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Bibliothek der Unterhaltung
und des Wissens
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der Unterhaltung
und des Wiſſens
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Zu der Erzählung „Nur ein Traum“ von W. Granville
Schmidt. (S. 12)
Originalzeichnung von Adolf Wald.
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ibliothek
der Unterhaltung
und des Wiſſens
Mit
Original beiträgen
der hervorragendſten
Schriſtſteller und Gelehrten
ſowie zahlreichen
llufteationen
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Jahrgang 1914 + Fehnte
Union Deutſche verlagsgeſellſchaſt
Stuttgart + Berlin Leipzig
Copyright 1914 by Union deutſche verlagsgeſellſchaſt in Stuttgart
Druck der Union deutſche verlagsgeſellſchaſt in Stuttgart
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Inhalts - Verzeichnis.
7
Nur ein Traum.
Eine Seegeſchichte von W. Granville Schmidt. Mit
Bildern von Adolf Wald . Sn al eg
Der felige Major.
Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel) (Fort-
ſetzung) 5 e ee
Jung⸗Japan.
Von Felix Baumann. Mit 9 Bildern
Liebe Sorgen.
Novelle von Elſe Krafft
Menſchliche Ungeheuer in Sage ine Sefhichte
Von Wilhelm Fiſcher. Mit 8 Bildern 5
Klaas Baalfens drei Bräute.
Novellette von Heinrich Tiaden .
Einiges vom Kino.
Von Reinhold Ortmann. Mit 12 Bildern . .
Mannigfaltiges:
Der Schatz des Bauern Smarta
Die enttäuſchten Turko
Aus Alt- Berlin
Mit 2 Bildern.
Die Rache des Regiffeurs .
Tauchererlebniſſe . ;
Baut der Storch Getreide? .
Bismarck und die Musketiere
Seite
172
211
215
217
2_0
221
223
224
Inhalts-Verzeichnis. a
Die Fürſtin Zurjews kala 226
Mit Bild.
Das älteſte Lebeweſen der Welt.. . 230
Heilkraft von Lilienblätteerrrrn . 231
Fidele Gefängnisgeſchichten „ e e e e e e
Billiger Einkauf. : dee a ee ee. DA
Wohlriechende Glocenſzilla ee dere Ar Ke 235
Mit Bild.
gapaniſche Weisheitslehren „ e
Die Zone des Schweigens sss . 237
Das Wichtigere . . d 289
Mediziniſches aus alter geit. . N e a ar LAD
Ein bibelfeſter Theaterdirektoeiei e . 240
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*
EIKIEIKIES
Nur ein Traum.
Eine Seegeſchichte von W. Granville Schmidt.
Mit Sildern von 1 |
Adolf Wald. (Nadörud verboten.)
Wir lagen mit unferer Viermaſtbark „Port Cale-
donia“ an der Ladebrücke des chileniſchen De
fens Talcahuano.
unaufhörlich rollten die mit Guano gefüllten Kipp-
karren auf dem ſchmalen Eiſengerüſt der Brücke bis
an das Schiff und entleerten ihren übelduftenden In-
halt in den Raum des Seglers.
Eine dünne, gelbliche Schicht bedeckte bald alle
Gegenſtände an Bord, und die Hafenarbeiter trugen
zum Schutz gegen den für das Auge ſehr ſchädlichen
Staub ſogenannte Guanobrillen.
Faſt drei Wochen lagen wir ſchon in Talcahuano;
aber heute noch wurde die Ladung beendet, und dann
ſollte die Heimreiſe angetreten werden.
Dieſe willkommene Ausſicht erweckte im Mann-
ſchaftslogis große Freude, und obwohl uns noch reich-
lich ein Vierteljahr von dem Zeitpunkt der Ankunft
in England trennte, ſchmiedeten die Leute doch ſchon
eifrig Pläne, wie ſie ihre Erholungszeit in der Heimat
verbringen wollten.
Um fo erſtaunter war ich, als ich Fim, unſeren
alten Bootsmann, verdüſtert, mit umwölkter Stirn auf
dem Kettenkaſten ſitzend antraf.
6 Nur ein Traum. 2
Er hielt die erloſchene Kalkpfeife läſſig in der Hand
und nickte nur ſchweigend mit dem Kopf, als ich neben
ihn trat. |
„Na, Jim,“ forſchte ich ſcherzend, „iſt dir die Peter-
ſilie verhagelt, weil die braunen Kerle das Deck fo
verdrecken — oder haſt du gar Liebeskummer?“
Es war nämlich an Bord bekannt, daß ſich Jim
Brown trotz ſeiner fünfundvierzig Jahre noch mit der
jungen, lebensluſtigen Tochter ſeiner Logiswirtin in
Dartford verlobt hatte und mit rührender Liebe an
ihr hing.
Natürlich bekam er manchen gutmütigen Spott zu hö—
ren; aber er ging ſtets mit behaglichem Humor auf unſere
Scherze ein, denn er wußte, daß wir ihn gern hatten.
Diesmal ſchien ihn aber doch fein Mutterwitz ver-
laſſen zu haben; denn er entgegnete gedrückt: „Liebes-
kummer werd' ich bald nicht mehr haben, Steuermann.
Ich ſeh' meine Beſſie ja doch nicht wieder!“
Das hatte ſo troſtlos geklungen, daß ich ihm die
Hand auf die Schulter legte und teilnahmvoll fragte:
„Haſt du ſchlechte Nachricht von Hauſe bekommen,
Jim? Fſt Beſſie krank oder gar tot?“
„Sie nicht. Aber ich werd's bald ſein!“
Jim Brown ſtarrte wieder trübſinnig vor ſich hin.
Etwas verblüfft beobachtete ich ihn von der Seite.
Was konnte er nur haben, er, der ſonſt einer der Lebens-
luſtigſten an Bord war und der Krankheit gar nicht
zu kennen ſchien?
Ich beſchloß, der Sache energiſch auf den Grund zu
gehen. „Was iſt denn nur los, Jim? Erklär dich doch
genauer. Vielleicht können wir dir helfen.“
Der alte Burſche ſchüttelte traurig den Kopf, und
als ich noch weiter in ihn drang, blickte er ſich ſcheu um,
ob auch kein Lauſcher in der Nähe weile, und entgeg-
2 Von W. Granville Schmidt. 7
nete dann mit unterdrückter Stimme:
„Steuermann, Sie ſollten es eigentlich
nicht wiſſen und die anderen auch nicht, weil
Sie da nicht dran glauben und mich nur auslachen. —
Alſo, ich hab' einen Traum gehabt, und ich weiß, daß
ich auf dieſer Reiſe ſterben muß.“
: 8 Nur ein Traum. 2
„Ach Unſinn, wer glaubt denn an Träume!“ ent-
fuhr es mir ärgerlich, und neugierig ſetzte ich hinzu:
„Was haſt du denn nun wieder für Humbug geträumt?
— Jim, ich dachte wirklich, du Al etwas ge
für. dein Alter.“
Der Bootsmann machte eine abwehrende Hand-
bewegung und meinte in leichtbeleidigtem Tone:
„Was ich weiß, das weiß ich, Steuermann, und wenn
Sie zehnmal nicht an Träume glauben wollen. Bis
jetzt iſt es noch ſtets eingetroffen, und deshalb ſag' ich
Ihnen, dieſe Reife iſt meine letzte!“
Der beſtimmte Ton, in dem er ſprach, machte Ein-
druck auf mich, und etwas beſorgt drängte ich: „Er-
zähle doch wenigſtens, was dir träumte!“
Zim muſterte mich mißtrauiſch; aber als er ſah, daß
ich ernſt blieb, erzählte er langſam, ſchwerfällig, wie
es ſo ſeine Art war: „Wie ich vergangene Nacht in
meiner Koje lag, träumte mir, uns begegnete auf
hoher See der „Fliegende Holländer‘, Dann war das
Waſſer auf einmal wieder ſpiegelglatt, und auf der
Oberfläche kam meine Beſſie auf mich zu. Sie winkte
mir mit der Hand. Aber wie ich einige Schritte vor-
wärts ging, um ihr die Hand zu reichen, verlor ich den
Boden unter den Füßen und fiel tief und immer
tiefer, bis alles ſchwarze Nacht um mich war.“
„Jim, du haſt ſchlecht geſchlafen und hatteſt AUlp-
drücken,“ tröſtete ich ihn. „Wegen eines Traumes
braucht man doch nicht den Kopf hängen zu laſſen.“
„Es traf aber immer ein!“ beharrte er eigenſinnig,
und mutlos fügte er hinzu: „Der Traum ſagt ja, daß
ich mich von Beſſie trennen muß, ehe ich ihr noch die
Hand wieder ſchütteln kann.“
Jim Brown ſtützte den Kopf in die Hände und ſtarrte
wieder trübſinnig geradeaus.
u Von W. Granville Schmidt. 9
Achſelzuckend entfernte ich mich, denn ich wußte
wohl, es hatte keinen Zweck, ihm ſeinen Aberglauben
ausreden zu wollen; aber ich beſchloß im ſtillen, wäh-
rend der Reiſe auf ihn achtzugeben.
* *
K*
Einige Wochen ſchwamm die alte „Port Caledonia“
nun wieder auf hoher See, und ein günſtiger Wind hatte
uns raſch bis zum Kap geführt.
Der gewohnte Dienft an Bord beanſpruchte wieder
unſer ganzes Intereſſe, und fo vergaß ich bald, was mir
der Bootsmann über feinen Traum und feine Be—
fürchtungen anvertraut hatte.
In einer ſtürmiſchen Nacht wurden alle Mann an
Oeck beordert zum Segelbergen.
Es war Sitte an Bord, daß in Stunden der Gefahr
auch der zweite und dritte Steuermann mit in die
Takelage gingen.
So geſchah es auch diesmal, und der Zufall wollte
es, daß ich auf der Vorbramrahe neben dem Bootsmann
zu ſtehen kam.
Schweigend, mit zuſammengebiſſenen Zähnen preß-
ten wir die Fäuſte immer wieder gegen die ſich auf-
buchtende Leinwand, und als wir das große Segel
endlich geſchlichtet hatten, rann uns trotz der grimmigen
Kälte der helle Schweiß von der Stirn. 5
Gerade wollten wir uns nach dem Maſt taſten, da
hörte ich, wie Fim Brown, der am weiteſten nach dem
Rahnock zu ſtand, einen unterdrückten Schrei ausſtieß
und meinen Arm packte.
unwillkürlich folgte ich mit den Augen der Richtung
ſeines Kopfes. Unter uns brauſte das Meer; wir
konnten die weißen Schaumkämme heraufleuchten
ſehen. Aber vor uns — was war das?
10 Nur ein Traum. 0
Aus der Finſternis vor uns tauchte urplötzlich eine
dunkle, wirre Maſſe auf — das Takelwerk eines an-
deren Schiffes.
Deutlich ſa—
hen wir die
ſchlankaufſtre—
benden Maſten,
die Rahen mit
ihren Pardu—
nen und Sta—
— —
gen und die noch ſtehenden Flächen der Unterſegel.
Inſtinktiv duckten wir uns und ſchloſſen die Augen,
als fürchteten wir, das fremde, geheimnisvolle Schiff
würde nun über uns hinwegraſen.
u Von W. Granville Schmidt. 11
Blitzſchnell ſpielte ſich das folgende ab: Wir hörten
ein Scharren, wie wenn ein ſchwerer Körper am Eijen-
rumpf unſeres Schiffes entlang ſcheuerte; dann erſcholl
ein Splittern, Krachen, von irgendwoher ein dumpfer
Aufſchrei aus menſchlichem Munde — und dann tiefe
Stille, die nur vom Brauſen des Meeres unterbrochen
wurde.
Als wir, ganz verwirrt, die Augen wieder öffneten,
herrſchte die alte Finſternis; von dem fremden Segler
war keine Spur mehr zu entdecken.
„Sehen Sie — mein Traum, Steuermann!“
raunte mir der Bootsmann zu.
Ich erwiderte nichts, aber mir zitterten Roch die
Knie, als ich die Pardunen hinabſtieg an Deck.
Unten herrſchte die größte Verwirrung. Die halbe
Bagienrahe war zerſplittert von oben gekommen,
glücklicherweiſe ohne jemand zu verletzen.
Nachher lief mir der Bootsmann noch einmal in
den Weg. Er ſah bleich aus und meinte mit vor Er-
regung bebender Stimme: „Nun weiß ich's gewiß,
Steuermann. Der erſte Teil meines Traumes iſt in
Erfüllung gegangen. Das war der „Fliegende Hol-
länder“. arme Schiff!“ |
„Laſſen Sie mich in Ruhe mit ſolchen Dummheiten!“
brauſte ich jetzt auf, denn die Leute waren ſowieſo
ſchon durch den rätſelhaften Vorfall nervös geworden,
und ich fürchtete, daß ſie der Bootsmann mit ſeinem
Geſchwätz ganz kopfſcheu machen würde. „Das war
ein richtiges und kein Geiſterſchiff!“
Natürlich glaubten die meiſten an Bord nicht an eine
Exiſtenz des ſagenhaften Unglücksſchiffes; aber ebenſo—
wenig konnten wir uns einen Vers auf das Geſchehene
machen. Erſt der kommende Morgen mußte Aufſchluß
bringen.
12 Nur ein Traum. DO
Das heranbrechende Tageslicht zeigte uns denn auch
die Spuren des nächtlichen „Spuks“. Nicht nur die
Bagienrahe war gebrochen — * die ganze Badbord-
takelage hatte gelitten.
Kopfſchüttelnd betrachtete der Kapitän die Ver-
wüſtung und gab dann Befehl, die Schäden, ſo gut es
ging, auszubeſſern.
Gerade wollte er ſich in ſeine Kajüte begeben, um
nach der aufregenden Nacht ein Stündchen der Ruhe
zu pflegen, da kam der Schiffsjunge atemlos herbei
und meldete, daß unter der Back ein fremder Mann
liege, der ſtark aus einer Kopfwunde blute.
Wir liefen unverzüglich nach der bezeichneten Stelle,
und es zeigte ſich, daß der Zunge die Wahrheit geſprochen
hatte; denn der Verwundete, der etwas verſteckt unter
der Back lag, gehörte tatſächlich nicht zur Mannſchaft
der „Port Caledonia“.
Vorſichtig legten wir ihn auf eine Bahre“), dann
betteten wir ihn in eine freie Koje. Seine Wunde
wurde vom Kapitän kunſtgerecht verbunden.
Die Verletzung war nicht ſchwer; aber der Fremde
hatte ſchon ſtarken Blutverluſt erlitten und lag in
tiefer Bewußtloſigkeit.
Um die Mittagszeit erwachte er endlich, und als er ſich
genügend geſtärkt hatte, machte er dem Kapitän folgende
Angaben. Er ſei ein franzöſiſcher Matroſe und heiße
Emile Bourget. Das Schiff, worauf er angemuſtert
hatte, war das Vollſchiff „Maréchal Oudinot“ aus
Nantes, von Cardiff mit Kohlen nach Santa Roſalia
unterwegs. Der Sturm hatte in letzter Nacht die
Poſitionslaternen zertrümmert, und ſo ſei man zur
Zeit des Zuſammenſtoßes ohne Lichter gefahren. Gleich
*) Siehe das Titelbild.
u Von W. Granville Schmidt. | 13
feinen Kameraden fei auch er zum Segelreffen nach
oben gegangen und habe ſich rittlings auf ein Rahnock
geſetzt. Plötzlich habe er die Seitenlichter eines Schiffes
bemerkt, das direkt auf den „Marechal Oudinot“ zu-
gehalten habe, und ehe er recht zur Beſinnung kam,
ſeien die Schiffe ſchon hart aneinander vorbeigeſtreift.
Er habe nur noch gefühlt, wie ein Rahnock des fremden
Schiffes ihn erfaßte und von ſeinem luftigen Poſten
herunterriß; dann ſei er herabgeſtürzt und habe das
Bewußtſein verloren.
Dieſe Ausſagen des fremden Matroſen wurden forg-
fältig ins Journal eingetragen; denn daraus ergab ſich
ja, daß der Franzoſe, weil er keine Lichter geführt
hatte, allein die Schuld an dem Zuſammenſtoß trug, der
diesmal noch ziemlich glimpflich abgelaufen war, aber
ebenſogut beide Schiffe hätte vernichten können.
Um Mittag traf ich beim Wachwechſel mit dem
Bootsmann zuſammen.
„Na,“ redete ich ihn ſcherzend an, „ſiehſt du nun,
Jim, was es mit deinem „Fliegenden Holländer“ auf
ſich hat? Als eine ganz gewöhnliche alte Kohlenſchute
hat er ſich entpuppt. Jetzt aber auch Kopf hoch! Fit
der erſte Teil des Traumes nicht eingetroffen, tut's
der zweite erſt recht nicht!“
Ich weiß nicht, ob ich mit meinen aufmunternden
Worten viel Erfolg erzielte. Jedenfalls ging Jim
Brown dem Franzoſen weit aus dem Wege, obwohl
ſich Bourget im weiteren Verlauf der Reiſe als ein
williger und fleißiger Matroſe zeigte. Er ſchien durch-
aus nicht unzufrieden darüber, daß das Schickſal ihn
auf ſo eigenartige Weiſe an Bord unſeres Schiffes
verſchlagen hatte.
14 Nur ein Traum. 9
Sonderbar, wie elektriſierend das Wort „Heimat“
auf den Seefahrer wirkt, der vom fernen Lande kom-
mend zuerſt die weißen Kreidefelſen der engliſchen
Kanalküſte vor ſeinen Augen auftauchen ſieht.
Auch den Leuten an Bord der „Port Caledonia“
erging es fo, als an Backbord die Klippen von Dover
aufſtiegen. Ihre Wünſche eilten dem Schiffe voraus.
Nur einer machte eine Ausnahme — Zim Brown.
Je mehr wir uns unſerem Beſtimmungshafen
näherten, um ſo unruhiger wurde er.
Endlich hatten wir die Themſemündung erreicht,
ein Schlepper wurde engagiert, und der Lotſe kam an
Bord. |
„Nun biſt du doch wohl ruhig, Jim?“ meinte ich,
als wir flußaufwärts fuhren.
„Wir ſind noch nicht vor Anker!“ entgegnete er
und heftete die Augen auf das ſpiegelglatte Waſſer,
das von zahlreichen Schiffen belebt war. |
Sein Fatalismus begann mich nachgerade zu ärgern,
und ich wandte ihm kurz den Rücken.
Gravesend, Tilbury und Greenwich wurden paſſiert.
Leuchtend, im Glanze der ſinkenden Sonne, tauchten
in der Ferne die Kuppeln und Türme der Rieſen—
metropole London auf.
Die Ankunft der „Port Caledonia“ war in London
nicht unbekannt geblieben. Das Schiff hatte drüben
lange „geküſtert“ und war gut zwei Fahre fort geweſen.
Jetzt kamen viele Boote, in denen Verwandte unſerer
Mannſchaft ſaßen, uns bereits entgegen, um uns auf
der letzten Strecke das Geleit zu geben. Ein Winken
und Tücherſchwenken hinüber und herüber begann, und
ich bedauerte ordentlich, daß meine Verwandten in
Hamburg wohnten und mich daher niemand bier er—
wartete.
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o Von W. Granville Schmidt. 15
Auf einmal ſah ich, wie über des Bootsmanns
Geſicht, der etwas abſeits von mir auf der Vack ſtand,
ein heller Schein flog, und wie er eifrig ſein Taſchentuch
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hervorzerrte. Seitlich vor uns ſtand in einem Ruder-
boot aufrecht ein junges Mädchen. Sie hatte ihren
Schleier abgenommen und ließ ihn grüßend im Winde
flattern. Kein Zweifel, das war die junge Beſſie,
Browns Verlobte.
16 Nur ein Traum. oO
Mit einem Male geſchah etwas Unerwartetes,
Furchtbares.
Ein einziger lauter Schrei aus weiblichem Munde
ließ mich erſchreckt an die Reling eilen.
In einem Nu hatte ich die ganze Situation erfaßt.
Ein Schlepper war in nächſter Nähe in ziemlich ſchneller
Fahrt vorübergefahren. Durch die verurſachte Wellen-
bewegung gerieten die kleinen Boote ſtark ins Schwan-
ken, und Beſſie, die aufrechtſtehend keinen Halt finden
konnte, taumelte und ſtürzte kopfüber in den Strom.
Ehe ich noch einen Entſchluß faſſen konnte, fühlte ich
mich beiſeite geſtoßen. Es war Zim Brown, der ſich,
die Braut in Lebensgefahr ſehend, mit voller Kleidung
von der hohen Back ins Waſſer ſchwang.
Von allen Seiten eilten die Boote nach der Unfall-
ſtelle, und gleich darauf brachten die Inſaſſen eines
Vergnügungsbootes das junge Mädchen auch ſchon in
Sicherheit.
Und unſer Bootsmann Zim Brown?
Als die Fluten über ihm zuſammenſchlugen, ver-
ſchwand er, um nicht wieder aufzutauchen.
Ein Herzſchlag hatte offenbar ſeinem Leben ein
plötzliches Ende bereitet.
Als ich ging, um dem Kapitän Meldung zu erſtatten,
ſchoß es mir durch den Kopf: War es wirklich nur ein
Traum geweſen?
Wer weiß es!
EICIEJEIEN
Der ſelige Major.
Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel).
(gortſetzung.) 5 (nachdruck verboten.)
Sechſtes Kapitel.
ber den Kiesweg des Vorgartens ſchritt Frau
v. Klüver dem Diener voran zu ihrer Villa.
„Es iſt ein Brief für die Frau Baronin abgegeben
worden vom Herrn Profeſſor Stettenborn.“
Sie nickte und eilte die Stufen hinauf in ihr Ge-
mach.
Da lag das Schreiben auf dem Tiſch. Unter dem
hellen Oeckenlicht hob es ſich blendend von der anne?
Dede ab.
Chriſtas Blicke hafteten mit geſpanntem Anterefie
an den ſteilen Schriftzügen, bevor ſie den Umſchlag
löſte. Dann las ſie, vor Freude errötend:
„Ich werde mich morgen mittag gegen zwölf Uhr
einfinden. Stettenborn.“
Er kam alſo! Nun ſollte alles aus ihrem Herzen
herausquellen, was ſich ſieben lange Fahre darin ange-
ſtaut hatte an Hoffen und Enttäuſchung, an Zukunfts-
angſt und Mutterſchmerz — alles, was die unväterliche
Abneigung ihres Gatten zurückgedrängt.
Wunderſam, wie ihre Phantaſie, dieſe in Schlum-
mer gehaltene Phantaſie, erwachte in Erwartung
1914. X. 2
18 Der felige Major. u
eines Mannes, den fie ſeit ihrer Kindheit nur ein-
mal geſehen, einmal geſprochen, und dem dennoch ihre
Seele mit aller ihrer Laſt und Not entgegeneilte.
In der Nacht hatte ſie einen wunderlichen Traum,
darin ſich alles, was fie umgab, in Nebel auflöfte
und ſelbſt der Fußboden unter ihr zu ſchwinden begann.
Von ihrem eigenen Hilferuf war ſie erwacht und ſah
mit Herzklopfen den jungen Tag am blaſſen Hori-
zonte heraufziehen. —
Punkt zwölf Uhr ließ Profeſſor Stettenborn ſich
anmelden.
Wie ſie ihm entgegentrat, das goldleuchtende Haar
in lockiger Fülle um die Schläfen gelegt, die Augen
von langen Wimpern halb verſchleiert, das liebliche
Antlitz ſanft gerötet in nie gefühlter Spannung, fuhr
ihm der häßliche Klatſch der Majorin v. Kalau durch
den Sinn. Dieſe Frau mit ihrer unbewußten Würde,
dieſe Trägerin allerſympathiſchſter Reize ſollte der
Geiſtesfreiheit ermangeln. Eine Infamie, das nur zu
denken! |
Sie ftredte ihm die Hand entgegen, die er an
feine Lippen drückte. Dann ſprach fie. Er ſaß ihr
zugewandt und hörte mit aufmerkſamem Schweigen zu.
Chriſta wußte wohl, daß langatmige Vorgeſchichten
berühmten Arzten eine Qual zu ſein pflegen, aber
dieſen teilnehmenden Zügen gegenüber löſte ſich un-
willkürlich der Bann ihres unterdrückten Seelen—
lebens, und jedes Wort, wie leiſe es auch über ihre
Lippen glitt, enthüllte Stettenborn die tiefgrün-
dige Empfindungskraft dieſes vereinſamten, in ſich
zurückgedrängten Frauenherzens. |
Von den Tagen glücklicher Hoffnung ſprach fie
mit wechſelndem Erröten und von der traumſeligen
Wonne, ihrem Kinde das Leben geſchenkt zu haben.
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 19
Wie der Gedanke an das Geſchlecht dieſes Kindes
nicht einen Augenblick ihr friſcherwachtes Mutterherz
beſchlichen habe, wie ſie mit allen Kräften die Arme
nach ihm ausgeſtreckt und man es ihr nicht hineingelegt,
ihr nicht gezeigt, bis die Wucht der Wahrheit fie ftard
genug fand, das Unausdenkbare zu ertragen, ohne es
zu faſſen.
Die Grenze, die ſie innehalten wollte zwiſchen ihrem
eigenen und dem Empfinden ihres Gatten, verwiſchte
ſich, je heißer und ſchneller der Blutſtrom ihr zum
Herzen drang — fie ſchwand gänzlich unter dem fragen-
den Blick, der bis in dieſes drängende Herz zu tauchen
ſchien und volle Klarheit heiſchte.
Da legte ſie ihm auch dieſe letzte und qualvollſte
Wunde bloß. Da wußte er, daß ſein Hierſein ein
widerwilliges Zugeſtändnis war und daneben einen
letzten Hoffnungsfunken entfachen ſollte im Mutter-
gefühl dieſes ihn unwiderſtehlich anziehenden jungen
Weibes.
„Sie dürfen überzeugt ſein,“ ſagte er mit Nachdruck,
„daß ich mein ganzes Wiſſen und Können dieſem
beklagenswerten Fall teilnahmvoll zur Verfügung
ſtelle. Nur möchte ich auch zugleich die Kraft beſitzen,
Sie auf die Bahn zu leiten, die aus dem Schickſals—
druck hinausführt zur Selbſtbefreiung, zur Wider-
ſtandskraft, der ſich alle irdiſche Bedrängnis ſchließlich
beugen muß. Es läßt ſich der Anfang dazu finden
in der Einſicht unſeres Unvermögens, etwas durchzu-
ſetzen, was außerhalb der Möglichkeit ſteht, und in der
Überzeugung, daß uns für die Löſung vieler Lebens-
rätſel der rechte Sinn immer fehlen wird. Wenn ſich
dieſer Einſicht die zweite hinzufügt, daß wir dieſes
Unvermögen nicht als Vergewaltigung, ſondern als
eine natürliche Schranke zu betrachten haben, über die
20 Der felige Major. 2
wir uns nicht hinwegſetzen können, ſo erhalten wir die
Kraft, die Bürde ſo weit zu ertragen, daß ſie uns nicht
dauernd wund drückt.“
Sie hatte den Sinn ſeiner Worte wohl verſtanden,
und über ihre Wange rollte Träne um Träne.
Es zwang ihn, ihre Hand zu ergreifen, als ob er
ſie damit in ſich aufrichten und gefeſtigt machen könnte.
„Enttäuſchte Hoffnungen,“ ſagte er mit warmer Herz-
lichkeit, „dürfen uns ein Sporn ſein, unſere Wünſche
umzuwerten, das heißt, einen anderen Weg zu ſuchen,
um Befriedigung zu erlangen. Ganz abhängig von
einem Fehlſchlag, und ſollte er auch der ſchmerzlichſte
ſein, darf ſich kein Menſch machen laſſen. Das Leben
verlangt Willens- und Tatkraft von uns und bietet
uns zugleich darin das Mittel, tiefe Wunden auszu-
heilen.“
Sie hielt die Augen vor ſeinem Blick geſenkt. Wie
auf ein dürſtendes Feld fielen ſeine Worte gleich linden
Tropfen nieder. Nie war der Aufruf zu einer höheren
Lebensauffaſſung an ſie ergangen, nie ein Hinweis
auf die Möglichkeit, ſich aus eigener Kraft zu ihr
durchzuringen. Aber wo war dieſe Kraft? Sie hatte
ſie nicht. In ihr war alles müde und matt — oh,
wie matt geworden in der verbitterten, verquälten
Unzufriedenheit ihres Gatten.
Sie vermochte es nicht, ihre Finger aus Stetten-
borns Hand zu löſen. Sie dachte nicht einmal daran,
daß er ihre Rechte mit feſtem Druck umſpannte. Sie
fühlte es nur wie einen warmen Strom in ſich hinüber-
gleiten, der ihre Gedanken zurückwandte in die Zeit,
da ſie ſich ſelbſt noch nicht verſtand.
Verſtand ſie ſich denn jetzt? Wußte ſie, was im
Geheimſten ihrer Seele ſich unruhevoll bewegte unter
Stettenborns Worten?
. Roman von Georg Hartwig (Emmy Noeppel). 21
„Wollen wir jetzt zu der Kleinen hinüber—
gehen?“
Sie ſchrak auf. Zum erſten Male war über das
Bild ihres Kindes ein Schleier gefallen, der bei dieſer
Frage jäh zerriß. „Ja,“ ſagte ſie aufatmend. „Wir
wollen gehen.“
Er hatte den Blick nicht von ihr gewendet. Alſo
las er die Gedankentätigkeit auf ihrer Stirn, dieſe
taſtenden und ſuchenden Gedanken, die hilflos durch-
einanderſchwirrten.
Neben ihm ſchritt ſie den Gang hinab. Vor der
Tür hielt er ſie noch einen Augenblick auf.
„Ich möchte um die Gunſt bitten, neben dem Arzt
auch den teilnahmvollen Freund jetzt in mir ſehen
zu wollen.“
Sie nickte. „Gewiß!“ Und wieder fielen feine
Worte erquidend in ihr Herz.
Die Wärterin hatte die Bettſtatt vor das Kamin-
feuer gerollt, deſſen Kniſtern und Praſſeln das einzige
Leben in dieſem Raume zu ſein ſchien.
Ein weißer Schleier lag über die Kiſſen gebreitet,
um das blendende Licht der Flamme zu dämpfen.
Ihr roter Widerſchein ſpielte darauf, glitt hinauf und
hinunter, als zupfe eine unſichtbare Hand an dem
leichten Geſpinſt.
Stettenborn gab der Wärterin einen Wink, zurück-
zutreten. Frau v. Kalaus temperamentvolle Beſchrei—
bung ging ihm durch den Sinn, als er Schleier und
Oecke lüftete.
Chriſta war es, als hörte ſie ihren Herzſchlag durchs
Zimmer hallen, als er ſich über ihr Kind neigte. Nur
einen Funken Hoffnung jetzt — und der unväterlichen
Abſicht ihres Gatten wurde eine Schranke errichtet.
Sie wartete mit atemloſer Spannung darauf. Jede
22 Der ſelige Major. u
Bewegung, die Stettenborns Kopf und Hände machten,
jede ſeiner Mienen verfolgte ſie mit angſtvoller Ungeduld.
And jetzt richtete er ſich auf, legte Schleier und
Decke ſanft zurück auf ihren Platz, ſtrich einige Male
langſam darüber hin und winkte der Wärterin, ihre
Stelle wieder einzunehmen.
„Gehen wir wieder hinüber,“ ſagte er, ſich nach
der Tür wendend, durch die ſie ihm ohne Zögern
voranſchritt.
Durch den lichtblauen Salon, deſſen reiche Aus-
ſtattung zu dem eintönigen Weiß des verlaſſenen
Zimmers in farbefreudigem Gegenſatz ſtand, huſchte
ein Sonnenſtrahl vom Fenſter her bis zu der Stelle,
wo Chriſtas fragender Blick in Stettenborns Augen zu
leſen ſuchte.
„Wenn Sie geſtatten, nehme ich noch einmal
Platz,“ ſagte er und ließ ſich im Seſſel neben ihr nieder.
Sie tat, wie er wollte. Die Hände hielt ſie auf den
Knien gefaltet, und der Sonnenſtreif fiel wie ein
goldenes Band darüber hin.
Das ahnte ſie nicht, daß er bereits in ihre Seele
geſehen und mehr darin geleſen hatte, als ihr ſelbſt
bewußt war, daß er die Quelle ihres Leides verfolgte
über das verſagte Mutterglück hinaus bis zum Ur-
ſprung, bis dahin, wo die Sehnſucht des Weibes
nach Liebe und Liebeshingabe verborgen ſchlummerte.
Für jeden Seelenkundigen ſtand das wie eine ſtumme
Anklage und Klage in Chriſtas Augen zu leſen.
„Herr Profeſſor —“
Viel mehr als das empfindungsloſe Kind ſelbſt be-
ſchäftigte ihn die Löſung des ehelichen Konflikts, deſſen
Urſache dieſes Kind geworden war. Es wäre ihm
unendlich lieber geweſen, angeſichts der hoffenden
Zuverſicht in Chriſtas Zügen unbeteiligt geblieben zu
D Roman von Georg Hartwig (Emmy Noeppel). 23
fein, und zum erſten Male fühlte er eine Mechiel-
wirkung von Sachlichem und Perſönlichem in ſich leben-
dig werden.
„Frau Baronin,“ ſagte er, ſich ihr voll zuwendend,
fo daß fie feinem Blick ſtandhalten mußte, unwider“
ſtehlich angezogen von dem ſprechenden Ausdruck ſeiner
dunklen Augen, „ich bin unter allen Umſtänden dafür,
daß das Hinhalten mit falſchen Hoffnungen ein Vergehen
iſt gegen die geſunde Vernunft, die immer die Kraft
beſitzt, ſich mit der Wahrheit abzufinden — wenn es
fein muß. Der Spruch: ‚Ein Wahn, der mich beglückt,
iſt eine Wahrheit wert, die mich zu Boden drückt,“
iſt eine irreführende Täuſchung. Nur der Menſch iſt
zu bedauern, der ohne eine ſolche Brille und Binde vor
den Augen nicht leben könnte. Ich habe wohl nicht
nötig, zu verſichern, daß ich mit dem beſten Willen
an meine Aufgabe herangetreten bin, das Urteil
meiner Kollegen zu berichtigen und in Ihrem ZIntereſſe
womöglich umzuſtoßen. — Frau Baronin,“ fuhr er
mit ſchonender Dämpfung der Stimme fort, „ich bin
zu der Überzeugung gekommen, mich dieſem Urteil
anſchließen zu müſſen. Für Ihr Kind iſt weder Hilfe
noch Beſſerung zu erwarten.“
Als er ſie heftig die Farbe wechſeln ſah, legte er
die Rechte mahnend auf ihre gefalteten Hände, daß
der Sonnenſtrahl jetzt auch über feine Hand ein golden
warmes Band ausſpannte. ö
„Das wußten Sie ja auch vorher, und ich bitte
Sie dringend, jeglicher Verſuchung, ferner noch hoffen
zu wollen, aus dem Wege zu gehen. Das Kind leidet
nicht, aber Sie leiden — und es iſt Ihre Pflicht,
Unabänderliches mit Ergebung zu tragen. Unſere
Unvollkommenheit zwingt uns dieſe Ergebung auf,
nicht energieloſe, ſondern charaktervolle Überzeugung
24 Der felige Major. 2
von der Unlösbarkeit harter und härteſter Schidfals-
rätſel.“
Er ſah ihre Lippen zittern unter unausgeſprochenen
Worten, die ſo raſch nicht flüſſig werden wollten in
ihrem bis zum Übermaß bedrängten Herzen.
„Laſſen Sie neben dem Arzt auch den Freund zu
Wort kommen,“ ſagte er tiefbewegt von dieſem jprechen-
den Bild ſchmerzlichſter Ergriffenheit, ihre verſchlunge-
nen Hände ſanft löſend, um den inneren Zwang in
ihr zu brechen. „Schenken Sie mir die Genugtuung,
mich als ſolchen betrachten zu dürfen.“
Wie ſie unter ihren Wimpern hervor ſein Auge
ſuchte mit einem Blick, der ihm die ſeeliſche Verlaſſen⸗
heit dieſes jungen Weibes reſtlos enthüllte, fühlte er
in nie empfundener Teilnahme ſeine Pulſe ſchneller
ſchlagen.
„Ich danke Ihnen,“ ſagte ſie leiſe. „Mein Kind
leidet alſo nicht?“
„Nein. Und es wird auch nicht leiden,“ ſagte er,
ihre Finger beruhigend an ſeine Lippen drückend.
„Mein Wort darauf. Wenn Sie ſich in dieſen Gedanken
verſenken, wird die Laſt bedeutend erleichtert werden.
Ihre Liebe iſt die Sonne in dieſem Traumdaſein.
Die ſoll ihm nicht entzogen werden, ſoweit ich es
verhindern kann.“
„Sie wollten dafür ſprechen?“ fragte ſie mit banger
Freude.
„Sicher. Ich werde mich ſofort von hier zu Herrn
v. Klüver begeben und mein Wort in die Wagſchale
werfen. Dieſer Troſt ſoll Ihnen nicht geraubt werden,
ſolange ich dafür eintreten kann. Vorausgeſetzt,“ fügte
er mit gewinnendem Nachdruck hinzu, „daß Sie das
zur Richtſchnur Ihrer Gedanken nehmen, was ich
Ihnen ans Herz legte.“
DB Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel. 25
Wie fie jetzt nebeneinander ſtanden, zog es wie ein
ſchwerer Traum über ihre Seele hin. Das Leben lag
vor ihr wie ein weites, ödes Land, blumen; und
fruchtlos.
Dieſen in ſich gekehrten Blick mochte Frau v. Kalau
einſtmals aufgefangen und freundlicherweiſe daraus
Geiſtesunfreiheit geleſen haben. Stettenborn bewertete
ihn anders. Er folgte ihm in das Unausgeſprochene
nach und legte feine ſtille Mitwiſſenſchaft ſchonend
darüber.
„Selbſtverſtändlich ſtehe ich allezeit zur Verfügung,“
ſagte er leiſe.
Es ging wie ein Erwachen über ihr liebreizendes
Antlitz — kein allzu ſchnelles. Seine Stimme war
wie ein Glockenton über das öde Land gegangen, wie
einſtmals die kleine Dorfkirche daheim ihr Sonntags-
geläut weithin erſchallen ließ.
Was waren denn das für Gedanken geweſen, die
in ihrem Herzen damals aufflatterten, wenn ſie den
Wieſenrain entlang zum Nachbardorfe ſchritt, das Ge-
ſangbuch in der Hand, den friſch gepflückten Strauß
im Gürtel? Und es war ihr, als ſei die kleine Welt,
darin ſie lebte, ein Märchenbuch geweſen, das nur
Fröhliches erzählte und ihr Kinderherz beglückte. Ach
ja, Fröhlichkeit und Glück, das waren damals ihre Ge-
danken geweſen, nun wußte ſie es wieder. Und ein
Lächeln glitt über ihre Züge, ein Lächeln der Wehmut
über die ſchillernden Seifenblaſen, die in nichts zer-
ſtoben und nur Tränen hinterließen.
Stettenborn unterbrach ihr Schweigen mit keinem
Zeichen der Ungeduld. Wußte er dieſes ſtille Lächeln
auch nicht zu deuten, daß es einer tiefen Gefühlsregung
entſtammte, das fühlte er mit der unfehlbaren Macht
der Sympathie.
2% Der felige Major. 21
„Verzeihen Sie meine Unaufmerkſamkeit,“ ſagte
Chriſta, über ſich ſelbſt errötend. „Es ging mir ganz
plötzlich etwas durch den Kopf — eine Erinnerung.
Mitten hinein in vergangene Tage ſtellte ſie mich.“
„GGewiß,“ ſagte er herzlich. „Das iſt eine bekannte
Sache. Irgendwo in einer Gehirnzelle verborgen
ſchläft eine Erinnerung, und durch den geringfügigſten
Umitand, einen Duft, eine Farbe, einen Laut, wird fie
plötzlich ausgelöſt und erwacht. Es gehört das mit
zu den Rätſeln unſeres Seelenlebens.“ |
Daß fie verſtanden wurde, entflammte ihre Dant-
barkeit von neuem. Die acht Jahre ihrer Ehe hatten ſie
gezwungen, alles in ſich zu verſchließen, was in ihrer
Seele Widerſpruchvolles und Unbegriffenes ſich regte.
Sie fühlte nun dieſe lange Zurückhaltung ſchwinden
gleich der drückenden Spannung eines gewitterſchwülen
Tages.
„Ich bitte, über meine Zeit verfügen zu wollen,“
wiederholte Stettenborn, „wenn Sie glauben, daß
ich irgendwie von Nutzen ſein kann.“
Er wußte es ſelbſt nicht, daß ihm dieſe Worte viel
mehr bedeuteten als ein freundliches Entgegenkommen,
daß ſein hingezögertes Verweilen an Chriſtas Seite
ein vollkommener Widerſpruch war gegenüber ſeiner
ſonſtigen minutenberechnenden Gepflogenheit. Aber
der ſprechende Ausdruck ihrer Augen, durchleuchtet
von innigem Vertrauen, feſſelte ihn, den Dielerfahre-
nen, den Menſchenkenner, unwiderſtehlich.
„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für alles,“
ſagte ſie mit leiſer Stimme, die ein Unterton durch-
bebte, deſſen Urſprung ſie nicht kannte. „Immer werde
ich daran denken, daß mein Kind nicht leidet. Das
iſt der ſchönſte Troſt, den Sie mir geben konnten —
darauf ſtütze ich mich. Nur noch das eine wenden
. Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 27
Sie von mir ab, das Schwerſte. Niemals, niemals
würde ich in eine Trennung willigen.“
Er verneigte ſich und küßte ihre Rechte. „Ich
tue, was ich kann. Ein Mehr ſteht nicht in meiner
Macht.“ | |
Die große Standuhr auf der Diele ließ ihre klang⸗
volle Stimme ertönen. Er achtete nicht darauf. Hatte
er ſich nicht beinahe zu weit feſtgelegt mit feinem Ver-
ſprechen? Und wieder war es Chriſtas Bild, das ihn
antrieb, für ſie in die Schranken zu treten nach beſtem
Wiſſen und Können.
Der Freiherr, der dieſem Beſuche aus dem Wege
hatte gehen wollen, erhob ſich bei Stettenborns Ein-
tritt ſehr förmlich und gemeſſen. „Was ſteht Ihnen
zu Dienſten, Herr Profeſſor?“
Da Stettenborn in ihm nichts weiter ſah als den
Baron Klüver, konnte deſſen Perſönlichkeit ihm nicht
mehr Intereſſe abgewinnen als jeder andere, deſſen
Bekanntſchaft zu machen er freiwillig oder unfreiwillig
genötigt war. Allerdings konnte er ſich gleich an-
fänglich dem Eindruck nicht entziehen, daß die Jugend
und Anmut der Baronin, inſonderheit ihr zartes
Empfinden in Widerſpruch ſtanden mit der Weſensart
und Altersſtufe ihres Gatten. Indeſſen wenn dieſe
Gegenſätze nur am Außeren hafteten und nicht tiefer
hinabſtiegen ins Seeliſche, hatte er ſie oft genug
durch Neigung und Vertraulichkeit ausgeglichen geſehen.
Anders jetzt, da er das Band, das beide hätte verbinden
ſollen, zum Gegenſtand eines traurigen Zwiſtes werden
ſah, da gewann auch die Perſönlichkeit des Freiherrn
für ihn Intereſſe.
„Ich komme von Ihrer Frau Gemahlin,“ fagte
Stettenborn mit ruhiger Beſtimmtheit, „und halte es
für meine Pflicht, Ihnen das Ergebnis meiner Unter-
28 Der ſelige Major. 0
ſuchung des Kindes mitzuteilen. Unter Männern läßt
ſich darüber offener ſprechen als angeſichts der Herzens
not einer Mutter.“
Herr v. Klüver, deſſen Nerven von dieſem Thema
ſogleich in Aufruhr gerieten, zuckte ſichtlich zuſammen.
„Wenn meine Frau ſich zu meiner Anſicht bekehren
könnte,“ ſagte er, die Hand bewegend, als ſchöbe er
etwas von ſich, „würde es uns leichter geworden ſein,
die Bosheit des Schickſals zu ertragen.“
V zich habe keine Bedenken gehabt,“ fuhr Stetten
born mit derſelben Ruhe fort, „Ihrer Frau Gemahlin
die gänzliche Ausſichtsloſigkeit des Falles klarzulegen —“
„Haben Sie?“ fiel Klüver lebhaft ein, und ſein
mattes Auge lebte auf, als er dem Profeſſor ſeine
Rechte entgegenſtreckte. „Aber haben Sie auch die
Gewißheit, daß ſie davon überzeugt iſt?“
„Ich glaube — ja!“
„Nun dann haben Sie alſo das fertig gebracht,
was mir ſeit Jahren die Ruhe meiner Nächte und die
Behaglichkeit meiner Häuslichkeit zerſtört,“ ſagte der
Freiherr, aus gemeſſenſter Zurückhaltung in faſt fieber
hafte Mitteilſamkeit verfallend, wobei ſich auf ſeinen
farbloſen Wangen eine fleckige Röte zeigte. „Ich will
Sie nicht behelligen mit dem, was dieſe — dieſer
Fall hinſichtlich meines Namens und Familienerbes
bedeutet. Über die Mißſtände, die er gezeitigt und mir
aufgedrungen hat, will ich ſchweigen. Ich will nur
das mir eigentümliche Empfinden äußern, will es
endlich anerkannt ſehen.“ Er hielt den Kopf eine Weile
geſenkt, dann erhob er ihn wieder und ſagte mit einem
Ausdruck, der die Grenze des Fanatismus hart ſtreifte:
„Ich kann an das — da drüben nicht denken ohne Grauen
und Bitterkeit. Sie werden ſagen, es ſei weit genug
von mir entfernt. Gut, aber nicht weit genug, um
u Roman von Georg Hartwig (Emmy KRoeppel. 29
mich nicht ſtändig an ſich zu erinnern. Es tritt, obwohl
ich ſeit Fahren ihm fernblieb, unausgeſetzt vor mich
hin, es ſtört mir jede Vorausſicht, es hemmt meine
Gedanken, es frißt an meinem Leben, es verfolgt
mich — 00
Er brach mit hartem Räuſpern ab, als verſperre
ihm etwas die Sprache.
„Herr Baron,“ ſagte Stettenborn, das forſchende
Auge feſt auf ihn richtend, „ich kann Ihnen die Ver-
ſicherung geben, daß der Zeitpunkt nahe iſt, der Ihnen
Ruhe und Frieden zurückgeben wird. Mißbildungen
wie dieſe überſchreiten ein gewiſſes Alter nicht — und
die Grenze iſt nahe gerückt.“
Klüver fuhr zuſammen. Er preßte ſeine Hand
gegen die Stirn. „Was wollen Sie damit ſagen?“
„Was ich Ihrer Frau Gemahlin anzudeuten nicht
für richtig hielt, was hingegen zu Ihrer Kenntnis
kommen muß in Ihrem eigenſten Intereſſe und im
Intereſſe Ihrer Frau Gemahlin, die ſich der Über-
führung des Kindes in ein Krankenhaus mit aller
Energie ihres Mutterherzens widerſetzt. Ich betone
das ausdrücklich, denn es bedeutet eine Schädigung
der Geſundheit der Baronin, ſie in die Notwendigkeit
eines Widerſtandes zu verſetzen.“
Die Stirn des Barons verfinſterte ſich bei dieſen
Worten. Kalt und mißtrauiſch maß er Stettenborn
mit den Blicken. „Angeſichts meiner Empfindungen, die
ich Ihnen klarlegte, erſcheint es ſonderbar, Sie vor
möglicherweiſe eintretenden, jedenfalls vorübergehen
den Störungen des Geſundheitszuſtandes meiner Frau
warnen zu hören. Wenn Sie mir den Beweis liefern
können,“ fuhr er mit ſich ſteigernder Ungeduld fort,
„daß es in dieſem Fall betreffs der Unterbringung
und Pflege einen Unterſchied gibt, ob hier oder dort,
30 Der ſelige Major. 1
nahe oder fern, wo meine Vermögensumſtände dafür
haften, daß keinerlei Verſäumnis geſchieht —“
Er brach ab, und in feinem erregten Mienenfpiel
las Stettenborn, wie ſich alles in ihm gegen dieſe
Unterredung ſträubte.
„Herr Baron,“ ſagte er mit unabweisbarem Nach-
druck, noch einen Schritt näher an ihn herantretend, „ich
ergänze das vorhin Geſagte dahin, daß das Leben des
Kindes ein Jahr nicht mehr überſchreiten wird, daß
aber Umſtände eintreten können, die ſich aller Wahr-
ſcheinlichkeit nach jetzt ſchon vorbereiten, die ein
ſchnelles, ein ganz plötzliches Ende herbeiführen.
Wenn die Überwindung, die Sie bis jetzt geübt haben,
dieſe kurze Spanne Zeit noch überdauert, ſo wird
Ihrer Frau Gemahlin der herbſte Schmerz erſpart
bleiben.“ |
Der Freiherr fuhr haſtig auf, als feien feine Ge-
danken nicht mehr bei Stettenborns letzten Worten
geweſen. „Wie lange ſagten Sie? Ich glaube, ein
Jahr vernommen zu haben?“
„Ein kurzes Jahr.“
„Und das — dafür können Sie einſtehenꝰ |
„Zuverläſſig. Die Natur iſt dann doch barmherzig
und macht ein Ende. Die Erfahrung lehrt es.“
„Und wenn die Erfahrung irrt?“
„Sie irrt nicht.“
Klüver wandte ſich ab. Seine hohe, gebeugte Ge—
ſtalt ſchritt über die Stelle hin, wo fein Vetter Vollrad
ihn einen ausgemachten Narren genannt, und bitterſter
Groll zog tiefe Falten um ſeine Mundwinkel. Er
drückte die Hand gegen die Schläfen. Plötzlich ſah er
jäh um ſich und auf Stettenborn, deſſen Gegenwart
er ganz vergeſſen zu haben ſchien. „Herr Profeſſor,“
ſagte er mit zurückgewonnener Haltung, „ich danke
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Noeppel). 31
Ihnen für die Mitteilung Ihrer ärztlichen Begutachtung.
Sie wird mich beſchäftigen ſowohl in meinem Intereſſe
als im Intereſſe meiner Gattin.“
„Das hoffe ich beſtimmt, Herr Baron. Sie können
für beide Teile das Beſte daraus ziehen.“
Weiter konnte er nicht gehen, wenn auch Chriſtas
Bild, wie ſie ihm hoffnungsvoll ins Auge geſehen,
treibend vor ſeiner Seele ſchwebte. Dies war die
Grenze.
Er verneigte ſich grüßend und ſchloß hinter ſich die
Tür.
Der Freiherr ſah ihm unter zuſammengezogenen
Brauen nach. Dieſes ſtete Angeſchautwerden war ihm
überläſtig geworden. Er fühlte ſich matt und von
Gliederzittern befallen, der geiſtigen Spannkraft be-
raubt. In feinen Arbeitsſeſſel zurüdgelehnt, ſtarrte
er trübe vor ſich hin. Dieſe ihn immer wieder über-
fallende Schlaffheit hinderte ihn wie eine gelähmte
Hand. a
Es gab ein Mittel, dieſes Unvermögen zu beſeitigen.
Vor Fahren hatte es ihm zur Linderung neuralgiſcher
Schmerzen gedient. Danach war es in Vergeſſenheit
geraten. Aber dann kam eine Stunde, wo ſeine ſeeliſche
Verfaſſung auch ſeine Körperkraft ſo herunterdrückte,
daß er, an ihrer Wiedergewinnung verzweifelnd,
ſich deſſen erinnerte, was ihm einſtmals wohlgetan.
Jenes finſtere Etwas, das Chriſta in jener Mond-
ſcheinnacht über die weißſchimmernden Gartenſteige
zwiſchen den dunklen Büſchen zum Haufe heranſchleichen
zu ſehen glaubte, darauf ſie in Ahnungsſcheu hinſtarrte,
ließ Klüver die Schublade öffnen und das verderbliche
Heilmittel zur Hand nehmen.
Die Wunderwirkung, die ihm das Morphiumgift
bereitete, der jähe Aufſchwung, den es feinem Geiſte
32 Der felige Major. Oo
verlieh neben einer körperlichen Elaftizität, die ihn ver-
jüngte, trieb ihn zu einer ſteten und geſteigerten
Wiederholung.
Scheu, im Bewußtſein des Vergehens gegen ſich
ſelbſt, verſchloß er dies Geheimnis tief und feſt vor aller
Mitwiſſenſchaft. Stettenborns forſchende Augen hatten
heute an ſeinen Nerven mehr noch gezerrt als der
Gegenſtand ihrer Unterredung. Sie hatten ihm, der
ſonſt in unbeugſamem Selbſtgefühl anderen gegen-
übertrat, Furcht eingeflößt, die Furcht, erkannt zu ſein.
Aber dieſes Fürchten, wie ſehr es auch die Nieder-
lage ſeines Geiſtes und Körpers beförderte, konnte die
Sehnſucht nach dem Zaubergift nur vermehren.
Der Freiherr ſtreifte den Armel zurück — ein leichter
Stich, der Tropfen kam ins Blut — und die Unfähigkeit
wandelte ſich in trügeriſche Kraft.
Stettenborn war der Gedanke durch den Kopf ge-
gangen, der Baronin Mitteilung zu machen von dem
Ergebnis feiner Unterredung. Er drängte ihn zurück
als ausſichtslos und unberechtigt, nahm aus den Händen
des Dieners Pelz und Hut entgegen und verließ die
Villa, um einen Einblick bereichert in die glanzvolle
Not fo manches anſcheinend bevorzugten Menfchen-
daſeins.
Unter dem lärmenden Gezänk der Spatzenſcharen
im kahlen Lindengezweig ſchritt er durchs Gittertor
den Weg zur Stadt zurück. Der Wind hatte ſich nach
Norden gedreht und wehte ihm friſch entgegen. Weiße
Flöckchen, ſcharf wie Nadelſpitzen, umſtrichen ſein Haupt.
Sie neſtelten ſich in Bart und Pelzwerk gleich glitzern-
den Diamantenſplittern und prickelten auf Stirn und
Wangen geſunde Winterröte hervor.
Stettenborn achtete deſſen nicht. Er hatte an ſo vielen
a Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 33
Stätten des Kummers und der Not geſtanden, fo
viele Mütter erhoben ſchon zu feiner Hilfe die flehen-
den Hände, ſo viele Gatten und Väter ſtützten ſich
auf feine Kraft. Wann wäre ihm nicht der Menſch-
heit ganzer Jammer entgegengetreten an ungezählten
Krankenbetten! Und wie oft hatte er nicht den Kopf
geſchüttelt und hoffendes Drängen zur Ergebung ver-
wieſen! Warum denn jetzt die unruhevolle Anteil-
nahme an dieſem gänzlich ausſichtsloſen Fall? War
es denn nicht Torheit, ſich zum Schirmer bedrohter
Rechte aufzuwerfen, die auf dem Boden des Geſetzes,
dem väterlichen Rechte gegenüber, in nichts zufammen-
fielen? Weichliches Mitgefühl war ſonſt nicht ſeine
Sache, und doch hatte er Chriſtas Hand mit tiefem Mit-
leid heute umſchloſſen und ihren vertrauensvollen Dank
zu ſeinen ſchönſten Erfolgen gezählt.
Warum? Wie kam das über ihn? —
„Guten Morgen, Herr Profeſſor! Eigentlich ge-
ſegnete Mahlzeit! Ich glaube, es iſt höchſte Eſſenszeit.“
Bärbel ſtand hinter ihm, das Geſicht vom raſchen
Lauf reizend gerötet.
„Beſten Dank!“ ſagte er, aus feinem Sinnen auf-
geſtört, und hielt den Schritt an. „Ich ahnte nicht —“
„Ich ſah Sie ſchon, als Sie die Villa Klüver ver-
ließen,“ ſagte Bärbel. „Sie waren aber ſo verſunken,
daß Sie mich gar nicht bemerkten und ich mich ſchließlich
in Galopp ſetzen mußte. Mama hat heute Migräne, des-
halb laufe ich allein herum. Können Sie ihr nicht etwas
geben, damit ſie wieder zum anſtändigen Menſchen wird?“
Er mußte lächeln. „Geben? Gewiß! Aber für die
Wirkung ſtehe ich nicht ein. Iſt es denn fo ſchlimm?“
„Na, ich danke!“ |
Er mußte abermals lächeln. „Soll ich Ihnen etwas
aufſchreiben — ohne Garantie, daß es hilft?“
1914. Xx. 8
34 Der felige Major. D
„Ja,“ fagte fie, und ihre dunklen Augen leuchteten
ſchelmiſch auf. „Ich kann es ja als Autograph be-
trachten.“
„Sammeln Sie?“ Es war ihm lieb, von ſeinen
Gedanken abgelenkt zu werden. |
„Rezepte — wie die gute Rätin Breunicke?“ rief fie
lachend. „Wenn Sie das noch mal von mir denken —“
„Na, was dann?“ fragte er, auf ihren Scherz ein-
gehend.
