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Full text of "Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens 1916, Band 10"

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VON 


SAMMLUNG 


Anion Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart, Berlin, Leipzig. 


[E. Marlitts Romane u. Novellen 
Illuſtrierte Geſamt⸗Ausgabe 


10 Bände in feiner Leinwand⸗Truhe 40 Mark. Jeder Band einzeln 
zum Preiſe von 4 Mark gebunden. Vollſtändig in 75 Lieferungen 
zum Preiſe von je 40 Pfennig. 

Inhalt der Bände: 


Bd. 1. Das Geheimnis d. alten Bd. 6. Die Frau mit den Kar⸗ 


Mamſell. Iluſtr. v. C. Koch. funkelſteinen. 
Illuſtriert von C. Zopf. 


„ 2. Das Heideprinzeßchen. 7. Die zweite Frau. 
Illuſtr. v. Erdmann Wagner. N A $ Zid. 
„ 3. Reichsgräfin Giſela. „ 8. Goldelſe. 
Illuſtriert von J. Kleinmichel. 8 125 W. Claudius. 
„ 9. Das ulenhaus. 
„ 4. Im Schillingebof e 


Illuſtriert von W. Claudius. „ 10. Thüringer Erzählungen. 


„ 5. Im Haufe des Kom: | (Enthaltend: Amtmanns Magd. Die zwölf 


5 ‚ Apoſtel. Der Blaubart. Schulmeiſters 
merzienrates. Illuſtriert von Marie.) Illuſtriert von M. Fla s har, 
H. Schlitt. 


E. Herger und A. Mandlick. 
Illuſtr. Katalog übe 


— Romane, Novellen, Jugend: 
ſchriften uſw. von * daft in Stuttgart koſtenfrei. 


Pr» 


2. 
—— 


in der „OSibllothek der Unterhaltun 100 des Wiffens” ge inf — 2 
Inf erate ſachgemäßer dee in 1 Schichten der 1. N een daue 
Wirkungskraft. 1 der Inſertionspreiſe, insbeſondere der per für Vorzugsfeiten, 
wende man ſich an die Anzeigengeihäftsitelle der „Bibliothek Unterhaltung und des 


Wiſſens“ in Berlin S 61, Blücherſtraße 31. 4999999999990 %%% %%% %%% 99999009499 


Millionen 3 


gebrauchen zu ihrem eigenen Wohle 


Heiserkeit, Katarrh, 
Verschleimung, 


Rachen-Katgyrh, 
Krampf- u. Keuchhusten 


Kuiser’s Anst-Laramelon an un. Tann“ 


MR not. begl. Zeugnisse von Ärzten und Pri- 
h vaten liefern den besten Beweis für die 
| sichere Wirkung u. allgemeine Beliebtheit. 


Kein ähnliches Präparat vermag solche | 
Erfolge aufzuweisen. 


Paket 25 Pfg., Dose 50 Pfg., in Österreich Paket T ⁰⁹ 
20 u. 40 Heller, Dose 60 Heller zu haben in den,: au. 4 
Apotheken, Drogerien und besseren Kolonial- 
warenhandlungen. Wo die millionenfach be- 
währten Kaiser's Brust-Caramellen nicht käuf- | 
lich sind, wende man sich zur Angabe der 
nächsten Verkaufsstelle direkt an die Fabriken 


in Deutschland Fr. Kaiser, Waiblingen-Stuttgart, 
< in Österreich-Ungarn Fr. Kaiser, Bregenz-Vorarlberg, 72 1 
in der Schweiz F. Aaiser, St. Margrethen (sc 6e. Eines 


Elektrischer Haarzerstörer! 


Etwas Sensationelles bringt das medizinische Waren- 

hass Dr. Ballowitz & Co., Berlin W. 57, Abt. Hy. B. I. Lästige 

Haare mit der Wurzel kann man jetzt selbst beseitigen, indem SH; 

er man den Apparat durch Kpopfdruck in Funktion setzt. Durch 
konzentrierten galv Strom trocknet die Wurzel ein, das Haar fällt sofort aus und ein Wieder- 
wachsen ist unmöglich. Hierfür bürgt die Firma und verpflichtet sich andernfalls das Geld 

zurückzuzahlen. (Keine Elektrolyse.) Der Preis ist M. 5. 50 und M. 8.— gebrauchsfertig (per 

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Über 300000 im Gebrauche] Über 4000 Stück im Gebrauch. 


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„Hoffera“) Gegen Schlaflosigkeit 
färbt graues und Magenbeschwer- 
oder rotes den. Der Schlaf wird 
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blo braun quickend, der Kopf klar. Völlig un- 
. rr. — Schädlich. Jahrelang brauchbar. Aerzt- 
Völlig 5 Jahrelang brauch- lich begatachtet. Stück M. 3.— 
bar. Diskrete Zusend. i. Brief. St. M. 3.— Rudolf Hoffers, Apotheker, 
Kosmetisch. Babor 
Null. hoflers, Berlin 75, Koppenstr.9. Berlin 75,  Koppenstr. 9, 


A SER 8 


Solche 


Nasenfehler —— 


und ähnliche können Sie mit dem orthopädischen 
Nasen former „Zello“ verbessern. Modell 20 über- 
trifft an Vollkommenheit alles und ist soeben er- 
schienen. Besondere Vorzüge: 7 Leder- 
schwamm e let sich daher dem 
anatomischen Bau der Nase genau an, so daß die 
beeinflußten Nasenknorpel in kurzer Zeit normal 
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erstellbarkeit, daher für alle Nasenfehler ge- 
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— — — — — — Preis 1 Mark 60 Pf. 


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Zu der Humoreske „Die beiden Schachſpieler“ von W. Bahr. 


13) 


(S. 


lzeichnung von Emil Klein. 


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und des Wiſſens 


Mit Originalbeiträgen 
von hervorragenden Schrift- 
ſtellern und Gelehrten 
ſowie zahlreichen 
Illuſtrationen 


Jahrgang 
11916 * 


Zehnter 
Band 


Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft 
Stuttgart Berlin - Leipzig - Wien 


Amerikan. Copyright 1916 by Union Deutſche Verlage geſellſchaft 
in Stuttgart 
Druck der Unlen Deütſche Verlags geſell ſchaft in Stuttgart 


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SnhaltssBerzeichnis 


Die beiden Schachſpieler 
Humoreske aus der guten alten Zeit. Von 
W. Bahr. Mit Bildern von Emil Klein 5 
Das höchſte Ziel 
Roman von Reinhold Ortmann (Fortſetzung) 21 


Was ſoll aus unſeren mn. werden? 
Von S. Amiris . . 91 


Aus der Glowalei 

Von Erich Sieghardt. Mit 12 Bildern 99 
Der Tod auf der Fahrt 

Von Th. L. Seemann N 115 


Majeſtaͤts beleidigungen unter ae und 
deutſchen Herrſchern 


Selle 


Von Hermann Landolt . 139 
Tierleben im Kriege | 
Von Franz Wichm nn 146 


Vom guten, grauen Dichter 
Von Max Adler. Mit einem Bilde Walt 


Whitmannn s 3153 
Morgen um dieſe Zeit 
Von Heinz Welten ... . . 160 
Der Weltkrieg. nnn Rn 
Mit 10 Bildern 170 


Der Mord in der Staats: und Hauepoliit 
Eine hiſtoriſche Skizze von J. M. Berger 191 


Mannigfaltiges 
Die Japaner im Urteil der Voͤlkerkunde . 205 
Eine Jugendbekanntſchaftftt 2 2 207 


RUMARRUNDIRFORRENORARREROITOGGGAIDBABRBEBRBSERABUSBAAAUFAREREDSAINLALAAHELSLEBAHRTRREATUNGENAANRTFERRRSRERNOAAASTLARTARDEDSSRIHRRRERNG 


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Seite 

Staatsgeheimniſſe und drahtloſe Telegra phie. 207 

Kaiſerin Maria Thereſia und die Zenſur 212 

Schauſpieler als „unehrliche“ Leute. Mit Bild 212 

Dem Feind keine Fahne „ „„ 416 

Schlagfertig ; 217 

Zur Belagerung der Feſtung Longwy. Mit Bild 218 

Italiens mögliches Geſchick 222 

Des Kriegers Teſtamern t.. 224 

Die Hunde und Katzen von Neuenburg . 227 

Der Hofprediger Maria Thereſiass .. 227 
Wie ermittelt man die genaue Lage eines Ge: 

ſchoſſes im menſchlichen Koͤrper. Mit 3 Bildern 228 
Engliſches Flegelweſen und u 

geftern wie heute 235 

Baut Sonnenblumen . 238 

Raſch und gruͤndlich „ „ 240 

Deutſch⸗amerikaniſcher Humor.. . 240 


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Die beiden Schachſpieler 


Humoreske aus der guten alten Zeit 
Von W. Bahr 


Nit Bildern von Emil Klein 


aß das Leben nur hoͤchſt unvollkommen und 
4 manche nicht ſo beſchaffen iſt, wie es ſein 

ſollte, weiß ein jeder, und es iſt weiter kein 
Streit daruͤber. Doch wer wiſſen will, woher die Un⸗ 
vollkommenheit und die vielen Übel ſtammen, bekommt 
gar viele Antworten, aber keiner weiß genau, welche 
die richtige iſt. | 

Freilich, wer den Herrn Aktuarius Joſeph Hinter: 
muͤller danach fragte, erhielt ſtracks den runden, 
klaren Beſcheid: „Alles Ungluͤck und alle Bosheit in 
der Welt ſtammen vom Weibe“, und dabei legte Herr 
Aktuarius Hintermuͤller ſein ſaures Junggeſellengeſicht 
in ſo ſtrenge Falten, daß keiner ſo leicht den Mut fand, 
mit ihm daruͤber zu ſtreiten. 

Nur noch einer war im Ort, der dem Herrn Aktua⸗ 
rius aus voller Seele zuſtimmte und wohl gar noch 
aͤrger uͤber alles loszog, was Schuͤrzen trug — das 
war der Herr Rendant Lorenz Koͤhnemann. Der er⸗ 
klaͤrte, ſeinetwegen haͤtte unſer Herrgott die Eva nicht 
zu ſchaffen brauchen, und der alte Koͤnig Pharao haͤtte 
beſſer getan, nicht die Buben ins Waſſer zu werfen, 
ſondern die Maͤdchen. 

Ohne Frage — wer ſo ſpricht, hat Schlimmes erlebt. 
Dem hat einmal eine Maid ein boͤſes Herzweh angetan, 
das er ſein Lebzeit nicht verwinden kann. 

Es war zur Zeit, als der Herr Aktuarius Joſeph 
Hintermuͤller noch Diaͤtar mit recht ſchmalem Anfangs⸗ 
gehalt war, und der Herr Rendant Lorenz Koͤhnemann 
ſeine Laufbahn als Schreiber beim ſtaͤdtiſchen Rentamt 
begann. Die beiden hielten gute Freundſchaft, die ſich 


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6üͥ ⁊ Die beiden Schachſpieler 


durch ihre beiderſeitige Leidenſchaft fuͤr das Schachſpiel 
noch inniger geſtaltete. An jedem Abend ſpazierten ſie 
hinaus nach dem Wirtshaus „Zur ſchoͤnen Ausſicht“, 
wo ſie, im Sommer im Garten, im Winter im trau⸗ 
lichen Hinterſtuͤbchen, Pfeife rauchend und das Bierglas 
neben ſich, ſchweigend und verſunken vor dem Schach⸗ 
brett ſaßen. 

In der „Schoͤnen Ausſicht“ gab es aber noch etwas 
anderes Schoͤnes zu ſehen als Fluren und Waͤlder und 
ferne Bergkuppen, naͤmlich ein bildhuͤbſches Wirts⸗ 
töchterlein, das Annemarie hieß und den Gaͤſten an: 
mutig die Kruͤge zu reichen verſtand. 

Wenn nun jemand behauptet haͤtte, daß die beiden 
jungen Herren nur wegen der huͤbſchen Annemarie 
hinaufgeſtiegen ſeien, dem haͤtten ſie's abgeleugnet und 
waͤren ihm wohl gar grob gekommen; denn ein echter 
Schachſpieler kennt nur eine Leidenſchaft und laͤßt ſich 
auch durch das niedlichſte Geſicht nicht ablenken. Oder 
taten ſie nur ſo? Joſeph Hintermuͤller buͤrſtete ſeit 
einiger Zeit ſein Haar ſorgfaͤltiger und tat ſogar etwas 
wohlriechendes Ol hinein, und Lorenz Koͤhnemann legte 
die Monatsuͤberſchuͤſſe ſeines Gehalts in farbigen Rieſen⸗ 
ſchlipſen an; am letzten Erſten verſtieg er ſich ſogar bis 
zu einer goldenen Ziernadel. | 

Und dann taten fie noch etwas anderes, das hoͤchſt 
auffaͤllig war. 

Wenn die Uhr zwoͤlf ſchlug, ging Joſeph Hintermuͤller, 
waͤhrend ſein Freund noch arbeitete, ganz allein hinauf 
zur „Schoͤnen Ausſicht“, ſaß dort allein und ließ ſich von 
Annemarie bedienen. Und jedesmal nahm er ſich vor, 
dem Maͤdchen etwas Schoͤnes und Artiges zu ſagen 
und durch Liebenswuͤrdigkeit und Anſtand ihre Gunſt 
zu erringen. Aber er war ein ſchuͤchterner Herr und 


Von W. Bahr 7 


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verftand es gar nicht, einer jungen Maid das Herz 
warm zu machen. Wenn er Annemarie ins Auge ſah 


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und ihre Naͤhe ſpuͤrte, dann zerfloſſen ihm die aus— 
wendig gelernten Anſprachen und zarten Werbungen, und 
er konnte keine andere Rede hervorbringen als etwa: 


8 Die beiden Schachſpieler 
„Wir kriegen morgen Regen“ oder „Heuer wird's ein 
gut Weinjahr geben“. 

Selbſt das hellhoͤrigſte Maͤdchen haͤtte aus ſolch 
trockenen und hausbackenen Redensarten nicht ent: 
nehmen koͤnnen, daß ein gluͤhender Verehrer ihr etwas 
Liebes ſagen wollte. So ahnte die huͤbſche Annemarie 
nicht, welch ein Feuer in dem Herzen des Herrn Joſeph 
Hintermuͤller brannte. Der aber ging trotzdem beſeligt 
nach Hauſe und baute ein Zukunftsſchloß nach dem 
anderen. 

Gegen zwei Uhr aber, wenn Joſeph Hintermuͤllers 
Arbeitszeit wieder begann, trabte Herr Lorenz Koͤhne⸗ 
mann, ledig aller Pflicht, zum Tor hinaus. Und faſt 
auf demſelben Fleck, wo noch vor kurzem der lleine 
Diaͤtar geſeſſen hatte, ſaß jetzt der lange Schreiber, und 
keine Bewegung des flinken Maͤdchens entging ihm. 
Ein wenig beſſer verſtand er zwar die Kunſt des Um⸗ 
gangs mit dem weiblichen Geſchlecht, aber uͤber ein 
paar harmlos⸗neckiſche Redensarten kam auch er nicht 
hinaus. Annemarie, die es ſchon gewohnt war, von 
den Gaͤſten Spaͤße und Artigkeiten zu hoͤren, dachte ſich 
dabei nichts. Sie ahnte nicht im entfernteſten, daß ihr 
Bild auch die Seele des Herrn Lorenz Koͤhnemann in 
Beſitz genommen hatte und daß der lange Schreiber 
wie im Traum nach Hauſe wandelte, die Stunde aus⸗ 
malend, da er dieſe liebliche Blume ſein eigen nennen 
werde. Annemarie war freundlich, nett und zuvor⸗ 
kommend gegen beide, und beide ſchloſſen aus ihrer 
Freundlichkeit das Vorhandenſein zarter Gegenliebe. 

Saßen ſie ſich dann am Abend beim Schach gegen⸗ 
über, dann taten ſie ſo, als fähen fie die ſchlanke Annemarie 
gar nicht, und jeder huͤtete ſich davor, den anderen etwa 
einen Einblick in ſeine Herzensverfaſſung tun zu laſſen. 


Von W. Bahr | 9 


Und doch konnten ihnen ihre Heimlichkeiten nicht 
lange verborgen bleiben. Auf Umwegen erfuhr Lorenz 
Koͤhnemann von den Morgenſpaziergaͤngen Joſeph 
Hintermuͤllers, und dieſer wußte ebenfalls bald, wohin 
ſein Freund und Partner des Nachmittags ſeine Schritte 
lenkte. In gewohnter Weiſe erledigten ſie eines Abends 
ihre Schachpartie und verabredeten einen Spaziergang 
auf den naͤchſten Morgen. 

Es war ein Sonntag. Schweigend ſchritten ſie tal⸗ 
aufwaͤrts, bis dahin, wo die ſchroffen Zacken aufragen 
und die Abgruͤnde jaͤh ins Tal ſchießen. Dort oben in 
der Einſamkeit hielten ſie die notwendige Ausſprache. 

„Sie lieben ſie alſo?“ fragte Joſeph Hintermuͤller. 

„Ich liebe ſie,“ bekraͤftigte Lorenz ö mit 
beteuernder Handbewegung. 

„Aber nicht ſo wie ich!“ rief der kleine Diätar, die 
Augen verdrehend. 

„Weit mehr noch!“ gab der lange Schreiber zur 
Antwort. „Ich liebe ſie wie ſonſt nichts in der Welt!“ 
| Schweigend, innerlich aber mehr, als fie gewoͤhnt 

waren, erregt, gingen ſie weiter. Was ſollte nun wer⸗ 
den? Jeder fuͤhlte das Unabwendbare des Schickſals. 

„Einer von uns muß verzichten,“ ſagte Lorenz Koͤhne⸗ 
mann endlich dumpf. 

„Sicherlich — und zwar Sie! Denn ich habe un⸗ 
truͤgliche Beweiſe —“ 

„Beweiſe — wovon?“ 

„Von Annemaries Gegenliebe.“ 

„Das iſt nicht wahr! Mir allein haben ihre Augen 
deutlich geſagt —“ 

Mit ergrimmten Mienen ſtanden ſie einander gegen⸗ 
uͤber. Es ſchien, als wolle ſich der lange Koͤhnemann 
auf den viel ſchwaͤcheren und kleineren Freund ſtuͤrzen. 


— 


10 Die beiden Schachſpieler 


Er tat auch einen Schritt vorwaͤrts — aber zu ſeinem 
Verderben. An einer ſchluͤpfrigen Stelle ausgleitend, 
ſtuͤrzte er und waͤre unfehlbar in den tiefen Abgrund 
gefallen, wenn er nicht im letzten Augenblick den Zweig 
eines uͤberhangenden Baumes ergriffen haͤtte, an dem 
er nun zappelnd zwiſchen Himmel und Erde ſchwebte. 

„Hilfe!“ ſchrie er, zu Tode erſchrocken. „Helfen 
Sie mir doch, Hintermuͤller!“ 

Der tat einen Schritt vorwaͤrts und ſtreckte die 
Arme aus. Doch ploͤtzlich ließ er fie wieder ſinken. 

„Aber ſo helfen Sie doch! Der Aſt kann mich ja 
nicht lange mehr tragen. Hoͤren Sie nicht, wie er 
knackt?“ 

Der lleine Diaͤtar ruͤhrte ſich nicht. „Wollen Sie 
entſagen, Köhnemann? Wollen Sie alle Ihre ver: 
meintlichen Rechte an mich abtreten? Nur unter dieſer 
Bedingung werde ich Sie retten.“ 

„Nein — nie!“ 

Der Aſt bog ſich und knackte bedenklicher. 8 

„Wollen Sie verzichten?“ fragte Hintermuͤller noch 
einmal. 

Dem Schreiber brach der kalte Schweiß aus. Er 
ſah ſich ſchon zerſchmettert im Abgrund liegen. 

„Ja — ja!“ kreiſchte er. „Helfen Sie mir nur!“ 

„Ihr feierliches Wort darauf?“ 

„Mein Wort!“ 

Mit Hintermuͤllers Hilfe wurde er nun aus ſeiner 
gefaͤhrlichen Lage befreit. An allen Gliedern zitternd, 
ſtand er wieder auf dem Boden. Hintermuͤller mußte 
ihn am Arm faſſen und hinunterfuͤhren. 

„Wiſſen Sie, was Sie find, Herr Joſeph Hinter: 
muͤller?“ ſagte Koͤhnemann, als ſie im Tal anlangten. 
„Sie ſind ein Schuft!“ 


Von W. Bahr 11 


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Der Diaͤtar zuckte die Achſeln. „Sie haben ver— 
zichtet.“ x 

Seinen Retter keines Wortes weiter wuͤrdigend, 
ſchritt der Lange voran. Aus war es mit der Freund— 
ſchaft. Mit dem Elenden ſprach er nie wieder. Nie— 


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* 


12 Die beiden Schachſpieler 


mals mehr ſetzte er ſich ihm gegenuͤber ans Schachbrett. 
Voll Verachtung ſpie er in die voruͤberbrauſenden 
Waſſer des Waldbachs, der durch reichliche Regenguͤſſe 
zu einem reißenden Strom angeſchwollen war. 

An ihm fuͤhrte der Weg entlang bis zu einer Saͤg⸗ 
muͤhle, deren Raͤdergeſtampf ſchon zu hoͤren war. 

Hinter ihm ſprang der kleine Hintermuͤller. Das 
Unſchoͤne ſeiner Tat war ihm noch nicht zum Bewußtſein 
gekommen, er ſchwelgte nur in dem Gedanken, daß 
Annemarie nun ihm gehoͤren wuͤrde, ihm ganz allein. 
Warum ging er nicht gemeſſen und ſittſam wie ſonſt, 
ſondern bewegte die Beine nach dem ſtuͤrmiſchen Takt 
ſeines Herzens? 

Und das war ſein Ungluͤck. 

Koͤhnemann hoͤrte auf einmal hinter ſich einen lauten 
Schrei, und als er ſich umwandte, ſah er den kleinen 
Hintermuͤller ſchon im Waſſer zappeln und mit den 
Fluten ringen. 

„Hilfe!“ ſchrie der Diaͤtar aus Leibeskraͤften, bis 
ihm ein Waſſerſchwall in den offenen Mund geriet, ſo daß 
er verzweifelt ſchluckte und pruſtete. Mit den Haͤnden 
hatte er einen Buſch erfaßt, der aus dem ſteilen Ufer 
hervorragte, aber der ſchwache Halt drohte im naͤchſten 
Augenblick ſein Lager zu verlaſſen, und dann — 

„So helfen Sie doch, Koͤhnemann — das Wehr, 
das Wehr! Ich kann ja nicht ſchwimmen —“ 

Koͤhnemann war auf das Hilfegeſchrei herbeigeeilt, 
machte aber keine Bewegungen zum Beiſtand. Die Ver⸗ 
haͤltniſſe hatten ſich ſehr ſchnell umgekehrt, jetzt war er 
der Triumphierende. 

„Ziehen Sie mich doch heraus, Köhnemann!“ wim⸗ 
merte der Kleine in ſeiner Not. „Ich muß ja ſonſt 
elend ertrinken. — Hilfe!“ 


Von W. Bahr 13 


„Wollen Sie verzichten?“ fragte der Lange mit 
diaboliſchem Blick. „Wie du mir, ſo ich dir, ſagt das 
Sprichwort. Wenn Sie —“ | 

„Ja, ja, ich will alles tun, was Sie wuͤnſchen.“ 

„Ihr Wort darauf, daß Sie allen Ihren Anſpruͤchen 
auf Annemarie entſagen?“ 

„Mein Wort — verlaſſen Sie ſich drauf!“ 

Mit Mühe ſchaffte ihn Koͤhnemann aufs Trockene. 
Der kleine Schreiber war naß wie eine Katze und ſchuͤttelte 
ſich wie ein Hund“). 8 

„O — o —” ſagte er zunaͤchſt nur mit einem Blick 
auf die gurgelnden Waſſer, und ſeine Zaͤhne klapperten 
mehr vor Angſt als vor Froſt. 

In der Muͤhle fand der Durchnaͤßte freundliche Auf⸗ 
nahme. Man trocknete ihm ſeine Kleider und verſorgte 
ihn mit Speiſe und Trank. Erſt ſpaͤt am Nachmittag 
traten die beiden den Heimweg an. 

Zunaͤchſt befeſtigten ſie ihre Freundſchaft, die am 
Morgen einen argen Riß bekommen hatte, von neuem. 

Der kleine Diaͤtar war demuͤtig und zerknirſcht. 
„Vergeben Sie mir, lieber Koͤhnemann, was ich Ihnen 
angetan habe. Ich war nicht recht bei Sinnen, ich 
handelte in blinder Leidenſchaft. Ich begreife jetzt 
ſelber nicht, daß ich ſo niedrig handeln konnte. Und 
Sie — Sie haben mir trotzdem das Leben gerettet!“ 
Er breitete ſeine Arme aus. 

Koͤhnemann war geruͤhrt und ging ebenfalls in ſich. 
„Meine Schuld iſt ebenſo groß, lieber Hintermuͤller. 
Auch mich hatte der Teufel in ſeinen Klauen, als Sie 
wie ein Fiſch im Waſſer zappelten. Da vergaß ich 
mich und erhafchte auf krummen Wegen meinen Vor⸗ 


*) Siehe das Titelbild. 


14 Die beiden Schachfpieler 


teil. Das war ſchlecht von mir. Und Sie Braver 
hatten mich doch erſt kurz vorher aus der ſchrecklichen 
Lage befreit!“ 

Sie ſanken ſich in die Arme und druͤckten fi ch ans Herz. 

„Ich halte dafuͤr,“ meinte der lange Schreiber, „daß 
der ausgeſprochene Verzicht unguͤltig iſt, denn ein er⸗ 
zwungenes Verſprechen hat keine Rechtskraft.“ 

„Es ruht auch kein Segen auf ſolchem binterliſtigen 
Gewinn,“ fuͤgte der Diaͤtar hinzu. „Machen wir einen 
Strich durch das Geſchehene, und ſuchen wir die dunkle 
Stunde zu vergeſſen.“ 

„Sie ſoll unſere Freundſchaft nicht truͤben,“ ſagte 
Koͤhnemann warm. 

„Aber wir ſind leider noch immer auf demſelben 
Fleck. Sie haben mir geſagt, daß Sie Annemarie 
ebenſo feurig lieben wie ich.“ 

„Das tue ich. Sie werden begreifen, daß ich Ihnen 
nicht ohne weiteres weichen kann —“ 

„Laſſen Sie uns auch dieſe Angelegenheit in Friede 
und Freundſchaft erledigen.“ 

„Ich wuͤßte nur nicht, wie!“ 

„Durch einen Wettſtreit 8 

„Ah — Sie meinen —“ 

„Wir ſind ungefaͤhr glace ſtarke Schachſ pieler, lieber 
Koͤhnemann. Sie ſind mir vielleicht im Endſpiel uͤber⸗ 
legen, ich erkenne das neidlos an. Dafuͤr habe ich aber 
in der Springerfuͤhrung groͤßeres Geſchick.“ 

„Ich verſtehe, Sie wollen es auf einen Schach⸗ 
kampf ankommen laſſen. Nun wohl, ich bin bereit.“ 

„Wer die erſte Partie gewinnt, ſei Sieger!“ 

„Er habe allein das Recht, ſich um Annemarie zu 
bewerben. Der andere aber laſſe ihm ohne Groll und 
Neid den Vortritt. Sind Sie einverſtanden?“ 


Von W. Bahr 15 


Sie reichten ſich die Haͤnde. „Einverſtanden. Heute 
abend noch wird der Kampf ausgefochten!“ 


Es wollte Abend werden. Die Schwuͤle des Tages 
hatte am Himmel dunkle Gewitterwolken zuſammen⸗ 
gezogen. Obgleich das Unwetter noch nicht loszu⸗ 
brechen drohte, zogen es die beiden Kaͤmpen doch vor, 
anſtatt unter den Baͤumen im gemuͤtlichen Hinter⸗ 
ſtuͤbchen den Wettkampf auszutragen. 

Als ſie eintraten, begegnete ihnen Annemarie. Sie 
war heute ſo huͤbſch angezogen, als wiſſe ſie um die 
Ehre, die ihrer Perſon zuteil werde. Bis zu den Haar⸗ 
wurzeln erroͤtend, ſchritt der kleine Diaͤtar nur ſtumm 
gruͤßend an ihr voruͤber, waͤhrend Herr Lorenz Koͤhne⸗ 
mann ſie mit zierlichen Worten anredete und ihr ſogar 
die Hand reichte. 

Ahnungslos ſtellte die Schoͤne ihnen den Schach— 
tiſch zurecht, reichte jedem die Pfeife und fuͤllte die 
Kruͤge. Dann ſchloß ſie laͤchelnd hinter ſich die Tuͤr. 

„Was fuͤr komiſche Menſchen!“ dachte ſie. Andere 
junge Leute ſetzten ſich zu ihr und lachten und ſcherzten 
mit ihr — dieſe aber hatten ja wohl einzig und allein 
nur Wohlgefallen an den wunderlich geſchnitzten Fi⸗ 
guren. Stundenlang konnten ſie ſtumm und bruͤtend 
davorſitzen, ſie wichen und wankten nicht, ſelbſt wenn 
die Welt unterging. 

Draußen aber tuͤrmten ſich die Wolken ſo wild und 
unheimlich, als bereite ſich die Natur wirklich zu Unter: 
gang und Zerſtoͤrung. Unter Donner und Blitz be: 
gannen die beiden Maͤnner ihre Partie. 

Das Schickſal hatte dem langen Koͤhnemann den 
Angriff beſchieden. Von Zeit zu Zeit hob er den Finger, 
um eine ſeiner Figuren auf den Feldern weiterzuſchieben. 


16 Die beiden Schachſ pieler 


Seine Zuͤge waren unbewegt, waͤhrend hinter ſeiner 
hohen Stirn ſich die Gedanken durcheinander ſchoben. 


Wacker hielt ihm der kleine Schreiber ſtand. Vor⸗ 
ſichtig ſich deckend und jeden kleinen Vorteil benutzend, 
war er gegen alle Ausfaͤlle ſeines Gegners auf der 


Von W. Bahr 17 


Hut. So gelang es dem anderen nicht, in die Stellung 
des Verteidigers Breſche zu ſchlagen, keiner kam zum 
entſcheidenden Zug. Ihre Wangen brannten, ihre Koͤpfe 
ſchmerzten und die Stube war erfuͤllt vom blauen 
Pfeifenqualm. Sie zuckten nicht zuſammen, wenn die 
grellen Blitze niederfuhren und die Donner rollten, ſie 
hoͤrten nicht den praſſelnden Regen, der gegen die 
Scheiben ſchoß. Verbiſſen ſpielten ſie weiter. 

Endlich ſtanden ſie auf. Das Spiel war unent⸗ 
ſchieden geblieben. 

„Remis!“ ſagten beide zu gleicher Zeit. 

„Noch einmal!“ fuͤgten ſie ſofort hinzu. „Die 
naͤchſte Partie muß die Entſcheidung bringen.“ 

Sie ſtopften ſich neue Pfeifen, ſetzten ſich und ver⸗ 
teilten die Figuren. Dazu ließen ſie ſich die Kruͤge 
friſch auffuͤllen, der kleine Diaͤtar ſchon zum viertenmal. 
Vielleicht erwartete er von der Anregung des Getraͤnks 
eine maͤchtige Foͤrderung der Taͤtigkeit ſeiner Gehirn⸗ 
zellen. | 
Fräulein Annemarie trat ein, die Kruͤge in der Hand. 

Mein Vater laͤßt die Herren bitten, ein wenig zu 
uns ins Wohnzimmer zu kommen. Wir feiern naͤmlich 
heute —“ 

„Schoͤnen Dank, Fraͤulein Annemarie,“ ſagte Koͤhne⸗ 
mann mit einem feurigen Blick, „aber wir muͤſſen 
Ihnen leider einen Korb geben. Wir ſind mit einer ſehr 
wichtigen Partie beſchaͤftigt. Erlauben Sie, daß wir 
auf Ihr Wohl trinken?“ 

Beide taten ihr Beſcheid, und Hintermuͤller, der 
jetzt mehr Mut hatte, legte ſogar ſeine Hand auf die 
Stelle, wo ihm das Herz ſchlug. | 

Dann aber wandten fie fich fofort dem Spiele zu, 
und diesmal hatte Joſeph Hintermuͤller den Vorzug. 

1916. X. 2 


18 Die beiben Schachipieler 


Kühn ging er zum Angriff vor und trieb nen Gegner 
ſchon nach kurzer Zeit durch meiſterhaften Aufmarſch 
ſeiner Figuren dermaßen in die Enge, daß ihm der 
Sieg ſicher ſchien. 

Befriedigt lehnte er ſich in ſeinen Stuhl zuruͤck und 
ſchaute auf Koͤhnemann. Der ſaß unerſchuͤtterlich. 
Keine Muskel ſeines Geſichts verriet, in welcher Klemme 
er ſich befand. 

Der kleine Diaͤtar wurde e und pfiff ver⸗ 
gnuͤgt vor ſich hin. 

„Noch iſt es nicht aller Tage Abend!“ beſchwichtigte 
ihn Koͤhnemann. 

Dann gruͤbelten ſie wieder und zogen abwechſelnd. 

Ploͤtzlich machte Hintermuͤller einen verhaͤngnisvollen 
Fehlzug, der ihn eine Figur koſtete. Mit Schrecken bemerkte 
er es, und ſein Antlitz wurde auf einmal ganz entmutigt. 

„Gardez!“ ſagte Koͤhnemann ruhig und griff die 
weiße Dame an. 

Vor den Augen des Diaͤtars wurde es dunkel. Nun 
war er allem Anſchein nach verloren — wenn Koͤhnemann 
richtig weiterſpielte, mußte er die Partie gewinnen. 

Und richtig, Koͤhnemann kreiſte den Kleinen ein, 
draͤngte ihn zum ſchmaͤhlichen Ruͤckzug — 

Da geſchah etwas ganz Unerwartetes. 

War es boͤswillige Abſicht oder Unvorſichtigkeit, der 
kleine Hintermuͤller ſtieß mit dem Fuß ſo heftig an den 
ohnehin nicht ſehr feſten Schachtiſch, daß im naͤchſten 
Augenblick ſaͤmtliche Figuren durcheinander kollerten 
und zum Teil auf dem Fußboden umherrollten. Jaͤh 
war das Spiel unterbrochen. | 

Koͤhnemann ſprang auf und packte den Schreiber 
am Kragen. 

„Das haben Sie aus Bosheit getan!“ ſchrie er. 


Von W. Bahr 19 


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„Auf fo hinterliſtige Weise wollen Sie mich um die 
Fruͤchte meines Sieges bringen!“ 

„Das iſt eine gemeine Verleumdung! Ein Verſehen 
war es!“ 

„Nein, es war Abſicht! Ich hatte den Sieg ſchon 
in der Taſche!“ i 


20 Die beiden Schachſ pieler 


Hoho! Die Partie war noch lange en 0 5 
Im naͤchſten Augenblick gab es eine wuͤſte Szene. 
Sie, die beim Spiel noch nie in Zwiſt geraten waren, 
gingen vom Wortwechſel in Taͤtlichkeiten uͤber. 
ö Hintermuͤller lag am Boden und der lange Koͤhne— 
mann kniete auf ihm. 

„Und ich habe doch gewonnen! 1 rief er einmal 
uͤbers andere. „Geſteh, daß ich Sieger geblieben bin!“ 
Der Laͤrm drang durch das ganze Wirtshaus. Die 
Tuͤr oͤffnete ſich, und darin ſtand der Wirt mit einigen 
Gaͤſten und Annemarie, die voll Schreck und Ver⸗ 

wunderung nach den Streitenden ſah. 

„Mein Gott, was geht hier vor?“ 6 

Man riß die beiden auseinander. Mit zerzauſtem 
Haar und zerknuͤllter Waͤſche ſtanden ſie da. 

„Aber Herr Hintermuͤller!“ | 

„Beſter Herr Köhnemann! Wären Sie doch unferer 
Einladung gefolgt und zu uns hinuͤbergekommen! Wir 
feiern naͤmlich Annemaries Verlobung mit —“ 

Die Worte wirkten wie ein Donnerſchlag, unter dem 
die beiden ploͤtzlich ernuͤchterten Streithaͤhne zuſammen⸗ 
knickten. 

Sie ſchlichen nach Hauſe, nachdem ſie muͤhſelig ihren 
Gluͤckwunſch geſtammelt hatten. Der Mond, der nach 
dem Austoben des Gewitters wieder blank und freund: 
lich vom Himmel herableuchtete, beſchien ihre jammer⸗ 
vollen Geſtalten. | 

Ihre Freundſchaft kitteten ſie bald wieder zuſammen, 
und der neue Bund war noch feſter als der alte. Von 
nun ab duzten ſie ſich und hatten vor einander keine 
Geheimniſſe mehr. 


9 
9 


Das höchſte Ziel 


Roman von Reinhold Ortmann 
(Fortfegung) Ä 


o laſſen Sie fih an meiner Verſicherung ges 
Oba entgegnete Volcker auf Fraͤulein Suter⸗ 

lands Einwand, „daß ich niemals daran ge: 
dacht habe und niemals daran denken werde, Ihrem 
Herrn Vater zu nahe zu treten. Die gegenſaͤtzlichen 
Auffaſſungen, von denen Sie zu ſprechen ſcheinen, haben 
mit meinem perſoͤnlichen Verhaͤltnis zu Herrn Suter⸗ 
land, wie ich hoffe, nichts zu tun.“ 

„Ihm aber gehen ſie doch ſo nahe. Koͤnnen Sie 
denn gar nicht ein bißchen nachgeben?“ | 

„Auf Koften meiner Überzeugung und meines Pflicht: 
gefuͤhls? Nein, Fraͤulein Suterland. Und bei beſſerer 
Kenntnis der Sachlage wuͤrden Sie es wohl auch nicht 
von mir erwarten.“ 

„Ich wußte es ja, Sie ſind wie alle Maͤnner. Aber 
gerade von Ihnen haͤtte ich doch mehr Hochherzigkeit 
erhofft. Ich habe ſo viel, ſo unendlich viel von Ihnen 
gehalten. Und ich war eingebildet genug, Sie fuͤr 
meinen Freund zu halten.“ 

| „Wenn ich mich dieſes Vertrauens auf andere Weiſe 
wuͤrdig zeigen koͤnnte —“ 

Heftig ſchuͤttelte ſie den Kopf. „Nein, nein, das 
ſind ja nur Phraſen. Wollen Sie mir etwas Liebes 
erweiſen, ſo muͤſſen Sie meine Bitte erfuͤllen. Ich 
wuͤrde Ihnen ja ſo dankbar ſein — ſo ſehr dankbar —“ 

Ganz leiſe hatte ſie die letzten Worte geſprochen und 
mit ſchamhaft geſenktem Haupte. Es war eine Ver— 
heißung darin, die Volcker unmoͤglich mißverſtehen 
konnte. Und dieſe Verheißung bewirkte, daß er ſich erhob. 

„Ich bedaure aufrichtig, Fraͤulein Suterland — 
aber auf ſolche Art kann ich mir Ihren Dank leider nicht 


22 Das hoͤchſte Ziel 
verdienen. Und Sie duͤrfen mir nicht zuͤrnen, wenn ich 
dies fuͤr mich ſehr peinliche Geſpraͤch lieber beendet ſaͤhe. 

Es iſt doch ganz zwecklos und ganz unmoͤglich, daß wir 
uns hier uͤber geſchaͤftliche Angelegenheiten des Hauſes 
Steinsdorff unterhalten.“ 

Ein merkwuͤrdiger Zufall fuͤgte, daß gerade in dieſem 
Augenblick Herr Suterland eintrat. Er warf ſeiner 
Tochter einen Blick zu, fuͤr den es ihr ohne Zweifel nicht 
an der richtigen Deutung fehlte, und ſchuͤttelte ſeinem 
Gaſt mit gut geſpielter Unbefangenheit die Hand. „Es 
iſt huͤbſch von Ihnen, daß Sie ſo puͤnktlich waren, lieber 
Doktor. Ah, die ſchoͤnen Blumen! Nun laſſen Sie 
uns fuͤr ein paar Stunden das Kriegsbeil begraben und 
recht gemuͤtlich Geburtstag feiern — ja?“ 

Mit der Gemuͤtlichkeit dieſer Geburtstagsfeier war 
es freilich nicht weit her. Fraͤulein Erneſtine ſaß in 
der Haltung einer geknickten Lilie am Tiſche, ſprach nur 
mit leiſer Stimme und weigerte ſich nach dem Eſſen be⸗ 
harrlich, etwas vorguf pielen. Ihr Vater ſchien zwar 
bei beſter Laune, erzaͤhlte mit krampfhafter Luſtigkeit die 
älteften Anekdoten und wurde nicht müde, feinem jungen 
Gaſte zuzutrinken. Aber Volcker empfand ſehr deutlich, 
wie wenig echt die Freundlichkeit war, und er verlebte 
inmitten dieſer Menſchen, von denen er ſich niemals 
weiter entfernt gefühlt hatte, einen der peinlichſten 
Abende ſeines Lebens. So fruͤh, als die Gebote der 
Schicklichkeit es nur immer geſtatteten, brach er auf, 
und niemand noͤtigte ihn zu laͤngerem Verweilen. — 

Zwei Tage nachher, fruͤher als er erwartet worden 
war, kehrte Klemens Steinsdorff von ſeiner Reiſe 
zuruͤck. Der Prokuriſt beeilte ſich, ihm unter vier Augen 
uͤber den Stand der Vorarbeiten fuͤr die Zeitſchrift einen 
langen Bericht zu erſtatten. Und eine Viertelſtunde 


Roman von Reinhold Ortmann 23 
ſpaͤter wurde Volcker in das Arbeitszimmer des Kom— 
merzienrats beſchieden. Seine Unterredung mit dem 
Chef waͤhrte noch erheblich laͤnger als die des Herrn 
Suterland, und ſie endete damit, daß Klemens Steins— 
dorff ſich mit ihm in das Kontor des Prokuriſten begab. 

„Ich habe Sie ſchon vorhin nicht im Zweifel daruͤber 
gelaſſen, Herr Suterland, daß ich mich mit Ihren Ideen 
und Vorſchlaͤgen nicht einverſtanden erklaͤren kann,“ 
ſagte er mit ruhiger Freundlichkeit, „wenn ich auch durch— 
aus nicht verkenne, daß ſie den beſten und waͤrmſten ge— 
ſchaͤftlichen Abſichten entſprangen. Da ich mich aber 
entſchloſſen habe, Herrn Doktor Volcker die ſelbſtaͤndige 
Leitung der Zeitſchrift zu uͤbertragen, iſt es ganz natuͤr⸗ 
lich, daß feine Anſichten für die Geſtaltung des Unter: 
nehmens maßgebend ſein muͤſſen. Sie haben wohl die 
Guͤte, ſich danach zu richten.“ 

„Ganz wie der Herr Kommerzienrat es wuͤnſchen,“ 
erwiderte der Prokuriſt in der unterwuͤrfigen Art, die 
ſeinen Verkehr mit Klemens Steinsdorff kennzeichnete. 
In dem Blick aber, den er Reinhard Volcker zuſandte, 
blinkte es wie von unverſoͤhnlichem Haß. 


Die Hoffnungen, die Jens Larſſen auf den „Teufels— 
walzer“ geſetzt hatte, waren nicht getaͤuſcht worden. Wo 
er mit ſeiner ſchoͤnen jungen Frau in dem an kraſſen 
Wirkungen uͤberreichen Einakter auftrat, ſpielte er vor 
überfüllten Haͤuſern und erntete ungemeſſenen Beifall. 
Da das Stuͤck nur auf Varietébuͤhnen zur Darſtellung 
kam, hatte die ernſthafte Kritik keine Veranlaſſung, ſich 
mit ſeinem dichteriſchen Wert oder Unwert zu befaſſen, 
und das Publikum ſchien an den tollen Unmoͤglichkeiten 
der phantaſtiſchen Handlung keinen Anſtoß zu nehmen. 
Larſſen ſpielte einen verkannten genialiſchen Muſiker 


24 Ä Das hoͤchſte Ziel 

und Komponiſten, der ſich mit ſeinem ungluͤcklichen 
jungen Weibe in einer elenden Dachkammer dem 
Hungertode gegenuͤberſieht. Schon durch ſeine geiſter⸗ 
hafte Maske und ſeine unheimlich rollenden Augen, in 
denen bereits die Flammen des beginnenden Wahn⸗ 
ſinns aufzuͤngelten, machte er großen Eindruck auf emp⸗ 
findſame Gemuͤter. Und uͤberall im Zuſchauerraum 
ſchimmerte es weiß von eifrig gebrauchten Taſchen⸗ 
tuͤchern, wenn er, mit leeren Haͤnden von einem letzten 
Bettelgang heimgekehrt, in krampfhaft erzwungener 
Froͤhlichkeit die todkranke Genoſſin ſeines Jammers 
uͤber den fuͤrchterlichen Ernſt ihrer Lage zu taͤuſchen 
verſuchte. Statt des ſtaͤrkenden Weines und der lindern⸗ 
den Arznei, auf die ſie gehofft, hat der große Virtuoſe 
und Tondichter zur Aufrichtung ihrer ermattenden 
Lebensgeiſter ja nur noch ſeine ſchauſpieleriſchen Kuͤnſte 
in Bereitſchaft. In den glaͤnzendſten Farben malt er 
ſeiner kleinen, ſchon halb verklaͤrten Angelika eine herr⸗ 
liche Zukunft, die vielleicht in der naͤchſten Stunde, gewiß 
aber am naͤchſten Morgen ihren Anfang nehmen wird. 
Es gelingt ihm in der Tat, ſie trotz Hunger, Krankheit 
und Erſchoͤpfung allgemach in einen Rauſch von Liebe 
und Hoffnung zu verſetzen. Er ſingt ihr zur Laute eines 
der ſchmelzenden Lieder, durch die er einſt ihr Herz ge— 
wonnen, und erweckt damit alle ſuͤßen Erinnerungen an 
entſchwundene Seligkeiten. Zuletzt ereignet ſich ſogar 
das Wunder, daß die ſterbende Angelika ſich in ihrem 
ſchleierleichten Gewande von dem aus einem alten 
Strohſack beſtehenden Ruhebett erhebt, um mit dem Ge: 
liebten noch einmal jenen ſinnberuͤckenden Tanz aufzu— 
führen, der in fernen, beſſeren Tagen ihr liebſter Zeit: 
vertreib geweſen. Waͤhrend ſie mit aͤtheriſcher Leichtig— 
keit dahinſchwebt, aller Erdenſchwere ſchon beinahe 


Roman von Reinhold Ortmann 25 


ledig, w wird das Lächeln des unſeligen Dufifanten immer 
verzerrter, das Rollen feiner Augen immer fuͤrchter⸗ 
licher. Das Publikum aber haͤlt den Atem an: denn 
niemand iſt daruͤber im Zweifel, daß dieſe leidenſchaftliche 
Tanzerei bei gaͤnzlich entleertem Magen der jungen 
Patientin notwendig ſchlecht bekommen muͤſſe. Und 
richtig: als die Balletteinlage bis zum Hoͤhepunkt 
bacchantiſcher Raſerei gelangt iſt, greift die Armſte mit 
einem Wehelaut nach ihrem allzu liebeheißen Herzchen 
und ſinkt maleriſch auf den alten Strohſack zuruͤck. Aber 
der allgemein vermutete Herzſchlag iſt noch nicht erfolgt. 
Angelika vermag ſogar zu laͤcheln und ihrem verkannten 
Tonſetzer die ruͤhrende Bitte um ein Violinſolo zuzu⸗ 
fluͤſtern, das ihr ganz beſonders lieb iſt. Und da der 
Kuͤnſtler gluͤcklicherweiſe ſeine Geige noch nicht verſetzt 
hat, kann er ihrem beſcheidenen Wunſche willfahren. 
Waͤhrend der erſten, uͤberirdiſch ſchoͤnen Toͤne erliſcht 
die herabgebrannte Kerze, die angeblich bisher die einzige 
Beleuchtung der Szene darſtellte, und die Dachkammer 
bleibt für eine Weile in Finſternis gehuͤllt. Geſpenſtiſch 
klingen aus dem Dunkel die ſchmeichelnden Liebes⸗ 
ſeufzer der Violine, und die Ergriffenheit des Publikums 
aͤußert ſich ſo lebhaft, als waͤre im Zuſchauerraum ploͤtz⸗ 
lich eine Schnupfenepidemie ausgebrochen. Da — alles 
Raͤuſpern und Schneuzen iſt wie mit einem Zauber— 
ſchlage verſtummt — ergießt ſich in breitem, blaͤulichem 
Strom magiſches Mondlicht durch das Dachfenſter auf 
das aͤrmliche Lager und entſchleiert ein Bild von be— 
toͤrender Lieblichkeit. Angelikas Leben iſt natuͤrlich zu— 
gleich mit dem heruntergebrannten Lichtſtuͤmpfchen er— 
loſchen; aber ihre irdiſche Hülle bietet ſich den entzuͤckten 
Zuſchauern in einer Schoͤnheit, die an allen Ecken und 
Enden ſtatt der Taſchentuͤcher die Opernglaͤſer in Be— 


loͤſten Haares umfloſſen, durch die leichte Gewandung 
nur unvollkommen verhuͤllt, in der anmutigſten Stellung 
und der vorteilhafteſten Beleuchtung, laͤßt es die wunder— 
volle Geſtalt der ſchoͤnen Toten durchaus begreiflich 
erſcheinen, daß bei ihrem Anblick der wackelige Verſtand 
des Muſikanten vollends aus den Fugen geht und daß. 
dem Auditorium der Genuß einer mit allen Virtuofen: 
kniffen geſpielten Wahnſinnſzene beſchieden iſt. Nach: 
dem der bedauernswerte Witwer ſich eine Zeitlang hoͤchſt 
verzweifelt gebaͤrdet hat, kommt er auf Grund end: 
guͤltig ausgebrochenen Wahnwitzes zu dem Schluß, daß 
ſeine kleine Angelika nicht tot ſei, ſondern nur ſchlafe. 
Und da ſeine Verſuche, ſie mit Kuͤſſen zu wecken, nicht 
das gewuͤnſchte Ergebnis haben, greift er abermals zur 
Violine. Was er ſpielt, hat die Rhythmen eines 
Walzers; aber es iſt von ſo daͤmoniſcher Glut, daß alle 
Hoͤrer ſofort wiſſen, es koͤnne ſich bei dieſem Muſikſtuͤck 
nur um den durch den Titel des Dramas verſprochenen 
„Teufelswalzer“ handeln. Waͤhrend der ihn beleuch— 
tende Mondenſchein immer geiſterhaft blauer und ſein 
Mielienſpiel immer grauſiger wird, naͤhert ſich der 
Spielende langſam dem Strohſack, auf den ſein Teuerſtes 
gebettet iſt. Und dann — fuͤr die zur Unertraͤglichkeit 
geſteigerte Spannung des Publikums gerade im rechten 
Augenblick — laͤßt ein ſchriller Mißton alle Nerven: 
ſyſteme erzittern. Man hoͤrt, wie alle vier Saiten der 
Violine auf einmal zerſpringen, und ſieht den ungluͤck— 
lichen Geiger tot uͤber der Leiche ſeines Weibes zu— 
ſammenbrechen. | 

Das war Jens Larſſens „Sketch“, der ihn und feine 
Frau innerhalb weniger Monate beruͤhmt gemacht hatte. 
Nun waͤre es nur natuͤrlich geweſen, wenn Marga 


Roman von Reinhold Ortmann 27 


Larſſen ſich vollkommen gluͤcklich gefuͤhlt haͤtte. Aber 
danach ſah ſie nicht aus, wenigſtens nicht an dieſem 
Morgen, als ſie vor dem Spiegel in ihrem Schlaf— 
zimmer ſaß und ſich eigenhaͤndig friſierte. Es ſah hier 
huͤbſch und wohnlich aus, ein Heim im eigentlichen 
Sinne des Wortes aber war es noch immer nicht, ſondern 
nur eine auf etliche Monate gemietete, fertig eingerichtete 
Wohnung mit fremder Leute Sachen und nach fremder 
Leute Geſchmack. Die Veraͤnderung gegen fruͤher war 
im Grunde gering, das kam Margarete Larſſen jedesmal 
von neuem zum Bewußtſein, wenn ſie ſchlechter Laune 
war. Sie hoͤrte draußen die Glocke anſchlagen und hob 
lauſchend den Kopf. 

