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Full text of "Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens 1914, Band 10"

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Bibliothek der Unterhaltung 
und des Wissens 


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7 der deut Recht ib ür Schul d Haus. Amt⸗ 
Erbes Wörterbuch benoten entpält über 109009 Wörter.preis init. bf, 


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Eine gute Erfindung ist der neue Universal-Nasenformer, Zello“, Modell 16, 
welcher soeben von dem Spezialisten vorgelegt wird. Dieser so überaus 
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den, dicken oder langen Nase nient zufrieden ist, einen unschätzbaren 
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2 ialist L. M. BAGINSKI, BERLIN 266, Winterfeldtstr.34 und 
Sr II n RIGA (Russland) Gr. Schmiedestr. 5. II 


J nferate in der „Bibliothek der Unterhaltung und des wiſſens“ haben infolge 

— ſachgemäßer Verbreitung in allen Schichten der Bevölkerung dauernde 
Wirkungskraft. Wegen der Inſertionspreiſe, insbeſondere der Preiſe für vorzugsſeiten, 
wende man ſich an die Anzeigengeſchäftsſtelle der „Bibliothek der Unterhaltung und des 
wiſſens“ in Berlin S 61, Blücherſtraße 31. #9649946090699906099090900000905009 


>>> III III I ICH 


Infantina. 


1 
EN (Dr. Theinhardt's Kindernahrung.) 1 


Zubverlälliger Zufatz zur verdünnten Kuhmilch für die Ernährung 1 
der Säuglinge in geſunden und kranken Tagen. In vielen Hrzte- 
familien, Säuglingsmilckküchen, Krankenhäuiern uſw. ſeit über 
2% Jahren ſtändig im Gebraud. 

Preis der / 1 Büdie d 500 gr. M. 1.90. 


nB. Ehe eine Muffer zur künitlihen Ernährung übergeht, leſe fie die von der 
Dr. Theinhardt's Nährmittel-Geiellichaft m. b. 5. Stuttgart-Cannitatf herausgegebene 
und in den Verkaufsitellen gratis erhältliche Broichüre: „Der jungen Mutter 1 
gewidmet“, welche viele prakfliche Winke für die rationelle Pflege und Ernäh- 
rung ihres Hieblings enthält. 


A) 92 8 — 
fHysiama. 
6 N ex Wohlſchmeckend. — l[teichtverdaulich. — Billig. 
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> — Beitgeeignetes Frühlfücks- und Abend» 
J getränk für Geiunde und Kranke jeden Alters. Von eriten 
Ärzten feit über 2% Jahren als vorzügliche „Bereicherung der Kranken« 
koſt“ geſchätzt und vorzugsweile verordnet. 
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Gebrauchsfertige Kraftnahrung. 

Für Sporttreibende, Theaterbeiucher und alle Diejenigen, welche 
nicht regelmäßig zu ihren üblichen Mahlzeiten kommen, von ganz 
belonderem Wert. | 

Preis einer Shacttel mit 20 Doppeltabletten IM. 1.—. 
= Vorrätig in den meilten Apotheken und Drogerien. = 


HB. Man verlange die von Dr. Theinhardt’s Nährmittel-Geiellichaft m. b. 5. 
Stuttgart-Cannitatt herausgegebenen und unter Berufung auf die „Bibliothek der 
Unterhaltung und des willens“ gratis erhältlichen Broichüren 


„Ratgeber für die Ernährung in geſunden und kranken Tagen“ 
und „Hugiama-Tabletten und ihre Verwendung“. 


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III IC CI IOO--OO II. 


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Eine rationelle 
Körperpflege 
— . 


Täglich 1/4 Stündchen Sanax⸗Maſſage 
iſt die beſte und bequemſte Körperpflege, feſtigt 
Geſundheit und Körperkraft, beugt der Ent— 
wicklung von Krankheiten vor und entfernt 
etwaige Krankheitsſtoffe und krankhafte Ab⸗ 
lagerungen aus den Geweben. Wer ſich geſund 
erhalten will, muß für die Sanax-Maſſage 
/ Stündchen täglich erübrigen. 


Zu beziehen durch alle Geſchäfte, 
u wo obige Plakate ausliegen. ca 


Sunax-Fübrik: BERLIN N. 24, Friedrichstr. 131 d. 


"Bibliothet 
der Unterhaltung 
und des Wiſſens 


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Zu der Erzählung „Nur ein Traum“ von W. Granville 
Schmidt. (S. 12) 
Originalzeichnung von Adolf Wald. 


Pie / N 109 
IQIIZEU O72 


ibliothek 
der Unterhaltung 
und des Wiſſens 


Mit 
Original beiträgen 
der hervorragendſten 
Schriſtſteller und Gelehrten 
ſowie zahlreichen 
llufteationen 
> 


Jahrgang 1914 + Fehnte 


Union Deutſche verlagsgeſellſchaſt 
Stuttgart + Berlin Leipzig 


Copyright 1914 by Union deutſche verlagsgeſellſchaſt in Stuttgart 
Druck der Union deutſche verlagsgeſellſchaſt in Stuttgart 


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Inhalts - Verzeichnis. 


7 


Nur ein Traum. 
Eine Seegeſchichte von W. Granville Schmidt. Mit 
Bildern von Adolf Wald . Sn al eg 
Der felige Major. 
Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel) (Fort- 
ſetzung) 5 e ee 
Jung⸗Japan. 
Von Felix Baumann. Mit 9 Bildern 
Liebe Sorgen. 
Novelle von Elſe Krafft 
Menſchliche Ungeheuer in Sage ine Sefhichte 
Von Wilhelm Fiſcher. Mit 8 Bildern 5 
Klaas Baalfens drei Bräute. 
Novellette von Heinrich Tiaden . 
Einiges vom Kino. 
Von Reinhold Ortmann. Mit 12 Bildern . . 
Mannigfaltiges: 
Der Schatz des Bauern Smarta 
Die enttäuſchten Turko 


Aus Alt- Berlin 
Mit 2 Bildern. 


Die Rache des Regiffeurs . 

Tauchererlebniſſe . ; 
Baut der Storch Getreide? . 
Bismarck und die Musketiere 


Seite 


172 


211 
215 
217 


2_0 
221 
223 
224 


Inhalts-Verzeichnis. a 


Die Fürſtin Zurjews kala 226 
Mit Bild. 


Das älteſte Lebeweſen der Welt.. . 230 
Heilkraft von Lilienblätteerrrrn . 231 
Fidele Gefängnisgeſchichten „ e e e e e e 


Billiger Einkauf. : dee a ee ee. DA 
Wohlriechende Glocenſzilla ee dere Ar Ke 235 
Mit Bild. 


gapaniſche Weisheitslehren „ e 
Die Zone des Schweigens sss . 237 
Das Wichtigere . . d 289 
Mediziniſches aus alter geit. . N e a ar LAD 
Ein bibelfeſter Theaterdirektoeiei e . 240 


SD 
* 


EIKIEIKIES 


Nur ein Traum. 
Eine Seegeſchichte von W. Granville Schmidt. 


Mit Sildern von 1 | 
Adolf Wald. (Nadörud verboten.) 
Wir lagen mit unferer Viermaſtbark „Port Cale- 

donia“ an der Ladebrücke des chileniſchen De 
fens Talcahuano. 

unaufhörlich rollten die mit Guano gefüllten Kipp- 
karren auf dem ſchmalen Eiſengerüſt der Brücke bis 
an das Schiff und entleerten ihren übelduftenden In- 
halt in den Raum des Seglers. 

Eine dünne, gelbliche Schicht bedeckte bald alle 
Gegenſtände an Bord, und die Hafenarbeiter trugen 
zum Schutz gegen den für das Auge ſehr ſchädlichen 
Staub ſogenannte Guanobrillen. 

Faſt drei Wochen lagen wir ſchon in Talcahuano; 
aber heute noch wurde die Ladung beendet, und dann 
ſollte die Heimreiſe angetreten werden. 

Dieſe willkommene Ausſicht erweckte im Mann- 
ſchaftslogis große Freude, und obwohl uns noch reich- 
lich ein Vierteljahr von dem Zeitpunkt der Ankunft 
in England trennte, ſchmiedeten die Leute doch ſchon 
eifrig Pläne, wie ſie ihre Erholungszeit in der Heimat 
verbringen wollten. 

Um fo erſtaunter war ich, als ich Fim, unſeren 
alten Bootsmann, verdüſtert, mit umwölkter Stirn auf 
dem Kettenkaſten ſitzend antraf. 


6 Nur ein Traum. 2 


Er hielt die erloſchene Kalkpfeife läſſig in der Hand 
und nickte nur ſchweigend mit dem Kopf, als ich neben 
ihn trat. | 

„Na, Jim,“ forſchte ich ſcherzend, „iſt dir die Peter- 
ſilie verhagelt, weil die braunen Kerle das Deck fo 
verdrecken — oder haſt du gar Liebeskummer?“ 

Es war nämlich an Bord bekannt, daß ſich Jim 
Brown trotz ſeiner fünfundvierzig Jahre noch mit der 
jungen, lebensluſtigen Tochter ſeiner Logiswirtin in 
Dartford verlobt hatte und mit rührender Liebe an 
ihr hing. 

Natürlich bekam er manchen gutmütigen Spott zu hö— 
ren; aber er ging ſtets mit behaglichem Humor auf unſere 
Scherze ein, denn er wußte, daß wir ihn gern hatten. 

Diesmal ſchien ihn aber doch fein Mutterwitz ver- 
laſſen zu haben; denn er entgegnete gedrückt: „Liebes- 
kummer werd' ich bald nicht mehr haben, Steuermann. 
Ich ſeh' meine Beſſie ja doch nicht wieder!“ 

Das hatte ſo troſtlos geklungen, daß ich ihm die 
Hand auf die Schulter legte und teilnahmvoll fragte: 
„Haſt du ſchlechte Nachricht von Hauſe bekommen, 
Jim? Fſt Beſſie krank oder gar tot?“ 

„Sie nicht. Aber ich werd's bald ſein!“ 

Jim Brown ſtarrte wieder trübſinnig vor ſich hin. 
Etwas verblüfft beobachtete ich ihn von der Seite. 
Was konnte er nur haben, er, der ſonſt einer der Lebens- 
luſtigſten an Bord war und der Krankheit gar nicht 
zu kennen ſchien? 

Ich beſchloß, der Sache energiſch auf den Grund zu 
gehen. „Was iſt denn nur los, Jim? Erklär dich doch 
genauer. Vielleicht können wir dir helfen.“ 

Der alte Burſche ſchüttelte traurig den Kopf, und 
als ich noch weiter in ihn drang, blickte er ſich ſcheu um, 
ob auch kein Lauſcher in der Nähe weile, und entgeg- 


2 Von W. Granville Schmidt. 7 


nete dann mit unterdrückter Stimme: 
„Steuermann, Sie ſollten es eigentlich 

nicht wiſſen und die anderen auch nicht, weil 
Sie da nicht dran glauben und mich nur auslachen. — 
Alſo, ich hab' einen Traum gehabt, und ich weiß, daß 
ich auf dieſer Reiſe ſterben muß.“ 


: 8 Nur ein Traum. 2 


„Ach Unſinn, wer glaubt denn an Träume!“ ent- 
fuhr es mir ärgerlich, und neugierig ſetzte ich hinzu: 
„Was haſt du denn nun wieder für Humbug geträumt? 
— Jim, ich dachte wirklich, du Al etwas ge 
für. dein Alter.“ 

Der Bootsmann machte eine abwehrende Hand- 
bewegung und meinte in leichtbeleidigtem Tone: 
„Was ich weiß, das weiß ich, Steuermann, und wenn 
Sie zehnmal nicht an Träume glauben wollen. Bis 
jetzt iſt es noch ſtets eingetroffen, und deshalb ſag' ich 
Ihnen, dieſe Reife iſt meine letzte!“ 

Der beſtimmte Ton, in dem er ſprach, machte Ein- 
druck auf mich, und etwas beſorgt drängte ich: „Er- 
zähle doch wenigſtens, was dir träumte!“ 

Zim muſterte mich mißtrauiſch; aber als er ſah, daß 
ich ernſt blieb, erzählte er langſam, ſchwerfällig, wie 
es ſo ſeine Art war: „Wie ich vergangene Nacht in 
meiner Koje lag, träumte mir, uns begegnete auf 
hoher See der „Fliegende Holländer‘, Dann war das 
Waſſer auf einmal wieder ſpiegelglatt, und auf der 
Oberfläche kam meine Beſſie auf mich zu. Sie winkte 
mir mit der Hand. Aber wie ich einige Schritte vor- 
wärts ging, um ihr die Hand zu reichen, verlor ich den 
Boden unter den Füßen und fiel tief und immer 
tiefer, bis alles ſchwarze Nacht um mich war.“ 

„Jim, du haſt ſchlecht geſchlafen und hatteſt AUlp- 
drücken,“ tröſtete ich ihn. „Wegen eines Traumes 
braucht man doch nicht den Kopf hängen zu laſſen.“ 

„Es traf aber immer ein!“ beharrte er eigenſinnig, 
und mutlos fügte er hinzu: „Der Traum ſagt ja, daß 
ich mich von Beſſie trennen muß, ehe ich ihr noch die 
Hand wieder ſchütteln kann.“ 

Jim Brown ſtützte den Kopf in die Hände und ſtarrte 
wieder trübſinnig geradeaus. 


u Von W. Granville Schmidt. 9 


Achſelzuckend entfernte ich mich, denn ich wußte 
wohl, es hatte keinen Zweck, ihm ſeinen Aberglauben 
ausreden zu wollen; aber ich beſchloß im ſtillen, wäh- 
rend der Reiſe auf ihn achtzugeben. 


* * 
K* 


Einige Wochen ſchwamm die alte „Port Caledonia“ 
nun wieder auf hoher See, und ein günſtiger Wind hatte 
uns raſch bis zum Kap geführt. 

Der gewohnte Dienft an Bord beanſpruchte wieder 
unſer ganzes Intereſſe, und fo vergaß ich bald, was mir 
der Bootsmann über feinen Traum und feine Be— 
fürchtungen anvertraut hatte. 

In einer ſtürmiſchen Nacht wurden alle Mann an 
Oeck beordert zum Segelbergen. 

Es war Sitte an Bord, daß in Stunden der Gefahr 
auch der zweite und dritte Steuermann mit in die 
Takelage gingen. 

So geſchah es auch diesmal, und der Zufall wollte 
es, daß ich auf der Vorbramrahe neben dem Bootsmann 
zu ſtehen kam. 

Schweigend, mit zuſammengebiſſenen Zähnen preß- 
ten wir die Fäuſte immer wieder gegen die ſich auf- 
buchtende Leinwand, und als wir das große Segel 
endlich geſchlichtet hatten, rann uns trotz der grimmigen 
Kälte der helle Schweiß von der Stirn. 5 

Gerade wollten wir uns nach dem Maſt taſten, da 
hörte ich, wie Fim Brown, der am weiteſten nach dem 
Rahnock zu ſtand, einen unterdrückten Schrei ausſtieß 
und meinen Arm packte. 

unwillkürlich folgte ich mit den Augen der Richtung 
ſeines Kopfes. Unter uns brauſte das Meer; wir 
konnten die weißen Schaumkämme heraufleuchten 
ſehen. Aber vor uns — was war das? 


10 Nur ein Traum. 0 


Aus der Finſternis vor uns tauchte urplötzlich eine 
dunkle, wirre Maſſe auf — das Takelwerk eines an- 
deren Schiffes. 

Deutlich ſa— 
hen wir die 
ſchlankaufſtre— 
benden Maſten, 
die Rahen mit 
ihren Pardu— 
nen und Sta— 


— — 


gen und die noch ſtehenden Flächen der Unterſegel. 

Inſtinktiv duckten wir uns und ſchloſſen die Augen, 
als fürchteten wir, das fremde, geheimnisvolle Schiff 
würde nun über uns hinwegraſen. 


u Von W. Granville Schmidt. 11 


Blitzſchnell ſpielte ſich das folgende ab: Wir hörten 
ein Scharren, wie wenn ein ſchwerer Körper am Eijen- 
rumpf unſeres Schiffes entlang ſcheuerte; dann erſcholl 
ein Splittern, Krachen, von irgendwoher ein dumpfer 
Aufſchrei aus menſchlichem Munde — und dann tiefe 
Stille, die nur vom Brauſen des Meeres unterbrochen 
wurde. 

Als wir, ganz verwirrt, die Augen wieder öffneten, 
herrſchte die alte Finſternis; von dem fremden Segler 
war keine Spur mehr zu entdecken. 

„Sehen Sie — mein Traum, Steuermann!“ 
raunte mir der Bootsmann zu. 

Ich erwiderte nichts, aber mir zitterten Roch die 
Knie, als ich die Pardunen hinabſtieg an Deck. 

Unten herrſchte die größte Verwirrung. Die halbe 
Bagienrahe war zerſplittert von oben gekommen, 
glücklicherweiſe ohne jemand zu verletzen. 

Nachher lief mir der Bootsmann noch einmal in 
den Weg. Er ſah bleich aus und meinte mit vor Er- 
regung bebender Stimme: „Nun weiß ich's gewiß, 
Steuermann. Der erſte Teil meines Traumes iſt in 
Erfüllung gegangen. Das war der „Fliegende Hol- 
länder“. arme Schiff!“ | 

„Laſſen Sie mich in Ruhe mit ſolchen Dummheiten!“ 
brauſte ich jetzt auf, denn die Leute waren ſowieſo 
ſchon durch den rätſelhaften Vorfall nervös geworden, 
und ich fürchtete, daß ſie der Bootsmann mit ſeinem 
Geſchwätz ganz kopfſcheu machen würde. „Das war 
ein richtiges und kein Geiſterſchiff!“ 

Natürlich glaubten die meiſten an Bord nicht an eine 
Exiſtenz des ſagenhaften Unglücksſchiffes; aber ebenſo— 
wenig konnten wir uns einen Vers auf das Geſchehene 
machen. Erſt der kommende Morgen mußte Aufſchluß 
bringen. 


12 Nur ein Traum. DO 


Das heranbrechende Tageslicht zeigte uns denn auch 
die Spuren des nächtlichen „Spuks“. Nicht nur die 
Bagienrahe war gebrochen — * die ganze Badbord- 
takelage hatte gelitten. 

Kopfſchüttelnd betrachtete der Kapitän die Ver- 
wüſtung und gab dann Befehl, die Schäden, ſo gut es 
ging, auszubeſſern. 

Gerade wollte er ſich in ſeine Kajüte begeben, um 
nach der aufregenden Nacht ein Stündchen der Ruhe 
zu pflegen, da kam der Schiffsjunge atemlos herbei 
und meldete, daß unter der Back ein fremder Mann 
liege, der ſtark aus einer Kopfwunde blute. 

Wir liefen unverzüglich nach der bezeichneten Stelle, 
und es zeigte ſich, daß der Zunge die Wahrheit geſprochen 
hatte; denn der Verwundete, der etwas verſteckt unter 
der Back lag, gehörte tatſächlich nicht zur Mannſchaft 
der „Port Caledonia“. 

Vorſichtig legten wir ihn auf eine Bahre“), dann 
betteten wir ihn in eine freie Koje. Seine Wunde 
wurde vom Kapitän kunſtgerecht verbunden. 

Die Verletzung war nicht ſchwer; aber der Fremde 
hatte ſchon ſtarken Blutverluſt erlitten und lag in 
tiefer Bewußtloſigkeit. 

Um die Mittagszeit erwachte er endlich, und als er ſich 
genügend geſtärkt hatte, machte er dem Kapitän folgende 
Angaben. Er ſei ein franzöſiſcher Matroſe und heiße 
Emile Bourget. Das Schiff, worauf er angemuſtert 
hatte, war das Vollſchiff „Maréchal Oudinot“ aus 
Nantes, von Cardiff mit Kohlen nach Santa Roſalia 
unterwegs. Der Sturm hatte in letzter Nacht die 
Poſitionslaternen zertrümmert, und ſo ſei man zur 
Zeit des Zuſammenſtoßes ohne Lichter gefahren. Gleich 


*) Siehe das Titelbild. 


u Von W. Granville Schmidt. | 13 


feinen Kameraden fei auch er zum Segelreffen nach 
oben gegangen und habe ſich rittlings auf ein Rahnock 
geſetzt. Plötzlich habe er die Seitenlichter eines Schiffes 
bemerkt, das direkt auf den „Marechal Oudinot“ zu- 
gehalten habe, und ehe er recht zur Beſinnung kam, 
ſeien die Schiffe ſchon hart aneinander vorbeigeſtreift. 
Er habe nur noch gefühlt, wie ein Rahnock des fremden 
Schiffes ihn erfaßte und von ſeinem luftigen Poſten 
herunterriß; dann ſei er herabgeſtürzt und habe das 
Bewußtſein verloren. 

Dieſe Ausſagen des fremden Matroſen wurden forg- 
fältig ins Journal eingetragen; denn daraus ergab ſich 
ja, daß der Franzoſe, weil er keine Lichter geführt 
hatte, allein die Schuld an dem Zuſammenſtoß trug, der 
diesmal noch ziemlich glimpflich abgelaufen war, aber 
ebenſogut beide Schiffe hätte vernichten können. 

Um Mittag traf ich beim Wachwechſel mit dem 
Bootsmann zuſammen. 

„Na,“ redete ich ihn ſcherzend an, „ſiehſt du nun, 
Jim, was es mit deinem „Fliegenden Holländer“ auf 
ſich hat? Als eine ganz gewöhnliche alte Kohlenſchute 
hat er ſich entpuppt. Jetzt aber auch Kopf hoch! Fit 
der erſte Teil des Traumes nicht eingetroffen, tut's 
der zweite erſt recht nicht!“ 

Ich weiß nicht, ob ich mit meinen aufmunternden 
Worten viel Erfolg erzielte. Jedenfalls ging Jim 
Brown dem Franzoſen weit aus dem Wege, obwohl 
ſich Bourget im weiteren Verlauf der Reiſe als ein 
williger und fleißiger Matroſe zeigte. Er ſchien durch- 
aus nicht unzufrieden darüber, daß das Schickſal ihn 
auf ſo eigenartige Weiſe an Bord unſeres Schiffes 
verſchlagen hatte. 


14 Nur ein Traum. 9 


Sonderbar, wie elektriſierend das Wort „Heimat“ 
auf den Seefahrer wirkt, der vom fernen Lande kom- 
mend zuerſt die weißen Kreidefelſen der engliſchen 
Kanalküſte vor ſeinen Augen auftauchen ſieht. 

Auch den Leuten an Bord der „Port Caledonia“ 
erging es fo, als an Backbord die Klippen von Dover 
aufſtiegen. Ihre Wünſche eilten dem Schiffe voraus. 

Nur einer machte eine Ausnahme — Zim Brown. 

Je mehr wir uns unſerem Beſtimmungshafen 
näherten, um ſo unruhiger wurde er. 

Endlich hatten wir die Themſemündung erreicht, 
ein Schlepper wurde engagiert, und der Lotſe kam an 
Bord. | 

„Nun biſt du doch wohl ruhig, Jim?“ meinte ich, 
als wir flußaufwärts fuhren. 

„Wir ſind noch nicht vor Anker!“ entgegnete er 
und heftete die Augen auf das ſpiegelglatte Waſſer, 
das von zahlreichen Schiffen belebt war. | 

Sein Fatalismus begann mich nachgerade zu ärgern, 
und ich wandte ihm kurz den Rücken. 

Gravesend, Tilbury und Greenwich wurden paſſiert. 
Leuchtend, im Glanze der ſinkenden Sonne, tauchten 
in der Ferne die Kuppeln und Türme der Rieſen— 
metropole London auf. 

Die Ankunft der „Port Caledonia“ war in London 
nicht unbekannt geblieben. Das Schiff hatte drüben 
lange „geküſtert“ und war gut zwei Fahre fort geweſen. 
Jetzt kamen viele Boote, in denen Verwandte unſerer 
Mannſchaft ſaßen, uns bereits entgegen, um uns auf 
der letzten Strecke das Geleit zu geben. Ein Winken 
und Tücherſchwenken hinüber und herüber begann, und 
ich bedauerte ordentlich, daß meine Verwandten in 
Hamburg wohnten und mich daher niemand bier er— 
wartete. 


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o Von W. Granville Schmidt. 15 


Auf einmal ſah ich, wie über des Bootsmanns 
Geſicht, der etwas abſeits von mir auf der Vack ſtand, 
ein heller Schein flog, und wie er eifrig ſein Taſchentuch 


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hervorzerrte. Seitlich vor uns ſtand in einem Ruder- 
boot aufrecht ein junges Mädchen. Sie hatte ihren 
Schleier abgenommen und ließ ihn grüßend im Winde 
flattern. Kein Zweifel, das war die junge Beſſie, 
Browns Verlobte. 


16 Nur ein Traum. oO 


Mit einem Male geſchah etwas Unerwartetes, 
Furchtbares. 

Ein einziger lauter Schrei aus weiblichem Munde 
ließ mich erſchreckt an die Reling eilen. 

In einem Nu hatte ich die ganze Situation erfaßt. 
Ein Schlepper war in nächſter Nähe in ziemlich ſchneller 
Fahrt vorübergefahren. Durch die verurſachte Wellen- 
bewegung gerieten die kleinen Boote ſtark ins Schwan- 
ken, und Beſſie, die aufrechtſtehend keinen Halt finden 
konnte, taumelte und ſtürzte kopfüber in den Strom. 

Ehe ich noch einen Entſchluß faſſen konnte, fühlte ich 
mich beiſeite geſtoßen. Es war Zim Brown, der ſich, 
die Braut in Lebensgefahr ſehend, mit voller Kleidung 
von der hohen Back ins Waſſer ſchwang. 

Von allen Seiten eilten die Boote nach der Unfall- 
ſtelle, und gleich darauf brachten die Inſaſſen eines 
Vergnügungsbootes das junge Mädchen auch ſchon in 
Sicherheit. 

Und unſer Bootsmann Zim Brown? 

Als die Fluten über ihm zuſammenſchlugen, ver- 
ſchwand er, um nicht wieder aufzutauchen. 

Ein Herzſchlag hatte offenbar ſeinem Leben ein 
plötzliches Ende bereitet. 

Als ich ging, um dem Kapitän Meldung zu erſtatten, 
ſchoß es mir durch den Kopf: War es wirklich nur ein 
Traum geweſen? 

Wer weiß es! 


EICIEJEIEN 


Der ſelige Major. 


Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 


(gortſetzung.) 5 (nachdruck verboten.) 


Sechſtes Kapitel. 


ber den Kiesweg des Vorgartens ſchritt Frau 
v. Klüver dem Diener voran zu ihrer Villa. 

„Es iſt ein Brief für die Frau Baronin abgegeben 
worden vom Herrn Profeſſor Stettenborn.“ 

Sie nickte und eilte die Stufen hinauf in ihr Ge- 
mach. 

Da lag das Schreiben auf dem Tiſch. Unter dem 
hellen Oeckenlicht hob es ſich blendend von der anne? 
Dede ab. 

Chriſtas Blicke hafteten mit geſpanntem Anterefie 
an den ſteilen Schriftzügen, bevor ſie den Umſchlag 
löſte. Dann las ſie, vor Freude errötend: 

„Ich werde mich morgen mittag gegen zwölf Uhr 
einfinden. Stettenborn.“ 

Er kam alſo! Nun ſollte alles aus ihrem Herzen 
herausquellen, was ſich ſieben lange Fahre darin ange- 
ſtaut hatte an Hoffen und Enttäuſchung, an Zukunfts- 
angſt und Mutterſchmerz — alles, was die unväterliche 
Abneigung ihres Gatten zurückgedrängt. 

Wunderſam, wie ihre Phantaſie, dieſe in Schlum- 
mer gehaltene Phantaſie, erwachte in Erwartung 

1914. X. 2 


18 Der felige Major. u 


eines Mannes, den fie ſeit ihrer Kindheit nur ein- 
mal geſehen, einmal geſprochen, und dem dennoch ihre 
Seele mit aller ihrer Laſt und Not entgegeneilte. 

In der Nacht hatte ſie einen wunderlichen Traum, 
darin ſich alles, was fie umgab, in Nebel auflöfte 
und ſelbſt der Fußboden unter ihr zu ſchwinden begann. 
Von ihrem eigenen Hilferuf war ſie erwacht und ſah 
mit Herzklopfen den jungen Tag am blaſſen Hori- 
zonte heraufziehen. — 

Punkt zwölf Uhr ließ Profeſſor Stettenborn ſich 
anmelden. 

Wie ſie ihm entgegentrat, das goldleuchtende Haar 
in lockiger Fülle um die Schläfen gelegt, die Augen 
von langen Wimpern halb verſchleiert, das liebliche 
Antlitz ſanft gerötet in nie gefühlter Spannung, fuhr 
ihm der häßliche Klatſch der Majorin v. Kalau durch 
den Sinn. Dieſe Frau mit ihrer unbewußten Würde, 
dieſe Trägerin allerſympathiſchſter Reize ſollte der 
Geiſtesfreiheit ermangeln. Eine Infamie, das nur zu 
denken! | 

Sie ftredte ihm die Hand entgegen, die er an 
feine Lippen drückte. Dann ſprach fie. Er ſaß ihr 
zugewandt und hörte mit aufmerkſamem Schweigen zu. 

Chriſta wußte wohl, daß langatmige Vorgeſchichten 
berühmten Arzten eine Qual zu ſein pflegen, aber 
dieſen teilnehmenden Zügen gegenüber löſte ſich un- 
willkürlich der Bann ihres unterdrückten Seelen— 
lebens, und jedes Wort, wie leiſe es auch über ihre 
Lippen glitt, enthüllte Stettenborn die tiefgrün- 
dige Empfindungskraft dieſes vereinſamten, in ſich 
zurückgedrängten Frauenherzens. | 

Von den Tagen glücklicher Hoffnung ſprach fie 
mit wechſelndem Erröten und von der traumſeligen 
Wonne, ihrem Kinde das Leben geſchenkt zu haben. 


2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 19 


Wie der Gedanke an das Geſchlecht dieſes Kindes 
nicht einen Augenblick ihr friſcherwachtes Mutterherz 
beſchlichen habe, wie ſie mit allen Kräften die Arme 
nach ihm ausgeſtreckt und man es ihr nicht hineingelegt, 
ihr nicht gezeigt, bis die Wucht der Wahrheit fie ftard 
genug fand, das Unausdenkbare zu ertragen, ohne es 
zu faſſen. 

Die Grenze, die ſie innehalten wollte zwiſchen ihrem 
eigenen und dem Empfinden ihres Gatten, verwiſchte 
ſich, je heißer und ſchneller der Blutſtrom ihr zum 
Herzen drang — fie ſchwand gänzlich unter dem fragen- 
den Blick, der bis in dieſes drängende Herz zu tauchen 
ſchien und volle Klarheit heiſchte. 

Da legte ſie ihm auch dieſe letzte und qualvollſte 
Wunde bloß. Da wußte er, daß ſein Hierſein ein 
widerwilliges Zugeſtändnis war und daneben einen 
letzten Hoffnungsfunken entfachen ſollte im Mutter- 
gefühl dieſes ihn unwiderſtehlich anziehenden jungen 
Weibes. 

„Sie dürfen überzeugt ſein,“ ſagte er mit Nachdruck, 
„daß ich mein ganzes Wiſſen und Können dieſem 
beklagenswerten Fall teilnahmvoll zur Verfügung 
ſtelle. Nur möchte ich auch zugleich die Kraft beſitzen, 
Sie auf die Bahn zu leiten, die aus dem Schickſals— 
druck hinausführt zur Selbſtbefreiung, zur Wider- 
ſtandskraft, der ſich alle irdiſche Bedrängnis ſchließlich 
beugen muß. Es läßt ſich der Anfang dazu finden 
in der Einſicht unſeres Unvermögens, etwas durchzu- 
ſetzen, was außerhalb der Möglichkeit ſteht, und in der 
Überzeugung, daß uns für die Löſung vieler Lebens- 
rätſel der rechte Sinn immer fehlen wird. Wenn ſich 
dieſer Einſicht die zweite hinzufügt, daß wir dieſes 
Unvermögen nicht als Vergewaltigung, ſondern als 
eine natürliche Schranke zu betrachten haben, über die 


20 Der felige Major. 2 


wir uns nicht hinwegſetzen können, ſo erhalten wir die 
Kraft, die Bürde ſo weit zu ertragen, daß ſie uns nicht 
dauernd wund drückt.“ 

Sie hatte den Sinn ſeiner Worte wohl verſtanden, 
und über ihre Wange rollte Träne um Träne. 

Es zwang ihn, ihre Hand zu ergreifen, als ob er 
ſie damit in ſich aufrichten und gefeſtigt machen könnte. 
„Enttäuſchte Hoffnungen,“ ſagte er mit warmer Herz- 
lichkeit, „dürfen uns ein Sporn ſein, unſere Wünſche 
umzuwerten, das heißt, einen anderen Weg zu ſuchen, 
um Befriedigung zu erlangen. Ganz abhängig von 
einem Fehlſchlag, und ſollte er auch der ſchmerzlichſte 
ſein, darf ſich kein Menſch machen laſſen. Das Leben 
verlangt Willens- und Tatkraft von uns und bietet 
uns zugleich darin das Mittel, tiefe Wunden auszu- 
heilen.“ 

Sie hielt die Augen vor ſeinem Blick geſenkt. Wie 
auf ein dürſtendes Feld fielen ſeine Worte gleich linden 
Tropfen nieder. Nie war der Aufruf zu einer höheren 
Lebensauffaſſung an ſie ergangen, nie ein Hinweis 
auf die Möglichkeit, ſich aus eigener Kraft zu ihr 
durchzuringen. Aber wo war dieſe Kraft? Sie hatte 
ſie nicht. In ihr war alles müde und matt — oh, 
wie matt geworden in der verbitterten, verquälten 
Unzufriedenheit ihres Gatten. 

Sie vermochte es nicht, ihre Finger aus Stetten- 
borns Hand zu löſen. Sie dachte nicht einmal daran, 
daß er ihre Rechte mit feſtem Druck umſpannte. Sie 
fühlte es nur wie einen warmen Strom in ſich hinüber- 
gleiten, der ihre Gedanken zurückwandte in die Zeit, 
da ſie ſich ſelbſt noch nicht verſtand. 

Verſtand ſie ſich denn jetzt? Wußte ſie, was im 
Geheimſten ihrer Seele ſich unruhevoll bewegte unter 
Stettenborns Worten? 


. Roman von Georg Hartwig (Emmy Noeppel). 21 


„Wollen wir jetzt zu der Kleinen hinüber— 
gehen?“ 

Sie ſchrak auf. Zum erſten Male war über das 
Bild ihres Kindes ein Schleier gefallen, der bei dieſer 
Frage jäh zerriß. „Ja,“ ſagte ſie aufatmend. „Wir 
wollen gehen.“ 

Er hatte den Blick nicht von ihr gewendet. Alſo 
las er die Gedankentätigkeit auf ihrer Stirn, dieſe 
taſtenden und ſuchenden Gedanken, die hilflos durch- 
einanderſchwirrten. 

Neben ihm ſchritt ſie den Gang hinab. Vor der 
Tür hielt er ſie noch einen Augenblick auf. 

„Ich möchte um die Gunſt bitten, neben dem Arzt 
auch den teilnahmvollen Freund jetzt in mir ſehen 
zu wollen.“ 

Sie nickte. „Gewiß!“ Und wieder fielen feine 
Worte erquidend in ihr Herz. 

Die Wärterin hatte die Bettſtatt vor das Kamin- 
feuer gerollt, deſſen Kniſtern und Praſſeln das einzige 
Leben in dieſem Raume zu ſein ſchien. 

Ein weißer Schleier lag über die Kiſſen gebreitet, 
um das blendende Licht der Flamme zu dämpfen. 
Ihr roter Widerſchein ſpielte darauf, glitt hinauf und 
hinunter, als zupfe eine unſichtbare Hand an dem 
leichten Geſpinſt. 

Stettenborn gab der Wärterin einen Wink, zurück- 
zutreten. Frau v. Kalaus temperamentvolle Beſchrei— 
bung ging ihm durch den Sinn, als er Schleier und 
Oecke lüftete. 

Chriſta war es, als hörte ſie ihren Herzſchlag durchs 
Zimmer hallen, als er ſich über ihr Kind neigte. Nur 
einen Funken Hoffnung jetzt — und der unväterlichen 
Abſicht ihres Gatten wurde eine Schranke errichtet. 
Sie wartete mit atemloſer Spannung darauf. Jede 


22 Der ſelige Major. u 


Bewegung, die Stettenborns Kopf und Hände machten, 
jede ſeiner Mienen verfolgte ſie mit angſtvoller Ungeduld. 

And jetzt richtete er ſich auf, legte Schleier und 
Decke ſanft zurück auf ihren Platz, ſtrich einige Male 
langſam darüber hin und winkte der Wärterin, ihre 
Stelle wieder einzunehmen. 

„Gehen wir wieder hinüber,“ ſagte er, ſich nach 
der Tür wendend, durch die ſie ihm ohne Zögern 
voranſchritt. 

Durch den lichtblauen Salon, deſſen reiche Aus- 
ſtattung zu dem eintönigen Weiß des verlaſſenen 
Zimmers in farbefreudigem Gegenſatz ſtand, huſchte 
ein Sonnenſtrahl vom Fenſter her bis zu der Stelle, 
wo Chriſtas fragender Blick in Stettenborns Augen zu 
leſen ſuchte. 

„Wenn Sie geſtatten, nehme ich noch einmal 
Platz,“ ſagte er und ließ ſich im Seſſel neben ihr nieder. 

Sie tat, wie er wollte. Die Hände hielt ſie auf den 
Knien gefaltet, und der Sonnenſtreif fiel wie ein 
goldenes Band darüber hin. 

Das ahnte ſie nicht, daß er bereits in ihre Seele 
geſehen und mehr darin geleſen hatte, als ihr ſelbſt 
bewußt war, daß er die Quelle ihres Leides verfolgte 
über das verſagte Mutterglück hinaus bis zum Ur- 
ſprung, bis dahin, wo die Sehnſucht des Weibes 
nach Liebe und Liebeshingabe verborgen ſchlummerte. 
Für jeden Seelenkundigen ſtand das wie eine ſtumme 
Anklage und Klage in Chriſtas Augen zu leſen. 

„Herr Profeſſor —“ 

Viel mehr als das empfindungsloſe Kind ſelbſt be- 
ſchäftigte ihn die Löſung des ehelichen Konflikts, deſſen 
Urſache dieſes Kind geworden war. Es wäre ihm 
unendlich lieber geweſen, angeſichts der hoffenden 
Zuverſicht in Chriſtas Zügen unbeteiligt geblieben zu 


D Roman von Georg Hartwig (Emmy Noeppel). 23 


fein, und zum erſten Male fühlte er eine Mechiel- 
wirkung von Sachlichem und Perſönlichem in ſich leben- 
dig werden. 

„Frau Baronin,“ ſagte er, ſich ihr voll zuwendend, 
fo daß fie feinem Blick ſtandhalten mußte, unwider“ 
ſtehlich angezogen von dem ſprechenden Ausdruck ſeiner 
dunklen Augen, „ich bin unter allen Umſtänden dafür, 
daß das Hinhalten mit falſchen Hoffnungen ein Vergehen 
iſt gegen die geſunde Vernunft, die immer die Kraft 
beſitzt, ſich mit der Wahrheit abzufinden — wenn es 
fein muß. Der Spruch: ‚Ein Wahn, der mich beglückt, 
iſt eine Wahrheit wert, die mich zu Boden drückt,“ 
iſt eine irreführende Täuſchung. Nur der Menſch iſt 
zu bedauern, der ohne eine ſolche Brille und Binde vor 
den Augen nicht leben könnte. Ich habe wohl nicht 
nötig, zu verſichern, daß ich mit dem beſten Willen 
an meine Aufgabe herangetreten bin, das Urteil 
meiner Kollegen zu berichtigen und in Ihrem ZIntereſſe 
womöglich umzuſtoßen. — Frau Baronin,“ fuhr er 
mit ſchonender Dämpfung der Stimme fort, „ich bin 
zu der Überzeugung gekommen, mich dieſem Urteil 
anſchließen zu müſſen. Für Ihr Kind iſt weder Hilfe 
noch Beſſerung zu erwarten.“ 

Als er ſie heftig die Farbe wechſeln ſah, legte er 
die Rechte mahnend auf ihre gefalteten Hände, daß 
der Sonnenſtrahl jetzt auch über feine Hand ein golden 
warmes Band ausſpannte. ö 

„Das wußten Sie ja auch vorher, und ich bitte 
Sie dringend, jeglicher Verſuchung, ferner noch hoffen 
zu wollen, aus dem Wege zu gehen. Das Kind leidet 
nicht, aber Sie leiden — und es iſt Ihre Pflicht, 
Unabänderliches mit Ergebung zu tragen. Unſere 
Unvollkommenheit zwingt uns dieſe Ergebung auf, 
nicht energieloſe, ſondern charaktervolle Überzeugung 


24 Der felige Major. 2 


von der Unlösbarkeit harter und härteſter Schidfals- 
rätſel.“ 

Er ſah ihre Lippen zittern unter unausgeſprochenen 
Worten, die ſo raſch nicht flüſſig werden wollten in 
ihrem bis zum Übermaß bedrängten Herzen. 

„Laſſen Sie neben dem Arzt auch den Freund zu 
Wort kommen,“ ſagte er tiefbewegt von dieſem jprechen- 
den Bild ſchmerzlichſter Ergriffenheit, ihre verſchlunge- 
nen Hände ſanft löſend, um den inneren Zwang in 
ihr zu brechen. „Schenken Sie mir die Genugtuung, 
mich als ſolchen betrachten zu dürfen.“ 

Wie ſie unter ihren Wimpern hervor ſein Auge 
ſuchte mit einem Blick, der ihm die ſeeliſche Verlaſſen⸗ 
heit dieſes jungen Weibes reſtlos enthüllte, fühlte er 
in nie empfundener Teilnahme ſeine Pulſe ſchneller 
ſchlagen. 

„Ich danke Ihnen,“ ſagte ſie leiſe. „Mein Kind 
leidet alſo nicht?“ 

„Nein. Und es wird auch nicht leiden,“ ſagte er, 
ihre Finger beruhigend an ſeine Lippen drückend. 
„Mein Wort darauf. Wenn Sie ſich in dieſen Gedanken 
verſenken, wird die Laſt bedeutend erleichtert werden. 
Ihre Liebe iſt die Sonne in dieſem Traumdaſein. 
Die ſoll ihm nicht entzogen werden, ſoweit ich es 
verhindern kann.“ 

„Sie wollten dafür ſprechen?“ fragte ſie mit banger 
Freude. 

„Sicher. Ich werde mich ſofort von hier zu Herrn 
v. Klüver begeben und mein Wort in die Wagſchale 
werfen. Dieſer Troſt ſoll Ihnen nicht geraubt werden, 
ſolange ich dafür eintreten kann. Vorausgeſetzt,“ fügte 
er mit gewinnendem Nachdruck hinzu, „daß Sie das 
zur Richtſchnur Ihrer Gedanken nehmen, was ich 
Ihnen ans Herz legte.“ 


DB Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel. 25 


Wie fie jetzt nebeneinander ſtanden, zog es wie ein 
ſchwerer Traum über ihre Seele hin. Das Leben lag 
vor ihr wie ein weites, ödes Land, blumen; und 
fruchtlos. 

Dieſen in ſich gekehrten Blick mochte Frau v. Kalau 
einſtmals aufgefangen und freundlicherweiſe daraus 
Geiſtesunfreiheit geleſen haben. Stettenborn bewertete 
ihn anders. Er folgte ihm in das Unausgeſprochene 
nach und legte feine ſtille Mitwiſſenſchaft ſchonend 
darüber. 

„Selbſtverſtändlich ſtehe ich allezeit zur Verfügung,“ 
ſagte er leiſe. 

Es ging wie ein Erwachen über ihr liebreizendes 
Antlitz — kein allzu ſchnelles. Seine Stimme war 
wie ein Glockenton über das öde Land gegangen, wie 
einſtmals die kleine Dorfkirche daheim ihr Sonntags- 
geläut weithin erſchallen ließ. 

Was waren denn das für Gedanken geweſen, die 
in ihrem Herzen damals aufflatterten, wenn ſie den 
Wieſenrain entlang zum Nachbardorfe ſchritt, das Ge- 
ſangbuch in der Hand, den friſch gepflückten Strauß 
im Gürtel? Und es war ihr, als ſei die kleine Welt, 
darin ſie lebte, ein Märchenbuch geweſen, das nur 
Fröhliches erzählte und ihr Kinderherz beglückte. Ach 
ja, Fröhlichkeit und Glück, das waren damals ihre Ge- 
danken geweſen, nun wußte ſie es wieder. Und ein 
Lächeln glitt über ihre Züge, ein Lächeln der Wehmut 
über die ſchillernden Seifenblaſen, die in nichts zer- 
ſtoben und nur Tränen hinterließen. 

Stettenborn unterbrach ihr Schweigen mit keinem 
Zeichen der Ungeduld. Wußte er dieſes ſtille Lächeln 
auch nicht zu deuten, daß es einer tiefen Gefühlsregung 
entſtammte, das fühlte er mit der unfehlbaren Macht 
der Sympathie. 


2% Der felige Major. 21 


„Verzeihen Sie meine Unaufmerkſamkeit,“ ſagte 
Chriſta, über ſich ſelbſt errötend. „Es ging mir ganz 
plötzlich etwas durch den Kopf — eine Erinnerung. 
Mitten hinein in vergangene Tage ſtellte ſie mich.“ 

„GGewiß,“ ſagte er herzlich. „Das iſt eine bekannte 
Sache. Irgendwo in einer Gehirnzelle verborgen 
ſchläft eine Erinnerung, und durch den geringfügigſten 
Umitand, einen Duft, eine Farbe, einen Laut, wird fie 
plötzlich ausgelöſt und erwacht. Es gehört das mit 
zu den Rätſeln unſeres Seelenlebens.“ | 

Daß fie verſtanden wurde, entflammte ihre Dant- 
barkeit von neuem. Die acht Jahre ihrer Ehe hatten ſie 
gezwungen, alles in ſich zu verſchließen, was in ihrer 
Seele Widerſpruchvolles und Unbegriffenes ſich regte. 
Sie fühlte nun dieſe lange Zurückhaltung ſchwinden 
gleich der drückenden Spannung eines gewitterſchwülen 
Tages. 

„Ich bitte, über meine Zeit verfügen zu wollen,“ 
wiederholte Stettenborn, „wenn Sie glauben, daß 
ich irgendwie von Nutzen ſein kann.“ 

Er wußte es ſelbſt nicht, daß ihm dieſe Worte viel 
mehr bedeuteten als ein freundliches Entgegenkommen, 
daß ſein hingezögertes Verweilen an Chriſtas Seite 
ein vollkommener Widerſpruch war gegenüber ſeiner 
ſonſtigen minutenberechnenden Gepflogenheit. Aber 
der ſprechende Ausdruck ihrer Augen, durchleuchtet 
von innigem Vertrauen, feſſelte ihn, den Dielerfahre- 
nen, den Menſchenkenner, unwiderſtehlich. 

„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für alles,“ 
ſagte ſie mit leiſer Stimme, die ein Unterton durch- 
bebte, deſſen Urſprung ſie nicht kannte. „Immer werde 
ich daran denken, daß mein Kind nicht leidet. Das 
iſt der ſchönſte Troſt, den Sie mir geben konnten — 
darauf ſtütze ich mich. Nur noch das eine wenden 


. Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 27 


Sie von mir ab, das Schwerſte. Niemals, niemals 
würde ich in eine Trennung willigen.“ 

Er verneigte ſich und küßte ihre Rechte. „Ich 
tue, was ich kann. Ein Mehr ſteht nicht in meiner 
Macht.“ | | 

Die große Standuhr auf der Diele ließ ihre klang⸗ 
volle Stimme ertönen. Er achtete nicht darauf. Hatte 
er ſich nicht beinahe zu weit feſtgelegt mit feinem Ver- 
ſprechen? Und wieder war es Chriſtas Bild, das ihn 
antrieb, für ſie in die Schranken zu treten nach beſtem 
Wiſſen und Können. 

Der Freiherr, der dieſem Beſuche aus dem Wege 
hatte gehen wollen, erhob ſich bei Stettenborns Ein- 
tritt ſehr förmlich und gemeſſen. „Was ſteht Ihnen 
zu Dienſten, Herr Profeſſor?“ 

Da Stettenborn in ihm nichts weiter ſah als den 
Baron Klüver, konnte deſſen Perſönlichkeit ihm nicht 
mehr Intereſſe abgewinnen als jeder andere, deſſen 
Bekanntſchaft zu machen er freiwillig oder unfreiwillig 
genötigt war. Allerdings konnte er ſich gleich an- 
fänglich dem Eindruck nicht entziehen, daß die Jugend 
und Anmut der Baronin, inſonderheit ihr zartes 
Empfinden in Widerſpruch ſtanden mit der Weſensart 
und Altersſtufe ihres Gatten. Indeſſen wenn dieſe 
Gegenſätze nur am Außeren hafteten und nicht tiefer 
hinabſtiegen ins Seeliſche, hatte er ſie oft genug 
durch Neigung und Vertraulichkeit ausgeglichen geſehen. 
Anders jetzt, da er das Band, das beide hätte verbinden 
ſollen, zum Gegenſtand eines traurigen Zwiſtes werden 
ſah, da gewann auch die Perſönlichkeit des Freiherrn 
für ihn Intereſſe. 

„Ich komme von Ihrer Frau Gemahlin,“ fagte 
Stettenborn mit ruhiger Beſtimmtheit, „und halte es 
für meine Pflicht, Ihnen das Ergebnis meiner Unter- 


28 Der ſelige Major. 0 


ſuchung des Kindes mitzuteilen. Unter Männern läßt 
ſich darüber offener ſprechen als angeſichts der Herzens 
not einer Mutter.“ 

Herr v. Klüver, deſſen Nerven von dieſem Thema 
ſogleich in Aufruhr gerieten, zuckte ſichtlich zuſammen. 
„Wenn meine Frau ſich zu meiner Anſicht bekehren 
könnte,“ ſagte er, die Hand bewegend, als ſchöbe er 
etwas von ſich, „würde es uns leichter geworden ſein, 

die Bosheit des Schickſals zu ertragen.“ 
V zich habe keine Bedenken gehabt,“ fuhr Stetten 
born mit derſelben Ruhe fort, „Ihrer Frau Gemahlin 
die gänzliche Ausſichtsloſigkeit des Falles klarzulegen —“ 

„Haben Sie?“ fiel Klüver lebhaft ein, und ſein 
mattes Auge lebte auf, als er dem Profeſſor ſeine 
Rechte entgegenſtreckte. „Aber haben Sie auch die 
Gewißheit, daß ſie davon überzeugt iſt?“ 

„Ich glaube — ja!“ 

„Nun dann haben Sie alſo das fertig gebracht, 
was mir ſeit Jahren die Ruhe meiner Nächte und die 
Behaglichkeit meiner Häuslichkeit zerſtört,“ ſagte der 
Freiherr, aus gemeſſenſter Zurückhaltung in faſt fieber 
hafte Mitteilſamkeit verfallend, wobei ſich auf ſeinen 
farbloſen Wangen eine fleckige Röte zeigte. „Ich will 
Sie nicht behelligen mit dem, was dieſe — dieſer 
Fall hinſichtlich meines Namens und Familienerbes 
bedeutet. Über die Mißſtände, die er gezeitigt und mir 
aufgedrungen hat, will ich ſchweigen. Ich will nur 
das mir eigentümliche Empfinden äußern, will es 
endlich anerkannt ſehen.“ Er hielt den Kopf eine Weile 
geſenkt, dann erhob er ihn wieder und ſagte mit einem 
Ausdruck, der die Grenze des Fanatismus hart ſtreifte: 
„Ich kann an das — da drüben nicht denken ohne Grauen 
und Bitterkeit. Sie werden ſagen, es ſei weit genug 
von mir entfernt. Gut, aber nicht weit genug, um 


u Roman von Georg Hartwig (Emmy KRoeppel. 29 
mich nicht ſtändig an ſich zu erinnern. Es tritt, obwohl 
ich ſeit Fahren ihm fernblieb, unausgeſetzt vor mich 
hin, es ſtört mir jede Vorausſicht, es hemmt meine 
Gedanken, es frißt an meinem Leben, es verfolgt 
mich — 00 

Er brach mit hartem Räuſpern ab, als verſperre 
ihm etwas die Sprache. 

„Herr Baron,“ ſagte Stettenborn, das forſchende 
Auge feſt auf ihn richtend, „ich kann Ihnen die Ver- 
ſicherung geben, daß der Zeitpunkt nahe iſt, der Ihnen 
Ruhe und Frieden zurückgeben wird. Mißbildungen 
wie dieſe überſchreiten ein gewiſſes Alter nicht — und 
die Grenze iſt nahe gerückt.“ 

Klüver fuhr zuſammen. Er preßte ſeine Hand 
gegen die Stirn. „Was wollen Sie damit ſagen?“ 

„Was ich Ihrer Frau Gemahlin anzudeuten nicht 
für richtig hielt, was hingegen zu Ihrer Kenntnis 
kommen muß in Ihrem eigenſten Intereſſe und im 
Intereſſe Ihrer Frau Gemahlin, die ſich der Über- 
führung des Kindes in ein Krankenhaus mit aller 
Energie ihres Mutterherzens widerſetzt. Ich betone 
das ausdrücklich, denn es bedeutet eine Schädigung 
der Geſundheit der Baronin, ſie in die Notwendigkeit 
eines Widerſtandes zu verſetzen.“ 

Die Stirn des Barons verfinſterte ſich bei dieſen 
Worten. Kalt und mißtrauiſch maß er Stettenborn 
mit den Blicken. „Angeſichts meiner Empfindungen, die 
ich Ihnen klarlegte, erſcheint es ſonderbar, Sie vor 
möglicherweiſe eintretenden, jedenfalls vorübergehen 
den Störungen des Geſundheitszuſtandes meiner Frau 
warnen zu hören. Wenn Sie mir den Beweis liefern 
können,“ fuhr er mit ſich ſteigernder Ungeduld fort, 
„daß es in dieſem Fall betreffs der Unterbringung 
und Pflege einen Unterſchied gibt, ob hier oder dort, 


30 Der ſelige Major. 1 


nahe oder fern, wo meine Vermögensumſtände dafür 
haften, daß keinerlei Verſäumnis geſchieht —“ 

Er brach ab, und in feinem erregten Mienenfpiel 
las Stettenborn, wie ſich alles in ihm gegen dieſe 
Unterredung ſträubte. 

„Herr Baron,“ ſagte er mit unabweisbarem Nach- 
druck, noch einen Schritt näher an ihn herantretend, „ich 
ergänze das vorhin Geſagte dahin, daß das Leben des 
Kindes ein Jahr nicht mehr überſchreiten wird, daß 
aber Umſtände eintreten können, die ſich aller Wahr- 
ſcheinlichkeit nach jetzt ſchon vorbereiten, die ein 
ſchnelles, ein ganz plötzliches Ende herbeiführen. 
Wenn die Überwindung, die Sie bis jetzt geübt haben, 
dieſe kurze Spanne Zeit noch überdauert, ſo wird 
Ihrer Frau Gemahlin der herbſte Schmerz erſpart 
bleiben.“ | 

Der Freiherr fuhr haſtig auf, als feien feine Ge- 
danken nicht mehr bei Stettenborns letzten Worten 
geweſen. „Wie lange ſagten Sie? Ich glaube, ein 
Jahr vernommen zu haben?“ 

„Ein kurzes Jahr.“ 

„Und das — dafür können Sie einſtehenꝰ | 

„Zuverläſſig. Die Natur iſt dann doch barmherzig 
und macht ein Ende. Die Erfahrung lehrt es.“ 

„Und wenn die Erfahrung irrt?“ 

„Sie irrt nicht.“ 

Klüver wandte ſich ab. Seine hohe, gebeugte Ge— 
ſtalt ſchritt über die Stelle hin, wo fein Vetter Vollrad 
ihn einen ausgemachten Narren genannt, und bitterſter 
Groll zog tiefe Falten um ſeine Mundwinkel. Er 
drückte die Hand gegen die Schläfen. Plötzlich ſah er 
jäh um ſich und auf Stettenborn, deſſen Gegenwart 
er ganz vergeſſen zu haben ſchien. „Herr Profeſſor,“ 

ſagte er mit zurückgewonnener Haltung, „ich danke 


2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Noeppel). 31 


Ihnen für die Mitteilung Ihrer ärztlichen Begutachtung. 
Sie wird mich beſchäftigen ſowohl in meinem Intereſſe 
als im Intereſſe meiner Gattin.“ 

„Das hoffe ich beſtimmt, Herr Baron. Sie können 
für beide Teile das Beſte daraus ziehen.“ 

Weiter konnte er nicht gehen, wenn auch Chriſtas 
Bild, wie ſie ihm hoffnungsvoll ins Auge geſehen, 
treibend vor ſeiner Seele ſchwebte. Dies war die 
Grenze. 

Er verneigte ſich grüßend und ſchloß hinter ſich die 
Tür. 

Der Freiherr ſah ihm unter zuſammengezogenen 
Brauen nach. Dieſes ſtete Angeſchautwerden war ihm 
überläſtig geworden. Er fühlte ſich matt und von 
Gliederzittern befallen, der geiſtigen Spannkraft be- 
raubt. In feinen Arbeitsſeſſel zurüdgelehnt, ſtarrte 
er trübe vor ſich hin. Dieſe ihn immer wieder über- 
fallende Schlaffheit hinderte ihn wie eine gelähmte 
Hand. a 

Es gab ein Mittel, dieſes Unvermögen zu beſeitigen. 
Vor Fahren hatte es ihm zur Linderung neuralgiſcher 
Schmerzen gedient. Danach war es in Vergeſſenheit 
geraten. Aber dann kam eine Stunde, wo ſeine ſeeliſche 
Verfaſſung auch ſeine Körperkraft ſo herunterdrückte, 
daß er, an ihrer Wiedergewinnung verzweifelnd, 
ſich deſſen erinnerte, was ihm einſtmals wohlgetan. 

Jenes finſtere Etwas, das Chriſta in jener Mond- 
ſcheinnacht über die weißſchimmernden Gartenſteige 
zwiſchen den dunklen Büſchen zum Haufe heranſchleichen 
zu ſehen glaubte, darauf ſie in Ahnungsſcheu hinſtarrte, 
ließ Klüver die Schublade öffnen und das verderbliche 
Heilmittel zur Hand nehmen. 

Die Wunderwirkung, die ihm das Morphiumgift 
bereitete, der jähe Aufſchwung, den es feinem Geiſte 


32 Der felige Major. Oo 


verlieh neben einer körperlichen Elaftizität, die ihn ver- 
jüngte, trieb ihn zu einer ſteten und geſteigerten 
Wiederholung. 

Scheu, im Bewußtſein des Vergehens gegen ſich 
ſelbſt, verſchloß er dies Geheimnis tief und feſt vor aller 
Mitwiſſenſchaft. Stettenborns forſchende Augen hatten 
heute an ſeinen Nerven mehr noch gezerrt als der 
Gegenſtand ihrer Unterredung. Sie hatten ihm, der 
ſonſt in unbeugſamem Selbſtgefühl anderen gegen- 
übertrat, Furcht eingeflößt, die Furcht, erkannt zu ſein. 

Aber dieſes Fürchten, wie ſehr es auch die Nieder- 
lage ſeines Geiſtes und Körpers beförderte, konnte die 
Sehnſucht nach dem Zaubergift nur vermehren. 

Der Freiherr ſtreifte den Armel zurück — ein leichter 
Stich, der Tropfen kam ins Blut — und die Unfähigkeit 
wandelte ſich in trügeriſche Kraft. 

Stettenborn war der Gedanke durch den Kopf ge- 
gangen, der Baronin Mitteilung zu machen von dem 
Ergebnis feiner Unterredung. Er drängte ihn zurück 
als ausſichtslos und unberechtigt, nahm aus den Händen 
des Dieners Pelz und Hut entgegen und verließ die 
Villa, um einen Einblick bereichert in die glanzvolle 
Not fo manches anſcheinend bevorzugten Menfchen- 
daſeins. 

