten und hauchten jenen un- 
nennbaren Duft aus, der die wiedererwachende Lebens- 
kraft der Natur ſelbſt zu ſein ſcheint. Mitten in den 
ruhigen Atemzug der noch ſchlafenden Natur hinein 
erklang von der Stadt her ein einſames Glöcklein, dürr 
und hart wie die Herzen der Menſchen, ſchneidend 
und wimmernd wie die Klage des Verdammten. 

„Nimm die Mütze ab, Andreas,“ ſagte der Meiſter 
und entblößte ſein Haupt. 

„Was iſt denn das für ein Glöcklein, Vater?“ 

„Das Armeſünderglöcklein. Wir müſſen eilen.“ 

Je näher ſie der Stadt kamen, deſto belebter 
wurde die Straße. Aus den umliegenden Dörfern 
kam's herbeigeſtrömt in hellen Haufen. Landleute, 
Marktweiber, Handwerker ließen ihre Arbeit im Stich, 
um den lahmen Hans hängen zu ſehen. Das Glöcklein 
erklang auch gar ſo einladend. 

In der Nähe des Rathauſes nahm der Tumult über- 
hand. Da begann Meiſter Andreas zu rufen: „Platz 
dem Henker! Platz dem Henker!“ 

Und wie der Berg Seſam auf ſeine Zauberformel, 
ſo öffnete ſich auf dieſen Ausruf die lebendige Mauer. 
Erſchrocken drängten die Neugierigen zurück und ließen 
für Vater und Sohn einen breiten Raum. Alle, die der 
Henker am Rocke geſtreift hatte, blieſen dreimal darüber 
und bekreuzigten ſich. 

Auf dem Hagenmarkte, dem RNathauſe gegenüber, 
war der Galgen errichtet, an deſſen Fuß der Karren des 


154 Henkersrecht. u 


Scharfrichters, von zwei Knechten bewacht, hielt. Sie 
vertrieben ſich die Zeit damit, das Volk zu necken und 
den Mutigſten, die ſich am weiteſten vorgewagt hatten, 
den Inhalt des Karrens zu zeigen und zu erläutern. 

„Iſt Gros ſchon unten?“ fragte der Meiſter, der 
einen prüfenden Blick auf den Galgen und den Karren 
geworfen hatte. 

„Ja, Meiſter,“ antworteten die Gehilfen. 

„So komm!“ ſagte er zu dem Knaben. 

Sie betraten das Nathaus und bogen in einen 
langen finſteren Gang ein. Am Ende dieſes Ganges 
war eine Treppe, die nach unten führte, von einer an 
der Decke hängenden Ampel trübe beleuchtet. Unten, 
am Fuße der Treppe, ſtand ein Mann, der dem Henker 
ein Zeichen machte, worauf dieſer mit einem Kopf- 
nicken antwortete. Abermals gingen ſie einen langen 
ſchmalen Gang entlang. Die Luft war hier eiſig. An 
den Wänden liefen langſam Waſſertropfen nieder. Am 
Ende dieſes zweiten Ganges war eine eiſerne Tür, 
hinter der man Gemurmel wie von ſehr fernen Stimmen 
hörte. 

Der Knabe zitterte. „Was iſt hinter dieſer Tür, 
Vater?“ fragte er mit unſicherer Stimme. 

„Die Hölle!“ antwortete Meiſter Andreas. „Aber 
der Gerechte geht ohne Zagen auch durch die Hölle.“ 

Er klopfte dreimal an die eiſerne Tür. 

Da tat ſich die Folterkammer vor ihnen auf. 


* * 
% 


Eine Stunde Später wurde der lahme Hans nach 
allen Regeln der Kunſt aufgehängt. Als er auf dem 
Platze erſchien, halb geſchleift, halb getragen, denn ſeine 
Beine hatten die „ſpaniſchen Stiefel“ ſchlecht ver- 
tragen, brach ein endloſer Beifallſturm aus. Frauen 


o Von Wilhelm Hille. 155 


hoben ihre Kinder in die Höhe, damit ihnen nichts von 
dem herrlichen Schauſpiel verloren ginge. Alle dieſe 
gutmütigen Bürger, dieſe zärtlichen Frauen und 
Mütter waren in Tiger und Hyänen verwandelt. 

Der Delinquent ſtellte diefe Betrachtung nicht an; 
er dachte nicht mehr, er fühlte nur noch. Seine glanz⸗ 
loſen Augen ruhten, ohne zu begreifen, auf der großen 
ſchwarzen Leiter, vor der man halt machte, ſein Geſicht 
hatte bereits die Farbe des Todes. 

Und doch war einer unter der Menge, der faſt 
ebenſo blaß war wie der lahme Hans. Das war der 
junge Scharfrichterbub. 

Er war ſo blaß, weil er die Hölle geſehen hatte. 

Meiſter Andreas ſtieß den Burſchen unſanft an. 
„Aufgeſchaut!“ rief er. „Ich mache jetzt den Knoten 
in die Schlinge. Iſt ein Geheimnis unter uns Henkern, 
mein Sohn! Er muß ſich ihm ſo um den Hals legen, 
daß er ihm die Hauptader zuſammendrückt. Das hat 
uns ſchon mancher Spitzbube zu Dank gewußt, der 
ſonſt lange hätte zappeln müſſen. Nur der Henker 
kann recht henken. Siehſt du — ſo! — Nun mache du 
den Knoten auch einmal! In deiner Schlinge foll 
der lahme Hans heute zappeln.“ 

Mit zitternder Hand zog Andreas die Strickenden 
zuſammen. 

„Bravo!“ rief ſein Vater, ihm auf die Schulter 
klopfend. „Gleich zum erſten Male den rechten Henters- 
knoten getroffen! Hab's meiner Zeit nicht ſo ſchnell 
begriffen.“ 

And er zeigte die Arbeit ſeines gelehrigen Schülers 
den Gehilfen. 

Da röteten ſich die bleichen Wangen des Burſchen 
wieder. Seine Eitelkeit war erwacht und begann über 
die Menſchlichkeit den Sieg davonzutragen. 


156 Henkersrecht. u 


Meiſter Andreas fah mit Vergnügen die Umwand- 
lung, die ſich in der Bruſt ſeines Sprößlings vollzog; 
er glaubte daher, ihm den Schlußakt des Dramas nicht 
länger vorenthalten zu dürfen. 

Er gab den Gehilfen ein Zeichen. Die Knechte 
bemächtigten ſich des lahmen Hans und zogen ihn die 
Leiter hinauf. Sie ſchienen in ihrer Eile nicht mit der 
nötigen Vorſicht verfahren zu fein, denn der Ber- 
urteilte ſtieß ein lautes Gebrüll aus und griff nach 
ſeinem rechten Bein. Ein donnernder Beifallſturm 
tönte als Echo von unten herauf. Schnell ward dem 
armen Sünder das Kunſtwerk des jungen Andreas 
um den Hals gelegt, und ſowie es in der richtigen Lage 
war, ſtießen ihn die Gehilfen von der Leiter herunter. 
In demſelben Augenblicke ſprang einer von ihnen 
dem mit dem Tode Ringenden auf die Schulter, ein 
anderer hängte ſich an ſeine Beine, um das Ende zu 
beſchleunigen. 

Das war zu viel für den armen Andreas. Er fiel 
in Ohnmacht. 

* * 
* 

„So, nun will ich es dir zeigen!“ 

Mit dieſen Worten ſetzte Andreas den großen Korb, 
den ihnen die Mutter mitgegeben hatte, um beim 
Waldhüter Klaus Erdbeeren zu holen, auf die Erde. 
Sie befanden fih an einer lichten Stelle im Tannen- 
wald, etwa eine halbe Stunde vom Hauſe entfernt. 

Hänschen ſtrahlte vor Freude. Sein Bruder hatte 
ihm alles haarklein berichtet, was er geſtern erlebt: 
vom lahmen Hans, wie er gebrüllt hatte in der Folter- 
kammer und gezappelt am Galgen, von der Schlinge 
mit ihrem wunderlichen Knoten, und wie er ſelbſt den 
Delinquenten darin gehängt habe. Nur eines hatte er 


o Von Wilhelm Hille. 157 


verſchwiegen, weil er fühlte, daß es der großartigen 
Rolle, die er geſpielt, einigen Abbruch tat: bab er dabei 
in Ohnmacht gefallen war. 

Aber Hänschen wollte nicht nur hören, er wollte 
auch ſehen. 

Andreas zog alſo einen ſtarken Bindfaden aus der 
Taſche, den er zu dem Zwecke mitgenommen hatte, 
und begann ſeine kunſtgerechte Schlinge zu machen. 
Als er damit zuſtande gekommen war, ging er auf eine 
kleine Tanne zu, ſuchte einen geeigneten Zweig aus 
und prüfte ihn auf ſeine Feſtigkeit, indem er ſich daran 
hing. Dann befeſtigte er den Bindfaden an dem Zweige, 
ſtellte den Korb unter den improviſierten Galgen und 
lud ſeinen Bruder ein, hinaufzuſteigen und den Kopf 
in die Schlinge zu ſtecken. 

Dem Kleinen kam die Sache nicht recht geheuer vor. 
„Wenn der Korb nun aber umfällt?“ meinte er mit 
bedenklicher Miene. 

„Dann reißt der Bindfaden,“ beſchwichtigte An- 
dreas. „Meinſt du vielleicht, daß der hielte? Man 
kann ihn ja mit den Händen zerreißen.“ Und er tat, 
als wollte er ihn zerreißen. 

Das leuchtete Hänschen ein. Er ſtieg auf den Korb. 
Als ihm aber ſein Bruder die Schlinge um den Hals 
werfen wollte, zog er ſchnell den Lockenkopf weg und 
ſprang auf die Erde. 

„Ich fürchte mich!“ ſagte er. „Komm, laß uns zum 
Vater Klaus gehen.“ 

Andreas aber hatte ſich ſchon darauf gefreut, den 
Lehrer zu ſpielen. Er blickte mit Verachtung auf ſeinen 
Bruder. „Pfui, biſt du feige!“ ſagte er. 

Das half. Hänschen kletterte aufs neue auf den 
Korb, und diesmal ſteckte er den Kopf in die Schlinge. 
Und wie er's einmal gewagt hatte, fand er nichts 


158 Henkersrecht. o 


Schlimmes mehr darin. Er lächelte feinem Bruder zu, 
und dann zog er den Kopf wieder heraus. 

„Du mußt aber die Kette mit dem Nürnberger 
Eilein abmachen,“ ſagte Andreas. „Sonſt kann ich 
dir nicht zeigen, wie die Schlinge ſitzen muß.“ 

Der Kleine löſte das Kettlein vom Halſe und legte 
das Schmuckſtück neben dem Korb ins Gras. Dann 
ſtieg er wieder hinauf und ſteckte abermals den Kopf 
in die Schlinge. 

Andreas zog den Knoten nach hinten. „So, und 
nun will ich dir das letzte zeigen,“ ſagte er lachend 
und ſtieß den Korb um. 

Da geſchah etwas Unerwartetes. Hänschen ſtieß 
keinen Schrei aus, er zappelte auch nicht. Er ſchloß 
nur die Augen, als wenn ihn eine Müdigkeit über- 
kommen hätte, und hing regungslos da. 

Erſchrocken griff Andreas nach feinem Taſchen- 
meſſer, um den Bindfaden, deſſen Haltbarkeit ſich ſo 
gut bewährte, zu zerſchneiden. Er fuhr in die rechte, 
er fuhr in die linke Hoſentaſche; es war nicht da. Von 
tödlicher Angſt ergriffen ſtürzte er ſich auf ſeinen Bruder, 
hob ihn in die Höhe und verſuchte die Schlinge zu 
löſen, die ſich feſt um den dünnen Hals des Knaben 
zugezogen hatte. Vergebens! Er entfernte den Bind- 
faden von dem Aſte, legte den kleinen Körper auf ſeine 
Knie und bemühte ſich, die Schlinge mit den Zähnen 
zu zerbeißen. Endlich gab ſie nach. 

Es war zu ſpät. 

Da dämmerte in ihm die Einſicht, daß er den Scharf- 
richterknoten in feiner Wirkung unterſchätzt hatte. Er 
ließ den Leichnam fahren. Jetzt fab er noch bleicher aus 
als geſtern, da der lahme Hans abgetan wurde. 

Wie angewurzelt ſaß er da und ſtierte auf den 
kleinen Gehängten. Es war ihm, als wäre die ganze 


2 Von Wilhelm Hille. 159 


Welt untergegangen und er mit dem Leichnam allein 
übriggeblieben. l 

Plötzlich überkam ihn das Grauſen. Da ſtieß er 
einen lauten Schrei aus und ſtürmte in den finſter 
werdenden Wald hinein. 


* * 
* 


Im Scharfrichterhauſe wunderte man ſich, daß die 
Kinder fo lange ausblieben, und als die Nacht herein- 
brach, verwandelte ſich die Verwunderung in Sorge 
und die Sorge in Beſtürzung. Frau Magdalene 
jammerte die ganze Nacht, und als der Tag graute, 
machte ſich Meiſter Andreas ſelbſt mit den Knechten auf 
die Suche nach den Verlorenen. Er ſchimpfte und 
fluchte dabei unaufhörlich und erklärte, er werde den 
unnützen Buben, wenn er ſie finde, die Knochen im 
Leibe zerſchlagen; aber in der Stille ſeines Herzens 
folterte ihn die Sorge, denn er war nicht nur ein guter 
Henker, ſondern auch ein guter, wenn auch ſtrenger 
Familienvater. 

Als man einige Stunden lang im Walde geſucht 
hatte, ſah man unter einer mächtigen Eiche einen jungen 
Schläfer liegen, der mit halbgeöffnetem Munde atmete. 
Sein Geſicht war vom Tau der Nacht beſprengt. 

Glückliche Jugend, die in tiefen Schlaf verfällt, 
nachdem ihr das Schlimmſte zugeſtoßen iſt! 

„Geht, Leute!“ ſagte der Henker. „Es hat nichts 
mehr zu fagen. Bringt der Mutter die Botichaft, daß 
alles gut iſt. Aber eine Tracht Prügel hat er verdient.“ 

Er ſchnitt ſich im nahen Geſtrüpp eine tüchtige Gerte 
ab, während die Knechte ſich entfernten. Dann trat 
er dicht an den Schläfer, holte weit aus und ließ die 
elaſtiſche Rute pfeifend auf die ſtraffen ledernen Hoſen 
des Burſchen niederſauſen. Der fuhr mit einem 


— 


160 Henkersrecht. D 


Schmerzensſchrei in die Höhe und ſtarrte das zornige 
Geſicht des Vaters an. 

„Daß Gott dich ſtrafe, verdammter Schlingel! Wer 
heißt dich bei Nacht und Nebel im Buſch liegen! Sprich, 
wo iſt Hans?“ 

Bei dieſen Worten zuckte Andreas zuſammen. Mit 
grauſiger Deutlichkeit ſtand plötzlich alles, was ſich er- 
eignet hatte, vor ſeinen Augen. Er ſah ſein Brüderchen, 
bleich und mit weitoffenem Munde, vor ſich auf der 
Erde liegen, mit dem dünnen, unſcheinbaren Bindfaden 
um den Hals, er erinnerte ſich an die wahnſinnige Angſt, 
mit der er nach ſeinem Taſchenmeſſer geſucht hatte, 
an das blinde, zielloſe Umberirren im Walde, bis ihn 
die Erſchöpfung niedergeworfen hatte. Und fo gewalt- 
ſam wirkte die plötzliche Erleuchtung, daß er, wie ein 
vom Blitz Getroffener, alles Gefühl des Dajeins verlor. 
Er merkte es nicht, wie ein Hieb nach dem anderen auf 
ihn niederſauſte; wie aus weiter Ferne ſchien ihm die 
Stimme des Vaters zu kommen, der zwiſchen jedem 
neuen Hiebe brüllte: „Bube, Satansbengel, fo ſprich 
doch! Wo iſt dein Bruder?“ 

Die ſtumpfe Gleichgültigkeit, mit der ſein Sohn die 
Züchtigung hinnahm, begann den Meiſter allgemach 
zu verwundern. Er zerbrach die Gerte und warf die 
Enden von ſich. Dann faßte er den Jungen unter das 
Kinn und betrachtete ihn aufmerkſam. Er las in ſeinen 
Augen einen Ausdruck, den er vorher nicht darin be— 
merkt hatte. 

„Nun, Andreas, es war nicht ſo ſchlimm gemeint!“ 
ſagte er begütigend. „Den kleinen Oenkzettel mußt 
du ſchon hinnehmen für die Sorge, die du mir und 
der Mutter gemacht Daft. Aber nun fag auch, wo du 
deinen Bruder gelaſſen baft!“ 

Bei den milden Worten brach plötzlich der Burſche 


o Von Wilhelm Hille. 161 


in Schluchzen aus, und ſchon wollte er dem Vater das 
ganze gräßliche Unglück erzählen, da begann dieſer 
aufs neue. 

„Hat ihm jemand was zuleid getan? Wer das ge— 
wagt hätte, wäre übel beraten geweſen. Wehe dem, 
der dem Sohne des Henkers ein Härchen krümmte! 
Er ſollte ſterben, wie noch niemand geſtorben ift!“ 

Ein eiſiger Schauder drang dem Burſchen ins Herz. 
Wer tötete, verfiel dem Henker! Hatte er nicht getötet? 
Hatte er nicht vor zwei Tagen mit eigenen Augen 
geſehen, was es bedeutete, dem Henker zu verfallen? 

Da ſchlug er die Augen nieder, und als der Vater 
nochmals in ihn drang, ihm zu ſagen, was mit Hänschen 
ſei, antwortete er wie Kain: „Ich weiß es nicht.“ 

Da kamen die Knechte zurück und ſchleppten etwas 
wie eine Tragbahre mit ſich. 

Der Henker erbebte und biß die Zähne zuſammen. 

Auf der Tragbahre lag eine kleine Leiche, außerdem 
trug einer der Männer einen Handkorb und einen Bind- 
faden. Sie ſetzten ihren traurigen Fund ſchweigend 
nieder und nahmen die Mütze ab. 

Lange ſtarrte der Vater auf den entſeelten Körper 
ſeines Zweitgeborenen. Er war furchtbar anzuſehen; 
feine dunklen Augen ſtrahlten ein unheimliches Feuer 
aus, ſeine kurzen Haare waren gejträubs, fein Geſicht 
glänzte wie rötliche Bronze. 

„Wehe dem Mörder!“ ſagte er feierlich. Dann 
wandte er ſich an Andreas. „Erzähle uns alles, was 
du weißt!“ 

„Ich weiß aber nichts, ich weiß nichts!“ ſchrie An- 
dreas mit ſo unverkennbarer Angſt, daß in ſeinem Vater 
ein unbeſtimmter Verdacht aufſtieg. 

„Du weißt nichts? Junge, wirſt du das auch vor 
Ludicke Hollandt fagen? Haft du ſchon . was 

1914. V. 


162 Henkersrecht. u 


wir mit dem lahmen Hans gemacht haben? Willſt 
du mich zwingen, meinem eigenen Fleiſch und Blut 
die ſpaniſchen Stiefel anzuziehen? Sprich, oder ſo 
wahr ich der Henker bin —“ 

„Meiſter,“ ſagte Gros, der die kleine Leiche auf- 
merkſam betrachtet hatte, „ich glaube, es gibt da ein 
Indizium, wie Herr Ludicke Hollandt es nennt.“ 

„Ein Indizium?“ 

„Ja. Hatte Euer Kleiner nicht immer ein ſilbernes 
Eilein aus Nürnberg an ſeinem Halſe hängen? — Nun, 
dies Eilein iſt nicht mehr da!“ 

So war es. Man drehte die Leiche nach allen Seiten 
hin, man kehrte ihre Taſchen um, das ſilberne Ding war 
verſchwunden. 

„Da das Eilein fort iſt,“ fuhr Gros fort, „ſo muß es 
geſtohlen ſein. Da es geſtohlen iſt, ſo gibt es einen Dieb, 
und ein Dieb, wie Ihr wißt, Meiſter, iſt oft zugleich 
ein Mörder.“ 

Die Logik in dieſer Beweisführung war ſchlagend. 
Auf Andreas aber übte ſie eine Wirkung aus, die der 
Sprecher nicht beabſichtigt hatte. Der Burſche hatte 
begriffen, was ſeine Rettung ſein konnte und ſein 
mußte. Ohne Phantaſie und etwas beſchränkt, wie er 
war, wäre er von ſelbſt gar nicht auf die Idee gekommen, 
eine Geſchichte zu erfinden. Gros hatte ihn erſt darauf 
gebracht. Und ſo begann er dann, auf nochmaliges 
Befragen, ein Märchen zu erzählen von einem großen, 
ſtruppigen Kerl mit einem dicken Knotenſtock, der Hans 
das Eilein hätte wegnehmen wollen. Da ſeien ſie beide 
davongelaufen, und ſchließlich ſei es dunkel geworden, 
und da habe er ſeinen Bruder aus den Augen verloren. 

„Und warum haſt du uns das nicht gleich erzählt, 
Schlingel?“ rief der Henker, als ſein Sohn ihm das Mär— 
chen aufgetiſcht hatte. 


2 Von Wilhelm Hille. 163 


„Weil ich mich ſchämte, daß ich Hans im Stich ge- 
laſſen habe.“ 

Das klang nicht unglaubhaft. 

„Gut, wir werden den Kerl finden. — Kommt jetzt 
nach Hauſe, Leute! Und du, Gros, gehe in die Stadt 
und melde Herrn Ludicke Hollandt, was ſich zugetragen 
hat.“ l 

„Meiſter,“ murmelte Gros zitternd, „ich glaube, 
wir brauchen nach dem Mörder nicht zu ſuchen.“ 

„Warum, Gros?“ 

„Der Mörder iſt unter uns.“ 

„Unter uns?“ rief der Scharfrichter, mit gräßlichem 
Blick die Knechte muſternd. 

„Ja, ſeht Euch doch den Bindfaden genauer an.“ 

Der junge Andreas erbleichte. Sein Vater beugte 
ſich über den dünnen Faden, der das ganze Unglück 
angerichtet hatte. 

„Wahrhaftig, das iſt merkwürdig!“ murmelte er, 
Gros anſehend. l 

„Der echte Scharfrichterknoten, das Geheimnis 
unſerer Zunft. Außer Euch und mir kennt niemand 
im Umkreiſe von mindeſtens dreißig Meilen dieſen 
Knoten. Wenn Ihr alfo den Kleinen nicht mit eigener 
Hand erwürgt habt, ſo muß ich es geweſen ſein.“ 

„Du, Gros?“ 

„Ja, ich — würde Herr Ludicke Hollandt ſagen.“ 

„Aber das iſt ja unmöglich!“ 

„Warum, lieber Meiſter?“ 

„Weil du den ganzen geſtrigen Nachmittag bei mir 
geweſen biſt. Bis Mittag waren wir in der Folter- 
kammer. Als wir zurückgekehrt waren, haben wir 
im Schuppen aufgeräumt; als wir aufgeräumt hatten, 
aßen wir zu Abend; als wir zu Abend gegeſſen hatten —“ 

Der Meiſter ſtockte. 


164 Henkersrecht. D 


„Bliebet Ihr zu Haufe, was ſonſt Eure Gewohnheit 
nicht iſt, und hießet mich an Eurer Stelle zur Stadt 
gehen und die Befehle des Richters einholen. Eine 
volle Stunde war ich allein. Glaubt Ihr nicht, daß 
eine Stunde hinreichen würde, in den Wald zu laufen, 
Euren Kleinen zu erwürgen und zurückzukehren?“ 

Der Scharfrichter warf ſeinem erſten Gehilfen einen 
ſchrecklichen Blick zu. 

Gros lächelte. „Eine Stunde würde hinreichen. 
Aber wißt Ihr, wozu fie nicht hingereicht hätte? Um 
zugleich zum Markt zu gehen und Euch die verſiegelte 
Inſtruktion zu bringen.“ 

„Alſo kannſt du es nicht geweſen ſein,“ ſagte der 
Henker, tief Atem holend. „Wie ſollteſt du auch fo 
etwas tun, Gros, du, der die Redlichkeit ſelber iſt, der 
ſo reichen Lohn von mir erhält, daß er ſich jeden Monat 
ein Nürnberger Eilein kaufen könnte, ohne deswegen 
Hunger zu leiden!“ 

„Ach was, ein genkersknecht iſt zu allem fähig! 
So ſagen wenigſtens die Leute. Und ſeht, Meiſter, wie 
gut es mein Schickſal mit mir gemeint hat. Ich bat 
Euch geſtern um Urlaub, und Ihr ſchluget es ab. 
Hättet Ihr mir den Urlaub gegeben, ſo wäre ich heute 
verloren. Nichts hätte mich vor dem ſpaniſchen Stiefel 
geſchützt, und wer den erſt auf dem Schienbeine ſitzen 
hat, der bekennt alles, was er bekennen ſoll.“ 

„Gros,“ ſagte Meiſter Andreas leiſe, „es gibt außer 
dir und mir noch ee der den echten Scharfrichter- 
knoten kennt.“ 

„Ja,“ flüſterte Gros und warf einen eigentüm— 
lichen Blick auf den Jungen, „der ihn ſeit zwei Tagen 
kennt, der die Schlinge gemacht hat, mit der wir den 
lahmen Hans henkten.“ 

Der Weiſter antwortete nicht, er trat an feinen 


2 Von Wilhelm Hille. 165 


Sohn heran, faßte ihn mit der rechten Hand unter das 
Kinn und ſchaute ihn länger als eine Minute unver- 
wandt an. 

Das war eine furchtbare Minute. Andreas wußte, 
daß er verloren war, wenn er mit der Wimper zuckte. 
Die Todesangſt verlieh ihm eine übernatürliche Kraft, 
und er hielt den forſchenden Blick dieſer mächtigen 
Augen, die Herz und Nieren zu ergründen ſchienen, 
mit wildem Trotz aus, während ihm der kalte Angſt- 
ſchweiß an den Gliedern klebte. 

„Durchſuche ſeine Taſchen, Gros,“ ſagte der Henker. 

„Er wird es fortgeworfen haben,“ meinte der Ge- 
hilfe, indem er dem Gebote nachkam. 

Das Nürnberger Eilein fand ſich nicht. 

„Er iſt unſchuldig,“ ſagte Meiſter Andreas. „Ich 
habe es in ſeinen Augen geleſen. Nein, ſo verderbt 
ſind auch die Kinder eines Henkers nicht, daß ſie ein— 
ander erwürgten um eines elenden Spielzeugs willen. 
Das mit dem Knoten kann Zufall fein. Meiſter Boll- 
hardt in Düfjeldorf und Meiſter Emmerich in Magde— 
burg machen auch ſolche Knoten. Vielleicht, daß einer 
ihrer Knechte auf der Wanderſchaft hier durchgekommen 
ift. — Kommt nach Haufe. — Und du, Gros, melde die 
Untat Herrn Ludicke Hollandt, ſchweig aber über den 
Knoten. Gott wird's ſchon ans Licht bringen.“ 


* * 
K 


Es nimmt alles ein Ende. Das Menſchenherz wird 
es müde, fruchtlos mit ſeinem Schickſal zu hadern. 
Man erträgt, was nicht zu ändern iſt, macht einen 
Strich durch die Vergangenheit und ſchaut in die Zu— 
kunft. 