Mit einem froͤhlichen: „Guten Morgen, Herzens⸗ 
ſchatz!“ öffnete Jens Larſſen die Tür. Er war im Ge: 
ſellſchaftsanzug; aber der ſchlaff gewordene Kragen und 
die zerknitterte Hemdbruſt ließen im Verein mit ſeinem 
uͤbernaͤchtigen Ausſehen vermuten, daß er ihn nicht erſt 
ſeit dieſem Morgen auf dem Leibe hatte. Marga wuͤr⸗ 
digte den zaͤrtlichen Gruß keiner Erwiderung und ver⸗ 
goͤnnte dem Eintretenden keinen Blick. Als er ſich ihr 
trotzdem naͤherte und ſie zu kuͤſſen verſuchte, drehte ſie 
unwillig den Kopf ab. 

„Geh weg! Du bringſt ja eine ganze Wolke von 

Weindunſt und Tabakgeruch mit herein.“ 
| „Was fuͤr ein feines Näschen du doch haft,” er: 
widerte er lachend. „Und wie niedlich es iſt, wenn ſich's 
ſo kraus zieht. Ja, es war wieder mal eine etwas 
laͤngliche Sitzung. Aber du brauchſt nicht zu ſchmollen. 
Es iſt hoͤchſt ehrbar zugegangen.“ 

„Was kuͤmmert das mich! Du weißt ja, was ich dir 
geſagt habe.“ 

Jens Larſſen hatte ſich muͤde in einen Stuhl fallen 


28 Das hoͤchſte Ziel 

laſſen. Er ſpielte noch immer den Gutgelaunten; aber 
der Seitenblick, mit dem er zu ſeinem ſchoͤnen Weibe 
hinuͤberſchielte, war ſchon gar nicht mehr zaͤrtlich. „Mein 
liebes Kind, du redeſt ſo unendlich viel, daß ich mir beim 
beſten Willen nicht alles merken kann.“ 1 

„Dann will ich dir's wiederholen. Ich habe dir 
geſagt, daß auch ich meine eigenen Wege gehen werde, 
wenn du dein Betragen nicht aͤnderſt. Die letzte Nacht 
war ſeit acht Tagen ſchon die dritte, in der du nicht nach 
Haus gekommen biſt. Und jetzt habe ich es ſatt.“ 

„Du haſt keinen Grund, eiferſuͤchtig zu ſein. Ich 
gebe dir mein Wort, daß ich nur in Herrengeſellſchaft 
war.“ 

„Das heißt: du haſt die ganze Nacht geſpielt.“ 

„Na — wenn ſchon! Das geht dich nichts an.“ 

Nun fuhr ſie auf ihrem Stuhl herum, und ihre 
Augen blitzten ihn zornig an. „So? Es geht mich 
nichts an, wenn du das Geld zum Fenſter hinauswirfſt, 
das ich verdienen muß?“ 

„Du? Mach dich doch nicht lächerlich, Kleine! 
Wuͤrdeſt du nicht heute fuͤr einen Hungerlohn in irgend— 
einem Tingeltangel das Tanzbeinchen ſchwingen muͤſſen, 
wenn ich nicht die Großmut gehabt haͤtte, dich zu mir 
heraufzuziehen?“ 

„Ah, das iſt unerhoͤrt. Verſuche es doch mit einer 
andern! Das Publikum wuͤrde ſich uͤber deine Gri— 
maſſen einfach luſtig machen, wenn ich nicht das Stuͤck 
herausriſſe.“ 

Sie mußte ihn an einer verwundbaren Stelle ge: 
troffen haben, denn auch er machte jetzt ein wuͤtendes 
Geſicht. „Zwanzig fuͤr eine kann ich haben, und 
Schoͤnere als dich. Solche Puppenphyſiognomien 
laufen zu Hunderten in der Welt herum. Und unge— 


Roman von Reinhold Ortmann 29 
ſchickter als du koͤnnte ſich eine andere auch nicht an— 
ſtellen. — Übrigens, da wir gerade vom Geldhinaus⸗ 
werfen reden: die Firma Koſterlitz hat bei mir angefragt, 
ob ich mit der Beſtellung zweier Kleider einverſtanden 
waͤre und fuͤr die Bezahlung einſtaͤnde. Natuͤrlich werde 
ich antworten, daß es mir nicht im Traum einfaͤllt. 
Wenn du jede Woche ein neues Kleid haben mußt, 
ſo ſieh auch gefaͤlligſt zu, woher du das Geld dazu 
nimmſt.“ 

Marga ſprang auf und ſtand mit geballten Fäusten 
mitten im Zimmer. „Das iſt ſchaͤndlich — iſt geradezu 
erbaͤrmlich! Soll ich in abgetragenen Faͤhnchen ein: 
hergehen wie eine arme Choriſtin, nur weil du alles fuͤr 
dein wuͤſtes Leben verbrauchſt?“ 

„Wie ich lebe, iſt ganz und gar meine eigene Sache. 
Außerdem muͤßte ich mindeſtens die zehnfache Einnahme 
haben, wenn ich alle deine verſchwenderiſchen Launen 
erfuͤllen wollte. Die beiden Kleider mußt du dir unbe⸗ 
dingt aus dem Kopf ſchlagen. Ich weiß ohnehin nicht, 
wie ich mich bis zum naͤchſten Gagetag durchſchwindeln 
ſoll. Der gute Rodenſtock faͤngt auch an, ungemuͤtlich 
zu werden. Und im Jeu habe ich neuerdings ein ganz 
ſchauderhaftes Pech.“ 

„Es iſt weit mit dir gekommen, daß du mir das alles 
ſo ruhig ins Geſicht ſagen kannſt. Wir verdienen in 
jedem Monat ſoundſoviele Tauſende. Und du biſt in 
den Händen von Wucherern, während ich mir nicht ein= 
mal ein armſeliges Kleidchen machen laſſen darf. Haͤtte 
ich doch auf Onkel Julius gehoͤrt! Er war der einzige 
Menſch, der es jemals gut mit mir gemeint hat. Und 
er wußte, was von dir zu halten iſt.“ 

„Ja — daran iſt nun leider nichts mehr zu aͤndern. 
Ein jeder muß eben verbraucht werden, wie er iſt. Ich 


30 Das höchfte Ziel 


— 


nn. 


haͤtte am Ende auch was Geſcheiteres tun koͤnnen, als 
dich N heiraten.” 

„Dann koͤnnen wir uns ja ſcheiden laſſen. Ich bin 
ohne weiteres damit einverſtanden.“ 

„Ah, das iſt eine ganz neue Tonart. Haſt du viel— 
leicht fchon etwas anderes in Bereitſchaft?“ 

Marga zuckte die Achſeln und warf mit laͤſſiger 
Handbewegung ihr prachtvolles Haar in den Nacken 
zuruͤck. „Wohl moͤglich! Auf deine — wie ſagteſt du 
doch? — „Großmut bin ich a Gluͤck noch nicht an⸗ 
gewieſen. 5 

In die ſchlaffen Zuͤge des Schauſpielers kam die 
Spannung auflodernden Zornes. „Von wem war der 
große Blumenkorb am en Abend?“ fuhr er ſie 
barſch an. 

Marga aber zeigte ihm jetzt eine affektiert gleich⸗ 
guͤltige Miene. „Ich weiß nicht.“ 

„Das iſt gelogen. Ich habe geſehen, daß ein Brief 
darin ſteckte.“ 

„So? Dann iſt er wahrſcheinlich noch darin. Du 
kannſt ja nachſehen. Der Korb ſteht im Salon.“ 

„Da koͤnnt' ich lange ſuchen. Aber ich habe einen 
ganz beſtimmten Verdacht.“ 

„Wirklich? Wie eigenartig!“ 

„Ich wette, er war von dem Menſchen, der geſtern 
ſchon zum drittenmal hintereinander in der Fremden⸗ 
loge ſaß. Du kennſt ihn natuͤrlich?“ 

„Ich habe keine Ahnung, wen du meinſt.“ | 

„Verſtell dich nicht! Ich habe ſehr gut bemerkt, 
wie du mit ihm kokettiert haft. Und mir iſt, als ob ich 
ihn auch kennen muͤßte. Ich weiß nur nicht gleich, wo 
ich das Raubvogelgeſicht hinbringen ſoll. Du willſt 
mir alſo wirklich ſeinen Namen nicht nennen?“ 


Roman von Reinhold Ortmann 31 


„Ich bin doch kein Auskunftsbuͤro. Du kannſt dir 
ja einen Detektiv mieten.“ 

„Nun, der Burſche ſoll mir nur mal zwiſchen die 
Finger kommen! Denn davon, daß etwas dahinter 
ſteckt, bin ich jetzt feſt uͤberzeugt. Wenn du ein reines 
Gewiſſen haͤtteſt, wuͤrdeſt du mir nicht ſo ſchnippiſche 
Antworten geben.“ 

„Meine Antworten ſind immer noch viel liebens— 
wuͤrdiger, als deine Fragen es verdienen. Waͤre mir 
der Herr aber in der Tat nicht ganz unbekannt, was 
kuͤmmerte es dich? Jeder von uns wird eben von nun 
an tun, was ihm gefaͤllt.“ 

„Oho! Da haͤtte ich wohl auch noch ein Woͤrtchen 
mitzureden. Und ich rate dir im guten: mach keine 
Geſchichten. Auch nicht zum Spaß. Ich bin kein 
Onkel Julius, den man mit heimlichen Stelldicheinen 
in Konditoreien und dergleichen hinters Licht fuͤhren 
kann.“ 

„Es ſieht dir ähnlich, daß du mir jetzt einen Vor: 
wurf machſt aus dem, was ich fuͤr dich getan habe. Aber 
es iſt nicht der Muͤhe wert, mit dir zu ſtreiten. Und es 
waͤre mir lieb, wenn ich mich jetzt ungeſtoͤrt fertig machen 
koͤnnte.“ 

„Meinetwegen. Ich lege mich im Wohnzimmer 
aufs Sofa, um wenigſtens ein paar Stunden der ver— 
ſumpften Nacht wieder hereinzubringen. Aber vergiß 
nicht, mich rechtzeitig zu wecken. Um zwoͤlf habe ich 
eine Verabredung bei dem Agenten.“ — 

Zehn Minuten ſpaͤter — Jens Larſſen lag bereits 
in tiefem Schlaf — ſtand Margarete am Fernſprecher; 
ſie hatte ſich mit dem Hotel „Fuͤrſtenhof“ verbinden und 
Doktor Greſſer bitten laſſen. Nach einer ſehr kleinen 
Weile ſchon drang die wohlbekannte tiefe Stimme an 


nn ur — reer rer 


32 Das hoͤchſte Ziel 
ihr Ohr: „Vielguten Tag, Schoͤnſte der Frauen! Es iſt 
doch ſonſt niemand im Hoͤrbereich?“ 

„Nein. Aber warum wollen Sie denn das wiſſen? 
Haben Sie mir ein Geheimnis anzuvertrauen?“ 

„Nein. Daß ich naͤrriſch in Sie verliebt bin, iſt ja 
fuͤr Sie kein Geheimnis mehr.“ 

„Da alles in mich verliebt iſt, warum ſollten gerade 
Sie eine Ausnahme machen? Aber, Scherz beiſeite, 
wegen Ihres Blumenkorbes, fuͤr den ich Ihnen uͤbrigens 
beſtens danke, hatte ich eben eine große Eiferſuchtsſzene.“ 

„Mit wem? Doch nicht mit Jens Larſſen?“ 

„Mit wem ſonſt? Er iſt doch der einzige, der ein 
Recht dazu hat. Denken Sie nur: obwohl Sie ihm in 
der Fremdenloge aufgefallen ſind, hat er Sie nicht 
erkannt.“ 

„Vermutlich, weil ich mich ſeit unſerem letzten Zu: 
ſammenſein bei dem famoſen Liebesmahl ſo gewaltig 
verjuͤngt habe. Oder fanden Sie das vielleicht nicht?“ 

„Nein — verjuͤngt haben Sie ſich nicht. Aber das 
iſt bei einem Manne auch nicht noͤtig.“ 

„Nicht nötig? Wozu?“ 

„Um den Frauen zu gefallen. Den anderen Frauen, 
meine ich; denn von mir iſt ſelbſtverſtaͤndlich nicht die 
Rede. Ihr Brief war uͤbrigens eine große Keckheit, 
Herr Doktor! Eigentlich duͤrfte ich daraufhin gar nicht 
mehr mit Ihnen reden.“ 

„Und weil Sie das eigentlich nicht duͤrften, haben 
Sie mich angerufen. Ich kuͤſſe Ihnen dafuͤr Ihre zehn 
reizenden Fingerchen. Und die Antwort auf meine 
briefliche Anfrage? Wo und wann darf ich Sie ſehen?“ 

„Wenn ich mich darauf verlaſſen darf, daß Sie ſehr 
artig ſind —“ 

„Es iſt geſchworen — in der Hoffnung natuͤrlich, daß 


Roman von Reinhold Ortmann 33 


Sie nike in nicht zu ferner Zeit meines Geluͤbdes ent⸗ 
binden werden.“ 

„Niemals. Und ich werde Ihnen ſehr boͤſe ſein, 
wenn Sie mir durch Ihr Benehmen zeigen, daß Sie 
mich fuͤr leichtfertig halten. Ihre Achtung will ich und 
Ihre Freundſchaft; denn ich brauche notwendig einen 
echten, wahren Freund. Darf ich Vertrauen zu Ihnen 
haben?“ 

Ja.“ 

„ 

Das kurze Wort klang anders aus dem Apparat als 
ſeine bisherigen Reden. Ein Laͤcheln huſchte kurz uͤber 
Margaretens Geſicht. „Dann moͤgen Sie mich um 
zwoͤlf Uhr beſuchen, vorausgeſetzt, daß die Zeit Ihnen 
genehm iſt.“ 

„Es gibt keine, die mir nicht genehm waͤre, wenn es 
ſich darum handelt, Ihnen zu dienen. Und Sie wiſſen 
ja auch, daß ich ein Muͤßiggaͤnger bin. Punkt zwoͤlf Uhr 
alſo!“ 

„Sagen wir lieber: eine Viertelſtunde ſpaͤter. Mein 
Mann hat um zwoͤlf eine Verabredung bei ſeinem 
Theateragenten. Und bei unſerem erſten Wiederſehen 
wenigſtens braucht er nicht notwendig zugegen zu ſein — 
nicht wahr?“ 

„Nein, eine ſolche Notwendigkeit vermag auch ich 
nicht zu erkennen.“ 

„Schaͤmen Sie ſich! Auf bald alſo! Schluß!“ 


„Sie wollten meine Anſicht hoͤren, Herr Suterland, 
darum mußte ich wohl aufrichtig ſein. Aber die Ent⸗ 
ſcheidung liegt ſelbſtverſtaͤndlich bei Ihnen. N 
5 „Weil ich dem Namen nach noch immer die Prokura 
habe, meinen Sie. Aber ich werde mich huͤten, in Ab⸗ 
weſenheit des Chefs etwas zu tun, was nicht Ihren 

1916. X. 3 


34 Das bochſte Ziel | 


Beifall he hat, we Doktor. Daß der En re 
rat fich nachher auf Ihren Standpunkt ſtellen würde, iſt 
doch außer Frage. Sie allein ſind es ja, der hier regiert.“ 
Der kleine alte Herr hatte ſich nicht bemuͤht, die Gereizt⸗ 
heit zu verbergen, der ſeine Worte entfloſſen. Das 
Zittern ſeiner Haͤnde machte die Papiere kniſtern, die 
er zwiſchen den Fingern hielt, und ſeine Geſichtsmuskeln 
zuckten nervoͤs. 

Reinhard Volcker, der ihm gegenuͤber am Schreib⸗ 
tiſch lehnte, zog wie in aufſteigendem Unmut die Brauen 
zuſammen; aber der Ton ſeiner Rede blieb durchaus 
ruhig und artig. „Ich verſtehe nicht recht, wie Sie zu 
ſolcher Auffaſſung kommen. Und ich bedaure es auf- 
richtig. Sie werden mir kaum den Vorwurf machen 
koͤnnen, daß ich mich jemals in Ihr Machtgebiet einge⸗ 
draͤngt oder Ihre Anordnungen geſtoͤrt haͤtte.“ 

„Gewiß, gewiß — Sie ſind immer die Liebens⸗ 
wuͤrdigkeit ſelbſt geweſen. Aber Sie duͤrfen nicht er⸗ 
warten, Herr Doktor, daß ich mich dadurch uͤber die 
wahre Sachlage taͤuſchen laſſe. Es iſt ein ſehr ſchmerz⸗ 
liches Gefuͤhl, wenn man ſich nach dreißigjaͤhriger 
Taͤtigkeit als uͤberfluͤſſig beiſeite geſchoben ſieht.“ 

„Was ſoll ich Ihnen darauf antworten? Es kaͤme 
mir ſehr toͤricht vor, wenn ich Ihnen erſt noch ausdruͤcklich 
verſichern wollte, daß ich niemals den Wunſch gehabt 
habe, Sie beiſeite zu ſchieben.“ 

„Sie haben ja auch nicht noͤtig, ſich vor mir zu recht⸗ 
fertigen. Daß Sie darauf bedacht ſind, in die Hoͤhe zu 
kommen, kann Ihnen niemand verargen.“ 

„Darauf habe ich nichts zu erwidern. Warum aber, 
wenn Sie einen Grund zur Klage haben, wenden Sie 
ſich mit Ihrer Beſchwerde nicht an die einzig zuſtaͤndige 
Stelle, naͤmlich an den Herrn Kommerzienrat ſelbſt?“ 


Roman von Reinhold Ortmann 35 

„Ich moͤchte es nicht zur Kuͤndigung kommen laſſen 
— nach dreißig Jahren treuer, rechtſchaffener Arbeit. 
Nein, dann gehe ich ſchon lieber aus eigenem Entſchluß. 
Die Alten muͤſſen den Jungen das Feld raͤumen, das iſt 
ja wohl ſo der Lauf der Welt.“ Ohne auf eine Antwort 
zu warten, haſtete er aus dem Zimmer. 

Mit einem Seufzer wandte ſich der Zuruͤckgebliebene 
nach dem Hintergrund des Gemaches, wo Marianne 
Langerhans ruhig wartend ſtand. Sie war ſchon dage⸗ 
weſen, als der Prokuriſt eintrat. Und in der Annahme, 
daß es fich um eine gleichguͤltige geſchaͤftliche Beſprechung 
zwiſchen den beiden Herren handeln ſolle, war fie ges 
blieben. Nun, da ſie Volckers Blick begegnete, ſagte ſie 
mit einem Achſel zucken: „Sie muͤſſen es tragen, Rein⸗ 
hard! Das ſind Widerwaͤrtigkeiten, die keinem erſpart 
bleiben.“ 

„Aber ſolche Szenen wiederholen ſich ſeit der Abreiſe 
des Kommerzienrats beinahe taͤglich. Und wenn ich mich 
noch ſchuldig wuͤßte! Aber in Wahrheit hat der alte Herr 
bei dem Chef keinen waͤrmeren Fuͤrſprecher als mich.“ 

„Sie gelten ihm als Widerſacher, weil Sie ihm die 
feindliche Jugend verkoͤrpern und weil Sie Klemens 
Steinsdorffs Vertrauen genießen. Das verzeiht er 
Ihnen nicht. Und darum wuͤrde er Ihnen unbedenklich 
das Schlimmſte antun, wenn er die Moͤglichkeit dazu 
hätte.” 

„Oh, fo weit geht feine Abneigung doch wohl nicht. 
Und er tut mir leid. Ich habe ſeinem ehrwuͤrdigen 
Alter vielleicht in der Tat nicht immer gebuͤhrend 
Rechnung getragen; ich werde kuͤnftig feine Empfind⸗ 
lichkeit noch vorſichtiger ſchonen als bisher. Aber nun 
zu unſeren Briefen, liebe Marianne! Ein Gluͤck, daß 
es wenigſtens zwiſchen uns keine Meinungsverſchieden⸗ 


36 Das hoͤchſte Ziel 


heiten gibt. Die wuͤrden mir jedenfalls naͤher gehen 
als die grundloſen Einbildungen des Herrn Suter⸗ 
land.“ 

„Da iſt ein großer unterschied. Ich bin doch nur 

Ihre Untergebene.“ 
W Wollen Sie etwa auch in der Tonart anfangen?“ 
fragte er lachend. „Ich würde mich als Ihr Vorge— 
ſetzter gar nicht ſehr behaglich fuͤhlen; denn in geſchaͤft⸗ 
lichen Dingen ſind Sie neunmal geſcheiter als ich.“ 

„Dieſen ſchoͤnen Wahn will ich Ihnen nicht zer⸗ 
ſtoͤren,“ ſagte auch ſie mit einem Laͤcheln. Sie hatte 
in dieſen vier Jahren gelernt, heiter und unbefangen 
zu laͤcheln, und auch in anderen Äußerlichkeiten war 
allgemach eine recht vorteilhafte Veraͤnderung mit ihr 
vorgegangen. Ihre Geſtalt hatte ſich gerundet; ihre 
Wangen waren nicht mehr ſo ſchmal und hager wie zur 
Zeit ihrer erſten Begegnung mit Volcker. Wenn ein 
Schimmer von Froͤhlichkeit uͤber ihr Geſicht ging, konnte 
man ſie wohl huͤbſch nennen. Aber ſolche Augenblicke 
kamen freilich nicht allzuoft. Und noch Bu ſchien 
ſie aͤlter, als ſie war. 

Das galt, wenngleich in anderem Sinne, auch fuͤr 
Reinhard Volcker. Hatte er mit vierundzwanzig faſt 
wie ein Zwanzigjaͤhriger ausgeſehen, ſo machte er jetzt 
trotz der Kuͤrze der dazwiſchenliegenden Zeitſpanne 
durchaus den Eindruck eines gereiften Mannes. Eine 
ruhige Selbſtſicherheit, die doch nichts von Hochmut und 
Überhebung hatte, offenbarte fich in feiner Haltung wie 
in feiner Redeweiſe; aus feinen Augen aber . 
Geſundheit und ſtrotzende Lebenskraft. 

Eine Viertelſtunde uͤber die feſtgeſetzte Büͤrozeit 
hinaus waͤhrte ſeine Beſprechung mit Marianne. Dann 
trennten ſie ſich mit der freundlichen Erklaͤrung Volckers, 


„Roman von Reinhold Ortmann 37 


daß er ſich fuͤr den . Sonntagnachmittag 
zum Tee anſage. i 

Der junge Redakteur lenkte ſeine Schritte zur Woh⸗ 
nung des Oberleutnants v. Heldringen. Der hatte ihn 
heute nicht erwartet und war deſto augenfaͤlliger erfreut 
uͤber ſein Erſcheinen. Bei raſch herbeigeſchafftem Bier 
und einer guten Zigarre machten ſich's die Freunde in 
dem behaglichen Junggeſellenzimmer bequem. 

„Haſt du Nachrichten von meinem Onkel?“ fragte 
Heldringen im Lauf der Unterhaltung, und Volcker 
nickte. 5 
„Darum auptſächlich bin ich hier. Der Kommer⸗ 
zienrat ſchreibt, daß er wahrſcheinlich ſchon an einem der 
naͤchſten Tage eintrifft. Und ich bin ſehr froh daruͤber. 
Denn wenn auch die Maſchine weiterlaͤuft, ohne ihn 
fehlt's doch an allen Ecken und Enden.“ 

„Da redet aus einem gewiſſen jungen Manne wieder 
mal die falſche Beſcheidenheit. Um das zu glauben, 
muͤßte ich nicht erſt vor etlichen Wochen von dem alten 
Herrn dein Lob in wahren Hymnentoͤnen gehoͤrt haben. 
Wenn man ſich auf ſein Urteil verlaſſen darf, biſt du ein 
Genie als Buchhaͤndler, Redakteur, Schriftſteller, Po⸗ 
litiker und ich weiß nicht, was ſonſt noch. Manchmal 
begreife ich es gar nicht, daß du mich armen, unwiſſenden 
Leutnant uͤberhaupt noch deines Umgangs wuͤrdigſt.“ 

„Gut, daß man dich nicht immer ernſt zu nehmen 
braucht, mein teurer Heldringen! Aber du haſt noch nicht 
alles gehoͤrt, was ich dir Erfreuliches mitzuteilen habe. 
Und es iſt etwas dabei, was dir ein ganz beſonderes 
Vergnuͤgen bereiten wird.“ | 

„Iſt es möglich: die Damen kommen auch mit? 
Die Tante — und Traute? Schon jetzt?“ 

„Ja. Der Herr Kommerzienrat ſchreibt, ſeine Gattin 


38 Das höchfte Ziel 


— — — nn — — 


koͤnne die Trennung von ihrem Heim nicht laͤnger er⸗ 
tragen. Und da die Arzte fie für vollkommen herge⸗ 
ſtellt erklaͤrt haben, wolle ſie mit der Ruͤckkehr nicht bis 
zum Sommer warten.“ 

„Sehr begreiflich, nachdem ſie faſt volle zwei Jahre 
im Suͤden und in allerlei langweiligen Baͤdern aus⸗ 
halten mußte. Aber du haſt recht: etwas Vergnuͤglicheres 
haͤtteſt du mir wahrhaftig nicht erzaͤhlen koͤnnen.“ 

Volcker laͤchelte ſchalkhaft. „Ich wußte ja, mit wie 
gluͤhender Verehrung du an deiner Frau Tante haͤngſt.“ 

„Tu' ich auch — aber eigentlich dachte ich zunaͤchſt an 
jemand andern. Ich glaube, du kennſt ſie noch gar nicht.“ 

„Wen? Fraͤulein Traute Steinsdorff? Doch! Ich 
hatte bereits das Vergnügen.” 

„Sooo?“ machte der Oberleutnant ungläubig. 
„Wann ſollte denn das geweſen ſein? Es waren doch 
im verfloſſenen Oktober ſchon vier Jahre, daß ſie nach 
Lauſanne in die Dreſſuranſtalt gekommen iſt. Und von 
da iſt ſie mit ihrer Mutter geradeswegs nach dem Suͤden 
gegangen. Wenn ich nicht in den letzten Sommern nach 
dem Manöver mit den Damen zuſammengetroffen 
waͤre, wuͤrde ich wahrſcheinlich ſelber nur noch eine 
ganz nebelhafte Erinnerung an mein kleines Baͤschen 
haben.“ 

„Trotz alledem ruͤhme ich mich, die junge Dame 
ſchon geſehen zu haben. Das war damals, als ſie um 
den Tiſch herumlief und feierlich erklaͤrte, daß ſie ſich 
niemals von einem Leutnant kuͤſſen ließe, wenigſtens 
nicht unter vier Augen.“ 

Heldringen uͤberlegte. „Ach ja, — jetzt glaube ich 
mich zu beſinnen. Aber daß du dieſer unbeholfene junge 
Menſch geweſen biſt, der uns damals belauſchte — das 
iſt mir in der Tat ganz neu. Wahrſcheinlich hatte ich 


Roman von Reinhold Ortmann 39 


dich nur fluͤchtig angeſehen. Übrigens — wenn du fie 
zu kennen glaubſt, weil ſie als vierzehnjaͤhriges Back⸗ 
fiſchchen mal an dir vorbeigehuſcht iſt, ſo biſt du gewaltig 
auf dem Holzweg.“ 

„Daß ſich junge Maͤdchen zwiſchen vierzehn und 
achtzehn meiſt zu ihrem Vorteil veraͤndern, iſt eine alte 
naturgeſchichtliche Erfahrung.“ 

„Aber als Erklaͤrung fuͤr den vorliegenden Fall nicht 
ganz erſchoͤpfend. Na, du wirſt ja ſelbſt ſehen. Und 
ich wette, daß du bei ihrem Anblick an alles andere eher 
denkſt als an Naturgeſchichte oder aͤhnlichen Unſinn. 
Warte mal: im Bilde wenigſtens kann ich ſie dir auf der 
Stelle vorfuͤhren.“ 

Er zog ein Fach ſeines Schreibtiſches auf, das ganz 
mit Photographien zumeiſt weiblicher Weſen gefuͤllt war, 
und ſtreute die Bilder uͤber den Tiſch. Dabei ſchob ſich 
eines dicht an Volckers Bierglas, fo daß er kaum ver⸗ 
meiden konnte, es anzuſehen. Und wie geiſtesabweſend 
ſtarrte er nach dem erſten fluͤchtigen Blick darauf hin. 
War das nur eine wunderbare Ahnlichkeit oder war es 
Reta Martiny ſelbſt? Konnte es dieſe Augen, dieſen 
Mund, dieſes Laͤcheln noch einmal geben? Zoͤgernd 
drehte er das Bild naͤher zu ſich heran, und jetzt gab es 
keine Möglichkeit eines Irrtums mehr. Sie ſelbſt — 
und doch nicht mehr dieſelbe! Mit aller unbewußten 
Holdſeligkeit, aller ruͤhrenden Anmut und ahnungsloſen 
Reinheit eines Kindes trug er ihr Bild in der Seele. Dies 
ſchoͤne, laͤchelnde Weib mit den wiſſenden Augen mochte 
beſtrickend, verfuͤhreriſch ſein; doch von dem unbeſchreib⸗ 
lichen Zauber, den er einſt bei ihrem Anblick empfunden, 
ſprach aus dieſem Bilde nichts mehr zu Reinhard Volckers 
Herzen. 

„Der Himmel weiß, an welchem allerbeſten und 


„u 


40 Das hoͤchſte Ziel ER 


allerficherften Ort ich Trautes Bild nun wieder ver⸗ 
wahrt habe,“ ſagte Heldringen, nachdem er bis auf den 
Boden der Schublade gelangt war. „Im Augenblick 
kann ich es jedenfalls nicht finden.” c 
„Bemuͤhe dich nicht, Liebſter, da ich ja binnen 
kurzem den Vorzug haben werde, das Original ſelbſt 
zu ſehen. Aber ſage mir doch: wer iſt dieſe Dame?“ 
„Die? Erkennſt du ſie nicht? Es iſt die ſchoͤne 
Marga Larſſen, fuͤr die waͤhrend eines Winters — es 
koͤnnen auch zweie geweſen ſein — die ganze Welt ge⸗ 
ſchwaͤrmt hat. Haft du denn den „Teufelswalzer 
nicht geſehen?“ 
„Nein. Und du mußt dich da in einem Irrtum bes 


finden. Eine Marga Larſſen kann das unmöglich fein.” 


„Nicht? Und wer waͤre es ſonſt?“ 

„Ein junges Maͤdchen, das ich vor etwas mehr als 
vier Jahren auf der Buͤhne eines hieſigen Varietés als 
Taͤnzerin geſehen habe.“ 

„Kann ſchon ſtimmen. Es hieß, daß fie eine ſchlechte 
Artiſtin geweſen ſei, bevor ſie als Schauſpielerin entdeckt 
wurde.“ 

„Aber der Name? Jene junge Dame hieß Reta 
Martiny.“ 

„Nun, und was weiter? Reta war vermutlich eine 
ebenſo ſchauderhafte Verunzierung des ſchoͤnen Vor⸗ 
namens Margarete, als Marga eine Verſtuͤmmelung 
davon iſt. Und Larſſen iſt oder war eben der Name ihres 
Gatten.“ Ä 

„Ihres Gatten? Sie iſt verheiratet?“ 

„Gewiß. Wenn ich nicht ſehr irre, ſogar ſchon zum 
zweitenmal.“ 

„uUnmoͤglich!“ fuhr es Volcker halb gegen feinen 
Willen heraus. „Es iſt ganz unmoͤglich, Heldringen.“ 


Roman von Reinhold Ortmann 41 


„du biſt ein wunderlicher Heiliger. Weshalb, in 
aller Welt, ſollte es denn ſo ganz unmoͤglich ſein? Ich 
fuͤr meine Perſon kann nichts Verwunderliches dabei 
finden; denn ich glaube, es iſt ein mindeſtens ebenſo 
großes Vergnuͤgen, von der Dame geſchieden zu werden, 
als es eine Wonne ſein muß, ſie zu heiraten.“ 
„Geſchieden — ſagſt du? Das heißt: es handelt ſich 
dabei um eine bloße Vermutung, nicht wahr?“ 
„Dabeigeweſen bin ich allerdings nicht, als die 
Scheidung ausgeſprochen wurde. Erzaͤhlt aber hat man 
mir's beſtimmt. Und ich halte es auch fuͤr hoͤchſt wahr⸗ 
ſcheinlich. Denn es ſoll ja eine Liebesheirat geweſen 
ſein. Der Herr Larſſen war naͤmlich derſelbe Schau⸗ 
ſpieler, mit dem fie den ſchauerlichen ‚Zeufelswalzer‘ 
mimte. Ein ſogenannter ſchoͤner Mann und ein ver⸗ 
zweifelt widerwaͤrtiger Kerl.‘ 
Volcker fragte nicht weiter, aber er blieb fuͤr den Reſt 
des Abends ein ungewoͤhnlich ſchweigſamer und zer⸗ 
ſtreuter Geſellſchafter. Als er den Heimweg antrat, 
ſtand er unter dem Druck einer ſchmerzlichen Enttaͤu⸗ 
ſchung, vor allem uͤber die Tiefe und Stetigkeit ſeines 
eigenen Empfindungslebens. Wie oft in dieſen langen 
vier Jahren hatte er ſich die Moͤglichkeit einer Wieder⸗ 
begegnung mit Reta ausgemalt! Und wie leuchtend 
waren jedesmal die Farben dieſes Bildes geweſen! Und 
nun? War dies denn nicht auch ein Wiederfinden ge⸗ 
weſen? Warum hatte ſich beim Anblick ihres Bildes 
das wonnige Erſchauern nicht eingeſtellt, das ſonſt ein 
bloßes Erinnern noch immer hatte durch ſeinen Koͤrper 
rieſeln laſſen? Warum ſpuͤrte er eine ſo ſeltſame Kaͤlte 
und Leere in ſeinem Herzen? Die Vorſtellung, daß ſie 
ſich einem anderen zu eigen gegeben, daß ſie jetzt vielleicht 
ſchon einem dritten gehoͤrte — dieſe Vorſtellung konnte 


42 gie 


es doch nicht fein, die das bewirkte. Denn er hatte fie 
laͤngſt verloren gegeben und war doch ſicher geweſen, 
ſie noch immer zu lieben. Nun aber hatte er dieſe 
Sicherheit nicht mehr. Seine Seele war voll Traurigkeit 
wie nach einem großen Verluſt. Aber es war eine ſtille, 
ſanfte Traurigkeit ohne alle brennende Schaͤrfe. 


Waͤhrend der beiden erſten Jahre ſeiner Taͤtigkeit im 
Hauſe Steins dorff war Reinhard Volcker mit der Gattin 
des Kommerzienrats nur ſelten und fluͤchtig in per⸗ 
ſoͤnliche Beruͤhrung gekommen. Denn abgeſehen davon, 
daß engere Beziehungen zwiſchen ihm und dem allge⸗ 
waltigen Chef der Firma damals noch nicht beſtanden 
hatten, war wegen der zunehmenden Kraͤnklichkeit der 
Frau Hedwig Steinsdorff der geſellige Verkehr des Ehe⸗ 
paares waͤhrend jener beiden Jahre auf einen Kreis 
von wenigen Freunden beſchraͤnkt geblieben. 

Das war nun ganz anders geworden. Doktor 
Reinhard Volcker ſtand auf einem hohen und verant⸗ 
wortlichen Poſten. Er galt allgemein als die „rechte 
Hand“ des Kommerzienrats und wurde von ihm trotz 
des Altersunterſchiedes mehr als Freund denn als 
Untergebener behandelt. Es war alſo unausbleiblich, 
daß ſich daraus fuͤr Reinhard auch ein naͤheres geſell⸗ 
ſchaftliches Verhaͤltnis zu den Damen des Hauſes ergab. 

Frau Hedwig war von ihrer langwierigen und nicht 
unbedenklichen Krankheit vollſtaͤndig geneſen. Sie ſah 
viel huͤbſcher und jugendlicher aus als vor vier Jahren 
und ſchien durchaus gewillt, ihre ſchoͤnen Empfangs⸗ 
raͤume wieder zu jener Staͤtte einer frohen und anregen⸗ 
den Geſelligkeit zu machen, die ſie in vergangenen Zeiten 
geweſen waren. Dazu kam, daß die nahezu neunzehn⸗ 
jährige Tochter nach Sitte und Herkommen nunmehr 


gnuͤgungen erheben durfte, die ihrer lebensfrohen Jugend 
angemeſſen waren. Und es zeigte ſich ſehr bald, daß 
gerade ihre Perſon ein ſehr anziehungskraͤftiger Magnet 
namentlich fuͤr die juͤngeren Herren des Steins dorffſchen 
Umgangskreiſes geworden war. 

Es konnte nicht wohl anders ſein; denn der zierliche 
Backfiſch von ehedem war als eine ausnehmend huͤbſche 
und reizvolle junge Dame zuruͤckgekehrt. Ihre ſchmaͤch⸗ 
tige Mutter um beinahe Haupteslaͤnge uͤberragend, war 
Traute waͤhrend dieſer Entwicklungszeit dem Vater noch 
um vieles ähnlicher geworden. Mit der Überfeßung 
ſeiner maͤnnlichen Schoͤnheit in das weiblich Anmutige 
hatte die Natur in Wahrheit ein kleines Meiſterſtuͤck 
zuſtande gebracht. Als Reinhard Volcker ihr bei der 
erſten förmlic en Vorſtellung gegenuͤberſtand, fand er 
von ſeinem Erinnerungsbilde eigentlich nichts mehr 
wieder als die glaͤnzenden braunen Augen, die ihn einſt 
mit einem Blick voll Verwirrung und Unmut angeſtarrt 
hatten. Sie waren ihm gut im Gedaͤchtnis geblieben, 
und er konnte darum jetzt kaum uͤberraſcht ſein von 
ihrer ausdrucksvollen Schoͤnheit. Aber der Blick, den 
ſie ihm vergoͤnnten, war freilich von einer ganz anderen 
Art; er war kuͤhl und gleichguͤltig, ja, wie ihm ſcheinen 
wollte, faſt hochmuͤtig ablehnend, wie die ganze Art 
ihres Benehmens. Gewiß war ſie gleich ihrer Mutter 
von vollkommenſter Hoͤflichkeit gegen den neuen Be⸗ 
kannten, den der Kommerzienrat mit einigen ſehr herz⸗ 
lichen und fuͤr Volcker hoͤchſt ſchmeichelhaften Worten 
ſeinen Damen gebracht hatte. Aber hinter dieſer 
Höflichkeit barg ſich doch eine Gemeſſenheit und Kälte, 
die Volcker deutlich genug empfand, um dadurch von 
vornherein auch ſein eigenes Verhalten beſtimmen zu 


wollen zu rechnen habe, das fein verehrter Chef ihm fo 
unzweideutig entgegenbrachte. Und um nichts in der 
Welt haͤtte er verſucht, ſich aufzudraͤngen, wo man eine 
Annaͤherung offenbar nicht wuͤnſchte. 

Er verhehlte ſich nicht, daß ihn dieſe verſchleierte 
Ablehnung ſchmerzte. Namentlich, ſoweit er ſie in 
dem Benehmen des jungen Maͤdchens wahrzunehmen 
glaubte; denn es war ſicherlich etwas ſehr Schoͤnes und 
Koͤſtliches, Traute Steinsdorffs Freundſchaft zu beſitzen. 
Auch ohne die begeiſterten Außerungen Heldringens 
wäre er zu dieſer Überzeugung gelangt, nachdem er 
ihr bei größeren geſellſchaftlichen Veranſtaltungen im 
Steinsdorffſchen Hauſe einige Male begegnet war. 
Ihre Liebenswuͤrdigkeit hatte nichts Anerzogenes und 
Gemachtes. In der Heiterkeit wie im Ernſt, immer 
offenbarte ſich in ihrem Weſen eine ſchoͤne Herzens waͤrme, 
die mit einem Laͤcheln oder mit einem Wort zu gewinnen 
wußte. Im leichten Geſpraͤch, wie in tiefer ſchuͤrfender 
Unterhaltung, immer gab ſie ſich ohne jede Poſe und 
ohne jede Gefallſucht; ſie ſuchte nicht zu erheucheln, was 
ſie nicht beſaß, ſuchte nicht kluͤger zu erſcheinen, als ſie 
war, und nicht gefuͤhlſeliger, als es ihrer bluͤhenden 
koͤrperlichen und ſeeliſchen Geſundheit entſprach. Von 
den beiden Fehlern, die in Volckers Augen einem Men⸗ 
ſchen am meiſten ſchadeten, von Oberflaͤchlichkeit und 
Unaufrichtigkeit, war ſie jedenfalls vollſtaͤndig frei. 
Er waͤre gluͤcklich geweſen, ihr freundſchaftliches Ver⸗ 
trauen zu gewinnen. Die unſichtbare Schranke aber, 
die ſie gleich in der erſten Stunde mit offenkundiger 
Abſichtlichkeit zwiſchen ſich und ihm aufgerichtet, hatte 
ihm von vornherein jede Hoffnung darauf genommen. 

So ſtellte er denn ſein Benehmen auf ſtrengſte ge⸗ 


Roman von Reinhold Ortmann 45 


ſellſchaftliche Form und wuͤrdevolle Beſcheidenheit ein. 
Weil es ihm laͤcherlich erſchienen waͤre, wenn er etwa 
haͤtte den Gekraͤnkten ſpielen wollen, leiſtete er den Ein⸗ 
ladungen Folge, die jedesmal auch an ihn ergingen, 
wenn ſich die gaſtlichen Pforten des Steinsdorffſchen 
Hauſes zu einer groͤßeren geſelligen Veranſtaltung 
oͤffneten. Aber er vermied es beinahe aͤngſtlich, ſich in 
den engeren Kreis zu draͤngen, der das gefeierte Haus⸗ 
töchterchen umgab. Und wo er dem Geſpraͤch mit ihr 
nicht ausweichen konnte, ging auch er uͤber die Grenzen 
einer wohl abgemeſſenen Artigkeit niemals hinaus. 

Nach einer Erklaͤrung ihres Verhaltens ſuchte er 
nicht. Sie ſchien ihm hinlaͤnglich gegeben durch die 
Tatſache, daß er doch am Ende nur ein bezahlter Ange⸗ 
ſtellter ihres Vaters war, und daß ihre Mutter ſie offen⸗ 
bar in der Anſchauung erzogen hatte, es koͤnne unter 
ſolchen Umſtaͤnden von einer geſellſchaftlichen Gleichbe⸗ 
rechtigung nicht die Rede ſein. 

Der Kommerzienrat hatte von der ablehnenden 
Stellungnahme der Damen ſeinem erklaͤrten Schuͤtzling 
gegenuͤber bisher offenbar nichts bemerkt. Er ſprach 
von ſeiner Tochter hie und da zu Volcker, wie wenn 
er ſicher waͤre, daß die allerbeſten Beziehungen zwiſchen 
ihnen beſtaͤnden. Aber ſein raſtlos taͤtiger Geiſt war 
immer viel zu ſehr mit weittragenden geſchaͤftlichen und 
menſchenfreundlichen Plaͤnen beſchaͤftigt, als daß er ſo 
nebenſaͤchlichen perſoͤnlichen Dingen haͤtte eine beſondere 
Beachtung ſchenken ſollen. | 

Volcker hätte blind fein muͤſſen, um nicht zu ſehen, 
daß Traute ein Gegenſtand eifrigſten Werbens fuͤr mehr 
als einen der im Hauſe verkehrenden jungen Herren 
geworden war. Er fand das ebenſo natuͤrlich um ihrer 
beſtechenden perſoͤnlichen Vorzuͤge wie um des großen 


46 Das hoͤchſte Ziel 


Reichtums willen, der ihr als dem einzigen Kinde ihrer 
Eltern dereinſt zufallen mußte. Jedenfalls war in dieſer 
Hinſicht die Entſcheidung bereits gefallen. Daraus, 
wie ſterblich er in ſeine ſchoͤne Baſe verliebt war, machte 
Bruno v. Heldringen dem Freunde gegenuͤber ja kaum 
noch ein Hehl, wenn er auch ſelbſtverſtaͤndlich zu wohl⸗ 
erzogen und zu taktvoll war, es in buͤrren Worten 
auszuſprechen. Und die Art, in der Traute mit ihrem 
Vetter verkehrte, ließ nach Volckers Überzeugung eben⸗ 
falls nur eine einzige Deutung zu. Es herrſchte zwi⸗ 
ſchen ihnen jener uͤbermuͤtige, neckiſch vertrauliche Ton, 
der von einem Liebesgetaͤndel kaum noch zu unter⸗ 
ſcheiden iſt. Wo immer es in nicht geradezu auffaͤlliger 
Weiſe geſchehen konnte, gab ſie mit ihren kleinen, harm⸗ 
loſen Gunſtbeweiſen ihm vor allen anderen den Vorzug, 
und mit der Offenheit, die all ihren Handlungen 
eigen war, bekundete ſie das Vergnuͤgen, das ſeine 
Geſellſchaft und ſeine luſtige Unterhaltungsgabe ihr 
bereiteten. 

Daß ſie mit ihm beinahe taͤglich ohne jede andere 
Begleitung ſpazieren reiten durfte, war wohl ein 
Zeichen, daß auch ihre Eltern ſich mit dem Gedanken an 
eine innigere Verbindung der beiden jungen Leute 
bereits vertraut gemacht hatten. Die Frau Kommerzien⸗ 
rat zumal legte eine große Zaͤrtlichkeit fuͤr den huͤbſchen 
Neffen an den Tag, die ſie gewiß zur erfolgreichen Fuͤr⸗ 
ſprecherin machte, ſelbſt dann, wenn etwa Klemens 
Steinsdorff wegen der nahen Blutsverwandtſchaft oder 
aus irgendwelchen anderen Gruͤnden Bedenken hegen 
ſollte. 