Unter dem lärmenden Gezänk der Spatzenſcharen 
im kahlen Lindengezweig ſchritt er durchs Gittertor 
den Weg zur Stadt zurück. Der Wind hatte ſich nach 
Norden gedreht und wehte ihm friſch entgegen. Weiße 
Flöckchen, ſcharf wie Nadelſpitzen, umſtrichen ſein Haupt. 
Sie neſtelten ſich in Bart und Pelzwerk gleich glitzern- 
den Diamantenſplittern und prickelten auf Stirn und 
Wangen geſunde Winterröte hervor. 

Stettenborn achtete deſſen nicht. Er hatte an ſo vielen 


a Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 33 
Stätten des Kummers und der Not geſtanden, fo 
viele Mütter erhoben ſchon zu feiner Hilfe die flehen- 
den Hände, ſo viele Gatten und Väter ſtützten ſich 
auf feine Kraft. Wann wäre ihm nicht der Menſch- 
heit ganzer Jammer entgegengetreten an ungezählten 
Krankenbetten! Und wie oft hatte er nicht den Kopf 
geſchüttelt und hoffendes Drängen zur Ergebung ver- 
wieſen! Warum denn jetzt die unruhevolle Anteil- 
nahme an dieſem gänzlich ausſichtsloſen Fall? War 
es denn nicht Torheit, ſich zum Schirmer bedrohter 
Rechte aufzuwerfen, die auf dem Boden des Geſetzes, 
dem väterlichen Rechte gegenüber, in nichts zufammen- 
fielen? Weichliches Mitgefühl war ſonſt nicht ſeine 
Sache, und doch hatte er Chriſtas Hand mit tiefem Mit- 
leid heute umſchloſſen und ihren vertrauensvollen Dank 
zu ſeinen ſchönſten Erfolgen gezählt. 

Warum? Wie kam das über ihn? — 

„Guten Morgen, Herr Profeſſor! Eigentlich ge- 
ſegnete Mahlzeit! Ich glaube, es iſt höchſte Eſſenszeit.“ 

Bärbel ſtand hinter ihm, das Geſicht vom raſchen 
Lauf reizend gerötet. 

„Beſten Dank!“ ſagte er, aus feinem Sinnen auf- 
geſtört, und hielt den Schritt an. „Ich ahnte nicht —“ 

„Ich ſah Sie ſchon, als Sie die Villa Klüver ver- 
ließen,“ ſagte Bärbel. „Sie waren aber ſo verſunken, 
daß Sie mich gar nicht bemerkten und ich mich ſchließlich 
in Galopp ſetzen mußte. Mama hat heute Migräne, des- 
halb laufe ich allein herum. Können Sie ihr nicht etwas 
geben, damit ſie wieder zum anſtändigen Menſchen wird?“ 

Er mußte lächeln. „Geben? Gewiß! Aber für die 
Wirkung ſtehe ich nicht ein. Iſt es denn fo ſchlimm?“ 

„Na, ich danke!“ | 

Er mußte abermals lächeln. „Soll ich Ihnen etwas 
aufſchreiben — ohne Garantie, daß es hilft?“ 

1914. Xx. 8 


34 Der felige Major. D 


„Ja,“ fagte fie, und ihre dunklen Augen leuchteten 
ſchelmiſch auf. „Ich kann es ja als Autograph be- 
trachten.“ 

„Sammeln Sie?“ Es war ihm lieb, von ſeinen 
Gedanken abgelenkt zu werden. | 

„Rezepte — wie die gute Rätin Breunicke?“ rief fie 
lachend. „Wenn Sie das noch mal von mir denken —“ 

„Na, was dann?“ fragte er, auf ihren Scherz ein- 
gehend. 

„Würde Ihnen etwas daran liegen, wenn ich ſagte: 
dann ſind wir geſchiedene Leute?“ 

„Untröſtlich würde ich ſein.“ 

Bärbels Blicke ſenkten ſich einen Augenblick. „Waren 
Sie bei Klüvers zu Beſuch?“ 

„Arztlich.“ Er glaubte ſie zu verſtehen und einen 
Stich herauszufühlen. „Ich war ſchon oft im Begriff, 
Ihrer Frau Mutter einen Antrittsbeſuch abzuſtatten, 
aber —“ 

„Und warum find Sie nicht gekommen?“ fiel fie 
haſtig ein. 

„Habe keine Zeit gehabt. Jetzt hoffe ich es nach- 
zuholen.“ Er konnte nicht ſagen, daß ihm Frau v. Kalau 
durchaus keine Sympathie eingeflößt hatte, als ſie 
Chriſta v. Klüver im Handumdrehen geiſtig minder- 
wertig gemacht. Das Thema wechſelnd ſagte er in 
ſcherzendem Tone: „So leicht wie für eine gewiſſe 
junge Dame geſtaltet ſich mein Daſein nicht.“ 

„Haben Sie ſchon einmal in mich hineingeguckt, 
um zu wiſſen, wie es drinnen bei mir ausſieht?“ fragte 
ſie haſtig. „Weil ich manchmal ein bißchen Ulk mache 
und moraliſche Naſenſtüber austeile, weil ich das Leben 
in dieſem Städteparadies auf die leichte Achſel nehme 
und nicht die liebe Unſchuld vom Lande ſpiele, meinen 
Sie, der Alk und das Blech wäre ich ganz und gar? Ich 


i Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppell. 35 


bin hier dem Verhungern und Verdurſten nahe — ja, 
wonach denn eigentlich?“ unterbrach ſie ſich lachend. 

„Leſen Sie viele Romane?“ fragte Stettenborn 
ſtehenbleibend, um ihr ins Auge zu ſehen. „Scheint 
mir faſt fo. Romane mit dem intereſſanten Frage- 
zeichen hinten und einem dunklen Punkt in der Mitte! 
Es kommt nämlich vor, daß ſich in jungen Köpfen dabei 
Begriffsverwechſlungen einſtellen in betreff des Hun- 
ger- und Durſtgefühls.“ 

Sie war leicht errötet. „Ach, woher denn! Ich 
habe ſchon ganz richtige Begriffe. Übrigens bin ich 
zwanzig Jahre alt — zu meiner Mutter Entſetzen. 

Er reichte ihr die Hand. „Das iſt nett, daß Sie 
nicht bei den achtzehn ſtehen bleiben — wirklich groß- 
zügig! Das iſt eine meiner ſchwerſten Nöte, das richtige 
Alter bei meinen Patientinnen feſtzuſtellen. — Aller- 
dings,“ ſetzte er liebenswürdig hinzu, „wenn man ſo 
ausſieht wie Sie, kann man ſelbſt die böſe Dreißig ruhig 
zugeben.“ 

Ein lichter Glanz kam in ihre Augen. „Freut mich. 
Und weil Sie das ſo hübſch geſagt haben, will ich Ihnen 
auf dem Bafar eine Rofe ganz für umſonſt ins Knopf—- 
loch ſtecken.“ 

„Danke ſchön. Und nun gute Beſſerung für die 
Frau Mama!“ 

Värbels Hand lag noch in der feinen. Ihm war, als 
fühlte er ihre Wärme durch die Handſchuhe dringen. 

„Alſo auf Wiederſehen!“ ſagte ſie, und zwiſchen ihren 
roten Lippen ſchimmerten die weißen Zähne abjonder- 
lich reizvoll. „Ich werde meine Mutter auf das große 
Ereignis vorbereiten, wenn fie wieder ſalonfähig ge- 
worden iſt.“ 

Sie zog ihre Hand zurüd und eilte davon. 

Daß fie bildſchön war, verkannte er keineswegs, und 


2 N 


36 Der ſelige Major. ö 


zwar ſo wenig, daß er nicht umhin konnte, es zu be- 
dauern, in ihr Frau v. Kalaus Tochter zu ſehen. Es 
wollte ihn bedünken, daß dieſe Mutterſchaft mehr Ge— 
fahr als Schutz bedeutete und einer leidenſchaftlichen 
Natur ſo wenig Richtſchnur zu ſein vermochte, wie ſie 
der eigenen Veranlagung Zwang aufzulegen imſtande 
war. 

Bärbels Gang nach Haufe hatte etwas Veflügeltes 
an ſich. Zierlich wie eine Bachſtelze ſchritt ſie immer 
dahin, heute war es noch dazu, als federe der Boden 
unter ihren Füßen. Und dazu erſtrahlte ihr Antlitz in 
verträumtem Glanz. 

Genau an derſelben Straßenecke, an der die Ma- 
jorin mit dem Federhut der Kommerzienrätin zu- 
ſammengeſtoßen war, ſtieß Bärbel auf eine Geſtalt, 
die von der Begegnung ſo gefeſſelt ward, daß ſie ihr 
gegenüber ruhig ſtehen blieb, ohne Platz zu machen. 

„Ach ſo!“ ſagte fie, die Lippen leicht verziehend. 
„Bitte! — Oder ſoll ich erſt wieder nötigen: Nur vor- 
wärts, Sie Muſter von Schönheit! Platz iſt für 
ſechs da.“ 

Arnolf Mertens rührte ſich nicht. In den Tagen, 
die zwiſchen jenem erſten Wiederſehen lagen, war der 
Entſchluß feſt und feſter in ihm geworden, eine Aus- 
ſprache zu erzwingen, mochte ſich dagegen ſtemmen, 
was da wollte. 

„Sie haben mich fühlen laſſen, daß ich auf Scho- 
nung Ihrerſeits nicht zu rechnen habe. Und wenn ich 
auch zugeben muß, daß ich anſcheinend nichts Beſſeres 
verdiene, ſo —“ 

„Anſcheinend iſt gut,“ warf ſie ſpöttiſch ein. 

„Fräulein v. Kalau,“ ſagte Arnolf, den Einwurf 
nicht beachtend, „die Lage, in der ich mich Ihnen gegen- 
über befinde, zwingt mir die Bitte auf die Lippen, mir 


a Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 87 


einmal Gehör zu ſchenken — einmal nur. Und das, 
was Sie an mir verurteilen, wird Entſchuldigung fin- 
den. Geben Sie mir Gelegenheit dazu, oder,“ ſetzte er 
erregter hinzu, „geſtatten Sie mir, daß ich ſie finde.“ 

Ihre Blicke hatten ſich von ihm abgewandt. Neben 
ihm ſah ſie im Geiſt Stettenborn ſtehen, wie er von 
ihrer Schönheit ſprach — und ein heißes Flimmern 
ſtieg von ihren Augen auf. Sie hatte einmal geleſen: 
Wenn ein Mann ein Weib ſchön findet, will er es auch 
beſitzen. Dieſer Gedanke ſchoß mit der Plötzlichkeit 
einer Stichflamme hervor, blendend und verſengend. 
Der Atem zerpreßte ihr einen Augenblick die Bruſt, daß 
ſie die Lippen öffnen mußte, um Luft zu ſchöpfen. 

„Sie antworten mir nicht?“ fragte er mit fchmerz- 
lichem Vorwurf. 

„Was wir beide uns zu ſagen haben“ — Bärbels 
Stimme zitterte noch unter der wonnigen Bezaube- 
rung, die über ſie hingerieſelt war — „bedarf keiner 
langen Vorrede. Die Geſchichte iſt ganz einfach: Sie 
haben von uns nichts mehr wiſſen wollen. Jetzt iſt die 
Reihe an uns, dasſelbe zu tun. Wurſt wider Wurſt.“ 

„Sie irren ſich,“ ſagte er haſtig. „Wenn ich Sie 
aufgeklärt haben werde —“ 

In dieſem Augenblick ging Frau Breunicke mit 
ihrer Tochter Meta auf der anderen Seite der Straße 
vorüber, und Bärbel lachte hell auf. Die Frau Juftiz- 
rätin machte große Augen, als ſie des Paares anſichtig 
wurde, und Fräulein Meta errötete unmäßig unter 
ihrem züchtigen Schleier. 

„Gehen Sie hinüber — ſchnell!“ ſagte Bärbel, ihr 
lockiges Haar von der Stirn ſtreichend. „Machen Sie 
eine Glückliche! — Und viel Vergnügen!“ 

Sie drehte ſich gewandt auf dem Abſatz herum und 
eilte davon. — — — 


38 Der felige Major. u 


Frau v. Kalau hatte mit Hilfe ſtarken Kaffees den 
Migräneanfall überwunden und hörte nun mit Ent- 
ſetzen, was ihre Tochter an unvorſichtiger Torheit ge- 
leiſtet. 

„Bärbel,“ fagte fie, ihre gefalteten Hände ver ſich 
hin ſtreckend, als flehe ſie unſichtbare Mächte um Hilfe 
an, „biſt du denn von aller Vernunft verlaſſen? Das 
kann doch ein Maulwurf ſehen, wie verliebt Arnolf in 
dich iſt. Oh, denke doch an den Triumph, den du über 
dieſe Pute Meta feiern kannſt! Denke doch an den 
Arger, den du allen Neidſäcken hier bereiteſt! Denke 
an das viele Geld! Was einem nicht gegönnt iſt, 
Bärbel, das ſchmeckt immer am beſten. Ich kann wohl 
ſagen, daß der Neid meiner Freundinnen damals, als 
dein Vater um mich warb, eine der ſchönſten Emp- 
findungen für mich war — neben der Liebe na- 
tuͤrlich.“ 

„Sie können mir alle geſtohlen werden,“ ſagte 
Bärbel, ihr Kleid für das Bafarfeft aus dem Schrank 
nehmend, und pfiff dazu wie ein Rohrſpatz. 

„Ou wirſt ihn anhören — ich beſchwöre dich!“ rief 
die Majorin. „Er ſucht nur die Gelegenheit, ſich zu er- 
klären. Oh, Kind, wie furchtbar ſchwer iſt es für ein 
armes Mädchen, ſolche Partie zu machen! Glaube 
doch nicht, daß die Mädchen heutzutage ſtudieren und 
amtieren bloß aus Neigung zum Beruf. Sowie einer 
kommt, heiraten ſie drauf los.“ 

„Meinetwegen! Iſt mir ganz egal, Muttchen!“ 
ſagte Bärbel, ein roſa Schärpenband an die Wange 
drückend. „Seide iſt doch zu mollig!“ 

„Als Arnolfs Frau kannſt du dich in Seide dreimal 
einwickeln,“ verſicherte Frau v. Kalau. „Dir gegen- 
über wird er immer ein Pantoffelheld ſein — glaube 
mir's. Ich darf wohl ſagen, daß ſelbſt dein ſeliger 


2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 39 


Vater trotz ſeiner Schneid von mir um den Finger zu 
wickeln war.“ 

„Außer wenn er kratzbürſtig wurde,“ rief Bärbel 
lachend. Und dann ſtieg ihr das Blut wieder heiß zum 
Herzen. „Stettenborn kommt, um uns zu beſuchen.“ 

„Du wirſt nicht dumm ſein, Bärbel — hörſt du? 
Wenn Arnolf es ſo einrichten kann, wie er möchte, 
dann hörſt du ihn an. Ich will es geſtehen, daß ich 
mich zuerſt auch etwas geſperrt habe vor dem Antrag 
deines ſeligen Vaters — und im allgemeinen iſt das 
den Männern auch gar nicht unlieb. Aber zu weit 
darf es nicht gehen. Es kühlt ſonſt ab — und man 
kann leicht das Nachſehen davon haben. Alſo, wenn 
er dich findet, dann —“ 

„Dann?“ Bärbel lachte und biß einen Faden ab. 

„Dann nimmſt du ihn!“ 

„Und die lieben, freundlichen Alten?“ fragte Bärbel, 
vor den Spiegel tretend. 

„Wir ehren das Alter und die Schwiegereltern von 
Herzen gern,“ ſagte Frau v. Kalau voll Würde. „Wenn 
ſie es aber darauf anlegen, läſtig zu werden, beſinnen 
wir uns auf unſere Rechte. Du brauchſt dir kein Bei- 
ſpiel an Meta Breunicke zu nehmen, die wie eine Katze um 
Kommerzienrats herumſcharwenzelt und ſich tätſcheln 
läßt. Wie ich denn überhaupt die Art der guten Breu- 
nicke, ihre Tochter auf den Geldſack zu ſetzen, verächtlich 
und abſcheulich finde. Es fehlt der Familie die Nobleſſe, 
wenn er als Notar und Rechtsverdreher auch Geld 
genug zuſammenrabuſchert hat. Man wirft ſich nicht 
jemand an den Hals —“ 

„Beſonders nicht, wenn er ſo verſchrumpelt und 
verhutzelt iſt wie der alte Mertens,“ rief Bärbel hell 
auflachend. „Muttchen, du biſt zum Heulen!“ 

„Alſo, du verſprichſt es mir,“ ſagte die Majorin mit 


40 Der ſelige Major. 0 


flehendem Nachdruck, „wenn Arnolf dich allein ge- 
funden hat, wie oder wo immer, ihn freundlich anzu- 
hören! Bärbel, ich habe meine Gründe, darauf zu 
beſtehen. Es iſt die Frucht meiner ſchlafloſen Nächte.“ 

„Na, alſo — gut! Machen wir! Laß ihn nur los- 
legen!“ ſagte Bärbel luſtig. „Wenn er aber dabei von 
mir ein paar über den Schnabel kriegt — Laß nur, 
Muttchen! Ich will ſchon ſtillhalten. Viſt ja mein 
gutes, urkomiſches Muttchen!“ — | 

Einen Tag darauf erſchien Stettenborn in der Hoff- 
nung, nur ſeine Karte abgeben zu müſſen. Aber es 
war die Majorin ſelbſt, die dem Briefträger zu öffnen 
glaubte und den Arzt ſelbſtverſtändlich nun wortreich 
näher zu treten bat. 

Zwar hatte die „Frucht ihrer ſchlafloſen Nächte“ 
den Gedanken an das zweite Eiſen im Feuer etwas 
verwiſcht, aber es verurſachte ihr doch ein angenehmes 
Gefühl, einen heiratsfähigen Junggeſellen über die 
Schwelle treten zu ſehen. 

Bärbel, die auf dem Fenſtertritt, eine Zigarette 
zwiſchen den Lippen, vor ſich hin träumte, ſprang wie 
elektriſiert in die Höhe und eilte dem Profeſſor ent- 
gegen. „Willkommen!“ rief ſie, und die Überraſchung, 
den vor ſich zu ſehen, der der Inhalt ihrer Träumerei 
geweſen war, zauberte eine ſtrahlende Freudefärbung 
über ihr ſchönes Geſicht. 

Er hielt ihre Hand ſcherzend feſt. „Ich wollte mir 
‚nur erlauben, an die Roſe zu erinnern, die Sie mir für 
mein Knopfloch ‚für umſonſt“ verſprochen haben.“ 

Wie fie fo beieinander ftanden, überlegte Frau 
v. Kalau einen Augenblick, ob es ſich nicht empfehlen 
würde, hier die Vorſehung zu ſpielen — aber ſie ſchwenkte 
doch wieder nach der anderen Seite ab. 

„Sie rauchen?“ fragte Stettenborn, als Bärbel den 


ö Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 41 


Reſt der Zigarette mit einem geſchickten Wurf in den 
Ofenvorſetzer beförderte. 

„Leider!“ ſagte die Majorin lächelnd. „Ich hoffe, 
ihr einſtiger Gatte wird es ihr wieder abgewöhnen.“ 

„Da bift du aber ſchief gewickelt, Muttchen,“ ſagte 
Bärbel mit gutem Humor. „Eher würde ich ihm das 
Rauchen abgewöhnen. — Finden Sie es etwa nicht 
hübſch? 

„Offen geſtanden — nein! Frauenlippen ſind viel 
zu reizend, als daß ſie nach Tabak duften ſollten.“ 

Sie errötete. Unwillkürlich ſah ſie auf ſeine Lippen 
und fragte haſtig: „Aber Sie rauchen doch ſelbſt?“ 

„Nicht viel. In meinen Mußeſtunden — und deren 
ſind wenige.“ 

„Na alſo! Was dem einen recht iſt, bleibt dem 
anderen billig. Frauennaſen könnte der Tabaksduft ja 
auch unangenehm ſein.“ 

„Bewahre!“ ſcherzte er, nun einen kleinen Verdruß 
heraushörend. „Das find nur ganz hyppernervöſe 
Damen, die daran Anſtoß nehmen. Dazu gehören 
Sie, dem Himmel ſei Dank, ſicherlich nicht.“ 

„Die heutige Mädchenwelt,“ fiel Frau v. Kalau 
vielſagend ein, „will gar keinen Unterſchied der Ge- 
ſchlechter mehr anerkennen. Zch bin nicht damit 
einverſtanden. Mein ſeliger Mann betete die Weib- 
lichkeit an. Ich kann wohl ſagen, daß ich ſeine An- 
ſchauungen jetzt erſt recht begreife, wo die Jugend ſo 
ſtürmiſch andere Wege geht.“ 

Nun war ſelbſt ihm die Rauhbeinigkeit und Schnauz- 
bärtigkeit des einſtigen Majors v. Kalau ſo weit zu 
Ohren gedrungen, daß Stettenborn nur mit Mühe ein 
Lächeln unterdrückte. „Ich bete ſie nicht gerade an 
wie Ihr Herr Gemahl,“ fagte er höflich. „Ich ehre 
und ſchätze fie.“ 


42 Der felige Major. u 


„Wie ſchön!“ rief die Majorin mit einem auf- 
fordernden Blick auf ihre Tochter, ſich ihrer Liebens- 
würdigkeit anzuſchließen. 

„Langweilig!“ ſagte Bärbel mit ſchneller pochen 
dem Herzen. „Ehren und ſchätzen kann ich einen alten 
Bücherwurm auch und ſchließlich auch noch die alte 
Schwarte ſelbſt, wenn die Würmer ordentlich darin 
gehauſt haben.“ Sie lachte. „Geehrt und geſchätzt 
kann man werden bis in Methuſalems Alter hinein.“ 

Stettenborn ſtimmte in das Lachen mit ein, während 
Frau v. Kalau halb bewundernd, halb mißbilligend den 
Kopf ſchüttelte. 

„Du biſt zu feurig, Bärbel!“ ſagte ſie. — „Es iſt ihr 
väterliches Erbteil, Herr Profeſſor. — Du verlangſt zu- 
viel vom Leben! — Aber das iſt ganz natürlich, Herr 
Profeſſor. Wenn jemand ſo gefeiert worden iſt wie 
ſie! Nicht zu glauben, was ſie in Berlin mit dem Kinde 
angeſtellt haben. Ihnen darf ich es verraten, Sie ſind 
ja Arzt, daß man ſogar ihren Fuß modelliert hat. Da 
iſt es begreiflich, daß für ſie die Welt in Weihrauch und 
Entzücken ſchwimmt, und daß ihr die hausbackenen Ve- 
griffe, wie wir ſie haben, nicht genügen.“ 

„Sehr begreiflich!“ ſagte Stettenborn, und die Ab- 
neigung gegen dieſe Mütterlichkeit ſtieg ihm bis an die 
Lippen. „Ich ſpreche die Hoffnung aus, daß auf jo viel 
Verwöhnung keine Enttäuſchungen folgen.“ 

„Und wenn ſie folgen, werde ich auch damit fertig 
werden,“ rief Bärbel, eine bei ihr ſeltene Verlegenheit 
fortlachend. „Wir wollen aber doch jetzt nicht anfangen, 
zu unken. Und was die Fußgeſchichte betrifft, ſo iſt 
das Schnickſchnack geweſen und gar nicht wert, davon 
zu reden. Füße ſind ſehr anſtändige Dinge und ſehr 
ſchätzenswerte — und damit baſta!“ 

„Das letztere feſtzuſtellen, werden wir übermorgen 


w Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 43 


auf dem Baſarfeſt Gelegenheit haben,“ ſcherzte Stetten 
born, ſich erhebend. „Wenn es ſpäter zur Verloſung 
kommen ſollte, dann bitte ich, für mich den Daumen zu 
drücken.“ 

„Mit der Lotterie,“ fiel Frau v. Kalau ein, „geht 
es manchmal abſonderlich zu. Meiſtens gewinnt man 
dummes Zeug. — Zeig mal dem Herrn Profeſſor, was 
du letzthin gewonnen haſt.“ | 

Bärbel zog die Schublade des Schreibtiihes auf 
und kam lachend mit einem blitzenden Gegenſtand in 
der Hand zurück. „Vorſicht! Es knallt!“ 

„Ich bitte dich, Bärbel, ſchaffe das widerliche Ding 
endlich aus dem Hauſe!“ rief die Majorin, ſich die Ohren 
zuhaltend. 

„Ein Taſchenrevolver!“ ſagte Stettenborn kopf⸗ 
ſchüttelnd. „Das war Ihr Gewinn?“ 

„Mit Fug und Recht. — Soll ich mal losdrücken?“ 

Er faßte ihre Hand. „Das iſt kein Spielzeug für 
junge Damen!“ 

Unter ſeiner Berührung zuckte ſie zuſammen. 

Er nahm es für eine Anſtrengung, ſich loszuwinden, 
und umſpannte ihre Rechte mitſamt der Waffe noch 
feſter. „Geſtatten Sie mir, Sie von dieſem gefähr- 
lichen Spielzeug zu befreien.“ 

Mit elaſtiſcher Bewegung rang fie ſich los. „Spiel- 
zeug? Woher denn? Heutzutage, wo man als einzelner 
oft keinen Augenblick feines Lebens ſicher iſt? — Mutt- 
chen, du quetſcheſt dir ja die Ohren ab!“ unterbrach 
ſie ſich lachend, was zu der Entſchloſſenheit, die aus 
ihren Augen blitzte, außergewöhnlich hübſch ausſah. 
„Iſt es nicht eine Schande, daß jeder Bummler uns 
überfallen kann, nur weil er ſtärkere Armmuskeln hat 
als wir? Mir ſoll mal einer kommen!“ rief ſie, die 
kleine Waffe ſchwingend. „Ich kann ſehr gut ſchießen — 


44 Der ſelige Major. [> 
wir haben oft nach der Scheibe geſchoſſen. Wie der 
Menſch wohl ausriſſe, wenn ich ihm dies blitzende Ding 
vor die Naſe hielte!“ 

„Es liegt viel Wahres in dem, was Sie ſoeben an- 
führten,“ ſagte Stettenborn ruhig. „Aber in An- 
betracht deſſen, was unvorſichtiges Handhaben von 
Schußwaffen für Unglück anzurichten vermag, würde 
ich Ihrer Frau Mutter beiſtimmen, wenn ſie wünſcht, 
daß dieſer Gewinn auf Nimmerwiederſehen ver- 
ſchwände.“ 

„Wirklich?“ Sie nickte ihm ſchelmiſch zu. „Ich be⸗ 
halte aber grundſätzlich alles, was ich habe.“ 

„Es iſt ſo natürlich,“ fiel Frau v. Kalau voller Milde 
ein, „daß dieſe Unerſchrockenheit ihr innewohnt. Mein 
ſeliger Mann war ein Held an Mut und Entſchloſſen- 
heit. Einmal — ich erinnere mich deſſen mit Schrecken 
— glaubte er unter ſeinem Bett etwas Lebendiges zu 
ſpüren. Mein ſeliger Mann ſprang im Finſtern heraus 
und warf den Stiefelknecht mit ſolcher Gewalt gegen 
meinen Bettpfoſten, daß ich wie ein Fiſch in die Höhe 
ſchnellte. 8 

Hier brach Bärbel in ein fo herzliches Lachen aus, 
daß Stettenborn ſich nicht enthalten konnte, mit ein- 
zuſtimmen. 

„Verzeihen Sie, gnädige Frau,“ ſagte er, ſich faſſend, 
„aber wenn ich jemand ſo lachen höre wie Ihre Fräulein 
Tochter, kann ich nicht umhin, einzuſtimmen.“ 

„Nicht wahr?“ ſagte die Majorin gerührt. „Es liegt 
etwas Melodiſches, Abgeſtimmtes in ihrem Lachen.“ 

„Aber das habe ich nun nicht vom Vater,“ rief 
Bärbel, ihrer Mutter Schulter umfangend. „Todſicher 
nicht. Papa lachte wie ein knurrender Löwe.“ 

Als der Profeſſor ſich verabſchiedet hatte, trat Bärbel 
ans Fenſter, um ihm nachzuſehen. Plötzlich wandte 


D Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel. 45 


ſie ſich zurück. „Muttchen, glaubſt du nicht, daß Stetten 
born ein gefährlicher Mann ſein könnte?“ 

„Das hängt den Arzten ſo an,“ ſagte Frau v. Kalau 
gleichmütig, „wenn ſie nicht gerade verboten häßlich 
ſind. Der Profeſſor iſt übrigens, wie ich neulich hörte, 
der Sohn eines einfachen Förſters. Vermögen beſitzt 
er gar nicht. Die Mutter war eine Landlehrerstochter. 
Wenn er Praxis hat, dann hat er was, wenn er keine 
hat, dann hat er nichts.“ 

„Dann hat er nichts,“ wiederholte Bärbel leiſe. — 

Auch Stettenborns Gedanken beſchäftigten ſich mit 
ihr, während er raſch die Straßen durchquerte. Sie 
kam ihm vor wie eine ſchöne, rote Blume, die, in un- 
erſprießlichen Boden verpflanzt, mit ihrer jungen Herr- 
lichkeit zu wuchern genötigt iſt, weil keine Hand ſich 
fand, die ungebundene Kraft zu lenken und zu läutern. 

Zu leugnen, daß von ihr ein lebensheißer Zauber 
ausſtrömte, fiel ihm nicht ein, ſo wenig, wie er den Reiz 
ihres geſunden Selbſtbewußtſeins verkannte, jedoch 
ein tieferes Intereſſe als das des ſtillen Beobachters 
entfachte ſie ihm nicht, trotz allem ſchillernden Stim- 
mungswechſel, der ihm den Grundton ihres Weſens, 
wenn er ihn gefunden zu haben glaubte, wieder verbarg. 

Und wie er es dachte, ſtellte ſich ein zartes, blondes 
Bild an Stelle diefer blendenden Geſtalt voll unbe- 
wußter Anmut und Sehnſucht nach des Lebens Sonne. 
Da holte fein Herz zu ſchnellerem Schlage aus, und Ver- 
achtung des Mannes, der ihre ahnungsloſe Jugend an 
ſeinen kraſſen Egoismus gebunden, erfüllte ihn mit 
bitterem Groll. 


Siebentes Kapitel. 
Das heißumkämpfte, vielerſehnte Wohltätigkeits- 
feſt fand in den Räumen des Rathaufes ſtatt. Zwei 


46 Der ſelige Major. D 


Tage lang waren allerlei nützliche und unnütze Gaben 
zwiſchen laubenähnlichen Tannenwänden aufgebaut 
worden, aus denen es den Verkäuferinnen oblag, ihre 
lockenden Stimmen erſchallen zu laſſen und mit lächeln- 
der Anmut den höchſten Rekord in der Einnahme zu 
erzielen. 

Frau v. Kalau und Frau Breunicke konnten nicht 
umhin, Vertrauten gegenüber die Anmaßung der Ba— 
ronin Klüver zu betonen, ſich des Tiſches bemächtigt 
zu haben, auf dem die ſeitens des Vorſtandes erbetenen 
Gaben hoher und höchſter Herrſchaften zur Schau ge— 
ſtellt waren, obwohl Frau v. Klüver nur nach langem 
Widerſtreben in dieſe ausübende Teilnahme eingewilligt 
hatte. 

Das war ein Leben und Treiben! Die ganze Stadt 
kam auf die Beine, um der Eröffnung dieſes Feſtes 
beizuwohnen. Von zehn Uhr morgens ab begann der 
Zuſtrom der Damenwelt, und in den Tee- und Schoko- 
ladebuden floſſen Ströme dampfender Labung. Die 
bedienenden Damen hatten alle Hände voll zu tun, 
die Fünfzigpfennig- und Markſtücke in Empfang zu 
nehmen. 

Inzwiſchen war Barbara v. Kalau in weißer Hülle, 
eine breite, roſa Schärpe, die ſeitwärts mit einer Roſe 
befeſtigt war, um die Schulter, in den Blumenſtand ge- 
treten, in dem Meta Breunicke, einen beängſtigend 
dürftigen Ausſchnitt am Halſe und Korallenſchnüre um 
die Arme, bereits nach Käufern ausſpähte, die nicht 
kommen wollten. 

Kaum aber war das Schönheitsbild hinter den Tiſch 
getreten, als ein ſolcher Anſturm der männlichen Jugend 
erfolgte, daß die fertigen Sträuße im Handumdrehen 
verſchwunden waren und Bärbel, über die Zornes- 
blicke der Juſtizrätin höchlich vergnügt, den Vorſchlag 


u Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 47 


machte, jede einzelne Blume für den Preis eines ganzen 
Straußes zu verkaufen und dieſe dafür ſelbſt im Knopf- 
loch der Herren zu befeſtigen. 

Am Spätnachmittag nahm dieſer Vertrieb noch 
großartigere Dimenſionen an, als die bisher Verhin- 
derten ſich einzufinden begannen, voran Herr v. Klü- 
ver, deſſen Haltung heute nach einer Morphiumein- 
ſpritzung überaus elaſtiſch war. 

Er bewegte ſich leicht und gewandt durch das Ge— 
dränge und ſtreute freigebig Gold- und Silberftüde in 
alle ausgeſtreckten Hände. „Verzeihung!“ ſagte er, 
einen Rückenſtoß entſchuldigend, den er ſoeben wider 
Willen ausgeteilt. 

„Bitte ſehr!“ Stettenborn, der eine Stunde der 
Wohltätigkeit opferte, wandte ſich um. „Ich habe ſchon 
ein paarmal als Puffer gedient und bin in der Übung.“ 

Klüver lachte. „Seien Sie froh, lieber Profeſſor, 
daß Sie von der Natur fo gut bedacht find. Bei unfer- 
einem ſetzte es blaue Flecke ab.“ 

Der friſche Klang ſeiner Stimme wirkte nach der 
letzten Unterredung ſo überraſchend auf Stettenborn, 
daß er ſtehen blieb und dem Freiherrn die Hand reichte. 
„Wenn Ihr Weg Sie zu Ihrer Frau Gemahlin führt, 
möchte ich mich Ihnen anſchließen.“ 

„Halten Sie nur Ihr Portemonnaie feſt. Wir 
mögen gehen und ſtehen, wo wir wollen, immer be— 
finden wir uns zwiſchen Szylla und Charybdis. — Fit 
das nicht Herr Mertens? Guten Abend, Herr Kom— 
merzienrat! Man hat nur auf Sie gewartet, um die 
Bilanz zu ziehen.“ 

Stettenborn, an Stimmungswechſel feiner Pa— 
tienten gewöhnt, ſchob das veränderte Weſen des Frei- 
herrn ſeiner nervöſen Wandlungsfähigkeit zu. Nur als 
er die tiefliegenden, von ſchweren Lidern überdeckten 


48 | Der ſelige Major. a 


Augen ſtreifte, fiel ihm deren abſonderlicher Glanz auf. 
Gleich darauf begrüßte auch er den Kommerziencat, 
der ſich hinter ſeiner Gattin im Fahrwaſſer befand, 
nunmehr aber ſtehen blieb und ſeine zitternde Rechte 
ausſtreckte. 

„Foltermäßiges Vergnügen!“ ſagte er, und ſeine 
ſchmalen Lippen ſuchten nach einem verbindlichen 
Lächeln. 

„Machen Sie nur ein paar Sundertmarkſcheine 
locker,“ ſcherzte Klüver. „Wo iſt denn Ihr Herr Sohn?“ 

„Der wird ſich ſchon ausbeuteln laſſen!“ ſagte der 
Kommerzienrat knurrig. 

Die reichen Mertens hatten durchaus nicht die Ab- 
ſicht, viel Geld hier liegen zu laſſen. Vielmehr wollte 
die Kommerzienrätin, wenn ſie etwas Brauchbares 
billig erſtehen konnte, die gute Gelegenheit hierzu be- 
nützen. 

Demgemäß ging fie an den Schokolade- und Tee- 
buden glatt vorüber und nach dem ganz verlaſſenen 
Strumpf und Wollwarentiſche, wo ein verärgertes 
Oberlehrerstöchterlein es kaum noch der Mühe wert 
hielt, Anfragen zu beantworten. 

Verſorgt mit ſehr guten und ſehr billigen Winter- 
ſtrümpfen ſetzte Frau Mertens ihren Weg fort, als die 
Juſtizrätin fie am Ärmel faßte und freundſchaftlich um- 
armte. f 

„Es iſt nicht mehr anzuſehen,“ flüſterte Frau Breu- 
nicke mit vielſagendem Näuſpern, „was die Kalau ſich 
an dieſer Tochter großgezogen hat. Ich bin direkt be- 
ſorgt um meine Meta. Ich ſage Ihnen, Liebſte, dieſe 
Knopflochſteckerei benimmt mir förmlich den Atem. 
Sie bildet ſich jedenfalls ein, dieſe Kokette, hübſche 
Hände zu haben, ſonſt würde ſie nicht alle Welt damit 
ankrallen. Geben Sie bloß acht auf Ihren Sohn, 


0 Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 49 


Teuerſte. Eine richtige Sirene, ſage ich! Meine Meta 
zieht ſich ſchon ganz in ſich zurück. Ich wollte, ich hätte 
ſie nicht mit dieſer Komödiantin zuſammenſtellen 
laſſen.“ 

„Laſſen Sie ſie nur die Krallen ausſtrecken,“ ſagte 
die Kommerzienrätin, einen nicht gerade liebevollen 
Blick auf die ſchönheitſtrahlende Geſtalt Bärbels in der 
Blumenlaube werfend, neben der Meta Breunicke mit 
erheuchelter Verſchämtheit wie die Farbloſigkeit ſelbſt 
ſtand. „Sie wird nicht viel Genuß davon haben.“ 

„Sehen Sie,“ flüſterte die Juſtizrätin förmlich elek- 
triſiert, „,ſehen Sie bloß Stettenborn an! Du meine 
Güte! Haben Sie geſehen, wie ſie ihn anblinzte? 
Wie er wieder grinſte? Hätte ich bloß meine Meta da 
weg! — Wo ſteckt denn Ihr lieber Sohn?“ 

Allerdings war ein heißerer Blutſtrom durch Bärbels 
Adern gefloſſen, als Stettenborn auf ihren Stand zu- 
ſchritt. Und ohne Beſinnen hob fie die ſchönſte Noje 
empor und ihm entgegen. 

„Ein Mann, ein Wort!“ 

Es ward ihr ſo wunderbar zu Sinn, als ihre Hand 
ſeine Bruſt berührte. Faſt wäre die Roſe den Fingern 
entfallen. 

„Haben Sie ſich geſtochen?“ fragte er freundlich. 

„Ich glaube,“ ſagte ſie und fühlte, wie ihr das Blut 
in die Wangen ſtieg. 

Er legte ein Zehnmarkſtück in die Büchſe. „Das 
iſt für die gute Sache. Die Roſe nehme ich als Ge— 
ſchenk mit.“ 

„Und ich?“ fragte Herr v. Klüver, der dieſe Worte 
gehört hatte, ſcherzend. „Was bekomme ich geſchenkt?“ 

„Was Sie wollen, Herr Baron,“ ſagte ſie, noch 
immer unter der Gewalt ihrer Empfindung ſtehend. 

„Dann dieſe Marſchall Niel!“ Er warf ein Zwanzig— 

1914. X. 4 


f 


50 Der ſelige Major. D 


markſtück in die Kaſſe. „Von fo ſchöner Hand befeſtigt, 
wird die ſchönſte Blume erſt wahrhaft ſchön. Und was 
gibt mir Fräulein Breunicke?“ 

„Ich weiß nicht,“ flüſterte die Silberblondine mehr 
ſcheu als anmutig, obwohl nicht ohne Koketterie. „Dieſe 
Knoſpe vielleicht?“ 

„Alſo dieſe Knoſpe! Danke ſehr!“ Er erlegte aber- 
mals ein Goldſtück. ö 

„Der Baron iſt doch ein zu reizender Mann,“ ſagte 
Meta, ihm einen Blick aus ihren vergißmeinnichtblauen 
Augen nachſendend. „Was iſt dagegen dieſer Stetten 
born!“ 

„Geſchmackſache!“ ſagte Bärbel kurz. Für ſie gab 
es nur eine intereffante Perſon im Saal — und das 
war der Profeſſor. 

Sie hatte zuvor Frau v. Klüver den ſchuldigen Knicks 
gemacht und dabei die ſchlichte Vornehmheit ihrer Er- 
ſcheinung mit einem gewiſſen Widerſtreben anerkennen 
müſſen. gebt ſah fie hinüber und immer wieder hin- 
über, als Stettenborn in die Nähe des durch eine Krone 
von Tannengrün ausgezeichneten Standes trat. 

Das Dedenlicht breitete feinen Glanz, wie es Bärbel 
plötzlich ſchien, abſonderlich hell über dieſe bevorzugte 
Eckbude und über die ſchlanke Frau darin im beliotrop- 
farbenen Gewand, das einen roſigen Schimmer über 
ihr goldblondes Haar und den weißen Hals legte. Und 
wie ſie jetzt aufſah und Stettenborn entgegen, ſchien 
ſich dieſer roſige Schimmer auch über ihre Wangen zu 
verbreiten; bis zu den Schläfen hinauf ſchien er zu 
ſteigen. 

„Guten Abend!“ ſagte Chriſta, ihm die Rechte 
reichend, über die er ſich verbindlich neigte. „Ich habe 
ein ſehr ehrenvolles, aber wenig einträgliches Ge— 
werbe.“ Bevor er ſich völlig aufrichtete, kam es 


i Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 51 


ihr ſtockend leiſe über die Lippen: „Ich möchte Sie ein- 
mal ſprechen.“ | | 

Er hörte, daß ihre Stimme unruhevoll klang; fo 
drückte er zum Zeichen ſeiner Bereitwilligkeit ſanft ihre 
Hand. 

Der Baron trat hinzu. „Nun, Chriſta, ich möchte 
dir dieſe Kreidezeichnung abkaufen. Für wieviel gibſt 
du ſie her?“ ö | 

Während fie den Preis nannte, ſtreiften ihre Augen 
mit ängſtlicher Haſt ſein Geſicht. Das Lächeln darauf 
machte ſie verwirrt. | 

Er legte einen Hundertmarkſchein auf den Tifch. 
„Zufrieden? — Nun Sie, Profeſſor, was tun Sie für 
die gute Sache?“ | 

„Nicht nötig,“ fiel die Baronin ein. „Es kommt zur 
Verloſung.“ | 

„Wie wäre es mit dieſem Pompadour?“ ſcherzte 
Klüver, einen roſa ſeidenen Beutel emporhebend. „Für 
die zukünftige Frau Profeſſor! Oen ſollten Sie ſich 
nicht entgehen laſſen.“ 

„Gut,“ ſagte Stettenborn, auf den Scherz ein- 
gehend, legte gleichfalls einen Hundertmarkſchein auf 
den Tiſch und hing den Pompadour an ſeinen Arm. 

„Geben Sie, ich will ihn in Papier einſchlagen,“ 
ſagte Chriſta, die Hand ausſtreckend. | 

Er gab den Beutel zurück. Als er ihre Finger ſtreifte, 
glaubte er ein Zittern derſelben zu ſpüren. „Darf ich 
morgen vormittag wieder einmal vorſprechen?“ 

„Aber nicht bei mir, Verehrteſter!“ wehrte Klüver 
haſtig ab. „Die Damen haben ja immer zu klagen und 
halten deswegen die Medizinmänner ſo hoch in Ehren.“ 

Er ſchien ſein Kind ganz vergeſſen zu haben, dieſes 
Kind, um deſſenwillen er die ſchuldloſe Mutter ſo tief 
verbittert angeklagt. | | 


52 Der ſelige Major. u 


„Ich erwarte Sie,“ fagte die Baronin leiſe. 

In dieſem Augenblick begann die Muſik auf dem 
Balkon des Saales zu ſpielen. Ein ſchwebender, locken 
der Walzer glitt durch den Raum und weckte die Vor- 
freude an dem kommenden Tanzvergnügen. 

Bis dahin hatten Bärbels Augen mehr an dem Ver- 
kaufsſtand der Freifrau als an ihren Blumenkörben ge— 
hangen, als ſie ſich plötzlich von rückwärts umarmt fühlte. 

Frau v. Kalau war es, die, nach einer laut getanen 
Frage, ihr haſtig ins Ohr flüſterte: „Arnolf iſt jetzt da! 
Denke daran, was ich dir geſagt habe. Sei klug, höre 
ihn an!“ 

„Ja doch!“ ſagte ſie, nur halb hinhörend. 

„Ich habe eben geſehen,“ flüſterte die Majorin, ſich 
an Bärbels Schärpe zu ſchaffen machend, „daß er bei 
deinem Anblick zuſammenzuckte. Ich lag fortwährend 
auf der Lauer. Die Breunicke iſt ja wie verrückt hinter 
ihm her — geradezu unanſtändig. — Da kommt er!“ 

Sie prallte gelinde gegen die Fuſtizrätin an, die 
gleichfalls auf dem Kampfplatz erſchien, die kommer— 
zienrätliche Genehmigung als Hauptwaffe mit ſich 
führend. 

Bärbels ſchönes Geſicht verfärbte ſich durchaus nicht, 
als Arnolf Mertens an den Stand trat. Der alte Trotz 
regte ſich in ihr; mit einem mißächtlichen Lächeln trat 
ſie hinter die erglühende Silberblondine zurück. „Wenn 
ich mich damals doch nicht hätte von ihm küſſen laſſen, 
ich Schaf!“ dachte ſie bei ſich. „Ich hätte ihm lieber 
eine Ohrfeige geben follen.“ 

Frau Breunicke bemerkte mit Befriedigung, daf 
ſeine erſten Worte ihrer Meta galten. 

„Eine rote Nelke, bitte!“ ſagte Arnolf höflich, ein 
Goldſtück in die Büchſe legend. 

Es war ihm ſchwer geworden, hierher zu kommen, 


2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 55 


und wiederum trieb es ihn mit taufend Gewalten dazu. 
So konnte es ja nicht bleiben und er wie ein Sünder 
mit ſchlechtem Gewiſſen neben Bärbel hinleben. Sein 
Ehrgefühl und die Liebe zu feiner Jugendfreundin, 
dieſe mit aller Kraft wieder aufbrechende Liebe, wehrten 
es ihm täglich und ſtündlich. 

„Nun, Meta, Mäuschen,“ ſagte Frau Breunicke und 
vergaß ganz ihren Abſcheu vor Bärbels Knopfloch- 
künſten, „ſtecke doch Herrn Mertens die Nelke ſelbſt an. 
Das wird ihm Glück bringen.“ 

„Das wäre zu gütig!“ 

Aber er hielt ſtill, als fie hinter dem Stand hervor- 
trat und mit ungeſchickten Fingern zu baſteln begann. 
Knack — der Stengel brach ab. 

Aber Bärbels Antlitz glitt ein halb triumphierendes, 
halb mitleidiges Lächeln. Sie wollte ſich nur durch- 
ſetzen dieſen „hämiſchen Spinnen“ gegenüber, als fie 
ſchnell eine friſche Nelke ergriff und elaſtiſch vortrat. 
„Vielleicht kann ich es beſſer!“ | 

Es zuckte ihm durch die Bruſt, als ihre ſchönen Hände 
ihn berührten, genau jo wie die Berührung Stetten- 
borns zuvor Värbels Herz durchzuckt hatte. 

„So — da ſitzt ſie!“ 

Arnolf überreichte ſeine goldene Gegenleiſtung, die 
ſie gleichgültig in Empfang nahm. 

„Ja, meine Liebſte,“ ſagte Frau v. Kalau, die ſchwer 
verärgerte Freundin mit Wonne gegen den Strich 
ſtreichelnd, „dazu gehört auch Talent. In der Groß— 
ſtadt ſieht und lernt man ſolch kleine Künſte. Aber 
Fräulein Meta iſt deſto ſtärker in der Wirtſchaft. Und 
die Wirtſchaft iſt ja doch die Hauptſache — wie manche 
meinen.“ 

Die Juſtizrätin verſchluckte den Stich. „Brotloſe 
Künſte ſind noch keine Talente, meine Beſte,“ ſagte 


54 Der felige Major. 2 
ſie, ihrer Meta einen nicht gerade freundlichen Blick 
zuwerfend. 

„Na, wer weiß!“ erwiderte lächelnd Frau v. Kalau, 
indem ſie ſich befriedigt zurückzog. „Vielleicht doch!“ 

Die Kommerzienrätin hatte ſich neben der Baronin 
mit einer Taſſe Kaffee niedergelaſſen, den Ärger im 
ſtillen herunterzuſpülen über den Hundertmarkſchein, 
den ihr Gatte auf Antreiben des Freiherrn für eine von 
hoher Hand gefertigte Federzeichnung geſpendet hatte, 
die außer ihrem kleinen Format keine ſonderlichen Vor- 
züge aufzuweiſen hatte. 

Eigentlich war es ihre Abſicht geweſen, vor Beginn 
des Tanzes fortzugehen, aber die Sorge um eine noch- 
malige Verführung ihres Gatten ſtieß dieſen Entſchluß' 
um. Sie blieb. Mit den Müttern tanzender Töchter 
laß fie auf dem Podium des ſchnell ausgeräumten Speife- 
ſaales und lieh den intimen Freundſchaftsbezeigungen 
der Juſtizrätin ein williges Ohr. 

Bärbel ſah das heliotropfarbene Kleid der Baronin 
zwiſchen Klüver und Stettenborn im Türrahmen ver— 
ſchwinden, und ein bisher nicht gekanntes, ſtechendes 
Gefühl wallte plötzlich in ihr auf. 

Sie war ſich bewußt, daß ihr Tanzen überall Be- 
wunderung erregt, daß man es einen Genuß genannt 
hatte, ihren Bewegungen zu folgen. Warum blieb 
Stettenborn nicht, um ſich auch davon zu überzeugen? 
Warum folgte er der goldblonden Frau mitten aus dem 
Vergnügen weg? 

Als ſie den Kopf zurldwandte, ſtand Arnolf Mertens 
vor ihr.“ Seine Pflichttänze hatte er erledigt, nun tat 
er, was ihm ſein Herz gebot, und bat um eine Extratour, 
allerdings unter dem Kreuzfeuer dreier Augenpaare, 
die nicht von ihm und dem ſchönſten Mädchen im Saal 


wichen. 


2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 55 


Sie konnte nicht ablehnen, alſo legte ſie ihren Arm 
leicht auf den ſeinen und fühlte ihre Hand mit feſtem 
Druck umſpannt. 

„Heute müſſen Sie mir Gehör ſchenken,“ flüſterte 
er. „Ich kann dieſen Zuſtand des armen Sünders nicht 
mehr ertragen. Ich kam nur deswegen hierher. Sagen 
Sie mir, daß Sie mich anhören wollen, geben Sie mir 
nur ein Zeichen! Wer bemerkt jetzt, ob wir einige Mi- 
nuten hier fehlen oder nicht!“ 

„Ich denke, wir wollen tanzen,“ fiel ſie abwehrend 
ein. Aber eingedenk der Drangſalierungen ſeitens 
ihrer Mutter ſetzte ſie hinzu: „Gut alſo — Sie ſollen 
das Wort haben! Sehen Sie zu wo. Mir iſt es 
gleich. Nur keine Spürnaſe möchte ich dabei haben.“ 

„Niemand wird Sie beläſtigen, ich verſpreche es,“ 
ſagte er, und die duftige Jugendpracht, die er umſchloß, 
machte ſeine Stimme unſicher. 

So flogen ſie dahin, und die wiegenden Klänge aus 
der Höhe ſchienen ſie wie auf Flügeln fortzutragen. 

Abſeits von den Spiel- und Rauchzimmern, in denen 
jetzt dem Spatenbräu reichlich zugeſprochen wurde, lag 
ein kleiner, meiſtens unbenützter Raum, einſt als Damen- 
zimmer gedacht, in welcher Eigenſchaft es jedoch nie zu 
feinem Rechte kam, da die aufſichtführende Weiblich- 
keit mehr Neigung zum Zuſchauen im Saal hatte. 

Sparſamerweiſe hatte man am Kronleuchter nur 
zwei Flammen entzündet. Dieſes mattſcheinende Licht 
genügte für die Kotillonſträuße und »orden, die hier 
aufbewahrt zu werden pflegten. 

In dieſes ſtille Gemach trat Bärbel mit dem Vorſatz 
ein, ihr der Mutter gegebenes Verſprechen tunlichſt 
ſchnell zu erfüllen und ſich nebenbei keinen Zwang auf— 
zuerlegen in dem, was in ihr gegen den falſchen Jugend- 
freund aufgeſpeichert lag. 


56 Der ſelige Major. 2 


„Sie können nun loslegen,“ ſagte ſie, ihre dunklen 
Augen prüfend durch das Zimmer gleiten laſſend. „Aber 
das ſage ich Ihnen, auf Redensarten gebe ich gar nichts. 
Am beſten iſt es, Sie ſtecken es ganz auf, denn um das 
zu hören, was ich von Ihnen halte, brauchen Sie keine 
großen Wortſprünge zu machen. Alſo los!“ 

Er ſtand vor ihr mit geſenktem Blick. Es wurde ihm 
nicht leicht, die Eltern anzuklagen, um ſich ſelbſt zu ent- 
ſchuldigen. Endlich ſagte er mit ruhiger Selbjtüber- 
windung: „Sie müſſen mir, wenn dieſe Unterredung 
in unſeren Beziehungen Wandel ſchaffen ſoll, den ich 
innigſt erſehne, Glauben ſchenken, Sie müſſen ſich be- 
zwingen in Ihrem Vorurteil gegen mich, jo weit wenig- 
ſtens, daß Sie ſich wieder zurückführen laſſen in die 
Zeit, da ich nicht nötig hatte, für mich zu ſprechen, wie 
heute.“ 

„Richtig!“ ſagte Bärbel, ihre Fußſpitzen betrachtend. 
„Und weiter?“ 

„Das will ich Ihnen ſagen. Nur das eine laſſen 
Sie mich noch voranſchicken, daß ich, ein wie törichter 
und ſchlapper Junge ich auch damals war, unſer letztes 
Beiſammenſein —“ 

„Schluß!“ rief Bärbel, über und über vor Zorn 
errötend. ö 

„Laſſen Sie mich ausſprechen,“ ſagte er ſehr ernſt. 
„Wenn ich nicht etwas Entſcheidendes anzuführen hätte, 
würde ich mich dieſer Ihrer Auffaſſung nicht ausgeſetzt 
haben. Nehmen Sie einen Augenblick Platz im Seſſel 
dort, Sie werden mich dann ruhiger anhören können.“ 

Es tat ihr immer mehr leid, dem mütterlichen 
Drängen gefolgt zu fein. Darum fagte fie mit merf- 
licher Ungeduld: „Wir können doch hier nicht Zelte 
aufſchlagen. Nächſtens wird im Saal ein Geſchrei los— 
gehen, wo wir geblieben ſind. Das möchte ich übrigens 


D Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 57 


mit anſehen!“ Sie lachte hell auf und ſetzte ſich. „Alſo 

— ich ſitze.“ 

Er rückte einen zweiten Seſſel an ben ihrigen, ſo 
daß ſie ſich in die Augen ſehen konnten und hören, was 
der andere gedämpft ſprach. | 

„Damals,“ fagte Arnolf, das blonde Haar aus der 
Stirn ſtreichend, als verurſache es ihm die Hitze, die er 
in den Schläfen empfand, „als ich von Ihnen ging, 
hatte ich nur den einen Gedanken und Wunſch, daß 
die Jahre der Trennung, die vor mir lagen, vorüber 
ſeien und ich zu einer glücklichen Stunde der Wie— 
derkehr —“ 

Bärbel machte einen Anſatz, ihn zu unterbrechen, 
unterließ es aber und ſagte nur: „Na, ja!“ 

Er legte ſeine Hand auf ihre Seſſellehne, als er 
raſcher fortfuhr: „Mit dieſem Troſt — ich hatte keinen 
anderen — ging ich von Ihnen, feſt überzeugt, daß Ihr 
freundliches Gefühl für mich —“ 

„Ich ſage nochmals: Schluß!“ rief Bärbel emp- 
findlich getroffen. | 

„Sie wollen das nicht hören. Warum? Wenn zwei 
Kinder, wie wir es waren, und zwei junge Menſchen, 
von denen der eine — Sie — ganz das armſelige Leben 
des anderen ausfüllte — nicht wahr, das wiſſen Sie, 
daß es ein trauriges Leben war?“ 

„Doch!“ ſagte Bärbel. „Hinreißend war es nicht.“ 

„Als ich damals von Fhnen ging, ahnte ich nicht, 
daß es eine Gewalt geben könnte, die mich — nun, die 
mich in Ihren Augen ſo herabzuſetzen vermochte, wie 
es geſchah. Meine Eltern, Fräulein Barbara, nahmen 
mir, dem ſchüchternen Jungen, das ehrenwörtliche Ver— 
ſprechen ab, fo zu handeln, wie ich getan habe. Ich 
gab das Wort, weil ich mich nicht dagegen zu wehren 
vermochte — es nicht wagte, denn ich war ein ſcheuer, 


58 Der felige Major. u 


unſelbſtändiger Menſch und fühlte meine gänzliche Ab- 
hängigkeit ſehr ſchwer. So iſt's gekommen.“ 

Er ſchwieg, den Blick auf ihr ſchönes Antlitz heftend, 
darauf ſich in raſcher Folge Verdruß, Staunen und 
Verſtändnis malten. Denn viel anders lag der Fall 
auch nicht bei ihr, die gleichfalls auf ein erzwungenes 
Verſprechen hin tat, was ſie freiwillig nie getan haben 
würde. 

„Das — na, ja — geſcheit wäre es be geweſen, 
gleich zu ſchreiben, ſo und ſo ſteht's!“ ſagte Värbel. 

„Sehr richtig! Ich war aber eben kein geſcheiter 
Junge, ſondern ein ſehr törichter und befangener, Fräu— 
lein Barbara,“ ſagte er leiſer. „Darf 0 wieder ſo 
ſagen?“ 

„Meinetwegen — wenn es Ihnen Spaß macht. 
Ich bin kein Kleinigkeitskrämer.“ 

„Das weiß ich. Sie find — Sie find eine andere 
geworden. Sie haben, wie ich, Großſtadtluft geatmet, 
Großſtadtleben gelebt. Vielleicht iſt es Ihnen hier 
auch beſchränkt und beengt zumute.“ 

„Nicht zu knapp!“ Ein reizendes Lächeln glitt um 
ihre Lippen. „In eine Linie dürfen Sie uns beide 
aber nicht ſtellen. Wenn es Fhnen zu bunt wird mit 
den Metas und ſonſtigen Südfrüchten hier, dann 
nehmen Sie einfach Neißaus. Ich aber —“ Sie dachte 
an Stettenborn und daß es ihr jetzt nicht möglich ſein 
würde, leichten Herzens die Stadt zu verlaſſen. 