„Würde Ihnen etwas daran liegen, wenn ich ſagte:
dann ſind wir geſchiedene Leute?“
„Untröſtlich würde ich ſein.“
Bärbels Blicke ſenkten ſich einen Augenblick. „Waren
Sie bei Klüvers zu Beſuch?“
„Arztlich.“ Er glaubte ſie zu verſtehen und einen
Stich herauszufühlen. „Ich war ſchon oft im Begriff,
Ihrer Frau Mutter einen Antrittsbeſuch abzuſtatten,
aber —“
„Und warum find Sie nicht gekommen?“ fiel fie
haſtig ein.
„Habe keine Zeit gehabt. Jetzt hoffe ich es nach-
zuholen.“ Er konnte nicht ſagen, daß ihm Frau v. Kalau
durchaus keine Sympathie eingeflößt hatte, als ſie
Chriſta v. Klüver im Handumdrehen geiſtig minder-
wertig gemacht. Das Thema wechſelnd ſagte er in
ſcherzendem Tone: „So leicht wie für eine gewiſſe
junge Dame geſtaltet ſich mein Daſein nicht.“
„Haben Sie ſchon einmal in mich hineingeguckt,
um zu wiſſen, wie es drinnen bei mir ausſieht?“ fragte
ſie haſtig. „Weil ich manchmal ein bißchen Ulk mache
und moraliſche Naſenſtüber austeile, weil ich das Leben
in dieſem Städteparadies auf die leichte Achſel nehme
und nicht die liebe Unſchuld vom Lande ſpiele, meinen
Sie, der Alk und das Blech wäre ich ganz und gar? Ich
i Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppell. 35
bin hier dem Verhungern und Verdurſten nahe — ja,
wonach denn eigentlich?“ unterbrach ſie ſich lachend.
„Leſen Sie viele Romane?“ fragte Stettenborn
ſtehenbleibend, um ihr ins Auge zu ſehen. „Scheint
mir faſt fo. Romane mit dem intereſſanten Frage-
zeichen hinten und einem dunklen Punkt in der Mitte!
Es kommt nämlich vor, daß ſich in jungen Köpfen dabei
Begriffsverwechſlungen einſtellen in betreff des Hun-
ger- und Durſtgefühls.“
Sie war leicht errötet. „Ach, woher denn! Ich
habe ſchon ganz richtige Begriffe. Übrigens bin ich
zwanzig Jahre alt — zu meiner Mutter Entſetzen.
Er reichte ihr die Hand. „Das iſt nett, daß Sie
nicht bei den achtzehn ſtehen bleiben — wirklich groß-
zügig! Das iſt eine meiner ſchwerſten Nöte, das richtige
Alter bei meinen Patientinnen feſtzuſtellen. — Aller-
dings,“ ſetzte er liebenswürdig hinzu, „wenn man ſo
ausſieht wie Sie, kann man ſelbſt die böſe Dreißig ruhig
zugeben.“
Ein lichter Glanz kam in ihre Augen. „Freut mich.
Und weil Sie das ſo hübſch geſagt haben, will ich Ihnen
auf dem Bafar eine Rofe ganz für umſonſt ins Knopf—-
loch ſtecken.“
„Danke ſchön. Und nun gute Beſſerung für die
Frau Mama!“
Värbels Hand lag noch in der feinen. Ihm war, als
fühlte er ihre Wärme durch die Handſchuhe dringen.
„Alſo auf Wiederſehen!“ ſagte ſie, und zwiſchen ihren
roten Lippen ſchimmerten die weißen Zähne abjonder-
lich reizvoll. „Ich werde meine Mutter auf das große
Ereignis vorbereiten, wenn fie wieder ſalonfähig ge-
worden iſt.“
Sie zog ihre Hand zurüd und eilte davon.
Daß fie bildſchön war, verkannte er keineswegs, und
2 N
36 Der ſelige Major. ö
zwar ſo wenig, daß er nicht umhin konnte, es zu be-
dauern, in ihr Frau v. Kalaus Tochter zu ſehen. Es
wollte ihn bedünken, daß dieſe Mutterſchaft mehr Ge—
fahr als Schutz bedeutete und einer leidenſchaftlichen
Natur ſo wenig Richtſchnur zu ſein vermochte, wie ſie
der eigenen Veranlagung Zwang aufzulegen imſtande
war.
Bärbels Gang nach Haufe hatte etwas Veflügeltes
an ſich. Zierlich wie eine Bachſtelze ſchritt ſie immer
dahin, heute war es noch dazu, als federe der Boden
unter ihren Füßen. Und dazu erſtrahlte ihr Antlitz in
verträumtem Glanz.
Genau an derſelben Straßenecke, an der die Ma-
jorin mit dem Federhut der Kommerzienrätin zu-
ſammengeſtoßen war, ſtieß Bärbel auf eine Geſtalt,
die von der Begegnung ſo gefeſſelt ward, daß ſie ihr
gegenüber ruhig ſtehen blieb, ohne Platz zu machen.
„Ach ſo!“ ſagte fie, die Lippen leicht verziehend.
„Bitte! — Oder ſoll ich erſt wieder nötigen: Nur vor-
wärts, Sie Muſter von Schönheit! Platz iſt für
ſechs da.“
Arnolf Mertens rührte ſich nicht. In den Tagen,
die zwiſchen jenem erſten Wiederſehen lagen, war der
Entſchluß feſt und feſter in ihm geworden, eine Aus-
ſprache zu erzwingen, mochte ſich dagegen ſtemmen,
was da wollte.
„Sie haben mich fühlen laſſen, daß ich auf Scho-
nung Ihrerſeits nicht zu rechnen habe. Und wenn ich
auch zugeben muß, daß ich anſcheinend nichts Beſſeres
verdiene, ſo —“
„Anſcheinend iſt gut,“ warf ſie ſpöttiſch ein.
„Fräulein v. Kalau,“ ſagte Arnolf, den Einwurf
nicht beachtend, „die Lage, in der ich mich Ihnen gegen-
über befinde, zwingt mir die Bitte auf die Lippen, mir
a Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 87
einmal Gehör zu ſchenken — einmal nur. Und das,
was Sie an mir verurteilen, wird Entſchuldigung fin-
den. Geben Sie mir Gelegenheit dazu, oder,“ ſetzte er
erregter hinzu, „geſtatten Sie mir, daß ich ſie finde.“
Ihre Blicke hatten ſich von ihm abgewandt. Neben
ihm ſah ſie im Geiſt Stettenborn ſtehen, wie er von
ihrer Schönheit ſprach — und ein heißes Flimmern
ſtieg von ihren Augen auf. Sie hatte einmal geleſen:
Wenn ein Mann ein Weib ſchön findet, will er es auch
beſitzen. Dieſer Gedanke ſchoß mit der Plötzlichkeit
einer Stichflamme hervor, blendend und verſengend.
Der Atem zerpreßte ihr einen Augenblick die Bruſt, daß
ſie die Lippen öffnen mußte, um Luft zu ſchöpfen.
„Sie antworten mir nicht?“ fragte er mit fchmerz-
lichem Vorwurf.
„Was wir beide uns zu ſagen haben“ — Bärbels
Stimme zitterte noch unter der wonnigen Bezaube-
rung, die über ſie hingerieſelt war — „bedarf keiner
langen Vorrede. Die Geſchichte iſt ganz einfach: Sie
haben von uns nichts mehr wiſſen wollen. Jetzt iſt die
Reihe an uns, dasſelbe zu tun. Wurſt wider Wurſt.“
„Sie irren ſich,“ ſagte er haſtig. „Wenn ich Sie
aufgeklärt haben werde —“
In dieſem Augenblick ging Frau Breunicke mit
ihrer Tochter Meta auf der anderen Seite der Straße
vorüber, und Bärbel lachte hell auf. Die Frau Juftiz-
rätin machte große Augen, als ſie des Paares anſichtig
wurde, und Fräulein Meta errötete unmäßig unter
ihrem züchtigen Schleier.
„Gehen Sie hinüber — ſchnell!“ ſagte Bärbel, ihr
lockiges Haar von der Stirn ſtreichend. „Machen Sie
eine Glückliche! — Und viel Vergnügen!“
Sie drehte ſich gewandt auf dem Abſatz herum und
eilte davon. — — —
38 Der felige Major. u
Frau v. Kalau hatte mit Hilfe ſtarken Kaffees den
Migräneanfall überwunden und hörte nun mit Ent-
ſetzen, was ihre Tochter an unvorſichtiger Torheit ge-
leiſtet.
„Bärbel,“ fagte fie, ihre gefalteten Hände ver ſich
hin ſtreckend, als flehe ſie unſichtbare Mächte um Hilfe
an, „biſt du denn von aller Vernunft verlaſſen? Das
kann doch ein Maulwurf ſehen, wie verliebt Arnolf in
dich iſt. Oh, denke doch an den Triumph, den du über
dieſe Pute Meta feiern kannſt! Denke doch an den
Arger, den du allen Neidſäcken hier bereiteſt! Denke
an das viele Geld! Was einem nicht gegönnt iſt,
Bärbel, das ſchmeckt immer am beſten. Ich kann wohl
ſagen, daß der Neid meiner Freundinnen damals, als
dein Vater um mich warb, eine der ſchönſten Emp-
findungen für mich war — neben der Liebe na-
tuͤrlich.“
„Sie können mir alle geſtohlen werden,“ ſagte
Bärbel, ihr Kleid für das Bafarfeft aus dem Schrank
nehmend, und pfiff dazu wie ein Rohrſpatz.
„Ou wirſt ihn anhören — ich beſchwöre dich!“ rief
die Majorin. „Er ſucht nur die Gelegenheit, ſich zu er-
klären. Oh, Kind, wie furchtbar ſchwer iſt es für ein
armes Mädchen, ſolche Partie zu machen! Glaube
doch nicht, daß die Mädchen heutzutage ſtudieren und
amtieren bloß aus Neigung zum Beruf. Sowie einer
kommt, heiraten ſie drauf los.“
„Meinetwegen! Iſt mir ganz egal, Muttchen!“
ſagte Bärbel, ein roſa Schärpenband an die Wange
drückend. „Seide iſt doch zu mollig!“
„Als Arnolfs Frau kannſt du dich in Seide dreimal
einwickeln,“ verſicherte Frau v. Kalau. „Dir gegen-
über wird er immer ein Pantoffelheld ſein — glaube
mir's. Ich darf wohl ſagen, daß ſelbſt dein ſeliger
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 39
Vater trotz ſeiner Schneid von mir um den Finger zu
wickeln war.“
„Außer wenn er kratzbürſtig wurde,“ rief Bärbel
lachend. Und dann ſtieg ihr das Blut wieder heiß zum
Herzen. „Stettenborn kommt, um uns zu beſuchen.“
„Du wirſt nicht dumm ſein, Bärbel — hörſt du?
Wenn Arnolf es ſo einrichten kann, wie er möchte,
dann hörſt du ihn an. Ich will es geſtehen, daß ich
mich zuerſt auch etwas geſperrt habe vor dem Antrag
deines ſeligen Vaters — und im allgemeinen iſt das
den Männern auch gar nicht unlieb. Aber zu weit
darf es nicht gehen. Es kühlt ſonſt ab — und man
kann leicht das Nachſehen davon haben. Alſo, wenn
er dich findet, dann —“
„Dann?“ Bärbel lachte und biß einen Faden ab.
„Dann nimmſt du ihn!“
„Und die lieben, freundlichen Alten?“ fragte Bärbel,
vor den Spiegel tretend.
„Wir ehren das Alter und die Schwiegereltern von
Herzen gern,“ ſagte Frau v. Kalau voll Würde. „Wenn
ſie es aber darauf anlegen, läſtig zu werden, beſinnen
wir uns auf unſere Rechte. Du brauchſt dir kein Bei-
ſpiel an Meta Breunicke zu nehmen, die wie eine Katze um
Kommerzienrats herumſcharwenzelt und ſich tätſcheln
läßt. Wie ich denn überhaupt die Art der guten Breu-
nicke, ihre Tochter auf den Geldſack zu ſetzen, verächtlich
und abſcheulich finde. Es fehlt der Familie die Nobleſſe,
wenn er als Notar und Rechtsverdreher auch Geld
genug zuſammenrabuſchert hat. Man wirft ſich nicht
jemand an den Hals —“
„Beſonders nicht, wenn er ſo verſchrumpelt und
verhutzelt iſt wie der alte Mertens,“ rief Bärbel hell
auflachend. „Muttchen, du biſt zum Heulen!“
„Alſo, du verſprichſt es mir,“ ſagte die Majorin mit
40 Der ſelige Major. 0
flehendem Nachdruck, „wenn Arnolf dich allein ge-
funden hat, wie oder wo immer, ihn freundlich anzu-
hören! Bärbel, ich habe meine Gründe, darauf zu
beſtehen. Es iſt die Frucht meiner ſchlafloſen Nächte.“
„Na, alſo — gut! Machen wir! Laß ihn nur los-
legen!“ ſagte Bärbel luſtig. „Wenn er aber dabei von
mir ein paar über den Schnabel kriegt — Laß nur,
Muttchen! Ich will ſchon ſtillhalten. Viſt ja mein
gutes, urkomiſches Muttchen!“ — |
Einen Tag darauf erſchien Stettenborn in der Hoff-
nung, nur ſeine Karte abgeben zu müſſen. Aber es
war die Majorin ſelbſt, die dem Briefträger zu öffnen
glaubte und den Arzt ſelbſtverſtändlich nun wortreich
näher zu treten bat.
Zwar hatte die „Frucht ihrer ſchlafloſen Nächte“
den Gedanken an das zweite Eiſen im Feuer etwas
verwiſcht, aber es verurſachte ihr doch ein angenehmes
Gefühl, einen heiratsfähigen Junggeſellen über die
Schwelle treten zu ſehen.
Bärbel, die auf dem Fenſtertritt, eine Zigarette
zwiſchen den Lippen, vor ſich hin träumte, ſprang wie
elektriſiert in die Höhe und eilte dem Profeſſor ent-
gegen. „Willkommen!“ rief ſie, und die Überraſchung,
den vor ſich zu ſehen, der der Inhalt ihrer Träumerei
geweſen war, zauberte eine ſtrahlende Freudefärbung
über ihr ſchönes Geſicht.
Er hielt ihre Hand ſcherzend feſt. „Ich wollte mir
‚nur erlauben, an die Roſe zu erinnern, die Sie mir für
mein Knopfloch ‚für umſonſt“ verſprochen haben.“
Wie fie fo beieinander ftanden, überlegte Frau
v. Kalau einen Augenblick, ob es ſich nicht empfehlen
würde, hier die Vorſehung zu ſpielen — aber ſie ſchwenkte
doch wieder nach der anderen Seite ab.
„Sie rauchen?“ fragte Stettenborn, als Bärbel den
ö Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 41
Reſt der Zigarette mit einem geſchickten Wurf in den
Ofenvorſetzer beförderte.
„Leider!“ ſagte die Majorin lächelnd. „Ich hoffe,
ihr einſtiger Gatte wird es ihr wieder abgewöhnen.“
„Da bift du aber ſchief gewickelt, Muttchen,“ ſagte
Bärbel mit gutem Humor. „Eher würde ich ihm das
Rauchen abgewöhnen. — Finden Sie es etwa nicht
hübſch?
„Offen geſtanden — nein! Frauenlippen ſind viel
zu reizend, als daß ſie nach Tabak duften ſollten.“
Sie errötete. Unwillkürlich ſah ſie auf ſeine Lippen
und fragte haſtig: „Aber Sie rauchen doch ſelbſt?“
„Nicht viel. In meinen Mußeſtunden — und deren
ſind wenige.“
„Na alſo! Was dem einen recht iſt, bleibt dem
anderen billig. Frauennaſen könnte der Tabaksduft ja
auch unangenehm ſein.“
„Bewahre!“ ſcherzte er, nun einen kleinen Verdruß
heraushörend. „Das find nur ganz hyppernervöſe
Damen, die daran Anſtoß nehmen. Dazu gehören
Sie, dem Himmel ſei Dank, ſicherlich nicht.“
„Die heutige Mädchenwelt,“ fiel Frau v. Kalau
vielſagend ein, „will gar keinen Unterſchied der Ge-
ſchlechter mehr anerkennen. Zch bin nicht damit
einverſtanden. Mein ſeliger Mann betete die Weib-
lichkeit an. Ich kann wohl ſagen, daß ich ſeine An-
ſchauungen jetzt erſt recht begreife, wo die Jugend ſo
ſtürmiſch andere Wege geht.“
Nun war ſelbſt ihm die Rauhbeinigkeit und Schnauz-
bärtigkeit des einſtigen Majors v. Kalau ſo weit zu
Ohren gedrungen, daß Stettenborn nur mit Mühe ein
Lächeln unterdrückte. „Ich bete ſie nicht gerade an
wie Ihr Herr Gemahl,“ fagte er höflich. „Ich ehre
und ſchätze fie.“
42 Der felige Major. u
„Wie ſchön!“ rief die Majorin mit einem auf-
fordernden Blick auf ihre Tochter, ſich ihrer Liebens-
würdigkeit anzuſchließen.
„Langweilig!“ ſagte Bärbel mit ſchneller pochen
dem Herzen. „Ehren und ſchätzen kann ich einen alten
Bücherwurm auch und ſchließlich auch noch die alte
Schwarte ſelbſt, wenn die Würmer ordentlich darin
gehauſt haben.“ Sie lachte. „Geehrt und geſchätzt
kann man werden bis in Methuſalems Alter hinein.“
Stettenborn ſtimmte in das Lachen mit ein, während
Frau v. Kalau halb bewundernd, halb mißbilligend den
Kopf ſchüttelte.
„Du biſt zu feurig, Bärbel!“ ſagte ſie. — „Es iſt ihr
väterliches Erbteil, Herr Profeſſor. — Du verlangſt zu-
viel vom Leben! — Aber das iſt ganz natürlich, Herr
Profeſſor. Wenn jemand ſo gefeiert worden iſt wie
ſie! Nicht zu glauben, was ſie in Berlin mit dem Kinde
angeſtellt haben. Ihnen darf ich es verraten, Sie ſind
ja Arzt, daß man ſogar ihren Fuß modelliert hat. Da
iſt es begreiflich, daß für ſie die Welt in Weihrauch und
Entzücken ſchwimmt, und daß ihr die hausbackenen Ve-
griffe, wie wir ſie haben, nicht genügen.“
„Sehr begreiflich!“ ſagte Stettenborn, und die Ab-
neigung gegen dieſe Mütterlichkeit ſtieg ihm bis an die
Lippen. „Ich ſpreche die Hoffnung aus, daß auf jo viel
Verwöhnung keine Enttäuſchungen folgen.“
„Und wenn ſie folgen, werde ich auch damit fertig
werden,“ rief Bärbel, eine bei ihr ſeltene Verlegenheit
fortlachend. „Wir wollen aber doch jetzt nicht anfangen,
zu unken. Und was die Fußgeſchichte betrifft, ſo iſt
das Schnickſchnack geweſen und gar nicht wert, davon
zu reden. Füße ſind ſehr anſtändige Dinge und ſehr
ſchätzenswerte — und damit baſta!“
„Das letztere feſtzuſtellen, werden wir übermorgen
w Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 43
auf dem Baſarfeſt Gelegenheit haben,“ ſcherzte Stetten
born, ſich erhebend. „Wenn es ſpäter zur Verloſung
kommen ſollte, dann bitte ich, für mich den Daumen zu
drücken.“
„Mit der Lotterie,“ fiel Frau v. Kalau ein, „geht
es manchmal abſonderlich zu. Meiſtens gewinnt man
dummes Zeug. — Zeig mal dem Herrn Profeſſor, was
du letzthin gewonnen haſt.“ |
Bärbel zog die Schublade des Schreibtiihes auf
und kam lachend mit einem blitzenden Gegenſtand in
der Hand zurück. „Vorſicht! Es knallt!“
„Ich bitte dich, Bärbel, ſchaffe das widerliche Ding
endlich aus dem Hauſe!“ rief die Majorin, ſich die Ohren
zuhaltend.
„Ein Taſchenrevolver!“ ſagte Stettenborn kopf⸗
ſchüttelnd. „Das war Ihr Gewinn?“
„Mit Fug und Recht. — Soll ich mal losdrücken?“
Er faßte ihre Hand. „Das iſt kein Spielzeug für
junge Damen!“
Unter ſeiner Berührung zuckte ſie zuſammen.
Er nahm es für eine Anſtrengung, ſich loszuwinden,
und umſpannte ihre Rechte mitſamt der Waffe noch
feſter. „Geſtatten Sie mir, Sie von dieſem gefähr-
lichen Spielzeug zu befreien.“
Mit elaſtiſcher Bewegung rang fie ſich los. „Spiel-
zeug? Woher denn? Heutzutage, wo man als einzelner
oft keinen Augenblick feines Lebens ſicher iſt? — Mutt-
chen, du quetſcheſt dir ja die Ohren ab!“ unterbrach
ſie ſich lachend, was zu der Entſchloſſenheit, die aus
ihren Augen blitzte, außergewöhnlich hübſch ausſah.
„Iſt es nicht eine Schande, daß jeder Bummler uns
überfallen kann, nur weil er ſtärkere Armmuskeln hat
als wir? Mir ſoll mal einer kommen!“ rief ſie, die
kleine Waffe ſchwingend. „Ich kann ſehr gut ſchießen —
44 Der ſelige Major. [>
wir haben oft nach der Scheibe geſchoſſen. Wie der
Menſch wohl ausriſſe, wenn ich ihm dies blitzende Ding
vor die Naſe hielte!“
„Es liegt viel Wahres in dem, was Sie ſoeben an-
führten,“ ſagte Stettenborn ruhig. „Aber in An-
betracht deſſen, was unvorſichtiges Handhaben von
Schußwaffen für Unglück anzurichten vermag, würde
ich Ihrer Frau Mutter beiſtimmen, wenn ſie wünſcht,
daß dieſer Gewinn auf Nimmerwiederſehen ver-
ſchwände.“
„Wirklich?“ Sie nickte ihm ſchelmiſch zu. „Ich be⸗
halte aber grundſätzlich alles, was ich habe.“
„Es iſt ſo natürlich,“ fiel Frau v. Kalau voller Milde
ein, „daß dieſe Unerſchrockenheit ihr innewohnt. Mein
ſeliger Mann war ein Held an Mut und Entſchloſſen-
heit. Einmal — ich erinnere mich deſſen mit Schrecken
— glaubte er unter ſeinem Bett etwas Lebendiges zu
ſpüren. Mein ſeliger Mann ſprang im Finſtern heraus
und warf den Stiefelknecht mit ſolcher Gewalt gegen
meinen Bettpfoſten, daß ich wie ein Fiſch in die Höhe
ſchnellte. 8
Hier brach Bärbel in ein fo herzliches Lachen aus,
daß Stettenborn ſich nicht enthalten konnte, mit ein-
zuſtimmen.
„Verzeihen Sie, gnädige Frau,“ ſagte er, ſich faſſend,
„aber wenn ich jemand ſo lachen höre wie Ihre Fräulein
Tochter, kann ich nicht umhin, einzuſtimmen.“
„Nicht wahr?“ ſagte die Majorin gerührt. „Es liegt
etwas Melodiſches, Abgeſtimmtes in ihrem Lachen.“
„Aber das habe ich nun nicht vom Vater,“ rief
Bärbel, ihrer Mutter Schulter umfangend. „Todſicher
nicht. Papa lachte wie ein knurrender Löwe.“
Als der Profeſſor ſich verabſchiedet hatte, trat Bärbel
ans Fenſter, um ihm nachzuſehen. Plötzlich wandte
D Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel. 45
ſie ſich zurück. „Muttchen, glaubſt du nicht, daß Stetten
born ein gefährlicher Mann ſein könnte?“
„Das hängt den Arzten ſo an,“ ſagte Frau v. Kalau
gleichmütig, „wenn ſie nicht gerade verboten häßlich
ſind. Der Profeſſor iſt übrigens, wie ich neulich hörte,
der Sohn eines einfachen Förſters. Vermögen beſitzt
er gar nicht. Die Mutter war eine Landlehrerstochter.
Wenn er Praxis hat, dann hat er was, wenn er keine
hat, dann hat er nichts.“
„Dann hat er nichts,“ wiederholte Bärbel leiſe. —
Auch Stettenborns Gedanken beſchäftigten ſich mit
ihr, während er raſch die Straßen durchquerte. Sie
kam ihm vor wie eine ſchöne, rote Blume, die, in un-
erſprießlichen Boden verpflanzt, mit ihrer jungen Herr-
lichkeit zu wuchern genötigt iſt, weil keine Hand ſich
fand, die ungebundene Kraft zu lenken und zu läutern.
Zu leugnen, daß von ihr ein lebensheißer Zauber
ausſtrömte, fiel ihm nicht ein, ſo wenig, wie er den Reiz
ihres geſunden Selbſtbewußtſeins verkannte, jedoch
ein tieferes Intereſſe als das des ſtillen Beobachters
entfachte ſie ihm nicht, trotz allem ſchillernden Stim-
mungswechſel, der ihm den Grundton ihres Weſens,
wenn er ihn gefunden zu haben glaubte, wieder verbarg.
Und wie er es dachte, ſtellte ſich ein zartes, blondes
Bild an Stelle diefer blendenden Geſtalt voll unbe-
wußter Anmut und Sehnſucht nach des Lebens Sonne.
Da holte fein Herz zu ſchnellerem Schlage aus, und Ver-
achtung des Mannes, der ihre ahnungsloſe Jugend an
ſeinen kraſſen Egoismus gebunden, erfüllte ihn mit
bitterem Groll.
Siebentes Kapitel.
Das heißumkämpfte, vielerſehnte Wohltätigkeits-
feſt fand in den Räumen des Rathaufes ſtatt. Zwei
46 Der ſelige Major. D
Tage lang waren allerlei nützliche und unnütze Gaben
zwiſchen laubenähnlichen Tannenwänden aufgebaut
worden, aus denen es den Verkäuferinnen oblag, ihre
lockenden Stimmen erſchallen zu laſſen und mit lächeln-
der Anmut den höchſten Rekord in der Einnahme zu
erzielen.
Frau v. Kalau und Frau Breunicke konnten nicht
umhin, Vertrauten gegenüber die Anmaßung der Ba—
ronin Klüver zu betonen, ſich des Tiſches bemächtigt
zu haben, auf dem die ſeitens des Vorſtandes erbetenen
Gaben hoher und höchſter Herrſchaften zur Schau ge—
ſtellt waren, obwohl Frau v. Klüver nur nach langem
Widerſtreben in dieſe ausübende Teilnahme eingewilligt
hatte.
Das war ein Leben und Treiben! Die ganze Stadt
kam auf die Beine, um der Eröffnung dieſes Feſtes
beizuwohnen. Von zehn Uhr morgens ab begann der
Zuſtrom der Damenwelt, und in den Tee- und Schoko-
ladebuden floſſen Ströme dampfender Labung. Die
bedienenden Damen hatten alle Hände voll zu tun,
die Fünfzigpfennig- und Markſtücke in Empfang zu
nehmen.
Inzwiſchen war Barbara v. Kalau in weißer Hülle,
eine breite, roſa Schärpe, die ſeitwärts mit einer Roſe
befeſtigt war, um die Schulter, in den Blumenſtand ge-
treten, in dem Meta Breunicke, einen beängſtigend
dürftigen Ausſchnitt am Halſe und Korallenſchnüre um
die Arme, bereits nach Käufern ausſpähte, die nicht
kommen wollten.
Kaum aber war das Schönheitsbild hinter den Tiſch
getreten, als ein ſolcher Anſturm der männlichen Jugend
erfolgte, daß die fertigen Sträuße im Handumdrehen
verſchwunden waren und Bärbel, über die Zornes-
blicke der Juſtizrätin höchlich vergnügt, den Vorſchlag
u Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 47
machte, jede einzelne Blume für den Preis eines ganzen
Straußes zu verkaufen und dieſe dafür ſelbſt im Knopf-
loch der Herren zu befeſtigen.
Am Spätnachmittag nahm dieſer Vertrieb noch
großartigere Dimenſionen an, als die bisher Verhin-
derten ſich einzufinden begannen, voran Herr v. Klü-
ver, deſſen Haltung heute nach einer Morphiumein-
ſpritzung überaus elaſtiſch war.
Er bewegte ſich leicht und gewandt durch das Ge—
dränge und ſtreute freigebig Gold- und Silberftüde in
alle ausgeſtreckten Hände. „Verzeihung!“ ſagte er,
einen Rückenſtoß entſchuldigend, den er ſoeben wider
Willen ausgeteilt.
„Bitte ſehr!“ Stettenborn, der eine Stunde der
Wohltätigkeit opferte, wandte ſich um. „Ich habe ſchon
ein paarmal als Puffer gedient und bin in der Übung.“
Klüver lachte. „Seien Sie froh, lieber Profeſſor,
daß Sie von der Natur fo gut bedacht find. Bei unfer-
einem ſetzte es blaue Flecke ab.“
Der friſche Klang ſeiner Stimme wirkte nach der
letzten Unterredung ſo überraſchend auf Stettenborn,
daß er ſtehen blieb und dem Freiherrn die Hand reichte.
„Wenn Ihr Weg Sie zu Ihrer Frau Gemahlin führt,
möchte ich mich Ihnen anſchließen.“
„Halten Sie nur Ihr Portemonnaie feſt. Wir
mögen gehen und ſtehen, wo wir wollen, immer be—
finden wir uns zwiſchen Szylla und Charybdis. — Fit
das nicht Herr Mertens? Guten Abend, Herr Kom—
merzienrat! Man hat nur auf Sie gewartet, um die
Bilanz zu ziehen.“
Stettenborn, an Stimmungswechſel feiner Pa—
tienten gewöhnt, ſchob das veränderte Weſen des Frei-
herrn ſeiner nervöſen Wandlungsfähigkeit zu. Nur als
er die tiefliegenden, von ſchweren Lidern überdeckten
48 | Der ſelige Major. a
Augen ſtreifte, fiel ihm deren abſonderlicher Glanz auf.
Gleich darauf begrüßte auch er den Kommerziencat,
der ſich hinter ſeiner Gattin im Fahrwaſſer befand,
nunmehr aber ſtehen blieb und ſeine zitternde Rechte
ausſtreckte.
„Foltermäßiges Vergnügen!“ ſagte er, und ſeine
ſchmalen Lippen ſuchten nach einem verbindlichen
Lächeln.
„Machen Sie nur ein paar Sundertmarkſcheine
locker,“ ſcherzte Klüver. „Wo iſt denn Ihr Herr Sohn?“
„Der wird ſich ſchon ausbeuteln laſſen!“ ſagte der
Kommerzienrat knurrig.
Die reichen Mertens hatten durchaus nicht die Ab-
ſicht, viel Geld hier liegen zu laſſen. Vielmehr wollte
die Kommerzienrätin, wenn ſie etwas Brauchbares
billig erſtehen konnte, die gute Gelegenheit hierzu be-
nützen.
Demgemäß ging fie an den Schokolade- und Tee-
buden glatt vorüber und nach dem ganz verlaſſenen
Strumpf und Wollwarentiſche, wo ein verärgertes
Oberlehrerstöchterlein es kaum noch der Mühe wert
hielt, Anfragen zu beantworten.
Verſorgt mit ſehr guten und ſehr billigen Winter-
ſtrümpfen ſetzte Frau Mertens ihren Weg fort, als die
Juſtizrätin fie am Ärmel faßte und freundſchaftlich um-
armte. f
„Es iſt nicht mehr anzuſehen,“ flüſterte Frau Breu-
nicke mit vielſagendem Näuſpern, „was die Kalau ſich
an dieſer Tochter großgezogen hat. Ich bin direkt be-
ſorgt um meine Meta. Ich ſage Ihnen, Liebſte, dieſe
Knopflochſteckerei benimmt mir förmlich den Atem.
Sie bildet ſich jedenfalls ein, dieſe Kokette, hübſche
Hände zu haben, ſonſt würde ſie nicht alle Welt damit
ankrallen. Geben Sie bloß acht auf Ihren Sohn,
0 Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 49
Teuerſte. Eine richtige Sirene, ſage ich! Meine Meta
zieht ſich ſchon ganz in ſich zurück. Ich wollte, ich hätte
ſie nicht mit dieſer Komödiantin zuſammenſtellen
laſſen.“
„Laſſen Sie ſie nur die Krallen ausſtrecken,“ ſagte
die Kommerzienrätin, einen nicht gerade liebevollen
Blick auf die ſchönheitſtrahlende Geſtalt Bärbels in der
Blumenlaube werfend, neben der Meta Breunicke mit
erheuchelter Verſchämtheit wie die Farbloſigkeit ſelbſt
ſtand. „Sie wird nicht viel Genuß davon haben.“
„Sehen Sie,“ flüſterte die Juſtizrätin förmlich elek-
triſiert, „,ſehen Sie bloß Stettenborn an! Du meine
Güte! Haben Sie geſehen, wie ſie ihn anblinzte?
Wie er wieder grinſte? Hätte ich bloß meine Meta da
weg! — Wo ſteckt denn Ihr lieber Sohn?“
Allerdings war ein heißerer Blutſtrom durch Bärbels
Adern gefloſſen, als Stettenborn auf ihren Stand zu-
ſchritt. Und ohne Beſinnen hob fie die ſchönſte Noje
empor und ihm entgegen.
„Ein Mann, ein Wort!“
Es ward ihr ſo wunderbar zu Sinn, als ihre Hand
ſeine Bruſt berührte. Faſt wäre die Roſe den Fingern
entfallen.
„Haben Sie ſich geſtochen?“ fragte er freundlich.
„Ich glaube,“ ſagte ſie und fühlte, wie ihr das Blut
in die Wangen ſtieg.
Er legte ein Zehnmarkſtück in die Büchſe. „Das
iſt für die gute Sache. Die Roſe nehme ich als Ge—
ſchenk mit.“
„Und ich?“ fragte Herr v. Klüver, der dieſe Worte
gehört hatte, ſcherzend. „Was bekomme ich geſchenkt?“
„Was Sie wollen, Herr Baron,“ ſagte ſie, noch
immer unter der Gewalt ihrer Empfindung ſtehend.
„Dann dieſe Marſchall Niel!“ Er warf ein Zwanzig—
1914. X. 4
f
50 Der ſelige Major. D
markſtück in die Kaſſe. „Von fo ſchöner Hand befeſtigt,
wird die ſchönſte Blume erſt wahrhaft ſchön. Und was
gibt mir Fräulein Breunicke?“
„Ich weiß nicht,“ flüſterte die Silberblondine mehr
ſcheu als anmutig, obwohl nicht ohne Koketterie. „Dieſe
Knoſpe vielleicht?“
„Alſo dieſe Knoſpe! Danke ſehr!“ Er erlegte aber-
mals ein Goldſtück. ö
„Der Baron iſt doch ein zu reizender Mann,“ ſagte
Meta, ihm einen Blick aus ihren vergißmeinnichtblauen
Augen nachſendend. „Was iſt dagegen dieſer Stetten
born!“
„Geſchmackſache!“ ſagte Bärbel kurz. Für ſie gab
es nur eine intereffante Perſon im Saal — und das
war der Profeſſor.
Sie hatte zuvor Frau v. Klüver den ſchuldigen Knicks
gemacht und dabei die ſchlichte Vornehmheit ihrer Er-
ſcheinung mit einem gewiſſen Widerſtreben anerkennen
müſſen. gebt ſah fie hinüber und immer wieder hin-
über, als Stettenborn in die Nähe des durch eine Krone
von Tannengrün ausgezeichneten Standes trat.
Das Dedenlicht breitete feinen Glanz, wie es Bärbel
plötzlich ſchien, abſonderlich hell über dieſe bevorzugte
Eckbude und über die ſchlanke Frau darin im beliotrop-
farbenen Gewand, das einen roſigen Schimmer über
ihr goldblondes Haar und den weißen Hals legte. Und
wie ſie jetzt aufſah und Stettenborn entgegen, ſchien
ſich dieſer roſige Schimmer auch über ihre Wangen zu
verbreiten; bis zu den Schläfen hinauf ſchien er zu
ſteigen.
„Guten Abend!“ ſagte Chriſta, ihm die Rechte
reichend, über die er ſich verbindlich neigte. „Ich habe
ein ſehr ehrenvolles, aber wenig einträgliches Ge—
werbe.“ Bevor er ſich völlig aufrichtete, kam es
i Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 51
ihr ſtockend leiſe über die Lippen: „Ich möchte Sie ein-
mal ſprechen.“ | |
Er hörte, daß ihre Stimme unruhevoll klang; fo
drückte er zum Zeichen ſeiner Bereitwilligkeit ſanft ihre
Hand.
Der Baron trat hinzu. „Nun, Chriſta, ich möchte
dir dieſe Kreidezeichnung abkaufen. Für wieviel gibſt
du ſie her?“ ö |
Während fie den Preis nannte, ſtreiften ihre Augen
mit ängſtlicher Haſt ſein Geſicht. Das Lächeln darauf
machte ſie verwirrt. |
Er legte einen Hundertmarkſchein auf den Tifch.
„Zufrieden? — Nun Sie, Profeſſor, was tun Sie für
die gute Sache?“ |
„Nicht nötig,“ fiel die Baronin ein. „Es kommt zur
Verloſung.“ |
„Wie wäre es mit dieſem Pompadour?“ ſcherzte
Klüver, einen roſa ſeidenen Beutel emporhebend. „Für
die zukünftige Frau Profeſſor! Oen ſollten Sie ſich
nicht entgehen laſſen.“
„Gut,“ ſagte Stettenborn, auf den Scherz ein-
gehend, legte gleichfalls einen Hundertmarkſchein auf
den Tiſch und hing den Pompadour an ſeinen Arm.
„Geben Sie, ich will ihn in Papier einſchlagen,“
ſagte Chriſta, die Hand ausſtreckend. |
Er gab den Beutel zurück. Als er ihre Finger ſtreifte,
glaubte er ein Zittern derſelben zu ſpüren. „Darf ich
morgen vormittag wieder einmal vorſprechen?“
„Aber nicht bei mir, Verehrteſter!“ wehrte Klüver
haſtig ab. „Die Damen haben ja immer zu klagen und
halten deswegen die Medizinmänner ſo hoch in Ehren.“
Er ſchien ſein Kind ganz vergeſſen zu haben, dieſes
Kind, um deſſenwillen er die ſchuldloſe Mutter ſo tief
verbittert angeklagt. | |
52 Der ſelige Major. u
„Ich erwarte Sie,“ fagte die Baronin leiſe.
In dieſem Augenblick begann die Muſik auf dem
Balkon des Saales zu ſpielen. Ein ſchwebender, locken
der Walzer glitt durch den Raum und weckte die Vor-
freude an dem kommenden Tanzvergnügen.
Bis dahin hatten Bärbels Augen mehr an dem Ver-
kaufsſtand der Freifrau als an ihren Blumenkörben ge—
hangen, als ſie ſich plötzlich von rückwärts umarmt fühlte.
Frau v. Kalau war es, die, nach einer laut getanen
Frage, ihr haſtig ins Ohr flüſterte: „Arnolf iſt jetzt da!
Denke daran, was ich dir geſagt habe. Sei klug, höre
ihn an!“
„Ja doch!“ ſagte ſie, nur halb hinhörend.
„Ich habe eben geſehen,“ flüſterte die Majorin, ſich
an Bärbels Schärpe zu ſchaffen machend, „daß er bei
deinem Anblick zuſammenzuckte. Ich lag fortwährend
auf der Lauer. Die Breunicke iſt ja wie verrückt hinter
ihm her — geradezu unanſtändig. — Da kommt er!“
Sie prallte gelinde gegen die Fuſtizrätin an, die
gleichfalls auf dem Kampfplatz erſchien, die kommer—
zienrätliche Genehmigung als Hauptwaffe mit ſich
führend.
Bärbels ſchönes Geſicht verfärbte ſich durchaus nicht,
als Arnolf Mertens an den Stand trat. Der alte Trotz
regte ſich in ihr; mit einem mißächtlichen Lächeln trat
ſie hinter die erglühende Silberblondine zurück. „Wenn
ich mich damals doch nicht hätte von ihm küſſen laſſen,
ich Schaf!“ dachte ſie bei ſich. „Ich hätte ihm lieber
eine Ohrfeige geben follen.“
Frau Breunicke bemerkte mit Befriedigung, daf
ſeine erſten Worte ihrer Meta galten.
„Eine rote Nelke, bitte!“ ſagte Arnolf höflich, ein
Goldſtück in die Büchſe legend.
Es war ihm ſchwer geworden, hierher zu kommen,
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 55
und wiederum trieb es ihn mit taufend Gewalten dazu.
So konnte es ja nicht bleiben und er wie ein Sünder
mit ſchlechtem Gewiſſen neben Bärbel hinleben. Sein
Ehrgefühl und die Liebe zu feiner Jugendfreundin,
dieſe mit aller Kraft wieder aufbrechende Liebe, wehrten
es ihm täglich und ſtündlich.
„Nun, Meta, Mäuschen,“ ſagte Frau Breunicke und
vergaß ganz ihren Abſcheu vor Bärbels Knopfloch-
künſten, „ſtecke doch Herrn Mertens die Nelke ſelbſt an.
Das wird ihm Glück bringen.“
„Das wäre zu gütig!“
Aber er hielt ſtill, als fie hinter dem Stand hervor-
trat und mit ungeſchickten Fingern zu baſteln begann.
Knack — der Stengel brach ab.
Aber Bärbels Antlitz glitt ein halb triumphierendes,
halb mitleidiges Lächeln. Sie wollte ſich nur durch-
ſetzen dieſen „hämiſchen Spinnen“ gegenüber, als fie
ſchnell eine friſche Nelke ergriff und elaſtiſch vortrat.
„Vielleicht kann ich es beſſer!“ |
Es zuckte ihm durch die Bruſt, als ihre ſchönen Hände
ihn berührten, genau jo wie die Berührung Stetten-
borns zuvor Värbels Herz durchzuckt hatte.
„So — da ſitzt ſie!“
Arnolf überreichte ſeine goldene Gegenleiſtung, die
ſie gleichgültig in Empfang nahm.
„Ja, meine Liebſte,“ ſagte Frau v. Kalau, die ſchwer
verärgerte Freundin mit Wonne gegen den Strich
ſtreichelnd, „dazu gehört auch Talent. In der Groß—
ſtadt ſieht und lernt man ſolch kleine Künſte. Aber
Fräulein Meta iſt deſto ſtärker in der Wirtſchaft. Und
die Wirtſchaft iſt ja doch die Hauptſache — wie manche
meinen.“
Die Juſtizrätin verſchluckte den Stich. „Brotloſe
Künſte ſind noch keine Talente, meine Beſte,“ ſagte
54 Der felige Major. 2
ſie, ihrer Meta einen nicht gerade freundlichen Blick
zuwerfend.
„Na, wer weiß!“ erwiderte lächelnd Frau v. Kalau,
indem ſie ſich befriedigt zurückzog. „Vielleicht doch!“
Die Kommerzienrätin hatte ſich neben der Baronin
mit einer Taſſe Kaffee niedergelaſſen, den Ärger im
ſtillen herunterzuſpülen über den Hundertmarkſchein,
den ihr Gatte auf Antreiben des Freiherrn für eine von
hoher Hand gefertigte Federzeichnung geſpendet hatte,
die außer ihrem kleinen Format keine ſonderlichen Vor-
züge aufzuweiſen hatte.
Eigentlich war es ihre Abſicht geweſen, vor Beginn
des Tanzes fortzugehen, aber die Sorge um eine noch-
malige Verführung ihres Gatten ſtieß dieſen Entſchluß'
um. Sie blieb. Mit den Müttern tanzender Töchter
laß fie auf dem Podium des ſchnell ausgeräumten Speife-
ſaales und lieh den intimen Freundſchaftsbezeigungen
der Juſtizrätin ein williges Ohr.
Bärbel ſah das heliotropfarbene Kleid der Baronin
zwiſchen Klüver und Stettenborn im Türrahmen ver—
ſchwinden, und ein bisher nicht gekanntes, ſtechendes
Gefühl wallte plötzlich in ihr auf.
Sie war ſich bewußt, daß ihr Tanzen überall Be-
wunderung erregt, daß man es einen Genuß genannt
hatte, ihren Bewegungen zu folgen. Warum blieb
Stettenborn nicht, um ſich auch davon zu überzeugen?
Warum folgte er der goldblonden Frau mitten aus dem
Vergnügen weg?
Als ſie den Kopf zurldwandte, ſtand Arnolf Mertens
vor ihr.“ Seine Pflichttänze hatte er erledigt, nun tat
er, was ihm ſein Herz gebot, und bat um eine Extratour,
allerdings unter dem Kreuzfeuer dreier Augenpaare,
die nicht von ihm und dem ſchönſten Mädchen im Saal
wichen.
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 55
Sie konnte nicht ablehnen, alſo legte ſie ihren Arm
leicht auf den ſeinen und fühlte ihre Hand mit feſtem
Druck umſpannt.
„Heute müſſen Sie mir Gehör ſchenken,“ flüſterte
er. „Ich kann dieſen Zuſtand des armen Sünders nicht
mehr ertragen. Ich kam nur deswegen hierher. Sagen
Sie mir, daß Sie mich anhören wollen, geben Sie mir
nur ein Zeichen! Wer bemerkt jetzt, ob wir einige Mi-
nuten hier fehlen oder nicht!“
„Ich denke, wir wollen tanzen,“ fiel ſie abwehrend
ein. Aber eingedenk der Drangſalierungen ſeitens
ihrer Mutter ſetzte ſie hinzu: „Gut alſo — Sie ſollen
das Wort haben! Sehen Sie zu wo. Mir iſt es
gleich. Nur keine Spürnaſe möchte ich dabei haben.“
„Niemand wird Sie beläſtigen, ich verſpreche es,“
ſagte er, und die duftige Jugendpracht, die er umſchloß,
machte ſeine Stimme unſicher.
So flogen ſie dahin, und die wiegenden Klänge aus
der Höhe ſchienen ſie wie auf Flügeln fortzutragen.
Abſeits von den Spiel- und Rauchzimmern, in denen
jetzt dem Spatenbräu reichlich zugeſprochen wurde, lag
ein kleiner, meiſtens unbenützter Raum, einſt als Damen-
zimmer gedacht, in welcher Eigenſchaft es jedoch nie zu
feinem Rechte kam, da die aufſichtführende Weiblich-
keit mehr Neigung zum Zuſchauen im Saal hatte.
Sparſamerweiſe hatte man am Kronleuchter nur
zwei Flammen entzündet. Dieſes mattſcheinende Licht
genügte für die Kotillonſträuße und »orden, die hier
aufbewahrt zu werden pflegten.
In dieſes ſtille Gemach trat Bärbel mit dem Vorſatz
ein, ihr der Mutter gegebenes Verſprechen tunlichſt
ſchnell zu erfüllen und ſich nebenbei keinen Zwang auf—
zuerlegen in dem, was in ihr gegen den falſchen Jugend-
freund aufgeſpeichert lag.
56 Der ſelige Major. 2
„Sie können nun loslegen,“ ſagte ſie, ihre dunklen
Augen prüfend durch das Zimmer gleiten laſſend. „Aber
das ſage ich Ihnen, auf Redensarten gebe ich gar nichts.
Am beſten iſt es, Sie ſtecken es ganz auf, denn um das
zu hören, was ich von Ihnen halte, brauchen Sie keine
großen Wortſprünge zu machen. Alſo los!“
Er ſtand vor ihr mit geſenktem Blick. Es wurde ihm
nicht leicht, die Eltern anzuklagen, um ſich ſelbſt zu ent-
ſchuldigen. Endlich ſagte er mit ruhiger Selbjtüber-
windung: „Sie müſſen mir, wenn dieſe Unterredung
in unſeren Beziehungen Wandel ſchaffen ſoll, den ich
innigſt erſehne, Glauben ſchenken, Sie müſſen ſich be-
zwingen in Ihrem Vorurteil gegen mich, jo weit wenig-
ſtens, daß Sie ſich wieder zurückführen laſſen in die
Zeit, da ich nicht nötig hatte, für mich zu ſprechen, wie
heute.“
„Richtig!“ ſagte Bärbel, ihre Fußſpitzen betrachtend.
„Und weiter?“
„Das will ich Ihnen ſagen. Nur das eine laſſen
Sie mich noch voranſchicken, daß ich, ein wie törichter
und ſchlapper Junge ich auch damals war, unſer letztes
Beiſammenſein —“
„Schluß!“ rief Bärbel, über und über vor Zorn
errötend. ö
„Laſſen Sie mich ausſprechen,“ ſagte er ſehr ernſt.
„Wenn ich nicht etwas Entſcheidendes anzuführen hätte,
würde ich mich dieſer Ihrer Auffaſſung nicht ausgeſetzt
haben. Nehmen Sie einen Augenblick Platz im Seſſel
dort, Sie werden mich dann ruhiger anhören können.“
Es tat ihr immer mehr leid, dem mütterlichen
Drängen gefolgt zu fein. Darum fagte fie mit merf-
licher Ungeduld: „Wir können doch hier nicht Zelte
aufſchlagen. Nächſtens wird im Saal ein Geſchrei los—
gehen, wo wir geblieben ſind. Das möchte ich übrigens
D Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 57
mit anſehen!“ Sie lachte hell auf und ſetzte ſich. „Alſo
— ich ſitze.“
Er rückte einen zweiten Seſſel an ben ihrigen, ſo
daß ſie ſich in die Augen ſehen konnten und hören, was
der andere gedämpft ſprach. |
„Damals,“ fagte Arnolf, das blonde Haar aus der
Stirn ſtreichend, als verurſache es ihm die Hitze, die er
in den Schläfen empfand, „als ich von Ihnen ging,
hatte ich nur den einen Gedanken und Wunſch, daß
die Jahre der Trennung, die vor mir lagen, vorüber
ſeien und ich zu einer glücklichen Stunde der Wie—
derkehr —“
Bärbel machte einen Anſatz, ihn zu unterbrechen,
unterließ es aber und ſagte nur: „Na, ja!“
Er legte ſeine Hand auf ihre Seſſellehne, als er
raſcher fortfuhr: „Mit dieſem Troſt — ich hatte keinen
anderen — ging ich von Ihnen, feſt überzeugt, daß Ihr
freundliches Gefühl für mich —“
„Ich ſage nochmals: Schluß!“ rief Bärbel emp-
findlich getroffen. |
„Sie wollen das nicht hören. Warum? Wenn zwei
Kinder, wie wir es waren, und zwei junge Menſchen,
von denen der eine — Sie — ganz das armſelige Leben
des anderen ausfüllte — nicht wahr, das wiſſen Sie,
daß es ein trauriges Leben war?“
„Doch!“ ſagte Bärbel. „Hinreißend war es nicht.“
„Als ich damals von Fhnen ging, ahnte ich nicht,
daß es eine Gewalt geben könnte, die mich — nun, die
mich in Ihren Augen ſo herabzuſetzen vermochte, wie
es geſchah. Meine Eltern, Fräulein Barbara, nahmen
mir, dem ſchüchternen Jungen, das ehrenwörtliche Ver—
ſprechen ab, fo zu handeln, wie ich getan habe. Ich
gab das Wort, weil ich mich nicht dagegen zu wehren
vermochte — es nicht wagte, denn ich war ein ſcheuer,
58 Der felige Major. u
unſelbſtändiger Menſch und fühlte meine gänzliche Ab-
hängigkeit ſehr ſchwer. So iſt's gekommen.“
Er ſchwieg, den Blick auf ihr ſchönes Antlitz heftend,
darauf ſich in raſcher Folge Verdruß, Staunen und
Verſtändnis malten. Denn viel anders lag der Fall
auch nicht bei ihr, die gleichfalls auf ein erzwungenes
Verſprechen hin tat, was ſie freiwillig nie getan haben
würde.
„Das — na, ja — geſcheit wäre es be geweſen,
gleich zu ſchreiben, ſo und ſo ſteht's!“ ſagte Värbel.
„Sehr richtig! Ich war aber eben kein geſcheiter
Junge, ſondern ein ſehr törichter und befangener, Fräu—
lein Barbara,“ ſagte er leiſer. „Darf 0 wieder ſo
ſagen?“
„Meinetwegen — wenn es Ihnen Spaß macht.
Ich bin kein Kleinigkeitskrämer.“
„Das weiß ich. Sie find — Sie find eine andere
geworden. Sie haben, wie ich, Großſtadtluft geatmet,
Großſtadtleben gelebt. Vielleicht iſt es Ihnen hier
auch beſchränkt und beengt zumute.“
„Nicht zu knapp!“ Ein reizendes Lächeln glitt um
ihre Lippen. „In eine Linie dürfen Sie uns beide
aber nicht ſtellen. Wenn es Fhnen zu bunt wird mit
den Metas und ſonſtigen Südfrüchten hier, dann
nehmen Sie einfach Neißaus. Ich aber —“ Sie dachte
an Stettenborn und daß es ihr jetzt nicht möglich ſein
würde, leichten Herzens die Stadt zu verlaſſen.
„So hält uns beide die Pflicht hier am Ort feſt.
Auch ich kann nicht, wie ich will. Mein ganzes Daſein,“
fuhr er mit tiefer Bewegung fort, „war immer nur:
Pflicht. Die Pflicht hat mich in den Kaufmannsſtand
gezwungen, die Pflicht hat mich von der Heimat fort-
geſchickt, von Ihnen und was mich glücklich machte.
Die Pflicht hat Träumen und Schwanken mit rauher
E Roman von Georg Hartwig (Emmy Noeppel). 59
Hand von mir abgeſtreift, hat mich zum undankbaren
Schwächling in Ihren Augen geſtempelt und wieder
hierher geführt — in dieſe Stunde hinein.“
„Na, dann wäre es ja ſo weit wieder in Ordnung,“
ſagte Bärbel mit nicht ganz freiem Humor. „Sie ſind
entſühnt, können mich wieder Fräulein Barbara nennen,
die Schutzheilige der Kanonen. Können, wenn. Sie
wollen, auch mit mir tanzen.“
„Ihre Hand,“ ſagte er, ſich fo weit vorbeugend, daß
ein Teil ihrer Schärpe auf ſeinem Knie ruhte, „geben
Sie mir Ihre Hand! Laſſen Sie mich ſie einmal küſſen
zum Zeichen, daß kein Reſt Groll und Zweifel in Ihrem
Herzen zurückgeblieben iſt. Und dann — dann wollen
wir wieder gute Freunde ſein.“ Seine Stimme zit—
terte in Ergriffenheit. „Und da wieder anfangen, wo
mir einſt die höchſte Freude —“ Er hatte ihre Rechte
ergriffen und an ſeine Lippen gedrückt, ſo ſehr ihr
Inneres dem auch widerſtrebte. „Ich will die Genug—
tuung mit mir nehmen, daß Sie tiefer in mich hinein-
geſehen haben als alle anderen, auch die, die vielleicht
in erſter Linie dazu berufen waren. Ich will mich wie-
der in das Glück hineinverſetzen, das ich fühlte —
damals, als Ihre Hand den Orden mir anheftete. Ich
habe ihn aufbewahrt — Sie können ihn ſehen.“
„Ich glaub's ja,“ ſagte Bärbel, gegen ihren Willen
gerührt. „Aber nun, wiſſen Sie, iſt wirklich Schluß,
ſonſt ſchlagen wir hier noch Wurzeln.“
Er gab ihre Hand nicht frei. „Und eines noch, Fräu-
lein Barbara, wenn Sie mir ein Zeichen Fhrer wieder-
erwachten — Freundſchaft geben wollen, ſo nennen
Sie mich, wie Sie mich dereinſt genannt haben. Dann
wüßte ich, daß nichts mehr in Ihnen —“
„Auch gut,“ ſagte Bärbel en „Alſo, Herr Arnolf,
machen Sie Schluß!“ . |
60 Der felige Major. 2
Er beugte ſich abermals über ihre Rechte. „Dank!“
Und mit tiefer Innigkeit drückte er ſeine Lippen auf
ihre weißen Finger.
In demſelben Augenblick, mitten in die Stille hin-
ein, erſcholl eine Art Siegesruf, ein zweiſpältiger und
ein dreifältiger.
„Ein Brautpaar!“ rief die entzückte Stimme der
Majorin von der Türſchwelle her — und wie ein nicht
rein geſtimmtes Echo rief es nach: „Ein Brautpaar!
Ein Brautpaar!“
„Wir gratulieren!“
„Champagner her!“ rief Frau v. Kalau ihren Be—
gleiterinnen zu, hinter denen bereits ein paar dienit-
eifrige Kellner neugierig lange Hälſe machten. „Raſch
ein paar Gläſer her!“
Das war, als wenn ein Sturm die beiden Über-
raſchten und Überfallenen anblies. Sie waren im
Schreck aufgefahren, ganz unbewußt ftanden fie noch
Hand in Hand. Bärbel war totenbleich. Ihre Lippen
bebten.