Ob er den Freund um ſein Gluͤck beneidete — ob 
er es ihm vielleicht gar mißgoͤnnte? Reinhard Volcker 
wuͤrde ſich ſelbſt auf das haͤrteſte getadelt haben, wenn 


Roman von Reinhold Ortmann 47 


— — ——— — 


er ſich jemals auf einer derartigen Empfindung haͤtte 
ertappen muͤſſen. Und darum war es wohl gut, daß 
er ſich nicht Rechenſchaft gab uͤber die wahre Natur des 
ſeltſam ſtechenden und nagenden Schmerzes, den er 
verſpuͤrte, wenn er inmitten einer heiter und feſtlich ge⸗ 
ſtimmten Geſellſchaft die beiden beobachtete. Er ſchalt 
ſich wegen dieſer toͤrichten Regung, aber er brachte ſie 
einzig auf die Rechnung des Bedauerns uͤber ſeine eigene 
unverſchuldete Zuruͤckſetzung und uͤber die ſichere Aus⸗ 
ſicht, mit dem Augenblick ſeiner Verheiratung auch 
den ihm teuer gewordenen Freund fuͤr immer zu 
verlieren. | 
Nun waren ſchon zehn Wochen ſeit der Heimkehr 
der Damen vergangen. Die Hochflut der winterlichen 
Vergnuͤgungen war verebbt, und die letzten Apriltage 
brachten ein ſo herrliches Fruͤhlingswetter, daß ſich in 
jedes Großſtaͤdters Herz die Sehnſucht nach einer 
Flucht aus der druͤckenden Enge des unfruchtbaren 
ſteinernen Haͤuſermeeres zu regen begann. An einem 
dieſer Tage war es, als der Kommerzienrat am Ende 
einer geſchaͤftlichen Beſprechung zu Reinhard Volcker 
ſagte: „Nun habe ich noch etwas Neues fuͤr Sie, lieber 
Doktor — eine kleine Überraſchung, und hoffentlich 
keine unangenehme. Haben Sie Luſt, meine Damen 
auf ungefaͤhr eine Woche nach Reimsbach zu begleiten?“ 
Die erſte Empfindung Volckers war die einer leb⸗ 
haften Beſtuͤrzung. So gerne er in dem lieblichen 
ſchleſiſchen Dorfe weilte, in deſſen Gemarkung die große 
Steinsdorffſche Papierfabrik und die ihr angegliederte 
Arbeiterkolonie gelegen waren, die Vorſtellung, mit den 
beiden Damen, denen ſeine Geſellſchaft ohne Zweifel 
ſehr wenig willkommen war, dorthin zu gehen, verur⸗ 
ſachte ihm ein mit ſtarker Bangigkeit gemiſchtes Unbe⸗ 


48 Das hoͤchſte Ziel 


hagen. Aber er durfte natuͤrlich nicht nein ſagen, und 
er fand darum keine andere Antwort als ein verlegenes: 
„Wenn der Herr Kommerzienrat es ſo wuͤnſchen —“ 

„Ja. Es gibt da einiges Geſchaͤftliche mit dem Di⸗ 
rektor zu ordnen, und ich moͤchte, daß Sie auch in der 
Kolonie wieder mal nach dem Rechten ſehen. Die Leute 
fuͤhren ja im großen und ganzen ein recht eintraͤchtiges 
Leben, aber da ſie eben auch nur Menſchen ſind, geht es 
doch nicht ganz ohne kleine Reibungen und Mißhellig⸗ 
keiten ab, denen man beizeiten ein Ende machen ſollte. 
Außerdem werden Sie ja wahrſcheinlich Verlangen 
tragen, ſich das fertige Kinderheim anzuſehen, das im 
eigentlichſten Sinne des Wortes Ihr Werk iſt und das 
nun ſchon ſeit etlichen Wochen ſeiner Beſtimmung dient. 
Die naͤchſte Monatsnummer unſerer Zeitſchrift liegt 
vollſtaͤndig druckfertig vor, und Sie koͤnnen darum 
gerade jetzt hier ſehr gut abkommen. Nach der großen 
Arbeitslaſt des Winters, die Ihnen namentlich durch 
meine Vertretung aufgebuͤrdet worden iſt, wird Ihnen 
die kleine Ausſpannung hoffentlich gut bekommen.“ 

„Was das betrifft, Herr Kommerzienrat — ich fuͤhle 
mich durchaus nicht erholungsbeduͤrftig; die Arbeitslaſt 
war nicht allzu ſchwer, und Ihre Vertretung hat ja in 
der Hauptſache Herr Suterland beſorgt.“ 

Klemens Steins dorff machte eine bezeichnende Hand⸗ 
bewegung. „Daruͤber wollen wir uns doch nichts vor⸗ 
machen, lieber junger Freund! Haͤtte ich mich allein 
auf den guten Suterland verlaſſen muͤſſen, ſo waͤre 
ich gewiß nicht mitten im Winter ſo leichten Herzens 
ſechs Wochen lang fortgeblieben. Der alte Herr hat 
den allerbeſten Willen; aber er bleibt mir nachgerade 
denn doch allzuweit hinter den Anforderungen der 
Zeit zuruͤck. Man ſoll von niemand fordern, was er 


Roman von Reinhold Ortmann 49 


it t leiſtn kann, und ich glaube, daß der Augenblick 
gekommen iſt, wo er ſich nach einem arbeitsreichen Leben 
die wohlverdiente Ruhe goͤnnen ſollte.“ 

Volcker erſchrak. „Sie haben doch nicht die Abſicht, 
Herr Kommerzienrat, ihm ſeine Stellung zu kuͤndigen?“ 

„Ich gedenke allerdings, ſeinen Poſten fuͤr einen 
anderen freizumachen,“ erwiderte Steinsdorff laͤchelnd. 
„Aber ſelbſtverſtaͤndlich nicht durch eine Kuͤndigung in 
der gewöhnlichen Form; das hätte Suterland um mich 
und mein Haus gewiß nicht verdient. Er ſoll unter 
Fortbezug ſeines vollen Gehalts in den Ruheſtand treten. 
Das iſt doch wohl etwas anderes.“ 

„Ohne daß er ſelbſt einen Wunſch nach dieſer Ver⸗ 
aͤnderung kundgegeben haͤtte? Ich fuͤrchte, daß er das 
als eine bittere Kraͤnkung empfaͤnde; denn er fuͤhlt ſich 
noch vollkommen ruͤſtig. Und ich erinnere mich in der 
Tat nicht, daß er bisher jemals durch Alter oder Krank⸗ 
heit in ſeiner Taͤtigkeit behindert worden waͤre.“ 

„Man kann in voller koͤrperlicher Ruͤſtigkeit am 


Schreibtiſch ſitzen und doch bedenkliche Beweiſe von bee 


ginnender Altersſchwaͤche geben. Ich habe die weiteſt⸗ 
gehenden Ruͤckſichten auf einen langjährigen treuen Mit⸗ 
arbeiter zu nehmen; aber die Ziele meines Hauſes duͤrfen 
nicht darunter leiden. Warum ſehen Sie ſo niederge⸗ 
ſchlagen aus, lieber Doktor? Gerade Sie muͤſſen den 
neuerungs feindlichen Eigenſinn des alten Herrn oft 
genug als ein laͤſtiges Hindernis empfunden haben.“ 

„Aber es ließ ſich ſchließlich doch immer mit ihm aus⸗ 
kommen. Ich mache kein Hehl daraus, Herr Kommer⸗ 
zienrat, daß ich es aus Billigkeitsgruͤnden tief bedauern 
wuͤrde, wenn Ihr Entſchluß wirklich ſchon ganz unwider⸗ 
ruflich wäre,” 

„Er iſt nz ſagte Steinsdorff i in jener 

1916. X. 4 


50 Das hoͤchſte Ziel | 


bei aller freundlichen Ruhe doch fo beſtimmten Art, mit 
der er jeden weiteren Widerſpruch abzuſchneiden pflegte. 
„Ich glaube die achtungswerten Beweggruͤnde zu ver⸗ 
ſtehen, die Sie zum Fuͤrſprecher des Herrn Suterland 
machen. Aber Sie muͤſſen mir ſchon erlauben, meinen 
wohlbedachten Vorteil hoͤher zu ſtellen als Ihre perſoͤn⸗ 
lichen Empfindungen. Und nun laſſen Sie uns auf 
unſeren Gegenſtand zuruͤckkommen: meine Frau fuͤhlt 
ſich nach den geſellſchaftlichen Anſtrengungen der beiden 
letzten Monate etwas ermuͤdet und moͤchte das praͤchtige 
Fruͤhlingswetter benuͤtzen, um in der Reimsbacher Villa 
von ihnen auszuruhen. Meine Tochter aber brennt vor 
Verlangen, die Kolonie kennen zu lernen, fuͤr deren 

Werden und Wachſen ſie fruͤher bei ihrem kindlichen 
Alter ja noch kein Verſtaͤndnis haben konnte. Und ich 
meine, ſie koͤnnte dabei keinen beſſeren Fuͤhrer und Er⸗ 
klaͤrer haben als Sie.“ 

„Ich ſtehe ſelbſtverſtaͤndlich zur Verfuͤgung. Aber 
ich darf doch wohl das Einverſtaͤndnis der Damen mit 
den Anordnungen des Herrn Kommerzienrats voraus⸗ 
feßen.” 

* Steinsdorffs große, durchdringende Augen ſahen ihn 
verwundert an. „Zweifeln Sie etwa an dieſem Ein⸗ 
verſtaͤndnis? Was ſollten ſie denn dagegen einzuwenden 
haben? Es iſt uͤbrigens alles beſprochen und abge⸗ 
macht.“? * 

Damit war Volcker jede Moͤglichkeit genommen, ein 
weiteres Bedenken zu aͤußern, und er verbeugte ſich in 
ſchweigender Zuſtimmung, als ihn der Kommerzienrat 
erſuchte, ſich auf eine Abreiſe am Morgen des uͤbernaͤchſten 
Tages vorzubereiten. Am naͤmlichen Abend empfing 
er den Beſuch Heldringens. Der Oberleutnant ſchien 
etwas verdrießlich, wenn auch bemuͤht, ſeine Verſtim⸗ 


Roman von Reinhold Ortmann 51 


mung hinter allerlei Scherzen zu verbergen. Und nach⸗ 
dem er erſichtlich eine Zeitlang auf eine Mitteilung des 
anderen gewartet hatte, platzte er ploͤtzlich heraus: 
„Und von deinem Rieſengluͤck ſagſt du kein Wort, 
du Duckmaͤuſer? Bei allen alten Goͤttern, Menſch, 
wenn ich in deiner Haut ſteckte, ich wuͤßte mich vor Ver⸗ 
gnuͤgen gar nicht zu laſſen.“ | 

„Denkſt du dabei an die mir anbefohlene Reife nach 
Reimsbach, Bruno?“ 

„An was ſonſt ſollte ich denken? Aber ‚anbefohlene 
Reiſe klingt reichlich undankbar, mein Lieber! Daß 
mein Onkel die Abſicht gehabt hat, dir damit eine Freude 
zu machen, liegt doch auf der Hand.“ 

„Ich. habe es auch in dieſem Sinne aufgefaßt und 
weiß die Freundlichkeit des Herrn Kommerzienrats 
nach ihrem ganzen Werte zu wuͤrdigen. Es iſt nicht 
Undankbarkeit, wenn ich das Vergnuͤgen trotzdem neidlos 
jedem anderen goͤnnte.“ 

„Ja, warum denn nur? Du mußt verteufelt an⸗ 
ſpruchsvoll ſein, Doktor, wenn dir nicht einmal dieſe 
Reiſegeſellſchaft genügt.” 

„Daß es nicht ſo gemeint iſt, brauche ich dir nicht 
erſt zu ſagen. Aber ich fuͤrchte, daß die Damen mich nur 
ſehr ungern als Begleiter annehmen.“ 

Heldringen machte ein ernſtes Geſicht. Und es war 
bezeichnend genug, daß er, anſtatt zu widerſprechen, 
eine kleine Weile ſtumm vor ſich hin ſah. Endlich ſagte 
er: „Um ganz ehrlich zu ſein, Volcker, wie es ſich unter 
guten Freunden geziemt — ein bißchen was Wahres 
koͤnnte ſchon in dieſer Befuͤrchtung ſtecken. Wenigſtens 
was meine kleine Baſe betrifft. Aber du darfſt um 
des Himmels willen nicht verraten, daß ich dir eine 
ſolche Andeutung gemacht habe. Sie hat ja ſelber den 


52 Das hoͤchſte Ziel 


Wunſch, ihren Vater nichts davon merken zu laſſen, 
daß fie —“ 

„Daß ſie eine ſtarke Abneigung gegen mich emp⸗ 
ſindet. Sprich es nur getroſt aus. Ich haͤtte ja blind 
ſein muͤſſen, um es nicht zu bemerken.“ 

„Na, ganz ſo arg iſt es wohl nicht. Aber ſie muß 
wohl gegen dich eiwas haben. Ahnſt du nicht, was es 
ſein koͤnnte, Liebſter?“ 

„Ich bin in ihren Augen ein aufdringlicher Ange⸗ 
ſtellter oder etwas dergleichen. Das verſtehe ich ganz 
gut.“ 

„Nein, nein — keine Ungerechtigkeiten! Traute 
iſt nicht aus dem Holze geſchnitzt, auf dem Duͤnkel und 
Überhebung wachſen. Sie hat ſich ja gegen mich mit 
keiner Silbe daruͤber ausgeſprochen; aber ich glaube 
doch eine Spur gefunden zu haben, mit deren Hilfe man 
auf den Urſprung ihrer Voreingenommenheit kommen 
koͤnnte. Haſt du mal was mit dem alten Suterland 
gehabt, Doktor?“ 

„Nein. Es iſt möglich, daß er mir nicht ſehr wohlge⸗ 
ſinnt iſt; aber ich habe ihm keinen Anlaß dazu gegeben.“ 

„Na, ich will mich nicht in deine geſchaͤftlichen Ange⸗ 
legenheiten einmiſchen. Wenn du ſagſt, daß du ihm 
nichts getan haſt, wird es wohl ſtimmen; aber er ſcheint 
dir in der Tat nicht ſehr wohlgeſinnt zu ſein. Und 
ſeine Tochter hat waͤhrend der letzten Jahre in einem 
ſtaͤndigen Briefwechſel mit Traute geſtanden.“ 

„Ah! EL 

„Jetzt geht dir eine Bogenlampe auf — wie? Aber 
Verſchwiegenheit, wenn ich bitten darf; ich will nicht 
als Kaffeeſchweſter daſtehen. Fraͤulein Suterland iſt 
Trautes erſte Klavierlehrerin geweſen und hat wahr⸗ 
ſcheinlich ihre guten Gruͤnde gehabt, die dadurch ge⸗ 


2. Roman von Reinhold Ortmann 33 
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ſchaffenen Beziehungen nicht wieder einſchlafen zu laſſen. 
Gewiſſe Andeutungen meiner Couſine laſſen mich ver⸗ 
muten, daß in den Briefen der aͤltlichen Jungfrau zu⸗ 
weilen auch von dir die Rede geweſen iſt. Und es iſt 
nicht ausgeſchloſſen, daß ſie bei dem Beſuch, den Traute 
ihr nach der Heimkehr gemacht hat, in ihren Mitteilungen 
uͤber dich noch etwas ausfuͤhrlicher geworden iſt. Es 
iſt ja bloß eine Annahme, und ich kann mich taͤuſchen. 
Aber es ſollte mich freuen, wenn ich dir damit einen 
Fingerzeig gegeben haͤtte, in welche Richtung deine Be⸗ 
muͤhungen gehen muͤſſen.“ 

„Ich bin dir ſehr dankbar, Bruno; aber ich weiß 
nicht, um was ich mich bemuͤhen ſollte.“ 

„Darum, dich bei Traute in das richtige Licht zu 
ſetzen. Ich habe es ja ſchon verſucht, als mir ihr ſonder⸗ 
bares Verhalten gegen dich auffiel. Aber fie hat ſich 
auf keine Eroͤrterung eingelaſſen, und man kann einen 
Menſchen doch nicht verteidigen, wenn man nicht weiß, 
weſſen er angeklagt iſt.“ 

„Du meinſt es gut, Heldringen, aber du verkennſt 
meine Lage. Es iſt mir gewiß ſehr ſchmerzlich, das 
Wohlwollen des Fraͤulein Steinsdorff nicht zu beſitzen, 
aber ich muß mich damit abfinden, und ich ſehe nicht die 
geringſte Veranlaſſung, mich um etwas zu bemuͤhen, 
das zu gewaͤhren oder zu verweigern durchaus im Be⸗ 
lieben der jungen Dame ſteht.“ 

„Meine Verbeugung vor deinem Mannesſtolz! Daß 
ich ihn nicht recht verſtehe, aͤndert nichts an meiner Be⸗ 
wunderung. Und wenn ich ein kraſſer Selbſtſuͤchtler 
waͤre, muͤßte ich mich ſogar daruͤber freuen.“ 

„Freuen? Weshalb?“ 

„Weil ich dich nach dieſer Erklaͤrung nicht mehr ſo 

gluͤhend um den Vorzug der Reimsbacher Reiſe zu be⸗ 


54 ö Das höchfte Ziel 


neiden brauche. Unter uns, Doktor: wenn es ſich um 
einen anderen gehandelt haͤtte als gerade um dich, waͤre 
mir die Sache keineswegs ganz gleichguͤltig geweſen. 
Aber daß man dir unbeſorgt auch das allerſchoͤnſte junge 
Maͤdchen anvertrauen darf, weiß ich ja laͤngſt.“ 

„Iſt das nun eine Schmeichelei oder das Gegenteil, 
Heldringen?“ 

„Das kommt auf den Standpunkt an, den man zu 
der großen Frage, Mann und Weib‘ einnimmt. Deine 
Unempfindlichkeit gegen das ſchoͤne Geſchlecht iſt gewiß 
eine Tugend — aber eine beklagenswerte. Und du 
ſollteſt dich ernſtlich bemuͤhen, ſie abzuſtreifen.“ 

„Woher nimmſt du eigentlich die Überzeugung von 
meiner Unempfindlichkeit? Haͤltſt du es fuͤr ganz 
undenkbar, daß auch ich ein Maͤdchen lieben koͤnnte?“ 

„Bis zu dem Beweiſe des Gegenteils, allerdings. 
Ich kenne dich doch nun ſchon eine huͤbſche Zeit und habe 
mir das Vergnuͤgen gemacht, dich zu beobachten, ſo oft 
in meinem Beiſein die Verſuchung an dich herangetreten 
iſt. Aber ich habe dich noch niemals ſchwach geſehen.“ 

„Es war wohl kein großes Verdienſt dabei, denn ich 
habe von den erwaͤhnten Verſuchungen gar nichts be⸗ 
merkt. Aber haſt du nicht ſchon an dir ſelbſt die Er⸗ 
fahrung gemacht, daß man durch eine große und tiefe 
Liebe gewappnet ſein kann gegen jede Verfuͤhrung?“ 

„Ja — gewiß! Sintemalen ich mich zurzeit in dieſer 
gluͤcklichen Lage befinde. Aber daß dies die Urſache 
deiner Unnahbarkeit ſein koͤnnte, iſt mir bis jetzt, offen 
geſtanden, nie in den Sinn gekommen. Du haſt dein 
Herzensgeheimnis eben mit einem gar zu undurch⸗ 
dringlichen Schleier umgeben. Aber mein Gluͤckwunſch 
kommt ja, wie ich annehme, noch zur rechten Zeit.“ 


„Du irrſt. Tür einen Gluͤckwunſch ift kein Anlaß 


— 


Roman von Reinhold Ortmann 55 


— . — — a . ͤ —— 


gegeben; meine Liebe gehoͤrt einer fernen Vergangenheit 
an. Sie war nichts als ein Juͤnglingstraum, der laͤngſt 
zerronnen iſt. Ein Traum, und nach deiner Auffaſſung 
wahrſcheinlich eine große Torheit.“ 

„Das ſind ja hoͤchſt ſeltſame Geſtaͤndniſſe, Doktor! 
Iſt es ſehr unbeſcheiden, nach Einzelheiten zu fragen?“ 

„Es iſt nichts zu verheimlichen, und im Grunde auch 
nichts zu erzaͤhlen. Ich war ein lebensfremder junger 
Menſch, als mir der Zufall ein weibliches Weſen in den 
Weg führte, das für mich die Verkoͤrperung aller Hold: 
ſeligkeit, Anmut und maͤdchenhaften Reinheit war. Sie 
war die erſte, die ich geliebt habe, und ſie iſt die einzige 
geblieben.“ 

„Bis heute. Aber was iſt denn aus dieſer erſten 
Liebe geworden? Hat ſie vielleicht ein uͤbles Ende 
genommen?“ | 

„So kann man es kaum nennen. Das junge Maͤd⸗ 
chen iſt eben meinem Geſichtskreiſe wieder entſchwunden, 
und ſie iſt, wie ich vor kurzem zufaͤllig erfuhr, ſpaͤter 
die Frau eines anderen geworden.“ 8 

„Das nennſt du kein uͤbles Ende? Hoͤre, Doktor: in 
Liebesſachen biſt du, wie es ſcheint, von einer geradezu 
ruͤhrenden Beſcheidenheit. Vorausgeſetzt, daß ſie von 
dir nicht den Laufpaß bekam, hat ſie dir doch mit ihrer 
Verheiratung ſchlankweg die Treue gebrochen.“ 

„Nein z denn fie war zu nichts verpflichtet. Du ſtellſt 
dir die Dinge offenbar anders vor, als ſie waren. Das 
Maͤdchen war blutjung, eben ſechzehn geworden, und 
ſie war eine Kuͤnſtlerin.“ 

„Schauſpielerin?“ 

„Nicht eigentlich. Sie trat auf der Buͤhne eines 
Varietés als Taͤnzerin auf, und ich bin ihr nur dreimal 
begegnet. Bei unſerem letzten kurzen Zuſammentreffen 


56 Das boͤchſte Ziel 


kam es allerdings zu einer Erklaͤrung — oder zu etwas, 
das fuͤr mich gleichbedeutend mit einer Erklaͤrung war. 
Aber ich konnte in meiner damaligen Lebenslage nicht 
daran denken, ſie durch ein Verloͤbnis oder auch nur durch 
ein Verſprechen an mich zu binden. Das ſchrieb ich ihr 
pflichtgemaͤß nach jenem letzten Zuſammentreffen.“ 

„Und daraufhin hat ſie nichts mehr von ſich hoͤren 

laſſen?“ 
„Nein.“ 

Nachdenklich blickte Heldringen den Rauchwoͤlkchen 
ſeiner Zigarette nach. Dann ſagte er: „Daß du zur Zeit 
dieſes erſten Liebesromans reichlich lebensfremd geweſen 
ſein mußt, leuchtet mir nach dem geſchilderten Verlauf 
der Handlung vollſtaͤndig ein. Allein den Gluͤckwunſch 
nehme ich nicht zuruͤck. Nun ſchon gar nicht. Es haͤtte 
ja ein ſchreckliches Mißgeſchick aus der Geſchichte ent⸗ 
ſtehen koͤnnen.“ 

„Ein Mißgeſchick? Ich weiß nicht, was du dir dar⸗ 
unter denkſt.“ 

„Na, ſtell dir das doch gefaͤlligſt vor: du und Marga 
Larſſen! Ich danke.“ 

Unwillkuͤrlich hatte Volcker den Kopf zur Seite 
gewendet. „Wie kommſt du auf den Namen, Bruno?“ 
fragte er unſicher. 
| „Menſch, ich müßte ja ein Kuͤcken mit Eierſchalen 
ſein, wenn ich das nicht erfaßt haͤtte. Dein Benehmen 
beim Anblick ihres Bildes war doch ſehr verdaͤchtig, und 
ſchon damals kam mir die alte Bekanntſchaft mit der 
ſchoͤnen Marga nicht ganz geheuer vor. Alſo das war 
deine erſte und einzige Liebe, die große Leidenſchaft 
deines Lebens, die nun, wie du meinſt, keine andere mehr 
aufkommen laͤßt!“ 

„Ich habe dir's nicht erzaͤhlt, damit du dich daruͤber 


Roman von Reinhold Ortmann 57 


luſtig machſt, Heldringen! Dafuͤr iſt mir's naͤmlich noch 
immer zu ernſt.“ 

„Obwohl die goͤttliche Marga inzwiſchen bereits 
ihren zweiten Mann genommen hat? Wie ich hoͤre, 
einen reichen Fuͤnfziger, der fie gehörig unter der Fuchtel 
haͤlt und ſie ſogar gezwungen hat, der hehren Kunſt zu 
entſagen.“ 

„Was geht das mich an? Ich habe nicht die Marga 
Larſſen geliebt, wie ſie heute ſein mag, ſondern die Reta 
Martiny, die ich kannte.“ 

„Und die wahrſcheinlich im Grunde ihres Herzens 
nicht um ein Haar beſſer war. Hoͤchſtens etwas uner⸗ 
fahrener und ungeſchickter. Aber ich mache mich nicht 
über dich luſtig. Faͤllt mir gar nicht ein. Dazu hab' ich 
dich viel zu lieb. Heute mehr denn je. Ich freue mich 
bloß, daß es ſo gut fuͤr dich ausgegangen iſt; denn es 
waͤre eine Suͤnde und eine Schande geweſen, wenn du 
um ſo etwas haͤtteſt dein Leben verplempern muͤſſen. 
Jetzt hat es ja hoffentlich keine Gefahr mehr. Oder 
vielleicht doch?“ 

„Sagteſt du nicht eben erſt, daß ſie wieder verhei⸗ 
ratet iſt?“ 

„Allerdings. Ein Hindernis, dem ich keine uͤber⸗ 
große Bedeutung beimeſſen wuͤrde, wenigſtens bei einer 
Dame von dem Rufe dieſer Schauſpielerin. Was mich 
beruhigt, iſt die Tatſache, daß du dich augenſcheinlich 
waͤhrend der ganzen vier Jahre nicht viel darum ge⸗ 
kuͤmmert haſt, was inzwiſchen aus ihr geworden ſei. All⸗ 
zu heiß iſt das Verlangen nach ihr alſo wohl nicht mehr 
geweſen. f Ä 

„Ich habe mich ſelbſtverſtaͤndlich bemüht, etwas über 
Reta Martinys weitere Schickſale zu erfahren, freilich 
ganz umſonſt. Vielleicht wegen der Anderung ihres 


58 LESE 


2 — — . —— — . — 8 


Namens, vielleicht auch, weil ich es zu ungeſchickt ange⸗ 
ſtellt hatte.“ 

„Und nun, da es keine beſonderen Schwierigkeiten 
haben wuͤrde, ihren Aufenthalt feſtzuſtellen?“ 

„Nun hat dieſe Feſtſtellung fuͤr mich natuͤrlich jeden 
Anreiz verloren.“ 

„Dem Himmel ſei Dank! Und doch moͤchte ich von 
ganzem Herzen wuͤnſchen, daß dich nicht etwa irgendein 
niedertraͤchtiger Zufall unverſehens mit ihr zuſammen⸗ 
fuͤhrt. Fuͤr Leute von deiner Art, die ihre Gefuͤhle 
jahrelang kalt zu ſtellen wiſſen, hat das immer ſein 
Bedenkliches.“ | 

Mit einem Heinen Lächeln, das von ruhigſter Zu⸗ 
verſicht ſprach, ſchuͤttelte Reinhard Volcker den Kopf. 
Die Wirkung ihres Bildes hatte ihm ja die Gewißheit 
gebracht, daß die koͤſtlichen Traͤume ſeiner erſten Liebe 
fuͤr immer zerſtoͤrt und zerſtoben waren. 


In verlangſamter Fahrt rollte der Zug der ſchleſiſchen 
Gebirgsbahn durch den wunderſchoͤnen Fruͤhlingstag 
ſeinem nicht mehr fernen Ziele entgegen. Reinhard 
Volcker fuhr in demſelben Durchgangswagen, den auch 
die Frau Kommerzienrat Steinsdorff und ihre Tochter 
beſtiegen hatten; aber er hatte es ſo einzurichten gewußt, 
daß ſie ſeine Naͤhe nicht als Belaͤſtigung empfinden 
konnten. Er ſaß in einem Raucherabteil zweiter Klaſſe, 
waͤhrend die Damen fuͤr ſich und die mitfahrende Zofe 
ein Abteil der erſten belegt hatten. Dem Kommerzienrat 
war bei der Verabſchiedung dieſe Anordnung entgangen. 
Mutter und Tochter aber ſchienen damit durchaus ein⸗ 
verſtanden, denn ſie hatten Volckers Frage, ob er ihnen 
auf der Reiſe irgendwie zu Dienſten ſein koͤnne, mit 
einem hoͤflichen Dankes wort abgelehnt und ihn nicht 


Roman von Reinhold Ortmann 59 


eingeladen, bei ihnen Platz zu nehmen. Waͤhrend der 
erſten Stunden hatte keine von ihnen das Abteil ver⸗ 
laſſen; als aber Volcker von ſeinem Fenſterplatz aus 
jetzt zufällig einen Blick durch die in den Verbindungs⸗ 
gang fuͤhrende offene Klapptuͤr warf, ſah er, daß Traute 
an einem Fenſter dieſes Ganges ſtand und mit ſicht⸗ 
lichem Anteil in die Landſchaft hinausblickte. 

Er konnte ſie beobachten, ohne daß ſie es bemerkte. 
Und er widerſtand der Verſuchung nicht. Denn trotz 
ihres einfachen Reiſekleides erſchien ſie ihm huͤbſcher denn 
je. Vielleicht war es eine Folge der eigenartigen Be⸗ 
leuchtung, daß ihm ihr Profil heute noch feiner, der 
Umriß ihrer hochgewachſenen Geſtalt noch reizvoller 
erſchien als ſonſt. Die ſchmale Hand, die leicht auf der 
Schutzſtange vor dem Fenſter ruhte, waͤre ihm in ihrer 
vornehmen Schoͤnheit allein ſchon der hoͤchſten Bewun⸗ 
derung wuͤrdig erſchienen. 

Einer der Schaffner kam den Gang herauf, und 
Traute wandte ſich an ihn mit einer Frage nach den 
Namen einiger Berggipfel. Aber der Mann erklaͤrte, 
daß er die Strecke erſt ſeit einigen Tagen befahre und 
darum leider keine Auskunft geben koͤnne. Volcker, 
der jedes Wort der kurzen Unterhaltung gehoͤrt hatte, 
ſtand nach kurzem Zoͤgern auf und trat auf den Gang 
hir aus. 

„Wenn Sie mir geſtatten wollen, Ihnen zu dienen, 
Fraͤulein Steinsdorff — ich bin mit der Gegend einiger⸗ 
maßen vertraut. Wir werden ſogleich den ſchoͤnſten Teil 
der Strecke durchfahren.“ 

Sie hatte ihm den Kopf auf ſeine Anrede hin nur 
halb zugewendet, und wenn ihre Erwiderung auch nicht 
geradezu unfreundlich war, ſo klang es doch recht kuͤhl, 
da ſie ſagte: „Sie ſind ſehr liebenswuͤrdig, Herr Doktor, 


60 Ran, 


— — . 


aber Sie haͤtten ſich nicht in Ihrer Reiſebequemlichkeit 
ſtoͤren laſſen ſollen. Es iſt ja im Grunde nicht ſehr 
wichtig, ob ich die Namen kenne.“ 

Er ging uͤber die Bemerkung hinweg, als habe ſie 
nichts Verletzendes fuͤr ihn gehabt, und begann mit ſeinen 
Erklaͤrungen. Seine Vertrautheit mit dem lieblichen 
Waldenburger Berglande ermoͤglichte es ihm, ihr alle 
Hoͤhen und alle Ortſchaften zu bezeichnen, an denen ſie 
voruͤberkamen. Und er begnügte ſich nicht mit einer 
trockenen Aufzaͤhlung von Namen, ſondern ſchmuͤckte 
ſeine Erlaͤuterungen mit allerlei charakteriſtiſchen Be⸗ 
merkungen und Hinweiſen. 

Lange Zeit hoͤrte ſie ihm ſchweigend zu; endlich aber 
mußte ſie doch wohl die Verpflichtung fuͤhlen, ihm zum 
Dank fuͤr ſein Bemuͤhen irgend etwas Artiges zu ſagen. 
„Ihre Ortskenntnis iſt erſtaunlich, Herr Doktor! Wahr⸗ 
ſcheinlich ſind Sie hier zu Hauſe.“ 

„Nicht in dem Sinne, mein gnaͤdiges Fraͤulein, daß 
Schleſien mein Geburtsland waͤre. Aber ſeitdem ich 
in den letzten Jahren durch die Guͤte Ihres Herrn Vaters 
wiederholt Wochen oder ſogar Monate hier zubringen 
durfte, iſt mir der ſchoͤne Erdenfleck faſt ſo teuer geworden 
wie meine wirkliche Heimat. Das Herz geht mir jedes⸗ 
mal auf, wenn die Kette des Rieſengebirges mich aus der 
Ferne gruͤßt.“ 

„Sie ſind wahrſcheinlich noch nicht viel oder weit 
gereiſt! “ 

„Nein. Wenn ich auch immerhin einige der meiſt⸗ 
geprieſenen Naturſchoͤnheiten des ſuͤdlichen Deutſchlands 
und der Schweiz habe kennen lernen dürfen.” 

„Und trotzdem koͤnnen dieſe beſcheidenen Reize ſo 
ſtark auf Sie wirken? Der Schwarzwald, das bayeriſche 
Gebirge oder die Alpen — ſind ſie nicht unvergleichlich 


Roman von Reinhold Ortmann 61 


viel ſchoͤner als das anſpruchsloſe ſchleſiſche Berg: 
land?“ 

„Das haͤngt wohl allein vom Geſchmack oder beſſer 
von der Stimmung des Beſchauers ab. Es geht uns 
eben mit einer Landſchaft wie mit einem Kunſtwerk. Die 
Großartigkeit iſt in dem einen Fall ebenſowenig das 
Entſcheidende fuͤr die Wirkung, wie etwa das Maß des 
aufgewendeten Talents in dem anderen. Ich bin voll⸗ 
ſtaͤndig kalt geblieben inmitten der Hochgebirgswelt der 
Berner Alpen und innerlich unbewegt vor manchem 
hochgeprieſenen, unſterblichen Meiſterwerk der Malerei 
oder der Plaſtik. Auch Ihnen iſt es ja ſicherlich ſchon 
geſchehen, Fraͤulein Steinsdorff, daß ein kleines, un⸗ 
ſcheinbares Bildchen, eine ſchlichte Melodie oder eine 
ſtille, liebliche Landſchaft unmittelbarer und inniger 
zu Ihrem Herzen geſprochen hat als ein praͤchtiges 
Gemaͤlde, ein genialiſches Muſikwerk oder eine hoch⸗ 
romantiſche Naturſzenerie.“ 

„Vielleicht. Die augenblickliche Stimmung mag 
da in der Tat das Entſcheidende ſein. Aber ich kann 
es im allgemeinen nicht als ein guͤnſtiges Zeugnis fuͤr 
den Geſchmack und den geiſtigen Wert eines Menſchen 
anſehen, wenn nur das Kleine, Unbedeutende, leicht zu 
Erfaſſende bei ihm auf eine verſtaͤndnisvolle Stimmung 
ſtoͤßt.“ 

Volcker nahm auch dieſen durch nichts herausge⸗ 
forderten Hieb ohne Gegenwehr hin. Das Laͤcheln, das 
fluͤchtig um ſeine Mundwinkel ſpielte, hatte nichts 
Boshaftes, und ruhig ſprach er weiter: „Was mich an 
das niederſchleſiſche Bergland feſſelt und mich immer 
wieder zu ihm hinzieht, ſind uͤbrigens nicht allein ſeine 
waldigen Hoͤhen und ſeine anmutigen, quellenreichen 
Taͤler, ſondern es ſind auch — und vielleicht vor allem 


62 Das hoͤchſte Ziel 


anderen — die Menſchen, die in dieſen Taͤlern wohnen. 
Es iſt ein Schlag, wie ich gewinnender noch keinen ge⸗ 
funden habe.“ 

„Die Bauern — meinen Sie?“ 

„Nicht die Dorfbewohner allein. Auch bei den 
Handwerkern und Geſchaͤftsleuten der kleinen Staͤdte, 
in die mich von Reimsbach aus ſehr oft mein Weg ge⸗ 
fuͤhrt hat, ſowie bei den einheimiſchen Arbeitern der 
Fabrik bin ich faſt durchweg demſelben liebenswuͤrdigen 
Volkscharakter begegnet.“ 

„Sie ſind, wie es ſcheint, ein ſehr guter Beobachter, 
Herr Doktor, und ein ſehr wohlwollender Beurteiler,“ 
ſagte Traute mit einem fuͤhlbaren Unterton von Spott. 
„Und worin beſtehen dieſe liebenswuͤrdigen Eigenſchaften, 
die Sie den Leuten nachſagen?“ 

„In ihrer Warmherzigkeit und einer daraus ent⸗ 
ſpringenden natuͤrlichen Heiterkeit des Gemuͤts. Zum 
guten Teil auch in einer geiſtigen Beweglichkeit, die ſie 
zu ihrem Vorteil von vielen anderen Landbewohnern 
unterſcheidet. Vor allem aber in ihrer Geradheit, Ehr⸗ 
lichkeit und Offenheit, die es mir immer zu einer auf⸗ 
richtigen Freude gemacht haben, mit ihnen zu ver⸗ 
kehren.“ f 

Zum erſtenmal hatte Traute ihm ihr Geſicht voll 
zugekehrt, und er war aufs aͤußerſte uͤberraſcht von dem 
ſtrengen, faſt zornigen Blick, mit dem ſie ihn anſah. „Sie 
haben recht, Herr Doktor, ſich zum Lobredner Ihrer 
ſchleſiſchen Freunde zu machen; denn Offenheit und 
Ehrlichkeit ſind Tugenden, die man gar nicht hoch genug 
einſchaͤtzen kann. Beſonders deshalb, weil man ſie ſo 
ſelten antrifft. Am ſeltenſten vielleicht gerade bei denen, 
die ihr ſelbſtſuͤchtiges Strebertum hinter beſtechender 
Liebenswuͤrdigkeit und erheucheltem Freimut zu ver⸗ 


Roman von Reinhold Ortmann 63 


ſtecken wiſſen. Ich danke Ihnen fuͤr Ihre Freundlichkeit. 
Es war mir eine ſehr lehrreiche halbe Stunde.“ 

Sie neigte den Kopf und trat in ihr Wagenabteil 
zuruͤck. Reinhard Volcker aber, als er wieder in ſeiner 
Ecke ſaß, zermarterte ſein Gehirn vergebens mit der 
Frage, was ihm nun eigentlich die Feindſchaft dieſes 
ſchoͤnen, klugen und fuͤr alle anderen ſo guͤtigen Maͤd⸗ 
chens zugezogen haben koͤnne. Denn daß es ſich hier 
um eine wirklich feindſelige Geſinnung handle, war ihm 
jetzt außer allem Zweifel. Nicht nur die harten, ſcharfen 
Worte, die ihre ſchneidende Spitze ſo unzweideutig gegen 
ihn richteten, hatten es ihm bewieſen, ſondern auch der 
unmutige Ausdruck ihrer Zuͤge und vor allem der Ton 
ihrer letzten Rede. Dafuͤr fehlte ihm jede Erklaͤrung. 
Was auch immer der alte Suterland oder ſeine Tochter 
ihm nachgeſagt haben mochten, eine ſo tiefgehende Ab⸗ 
neigung, ein ſo zorniges Beduͤrfnis nach ſchroffſter Ab⸗ 
wehr konnte es unmoͤglich rechtfertigen. Er war ſich 
keines Unrechts, nicht einmal des kleinſten geſellſchaft⸗ 
lichen Verſtoßes bewußt. Dieſe vollkommene Reinheit 
ſeines Gewiſſens haͤtte in jedem anderen Fall hingereicht, 
ihn leichten Herzens uͤber das Unerklaͤrliche in dem Be⸗ 
nehmen eines ihm widrig geſinnten Menſchen hinweg⸗ 
gehen zu laſſen. Hier aber wurde es ihm ſo leicht 
wahrlich nicht. Nicht beleidigt fuͤhlte er ſich, ſondern 
ſchmerzlich verletzt. Er haͤtte viel, ſehr viel darum 
gegeben, Traute Steinsdorffs unverhohlene Abneigung 
in eine Empfindung freundlicher Natur verwandeln 
zu koͤnnen. Denn die alte Wahrheit, daß Abneigungen 
auf Gegenſeitigkeit zu beruhen pflegen, hier traf ſie 
gewiß nicht zu. Sie hatte fuͤr ihn nichts von ihrer 
Schoͤnheit, ihrer Anmut und all ihren liebenswerten 
Eigenſchaften verloren dadurch, daß ſie ihn hochmuͤtig 


64 Das hoͤchſte Ziel 


und abſtoßend behandelt hatte, ihn allein unter allen 
anderen Menſchen. Aber es war ihm zumute, als haͤtte 
man etwas ſehr Schoͤnes und Liebes aus ſeinem Leben 
hinweggenommen. 

Denn daß dies kurze Geſpraͤch von entſcheidender 
Bedeutung fuͤr alle Zukunft war, ſtand als eine un⸗ 
umſtoͤßliche Gewißheit in ihm feſt. Fuͤr was immer 
Traute Steinsdorff ihn halten mochte, als einen Zu⸗ 
dringlichen ſollte ſie ihn ebenſowenig anſehen duͤrfen 
wie als einen Sklaven, der in knechtiſcher Demut um 
die Huld ſeiner ungnaͤdigen Herrin wirbt. Er wollte 
darauf bedacht ſein, ihr kuͤnftig noch ſorglicher auszu⸗ 
weichen; das war alles, was er tun konnte, wenn er 
nicht an ſeiner Selbſtachtung Schaden leiden wollte. 
Und er brauchte wohl nicht daran zu zweifeln, daß 
ſie es ihm leicht machen wuͤrde, ſeinen Vorſatz durch⸗ 
zufuͤhren. 

Das kleine Reimsbacher Stationsgebaͤude war um 
ein gutes Stuͤck von dem langgeſtreckten, in ein ziemlich 
enges Bergtal eingebetteten Dorfe entfernt. Die durch 
ein Nebengeleiſe mit dem Bahnnetz verbundene große 
Papierfabrik lag mit der dazu gehoͤrigen Arbeiteran⸗ 
ſiedlung außerhalb des Dorfes in einem noch ſchmaleren, 
ſtark anſteigenden Seitental, waͤhrend ſich die Steins⸗ 
dorffſche Villa, von ſchoͤn gepflegten Parkanlagen um⸗ 
geben, weiß ſchimmernd auf der halben Hoͤhe eines 
ſanft geneigten Berghanges erhob. Hier hatte der Kom⸗ 
merzienrat in fruͤheren Jahren mit Vorliebe die karg be⸗ 
meſſenen Ferienwochen verlebt. Seitdem er aber ge⸗ 
noͤtigt war, eines nicht ganz zu mißachtenden Leidens 
wegen alljaͤhrlich eine Badekur zu gebrauchen, kam er 
nur noch ſelten zu kurzem Aufenthalt nach Reimsbach. 
Trotzbem war die Villa jederzeit zur Aufnahme der 


Roman von Reinhold Ortmann 65 


Familie bereit, und ſie haͤtte mit ihrer großen Zahl 
von Zimmern auch Raum genug fuͤr eine die beiden 
Damen in keiner Weiſe belaͤſtigende Unterbringung 
Volckers geboten. 

Aber Reinhard hatte den Kommerzienrat gebeten, 
die freundlich angebotene Gaſtfreundſchaft ablehnen 
zu duͤrfen. Er wollte auch diesmal in dem ſauberen, 
gut gehaltenen Dorfwirtshauſe, dem ſogenannten 
Kretſcham, Quartier nehmen. Er waͤre dort der Fabrik 
um vieles naͤher und in der Verfuͤgung uͤber ſeine Zeit 
weniger behindert. Eine Erklaͤrung, die Klemens 
Steinsdorff ohne weiteres gelten ließ, da auch ihm die 
perſoͤnliche Freiheit allezeit hoͤher geſtanden hatte als 
geſellſchaftliche Ruͤckſichten. 

So kam es, daß außer dem Landauer aus der Villa 
auch der Einſpaͤnner des Dorfwirts hinter dem Stations⸗ 
gebaͤude hielt, um den Koffer des erwarteten Gaſtes zu 
befoͤrdern. Als die Damen die Stufen hinabſtiegen, 
gruͤßte ſie Volcker mit ſtummer Verbeugung. Die Frau 
Kommerzienrat blieb ſtehen und reichte ihm die Hand. 

„Ich rechne ſelbſtverſtaͤndlich darauf, Sie bei mir 
zu ſehen, Herr Doktor! Morgen werde ich ja vermutlich 
noch recht muͤde ſein von der Reiſe. Aber wenn Sie ſich 
an einem der folgenden Tage in die Villa hinauf 
bemuͤhen wollten, wuͤrde ich mich ſehr daruͤber freuen.“ 

„Gnaͤdige Frau haben ganz uͤber mich zu befehlen,“ 
erwiderte er foͤrmlich. „Da ich die ausdruͤckliche Weiſung 
habe, mich den Damen zur Verfuͤgung zu ſtellen, bin 
ich jederzeit Ihres Rufes gewaͤrtig.“ 

„Oh, von Befehlen oder Weiſungen kann ſelbſtver⸗ 
ſtaͤndlich nicht die Rede fein. Und ich weiß ja auch, wie 
koſtbar Ihre Zeit iſt, Herr Doktor. Wenn Sie uns hie 
und da ein Viertelſtuͤndchen ſchenken wollen, ſo iſt das 

1916. X. 5 


66 Das hoͤchſte Ziel 


vielleicht ſchon mehr, als ich Ihnen eigentlich zumuten 
darf. Auch wir haben dieſe kleine Reife ja nur gemacht, 
um uns in Zuruͤckgezogenheit und Stille auszuruhen. 
Auf Wiederſehen alſo!“ 

Der ſchon geſtern zur Erledigung der letzten Vor⸗ 
bereitungen vorausgeſchickte Diener uͤberhob Volcker der 
Notwendigkeit, Frau Steinsdorff und ihrer Tochter beim 
Beſteigen des Wagens behilflich zu ſein. Er blickte auch 
dem davonrollenden Gefaͤhrt nicht nach, ſondern ſchlug, 
ohne den Einſpaͤnner zu benuͤtzen, den in die entgegen⸗ 
geſetzte Richtung fuͤhrenden kuͤrzeren Fußweg nach dem 
Dorfe ein. — 

Als Mutter und Tochter ſich eine Stunde ſpaͤter auf 
der Terraſſe der Villa gegenuͤberſaßen, fragte die Frau 
Kommerzienrat leichthin: „Du haſt dich ja, wie ich ſah, 
heute auf dem Gange des Eiſenbahnwagens mit dem 
Doktor Volcker unterhalten. Natuͤrlich hatte er ſich dir 
aufgedraͤngt.“ 

„Ich weiß nicht, ob ich es ſo nennen darf, Mama. 
Der Schaffner hatte mir auf einige Fragen die Antwort 
ſchuldig bleiben muͤſſen. Das hatte der Herr Doktor 
wohl gehoͤrt, und er erbot ſich, mir die gewuͤnſchten 
Auskuͤnfte zu geben.“ 

„Nun ja, was iſt das anderes als Aufdringlichkeit. 
Es war ein recht ungluͤcklicher Gedanke von deinem 
Vater, uns dieſe Begleitung aufzuzwingen.“ 

„Ich fuͤrchte nicht, daß wir darunter leiden werden. 
Du haſt ja geſehen, wie gemeſſen ſich Herr Volcker vorhin 
an der Station von uns verabſchiedete. Etwas zu ge⸗ 
meſſen vielleicht fuͤr die Vertrauensſtellung, die ihm 
Papa doch nun einmal angewieſen hat.“ 

„Und die hoffentlich keine unerſchuͤtterliche ſein wird. 
Vorlaͤufig darf man ja kein Wort gegen ihn ſagen. Aber 


Roman von Reinhold Ortmann 67 


es waͤre das erſte Mal, daß einer meiner Wuͤnſche 
dauernd unberuͤckſichtigt bliebe. 

Ein paar Sekunden lang blickte Traute ſchweigend 
in die abendliche Landſchaft hinaus. Dann ſagte ſie 
etwas unſicher: „Haſt du noch nicht daran gedacht, Mama, 
daß wir ihn doch moͤglicherweiſe falſch beurteilen?“ 

„Wen? Den Herrn Doktor Volcker? O nein, mein 
Kind! Er iſt der vollkommenſte Typus des geſchickten 
und ſkrupelloſen Strebers. Die Art, wie er den armen 
Suterland nach jahrelangen Raͤnken nun gluͤcklich ganz 
aus dem Wege geraͤumt hat, iſt doch wahrlich der beſte 
Beweis.“ | 

„Vorausgeſetzt, daß alles richtig iſt, was Fräulein 
Suterland geſchrieben und erzaͤhlt hat.“ 

„Haſt du eine Veranlaſſung, daran zu zweifeln?“ 

Traute zuckte mit den Achſeln. „Es iſt immerhin 
nur die eine Seite, die wir da gehoͤrt haben. Die 
Suterlands ſind verbittert, und Verbitterung macht 
leicht ungerecht.“ 

„Sehr merkwuͤrdig, daß du dich mit einem Male 
gedraͤngt fuͤhlſt, den Herrn Doktor in Schutz zu nehmen. 
Iſt das vielleicht eine Folge eurer heutigen Unter⸗ 
haltung?“ a 

„Wir haben nur von ganz gleichguͤltigen Dingen 
geſprochen. Daruͤber aber bin ich mir allerdings klar 
geworden, daß er entweder ein Meiſter in der Kunſt der 
Verſtellung oder ein Opfer unbegruͤndeter Anklagen iſt. 
Und warum ſollte das zweite nicht ebenſowohl moͤglich 
ſein, wie das erſte?“ 

„Weil die Tatſachen gegen ihn ſprechen, mein Kind! 
Er war ein ganz gewoͤhnlicher Revolverjournaliſt, als 
dein Vater ſich durch ein paar ſchoͤnredneriſche Phraſen 
fuͤr ihn einnehmen ließ. Nur weil es ſich dabei zufaͤllig 


68 Das hoͤchſte Ziel | 


um einen ee handelte, der nun einmal fein 
Stecken pferd tft.” 

„Ein Revolverjournaliſt? Iſt das ſo gewiß?“ 

„Suterland hat die Beweiſe dafuͤr in den Haͤnden. 
Volcker war in der Redaktion einer Zeitung, deren Her⸗ 
ausgeber ſpaͤter wegen Betruͤgerei und Erpreſſung zu 
ſchwerer Strafe verurteilt worden iſt. Der Artikel, der 
dem Papa ſo gut gefiel, hatte ja auch in dieſer Zeitung 
geſtanden.“ 

„Das beweiſt doch noch nicht, daß er einen Anteil 
an den Betruͤgereien und Erpreſſungen des anderen 
gehabt hat. Offen geſtanden, Mama, wenn wir auf die 
Suterlandſchen Anſchuldigungen hin den Doktor Volcker 
ohne weiteres aller möglichen Schlechtigkeiten fähig 
glauben — uͤben wir damit nicht an Papas Menſchen⸗ 
kenntnis und an ſeinen Handlungen eine Kritik, die uns 
eigentlich nicht zukommt? Iſt er nicht viel zu klug 
und viel zu gerecht, um einem Unwuͤrdigen ſo großes 
Vertrauen zu ſchenken? Und außerdem: Bruno iſt doch 
ſein vertrauter Freund.“ N 

„Bruno mit ſeinem goldenen Herzen iſt ein Kind an 
Leichtglaͤubigkeit und Vertrauensſeligkeit. Und ſeine 
Freundſ chaft wuͤrde ein ſehr raſches Ende nehmen, wenn 
er eine Ahnung von den letzten Zielen des Herrn Doktor 
Volcker Hätte,” | 

Die Wangen des jungen Mädchens hatten ſich ploͤtz⸗ 
lich hoͤher gefaͤrbt. „Ach, das iſt doch wohl nur eine halt⸗ 
loſe Vermutung, Mama! Eine Einbildung des Fraͤu⸗ 
lein Suterland. Ich habe mich ja gerade dadurch ſo 
ſehr gegen Herrn Volcker einnehmen laſſen. Aber ich 
glaube nicht mehr daran; ſein ganzes Benehmen f pricht 
doch dagegen.“ 

„Weil er zu ſchlau iſt, um ſeine Karten vor der geit 


Roman von Reinhold Ortmann 69 


aufzudecken. Im Grunde iſt es auch nur natuͤrlich, daß 
ſeine Wuͤnſche ſich bis zu dieſem Letzten und Hoͤchſten 
erheben, nachdem er beinahe muͤhelos alles andere 
erreicht hat. Er iſt der Vertraute deines Vaters in allen 
wichtigen geſchaͤftlichen Dingen, er wird in wenig 
Wochen der Nachfolger des armen Suterland ſein; 
bleibt alſo nur noch uͤbrig, daß er dereinſt auch Papas 
Nachfolger werde. Bei Leuten ſeines Schlages kommt 
der Appetit mit dem Eſſen. Und ihrem dreiſten Selbſt⸗ 
vertrauen ſcheint einfach nichts unerreichbar.“ 

„Nein, ich glaube nicht daran,“ wiederholte Traute. 
„Es waͤre zu unſinnig. Er muͤßte nicht nur, wie du ſagſt, 
ein Streber, ſondern auch ein Dummkopf ſein, wenn er 
ſich mit ſolchen Abſichten truͤge. Und ein Dummkopf iſt 
er doch gewiß nicht. Außerdem —“ 

„Nun? Außerdem —?“ 

„Außerdem kannte er mich doch noch gar nicht, als 
nach Fraͤulein Suterlands Meinung der abenteuerliche 
Plan in ihm gereift ſein ſoll.“ 

„Als wenn das ein Hindernis geweſen waͤre! Deine 
Perſon ſpielt in ſeinen Berechnungen doch keine andere 
Rolle als die eines Mittels zum Zweck. Er ſagt ſich, daß 
er nur als der Schwiegerſohn des Kommerzienrats 
Steinsdorff dermaleinſt Chef des Hauſes werden koͤnnte. 
Und das iſt ausſchlaggebend fuͤr ſeine Plaͤne.“ 

„Es waͤre empoͤrend, wenn du recht haͤtteſt. Und ich 
wuͤrde — Aber ich traue es ihm nicht zu; bis jetzt hat 
er ſich noch nicht im allergeringſten bemuͤht, mir au 
gefallen.” = 

„Die Waͤrme deiner Verteidigung ſcheint zu 0 
daß er gerade damit den richtigen Weg eingeſchlagen hat.“ 
VAh, das war nicht huͤbſch, Mama! Ich wehre mich 
doch nur dagegen, einen Menſchen zu verdammen, dem 


70 Das hoͤchſte Ziel 
man keine Gelegenheit zu ſeiner Rechtfertigung ge⸗ 
geben hat.“ 

„Traͤgſt du dich vielleicht mit der Abſicht, ihm eine 
ſolche Gelegenheit zu verſchaffen? Ich bin uͤberzeugt, 
daß er nichts lebhafter wuͤnſcht als gerade das. Verſtehſt 
du denn nicht, daß ſein anſcheinend mehr als zuruͤck⸗ 
haltendes Benehmen weiter nichts als eine Heraus⸗ 
forderung iſt?“ | 

„Eine Herausforderung? Nein, das verſtehe ich 
allerdings nicht.“ 

„Er hofft, dich damit fruͤher oder ſpaͤter zu einer 
Frage zu zwingen, was dieſe ſeltſame Zuruͤckhaltung 
bedeute. Und wenn er es auf ſolche Art erſt einmal 
zu der erſehnten Ausſprache gebracht hat, rechnet er 
auf die Macht ſeiner Beredſamkeit und auf ſeine ſon⸗ 
ſtigen ſchauſpieleriſchen Talente. Nebenher hat er wohl 
auch noch andere Gruͤnde, nicht mit der Tuͤr ins Haus 
zu fallen. Es wird ihm augenſcheinlich nicht ganz leicht, 
mit dem Fraͤulein Langerhans ins reine zu kommen. Und 
ſo lange er ſie nicht abgeſchuͤttelt hat, muß er natuͤrlich 
fuͤrchten, ſie koͤnnte ihm einen Strich durch die Rechnung 
machen.“ 

Mit einer raſchen Bewegung hatte Traute den Kopf 
erhoben. „Fraͤulein Langerhans? Wer iſt denn das 
nun wieder, Mama?“ 

„Ein junges Maͤdchen aus der Zeit ſeiner unruͤhm⸗ 
lichen Anfaͤnge. Als Papa ihn in ſeinen Dienſt nahm, 
hat er ſie als Anhaͤngſel mit ins Kontor gebracht. Und 
er hat ſie nach und nach in eine bevorzugte Stellung 
emporzuſchieben gewußt. Aus der Vertraulichkeit ihrer 
Beziehungen machen die beiden kein Geheimnis.“ 

„Wie Herr Suterland ſagt — nicht wahr?“ 
Die Frage klang ſo ſcharf und ſo veraͤchtlich, daß 


Roman von Reinhold Ortmann 71 
Frau Hedwig uͤberraſcht aufblickte. „Und wenn er es 
ſagte? — Er iſt doch kein Luͤgner.“ 

Traute war aufgeſtanden und mit einigen raſchen 
Schritten an die Bruͤſtung der Terraſſe getreten. Jetzt 
brannten ihre Wangen in hoher Glut. 