„So hält uns beide die Pflicht hier am Ort feſt. 
Auch ich kann nicht, wie ich will. Mein ganzes Daſein,“ 
fuhr er mit tiefer Bewegung fort, „war immer nur: 
Pflicht. Die Pflicht hat mich in den Kaufmannsſtand 
gezwungen, die Pflicht hat mich von der Heimat fort- 
geſchickt, von Ihnen und was mich glücklich machte. 
Die Pflicht hat Träumen und Schwanken mit rauher 


E Roman von Georg Hartwig (Emmy Noeppel). 59 


Hand von mir abgeſtreift, hat mich zum undankbaren 
Schwächling in Ihren Augen geſtempelt und wieder 
hierher geführt — in dieſe Stunde hinein.“ 

„Na, dann wäre es ja ſo weit wieder in Ordnung,“ 
ſagte Bärbel mit nicht ganz freiem Humor. „Sie ſind 
entſühnt, können mich wieder Fräulein Barbara nennen, 
die Schutzheilige der Kanonen. Können, wenn. Sie 
wollen, auch mit mir tanzen.“ 

„Ihre Hand,“ ſagte er, ſich fo weit vorbeugend, daß 
ein Teil ihrer Schärpe auf ſeinem Knie ruhte, „geben 
Sie mir Ihre Hand! Laſſen Sie mich ſie einmal küſſen 
zum Zeichen, daß kein Reſt Groll und Zweifel in Ihrem 
Herzen zurückgeblieben iſt. Und dann — dann wollen 
wir wieder gute Freunde ſein.“ Seine Stimme zit— 
terte in Ergriffenheit. „Und da wieder anfangen, wo 
mir einſt die höchſte Freude —“ Er hatte ihre Rechte 
ergriffen und an ſeine Lippen gedrückt, ſo ſehr ihr 
Inneres dem auch widerſtrebte. „Ich will die Genug— 
tuung mit mir nehmen, daß Sie tiefer in mich hinein- 
geſehen haben als alle anderen, auch die, die vielleicht 
in erſter Linie dazu berufen waren. Ich will mich wie- 
der in das Glück hineinverſetzen, das ich fühlte — 
damals, als Ihre Hand den Orden mir anheftete. Ich 
habe ihn aufbewahrt — Sie können ihn ſehen.“ 

„Ich glaub's ja,“ ſagte Bärbel, gegen ihren Willen 
gerührt. „Aber nun, wiſſen Sie, iſt wirklich Schluß, 
ſonſt ſchlagen wir hier noch Wurzeln.“ 

Er gab ihre Hand nicht frei. „Und eines noch, Fräu- 
lein Barbara, wenn Sie mir ein Zeichen Fhrer wieder- 
erwachten — Freundſchaft geben wollen, ſo nennen 
Sie mich, wie Sie mich dereinſt genannt haben. Dann 
wüßte ich, daß nichts mehr in Ihnen —“ 

„Auch gut,“ ſagte Bärbel en „Alſo, Herr Arnolf, 
machen Sie Schluß!“ . | 


60 Der felige Major. 2 


Er beugte ſich abermals über ihre Rechte. „Dank!“ 


Und mit tiefer Innigkeit drückte er ſeine Lippen auf 


ihre weißen Finger. 

In demſelben Augenblick, mitten in die Stille hin- 
ein, erſcholl eine Art Siegesruf, ein zweiſpältiger und 
ein dreifältiger. 

„Ein Brautpaar!“ rief die entzückte Stimme der 
Majorin von der Türſchwelle her — und wie ein nicht 
rein geſtimmtes Echo rief es nach: „Ein Brautpaar! 
Ein Brautpaar!“ 

„Wir gratulieren!“ 

„Champagner her!“ rief Frau v. Kalau ihren Be— 
gleiterinnen zu, hinter denen bereits ein paar dienit- 
eifrige Kellner neugierig lange Hälſe machten. „Raſch 
ein paar Gläſer her!“ 

Das war, als wenn ein Sturm die beiden Über- 

raſchten und Überfallenen anblies. Sie waren im 
Schreck aufgefahren, ganz unbewußt ftanden fie noch 
Hand in Hand. Bärbel war totenbleich. Ihre Lippen 
bebten. 
Da flog die Majorin auch ſchon herbei und zog fie 
an die Bruſt, während ſie mit der freien Linken ſich 
Arnolfs bemächtigte. „Mein lieber Arnolf! Meine 
lieben Kinder! Kommt, laßt euch umarmen!“ 

„Hier iſt Sekt!“ rief eine der Damen, in ihrer Er- 
regung ein paar gefüllte Gläſer dem Kellner vom Ta— 
blett reißend und den Beglückwünſchten in die Hände 
drückend. „Stoßen wir an — das Brautpaar lebe hoch!“ 

Nicht umſonſt hatte die Majorin bei Ausführung 
dieſes Planes, dem Reſultat ſchlafloſer Nächte, ſich als 
Begleitmannſchaft die begabteſten Zungenkünſtlerinnen 
ausgewählt. Während die eine noch das Amt der Hebe 
verſah, flatterte die andere ſchon im Saal umher, um 
die große Neuigkeit auszuftreuen, 


— — 


0 Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 61 


Die erſte, die ihren Anteil davon erhielt, war die 
Kommerzienrätin. Sie hatte gerade ihr Taſchentuch 
zum Munde geführt, um ein gelangweiltes Gähnen zu 
verbergen, als ihr plötzlich vor Schreck und Staunen 
die Lippen halb geöffnet ſtehen blieben. 

„Meinen Glückwunſch zu der ſchönen Schwieger— 
tochter!“ Und etwas wie eine Umarmung ſenkte ſich 
auf ihre Schultern. 

Sie fand im Augenblick keine anderen Worten als: 
„Rappelt's bei Ihnen?“ 

Da kam ſchon eine ganze Kolonne quer durch den 
Saal auf ſie zu. 

„Herzliche Glückwünſche! Wo iſt denn das Paar? 
Das iſt eine Überraſchung! Für Sie wohl auch, Frau 
Kommerzienrätin?“ 

In dieſem Augenblick erſchien auch Frau Breunicke, 
weniger auf Flügeln des Geſanges als auf den Flügeln 
eines ſprachloſen, vorwurfsvollen Schreckens. Sie 
konnte weiter nichts ſagen als: „Unfinn — was?“ 

Da ſtand die Kommerzienrätin ſchon kerzengerade 
und lächelte ein ſehr verbiſſenes Lächeln in die erregten 
Geſichter um ſie her. „Vielen Dank!“ Dann nahm 
fie den Arm der Zuſtizrätin mit einer dieſer ſehr emp- 
findlichen Energie und ging mit ihr davon. „Wollen 
doch nach den jungen Leuten ſehen!“ 

Bärbel ſtand, die Sachlage wie den diplomatiſchen 
Schachzug ihrer Mutter raſch begreifend, noch immer 
ratlos neben Arnolf. Ein glühender Zorn trieb ihr 
das Blut in die Schläfen und machte ihre Hand, die 
noch feſt umſpannt in Arnolfs Hand ruhte, vor Ungeduld 
zittern. 

Er beugte ſich zu ihr nieder. „Bleiben Sie ganz 
ruhig. Halten Sie allem ftand wie ich.“ 

Er hatte die Machenſchaft der Majorin nun auch 


62 Der felige Major. 2 


durchſchaut, und was ſich auch in ihm dagegen ſträubte, 
Unwillen war nicht fein ausſchließliches Gefühl. Vor 
allem erfüllte ritterliches Mitleid mit Värbels Lage 
ſein Herz. 

Darum wiederholte er noch einmal und dringlicher: 
„Sie müſſen ganz ruhig bleiben.“ Er dachte an die 
neugierigen Kelineraugen und drückte ermutigend ihre 
Hand. 

Da brauſte es in ihr auf trotz Schreck und Scham. 
Kaum hörbar und nur ihm verſtändlich ſtieß ſie 
es hervor: „Daran ſind Sie ſchuld! Ganz allein 
Sie!“ 

Die Majorin, in wechſelnder Umarmung mit glück- 
wünſchenden Damen begriffen, hörte davon nichts, 
dagegen ſah ſie jetzt die Kommerzienrätin und neben 
ihr Frau Breunicke ins Zimmer treten. Sich einem 
neidiſchen Wangenkuß entziehend, eilte ſie ihnen ent- 
gegen, beide Hände vor Rührung zuſammenſchlagend, 
um fie dann mit verwandtfchaftliher Herzlichkeit der 
Kommerzienrätin darzureichen. 

„So mußte es nun doch kommen, teuerſte Mertens! 
Ich kann wohl ſagen, mein Herz ſetzt noch immer aus. — 
Bärbel, Arnolf, kommt doch! Küßt der lieben Mutter 
die Hände!“ 

„Ich habe mein Täſchchen im Saal liegen laſſen,“ 
ſagte Frau Breunicke haſtig, drehte ſich um und ging, 
bis an den Hals voll Ingrimm und Zorn, hinaus. 

„Mutter,“ ſagte Arnolf, Frau v. Kalaus Auffor— 
derung folgend, indem er Bärbel an der Hand mit ſich 
führte, „Barbara iſt durch dieſe öffentliche —“ 

„Ich ſehe es,“ fiel die Kommerzienrätin ein, das 
ſeine Haltung wiederfindende junge Mädchen mit ver— 
kniffenem Lächeln betrachtend. „Wenn Sie mir auch 
einen Kuß geben wollen —“ N 


D Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 63 


Wieder fühlte Bärbel Arnolfs mahnenden Hände— 
druck. 

Die Abneigung der Kommerzienrätin gegen die 
Familie Kalau war kein Geheimnis, um fo pikanter ge- 
ſtaltete ſich dieſe Szene und um ſo geſpannter ſpitzten 
ſich Augen und Ohren der Anweſenden zur Beobach- 
tung. 

In dieſem Augenblick erſchien der Kommerzienrat, 
durch Glückwünſche vom Spieltiſch aufgeſcheucht. Der 
Champagner flackerte in ſeinem Gehirn, und ſein Gang 
hatte etwas Unentſchiedenes. Er ſtreckte halb ver⸗ 
droſſen, halb beluſtigt die zitternde Hand in die Luft. 

Die Majorin flog auch ihm entgegen. „Denken Sie 
doch nur! Mein Mutterherz —“ 

„Das iſt ja die reine Hexerei!“ ſagte der Kommer— 
zienrat, die entzückende Schönheit neben ſeinem Sohn 
mit wohlwollendem Schmunzeln betrachtend. „Das 
iſt ja die reine Extrapoſt! Was will denn die Kleine 
— he?“ 

Er machte einen Anſatz, Bärbels Kinn zu erfaſſen, 
als Arnolf, Barbaras Arm raſch in den ſeinen legend, 
mit unverkennbarem Hinweis auf die Vielzuvielen 
ſagte: „Ich meine, für eine Familienangelegenheit iſt 
die Sache ſchon reichlich genug ans Licht gezogen.“ 

„Nur zu wahr!“ rief Frau v. Kalau, deren Gewiſſen 
angeſichts der Starrheit ihrer Tochter ſich zu regen be- 
gann. — „Meine liebſte Mertens, Herr Rommerzien- 
rat, wir trennen jetzt das junge Paar bis morgen. Da 
finden wir uns alle erfriſcht wieder zuſammen. — 
Komm, Bärbel! — Mein lieber Arnolf — nicht zu früh 
morgen, bitte!“ 

„Ich geleite Sie und Barbara hinunter,“ ſagte er, 
indem er die auf ſeinem Arm vor Ungeduld zitternde 
Hand ein letztes Mal ermahnend drückte. 


64 Der felige Major. 2 
So führte er ſie durch eine Seitentür hinaus und 

zur Garderobe, gefolgt von der Majorin, der in- 

folge der Aufregung der Kopf zu brennen begann. 

An der Haustür trennte er ſich mit ſtummem Gruß. 
Langſam ging er unter dem klaren Mondlicht die Straße 
hinauf, den kalten Luftzug um ſeine Stirn als ne 
empfinden. 

Das Ganze war ja nur ein Theaterblitz — und 
dennoch, es handelte ſich dabei um Bärbels guten Ruf, 
wenn ſie beide ihre Verlobung morgen verleugneten. 
Ihr Zornruf tönte ihm noch im Ohr. 

Ein Wagen fuhr raſſelnd vorüber und weckte ihn 
aus ſeinen Gedanken. | 

Das eine war ſonnenklar: Frau v. Kalau wünſchte 
ihn als Gatten für ihre Tochter. Aber es war ein glüd- 
liches Gefühl für ihn, daß er ſich ſagen konnte, Bärbel 
ſpekulierte nicht auf ſein Geld, denn dann hätte er nicht 
nötig gehabt, ihren Widerſtand zu beſchwichtigen. Das 
dankte er ihr. Dafür ſchätzte er ſie um ſo höher ein. 

Als er nach langer Wanderung zu den Fenſtern 
ſeiner elterlichen Wohnung emporſah, blinkte ihm ein 
Lichtſtrahl daraus entgegen. Sie waren heimgekehrt. 

Einen Augenblick ſtand er überlegend, den Türgriff 
in der Hand, dann aber, ſich eines Beſſeren beſinnend, 
ließ er ihn wieder fahren und ging in ſein eigenes 
Heim. 

Noch ſchwirrten im Saal die Geigen, und ein ver— 
ſchlafener Baß brummte knurrig dazwiſchen, aber der 
Kaffeegeruch drang doch ſchon anheimelnd durch die 
verdickte und verſtaubte Luft. 

Er gab der Juſtizrätin die Kraft, ihre Märtyrer— 
krone, die ſie ungeſehen trug, mit Anſtand bis zu Ende 
zu ſchleppen. In ihr war alles Feuer und Flamme, 


d Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 65 


. jobald fie ihre Meta ins Auge faßte, die blaß, blond 
und unverlobt Enttäuſchung und Neidgefühl zu ver- 
tanzen beſtrebt war. 

So ganz hatte der Zuſammenbruch ihrer Hoffnungen 
Frau Breunicke überwältigt, daß in ihrer Seele eine 
wahre Revolution ſonſtiger Anſchauungen ſtattfand, 
denn kaum zu Haufe angelangt, ließ fie ihren mütter- 
lichen Groll an der um ihre Schüchternheit und Blumen- 
haftigkeit ſo oft belobten Tochter aus. 

„Das kommt davon, wenn man wie ein Stock da— 
ſteht und die Nelke abbricht, ſtatt fie grazioſo ins Knopf⸗ 

loch zu ſtecken. Das kommt, wenn man wie die Stumme 
von Portici daſteht und nicht piep ſagen kann, wenn 
ein junger Mann ſich nähert. Es iſt nicht nötig, kokett 
zu ſein, aber ſein Licht unter den Scheffel zu ſtellen, 
braucht man auch nicht — dann ſchnappen eben die 
anderen, die gewitzter ſind, den fetten Biſſen weg. 
Jetzt haſt du das Nachſehen, jetzt kannſt du Braut- 
jungfer ſpielen bei der ſchauderhaften Kalauſchen Sippe. 
— Himmel, iſt mir dieſe Geſellſchaft verhaßt! Fetzt 
könnteſt du Braut ſein, wenn du nicht neben der — 
ich kann fie gar nicht nerffien — wie ein Olgötze ge- 
ſtanden hätteſt.“ 

Fräulein Meta ſchluchzte in ihr Taſchentuch. „Ich 
konnte ihn doch nicht bei den Haaren nehmen!“ 

„Und jetzt wird ſich dieſe Hungerleidergeſellſchaft 
in die ſchöne Villa ſetzen, wo du hinein ſollteſt.“ 

Fräulein Meta ſchluchzte weiter. „Wenn er doch 
ſo ein alberner Menſch iſt! Ihr werde ich es aber 
ſchon eintränken.“ 

„Du wirſt hinten auf den Backofen kommen,“ rief 
die Juſtizrätin, der die Dornen noch immer auf dem 
Kopf brannten. 

Die Stimme ihres ſtark angeheiterten Gatten dröhnte 

1914. X. 5 


66 | Der felige Major. 2 


in dieſes Duett hinein: „Nun laßt aber endlich das 
Gezeter! Es gibt doch noch mehr grüne Jungen in 
der Welt als dieſen Mertens! Marſch ins Bett mit 
dir, Meta! Und du“ — dieſe liebenswürdige Aufforde- 
rung galt der Ehefrau — „ſchnalle mir hinten die 
Krawatte auf. Und ein andermal bleibt mir mit euren 
Wohltätigkeitskomödien vom Leibe!“ 


Achtes Kapitel. 


Still und mit unſicherer Hand löſte Bärbel die 
Rofe aus ihrer Schärpenſchleife, während die Majorin 
ſich die Schläfen mit Kölniſchwaſſer wuſch. 

Frau v. Kalau hatte Heldenmut bewieſen und durfte 
noch nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen, denn wie ſie 
jetzt aufs neue die Stirn netzte, ſtand Bärbel vor ihr 
mit glühenden Wangen und zuckenden Wimpern. 

„Wie haſt du dir das eigentlich gedacht, Mutter? 
Oder beſſer geſagt: Wie denkſt du dir die Sache jetzt?“ 

„Ich denke, meine liebſte Bärbel,“ ſagte die Majorin, 
befangen zwar, aber doch mit vollbewußter Überzeu- 
gung, „daß eine Frau glücklich werden muß, wenn der 
Mann ſie ſo liebt, wie Arnolf dich liebt.“ 

Bärbel biß ſich auf die Lippen. „Und auf mich, 
auf mein Gefühl kommt es gar nicht an?“ 

„Du wirſt ihn lieben lernen,“ ſagte Frau v. Kalau 
beſtimmt. 

Da fuhr ſie auf. „Weißt du denn, ob ich nicht ſchon 
einen anderen liebe?“ 

„Seifenblaſen! Wer dich in Samt und Seide bettet, 
dir das Leben vergoldet, dir alle Sorgen fernhält, der 
iſt der Liebſte, den halte feſt. Wo und wann kann 
denn ein Mädchen ihre ſogenannte erſte Liebe heiraten? 
Auf dem Monde vielleicht — hier nicht. — Sei nicht 


— — 


D Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 67 


undankbar, Bärbel,“ fuhr fie bittend fort. „Sei nicht 
leichtſinnig. Das Glück bietet uns en zweimal ſo 
die Hand.“ 

„„das Glück?! wiederholte Bärbel mißächtlich. „Ich 
meine, dieſe bietende Hand wäre die deine ODER 
Und morgen?“ 

Morgen wird fi das weitere finden — glaube 
mir's. Die Hauptſache iſt, ich bin nun die Angſt um 
dieſe heuchleriſchen Breunickes los. Zetzt * wir 
in Ruhe ans Werk gehen.“ 

„Ich will aber feine Frau nicht werden!“ rief Bärbel, 
mit dem Fuße aufſtampfend. „Ich will mit feinen 
Eltern nichts zu tun haben! Du haſt mich bloßgeſtellt, 
zum Geſpött gemacht! Brauche ich auf dieſe Mertens 
zu warten? Ich haſſe fie alle miteinander.“ 

„Bärbel,“ ſagte die Majorin, indem ſie zu weinen 

begann, „ich bin ſterblich — und arm wie eine Kirchen- 
maus bin ich auch. Wenn ich die Augen ſchließe — 
Bärbel, Schönheit und Jugend find keine guten Be— 
rater, glaube mir. Nimm das Sichere fürs Unſichere. 
Mache es mir nicht ſchwer, dich zu verlaſſen. Ich könnte 
ſo ruhig aus der Welt gehen, wenn du jetzt verſtändig 
biſt und nicht zuſchanden machſt, N Io ſorgfältig 
eingefädelt.“ 
Aber Bärbels zorniges Antlitz flog ein Weicher 
Schimmer. „Na ja, Muttchen, du meinſt das alles ja 
ſehr gut, und ich kann das auch verſtehen. Aber danken 
kann ich es dir nicht. Sieh doch meine Lage an — ich 
dränge mich ja den Mertens geradezu auf!“ 

„Ach, Kind, wo gibt es denn nicht Krakeel mit den 
Schwiegereltern? In den allerbeſten Familien könnte 
es oft heißen: Nehmet Holz vom Fichtenſtamme! — 
Als Arnolfs Frau kannſt du den beiden Alten tagtäglich 
zu verſtehen geben, daß du Herrin im Hauſe biſt. Ich 


63 Der felige Major. u 


habe das alles wohl erwogen, Bärbel. Selbſt wenn 
der Kommerzienrat ſeinen Sohn aufs geſetzliche Pflicht- 
teil ſetzt, bleiben euch immerhin mindeſtens viermal- 
hunderttauſend Mark. Nein, Bärbel, halte feſt, was 
du haft, und laß dich nicht verführen von unzeitgemäßer 
Sprödigkeit. Glaube meiner Erfahrung, Sorgen fahren 
ſich leichter im Wagen, als wenn man fie zu Fuß herum 
ſchleppen muß. Es iſt ja ganz gut, wenn eine Frau 
ihrem Manne in der Ehe kühl gegenüberſteht, denn 
das iſt ein Anſporn für ihn, ſich dienſteifrig und unter- 
tänig zu betragen. Ich darf wohl ſagen, daß dein ſeliger 
Vater ſich lange Jahre in der Schwebe befand, ob mein 
Herz ihm ohne Seitenſprünge angehöre — und bis 
dahin ließ er ſich um den Finger wickeln.“ 

Es ſchien aber, als ob dieſe dringenden und drän- 
genden Worte in den Wind geſprochen wären, denn 
Bärbel rief mit zurückkehrendem Zorn: „Wenn er 
morgen kommt, will ich ihn nicht ſehen. Am liebſten 
holte ich nach, was ich damals verſäumt habe, als er 
ſchon einmal ſo — unverſchämt war.“ 

„Wenn du feſthältſt,“ ſagte die Majorin eindring— 
lich, indem ſie ihrer Tochter Hand ſtreichelte, „ſind alle 
anderen die Blamierten. Hältſt du nicht feſt, biſt du 
die Blamierte.“ ö 

Oh, daß Bärbel hätte fagen können: „Ich gehe nach 
Berlin zurück!“ Aber ſie konnte es nicht. Die feine 
Nöte in Chriſta v. Klüvers Geſicht bei Stettenborns 
Nahen lag ihr noch ſchwer im Gedächtnis. Sie trug 
das heiße Gefühl noch lebhaft in der Erinnerung, als 
Stettenborns Hand die ihre erfaßte — wie ein rieſelnder 
Strom war's durch ihren Körper gefloſſen. Und wenn 
er morgen erfuhr, was heute geſchehen? Sie drückte 
die Hände gegen die Augen. 

Nur einmal in ſeine Seele hineinſehen können, ob 


2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 69 


da ein Samenkorn aufſprießte! Dasſelbe Samenkorn, 
das in ihrem Herzen Wurzel trieb und fie mit leiden 
ſchaftlichem Groll erfüllte gegen den Mann, der ihren 
freien Willen zu vergewaltigen ſich anſchickte. — — 

In der Nachtſtille hatte Frau v. Kalau den Schluß— 
ſtein auf das Zukunftsgebäude geſetzt, das ihre Fürſorge 
aufgeführt. Sie war nun ganz geſattelt und vorbereitet 
auf alles, was ſich noch ereignen konnte, und hatte vor- 
derhand nichts dagegen, daß Bärbel im Eßzimmer raſt- 
los auf und nieder ſchritt, während ſie ſelbſt im Salon 
der Dinge harrte, die da kommen mußten. — 

Den erſten Glockenzug tat ſchon in der zehnten 
Morgenftunde der Kommerzienrat. 

Er für ſeine Perſon würde ſich ſo hartnäckig gegen 
dieſe Schwiegertochter nicht geſträubt haben, wenn die 
Sache denn ſchon einmal ſo verfahren war, aber der 


häusliche Kommandeur, Frau Suſanne, die niemals 


an einem Überſchwang von Mutterzärtlichkeit gelitten, 
hatte ſo gewaltigen Widerſpruch eingelegt, daß der 
Kommerzienrat ſich freiwillig ins Vordertreffen ſtellte, 
bevor noch RNückſprache mit feinem Sohn genommen 
worden war. 

„Ich kann nur bedauern,“ ſagte die Majorin mit 
ſanfter Stimme, als der kleine, wackelige Herr bei ihr 
eintrat, „daß Ihre liebe Gattin das Endchen Weges 
hierher geſcheut hat. Mutter gegen Mutter, das wäre 
das ſchönſte und beſte geweſen. — Aber nehmen Sie 
Platz!“ 

„Meine Frau,“ ſagte der Kommerzienrat, ſeinen 
noch etwas ſchweren Kopf mit der Hand ſtützend, „iſt 
der Meinung — ich ſpreche ganz frei von der Leber 
weg —, daß die Angelegenheit etwas ſtark übers Knie 
gebrochen worden iſt, daß eine Rückſprache mit uns 
Eltern vorerſt am Platze geweſen wäre.“ 


ö — — — — — A . ˙* VVV 


70 Der ſelige Major. ö a) 
„Nie und niemals,“ fiel Frau v. Kalau mit Nach- 
druck ein, „haben Eltern den Augenblick beſtimmen 
können, da liebende Herzen ſich zur Ausſprache bereit 
fanden. Es iſt ein Wink. des Schickſals, dem fie folgen.“ 
„Bei ſolchen Winken,“ ſagte der Kommerzienrat, 
ſich höchſt unbehaglich zurücklehnend, „wird manches 
getan, was in der Nacht wieder ausgeſchwitzt wird, und 
wovon am anderen Morgen bloß eine fatale Erinnerung 
bleibt.“ . in 

„Herr Kommerzienrat,“ rief die Majorin, ihre rund- 
liche Geſtalt im Sofa kerzengerade aufrichtend, „Sie 
vergeſſen, daß es ſich um meine Tochter, um die Tochter 
des Majors v. Kalau handelt! Ich muß die Auffaſſung, 
die Sie ſoeben betonten, im Namen meines ſeligen 
Mannes ſehr — lax nennen. Einem Mädchen ſeine 
Liebe erklären, iſt die Weiheſtunde des Mannes. Und 
jetzt frage ich im Namen aller Mütter: Wer anders 
als der Bräutigam und zukünftige Ehemann durfte ſich 
in ſolcher Vertraulichkeit mit meiner Tochter befinden?“ 

„Junge Leute —“ begann der Kommerzienrat. 

„Ich erſtaune!“ ſchnitt ihm Frau v. Kalau das Wort 
ab, ohne ſich aus dem Sattel werfen zu laſſen. „Ja, 
es ſind junge Leute, von Kindheit an einander zugetan. 
Und dieſe harmoniſche Einigkeit hat nun zur Liebe 
geführt. Seit dem Tode meines Mannes bin ich be— 
rufen, über Barbaras Ruf und Ehre zu wachen, und 
ich kann Ihnen nur Glück wünſchen, daß Kalau im 
Grabe liegt, denn wenn etwas ihn zur Wut hinreißen 
konnte, ſo war es ein Verſtoß gegen die Hochachtung, 
die man ſeiner Familie ſchuldete.“ 

„Wenn wir nun aber doch eine andere Braut für 
unſeren Sohn in Ausſicht gehabt haben!“ ſagte der 
Kommerzienrat. 

„So haben Sie ſeinen heiligſten Rechten vorge— 


u Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 71 


griffen,“ erwiderte die Majorin und vergaß ganz, daß 
Bärbel auch von einem anderen geſprochen hatte. 

„Die Liebe Ihrer Tochter,“ fiel Mertens grämlich 
ein, „wird ja ſo heiß nicht geweſen ſein.“ 

„Herr Kommerzienrat,“ ſagte Frau v. Kalau ſich 
erhebend, „dieſes Geſpräch iſt eine Beleidigung, die 
ich mit Entrüſtung zurückweiſe. Ich ſehe, Sie wollen 
Ihren Sohn zum Treubruch verleiten. Gut — ich 
ſpreche jetzt für meine Tochter mit, wenn ich ſage: Die 
geſtrige Verlobung Ihres Sohnes mag null und nichtig 
ſein, wenn er es mit ſeiner Ehre für vereinbar hält, ein 
junges, ihm vertrauendes Mädchen dem Gerede und 
Geſpött der Läſterzungen preiszugeben. Stellen Sie 
dies Ihrem Sohn vor, und danach mag er ſich erklären. 
Ich rede jetzt kein Wort weiter. Leben Sie wohl!“ 

„Dich wollen wir ſchon kriegen!“ murmelte ſie hinter 
ihm bet, als er mit zitteriger Hand die Tür geſchloſſen. 

Ein warmer Südweſt blies durch die Straßen, Tau- 
wetter verkündend, als der Kommerzienrat aus dem 
Haufe der Majorin trat, um in feine Villa zurückzu- 
kehren, allwo Frau Suſanne mit ſcharfer Handhabung 
häuslicher Geſchäfte ihre Ungeduld zu meiſtern trachtete. 

Vor dem Eingang ſtand fein Sohn im Gefellichafts- 
anzug, ihn erwartend. „3% wollte u zuerſt auf- 
ſuchen.“ 

„Wirklich? Die Güte ſelbſt!“ ſagte der Fonte dei 
rat, durch feinen moraliſchen Hinauswurf aufs äußerſte 
ergrimmt. „Es iſt höchſt anerkennenswert, uns nicht 
ganz auszuſchließen. Wenn der Sohn und Erbe ſich 
eine Lebensgefährtin gewiſſermaßen aus dem Ärmel 
ſchüttelt, haben die Eltern —“ | 

„Ich bitte dich, Vater,“ ſagte Arnolf, neben ihm 
die Stufen emporſteigend, „jetzt keine Bitterkeiten! Es 


72 Der felige Major. 0 


iſt kein Grund vorhanden, fich gegenſeitig aufzuregen 
und den Klatſchbaſen Stoff zur Unterhaltung zu geben.“ 

„Danke beſtens für gütige Belehrung,“ ſagte der 
Kommerzienrat leiſe, da er die Stimme ſeiner Gattin 
vernahm. „Deine Mutter ſieht die Sache, wie mir 
ſcheint, denn doch mit anderen Augen an.“ 

In ſeinem Arbeitszimmer rief er durch die Tür: 
„Er iſt hier!“ 

Frau Mertens trat mit finſterer Miene ein. „Ich 
habe ſchon den Zylinder im Korridor hängen ſehen. 
Alſo wirklich? Hingehen und anhalten? Um dieſes 
Mädchen anhalten? Wo du weißt, ſehr genau weißt, 
daß wir die Familie Kalau allezeit von uns abgeſchoben 
haben!“ 

„Das habe ich gewußt,“ ſagte Arnolf, ſeine äußere 
Ruhe bewahrend, „und ſchwer genug empfunden.“ 

„Und jetzt biſt du glücklich 'reingefallen!“ rief die 
Kommerzienrätin ſchroff. „Dieſe Katze iſt ſo lange um 
dich herumgeſtrichen —“ 

„Ich bitte dich, Mutter,“ fiel Arnolf ein, „in unſer 
aller Intereſſe, von dieſem Ton abzuſehen. Ich kann 
eine Familie, zu der ich in engere Beziehungen treten 
will, nicht ſo wegwerfend genannt hören.“ 

„David, haſt du das gehört?“ rief Frau Mertens 
ihrem vor ſich hinbrütenden Gatten zu. „Er will in 
Beziehungen treten! Hat gar keine Ahnung, daß er 
eingefangen iſt. Stellt uns vor den Breunickes bloß, 
daß man ſich ſchämen muß, einen ſolchen Sohn zu 
haben.“ 

Arnolf ſchwoll die Stirnader an, aber er bewahrte 
ſeine Ruhe. „Bleibe alſo bei deiner Überzeugung,“ 
ſagte er gedämpft. „Ich kann ſie dir nicht nehmen 
und, was die Majorin anbelangt, ſtreite ich ſie dir auch 
nicht völlig ab. — Aber,“ fuhr er erregter fort, „in 


2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 73 


une 


N 
betreff ihrer Tochter ſcheiden ſich unſere Meinungen 
durchaus. Daß ich Bärbel immer geliebt habe, iſt euch 
kein Geheimnis geweſen, und jetzt wiederhole ich als 
Mann, daß ſie für mich der Inbegriff des Entzückens 
iſt, daß ich ſie liebe und glücklich ſein würde, wenn ſie 
dieſes Gefühl teilen könnte.“ 

„So!“ knurrte der Kommerzienrat biſſig. „Das 
kann ſie alſo doch noch nicht? Als ich vorhin der Majorin 
gegenüber Zweifel daran ausſprach, wollte ſie durch 
die Dede fliegen vor Entrüſtung.“ 

„Ich bitte nochmals,“ ſagte Arnolf lebhaft, „die 
Perſon der Mutter gänzlich auszuſchließen und nur 
mich und Barbara im Auge zu behalten. Beſſer wäre 
es ja geweſen, ich hätte der Verſuchung eines Allein- 
ſeins mit ihr noch widerſtanden, aber es geſchah, um 
mich von dem Verdacht der Leichtfertigkeit und Un- 
dankbarkeit zu reinigen, in den ihr mich gebracht hattet 
durch das mir aufgezwungene Verſprechen, jeglichen 
Verkehr abzubrechen. Wenn ich dabei die Vorſicht 
außer acht ließ, die Barbara von mir fordern durfte, 
und wenn ich bis hart an die Grenze deſſen ging, was 
meine ganze Seele erfüllte, ſo iſt nicht zu vergeſſen, 
daß jeder andere unſer Beiſammenſein ebenſogut be— 
lauſchen konnte, wie Frau v. Kalau es tat. Und 
darin hat fie ja recht: Kein Mann follte fo fehn- 
ſüchtig eines Mädchens Hand an ſeine Lippen 
drücken, wie ich es tat, der nicht die Abſicht hat, ſie 
fürs Leben zu gewinnen.“ 

„Dieſes Alleinſein war doch bloß ein Trick, um dich 
einzufangen,“ ſagte die Kommerzienrätin zornig. — 
„Was ſagſt du, David? Er iſt blind wie ein Maulwurf!“ 

„Wenn er durchaus hereinplumpſen will, ſo laß ihn 
plumpſen,“ ſagte Mertens, deſſen Übelbefinden ſich 
ſteigerte. „Aber das haſt du wohl nicht überlegt, daß 


74 | Der felige Major. u 


ich der Spekulation dieſer Damen und deinem Un— 
gehorſam noch einen gewaltigen Riegel vorſchieben kann 
und vorſchieben werde. Wenn die beiden ſich gedacht 
haben, ſich in unſer Neſt zu ſetzen, ſo irren ſie ſich 
gründlich. Du haſt dein Gehalt — Punktum! Ich 
entziehe dir jede Zulage. Und was mein Teſtament 
anbelangt, da wird man ſich auch noch wundern. Das 
kannſt du bei deiner Werbung mit einfließen laſſen — 
da wird ſich der Kalauſche Eifer ja wohl abkühlen.“ 

„Es wäre in der Tat ſtrafbar, Vater, wollte ich 
dieſen deinen Entſchluß nicht erwähnen,“ ſagte Arnolf 
mit klopfenden Schläfen. „Barbara hat freie Wahl. 
Ich wüßte auch nicht, daß fie an Luxus je gewöhnt 
geweſen wäre. So kleinlich und berechnend iſt ſie nicht, 
dazu kenne ich ſie zu gut.“ 

„Geh wieder ins Ausland!“ rief die Kommerzien- 
rätin haſtig. „Damit verläuft die Angelegenheit im 
Sande.“ 1 

„Die Majorin,“ fiel Mertens biſſig ein, „iſt ein ſo 
ſchlauer Fuchs wie nur möglich. Sie meinte, wenn 
Arnolf es mit ſeiner Ehre vereinbar hält, dann ſoll 


die Geſchichte aus ſein. Geh hinüber und ſage ihr: 


Ich kann's ganz gut ertragen. — Baſta!“ 

„Und auf Barbara bleibt der Fleck ſitzen,“ ſagte 
Arnolf, mit großer Selbſtüberwindung eine heftige 
Aufwallung niederkämpfend. „Ich gehe einfach fort, 
und ſie kann zuſehen, wie ſie den Fleck auf ihrem 
guten Nuf wieder los wird!“ 

„Alſo — von dieſer Schwiegertochter wiſſen wir 
beide nichts,“ fiel die Kommerzienrätin mit harter 
Stimme ein. „Nun tue, was du willſt. — David, du 
mußt kalte Umfchläge haben, komm! — Ich wünſchte,“ 
ſetzte ſie ergrimmt hinzu, „dieſer Baſar wäre geblieben, 
wo der Pfeffer wächſt.“ 


— — 


2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 75 


Arnolf ſah feinen. Eltern ſchweigend nach. Das 
Gefühl der Vereinſamung in dieſem Haufe überdrang 
ihn wieder mit trauriger Kälte. Wenn er auch nicht 
erwartet hatte, Billigung zu finden, ein Verſtändnis 
für ſeine Handlungsweiſe hatte er doch vorausgeſetzt, 
darauf war das Ergebnis ſeiner durchwachten Stunden 
gegründet worden. Nun war ihm der Boden entzogen. 

Er konnte die Sache drehen und wenden, wie er 
wollte, das Refultat blieb immer eine Schädigung an 
Bärbels Ruf. Sie konnte gar nicht anders, als zu 
ihm ſtehen, wie er zu ihr ſtand, auch dann, wenn er 
ihr nichts weiter zu bieten hatte als ſein Gehalt. 

Langſam ſchritt er aus dem Zimmer und auf den 
offenen Flur hinaus, wo die vergraute Gipsbüſte auf 
dem maſſigen Schrank einen Lichtſtrahl quer über der 
Naſe trug, der wie ein höhniſches Rümpfen in dem: 
löcherigen Geſicht wirkte, als s es hinter dem 
Abſteigenden her. 

Der Weg zum Nachbarhauſe war kurz. Nur der 
Garten lag dazwiſchen, und durch das jetzt kahle Bulch- 
werk ſah Arnolf die Steige, auf denen er mit Barbara 
ſeine ſchönſten Stunden verſpielt und verplaudert hatte. 
Damals lief ſie ihm mit offenen Armen entgegen — 
und heute? 

Er zog die Glocke, feſt entſchloſſen, völlige Wahrheit 
und Klarheit walten zu laſſen, ſoweit es von ſeiner 
Perſon abhing. 

Die Majorin öffnete ihm ſelbſt die Tür. Mit mildem 
Vorwurf reichte ſie ihm die Hand. „Ich hatte Sie 
früher erwartet als Ihren Vater, lieber Arnolf. Mir 
wäre dadurch der Schmerz erſpart worden, in Un- 
frieden von ihm zu gehen. — Legen Sie ab! — Wir 
wollen uns doch ein junges Glück nicht durch Kleinig— 
keitskrämerei entweihen laſſen. Ihr Vater litt offenbar 


16 Der ſelige Major. a 


noch an den Nachwehen des geitrigen Feſtes. Cham- 
pagner iſt ein heimtückiſcher Freund. Mein ſeliger 
Mann pflegte immer zu ſagen: Es iſt ein ſchnödes Ge- 
ſöff! — Kommen Sie, bitte, herein! Barbara wird 
gleich mit ihrer Toilette fertig ſein.“ | 
In Wahrheit hielt Bärbel nebenan einen Brief ihres 
Berliner Onkels in der Hand, den der Poſtbote ſoeben 
abgegeben. Herr v. Kalau zeigte darin feiner Schwä- 
gerin an, daß er ſeinen Haushalt in Berlin aufgelöſt 
habe und nach dem Wohnort ſeiner verheirateten 
älteſten Tochter überzuſiedeln gedenke. 
Alſo auch dieſe Zuflucht, wenn ſie ſie hätte benützen 
wollen, war ihr nun verſperrt. 
„Nehmen Sie auf dieſem Seſſel Platz,“ ſagte die 

Majorin herzlich. „Ihr lieber Vater hat ihn vorhin 
eingenommen. Man muß, das iſt Pflicht und Herzens 
ſache, den Wunderlichkeiten des Alters immer nach— 
ſichtig gegenüberſtehen. Niemals wird man mich in 
dieſer Auffaſſung wanken ſehen. Sagen Sie das Ihrem 
Vater, lieber Arnolf.“ 

Er hatte wenig von dem allem gehört. Ein raftlofer 
Schritt, den ſein Ohr durch die geſchloſſene Tür des 
Nebenzimmers erlauſchte, feſſelte ſeine Aufmerkſamkeit. 

„Ich komme,“ ſagte er, die Erwartung der Majorin 
endlich befriedigend, „um die Hand Ihrer Tochter Bar- 
bara anzuhalten. Zwar geſtern —“ 

„Hatten Sie ſchon meine Einwilligung mit Freuden 
erhalten,“ fiel Frau v. Kalau ſcherzend ein. „Gewiß. 
Und ich wiederhole heute: Wem follte ich mein Kind 
lieber anvertrauen, als dem Freunde ihrer Jugend? 
Einem Manne, den ich als Knaben ſchon liebgewann, 
als Jüngling ſchätzte und jetzt mit vollem Vertrauen 
Schwiegerſohn nenne! Nehmen Sie meine Tochter, 
lieber Arnolf — und meinen Segen dazu!“ 


2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Noeppel). 77 


Ihr Antlitz ſtrahlte die Aufrichtigkeit ihrer Freude 
wider, als ſie ihm ermutigend die Hand drückte. „Sie 
haben noch etwas auf dem Herzen, lieber Arnolf. Nur 
heraus damit! Es iſt alles menſchlich, was im Leben 


paſſiert. Mein ſeliger Mann pflegte zu ſagen: In 


irgend einem Punkt iſt jeder Menſch ein Narr oder 
ein — Sie geſtatten, daß ich den Ausdruck unterſchlage. 
Sie wollen von Ihren lieben Eltern ſprechen und 
ihrem unbegreiflichen Widerſtand — nicht wahr?“ 
„Allerdings,“ ſagte Arnolf ſehr ernſt, „das muß zur 


Sprache kommen. Ich habe ſoeben dieſen Widerſtand 


als vorläufig unbeſiegbar erkennen müſſen. Es iſt mir 
nicht gelungen, eine Stelle zu finden, wo er zu er- 
weichen geweſen wäre. Sie müſſen gleich mir damit 
rechnen, daß meine Eltern unſerer Verlobung miß- 
billigend gegenüberſtehen.“ 

„Wie traurig für fie ſelbſt!“ ſagte Frau v. Kalau, 
der dieſe Eröffnung nichts Neues war, aber die ſie 


in Anbetracht des recht erheblichen Pflichtteils, auch 


nicht beſonders angriff. 

„Ich werde alles daranſetzen, Barbara dieſes pein- 
liche F ſo unfühlbar zu machen wie nur 
möglich.“ 


„Das Beben Sie!“ rief die Majorin gerührt. „Und. 


was Barbara betrifft, ſo ſtehe ich dafür, daß fie es 
überwinden wird. Laſſen Sie doch den guten Klatſch— 
paſteten hier das Vergnügen, über die Verlobung zu 
ſpötteln. Wer zuletzt lacht, lacht am beſten. Ich rufe 
nun Barbara und laſſe euch allein, ihr Lieben.“ 

„Einen Augenblick noch!“ ſagte Arnolf, die Auf- 
ſpringende zurückhaltend. „Ein Punkt iſt noch zu er- 
örtern. Mein Vater hat ſich von heute an in materieller 
Hinſicht von mir abgewandt. Ich bin ſomit lediglich 
auf mein Gehalt angewieſen.“ | 


\ 


78 Der ſelige Major. N 2 


„Was Sie ſagen!“ rief Frau v. Kalau, nicht gerade 
angenehm überraſcht. „Das iſt ja grauſam und un- 
chriſtlich im höchſten Maße.“ Aber ſie faßte ſich ſchnell. 
Solche Androhungen hatten meiſt kurze Beine. Alſo 
nickte ſie ihm ermutigend zu. „Liebe, mein guter Arnolf, 
ſieht nicht auf Geld, und Glück berechnet ſich nicht nach 
Gold und Banknoten. Ich darf wohl ſagen, daß mein 
ſeliger Mann dieſen Standpunkt glänzend vertrat, als 
er um meine Hand warb. Sein Lieblingsſpruch war: 
Glück verzapft ſich nicht wie Spatenbräu. — Ich hole 
jetzt Barbara.“ 

Arnolf blieb allein. Nur ein bißchen fahler Sonnen- 
ſchein war mit ihm auf dem Gange zum Fenſter, wo 
Bärbels Buch aufgeſchlagen auf dem Tiſche lag. 

Mit heißer Sehnſucht nahm er es zur Hand. 

Aber da trat ſie ſchon ein, unwiderſtehlich ſchön in 
ihrer Jugendpracht und Herrlichkeit. 

Die Mitteilungen, die Frau v. Kalau ihr im Fluge 
zugeflüſtert, übten nicht den mindeſten Reiz in dieſem 
Augenblick auf ſie aus. Es war ihr ganz gleich, ob er 
im Golde wühlte oder nicht. Sie dachte nur daran, 
was Stettenborn, wenn er ihre anſcheinende Vertrau- 
lichkeit mit Arnolf Mertens erfuhr, ohne daß die Ver⸗ 
lobung hinterdrein folgte, bei ſich denken würde. 

Alſo gerade das, was ſie zurückſchreckte, trieb ſie an, 
das zu tun, was ihr innerſtes Gefühl ihr widerriet. 

Arnolf, dem ihr Anblick alle Selbſtvorwürfe von 
neuem wachrief, ging ihr ſchweigend entgegen. 

Ihre dunklen Augen hafteten an ihm, und doch war 
es, als ſähe ſie an ihm vorüber in die Ferne hinein. 

„Die Sache iſt ja nun erledigt,“ ſagte Bärbel, ohne 
ihm die Hand zu reichen. „Wie das aber mit Ihren 
Eltern werden ſoll —“ | 

„Ehe wir von ihnen ſprechen,“ fiel er mit warmer 


D Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 79 


Innigkeit ein, „ſprechen wir von uns ſelbſt. Ein Wort 
vor allem, Barbara: Verzeihen Sie mir, daß ich mich 
hinreißen ließ. Ich hätte nicht vergeſſen dürfen, daß 
es außer uns noch andere gab, Neugierige und Un- 
berufene.“ | | 

Sie war ehrlich genug, bei diefer Andeutung auf 
die ſtrategiſchen Künſte ihrer Mutter zu erröten, aber 
ſie gab keine Antwort. | 

„Für mich, der das Glück feines Lebens von jeher 
in Ihrem Beſitze ſah,“ fuhr er leiſer fort, ihre wider- 
ſtrebende Hand ergreifend und in der ſeinen feſthaltend, 
„könnte ein Abſchluß wie dieſer nur erſehnenswert ſein, 
wenn ich die Gewißheit hätte, daß Sie —“ | 

„Wir find nun eben ein Brautpaar,“ ſagte fie kurz 
abbrechend. „Über das Wenn und Aber nachträglich 
zu philoſophieren, iſt überflüſſig. Wir beſchäftigen uns 
beſſer mit dem, was iſt, und mit dem, was ſein wird.“ 
Ihre Stimme verriet, daß die äußere Kälte, die ſie 
bewahrte, zu ihrer inneren Erregtheit im Gegenſatz 
ſtand. „Zunächſt werde ich grenzenlos beneidet werden 
von allen Metas und Breunickes dieſer wohlmeinenden 
Stadt und allen denen als Vorbild dienen, die nach 
einem männlichen Goldfiſch angeln. So weit könnte 
ich herzlichen Spaß daran haben, denn nichts freut 
mich mehr, als Schnüfflernafen ein paar feſte Nafen- 
ſtüber auszuteilen. Aber die andere Seite der Sache,“ 
fuhr ſie mit gerunzelter Stirn fort, „die ich nicht ſo 
abſchütteln kann, erbittert mich. Mein freier Wille 
ſträubt ſich gegen den Zwang, den Ihre Unvorſich- 
tigkeit mir auferlegt. Weshalb blieben Sie nicht 
ſitzen, wo Sie ſaßen? Wozu dieſe enge Annäherung? 
Ich wünſchte, ich hätte meine Hände eingewickelt und 
verſteckt.“ | 

Er heftete einen langen und traurigen Blick auf 


80 Her ſelige Major. 2 


ſie. „Wenn ich gewußt hätte in dem Augenblick, als 
alles in mir mich zu Ihnen hinzog, daß die Erinnerung 
an Ihre einſtige Zuneigung ſo gänzlich —“ 

„Sie meinen den Kuß?“ fiel Bärbel haſtig ein. 
„Das war Unſinn. Ein vierzehnjähriger Schnabel ver- 
haut ſich öfter. Gern hatte ich Sie ja, und leid taten 
Sie mir auch — und wenn alles ſo geblieben wäre, 
wie es war, dann wäre vielleicht etwas daraus ge- 
worden. Vielleicht! Vielleicht auch nicht! Das ſage 
ich offen, wenn ich jemand liebhätte, lieb, was 
ich liebhaben nenne, dann verurſachten mir feine 
widerhaarigen Eltern weiter kein Herzweh. Sie 
könnten ſich meinetwegen auf den Kopf ſtellen. 
Alſo, das wäre das letzte, was mich abſchrecken 
könnte. Und wenn ich ohne jemand nicht leben 
könnte, weil ich ihn liebte, würde ich wahrhaftig 
nicht danach fragen, wie viel oder wie wenig er in 
ſeinem Geldbeutel hat.“ 

Er küßte ihr ſtumm die Hand. Dieſes Bekenntnis 
tat ihm unſäglich wohl, wie ſchmerzlich es auch ander- 
ſeits ihn traf. 

„Dabei iſt weiter gar nichts zu verhimmeln,“ ſagte 
Bärbel, ihre Hand zurückziehend. „Ich wollte nur Elar- 
ſtellen, daß ich Sie nicht liebe, und daß ich feſt darauf 
rechne, auch von Ihnen nicht mehr hören zu müſſen, 
daß Sie mich ſo überſchwenglich anbeten. Dann wird 
die Sache ſich ſoweit erträglich geſtalten. Denn das 
ſage ich — Mutter iſt nicht anweſend — gerade heraus, 
wenn ich das geringſte gelernt hätte, was ſich zum 
Broterwerb verwerten ließe, ſo ſagte ich noch heute 
adieu und ſchöbe Verlobung, Hochzeit, Schwiegereltern 
und den ganzen Bimbam mit einem Ruck von mir ab. 
So ſteht's.“ 

Sie hatte mit fliegendem Atem und leuchtenden 


Oo Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 81 


Augen geſprochen, ohne zu beachten, daß in Arnolfs 
Antlitz ein merklicher Wechſel ſich vollzog. | 

Er trat zurück, und feine Stimme klang kühl, als er 
fragte: „Wünſchen Sie, daß die Verlobung widerrufen 
wird? Sie haben das Vorrecht, zurückzutreten.“ 

Bärbel errötete, aber ſie ſagte nichtsdeſtoweniger 
erregt: „Wenn ich das vereinbar mit meinem Ruf 
gehalten hätte in dieſem geſegneten Klatſchneſt, ſo wäre 
die Löſung ſehr einfach geweſen.“ Sie dachte wieder 
an Stettenborn und ſein Urteil über ſie. „Nein! Das 
will ich nicht.“ 

„Dann iſt es Ehrenſache für mich, bei der Stange 
zu bleiben,“ ſagte er förmlich. „Es wird ſich ja ſpäter 
noch ein Ausweg finden, hoffe ich. Vorläufig ſteht alſo 
der Veröffentlichung nichts im Wege.“ 

Hier trat die Majorin, deren Ohr von dem Türſpalt 
nicht gewichen war, lebhaft ein. „Vom Anzeigen iſt 
die Rede, wie ich höre? Das nehme ich gern auf 
mich. Wenn Sie die Ringe beſorgen wollen, lieber 
Arnolf —“ 

„Ich beſtelle ſie auf dem Heimweg,“ ſagte er, ſich 
verabſchiedend. 

Er reichte Barbara nicht die Hand, verneigte ſich 
flüchtig, und ſchon fiel die Tür hinter ihm ins 
Schloß. 

Bärbel atmete tief auf. „Sage kein Wort, Muttchen! 
Hörſt du? Kein Wort! Ich könnte es jetzt nicht ruhig 
mitanhören.“ 

Frau v. Kalau ſchluckte hinunter, was ihr auf der 
Zungenſpitze brannte, holte Tinte und Feder herbei 
und ſetzte die Verlobungsanzeige auf. Es gewährte 
ihr eine erhebende Befriedigung, ihren Namen aus- 
führlich darunter zu ſchreiben: Henriette v. Kalau, 
geb. v. Rotterbach Strettau aus dem Haufe en 

1914. X, 


82 - Der felige Major. u 


„Das werde ich dieſen Mertens doch einmal unter 
die Naſe reiben,“ ſagte ſie aufſtehend. „Sie bekommen 
reines Adelsblut durch dich in ihre obſkure Bürgerlich- 
keit, und ſie haben es nötig. Denn wie ich mir habe 
ſagen laſſen — im ſtrengſten Vertrauen ſelbſtverſtänd- 
lich — hauſierte der Großvater von Frau Mertens 
irgendwo in Oſtpreußen mit Schnupftabak und Streich- 
hölzern. Aber der Reichtum deckt heutzutage Schlim- 
meres zu als Stiefelwichſe.“ 

Bärbel antwortete nichts auf dieſe wohlwollende 
Betrachtung und ging aus dem Zimmer. 

(Fortſetzung folgt.) 


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Jung⸗ Japan. 


von Felix Baumann, 


mit 9 Sildern. * (nachdruck verboten.) 


n meinem japaniſchen Zimmer hängt eine ein- 

fache, kleine Tuſchzeichnung, die mir ein kleiner 
Japaner bei meinem letzten Abſchiede von Japan an- 
gefertigt hat, und die mir meine liebſte Erinnerung 
an Jung-Japan iſt. Der Knirps hatte die Zeichnung 
in meiner Gegenwart innerhalb weniger Minuten 
vollendet und mir durch die kunſtvolle Art der Aus- 
führung wieder einmal bewieſen, daß die Japaner 
geborene Zeichner ſind. 

Das war meine letzte Begegnung mit Jung- Japan. 
In Erinnerung iſt mir auch noch meine erſte. Ich 
befand mich auf dem RNückwege von dem am Golf 
von Obama gelegenen Örtchen Mogi nach Nagaſaki, 
als ſich plötzlich die Pforten eines Schulhauſes öffneten 
und die liebe Schuljugend ins Freie ſtürmte. Mich 
ſehen und mein zweiräderiges Wägelchen umringen war 
eins. Mein Kuli erfaßte die Situation und wollte 
mich im ſchnellſten Laufe aus dem Bereiche der über— 
mütigen Geſellſchaft bringen, er hatte jedoch die Rech- 
nung ohne die flinken Beine der Jungen gemacht. 
Sie blieben uns dicht auf den Ferſen, und erſt am Ende 
des Dorfes verzichteten ſie darauf, dem „erhabenen 
Fremdling“ das Ehrengeleit noch weiter zu geben. 

Der Vorfall war an und für ſich recht unbedeutend, 


84 Fung- Japan. 2 


aber das geſittete Benehmen der Kleinen fiel mir auf. 
Gewiß, es war eine große Luſtigkeit vorhanden, von 
Angezogenheit und Aufdringlichkeit jedoch keine Spur. 
Und das iſt der Kernpunkt in dem Weſen der japaniſchen 
Jugend. Trotzdem die Kinder ohne jede Strenge 
und unter Ausſchluß der Körperſtrafen erzogen werden, 


läßt ihr Verhalten nichts zu wünſchen übrig. Während 
man bei uns den Kindern in ihren jungen Jahren nur 
allmählich größere Freiheit gönnt, kann das japaniſche 
Kind von früheſter Jugend an tun und laſſen, was ihm 
beliebt. Die Kinder werden bewacht, aber es werden 
ihnen keine Schranken auferlegt. Züchtigungen werden 
als ein Zeichen mangelnder Erziehung der Eltern 
angeſehen. 


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86 Jung-Japan. 2 


Die Erziehung der japaniſchen Mädchen iſt ganz 
darauf gerichtet, fie zu tüchtigen Hausfrauen, freund- 
lichen, gehorſamen, treuen Gattinnen und liebevollen 
Müttern heranzubilden. Auch auf Anſtand und 
Etikette wird viel gehalten; in der Schule ſind für die 
Mädchen beſondere Unterrichtftunden dafür angeſetzt. 
Auf die graziöſe Art der Japanerin, ſich zu verbeugen, 
könnte jede europäiſche Salondame ſtolz ſein. 
Die Erziehung der Mädchen iſt bis vor kurzem eine 
vorzugsweiſe äſthetiſche geweſen; wohl etwas Leſen, 
Schreiben und Rechnen, in erſter Linie jedoch Unter- 
richt in den ſchönen Künſten, im Blumenbinden, in 
der Dichtkunſt, der Malerei und vor allem in der Muſik. 
Der Unterricht erſtreckt ſich auch auf die Bereitung 
und das Trinken des Tees, das Anzünden und Räuchern 
von wohlriechenden Gegenſtänden, die Anfertigung 
von Stickereien und Luxusarbeiten mit der Nadel 
und auf pantomimiſche Tänze. 

Nirgends außerhalb Japans dürften Schulen zu 
finden ſein, in denen Unterricht in der Bereitung und 
im Trinken des Tees erteilt wird; desgleichen Lehrer, 
die ihre Schülerinnen unterweiſen, wie man NRäucher- 
werk anzündet und den Duft auf ſich wirken läßt. 
Die Japaner nennen es nicht „Blumenarrangieren“, 
auch betrachten ſie den Tee nicht nur als ein Getränk 
und Räucherwerk nicht als Parfüm, ſondern die 
jungen Mädchen werden angehalten, Tee, Blumen 
und RKäucherſtoffe, wie überhaupt alle Dinge mit der 
Moral in Verbindung zu bringen und über ſie zu 
philoſophieren. 

Wie im Okzident ſo gibt es heute in Japan eine 
große Zahl von Bildungsanſtalten, die nur für die 
Mädchen beſtimmt ſind und ihnen Gelegenheit geben, 
ſich in allen Zweigen der Wiſſenſchaften auszubilden. 


2 Von Felix Baumann. 87 


Das größte Verdienſt für die⸗Entſtehung dieſer An- 
ſtalten gebührt der jetzigen Kaiſerin- Witwe Haruko 
und dem Profeſſor Jinzo Naruſe, dem Wees des 
erſten freien Unterrichts in Japan. = 1 

Doch zurück zu dem jüngſten Volk im Kimono. 


Beim Spielwarenhändler auf der Straße. 


Der bekannte Japanologe Sir Rutherford Alcock hat 
das Land der aufgehenden Sonne das „Kinder— 
paradies“ getauft. Nicht mit Unrecht, denn in Japan 
dreht ſich alles um die Kleinen und Kleinſten. Davon 
kann man ſich auf japaniſchem Boden auf Schritt und 
Tritt überzeugen, befonders während der verſchie— 


| 88 Jung- Japan. u 


denen Tempelfeſte. Ein Tempelfeſt ohne Spielzeug 
für die Kinder wäre wie Weihnachten ohne Tannen 
baum in einer kinderreichen deutſchen Familie. Die 
japaniſchen Gaben beſchränken ſich allerdings nur auf 
Kleinigkeiten, aber dieſe Bagatellen ſummieren ſich 
im Laufe des Jahres zu einem anſehnlichen Gefchent- 
haufen. 

Wie rührend ſchreibt Lafcadio Hearn in ſeinem 
Buche „Blicke in das unbekannte Japan“: „Keine 
Mutter könnte es übers Herz bringen, einem Tempel- 
feſt beizuwohnen, ohne für ihr Kind irgend ein Spiel- 
zeug zu kaufen; und ſelbſt die ärmſte Mutter kann es 
erſchwingen, denn die Preiſe der in einem Tempel- 
hofe zum Verkauf ausgeſtellten Spielſachen bewegen 
ſich zwiſchen einem Fünftel eines Sen (1 Sen = 
2,09 Pfennig) und drei oder vier Sen.“ 

Man muß ſich einmal perſönlich zwiſchen den 
Verkaufsſtänden bewegt haben, um ſich einen Begriff 
von der Mannigfaltigkeit der japaniſchen Spielſachen 
machen zu können. Drachen, Waffen, Federball- 
ſpiele, Fahnen, Schiffe, Bälle, Puppen, Werkzeuge 
und ſo weiter, alles liegt bunt durcheinander und zeich- 
net ſich durch eine ſinn verwirrende Farbenpracht aus. 

And die Händler ſelbſt! Auch ſie ſind nur beſtrebt, 
ihre kleinen Kunden und Kundinnen aufs angenehmſte 
zu unterhalten. Einige haben ihr Geſchäft mit einer 
Kinderlotterie verbunden, die es dem jungen Volk 
ermöglicht, vielleicht gratis zu einem Geſchenk zu 
kommen. Der Verkäufer von Naſchwaren ſetzt ſich 
eine Teufelsmaske auf, ſchlägt eine Trommel und führt 
phantaſtiſche Tänze auf, der Reiskuchenhändler ergeht 
ſich in Gliederverrenkungen, während ein anderer 
Zuckerbäcker brennende Kugeln verſchluckt oder ein 
anderer dreſſierte Käfer vorführt. Jeder Händler hat 


D Von Felix Baumann. 89 


ſeinen beſonderen Kindertrick und kommt auf ſeine 
Koſten. Die wahren Rattenfänger von Hameln, aber 
bei ihnen kommen die Kinder höchſtens nur mit einem 
verdorbenen Magen davon. 