Da flog die Majorin auch ſchon herbei und zog fie
an die Bruſt, während ſie mit der freien Linken ſich
Arnolfs bemächtigte. „Mein lieber Arnolf! Meine
lieben Kinder! Kommt, laßt euch umarmen!“
„Hier iſt Sekt!“ rief eine der Damen, in ihrer Er-
regung ein paar gefüllte Gläſer dem Kellner vom Ta—
blett reißend und den Beglückwünſchten in die Hände
drückend. „Stoßen wir an — das Brautpaar lebe hoch!“
Nicht umſonſt hatte die Majorin bei Ausführung
dieſes Planes, dem Reſultat ſchlafloſer Nächte, ſich als
Begleitmannſchaft die begabteſten Zungenkünſtlerinnen
ausgewählt. Während die eine noch das Amt der Hebe
verſah, flatterte die andere ſchon im Saal umher, um
die große Neuigkeit auszuftreuen,
— —
0 Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 61
Die erſte, die ihren Anteil davon erhielt, war die
Kommerzienrätin. Sie hatte gerade ihr Taſchentuch
zum Munde geführt, um ein gelangweiltes Gähnen zu
verbergen, als ihr plötzlich vor Schreck und Staunen
die Lippen halb geöffnet ſtehen blieben.
„Meinen Glückwunſch zu der ſchönen Schwieger—
tochter!“ Und etwas wie eine Umarmung ſenkte ſich
auf ihre Schultern.
Sie fand im Augenblick keine anderen Worten als:
„Rappelt's bei Ihnen?“
Da kam ſchon eine ganze Kolonne quer durch den
Saal auf ſie zu.
„Herzliche Glückwünſche! Wo iſt denn das Paar?
Das iſt eine Überraſchung! Für Sie wohl auch, Frau
Kommerzienrätin?“
In dieſem Augenblick erſchien auch Frau Breunicke,
weniger auf Flügeln des Geſanges als auf den Flügeln
eines ſprachloſen, vorwurfsvollen Schreckens. Sie
konnte weiter nichts ſagen als: „Unfinn — was?“
Da ſtand die Kommerzienrätin ſchon kerzengerade
und lächelte ein ſehr verbiſſenes Lächeln in die erregten
Geſichter um ſie her. „Vielen Dank!“ Dann nahm
fie den Arm der Zuſtizrätin mit einer dieſer ſehr emp-
findlichen Energie und ging mit ihr davon. „Wollen
doch nach den jungen Leuten ſehen!“
Bärbel ſtand, die Sachlage wie den diplomatiſchen
Schachzug ihrer Mutter raſch begreifend, noch immer
ratlos neben Arnolf. Ein glühender Zorn trieb ihr
das Blut in die Schläfen und machte ihre Hand, die
noch feſt umſpannt in Arnolfs Hand ruhte, vor Ungeduld
zittern.
Er beugte ſich zu ihr nieder. „Bleiben Sie ganz
ruhig. Halten Sie allem ftand wie ich.“
Er hatte die Machenſchaft der Majorin nun auch
62 Der felige Major. 2
durchſchaut, und was ſich auch in ihm dagegen ſträubte,
Unwillen war nicht fein ausſchließliches Gefühl. Vor
allem erfüllte ritterliches Mitleid mit Värbels Lage
ſein Herz.
Darum wiederholte er noch einmal und dringlicher:
„Sie müſſen ganz ruhig bleiben.“ Er dachte an die
neugierigen Kelineraugen und drückte ermutigend ihre
Hand.
Da brauſte es in ihr auf trotz Schreck und Scham.
Kaum hörbar und nur ihm verſtändlich ſtieß ſie
es hervor: „Daran ſind Sie ſchuld! Ganz allein
Sie!“
Die Majorin, in wechſelnder Umarmung mit glück-
wünſchenden Damen begriffen, hörte davon nichts,
dagegen ſah ſie jetzt die Kommerzienrätin und neben
ihr Frau Breunicke ins Zimmer treten. Sich einem
neidiſchen Wangenkuß entziehend, eilte ſie ihnen ent-
gegen, beide Hände vor Rührung zuſammenſchlagend,
um fie dann mit verwandtfchaftliher Herzlichkeit der
Kommerzienrätin darzureichen.
„So mußte es nun doch kommen, teuerſte Mertens!
Ich kann wohl ſagen, mein Herz ſetzt noch immer aus. —
Bärbel, Arnolf, kommt doch! Küßt der lieben Mutter
die Hände!“
„Ich habe mein Täſchchen im Saal liegen laſſen,“
ſagte Frau Breunicke haſtig, drehte ſich um und ging,
bis an den Hals voll Ingrimm und Zorn, hinaus.
„Mutter,“ ſagte Arnolf, Frau v. Kalaus Auffor—
derung folgend, indem er Bärbel an der Hand mit ſich
führte, „Barbara iſt durch dieſe öffentliche —“
„Ich ſehe es,“ fiel die Kommerzienrätin ein, das
ſeine Haltung wiederfindende junge Mädchen mit ver—
kniffenem Lächeln betrachtend. „Wenn Sie mir auch
einen Kuß geben wollen —“ N
D Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 63
Wieder fühlte Bärbel Arnolfs mahnenden Hände—
druck.
Die Abneigung der Kommerzienrätin gegen die
Familie Kalau war kein Geheimnis, um fo pikanter ge-
ſtaltete ſich dieſe Szene und um ſo geſpannter ſpitzten
ſich Augen und Ohren der Anweſenden zur Beobach-
tung.
In dieſem Augenblick erſchien der Kommerzienrat,
durch Glückwünſche vom Spieltiſch aufgeſcheucht. Der
Champagner flackerte in ſeinem Gehirn, und ſein Gang
hatte etwas Unentſchiedenes. Er ſtreckte halb ver⸗
droſſen, halb beluſtigt die zitternde Hand in die Luft.
Die Majorin flog auch ihm entgegen. „Denken Sie
doch nur! Mein Mutterherz —“
„Das iſt ja die reine Hexerei!“ ſagte der Kommer—
zienrat, die entzückende Schönheit neben ſeinem Sohn
mit wohlwollendem Schmunzeln betrachtend. „Das
iſt ja die reine Extrapoſt! Was will denn die Kleine
— he?“
Er machte einen Anſatz, Bärbels Kinn zu erfaſſen,
als Arnolf, Barbaras Arm raſch in den ſeinen legend,
mit unverkennbarem Hinweis auf die Vielzuvielen
ſagte: „Ich meine, für eine Familienangelegenheit iſt
die Sache ſchon reichlich genug ans Licht gezogen.“
„Nur zu wahr!“ rief Frau v. Kalau, deren Gewiſſen
angeſichts der Starrheit ihrer Tochter ſich zu regen be-
gann. — „Meine liebſte Mertens, Herr Rommerzien-
rat, wir trennen jetzt das junge Paar bis morgen. Da
finden wir uns alle erfriſcht wieder zuſammen. —
Komm, Bärbel! — Mein lieber Arnolf — nicht zu früh
morgen, bitte!“
„Ich geleite Sie und Barbara hinunter,“ ſagte er,
indem er die auf ſeinem Arm vor Ungeduld zitternde
Hand ein letztes Mal ermahnend drückte.
64 Der felige Major. 2
So führte er ſie durch eine Seitentür hinaus und
zur Garderobe, gefolgt von der Majorin, der in-
folge der Aufregung der Kopf zu brennen begann.
An der Haustür trennte er ſich mit ſtummem Gruß.
Langſam ging er unter dem klaren Mondlicht die Straße
hinauf, den kalten Luftzug um ſeine Stirn als ne
empfinden.
Das Ganze war ja nur ein Theaterblitz — und
dennoch, es handelte ſich dabei um Bärbels guten Ruf,
wenn ſie beide ihre Verlobung morgen verleugneten.
Ihr Zornruf tönte ihm noch im Ohr.
Ein Wagen fuhr raſſelnd vorüber und weckte ihn
aus ſeinen Gedanken. |
Das eine war ſonnenklar: Frau v. Kalau wünſchte
ihn als Gatten für ihre Tochter. Aber es war ein glüd-
liches Gefühl für ihn, daß er ſich ſagen konnte, Bärbel
ſpekulierte nicht auf ſein Geld, denn dann hätte er nicht
nötig gehabt, ihren Widerſtand zu beſchwichtigen. Das
dankte er ihr. Dafür ſchätzte er ſie um ſo höher ein.
Als er nach langer Wanderung zu den Fenſtern
ſeiner elterlichen Wohnung emporſah, blinkte ihm ein
Lichtſtrahl daraus entgegen. Sie waren heimgekehrt.
Einen Augenblick ſtand er überlegend, den Türgriff
in der Hand, dann aber, ſich eines Beſſeren beſinnend,
ließ er ihn wieder fahren und ging in ſein eigenes
Heim.
Noch ſchwirrten im Saal die Geigen, und ein ver—
ſchlafener Baß brummte knurrig dazwiſchen, aber der
Kaffeegeruch drang doch ſchon anheimelnd durch die
verdickte und verſtaubte Luft.
Er gab der Juſtizrätin die Kraft, ihre Märtyrer—
krone, die ſie ungeſehen trug, mit Anſtand bis zu Ende
zu ſchleppen. In ihr war alles Feuer und Flamme,
d Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 65
. jobald fie ihre Meta ins Auge faßte, die blaß, blond
und unverlobt Enttäuſchung und Neidgefühl zu ver-
tanzen beſtrebt war.
So ganz hatte der Zuſammenbruch ihrer Hoffnungen
Frau Breunicke überwältigt, daß in ihrer Seele eine
wahre Revolution ſonſtiger Anſchauungen ſtattfand,
denn kaum zu Haufe angelangt, ließ fie ihren mütter-
lichen Groll an der um ihre Schüchternheit und Blumen-
haftigkeit ſo oft belobten Tochter aus.
„Das kommt davon, wenn man wie ein Stock da—
ſteht und die Nelke abbricht, ſtatt fie grazioſo ins Knopf⸗
loch zu ſtecken. Das kommt, wenn man wie die Stumme
von Portici daſteht und nicht piep ſagen kann, wenn
ein junger Mann ſich nähert. Es iſt nicht nötig, kokett
zu ſein, aber ſein Licht unter den Scheffel zu ſtellen,
braucht man auch nicht — dann ſchnappen eben die
anderen, die gewitzter ſind, den fetten Biſſen weg.
Jetzt haſt du das Nachſehen, jetzt kannſt du Braut-
jungfer ſpielen bei der ſchauderhaften Kalauſchen Sippe.
— Himmel, iſt mir dieſe Geſellſchaft verhaßt! Fetzt
könnteſt du Braut ſein, wenn du nicht neben der —
ich kann fie gar nicht nerffien — wie ein Olgötze ge-
ſtanden hätteſt.“
Fräulein Meta ſchluchzte in ihr Taſchentuch. „Ich
konnte ihn doch nicht bei den Haaren nehmen!“
„Und jetzt wird ſich dieſe Hungerleidergeſellſchaft
in die ſchöne Villa ſetzen, wo du hinein ſollteſt.“
Fräulein Meta ſchluchzte weiter. „Wenn er doch
ſo ein alberner Menſch iſt! Ihr werde ich es aber
ſchon eintränken.“
„Du wirſt hinten auf den Backofen kommen,“ rief
die Juſtizrätin, der die Dornen noch immer auf dem
Kopf brannten.
Die Stimme ihres ſtark angeheiterten Gatten dröhnte
1914. X. 5
66 | Der felige Major. 2
in dieſes Duett hinein: „Nun laßt aber endlich das
Gezeter! Es gibt doch noch mehr grüne Jungen in
der Welt als dieſen Mertens! Marſch ins Bett mit
dir, Meta! Und du“ — dieſe liebenswürdige Aufforde-
rung galt der Ehefrau — „ſchnalle mir hinten die
Krawatte auf. Und ein andermal bleibt mir mit euren
Wohltätigkeitskomödien vom Leibe!“
Achtes Kapitel.
Still und mit unſicherer Hand löſte Bärbel die
Rofe aus ihrer Schärpenſchleife, während die Majorin
ſich die Schläfen mit Kölniſchwaſſer wuſch.
Frau v. Kalau hatte Heldenmut bewieſen und durfte
noch nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen, denn wie ſie
jetzt aufs neue die Stirn netzte, ſtand Bärbel vor ihr
mit glühenden Wangen und zuckenden Wimpern.
„Wie haſt du dir das eigentlich gedacht, Mutter?
Oder beſſer geſagt: Wie denkſt du dir die Sache jetzt?“
„Ich denke, meine liebſte Bärbel,“ ſagte die Majorin,
befangen zwar, aber doch mit vollbewußter Überzeu-
gung, „daß eine Frau glücklich werden muß, wenn der
Mann ſie ſo liebt, wie Arnolf dich liebt.“
Bärbel biß ſich auf die Lippen. „Und auf mich,
auf mein Gefühl kommt es gar nicht an?“
„Du wirſt ihn lieben lernen,“ ſagte Frau v. Kalau
beſtimmt.
Da fuhr ſie auf. „Weißt du denn, ob ich nicht ſchon
einen anderen liebe?“
„Seifenblaſen! Wer dich in Samt und Seide bettet,
dir das Leben vergoldet, dir alle Sorgen fernhält, der
iſt der Liebſte, den halte feſt. Wo und wann kann
denn ein Mädchen ihre ſogenannte erſte Liebe heiraten?
Auf dem Monde vielleicht — hier nicht. — Sei nicht
— —
D Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 67
undankbar, Bärbel,“ fuhr fie bittend fort. „Sei nicht
leichtſinnig. Das Glück bietet uns en zweimal ſo
die Hand.“
„„das Glück?! wiederholte Bärbel mißächtlich. „Ich
meine, dieſe bietende Hand wäre die deine ODER
Und morgen?“
Morgen wird fi das weitere finden — glaube
mir's. Die Hauptſache iſt, ich bin nun die Angſt um
dieſe heuchleriſchen Breunickes los. Zetzt * wir
in Ruhe ans Werk gehen.“
„Ich will aber feine Frau nicht werden!“ rief Bärbel,
mit dem Fuße aufſtampfend. „Ich will mit feinen
Eltern nichts zu tun haben! Du haſt mich bloßgeſtellt,
zum Geſpött gemacht! Brauche ich auf dieſe Mertens
zu warten? Ich haſſe fie alle miteinander.“
„Bärbel,“ ſagte die Majorin, indem ſie zu weinen
begann, „ich bin ſterblich — und arm wie eine Kirchen-
maus bin ich auch. Wenn ich die Augen ſchließe —
Bärbel, Schönheit und Jugend find keine guten Be—
rater, glaube mir. Nimm das Sichere fürs Unſichere.
Mache es mir nicht ſchwer, dich zu verlaſſen. Ich könnte
ſo ruhig aus der Welt gehen, wenn du jetzt verſtändig
biſt und nicht zuſchanden machſt, N Io ſorgfältig
eingefädelt.“
Aber Bärbels zorniges Antlitz flog ein Weicher
Schimmer. „Na ja, Muttchen, du meinſt das alles ja
ſehr gut, und ich kann das auch verſtehen. Aber danken
kann ich es dir nicht. Sieh doch meine Lage an — ich
dränge mich ja den Mertens geradezu auf!“
„Ach, Kind, wo gibt es denn nicht Krakeel mit den
Schwiegereltern? In den allerbeſten Familien könnte
es oft heißen: Nehmet Holz vom Fichtenſtamme! —
Als Arnolfs Frau kannſt du den beiden Alten tagtäglich
zu verſtehen geben, daß du Herrin im Hauſe biſt. Ich
63 Der felige Major. u
habe das alles wohl erwogen, Bärbel. Selbſt wenn
der Kommerzienrat ſeinen Sohn aufs geſetzliche Pflicht-
teil ſetzt, bleiben euch immerhin mindeſtens viermal-
hunderttauſend Mark. Nein, Bärbel, halte feſt, was
du haft, und laß dich nicht verführen von unzeitgemäßer
Sprödigkeit. Glaube meiner Erfahrung, Sorgen fahren
ſich leichter im Wagen, als wenn man fie zu Fuß herum
ſchleppen muß. Es iſt ja ganz gut, wenn eine Frau
ihrem Manne in der Ehe kühl gegenüberſteht, denn
das iſt ein Anſporn für ihn, ſich dienſteifrig und unter-
tänig zu betragen. Ich darf wohl ſagen, daß dein ſeliger
Vater ſich lange Jahre in der Schwebe befand, ob mein
Herz ihm ohne Seitenſprünge angehöre — und bis
dahin ließ er ſich um den Finger wickeln.“
Es ſchien aber, als ob dieſe dringenden und drän-
genden Worte in den Wind geſprochen wären, denn
Bärbel rief mit zurückkehrendem Zorn: „Wenn er
morgen kommt, will ich ihn nicht ſehen. Am liebſten
holte ich nach, was ich damals verſäumt habe, als er
ſchon einmal ſo — unverſchämt war.“
„Wenn du feſthältſt,“ ſagte die Majorin eindring—
lich, indem ſie ihrer Tochter Hand ſtreichelte, „ſind alle
anderen die Blamierten. Hältſt du nicht feſt, biſt du
die Blamierte.“ ö
Oh, daß Bärbel hätte fagen können: „Ich gehe nach
Berlin zurück!“ Aber ſie konnte es nicht. Die feine
Nöte in Chriſta v. Klüvers Geſicht bei Stettenborns
Nahen lag ihr noch ſchwer im Gedächtnis. Sie trug
das heiße Gefühl noch lebhaft in der Erinnerung, als
Stettenborns Hand die ihre erfaßte — wie ein rieſelnder
Strom war's durch ihren Körper gefloſſen. Und wenn
er morgen erfuhr, was heute geſchehen? Sie drückte
die Hände gegen die Augen.
Nur einmal in ſeine Seele hineinſehen können, ob
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 69
da ein Samenkorn aufſprießte! Dasſelbe Samenkorn,
das in ihrem Herzen Wurzel trieb und fie mit leiden
ſchaftlichem Groll erfüllte gegen den Mann, der ihren
freien Willen zu vergewaltigen ſich anſchickte. — —
In der Nachtſtille hatte Frau v. Kalau den Schluß—
ſtein auf das Zukunftsgebäude geſetzt, das ihre Fürſorge
aufgeführt. Sie war nun ganz geſattelt und vorbereitet
auf alles, was ſich noch ereignen konnte, und hatte vor-
derhand nichts dagegen, daß Bärbel im Eßzimmer raſt-
los auf und nieder ſchritt, während ſie ſelbſt im Salon
der Dinge harrte, die da kommen mußten. —
Den erſten Glockenzug tat ſchon in der zehnten
Morgenftunde der Kommerzienrat.
Er für ſeine Perſon würde ſich ſo hartnäckig gegen
dieſe Schwiegertochter nicht geſträubt haben, wenn die
Sache denn ſchon einmal ſo verfahren war, aber der
häusliche Kommandeur, Frau Suſanne, die niemals
an einem Überſchwang von Mutterzärtlichkeit gelitten,
hatte ſo gewaltigen Widerſpruch eingelegt, daß der
Kommerzienrat ſich freiwillig ins Vordertreffen ſtellte,
bevor noch RNückſprache mit feinem Sohn genommen
worden war.
„Ich kann nur bedauern,“ ſagte die Majorin mit
ſanfter Stimme, als der kleine, wackelige Herr bei ihr
eintrat, „daß Ihre liebe Gattin das Endchen Weges
hierher geſcheut hat. Mutter gegen Mutter, das wäre
das ſchönſte und beſte geweſen. — Aber nehmen Sie
Platz!“
„Meine Frau,“ ſagte der Kommerzienrat, ſeinen
noch etwas ſchweren Kopf mit der Hand ſtützend, „iſt
der Meinung — ich ſpreche ganz frei von der Leber
weg —, daß die Angelegenheit etwas ſtark übers Knie
gebrochen worden iſt, daß eine Rückſprache mit uns
Eltern vorerſt am Platze geweſen wäre.“
ö — — — — — A . ˙* VVV
70 Der ſelige Major. ö a)
„Nie und niemals,“ fiel Frau v. Kalau mit Nach-
druck ein, „haben Eltern den Augenblick beſtimmen
können, da liebende Herzen ſich zur Ausſprache bereit
fanden. Es iſt ein Wink. des Schickſals, dem fie folgen.“
„Bei ſolchen Winken,“ ſagte der Kommerzienrat,
ſich höchſt unbehaglich zurücklehnend, „wird manches
getan, was in der Nacht wieder ausgeſchwitzt wird, und
wovon am anderen Morgen bloß eine fatale Erinnerung
bleibt.“ . in
„Herr Kommerzienrat,“ rief die Majorin, ihre rund-
liche Geſtalt im Sofa kerzengerade aufrichtend, „Sie
vergeſſen, daß es ſich um meine Tochter, um die Tochter
des Majors v. Kalau handelt! Ich muß die Auffaſſung,
die Sie ſoeben betonten, im Namen meines ſeligen
Mannes ſehr — lax nennen. Einem Mädchen ſeine
Liebe erklären, iſt die Weiheſtunde des Mannes. Und
jetzt frage ich im Namen aller Mütter: Wer anders
als der Bräutigam und zukünftige Ehemann durfte ſich
in ſolcher Vertraulichkeit mit meiner Tochter befinden?“
„Junge Leute —“ begann der Kommerzienrat.
„Ich erſtaune!“ ſchnitt ihm Frau v. Kalau das Wort
ab, ohne ſich aus dem Sattel werfen zu laſſen. „Ja,
es ſind junge Leute, von Kindheit an einander zugetan.
Und dieſe harmoniſche Einigkeit hat nun zur Liebe
geführt. Seit dem Tode meines Mannes bin ich be—
rufen, über Barbaras Ruf und Ehre zu wachen, und
ich kann Ihnen nur Glück wünſchen, daß Kalau im
Grabe liegt, denn wenn etwas ihn zur Wut hinreißen
konnte, ſo war es ein Verſtoß gegen die Hochachtung,
die man ſeiner Familie ſchuldete.“
„Wenn wir nun aber doch eine andere Braut für
unſeren Sohn in Ausſicht gehabt haben!“ ſagte der
Kommerzienrat.
„So haben Sie ſeinen heiligſten Rechten vorge—
u Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 71
griffen,“ erwiderte die Majorin und vergaß ganz, daß
Bärbel auch von einem anderen geſprochen hatte.
„Die Liebe Ihrer Tochter,“ fiel Mertens grämlich
ein, „wird ja ſo heiß nicht geweſen ſein.“
„Herr Kommerzienrat,“ ſagte Frau v. Kalau ſich
erhebend, „dieſes Geſpräch iſt eine Beleidigung, die
ich mit Entrüſtung zurückweiſe. Ich ſehe, Sie wollen
Ihren Sohn zum Treubruch verleiten. Gut — ich
ſpreche jetzt für meine Tochter mit, wenn ich ſage: Die
geſtrige Verlobung Ihres Sohnes mag null und nichtig
ſein, wenn er es mit ſeiner Ehre für vereinbar hält, ein
junges, ihm vertrauendes Mädchen dem Gerede und
Geſpött der Läſterzungen preiszugeben. Stellen Sie
dies Ihrem Sohn vor, und danach mag er ſich erklären.
Ich rede jetzt kein Wort weiter. Leben Sie wohl!“
„Dich wollen wir ſchon kriegen!“ murmelte ſie hinter
ihm bet, als er mit zitteriger Hand die Tür geſchloſſen.
Ein warmer Südweſt blies durch die Straßen, Tau-
wetter verkündend, als der Kommerzienrat aus dem
Haufe der Majorin trat, um in feine Villa zurückzu-
kehren, allwo Frau Suſanne mit ſcharfer Handhabung
häuslicher Geſchäfte ihre Ungeduld zu meiſtern trachtete.
Vor dem Eingang ſtand fein Sohn im Gefellichafts-
anzug, ihn erwartend. „3% wollte u zuerſt auf-
ſuchen.“
„Wirklich? Die Güte ſelbſt!“ ſagte der Fonte dei
rat, durch feinen moraliſchen Hinauswurf aufs äußerſte
ergrimmt. „Es iſt höchſt anerkennenswert, uns nicht
ganz auszuſchließen. Wenn der Sohn und Erbe ſich
eine Lebensgefährtin gewiſſermaßen aus dem Ärmel
ſchüttelt, haben die Eltern —“ |
„Ich bitte dich, Vater,“ ſagte Arnolf, neben ihm
die Stufen emporſteigend, „jetzt keine Bitterkeiten! Es
72 Der felige Major. 0
iſt kein Grund vorhanden, fich gegenſeitig aufzuregen
und den Klatſchbaſen Stoff zur Unterhaltung zu geben.“
„Danke beſtens für gütige Belehrung,“ ſagte der
Kommerzienrat leiſe, da er die Stimme ſeiner Gattin
vernahm. „Deine Mutter ſieht die Sache, wie mir
ſcheint, denn doch mit anderen Augen an.“
In ſeinem Arbeitszimmer rief er durch die Tür:
„Er iſt hier!“
Frau Mertens trat mit finſterer Miene ein. „Ich
habe ſchon den Zylinder im Korridor hängen ſehen.
Alſo wirklich? Hingehen und anhalten? Um dieſes
Mädchen anhalten? Wo du weißt, ſehr genau weißt,
daß wir die Familie Kalau allezeit von uns abgeſchoben
haben!“
„Das habe ich gewußt,“ ſagte Arnolf, ſeine äußere
Ruhe bewahrend, „und ſchwer genug empfunden.“
„Und jetzt biſt du glücklich 'reingefallen!“ rief die
Kommerzienrätin ſchroff. „Dieſe Katze iſt ſo lange um
dich herumgeſtrichen —“
„Ich bitte dich, Mutter,“ fiel Arnolf ein, „in unſer
aller Intereſſe, von dieſem Ton abzuſehen. Ich kann
eine Familie, zu der ich in engere Beziehungen treten
will, nicht ſo wegwerfend genannt hören.“
„David, haſt du das gehört?“ rief Frau Mertens
ihrem vor ſich hinbrütenden Gatten zu. „Er will in
Beziehungen treten! Hat gar keine Ahnung, daß er
eingefangen iſt. Stellt uns vor den Breunickes bloß,
daß man ſich ſchämen muß, einen ſolchen Sohn zu
haben.“
Arnolf ſchwoll die Stirnader an, aber er bewahrte
ſeine Ruhe. „Bleibe alſo bei deiner Überzeugung,“
ſagte er gedämpft. „Ich kann ſie dir nicht nehmen
und, was die Majorin anbelangt, ſtreite ich ſie dir auch
nicht völlig ab. — Aber,“ fuhr er erregter fort, „in
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 73
une
N
betreff ihrer Tochter ſcheiden ſich unſere Meinungen
durchaus. Daß ich Bärbel immer geliebt habe, iſt euch
kein Geheimnis geweſen, und jetzt wiederhole ich als
Mann, daß ſie für mich der Inbegriff des Entzückens
iſt, daß ich ſie liebe und glücklich ſein würde, wenn ſie
dieſes Gefühl teilen könnte.“
„So!“ knurrte der Kommerzienrat biſſig. „Das
kann ſie alſo doch noch nicht? Als ich vorhin der Majorin
gegenüber Zweifel daran ausſprach, wollte ſie durch
die Dede fliegen vor Entrüſtung.“
„Ich bitte nochmals,“ ſagte Arnolf lebhaft, „die
Perſon der Mutter gänzlich auszuſchließen und nur
mich und Barbara im Auge zu behalten. Beſſer wäre
es ja geweſen, ich hätte der Verſuchung eines Allein-
ſeins mit ihr noch widerſtanden, aber es geſchah, um
mich von dem Verdacht der Leichtfertigkeit und Un-
dankbarkeit zu reinigen, in den ihr mich gebracht hattet
durch das mir aufgezwungene Verſprechen, jeglichen
Verkehr abzubrechen. Wenn ich dabei die Vorſicht
außer acht ließ, die Barbara von mir fordern durfte,
und wenn ich bis hart an die Grenze deſſen ging, was
meine ganze Seele erfüllte, ſo iſt nicht zu vergeſſen,
daß jeder andere unſer Beiſammenſein ebenſogut be—
lauſchen konnte, wie Frau v. Kalau es tat. Und
darin hat fie ja recht: Kein Mann follte fo fehn-
ſüchtig eines Mädchens Hand an ſeine Lippen
drücken, wie ich es tat, der nicht die Abſicht hat, ſie
fürs Leben zu gewinnen.“
„Dieſes Alleinſein war doch bloß ein Trick, um dich
einzufangen,“ ſagte die Kommerzienrätin zornig. —
„Was ſagſt du, David? Er iſt blind wie ein Maulwurf!“
„Wenn er durchaus hereinplumpſen will, ſo laß ihn
plumpſen,“ ſagte Mertens, deſſen Übelbefinden ſich
ſteigerte. „Aber das haſt du wohl nicht überlegt, daß
74 | Der felige Major. u
ich der Spekulation dieſer Damen und deinem Un—
gehorſam noch einen gewaltigen Riegel vorſchieben kann
und vorſchieben werde. Wenn die beiden ſich gedacht
haben, ſich in unſer Neſt zu ſetzen, ſo irren ſie ſich
gründlich. Du haſt dein Gehalt — Punktum! Ich
entziehe dir jede Zulage. Und was mein Teſtament
anbelangt, da wird man ſich auch noch wundern. Das
kannſt du bei deiner Werbung mit einfließen laſſen —
da wird ſich der Kalauſche Eifer ja wohl abkühlen.“
„Es wäre in der Tat ſtrafbar, Vater, wollte ich
dieſen deinen Entſchluß nicht erwähnen,“ ſagte Arnolf
mit klopfenden Schläfen. „Barbara hat freie Wahl.
Ich wüßte auch nicht, daß fie an Luxus je gewöhnt
geweſen wäre. So kleinlich und berechnend iſt ſie nicht,
dazu kenne ich ſie zu gut.“
„Geh wieder ins Ausland!“ rief die Kommerzien-
rätin haſtig. „Damit verläuft die Angelegenheit im
Sande.“ 1
„Die Majorin,“ fiel Mertens biſſig ein, „iſt ein ſo
ſchlauer Fuchs wie nur möglich. Sie meinte, wenn
Arnolf es mit ſeiner Ehre vereinbar hält, dann ſoll
die Geſchichte aus ſein. Geh hinüber und ſage ihr:
Ich kann's ganz gut ertragen. — Baſta!“
„Und auf Barbara bleibt der Fleck ſitzen,“ ſagte
Arnolf, mit großer Selbſtüberwindung eine heftige
Aufwallung niederkämpfend. „Ich gehe einfach fort,
und ſie kann zuſehen, wie ſie den Fleck auf ihrem
guten Nuf wieder los wird!“
„Alſo — von dieſer Schwiegertochter wiſſen wir
beide nichts,“ fiel die Kommerzienrätin mit harter
Stimme ein. „Nun tue, was du willſt. — David, du
mußt kalte Umfchläge haben, komm! — Ich wünſchte,“
ſetzte ſie ergrimmt hinzu, „dieſer Baſar wäre geblieben,
wo der Pfeffer wächſt.“
— —
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 75
Arnolf ſah feinen. Eltern ſchweigend nach. Das
Gefühl der Vereinſamung in dieſem Haufe überdrang
ihn wieder mit trauriger Kälte. Wenn er auch nicht
erwartet hatte, Billigung zu finden, ein Verſtändnis
für ſeine Handlungsweiſe hatte er doch vorausgeſetzt,
darauf war das Ergebnis ſeiner durchwachten Stunden
gegründet worden. Nun war ihm der Boden entzogen.
Er konnte die Sache drehen und wenden, wie er
wollte, das Refultat blieb immer eine Schädigung an
Bärbels Ruf. Sie konnte gar nicht anders, als zu
ihm ſtehen, wie er zu ihr ſtand, auch dann, wenn er
ihr nichts weiter zu bieten hatte als ſein Gehalt.
Langſam ſchritt er aus dem Zimmer und auf den
offenen Flur hinaus, wo die vergraute Gipsbüſte auf
dem maſſigen Schrank einen Lichtſtrahl quer über der
Naſe trug, der wie ein höhniſches Rümpfen in dem:
löcherigen Geſicht wirkte, als s es hinter dem
Abſteigenden her.
Der Weg zum Nachbarhauſe war kurz. Nur der
Garten lag dazwiſchen, und durch das jetzt kahle Bulch-
werk ſah Arnolf die Steige, auf denen er mit Barbara
ſeine ſchönſten Stunden verſpielt und verplaudert hatte.
Damals lief ſie ihm mit offenen Armen entgegen —
und heute?
Er zog die Glocke, feſt entſchloſſen, völlige Wahrheit
und Klarheit walten zu laſſen, ſoweit es von ſeiner
Perſon abhing.
Die Majorin öffnete ihm ſelbſt die Tür. Mit mildem
Vorwurf reichte ſie ihm die Hand. „Ich hatte Sie
früher erwartet als Ihren Vater, lieber Arnolf. Mir
wäre dadurch der Schmerz erſpart worden, in Un-
frieden von ihm zu gehen. — Legen Sie ab! — Wir
wollen uns doch ein junges Glück nicht durch Kleinig—
keitskrämerei entweihen laſſen. Ihr Vater litt offenbar
16 Der ſelige Major. a
noch an den Nachwehen des geitrigen Feſtes. Cham-
pagner iſt ein heimtückiſcher Freund. Mein ſeliger
Mann pflegte immer zu ſagen: Es iſt ein ſchnödes Ge-
ſöff! — Kommen Sie, bitte, herein! Barbara wird
gleich mit ihrer Toilette fertig ſein.“ |
In Wahrheit hielt Bärbel nebenan einen Brief ihres
Berliner Onkels in der Hand, den der Poſtbote ſoeben
abgegeben. Herr v. Kalau zeigte darin feiner Schwä-
gerin an, daß er ſeinen Haushalt in Berlin aufgelöſt
habe und nach dem Wohnort ſeiner verheirateten
älteſten Tochter überzuſiedeln gedenke.
Alſo auch dieſe Zuflucht, wenn ſie ſie hätte benützen
wollen, war ihr nun verſperrt.
„Nehmen Sie auf dieſem Seſſel Platz,“ ſagte die
Majorin herzlich. „Ihr lieber Vater hat ihn vorhin
eingenommen. Man muß, das iſt Pflicht und Herzens
ſache, den Wunderlichkeiten des Alters immer nach—
ſichtig gegenüberſtehen. Niemals wird man mich in
dieſer Auffaſſung wanken ſehen. Sagen Sie das Ihrem
Vater, lieber Arnolf.“
Er hatte wenig von dem allem gehört. Ein raftlofer
Schritt, den ſein Ohr durch die geſchloſſene Tür des
Nebenzimmers erlauſchte, feſſelte ſeine Aufmerkſamkeit.
„Ich komme,“ ſagte er, die Erwartung der Majorin
endlich befriedigend, „um die Hand Ihrer Tochter Bar-
bara anzuhalten. Zwar geſtern —“
„Hatten Sie ſchon meine Einwilligung mit Freuden
erhalten,“ fiel Frau v. Kalau ſcherzend ein. „Gewiß.
Und ich wiederhole heute: Wem follte ich mein Kind
lieber anvertrauen, als dem Freunde ihrer Jugend?
Einem Manne, den ich als Knaben ſchon liebgewann,
als Jüngling ſchätzte und jetzt mit vollem Vertrauen
Schwiegerſohn nenne! Nehmen Sie meine Tochter,
lieber Arnolf — und meinen Segen dazu!“
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Noeppel). 77
Ihr Antlitz ſtrahlte die Aufrichtigkeit ihrer Freude
wider, als ſie ihm ermutigend die Hand drückte. „Sie
haben noch etwas auf dem Herzen, lieber Arnolf. Nur
heraus damit! Es iſt alles menſchlich, was im Leben
paſſiert. Mein ſeliger Mann pflegte zu ſagen: In
irgend einem Punkt iſt jeder Menſch ein Narr oder
ein — Sie geſtatten, daß ich den Ausdruck unterſchlage.
Sie wollen von Ihren lieben Eltern ſprechen und
ihrem unbegreiflichen Widerſtand — nicht wahr?“
„Allerdings,“ ſagte Arnolf ſehr ernſt, „das muß zur
Sprache kommen. Ich habe ſoeben dieſen Widerſtand
als vorläufig unbeſiegbar erkennen müſſen. Es iſt mir
nicht gelungen, eine Stelle zu finden, wo er zu er-
weichen geweſen wäre. Sie müſſen gleich mir damit
rechnen, daß meine Eltern unſerer Verlobung miß-
billigend gegenüberſtehen.“
„Wie traurig für fie ſelbſt!“ ſagte Frau v. Kalau,
der dieſe Eröffnung nichts Neues war, aber die ſie
in Anbetracht des recht erheblichen Pflichtteils, auch
nicht beſonders angriff.
„Ich werde alles daranſetzen, Barbara dieſes pein-
liche F ſo unfühlbar zu machen wie nur
möglich.“
„Das Beben Sie!“ rief die Majorin gerührt. „Und.
was Barbara betrifft, ſo ſtehe ich dafür, daß fie es
überwinden wird. Laſſen Sie doch den guten Klatſch—
paſteten hier das Vergnügen, über die Verlobung zu
ſpötteln. Wer zuletzt lacht, lacht am beſten. Ich rufe
nun Barbara und laſſe euch allein, ihr Lieben.“
„Einen Augenblick noch!“ ſagte Arnolf, die Auf-
ſpringende zurückhaltend. „Ein Punkt iſt noch zu er-
örtern. Mein Vater hat ſich von heute an in materieller
Hinſicht von mir abgewandt. Ich bin ſomit lediglich
auf mein Gehalt angewieſen.“ |
\
78 Der ſelige Major. N 2
„Was Sie ſagen!“ rief Frau v. Kalau, nicht gerade
angenehm überraſcht. „Das iſt ja grauſam und un-
chriſtlich im höchſten Maße.“ Aber ſie faßte ſich ſchnell.
Solche Androhungen hatten meiſt kurze Beine. Alſo
nickte ſie ihm ermutigend zu. „Liebe, mein guter Arnolf,
ſieht nicht auf Geld, und Glück berechnet ſich nicht nach
Gold und Banknoten. Ich darf wohl ſagen, daß mein
ſeliger Mann dieſen Standpunkt glänzend vertrat, als
er um meine Hand warb. Sein Lieblingsſpruch war:
Glück verzapft ſich nicht wie Spatenbräu. — Ich hole
jetzt Barbara.“
Arnolf blieb allein. Nur ein bißchen fahler Sonnen-
ſchein war mit ihm auf dem Gange zum Fenſter, wo
Bärbels Buch aufgeſchlagen auf dem Tiſche lag.
Mit heißer Sehnſucht nahm er es zur Hand.
Aber da trat ſie ſchon ein, unwiderſtehlich ſchön in
ihrer Jugendpracht und Herrlichkeit.
Die Mitteilungen, die Frau v. Kalau ihr im Fluge
zugeflüſtert, übten nicht den mindeſten Reiz in dieſem
Augenblick auf ſie aus. Es war ihr ganz gleich, ob er
im Golde wühlte oder nicht. Sie dachte nur daran,
was Stettenborn, wenn er ihre anſcheinende Vertrau-
lichkeit mit Arnolf Mertens erfuhr, ohne daß die Ver⸗
lobung hinterdrein folgte, bei ſich denken würde.
Alſo gerade das, was ſie zurückſchreckte, trieb ſie an,
das zu tun, was ihr innerſtes Gefühl ihr widerriet.
Arnolf, dem ihr Anblick alle Selbſtvorwürfe von
neuem wachrief, ging ihr ſchweigend entgegen.
Ihre dunklen Augen hafteten an ihm, und doch war
es, als ſähe ſie an ihm vorüber in die Ferne hinein.
„Die Sache iſt ja nun erledigt,“ ſagte Bärbel, ohne
ihm die Hand zu reichen. „Wie das aber mit Ihren
Eltern werden ſoll —“ |
„Ehe wir von ihnen ſprechen,“ fiel er mit warmer
D Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 79
Innigkeit ein, „ſprechen wir von uns ſelbſt. Ein Wort
vor allem, Barbara: Verzeihen Sie mir, daß ich mich
hinreißen ließ. Ich hätte nicht vergeſſen dürfen, daß
es außer uns noch andere gab, Neugierige und Un-
berufene.“ | |
Sie war ehrlich genug, bei diefer Andeutung auf
die ſtrategiſchen Künſte ihrer Mutter zu erröten, aber
ſie gab keine Antwort. |
„Für mich, der das Glück feines Lebens von jeher
in Ihrem Beſitze ſah,“ fuhr er leiſer fort, ihre wider-
ſtrebende Hand ergreifend und in der ſeinen feſthaltend,
„könnte ein Abſchluß wie dieſer nur erſehnenswert ſein,
wenn ich die Gewißheit hätte, daß Sie —“ |
„Wir find nun eben ein Brautpaar,“ ſagte fie kurz
abbrechend. „Über das Wenn und Aber nachträglich
zu philoſophieren, iſt überflüſſig. Wir beſchäftigen uns
beſſer mit dem, was iſt, und mit dem, was ſein wird.“
Ihre Stimme verriet, daß die äußere Kälte, die ſie
bewahrte, zu ihrer inneren Erregtheit im Gegenſatz
ſtand. „Zunächſt werde ich grenzenlos beneidet werden
von allen Metas und Breunickes dieſer wohlmeinenden
Stadt und allen denen als Vorbild dienen, die nach
einem männlichen Goldfiſch angeln. So weit könnte
ich herzlichen Spaß daran haben, denn nichts freut
mich mehr, als Schnüfflernafen ein paar feſte Nafen-
ſtüber auszuteilen. Aber die andere Seite der Sache,“
fuhr ſie mit gerunzelter Stirn fort, „die ich nicht ſo
abſchütteln kann, erbittert mich. Mein freier Wille
ſträubt ſich gegen den Zwang, den Ihre Unvorſich-
tigkeit mir auferlegt. Weshalb blieben Sie nicht
ſitzen, wo Sie ſaßen? Wozu dieſe enge Annäherung?
Ich wünſchte, ich hätte meine Hände eingewickelt und
verſteckt.“ |
Er heftete einen langen und traurigen Blick auf
80 Her ſelige Major. 2
ſie. „Wenn ich gewußt hätte in dem Augenblick, als
alles in mir mich zu Ihnen hinzog, daß die Erinnerung
an Ihre einſtige Zuneigung ſo gänzlich —“
„Sie meinen den Kuß?“ fiel Bärbel haſtig ein.
„Das war Unſinn. Ein vierzehnjähriger Schnabel ver-
haut ſich öfter. Gern hatte ich Sie ja, und leid taten
Sie mir auch — und wenn alles ſo geblieben wäre,
wie es war, dann wäre vielleicht etwas daraus ge-
worden. Vielleicht! Vielleicht auch nicht! Das ſage
ich offen, wenn ich jemand liebhätte, lieb, was
ich liebhaben nenne, dann verurſachten mir feine
widerhaarigen Eltern weiter kein Herzweh. Sie
könnten ſich meinetwegen auf den Kopf ſtellen.
Alſo, das wäre das letzte, was mich abſchrecken
könnte. Und wenn ich ohne jemand nicht leben
könnte, weil ich ihn liebte, würde ich wahrhaftig
nicht danach fragen, wie viel oder wie wenig er in
ſeinem Geldbeutel hat.“
Er küßte ihr ſtumm die Hand. Dieſes Bekenntnis
tat ihm unſäglich wohl, wie ſchmerzlich es auch ander-
ſeits ihn traf.
„Dabei iſt weiter gar nichts zu verhimmeln,“ ſagte
Bärbel, ihre Hand zurückziehend. „Ich wollte nur Elar-
ſtellen, daß ich Sie nicht liebe, und daß ich feſt darauf
rechne, auch von Ihnen nicht mehr hören zu müſſen,
daß Sie mich ſo überſchwenglich anbeten. Dann wird
die Sache ſich ſoweit erträglich geſtalten. Denn das
ſage ich — Mutter iſt nicht anweſend — gerade heraus,
wenn ich das geringſte gelernt hätte, was ſich zum
Broterwerb verwerten ließe, ſo ſagte ich noch heute
adieu und ſchöbe Verlobung, Hochzeit, Schwiegereltern
und den ganzen Bimbam mit einem Ruck von mir ab.
So ſteht's.“
Sie hatte mit fliegendem Atem und leuchtenden
Oo Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 81
Augen geſprochen, ohne zu beachten, daß in Arnolfs
Antlitz ein merklicher Wechſel ſich vollzog. |
Er trat zurück, und feine Stimme klang kühl, als er
fragte: „Wünſchen Sie, daß die Verlobung widerrufen
wird? Sie haben das Vorrecht, zurückzutreten.“
Bärbel errötete, aber ſie ſagte nichtsdeſtoweniger
erregt: „Wenn ich das vereinbar mit meinem Ruf
gehalten hätte in dieſem geſegneten Klatſchneſt, ſo wäre
die Löſung ſehr einfach geweſen.“ Sie dachte wieder
an Stettenborn und ſein Urteil über ſie. „Nein! Das
will ich nicht.“
„Dann iſt es Ehrenſache für mich, bei der Stange
zu bleiben,“ ſagte er förmlich. „Es wird ſich ja ſpäter
noch ein Ausweg finden, hoffe ich. Vorläufig ſteht alſo
der Veröffentlichung nichts im Wege.“
Hier trat die Majorin, deren Ohr von dem Türſpalt
nicht gewichen war, lebhaft ein. „Vom Anzeigen iſt
die Rede, wie ich höre? Das nehme ich gern auf
mich. Wenn Sie die Ringe beſorgen wollen, lieber
Arnolf —“
„Ich beſtelle ſie auf dem Heimweg,“ ſagte er, ſich
verabſchiedend.
Er reichte Barbara nicht die Hand, verneigte ſich
flüchtig, und ſchon fiel die Tür hinter ihm ins
Schloß.
Bärbel atmete tief auf. „Sage kein Wort, Muttchen!
Hörſt du? Kein Wort! Ich könnte es jetzt nicht ruhig
mitanhören.“
Frau v. Kalau ſchluckte hinunter, was ihr auf der
Zungenſpitze brannte, holte Tinte und Feder herbei
und ſetzte die Verlobungsanzeige auf. Es gewährte
ihr eine erhebende Befriedigung, ihren Namen aus-
führlich darunter zu ſchreiben: Henriette v. Kalau,
geb. v. Rotterbach Strettau aus dem Haufe en
1914. X,
82 - Der felige Major. u
„Das werde ich dieſen Mertens doch einmal unter
die Naſe reiben,“ ſagte ſie aufſtehend. „Sie bekommen
reines Adelsblut durch dich in ihre obſkure Bürgerlich-
keit, und ſie haben es nötig. Denn wie ich mir habe
ſagen laſſen — im ſtrengſten Vertrauen ſelbſtverſtänd-
lich — hauſierte der Großvater von Frau Mertens
irgendwo in Oſtpreußen mit Schnupftabak und Streich-
hölzern. Aber der Reichtum deckt heutzutage Schlim-
meres zu als Stiefelwichſe.“
Bärbel antwortete nichts auf dieſe wohlwollende
Betrachtung und ging aus dem Zimmer.
(Fortſetzung folgt.)
Pr
>.
ECC PG TTP
e
Jung⸗ Japan.
von Felix Baumann,
mit 9 Sildern. * (nachdruck verboten.)
n meinem japaniſchen Zimmer hängt eine ein-
fache, kleine Tuſchzeichnung, die mir ein kleiner
Japaner bei meinem letzten Abſchiede von Japan an-
gefertigt hat, und die mir meine liebſte Erinnerung
an Jung-Japan iſt. Der Knirps hatte die Zeichnung
in meiner Gegenwart innerhalb weniger Minuten
vollendet und mir durch die kunſtvolle Art der Aus-
führung wieder einmal bewieſen, daß die Japaner
geborene Zeichner ſind.
Das war meine letzte Begegnung mit Jung- Japan.
In Erinnerung iſt mir auch noch meine erſte. Ich
befand mich auf dem RNückwege von dem am Golf
von Obama gelegenen Örtchen Mogi nach Nagaſaki,
als ſich plötzlich die Pforten eines Schulhauſes öffneten
und die liebe Schuljugend ins Freie ſtürmte. Mich
ſehen und mein zweiräderiges Wägelchen umringen war
eins. Mein Kuli erfaßte die Situation und wollte
mich im ſchnellſten Laufe aus dem Bereiche der über—
mütigen Geſellſchaft bringen, er hatte jedoch die Rech-
nung ohne die flinken Beine der Jungen gemacht.
Sie blieben uns dicht auf den Ferſen, und erſt am Ende
des Dorfes verzichteten ſie darauf, dem „erhabenen
Fremdling“ das Ehrengeleit noch weiter zu geben.
Der Vorfall war an und für ſich recht unbedeutend,
84 Fung- Japan. 2
aber das geſittete Benehmen der Kleinen fiel mir auf.
Gewiß, es war eine große Luſtigkeit vorhanden, von
Angezogenheit und Aufdringlichkeit jedoch keine Spur.
Und das iſt der Kernpunkt in dem Weſen der japaniſchen
Jugend. Trotzdem die Kinder ohne jede Strenge
und unter Ausſchluß der Körperſtrafen erzogen werden,
läßt ihr Verhalten nichts zu wünſchen übrig. Während
man bei uns den Kindern in ihren jungen Jahren nur
allmählich größere Freiheit gönnt, kann das japaniſche
Kind von früheſter Jugend an tun und laſſen, was ihm
beliebt. Die Kinder werden bewacht, aber es werden
ihnen keine Schranken auferlegt. Züchtigungen werden
als ein Zeichen mangelnder Erziehung der Eltern
angeſehen.
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v>
86 Jung-Japan. 2
Die Erziehung der japaniſchen Mädchen iſt ganz
darauf gerichtet, fie zu tüchtigen Hausfrauen, freund-
lichen, gehorſamen, treuen Gattinnen und liebevollen
Müttern heranzubilden. Auch auf Anſtand und
Etikette wird viel gehalten; in der Schule ſind für die
Mädchen beſondere Unterrichtftunden dafür angeſetzt.
Auf die graziöſe Art der Japanerin, ſich zu verbeugen,
könnte jede europäiſche Salondame ſtolz ſein.
Die Erziehung der Mädchen iſt bis vor kurzem eine
vorzugsweiſe äſthetiſche geweſen; wohl etwas Leſen,
Schreiben und Rechnen, in erſter Linie jedoch Unter-
richt in den ſchönen Künſten, im Blumenbinden, in
der Dichtkunſt, der Malerei und vor allem in der Muſik.
Der Unterricht erſtreckt ſich auch auf die Bereitung
und das Trinken des Tees, das Anzünden und Räuchern
von wohlriechenden Gegenſtänden, die Anfertigung
von Stickereien und Luxusarbeiten mit der Nadel
und auf pantomimiſche Tänze.
Nirgends außerhalb Japans dürften Schulen zu
finden ſein, in denen Unterricht in der Bereitung und
im Trinken des Tees erteilt wird; desgleichen Lehrer,
die ihre Schülerinnen unterweiſen, wie man NRäucher-
werk anzündet und den Duft auf ſich wirken läßt.
Die Japaner nennen es nicht „Blumenarrangieren“,
auch betrachten ſie den Tee nicht nur als ein Getränk
und Räucherwerk nicht als Parfüm, ſondern die
jungen Mädchen werden angehalten, Tee, Blumen
und RKäucherſtoffe, wie überhaupt alle Dinge mit der
Moral in Verbindung zu bringen und über ſie zu
philoſophieren.
Wie im Okzident ſo gibt es heute in Japan eine
große Zahl von Bildungsanſtalten, die nur für die
Mädchen beſtimmt ſind und ihnen Gelegenheit geben,
ſich in allen Zweigen der Wiſſenſchaften auszubilden.
2 Von Felix Baumann. 87
Das größte Verdienſt für die⸗Entſtehung dieſer An-
ſtalten gebührt der jetzigen Kaiſerin- Witwe Haruko
und dem Profeſſor Jinzo Naruſe, dem Wees des
erſten freien Unterrichts in Japan. = 1
Doch zurück zu dem jüngſten Volk im Kimono.
Beim Spielwarenhändler auf der Straße.
Der bekannte Japanologe Sir Rutherford Alcock hat
das Land der aufgehenden Sonne das „Kinder—
paradies“ getauft. Nicht mit Unrecht, denn in Japan
dreht ſich alles um die Kleinen und Kleinſten. Davon
kann man ſich auf japaniſchem Boden auf Schritt und
Tritt überzeugen, befonders während der verſchie—
| 88 Jung- Japan. u
denen Tempelfeſte. Ein Tempelfeſt ohne Spielzeug
für die Kinder wäre wie Weihnachten ohne Tannen
baum in einer kinderreichen deutſchen Familie. Die
japaniſchen Gaben beſchränken ſich allerdings nur auf
Kleinigkeiten, aber dieſe Bagatellen ſummieren ſich
im Laufe des Jahres zu einem anſehnlichen Gefchent-
haufen.
Wie rührend ſchreibt Lafcadio Hearn in ſeinem
Buche „Blicke in das unbekannte Japan“: „Keine
Mutter könnte es übers Herz bringen, einem Tempel-
feſt beizuwohnen, ohne für ihr Kind irgend ein Spiel-
zeug zu kaufen; und ſelbſt die ärmſte Mutter kann es
erſchwingen, denn die Preiſe der in einem Tempel-
hofe zum Verkauf ausgeſtellten Spielſachen bewegen
ſich zwiſchen einem Fünftel eines Sen (1 Sen =
2,09 Pfennig) und drei oder vier Sen.“
Man muß ſich einmal perſönlich zwiſchen den
Verkaufsſtänden bewegt haben, um ſich einen Begriff
von der Mannigfaltigkeit der japaniſchen Spielſachen
machen zu können. Drachen, Waffen, Federball-
ſpiele, Fahnen, Schiffe, Bälle, Puppen, Werkzeuge
und ſo weiter, alles liegt bunt durcheinander und zeich-
net ſich durch eine ſinn verwirrende Farbenpracht aus.
And die Händler ſelbſt! Auch ſie ſind nur beſtrebt,
ihre kleinen Kunden und Kundinnen aufs angenehmſte
zu unterhalten. Einige haben ihr Geſchäft mit einer
Kinderlotterie verbunden, die es dem jungen Volk
ermöglicht, vielleicht gratis zu einem Geſchenk zu
kommen. Der Verkäufer von Naſchwaren ſetzt ſich
eine Teufelsmaske auf, ſchlägt eine Trommel und führt
phantaſtiſche Tänze auf, der Reiskuchenhändler ergeht
ſich in Gliederverrenkungen, während ein anderer
Zuckerbäcker brennende Kugeln verſchluckt oder ein
anderer dreſſierte Käfer vorführt. Jeder Händler hat
D Von Felix Baumann. 89
ſeinen beſonderen Kindertrick und kommt auf ſeine
Koſten. Die wahren Rattenfänger von Hameln, aber
bei ihnen kommen die Kinder höchſtens nur mit einem
verdorbenen Magen davon.
Dann hat Jung-Japan zwei Feſttage ganz für ſich:
2
EN IE
Wer die Wahl hat, hat die Qual.
die Mädchen das große Puppenfeſt, die Knaben den
Bannertag. Das Puppenfeſt, das ſogenannte „Hina-
matſuri“, vereinigt am 3. März jeden Jahres die ge—
ſamte Mädchenwelt. Es wird in jedem Hauſe, in dem
ſich Töchter befinden, beſonders in Familien, denen
während der letzten zwölf Monate ein Töchterchen
90 Zung-Zapan. 2
geboren wurde, abgehalten. Die Vorbereitungen für
das Puppenfeſt beginnen bereits eine Woche vorher.
Die Kiſten, die die Puppen des vorigen Jahres ent-
halten, werden ausgepackt, die ſchadhaften Puppen
ausgebeſſert und paſſende Geſtelle in dem „Tokonoma“,
dem erhöhten Ehrenplatze in der Niſche des Empfang-
ſalons, errichtet. Die Feſtſtube wird mit bunten Lam-
pen, Kirſchen- und Pfirſichblüten und anderen Blüten
und Blumen geſchmückt. Auf den gleichfalls mit
Blumen und farbigen Decken verzierten Geſtellen
werden die Puppen geordnet. Die höchſte Stelle
nimmt das „Dairi“, der Palaſt des Mikados, ein. Vor
demſelben werden die Figuren des Kaiſers und der
Kaiſerin „Kiſaki“, rechts von dieſen die des. „Sadai-
jin“, des großen Miniſters der Rechten, und links des
„Udaijin“, des großen Miniſters der Linken, und das
fünfſtimmige Orcheſter „Goninbayaſhi“ aufgeſtellt.
um dieſe herum und auf den tieferen Geſtellen werden
die anderen Figuren, wie die Höflinge, die Hofdamen,
Gärtner, Hausdiener mit Beſen und ſo weiter nach ihrer
Nangordnung, Hunde, Katzen, Ochſen und andere
Haustiere, und dazwiſchen Küchen- und Hausgeräte
von entſprechender Größe, Blumenvaſen und Lichter
in zierlicher Ordnung verteilt.
Die Mädchen erhalten neue Kleider und Gürtel
ſowie neue Puppen zum Geſchenk, und die alten vor—
jährigen Puppen werden neu bekleidet. Abends wird
der Saal feſtlich beleuchtet und die ganze Bekanntſchaft
zu einem Feſtmahle eingeladen. Den kaiſerlichen
Puppen wird dabei von jedem Gerichte in kleinen
Porzellan- oder Lackgefäßen vorgeſetzt.