„Was weiß ich, ob er ein Luͤgner iſt oder nicht! Und 
was kuͤmmert mich im Grunde das alles! Ob Herr Dok⸗ 
tor Volcker ein Ehrenmann iſt oder ein gewiſſenloſer 
Streber, wie ihr es ohne alle Beweiſe mit ſolcher Be⸗ 
ſtimmtheit behauptet — fuͤr mich iſt es doch ſchließlich 
ganz bedeutungslos. Und nun, wenn es dir recht iſt, 
liebe Mama, wollen wir nicht weiter von ihm und von 
ſeinen Widerſachern reden.“ 


Um die Villa zu verlaſſen, dazu fuͤhlte ſich Frau 
Hedwig Steinsdorff am naͤchſten Tage in der Tat zu ab⸗ 
geſpannt, zumal eine fuͤr die fruͤhe Jahreszeit faſt 
unnatuͤrliche Schwuͤle uͤber dem Reimsbacher Tale lag. 
Traute aber zeigte lebhaftes Verlangen, die Arbeiter⸗ 
kolonie und namentlich den neu eingerichteten Kinder⸗ 
hort zu beſuchen. Nach einigem Widerſtreben, denn ſie 
fand es nicht ganz ſchicklich, daß es ohne Begleitung 
geſchah, hatte die Frau Kommerzienrat zugeſtimmt. 

Die von ihrem Vater ſchon vor einer Reihe von Jahren 
geſchaffene Siedlung war Traute ja nicht mehr fremd. 
Ehe die Fabrik in ſeinen Beſitz uͤberging und damit zu⸗ 
gleich eine bedeutende Vergroͤßerung erfuhr, hatten die 
Arbeiter und Arbeiterinnen teils in Reimsbach, teils in 
anderen naheliegenden Doͤrfern gewohnt, und zwar 
zumeiſt unter wenig erfreulichen wirtſchaftlichen und 
geſundheitlichen Verhaͤltniſſen. Die Kinderſterblichkeit 
war erſchreckend hoch geweſen, und die Moral der Unver⸗ 
heirateten hatte viel zu wuͤnſchen uͤbrig gelaſſen. 


172 Das hoͤchſte Ziel 


Da hatte Klemens Steinsdorff zum allgemeinen 
Erſtaunen mit dem Bau von Arbeiterwohnungen 
begonnen, wie ſie von den hier Beſchaͤftigten bisher noch 
keiner kennen gelernt hatte. Nicht Kaſernen oder Ba⸗ 
racken, ſondern freundliche kleine Einzelhaͤuſer ent⸗ 
ſtanden, die auch der Abwechſlung in der Bauform wie 
des aͤußeren Schmuckes nicht entbehrten und deren jedes 
ſein Blumengaͤrtchen wie ſein anſehnliches Stuͤck Ge⸗ 
muͤſeland hatte. Jedes war fuͤr zwei Familien einge⸗ 
richtet, und es war darauf Bedacht genommen, daß 
jede Wohnung ihren eigenen Zugang und ihre eigenen 
Nebenraͤume hatte. Dieſe Haͤuschen bot Steinsdorff 
ſeinen Arbeitern zur Miete an, und zwar zu einem Zins, 
der weit zuruͤckblieb hinter dem, was die Leute bisher 
fuͤr ihre weſentlich ſchlechtere Unterkunft hatten auf⸗ 
wenden muͤſſen. Das Bedeutſamſte an ſeiner Schoͤp⸗ 
fung aber war, daß jeder Mieter nach einer beſtimmten 
Reihe von Jahren ohne weitere Zahlung der Eigen⸗ 
tuͤmer der von ihm bewohnten Haushaͤlfte und des 
dazu gehoͤrigen Landes wurde. Nach Überwindung 
des anfaͤnglichen Mißtrauens ſtieg um der einleuch⸗ 
tenden und offenkundigen Vorteile willen ſchon nach 
wenig Monaten die Zahl der Bewerber ſo, daß es in 
den erſten Jahren ſchwer wurde, alle Anſpruͤche zu be⸗ 
friedigen. Die Siedlung wuchs in kurzer Zeit zu einer 
kleinen Ortſchaft, die mehr einer freundlichen Villen⸗ 
ſiedlung als einem Arbeiterdorfe glich. Der Bau eines 
eigenen Elektrizitaͤtswerks zog im Verein mit ver: 
ſchiedenen weiteren Vergroͤßerungen der Fabrik immer 
neue Bewohner heran. Die Geldaufwendungen des 
Kommerzienrats fuͤr dieſe ſeine Lieblingsſchoͤpfung 
hatten im Lauf der Jahre eine ſehr betraͤchtliche Hoͤhe 
erreicht; der von den Inſaſſen unter der Form eines 


Roman von Reinhold Ortmann 73 


Mietszinſes nach und nach gezahlte Kaufpreis deckte 
nur einen Teil der wirklichen Baukoſten, ganz abgeſehen 
davon, daß alle gemeinnuͤtzigen Einrichtungen der 
Kolonie von Klemens Steinsdorff vollſtaͤndig aus 
eigenen Mitteln geſchaffen worden waren. Aber er 
fuͤhlte ſich fuͤr dieſe Opfer reich belohnt durch einen jede 
Erwartung uͤbertreffenden Erfolg ſeines menſchen⸗ 
freundlichen Verſuchs. Es war ihm dadurch nicht nur 
ein feſter Stamm treuer, williger und zuverlaͤſſiger 
Arbeitskraͤfte herangewachſen, ſondern er hatte auch die 
Freude zu ſehen, daß die Nachkommenſchaft in den meiſt 
ſehr kinderreichen Familien praͤchtig gedieh, daß die Leute 
wirtſchaftlich vorwaͤrts kamen und daß es kaum noch 
einen Trunkſuͤchtigen oder Liederlichen unter ihnen gab. 
Die durch die billige und verlockende Wohngelegenheit 
geſchaffene Erleichterung der Eheſchließungen ließ auch 
die ehedem Unſteten fruͤhzeitig Geſchmack am Familien⸗ 
leben gewinnen und machte die Wanderluſtigen zu 
ſeßhaften, zufriedenen Familienvaͤtern. 

Traute war erſtaunt uͤber den gewaltigen Zuwachs, 
den die Kolonie ſeit ihrem letzten, nun ſchon um ſechs 
Jahre zuruͤckliegenden Beſuch erfahren hatte, und es 
machte ihr Freude, in dem freundlichen, ſauberen Schul⸗ 
hauſe noch den ſelben Lehrer anzutreffen, zu dem ſie 
ſchon als kleines Mädel in den beiten Beziehungen ge: 
ſtanden hatte. Er erkannte ſie freilich nicht gleich wieder 
und geriet der ſchoͤnen, vornehmen Dame gegenuͤber 
in einige Verlegenheit, uͤber die ihm Traute mit ge⸗ 
winnender Liebenswuͤrdigkeit weghalf. Und da der 
Vormittagsunterricht zu Ende war, ſtellte er ſich ihr mit 
Vergnuͤgen als Fuͤhrer durch den neu erbauten Kinder⸗ 
hort zur Verfuͤgung. 

„Wir haben in den letzten Jahren zuviel kleinen 


74 Das hoͤchſte Ziel 
Nachwuchs bekommen, fuͤr den auch geſorgt werden 
mußte,“ ſagte er. „Aber ohne den Herrn Doktor Volcker 
waͤre mein Herzenswunſch wohl freilich nicht ſo bald 
und gewiß nicht auf ſo ſchoͤne Art in Erfuͤllung gegangen.“ 
Der Stolz uͤber die ſeiner Obhut unterſtellte neue Schoͤp⸗ 
fung, in der außer einer Pflegeſchweſter noch eine frei: 
willige junge Helferin taͤtig war, leuchtete ihm aus den 
Augen, waͤhrend er Traute durch die einzelnen Raͤume 
geleitete und ihr die muſterguͤltigen Einrichtungen er⸗ 
klaͤrte. „Und das alles, was Sie hier ſehen, Fraͤulein 
Steinsdorff, iſt recht eigentlich das Werk dieſes ausge⸗ 
zeichneten Mannes. Daß er von unſeren Muͤttern hier 
beinahe vergoͤttert wird, iſt wahrhaftig nicht zu ver⸗ 
wundern.“ | 

„Sie ſprechen von Herrn Doktor Volcker? Aber er 
handelte doch wohl nur im Auftrage meines Vaters?“ 

„Gewiß, gewiß! Und wir wiſſen ſehr wohl, wie 
große Dankbarkeit wir dem Herrn Kommerzienrat 
ſchuldig ſind. Aber es iſt keine Verſuͤndigung an dieſer 
Dankespflicht, wenn ich dem Herrn Doktor das Haupt⸗ 
verdienſt zuſchreibe. Um etwas wie dies Kinderheim 
zu ſchaffen, um es ſo zu ſchaffen, wie es jetzt daſteht — 
dazu gehoͤrt nicht bloß Geld, dazu gehoͤrt vor allem 
Liebe, echte, wahre Menſchenliebe. Und wer den Herrn 
Doktor kennen gelernt hat ſo wie ich damals, als wir 
wochenlang bis in die tiefe Nacht hinein den Plan in 
all ſeinen Einzelheiten durchdachten, der weiß, ein wie 
warmes, liebevolles Herz der junge Mann in der Bruſt 
traͤgt. Ich ſtehe nun ſeit faſt fuͤnfundzwanzig Jahren 
im Dienſt der Jugenderziehung und darf mir wohl nach⸗ 
rühmen, ein Freund der Kinder zu fein. Aber der Doktor 
Volcker hat mich mehr als einmal beſchaͤmt. Wenn es 
wahr iſt, daß man einen Menſchen nach dem beurteilen 


Roman von Reinhold Ortmann 75 


kann, was er für die Armen und für die hilfloſen Kleinen 
empfindet, dann iſt er einer von den allerbeſten. Aber 
Sie kennen ihn ja auch; da brauche ich ihn wohl nicht zu 
ruͤhmen.“ | 

„Ich hoͤrte trotzdem gerne etwas Näheres über — 
über Ihre gemeinſame Arbeit. Sie ſagen, daß der Plan 
von Herrn Doktor Volcker herruͤhrt?“ 

„Von ihm ganz allein. Er kam eines Tages zu 
mir und entwickelte mir ſeine Gedanken. Ich trug 
verwandte Plaͤne ſchon lange mit mir herum; aber ich 
haͤtte nie den Mut gehabt, dem Herrn Kommerzienrat 
damit zu kommen. Ihr Herr Vater hat ja ſchon ſo viel 
fuͤr die Kolonie getan. Und als ich einmal bei ſeinem 
Hierſein eine kleine Andeutung wagte, wies er ſie ziemlich 
kurz zuruͤck. Das ſagte ich auch dem Herrn Doktor; aber 
er meinte, ſo leicht duͤrfe man ſich nicht abſchrecken laſſen. 
Und er ließ ſich nicht abſchrecken, das muß wahr ſein. Auf 
eigene Hand ließ er die Koſtenanſchlaͤge machen und reiſte 
herum, nach geeigneten Vorbildern zu ſuchen. Aber das 
Beſte ſchoͤpfte er dann doch nicht aus den Vorbildern, 
ſondern aus ſeiner eigenen mitfuͤhlenden Seele. Wenn 
ich meinte, daß wir nun ſchon alles erwogen und jedem 
Beduͤrfnis Rechnung getragen haͤtten, dann kam ihm 
immer noch ein neuer fruchtbringender Gedanke. ‚Nicht 
bloß ein geſundes, ſondern auch ein frohes Geſchlecht 
wollen wir heranzuziehen ſuchen, lieber Herr Moͤllmann, 
ſagte er einmal, als ich meinte, daß es faſt zu viel des 
Guten ſei, was er fuͤr die kleinen Schuͤtzlinge des Kinder⸗ 
horts tun wolle. ‚Und dazu gehört vor allem eine 
gluͤckliche Kindheit. Wer nicht von Herzen froͤhlich ſein 
kann, der bleibt zeitlebens ein armer Teufel, auch wenn 
er bis an den Hals in Gold ſteckt. Darum ſollen unſere 
Kleinen hier das Lachen lernen und die ſonnige Heiterkeit. 


76 Das Höchfte Ziel 


Was dem Zweck dienen kann, das iſt wohl angewendet, 
wenn's auch auf den erſten Blick uͤberfluͤſſig ſcheinen 
mag.“ 

„So — ſagte er das, der Herr Doktor Volcker?“ 

„Ja, und noch manches andere, wegen deſſen man 
ihn lieb gewinnen mußte. Und er ließ es nicht bei den 
guten Worten, ſondern hinter jedem kam auch die ent⸗ 
ſprechende Tat. Ich weiß nicht, wie leicht oder wie 
ſchwer es ihm geworden iſt, die Zuſtimmung Ihres 
Herrn Vaters zu ſeinem koſtſpieligen Plan zu erlangen. 
Aber es war mir, als ob ich ſein ſtrahlendes Geſicht 
leibhaftig vor mir ſaͤhe, an dem Tage, wo ich ſeine 
Depeſche erhielt: „Hurra, Moͤllmann! Unſer Kinder⸗ 
heim iſt bewilligt.“ Mit einem ſolchen Goͤnner arbeitet 
ſich's gut, Fräulein Steinsdorff! Der Himmel möge 
ihn der Reimsbacher Kolonie noch recht lange erhalten.“ 

Traute war ſehr ernſt, als ſie ſich von dem in echte 
Begeiſterung hineingeratenen Lehrer verabſ chiedete. Und 
auf dem Ruͤckweg zur Villa hatte fie eine Begegnung, 
die ſie noch nachdenklicher zu ſtimmen ſchien. 

In dem Vorgaͤrtchen eines der kleinen Arbeiter⸗ 
haͤuſer ſtand Doktor Reinhard Volcker als Mittelpunkt 
einer Gruppe, die wie eine lebendige Illuſtration ausſah 
zu dem, was ſie eben gehoͤrt hatte. Eine ganze Schar von 
Kindern hatte ſich um ihn verſammelt, und das Durch⸗ 
einander heller, froͤhlicher Stimmchen, das ihn um⸗ 
zwitſcherte, gab Kunde von dem vertraulichen Ver⸗ 
haͤltnis zwiſchen ihm und dem jungen Volk. Am 
Tuͤrpfoſten lehnte eine Frau, die laͤchelnd zu ihm auf⸗ 
blickte, waͤhrend ſie ſich mit ihm unterhielt. Auf jedem 
Arm trug er ein Kind, deren eines die Arme zaͤrtlich um 
ſeinen Hals geſchlungen hatte, waͤhrend das andere 
luſtig kraͤhend ſeinen Schnurrbart zauſte. 


u 


Roman von Reinhold Ortmann 27 
Wie hatte doch der Lehrer geſagt? Wenn man einen 
Menſchen nach dem beurteilen kann, was er fuͤr die 
Armen und hilfloſen Kleinen empfindet, dann iſt er 
der allerbeſten einer. — Und er ſollte doch nach der Über: 
zeugung ihrer Mutter nichts anderes ſein als ein kalter, 
herzloſer Ichmenſch — ein innerlich brutaler Streber, 
der laͤchelnd über die vernichteten Hoffnungen anderer 
hinwegſchritt, um ſeine Ziele zu erreichen! 

Er kehrte ihr den Ruͤcken zu und ſah ſie nicht. Auch 
als ſie hart an dem Gartengitter voruͤberſchritt, war er 
von der liebevollen Zudringlichkeit der kleinen Quaͤl⸗ 
geiſter zu ſehr in Anſpruch genommen, als daß er ſie 
haͤtte bemerken ſollen. Und Traute war deſſen froh. 
Raſcheren Ganges ſetzte ſie ihren Weg fort, und atmete 
erleichtert auf, als ſie ſich außer dem Bereich ſeiner Augen 
wußte; mit dieſer Fuͤlle von Ungewißheit und peinigen⸗ 
dem Zweifel im Herzen haͤtte ſie ihm nicht gegenuͤber⸗ 
ſtehen moͤgen. Er waͤre augenblicklich zu ſehr im Vorteil 
geweſen, und ſie wollte ſich nicht uͤberrumpeln laſſen. 
Es war ja vielleicht doch alles nur geſchickte und wohl⸗ 
berechnete Schauſpielerei. — 

Dies eine Mal war ſie ihm ausgewichen. Etliche 
Stunden ſpaͤter hatte ſie nicht mehr die Moͤglichkeit oder 
vielleicht auch nicht mehr den Willen, ſich ſeiner An⸗ 
ſprache zu entziehen. 

Auf dem Waldwege, der hinter dem parkartigen 
Garten der Villa berganſtieg, traf ſie in vorgeruͤckter 
Nachmittagsſtunde unverſehens mit ihm zuſammen. 
Sie hatte um der druͤckenden Hitze willen ein ſommerlich 
leichtes, helles Kleid angelegt und trug den Hut in der 
Hand. Trotz ihrer lichten Erſcheinung aber war er ihrer 
wohl zu ſpaͤt anſichtig geworden, als daß er ſich noch 
ſeitwaͤrts haͤtte zwiſchen die Staͤmme druͤcken koͤnnen, 


i 


28 Das hoͤchſte Ziel 


um ihr die unerwuͤnſchte Begegnung zu erſparen. Mit 
hoͤflichem Gruße zog er den Hut und trat ein wenig 
beiſeite, um ſie voruͤber zu laſſen, wenn ſie es ſo wollte. 
Aber Traute blieb ſtehen. 

„Guten Tag, Herr Doktor! Bin ich hier auf dem 
richtigen Wege zum Gipfel des Ziegenruͤckens?“ 

„Auf dem richtigen wohl, gnaͤdiges Fraͤulein, doch 
nicht auf dem huͤbſcheſten und kuͤrzeſten. Der iſt in ſeinem 
erſten Teil freilich nicht ganz leicht zu finden.“ 


„Ich moͤchte es doch verſuchen. — Koͤnnen Sie mich 


nicht ein wenig zurechtweiſen?“ 

„Das duͤrfte ſchwer ſein und Sie nicht hinlaͤnglich 
vor einem Fehlgehen ſchuͤtzen. Aber wenn Sie mir ge⸗ 
ſtatten wollen, Sie bis zu dem Punkte zu fuͤhren, wo 
ein Irrtum nicht mehr moͤglich iſt — 

„Es waͤre ſehr freundlich. Ich beſorge nur, daß ich 
Sie damit vielleicht von etwas Wichtigerem abhalte.“ 

„Meine Pflichten ſind fuͤr heute erledigt, Fraͤulein 
Steinsdorff. Ich habe nichts mehr zu verſaͤumen.“ 

„Dann mache ich von Ihrer Liebenswuͤrdigkeit gern 
Gebrauch. Ich glaube mich aus fruͤherer Zeit zu er⸗ 
innern, daß die Ausſicht von der Hoͤhe des Ziegenruͤckens 
die lohnendſte in der naͤheren Umgebung iſt.“ 

„Ja. Nur weiß ich nicht, ob es ratſam iſt, den Auf⸗ 
ſtieg gerade heute zu machen. Sie brauchen mindeſtens 
noch drei Viertelſtunden bis zum Gipfel. Und wir 
werden vielleicht ein Gewitter haben, bevor Sie droben 
ſind.“ 

„Aber der Himmel iſt ja ganz blau. Außerdem habe 
ich keine Gewitterangſt. Meinem Waſchkleidchen koͤnnte 
ſelbſt ein Wolkenbruch keinen großen Schaden zu⸗ 
fügen.” 

„Wenn Sie es alfo darauf ankommen laſſen wollen. 


Roman von Reinhold Ortmann 79 


Aber ich habe Sie gewarnt. Ein Gewitter im Bergwald 
iſt zuweilen eine recht ernſte Sache.“ 

Sie ſchuͤttelte nur den Kopf, und ſo gingen ſie Seite 
an Seite weiter. Es waͤhrte lange, bis ein Geſpraͤch 
zwiſchen ihnen in Fluß kam. Aus Befangenheit viel⸗ 
leicht, oder vielleicht auch in einer Art von trotziger Kampf: 
bereitſchaft hatte Traute es ihm uͤberlaſſen wollen, den 
Stoff der Unterhaltung zu waͤhlen. Wenn ihm wirklich, 
wie ihre Mutter glaubte, daran gelegen war, eine ſeinen 
Zwecken guͤnſtige Ausſprache herbei zu fuͤhren, ſo mochte 
er immerhin die jetzt gebotene Noͤglichkeit benutzen. 
Sie hatte ſeit dem heutigen Vormittag, oder eigentlich 
ſchon ſeit der geſtrigen Unterhaltung in der Eiſenbahn, 
ein brennendes Verlangen, ſich Klarheit uͤber den wahren 
Charakter dieſes Mannes zu verſchaffen, deſſen innerſtes 
Weſen ſo ganz verſchieden ſein ſollte von dem aͤußeren 
Anſchein ſeiner Perſoͤnlichkeit. Und ſie war bereit, ihn 
geduldig anzuhoͤren, wenn dies das einzige Mittel war, 
zu ſolcher Klarheit zu gelangen. 

Aber es ſchien, daß er in dieſem Alleinſein noch 
immer nicht die rechte Gelegenheit ſah, ſeinen Zwecken 
näher zu kommen; denn er begnügte ſich damit, fie auf 
die eigenartigen Formen einiger zwiſchen die Hochwald⸗ 
ſtaͤmme geſtreuten Felsbrocken aufmerkſam zu machen. 
Und zuweilen vergingen Minuten, ohne daß er uͤberhaupt 
ein Wort geſprochen haͤtte. Da faßte ſie tapferen Herzens 
den Entſchluß, ihn auf die Probe zu ſtellen; denn eine 
Fortdauer des bisherigen peinlichen Verhaͤltniſſes ſchien 
ihr unertraͤglich. Sie begann von ihrem Beſuch in dem 
Kinderheim zu ſprechen und von den Verdienſten, die 
er ſich nach der Darſtellung des Lehrers darum erworben 
haben ſollte. Hatte er den Wunſch, ſich ihr gegenuͤber 
in ein guͤnſtiges Licht zu ſetzen, ſo war es ihm damit leicht 


genug gemacht. Sie horchte geſpannt, um vielleicht einen 
Ton falſcher, berechneter Beſcheidenheit aus ſeiner 
Antwort heraus zu hoͤren. Aber er lehnte das Lob mit 
der kuͤhlen Bemerkung ab, daß er lediglich der Hand⸗ 
langer ihres Vaters geweſen ſei und daß es nichts 
Verdienſtliches habe, mit muͤhelos greifbaren, fremden 
Mitteln Gutes zu ſtiften. 

„Außerdem unterſchaͤtzt der wackere Moͤllmann den 
Wert der eigenen Mitarbeit bedeutend, wenn er von der 
meinigen Aufhebens macht. Die wertvolleren An: 
regungen kamen in der Hauptſache von ihm. Und es 
konnte nicht anders ſein: denn mir fehlt auf dem Gebiete 
der Jugendfuͤrſorge ja noch jede praktiſche Erfahrung.“ 

„Sie waren Journaliſt, ehe Sie in das Haus meines 
Vaters eintraten — nicht wahr?“ 

„Ja. Vorausgeſetzt, daß eine zweitaͤgige Taͤtigkeit 
in einer Zeitungsredaktion mir das Recht gab, mich 
einen Journaliſten zu nennen.“ 

Traute hatte eine Empfindung, als waͤre ihr etwas 
Haͤßliches und Bedruͤckendes vom Herzen genommen 
worden. Aber ſie gab ſich noch nicht zufrieden. „Die 
Taͤtigkeit hatte Ihnen alſo nicht zugeſagt? Vielleicht 
war es keine gute Zeitung.“ | 

„Nein. Auf den Namen einer guten Zeitung konnte 
ſie wohl kaum Anſpruch nehmen. Aber mein Austritt 
war nicht ganz freiwillig. Ich wurde wegen Unbrauch⸗ 
barkeit entlaſſen.“ 

„Ah! Unbrauchbar? Sie, der Sie nach meines 
Vaters Verſicherung ſeine neue Zeitſchrift innerhalb 
eines einzigen Jahres zu Bluͤte und Anſehen gebracht 
haben? Das iſt nicht Ihr Ernſt.“ 

„Ich tauge doch wohl nicht zu allem, Fraͤulein 
Steinsdorff. Aber haben Sie wirklich noch immer die 


Roman von Reinhold Ortmann 81 


Abſicht, bis zum Gipfel hinauf zu eigen? Wenn wir 
auch hier im Walde nichts von dem drohenden Gewitter 
wahrnehmen koͤnnen, ſo zeigt mir doch die veraͤnderte 
Beleuchtung und die ganze Stimmung der Natur, daß 
ein Unwetter heraufſteigt. Vielleicht ſogar ein recht 
ſchweres, denn gerade die Fruͤhlingsgewitter ſind hier 
im Berglande oft von großer Stärke.” | 

„Ich fürchte mich nicht,“ wiederholte fie, obwohl 
ſie ſelber das Toͤrichte und Kindiſche empfand, das in 
der Mißachtung ſeiner wohlgemeinten Warnung lag. 
„Aber ich will nicht, daß Sie ſich meinetwegen der Gefahr 
des Naßwerdens ausſetzen, Herr Doktor. Ich glaube, 
von hier aus kann ich den Weg nicht mehr verfehlen.“ 

„Wohl kaum. Aber Sie werden ſich trotzdem meine 
Geſellſchaft gefallen laſſen muͤſſen; ich koͤnnte es weder 
vor Ihren Eltern noch vor meinem eigenen Gewiſſen 
verantworten, wenn ich Sie jetzt allein ließe.“ 

Wie er es ausſprach, hatte dies Anerbieten ſeines 
Schutzes viel eher einen herriſchen als einen ritterlich 
liebenswuͤrdigen Klang. Traute fuͤhlte ſich dadurch 
gereizt. Als ſie ihm ihr Geſicht zukehrte, war eine kleine 
Falte zwiſchen ihren Brauen. „Glauben Sie, daß ein 
Gewitter mir weniger gefaͤhrlich werden koͤnnte, wenn 
Sie —“ 

Den Reſt ihrer Frage verſchlang das betaͤubende 
Rollen eines Donnerſchlages, der ſo jaͤh und unerwartet 
die tiefe Waldesſtille unterbrach, daß Traute erſchrocken 
zuſammenfuhr. Und beinahe gleichzeitig ſtrich brauſend 
der erſte Windſtoß des einſetzenden Gewitterſturmes 
durch die Wipfel. 

„Mein Gott — daß es ſo ploͤtzlich kommen koͤnnte, 
haͤtte ich allerdings nicht fuͤr moͤglich gehalten. Ja, 
laſſen Sie uns umkehren, Herr Doktor!“ 

1916. X. | 6 


82 | Das boͤchſte Ziel . 


„Wir wollen den kuͤrzeſten Richtweg einf 1 denn 
wir muͤſſen eilen, aus dem Walde herauszukommen. 
Geſtatten Sie, daß ich vorangehe, Fraͤulein Steinsdorff!“ 

Er betrat einen fuͤr ſeine Begleiterin kaum erkenn⸗ 
baren Pirſchpfad, der ſich in vielfachen Windungen 
zwiſchen den Staͤmmen hinzog. Und nach wenig 
Minuten ſchon hatte Traute die Gewißheit, daß ſie jetzt 
allerdings ganz auf ſeinen Schutz und ſeine Fuͤhrung 
angewieſen ſei, denn ſie haͤtte ohne ihn ratlos und weglos 
in dieſer Baumwirrnis umherirren muͤſſen. Eine nie 
gekannte Beklemmung ſchnuͤrte ihr die Bruſt zuſammen. 
So wie es jetzt heranzog, hatte ſie ſich ein Gewitter 
im Bergwalde doch nicht vorgeſtellt. Daß der Himmel 
ſich mit unheimlicher Schnelligkeit verfinſterte, ſchien ihr 
natuͤrlich. Aber es war nicht das allein, was dieſe 
plögliche beaͤngſtigende Dunkelheit verurſachte. Wie 
ein dichter ſchwarzer Nebel waͤlzte es ſich zwiſchen den 
Tannen gegen ſie her. 

„Was iſt das?“ fragte ſie zaghaft. „Wir ſind ja mit 
einem Male wie in Nacht gehuͤllt.“ 

„Wir werden ſogleich mitten in einer Wolke ſein. 
Aber das braucht Sie nicht zu erſchrecken. Nur meinen 
Arm ſollten Sie annehmen, gnaͤdiges Fraͤulein! Sie 
werden dann doch vielleicht etwas ſicherer gehen.“ 

Sie wollte ablehnen; aber da ſtand um ſie her ploͤtz⸗ 
lich alles in ſchwefelblauen Flammen, und ein Knattern 
wie aus tauſend Feuerſchluͤnden ging uͤber ſie hin. Faſt 
ohne zu wiſſen, was ſie tat, griff ſie mit angſtvollem 
Aufſchrei nach Volckers Arm. „Wie graͤßlich! Nein, 
hier kommen wir ſicherlich nicht lebendig heraus.“ 

„Ich hoffe doch,“ ſagte er ruhig. „Es iſt nur eine 
kleine Nervenprobe. Von einer wirklichen Gefahr kann 
kaum die Rede fein.“ 


Roman von Reinhold Ortmann 83 


Aber wenn es auch nicht Blitz und Donner waren, 
die ſolche Gefahr in ſich bargen, uͤber ihren Haͤuptern 
ſchwebte ſie trotzdem. Ein Sturmwind von orkanartiger 
Heftigkeit durchtobte jetzt den verdunkelten Forſt und 
wählte ſchonungslos alles, was ſchwach und morſch 
war, zu feinem Opfer. Knirſchend zerſplitterte da und 
dort wie mit klaͤglichem Wehelaut ein Stamm; krachend 
ſtuͤrzten abgebrochene Aſte und ganze Baumkronen zu 
Boden. Und nun war es, als ob alle Schleuſen des 
Himmels ſich auf einmal geoͤffnet haͤtten. Ein mit 
haſelnußgroßen Hagelſtuͤcken gemiſchter Platzregen 
rauſchte hernieder, und mit ihm kam eine ſo empfind⸗ 
liche, un vermittelte Abkuͤhlung, daß Volcker das froͤſtelnde 
Erſchauern der weichen Maͤdchengeſtalt fuͤhlte, die ſich 
in der Angſt ihres Herzens dicht an ſeine Seite geſchmiegt 
hatte. 

„Einen Augenblick — bitte — Fräulein Steinsdorff,“ 
ſagte er und befreite ſeinen Arm, um mit einem Ruck 
ſeinen Rock abzuſtreifen und ihn um ihre Schultern zu 
legen. 

„Nicht doch, Herr Doktor,“ wollte Traute abwehren. 
Aber er kuͤmmerte ſich nicht um ihren Widerſpruch. 

„Sie wuͤrden ſich ja in Ihrem leichten Kleide auf den 
Tod erkaͤlten. Hier gibt es keinen ſchuͤtzenden Unter⸗ 
ſtand, dem wir uns ohne Blitzgefahr anvertrauen duͤrften. 
Und der Weg, den wir zuruͤcklegen muͤſſen, iſt noch 
ziemlich lang. So — das wird Sie wenigſtens vor dem 
gaͤnzlichen Durchnaͤßtwerden bewahren.“ 

Ohne daß ſie ſich weiter dagegen ſtraͤubte, ſchlug er 
den Kragen des loſe um ihren ſchlanken Koͤrper haͤngenden 
Kleidungsſtuͤckes in die Hoͤhe und ſchloß einige der 
Knoͤpfe. Zitternd wie ein hilfloſes Kind ließ fie es ge⸗ 
ſchehen, und wie ein Kind vertraute ſie ſich ſeiner weiteren 


84 Das höchſte Ziel 


Führung an. Von der Pracht des 6 Natur⸗ 
ſchauſpiels wurde ſie nichts gewahr. Sie empfand nur 
ſeine Schrecken. Und ſie fuͤhlte ſich tief bedruͤckt durch das 
Bewußtſein, mit ihrem Eigenſinn eine Lage verſchuldet 
zu haben, in der ſie ſich uͤber alle Maßen klaͤglich vor⸗ 
kam. Denn ſie, die von Haus aus gar nicht furchtſam 
war und als Kind gerade wegen ihrer Waghalſigkeit 
manchen ernſten Tadel hatte hinnehmen muͤſſen, ſie 
konnte jetzt mit aller Kraft ihres Willens die Angſt nicht 
bannen, die ſie bei jedem auflodernden Blitz zuſammen⸗ 
fahren und ſich unter jedem Donnerrollen ducken ließ, 
als ſauſten verderbenbringende Geſchoſſe uͤber ſie hin. 

Sie ſprachen nicht mehr, ſchon deshalb nicht, weil 
doch jedes dritte Wort von dem Krachen und Praſſeln 
und Rauſchen um ſie her uͤbertoͤnt worden waͤre. In 
dieſer Stimmung wußten ſie einander wohl auch nichts 
zu ſagen. Von Zeit zu Zeit nur warf Traute einen 
ſcheuen Blick auf das Geſicht ihres Begleiters. Und der 
beinahe heitere Ausdruck dieſes edlen, jungen Maͤnner⸗ 
geſichts mit dem frei und feſt in den Aufruhr der Ele⸗ 
mente gerichteten Blick und dem leicht geoͤffneten Munde, 
der in tiefen Zuͤgen den Odem des Sturmes zu trinken 
ſchien, gewaͤhrte ihr ungleich mehr Beruhigung, als ſie 
aus irgendwelchem troͤſtlichen Zuſpruch haͤtte ſchoͤpfen 
koͤnnen. 

Wie ſie ſo neben ihm dahinging, immer die Staͤrke 
ſeines Armes und den Gleichmut ſeiner Seele fuͤhlend, 
wurde es in ihr zur Gewißheit, daß dieſem Manne eine 
Regung der Furcht uͤberhaupt etwas voͤllig Fremdes 
war, daß er jeder großen und ernſten Gefahr dieſelbe 
ruhige Unerſchrockenheit entgegenſetzen wuͤrde, mit der er 
4 dem laͤrmenden Spiel der entfeſſelten Naturkraͤfte 
zuſah). 


Roman von Reinhold Ortmann 85 
* Und allgemach ſtroͤmte es, allem Bangen und Beben 
zum Trotz, aus dieſer Gewißheit wie etwas wunderſam 
Koͤſtliches und Begluͤckendes in ihre Seele. Sie hatte 
keinen Namen fuͤr das, was ſich in ihr regte, und ſie dachte 
auch nicht daruͤber nach. Aber ſie gab ſich ihm willig 
hin, mit einer gewiſſen demuͤtigen Dankbarkeit, wie man 
aus der Hand eines Wohltaͤters das noch verhuͤllte 
Geſchenk entgegennimmt, deſſen Beſchaffenheit man 
nicht kennt und in dem man doch mit untruͤglichem 
Ahnungsvermoͤgen etwas ſehr Schoͤnes, Koſtbares und 
Herrliches erraͤt. 

In der Naͤhe des Waldrandes hatten ſie den Haupt⸗ 
weg wieder erreicht. Und ſie waren nur noch um ein 
Geringes von der Villa entfernt, als ihnen der Diener 
und der Pfoͤrtner des Hauſes entgegenkamen, mit 
Tuͤchern und Decken ausgeruͤſtet wie zu einer Rettungs⸗ 
Expedition. 

„Ach, gnaͤdiges Fraͤulein — Gott ſei gedankt, daß 
wir Sie finden. Die gnaͤdige Frau iſt ſchon ganz auf⸗ 
geloͤſt vor Angſt.“ 

Der Mann machte ein ſo laͤgliches Geſicht, und ſeine 
Stimme klang ſo jammervoll, daß ſeine unfreiwillig 
komiſche Erſcheinung mit einem Schlage den geheimnis⸗ 
vollen Zauber zerriß, der das junge Maͤdchen waͤhrend 
der letzten, in Schweigen verlebten Viertelſtunde mehr 
und mehr umſponnen hatte. 

„Aber, Rudolf, wie ſehen Sie denn aus?“ rief ſie 
lachend. „Und ſoll ich vielleicht in alle dieſe Tuͤcher ein⸗ 
gewickelt werden?“ 

„Gnaͤdige Frau meinten, wir ſollten alles mitnehmen, 
was zur Hand waͤre. Es iſt ja auch ein ſo fuͤrchterliches 
Wetter.“ 

Eine der Decken nahm Volcker dem Diener ab, 


86 Das hoͤchſte Ziel 


entfaltete ſie und ſagte: „Wenn Sie ſich jetzt meines Rocks 
wieder entledigen wollen, Fräulein Steinsdorff —“ 

Raſch neſtelte ſie die Knoͤpfe auf und reichte ihm das 
voͤllig durchnaͤßte Kleidungsſtuͤck. Er warf es zuſammen⸗ 
gelegt uͤber die Schulter und huͤllte ſie in die Decke. 

„Vielen Dank, Herr Doktor! Und ich bitte, ſeien 

Sie mir nicht boͤs, weil ich Ihnen ſo viel Unbequemlich⸗ 
keit verurſacht habe. Natuͤrlich muͤſſen Sie jetzt mit⸗ 
kommen in die Villa, um ſich einigermaßen zu 
trocknen.“ 
„das duͤrfte in meiner gegenwaͤrtigen Verfaſſung 
nicht wohl tunlich ſein,“ erwiderte er laͤchelnd. „Wenn 
Sie mir geſtatten wollen, mich hier zu verabſchieden, 
kann ich bei einem Abſtieg quer durch den Wald ſehr 
bald unten im Dorfe ſein.“ 

Traute dachte daran, daß ihre Mutter ihm moͤglicher⸗ 
weiſe einen unfreundlichen Empfang bereiten koͤnnte. 
Die Hemdaͤrmel klebten ihm an den Armen, und er 
mußte bis auf die Haut naß ſein. Man haͤtte ihn in 
einen Anzug des Dieners ſtecken muͤſſen, wenn man ihm 
in der Villa die Moͤglichkeit gewaͤhren wollte, ſich umzu⸗ 
kleiden. Und das war eine Vorſtellung, gegen die ſich 
irgend etwas in ihr auflehnte. So redete ſie ihm nicht 
weiter zu; aber als er ſich zum Abſchied foͤrmlich ver⸗ 
beugen wollte, reichte ſie ihm die Hand. „Wir ſehen Sie 
doch morgen?“ 

„Ich hatte allerdings die Abſicht, mich nach den 
Befehlen der Frau Kommerzienrat zu erkundigen.“ 
„Auf bald alfo, Herr Doktor! Ich hoffe, das kleine 
Abenteuer wird Ihnen nicht ſchaden.“ 

Er haͤtte wohl den leichten Druck der kleinen Hand 
verſpuͤren muͤſſen. Aber es war jedenfalls ſicher, daß 
er ihn nicht erwiderte. Als Traute noch einmal den 


Roman von Reinhold Ortmann 87 


Kopf drehte, war er bereits zwiſchen den Staͤmmen 
verſchwunden. 
N — — 

Frau Hedwig Steinsdorffs empfindliche Nerven 
wurden an dieſem Abend auf eine harte Probe geſtellt. 
Und die Nacht, die ihm folgte, war faſt noch ſchlimmer. 
Wohl ſchien ſich der Aufruhr in der Natur fuͤr eine Weile 
zu beſaͤnftigen; aber es war, als haͤtten die Elemente 
nur neue Kraͤfte ſammeln wollen zu noch wilderem 
Kampf. Der Pfoͤrtner, der ſchon ſeit manchem Jahr 
hier in den ſchleſiſchen Bergen ſaß, erklaͤrte, er haͤtte 
aͤhnliches noch nie erlebt. 

Das Firmament ſtand unaufhoͤrlich in blauem 
Feuer, und die Donnerſchlaͤge krachten, knatterten und 
ſchmetterten faſt ohne Pauſe uͤber das Brauſen des 
Sturmes und das Rauſchen der ununterbrochen nieder⸗ 
ſtroͤmenden Regenguͤſſe hinweg. 

Die Frau Kommerzienrat weinte wie ein Kind und 
erſchoͤpfte ſich in Selbſtvorwuͤrfen wegen der ungluͤck⸗ 
lichen Fruͤhlingsreiſe. Wenn ihr ſchon die vorhin aus⸗ 
geſtandene Angſt um Traute den Erholungsaufenthalt 
gruͤndlich verleidet hatte, ſo wurde ihr Wunſch, ſchleunigſt 
wieder abzureiſen, im Verlauf dieſer Schreckensnacht 
zum feſten Entſchluß. Sie ließ ſich nicht bewegen, zu Bett 
zu gehen, weil ſie ſicher war, daß ein Blitzſtrahl die Villa 
in Brand ſetzen wuͤrde. Und als man um Mitternacht zu 
all den anderen unheimlichen Geraͤuſchen auch noch das 
Gelaͤut der Reimsbacher Kirchenglocke hoͤren konnte, war 
ſie uͤberzeugt, die Fabrik, deren Gebaͤude von der Villa 
aus nicht ſichtbar waren, ſtaͤnde bereits in hellen Flam⸗ 
men. Sie ließ wieder den Pfoͤrtner kommen, um ihn zu 
fragen, was das Sturmlaͤuten zu bedeuten habe. Aber der 
Mann erklaͤrte, um Feuerlaͤrm handle ſich's dabei nicht. 


— . 


— — —— nn 


88 Das hoͤchſte Ziel 


„Es wird Hochwaſſergefahr im Anzuge ſein,“ meinte 
er, „was bei ſolchem Wolkenbruch jetzt, wo die Gebirgs⸗ 
baͤche ohnehin ſtark angeſchwollen ſind, wahrlich kein 
Wunder waͤre. Aber fuͤr die Fabrik und auch fuͤr die 
Kolonie iſt dabei nichts zu fuͤrchten. Die liegen zu hoch. 
Nur im unteren Teil des Reimsbacher Tals koͤnnte es 
moͤglicherweiſe ſchlimm ausſehen. Die Gemeinde hat 
die Bachverbauung wegen der Koſten von Jahr zu Jahr 
hinausgeſchoben, weil da unten nur ein paar armſelige 
Haͤuschen ſtehen. Und es iſt ja auch bis jetzt immer 
gnaͤdig abgegangen. Aber daß fruͤher oder ſpaͤter ein 
Ungluͤck geſchehen würde, haben. die Sachverſtaͤndigen, 
die vor zwei Jahren da waren, mit aller Beſtimmtheit 
vorausgeſagt.“ 

Frau Hedwig war nur halb beruhigt. Um das 
Schickſal der armſeligen Haͤuschen und ihrer Bewohner 
zwar machte fie ſich keine uͤbergroße Sorge; aber fie hatte 
von einer Hochwaſſerkataſtrophe die fuͤrchterlichſten Vor⸗ 
ſtellungen und ſah ſich trotz der vollkommen geſicherten 
Hoͤhenlage der Villa im Geiſte bereits als eine rettungs⸗ 
los verlorene Schiffbruͤchige auf den wilden Fluten 
treiben. 

Unter ſolchen Umſtaͤnden waͤre Traute wohl auch 
dann nicht dazu gekommen, ihr von dem Ritterdienſt 
des Doktor Volcker zu ſprechen, wenn ſie ein Verlangen 
danach getragen haͤtte. Aber ſie behielt das kleine Er⸗ 
lebnis lieber fuͤr ſich, obwohl oder vielleicht gerade weil 
es ihre Gedanken unausgeſetzt beſchaͤftigte. Nach den 
Erfahrungen, die ſie waͤhrend der beiden letzten Jahre 
mit den raſch voruͤbergehenden Erregungszuſtaͤnden 
ihrer Mutter gemacht hatte, nahm ſie deren Angſte und 
Wehklagen nicht allzu tragiſch. Und ſie ſelber war jetzt 
ganz ohne Furcht. All das ungeſtuͤme Toſen und Toben 


Roman von Reinhold Ortmann 89 


da 122 konnte die ſeltſame Froͤhlichkeit 1105 ver⸗ 
ſcheuchen, die von jenem gemeinſamen Abſtieg durch den 
blitzumzuckten Wald in ihrer Seele zuruͤckgeblieben war. 
Es wandelte ſie vielmehr ein tolles Verlangen an, das 
Fenſter aufzureißen und in lautem Jubelgeſang ihre 
Stimme mit dem Konzert der ſchauerlich herrlichen 
Sturmnacht zu vereinen. 

Gegen Morgen verzog ſich das Gewitter; nur der 
Regen ſtroͤmte mit kaum verminderter Heftigkeit weiter. 
Nun erſt ließ ſich die Frau Kommerzienrat von ihrer 
Zofe entkleiden, und auch die ermuͤdete Traute lag 
bald in feſtem, ruhigem Schlummer. Es war zehn 
Uhr vormittags, als ſie durch einen klagenden Zuruf ihrer 
Mutter geweckt wurde. Frau Hedwig ſtellte die wenig 
glaubhafte Behauptung auf, daß ſie keine Minute ge⸗ 
ſchlafen habe, daß ſie von den fuͤrchterlichſten Kopf⸗ 
ſchmerzen gepeinigt ſei und daß ſie unter allen Um⸗ 
ſtaͤnden noch heute abreiſen muͤſſe. 

„Aber das Wetter wird ſich ja wieder beſſern, Mama,“ 
ſagte Traute. „Wegen eines Gewitters ergreift man 
doch nicht die Flucht, zumal, nachdem es gluͤcklich vor⸗ 
uͤber iſt. Der Papa wuͤrde uns ſchoͤn auslachen, wenn 
wir ihm das als Grund unſerer vorzeitigen Heimkehr 
eingeſtehen müßten.” 

„Dein Vater hat nicht die Gewohnheit, mich auszu⸗ 
lachen,“ verwies ihr Frau Hedwig gekraͤnkt die reſpekt⸗ 
loſe Rede. „Und ich bleibe auf keinen Fall. Rudolf 
ſoll gleich ins Dorf hinunter, um den Doktor Volcker 
von meinem Entſchluß zu benachrichtigen. Da er nun 
einmal als unſer ſogenannter Beſchuͤtzer mitgekommen 
iſt, kann er ſich wenigſtens jetzt nuͤtzlich machen, indem 
er das fuͤr unſere Abreiſe Notwendige erledigt.“ 

„Wie du willſt, Mama. Ich werde mich ſogleich 


90 Das hoͤchſte Ziel 


en und werde dann den Herrn 2 Doktor ae 
bitten laſſen.“ 

Viel Schneller als fonft war fie heute fertig, und dann 
ftand fie lange in ungeduldiger Erwartung unten im 
Gartenzimmer am Fenſter, weil es ihr ſchien, als ob ſich 
die Ruͤckkehr des nach Reimsbach geſchickten Dieners 
ganz ungebuͤhrlich verzoͤgere. Endlich tauchte ſeine 
unter dem Regenſchirm gemaͤchlich dahinſchreitende 
Geſtalt in der Ferne auf. Aber ſein Erſcheinen bedeutete 
eine große Enttaͤuſchung fuͤr die Harrende; denn er 
kam allein. Daß Volcker dem an ihn ergangenen Rufe 
nicht ſogleich Folge leiſtete, erſchien ihr als eine Unhoͤf⸗ 
lichkeit, wegen deren ſie ihm zuͤrnte. Daß ſie ſich darauf 
gefreut hatte, ihn wiederzuſehen und ihn in Abweſenheit 
ihrer Mutter empfangen zu duͤrfen, geſtand ſie ſich 
natuͤrlich nicht ein. Unmutig wandte ſie ſich dem ein⸗ 
tretenden Diener zu. 