Als der kleine Hans begraben war, als die friſchen 
Rofen, mit denen die liebende Mutterhand den kleinen 


166 Henkersrecht. o 


Hügel beſtreut hatte, ſich zum Verwelken neigten, 
gingen die Geſchäfte im Scharfrichterhauſe wieder 
ihren gewohnten Gang. Meifter Andreas Wetzel ſah 
noch etwas härter und menſchenfeindlicher aus als 
früher, wenn er in Ausübung ſeines Amtes ſchraubte, 
brannte und peitſchte. Frau Magdalena weinte noch 
häufiger als ſonſt und betete fleißiger mit der tauben 
Großmutter. Und Andreas wurde ein fleißiger, brauch- 
barer Scharfrichterlehrling, der dem Vater geſchickt 
zur Hand ging. 

Er war kein fröhlicher Knabe, man hörte ihn nicht 
mehr lachen. | 

Er trug an feiner Schuld. 

Früher, wenn die häuslichen Verrichtungen, zu 
denen er herangezogen wurde, abgetan waren, ſchlug 
er ſich zum Hausgeſinde oder trieb allerhand Kurzweil; 
jetzt ſchlich er, ſobald der Vater ihn freigegeben, in ſein 
Kämmerlein, warf ſich aufs Lager und brütete ſtill 
vor ſich hin. Er ſchrak zuſammen, wenn er unvermutet 
dem Vater begegnete; ſelbſt die Mutter, deren ſanfte 
Augen ihn oft mit einem ſo ſonderbaren Ausdrucke 
ſtiller Trauer anſchauten, mied er nach Möglichkeit. 
Es kam ihm immer vor, als ob ſie das Geheimnis ahne, 
das ſeine Seele bedrückte. 

Aber Frau Magdalena ahnte nichts. 

Sie ſah wohl die Veränderung, die im Innern 
ihres Sohnes eingetreten war, aber ſie ſchrieb es dem 
ſchrecklichen Beruf zu, auf den der junge Mann ſich 
vorbereitete. 

„Siehſt du nun, was du angerichtet haſt?“ fragte 
ſie eines Tages ihren Mann. „Warum hörteſt du nicht 
auf mich, als ich dich bat, ihn noch einige Jahre davon— 
zulaſſen? Du haſt ſeine Seele verdorben. Er wird 
von Tag zu Tag roher, mürriſcher. Und er kennt kein 


o Von Wilhelm Jille. 167 


Mitleid mehr. Vater Klaus ſagt, er fange Kaninchen 
und zerquetſche ihnen im Schraubſtock die Pfoten.“ 

Der Meiſter zuckte die Achſel. „Oer Henker muß 
hart werden, liebes Weib! Hab's dem Jungen ſelbſt 
geraten, ſich an Tieren zu üben.“ 

„Oh,“ klagte ſie, „dann wollte ſicherlich der liebe 
Gott, als er mir meinen Liebling, meinen kleinen Hans 
nahm, ſeine Seele retten! Er wollte einen Engel 
aus ihm machen. Du dagegen machſt einen Teufel 
aus dem anderen. Du biſt ſelbſt ein Teufel, ein Un- 
geheuer!“ 

„Ich bin das unwürdige Werkzeug der irdiſchen 
Gerechtigkeit,“ erwiderte der Henker gelaſſen. „Man 
befiehlt mir zu ſchlagen, und ich ſchlage, man ſagt mir: 
Foltere!“ und ich foltere, man ſagt mir: Töte!“ und ich 
töte. Der Verbrecher, der dem Henker fluchen wollte, 
wäre wie das Kind, das den Tiſch verflucht, an dem es 
ſich geſtoßen. Die Geſetze ſind grauſam, nicht der Henker. 
Weib, Weib, mit deinem Erbarmen im Herzen wäre 
ich hundertmal grauſamer, als ich es jetzt bin! Die 
barmherzige Hand zittert, wenn ſie töten ſoll, ein 
gerührtes Auge ſieht ſchlecht. Gott behüte mich davor, 
einen mitleidigen Henker zum Sohne zu haben!“ 

In der Tat ſchien dieſe furchtbare Gefahr, vor der der 
Henker zitterte, an ihm vorüberzugehen. In der Er- 
tötung aller der Triebe, die man unter dem Namen 
„Menſchlichkeit“ zuſammenfaßt, machte Andreas berr- 
liche Fortſchritte. Es wandelte ihn jetzt keine Schwäche 
mehr an in der Folterkammer; die Bläſſe der gemarter- 
ten Unglücklichen teilte ſich ſeinen Wangen nicht mehr 
mit. Er legte kräftig Hand mit an, wenn es galt, den 
Angeſchuldigten auf der Bank feſtzubinden, mit ge- 
waltigen Hieben den Keil in den ſpaniſchen Stiefel 
zu treiben, ſo daß das Blut zwiſchen den Fugen des 


168 Henkersrecht. 0 


Inſtrumentes hervorſchoß. Kurz, er verſprach ein tüd- 


tiger Henker zu werden, der ſeinem Amte Ehre machte. 


* * 
* 


Zwei Jahre waren vergangen. 

Da kam eines Abends Meifter Andreas Wetzel in 
ſonderbarer Aufregung nach Hauſe zurück. Die ſonſt 
ſchon etwas gebückte Geſtalt war hoch aufgerichtet, 
feine Augen glänzten. Er hatte fih etwas verſpätet. 
Frau Magdalena, der Gehilfe Gros und der junge 
Andreas ſaßen bereits um den runden, weißgeſcheuerten 
Tiſch und verzehrten aus einer großen irdenen Schüſſel 
den in Milch gekochten Roggenbrei. Dazu aßen ſie 
Brot. | 

„Hol die Bibel aus der guten Stube, Andreas,“ 
ſagte der Henker und warf Mütze und Überrod von fid). 
Andreas ſtand ſchweigend auf. Die Frau warf einen 
ängſtlichen Blick auf ihren Gatten. Es hatte immer 
etwas zu bedeuten, wenn der Henker betete. 

And dann ſchlug der Meiſter das große Bibelbuch 
beim hundertunddritten Pſalm auf und begann mit 
lauter Stimme: „Lobe den Herrn, meine Seele, und, 
was in mir iſt, ſeinen heiligen Namen!“ Er las den 
ganzen Pſalm, darauf ſchloß er das Buch und fügte 
hinzu: „Ich danke dir, Gott, daß du ihn in meine 
Hände gegeben haft. Gott, du biſt gerecht! Gott, du 
biſt weiſe! Die Untat bringſt du ans Licht, den Ber- 
brecher überantworteſt du der Strafe. Und ob ſie 
flöhen vor dir auf den Flügeln der Morgenröte, dein 
Arm ereilet ſie dennoch. Gott, gelobt ſei dein Name! 
Amen!“ 

Wie verſteinert ſaß der junge Andreas da. Frau 
Magdalena aber brach in Schluchzen aus. Da breitete 
der Henker mit einem bei ihm ſo ſeltenen Ausbruche 


| D Don Wilhelm Hille. 169 


von Zärtlichkeit die Arme aus, zog fie an fih und drückte 
einen Kuß auf ihre blaſſe Stirn. „Ja, weine, arme 
Mutter!“ ſagte er. „Weine vor Freude! Ich habe 
den Mörder meines Sohnes gefunden.“ 

„Steht nicht geſchrieben: Mein iſt die Rache, ich 
will vergelten, ſpricht der Herr?“ flüſterte ſie. 

„Ja, aber es ſteht auch geſchrieben: Auge um Auge, 
Zahn um Zahn, Blut um Blut! Wehe dem Mifie- 
täter, dem der Henker zugleich der beleidigte Vater iſt! 
Auf dem Rade ſoll er ſterben, und die Vögel ſollen ſich 
an ſeinen Eingeweiden ſättigen.“ | 

„Erzählet uns, lieber Meiſter, wie Ihr ihn gefunden 
habt,“ ſagte der immer nüchterne Gros. 

„Hab's meinem geſtrengen Herrn Ludicke Hollandt 
zu verdanken, der in der Stille fleißig der Tat nach- 
geforſcht. Heute abend, als ich mir die Inſtruktion 
holte, ließ er mich in ſeine Stube kommen und fragte 
mich: „Kennt Ihr dies Spielzeug, Meiſter Andreas?“ 
Dabei hielt er mir ein kleines Nürnberger Eilein 
vor die Augen. Es war dasſelbe, das ich einſt dem 
Kleinen geſchenkt, erkannte es an den Buchſtaben des 
Wortes justitia, die ich mit eigener Hand hineingeritzt 
habe. Als nun Ludicke Hollandt mein Erſtaunen ſah, 
fuhr er fort: „So merket denn den Finger Gottes, 
Meiſter Andreas, denn dies Eilein hat geſtern der 
Windmüllersſohn Peter Zeidler, ſo ſchon zweimal 
wegen Vogelſtellens von Euch mit Ruten geſtrichen 
worden iſt, an Martin Broſchen, den Silberſchmied, 
verkaufen wollen, der ſich aber des Handels nicht 
trauete und es dem Gerichte meldete. Den Zeidler 
habe ich nun ins Gewahrſam führen laffen, und wie- 
wohl er dabei bleibt, daß er das Kleinod im Wald ge- 
funden habe und von ſonſt nichts wiſſe, wollen wir die 
Wahrheit jego ſchon ans Licht bringen.“ So ſagte 


170 Henkersrecht. u 


Ludicke Hollandt und reichte mir die Hand, da niemand 
weiter im Zimmer war, der es ſehen konnte, daß er den 
Henker berührte. Und morgen iſt das erſte Verhör. 
Ah, Ludicke Hollandt hat recht, wir werden es ſchon 
ans Licht bringen! — Nicht wahr, Andreas?“ 

Der Burſche nickte ſchweigend und wich dem Blick 
des Vaters aus, der tapfer dem Roggenbrei zuſprach. 
In der ſchon herrſchenden Dämmerung konnte man nicht 
ſehen, wie blaß er geworden war. 

Er benützte denn auch die erſte Gelegenheit, die ſich 
ihm bot, in ſein Dachkämmerchen hinaufzuſteigen. 

Aufrichtig freuen tat ſich außer dem Henker nur 
noch Gros, der immer im geheimen befürchtet hatte, 
wegen der merkwürdigen Beſchaffenheit des Knotens 
in der damals neben der Leiche gefundenen Schlinge 
doch noch ſelbſt in Verdacht zu kommen. 

Frau Magdalena hatte ein zu weiches Gemüt, um 
fich an dem Gefühle der bevorſtehenden Rache berau- 
ſchen zu können. Ihr Knabe wurde ja dadurch doch 
nicht wieder lebendig. 


* * 
* 


Wenn der Unterſuchungsrichter Ludicke Hollandt 
gemeint hatte, daß nun alles ans Licht kommen werde, 
ſo hatte er ſich in einem bedauerlichen Irrtum befunden. 
Der Windmüllersſohn gab ihm eine harte Nuß zu 
knacken auf. Seine Ausſage lautete klar und beſtimmt. 
Er habe vor einigen Wochen das ſilberne Spielzeug 
in der Nähe der Stelle gefunden, wo man vor Jahren 
die Leiche des Knaben aufgeleſen habe. Von dem 
Morde wiſſe er nichts und könne nichts darüber an— 
geben. Daß das Eilein lange Zeit im Walde gelegen 
habe, könne man ihm anſehen. Befragt, warum er 
feinen Fund nicht ſogleich zu Gelde zu machen ver- 


o Von Wilhelm Hille. 171 


ſucht habe, erklärte er, er habe ſich nicht ſogleich getraut, 
das zu tun, um nicht in den Verdacht zu kommen, das 
Ding geſtohlen zu haben. Bei dieſer Ausſage blieb er, 
und alle Verſuche, ihm einen Widerſpruch nachzu- 
weiſen, waren vergebens. 

Um ſo verworrener waren die Angaben des jungen 
Andreas, den man dem Angeſchuldigten gegenüber- 
ſtellte. Befragt, ob er den Angeklagten in dem Manne, 
der ſie damals verfolgt habe, wiedererkenne, erklärte 
er, ſich nicht mehr erinnern zu können. Seine Dar- 
ſtellung des damaligen Vorganges war unbeſtimmt, 
lückenhaft und widerſprach in wichtigen Punkten ſeinen 
früher abgegebenen Ausſagen. Kurz, er verſagte als 
Belaſtungszeuge vollſtändig, zum größten Verdruſſe 
Meiſter Wetzels, der dem Verhöre beiwohnen durfte. 

„Das iſt eine ſchwierige Sache, lieber Meiſter,“ 
ſagte der Unterſuchungsrichter nachdenklich, als der An- 
geklagte abgeführt worden war. „Wenn wir keine 
anderen Indizia finden, werden wir ihn laufen laſſen 
müſſen.“ 

„Laufen laſſen?“ ſchrie der Henker. „Ei, warum 
laßt Ihr mich nicht machen, anſtatt viele Worte zu ver- 
lieren? Einige Schrauben, einige Keile, und alles iſt 
glatt und klar.“ 

„Ihr kennt die Geſetze nicht, ſonſt würdet Ihr nicht 
alſo ſprechen,“ entgegnete der würdige Richter. „Wir 
dürfen nur peinlich fragen, wenn indicia gravia et 
praegnantia et sufficientia ad torturam vorliegen. 
Käme ſonſt mancher Unglückliche in Eure Hände, der's 
nicht verdient hat. Die Folter ſoll nur die Indizien 
beſtätigen.“ 

poit das Eilein kein Indizium?“ 

„Es iſt ein Indizium, ob aber grave et praegnans 
et sufficiens ad torturam — darüber muß vorerſt das 


172 E Henkersrecht. a 


Obergericht entſcheiden. Alfo faſſet Euch in Geduld 
und greifet nicht der irdiſchen Gerechtigkeit vor, der 
Ihr, wie wir alle, untertan ſeid.“ — 

Als der Scharfrichter um Mittag nach Hauſe kam, 
war er in ſehr ſchlechter Laune. Schweigend verzehrte 
er ſein Eſſen. Niemand wagte ein Wort zu ſprechen. 
Als Frau Magdalena ihm Wein einſchenkte, hatte er 
des nicht acht und ſtieß den Krug um, daß der Wein 
über den Tiſch floß. Da ergriff er zornig den Krug 
und ſchleuderte ihn auf den Boden, daß die Scherben 
in der Stube umherflogen. 

„Der Satan mag Ludicke Hollandt holen!“ ſchrie 
er grimmig. „Brauchte mich bloß ein bißchen ſchrauben 
zu laſſen, ſo wäre das Ding fertig. Aber wahrlich, wenn 
der Zeidler es fertig bringt, dem Gerichte eine Naſe 
zu drehen, mir ſoll er doch nicht entwiſchen! Und wenn 
ich ſelbſt darum aufs Schafott müßte! Ich werde ihm 
auflauern, ich werde ihn fangen. In der guten Stube 


werden wir das Hochgericht halten, unter dem Kruzifix 
werde ich ihn aufs Rad flechten, ſo wahr ich der Henker 


bin!“ 

Sein zornentflammtes Auge traf auf den jungen 
Andreas, der erbleichend aufſtand, um die Stube zu 
verlaſſen. 


Da bückte ſich der Meiſter, las eine Scherbe vom. 


Fußboden auf und warf damit nach ſeinem Sohne. 
„Und du Elender biſt an allem ſchuld!“ brüllte er. 
„Halt wie ein Jammerlappen vor Ludicke Hollandt 
ausgeſagt. Wie ein altes Weib haſt du gezittert, als du 
deinen leiblichen Bruder rächen ſollteſt. Ah, warum 
hat der Zeidler nicht dich erwürgt, ſtatt des anderen! — 
Fort mit dir, du Feigling!“ 

Andreas flüchtete ſich auf ſeine Kammer und warf 
fich laut ſchluchzend auf fein Strohlager. Zn dieſer 


——— —-—ßw1uu— —— — = 


u Von Wilhelm Hille, 173 


Nacht tat er kein Auge zu und litt Folterqualen, die 
denen des Miſſetäters auf dem Rade gewiß nicht viel 
nachgaben. Sein einziger Wunſch war, daß Gott ihn 
möchte ſterben laſſen. 

Sterben, wie andere Menſchen ſterben, nur nicht 
von der Hand des Henkers! f 

* * 
* 1 

Sechs Tage lang lag finſteres Gewölk auf Meiſter 
Wetzels Stirn, wenn er zum Mittagefien heimkam, 
ſechs Tage lang ſchalt er auf die Federfuchſerei und 
lahme Juſtiz ſeines Herrn Ludicke Hollandt. 

Am ſiebenten Tage aber ſchwenkte er den Hut und 
umarmte, kaum daß er ihrer anſichtig geworden, ſeine 
Frau mit jugendlichem UAngeſtüm. „Gerechtigkeit!“ 
rief er aus und warf ein großes Schriftſtück auf den 
Tiſch. „Rufe Andreas und das Geſinde zuſammen, 
daß ſie's alle vernehmen!“ 

Schnell füllte ſich das Zimmer. Die Knechte 
blieben, die Mütze in der Hand, an der Tür ſtehen. 
Andreas, von geheimem Schrecken erfüllt, drückte ſich 
in den entfernteſten Winkel. Ach, er hatte ſchon gehofft, 
man würde das Verfahren gegen den unglücklichen 
Finder des Eileins einſtellen. 

Der Meiſter warf einen triumphierenden Blick auf 
die Runde, dann entfaltete er das Schreiben und las: 
„„An den Ratsherrn Ludide Hollandt. Auf ergangene 
Anfrage in Sachen Peter Zeidlers, des Windmüllers- 
ſohnes, Ew. Liebden zum Beſcheide, daß der Angeklagte 
propter gravem facinoris suspicionem peinlich von 
Euch zu befragen ift. 

Die Braunſchweigiſchen Freiſchöffen.“ 

And nun laſſet uns fingen,“ ſagte der Meiſter, als 
er ausgeleſen hatte. Und er begann anzuſtimmen: 


174 Henkersrecht. o 


„Run dantet alle Gott 
Mit Herzen, Mund und Händen,“ 

Die Knechte fielen mit ihren rauhen Stimmen ein, 
und auch Frau Magdalena, deren weiches Gemüt die 
Befriedigung geſättigter Nahe nicht kannte, fang an- 
dächtig mit. 

Aber ein anderer, ſeltſamer Ton, erſt leiſe, halb 
erſtickt, dann immer lauter, miſchte ſich in den freudigen 
Choral, ein Ton, der wie ein qualvolles Stöhnen klang 
und aus der Tiefe des Zimmers hervorkam, wohin der 
junge Andreas ſich geflüchtet hatte. 

Der Scharfrichter erblaßte. Wie ein wildes Tier 
ſtürzte er auf den unglücklichen Knaben zu und riß ihm 
den Kopf in die Höhe. Als er das von Tränen ganz 
durchnäßte Geſicht des Burſchen gewahrte, bemächtigte 
ſich ſeiner eine ſinnloſe Wut. „Bube! Bube!“ ſchrie 
er und rang nach Atem. Dann riß er den kurzen Dolch, 
den er immer bei ſich trug, aus der Scheide und ziſchte 
ſeinem Sohne ins Ohr: „Wer den Mörder ſeines 
Bruders beweint, ſoll ſterben! — Sterben ſoll er, 
verſtehſt du?“ 

„Mann, lieber Mann!“ kreiſchte die Frau auf und 
warf ſich auf den Henker. 

„Laß nur, Mutter!“ ſagte plötzlich Andreas, deſſen 
Tränen zu fließen aufgehört hatten. Dann riß er ſich 
mit einem heftigen Nude das Lederwams auf, ent- 
blößte die Bruſt und ſagte: „Stoß zu, Vater! Ich 
will gerne ſterben.“ 

Klirrend fiel der Dolch zu Boden. Vater und Sohn 
ſahen ſich an. Die Knechte wagten nicht zu atmen. 

„Weshalb willſt du ſterben?“ fragte plötzlich der 
Henker mit harter Stimme. 

„Weil ich dich haſſe!“ antwortete Andreas. 

„Und weshalb haſſeſt du mich?“ 


(2) Bon Wilhelm Hille. 175 


„Weil du der Henker biſt!“ 

Scharf wie ein zweiſchneidiges Schwert kam es 
von des Burſchen Lippen. 

Der Henker zuckte zuſammen; wie eine Wolke ſenkte 
ſich einen Augenblick die ungeheure Schmach ſeines 
Gewerbes auf ihn nieder. Aber nur einen Augenblick. 
Dann richtete er ſich ſtolz in die Höhe. „Entferne dich!“ 
ſagte er kalt. „Wollte Gott, daß ich keine Kinder ge- 

habt hätte!“ 
Andreas verließ das Zimmer. Sein Schritt war 
zum erſten Male wieder feſt. Seine Augen glänzten. 
Er hatte einen Sieg erfochten, der ſelten jemand 
gelingt. Er hatte die Furcht vor dem Sterben beſiegt. 


* * 
% 


Wieder ſchritten Vater und Sohn in der Frühe des 
Morgens der Stadt zu. Der Wagen mit den Folter- 
werkzeugen und den Knechten war vorausgefahren. 

Wie innig hatte Meiſter Andreas Wetzel den heutigen 
Tag herbeigeſehnt, der ſeinen heißen Rachedurſt be— 
friedigen ſollte! Und nun es ſo weit war, wollte es 
ihn nimmer freuen. Hatte ihm doch der glückliche Tag 
zugleich die Erkenntnis gebracht, daß ſein einziger Sohn 
für den Beruf verdorben war. Von ſeinem eigenen 
Fleiſch und Blut ward er verachtet! Das Vorurteil 
der Welt gegen den Henker war in den Schoß ſeiner 
Familie gedrungen, bis an den häuslichen Herd ver- 
folgte ihn die Ehrloſigkeit des Amtes! 

Schweigend gingen die beiden nebeneinander her. 
Plötzlich begann der Alte: „Alſo du haſſeſt mich, weil 
ich der Henker bin?“ | j 

Andreas nickte. 

„Weißt du nicht, daß der Henker der Diener der 
Gerechtigkeit iſt, und daß es kein höheres Amt gibt als 


176 Henkersrecht. o 


das, der Vollſtrecker der irdiſchen Gerechtigkeit zu fein, 
wie Gott der Vollſtrecker der himmliſchen Gerechtig- 
keit ift?“ 

Andreas ſchwieg eine Weile. Dann antwortete er: 
„Du biſt aber kein gerechter Henker.“ 

Meiſter Wetzel runzelte die Stirn, auf der die Born- 
ader anzuſchwellen begann. Aber er tat ſich Gewalt 
an und ſagte: „Haſt du mich ſchon jemals einen foltern 
ſehen, der nicht alles bekannt hat? Haſt du mich ſchon 
jemals einen hinrichten ſehen, der nicht auf dem Be- 
kenntnis ſeiner Schuld freiwillig verblieben iſt?“ 

„Du würdeſt auch bekennen, was man will, wenn 
man dir die ſpaniſchen Stiefel und die Mundbirne 
gäbe,“ ſagte der Burſche. 

„Junge, Junge,“ rief der Alte unwillig, „willſt du 
klüger fein als Ludicke Hollandt? Willſt du beffer 
wiſſen, wer ſchuldig iſt und wer nicht, als die hoch- 


gelehrten Freiſchöffen? Meinſt du, wir prüfen nicht 


ſorgfältig, ehe wir die peinliche Frage verhängen? — 
Ich ein ungerechter Henker! Jefus! Kennſt du die Ge- 
ſchichte von Matthias Ehrenberg, der vor zwölf Jahren 
wegen Hexerei gebrannt wurde?“ 

„Nein.“ 

„Sieh, das war ein guter, wackerer Mann und Ge— 
lehrter, um den es ſelbſt dem Henker in der Seele leid 
tat. Glaub's noch heute, daß er nur durch die Lift bös- 
williger Leute auf den Scheiterhaufen gekommen iſt. 
Als er auf der Marterbank feſtgebunden war und 
Ludicke Hollandt mir zurief: „Schraubet!“ da ſagte er 
zu mir: „‚Meiſter, ich weiß, daß Ihr ein ehrlicher Mann 
ſeid. So Ihr nun glaubet, daß ich der Tat ſchuldig bin, 
ſo ſchraubet getroſt. Gott wird mich ſtärken. So Ihr 
aber zweifelt und Eurer Sache ungewiß ſeid, ſo wird 
mein Blut über Euch und Eure Kinder kommen.“ 


— ———— —jä—4 


o Don Wilhelm Hille. 177 


Als er fo ſprach, winkte ich den Knechten, ihn loszu- 
binden, und erklärte meinem geſtrengen Herrn Richter, 
ich müſſe auch meiner Seele Seligkeit bedenken. 
Wollten mich von Amt und Brot jagen wegen der 
Geſchichte. Aber Ludicke Hollandt nahm mich insgeheim 
vor und redete mir zu, ich ſolle ſagen, ein plötzliches 
Gebreſten habe mich befallen, ſo daß ich nicht habe 
meines Amtes walten können. Wußte wohl, daß er 
ſobald keinen beſſeren Henker bekommen würde. Und 
ſie ließen Meiſter Bollhardt aus Düſſeldorf kommen, 
dem ich für die Reiſe dreiunddreißig Taler bezahlen 
mußte. Tat's aber gern, um der Sache loszukommen 
und in meinem Gewiſſen nicht beſchwert zu ſein. — 
Nein, Junge, niemals war dein Vater ein ungerechter 
Henker und wird's auch nie ſein, ſo wahr ihm Gott 
helfe! Und auch du, wenn du einmal an meiner Statt 
hier die Sprüche der Freiſchöffen vollſtreckſt, ſollſt 
immer dein Gewiſſen fragen, ob's auch recht gerichtet 
iſt oder nicht, und lieber ſelbſt den Kopf auf den Block 
legen, als den Anſchuldigen foltern und töten. Das ift 
die wahre Henkersehre, mein Sohn, und die iſt, wie 
die Ehre der Ritter, von Gott ſelbſt dem Stande ge- 
geben, was auch die Menſchen ſagen mögen, und wir 
ſollen ſie rein und unbefleckt erhalten und vererben 
von Vater auf Sohn und von Sohn auf Enkel.“ 

Der Henkersſohn hatte aufmerkſam zugehört. Als 
der Alte ſchwieg, warf er ſtolz das Haupt zurück und 
ſagte: „Gut, Vater, ich werde es ebenſo machen wie 
du. Ich werde den Zeidler nicht foltern.“ 

„Den Zeidler nicht foltern? Viſt du verrückt, Junge? 
Dieſen Nichtswürdigſten aller Nichtswürdigen, den Mör- 
der deines Bruders nicht foltern? Und warum nicht?“ 

„Weil er unſchuldig iſt und weil du ſelber geſagt 
haft, ich folle nicht wider mein Gewiſſen foltern.“ 

1914. v. 12 


178 genkersrecht. a 


„Ich habe das geſagt, weil ich nicht wußte, daß ich 
einen ſolchen Narren wie du zum Sohne habe. Hätte 
ich das gewußt, ſo hätte ich noch hinzugefügt, daß ein 
Bengel von ſechzehn Jahren noch kein Urteil über 
ſchuldig und unſchuldig haben kann, daß er ſich dem 
Spruche erfahrener Männer zu beugen hat.“ 

„Ich weiß aber, daß er unſchuldig iſt!“ 

„Bube!“ ſchrie der Meiſter, unfähig, ſich länger zu 
beherrſchen. „Du wirſt ihn foltern, wie ich ihn foltere, 
oder —“ 

„Oder?“ 

Vater und Sohn blieben ſtehen und ſahen ſich an. 
Und da erſchrak Meiſter Wetzel über die Wildheit und 
Kraft, die ihm aus den Augen ſeines Erſtgeborenen 
entgegenleuchteten. Es war nicht mehr der Knabe, der 
vor ihm ſtand, es war der plötzlich zum Manne Ge— 
wordene. Es war er ſelbſt, ſeine eigene wilde Raſſe, 
die ihm den Krieg erklärte. 