Während des ganzen Tages werden Mädchen—
beſuche ausgetauſcht ſowie die Schauſtellungen der
Puppen bewundert, wobei die Gäſte mit einem milch—
2 Von Felix Baumann. 91
ähnlichen Getränk aus kleberreichem Neiſe (Shiro-
ſake) und mit Mirin, einer japaniſchen Würze, bewirtet
werden. Am Tage nach dem Feſt wird eine Art
Nachfeier abgehalten, die Reſte der Speiſen werden
verzehrt und die Puppen wieder eingepackt.
nn
rn
22
An einem Feſttage in ZJokohama.
Wie für das Puppenfeſt, ſo beginnen auch für das
Bannerfeſt der Knaben die Vorbereitungen bereits
eine Woche vorher. Das Felt, das „Goyatſuno—
ſekku“ oder auch „Tango“ nach dem an dieſem Tage
gehißten Banner genannt wird, ſoll die männliche
Jugend an die ruhmvolle Geſchichte des Vaterlandes
erinnern, ſie zur Tapferkeit anſpornen und den
kriegeriſchen Sinn und die alten Pamatitugenden in
92 Zung-Zapan. 2
ihnen erwecken. Daher werden wie beim Mädchen-
feſte die Puppen, in dieſem Falle die Figuren und
Abbildungen der alten Nationalhelden, unter denen die
Kaiſerin Jingu Kogo und ihr Sohn Ojin Tenno,
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N e 7 3 he,
u 5 EURER ar. „„
Unter den blühenden Kirſchbäumen. N
der Kriegsgott Hachiman nicht fehlen dürfen, auf
einem Schaugerüſte in dem mit Waffen geſchmückten
„Tokonoma“ aufgeſtellt.
Statt der Hausgeräte des Puppenfeſtes kommen
bei dem Knabenfeſt jedoch Modelle von Streitroſſen,
Rüſtungen und allerlei Waffen, deren Größe den
Figuren entſpricht, zur Verwendung. Die Schau—
bühne iſt mit kleinen Flaggen und Bannern, die das
Familienwappen zeigen, geziert. Ein großes, wappen-
u Von Felix Baumann. 93
geſchmücktes Banner weht vom Dache des Hauſes,
auf dem auch ein rieſiger Karpfen aus rotem Papier
an einer langen Bambusſtange gehißt wird. Da nach
japaniſcher Anſicht ein Karpfen gegen die ſtärkſte
Strömung anſchwimmen und ſogar Waſſerfälle über-
ſpringen kann, fo foll er beim Knabenfeſt die Über-
windung aller Hinderniſſe im Leben eines jungen
Mannes verſinnbildlichen. Der hohle Papierfiſch,
21
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Mutter lieſt vor.
deſſen Mund ein Bambusreif offenhält, wird durch den
Wind ballonförmig aufgeblafen, jo daß ein Gang durch
die Straßen am Knabenfeſte einen kurioſen Anblick
gewährt.
94 Jung-Japan. 2
Gegenſeitige Beſuche und Bewirtungen der Knaben
finden ähnlich wie bei dem Mädchenfeſte ſtatt.
Eine originelle Sitte wird auch am Vorabend des
Feſtes beobachtet. Drei Kalmusſchäfte und ein Miſtel-
zweig werden mit Neisſtroh zuſammengebunden und
Beim Spiel.
über dem Hoftor angebracht, nach dem Feſte jedoch
wieder abgenommen. Als Getränk gibt es am „Banner-
tage“ einen mit feingeſchnittener Kalmuswurzel ge—
würzten Reiswein und Reiskuchen, die in die Blätter
einer immergrünen Eiche gewickelt ſind.
Eine große Beluſtigung für die männliche Jugend
iſt in Japan auch das Drachenſteigen, während die
Mädchen am Federballſpiel einen großen Gefallen
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06 Sung-Zapan. | u
finden. Letzteres iſt bei den jungen Mädchen beliebt,
weil es ihnen Gelegenheit gibt, ihre natürliche Grazie
zum Ausdruck zu bringen. Von den anderen Knaben—
ſpielen ſeien noch das Kreiſelwettſpiel und die Genji-
und Heikekämpfe erwähnt, die an die Zwiſtigkeiten
der Minamoto- und Tairaclane erinnern ſollen. Die
Parteien haben auf dem Rücken eine rote oder eine
weiße Fahne beziehungsweiſe auf dem Kopfe einen
aus Ton gefertigten Helm befeſtigt. Die Aufgabe der
Kämpfenden iſt es, dem Gegner die Fahne zu ent-
wenden oder mit einem VBambusſchwert den Helm zu
zertrümmern. |
Zu den gemeinfamen Spielen gehören das „Mamari
doro“, das Vefeſtigen ſchwarzer Papierfiguren in einer
brennenden Laterne, die ſich infolge der Hitze dann
bewegen, oder das „Sogu roku“ (eine Art Buffipiel), das
„Juroku muſaſhi“ (Fuchs? und Gansſpiel), das „Zroha
garuta“ (Spiel mit Alphabetkarten), das „Hiaku nin
iſſihu garuta“ (Spiel mit Karten, die die 101 Verſe
der Oichter zeigen), das „Kokin garuta“ (Spiel Der
alten Oden) und das Spiel der 55 Poſtſtationen
zwiſchen Tokio und Kioto. Auf einer Mappe ſind
Bild und Name der betreffenden Stationen vermerkt,
und jeder der Spieler ſetzt auf einen Ort. Dann wird
gewürfelt. Wer zuerſt in Kioto eintrifft, der hat ge-
wonnen. |
Einige der Spiele find den Fremden nur ſchwer
verſtändlich. So das „Senjo krannon“. Ein Kind
nimmt das andere Rüden an Rüden auf den Buckel
und will dadurch eine der Heiligen repräſentieren, die
einen der ſchmalen Schreine der Göttin der Barmherzig⸗
keit auf dem Rüden herumtragen, um dem gewöhn—
lichen Volk Gelegenheit zur Anbetung zu geben. Ferner
das „Ahiruna tamago“, das Enteneiſpiel, wobei ein
u Von Felix Baumann. 97
kleines Kind ſchräg auf dem Rücken gehalten wird,
während die anderen ſingend herumſtehen.
Nicht vergeſſen will ich auch die Jagd auf Gras-
hüpfer und die Leuchtkäferjagd, die abends mit zier⸗
lichen Fächern ausgeführt wird. Gedenken muß ich
auch des „Bon matſuri“, des Kindertotenfeſtes, das be-
ſonders in Nagaſaki und Kioto ſehenswert gefeiert wird.
In Nagaſaki ſchwimmen Tauſende von kleinen illumi-
nierten Booten, die die Opfergaben für die Seelen
der verſtorbenen Kinder enthalten, auf dem Waſſer
umher, während in der alten Landeshauptſtadt Kioto
die umliegenden Höhen glänzend erleuchtet ſind.
Das Kinderparadies! Wenn man FJung-Japan in
feinem bunten Kleiderſtaat auf einem Tempelfeſt beob-
achtet, mit welcher Freude es die geſchenkten Gaben
betrachtet und wie fröhlich es ſich an den gemeinſamen
Spielen beteiligt, dann kann man dem Alcockſchen
Ausſpruch nur beipflichten.
Auch die Arbeit wird da den Kindern zum Ver-
gnügen, ſei es, wenn ſie bei der Ernte helfen, ſei es,
wenn ſie der Mutter beim Züchten der Seidenraupen
beiſpringen — Jung-Japan iſt immer luſtig.
2
1914. X. 7
Liebe Sorgen.
Novelle von Elfe Krafft.
N tnachdruck verboten.)
Sie ſchlug die Augen auf, blinzelte in die Licht-
ſtreifen hinein, die durch die Spalten der herab-
gelaſſenen Läden durchs Fenſter kamen, und ſah nach
der kleinen, goldenen Uhr auf dem Nachttiſch.
Zehn Uhr vorüber! Ob man da noch weiterſchlief?
Vielleicht, daß der köſtliche Traum, den fie ſoeben ge-
habt, dann weiterginge und ſie in jene feſſelloſe Welt
führte, nach der ſie ſich ſo lange geſehnt.
Frau Sigrid ſchloß die Augen und verſuchte, den
verlorenen Faden zu ihrem Traumbild wieder in ihre
Gedanken einzuſpinnen.
Es gelang ihr nicht. Von draußen, aus den anderen
Räumen der Wohnung, kamen zu viel ablenkende Ge-
räuſche. Schritte hallten, Türen gingen, und im Speife-
zimmer klirrte Porzellan und Silber.
Wie laut es doch in ſo einer Berliner Mietwohnung
war! Durch die Wände glaubte Sigrid ſogar das
Plätſchern des Waſſers im Badezimmer zu hören, wo
Richard wohl gerade war.
„Richard —“
Da hatte Sigrid die Augen auch ſchon wieder weit
geöffnet. Was war das geſtern abend doch für ein
langes Geſpräch geweſen zwiſchen ihm und ihr?
1 Novelle von Elſe Krafft. 99
———
Der Traum ging ganz und gar verloren.
„Ich darf jetzt nicht weiterſchlafen,“ durchfuhr es
die junge Frau. „Ich wollte ja heute vormittag zu
Margot gehen und dann zum Rechtsanwalt. Und dieſer
Rechtsanwalt hat nur bis ein Uhr Sprechſtunde, und
man muß doch endlich Schritte tun, um dem haltloſen
und peinlichen Verhältnis zwiſchen Richard und mir
ein Ende zu machen.“
Mit einem Ruck erhob ſich Sigrid. Ihre Hand
ſuchte die elektriſche Glocke.
Als das Zimmermädchen kam und mit dem üblichen
geflüſterten „Guten Morgen“ die Jalouſie in die Höhe
zog, floß grell und gelb die Winterſonne in den ele-
ganten Raum. |
Da lächelte Frau Sigrid.
Es gab ſo viel Licht in der Welt und ſo viel Erfüllung!
Sie wäre eine Törin geweſen, wenn ſie da kleinlichen
Vorſtellungen ſpießbürgerlicher Verwandter nachgeben
und in dem goldenen Käfig bei Richard bleiben wollte.
Überhaupt wo alles ſo leicht und glatt war! Richard
würde nach der Scheidung ſofort die längſt geplante
Reife ins Ausland machen und wenn er wiederkam,
die Kinder in den Ferien und auch ſonſt bei ſich ſehen
dürfen, ſo oft er danach verlangte.
Du lieber Gott — allzu häufig würde die Sehnſucht
dem nervöſen Vater wohl nicht kommen.
„Nein — das nicht!“ ſagte Sigrid aus ihren tiefen
Gedanken heraus, als das Mädchen ein lichtblaues,
ſpitzenbeſetztes Morgenkleid über den Seſſel vor dem
Bett ausbreitete. „Ich fahre gleich nach dem Früh-
ſtück aus. Das graue Tuchkoſtüm legen Sie heraus.
— Hft die Friſeuſe da? Gut. Dann gehe ich erſt ins
Ankleidezimmer. Sagen Sie der Köchin, daß ſie in
ſpäteſtens zwanzig Minuten das Frühſtück bereit hält.“
100 Liebe Sorgen. 2
Als Sigrid in das Ankleidezimmer trat, ſtand das
Kinderfräulein neben der Friſeurin am Fenſter, und
das helle Lachen der beiden jungen Mädchen ſchallte
durch das ganze Zimmer.
Darüber ärgerte ſich die junge Frau. „Das iſt ja
gerade, als ob Sie im Theater wären!“ meinte ſie
tadelnd. „Haben Sie beide Kinder heute zur Schule
gebracht, Fräulein?“
„Ja — bereits um neun Uhr, gnädige Frau.“
„Und im Salon Staub gewiſcht?“
Das Kinderfräulein preßte mit leiſem Kopfſchütteln
die Lippen aufeinander. |
„Alſo bitte!“ fagte Frau Sigrid kurz. „Um zwölf
Uhr wird's ſonſt wieder eine Hetzjagd mit dem Abholen
der Kinder.“
Das junge Mädchen ging raſch aus der Tür, während
die Friſeurin zu Kamm und Bürſte griff. —
Als Sigrid nach kurzer Zeit fertig angezogen in das
Speiſezimmer trat, ſaß ihr Mann bereits am Ciſch
und frühſtückte.
„Guten Morgen,“ ſagte ſie ironiſch.
Er blickte flüchtig auf, löffelte ſein Ei, und ſagte
ebenſo ironiſch: „Guten Morgen.“
Dann aßen und tranken beide Ehegatten eine
Zeitlang, ohne ſich umeinander zu kümmern. Sie
hatten ſich ja ſchon lange nicht mehr viel zu erzählen.
Ihre Intereſſen gingen zu weit auseinander. Nur in
dem einen Punkte ſtimmte alles Tun beider überein:
die Zinſen des großen Vermögens, das beide mit in
die Ehe gebracht, auf die amüſanteſte Art und Weiſe
zu verbrauchen. Es fiel nicht ſchwer in Berlin, wahr-
haftig nicht, vor allem verſtand Richard Hallinger es
gut, ſich das Leben ſo angenehm wie möglich zu machen.
Er fragte gar nicht mehr, ob Sigrid dieſes oder jenes
11 Novelle von Elſe Krafft. 101
auch für richtig fand, er tat es einfach. Sie hätte ja
auch alles tun können, was ihr gefiel, ohne ihn zu fragen.
Sie war ihr freier Herr, wie Richard ihr jederzeit
erklärt hatte. Aber ſie achtete dieſe Freiheit nicht als
ſolche, ſolange das Geſetz ſie noch an ihren Mann und
ſein Haus band. Ihre Sehnſucht lief ſchon lange,
lange den Weg voraus, den ſie nun gehen würde.
Was hinderte denn ſie und ihn an der Scheidung,
wenn beide ihren eigenen Weg gehen wollten, um
glücklich zu fein?
„Halt du Doktor Sprenger angeklingelt?“ fragte
Sigrid endlich.
Er ſah gar nicht auf von ſeiner Zeitung. „Ja,“ ſagte
er. „Er erwartet uns zwiſchen zwölf und ein Uhr.“
Die Bruſt der ſchönen Frau hob ſich mit einem
tiefen Atemzuge. In dem Gefühl, vor der Pforte
eines neuen, intereſſanteren Lebensabſchnittes zu
ſtehen, kam eine leichte Wärme in ihren Ton. „Ich bin
dir ſehr dankbar, Richard, daß du mir die Sache ſo leicht
machſt. Es iſt ja auch wahr, man ſollte als vernünftiger
und denkender Menſch das Wort, Sentimentalität“ ganz
aus dem ZIdeengang ſtreichen. Ich hatte geſtern abend
die unbegründete Furcht, es könnte dir ſchwer fallen —
der Kinder wegen.“
Der elegante Mann mit dem raſſigen, nervöſen
Geſicht lächelte. „Unſinn!“ ſagte er. „Sie werden viel-
leicht zutraulicher werden wie ſonſt, wenn ſie mich
ſeltener ſehen. Und ich glaube, auch deine Zeit werden
die Kinder nicht mehr in Anſpruch nehmen wie jetzt.
Denn du wirſt ja auch nicht das ganze Jahr über in
Berlin bleiben wollen, du wirſt ja auch oft ohne ſie
in der Welt herumreiſen, wie ich dich kenne.“
„Vielleicht,“ entgegnete Sigrid verſonnen. „Die
Hauptſache bleibt ja, daß wir beide in der Lage ſind,
102 | Liebe Sorgen, 0
unbeforgt unſeren Neigungen zu leben und trotzdem
den Kindern nichts abgehen laſſen zu müſſen. Ich
werde außer dem Kinderfräulein noch Margot für ſie
ins Haus nehmen. Sie iſt reſolut, zuverläſſig und hat
alle Grundbedingungen an ſich, mich während meiner
Abweſenheit zu vertreten.“
„Eine ſtaunenswerte Freundſchaft iſt das ja mit
euch beiden! Na — mir kann's ja recht ſein! Ich habe
von jeher nicht viel für derartige überſpannte Malweib-
chen übriggehabt. Zieh du mit deiner Margot zu—
ſammen, ich kenne höhere Genüſſe.“
Er las ſchon wieder.
In Sigrids Stirn ſtieg das Blut. Sie haßte ihren
Mann in dieſem Augenblick und begriff es nicht, daß
es derſelbe Menſch war, den fie vor acht Jahren leiden-
ſchaftlich begehrt hatte.
Ihre Finger falteten zuckend die Serviette zuſammen.
Gewaltſam zwang ſie ihre Stimme zur Ruhe. „Wenn
es dir alſo recht iſt, treffen wir uns um halb eins beim
Rechtsanwalt. Ich will jetzt gleich zu Margot fahren,
halte mich da eine kleine Stunde auf und bin dann —“
„Ausnahmsweiſe einmal pünktlich, wenn ich bitten
darf,“ unterbrach er ſie. „Ich will noch zu Rödel auf
die Bank, denn er war vorgeſtern im Klub ungenieß-
bar. Aber er meint auch, daß es das beſte wäre,
dein und mein Geld ganz zu trennen. Einer deiner —
Freunde wird dir ſchon raten, wie du es am vorteil-
hafteſten anlegſt, vielleicht verſuchſt du's mal mit
Hypotheken?“
Sigrid zog kühl die Schultern hoch und ſtand von
ihrem Stuhle auf. „Das laß, bitte, meine Sorge ſein.
Es bleibt alſo dabei, um halb eins bei Doktor Sprenger?“
Er nickte.
Da ging ſie ohne Gruß hinaus.
— 2. — ne —ͤ—
“
Oo Novelle von Elfe Krafft. 103
Auf der Straße nahm fie ein Auto. Und als fie
zu dem Atelier der Freundin mit dem Fahrſtuhl hinauf-
fuhr, waren ihre Lippen immer noch feſt zuſammen-
gepreßt wie vor einer halben Stunde in Richards
Gegenwart. Sie haßte ihn — ja, fie haßte ihn! Seine
höhniſche Art, über Dinge zu ſprechen, die fie angingen,
verletzte ſie aufs tiefſte. Er hätte es doch aus tauſend
Einzelheiten, aus ihrer ganzen Natur und Neigung
herausfühlen müſſen, daß er ihr bis jetzt noch in keiner
Hinſicht etwas vorzuwerfen hatte. Nur ihre Träume
waren frei, aber die konnten ihm und ſeinen Rechten
nichts ſchaden.
Die Entfremdung zwiſchen ihr und ihm war langſam
gekommen, gliederte ſich aus tauſend kleinen Gründen
zu einer großen Kette zuſammen, die man nicht mehr
zerreißen konnte. Wie im Taumel hatten ſie die
letzten Jahre dahingelebt, von einem Vergnügen in
das andere waren fie gejagt, nur um nicht allein da-
heim ſitzen zu müſſen und den großen Riß in ihrer
Ehe mit gleichgültigen Worten zuzudecken. Es war
wirklich hohe Zeit zum Auseinandergehen, wenn
Sigrid ſich nicht ſelbſt verlieren wollte.
In dem Atelier der Freundin war es ſehr heiß.
Die junge Frau riß ſich den Pelz von der Schulter
und warf ihn auf einen der niedrigen Seſſel, wie ſie
in den verſchiedenſten Formen und Holzarten überall
umherſtanden.
Die Malerin, die ſich ihre Finger an ihrer großen,
grauen Schürze abgerieben hatte, nahm erſtaunt die
Hand der aufgeregten Freundin. „Nanu, du ſiehſt
ja aus wie Käſe und Buttermilch. Was habt ihr denn
wieder miteinander gehabt?“
Sigrid lächelte mühſam.
„Nichts! Du mußt nicht fragen, Margot! Helfen
104 Liebe Sorgen. 2
— mr nn —— —MAH.————— — —— —— ͤ :P
ſollſt du mir! Es iſt nun glücklich ſo weit mit Richard
und mir, wir gehen auseinander.“
„Definitiv?“
„Definitiv!“
„Gratuliere!“ ſagte die Malerin trocken. „Du
nimmſt es mir nicht übel, wenn ich weitermale. Da
kannſt du auch beſſer erzählen, und ich brauche weniger
zu fragen. Feg mal die Skizzen da vom Liegeſtuhl
'runter und ſetz dich. Dies Umherlaufen macht mich
nervös. Ich glaube gar, du regſt dich über die nun
vollendete Tatſache auf, die doch nur eine Frage der
Zeit bei euch ſein konnte.“
„Nein,“ ſagte Sigrid hart, „gar nicht! Zu erzählen
habe ich auch nichts. Du weißt ja alles. Das einzige
Neue iſt das, daß ich dich heute bitten will, zu mir
zu ziehen. Dein Atelier hier kannſt du ruhig behalten,
oder noch beſſer, wir nehmen eine andere Wohnung,
wo ein Atelier dabei iſt, größer und ſchöner natürlich
wie dieſes hier.“ |
„du denkſt wohl, ich kriege das Geld in Haufen für
meine Bilder?“ fragte Margot trocken. „Wie du das
ſagſt: ‚ein ſchöneres“ —“
Sigrid ſah plötzlich ſehr hochmütig aus. „Wenn
ich dich bitte, zu mir zu ziehen, geht dich der Koſten-
punkt ſelbſtverſtändlich gar nichts an. Daß du darüber
noch im Zweifel ſein konnteſt! Du darfſt dir ſogar
dein Monatsgehalt ſelbſt beſtimmen. — Verzeih, aber
es iſt doch richtiger, wir ſtellen die ganze Sache gleich
auf richtige Füße.“
„Bitte!“ rief die Malerin lachend, indem ſie von
ihrer Leinwand forttrat und zu der Freundin hinüber-
ging. „Ich hätte dir einen fo großen Freundſchafts-
beweis gar nicht zugetraut. Denn im Grunde ge—
nommen biſt du bisher immer ſehr gut ohne meine
0 Novelle von Elfe Krafft. 105
Natſchläge fertig geworden. Was habe ich dir damals
gejagt, als dein Mann dich und die Kinder zu vernach-
läſſigen begann? Als er ſich die Jagd anſchaffte, die
Klubabende? Laß dir's nicht gefallen, habe ich geſagt,
ſei wenigſtens in dieſer einen Hinſicht ihm gegenüber
ſchlau! Aber nein — nichts haſt du getan, nur die
Unnahbare, Beleidigte geſpielt und dabei doch jeden
Rummel mitgemacht, der dich das Elend daheim ver-
geſſen ließ. Es gab keinen großen Baſar in Berlin,
keine größeren Feſte, Premieren, wo du nicht dabei
warſt. Hatte das Zweck? Im Grunde genommen
warſt du ja doch nie ſo recht bei der Sache, weil du immer
die pflichtgetreue Frau deines Mannes bliebſt. Was
ihr heute tun wollt, hätte ſchon vor zwei Jahren ge-
ſchehen müſſen.“
Sigrid gab keine Antwort auf dieſe energiſche Rede
der Freundin. „Du erfüllſt alſo meine Bitte?“ fragte
ſie nach einer kleinen Pauſe.
Margot nickte. „Natürlich! Ich hab' ſchon lange
Luſt gehabt, deine beiden total falſch erzogenen Kinder
ein bißchen moderner umzukrempeln. Das Fräulein,
das du haſt — nimm's mir nicht übel, Sigrid — das
iſt für die Katze. Eine Lehrerstochter aus der Provinz.
Niſcht wie platte Verſe und Aberglauben lernen die
Kinder.“
„So?“ ſagte Frau Sigrid. „Da weiß ich ja gar
nichts davon! Etwas verſchüchtert kommen mir die
Kinder freilich auch manchmal vor. Nun, ich werde
eine geprüfte Erzieherin nehmen, du kannſt ja auch
nicht deine ganze Zeit für mich opfern, wenn du
weiterkommen willſt in deiner Kunſt. Nur, daß ich
das Alleinſein nicht ſo ſtark empfinde und eine leitende
Hand für Kinder und Perſonal da iſt, wenn ich mal
auf Reifen bin.“ Sigrid nahm die ſchmale, kalte Hand
106 Liebe Sorgen. 2
der Freundin. „Es muß köſtlich ſein, ſich als Herr des
eigenen Willens zu fühlen.“
„Na ob!“ rief Margot luſtig. „Das ſiehſt du ja
an mir! Habe ich dir je vorgeklagt, je Sehnſucht nach
dem ſogenannten ſtarken Geſchlecht gehabt? Nee —
ein idealer Zuſtand iſt das, von niemand abhängig
und des ganzen Firlefanz' ehelicher Pflichten ledig zu
fein. — Dein Mann iſt alſo ebenſo bereit zur Scheidung
wie du?“
„Ja.“
„Und in finanzieller Hinſicht?“
Die junge Frau zuckte mit den Schultern. „Das
ergibt ſich ganz von ſelbſt. Sein Vermögen iſt ungefähr
gleich groß wie meines. Er gibt natürlich für die Er-
ziehung der Kinder und den größeren Haushalt, den
ich deshalb führen muß, von ſeinem Gelde zu. Ich
wollte es erſt nicht, aber man kann ihm die Rechte
auf die Kinder doch nicht ganz nehmen, alſo will er auch
zu ihrer Erziehung beitragen.“
„Sei nur nicht zu ſtolz in dieſer Beziehung,“ meinte
Margot, „und nimm ruhig. Haſt du übrigens eine
Ahnung, warum der Rödel in letzter Zeit ſo ungenieß⸗
bar iſt? Seine Frau und die Kinder ſind in Meran,
ich bekam am Montag eine Anſichtskarte. Das lebt
und genießt — alle Achtung! Ich hab' doch ein Bild
der kleinen verſtorbenen Annemarie nach einer Photo-
graphie gemacht, es ſollte eine Überrafhung für die
Heimkehr ſeiner Frau ſein. Denkſt du, der Mann
fragt noch danach? Vor acht Tagen ſchrieb ich ihm,
daß das beſtellte Bild fertig in meinem Atelier ſteht
und ich um eine Beſichtigung bitte, ehe ich es ihm
zuſchicke. Du kennſt doch ſeinen verwöhnten Geſchmack.
Etwas zu ändern hat er ſicher an dem Kopf. Aber er
hat nicht einmal geantwortet.“
u Novelle von Elſe Krafft. 107
„Klingle doch mal an bei ihm auf der Bank. Briefe
vergißt ſo ein Zahlenmenſch leicht. Aber wenn du
telephoniſch —“
„Weißt du ſeine Nummer?“
„Ja. Aber ich kann's ihm ja auch ſagen. Ich ſpreche
ihn noch in dieſen Tagen perſönlich wegen meiner
Geldangelegenheiten. Habt ihr denn einen Preis ver-
einbart?“
Margot lachte. „Ich werde mich hüten. Das
kommt zum Schluß. Alſo ſei ſo gut und zitier ihn
her, den großen Rödel. Es macht entſchieden Eindruck,
wenn fein weiß- goldenes Auto vor meiner Tür hält.
— Willſt du ſchon wieder gehen? Ach ſo — den be-
freienden Weg zum Rechtsanwalt! Na, denn viel
Glück, Sigrid!“
„Zwei ſeltſame Worte für den heutigen Tag,“
mußte die junge Frau denken, als ſie wieder im Fahr-
ſtuhl ſaß. Aber ſie waren ſicher eine gute Einleitung.
Sie hatte eine viel beſſere Stimmung plötzlich wie
vorher. |
Über Berlin lag der Himmel leuchtend und blau,
es war eine kalte, ftille und erfriſchende Luft, die man
atmete. Sigrid liebte den März, in dem die Tage
länger und heller werden, und mit dem ſchon ſo das
Frühlingsahnen daherkam.
Mit roten Wangen und verſonnenen Augen trat
fie in das Anmeldezimmer des Rechtsanwalts,
Die Empfangsdame, die ihre Karte nahm, warf
einen Blick darauf und lächelte verbindlich.
„Ihr Herr Gemahl hat ſoeben telephoniſch mit dem
Herrn Doktor geſprochen, gnädige Frau. Er bedauert,
heute nicht hier erſcheinen zu können, und bittet gnädige
Frau, nicht auf ihn zu warten.“
Sigrid blieb faſſungslos ſtehen. „Iſt das nicht ein
108 Liebe Sorgen. D
— nn ne nn ne nn nn
Irrtum, Fräulein? Ich habe mich doch ſelbſt vor knapp
zwei Stunden mit ihm verabredet.“
„Der Herr Doktor hat mich eben davon unterrichtet.
Aber wenn gnädige Frau den Herrn Nechtsanwalt
ſelbſt ſprechen wollen — bitte ſehr!“
Sie öffnete eine Tür, und Sigrid ging unwillkür⸗
lich darauf zu.
Kurz vor der Tür blieb fie aber wieder ſtehen.
„Nein — ich danke, ich komme doch lieber ein andermal.“
Die Empfangsdame neigte verbindlich den wohl
friſierten Kopf.
Sigrid war empört, ſie war außer ſich. Daß Richard
es wagen konnte, ſie heute, in dieſer peinlichen und
entſcheidenden Stunde, im Stich zu laſſen! Wahrfchein-
lich einer Lappalie, einer Laune wegen wie ſo oft.
Oh, ſie kannte ſeine unberechenbaren Einfälle! Sie
hätte doch zu Doktor Sprenger hineingehen ſollen.
Es genügte doch, wenn ſie ſagte, was ſie wollte, es
wäre vielleicht ſogar richtiger und einfacher geweſen.
Wie unſelbſtändig ſie doch noch immer war!
Beinahe wäre Sigrid wieder umgekehrt. Sie
ſteigerte ſich immer mehr in ihren Ärger hinein, fie
vergaß ſogar, ein Auto zu ihrer Heimfahrt zu nehmen.
„Er iſt natürlich nicht zu Hauſe und wird vor Abend
nicht kommen,“ dachte ſie.
Richard war aber doch zu Haus.
Er ſaß in ſeinem Zimmer am Schreibtiſch, hatte
einen ganzen Berg Papiere vor ſich liegen und ſah
gar nicht auf, als Sigrid eintrat. Er ſchien zu zählen,
zu rechnen — ja, wie ſah er denn eigentlich aus?
Kreidebleich, das Haar in Strähnen über der Stirn!
„Richard!“ mahnte Sigrid.
Er hörte nicht.
Da packte ſie heftig ſeinen Arm. „Was ſoll das
A Novelle von Elſe Krafft. 109
heißen, Richard? Ich bin doch nicht das Spielzeug
deiner Launen!“
Er zog ſeinen Arm ebenſo heftig zurück. „Laß doch
das! Du ſiehſt doch, daß ich nicht in der Stimmung bin,
Vorwürfe zu hören! Rödel hat ſich erſchoſſen. Geſtern
abend ſchon —“
„Rödel?“ Sigrid mußte ſich beſinnen, wer das war.
Nun erſchrak ſie auch. „Mein Gott, aber warum denn?“
Da blickte der Mann auf. „Weil er fertig iſt. Der
Portier, der die Kontorräume der Bank abſchließen
wollte, hat ihn gefunden. Ich bin ſofort zu Kramer
gefahren, der die Bücher mit revidiert hat, und zu
Barnitz, der doch Beſcheid wiſſen muß. Es ſteht ſchlimm,
Sigrid. Es iſt fo gut wie nichts da. Es iſt unbegreif⸗
lich, wie der Mann gewirtſchaftet hat, aber er hat wohl
die enormen Verluſte immer wieder mit fremden
Geldern zudecken wollen.“
Die junge Frau ſtand hinter dem Stuhl ihres
Mannes und blickte auf den ſchmalen, raſſigen Kopf,
an dem links und rechts an den Schläfen ſchon verein-
zelte graue Härchen erſchienen.
„Aber unſere ſicheren Papiere, dein und mein
Vermögen —“
„Ich weiß nichts, niemand weiß Genaues. Mehr
wie hundert Menſchen ſtanden heute vor Rödels
Bank. Sie wollten mit Gewalt die Türen öffnen.
Tu mir den einzigen Gefallen und laß mich jetzt allein!“
„Aber —“
„Geh!“
Da gehorchte Sigrid. Sie merkte erſt jetzt, daß ſie
noch in Hut und Mantel war, und zog ſich mechaniſch
im Korridor aus.
Die ſechsjährige Ilſe mit ihrer Puppe im Arm lief
über den Korridor.
110 Liebe Sorgen. a
„Ilſe!“ rief Sigrid.
Das kleine Mädchen kam zögernd näher. „Soll
ich mein neues Gedicht ſagen, Mama? Heino kann's
noch nicht ſo gut wie ich.“
„Ja,“ flüſterte Sigrid, „ſag's nur.“
„Schläft die liebe Sonne ein,
Wachen auf die Sterne,
Und es ſteigen Engelein
Nieder aus der Ferne —“
Mit einem leiſen Schluchzen zog Sigrid ihr Kind
in die Arme.
Ob vielleicht erſt jetzt, wo ſie ſich am Ziel ihrer
Sehnſucht glaubte, der Kampf begann?
Am Abend ſtand es in allen Berliner Zeitungen.
Sigrid war allein zu Hauſe und las es ſchwarz
auf weiß, daß der Bankier Bruno Rödel außer un-
geheuren Verluſten an der Börſe auch noch in jeder
anderen Beziehung die ihm anvertrauten Gelder in
der leichtſinnigſten Art und Weiſe verwirtſchaftet hatte.
„Ein in hieſigen Geſellſchaftskreiſen ſehr bekannter
früherer Großinduſtrieller hat unter vielen anderen
Geſchädigten durch den Verſtorbenen, deſſen Freund
er war, ſein geſamtes Vermögen verloren.“
Die junge Frau ſtarrte auf das Zeitungsblatt und
verſuchte vergebens ihre Gedanken zu ſammeln.
Es gelang ihr nicht. Hundert Pläne kamen und
zerrannen hinter ihrer Stirn, nur ein ohnmächtiger
Zorn gegen Richard blieb in ihr. Wenn wenigſtens
ihr eigenes Vermögen auf der Hamburger Bank
geblieben wäre, wo es ihr verſtorbener Vater einſt
niedergelegt hatte!
Beſuch war ſchon oft dageweſen heute. Sigrid
hatte aber niemand empfangen. Sie haßte die Neu-
u Novelle von Elſe Krafft. 111
gierde dieſer Menſchen, die ihrem Herzen meiſt fern-
ſtanden.
Jetzt, um ſieben Uhr abends, läutete es noch einmal
an der vorderen Türglocke. Eine energiſche Stimme
wurde im Korridor laut, ließ ſich nicht abweiſen, und
gleichzeitig mit dem Hausmädchen trat Margot ein.
„Blödſinn!“ ſagte ſie aufgebracht. „Gehöre ich
etwa zu den Gäſten, die von dir abgewieſen werden,
Sigrid?“
Die ſchüttelte den Kopf. „Nein,“ meinte ſie müde,
„bleib nur ein Weilchen. Ich bin ſowieſo allein.“
Das Mädchen ging, Margot blieb in Hut und Mantel
vor der Freundin ſtehen.
„Du — das iſt ja gar nicht auszudenken,“ ſagte ſie,
in ihrer raſchen Art mit den Blicken das Zeitungsblatt
in Sigrids Hand ſtreifend. „Ft das wirklich Tatſache
mit Rödel?“
„Ich weiß nicht mehr als du und die Zeitungen.
Es wird wohl ſtimmen. Richard iſt ſeit Mittag fort.“
„Und du?“
Die junge Frau hob den Blick und ſah ſtarr in die
harten Augen der Malerin. „Ich — du ſiehſt ja, ich
ſitze hier und harre der Dinge, die da kommen ſollen.
Das beſte wird ſein, ich gehe erſt eine Zeitlang mit den
Kindern nach Hamburg zu meinem Bruder. Er und
ſeine Frau luden uns oft genug ein. Vielleicht bleibe
ich auch ganz da. Die Kinder können von dem Haus-
lehrer, der dort ſtändig in der Familie meines Bruders
iſt, mit unterrichtet werden, meine Nichte und Neffe
ſind ungefähr im gleichen Alter mit unſeren Kleinen,
jedenfalls —“
Sigrid ſtockte. Etwas in ihr widerſtrebte POS,
ihre Seele noch weiter bloßzulegen. |
„Jedenfalls wärſt du ſchön dumm, wenn du auch
112 Liebe Sorgen. 2
jetzt noch an eine Scheidung dächteſt,“ vollendete
Margot ruhig. „Daran denkſt du wohl auch nicht mehr
im Ernſt. Du wirst doch nicht alle Trümpfe aus der
Hand geben, um wieder in eine geſicherte Lage zu
kommen. Dein Mann hat Pflichten, ſolange du ſeine
Frau biſt, ſowohl gegen dich als gegen die Kinder,
er hat Verbindungen von früher her, iſt ein guter Kauf-
mann, ſeine Fabrik hat ihm damals ein Bombengeld
eingebracht, er wird ſich wieder nach einer geeigneten
Tätigkeit umſehen, und ihr ſeid in kurzer Zeit wieder
obenauf. Sei darum ſchlau, Sigrid, tu ihm nicht den
Gefallen und gib ihn frei!“
„Tu ihm nicht den Gefallen!“ hatte ſie geſagt.
Sigrid antwortete eine ganze Weile nichts. Dann
blickte ſie auf. Sie fror im geheizten Zimmer vor
dem Geſicht dieſer Freundin. „Ich tu' ihm den Ge-
fallen doch! Nun erſt recht!“ ſagte ſie kalt. „Er ſoll
gehen, wohin er will, ich tu' es auch. Ich will ſeine
Sorgen und feine Pflichten nicht. Ich habe noch Ver-
wandte und Freunde genug, die mich und die Kinder
bei ſich aufnehmen, und ſpäter — ach, was weiß ich,
was ſpäter ſein wird! Nur erſt frei — frei — ganz
frei ſein!“
Margot lachte ſpöttiſch. „Hübſch geſagt. Aber
Freiheit ohne Geld ſchlägt deine ganze Sehnſucht in
einer Stunde tot. Ich hätte wirklich nicht gedacht,
daß du noch fo ſehr Idealiſtin geblieben biſt.“
Sigrid war aufgeſtanden. „Ich glaube, wir ver-
ſtehen uns heute nicht. Darum bitte ich dich, geh,
Margot; Richard kann gleich zurückkommen, und er
wäre wahrſcheinlich nicht in der Stimmung, fremde
Menſchen heute hier zu ſehen.“
„Fremde Menſchen iſt gut!“ ſagte die Malerin ver-
letzt. „Aber wie du willſt. Unſer Plan fällt ja nun
u Novelle von Elſe Krafft. 113
ſowieſo ins Waſſer. Es war vielleicht auch nur ſo
eine vorübergehende Idee von dir, wie du fie ja häufig
haſt. Gute Nacht!“
„Gute Nacht,“ wiederholte Sigrid. Sie ging mit
in den Korridor hinaus, obwohl ſie fühlte, daß es mit
dieſer Freundſchaft zu Ende war.
Vom Korridor trat ſie ins Kinderzimmer.
Die Kleinen ſchliefen bereits. Das Fräulein räumte
noch auf, legte Wäſche und Kleider für den nächſten
Morgen zurecht.
„Die muß nun auch fort,“ durchfuhr es Sigrid.
„Und das Hausmädchen und die Köchin. Aber es iſt
doch gar nicht möglich, fertig zu werden ohne die Leute!“
Scheu blickte ſie in das ſchmale, ſympathiſche Geſicht
des jungen Mädchens. Etwas Warmes und Tröſt-
liches war heute darin. Ob ſie auch ſchon wußte, was
im Hauſe vorging?
Sigrid ſtand plötzlich dicht vor dem Fräulein und
ſtreckte die Hand aus. „Ich habe mich eigentlich noch
nie ſo recht bei Ihnen für die Fürſorge bedankt, die
Sie für die Kinder hatten. Wie lange ſind Sie nun
ſchon bei mir?“
„Im April werden es drei Jahre, gnädige Frau.“
„Es wird Ihnen ſchwer fallen, gehen zu müſſen —
nicht wahr?“
Das junge Mädchen nickte. „Ilſe und Heino find
mir ſo ſehr ans Herz gewachſen,“ ſagte ſie leiſe.
„Ja,“ flüſterte Sigrid, an die kleinen Betten
tretend. Wie ſelten war das vorgekommen, daß ſie
abends vor ihren ſchlafenden Kindern ſtand! „Wir
werden in aller Kürze verreiſen,“ ſprach ſie leiſe
weiter, „zu Verwandten auf längere Zeit, wo genügend
Perſonal iſt, und da — wird wohl nichts anderes übrig-
bleiben, als daß wir hier unſeren Haushalt auflöſen.“
1914. X. 8
114 Liebe Sorgen. .
Darauf ſagte das junge Mädchen nichts. Sie neigte
nur den Kopf, als ſenke ihn ſchwere Laſt.
„Die hat's noch ſchlimmer wie du,“ mußte Sigrid
in einer Art Troſt denken. „Ein fremder Wille zwingt
ihre Wege hierhin und dorthin, und niemals darf ihr
Leben Wurzeln faſſen, die unablöslich ſind.“
Mit leiſem Kopfneigen ſchritt ſie aus dem Zimmer
und ſchrieb ſofort an ihren Bruder. Er wußte es
jetzt wohl auch ſchon durch die Zeitungen, welch
große Sorge über ſie gekommen war. Und er hatte
ja ſo viel Platz in ſeiner ſtolzen Villa an der Alſter.
Sie ſchrieb herzlicher denn je, denn auch er hatte
bisher die Trennung zwiſchen ihr und Richard nur
gutgeheißen.
Als Sigrid den Brief vollendet und fortgeſchickt
hatte, kam Richard heim.
Er ſprach in der erſten Viertelſtunde ſo gut wie
gar nichts, ſah abgehetzt und müde aus und aß haſtig
das bereitſtehende Abendbrot.
„Nun?“ fragte Sigrid endlich, nachdem ſie ſich ihm
gegenüber an den Tiſch geſetzt hatte.
Er zuckte nur die Achſeln. „Es iſt, wie vorauszu-
ſehen war. Rödel hat unglaublich gewirtſchaftet.
Außer ſich und uns hat er hundert kleinere Exiſtenzen
mit ruiniert. Die armen Leute tun einem leid, die
ihre mühſam erworbenen Spargroſchen der hohen
Zinſen wegen in ſeine Hände gelegt haben.“
Sigrid blickte erſtaunt in das Geſicht ihres Mannes.
Er ſah ſo anders aus wie ſonſt. Die Art ſeines Sprechens
hatte ſich auch verändert. Sie begriff es nicht, wie er
jetzt, wo er ſelber am ſchlimmſten daran war, vom Un-
glück anderer reden konnte.
„Und wir?“ fragte ſie.
„Wir müſſen eben umkrempeln, Sigrid, ganz und
u Novelle von Elſe Krafft. 115
gar — in allem! Da hilft nichts. Das iſt nun deine
und meine Sache ganz allein.“
„Ich gehe mit den Kindern zu Robert,“ ſagte
Sigrid ſchnell. ö
„So? Nun, dann habe ich ja ſo gut wie gar nichts
mehr zu ſagen. Du willſt von mir gehen — trotz alle-
dem. Da iſt die Sache ja erledigt. Du denkſt wohl
auch, ich komme allein leichter durch — was?“
„Ja, natürlich,“ ſagte Sigrid. „Die Wohnung läßt
ſich bis zum erſten April noch vermieten. Den Leuten
wird gekündigt, denn ich brauche bei Robert in Ham-
burg kein Perſonal für mich allein. Den Sommer
über bleibe ich mit den Kindern dort, im Herbſt fahre
ich vielleicht zu Tante Helene nach Genf. Na, und
etwas wird ſich ja aus dem Verkauf der Möbel, der
Schmuckſachen und des vielen Silbers herausſchlagen
laſſen, wenigſtens ſo viel, daß man für die erſten
Monate genug hat.“
„Alſo daran haft du auch ſchon gedacht! Alle Hoch-
achtung!“ ſagte der Mann ſarkaſtiſch. „Wenn ich nun
aber nicht will, Sigrid? Wenn ich nun darauf beſtände,
mit dir und den Kindern zuſammenzubleiben, eine
kleine, billige Wohnung zu mieten, eine Stellung zu
ſuchen — kurz, ganz von vorne wieder anzufangen —
was dann?“
Sie ſah ihm groß ins Geſicht. „Das willſt du ja
gar nicht, Richard, das kannſt du ja gar nicht! Eine
kleinere Wohnung! Wie klein denn? Eine Stellung
ſuchen! Du findeſt ſie vielleicht, aber du wirſt nicht
mehr arbeiten können, wie du es dann müßteſt. Und
dann das Schlimmſte — du und ich in einer engen
Wohnung zuſammen, keine Gäſte im Haufe, kein Ver-
ſteckſpielen voreinander, alles nur eine einzige, graue
Sorge ums tägliche Brot! Wir beide könnten das ja
116 Liebe Sorgen. 1
—
gar nicht! Da gehört Liebe dazu, denke ich mir, Liebe
und Vertrauen und Achtung und — ach, was rege ich
mich denn noch auf! Oeine Idee iſt lächerlich! Das
iſt etwas für Spießbürger und anſpruchsloſe Men-
ſchen, die nie an des Lebens goldener Tafel ſaßen, die
immer begrenzt und brav in ihren vier Pfählen hauſten.“
„And dann das Schlimmſte!“ wiederholte er höhniſch.
„Wie du uns kennſt, Sigrid! Aber du magſt recht haben,
es hätte keinen Zweck, ſich deiner weiſen Einſicht nicht
zu fügen. Ich bin heute ſchon bei verſchiedenen Be-
kannten geweſen, habe an Bertram geſchrieben und
an Oirkſen, ſie ſind mir alle noch zu Dank verpflichtet
von früher her. Es wird ſich ſchon eine Stellung bei
ihnen für mich finden. In Berlin werde ich ſowieſo
nicht bleiben. Und das mit der Scheidung, das kann
Robert ja von Hamburg aus ſehr gut veranlaſſen.
Mir ſoll alles recht ſein, Sigrid. Ich hab's ſatt bis
obenhin!“
Er knirſchte mit den Zähnen, wie er es noch nie
getan, ſtand auf, warf polternd den Stuhl zurück, auf
dem er geſeſſen, und ging aus dem Zimmer.
Die Antwort aus Hamburg kam nicht umgehend,
wie Sigrid erwartet hatte.
Rödel war begraben worden, ſeine Frau und Kinder
waren aus Meran verzweifelt zurückgekehrt, und eine
Sorge jagte die andere in Sigrids Herzen.
Als ſie endlich das Schreiben des Bruders in Händen
hatte, ſchloß ſie ſich damit in ihrem Zimmer ein.
Er ſchrieb ſehr viel, der reiche Hamburger Geichäfts-
mann. Er bedauerte das große Unglück außerordentlich,
und er würde, obwohl der augenblickliche Gejchäfts-
ſtand ein ſehr ungünſtiger ſei, doch gerne ein paar tauſend
Mark für die Schweſter opfern. Ein längerer Beſuch
ä Novelle von Elfe Krafft. 117
mit Kindern in feinem Haufe wäre leider zurzeit
unmöglich, da fein Junge an den Maſern erkrankt
ſei und naturgemäß noch lange der Ruhe und Scho—
nung bedürfe. Jedenfalls müſſe er der Schweſter den
Rat geben, eine Scheidung von Richakd unter dieſen
Verhältniſſen in jeder Weiſe zu prüfen, da eine allein-
ſtehende und geſchiedene Frau ohne Vermögen doch
etwas ſehr Bedenkliches ſei.
Sigrid las nicht weiter. Ihre Finger zitterten, die
das Briefblatt des Bruders feſthielten.
„Keinen Pfennig — keinen Pfennig will ich von dir
haben!“ murmelte ſie, mühſam nach Faſſung ringend.
Dann ſchrieb ſie in Eile zwei Briefe.
Einen an Tante Helene nach Genf, an die wohl—
habende und alleinſtehende Schweſter ihres Vaters,
den anderen Brief an Rolf Meinhardt, den Jugend-
freund und Vertrauten ihres Herzens. War er es doch
geweſen, der ihre Ehe mit Richard von Anfang an für
verfehlt gehalten, der ſie leiſe und wirkſam mit ſeinen
wundervollen Briefen auf den befreienden Weg ge—
führt, der in vielen ſchweren Stunden für ſie wie ein
Bote des Friedens und der unerſchütterlichen Freund-
ſchaft gewirkt hatte.
Tante Helene antwortete ähnlich wie Robert. Auch
ſie erbot ſich, trotz der ſchlechten Zeiten mit Geld aus-
zuhelfen, einen längeren Beſuch mit ſo kleinen Kindern
könnte man ihr aber nicht mehr auf ihre alten Tage
zumuten.
Das war am fünften Tage nach Rödels Tod.
Am ſechſten brachte das Mädchen die Karte eines
Herrn zu ihr herein, der ſie zu ſprechen wünſchte.
„Rolf Meinhardt,“ las Sigrid.
Im nächſten Augenblick ſtand ſie ihm gegenüber,
den ſie acht Jahre nicht geſehen.
118 Liebe Sorgen. 2
Er lächelte und küßte ihre Hand, und als dieſe
Hand ſchwer und hilflos in ſeiner liegen blieb, küßte er
ſie zum zweiten Male.
Da lächelte ſie auch. „Nun iſt alles gut,“ dachte ſie,
in ſein vertrautes Geſicht blickend, „hier gibt es einen
Menſchen auf der Welt, der tut, was du willſt. — Hilf
mir, rate mir!“ baten ihre Augen, und über ihre Wangen
floßen die Tränen, die fie vor dieſem Manne nicht feit-
halten konnte.
Er ſprach ſehr viel und ſehr umſtändlich. Zwiſchen⸗
durch nahm er immer wieder die weiße Frauenhand
und ſtreichelte fie. Er würde fie und die Kinder zu-
nächſt in eine gute Penſion bringen, in Köln natürlich,
ganz in ſeiner Nähe, bis die Scheidung vollzogen war.
Und dann — — da nahm er ſchon wieder ihre Hand
und küßte ſie.
Sigrid blickte auf, ſah in ein Paar heiße, flackernde
Augen und wachte jäh aus ihrem Traum von Angſt
und Verzweiflung auf. Wie war es nur möglich ge-
weſen, daß ſie dieſen Mann zu ſich gerufen hatte!
Daß ſie glauben konnte, es gäbe in ihm einen ſelbſtloſen
Freund für ſie und ihre Kinder! |
Gewaltſam zwang fie ihre Stimme zur Ruhe.
„Ich danke Ihnen,“ ſagte ſie laut, „aber ich kann Ihr
Anerbieten nicht annehmen. Ich bleibe zunächſt noch
— bei meinem Manne. So — ſo habe ich es nicht
gemeint, als ich Ihnen ſchrieb und Sie um Rat bat.“
Da trat er zurück und nahm feinen Hut. „Ihre
Kunſt, Theater zu ſpielen, Frau Sigrid, habe ich ſchon
vor acht Jahren an Ihnen bewundert,“ ſagte er.
Sie neigte das Haupt — und war allein.
Wirr blickte ſie ſich um. War das eben das Schickſal
geweſen? Hatte ſie ſich nicht eben ſelbſt den Weg zur
erſehnten Freiheit verſperrt? War Rolf Meinhardt
2 Novelle von Elſe Krafft. 119
jemals ihr wahrer Freund geweſen? Hatte er je etwas
anderes in ihr geſehen als die Frau, die er begehrte,
obwohl ſie einem anderen gehörte? War er nur deshalb
gekommen, um ihr Unglück auszunützen?
Sie wußte keine Antwort auf ihre Fragen. Sie
fühlte plötzlich den verzweifelten Mut in ſich, es ohne
Hilfe anderer mit der Sorge aufzunehmen. Schlimmer
konnte es ja nicht mehr ausſehen in ihrem Herzen als
in dieſen letzten zwei Jahren. Nur nicht zeigen, daß
ſie ihren Stolz verloren, nur niemand mehr um Hilfe
und Rat bitten!
Dem Hausmädchen und der Köchin hatte ſie bereits
gekündigt. Den Verkauf der Möbel und der Wert-
ſachen wollte Richard übernehmen. Er ſprach nicht
über feine Pläne. Die Briefe, die er bekam, ver-
ſchlechterten ſeine Stimmung von Tag zu Tag. Es
fiel wohl recht ſchwer, eine paſſende Stellung zu finden.
Mit dem Kinderfräulein wollte Sigrid heute ſprechen.
Nur ungern entließ ſie dieſes ſtille, pflichttreue Mädchen.
Aber dreißig Mark im Monat — es würde nicht gehen.
Sie mußte zuſehen, ein billigeres Mädchen für alle
Arbeiten zu bekommen. Die Kinder würde ſie ſelbſt
beſorgen müſſen, ſie ganz allein.
Sigrid verſtand nicht, woher ihr plötzlich dieſer tiefe,
befreiende Atemzug kam, der ihre bisher jo herb ge-
ſchloſſenen Lippen teilte. Sie vermißte die Kleinen
zum erſten Male, ſeitdem ſie in die Schule gingen.
Wie war das Verslein doch geweſen, das Ilſe ihr
kürzlich hergeſagt?
„Schläft die liebe Sonne ein,
Wachen auf die Sterne —“
Wie ein Troſt in ihres Lebens dunkelſter Stunde war
das geweſen.
120 Liebe Sorgen. o
Ihre Finger taſteten nach dem Klingelknopf. Wenn
ſie zweimal läutete, kam das Fräulein.
Auch heute war ſie ſehr ſchnell da. Ihre ſtillen
Augen ſuchten ängſtlich das bleiche Frauenantlitz. Sie
fühlte, was im Hauſe vorging, und ſie zitterte um ihre
Stellung. Heute kam es alſo, jetzt gleich. Sie ſah es
Frau Sigrid an.
„Es tut mir leid — Sie erſparen mir wohl das
Nähere, liebes Fräulein, aber wir müſſen uns trennen
zum erſten April. Das Hausmädchen geht in acht
Tagen, die Köchin am fünfzehnten März, ich wäre
Ihnen aber dankbar, wenn Sie bis zum Umzug blieben.
Ich weiß ſelbſt noch nicht, wann das iſt, aber — ich
fürchte doch, ganz allein nicht fertig zu werden und —“
„Aber ſelbſtverſtändlich bleibe ich, ſo lange gnädige
Frau es wünſchen,“ ſagte das junge Mädchen ſchlicht.
„Ich — gnädige Frau müſſen mich nicht falſch verſtehen,
es entſpringt bloß der Liebe zu den Kindern — ich würde
gern auch mit Ihnen gehen, gnädige Frau. Vielleicht
nur für die erſte Zeit, für den Übergang — es iſt doch
ſo furchtbar für Sie, und ich bin auch gar nicht auf ſo
hohen Lohn angewieſen. Vater lebt noch, und — und
Mutter, Mutter meint, in den Oſterferien könnte ich
doch ſehr gut mit den Kleinen nach Hauſe fahren,
es iſt ja Platz bei uns in dem alten Haus und dem großen
Garten, wenn auch nur einfach alles, aber —“
Frau Sigrid ſtand vornübergebeugt und ſtarrte auf
den ſtotternden Mund, der ſich ſcheute, die Wohltaten
auszuſprechen, die man auf ſie ausſchütten wollte.
Sie weinte und wehrte den plötzlichen Tränen nicht.
„Ich ſchäme mich vor Ihnen,“ ſagte fie erſchüttert,
„Sie haben ſo oft unter meinen Launen leiden müſſen.“
Da lächelte die Lehrerstochter. „Ich habe es nicht
ſo ſchwer empfunden. Man lernt auch ſeine Sorgen
4 Novelle von Elſe Krafft. 121
lieben, gnädige Frau. Vater ſagt immer, wer nichts
zu ſorgen hat, dem fehlt alles zum Glücklichſein, denn
Sorgen und Segen wachſen an einem Baum.“
Sigrid nickte erſchauernd. „Vielleicht,“ ſagte ſie,
„ich weiß das nicht. Aber ich kann Ihr Anerbieten nicht
annehmen, fürchte ich. Ich — ich will nicht Verſteck
vor Ihnen ſpielen, aber unſere Verhältniſſe haben
ſich geändert. Ich werde mir nur ein Mädchen für
alles nehmen können.“
Das junge Mädchen nickte eifrig. „Gewiß, gnädige
Frau, das wäre ganz gut. Das bißchen Arbeit — das
Kochen habe ich bei Mutter doch immer gemacht, ver-
ſuchen es gnädige Frau alſo einmal mit mir allein.“
„Ja,“ ſagte Sigrid leiſe, „verſuchen wir es! Alles
will ich ja verſuchen, ſelbſt das Schwerſte!“
Und der Handſchlag der beiden Frauen war wie
ein unbewußter und doch längſt beſtandener Freund-
ſchaftsbund.
Das Hausmädchen meldete einen fremden Herrn,
der die gnädige Frau ſprechen wolle.
Sigrid blickte verwundert auf die große, ſteife Karte,
die einen ihr ganz fremden Namen nannte, und war
ſchon im Begriff, auch dieſen Beſuch, wie allen in den
letzten Tagen, abzuweiſen, als der Fremde ſchon vor
ihr ſtand.