„Nun? Haben Sie Herrn Doktor Volcker ange⸗ 
troffen? Und was hat er Ihnen geſagt?“ 

„Gnaͤdiges Fraͤulein, der Herr Doktor laͤßt ſich ent⸗ 
ſchuldigen. Er kann zu ſeinem großen Bedauern heute 


nicht ausgehen.” 
(Jortſetzung folgt.) 


2 
* 


Was 


ſoll aus unſeren Töchtern werden? 
| Bon ©. Amiris 


och ſtehen uns all jene umwaͤlzenden Geſchehniſſe feit 
a Kriegsbeginn zu nahe, als daß ſich in allen Faͤllen ihre 

Wirkſamkeit klar in allen Folgen uͤberſehen oder ſicher 
vorausbeſtimmen ließe. In den erſten Monaten war man zu 
glauben geneigt, die Zeit vor und nach dem Kriege in ein ſtreng⸗ 
geſchiedenes Geſtern und Morgen ſcheiden zu koͤnnen. Alles 
nach ihr Kommende ſah man in übertriebener Hoffnungsſtim⸗ 
mung. Die harten Tatſachen haben bald alle bloße Glaͤubigkeit 
und Schwaͤrmerei zurechtgewieſen. Die Notwendigkeit, beſonnen 
umzulernen, Vergangenes ſcharf zu prüfen, auf Wert: und Uns 
wert ſtreng zu unterfuchen, ſteht auf unzähligen Gebieten als 
ernfte Forderung vor uns. Die augenblickliche Zwangslage hat 
Unerwartetes gezeitigt; aber nicht alles wird ſich als dauern⸗ 
der Zuſtand erweiſen, was durch die Not der Stunde zu einer 
Ausnahmeſtellung gelangen konnte. Spaͤter wird ſich nicht 
weniges davon im ſozialen Ringen wieder zuruͤckbilden, wenn 
tuͤchtige, vorher erprobte Kraͤfte wieder frei ſein werden. 

Seit dem Kriege zeigt auch das, was wir Frauenbewegung 
nennen, ein veraͤndertes, neues Geſicht. Die Schwierigkeiten 
der Berufswahl der Frauen ſind nur ſcheinbar leichter geworden, 
vor allem aber haben ſich die Ausſichten, im Kreiſe der Familie 
wirken zu duͤrfen, innerhalb der natuͤrlichſten Grenzen des 
Frauenlebens ſozial geborgen zu ſein, bedeutend verringert. 
Damit iſt die große Frage der Frauenverſorgung aus eigener 
Kraft, auf lange Zeiten hinaus, noch bedenklicher geworden als 
vor dem Jahre 1914. Bei wachſendem Angebot wird die Ausleſe 
alles ſchlecht Vorbereiteten und wirklich Untuͤchtigen natur⸗ 
notwendig noch haͤrter werden als in allen Jahren vorher. Nichts 
iſt verderblicher und fuͤr den einzelnen wie die Gemeinſchaft 
folgenſchwerer an Enttaͤuſchungen als Schoͤnfaͤrberei. Was 
Voͤlkern daraus fuͤr Unheil erwachſen muß, erleben wir an unſeren 
Gegnern. a 
Mangelnde Ausbildung muß ſich im Leben zu irgendeiner 


» 


Stunde der Prüfung rächen. Es iſt ein tiefes Wort, das beſagt: 
„jede uͤberſprungene Bildungsſtufe iſt unverzeihlich“. Der Zufall 
und alles Halbe muß fuͤr die Zukunft in der Frauenbildung von 
Grund aus zu uͤberwinden geſucht werden, denn nur dem 
Tuͤchtigen bleibt die Welt nicht ſtumm. Im Dezember ſchrieb 
Helene Lange in der „Frankfurter Zeitung“ hoͤchſt Beachtens⸗ 
wertes. Sie ſagt: „Der Krieg rief die Frauentuͤchtigkeit in zwei 
Formen auf: in der beruflichen Kriegsvertretung des Mannes 
und auf dem geweiteten Feld eigenſter Frauenarbeit. Er zeigte 
klipp und klar: die Frauen des halben Koͤnnens ſind in dieſer 
Zeit eine ſchwere wirtſchaftliche Laſt. Auch von der Frau wurde 
auf eigenſten Gebieten Hoͤheres verlangt als ſonſt, auch ihr Wirken 
wurde nach Wert und Unwert in ſchaͤrfere, ruͤckſichtsloſere Be⸗ 
leuchtung geruͤckt ... Das große Kriegsurteil uͤber die Frauen: 
bildung iſt ein Verdammungsurteil über alle Halbheiten.“ 

Wohlverſtanden, iſt dies nicht als Verurteilung deſſen, was 
die Frau als ſolche angeht, gemeint; nur die Art und Weiſe der 
bisherigen Frauenausbildung iſt darunter zu verſtehen. Von 
der Unzulaͤnglichkeit der Bildungsmoͤglichkeiten iſt die Rede, 
nicht davon, was die Frau bei angemeſſener Erziehung, inner⸗ 
halb der Grenzen ihrer naturbedingten Anlagen, imſtande ſein 
wuͤrde zu leiſten. „Halbheit,“ ſagt Helene Lange, „iſt immer noch 
das Kennzeichen der Frauenbildung. Der Ausweg aus der 
vielbeſprochenen Schwierigkeit des doppelten Lebensziels: 
Beruf oder Haͤuslichkeit iſt bisher fuͤr die Maͤdchen des Volkes 
wie für jene der höheren Bildungsſtufen ein ‚Sowohl⸗als⸗ 
auch‘ von ſehr zweifelhaften Erfolgen geweſen.“ Hier kommt 
das ſchlichte Wort zu ſeinem Recht: „Niemand vermag zwei 
Herren zu dienen“. Ernſtliche Ausbildung fuͤr alle moͤglichen 
Fälle iſt ein Gebot der Notwendigkeit. 

Die Heranziehung weiblicher Arbeitskraͤfte, unter dem Druck 
der augenblicklichen Verhaͤltniſſe erfolgt, wird nach dem Ende 
des Krieges nicht mehr im vollen Umfang beſtehen. Im ſozialen 
Ausgleich der Kraͤfte werden Tauſende von Moͤglichkeiten ſich 
fuͤr die Frau wieder verlieren, vor allem aber in jenen Berufs⸗ 
zweigen, wo ihre Verwendung doch nur nach dem Gebot der 


Von S. Amiris 93 


Not erfolgt war. So erhebt ſich abermals die zielbewußte 
Vernunft und fordert, fuͤr alle moͤglichen Faͤlle jetzt ſchon die 
zureichendſten Formen der Ausbildung anzuſtreben. Von 
bleibender Dauer werden ſich fuͤr die Beſtrebungen der Frauen⸗ 
bewegung einzelne Beſchluͤſſe und Verfuͤgungen erweiſen, die 
unmittelbar durch die Kriegslage verurſacht wurden. So hofft 
man auf Umgeſtaltungen der Frauenſchule, ja man ſpricht ent⸗ 
ſchiedener als vor 1914 uͤber ein „ſtaatsbuͤrgerliches Dienſtjahr 
der Frau“, das die „ſtaatsbuͤrgerliche Tuͤchtigkeit aus der eigenſten 
Frauenaufgabe in Haus und Familie heraus entwickelt und zu 
den ſozialen Aufgaben hinfuͤhrt, die im neuen Deutſchland von 
den Frauen im ſtaͤrkſten Maße uͤbernommen werden muͤſſen“. 
Doch davon iſt vieles, wenn nicht alles bisher Geforderte, noch 
weit von jeder Verwirklichung. 

Am 20. Oktober 1915 erſchien in Berlin ein Erlaß des Mini⸗ 
ſteriums fuͤr Handel und Gewerbe, der die Wege der Ausbildung 
der Handelslehrerin nebſt einer Prüfungsordnung bekanntgab. 
Er beweiſt: „daß man fuͤr kaufmaͤnniſche Fortbildungs⸗ und 
Handelsſchulen keine Lehrkraͤfte wuͤnſcht, die auch Unterricht 
in Handels faͤchern erteilen, ſondern daß der Beruf der Handels⸗ 
lehrerin wie der des Handelslehrers einfelbftändiger und wichtiger 
iſt“. Der Erlaß erkennt neben den ſechs bis jetzt in Berlin, 
Frankfurt a. M., Koͤln, Leipzig, Mannheim und Muͤnchen be⸗ 
ſtehenden Handelshochſchulen auch das Seminar der Viktoria⸗ 
Fortbildungs⸗ und Fachſchule und das der Frau Eliſe Brewitz in 
Berlin als Ausbildungsſtaͤtten an, mit dem Recht einer ſtaat⸗ 
lichen Abſchlußpruͤfung. Die Prüfung erfolgt nur nach ord⸗ 
nungsgemaͤßem Beſuch, aber die Lehrbefaͤhigung iſt durch die 
Pruͤfung noch nicht erlangt. Gefordert wird noch die Aus⸗ 
uͤbung einer praktiſchen Taͤtigkeit und die Leiſtung eines Probe⸗ 
jahres in einer vom Miniſter als geeignet bezeichneten Anſtalt. 
Der Seminarbeſuch waͤhrt drei Halbjahre; nach dem zweiten 
Semeſter hat die Schuͤlerin ſich zu entſchließen, ob ſie den Reſt 
ihrer Ausbildung in den Klaſſen fuͤr Lehrerinnen an Konto⸗ 
riſtinnenſchulen oder in denjenigen fuͤr Lehrerinnen an Ver⸗ 
kaͤuferinnenſchulen erhalten will. Klaſſen der erſten Art be⸗ 


94 Was ſoll aus unferen Töchtern werden? 


ſtehen an beiden Seminaren, waͤhrend Lehrerinnen fuͤr Ver⸗ 
kaͤuferinnenſchulen nur in der Viktoria⸗Fortbildungsſchule aus⸗ 
gebildet werden koͤnnen. Nach dem miniſteriellen Erlaß ſind fuͤnf 
Gruppen zum Eintritt in das Seminar berechtigt: die Lyzeal⸗ 
abſolventin, die Sprachlehrerin, die Abſolventinnen eines Gym⸗ 
naſiums, Realgymnaſiums, Oberlyzeums, einer Oberrealſchule, 
die Volksſchullehrerin und die hoͤhere Lehrerin. Die ver⸗ 
ſchiedenen Eintrittsbedingungen ſind genau feſtgeſetzt. „Sowohl 
bei Ablegung des für die drei erſten Gruppen unerläßlichen 
Lehrprobejahres als auch bei Abſolvierung der praktiſchen 
Tätigkeit, die für alle fünf Gruppen vorgeſchrieben iſt, ſollte das 
Gewicht auf moͤglichſte Vielſeitigkeit gelegt werden. Es empfiehlt 
ſich, nacheinander in zwei oder mehrere Betriebe einzutreten und 
vornehmlich Verkaufs⸗, Import⸗ und Exporthaͤuſer, Speditions⸗ 
und Bankfirmen in Betracht zu ziehen. Die ſo geſammelten 
mannigfachen Erfahrungen ſind fuͤr die ſpaͤtere Lehrtaͤtigkeit 
außerordentlich erſprießlich,“ ſagt Kaͤthe Behrend. Sie deutet 
auf das Verhältnis der im Handel tätigen Angeſtellten, das fich 
nach dem Geſchlecht — laut Volkszaͤhlung von 1907 — ſchon 
wie eins zu drei erweiſt. Bis zum 1. Mai 1915 gab es 573 kauf⸗ 
maͤnniſche Knabenfortbildungsſchulen mit unmittelbarem Zwang, 
fuͤr Maͤdchen dagegen nur 135 derartige Anſtalten. „Den neuen 
Vorſchriften fuͤr Ausbildung und Pruͤfung der Handelslehre⸗ 
rinnen kann mit Sicherheit entnommen werden, daß man dieſem 
Mangel auf geeignete Weiſe abzuhelfen gedenkt und daß ſich 
auch ſo ein Weg eroͤffnet, den die arbeitende Frau nach dem Kriege 
mit Ausſicht auf Erfolg einſchlagen kann.“ Beſonders nach Ein⸗ 
fuͤhrung der Pflichtfortbildungsſchulen wird die gepruͤfte 
Lehrerin geſucht werden. Nach einem Bericht von Doktor 
Lilly Hauff verlangt die Geſamtausbildung der Handelsſchul⸗ 
lehrerin 2 / Jahre für die wiſſenſchaftliche und 5 Jahre fuͤr 
die Sprachlehrerin. Die Oberlyzealabſolventin muß 3¼ Jahre, 
die Lyzealabſolventin 6 Jahre auf dieſe Ausbildung ver: 
wenden. Das Mindeſtalter beim Beginn der Ausbildung iſt 
auf 16 Jahre feſtgeſetzt, ſo daß die Vollendung der Ausbildung 

durchſchnittlich im Alter von etwa 23 Jahren zu erreichen iſt, 


Von S. Amiris 95 


wobei zu beruͤckſichtigen iſt, daß die angehende Handelsſchul⸗ 
lehrerin mit der laͤngſten Vorbereitungsdauer von 61/, Jahren 
innerhalb dieſer Zeit ſchon als bezahlte Arbeitskraft imſtande 
war, einen Teil ihres Unterhalts ſelbſt aufzubringen. Sehr 
junge Bewerberinnen ſind beſonders darauf hinzuweiſen, nicht 
zu fruͤh in das Seminar einzutreten, ſondern erſt in einer laͤngeren 
kaufmaͤnniſchen Stellung die noͤtige praktiſche Erfahrung und 
Sicherheit in der Behandlung der kaufmaͤnniſchen Arbeit zu 
erwerben. 

Die Jahreszunahme ſtudierender Frauen betrug im Sommer 
1915 auf den 22 Univerſitaͤten des Reiches 445; es wurden im 
Sommer 1915 4575 eingeſchrieben, gegen 4130 im Vorjahre 
und 2500 vor fuͤnf Jahren. Die Jahreszunahme bewegt ſich 
noch immer in aufſteigender Linie, da die Abiturientinnen der 
preußiſchen Oberlyzeen jetzt auch ohne vorherige praktiſche Lehr⸗ 
taͤtigkeit das Studium des hoͤheren Lehramts beginnen koͤnnen, 
feit ſich das Kultusminiſterium Ende 1915 dafuͤr erklaͤrte. Ein 
entſprechendes Zeugnis erteilt den Schülerinnen der Seminar: 
klaſſen der Oberlyzeen, die ſich ausreichende Fertigkeit im Unter⸗ 
richten angeeignet haben, die Lehrbefaͤhigung fuͤr Lyzeen, 
Maͤdchenſchulen und Mittelſchulen einſchließlich derjenigen fuͤr 
Volksſchulen, jedoch mit der Beſtimmung, daß die Inhaberin 
ſich bis nach Beendigung des Krieges der Volks ſchule zur Ver: 
fuͤgung ſtellen muß und erſt nach Erfuͤllung dieſer Pflicht auch 
zur Beſchaͤftigung an Lyzeen und hoͤheren Maͤdchenſchulen zu⸗ 
gelaſſen werden kann. 

Andere miniſterielle Erlaſſe, wie fuͤr Sachſen, wieſen die 
Gewerbeinſpektoren an, die Vorſchriften, welche in Friedens⸗ 
zeiten fuͤr die Einſtellung weiblicher Arbeitskraͤfte zu gewiſſen 
Beſchaͤftigungen und fuͤr beſtimmte Betriebe beſtanden, zu 
„mildern“. Man hofft dort behoͤrdlicherſeits, daß der Ausgleich 
zwiſchen Maͤnner⸗ und Frauenarbeit ſich nach dem Kriege e 
Haͤrten“ vollziehen wird. 

So hat auch das Kuratorium des Internationalen Inſtituts 
für das Hotelbildungsweſen in Duͤſſeldorf beſtimmt, daß Frauen 
zu denſelben Bedingungen zum Studium und Abſchlußexamen 


96 | Was ſoll aus unſeren Töchtern werben? 


zugelaſſen werden, wie fie für die Männer beſtanden. Verlangt 
wird, falls kein Schulreifezeugnis — Maturitaͤt — nachgewieſen 
werden kann, der Nachweis des erreichten 18. Lebensjahres und 
das Reifezeugnis eines Lyzeums nebſt zweijaͤhriger Lehrzeit 
im Hotelgewerbe. An Stelle des einen Jahres der Lehrzeit kann 
bei Frauen der einjaͤhrige Beſuch einer oͤffentlichen Handels⸗ oder 
Haushaltungsſchule treten. Die Frau wird ſich als Buͤroleiterin, 
zur Leitung des Empfanges, als Kaſſiererin, Buchhalterin und 
Korreſpondentin eignen. Ein weites Feld findet ſie als Leiterin 
von Sanatorien, Kurhaͤuſern, Familienpenſionen, Feriengaſt⸗ 
haͤuſern, alſo in Stellungen, die vorzuͤgliche wirtſchaftliche und 
techniſche Vorbildung vorausſetzen. Auch hier eroͤffnen ſich durch 
den Beſchluß der Hotelakademie neue und vielfache Moͤglich⸗ 
keiten des Frauenerwerbs. 

Vor dem Krieg war die freiwillige Hilfstaͤtigkeit der Frau 
gegenuͤber der im Dienſtverhaͤltnis bezahlten Arbeitsleiſtung 
weitaus uͤberwiegend; es liegt in der Natur der Dinge, daß ſich 
dieſe Lage ſeit Auguſt 1914 nicht weſentlich verſchoben hat. Doch 
haben ſich auch fuͤr die bezahlte Berufstaͤtigkeit der Frau im 
Gemeindedienſt einſchneidende, wenn auch nicht dauernde Ande⸗ 
rungen herausgebildet. Daruͤber berichtete zu Anfang des Jahres 
Jenny Apolant auf Grund einer Umfrage, die an 45 Groß⸗ 
ſtaͤdte und 579 Verwaltungen von Stadt⸗ und Landgemeinden 
erging. Durch Vergleichung aͤhnlicher Erhebungen aus den Jah⸗ 
ren 1910 und 1913 ergab ſich ein „uͤberraſchend ſchnelles An⸗ 
wachſen der weiblichen Hilfskraͤfte, die Eroͤffnung neuer Arbeits⸗ 
gebiete und eine Vertiefung des Arbeitsinhaltes durch ſtarke 
Zunahme der mit organiſatoriſchen W verbundenen 
Amter“. 

In der Waiſenpflege ergibt ſich fuͤr ehrenamtliche Pflege 
die hohe Zahl von 7224 Stellen, bei 2623 Pflegerinnen fuͤr 
freiwillige Armenpflege, eine Zunahme von 56 Prozent waͤhrend 
der letzten fuͤnf Jahre. Im gleichen Zeitraum ſtieg die Zahl 
beſoldeter Frauen in der Armen⸗, Waiſen⸗, Saͤuglings⸗ und 
Jugendpflege von 325 auf 609, alſo um 87 Prozent. Geradezu 
unentbehrlich erſcheint gruͤndlichſte Schulung auf drei den Frauen 


Von S. Amiris 97 


erſt ſeit einigen Jahren erſchloſſenen Arbeitsgebieten: der Schulz, 
Polizei⸗ und Wohnungspflege. Die Zahl bezahlter Schul⸗ 
ſchweſtern und Pflegerinnen der deutſchen Großſtaͤdte iſt ſeit 1910 
von 4 auf 65 geſtiegen. Auch hier wird nach dem Kriege zufalls⸗ 
maͤßige Arbeit gegen beſoldete in hoͤherem Maße zu erwarten 
ſein; gleichfalls fuͤr die Taͤtigkeit der Polizeiaſſiſtentinnen, 
deren Geſamtzahl zurzeit noch gering iſt, die ſich aber trotzdem 
in 36 Großſtaͤdten ſeit fuͤnf Jahren um 140 Prozent erhoͤhte. 
Noch im Jahre 1910 gab es in keiner deutſchen Großſtadt Woh⸗ 
nungspflegerinnen; fuͤr 1913 waren es 7, und ſeit 1915 ſind 64 
beſoldete Pflegerinnen in theoretiſcher und organiſatoriſcher 
Weiſe taͤtig. Auch bei anderen ſtaͤdtiſchen Verwaltungskoͤrper⸗ 
ſchaften erfolgte eine Zunahme beſoldeter Arbeitskraͤfte; ſo iſt 
fuͤr die verſchiedenen Abteilungen der Schulverwaltungen ein 
Aufſtieg von 104 auf 334 — alſo um 221 Prozent — zu verzeich⸗ 
nen, in der Armen⸗, Waiſen und Geſundheitspflege wuchſen die 
Zahlen von 58 auf 253 gleich 336 Prozent. 

Die Hausfrauen hat der Krieg plotzlich vor neue 
ſchwierige Aufgaben geſtellt, und hier hat ſich deutlich die Unzu⸗ 
laͤnglichkeit der Ausbildung erwieſen, die das junge Mädchen 
auf dieſem Gebiete bisher zumeiſt in wenigen Wochen oder Mo⸗ 
naten ſich in einer Koch⸗ oder Haushaltungsſchule oder zu Hauſe 
unter Anleitung der Mutter erwarb; ſie beſtand im allgemeinen 
nur im Erlernen der Handgriffe und notwendigen Verrichtungen. 
Allmaͤhlich mochten dieſe Frauen fruͤher ſich zurechtfinden. Nun 
aber kamen die reichsgeſetzlichen Beſtimmungen und die For⸗ 
derung, bei Einſchraͤnkung der Auswahl und geſteigerten Preiſen 
fuͤr eine zweckentſprechende Ernaͤhrung der Familie zu ſorgen. 
Da verſagten viele von den nach bisherigen Begriffen „guten“ 
Hausfrauen. Es fehlte ihnen an Kenntniſſen, an der Faͤhigkeit, 
das unbedingt Notwendige und das Nuͤtzliche von dem daruͤber 
hinausreichenden Angenehmen klar zu unterſcheiden, an einem 
uͤberſchauenden Erkennen alſo ihres ureigenſten Arbeitsgebietes. 
Aber ſchon vor dem Kriege gab es da und dort Schulen, die eine 
vertieftere Ausbildung in der Hauswirtſchaft vermittelten, ſo 
zum Beiſpiel die Anſtalten des Vereins fuͤr wirtſchaftliche 

1916. X. 7 


98 Was ſoll aus unferen Töchtern werden? 
Frauenſchulen auf dem Lande. Und auch der Ausbildung 
tuͤchtiger Hauswirtſchaftslehrerinnen in entſprechenden Semi⸗ 
naren mit abſchließender Pruͤfung hatte ſich erhoͤhte Aufmerk⸗ 
ſamkeit zugewendet. 

Die Zukunft wird mehr Maͤdchen als bisher vor die Not⸗ 
wendigkeit eigenen Lebenserwerbs ſtellen, aber auch mehr vor 
die Notwendigkeit, durch einen Beruf ihrem Leben Inhalt und 
Befriedigung zu ſchaffen. Der Frau muß der Beruf vielfach 
Erſatz bieten für das, was der Mann neben der Berufstätigkeit 
beſitzen kann, das Gluͤck der eigenen Familie. „Das Suchen 
nach einer Arbeit, die die Maͤdchen zur Erfuͤllung aller in ihnen 
ruhenden Moͤglichkeiten fuͤhrt, iſt,“ wie Alice Salomon im 
Dezember 1915 im „Tag“ ausfuͤhrte, „in dieſer Zeit nicht nur 
ein Recht, ſondern eine Pflicht der Jugend, und zwar keineswegs 
nur unter individuellen, ſondern unter ſozialen und volkswirt⸗ 
ſchaftlichen Geſichtspunkten. Denn wenn die Volks wirtſchaft 
nicht durch die ungeheuren Luͤcken, die der Krieg geſchlagen hat, 
in ihrer Entwicklung gehemmt werden, wenn die Leiſtungs⸗ 
faͤhigkeit des deutſchen Volkes in wirtſchaftlicher und geiſtiger 
Beziehung auf ihrer bisherigen Hoͤhe erhalten bleiben ſoll, dann 
muͤſſen auch die Frauen weit mehr als bisher Qualitaͤtsarbeit 
leiſten.“ 


Aus der Glowakei 
Von Erich Sieghardt 


Mit 12 Bildern 


as iſt die Heimat jener kunterbunt gekleideten 
D bears, die wir in Wien an ſchoͤnen 

Tagen in oͤffentlichen Gaͤrten langſam ihre 
Rollwaͤgelchen vor ſich herſchieben ſehen. Das auf— 
fallendſte an ihnen ſind die zahlloſen, weiten, kurzen 
Roͤcke, die ſich beim Gehen in maleriſchen Wellen um 
die in hohen Roͤhrenſtiefeln ſteckenden Beine bewegen. 
Alle Regenbogenfarben findet man an der Tracht dieſer 
Slowakinnen vereinigt; je bunter, deſto beſſer. 

Und doch wird von dieſer ſeltſamen Kleidung, die 
wir mit laͤchelnder Bewunderung betrachten, ganz falſch 
geſchloſſen auf die Heimat jener Jungfrauen, die 
Slowakei, die durchaus nicht nur ſo ſonderbar bunt iſt, 
wie ſie nach der Tracht ihrer Toͤchter und der Meinung 
Ununterrichteter eigentlich ſein muͤßte. 

Die Slowakei iſt ein ſagenhaftes Land. Die wenigſten 
wiſſen uͤberhaupt, wo ſie es zu ſuchen haben. „Dort 
hinten irgendwo,“ ſagen ſie mit einer unbeſtimmten 
Handbewegung nach dem fernen Oſten. Die Slowakei 
iſt aber ein ganz beſtimmter, ſehr ſchoͤner, gebirgiger 
Landſtrich; naͤmlich Oberungarn. Sie dehnt ſich vom 
Zipſer Komitat öftlich bis etwa zum Latorczatal, nörd: 
lich begrenzt von Galizien, ſuͤdlich vom flachen Inner: 
ungarn. Als das Zentrum der Slowakei kann das 
Komitat Saros gelten. 

Da ziehen ſanfte Huͤgelketten, die ſich gegen Norden 
zu immer ſtattlicheren Bergen erhoͤhen, weite Felder 
wechſeln mit dichten, uralten Hochwaͤldern; da fehlt 
es nicht an engen Taͤlern, durch die ſich ſchaͤumende 
Baͤche den Weg bahnen. In den Luͤften kreiſen Falken 
und Geier, und wer Gluͤck hat, bekommt auch einmal 


Aus der Slowakei 


Adler zu ſehen. In den Waͤldern jagt man das 


Wildſchwein und ſtattliches Rotwild. Im Winter be⸗ 


einen 


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Jahre alte Kirche in Eperjes. 


Die ſechshundert 


1. 


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Abb 
gegnet man noch zahlreichen Fuͤchſen, die oft dreiſt und 


furchtlos am Wege ſitzen. 


ier kein 


die h 


Ein reiches, fruchtbares Land, voller Schoͤnheit, 
Allzuvielen, 


verſchont bisher von den 


Von Erich Sieghardt 101 


Hotel, wenig Eiſenbahnen und keine markierten Wege 

faͤnden. | 
Wenn ſo von der Slowakei geredet wird, wer denkt 

dabei an die geſchichtliche Vergangenheit dieſes Landes, 


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Abb. 2. Häufer in Eperjes. Ungarische Renaiſſance. 


an wichtige und allbekannte Ereigniſſe, die ſich hier 
abſpielten. 

Jede Muſikkapelle ſpielt heute den Rakoczymarſch; 
aber daß die Rakoczys hier ihre Burgen hatten, Herren 
waren in der Slowakei, das weiß kaum jemand. Wenn 
man von Eperjes oder, wie es flowakiſch heißt, von 
Preſov, auf der Weſtſtraße nach Leutſchau, ins Tatra— 
gebiet faͤhrt, ſo ſieht man gleich auf einem ſteilen Huͤgel 


102 Aus der Slowakei 


die Reſte einer gewaltigen Burganlage; das iſt Sarosvar, 
die Rakoczyburg. Noch ſteht in Nagyſaros das Kaſtell, 
wo Rakoczy II., der große Rebell, im Jahre 1701 ge: 
fangen wurde. Und wenn man von Eperjes nach Kapi 


. — a‘ 


Abb. 3. Das altdeutfche Rathaus in Bartfeld. 


faͤhrt, ſo ragt dort zur Linken ein jaͤh aufſteigender 
Hügel empor, deſſen Gipfel ebenfalls eine Rakoczy— 
burg kroͤnt. Und bei Iboro, dem aus den Karpathen— 
kaͤmpfen jetzt ſo beruͤhmten Ort, der gegenwaͤrtig nur 
noch ein zerſchoſſener Truͤmmerhaufen iſt, ſteht oder 
ſtand ebenfalls ein Kaſtell, das Rakoczy I. gehörte. 
Außer dieſen ſind noch eine Reihe von Bauten hinter— 


| Von Erich Sieghardt 103 


blieben, die das Entzuͤcken jedes Kunſtfreundes bilden 
muͤſſen. Um ſie zu ſehen, genuͤgt es, nach Eperjes und 
Bartfeld zu gehen, wie dieſe, jetzt Baͤrtfa genannte 
Stadt urſpruͤnglich hieß. Wie die meiſten ungariſchen 


Abb. 4. Kirche aus dem 14. Jahrhundert in Bartfeld. 


Provinzſtaͤdte iſt Eperjes ein langgedehnter Straßenort; 
was es aus den Reihen anderer ſolcher Staͤdte heraus— 
hebt, iſt die große Zahl uralter Haͤuſer, die noch jetzt, 
verunſtaltet durch moderne Firmenſchilde, in der Haupt— 
ſtraße ſtehen. Die Neuzeit draͤngt ſich um ſie und 
zwiſchen ſie mit geſchmackloſen Zinsbauten; nur um 


104 Aus der Slowakei 


die ſechshundert Jahre alte Kirche ſtehen ſie noch luͤcken⸗ 
los, wie in treuer Wacht (Abb. 1). 

Da iſt das berühmte Rakoczyhaus, in dem Rakoczy !. 
1633 den Eperjeſer Frieden mit Wien ſchloß, in dem 
Rakoczy II. reſidierte, und links und rechts davon eine 
Reihe aͤhnlicher Haͤuſer, koͤſtliche Typen oberungariſcher 
Renaiſſance, altersgrau und verwittert (Abb. 2). Und 
zwiſchen ihnen, maͤchtig aufragend, die gotiſche Kirche, 
ein Überreft jener Zeit, da hier noch deutſche Kultur: 
traͤger am Werk waren. 

Vollends wehmuͤtig wird dieſe Erinnerung an ver⸗ 
gangene Zeit, wenn man Bartfeld beſucht. Die ganze 
„Stadt“ iſt heute nur noch ein nicht allzu rein liches, lang: 
weiliges Dorf. Bis man den Hauptplatz betritt. Aber 
da ſteht man gebannt und glaubt zu traͤumen. Iſt man 
in Alt⸗Nuͤrnberg? Mitten auf dem akazienumſaͤumten 
Platz ſteht ein altdeutſches Rathaus mit ſpitzem Giebel; 
am Firſt der „eiſerne Rathausmann“ (Abb. 3). Und 
uͤber dem kunſtreichen Eingang findet man die Inſchrift: 
Jacobus Hueber — 1641. Im Innern dieſes jetzt zum 
Muſeum gewandelten Rathauſes findet man die aller⸗ 
koͤſtlichſten Altertuͤmer: Werke der Kunſtſchloſſerei, alte 
Waffen und Fahnen; Werkzeuge des peinlichen Gerichts, 
wundervolle Schnitzereien, allerlei Hausrat, Meßbuͤcher, 
alte Landkarten, Bilder und Stiche, Erinnerungen an 
Bartfelds Geſchichte. Was muͤſſen doch dieſe alten 
Bartfelder Buͤrger fuͤr Prachtkerle geweſen ſein, daß 
ſie ſich in fernem, fremden Land ſolch ein ſtolzes Rat⸗ 
haus bauten, den Mittelpunkt ihrer bluͤhenden deutſchen 
Kolonie. 

Und neben dem Rathaus die Egydiuskirche aus dem 
14. Jahrhundert! (Abb. 4). Wer da einmal hinein: 
geraͤt, den bannen die Fluͤgelaltaͤre mit ihrem Schnitz⸗ 


Von Erich Sieghardt 105 


werk und ihren zahlloſen alten Bildern ſtundenlang 
feſt. Man kann ſich nicht ſattſehen an den unſchaͤtz— 
baren Denkmaͤlern deutſcher Art und Kunſt, die da im 
weltfernen Bartfeld vergeſſen ſchlummern, ſelten nur 
von verſtaͤndigen Kennern beſucht und bewundert, 
Wie habe ich zur Zeit der Ruſſenherrſchaft im Komitat 
Saros um Bartfelds Rathaus und Kirche gezittert! 
Die Eindringlinge ſind abgezogen, ohne Schaden an— 


Abb. 5. Straße in einem Dorfe der Slowakei. 


gerichtet zu haben. Es laͤßt ſich ſchon leichter ertragen, 
daß die Rakoczykirche bei Iboro zerſchoſſen wurde. 
Jetzt iſt es wieder friedlich ſtill in der Slowakei. 
Die kleinen Doͤrfer mit ihren weißen, blauen, gruͤnen 
Haͤuschen, die mich monatelang beherbergten, werden 
nun bald ihre militaͤriſchen Gaͤſte verloren haben, die 
nordwaͤrts gezogen ſind, den fliehenden Ruſſen nach. 
Wenn man von den Dorfitraßen abſieht, die bei 
Regenwetter abgrundtief ſind, ſo machen dieſe kleinen 
Doͤrfer durchwegs einen guten Eindruck (Abb. 5). Meiſt 


106__ Aus der Slowakei 


ſind die e Häufer mit Stroh gedeckt; rings um die Haus⸗ 
mauer laͤuft ein erhoͤhter Gang, damit man auch bei 
ſchlechtem Wetter vor die Tuͤr treten kann, ohne im 
Schlamm zu verſinken (Abb. 6). So uralt und verfallen 
nun auch dieſe Haͤuſer von außen meiſt ausſehen, ſo rein⸗ 


lich find. fie faſt ſtets im Innern. Durch die Haustuͤr 


I 


— 


Abb. 6. Außeres eines Hauſes in einem flowakiſchen Dorfe. 


gelangt man in die Kuͤche, deren rieſiger Herd ſehr oft 
noch nach guter alter Art den Rauch des offenen Feuers 
durch das Dach abziehen laͤßt, ſo daß man in der Kuͤche 
eigentlich in einer großen Raͤucherkammer ſteht. Von 
da kommt man in ein Zimmer, deſſen Waͤnde mit einer 
Unzahl von ſeltſam kindlichen Heiligenbildern und bunt— 
bemalten Tellern behaͤngt ſind. Oft kann man in einer 
Stube vierzig bis ſechzig ſolcher Teller zaͤhlen. Und 


— — . —— TL—Uü1⁴——ſ — —— —g— — 


Von Erich Sieghardt 107 


noch etwas entdeckt der fremde Beſucher in dieſen 
Stuben: Spinnrocken und ganz alte, einfache Hand— 
webſtuͤhle. Dieſe Spinnrocken ſind mit Zinkblech gar 
zierlich eingelegt. Und ganz wie das „Heimgarten“ in 
den Alpen, iſt's auch in der Slowakei uͤblich, daß ſich 


Abb. 7. Zimmer mit Wiege und Spinnrocken. 


die Frauen und Maͤdchen abends einmal in dem, einmal 
in jenem Haus zum Spinnen zuſammenſetzen. Es iſt 
ein Vergnuͤgen, den flinken Haͤnden zuzuſehen, wie ſie 
mit geſchickten Bewegungen den Faden drehen und auf 
der Spindel aufrollen (Abb. 7 und 7a). 

Man ſpinnt hier ſehr feinen „Bindfaden“; anders 
kann man es nicht nennen. Er wird dann ſentweder 
verkauft oder in den Webſtuhl eingeſpannt. Dieſer iſt 


108 Aus der Slowakei 


ein ſchwerfällig ges, plumpes Ding mit Pedalen und loſen 
Schiffchen, die man mit der Hand zwiſchen den Faͤden 
des Aufzuges hin und her wirft. 

Ganz grobe Hausleinwand wird auf dieſen Stuͤhlen 
gewoben. Allenthalben ſieht man fie dann bei Sonnen: 
ſchein in langen Streifen zur Bleiche am Bach liegen. 


— 


Abb. 7 a. Elomakiſche Sea ind o Mädchen beim e 


Dieſe Hausinduſtrie iſt allgemein in der Slowakei ver⸗ 


breitet. 

Nie wird man in einem Slowakendorf auch Zigeuner 
wohnen ſehen. Abſeits ſtehen ein paar winzige, voll— 
kommen zerfallene, unſagbar ſchmutzige und verwahr— 
loſte Huͤtten, von denen man uͤberhaupt nicht begreift, 
daß ſie noch ſtehen koͤnnen — das ſind die Zigeuner— 
dorfer (Abb. 8). Nackte Kinder treiben ſich davor herum, 
halbwuͤchſige Burſchen und Maͤdel, braun wie Schoko— 
lade, mit ein paar Fetzen und Lumpen „bekleidet“. 


Von Erich Sieghardt 109 


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lungern zigarettenrauchend vor der Tuͤr. Kaum zeigt 
ſich ein Fremder, ſo ſtuͤrzt ihm die ſchmutzige Horde ent— 
gegen. „Kraizar, kraizar,“ iſt das einzige verſtaͤndliche 
Wort, das man aus ihrem Geſchrei heraushoͤrt. Sie 
betteln um einen Kreuzer. Manchmal holt auch einer 


———— 


| 
| 


— enden | 


Abb. 8. Zigeunerbehauſung abſeits von Slowakendoͤr fern. 


der Burſchen die Fiedel und ſpielt dir den Rakoczymarſch 
oder einen Tſchardas. Aber da ergreift man ſchleunigſt 
die Flucht, denn dieſe grundfalſchen, kreiſchenden Toͤne 
haͤlt niemand aus. So ſeltſam es auch iſt: ſpielen koͤnnen 
alle dieſe Zigeuner nicht, auch wenn ſie ſich zu Banden 
zuſammentun. Zigeuner — die nicht geigen koͤnnen! 

Es gibt zwei Klaſſen von Zigeunern in der Slowakei: 
die einen ſpielen bloß, die anderen verſuchen es mit 
der Arbeit, freilich mit einer abſonderlichen Art von 


110 Aus der Slowakei 


. —— —— 5 


Arbeit. Finden ſie etwa ein verendetes Pferd, ſo haͤuten 
ſie es ab und verkaufen die Haut, den Kadaver — eſſen 
ſie. Und was ſolcherlei Geſchaͤfte mehr ſind. 

Man muß an einem hohen Sonn- oder Feiertag vor 
der Dorfkirche ſtehen, wenn man die ganze Kleiderpracht 
der Slowakinnen bewundern will. Ich hatte das Gluͤck, 
mich während der Oſtertage in einem großen Slowaken⸗ 
dorf aufhalten zu koͤnnen. Da kamen ſie am Oſter⸗ 
morgen zur Kirche, wie wandelnde Glocken, in weiten 
ſchweren Samtroͤcken, bordeauxrot, grün, blau, braun. 
In bunten, aͤrmelloſen Jacken, reich mit Goldfaͤden und 
farbiger Seide beſtickt, darunter das ſchneeweiße Hemd 
mit den kurzen, hochgebauſchten Armeln. Die Maͤdchen 
tragen kein Kopftuch (Abb. 9). Sie haben den duͤnnen 
Zopf mit handbreiten, buntfarbigen Bändern durch⸗ 
flochten, ſo daß der geſamte Schmuck nun faſt bis zur 
Erde reicht. Viele Maͤdchen ſind wirklich ſchoͤn zu nennen 
mit ihren klaren, regelmaͤßigen Zuͤgen. Die Maͤnner⸗ 
tracht iſt hoͤchſt einfach, Sommer und Winter faſt gleich: 
weiße Jacken, weiße enge ungariſche Hoſen. Im Winter 
kommt dazu noch ein weiter weißer Mantel, der ſtets 
nur umgehaͤngt getragen wird, oder ein langhaariger 
Zottelpelz (Abb. 10). So kommen fie in kleinen Gruppen 
zur Kirche gewandelt, vor der ſich ein praͤchtiges, farben: 
leuchtendes Treiben entwickelt, trotz aller Buntheit 
doch wunderbar in ſich abgetoͤnt. 

An den Abend des Oſterſonntags, wo ich nach der 
Auferſtehungsfeier vor der griechiſch-katholiſchen Kirche 
ein beſonders huͤbſches Bild ſah, denke ich immer mit 
Freude: die Maͤdchen verließen die Kirche, faßten ſich 
bei den Haͤnden und bildeten ſo lange Reihen uͤber die 
ganze Straßenbreite. Und während fie, ein eigentuͤm— 
liches Lied ſingend, deſſen lebhafter Takt auf einen 


Von Erich Sieghardt _111 


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70800 Inhalt ſchließen ließ, die Derfſtraße hin⸗ 
abzogen, alle in ihren buntfarbigen Kleidern, ſchluͤpf— 
ten andere Reihen, die ihnen entgegen oder nach- 
gelaufen kamen, zwiſchen den Reihen der Maͤdchen 


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Abb. 9. Slowakiſche Dorfjugend auf dem Heimweg 
vom Kirchgang. 


unter den hochgehaltenen Haͤnden durch in mannig— 
faltiger Verſchlingung, ſo daß ein hoͤchſt anmutiger 
Reigentanz entſtand, der ſich allmaͤhlich in der Ferne 
verlor. 

Wenn man längere Zeit in der Slowakei wandert, 
ſo fallen bald in vielen Doͤrfern zahlreiche Ruinen 
von Bauernhaͤuſern auf. Der Dachſtuhl iſt ganz ein— 


112 Aus der Slowakei 


geſtuͤrzt, die Fenſter ſind ohne Scheiben, die Mauern 

oft geborſten. Fraͤgt man nach der Urſache des Ver⸗ 

falles, ſo erfaͤhrt man, daß das Haͤuſer von Ausge⸗ 

wanderten ſeien. Manchmal kann man in einem Dorf 

zehn und mehr ſolcher Ruinen zaͤhlen. Ihre Beſitzer 
I 5 


use 10. Die e Mäntel der ſlowakiſchen 
Ba uern. 


ſind ſeit Jahr und Tag in Amerika; das Anweſen ver— 
faͤllt. Vielleicht kommt der Bauer eines Tages als 
reicher Mann heim, vielleicht iſt er ſchon laͤngſt drüben 
verdorben und geſtorben. 

Wer dieſe Verhaͤltniſſe kennt, wird ſich nicht wundern, 
wenn er von einem aͤlteren Bauern, mit dem er ſich 
durchaus nicht verſtaͤndigen kann, plotzlich gefragt wird: 
„Do you speak english?“ Zuerſt iſt man ganz verdutzt, 
dann antwortet man engliſch, froh, mit den Leuten 


Von Erich Sieghardt 113 


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—— — —e— 


reden zu koͤnnen. Aber es iſt doch ein ganz toller Ge: 
danke, tief in der Slowakei mit den Bauern ſich — 
engliſch zu unterhalten. 

Im allgemeinen ſind die Slowaken gutmuͤtige Leute, 
wenn ſie ſich auch ſichtlich uͤber die Einquartierung 


| 


da Jahre alte Holzkirche in 0 Stil. 


unſerer Truppen wenig freuten. Ihren Vorteil wiſſen 
ſie gruͤndlich zu wahren, jeder Strohhalm, den einer 
„geſtohlen“, jeder Halm auf dem Felde, den ein vorbei⸗ 
fahrender Trainwagen geſtreift, muß mit teurem Gelde 
entſchaͤdigt werden. Nur den jungen Maͤdeln behagen 
die militaͤriſchen Gaͤſte mehr, als den Muͤttern lieb iſt. 
Nach Feierabend ſieht man ſie dann lachend und 
ſchaͤkernd nen , die barfuͤßigen 1 choͤnen 
1916. X. 


harmonika wird Tſchardas getanzt oder ein ſlowakiſcher 
Nationaltanz, bis es ganz dunkel wird und die letzten 
muſizierenden Gruppen ſich verlieren. 

Das ſind ein paar Bilder aus der Slowakei, in der 
die Ruſſen ſo lange bange Wochen hauſten, bis fie der 
große Fiſchzug unſerer Heerfuͤhrer wegfing mit einem 
einzigen vernichtenden Schlag. 


/ 
/ 


Der Tod auf der Fahrt 
| Von Th. L. Seemann 


ch freue mich wirklich recht auf unſere Reife, 

Jus mal 'was anderes. Nicht das ruheloſe Herz . 

a Jumbeßen von einem Ort zum naͤchſten; ich habe 
ein erquickliches Ausruhen ſehr noͤtig.“ 

Mein Beſucher, der Apotheker Hans Ehrhardt, der 
mir in der Abenddaͤmmerung auf dem Sofa gegenuͤber⸗ 
ſaß, reckte die flache Bruſt heraus; ſeit den fuͤnf Minuten, 
die er bei mir weilte, zuͤndete er die zweite Zigarette 
an. Huſtend ſtieß er den blauen, ſuͤßlichen Rauchſtrom 
aus. | 

„Sie ſollten nicht fo ſtark rauchen, lieber Ehrhardt,“ 
ſagte ich. „Sie ſind ſowieſo kein Rieſe.“ 

„Nein, leider nicht. Ich habe es ja neulich ſchon 
geſtreift, bis zu meinem zwanzigſten Jahr bin ich immer 
kraͤnklich geweſen, aber rauchen muß ich. Das gibt 
mir Dampf.“ Er lachte vergnuͤgt, ſah auf die Pakete, 
die neben ihm auf dem Sofa lagen, ſtreichelte liebkoſend 
eine lange Pappſchachtel und ſagte: „Genuͤgenden Vorrat 
fuͤr unſere Sommerfriſche auf oͤſterreichiſchem Boden 
habe ich ſchon eingekauft. Verſteuern muß ich ihn frei⸗ 
lich in Bregenz. Aber das tut nichts.“ 

„Haben Sie ſich bei Ihrer Braut verabſchiedet?“ 
fragte ich, ablenkend. 

„Nein, noch nicht. Ich bin auf dem Weg zu ihr. 
Da ich aber an Ihrem Haus vorbeiging, mußte ich erſt 
zu Ihnen heraufſpringen. Herta iſt von meiner Ab: 
ſicht, gruͤndlich auszuſpannen, begluͤckt. Sie iſt wirklich 
ein liebes, kluges Maͤdchen. Wenn ſie mir nicht zuredete, 
haͤtte ich mich Ihnen vielleicht gar nicht angeſchloſſen. 
Aber es iſt gut, daß Sie mich erinnern; zu ſpaͤt darf ich 
nicht kommen.“ Er ſtand auf, ſtuͤlpte den grauen 


116 Der Tod auf der Fahrt 


Filzhut auf den ſchmalen Kopf, hob feine drei Pakete auf 
und ſchob ein dickes, olivgruͤnes Buch in die Rocktaſche. 

„Reiſelektuͤre?“ fragte ich. 

„Nein, es iſt ein Werk uͤber Okkultismus: Das Reich 
des Überſinnlichen.“ 

„Ehrhardt,“ ſagte ich ärgerlich, „Sie find ein zu aber: 
glaͤubiſches Huhn. Mit Muͤhe und Not habe ich Sie 
dem ſpiritiſtiſchen Zirkel abwendig gemacht, und nun 
verſenken Sie ſich in dieſes myſtiſche Kauderwelſch. Sie 
ſind unverbeſſerlich.“ 

„Aber es iſt viel Wahres daran,“ entgegnete er ein⸗ 
dringlich. In feinen ſchwarzen Augen glomm ver: 
haltenes Feuer. „Mit dem kalten Verſtand laͤßt ſich 
nicht alles erklaͤren.“ 

„Der Aberglaube iſt des Wunders lee Kind,“ 
zitierte ich ſcherzend. 

„Ja, ja,“ wehrte er erregt ab. Haſtig brannte er 
die dritte Zigarette an. „Alſo morgen fruͤh neun Uhr 
fuͤnfundzwanzig. Hoͤchſte Eile! Meine Herta wartet. 
Servus!“ Er ſtuͤrmte zur Tuͤr. 

Egg im Bregenzer Wald hatten wir uns zur Sommer⸗ 
friſche gewaͤhlt. Außer Ehrhardt und mir nahm Bankier 
Kopf noch an der Reiſe teil. Als wir uns am anderen 
Morgen auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof trafen, 
war Ehrhardt niedergeſchlagen und zerſtreut. Das 
war nichts Neues. Seit ſeiner Verlobung ſchien er zeit⸗ 
weilig aufgeraͤumter, ſeine ſchwerbluͤtige Gemuͤtsver⸗ 
anlagung aber verdunkelte den aufflackernden Frohſinn 
ſtets von neuem. An jenem Morgen achtete ich auf ſeine 
truͤbe Verſtimmung abſichtlich nicht. Auf der Fahrt von 
Stuttgart nach Friedrichshafen ſchien er verduͤſterter als 
bei der Begruͤßung auf dem Bahnhof. Kopf ſuchte ihn 
durch einige ſeiner uͤblichen Witzeleien aus der Ver⸗ 


Von Th. L. Seemann 117 


ſunkenheit aufzuruͤtteln, aber er ſchien das Geſpoͤtt 
gar nicht zu hoͤren. Der Zug durchfuhr das liebliche 
Gelaͤnde hinter Eßlingen: bunt bluͤhende Wieſen, gruͤne 
Waldhuͤgel, rotbraune Weinberge, graue Kirchturm⸗ 
vierecke, Dorfidyllen, von buſchigen Obſtbaͤumen um⸗ 
ſaͤumt, einladende weiße Gaſtwirtſchaften, trauliche 
Arbeiterhaͤuſer, betriebfame, vielſcheibige Fabrikgebaͤude, 
manchmal ſauberen Villen aͤhnelnd, zuweilen mit feu⸗ 
rigen Geranien auf den Fenſterſimſen. 

„Stopp mit der Grillenfaͤngerei, Freund Hans. 
Dazu iſt es wirklich zu ſchoͤn draußen,“ ſagte ich. 

Ehrhardt raffte ſich auf. Die Lieblichkeit der Land⸗ 
ſchaft uͤberſonnte ſeinen Truͤbſinn. Er fing an zu plau⸗ 
dern und ſchmunzelte mitunter ſogar bei Kopfs ſpaßigen 
Bemerkungen. Das lachende Tal von Geislingen tat 
ſich auf. Laubige Bergbuckel flogen ſeitlich voruͤber; 
blaͤulich umhuͤllte Durchbruͤche oͤffneten ſich, graſige 
Baumgaͤrten, vertraͤumtes Gebuͤſch, uͤppige Wieſen⸗ 
ſprengel ſchraͤgten ſich in die Senke hinab. In ihr draͤngte 
ſich mit verwitterten, roten, ſchieferblinkenden Daͤchern 
enggaſſig die alte Hohenſtaufenſtadt. 