„Gut,“ ſagte der Henker nach einer Weile mit 
veränderter Stimme, „ich will dich nicht zwingen. 
Was ich geſagt habe, habe ich geſagt. Da du ihn für 
unſchuldig hältſt, magſt du die Hände von ihm laſſen. 
Ich und Gros werden es ſelbſt beſorgen. Aber du ſollſt 
mit dabei fein, damit du von feinen Lippen fein Schuld- 
bekenntnis hörſt.“ 

„Und auch du wirſt ihn nicht foltern, Vater! Nein, 
du wirſt es nicht tun!“ rief Andreas. „Verſprich mir, 
es nicht zu tun, und ich verſpreche dir, ein tüchtiger 
Henker zu werden. Ich werde dir Ehre machen. Nächſtes 
Jahr werde ich mein Geſellenſtück ablegen. Bitte, 
lieber Vater, tue es nicht!“ 

Ein Hohngelächter war die Antwort des Henkers 
auf dieſen Appell an ſein Herz. „Verrückter Bengel!“ 
ſchrie er. „Dir verſprechen, den Mörder meines Kindes 


o Von Wilhelm Hille. 179 


nicht zu foltern! Amt, Ehre, Gewiſſen fahren laſſen 
um einer elenden Knabenlaune willen! Ah, lieber 
wollte ich mir meine zehn Finger einzeln abſägen 
laſſen, als darauf verzichten, den Zeidler unter den 
Daumenſchrauben wimmern zu hören! Und nun will 
ich nichts mehr von dir hören! Wenn du zur Vernunft 
zurückgekehrt biſt, wollen wir wieder miteinander 
ſprechen.“ 

Andreas ſchwieg. Eine harte Falte legte ſich um 
ſeinen Mund. 

So kamen fie am Rathauſe an. 


* * 
* 


„Somit übergebe ich dich der peinlichen Frage, bis 
du bekannt haft. Meiſter Andreas Wetzel, nehmt ihn 
in Eure Hände und tut mit ihm nach Eurem Amte.“ 

Alſo ſprach Ludicke Hollandt und zerbrach den 
birkenen Stab, mit dem er auf den CTiſch geklopft, zum 
Zeichen, daß die Verhandlung ihren Anfang genommen 
habe. 

Der Unglückliche, dem die Anrede des Richters galt, 
lag bereits mit vollſtändig entblößtem Oberkörper auf 
der Folterbank. Dieſe befand ſich in der Mitte des 
großen düſteren Raumes, dem Richtertiſche gegenüber, 
und hatte ungefähr die Form einer Dachrinne, in die 
der Körper des zu Befragenden gerade hineingezwängt 
werden konnte. Sie lief ſchräg aufwärts, aber ſo, daß 
der Kopf tiefer lag als die Füße, die etwas über das 
obere Ende hinaushingen. Schon das längere Liegen 
in dieſer Mulde mußte äußerſt qualvoll ſein. 

Peter Zeidler, der junge Windmüller, war ein 
kräftig gebauter Menſch von etwa fünfundzwanzig 
Jahren, von dem man wohl erwarten konnte, daß er 
ſich nicht ohne Kampf in ſein Schickſal ergeben würde. 


180 Henkersrecht. TE o 


Er war totenbleih, aber feine Lippen waren feft 
geſchloſſen. 

Meifter Andreas, der mit Gros und feinem Sohne 
neben der Folterbank ſtand, ergriff die Hände des 
Delinquenten und legte die Daumen, mit der Rück- 
ſeite aneinander gepreßt, in den Schraubſtock. Dann 
ſah er erwartungsvoll zu dem Richtertiſche auf. 

Ludicke Hollandt hatte mit den Beiſitzern zu ſeiner 
Rechten und Linken geſprochen und erhob ſich: „So 
frage ich dich, Peter Zeidler, zum letzten Male, ob du 
in Güte bekennen willſt?“ 

Der Angeklagte ſchüttelte den Kopf und biß die 
Zähne aufeinander. 

„So ſchraubet, Meiſter,“ ſagte der Richter gelaſſen 
und ſetzte ſich wieder. 

Der Henker ergriff die Kurbel des Schraubſtockes. 

Da flüſterte ihm eine Stimme ins Ohr: „Laßt es 
nicht bis zum Außerſten kommen, Vater! Ihr würdet 
es hernach bereuen.“ 

Sinnlos vor Zorn wandte ſich der Henker um. Und 
wie er ſeinen Erſtgeborenen bleich und mit flehend 
emporgeſtreckten Armen vor ſich ſtehen ſah, verließ 
ihn die Beſonnenheit. Er holte weit aus und gab ihm 
eine ſchallende Ohrfeige, daß Andreas zurücktaumelte. 
Dann drehte er dreimal die Kurbel um. 

Peter Zeidler ſtieß einen einzigen kurzen Schrei 
aus; ſeine Augen ſchloſſen ſich. Zwiſchen den Fugen 
des Marterinſtrumentes fab man das Blut hervor- 
quellen. 

Da trat der junge Andreas vor den Richtertiſch und 
ſagte mit feſter Stimme: „Fit es auch erlaubt, einen 
Unſchuldigen peinlich zu fragen?“ 

Überrafcht ſahen ſich die Richter an. 

Ludicke Hollandt aber ſprach zornig: „Was foll 


o Von Wilhelm Hille. 181 


das heißen, Burſche, daß du das Gericht zu unter- 
brechen dich erdreiſteſt?“ 

„Das ſoll heißen,“ rief Andreas laut, „daß Peter 
Zeidler der Tat unſchuldig iſt. Denn ich bin's geweſen.“ 

„Er lügt!“ ſchrie Meiſter Andreas, vorſtürzend. „Er 
hat ſich's in den Kopf geſetzt, den Zeidler der Strafe 
zu entziehen. Überlaßt ihn mir! Eine tüchtige Tracht 
Prügel wird ihm feinen gefunden Verſtand wieder- 
geben.“ 

„Ich lüge nicht, ich bin wohl bei Sinnen,“ ſagte 
der junge Mann. „Und wenn Euer Gnaden mir den 
Bindfaden vorlegen würden, mit dem mein armer 
Bruder erwürgt worden, ſo wollte ich es bald beweiſen, 
daß ich die Wahrheit ſpreche. Darum nehmt mich in 
Haft und tut mit mir, wie ich's verdient habe. Ich 
will alles erdulden, nur daß kein Unſchuldiger ge- 
peinigt wird.“ 

Der Richter ſprach mit den Beiſitzern, dann klopfte 
er auf den Tiſch und gebot Stille. „Schraubet den 
Angeklagten los, Meiſter,“ ſagte er zu dem wie ver- 
ſteinert daſtehenden Scharfrichter. „Die peinliche Frage 
iſt für heute aufgehoben. — And du, Burſche,“ wandte 
er ſich an den jungen Andreas, „kommſt mit uns hinauf 
in das Ratszimmer, wo du uns alles berichten magſt, 
was ſich begeben hat. — Ihr aber, Meiſter Andreas, 
haltet Euch hier zur Verfügung des Gerichtes, falls 
man Euer bedürfen ſollte.“ 


* * 
* 


„Alſo entſcheidet Euch, Meiſter Andreas,“ ſagte der 
Richter. „Denn ob der Knabe auch freimütig feine 
Schuld bekannt, und obgleich erhellet, daß er nicht in 
böſem Willen, ſondern in kindiſchem Anverſtande die 
SGreueltat vollbracht, fo ift er doch nach dem Geſetze 


182 Henkersrecht. u 


des Todes ſchuldig. Wollt Ihr ihn nun mit Euch nehmen 
und richten nach Henkersrecht, ſo habt Ihr mir, bis daß 
die Sonne untergegangen, anzuzeigen, daß der Ge- 
rechtigkeit Genüge geſchehen; wo nicht, ſo bleibt er 
hier in Verhaft, bis das Obergericht ſeinen Spruch 
gefällt.“ 

„Ich will ihn richten nach Henkersrecht,“ erklärte 
der Meiſter mit ruhiger Stimme. Er hatte ſich feſt 
in der Gewalt. Keine Muskel in ſeinem harten Geſichte 
zuckte; nur in den Augen brannte ein düſteres Feuer. 

„Somit werde ich dem Büttel anbefehlen, daß er 
den Knaben dem Henker übergebe. Meiſter, es er- 
barmt mich über Euch, aber das Geſetz ift ſtreng. Be- 
denket es wohl: bis die Sonne untergegangen. Saget 
dem Knaben, daß er die Zeit gut ausnütze.“ 


* *. 
* 


Auf dem Heimwege ſprachen Vater und Sohn kein 
Wort miteinander. Jeder wußte, was kommen mußte. 
Der Alte, der vor Ludicke Hollandt feine Haltung be- 
wahrt hatte, ging jetzt gebückt und atmete ſchwer; der 
Junge, hoch aufgerichtet, die Hände auf dem Rücken 
gefeſſelt, ſchritt neben ihm her wie der Sieger neben 
dem Beſiegten. In feiner Seele lag kein Grauen, 
ſondern eine unausſprechliche Erleichterung darüber, 
daß er die Laſt, die er feit zwei Jahren getragen, end- 
lich von ſich abgewälzt hatte. Mochte nun kommen, was 
da wolle: er fühlte es, er war über das Schwerſte 
hinaus. 

Als ſie vor dem Henkerhauſe angekommen waren, 
zog Meiſter Andreas mit einem heftigen Ruck ſeinen 
Dolch aus der Scheide. Der Sohn ſah ihn an und 
lächelte. Aber es war noch nicht das, was er erwartete. 

Der Alte ſchnitt die Feſſeln durch. „Der Mutter 


o Von Wilhelm Hille. 183 


wegen!“ ſagte er herb. „Sie ſoll nichts erfahren, ver- 
ſtehſt du? Will nicht um der Geſchichte willen auch noch 
die Frau verlieren, wie ich meine Kinder verloren 
habe.“ 

Andreas ſah, wie eine große Träne an der harten, 
verwitterten Wange herablief. Da überkam es ihn wie 
Reue. „Verzeih mir, Vater,“ murmelte er, die ſchlaff 
herabhängende Hand des Alten ergreifend. „Ich konnte 
nicht anders. Haft du nicht ſelbſt mir geſagt, die wahre 
Henkersehre beſtehe darin, keinen Unſchuldigen leiden 
zu laſſen?“ 

Der Meifter entzog ihm die Hand. „Schweig!“ 
ſagte er rauh. „Was geſchehen iſt, iſt geſchehen, und wir 
müſſen beide die Folgen tragen. Biſt du bereit?“ 

„Ja.“ 

„Alſo heute abend in der guten Stube, wenn die 
Veſper einläutet. Du haſt noch drei Stunden. Geh in 
den Wald bis dahin, daß dich die Mutter nicht ſieht.“ 

„Ich darf mich nicht von ihr verabſchieden?“ 

„Nein. Und noch eins! Die letzten Worte von 
Ludicke Hollandt waren: ‚Saget dem Knaben, daß er die 
Zeit gut benütze.“ Merke dir die Worte. Und nun geh!“ 

Er wandte, kurz entſchloſſen, dem Burſchen den 
Rüden und trat ins Haus. In der Wohnſtube ange- 
kommen, ließ er ſich in den Stuhl niederfallen, der vor 
dem gedeckten Tiſche ſtand. 

Frau Magdalena ſchrie, als ſie ihres Mannes 
anſichtig geworden war, entſetzt auf. So verſtört hatte 
ſie ihn noch nie geſehen. 

Mechaniſch ergriff er den hölzernen Löffel und aß 
ſeine Suppe. Dann ſtützte er den Kopf in die Hände 
und verſank in tiefes Brüten. 

„ums Himmels willen, Mann, was ift geſchehen?“ 
rief ſie. 


184 Henkersrecht. u 


„Mach die gute Stube zurecht, Frau,“ ſagte er auf- 
ſchauend. „Wir beten heute abend.“ 

„Für den Zeidler?“ 

„Für den Mörder meines Sohnes!“ ſprach der 
Henker mit dumpfer Stimme. 


* * 
% 


Andreas ſtrich planlos im Walde umher. Dann, 
als er eine kleine Lichtung erreicht hatte, von der aus 
man das väterliche Gehöft ſehen konnte, warf er ſich 
ins Gras und ſtarrte vor ſich hin. 

Ach, wie hatte er ſich die ganzen letzten beiden 
Jahre hindurch vor dem Sterben gefürchtet! Und jetzt, 
da es ſo weit war, ſchien es ihm nichts zu ſein. Er hätte 
weinen mögen und fühlte ſich doch ſo frei, ſo giugno, 
dak er mit niemand hätte taufhen mögen. 

Sein Selbſterhaltungstrieb war in der langen 
Seelenpein ertötet. Ja, er wollte ſterben und mit 
allem Schluß machen. So kam ihm denn gar nicht der 
Gedanke, ob es denn ſo ausgemacht und ſicher ſei, daß 
ein Vater ſein eigenes Kind töten würde. Und noch 
ein anderer Gedanke, der ſo nahe lag, kam ihm gar nicht: 
ſich einfach in den dunklen Wald zu ſtürzen und ſich dem 
Arme der Juſtiz zu entziehen. Ei, man hätte ihn lange 
ſuchen können hier! Er kannte ſeinen Wald; hier konnte 
er ſich wochenlang verbergen und dann in die weite 
Welt hinauswandern. Als ſtarker, kräftiger Burſche 
konnte er ſich anwerben laſſen und vielleicht gar ſein 
Glück machen. 

Wie geſagt, er kam nicht auf dieſen Gedanken. In 
der wunderlichen Stimmung, die ſich ſeiner bemächtigt 
hatte, fühlte er ſich wie eins geworden mit der Natur 
um ihn und als wäre er ebenſo unſterblich wie ſie. 
Eine nie gekannte Zärtlichkeit gegen alles Lebende 


o Don Wilhelm Hille. 185 


bemächtigte fidh feiner. Ein großer goldgelber Käfer 
kletterte an ſeinem Schuh empor; er hob ihn ſorgfältig 
auf und ließ ihn fliegen. In einiger Entfernung eilte 
ein Reh dahin; er breitete die Arme nach ihm aus und 
hätte es am liebſten ans Herz gedrückt. 

Plötzlich fielen ihm die vielen Kaninchen ein, denen 
er die Pfoten im Schraubſtock zerquetſcht hatte, und er 
begann bitterlich zu weinen. Aber bald erhob er ſich, 
riß einige Blätter Sauerampfer ab, der am Wege wuchs, 
und trocknete damit ſein naſſes Geſicht. 

„Gott wird mir verzeihen, was ich Böſes getan habe,“ 
murmelte er. „Ich fühle es, daß er mir verziehen hat. 
Ich würde mich ſonſt mehr vor dem Tode fürchten.“ 

Da begann von der Stadt her die Veſper zu läuten. 

„Oh, ich muß eilen,“ ſagte er zu ſich. „Man wird 
ſchon auf mich warten.“ 

And er begann zu laufen, erſt langſam und dann 
immer ſchneller. 

Da kam von ferne ein Mann auf ihn zu, der einen 
Sack in der Hand trug. Der Mann winkte ihm, epen 
zu bleiben. 

Es war fein Vater. | 

Was wollte der hier? Kam er, ihn zu holen, weil 
es ſchon ſo ſpät war? 

Demütig und mit niedergeſchlagenen Augen ſtand 
der Burſche da. Meiſter Andreas Wetzel betrachtete 
mit einem verwunderten Ausdrucke ſeinen Erſtgeborenen. 
Dann holte er weit aus mit der harten Rechten und ver- 
ſetzte ihm eine Ohrfeige, die an Spürbarkeit der vom 
Vormittage in der Folterkammer nichts nachgab. 

„Da, nimm das für alles!“ rief er aus. 

Andreas taumelte, aber er hielt ſich auf den Beinen. 

„Oh, du Hansnarr!“ fhalt der Alte. „Kannſt du 
denn gar nichts begreifen? Muß der Henker ſelber dir 


186 Henkersrecht. u 


noch Beine machen? War es nicht deutlich genug, als ich 
dir ſagte, du ſollteſt die Zeit bis zur Veſper gut benützen? 
Sitzt der nichtsnutzige Bengel da ſtundenlang im Graſe 
und träumt, während die Häſcher ſchon auf dem Wege 
find! Konnteſt ſchon über die Grenze fein, Dummkopf!“ 

Andreas ſtarrte den Vater verſtändnislos an. 

„Doch nun nicht gefadelt, Junge,“ fuhr der Henker 
fort. „Ludicke Hollandt hat dir nur bis zur Veſper 
Friſt gegeben. Er will dir auch nicht gern ans Leben, 
hätte dich ſonſt gleich in Haft behalten. Hier, nimm den 
Sack. Die Mutter hat ihn gepackt. Hüte das Geld wohl, 
es find bei dreißig Taler. Frage dich auf Umwegen durch 
nach Magdeburg zu Meiſter Emmerich, der einen Ge— 
hilfen braucht. Leb wohl, Junge! Wir wollen das 
übrige vergeſſen. War eine Schickung des Himmels.“ 

Der Henker ſeufzte tief auf und drückte einen Kuß 
auf die Stirn ſeines Jungen. 

„Grüß die Mutter!“ ſagte Andreas und wandte 
fih zum Gehen. Er verſtand noch nicht alles. Nur das 
Eine, Wunderbare, ſah er ein, daß er weiterleben ſollte. 

Langſam, mit ſchwankenden Schritten, ſchlug er den 
Waldpfad ein. Da hörte er den Vater pfeifen. Er 
wandte ſich um. Der Alte ſtand noch an derſelben 
Stelle und wies mit dem Finger nach der Landſtraße, 
wo in der Ferne drei Geſtalten auftauchten, die der 
Scharfrichterei zuſtrebten. 

Waren das die Häſcher, die kamen, um ihn zu holen? 

Da trat das Bild des Todes wieder vor ſeine Seele. 
Jetzt aber hatte es ſo abſchreckende, furchtbare Züge, 
daß ihn ein unnennbares Grauen erfaßte. 

Da begann er zu laufen, wie er noch nie in ſeinem 
Leben gelaufen war. 


Ne 
>. 


090900 


NANAS YINYIN YINYIN 


eee 


Wohlfeile Schmuckfedern. 


von Gerd Harmstorf. 
Mit 18 Sildern. y (Nahdrud verboten.) 


Esgebnielos, wie es noch jeder Männerkampf gegen 
eine eben herrſchende Frauenmode geweſen iſt, 
waren alle tierfreundlichen Bemühungen, der Der- 
wendung von Vogelfedern und Vogelbälgen als Hut- 
ſchmuck gewiſſe vernünftige Grenzen zu ziehen. Die 
Agitation zugunſten der erbarmungslos hingefchlachteten 
und vielfach fogar mit vollſtändiger Ausrottung be- 
drohten Vogelgattungen war gewiß zu loben; aber 
nur ein ſehr naives Gemüt konnte ſich der Hoffnung 
hingeben, daß ihr auch nur der beſcheidenſte Erfolg 
vergönnt ſein werde. 

Das Opfer der Auflehnung gegen eine herrſchende 
Mode iſt eben das einzige, das man niemals von einer 
Frau fordern darf. Hier verſagt der Appell an die 
geſunde Vernunft ebenſo vollſtändig wie die Berufung 
auf die Güte und das Mitleid des weiblichen Herzens. 
Auf alles kann die normal veranlagte Frau ſchließlich 
verzichten, nur nicht auf das Vorrecht ihres Geſchlechts, 
ſich kleidſam anzuziehen. 

Und kleidſam ift nach ihren Begriffen nur das, 
was modern iſt. Hier iſt dem männlichen Einfluß 
eine Schranke geſetzt, die wohl bis in alle Ewigkeit 
unüberſteiglich bleiben wird. Darum müſſen wir uns 
wohl oder übel damit abfinden, daß eine von der Mode- 
laune lebende Induſtrie fortfährt, rückſichtslos unter 


188 Wohlfeile Schmuckfedern. a 


den ſchönſten und ſeltenſten Vogelarten, unter Edel- 
reihern, Paradiesvögeln, Kolibri und fo weiter auf- 
zuräumen, und nicht auf die Einſicht oder die Warm- 
herzigkeit des zarten Geſchlechts, ſondern einzig auf 
die Wandelbarkeit des Modegeſchmacks dürfen wir eine 
Hoffnung auf das endliche Aufhören dieſer ſinnloſen 
Maſſenmorde 
gründen. 
Eines frei- 
lich kommt den 
Beſtrebungen 
der Tierfreunde 
ſchon heute wirt- 
ſam zu Hilfe, 
die Koſtſpielig- 
keit jenes Fe- 
derſchmuckes 
nämlich, der nur 
durch die Lö- 
tung ſeltener 
Vögel gewon- 
nen werden 


kann. Eine Hut- 

Großer, weicher Schweif aus ſchwarzen ier a 3 
Hahnenfedern mit grünlich ſchillernden ô i Ä 

Spitzen. oder Paradies- 


vogelfedern iſt 
ſo teuer, daß nur verhältnismäßig wenige das hohe Glück 
auskoſten dürfen, mit ihr zu prunken. Die Modeinduſtrie, 
die in ſolchen Fällen immer darauf bedacht fein muß, 
auch den Bedürfnifjen der minderbemittelten Frauenwelt 
Rechnung zu tragen, war alſo genötigt, ſich nach wohl- 
feileren Erſatzmitteln umzutun, die ſich im Ausſehen nicht 
allzuſehr von jenen unerſchwinglichen Koſtbarkeiten 
unterſcheiden. Ein Blick auf die Auslagen der groß— 


o | Von Gerd Harmstorf. 189 


ſtädtiſchen Putzgeſchäfte muß uns überzeugen, daß 
der Erfolg ſolchen Bemühens geradezu erſtaunlich 
geweſen iſt. | 

Wie das unſcheinbare Fell unſeres in unerſchöpf— 
licher Menge zur Verfügung ſtehenden Kaninchens mit 
beſtem Gelingen zur Herſtellung der „edelſten“ und 


Weiches Pikett aus Hahnenfedern mit farbig 
ſchillernden Spitzen. 


„ſeltenſten“ Pelzarten verarbeitet wird, ſo iſt man 
neuerdings dahintergekommen, aus dem Federkleid 
unſeres in der Hauptſache ganz anderen Zwecken 
dienenden Nutzgeflügels Hutzierden herzuſtellen, die 
zwar keine Straußen-, Reiher- oder Paradiesvogel- 
federn vortäuſchen können, in Form und Farbe aber 
vielfach ſo reizvoll und gefällig wirken, daß ſie einen 
Vergleich mit jenen um fo vieles teureren Schmuck- 
ſtücken nicht zu ſcheuen brauchen. 


190 Wohlfeile Schmuckfedern. o 


Nur eine kleine Ausleſe aus der Fülle folcher durch 
die herrſchende Mode hervorgerufenen Phantaſie— 
ſchöpfungen iſt es, die wir unſeren Leſerinnen mit 
den beigegebenen Abbildungen vorführen können. Es 
mangelt ihnen überdies wegen der Unmöglichkeit, die 


Großer Schweif aus Hahnenfedern mit farbig 
ſchillernden Spitzen. 


mannigfachen Farbentönungen auf der photographi— 
ſchen Platte wiederzugeben, ein ſehr weſentlicher 
Reiz der Originale. Immerhin aber werden auch dieſe 
Bilder hinreichen, die Richtigkeit der Behauptung zu 
erweiſen, daß fidh mit dem nötigen Geſchmack und Ge- 
ſchick auch aus ſimplen Hahnen-, Gänſe- und Enten- 
federn allerliebſte Gebilde verfertigen laffen, die vor 
der unleugbaren Eintönigkeit der Straußfederpleu— 
reuſen und der Reiherſtutze neben der größeren Wohl- 


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2 


D Von Gerd Harmstorf. 191 


feilheit auch noch den Vorzug ſchier unbegrenzter Ab- 
wechſlungsmöglichkeiten voraus haben. 

Solange die Alleinherrſchaft der wagenradgroßen 
Rieſenhüte währte, ſtanden der Verwendung dieſes 
billigeren Materials beträchtliche Schwierigkeiten ent— 
gegen, weil ſich gefällige Gebilde von der zum Schmuck 
dieſer Ungeheuer 

erforderlichen 
Länge und Größe 
aus ihm nicht wohl 
herſtellen laffen. 
Mit der Rückkehr 
zu vernünftigen, 
den Maßen der 
menſchlichen Ge— 
ſtalt einigermaßen 

entſprechenden 
Kopfbedeckungen 
aber hat die Mode 
der Schmuͤckfe— 
derninduſtrie ein 
Betätigungsgebiet 
eröffnet, auf dem 
mit den allerein— 
fachſten Mitteln 
die hübſcheſten und überraſchendſten Leiſtungen her— 
vorgebracht werden können. 

In wie verſchiedenartiger und wirkſamer Weiſe ſich 
die Schweiffedern unſeres gewöhnlichen Haushahns 
verwenden laffen, lehren uns die fünf erſten Abbil- 
dungen, deren Originale zum Schmuck der mannig- 
fachſten Hutformen beſtimmt ſind und ſich durchweg 
als äußerſt kleidſam erwieſen haben. Fſt es bei dem 
kühn gebogenen, großen Schweif aus ſchwarzen und 


Puff aus gebrannten ſchwarzen 
Hahnenfedern. 


192 Wohlfeile Schmuckfedern. o 


dem fanfter geſchwungenen aus weißen Hahnenfedern 
mit farbigen Spitzen neben der hübſchen Linie der 
dieſem Gefieder eigene metalliſche Schimmer, den man 
als charakteriſtiſche Beſonderheit anſprechen kann, ſo 
nimmt das weiche, von jedem Windhauch bewegte 
Pikett durch ſeine anmutige Leichtigkeit für ſich ein. 


Großer Schweif aus gebrannten ſtrohgelben 
Hahnenfedern (Paradiesvogelnachahmung). 


And von ausgeſprochener Eigenart ift der Puff aus 
„gebrannten“ ſchwarzen Hahnenfedern, deſſen pikante 
Wirkung ſich durch die photographiſche Nachbildung 
leider nur ſehr unvollkommen wiedergeben läßt. Der 
Eindruck des Zerzauſten und Borftigen, der auf dem 
Vilde etwas zu ſtark hervortritt, wird bei dem Original 
vollſtändig aufgehoben durch die graziöſe Feinheit und 


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o- Von Gerd Harmstorf. 193 


Zartheit der einzelnen Federn, 
die jedes Lüftchen und jede leichte 
Kopfbewegung der Trägerin in 
launenhafte Schwingungen ver— 
ſetzt. | 

Wenn ſchon in diefem Buff 
faſt die Wirkung des Paradies— 
vogelgefieders erreicht ift, fo er- 
ſcheint fie bis zur wirklichen Täu- 
ſchung geſteigert in dem großen 
Schweif aus gebrannten, ſtroh— 
gelben Hahnenfedern auf dem 
nächſten Bilde. Hier iſt ſogar 
nach unſerem Dafürhalten ſchon 
die Grenze des bei der Verwen— 
dung eines minderwertigen Ma— 
terials Zuläſſigen überſchritten. 


Flaumiger Pompon 
aus Hühnerfedern. 


Großer Schweif aus Gänſe- und Entenfedern. 