„Sie verzeihen, meine Gnädige, aber die Tür
ſtand offen, und es handelt ſich für Sie um eine ſehr
wichtige Angelegenheit,“ ſagte er, ſich tief verneigend.
Sigrid blickte in das glatte Geſicht und ahnte, was
der hier wollte.
Sie öffnete die Tür zum Salon. „Bitte,“ fagte
ſie, vorangehend. |
Der Fremde folgte ihr und ftreifte ſich die Hand-
122 Liebe Sorgen. Oo
ſchuhe von den Fingern. Seine unruhigen Blicke
muſterten dabei die koſtbare Einrichtung des Raumes.
„Ich habe leider von den überaus großen Verluſten
Kenntnis genommen, die Sie, meine Gnädigſte, be-
troffen haben. Und da meine Geſchäfts verbindungen
bis in die höchſten und allerhöchſten Kreiſe hinaufreichen,
wäre ich augenblicklich in der Lage, Ihnen betreffs
des Verkaufs Ihrer Möbel, Schmuckſachen, des Silbers
und Porzellans —“
Sie wies mit der Hand nach der Tür. „Nun, ſo
weit ſind wir denn doch noch nicht. Zch bitte Sie,
laſſen Sie mich allein!“
Der Mann hob die ſchmalen Schultern. „Aber,
meine ſehr geehrte gnädige Frau, ich bin von Ihrem
Herrn Gemahl beauftragt worden — ja, regelrecht
beauftragt!“
Sigrid fühlte einen ſtechenden Schmerz in ihrer
Stirn. Sie zerriß in ohnmächtigem Zorn das feine
Taſchentuch in ihrer Hand. „Die Angelegenheit hat
durchaus keine Eile.“
Er ging noch immer nicht, obwohl er die Qual
in dieſer Frau herausfühlen mußte. „Der Weg iſt
nun einmal gemacht, und meine Zeit iſt knapp bemeſſen.
Wenn ich wenigſtens die Sachen anſehen und taxieren
könnte —“
„Nein,“ ſagte Sigrid, beide Hände ausſtreckend.
Da nahm der Händler ſeinen Hut. „Es wird dem
Herrn Gemahl ſehr unangenehm ſein, meinen Beſuch
verfehlt zu haben,“ ſagte er trocken, indem er ſich ſehr
kurz und ironiſch verneigte.
Sigrid ſtand noch ſo lange aufrecht, bis die Tür,
die nach der Diele führte, von dem Fremden geſchloſſen
war. Dann ſank ſie in den nächſten Seſſel. Ihre
Blicke irrten furchtſam von einem Stück zum anderen,
ö Novelle von Elſe Krafft. 123
gingen weiter, als ob ſie alle Wände durchdringen
wollten, dahinter der Luxus war, der bisher ihr Leben
geſchmückt, der bisher zu den Grundbedingungen ihres
Seins gehört hatte.
War das überhaupt möglich, das hingeben zu
müſſen? War es überhaupt nötig? Was hatte ſie denn
verſchuldet, plötzlich als arme Frau daſtehen zu müſſen,
die auf die Almoſen der Verwandten angewieſen iſt?
Es gab doch noch Recht und Geſetz, man konnte ſich doch
nicht durch den Tod eines Betrügers, den man bisher
Freund genannt, alles ſo einfach nehmen laſſen!
Hatte dieſer Rödel nicht wohlhabende Verwandte, die
für ſeine Schuld aufkommen mußten? Ob Richard
noch gar nicht daran gedacht hatte? War er wirklich
ſchon ein ſo ſchlaffer Menſch, daß er ſich vom Schickſal
herumſtoßen ließ, ohne auch nur die Finger zu ener-
giſcher Abwehr zu rühren?
Sigrid ſprang auf und lief in ihr Ankleidezimmer.
Ohne jede Hilfe zog fie ſich um, ſagte dem Kinderfräu-
lein, daß ſie ausgehen wolle, und lief hinunter auf die
Straße. Sie dachte nicht mehr ans Sparen und Ein-
richten, ſie war wieder die verwöhnte, e Frau
aus Berlin W.
Sie nahm ein Auto und fuhr nach der bekannten
Tiergartenvilla, in der Rödel bisher ſein fürſtliches
Heim gehabt hatte.
Dort waren alle Vorhänge herabgelaſſen, das eiſerne
Tor vor dem ſchön gepflegten Garten zugeſchloſſen, und
nur ein paar neugierig ſtehenbleibende Paſſanten verrie-
ten ihr Wiſſen an dem jüngſten Berliner Drama, dem der
Beſitzer dieſes ſtolzen Hauſes zum Opfer gefallen war.
Sigrids Auto hielt ratternd vor der verſchloſſenen
Tür, ihre Finger drückten an dem bereiften Meſſing-
knopf der Glocke.
124 Liebe Sorgen. 2
— —
Nach einer ganzen Weile kam ein alter Mann den
mit Kies beſtreuten Weg von der Villa her, nicht der
ſchlanke junge Groom, der einſt die Tür geöffnet hatte.
Der Mann, anſcheinend einer von den alten Dienern
des Hauſes, der heute anſtatt der Livree nur eine
graue Wolljacke trug, ſchüttelte den Kopf. „Die gnädige
Frau iſt nicht anweſend.“
Sie blickte ungläubig in das verſchloſſene Geſicht.
„Mich wird die gnädige Frau ſehr gerne empfangen,“
drängte ſie.
„Es tut mir leid, aber es iſt niemand im Hauſe.“
Sigrid bekam einen roten Kopf. „Oann können Sie
mir vielleicht ſagen, wo ich die gnädige Frau antreffen
könnte?“
Der Mann ſah einen Augenblick wie prüfend in
das ſchöne Geſicht. „Exzellenz Grote, der Vater der
gnädigen Frau, wohnt in der Kurfürſtenſtraße. Viel-
leicht wiſſen gnädige Frau das Haus?“
„Ja,“ ſagte Sigrid. „Ich danke Ihnen.“
Sie ſtieg in das Auto zurück und gab dem Chauffeur
die neue Adreſſe. |
Exzellenz Grote — fie kannte den alten Herrn ſehr
gut. Es kam eine große Ruhe in ihre aufgeregte
Seele. Dieſer Mann, ein alter General, war es ſchon
ſeiner Ehre ſchuldig, den Namen der Tochter wieder
reinzuwaſchen. Er würde vielleicht die Regelung
der finanziellen Schwierigkeiten übernommen haben,
würde auch ihr geben, was ihr zukam, oder doch minde-
ſtens einen Teil davon.
In Sigrids Stirn jagte ein Gedanke den anderen.
Seit dieſer fremde Menſch mit ſeinen gierigen Blicken
in ihrem Salon geſtanden hatte, klammerte ſie ſich mit
allen Fibern ihres Seins an einen Ausweg aus Demüti-
gung und Sorge.
9 Novelle von Elſe Krafft. 125
Das Auto hielt. Sigrid blickte zu dem hohen Hauſe
empor und gebot dem Chauffeur zu warten.
Als in der zweiten Etage unter ihren Fingern die
Türglocke anſchlug, kam es wie die wilde Jagd gegen
die Korridortür gejagt.
Dazwiſchen eine dröhnende Kommandoſtimme:
„Nrruhe — zurrrück!“
Die alte Exzellenz öffnete ſelbſt. Er verneigte ſich
leicht vor der eleganten Frauengeſtalt, und Sigrid ſah,
daß der Mann in kurzer Zeit ſchneeweiß geworden war.
Er erkannte ſie nicht ſofort. Erſt als ſie ihren Namen
ſagte und eines der Kinder erfreut „Tante Sigrid!“
rief, überlegte er. .
„Ja — meine Tochter iſt bei mir, gnädige Frau,
doch ich weiß nicht recht, ob —“
Der alte Herr preßte mitten im Satz die Zähne wie
im körperlichen Schmerz zuſammen.
Sigrid warf den Kopf zurück. War ſie nicht die
Fordernde hier, die Geprellte, hatte ſie nicht ein Recht
an dem Tun und Laſſen dieſer Familie? Sie öffnete
die Lippen, es war beinahe wie ein Schrei, der hindurch
wollte — Herrgott, die Leute wußten es doch ebenſogut
wie ſie ſelber, was ſie durch den Toten verloren hatte —
da kam jemand mit raſchen Schritten den Korridor ent-
lang, und eine Stimme ſagte: „Ich bitte dich, Papa,
laß doch Frau Hallinger nicht ſo lange an der Tür
ſtehen!“
Der alte Offizier trat zurück, nahm die ſtumm ge-
wordenen Kinder und ſchob ſie in die erſte beſte Tür
hinein.
„Sie entſchuldigen, meine Gnädigſte, daß ich meiner
Tochter einen der vielen bitteren Kelche zu erſparen
ſuchte. Ich hatte Ihrem Gatten geſchrieben — Sie
wiſſen es wohl?“
126 Liebe Sorgen.
„Nein,“ ſagte Sigrid befremdet. „Ich weiß gar
nichts. Mein Mann beſpricht feine geſchäftlichen An-
gelegenheiten nicht mit mir. Und da ſpeziell dieſer
Fall auch mich perſönlich betrifft, dachte ich, es wäre
das einfachſte —“
Sie ſtockte, als ſie das weiße Frauengeſicht ſah,
das in verzehrender Angſt an ihren Lippen hing.
Dunkel ſtieg ihr das Blut vor der tiefen Trauerkleidung
in die Stirn, und ſie ſtreckte die Hand aus. „Aber nein
— das ft ja alles fo nebenſächlich. Verzeihen Sie mir
mein Eindringen hier, aber ich kenne mich ſelbſt nicht
mehr aus. Es iſt ja wahr, wir beide haben uns noch
gar nicht geſprochen ſeit —“
Als die beiden Frauen auf dem geblümten Sofa
eines der vielen Zimmer ſaßen, war der Hausherr
verſchwunden.
Die junge Witwe weinte in ſtillem Gram weiter.
„Ich habe auf Ihren Beſuch gewartet die ganze Zeit
und nie die Kraft beſeſſen, ſelbſt zu Ihnen zu kommen.
Mir iſt alles noch ſo unfaßlich und neu. Hätte ich Papa
nicht und die Kinder, ein raſches Fortgehen aus allem
Leide wäre ſo leicht geweſen —“
Sie unterdrückte gewaltſam das laute Schluchzen,
und ihr zarter Körper ſank immer mehr in ſich zu-
ſammen.
Sigrid durchlebte in dieſer kurzen Viertelſtunde Un-
ausſprechliches. War fie nicht hergekommen, um dleſe
Frau zur Rechenſchaft zu ziehen? Saß ſie nicht hier,
um den Wirrwarr ihrer Verhältniſſe, den großen
Zwieſpalt in ihrer Seele wie einen einzigen großen
Vorwurf dieſer hier ins Geſicht zu ſchleudern, ihr zu
ſagen: „Daran biſt du als die Frau deines Mannes
auch mit ſchuld, nun ſiehe, wie du mir aus meiner
unverdienten Sorge heraushilfſt!“?
0 Novelle von Elfe Krafft. 127
Und doch tat ſie nichts, als nur tröſtlich die Hände
der jungen Witwe zu halten und zu ſtreicheln.
„Es wird alles wieder beſſer werden, liebſte Frau
Rödel, verlaſſen Sie ſich darauf! Ihr Herr Vater iſt
ein fo ſelten gütiger Menſch, er hat die höchſten Ver-
bindungen, es wird alles geregelt und gut.“
Die Weinende ſchüttelte den Kopf. „Nein, gut
kann es nie wieder werden! Haben Sie geſehen, wie
weiß Papa geworden iſt? Seine unantaſtbare Offiziers-
ehre hat er einfargen müſſen, man hat ihn wie einen
Verbrecher angegriffen, weil er noch hier wohnt und
ſich noch ſatt ißt und — ach, was rede ich alles, ich bin
ja ſchon ſo fertig mit allem Denken! Seit unſere Villa
verſiegelt und verſchloſſen iſt, ſind die Leute hier bei
meinem Vater eingedrungen, als ſei er ein Mörder,
wenn er ihnen nicht das durch meinen Mann verlorene
Geld wiedergibt. Und ſehen Sie, Frau Sigrid, gerade
die Träger der kleinſten Forderungen waren die
Schlimmſten. Darum haben wir auch gedacht, Sie
und Ihr Gatte, die jahrelang zu unſeren beiten Freun-
den gehörten, treten zunächſt noch zurück, denn was in
meiner Macht liegt, ſoll getan werden, um auch Sie noch
zu befriedigen. Papa hat die kleinen Leute alle bezahlt,
er hat fein ganzes Vermögen und tauſend teure An-
denken dazu hingegeben, wir haben die große Wohnung
hier gekündigt, Mutters alte, ſchöne Möbel verkauft —
ach, was haben wir alles getan, um wenigſtens die
ſchlimmſten Schreier zu beruhigen! Die Dienſtboten
ſind alle entlaſſen, die Kinderfrau und das Fräulein
ſind fort —“
„Aber ich verſtehe nicht, Sie haben doch vier Kinder,
Sie müſſen doch wenigſtens ein Kindermädchen haben!“
Die junge Witwe unterbrach mit leiſem Kopf-
ſchütteln dieſen Ausruf. „Ich muß gar nichts, und
128 Liebe Sorgen. u
ä— — Sr
wenn Papa jetzt manchmal zu mir jagt ‚mein tapferes
Soldatenmädel“, fo iſt das wie eine Zauberformel,
die mir ungeahnte Kräfte gibt. Freilich — die Hände
dürfen Sie mir nicht anſchauen, denn die brauch' ich
jetzt doppelt und dreifach gegen früher — und Lonny,
Sie glauben gar nicht, wie das Kind mir ſchon mit
ſeinen neun Jahren bei der Arbeit hilft!“
Sigrid hörte dem geflüſterten Bekenntnis zu, ſah
die ſchmalen Wangen der ſonſt ſo verwöhnten Frau,
die rotgeränderten Augen und fühlte, daß das größte
Leid dieſes Herzens nicht das um den verlorenen
Reichtum war. Sie mußte an die Ehe Rödels denken,
an die immerwährende zarte Rückſicht und Aufmerk-
ſamkeit des reifen Mannes zu der kindlichen Frau.
Ob ſie ahnungslos in den ſonnigen Süden hinabgefahren
war, während er ſich durch die tödliche Kugel aller
Lebenspflichten entäußerte?
Sigrids Blicke kamen von den beiden breiten Gold-
reifen, die beinahe das ganze untere Glied des rechten
Ringfingers bedeckten, nicht los.
Die junge Frau fühlte dieſe ſtumme Frage. Ein
eigenartiges Lächeln irrte um den blaſſen Mund. „Er
iſt beladen und ſchuldig fortgegangen — ja, und die
Menſchen haben ihn gerichtet. Aber ob Unglück oder
Leichtſinn ihn ſo abgrundtief getrieben, er war doch
mein Mann, der Vater meiner Kinder, und ich habe ihn
geliebt und hochgehalten und tue es auch noch über
ſeinen Tod hinaus. Aus Feigheit iſt er nicht geſtorben
und aus Verzweiflung auch nicht. Vielleicht nur aus
Rüdficht auf mich. Sie werden das nicht verſtehen,
aber wenn er heute noch neben mir wäre in gleicher
Lage, ich hätte wohl nie den Weg zur Sühne und zum
Entſagen gefunden. Wir beide hätten es nicht — einer
allein, ja!“
Sie ſtand haftig auf und preßte mit abgewandtem
Geſicht die Stirn gegen das Fenſter. Sigrid ſah an dem
Schütteln des Frauenkörpers, daß jetzt kein Wort gut
genug war zum Troſt.
Sie erhob ſich ebenfalls, ſtrich mit leiſer Hand über
den dunklen, geſenkten Frauenkopf am Fenſter und trat
in das Nebenzimmer, wo feine Kinderſtimmen wiſperten.
Und da ſaß die alte Exzellenz in einem Lehnſtuhl,
hatte links und rechts zur Seite die größeren, auf den
Knien die beiden kleineren Enkel und blickte wie um
Entſchuldigung bittend zu dem Beſuch hinüber.
Mit raſchem Schritt trat Sigrid zu dem alten Herrn
und zog die gefurchte Hand an ihre Lippen.
Der weiße Kopf drückte ſich unter dieſer unerwarteten
Ehrenbezeigung ſchüttelnd gegen die Kinderköpfe. „Die
junge Brut iſt neſtlos, ehe ſie flügge geworden,“ ſagte
er, vergebens den gewohnten feſten Ton ſuchend.
„Wenn Sie ſich mit dem Herrgott gut ſtehen, meine
Gnädigſte, dann legen Sie doch bei ihm ein Wort für
mich ein, daß er mir alten Soldaten noch nicht ſo bald
die Retraite bläſt. In meiner Front klappt noch nicht
alles zum Parademarſch.“
Sigrid ſtürzten die Tränen aus den Augen. Sie
nahm eines der Kinderhändchen nach dem anderen
zum Abſchied. Dann ging ſie ungeleitet aus dem
Zimmer, den langen Korridor entlang und die Treppen
hinunter.
Als ſie unten vor der Haustür das Auto ſah, fiel
ihr ein, daß fie ja ſparen wollte. Sie lohnte den Chauf-
feur ab und ging zu Fuß nach Hauſe.
Die kalte, klare Luft tat ihren erregten Nerven wohl.
Das laute Getriebe in der Potsdamer Straße hörte ſie
gar nicht. Auch die vielen vorüberhaſtenden Menſchen
ſah ſie nicht. Sie war ſo völlig von einem einzigen
1914. X. 9
130 Liebe Sorgen. U
Gedanken beherrſcht, daß alles andere dagegen macht—
los wurde.
Wenn Richard nun geſtorben, wenn er durch den
Tod von ihr getrennt würde und ſie von ihm!
Sigrid ging ſo ſchnell, als ob jemand ſie verfolge.
Eine ganz entſetzliche Furcht trieb ſie vorwärts. Was
war denn das? Wäre es nicht die beſte und einfachſte
Löſung, wenn der Mann, dem ſie ſeit Monaten nur
noch dem Namen nach gehörte, auch ſo ſpurlos fort-
gegangen wäre wie Rödel?
„Nein!“ ſagte Sigrid ganz laut vor ſich hin und
noch einmal leiſer und erſchrocken: „Nein!“ Er ſollte
leben, er ſollte ſogar glücklich ohne ſie leben, aber ganz
verſchwinden, ſo verſchwinden — nein, das ſollte er
nicht. N
Als ſie vor ihrem Haus in der ſtillen, vornehmen
Straße des Weſtens ſtand, glühten ihre Wangen, als
hätte ſie Fieber, und als ihr das Hausmädchen oben die
Tür öffnete, ſah ſie in das höflich lächelnde Geſicht,
als ſähe ſie es heute zum erſten Male.
„Der gnädige Herr iſt ſchon ſeit einer Stunde da,“
ſagte das Mädchen, Sigrid Hut und Mantel abnehmend.
Sigrid öffnete die Tür zum Speiſezimmer und fand
es leer. Durch zwei, drei Türen lief ſie, und erſt als
ſie in Richards Zimmer war und ihn ruhig an ſeinem
Schreibtiſch ſitzen ſah, bezwang ſie die große Erregung,
die ihr ganzes Weſen aufpeitſchte.
Er blickte gar nicht auf.
„Richard!“ bat ſie.
„Was denn?“ Er ſchüttelte, über die Störung
unwillig, den Kopf. „Du ſiehſt doch, daß ich ſchreibe.“
„Ach — laß doch das!“ Sie war hinter ſeinen Stuhl
getreten und blickte über ſeine Schulter auf die großen
Papierbogen. Ihre Hand hob ſich, ſchob die Mappe
a Novelle von Elſe Krafft. 131
zurück, auf dem der halbfertige Brief lag, und es war
ein Ton in ihrer Stimme, der ihr ſelbſt fremd und
unfaßlich ſchien. „Das iſt ja alles gleichgültig jetzt!
Ich hab' ſo viel durchlebt heute morgen! Ich habe
mit Frau Rödel geſprochen, mit ihrem Vater, und —“
Er fuhr überraſcht auf. „Alſo dich hat man vor—
gelaſſen — großartig, was ihr Frauen mächtig ſeid!
Mir beantwortet man kaum meine Briefe. Da bin
ich denn doch neugierig, was du da erreicht haben
könnteſt.“
„Er denkt nur an das verlorene Geld!“ durchfuhr
es Sigrid grauſam klar, und das Blut ſtieg ihr wie
Flammen in das Antlitz. Hatte ſie nicht eben ganz
andere Dinge im Herzen gehabt, ſeltſame, ſüßtörichte
und längſt vergeſſen geglaubte!
Er wartete ihre Antwort nicht ab. Er ſah ſie auch
nicht an. Er fragte, fragte wie gierig, als könnten da-
durch ſeine aufgepeitſchten Nerven zur Ruhe kommen:
„Nun, können wir hoffen? So ſprich doch!“
Sigrid antwortete nicht. Sie fühlte ſich am Ende
ihrer Kraft.
Er lachte, wurde merkwürdig guter Stimmung und
nahm ſogar einmal wie ſpielend die regloſe Frauen-
hand neben ſich in die ſeinige. „Wir werden ſchon wie—
der zu unſerem Geld kommen — jo oder jo! Verlaß
dich darauf! Denke, der Deinhardt hat mir geſchrieben.
Ich könnte auf ein Probehalbjahr in feinen Farb—
werken arbeiten, um dann vom Oktober ab eine leitende
Stellung dort einzunehmen. Das wäre doch was bei
ſo einer Weltfirma! Wir verſchieben das wohl mit der
Scheidung noch, wenn es dir recht iſt! Es ſtürmt jetzt
mit einem Male zuviel auf mich ein. Ich bin ja ſowieſo
die nächſten Monate nicht in Berlin, wenn das mit
Deinhardt etwas wird; jedenfalls fahre ich gleich in
132 Liebe Sorgen. a
den nächſten Tagen zu ihm, um die Sache mündlich
zu beſprechen. Und dann, nach den ſechs Monaten,
können wir ja weiterſehen. Richte dich mit den Kindern
hier ein, wie du willſt, das Wertvollſte unſerer Sachen
wird verkauft, ich habe das ſchon alles in die Wege
geleitet.“
Sigrid lächelte mühſam. „Ja — ich weiß.“
Nun blickte er doch auf. Vorhin hatte er es gar nicht
bemerkt, wie ſchnell ſich ihm die Frauenhand entzogen
hatte, nach der er ſpieleriſch gegriffen. „Was — wie
ſiehſt du denn aus? Fit dir nicht wohl?“ fragte er er-
ſtaunt.
Sie ſuchte nach Worten, hob den Arm, um ſich
irgendwo feſtzuhalten, und griff in die leere Luft.
Im nächſten Augenblick lag ſie ohnmächtig am
Boden.
Sigrid hatte nur noch den einen Wunſch, ihr Leben
ſo raſch und endgültig wie möglich zu verändern.
In fieberhafter Eile betrieb ſie den Umzug aus der
großen Wohnung, den Verkauf der entbehrlichen
Möbel und Koſtbarkeiten. |
Es war nur eine Heine und beſcheidene Dreizimmer-
wohnung in einem Vorort, in der fie nun mit dem
Fräulein und den Kindern hauſte. Aber dieſe Zimmer
waren hell, ſonnig und von Bäumen umgeben, deren
hellgrüne Spitzen bis zu der Loggia reichten, in der
Sigrid oft mit den Kindern ſaß.
Ein ſeltſamer Zuſtand war das, in dem ſie ſich nun
ſchon ſo lange befand. Sie wagte gar nicht, darüber
nachzudenken, aus Angſt, fie könne etwas ſehr Wert-
volles und Köſtliches zerſtören, wenn fie daran rühre.
Hatten die Kinder ſchon immer ſo wunderbar
weiche Armchen gehabt? Waren die Augen ihres
2 Novelle von Elſe Krafft. 155
Knaben ſchon früher fo glänzend und braun geweſen,
das Lachen feiner Schweſter fo klingend hell und an-
ſteckend, ſo daß Sigrid oft gar nicht anders konnte
als mitlachen?
Obwohl die Sonne jetzt früher kam und ſpäter
fank, waren die Tage alle ſo merkwürdig kurz in dieſem
neuen Leben, die Nächte aber ſtill und traumlos in
der Nähe der kleinen Betten, die neben ihrem Lager
ſtanden.
Hundert fremde Dinge lernte fie kennen, von denen
ſie vorher nichts gewußt, und die doch alle ſo gut in ihr
Leben hineinpaßten: liebe Sorgen, die ſie täglich feſter
an die kleine Wohnung und an die Kinder banden,
Pflichten, deren ſie früher nie gedacht, zu denen ſie
in ihrem glänzenden geſellſchaftlichen Leben nie Zeit
gefunden. ö ö
Das Fräulein, das in dder Mädchenkammer ſchlief,
die zu der Wohnung gehörte, das jede Arbeit tat
und in ihrer beſcheidenen und treuen Art zu Sigrid
hielt wie eine Helferin in Not und Irren, bildete
in der Familie ein ſehr wichtiges Mitglied, um deſſen
Tatkraft ſich alles drehte.
Der Mai verrann, die Roſen begannen in den
Gärten ringsum zu blühen, und Sigrids Wangen
färbten ſich langſam. Es war noch kein Tag geweſen,
an dem ſie, wie ſie gefürchtet, unter der Laſt ihres
ſchweren Schickſals zuſammengebrochen war wie da—
mals im Zimmer ihres Mannes.
Dachte ſie noch an dieſen Mann?
Seitdem er in Weſtfalen in ſeiner neuen Stellung
war, hatte er nur ſelten kurze Briefe geſchrieben, die
nicht viel von ſeinem Leben erzählten.
Sie wollte auch nichts davon wiſſen. I
Als er einmal angefragt hatte, ob fie Geld brauche,
134 Liebe Sorgen. u
hatte ſie dieſe Frage umgehend verneint. Fürs erſte
genügte ja die Summe, die ſie vom Verkauf der Möbel
und Wertſachen herausbekommen hatte, für das be-
ſcheidene Leben, das ſie jetzt mit den Kindern und dem
Fräulein führte. Und ſpäter, nach der Scheidung,
konnte ja gerichtlich feſtgeſtellt werden, was der Vater
für das Leben und die Erziehung ſeiner Kinder geben
konnte; ſie ſelbſt verlangte nichts. Sie nahm vielleicht
eine größere Wohnung und vermietete Zimmer, wie
ihr einige bekannte Damen geraten hatten.
Nur noch eine kleine Weile in dieſer köſtlichen Ruhe
weiterleben wollte fie, dieſes neue Gefühl des Mutter-
glücks auskoſten, das ſie ſo weich und wunſchlos machte.
Alte Kinderſpiele wachten wieder auf, Kleidchen und
Kittel nähte ſie ſelbſt, wie ſie es einſt für ihre Puppen
getan, und ſelbſt die Schularbeiten der Kinder, die ſie
beaufſichtigte und durchſah, waren ihr liebe Sorgen.
Kam aber wirklich eine ſchwere Stunde, in der die
Sehnſucht nach der bunten Welt da draußen über-
mächtig in ihr wurde, ſo brauchten nur die weichen,
ſtreichelnden Kinderhände, die roten, kleinen Münder
gegen ſie anzudrängen — und die wilden Wünſche
wurden ſtiller, Frau Sigrid lachte wieder ihr ſeltſames
Lachen, bei dem man nie wußte, ob nicht die Tränen
hineintropfen wollten. —
Es war ein ſchwüler Tag im Juni, als Sigrid allein
in der Loggia bei den grünen Baumwipfeln ſaß, die
regungslos ihre Blätter herniederhängen ließen.
Die Kinder waren mit dem Fräulein ſpazieren ge—
gangen, und ſie mußte die Tür darum ſelber öffnen, als
die Glocke im Korridor anſchlug.
Müde erhob ſie ſich, ſtrich an dem weißen Kleide
hernieder und band die Schürze ab, die ſie jetzt im Hauſe
trug. Sie fürchtete ſich vor jedem Beſuch, der von
2 Novelle von Elſe Krafft. 135
ihrem früheren Leben wußte und oft mit unzarten
Worten alte Wunden wieder aufriß.
Sie öffnete, trat einen Schritt zurück und wußte
nicht, ob ſie die Hand ausſtrecken ſollte oder nicht.
Richard ſtand draußen. Er war ſehr blaß und ab-
gemagert, trug aber einen hochmodernen Anzug und
lächelte ſein altes, ironiſches Lächeln.
„Guten Tag, Sigrid — darf ich eintreten?“
Sie neigte nur den Kopf.
Er ſchloß ſelbſt die Tür, ging an ihr vorbei und in
das nächſte Zimmer hinein. „Du biſt wohl allein?“
fragte er dann. | 5
Sie war mechaniſch hinter ihm her gegangen und
ſtand nun neben ihm in dem kleinen Salon, in dem
alles, trotz der Enge, das Gepräge ſchlichter Vornehm-
heit hatte.
„Ja. Die Kinder ſind ſpazieren gegangen mit dem
Fräulein. Aber ich fürchte, es kommt ein Gewitter. Willſt
du — biſt du — ſeit wann biſt du wieder in Berlin?“
„Seit heute. Meine Koffer ſtehen noch auf dem
Bahnhof. Ich wußte nicht, ob ich ſie hierher ſchicken
laſſen ſollte. Aber wenn du Platz hätteſt, wäre es wohl
das einfachſte und billigſte —“
„Nein,“ ſagte Sigrid erſchrocken.
Er ſchien gar nicht hinzuhören. Er war neugierig
durch die nächſte Tür gegangen. „Ah — hier iſt wohl
das Speiſezimmer. Ganz ſtilvoll, nur verteufelt klein
alles — und hier —“ er ſprach nicht aus, ſondern blieb
in dem Eingang der Loggia ſtehen, wo über roten
Korbmöbeln rote Geranien nickten, zu denen die grünen
Baumkronen herniederſahen.
„Das iſt auch noch beinahe wie ein Zimmer,“ be—
eilte ſich Sigrid zu ſagen. „Ich ſitze mit den Kindern
meiſt nur hier draußen. Hübſch — nicht?“
136 Liebe Sorgen. 2
Er griff ſich in den anſcheinend zu weit gewordenen
Kragen und zuckte in ſeiner alten Manier die Achſeln.
„Wie man's nimmt. Mit dem Maßſtab unſeres früheren
Lebens gemeſſen jedenfalls ein biſſel ſpießerlich.“ Er
hatte ſich wieder ganz zu ihr herumgedreht und
blickte fie aufmerkſam an. Über fein hageres Ge—
ſicht ging helles Rot. „Du ſiehſt übrigens gut aus,
Sigrid.“ N
Sie wußte nicht, was ſie dazu ſagen ſollte. Sie
dachte fortwährend an die Kinder, denn in der Ferne
begann es zu donnern, graue Wolkenmaſſen kamen
näher, und durch die eben noch ſo regungsloſen Bäume
fuhr der Wind.
Was wollte Richard bei ihr? Warum war er ſchon
vor Ablauf der Probezeit mit ſeinen Koffern gekommen?
Und warum ſtarrte er fie jo an?
„Halt du jetzt ſchon die Vertretung für Berlin be-
kommen, wie du mir geſchrieben?“ fragte ſie.
Er lachte. „Ich danke dafür. Ich habe dem Dein-
hardt ſeinen ganzen Krempel vor die Füße geſchmiſſen.
Was denkt ſich denn ſo ein Kaffer? Ich bin doch nicht
ſein Schuhputzer! Man hat ſich abgerackert wie der
gewöhnlichſte Arbeiter, man hat ſich halbe Nächte
um die Ohren geſchlagen, weil der hohe Herr das ſo
verlangte, und muß ſich nun hinterher noch Grobheiten
ſagen laſſen, weil der frühere Freund zufällig noch auf
dem Geldſack ſitzt, von dem man fo meuchlings herab-
geriſſen wurde. Nee — ich pfeife auf ſo eine großmütige
Vormundſchaft, die keinen anderen als den eigenen
Willen gelten läßt. — Haſt du übrigens ein Glas Wein
im Haufe, Sigrid? Mir klebt die Zunge am Gaumen.“
Sie ſchüttelte den Kopf. „Wir trinken nur Milch
oder Fruchtſaft mit Waſſer. Wenn du davon etwas
haben willſt —“
D Novelle von Elſe Krafft. 157
„Einerlei — laß nur bringen! — Nein, du ſelbſt
ſollſt natürlich nicht, das Mädchen kann doch —
„Ich habe kein Mädchen außer dem Fräulein,“
ſagte Sigrid, indem ſie hinausging.
In der Küche blieb ſie einen Augenblick zitternd
ſtehen. Es blitzte jetzt draußen, und der Donner kam
immer näher. Auch begann es ſtark zu regnen, und die
Kinder waren in ihren dünnen Kleidern auf den Wieſen
draußen. Wenn ſie nur bald kämen, damit ſie nicht
allein zu ſein brauchte mit Richard, denn ſie konnte
das nicht auf die Dauer.
Sie hatte Mühe, das Glas gerade zu halten, das
ſie ins Zimmer trug.
„Danke,“ ſagte er höflich. „Aber du hätteſt dich
wirklich nicht ſelbſt bemühen ſollen.“ Er trank haſtig
das ganze Glas leer. Dann trat er wieder auf die
Loggia hinaus und ſetzte ſich in einen der Korbſtühle.
„Den Kindern geht es alſo gut — ja?“
Sigrid nickte, in der Tür ſtehen bleibend. „Aber
ſie ſind ohne Schirm, und das Wetter wird immer
ſchlimmer.“
„Gewitterregen friſcht Natur und Nerven auf. —
Oh, das tut gut nach der Glut!“ Er atmete tief auf
und erwartete, daß ſie ſich auch ſetze. Als fie aber
ſtehen blieb, ſprach er haſtig und überſtürzt weiter:
„Wie ſind denn nun die Kinder? Sind ſie noch ſo
zimperlich und ſcheu? Du haft ja nie was Ordentliches
geſchrieben. Deine Poſtkarten waren furchtbar, nimm
mir das nicht übel! Wenn ich auch keine großen
Schreibebriefe von dir erwartete, aber dieſe ſteifen,
nichtsſagenden Antworten auf meine Fragen — nee,
man gehört doch ſchließlich immer noch zuſammen!
Und was heißt das, du brauchſt kein Geld? Das ver-
ſtehe ich nicht. Du kannſt doch nicht beinahe fünf
138 Liebe Sorgen. 2
Monate von den paar Mark zehren, die du zur Ver—
fügung hatteſt?“ |
„Ich habe kaum die Hälfte verbraucht von dem
Geld.“
Er blickte ſie ſehr erſtaunt an. „Da haſt du dich aber
ſehr verändert, Sigrid! Ich verſtehe überhaupt nicht,
wie du dies Leben ſo erträgſt und dabei ausſiehſt —
na, ich will dir nicht ſchmeicheln. Du ſcheinſt eben
ſtärker zu ſein wie ich, denn —“
Er brach mitten im Satz ab, ſtand auf und trat
wieder in das Zimmer zurück. Ein paar Stühle ſchob
er ſich aus dem Wege, nahm hier einen Gegenſtand auf
und dort einen und wurde immer aufgeregter.
„Satt — ſatt habe ich's, dieſes elende Leben! Ich
muß wahrhaftig wieder eine Stellung ſuchen wie der
Kuli, der Brot eſſen will und Steuern zahlen muß,
und — ach, was weiß ich was noch alles! Es iſt eine
Sünde und Schande, daß man einfach ſtillhalten muß,
wenn einen die beſten Freunde betrügen und ruinieren.
Haſt du übrigens noch Geld — iſt das wirklich wahr,
Sigrid?“
„Ja,“ ſagte Sigrid, wieder ein paar Schritte zurück—
tretend. Er war ſo nahe zu ihr gekommen, daß ſie
ſeinen Atem geſpürt hatte.
„Vielleicht könnteſt du mir ein paar hundert Mark
geben? Es iſt wegen des Hotels, und man muß doch
den Leuten anſtändig kommen, wenn man Verbin—
dungen anknüpfen will.“
Er hatte jetzt auch die dritte Tür aufgeſtoßen, die
in das Schlafzimmer führte, das ſie mit den Kindern
teilte.
„Iſt das nun alles?“ fragte er. „Ganze drei Stuben?“
„Ja,“ flüſterte Sigrid. „Mach, bitte, die Tür zu, es
zieht furchtbar bei dem Sturm.“
1 Novelle von Elſe Krafft. | 139
„FIſt der Junge nicht ſchon zu groß für jo ein kleines
Gitterbett? Was treiben die Kinder denn überhaupt?
Denken ſie manchmal an mich?“
„Kinder ſind Kinder, ſie denken überhaupt nicht
nach. Und du haft dich ja immer jo wenig um fie ge-
kümmert. — Brauchſt du wirklich Geld? Ich gebe es
dir. Wir haben hier ja ſo wenig zum Leben nötig.
Das Schulgeld iſt auch billiger als in Berlin, und das
Fräulein iſt ſehr ſparſam und praktiſch. — Mein Gott,
dieſes Wetter, und die Kleinen ſind noch immer nicht
hier!“ ö
Sie trat auf die Loggia hinaus und ſpürte es gar
nicht, daß ihr der Sturm den Regen ins Geſicht
ſchlug.
Er folgte ihr langſam.
Und fo ſtanden fie eine ganze Weile ſchweigend
nebeneinander, ſahen in die Blitze hinein und wurden
immer näſſer.
„Komm doch ins Zimmer!“ bat er endlich leiſe und
mit ganz veränderter Stimme.
Sie zuckte heftig vor feiner ausgeſtreckten Hand zu-
rück. „Ich — ich ängſtige mich ſo!“ ſtieß ſie hervor.
„Vor dem Gewitter?“
Sie ſchüttelte den Kopf. „Nein — um die Kinder!“
Da ſchwieg er, blieb neben ihr ſtehen und ſah von
der Seite in das veränderte und doch fo wunder-
ſchöne Frauenantlitz.
Draußen wurde die Korridortür aufgeſchloſſen. Die
beiden Menſchen hörten es gar nicht. Erſt als trappelnde
Füße näher kamen, Türen geöffnet und wieder ge—
ſchloſſen wurden, drehten ſich beide gleichzeitig um.
„Heino — FIlſe!“ ſchrie Sigrid wie erlöſt auf.
Die Kinder liefen, pudelnaß wie ſie waren, in die
ausgebreiteten Arme der Mutter.
140 l Liebe Sorgen. D
„Die Kinder müſſen ſofort trockene Sachen anbe-
kommen, Fräulein —“
Sie ſtockte und blickte auf den Mann, den fie bei-
nahe ſchon wieder vergeſſen hatte, als ſie die kleinen
Körper an ihrem gefühlt.
„Guten Tag, mein Junge,“ ſagte Richard.
„Guten Tag, Papa!“ rief der Siebenjährige, die
kleine, kalte Hand in die heiße vor ihm legend.
„Guten Tag, Papa!“ wiederholte nun auch Zlie
lachend und erſtaunt.
Das Fräulein grüßte höflich und zog dann die
Kinder mit ſich fort. „Das Wetter kam zu plötzlich,“
entſchuldigte fie ſich, „und wir waren fo weit draußen
auf den Wieſen.“
„Gewiß,“ ſagte Sigrid und hatte das Gefühl,
hinter den anderen her laufen zu müſſen.
Aber Richard hatte eine Handbewegung gemacht,
die ſie zum Bleiben veranlaßte, und er ſah ſo finſter und
gequält dabei aus, daß ſie plötzlich Mitleid mit ihm hatte.
„Setz dich doch,“ ſagte ſie ruhig, „du biſt gewiß
ſehr müde von deiner Reiſe. Ein Stündchen kannſt
du ja noch hier bleiben, du möchteſt vielleicht noch mit
den Kindern zuſammen Abendbrot eſſen.“
„Danke — ſehr gütig!“ antwortete er. „Das iſt ja
ſchon ſehr viel! Wenn ich nun aber noch länger bleiben
will wie dieſe eine gnädig geſtattete Stunde? Es
iſt doch ſchließlich auch meine Wohnung, ſolange wir
noch nicht geſchieden ſind, Sigrid.“
„Nein!“ ſchrie ſie auf. „Das kannſt du ja gar nicht
wollen! Es iſt kein Platz hier für dich, das ſiehſt du ja,
und es iſt doch alles ſo furchtbar! Denke doch nur, wie
wir gelebt haben in den letzten Jahren, wie wir förmlich
lechzten nach Freiheit, du ſowohl wie ich! Ich will dir
ja gerne Geld geben, ich will auch an Robert ſchreiben
D Novelle von Elfe Krafft. 141
nach Hamburg deinetwegen, er wird ficher eine Stellung
für dich finden. Aber geh!“
Er ließ ſie ruhig ausreden. Dann nickte er ſtumpf.
„Ja, ich gehe gleich! Du mußt nicht ſo laut ſprechen,
Sigrid, ich — meine Nerven ſind furchtbar herunter,
und das Fräulein hört alles, es iſt ſo furchtbar eng bei
dir, ſo ungewohnt eng!“ Wieder fuhr er ſich in den
weiten Kragen und zerrte daran. „Aber die Kinder
ſind nett geworden. Wie zutraulich ſie mir gleich die
Hand gaben, und wie das kleine Ding gelacht hat,
als es mich ſah! — Alles ganz anders wie früher,
ſo — ſo unerklärlich anders! Aber wenn es dir recht iſt,
ein kleines Weilchen möchte ich doch dieſes ſeltſame
Gefühl noch auskoſten, was mich da eben überkam mit
den Kinderhänden.“
Sie ſenkte den Kopf. In ihr war alles wie zer—
ſchlagen. Sie hatte in ihrer ſtillen Zurückgezogenheit,
ihren vielen neuen Pflichten beinahe vergeſſen, daß
irgendwo noch jemand war, dem die Kinder gehörten
wie ihr. Wie ein Erwachen aus einem tiefen, köſtlichen
Traum war das heute, und ſie zitterte nun, daß die liebe
Sorge, die der Verluſt des Geldes in ihr Leben gebracht
hatte, jetzt wieder verſchwinden würde. „Bleib nur
noch,“ ſagte ſie, der Tür zugehend, hinter der die Kinder
lachten und ſchwatzten. „Es iſt ja noch hell, kaum ſieben
Uhr vorbei.“ |
Sie trat in das Schlafzimmer, zog die Tür hinter
ſich zu und brach plötzlich in Tränen aus.
„Wie ihr mich geängſtigt habt!“ ſchluchzte ſie, vor
den Kleinen niederknieend.
Aber die Kinder ſchienen heute nicht viel Zeit zu
haben. Sie drängten von der Mutter fort und blickten
neugierig nach der Tür.
„Iſt Papa noch da?“
142 Liebe Sorgen. 2
„Ja.“
„Und bleibt er nun wieder immer hier?“
„Nein,“ ſagten Sigrid und das Fräulein wie aus
einem Munde.
And die Blicke der beiden Frauen begegneten ſich,
als wiche eine der anderen aus.
„Nein, nein — wirklich nicht,“ ſagte Sigrid hart,
indem ſie aufſtand und ſich vor dem Spiegel das Haar
glatt ſtrich. „Höchſtens eine Stunde zum Abendbrot.
Sie können uns etwas aufdecken, Fräulein, vielleicht
Aufſchnitt holen und — ach, holen . was Sie wollen,
jedenfalls auch Vier.“
Das Fräulein ging, und Sigrid ſah plötzlich, daß ſie
allein im Zimmer war. Mit ſchleppenden Schritten
ging ſie in das Wohnzimmer zurück und ſah dort die
Kinder bei Richard ſtehen.
Er fragte allerlei, und die Kleinen antworteten,
begannen von ihren Spielen, von der Schule und ihren
Kameraden zu erzählen.
Er hörte aufmerkſam zu, und einmal hob er die
Hand und ſtrich dem Knaben damit über den lockigen
Kopf.
Dabei begegnete er dem erſtaunten Frauenblick,
und ſofort kam wieder das alte, ſpöttiſche Lächeln um
feine Lippen. „Ich fange an, Geſchmack an der Fami—
lienſimpelei in deinen drei Stuben zu finden. Man hat
ſo ungefähr das Gefühl, als ſei man hier verpflichtet,
leiſer zu ſprechen und langfamer zu denken. Weniger
jedenfalls. Man vergißt beinahe ſein Elend dabei und
die Sucht nach Rache. Haſt du übrigens was von
Rödels Frau oder ihrem Vater gehört? Ich erhalte
alle Antworten auf meine Briefe nur noch durch den
Rechtsanwalt, der natürlich ein Wiederbekommen un—
ſeres Geldes für ſo gut wie ausſichtslos hält.“
0 Novelle von Elſe Krafft. 143
„Schreibe doch nicht mehr an die arme Frau,“
ſagte Sigrid. „Sie quält ſich ſchon genug in dem Ge—
danken, an uns ſo große Gläubiger zu haben. Sie war
einmal hier und ſieht furchtbar aus. Ich glaube, fie
iſt ſchwer leidend, denn der Arzt will ſie durchaus nach
Davos ſchicken. Die Schickſalsſchläge waren zu ſchwer
für ihren zarten Körper.“
„Kunſtſtück!“ ſagte er. „Mit fremdem Geld läßt
ſich freilich gut leben —“
Er brach ab, als er in das verſtörte Frauenantlitz
ſah. Er zog plötzlich beide Kinder ganz dicht zu ſich
heran. „Warum ſeid ihr früher nie ſo nett zu mir
geweſen?“ fragte er.
Die Kinder blickten ſich gegenſeitig an und wur-
den rot.
„Ach, du warſt ja nie da,“ ſagte der Junge dann.
„Kannſt du gut rechnen, Papa? Soll ich dir mein
Heft holen?“
Richard nickte.
Der Knabe lief und kam ſehr ſchnell mit einem
blauen Schulheft zurück, das er aufblätterte und dem
Vater zeigte. Er war ungewohnt blaß heute, der kleine
Kerl, und wie er ſo ſein Geſicht gegen das des Mannes
hielt, fiel Sigrid zum erſten Male die große Ahnlichkeit
zwiſchen Vater und Sohn auf.
„Frierſt du?“ fragte Richard, als ſich der Kinder-
körper vor ihm ein paarmal ſchüttelte.
„Nein,“ ſagte das Kind, „mir iſt jetzt ſchon wieder
ganz warm, Papa.“
Sigrid ſtand dabei und dachte: „Es iſt ja nicht aus-
zudenken, wie das nun werden ſoll zwiſchen ihm und
mir. Wenn er die Kinder ſo zu ſich heranzieht, ſo tut
er das ja nur aus Berechnung oder Laune. Ich
bringe die Kinder ins Bett, damit er endlich geht.“
144 Liebe Sorgen. 2
Sie tat es aber doch nicht. Sie deckte ſogar den
Tiſch mit auf, aß und trank mit Richard und den Kin—
dern und ſaß wie geiſtesabweſend dabei, als die drei
miteinander zu lachen und zu ſcherzen begannen.
Erſt als das Fräulein die Kinder holte, um ſie ins Bett
zu bringen, atmete ſie wie erlöſt auf, weil Richard
gleichzeitig aufſtand und zu Hut und Reiſetaſche griff.
In dem kleinen, dunklen Korridor blieb er noch
einmal vor ihr ſtehen, und feine Stimme war eigentüm-
lich verändert, als er ſagte: „Wir haben nun doch das
Wichtigſte vergeſſen, Sigrid. Wie iſt denn nun das
mit dir und mir? Wir müſſen doch die Sache beſprechen.
Ich habe wahrhaftig in Gegenwart der Kinder das
ganze Elend vergeſſen. Du kannſt doch auf die Dauer
nicht hier wohnen bleiben? Es muß doch wieder
bergauf gehen. Ich werde jedenfalls morgen noch
einmal wiederkommen, wenn dir das recht iſt, und —“
Sie unterbrach ihn haſtig. „Vitte nicht morgen,
am Sonnabend iſt immer ſo viel zu tun.“
„Alſo dann übermorgen,“ ſagte er ruhig, „das wäre
am Sonntag.“
„Ja — vielleicht am Vormittag, Richard.“
Er nickte. „Wie du befiehlſt! Ich komme zur
offiziellen Beſuchszeit. Habe keine Angſt, Sigrid!“
Erſt als fie feine haſtigen Schritte auf der Treppe
hörte, fiel ihr ein, daß er ja Geld von ihr haben wollte.
Sie hatte es ganz in der furchtbaren Aufregung, in
der ſie ſich befand, vergeſſen. Und er anſcheinend auch.
Ob ſie ihn zurückrief, oder ob er nicht ſelbſt umkehren
würde? N
Sfe lauſchte zitternd, mit angehaltenem Atem.
Nein, die Haustür fiel ins Schloß. Er war fort.
Sigrids Hände hoben ſich und ſtreiften die Sicher-
heitskette vor den Eingang zur Wohnung, dann ging
2 Novelle von Elſe Krafft. 145
ſie in das Speiſezimmer zurück. Nur jetzt keinen Blick,
kein Wort mit dem Fräulein wechſeln, die ſo merk-
würdig neugierige Augen hatte! Allein mit ſich fertig
werden, niederkämpfen das Gefühl der Angſt vor etwas
Anerklärlichem und Großem, das ihr ſtilles Leben be—
drohte! Jedes Geräuſch im Kinderzimmer und der
Küche tat ihr körperlich weh, ſie hätte jetzt wer weiß
was darum gegeben, wenn niemand außer den Kindern in
der Wohnung wäre, der um ihr früheres Leben wußte.
Obwohl Richard nicht geraucht hatte, war das
ganze Zimmer von feinem Zigarettenduft erfüllt.
Sigrid riß beide Flügel der Loggiatür auf. Sie
glaubte erſticken zu müſſen in dieſer altbekannten
Atmoſphäre.
Alſo rauchte Richard immer noch die gewohnte
teure Marke, trotzdem er fertig war mit ſeinem Gelde —
trotzdem!
Sigrid ſog mit tiefen Atemzügen die friſche Luft
ein, die dem Gewitter gefolgt war nach der großen
Hitze des Tages.
Konnte eine Menſchenſeele einſamer ſein wie die ihre?
Als Richard Hallinger am Sonntag zur Beſuchs-
ſtunde die Glocke vor der Tür ſeiner Frau ziehen
wollte, war ein weißer Zettel darüber befeſtigt, auf
dem mit Blei geſchrieben ſtand: „Bitte klopfen!“
Er las, ſchüttelte den Kopf, und eine unbeſtimmte
Angſt war plötzlich da, die einen Augenblick ſeine Hand
lähmte.
„Sigrid,“ dachte er, „iſt krank. Sie hat ſich zuviel
zugemutet in dieſem erbärmlichen Leben, ihre feine
Seele iſt dieſes kleinbürgerliche Milieu nicht gewöhnt,
ihr zarter Körper braucht mehr wie nur das bloße
Sattwerden.“
1914. X. 10
146 Liebe Sorgen. 2
Er klopfte lauter, als er beabſichtigt, weil er ſeine
Finger nicht ganz in der Gewalt hatte, weil das Blut
unruhig durch ſeine Adern floß.
Wenn ſie ſtürbe, wenn ſie plötzlich nicht mehr da
wäre auf der Welt, wenn er ohne Scheidung frei
würde? Die Kinder freilich blieben ihm dann allein,
er müßte für ſie ſorgen, und ſie würden vielleicht alle
Tage jo. bei ihm ſitzen wie vorgeſtern in jener jelt-
ſamen Abendſtunde, als er beinahe vergeſſen hatte,
daß er nichts mehr beſaß. Nur die anklagenden Frauen-
augen würden dann nicht mehr ſein, der ſtolze Mund,
den er einſt ſo oft geküßt —
Richard Hallinger klopfte zum zweiten Male, ohne
daß er es gewollt hatte.
Dieſes kurze, harte Klopfen glich beinahe einer
Flucht. vor den Gedanken, die in ihm aufgetaucht
waren, und er ſtarrte Sigrid, die ihm die Tür öffnete,
ſo erleichtert und befreit in das ſchöne Geſicht, daß es
ſich jäh mit einer dunklen Röte übergoß.
„Was iſt denn?“ fragte er kurz und knapp, indem
ſich N . gegen das Stück e über der Glocke
9
„Heino,“ ſagte Sigrid flüſternd. »Er 9 119
entzündung, ſagt der Arzt.“
Sie blieb unſchlüſſig ſtehen und wußte offenbar
1 ob, ſie ihn hereinlaſſen ſollte.
Aber er wartete nicht auf ihre Aufforderung, näher
zu: treten. Er ging an ihr vorüber, öffnete die Tür,
von der er wußte, daß ſie in Sigrids Schlafzimmer
führte, und ſtand vor dem Bett ſeines kranken Jungen.
Trotzdem das Kind augenſcheinlich hohes Fieber
hatte, erkannte es den Vater ſofort. Der trockene
Mund lächelte, die kleine, heiße Hand hob ſich.
Richard griff ſofort zu. Ein Kratzen kam in
D Novelle von Elſe Krafft. 147
ſeine Kehle, ein ganz ungewohntes, ſchmerzhaftes
Schlucken.
Sigrid, die jetzt auch vor dem Bettchen ſtand, ſah
in das verzerrte Geſicht, und ihre Finger krampften
ſich feſt um das weiße Gitter.
„Er hat es wohl ſchon lange mit ſich herumgetragen,
und am Freitag, als er fo naß bei dem Gewitter ge-
worden war, iſt es dann in der Nacht zum Ausbruch
gekommen,“ ſagte ſie.
Richard nickte und hielt die kleine Hand in ſeiner
großen, als hielte er ſelber ſich daran feſt. „Er iſt
furchtbar heiß, der kleine Kerl,“ brachte er mühſam
hervor.
„Wir müſſen das Fieber zu dämpfen verſuchen,
alle Stunden naſſe Tücher und einmal am Tage ein
kühles Bad. Die Kriſis wird vor acht Tagen nicht ſein,
meint der Arzt.“
„So,“ ſagte Richard und merkte, daß er noch den
Hut auf dem Kopfe hatte. „Verzeih, ich hatte das
wahrhaftig vergeſſen.“
Und während Sigrid die Lippen ſtumm aufein-
anderpreßte, weil fie ihm nichts zu ſagen wußte, ſah ſie
zu, wie er Hut und Handſchuhe ablegte, ſich einen
Stuhl an das Bettchen ſchob und da niederſetzte.
Dann wurde er plötzlich geſprächig, erzählte und
lachte mit dem Jungen, daß der kleine Kranke weiter
nichts wie zuzuhören brauchte. Und das Geſichtchen
wurde immer heller dabei, und die heiße Kinderhand
ſuchte immer öfter die große und kühle.
Zum erſten Male konnte ſie ihn betrachten, ohne
daß er es bemerkte. Sie erſchrak vor dieſen hageren,
eingefallenen Wangen, den tiefliegenden Augen, dem
nervöſen Mund. Und ſie mußte daran denken, daß
ihn der Verluſt des Vermögens viel härter getroffen
148 Liebe Sorgen. D
hatte als ſie ſelbſt, daß es vielleicht gar nicht mehr lange
dauern könne, bis er in dem Kampf mit des Lebens
Sorgen unterlag und abgrundtief hinabgeſchleudert
würde in ſein Elend, deſſen er nicht Herr werden
konnte.
Sie ging lautlos aus dem Zimmer in die Küche
hinaus, als ſie zu dieſer Einſicht gekommen war.
Dort ſtand das Fräulein am Herd, während Ilſe
an allerlei Gemüſeabfällen herumſchnipſelte.
„Der Herr iſt da,“ ſagte Sigrid flüſternd.
„Schon wieder?“ ſagte das Fräulein erſchrocken.
„Ja,“ antwortete Sigrid, indem fie Ilſe feſthielt,
die ſofort zum Papa laufen wollte.
Die beiden Frauen ſahen ſich an, beide mit rotem
Kopf und ratloſen Blicken.
„Das Eſſen iſt gleich fertig,“ ſeufzte das Fräulein
ſchließlich. „Was machen wir nun?“
„Der Herr ißt natürlich mit.“
„Aber,“ meinte das Fräulein kleinlaut, „wenn es
dann nur reicht!“
„Dann holen Sie noch etwas, ſolange die Geſchäfte
noch offen ſind. Ich bleibe unterdeſſen hier in der
Küche. Vielleicht bekommen Sie noch ein Schnitzel
oder irgend etwas.“
Das junge Mädchen ſah beim Fortgehen erſtaunt
in das erregte Frauenantlitz. —
Richard und Sigrid aßen nicht viel an dieſem Tage.
Und was fie miteinander ſprachen, galt nur dem kranken
Knaben und der Sorge um die Krankheit.
Als es Abend werden wollte und das Fieber ſtieg,
hätte Sigrid beinahe vergeſſen, ihren Mann zu bitten,
daß er gehen möge. Sie blickte ſtumm in das hagere
Geſicht und dachte: „Es iſt ja ganz gleich, ob er geht
oder bleibt,“ und ſie überlegte, daß es vielleicht ganz
2 ö Novelle von Elſe Krafft. 149
gut wäre, wenn ſie die Nacht nicht ſo allein mit dem
fiebernden Knaben blieb.