„Ehrhardt, wie wird es um dieſe Zeit uͤbers Jahr 
ſein?“ ſagte ich. „Da werden Sie die Hochzeitsreiſe 
mit Herta machen. Wird Ihnen bei dem Gedanken 
nicht ganz wunderbar zumute?“ 

Er reckte die Bruſt heraus. Seine ſchwarzen Augen 
gluͤhten ſeltſam in innerer Glut; ſein gelbliches Geſicht 
uͤberflutete roſiger Schimmer. „Ja,“ rief er beſtimmt, 
„hier wird unſer gemeinſamer Weg voruͤbergehen, oder 
uͤberhaupt nicht.“ 

Er wurde lebhafter. Befremdender Galgenhumor 
blitzte durch ſeine Worte. Überſtuͤrzt erzählte er von 
Zukunftsplaͤnen nach der Verheiratung, vom Ankauf 


\ 
118 Der Tod auf der Fahrt 


einer Villa, der Errichtung einer chemiſchen Fabrik und 
der Ausbeutung einer arzneilichen Erfindung, die ihm 
eine Million bringen muͤſſe. Dazwiſchen lachte er hohl; 
gewaltſam, wie mich duͤnkte. Die erzwungene Heiterkeit 
befremdete mich an ihm. 

Wir fuhren mit dem Eilzug, der auf der Strecke von 
Geislingen nach Ulm nicht anhaͤlt. Wider den Fahrplan 
kam es hinter Geislingen bei der Station Lonſee zu 
laͤngerem Aufenthalt. Pfiffe ſchrillten, dann gab es 
einen Ruck; ein Wagen war angehaͤngt worden. Bisher 
war unſerer der letzte geweſen. Wir freuten uns von 
der laͤſtigen Durchſchuͤtterung befreit zu ſein. Kurz 
nach der Weiterfahrt durchſchritt der Schaffner den 
Zug. 

„Weshalb iſt der Wagen angehaͤngt worden?“ 
fragte ihn Ehrhardt. 

„'s iſch a Leichawaga. Der nach Ulm goht.“ 

„Ein Leichenwagen?“ Ehrhardts Geſicht bedeckte ſich 
mit fahler Blaͤſſe. „Hier hinter uns liegt eine Leiche?“ 

Kopf zerſchnitt ſich einen Apfel. „Alſo der Tod auf 
der Fahrt,“ ſagte er kauend, „das iſt keine gute Vorbe⸗ 
deutung. Bei jeder Gebirgstour zu dreien muß einer 
daran glauben, ſagt man. Ich bin in der Unfallver⸗ 
ſicherung. Sie, Doktor,“ wandte er ſich an mich, „find 
als Dichter ja unſterblich. Bleiben alſo nur Sie uͤbrig, 
Ehrhardt. Oder ſollte Ihre Erfindung, von der Sie vor— 
hin ſchwaͤrmten, das Kraͤutlein ſein, das gegen den Tod 
gewachſen iſt?“ 

Ehrhardt ſah den Bankier mit flackerndem Blick an. 
Mit beklemmender Geſpanntheit befragte er den Schaff: 
ner uͤber den Toten. Es ergab ſich, daß unſer toter Fahr⸗ 
genoſſe ein Chemiker aus Ulm war, der auf einer Fahrt 
zu ſeiner Verlobten verungluͤckte. Aus irgendeinem 


Don Th. L. Seemann 119 


Grunde hatte bei einer Biegung der Straße die Steue⸗ 
rung verſagt und das Auto war den Abhang hinunter: 
geſauſt, der Fahrer konnte ſich durch einen Sprung 
noch retten, der Chemiker aber ſtuͤrzte mit dem Kraft⸗ 
wagen um. Mit eingedruͤckter Bruſt zog man ihn unter 
dem zerſchellten Gefährt hervor. 

Auch mir war die Vorſtellung unbehaglich, daß uns 
auf dieſer Erholungsreiſe ein Menſch begleitete, der 
plotzlich dem ſchaffenden Leben entriſſen war. Fluͤchtig 
beklemmte mich der Gedanke: der Tod folgt uns 
auf den Ferſen. Ich verſcheuchte die peinigende, un 
gewiſſe Vorſtellung als bedeutungsloſen Zufall raſch 
genug. | 

Anders Ehrhardt. Auf feine blaffe Stirn traten 
Schweißperlen. Er ſchlug die hageren Finger vors 
Geſicht, es ſchien, als ſtoͤhnte er: „Alſo doch!“ 

Kopf blieb unberuͤhrt. Gleichmuͤtig entkorkte er die 
halbe Flaſche Lafitte, ließ den Wein in den Zinnbecher 
gluckſen und ſagte launig: „Sehn Sie, Ehrhardt, das 
iſt das wahre Lebenselixir.“ 

Ehrhardts Stimmung heiterte ſich nicht wieder auf. 
Teilnahmlos ließ er waͤhrend der Dampferfahrt von 
Friedrichshafen nach Bregenz des gruͤnen Bodenſees Ge— 
ſtade voruͤbergleiten. Sonnenbeglaͤnzt lagen die feſttaͤg⸗ 
lich prangenden Staͤdtchen in der ſchimmernden Luft 
uͤber dem ſtahlblanken Seeſpiegel. Koͤſtliche Gaͤrten mit 
bluͤhenden Roſenbuͤſchen, leuchtenden Sonnenblumen, 
tiefblauen Paſſifloren, ſcharlachroten Gladiolen leuch⸗ 
teten in prunkendem Farbengewirr heruͤber. Hell⸗ 
gleißende Ziervillen mit japaniſchen Bootshaͤuſern gruͤß⸗ 
ten wie Zufluchtſtaͤtten gluͤckſeligen Friedens. Lichte 
Wieſenbreiten, durchſetzt von tiefſchattigen Baumwipfel⸗ 
runden, flimmerten im blitzenden Sonnenglaſt. Bre⸗ 


120 Der Tod auf der Fahrt 

genz, auf ſchmalem Flachſtrand in den See hinausge⸗ 
ſchoben, tauchte auf. Der ſchroffe Bergzug dahinter, 
das Felsgrau mit dunklem Forſt umflort, lag ſchwer 
und ernſt vor uns. Wir blieben in Bregenz, bis es 
daͤmmerte. Ehrhardt erſchien allmaͤhlich gefaßter. Dann 
fuhren wir im Tal der Ache hinauf nach Egg. Rauſchend 
zwaͤngte ſich der glasgruͤne, ſtuͤrmende Fluß durch tannen⸗ 
umhegte Steilufer, umklammerte mit rieſelnden Adern 
wirr aufgehaͤufte Bloͤcke, dehnte giſchtende Waſſer uͤber 
das verbreiterte Geroͤllbett und wuͤhlte ſich unwillig 
zwiſchen beengenden Felsquadern in die ausgeſchuͤrfte, 
uͤberſchaͤumende Flutrinne. 

Gegen neun Uhr trafen wir in Egg ein und ſuchten N 
den buͤrgerlich⸗behaͤbigen Gaſthof zur Poſt auf; nur zwei 
Zimmer waren noch frei, aber gegenuͤber, in dem dazu 
gehoͤrigen Bau, konnten wir nach Belieben waͤhlen. 
Ehrhardt entſchied ſich, dort zu wohnen. Er ſuche die 
Stille, ſagte er. Lange ſaßen wir noch nach dem Eſſen 
beiſammen, der Terlaner mundete trefflich; Ehrhardt 
trank gegen ſeine Gewohnheit raſch und viel. Er wurde 
geſpraͤchig, redete von Ahnungen und Vorzeichen und 
ſchrie, mit dem Glaſe anſtoßend, ſchließlich ſei dies alles 
nichts als leerer Wahn. Kopf ſah ihn halbſeits an, rieb 
ſich die Naſenſpitze und ſagte mit unverhohlenem Spott: 
„Ich gebe auf Ahnungen und Vorzeichen viel, ungeheuer 
viel. Darin bin ich geradezu ſtrengglaͤubig. Genuͤtzt 
haben ſie mir zwar noch nie, aber auch nicht geſchadet. 
Alles Überſinnliche erfuͤllt ſich wider Erwarten — des 
geſunden Menſchenverſtandes naͤmlich. Sie, Ehrhardt⸗ 
chen, ſind als chemiſch gereinigter Naturwiſſenſchaftler 
unglaͤubig. Sie trumpfen mit Ihrer nuͤchternen Frei⸗ 
geiſtigkeit auf, aber Sie werden ſehen, die Vergeltung 
fuͤr dieſen Frevel bleibt nicht aus. Geben Sie acht, auf 


Von Th. L. Seemann 121 
Sie ſauſt ganz ſicher noch das an dem bewußten Haar 
haͤngende Schwert des Damokles herab.“ 

Als wir uns nach elf Uhr trennten, ſchien es, als ſei 

Ehrhardt nicht mehr ganz trittfeſt. 

— . — 

Heute waren es zwei Jahre, daß wir von Stuttgart 
abfuhren. Mein Blick ſchweifte vom Schreibtiſch zum 
Abreißkalender, und das Datum rief die Erinnerung an 
die Reiſe nach Egg und ihre geheimnisvollen Ereigniſſe 
in mir wach. 

Ich holte mir aus einem Schubfach des Schreib— 
tiſches die angſtdurchzitterten Aufzeichnungen Ehrhardts 
aus jenen Reiſetagen, die ich mir als wertvolle Zeug— 
niſſe ſeeliſcher und geiſtiger Verwirrung ausgebeten 
hatte. Von neuem vertiefte ich mich in die loſen Blaͤtter. 
Die erſte Notiz ſtammte vom dreizehnten Juli, fuͤnf Tage 
nach unſerer Ankunft in Egg. Ich las: 

„Ich ertrage es nicht mehr; ich muß mich entlaſten. 
Warum mußte ich in der Nacht vor unſerer Abfahrt den 
entſetzlichen Traum haben? Von da an folgte ein be: 
aͤngſtigendes Vorzeichen dem anderen. Wird mich wirk⸗ 
lich auf dieſer Fahrt der Tod ereilen? Zu meinen Reiſe⸗ 
gefaͤhrten kann ich uͤber meine furchtbare Angſt, meine 
ununterdruͤckbaren Beklemmungen nicht ſprechen. Kopf 
witzelt oͤde. Karmann wuͤrde meine Ahnungen und 
Erlebniſſe auf ihre Hinfaͤlligkeit oder Richtigkeit hin 
zergliedern. Er faͤnde kein Ende, finge ſtets von neuem 
an; ſtatt mich zu beruhigen, wuͤhlte er mich nur tiefer 
auf. 

Ich muß mich ſchriftlich erleichtern. Oh, der Traum! 
Herta erſchien mir im weißen Brautkleid. Begluͤckt 
ſah ſie mich an, ich ſchritt beſeligt auf ſie zu, ſtreckte die 
Arme nach ihr aus, da wandelte ſich das lichte Braut: 


122 Der Tod auf der Fahrt 


kleid zu einem ſchwarzen Trauergewand. Der Boden 
wankte unter mir, ich verlor die Beſinnung und hatte 
das Gefuͤhl, daß ich in endloſe Tiefen ſtuͤrzte, unrettbar 
ſtuͤrzte in einen jaͤhen Abgrund. 

Auf der Fahrt war ich innerlich ruhiger geworden, 
da haͤngte man in Lonſee den Leichenwagen an. Jede 
Faſer in mir bebte und zitterte, als mir der Schaffner 
den Unfall ſchilderte. Entſetzlich. Ein bluͤhender Mann, 
mir im Beruf verwandt, faͤhrt frohgeſtimmt zu ſeiner 
Braut. Ein Stoß, ein Sturz, und er hat ſeinen letzten 
Atem verhaucht. Eiſiges Grauſen fiel mich an. — Ein 
zweites Vorzeichen! — Der Gedanke fraß ſich in mich 
hinein: der Tod iſt hinter dir auf der Fahrt! — Wir 
waren unterwegs, uns ſorglos in der lockenden Ferne 
zu vergnuͤgen, und hinter uns lag bleich und tot das 
Opfer eines grauſamen, ſo unfaßbaren als unerbittlichen 
Verhaͤngniſſes. Deutlich ſah ich mit offenen eigenen 
Augen das fahle Geſicht, die ſtarr ausgeſtreckte Geſtalt 
vor mir. Wie Stöhnen klang das ſtoßweiſe Achzen 
und ratternde Raſſeln des Leichenwagens in meinen 
Ohren. Ich verſtand es. Er jagte mir nach — der Tod. 

Ob mich die verhaltene Seelenqual abſtumpfte? Ich 
kann es nicht ſagen; aber in Egg loͤſte ſich der Druck. Ich 
betaͤubte den Reſt meiner Angſt in Wein; ich ſpoͤttelte 
uͤber den Glauben an Vorzeichen, Ahnungen und Traͤume, 
faſt ſchien es, als ſei ich frei von aller Furcht und be⸗ 
klemmenden Gefuͤhlen. Ich muß zu viel getrunken 
haben, aber ich ſchritt mit trotzigem Bewußtſein, mich 

nicht weiter quaͤlen zu wollen, meiner Wohnung zu. 

Ein praͤchtiger Anblick ward mir am naͤchſten Morgen 
vom geoͤffneten Fenſter. Graugruͤne Bergruͤcken, von 
hellgruͤn leuchtenden Matten und ernſten Waldinſeln 
beſtreut, mit heimeligen Meierhoͤfen, dehnten ſich unter 


Von Th. L. Seemam 123 


= 


dem blauen Himmelsraum. Feinfedrige Wolken brei- 
teten geruhig ihre weißen Fittiche. Wohlige, wuͤrzige 
Luft ſtroͤmte durchs Fenſter. Im huͤgeligen Wieſen⸗ 
grund ſchliefen, regellos verteilt, die Schindel dachhaͤuſer 
in vertrauender Geborgenheit, ungeſtoͤrt von dem 
unruhigen, zornigen Rauſchen der Ache. Die Emp⸗ 
findung: hier geneſe ich, erfuͤllte mich mit Ruhe. 

Der erſte Schritt aber, den ich auf die Straße tat, 
erſchreckte mich von neuem. An der gruͤnen Haustuͤr 
grinſte mich ein weißes Schild mit der drohenden Auf- 
ſchrift an: Doctor medicinae universalis Feuerstein. 
Warum mußte ich dort wohnen, wo die vom Tod in 
hundert Formen Verfolgten zagend und hoffend Hilfe 
ſuchten? War das nicht ein erneutes uͤbles Vorzeichen? 
Spaͤter erfuhr ich, daß der Arzt des Ortes erſt am Tage 
vor meiner Ankunft ſein Sprechzimmer hierher verlegt 
hatte. 

Als ich in das Speiſezimmer der ‚Poft‘ hinuͤberkam, 
ſaßen Karmann und Kopf beim Kaffee. Mein Gedeck 
lag an der Schmalſeite der Tafel; unmittelbar davor 
ſtand in einem dunkeln Majolikagefaͤß eine ſchwarz⸗ 
gruͤne ſchwermuͤtig ſtimmende Araukarie. Nie konnte 
ich dieſe verkuͤmmerten Zwergbaͤumchen leiden. In 
ihrer lebloſen Starrheit, den duͤſter-gruͤnen Zweig⸗ 


wirteln erinnerten fie mich immer an die Grabzypreſſen 


auf den Kirchhoͤfen. Warum ſtand der Topf vor mir, 
warum nicht vor den beiden behaglich ſchluͤrfenden 
Reiſegefaͤhrten? Sollte auch das eine Mahnung ſein? — 
Wortlos nahm ich das Fruͤhſtuͤck zu mir, faſt widerwillig, 
ich zwang mich dazu, nur um keine Fragen zu hoͤren, ob 
es mir nicht gut ſei, ob ich ſchlecht geſchlafen. Es war 
vereinbart worden, daß jeder ſeinen Tag verbringen 
konnte, wie es ihm gefiel. Nur zu den Mahlzeiten — 


124 Der Tod auf der Fahrt 


und auch da nur, wenn es anging — wollten wir zu: 
ſammentreffen. Am zweiten Tag erſt wollte ich mir 
die naͤhere Umgebung Eggs anſehen. Gemaͤchlich ſtieg 
ich den Weg, der nach Großdorf fuͤhrt, empor. Ziemlich 
auf der Höhe ſtand auf einem Pfahl ein Schild mit dei 
Inſchrift: An dieſer Stelle wurden vom Jahre 1400 bis 
1807 die Verbrecher hingerichtet. Ich wollte mich um 
den Eindruck weiter nicht kuͤmmern, aber ich blieb ſtehen 
und ſtarrte die Buchſtaben an, ſuchte am Boden nach 
Reſten von Mauerwerk, wie ſie mir aus meinem Heimat⸗ 
ort erinnerlich waren, denn auch dort ſtand vor den Toren 
ein ehemaliger Rabenſtein. Geſpraͤche, die ich in meinen 
Knabenjahren zu hören bekam, fielen mir ein — mein 
Großvater hatte als halbwuͤchſiges Kind noch die letzte 
oͤffentliche Hinrichtung mit dem Schwert erlebt — meine 
Gedanken kreiſten um Galgen und Rad. Mitten in dieſem 
herrlichen Naturfrieden ſah ich das Blutgeruͤſt aufragen, 
ſah, wie der Zug mit dem gefeſſelten Verurteilten ſich 
unter den Bittgeſaͤngen der Menge heraufbewegte, ſah 
wie ihn der Nachrichter empfing, und ich ſah — — 
Soll ich all das Graͤßliche auch noch in Worte zu 
faſſen ſuchen und ausmalen, was mich eine gewiß 
kranke Empfindſamkeit in dieſen Stunden fuͤhlen und 
denken hieß? Auch hier wirkt ein mir unverſtaͤndlicher 
Zwang; ich kann nicht anders. Vor mir lag das uͤppige 
Gras blutrot, Seufzer fliegen aus ihm empor, als de 
Wind daruͤber ſtrich. Ich gedachte jener harten ver 
gangenen Zeiten, da fuͤr die Juſtiz das Schwert locker 
ſaß und den Nacken fuͤr Nichtigkeiten durchſchlug. Waren 
ſie alle ſchuldig, die hier ihren letzten Atem gepeinigt 
und gemartert verhauchen gemußt? Traf es nicht in 
den Tagen des Zauberglaubens, des Hexenwahns und 
der Folter zahlloſe Unſchuldige? 


Von Th. L. Seemann 125 


Wie lange ich gruͤbelte, kann ich nicht ſagen. Ein 
kraͤchzender Rabe weckte mich aus ſchmerzlichem Bruͤten. 
Gewiß war er ein Nachkomme derer, die vor Jahr⸗ 
hunderten ſchon auf dieſer Blutſtaͤtte lebten. Sollte 
dies abermals bedeutungsvoll ſein? — 

Es begann zu naͤſſeln; dann tropfte es ſtaͤrker, im 
vollen Regen kam ich im Gaſthaus an. 

Bei der Mittagstafel ſtand die widerliche Araukarie 
wieder vor mir. An den Plaͤtzen der übrigen Tiſchgaͤſte 
prangten Ramblerroſen in Glaͤſern. Waͤhrend der Mahl⸗ 
zeit goß es in Stroͤmen, und auch fuͤr die folgenden Tage 
hielt der Regen an. Die truͤbe Witterung verſtimmte 
mich nicht, ſie wirkte beruhigend. 

Heute morgen machte mich ein liebes Schreiben von 
Herta ſehr gluͤcklich.“ 

Der Brief, dem ein feiner Reſedaduft anhaftete, 
lag noch bei den Aufzeichnungen Ehrhardts. Die Braut 
bat ihn, nicht alles ſo ſchwer zu nehmen, vor allem 
nicht auf ſchlechte Traͤume ſo viel zu geben und nicht 
von jeder Kleinigkeit ſchlimme Folgen zu erwarten, denn 
auch die vermeintlich geheimnisvollſten Vorzeichen und 
Ahnungen, von denen er ſo oft geſprochen habe, ließen 
ſich natuͤrlich genug aufloͤſen. Mit klugen und lieben 
Worten bat ſie ihn, aus geringfuͤgigen Zufaͤlligkeiten 
keine tiefere Bedeutung zu ergruͤbeln. Je mehr man 
daruͤber nachdaͤchte, deſto befangener muͤſſe man werden. 

— Sr 

Die naͤchſten Aufzeichnungen Ehrhardts trugen als 
Zeitangabe den neunzehnten Juli: „Es regnet unauf— 
hoͤrlich. Meine heitere Zuverſicht iſt dahin. Von 
neuem melden ſich unheimliche Zeichen. Karmann und 
Kopf wollen nicht mehr hier bleiben. — Vor drei Tagen 
war ich im Schwimmbad. Ich fuͤhlte mich außer: 


126 Der Tod auf der Fahrt 


2 m — 1 — — 


ordentlich wohl. Als ich nach dem Baden die An— 
kleidezelle betrat, lag auf dem Boden ein kleines ſilbernes 
Kreuz aus Papiermaſſe. Wie mochte es dahin kommen? 
Ich moͤchte beſchwoͤren, daß es noch nicht da lag, als ich 
mich auszog. Solche Kreuze ſieht man hier auf den 
Graͤbern. 

Umlauert mich doch der Tod? 

Um allein zu ſein, ging ich nach dem Bahnhof. Dort 
traf ich die Leute in Unruhe; man fuͤrchtete ein weiteres 
Steigen der Ache. Sie iſt ein falſches, heimtuͤckiſches 
Gewaͤſſer. Wenn ſie noch hoͤher ſtieg, mußte ſie den Bahn⸗ 
damm uͤberſchwemmen und zerreißen. In der Nacht 
hatte ſie ein Loch in den Damm gewuͤhlt; man erwartete 
mit aͤngſtlichen Bedenken den naͤchſten Zug. Als wir 
nach Egg herauffuhren, war mir das wilde Waſſer ſchon 
verdaͤchtig erſchienen. Das Bahngleis laͤuft an ihrem 
rechten Ufer hin; lauernd rauſchte ſie neben uns. Auf 
der anderen Seite des ſchmalen Gleiſes ſchrofft ſich der 
Felshang auf. Auffallende Schutzſicherungen gegen 
Felsrutſche und Steinſchlag wechſeln nacheinander ab. 
Wenn der Regen lange anhaͤlt, koͤnnten ſich wohl ganze 
Maſſen des Gebirges loͤſen und den Bahndamm mit 
einem der Zuͤge unter niederbrechenden Bloͤcken haus⸗ 
hoch vergraben. 

Geſtern glaubte ich eines der mahnenden Vorzeichen 
beſeitigt zu haben. Vor dem Mittageſſen — das Speiſe⸗ 
zimmer war noch leer — gab ich dem Topf mit der 
duͤſteren Araukarie einen Stoß. Sie fiel vom Tiſch und 
zerbrach. — Ich habe mich entſchuldigt und den Schaden 
bezahlt. Am Abend erſchrak ich von neuem; vor meinem 
Platz ſtand in einem Glaſe jene aufdringliche, gelbe 
Blume, die man Wucherblume oder Ringelblume 
nennt, in meiner Heimat heißt man ſie Totenblume. — 


Von Th. L. Seemann 127 


Kathrein, das Stubenmaͤdchen, iſt ein niedliches 
aber naͤrriſches Weſen. Sie brachte mir Raſierwaſſer 
und erzaͤhlte, daß es im Hauſe nicht geheuer ſei. Zu 
Zeiten ſaͤhe man ein kleines ſchwarzes, vollbaͤrtiges Ge⸗ 
ſpenſt, wem es erſchiene, der muͤſſe ſterben. Ich ſpottete 
ſie aus; ſie blieb aber bei ihrem Glauben. 

Der wahre Grund ihrer Geſpenſterfurcht iſt wohl 
dieſer: es iſt ihre Pflicht, für die Nacht einige Lampen 
im Treppenflur anzuzuͤnden; ſie vergißt es aber oft. 
Die laͤßlichſte Ausrede fuͤr ihre Vergeßlichkeit iſt die 
laͤcherliche Furcht vor dem todverkuͤndenden, ſchwarzen 
Hauskobold. Das dumme Ding! Ich finde meinen 
Weg in dem ſtillen Haus ſchließlich auch im Dunkeln. 
Bis jetzt bin ich dem unheilvollen Wichtelchen mit dem 
rauhhaarigen Bart nicht begegnet.“ 

ö — 

21. Juli. 

„ Geſtern abend ſtand es ſchlimm um mich. Ich 
nahm mir gegen Schlafloſigkeit Chloralhydrat und gegen 
die laͤſtigen Nervenſchmerzen, die mich manchmal quaͤlen, 
Morphiumpulver mit. Ich fuͤhlte, daß ich die Nacht 
ſchlaflos verbringen wuͤrde, und wollte ein Schlaf— 
pulver nehmen. Die Einzeldoſen des Chloralhydrats 
hatte ich in weiße, jene des Morphiumpulvers in rote 
Papierbeutel geſchuͤttet. Als ich das Chloralhydrat in 
das Waſſerglas gab, fiel mir das Ausſehen der Pulver: 
maſſe auf. War das wirklich Chloralhydrat? Ich 
koſtete; es war Morphium! Haͤtte ich die große Menge 
eingenommen, ſo waͤre mir das Ende gewiß geweſen. 

Ich muß die Beutel verwechſelt haben. Wie das 
geſchehen konnte, iſt mir unbegreiflich. Ich bin ſonſt 
ſo e e, bis zur aͤußerſten Peinlichkeit. 

Der Tod ſoll mich nicht uͤberliſten.“ 


128 Der Tod auf der Fahrt 


24. Juli. 
„Es regnet nicht mehr, es gießt wolkenbruchartig 
ununterbrochen. Meine Reiſegefaͤhrten wollen nach 
Bregenz zuruͤck und von dort nach Vorarlberg hinauf⸗ 
fahren. Dort ſollte das Wetter guͤnſtiger ſein. 

Vorgeſtern ging ich wieder zum Bahnhof. Die 
Ache war noch hoͤher angeſchwollen, der erwartete Zug 
ausgeblieben. War das Ungluͤck ſchon geſchehen? 
Ein Beamter erzaͤhlte, ein Felsblock ſei knapp vor dem 
Zug auf die Schienen geſtuͤrzt. Der unaufhörliche Regen 
weiche die Berghaͤnge auf. Eine Minute fruͤher, und 
die Felsmaſſe mußte gegen den Zug prallen; eine Ent⸗ 
gleiſung waͤre ſicher geweſen, und in der angeſchwollenen 
Ache waͤren alle ertrunken. Das Felsſtuͤck mußte ge⸗ 
ſprengt werden. 

Wenn es weiter regnet, werden Bergſtuͤrze unaus— 
bleiblich fein. Wir muͤſſen über dieſe Strecke zuruͤck. — — 

Kathrein, das einfaͤltige Maͤdchen, ſchien mit ihrem 
toͤrichten Aberglauben doch recht zu haben. Bis uͤber 
elf Uhr war ich mit Kopf und Karmann zuſammen ge⸗ 
blieben; als ich mein Zimmer aufſuchte, brannte wieder 
kein Licht auf den Treppenabſaͤtzen. Die Haustlire war 
offen. 

Auf dem Flur vor meinem Zimmer huſchte in der 
von der Straßenlampe gelblich durchſchimmerten Finſter⸗ 
nis eine kleine, dunkle Geſtalt auf mich zu. Unwillkuͤrlich 
hielt ich den Schritt an. 

Was war das? Ich mußte an den geſpenſtigen Haus⸗ 
kobold denken, der jedem, dem er begegnet, den Tod ver⸗ 
kuͤnden ſoll. Ich wollte ihn abwehren, er taſtete ſich 
an meinen Beinen empor. Ich griff nach ihm, fuͤhlte 
einen groben Haarwulſt in den Fingern, ſtieß ihn von 
mir und ſtuͤrzte zitternd in mein Zimmer. Mit bebender 


Von Th. L. Seemann 129 


Hand drehte ich den Schluͤſſel zweimal im Schloß. Ich 
var gluͤcklich, Morphium und Chloral bei mir zu haben, 
denn die Nacht waͤre mir in endloſen Angſten und quaͤ⸗ 
lenden Traͤumen vergangen. Am Morgen erwachte ich 
zerſchlagen und froͤſtelnd. Das Unterlaken war feucht 
von Nachtſchweiß. | 

Als ich zum erſten Fruͤhſtuͤck nach der, Poſt' hinüber: 
ging, lief mir ein junger, zottiger Koͤter nach. Er bellte, 
umſprang mich freundlich wedelnd, als ſei ich ihm be: 
kannt. Der Hausdiener ſagte mir, daß der junge Toͤlpel 
dem Doktor gehoͤre; der habe ihn geſtern erſt gekauft. 
Am Abend ſei er davongelaufen und in der Fruͤhe ſei 
er vom Dachboden herunter gekommen. Dort habe 
er wohl die Nacht verbracht. Das alſo war mein wirr: 
baͤrtiger Hauskobold. Ich lachte ſo laut, daß mich der 
ſchwerfaͤllige Hausburſche verdutzt anſtierte. So ver⸗ 
fluͤchten ſich Vorbedeutungen zu Laͤcherlichkeiten. Es 
ſoll mir zur Lehre und Ermutigung dienen.“ 

N — 
28. Juli. 
„Karmann und Kopf reiſten heute ab. Sie fuhren 
nach Bregenz zuruͤck und wollen von dort nach Innsbruck. 
Elender koͤnne das Wetter da auch nicht ſein. 

Hier rauſcht es unaufhoͤrlich und gleichmaͤßig vom 
grauumzogenen Himmel, alles trieft. Noch hoͤher als 
in den letzten Tagen ſchwoll die Ache an. Meine beiden 
Bekannten wollten mich durchaus uͤberreden, mit ihnen 
zu kommen. Ich mußte bleiben; zu ſtark war das war⸗ 
nende Gefuͤhl in mir. Gab ich ihnen nach, ſo waͤre auf 
dieſer Fahrt das Furchtbare unvermeidlich geweſen. Die 
Steilhaͤnge neben der Bahn ſind ſtaͤrker noch, als ſchon 
vor Tagen durchweicht. Bei der leiſeſten Erſchuͤtterung 
koͤnnen große Teile der Bergmaſſen niederſtuͤrzen. Auch 

1916. X. 9 


wenn alle unverletzt blieben, mir war es gewiß nicht 
beſtimmt. Nur ein Steinkeil brauchte durch das Fenſter 
zu ſchlagen, um mich toͤdlich zu treffen. Schon vor 
Tagen, als ich von der Zugverſpaͤtung durch den Fels— 
ſturz hoͤrte, ſchwor ich mir, die Warnung nicht zu ver: 
geſſen. Nicht nur meinetwegen, mehr noch um Hertas 
willen gelobte ich mir Vorſicht. Ich mußte es abweiſen, 
auf der gefaͤhrdeten Strecke nach Bregenz zuruͤckzu⸗ 
kehren. Ich will den Tod nicht ſelbſt herausfordern. So 
brauchte ich denn Ausfluͤchte und klagte uͤber Schmerzen 
an jenem Tage und blieb zuruͤck. Daß wir uns wieder 
treffen wollten, vielleicht ſchon gegen Ende der Woche, 
war alles, was ich verſprechen konnte. Wenn die Bahn⸗ 
ſtrecke ſicherer ſein wird, fahre ich nach Bregenz und von 
dort nach Feldkirch. Regnet es weiter, ſo will ich uͤber 
den Loſen bis Dornbirn wandern. 

Ich bin gluͤcklich, Karmann und Kopf nicht mehr 
hier zu ſehen. Ich brauche meine innere Unruhe nicht 
mehr zu verbergen. In den letzten Tagen des Allein— 
ſeins fuͤhlte ich mich ruhiger, trotz aller truͤben Ge— 
danken, denn heute verlebte ich wieder aufregende 
Stunden. Ich bin in der Badeanſtalt geweſen. Ganz 
allein. Wer ſollte bei dieſem naßkalten Wetter auch 
baden. Die Holzbohlen waren durch die Feuchtigkeit 
ſchluͤpfrig geworden, ich glitt aus, hielt mich aber zum 
guten Gluͤck noch aufrecht. Wäre ich geſtuͤrzt, ſo mußte 
ich unfehlbar mit dem Kopf auf die ſcharfe Steinkante, 
die den großen Schwimmraum umzieht, aufſchlagen. 
Bewußtlos, betaͤubt, mußte ich ins Waſſer fallen und 
ertrinken. Ich uͤberzeugte mich, daß kein Menſch in 
der Naͤhe war, der mich retten konnte. In der Zelle 
fuͤhlte ich dumpfbrennende Schmerzen an der Stirn, 
Ich griff nach dem Spiegel. 


Von Th. L. Seemann 131 


— — O2 


— — — — m 


Quer über die Stirn zog fich ein ſchmaler, blutroter 
Strich. Meine Haͤnde zitterten, der Streifen erſchien 
unter den Augen. Ich bemerkte, daß der Queckſilber⸗ 
belag abgeſchabt war; die innen rotbeklebte Pappwand 
des Spiegels ſchimmerte durch das blanke Glas und 
taͤuſchte das rote Zeichen vor. Das war natuͤrlich genug 
erklaͤrt. Aber lag nicht trotz allem in der Verkettung 
der einzelnen Umſtaͤnde abermals eine Vorbedeutung? 
Warum mußte ich ausgleiten, warum die Vorſtellung 
auftauchen, daß ich bei einem Fall mit dem Kopf auf: 
ſchlagen konnte, woher kam der unerklaͤrliche Schmerz 
auf der Stirn, und warum fuͤhrte mich der Zufall 
gerade in die Auskleidezelle, wo der beſchaͤdigte Spiegel 
hing? Zufall? Es gibt keinen Zufall! — 

Als ich angekleidet war, ſah ich die Spiegel in allen 
Zellen an; keiner zeigte den an Blut erinnernden roten 
Riß.“ 

— 
1. Auguſt. 

„Heute ermutigte mich ein zweiter Brief, der von 
Herta kam; ſie ſchrieb mir ſo lieb und klug, troͤſtete mich 
uͤber alle duͤſteren Bedenklichkeiten und hoffte, mich bald 
erholt und leichter geſtimmt wiederzuſehen. Ich wollte 
ihn dieſen Blaͤttern einfuͤgen, verlor ihn aber durch Un⸗ 
achtſamkeit noch am gleichen Tage. Auf dem Weg nach 
Andelsbuch las ich ihn nochmals, ſchob ihn in die Bruſt⸗ 
taſche, und muß ihn vorbeigeſteckt haben. Als ich den 
Verluſt bemerkte, kehrte ich um und ſuchte den ganzen 
Weg ſorgfaͤltig ab. Vergeblich. Es tut nichts, denn 
ich behielt ja die lieben Zeilen faſt woͤrtlich im Gedaͤchtnis. 
Herta fuͤhlte aus meinem letzten Briefe meine unſagbar 
gedruͤckten Zuſtaͤnde heraus, ſonſt haͤtte ſie nicht ſchreiben 
koͤnnen: Hans im Gluͤck, du ſcheinſt nicht nur im Naſſen 


132 Der Tod auf der Fahrt 


zu patſchen, ſondern auch Truͤbſal zu fiſchen. Ich ſitze 
froͤhlich in meinem Stuͤbchen und ſticke eitlen Sonnen⸗ 
ſchein in die Fenſtervorhaͤnge unſeres kuͤnftigen Heims. 
Sei du gleichfalls ſonnenfroh, auch wenn es außer dir 
truͤbe iſt. Aus graueſtem Nebelkummer bricht doch 
immer wieder die Sonnenfreude. 

Das liebe Maͤdchen!“ 


6. Auguſt. 

„Nun bin ich anderthalb Wochen allein. Heute kam 
eine Karte von meinen Reiſegefaͤhrten. Sie dringen 
darauf, daß ich endlich nach Feldkirch hinuͤberkomme. 
Vier Tage wollten ſie noch auf mich warten, kaͤme ich 
bis dahin nicht, ſo wuͤrden ſie mich — wie Karmann, 
ſeiner Meinung nach, witzig ſchrieb — meiner Ver⸗ 
kommenheit uͤberlaſſen. In Feldkirch ſei alles blau 
wie der Himmel. Die Plattheit ihrer Spaͤße ſtimmt 
mich traurig. Niemand verſteht meinen Zuſtand; ich 
muß alles allein tragen. 

Noch immer regnet es hier, zwar nicht mehr ununter⸗ 
brochen, aber doch noch laͤſtig genug. Trotzdem ſoll es 
bei meinem Vorſatz bleiben. Ich will von hier gehen, 
aber die Bregenzerwaldbahn benuͤtze ich nicht. Nie und 
nimmer. Über die Berge fort will ich nach Dornbirn 
wandern. — Ich bin nun gewarnt genug, um wach— 
ſam zu ſein.“ 

— 
9. Auguſt. 

„Ich bin gluͤcklich in Feldkirch. Meine Bekannten 
empfingen mich mit ehrlicher Freude. Kopf wird ſein. 
Witzeleien nie laſſen. 

Unbewußt traf er das Richtige, als er ſagte, er habe 
kaum gehofft, mich lebend wiederzuſehen. Oder hatten 


Von Th. L. Seemann 133 


ſich die Maͤchte uͤber mir dieſes loſen Mundes als eines 
ſcherzenden, aber ernſten Mittlers bedient? — 

Mich wird niemand uͤberzeugen, daß es nicht doch 
Kraͤfte gibt, Geiſter, die in unſer Leben einzugreifen ver⸗ 
moͤgen, wenn uns auch nicht moͤglich iſt, daruͤber jemals 
klar zu werden. Vielleicht ſage ich beſſer, daß fie einzu: 
greifen verſuchen. Allmaͤchtig ſind ſie nicht alle. Nach 
meinem Urteil, wie auch nach meinen Erfahrungen gibt 
es unbezweifelbar Geiſter, die die Edelſten und Hoͤchſt⸗ 
ſtrebenden an der Erreichung ihrer Ziele zu hindern 
trachten. Dafuͤr gaͤbe es Beiſpiele genug. Wie ſollte 
es ſonſt moͤglich ſein, daß den Beſten und Reinſten ſo 
viel mißlingt, oft ein ganzes Leben hindurch, indes den 
Niedrigen und Gemeinen alles ſpielend geraͤt? Es 
muͤſſen uͤberweltliche Geiſter am Werk ſein, die kleinlich 
find, haͤmiſch, hinterliſtig, boͤs willig und ſchadenfroh. 
Warum wohl? Weil die große Mehrzahl der Menſchen, 
deren geiſtiger Gehalt ſie einſt waren, nicht anders 
beſchaffen ſind. Die guten Geiſter im Jenſeits? Es 
ſind die Wenigen, wie die guten Menſchen auf Erden. 
Warum aber helfen ſie trotzdem den Redlichen nicht? 
Weil die Guten ihrer Natur nach ſchlaff ſind? Weil 
ſie uͤber die Kuͤmmerniſſe der Welt hinausgewachſen 
ſind? Hundertmal mußte ich ihnen grollen! Regt 
auch ihr euch, wie die boͤſen, ihr guten Geiſter. Das 
iſt euere Pflicht! — — 

Ich ſchrieb, daß ich gluͤcklich in Feldkirch bin. Nicht 
grundlos. Von Egg wanderte ich uͤber Schwarzenberg 
und den Loſen nach Dornbirn und fuhr von dort mit 
der ſicheren Arlberg bahn nach Feldkirch. 

Auch auf dieſem Weg ſtellte mir der Tod nach. Auf 
dem Hoͤhenweg, an einem grasbewachſenen Rand, wo 
ſich der Felshang ſteil in den Abgrund ſenkt, machte ich 


Der Tod auf der Fahrt 


— — — — — — — — — u — — — 


kurz halt. Von den blaugruͤnen Waldflanken loͤſten 
ſich weiße Dampfſchaͤume ab. In wunderbarer Klarheit 
hoben ſich die gelblichen Felsſchroffen, die dunkelgruͤnen 
Einbuchtungen und lichten Wieſenflaͤchen voneinander. 
In graubewoͤlktem Himmel oͤffneten ſich, unbegrenzt 
tief, blaue Kluͤfte. Eine davon fuͤllte ſich ploͤtzlich mit 
Sonnenſchein. Breite Strahlenmaſſen glaͤnzten auf, 
ihr goldiger Schimmer fiel auch auf mich. Der blin⸗ 
kende Sonnenſtreif erſchien mir als frohe Verheißung. 
Ich hob die Arme zur Sonne und da — ich weiß nicht, 
ob ich einen Schritt vorwaͤrts tat — entſchwand mir der 
Boden unter den Fuͤßen. Mit einem Ruck warf ich mich 
zuruͤck. Der Raſenrand des Weges war abgebroͤckelt. 
Ich hoͤrte den Sand rieſeln, die Erdſchollen unten dumpf 
aufſchlagen. So waͤre auch ich hinuntergeriſſen worden, 
unaufhaltſam, unrettbar. Der Tod war mir wieder 
einmal nahe geweſen.“ 


15. Auguſt. 

„Jetzt ſind es ſechs Tage, daß ich nach Feldkirch kam. 
Morgen wollen wir weg, um noch einige Tage in Über⸗ 
kingen zu bleiben. 

Anfaͤnglich war ich dagegen. So kurz vor den Toren 
Stuttgarts waͤre ich eigentlich lieber zu Herta geeilt. 
Jetzt aber bin ich froh, daß ich nicht auf meinem Kopf 
beharrte. Ich werde ſo Zeit gewinnen, um mich voͤllig 
zu beruhigen.“ 

19. Auguſt. 

„Von neuem iſt mir Unheimliches widerfahren. Vor 
drei Tagen ſtieg ich zum Carinawald hinauf. Ich fuͤhlte 
mich frohgemut, wie ſeit langem nicht mehr. Auf dem 
Ruͤckweg ſah ich auf einer Wieſe tiefblaue Glocken⸗ 


Von Th. L. Seemann 135 


blumen leuchten. Sie ſchienen mich foͤrmlich zu rufen. 
Ich wollte fuͤr Herta einen Strauß pfluͤcken. Als ich 
mich buͤckte, um einzelne Bluͤten zu ſammeln, wurde 
mir dunkel vor den Augen, es ward mir, als ſchwebte 
ich im leeren Raum; zuckender Schmerz haͤmmerte gegen 
die Schlaͤfe. Ich verlor den Atem, und nur muͤhſam er⸗ 
holte ich mich. 

Ich war mit dem Sträußchen eine halbe Stunde 
abwaͤrts gewandert. In der brennenden Sonne wurden 
die Blumen in meiner Hand matt. Da rauſchte irgend⸗ 
wo eine Quelle. — Verwelken ſollt ihr nicht, dachte ich, 
wie auch meine Hoffnungen es nicht ſollen. Ich wollte 
das Straͤußchen im ſtrudelnden Waſſer befeuchten, als 
es mir wieder die Augen ſchwarz umdaͤmmerte; wieder 
fuͤhlte ich das ſchmerzhafte Pochen in der Stirn. Ge⸗ 
waltſam unterdruͤckte ich im Weitergehen aͤngſtliche 
Betrachtungen. In Feldkirch angelangt, war ich be— 
ruhigt; es konnte ſich diesmal nur um belangloſe 
Schwaͤcheanfaͤlle handeln. 

Und doch ...! Von neuem ſinne ich nach, es zwingt 
mich dazu, mit einer triebhaften Gewalt, der ich mich 
nicht entziehen kann. Wie ſoll dies ſeltſame Zuſammen⸗ 
treffen begreiflich ſein, daß ſich meine Augen zweimal 
hintereinander verdunkelten, daß ich den Schmerz in 
einem Augenblick empfand, als ich froh an Herta, ihre 
Liebe zu mir und an meine naͤchſte Zukunft dachte? —“ 

21. Auguſt. 

„Wir ſind ſeit Tagen in Überkingen. Am Abend 
werden wir nach Stuttgart zuruͤckfahren. Ich kann die 
Zeit kaum erwarten. Wir werden die kurze Fahrt im 
Auto machen. Mich warnte zwar nichts, trotzdem war 
ich innerlich unfrei; aber ich wollte nicht widerſprechen. 


136 Der Tod auf der Fahrt 


Geſtern vormittag war allerdings etwas Befrem— 
dendes geſchehen. Ich erging mich allein vor dem Ort 
und malte mir das Wiederſehen mit Herta aus. Ich 
hielt ſie in meinen Armen und beugte mich zum Kuß, da 
durchzuckte mich wieder der ſtechende Schmerz. Was 
bedeutete das? — — 

Ich werde die unheimlichen Beklemmungen nicht los. 
Bin ich dem Tod noch immer nicht entflohen? Bis zu— 
letzt aber will ich auf der Hut ſein. Oh, meine Herta! 
Nur wenige Stunden noch, dann bin ich auf der Fahrt 
zu friedvoller Ruhe, und alles hat ein Ende.“ 


Ehrhardts Aufzeichnungen ſchloſſen mit dieſen 
Zeilen. Ich legte die Blaͤtter fort und uͤberdachte 
nochmal die letzten Stunden der damaligen Reiſe. 
Nach acht Uhr fuhren wir von Überkingen ab. An dem 
Wagen, den wir beſtellt hatten, war nicht alles in Ord— 
nung, ſo daß ſich die Abfahrt gegen unſere Abſicht 
verzoͤgerte. Es dunkelte, als wir einſtiegen. Ehrhardt 
beſtand darauf, neben dem Fahrer zu ſitzen. Etwa 
eine Stunde waren wir unterwegs, als hinter uns mit 
aufleuchtenden Blitzen und grollendem Donner ein 
ſchweres Gewitter heraufkam. Der Lenker beſchleu— 
nigte die Fahrt. Das Gewitter ſchien uns foͤrmlich zu 
verfolgen. Wir flogen dahin, trotzdem ruͤckte es uns 
flammend und donnernd näher, Es war ſtockfinſter 
geworden. So kurz vor Stuttgart war es beſonders 
verdrießlich, vielleicht bis auf die Haut durchnaͤßt zu 
werden. Der Fahrer ſteigerte die Geſchwindigkeit; 
wir ſauſten in rafendem Lauf vorwaͤrts, aber die Straße 
war gut. 

Ploͤtzlich, an einer Kurve, die am Berghang entlang 
lief, gab es einen Stoß. Das Auto ſchwankte. 


Von Th. L. Scemann 137 

Ehrhardt ſchrie auf, ſchnellte von ſeinem Sitz, 
ſprang nach der Straßenboͤſchung hinab und war ver⸗ 
ſchwunden. 

Im gleichen Augenblick bremſte der Fuͤhrer. Wir 
riefen Ehrhardt beim Namen. Keine Antwort mehr 
kam zuruͤck. 

Der Fuͤhrer nahm die Lampe heraus und leuchtete 
den Platz ab. Links, auf der Seite, nach der Ehrhardt 
abgeſprungen war, lag ein alter Steinbruch. Wir ſtiegen 
den Abhang hinab. Wir fanden ihn roͤchelnd. 

„Der Traum, der Traum, der Leichenwagen, Herta, 
meine Herta!“ fluͤſterte er noch. 

Dann war alles zu Ende. 

— 233 22 en 

Es klopfte, und einer meiner Bekannten trat ein. 

„Nun,“ fragte er, „weilten Sie in einer anderen 
Welt?“ | 

„Ja, ich habe Ehrhardts Aufzeichnungen wieder ein: 
mal geleſen. Sie kennen ja ihren Inhalt und auch den 
traurigen Abſchluß der Reiſe. Jetzt glaube ich die Loͤſung 
dieſes Raͤtſels gefunden zu haben.“ 

„Nun?“ 

„Ich glaube, daß der Menſch oft zur Erfuͤllung 
irgendwelcher Vorzeichen ſelbſt beitraͤgt. Durch fort— 
geſetztes Gruͤbeln uͤber moͤgliche Bedeutungen geraͤt er 
immer tiefer in den Bann ſolcher Gedankenkreiſe. Die 
nichtigſten Vorkommniſſe werden nach vorgefaßten, 
aberglaͤubiſchen Meinungen als Beweisſtuͤcke ausgelegt. 
Ahnungen und Vorzeichen muͤſſen ihm ſo als eherne 
Glieder einer Kette erſcheinen, die ihn unentrinnbar 
umſtrickt. Jede beſonnene Überlegung, alle geiſtige 
Widerſtandskraft werden durch entnervende Furcht 
geſchwaͤcht. Zur gegebenen Stunde unterliegt er ſchließ⸗ 


138 Der Tod auf der Fahrt 


lich nicht der Macht eines vorbeſtimmten Geſchickes, 
ſondern ſeiner veraͤngſtigten Einbildung und von ihm 
ſelbſtgeſchaffenen, verwirrenden Zwangsvorſtellungen. 
Ehrhardt verfiel dem Tod, weil er ihm mit Gewalt 
entrinnen wollte.“ | 

„Das mag richtig fein,” meinte mein Beſuch nach: 
denklich, „und gewiß liegt es auch in vielen anderen 
Faͤllen nicht anders.“ 


Maieftätsdeleidigungen unter 
römischen und deutſchen Herrſchern 


Von Hermann Landolt 


| * m alten Orient und in Agypten bildete ſich die Auffaſ⸗ 
Sue daß der oberſte Regent des Landes göttlicher Natur 
teilhaftig ſei; der Koͤnig war nach altorientaliſcher Lehre 

nicht nur Stellvertreter Gottes auf Erden, er ſtammt geradezu 
von den Goͤttern ab. Die aͤgyptiſchen Pharaonen nennen ſich 
Abkoͤmmlinge oder Söhne des Ra, des Sonnengottes. Ihr 
Stammbaum iſt überirdifcher Natur, fie ſelbſt find durch ſolche 
Herkunft die eigentlichen „Mittler zwiſchen Himmel und Erde“. 
Der Kaiſer von China nannte ſich bis in unſere Zeit den „Sohn 
des Himmels“. Als Alexander der Große Babylon eroberte, 
mußte er ſich der ſeinen Mazedoniern fremden Auffaſſung des 
Orients bequemen und ein „Gott“ werden. Ohne der Landes⸗ 
auffaſſung ſich zu fuͤgen, konnte er im eroberten Lande nicht als 
Herrſcher gelten. Dieſem Geiſte entſtammen alle Erzaͤhlungen der 
uͤberirdiſchen Geburt Alexanders, wonach ſeine Mutter von einem 
Gott oder einem Drachen heimgeſucht worden ſei. Auf Münzen 
ward Alexander dargeſtellt mit dem Widderhorn uͤberm Ohrge⸗ 
lock, dem gleichnismaͤßigen Abbild des Gottes Jupiter Ammon. 
Im alten Rom der republikaniſchen Zeit entfaltete ſich der 
Begriff der „lex Cornelia majestatis“, ein Geſetz, das ſich gegen 
alles kehrte, was gegen die roͤmiſche Nation und ihren Beſtand 
als Staatsweſen feindſelig oder zerſtoͤrend aufzutreten wagte, 
wie: „Verraͤterei des Heeres, Aufwiegelung des Volkes, uͤble 
Verwaltung der Republik“, wider alles alſo, was im Widerſpruch 
mit der „Majeſtaͤt des roͤmiſchen Volkes“ ſtand. Grundſatz dieſes 
demokratiſchen Begriffes war allerdings, daß nur „Taten ge⸗ 
ahndet wurden, Worte dagegen unbeſtraft blieben“. Die Volks⸗ 
tribunen, in denen ſich die „Majeſtaͤt des roͤmiſchen Volkes“ 
verkoͤrperte, waren nicht perſoͤnlich, wohl aber als Beamte unan⸗ 
taſtbar, doch in anderem Sinne, als es ſpaͤter die „Heiligkeit 
und Unverletzlichkeit der Perſon ſeiner Majeſtaͤt des roͤmiſchen 
Kaiſers“ werden ſollte. Julius Caͤſar gab dem alten Corneliſchen 
Majeſtaͤtsgeſetz in der „lex Julia majestatis“ eine perſoͤnlich 


140 Majeftätsbeleidigungen unter roͤm. u. deutſchen Herrſchern 


verſchaͤrfte Wendung; fein Nachfolger Caͤſar Auguſtus baute 
darauf weiter und ließ Unterſuchungen uͤber Schmaͤhſchriften, 
die gegen ihn umliefen, anſtellen. Tiberius aber nahm der neuen 
Rechtsbeſtimmung ihre urſpruͤnglich demokratiſche Bedeutung 
völlig, indem er fie auf die „Majeſtaͤt des Imperators“ mit der 
Begruͤndung uͤbertrug, daß: „beſtehende Geſetze angewendet 
werden müßten”. 