1914. V. 


13 


194 Wohlfeile Schmuckfedern. o 


Aus dem Beſtreben, die vorhandenen natürlichen Reize 
dieſes Materials durch geſchickte Anordnung und Bu- 
ſammenſtellung zur Geltung zu bringen, iſt die bewußte 
Abſicht geworden, ein edleres und koſtbareres Natur- 
produkt vorzutäuſchen — ein Bemühen, das niemals 


Locker angeordnetes Pikett aus an den Spitzen 
gekräuſelten Gänſefedern. 


den Beifall einer geſchmackvollen Käuferin finden wird. 
Sehr anſpruchslos und trotzdem gewiß nicht weniger 
anſprechend wirkt dagegen der nette Pompon aus 
weißen, flaumigen Hühnerfedern, der aus ſieben kleinen, 
zu einem weichen, duftigen Federball vereinigten Einzel— 
piketts beſteht und ſich namentlich zu dem Geſicht einer 
ſehr jugendlichen Trägerin wunderhübſch ausnimmt. 
Der heimiſche Geflügelhof aber liefert der modernen 


o Von Gerd Harmstorf. 195 


Putzfederninduſtrie nicht nur Hahnen- und Hübner- 
federn, denn auch das ſchlichte Gefieder der weniger 
um ihrer äußerlichen Schönheit als um ihrer Schmad- 
haftigkeit willen geſchätzten Gans und der noch be— 
ſcheideneren Ente kann bei richtiger Verarbeitung als 


Pikett aus weißen Truthahnfedern, durchſetzt mit 
blumenförmig angeordneten Gänſefedern. 


Schmuck und Zier für unſere holden Frauen Ver— 
wendung finden. Der abgebildete Schweif aus Gänſe— 
und Entenfedern wirkt durch die graue Färbung der 
letzteren ſehr lebhaft und gefällig; auch iſt er von einer 
Schmiegſamkeit und Leichtigkeit, die der einer Strauß 
federpleureufe um nichts nachſteht. 

Sehr hübſch iſt auch das locker angeordnete Pikett 
aus weichen, mittellangen Gänſefedern, die an den 
Spitzen ein wenig gerollt und gekräuſelt ſind. Das 


196 Wohlfeile Schmudfebern. a 


Arrangement hat den beſonderen Vorzug, daß ſich den 
einzelnen Federn mit Leichtigkeit jede gewünſchte Stel- 
lung geben läßt, 
wie es die Form 
des Hutes und das 
Geſicht der Trä- 
gerin eben wün- 
ſchenswert machen. 
Auch eine Art von 
Nachahmung, aber 
ohne eigentliche 
Täuſchungsabſicht, 
ſtellt das große 
Pikett aus zarten 
Truthahn? und 
kurzen Gänſefe- 
dern dar, das auf 
den erſten flüchti- 
gen Blick wohl wie 
ein Gebild aus 
Marabufedern er- 
ſcheinen mag. Was 
die Zuſammen- 
ſtellung beſonders 
originell macht, iſt 
der Einfall, die 
matt glänzenden 
Gänſefedern zu 
blumenartigen Ge- 
bilden zu vereini- 


Sehr große Flügel aus Schwanen, Enten- und Gänſefedern. 


gen, die dem Auge in dem etwas ſtumpfen Weiß des 


Truthahnflaums angenehme Ruhepunkte bieten. 
Aus Gänſe-, Enten- und Schwanenfedern ſehr 
kunſtvoll zuſammengeſetzt ſind die beiden großen blau— 


o Von Gerd Harmstorf. 197 


gefärbten Flügelauf 
dem nächſten Bilde. 
Man kann ſich leicht 
vorſtellen, daß ſie 
ſehr impoſant wir- 
ken und darum nicht 
für jede Hutform 
und nicht für jede 
Trägerin geeignet 
ſind. Zierlicher und 
reizvoller wollen 
uns die beiden „Pal- 
men“ aus pfauen- 
blau gefärbten 
Gänſefedernerſchei— 
nen, die ſehr ge— 
ſchickt mit einem 


breiten aD? an Palmen aus pfauenblauen Gänfefedern, 
„gebrannten“ En- mit gebrannten Entenfedern beſetzt. 


2 


SE 


Phantaſtiſche Flügel aus Gänſefedern. 


198 Wohlfeile Schmuckfedern. D 


tenfedern beſetzt find. Die Verbindungsſtelle der beiden 
Palmen verbirgt ſich unter einem Tuff ganz kurzer, in 
zwei Farben getönter Schwanenfedern, und das ganze 
Arrangement iſt von ſo vornehmer Wirkung, daß man 


* * 2 
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Bi RESET NEE | 


Aus Schwanen-, Gänſe-, Einfache Flügel aus Schwanen-, 
Enten-, Pfauen- und Fa- Enten- und Gänſefedern. 
ſanenfedern hergeſtellte 
Flügel. 
dem Material nichts mehr von der Beſcheidenheit fei- 
ner Herkunft anmerkt. 

Sehr auffallend und darum wohl nicht nach dem 
Geſchmack jeder Dame ſind zwei rieſenhafte Flügel aus 
maulwurfsgrauen Gänſefedern, die durch eine gigan- 
tiſche runde Agraffe zuſammengehalten werden und 
wegen ihrer Dimenſionen nicht eben als praktiſch be- 
zeichnet werden können. Um ſo größeren Beifall 
fanden mit vollem Recht zwei durch die aufgewandte 
Arbeit allerdings ziemlich koſtſpielig gewordene Flügel, 


a =——o u —— —— 


— — — 


o Von Gerd Harmstorf. 199 


zu deren Herſtellung Schwanen, Gänje-, Enten, 
Pfauen- und Faſanenfedern Verwendung gefunden 
hatten. Nur eine farbige Wiedergabe könnte den da— 
durch erzielten Effekt anſchaulich machen. Namentlich 
die beiden nach der Art von Schmetterlingsfühlern an— 
gebrachten Pfauenfedern machen dies hübſche Gebilde 
zu einem überaus heiter und anmutig wirkenden Hut- 
ſchmuck. 

ungleich einfacher, aber ebenfalls von gutem Ge- 


Buſch aus ringförmig Agraffe aus dachziegelartig 
gekräuſelten Bfauen- übereinander gelegten 
federn. Taubenfedern. 


ſchmack find die aus Schwanen, Enten- und Gänſe— 
federn gebildeten künſtlichen Flügel auf dem nächſten 
Bilde. Zur Garnierung eines wohlfeilen Hutes be- 
ſtimmt, wollen ſie nicht für mehr gelten, als ſie ſind, 


200 Wohlfeile Schmuckfedern. 2 


und ſind 
darum be— 
ſonders ge— 
eignet, ein 
ſchlichtes 
Straßenko— 
ſtüm zu ver- 
vollitändi- 
gen. Die 
DPfauenfe- 
| der allein 
5 erſcheint 
Ey trotz ihrer 
| Fi | | Farben- 
11ͤ » pvpracht als 
Perlhuhnflugel in Form eines Schiffſegels, Hutzierd € 
mit Schwanenfedern beſetzt. wenig an- 
gebracht, weil fie p 
ſich wegen ihrer 
Steifheit zu Ar- 
rangements von 
reizpollem Li- 
nienſpiel kaum 
verarbeiten läßt. 
Immerhin hat es 
nicht an mehr 
oder weniger ge- 
lungenen Verſu— 
chen gefehlt, ſie 
ebenfalls für die 
gegenwärtige Ti : 
Moderichtung | i [ee 
Dunn an ma' gleine Flügel aus Perlhuhnfedern, mit 
chen. Wir führen Medaillons aus Entenfedern verziert. 


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— — 


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o Von Gerd Harmstorf. 201 


mit dem im Bilde wiedergegebenen Buſch aus ring- 
förmig gekräuſelten Pfauenfedern ein Beiſpiel dafür 
an, glauben aber nicht, daß der Erfolg des Experiments 
danach angetan iſt, zur Nachahmung zu reizen. 

Damit nicht eine einzige Gattung unſeres heimiſchen 
Nutzgeflügels unbeſteuert bleibe, hat man auch für 
die Federn der Taube wie für die des Perlhuhns eine 
zweckentſprechende Verwendung geſucht und gefunden. 
Daß etwas ſonderlich Beſtechendes dabei nicht heraus- 
kommen konnte, liegt freilich auf der Hand. Die aus 
vier Reihen dachziegelartig übereinander gelegter Tau— 
benfedern beſtehende Agraffe iſt zwar nicht ohne eine 
gewiſſe Keckheit, wird ſich der Gunſt ihrer Trägerin 
aber ſicherlich nicht allzulange zu erfreuen haben, und 
der mit Schwanenflaum beſetzte Perlhuhnflügel in 
Form eines Schiffſegels iſt ebenſo wie das mit bunten, 
metalliſch ſchillernden Entenfedern in Form kleiner 
Medaillons geſchmückte Flügelpaar aus dem gleichen 
Material nur für die Befriedigung beſcheidener An- 
ſprüche berechnet. 


\ 
* 


Mannigfaltiges. 


+ 
(nachoͤruck verboten.) 

Das rätſelhafte Armband. — Herr Weißenberg junior 
ſaß hinter dem Ladentiſch über die Glasplatte gebeugt, hielt 
die Lupe vor das rechte Auge und prüfte mit Kennerblick eine 
Anzahl kleiner roher Edelſteine, die ihm von einem Händler 
laut des beigefügten Verzeichniſſes zum Rauf angeboten worden 
waren. Ihm den Rücken zuwendend, machte ſich ein junger 
Mann, Herr Adolf Meyer, die erprobte Stütze der Firma, in 
dem großen Spind mit dem Tafelſilber zu ſchaffen, und in dem 
an den Laden grenzenden Kontor ſaß Herr Weißenberg ſenior 
an ſeinem Schreibpult und ſah die angekommene Poſt durch. 

Das Zuweliergeſchäft Elias Weißenberg Söhne gehörte 
zu den älteſten und angeſehenſten Berlins, aber heute war es 
noch ziemlich früh am Vormittag, und Kundſchaft ließ ſich 
alſo noch nicht blicken. Der Laden Unter den Linden und ſein 
großartiges, durch ein Gitter geſchütztes Schaufenſter mit den 
vielen darin aufgeſtapelten Koſtbarke iten zählte geradezu zu 
den Sehenswürdigkeiten. Es war ein ſchöner Herbſttag, der 
Berliner Fremdenverkehr ſtand auf der Höhe, die Hotels waren 
überfüllt. Unter ſolchen Umſtänden pflegte die bekannte 
Firma die beſten Geſchäfte zu machen. 

Gerade hatte Herr Weißenberg junior einen apfelgrünen 
Smaragd unter der Lupe, deſſen Schönheit leider durch ein 
eingewachſenes Glimmerblättchen beeinträchtigt wurde, als 
ein ſehr elegant gekleideter noch junger Herr in den Laden 
eintrat. Er trug Zylinderhut, Monokel, einen Stock mit goldener 
Krücke — die übliche Kavaliererſcheinung. 

Weißenberg ließ ſeine Steine Steine ſein, verſchloß ſie in 
eine der vielen flachen Schubladen, die auf der Rüdfeite des 


u Mannigfaltiges. 203 


Ladentiſches angebracht waren, und fragte, womit er dem 
Herrn dienen könne. 

Der Fremde nahm den Hut ab, wobei fein rötliches wohl- 
geſcheiteltes Haar zum Vorſchein kam, ſtrich ſich den Schnurr- 
bart und ſagte mit näſelnder Stimme: „Möchte einen Schmuck- 
gegenſtand haben — für eine Dame.“ 

„Bitte recht ſehr. Was darf es ſein? Ein Armband? Ein 
Kollier? Ein Ring?“ 

„Ein Armband!“ 

Herr Meyer war näher herangetreten, auch Weißenberg 
ſenior erſchien nun im Hintergrunde. Mannigfache unliebſame 
Vorgänge im Zuweliergewerbe in der jüngſten Zeit forderten 
Unbekannten gegenüber zur Vorſicht auf, und ſechs Augen 
ſahen mehr als zwei. | 

„Darf ich wiſſen, in welcher Preislage?“ ſetzte Weißenberg 
junior ſeine Fragen fort. 

„Der Preis ſoll keine Rolle ſpielen,“ erwiderte der Fremde 
mit vornehmer Gelaſſenheit. 

„Sehr wohl!“ 

Gleich darauf öffnete der Juwelier vor ſeinem Kunden 
eine Anzahl Etuis mit ſchimmernden Brillanten, Rubinen, 
Smaragden und Saphiren. Es waren die teuerſten Sachen. 
Mit Kennerblick nahm der Fremde ein Stück nach dem anderen 
in die Hand, trat damit an die Tür, ließ die Steine in der Sonne 
ſpielen und unterließ auch nicht, die Faſſungen genau zu ftu- 
dieren. | 

Endlich nach langem Wählen entſchied er ſich für ein drei- 
reihiges Brillantenarmband, das nicht nur durch die Schön- 


heit und Reinheit der Steine, ſondern auch durch den Geſchmack 


und die Zierlichkeit der Arbeit ausgezeichnet war. Von allen 
vorgelegten Sachen gehörte es mit zu den wertvollſten. Die 
Wahl machte ſeinem fachmänniſchen Verſtändnis alle Ehre. 

„Vas ſoll das koſten?“ erkundigte er ſich. 

Weißenberg junior beſah ſich den kleinen dem Zuwel 
angehängten Zettel. „Sechstauſendvierhundert Mark,“ lautete 
ſeine Antwort. 

„alt dies der äußerſte Preis?“ 


204 Mannigfaltiges. u 


„Der alleräußerſte, mein Herr.“ 

„Ich möchte bitten, daß das Armband an eine gewiſſe 
Adreſſe geſchickt wird. Kann das geſchehen?“ 

„Aber ſelbſtverſtändlich.“ 

„Bedingung für mich wäre, daß mein Name nicht genannt 
wird. Kann ich darauf rechnen?“ 

„Ganz gewiß, mein Herr.“ 

„Die Adreſſe lautet: Fräulein Alice Vanderport, Bellevue- 
ſtraße 70.“ 

Herr Weißenberg, der ſich ſchon zum Schreiben angeſchickt 
hatte, hielt inne. Er bemühte ſich, ein gewiſſes Erſtaunen zu 
verhehlen. „Fräulein Vanderport von der Hofoper?“ fragte 
er höflich. 

„Jawohl. Um elf Uhr begibt ſich Fräulein Vanderport 
zur Probe. Kann ſie das Armband bis dahin erhalten haben?“ 

„Gewiß!“ 

„Alſo ich verlaſſe mich darauf — bis elf Uhr! Ich will auch 
gleich bezahlen.“ Der Fremde griff in ſeine Bruſttaſche, ſtutzte, 
griff in eine andere und ſagte dann: „Ich ſehe, ich habe meine 
Brieftaſche in meinem Hotel liegen laffen, Hier meine Difiten- 
karte. Wollen Sie den Betrag zwiſchen elf und zwölf im 
Hotel Briſtol abholen laſſen. Aber die Sendung erleidet 
dadurch doch keine Verzögerung?“ 

Graf Stillfried, wie er laut der Viſitenkarte hieß, griff nach 
Hut und Stock, nickte noch einmal mit ſeiner nachläſſigen 
Vornehmheit und verließ den Laden. 

Wer in Berlin kannte nicht die berühmte Vanderport? 
Der Ruhm dieſer Sängerin war ja in der ganzen Welt ver- 
breitet. Das Erſtaunen von Herrn Weißenberg, als er ihren 
Namen hörte, hatte nur darin ſeinen Grund, daß die berühmte 
Künſtlerin zufällig eine Kundin ſeines Hauſes war, daß er ſie 
perſönlich gut kannte, auch ihren Lebensgewohnheiten nach, 
die gut bürgerlich und gänzlich einwandfrei waren, und daß 
ſie, was dieſen letzteren Geſichtspunkt betraf, wenigſtens nach 
Herrn Weißenbergs Wiſſen nicht zu denjenigen Vertreterinnen 
ihres Berufes gehörte, denen von der Herrenwelt derartige 
Geſchenke zu Füßen gelegt werden durften. 


D Mannigfaltiges. 205 


„Alſo die Vanderport!“ ſchmunzelte Weißenberg junior, 
nachdem ſich hinter dem Grafen die Tür geſchloſſen hatte. 
„Nu ſieh einer an! Alſo einen Verehrer hat ſie ſich nun doch 
noch angeſchafft!“ 

„Jetzt auf ihre alten Tage?“ erlaubte fih Meyer, der in 
Theaterdingen Autorität war, dazu zu bemerken. 

„Warum ſoll ſie nicht?“ entſchied der alte Weißenberg aus 
dem Schatze ſeiner Lebenserfahrungen heraus. „Sie iſt doch 
unberufen noch eine ganz ſtattliche Perſon. Vielleicht handelt 
ſich's um eine Heirat!“ 

„Aber er will ja nicht mal ſeinen Namen genannt haben!“ 
ſagte ſkeptiſch Weißenberg junior. 

„Sie wird ſchon wiſſen, von wem das Armband kommt,“ 
meinte Meyer. 

Weißenberg ſah auf die Ahr. „Wenn ſie das Armband 
bis elf Uhr haben ſoll, dann muß es gleich hingeſchickt werden. 
Oder ob man nicht lieber wartet, bis das Geld bezahlt iſt? 
Man kennt doch dieſen Grafen Stillfried nicht!“ 

„Was kann da paſſieren?“ beſänftigte der alte Herr das 
Mißtrauen ſeines Sprößlings. „Selbſt angenommen, man hätte 
es mit einem Schwindler zu tun — die Vanderport iſt uns 
doch gut dafür. Kriegen wir das Geld nicht — ſchön, holen wir 
das Armband wieder von ihr ab. Sie läuft uns nicht fort. 
Jedenfalls kann man im Briſtol anklingeln, ob dort ein Gaſt 
mit dieſem Namen überhaupt abgeſtiegen iſt.“ 

Dies geſchah. Ein Graf Stillfried war in der Tat im Hotel 
Briſtol abgeſtiegen. Um übrigens ganz ſicher zu gehen, ſollte 
nicht der Hausdiener zu Fräulein Vanderport geſchickt werden, 
ſondern Meyer ſelbſt ſollte ſich mit dem Schmuckſtück zu der 
Dame begeben. Meyer kannte Fräulein Vanderport perſönlich, 
und keiner anderen als ihr perſönlich ſollte er es in die Hände 
geben. — 

Graf Stillfried mußte über Fräulein Vanderport falſch 
berichtet geweſen ſein — wenigſtens in einem Punkte. Es war 
gar nicht wahr, daß fie um elf Uhr zur Probe mußte. Sie hatte 
heute überhaupt keine Probe. Vielmehr ſaß ſie, als ihr Herrn 
Meyers Beſuch gemeldet wurde, nach ihrer Gewohnheit am 


206 Mannigfaltiges. u 


Klavier und übte. Schon die ganze Einrichtung des Zimmers 
wies darauf hin, von welchem korrekt- bürgerlichen Geiſte feine 
berühmte Bewohnerin beſeelt war. Alles blitzte und funkelte 
darin vor ſtrenger Sauberkeit und Sachlichkeit. Das altmodiſche 
Polſtermobiliar, ein Erbſtück von einer Tante, war ſorgſam 
mit gehäkelten Deckchen behängt, keine prunkenden Lorbeer- 
kränze mit goldbedrudten Atlasſchleifen zierten die Wände, 
und ein Bild gutbürgerlicher Solidität bot auch die große 
Künſtlerin ſelbſt. Ihre ſtrengen Geſichtszüge, denen erſt die 
Schminke, das Koſtüm und das künſtliche Rampenlicht einen 
gewiſſen verführeriſchen Reiz verliehen, hatten jetzt im nüd- 
ternen Lichte des frühen Vormittages und in der proſaiſchen 
Gewandung eines ſelbſtgeſchneiderten Negliges faſt etwas 
Nonnenhaftes, und ihre hohe Geſtalt hielt jeden Gedanken an 
irgendwelche Zärtlichkeiten meilenfern. Eine böſe Jugend- 
erfahrung hatte ſie ein für allemal zu einer grundſätzlichen 
Männerfeindin gemacht, und gerade darin beſtand die Tragik 
ihres Lebens, daß fie fo häufig dem Publikum Gefühle vor- 
heucheln mußte, die in ihrem Innerſten nicht den geringſten 
Widerhall fanden. 

Ein grenzenloſes Erſtaunen malte ſich in ihrem Geſicht, 
als Meyer ſich ſeines Auftrages entledigte. 

„Das muß ein Frrtum, das muß eine Verwechſlung fein,“ 
waren ihre erſten Worte. 

„Pardon, mein gnädiges Fräulein,“ erwiderte Meyer 
taktvoll, „ein Irrtum iſt ausgeſchloſſen!“ 

„Und ich ſoll nicht einmal erfahren, wer der Abſender iſt?“ 

„Wie geſagt, Verſchwiegenheit iſt uns zur Pflicht gemacht, 
mein gnädiges Fräulein!“ 

„Iſt es ein Herr oder eine Dame?“ 

„Ich bedaure, mein gnädiges Fräulein, aber eine Antwort 
darauf würde meine Befugniſſe überſchreiten!“ 

„Geſchenke von Unbekannten nehme ich nicht an. Nehmen 
Sie das Armband wieder mit!“ 

„Gnädiges Fräulein verzeihen, aber in dieſem Falle müßte 
ich darum bitten, daß Sie ſich ſchon ſelbſt in unſer Geſchäft 
bemühen und das Armband dort zurückgeben. Ich bin nur 


2 Mannigfaltiges. 207 


Angeſtellter meiner Firma. Ich habe mich nur meines Auf- 
trages zu entledigen. Empfehle mich, mein gnädiges Fräulein!“ 

„Aber ich wiederhole Ihnen, hier hat eine Verwechflung, 
ein Irrtum ſtattgefunden!“ ö 

„Selbſt wenn dies wirklich der Fall ſein ſollte, mein gnädiges 
Fräulein,“ bemühte ſich nun Meyer mit gut geſpielter Schein 
heiligkeit auf die offenbare Komödie, die ihm die Dame nach 
ſeiner Auffaſſung vormimte, einzugehen, „ſo ließe ſich ja dieſer 
Irrtum jederzeit leicht rückgängig machen. Wir laſſen dann das 
Armband einfach wieder abholen — Adieu, mein gnädiges 
Fräulein, empfehle mich!“ 

Alice Vanderport war wieder allein, und nun trat Minna 
herein, um ihre Herrin zu fragen, was zu Mittag gekocht 
werden ſollte. l 

„Das ift mir ganz egal,“ erwiderte Alice ungeduldig, „ich 
wünſche jetzt nicht geſtört zu werden.“ 

Sie war in Nachdenken verſunken. Wie hübſch das Arm- 
band war — und wie wertvoll! Sie war Kennerin in dieſem 
Artikel und beſaß ſelbſt ſchon mehrere derartige koſtbare Schmuck- 
ſtücke, die ſie bei ihren Gaſtſpielen an großen Hoftheatern ſtatt 
des Honorars erhalten hatte. Andere große Künſtlerinnen, 
wenn ſie ohne Honorar auftraten, ließen ſich dafür einen Orden 
geben. Alice aber zog das Praktiſche vor. 

Wenn es nun doch kein Irrtum war? Aber wer konnte 
dann dieſer Unbekannte fein? Wie reich mußte er fein — und 
wie taktvoll! Der großen Künſtlerin, die ſonſt die Männer 
verachtete, wurde es plötzlich ganz weich ums Herz. 

Mitten in dieſem Gedankengange wurde ſie unterbrochen. 
Es hatte eben geſchellt und abermals erſchien nun Minna, 
um zu melden, draußen ſei ein Herr, der das gnädige Fräulein 
ſehr dringend zu ſprechen wünſche. Sie hätte dem Herrn 
geſagt, das gnädige Fräulein wünſche nicht geſtört zu werden, 
aber der Herr ließe ſich nicht abweiſen. Er käme von der Firma 
Weißenberg wegen des Armbandes, das vorhin an das gnädige 
Fräulein abgeliefert worden ſei. 

„Laſſen Sie den Herrn herein!“ 

Kaum hatte Alice Zeit, ihr hochklopfendes Herz zu beruhigen, 


208 Mannigfaltiges. D 


denn fie erwartete nun des Rätjels Löſung, als die Tür ſich 
öffnete und der Gemeldete erſchien. Es war ein elegant ge- 
kleideter noch junger Mann, deſſen beſonderes Kennzeichen 
fein rötliches Ropfhaar war. 

„Pardon, mein gnädiges Fräulein,“ ſagte er, und man 
merkte ihm eine gewiſſe Verlegenheit an, „ich komme von der 
Firma Elias Weißenberg —“ 

„Wegen des Armbandes?“ 

„Ich habe tauſendmal um Entſchuldig ung zu bitten, aber 
es ift mit dem Armbande ein Irrtum paſſiert.“ 

„Ein Irrtum? Das Armband iſt alſo falſch abgegeben 
worden? Es ift gar nicht für mich?“ fragte fie mit bewunderns- 
werter Ruhe. 

„Allerdings, mein gnädiges Fräulein. Der Irrtum iſt 
nämlich auf folgende Weiſe geſchehen —“ 

„Bitte, Sie brauchen mir gar nichts zu erklären,“ fiel die 
Künſtlerin dem Abgeſandten ins Wort. „Hier haben Sie das 
Armband!“ 

„Nochmals, mein gnädiges Fräulein, tauſendmal Pardon!“ 

„Aber bitte!“ 

„Ich habe die Ehre!“ 

„Adieu!“ 

Als Herr Meyer im Hotel Briſtol erſchien und nach dem 
Grafen Stillfried fragte, erhielt er zu ſeinem Erſtaunen den 
Beſcheid, der Herr Graf ſei plötzlich abgereiſt. Sofort nahm 
Meyer ein Auto und fuhr zu Fräulein Vanderport. Aber 
dort mußte er erfahren, daß das Armband bereits von einem 
Kollegen von ihm abgeholt worden ſei. Hatte Fräulein 
Vanderport ihm nicht gleich geſagt, daß es ein Irrtum ſein 
mußte? 

Elias Weißenberg Söhne warten noch heute auf die Be- 
zahlung des Armbandes, das der großen Künſtlerin ein ſo 
intereſſantes Nätfel aufgegeben hatte. H. Lee. 

Fingierte Stummheit. — Im Lande des Spleens haben 
fih innerhalb des letzten Jahrzehnts mehrere Fälle ereignet, bei 
denen Mädchen, die mit vollkommen geſunden Sprechwerkzeugen 


2 ö Mannigfaltiges. 209 


begabt waren, Stummheit fimulierten, und zwar beide Male, 
um einen Mann zu bekommen. 

Das erſte Mal handelte es ſich um eine nicht mehr ganz 
junge Liverpoolerin. Sie lernte in einem befreundeten Hauſe 
einen ſchon bejahrten Mann kennen, der ihr ſo gut gefiel, daß 
ſie ihn zu heiraten wünſchte. Sie hatte erfahren, daß er Witwer 
war, aber nicht abgeneigt fei, eine zweite Verbindung einzu- 
gehen. Nur hatte er von Anfang feiner Witwerſchaft an er- 
klärt, er würde ſich zu dieſem Schritte nur dann entſchließen, 
wenn er eine Stumme fände, die ihn haben wolle, denn ſeine 
erſte Frau ſei tagaus, tagein keine Minute ſtill geweſen und 
habe ihn faſt zu Tode geredet. 

Die Heiratsluſtige blieb von Stund' an ſtumm und die Ver- 
bindung kam zuſtande. Ihr Gatte lebte mit ſeiner „ſtummen“ 
Frau febr glücklich und hinterließ ihr fein ganzes großes Ber- 
mögen. 

Der zweite Fall verlief etwas anders. Von zwei Zwillings- 
ſchweſtern in Birmingham war eine ſtumm. Sie lernten einen 
Mann kennen, in den ſich beide verliebten. Er aber liebte die 
Stumme, warb um ſie und verlobte ſich mit ihr. Als ſie dicht 
vor der Hochzeit ſtanden, ſtarb die Braut gänzlich unerwartet. 