Aber Richard ſtand plötzlich auf und griff nach ſeinem
Hut, als ob er es ſehr eilig hätte. „Ich komme morgen
wieder,“ ſagte er nur. „Hab gut acht mit den Um-
ſchlägen, Sigrid — hörſt du?“
Er flüſterte noch einmal mit dem Knaben, ſtrich dem
kleinen Mädchen über das Haar und ging hinaus.
Sigrid hörte ſeinen raſchen Schritt durch das ge—
öffnete Fenſter auf dem Straßenpflaſter und dachte
plötzlich wieder an das Geld, das ſie ihm noch immer
nicht gegeben, und von dem er auch heute nichts ge-
ſagt hatte.
Er hatte den Kindern kleine Geſchenke mitgebracht,
er hatte auch für morgen dem Jungen allerlei ver-
ſprochen, was ihm Freude machte. Sigrid begriff
nicht, womit er das alles bezahlte. Das Hotel, in dem
er wohnte, war ſicher teuer. Ob er vielleicht wieder
geſpielt hatte?
Die junge Frau preßte in jäher Angſt die Finger
vor die müden Augen. Und gleich hinterher durch-
zuckte ſie ſchwer und heiß der Gedanke: „Was geht es
dich an, was er tut und treibt; was kannſt du noch mit
ſeinem Leben und Wollen gemeinſam haben?“
Aber fie kam doch nicht los von feinem hageren,
zerwühlten Geſicht voll Not und Schwäche.
Als der Arzt am Vormittag des nächſten Tages
kam, folgte ihm Richard auf dem Fuße. Er war wieder
mit Paketen beladen, ſah bleich und übernächtig aus
und ſchüttelte dem kranken Jungen die Dede voller
Spielſachen.
Sigrid ſtellte die beiden Herren einander vor und
wurde dunkelrot vor den erſtaunten Blicken des Arztes.
„Da iſt wohl Ihr Herr Gemahl wegen der Krank-
150 Liebe Sorgen. | 2
heit des Kindes von ſeiner Reiſe zurückgekehrt?“
fragte er.
„Ja,“ ſagte Sigrid ſchnell, indem ſie ſich über den
heißen Kinderkörper beugte. „Iſt die Entzündung
weiter vorgeſchritten, Herr Doktor?“
Der zuckte nur mit den Schultern. „Abwarten,“
ſagte er. „Das will alles feine Zeit haben. Über den
Berg ſind wir jedenfalls noch lange nicht.“
Richard Hallinger ſtand dabei und ſagte nichts.
Er hörte auf die Erklärungen des Arztes und geleitete
ihn ſchließlich aus dem Zimmer.
Als er wiederkam, beſchäftigte er ſich ſofort wieder
mit dem Knaben und blickte nur einmal flüchtig in
Sigrids Geſicht, als ſie dicht neben ihm den Umſchlag
Heinos wechſelte.
„Es iſt dir doch recht, wenn ich alle Tage komme?“
fragte er, als er die erregten Frauenaugen ſah.
„Ja,“ ſagte Sigrid. „Aber was iſt denn das?“
Ihre Blicke ſtreiften allerlei Pakete, die Richard
geöffnet hatte: Delikateſſen, ein Fläſchchen alter Wein
und gutes und teures Obſt.
„Das iſt für dich,“ ſagte er raſch, indem ein e
Lächeln um ſeinen Mund ging.
„Für — mich?“ |
„Ja,“ flüſterte er verlegen. „Ich kann doch unmög-
lich verlangen, daß du mich hier für dein Geld bewirteſt,
daß ich in meiner eigenen Familie ſozuſagen nur zu
Gaſt bin —“ Und als fie ihm keine Antwort gab,
ſondern wie in ſtummer Abwehr den Kopf ſchüttelte,
ſetzte er hinzu: „Ich muß dir dabei noch erklären, daß
ich ſo eine Art Stellung gefunden und daraufhin ſofort
von Willbrich Vorſchuß erhalten habe. Flüchtig kennſt
du den Mann ja auch.“
„Ja,“ ſagte Sigrid immer. erregter. Willbrichs
2 | Novelle von Elfe Krafft. 151
Weinſtuben kannte ja jedermann in Berlin und ebenſo
ihren Beſitzer, den kleinen, komiſchen, dicken Mann,
der mit feinem ſich immer gleich bleibenden humor-
vollen Lächeln ſeine Gäſte begrüßte und im Verlauf
von wenigen Fahren fein Etabliſſement derartig ver-
größert hatte, daß die nächſten Häuſer feiner Nach-
barſchaft dazu niedergeriſſen werden mußten.
Ein Schütteln ging durch Sigrid, als ſie ſich dieſen
Mann täglich mit Richard zuſammen dachte als feinen
Herrn. |
Er mußte wohl merken, was in ihr vorging, denn
ſein Lächeln wich plötzlich einem gequälten Zucken der
Lippen. „Ich wußte mir nicht anders zu helfen,
Sigrid, als ich ſah, wie ihr hier lebt, wie du hier ſorgſt,
und was aus dir geworden iſt. Ich glaube, du mußt
jede Mark erſt umdrehen, ehe du ſie ausgibſt, und wie
lange ſoll dein Geld überhaupt reichen? Wir ſind doch
noch nicht geſchieden, wir gehören doch noch zuſammen,
wenn man es richtig bedenkt, und — nein, du brauchſt
nicht gleich ſo weit von mir fortzugehen, ich faſſe dich
nicht an, Sigrid, obwohl mich das Elend, in dem man
jetzt lebt, eigentlich umkrempeln möchte in allem —“
Er ſchwieg, lachte kurz auf, und da er, wie er er-
wartete, keine Antwort bekam, ſprach er, mehr zu
dem Jungen gewendet, weiter.
„Wir haben Willbrich immer für einen Plebejer ge-
halten. Lieber Himmel, was legt uns das gute Leben
doch oft für falſche Brillen vor die Augen! Ich kann
dir nur ſagen, die ganze Art dieſes Mannes, mir das
Peinliche meiner Lage zu erleichtern, war eines
wahren Gentlemans würdig. Wenn man bedenkt,
wie oft man da Nächte durch mit Rödel das Geld für
Sekt hingeworfen hat, wie man gewirtſchaftet und
gelebt hat und nun wie ein Oberkellner Nacht für
152 Liebe Sorgen. 1
Nacht in den dunſtigen Räumen ſteht, bucht und
notiert bis zum frühen Morgen, die Angeſtellten zu-
rechtweiſt und überwacht, man könnte oft dazwiſchen⸗
hauen und — verzeih, Sigrid, aber es kommt bloß
ſo manchmal über mich, und es iſt dann wieder alles
gut, wenn es heraus iſt. Im Grunde genommen iſt
es ja ein großes Glück, daß ich ſo ſchnell hier in Berlin
etwas gefunden habe. Die erſten Monate zweihundert
Mark, ſpäter natürlich mehr, ſagt Willbrich —“
„Zweihundert Mark!“ So viel hatte früher ihr
einfachſtes Kleid gekoſtet, mußte Sigrid ſchmerzhaft
denken. Für zweihundert Mark im Monat ſtand
Richard dreißig Nächte in einem Weinreſtaurant und
arbeitete. An einem Abend hatte er das Geld oft
genug ausgegeben.
„Und wann ſchläfſt du?“ fragte ſie beſorgt, als ſie
ſeine überwachten Augen ſah.
„Das kommt darauf an, wann ich bei Willbrich
fertig werde. Jetzt natürlich weniger, wo ich des
Morgens herkomme. — Ach, laß das doch, die Haupt-
ſache iſt für uns, daß der Junge wieder geſund wird.
Daß ich in den Nächten dir nicht die Wache abnehmen
kann, iſt mir ein quälender Gedanke, aber mit dem
Verdienen iſt mir auch ſo ein neues, beruhigendes
Gefühl in mein verpfuſchtes Leben hineingekommen,
daß ich es beinahe lieben lerne. — Lach doch mal,
Junge, man hat ja früher gar nicht gewußt, was man
an euch hat!“
Er hatte ſich tief über das Gitterbett geneigt und
den Kopf gegen die heiße Kinderwange gedrückt.
„Du wirſt mir doch wieder geſund, du tuſt mir doch
den Gefallen, Junge!“ flüſterte er haltlos. „Man
könnte ſich vielleicht ſein Leben dann wieder wertvoll
machen, ſeinen Mut heben —“
0 Novelle von Elſe Krafft. 153
Sigrid war auf derſelben Stelle ſtehen geblieben,
wo ſie vorhin noch abwehrend gedacht: „Ich will
nichts von ihm,“ und nun hatte ſie Mühe, den Aufruhr
ihrer Seele vor ihm zu verbergen. Sie nahm ſchließlich
die kleine Ilſe, die ſehnſüchtig zwiſchen Vater und Mutter
herumſchlich, in die Arme und weinte lautlos in die
blonden Haare hinein. Sie wußte nicht mehr, was ſie
ſich wünſchte, ſie wollte auch nicht ſehen, was da gegen
ihr Herz ankämpfte. ö
Der Zuſtand des kleinen Kranken wurde immer
beſorgniserregender, das Fieber nahm zu und blieb
auf gefährlicher Höhe, die Kräfte des Knaben verfielen
zuſehends.
Als die Nacht nach dem neunten Krankheitstage
kam, dachte Richard nicht mehr ans Fortgehen. Er
ſaß neben Sigrid am Bett des bewußtloſen Kindes,
zählte die Atemzüge, erneuerte die Umſchläge und
bereitete ſelbſt alle Stunden das kühle Bad, das noch
allein ein Eindämmen des Fiebers ermöglichte.
Sigrid, die in den letzten Tagen und Nächten nicht
mehr aus den Kleidern gekommen war, ſaß völlig
gebrochen dabei und blickte auf den kleinen Körper,
den Richard nicht mehr aus ſeinen Armen ließ. Und
einmal, mitten in der Nacht, ſchrie ſie auf und riß
die kleine Hand hoch, die bewegungslos auf der
Decke lag.
Richard ſchob ſie behutſam zurück und deutete auf
ein paar winzige Tröpfchen, die ſich nach dem letzten
Bade über der Stirn des Knaben gebildet hatten.
„Still, Sigrid! Ich glaube, wir haben unſeren Jungen
durch,“ flüſterte er mit verſagender Stimme.
Sie blickte regungslos auf die kleine Stirn. Sie
hielt den Atem an dabei und ſah es nim auch, wie ſich
154 Liebe Sorgen. 2
die blonden Haare feuchteten, wie die keuchenden
Atemzüge ruhiger und gleichmäßiger wurden.
„Er ſchwitzt,“ ſagte Richard noch einmal, indem ſeine
ſteif gewordenen Arme den Jungen in die Kiſſen
gleiten ließen. „Die Kriſis iſt vorüber, Sigrid!“
Sie hob den Kopf, hob die Arme, und Richard
griff zu, ohne daß er wußte, ob ſie ihn oder er ſie in
heißer Sehnſucht geſucht. Aber ſeine Lippen ließen
den Frauenmund ſobald nicht wieder, der ſo feſt und
ſüß auf feinem lag.
Und alle Not und Enttäuſchung ihres und feines
Lebens ſchmolzen zu einem einzigen Gefühl des
Zueinandergehörens zuſammen, und aus der Sorge
umeinander erwachte die einzig wahre, gute und große,
pflichtfreudige Liebe zwiſchen Mann und Weib.
D
*
Menſchliche
Ungeheuer in Sage und Geſchichte.
von Wilhelm Sifcher.
mit s Bildern. Y (Nachödrud verboten.)
Dos „ſchlechthin Fremdartige, das in der Tat Un-
begreifliche“, das nach Hegel dem Tiere inne-
wohnt, hat in der Urzeit den Menſchen zu grauenhaften
Vorſtellungen über das Fremdartige und Unbegreifliche
im Tiere und ſchließlich dahin gebracht, hier das Walten
einer unheimlichen, ehrfurchtgebietenden Gottheit zu
ahnen. Dieſer „Empfindung und Anſchauung“ ent-
ſprang einerſeits die ſelbſt bei hochentwickelten Kultur-
völkern feſtzuſtellende Vergöttlichung gewiſſer Tiere
und anderſeits deren Verzerrung ins Monſtröſe und
Schreckenerregende.
Die griechiſch- römiſche Mythologie kennt den Hirten-
gott Pan, Faune, Satyrn und Silene, Tritone und
Sirenen, Zentauren und Delphine. Aus dem Blute der
ſchlangenhaarigen Meduſa entſprang das Flügelpferd
Pegaſus. Und Herkules tötete den nemeiſchen Löwen,
die lernäifche Hydra, den erymanthiſchen Eber, die
Stymphaliden — mächtige Raubvögel mit ehernen
Federn, die ſie gleich Pfeilen abſchießen konnten —
fing die menſchenfreſſenden Stuten des Diomedes und
erſchlug den König Gerypones, ein menſchliches Un—
geheuer, das drei Köpfe, ſechs Hände und ſechs Füße
156 Menſchliche Ungeheuer in Sage und Geſchichte. 2
hatte, ſowie den am Atlas die Gärten der Heſperiden
hütenden hundertköpfigen Drachen. Der babyloniſche
Gott Oanes war halb Menſch, halb Fiſch und lebte im
Roten Meer. Die aus dem Mythus der alten Agypter
und Griechen bekannten Sphinxe hatten den Leib
eines Löwen und den Kopf eines Weibes.
Die Midgardſchlange der nordiſchen Mythologie iſt
ſo groß, daß ſie die Erde umſchlingt; Fenris iſt das Un-
geheuer, das, wenn es den Rachen aufreißt, den Rand
des Himmels und den Abgrund der Unterwelt berührt.
Fafner, der vatermörderiſche Sohn Hreidmars, behütet
in Geſtalt eines ſcheußlichen Drachen den Schatz und
den verderbenbringenden Ning der Nibelungen. Freyr
reitet auf einem goldenen Eber, Odin auf dem acht-
füßigen Roß Sleipner.
Der indiſche Gott Wiſchnu erſchien zuerſt in Fiſch⸗
geſtalt, ſpäter als Schildkröte, Eber, Menſchlöwe und
zuletzt als Gottmenſch Kriſchna, der den böſen Drachen
Kalinak tötet; Gott Ganeſa hat einen Elefantenrüſſel;
Darma, der Gott der Tugend, wird als Stier gedacht,
der dem furchtbaren Zerſtörer Schiwa als Reittier
dient.
Überall alſo die Vergöttlichung des Tieres und
überall neben der zarten Poeſie des Märchens die zer-
malmende Wucht der Menſchheitstragödie als Beweis
dafür, daß im religiöſen Dualismus der Naturvölker
der Dienſt des böſen Weſens, das man ſich meiſt in
ungeheuerlicher Tiergeſtalt dachte, eifriger betrieben
wurde als des guten, da vom guten Gotte nichts, vom
böſen aber alles zu fürchten war. Es iſt kein Zufall,
daß die Entartung des mittelalterlichen Dämonenglau-
bens die dichteriſche, ſchöpferiſche Kraft der Phantaſie
der Menge, die, vom ewigen Geheimnis des Werdens
und Sterbens umgeben, in völliger Unkenntnis der
Oo Von Wilhelm Fiſcher. 157
Dinge in Natur und Weltall mehr auf das Ungeheuer-
liche, Grauſenhafte reagierte, Himmel und Erde mit
allerlei, in irgend einer Form, auch im Weſen der Ver-
nichtung, gott- und damit menſchenähnlichen Un-
geheuern bevölkerte. Und von noch größeren Un-
geheuern, von Titanen und weltenumklammernden
Schlangen, dachte man ſich die Abſtammung der Götter
ſelbſt, die die Ungetüme der Urwelt ſich dienſtbar
machten, ſei es als Wächter der Unterwelt oder ge-
heimnisvoller Kräfte, wie ſie in dem finſteren Schwei—
gen des undurchdringlichen Urwaldes und der himmel-
ſtürmenden Höhe der gletſchergekrönten Alpenwelt dem
Naturmenſchen zu ſchlummern ſchienen.
Als der Götterhimmel des weltbeherrſchenden Roms
einſtürzte, da begann auch die Götterdämmerung über
Asgard, der ſtolzen Burg der nordiſchen Götter, herein—
zubrechen. Aus Pan, Zeus, Diana, Venus, aus Wotan
und ſeinen vornehmſten Göttern wurden Fürſten der
Finſternis; Satan, der Menſchenverführer, erhielt die
Attribute Pans, Hörner, Huf und Bockshaut, und das
Recht, die Menſchen in Geſtalt eines monſtröſen Bodes
oder ſonſtiger Ungeheuer heimzuſuchen. Der Götter—
könig Wotan wurde zum wilden Jäger. Ohne Kopf
auf dreibeinigen Pferden, begleitet von dreibeinigen
Hunden, durchzog er mit ſeinem ebenfalls kopfloſen
Gefolge ſein Gebiet nächtlicherweile und verbreitete
Grauen und Entſetzen. Aus den götterähnlichen
Zwergen der Edda, den neidiſchen Nibelungen der Sage,
den Nickert und Neck, wurden kleine menſchliche Un-
geheuer, die beinahe ſo groß als dick ſind, mit gräßlichem
Waſſerkopf, roten Haaren, roten Augen und mit einer
Kröte als Zunge, die böſen Zwerge im Märchen, die
ſich in allerlei Ungeheuer verwandeln konnten. Den
finſteren Urwald, die unheimlichen Gebirgstäler, die
158 menſchliche Ungeheuer in Sage und Geſchichte. 2
graufigen Höhlen und Klüfte der Alpen, die geheimnis-
volle Tiefe des Meeres bevölkerte Mythus, Sage und
das Grauen der Menſchen mit Dämonen und Un-
geheuern aller Art.
Der Glaube an die Exiſtenz der oben geſchilderten,
meiſt mit dem Rüſtzeug phantaſtiſcher, ſchrecken-
erregender Tiere 3 Ungeheuer Bene ſo feſt
1
ne Q:
. Bel Gogo be een
een. e zu Tu * en za nn
im Volke, daß ſogar die ebe des ſpäten Mittel-
alters nicht frei von ihm waren. Bernhard Waldſchmidt
ſchrieb 1660 und J. Licetus 1665 ein großes Buch über
menſchlich-tieriſche Monſtroſitäten. Desſelben Glaubens
waren auch die meiſten anderen mittelalterlichen Ge-
lehrten und Schriftſteller. Athanaſius Kircher (1601 bis
1680) verſichert, einen richtigen Meerteufel geſehen und
gehört zu haben. Th. Bartholin will ſogar eigenhändig
eine ſehr ſchöne Sirene erwürgt und abgehäutet haben.
Der Entdeckungsreiſende Monconys beteuert in feiner
„Reife in Afrika“, Männer und Weiber geſehen zu haben,
0 Don Wilhelm Fiſcher. 159
die halbe Fiſche waren. Kapitän Smith ſah 1614
bei Neu-England eine „Sirene von großer Schönheit“.
een Monflre; een e ee, ee pa
dun Yarsscae: 2 2 2 Herve Il eit apreren Mars
n. et seras bientoe a Fu, > EL RT
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Er will außerdem mit zwei Mädchen geſprochen haben,
deren Körper von einem einzigen Beine getragen wurde,
eine Mißbildung, die, wie wir ſehen werden, ziemlich oft
160 Menſchliche Ungeheuer in Sage und Gefcichte. 1
vorkommt. Auch will er rieſengroße Menſchen ohne Kopf
angeredet haben, deren Auge mitten auf der Bruſt ſaß.
Aber mit Satyrn, Sirenen, Tritonen und anderen
Seeungetümen iſt das Arſenal der ganz im Banne des
Volksaberglaubens ſtehenden mittelalterlichen Natur-
wiſſenſchaft nicht erſchöpft. Die beigefügten Vilder,
deren Verbreitung doch nur mit Billigung der dama—
ligen Gelehrtenwelt möglich war, beweiſen das.
Das vom Fahre 1598 (Bild Seite 158) zeigt ein
Küken, das ein „Menſchenhandlin auff dem Nüggen
gehabt“ und in Tübingen „den 14 Aprilis“ ausge-
ſchlüpft fein ſoll. Der Schnabelmenſch, den ein Schiffs-
kapitän des Marſchalls de la Milleraye 1600 nach
Frankreich brachte (Bild Seite 159), war längere Zeit
in Nantes ausgeſtellt. Die Überfchrift unſeres übrigens
ſehr ſeltenen Stiches lautet in der damaligen deutſchen
Überfegung: „Oiß iſt die geſtalt eines wunderbarlichen
Mißgeburths, gefunden in der Inſel Madagascar in
Africa durch einen Schiff- Capitain des Herrn Feldmar-
ſchall von Milleraye iſt gegenwärtig zu Nantes in der
Bretagny, wird aber bald zu Paris zu ſehen ſein.“
Die Hand dieſes Ungetüms zählte von der Wurzel bis
zur Spitze des Mittelfingers 29 Zentimeter, die Breite
18 Zentimeter.
In der Ankündigung wird weiter verſichert: „Diß
Wunder Wißgeburth iſt von Natur ſanfftmütig, vnd
laſſet mit ihm handlen, Redet eine beſondere Sprach,
die man nit verſtehet, man hats gelehrt das Zeichen
des heil. Creutz machen. Rath hatt man auch gehalten
mit Doctoren in der Theology und Medicin, umb zu
wiſſen obs getaufft konte werden. Dieſe haben an-
geordnet, daß man es innerhalb vier Monats zeitt ſolle
unterweiſſen. Wan in der Zeitt bey ihm vernunfft und
veritandt vermerckt wird, das man es alsdann tauffen
2 Von Wilhelm Fiſcher. 161
könne.“ Erklärlicherweiſe kam das Ungeheuer nicht aus
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getauft, da ganze Sache als Schwindel
erwies.
Anſer obenſtehendes Bild ſtellt ein werwolfähnliches
Ungetüm dar, das, wie die dem eigenartigen Stich
beigegebene Erklärung beſagt, „auß dem Caftilliani-
ſchen gebürg herausgeſprungen“, wo „es nicht wenig
1914. X. 11
162 Nenſchliche Ungeheuer in Sage und Gefhidte.e. D
Menſchen und Vieh ſelbigen landts verſchlungen und
aufgefreſſen hat, wie dann auch, bey deſſen Ertödtung
viel der hierzun Beſtellten übel ſein beſchädigt worden.
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Gleicht vornen,“ heißt es dann weiter, „einem Crocodil,
von hinten einem wilden Mann, ſo vier Arme, unten
einem Vieh gleich, vom Kopf bis (zum) halben Leib
ſchuppicht, in den Seiten ſein dieſe Buchſtaben ge—
ſtanden A ZSB. Zu End des Nüggens, gegen den
2 Von Wilhelm Fiſcher. 163
Schweiff, ſtund ein Komet, an den vorderen Pfatten
Klauen, ſehr ſcharfe Zähn, war 30 Schuh lang und
164 Menſchliche Ungeheuer in Sage und Geſchichte. ci
8 hoch, ſehr ſchnellen ungeſtümen Lauffs, wie auch er-
ſchröcklicher Stärke, hat bey ſeiner Ausrottung in alt
Caſtillien ſehr viel Bluet von ſich ergoſſen, geſchehen
im Fahr Chriſti 1665.“ Dieſes Ungeheuer gehört in
die Kategorie der im 16. und 17. Jahrhundert häufig
und zwar höchſt abenteuerlich, halb als N halb
als Tier dargeſtellten Menſchenfreſſer.
Ausnehmend phantaftifch iſt das neue, Bone Kriegs-
nöte verkündende Meerungeheuer auf Seite 162).
Der außerordentlich intereſſante Augsburger Stich hat
folgende erklärende Inſchrift: „Anno 1664 iſt diſes er-
ſchröckliche und ſehr wunderbarliche Meerwunder, in dem
Königreich Ciucanghe, gränzet an die Provintz und
Königreich China durch die Fiſcher in dem Meerhafen,
aldort in Zuſchawen viller tauſent menſchen gefangen
worden, ſo alsdann mit allem Fleiß durch gemelte
Inwohner abgeriſſen vnd anhero (wohl nach Europa?)
überſandt worden.“ Nachdem darauf hingewieſen wird,
daß der Himmel durch beſondere Zeichen, „Influenzen“
und „Monſtra“, „ſo in dieſer Figur zu ſehen“, den Krieg
verkündet, heißt es dann weiter: „Dieſer Fiſch draget
im Maul ein Kreuz, geſchuppet am Hals, auf dem
rucken ein ſtuckh (Kanone), vnd auf der ſeitten ein
ſchwerdt, vnd darunter drey Rohr, oder geſchoß, bei dem
hals zwey Standarten in der mitten durch ein helle—
bartten; mitten im bauch einen Todten Kopf, Zwey
adlers füeß mit Federn, ein Menſchen Kopf mit einer
Cron, Zwey groſſe floſſen, was diß meer wunder mag
bedeiten iſt allein Gott bekandt, uns menſchen nicht.“
Das einer Satire ähnelnde Bild Seite 163, Schwein
mit Türkenkopf, hat folgende Inſchrift: „Diſe abſcheu—
liche Mißgeburt, ſo ein Schwein inn Schonen, einhalbe
Meil von Malmo, geworffen, iſt wie ein Schwein, der
kopff wie ein Menſch, auff welchem ein Türggiſcher
2 | Von Wilhelm Fiſcher. 165
7... RIRTELERENITE
—
ets und drincks, murmelt un
| | „ Abfchewlich , ward. a befelch de
2 Königs von Hifpanien im ter Eſcarial,
f 5 de Madrit auffach Ie hehen bet N
BE a I nn
bund mit einer Federgeftalt gewachſen, hatt groſſe
ſchwarze augen und vornen lange über ſich ſtehende
166 Menſchliche Ungeheuer in Sage und Geſchichte. 2
füeße, gleich den ſchlittsſchuehen, ſehr greulich anzu—
ſehen. Anno 1664.“
Der ſiebenköpfige und -armige Faun auf Seite 165
wird wie folgt geſchildert: „Dieſes Monſtrum iſt in
Catalonien aufm Gebürg Cerdagna von den Spaniſchen
Soldaten, ſo auff ein Franzeſiſches Quartier zu mar—
ſchiert, mit geringer müh gefangen worden; bedient
ſich der 7 Köpf und Arm alle; ſcheinet eines 14jährigen
Alters; der vordere Kopf, mit eim Aug, damit iſſets
und trinks, murmelt und ſchreyet Abſchewlich; ward
auf befelch des Königs von Hiſpanien im TCloſter
Escurial bey Madrit auffgehalten, geſchehen 1654.“
Daß derartige Phantaſtereien wiſſenſchaftliche Unter-
ſtützung fanden, beweiſt ein Bericht der Pariſer „Col—
lection académique“ aus dem Fahre 1681, wonach
„aus dem Fluſſe bei Ciza ein Monſtrum gezogen
wurde“, das den Kopf eines Menſchen und den Körper
eines Kalbes hatte. In der Mitte der breiten Stirne
ſah man ein menſchliches Auge und daneben zwei große
Kalbsaugen. Der Schwanz hatte Ahnlichkeit mit dem
eines Schweines. Thomas Bartholin, nebenbei einer
der berühmteſten Arzte des Mittelalters, erzählt in
ſeinem Lehrbuch der Anatomie, daß er eine Frau ge—
kannt habe, deren Stirne mit zwei großen gekrümmten
Hörnern geziert war, deren ſie ſich nach Art der Ziegen-
böde bei Streitigkeiten bediente. Selbſt Jean Cruveil-
hier (1791187), der berühmte franzöfiihe Patho-
loge, bringt in feinem klaſſiſchen Werk über die „Patho-
logiſche Anatomie des menſchlichen Körpers“ unter
verſchiedenen, erſichtlich phantaſtiſchen Monſtroſitäten
auch das Bild eines menſchlichen Einhorns aus dem
Jahre 1599. Aus guten Gründen erſetzt auch hier trotz
der Autorität des großen Arztes das hohe Alter nicht die
Wahrſcheinlichkeit.
D Von Wilhelm Fiſcher. 167
Damit kommen wir aus dem Bereich der Sage und
Dichtung in das der Wirklichkeit und Wahrheit, von den
märchenhaften Monſtroſitäten, von denen nur die Sire-
nen und Zyklopen der Alten eine gewiſſe Berechtigung
haben, zur menſchlichen und tieriſchen Mißbildung. Die
Sage ſtreift auch hier hart an die Wirklichkeit.
Am natürlichſten erklärt ſich die Sage von den
Sirenen. Es handelt ſich hier um die Seekuh, eine dem
Ausſterben nahe Robbenart, die mit ihren menſchen—
ähnlichen Augen in der Ferne, wenn ſie den Ober—
körper neugierig aus dem Waſſer ſtreckte, den erſtaunten
Matroſen als ein richtiges Meerweib erſcheinen mußte.
Zyklopen gibt es unter den menſchlichen Mißgeburten
verhältnismäßig viele. Fr. Ahlfeld hat in ſeinem Atlas
über die Mißbildungen des Menſchen eine große Anzahl
von Fällen der Zyklopie Einäugigkeit), wie dieſe Miß
bildung wiſſenſchaftlich heißt, im Bilde feſtgehalten;
Doktor Aug. Förſter in ſeinem ähnlich betitelten Atlas
desgleichen. Von Zentauren, Satyrn, Faunen und ähn-
lichen Mißgeburten, Tieren mit Menſchenköpfen oder
Menſchen mit Tierköpfen ſchweigen unſere modernen
Forſcher.
Die moderne Teratologie, wie die Lehre von den
kißgeburten wiſſenſchaftlich heißt, hat längſt erkannt,
daß auch die Mißbildungen denſelben Geſetzen der
Entwicklung unterliegen wie der regelrecht geſtaltete
Organismus. Von den vielen Monſtra, die in alten
Chroniken, wie dem bändereichen Theatrum Euro-
paeum, in Wort und Bild beſchrieben find, iſt denn auch
in Wirklichkeit kein einziges in der alten Reichsſtadt
Nürnberg, wo man doͤch alles zur Schau ſtellte, was
einigermaßen „abſunderlich“ ſchien, ausgeſtellt worden.
Die Natsakten berichten nur von Menſchen ohne Arme,
die mit den Füßen allerhand kunſtvolle Arbeiten ver—
168 Menſchliche Ungeheuer in Sage und Geſchichte. 0
richteten, von Haarmenſchen, zuſammengewachſenen
oder mehrarmigen und mehrbeinigen Menſchen. Der
Schauſteller Vierſt ſtellte 1591 „eine Perſon mit zwölf
Fingern und Zehen und ein Schaf mit ſechs Füßen“
aus. Ferner zeigte dort 1708 Matthias Buchinger
„ein Monſtrum ohne Hände und Füße“.
Unfer Bild auf Seite 169 zeigt die armloſe Magdalena
Thumbuj aus Stockholm, die um dieſelbe Zeit ſich
öffentlich ſehen ließ. Sie ſtrickte, webte, ſchneiderte, aß,
trank, kämmte ſich, feuerte eine Piſtole ab, ſtillte ihr Kind,
legte es in Wickel. Auch der Maler Joſeph Ducornet
war ohne Arme geboren. Als Schüler Watteaus ge-
wann er ſchon in jungen Jahren die große goldene
Medaille. Im Jahre 1852 malte er das Porträt des
Bürgerkönigs für die Präfektur von Lille. Er war ein
ſo geſuchter Porträtiſt, daß er ſeiner Mutter, die ihn
mit großer Zärtlichkeit liebte, ein Landgut kaufen konnte.
Beklagenswerter ſind natürlich die verhältnismäßig
oft geborenen Rumpfmenſchen, denen Arme und Beine
fehlen, noch mehr die Einfüßler, am meiſten aber die
Monſtroſitäten mit zwei aneinandergewachſenen Kör—
pern, von denen in neuerer Zeit die ſiameſiſchen Zwil-
linge und die von Virchow unterſuchte „doppelköpfige
Nachtigall“ und andere weltberühmt geweſen ſind.
Anſer Bild Seite 170 zeigt eine den ſiameſiſchen
Zwillingen ähnliche, von Bartholin geſchilderte Miß—
geburt. Es handelt ſich hier um den Grafen Lazarus
Colloredo und ſeinen „Bruder“ Johann Baptiſt, ge—
boren 1618 von einer geſunden Mutter in Genua. Der
Paraſit hing dem Bruder, der ſich viele Jahre hindurch
in Europa ſehen ließ, an der Bruſt; er war ziemlich
ausgebildet und zeigte Spuren ſelbſtändigen Lebens,
obwohl er keine Nahrung zu ſich nahm.
Die Monſtroſität der Kopf- und Stirnzwillinge iſt
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Alfo ein os
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170 eenſch liche Ungeheuer in Sage und Geſchichte.
Welche zu Genua in Italia 1618. an diese Welt abc Und g 018 ! Vid ist; Bei
Groſſe genaunt Lasarua Coloxeda- Sraffuchen Stands: Der Aleme aber ſo dem Groſſen ny
dem Leibe gewachſen iſt auch getaufft / vnd Johann Baptiſta genaund worden. Deren Wucter
nach der Geburt 3: Jahr noch geleber. Der Oroſſe comment auch vor den Aleihen. der Se
Alleine hat ſein Leben ſo wohl als der Groſſe / doch ohe Verſtad / Stu vnd Red Sehe Yon 87
reynd nut vnder weilen offen. 1. Ar in die ſich regen. An der rechten and 3, Fingel : An der
llicken . Singer. Hat nur einen Fuß / welcher vngeſtalt / vnd nur J. Sehen dran. Die Natur
lichen Durchgang gehen durch den Groſſen. Hat Auch fein Mer mBrum 8 Dieſe Wunder 5
Geburt iſt von jedermann zu Straßburg geſehen worden im Augibnengt Anno 16 c
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Boll (Wurttembert und 1855 i im Petersburger Findel-
haus, beobachtet. Dort wurden zwei Mädchen geboren,
„die jo an den Scheiteln vereinigt waren, daß die Ge—
D Von Wilhelm Fiſcher. 171
ſichtsmittellinie des einen das Ohr des anderen trifft.
Die beiden Leibachſen bildeten einen ſtumpfen Winkel,
doch konnte man die Kinder in eine gerade Linie legen“.
Im Alter von ſechs Wochen erfolgte der Tod. Die
Boller Kopfzwillinge, die einander ſehr ähnlich ſahen,
waren ſo am Scheitel miteinander verwachſen, daß
der eine die Beine nach oben, der andere nach unten
ſtreckte. Beide lebten nur 64 Stunden.
Häufiger ſind die doppelköpfigen Monſtra, die
Dizephalen und Ischiopagen, von denen der Förſterſche
Atlas 16 und der Ahlfeldſche 28 zeigt. Den berühmten
Zweikopf, der am Anfange der Regierung Jakobs IV.
lebte, ſchildert der ſchottiſche Hiſtoriker George Buchanan
(1506-1582) als ein „Monſtrum mit zwei Köpfen und
zwei Bruſtkörben, vier Armen, einem Leib und zwei
Beinen“,
Die Sagen und Mythen von mächtigen Rieſen wie
Rübezahl und tückiſchen Zentauren wie Neſſos, von
Sphinxen und Sirenen, von Nixen und Tritonen
möchten wir trotz alledem nicht miſſen. Sie bilden das
„Salz“ unſerer Heldenlieder und Sagen, von der
Odyſſee, dem Nibelungenlied und Eſchenbachs Parzival
bis zum beſcheidenen Märchen, und erinnern an den
germaniſchen Urwald und feine Bären, Wölfe, Auer-
ochſen und Elche; an jene Zeit der Aventiuren, aus der
die „Mären“
„gar viele Wunder melden
von lobeſamen Helden
und heißem Kampf und Streit“.
—
*
Klaas Saalfens drei Bräute.
Kovellette von heinrich Tiaden.
Y
(Nachoͤruck verboten.)
ls ich noch ein ſehr junger Mann war, in jenen
Jahren, wo alle Dinge der Welt uns anlächeln,
brachten mich einſt meine Ferien aus dem geräufch-
vollen Getriebe der Großſtadt in die ſtille, weltenferne
Heimat meines Vaters. Die liegt droben auf dem
ſchmalen Landſtreifen Hannovers, zwiſchen Oldenburg
und den Niederlanden, und wenn ich es noch genauer
ſagen ſoll: zwiſchen der Ems und dem Bourtanger
Moor. Man darf mir glauben, daß eine ſolche Reife
den Menſchen zwiſchen neue Kontraſte bringt. Alles iſt
anders — die Natur, das Treiben der Menſchen, dieſe
ſelbſt. Wie in der Stadt meines täglichen Lebens alles
flutete, der Verkehr und die Menſchen, wie dort alles
lebte und beweglich war und alles Leben von einem nicht
erlahmenden Allegrotempo beherrſcht war, wo die drän-
gende Alltäglichkeit mit ihren unzähligen Geſchäften
und Verpflichtungen am Wege ſteht wie ein Poliziſt
und immerfort ſchreit: „Weitergehen, meine Herr—
ſchaften, immer weitergehen, nicht ſtehen bleiben!“
Wo alle Menſchen ſich ſo merkwürdig viel zu ſagen
haben, wo ſo unendlich viel gelacht, geſeufzt, geflucht,
nicht ebenſoviel gebetet wird! Wo gerade am Tage
meiner Abreiſe der Frühſommer feinen fchönften licht-
blauen Sonnenſchirm aufgeſpannt hatte und alles fo
2 Novellette von Heinrich Tiaden. 173
vergnügt war und ſo fröhlich, und alle Leute ausſahen,
als möchten fie gerne Flügel haben, um mit dem viel-
artigen Flügelvolk hinauszuflattern über Rhein und
Hofgarten!
Als ich nun mehr und mehr in den Norden hinein-
flog, wurde alles anders. Erſt ernſt, dann melancholiſch,
dann düſter. Und als ich endlich, nicht gar weit hinter
Meppen, dem Zug entſtieg, da trat ich in eine Welt,
die mir, dem der Lebensfreude Entflohenen, wie ein
trauererfülltes Traumland erſchien. Das Moor brannte.
Wo ich hinblickte, da erhoben ſich vom ſchwärzlichen
Boden Rauchſäulen, die in die ftille Luft ſteil empor-
ſtiegen, langſam und träge. Und in der Luft wirbelten
fie auseinander, und alles griff mit Millionen feiner
Fädchen ineinander und verwob ſich zu einem unend-
lichen grauen Geſchleier, das rings alles Firmament
bedeckte und kaum den Stand der Sonne ahnen ließ.
Und auf dem dampfenden Boden hantierten ſtumme,
langſame Menſchen, auf deren Geſichtern, ſtill und un-
beweglich, ein Ausdruck von Freudlofigkeit feſtgewachſen
ſchien. Da wurde mir ganz bänglich zumute.
Das dauerte aber nicht lange. Als ich dann in
einem Hauſe, wo alles merkwürdig eng und niedrig
und doch ſo behäbig und behaglich war und ſo feſt wie
für Ewigkeitsdauer beſtimmt, auf einer fpiegelglatt
geſeſſenen Bank hinter einem weißgeſcheuerten Eichen-
tiſch ſaß, und den Worten eines freundlichen alten
Mannes lauſchte, da wurde mir ſeltſam heimelig zu—
mute. Der alte Mann aber war mein Ohm, der leib-
liche Bruder meines Vaters. Und war auch ſein Ge-
ſicht ganz braun und ledern von der rauchigen Luft des
Moores, war ſeinen Zügen auch der ſchwere Ernſt des
Landes ſchier aufgeprägt, ſo erkannte ich in ſeinen
blauen Frieſenaugen doch ſchnell die Augen meines
174 Klaas Baalſens drei Bräute. 2
Vaters. Und das war mir wie eine Sonne in der
ſonnenloſen Fremde und etwas Trautheimatliches in
der Wirrnis, die des Landes Seltſamkeiten in meiner
Seele angerichtet hatten.
And als der alte Mann, den ich heute zum erſten
Male ſah, und der doch meines Vaters Jugendtage
miterlebt hatte, nun zu erzählen begann und mit ernſtem
Geſicht, ein ſtilles Lächeln allein in den Augen, mit
einem breiten Behagen berichtete, daß juſt auf dem
Platze, wo ich gerade ſaß, mein Vater ſchon als Wickel-
kind auf dem Schoße ſeiner Mutter geſchlummert, dann
als ganz kleines Bürſchlein in die erſten Höslein hinein-
gewachſen, im Bankwinkel mit ſchlichtem Spielzeug ge-
hockt hatte und ſpäter mit Fibel und Schiefertafel und
immer bis in des Lebens ernſte Tage hinein auf dem
Platze auf der Bank, den ich juſt innehatte, geſeſſen
hatte in den Stunden des Feiertages und bei den Mahl-
zeiten und den anderen täglichen Dingen der Häuslich-
keit — da war des ſtillen Freuens bei mir gar kein Ende,
und es ward mir zu Sinn, als hätte ich eben etwas ganz
beſonders Schönes und Herrliches erlebt.
Nun dauerte es nicht mehr lange, und ich war mit
meiner Seele auf das Seelenleben der Leute aus dem
Moor vortrefflich eingeſtellt. Ich war ſehr erſtaunt, zu
ſehen, mit wie wenigen Worten dieſe Menſchen aus-
kommen. Bei uns in der leichtlebigen rheiniſchen
Künſtlerſtadt ſprudelt und plätſchert die Rede gleich
einem glitzernden Springquell, und die Worte fallen
nur ſo wie unzählige leuchtende und ſprühende Tropfen.
Wenn ſie aber gefallen ſind, dann ſind ſie fort, keiner
weiß, wo fie geblieben. Die Worte der Moorleute da-
gegen waren gewichtig wie Backſteine. Und hinter
jedem ſtand ein wohlerwogener Gedanke. Und wie ſie
nachklangen, dieſe Worte! In allen Winkeln ſchienen
0 Novellette von Heinrich Tiaden. 175
ſie ſich feſtzuſetzen, und ihr Echo hallte noch lange durch
die Stille. . |
Da war noch einer, mit dem ich manchen Abend auf
einer einſamen Bank ſaß und vertrauliche Zwieſprache
pflog. Das war Klaas Baalſen, der Lehrer des Ortes.
Er war entſchieden der Redſeligſte der Gemeinde. Das
kam daher, daß er lange draußen geweſen war in der
Welt, wohl an die zwanzig Jahre. Und als er dann
wieder in die Heimat kam, um die Jugend des Moores
in die Wiſſenſchaften einzuführen, da hatte er von un-
zähligen Dingen zu berichten gewußt, ſo daß er ſich
mit großem Genuß und mit noch größerem Recht als
ein Aufklärer ſeiner Landsleute fühlte.
Dieſe Landsleute aber? Man ſollte es nicht glauben
— die hielten ihn für einen Schwätzer und Aufſchneider.
And als ſie ihn eine gute Zeitlang mit verkniffenen
Augen und ganz überquer angeguckt hatten, da ſagten
ſie es ihm. Da war er nicht ſchlecht erboſt, hatte ſeine
Landsleute „Kleiſtertöpfe“ genannt und ſich in Zukunft
in ſieben Sprachen ausgeſchwiegen.
Da ich mit der Abſicht ins Moor gegangen war, aus
dem mannigfachen Sagenkram jenes Volkes goldene
Schätze zu heben, hatte ich mich ganz beſonders an den
alten Klaas Baalſen herangemacht. Der war nur eine
ganz kurze Zeitlang grandig geweſen, als er aber merkte,
um was es ſich handelte, da redete er ſich das Herz
gründlich leer. Es dauerte nicht lange, da lag ſeine
Seele vor mir wie der Spiegel eines klaren Tümpels.
Was ſich aber auf deſſen Grunde für ein krauſes, felt-
ſames Leben abſpielte, das war gar nicht zu glauben;
das war die bunteſte Komödie, die man ſich nur denken
kann.
Nachdem er mir viel von Land und Leuten erzählt
hatte, kam das Geſpräch auch auf ſeine Perſon. Ich
176 Klaas Baalſens drei Bräute. 17
fragte ihn, ob er je verheiratet geweſen ſei. Da fchüttelte
er den Kopf und lächelte, halb wehmütig und halb
pfiffig.
„Alſo immer ganz allein geweſen? War Ihnen das
nicht oft ſchwer?“
„Hm — ja — “ geſtand er ein wenig zögernd. „Dann
und wann ſchon. Aber wenn ich eine Frau genommen
hätte, dann wäre es mir vielleicht immer ſchwer ge—
weſen.“
„Haben Sie alſo nie daran gedacht, eine Frau zu
nehmen?“
„Doch — dreimal.“
Er nahm die Pfeife aus dem Munde und blickte
ſinnend vor ſich hin. Dann lachte er leiſe. „Dreimal
hatten fie den Klaas Baalſen beinahe am Schopf.
Aber der Klaas Baalſen — der beißt nicht ſo leicht in
die Angel.“ f
„So — ſo. Alſo wollte man Ihnen ernſtlich an die
Freiheit?“
„Die erſte — das war die Thekla Derichſen. Drüben
in Dithmarſchen. Ich war da noch ein ziemlich junger
Kerl, Lehrer da drüben“ — er ſtach mit der Pfeifen-
ſpitze in irgend eine Himmelsrichtung — „eben im Amte.
Sie war die zweitälteſte Tochter eines fetten Bauern
im Nachbarort. Ein fixes Mädel und nicht übel von
Geſicht und Figur. Auch ſonſt nicht ohne alle Kultur.
Aber ſie hatte gelbe Augen. Kennen Sie gelbe Augen?
Ich glaube, Männer haben ſie ſelten, doch bei den
Weibern ſieht man ſie oft. Hüten Sie ſich vor den
gelben Augen! Das heißt, fie find nicht eigentlich gelb
— die Augen. Aber wenn man hineinſieht, dann
meint man, man ſähe — ja, ich weiß gar nicht, was in
der Welt ſo gelb iſt. Ich glaube aber, ich hatte mich
in die Thekla Derichjen richtig verliebt, trotz ihrer gelben
oO Novellette von Heinrich Tiaden. 177
Augen. Ich ſah das wohl, wiſſen Sie, aber ich war da
noch ein ganz junger Kerl und wußte nicht, was es
bedeutete. Aber nachher wußte ich es — und Sie
können glauben, daß ich ſehr froh war, den gelben
Augen entgangen zu ſein. Und das war ſo gekommen.“
Er ſog mit einigen kräftigen Zügen ſeine Pfeife
wieder in Brand. Dann ſchüttelte er ein paarmal ſehr
bedenklich den Kopf, als erfülle ihn die Geſchichte, die
zu erzählen er im Begriffe war, mit ſchweren Zweifeln.
Dann aber begann er — und nun kamen ihm die Worte
ebenſo zögernd heraus wie all ſeinen Landsleuten:
lieber ein paar zu wenig als eines zu viel.
„Ich hatte damals neben dem Schulhaus ein Häus-
lein für mich, auch ein Stück Land und einen kleinen
Garten. Das Land bebauten mir die Bauern, im Garten“
tat ich ſelbſt das Nötige. Die Mauer meines Gartens
war zugleich die Mauer des Friedhofs. Sie war an
vielen Stellen eingefallen, ſo daß ich aus meinem
Garten direkt in den Garten der Toten ſteigen konnte.
Nicht weit von mir entfernt wohnte in einem hübſchen
kleinen Anweſen ein junges Ehepaar, eben verheiratet.
Sie waren aus der Stadt gekommen und paßten gar
nicht zu den Bauern, die hinter ihnen her lachten und
ſich auf die Stirn tippten. Der Mann war Maler, und
die Frau machte Gedichte, und ſie lachten und ſangen
den ganzen Tag, und wo man ſie ſah und wann immer,
da gingen ſie untergefaßt. Sie verkehrten mit keinem
im Dorf — nur mit mir. Wir drei waren Freunde.“
Er nickte ſchwer und trübe vor ſich hin. Die Pfeife
war ihm wieder ausgegangen. Nun ſchob er ſie neben
ſich auf die Bank, und feine Hände legte er auf die
Knie und ſaß ein wenig nach vorne übergebeugt und
blickte irgendwohin in die Ferne. Seine Augen waren
umflort.
1914. X. 12
178 Klaas Baalfens drei Bräute. a
„Eines Tages aber brachte man den Mann tot vom
Felde nach Haufe. Er war ausgegangen, um ein Ge-
witter zu malen. Da war ein Bli vom Himmel ge-
fallen und hatte ihn erſchlagen und fein Bild verbrannt.“
Er richtete ſeinen Blick langſam auf mein Geſicht.
„Und wiſſen Sie, was dann geſchah? Als wir am
dritten Tage kamen, um den Toten zu begraben, da
fanden wir zwei Tote. Die Witwe hatte ſich aus Ver-
zweiflung ſelbſt ums Leben gebracht — mit Gift. In
einem Briefe, der bei ihr lag, bat ſie, mit ihrem Gatten
im ſelben Grabe beerdigt zu werden. Das ging aber
nicht an, ſoviel ich auch darum gebeten habe. Zu jedem
einzelnen Bauern bin ich gegangen, habe gebettelt, aber
es hat nichts geholfen. Sie war ja eine Selbſtmörderin
und wurde neben der Mauer des Friedhofs begraben,
im Winkel dicht neben meinem Garten.“
Nun erſt ließ ſein Blick mich los. Er atmete tief.
Und erſt nach einer Weile fuhr er fort.
„Glauben Sie mir, ich war immer ein guter Chriſt
und ein guter Bürger. Ich weiß, die Geſetze müſſen
ſein, und jedes Ding in der Welt muß ſeine Regel
haben. Damals aber — da bin ich mit den Geſetzen in
Widerſpruch gekommen. Ich weiß nicht, ob der liebe
Gott es wirklich nicht will, daß ein armer Menſch, der
nicht mehr leben gekonnt hat, zwiſchen die ehrlichen
Leute gelegt wird. Soweit ich den lieben Gott kenne,
iſt er gar nicht ſo ſtreng. Ich weiß, daß er ganz freundlich
ja geſagt hätte, wenn wir ihn nur hätten fragen können.
Aber die Menſchen ſind ja mit ihrem Geſetz viel ſtrenger
und verbiſſener als der liebe Gott. Der liebe Gott
würde Ausnahmen machen, die Menſchen tun es nie-
mals. Einer wie der andere — wiſſen Sie — und eine
Tat iſt eine Tat, wer kümmert ſich um die Gründe!“
Halb unwillig und halb in Bekümmernis wiegte er
u Novellette von Heinrich Tiaden. 179
den eisgrauen Kopf und verſank wieder in Schweigen.
Das dauerte ſo lange, daß ich ungeduldig wurde.
„Und das mit der Heirat?“ fragte ich.
Da blickte er mich wie aus ſchwerem Traum er-
wachend an. „Was meinen Sie —? Ach ſo — ja, die
Thekla Derichfen! Das war fo. Ich hatte verſucht, in
meinem Garten Roſen zu züchten. Aber es wurde
nichts draus. Nur ein einziger Stock wuchs an und auch
der ohne Luſt am Blühen und Gedeihen. Aber es
kamen Blätter daran und drei Knoſpen. Und die drei
Rofen, die daraus erblühen ſollten, die hatte ich der
jungen Frau meines Freundes verſprochen, denn juſt
dieſen Roſenſtock hatte ſie gepflanzt. Als nun aber die
Knoſpen aufbrachen, da lag ſie unter der Erde, nur
wenige Schritte entfernt. Damals ſtand ich mit der
Thekla Derichjen fo, daß wir beinahe einig waren. Und
an einem Sonntag kam ſie mit ihrem Vater drei
Stunden Weges zu Wagen, um ſich meine Sache an-
zuſehen. Ich zeigte ihnen das Haus, das Stück Land,
den Garten. Der Thekla gefiel's, und der Bauer, ob-
wohl er ein Fetter war, hatte nichts dawider. Und wir
waren ganz vergnügt. Als wir nun beim Abſchied durch
den Garten gingen, fiel es der Thekla ein, die drei
Roſen haben zu wollen. Da führte ich ſie zu dem Grabe
neben der Kirchhofmauer und erzählte ihr die Ge—
ſchichte von meinen Freunden und wies auf das Kreuz,
das ich ſelbſt gezimmert hatte, und das ich mit den Roſen
ſchmücken wollte, die ich der toten Frau verſprochen
hatte. Nun hätte man ja glauben ſollen, ſie hätte ein
Erbarmen geſpürt als Weib mit dem anderen Weib,
das aus Liebe in Verzweiflung und Tod geraten war.
Zumal ſie ja ſelbſt in Liebe war. Aber es kam ganz
anders. Ich ſagte Ihnen ja ſchon von dem gelben Blick.
Und als ſie mich jetzt anſchaute, da ſah ich es wieder in
180 Klaas Baalſens drei Bräute. 2
ihren Augen — ganz deutlich, ganz gelb. Und ſie lachte
ein wenig, ganz ſpitz und höhniſch, ging zum Nofenftod
— und riß die drei armen Blumen herunter. Sie
ſagte, wenn ſie die Roſen nicht haben dürfe, dann ſolle
das fremde Weib ſie auch nicht haben. Und was ich
überhaupt mit dem Weib gehabt hätte, daß ich mich ſo
drum bemühe. Da ſagte ich gar nichts. Und gleich
darauf fuhren fie fort. Am nächſten Sonntag ſollte ich.
zu ihnen kommen, um alles abzumachen wegen der
Verlobung und ſo. Ich aber ſchrieb noch am nämlichen
Abend einen Brief, daß ich die Thekla Derichfen nicht
heiraten würde und warum nicht. Bald darauf ſuchte
ich mir eine andere Stelle und kam hierher.“
„Und da gerieten Sie zum zweiten Male in die Ver-
ſuchung, Ehemann zu werden?“
„Ja, aber das war erſt zehn Jahre ſpäter.“
Er nickte nachdenklich vor ſich hin.
„Wiſſen Sie, das iſt eine ſehr ſonderbare Sache
— das mit dem Schickſal, meine ich. Da ſind Leute, die
glauben nicht an einen Schutzengel. Ich ſage nicht, daß
ich an einen Schutzengel glaube — was geht auch einen
anderen mein Glaube an! Aber das mit dem Schickſal
— das iſt wirklich 'ne ganz eigene Sache. Das Schickſal
hat den Menſchen am Zügel. Ich hab's gemerkt an
meinen Heiratsgeſchichten. Immer im letzten Augen-
blick — verſtehen Sie, wenn es hart auf hart ging.
Dann gab es mir einen Wink, daß ich noch eben ent—
ſchlüpfen konnte. So war's auch bei dem zweiten Male.
Auch die zweite war herzlos, und auch bei ihr merkte
ich es erſt im letzten Augenblick. Wir waren nämlich
ſchon auf dem Wege zur Kirche.“
„Und da find Sie noch umgekehrt?“ fragte ich un-
gläubig. |
„Ja gewiß, da bin ich noch umgekehrt. Das heißt,
2 Novellette von Heinrich Tiaden. 181
das Umkehren war mir leicht gemacht worden, denn ich
hätte ſo, wie ich war, nicht zum Altar gehen können —
als Bräutigam nicht, verſtehen Sie. Nämlich — das
Schickſal bediente ſich in dieſem Falle zu meiner Rettung
einer Ziege.“
Er ſagte das in einem Tone, als müſſe ich nun über
den Fall eine vollkommene Klarheit haben. Ich nickte
zwar, als wenn ich verſtünde, und ſagte: „Aha!“, ein
Wort, das ſehr viel und ſehr wenig ſagen kann. In
dieſem Falle ſagte es gar nichts, denn ich hatte keine
Spur einer Ahnung, worauf Klaas Baalſen mit ſeiner
Ziege hinaus wollte.
Und während Klaas Baalſen mich und ich Klaas
Baalſen anſchaute, hatte ich wohl die Augen voller
Fragezeichen, denn nun fuhr er erklärend fort: „Die
Anna Wedderkop — das war meine zweite Braut — war
die Schweſter des Lehrers von Weſtermoor. Sie be—
ſorgte ihm den Haushalt. Ich ging jede Woche zweimal
zu den Wedderkops hinüber, und dann war die Anna
immer da. Sie war nicht gerade ſchön, auch nicht
gerade jung. Aber immer ſehr freundlich. Wenn naſſes
Wetter war und ich war durchs Moor gekommen, dann
hatte ſie immer ein Paar warme Latſchen für mich in der
Ofenröhre ſtehen. Auch konnte ſie beſſer meine Pfeife
ſtopfen als ich ſelber. Das war doch etwas. Und für
den Stuhl, auf dem ich ſaß, hatte fie extra ein Kiſſen
geſtopft. Das ging ſo eine Zeitlang. Ich habe mich
nicht eigentlich in fie verliebt, aber es war mir behag⸗
lich in ihrer Nähe. Und da kam es denn ſo. Wir feierten
eine ganz ſtille Verlobung, wir beide und der Bruder.