Dann hat Jung-Japan zwei Feſttage ganz für ſich: 


2 


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Wer die Wahl hat, hat die Qual. 


die Mädchen das große Puppenfeſt, die Knaben den 
Bannertag. Das Puppenfeſt, das ſogenannte „Hina- 
matſuri“, vereinigt am 3. März jeden Jahres die ge— 
ſamte Mädchenwelt. Es wird in jedem Hauſe, in dem 
ſich Töchter befinden, beſonders in Familien, denen 
während der letzten zwölf Monate ein Töchterchen 


90 Zung-Zapan. 2 


geboren wurde, abgehalten. Die Vorbereitungen für 
das Puppenfeſt beginnen bereits eine Woche vorher. 
Die Kiſten, die die Puppen des vorigen Jahres ent- 
halten, werden ausgepackt, die ſchadhaften Puppen 
ausgebeſſert und paſſende Geſtelle in dem „Tokonoma“, 
dem erhöhten Ehrenplatze in der Niſche des Empfang- 
ſalons, errichtet. Die Feſtſtube wird mit bunten Lam- 
pen, Kirſchen- und Pfirſichblüten und anderen Blüten 
und Blumen geſchmückt. Auf den gleichfalls mit 
Blumen und farbigen Decken verzierten Geſtellen 
werden die Puppen geordnet. Die höchſte Stelle 
nimmt das „Dairi“, der Palaſt des Mikados, ein. Vor 
demſelben werden die Figuren des Kaiſers und der 
Kaiſerin „Kiſaki“, rechts von dieſen die des. „Sadai- 
jin“, des großen Miniſters der Rechten, und links des 
„Udaijin“, des großen Miniſters der Linken, und das 
fünfſtimmige Orcheſter „Goninbayaſhi“ aufgeſtellt. 
um dieſe herum und auf den tieferen Geſtellen werden 
die anderen Figuren, wie die Höflinge, die Hofdamen, 
Gärtner, Hausdiener mit Beſen und ſo weiter nach ihrer 
Nangordnung, Hunde, Katzen, Ochſen und andere 
Haustiere, und dazwiſchen Küchen- und Hausgeräte 
von entſprechender Größe, Blumenvaſen und Lichter 
in zierlicher Ordnung verteilt. 

Die Mädchen erhalten neue Kleider und Gürtel 
ſowie neue Puppen zum Geſchenk, und die alten vor— 
jährigen Puppen werden neu bekleidet. Abends wird 
der Saal feſtlich beleuchtet und die ganze Bekanntſchaft 
zu einem Feſtmahle eingeladen. Den kaiſerlichen 
Puppen wird dabei von jedem Gerichte in kleinen 
Porzellan- oder Lackgefäßen vorgeſetzt. 

Während des ganzen Tages werden Mädchen— 
beſuche ausgetauſcht ſowie die Schauſtellungen der 
Puppen bewundert, wobei die Gäſte mit einem milch— 


2 Von Felix Baumann. 91 


ähnlichen Getränk aus kleberreichem Neiſe (Shiro- 
ſake) und mit Mirin, einer japaniſchen Würze, bewirtet 
werden. Am Tage nach dem Feſt wird eine Art 
Nachfeier abgehalten, die Reſte der Speiſen werden 
verzehrt und die Puppen wieder eingepackt. 


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22 


An einem Feſttage in ZJokohama. 


Wie für das Puppenfeſt, ſo beginnen auch für das 
Bannerfeſt der Knaben die Vorbereitungen bereits 
eine Woche vorher. Das Felt, das „Goyatſuno— 
ſekku“ oder auch „Tango“ nach dem an dieſem Tage 
gehißten Banner genannt wird, ſoll die männliche 
Jugend an die ruhmvolle Geſchichte des Vaterlandes 
erinnern, ſie zur Tapferkeit anſpornen und den 
kriegeriſchen Sinn und die alten Pamatitugenden in 


92 Zung-Zapan. 2 


ihnen erwecken. Daher werden wie beim Mädchen- 


feſte die Puppen, in dieſem Falle die Figuren und 
Abbildungen der alten Nationalhelden, unter denen die 
Kaiſerin Jingu Kogo und ihr Sohn Ojin Tenno, 


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Unter den blühenden Kirſchbäumen. N 
der Kriegsgott Hachiman nicht fehlen dürfen, auf 
einem Schaugerüſte in dem mit Waffen geſchmückten 
„Tokonoma“ aufgeſtellt. 

Statt der Hausgeräte des Puppenfeſtes kommen 
bei dem Knabenfeſt jedoch Modelle von Streitroſſen, 
Rüſtungen und allerlei Waffen, deren Größe den 
Figuren entſpricht, zur Verwendung. Die Schau— 
bühne iſt mit kleinen Flaggen und Bannern, die das 
Familienwappen zeigen, geziert. Ein großes, wappen- 


u Von Felix Baumann. 93 


geſchmücktes Banner weht vom Dache des Hauſes, 
auf dem auch ein rieſiger Karpfen aus rotem Papier 
an einer langen Bambusſtange gehißt wird. Da nach 
japaniſcher Anſicht ein Karpfen gegen die ſtärkſte 
Strömung anſchwimmen und ſogar Waſſerfälle über- 
ſpringen kann, fo foll er beim Knabenfeſt die Über- 
windung aller Hinderniſſe im Leben eines jungen 
Mannes verſinnbildlichen. Der hohle Papierfiſch, 


21 


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Mutter lieſt vor. 


deſſen Mund ein Bambusreif offenhält, wird durch den 
Wind ballonförmig aufgeblafen, jo daß ein Gang durch 
die Straßen am Knabenfeſte einen kurioſen Anblick 
gewährt. 


94 Jung-Japan. 2 


Gegenſeitige Beſuche und Bewirtungen der Knaben 
finden ähnlich wie bei dem Mädchenfeſte ſtatt. 

Eine originelle Sitte wird auch am Vorabend des 
Feſtes beobachtet. Drei Kalmusſchäfte und ein Miſtel- 
zweig werden mit Neisſtroh zuſammengebunden und 


Beim Spiel. 
über dem Hoftor angebracht, nach dem Feſte jedoch 
wieder abgenommen. Als Getränk gibt es am „Banner- 
tage“ einen mit feingeſchnittener Kalmuswurzel ge— 
würzten Reiswein und Reiskuchen, die in die Blätter 
einer immergrünen Eiche gewickelt ſind. 

Eine große Beluſtigung für die männliche Jugend 
iſt in Japan auch das Drachenſteigen, während die 
Mädchen am Federballſpiel einen großen Gefallen 


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06 Sung-Zapan. | u 


finden. Letzteres iſt bei den jungen Mädchen beliebt, 
weil es ihnen Gelegenheit gibt, ihre natürliche Grazie 
zum Ausdruck zu bringen. Von den anderen Knaben— 
ſpielen ſeien noch das Kreiſelwettſpiel und die Genji- 
und Heikekämpfe erwähnt, die an die Zwiſtigkeiten 
der Minamoto- und Tairaclane erinnern ſollen. Die 
Parteien haben auf dem Rücken eine rote oder eine 
weiße Fahne beziehungsweiſe auf dem Kopfe einen 
aus Ton gefertigten Helm befeſtigt. Die Aufgabe der 
Kämpfenden iſt es, dem Gegner die Fahne zu ent- 
wenden oder mit einem VBambusſchwert den Helm zu 
zertrümmern. | 

Zu den gemeinfamen Spielen gehören das „Mamari 
doro“, das Vefeſtigen ſchwarzer Papierfiguren in einer 
brennenden Laterne, die ſich infolge der Hitze dann 
bewegen, oder das „Sogu roku“ (eine Art Buffipiel), das 
„Juroku muſaſhi“ (Fuchs? und Gansſpiel), das „Zroha 
garuta“ (Spiel mit Alphabetkarten), das „Hiaku nin 
iſſihu garuta“ (Spiel mit Karten, die die 101 Verſe 
der Oichter zeigen), das „Kokin garuta“ (Spiel Der 
alten Oden) und das Spiel der 55 Poſtſtationen 
zwiſchen Tokio und Kioto. Auf einer Mappe ſind 
Bild und Name der betreffenden Stationen vermerkt, 
und jeder der Spieler ſetzt auf einen Ort. Dann wird 
gewürfelt. Wer zuerſt in Kioto eintrifft, der hat ge- 
wonnen. | 

Einige der Spiele find den Fremden nur ſchwer 
verſtändlich. So das „Senjo krannon“. Ein Kind 
nimmt das andere Rüden an Rüden auf den Buckel 
und will dadurch eine der Heiligen repräſentieren, die 
einen der ſchmalen Schreine der Göttin der Barmherzig⸗ 
keit auf dem Rüden herumtragen, um dem gewöhn— 
lichen Volk Gelegenheit zur Anbetung zu geben. Ferner 
das „Ahiruna tamago“, das Enteneiſpiel, wobei ein 


u Von Felix Baumann. 97 


kleines Kind ſchräg auf dem Rücken gehalten wird, 
während die anderen ſingend herumſtehen. 

Nicht vergeſſen will ich auch die Jagd auf Gras- 
hüpfer und die Leuchtkäferjagd, die abends mit zier⸗ 
lichen Fächern ausgeführt wird. Gedenken muß ich 
auch des „Bon matſuri“, des Kindertotenfeſtes, das be- 
ſonders in Nagaſaki und Kioto ſehenswert gefeiert wird. 
In Nagaſaki ſchwimmen Tauſende von kleinen illumi- 
nierten Booten, die die Opfergaben für die Seelen 
der verſtorbenen Kinder enthalten, auf dem Waſſer 
umher, während in der alten Landeshauptſtadt Kioto 
die umliegenden Höhen glänzend erleuchtet ſind. 

Das Kinderparadies! Wenn man FJung-Japan in 
feinem bunten Kleiderſtaat auf einem Tempelfeſt beob- 
achtet, mit welcher Freude es die geſchenkten Gaben 
betrachtet und wie fröhlich es ſich an den gemeinſamen 
Spielen beteiligt, dann kann man dem Alcockſchen 
Ausſpruch nur beipflichten. 

Auch die Arbeit wird da den Kindern zum Ver- 
gnügen, ſei es, wenn ſie bei der Ernte helfen, ſei es, 
wenn ſie der Mutter beim Züchten der Seidenraupen 
beiſpringen — Jung-Japan iſt immer luſtig. 


2 


1914. X. 7 


Liebe Sorgen. 
Novelle von Elfe Krafft. 


N tnachdruck verboten.) 

Sie ſchlug die Augen auf, blinzelte in die Licht- 

ſtreifen hinein, die durch die Spalten der herab- 

gelaſſenen Läden durchs Fenſter kamen, und ſah nach 
der kleinen, goldenen Uhr auf dem Nachttiſch. 

Zehn Uhr vorüber! Ob man da noch weiterſchlief? 
Vielleicht, daß der köſtliche Traum, den fie ſoeben ge- 
habt, dann weiterginge und ſie in jene feſſelloſe Welt 
führte, nach der ſie ſich ſo lange geſehnt. 

Frau Sigrid ſchloß die Augen und verſuchte, den 
verlorenen Faden zu ihrem Traumbild wieder in ihre 
Gedanken einzuſpinnen. 

Es gelang ihr nicht. Von draußen, aus den anderen 
Räumen der Wohnung, kamen zu viel ablenkende Ge- 
räuſche. Schritte hallten, Türen gingen, und im Speife- 
zimmer klirrte Porzellan und Silber. 

Wie laut es doch in ſo einer Berliner Mietwohnung 
war! Durch die Wände glaubte Sigrid ſogar das 
Plätſchern des Waſſers im Badezimmer zu hören, wo 
Richard wohl gerade war. 

„Richard —“ 

Da hatte Sigrid die Augen auch ſchon wieder weit 
geöffnet. Was war das geſtern abend doch für ein 
langes Geſpräch geweſen zwiſchen ihm und ihr? 


1 Novelle von Elſe Krafft. 99 


——— 


Der Traum ging ganz und gar verloren. 

„Ich darf jetzt nicht weiterſchlafen,“ durchfuhr es 
die junge Frau. „Ich wollte ja heute vormittag zu 
Margot gehen und dann zum Rechtsanwalt. Und dieſer 
Rechtsanwalt hat nur bis ein Uhr Sprechſtunde, und 
man muß doch endlich Schritte tun, um dem haltloſen 
und peinlichen Verhältnis zwiſchen Richard und mir 
ein Ende zu machen.“ 

Mit einem Ruck erhob ſich Sigrid. Ihre Hand 
ſuchte die elektriſche Glocke. 

Als das Zimmermädchen kam und mit dem üblichen 
geflüſterten „Guten Morgen“ die Jalouſie in die Höhe 
zog, floß grell und gelb die Winterſonne in den ele- 
ganten Raum. | 

Da lächelte Frau Sigrid. 

Es gab ſo viel Licht in der Welt und ſo viel Erfüllung! 
Sie wäre eine Törin geweſen, wenn ſie da kleinlichen 
Vorſtellungen ſpießbürgerlicher Verwandter nachgeben 
und in dem goldenen Käfig bei Richard bleiben wollte. 
Überhaupt wo alles ſo leicht und glatt war! Richard 
würde nach der Scheidung ſofort die längſt geplante 
Reife ins Ausland machen und wenn er wiederkam, 
die Kinder in den Ferien und auch ſonſt bei ſich ſehen 
dürfen, ſo oft er danach verlangte. 

Du lieber Gott — allzu häufig würde die Sehnſucht 
dem nervöſen Vater wohl nicht kommen. 

„Nein — das nicht!“ ſagte Sigrid aus ihren tiefen 
Gedanken heraus, als das Mädchen ein lichtblaues, 
ſpitzenbeſetztes Morgenkleid über den Seſſel vor dem 
Bett ausbreitete. „Ich fahre gleich nach dem Früh- 
ſtück aus. Das graue Tuchkoſtüm legen Sie heraus. 
— Hft die Friſeuſe da? Gut. Dann gehe ich erſt ins 
Ankleidezimmer. Sagen Sie der Köchin, daß ſie in 
ſpäteſtens zwanzig Minuten das Frühſtück bereit hält.“ 


100 Liebe Sorgen. 2 


Als Sigrid in das Ankleidezimmer trat, ſtand das 
Kinderfräulein neben der Friſeurin am Fenſter, und 
das helle Lachen der beiden jungen Mädchen ſchallte 
durch das ganze Zimmer. 

Darüber ärgerte ſich die junge Frau. „Das iſt ja 
gerade, als ob Sie im Theater wären!“ meinte ſie 
tadelnd. „Haben Sie beide Kinder heute zur Schule 
gebracht, Fräulein?“ 

„Ja — bereits um neun Uhr, gnädige Frau.“ 

„Und im Salon Staub gewiſcht?“ 

Das Kinderfräulein preßte mit leiſem Kopfſchütteln 
die Lippen aufeinander. | 

„Alſo bitte!“ fagte Frau Sigrid kurz. „Um zwölf 
Uhr wird's ſonſt wieder eine Hetzjagd mit dem Abholen 
der Kinder.“ 

Das junge Mädchen ging raſch aus der Tür, während 
die Friſeurin zu Kamm und Bürſte griff. — 

Als Sigrid nach kurzer Zeit fertig angezogen in das 
Speiſezimmer trat, ſaß ihr Mann bereits am Ciſch 
und frühſtückte. 

„Guten Morgen,“ ſagte ſie ironiſch. 

Er blickte flüchtig auf, löffelte ſein Ei, und ſagte 
ebenſo ironiſch: „Guten Morgen.“ 

Dann aßen und tranken beide Ehegatten eine 
Zeitlang, ohne ſich umeinander zu kümmern. Sie 
hatten ſich ja ſchon lange nicht mehr viel zu erzählen. 
Ihre Intereſſen gingen zu weit auseinander. Nur in 
dem einen Punkte ſtimmte alles Tun beider überein: 
die Zinſen des großen Vermögens, das beide mit in 
die Ehe gebracht, auf die amüſanteſte Art und Weiſe 
zu verbrauchen. Es fiel nicht ſchwer in Berlin, wahr- 
haftig nicht, vor allem verſtand Richard Hallinger es 
gut, ſich das Leben ſo angenehm wie möglich zu machen. 
Er fragte gar nicht mehr, ob Sigrid dieſes oder jenes 


11 Novelle von Elſe Krafft. 101 


auch für richtig fand, er tat es einfach. Sie hätte ja 
auch alles tun können, was ihr gefiel, ohne ihn zu fragen. 
Sie war ihr freier Herr, wie Richard ihr jederzeit 
erklärt hatte. Aber ſie achtete dieſe Freiheit nicht als 
ſolche, ſolange das Geſetz ſie noch an ihren Mann und 
ſein Haus band. Ihre Sehnſucht lief ſchon lange, 
lange den Weg voraus, den ſie nun gehen würde. 

Was hinderte denn ſie und ihn an der Scheidung, 
wenn beide ihren eigenen Weg gehen wollten, um 
glücklich zu fein? 

„Halt du Doktor Sprenger angeklingelt?“ fragte 
Sigrid endlich. 

Er ſah gar nicht auf von ſeiner Zeitung. „Ja,“ ſagte 
er. „Er erwartet uns zwiſchen zwölf und ein Uhr.“ 

Die Bruſt der ſchönen Frau hob ſich mit einem 
tiefen Atemzuge. In dem Gefühl, vor der Pforte 
eines neuen, intereſſanteren Lebensabſchnittes zu 
ſtehen, kam eine leichte Wärme in ihren Ton. „Ich bin 
dir ſehr dankbar, Richard, daß du mir die Sache ſo leicht 
machſt. Es iſt ja auch wahr, man ſollte als vernünftiger 
und denkender Menſch das Wort, Sentimentalität“ ganz 
aus dem ZIdeengang ſtreichen. Ich hatte geſtern abend 
die unbegründete Furcht, es könnte dir ſchwer fallen — 
der Kinder wegen.“ 

Der elegante Mann mit dem raſſigen, nervöſen 
Geſicht lächelte. „Unſinn!“ ſagte er. „Sie werden viel- 
leicht zutraulicher werden wie ſonſt, wenn ſie mich 
ſeltener ſehen. Und ich glaube, auch deine Zeit werden 
die Kinder nicht mehr in Anſpruch nehmen wie jetzt. 
Denn du wirſt ja auch nicht das ganze Jahr über in 
Berlin bleiben wollen, du wirſt ja auch oft ohne ſie 
in der Welt herumreiſen, wie ich dich kenne.“ 

„Vielleicht,“ entgegnete Sigrid verſonnen. „Die 
Hauptſache bleibt ja, daß wir beide in der Lage ſind, 


102 | Liebe Sorgen, 0 


unbeforgt unſeren Neigungen zu leben und trotzdem 
den Kindern nichts abgehen laſſen zu müſſen. Ich 
werde außer dem Kinderfräulein noch Margot für ſie 
ins Haus nehmen. Sie iſt reſolut, zuverläſſig und hat 
alle Grundbedingungen an ſich, mich während meiner 
Abweſenheit zu vertreten.“ 

„Eine ſtaunenswerte Freundſchaft iſt das ja mit 
euch beiden! Na — mir kann's ja recht ſein! Ich habe 
von jeher nicht viel für derartige überſpannte Malweib- 
chen übriggehabt. Zieh du mit deiner Margot zu— 
ſammen, ich kenne höhere Genüſſe.“ 

Er las ſchon wieder. 

In Sigrids Stirn ſtieg das Blut. Sie haßte ihren 
Mann in dieſem Augenblick und begriff es nicht, daß 
es derſelbe Menſch war, den fie vor acht Jahren leiden- 
ſchaftlich begehrt hatte. 

Ihre Finger falteten zuckend die Serviette zuſammen. 
Gewaltſam zwang ſie ihre Stimme zur Ruhe. „Wenn 
es dir alſo recht iſt, treffen wir uns um halb eins beim 
Rechtsanwalt. Ich will jetzt gleich zu Margot fahren, 
halte mich da eine kleine Stunde auf und bin dann —“ 

„Ausnahmsweiſe einmal pünktlich, wenn ich bitten 
darf,“ unterbrach er ſie. „Ich will noch zu Rödel auf 
die Bank, denn er war vorgeſtern im Klub ungenieß- 
bar. Aber er meint auch, daß es das beſte wäre, 
dein und mein Geld ganz zu trennen. Einer deiner — 
Freunde wird dir ſchon raten, wie du es am vorteil- 
hafteſten anlegſt, vielleicht verſuchſt du's mal mit 
Hypotheken?“ 

Sigrid zog kühl die Schultern hoch und ſtand von 
ihrem Stuhle auf. „Das laß, bitte, meine Sorge ſein. 
Es bleibt alſo dabei, um halb eins bei Doktor Sprenger?“ 

Er nickte. 

Da ging ſie ohne Gruß hinaus. 


— 2. — ne —ͤ— 
“ 


Oo Novelle von Elfe Krafft. 103 


Auf der Straße nahm fie ein Auto. Und als fie 
zu dem Atelier der Freundin mit dem Fahrſtuhl hinauf- 
fuhr, waren ihre Lippen immer noch feſt zuſammen- 
gepreßt wie vor einer halben Stunde in Richards 
Gegenwart. Sie haßte ihn — ja, fie haßte ihn! Seine 
höhniſche Art, über Dinge zu ſprechen, die fie angingen, 
verletzte ſie aufs tiefſte. Er hätte es doch aus tauſend 
Einzelheiten, aus ihrer ganzen Natur und Neigung 
herausfühlen müſſen, daß er ihr bis jetzt noch in keiner 
Hinſicht etwas vorzuwerfen hatte. Nur ihre Träume 
waren frei, aber die konnten ihm und ſeinen Rechten 
nichts ſchaden. 

Die Entfremdung zwiſchen ihr und ihm war langſam 
gekommen, gliederte ſich aus tauſend kleinen Gründen 
zu einer großen Kette zuſammen, die man nicht mehr 
zerreißen konnte. Wie im Taumel hatten ſie die 
letzten Jahre dahingelebt, von einem Vergnügen in 
das andere waren fie gejagt, nur um nicht allein da- 
heim ſitzen zu müſſen und den großen Riß in ihrer 
Ehe mit gleichgültigen Worten zuzudecken. Es war 
wirklich hohe Zeit zum Auseinandergehen, wenn 
Sigrid ſich nicht ſelbſt verlieren wollte. 

In dem Atelier der Freundin war es ſehr heiß. 
Die junge Frau riß ſich den Pelz von der Schulter 
und warf ihn auf einen der niedrigen Seſſel, wie ſie 
in den verſchiedenſten Formen und Holzarten überall 
umherſtanden. 

Die Malerin, die ſich ihre Finger an ihrer großen, 
grauen Schürze abgerieben hatte, nahm erſtaunt die 
Hand der aufgeregten Freundin. „Nanu, du ſiehſt 
ja aus wie Käſe und Buttermilch. Was habt ihr denn 
wieder miteinander gehabt?“ 

Sigrid lächelte mühſam. 

„Nichts! Du mußt nicht fragen, Margot! Helfen 


104 Liebe Sorgen. 2 


— mr nn —— —MAH.————— — —— —— ͤ :P 


ſollſt du mir! Es iſt nun glücklich ſo weit mit Richard 
und mir, wir gehen auseinander.“ 

„Definitiv?“ 

„Definitiv!“ 

„Gratuliere!“ ſagte die Malerin trocken. „Du 
nimmſt es mir nicht übel, wenn ich weitermale. Da 
kannſt du auch beſſer erzählen, und ich brauche weniger 
zu fragen. Feg mal die Skizzen da vom Liegeſtuhl 
'runter und ſetz dich. Dies Umherlaufen macht mich 
nervös. Ich glaube gar, du regſt dich über die nun 
vollendete Tatſache auf, die doch nur eine Frage der 
Zeit bei euch ſein konnte.“ 

„Nein,“ ſagte Sigrid hart, „gar nicht! Zu erzählen 
habe ich auch nichts. Du weißt ja alles. Das einzige 
Neue iſt das, daß ich dich heute bitten will, zu mir 
zu ziehen. Dein Atelier hier kannſt du ruhig behalten, 
oder noch beſſer, wir nehmen eine andere Wohnung, 
wo ein Atelier dabei iſt, größer und ſchöner natürlich 
wie dieſes hier.“ | 
„du denkſt wohl, ich kriege das Geld in Haufen für 
meine Bilder?“ fragte Margot trocken. „Wie du das 
ſagſt: ‚ein ſchöneres“ —“ 

Sigrid ſah plötzlich ſehr hochmütig aus. „Wenn 
ich dich bitte, zu mir zu ziehen, geht dich der Koſten- 
punkt ſelbſtverſtändlich gar nichts an. Daß du darüber 
noch im Zweifel ſein konnteſt! Du darfſt dir ſogar 
dein Monatsgehalt ſelbſt beſtimmen. — Verzeih, aber 
es iſt doch richtiger, wir ſtellen die ganze Sache gleich 
auf richtige Füße.“ 

„Bitte!“ rief die Malerin lachend, indem ſie von 
ihrer Leinwand forttrat und zu der Freundin hinüber- 
ging. „Ich hätte dir einen fo großen Freundſchafts- 
beweis gar nicht zugetraut. Denn im Grunde ge— 
nommen biſt du bisher immer ſehr gut ohne meine 


0 Novelle von Elfe Krafft. 105 


Natſchläge fertig geworden. Was habe ich dir damals 
gejagt, als dein Mann dich und die Kinder zu vernach- 
läſſigen begann? Als er ſich die Jagd anſchaffte, die 
Klubabende? Laß dir's nicht gefallen, habe ich geſagt, 
ſei wenigſtens in dieſer einen Hinſicht ihm gegenüber 
ſchlau! Aber nein — nichts haſt du getan, nur die 
Unnahbare, Beleidigte geſpielt und dabei doch jeden 
Rummel mitgemacht, der dich das Elend daheim ver- 
geſſen ließ. Es gab keinen großen Baſar in Berlin, 
keine größeren Feſte, Premieren, wo du nicht dabei 
warſt. Hatte das Zweck? Im Grunde genommen 
warſt du ja doch nie ſo recht bei der Sache, weil du immer 
die pflichtgetreue Frau deines Mannes bliebſt. Was 
ihr heute tun wollt, hätte ſchon vor zwei Jahren ge- 
ſchehen müſſen.“ 

Sigrid gab keine Antwort auf dieſe energiſche Rede 
der Freundin. „Du erfüllſt alſo meine Bitte?“ fragte 
ſie nach einer kleinen Pauſe. 

Margot nickte. „Natürlich! Ich hab' ſchon lange 
Luſt gehabt, deine beiden total falſch erzogenen Kinder 
ein bißchen moderner umzukrempeln. Das Fräulein, 
das du haſt — nimm's mir nicht übel, Sigrid — das 
iſt für die Katze. Eine Lehrerstochter aus der Provinz. 
Niſcht wie platte Verſe und Aberglauben lernen die 
Kinder.“ 

„So?“ ſagte Frau Sigrid. „Da weiß ich ja gar 
nichts davon! Etwas verſchüchtert kommen mir die 
Kinder freilich auch manchmal vor. Nun, ich werde 
eine geprüfte Erzieherin nehmen, du kannſt ja auch 
nicht deine ganze Zeit für mich opfern, wenn du 
weiterkommen willſt in deiner Kunſt. Nur, daß ich 
das Alleinſein nicht ſo ſtark empfinde und eine leitende 
Hand für Kinder und Perſonal da iſt, wenn ich mal 
auf Reifen bin.“ Sigrid nahm die ſchmale, kalte Hand 


106 Liebe Sorgen. 2 


der Freundin. „Es muß köſtlich ſein, ſich als Herr des 
eigenen Willens zu fühlen.“ 

„Na ob!“ rief Margot luſtig. „Das ſiehſt du ja 
an mir! Habe ich dir je vorgeklagt, je Sehnſucht nach 
dem ſogenannten ſtarken Geſchlecht gehabt? Nee — 
ein idealer Zuſtand iſt das, von niemand abhängig 
und des ganzen Firlefanz' ehelicher Pflichten ledig zu 
fein. — Dein Mann iſt alſo ebenſo bereit zur Scheidung 
wie du?“ 

„Ja.“ 

„Und in finanzieller Hinſicht?“ 

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. „Das 
ergibt ſich ganz von ſelbſt. Sein Vermögen iſt ungefähr 
gleich groß wie meines. Er gibt natürlich für die Er- 
ziehung der Kinder und den größeren Haushalt, den 
ich deshalb führen muß, von ſeinem Gelde zu. Ich 
wollte es erſt nicht, aber man kann ihm die Rechte 
auf die Kinder doch nicht ganz nehmen, alſo will er auch 
zu ihrer Erziehung beitragen.“ 

„Sei nur nicht zu ſtolz in dieſer Beziehung,“ meinte 
Margot, „und nimm ruhig. Haſt du übrigens eine 
Ahnung, warum der Rödel in letzter Zeit ſo ungenieß⸗ 
bar iſt? Seine Frau und die Kinder ſind in Meran, 
ich bekam am Montag eine Anſichtskarte. Das lebt 
und genießt — alle Achtung! Ich hab' doch ein Bild 
der kleinen verſtorbenen Annemarie nach einer Photo- 
graphie gemacht, es ſollte eine Überrafhung für die 
Heimkehr ſeiner Frau ſein. Denkſt du, der Mann 
fragt noch danach? Vor acht Tagen ſchrieb ich ihm, 
daß das beſtellte Bild fertig in meinem Atelier ſteht 
und ich um eine Beſichtigung bitte, ehe ich es ihm 
zuſchicke. Du kennſt doch ſeinen verwöhnten Geſchmack. 
Etwas zu ändern hat er ſicher an dem Kopf. Aber er 
hat nicht einmal geantwortet.“ 


u Novelle von Elſe Krafft. 107 


„Klingle doch mal an bei ihm auf der Bank. Briefe 
vergißt ſo ein Zahlenmenſch leicht. Aber wenn du 
telephoniſch —“ 

„Weißt du ſeine Nummer?“ 

„Ja. Aber ich kann's ihm ja auch ſagen. Ich ſpreche 
ihn noch in dieſen Tagen perſönlich wegen meiner 
Geldangelegenheiten. Habt ihr denn einen Preis ver- 
einbart?“ 

Margot lachte. „Ich werde mich hüten. Das 
kommt zum Schluß. Alſo ſei ſo gut und zitier ihn 
her, den großen Rödel. Es macht entſchieden Eindruck, 
wenn fein weiß- goldenes Auto vor meiner Tür hält. 
— Willſt du ſchon wieder gehen? Ach ſo — den be- 
freienden Weg zum Rechtsanwalt! Na, denn viel 
Glück, Sigrid!“ 

„Zwei ſeltſame Worte für den heutigen Tag,“ 
mußte die junge Frau denken, als ſie wieder im Fahr- 
ſtuhl ſaß. Aber ſie waren ſicher eine gute Einleitung. 
Sie hatte eine viel beſſere Stimmung plötzlich wie 
vorher. | 

Über Berlin lag der Himmel leuchtend und blau, 
es war eine kalte, ftille und erfriſchende Luft, die man 
atmete. Sigrid liebte den März, in dem die Tage 
länger und heller werden, und mit dem ſchon ſo das 
Frühlingsahnen daherkam. 

Mit roten Wangen und verſonnenen Augen trat 
fie in das Anmeldezimmer des Rechtsanwalts, 

Die Empfangsdame, die ihre Karte nahm, warf 
einen Blick darauf und lächelte verbindlich. 

„Ihr Herr Gemahl hat ſoeben telephoniſch mit dem 
Herrn Doktor geſprochen, gnädige Frau. Er bedauert, 
heute nicht hier erſcheinen zu können, und bittet gnädige 
Frau, nicht auf ihn zu warten.“ 

Sigrid blieb faſſungslos ſtehen. „Iſt das nicht ein 


108 Liebe Sorgen. D 


— nn ne nn ne nn nn 


Irrtum, Fräulein? Ich habe mich doch ſelbſt vor knapp 
zwei Stunden mit ihm verabredet.“ 

„Der Herr Doktor hat mich eben davon unterrichtet. 
Aber wenn gnädige Frau den Herrn Nechtsanwalt 
ſelbſt ſprechen wollen — bitte ſehr!“ 

Sie öffnete eine Tür, und Sigrid ging unwillkür⸗ 
lich darauf zu. 

Kurz vor der Tür blieb fie aber wieder ſtehen. 
„Nein — ich danke, ich komme doch lieber ein andermal.“ 

Die Empfangsdame neigte verbindlich den wohl 
friſierten Kopf. 

Sigrid war empört, ſie war außer ſich. Daß Richard 
es wagen konnte, ſie heute, in dieſer peinlichen und 
entſcheidenden Stunde, im Stich zu laſſen! Wahrfchein- 
lich einer Lappalie, einer Laune wegen wie ſo oft. 
Oh, ſie kannte ſeine unberechenbaren Einfälle! Sie 
hätte doch zu Doktor Sprenger hineingehen ſollen. 
Es genügte doch, wenn ſie ſagte, was ſie wollte, es 
wäre vielleicht ſogar richtiger und einfacher geweſen. 

Wie unſelbſtändig ſie doch noch immer war! 

Beinahe wäre Sigrid wieder umgekehrt. Sie 
ſteigerte ſich immer mehr in ihren Ärger hinein, fie 
vergaß ſogar, ein Auto zu ihrer Heimfahrt zu nehmen. 

„Er iſt natürlich nicht zu Hauſe und wird vor Abend 
nicht kommen,“ dachte ſie. 

Richard war aber doch zu Haus. 

Er ſaß in ſeinem Zimmer am Schreibtiſch, hatte 
einen ganzen Berg Papiere vor ſich liegen und ſah 
gar nicht auf, als Sigrid eintrat. Er ſchien zu zählen, 
zu rechnen — ja, wie ſah er denn eigentlich aus? 
Kreidebleich, das Haar in Strähnen über der Stirn! 

„Richard!“ mahnte Sigrid. 

Er hörte nicht. 

Da packte ſie heftig ſeinen Arm. „Was ſoll das 


A Novelle von Elſe Krafft. 109 


heißen, Richard? Ich bin doch nicht das Spielzeug 
deiner Launen!“ 

Er zog ſeinen Arm ebenſo heftig zurück. „Laß doch 
das! Du ſiehſt doch, daß ich nicht in der Stimmung bin, 
Vorwürfe zu hören! Rödel hat ſich erſchoſſen. Geſtern 
abend ſchon —“ 

„Rödel?“ Sigrid mußte ſich beſinnen, wer das war. 
Nun erſchrak ſie auch. „Mein Gott, aber warum denn?“ 

Da blickte der Mann auf. „Weil er fertig iſt. Der 
Portier, der die Kontorräume der Bank abſchließen 
wollte, hat ihn gefunden. Ich bin ſofort zu Kramer 
gefahren, der die Bücher mit revidiert hat, und zu 
Barnitz, der doch Beſcheid wiſſen muß. Es ſteht ſchlimm, 
Sigrid. Es iſt fo gut wie nichts da. Es iſt unbegreif⸗ 
lich, wie der Mann gewirtſchaftet hat, aber er hat wohl 
die enormen Verluſte immer wieder mit fremden 
Geldern zudecken wollen.“ 

Die junge Frau ſtand hinter dem Stuhl ihres 
Mannes und blickte auf den ſchmalen, raſſigen Kopf, 
an dem links und rechts an den Schläfen ſchon verein- 
zelte graue Härchen erſchienen. 

„Aber unſere ſicheren Papiere, dein und mein 
Vermögen —“ 

„Ich weiß nichts, niemand weiß Genaues. Mehr 
wie hundert Menſchen ſtanden heute vor Rödels 
Bank. Sie wollten mit Gewalt die Türen öffnen. 
Tu mir den einzigen Gefallen und laß mich jetzt allein!“ 

„Aber —“ 

„Geh!“ 

Da gehorchte Sigrid. Sie merkte erſt jetzt, daß ſie 
noch in Hut und Mantel war, und zog ſich mechaniſch 
im Korridor aus. 

Die ſechsjährige Ilſe mit ihrer Puppe im Arm lief 
über den Korridor. 


110 Liebe Sorgen. a 


„Ilſe!“ rief Sigrid. 

Das kleine Mädchen kam zögernd näher. „Soll 
ich mein neues Gedicht ſagen, Mama? Heino kann's 
noch nicht ſo gut wie ich.“ 

„Ja,“ flüſterte Sigrid, „ſag's nur.“ 

„Schläft die liebe Sonne ein, 
Wachen auf die Sterne, 

Und es ſteigen Engelein 
Nieder aus der Ferne —“ 

Mit einem leiſen Schluchzen zog Sigrid ihr Kind 
in die Arme. 

Ob vielleicht erſt jetzt, wo ſie ſich am Ziel ihrer 
Sehnſucht glaubte, der Kampf begann? 

Am Abend ſtand es in allen Berliner Zeitungen. 

Sigrid war allein zu Hauſe und las es ſchwarz 
auf weiß, daß der Bankier Bruno Rödel außer un- 
geheuren Verluſten an der Börſe auch noch in jeder 
anderen Beziehung die ihm anvertrauten Gelder in 
der leichtſinnigſten Art und Weiſe verwirtſchaftet hatte. 
„Ein in hieſigen Geſellſchaftskreiſen ſehr bekannter 
früherer Großinduſtrieller hat unter vielen anderen 
Geſchädigten durch den Verſtorbenen, deſſen Freund 
er war, ſein geſamtes Vermögen verloren.“ 

Die junge Frau ſtarrte auf das Zeitungsblatt und 
verſuchte vergebens ihre Gedanken zu ſammeln. 

Es gelang ihr nicht. Hundert Pläne kamen und 
zerrannen hinter ihrer Stirn, nur ein ohnmächtiger 
Zorn gegen Richard blieb in ihr. Wenn wenigſtens 
ihr eigenes Vermögen auf der Hamburger Bank 
geblieben wäre, wo es ihr verſtorbener Vater einſt 
niedergelegt hatte! 

Beſuch war ſchon oft dageweſen heute. Sigrid 
hatte aber niemand empfangen. Sie haßte die Neu- 


u Novelle von Elſe Krafft. 111 


gierde dieſer Menſchen, die ihrem Herzen meiſt fern- 
ſtanden. 

Jetzt, um ſieben Uhr abends, läutete es noch einmal 
an der vorderen Türglocke. Eine energiſche Stimme 
wurde im Korridor laut, ließ ſich nicht abweiſen, und 
gleichzeitig mit dem Hausmädchen trat Margot ein. 

„Blödſinn!“ ſagte ſie aufgebracht. „Gehöre ich 
etwa zu den Gäſten, die von dir abgewieſen werden, 
Sigrid?“ 

Die ſchüttelte den Kopf. „Nein,“ meinte ſie müde, 
„bleib nur ein Weilchen. Ich bin ſowieſo allein.“ 

Das Mädchen ging, Margot blieb in Hut und Mantel 
vor der Freundin ſtehen. 

„Du — das iſt ja gar nicht auszudenken,“ ſagte ſie, 
in ihrer raſchen Art mit den Blicken das Zeitungsblatt 
in Sigrids Hand ſtreifend. „Ft das wirklich Tatſache 
mit Rödel?“ 

„Ich weiß nicht mehr als du und die Zeitungen. 
Es wird wohl ſtimmen. Richard iſt ſeit Mittag fort.“ 

„Und du?“ 

Die junge Frau hob den Blick und ſah ſtarr in die 
harten Augen der Malerin. „Ich — du ſiehſt ja, ich 
ſitze hier und harre der Dinge, die da kommen ſollen. 
Das beſte wird ſein, ich gehe erſt eine Zeitlang mit den 
Kindern nach Hamburg zu meinem Bruder. Er und 
ſeine Frau luden uns oft genug ein. Vielleicht bleibe 
ich auch ganz da. Die Kinder können von dem Haus- 
lehrer, der dort ſtändig in der Familie meines Bruders 
iſt, mit unterrichtet werden, meine Nichte und Neffe 
ſind ungefähr im gleichen Alter mit unſeren Kleinen, 
jedenfalls —“ 

Sigrid ſtockte. Etwas in ihr widerſtrebte POS, 
ihre Seele noch weiter bloßzulegen. | 

„Jedenfalls wärſt du ſchön dumm, wenn du auch 


112 Liebe Sorgen. 2 


jetzt noch an eine Scheidung dächteſt,“ vollendete 
Margot ruhig. „Daran denkſt du wohl auch nicht mehr 
im Ernſt. Du wirst doch nicht alle Trümpfe aus der 
Hand geben, um wieder in eine geſicherte Lage zu 
kommen. Dein Mann hat Pflichten, ſolange du ſeine 
Frau biſt, ſowohl gegen dich als gegen die Kinder, 
er hat Verbindungen von früher her, iſt ein guter Kauf- 
mann, ſeine Fabrik hat ihm damals ein Bombengeld 
eingebracht, er wird ſich wieder nach einer geeigneten 
Tätigkeit umſehen, und ihr ſeid in kurzer Zeit wieder 
obenauf. Sei darum ſchlau, Sigrid, tu ihm nicht den 
Gefallen und gib ihn frei!“ 

„Tu ihm nicht den Gefallen!“ hatte ſie geſagt. 
Sigrid antwortete eine ganze Weile nichts. Dann 
blickte ſie auf. Sie fror im geheizten Zimmer vor 
dem Geſicht dieſer Freundin. „Ich tu' ihm den Ge- 
fallen doch! Nun erſt recht!“ ſagte ſie kalt. „Er ſoll 
gehen, wohin er will, ich tu' es auch. Ich will ſeine 
Sorgen und feine Pflichten nicht. Ich habe noch Ver- 
wandte und Freunde genug, die mich und die Kinder 
bei ſich aufnehmen, und ſpäter — ach, was weiß ich, 
was ſpäter ſein wird! Nur erſt frei — frei — ganz 
frei ſein!“ 

Margot lachte ſpöttiſch. „Hübſch geſagt. Aber 
Freiheit ohne Geld ſchlägt deine ganze Sehnſucht in 
einer Stunde tot. Ich hätte wirklich nicht gedacht, 
daß du noch fo ſehr Idealiſtin geblieben biſt.“ 

Sigrid war aufgeſtanden. „Ich glaube, wir ver- 
ſtehen uns heute nicht. Darum bitte ich dich, geh, 
Margot; Richard kann gleich zurückkommen, und er 
wäre wahrſcheinlich nicht in der Stimmung, fremde 
Menſchen heute hier zu ſehen.“ 

„Fremde Menſchen iſt gut!“ ſagte die Malerin ver- 
letzt. „Aber wie du willſt. Unſer Plan fällt ja nun 


u Novelle von Elſe Krafft. 113 


ſowieſo ins Waſſer. Es war vielleicht auch nur ſo 
eine vorübergehende Idee von dir, wie du fie ja häufig 
haſt. Gute Nacht!“ 

„Gute Nacht,“ wiederholte Sigrid. Sie ging mit 
in den Korridor hinaus, obwohl ſie fühlte, daß es mit 
dieſer Freundſchaft zu Ende war. 

Vom Korridor trat ſie ins Kinderzimmer. 

Die Kleinen ſchliefen bereits. Das Fräulein räumte 
noch auf, legte Wäſche und Kleider für den nächſten 
Morgen zurecht. 

„Die muß nun auch fort,“ durchfuhr es Sigrid. 
„Und das Hausmädchen und die Köchin. Aber es iſt 
doch gar nicht möglich, fertig zu werden ohne die Leute!“ 

Scheu blickte ſie in das ſchmale, ſympathiſche Geſicht 
des jungen Mädchens. Etwas Warmes und Tröſt- 
liches war heute darin. Ob ſie auch ſchon wußte, was 
im Hauſe vorging? 

Sigrid ſtand plötzlich dicht vor dem Fräulein und 
ſtreckte die Hand aus. „Ich habe mich eigentlich noch 
nie ſo recht bei Ihnen für die Fürſorge bedankt, die 
Sie für die Kinder hatten. Wie lange ſind Sie nun 
ſchon bei mir?“ 

„Im April werden es drei Jahre, gnädige Frau.“ 

„Es wird Ihnen ſchwer fallen, gehen zu müſſen — 
nicht wahr?“ 

Das junge Mädchen nickte. „Ilſe und Heino find 
mir ſo ſehr ans Herz gewachſen,“ ſagte ſie leiſe. 

„Ja,“ flüſterte Sigrid, an die kleinen Betten 
tretend. Wie ſelten war das vorgekommen, daß ſie 
abends vor ihren ſchlafenden Kindern ſtand! „Wir 
werden in aller Kürze verreiſen,“ ſprach ſie leiſe 
weiter, „zu Verwandten auf längere Zeit, wo genügend 
Perſonal iſt, und da — wird wohl nichts anderes übrig- 
bleiben, als daß wir hier unſeren Haushalt auflöſen.“ 

1914. X. 8 


114 Liebe Sorgen. . 


Darauf ſagte das junge Mädchen nichts. Sie neigte 
nur den Kopf, als ſenke ihn ſchwere Laſt. 

„Die hat's noch ſchlimmer wie du,“ mußte Sigrid 
in einer Art Troſt denken. „Ein fremder Wille zwingt 
ihre Wege hierhin und dorthin, und niemals darf ihr 
Leben Wurzeln faſſen, die unablöslich ſind.“ 

Mit leiſem Kopfneigen ſchritt ſie aus dem Zimmer 
und ſchrieb ſofort an ihren Bruder. Er wußte es 
jetzt wohl auch ſchon durch die Zeitungen, welch 
große Sorge über ſie gekommen war. Und er hatte 
ja ſo viel Platz in ſeiner ſtolzen Villa an der Alſter. 
Sie ſchrieb herzlicher denn je, denn auch er hatte 
bisher die Trennung zwiſchen ihr und Richard nur 
gutgeheißen. 

Als Sigrid den Brief vollendet und fortgeſchickt 
hatte, kam Richard heim. 

Er ſprach in der erſten Viertelſtunde ſo gut wie 
gar nichts, ſah abgehetzt und müde aus und aß haſtig 
das bereitſtehende Abendbrot. 

„Nun?“ fragte Sigrid endlich, nachdem ſie ſich ihm 
gegenüber an den Tiſch geſetzt hatte. 

Er zuckte nur die Achſeln. „Es iſt, wie vorauszu- 
ſehen war. Rödel hat unglaublich gewirtſchaftet. 
Außer ſich und uns hat er hundert kleinere Exiſtenzen 
mit ruiniert. Die armen Leute tun einem leid, die 
ihre mühſam erworbenen Spargroſchen der hohen 
Zinſen wegen in ſeine Hände gelegt haben.“ 

Sigrid blickte erſtaunt in das Geſicht ihres Mannes. 
Er ſah ſo anders aus wie ſonſt. Die Art ſeines Sprechens 
hatte ſich auch verändert. Sie begriff es nicht, wie er 
jetzt, wo er ſelber am ſchlimmſten daran war, vom Un- 
glück anderer reden konnte. 

„Und wir?“ fragte ſie. 

„Wir müſſen eben umkrempeln, Sigrid, ganz und 


u Novelle von Elſe Krafft. 115 


gar — in allem! Da hilft nichts. Das iſt nun deine 
und meine Sache ganz allein.“ 

„Ich gehe mit den Kindern zu Robert,“ ſagte 
Sigrid ſchnell. ö 

„So? Nun, dann habe ich ja ſo gut wie gar nichts 
mehr zu ſagen. Du willſt von mir gehen — trotz alle- 
dem. Da iſt die Sache ja erledigt. Du denkſt wohl 
auch, ich komme allein leichter durch — was?“ 

„Ja, natürlich,“ ſagte Sigrid. „Die Wohnung läßt 
ſich bis zum erſten April noch vermieten. Den Leuten 
wird gekündigt, denn ich brauche bei Robert in Ham- 
burg kein Perſonal für mich allein. Den Sommer 
über bleibe ich mit den Kindern dort, im Herbſt fahre 
ich vielleicht zu Tante Helene nach Genf. Na, und 
etwas wird ſich ja aus dem Verkauf der Möbel, der 
Schmuckſachen und des vielen Silbers herausſchlagen 
laſſen, wenigſtens ſo viel, daß man für die erſten 
Monate genug hat.“ 

„Alſo daran haft du auch ſchon gedacht! Alle Hoch- 
achtung!“ ſagte der Mann ſarkaſtiſch. „Wenn ich nun 
aber nicht will, Sigrid? Wenn ich nun darauf beſtände, 
mit dir und den Kindern zuſammenzubleiben, eine 
kleine, billige Wohnung zu mieten, eine Stellung zu 
ſuchen — kurz, ganz von vorne wieder anzufangen — 
was dann?“ 

Sie ſah ihm groß ins Geſicht. „Das willſt du ja 
gar nicht, Richard, das kannſt du ja gar nicht! Eine 
kleinere Wohnung! Wie klein denn? Eine Stellung 
ſuchen! Du findeſt ſie vielleicht, aber du wirſt nicht 
mehr arbeiten können, wie du es dann müßteſt. Und 
dann das Schlimmſte — du und ich in einer engen 
Wohnung zuſammen, keine Gäſte im Haufe, kein Ver- 
ſteckſpielen voreinander, alles nur eine einzige, graue 
Sorge ums tägliche Brot! Wir beide könnten das ja 


116 Liebe Sorgen. 1 


— 


gar nicht! Da gehört Liebe dazu, denke ich mir, Liebe 
und Vertrauen und Achtung und — ach, was rege ich 
mich denn noch auf! Oeine Idee iſt lächerlich! Das 
iſt etwas für Spießbürger und anſpruchsloſe Men- 
ſchen, die nie an des Lebens goldener Tafel ſaßen, die 
immer begrenzt und brav in ihren vier Pfählen hauſten.“ 
„And dann das Schlimmſte!“ wiederholte er höhniſch. 
„Wie du uns kennſt, Sigrid! Aber du magſt recht haben, 
es hätte keinen Zweck, ſich deiner weiſen Einſicht nicht 
zu fügen. Ich bin heute ſchon bei verſchiedenen Be- 
kannten geweſen, habe an Bertram geſchrieben und 
an Oirkſen, ſie ſind mir alle noch zu Dank verpflichtet 
von früher her. Es wird ſich ſchon eine Stellung bei 
ihnen für mich finden. In Berlin werde ich ſowieſo 
nicht bleiben. Und das mit der Scheidung, das kann 
Robert ja von Hamburg aus ſehr gut veranlaſſen. 
Mir ſoll alles recht ſein, Sigrid. Ich hab's ſatt bis 
obenhin!“ 
Er knirſchte mit den Zähnen, wie er es noch nie 
getan, ſtand auf, warf polternd den Stuhl zurück, auf 
dem er geſeſſen, und ging aus dem Zimmer. 

Die Antwort aus Hamburg kam nicht umgehend, 
wie Sigrid erwartet hatte. 

Rödel war begraben worden, ſeine Frau und Kinder 
waren aus Meran verzweifelt zurückgekehrt, und eine 
Sorge jagte die andere in Sigrids Herzen. 

Als ſie endlich das Schreiben des Bruders in Händen 
hatte, ſchloß ſie ſich damit in ihrem Zimmer ein. 

Er ſchrieb ſehr viel, der reiche Hamburger Geichäfts- 
mann. Er bedauerte das große Unglück außerordentlich, 
und er würde, obwohl der augenblickliche Gejchäfts- 
ſtand ein ſehr ungünſtiger ſei, doch gerne ein paar tauſend 
Mark für die Schweſter opfern. Ein längerer Beſuch 


ä Novelle von Elfe Krafft. 117 
mit Kindern in feinem Haufe wäre leider zurzeit 
unmöglich, da fein Junge an den Maſern erkrankt 
ſei und naturgemäß noch lange der Ruhe und Scho— 
nung bedürfe. Jedenfalls müſſe er der Schweſter den 
Rat geben, eine Scheidung von Richakd unter dieſen 
Verhältniſſen in jeder Weiſe zu prüfen, da eine allein- 
ſtehende und geſchiedene Frau ohne Vermögen doch 
etwas ſehr Bedenkliches ſei. 

Sigrid las nicht weiter. Ihre Finger zitterten, die 
das Briefblatt des Bruders feſthielten. 

„Keinen Pfennig — keinen Pfennig will ich von dir 
haben!“ murmelte ſie, mühſam nach Faſſung ringend. 

Dann ſchrieb ſie in Eile zwei Briefe. 

Einen an Tante Helene nach Genf, an die wohl— 
habende und alleinſtehende Schweſter ihres Vaters, 
den anderen Brief an Rolf Meinhardt, den Jugend- 
freund und Vertrauten ihres Herzens. War er es doch 
geweſen, der ihre Ehe mit Richard von Anfang an für 
verfehlt gehalten, der ſie leiſe und wirkſam mit ſeinen 
wundervollen Briefen auf den befreienden Weg ge— 
führt, der in vielen ſchweren Stunden für ſie wie ein 
Bote des Friedens und der unerſchütterlichen Freund- 
ſchaft gewirkt hatte. 

Tante Helene antwortete ähnlich wie Robert. Auch 
ſie erbot ſich, trotz der ſchlechten Zeiten mit Geld aus- 
zuhelfen, einen längeren Beſuch mit ſo kleinen Kindern 
könnte man ihr aber nicht mehr auf ihre alten Tage 
zumuten. 

Das war am fünften Tage nach Rödels Tod. 

Am ſechſten brachte das Mädchen die Karte eines 
Herrn zu ihr herein, der ſie zu ſprechen wünſchte. 

„Rolf Meinhardt,“ las Sigrid. 

Im nächſten Augenblick ſtand ſie ihm gegenüber, 
den ſie acht Jahre nicht geſehen. 


118 Liebe Sorgen. 2 


Er lächelte und küßte ihre Hand, und als dieſe 
Hand ſchwer und hilflos in ſeiner liegen blieb, küßte er 
ſie zum zweiten Male. 

Da lächelte ſie auch. „Nun iſt alles gut,“ dachte ſie, 
in ſein vertrautes Geſicht blickend, „hier gibt es einen 
Menſchen auf der Welt, der tut, was du willſt. — Hilf 
mir, rate mir!“ baten ihre Augen, und über ihre Wangen 
floßen die Tränen, die fie vor dieſem Manne nicht feit- 
halten konnte. 

Er ſprach ſehr viel und ſehr umſtändlich. Zwiſchen⸗ 
durch nahm er immer wieder die weiße Frauenhand 
und ſtreichelte fie. Er würde fie und die Kinder zu- 
nächſt in eine gute Penſion bringen, in Köln natürlich, 
ganz in ſeiner Nähe, bis die Scheidung vollzogen war. 
Und dann — — da nahm er ſchon wieder ihre Hand 
und küßte ſie. 

Sigrid blickte auf, ſah in ein Paar heiße, flackernde 
Augen und wachte jäh aus ihrem Traum von Angſt 
und Verzweiflung auf. Wie war es nur möglich ge- 
weſen, daß ſie dieſen Mann zu ſich gerufen hatte! 
Daß ſie glauben konnte, es gäbe in ihm einen ſelbſtloſen 
Freund für ſie und ihre Kinder! | 
Gewaltſam zwang fie ihre Stimme zur Ruhe. 
„Ich danke Ihnen,“ ſagte ſie laut, „aber ich kann Ihr 
Anerbieten nicht annehmen. Ich bleibe zunächſt noch 
— bei meinem Manne. So — ſo habe ich es nicht 
gemeint, als ich Ihnen ſchrieb und Sie um Rat bat.“ 

Da trat er zurück und nahm feinen Hut. „Ihre 
Kunſt, Theater zu ſpielen, Frau Sigrid, habe ich ſchon 
vor acht Jahren an Ihnen bewundert,“ ſagte er. 

Sie neigte das Haupt — und war allein. 

Wirr blickte ſie ſich um. War das eben das Schickſal 
geweſen? Hatte ſie ſich nicht eben ſelbſt den Weg zur 
erſehnten Freiheit verſperrt? War Rolf Meinhardt 


2 Novelle von Elſe Krafft. 119 


jemals ihr wahrer Freund geweſen? Hatte er je etwas 
anderes in ihr geſehen als die Frau, die er begehrte, 
obwohl ſie einem anderen gehörte? War er nur deshalb 
gekommen, um ihr Unglück auszunützen? 

Sie wußte keine Antwort auf ihre Fragen. Sie 
fühlte plötzlich den verzweifelten Mut in ſich, es ohne 
Hilfe anderer mit der Sorge aufzunehmen. Schlimmer 
konnte es ja nicht mehr ausſehen in ihrem Herzen als 
in dieſen letzten zwei Jahren. Nur nicht zeigen, daß 
ſie ihren Stolz verloren, nur niemand mehr um Hilfe 
und Rat bitten! 

Dem Hausmädchen und der Köchin hatte ſie bereits 
gekündigt. Den Verkauf der Möbel und der Wert- 
ſachen wollte Richard übernehmen. Er ſprach nicht 
über feine Pläne. Die Briefe, die er bekam, ver- 
ſchlechterten ſeine Stimmung von Tag zu Tag. Es 
fiel wohl recht ſchwer, eine paſſende Stellung zu finden. 

Mit dem Kinderfräulein wollte Sigrid heute ſprechen. 
Nur ungern entließ ſie dieſes ſtille, pflichttreue Mädchen. 
Aber dreißig Mark im Monat — es würde nicht gehen. 
Sie mußte zuſehen, ein billigeres Mädchen für alle 
Arbeiten zu bekommen. Die Kinder würde ſie ſelbſt 
beſorgen müſſen, ſie ganz allein. 

Sigrid verſtand nicht, woher ihr plötzlich dieſer tiefe, 
befreiende Atemzug kam, der ihre bisher jo herb ge- 
ſchloſſenen Lippen teilte. Sie vermißte die Kleinen 
zum erſten Male, ſeitdem ſie in die Schule gingen. 
Wie war das Verslein doch geweſen, das Ilſe ihr 
kürzlich hergeſagt? 


„Schläft die liebe Sonne ein, 
Wachen auf die Sterne —“ 


Wie ein Troſt in ihres Lebens dunkelſter Stunde war 
das geweſen. 


120 Liebe Sorgen. o 


Ihre Finger taſteten nach dem Klingelknopf. Wenn 
ſie zweimal läutete, kam das Fräulein. 

Auch heute war ſie ſehr ſchnell da. Ihre ſtillen 
Augen ſuchten ängſtlich das bleiche Frauenantlitz. Sie 
fühlte, was im Hauſe vorging, und ſie zitterte um ihre 
Stellung. Heute kam es alſo, jetzt gleich. Sie ſah es 
Frau Sigrid an. 

„Es tut mir leid — Sie erſparen mir wohl das 
Nähere, liebes Fräulein, aber wir müſſen uns trennen 
zum erſten April. Das Hausmädchen geht in acht 
Tagen, die Köchin am fünfzehnten März, ich wäre 
Ihnen aber dankbar, wenn Sie bis zum Umzug blieben. 
Ich weiß ſelbſt noch nicht, wann das iſt, aber — ich 
fürchte doch, ganz allein nicht fertig zu werden und —“ 

„Aber ſelbſtverſtändlich bleibe ich, ſo lange gnädige 
Frau es wünſchen,“ ſagte das junge Mädchen ſchlicht. 
„Ich — gnädige Frau müſſen mich nicht falſch verſtehen, 
es entſpringt bloß der Liebe zu den Kindern — ich würde 
gern auch mit Ihnen gehen, gnädige Frau. Vielleicht 
nur für die erſte Zeit, für den Übergang — es iſt doch 
ſo furchtbar für Sie, und ich bin auch gar nicht auf ſo 
hohen Lohn angewieſen. Vater lebt noch, und — und 
Mutter, Mutter meint, in den Oſterferien könnte ich 
doch ſehr gut mit den Kleinen nach Hauſe fahren, 
es iſt ja Platz bei uns in dem alten Haus und dem großen 
Garten, wenn auch nur einfach alles, aber —“ 

Frau Sigrid ſtand vornübergebeugt und ſtarrte auf 
den ſtotternden Mund, der ſich ſcheute, die Wohltaten 
auszuſprechen, die man auf ſie ausſchütten wollte. 
Sie weinte und wehrte den plötzlichen Tränen nicht. 