Die beiden Mädchen, die ſich zum Verwechſeln ähnlich 
ſahen, wohnten ganz allein, und ſo ſpielte die übrigbleibende 
die Rolle der Verſtorbenen, ließ für die andere den Totenſchein 
auf ihren, der Lebenden, Namen ausſtellen und zeigte dem in 
London wohnenden Bräutigam den Tod nicht ſeiner Braut, 
jondern feiner zukünftigen Schwägerin an. Infolge ihrer 
Ahnlichkeit mit der Verſtorbenen merkte auch der junge Mann 
nichts von dem Betrug, und die ſonſt febr Redeluſtige brachte 
es fertig, die Stummheit der Verſtorbenen durchaus natürlich 
nachzuahmen. Die Hochzeit fand ſtatt, und die jungen Gatten 
lebten ſich gut miteinander ein. 

Auf die Dauer konnte aber die glückliche junge Frau das 
ewige Schweigen doch nicht aushalten. Sie beendete die eine 
Täuſchung durch eine zweite, indem ſie ein Jahr nach der 
Hochzeit ſich ſtellte, als gewinne ſie nach und nach die Sprache 
wieder. 

1914. v. 14 


210 Mannigfaltiges. | u 


Ihr Mann war nun doppelt glücklich. 

Eine unechte Stumme hat auch Amerika aufzuweiſen. 
Hier war aber ſowohl der Anlaß wie der Ausgang verſchieden 
von den beiden engliſchen Vorkommniſſen. In der Nähe von 
Boſton ſollte im Juli des Jahres 1852 der Liebesbund zweier 
junger Herzen durch die Hochzeit gekrönt werden. Die Braut 
war eine Miß Guilford, ein zwanzigjähriges Mädchen aus 
gutem Hauſe, der Bräutigam ein Mr. William Simpſon, 
Lehrer im Orte. In letzter Stunde aber zogen die Eltern ihre 
Einwilligung zurück, weil in dem kleinen Städtchen plötzlich 
allerhand Ungünftiges über den Bräutigam gemunkelt wurde 
— wie ſich ſpäter herausſtellte durch grundloſe Verleumdungen. 
Die Braut hing von ganzem Herzen an dem Lehrer und ſchwur 
ihren Eltern: „Laßt ihr mich ihn nicht heiraten, ſo will ich 
fünfzig Jahre lang kein Wort ſprechen.“ 

Man nahm die Drohung nicht ernſt, ſondern hob die Ver- 
lobung auf. 

Miß Guilford hielt jedoch ihr Wort. Von Stund' an ver- 
nahm niemand mehr eine Silbe von ihr. Ihre Eltern ſtarben, 
fie zog nach und nach von einem aus ihrem Geſchwiſter- 
kreiſe zum anderen, machte ſich überall nützlich, war überall 
gern geſehen; nur zum Sprechen war ſie nicht zu bewegen. 

An dem Tage, da fie eigentlich ihre goldene Hochzeit hätte 
feiern müſſen, am 18. Juli 1902, verſammelten ſich all ihre 
Freunde und Verwandten um ſie, weil ſie Zeugen ſein wollten, 
wenn ſie ihrem Schwur gemäß wieder zu ſprechen anfangen 
würde. Um zwei Uhr, der urſprünglich feſtgeſetzten Stunde 
der Trauung, trat ſie lächelnd in den feſtlich geſchmückten Kreis, 
auch ihrerſeits geſchmückt mit den damals für ſie angefertigten 
Brautgewändern, und machte den Mund auf, um die Anweſen— 
den zu begrüßen. 

Aber ſiehe da — auch nicht einen Ton konnte fie heraus- 
bringen! Die Stimmbänder, die fo lange Jahre nicht gebraucht 
worden waren, verſagten jetzt völlig den Dienſt. Der Schreck 
machte ſie krank, ſo daß der Arzt geholt werden mußte. Die 
Sprache konnte er ihr nicht zurückgeben. Das konnten auch die 
Boſtoner Spezialärzte nicht, in deren Behandlung ſie ſich gab, 


2 Mannigfaltiges. 211 


und ſo mußte ſie ſich darein ergeben, bis an ihr Ende das Miß— 
geſchick weiter zu tragen, das fie vor einem halben Jahrhundert 
in Trotz und Arger freiwillig über ſich verhängt hatte. C. D. 
Laufende Blätter. — Es gibt eine ganze Anzahl von 
Inſekten, deren Zugehörigkeit zur Tierwelt auch einem fcharfen 
Auge entgehen kann, weil ſie aufs täuſchendſte in der Färbung 
und Form den Blättern oder ſonſtigen Pflanzenteilen gleichen, 
auf denen ſie ſich für gewöhnlich aufzuhalten pflegen. Erſt 


Photo. W. S. Berridge. 


Ein Schmetterling, der einem Laubblatt gleicht. 


wenn ſie zu laufen beginnen, merkt man, daß man nicht ein 
Zaubblatt, ein Blütenblatt, ein Borkenſtück oder einen abge- 
brochenen und vertrockneten Zweig, ſondern ein Tier vor ſich 
hat. 

Dieſe Anähnelung an die als Wohnſitz dienende Unterlage 
iſt ein Schutzmittel gegen Feinde, die durch die Überein- 
ſtimmung von Inſekt und Pflanzenteil irregeführt und von 
einem Angriff abgelenkt werden. 

Erklärlich wird die Nachahmung pflanzlicher Gebilde durch. 
Inſekten durch die natürliche Ausleſe. Im Laufe der Zeiten 
wurden diejenigen Vertreter einer Art, welche von ihrem 


212 Mannigfaltiges. o 
a He 
MWohnfi durch Färbung und Form auffällig abſtachen, von 
ihren Feinden, wie Vögeln, in erſter Linie erbeutet. Exemplare, 
die der Unterlage bereits etwas glichen, entgingen den Nach- 


Photo. W. S. Berridge. 


Schmetterlinge, die dem Blütenblatt einer Orchidee gleichen. 


ſtellungen ſchon leichter. Sie übertrugen ihre ſchützenden 
Eigenſchaften auf ihre Nachkommen, von denen einige dem 
Aufenthaltsort noch mehr als ihre Vorfahren ähnelten. Wieder 
blieben die geſchützteren eher erhalten als die weniger geſchützten, 


u Mannigfaltiges. 213 


und abermals hatten jene gewiſſe Nachkommen, bei denen die 
Übereinſtimmung noch größer war. Durch die zahlloſe Wieder- 
holung dieſer natürlichen Ausleſe bildete ſich allmählich der 
heutige Zuſtand heraus. 

Die Formenverſchiedenheit auf dem Gebiet der Nach- 
äffung, wie man die Erſcheinung genannt hat, iſt ziemlich 
anſehnlich. So gleicht eine braſilianiſche Rindenwanze in den 
graugrünen Farbentönen und den ſcheinbaren Riſſen und 
höckerigen Erhebungen völlig der Borke des Baumes, auf dem 
fie hauſt. Die Raupe unſeres Holunderfpanners täuſcht ein 
vertrocknetes, braunes Zweigſtück vor, ein oſtindiſcher Schmetter⸗ 
ling erweckt die Vorſtellung eines dürren, graubraunen Blattes, 
das am Strauch ſitzen blieb, und ein ſüdamerikaniſcher Schmetter- 
ling gleicht in der Ruheſtellung einem verwelkenden grüngelb- 
lichen Blatt, das angefreſſen iſt. Unſere Bilder geben zwei 
Schmetterlinge wieder, von denen der erſtere bis auf die Blatt- 
rippen mit einem grünen Laubblatt übereinſtimmt, der zweite 
durch die eigenartige Form und ſeine gelbe und rote Farbe das 
Blütenblatt einer Orchidee naturgetreu nachahmt. Th. S. 

Wie vor zweihundertfünfzig Jahren ein Verwalter an⸗ 
geſtellt wurde. — Einen kulturgeſchichtlich intereſſanten Rüd- 
blick gewährt eine aus dem Jahre 1663 datierende „Beſtallung“ 
eines Gutsverwalters im Kurfürſtentum Sachſen. Sie gibt 
ein anſchauliches Bild von den Rechten und Pflichten eines 
ſolchen Beamten wenige Jahre nach Beendigung des Dreißig- 
jährigen Krieges. 

Sie lautet wortgetreu, mit nur einigen Abänderungen in 
der Schreibweiſe: „In nomine Jesu! 5b, Johann Georg 
v. Meußbach auf Frießnitz hiermit urkunde und beſtimme, daß 
ich Johann Heſſelbarthen, von Niederpöllnitz bürtig, über die 
mir von Gott beſcherten Güter und meine anderweit habende 
Dorf- und Pfandſchaften, zu einem Verwalter beſtellet und 
angenommen habe, dergeſtalt, daß er zuvörderſt gottesfürchtig 
mir und denen Meinigen treu, hold und gewahrſam fein, 
meinen Nutz und Beſtes werben und befördern, dagegen aber 
Schaden, Schimpf und Nachteil ſeinem möglichſten Verſtande 
nach wenden und verhüten, daß ihm untergebene Geſinde zu 


214 Mannigfaltiges. 2 


fleißigſtem Gebet und Arbeit anhalten, alles was ihm auf- 
getragen und anbefohlen, treulich, fleißig und nach ſeinem 
Vermögen unnachläßig verrichten, es betreffe ſolches meine 
Güter, die Beſtellung und Beſamung, das Getreydig, Saat 
und Ernte, Dreſchen und Aufheben, Erb-Getreide und davon 
außenſtehende Kapitalienzinſen, Wieſenwachs, Teiche, Gehölze, 
Pachtgeld von denen Mühlen, Schäfereien, vermieteten Fiſch⸗ 
waſſern, Lehengeld und anderes mehr, in Summa er ſich alſo 
erzeigen und beweiſen ſoll, wie einem treuen, frommen und 
fleißigen Verwalter geziemet und oblieget und ich deßfalls 
in ſeine Perſon mein ſonderliches Vertrauen geſetzt habe, 
auch damit er ſolchen allen fleißiger vorſein möge ohne meine 
Verlaubnis nicht verreiſen, und von allen dem, fo ihm anver- 
trauet wird oder er ſelbſten erfähret, auch bereits erfahren hat, 
ohne meinen Vorbewuſt und Willen niemanden das geringſte 
eröffnen, ſondern bis in ſeine Grube verſchwiegen halten ſoll. 

Weil er denn ſolches alles treulich inhalten mit einem leib- 
lichen Eide beſchworen, tue ich ihme nicht allein in dieſer ſeiner 
Verwaltung möglichſten Schutz verſprechen, ſondern will ihm 
auch zu einer ordentlichen Jahresbeſtallung reichen und folgen 
laſſen: fünfzig Gulden an Gelde, 12 Scheffel Korn, zweitauiſch 
Gemäß, 5 Viertel Faß Bier (tut 15 Eimer), 1 halben Zentner 
Karpfen, einen Stein Hechte, ein jährig Schwein, ein Kalb, 
zwei Schöpſe, zehn alte Hühner oder zwanzig Fullhühner, 
ſechs Klaftern Scheit- und 12 Schock Reißholz. Und iſt ihm 
nachgelaſſen von jedem Scheffel verkauften Getreidig 4 Pfen- 
nige vom Käufer zu empfangen. Hierüber wird ihm eine Kuh, 
ſo ſein eigen, in Futter gehalten. Zu Kraut, Rüben, Lein und 
dergleichen ſoll ihm ein ſechſtel Feld eingeräumt werden. Und 
weil ſeine Verrichtungen etwas weitläufig, er auch hierzu zu— 
weilen verreiſen muß, ſoll ihm ein Klepper aus dem Stall, 
oder aber, wenn er fein eigen Pferd hält, zu deffen Verhaltung 
jährlich 20 Scheffel Haaber und vier Gulden zu Heu gegeben 
werden. Und hat er über dieſes von allen Käufen, Lehenſcheinen, 
Verzichten, Quittungen, Vormundſchafts-Beſtätigungen, Erb- 
teilungen, Geburtsbriefen und dergleichen, ſo unter denen 
zuvor geſetzten Gütern gehörigen Untertanen und Lehenleuten 


D Mannigfaltiges. 215 


vorgehen, die gewöhnlichen Kopiales einzuheben. Und weil 
neben meinen Dienſten er auch die Chur- und Fürſtl. Steuern 
von meinen Untertanen in Ober- und Unter-Gerichten ein- 
nehmen und an gehörige Oerter überliefern muß, ſo ſoll er 
nicht Reſte aufwachſen laſſen, dadurch hernach die Untertanen 
ruiniret werden möchten, dargegen ihme die deswegen ge- 
bräuchlichen Gebühren gegönnet werden ſollen. 

Um deſto beſſerer Nachricht willen iſt dieſe Beſtallung unter 
meiner Hand und Siegel ihm ausgeſtellt worden, am Tage 
Lichtmeß des 1663ften Jahres.“ v. E. 

Die geheimnisvollen Briefe. — Nach dem polniſchen Auf- 
ſtand war ein erheblicher Teil des polniſchen Adels nach Frankreich 
ausgewandert und lebte dort in einem meiſt recht bitteren 
Exil. In dieſem Falle befand ſich auch ein junger polniſcher 
Graf, der ſich in der Hauptſache mit Unterrichterteilen mühſam 
durchbrachte. Bei einem Pariſer Poſtamte kam nun mehrere 
Jahre lang regelmäßig in den erſten Tagen des Quartals ein 
poſtlagernder Brief aus irgendeinem ſibiriſchen Orte, bald 
aus dieſem, bald aus jenem, an dieſen jungen Mann adreſſiert. 
Der Pole erſchien auch ſtets am Schalter, erhielt den Brief 
vorgelegt und ſollte nun den ſehr erheblichen Portobetrag — 
es handelte ſich immer um mehrere Franken — zahlen. Langſam 
zog jedesmal der Pole ſeine Börſe und beſah ſich währenddeſſen 
die Adreſſe. Merkwürdigerweiſe fand es ſich dann aber immer, 
daß der Brief nicht für ihn beſtimmt war. Die Adreſſe ſtimmte 
angeblich nicht ganz, ein Vorname war anders, kurz, der 
junge Mann gab das Schreiben immer zurück. 

Es konnte nicht ausbleiben, daß diefe ſeltſame, fih regel- 
mäßig wiederholende Erſcheinung ſchließlich eine Unter- 
ſuchung veranlaßte. Wenn man die Briefe aber öffnete, ſo 
enthielten ſie ſtets nur weißes, unbeſchriebenes Papier. Die 
ganze Sache mußte geradezu rätſelhaft erſcheinen. Was war 
der Zweck dieſer Briefe? Man verhaftete alſo kurzerhand beim 
nächſten Eintreffen eines ſolchen geheimnisvollen Schreibens 
den wieder am Schalter erſcheinenden Polen, und nun be- 
quemte ſich dieſer dazu, das Rätſel dieſer Briefe zu löſen. 

Er gehörte einer Familie an, deren ſämtliche Glieder, 


216 Mannigfaltiges. o 


fein Vater, drei Brüder und zwei Oheime, infolge der Creig- 
niſſe während des Aufſtandes nach Sibirien verbannt worden 
waren. Ihm allein war es gelungen zu entkommen. Da nun 
weder feine Verwandten noch er die Mittel zu einer Korre- 
ſpondenz beſaßen, die in jenen Zeiten noch außerordentlich 
teuer war, hatte man ein ebenſo einfaches, als kluges Aus- 
kunftsmittel erſonnen. Jedes verbannte Familienmitglied ſchrieb 
ein Wort an der Adreſſe, ſo daß er, der ihre Handſchriften 
genau kannte, beim bloßen Leſen der Adreſſe ſofort wußte, 
daß alle feine Lieben noch am Leben waren. Aus dem Poft- 
ſtempel der Aufgabe erfuhr er überdies ihren jeweiligen Aufent- 
haltsort. 

Die franzöſiſchen Poſtbeamten waren ſehr gerührt, aber 
die Fortſetzung dieſer ſonderbaren Korreſpondenz konnten ſie 
trotzdem nicht geſtatten. O. Th. St. 

Die Kataſtrophe von Para⸗Dſchala. — Bereits im Jahre 
1851, als die Oſtindiſche Kompanie, damals noch die eigent- 
liche Herrin des indiſchen Kolonialreichs, die erſte Eiſenbahn 
von Bombay nach Tanna bauen ließ, wurden ihr von ſeiten 
der eingeborenen Bevölkerung Schwierigkeiten in den Weg 
gelegt. Fürchteten die Inder doch nicht mit Unrecht, daß die 
Herſtellung eines Schienennetzes, das die ſchnelle Herbei- 
ſchaffung von Truppen und Kriegsmaterial aller Art in das 
Innere des Landes geſtattete, ihre letzte Hoffnung auf eine 
Befreiung von dem engliſchen Zoch endgültig zerſtören würde. 

Zunächſt war es faſt unmöglich, die nötigen Arbeiter für 
jenen Streckenbau anzuwerben. Dann wurden ſpäter auch die 
fertiggeſtellten Teile des Schienenſtranges nachts immer wieder 
aufgeriſſen und zerſtört, Brücken verbrannt und die leitenden 
Ingenieure aus dem Hinterhalt niedergeſchoſſen. Schließlich 
mußte die Oſtindiſche Kompanie, um das Projekt überhaupt 
ausführen zu können, den Schienenweg Tag und Nacht durch 
Militär überwachen laffen. So kam es, daß die nur 32 Rilo- 
meter lange Strecke erſt nach faſt zweijähriger Bauzeit beendet 
werden konnte. Die ſcharfe Bewachung des Schienenſtranges 
mußte aber noch jahrelang fortgeſetzt werden. 

Wer als treibendes Element hinter dieſem gefährlichen, 


D Mannigfaltiges. 217 


offenbar febr gut organiſierten Widerſtand gegen den Bahn- 
bau geſteckt hatte, iſt nie herausgekommen, obwohl nach dem 
Bericht des damaligen Generalgouverneurs von Indien, Earl 
Dalhouſies, nicht weniger als dreiundvierzig Eingeborene allein 
wegen der Mordanſchläge, die ſie auf die Ingenieure verübt 
hatten, gehängt wurden, nachdem man ihnen vergeblich durch 
das Verſprechen gänzlicher Begnadigung ein Geſtändnis abzu- 
locken verſucht hatte. 

Schon zu jener Zeit gab es eben wie noch heute in Indien 
eine große Anzahl von Geheimgeſellſchaften, die lediglich das 
Ziel verfolgten, ihre Heimat von den fremden Eindringlingen 
zu ſäubern. Und Mitglieder einer ſolchen Vereinigung waren 
es auch zweifellos, die der Oſtindiſchen Kompanie das Anlegen 
dieſes erſten Schienenweges nach Möglichkeit zu erſchweren 
wußten und auf deren Konto auch die furchtbare Kataſtrophe 
von Para-Oſchala zu ſetzen ift. 

Ein Jahr ſpäter wurde trotz dieſer ſchlechten Erfahrungen 
der Bau einer zweiten Eiſenbahnlinie von Bombay nach 
Manmad beſchloſſen. Im Mai 1854 hatten die Ingenieure 
die neue Strecke vermeſſen und abgeſteckt, eine Aufgabe, deren 
Löſung wiederum nicht ohne allerlei unliebſame Zwifchen- 
fälle vonſtatten ging. Dann begann die eigentliche Bau— 
ausführung. Das ſchwierigſte Geländehindernis bot das Sinpan- 
gebirge, das man nicht umgehen, ſondern durchſchneiden mußte. 
Zu dieſem Zweck war es nötig, den Para-Oſchala, den Heiligen 
Berg, einen ſchlanken Bergkegel, auf dem ſich ein uralter Hindu- 
tempel befand, zum Teil wegzuſprengen. N 

Im Herbſt 1855 hatte man die Arbeit ſo weit gefördert, 
daß die erſten Sprenglöcher in das Geſtein des Para- DOſchala 
getrieben werden konnten. Wir folgen bei der weiteren Schilde 
rung der Ereigniſſe einem 1885 in London erſchienenen Buche 
des engliſchen Ingenieurs Thomas Marling, eines der Ru 
Überlebenden der PBara-Dfchala-Rataftrophe. 

„Vom 14. November 1855 ab verging keine Woche, in der 
wir nicht ein paar Mann durch heimtückiſche Kugeln verloren 
hätten. Wir lebten wie im Kriege, nur daß wir von unſeren 
Gegnern höchſt ſelten etwas zu ſehen bekamen. Die wild— 


214 Mannigfaltiges. u 


fleißigſtem Gebet und Arbeit anhalten, alles was ihm auf- 
getragen und anbefohlen, treulich, fleißig und nach ſeinem 
Vermögen unnachläßig verrichten, es betreffe ſolches meine 
Güter, die Beſtellung und Beſamung, das Getreydig, Saat 
und Ernte, Dreſchen und Aufheben, Erb-Getreide und davon 
außenſtehende Kapitalienzinſen, Wieſenwachs, Teiche, Gehölze, 
Pachtgeld von denen Mühlen, Schäfereien, vermieteten Fiſch- 
waſſern, Lehengeld und anderes mehr, in Summa er ſich alſo 
erzeigen und beweiſen ſoll, wie einem treuen, frommen und 
fleißigen Verwalter geziemet und oblieget und ich deßfalls 
in ſeine Perſon mein ſonderliches Vertrauen geſetzt habe, 
auch damit er ſolchen allen fleißiger vorſein möge ohne meine 
Verlaubnis nicht verreifen, und von allen dem, fo ihm anver- 
trauet wird oder er ſelbſten erfähret, auch bereits erfahren hat, 
ohne meinen Vorbewuſt und Willen niemanden das geringſte 
eröffnen, ſondern bis in ſeine Grube verſchwiegen halten ſoll. 

Weil er denn ſolches alles treulich inhalten mit einem leib- 
lichen Eide beſchworen, tue ich ihme nicht allein in dieſer ſeiner 
Verwaltung möglichſten Schutz verſprechen, ſondern will ihm 
auch zu einer ordentlichen Jahresbeſtallung reichen und folgen 
laſſen: fünfzig Gulden an Gelde, 12 Scheffel Korn, zweitauiſch 
Gemäß, 5 Viertel Faß Bier (tut 15 Eimer), 1 halben Zentner 
Karpfen, einen Stein Hechte, ein jährig Schwein, ein Kalb, 
zwei Schöpſe, zehn alte Hühner oder zwanzig Fullhühner, 
ſechs Klaftern Scheit- und 12 Schock Reißholz. Und iſt ihm 
nachgelaſſen von jedem Scheffel verkauften Getreidig 4 Pfen- 
nige vom Käufer zu empfangen. Hierüber wird ihm eine Kuh, 
ſo ſein eigen, in Futter gehalten. Zu Kraut, Rüben, Lein und 
dergleichen ſoll ihm ein ſechſtel Feld eingeräumt werden. Und 
weil feine Verrichtungen etwas weitläufig, er auch hierzu zu- 
weilen verreiſen muß, ſoll ihm ein Klepper aus dem Stall, 
oder aber, wenn er fein eigen Pferd hält, zu deſſen Verhaltung 
jährlich 20 Scheffel Haaber und vier Gulden zu Heu gegeben 
werden. Und hat er über dieſes von allen Käufen, Lehenſcheinen, 
Verzichten, Quittungen, Vormundſchafts-Beſtätigungen, Erb- 
teilungen, Geburtsbriefen und dergleichen, ſo unter denen 
zuvor geſetzten Gütern gehörigen Untertanen und Lehenleuten 


D Mannigfaltiges. 215 


vorgehen, die gewöhnlichen Kopiales einzuheben. Und weil 
neben meinen Dienſten er auch die Chur- und Fürſtl. Steuern 
von meinen Untertanen in Ober- und Unter-Gerichten ein- 
nehmen und an gehörige Oerter überliefern muß, ſo ſoll er 
nicht Reſte aufwachſen laſſen, dadurch hernach die Untertanen 
ruiniret werden möchten, dargegen ihme die deswegen ge- 
bräuchlichen Gebühren gegönnet werden follen. 

Um deſto beſſerer Nachricht willen iſt dieſe Beſtallung unter 
meiner Hand und Siegel ihm ausgeſtellt worden, am Tage 
Lichtmeß des 1663ften Jahres.“ v. E. 

Die geheimnisvollen Briefe. — Nach dem polniſchen Auf- 
ſtand war ein erheblicher Teil des polniſchen Adels nach Frankreich 
ausgewandert und lebte dort in einem meiſt recht bitteren 
Exil. In dieſem Falle befand ſich auch ein junger polniſcher 
Graf, der ſich in der Hauptſache mit Unterrichterteilen mühſam 
durchbrachte. Bei einem Pariſer Poſtamte kam nun mehrere 
Jahre lang regelmäßig in den erſten Tagen des Quartals ein 
poſtlagernder Brief aus irgendeinem ſibiriſchen Orte, bald 
aus dieſem, bald aus jenem, an dieſen jungen Mann adreſſiert. 
Der Pole erſchien auch ſtets am Schalter, erhielt den Brief 
vorgelegt und ſollte nun den ſehr erheblichen Portobetrag — 
es handelte fih immer um mehrere Franken — zahlen. Langſam 
zog jedesmal der Pole ſeine Börſe und beſah ſich währenddeſſen 
die Adreſſe. Merkwürdigerweiſe fand es ſich dann aber immer, 
daß der Brief nicht für ihn beſtimmt war. Die Adreſſe ſtimmte 
angeblich nicht ganz, ein Vorname war anders, kurz, der 
junge Mann gab das Schreiben immer zurück. 

Es konnte nicht ausbleiben, daß dieſe ſeltſame, ſich regel- 
mäßig wiederholende Erſcheinung ſchließlich eine Unter- 
ſuchung veranlaßte. Wenn man die Briefe aber öffnete, ſo 
enthielten ſie ſtets nur weißes, unbeſchriebenes Papier. Die 
ganze Sache mußte geradezu rätſelhaft erſcheinen. Was war 
der Zweck dieſer Briefe? Man verhaftete alſo kurzerhand beim 
nächſten Eintreffen eines ſolchen geheimnisvollen Schreibens 
den wieder am Schalter erſcheinenden Polen, und nun be- 
quemte ſich dieſer dazu, das Rätſel dieſer Briefe zu löſen. 

Er gehörte einer Familie an, deren ſämtliche Glieder, 


216 Mannigfaltiges. o 


fein Vater, drei Brüder und zwei Oheime, infolge der Creig- 
niſſe während des Aufſtandes nach Sibirien verbannt worden 
waren. Ihm allein war es gelungen zu entkommen. Da nun 
weder feine Verwandten noch er die Mittel zu einer Korre- 
ſpondenz beſaßen, die in jenen Zeiten noch außerordentlich 
teuer war, hatte man ein ebenſo einfaches, als kluges Aus- 
kunftsmittel erſonnen. Jedes verbannte Familienmitglied ſchrieb 
ein Wort an der Adreſſe, ſo daß er, der ihre Handſchriften 
genau kannte, beim bloßen Leſen der Adreſſe ſofort wußte, 
daß alle feine Lieben noch am Leben waren. Aus dem Poft- 
ſtempel der Aufgabe etfuhr er überdies ihren jeweiligen Aufent- 
haltsort. 

Die franzöſiſchen Poſtbeamten waren ſehr gerührt, aber 
die Fortſetzung dieſer ſonderbaren Korreſpondenz konnten ſie 
trotzdem nicht geſtatten. O. Th. St. 