Wir beide waren ſehr vergnügt, der Bruder aber war
ſo ſtill und gedrückt, daß ich ihn nachher leiſe fragte, ob
er mir ſeine Schweſter nicht gerne zur Frau gäbe. Da
wurde er ganz aufgeregt und verſicherte, o ja, er gäbe
182 - Rlaas Baalſens drei Bräute. a
mir die Anna gewiß von Herzen gerne, aber.. Und
er wollte noch mehr ſagen, doch da kam die Anna dazu,
und er ſagte nichts. Zwei Wochen ſpäter ſollte ich die
Anna abholen, damit wir zur Kirche gingen. Wir
mußten durchs Moor, und da es lange geregnet hatte,
lieh ich mir vom Timm Kreyer, dem Gaſtwirt, das
Wägelchen, und ſein Knecht, der junge Jan, ſollte uns
fahren. Und als wir mitten im Moor waren, die Anna
und ich im Wagen und der Jan auf dem Bode, da
hörten wir auf einmal ein arges Jammergeſchrei. Und
als wir noch ein Stück weiter gefahren waren, da ſahen
wir am Wege die junge Frieda Bürklin ſtehen, meines
Nachbars Alteſte, die ſchrie und heulte und rang die
Hände ganz gottserbärmlich. Und als wir dann heran-
gekommen waren, da ſahen wir, daß zwei Meter vom
Wege im Schlamm eine große, ſchöne Ziege ſteckte, die
war am Sinken. Die Frieda hatte die Ziege von
Nebelungs Hof — drüben überm Moor, eine halbe
Stunde vom Ort — geholt, und da hatte das dumme
Tier einen Sprung getan, der Frieda war das Leitſeil
entglitten, und das Tier ſtak im Sumpf und war ver-
loren, wenn wir nicht ſchleunigſt eingreifen würden.
Nun hätten Sie wohl geglaubt, die Anna Wedderkop
hätte am liebſten ſelbſt mit zugegriffen, als ſie den
Jammer des armen Mädchens ſah. Ich ſage Ihnen,
Sie irren ſich. Sie wurde ganz wild, als ſie ſah, wie der
Jan und ich vom Wagen ſprangen. Sie ſtak eben ſchon
bis über die Ohren im Hochzeitmachen drin, ſo daß ſie
über die Störung ganz grün und gelb vor Zorn wurde.
Wenn das dumme Ding ihre Ziege habe ins Moor
laufen laſſen, ſo ſolle ſie ſie auch wieder herausholen
— und ich ſolle doch an meinen guten, ſchwarzen Anzug
denken — und ich müſſe bedenken, daß der Herr Pfarrer
auf uns warte. Worauf dann ich ſagte, der Pfarrer
u Novellette von Heinrich Tiaden. 183
habe zehn Jahre gewartet, nun könne er auch noch
eine Stunde länger warten. Und dem ſchwarzen Anzug
mache das nichts aus. Und übrigens ſei die Frieda
Bürklin die Tochter meines lieben Nachbars, der ich
unter allen Umſtänden in der Not helfen müſſe. „Aha,
die liebe Tochter des Nachbars!“ meinte ſie ganz ſpitz
und ſpießte das arme Ding mit ihren Augen bald auf.
„Alſo daher der Eifer!“ Und da ſie ſehen mußte, daß
die Frieda ein ſauberes Mädel war und jung und friſch,
wurde ihre Naſe immer ſpitzer und ihr Geſicht immer
gelber. Es ſah nun ganz alt und häßlich aus. Na, ich
kümmerte mich nicht um ihr Flennen und Keifen, wir
machten uns an die Arbeit und zogen die Ziege richtig
aus dem Schlamm. Das war aber nicht ſo ganz ein-
fach, wir wurden ſo dreckig wie die Moorgräber, und
von Weiterfahren konnte gar keine Rede mehr fein.
Da heulten denn nun beide Frauenzimmer, die eine
vor Freude und Dankbarkeit, die andere aus Grimm
und Ärger, Wir find dann wieder auf den Wagen ge-
ſtiegen und weitergefahren. Aber nicht zur Kirche, ver-
ſtehen Sie. Ich hatte dem Jan heimlich zugewinkt und
mit den Augen gepliert, und da hat er auch gewinkt
und mit den Augen gepliert, denn er hatte mich richtig
verſtanden. Und wir drehten ganz ſachte um und fuhren
nach Weſtermoor zurück. Und wie auch die Anna
Wedderkop heulen und keifen mochte, ich ſagte gar nichts
und ſetzte fie am Haufe des Bruders wieder ab. Der riß
die Augen nicht ſchlecht auf. ‚Wie, ſchon wieder da?“
fragte er. „Ja, kannſt ſie behalten, die Anna,“ ſagte ich
und ſagte ihm dabei warum. Dieweil war aber die
Anna vom Wagen geſprungen und ins Haus geſauſt
wie ein Satan. Draußen hörten wir die Türen knallen.
Da ſagte denn der Bruder weiter nichts als die Worte:
„So — ſo, na — dann muß ich ſie eben behalten.“
184 Klaas Baalſens drei Bräute. Oo
Und er gab mir die Hand, und ich fuhr wieder nach
Hauſe, hing den ſchwarzen Anzug wieder in den Schrank
— und da hängt er noch.“
Ich blickte ihn an und hätte am liebſten laut heraus-
gelacht. Aber ich bezwang mich, denn ich kannte die
Geſchichte von der dritten Braut ja noch nicht.
„Ja — und dann?“ fragte ich nach einer Pauſe.
„Ja — und dann —“ wiederholte er meine Worte
und ſtrich mit einem ganz kleinen Schmunzeln über
ſeine ſtoppeligen Wangen. „Dann kam die Geſchichte
mit der dritten. Es waren aber inzwiſchen wieder zehn
Jahre vergangen. Die dritte, das war die Geſine
Kaarſtens, die Witwe unſeres Küſters. Sie ruhe in
Frieden. Ich habe ſie nicht gekriegt, weil ich die beiden
anderen nicht gekriegt habe.“
„Wie,“ ſagte ich, „das klingt ſonderbar! Ich ſollte
meinen, wenn Sie eine von den beiden anderen oder
gar alle beide bekommen hätten, ſo hätten Sie doch
vermutlich die dritte um ſo weniger bekommen.“
Klaas Baalſen ſchüttelte nachdenklich den Kopf.
„Sie mögen damit vielleicht nicht unrecht haben, aber
ich habe doch recht. Weil ich vor der Thekla Oerichſen
und der Anna Wedderkop bewahrt geblieben bin, habe
ich die Geſine Kaarſtens nicht gekriegt. Sie werden das
ſchon noch einſehen.“
„Na, denn los!“
„Kaarſtens, unſer Küſter, war ein ſehr ſtiller Mann
geweſen und gar nicht ſehr luſtig. Wenn er ganz be-
ſonders aufgeräumt war, dann ging er in ſeinem
Stübchen auf und ab und fang das Nequiem. Für die
anderen aber war das gar nicht erfreulich, denn er ſang
nicht ſchön. Bei den hohen Tönen krähte er wie ein
Hahn. Sie können ſich denken, daß auch ſeine Frau
nicht ſehr luſtig war. Wenn ſie beſonders fröhlicher
5 Novellette von Heinrich Tiaden. 185
Stimmung war, dann ſaß ſie am Fenſter und ſang das
Lied „Tränen hab' ich viele, viele vergoſſen'. Ich
glaube, ſie konnte nur das eine Lied. Wenn in der
Kirche die Gemeinde fang, dann habe ich ſie oft be-
obachtet, und nach der Bewegung der Lippen zu
urteilen, fang fie nie etwas anderes als ‚Tränen hab'
ich‘ und fo weiter. Eines Tages ſtarb der Küſter. Ganz
plötzlich ſtarb er, denn er hatte am Abend zuvor noch
das Requiem geſungen. Aber es mußte da ſchon nicht
ganz richtig mit ihm geweſen ſein, denn er hat es viel
zu hoch geſungen und ſchrecklich dabei gekräht. Na, da
war denn nichts zu machen, der Küſter war tot, und die
Geſine mußte zuſehen, wie ſie zurechtkam. Ich hab'
ihr dabei, fo gut ich es konnte, geholfen. Ich war in-
zwiſchen — Sie dürfen mir's glauben — ein ſehr ver-
nünftiger Mann geworden, der ſich nicht mehr ſo leicht
mit Heiratsgeſchichten fangen läßt. Aber eines Tages
ſaß ich doch in der Falle. Mit all ihrem Gerede und
Getue hatte ſie mich ſo weit gebracht, daß ich mir ſagte,
zu zweit ſei am Ende doch beſſer hauſen als immer ſo
allein. Und die Geſine Kaarſtens ſei doch eine ſo nette,
zutuliche Perſon — zwar ein bißchen trübſelig, doch
gar nicht leichtſinnig. O nein, Herr, ſie war wirklich
nicht leichtſinnig. Wir würden ein ſehr ruhiges und ver-
nünftiges Ehepaar werden — ſo ſprach ich damals zu
mir ſelber. Hätte ich es nur zu mir ſelber geſprochen,
ſo wäre weiter nichts dabei geweſen. So was kann
man immer widerrufen. Aber ich hab's auch der Geſine
geſagt, nachdem wir ſo eine gute Zeitlang Freunde
und gute Nachbarn geweſen waren. Sie hat's mir
appetitlich genug gemacht. Und nun ſollte man fagen,
ſie wäre mir ſozuſagen um den Hals gefallen als glück—
liche Braut — wie es dann ſo geht. Aber nein. Sie
guckte mich ſo recht trübſelig von unten herauf an, ſo
186 Klaas Baalſens drei Bräute. 1
daß ich glaubte, fie wolle fingen „Tränen hab' ich viele“
und ſo weiter. Aber das tat ſie nicht. Sie ſagte nur,
und zwar mit einem tiefen Seufzer: ja, das täte ſie
ja wohl. ganz gerne, aber — ich ſollte ihr doch noch mal
die Geſchichte von meiner erſten Braut erzählen. Das
tat ich denn auch und vergaß nicht das geringſte. Und
darauf ſeufzte ſie noch einmal und ſagte: ja, ſie möchte
ja gewiß wohl, wenn nur nicht der Geiſt der toten Frau
und der Thekla Derichſen zwiſchen uns ſtünde. Ich war
erſtaunt, Herr, wahrhaftig, ich war einigermaßen er-
ſtaunt. Und ich ſagte, ſie ſolle das doch nur ja nicht
denken, denn mit der toten Frau hätte ich nicht das
geringſte gehabt, was fie veranlaſſen könne, ihren Geift .
ſpukenderweiſe zwiſchen unſeren Ehebund zu ſchicken.
Und die Thekla Oerichſen habe einen fetten Geeſtbauern
geheiratet und habe ſechs Kinder. Worauf dann ſie
wieder ſagte und ſchwer mit dem Kopf ſchüttelte: ſie
hätte über die Sache ihre ganz beſonderen Gedanken
und wolle ſich das noch mak vier Wochen lang über-
legen. Na, ich war kein junger, ungeduldiger Liebhaber
mehr, ich war damit einverſtanden und ſprach vier
Wochen lang nicht mehr von der Sache. Dann aber
fragte ich ſie, ob ſie ſich jetzt entſchloſſen habe. Ja, ſagte
ſie, ſie wolle es wagen. Und die Verlobung ſollte dann
in vier Wochen ſein. Schön. Als aber nun die vier
Wochen herum waren und es mit der Verlobung los-
gehen ſollte, da ſagte ſie, ja, ſie möchte ja wohl, aber.
— ich ſollte ihr doch vorher noch mal die Geſchichte
von der zweiten Braut erzählen. Da erzählte ich ihr
denn auch dieſe Geſchichte nochmals, ohne auch nur das
geringſte auszulaſſen, und mußte zu meiner Betrübnis
auch beifügen, daß die Anna Wedderkop inzwiſchen
eines ſeligen Todes verſtorben ſei. Da ſchüttelte ſie
äußerſt bedenklich den Kopf und ſeufzte ſehr tief und
' Novellette von Heinrich Tiaden. 187
— — —
fragte, ob ich denn ſo ganz ſicher ſei, daß der Geiſt der
armen Anna Wedderkop ſich nicht zwiſchen unſere Ehe
drängen würde. So was käme bei verlaſſenen Bräuten
ſehr oft vor, die im Gram ihres Herzens dahinwelkten
und am gebrochenen Herzen ſtürben. Ich ſprach ihr
aber Mut zu und verſicherte, daß die Anna Wedderkop
durchaus nicht an gebrochenem Herzen, ſondern an
einem Karbunkel geſtorben wäre. Auch ſei ſie durchaus
nicht elend dahingewelkt, ſondern gerade in der letzten
Zeit ihres Lebens ſehr rundlich, um nicht zu ſagen fett
geweſen — Beweiſe ihres ungeſtörten Wohlbefindens.
Außerdem habe ſie mir längſt verziehen. Geſine aber
ſeufzte nur noch tiefer und ſagte, darüber denke und
fühle ſie als Frau ganz anders, und ſie möchte doch noch
eine kleine Bedenkzeit — ſo an die ſechs Wochen —
haben, worauf wir dann, wenn Gott es wolle und
ſie ſich dazu entſchließen könne, getroſt Verlobung feiern
wollten. Nun ſehen Sie, Herr, ich ſagte ſchon, daß ich
dazumal durchaus kein ungeduldiger Liebhaber ge-
weſen ſei. Ich war wirklich ſehr geduldig und von
ruhigem Gemüt. Aber ich muß ſagen, daß ich erboſt
war und das Heiraten zum Teufel wünſchte. Aber es
war ja doch einmal abgemacht, und nach ſechs Wochen
fragte ich, wie ſie ſich entſchloſſen hätte. Und da ſagte
ſie, wenn es denn ſein müſſe, dann wollten wir in
Gottes Namen Verlobung feiern. Aber — ſie habe eine
Schweſter in Düfterwalde, die ſtände ganz allein auf der
Welt, und die müßten wir zu uns ins Haus nehmen.
— Na, Herr, Sie können ſich denken, mir war's ſchon
reichlich genug an der einen — und — kurz, ich ſagte,
daß mir das ganz und gar nicht gefiele. Da wurde ſie
ſpitzig und ſagte, die Schweſter ſei ihr einziger Troſt
auf der Erde, und lieber wolle ſie dann mit ihrer
Schweſter zuſammenziehen, da ſie ja vom Heiraten
183 Klaas Baalfens drei Bräute. 0
— wie ich ja wohl wüßte — nicht viel hielte. Das war
aber gelogen, denn ſie hat mir unmenſchlich viel Brei
ums Maul geſtrichen, ehe ich das bewußte Wort ge-
ſprochen hatte, das ich beſſer zu mir allein geſprochen
hätte — von wegen dem leichteren Widerruf, verſtehen
Sie. Und ſehen Sie, jetzt kam wieder der Schutzengel
— oder das Schickſal, wenn Sie wollen, das mich rettete
im letzten Augenblick. Denn als ſie ſagte, ſie hielte
überhaupt vom Heiraten nichts, da tat ſie noch einen
beſonders tiefen Seufzer dazu und ſagte, ſie habe ihrem
lieben Seligen auf dem Sterbebette ſo halb und halb
verſprochen, keinen anderen Mann mehr zu nehmen.“
Er blickte mich triumphierend an und nickte und
lachte äußerſt verſchmitzt.
„Aha!“ ſagte ich und lachte ebenfalls ſo verſchmitzt,
als ich es vermochte, „und Sie darauf?“
„Hähähä —ja — und ich darauf? Ich ſagte, wenn
das ſo wäre, das mit dem ſeligen Küſter, dann ſollte der
liebe Gott mich in Gnaden bewahren, daß ich die
Grabesruhe des Verſtorbenen weiter ſtörte. Und ich
wolle gewiß dann weiter nicht mehr in ſie dringen, da
ja doch der Geiſt des Küſters ſtändig zwiſchen unſerem
Eheglück ſtehen würde.“
Er lachte abermals leiſe und voll des größten Ver-
gnügens vor ſich hin. Dann nahm er ſeinen Kinnbart
zwiſchen beide Hände und drehte daran, als ſei es ein
Korkzieher, und ſeine Augenbrauen zog er ganz in die
Höhe, ſo daß die Stirne ſich in tauſend Fältchen zer-
knitterte. Und, ‚er beugte fich ein wenig zu mir herüber
und meinte: „Aber damit war ich ſie noch nicht los.
Zuerſt ließ ſie die Schweſter fahren. Wenn es denn ſein
müßte, dann wolle ſie in Gottes Namen auch mit mir
allein wohnen. Und um die abgeſchiedene Küſterſeele
brauche ich mir durchaus nicht den geringſten Kummer
2 Novellette von Heinrich Tiaden. 189
zu machen, fie wolle das ſchon ganz allein auf ſich neh-
men. Und wenn ich es denn mit Gewalt ſo wolle, dann
könnten wir ja noch heute Verlobung feiern und über
vier Wochen Hochzeit. Und wenn es nicht anders ginge,
dann wäre fie mit allem einverſtanden, und es folle
alles ſo gemacht werden, wie ich es haben wollte. Und
das letzte geſchah denn auch, denn ich wünſchte nichts
anderes, als daß ſie in ihrem und ich in meinem Hauſe
bliebe. So kam's denn auch. Es hat ihr gar nicht ge-
fallen, aber wenn ich einmal ſcheu bin, dann bin ich's
gründlich.“
„Hat ſie keinen anderen Mann genommen?“
„Sie hätt's vielleicht getan, aber es war keiner zu
haben. Sie hat noch ein paar Jahre lang geſungen
„Tränen hab' ich“ und ſo weiter — dann hat der liebe
Gott fie zu ſich genommen. Und da war fie beſſer auf-
gehoben als in meinem Hauſe.“
„Und das Alleinſein fällt Ihnen niemals ſchwer?“
fragte ich nach einer Weile — und damit waren wir
am Ausgangspunkt unſeres Geſpräches wieder ange-
langt.
Und wieder, wie im Anfang, wurde ihm die Ant-
wort nicht ganz leicht. „Ja — doch — manchmal. Das
dauert aber nie lange. Wenn ich dann ſtillſitze und
meine Pfeife rauche und über den Lauf der Welt nach-
denke und über die Vergangenheit und darüber, wie
es wohl wäre, wenn es gekommen wäre, wie es leicht
hätte kommen können — ach, dann bin ich herzlich froh
und zufrieden, daß mich weder die Thekla noch die
Anna noch die Geſine erwiſcht hat. Und ſie hätten mich
erwiſcht, wenn nicht immer im letzten Augenblick der
Schutzengel — Aber daran ſcheinen Sie ja nicht zu
glauben. Macht aber nichts. Hab' übrigens auch
gerade genug geſchwätzt heute abend.“
190 Rlaas Baalſens drei Bräute. DB
Er erhob ſich ſchwer und rieb fich die ſteifgeſeſſenen
Glieder.
„Alt wird man und hart in den Gelenken,“ murmelte
er und griff nach ſeiner längſt erkalteten Pfeife. Dann
ſchnupperte er mit der Naſe in der Luft. „Om — im
Moor wird's Sommer. Wie warm der Wind geht!
Und ſehen Sie, da kommt wahrhaftig der Mond aus
dem Rauch.“
Wirklich hing drüben über der Ebene der Mond
— nicht viel anders als ein großer, runder, gelber
Schinken im Rauch. Ein ſteifer Wind wehte übers
Moor und trieb den grauen Dunſt in langen, ſchrägen
Fäden vor ſich her. Eine ganz ſeltſame Bewegung
war in die träge Maſſe gekommen. Die Luft war faſt
klar.
Klaas Baalſen reichte mir die Hand und blickte mich
unſicher an. „Morgen wollen Sie alſo wieder abreiſen.
Hm — ich hab' wirklich heute abend verwünſcht viel
geſchwätzt. Aber nun kann ich wieder lange Zeit
ſchweigen. Die Leute hier herum — man kann ihnen
keine drei Worte aus dem Halje ziehen. Sie ſitzen auf
ihren Mäulern. Die reinſten Kleiſtertöpfe.“
Er nickte mir noch einmal zu und ging.
Ich blickte ihm nach, bis er in dem ziehenden Ge—
ſchleier verſchwunden war. Dann ging ich zum Hauſe
meines Ohms. Und in meiner Seele war eine ſtille
Heiterkeit über den alten Klaas Baalſen, der drei Bräute
gehabt, und den doch keine erwiſcht hatte,
—
Tg ger“
* *
Einiges vom Rino. a
von Reinhold Ortmann.
Mit 12 Sildern. * nachdruck verboten.)
lorreich hat der Kinematograph ſeinen Siegeszug
durch die Kulturwelt unſeres kleinen Planeten
vollendet; alle Stände und alle Lebensalter hat er ſich
erobert; Tauſende von mehr oder weniger prunkhaften
Paläſten ſind ihm errichtet worden, und ungezählte
Millionen, die zu ihrem größeren Teil aus den Taſchen
der Unbegüterten fließen, werden ihm Jahr für Jahr
geopfert.
Wir müſſen fürwahr in einem ſehr glücklichen Zeit-
alter leben — denn wir ſind geworden wie die Kinder.
Ob Rutſchbahn oder Rieſentoboggan, ob Guckkaſten
und Lebensrad oder Kino — es bleibt im Grunde
dasſelbe kindliche Vergnügen. Und darin, wenn wir
endlich einmal ehrlich ſein wollen, liegt doch ſchließlich
das ganze Geheimnis des ungeheuren, welterobernden
Erfolges. Es iſt beinahe rührend, zu ſehen, wie ſelbſt
die ernſthafteſten Leute ſich abmühen, die Vorführung
lebender Photographien in die Sphäre der reinen
Kunſt zu erheben und ihr äſthetiſche Geſetze vorzu-
ſchreiben, bei deren Beobachtung der Kinematograph
nach ihrer Meinung mit der Zeit zum ebenbürtigen
Rivalen, wenn nicht zum triumphierenden Beſieger der
wirklichen Schaubühne werden muß.
Im Schweiße ihres Angeſichts und gegen fchwin-
192 Einiges vom Kino. 2
delnd hohe Honorare quälen ſich gefeierte Dichter, geijt-
reiche Dramaturgen und geniale Regiſſeure mit der
Löſung des großen Problems, das Drama endgültig
von dem läſtigen Vallaſt des geſprochenen Wortes zu
befreien und der bisher viel zu gering eingeſchätzten
Grimaſſe endlich zu ihrem Rechte zu verhelfen. Die
Tiefe des Gedankens und die Schönheit der Sprache,
von denen unſere naiven Vorfahren ſo viel Aufhebens
machten, ſind nunmehr glücklich als die kümmerlichen
Notbehelfe erfindungsarmer Dramatiker entlarvt wor—
den; an die Stelle der maßvollen ſchauſpieleriſchen
Geſte und der weiſen Beherrſchung der Rede iſt zur
Freude des kunſtliebenden Publikums die tauſendmal
ausdrucksfähigere Gebärdenſprache des Zirkusclowns
und des Taubſtummen getreten. Mit erſtaunlicher
Schnelligkeit haben wir gelernt, die ganze Skala menſch-
licher Empfindungen von mehr oder weniger ver-
zerrten, blutloſen Geſichtern zu leſen und das Ge—
ſchlenker hüllenloſer Arme und Beine in erſchütternde
ſeeliſche Vorgänge umzudeuten.
Eine Reihe unſerer beſten Autoren hat durch die
„Verfilmung“ ihrer älteren Werke mit bewunderungs-
würdiger Selbſtverleugnung den Nachweis geliefert,
daß die Pantomime ein vollkommen zureichendes Aus-
drucksmittel für die Erzeugniſſe ihres dichteriſchen Ge-
nius iſt. Und es haben ſich ſogar ſchon vorurteilsloſe
Leute gefunden, die ſich den Meiſterwerken der Weltlite-
ratur mit dem kinematographiſchen Aufnahmeapparat
zu nahen wagten.
Sie haben freilich kein rechtes Glück gehabt. Was
bei etlichen Erzeugniſſen modernen Oichtergeiſtes noch
zur Not gelang, bei Shakeſpeare und Schiller führte
es zu einem kläglichen Fiasko. Bei dem gefilmten
„Hamlet“ langweilten ſich die Zuſchauer tödlich, und
0 Don Reinhold Ortmann. 193
die „Räuber“ wurden zu einem wüſten Spektakelſtück.
Vielleicht würde es ſogar bei Goethes „Fauſt“ trotz der
ergreifenden Kerkerſzene und der wunderbaren Aus-
1914. X. 13
N
Schauſpielſzene aus „Hamlet“,
194 Einiges vom Kino. 1
ſtattungseffekte der Walpurgisnächte eine ähnliche Ent-
täuſchung geben. Hat doch ſelbſt der „Don Quichotte“
eines gewiſſen Cervantes, all ſeiner grotesken Komik
ungeachtet, in der erhofften Wirkung gänzlich verſagt.
Man iſt alſo mit dem von allen Seiten ſo nachdrück—
lich geforderten „literariſchen“ Film doch vielleicht nicht
ganz auf dem rechten Wege. Und die krampfhaften Be-
mühungen, das Kino zu etwas „Höherem“ zu machen
als zum unterhaltenden Spiel, könnten ſeiner Welt-
herrſchaft vielleicht ſogar eines Tages recht gefährlich
werden. Denn noch gibt es immerhin eine recht er-
hebliche Anzahl von Leuten, die das Wort in der Oicht-
kunſt für ſchwer entbehrlich halten, und die der Meinung
ſind, daß die Pantomime nur auf einem ganz beſtimmt
und ziemlich eng umgrenzten Gebiet ihre Daſeins-
berechtigung hat. Erſt wenn man in geziemender Be—
ſcheidenheit zu dem Standpunkt zurückgekehrt ſein wird,
auf dem die vielgetadelten erſten Filmerzeuger ſtanden,
zu dem Standpunkt nämlich, daß das Kino nichts
anderes ſein kann und ſein ſoll als flüchtige Augenluſt,
als ein harmloſes Gaukelſpiel ohne tiefere Bedeutung,
erſt dann wird man mit neuen und verheißungsvollen
Entwicklungsmöglichkeiten dieſes an ſich gewiß recht
hübſchen und ergötzlichen Spielzeugs für Erwachſene
rechnen dürfen.
Aber — wird man vielleicht einwenden — wir ſind
ja eben im Begriff, einen großen Schritt vorwärts zu
tun; wir werden ja binnen kurzem den „ſprechenden“
Film haben. Ja, wir haben ihn eigentlich ſchon, denn
der geſchäftige Herr Ediſon hat es bereits erfunden,
das „Kinetophon“, bei dem Gebärde und vernehmliches
Wort ſich fo vollſtändig decken, daß die FIlluſion, leben-
dige Menſchen vor ſich zu haben, geradezu überwälti—
gend wird.
Don Reinhold Ortmann.
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Die FIlluſion? Ach, nein! Ich habe mir die Vor-
führungen des neuen Ediſon-Kinetophon angeſehen,
und ich muß bekennen, daß ſelbſt die jämmerlichſte Un-
196 Einiges vom Kino. 1
zulänglichkeit eines Kinodarſtellers, ſelbſt die plumpſte
Anbehilflichkeit der ſzeniſchen Behelfe nicht fo illufions-
feindlich wirken können wie dieſe phonographiſche Be-
gleitung, die uns unaufhörlich ins Gedächtnis ruft, wie
weltenweit dieſe ſchemenhaften Akteure auf der flim-
mernden Leinwand von lebendiger Wirklichkeit ent-
fernt ſind. f
And ſoll uns der Phonograph am Ende gar dazu
verhelfen, nun auch das Dichterwort mit dem Kino-
drama zu verbinden — mit dieſem Drama, deſſen Vor-
gänge ſich in einem ganz anderen Tempo abſpielen
müſſen als auf der Bühne, und das zu einem gräßlichen
Unding werden müßte in demſelben Augenblick, wo es
etwa unverändert von den weltbedeutenden Brettern
auf die Projektionsleinwand übertragen würde? Nur
der Unbefangene, dem das Weſen der dramatiſchen
Dichtung und der Schauſpielkunſt ein ſiebenmal ver-
fiegeltes Buch iſt, kann ſich ſolcher Täuſchung hingeben.
Schon der ernſtlich unternommene Verſuch müßte den
Anfang vom Ende der Kinoherrlichkeit bedeuten.
Aber das Kino hat, wie geſagt, zu ſeinem Glück den
Dichter gar nicht nötig, um ſich zu behaupten und ſich
weiterzuentwickeln. Das ſchönſte Ziel, das es ſich
ſtecken könnte, wäre ohne allen Zweifel der gänzliche
Verzicht auf die Vorführung dramatiſcher Szenen von
ausgeſprochenem Schauſpiel- oder Luſtſpielcharakter.
Die außerordentliche techniſche Vervollkommnung der
Aufnahmeapparate und die teilweiſe bis zur höchſten
Virtuoſität ausgebildete Geſchicklichkeit der Operateure
ermöglichen, wie zahlreiche Beiſpiele beweiſen, land—
ſchaftliche, ethnoͤgraphiſche und naturwiſſenſchaftliche
Aufnahmen, die in demſelben Maße unterhaltend wie
anregend und belehrend wirken. Aber der geringe
Erfolg gerade dieſer Filme, auch der allerſchönſten und
2 Von Reinhold Ortmann. 197
künſtleriſchſten unter ihnen, beweiſt freilich auf das
ſchlagendſte, daß damit der Geſchmack der großen
Maſſe nicht getroffen iſt. Die „belehrenden“ Spiel-
zeuge pflegen bei Kindern eben nicht in beſonderer
Gunſt zu ſtehen, und man darf nun einmal nicht ver-
r R — WENENEZEEIE — — —
|
Bi
Der Rampf Air dem Telegraphendraht.
geſſen, daß der Kinematograph noch nichts Beſſeres iſt
als ein Spielzeug für große Kinder. se
Bleibt alſo als unerläßlich die Darſtellung von
irgendwie „packenden“ Szenen aus dem Leben. Das
Nächſtliegende war ſelbſtverſtändlich das humoriſtiſche
Genre. Und wir können uns wahrlich nicht darüber
198 Einiges vom Kino. 2
beklagen, daß es von den Filmerzeugern ſtiefmütterlich
behandelt worden wäre. Wir alle haben über die
Kinoclowns Max Linder, Prince und ſo weiter Tränen
gelacht, und da Lachen bekanntlich die geſündeſte aller
körperlichen Betätigungen iſt, ließe ſich gar nichts da-
gegen einwenden, wenn dieſe inzwiſchen etwas „über—
lebten“ Herren und ihre Ideenlieferanten gleichwertige
Nachfolger fänden. Aber der Kinematograph arbeitet
raſch, und er iſt auf draſtiſche Wirkungen angewieſen.
Eine zwei Stunden lang anhaltende Häufung ſolcher
Wirkungen könnte auch der ſtärkſte Magen nicht ver—
u Von Reinhold Ortmann. 199
tragen, und Abwechſlung iſt die Würze des Ge—
nuſſes.
Darum ſetzte man neben den Scherz den Ernſt, und
zwar, wie ſich's für ein naives Publikum gebührt,
gleich in ſeiner düſterſten und ſchrecklichſten Geſtalt. Auf
den zwerchfellerſchütternden Max, der aus einer luſtigen
Bedrängnis in die andere taumelt, folgten der nacht
ſchwarze Intrigant und der blut-
dürſtige Mörder, folgten die un-
glückliche, von Gott und Welt
verlaſſene Waiſe, die verzweifelte
Mutter am Sterbebett ihres
Kindes, der hartherzige Vater
und die grauſam verſtoßene
Tochter. Grauſen und Mitleid
zerrten im angenehmſten Wechſel
an den Nerven des Zuſchauers,
und die Notwendigkeit ſteter
Steigerung zwang die Kinos
regiſſeure und Schauſpieler zu
immer gewaltigeren Leiſtungen.
Man mußte für Verfolger und |
Verfolgte Situationen von nie =
dageweſener Schrecklichkeit er- Die Heldin auf dem
finden, wenn man noch eine Leuchtturm.
Wirkung auf das raſch abgeſtumpfte Publikum her-
vorbringen wollte.
Der Beruf des echten Kinodarſtellers hat deshalb
ſchon längſt aufgehört, bequem und vergnüglich zu
ſein. Feuer und Waſſer dürfen ihn nicht ſchrecken, er
muß ſich hoch droben in den Lüften ebenſo furchtlos
bewegen können wie unten auf der ſicheren Erde, muß
auf einem durchgehenden Pferde reiten, aus einem
führerlos dahinraſenden Automobil ſpringen können —
200 | Einiges vom Kino. a
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kurz, er muß über alle Fähigkeiten und die ganze Un—
erſchrockenheit eines richtigen Akrobaten verfügen. Der
auf einem Telegraphendraht ausgefochtene Fauſtkampf,
Der Hydroplan als Lebensretter.
201
Von Reinhold Ortmann.
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das langſame Verſinken im
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Brücke auf den Schornite
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den Dampfers oder das Dach e
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durchpaſſ
eines
202 Einiges vom Nino.
raſchfahrenden Eiſenbahnwagens gelten heutzutage
ſchon für ziemlich unbedeutende Leiſtungen, und wirk-
lich geſucht ſind nur ſolche „Schauſpieler“, die erheblich
Schwierigeres vollbringen können.
Da lebt zum Beiſpiel in England oder Amerika eine
Miß Marie Pickering, die in der Luft ebenſo zu Haufe
iſt wie im Feuer oder im Waſſer. In einem Film
„Durch die Wolken“ war ihr die gewiß nicht ganz
leichte Aufgabe geſtellt, aus einem Aeroplan zu ſpringen
und im Fall das von einem Freiballon herabhängende
Seil zu ergreifen, um daran in die rettende Gondel
emporzuklettern. Sie machte unter den gebotenen
Sicherheitsvorkehrungen erſt eine kleine Reihe von
Verſuchen, um das Kunſtſtückchen dann ohne alle
Schutzmaßnahmen in einer Höhe von zweihundert
Metern über dem Erdboden kaltblütig und mit beſtem
Gelingen auszuführen.
Auch mit der ſzeniſchen Aufmachung der Senfations-
filme haben es die Regiffeure nicht mehr fo leicht wie
noch vor wenig Jahren. Damals konnte man mit Hilfe
von Spielzeugeiſenbahnen die ſchönſten Entgleiſungen
und Zuſammenſtöße vortäuſchen, heute muß man ſich
dazu richtige, ausgediente Lokomotiven kaufen. Und
wenn, wie es kürzlich einmal nötig war, ein Automobil
„explodieren“ ſoll, tut es nicht mehr wie einſt ein
Miniaturmodell, ſondern man muß wohl oder übel
einen richtigen Achttauſendmarkwagen opfern.
Was über die Znſzenierungskünſte und Inſzenie-
rungskoſten des Gerhard- Hauptmann-Films „Atlantis“
erzählt wird, grenzt ſchon ans Fabelhafte. Aber es iſt
auch freilich keine Kleinigkeit, dem behaglich in ſeinem
Seſſel ſitzenden Zuſchauer den Zuſammenſtoß eines
von fünfhundert Paſſagieren beſetzten Rieſendampfers
mit einem Wrack und ſeinen Untergang mit allem Zu-
u Von Reinhold Ortmann. 203
behör an ſchrecklicher Panik, über Bord ſpringenden
Reiſenden und ſo weiter ganz naturgetreu vorzuführen.
Eine Mühe, die ſich belohnt macht, denn was ſind die
+
Napoleon bei Waterloo,
204 Einiges vom Kino. 2
Wirkungen der „Weber“ oder des „Kollegen Crampton“
gegen das Gruſeln und die Gänſehäute des Publikums
bei ſolchen „dichteriſchen“ Effekten!
Aber eine Grenze gibt es leider auch hier. Und ein-
mal mußte der Tag kommen, an dem man ſich mit
einem treffenden Münchener Ausdruck ſagen mußte:
„Höher geht's nimmer!“ Da entdeckte man juſt zur
rechten Zeit zwei neue, verheißungsvolle Gebiete: das
klaſſiſche Altertum und den Kriegſchauplatz. Man be-
nützte das erbarmungslos zurechtgeſtutzte Handlungs-
gerippe der Romane „Quo vadis“ und „Die letzten
Tage von Pompeji“, um es mit aller Flitterpracht einer
glänzenden Ausſtattung zu behängen. Die Fabel wurde
verworren, unverſtändlich und ſterbenslangweilig, der
Glanz der einzelnen Bilder aber ſtellte die verwegenſte
Zirkuspantomime in den Schatten. Feſte und Baccha—
nalien, Gladiatorenkämpfe und ganze Herden von
richtigen Löwen, grauſige Feuersbrünſte mit Hunderten
von verzweifelt fliehenden Menſchen und noch hundert
andere ſchöne Dinge zogen an den Augen der entzüdten
Zuſchauer vorüber; man drängte ſich eifriger denn je in die
Lichtſpieltheater, und die beiden Filme brachten ihren
Erzeugern einen nach Millionen zu beziffernden Gewinn.
Aber bei der „Herrin des Nils“ machte ſich ſchon ein
erhebliches Abflauen der Begeiſterung bemerklich. Man
hatte genug vom Altertum, man fand, daß Akteure
und Szenen einander allzu ähnlich ſahen, und daß die
als Würze beigefügten Neuheiten, wie die vor die
Krokodile geworfene Sklavin, der Einmarſch des Römer-
heeres in Agypten und etliches Kampfgetümmel, den
aufgewärmten Brei nicht hinlänglich ſchmackhaft zu
machen vermöchten. Kleopatra bedeutete nur noch
einen halben Erfolg, und die Filmfabriken werden klug
genug ſein, dies Warnungszeichen zu beachten.
u Von Reinhold Ortmann. 205
Aus der Schlacht bei Waterloo.
4
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Die Kriegsſzenen ſcheinen dagegen neuerdings
wieder mehr in den Vordergrund treten zu ſollen, und
es ſind von verſchiedenen Filmfabriken ſehr erhebliche
206 Einiges vom Kino. 1
Summen aufgewendet worden, um in bezug auf die
Wahl des Schauplatzes, die Zahl der mitwirkenden
Statiften, die Echtheit der Uniformen oder Koſtüme und
Schlacht bei Gettysburg.
207
Don Reinhold Ortmann.
Had qↄqabog
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die überzeugende Bewegtheit der Vorgänge ſelbſt den
weiteſtgehenden Erwartungen und Anſprüchen Genüge
zu tun. Bilder, wie ſ
dem Film „1812“ gezeigt
ie in
203 | Einiges vom Rino. a
werden konnten, gehören zu dem Schönſten, das die
kinematographiſche Induſtrie bis jetzt hervorgebracht
hat. Und die in den verſchiedenſten Kampfesphaſen ge-
filmte „Schlacht bei Waterloo“ mutet ſtellenweiſe faſt
wie ein getreues Abbild ernſter Wirklichkeit an. Um die
denkwürdigen Tage von Gettysburg im nordamerifa-
n ſchen Bürgerkrieg wieder aufleben zu laſſen, jene
drei erſten Julitage des Jahres 1863, die jedem Nord-
amerikaner geheiligt ſind, machte man die erforderliche
Zahl von Aufnahmen ſogar auf dem Kriegſchauplatz
in Pennſylvanien ſelbſt, und man kann ſich leicht vor-
ſtellen, welche Begeiſterung es in den Lichtſpieltheatern
der Vereinigten Staaten auslöſt, wenn man es in
einer Reihe tumultuariſcher Szenen erlebt, wie Lee
mit ſeinen Konföderierten von den Unionstruppen
unter dem tapferen Meade geſchlagen und bis an den
Potomac zurückgeworfen wird.
Daß auch die Schlacht von Paardeberg aus dem
letzten Burenkriege an Ort und Stelle rekonſtruiert
würde, konnte man füglich nicht wohl verlangen, aber
wenn auch der Schauplatz der Aufnahmen in das ſüd—
kaliforniſche Bergland verlegt wurde, ſo wirkt doch
alles übrige echt genug. Wir ſehen, wie verzweifelt ſich
Cronje mit ſeinen viertauſend Mann — es mögen ja
auf der Leinwand ein paar Dutzend weniger ſein —
gegen die Nobertsſche Übermacht wehrt, der er ſich
ſchließlich gefangen geben muß, und wir durchleben im
Geiſte noch einmal die Erregung, die jene Vorgänge
damals ſelbſt im fernen Europa nachzittern ließen.
Hauptſächlich für engliſche Gemüter berechnet wie dieſer
Film, iſt auch die Seeſchlacht von Trafalgar mit dem
höchſt dramatiſch inſzenierten Heldentode des Admirals
Nelſon, der, nachdem ihn eine Flintenkugel aus dem
Fockmars der „Formidable“ tödlich verwundet, in den
Schiffsraum der „Victory“ gebracht wird, wo er in
den Armen des Kapitäns Hardy ſeine Seele ver—
haucht.
1914. X. 14
Tod des Admirals Nelſon.
210 Einiges vom Kino. Oo
Der Kriegsfilm iſt augenblicklich noch ſtark in ‚der
Mode; aber auch hier wird in nicht femer Zeit eine
Überſättigung eintreten, und vielleicht iſt bis dahin dem
Kinematographentheater der große Reformator er-
ſtanden, deſſen es dringend bedarf. Es braucht nicht
notwendig ein „Dichter“ zu ſein, denn für wirkliche
Poeſie wird die Flimmerleinwand nie und nimmer
das rechte Wirkungsgebiet werden. Eines erfinderiſchen
Kopfes aber wird es allerdings bedürfen, der alle
Wirkungsmöglichkeiten, die hier ja ſo reich gegeben ſind,
auszuſchöpfen weiß, ohne pſeudoliterariſche oder ſonſtige
Behelfe herafizuziehen, die hier nicht am Platze find.
„Der Student von Prag“ hat das Kinoproblem ſeiner
Löſung ebenſowenig näher bringen können wie Max
Reinhardts mit ſo großen Hoffnungen erwartete „Ge—
filde der Seligen“ mit ihrer abgeſchmackten ſogenannten
„Handlung“. |
Der rechte Mann wird eben erſt der fein, der die
Mahnung zu beherzigen weiß: Laßt das Kino einen
Guckkaͤſten bleiben! Macht feine Bilder jo hübſch und
ſo bunt wie möglich; aber verzichtet um des Himmels
willen auf den Ehrgeiz, es zur Höhe wahrer Kunſt zu
erheben!
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| Mannigfaltiges.
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nachoͤruck verboten.)
Der Schatz des Bauern Smarta. — Oer Wenzel Priszak
und der Bogumil Sicherski waren fraglos die größten Halunken
in dem böhmiſchen Dorfe Lehnſtein und deſſen weiterer Um-
gebung, ſoweit dieſe zu dem Landſtrich nach der ſächſiſchen
Grenze hin gehörte. Die beiden Genoſſen hatten von Jugend
an ſo ziemlich alles durchprobiert, was ſie mit den Strafgeſetzen
in Konflikt bringen konnte. Eigentlich waren ſie bei dieſem
Treiben geradezu unverſchämt vom Glück begünſtigt worden.
Denn die paar Monate, die ſie in dem nahen Bezirksgefängnis
wegen Wilddieberei, Schmuggelns und gelegentlicher kleiner
Eigentumsvergehen abgeſeſſen hatten, waren kaum zu rechnen.
Der größere Teil ihres Schuldkontos blieb unbeglichen, was ſie
lediglich ihrer ſeltenen Geriſſenheit verdankten.
In letzter Zeit hatten nun der Priszak und der Sicherski
ſich ſo merkwürdig ſtill verhalten und ſo geſittet gelebt, daß es
den Lehnſteiner Bauern, die dieſe unbequemen Dorfangehörigen
nur zu gern für immer auf den Schub nach auswärts gebracht
hätten, ganz unheimlich wurde. Über dem friedlichen Orte lag
es wie Gewitterſchwüle. Aber die Entladung wollte und
wollte nicht kommen. Im Gegenteil, die beiden edlen Ge-
noſſen, die neuerdings mit einem kleinen Eſelkarren die Um-
gebung bereiſten und billigen Tand feilhielten, wurden immer
ſolider und mieden ſchließlich ſogar die Wirtsſtuben, zu deren
regelmäßigſten Gäften fie bisher gehört hatten.
Endlich ſickerten doch ſo allerlei Gerüchte durch, weshalb
der Priszak und der Sicherski als ſolide Handelsleute ſo fleißig
die Lande durchzogen. Dieſem und jenem ihrer beſten Freunde
hatten fie das Geheimnis unter dem Siegel tiefſter Verſchwiegen-
212 Mannigfaltiges. 2
heit anvertraut — natürlich aus kluger Berechnung. So wußte
denn bald ganz Lehnſtein, daß die beiden Burſchen in einer
alten Bibel, die von ihnen auf ihren Hauſiererfahrten einge-
handelt worden war, eine geheimnisvolle Zeichnung gefunden
hatten, in deren Mitte ſich ein rotes Sternchen befand. Und
das ſei der Ort, wo der im Jahre 1895 plötzlich verſtorbene
reiche Gutsbeſitzer Kulark ſein bares Geld vergraben habe,
wie auf der Rüdfeite des vergilbten Papierſtückes zu leſen wäre.
Allmählich wob ſich um die Perſonen der der Ehrlichkeit
wiedergegebenen Hauſierer, die unermüdlich von Ort zu Ort
zogen, um das Gelände zu finden, auf das ihre Zeichnung
paßte, ein geheimnisvoller Nimbus. Kein Menſch hatte einen
Grund, an den Angaben des gebeſſerten Gaunerpaares zu
zweifeln. Tatſächlich war ja im Auguſt 1895 der Gutsbeſitzer
Kulark, ein als reich verſchrieener Zunggefelle, einſam auf
ſeinem zwei Meilen von Lehnſtein entfernten Gehöft geſtorben,
und weil man damals in deſſen Haufe faſt gar kein Geld auf-
gefunden hatte, war ſofort die Mär entſtanden, der Tote müſſe
ſeine Schätze vorher irgendwo verſcharrt haben.
So ſtanden die Dinge, als eines Abends im Oktober 1912
Priszak und Sicherski ſich ganz unerwartet bei Johann Smarta,
dem reichſten Bauern von Lehndorf, einfanden. In der guten
Stube fand dann bei verſchloſſenen Türen eine lange Unter-
redung ſtatt. Die beiden Freunde eröffneten dem begierig
lauſchenden Bauern, daß ſie endlich den Ort entdeckt hätten,
wo das Geld des alten Kulark verborgen liege. Bevor ſie jedoch
nähere Angaben darüber machen würden, müffe Smarta ein
Schriftſtück unterzeichnen, das ſie fertig aufgeſetzt mitgebracht
hätten.
Smarta las den merkwürdigen Vertrag, durch den er ohne
jedes Riſiko einen hübſchen Batzen Geld verdienen ſollte, erſt
ſehr genau durch, bevor er ihn unterzeichnete. Darin ſtand
nämlich, daß er ſich verpflichte, mit Priszak und Sicherski
den Schatz zu teilen, der auf ſeinem Grund und Boden an einer
Stelle vergraben ſei, die die Entdecker ihm nach Vollziehung
ſeiner Namensunterſchrift zeigen würden.
Als die kleine Formalität erledigt war, und die beiden
2 Mannigfaltiges. 213
Freunde das unterzeichnete Schriftſtück in der Taſche hatten,
holten ſie nun auch die recht vergilbt ausſehende Zeichnung
hervor, mit deren Hilfe ſie nach ſo langem Suchen den darauf
angegebenen Platz entdeckt haben wollten. Smarta ließ ſich
die Zeichnung erklären und konnte ſich gar nicht genug wundern,
daß es den beiden geglückt war, ſich in all den Strichen und
Linien zurechtzufinden. Immerhin erſah er aber aus dem
Plan, daß mit dem roten Sternchen auf der Zeichnung tat-
ſächlich nur eine kleine Steinhütte, die ſeit Jahren von
ſeinem Schäfer und deſſen Frau bewohnt wurde, gemeint
fein könne. Seine letzten, ſchon recht ſchwachen Zweifel an
der Aufrichtigkeit der einſt ſo übel beleumundeten Freunde
ſchwanden, als ſie ihm mit ſchöner Aufrichtigkeit verſicherten,
ſie hätten natürlich nie daran gedacht, mit ihm zu teilen, wenn
es ihnen möglich geweſen wäre, den Schatz ohne ſeine Hilfe
zu heben. Dies ſei aber ausgeſchloſſen, da die Frau des Schäfers
die Hütte nie verlaſſe, und ſie ja auch noch nicht genau wüßten,
in welcher der beiden Stuben das Geld verſteckt ſei. Man würde
alſo vielleicht den ganzen Boden durchwühlen müffen, was
immerhin viel Zeit erfordern könnte.
Nichts vermochte Smarta mehr von den ehrlichen Abſichten
ſeiner Bundesgenoſſen zu überzeugen als dieſes Zugeſtändnis,
daß ſie ihn durchaus nicht etwa aus ſelbſtloſen Gründen ins
Vertrauen gezogen hätten. Die drei verabredeten darauf
genau alles weitere. Smarta ſollte an den folgenden Tagen
das Schäferpaar für einige Zeit auf feinem Bauernhofe be-
ſchäftigen, und im übrigen ſagten ſich die drei ſtrengſtes Still-
ſchweigen über ihr Vorhaben zu. Man konnte ja nicht wiſſen,
ob es nicht noch irgendwo erbberechtigte Nachkommen des
verſtorbenen Kulark gab, die vielleicht Anſprüche an den Schatz
erheben würden.
Alles ging nach Wunſch. Am nächſten Abend konnten
ſich die drei Schatzſucher nach Eintritt der Dunkelheit ungeſtört
ans Werk machen. Ihre Vorbereitungen hatten fie in aller
Heimlichkeit getroffen, um ja nicht die Aufmerkſamkeit der
anderen Dorfbewohner zu erregen. Nach vierſtündigem Graben
ſtießen ſie dann wirklich in der hinteren Kammer der Hütte
in einer Ecke auf einen ſchweren Lederjad, den die Gauner
in einem unbewachten Augenblick dort verſteckt hatten. Mit
fiebernden Händen half Smarta ihn aus dem Loche heraus-
ziehen. Man öffnete ihn ſofort und fand darin vier weitere
kleinere Lederbeutel, die ſämtlich, wie die oberflächliche Befich-
tigung zeigte, öſterreichiſche Fünfkronenſtücke enthielten. Zur
Prüfung reichte der vorſichtige Sicherski dem vor Freude halb
verſtörten Bauern aus jedem Sacke ein paar der Silbermünzen
hin. Dann ging es ans Durchzählen und Teilen, wobei Smarta
die qualmende Petroleumlaterne zu halten hatte. Im ganzen
waren es genau eintauſendundvierzig Fünfkronenſtücke, eine
Summe, die den Erwartungen der drei Schatzſucher freilich
nicht ganz zu entſprechen ſchien.
Priszak und Sicherski baten den Bauern nun, auch ihren
Anteil vorläufig in Verwahrung zu nehmen, wozu dieſer ſich
gern bereit erklärte. Darauf wurde der auf drei Beutel ver-
teilte Fund auf Umwegen nach Smartas Wohnung ge-
ſchleppt. |
Dort angekommen fpielte Priszak plötzlich den Angſtlichen.
Er möchte doch lieber das ihm und ſeinem Freunde gehörige
Geld mitnehmen, da man nicht wiſſen könne, ob es bei Smarta
auch ſicher genug aufgehoben ſei, worauf Sicherski ſeiner Rolle
entſprechend äußerte, ihm würde es überhaupt am liebſten fein,
wenn ſie gleich am nächſten Morgen die Reiſe nach Hamburg
antreten könnten, um von dort nach Amerika weiterzufahren,
was ſie ja ſchon längſt geplant hätten. Nur könnten ſie ſich
dabei nicht mit den beiden ſchweren Beuteln ſchleppen. Ob
Smarta ihnen denn nicht das Silbergeld in Papier einwechſeln
wolle. Das wäre doch am einfachſten.
Ahnungslos ging der Bauer in die Falle. Da er gerade
zwei Tage vorher ſeine Ernte an einen Händler verkauft hatte,
beſaß er genug Banknoten, um den Wunſch ſeiner guten Freunde
erfüllen zu können. Nach herzlichem Abſchied verſchwanden die
beiden Spitzbuben, und Smarta war froh, ſie auf immer los
zu ſein.
Als der Bauer ſich nun aber am anderen Morgen beim
hellen Tageslicht ſeinen Schatz nochmals anſah, bemerkte er
a Mannigfaltiges. 215
ſofort, daß er ſchmählich betrogen worden war. Die Kronen-
ſtücke waren ſämtlich falſch.
Sofort alarmierte Smarta das ganze Dorf und ließ eine
Streife nach den beiden Betrügern veranſtalten. Die waren
aber längſt über alle Berge, hatten auch allen Anzeichen nach
ihre Flucht vorher gut vorbereitet gehabt. Nun wurde das
Bezirksgericht in Graslitz von dem Vorgefallenen verſtändigt,
das ſofort den ganzen Polize iapparat in Bewegung ſetzte,
um des Gaunerpaares habhaft zu werden, was aber erſt
zwei Wochen ſpäter in Wien gelang, wo die beiden in einem
Tingeltangel einem Polizeikommiſſär durch ihre leichtſinnigen
Ausgaben auffielen.
Priszak und Sicherski wurden wegen Falſchmünzerei und
Betrug jeder zu ſechs Jahren Kerker verurteilt. W. K.
Die enttäuſchten Turko. — Unter dieſer Überſchrift war
nach den erſten Schlachten des Deutſch-Franzöſiſchen Kriegs
von 1870/71 unter den deutſchen Truppen ein auf einem Quart-
blatte gedrucktes Spottgedicht weit verbreitet, deſſen Verfaſſer
ein heſſiſcher Landwehrmann geweſen ſein ſoll, der ſich jedoch
nicht genannt hat. Unter den damals in Kaſſel internierten
franzöſiſchen Gefangenen befanden ſich nämlich viele Turko,
deren mutmaßliche Gemütsverfaſſung geſchildert war in dem
Gedichte, das uns von einem Veteranen, der als Musketier
des zur rühmlichſt bekannten 22. Diviſion gehörigen 3. Heffi-
ſchen Infanterieregiments Nr. 85 an dem Kriege teilgenom-
men hat, mitgeteilt wird, und das als ein Produkt volkstüm-
licher Dichtung aus jener denkwürdigen Zeit verdienen
dürfte, vor der Vergeſſenheit bewahrt zu bleiben, ſchon im
Hinblick darauf, daß in Frankreich aus der eingeborenen Be-
völkerung der afrikaniſchen Kolonien neuerdings ganze ſchwarze
Armeekorps gebildet werden ſollen, um in einem etwaigen
ſpäteren Kriege gegen Deutſchland verwendet zu werden.
Das Gedicht lautete:
Aus Kaſſel ſchrieb ein Sohn der Wüſte
An die Turko in dem Land,
Deſſen meerumſpülte Küſte
Glũht im heißen Sonnenbrand:
216
Liebe Brüder! Ruhm und Ehre
Ward uns leider nicht zuteil,
Aber eine gute Lehre,
Die uns dienen kann zum Heil.
Als der Kaiſer aller Franken
Uns zum großen Kampfe rief,
Weckt' er auf den Mordgedanken,
Der in jedem Turko ſchlief:
„Eilet hin zum deutſchen Rheine,
Macht dem Feind die Hölle heiß!
Silber, Gold und Edelſteine
Sollt ihr ernten ſcheffelweis.
Haut die Deutſchen all in Fetzen,
Hackt ihr Fleiſch zu lauter Wurſt!
Das bereitet euch Ergötzen,
Deutſches Blut löſcht euern Durſt.
Reißt die Häuſer all zuſammen,
Setzet drauf den roten Hahn,
Werft die Kinder in die Flammen,
Wie ihr es ſchon oft getan!
Führt die Frauen fort in Banden
Tief in eure Sklaverei!
Von den ſchönſten, die wir fanden,
Trägt es jedem Turko drei.“ —
Alſo ſprach der Frankenkaiſer,
Und es ſchrie der Wüſte Sohn
Voll Begeiſtrung ſich faſt heiſer:
Vive l'empereur Napoleon!
Aber, als es kam zum Klappen
Mit dem tapfern deutſchen Heer,
Da erlitten wir nur Schlappen,
Niederlagen, groß und ſchwer.
Nichts geſchah dann uns zuliebe —
Wie verkehrt iſt doch die Welt! —
Wir bekamen deutſche Hiebe,
Aber nimmer deutſches Geld.
Mannigfaltiges.
'D
2 Mannigfaltiges. 217
Und die ſchönen deutſchen Frauen,
Die uns trefflich ſtanden an,
Durften wir von fern zwar ſchauen,
Aber nicht uns ihnen nahn.
Kriegsgefangen, ohne Wehre,
Send’ ich aus dem fremden Land
Varnend euch die weiſe Lehre
An den heimatlichen Strand:
Strebet nicht nach Deutſchlands Gauen,
Denn es winken euch am Ziel
Weder Gold noch ſchöne Frauen, ö
Aber Hiebe, hart und viel! R. v. B.
Aus Alt-Berlin. — Was jetzt vom alten Berlin noch ſteht,
find eigentlich nur Überrefte. Die Antergrundbahn ſchlug man
durch das kleine Fleckchen des alten Fdylls, und damit ſchwanden
viele dieſer liebevoll umſtändlichen Bauten. Jetzt ſtehen große
Geſchäftshäuſer dort, in denen „Inventur“ und „Bilanz“ die
Hausgeiſter ſind.