„Ich ſchäme mich vor Ihnen,“ ſagte fie erſchüttert, 
„Sie haben ſo oft unter meinen Launen leiden müſſen.“ 

Da lächelte die Lehrerstochter. „Ich habe es nicht 
ſo ſchwer empfunden. Man lernt auch ſeine Sorgen 


4 Novelle von Elſe Krafft. 121 


lieben, gnädige Frau. Vater ſagt immer, wer nichts 
zu ſorgen hat, dem fehlt alles zum Glücklichſein, denn 
Sorgen und Segen wachſen an einem Baum.“ 

Sigrid nickte erſchauernd. „Vielleicht,“ ſagte ſie, 
„ich weiß das nicht. Aber ich kann Ihr Anerbieten nicht 
annehmen, fürchte ich. Ich — ich will nicht Verſteck 
vor Ihnen ſpielen, aber unſere Verhältniſſe haben 
ſich geändert. Ich werde mir nur ein Mädchen für 
alles nehmen können.“ 

Das junge Mädchen nickte eifrig. „Gewiß, gnädige 
Frau, das wäre ganz gut. Das bißchen Arbeit — das 
Kochen habe ich bei Mutter doch immer gemacht, ver- 
ſuchen es gnädige Frau alſo einmal mit mir allein.“ 

„Ja,“ ſagte Sigrid leiſe, „verſuchen wir es! Alles 
will ich ja verſuchen, ſelbſt das Schwerſte!“ 

Und der Handſchlag der beiden Frauen war wie 
ein unbewußter und doch längſt beſtandener Freund- 
ſchaftsbund. 

Das Hausmädchen meldete einen fremden Herrn, 
der die gnädige Frau ſprechen wolle. 

Sigrid blickte verwundert auf die große, ſteife Karte, 
die einen ihr ganz fremden Namen nannte, und war 
ſchon im Begriff, auch dieſen Beſuch, wie allen in den 
letzten Tagen, abzuweiſen, als der Fremde ſchon vor 
ihr ſtand. 

„Sie verzeihen, meine Gnädige, aber die Tür 
ſtand offen, und es handelt ſich für Sie um eine ſehr 
wichtige Angelegenheit,“ ſagte er, ſich tief verneigend. 

Sigrid blickte in das glatte Geſicht und ahnte, was 
der hier wollte. 

Sie öffnete die Tür zum Salon. „Bitte,“ fagte 
ſie, vorangehend. | 

Der Fremde folgte ihr und ftreifte ſich die Hand- 


122 Liebe Sorgen. Oo 


ſchuhe von den Fingern. Seine unruhigen Blicke 
muſterten dabei die koſtbare Einrichtung des Raumes. 

„Ich habe leider von den überaus großen Verluſten 
Kenntnis genommen, die Sie, meine Gnädigſte, be- 
troffen haben. Und da meine Geſchäfts verbindungen 
bis in die höchſten und allerhöchſten Kreiſe hinaufreichen, 
wäre ich augenblicklich in der Lage, Ihnen betreffs 
des Verkaufs Ihrer Möbel, Schmuckſachen, des Silbers 
und Porzellans —“ 

Sie wies mit der Hand nach der Tür. „Nun, ſo 
weit ſind wir denn doch noch nicht. Zch bitte Sie, 
laſſen Sie mich allein!“ 

Der Mann hob die ſchmalen Schultern. „Aber, 
meine ſehr geehrte gnädige Frau, ich bin von Ihrem 
Herrn Gemahl beauftragt worden — ja, regelrecht 
beauftragt!“ 

Sigrid fühlte einen ſtechenden Schmerz in ihrer 
Stirn. Sie zerriß in ohnmächtigem Zorn das feine 
Taſchentuch in ihrer Hand. „Die Angelegenheit hat 
durchaus keine Eile.“ 

Er ging noch immer nicht, obwohl er die Qual 
in dieſer Frau herausfühlen mußte. „Der Weg iſt 
nun einmal gemacht, und meine Zeit iſt knapp bemeſſen. 
Wenn ich wenigſtens die Sachen anſehen und taxieren 
könnte —“ 

„Nein,“ ſagte Sigrid, beide Hände ausſtreckend. 

Da nahm der Händler ſeinen Hut. „Es wird dem 
Herrn Gemahl ſehr unangenehm ſein, meinen Beſuch 
verfehlt zu haben,“ ſagte er trocken, indem er ſich ſehr 
kurz und ironiſch verneigte. 

Sigrid ſtand noch ſo lange aufrecht, bis die Tür, 
die nach der Diele führte, von dem Fremden geſchloſſen 
war. Dann ſank ſie in den nächſten Seſſel. Ihre 
Blicke irrten furchtſam von einem Stück zum anderen, 


ö Novelle von Elſe Krafft. 123 


gingen weiter, als ob ſie alle Wände durchdringen 
wollten, dahinter der Luxus war, der bisher ihr Leben 
geſchmückt, der bisher zu den Grundbedingungen ihres 
Seins gehört hatte. 

War das überhaupt möglich, das hingeben zu 
müſſen? War es überhaupt nötig? Was hatte ſie denn 
verſchuldet, plötzlich als arme Frau daſtehen zu müſſen, 
die auf die Almoſen der Verwandten angewieſen iſt? 
Es gab doch noch Recht und Geſetz, man konnte ſich doch 
nicht durch den Tod eines Betrügers, den man bisher 
Freund genannt, alles ſo einfach nehmen laſſen! 
Hatte dieſer Rödel nicht wohlhabende Verwandte, die 
für ſeine Schuld aufkommen mußten? Ob Richard 
noch gar nicht daran gedacht hatte? War er wirklich 
ſchon ein ſo ſchlaffer Menſch, daß er ſich vom Schickſal 
herumſtoßen ließ, ohne auch nur die Finger zu ener- 
giſcher Abwehr zu rühren? 

Sigrid ſprang auf und lief in ihr Ankleidezimmer. 
Ohne jede Hilfe zog fie ſich um, ſagte dem Kinderfräu- 
lein, daß ſie ausgehen wolle, und lief hinunter auf die 
Straße. Sie dachte nicht mehr ans Sparen und Ein- 
richten, ſie war wieder die verwöhnte, e Frau 
aus Berlin W. 

Sie nahm ein Auto und fuhr nach der bekannten 
Tiergartenvilla, in der Rödel bisher ſein fürſtliches 
Heim gehabt hatte. 

Dort waren alle Vorhänge herabgelaſſen, das eiſerne 
Tor vor dem ſchön gepflegten Garten zugeſchloſſen, und 
nur ein paar neugierig ſtehenbleibende Paſſanten verrie- 
ten ihr Wiſſen an dem jüngſten Berliner Drama, dem der 
Beſitzer dieſes ſtolzen Hauſes zum Opfer gefallen war. 

Sigrids Auto hielt ratternd vor der verſchloſſenen 
Tür, ihre Finger drückten an dem bereiften Meſſing- 
knopf der Glocke. 


124 Liebe Sorgen. 2 


— — 


Nach einer ganzen Weile kam ein alter Mann den 
mit Kies beſtreuten Weg von der Villa her, nicht der 
ſchlanke junge Groom, der einſt die Tür geöffnet hatte. 

Der Mann, anſcheinend einer von den alten Dienern 
des Hauſes, der heute anſtatt der Livree nur eine 
graue Wolljacke trug, ſchüttelte den Kopf. „Die gnädige 
Frau iſt nicht anweſend.“ 

Sie blickte ungläubig in das verſchloſſene Geſicht. 
„Mich wird die gnädige Frau ſehr gerne empfangen,“ 
drängte ſie. 

„Es tut mir leid, aber es iſt niemand im Hauſe.“ 

Sigrid bekam einen roten Kopf. „Oann können Sie 
mir vielleicht ſagen, wo ich die gnädige Frau antreffen 
könnte?“ 

Der Mann ſah einen Augenblick wie prüfend in 
das ſchöne Geſicht. „Exzellenz Grote, der Vater der 
gnädigen Frau, wohnt in der Kurfürſtenſtraße. Viel- 
leicht wiſſen gnädige Frau das Haus?“ 

„Ja,“ ſagte Sigrid. „Ich danke Ihnen.“ 

Sie ſtieg in das Auto zurück und gab dem Chauffeur 
die neue Adreſſe. | 

Exzellenz Grote — fie kannte den alten Herrn ſehr 
gut. Es kam eine große Ruhe in ihre aufgeregte 
Seele. Dieſer Mann, ein alter General, war es ſchon 
ſeiner Ehre ſchuldig, den Namen der Tochter wieder 
reinzuwaſchen. Er würde vielleicht die Regelung 
der finanziellen Schwierigkeiten übernommen haben, 
würde auch ihr geben, was ihr zukam, oder doch minde- 
ſtens einen Teil davon. 

In Sigrids Stirn jagte ein Gedanke den anderen. 
Seit dieſer fremde Menſch mit ſeinen gierigen Blicken 
in ihrem Salon geſtanden hatte, klammerte ſie ſich mit 
allen Fibern ihres Seins an einen Ausweg aus Demüti- 
gung und Sorge. 


9 Novelle von Elſe Krafft. 125 


Das Auto hielt. Sigrid blickte zu dem hohen Hauſe 
empor und gebot dem Chauffeur zu warten. 

Als in der zweiten Etage unter ihren Fingern die 
Türglocke anſchlug, kam es wie die wilde Jagd gegen 
die Korridortür gejagt. 

Dazwiſchen eine dröhnende Kommandoſtimme: 
„Nrruhe — zurrrück!“ 

Die alte Exzellenz öffnete ſelbſt. Er verneigte ſich 
leicht vor der eleganten Frauengeſtalt, und Sigrid ſah, 
daß der Mann in kurzer Zeit ſchneeweiß geworden war. 

Er erkannte ſie nicht ſofort. Erſt als ſie ihren Namen 
ſagte und eines der Kinder erfreut „Tante Sigrid!“ 
rief, überlegte er. . 

„Ja — meine Tochter iſt bei mir, gnädige Frau, 
doch ich weiß nicht recht, ob —“ 

Der alte Herr preßte mitten im Satz die Zähne wie 
im körperlichen Schmerz zuſammen. 

Sigrid warf den Kopf zurück. War ſie nicht die 
Fordernde hier, die Geprellte, hatte ſie nicht ein Recht 
an dem Tun und Laſſen dieſer Familie? Sie öffnete 
die Lippen, es war beinahe wie ein Schrei, der hindurch 
wollte — Herrgott, die Leute wußten es doch ebenſogut 
wie ſie ſelber, was ſie durch den Toten verloren hatte — 
da kam jemand mit raſchen Schritten den Korridor ent- 
lang, und eine Stimme ſagte: „Ich bitte dich, Papa, 
laß doch Frau Hallinger nicht ſo lange an der Tür 
ſtehen!“ 

Der alte Offizier trat zurück, nahm die ſtumm ge- 
wordenen Kinder und ſchob ſie in die erſte beſte Tür 
hinein. 

„Sie entſchuldigen, meine Gnädigſte, daß ich meiner 
Tochter einen der vielen bitteren Kelche zu erſparen 
ſuchte. Ich hatte Ihrem Gatten geſchrieben — Sie 
wiſſen es wohl?“ 


126 Liebe Sorgen. 


„Nein,“ ſagte Sigrid befremdet. „Ich weiß gar 
nichts. Mein Mann beſpricht feine geſchäftlichen An- 
gelegenheiten nicht mit mir. Und da ſpeziell dieſer 
Fall auch mich perſönlich betrifft, dachte ich, es wäre 
das einfachſte —“ 

Sie ſtockte, als ſie das weiße Frauengeſicht ſah, 
das in verzehrender Angſt an ihren Lippen hing. 
Dunkel ſtieg ihr das Blut vor der tiefen Trauerkleidung 
in die Stirn, und ſie ſtreckte die Hand aus. „Aber nein 
— das ft ja alles fo nebenſächlich. Verzeihen Sie mir 
mein Eindringen hier, aber ich kenne mich ſelbſt nicht 
mehr aus. Es iſt ja wahr, wir beide haben uns noch 
gar nicht geſprochen ſeit —“ 

Als die beiden Frauen auf dem geblümten Sofa 
eines der vielen Zimmer ſaßen, war der Hausherr 
verſchwunden. 

Die junge Witwe weinte in ſtillem Gram weiter. 
„Ich habe auf Ihren Beſuch gewartet die ganze Zeit 
und nie die Kraft beſeſſen, ſelbſt zu Ihnen zu kommen. 
Mir iſt alles noch ſo unfaßlich und neu. Hätte ich Papa 
nicht und die Kinder, ein raſches Fortgehen aus allem 
Leide wäre ſo leicht geweſen —“ 

Sie unterdrückte gewaltſam das laute Schluchzen, 
und ihr zarter Körper ſank immer mehr in ſich zu- 
ſammen. 

Sigrid durchlebte in dieſer kurzen Viertelſtunde Un- 
ausſprechliches. War fie nicht hergekommen, um dleſe 
Frau zur Rechenſchaft zu ziehen? Saß ſie nicht hier, 
um den Wirrwarr ihrer Verhältniſſe, den großen 
Zwieſpalt in ihrer Seele wie einen einzigen großen 
Vorwurf dieſer hier ins Geſicht zu ſchleudern, ihr zu 
ſagen: „Daran biſt du als die Frau deines Mannes 
auch mit ſchuld, nun ſiehe, wie du mir aus meiner 
unverdienten Sorge heraushilfſt!“? 


0 Novelle von Elfe Krafft. 127 


Und doch tat ſie nichts, als nur tröſtlich die Hände 
der jungen Witwe zu halten und zu ſtreicheln. 

„Es wird alles wieder beſſer werden, liebſte Frau 
Rödel, verlaſſen Sie ſich darauf! Ihr Herr Vater iſt 
ein fo ſelten gütiger Menſch, er hat die höchſten Ver- 
bindungen, es wird alles geregelt und gut.“ 

Die Weinende ſchüttelte den Kopf. „Nein, gut 
kann es nie wieder werden! Haben Sie geſehen, wie 
weiß Papa geworden iſt? Seine unantaſtbare Offiziers- 
ehre hat er einfargen müſſen, man hat ihn wie einen 
Verbrecher angegriffen, weil er noch hier wohnt und 
ſich noch ſatt ißt und — ach, was rede ich alles, ich bin 
ja ſchon ſo fertig mit allem Denken! Seit unſere Villa 
verſiegelt und verſchloſſen iſt, ſind die Leute hier bei 
meinem Vater eingedrungen, als ſei er ein Mörder, 
wenn er ihnen nicht das durch meinen Mann verlorene 
Geld wiedergibt. Und ſehen Sie, Frau Sigrid, gerade 
die Träger der kleinſten Forderungen waren die 
Schlimmſten. Darum haben wir auch gedacht, Sie 
und Ihr Gatte, die jahrelang zu unſeren beiten Freun- 
den gehörten, treten zunächſt noch zurück, denn was in 
meiner Macht liegt, ſoll getan werden, um auch Sie noch 
zu befriedigen. Papa hat die kleinen Leute alle bezahlt, 
er hat fein ganzes Vermögen und tauſend teure An- 
denken dazu hingegeben, wir haben die große Wohnung 
hier gekündigt, Mutters alte, ſchöne Möbel verkauft — 
ach, was haben wir alles getan, um wenigſtens die 
ſchlimmſten Schreier zu beruhigen! Die Dienſtboten 
ſind alle entlaſſen, die Kinderfrau und das Fräulein 
ſind fort —“ 

„Aber ich verſtehe nicht, Sie haben doch vier Kinder, 
Sie müſſen doch wenigſtens ein Kindermädchen haben!“ 

Die junge Witwe unterbrach mit leiſem Kopf- 
ſchütteln dieſen Ausruf. „Ich muß gar nichts, und 


128 Liebe Sorgen. u 


ä— — Sr 


wenn Papa jetzt manchmal zu mir jagt ‚mein tapferes 
Soldatenmädel“, fo iſt das wie eine Zauberformel, 
die mir ungeahnte Kräfte gibt. Freilich — die Hände 
dürfen Sie mir nicht anſchauen, denn die brauch' ich 
jetzt doppelt und dreifach gegen früher — und Lonny, 
Sie glauben gar nicht, wie das Kind mir ſchon mit 
ſeinen neun Jahren bei der Arbeit hilft!“ 

Sigrid hörte dem geflüſterten Bekenntnis zu, ſah 
die ſchmalen Wangen der ſonſt ſo verwöhnten Frau, 
die rotgeränderten Augen und fühlte, daß das größte 
Leid dieſes Herzens nicht das um den verlorenen 
Reichtum war. Sie mußte an die Ehe Rödels denken, 
an die immerwährende zarte Rückſicht und Aufmerk- 
ſamkeit des reifen Mannes zu der kindlichen Frau. 
Ob ſie ahnungslos in den ſonnigen Süden hinabgefahren 
war, während er ſich durch die tödliche Kugel aller 
Lebenspflichten entäußerte? 

Sigrids Blicke kamen von den beiden breiten Gold- 
reifen, die beinahe das ganze untere Glied des rechten 
Ringfingers bedeckten, nicht los. 

Die junge Frau fühlte dieſe ſtumme Frage. Ein 
eigenartiges Lächeln irrte um den blaſſen Mund. „Er 
iſt beladen und ſchuldig fortgegangen — ja, und die 
Menſchen haben ihn gerichtet. Aber ob Unglück oder 
Leichtſinn ihn ſo abgrundtief getrieben, er war doch 
mein Mann, der Vater meiner Kinder, und ich habe ihn 
geliebt und hochgehalten und tue es auch noch über 
ſeinen Tod hinaus. Aus Feigheit iſt er nicht geſtorben 
und aus Verzweiflung auch nicht. Vielleicht nur aus 
Rüdficht auf mich. Sie werden das nicht verſtehen, 
aber wenn er heute noch neben mir wäre in gleicher 
Lage, ich hätte wohl nie den Weg zur Sühne und zum 
Entſagen gefunden. Wir beide hätten es nicht — einer 
allein, ja!“ 


Sie ſtand haftig auf und preßte mit abgewandtem 
Geſicht die Stirn gegen das Fenſter. Sigrid ſah an dem 
Schütteln des Frauenkörpers, daß jetzt kein Wort gut 
genug war zum Troſt. 

Sie erhob ſich ebenfalls, ſtrich mit leiſer Hand über 
den dunklen, geſenkten Frauenkopf am Fenſter und trat 
in das Nebenzimmer, wo feine Kinderſtimmen wiſperten. 

Und da ſaß die alte Exzellenz in einem Lehnſtuhl, 
hatte links und rechts zur Seite die größeren, auf den 
Knien die beiden kleineren Enkel und blickte wie um 
Entſchuldigung bittend zu dem Beſuch hinüber. 

Mit raſchem Schritt trat Sigrid zu dem alten Herrn 
und zog die gefurchte Hand an ihre Lippen. 

Der weiße Kopf drückte ſich unter dieſer unerwarteten 
Ehrenbezeigung ſchüttelnd gegen die Kinderköpfe. „Die 
junge Brut iſt neſtlos, ehe ſie flügge geworden,“ ſagte 
er, vergebens den gewohnten feſten Ton ſuchend. 
„Wenn Sie ſich mit dem Herrgott gut ſtehen, meine 
Gnädigſte, dann legen Sie doch bei ihm ein Wort für 
mich ein, daß er mir alten Soldaten noch nicht ſo bald 
die Retraite bläſt. In meiner Front klappt noch nicht 
alles zum Parademarſch.“ 

Sigrid ſtürzten die Tränen aus den Augen. Sie 
nahm eines der Kinderhändchen nach dem anderen 
zum Abſchied. Dann ging ſie ungeleitet aus dem 
Zimmer, den langen Korridor entlang und die Treppen 
hinunter. 

Als ſie unten vor der Haustür das Auto ſah, fiel 
ihr ein, daß fie ja ſparen wollte. Sie lohnte den Chauf- 
feur ab und ging zu Fuß nach Hauſe. 

Die kalte, klare Luft tat ihren erregten Nerven wohl. 
Das laute Getriebe in der Potsdamer Straße hörte ſie 
gar nicht. Auch die vielen vorüberhaſtenden Menſchen 
ſah ſie nicht. Sie war ſo völlig von einem einzigen 

1914. X. 9 


130 Liebe Sorgen. U 


Gedanken beherrſcht, daß alles andere dagegen macht— 
los wurde. 

Wenn Richard nun geſtorben, wenn er durch den 
Tod von ihr getrennt würde und ſie von ihm! 

Sigrid ging ſo ſchnell, als ob jemand ſie verfolge. 
Eine ganz entſetzliche Furcht trieb ſie vorwärts. Was 
war denn das? Wäre es nicht die beſte und einfachſte 
Löſung, wenn der Mann, dem ſie ſeit Monaten nur 
noch dem Namen nach gehörte, auch ſo ſpurlos fort- 
gegangen wäre wie Rödel? 

„Nein!“ ſagte Sigrid ganz laut vor ſich hin und 
noch einmal leiſer und erſchrocken: „Nein!“ Er ſollte 
leben, er ſollte ſogar glücklich ohne ſie leben, aber ganz 
verſchwinden, ſo verſchwinden — nein, das ſollte er 
nicht. N 

Als ſie vor ihrem Haus in der ſtillen, vornehmen 
Straße des Weſtens ſtand, glühten ihre Wangen, als 
hätte ſie Fieber, und als ihr das Hausmädchen oben die 
Tür öffnete, ſah ſie in das höflich lächelnde Geſicht, 
als ſähe ſie es heute zum erſten Male. 

„Der gnädige Herr iſt ſchon ſeit einer Stunde da,“ 
ſagte das Mädchen, Sigrid Hut und Mantel abnehmend. 

Sigrid öffnete die Tür zum Speiſezimmer und fand 
es leer. Durch zwei, drei Türen lief ſie, und erſt als 
ſie in Richards Zimmer war und ihn ruhig an ſeinem 
Schreibtiſch ſitzen ſah, bezwang ſie die große Erregung, 
die ihr ganzes Weſen aufpeitſchte. 

Er blickte gar nicht auf. 

„Richard!“ bat ſie. 

„Was denn?“ Er ſchüttelte, über die Störung 
unwillig, den Kopf. „Du ſiehſt doch, daß ich ſchreibe.“ 

„Ach — laß doch das!“ Sie war hinter ſeinen Stuhl 
getreten und blickte über ſeine Schulter auf die großen 
Papierbogen. Ihre Hand hob ſich, ſchob die Mappe 


a Novelle von Elſe Krafft. 131 


zurück, auf dem der halbfertige Brief lag, und es war 
ein Ton in ihrer Stimme, der ihr ſelbſt fremd und 
unfaßlich ſchien. „Das iſt ja alles gleichgültig jetzt! 
Ich hab' ſo viel durchlebt heute morgen! Ich habe 
mit Frau Rödel geſprochen, mit ihrem Vater, und —“ 

Er fuhr überraſcht auf. „Alſo dich hat man vor— 
gelaſſen — großartig, was ihr Frauen mächtig ſeid! 
Mir beantwortet man kaum meine Briefe. Da bin 
ich denn doch neugierig, was du da erreicht haben 
könnteſt.“ 

„Er denkt nur an das verlorene Geld!“ durchfuhr 
es Sigrid grauſam klar, und das Blut ſtieg ihr wie 
Flammen in das Antlitz. Hatte ſie nicht eben ganz 
andere Dinge im Herzen gehabt, ſeltſame, ſüßtörichte 
und längſt vergeſſen geglaubte! 

Er wartete ihre Antwort nicht ab. Er ſah ſie auch 
nicht an. Er fragte, fragte wie gierig, als könnten da- 
durch ſeine aufgepeitſchten Nerven zur Ruhe kommen: 
„Nun, können wir hoffen? So ſprich doch!“ 

Sigrid antwortete nicht. Sie fühlte ſich am Ende 
ihrer Kraft. 

Er lachte, wurde merkwürdig guter Stimmung und 
nahm ſogar einmal wie ſpielend die regloſe Frauen- 
hand neben ſich in die ſeinige. „Wir werden ſchon wie— 
der zu unſerem Geld kommen — jo oder jo! Verlaß 
dich darauf! Denke, der Deinhardt hat mir geſchrieben. 
Ich könnte auf ein Probehalbjahr in feinen Farb— 
werken arbeiten, um dann vom Oktober ab eine leitende 
Stellung dort einzunehmen. Das wäre doch was bei 
ſo einer Weltfirma! Wir verſchieben das wohl mit der 
Scheidung noch, wenn es dir recht iſt! Es ſtürmt jetzt 
mit einem Male zuviel auf mich ein. Ich bin ja ſowieſo 
die nächſten Monate nicht in Berlin, wenn das mit 
Deinhardt etwas wird; jedenfalls fahre ich gleich in 


132 Liebe Sorgen. a 


den nächſten Tagen zu ihm, um die Sache mündlich 
zu beſprechen. Und dann, nach den ſechs Monaten, 
können wir ja weiterſehen. Richte dich mit den Kindern 
hier ein, wie du willſt, das Wertvollſte unſerer Sachen 
wird verkauft, ich habe das ſchon alles in die Wege 
geleitet.“ 

Sigrid lächelte mühſam. „Ja — ich weiß.“ 

Nun blickte er doch auf. Vorhin hatte er es gar nicht 
bemerkt, wie ſchnell ſich ihm die Frauenhand entzogen 
hatte, nach der er ſpieleriſch gegriffen. „Was — wie 
ſiehſt du denn aus? Fit dir nicht wohl?“ fragte er er- 
ſtaunt. 

Sie ſuchte nach Worten, hob den Arm, um ſich 
irgendwo feſtzuhalten, und griff in die leere Luft. 

Im nächſten Augenblick lag ſie ohnmächtig am 
Boden. 

Sigrid hatte nur noch den einen Wunſch, ihr Leben 
ſo raſch und endgültig wie möglich zu verändern. 
In fieberhafter Eile betrieb ſie den Umzug aus der 
großen Wohnung, den Verkauf der entbehrlichen 
Möbel und Koſtbarkeiten. | 

Es war nur eine Heine und beſcheidene Dreizimmer- 
wohnung in einem Vorort, in der fie nun mit dem 
Fräulein und den Kindern hauſte. Aber dieſe Zimmer 
waren hell, ſonnig und von Bäumen umgeben, deren 
hellgrüne Spitzen bis zu der Loggia reichten, in der 
Sigrid oft mit den Kindern ſaß. 

Ein ſeltſamer Zuſtand war das, in dem ſie ſich nun 
ſchon ſo lange befand. Sie wagte gar nicht, darüber 
nachzudenken, aus Angſt, fie könne etwas ſehr Wert- 
volles und Köſtliches zerſtören, wenn fie daran rühre. 

Hatten die Kinder ſchon immer ſo wunderbar 
weiche Armchen gehabt? Waren die Augen ihres 


2 Novelle von Elſe Krafft. 155 


Knaben ſchon früher fo glänzend und braun geweſen, 
das Lachen feiner Schweſter fo klingend hell und an- 
ſteckend, ſo daß Sigrid oft gar nicht anders konnte 
als mitlachen? 

Obwohl die Sonne jetzt früher kam und ſpäter 
fank, waren die Tage alle ſo merkwürdig kurz in dieſem 
neuen Leben, die Nächte aber ſtill und traumlos in 
der Nähe der kleinen Betten, die neben ihrem Lager 
ſtanden. 

Hundert fremde Dinge lernte fie kennen, von denen 
ſie vorher nichts gewußt, und die doch alle ſo gut in ihr 
Leben hineinpaßten: liebe Sorgen, die ſie täglich feſter 
an die kleine Wohnung und an die Kinder banden, 
Pflichten, deren ſie früher nie gedacht, zu denen ſie 
in ihrem glänzenden geſellſchaftlichen Leben nie Zeit 
gefunden. ö ö 

Das Fräulein, das in dder Mädchenkammer ſchlief, 
die zu der Wohnung gehörte, das jede Arbeit tat 
und in ihrer beſcheidenen und treuen Art zu Sigrid 
hielt wie eine Helferin in Not und Irren, bildete 
in der Familie ein ſehr wichtiges Mitglied, um deſſen 
Tatkraft ſich alles drehte. 

Der Mai verrann, die Roſen begannen in den 
Gärten ringsum zu blühen, und Sigrids Wangen 
färbten ſich langſam. Es war noch kein Tag geweſen, 
an dem ſie, wie ſie gefürchtet, unter der Laſt ihres 
ſchweren Schickſals zuſammengebrochen war wie da— 
mals im Zimmer ihres Mannes. 

Dachte ſie noch an dieſen Mann? 

Seitdem er in Weſtfalen in ſeiner neuen Stellung 
war, hatte er nur ſelten kurze Briefe geſchrieben, die 
nicht viel von ſeinem Leben erzählten. 

Sie wollte auch nichts davon wiſſen. I 

Als er einmal angefragt hatte, ob fie Geld brauche, 


134 Liebe Sorgen. u 


hatte ſie dieſe Frage umgehend verneint. Fürs erſte 
genügte ja die Summe, die ſie vom Verkauf der Möbel 
und Wertſachen herausbekommen hatte, für das be- 
ſcheidene Leben, das ſie jetzt mit den Kindern und dem 
Fräulein führte. Und ſpäter, nach der Scheidung, 
konnte ja gerichtlich feſtgeſtellt werden, was der Vater 
für das Leben und die Erziehung ſeiner Kinder geben 
konnte; ſie ſelbſt verlangte nichts. Sie nahm vielleicht 
eine größere Wohnung und vermietete Zimmer, wie 
ihr einige bekannte Damen geraten hatten. 

Nur noch eine kleine Weile in dieſer köſtlichen Ruhe 
weiterleben wollte fie, dieſes neue Gefühl des Mutter- 
glücks auskoſten, das ſie ſo weich und wunſchlos machte. 
Alte Kinderſpiele wachten wieder auf, Kleidchen und 
Kittel nähte ſie ſelbſt, wie ſie es einſt für ihre Puppen 
getan, und ſelbſt die Schularbeiten der Kinder, die ſie 
beaufſichtigte und durchſah, waren ihr liebe Sorgen. 

Kam aber wirklich eine ſchwere Stunde, in der die 
Sehnſucht nach der bunten Welt da draußen über- 
mächtig in ihr wurde, ſo brauchten nur die weichen, 
ſtreichelnden Kinderhände, die roten, kleinen Münder 
gegen ſie anzudrängen — und die wilden Wünſche 
wurden ſtiller, Frau Sigrid lachte wieder ihr ſeltſames 
Lachen, bei dem man nie wußte, ob nicht die Tränen 
hineintropfen wollten. — 

Es war ein ſchwüler Tag im Juni, als Sigrid allein 
in der Loggia bei den grünen Baumwipfeln ſaß, die 
regungslos ihre Blätter herniederhängen ließen. 

Die Kinder waren mit dem Fräulein ſpazieren ge— 
gangen, und ſie mußte die Tür darum ſelber öffnen, als 
die Glocke im Korridor anſchlug. 

Müde erhob ſie ſich, ſtrich an dem weißen Kleide 
hernieder und band die Schürze ab, die ſie jetzt im Hauſe 
trug. Sie fürchtete ſich vor jedem Beſuch, der von 


2 Novelle von Elſe Krafft. 135 


ihrem früheren Leben wußte und oft mit unzarten 
Worten alte Wunden wieder aufriß. 

Sie öffnete, trat einen Schritt zurück und wußte 
nicht, ob ſie die Hand ausſtrecken ſollte oder nicht. 

Richard ſtand draußen. Er war ſehr blaß und ab- 
gemagert, trug aber einen hochmodernen Anzug und 
lächelte ſein altes, ironiſches Lächeln. 

„Guten Tag, Sigrid — darf ich eintreten?“ 

Sie neigte nur den Kopf. 

Er ſchloß ſelbſt die Tür, ging an ihr vorbei und in 
das nächſte Zimmer hinein. „Du biſt wohl allein?“ 
fragte er dann. | 5 

Sie war mechaniſch hinter ihm her gegangen und 
ſtand nun neben ihm in dem kleinen Salon, in dem 
alles, trotz der Enge, das Gepräge ſchlichter Vornehm- 
heit hatte. 

„Ja. Die Kinder ſind ſpazieren gegangen mit dem 
Fräulein. Aber ich fürchte, es kommt ein Gewitter. Willſt 
du — biſt du — ſeit wann biſt du wieder in Berlin?“ 

„Seit heute. Meine Koffer ſtehen noch auf dem 
Bahnhof. Ich wußte nicht, ob ich ſie hierher ſchicken 
laſſen ſollte. Aber wenn du Platz hätteſt, wäre es wohl 
das einfachſte und billigſte —“ 

„Nein,“ ſagte Sigrid erſchrocken. 

Er ſchien gar nicht hinzuhören. Er war neugierig 
durch die nächſte Tür gegangen. „Ah — hier iſt wohl 
das Speiſezimmer. Ganz ſtilvoll, nur verteufelt klein 
alles — und hier —“ er ſprach nicht aus, ſondern blieb 
in dem Eingang der Loggia ſtehen, wo über roten 
Korbmöbeln rote Geranien nickten, zu denen die grünen 
Baumkronen herniederſahen. 

„Das iſt auch noch beinahe wie ein Zimmer,“ be— 
eilte ſich Sigrid zu ſagen. „Ich ſitze mit den Kindern 
meiſt nur hier draußen. Hübſch — nicht?“ 


136 Liebe Sorgen. 2 


Er griff ſich in den anſcheinend zu weit gewordenen 
Kragen und zuckte in ſeiner alten Manier die Achſeln. 
„Wie man's nimmt. Mit dem Maßſtab unſeres früheren 
Lebens gemeſſen jedenfalls ein biſſel ſpießerlich.“ Er 
hatte ſich wieder ganz zu ihr herumgedreht und 
blickte fie aufmerkſam an. Über fein hageres Ge— 
ſicht ging helles Rot. „Du ſiehſt übrigens gut aus, 
Sigrid.“ N 

Sie wußte nicht, was ſie dazu ſagen ſollte. Sie 
dachte fortwährend an die Kinder, denn in der Ferne 
begann es zu donnern, graue Wolkenmaſſen kamen 
näher, und durch die eben noch ſo regungsloſen Bäume 
fuhr der Wind. 

Was wollte Richard bei ihr? Warum war er ſchon 
vor Ablauf der Probezeit mit ſeinen Koffern gekommen? 
Und warum ſtarrte er fie jo an? 

„Halt du jetzt ſchon die Vertretung für Berlin be- 
kommen, wie du mir geſchrieben?“ fragte ſie. 

Er lachte. „Ich danke dafür. Ich habe dem Dein- 
hardt ſeinen ganzen Krempel vor die Füße geſchmiſſen. 
Was denkt ſich denn ſo ein Kaffer? Ich bin doch nicht 
ſein Schuhputzer! Man hat ſich abgerackert wie der 
gewöhnlichſte Arbeiter, man hat ſich halbe Nächte 
um die Ohren geſchlagen, weil der hohe Herr das ſo 
verlangte, und muß ſich nun hinterher noch Grobheiten 
ſagen laſſen, weil der frühere Freund zufällig noch auf 
dem Geldſack ſitzt, von dem man fo meuchlings herab- 
geriſſen wurde. Nee — ich pfeife auf ſo eine großmütige 
Vormundſchaft, die keinen anderen als den eigenen 
Willen gelten läßt. — Haſt du übrigens ein Glas Wein 
im Haufe, Sigrid? Mir klebt die Zunge am Gaumen.“ 

Sie ſchüttelte den Kopf. „Wir trinken nur Milch 
oder Fruchtſaft mit Waſſer. Wenn du davon etwas 
haben willſt —“ 


D Novelle von Elſe Krafft. 157 

„Einerlei — laß nur bringen! — Nein, du ſelbſt 
ſollſt natürlich nicht, das Mädchen kann doch — 

„Ich habe kein Mädchen außer dem Fräulein,“ 
ſagte Sigrid, indem ſie hinausging. 

In der Küche blieb ſie einen Augenblick zitternd 
ſtehen. Es blitzte jetzt draußen, und der Donner kam 
immer näher. Auch begann es ſtark zu regnen, und die 
Kinder waren in ihren dünnen Kleidern auf den Wieſen 
draußen. Wenn ſie nur bald kämen, damit ſie nicht 
allein zu ſein brauchte mit Richard, denn ſie konnte 
das nicht auf die Dauer. 

Sie hatte Mühe, das Glas gerade zu halten, das 
ſie ins Zimmer trug. 

„Danke,“ ſagte er höflich. „Aber du hätteſt dich 
wirklich nicht ſelbſt bemühen ſollen.“ Er trank haſtig 
das ganze Glas leer. Dann trat er wieder auf die 
Loggia hinaus und ſetzte ſich in einen der Korbſtühle. 
„Den Kindern geht es alſo gut — ja?“ 

Sigrid nickte, in der Tür ſtehen bleibend. „Aber 
ſie ſind ohne Schirm, und das Wetter wird immer 
ſchlimmer.“ 

„Gewitterregen friſcht Natur und Nerven auf. — 
Oh, das tut gut nach der Glut!“ Er atmete tief auf 
und erwartete, daß ſie ſich auch ſetze. Als fie aber 
ſtehen blieb, ſprach er haſtig und überſtürzt weiter: 
„Wie ſind denn nun die Kinder? Sind ſie noch ſo 
zimperlich und ſcheu? Du haft ja nie was Ordentliches 
geſchrieben. Deine Poſtkarten waren furchtbar, nimm 
mir das nicht übel! Wenn ich auch keine großen 
Schreibebriefe von dir erwartete, aber dieſe ſteifen, 
nichtsſagenden Antworten auf meine Fragen — nee, 
man gehört doch ſchließlich immer noch zuſammen! 
Und was heißt das, du brauchſt kein Geld? Das ver- 
ſtehe ich nicht. Du kannſt doch nicht beinahe fünf 


138 Liebe Sorgen. 2 


Monate von den paar Mark zehren, die du zur Ver— 
fügung hatteſt?“ | 

„Ich habe kaum die Hälfte verbraucht von dem 
Geld.“ 

Er blickte ſie ſehr erſtaunt an. „Da haſt du dich aber 
ſehr verändert, Sigrid! Ich verſtehe überhaupt nicht, 
wie du dies Leben ſo erträgſt und dabei ausſiehſt — 
na, ich will dir nicht ſchmeicheln. Du ſcheinſt eben 
ſtärker zu ſein wie ich, denn —“ 

Er brach mitten im Satz ab, ſtand auf und trat 
wieder in das Zimmer zurück. Ein paar Stühle ſchob 
er ſich aus dem Wege, nahm hier einen Gegenſtand auf 
und dort einen und wurde immer aufgeregter. 

„Satt — ſatt habe ich's, dieſes elende Leben! Ich 
muß wahrhaftig wieder eine Stellung ſuchen wie der 
Kuli, der Brot eſſen will und Steuern zahlen muß, 
und — ach, was weiß ich was noch alles! Es iſt eine 
Sünde und Schande, daß man einfach ſtillhalten muß, 
wenn einen die beſten Freunde betrügen und ruinieren. 
Haſt du übrigens noch Geld — iſt das wirklich wahr, 
Sigrid?“ 

„Ja,“ ſagte Sigrid, wieder ein paar Schritte zurück— 
tretend. Er war ſo nahe zu ihr gekommen, daß ſie 
ſeinen Atem geſpürt hatte. 

„Vielleicht könnteſt du mir ein paar hundert Mark 
geben? Es iſt wegen des Hotels, und man muß doch 
den Leuten anſtändig kommen, wenn man Verbin— 
dungen anknüpfen will.“ 

Er hatte jetzt auch die dritte Tür aufgeſtoßen, die 
in das Schlafzimmer führte, das ſie mit den Kindern 
teilte. 

„Iſt das nun alles?“ fragte er. „Ganze drei Stuben?“ 

„Ja,“ flüſterte Sigrid. „Mach, bitte, die Tür zu, es 
zieht furchtbar bei dem Sturm.“ 


1 Novelle von Elſe Krafft. | 139 


„FIſt der Junge nicht ſchon zu groß für jo ein kleines 
Gitterbett? Was treiben die Kinder denn überhaupt? 
Denken ſie manchmal an mich?“ 

„Kinder ſind Kinder, ſie denken überhaupt nicht 
nach. Und du haft dich ja immer jo wenig um fie ge- 
kümmert. — Brauchſt du wirklich Geld? Ich gebe es 
dir. Wir haben hier ja ſo wenig zum Leben nötig. 
Das Schulgeld iſt auch billiger als in Berlin, und das 
Fräulein iſt ſehr ſparſam und praktiſch. — Mein Gott, 
dieſes Wetter, und die Kleinen ſind noch immer nicht 
hier!“ ö 

Sie trat auf die Loggia hinaus und ſpürte es gar 
nicht, daß ihr der Sturm den Regen ins Geſicht 
ſchlug. 

Er folgte ihr langſam. 

Und fo ſtanden fie eine ganze Weile ſchweigend 
nebeneinander, ſahen in die Blitze hinein und wurden 
immer näſſer. 

„Komm doch ins Zimmer!“ bat er endlich leiſe und 
mit ganz veränderter Stimme. 

Sie zuckte heftig vor feiner ausgeſtreckten Hand zu- 
rück. „Ich — ich ängſtige mich ſo!“ ſtieß ſie hervor. 

„Vor dem Gewitter?“ 

Sie ſchüttelte den Kopf. „Nein — um die Kinder!“ 

Da ſchwieg er, blieb neben ihr ſtehen und ſah von 
der Seite in das veränderte und doch fo wunder- 
ſchöne Frauenantlitz. 

Draußen wurde die Korridortür aufgeſchloſſen. Die 
beiden Menſchen hörten es gar nicht. Erſt als trappelnde 
Füße näher kamen, Türen geöffnet und wieder ge— 
ſchloſſen wurden, drehten ſich beide gleichzeitig um. 

„Heino — FIlſe!“ ſchrie Sigrid wie erlöſt auf. 

Die Kinder liefen, pudelnaß wie ſie waren, in die 
ausgebreiteten Arme der Mutter. 


140 l Liebe Sorgen. D 


„Die Kinder müſſen ſofort trockene Sachen anbe- 
kommen, Fräulein —“ 

Sie ſtockte und blickte auf den Mann, den fie bei- 
nahe ſchon wieder vergeſſen hatte, als ſie die kleinen 
Körper an ihrem gefühlt. 

„Guten Tag, mein Junge,“ ſagte Richard. 

„Guten Tag, Papa!“ rief der Siebenjährige, die 
kleine, kalte Hand in die heiße vor ihm legend. 

„Guten Tag, Papa!“ wiederholte nun auch Zlie 
lachend und erſtaunt. 

Das Fräulein grüßte höflich und zog dann die 
Kinder mit ſich fort. „Das Wetter kam zu plötzlich,“ 
entſchuldigte fie ſich, „und wir waren fo weit draußen 
auf den Wieſen.“ 

„Gewiß,“ ſagte Sigrid und hatte das Gefühl, 
hinter den anderen her laufen zu müſſen. 

Aber Richard hatte eine Handbewegung gemacht, 
die ſie zum Bleiben veranlaßte, und er ſah ſo finſter und 
gequält dabei aus, daß ſie plötzlich Mitleid mit ihm hatte. 

„Setz dich doch,“ ſagte ſie ruhig, „du biſt gewiß 
ſehr müde von deiner Reiſe. Ein Stündchen kannſt 
du ja noch hier bleiben, du möchteſt vielleicht noch mit 
den Kindern zuſammen Abendbrot eſſen.“ 

„Danke — ſehr gütig!“ antwortete er. „Das iſt ja 
ſchon ſehr viel! Wenn ich nun aber noch länger bleiben 
will wie dieſe eine gnädig geſtattete Stunde? Es 
iſt doch ſchließlich auch meine Wohnung, ſolange wir 
noch nicht geſchieden ſind, Sigrid.“ 

„Nein!“ ſchrie ſie auf. „Das kannſt du ja gar nicht 
wollen! Es iſt kein Platz hier für dich, das ſiehſt du ja, 
und es iſt doch alles ſo furchtbar! Denke doch nur, wie 
wir gelebt haben in den letzten Jahren, wie wir förmlich 
lechzten nach Freiheit, du ſowohl wie ich! Ich will dir 
ja gerne Geld geben, ich will auch an Robert ſchreiben 


D Novelle von Elfe Krafft. 141 


nach Hamburg deinetwegen, er wird ficher eine Stellung 
für dich finden. Aber geh!“ 

Er ließ ſie ruhig ausreden. Dann nickte er ſtumpf. 
„Ja, ich gehe gleich! Du mußt nicht ſo laut ſprechen, 
Sigrid, ich — meine Nerven ſind furchtbar herunter, 
und das Fräulein hört alles, es iſt ſo furchtbar eng bei 
dir, ſo ungewohnt eng!“ Wieder fuhr er ſich in den 
weiten Kragen und zerrte daran. „Aber die Kinder 
ſind nett geworden. Wie zutraulich ſie mir gleich die 
Hand gaben, und wie das kleine Ding gelacht hat, 
als es mich ſah! — Alles ganz anders wie früher, 
ſo — ſo unerklärlich anders! Aber wenn es dir recht iſt, 
ein kleines Weilchen möchte ich doch dieſes ſeltſame 
Gefühl noch auskoſten, was mich da eben überkam mit 
den Kinderhänden.“ 

Sie ſenkte den Kopf. In ihr war alles wie zer— 
ſchlagen. Sie hatte in ihrer ſtillen Zurückgezogenheit, 
ihren vielen neuen Pflichten beinahe vergeſſen, daß 
irgendwo noch jemand war, dem die Kinder gehörten 
wie ihr. Wie ein Erwachen aus einem tiefen, köſtlichen 
Traum war das heute, und ſie zitterte nun, daß die liebe 
Sorge, die der Verluſt des Geldes in ihr Leben gebracht 
hatte, jetzt wieder verſchwinden würde. „Bleib nur 
noch,“ ſagte ſie, der Tür zugehend, hinter der die Kinder 
lachten und ſchwatzten. „Es iſt ja noch hell, kaum ſieben 
Uhr vorbei.“ | 

Sie trat in das Schlafzimmer, zog die Tür hinter 
ſich zu und brach plötzlich in Tränen aus. 

„Wie ihr mich geängſtigt habt!“ ſchluchzte ſie, vor 
den Kleinen niederknieend. 

Aber die Kinder ſchienen heute nicht viel Zeit zu 
haben. Sie drängten von der Mutter fort und blickten 
neugierig nach der Tür. 

„Iſt Papa noch da?“ 


142 Liebe Sorgen. 2 


„Ja.“ 

„Und bleibt er nun wieder immer hier?“ 

„Nein,“ ſagten Sigrid und das Fräulein wie aus 
einem Munde. 

And die Blicke der beiden Frauen begegneten ſich, 
als wiche eine der anderen aus. 

„Nein, nein — wirklich nicht,“ ſagte Sigrid hart, 
indem ſie aufſtand und ſich vor dem Spiegel das Haar 
glatt ſtrich. „Höchſtens eine Stunde zum Abendbrot. 
Sie können uns etwas aufdecken, Fräulein, vielleicht 
Aufſchnitt holen und — ach, holen . was Sie wollen, 
jedenfalls auch Vier.“ 

Das Fräulein ging, und Sigrid ſah plötzlich, daß ſie 
allein im Zimmer war. Mit ſchleppenden Schritten 
ging ſie in das Wohnzimmer zurück und ſah dort die 
Kinder bei Richard ſtehen. 

Er fragte allerlei, und die Kleinen antworteten, 
begannen von ihren Spielen, von der Schule und ihren 
Kameraden zu erzählen. 

Er hörte aufmerkſam zu, und einmal hob er die 
Hand und ſtrich dem Knaben damit über den lockigen 
Kopf. 

Dabei begegnete er dem erſtaunten Frauenblick, 
und ſofort kam wieder das alte, ſpöttiſche Lächeln um 
feine Lippen. „Ich fange an, Geſchmack an der Fami— 
lienſimpelei in deinen drei Stuben zu finden. Man hat 
ſo ungefähr das Gefühl, als ſei man hier verpflichtet, 
leiſer zu ſprechen und langfamer zu denken. Weniger 
jedenfalls. Man vergißt beinahe ſein Elend dabei und 
die Sucht nach Rache. Haſt du übrigens was von 
Rödels Frau oder ihrem Vater gehört? Ich erhalte 
alle Antworten auf meine Briefe nur noch durch den 
Rechtsanwalt, der natürlich ein Wiederbekommen un— 
ſeres Geldes für ſo gut wie ausſichtslos hält.“ 


0 Novelle von Elſe Krafft. 143 


„Schreibe doch nicht mehr an die arme Frau,“ 
ſagte Sigrid. „Sie quält ſich ſchon genug in dem Ge— 
danken, an uns ſo große Gläubiger zu haben. Sie war 
einmal hier und ſieht furchtbar aus. Ich glaube, fie 
iſt ſchwer leidend, denn der Arzt will ſie durchaus nach 
Davos ſchicken. Die Schickſalsſchläge waren zu ſchwer 
für ihren zarten Körper.“ 

„Kunſtſtück!“ ſagte er. „Mit fremdem Geld läßt 
ſich freilich gut leben —“ 

Er brach ab, als er in das verſtörte Frauenantlitz 
ſah. Er zog plötzlich beide Kinder ganz dicht zu ſich 
heran. „Warum ſeid ihr früher nie ſo nett zu mir 
geweſen?“ fragte er. 

Die Kinder blickten ſich gegenſeitig an und wur- 
den rot. 

„Ach, du warſt ja nie da,“ ſagte der Junge dann. 
„Kannſt du gut rechnen, Papa? Soll ich dir mein 
Heft holen?“ 

Richard nickte. 

Der Knabe lief und kam ſehr ſchnell mit einem 
blauen Schulheft zurück, das er aufblätterte und dem 
Vater zeigte. Er war ungewohnt blaß heute, der kleine 
Kerl, und wie er ſo ſein Geſicht gegen das des Mannes 
hielt, fiel Sigrid zum erſten Male die große Ahnlichkeit 
zwiſchen Vater und Sohn auf. 

„Frierſt du?“ fragte Richard, als ſich der Kinder- 
körper vor ihm ein paarmal ſchüttelte. 

„Nein,“ ſagte das Kind, „mir iſt jetzt ſchon wieder 
ganz warm, Papa.“ 

Sigrid ſtand dabei und dachte: „Es iſt ja nicht aus- 
zudenken, wie das nun werden ſoll zwiſchen ihm und 
mir. Wenn er die Kinder ſo zu ſich heranzieht, ſo tut 
er das ja nur aus Berechnung oder Laune. Ich 
bringe die Kinder ins Bett, damit er endlich geht.“ 


144 Liebe Sorgen. 2 


Sie tat es aber doch nicht. Sie deckte ſogar den 
Tiſch mit auf, aß und trank mit Richard und den Kin— 
dern und ſaß wie geiſtesabweſend dabei, als die drei 
miteinander zu lachen und zu ſcherzen begannen. 
Erſt als das Fräulein die Kinder holte, um ſie ins Bett 
zu bringen, atmete ſie wie erlöſt auf, weil Richard 
gleichzeitig aufſtand und zu Hut und Reiſetaſche griff. 

In dem kleinen, dunklen Korridor blieb er noch 
einmal vor ihr ſtehen, und feine Stimme war eigentüm- 
lich verändert, als er ſagte: „Wir haben nun doch das 
Wichtigſte vergeſſen, Sigrid. Wie iſt denn nun das 
mit dir und mir? Wir müſſen doch die Sache beſprechen. 
Ich habe wahrhaftig in Gegenwart der Kinder das 
ganze Elend vergeſſen. Du kannſt doch auf die Dauer 
nicht hier wohnen bleiben? Es muß doch wieder 
bergauf gehen. Ich werde jedenfalls morgen noch 
einmal wiederkommen, wenn dir das recht iſt, und —“ 

Sie unterbrach ihn haſtig. „Vitte nicht morgen, 
am Sonnabend iſt immer ſo viel zu tun.“ 

„Alſo dann übermorgen,“ ſagte er ruhig, „das wäre 
am Sonntag.“ 

„Ja — vielleicht am Vormittag, Richard.“ 

Er nickte. „Wie du befiehlſt! Ich komme zur 
offiziellen Beſuchszeit. Habe keine Angſt, Sigrid!“ 

Erſt als fie feine haſtigen Schritte auf der Treppe 
hörte, fiel ihr ein, daß er ja Geld von ihr haben wollte. 
Sie hatte es ganz in der furchtbaren Aufregung, in 
der ſie ſich befand, vergeſſen. Und er anſcheinend auch. 
Ob ſie ihn zurückrief, oder ob er nicht ſelbſt umkehren 
würde? N 

Sfe lauſchte zitternd, mit angehaltenem Atem. 

Nein, die Haustür fiel ins Schloß. Er war fort. 

Sigrids Hände hoben ſich und ſtreiften die Sicher- 
heitskette vor den Eingang zur Wohnung, dann ging 


2 Novelle von Elſe Krafft. 145 


ſie in das Speiſezimmer zurück. Nur jetzt keinen Blick, 
kein Wort mit dem Fräulein wechſeln, die ſo merk- 
würdig neugierige Augen hatte! Allein mit ſich fertig 
werden, niederkämpfen das Gefühl der Angſt vor etwas 
Anerklärlichem und Großem, das ihr ſtilles Leben be— 
drohte! Jedes Geräuſch im Kinderzimmer und der 
Küche tat ihr körperlich weh, ſie hätte jetzt wer weiß 
was darum gegeben, wenn niemand außer den Kindern in 
der Wohnung wäre, der um ihr früheres Leben wußte. 

Obwohl Richard nicht geraucht hatte, war das 
ganze Zimmer von feinem Zigarettenduft erfüllt. 

Sigrid riß beide Flügel der Loggiatür auf. Sie 
glaubte erſticken zu müſſen in dieſer altbekannten 
Atmoſphäre. 

Alſo rauchte Richard immer noch die gewohnte 
teure Marke, trotzdem er fertig war mit ſeinem Gelde — 
trotzdem! 

Sigrid ſog mit tiefen Atemzügen die friſche Luft 
ein, die dem Gewitter gefolgt war nach der großen 
Hitze des Tages. 

Konnte eine Menſchenſeele einſamer ſein wie die ihre? 


Als Richard Hallinger am Sonntag zur Beſuchs- 
ſtunde die Glocke vor der Tür ſeiner Frau ziehen 
wollte, war ein weißer Zettel darüber befeſtigt, auf 
dem mit Blei geſchrieben ſtand: „Bitte klopfen!“ 

Er las, ſchüttelte den Kopf, und eine unbeſtimmte 
Angſt war plötzlich da, die einen Augenblick ſeine Hand 
lähmte. 

„Sigrid,“ dachte er, „iſt krank. Sie hat ſich zuviel 
zugemutet in dieſem erbärmlichen Leben, ihre feine 
Seele iſt dieſes kleinbürgerliche Milieu nicht gewöhnt, 
ihr zarter Körper braucht mehr wie nur das bloße 
Sattwerden.“ 

1914. X. 10 


146 Liebe Sorgen. 2 


Er klopfte lauter, als er beabſichtigt, weil er ſeine 
Finger nicht ganz in der Gewalt hatte, weil das Blut 
unruhig durch ſeine Adern floß. 

Wenn ſie ſtürbe, wenn ſie plötzlich nicht mehr da 
wäre auf der Welt, wenn er ohne Scheidung frei 
würde? Die Kinder freilich blieben ihm dann allein, 
er müßte für ſie ſorgen, und ſie würden vielleicht alle 
Tage jo. bei ihm ſitzen wie vorgeſtern in jener jelt- 
ſamen Abendſtunde, als er beinahe vergeſſen hatte, 
daß er nichts mehr beſaß. Nur die anklagenden Frauen- 
augen würden dann nicht mehr ſein, der ſtolze Mund, 
den er einſt ſo oft geküßt — 

Richard Hallinger klopfte zum zweiten Male, ohne 
daß er es gewollt hatte. 

Dieſes kurze, harte Klopfen glich beinahe einer 
Flucht. vor den Gedanken, die in ihm aufgetaucht 
waren, und er ſtarrte Sigrid, die ihm die Tür öffnete, 
ſo erleichtert und befreit in das ſchöne Geſicht, daß es 
ſich jäh mit einer dunklen Röte übergoß. 

„Was iſt denn?“ fragte er kurz und knapp, indem 
ſich N . gegen das Stück e über der Glocke 
9 

„Heino,“ ſagte Sigrid flüſternd. »Er 9 119 
entzündung, ſagt der Arzt.“ 

Sie blieb unſchlüſſig ſtehen und wußte offenbar 
1 ob, ſie ihn hereinlaſſen ſollte. 

Aber er wartete nicht auf ihre Aufforderung, näher 
zu: treten. Er ging an ihr vorüber, öffnete die Tür, 
von der er wußte, daß ſie in Sigrids Schlafzimmer 
führte, und ſtand vor dem Bett ſeines kranken Jungen. 

Trotzdem das Kind augenſcheinlich hohes Fieber 
hatte, erkannte es den Vater ſofort. Der trockene 
Mund lächelte, die kleine, heiße Hand hob ſich. 

Richard griff ſofort zu. Ein Kratzen kam in 


D Novelle von Elſe Krafft. 147 


ſeine Kehle, ein ganz ungewohntes, ſchmerzhaftes 
Schlucken. 

Sigrid, die jetzt auch vor dem Bettchen ſtand, ſah 
in das verzerrte Geſicht, und ihre Finger krampften 
ſich feſt um das weiße Gitter. 

„Er hat es wohl ſchon lange mit ſich herumgetragen, 
und am Freitag, als er fo naß bei dem Gewitter ge- 
worden war, iſt es dann in der Nacht zum Ausbruch 
gekommen,“ ſagte ſie. 

Richard nickte und hielt die kleine Hand in ſeiner 
großen, als hielte er ſelber ſich daran feſt. „Er iſt 
furchtbar heiß, der kleine Kerl,“ brachte er mühſam 
hervor. 

„Wir müſſen das Fieber zu dämpfen verſuchen, 
alle Stunden naſſe Tücher und einmal am Tage ein 
kühles Bad. Die Kriſis wird vor acht Tagen nicht ſein, 
meint der Arzt.“ 

„So,“ ſagte Richard und merkte, daß er noch den 
Hut auf dem Kopfe hatte. „Verzeih, ich hatte das 
wahrhaftig vergeſſen.“ 

Und während Sigrid die Lippen ſtumm aufein- 
anderpreßte, weil fie ihm nichts zu ſagen wußte, ſah ſie 
zu, wie er Hut und Handſchuhe ablegte, ſich einen 
Stuhl an das Bettchen ſchob und da niederſetzte. 

Dann wurde er plötzlich geſprächig, erzählte und 
lachte mit dem Jungen, daß der kleine Kranke weiter 
nichts wie zuzuhören brauchte. Und das Geſichtchen 
wurde immer heller dabei, und die heiße Kinderhand 
ſuchte immer öfter die große und kühle. 

Zum erſten Male konnte ſie ihn betrachten, ohne 
daß er es bemerkte. Sie erſchrak vor dieſen hageren, 
eingefallenen Wangen, den tiefliegenden Augen, dem 
nervöſen Mund. Und ſie mußte daran denken, daß 
ihn der Verluſt des Vermögens viel härter getroffen 


148 Liebe Sorgen. D 


hatte als ſie ſelbſt, daß es vielleicht gar nicht mehr lange 
dauern könne, bis er in dem Kampf mit des Lebens 
Sorgen unterlag und abgrundtief hinabgeſchleudert 
würde in ſein Elend, deſſen er nicht Herr werden 
konnte. 

Sie ging lautlos aus dem Zimmer in die Küche 
hinaus, als ſie zu dieſer Einſicht gekommen war. 

Dort ſtand das Fräulein am Herd, während Ilſe 
an allerlei Gemüſeabfällen herumſchnipſelte. 

„Der Herr iſt da,“ ſagte Sigrid flüſternd. 

„Schon wieder?“ ſagte das Fräulein erſchrocken. 

„Ja,“ antwortete Sigrid, indem fie Ilſe feſthielt, 
die ſofort zum Papa laufen wollte. 