Die Kataſtrophe von Para⸗Dſchala. — Bereits im Fahre 
1851, als die Oſtindiſche Kompanie, damals noch die eigent- 
liche Herrin des indiſchen Kolonialreichs, die erſte Eiſenbahn 
von Bombay nach Tanna bauen ließ, wurden ihr von ſeiten 
der eingeborenen Bevölkerung Schwierigkeiten in den Weg 
gelegt. Fürchteten die Inder doch nicht mit Unrecht, daß die 
Herſtellung eines Schienennetzes, das die ſchnelle Herbei— 
ſchaffung von Truppen und Kriegsmaterial aller Art in das 
Innere des Landes geſtattete, ihre letzte Hoffnung auf eine 
Befreiung von dem engliſchen Zoch endgültig zerſtören würde. 

Zunächſt war es faſt unmöglich, die nötigen Arbeiter für 
jenen Streckenbau anzuwerben. Dann wurden ſpäter auch die 
fertiggeſtellten Teile des Schienenſtranges nachts immer wieder 
aufgeriſſen und zerſtört, Brücken verbrannt und die leitenden 
Ingenieure aus dem Hinterhalt niedergeſchoſſen. Schließlich 
mußte die Oſtindiſche Kompanie, um das Projekt überhaupt 
ausführen zu können, den Schienenweg Tag und Nacht durch 
Militär überwachen laffen. So kam es, daß die nur 32 Rilo- 
meter lange Strecke erft nach faſt zweijähriger Bauzeit beendet 
werden konnte. Die fharfe Bewachung des Schienenſtranges 
mußte aber noch jahrelang fortgeſetzt werden. 

Wer als treibendes Element hinter dieſem gefährlichen, 


D Mannigfaltiges. 217 


offenbar febr gut organiſierten Widerſtand gegen den Bahn- 
bau geſteckt hatte, iſt nie herausgekommen, obwohl nach dem 
Bericht des damaligen Generalgouverneurs von Indien, Earl 
Dalhouſies, nicht weniger als dreiundvierzig Eingeborene allein 
wegen der Mordanſchläge, die ſie auf die Ingenieure verübt 
hatten, gehängt wurden, nachdem man ihnen vergeblich durch 
das Verſprechen gänzlicher Begnadigung ein Geſtändnis abzu- 
locken verſucht hatte. 

Schon zu jener Zeit gab es eben wie noch heute in Indien 
eine große Anzahl von Geheimgeſellſchaften, die lediglich das 
Ziel verfolgten, ihre Heimat von den fremden Eindringlingen 
zu ſäubern. Und Mitglieder einer ſolchen Vereinigung waren 
es auch zweifellos, die der Oſtindiſchen Kompanie das Anlegen 
dieſes erſten Schienenweges nach Möglichkeit zu erſchweren 
wußten und auf deren Konto auch die furchtbare Kataſtrophe 
von Para-Oſchala zu ſetzen ift. 

Ein Fahr fpäter wurde trotz dieſer ſchlechten Erfahrungen 
der Bau einer zweiten Eiſenbahnlinie von Bombay nach 
Manmad beſchloſſen. Im Mai 1854 hatten die Ingenieure 
die neue Strecke vermeſſen und abgeſteckt, eine Aufgabe, deren 
Löſung wiederum nicht ohne allerlei unliebſame Zwifchen- 
fälle vonſtatten ging. Dann begann die eigentliche Bau- 
ausführung. Das ſchwierigſte Geländehindernis bot das Sinpan- 
gebirge, das man nicht umgehen, ſondern durchſchneiden mußte. 
Zu dieſem Zweck war es nötig, den Para-Oſchala, den Heiligen 
Berg, einen ſchlanken Bergkegel, auf dem ſich ein uralter Hindu- 
tempel befand, zum Teil wegzuſprengen. 

Im Herbſt 1855 hatte man die Arbeit ſo weit gefördert, 
daß die erſten Sprenglöcher in das Geſtein des Para-Oſchala 
getrieben werden konnten. Wir folgen bei der weiteren Schilde- 
rung der Ereigniſſe einem 1885 in London erſchienenen Buche 
des engliſchen Ingenieurs Thomas Marling, eines der Fo 
Überlebenden der Para-Oſchala-Kataſtrophe. 

„Vom 14. November 1855 ab verging keine Woche, in der 
wir nicht ein paar Mann durch heimtückiſche Kugeln verloren 
hätten. Wir lebten wie im Kriege, nur daß wir von unſeren 
Gegnern höchſt ſelten etwas zu ſehen bekamen. Die wild— 


218 Mannigfaltiges. D 


zerklüftete Natur des Sinpangebirges kam unſeren fanatiſchen 
Feinden ſehr gelegen. Da gab es Schleichwege, von denen 
wir keine Ahnung hatten, weite unterirdiſche Höhlengänge, in 
denen die meuchleriſchen Schützen wie Geſpenſter verſchwanden. 
Das uns reichlich zugeteilte Militär half wenig. Am Tage 
hielt es uns die erbitterten Eingeborenen wohl vom Leibe, 
kam aber die Nacht, ſo kamen die Schrecken. Wir alle waren 
in kurzer Zeit in faſt lächerlicher Weiſe nervös geworden. 
Rieſelndes Erdreich, ein rollendes Steinchen trieb uns das 
Blut aus den Wangen. Gewiß, bisweilen glückte es uns auch, 
dieſen oder jenen der braunen Bande abzufaſſen. Dann wurde 
kurzer Prozeß gemacht. Er wurde an dem Gerüſt eines der 
Geſteinsbohrer aufgeknüpft. Tagelang ließen wir die Leichen 
dort baumeln, um die anderen abzuſchrecken. Es half nichts. 
Jede Nacht dasſelbe Spiel. Bald hier, bald da laute, in den 
Felstälern widerhallende Schüſſe. Und zumeiſt waren wir 
die Leidtragenden bei der Partie. 

Dabei blieb's jedoch nicht. Wir hatten über die beiden 
Quellflüßchen des Godawari zwei Brücken gebaut, zur Vor- 
ſicht ſchon in Eiſenkonſtruktion, da unſere Erfahrungen, die wir 
bei der Strecke Bombay —Tanna mit Holzbrücken ſammeln 
durften, nicht gerade ermutigend geweſen waren. Eines Tages 
traf dann an unſerer Arbeitſtelle die Nachricht ein, daß beide 
Brücken in einer Nacht in die Luft geſprengt worden waren, 
nachdem man die dort poſtierten Wachen, je fünf Mann und 
einen Unteroffizier, hinterrücks erſchoſſen hatte. Das war ein 
harter Schlag für uns. Denn nunmehr waren wir für lange 
Wochen von der Küſte ſo gut wie abgeſchnitten und mußten 
außerdem die Arbeit am Para-Oſchala vorläufig einſtellen. 
Erſt Anfang Dezember waren die Brücken wieder ausgeflickt, 
und der Tanz am Heiligen Berge konnte aufs neue beginnen. 
Die Weſtſeite des Para-Dſchala mußte auf eine Ausdehnung 
von etwa dreihundert Meter niedergelegt werden. 

Unſere Widerſacher blieben rührig wie vorher. Die ewigen 
Beläſtigungen durch pfeifende Kugeln hörten nicht auf. Über 
ganz Indien lagerte es ja damals ſchon wie eine drohende 
Gewitterwolke. Dieſe Anfeindungen, denen wir Eiſenbahner 


D Mannigfaltiges. 219 


ſtändig ausgeſetzt waren, bildeten ſozuſagen das warnende 
Grollen des Unwetters, das fih kaum ſechs Monate ſpäter in 
Geſtalt des großen Aufſtandes über ganz Zndien entladen 
ſollte. Die Eingeborenen ſchlichen um uns herum wie mord- 
gierige Raken. Ihre Mienen waren freundlich, aber in ihren 
Augen brannte tödlicher Haß. Und die mutigſten, die fanatiſch- 
ften und — ehrlich geſagt — die begeiſtertſten Vaterlands- 
freunde von ihnen waren eben die, die nachts mit der modernen 
Feuerwaffe in der Hand unſern Schlaf ſtörten und unſeren 
Spaten unliebfaine Arbeit zum Gräberauswerfen gaben. 

Nachdein wir in der erſten Januarhälfte des Jahres 1856 
genügend Sprenglöcher gebohrt hatten, um einen $elsvor- 
ſprung, den wir ſcherzend ‚die Naſe“ getauft hatten, als erſtes 
Hindernis beiſeite zu räumen, wurden die Zündfchnüre gelegt 
und alles für den Morgen des 17. für die Sprengung bereit- 
gemacht. Dieſe gelang vollſtändig. Die „Naſe“ war ver- 
ſchwunden. Nun ging es rüſtig vorwärts. Anfang April hatten 
wir in dem Para-Oſchala ſchon eine recht erhebliche Aus- 
buchtung freigelegt und auch bereits gegen zweihundert Meter 
Geleis eingefügt. Es galt jetzt nur noch die letzten ſiebzig Meter 
zu bewältigen. Dieſe gedachte unſer leitender Ingenieur auf 
einmal zu erledigen. Hatten wir doch mit der Zeit ſo viel 
Neues hinſichtlich der Anlage der Sprengſchüſſe hinzugelernt, 
daß uns die Aufgabe gar nicht ſo rieſengroß vorkam, wie es 
dem Laien ſcheinen mag. Es handelte ſich nach unſeren Be- 
rechnungen um ungefähr fünfzehnhundert Kubikmeter Geſtein, 
die zu ‚bewegen‘ waren, wie der Fachmann ſagt. Nicht weniger 
als achtzig Sprenglöcher, die meiſten bis zu drei bis vier Meter 
Tiefe, wurden in den Heiligen Berg getrieben und dann im 
Laufe des 18. April mit Pulver gefüllt, wovon wir genau 
hundertundacht Zentner verbrauchten. Am folgenden Tage 
legte ich mit Hilfe zweier Kollegen die Zündſchnüre und Pulver- 
bahnen. Aber ein Regenguß, der am Abend einſetzte und 
einige Stunden andauerte, machte unſere ganze Mühe zu- 
ſchanden. Die Zündſchnüre waren durchgeweicht und die 
Pulverbahnen, die das gleichzeitige Explodieren aller Ladungen 
herbeiführen ſollten, weggewaſchen. 


220 Mannigfaltiges. 2 


Dann brach der Unglüdstag, der 19. April 1856, an. Die 
Nacht war kühl und ſternenklar geweſen und ohne jede Störung 
verlaufen. Der Morgen brachte warmen Sonnenſchein. 
Unſere Arbeiter ſollten zuerſt die über den Felsabhang ver- 
teilten Sprenglöcher nachprüfen, ob auch kein Waſſer ein- 
gedrungen war. Der leitende Ingenieur und meine ſieben 
Kollegen verließen gleichzeitig mit ihnen unſer Lager, das etwa 
ſechshundert Meter von der Bauſtelle entfernt war. Zch ſelbſt 
verſpätete mich etwas. Dies ſollte meine Rettung werden. 
Denn als; gerade aus dem Talgrunde emporſtieg, erſchütterte 
urplötzlich ein ungeheurer Krach die Luft. Gleichzeitig fühlte 
ich mich wie ein Federball hochgehoben und fortgeſchleudert. 
Ich verlor die Beſinnung und erwachte erſt wieder nach 
Stunden in meinem Zelt. Mein rechter Arm war gebrochen, 
und an der Stirn klaffte mir eine große Wunde. Soldaten 
unſeres Bedeckungskommandos hatten mich gefunden und fort- 
geſchafft. Einer von ihnen war es auch, der den Verlauf dieſer 
furchtbaren Kataſtrophe aus der Ferne mitangeſehen hatte. 

Aus ſeinen Angaben ging folgendes hervor: Als unſere 
Arbeiter und die Ingenieure bis dicht an die Sprengſtelle 
gelangt waren, tauchte mit einem Male hinter einem Felſen 
ein Hindu auf, der eine brennende Fackel drohend um den 
Kopf ſchwang. Noch ahnte niemand etwas Böſes. Da rief 
der Inder unſeren Leuten ein paar Worte entgegen und ſtieß 
urplötzlich die Fackel auf die Erde. In demſelben Augenblick 
ſchoß es wie feurige Schlangen über den Abhang hin, das Ge- 
ſtein wankte, Pulverdampf und Steinſplitter verfinſterten die 
Luft. Als es wieder klar wurde, bot fih den Augen der ent- 
fegt herbeieilenden Soldaten, die in weitem Umkreiſe wie täg- 
lich Poſten geſtanden hatten, ein grauenvoller Anblick. Nicht 
einer von all den Menſchen, die fih in der Nähe der Spreng- 
ſtelle befunden hatten, war mit dem Leben davongekommen. 
Einhundertvierundzwanzig zum Teil bis zur Unkenntlichkeit 
zerfetzte Leichen lagen dort umher. Das Felsgeröll war weit- 
hin mit Blut beſpritzt. 

Der Para-Oſchala hatte den fremden Eindringlingen den 
Weg freigegeben, aber unter welchen Opfern!“ 


u Mannigfaltiges. | 221 


So weit Thomas Marling, der glücklich dieſem in der 
Geſchichte des Eiſenbahnbaues einzig daſtehenden Attentat 
entrann. Deſſen Urheber ſind nie entdeckt worden, trotzdem 
der Generalgouverneur mit aller Energie und rückſichtsloſer 
Strenge die Unterſuchung betrieb, denn bereits am 10. Mai 
desſelben Jahres brach der große indiſche Aufſtand aus, der 
mit feinen Tauſenden von Opfern das Blutbad von Para- 
Oſchala ſchnell in den Hintergrund drängte. Der Bau der 
Bahnſtrecke Bombay - Manmad wurde erft acht Jahre ſpäter 
wieder aufgenommen. Bis dahin hatte England alle Hände 
voll zu tun, um die rebelliſchen Völker Indiens niederzuzwingen. 
Am 5. März 1866 dampfte dann der erſte Eiſenbahnzug von 
Bombay nach Manmad ab. Auf Befehl des Vizekönigs hielt er 
am Para-Oſchala, und in würdiger Weiſe wurde eine dort in 
die Felswand eingelaſſene Erztafel enthüllt, die die Aufſchrift 
trägt: „Zur Erinnerung an den 19. April 1856“. W. K. 

Aus einer Mönchrepublik. — Einzig in ihrer Art iſt die 

Mönchrepublik auf dem Bergmaſſiv des Athos und der zuge- 
hörigen Landzunge, die als der öſtlichſte der drei Finger der 
Halbinſel Chalcidice in das Agäiſche Meer hinausgreift. Bis 
jetzt zahlte dieſe große Mönchvereinigung noch einen Tribut 
an die Türkei. Infolge des Balkankrieges beabſichtigten aber 
Rußland und Griechenland, auch dieſes lockere Abhängigkeits- 
verhältnis aufzuheben und für die Mönche völlige Selbſtändig⸗ 
keit herbeizuführen. 
Nicht weniger als 20 Klöſter, 11 Mönchdörfer, 250 Zellen 
und 150 Einfiedeleien find über den bis zu 1935 Metern auf- 
ſteigenden Athos und ſein von prächtigen Laubwäldern, üppigen 
Wieſen und fruchtbaren Obſtgärten bedecktes Hinterland 
verſtreut. Der Nationalität nach ſind die Mönche Griechen, 
Bulgaren, Serben und Ruſſen. Das ganze Gebiet wird von 
ungefähr 3000 Mönchen und Einſiedlern bewohnt. 

Die Klöſter wurden in der Zeit von 970 bis 1385 erbaut. 
Den Ruſſen gehört eines der ſchönſten Klöſter, Vatopädi. 
In ihm blühte im 18. Jahrhundert eine gelehrte Akademie, 
die beſonders durch den Korfioten Eugenius Bulgari gehoben 
wurde. Er verſammelte gegen 200 Schüler um ſich. Jedoch 


DR Mannigfaltiges. o 


wurde er wegen feiner philoſophiſchen Anſchauungen ge- 
zwungen, ſein Amt niederzulegen, und die Akademie wurde 
aufgelöſt. 

Die ruſſiſchen Mönche in Vatopädi ſtehen unter einem Abt, 
dem Hegumenos. Sie erhalten alle ihre Bedürfniſſe vom 
Kloſter geliefert. Ihre Mahlzeiten beſtehen nur aus Gemüſe, 
Brot und Waſſer. Der Genuß von Fleiſch iſt verboten. Der 


re 


4 3 
1 


Ruſſiſche Mönche vom Kloſter Vatopädi auf dem Athos. 


Gottesdienſt dauert für gewöhnlich ſechs, an Feſttagen zwölf 
Stunden. In der Mußezeit beſchäftigen ſich die Mönche mit 
Ackerbau und Gartenarbeit; auch ſchnitzen ſie Heiligenbilder. 

Vatopädi hat in Rußland große Beſitzungen, die von 
Mönchen verwaltet werden. Die Einkünfte werden an das 
Kloſter abgeliefert. 

Kürzlich brach in Vatopädi zwiſchen dem Hegumenos und 
den Mönchen wegen einer religiöſen Frage ein Streit aus, 
der ſich ſo zuſpitzte, daß der Hegumenos das Kloſter verlaſſen 
mußte. Th. S. 


D Mannigfaltiges. 223 


Das Lampenfieber, dieſer oft ins Lächerliche gezogene 
Erregungszuſtand mancher Künſtler und der meiſten anderen 
Sterblichen vor einem öffentlichen Auftreten, iſt, wie der 
Turiner Profeſſor Moſſo durch langjährige Beobachtungen und 
verſchiedene Verſuche feſtgeſtellt hat, tatſächlich als eine be- 
ſondere Krankheitsform anzuſehen, die durch Störungen im 
Blutkreislauf entſteht und in ihren Einzelerſcheinungen einem 
wirklichen Fieberanfall vollſtändig gleichkommt. 

In einer Turiner Theaterſchule fand der genannte Gelehrte 
die beſte Gelegenheit, die Schüler bei den Aufführungen auf 
ihr jeweiliges körperliches Befinden zu unterſuchen. Bei den 
meiſten Anfängern ſtellte er ſchon vor der Vorſtellung eine 
Vermehrung der Pulsſchläge um etwa ein Drittel feſt. So- 
fort nach der Vorſtellung hatte der Puls der meiſten eine 
Frequenz von über 150 Schlägen in der Minute, ebenſo war 
auch die Körpertemperatur regelmäßig bis auf 38 Grad ge- 
ſtiegen. Im Verein mit der trockenen Haut und der unnatür- 
lichen Rötung des Geſichts ergab dies das vollſtändige Bild 
leichter Fiebererkrankungen. 

Erſt nach häufigem Auftreten verloren fih diefe Erſchei- 
nungen bei einem Teil der Schüler vollſtändig, während durch- 
ſchnittlich zwei Drittel das Lampenfieber niemals überwanden. 
Bei einigen fteigerte es fih fogar von Aufführung zu Auf- 
führung derart, daß ſich infolge der wachſenden Erregungs- 
zuſtände Gedankenflucht, Stottern und ſogar gänzliches Verſagen 
des Gedächtniſſes einſtellten. 

Der Gelehrte ging noch weiter und beauftragte einige ſeiner 
Schüler, an feiner Stelle die Vorleſungen abzuhalten. Hier- 
bei fand er, daß einer dieſer jungen Leute ſchon vor dem Be- 
treten des Hörſaals 116 Pulsſchläge, nach Abhalten der Bor- 
leſung ſogar 139 hatte. Ein zweiter hatte eine Minute vor 
ſeinem erſten öffentlichen Vortrag Fieber mit 156 Pulsſchlägen 
und 37,8 Grad Körperwärme, nach Beendigung 160 Schläge 
und 38,7 Grad. | 

Umgekehrt konnte Profeſſor Moſſo aber auch konſtatieren, 
daß bei Leuten, die keine Neigung zu Lampenfieber zeigen, 
ſogar eine Abnahme der Pulsſchläge zu beobachten iſt. Das 


224 Mannigfaltiges. o 


befte Beiſpiel hierfür bietet der italieniſche Abgeordnete Ferri, 
der vor, während und nach einer Parlamentsrede nur 36 bis 
58 Pulsſchläge gegen 68 bis 73 feiner normalen Anzahl hatte. 
Dabei macht der berühmte Redner auf der Tribüne ſtets den 
Eindruck, als ob jedes ſeiner Worte einem leidenſchaftlich 
erregten Geiſte entſpränge. Erinnert ſei hier daran, daß 
ſchon Profeſſor Schweninger, der Leibarzt Bismarcks, ähn- 
liches bei dieſem feſtſtellte. Bismarck hatte eine außergewöhnlich 
hohe Pulszahl, 85 bis 85, die ſich jedoch bei großer geiſtiger 
Anſpannung, ſo hauptſächlich während ſehr lebhafter Parla- 
mentsdebatten und längerer Reden, bis auf 73, die normale 
Durchſchnittszahl jedes erwachſenen Mannes, verringerte. 
Auch bei Napoleon I., der ohnehin nur die anormal niedrige 
Pulsfrequenz von 45 bis 48 Schlägen in der Minute hatte, 
wurde von ſeinem Leibarzt Hervieux ähnliches beobachtet. 
So ſchrieb Hervieux: „Wie ſeltſam die Herztätigkeit des Kaiſers 
von ſtarken Aufregungen beeinflußt wurde, zeigte ſich mir am 
deutlichſten nach der verlorenen Schlacht bei Leipzig. Als 
Napoleon die Nachricht von dem Eindringen der Verbündeten 
in die Mauern der heiß umkämpften Stadt erhielt und er 
nun einſah, daß er das ungeheure, tagelange Ringen verloren 
hatte, überlief ein minutenlanges Zittern ſeine Geſtalt. Wir 
ſtanden damals auf einem Hügel, von wo aus deutlich die 
Flammen der brennenden Vorſtädte ſichtbar waren. Der 
Kaiſer wies mit der Hand nach jener Richtung hin und ſagte 
dumpfen Tones: ‚Alles vergeblich!“ Dann ließ er fih fein 
Pferd vorführen und ſtieg in den Sattel. Zch merkte, daß 
ſein ganzer Körper wiederum von einer furchtbaren Erregung 
hin und her geſchüttelt wurde. Angſtlich geworden bat ich 
ihn, ihm den Puls fühlen zu dürfen. Er ſtreckte mir die Rechte 
hin, wobei ein Lächeln über fein Geſicht glitt. ‚Es wird nicht 
anders ſein als ſonſt, meinte er. Wirklich hatte er auch in 


dieſem Augenblick, wo er feinen Thron zum erſten Male er- 


ſchüttert ſah, nur 39 Pulsſchläge.“ W. K. 
Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel kann 

der Menſch mit ſeinen verkümmerten Sinnesorganen ſich kaum 

eine Vorſtellung machen. Während Gehör und Geruch bei 


2 Mannigfaltiges. 225 


den gefiederten Räubern nicht über das Normale ausgebildet 
find, beſitzen ihre Augen eine Sehſtärke, die nach den Beob- 
achtungen des Pariſer Zoologen Vaular die eines mit vor- 
züglichen Augen ausgeſtatteten Menſchen etwa um das Zwanzig- 
fache übertrifft. 

Der genannte Forſcher hat in feiner Schrift „Der Raub- 
vogel und fein Schutzorgan“ ein reiches Material von Erleb- 
niſſen aus aller Herren Ländern geſammelt. „Die peruaniſchen 
Bauern,“ heißt es an einer Stelle, „pflegen Adler, Geier und 
kleinere Raubvögel, die ihrem Viehſtande ſchädlich werden 
können, auf folgende Art zu jagen. An einem beſonders klaren 
Tage werden auf einem freien Felde ungefähr fünfzig Meter 
von einer durch Geſträuch verdeckten, niedrigen Hütte die Ein- 
geweide von Rindern, Schafen ufw., kurz alles, was man gerade 
an größeren Fleiſchabfällen zur Hand hat, vergraben und 
zwar ſo, daß nachher die Erde über der Grube wieder glatt 
eingeebnet wird. Läßt man nämlich das Geſcheide offen auf 
dem Boden liegen, ſo kann man vergeblich ſtundenlang auf 
einen der ſehr argwöhniſchen Vögel warten. Die Arbeit des 
Eingrabens müſſen mindeſtens ſechs Perſonen beſorgen. 
Während ſich dann fünf nachher entfernen, verbirgt ſich der 
ſechſte, der eigentliche Jäger, in der FJagdhütte. Würde man 
diefe Vorbereitungen mit Hilfe von nur zwei oder drei Per- 
ſonen treffen, ſo bliebe der Erfolg ebenſo aus, als wenn man 
die Fleiſchabfälle nur auf den Boden wirft. 

Hierfür gibt es meines Erachtens nur eine Erklärung: Die 
Raubvögel, die in unendlichen Höhen im Ather ſchweben und 
alle Vorgänge auf der Erde genau verfolgen, haben ſehr bald 
geſehen, daß an der bewußten Stelle reichliche, unſchwer zu 
erlangende Nahrung verſcharrt wird, und beobachten daher 
das Tun und Treiben der ſich dort hin und her bewegenden 
Menſchen beſonders genau. Handelt es ſich hierbei vielleicht 
nur um drei Perſonen, von denen ſchließlich nur zwei den 
Platz wieder verlaffen, dann merken die Vögel das Fehlen der 
einen Perſon ſehr wohl, wodurch ihr Argwohn ſofort rege 
wird, jo daß fie fih hüten, auf den lockenden Köder herabzu— 
ſtoßen. Ich möchte daher nach meinen Erfahrungen geradezu 

1914. V. 15 


226 Mannigfaltiges. | 1 


behaupten, daß die gefiederten Räuber und ſo wohl auch 
die meiſten übrigen Vögel außerftande find, eine Gruppe von 
Menſchen, deren Zahl über fünf beträgt, auf ihre Anzahl hin 
zu ſchätzen, während ihnen dies bei nur vier Perſonen noch 
möglich iſt. Anders ausgedrückt: Die Vögel können höchſtens 
bis vier zählen. Jede darüber hinausgehende Anzahl von 
Menſchen oder Gegenſtänden verſchmilzt für ſie zu einer ihrer 
Zuſammenſetzung nach nicht mehr zu zerlegenden Gruppe. 