Von da ab konnte alles als Verbrechen wider die Perſon des 
Kaiſers ausgelegt werden: „Schweigen oder Reden, Freude und 
Trauer, geaͤußerte Befuͤrchtungen wie Zuverſicht, alles war Ver⸗ 
brechen und zog haͤufig die ſchwerſten Strafen nach ſich.“ Nach 
dem roͤmiſchen Geſchichtſchreiber Tacitus entſtand damit „ſchweres 
Unheil und das groͤßte Elend der Zeiten“. Der gleiche Schrift⸗ 
ſteller ſagt, daß die Gerichte, die uͤber Majeſtaͤtsverbrechen abzu⸗ 
urteilen haͤtten, oft kaum ihre Arbeit bewaͤltigen konnten. Nach 
Plinius wimmelte das ganze Reich von lebendigen Lauſchroͤhren, 
Angebern und Lockvoͤgeln, „den aͤrgſten Schurken unter allem, 
was auf zwei Beinen geht“. Die „Verbrecher“ wurden mit 
Verſchickung in ferne Laͤnder, Entziehung des Vermoͤgens oder 
Hinrichtung beſtraft. ü 

In der Naͤhe eines Standbildes des „großen“ Auguſtus durfte 
man nicht wagen, jemand zu ſchelten oder zu ſchlagen oder ſich 
zu entkleiden. Es genuͤgte zu einer Anzeige, an unpaſſenden 
Orten, in gewoͤhnlichen Gaſthaͤuſern oder im oͤffentlichen Bade 
mit einem Ring am Finger betroffen zu werden, der des Kaiſers 
Bildnis trug, oder an ſolchen Orten mit einer Muͤnze zu zahlen, 
der das Geſicht und der Name des Herrſchers oder eines Mit⸗ 
gliedes ſeiner Sippe aufgepraͤgt war. Einem ſchlechten Schau⸗ 
ſpieler, dem der Caͤſar Beifall klatſchte, die Auszeichnung zu 
verſagen, galt ſo gut als Verbrechen, wie ſie im entgegengeſetzten 
Fall zu wagen. Wie Dio Caſſius berichtet, lebte man „in groͤßter 
Angſt und Scheu ſelbſt vor ſeiner naͤchſten Umgebung, mied 
Zuſammenkuͤnfte und Geſpraͤche vor Bekannten nicht weniger 
als vor Fremden, ja, man ſah ſich ſogar nach ſtummen, lebloſen 
Dingen, nach der Decke und vor Waͤnden ſcheu um,“ und war 
nirgends ſicher vor Lauſchern und Angebern. 


Von Hermann Landolt 141 


Nicht alle roͤmiſchen Kaiſer duldeten oder verlangten ſelber die 
ſcheinrechtliche Handhabung einer ſolch erniedrigenden Geſetzes⸗ 
beſtimmung. Auguſtus, Veſpaſian, Titus, Nerva, Trajan, 
Hadrian, Antonius Pins und Mark Aurel hielten ſich faſt 
völlig frei davon. Der Geſchichtſchreiber der roͤmiſchen Kaiſer, 
Sueton, legt Auguſtus die Worte an ſeinen Adoptivſohn Tiberius 
in den Mund: „Sei nicht aufgebracht daruͤber, daß es Leute gibt, 
die boͤſe Reden uͤber mich fuͤhren; es iſt genug, wenn wir ſo 
ſtehen, daß uns niemand Boͤſes antun kann.“ Tiberius 
handelte ſpaͤter nicht nach ſolcher Weiſung. Veſpaſian verbot 
die Erhebung von Anklagen wegen „Majeſtaͤtsbeleidigung“ 
und begnadigte alle unter ſeinen Vorgaͤngern deshalb Ver⸗ 
urteilten, ja er ließ Angeber ſolcher Dinge Öffentlich aus peitſchen. 

Waͤhrend ſich unter ſteigenden orientaliſchen Einfluͤſſen im 
roͤmiſchen Kaiſertum die „Heiligſprechung“, ja geradezu die 
„Vergoͤttlichung“ des Herrſchers vollzog, blieb der germaniſchen 
Rechtsauffaſſung, mit der Goͤtter und Prieſter in dieſem Sinne 
nichts zu tun hatten, der roͤmiſch⸗rechtliche Begriff der zu be⸗ 
leidigenden Majeſtaͤt völlig fremd. Der germaniſche König, 
oberſter Anführer oder Richter, beſaß urſpruͤnglich keine unbe: 


dingt perſoͤnliche Gewalt, und auch ſpaͤterhin, als ſich in dem | 


germanifchen „Großkoͤnige“ die geſamte Volksgewalt durch ge: 
ſteigerte Machtfülle verkörperte, blieb das germaniſche Recht 
immer noch weit davon entfernt, ihm eine „majestas“ im 

roͤmiſchen Sinne beizulegen. Die deutſche Kaiſerwuͤrde wird 
nach Karl des Großen Vorgang allerdings ein „sacrum imperium“ 
genannt, aber der deutſche Kaiſer im „Heiligen Roͤmiſchen Reiche 
Deutſcher Nation“ war ſowohl ſtaatsrechtlich wie tatſaͤchlich 
nichts weniger als ein roͤmiſcher „Imperator“, ein Herrſcher 
mit unbedingter Gewalt. Er war weder unverletzlich noch un⸗ 
verantwortlich, denn er unterſtand dem Spruch des Pfalzgrafen— 
gerichtes, das ihn anklagen und verurteilen konnte. Im oͤſtlichen 
Byzanz blieben orientaliſche Anſchauungen uͤber das Herrſcher⸗ 
tum lebendig und bewirkten durch die Aufnahme byzantiniſcher 
Rechtsauffaſſungen eine Wandlung, die ſich aber niemals im 
roͤmiſchen Sinne dauernd durchzuſetzen vermochte. Das ger⸗ 


142 Majeſtaͤtsbeleidigungen unter roͤm. u. deutſchen Herrſchern 


maniſche Empfinden bot ihm keine ernſtliche Wachstums⸗ 
moͤglichkeit, trotz dem 1313 unter Kaiſer Heinrich VII. erlaſſenen 
Geſetz: „de crimine laesae majestatis“. 

Bei germaniſchen Voͤlkern und Fuͤrſten blieb mit der natuͤr⸗ 
lichen Empfindung auch eine geſunde Rechtsform lebendig. 
Kaiſer Maximilian trug eine ſehr ſtattliche Hakennaſe im Geſicht. 
Auf einem Augsburger Reichstag wurde ihm fein Bildnis ge— 
malt, in Holz geſchnitten, in Kupfer geſtochen, in Metall gegoſſen, 
in Wachs und Gips geformt, ja aus Pfefferkuchenteig gebacken 
uͤberreicht. „Hilf Gott,“ rief Max, als er die Fuͤlle der Moͤg⸗ 
lichkeiten, ſeine Naſe zu formen, ſah, „welch kunſtbefliſſen Volk 
lebt hier! Wer immer eine große, krumme Naſe machen kann, 
kommt, mir damit zu dienen.“ Über Spottſchriften auf ihn, 
die ſein Hofnarr Kunz von der Roſen ihm zur Tafel brachte, 
aͤußerte er ſich zu dem Kaufherrn Fugger: „Dergleichen Schmach⸗ 
lieder ſind ſo ſchnell wieder vergeſſen, als ſie aufkommen. 
Keines dauert fo lang wie das Lied ‚Chrift iſt erſtanden“, das 
man nun ſchon an fuͤnfzehnhundert Jahre ſingt.“ Ein Hoͤfling 
ſpottete uͤber die Unternehmungen eines Gelehrten, der fuͤr 
Maximilian das Alter des Hauſes Oſterreich durch einen Stamm⸗ 
baum zu erweiſen bemuͤht war, und ſchrieb die Reime auf ein 
Blatt: 

„Da Adam grub und Eva ſpann, 
Wer war wohl damals Edelmann?“ 


Der Kaiſer ſetzte mit eigener Hand darunter: 


„Ich bin ein Mann wie ein andrer Mann, 
Nur daß mir Gott die Ehre gann.“ 


Um die Zeit, als Tilly Magdeburg belagerte, erſchien eine 
bösartige Spottſchrift auf Johann Georg I. von Sachſen. Man 
brachte den Verfaſſer, der ſich durch eitle Reden verriet, nach 
Dresden, wo ihn Georg vor den Staatsrat fuͤhren und das 
Schriftſtuͤck vorleſen ließ. Als es vorgetragen war, gab der 
Kurfuͤrſt dem zitternden Menſchen, der ſein Leben verwirkt 
glaubte, die Gruͤnde ſeiner Handlungsweiſe der Reihe nach 
bekannt und ſagte: „Nun haſt du gehoͤrt, warum ich ſo und 


Von Hermann Landolt 143 


nicht anders gehandelt habe, wenn es auch weder dir noch 
deinesgleichen gefallen mag. Leute wie dich um Rat zu fragen, 
iſt mir nicht vonnoͤten. In Zukunft ſpare deine Worte, damit 
dich deine vorwitzige Zunge vor Ungluͤck bewahre.“ Damit gab 
er den Mann frei. 

Ein verabſchiedeter Offizier Friedrichs des Großen, der, ohne 
Unterſtuͤtzung geblieben, mit ſeiner Familie in groͤßte Not geraten 
war, ſchrieb eine Schmaͤhſchrift gegen den Koͤnig; ſie war ſo 
bitter, daß Friedrich, der ſonſt auf ſolche Druckwerke nicht achtete, 
fuͤnfzig Dukaten Belohnung auf die Entdeckung des Verfaſſers 
ſetzte. Der Offizier meldete ſich ſelbſt dem Koͤnige und bat um 
die ausgeſchriebene Summe, um damit ſeine hungernde Familie 
zu retten. Friedrich fuhr ihn barſch an: „Fort, aus meinen 
Augen, nach Spandau! Dort ſollt Ihr Euern Lohn haben.“ 
Dem Beſtuͤrzten wurde ein verſiegeltes Schreiben an den Komman: 
danten der Feſtung eingehaͤndigt. Zu feiner Überraſchung ver: 
kuͤndigte man ihm dort den Inhalt der koͤniglichen Schrift: 
„Ich uͤbergebe das Kommando von Spandau dem Überbringer 
dieſer Order. Seine Frau und Kinder werden mit den fuͤnfzig 
Dukaten baldigſt nachkommen.“ 

Joſeph II., von dem Friedrich der Große ſagte: „Er iſt ein 
Kaiſer, wie Deutſchland lange keinen gehabt hat,“ kuͤmmerte 
ſich nicht um die vielen Bosheiten, die man auch uͤber ihn in 
Umlauf brachte. Seine Miniſter bedraͤngten ihn in einem 
groͤblichen Falle, wo einer der Ihrigen ſtark mitgenommen war, 
doch ohne jeden Erfolg. Zuletzt ſagte der Kaiſer: „Man macht es 
mir nicht beſſer, und ich laſſe mir's gefallen. Iſt der Tadel 
gerecht, ſo nuͤtze ich ihn; iſt er unbegruͤndet, ſo lache ich daruͤber. 
Tun Sie das gleiche.“ Einer der Miniſter gab ſich nicht zufrieden 
und draͤngte weiter in den Monarchen, bis er zu hoͤren bekam: 
„Wenn Sie glauben, daß der Verfaſſer Sie verleumdet hat, 
ſo gehen Sie vor die Gerichte; er ſoll nach den Geſetzen, aber nicht 
anders beſtraft werden. Iſt es aber Wahrheit, was er ſchrieb, 
dann beſſern Sie ſich.“ 

Schon 1746 richtete Friedrich der Große an ſeinen Juſtiz⸗ 
miniſter v. Cocceji ein Schriftſtuͤck, worin die Worte ſtehen: 


1 


144 Majeſtaͤtsbeleidigungen unter rom. u. deutſchen Herrſchern 
„Wenn etwa dumme oder unvernuͤnftige Leute ſich uͤber Mein 
Sujet im Reden vergehen ſollten, will Ich daraus keine Affaire 
gemachet wiſſen, allermaßen Ich, dergleichen zu reſſentieren, 
zu weit unter Mich halte, und, wann ſich etwa jemand durch 
Reden oder Ausdruck uͤber mein Perſonal vergehen moͤchte, 
ſolches mehr verachtens- als ſtrafenswert finde, daferne es nur 
nicht ſonſten Dinge find, die den Staat ſelber angehen.“. 

An den engliſchen Miniſterreſidenten Earl Mariſhal ſchrieb 
Friedrich der Große am 23. Oktober 1753: „Ich bin ſo gluͤcklich, 
lieber Lord, voͤllig gleichguͤltig gegen alle Außerungen in Wort 
und Schrift uͤber meine Perſon zu ſein. Ja, ich rechne es mir zum 
Ruhme an, einem armen Schriftſteller zu einem Verdienſt zu 
helfen, der vielleicht Hungers ſterben muͤßte, wenn er nicht auf 
mich ſchimpfen koͤnnte. Das Urteil des Publikums habe ich 
ſtets verachtet, Richtſchnur meiner Handlungen iſt immer nur 
mein eigenes Gewiſſen geweſen. ... Jeder im öffentlichen Leben 
ſtehende Mann muß der Kritik, der Satire, ja oft genug der 
Verleumdung als Zielſcheibe dienen. Jeder, der einen Staat 
regiert hat, fei.cs als Miniſter, als General oder als König, hat 
Sticheleien ertragen muͤſſen; es waͤre mir ſehr unangenehm, wenn 
ich der einzige ſein ſollte, dem dies Schickſal erſpart bliebe. Ich 
verlange keine Widerlegung des Buches, auch nicht die Beſtrafung 
des Verfaſſers, ich habe es mit großer Gemuͤtsruhe geleſen und 
ſogar einigen Freunden mitgeteilt. Ich muͤßte eitler ſein, als 
ich bin, um mich uͤber derartigen Schmutz zu aͤrgern, mit dem 
jeder auf der Straße beſchmutzt werden kann, und ich muͤßte ein 
ſchlechterer Philoſoph fein, als ich bin, wenn ich mich fuͤr voll: 
kommen und uͤber die Kritik erhaben halten wollte. Ich ver— 
ſichere Sie, lieber Lord, daß die Schimpfreden des namenloſen 
Verfaſſers die Heiterkeit meines Lebens auch nicht durch die 
kleinſte Wolke getruͤbt haben und daß noch zehn aͤhnliche gegen 
mich gerichtete Schriften herauskommen koͤnnten, ohne meine 
Denkweiſe und Handlungsart in irgendeiner Beziehung zu 
veraͤndern.“ 

Der große Koͤnig, der „einzige Friedrich“, beſaß auch freien 
Humor genug, um einmal die Anfrage des Berliner Stadtober— 


Von Hermann Landolt 145 


m nn. 


hauptes fein zu beantworten. Man wollte wiſſen, wie ein 
Buͤrger zu beſtrafen ſei, der Gott, den Koͤnig und den Magiſtrat 
zu laͤſtern gewagt habe. Friedrich antwortete: „Daß der 
Arreſtant Gott gelaͤſtert hat, iſt ein Beweis, daß er ihn nicht 
kennt; daß er mich gelaͤſtert hat, vergebe ich ihm; daß er aber 
einen edlen Rat gelaͤſtert hat, dafuͤr ſoll er exemplariſch beſtraft 
werden und auf eine halbe Stunde nach Spandau kommen.“ 

Im Jahre 1781 ließ der Koͤnig den Kaffee hoch beſteuern. 
Das Volk war aufgebracht uͤber die Verteuerung ſeines Lieblings⸗ 
getraͤnkes. Eines Tages ritt der Koͤnig, nur von einem Reit⸗ 
knecht begleitet, aus und ſah von weitem auf dem Werderſchen 
Markte das Volk ſich draͤngen. Er ritt darauf zu und fand ein 
Bild angeſchlagen, das ihn verſpottete, wie er ſelbſt klaͤglich auf 
einem Schemel hockt, eine Kaffeemuͤhle zwiſchen den Knien 
haltend, mit der Rechten mahlend, mit der Linken gierig nach 
heraus fallenden Bohnen greifend. „Haͤngt es doch niedriger, 
daß die Leute ſich nicht den Hals ausrecken!“ ruft der Alte Fritz. 
Die Volksmenge jubelt, die Spottfigur wird von der Wand 
gezerrt und in tauſend Fetzen zerriſſen. Von lauten Hochrufen 
begleitet, ritt der Koͤnig langſam weiter. 

Kein Zufall iſt es, daß unter den roͤmiſchen Kaiſern, die nichts 
wiſſen wollten von Beleidigung der Majeſtaͤt, Philoſophen 
waren, allerdings, trotz Mark Aurel, kaum in Wahrheit ſo große 
darunter, wie der Philoſoph von Sansſouci es geweſen, den ſeine 
Zeitgenoſſen den „Herrgott von Preußen“ nannten. 


* 


++ 


1. X. 10 


Tierleben im Kriege 
Von Franz Wichmann 


ruͤllender Schlachtendonner und friedvoll⸗lieb⸗ 
Bis Vogelgeſang: welche ſchroffen Gegen⸗ 
ſaͤtze! Sollte man glauben, daß fie nebenein- 
ander beſtehen koͤnnen? Die Nachtigallen von Solferino , 
beſtaͤtigen es. Durch Friedrich Theodor Viſcher wiſſen 
wir von ihnen. Bald nach dem oͤſterreichiſchen Feldzug 
von 1859 gegen Italien und Frankreich beſuchte der 
beruͤhmte Aſthetiker die Schlachtfelder der lombardiſchen 
Ebene. Da wurde ihm wiederholt von den Einwohnern 
erzaͤhlt, daß die in der Gegend zahlreich niſtenden Nachti⸗ 
gallen keine Furcht vor den Schrecken des Krieges ge⸗ 
kannt haͤtten. Je wilder der Kampf in den Schlachten 
von Montebello, Magenta und Solferino tobte, deſto 
heller, lauter und inniger habe man ſie ſchlagen gehoͤrt. 
Die Richtigkeit dieſer Beobachtung hat der Weltkrieg 
aufs neue beſtaͤtigt. Mehr als man meint, kleben die 
Voͤgel an der Scholle, nur ſelten und ungern veraͤndern 
die beſchwingten Wanderer ihren gewohnten Aufent⸗ 
haltsort, und ihre Heimatliebe hat fie auf den Krieg— 
ſchauplaͤtzen in Weſt und Oſt vielfach in naͤchſter Naͤhe 
der Feuerlinien feſtgehalten. Gerade unſere bekannteſten 
Singvoͤgel zeichneten ſich durch ſolche Unerſchrockenheit 
aus und haben unſeren wackeren Feldgrauen in der 
Einfoͤrmigkeit des Stellungskrieges manche Freude be— 
reitet. | | 
Neben Amſeln, Droffeln, Finken, Goldammern und 
den in der Nähe menſchlicher Wohnplaͤtze unvermeid— 
lichen Spatzen erwieſen ſich Rotkehlchen und Rotſchwaͤnz⸗ 
chen beſonders zutraulich. In den flandrifchen Schuͤtzen— 
graͤben waren ſie haͤufige Gaͤſte und ſaßen ſo lange 
wartend auf der Bruſtwehr, bis ſie ihren Anteil an der 
Ration der Soldaten erhalten hatten. Zum Danke dafuͤr 


Von Franz Wichmann 147 


ſangen ſie mit Finken und Droſſeln zwiſchen den Feuer⸗ 
linien um die Wette, und Hunderte von Lerchen kletter⸗ 
ten, um mit Geibel zu reden, an ihren bunten Liedern 
in die von Granaten und Schrapnellkugeln durchſchwirrte 
Luft, um hoch uͤber dem Jammer des Schlachtfelds 
ihre jubelnden Weiſen ertoͤnen zu laſſen. 

In ſcharfbeſchoſſenen Waͤldern verſtummte wohl der 
Vogelgeſang, ſolange das Feuer anhielt. Kaum aber 
ſchwieg es, ſo erſchienen die verſchuͤchtert geweſenen 
Saͤnger wieder auf den zerſplitterten Aſten und jubilier⸗ 
ten um ſo lauter. Auch Eulen, Waldkaͤuze, Eichelhaͤher 
und manche Raubvoͤgel, wie Sperber und Falken, ließen 
ſich durch kein Schlachtgetöfe vertreiben, und unmittel⸗ 
bar vor den Artillerieunterſtaͤnden wurden in Acker⸗ 
furchen Rebhuͤhner beobachtet, die unbekuͤmmert alle 
Vorbereitungen fuͤr die zu erwartende Nachkommen⸗ 
ſchaft trafen. 

Ebenſo iſt des Menſchen anhaͤnglichſter Freund, die 
Schwalbe, auch im Felde ihm treu geblieben. Selbſt 
über die von der Kriegs furie umtoſten Ortſchaften hin: 
aus hat ſie die Soldaten begleitet. Wo der Mutter⸗ 
gottesvogel nicht in den Truͤmmern voͤllig zerſtoͤrter 
Doͤrfer weiterniſtete, da folgte er den Truppen zu ihren 
improviſierten Huͤtten dicht hinter der Front und baute 
oft in den vorderſten Artillerieunterſtaͤnden feine hei: 
meligen Neſter. 

Eine Erklaͤrung dieſer auffallenden Erſcheinungen 
iſt wohl in erſter Linie darin zu ſuchen, daß die Voͤgel 
gegen fortgeſetzte ſtarke Geraͤuſche ziemlich unempfind⸗ 
lich ſind. Waͤhrend ein einzelner, wie ein Warnungs⸗ 
ſignal wirkender Schuß ſie heftig erſchreckt und in die 
Flucht treibt, gewoͤhnen ſie ſich ſehr bald an ein an⸗ 
dauerndes Schießen, an das unaufhörliche Donner: 


148 Tierleben im Kriege 


grollen der Kanonen und die anderen Geraͤuſche des 
Schlachtenlaͤrms. Auch in Friedenszeiten ſieht man oft 
Stare und Schwalben ruhig auf Telegraphendraͤhten 
ſitzen, unter denen ein Zug voruͤberdonnert, und der 
betaͤubende Laͤrm der Großſtaͤdte hat gluͤcklicherweiſe 
unſere Singvoͤgel von den Baͤumen und Anlagen nicht 
zu vertreiben vermocht. In manchen Faͤllen iſt es 
die Mutterliebe, die den Vogel trotz der Erkenntnis 
drohender Gefahr jede Furcht uͤberwinden laͤßt. In 
ſeinen Briefen von der Front im Oſten hat uns Ludwig 
Ganghofer ein ruͤhrendes Beiſpiel dieſer Art erzaͤhlt. 
In dem von der ruſſiſchen Artillerie in Brand geſchoſſe⸗ 
nen Dorfe Bucow ſtand zwiſchen zwei brennenden 
Haͤuſern eine hoͤlzerne Scheune, deren Strohgiebel ein 
Storchenneſt trug. Das ſelbſtſuͤchtige Maͤnnchen war 
davongeflogen, die Stoͤrchin aber blieb pflichtgetreu bei 
den Eiern im Neſte. Mit lechzender Zunge ſperrte ſie 
bei der wachſenden Hitze den Schnabel auf und hielt 
ſich ganz ruhig. Nur einmal bewegte ſie die Beine, 
drehte ſich langſam und vorſichtig um, damit durch 
ihren Tritt die Eier nicht beſchaͤdigt wuͤrden, und wandte 
der Seite, von der die groͤßte Hitze herſtrahlte, gleich 
. einem Schirme den Rüden mit den aufgeſtraͤubten 
Federn zu. So harrte ſie unerſchuͤtterlich auf ihrem 
Poſten aus, bis es Bauern und Soldaten gelungen 
war, das brennende Dach zu loͤſchen. 

Falſch waͤre es jedoch, aus dem bisher Geſchilderten 
ſchließen zu- wollen, daß der Krieg im allgemeinen keinen 
ſtoͤrenden Einfluß auf das Tierleben uͤbe. Das iſt nicht 
einmal bei der geſamten Vogelwelt der Fall. Wahr⸗ 
ſcheinlich iſt es der Anblick der zahlloſen Menſchen, der 
ewig bewegten Maſſen, der Mangel an Ruhe, der viele 
Voͤgel aus Laͤndern, in denen ein Krieg tobt, forttreibt. 


— 


Von Franz Wichmann 149 


Schon 1870 hat man ſolche Wahrnehmungen gemacht. 
So vermehrten ſich damals die offenbar aus Frankreich 
gefluͤchteten Habichte und andere Raubvoͤgel in ganz 
ungewohnten Maße in den ſuͤdoͤſtlichen Grafſchaften 
Englands. Ebenſo hat das kriegeriſche Treiben in den 
Ebenen Flanderns die dortigen zahlreichen Regenpfeifer 
nach dem mittleren England geſcheucht, wo ihre Zahl 
auffaͤllig anwuchs. Als durchaus kriegsſcheu haben ſich 
auch die Sumpf: und Waſſervoͤgel in den fee= und fluß⸗ 
reichen Gebieten des oͤſtlichen Kriegſchauplatzes erwieſen. 
Nach allen Himmelsrichtungen verſprengt, haben ſich 
Wildenten, Bekaſſinen, Wildgaͤnſe und andere Waſſer⸗ 
voͤgel in Gegenden gezeigt, in denen ſie fruͤher nie zu 
ſehen waren; ihrem Beiſpiel folgend, raͤumten auch die 
Wildtauben ihre heimatlichen Waͤlder und wanderten 
in ihnen bisher ganz unbekannte Gebiete aus. Als 
Folgeerſcheinung des Weltkriegs war ferner waͤhrend 
des letzten Sommers ein ſtarker Durchzug und eine 
immer haͤufigere Niederlaſſung von Buſſarden, Ha⸗ 
bichten und verwandten Raubvoͤgeln auf deutſchem 
Boden feſtzuſtellen. 

Im Gegenſatz dazu werden andere Vogelarten durch 
die verſchiedenen Kriegſchauplaͤtze geradezu angelockt. 
Das gilt namentlich von den Maſſenwanderungen der 
Kraͤhen und Raben, die heute den großen Bewegungen auf 
den verſchiedenen Kampfplaͤtzen hartnaͤckig nachfolgen, 
wie vor einem Jahrhundert den Heereszuͤgen der Na⸗ 
poleoniſchen Zeit. Waͤhrend ſie ſonſt im Herbſt und 
Winter aus dem unwirtlichen Rußland in dichten 
Schwaͤrmen nach Weſten und uͤber Deutſchland bis tief 
nach Frankreich flogen, haben ſie jetzt ihre gewohnte 
Reiſe ſchon an der Grenze unterbrochen. Die Mehrzahl 
von ihnen uͤberwinterte in Maſuren und Polen bei den 


150 Tierleben im Kriege 


kaͤmpfenden Heeren. Nicht nur die Tierkadaver der 
Schlachtfelder zogen ſie hier an, ſondern auch die von 
den Truppen mitgefuͤhrten Vorräte. Die Lagerplaͤtze 
der Proviantkolonnen mit ihren zahlreichen Abfaͤllen 
boten Saat⸗ und Rabenkraͤhen reichlich Nahrung und 
erſparten den ſchwarzen Geſellen die Muͤhe eines weiten 
Fluges. | 

Geradezu verheerend greift der Krieg mit feinen ge⸗ 
waltſamen Veraͤnderungen in das Leben der vierfuͤßigen 


Tiere ein. Beſonders der Wildſtand der betroffenen 


Gegenden hat unter den Kriegsverwuͤſtungen arg zu 
leiden. Schon in fruͤheren Kriegen iſt er in manchen 
Gegenden oft voͤllig vernichtet worden; ſo bei den 
Tiroler Freiheitskaͤmpfen von 1809, denen der durch 
die Salzburger Erzbiſchoͤfe muͤhſam gehegte Alpen⸗ 
ſteinbock zum Opfer fiel, oder waͤhrend des letzten Buren⸗ 
krieges, wo das Daum, ein zebraartiges Tigerpferd, bis 
auf wenige Exemplare ausgerottet wurde. 

Von Haſen und Rehen iſt es bekannt, daß ſie ſich 
uͤberall da, wo der Krieg ſeinen zerſtoͤrenden Fuß hin⸗ 
ſetzt, ſogleich weit hinter die Schußlinie zuruͤckziehen. 
Aus den Waͤldern der Ardennen haben ſich die von 
Panik ergriffenen Wildſchweine bis an die Kuͤſte bei 
Duͤnkirchen und Calais gefluͤchtet. Den praͤchtigen Kar⸗ 


pathenhirſchen aber ſtellte die Jagdleidenſchaft der ruſſi⸗ 


ſchen Offiziere nach. Und ſo wird in den von den 
Truppen durchzogenen und vom Kampfe beruͤhrten 
Waͤldern kaum mehr viel Wild uͤbriggeblieben ſein. 
Sicher vor den Schrecken des Krieges fuͤhlen ſich 
nur die Hoͤhlenbewohner, wie der Fuchs und das wilde 
Kaninchen. Den Feldmaͤuſen, die ebenfalls zu dieſer 
Art von Standhaften gehören, hat der Krieg zu uns 


heimlicher Vermehrung verholfen. Abgeſehen davon, 


Von Franz Wichmann 151 


daß ſe as den abgeernteten Feldern sicli ini 
finden, hat heute niemand Zeit, ihnen wie fonft nach: 
zuſtellen, und ihren ſchlimmſten Feinden, den Kraͤhen, 
iſt die Tafel ſo gut gedeckt, daß ſie gern auf die un⸗ 
bequeme Maͤuſejagd verzichten. Leider iſt der Krieg 
aber auch noch fuͤr ein anderes, weit ſchaͤdlicheres Nage⸗ 
tier, die aus Amerika eingeſchleppte Biſamratte, von 
Vorteil geweſen. Dieſes Raubzeug, das unſeren ein⸗ 
heimiſchen Fiſchbeſtand ſtellenweiſe mit Vernichtung be⸗ 
droht, iſt, gefoͤrdert durch die Schonzeit, die ihm der 
maͤnnerverbrauchende Krieg angedeihen ließ, ſeit Jahres⸗ 
friſt bedenklich an Zahl gewachſen und hat ſich neuer— 
dings von Donau und Elbe her uͤber Oſterreich und 
Sachſen bereits der Mitte Deutſchlands genaͤhert und 
bis in den Bayriſchen Wald hinein ausgebreitet. 

Wie hier die Fiſchwelt des Binnenlandes unmittel⸗ 
bar, ſo wird die unſerer Kuͤſtenmeere mittelbar durch 
den Krieg geſchaͤdigt. Daß die haͤufigen Minenerplo: 
ſionen den in der Nordſee heimiſchen Hering ſchwer 
beunruhigen muͤſſen, iſt ebenſo begreiflich, wie die An⸗ 
nahme, daß er infolgedeſſen die Richtung ſeiner Laich⸗ 
zuͤge aͤndern wird. Hoffentlich wird der fuͤr unſere 
Volksernaͤhrung wie fuͤr einen großen Teil der kuͤſten⸗ 
laͤndiſchen Fiſcherbevoͤlkerung jo uͤberaus wichtige 
Meeresbewohner von der Kuͤſte, an der er ſonſt zu 
laichen gewohnt iſt, nicht ganz weggeſcheucht, da dies 
ein zeitweiliges Ausbleiben ſeiner Zuͤge zur Folge haͤtte. 
Zum Schluß mag noch jener kleinſten Tierwelt ge⸗ 
dacht werden, die einen Teil der Menſchheit — ſehr 
gegen den Willen der Betroffenen — mit ihrer Gefolg— 
ſchaft begluͤckt: des Ungeziefers, in deſſen Leben der 
Krieg ebenfalls eine bedeutſame Rolle ſpielt. Unlieb⸗ 
ſame Vertreter desſelben find ſchon mehrfach durch krieg— 


D n 


152 Tierleben im Kriege 


—— — — —— — zn nen 2 — — 


fuͤhrende Heere in Laͤnder gebracht worden, in denen 
ſie bisher ganz unbekannt waren. Das charakteriſtiſchſte 
Beiſpiel dafuͤr bilden die Schaben. Wahrſcheinlich im 
Orient heimiſch, ſind ſie in fruͤheren Kriegen zu unſeren 
oͤſtlichen Nachbarn gekommen und wurden in den Frei: 
heitskriegen mit ihren Heeren nach Deutſchland ver⸗ 
ſchleppt. Daß wir infolgedeſſen die Kakerlaken „Ruſſen“ 
getauft haben, hat uͤbrigens der Moskowiter nicht auf 
ſich ſitzen laſſen wollen; auf Grund der fragwuͤrdigen 
Behauptung, die Kuͤchenſchaben haͤtten ſeine Truppen 
aus dem Siebenjaͤhrigen Kriege mit heimgebracht, hat 
er die Tiere mit dem Namen „Preußen“ belegt. Mag 
dem ſein, wie ihm wolle: das garſtigſte aller Ungeziefer 
wird der Ruſſe jedenfalls nicht von ſich abſchuͤtteln 
koͤnnen; denn bekanntlich hat unſere Heeres verwaltung 
gegen die Maſſeninvaſion von ruſſiſchen Laͤuſen einen 
ebenſo erbitterten Krieg eroͤffnen muͤſſen, wie gegen deren 
unfreiwillige Traͤger ſelbſt. 


++ 


Bom guten, grauen Dichter 
Bon Mar Adler 


Mit einem Bilde Walt Whitrans 

ein Krieg des neunzehnten Jahrhunderts hat 
K. viel Opfer an Gut und Blut gefordert wie 
der Amerikaniſche Sczeſſionskrieg der ſechziger 
Jahre. Weder der Napoleoniſche Krieg, noch der Deutſch⸗ 
Franzoͤſiſche Feldzug von 1870/71 geſtaltete ſich fo ver⸗ 
luſtreich wie dieſes moͤrderiſche Ringen um die Einheit 
der nordamerikaniſchen Staaten. Achtmalhundert⸗ 
tauſend Tote und fuͤnfundzwanzig Milliarden Kriegs⸗ 
koſten: das war die traurige Bilanz des Buͤrgerkrieges. 
Aber nicht minder groß als das Opfer, war das 
erſtrebte Ziel: ein einiges Reich von Ozean zu Ozean 
aufzurichten, das die Erfuͤllung des politiſchen, kultu⸗ 
rellen und wirtſchaftlichen Ideals der beſten Amerikaner 
verbuͤrgte; die inneren Reibungen zu beſeitigen und die 
geſamte Macht eines gewaltigen Staatsorganismus 
nach außen zu wenden. Wir wiſſen ſeit der Gruͤndung 
des Deutſchen Reiches, welch uͤberreiche Fuͤlle von 
Moͤglichkeiten und Wirklichkeiten hinter dieſen Formeln 
ſteckt. Auch Walt Whitman, von uns Deutſchen ſeit 
langem als der groͤßte Lyriker der Neuen Welt geehrt, 
bekannte ſich fruͤhzeitig zur Einheitsidee. Und da es ihm 
nicht gegoͤnnt war, fuͤr ſein Ideal in den Reihen der 
Soldaten zu fechten, ſo wurde er ihr guter Geiſt und 
Schutzengel. | 
Wofür kaͤmpft Walt Whitman auf feine Art? 
Warum trägt er drei Jahre lang das Kreuz der Lazarett: 
pflegerſchaft — nicht als Beamter und Soldat, ſondern, 
was in dieſem Falle viel ſchwerer wiegt, als Amateur in 
der vollſten und edelſten Wortbedeutung? Warum 
nimmt er alle Qualen und Todeszuckungen dieſer armen 
wunden und ſiechen Burſchen, die er wie ein Vater liebt, 


134 Vom guten, grauen Dichter 
bis in die feinſten Faſern feines uͤberempfindlichen 
Nervengeflechts auf? Was treibt ihn, das Stoͤhnen der 
Schmerzgefolterten, das zaghafte Laͤcheln der Geneſenden 
mitzuerleben, den tauſendfachen Tod in den Hoſpitaͤlern 
mitzuſterben? Iſt es, weil es um einen Kampf gegen 
die Sklavenhalter 
des Suͤdens geht? 
— O nein! Gleich 
Lincoln, ſeinem an⸗ 
gebeteten „Kapi⸗ 
taͤn“, weiß er nur 
zu wohl, daß man 
dem Neger, um ihm 
die buͤrgerlichen 
Rechte bekoͤmmlich 
zu machen, auch 
die Faͤhigkeit ihres 
richtigen Gebrauchs 
ſchenken muͤßte; 
daß „Onkel Toms 
Huͤtte“ nichts wei⸗ 
ter als eine pracht⸗ 
volle, phantaſtiſche 
Br Kindergeſchichte iſt. 
i Gaͤrt in ihm der 
e alte überlieferte 
Stammeshaß gegen den Suͤden? — Wir wiſſen, daß 
er den Suͤdlaͤnder nicht weniger liebte als den unioniſti⸗ 
ſchen Nordlaͤnder, den zaͤhen, unerſchrockenen Robert Lee 
nicht weniger als den lakoniſchen General Grant. („War 
man auf der einen Seite tapfer? Nun, auf der anderen 
nicht minder,“ heißt es irgendwo im „Lazarettpfleger“.) 
Auch der Wirtſchaftskrieg, die angeſtrebte Unterbindung 


—— 


Von Max Adler 155 


der ſuͤdlaͤndiſchen Plantagenrente durch den Fon 
kurrierenden Norden, war nicht ſeine Sorge. Aber er 
wußte — bis in die tiefſte Seele hinein wußte er es! — 
daß jetzt oder nie die Stunde gekommen war, jenes 
einige, freie Amerika aufzurichten, deſſen Grundpfeiler 
Liebe, Freiheit und Religion ſein ſollten. 

Und fo wandert er tagtäglich, getrieben von dieſer 
einen allgewaltigen Grundidee der Kameradſchaft und 
ſelbſtvergeſſenen Menſchenliebe, durch die fuͤnfzig 
Hoſpitaͤler der Bundeshauptſtadt Waſhington, bis weit 
hinaus in die laͤndlich gelegenen Krankenſaͤle, von wo 
man, fern auf den virginiſchen Hügeln, ſchon die feind⸗ 
lichen Fahnen flattern ſieht. Wohl gab es in den Laza⸗ 
retten ſehr tuͤchtige, gewiſſenhafte Arzte, Waͤrter und 
Waͤrterinnen; aber wenn einer der Wunden und Kranken 
reſtlos erſchloſſene Menſchlichkeit und eine alle Menſchen⸗ 
kraft uͤberſteigende Zuneigung brauchte, fo hielt er ſich 
an den „Mann mit dem Engelsgeſicht“, an Kamerad 
Walt. Mit der Zeit wurde er in den Lazarettſaͤlen 
unentbehrlich, eine Art Fachautoritaͤt in Liebesdienſten, 
in individueller Krankenbehandlung. „Ich kann be⸗ 
zeugen,“ ſchreibt er gelegentlich an den „Brooklyn 
Eagle“, „daß Freundſchaft buchſtaͤblich ein Fieber ge: 
heilt hat, und das Heilmittel taͤglich dargebrachter 
Zaͤrtlichkeit einen Schwerverwundeten.“ Unzaͤhlige 
Liebesgaben fuͤr ſeine Schuͤtzlinge haben in ſeinem Fell⸗ 
eiſen, in ſeinen weiten Taſchen, in ſeinem weiten Herzen 
Platz. Er bringt ihnen Obſt, Suͤßigkeiten und Tabak 
(obgleich er ſelbſt niemals geraucht hat), ſchenkt ihnen 
Federn, Briefmarken und Papier, ſetzt fuͤr ſie Briefe an 
die Angehoͤrigen auf und gibt dieſen wohl auch Nach⸗ 
richt vom letzten Salut und von den Soldatengraͤbern. 
Zwiſchendurch aber veranſtaltet er Feſte mit Eiscreme... 


156 Vom guten, grauen Dichter 


Und während er mit dem Geſicht eines Freuben⸗ 
ſpenders von Lazarett zu Lazarett eilt, brennt tief in 
ſeiner Bruſt eine gluͤhende Flamme, ein zehrendes 
Feuer. In den „Trommelſchlaͤgen“, die Johannes 
Schlaf, wie vieles andere, pietaͤtvoll ins Deutſche uͤber⸗ 
tragen hat, erzaͤhlt er, ein gebuͤckter Alter, dem neugie⸗ 
rigen Jungvolk von ſeiner Lazarettarbeit: 


„Bandagen trag' ich, Waſſer und Schwamm. 

Stracks, eilig begeb' ich mich zu den Verwundeten, 

Wo ſie, vom Schlachtfeld eben eingebracht, am Boden liegen, 

Wo ihr unſchaͤtzbares Blut das Gras des Erdbodens rötet — — — 

Zu allen und zu jedem einzeln trete ich heran; nicht einen laß 
ich aus; 

Waͤhrend mir der Waͤrter folgt mit einem Kuͤbel oder einem 
alten Eimer, 

Der bald mit Lappen und geronnenem Blut gefüllt ift, geleert 
wird, um fich abermals zu füllen. 

Ich ſchreite und verweile, beuge mich hernieder und behandle 
die Verwundeten mit kund' ger Hand. 

Feſt bin ich zu jedem; Schmerz zu verurſachen iſt hart, doch 
unvermeidlich. = 

Dort wendet einer ſich mir zu und ruft mich an mit ſeinen 
Blicken — armer Burſch! Nie hab' ich dich geſehn, 

Doch, mein' ich, koͤnnt' ich es dir in dieſem Augenblick nicht ver⸗ 
weigern, den Tod fuͤr dich zu leiden, wenn es dich retten 
koͤnnte ..“ 


Ende Maͤrz des Jahres 1864, nachdem der uner⸗ 
bittliche Grant den Oberbefehl erhalten und Whitman 
erkannt hat, daß es nun auf die Vernichtung Lees und 
der Konfoͤderierten abgeſehen ſei, ſchreibt er nach Hauſe: 
„O Mutter, zu denken, daß wir das nun bald wieder 
hier haben werden, was ich hier nun ſchon ſo oft geſehen 
habe, die peinvollen Fuhren und Zuͤge und Bootladungen 
von armen, blutigen, bleichen, verwundeten jungen 


Von Max Adler 157 


Leuten! ... Ich nehme all die kleinen Anzeichen wahr, 

wie die Lazarette vorbereitet werden und ſo weiter. Es 
iſt ſchrecklich, daran zu denken ... Was fuͤr eine furcht⸗ 
bare Sache iſt der Krieg! ...“ Und gegen das Ende des 
Feldzugs berichtet er: „Der große Saal, in dem ich jetzt 
bin, iſt ausſchließlich fuͤr Sezeſſionsſoldaten beſtimmt. 
Ein Mann, gegen vierzig Jahre alt, vom Durchfall aus⸗ 
gemergelt, zog mich an, wie er, die Augen nach oben 
gedreht, dalag gleich einem Toten. Seine Schwaͤche 
war ſo uͤberaus groß, daß es eine Minute oder ſo etwas 
dauerte, bis er in einigermaßen zuſammenhaͤngender 
Weiſe zu ſprechen vermochte; und doch war er augen 
ſcheinlich ein Mann von guter Intelligenz und Er⸗ 
ziehung ... Er hatte eine Mutter, Weib und Kind, die 
in ihrem Heim am Miſſiſſippi lebten. Es war lange, 
lange her, daß er fie nicht mehr geſehen hatte ... Der 
Anblick des Mannes praͤgte ſich mir aufs tiefſte ein. Das 
Fleiſch war im Geſicht und an den Armen voͤllig ein: 
gefallen, die Augen in ihren Hoͤhlen geſunken, glaſig, 
dunkel unterlaufen. Zwei, drei große Traͤnen rannen 
ihm langſam aus den Augen die Schlaͤfen herab. Ohne 
Zweifel war er nicht gewohnt, daß man ſo mit ihm 
ſprach, wie ich mit ihm geſprochen hatte..“ 

Wie er zum erſten Male ein Schlachtfeld erblickt, 
ſchreit er verzweifelt auf; und doch hat niemand weder 
vor ihm noch nach ihm die Wunder und den Glanz des 
Krieges ſo machtvoll beſungen wie dieſer Friedens⸗ 
ſtreiter und Kriegsheiland. Derſelbe Dichter, der die 
Schreckniſſe des Krieges in ſo grellen Farben malt, 
widmet in ſeinem „Sang der Freuden“ dem Soldaten⸗ 
leben dieſen begeiſterten Hymnus: 


158 Vorm guten, grauen Dichter 


8 ——— 8 — — — — 


nn ˙——u—-—̃ — sen de 


„Oh, noch einmal die Freuden des Soldaten durchleben! 

Das Gefuͤhl der Gegenwart eines tapferen Kommandanten und 
ſeiner Sympathie. f 

Seine kaltbluͤtige Ruhe zu gewahren — ſich erwärmt zu fühlen 
von dem Strahl ſeines Laͤchelns. 

In die Schlacht zu ruͤcken — das Spiel der Hoͤrner zu hoͤren 
und das Raſſeln der Trommeln! 

Das Krachen der Artillerie zu hoͤren! — Das Glitzern der Ba⸗ 
jonette und der Gewehrlaͤufe in der Sonne! 

Maͤnner fallen und ſterben zu ſehen ohne Klage! Ä 

Den wilden Blutgeſchmack zu ſchmecken — fo teuflifch fein zu 
können ! | 

So Über den Tod und die Wunden der Feinde zu triumphieren!“ 


Muͤßig, nichtig wird ihm alles Friedensgeſchaͤft vor 
der umſtuͤrzenden, reinigenden Gewalt des gerechten 
Krieges: 

„Schlagt, ſchlagt, Trommeln! Blaſt, Hoͤrner, blaſt! 

Was da Verhandlung und was da Beſchwerde! 

Achtet nicht der Zagen, auf Klagen nicht und Traͤnen! 

Nicht der Bitte des Vaters fuͤr den Sohn! 

Überdröhnt des Kindes Stimme und der Mutter Flehen! 

Bahn macht fuͤr die Bahren, die Toten ſchuͤtten ſollen fuͤr den 
Leichenwagen! 

So rauh euer Droͤhnen, ſchreckliche Trommeln! Ihr Hoͤrner, 
ſo hart euer Blaſen!“ 


Wenn aber der Lobpreiſer des Schlachtfeldtodes in 
die Zelte der Verwundeten eintritt, dann kommt er als 
Bote des Lebens. Dann ſtreut er, ein Abgeſandter der 
ſommerlichen Flur, Blumen uͤber die Betten, ſcherzt 
mit den Kranken und Verſtuͤmmelten und iſt wie ein 
Mahner zu den, ach, ſo jaͤh entgleitenden Freuden der 
Oberwelt. „Komm wieder, Walt! Komm wieder!“ 
rufen die Burſchen ihm nach, wenn er ſeine Runde be— 
endigt hat und fuͤr heute Abſchied nimmt. 


Von Mar Adler 159 


5 er 5 — — zu gen — men ee 


Und er kommt wieder. Solange, bis den Fuͤnfund⸗ 
vierzigjaͤhrigen, vor ſeeliſchen Qualen und materiellen 
Sorgen fruͤhzeitig Ergrauten — den „guten, grauen 
Dichter“ nennt ihn eine Werbeſchrift ſeines Freundes 
O'Connor — der aufreibende Samariterdienſt aufs 
Krankenlager wirft, von dem er ſich nie wieder voͤllig 
losloͤſen ſollte. Er hat dem Vaterland und ſeinen 
Soͤhnen alles gegeben, was er beſaß, ſeine Geſundheit, 
ſeine tatfrohe, troſtreiche Seele. 


+} 


Morgen um dieſe Zeit 
Von Heinz Welten 


er junge Proviſor ſtreifte ein rotes Papier uͤber 
Mi Arzneiglas und band einen langen weißen 

Zettel an den Flaſchenhals. Ein Maͤdchen, das 
wartend auf der Bank neben der Tuͤr geſeſſen, erhob ſich, 
zaͤhlte das Geld auf den Tiſch und bot „Guten Abend“. 
Aufatmend ſchloß der Proviſor die Tuͤr und drehte das 
Gas ab. Nur eine kleine Flamme, deren Schein auf die 
Straße fiel, mußte uͤber Nacht brennen. Der junge 
Mann ging in das Nebenzimmer. Ein Tiſch, auf dem 
noch Reſte eines beſcheidenen Abendeſſens ſtanden, ein 
paar Stuͤhle, ein Schrank mit Buͤchern und Arznei⸗ 
mitteln, fuͤr die in der Apotheke kein Raum war, eine 
Ruhebank mit einer Decke und zwei Kiſſen bildeten die 
ganze Einrichtung des ſonſt ſchmuckloſen, weißgetuͤnchten 
Zimmers. 

Der Proviſor ſetzte ſich vor die Reſte ſeines Nacht⸗ 
mahls. Muͤde und abgeſpannt ſchweiften ſeine Augen 
durchs Zimmer und hafteten an der Alarmglocke; wie 
oft ſchon hatte ſie ihn aus dem erſten tiefen Schlaf ge⸗ 
weckt, der nach langer Tagesarbeit den Muͤden uͤber⸗ 
fällt, Er dachte an die gluͤcklicheren Berufsgenoſſen der 
Großſtaͤdte, die oft an einem Tag zweihundert und mehr 
Rezepte zu erledigen hatten. Um acht Uhr morgens 
gingen ſie zum Dienſt; von da an hieß es arbeiten, Pillen, 
Salben, Arzneien und Pulver bereiten, daß man kaum 
zu ſich ſelber kam, und doch war die Mittags pauſe 
immer ſo raſch da. Man ging in ein Gaſthaus, blieb 
zwei Stunden fort und konnte ſich erholen; die Nach— 
mittagsarbeit waͤhrte bis in die Abendſtunden, bis der 
Nachtdienſt begann oder bis man ausgehen konnte. An 
Dienſtabenden freute man ſich auf die freie Zeit, und an 
freien Abenden ging man in ein Theater, zum Konzert 


7 


Von Heinz Welten 161 


oder wonach einen ſonſt verlangte. Waͤhrend der Dienſt⸗ 
ſtunden am Tage arbeitete man mit anderen zuſammen, 
mit denen es ab und zu ein Wort zu plaudern gab. Die 
Fenſter gingen auf die Straße, auf der das Leben vor⸗ 
uͤberflutete. Ja, das waͤre ein Daſein geweſen. 