Die beiden Frauen ſahen ſich an, beide mit rotem 
Kopf und ratloſen Blicken. 

„Das Eſſen iſt gleich fertig,“ ſeufzte das Fräulein 
ſchließlich. „Was machen wir nun?“ 

„Der Herr ißt natürlich mit.“ 

„Aber,“ meinte das Fräulein kleinlaut, „wenn es 
dann nur reicht!“ 

„Dann holen Sie noch etwas, ſolange die Geſchäfte 
noch offen ſind. Ich bleibe unterdeſſen hier in der 
Küche. Vielleicht bekommen Sie noch ein Schnitzel 
oder irgend etwas.“ 

Das junge Mädchen ſah beim Fortgehen erſtaunt 
in das erregte Frauenantlitz. — 

Richard und Sigrid aßen nicht viel an dieſem Tage. 
Und was fie miteinander ſprachen, galt nur dem kranken 
Knaben und der Sorge um die Krankheit. 

Als es Abend werden wollte und das Fieber ſtieg, 
hätte Sigrid beinahe vergeſſen, ihren Mann zu bitten, 
daß er gehen möge. Sie blickte ſtumm in das hagere 
Geſicht und dachte: „Es iſt ja ganz gleich, ob er geht 
oder bleibt,“ und ſie überlegte, daß es vielleicht ganz 


2 ö Novelle von Elſe Krafft. 149 


gut wäre, wenn ſie die Nacht nicht ſo allein mit dem 
fiebernden Knaben blieb. 

Aber Richard ſtand plötzlich auf und griff nach ſeinem 
Hut, als ob er es ſehr eilig hätte. „Ich komme morgen 
wieder,“ ſagte er nur. „Hab gut acht mit den Um- 
ſchlägen, Sigrid — hörſt du?“ 

Er flüſterte noch einmal mit dem Knaben, ſtrich dem 
kleinen Mädchen über das Haar und ging hinaus. 

Sigrid hörte ſeinen raſchen Schritt durch das ge— 
öffnete Fenſter auf dem Straßenpflaſter und dachte 
plötzlich wieder an das Geld, das ſie ihm noch immer 
nicht gegeben, und von dem er auch heute nichts ge- 
ſagt hatte. 

Er hatte den Kindern kleine Geſchenke mitgebracht, 
er hatte auch für morgen dem Jungen allerlei ver- 
ſprochen, was ihm Freude machte. Sigrid begriff 
nicht, womit er das alles bezahlte. Das Hotel, in dem 
er wohnte, war ſicher teuer. Ob er vielleicht wieder 
geſpielt hatte? 

Die junge Frau preßte in jäher Angſt die Finger 
vor die müden Augen. Und gleich hinterher durch- 
zuckte ſie ſchwer und heiß der Gedanke: „Was geht es 
dich an, was er tut und treibt; was kannſt du noch mit 
ſeinem Leben und Wollen gemeinſam haben?“ 

Aber fie kam doch nicht los von feinem hageren, 
zerwühlten Geſicht voll Not und Schwäche. 

Als der Arzt am Vormittag des nächſten Tages 
kam, folgte ihm Richard auf dem Fuße. Er war wieder 
mit Paketen beladen, ſah bleich und übernächtig aus 
und ſchüttelte dem kranken Jungen die Dede voller 
Spielſachen. 

Sigrid ſtellte die beiden Herren einander vor und 
wurde dunkelrot vor den erſtaunten Blicken des Arztes. 

„Da iſt wohl Ihr Herr Gemahl wegen der Krank- 


150 Liebe Sorgen. | 2 


heit des Kindes von ſeiner Reiſe zurückgekehrt?“ 
fragte er. 

„Ja,“ ſagte Sigrid ſchnell, indem ſie ſich über den 
heißen Kinderkörper beugte. „Iſt die Entzündung 
weiter vorgeſchritten, Herr Doktor?“ 

Der zuckte nur mit den Schultern. „Abwarten,“ 
ſagte er. „Das will alles feine Zeit haben. Über den 
Berg ſind wir jedenfalls noch lange nicht.“ 

Richard Hallinger ſtand dabei und ſagte nichts. 
Er hörte auf die Erklärungen des Arztes und geleitete 

ihn ſchließlich aus dem Zimmer. 
Als er wiederkam, beſchäftigte er ſich ſofort wieder 
mit dem Knaben und blickte nur einmal flüchtig in 
Sigrids Geſicht, als ſie dicht neben ihm den Umſchlag 
Heinos wechſelte. 

„Es iſt dir doch recht, wenn ich alle Tage komme?“ 
fragte er, als er die erregten Frauenaugen ſah. 

„Ja,“ ſagte Sigrid. „Aber was iſt denn das?“ 

Ihre Blicke ſtreiften allerlei Pakete, die Richard 
geöffnet hatte: Delikateſſen, ein Fläſchchen alter Wein 
und gutes und teures Obſt. 

„Das iſt für dich,“ ſagte er raſch, indem ein e 
Lächeln um ſeinen Mund ging. 

„Für — mich?“ | 

„Ja,“ flüſterte er verlegen. „Ich kann doch unmög- 
lich verlangen, daß du mich hier für dein Geld bewirteſt, 
daß ich in meiner eigenen Familie ſozuſagen nur zu 
Gaſt bin —“ Und als fie ihm keine Antwort gab, 
ſondern wie in ſtummer Abwehr den Kopf ſchüttelte, 
ſetzte er hinzu: „Ich muß dir dabei noch erklären, daß 
ich ſo eine Art Stellung gefunden und daraufhin ſofort 
von Willbrich Vorſchuß erhalten habe. Flüchtig kennſt 
du den Mann ja auch.“ 

„Ja,“ ſagte Sigrid immer. erregter. Willbrichs 


2 | Novelle von Elfe Krafft. 151 


Weinſtuben kannte ja jedermann in Berlin und ebenſo 
ihren Beſitzer, den kleinen, komiſchen, dicken Mann, 
der mit feinem ſich immer gleich bleibenden humor- 
vollen Lächeln ſeine Gäſte begrüßte und im Verlauf 
von wenigen Fahren fein Etabliſſement derartig ver- 
größert hatte, daß die nächſten Häuſer feiner Nach- 
barſchaft dazu niedergeriſſen werden mußten. 

Ein Schütteln ging durch Sigrid, als ſie ſich dieſen 
Mann täglich mit Richard zuſammen dachte als feinen 
Herrn. | 

Er mußte wohl merken, was in ihr vorging, denn 
ſein Lächeln wich plötzlich einem gequälten Zucken der 
Lippen. „Ich wußte mir nicht anders zu helfen, 
Sigrid, als ich ſah, wie ihr hier lebt, wie du hier ſorgſt, 
und was aus dir geworden iſt. Ich glaube, du mußt 
jede Mark erſt umdrehen, ehe du ſie ausgibſt, und wie 
lange ſoll dein Geld überhaupt reichen? Wir ſind doch 
noch nicht geſchieden, wir gehören doch noch zuſammen, 
wenn man es richtig bedenkt, und — nein, du brauchſt 
nicht gleich ſo weit von mir fortzugehen, ich faſſe dich 
nicht an, Sigrid, obwohl mich das Elend, in dem man 
jetzt lebt, eigentlich umkrempeln möchte in allem —“ 

Er ſchwieg, lachte kurz auf, und da er, wie er er- 
wartete, keine Antwort bekam, ſprach er, mehr zu 
dem Jungen gewendet, weiter. 

„Wir haben Willbrich immer für einen Plebejer ge- 
halten. Lieber Himmel, was legt uns das gute Leben 
doch oft für falſche Brillen vor die Augen! Ich kann 
dir nur ſagen, die ganze Art dieſes Mannes, mir das 
Peinliche meiner Lage zu erleichtern, war eines 
wahren Gentlemans würdig. Wenn man bedenkt, 
wie oft man da Nächte durch mit Rödel das Geld für 
Sekt hingeworfen hat, wie man gewirtſchaftet und 
gelebt hat und nun wie ein Oberkellner Nacht für 


152 Liebe Sorgen. 1 


Nacht in den dunſtigen Räumen ſteht, bucht und 
notiert bis zum frühen Morgen, die Angeſtellten zu- 
rechtweiſt und überwacht, man könnte oft dazwiſchen⸗ 
hauen und — verzeih, Sigrid, aber es kommt bloß 
ſo manchmal über mich, und es iſt dann wieder alles 
gut, wenn es heraus iſt. Im Grunde genommen iſt 
es ja ein großes Glück, daß ich ſo ſchnell hier in Berlin 
etwas gefunden habe. Die erſten Monate zweihundert 
Mark, ſpäter natürlich mehr, ſagt Willbrich —“ 

„Zweihundert Mark!“ So viel hatte früher ihr 
einfachſtes Kleid gekoſtet, mußte Sigrid ſchmerzhaft 
denken. Für zweihundert Mark im Monat ſtand 
Richard dreißig Nächte in einem Weinreſtaurant und 
arbeitete. An einem Abend hatte er das Geld oft 
genug ausgegeben. 

„Und wann ſchläfſt du?“ fragte ſie beſorgt, als ſie 
ſeine überwachten Augen ſah. 

„Das kommt darauf an, wann ich bei Willbrich 
fertig werde. Jetzt natürlich weniger, wo ich des 
Morgens herkomme. — Ach, laß das doch, die Haupt- 
ſache iſt für uns, daß der Junge wieder geſund wird. 
Daß ich in den Nächten dir nicht die Wache abnehmen 
kann, iſt mir ein quälender Gedanke, aber mit dem 
Verdienen iſt mir auch ſo ein neues, beruhigendes 
Gefühl in mein verpfuſchtes Leben hineingekommen, 
daß ich es beinahe lieben lerne. — Lach doch mal, 
Junge, man hat ja früher gar nicht gewußt, was man 
an euch hat!“ 

Er hatte ſich tief über das Gitterbett geneigt und 
den Kopf gegen die heiße Kinderwange gedrückt. 

„Du wirſt mir doch wieder geſund, du tuſt mir doch 
den Gefallen, Junge!“ flüſterte er haltlos. „Man 
könnte ſich vielleicht ſein Leben dann wieder wertvoll 
machen, ſeinen Mut heben —“ 


0 Novelle von Elſe Krafft. 153 


Sigrid war auf derſelben Stelle ſtehen geblieben, 
wo ſie vorhin noch abwehrend gedacht: „Ich will 
nichts von ihm,“ und nun hatte ſie Mühe, den Aufruhr 
ihrer Seele vor ihm zu verbergen. Sie nahm ſchließlich 
die kleine Ilſe, die ſehnſüchtig zwiſchen Vater und Mutter 
herumſchlich, in die Arme und weinte lautlos in die 
blonden Haare hinein. Sie wußte nicht mehr, was ſie 
ſich wünſchte, ſie wollte auch nicht ſehen, was da gegen 
ihr Herz ankämpfte. ö 

Der Zuſtand des kleinen Kranken wurde immer 
beſorgniserregender, das Fieber nahm zu und blieb 
auf gefährlicher Höhe, die Kräfte des Knaben verfielen 
zuſehends. 

Als die Nacht nach dem neunten Krankheitstage 
kam, dachte Richard nicht mehr ans Fortgehen. Er 
ſaß neben Sigrid am Bett des bewußtloſen Kindes, 
zählte die Atemzüge, erneuerte die Umſchläge und 
bereitete ſelbſt alle Stunden das kühle Bad, das noch 
allein ein Eindämmen des Fiebers ermöglichte. 

Sigrid, die in den letzten Tagen und Nächten nicht 
mehr aus den Kleidern gekommen war, ſaß völlig 
gebrochen dabei und blickte auf den kleinen Körper, 
den Richard nicht mehr aus ſeinen Armen ließ. Und 
einmal, mitten in der Nacht, ſchrie ſie auf und riß 
die kleine Hand hoch, die bewegungslos auf der 
Decke lag. 

Richard ſchob ſie behutſam zurück und deutete auf 
ein paar winzige Tröpfchen, die ſich nach dem letzten 
Bade über der Stirn des Knaben gebildet hatten. 
„Still, Sigrid! Ich glaube, wir haben unſeren Jungen 
durch,“ flüſterte er mit verſagender Stimme. 

Sie blickte regungslos auf die kleine Stirn. Sie 
hielt den Atem an dabei und ſah es nim auch, wie ſich 


154 Liebe Sorgen. 2 


die blonden Haare feuchteten, wie die keuchenden 
Atemzüge ruhiger und gleichmäßiger wurden. 

„Er ſchwitzt,“ ſagte Richard noch einmal, indem ſeine 
ſteif gewordenen Arme den Jungen in die Kiſſen 
gleiten ließen. „Die Kriſis iſt vorüber, Sigrid!“ 

Sie hob den Kopf, hob die Arme, und Richard 
griff zu, ohne daß er wußte, ob ſie ihn oder er ſie in 
heißer Sehnſucht geſucht. Aber ſeine Lippen ließen 
den Frauenmund ſobald nicht wieder, der ſo feſt und 
ſüß auf feinem lag. 

Und alle Not und Enttäuſchung ihres und feines 
Lebens ſchmolzen zu einem einzigen Gefühl des 
Zueinandergehörens zuſammen, und aus der Sorge 
umeinander erwachte die einzig wahre, gute und große, 
pflichtfreudige Liebe zwiſchen Mann und Weib. 


D 
* 


Menſchliche 
Ungeheuer in Sage und Geſchichte. 
von Wilhelm Sifcher. 


mit s Bildern. Y (Nachödrud verboten.) 


Dos „ſchlechthin Fremdartige, das in der Tat Un- 
begreifliche“, das nach Hegel dem Tiere inne- 
wohnt, hat in der Urzeit den Menſchen zu grauenhaften 
Vorſtellungen über das Fremdartige und Unbegreifliche 
im Tiere und ſchließlich dahin gebracht, hier das Walten 
einer unheimlichen, ehrfurchtgebietenden Gottheit zu 
ahnen. Dieſer „Empfindung und Anſchauung“ ent- 
ſprang einerſeits die ſelbſt bei hochentwickelten Kultur- 
völkern feſtzuſtellende Vergöttlichung gewiſſer Tiere 
und anderſeits deren Verzerrung ins Monſtröſe und 
Schreckenerregende. 

Die griechiſch- römiſche Mythologie kennt den Hirten- 
gott Pan, Faune, Satyrn und Silene, Tritone und 
Sirenen, Zentauren und Delphine. Aus dem Blute der 
ſchlangenhaarigen Meduſa entſprang das Flügelpferd 
Pegaſus. Und Herkules tötete den nemeiſchen Löwen, 
die lernäifche Hydra, den erymanthiſchen Eber, die 
Stymphaliden — mächtige Raubvögel mit ehernen 
Federn, die ſie gleich Pfeilen abſchießen konnten — 
fing die menſchenfreſſenden Stuten des Diomedes und 
erſchlug den König Gerypones, ein menſchliches Un— 
geheuer, das drei Köpfe, ſechs Hände und ſechs Füße 


156 Menſchliche Ungeheuer in Sage und Geſchichte. 2 


hatte, ſowie den am Atlas die Gärten der Heſperiden 
hütenden hundertköpfigen Drachen. Der babyloniſche 
Gott Oanes war halb Menſch, halb Fiſch und lebte im 
Roten Meer. Die aus dem Mythus der alten Agypter 
und Griechen bekannten Sphinxe hatten den Leib 
eines Löwen und den Kopf eines Weibes. 

Die Midgardſchlange der nordiſchen Mythologie iſt 
ſo groß, daß ſie die Erde umſchlingt; Fenris iſt das Un- 
geheuer, das, wenn es den Rachen aufreißt, den Rand 
des Himmels und den Abgrund der Unterwelt berührt. 
Fafner, der vatermörderiſche Sohn Hreidmars, behütet 
in Geſtalt eines ſcheußlichen Drachen den Schatz und 
den verderbenbringenden Ning der Nibelungen. Freyr 
reitet auf einem goldenen Eber, Odin auf dem acht- 
füßigen Roß Sleipner. 

Der indiſche Gott Wiſchnu erſchien zuerſt in Fiſch⸗ 
geſtalt, ſpäter als Schildkröte, Eber, Menſchlöwe und 
zuletzt als Gottmenſch Kriſchna, der den böſen Drachen 
Kalinak tötet; Gott Ganeſa hat einen Elefantenrüſſel; 
Darma, der Gott der Tugend, wird als Stier gedacht, 
der dem furchtbaren Zerſtörer Schiwa als Reittier 
dient. 

Überall alſo die Vergöttlichung des Tieres und 
überall neben der zarten Poeſie des Märchens die zer- 
malmende Wucht der Menſchheitstragödie als Beweis 
dafür, daß im religiöſen Dualismus der Naturvölker 
der Dienſt des böſen Weſens, das man ſich meiſt in 
ungeheuerlicher Tiergeſtalt dachte, eifriger betrieben 
wurde als des guten, da vom guten Gotte nichts, vom 
böſen aber alles zu fürchten war. Es iſt kein Zufall, 
daß die Entartung des mittelalterlichen Dämonenglau- 
bens die dichteriſche, ſchöpferiſche Kraft der Phantaſie 
der Menge, die, vom ewigen Geheimnis des Werdens 
und Sterbens umgeben, in völliger Unkenntnis der 


Oo Von Wilhelm Fiſcher. 157 


Dinge in Natur und Weltall mehr auf das Ungeheuer- 
liche, Grauſenhafte reagierte, Himmel und Erde mit 
allerlei, in irgend einer Form, auch im Weſen der Ver- 
nichtung, gott- und damit menſchenähnlichen Un- 
geheuern bevölkerte. Und von noch größeren Un- 
geheuern, von Titanen und weltenumklammernden 
Schlangen, dachte man ſich die Abſtammung der Götter 
ſelbſt, die die Ungetüme der Urwelt ſich dienſtbar 
machten, ſei es als Wächter der Unterwelt oder ge- 
heimnisvoller Kräfte, wie ſie in dem finſteren Schwei— 
gen des undurchdringlichen Urwaldes und der himmel- 
ſtürmenden Höhe der gletſchergekrönten Alpenwelt dem 
Naturmenſchen zu ſchlummern ſchienen. 

Als der Götterhimmel des weltbeherrſchenden Roms 
einſtürzte, da begann auch die Götterdämmerung über 
Asgard, der ſtolzen Burg der nordiſchen Götter, herein— 
zubrechen. Aus Pan, Zeus, Diana, Venus, aus Wotan 
und ſeinen vornehmſten Göttern wurden Fürſten der 
Finſternis; Satan, der Menſchenverführer, erhielt die 
Attribute Pans, Hörner, Huf und Bockshaut, und das 
Recht, die Menſchen in Geſtalt eines monſtröſen Bodes 
oder ſonſtiger Ungeheuer heimzuſuchen. Der Götter— 
könig Wotan wurde zum wilden Jäger. Ohne Kopf 
auf dreibeinigen Pferden, begleitet von dreibeinigen 
Hunden, durchzog er mit ſeinem ebenfalls kopfloſen 
Gefolge ſein Gebiet nächtlicherweile und verbreitete 
Grauen und Entſetzen. Aus den götterähnlichen 
Zwergen der Edda, den neidiſchen Nibelungen der Sage, 
den Nickert und Neck, wurden kleine menſchliche Un- 
geheuer, die beinahe ſo groß als dick ſind, mit gräßlichem 
Waſſerkopf, roten Haaren, roten Augen und mit einer 
Kröte als Zunge, die böſen Zwerge im Märchen, die 
ſich in allerlei Ungeheuer verwandeln konnten. Den 
finſteren Urwald, die unheimlichen Gebirgstäler, die 


158 menſchliche Ungeheuer in Sage und Geſchichte. 2 


graufigen Höhlen und Klüfte der Alpen, die geheimnis- 
volle Tiefe des Meeres bevölkerte Mythus, Sage und 
das Grauen der Menſchen mit Dämonen und Un- 
geheuern aller Art. 

Der Glaube an die Exiſtenz der oben geſchilderten, 
meiſt mit dem Rüſtzeug phantaſtiſcher, ſchrecken- 
erregender Tiere 3 Ungeheuer Bene ſo feſt 


1 


ne Q: 


. Bel Gogo be een 
een. e zu Tu * en za nn 


im Volke, daß ſogar die ebe des ſpäten Mittel- 
alters nicht frei von ihm waren. Bernhard Waldſchmidt 
ſchrieb 1660 und J. Licetus 1665 ein großes Buch über 
menſchlich-tieriſche Monſtroſitäten. Desſelben Glaubens 
waren auch die meiſten anderen mittelalterlichen Ge- 
lehrten und Schriftſteller. Athanaſius Kircher (1601 bis 
1680) verſichert, einen richtigen Meerteufel geſehen und 
gehört zu haben. Th. Bartholin will ſogar eigenhändig 
eine ſehr ſchöne Sirene erwürgt und abgehäutet haben. 
Der Entdeckungsreiſende Monconys beteuert in feiner 
„Reife in Afrika“, Männer und Weiber geſehen zu haben, 


0 Don Wilhelm Fiſcher. 159 


die halbe Fiſche waren. Kapitän Smith ſah 1614 
bei Neu-England eine „Sirene von großer Schönheit“. 


een Monflre; een e ee, ee pa 
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n. et seras bientoe a Fu, > EL RT 


(2 Monstre gſt dim nanırel dom et wauzable gu parle un certuin la Mage que 
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lan ne comprend gene un lu n aprır a f le ne de la Crowx & lon d consult 
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Bat . Gee 3 zul erbt niht prendantg. mis. e st on trau. 
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— ee LE — ER — 3 nn 


Er will außerdem mit zwei Mädchen geſprochen haben, 
deren Körper von einem einzigen Beine getragen wurde, 
eine Mißbildung, die, wie wir ſehen werden, ziemlich oft 


160 Menſchliche Ungeheuer in Sage und Gefcichte. 1 


vorkommt. Auch will er rieſengroße Menſchen ohne Kopf 
angeredet haben, deren Auge mitten auf der Bruſt ſaß. 

Aber mit Satyrn, Sirenen, Tritonen und anderen 
Seeungetümen iſt das Arſenal der ganz im Banne des 
Volksaberglaubens ſtehenden mittelalterlichen Natur- 
wiſſenſchaft nicht erſchöpft. Die beigefügten Vilder, 
deren Verbreitung doch nur mit Billigung der dama— 
ligen Gelehrtenwelt möglich war, beweiſen das. 

Das vom Fahre 1598 (Bild Seite 158) zeigt ein 
Küken, das ein „Menſchenhandlin auff dem Nüggen 
gehabt“ und in Tübingen „den 14 Aprilis“ ausge- 
ſchlüpft fein ſoll. Der Schnabelmenſch, den ein Schiffs- 
kapitän des Marſchalls de la Milleraye 1600 nach 
Frankreich brachte (Bild Seite 159), war längere Zeit 
in Nantes ausgeſtellt. Die Überfchrift unſeres übrigens 
ſehr ſeltenen Stiches lautet in der damaligen deutſchen 
Überfegung: „Oiß iſt die geſtalt eines wunderbarlichen 
Mißgeburths, gefunden in der Inſel Madagascar in 
Africa durch einen Schiff- Capitain des Herrn Feldmar- 
ſchall von Milleraye iſt gegenwärtig zu Nantes in der 
Bretagny, wird aber bald zu Paris zu ſehen ſein.“ 
Die Hand dieſes Ungetüms zählte von der Wurzel bis 
zur Spitze des Mittelfingers 29 Zentimeter, die Breite 
18 Zentimeter. 

In der Ankündigung wird weiter verſichert: „Diß 
Wunder Wißgeburth iſt von Natur ſanfftmütig, vnd 
laſſet mit ihm handlen, Redet eine beſondere Sprach, 
die man nit verſtehet, man hats gelehrt das Zeichen 
des heil. Creutz machen. Rath hatt man auch gehalten 
mit Doctoren in der Theology und Medicin, umb zu 
wiſſen obs getaufft konte werden. Dieſe haben an- 
geordnet, daß man es innerhalb vier Monats zeitt ſolle 
unterweiſſen. Wan in der Zeitt bey ihm vernunfft und 
veritandt vermerckt wird, das man es alsdann tauffen 


2 Von Wilhelm Fiſcher. 161 


könne.“ Erklärlicherweiſe kam das Ungeheuer nicht aus 


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getauft, da ganze Sache als Schwindel 
erwies. 

Anſer obenſtehendes Bild ſtellt ein werwolfähnliches 
Ungetüm dar, das, wie die dem eigenartigen Stich 
beigegebene Erklärung beſagt, „auß dem Caftilliani- 
ſchen gebürg herausgeſprungen“, wo „es nicht wenig 

1914. X. 11 


162 Nenſchliche Ungeheuer in Sage und Gefhidte.e. D 
Menſchen und Vieh ſelbigen landts verſchlungen und 
aufgefreſſen hat, wie dann auch, bey deſſen Ertödtung 
viel der hierzun Beſtellten übel ſein beſchädigt worden. 


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75 


n · underburlir meer wünderiim dem 


ın dem Meer 


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moi h. & If difes Erfhöcklichewnd jehr 
ınd Könsgreuh Chin durch dit fiber 
Jo als damit allem f leis. durch 


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8 Hi N 5 — 2 2 4 — = 8 
1 Man 8 228 
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Gleicht vornen,“ heißt es dann weiter, „einem Crocodil, 
von hinten einem wilden Mann, ſo vier Arme, unten 
einem Vieh gleich, vom Kopf bis (zum) halben Leib 
ſchuppicht, in den Seiten ſein dieſe Buchſtaben ge— 
ſtanden A ZSB. Zu End des Nüggens, gegen den 


2 Von Wilhelm Fiſcher. 163 


Schweiff, ſtund ein Komet, an den vorderen Pfatten 
Klauen, ſehr ſcharfe Zähn, war 30 Schuh lang und 


164 Menſchliche Ungeheuer in Sage und Geſchichte. ci 


8 hoch, ſehr ſchnellen ungeſtümen Lauffs, wie auch er- 
ſchröcklicher Stärke, hat bey ſeiner Ausrottung in alt 
Caſtillien ſehr viel Bluet von ſich ergoſſen, geſchehen 
im Fahr Chriſti 1665.“ Dieſes Ungeheuer gehört in 
die Kategorie der im 16. und 17. Jahrhundert häufig 
und zwar höchſt abenteuerlich, halb als N halb 
als Tier dargeſtellten Menſchenfreſſer. 

Ausnehmend phantaftifch iſt das neue, Bone Kriegs- 
nöte verkündende Meerungeheuer auf Seite 162). 
Der außerordentlich intereſſante Augsburger Stich hat 
folgende erklärende Inſchrift: „Anno 1664 iſt diſes er- 
ſchröckliche und ſehr wunderbarliche Meerwunder, in dem 
Königreich Ciucanghe, gränzet an die Provintz und 
Königreich China durch die Fiſcher in dem Meerhafen, 
aldort in Zuſchawen viller tauſent menſchen gefangen 
worden, ſo alsdann mit allem Fleiß durch gemelte 
Inwohner abgeriſſen vnd anhero (wohl nach Europa?) 
überſandt worden.“ Nachdem darauf hingewieſen wird, 
daß der Himmel durch beſondere Zeichen, „Influenzen“ 
und „Monſtra“, „ſo in dieſer Figur zu ſehen“, den Krieg 
verkündet, heißt es dann weiter: „Dieſer Fiſch draget 
im Maul ein Kreuz, geſchuppet am Hals, auf dem 
rucken ein ſtuckh (Kanone), vnd auf der ſeitten ein 
ſchwerdt, vnd darunter drey Rohr, oder geſchoß, bei dem 
hals zwey Standarten in der mitten durch ein helle— 
bartten; mitten im bauch einen Todten Kopf, Zwey 
adlers füeß mit Federn, ein Menſchen Kopf mit einer 
Cron, Zwey groſſe floſſen, was diß meer wunder mag 
bedeiten iſt allein Gott bekandt, uns menſchen nicht.“ 

Das einer Satire ähnelnde Bild Seite 163, Schwein 
mit Türkenkopf, hat folgende Inſchrift: „Diſe abſcheu— 
liche Mißgeburt, ſo ein Schwein inn Schonen, einhalbe 
Meil von Malmo, geworffen, iſt wie ein Schwein, der 
kopff wie ein Menſch, auff welchem ein Türggiſcher 


2 | Von Wilhelm Fiſcher. 165 


7... RIRTELERENITE 


— 


ets und drincks, murmelt un 
| | „ Abfchewlich , ward. a befelch de 
2 Königs von Hifpanien im ter Eſcarial, 

f 5 de Madrit auffach Ie hehen bet N 


BE a I nn 


bund mit einer Federgeftalt gewachſen, hatt groſſe 
ſchwarze augen und vornen lange über ſich ſtehende 


166 Menſchliche Ungeheuer in Sage und Geſchichte. 2 


füeße, gleich den ſchlittsſchuehen, ſehr greulich anzu— 
ſehen. Anno 1664.“ 

Der ſiebenköpfige und -armige Faun auf Seite 165 
wird wie folgt geſchildert: „Dieſes Monſtrum iſt in 
Catalonien aufm Gebürg Cerdagna von den Spaniſchen 
Soldaten, ſo auff ein Franzeſiſches Quartier zu mar— 
ſchiert, mit geringer müh gefangen worden; bedient 
ſich der 7 Köpf und Arm alle; ſcheinet eines 14jährigen 
Alters; der vordere Kopf, mit eim Aug, damit iſſets 
und trinks, murmelt und ſchreyet Abſchewlich; ward 
auf befelch des Königs von Hiſpanien im TCloſter 
Escurial bey Madrit auffgehalten, geſchehen 1654.“ 

Daß derartige Phantaſtereien wiſſenſchaftliche Unter- 
ſtützung fanden, beweiſt ein Bericht der Pariſer „Col— 
lection académique“ aus dem Fahre 1681, wonach 
„aus dem Fluſſe bei Ciza ein Monſtrum gezogen 
wurde“, das den Kopf eines Menſchen und den Körper 
eines Kalbes hatte. In der Mitte der breiten Stirne 
ſah man ein menſchliches Auge und daneben zwei große 
Kalbsaugen. Der Schwanz hatte Ahnlichkeit mit dem 
eines Schweines. Thomas Bartholin, nebenbei einer 
der berühmteſten Arzte des Mittelalters, erzählt in 
ſeinem Lehrbuch der Anatomie, daß er eine Frau ge— 
kannt habe, deren Stirne mit zwei großen gekrümmten 
Hörnern geziert war, deren ſie ſich nach Art der Ziegen- 
böde bei Streitigkeiten bediente. Selbſt Jean Cruveil- 
hier (1791187), der berühmte franzöfiihe Patho- 
loge, bringt in feinem klaſſiſchen Werk über die „Patho- 
logiſche Anatomie des menſchlichen Körpers“ unter 
verſchiedenen, erſichtlich phantaſtiſchen Monſtroſitäten 
auch das Bild eines menſchlichen Einhorns aus dem 
Jahre 1599. Aus guten Gründen erſetzt auch hier trotz 
der Autorität des großen Arztes das hohe Alter nicht die 
Wahrſcheinlichkeit. 


D Von Wilhelm Fiſcher. 167 

Damit kommen wir aus dem Bereich der Sage und 
Dichtung in das der Wirklichkeit und Wahrheit, von den 
märchenhaften Monſtroſitäten, von denen nur die Sire- 
nen und Zyklopen der Alten eine gewiſſe Berechtigung 
haben, zur menſchlichen und tieriſchen Mißbildung. Die 
Sage ſtreift auch hier hart an die Wirklichkeit. 

Am natürlichſten erklärt ſich die Sage von den 
Sirenen. Es handelt ſich hier um die Seekuh, eine dem 
Ausſterben nahe Robbenart, die mit ihren menſchen— 
ähnlichen Augen in der Ferne, wenn ſie den Ober— 
körper neugierig aus dem Waſſer ſtreckte, den erſtaunten 
Matroſen als ein richtiges Meerweib erſcheinen mußte. 
Zyklopen gibt es unter den menſchlichen Mißgeburten 
verhältnismäßig viele. Fr. Ahlfeld hat in ſeinem Atlas 
über die Mißbildungen des Menſchen eine große Anzahl 
von Fällen der Zyklopie Einäugigkeit), wie dieſe Miß 
bildung wiſſenſchaftlich heißt, im Bilde feſtgehalten; 
Doktor Aug. Förſter in ſeinem ähnlich betitelten Atlas 
desgleichen. Von Zentauren, Satyrn, Faunen und ähn- 
lichen Mißgeburten, Tieren mit Menſchenköpfen oder 
Menſchen mit Tierköpfen ſchweigen unſere modernen 
Forſcher. 

Die moderne Teratologie, wie die Lehre von den 

kißgeburten wiſſenſchaftlich heißt, hat längſt erkannt, 
daß auch die Mißbildungen denſelben Geſetzen der 
Entwicklung unterliegen wie der regelrecht geſtaltete 
Organismus. Von den vielen Monſtra, die in alten 
Chroniken, wie dem bändereichen Theatrum Euro- 
paeum, in Wort und Bild beſchrieben find, iſt denn auch 
in Wirklichkeit kein einziges in der alten Reichsſtadt 
Nürnberg, wo man doͤch alles zur Schau ſtellte, was 
einigermaßen „abſunderlich“ ſchien, ausgeſtellt worden. 
Die Natsakten berichten nur von Menſchen ohne Arme, 
die mit den Füßen allerhand kunſtvolle Arbeiten ver— 


168 Menſchliche Ungeheuer in Sage und Geſchichte. 0 


richteten, von Haarmenſchen, zuſammengewachſenen 
oder mehrarmigen und mehrbeinigen Menſchen. Der 
Schauſteller Vierſt ſtellte 1591 „eine Perſon mit zwölf 
Fingern und Zehen und ein Schaf mit ſechs Füßen“ 
aus. Ferner zeigte dort 1708 Matthias Buchinger 
„ein Monſtrum ohne Hände und Füße“. 

Unfer Bild auf Seite 169 zeigt die armloſe Magdalena 
Thumbuj aus Stockholm, die um dieſelbe Zeit ſich 
öffentlich ſehen ließ. Sie ſtrickte, webte, ſchneiderte, aß, 
trank, kämmte ſich, feuerte eine Piſtole ab, ſtillte ihr Kind, 
legte es in Wickel. Auch der Maler Joſeph Ducornet 
war ohne Arme geboren. Als Schüler Watteaus ge- 
wann er ſchon in jungen Jahren die große goldene 
Medaille. Im Jahre 1852 malte er das Porträt des 
Bürgerkönigs für die Präfektur von Lille. Er war ein 
ſo geſuchter Porträtiſt, daß er ſeiner Mutter, die ihn 
mit großer Zärtlichkeit liebte, ein Landgut kaufen konnte. 

Beklagenswerter ſind natürlich die verhältnismäßig 
oft geborenen Rumpfmenſchen, denen Arme und Beine 
fehlen, noch mehr die Einfüßler, am meiſten aber die 
Monſtroſitäten mit zwei aneinandergewachſenen Kör— 
pern, von denen in neuerer Zeit die ſiameſiſchen Zwil- 
linge und die von Virchow unterſuchte „doppelköpfige 
Nachtigall“ und andere weltberühmt geweſen ſind. 

Anſer Bild Seite 170 zeigt eine den ſiameſiſchen 
Zwillingen ähnliche, von Bartholin geſchilderte Miß— 
geburt. Es handelt ſich hier um den Grafen Lazarus 
Colloredo und ſeinen „Bruder“ Johann Baptiſt, ge— 
boren 1618 von einer geſunden Mutter in Genua. Der 
Paraſit hing dem Bruder, der ſich viele Jahre hindurch 
in Europa ſehen ließ, an der Bruſt; er war ziemlich 
ausgebildet und zeigte Spuren ſelbſtändigen Lebens, 
obwohl er keine Nahrung zu ſich nahm. 

Die Monſtroſität der Kopf- und Stirnzwillinge iſt 


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170 eenſch liche Ungeheuer in Sage und Geſchichte. 


Welche zu Genua in Italia 1618. an diese Welt abc Und g 018 ! Vid ist; Bei 
Groſſe genaunt Lasarua Coloxeda- Sraffuchen Stands: Der Aleme aber ſo dem Groſſen ny 
dem Leibe gewachſen iſt auch getaufft / vnd Johann Baptiſta genaund worden. Deren Wucter 
nach der Geburt 3: Jahr noch geleber. Der Oroſſe comment auch vor den Aleihen. der Se 
Alleine hat ſein Leben ſo wohl als der Groſſe / doch ohe Verſtad / Stu vnd Red Sehe Yon 87 
reynd nut vnder weilen offen. 1. Ar in die ſich regen. An der rechten and 3, Fingel : An der 
llicken . Singer. Hat nur einen Fuß / welcher vngeſtalt / vnd nur J. Sehen dran. Die Natur 
lichen Durchgang gehen durch den Groſſen. Hat Auch fein Mer mBrum 8 Dieſe Wunder 5 
Geburt iſt von jedermann zu Straßburg geſehen worden im Augibnengt Anno 16 c 


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Boll (Wurttembert und 1855 i im Petersburger Findel- 
haus, beobachtet. Dort wurden zwei Mädchen geboren, 
„die jo an den Scheiteln vereinigt waren, daß die Ge— 


D Von Wilhelm Fiſcher. 171 


ſichtsmittellinie des einen das Ohr des anderen trifft. 
Die beiden Leibachſen bildeten einen ſtumpfen Winkel, 
doch konnte man die Kinder in eine gerade Linie legen“. 
Im Alter von ſechs Wochen erfolgte der Tod. Die 
Boller Kopfzwillinge, die einander ſehr ähnlich ſahen, 
waren ſo am Scheitel miteinander verwachſen, daß 
der eine die Beine nach oben, der andere nach unten 
ſtreckte. Beide lebten nur 64 Stunden. 

Häufiger ſind die doppelköpfigen Monſtra, die 
Dizephalen und Ischiopagen, von denen der Förſterſche 
Atlas 16 und der Ahlfeldſche 28 zeigt. Den berühmten 
Zweikopf, der am Anfange der Regierung Jakobs IV. 
lebte, ſchildert der ſchottiſche Hiſtoriker George Buchanan 
(1506-1582) als ein „Monſtrum mit zwei Köpfen und 
zwei Bruſtkörben, vier Armen, einem Leib und zwei 
Beinen“, 

Die Sagen und Mythen von mächtigen Rieſen wie 
Rübezahl und tückiſchen Zentauren wie Neſſos, von 
Sphinxen und Sirenen, von Nixen und Tritonen 
möchten wir trotz alledem nicht miſſen. Sie bilden das 
„Salz“ unſerer Heldenlieder und Sagen, von der 
Odyſſee, dem Nibelungenlied und Eſchenbachs Parzival 
bis zum beſcheidenen Märchen, und erinnern an den 
germaniſchen Urwald und feine Bären, Wölfe, Auer- 
ochſen und Elche; an jene Zeit der Aventiuren, aus der 
die „Mären“ 

„gar viele Wunder melden 
von lobeſamen Helden 
und heißem Kampf und Streit“. 


— 
* 


Klaas Saalfens drei Bräute. 
Kovellette von heinrich Tiaden. 


Y 


(Nachoͤruck verboten.) 

ls ich noch ein ſehr junger Mann war, in jenen 
Jahren, wo alle Dinge der Welt uns anlächeln, 
brachten mich einſt meine Ferien aus dem geräufch- 
vollen Getriebe der Großſtadt in die ſtille, weltenferne 
Heimat meines Vaters. Die liegt droben auf dem 
ſchmalen Landſtreifen Hannovers, zwiſchen Oldenburg 
und den Niederlanden, und wenn ich es noch genauer 
ſagen ſoll: zwiſchen der Ems und dem Bourtanger 
Moor. Man darf mir glauben, daß eine ſolche Reife 
den Menſchen zwiſchen neue Kontraſte bringt. Alles iſt 
anders — die Natur, das Treiben der Menſchen, dieſe 
ſelbſt. Wie in der Stadt meines täglichen Lebens alles 
flutete, der Verkehr und die Menſchen, wie dort alles 
lebte und beweglich war und alles Leben von einem nicht 
erlahmenden Allegrotempo beherrſcht war, wo die drän- 
gende Alltäglichkeit mit ihren unzähligen Geſchäften 
und Verpflichtungen am Wege ſteht wie ein Poliziſt 
und immerfort ſchreit: „Weitergehen, meine Herr— 
ſchaften, immer weitergehen, nicht ſtehen bleiben!“ 
Wo alle Menſchen ſich ſo merkwürdig viel zu ſagen 
haben, wo ſo unendlich viel gelacht, geſeufzt, geflucht, 
nicht ebenſoviel gebetet wird! Wo gerade am Tage 
meiner Abreiſe der Frühſommer feinen fchönften licht- 
blauen Sonnenſchirm aufgeſpannt hatte und alles fo 


2 Novellette von Heinrich Tiaden. 173 


vergnügt war und ſo fröhlich, und alle Leute ausſahen, 
als möchten fie gerne Flügel haben, um mit dem viel- 
artigen Flügelvolk hinauszuflattern über Rhein und 
Hofgarten! 

Als ich nun mehr und mehr in den Norden hinein- 
flog, wurde alles anders. Erſt ernſt, dann melancholiſch, 
dann düſter. Und als ich endlich, nicht gar weit hinter 
Meppen, dem Zug entſtieg, da trat ich in eine Welt, 
die mir, dem der Lebensfreude Entflohenen, wie ein 
trauererfülltes Traumland erſchien. Das Moor brannte. 
Wo ich hinblickte, da erhoben ſich vom ſchwärzlichen 
Boden Rauchſäulen, die in die ftille Luft ſteil empor- 
ſtiegen, langſam und träge. Und in der Luft wirbelten 
fie auseinander, und alles griff mit Millionen feiner 
Fädchen ineinander und verwob ſich zu einem unend- 
lichen grauen Geſchleier, das rings alles Firmament 
bedeckte und kaum den Stand der Sonne ahnen ließ. 
Und auf dem dampfenden Boden hantierten ſtumme, 
langſame Menſchen, auf deren Geſichtern, ſtill und un- 
beweglich, ein Ausdruck von Freudlofigkeit feſtgewachſen 
ſchien. Da wurde mir ganz bänglich zumute. 

Das dauerte aber nicht lange. Als ich dann in 
einem Hauſe, wo alles merkwürdig eng und niedrig 
und doch ſo behäbig und behaglich war und ſo feſt wie 
für Ewigkeitsdauer beſtimmt, auf einer fpiegelglatt 
geſeſſenen Bank hinter einem weißgeſcheuerten Eichen- 
tiſch ſaß, und den Worten eines freundlichen alten 
Mannes lauſchte, da wurde mir ſeltſam heimelig zu— 
mute. Der alte Mann aber war mein Ohm, der leib- 
liche Bruder meines Vaters. Und war auch ſein Ge- 
ſicht ganz braun und ledern von der rauchigen Luft des 
Moores, war ſeinen Zügen auch der ſchwere Ernſt des 
Landes ſchier aufgeprägt, ſo erkannte ich in ſeinen 
blauen Frieſenaugen doch ſchnell die Augen meines 


174 Klaas Baalſens drei Bräute. 2 


Vaters. Und das war mir wie eine Sonne in der 
ſonnenloſen Fremde und etwas Trautheimatliches in 
der Wirrnis, die des Landes Seltſamkeiten in meiner 
Seele angerichtet hatten. 

And als der alte Mann, den ich heute zum erſten 
Male ſah, und der doch meines Vaters Jugendtage 
miterlebt hatte, nun zu erzählen begann und mit ernſtem 
Geſicht, ein ſtilles Lächeln allein in den Augen, mit 
einem breiten Behagen berichtete, daß juſt auf dem 
Platze, wo ich gerade ſaß, mein Vater ſchon als Wickel- 
kind auf dem Schoße ſeiner Mutter geſchlummert, dann 
als ganz kleines Bürſchlein in die erſten Höslein hinein- 
gewachſen, im Bankwinkel mit ſchlichtem Spielzeug ge- 
hockt hatte und ſpäter mit Fibel und Schiefertafel und 
immer bis in des Lebens ernſte Tage hinein auf dem 
Platze auf der Bank, den ich juſt innehatte, geſeſſen 
hatte in den Stunden des Feiertages und bei den Mahl- 
zeiten und den anderen täglichen Dingen der Häuslich- 
keit — da war des ſtillen Freuens bei mir gar kein Ende, 
und es ward mir zu Sinn, als hätte ich eben etwas ganz 
beſonders Schönes und Herrliches erlebt. 

Nun dauerte es nicht mehr lange, und ich war mit 
meiner Seele auf das Seelenleben der Leute aus dem 
Moor vortrefflich eingeſtellt. Ich war ſehr erſtaunt, zu 
ſehen, mit wie wenigen Worten dieſe Menſchen aus- 
kommen. Bei uns in der leichtlebigen rheiniſchen 
Künſtlerſtadt ſprudelt und plätſchert die Rede gleich 
einem glitzernden Springquell, und die Worte fallen 
nur ſo wie unzählige leuchtende und ſprühende Tropfen. 
Wenn ſie aber gefallen ſind, dann ſind ſie fort, keiner 
weiß, wo fie geblieben. Die Worte der Moorleute da- 
gegen waren gewichtig wie Backſteine. Und hinter 
jedem ſtand ein wohlerwogener Gedanke. Und wie ſie 
nachklangen, dieſe Worte! In allen Winkeln ſchienen 


0 Novellette von Heinrich Tiaden. 175 


ſie ſich feſtzuſetzen, und ihr Echo hallte noch lange durch 
die Stille. . | 

Da war noch einer, mit dem ich manchen Abend auf 
einer einſamen Bank ſaß und vertrauliche Zwieſprache 
pflog. Das war Klaas Baalſen, der Lehrer des Ortes. 
Er war entſchieden der Redſeligſte der Gemeinde. Das 
kam daher, daß er lange draußen geweſen war in der 
Welt, wohl an die zwanzig Jahre. Und als er dann 
wieder in die Heimat kam, um die Jugend des Moores 
in die Wiſſenſchaften einzuführen, da hatte er von un- 
zähligen Dingen zu berichten gewußt, ſo daß er ſich 
mit großem Genuß und mit noch größerem Recht als 
ein Aufklärer ſeiner Landsleute fühlte. 

Dieſe Landsleute aber? Man ſollte es nicht glauben 
— die hielten ihn für einen Schwätzer und Aufſchneider. 
And als ſie ihn eine gute Zeitlang mit verkniffenen 
Augen und ganz überquer angeguckt hatten, da ſagten 
ſie es ihm. Da war er nicht ſchlecht erboſt, hatte ſeine 
Landsleute „Kleiſtertöpfe“ genannt und ſich in Zukunft 
in ſieben Sprachen ausgeſchwiegen. 

Da ich mit der Abſicht ins Moor gegangen war, aus 
dem mannigfachen Sagenkram jenes Volkes goldene 
Schätze zu heben, hatte ich mich ganz beſonders an den 
alten Klaas Baalſen herangemacht. Der war nur eine 
ganz kurze Zeitlang grandig geweſen, als er aber merkte, 
um was es ſich handelte, da redete er ſich das Herz 
gründlich leer. Es dauerte nicht lange, da lag ſeine 
Seele vor mir wie der Spiegel eines klaren Tümpels. 
Was ſich aber auf deſſen Grunde für ein krauſes, felt- 
ſames Leben abſpielte, das war gar nicht zu glauben; 
das war die bunteſte Komödie, die man ſich nur denken 
kann. 

Nachdem er mir viel von Land und Leuten erzählt 
hatte, kam das Geſpräch auch auf ſeine Perſon. Ich 


176 Klaas Baalſens drei Bräute. 17 


fragte ihn, ob er je verheiratet geweſen ſei. Da fchüttelte 
er den Kopf und lächelte, halb wehmütig und halb 
pfiffig. 

„Alſo immer ganz allein geweſen? War Ihnen das 
nicht oft ſchwer?“ 

„Hm — ja — “ geſtand er ein wenig zögernd. „Dann 
und wann ſchon. Aber wenn ich eine Frau genommen 
hätte, dann wäre es mir vielleicht immer ſchwer ge— 
weſen.“ 

„Haben Sie alſo nie daran gedacht, eine Frau zu 
nehmen?“ 

„Doch — dreimal.“ 

Er nahm die Pfeife aus dem Munde und blickte 
ſinnend vor ſich hin. Dann lachte er leiſe. „Dreimal 
hatten fie den Klaas Baalſen beinahe am Schopf. 
Aber der Klaas Baalſen — der beißt nicht ſo leicht in 
die Angel.“ f 

„So — ſo. Alſo wollte man Ihnen ernſtlich an die 
Freiheit?“ 

„Die erſte — das war die Thekla Derichſen. Drüben 
in Dithmarſchen. Ich war da noch ein ziemlich junger 
Kerl, Lehrer da drüben“ — er ſtach mit der Pfeifen- 
ſpitze in irgend eine Himmelsrichtung — „eben im Amte. 
Sie war die zweitälteſte Tochter eines fetten Bauern 
im Nachbarort. Ein fixes Mädel und nicht übel von 
Geſicht und Figur. Auch ſonſt nicht ohne alle Kultur. 
Aber ſie hatte gelbe Augen. Kennen Sie gelbe Augen? 
Ich glaube, Männer haben ſie ſelten, doch bei den 
Weibern ſieht man ſie oft. Hüten Sie ſich vor den 
gelben Augen! Das heißt, fie find nicht eigentlich gelb 
— die Augen. Aber wenn man hineinſieht, dann 
meint man, man ſähe — ja, ich weiß gar nicht, was in 
der Welt ſo gelb iſt. Ich glaube aber, ich hatte mich 
in die Thekla Derichjen richtig verliebt, trotz ihrer gelben 


oO Novellette von Heinrich Tiaden. 177 


Augen. Ich ſah das wohl, wiſſen Sie, aber ich war da 
noch ein ganz junger Kerl und wußte nicht, was es 
bedeutete. Aber nachher wußte ich es — und Sie 
können glauben, daß ich ſehr froh war, den gelben 
Augen entgangen zu ſein. Und das war ſo gekommen.“ 

Er ſog mit einigen kräftigen Zügen ſeine Pfeife 
wieder in Brand. Dann ſchüttelte er ein paarmal ſehr 
bedenklich den Kopf, als erfülle ihn die Geſchichte, die 
zu erzählen er im Begriffe war, mit ſchweren Zweifeln. 
Dann aber begann er — und nun kamen ihm die Worte 
ebenſo zögernd heraus wie all ſeinen Landsleuten: 
lieber ein paar zu wenig als eines zu viel. 

„Ich hatte damals neben dem Schulhaus ein Häus- 
lein für mich, auch ein Stück Land und einen kleinen 
Garten. Das Land bebauten mir die Bauern, im Garten“ 
tat ich ſelbſt das Nötige. Die Mauer meines Gartens 
war zugleich die Mauer des Friedhofs. Sie war an 
vielen Stellen eingefallen, ſo daß ich aus meinem 
Garten direkt in den Garten der Toten ſteigen konnte. 
Nicht weit von mir entfernt wohnte in einem hübſchen 
kleinen Anweſen ein junges Ehepaar, eben verheiratet. 
Sie waren aus der Stadt gekommen und paßten gar 
nicht zu den Bauern, die hinter ihnen her lachten und 
ſich auf die Stirn tippten. Der Mann war Maler, und 
die Frau machte Gedichte, und ſie lachten und ſangen 
den ganzen Tag, und wo man ſie ſah und wann immer, 
da gingen ſie untergefaßt. Sie verkehrten mit keinem 
im Dorf — nur mit mir. Wir drei waren Freunde.“ 

Er nickte ſchwer und trübe vor ſich hin. Die Pfeife 
war ihm wieder ausgegangen. Nun ſchob er ſie neben 
ſich auf die Bank, und feine Hände legte er auf die 
Knie und ſaß ein wenig nach vorne übergebeugt und 
blickte irgendwohin in die Ferne. Seine Augen waren 
umflort. 

1914. X. 12 


178 Klaas Baalfens drei Bräute. a 


„Eines Tages aber brachte man den Mann tot vom 
Felde nach Haufe. Er war ausgegangen, um ein Ge- 
witter zu malen. Da war ein Bli vom Himmel ge- 
fallen und hatte ihn erſchlagen und fein Bild verbrannt.“ 

Er richtete ſeinen Blick langſam auf mein Geſicht. 

„Und wiſſen Sie, was dann geſchah? Als wir am 
dritten Tage kamen, um den Toten zu begraben, da 
fanden wir zwei Tote. Die Witwe hatte ſich aus Ver- 
zweiflung ſelbſt ums Leben gebracht — mit Gift. In 
einem Briefe, der bei ihr lag, bat ſie, mit ihrem Gatten 
im ſelben Grabe beerdigt zu werden. Das ging aber 
nicht an, ſoviel ich auch darum gebeten habe. Zu jedem 
einzelnen Bauern bin ich gegangen, habe gebettelt, aber 
es hat nichts geholfen. Sie war ja eine Selbſtmörderin 
und wurde neben der Mauer des Friedhofs begraben, 
im Winkel dicht neben meinem Garten.“ 

Nun erſt ließ ſein Blick mich los. Er atmete tief. 
Und erſt nach einer Weile fuhr er fort. 

„Glauben Sie mir, ich war immer ein guter Chriſt 
und ein guter Bürger. Ich weiß, die Geſetze müſſen 
ſein, und jedes Ding in der Welt muß ſeine Regel 
haben. Damals aber — da bin ich mit den Geſetzen in 
Widerſpruch gekommen. Ich weiß nicht, ob der liebe 
Gott es wirklich nicht will, daß ein armer Menſch, der 
nicht mehr leben gekonnt hat, zwiſchen die ehrlichen 
Leute gelegt wird. Soweit ich den lieben Gott kenne, 
iſt er gar nicht ſo ſtreng. Ich weiß, daß er ganz freundlich 
ja geſagt hätte, wenn wir ihn nur hätten fragen können. 
Aber die Menſchen ſind ja mit ihrem Geſetz viel ſtrenger 
und verbiſſener als der liebe Gott. Der liebe Gott 
würde Ausnahmen machen, die Menſchen tun es nie- 
mals. Einer wie der andere — wiſſen Sie — und eine 
Tat iſt eine Tat, wer kümmert ſich um die Gründe!“ 

Halb unwillig und halb in Bekümmernis wiegte er 


u Novellette von Heinrich Tiaden. 179 


den eisgrauen Kopf und verſank wieder in Schweigen. 
Das dauerte ſo lange, daß ich ungeduldig wurde. 

„Und das mit der Heirat?“ fragte ich. 

Da blickte er mich wie aus ſchwerem Traum er- 
wachend an. „Was meinen Sie —? Ach ſo — ja, die 
Thekla Derichfen! Das war fo. Ich hatte verſucht, in 
meinem Garten Roſen zu züchten. Aber es wurde 
nichts draus. Nur ein einziger Stock wuchs an und auch 
der ohne Luſt am Blühen und Gedeihen. Aber es 
kamen Blätter daran und drei Knoſpen. Und die drei 
Rofen, die daraus erblühen ſollten, die hatte ich der 
jungen Frau meines Freundes verſprochen, denn juſt 
dieſen Roſenſtock hatte ſie gepflanzt. Als nun aber die 
Knoſpen aufbrachen, da lag ſie unter der Erde, nur 
wenige Schritte entfernt. Damals ſtand ich mit der 
Thekla Derichjen fo, daß wir beinahe einig waren. Und 
an einem Sonntag kam ſie mit ihrem Vater drei 
Stunden Weges zu Wagen, um ſich meine Sache an- 
zuſehen. Ich zeigte ihnen das Haus, das Stück Land, 
den Garten. Der Thekla gefiel's, und der Bauer, ob- 
wohl er ein Fetter war, hatte nichts dawider. Und wir 
waren ganz vergnügt. Als wir nun beim Abſchied durch 
den Garten gingen, fiel es der Thekla ein, die drei 
Roſen haben zu wollen. Da führte ich ſie zu dem Grabe 
neben der Kirchhofmauer und erzählte ihr die Ge— 
ſchichte von meinen Freunden und wies auf das Kreuz, 
das ich ſelbſt gezimmert hatte, und das ich mit den Roſen 
ſchmücken wollte, die ich der toten Frau verſprochen 
hatte. Nun hätte man ja glauben ſollen, ſie hätte ein 
Erbarmen geſpürt als Weib mit dem anderen Weib, 
das aus Liebe in Verzweiflung und Tod geraten war. 
Zumal ſie ja ſelbſt in Liebe war. Aber es kam ganz 
anders. Ich ſagte Ihnen ja ſchon von dem gelben Blick. 
Und als ſie mich jetzt anſchaute, da ſah ich es wieder in 


180 Klaas Baalſens drei Bräute. 2 


ihren Augen — ganz deutlich, ganz gelb. Und ſie lachte 
ein wenig, ganz ſpitz und höhniſch, ging zum Nofenftod 
— und riß die drei armen Blumen herunter. Sie 
ſagte, wenn ſie die Roſen nicht haben dürfe, dann ſolle 
das fremde Weib ſie auch nicht haben. Und was ich 
überhaupt mit dem Weib gehabt hätte, daß ich mich ſo 
drum bemühe. Da ſagte ich gar nichts. Und gleich 
darauf fuhren fie fort. Am nächſten Sonntag ſollte ich. 
zu ihnen kommen, um alles abzumachen wegen der 
Verlobung und ſo. Ich aber ſchrieb noch am nämlichen 
Abend einen Brief, daß ich die Thekla Derichfen nicht 
heiraten würde und warum nicht. Bald darauf ſuchte 
ich mir eine andere Stelle und kam hierher.“ 

„Und da gerieten Sie zum zweiten Male in die Ver- 
ſuchung, Ehemann zu werden?“ 

„Ja, aber das war erſt zehn Jahre ſpäter.“ 

Er nickte nachdenklich vor ſich hin. 

„Wiſſen Sie, das iſt eine ſehr ſonderbare Sache 
— das mit dem Schickſal, meine ich. Da ſind Leute, die 
glauben nicht an einen Schutzengel. Ich ſage nicht, daß 
ich an einen Schutzengel glaube — was geht auch einen 
anderen mein Glaube an! Aber das mit dem Schickſal 
— das iſt wirklich 'ne ganz eigene Sache. Das Schickſal 
hat den Menſchen am Zügel. Ich hab's gemerkt an 
meinen Heiratsgeſchichten. Immer im letzten Augen- 
blick — verſtehen Sie, wenn es hart auf hart ging. 
Dann gab es mir einen Wink, daß ich noch eben ent— 
ſchlüpfen konnte. So war's auch bei dem zweiten Male. 
Auch die zweite war herzlos, und auch bei ihr merkte 
ich es erſt im letzten Augenblick. Wir waren nämlich 
ſchon auf dem Wege zur Kirche.“ 

„Und da find Sie noch umgekehrt?“ fragte ich un- 
gläubig. | 

„Ja gewiß, da bin ich noch umgekehrt. Das heißt, 


2 Novellette von Heinrich Tiaden. 181 


das Umkehren war mir leicht gemacht worden, denn ich 
hätte ſo, wie ich war, nicht zum Altar gehen können — 
als Bräutigam nicht, verſtehen Sie. Nämlich — das 
Schickſal bediente ſich in dieſem Falle zu meiner Rettung 
einer Ziege.“ 

Er ſagte das in einem Tone, als müſſe ich nun über 
den Fall eine vollkommene Klarheit haben. Ich nickte 
zwar, als wenn ich verſtünde, und ſagte: „Aha!“, ein 
Wort, das ſehr viel und ſehr wenig ſagen kann. In 
dieſem Falle ſagte es gar nichts, denn ich hatte keine 
Spur einer Ahnung, worauf Klaas Baalſen mit ſeiner 
Ziege hinaus wollte. 