Viermal war mir Gelegenheit gegeben, diefe Jagdmethode 
perſönlich auszuprobieren. Regelmäßig habe ich dabei, wahrend 
meine Begleiter das Geſcheide eingruben, mit einem guten 
Glaſe den Himmel abgeſucht, um die Anweſenheit etwaiger 
Raubvögel feſtzuſtellen, was mir aber nur zweimal gelang. 
Im übrigen ſchien, ſoweit meine bewaffneten Augen reichten, 
der Ather ausgeſtorben zu ſein. Schien — denn kaum hatte 
ich nachher etwa eine Viertelſtunde in der Jagdhütte geſeſſen, 
als auch ſchon mit leiſem Rauſchen der erſte geflügelte Räuber, 
bald ein Adler, bald ein Geier, ſich wenige Meter von dem 
verſcharrten Geſcheide niederließ und ſich dann vorſichtig der 
Stelle näherte. Meiſt folgte dem erſten Vogel umgehend ein 
zweiter, bis dann im Verlaufe von weiteren zehn Minuten 
ſtets acht bis zehn Tiere der verſchiedenſten Arten verſammelt 
waren, unter denen ich mir in aller Ruhe ein Opfer für meine 
Kugel auswählen konnte. In kurzer Zeit hatten die Vögel 
die Erde über dem Aaſe fortgekratzt und begannen krächzend 
und ſich ſtreitend ihr ekles Mahl, bis der Knall meiner Büchſe 
die ganze Geſellſchaft, mit Ausnahme des erlegten, für alle 
Zeiten verſcheuchte. Nie werden Raubvögel einen ſolchen 
Hinterhalt, der einem der Fhren das Leben koſtete, zum 
zweiten Male aufſuchen. Die Peruaner, beſonders aber die 
viehzuchttreibenden Indianer an den Weſtabhängen der 
Anden, pflegen daher auch mit Schrotflinten ſehr großen 
Kalibers, deren Ladung aus gehacktem Blei beſteht, unter die 
verſammelten Vögel zu ſchießen, wobei ſie dann meiſt drei 
bis vier Tiere derart verletzen, daß ſie nicht abſtreichen und 
leicht vollends getötet werden können.“ 

In dem die europäiſche Raubvogelwelt behandelnden 


1 Mannigfaltiges. 227 


Kapitel berichtet der franzöſiſche Zoologe über den über ganz 
Europa verbreiteten Habicht folgendes: „Auf dem Landſitz 
eines Bekannten in der Nähe von Paris machten wir auf 
meine Veranlaſſung hin einige Male ein etwas grauſames 
Experiment, um die Sehſchärfe des Habichts, der in der dortigen 
Gegend ziemlich häufig iſt, zu erproben. Wir begaben uns 
auf ein abgeerntetes Feld und ließen dort zunächſt einige 
Tauben in längeren Abſtänden aufſteigen. Die Tauben kehrten 
ſtets, ſich der ihnen drohenden Gefahr wohl bewußt, in pfeil 
ſchnellem Fluge niedrig dahinſtreichend, zu ihrem nahen Stalle 
zurück. Dann ſuchten wir mit unſeren Gläſern den Himmel 
ab. Bemerkten wir einen in der Höhe kreiſenden Habicht, ſo 
führten wir das Experiment nicht zu Ende. Nur wenn wir 
nirgends eine Spur des gefährlichen, windſchnellen Geſellen 
entdeckten, gaben wir die letzte unſerer Tauben frei, der wir 
vorher die Flügel zuſammengebunden hatten, ſo daß ſie nur 
etwa einen Meter vom Boden hochflattern konnte. Sodann 
faßten wir in einem nahen Wäldchen Poſto und warteten das 
weitere ab. Nie vergingen mehr als fünf Minuten, bis ein 
Habicht urplötzlich über der ängſtlich flatternden Taube auf- 
tauchte, erſt langſam in immer enger werdenden Kreiſen ſich 
herabwand und ſchließlich wie ein losgeſchnellter Pfeil auf ſein 
Opfer herabſtieß. Der Raubvogel hatte alſo zweifellos aus 
einer Höhe, in die ſogar unſere bewaffneten Augen nicht zu 
dringen vermochten, zuerſt das Auffliegen der erſten Tauben 
bemerkt, uns dann weiter beobachtet und ſo auch ſein gefeſſeltes 
Opfer erſpäht.“ W. K. 
Eine Königin als erſte Perückenmacherin. — Ludwig der 
Heilige, König von Frankreich, ift der Schutzpatron der Perücken 
macher. Als nämlich der Monarch von dem ſechſten Kreuzzuge 
(1248 — 1254), den er angeführt hatte, nach feinem Lande 
zurückkehrte, war er ein Kahlkopf. Eine Krankheit in dem 
mörderiſchen Klima Afrikas hatte ihm feinen ganzen Haar- 
ſchmuck geraubt. Künſtliche Perücken gab es damals noch nicht, 
Mutterliebe aber macht erfinderiſch. Des Königs Mutter, 
Königin Bianka von Kaſtilien, konnte die Entſtellung ihres 
Sohnes nicht mitanſehen. Sie erſuchte jeden ihrer Höflinge, 


224 Mannigfaltiges. o 


befte Beiſpiel hierfür bietet der italienische Abgeordnete Ferri, 
der vor, während und nach einer Parlamentsrede nur 36 bis 
58 Pulsſchläge gegen 68 bis 75 ſeiner normalen Anzahl hatte. 
Dabei macht der berühmte Redner auf der Tribüne ſtets den 
Eindruck, als ob jedes ſeiner Worte einem leidenſchaftlich 
erregten Geiſte entſpränge. Erinnert ſei hier daran, daß 
ſchon Profeſſor Schweninger, der Leibarzt Bismarcks, ähn- 
liches bei dieſem feſtſtellte. Bismarck hatte eine außergewöhnlich 
hohe Pulszahl, 85 bis 85, die fih jedoch bei großer geiſtiger 
Anſpannung, fo hauptſächlich während febr lebhafter Parla- 
mentsdebatten und längerer Reden, bis auf 73, die normale 
Durchſchnittszahl jedes erwachſenen Mannes, verringerte. 
Auch bei Napoleon I., der ohnehin nur die anormal niedrige 
Pulsfrequenz von 45 bis 48 Schlägen in der Minute hatte, 
wurde von ſeinem Leibarzt Hervieux ähnliches beobachtet. 
So ſchrieb Hervieux: „Wie ſeltſam die Herztätigkeit des Kaiſers 
von ſtarken Aufregungen beeinflußt wurde, zeigte ſich mir am 
deutlichſten nach der verlorenen Schlacht bei Leipzig. Als 
Napoleon die Nachricht von dem Eindringen der Verbündeten 
in die Mauern der heiß umkämpften Stadt erhielt und er 
nun einſah, daß er das ungeheure, tagelange Ringen verloren 
hatte, überlief ein minutenlanges Zittern ſeine Geſtalt. Wir 
ſtanden damals auf einem Hügel, von wo aus deutlich die 
Flammen der brennenden Vorſtädte ſichtbar waren. Der 
Kaiſer wies mit der Hand nach jener Richtung hin und ſagte 
dumpfen Tones: „Alles vergeblich! Dann ließ er fih fein 
Pferd vorführen und ſtieg in den Sattel. Zh merkte, daß 
ſein ganzer Körper wiederum von einer furchtbaren Erregung 
hin und her geſchüttelt wurde. Angſtlich geworden bat ich 
ihn, ihm den Puls fühlen zu dürfen. Er ſtreckte mir die Rechte 
hin, wobei ein Lächeln über fein Geſicht glitt. ‚Es wird nicht 
anders fein als ſonſt,“ meinte er. Wirklich hatte er auch in 
dieſem Augenblick, wo er ſeinen Thron zum erſten Male er- 
ſchüttert ſah, nur 39 Pulsſchläge.“ W. K. 
Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel kann 
der Menſch mit ſeinen verkümmerten Sinnesorganen ſich kaum 
eine Vorſtellung machen. Während Gehör und Geruch bei 


2 Mannigfaltiges. 225 


den gefiederten Räubern nicht über das Normale ausgebildet 
find, beſitzen ihre Augen eine Sehſtärke, die nach den Beob- 
achtungen des Pariſer Zoologen Vaular die eines mit vor- 
züglichen Augen ausgeftatteten Menſchen etwa um das Zwanzig- 
fache übertrifft. 

Der genannte Forſcher hat in feiner Schrift „Der Raub- 
vogel und fein Schutzorgan“ ein reiches Material von Erleb- 
niſſen aus aller Herren Ländern geſammelt. „Die peruaniſchen 
Bauern,“ heißt es an einer Stelle, „pflegen Adler, Geier und 
kleinere Raubvögel, die ihrem Viehſtande ſchädlich werden 
können, auf folgende Art zu jagen. An einem beſonders klaren 
Tage werden auf einem freien Felde ungefähr fünfzig Meter 
von einer durch Geſträuch verdeckten, niedrigen Hütte die Ein- 
geweide von Rindern, Schafen uſw., kurz alles, was man gerade 
an größeren Fleiſchabfällen zur Hand hat, vergraben und 
zwar ſo, daß nachher die Erde über der Grube wieder glatt 
eingeebnet wird. Läßt man nämlich das Geſcheide offen auf 
dem Boden liegen, ſo kann man vergeblich ſtundenlang auf 
einen der ſehr argwöhniſchen Vögel warten. Die Arbeit des 
Eingrabens müſſen mindeſtens ſechs Perſonen beſorgen. 
Während ſich dann fünf nachher entfernen, verbirgt ſich der 
ſechſte, der eigentliche Jäger, in der FJagdhütte. Würde man 
diefe Vorbereitungen mit Hilfe von nur zwei oder drei Per- 
ſonen treffen, ſo bliebe der Erfolg ebenſo aus, als wenn man 
die Fleiſchabfälle nur auf den Boden wirft. 

Hierfür gibt es meines Erachtens nur eine Erklärung: Die 
Raubvögel, die in unendlichen Höhen im Ather ſchweben und 
alle Vorgänge auf der Erde genau verfolgen, haben ſehr bald 
geſehen, daß an der bewußten Stelle reichliche, unſchwer zu 
erlangende Nahrung verſcharrt wird, und beobachten daher 
das Tun und Treiben der ſich dort hin und her bewegenden 
Menſchen beſonders genau. Handelt es ſich hierbei vielleicht 
nur um drei Perſonen, von denen ſchließlich nur zwei den 
Platz wieder verlaſſen, dann merken die Vögel das Fehlen der 
einen Perſon ſehr wohl, wodurch ihr Argwohn ſofort rege 
wird, fo daß fie fih hüten, auf den lodenden Köder herabzu- 
ſtoßen. Ich möchte daher nach meinen Erfahrungen geradezu 

1914. V, 15 


226 Mannigfaltiges. | 2 


behaupten, daß die gefiederten Räuber und ſo wohl auch 
die meiſten übrigen Vögel außerſtande find, eine Gruppe von 
Menſchen, deren Zahl über fünf beträgt, auf ihre Anzahl hin 
zu ſchätzen, während ihnen dies bei nur vier Perſonen noch 
möglich iſt. Anders ausgedrückt: Die Vögel können höchſtens 
bis vier zählen. Jede darüber hinausgehende Anzahl von 
Menſchen oder Gegenſtänden verſchmilzt für fie zu einer ihrer 
Zuſammenſetzung nach nicht mehr zu zerlegenden Gruppe. 

Viermal war mir Gelegenheit gegeben, diefe Jagdmethode 
perſönlich auszuprobieren. Regelmäßig habe ich dabei, während 
meine Begleiter das Geſcheide eingruben, mit einem guten 
Glaſe den Himmel abgeſucht, um die Anweſenheit etwaiger 
Raubvögel feſtzuſtellen, was mir aber nur zweimal gelang. 
Im übrigen ſchien, ſoweit meine bewaffneten Augen reichten, 
der Ather ausgeſtorben zu ſein. Schien — denn kaum hatte 
ich nachher etwa eine Viertelſtunde in der Jagdhütte geſeſſen, 
als auch ſchon mit leiſem Rauſchen der erſte geflügelte Räuber, 
bald ein Adler, bald ein Geier, ſich wenige Meter von dem 
verſcharrten Geſcheide niederließ und ſich dann vorſichtig der 
Stelle näherte. Meiſt folgte dem erſten Vogel umgehend ein 
zweiter, bis dann im Verlaufe von weiteren zehn Minuten 
ſtets acht bis zehn Tiere der verſchiedenſten Arten verſammelt 
waren, unter denen ich mir in aller Ruhe ein Opfer für meine 
Kugel auswählen konnte. In kurzer Zeit hatten die Vögel 
die Erde über dem Aaſe fortgekratzt und begannen krächzend 
und ſich ſtreitend ihr ekles Mahl, bis der Knall meiner Büchſe 
die ganze Geſellſchaft, mit Ausnahme des erlegten, für alle 
Zeiten verſcheuchte. Nie werden Raubvögel einen ſolchen 
Hinterhalt, der einem der Ihren das Leben koſtete, zum 
zweiten Male aufſuchen. Die Peruaner, beſonders aber die 
viehzuchttreibenden Indianer an den Weſtabhängen der 
Anden, pflegen daher auch mit Schrotflinten ſehr großen 
Kalibers, deren Ladung aus gehacktem Blei beſteht, unter die 
verſammelten Vögel zu ſchießen, wobei ſie dann meiſt drei 
bis vier Tiere derart verletzen, daß ſie nicht abſtreichen und 
leicht vollends getötet werden können.“ 

In dem die europäiſche Raubvogelwelt behandelnden 


ü Mannigfaltiges. 227 


Kapitel berichtet der franzöſiſche Zoologe über den über ganz 
Europa verbreiteten Habicht folgendes: „Auf dem Landſitz 
eines Bekannten in der Nähe von Paris machten wir auf 
meine Veranlaſſung hin einige Male ein etwas grauſames 
Experiment, um die Sehſchärfe des Habichts, der in der dortigen 
Gegend ziemlich häufig iſt, zu erproben. Wir begaben uns 
auf ein abgeerntetes Feld und ließen dort zunächſt einige 
Tauben in längeren Abſtänden aufſteigen. Die Tauben kehrten 
ſtets, fih ber ihnen drohenden Gefahr wohl bewußt, in pfcil- 
ſchnellem Fluge niedrig dahinſtreichend, zu ihrem nahen Stalle 
zurück. Dann ſuchten wir mit unſeren Gläſern den Himmel 
ab. Bemerkten wir einen in der Höhe kreiſenden Habicht, ſo 
führten wir das Experiment nicht zu Ende, Nur wenn wir 
nirgends eine Spur des gefährlichen, windſchnellen Geſellen 
entdeckten, gaben wir die letzte unſerer Tauben frei, der wir 
vorher die Flügel zuſammengebunden hatten, ſo daß ſie nur 
etwa einen Meter vom Boden hochflattern konnte. Sodann 
faßten wir in einem nahen Wäldchen Poſto und warteten das 
weitere ab. Nie vergingen mehr als fünf Minuten, bis ein 
Habicht urplötzlich über der ängſtlich flatternden Taube auf- 
tauchte, erſt langſam in immer enger werdenden Kreiſen ſich 
herabwand und ſchließlich wie ein losgeſchnellter Pfeil auf ſein 
Opfer herabſtieß. Der Raubvogel hatte alſo zweifellos aus 
einer Höhe, in die ſogar unſere bewaffneten Augen nicht zu 
dringen vermochten, zuerſt das Auffliegen der erſten Tauben 
bemerkt, uns dann weiter beobachtet und ſo auch ſein gefeſſeltes 
Opfer erſpäht.“ 

Eine Königin als erſte Perückenmacherin. — Ludwig der 
Heilige, König von Frankreich, ift der Schutzpatron der Perücken 
macher. Als nämlich der Monarch von dem ſechſten Kreuzzuge 
(1248 — 1254), den er angeführt hatte, nach feinem Lande 
zurückkehrte, war er ein Kahlkopf. Eine Krankheit in dem 
mörderiſchen Klima Afrikas hatte ihm feinen ganzen Haar- 
ſchmuck geraubt. Künſtliche Perücken gab es damals noch nicht, 
Mutterliebe aber macht erfinderiſch. Des Königs Mutter, 
Königin Bianka von Kaſtilien, konnte die Entſtellung ihres 
Sohnes nicht mitanſehen. Sie erſuchte jeden ihrer Höflinge, 


228 Mannigfaltiges. o 


der Haare von der Farbe Ludwigs beſaß, um eine Locke von 


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feinem Haupt, die ihr natürlich mit ſtolzem Eifer geſpendet 


wurde. Eigenhändig nähte fie nun ein Haar nach dem anderen 
auf eine feine Stoffkappe und brachte fo die erſte Perücke zu- 
ſtande, die denn auch ihren Zweck ganz gut erfüllte, wenn ſie 
auch gewiß noch viele Mängel an ſich gehabt hat. Der erſte 
Träger dieſes neuen Kopfſchmuckes und zugleich der erſte 
Kunde der erſten Perückenmacherin, eben der heilige Ludwig, 
wurde deshalb von der fich ſpäter bildenden Zunft der Perücken 
macher zu ihrem Schutzpatron ernannt. C. D. 

Sechs Stunden von Potsdam. — Die preußiſche Garde- 
landwehr ſtellte im Deutſch-Franzöſiſchen Kriege öfters die 
Ehrenwachen beim König und beim Generalſtabe und vertrieb 
ſich in den Mußeſtunden gern die Zeit durch theatraliſche 
Vorſtellungen. 

Auch Moltke wohnte mit ſeiner Umgebung eines Abends 
einer ſolchen Aufführung bei, unterhielt ſich köſtlich und ließ 
ſich ſchließlich einen Unteroffizier vorſtellen, der in einer Perſon 
Dichter, Hauptdarſteller und Regiſſeur war. In ſtreng dienft- 
licher Haltung, die Hände an den Hoſennähten, trat der Mann 
mit ernſtem Geſichtsausdruck an den General heran. 

„Ihre Vorſtellung war ſehr nett. Wie heißen Sie denn?“ 
fragte Moltke gütig. N 

„Zu Befehl, Exzellenz — Schulze.“ 

„Wo ſind Sie denn her?“ 

„Sechs Stunden von Potsdam, Exzellenz,“ lautete die 
Antwort. 

Moltke lächelte und fragte weiter im Potsdamer Dialekt: 
„So — ſechs Stunden von Potsdam? Wie hecht denn det 
Neſt?“ 


Der Feldherr und ſein ganzer großer Generalſtab brachen 
in lautes Lachen aus über die mit unerſchütterlich dienſtlichem 
Ernſt abgegebene Antwort des militäriſchen Komikers. O. v. B. 

Weihnachtsnarziſſen. — Die Blumenzwiebelzüchtereien 
in Holland ſind in den letzten Jahren beſtrebt geweſen, nicht 
nur die alten Zwiebelarten zu vervollkommnen und ihnen 


„Berlin, wenn Sie et noch nich kennen ſollten, Exzellenz!“ 


2 Mannigfaltiges. 229 
in Farbe und Form ein neues Gewand zu geben, ſondern ſie 
haben auch Blumen herangezogen, die bereits im Frühwinter 
ihren Flor entfalten. Dahin gehören auch die Weihnachts- 
narziſſen. | 

Die Weihnachtsnarziſſe gehört zu den fogenannten Erom- 


Weihnachtsnarziſſe. 

petennarziſſen, die wegen ihrer großen Blütenform und ihrer 
leuchtenden Farbe fih der beſonderen Beliebtheit der Garten- 
freunde erfreuen. Die Weihnachtsnarziſſe ift von hellprimel- 
gelber Farbe und ſetzt mit ihrem Flor bereits Ende Dezember 
bis Mitte Januar ein. Als Gartenpflanze blühen ihre Blumen 


230 Mannigfaltiges. 2 
von allen zuerſt. Auf Beeten halten ſie im Winter ohne jede 
Deckung aus. Will man aber gleichwohl ſicher gehen, ſo genügt 
ein leichter Schutz von trockenem Laub. Will man ſie im Topfe 
und im Zimmer im Frühwinter zur Blüte bringen, ſo füllt 
man im Herbſt Töpfe oder Schalen mit lockerer leichter Erde, 
Sand oder Torfmull bis an den Rand und drückt ſie mäßig an. 
Sodann macht man in der Mitte ein der Größe der Zwiebel 
entſprechendes Loch, legt auf ſeinen Boden etwas Sand, 
ſetzt die Zwiebel auf, drückt ſie ein wenig an, ſo daß der Kopf 
mit dem Rande des Topfes in gleicher Höhe iſt und füllt nun 
die Erde darum mäßig auf, daß ein etwa ein Zentimeter hoher 
Rand zum Gießen übrig bleibt. Die benützte Erde muß mäßig 
feucht ſein. Dann ſtellt man den Topf an einen kühlen und 
dunklen Ort. Haben die Wurzeln die Topferde ganz durch- 
zogen, ſo kommen die Töpfe, in denen der Keim bereits aus 
dem Zwiebelkopf hervorgetreten iſt, zum Antreiben, das heißt 
ſie werden im Zimmer untergebracht. Zuerſt werden ſie 
kühler geſtellt und nach acht bis zehn Tagen ans Fenſter des 
Wohnzimmers gebracht. Zunächſt deckt man kleine Häubchen 
von Pappe oder Papier darüber und gießt regelmäßig. —dt. 

Cartouche in Deutſchland. — Der berühmte franzöſiſche 
Gaunethäuptling Louis Dominique Cartouche (geboren 1693 in 
Paris, daſelbſt 1721 gerädert) hat, was weniger bekannt iſt, 
als die franzöſiſche Regierung einen Preis von hunderttauſend 
Franken auf ſeinen Kopf geſetzt hatte, eine Gaſtſpielreiſe nach 
Deutſchland unternommen, die ihn nach Wien, Dresden und 
Leipzig führte. 

In Wien machte Cartouche, der mit Hilfe von ge— 
fälſchten Empfehlungsſchreiben als franzöſiſcher Marquis auf- 
trat, die Bekanntſchaft eines Grafen v. Schönfeld, der den 
vornehmen, geiſtreichen Fremden in ſeinen Zirkel zog, wo 
dieſer durch feine glänzende Unterhaltungsgabe bald der Lieb- 
ling der Damen wurde. Eines Tages weilte man in großer 
Geſellſchaft auf dem Landſitze des Grafen. Cartouche hatte 
ſeine Equipage und ſeine Dienerſchaft, die aus ſeinen beſten 
Genoſſen beſtand, bereits insgeheim nach Dresden voraus- 
geſchickt; nur fein „Rammerdiener“ weilte bei ihm. Mit dieſem 


u Mannigfaltiges. 231 


erſchien er gut beritten im gräflichen Schloß. Cartouche war 
an dieſem Tag in glänzender Laune und unterhielt die vor- 
nehme Geſellſchaft, die ein Vermögen in Gold und Edelſteinen 
an ſich trug, von ſeinen eigenen Heldentaten. Man erging ſich 
in bewundernden Ausdrücken über die Verſchlagenheit dieſes 
kühnen Verbrechers. | 

„Er ift ein Zauberer,“ ſagte Cartouche. „Zch ſelbſt war 
Zeuge, wie er in einer Geſellſchaft ſich eine große Anzahl Ringe, 
Hals- und Armbänder, Uhren uſw. geben ließ, dieſelben in 
ſeinen Hut tat, ſich in ein Nebenzimmer einſchließen ließ und 
von dort durch die Türe alle Schmuckgegenſtände wieder ihren 
Beſitzern zuſtellte. Einem meiner Freunde hat er das Geheim- 
nis dieſes Kunſtſtückes offenbart. Darf ich es Ihnen zeigen?“ 

Er ergriff ſeinen mit einer wundervollen Diamantagraffe 
verzierten Hut und ſammelte die wertvollſten Kolliers, Ringe 
und Uhren ein, die man lachend dem Freund des Grafen an- 
vertraute. Dann ließ er ſich in einem Nebenzimmer einſchließen, 
nachdem er der Geſellſchaft angekündigt hatte, das Kunſtſtück 
beanſpruche nur zehn Minuten Geduld. Man wartete an- 
ſtandshalber fünfzehn Minuten, die Cartouche vortrefflich be- 
nützt hatte. Eine ſeidene Strickleiter kündete der Geſellſchaft 
das Geheimnis des Kunſtſtückes Cartouches an, der auf ſchnellem 
Roß in dieſer Nacht einen ſolchen Vorſprung gewann, daß er 
die Verfolger weit hinter ſich ließ. 

Einige Wochen ſpäter tauchte er in Dresden und dann in 
Leipzig auf. Hier fuhr er in ſpäter Abendſtunde vor dem Ge- 
wölbe eines reichen Juwelenhändlers vor, deffen Leute gerade 
im Begriff waren, das Gewölbe zu ſchließen. Der Beſitzer 
wollte den vornehmen Fremden, der für tauſend Taler Juwelen 
kaufte, nicht abweiſen und machte ihn ſo nicht nur mit ſeinen 
Vorkehrungen gegen Einbrecher, ſondern ſelbſt auch ſcherzend 
mit einem kleinen Hund bekannt, den er Cartouche als ſeinen 
treueſten und tüchtigſten Wächter vorſtellte. 

Zehn Tage ſpäter erhielt der Juwelier einen gewichtigen 
Wertbrief aus Dresden, der Wappen und Vnterſchrift eines 
bekannten ruſſiſchen Fürſten trug. Der Fürſt benachrichtigte 
ihn, daß er, da er ſein Haus als ſolid kenne, einen Koffer mit 


232 Mannigfaltiges. ca 


Pretioſen ihm mit der Bitte überſenden werde, ihm denſelben 
bis zu feiner Ankunft in Leipzig in feinem feuerſicheren Ge- 
wölbe aufzubewahren. Zum Zeichen ſeines Dankes ſende er 
anbei vorläufig einen Ring. Der Ring war koſtbar. Er war 
der einzige, den Cartouche noch von ſeinem Gaſtſpiel im Schloſſe 
des Grafen Schönfeld übrig hatte. 

Eine Woche ſpäter wurde der angekündigte Koffer, ein 
mit Eiſenbändern und großen Vorlegeſchlöſſern verſehenes 
ſchweres Monſtrum, von „Poſtknechten“ gebracht und von dem 
durch die Gnade und das Vertrauen des ruſſiſchen Fürſten ganz 
betörten Juwelier angenommen. Seine Leute machten fih 
über das Ungeheuer luftig und bezweifelten beffen Inhalt, 
den man doch unterſuchen ſollte, wie einer riet. Der Zuwelier 
machte dieſen Witzeleien ein Ende, indem er Befehl gab, das 
Gewölbe zu ſchließen und den Hund hereinzulaſſen, der ſich 
über ſein bereitſtehendes Freſſen hermachte. Einige Stunden 
ſpäter vernahm ein über dem Gewölbe ſchlafender Diener das 
wütende Gebell des Hundes. Er alarmierte ſofort feine Kame- 
raden und ſeinen Herrn. Das Hündchen bellte und ſchnüffelte 
um den Koffer herum und war auf keine Weiſe zu beruhigen. 
Da die Sache verdächtig ſchien, machte einer den Vorſchlag, 
den geheimnisvollen Koffer aufzubrechen. Da repetierte eine 
Taſchenuhr deutlich die zwölfte Stunde aus dem Koffer. Alle 
lachten über das wütende Gebell des Hundes, und beruhigt 
ging man ſchlafen. Es waren alſo Uhren in dem Koffer, deren 
Repetieren den Hund alarmiert hatte! 

Eine Stunde ſpäter entſtieg Cartouche dem Koffer. Das 
Bellen des Hundes beunruhigte jetzt niemanden mehr. Der 
kühne Räuber tötete ſofort den Hund und plünderte das Ge— 
wölbe ſo gründlich aus, daß ihm für mehr als hunderttauſend 
Taler Schmuck und Edelſteine in die Hände fielen. Einige 
Wochen ſpäter war er in Amſterdam, wo er ſeinen Raub ver— 
ſilberte; von dort begab er ſich wieder nach Paris zurück. Als 
hier ſeine Wiener und Leipziger Verbrechen bekannt wurden, 
erkannte man ſofort den Löwen an ſeinen Krallen. W. F. 

Eines der ſinnigſten Geſchenke, die je gemacht wurden, 
war das Geſchenk des Großherzogs Georg Friedrich von Meck— 


o Mannigfaltiges. 233 


lenburg-Strelitz an Goethe, als dieſer im Jahre 1825 die Feier 
ſeines fünfzigjährigen Aufenthaltes in Weimar beging. Der 
gemütvolle Fürſt gab ſeinem Geſchäftsträger in Frankfurt 
am Main Auftrag, ein Stück von der längſt verkauften Wirt- 
ſchaft des Goetheſchen Hauſes zu beſchaffen, das geeignet ſei, 
in dem greiſen Dichter eine lebhafte Erinnerung an ſeine 
ſchöne Jugendzeit zu erwecken. 

Dem Beauftragten gelang es, die große alte Schlaguhr 
mit dem ſtattlichen Gehäuſe zu erwerben, die in der Familien- 
ſtube des Ratsherrn Goethe zu Frankfurt geſtanden hatte. 
Sie wurde nach Weimar geſchafft und abends vor dem Zubel- 
tage, ohne daß Goethe es ahnte, in ſein Haus gebracht. Der 
treue Diener Friedrich ſtellte fie, während der Dichter ſchlief, 
in den kleinen Vorraum des Schlafzimmers. 