An einigen Stellen aber hat die Umwandlung Berlins zur
Handelſtadt bisher doch halt gemacht: am Krögel und an der
Fiſcherſtraße. Während aber der Krögel auch ſchon langſam
zu zerbröckeln beginnt, ſteht das Alt- Berlin der Fiſcherſtraße
noch unangetaſtet. Recht einſam liegt die Gegend, nur die
wenigen geborenen Berliner wiſſen, daß hier der alte Kern
iſt, um den ſich das überſchnell gewachſene Großftadtgebilde
legte. So ſteht an der Ecke Fiſcher- und Cöllniſche Straße das
älteſte Haus Berlins. Es ſoll ſeinerzeit als eines der erſten
Bürgerhäuſer entſtanden ſein, als Berlin noch ein Fiſcherdorf
war und ſich erſt allmählich zur Stadt entfaltete. Das Reſtau-
rant, das heute darin iſt, beſtand damals ſchon, nur hieß es etwas
deutſcher „Gaſthof“ und hatte zudem für die Bevölkerung eine
Bedeutung, die ihm ſelbſtverſtändlich jetzt abhanden gekommen
iſt. Fuhrleute und Schifferknechte find zumeiſt Gäſte des Re-
ſtaurants, aller Glanz iſt entblättert, ebenſo wie der Nußbaum
vor dem Fenſter auch nicht mehr ſo recht grünen will. Das
genaue Alter des Hauſes iſt nicht mehr bekannt, man legt
218 Mannigfaltiges. u
Das älteſte Bürgerhaus Berlins Ecke Fiſcherſtraße
und Cöllniſche Straße.
aber das Entſtehen noch vor die Zeit des erſten Hohenzollern—
regenten von Brandenburg, alſo in den Anfang des 15. Jahr-
hunderts.
Die weiter abgebildete namenloſe Straße iſt bei weitem
nicht ſo alt, ſie mag ſeit Anfang des 17. Jahrhunderts in ihrer
a Mannigfaltiges. 219
—
8 2 —
— 3
* * —
Die he Verbindungſtraße der e
mit der Fiſcherſtraße.
jetzigen recht primitiven Form ſtehen. Weil dieſe Straße nur
eine unbefahrbare enge Verbindung zwiſchen Fiſcherbrücke und
Fiſcherſtraße darſtellt, gab man ihr wohl keinen Namen, ſondern
nannte ſie einfach „Durchgang“. Damit muß ſie ſich heute noch
begnügen.
220 Mannigfaltiges. 2
Rings um das Stückchen Alt-Berlin funkelt abends das
elektriſche Lichtermeer mit ſeinen mutwillig auͤfblitzenden und
wieder verlöſchenden Reklamen, drinnen in den alten Gaſſen
aber ſchwelt noch das trübe Petroleumlicht und wirft ſeinen
gelben, zitterigen Schein auf das regennaſſe, holperige Feld-
ſteinpflaſter. E. S
Die Rache des Regiſſeurs. — Im Winter des Jahres 1885
wurde im Großen Opernhauſe von Paris Meyerbeers „Robert
der Teufel“ geſpielt. In der packenden Szene, wo die Nonnen
im Kloſterfriedhof aus ihren Gräbern auferſtehen und den
Ritter umſchweben, blieb eine der Nonnen regungslos auf
ihrem Flecke ſtehen, wie wenn ſie angewurzelt wäre. Das
verwunderte Publikum faßte die Sache ſo auf, als ſolle damit
der Szene ein neuer Reiz verliehen werden. Als ſie dann
aber ebenſo unbeweglich ſtehen blieb, während die anderen
Tänzerinnen entſchwebten, ja, als ſie unverkennbare Zeichen
großer Unruhe von ſich gab, da merkten alle Zuſchauer, daß
irgend etwas bei ihr haperte, und ſämtliche Operngläſer des
vollbeſetzten Hauſes waren geſpannt auf ſie gerichtet. Von
den Kuliſſen aus wurde ihr endlich vernehmlich zugerufen, ſie
möge doch kommen. Da faßte ſie einen heroiſchen Entſchluß:
ſie bückte ſich, knöpfte ſich vor den Augen der ſämtlichen
Anweſenden ihre weißen Tanzſchuhe auf, ſchlüpfte heraus
und ſprang auf den Strümpfen davon, verfolgt von einem
lachenden, vielhundertſtimmigen Bravo.
Der Theaterdiener, der die ſtehengebliebenen Schühchen
wegholen ſollte, konnte ſie nur vom Boden entfernen, indem er
ſie in Stücke riß. |
Die betreffende Ballerina, ein Fräulein Roſa Mercia,
reichte nunmehr gegen den Regiſſeur, Herrn Dubois, Klage
ein und behauptete, er ſei derjenige geweſen, der an dem frag-
lichen Abende die Sohlen ihrer Ballettſchuhe mit Gummi be-
ſtrichen habe, um ſie in eine lächerliche Lage zu verſetzen.
Bei der mündlichen Verhandlung ſtellte der Beklagte ſeine
Schuld entſchieden in Abrede. Kein Menſch könne ihm nach—
weiſen, daß er es geweſen ſei, der der Dame jenen Schabernack
geſpielt habe.
u Mannigfaltiges. 221
„Das nicht,“ rief die gekränkte Tänzerin, „aber kein anderer
Menſch außer ihm hätte die mindeſte Urſache, mir zu grollen!
Er wollte ſich an mir rächen, denn ich war zwei Jahre lang feine
Verlobte. Daß ich mich jetzt entſchloſſen habe, einen anderen
Mann zu heiraten, kann er mir nicht verzeihen, und deshalb
ſeine Rache.“ N
Darauf erklärte der Richter: „Mit dieſem Eingeſtändnis
haben Sie dem Angeklagten die ſchönſte Verteidigungsrede
gehalten, die ihm nur gehalten werden konnte. Daß ihm das
Vergehen nicht nachgewieſen werden kann, geben Sie ſelbſt
zu, und daß es menſchlich begreiflich iſt, wenn er ein ſo großes
Unrecht, wie Sie ihm nach Ihren eigenen Worten angetan
haben, durch einen harmloſen Schabernack rächt, müſſen Sie
ebenfalls ſelber zugeben. Im Namen des Geſetzes ſpreche ich
den Angeklagten frei.“ C. D.
Tauchererlebniſſe. — Nicht reicher Beute wegen wagte der
Taucher Leverett, deſſen Mut ihn zu einem Platze in der Helden-
galerie der Welt berechtigt, vor mehreren Fahren im engliſchen
Kanal ſein Leben. Ein Kamerad war in Gefahr. Während
dieſer auf dem Meeresgrunde arbeitete, hatte ſich fein Luft-
ſchlauch mit einem Seile, an dem der Taucher befeſtigt war,
verwirrt. In ſolcher Tiefe länger als eine halbe Stunde
unter Waſſer bleiben, heißt, mit ſeinem Leben freventlich
ſpielen, und dennoch ging Leverett hinunter und blieb über eine
Stunde unter Waſſer. Es glückte ihm auch, ſeinen Kameraden
an die Oberfläche zu bringen.
Kapitän Mattſon von der ſchwediſchen Barke „Flora“ ent-
deckte im Buſen von Biskaya, daß fein Schiff ein Leck erhalten
hatte, das eine Reparatur von außen erforderlich machte.
Dieſe Arbeit nahm der Kapitän ſelbſt vor. Er legte dabei
einen improviſierten Taucheranzug an, in dem er am Schiffe
hinunter ins Waſſer gelaſſen wurde. Bald hatte der tapfere
Kapitän die ſchadhafte Stelle ermittelt, und trotz der beängitigen-
den Nähe eines Hais gelang es ihm doch, ſeine ſchwierige Arbeit
auf vollkommen fachmänniſche Weiſe zu beenden.
Die bekannte dramatiſche Epiſode in Viktor Hugos Roman
„Die Arbeiter des Meeres“ wiederholte ſich im wirklichen Leben,
—
222 Mannigfaltiges. ao
als ein Taucher namens Palmer, der bei der Hafenverwaltung
von Napſtadt angeftellt war, ins Waſſer ſtieg, um den Schaden
feſtzuſtellen, den der Dampfer „Dunwegan Caſtle“ bei feinem
Anfahren gegen eine Kaimauer erlitten hatte. Das Vaſſer
war klar, und der Taucher hoffte, ſeine Arbeit unter günſtigen
Umftänden vornehmen zu können. Plötzlich ſchoß aber von
einem Felsblock her ein gräßlicher Fangarm hervor, der ihn
am Arme packte. Im nächſten Augenblick war fein Arm ge-
feffelt, und ein Oktopus, der jetzt aus feinem Verſteck hervor-
kam, ſchlang ſeine anderen Fangarme um ſein unglückliches
Opfer, das ohne Meſſer ſich ſeinem erbarmungsloſen Gegner
rettungslos überliefert ſah.
Zu ſeinem Glück verließ Palmer ſeine Geiſtesgegenwart
nicht. Er zog die Signalleine, und ſeine Kameraden wanden
ihn nach oben. Langſam ſtieg er zur Oberfläche empor, und
als er ſie erreichte, hielt ihn das Seeungetüm noch immer in
feiner grauſamen Umarmung. Hilfe in der Geftalt von Meſſern
und Beilen war jetzt raſch zur Hand, und der Oktopus wurde
von ſeiner Beute losgeſchnitten und losgehauen.
Ein nicht minder furchtbarer Feind iſt der Hai, der von
Tauchern in der Südſee ſo gefürchtet wird, daß nur wenige
unter Waſſer zu arbeiten wagen, wenn fie nicht in den Gittern
eines großen, eiſernen Käfigs eingeſchloſſen ſind. Solchen
Schutz verſchmähte aber der Taucher Lambert, als er in der
Höhe der Inſel Diego Garcia an dem Wrack eines Kohlen-
ſchiffes arbeitete, das von einem Dampfer gerammt worden war.
Als er zum erſten Male hinabſtieg, näherte ſich ihm ein
großer Hai, der den Eindringling ſich näher anſehen wollte.
Dadurch, daß Lambert das Ablaßventil in ſeinem Helm öffnete
und etwas Luft ausſtrömen ließ, ſcheuchte er die Beſtie hinweg.
Tags darauf aber kam ſie wieder, und wenn es auch dem Taucher
gelang, ſie durch dasſelbe Manöver zeitweiſe wegzujagen, ſetzte ſie
doch mit ſolcher Regelmäßigkeit ihre Beſuche fort, daß ſich Lam
bert entſchloß, zu draſtiſcheren Mitteln ſeine Zuflucht zu nehmen.
Als der Hai ſeinen nächſten Beſuch machte, ſtieß er ihm ſein
bereitgehaltenes Meſſer in den Rachen. Nach heftigem Kampfe
glückte es ihm, die Beſtie vollends zu töten.
u Mannigfaltiges. 225
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Ein Taucher mit Namen Bardi vermißte ginen wertvollen
Dolch, der ihm einſt als Ehrengeſchenk überreicht morden war,
und den er infolgedeſſen ſehr hoch ſchätzte. Nach einigen
Jahren, als er ſeinen Verluſt faſt ſchon vergeſſen hatte, arbeitete
er auf einem geſunkenen Schiffe. Über alle Maßen war es
da unten grauſig, denn in dem Schiffe befanden ſich viele
Leichen derer, die mit ihm zugrunde gegangen waren. In
der Kajüte ſtieß er auf zwei Leichen, auf deren Geſichtern
ſich im Tode noch der grimmigſte Haß malte. Die eine war
die ſeines Bruders, von dem er ſeit vielen Jahren nichts mehr
gehört hatte, die andere die eines Weibes, in deſſen Bruſt die
Klinge feines lange verloren geweſenen Solches ſteckte, wäh-
rend den Griff noch die ſtarre Fauſt des Mörders umklammert
hielt. F. C.
Baut der Storch Getreide? — Faſt in allen 1 1 Getrelbe⸗
jahren kommt im Spätſommer aus der einen oder anderen
Gegend die Nachricht von „grünenden Storchneſtern“, von
großen Getreidebüſcheln, die, weithin ſichtbar, ringsum am
Rand der Horſte wachſen. Man könnte vielleicht an einen
Verzierungs- oder Schönheitsſinn unſeres Freundes denken;
aber dieſe Verzierung tritt ja erſt im Spätſommer zutage,
wenn er ſich ſchon zur Abreiſe anſchickt. Daß er aber dieſe
grüne Laube anderen, vielleicht den Hausbewohnern zum
Dank und Vergnügen hinterläßt, ſo weit darf man die Ver-
menſchlichung der Storchgefühle denn doch nicht treiben.
Würden alſo wohl die recht behalten, die behaupten, er ſäe
das Korn, den Weizen oder Hafer auf ſeinem gut gedüngten
Horſte, damit ſich die heranwachſenden Jungen an den zarten
Sproſſen erlaben.
Nun ſind aber dieſe Sproſſen durchaus kein Futter für junge
Störche. Der Storch iſt ein ausgeſprochener Fleiſchfreſfer
von Jugend auf. Die Zungen bekommen von der Geburt
an Kerbtiere, Regenwürmer, Heuſchrecken und ſo weiter, die
ihnen die Eltern durch ſorgfältiges Vorkauen ſchmackhaft
machen.
Wozu dient nun alſo dieſes Getreide dem Storchꝰ Hat es
überhaupt einen beſtimmten Zweck? Nein, alle Fragen ſind
224 Mannigfaltiges. 0
hinfällig. Die Getreidekörner befinden ſich einfach an oder
in den Beutetieren, die Freund Adebar feinen Zungen zuträgt.
Erwachſene Vögel mit keimfähigen Körnern im Kropf
fängt der Storch nicht, ſie ſind ihm zu gewandt, es ſind vielmehr
nur Mäuſe und namentlich Hamſter, die hier in Frage kommen
können. Der Hamſter iſt bekanntlich ein ganz vorzüglicher
Dreſcher. Mit den Vorderfüßen biegt er die Halme um, beißt
die Ahren ab und zerreibt ſie zwiſchen den Pfoten ſo geſchickt,
daß die Körner unbeſchädigt in ſeine wunderbaren Backentaſchen
gleiten. Dieſe nützlichen Taſchen, die bis zu fünfzig Gramm
Ladung faſſen, find allerdings unter Umſtänden auch des
Tieres Verhängnis. Sind ſie nämlich gefüllt, und will er ſich
mit ſeinem Schatz in die Winterkammer begeben, ſo wird er
gerade in dieſem Zuſtand zuweilen von unſerem Langbein
überraſcht. Mit dem würde er ſonſt leicht fertig. Ein aus-
gewachſener Hamſter wehrt ſich, ewig zornig und biſſig wie
er iſt, nicht nur gegen Hunde erfolgreich, ſondern greift ſogar den
ahnungslos an ihm vorühergehenden Menſchen an, der ihm
gar nichts getan hat. Aber die gefüllten Backentaſchen! Sie
hindern ihn jetzt am Beißen, und ehe er mit den Pfoten die
Körner herausgeſtrichen hat, verſetzt ihm Held Adebar einen
ſofort tötenden Schnabelhieb auf das Hirn. Nun trägt der
Sieger den fetten Burſchen mühſam zu Horſte und zerlegt
ihn hier feinen Zungen nach allen Regeln der Kunſt. Durch
das eifrige Rütteln und Schütteln fallen hierbei natürlich die
für den Storchenſchnabel wertloſen Getreidekörner aus den
Taſchen nach rechts und links, nach vorn und hinten in das
Reiſig und geraten allmählich bis auf den unteren Humus,
wo ſie bei günſtiger Witterung bald keimen und wachſen.
Das ift die natürliche, auf neueren Ermittlungen, zum Bei-
ſpiel des Pfarrers Schufter in Obergimpern, beruhende Erflä-
rung der „landwirtſchaftlichen Tätigkeit“ unſeres langbeinigen,
leider immer ſeltener werdenden Freundes. H. R.
Bismarck und die Musketiere. — Am 19. November 1865
traf König Wilhelm auf der Fahrt nach Letzlingen in Magde-
burg ein, um das neue Offizierskaſino des 26. Regiments in
Augenſchein zu nehmen. Im Gefolge befanden ſich die Prinzen
2 Mannigfaltiges. | 225
Karl, Friedrich Karl, Albrecht Vater und Sohn, Feldmarſchall
Graf Wrangel und ein Major in der Uniform der Halberſtädter
Küraſſiere von herkuliſcher Geſtalt. Nach Beſichtigung des
Regimentshauſes begrüßte der König das auf dem Rafernen-
hofe aufgeſtellte Regiment, ging die Fronten ab und ließ
dann wegtreten, um die neue Kaſerne zu beſichtigen.
Es war nur ein kleines Gefolge, das den König in dieſe be-
gleitete, nur die direkten Vorgeſetzten des Regiments und der
reckenhafte Küraſſiermajor. Wilhelm I. ging von Stube zu Stube
und beſchränkte ſich keineswegs auf die Beſichtigung der Räume;
in der einen Stube ließ er ſich die Spinde zeigen, in einer
anderen das Putzzeug; hier unterſuchte er das Kommißbrot,
dort die Stiefelſohlen. Hatte er eine Stube gemuſtert, dann
fragte er jedesmal zum Schluß: „Kommt ihr auch mit eurer
Löhnung aus?“ worauf natürlich jedesmal die Antwort er-
folgte: „Jawohl, Majeſtät!“
Der König und ſein Gefolge hatten ſoeben eine Stube
verlaſſen, nur der Küraſſiermajor war noch zurückgeblieben.
Da ſtellte ſich der gewaltige Mann in feiner ganzen Reden-
haftigkeit vor die Soldaten, ſah ſie mit ſeinen durchdringenden
Augen an und fragte: „Kommt ihr wirklich mit eurer Löhnung
aus? Wenn ihr Wäſche, Putzzeug, Fußlappen und was ihr
ſonſt noch braucht, bezahlt habt, bleibt euch dann wirklich noch
etwas übrig, um euch Fett aufs Brot zu kaufen?“ Und als
die Leute ganz verdutzt nichts antworteten, donnerte er ſie
förmlich an: „Na, Antwort!“
Nun kamen dann einige Beherztere mit der ſchüchter—
nen Entgegnung heraus: „Nein, übrig bleiben tut dann
nichts fürs Zubrot, da muß man ſchon von zu Hauſe was
haben.“
„Na, alſo! Sch gebe mir die größte Mühe, euch mehr Löh—
nung zu verſchaffen, habe den König wiederholt darum gebeten;
nun geht er hier von Stube zu Stube, fragt, ob ihr mit eurer
Löhnung auskommt, und auf allen Stuben heißt es: „Jawohl,
Majeftät!! Ihr mußtet als ehrliche Kerls doch ſagen: ‚Nein,
Majeſtät, wir reichen nicht.“ Das wäre die Wahrheit geweſen!
Von wem ſoll ein König denn die Wahrheit noch hören, wenn
1914. X. 15
226 mannigfaltiges. 8
er fie nicht einmal von euch altmärkiſchen Bauernjungen zu
hören bekommt!“
Dann wandte er ſich zur Tür.
„Donnerwetter, wer war denn das?“ fragten ſich die Leute.
Ein Berliner Junge wußte es. „Dat war ja der Bismar ck,
was unſern König ſein erſter Miniſter iſt!“ rief er.
„Dat is äwer en hölliſchen Kirl!“ hieß es da. „Dat hätten
wi wiſſen ſollen!“ O. v. B.
Die Fürſtin Jurjewskaja. — Als nach langjährigem Leiden
die erſte Gemahlin des Kaiſers Alexander II., den die Geſchichte
den Zarbefreier, den großen Zarmärtyrer nennt, die Zarin
Marie, eine Tochter des Großherzogs Ludwig II. von Heffen,
geſtorben war, vermählte er ſich morganatiſch mit der Fürſtin
Katharina Dolgoruka, deren Familie ſich der Abſtammung von
Rurik, dem warägiſchen Begründer Rußlands, rühmt.
Die Geſchichte dieſer romantiſchen Liebesheirat zwiſchen
der ſchönſten, edelſten Frau Rußlands und dem damals zwei-
undſechzigjährigen Herrſcher, deſſen Haupt die Strahlenkrone
edelſter Menſchlichkeit umſchwebte, iſt ein Idyll auf den .
Höhen der Menfchheit.
Die Fürſtin war nicht nur die geradezu ſchwärmeriſch an-
gebetete Geliebte ſeines Herzens, ſondern auch die Vertraute
ſeiner politiſchen Geſchäfte, mit der er alle Eingaben der Miniſter,
alle Berichte der Botſchafter, der Gouverneure, der Polizei
und in letzter Zeit ſogar des Diktators Loris-Melikow beriet.
Sie diente ihm als Vorleſerin und Kabinettchef zugleich.
Während ſie ihm vorlas, machte er ſeine Notizen. Sie kannte
ſeine geheimſten Sorgen, und ihr verhehlte der Alleinherrſcher
auch ſeine Befürchtung nicht, daß ihm ſein langes Leben voll
Güte, ſein Wirken voll Wohlwollen kaum ein ruhiges Ende
gewährleiſten dürfte.
Die neue Ehe des Zaren blieb natürlich nicht geheim. Bald
erzählten es ſich die Spatzen auf den Dächern, die Fürſtin Dol-
goruka, die zum erſtenmal den Zaren zum Herbſtaufenthalt
nach Schloß Jalta bei Livadia begleitete, ſei ihm in ge-
heimer Ehe morganatiſch vermählt und der Widerſtand der
kaiſerlichen Familie gegen dieſe Ehe durch den Verzicht der
Fürſtin, die den uralten Titel einer Fürſtin Zurjewstaja erhalten
hatte, auf den kaiſerlichen Rang beſiegt worden. Dieſe Gerüchte
—
Fürſtin Katharina Jurjewskaja, die zweite Gemahlin
des Kaiſers Alexander II. von Rußland.
(Nach einem Holzſchnitt ans der Illuſtrierten Zeitung)
wurden durch einen längeren Beſuch, den das Großfürſt- Thron—
folgerpaar in Livadia abſtattete, beſtätigt. Der nach der Rüd-
kehr nach St. Petersburg herrſchende ungezwungene und in
den Formen der vornehmen Welt ſich bewegende Verkehr zwi—
228 Mannigfaltiges. 2
ſchen der Fürſtin und der kaiſerlichen Familie beſeitigte dann
allen Zweifel.
Die Ehe war am 31. Zuli 1880 geſchloſſen worden, und von
eingeweihter Seite wurde verſichert, daß der Zar nach Ablauf
des Trauerjahres ſeiner neuen Ehe die öffentliche Weihe geben
würde. Die Fürſtin war hochbeglüdt; fie erzählte ihren Ver-
wandten mit Stolz, daß der Kaiſer ſie am Altar mit den Worten
umarmt habe: „Z bin ſtolz, eine Fürſtin Oolgoruka geheiratet
zu haben.“ In ihrem Buch „Alexandre II. Détails inédits
sur sa vie intime et sa mort“ erzählt ſie ferner, der Kaiſer, der
übrigens ſtreng darauf ſah, daß der Fürſtin alle Ehren wie ſeiner
verſtorbenen Gemahlin erwieſen wurden, habe einmal ge-
äußert, indem er mit der Hand nach dem Himmel zeigte: „Wiſſe,
daß ich dort oben nicht aufhören werde, dich zu lieben, wie ich
dich auf Erden geliebt habe.“ Ein andermal habe er ihr be-
teuert: „Meine Krone iſt ſehr ſchwer, aber du hilfſt ſie mir
tragen.“
In der Tat lebte Alexander ſo ſehr in dem Glück ſeiner
zweiten Ehe, daß er ſich immer mehr von der eigentlichen Staats-
leitung zurückzog und dieſe Loris-Melikow und dem Thron-
folger überließ.
Die Fürſtin ſchwebte trotzdem in ſteter Angſt um das Leben
des Gatten, der ihr verſprechen mußte, ſich fo wenig als mög-
lich in der Öffentlichkeit zu zeigen, die ihr von der Polizei als
bedenklich geſchilderten Straßen zu meiden und niemals ohne
Eskorte auszufahren. „Ich verſpreche es dir, weil es dich be-
ruhigt,“ hatte er geantwortet. „Aber Gott allein iſt es, der
über mir wacht, und der mich rettet. Wenn er es ſo will, können
mich alle meine Koſaken nicht beſchützen.“
Am 15. März 1881, einem Sonntag, ſagte der Kaiſer der
Fürſtin: „Ich habe den Verfaſſungsukas unterzeichnet. Ich
hoffe, daß er einen guten Eindruck machen und Rußland ein
neuer Beweis dafür ſein wird, daß ich meinem Volke gerne
alles, was möglich iſt, gewähre. Ich habe Befehl gegeben, daß
der Ukas morgen veröffentlicht wird.“ Dann reichte er ſeiner
Gattin den Arm, um fie in den Speiſeſaal zu führen. Unter-
wegs flüſterte er ihr zu, indem er ihren Arm an ſeine Bruſt
2 Mannigfaltiges. 229
drückte: „Ich fühle mich ſo glücklich, daß mich mein jetziges
Glück beinahe zu erſchrecken beginnt.“
Nach dem Frühſtück erſchien Graf Loris-Melikow, der den
Zaren bat, an dieſem Tage nicht zur Parade zu gehen, da ſein
Leben unmittelbar bedroht ſei. Zu einer Abſage der Parade
konnte ſich der Zar, um vor feinen Offizieren nicht feige zu er-
ſcheinen, aber nicht entſchließen. Und ſo ging er in den Tod.
Die Geſchichte der Ermordung des Zarenbefreiers iſt ſo
bekannt, daß wir von ihrer Schilderung abſehen können.
Als die Fürſtin die Nachricht von dem Bombenattentat, dem
der Zar zum Opfer gefallen war, erhielt, eilte ſie, wie ein
Augenzeuge berichtet, in das Vorzimmer des Sterbegemachs,
wo fie, einige Augenblicke durch das Gewühl der dort verfam-
melten Menge aufgehalten, gerade auf einen Koſaken ſtieß, der
ein mit Blut gefülltes Becken trug. Sie überſchritt haſtig die
Schwelle des Gemachs und eilte einige Schritte vorwärts. Als
ſie den ſterbenden Kaiſer erblickte, blieb ſie eine Sekunde mit
ausgebreiteten Armen, ein Bild des Entſetzens, wie angewurzelt
ſtehen. Dann ſtieß ſie einen markerſchütternden Schrei aus
und eilte vorwärts, um zu helfen. Der Kaiſer erkannte fie nicht
mehr. Er lag da mit bleichem Antlitz, die Augen halb geöffnet.
Die Fürſtin kühlte ihm unausgeſetzt das Geſicht mit Waſſer,
rieb ihm die Schläfen mit Ather ein und mühte ſich ab, ihm ihren
Odem in den Mund zu hauchen. Die Söhne und Brüder des
Kaiſers, Generale und Hofbeamte umſtanden weinend und
ſchluchzend fein Lager. Es war 3 Uhr 35 Minuten nachmittags,
als der Leibarzt Profeſſor Doktor Bottkin, ſich ernſt vor dem
Thronfolger verneigend, den eingetretenen Tod des Zaren kon-
ſtatierte, deſſen Witwe jammernd zuſammenbrach.
Auf dem Admiralitätsplatz vor dem Palais hatte ſich eine
vieltauſendköpfige Menge verſammelt, die ſtill und entblößten
Hauptes für das bedrohte Leben des Zarenmärtyrers betete.
Um 3 Uhr 40 Minuten ſenkte ſich die Zarenflagge auf Halbmaſt.
Wie ein unterdrückter Wehruf ging es durch die unten harrende
Menge, und wie auf einen einzigen Wink lagen alle die Tauſende
auf den Knien.
Die Fürſtin Jurjewskaja aber ſchnitt ſich, einem Gelübde
250 Mannigfaltiges. D
getreu, in derſelben Stunde ihr ſchönes Haar ab, um es dem
geliebten Toten in die Gruft mitzugeben. „Ich will,“ äußerte
ſie auf die Vorſtellungen der neuen Zarin, „daß mein Gemahl
im Grabe dieſen Haarſchmuck, den er ſo unſäglich liebte, und
der mir fortan zwecklos iſt, bei ſich habe.“
Nach der Beiſetzung des Zaren ging ſeine Witwe ins Aus-
land, um dort nur noch dem Andenken eines der größten und
edelſten Menſchen zu leben, der jemals Rußland beherrſcht hat.
Ihr Sohn, Prinz Georg, iſt erſt vor kurzem einundvierzig Jahre
alt zu Marburg i. H. verſtorben. Sie ſelbſt lebt zurückgezogen
meiſt in Paris. W. F.
Das älteſte Lebeweſen der Welt ſteht im ſüdlichen Mexiko
— die berühmte Zypreſſe auf dem Kirchhofe des Dorfes Santa
Maria del Tule. Der Baum erhebt ſich im Gebiete der Provinz
Oaxaca und ſteht zwei und eine halbe Meile öſtlich von der
gleichnamigen Provinzialhauptſtadt. Nach dem rieſigen Um-
fange des Stammes der Zppreſſe zu urteilen, und unter Be-
rückſichtigung des langſamen Wachstums dieſer Baumgattung
haben Sachverſtändige das Alter dieſes Baumrieſen auf 5000
bis 6000 Jahre geſchätzt.
g Solche Zahlen fordern die Phantaſie heraus. Nehmen wir
die niederſte Schätzung an, dann fiel das Samenkorn, aus dem
dieſer Baum entſprang, um die Zeit in die Erde, als König
Menes in Agypten herrſchte, alſo um 3000 vor Chriſtus. Als
Cheops ſeine Untertanen zum Bau der Großen Pyramide
antrieb, war der Baum ein junger, ſchlanker Burſche von
200 gahren. Und ein fröhlicher junger Mann von 1500 Jahren
war er, als die Hebräer aus dem Lande des Nils zogen.
Im Leben dieſes Baumes müſſen die Entdeckung von
Amerika und die Eroberung Mexikos durch Cortez Ereigniſſe
ſein, die ſich erſt vor ein paar Monaten zugetragen haben.
Die Santa-Maria-del-Tule-Zypreſſe wurde 1903 zum letzten
Male von Doktor v. Schrenk wiſſenſchaftlich gemeſſen. Es waren
das gerade 100 Jahre, nachdem Humboldt den Baum auf feiner
berühmten Reife durch das äquatoriale Amerika entdeckt hatte.
Doktor v. Schrenk ſtellte feſt, daß der Stamm einen Meter über
dem Boden den erſtaunlichen Umfang von 40 Metern hatte.
2 Mannigfaltiges. 231
In größter Ehrfurcht blieb bei ſeinem erſten Beſuche Doktor
v. Schrenk vor dieſem gewaltigen Baumrieſen ſtehen, der ſchon
vorhanden war, als es kaum noch eine Geſchichte der Menfch-
heit gab. Hätte dieſes beblätterte Geſchöpf Augen gehabt
und eine Zunge beſeſſen, welch wertvolle Kunde hätte es zur
Bereicherung der Geſchichte der Menſchheit mitteilen können!
An dem heftigen Widerſtande des Bürgermeiſters von Santa
Maria del Tule ſcheiterte indeſſen die Löſung der Aufgabe,
das Alter des Baumes endgültig feſtzuſtellen. Man wollte
den Umfang des Stammes meſſen. Das wurde zugeſtanden.
Auch das Photographieren. Aber mit einem znſtrumente
aus dem Stamm einen bis zur Mitte reichenden Pflock heraus-
bohren, das erlaubte er nicht.
Vergebens wies Doktor v. Schrenk darauf hin, daß dieſes
Exper iment ſchon ſehr oft vorgenommen worden ſei, ohne daß
die betreffenden Bäume irgendwelchen Schaden genommen
hätten, machte darauf aufmerkſam, daß man durch Zählen der
Ringe, die der herausgeſchnittene Pflock zeigte, feſtſtellen
könnte, mit welcher Geſchwindigkeit der Baum wüchſe, und. daß
dadurch im vorliegenden Falle ſich eines der größten wiljen-
ſchaftlichen Probleme der Welt löſen ließe. Der Bürgermeiſter
war zwar die Liebenswürdigkeit und Zuvorkommenheit ſelbſt,
ſein ganzes Vermögen ſtellte er dem berühmten Reiſenden zur
Verfügung, aber daß dieſer den Baum verletze — das konnte
und wollte er nicht geſtatten.
So mußte ſich denn Schrenk damit begnügen, den Umfang
des Baumes zu meſſen und vom Dache des Rathauſes der
Stadt aus eine photographiſche Aufnahme zu machen. Er
fand auch die hölzerne Tafel, die vor 100 Jahren Alexander
v. Humboldt an den Baum genagelt hatte, und daß dieſer
Baumrieſe durch 50 Jahrhunderte hindurch ſich jetzt noch ſeine
unverminderte Lebenskraft erhalten hat, beweiſt der Umſtand
daß dieſe Tafel mit Rinde überwachſen war. g. C.
Heilkraft von Lilienblättern. — In dem im Cotta'ſchen
Verlage erſchienenen „Taſchenbuche auf das Jahr 1802 für
Natur- und Gartenfreunde“ macht der Pfarrer Chriſt aus
Kronberg auf die außerordentliche Heilkraft der grünen, aus
232 Mannigfaltiges. u
der Zwiebel an der Erde hervorwachſenden Blätter der weißen
Lilie aufmerkſam. Dieſe im friſchen Zuſtand aufgelegten
Blätter ſollen ſich namentlich wirkſam erweiſen „im Brand
ſowohl von Feuer und kochenden Flüſſigkeiten, als auch im
ſogenannten kalten Brande an Gliedern des Leibes, in Rotlauf
und Flüſſen, böſen hitzigen Augen, Beulen, Wurm am Finger
und Nagelgeſchwüren, vertrockneten Fontanellen, eingeſtochenen
Dornen und Glasſplittern, aufgebrochenen Beinen“. Von
den in dem Almanach angeführten Wunderkuren mit dieſem
Heilmittel ſei der folgenden beſondere Erwähnung getan.
„an einer meiner Gemeinden,“ fo berichtet der Pfarrer,
„wurde ich zu einer Frau gerufen, um ihr das Heilige Abendmahl
zu reichen, weil der Fuß, in den ſie ſich vor zwei Jahren ein
Glas getreten, wegen Durchſchwärung abgenommen werden
ſollte und ſie auf einen ſchlimmen Ausgang gefaßt war. Der
kalte Brand war da augenſcheinlich wahrzunehmen: ſchwarz—
braun gleißend und mit Blaſen beſpritzt war der ganze Fuß.
Ich ſagte mir, man müſſe alles eher verſuchen, ehe der Fuß
amputiert wird, ließ die Pflaſter wegwerfen und den Fuß
mit grünen Lilienblättern umwickeln. Eine halbe Stunde darauf
legte ſich der größte Schmerz, die Patientin verfiel in einen tie-
fen Schlaf, desgleichen fie wegen heftiger Schmerzen ſeit Jahren
nicht gehabt hatte. Am frühen Morgen des anderen Tages kam
der Chirurgus, um den Fuß abzulöſen, findet aber ſtatt einer
jämmerlich winſelnden eine ruhig ſchlafende Frau, ftatt der Pfla-
ſter Blätter und ſtatt eines kranken Fußes einen gefunden, auf
welchem das aus der Mitte des Fußes herausgeeiterte Glas lag.“
Läßt ſich die Heilkriſis auch mehr durch das Zufammen-
wirken anderer Faktoren erklären, fo mag doch an der auf-
weichenden und zerteilenden Kraft der Lilienblätter etwas
Wahres ſein, und es wäre intereſſant zu erfahren, ob die
Volksmedizin auch heutzutage und vielleicht in anderen Gegen-
den von ähnlichen Erfolgen zu berichten weiß. R. R.
Fidele Gefängnisgeſchichten. — Die Zuſammenſtellung
folgender drei Geſchichtchen bietet ein reizvolles Kapitel aus
der amerikaniſchen Rechtspflege, die ſich ja in manchem
Punkte von der europäiſchen unterſcheidet.
—
a Mannigfaltiges. ; 253
Der neuernannte Scheriff einer Stadt des Weſtens hatte
einen beſonderen Hinweis auf das Geſetz erhalten, wonach
man keinen Unterſuchungsgefangenen in Einzelhaft halten
dürfe. Nun ließ er eines Abends zwei Strolche in Unter-
ſuchungshaft bringen; einer davon entwich in der Nacht, und
als der Scheriff am nächſten Morgen zum Verhör ſchreiten
wollte, fand er zu ſeinem Leidweſen nur noch den anderen vor.
Da riß er die Zellentür weit auf und ſchrie dem Manne zu:
„Machen Sie, daß Sie 'rauskommen! Warum haben Sie
ſich nicht mit dem andern davongemacht? Sie wollen mir
jedenfalls Unannehmlichkeiten machen! Alſo, 'raus!“ —
Im Jahre 1899 mußte die Juſtiz von Kirkwood in Montana
den Neger Moſes wegen irgend eines Vergehens zu ſechs
Monaten Haft und zweihundert Dollar Geldſtrafe verurteilen,
hatte aber anderthalb Jahre Herzeleid darum zu tragen. Der
biedere Moſes nämlich war der einzige Gefangene des Städt-
chens und kam daher, da man ſeinetwegen zwei Wärter an-
ſtellen mußte, recht teuer zu ſtehen, zumal er ſtatt der ſechs
Monate deren achtzehn abbrummte, weil er mittellos war und
die Geldſtrafe nicht begleichen konnte. Schon im erſten Monat
ſeiner Haft hoffte man, Moſes werde ausbrechen oder von einem
der ihm gewährten Spaziergänge nicht wiederkommen. Aber
man hatte die Rechnung ohne den — Gaſt gemacht. „Ich er-
halte täglich drei Mahlzeiten,“ ſagte der Neger, „das iſt mehr,
als ich draußen bekomme. Alſo bleib' ich, wo ich bin!“
Als er eines Sonntags gegen Ablauf des erſten Monats
den Wärter um die Erlaubnis bat, einem Ballſpiel zuſehen zu
dürfen, hielt dieſer die Gelegenheit, ihn entwiſchen zu laſſen,
für günſtig und gab die Erlaubnis ſehr gern. Doch getreulich
und pünktlich um ſechs Uhr abends war der Neger wieder da
und begehrte durch Klopfen an der verſchloſſenen Tür Einlaß.
Der Wärter redete ihm zu, doch noch eine Bar zu beſuchen.
Moſes tat es und kam gegen ein Uhr in der Nacht wieder.
Diesmal war der Wächter nicht mehr im Gefängnis, ſondern
hatte ſich in ſein Haus zur Ruhe begeben. Aber Moſes trom-
melte ihn auch da aus dem Schlafe. Der ſchwarze „Schma—
rotzer“ beſtand eben auf ſeinem Rechte als Gefangener der
234 Mannigfaltiges. 2
guten Stadt Kirkwood, deren Gefängniskoſt täglich dreimal es
ihm angetan hatte und keinerlei Freiheitsdrang in ihm auf-
kommen ließ. Ganz beſonders wohlgenährt verließ er endlich
am Schluſſe ſeiner „Strafzeit“ die gaſtliche Stätte und ſoll
ſeine Mitbürger längere Zeit durch die Drohung erſchreckt haben,
er werde ſchon bald wieder etwas unternehmen, um neuen
längeren Aufenthalt in ſeinem angenehmen Aſyl zu erlangen. —
Im Jahre 1840 durfte ſich die Stadt Nantucket in Maſſa-
chuſetts eines nicht minder treuen und anhänglichen Gefangenen
erfreuen, auch des einzigen, den ſie gerade ihr eigen nannte.
Dieſer machte eines Morgens dem Scheriff die Anzeige, daß
es ihm, wenn man das Gefängnis nicht in beſſeren Zuſtand
verſetze, zu ſeinem Leidweſen aus geſundheitlichen Gründen
und im Intereſſe feiner perſönlichen Sicherheit nicht länger
möglich ſein werde, darin zu bleiben. Es regne und ſchneie
zum Dach herein, und die Tür habe kein Schloß, fo daß es ihm,
zumal bei Wind, ſchwer falle, ſie zu- und ſich ſelber eingeſchloſſen
zu halten. Auch hier gab man den Rat, davonzugehen, und
diesmal hatte man mehr Glück, denn der Gefangene machte
ſich in der Tat auf die Socken. E. A
Billiger Einkauf. — Die Herzogin von Montpenſier war
eine ſehr ſparſame Frau und dabei eine leidenſchaftliche Samm-
lerin alter Kunſtſchätze. Einſt entdeckte fie auf einem Streif
zuge durch die winkeligen Gaſſen des alten Paris bei einem
Trödler einen wunderſchönen Kaſten, der angeblich aus dem
15. Jahrhundert ſtammen ſollte. Nach langem, von beiden
Seiten mit Gelehrſamkeit und Zähigkeit geführten Feilſchen
einigte man ſich über den Preis.
„Meinetwegen,“ ſagte die Herzogin, „tauſend Franken gebe
ich — vorausgeſetzt, daß der Kaſten zu den übrigen Möbeln
meiner mittelalterlichen Stube paßt.“ Und als ſie dieſe Worte
ſprach, fiel ihr Blick auf eine allerliebſte, kleine römiſche Statue.
Ganz leichthin, wie wenn ſie die Statue vorher gar nicht geſehen
hätte, ſagte ſie dann noch: „Aber wenn ich Ihnen den Kaſten
ſchon zu einem ſo hohen Preiſe abnehmen ſoll, müſſen Sie mir
irgend etwas daraufgeben; vielleicht dieſe Statuette da?“
Der Trödler machte ein ſaueres Geſicht, doch er willigte
Mannigfaltiges. 235
ſchließlich ein, weil er es mit der ihm wohlbekannten Herzogin
nicht verderben wollte, und er überdies hoffte, beim nächſten
Male den Wert der Zugabe doppelt hereinzubringen. Am
anderen Tage ſchickte er den Kaſten und die Statue in das
prunkvolle Heim der Herzogin und wartete ungeduldig mehrere
Wochen auf das Geld. Wie groß aber war ſein Erſtaunen, als
nach Ablauf dieſer Zeit der Kaſten mit einem duftenden Brief-
chen der Herzogin zurückkam, in dem ſie lebhaft bedauerte, daß
der Kaſten doch nicht zu den Möbeln paſſe. Über die Statue
ſagte ſie kein Wort. Die Dreingabe hatte allem Anſcheine nach
zu den Möbeln gepaßt. A. E.
Wohlriechende Glockenſzilla. — LUnfere Landſchafts-
gärtnerei hat ſich in neuerer Zeit den bunten Flor der Früh-
lingszwiebelgewächſe zunutze gemacht und bepflanzt jetzt Ra-
batten und die Ränder von Gehölzgruppen mit leuchtenden
Frühlingsblumen. Unſere umſtehende Abbildung zeigt eine
ſolche Pflanzung vor einer Gehölzgruppe, und zwar mit der
jetzt ſehr in Aufnahme gekommenen wohlriechenden Glockenſzilla.
Die Blütezeit der Glockenſzillen fällt in die Monate Mai
und Juni. Ihre Blüten ähneln ein wenig den Hyazinthen-
blumen, aber ſie ſind graziöſer als dieſe. Sie werden etwa
20 bis 30 Zentimeter hoch. Man kann ſie an Ort und Stelle
etwa drei Jahre lang ſtehen laſſen, da ſie winterhart ſind.
Nach Ablauf dieſer Zeit werden ſie am beſten umgepflanzt.
Man kann auch die Zwiebeln, wenn das Kraut vollſtändig welk
geworden iſt, ausheben, an einer trockenen Stelle lagern und
dann im Herbſt oder im Winter bei offenem Boden einpflanzen.
Will man ſie zeitig im Frühjahr blühen ſehen, ſo gräbt man an
einem froſtfreien Tage einige Zwiebeln aus der Erde und ſetzt
ſie in Töpfe, deren Erde gehörig angefeuchtet wird. Will man
eine lange Blütenperiode erzielen, ſo ſtelle man den Topf zwar
ans Fenſter, aber möglichſt weit weg vom Ofen. Allzu große
Wärme läßt die Stengel ſchnell aufſchießen, und der Flor ver-
geht in wenigen Tagen. Nach dem Abblühen werden die
Zwiebeln wieder an Ort und Stelle gepflanzt.
Man kann die Glockenſzilla auch als ſogenannte Streu-
blume in den Gartenraſen einpflanzen. Man nimmt ein ſpitzes
256 Mannigfaltiges. u
Pflanzholz, ſticht in den Raſen überallhin Löcher und ſteckt die
Zwiebeln der Szilla hinein. Dann wird Erde darüber gebreitet.
Die Blüten erſcheinen dann im Frühjahr mitten im grünen
Raſen, was einen anmutigen Anblick gewährt. Nach der Blüte
3
Wohlriechende Glockenſzilla.
können die Zwiebeln an Ort und Stelle verbleiben und erſcheinen
im nächſten Jahre wieder. —dt.
Japaniſche Weisheitslehren. — Die japaniſche Regierung
läßt neuerdings unter dem Volke ein kleines Schriftchen ver-
teilen, das Vorſchriften zu vernunftgemäßem Leben enthält.
Dieſe Vorſchriften find deswegen von ganz beſonderem znter—
eſſe, weil ſich in ihnen morgenländiſche mit abendländiſchen
Anſchauungen verſchmelzen. Die meiſten dieſer Regeln ſind
dieſelben, die bei allen Kulturvölkern Geltung haben, manche
u Mannigfaltiges. 257
aber ſind unſeren Gewohnheiten ſogar voraus. Nach den
Mitteilungen einer engliſchen Zeitſchrift lauten die erſten
zehn dieſer Regeln wie folgt:
„Erſtens: Verbringe ſo viele Zeit, wie du nur kannſt, im
Freien. Sonne dich viel und mache dir viel Bewegung. Achte
darauf, daß du ſtets tief und regelmäßig atmeſt.
Zweitens: Was das Eſſen anbetrifft, ſo iß nur einmal
Fleiſch am Tage, im übrigen laſſe deine Koſt aus Eiern, Ge-
treide, Gemüſe, Obſt und friſcher Kuhmilch beſtehen. Was du
zu dir nimmſt, kaue tüchtig.
Drittens: Bade einmal an jedem Tage und nimm ein
paarmal in der Woche ein Dampfbad, wenn dein Herz kräftig
genug iſt, das auszuhalten.
Viertens: Trage grob gewebtes Unterzeug und Kleider,
einen bequemen Kragen, einen leichten Hut und gut paſſende
Schuhe.
Fünftens: Gehe früh zu Bett und ſteh zeitig auf.
Sechſtens: Schlafe bei offenſtehendem Fenſter in einem
ſehr dunklen und vollkommen ruhigen Zimmer, die Dauer
des Schlafes ſoll mindeſtens ſechs und höchſtens ſieben Stunden
betragen. Perſonen weiblichen Geſchlechtes ſind acht Stunden
Schlaf zu empfehlen.
Siebentens: Einen Tag in der Woche widme vollſtändiger
Ruhe. Jeglicher Arbeit mußt du dich dann enthalten, auch nicht
einmal ſchreiben und leſen.
Achtens: Suche jeden Ausbruch von Leidenſchaften und
ſtarke geiſtige Erregungen zu vermeiden. Sorge dich nicht
um das Eintreffen unvermeidlicher Ereigniſſe in der Zukunft
oder kommender Dinge. Erzähle keine unangenehmen Ge—
ſchichten und, wenn irgend möglich, höre dir ſolche auch nicht an.
Neuntens: Heirate! Witwer und Witwen ſollten ſich ſo—
bald als möglich wieder verheiraten. |
Zehntens: Sei mäßig im Genuß von Tee und Kaffee, ver-
meide Tabak und alkoholiſche Getränke. 8g. C.
Die Zone des Schweigens. — Über eine außerordentlich
intereſſante Beobachtung, die für die Bewertung der Zeugen-
ausſagen vor Gericht, wie für die Kriminaliſtik überhaupt
238 Mannigfaltiges. 2
von größter Bedeutung werden kann, berichtet der Züricher
Meteorologe Doktor A. de Quervain. Er hat nämlich die
Feſtſtellung gemacht, daß beim Bau der Zungfraubahn eine
Erplofion von 25 000 Kilo Dynamit in normaler Weiſe im
Umkreis von 30 Kilometern gehört wurde. Darüber hinaus
ſchloß ſich eine Zone von etwa 140 Kilometern an, in der die
furchtbare Detonation überhaupt nicht gehört wurde, während
in einem weiteren, an dieſe Zone ſich anſchließenden Gürtel
von etwa 50 Kilometer Breite der Knall wieder deutlich ver-
nommen wurde.
Durch dieſe Beobachtung gewinnt auch ein hiſtoriſcher Fall
wieder an Intereſſe, der im Jahre 1760 ſpielte. Während der
Schlacht von Liegnitz hörten die kaiſerlichen Generale Daun
und Laſcy ſamt ihren Truppen den Kanonendonner nicht und
kamen daher dem General Laudon nicht rechtzeitig zu Hilfe.
So kam es, daß Friedrich der Große damals die Schlacht von
Liegnitz gewann. Die zur Rechtfertigung gezogenen Generale
beteuerten, von dem Schlachtgetöſe nicht das geringſte wahr-
genommen zu haben, aber man glaubte dies den Generalen
ebenſowenig wie den Mannſchaften, da feſtgeſtellt wurde,
daß weit hinter ihnen liegende Truppenteile den Ranonen-
donner vernommen hatten.
Heute hält man die Behauptung der Generale wohl für
möglich und erklärt ihr Nichthören durch Nebel, verſchiedene
Erwärmung der Luftſchichten und durch eine beſondere Art
von Brechung der Schallwellen, wie ſie auch bei Lichtſtrahlen
beobachtet wird. Nimmt man nun aber eine derartige „Zone
des Schweigens“ an und überträgt ſie von den geſchilderten
großen Ereigniſſen auf die kleineren des täglichen Lebens,
ſo ergeben ſich für die Kriminaliſtik neue wichtige Möglichkeiten.
Man wird dann die Glaubwürdigkeit von Zeugen, die einen
Schuß, menſchliche Schreie und dergleichen nicht gehört haben
wollen, während vom Tatort entferntere Perſonen dieſe Ge-
räuſche deutlich vernommen haben, nicht mehr ſo ohne weiteres
beſtreiten können. Während das Gericht bei milder Auffaſſung
bisher derartige Zeugenausſagen mit ſchlechtem Gehör, mangeln-
der Aufmerkſamkeit und ſo weiter erklärte, und bei ſtrenger
E Mannigfaltiges. 239
Auffaſſung ſie als Begünſtigung und nicht ſelten als falſche
Ausſagen anſah, wird es nun nicht umhin können, dieſe neueſten
Wahrnehmungen auf dem Gebiete der Akuſtik bei der Bewer-
tung der Zeugenausſagen in Berückſichtigung zu ziehen.
Immerhin bedarf es aber bei der außerordentlich geringen
Anzahl ſolcher einwandfrei feſtgeſtellten Fälle noch einer ein;
gehenden wiſſenſchaftlichen Unterſuchung der ihnen zugrunde
liegenden Urſachen, bevor ſie eine wirklich praktiſche Bedeutung
in unſerem Rechtsleben ſich erringen können. R. M. W.
Das Wichtigere. — Ein allerliebſtes Geſchichtchen, das den
doppelten Vorzug hat, wahr zu ſein und einen für liebende
Mädchenherzen wertvollen Beitrag zur Pſychologie des
Mannes zu bieten, trug ſich vor einer Reihe von Jahren
in Kopenhagen zu. Zwei junge Mädchen hatten ihre Herzen
an einen und denſelben jungen Mann, einen entfernten Ver-
wandten ihrer Familien, verloren, waren aber ungewiß, welche
von ihnen er wiederliebe. Beide redeten ſich ein, er habe ſie
ins Herz geſchloſſen. Nach einigem Hin und Her kamen fie
überein, den jungen Mann auf eine Probe zu ſtellen; jede der
beiden Damen ſollte ihm ein Brieflein ſenden, das die Ein-
ladung enthielte, ſie zu derſelben Stunde zu beſuchen, und da
er doch zu gleicher Zeit nicht beiden Aufforderungen Folge
leiſten könnte, ſo ſollte diejenige als die von ihm am meiſten
geliebte gelten, zu der er käme oder zuerſt kommen würde.
Weſentlich erleichtert durch dieſe Abmachung, trafen die
Mädchen auf demſelben Spaziergange, der dieſen Beſchluß
in ihnen reifen ließ, zufällig den Gegenſtand ihrer Neigung.
Er hatte es ſehr eilig und wußte ihnen nichts weiter zu ſagen,
als daß er irgendwo feinen Regenſchirm habe ſtehen laſſen.
Als nun das erſte Fräulein ans Briefſchreiben ging, faßte
ſie den Entſchluß, um auf jeden Fall den Sieg über ihre Neben-
buhlerin davonzutragen, auch vor einer kleinen Lüge nicht
zurückzuſchrecken, und ſo ſchrieb ſie denn: „Liebſter Karl!
Ich bin ſehr krank. Vielleicht muß ich ſterben. Kommen Sie
doch ſicher heute abend punkt acht Uhr!“
Aber es ward halb neun, es ſchlug voll und wurde auch zehn
Ahr.
— mn mn on — — —
240 Mannigfaltiges. 2
Da kam triumphierend — die andere. So merkwürdig
es nach dem Inhalte jenes Briefs auch war, Karl hatte die
zweite beſucht, denn ſie hatte ihm kurz und bündig geſchrieben:
„Liebſter Karl! Kommen Sie doch heute abend punkt. acht Uhr
zu mir. Sie haben nämlich Ihren Regenſchirm bei uns stehen
laſſen.“ R. St.
Mediziniſches aus alter Zeit. — Zn der guten alten Zeit,
als jede Einwirkung auf die Menſchennatur noch durch derbe
Mittel bewerkſtelligt wurde, gab es in der Arzneiwiſſenſchaft
allerlei Abfonderlichketten, von denen man heutigestags nur
mit Verwunderung hört. Die Bereitung des damaligen All-
heilmittels, des Theriaks, den man nur aus Venedig gut und
echt beziehen zu können glaubte, während ihn jetzt jeder Apo-
theker ſelbſt bereitet, wurde unter den ſeltſamſten Zeremonien
vorgenommen. Ein Zug von zweihundertundfünfzig Gehilfen
zog in Nürnberg dabei in Prozeſſion zu der Apotheke, in der
die Bereitung geſchah — alle in weißen Schürzen und jeder mit
einem ſilbernen Teller, auf dem einer der größtenteils über-
flüſſigen Beſtandteile ſich befand. Dieſe wurden dann im Bei-
ſein von Arzten und Abgeordneten des Senats in einen großen
Keſſel geſchüttet, und das Umrühren geſchah mit jener Würde
und dem Ernſte, die jener Zeit eigen waren. C. T.
Ein bibelfeſter Theaterdirektor. — In einer kleinen Re-
ſidenzſtadt wurde Grillparzers Drama „Sappho“ aufgeführt.
Die Darſtellerin der Titelrolle fand ſolchen Beifall, daß fie
ſogar, nachdem ſie ihrer Rolle gemäß vom Leukadiſchen Felſen
ins Meer geſprungen war, von dem begeiſterten Publikum
herausgerufen wurde.
Statt ihrer trat der Direktor vor die Rampe, verbeugte ſich
und ſprach: „Verehrte Damen und Herren! Zn der Offen-
barung Johannis heißt es zwar: „Das Meer gibt ſeine Toten
wieder‘ — das kann aber leider erſt am Füngſten Tage der Fall
ſein! Fräulein F. bedauert alſo ſehr, Sie bis dahin ver—
tröſten zu müſſen. 5 R. R.
Herausgegeben unter Derantmortlicer Redaktion von
Theodor Freund in Stuttgart,
in Öfterreih-Ungarn verantwortlich Dr. Ernſt Perles in Wien.
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5 i ee an: =
Mit der Taſtenſchrift, jenem tauſendſach anerkannten Notenſyſtem,
kann jeder, ob alt oder jung, ob von leichter oder etwas ſchwerer Auf—
ſaſſung, in kürzeſter Zeit flott und fehlerfrei Klavier ſpielen. Noten—
kenntniſſe find nicht erforderlich. Nach den übereinſtimmenden Ur—
teilen ſolcher, die das Klavierſpiel nach der alten Notenſchrift erlernt
haben, kann man mit der Taſtenſchrift in wenigen Wochen das er—
reichen, wozu man früher Jahre benötigte. So ſchreibt z. B. Frau L.
aus Prag am 16. 3. 1914:
„Ich bedauere nur, daß mir der Zufall erſt jetzt Ihre werte
intereſſante, dabei ſo leichte Methode zugeführt hat. Meine beiden
Kinder ſpielen bereits geläufig vom Blatt und ſind ganz glücklich
darüber.“
Die Taſtenſchrift iſt eine ernſt zu nehmende Methode, die auch von
Berufsmuſikern allgemein geſchätzt wird.
Das komplette Werk, das neben allen zur Erlernung notwendigen
Einzelheiten auch noch etwa 25 vollſtändige Muſikſtücke, wie Lieder,
Märſche, Tänze uſw. enthält, koſtet 5 M. und kann gegen vorherige
Einjendung des Betrages oder Nachnahme von dem Wrufif- Verlag
Euphonie. Friedenau 11 bei Berlin, bezogen werden. An Inter-
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ſendung von 50 Pf. in Briefmarken Aufklärung und einige Probes
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