Und während Klaas Baalſen mich und ich Klaas 
Baalſen anſchaute, hatte ich wohl die Augen voller 
Fragezeichen, denn nun fuhr er erklärend fort: „Die 
Anna Wedderkop — das war meine zweite Braut — war 
die Schweſter des Lehrers von Weſtermoor. Sie be— 
ſorgte ihm den Haushalt. Ich ging jede Woche zweimal 
zu den Wedderkops hinüber, und dann war die Anna 
immer da. Sie war nicht gerade ſchön, auch nicht 
gerade jung. Aber immer ſehr freundlich. Wenn naſſes 
Wetter war und ich war durchs Moor gekommen, dann 
hatte ſie immer ein Paar warme Latſchen für mich in der 
Ofenröhre ſtehen. Auch konnte ſie beſſer meine Pfeife 
ſtopfen als ich ſelber. Das war doch etwas. Und für 
den Stuhl, auf dem ich ſaß, hatte fie extra ein Kiſſen 
geſtopft. Das ging ſo eine Zeitlang. Ich habe mich 
nicht eigentlich in fie verliebt, aber es war mir behag⸗ 
lich in ihrer Nähe. Und da kam es denn ſo. Wir feierten 
eine ganz ſtille Verlobung, wir beide und der Bruder. 
Wir beide waren ſehr vergnügt, der Bruder aber war 
ſo ſtill und gedrückt, daß ich ihn nachher leiſe fragte, ob 
er mir ſeine Schweſter nicht gerne zur Frau gäbe. Da 
wurde er ganz aufgeregt und verſicherte, o ja, er gäbe 


182 - Rlaas Baalſens drei Bräute. a 


mir die Anna gewiß von Herzen gerne, aber.. Und 
er wollte noch mehr ſagen, doch da kam die Anna dazu, 
und er ſagte nichts. Zwei Wochen ſpäter ſollte ich die 
Anna abholen, damit wir zur Kirche gingen. Wir 
mußten durchs Moor, und da es lange geregnet hatte, 
lieh ich mir vom Timm Kreyer, dem Gaſtwirt, das 
Wägelchen, und ſein Knecht, der junge Jan, ſollte uns 
fahren. Und als wir mitten im Moor waren, die Anna 
und ich im Wagen und der Jan auf dem Bode, da 
hörten wir auf einmal ein arges Jammergeſchrei. Und 
als wir noch ein Stück weiter gefahren waren, da ſahen 
wir am Wege die junge Frieda Bürklin ſtehen, meines 
Nachbars Alteſte, die ſchrie und heulte und rang die 
Hände ganz gottserbärmlich. Und als wir dann heran- 
gekommen waren, da ſahen wir, daß zwei Meter vom 
Wege im Schlamm eine große, ſchöne Ziege ſteckte, die 
war am Sinken. Die Frieda hatte die Ziege von 
Nebelungs Hof — drüben überm Moor, eine halbe 
Stunde vom Ort — geholt, und da hatte das dumme 
Tier einen Sprung getan, der Frieda war das Leitſeil 
entglitten, und das Tier ſtak im Sumpf und war ver- 
loren, wenn wir nicht ſchleunigſt eingreifen würden. 
Nun hätten Sie wohl geglaubt, die Anna Wedderkop 
hätte am liebſten ſelbſt mit zugegriffen, als ſie den 
Jammer des armen Mädchens ſah. Ich ſage Ihnen, 
Sie irren ſich. Sie wurde ganz wild, als ſie ſah, wie der 
Jan und ich vom Wagen ſprangen. Sie ſtak eben ſchon 
bis über die Ohren im Hochzeitmachen drin, ſo daß ſie 
über die Störung ganz grün und gelb vor Zorn wurde. 
Wenn das dumme Ding ihre Ziege habe ins Moor 
laufen laſſen, ſo ſolle ſie ſie auch wieder herausholen 
— und ich ſolle doch an meinen guten, ſchwarzen Anzug 
denken — und ich müſſe bedenken, daß der Herr Pfarrer 
auf uns warte. Worauf dann ich ſagte, der Pfarrer 


u Novellette von Heinrich Tiaden. 183 


habe zehn Jahre gewartet, nun könne er auch noch 
eine Stunde länger warten. Und dem ſchwarzen Anzug 
mache das nichts aus. Und übrigens ſei die Frieda 
Bürklin die Tochter meines lieben Nachbars, der ich 
unter allen Umſtänden in der Not helfen müſſe. „Aha, 
die liebe Tochter des Nachbars!“ meinte ſie ganz ſpitz 
und ſpießte das arme Ding mit ihren Augen bald auf. 
„Alſo daher der Eifer!“ Und da ſie ſehen mußte, daß 
die Frieda ein ſauberes Mädel war und jung und friſch, 
wurde ihre Naſe immer ſpitzer und ihr Geſicht immer 
gelber. Es ſah nun ganz alt und häßlich aus. Na, ich 
kümmerte mich nicht um ihr Flennen und Keifen, wir 
machten uns an die Arbeit und zogen die Ziege richtig 
aus dem Schlamm. Das war aber nicht ſo ganz ein- 
fach, wir wurden ſo dreckig wie die Moorgräber, und 
von Weiterfahren konnte gar keine Rede mehr fein. 
Da heulten denn nun beide Frauenzimmer, die eine 
vor Freude und Dankbarkeit, die andere aus Grimm 
und Ärger, Wir find dann wieder auf den Wagen ge- 
ſtiegen und weitergefahren. Aber nicht zur Kirche, ver- 
ſtehen Sie. Ich hatte dem Jan heimlich zugewinkt und 
mit den Augen gepliert, und da hat er auch gewinkt 
und mit den Augen gepliert, denn er hatte mich richtig 
verſtanden. Und wir drehten ganz ſachte um und fuhren 
nach Weſtermoor zurück. Und wie auch die Anna 
Wedderkop heulen und keifen mochte, ich ſagte gar nichts 
und ſetzte fie am Haufe des Bruders wieder ab. Der riß 
die Augen nicht ſchlecht auf. ‚Wie, ſchon wieder da?“ 
fragte er. „Ja, kannſt ſie behalten, die Anna,“ ſagte ich 
und ſagte ihm dabei warum. Dieweil war aber die 
Anna vom Wagen geſprungen und ins Haus geſauſt 
wie ein Satan. Draußen hörten wir die Türen knallen. 
Da ſagte denn der Bruder weiter nichts als die Worte: 
„So — ſo, na — dann muß ich ſie eben behalten.“ 


184 Klaas Baalſens drei Bräute. Oo 


Und er gab mir die Hand, und ich fuhr wieder nach 
Hauſe, hing den ſchwarzen Anzug wieder in den Schrank 
— und da hängt er noch.“ 

Ich blickte ihn an und hätte am liebſten laut heraus- 
gelacht. Aber ich bezwang mich, denn ich kannte die 
Geſchichte von der dritten Braut ja noch nicht. 

„Ja — und dann?“ fragte ich nach einer Pauſe. 

„Ja — und dann —“ wiederholte er meine Worte 
und ſtrich mit einem ganz kleinen Schmunzeln über 
ſeine ſtoppeligen Wangen. „Dann kam die Geſchichte 
mit der dritten. Es waren aber inzwiſchen wieder zehn 
Jahre vergangen. Die dritte, das war die Geſine 
Kaarſtens, die Witwe unſeres Küſters. Sie ruhe in 
Frieden. Ich habe ſie nicht gekriegt, weil ich die beiden 
anderen nicht gekriegt habe.“ 

„Wie,“ ſagte ich, „das klingt ſonderbar! Ich ſollte 
meinen, wenn Sie eine von den beiden anderen oder 
gar alle beide bekommen hätten, ſo hätten Sie doch 
vermutlich die dritte um ſo weniger bekommen.“ 

Klaas Baalſen ſchüttelte nachdenklich den Kopf. 
„Sie mögen damit vielleicht nicht unrecht haben, aber 
ich habe doch recht. Weil ich vor der Thekla Oerichſen 
und der Anna Wedderkop bewahrt geblieben bin, habe 
ich die Geſine Kaarſtens nicht gekriegt. Sie werden das 
ſchon noch einſehen.“ 

„Na, denn los!“ 

„Kaarſtens, unſer Küſter, war ein ſehr ſtiller Mann 
geweſen und gar nicht ſehr luſtig. Wenn er ganz be- 
ſonders aufgeräumt war, dann ging er in ſeinem 
Stübchen auf und ab und fang das Nequiem. Für die 
anderen aber war das gar nicht erfreulich, denn er ſang 
nicht ſchön. Bei den hohen Tönen krähte er wie ein 
Hahn. Sie können ſich denken, daß auch ſeine Frau 
nicht ſehr luſtig war. Wenn ſie beſonders fröhlicher 


5 Novellette von Heinrich Tiaden. 185 


Stimmung war, dann ſaß ſie am Fenſter und ſang das 
Lied „Tränen hab' ich viele, viele vergoſſen'. Ich 
glaube, ſie konnte nur das eine Lied. Wenn in der 
Kirche die Gemeinde fang, dann habe ich ſie oft be- 
obachtet, und nach der Bewegung der Lippen zu 
urteilen, fang fie nie etwas anderes als ‚Tränen hab' 
ich‘ und fo weiter. Eines Tages ſtarb der Küſter. Ganz 
plötzlich ſtarb er, denn er hatte am Abend zuvor noch 
das Requiem geſungen. Aber es mußte da ſchon nicht 
ganz richtig mit ihm geweſen ſein, denn er hat es viel 
zu hoch geſungen und ſchrecklich dabei gekräht. Na, da 
war denn nichts zu machen, der Küſter war tot, und die 
Geſine mußte zuſehen, wie ſie zurechtkam. Ich hab' 
ihr dabei, fo gut ich es konnte, geholfen. Ich war in- 
zwiſchen — Sie dürfen mir's glauben — ein ſehr ver- 
nünftiger Mann geworden, der ſich nicht mehr ſo leicht 
mit Heiratsgeſchichten fangen läßt. Aber eines Tages 
ſaß ich doch in der Falle. Mit all ihrem Gerede und 
Getue hatte ſie mich ſo weit gebracht, daß ich mir ſagte, 
zu zweit ſei am Ende doch beſſer hauſen als immer ſo 
allein. Und die Geſine Kaarſtens ſei doch eine ſo nette, 
zutuliche Perſon — zwar ein bißchen trübſelig, doch 
gar nicht leichtſinnig. O nein, Herr, ſie war wirklich 
nicht leichtſinnig. Wir würden ein ſehr ruhiges und ver- 
nünftiges Ehepaar werden — ſo ſprach ich damals zu 
mir ſelber. Hätte ich es nur zu mir ſelber geſprochen, 
ſo wäre weiter nichts dabei geweſen. So was kann 
man immer widerrufen. Aber ich hab's auch der Geſine 
geſagt, nachdem wir ſo eine gute Zeitlang Freunde 
und gute Nachbarn geweſen waren. Sie hat's mir 
appetitlich genug gemacht. Und nun ſollte man fagen, 
ſie wäre mir ſozuſagen um den Hals gefallen als glück— 
liche Braut — wie es dann ſo geht. Aber nein. Sie 
guckte mich ſo recht trübſelig von unten herauf an, ſo 


186 Klaas Baalſens drei Bräute. 1 


daß ich glaubte, fie wolle fingen „Tränen hab' ich viele“ 
und ſo weiter. Aber das tat ſie nicht. Sie ſagte nur, 
und zwar mit einem tiefen Seufzer: ja, das täte ſie 
ja wohl. ganz gerne, aber — ich ſollte ihr doch noch mal 
die Geſchichte von meiner erſten Braut erzählen. Das 
tat ich denn auch und vergaß nicht das geringſte. Und 
darauf ſeufzte ſie noch einmal und ſagte: ja, ſie möchte 
ja gewiß wohl, wenn nur nicht der Geiſt der toten Frau 
und der Thekla Derichſen zwiſchen uns ſtünde. Ich war 
erſtaunt, Herr, wahrhaftig, ich war einigermaßen er- 
ſtaunt. Und ich ſagte, ſie ſolle das doch nur ja nicht 
denken, denn mit der toten Frau hätte ich nicht das 
geringſte gehabt, was fie veranlaſſen könne, ihren Geift . 
ſpukenderweiſe zwiſchen unſeren Ehebund zu ſchicken. 
Und die Thekla Oerichſen habe einen fetten Geeſtbauern 
geheiratet und habe ſechs Kinder. Worauf dann ſie 
wieder ſagte und ſchwer mit dem Kopf ſchüttelte: ſie 
hätte über die Sache ihre ganz beſonderen Gedanken 
und wolle ſich das noch mak vier Wochen lang über- 
legen. Na, ich war kein junger, ungeduldiger Liebhaber 
mehr, ich war damit einverſtanden und ſprach vier 
Wochen lang nicht mehr von der Sache. Dann aber 
fragte ich ſie, ob ſie ſich jetzt entſchloſſen habe. Ja, ſagte 
ſie, ſie wolle es wagen. Und die Verlobung ſollte dann 
in vier Wochen ſein. Schön. Als aber nun die vier 
Wochen herum waren und es mit der Verlobung los- 
gehen ſollte, da ſagte ſie, ja, ſie möchte ja wohl, aber. 
— ich ſollte ihr doch vorher noch mal die Geſchichte 
von der zweiten Braut erzählen. Da erzählte ich ihr 
denn auch dieſe Geſchichte nochmals, ohne auch nur das 
geringſte auszulaſſen, und mußte zu meiner Betrübnis 
auch beifügen, daß die Anna Wedderkop inzwiſchen 
eines ſeligen Todes verſtorben ſei. Da ſchüttelte ſie 
äußerſt bedenklich den Kopf und ſeufzte ſehr tief und 


' Novellette von Heinrich Tiaden. 187 
— — — 
fragte, ob ich denn ſo ganz ſicher ſei, daß der Geiſt der 
armen Anna Wedderkop ſich nicht zwiſchen unſere Ehe 
drängen würde. So was käme bei verlaſſenen Bräuten 
ſehr oft vor, die im Gram ihres Herzens dahinwelkten 
und am gebrochenen Herzen ſtürben. Ich ſprach ihr 
aber Mut zu und verſicherte, daß die Anna Wedderkop 
durchaus nicht an gebrochenem Herzen, ſondern an 
einem Karbunkel geſtorben wäre. Auch ſei ſie durchaus 
nicht elend dahingewelkt, ſondern gerade in der letzten 
Zeit ihres Lebens ſehr rundlich, um nicht zu ſagen fett 
geweſen — Beweiſe ihres ungeſtörten Wohlbefindens. 
Außerdem habe ſie mir längſt verziehen. Geſine aber 
ſeufzte nur noch tiefer und ſagte, darüber denke und 
fühle ſie als Frau ganz anders, und ſie möchte doch noch 
eine kleine Bedenkzeit — ſo an die ſechs Wochen — 
haben, worauf wir dann, wenn Gott es wolle und 
ſie ſich dazu entſchließen könne, getroſt Verlobung feiern 
wollten. Nun ſehen Sie, Herr, ich ſagte ſchon, daß ich 
dazumal durchaus kein ungeduldiger Liebhaber ge- 
weſen ſei. Ich war wirklich ſehr geduldig und von 
ruhigem Gemüt. Aber ich muß ſagen, daß ich erboſt 
war und das Heiraten zum Teufel wünſchte. Aber es 
war ja doch einmal abgemacht, und nach ſechs Wochen 
fragte ich, wie ſie ſich entſchloſſen hätte. Und da ſagte 
ſie, wenn es denn ſein müſſe, dann wollten wir in 
Gottes Namen Verlobung feiern. Aber — ſie habe eine 
Schweſter in Düfterwalde, die ſtände ganz allein auf der 
Welt, und die müßten wir zu uns ins Haus nehmen. 
— Na, Herr, Sie können ſich denken, mir war's ſchon 
reichlich genug an der einen — und — kurz, ich ſagte, 
daß mir das ganz und gar nicht gefiele. Da wurde ſie 
ſpitzig und ſagte, die Schweſter ſei ihr einziger Troſt 
auf der Erde, und lieber wolle ſie dann mit ihrer 
Schweſter zuſammenziehen, da ſie ja vom Heiraten 


183 Klaas Baalfens drei Bräute. 0 


— wie ich ja wohl wüßte — nicht viel hielte. Das war 
aber gelogen, denn ſie hat mir unmenſchlich viel Brei 
ums Maul geſtrichen, ehe ich das bewußte Wort ge- 
ſprochen hatte, das ich beſſer zu mir allein geſprochen 
hätte — von wegen dem leichteren Widerruf, verſtehen 
Sie. Und ſehen Sie, jetzt kam wieder der Schutzengel 
— oder das Schickſal, wenn Sie wollen, das mich rettete 
im letzten Augenblick. Denn als ſie ſagte, ſie hielte 
überhaupt vom Heiraten nichts, da tat ſie noch einen 
beſonders tiefen Seufzer dazu und ſagte, ſie habe ihrem 
lieben Seligen auf dem Sterbebette ſo halb und halb 
verſprochen, keinen anderen Mann mehr zu nehmen.“ 

Er blickte mich triumphierend an und nickte und 
lachte äußerſt verſchmitzt. 

„Aha!“ ſagte ich und lachte ebenfalls ſo verſchmitzt, 
als ich es vermochte, „und Sie darauf?“ 

„Hähähä —ja — und ich darauf? Ich ſagte, wenn 
das ſo wäre, das mit dem ſeligen Küſter, dann ſollte der 
liebe Gott mich in Gnaden bewahren, daß ich die 
Grabesruhe des Verſtorbenen weiter ſtörte. Und ich 
wolle gewiß dann weiter nicht mehr in ſie dringen, da 
ja doch der Geiſt des Küſters ſtändig zwiſchen unſerem 
Eheglück ſtehen würde.“ 

Er lachte abermals leiſe und voll des größten Ver- 
gnügens vor ſich hin. Dann nahm er ſeinen Kinnbart 
zwiſchen beide Hände und drehte daran, als ſei es ein 
Korkzieher, und ſeine Augenbrauen zog er ganz in die 
Höhe, ſo daß die Stirne ſich in tauſend Fältchen zer- 
knitterte. Und, ‚er beugte fich ein wenig zu mir herüber 
und meinte: „Aber damit war ich ſie noch nicht los. 
Zuerſt ließ ſie die Schweſter fahren. Wenn es denn ſein 
müßte, dann wolle ſie in Gottes Namen auch mit mir 
allein wohnen. Und um die abgeſchiedene Küſterſeele 
brauche ich mir durchaus nicht den geringſten Kummer 


2 Novellette von Heinrich Tiaden. 189 


zu machen, fie wolle das ſchon ganz allein auf ſich neh- 
men. Und wenn ich es denn mit Gewalt ſo wolle, dann 
könnten wir ja noch heute Verlobung feiern und über 
vier Wochen Hochzeit. Und wenn es nicht anders ginge, 
dann wäre fie mit allem einverſtanden, und es folle 
alles ſo gemacht werden, wie ich es haben wollte. Und 
das letzte geſchah denn auch, denn ich wünſchte nichts 
anderes, als daß ſie in ihrem und ich in meinem Hauſe 
bliebe. So kam's denn auch. Es hat ihr gar nicht ge- 
fallen, aber wenn ich einmal ſcheu bin, dann bin ich's 
gründlich.“ 

„Hat ſie keinen anderen Mann genommen?“ 

„Sie hätt's vielleicht getan, aber es war keiner zu 
haben. Sie hat noch ein paar Jahre lang geſungen 
„Tränen hab' ich“ und ſo weiter — dann hat der liebe 
Gott fie zu ſich genommen. Und da war fie beſſer auf- 
gehoben als in meinem Hauſe.“ 

„Und das Alleinſein fällt Ihnen niemals ſchwer?“ 
fragte ich nach einer Weile — und damit waren wir 
am Ausgangspunkt unſeres Geſpräches wieder ange- 
langt. 

Und wieder, wie im Anfang, wurde ihm die Ant- 
wort nicht ganz leicht. „Ja — doch — manchmal. Das 
dauert aber nie lange. Wenn ich dann ſtillſitze und 
meine Pfeife rauche und über den Lauf der Welt nach- 
denke und über die Vergangenheit und darüber, wie 
es wohl wäre, wenn es gekommen wäre, wie es leicht 
hätte kommen können — ach, dann bin ich herzlich froh 
und zufrieden, daß mich weder die Thekla noch die 
Anna noch die Geſine erwiſcht hat. Und ſie hätten mich 
erwiſcht, wenn nicht immer im letzten Augenblick der 
Schutzengel — Aber daran ſcheinen Sie ja nicht zu 
glauben. Macht aber nichts. Hab' übrigens auch 
gerade genug geſchwätzt heute abend.“ 


190 Rlaas Baalſens drei Bräute. DB 


Er erhob ſich ſchwer und rieb fich die ſteifgeſeſſenen 
Glieder. 

„Alt wird man und hart in den Gelenken,“ murmelte 
er und griff nach ſeiner längſt erkalteten Pfeife. Dann 
ſchnupperte er mit der Naſe in der Luft. „Om — im 
Moor wird's Sommer. Wie warm der Wind geht! 
Und ſehen Sie, da kommt wahrhaftig der Mond aus 
dem Rauch.“ 

Wirklich hing drüben über der Ebene der Mond 
— nicht viel anders als ein großer, runder, gelber 
Schinken im Rauch. Ein ſteifer Wind wehte übers 
Moor und trieb den grauen Dunſt in langen, ſchrägen 
Fäden vor ſich her. Eine ganz ſeltſame Bewegung 
war in die träge Maſſe gekommen. Die Luft war faſt 
klar. 

Klaas Baalſen reichte mir die Hand und blickte mich 
unſicher an. „Morgen wollen Sie alſo wieder abreiſen. 
Hm — ich hab' wirklich heute abend verwünſcht viel 
geſchwätzt. Aber nun kann ich wieder lange Zeit 
ſchweigen. Die Leute hier herum — man kann ihnen 
keine drei Worte aus dem Halje ziehen. Sie ſitzen auf 
ihren Mäulern. Die reinſten Kleiſtertöpfe.“ 

Er nickte mir noch einmal zu und ging. 

Ich blickte ihm nach, bis er in dem ziehenden Ge— 
ſchleier verſchwunden war. Dann ging ich zum Hauſe 
meines Ohms. Und in meiner Seele war eine ſtille 
Heiterkeit über den alten Klaas Baalſen, der drei Bräute 
gehabt, und den doch keine erwiſcht hatte, 


— 


Tg ger“ 
* * 


Einiges vom Rino. a 
von Reinhold Ortmann. 


Mit 12 Sildern. * nachdruck verboten.) 


lorreich hat der Kinematograph ſeinen Siegeszug 

durch die Kulturwelt unſeres kleinen Planeten 
vollendet; alle Stände und alle Lebensalter hat er ſich 
erobert; Tauſende von mehr oder weniger prunkhaften 
Paläſten ſind ihm errichtet worden, und ungezählte 
Millionen, die zu ihrem größeren Teil aus den Taſchen 
der Unbegüterten fließen, werden ihm Jahr für Jahr 
geopfert. 

Wir müſſen fürwahr in einem ſehr glücklichen Zeit- 
alter leben — denn wir ſind geworden wie die Kinder. 
Ob Rutſchbahn oder Rieſentoboggan, ob Guckkaſten 
und Lebensrad oder Kino — es bleibt im Grunde 
dasſelbe kindliche Vergnügen. Und darin, wenn wir 
endlich einmal ehrlich ſein wollen, liegt doch ſchließlich 
das ganze Geheimnis des ungeheuren, welterobernden 
Erfolges. Es iſt beinahe rührend, zu ſehen, wie ſelbſt 
die ernſthafteſten Leute ſich abmühen, die Vorführung 
lebender Photographien in die Sphäre der reinen 
Kunſt zu erheben und ihr äſthetiſche Geſetze vorzu- 
ſchreiben, bei deren Beobachtung der Kinematograph 
nach ihrer Meinung mit der Zeit zum ebenbürtigen 
Rivalen, wenn nicht zum triumphierenden Beſieger der 
wirklichen Schaubühne werden muß. 

Im Schweiße ihres Angeſichts und gegen fchwin- 


192 Einiges vom Kino. 2 


delnd hohe Honorare quälen ſich gefeierte Dichter, geijt- 
reiche Dramaturgen und geniale Regiſſeure mit der 
Löſung des großen Problems, das Drama endgültig 
von dem läſtigen Vallaſt des geſprochenen Wortes zu 
befreien und der bisher viel zu gering eingeſchätzten 
Grimaſſe endlich zu ihrem Rechte zu verhelfen. Die 
Tiefe des Gedankens und die Schönheit der Sprache, 
von denen unſere naiven Vorfahren ſo viel Aufhebens 
machten, ſind nunmehr glücklich als die kümmerlichen 
Notbehelfe erfindungsarmer Dramatiker entlarvt wor— 
den; an die Stelle der maßvollen ſchauſpieleriſchen 
Geſte und der weiſen Beherrſchung der Rede iſt zur 
Freude des kunſtliebenden Publikums die tauſendmal 
ausdrucksfähigere Gebärdenſprache des Zirkusclowns 
und des Taubſtummen getreten. Mit erſtaunlicher 
Schnelligkeit haben wir gelernt, die ganze Skala menſch- 
licher Empfindungen von mehr oder weniger ver- 
zerrten, blutloſen Geſichtern zu leſen und das Ge— 
ſchlenker hüllenloſer Arme und Beine in erſchütternde 
ſeeliſche Vorgänge umzudeuten. 

Eine Reihe unſerer beſten Autoren hat durch die 
„Verfilmung“ ihrer älteren Werke mit bewunderungs- 
würdiger Selbſtverleugnung den Nachweis geliefert, 
daß die Pantomime ein vollkommen zureichendes Aus- 
drucksmittel für die Erzeugniſſe ihres dichteriſchen Ge- 
nius iſt. Und es haben ſich ſogar ſchon vorurteilsloſe 
Leute gefunden, die ſich den Meiſterwerken der Weltlite- 
ratur mit dem kinematographiſchen Aufnahmeapparat 
zu nahen wagten. 

Sie haben freilich kein rechtes Glück gehabt. Was 
bei etlichen Erzeugniſſen modernen Oichtergeiſtes noch 
zur Not gelang, bei Shakeſpeare und Schiller führte 
es zu einem kläglichen Fiasko. Bei dem gefilmten 
„Hamlet“ langweilten ſich die Zuſchauer tödlich, und 


0 Don Reinhold Ortmann. 193 


die „Räuber“ wurden zu einem wüſten Spektakelſtück. 

Vielleicht würde es ſogar bei Goethes „Fauſt“ trotz der 

ergreifenden Kerkerſzene und der wunderbaren Aus- 
1914. X. 13 


N 


Schauſpielſzene aus „Hamlet“, 


194 Einiges vom Kino. 1 


ſtattungseffekte der Walpurgisnächte eine ähnliche Ent- 
täuſchung geben. Hat doch ſelbſt der „Don Quichotte“ 
eines gewiſſen Cervantes, all ſeiner grotesken Komik 
ungeachtet, in der erhofften Wirkung gänzlich verſagt. 

Man iſt alſo mit dem von allen Seiten ſo nachdrück— 
lich geforderten „literariſchen“ Film doch vielleicht nicht 
ganz auf dem rechten Wege. Und die krampfhaften Be- 
mühungen, das Kino zu etwas „Höherem“ zu machen 
als zum unterhaltenden Spiel, könnten ſeiner Welt- 
herrſchaft vielleicht ſogar eines Tages recht gefährlich 
werden. Denn noch gibt es immerhin eine recht er- 
hebliche Anzahl von Leuten, die das Wort in der Oicht- 
kunſt für ſchwer entbehrlich halten, und die der Meinung 
ſind, daß die Pantomime nur auf einem ganz beſtimmt 
und ziemlich eng umgrenzten Gebiet ihre Daſeins- 
berechtigung hat. Erſt wenn man in geziemender Be— 
ſcheidenheit zu dem Standpunkt zurückgekehrt ſein wird, 
auf dem die vielgetadelten erſten Filmerzeuger ſtanden, 
zu dem Standpunkt nämlich, daß das Kino nichts 
anderes ſein kann und ſein ſoll als flüchtige Augenluſt, 
als ein harmloſes Gaukelſpiel ohne tiefere Bedeutung, 
erſt dann wird man mit neuen und verheißungsvollen 
Entwicklungsmöglichkeiten dieſes an ſich gewiß recht 
hübſchen und ergötzlichen Spielzeugs für Erwachſene 
rechnen dürfen. 

Aber — wird man vielleicht einwenden — wir ſind 
ja eben im Begriff, einen großen Schritt vorwärts zu 
tun; wir werden ja binnen kurzem den „ſprechenden“ 
Film haben. Ja, wir haben ihn eigentlich ſchon, denn 
der geſchäftige Herr Ediſon hat es bereits erfunden, 
das „Kinetophon“, bei dem Gebärde und vernehmliches 
Wort ſich fo vollſtändig decken, daß die FIlluſion, leben- 
dige Menſchen vor ſich zu haben, geradezu überwälti— 
gend wird. 


Don Reinhold Ortmann. 


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Die FIlluſion? Ach, nein! Ich habe mir die Vor- 
führungen des neuen Ediſon-Kinetophon angeſehen, 


und ich muß bekennen, daß ſelbſt die jämmerlichſte Un- 


196 Einiges vom Kino. 1 


zulänglichkeit eines Kinodarſtellers, ſelbſt die plumpſte 
Anbehilflichkeit der ſzeniſchen Behelfe nicht fo illufions- 
feindlich wirken können wie dieſe phonographiſche Be- 
gleitung, die uns unaufhörlich ins Gedächtnis ruft, wie 
weltenweit dieſe ſchemenhaften Akteure auf der flim- 
mernden Leinwand von lebendiger Wirklichkeit ent- 
fernt ſind. f 

And ſoll uns der Phonograph am Ende gar dazu 
verhelfen, nun auch das Dichterwort mit dem Kino- 
drama zu verbinden — mit dieſem Drama, deſſen Vor- 
gänge ſich in einem ganz anderen Tempo abſpielen 
müſſen als auf der Bühne, und das zu einem gräßlichen 
Unding werden müßte in demſelben Augenblick, wo es 
etwa unverändert von den weltbedeutenden Brettern 
auf die Projektionsleinwand übertragen würde? Nur 
der Unbefangene, dem das Weſen der dramatiſchen 
Dichtung und der Schauſpielkunſt ein ſiebenmal ver- 
fiegeltes Buch iſt, kann ſich ſolcher Täuſchung hingeben. 
Schon der ernſtlich unternommene Verſuch müßte den 
Anfang vom Ende der Kinoherrlichkeit bedeuten. 

Aber das Kino hat, wie geſagt, zu ſeinem Glück den 
Dichter gar nicht nötig, um ſich zu behaupten und ſich 
weiterzuentwickeln. Das ſchönſte Ziel, das es ſich 
ſtecken könnte, wäre ohne allen Zweifel der gänzliche 
Verzicht auf die Vorführung dramatiſcher Szenen von 
ausgeſprochenem Schauſpiel- oder Luſtſpielcharakter. 
Die außerordentliche techniſche Vervollkommnung der 
Aufnahmeapparate und die teilweiſe bis zur höchſten 
Virtuoſität ausgebildete Geſchicklichkeit der Operateure 
ermöglichen, wie zahlreiche Beiſpiele beweiſen, land— 
ſchaftliche, ethnoͤgraphiſche und naturwiſſenſchaftliche 
Aufnahmen, die in demſelben Maße unterhaltend wie 
anregend und belehrend wirken. Aber der geringe 
Erfolg gerade dieſer Filme, auch der allerſchönſten und 


2 Von Reinhold Ortmann. 197 
künſtleriſchſten unter ihnen, beweiſt freilich auf das 
ſchlagendſte, daß damit der Geſchmack der großen 
Maſſe nicht getroffen iſt. Die „belehrenden“ Spiel- 
zeuge pflegen bei Kindern eben nicht in beſonderer 
Gunſt zu ſtehen, und man darf nun einmal nicht ver- 


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| 


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Der Rampf Air dem Telegraphendraht. 


geſſen, daß der Kinematograph noch nichts Beſſeres iſt 
als ein Spielzeug für große Kinder. se 

Bleibt alſo als unerläßlich die Darſtellung von 
irgendwie „packenden“ Szenen aus dem Leben. Das 
Nächſtliegende war ſelbſtverſtändlich das humoriſtiſche 
Genre. Und wir können uns wahrlich nicht darüber 


198 Einiges vom Kino. 2 


beklagen, daß es von den Filmerzeugern ſtiefmütterlich 
behandelt worden wäre. Wir alle haben über die 
Kinoclowns Max Linder, Prince und ſo weiter Tränen 
gelacht, und da Lachen bekanntlich die geſündeſte aller 
körperlichen Betätigungen iſt, ließe ſich gar nichts da- 


gegen einwenden, wenn dieſe inzwiſchen etwas „über— 
lebten“ Herren und ihre Ideenlieferanten gleichwertige 
Nachfolger fänden. Aber der Kinematograph arbeitet 
raſch, und er iſt auf draſtiſche Wirkungen angewieſen. 
Eine zwei Stunden lang anhaltende Häufung ſolcher 
Wirkungen könnte auch der ſtärkſte Magen nicht ver— 


u Von Reinhold Ortmann. 199 


tragen, und Abwechſlung iſt die Würze des Ge— 
nuſſes. 

Darum ſetzte man neben den Scherz den Ernſt, und 
zwar, wie ſich's für ein naives Publikum gebührt, 
gleich in ſeiner düſterſten und ſchrecklichſten Geſtalt. Auf 
den zwerchfellerſchütternden Max, der aus einer luſtigen 
Bedrängnis in die andere taumelt, folgten der nacht 
ſchwarze Intrigant und der blut- 
dürſtige Mörder, folgten die un- 
glückliche, von Gott und Welt 
verlaſſene Waiſe, die verzweifelte 
Mutter am Sterbebett ihres 
Kindes, der hartherzige Vater 
und die grauſam verſtoßene 
Tochter. Grauſen und Mitleid 
zerrten im angenehmſten Wechſel 
an den Nerven des Zuſchauers, 
und die Notwendigkeit ſteter 
Steigerung zwang die Kinos 
regiſſeure und Schauſpieler zu 
immer gewaltigeren Leiſtungen. 
Man mußte für Verfolger und | 
Verfolgte Situationen von nie = 
dageweſener Schrecklichkeit er- Die Heldin auf dem 
finden, wenn man noch eine Leuchtturm. 
Wirkung auf das raſch abgeſtumpfte Publikum her- 
vorbringen wollte. 

Der Beruf des echten Kinodarſtellers hat deshalb 
ſchon längſt aufgehört, bequem und vergnüglich zu 
ſein. Feuer und Waſſer dürfen ihn nicht ſchrecken, er 
muß ſich hoch droben in den Lüften ebenſo furchtlos 
bewegen können wie unten auf der ſicheren Erde, muß 
auf einem durchgehenden Pferde reiten, aus einem 
führerlos dahinraſenden Automobil ſpringen können — 


200 | Einiges vom Kino. a 


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kurz, er muß über alle Fähigkeiten und die ganze Un— 


erſchrockenheit eines richtigen Akrobaten verfügen. Der 
auf einem Telegraphendraht ausgefochtene Fauſtkampf, 


Der Hydroplan als Lebensretter. 


201 


Von Reinhold Ortmann. 


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das langſame Verſinken im 


lockeren Triebſand, das 


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Brücke auf den Schornite 


pringen von einer 


Herunterſ 


den Dampfers oder das Dach e 


leren 


durchpaſſ 


eines 


202 Einiges vom Nino. 


raſchfahrenden Eiſenbahnwagens gelten heutzutage 
ſchon für ziemlich unbedeutende Leiſtungen, und wirk- 
lich geſucht ſind nur ſolche „Schauſpieler“, die erheblich 
Schwierigeres vollbringen können. 

Da lebt zum Beiſpiel in England oder Amerika eine 
Miß Marie Pickering, die in der Luft ebenſo zu Haufe 
iſt wie im Feuer oder im Waſſer. In einem Film 
„Durch die Wolken“ war ihr die gewiß nicht ganz 
leichte Aufgabe geſtellt, aus einem Aeroplan zu ſpringen 
und im Fall das von einem Freiballon herabhängende 
Seil zu ergreifen, um daran in die rettende Gondel 
emporzuklettern. Sie machte unter den gebotenen 
Sicherheitsvorkehrungen erſt eine kleine Reihe von 
Verſuchen, um das Kunſtſtückchen dann ohne alle 
Schutzmaßnahmen in einer Höhe von zweihundert 
Metern über dem Erdboden kaltblütig und mit beſtem 
Gelingen auszuführen. 

Auch mit der ſzeniſchen Aufmachung der Senfations- 
filme haben es die Regiffeure nicht mehr fo leicht wie 
noch vor wenig Jahren. Damals konnte man mit Hilfe 
von Spielzeugeiſenbahnen die ſchönſten Entgleiſungen 
und Zuſammenſtöße vortäuſchen, heute muß man ſich 
dazu richtige, ausgediente Lokomotiven kaufen. Und 
wenn, wie es kürzlich einmal nötig war, ein Automobil 
„explodieren“ ſoll, tut es nicht mehr wie einſt ein 
Miniaturmodell, ſondern man muß wohl oder übel 
einen richtigen Achttauſendmarkwagen opfern. 

Was über die Znſzenierungskünſte und Inſzenie- 
rungskoſten des Gerhard- Hauptmann-Films „Atlantis“ 
erzählt wird, grenzt ſchon ans Fabelhafte. Aber es iſt 
auch freilich keine Kleinigkeit, dem behaglich in ſeinem 
Seſſel ſitzenden Zuſchauer den Zuſammenſtoß eines 
von fünfhundert Paſſagieren beſetzten Rieſendampfers 
mit einem Wrack und ſeinen Untergang mit allem Zu- 


u Von Reinhold Ortmann. 203 


behör an ſchrecklicher Panik, über Bord ſpringenden 
Reiſenden und ſo weiter ganz naturgetreu vorzuführen. 
Eine Mühe, die ſich belohnt macht, denn was ſind die 


+ 


Napoleon bei Waterloo, 


204 Einiges vom Kino. 2 


Wirkungen der „Weber“ oder des „Kollegen Crampton“ 
gegen das Gruſeln und die Gänſehäute des Publikums 
bei ſolchen „dichteriſchen“ Effekten! 

Aber eine Grenze gibt es leider auch hier. Und ein- 
mal mußte der Tag kommen, an dem man ſich mit 
einem treffenden Münchener Ausdruck ſagen mußte: 
„Höher geht's nimmer!“ Da entdeckte man juſt zur 
rechten Zeit zwei neue, verheißungsvolle Gebiete: das 
klaſſiſche Altertum und den Kriegſchauplatz. Man be- 
nützte das erbarmungslos zurechtgeſtutzte Handlungs- 
gerippe der Romane „Quo vadis“ und „Die letzten 
Tage von Pompeji“, um es mit aller Flitterpracht einer 
glänzenden Ausſtattung zu behängen. Die Fabel wurde 
verworren, unverſtändlich und ſterbenslangweilig, der 
Glanz der einzelnen Bilder aber ſtellte die verwegenſte 
Zirkuspantomime in den Schatten. Feſte und Baccha— 
nalien, Gladiatorenkämpfe und ganze Herden von 
richtigen Löwen, grauſige Feuersbrünſte mit Hunderten 
von verzweifelt fliehenden Menſchen und noch hundert 
andere ſchöne Dinge zogen an den Augen der entzüdten 
Zuſchauer vorüber; man drängte ſich eifriger denn je in die 
Lichtſpieltheater, und die beiden Filme brachten ihren 
Erzeugern einen nach Millionen zu beziffernden Gewinn. 

Aber bei der „Herrin des Nils“ machte ſich ſchon ein 
erhebliches Abflauen der Begeiſterung bemerklich. Man 
hatte genug vom Altertum, man fand, daß Akteure 
und Szenen einander allzu ähnlich ſahen, und daß die 
als Würze beigefügten Neuheiten, wie die vor die 
Krokodile geworfene Sklavin, der Einmarſch des Römer- 
heeres in Agypten und etliches Kampfgetümmel, den 
aufgewärmten Brei nicht hinlänglich ſchmackhaft zu 
machen vermöchten. Kleopatra bedeutete nur noch 
einen halben Erfolg, und die Filmfabriken werden klug 
genug ſein, dies Warnungszeichen zu beachten. 


u Von Reinhold Ortmann. 205 


Aus der Schlacht bei Waterloo. 


4 
er 
en 


Die Kriegsſzenen ſcheinen dagegen neuerdings 
wieder mehr in den Vordergrund treten zu ſollen, und 
es ſind von verſchiedenen Filmfabriken ſehr erhebliche 


206 Einiges vom Kino. 1 


Summen aufgewendet worden, um in bezug auf die 
Wahl des Schauplatzes, die Zahl der mitwirkenden 
Statiften, die Echtheit der Uniformen oder Koſtüme und 


Schlacht bei Gettysburg. 


207 


Don Reinhold Ortmann. 


Had qↄqabog 


129 pi 


die überzeugende Bewegtheit der Vorgänge ſelbſt den 


weiteſtgehenden Erwartungen und Anſprüchen Genüge 


zu tun. Bilder, wie ſ 


dem Film „1812“ gezeigt 


ie in 


203 | Einiges vom Rino. a 


werden konnten, gehören zu dem Schönſten, das die 
kinematographiſche Induſtrie bis jetzt hervorgebracht 
hat. Und die in den verſchiedenſten Kampfesphaſen ge- 
filmte „Schlacht bei Waterloo“ mutet ſtellenweiſe faſt 
wie ein getreues Abbild ernſter Wirklichkeit an. Um die 
denkwürdigen Tage von Gettysburg im nordamerifa- 
n ſchen Bürgerkrieg wieder aufleben zu laſſen, jene 
drei erſten Julitage des Jahres 1863, die jedem Nord- 
amerikaner geheiligt ſind, machte man die erforderliche 
Zahl von Aufnahmen ſogar auf dem Kriegſchauplatz 
in Pennſylvanien ſelbſt, und man kann ſich leicht vor- 
ſtellen, welche Begeiſterung es in den Lichtſpieltheatern 
der Vereinigten Staaten auslöſt, wenn man es in 
einer Reihe tumultuariſcher Szenen erlebt, wie Lee 
mit ſeinen Konföderierten von den Unionstruppen 
unter dem tapferen Meade geſchlagen und bis an den 
Potomac zurückgeworfen wird. 

Daß auch die Schlacht von Paardeberg aus dem 
letzten Burenkriege an Ort und Stelle rekonſtruiert 
würde, konnte man füglich nicht wohl verlangen, aber 
wenn auch der Schauplatz der Aufnahmen in das ſüd— 
kaliforniſche Bergland verlegt wurde, ſo wirkt doch 
alles übrige echt genug. Wir ſehen, wie verzweifelt ſich 
Cronje mit ſeinen viertauſend Mann — es mögen ja 
auf der Leinwand ein paar Dutzend weniger ſein — 
gegen die Nobertsſche Übermacht wehrt, der er ſich 
ſchließlich gefangen geben muß, und wir durchleben im 
Geiſte noch einmal die Erregung, die jene Vorgänge 
damals ſelbſt im fernen Europa nachzittern ließen. 
Hauptſächlich für engliſche Gemüter berechnet wie dieſer 
Film, iſt auch die Seeſchlacht von Trafalgar mit dem 
höchſt dramatiſch inſzenierten Heldentode des Admirals 
Nelſon, der, nachdem ihn eine Flintenkugel aus dem 
Fockmars der „Formidable“ tödlich verwundet, in den 


Schiffsraum der „Victory“ gebracht wird, wo er in 
den Armen des Kapitäns Hardy ſeine Seele ver— 
haucht. 

1914. X. 14 


Tod des Admirals Nelſon. 


210 Einiges vom Kino. Oo 


Der Kriegsfilm iſt augenblicklich noch ſtark in ‚der 
Mode; aber auch hier wird in nicht femer Zeit eine 
Überſättigung eintreten, und vielleicht iſt bis dahin dem 
Kinematographentheater der große Reformator er- 
ſtanden, deſſen es dringend bedarf. Es braucht nicht 
notwendig ein „Dichter“ zu ſein, denn für wirkliche 
Poeſie wird die Flimmerleinwand nie und nimmer 
das rechte Wirkungsgebiet werden. Eines erfinderiſchen 
Kopfes aber wird es allerdings bedürfen, der alle 
Wirkungsmöglichkeiten, die hier ja ſo reich gegeben ſind, 
auszuſchöpfen weiß, ohne pſeudoliterariſche oder ſonſtige 
Behelfe herafizuziehen, die hier nicht am Platze find. 
„Der Student von Prag“ hat das Kinoproblem ſeiner 
Löſung ebenſowenig näher bringen können wie Max 
Reinhardts mit ſo großen Hoffnungen erwartete „Ge— 
filde der Seligen“ mit ihrer abgeſchmackten ſogenannten 
„Handlung“. | 

Der rechte Mann wird eben erſt der fein, der die 
Mahnung zu beherzigen weiß: Laßt das Kino einen 
Guckkaͤſten bleiben! Macht feine Bilder jo hübſch und 
ſo bunt wie möglich; aber verzichtet um des Himmels 
willen auf den Ehrgeiz, es zur Höhe wahrer Kunſt zu 
erheben! 


N 
2 


EIEIEIEIES 


| Mannigfaltiges. 


y 


* 


nachoͤruck verboten.) 


Der Schatz des Bauern Smarta. — Oer Wenzel Priszak 
und der Bogumil Sicherski waren fraglos die größten Halunken 
in dem böhmiſchen Dorfe Lehnſtein und deſſen weiterer Um- 
gebung, ſoweit dieſe zu dem Landſtrich nach der ſächſiſchen 
Grenze hin gehörte. Die beiden Genoſſen hatten von Jugend 
an ſo ziemlich alles durchprobiert, was ſie mit den Strafgeſetzen 
in Konflikt bringen konnte. Eigentlich waren ſie bei dieſem 
Treiben geradezu unverſchämt vom Glück begünſtigt worden. 
Denn die paar Monate, die ſie in dem nahen Bezirksgefängnis 
wegen Wilddieberei, Schmuggelns und gelegentlicher kleiner 
Eigentumsvergehen abgeſeſſen hatten, waren kaum zu rechnen. 
Der größere Teil ihres Schuldkontos blieb unbeglichen, was ſie 
lediglich ihrer ſeltenen Geriſſenheit verdankten. 

In letzter Zeit hatten nun der Priszak und der Sicherski 
ſich ſo merkwürdig ſtill verhalten und ſo geſittet gelebt, daß es 
den Lehnſteiner Bauern, die dieſe unbequemen Dorfangehörigen 
nur zu gern für immer auf den Schub nach auswärts gebracht 
hätten, ganz unheimlich wurde. Über dem friedlichen Orte lag 
es wie Gewitterſchwüle. Aber die Entladung wollte und 
wollte nicht kommen. Im Gegenteil, die beiden edlen Ge- 
noſſen, die neuerdings mit einem kleinen Eſelkarren die Um- 
gebung bereiſten und billigen Tand feilhielten, wurden immer 
ſolider und mieden ſchließlich ſogar die Wirtsſtuben, zu deren 
regelmäßigſten Gäften fie bisher gehört hatten. 

Endlich ſickerten doch ſo allerlei Gerüchte durch, weshalb 
der Priszak und der Sicherski als ſolide Handelsleute ſo fleißig 
die Lande durchzogen. Dieſem und jenem ihrer beſten Freunde 
hatten fie das Geheimnis unter dem Siegel tiefſter Verſchwiegen- 


212 Mannigfaltiges. 2 


heit anvertraut — natürlich aus kluger Berechnung. So wußte 
denn bald ganz Lehnſtein, daß die beiden Burſchen in einer 
alten Bibel, die von ihnen auf ihren Hauſiererfahrten einge- 
handelt worden war, eine geheimnisvolle Zeichnung gefunden 
hatten, in deren Mitte ſich ein rotes Sternchen befand. Und 
das ſei der Ort, wo der im Jahre 1895 plötzlich verſtorbene 
reiche Gutsbeſitzer Kulark ſein bares Geld vergraben habe, 
wie auf der Rüdfeite des vergilbten Papierſtückes zu leſen wäre. 

Allmählich wob ſich um die Perſonen der der Ehrlichkeit 
wiedergegebenen Hauſierer, die unermüdlich von Ort zu Ort 
zogen, um das Gelände zu finden, auf das ihre Zeichnung 
paßte, ein geheimnisvoller Nimbus. Kein Menſch hatte einen 
Grund, an den Angaben des gebeſſerten Gaunerpaares zu 
zweifeln. Tatſächlich war ja im Auguſt 1895 der Gutsbeſitzer 
Kulark, ein als reich verſchrieener Zunggefelle, einſam auf 
ſeinem zwei Meilen von Lehnſtein entfernten Gehöft geſtorben, 
und weil man damals in deſſen Haufe faſt gar kein Geld auf- 
gefunden hatte, war ſofort die Mär entſtanden, der Tote müſſe 
ſeine Schätze vorher irgendwo verſcharrt haben. 

So ſtanden die Dinge, als eines Abends im Oktober 1912 
Priszak und Sicherski ſich ganz unerwartet bei Johann Smarta, 
dem reichſten Bauern von Lehndorf, einfanden. In der guten 
Stube fand dann bei verſchloſſenen Türen eine lange Unter- 
redung ſtatt. Die beiden Freunde eröffneten dem begierig 
lauſchenden Bauern, daß ſie endlich den Ort entdeckt hätten, 
wo das Geld des alten Kulark verborgen liege. Bevor ſie jedoch 
nähere Angaben darüber machen würden, müffe Smarta ein 
Schriftſtück unterzeichnen, das ſie fertig aufgeſetzt mitgebracht 
hätten. 

Smarta las den merkwürdigen Vertrag, durch den er ohne 
jedes Riſiko einen hübſchen Batzen Geld verdienen ſollte, erſt 
ſehr genau durch, bevor er ihn unterzeichnete. Darin ſtand 
nämlich, daß er ſich verpflichte, mit Priszak und Sicherski 
den Schatz zu teilen, der auf ſeinem Grund und Boden an einer 
Stelle vergraben ſei, die die Entdecker ihm nach Vollziehung 
ſeiner Namensunterſchrift zeigen würden. 

Als die kleine Formalität erledigt war, und die beiden 


2 Mannigfaltiges. 213 
Freunde das unterzeichnete Schriftſtück in der Taſche hatten, 
holten ſie nun auch die recht vergilbt ausſehende Zeichnung 
hervor, mit deren Hilfe ſie nach ſo langem Suchen den darauf 
angegebenen Platz entdeckt haben wollten. Smarta ließ ſich 
die Zeichnung erklären und konnte ſich gar nicht genug wundern, 
daß es den beiden geglückt war, ſich in all den Strichen und 
Linien zurechtzufinden. Immerhin erſah er aber aus dem 
Plan, daß mit dem roten Sternchen auf der Zeichnung tat- 
ſächlich nur eine kleine Steinhütte, die ſeit Jahren von 
ſeinem Schäfer und deſſen Frau bewohnt wurde, gemeint 
fein könne. Seine letzten, ſchon recht ſchwachen Zweifel an 
der Aufrichtigkeit der einſt ſo übel beleumundeten Freunde 
ſchwanden, als ſie ihm mit ſchöner Aufrichtigkeit verſicherten, 
ſie hätten natürlich nie daran gedacht, mit ihm zu teilen, wenn 
es ihnen möglich geweſen wäre, den Schatz ohne ſeine Hilfe 
zu heben. Dies ſei aber ausgeſchloſſen, da die Frau des Schäfers 
die Hütte nie verlaſſe, und ſie ja auch noch nicht genau wüßten, 
in welcher der beiden Stuben das Geld verſteckt ſei. Man würde 
alſo vielleicht den ganzen Boden durchwühlen müffen, was 
immerhin viel Zeit erfordern könnte. 

Nichts vermochte Smarta mehr von den ehrlichen Abſichten 
ſeiner Bundesgenoſſen zu überzeugen als dieſes Zugeſtändnis, 
daß ſie ihn durchaus nicht etwa aus ſelbſtloſen Gründen ins 
Vertrauen gezogen hätten. Die drei verabredeten darauf 
genau alles weitere. Smarta ſollte an den folgenden Tagen 
das Schäferpaar für einige Zeit auf feinem Bauernhofe be- 
ſchäftigen, und im übrigen ſagten ſich die drei ſtrengſtes Still- 
ſchweigen über ihr Vorhaben zu. Man konnte ja nicht wiſſen, 
ob es nicht noch irgendwo erbberechtigte Nachkommen des 
verſtorbenen Kulark gab, die vielleicht Anſprüche an den Schatz 
erheben würden. 

Alles ging nach Wunſch. Am nächſten Abend konnten 
ſich die drei Schatzſucher nach Eintritt der Dunkelheit ungeſtört 
ans Werk machen. Ihre Vorbereitungen hatten fie in aller 
Heimlichkeit getroffen, um ja nicht die Aufmerkſamkeit der 
anderen Dorfbewohner zu erregen. Nach vierſtündigem Graben 
ſtießen ſie dann wirklich in der hinteren Kammer der Hütte 


in einer Ecke auf einen ſchweren Lederjad, den die Gauner 
in einem unbewachten Augenblick dort verſteckt hatten. Mit 
fiebernden Händen half Smarta ihn aus dem Loche heraus- 
ziehen. Man öffnete ihn ſofort und fand darin vier weitere 
kleinere Lederbeutel, die ſämtlich, wie die oberflächliche Befich- 
tigung zeigte, öſterreichiſche Fünfkronenſtücke enthielten. Zur 
Prüfung reichte der vorſichtige Sicherski dem vor Freude halb 
verſtörten Bauern aus jedem Sacke ein paar der Silbermünzen 
hin. Dann ging es ans Durchzählen und Teilen, wobei Smarta 
die qualmende Petroleumlaterne zu halten hatte. Im ganzen 
waren es genau eintauſendundvierzig Fünfkronenſtücke, eine 
Summe, die den Erwartungen der drei Schatzſucher freilich 
nicht ganz zu entſprechen ſchien. 

Priszak und Sicherski baten den Bauern nun, auch ihren 
Anteil vorläufig in Verwahrung zu nehmen, wozu dieſer ſich 
gern bereit erklärte. Darauf wurde der auf drei Beutel ver- 
teilte Fund auf Umwegen nach Smartas Wohnung ge- 
ſchleppt. | 

Dort angekommen fpielte Priszak plötzlich den Angſtlichen. 
Er möchte doch lieber das ihm und ſeinem Freunde gehörige 
Geld mitnehmen, da man nicht wiſſen könne, ob es bei Smarta 
auch ſicher genug aufgehoben ſei, worauf Sicherski ſeiner Rolle 
entſprechend äußerte, ihm würde es überhaupt am liebſten fein, 
wenn ſie gleich am nächſten Morgen die Reiſe nach Hamburg 
antreten könnten, um von dort nach Amerika weiterzufahren, 
was ſie ja ſchon längſt geplant hätten. Nur könnten ſie ſich 
dabei nicht mit den beiden ſchweren Beuteln ſchleppen. Ob 
Smarta ihnen denn nicht das Silbergeld in Papier einwechſeln 
wolle. Das wäre doch am einfachſten. 

Ahnungslos ging der Bauer in die Falle. Da er gerade 
zwei Tage vorher ſeine Ernte an einen Händler verkauft hatte, 
beſaß er genug Banknoten, um den Wunſch ſeiner guten Freunde 
erfüllen zu können. Nach herzlichem Abſchied verſchwanden die 
beiden Spitzbuben, und Smarta war froh, ſie auf immer los 
zu ſein. 

Als der Bauer ſich nun aber am anderen Morgen beim 
hellen Tageslicht ſeinen Schatz nochmals anſah, bemerkte er 


a Mannigfaltiges. 215 


ſofort, daß er ſchmählich betrogen worden war. Die Kronen- 
ſtücke waren ſämtlich falſch. 

Sofort alarmierte Smarta das ganze Dorf und ließ eine 
Streife nach den beiden Betrügern veranſtalten. Die waren 
aber längſt über alle Berge, hatten auch allen Anzeichen nach 
ihre Flucht vorher gut vorbereitet gehabt. Nun wurde das 
Bezirksgericht in Graslitz von dem Vorgefallenen verſtändigt, 
das ſofort den ganzen Polize iapparat in Bewegung ſetzte, 
um des Gaunerpaares habhaft zu werden, was aber erſt 
zwei Wochen ſpäter in Wien gelang, wo die beiden in einem 
Tingeltangel einem Polizeikommiſſär durch ihre leichtſinnigen 
Ausgaben auffielen. 

Priszak und Sicherski wurden wegen Falſchmünzerei und 
Betrug jeder zu ſechs Jahren Kerker verurteilt. W. K. 

Die enttäuſchten Turko. — Unter dieſer Überſchrift war 
nach den erſten Schlachten des Deutſch-Franzöſiſchen Kriegs 
von 1870/71 unter den deutſchen Truppen ein auf einem Quart- 
blatte gedrucktes Spottgedicht weit verbreitet, deſſen Verfaſſer 
ein heſſiſcher Landwehrmann geweſen ſein ſoll, der ſich jedoch 
nicht genannt hat. Unter den damals in Kaſſel internierten 
franzöſiſchen Gefangenen befanden ſich nämlich viele Turko, 
deren mutmaßliche Gemütsverfaſſung geſchildert war in dem 
Gedichte, das uns von einem Veteranen, der als Musketier 
des zur rühmlichſt bekannten 22. Diviſion gehörigen 3. Heffi- 
ſchen Infanterieregiments Nr. 85 an dem Kriege teilgenom- 
men hat, mitgeteilt wird, und das als ein Produkt volkstüm- 
licher Dichtung aus jener denkwürdigen Zeit verdienen 
dürfte, vor der Vergeſſenheit bewahrt zu bleiben, ſchon im 
Hinblick darauf, daß in Frankreich aus der eingeborenen Be- 
völkerung der afrikaniſchen Kolonien neuerdings ganze ſchwarze 
Armeekorps gebildet werden ſollen, um in einem etwaigen 
ſpäteren Kriege gegen Deutſchland verwendet zu werden. 

Das Gedicht lautete: 

Aus Kaſſel ſchrieb ein Sohn der Wüſte 
An die Turko in dem Land, 

Deſſen meerumſpülte Küſte 

Glũht im heißen Sonnenbrand: 


216 


Liebe Brüder! Ruhm und Ehre 
Ward uns leider nicht zuteil, 
Aber eine gute Lehre, 

Die uns dienen kann zum Heil. 
Als der Kaiſer aller Franken 
Uns zum großen Kampfe rief, 
Weckt' er auf den Mordgedanken, 
Der in jedem Turko ſchlief: 
„Eilet hin zum deutſchen Rheine, 
Macht dem Feind die Hölle heiß! 
Silber, Gold und Edelſteine 
Sollt ihr ernten ſcheffelweis. 


Haut die Deutſchen all in Fetzen, 
Hackt ihr Fleiſch zu lauter Wurſt! 
Das bereitet euch Ergötzen, 

Deutſches Blut löſcht euern Durſt. 


Reißt die Häuſer all zuſammen, 


Setzet drauf den roten Hahn, 
Werft die Kinder in die Flammen, 
Wie ihr es ſchon oft getan! 

Führt die Frauen fort in Banden 
Tief in eure Sklaverei! 

Von den ſchönſten, die wir fanden, 
Trägt es jedem Turko drei.“ — 
Alſo ſprach der Frankenkaiſer, 

Und es ſchrie der Wüſte Sohn 
Voll Begeiſtrung ſich faſt heiſer: 
Vive l'empereur Napoleon! 

Aber, als es kam zum Klappen 
Mit dem tapfern deutſchen Heer, 
Da erlitten wir nur Schlappen, 
Niederlagen, groß und ſchwer. 
Nichts geſchah dann uns zuliebe — 
Wie verkehrt iſt doch die Welt! — 
Wir bekamen deutſche Hiebe, 

Aber nimmer deutſches Geld. 


Mannigfaltiges. 


'D 


2 Mannigfaltiges. 217 


Und die ſchönen deutſchen Frauen, 
Die uns trefflich ſtanden an, 
Durften wir von fern zwar ſchauen, 
Aber nicht uns ihnen nahn. 


Kriegsgefangen, ohne Wehre, 
Send’ ich aus dem fremden Land 
Varnend euch die weiſe Lehre 
An den heimatlichen Strand: 


Strebet nicht nach Deutſchlands Gauen, 

Denn es winken euch am Ziel 

Weder Gold noch ſchöne Frauen, ö 
Aber Hiebe, hart und viel! R. v. B. 