Um fünf Uhr des Morgens pflegte Goethe aufzuſtehen; 
auf ein paar Minuten vor fünf wurden die Zeiger der alten 
Uhr geſtellt. Im richtigen Augenblick ſollte der Diener den 
Pendel in Bewegung ſetzen. 

Goethe war eben erwacht. Plötzlich hebt im Vorzimmer 
das ſonore Schlagwerk der Uhr aus, und durch die tiefe Stille 
tönt ein lang ausſummender Schlag. Der Dichter horcht, 
noch halb im Schlafe. Träumt er, daß er im e ſei 
und die Uhr ihn mahne, fih zu erheben? 

Wieder klingt der Ton an ſein Ohr. Nein, das iſt kein 
Traum! Goethe richtet ſich in ſeinen Kiſſen auf; er fühlt, 
daß er wacht. Ein dritter Schlag folgt, ein vierter, ein fünfter. 
Der Dichter läßt ihn verklingen; er lauſcht begierig dem Aus- 
zittern der Tonwelle. 

Dann aber zieht er die Klingel, und als der längſt wartende 
Diener eintritt, ruft er ihm in jubelndem Erſtaunen zu: „Aber 
Friedrich, was war denn das? Zch hörte eben die Uhr aus 
meinem Elternhauſe ſchlagen.“ 

Der Diener nickte lächelnd und wies mit der Hand nach 
dem Vorzimmer. „Die Uhr ſteht wirklich da, Exzellenz!“ ſagte er. 

Mit einem Sprung iſt der rüſtige Greis aus dem Bett 
und eilt ins Vorzimmer. Da ſieht er die Uhr aus dem Eltern- 
hauſe am Hirſchgraben in Frankfurt vor ſich. Feucht ſchimmern 


234 Mannigfaltiges. og 


feine großen blauen Augen, und lange bleibt er vor der Uhr 
ſtehen und horcht auf ihr gravitätiſches Ticktack, auf dieſen 
Herzſchlag des Elternhauſes. H. W. 

Giftjagd. — Anſerer Damenwelt, die ſich nur zu gern 
mit koſtbarem Pelzwerk ſchmückt, dürfte kaum bekannt ſein, 
auf welch beſondere Art und Weiſe ein großer Teil der natür- 
lichen Lieferanten des vielbegehrten Rauchwerks erlegt wird, 
damit die Felle ganz unbeſchädigt bleiben und ihren ſeidigen 
Glanz in voller Stärke behalten. 

„Die Anſicht, daß die meiſten Pelztiere in Fallen gefangen 
werden, iſt überaus irrig,“ ſagte Doktor Akimoff, der zwei 
Winter hindurch die ſibiriſchen Jagdreviere bereiſt hat. „Die 
von den großen Pelzgeſchäften in die nördlichen Einöden ent- 
ſandten Jäger pflegen nur in der erſten Zeit, ſozuſagen als 
Neulinge ihres Handwerks, fih der Tellereiſen und der Raften- 
fallen zu bedienen. Sehr bald eignen fie fih jene Fagdmethode 
an, wie ich fie bei den Tunguſen, ZJakuten und den an der Kälte- 
grenze hauſenden Kirgiſenſtämmen gefunden habe. Dieſe hat 
vor allen übrigen Fangarten nach übereinſtimmender Anſicht 
aller Jäger, mit denen ich auf meinen Wanderzügen zuſammen- 
traf, den großen Vorteil, daß dabei auch nicht ein einziges 
Fell verdorben wird. Gerät ein Tier zum Beiſpiel in ein 
Tellereiſen, ſo wird es regelmäßig bei ſeinen verzweifelten 
Befreiungsverſuchen ſein Haarkleid an den Kanten des eiſernen 
Fanggerätes mehr oder weniger ſcheuern, wodurch der Pelz 
erheblich an Wert verliert. Nicht viel beſſer verhält es ſich 
mit den Kaſtenfallen, die man für die kleinſten Pelzträger, 
wie Hermelin, Zobel und Nerz benützt. Jedes darin feft- 
gehaltene Tier ſucht ſich mit Krallen und Zähnen durch das 
Holz einen Ausweg zu bahnen, raſt in ſeiner Todesangſt in 
dem engen Behälter umher und verdirbt hierbei ſein koſtbares 
Haarkleid ſehr häufig derart, daß der Pelz nur noch als Ware 
zweiter Güte in den Handel gebracht werden kann. 

Alle dieſe Nachteile vermeidet man bei der ſogenannten 
Giftjagd, die unter den ſibiriſchen Jägervölkern ſchon feit un- 
denklichen Zeiten üblich iſt. Es handelt ſich nicht etwa um eine 
bloße Tötung der Tiere durch ein ſchnellwirkendes Gift, ſondern 


u Mannigfaltiges. 235 


um eine fraglos erſt nach längeren Verſuchen ausgeklügelte 
Methode, die vierbeinigen Pelzträger zu lähmen und zwar 
durch ein Mittel, das nicht wie die meiſten übrigen Gifte den 
Balg glanzlos macht und ſpäteren Haarausfall herbeiführt. 
Dieſes Mittel beſitzen die Eingeborenen Sibiriens in dem 
ſüßlichen Safte der Wurzel des ſogenannten Buſcheppaſtrauches, 
der hauptſächlich auf Moorboden wächſt, aber nicht allzu häufig 
iſt. Der Saft der Buſcheppa trocknet an der Luft zu kleinen, 
harzigen, völlig geſchmackloſen Klümpchen zufammen und 
wirkt ähnlich wie das bekannte Kurare, das Pfeilgift der füd- 
amerikaniſchen Indianer, das heißt, er lähmt, ſobald er auch 
nur in ganz geringen Mengen in die Blutbahn gerät, die 
Bewegungsnerven, ohne jedoch ſofort zu töten. i 

Hat man es nun auß die kleinſten Pelztiere abgeſehen, fo 
werden kleine Fleiſchſtückchen durch an beiden Seiten an- 
geſpitzte, unſichtbare Eiſenſtacheln zuſammengeheftet. In die 
Mitte dieſes Köders ſteckt man geringe Mengen des Giftes. 
Die ſo zurechtgemachten Brocken läßt man dann, um den 
Geruch der menſchlichen Hände, durch den das Raubzeug leicht 
abgeſchreckt wird, zu vertreiben, einige Zeit in Tierblut liegen, 
worauf die Fleiſchſtückchen mit Stäbchen herausgefiſcht und in 
einen gleichfalls mit Blut ausgeſchmierten Lederbeutel getan 
werden. Sodann wartet der Jäger einen froſtklaren Tag ab, 
an dem Schneefall nicht zu befürchten iſt, und begibt ſich mit 
dem Köderbeutel frühmorgens in ſein Revier, wo ihm die 
Standorte und die Wechſel der Pelztiere genau bekannt ſind. 
Dort werden an den ausſichtsreichſten Plätzen oft gegen ſechzig 
ſolcher Giftbrocken, wieder mit Hilfe von Holzſtäbchen, aus- 
gelegt. ö n 

Der Erfolg der Jagd hängt nun ganz von der Beftändig- 
keit der Witterung ab. Bleibt der Himmel den Tag und die 
nächſtfolgende Nacht über klar, ſo ſteht gute Beute in Aus- 
ſicht. Schneit es dagegen, dann ift meiſtenteils die Mühe um- 
ſonſt geweſen, ja der Jäger wird dann nicht einmal feine Röder- 
ſtückchen wiederfinden, eine herbe Einbuße, da die Eifen- 
ſtacheln mit verloren gehen und daher neue hergeſtellt wer- 
den müſſen. 


234 Mannigfaltiges. o 


feine großen blauen Augen, und lange bleibt er vor der Ahr 
ſtehen und horcht auf ihr gravitätiſches Ticktack, auf dieſen 
Herzſchlag des Elternhauſes. H. W. 

Giftjagd. — Unſerer Damenwelt, die ſich nur zu gern 
mit koſtbarem Pelzwerk ſchmückt, dürfte kaum bekannt ſein, 
auf welch beſondere Art und Weiſe ein großer Teil der natür- 
lichen Lieferanten des vielbegehrten Rauchwerks erlegt wird, 
damit die Felle ganz unbeſchädigt bleiben und ihren ſeidigen 
Glanz in voller Stärke behalten. 

„Die Anſicht, daß die meiſten Pelztiere in Fallen gefangen 
werden, iſt überaus irrig,“ ſagte Doktor Akimoff, der zwei 
Winter hindurch die ſibiriſchen Jagdreviere bereiſt hat. „Die 
von den großen Pelzgeſchäften in die nördlichen Einöden ent- 
ſandten Jäger pflegen nur in der erſten Zeit, ſozuſagen als 
Neulinge ihres Handwerks, fich der Tellereiſen und der Raften- 
fallen zu bedienen. Sehr bald eignen fie fih jene Fagdmethode 
an, wie ich fie bei den Tunguſen, Jakuten und den an der Kälte- 
grenze hauſenden Kirgiſenſtämmen gefunden habe. Dieſe hat 
vor allen übrigen Fangarten nach übereinſtimmender Anſicht 
aller Jäger, mit denen ich auf meinen Wanderzügen zuſammen- 
traf, den großen Vorteil, daß dabei auch nicht ein einziges 
Fell verdorben wird. Gerät ein Tier zum Beiſpiel in ein 
Tellereiſen, ſo wird es regelmäßig bei ſeinen verzweifelten 
Befreiungsverſuchen ſein Haarkleid an den Kanten des eiſernen 
Fanggerätes mehr oder weniger ſcheuern, wodurch der Pelz 
erheblich an Wert verliert. Nicht viel beſſer verhält es ſich 
mit den Kaſtenfallen, die man für die kleinſten Pelzträger, 
wie Hermelin, Zobel und Nerz benützt. Jedes darin feft- 
gehaltene Tier ſucht ſich mit Krallen und Zähnen durch das 
Holz einen Ausweg zu bahnen, raſt in ſeiner Todesangſt in 
dem engen Behälter umher und verdirbt hierbei ſein koſtbares 
Haarkleid ſehr häufig derart, daß der Pelz nur noch als Ware 
zweiter Güte in den Handel gebracht werden kann. 

Alle dieſe Nachteile vermeidet man bei der ſogenannten 
Giftjagd, die unter den ſibiriſchen Fägervölkern ſchon feit un- 
denklichen Zeiten üblich iſt. Es handelt ſich nicht etwa um eine 
bloße Tötung der Tiere durch ein ſchnellwirkendes Gift, ſondern 


u | Mannigfaltiges. 255 


um eine fraglos erft nach längeren Verſuchen ausgeklügelte 
Methode, die vierbeinigen Pelzträger zu lähmen und zwar 
durch ein Mittel, das nicht wie die meiſten übrigen Gifte den 
Balg glanzlos macht und ſpäteren Haarausfall herbeiführt. 
Dieſes Mittel beſitzen die Eingeborenen Sibiriens in dem 
ſüßlichen Safte der Wurzel des ſogenannten Buſcheppaſtrauches, 
der hauptſächlich auf Moorboden wächſt, aber nicht allzu häufig 
iſt. Der Saft der Buſcheppa trocknet an der Luft zu kleinen, 
harzigen, völlig geſchmackloſen Klümpchen zufammen und 
wirkt ähnlich wie das bekannte Kurare, das Pfeilgift der jüd- 
amerikaniſchen Indianer, das heißt, er lähmt, ſobald er auch 
nur in ganz geringen Mengen in die Blutbahn gerät, die 
Bewegungsnerven, ohne jedoch ſofort zu töten. i 

Hat man es nun auf die kleinſten Pelztiere abgeſehen, ſo 
werden kleine Fleiſchſtückchen durch an beiden Seiten an- 
geſpitzte, unſichtbare Eiſenſtacheln zuſammengeheftet. In die 
Mitte dieſes Köders ſteckt man geringe Mengen des Giftes. 
Die ſo zurechtgemachten Brocken läßt man dann, um den 
Geruch der menſchlichen Hände, durch den das Raubzeug leicht 
abgeſchreckt wird, zu vertreiben, einige Zeit in Tierblut liegen, 
worauf die Fleiſchſtückchen mit Stäbchen herausgefiſcht und in 
einen gleichfalls mit Blut ausgeſchmierten Lederbeutel getan 
werden. Sodann wartet der Jäger einen froſtklaren Tag ab, 
an dem Schneefall nicht zu befürchten iſt, und begibt ſich mit 
dem Köderbeutel frühmorgens in ſein Revier, wo ihm die 
Standorte und die Wechſel der Pelztiere genau bekannt ſind. 
Dort werden an den ausſichtsreichſten Plätzen oft gegen ſechzig 
ſolcher Giftbrocken, wieder mit Hilfe von Holzſtäbchen, aus- 
gelegt. | 

Der Erfolg der Jagd hängt nun ganz von der Beſtändig— 
keit der Witterung ab. Bleibt der Himmel den Tag und die 
nächſtfolgende Nacht über klar, fo ſteht gute Beute in Aus- 
ſicht. Schneit es dagegen, dann ift meiſtenteils die Mühe um- 
ſonſt geweſen, ja der Zäger wird dann nicht einmal feine Röder- 
ſtückchen wiederfinden, eine herbe Einbuße, da die Eiſen— 
ſtacheln mit verloren gehen und daher neue hergeſtellt wer— 
den müſſen. 


2356 Mannigfaltiges. o 


In der Nähe des Städtchens Sion am Zanafluffe hatte ich 
einmal Gelegenheit, einen Pelzjäger zu begleiten, als er nach 
zwei ſchneefreien Tagen ſein Gebiet abſuchte. Wir fanden im 
ganzen ſieben kleine Räuber auf, die regungslos dalagen und 
die mein Begleiter dann durch einen ſcharfen Schlag auf den 
Kopf erſt vollends tötete. Darunter waren zwei Hermeline, 
ein ſeltener Glücksfall, wie mir der Jäger ſchmunzelnd er- 
klärte. 

Bei einigen Tieren habe ich das Maul genauer unterſucht, 
um mir die Verletzungen anzuſehen, die die Eiſenſtacheln beim 
Hineinbeißen in den Köder verurſacht hatten. Es waren zu- 
meiſt kaum bemerkbare Wunden. Das Buſcheppagift muß alſo, 
da die Tiere, wie aus den Fährten hervorging, kaum noch 
dreißig Schritt gelaufen waren, faſt augenblicklich gewirkt 
haben. Allerdings ſind die meiſten dieſer kleinen Räuber, 
wie mir mein Begleiter zu ſagen wußte und ich ſpäter auch 
ſelbſt geſehen habe, ſo gierig nach den blutigen Fleiſchſtücken, 
daß fie trotz der Stacheln häufig weiterfreſſen und diefe ent- 
weder wieder ausſpeien oder mit hinunterwürgen. 

In ähnlicher Weiſe geht man auch dem ſibiriſchen Fuchs, 
ja ſogar, wenn man Pulver und Blei vermeiden will, dem 
Bären zu Leibe, nur daß man für dieſe Raubtiere die Stacheln 
und die Fleiſchſtücke größer wählt. Zn einzelnen ſibiriſchen 
Gouvernements iſt dieſe Fangart neuerdings jedoch verboten 
und unter Strafe geſtellt worden, wahrſcheinlich deswegen, 
weil die Regierung eine zu ſchnelle Ausrottung des wertvollen 
Raubwildes durch die profeſſionellen Jäger der Pelzexport- 
häuſer befürchtet, eine Beſorgnis, die nicht ganz unberechtigt 
ift, da nachweislich bei der Fallenjagd nicht halb fo viel air 
gemacht wird wie bei dem Giftfang. 

Überall geſtattet iſt aber noch heute die grauſame Aus- 
rottungsmethode, wie ſie von den Bewohnern Sibiriens gegen 
die Wölfe, beſonders in harten Wintern, angewendet wird. 
Auch hierbei finden mittelgroße Fleiſchſtücke, wie ſie ein Wolf 
bequem hinunterſchlingen kann, Verwendung, in denen man 
an beiden Enden angeſpitzte, eng zuſammengerollte Fiſchbein- 
ſtäbe verbirgt. In der eiſigen Kälte gefrieren die Fleiſchſtücke 


0 Mannigfaltiges. 237 


ſehr bald und halten die elaſtiſchen Fiſchbeinſtäbchen in ihrer 
Lage feſt. Würgt nun ein heißhungriger Wolf einen ſolchen 
Köder hinunter, fo taut das Fleiſch im Magen auf, der Filh- 
beinſtab ſchnellt auseinander und durchbohrt die Magenwand, 
ſo daß das Tier unter furchtbaren Qualen eingeht. Tunguſen 
haben mir verſichert, daß Wolfsrudel, die einige Tiere auf 
dieſe Weiſe verloren haben, von paniſchem Schrecken ergriffen 
werden und ſchleunigſt in ein anderes Revier überwechſeln. 
Auch dieſes ebenſo primitive wie unmenſchliche Vernichtungs- 
mittel dürfte ſchon alten Datums ſein. Es wird zum Beiſpiel 
bereits in einem 1814 in Moskau erſchienenen Werke Tatu- 
ſcheffs erwähnt.“ 

Auch dem Silberreiher, der ſeiner Schmuckfedern wegen, 
aus denen die wertvollen Reiherbüſche zuſammengeſtellt 
werden, eifrig gejagt wird, geht man in den Ländern um das 
Kaſpiſche Meer, wo er am häufigſten zu finden iſt, mit Gift 
zu Leibe, da bei der Anwendung der Schußwaffe es nur zu 
häufig geſchieht, daß die koſtbaren Federn beim Sturze auf 
die Erde geknickt werden. Man verwendet mit Strychnin ver- 
giftete Fiſche, die in der Nähe der Reiherhorſte ausgelegt 
werden. Merkt der Vogel die Wirkungen des Giftes, ſo läßt 
er ſich auf die Erde nieder und geht dort ſehr bald ein, ohne daß 
ſein Federſchmuck irgendwelchen Schaden erleidet. W. K. 

Tage der Roſen. — Anbeſchwert von Sorgen zu ſein, 
Gegenwart und Zukunft in ſonnigem Licht zu ſchauen, ſich des 
berauſchenden Hochgefühls, das fie erfüllt, zu freuen, in ver- 
ſchönender Liebe ſich zu umwerben, iſt das glückliche Vorrecht 
der Jugend, und darum ſingt ſie jauchzend: 

„Noch iſt die blühende, goldene Zeit, 
Noch ſind die Tage der Roſen.“ 

So lange jugendliche Menſchenherzen ſchlagen, ſo lange 
ſind ſie von den gleichen erhebenden Empfindungen beſeligt 
worden, und immer hat ſich der Sinn auch der Stärkſten der 
Macht der Liebe gebeugt. 

In anmutiger Form gibt dieſem Gedanken ſchon ein Lied 
aus dem ſechzehnten Jahrhundert Ausdruck, das in unſerer 
heutigen Sprache lautet: 


238 Mannigfaltiges. a 


Es fang ein Vöglein im Roſenhag 

Am blauenden, ſtrahlenden Sommertag. 

Es fang von wonniger Liebe. 

Da fab es kommen ein junges Paar, 

Sie roſenrot mit goldigem Haar, 

Er narbig durch Schwerterhiebe. 

Das Vöglein dachte: „Das iſt ein Held, 

Auf ſeine trotzige Kraft geſtellt, 

Ihn mußt du zur Liebe bekehren!“ 

Da, eh' es aufs neue ſein Lied beginnt, 
Vernimmt es vom Kriegsmann flehend lind: 
„Ihr werdet's, Fräulein, mir nicht wehren, 
Wenn in den Tagen der Roſenglut 

Ich Liebe vertauſchte mit Schlachtenmut, 
Aufs innigſte Euch muß beſchwören, 

Mein Sehnen gnädig zu erhören.“ 

Das Vöglein ift davongeſchwirrt 

Und dachte: „Ich hab' mich ſchwer geirrt, 
Den braucht' ich die Liebe nicht mehr zu lehren, 
Er tat ſich ſchon ſelbſt zu ihr bekehren.“ 

Ein ähnliches Liebesidyll in den Tagen der Roſen ſtellt 
auch unfer diesjähriges Kunſtblatt dar, das auf der anliegen- 
den Beilage an erſter Stelle wiedergegeben ift. Ein Reiters- 
mann aus dem Dreißigjährigen Kriege bekennt dem adeligen 
Fräulein ſeine Liebe. — Allen unſeren Leſern und Freunden 
ſteht die in freudigen Farben gehaltene Oldruckreproduktion, 
die einen prächtigen Zimmerſchmuck bildet, zu dem niedrigen 
Preis von 1 Mark 50 Pfennig zur Verfügung. Th. S. 

Eine ſchwierige Aufgabe. — Der Hamburger Rechtsanwalt 
M., der ſchon häufig in ſeiner Praxis die Erfahrung gemacht hatte, 
wie ſehr und oft ſich die Zeugen bei ihren Ausſagen in der 
Angabe von Zeiten irren, wollte ſich in einem wichtigen Prozeß 
davon überzeugen, wie es in dieſer Hinſicht mit der Glaub- 
würdigkeit eines der Hauptzeugen beſtellt war. Es handelte ſich 
um eine Schiffskataſtrophe, die durch den Zuſammenſtoß zweier 
Fahrzeuge verurſacht worden war. Der betreffende Zeuge, der 
dabei Verletzungen erlitten hatte, lag noch im Krankenhaus. 


2 Mannigfaltiges. 239 


Der Rechtsanwalt begab ſich zu dem Patienten, trat an ſein 
Bett und fragte ihn: „Können Sie mir ſagen, wie lange Zeit 
verfloſſen iſt von dem Augenblick an, da das Schiff von der 
Landungsbrücke abfuhr bis zu dem Zuſammenſtoß?“ 

„Nun, es mögen zehn Minuten geweſen ſein,“ lautete die 
Erwiderung. 

„Was meinen Sie, wie lange zehn Minuten dauern?“ 

„Nun — zehn Minuten!“ lautete die ſehr richtige Antwort. 

„Gewiß — ſchon recht, ich will aber einmal feſtſtellen, wie 
lange Ihnen das ſcheint. Das iſt nämlich die Hauptſache. Ich 
ſtelle mich jetzt an das Fußende Ihres Bettes, nehme meine 
Uhr in die Hand, und wenn Sie glauben, daß zehn Minuten 
verſtrichen ſind, rufen Sie: Halt.“ 

Der Patient war einverſtanden, legte fih wieder bequem 
zurecht und ſah den Rechtsanwalt an, der ihm gegenüber 
am Fußende des Bettes ſtand und die Uhr in der Hand hielt. 

Nach Verlauf einiger Minuten ſagte der Anwalt: „Nun, 
wie ſteht es — wie lange ſoll ich denn noch warten?“ 

Der Kranke lächelte nur verſchmitzt und warf einen verſtoh- 
lenen Blick auf die große Wanduhr, die an der ſeinem Bette gegen- 
überliegenden Wand hing und der der Anwalt den Rüden drehte. 

Als der Zeiger endlich auf dem richtigen Punkt ſtand, 
rief der Kranke: „Halt, jetzt ſind es zehn Minuten!“ 

Der Rechtsanwalt war ſtarr vor Staunen und meinte 
bewundernd: „Hören Sie, lieber Freund, von allen Zeugen, 
die mir in meiner langen Praxis gegenübergeſtanden haben, 
können Sie die Zeit am genaueſten angeben.“ A. Sch. 

Teure Liebesbriefe. — Ein Liebesbrief, der vierzehntauſend 
Mark koſtet, wird wohl nicht alle Tage verſandt. Eine junge 
Dame in Kalkutta empfing kürzlich einen Liebesbrief, der 
nach dem Berichte einer engliſchen Zeitung mehr ein Beweis 
von der Kunſtfertigkeit des Goldſchmiedes, als ihres Verehrers 
war. Es war eine dünne Goldplatte, auf der ein kurzer, aber 
zärtlicher Gruß in Diamanten innerhalb eines Herzens von 
mattem Silber eingraviert war. 

Ein bekannter Komponiſt ſandte von einer Konzertreiſe 
nicht weniger als ein Dutzend Liebesbriefe an ſeine Braut. 


240 Mannigfaltiges. 0 


Zeder koſtete fehshundert Mark. Zärtliche Worte bildeten den 
Text zu gefühlvollen Noten, und das Manuftript war reich 
vergoldet und mit koſtbaren Malereien eingefaßt. Vergoldung 
und Ausſtattung waren von einem japaniſchen Künſtler, der 
auch das Käſtchen dekoriert hatte, in dem ſie geſandt wurden. 

Ein anderer Verehrer feſſelte die Geliebte ſeines Herzens 
dadurch, daß er ſchöne Spitzenkragen nach dem Muſter eines 
Herzens arbeiten ließ, deren jeder einige ſpinnwebfeine Worte 
der treueſten Liebe enthielt. Jede der Spitzenweberinnen erhielt 
vierhundert Mark, und ein Umſchlag von Gold und Seide koſtete 


weitere hundertundfünfzig Mark. Dann kam ein ſchönes Käſtchen, 


und der ſpinnwebartige Liebesbrief wurde abgeſandt. Z. W. 
Ein Kaiſer, der befiehlt, und ein zweiter, der gehorcht. — 
Kaiſer Franz Joſef von Sſterreich und Kaiſer Wilhelm I. 
hatten in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts 
zu gleicher Zeit die Kur in Bad Gaſtein gebraucht. Der öfter- 
reichiſche Kaiſer war eher fertig und verabſchiedete ſich mit 
ſeiner Gemahlin von dem deutſchen Monarchen. 

Letzterer wollte es ſich nun nicht nehmen laſſen, das ſcheidende 
Paar noch eine Strecke Weges zu begleiten. Franz Zoſef aber 
fürchtete, der greiſe Freund möchte ſich dabei überanſtrengen 
und bat ihn daher, davon abzuſehen. Alles Abraten aber wollte 
nichts helfen. 

Da richtete er ſich in ſeiner ganzen Höhe auf, nahm ſeine 
ernſteſte Miene an und ſagte, mit einem bezeichnenden Blick 
auf die Uniform eines öſterreichiſchen Oberſten, die Kaiſer 
Wilhelm der Begegnung zu Ehren angelegt hatte, während 
er ſelbſt Feldmarſchalluniform trug: „Hiermit befehle ich dem 
Herrn Oberſt, hier zu bleiben!“ 

Da blieb Kaiſer Wilhelm ſtehen, ſchlug die Hacken zuſammen und 
ſagte, militäriſch grüßend und leiſe lächelnd: „Zu Befehl, Exzellenz 
— da bleibt mir freilich nichts anderes übrig, wie zu gehorchen.“ 

In fröhlichſter Stimmung ſchieden die Monarchen von- 
einander. C. D. 


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von 
Theodor Freund in Stuttgart, 
in Oſterreich⸗Ungarn verantwortlich Dr. Ernſt Perles in Wien. 


re, NLD S O R B , e ee 


. 7 0 5 
Der Wunſch Klavierſpielen zu 
können iſt allgemein! 


Weshalb 


aber müſſen Tauſende und aber 
Tauſende es ſich verſagen dieſe 


ſchöne Kunſt auszuüben, wo doch 


die Schwierigkeiten, die ſich der 


Erlernung des Klavierſpiels bis⸗ 
her entgegenſtellten, durch die 


ſeit Jahren beſtens bewährte und 


man alle in der 


tauſendfach anerkannte Taſten⸗ 
ſchrift vollſtändig behoben ſind. 
Nicht einmal Notenkenntniſſe 
find bei Erlernung des Klavier- 
ſpiels nach der Taſtenſchrift er⸗ 
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11) 


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