Aus Alt-Berlin. — Was jetzt vom alten Berlin noch ſteht, 
find eigentlich nur Überrefte. Die Antergrundbahn ſchlug man 
durch das kleine Fleckchen des alten Fdylls, und damit ſchwanden 
viele dieſer liebevoll umſtändlichen Bauten. Jetzt ſtehen große 
Geſchäftshäuſer dort, in denen „Inventur“ und „Bilanz“ die 
Hausgeiſter ſind. 

An einigen Stellen aber hat die Umwandlung Berlins zur 
Handelſtadt bisher doch halt gemacht: am Krögel und an der 
Fiſcherſtraße. Während aber der Krögel auch ſchon langſam 
zu zerbröckeln beginnt, ſteht das Alt- Berlin der Fiſcherſtraße 
noch unangetaſtet. Recht einſam liegt die Gegend, nur die 
wenigen geborenen Berliner wiſſen, daß hier der alte Kern 
iſt, um den ſich das überſchnell gewachſene Großftadtgebilde 
legte. So ſteht an der Ecke Fiſcher- und Cöllniſche Straße das 
älteſte Haus Berlins. Es ſoll ſeinerzeit als eines der erſten 
Bürgerhäuſer entſtanden ſein, als Berlin noch ein Fiſcherdorf 
war und ſich erſt allmählich zur Stadt entfaltete. Das Reſtau- 
rant, das heute darin iſt, beſtand damals ſchon, nur hieß es etwas 
deutſcher „Gaſthof“ und hatte zudem für die Bevölkerung eine 
Bedeutung, die ihm ſelbſtverſtändlich jetzt abhanden gekommen 
iſt. Fuhrleute und Schifferknechte find zumeiſt Gäſte des Re- 
ſtaurants, aller Glanz iſt entblättert, ebenſo wie der Nußbaum 
vor dem Fenſter auch nicht mehr ſo recht grünen will. Das 
genaue Alter des Hauſes iſt nicht mehr bekannt, man legt 


218 Mannigfaltiges. u 


Das älteſte Bürgerhaus Berlins Ecke Fiſcherſtraße 
und Cöllniſche Straße. 


aber das Entſtehen noch vor die Zeit des erſten Hohenzollern— 
regenten von Brandenburg, alſo in den Anfang des 15. Jahr- 
hunderts. 

Die weiter abgebildete namenloſe Straße iſt bei weitem 
nicht ſo alt, ſie mag ſeit Anfang des 17. Jahrhunderts in ihrer 


a Mannigfaltiges. 219 


— 

8 2 — 

— 3 
* * — 


Die he Verbindungſtraße der e 
mit der Fiſcherſtraße. 


jetzigen recht primitiven Form ſtehen. Weil dieſe Straße nur 
eine unbefahrbare enge Verbindung zwiſchen Fiſcherbrücke und 
Fiſcherſtraße darſtellt, gab man ihr wohl keinen Namen, ſondern 
nannte ſie einfach „Durchgang“. Damit muß ſie ſich heute noch 
begnügen. 


220 Mannigfaltiges. 2 


Rings um das Stückchen Alt-Berlin funkelt abends das 
elektriſche Lichtermeer mit ſeinen mutwillig auͤfblitzenden und 
wieder verlöſchenden Reklamen, drinnen in den alten Gaſſen 
aber ſchwelt noch das trübe Petroleumlicht und wirft ſeinen 
gelben, zitterigen Schein auf das regennaſſe, holperige Feld- 
ſteinpflaſter. E. S 

Die Rache des Regiſſeurs. — Im Winter des Jahres 1885 
wurde im Großen Opernhauſe von Paris Meyerbeers „Robert 
der Teufel“ geſpielt. In der packenden Szene, wo die Nonnen 
im Kloſterfriedhof aus ihren Gräbern auferſtehen und den 
Ritter umſchweben, blieb eine der Nonnen regungslos auf 
ihrem Flecke ſtehen, wie wenn ſie angewurzelt wäre. Das 
verwunderte Publikum faßte die Sache ſo auf, als ſolle damit 
der Szene ein neuer Reiz verliehen werden. Als ſie dann 
aber ebenſo unbeweglich ſtehen blieb, während die anderen 
Tänzerinnen entſchwebten, ja, als ſie unverkennbare Zeichen 
großer Unruhe von ſich gab, da merkten alle Zuſchauer, daß 
irgend etwas bei ihr haperte, und ſämtliche Operngläſer des 
vollbeſetzten Hauſes waren geſpannt auf ſie gerichtet. Von 
den Kuliſſen aus wurde ihr endlich vernehmlich zugerufen, ſie 
möge doch kommen. Da faßte ſie einen heroiſchen Entſchluß: 
ſie bückte ſich, knöpfte ſich vor den Augen der ſämtlichen 
Anweſenden ihre weißen Tanzſchuhe auf, ſchlüpfte heraus 
und ſprang auf den Strümpfen davon, verfolgt von einem 
lachenden, vielhundertſtimmigen Bravo. 

Der Theaterdiener, der die ſtehengebliebenen Schühchen 
wegholen ſollte, konnte ſie nur vom Boden entfernen, indem er 
ſie in Stücke riß. | 

Die betreffende Ballerina, ein Fräulein Roſa Mercia, 
reichte nunmehr gegen den Regiſſeur, Herrn Dubois, Klage 
ein und behauptete, er ſei derjenige geweſen, der an dem frag- 
lichen Abende die Sohlen ihrer Ballettſchuhe mit Gummi be- 
ſtrichen habe, um ſie in eine lächerliche Lage zu verſetzen. 

Bei der mündlichen Verhandlung ſtellte der Beklagte ſeine 
Schuld entſchieden in Abrede. Kein Menſch könne ihm nach— 
weiſen, daß er es geweſen ſei, der der Dame jenen Schabernack 
geſpielt habe. 


u Mannigfaltiges. 221 


„Das nicht,“ rief die gekränkte Tänzerin, „aber kein anderer 
Menſch außer ihm hätte die mindeſte Urſache, mir zu grollen! 
Er wollte ſich an mir rächen, denn ich war zwei Jahre lang feine 
Verlobte. Daß ich mich jetzt entſchloſſen habe, einen anderen 
Mann zu heiraten, kann er mir nicht verzeihen, und deshalb 
ſeine Rache.“ N 

Darauf erklärte der Richter: „Mit dieſem Eingeſtändnis 
haben Sie dem Angeklagten die ſchönſte Verteidigungsrede 
gehalten, die ihm nur gehalten werden konnte. Daß ihm das 
Vergehen nicht nachgewieſen werden kann, geben Sie ſelbſt 
zu, und daß es menſchlich begreiflich iſt, wenn er ein ſo großes 
Unrecht, wie Sie ihm nach Ihren eigenen Worten angetan 
haben, durch einen harmloſen Schabernack rächt, müſſen Sie 
ebenfalls ſelber zugeben. Im Namen des Geſetzes ſpreche ich 
den Angeklagten frei.“ C. D. 

Tauchererlebniſſe. — Nicht reicher Beute wegen wagte der 
Taucher Leverett, deſſen Mut ihn zu einem Platze in der Helden- 
galerie der Welt berechtigt, vor mehreren Fahren im engliſchen 
Kanal ſein Leben. Ein Kamerad war in Gefahr. Während 
dieſer auf dem Meeresgrunde arbeitete, hatte ſich fein Luft- 
ſchlauch mit einem Seile, an dem der Taucher befeſtigt war, 
verwirrt. In ſolcher Tiefe länger als eine halbe Stunde 
unter Waſſer bleiben, heißt, mit ſeinem Leben freventlich 
ſpielen, und dennoch ging Leverett hinunter und blieb über eine 
Stunde unter Waſſer. Es glückte ihm auch, ſeinen Kameraden 
an die Oberfläche zu bringen. 

Kapitän Mattſon von der ſchwediſchen Barke „Flora“ ent- 
deckte im Buſen von Biskaya, daß fein Schiff ein Leck erhalten 
hatte, das eine Reparatur von außen erforderlich machte. 
Dieſe Arbeit nahm der Kapitän ſelbſt vor. Er legte dabei 
einen improviſierten Taucheranzug an, in dem er am Schiffe 
hinunter ins Waſſer gelaſſen wurde. Bald hatte der tapfere 
Kapitän die ſchadhafte Stelle ermittelt, und trotz der beängitigen- 
den Nähe eines Hais gelang es ihm doch, ſeine ſchwierige Arbeit 
auf vollkommen fachmänniſche Weiſe zu beenden. 

Die bekannte dramatiſche Epiſode in Viktor Hugos Roman 
„Die Arbeiter des Meeres“ wiederholte ſich im wirklichen Leben, 


— 


222 Mannigfaltiges. ao 


als ein Taucher namens Palmer, der bei der Hafenverwaltung 
von Napſtadt angeftellt war, ins Waſſer ſtieg, um den Schaden 
feſtzuſtellen, den der Dampfer „Dunwegan Caſtle“ bei feinem 
Anfahren gegen eine Kaimauer erlitten hatte. Das Vaſſer 
war klar, und der Taucher hoffte, ſeine Arbeit unter günſtigen 
Umftänden vornehmen zu können. Plötzlich ſchoß aber von 
einem Felsblock her ein gräßlicher Fangarm hervor, der ihn 
am Arme packte. Im nächſten Augenblick war fein Arm ge- 
feffelt, und ein Oktopus, der jetzt aus feinem Verſteck hervor- 
kam, ſchlang ſeine anderen Fangarme um ſein unglückliches 
Opfer, das ohne Meſſer ſich ſeinem erbarmungsloſen Gegner 
rettungslos überliefert ſah. 

Zu ſeinem Glück verließ Palmer ſeine Geiſtesgegenwart 
nicht. Er zog die Signalleine, und ſeine Kameraden wanden 
ihn nach oben. Langſam ſtieg er zur Oberfläche empor, und 
als er ſie erreichte, hielt ihn das Seeungetüm noch immer in 
feiner grauſamen Umarmung. Hilfe in der Geftalt von Meſſern 
und Beilen war jetzt raſch zur Hand, und der Oktopus wurde 
von ſeiner Beute losgeſchnitten und losgehauen. 

Ein nicht minder furchtbarer Feind iſt der Hai, der von 
Tauchern in der Südſee ſo gefürchtet wird, daß nur wenige 
unter Waſſer zu arbeiten wagen, wenn fie nicht in den Gittern 
eines großen, eiſernen Käfigs eingeſchloſſen ſind. Solchen 
Schutz verſchmähte aber der Taucher Lambert, als er in der 
Höhe der Inſel Diego Garcia an dem Wrack eines Kohlen- 
ſchiffes arbeitete, das von einem Dampfer gerammt worden war. 

Als er zum erſten Male hinabſtieg, näherte ſich ihm ein 
großer Hai, der den Eindringling ſich näher anſehen wollte. 
Dadurch, daß Lambert das Ablaßventil in ſeinem Helm öffnete 
und etwas Luft ausſtrömen ließ, ſcheuchte er die Beſtie hinweg. 
Tags darauf aber kam ſie wieder, und wenn es auch dem Taucher 
gelang, ſie durch dasſelbe Manöver zeitweiſe wegzujagen, ſetzte ſie 
doch mit ſolcher Regelmäßigkeit ihre Beſuche fort, daß ſich Lam 
bert entſchloß, zu draſtiſcheren Mitteln ſeine Zuflucht zu nehmen. 

Als der Hai ſeinen nächſten Beſuch machte, ſtieß er ihm ſein 
bereitgehaltenes Meſſer in den Rachen. Nach heftigem Kampfe 
glückte es ihm, die Beſtie vollends zu töten. 


u Mannigfaltiges. 225 


— Se u 5 a 2 nn nn nn na me 


Ein Taucher mit Namen Bardi vermißte ginen wertvollen 
Dolch, der ihm einſt als Ehrengeſchenk überreicht morden war, 
und den er infolgedeſſen ſehr hoch ſchätzte. Nach einigen 
Jahren, als er ſeinen Verluſt faſt ſchon vergeſſen hatte, arbeitete 
er auf einem geſunkenen Schiffe. Über alle Maßen war es 
da unten grauſig, denn in dem Schiffe befanden ſich viele 
Leichen derer, die mit ihm zugrunde gegangen waren. In 
der Kajüte ſtieß er auf zwei Leichen, auf deren Geſichtern 
ſich im Tode noch der grimmigſte Haß malte. Die eine war 
die ſeines Bruders, von dem er ſeit vielen Jahren nichts mehr 
gehört hatte, die andere die eines Weibes, in deſſen Bruſt die 
Klinge feines lange verloren geweſenen Solches ſteckte, wäh- 
rend den Griff noch die ſtarre Fauſt des Mörders umklammert 
hielt. F. C. 

Baut der Storch Getreide? — Faſt in allen 1 1 Getrelbe⸗ 
jahren kommt im Spätſommer aus der einen oder anderen 
Gegend die Nachricht von „grünenden Storchneſtern“, von 
großen Getreidebüſcheln, die, weithin ſichtbar, ringsum am 
Rand der Horſte wachſen. Man könnte vielleicht an einen 
Verzierungs- oder Schönheitsſinn unſeres Freundes denken; 
aber dieſe Verzierung tritt ja erſt im Spätſommer zutage, 
wenn er ſich ſchon zur Abreiſe anſchickt. Daß er aber dieſe 
grüne Laube anderen, vielleicht den Hausbewohnern zum 
Dank und Vergnügen hinterläßt, ſo weit darf man die Ver- 
menſchlichung der Storchgefühle denn doch nicht treiben. 
Würden alſo wohl die recht behalten, die behaupten, er ſäe 
das Korn, den Weizen oder Hafer auf ſeinem gut gedüngten 
Horſte, damit ſich die heranwachſenden Jungen an den zarten 
Sproſſen erlaben. 

Nun ſind aber dieſe Sproſſen durchaus kein Futter für junge 
Störche. Der Storch iſt ein ausgeſprochener Fleiſchfreſfer 
von Jugend auf. Die Zungen bekommen von der Geburt 
an Kerbtiere, Regenwürmer, Heuſchrecken und ſo weiter, die 
ihnen die Eltern durch ſorgfältiges Vorkauen ſchmackhaft 
machen. 

Wozu dient nun alſo dieſes Getreide dem Storchꝰ Hat es 
überhaupt einen beſtimmten Zweck? Nein, alle Fragen ſind 


224 Mannigfaltiges. 0 


hinfällig. Die Getreidekörner befinden ſich einfach an oder 
in den Beutetieren, die Freund Adebar feinen Zungen zuträgt. 
Erwachſene Vögel mit keimfähigen Körnern im Kropf 
fängt der Storch nicht, ſie ſind ihm zu gewandt, es ſind vielmehr 
nur Mäuſe und namentlich Hamſter, die hier in Frage kommen 
können. Der Hamſter iſt bekanntlich ein ganz vorzüglicher 
Dreſcher. Mit den Vorderfüßen biegt er die Halme um, beißt 
die Ahren ab und zerreibt ſie zwiſchen den Pfoten ſo geſchickt, 
daß die Körner unbeſchädigt in ſeine wunderbaren Backentaſchen 
gleiten. Dieſe nützlichen Taſchen, die bis zu fünfzig Gramm 
Ladung faſſen, find allerdings unter Umſtänden auch des 
Tieres Verhängnis. Sind ſie nämlich gefüllt, und will er ſich 
mit ſeinem Schatz in die Winterkammer begeben, ſo wird er 
gerade in dieſem Zuſtand zuweilen von unſerem Langbein 
überraſcht. Mit dem würde er ſonſt leicht fertig. Ein aus- 
gewachſener Hamſter wehrt ſich, ewig zornig und biſſig wie 
er iſt, nicht nur gegen Hunde erfolgreich, ſondern greift ſogar den 
ahnungslos an ihm vorühergehenden Menſchen an, der ihm 
gar nichts getan hat. Aber die gefüllten Backentaſchen! Sie 
hindern ihn jetzt am Beißen, und ehe er mit den Pfoten die 
Körner herausgeſtrichen hat, verſetzt ihm Held Adebar einen 
ſofort tötenden Schnabelhieb auf das Hirn. Nun trägt der 
Sieger den fetten Burſchen mühſam zu Horſte und zerlegt 
ihn hier feinen Zungen nach allen Regeln der Kunſt. Durch 
das eifrige Rütteln und Schütteln fallen hierbei natürlich die 
für den Storchenſchnabel wertloſen Getreidekörner aus den 
Taſchen nach rechts und links, nach vorn und hinten in das 
Reiſig und geraten allmählich bis auf den unteren Humus, 
wo ſie bei günſtiger Witterung bald keimen und wachſen. 
Das ift die natürliche, auf neueren Ermittlungen, zum Bei- 
ſpiel des Pfarrers Schufter in Obergimpern, beruhende Erflä- 
rung der „landwirtſchaftlichen Tätigkeit“ unſeres langbeinigen, 
leider immer ſeltener werdenden Freundes. H. R. 
Bismarck und die Musketiere. — Am 19. November 1865 
traf König Wilhelm auf der Fahrt nach Letzlingen in Magde- 
burg ein, um das neue Offizierskaſino des 26. Regiments in 
Augenſchein zu nehmen. Im Gefolge befanden ſich die Prinzen 


2 Mannigfaltiges. | 225 


Karl, Friedrich Karl, Albrecht Vater und Sohn, Feldmarſchall 
Graf Wrangel und ein Major in der Uniform der Halberſtädter 
Küraſſiere von herkuliſcher Geſtalt. Nach Beſichtigung des 
Regimentshauſes begrüßte der König das auf dem Rafernen- 
hofe aufgeſtellte Regiment, ging die Fronten ab und ließ 
dann wegtreten, um die neue Kaſerne zu beſichtigen. 

Es war nur ein kleines Gefolge, das den König in dieſe be- 
gleitete, nur die direkten Vorgeſetzten des Regiments und der 
reckenhafte Küraſſiermajor. Wilhelm I. ging von Stube zu Stube 
und beſchränkte ſich keineswegs auf die Beſichtigung der Räume; 
in der einen Stube ließ er ſich die Spinde zeigen, in einer 
anderen das Putzzeug; hier unterſuchte er das Kommißbrot, 
dort die Stiefelſohlen. Hatte er eine Stube gemuſtert, dann 
fragte er jedesmal zum Schluß: „Kommt ihr auch mit eurer 
Löhnung aus?“ worauf natürlich jedesmal die Antwort er- 
folgte: „Jawohl, Majeſtät!“ 

Der König und ſein Gefolge hatten ſoeben eine Stube 
verlaſſen, nur der Küraſſiermajor war noch zurückgeblieben. 
Da ſtellte ſich der gewaltige Mann in feiner ganzen Reden- 
haftigkeit vor die Soldaten, ſah ſie mit ſeinen durchdringenden 
Augen an und fragte: „Kommt ihr wirklich mit eurer Löhnung 
aus? Wenn ihr Wäſche, Putzzeug, Fußlappen und was ihr 
ſonſt noch braucht, bezahlt habt, bleibt euch dann wirklich noch 
etwas übrig, um euch Fett aufs Brot zu kaufen?“ Und als 
die Leute ganz verdutzt nichts antworteten, donnerte er ſie 
förmlich an: „Na, Antwort!“ 

Nun kamen dann einige Beherztere mit der ſchüchter— 
nen Entgegnung heraus: „Nein, übrig bleiben tut dann 
nichts fürs Zubrot, da muß man ſchon von zu Hauſe was 
haben.“ 

„Na, alſo! Sch gebe mir die größte Mühe, euch mehr Löh— 
nung zu verſchaffen, habe den König wiederholt darum gebeten; 
nun geht er hier von Stube zu Stube, fragt, ob ihr mit eurer 
Löhnung auskommt, und auf allen Stuben heißt es: „Jawohl, 
Majeftät!! Ihr mußtet als ehrliche Kerls doch ſagen: ‚Nein, 
Majeſtät, wir reichen nicht.“ Das wäre die Wahrheit geweſen! 
Von wem ſoll ein König denn die Wahrheit noch hören, wenn 

1914. X. 15 


226 mannigfaltiges. 8 


er fie nicht einmal von euch altmärkiſchen Bauernjungen zu 
hören bekommt!“ 

Dann wandte er ſich zur Tür. 

„Donnerwetter, wer war denn das?“ fragten ſich die Leute. 

Ein Berliner Junge wußte es. „Dat war ja der Bismar ck, 
was unſern König ſein erſter Miniſter iſt!“ rief er. 

„Dat is äwer en hölliſchen Kirl!“ hieß es da. „Dat hätten 
wi wiſſen ſollen!“ O. v. B. 

Die Fürſtin Jurjewskaja. — Als nach langjährigem Leiden 
die erſte Gemahlin des Kaiſers Alexander II., den die Geſchichte 
den Zarbefreier, den großen Zarmärtyrer nennt, die Zarin 
Marie, eine Tochter des Großherzogs Ludwig II. von Heffen, 
geſtorben war, vermählte er ſich morganatiſch mit der Fürſtin 
Katharina Dolgoruka, deren Familie ſich der Abſtammung von 
Rurik, dem warägiſchen Begründer Rußlands, rühmt. 

Die Geſchichte dieſer romantiſchen Liebesheirat zwiſchen 
der ſchönſten, edelſten Frau Rußlands und dem damals zwei- 
undſechzigjährigen Herrſcher, deſſen Haupt die Strahlenkrone 
edelſter Menſchlichkeit umſchwebte, iſt ein Idyll auf den . 
Höhen der Menfchheit. 

Die Fürſtin war nicht nur die geradezu ſchwärmeriſch an- 
gebetete Geliebte ſeines Herzens, ſondern auch die Vertraute 
ſeiner politiſchen Geſchäfte, mit der er alle Eingaben der Miniſter, 
alle Berichte der Botſchafter, der Gouverneure, der Polizei 
und in letzter Zeit ſogar des Diktators Loris-Melikow beriet. 
Sie diente ihm als Vorleſerin und Kabinettchef zugleich. 
Während ſie ihm vorlas, machte er ſeine Notizen. Sie kannte 
ſeine geheimſten Sorgen, und ihr verhehlte der Alleinherrſcher 
auch ſeine Befürchtung nicht, daß ihm ſein langes Leben voll 
Güte, ſein Wirken voll Wohlwollen kaum ein ruhiges Ende 
gewährleiſten dürfte. 

Die neue Ehe des Zaren blieb natürlich nicht geheim. Bald 
erzählten es ſich die Spatzen auf den Dächern, die Fürſtin Dol- 
goruka, die zum erſtenmal den Zaren zum Herbſtaufenthalt 
nach Schloß Jalta bei Livadia begleitete, ſei ihm in ge- 
heimer Ehe morganatiſch vermählt und der Widerſtand der 
kaiſerlichen Familie gegen dieſe Ehe durch den Verzicht der 


Fürſtin, die den uralten Titel einer Fürſtin Zurjewstaja erhalten 
hatte, auf den kaiſerlichen Rang beſiegt worden. Dieſe Gerüchte 


— 


Fürſtin Katharina Jurjewskaja, die zweite Gemahlin 
des Kaiſers Alexander II. von Rußland. 
(Nach einem Holzſchnitt ans der Illuſtrierten Zeitung) 


wurden durch einen längeren Beſuch, den das Großfürſt- Thron— 
folgerpaar in Livadia abſtattete, beſtätigt. Der nach der Rüd- 
kehr nach St. Petersburg herrſchende ungezwungene und in 
den Formen der vornehmen Welt ſich bewegende Verkehr zwi— 


228 Mannigfaltiges. 2 


ſchen der Fürſtin und der kaiſerlichen Familie beſeitigte dann 
allen Zweifel. 

Die Ehe war am 31. Zuli 1880 geſchloſſen worden, und von 
eingeweihter Seite wurde verſichert, daß der Zar nach Ablauf 
des Trauerjahres ſeiner neuen Ehe die öffentliche Weihe geben 
würde. Die Fürſtin war hochbeglüdt; fie erzählte ihren Ver- 
wandten mit Stolz, daß der Kaiſer ſie am Altar mit den Worten 
umarmt habe: „Z bin ſtolz, eine Fürſtin Oolgoruka geheiratet 
zu haben.“ In ihrem Buch „Alexandre II. Détails inédits 
sur sa vie intime et sa mort“ erzählt ſie ferner, der Kaiſer, der 
übrigens ſtreng darauf ſah, daß der Fürſtin alle Ehren wie ſeiner 
verſtorbenen Gemahlin erwieſen wurden, habe einmal ge- 
äußert, indem er mit der Hand nach dem Himmel zeigte: „Wiſſe, 
daß ich dort oben nicht aufhören werde, dich zu lieben, wie ich 
dich auf Erden geliebt habe.“ Ein andermal habe er ihr be- 
teuert: „Meine Krone iſt ſehr ſchwer, aber du hilfſt ſie mir 
tragen.“ 

In der Tat lebte Alexander ſo ſehr in dem Glück ſeiner 
zweiten Ehe, daß er ſich immer mehr von der eigentlichen Staats- 
leitung zurückzog und dieſe Loris-Melikow und dem Thron- 
folger überließ. 

Die Fürſtin ſchwebte trotzdem in ſteter Angſt um das Leben 
des Gatten, der ihr verſprechen mußte, ſich fo wenig als mög- 
lich in der Öffentlichkeit zu zeigen, die ihr von der Polizei als 
bedenklich geſchilderten Straßen zu meiden und niemals ohne 
Eskorte auszufahren. „Ich verſpreche es dir, weil es dich be- 
ruhigt,“ hatte er geantwortet. „Aber Gott allein iſt es, der 
über mir wacht, und der mich rettet. Wenn er es ſo will, können 
mich alle meine Koſaken nicht beſchützen.“ 

Am 15. März 1881, einem Sonntag, ſagte der Kaiſer der 
Fürſtin: „Ich habe den Verfaſſungsukas unterzeichnet. Ich 
hoffe, daß er einen guten Eindruck machen und Rußland ein 
neuer Beweis dafür ſein wird, daß ich meinem Volke gerne 
alles, was möglich iſt, gewähre. Ich habe Befehl gegeben, daß 
der Ukas morgen veröffentlicht wird.“ Dann reichte er ſeiner 
Gattin den Arm, um fie in den Speiſeſaal zu führen. Unter- 
wegs flüſterte er ihr zu, indem er ihren Arm an ſeine Bruſt 


2 Mannigfaltiges. 229 


drückte: „Ich fühle mich ſo glücklich, daß mich mein jetziges 
Glück beinahe zu erſchrecken beginnt.“ 

Nach dem Frühſtück erſchien Graf Loris-Melikow, der den 
Zaren bat, an dieſem Tage nicht zur Parade zu gehen, da ſein 
Leben unmittelbar bedroht ſei. Zu einer Abſage der Parade 
konnte ſich der Zar, um vor feinen Offizieren nicht feige zu er- 
ſcheinen, aber nicht entſchließen. Und ſo ging er in den Tod. 

Die Geſchichte der Ermordung des Zarenbefreiers iſt ſo 
bekannt, daß wir von ihrer Schilderung abſehen können. 

Als die Fürſtin die Nachricht von dem Bombenattentat, dem 
der Zar zum Opfer gefallen war, erhielt, eilte ſie, wie ein 
Augenzeuge berichtet, in das Vorzimmer des Sterbegemachs, 
wo fie, einige Augenblicke durch das Gewühl der dort verfam- 
melten Menge aufgehalten, gerade auf einen Koſaken ſtieß, der 
ein mit Blut gefülltes Becken trug. Sie überſchritt haſtig die 
Schwelle des Gemachs und eilte einige Schritte vorwärts. Als 
ſie den ſterbenden Kaiſer erblickte, blieb ſie eine Sekunde mit 
ausgebreiteten Armen, ein Bild des Entſetzens, wie angewurzelt 
ſtehen. Dann ſtieß ſie einen markerſchütternden Schrei aus 
und eilte vorwärts, um zu helfen. Der Kaiſer erkannte fie nicht 
mehr. Er lag da mit bleichem Antlitz, die Augen halb geöffnet. 
Die Fürſtin kühlte ihm unausgeſetzt das Geſicht mit Waſſer, 
rieb ihm die Schläfen mit Ather ein und mühte ſich ab, ihm ihren 
Odem in den Mund zu hauchen. Die Söhne und Brüder des 
Kaiſers, Generale und Hofbeamte umſtanden weinend und 
ſchluchzend fein Lager. Es war 3 Uhr 35 Minuten nachmittags, 
als der Leibarzt Profeſſor Doktor Bottkin, ſich ernſt vor dem 
Thronfolger verneigend, den eingetretenen Tod des Zaren kon- 
ſtatierte, deſſen Witwe jammernd zuſammenbrach. 

Auf dem Admiralitätsplatz vor dem Palais hatte ſich eine 
vieltauſendköpfige Menge verſammelt, die ſtill und entblößten 
Hauptes für das bedrohte Leben des Zarenmärtyrers betete. 
Um 3 Uhr 40 Minuten ſenkte ſich die Zarenflagge auf Halbmaſt. 
Wie ein unterdrückter Wehruf ging es durch die unten harrende 
Menge, und wie auf einen einzigen Wink lagen alle die Tauſende 
auf den Knien. 

Die Fürſtin Jurjewskaja aber ſchnitt ſich, einem Gelübde 


250 Mannigfaltiges. D 


getreu, in derſelben Stunde ihr ſchönes Haar ab, um es dem 
geliebten Toten in die Gruft mitzugeben. „Ich will,“ äußerte 
ſie auf die Vorſtellungen der neuen Zarin, „daß mein Gemahl 
im Grabe dieſen Haarſchmuck, den er ſo unſäglich liebte, und 
der mir fortan zwecklos iſt, bei ſich habe.“ 

Nach der Beiſetzung des Zaren ging ſeine Witwe ins Aus- 
land, um dort nur noch dem Andenken eines der größten und 
edelſten Menſchen zu leben, der jemals Rußland beherrſcht hat. 
Ihr Sohn, Prinz Georg, iſt erſt vor kurzem einundvierzig Jahre 
alt zu Marburg i. H. verſtorben. Sie ſelbſt lebt zurückgezogen 
meiſt in Paris. W. F. 

Das älteſte Lebeweſen der Welt ſteht im ſüdlichen Mexiko 
— die berühmte Zypreſſe auf dem Kirchhofe des Dorfes Santa 
Maria del Tule. Der Baum erhebt ſich im Gebiete der Provinz 
Oaxaca und ſteht zwei und eine halbe Meile öſtlich von der 
gleichnamigen Provinzialhauptſtadt. Nach dem rieſigen Um- 
fange des Stammes der Zppreſſe zu urteilen, und unter Be- 
rückſichtigung des langſamen Wachstums dieſer Baumgattung 
haben Sachverſtändige das Alter dieſes Baumrieſen auf 5000 

bis 6000 Jahre geſchätzt. 

g Solche Zahlen fordern die Phantaſie heraus. Nehmen wir 
die niederſte Schätzung an, dann fiel das Samenkorn, aus dem 
dieſer Baum entſprang, um die Zeit in die Erde, als König 
Menes in Agypten herrſchte, alſo um 3000 vor Chriſtus. Als 
Cheops ſeine Untertanen zum Bau der Großen Pyramide 
antrieb, war der Baum ein junger, ſchlanker Burſche von 
200 gahren. Und ein fröhlicher junger Mann von 1500 Jahren 
war er, als die Hebräer aus dem Lande des Nils zogen. 

Im Leben dieſes Baumes müſſen die Entdeckung von 
Amerika und die Eroberung Mexikos durch Cortez Ereigniſſe 
ſein, die ſich erſt vor ein paar Monaten zugetragen haben. 

Die Santa-Maria-del-Tule-Zypreſſe wurde 1903 zum letzten 
Male von Doktor v. Schrenk wiſſenſchaftlich gemeſſen. Es waren 
das gerade 100 Jahre, nachdem Humboldt den Baum auf feiner 
berühmten Reife durch das äquatoriale Amerika entdeckt hatte. 
Doktor v. Schrenk ſtellte feſt, daß der Stamm einen Meter über 
dem Boden den erſtaunlichen Umfang von 40 Metern hatte. 


2 Mannigfaltiges. 231 


In größter Ehrfurcht blieb bei ſeinem erſten Beſuche Doktor 
v. Schrenk vor dieſem gewaltigen Baumrieſen ſtehen, der ſchon 
vorhanden war, als es kaum noch eine Geſchichte der Menfch- 
heit gab. Hätte dieſes beblätterte Geſchöpf Augen gehabt 
und eine Zunge beſeſſen, welch wertvolle Kunde hätte es zur 
Bereicherung der Geſchichte der Menſchheit mitteilen können! 

An dem heftigen Widerſtande des Bürgermeiſters von Santa 
Maria del Tule ſcheiterte indeſſen die Löſung der Aufgabe, 
das Alter des Baumes endgültig feſtzuſtellen. Man wollte 
den Umfang des Stammes meſſen. Das wurde zugeſtanden. 
Auch das Photographieren. Aber mit einem znſtrumente 
aus dem Stamm einen bis zur Mitte reichenden Pflock heraus- 
bohren, das erlaubte er nicht. 

Vergebens wies Doktor v. Schrenk darauf hin, daß dieſes 
Exper iment ſchon ſehr oft vorgenommen worden ſei, ohne daß 
die betreffenden Bäume irgendwelchen Schaden genommen 
hätten, machte darauf aufmerkſam, daß man durch Zählen der 
Ringe, die der herausgeſchnittene Pflock zeigte, feſtſtellen 
könnte, mit welcher Geſchwindigkeit der Baum wüchſe, und. daß 
dadurch im vorliegenden Falle ſich eines der größten wiljen- 
ſchaftlichen Probleme der Welt löſen ließe. Der Bürgermeiſter 
war zwar die Liebenswürdigkeit und Zuvorkommenheit ſelbſt, 
ſein ganzes Vermögen ſtellte er dem berühmten Reiſenden zur 
Verfügung, aber daß dieſer den Baum verletze — das konnte 
und wollte er nicht geſtatten. 

So mußte ſich denn Schrenk damit begnügen, den Umfang 
des Baumes zu meſſen und vom Dache des Rathauſes der 
Stadt aus eine photographiſche Aufnahme zu machen. Er 
fand auch die hölzerne Tafel, die vor 100 Jahren Alexander 
v. Humboldt an den Baum genagelt hatte, und daß dieſer 
Baumrieſe durch 50 Jahrhunderte hindurch ſich jetzt noch ſeine 
unverminderte Lebenskraft erhalten hat, beweiſt der Umſtand 
daß dieſe Tafel mit Rinde überwachſen war. g. C. 

Heilkraft von Lilienblättern. — In dem im Cotta'ſchen 
Verlage erſchienenen „Taſchenbuche auf das Jahr 1802 für 
Natur- und Gartenfreunde“ macht der Pfarrer Chriſt aus 
Kronberg auf die außerordentliche Heilkraft der grünen, aus 


232 Mannigfaltiges. u 


der Zwiebel an der Erde hervorwachſenden Blätter der weißen 
Lilie aufmerkſam. Dieſe im friſchen Zuſtand aufgelegten 
Blätter ſollen ſich namentlich wirkſam erweiſen „im Brand 
ſowohl von Feuer und kochenden Flüſſigkeiten, als auch im 
ſogenannten kalten Brande an Gliedern des Leibes, in Rotlauf 
und Flüſſen, böſen hitzigen Augen, Beulen, Wurm am Finger 
und Nagelgeſchwüren, vertrockneten Fontanellen, eingeſtochenen 
Dornen und Glasſplittern, aufgebrochenen Beinen“. Von 
den in dem Almanach angeführten Wunderkuren mit dieſem 
Heilmittel ſei der folgenden beſondere Erwähnung getan. 

„an einer meiner Gemeinden,“ fo berichtet der Pfarrer, 
„wurde ich zu einer Frau gerufen, um ihr das Heilige Abendmahl 
zu reichen, weil der Fuß, in den ſie ſich vor zwei Jahren ein 
Glas getreten, wegen Durchſchwärung abgenommen werden 
ſollte und ſie auf einen ſchlimmen Ausgang gefaßt war. Der 
kalte Brand war da augenſcheinlich wahrzunehmen: ſchwarz— 
braun gleißend und mit Blaſen beſpritzt war der ganze Fuß. 
Ich ſagte mir, man müſſe alles eher verſuchen, ehe der Fuß 
amputiert wird, ließ die Pflaſter wegwerfen und den Fuß 
mit grünen Lilienblättern umwickeln. Eine halbe Stunde darauf 
legte ſich der größte Schmerz, die Patientin verfiel in einen tie- 
fen Schlaf, desgleichen fie wegen heftiger Schmerzen ſeit Jahren 
nicht gehabt hatte. Am frühen Morgen des anderen Tages kam 
der Chirurgus, um den Fuß abzulöſen, findet aber ſtatt einer 
jämmerlich winſelnden eine ruhig ſchlafende Frau, ftatt der Pfla- 
ſter Blätter und ſtatt eines kranken Fußes einen gefunden, auf 
welchem das aus der Mitte des Fußes herausgeeiterte Glas lag.“ 

Läßt ſich die Heilkriſis auch mehr durch das Zufammen- 
wirken anderer Faktoren erklären, fo mag doch an der auf- 
weichenden und zerteilenden Kraft der Lilienblätter etwas 
Wahres ſein, und es wäre intereſſant zu erfahren, ob die 
Volksmedizin auch heutzutage und vielleicht in anderen Gegen- 
den von ähnlichen Erfolgen zu berichten weiß. R. R. 

Fidele Gefängnisgeſchichten. — Die Zuſammenſtellung 
folgender drei Geſchichtchen bietet ein reizvolles Kapitel aus 
der amerikaniſchen Rechtspflege, die ſich ja in manchem 
Punkte von der europäiſchen unterſcheidet. 


— 


a Mannigfaltiges. ; 253 


Der neuernannte Scheriff einer Stadt des Weſtens hatte 
einen beſonderen Hinweis auf das Geſetz erhalten, wonach 
man keinen Unterſuchungsgefangenen in Einzelhaft halten 
dürfe. Nun ließ er eines Abends zwei Strolche in Unter- 
ſuchungshaft bringen; einer davon entwich in der Nacht, und 
als der Scheriff am nächſten Morgen zum Verhör ſchreiten 
wollte, fand er zu ſeinem Leidweſen nur noch den anderen vor. 
Da riß er die Zellentür weit auf und ſchrie dem Manne zu: 
„Machen Sie, daß Sie 'rauskommen! Warum haben Sie 
ſich nicht mit dem andern davongemacht? Sie wollen mir 
jedenfalls Unannehmlichkeiten machen! Alſo, 'raus!“ — 

Im Jahre 1899 mußte die Juſtiz von Kirkwood in Montana 
den Neger Moſes wegen irgend eines Vergehens zu ſechs 
Monaten Haft und zweihundert Dollar Geldſtrafe verurteilen, 
hatte aber anderthalb Jahre Herzeleid darum zu tragen. Der 
biedere Moſes nämlich war der einzige Gefangene des Städt- 
chens und kam daher, da man ſeinetwegen zwei Wärter an- 
ſtellen mußte, recht teuer zu ſtehen, zumal er ſtatt der ſechs 
Monate deren achtzehn abbrummte, weil er mittellos war und 
die Geldſtrafe nicht begleichen konnte. Schon im erſten Monat 
ſeiner Haft hoffte man, Moſes werde ausbrechen oder von einem 
der ihm gewährten Spaziergänge nicht wiederkommen. Aber 
man hatte die Rechnung ohne den — Gaſt gemacht. „Ich er- 
halte täglich drei Mahlzeiten,“ ſagte der Neger, „das iſt mehr, 
als ich draußen bekomme. Alſo bleib' ich, wo ich bin!“ 

Als er eines Sonntags gegen Ablauf des erſten Monats 
den Wärter um die Erlaubnis bat, einem Ballſpiel zuſehen zu 
dürfen, hielt dieſer die Gelegenheit, ihn entwiſchen zu laſſen, 
für günſtig und gab die Erlaubnis ſehr gern. Doch getreulich 
und pünktlich um ſechs Uhr abends war der Neger wieder da 
und begehrte durch Klopfen an der verſchloſſenen Tür Einlaß. 
Der Wärter redete ihm zu, doch noch eine Bar zu beſuchen. 
Moſes tat es und kam gegen ein Uhr in der Nacht wieder. 
Diesmal war der Wächter nicht mehr im Gefängnis, ſondern 
hatte ſich in ſein Haus zur Ruhe begeben. Aber Moſes trom- 
melte ihn auch da aus dem Schlafe. Der ſchwarze „Schma— 
rotzer“ beſtand eben auf ſeinem Rechte als Gefangener der 


234 Mannigfaltiges. 2 


guten Stadt Kirkwood, deren Gefängniskoſt täglich dreimal es 
ihm angetan hatte und keinerlei Freiheitsdrang in ihm auf- 
kommen ließ. Ganz beſonders wohlgenährt verließ er endlich 
am Schluſſe ſeiner „Strafzeit“ die gaſtliche Stätte und ſoll 
ſeine Mitbürger längere Zeit durch die Drohung erſchreckt haben, 
er werde ſchon bald wieder etwas unternehmen, um neuen 
längeren Aufenthalt in ſeinem angenehmen Aſyl zu erlangen. — 

Im Jahre 1840 durfte ſich die Stadt Nantucket in Maſſa- 
chuſetts eines nicht minder treuen und anhänglichen Gefangenen 
erfreuen, auch des einzigen, den ſie gerade ihr eigen nannte. 
Dieſer machte eines Morgens dem Scheriff die Anzeige, daß 
es ihm, wenn man das Gefängnis nicht in beſſeren Zuſtand 
verſetze, zu ſeinem Leidweſen aus geſundheitlichen Gründen 
und im Intereſſe feiner perſönlichen Sicherheit nicht länger 
möglich ſein werde, darin zu bleiben. Es regne und ſchneie 
zum Dach herein, und die Tür habe kein Schloß, fo daß es ihm, 
zumal bei Wind, ſchwer falle, ſie zu- und ſich ſelber eingeſchloſſen 
zu halten. Auch hier gab man den Rat, davonzugehen, und 
diesmal hatte man mehr Glück, denn der Gefangene machte 
ſich in der Tat auf die Socken. E. A 

Billiger Einkauf. — Die Herzogin von Montpenſier war 
eine ſehr ſparſame Frau und dabei eine leidenſchaftliche Samm- 
lerin alter Kunſtſchätze. Einſt entdeckte fie auf einem Streif 
zuge durch die winkeligen Gaſſen des alten Paris bei einem 
Trödler einen wunderſchönen Kaſten, der angeblich aus dem 
15. Jahrhundert ſtammen ſollte. Nach langem, von beiden 
Seiten mit Gelehrſamkeit und Zähigkeit geführten Feilſchen 
einigte man ſich über den Preis. 

„Meinetwegen,“ ſagte die Herzogin, „tauſend Franken gebe 
ich — vorausgeſetzt, daß der Kaſten zu den übrigen Möbeln 
meiner mittelalterlichen Stube paßt.“ Und als ſie dieſe Worte 
ſprach, fiel ihr Blick auf eine allerliebſte, kleine römiſche Statue. 
Ganz leichthin, wie wenn ſie die Statue vorher gar nicht geſehen 
hätte, ſagte ſie dann noch: „Aber wenn ich Ihnen den Kaſten 
ſchon zu einem ſo hohen Preiſe abnehmen ſoll, müſſen Sie mir 
irgend etwas daraufgeben; vielleicht dieſe Statuette da?“ 

Der Trödler machte ein ſaueres Geſicht, doch er willigte 


Mannigfaltiges. 235 


ſchließlich ein, weil er es mit der ihm wohlbekannten Herzogin 
nicht verderben wollte, und er überdies hoffte, beim nächſten 
Male den Wert der Zugabe doppelt hereinzubringen. Am 
anderen Tage ſchickte er den Kaſten und die Statue in das 
prunkvolle Heim der Herzogin und wartete ungeduldig mehrere 
Wochen auf das Geld. Wie groß aber war ſein Erſtaunen, als 
nach Ablauf dieſer Zeit der Kaſten mit einem duftenden Brief- 
chen der Herzogin zurückkam, in dem ſie lebhaft bedauerte, daß 
der Kaſten doch nicht zu den Möbeln paſſe. Über die Statue 
ſagte ſie kein Wort. Die Dreingabe hatte allem Anſcheine nach 
zu den Möbeln gepaßt. A. E. 

Wohlriechende Glockenſzilla. — LUnfere Landſchafts- 
gärtnerei hat ſich in neuerer Zeit den bunten Flor der Früh- 
lingszwiebelgewächſe zunutze gemacht und bepflanzt jetzt Ra- 
batten und die Ränder von Gehölzgruppen mit leuchtenden 
Frühlingsblumen. Unſere umſtehende Abbildung zeigt eine 
ſolche Pflanzung vor einer Gehölzgruppe, und zwar mit der 
jetzt ſehr in Aufnahme gekommenen wohlriechenden Glockenſzilla. 

Die Blütezeit der Glockenſzillen fällt in die Monate Mai 
und Juni. Ihre Blüten ähneln ein wenig den Hyazinthen- 
blumen, aber ſie ſind graziöſer als dieſe. Sie werden etwa 
20 bis 30 Zentimeter hoch. Man kann ſie an Ort und Stelle 
etwa drei Jahre lang ſtehen laſſen, da ſie winterhart ſind. 
Nach Ablauf dieſer Zeit werden ſie am beſten umgepflanzt. 
Man kann auch die Zwiebeln, wenn das Kraut vollſtändig welk 
geworden iſt, ausheben, an einer trockenen Stelle lagern und 
dann im Herbſt oder im Winter bei offenem Boden einpflanzen. 
Will man ſie zeitig im Frühjahr blühen ſehen, ſo gräbt man an 
einem froſtfreien Tage einige Zwiebeln aus der Erde und ſetzt 
ſie in Töpfe, deren Erde gehörig angefeuchtet wird. Will man 
eine lange Blütenperiode erzielen, ſo ſtelle man den Topf zwar 
ans Fenſter, aber möglichſt weit weg vom Ofen. Allzu große 
Wärme läßt die Stengel ſchnell aufſchießen, und der Flor ver- 
geht in wenigen Tagen. Nach dem Abblühen werden die 
Zwiebeln wieder an Ort und Stelle gepflanzt. 

Man kann die Glockenſzilla auch als ſogenannte Streu- 
blume in den Gartenraſen einpflanzen. Man nimmt ein ſpitzes 


256 Mannigfaltiges. u 


Pflanzholz, ſticht in den Raſen überallhin Löcher und ſteckt die 
Zwiebeln der Szilla hinein. Dann wird Erde darüber gebreitet. 
Die Blüten erſcheinen dann im Frühjahr mitten im grünen 
Raſen, was einen anmutigen Anblick gewährt. Nach der Blüte 


3 


Wohlriechende Glockenſzilla. 


können die Zwiebeln an Ort und Stelle verbleiben und erſcheinen 
im nächſten Jahre wieder. —dt. 
Japaniſche Weisheitslehren. — Die japaniſche Regierung 
läßt neuerdings unter dem Volke ein kleines Schriftchen ver- 
teilen, das Vorſchriften zu vernunftgemäßem Leben enthält. 
Dieſe Vorſchriften find deswegen von ganz beſonderem znter— 
eſſe, weil ſich in ihnen morgenländiſche mit abendländiſchen 
Anſchauungen verſchmelzen. Die meiſten dieſer Regeln ſind 
dieſelben, die bei allen Kulturvölkern Geltung haben, manche 


u Mannigfaltiges. 257 


aber ſind unſeren Gewohnheiten ſogar voraus. Nach den 
Mitteilungen einer engliſchen Zeitſchrift lauten die erſten 
zehn dieſer Regeln wie folgt: 

„Erſtens: Verbringe ſo viele Zeit, wie du nur kannſt, im 
Freien. Sonne dich viel und mache dir viel Bewegung. Achte 
darauf, daß du ſtets tief und regelmäßig atmeſt. 

Zweitens: Was das Eſſen anbetrifft, ſo iß nur einmal 
Fleiſch am Tage, im übrigen laſſe deine Koſt aus Eiern, Ge- 
treide, Gemüſe, Obſt und friſcher Kuhmilch beſtehen. Was du 
zu dir nimmſt, kaue tüchtig. 

Drittens: Bade einmal an jedem Tage und nimm ein 
paarmal in der Woche ein Dampfbad, wenn dein Herz kräftig 
genug iſt, das auszuhalten. 

Viertens: Trage grob gewebtes Unterzeug und Kleider, 
einen bequemen Kragen, einen leichten Hut und gut paſſende 
Schuhe. 

Fünftens: Gehe früh zu Bett und ſteh zeitig auf. 

Sechſtens: Schlafe bei offenſtehendem Fenſter in einem 
ſehr dunklen und vollkommen ruhigen Zimmer, die Dauer 
des Schlafes ſoll mindeſtens ſechs und höchſtens ſieben Stunden 
betragen. Perſonen weiblichen Geſchlechtes ſind acht Stunden 
Schlaf zu empfehlen. 

Siebentens: Einen Tag in der Woche widme vollſtändiger 
Ruhe. Jeglicher Arbeit mußt du dich dann enthalten, auch nicht 
einmal ſchreiben und leſen. 

Achtens: Suche jeden Ausbruch von Leidenſchaften und 
ſtarke geiſtige Erregungen zu vermeiden. Sorge dich nicht 
um das Eintreffen unvermeidlicher Ereigniſſe in der Zukunft 
oder kommender Dinge. Erzähle keine unangenehmen Ge— 
ſchichten und, wenn irgend möglich, höre dir ſolche auch nicht an. 

Neuntens: Heirate! Witwer und Witwen ſollten ſich ſo— 
bald als möglich wieder verheiraten. | 

Zehntens: Sei mäßig im Genuß von Tee und Kaffee, ver- 
meide Tabak und alkoholiſche Getränke. 8g. C. 

Die Zone des Schweigens. — Über eine außerordentlich 
intereſſante Beobachtung, die für die Bewertung der Zeugen- 
ausſagen vor Gericht, wie für die Kriminaliſtik überhaupt 


238 Mannigfaltiges. 2 


von größter Bedeutung werden kann, berichtet der Züricher 
Meteorologe Doktor A. de Quervain. Er hat nämlich die 
Feſtſtellung gemacht, daß beim Bau der Zungfraubahn eine 
Erplofion von 25 000 Kilo Dynamit in normaler Weiſe im 
Umkreis von 30 Kilometern gehört wurde. Darüber hinaus 
ſchloß ſich eine Zone von etwa 140 Kilometern an, in der die 
furchtbare Detonation überhaupt nicht gehört wurde, während 
in einem weiteren, an dieſe Zone ſich anſchließenden Gürtel 
von etwa 50 Kilometer Breite der Knall wieder deutlich ver- 
nommen wurde. 

Durch dieſe Beobachtung gewinnt auch ein hiſtoriſcher Fall 
wieder an Intereſſe, der im Jahre 1760 ſpielte. Während der 
Schlacht von Liegnitz hörten die kaiſerlichen Generale Daun 
und Laſcy ſamt ihren Truppen den Kanonendonner nicht und 
kamen daher dem General Laudon nicht rechtzeitig zu Hilfe. 
So kam es, daß Friedrich der Große damals die Schlacht von 
Liegnitz gewann. Die zur Rechtfertigung gezogenen Generale 
beteuerten, von dem Schlachtgetöſe nicht das geringſte wahr- 
genommen zu haben, aber man glaubte dies den Generalen 
ebenſowenig wie den Mannſchaften, da feſtgeſtellt wurde, 
daß weit hinter ihnen liegende Truppenteile den Ranonen- 
donner vernommen hatten. 

Heute hält man die Behauptung der Generale wohl für 
möglich und erklärt ihr Nichthören durch Nebel, verſchiedene 
Erwärmung der Luftſchichten und durch eine beſondere Art 
von Brechung der Schallwellen, wie ſie auch bei Lichtſtrahlen 
beobachtet wird. Nimmt man nun aber eine derartige „Zone 
des Schweigens“ an und überträgt ſie von den geſchilderten 
großen Ereigniſſen auf die kleineren des täglichen Lebens, 
ſo ergeben ſich für die Kriminaliſtik neue wichtige Möglichkeiten. 
Man wird dann die Glaubwürdigkeit von Zeugen, die einen 
Schuß, menſchliche Schreie und dergleichen nicht gehört haben 
wollen, während vom Tatort entferntere Perſonen dieſe Ge- 
räuſche deutlich vernommen haben, nicht mehr ſo ohne weiteres 
beſtreiten können. Während das Gericht bei milder Auffaſſung 
bisher derartige Zeugenausſagen mit ſchlechtem Gehör, mangeln- 
der Aufmerkſamkeit und ſo weiter erklärte, und bei ſtrenger 


E Mannigfaltiges. 239 


Auffaſſung ſie als Begünſtigung und nicht ſelten als falſche 
Ausſagen anſah, wird es nun nicht umhin können, dieſe neueſten 
Wahrnehmungen auf dem Gebiete der Akuſtik bei der Bewer- 
tung der Zeugenausſagen in Berückſichtigung zu ziehen. 
Immerhin bedarf es aber bei der außerordentlich geringen 
Anzahl ſolcher einwandfrei feſtgeſtellten Fälle noch einer ein; 
gehenden wiſſenſchaftlichen Unterſuchung der ihnen zugrunde 
liegenden Urſachen, bevor ſie eine wirklich praktiſche Bedeutung 
in unſerem Rechtsleben ſich erringen können. R. M. W. 
Das Wichtigere. — Ein allerliebſtes Geſchichtchen, das den 
doppelten Vorzug hat, wahr zu ſein und einen für liebende 
Mädchenherzen wertvollen Beitrag zur Pſychologie des 
Mannes zu bieten, trug ſich vor einer Reihe von Jahren 
in Kopenhagen zu. Zwei junge Mädchen hatten ihre Herzen 
an einen und denſelben jungen Mann, einen entfernten Ver- 
wandten ihrer Familien, verloren, waren aber ungewiß, welche 
von ihnen er wiederliebe. Beide redeten ſich ein, er habe ſie 
ins Herz geſchloſſen. Nach einigem Hin und Her kamen fie 
überein, den jungen Mann auf eine Probe zu ſtellen; jede der 
beiden Damen ſollte ihm ein Brieflein ſenden, das die Ein- 
ladung enthielte, ſie zu derſelben Stunde zu beſuchen, und da 
er doch zu gleicher Zeit nicht beiden Aufforderungen Folge 
leiſten könnte, ſo ſollte diejenige als die von ihm am meiſten 
geliebte gelten, zu der er käme oder zuerſt kommen würde. 
Weſentlich erleichtert durch dieſe Abmachung, trafen die 
Mädchen auf demſelben Spaziergange, der dieſen Beſchluß 
in ihnen reifen ließ, zufällig den Gegenſtand ihrer Neigung. 
Er hatte es ſehr eilig und wußte ihnen nichts weiter zu ſagen, 
als daß er irgendwo feinen Regenſchirm habe ſtehen laſſen. 
Als nun das erſte Fräulein ans Briefſchreiben ging, faßte 
ſie den Entſchluß, um auf jeden Fall den Sieg über ihre Neben- 
buhlerin davonzutragen, auch vor einer kleinen Lüge nicht 
zurückzuſchrecken, und ſo ſchrieb ſie denn: „Liebſter Karl! 
Ich bin ſehr krank. Vielleicht muß ich ſterben. Kommen Sie 
doch ſicher heute abend punkt acht Uhr!“ 
Aber es ward halb neun, es ſchlug voll und wurde auch zehn 
Ahr. 


— mn mn on — — — 


240 Mannigfaltiges. 2 


Da kam triumphierend — die andere. So merkwürdig 
es nach dem Inhalte jenes Briefs auch war, Karl hatte die 
zweite beſucht, denn ſie hatte ihm kurz und bündig geſchrieben: 
„Liebſter Karl! Kommen Sie doch heute abend punkt. acht Uhr 
zu mir. Sie haben nämlich Ihren Regenſchirm bei uns stehen 
laſſen.“ R. St. 

Mediziniſches aus alter Zeit. — Zn der guten alten Zeit, 
als jede Einwirkung auf die Menſchennatur noch durch derbe 
Mittel bewerkſtelligt wurde, gab es in der Arzneiwiſſenſchaft 
allerlei Abfonderlichketten, von denen man heutigestags nur 
mit Verwunderung hört. Die Bereitung des damaligen All- 
heilmittels, des Theriaks, den man nur aus Venedig gut und 
echt beziehen zu können glaubte, während ihn jetzt jeder Apo- 
theker ſelbſt bereitet, wurde unter den ſeltſamſten Zeremonien 
vorgenommen. Ein Zug von zweihundertundfünfzig Gehilfen 
zog in Nürnberg dabei in Prozeſſion zu der Apotheke, in der 
die Bereitung geſchah — alle in weißen Schürzen und jeder mit 
einem ſilbernen Teller, auf dem einer der größtenteils über- 
flüſſigen Beſtandteile ſich befand. Dieſe wurden dann im Bei- 
ſein von Arzten und Abgeordneten des Senats in einen großen 
Keſſel geſchüttet, und das Umrühren geſchah mit jener Würde 
und dem Ernſte, die jener Zeit eigen waren. C. T. 

Ein bibelfeſter Theaterdirektor. — In einer kleinen Re- 
ſidenzſtadt wurde Grillparzers Drama „Sappho“ aufgeführt. 
Die Darſtellerin der Titelrolle fand ſolchen Beifall, daß fie 
ſogar, nachdem ſie ihrer Rolle gemäß vom Leukadiſchen Felſen 
ins Meer geſprungen war, von dem begeiſterten Publikum 
herausgerufen wurde. 

Statt ihrer trat der Direktor vor die Rampe, verbeugte ſich 
und ſprach: „Verehrte Damen und Herren! Zn der Offen- 
barung Johannis heißt es zwar: „Das Meer gibt ſeine Toten 
wieder‘ — das kann aber leider erſt am Füngſten Tage der Fall 
ſein! Fräulein F. bedauert alſo ſehr, Sie bis dahin ver— 
tröſten zu müſſen. 5 R. R. 


Herausgegeben unter Derantmortlicer Redaktion von 
Theodor Freund in Stuttgart, 
in Öfterreih-Ungarn verantwortlich Dr. Ernſt Perles in Wien. 


welche zarte, weiße Haut u. biendend 
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5 i ee an: = 
Mit der Taſtenſchrift, jenem tauſendſach anerkannten Notenſyſtem, 
kann jeder, ob alt oder jung, ob von leichter oder etwas ſchwerer Auf— 
ſaſſung, in kürzeſter Zeit flott und fehlerfrei Klavier ſpielen. Noten— 
kenntniſſe find nicht erforderlich. Nach den übereinſtimmenden Ur— 
teilen ſolcher, die das Klavierſpiel nach der alten Notenſchrift erlernt 
haben, kann man mit der Taſtenſchrift in wenigen Wochen das er— 


reichen, wozu man früher Jahre benötigte. So ſchreibt z. B. Frau L. 
aus Prag am 16. 3. 1914: 

„Ich bedauere nur, daß mir der Zufall erſt jetzt Ihre werte 
intereſſante, dabei ſo leichte Methode zugeführt hat. Meine beiden 
Kinder ſpielen bereits geläufig vom Blatt und ſind ganz glücklich 
darüber.“ 

Die Taſtenſchrift iſt eine ernſt zu nehmende Methode, die auch von 
Berufsmuſikern allgemein geſchätzt wird. 

Das komplette Werk, das neben allen zur Erlernung notwendigen 
Einzelheiten auch noch etwa 25 vollſtändige Muſikſtücke, wie Lieder, 
Märſche, Tänze uſw. enthält, koſtet 5 M. und kann gegen vorherige 
Einjendung des Betrages oder Nachnahme von dem Wrufif- Verlag 
Euphonie. Friedenau 11 bei Berlin, bezogen werden. An Inter- 
eſſenten, die es für erforderlich halten, ſendet der Verlag gegen Ein⸗ 
ſendung von 50 Pf. in Briefmarken Aufklärung und einige Probes 
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