In Großſtaͤdten aber war nie Platz fuͤr Emanuel 
Olhauſen zu finden geweſen — er ſtotterte. Wer haͤtte 
auch ohne Not einen ſtotternden Gehilfen angenommen, 
einen Menſchen, der nicht imſtande war, mit über: 
zeugendem Geſchick ein unfehlbares Huͤhneraugenmittel 
oder die beſten Magentropfen anzupreiſen? Leute wie 
Olhauſen muͤſſen auf dem Lande oder in Heinen Städten 
unterzukommen ſuchen, in Orten, die nur eine Apo⸗ 
theke haben, wo ſie keinen Vergleich zu fuͤrchten brauchen. 
Solche Stellen, um die ſich nicht viele bemuͤhen, gibt es 
immer, und die Beſitzer kleiner Apotheken mußten froh 
ſein, einen Gehilfen zu bekommen. 

Olhauſen kleidete ſich aus, ſuchte ſein Lager und ſtarrte 
land hingeſtreckt zur Decke. Morgen um dieſe Zeit! — 
Eine Nacht und einen Tag noch hatte er in dieſer 
Frone zu verbringen; dann aber war er frei, frei 
für zehn wundervolle Tage. Noch vierundzwanzig 
Stunden, und ſein Urlaub begann. Vom Rathausturm 
ſchlug die Glocke elf Uhr. Noch achtzehn Stunden 
Dienſt, dann war er frei. Morgen um dieſe Zeit konnte 
er von Nuͤrnberg mit dem Schnellzug nach Berlin und 
von dort vielleicht nach Hamburg weiterfahren. Ein 
ganzes Jahr lang Entſagung lag hinter ihm; er hatte 
gehungert und gedarbt, um einmal wieder das Groß: 
ſtadtleben genießen zu koͤnnen, wie damals, als er ſeine 
zwei Studienjahre in Berlin verbrachte, die ſchoͤnſte Zeit 
ſeines Lebens. 

Über fuͤnfbundert Mark lagen in feiner Urlaubskaſſe, 

1916. X. ö 11 


162 Morgen um dieſe Zeit 


damit konnte man in zehn Tagen ſchon etwas beginnen. 
Morgen um dieſe Zeit! Emanuel Olhauſen loͤſcht die 
Lampe und wuͤhlt ſich tief in die Kiſſen. Schwacher 
Lichtſchimmer faͤllt durch die Glastuͤr aus der Apotheke, 
die im Halbdunkel der kleingeſchraubten Gasflamme 
liegt. Nur das Ticken einer alten großen Standuhr 
unterbricht die Stille, kein Laut von der Straße dringt 
bis zu ihm. Vor dem Einſchlafen hoͤrt er ſchwere Schritte 
uͤber das hol prige Pflaſter. Ob man ihn wecken wird, ob 
ſie voruͤbergehen. Vielleicht wankt einer der biederen 
Kleinbuͤrger, der ſich beim Kegeln verſpaͤtet hat, dem 
heimiſchen Herde zu. Doch die Schritte kommen naͤher 
und halten vor der Apotheke, die Glocke raſſelt, Emanuel 
faͤhrt auf und greift nach der Schnur, die das Schlag⸗ 
werk abſtellt. Er wirft den Schlafrock um, ſchluͤpft in 
die Hausſchuhe und ſchlurft in die Apotheke. Er ſchraubt 
das Gas hoch und oͤffnet die kleine Klappe im Tuͤr⸗ 
laden. | 

Auf der Straße halt ein Leiterwagen; ein junger 
Bauernknecht ſteht vor der Apotheke. Die Medizin fuͤr 
Muͤller ſolle er holen, das Rezept ſei heute mittag ſchon 
gebracht worden. Kaum verſucht Olhauſen, ſeinen Zorn 
zu verbergen. Oft kamen die Leute am Nachmittag 
in die Apotheke und ſcheuten ſich nicht, ihn nachts zu 
wecken, wenn ſie genug getrunken und geſpielt hatten 
und nach Hauſe fuhren. 

„Die Medizin fuͤr Muͤller wollen Sie?“ Er blickt 
flüchtig auf das Brett, auf dem noch verſchiedene 
Flaſchen und Schachteln ſtehen. Vielleicht wird man 
ſie alle noch in dieſer Nacht abholen. Zuzutrauen iſt den 
Menſchen hier alles. Er lieſt die Namen auf den ein⸗ 
zelnen Glaͤſern und Schachteln; die zweite ſchon gehoͤrt 
dem Bauern Muͤller. Er verpackt die Schachtel und 


Bon Heinz Welten 


— — —— — — 


163 


verſucht, ſeines Argers Herr zu werden, um ſich die 
Schlafſtimmung nicht voͤllig zu rauben. 

Der Burſche geht gemaͤchlich zu ſeinem Fuhrwerk, und 
Olhauſen wirft ſich wieder auf ſein Bett. Zwei Uhr hoͤrt 
er noch ſchlagen. Aber in dieſer Nacht geht ihm kein 
Verdruß zu nahe: morgen um dieſe Zeit begann ja die 
Freiheit. | | 

Um ſechs Uhr morgens weckt ihn der Burſche, um 
halb ſieben Uhr bringt das Maͤdchen das Fruͤhſtuͤck; die 
Laͤden werden geoͤffnet, und das Tagewerk geht ſeinen 
Gang. Doch heute ſchmeckt der duͤnne Kaffee mit dem 
ſpaͤrlich beſtrichenen Broͤtchen vortrefflich, es iſt ja der 
„letzte“ Morgenkaffee. 

Gegen acht Uhr kommt der Apotheker herunter, der 
ihm muͤrriſcher noch wie zu anderen Tagen den Morgen⸗ 
gruß bietet. Heute iſt er noch weniger guter Laune als 
ſonſt; er aͤrgert ſich, daß er zehn Tage lang alles allein 
verſorgen muß, waͤhrend ſein Herr Gehilfe um ſein gutes 

Geld vergnuͤgt in der Welt herumfaͤhrt. | 
| Langſam kriecht die Zeit vorwärts; nach dem Mittag: 
eſſen aber faͤngt ſie zu laufen an, als ob ſie alles wieder 
gutmachen wollte, was ſie im Lauf des Jahres an ihm 
ſuͤndigte. Noch drei, noch zwei Stunden! Und jetzt noch 
eine halbe Stunde! Faſt konnte man ſchon die Minuten 
zaͤhlen. Gegen halb ſechs Uhr haͤlt ein Wagen vor der 
Apotheke. Ein alter Bauer verlangt ein Pulver, das 
ihm der Tierarzt fuͤr ſein Pferd verſchrieben habe. 

„Auf welchen Namen?“ fragt Emanuel Olhauſen. 

„Na, fuͤr Klaus Muͤller. Fuͤr wen denn ſonſt? 
Kennen Sie mich denn nicht?“ 

Argerlich hoͤrt es der Apotheker im Nebenzimmer. 
Daß ſein Gehilfe ſich nie die Namen der Leute 
merken kann! Emanuel Olhauſen ſucht unter den 


164 Morgen u um 1 diefe Zeit 


een ans und kann die Pulver 110 
finden. 

„Wann haben Sie denn das Rezept gebracht?“ 

„Na, geſtern abend. Iſt's denn noch nicht fertig? 
Das dauert aber lange.“ 

Der Proviſor lieſt noch einmal die Namen auf den 
Flaſchen und Schachteln einzeln durch. Er findet nur 
eine Medizin fuͤr Bertold Muͤller, aber kein Pulver 
für Müllers Pferd. Ploͤtzlich wird ihm klar, daß er in 
der Nacht die beiden Rezepte verwechſelte, dem Bauern 
Bertold Muͤller hatte er die Pulver gegeben, die fuͤr 
Klaus Muͤllers Pferd beſtimmt waren. 

Der Apotheker kommt aus dem Nebenzimmer: „Na, 
was gibt es denn? Koͤnnen Sie es noch nicht finden?“ 
Da reißt er ſich zuſammen. 

„Doch; es iſt ſchon da.“ Schnell nimmt er einen 
kleinen Porzellanmoͤrſer, hebt die Handwage vom Regal 
und miſcht das Pulver noch einmal. 

Der Apotheker nimmt ſchweigend das Rezept, um 

eine neue Schachtel zu beſchreiben. Er hat begriffen, daß 
etwas nicht in Ordnung iſt. Als der Bauer draußen iſt, 
wendet er ſich an ſeinen Gehilfen. „Was war das, Herr 
Olhauſen?“ 

„Ich — habe — die Arzneien verwechſelt. Es waren 
zwei Rezepte auf den Namen Muͤller da.“ 

Der Apotheker ſieht ihn an und ſagt kein Wort. Dann 
ſchaut er in das Buch, in das alle Rezepte eingetragen 
werden muͤſſen. 

„Iſt dies hier das andere?“ Er zeigt auf eine Ein⸗ 
tragung; Olhauſen folgt ſeinem Finger mit dem Blick. 

„Ja, das iſt es. Es war heute nacht.“ Der Apo⸗ 
theker brauſt auf; kein Lehrling wuͤrde ſo handeln. Es 
ſei unerhoͤrt, Pferdepulver fuͤr einen Menſchen abzu⸗ 


Bon Heinz Welten 165 
1 Den Tod muͤſſe der davon haben. Ob er wiſſe, 
was er getan habe? Ein Menſchenleben habe er auf dem 
Gewiſſen und kaͤme ins Zuchthaus. Die Apotheke habe 
er geſchaͤndet; an allem ſeien dieſe verdammten Reiſe⸗ 
gedanken ſchuld, die er allein noch im Kopf habe und 
nichts anderes ſonſt. Er wuͤrde ja jetzt ſehen, wo die 
Reiſe hinginge. Das ganze Haus habe er ungluͤcklich 
gemacht; kein Menſch wuͤrde mehr kommen, wenn es 
einmal herum ſei, daß der Herr Gehilfe die Leute ver⸗ 
gifte. Er ſchreit den niedergeſchmetterten Olhauſen an: 

„Sie muͤſſen das gutzumachen ſuchen, wenn noch 
Zeit dazu iſt. Vielleicht hat der Muͤller die Pferdepulver 
noch nicht genommen. Sofort muͤſſen Sie hingehen und 
ſehen, ob die Arzneien noch umzutauſchen ſind. Bertold 
Muͤllers Hof liegt bei Oberkochen. Den Weg kennen 
Sie ja?“ 

Olhauſen nickt; er ſteckt die richtige Medizin in die 
Taſche, nimmt Hut und Stock und macht ſich auf den 
Weg. Zeit zum Nachdenken bleibt ihm genug; ein Weg 
von mehr als einer Stunde liegt vor ihm. Wenn er 
nun zu fpät kommt? Was dann? Was dann kommen 
wird? Die Verhaftung, die Fahrt ins Kreisgericht, die 
Unterſuchungshaft, die Gerichtſitzung und zuletzt das 
Gefaͤngnis. Und dann ging es bergab. Niemand wuͤrde 
ihn nachher noch nehmen wollen. Dann konnte er hinter 
dem naͤchſtbeſten Zaun auf ſein Ende warten. 

Wenn er zu ſpaͤt Fame, wenn der Bauer ſchon ge: 
ſtorben war, ginge er in die Apotheke zuruͤck und ſagte 
dem Herrn nur, daß alles in guter Ordnung ſei. Dann 
wuͤrde er aus dem Schraͤnkchen Morphium nehmen. — — 

Zerſchlagen und halb nur bei Sinnen kommt Ol⸗ 
hauſen vor das Gehoͤft. Eine Magd ſagt ihm, daß dem 
Herrn „nit ganz extra“ ſei, er ſaͤße in der Schlafſtube. 


166 Morgen um dieſe Zeit 


Gott ſei Dank; der Bauer lebte noch. Bertold Muͤller 
ſitzt behaglich am Fenſter und lieſt anſcheinend hoͤchſt 
aufmerkſam im Kreisblatt. 

Olhauſen ſchuͤttelt kraͤftig die ihm gebotene Hand; 
er fuͤhlt ſich ploͤtzlich ſo leicht und wohl, trotzdem die 
Luft im Zimmer ſeiner Naſe gewaltig zu ſchaffen macht. 
Langſam, um nicht zu ſtottern, antwortet er auf die 
Frage, welcher Zufall ihn hergefuͤhrt habe, es ſei nur 
eine kleine Gefaͤlligkeit, die man ihm nicht wohl ab⸗ 
ſchlagen wuͤrde. Im Voruͤbergehen habe er in einer 
Gartenecke Pflanzen geſehen, deren Wurzeln fuͤr ihn 
von Wert ſeien. Das Zeug ſei fuͤr ihn wertlos, ſagte 
der Bauer, das koͤnne man gerne ausgraben. 

Der Proviſor bedankt ſich. Er wolle nicht laͤnger 
ſtoͤren. Doch unter der Tuͤr bleibt er ſtehen. „Was ich 
noch ſagen wollte, Herr Muͤller. Heute nacht hab' ich 
doch ein Rezept für Sie gemacht. Sind Sie ſelbſt der 
Patient?“ 2 

„Freilich bin ich's. Im Bauch hab' ich's, nicht zu 
wenig. Sehen Sie mir das nit an?“ 

„Na, arg krank ſchauen Sie gerad nicht aus. Hat 
denn die Medizin ſchon was geholfen, Pillen waren es 
oder „Pulver, nicht?“ 

„Ja, Pulver ſind's. und großartig haben ſie ge⸗ 
holfen; faſt ein biſſel zu viel. Achtmal haben ſie heut 
ſchon gewirkt, und dabei habe ich erſt eins genommen; 
heute abend ſoll ich noch eins nehmen. Meine Frau hat 
erſt gemeint, es waͤre was Verkehrtes, weil der Doktor 
von einer Flaſche geredet hat und fruͤh und abends von 
einem Eßloͤffel voll. Er wird ſich das halt uͤberlegt haben. 
Er hat auch vorher ſchon was von Pulvern geſagt gehabt.“ 

Olhauſens Herz wird immer leichter. „Freut mich, 
daß die Pulver ſo gut helfen. Zeigen Sie doch mal 


Von Heinz Welten 167 


— — —— —— — — — — — — 


her. Was iſt denn eigentlich drin?“ Der Bauer holt 
die Schachtel und lacht vergnuͤgt. 

„Ja, ſchauen Sie nur, Herr Proviſor, was Sie da 
hingeſchrieben haben. Bin ich denn ein Pferd? Ich haͤtt' 
es gar nicht gemerkt, aber mein Bub hat es geleſen.“ 

Olhauſens Finger ſchließen ſich feſt um die Schachtel; 
das mit der Aufſchrift iſt leider wahr. 

„Ja. Ihr Bub hat recht. Da hab' ich wahrhaftig 
hingeſchrieben: fuͤr Muͤllers Pferd. Na, nehmen Sie 
mir das nicht uͤbel. Wenn man ſo mitten in der Nacht 
heraus muß, iſt man manchmal ein bißchen verſchlafen 
und ſchreibt ſo was hin.“ 

Der Bauer lacht, das brauche keiner großen Ent⸗ 
ſchuldigung, er habe ſich das gleich nicht anders gedacht. 

lhauſen hat nur einen Gedanken, wie er die Pulver 
vernichten kann. Er ſieht neben dem Waſchtiſch einen 
Eimer mit Waſſer, tritt ins Zimmer zuruͤck, um dem 
Bauern die Pulver zu geben, ſtoͤßt an den Eimer, macht 
eine Bewegung, als ob er ftolperte, und wirft die Schach⸗ 
tel in das ſchmutzige Waſſer. 

Der Bauer ſpringt auf und faßt ihn am Arm, ob er 
ſich weh getan? 

Nein; aber die Pulver ſeien in den Eimer gefallen. 
Herausholen koͤnne man ſie nicht mehr, ſie ſeien ſehr 
empfindlich gegen Naͤſſe und laͤngſt verdorben. Dann 
ſagt er zu dem veraͤrgert dreinſchauenden Bauern, daß 
er ihm die Pulver wieder machen werde, und koſten 
ſollten ſie auch nichts; und heute noch ſollte er ſie haben. 
Vielleicht ſei es aber noch beſſer, wenn er ihm die Medizin 
mache, die der Doktor eigentlich verſchreiben wollte. 
Das Rezept kenne er ja, das er in ſolchen Faͤllen immer 
verſchriebe. 

Der Bauer wehrt ab. Er wolle die Pulver haben. 


18 * Morgen um dieſe Zeit 


Die halfen am beſten. Sein Knecht koͤnne ihn nach FR 
fahren und die Schachtel zurückbringen. Er öffnet das 
Fenſter und ruft hinaus nach dem Knecht, er ſolle den 
kleinen Wagen anſpannen und in die Apotheke fahren. 

Olhauſen beruhigt ſich. Warum ſoll er dem Bauern 
keine Pulver machen? Die Medizin, die er in der Taſche 
traͤgt, iſt ein Abfuͤhrmittel, das waren ja die Pulver auch, 
nur viel zu ſtark fuͤr einen Menſchen, ſo daß nur ein Kerl 
von der Baͤrennatur wie Bertold Muͤller eines ohne 
ſchlimme Folgen vertragen konnte. Wer weiß, ob die 
ſchwache Medizin bei dem angeſchlagen haͤtte? Er wird 
ihm nun ein paar Pulver machen, die auch wirken, wenn 
auch nicht ſo kraͤftig wie die erſten. Das moͤchte er doch 
nicht noch einmal verſuchen. „Freilich koͤnnen Sie auch 
die Pulver bekommen, wenn Sie lieber die haben wollen. 
Aber“ er uͤberlegt, wie er das, was er nun ſagen muß, 
am beſten herausbringt — „aber wiſſen Sie, dem Doktor 
wuͤrde ich an Ihrer Stelle nichts davon ſagen, daß ſie 
fo gut gewirkt haben. Denn wiſſen Sie — —“ 

Der Bauer ſchaut ihn verwundert an: „Na warum 
denn nit?“ 

Olhauſen verſucht noch einmal ſeine Kuͤnſte. Ja, 
wenn der Doktor ſaͤhe, daß feine Verordnungen fo groß: 
artig wirkten, koͤnne man ihm nicht verdenken, daß auch 
die Rechnung danach wuͤrde. Das koͤnne man ſich doch 
vorſtellen. 

Der Bauer begreift. Er ſtoßt den Proviſor vertraulich 
in die Seite und lacht: er ſei ſchon ein ganz Schlauer. 
Aber er ſei auch nicht zu ſpaͤt aufgeſtanden. Am Abend 
wollte der Doktor wieder kommen. Aber er habe ihm 
ſchon in der Fruͤhe, als er gemerkt habe, daß die Pulver 
ſo gut wirkten, vom Poſthalter durchs Telephon ſagen 
laſſen, es ſei nicht mehr noͤtig, daß er kaͤme. Nein, 


Bon Heinz Welten 169 


jo geſcheit ferer allein, daruͤber nicht viel zu ſagen. Die 
zehn Mark koͤnne man beſſer fuͤr ein paar Huͤhner an⸗ 
legen oder als Zehrgeld auf die Kirchweih mitnehmen. 

Die Pferde ziehen an, der Wagen rollt vom Hofe. 
Leichteren Herzens als er gekommen, faͤhrt Olhauſen 
den Weg zuruͤck. Vor einer Stunde dachte er noch an 
Gefaͤngnis und Selbſtmord. Auf dem Hinwege, da ihm 
das Herz ſo ſchwer war vor Kummer und ihm die Knie 
faſt vor Angſt brachen und ihn die Fuͤße kaum mehr 
tragen wollten, mußte er gehen. Und jetzt, da ihm leicht 
und froͤhlich zumute iſt, wie ſelten in ſeinem Leben, ſo 
daß er am liebſten ſpringen und im Galopp die Straße 
herunterlaufen moͤchte, jetzt muß er ſtillſitzen und fahren. 

Der Apotheker wird erſtaunt ſein, wenn er ihn im 
Fuhrwerk kommen ſieht. Am Nachmittag war er noch 
grob mit ihm geweſen, hatte Worte gebraucht, die faſt 
zu weit gingen. Jetzt wuͤrde er ſich wohl anders gegen 
ihn benehmen, jetzt, wo ihm gelungen war, alles ſo 
gut ins Geleiſe zu bringen, daß nichts mehr geſchehen 
konnte. Das wuͤrde er ſchon anerkennen muͤſſen. War 
doch alles ſo gut abgelaufen, ſo ohne jede Moͤglichkeit, 
daß ein Ungluͤck noch nachkam. Das mußte wohl wahr 
ſein, und darauf allein kommt es im Leben an, daß einem 
das Gluͤck nicht entgegen iſt, daß wußte er, das fuͤhlte 
er — diesmal war das Gluͤck mit ihm geweſen. — 

Der Pfiff einer Lokomotive gellt durch die Abend— 
ſtille und gibt ſeinen Gedanken eine andere Richtung. 
Wenn er ſich jetzt eilt, kann er noch den Nachtzug nach 
Nuͤrnberg erreichen. Dort ein paar Stunden Aufenthalt, 
dann der Fruͤhzug nach Berlin — morgen um dieſe Zeit 
geht er ſchon unter den Linden ſpazieren! 


* 


Der Weltkrieg 


Einundzwanzigſtes Kapitel 
Nit 10 Bildern 


evor noch ein weſentlicher Schritt zur Verwirk⸗ 
Bic der ſeit langem angekuͤndigten feind⸗ 

lichen Generaloffenſive im Weſten geſchehen 
war, fuͤhrte die deutſche Heeresleitung einenſtarken Schlag 
gegen die franzoͤſiſche Stellung bei Verdun. Am 
21. Februar begann beiderſeits der Maas ein maͤchtiges 
Feuer aus zumeiſt ſchweren deutſchen Batterien, dem am 
naͤchſten Tage ein glaͤnzender, von der Artillerie wirk⸗ 
ſam unterſtuͤtzter Sturmangriff der Infanterie im oͤſt⸗ 
lichen Maasgelaͤnde folgte. Die ſeit anderthalb Jahren 
mit allen Mitteln moderner Befeſtigungskunſt aus⸗ 
gebaute Stellung zwiſchen Conſenvoye und Azannes 
wurde in ungeſtuͤmem Anlauf durchbrochen, und ſchon 
am 23. ſtanden die deutſchen Batterien den Feſtungs⸗ 
geſchuͤtzen der aͤußerſten Werke von Verdun unmittel⸗ 
bar gegenuͤber. Zwei Tage ſpaͤter wurde der noͤrdliche 
Eckpfeiler der Feſtung, das Panzerfort Do u aumont, 
von brandenburgiſchen Truppen mit ſtuͤrmender Hand 
genommen; franzoͤſiſche Gegenangriffe ſchlugen fehl. 
228 Offiziere und 16 575 Mann an unverwundeten 
Gefangenen nebſt einer Beute von 78 Geſchuͤtzen (zum 
Teil ſchweren Kalibers) und 86 Maſchinengewehren 
waren das Ergebnis der ſiegreichen Schlacht bei Verdun. 
In weiteren Kampfhandlungen ſtieg die Geſamtbeute 
bis zum 4. Maͤrz auf etwa 20 000 Gefangene, 115 Ge⸗ 
ſchuͤtze und 161 Maſchinengewehre. Am 6. März ge: 
lang es ſodann, die deutſche Front durch die Erſtuͤrmung 
von Forges auch auf dem weſtlichen Maasufer vorzu: 
tragen, und der gleiche Tag brachte die Eroberung von 
Fresnes in der Woevreebene oͤſtlich Verdun; damit war 
der Feind völlig an den Fuß der Cötes Lorraines heran: 


Der Weltkrieg 171 


gedruͤckt. Am 10. Maͤrz erfolgte die reſtloſe Sau: 
berung des Rabenwaldes von den Überbleibſeln der 
franzoͤſiſchen Truppen, und durch die Wegnahme der 


Leere Munitionswagen bringen verwundete Franzoſen aus der Schlachtfront zuruͤck. 


1 


172 Der Weltkrieg 


Höhe „Toter Mann“ war auch das von den Franzoſen 
noch beſetzte Béthincourt unhaltbar geworden. Vor: 
uͤbergehend gelang es poſenſchen Reſerveregimentern, 
in der Panzerfeſte Vaux (an der Oſtfront des Feſtungs⸗ 
gebiets von Verdun) feſten Fuß zu faſſen. 

Insgeſamt ergaben die Kaͤmpfe im Maasabſchnitt 
bis zum 11. Maͤrz eine Zahl von 26 472 unverwundet 
Gefangenen und eine Beute von 189 Geſchuͤtzen und 
232 Maſchinengewehren. Und dieſe Ziffern erhoͤhten 
ſich in der Folge noch fortgeſetzt. So wurden am 21. 
bei der Erſtuͤrmung feindlicher Stellungen nordweſtlich 
von Avocourt wieder über 2500 Franzoſen unver: 
wundet gefangengenommen. 

Naturgemaͤß verſuchten die franzoͤſiſchen und eng⸗ 
liſchen Berichte den Erfolg zu verkleinern. Offenherziger 
gab ſich der militaͤriſche Mitarbeiter der „Times“ in 
einer Schilderung des deutſchen Trommelfeuers. „Saͤmt⸗ 
liche Meldungen von der Front,“ hieß es da, „berichten, 
daß ſogar das ſchreckliche Artilleriefeuer bei der Offen⸗ 
ſive in der Champagne ein Werfen mit Petarden war 
im Vergleich zu dem ruͤckſichtsloſen Bombardement, 
das in dieſer Woche mit donnernder Gewalt von den 
Maashoͤhen widerhallte. Die berühmten 30,5: und 
42⸗em-⸗Kanonen, die von der ruſſiſchen und ſerbiſchen 
Front zuruͤckgefuͤhrt wurden, vermehrten die Kraft der 
ſchrecklichen Kanonade, welche die ganze Gegend durch: 
wuͤhlt und ihr Angeſicht veraͤndert hat. Laufgraͤben 
und Feldbefeſtigungen wurden in Stuͤcke geriſſen und 
vernichtet, wobei kleinere Huͤgel und Schluchten ent⸗ 
ſtanden. Niemals fruͤher wurde eine Schlacht ſo in 
allen Einzelheiten vorbereitet, niemals eine Armee ſo 
gewaltig mit Artilleriemitteln fuͤr den Sieg aus⸗ 
geruͤſtet.“ — 


Der Weltkrieg 173 


— 


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Eine der neuen ſchweren franzoͤſiſch 


Übrigens zeigte die Maßregelung einzelner fran⸗ 
zoͤſiſcher Generale, die wegen erwieſener Unfaͤhigkeit 
abgeſetzt wurden, wie man in den leitenden milltaͤriſchen 


en Luftbomben. 


- Ab. 0." 


174 Der Weltkrieg 


Kreiſen Frankreichs über den Verluſt der „wertloſen“ 
Feſtung Douaumont und uͤber die ſonſtigen Vorgaͤnge 
um Verdun tatſaͤchlich dachte. f 

Auch an anderen Stellen der Weſtfront gab es leb⸗ 
hafte Kaͤmpfe. Am 21. und 22. Februar wurden bei 
Souchez feindliche Graͤben teils erobert, teils geſprengt, 
am 25. und 26. Februar heftige engliſche Angriffe bei 
Armentieres und ſuͤdoͤſtlich von Ypern unter lebhaften 
Artillerie- und Minenkaͤmpfen abgeſchlagen. Am 
27. Februar gelang es, die Franzoſen ſuͤdlich von 
Ste. Marie⸗à⸗Py, wo fie in die deutſche vorderſte - 
Stellung eingedrungen waren, wieder hinauszuwerfen, 
ihnen 1035 Gefangene, 9 Maſchinengewehre und 
1 Minenwerfer abzunehmen und ihre Front in einer 
Ausdehnung von uͤber 1600 Metern zuruͤckzudraͤngen. 
Kleinere Erfolge hatten die deutſchen Truppen Ende Fe⸗ 
bruar im Oberelſaß und bei Metz. Verſuche des Feindes, 
nordweſtlich von Pfirt, bei Oberſept, ſeine alten Stel⸗ 
lungen wiederzugewinnen, endeten am 3. und ſpaͤter⸗ 
hin am 11. Maͤrz mit blutigen Verluſten. Gute Fort⸗ 
ſchritte machten die Deutſchen auch in den Argonnen 
(nordoͤſtlich von Chalade), in der Champagne (oͤſtlich von 
Maiſon de Champagne) und auf dem rechten Fluͤgel 
nordoͤſtlich von Vermelles, wo engliſche Truppen, die 
in die vorderſten Graͤben eingedrungen waren, mit dem 
Bajonett zuruͤckgetrieben wurden. Die deutſche Offen⸗ 
ſive bei Verdun wurde erfolgreich unterſtuͤtzt durch 
einen Vorſtoß ſaͤchſiſcher Regimenter bei Reims, wo 
am 10. Maͤrz ſtark ausgebaute franzoͤſiſche Stellungen 
in den Waldſtuͤcken ſuͤdweſtlich und ſuͤdlich von Ville⸗ 
au⸗Bois in einer Breite von 1400 Metern und in einer 
Tiefe von 1000 Metern geſtuͤrmt wurden; 12 Offiziere, 
725 Mann, 1 Revolverkanone, 5 Maſchinengewehre 


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1706. Der Weltkrieg 


ſowie 13 Minenwerfer blieben in der Hand der 
Sieger. 

Die Luftflotte war inzwiſchen auch nicht untaͤtig. 
In Flandern wurden am 26. Februar feindliche Truppen— 
lager mit Erfolg bombardiert. Einen eigenartigen Er: 
folg hatte am 29. Februar ein von Leutnant der Reſerve 
Kuͤhl geführtes Flugzeug, das auf der Strecke Be: 
ſangon—Juſſey einen franzoͤſiſchen Militaͤrtransportzug 
durch Bombenwurf zum Stehen brachte und ſodann 
der ausgeſtiegenen Mannſchaft mit ſeinem Maſchinen⸗ 
gewehr einen Kampf lieferte. In der Nacht zum 
6. Maͤrz belegt eine deutſches Luftſchiff die Bahn⸗ 
anlagen von Bar⸗le⸗Duc mit Bomben. 

Außerordentlich lebhaft war die Taͤtigkeit deutſcher 
Flieger im Bereiche von Verdun, wo ſie feindliche 
Truppen, Bahnanlagen und Unterkunftsorte wieder⸗ 
holt mit Bomben belegten und in einer großen Zahl 
von Luftkaͤmpfen die Oberhand behielten. Wieder⸗ 
holte Beſchießungen von Metz durch franzoͤſiſche Luft— 
ſchiffgeſchwader — ſo am 8. und in der Nacht zum 
18. Maͤrz — hatten zwar einige Faͤlle von ſchweren 
und toͤdlichen Verletzungen unter der Zivilbevoͤlkerung 
zur Folge, endeten aber ſtets mit empfindlichen Ver⸗ 
luſten der Angreifer. Eine beſondere Erwaͤhnung ver— 
dient auch in dieſem Kampfabſchnitt die Taͤtigkeit der 
beiden Fliegeroffiziere Immelmann und Boͤlke, 
die bisher ungefaͤhr je ein Dutzend feindlicher Flieger 
zur Strecke brachten. Zum Teil handelte es ſich dabei 
um engliſche Flugzeuge, wie denn uͤberhaupt die Eng: 
laͤnder bei den Luftkaͤmpfen im Februar und März recht 
ſchlecht abſchnitten. Auch ſtatteten deutſche Waſſerflug⸗ 
zeuge und Marineluftſchiffe wiederholt ihre gewohnten 
Beſuche auf engliſchem Boden ab. Ain 1. März wurde 


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* 


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X. 


1916. 


178 Der Weltkrieg 


die engliſche Oſtkuͤſte bombardiert, in der Nacht zum 
5. Maͤrz die Stadt Hull am Humber, ein wichtiger 
Flottenſtuͤtzpunkt mit großen Dockanlagen, erfolgreich 
beworfen, und am 19. März erfolgte ein wirkungs⸗ 
voller Fliegerangriff auf die militaͤriſchen Anlagen von 
Dover, Deal und Ramsgate. 

Ein Vergleich der beiderſeitigen Luftkriegverluſte im 
Februar ergibt neuerdings die unzweifelhafte Überlegen= 
heit der Deutſchen im Fliegerkampfe. Ihre Verluſte an 
Flugzeugen an der Weſtfront betrugen in dieſem Monat: 

Im Luftkampf . 
Durch Abſchuß von der Erde Be 
Damit t 6 
Im ae 6 
Die Franzoſen und Englaͤnder verloren dagegen: 
Im Luftkampf 13 
Durch Abſchuß von der Erde 
Durch unfreiwillige Landung innerhalb 
der deutſchen Linien 2 
Im ganzen 20 

Dabei ſind jedoch die zahlreichen, hinter den feind— 
lichen Linien abgeſchoſſenen Flugzeuge nicht mitgezaͤhlt. 

Kein Wunder, wenn unter dieſen Umſtaͤnden im 
engliſchen Parlament lebhaft daruͤber geklagt wurde, 
daß die Fuͤhrerſchaft in der Luft an Deutſchland uͤber⸗ 
gegangen ſei. Ein beſonders peinliches Mißgeſchick der 
engliſchen Abwehrorganiſation brachte bei einer ſolchen 
Gelegenheit ein Abgeordneter und Hauptmann zur 
Sprache. „Was ereignete ſich in der Luft?“ fragte er 
erboſt. „Unſere Flugzeuge ſtiegen auf, als die feind⸗ 
lichen Flieger ſchon den Blicken entſchwunden waren. 
Sie ſahen einander fuͤr Feinde an, und es fand ein 
Luftkampf zwiſchen einem unſerer Waſſerflugzeuge und 


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180 Der Weltkrieg 


einem unſerer Armeeflieger ſtatt. Doch nicht genug 
an dem: ſchließlich richteten noch unſere Abwehrgeſchuͤtze 
ihr Feuer gegen unſere beiden Flugzeuge. Bei dieſen 
vergeblichen Verſuchen, unſere eigenen Flieger abzu⸗ 
ſchießen, iſt es aber unſerer Artillerie wenigſtens ge⸗ 
lungen, den Kirchturm von Valmer ſchwer zu be: 
ſchaͤdigen und einige unſerer Mannſchaften in den 
Kaſernen zu treffen. Sind ſolche Vorfaͤlle geeignet, 
uns Vertrauen in unſere Luftſchiffahrt oder zur Re⸗ 
gierung einzufloͤßen? ... Eine ſchlechtere Organiſation 
als die jetzige iſt kaum denkbar.“ 

Das erfreulichſte Ereignis zur See war in dieſem 
Zeitabſchnitt die Ruͤckkehr der „Moͤ we“, die unter 
ihrem Kommandanten, -HKorvettenkapitaͤn Graf zu 
Dohna⸗Schlodien, nach ihren wunderbaren, erfolg⸗ 
reichen Kreuzfahrten auf hoher See mit 4 engliſchen 
Offizieren, 29 engliſchen Matroſen und 166 Mann 
feindlicher Dampferbeſatzungen als Gefangenen und 
einer Beute von einer Million Mark in Goldbarren in 
einem heimiſchen Hafen einlief. 15 feindliche Dampfer 
mit 58 000 Tonnen Raumgehalt hat das Schiff auf- 
gebracht und zum Teil verſenkt, zum Teil als Priſen 
nach neutralen Haͤfen geſandt; es hat ferner an ver⸗ 
ſchiedenen Stellen der feindlichen Kuͤſte Minen gelegt, 
denen unter anderen das engliſche Schlachtſchiff „König 
Eduard VII.“ zum Opfer fiel. 

Deutſche U-Boote verſenkten vor Le Havre nebſt 
einem Minenſucher zwei franzoͤſiſche Hilfskreuzer mit 
je vier Geſchuͤtzen und in der Themſemuͤndung einen 
bewaffneten engliſchen Bewachungsdampfer. Im 
Mittelmeer wurde am 26. Februar der franzoͤſiſche 
Hilfskreuzer „La Provence“ verſenkt, der mit einem 
Truppentransport von 1800 Mann nach Saloniki unter⸗ 


Der Weltkrieg 181 


wegs war; nur 698 Mann wurden gerettet. „La Pro: 
vence“ war naͤchſt der „France“ der groͤßte und ſchnellſte 


Hilfskreuzer der franzoͤſiſchen Flotte. Überdies fiel 
eine große Zahl feindlicher Handelsdampfer deutſchen 


Franzoͤſiſche Mine, die in einem Baume über einem deutſchen Schuͤtzengraben 


haͤngen blieb und ſo nicht zur Exploſion kam. Aus dem Graben aufgenommen. 


182 Der Weltkrieg 


U:Booten zum Opfer. Sehr bemerkenswert waren 
auch die deutſchen Erfolge im Seeminenkrieg. 
Auf der Hoͤhe von Dover lief der engliſche Poſtdampfer 
„Maloja“, ein Schiff von 13 000 Tonnen Raumgehalt, 
auf eine Mine und ging unter. Vor der Themſemuͤndung 
ereilte den britiſchen Torpedobootszerſtoͤrer „Hind“ das 
gleiche Schickſal. An der Oſtkuͤſte Englands verſanken 
der engliſche Zerſtoͤrer „Coquette“, der Hilfskreuzer 
„Fauvette“ und ein Torpedoboot. Am 20. Maͤrz be⸗ 
haupteten ſich in einem Seegefecht an der flandriſchen 
Kuͤſte drei deutſche Torpedoboote ſiegreich gegen fuͤnf 
engliſche Zerſtoͤrer. Die gleichzeitige Beſchießung der 
deutſchen Stellungen bei Zeebruͤgge durch ein engliſches 
Geſchwader und 65 feindliche Flugzeuge wurde durch 
die deutſchen Abwehrbatterien wirkungsvoll erwidert. 
Noch ſchwerer als die Schiffsverluſte an ſich be— 
gannen ſich in England allmählich die wirtſchaft— 
lichen Folgen der deutſchen Seekriegfuͤhrung bemerk— 
bar zu machen: eine von Tag zu Tag ſich ſteigernde 
Frachtraumnot und die den Seeverkehr ge— 
fährdende Uberfuͤllung der Seehäfen. Der 
große Fiſchzug der „Moͤwe“ allein hatte fo viel Schiffs: 
raum vernichtet, daß durch deſſen Benuͤtzung die Lon⸗ 
doner Bevoͤlkerung einen Monat lang mit Getreide 
haͤtte verſorgt werden koͤnnen. Und im U-Boot beſitzt 
Deutſchland eine Waffe, die dieſen wundeſten Punkt 
Englands am empfindlichſten zu treffen vermag. 
Der verdienſtvolle Schöpfer der neudeutſchen Flotte, 
Großadmiral v. Tirpitz, nahm am 16. Maͤrz den Ab⸗ 
ſchied, ſeinem Nachfolger Admiral v. Capelle eine 
große, verantwortungsreiche Aufgabe hinterlaſſend. 
Jedenfalls hat England nichts unverſucht gelaſſen, 
die Schwierigkeiten, die auch den Neutralen aus der 


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N.5; Gabriele 


hoͤrz und Umgebung. 


186 Der Weltkrieg 


Kriegslage zur See unzweifelhaft erwachſen, fuͤr ſeine 
Zwecke auszunuͤtzen. Der Untergang zweier großer 
hollaͤndiſcher Dampfer in der Nordſee, der „Tubantia“ 
und der „Palembang“, wurde in London ohne weiteres 
den Deutſchen in die Schuhe geſchoben, obgleich minde⸗ 
ſtens ebenſoviel Wahrſcheinlichkeit dafuͤr ſprach, daß 
die beiden hollaͤndiſchen Schiffe von den Englaͤndern 
torpediert oder durch eine engliſche Mine vernichtet wor⸗ 
den waren. Portugal, „des Traurigen traurigſter 
Knecht“, hatte laͤngſt der britiſchen Lockung nachgegeben 
und am 23. Februar unter Außerachtlaſſung der all⸗ 
gemeinen Beſtimmungen des Voͤlkerrechts und des mit 
Deutſchland geſchloſſenen Handelsvertrags 37 in portu⸗ 
gieſiſchen Haͤfen liegende deutſche Schiffe mit uͤber 
270 000 Tonnen Raumgehalt beſchlagnahmt. Da der 
deutſche Proteſt unberuͤckſichtigt blieb, erklaͤrte die 
deutſche Regierung am 10. Maͤrz an Portugal den 
Krieg. = 

Mit allen Mitteln wurde auch die braſilianiſche 
Regierung bearbeitet, dem ſchmachvollen Beiſpiel Portu⸗ 
gals zu folgen, und die völlig undurchſichtigen Verhaͤlt⸗ 
niſſe in den Vereinigten Staaten, wo Praͤſi⸗ 
dent Wilſon im Sinne Englands weder die Landung 
bewaffneter Handelsdampfer in amerikaniſchen Haͤfen, 
noch das Reifen amerikaniſcher Bürger auf ſolchen 
Schiffen verhindern wollte, ließen die Gefahr eines 
Konflikts lange nicht ausgeſchloſſen erſcheinen. 

Gaͤnzlich mißlang dagegen jeglicher Verſuch, die 
Schweiz, die nach allen Seiten muſterhafte Neu— 
tralitaͤt wahrte, in den Krieg hineinzuziehen. Der mit 
einem Freiſpruch beendigte Prozeß gegen die beiden 
Oberſten, die beſchuldigt waren, Deutſchland durch ein⸗ 
ſeitige Nachrichtenvermittlung beguͤnſtigt zu haben, be⸗ 


Der Weltkrieg 187 


— 


Oſterreichiſch⸗ungariſcher Soldat mit einem Sauerſtoffa pparat 
als Schutzmittel gegen die Gaſe der italieniſchen Chlorbomben. 
reitete der nichtswuͤrdigen welſchen Hetze, die nicht nur 
das vertrauensvolle Verhaͤltnis zu Deutſchland zu ver⸗ 
giften ſuchte, ſondern auch die Autoritaͤt der ſchweize⸗ 


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188 Der Weltkrieg 


riſchen Militaͤr⸗ und Bundesbehoͤrden bedrohte, ein 
jaͤhes Ende. | 
. Gegenuͤber den militärifchen, politiſchen und diplo⸗ 
matiſchen Vorgaͤngen im Weſten traten die Ereigniſſe 
auf dem oͤſtlichen Kriegſchauplatz an Be 
deutung merklich zuruͤck. Ernſthaftere Kampfhand⸗ 
lungen ſetzten dort erſt Anfang Maͤrz ein. In der 
Gegend von Illuxt verſuchten die Ruſſen am 4. einen 
größeren Vorſtoß, führten aber den Angriff nicht durch. 
In einem kleineren Gefecht bei Alſſewitſchi, nordoͤſtlich 
von Baranowitſchi, wurden die Ruſſen aus ihren Stel⸗ 
lungen geworfen. Am 6. Maͤrz griffen oͤſterreichiſch⸗ 
ungariſche Truppen die Ruſſen bei Karpilowka an und 
ſetzten ſich in ihren Schanzen feſt. Nordweſtlich von 
Tarnopol entriſſen ſie dem Gegner einen Graben von 
1000 Metern Länge. Ruſſiſche Vorſtoͤße an der beſſarabi⸗ 
ſchen Front wurden am 12. Maͤrz abgewieſen. Er⸗ 
bitterte Kaͤmpfe entwickelten ſich am 19. zu beiden 
Seiten des Naroczſees (an der Front Dryſwjatyſee — 
Poſtawy ſuͤdlich von Duͤnaburg). Der Feind wurde 
uͤberall unter ungewoͤhnlich ſtarken Verluſten ab⸗ 
gewieſen; 9270 gefallene Ruſſen lagen vor den deutſchen 
Stellungen. An der galiziſchen Front am Dnjeſtr 
mußte der Bruͤckenkopf von Uſzieczko nach ſechs⸗ 
monatiger tapferer Verteidigung unter dem Drucke einer 
achtfachen ubermacht am 19. März geräumt werden. 
Im Kaukaſusgebiet und in Perſien 
ſetzten die Ruſſen nach dem Fall von Erzerum ihre 
Vorwaͤrtsbewegung fort. Bitlis und Kermanſchah 
wurden genommen, und am 19. Maͤrz fiel auch Iſpahan, 
die ehemalige Hauptſtadt Irans, in die Haͤnde der Ruſſen. 
Auf dem albaniſchen Kriegſchauplatze hat 
ſich das Schickſal der in Durazzo eingeſchloſſenen 


ug ur app eee 


190 Der Weltkrieg 


Italiener und ihres Verbündeten Eſſad entſchieden. 
Am 27. Februar drangen unſere Verbuͤndeten, oͤſter⸗ 
reichiſch⸗ungariſche und bulgariſche Truppen, in die von 
den fluͤchtenden Feinden in Brand geſteckte Stadt ein; 
34 Geſchuͤtze und 11400 Gewehre fielen ihnen als 
Siegesbeute zu. Auch an Valona — das in der Nacht 
zum 21. Maͤrz ein heftiges Fliegerbombardement uͤber 
ſich ergehen laſſen mußte — ruͤckte die Einſchließung 
immer naͤher heran. 

In und um Saloniki fuhren die Alliierten fort, 
ihre Stellungen zu verſtaͤrken und ſich als die Herren 
im Lande aufzuſpielen. Ein in der Nacht zum 18. Maͤrz 
ausgefuͤhrter Luftfchiffangriff auf die Ententeflotte bei 
Kara⸗Burun ſuͤdlich von Saloniki zeigte, daß die 


Heeresleitung des Vierverbands die Entwicklung der 


dortigen Verhaͤltniſſe ſtets im Auge behielt. 

An der italieniſchen Front wurden groͤßere 
Unternehmungen zunaͤchſt durch die Lawinengefahr ver: 
hindert. Erſt am 8. Maͤrz ſetzte regere Artillerietaͤtigkeit 
ein, und die naͤchſten Tage brachten am Tolmeiner 
und Goͤrzer Bruͤckenkopf, im Abſchnitt von Plava und 
auf der Hochflaͤche von Doberdo mit ſtarken Kraͤften 
durchgefuͤhrte italieniſche Angriffe, die aber ſaͤmtlich 
ſcheiterten. Dagegen entwickelte ſich ſeit dem 17. Maͤrz 
am Tolmeiner Bruͤckenkopf eine ſchneidige oͤſterreichiſche 
Offenſive, die mit der Eroberung wichtiger Stellungen, 
mit der Gefangennahme von 925 Italienern und der 
Erbeutung von 7 Maſchinengewehren endigte. Auch 
am Rombon und Nrzli Vrh wurden nicht unerhebliche 
Erfolge erzielt. Durch ein oͤſterreichiſch-ungariſches Unter: 
ſeeboot wurde am 18. März vor Durazzo ein franzoͤſi⸗ 
ſcher Tor pedobootszerſtoͤrer zum Sinken gebracht. 


1 


. — — v—— 


| Der Mord 
in der Gtaats: und Hauspolitik 
Eine hiſtoriſche Skizze von J. M. Berger 


„Verrat und Mord, ſie hielten ſtets zuſammen 
Gleich einem Zweigeſpann verſchworener Teuſel.“ 
Shakeſpeare: Heinrich v. 


n Setaſewo wurde der öfterreichifch- ungariſche 

Thronfolger von verhetzten Menſchen, mit groͤßter 

Wahrſcheinlichkeit auch mit Wiſſen und Willen der 
ſerbiſchen Regierung, im Juli 1914 ermordet, weil er 
als Gegner ihrer politiſchen Machtanſpruͤche galt. Vor 
nicht allzu langer Zeit wurde in Sofia eine Bombe 
in einen Ballſaal geworfen, um leitende. Perſoͤnlich⸗ 
keiten, die den ruſſiſchen Plaͤnen im Wege ſtanden, zu 
beſeitigen. So ſuchte auch England den hoͤchſt unbequem 
gewordenen Iren Sir Roger Caſement im Auftrag 
der. britifchen Regierung, die in Stockholm durch den 
Geſandten Findlay vertreten war, aus dem Weg raͤu⸗ 
men zu laſſen. Jaurés, der einflußreiche, beſonnene 
Fuͤhrer der ſozialdemokratiſchen Partei in Frankreich, 
deſſen abwehrende Stellung von allen Kriegshetzern 
als ſchweres Hemmnis ihrer Abſichten angeſehen war, 
fiel durch die Kugel eines beſtellten Moͤrders. Nicht 
grundlos, wie es ſcheint, hat man auch in dieſem 
Falle engliſche Haͤnde im Spiel vermutet. Auch in der 
Tuͤrkei verſuchte die Diplomatie des Dreiverbandes 
Verſchwoͤrungen anzuzetteln, um durch Beſtechungen 
alle den Mittelmaͤchten geneigten Miniſter, ſowie deutſche 
Offiziere zu ermorden und den Kreuzer „Jawus Selim“ 
(die fruͤhere „Goeben“) in die Luft zu ſprengen, um 
am Tage vor der franzoͤſiſchen Mobilmachung mit 
Hilfe der vor den Dardanellen verankerten engliſchen 
Flotte Konſtantinopel einzunehmen. 


192 Der Mord in der Staats: und Hauspolitit 

Die Summe, welche die engliſche Regierung dem 
Diener Roger Caſements bot, war verhältnismäßig 
gering fuͤr den Dienſt, den ſie von einem Manne er⸗ 
hoffte, der ſeinem Herrn die Treue hielt. England 
mußte ſeine Taſche in Indien zum Zweck politiſcher 
Erfolge weit ſtaͤrker in Anſpruch nehmen als in dieſem 
Falle und haͤtte vermutlich in gutem Geld bezahlt, 
was es nicht immer ſo hielt. So belohnte es einen 
der eingeborenen aͤgyptiſchen Helfer zur Zeit der 
alexandriniſchen Unruhen der achtziger Jahre mit 
minderwertigen, zu dieſem Zweck geprägten Gold: 
ſtuͤcken. N 

Fuͤr den erſten Augenblick wirkte es uͤberraſchend, 
in unſeren Tagen dieſelben Mittel angewendet zu ſehen, 
um ſich politiſche Vorteile zu ſchaffen, wie ſie ſonſt 
nur aus ferner Vergangenheit uͤberliefert ſind. Man 
vergaß dabei nur das eine, daß England und Frank⸗ 
reich in ihren Kolonien bis in die neueſte Zeit den 
Zweckmaͤßigkeitsgedanken uͤber das Gewiſſen zu ſtellen 
gewohnt waren, voran gilt die Auffaſſung, daß im 
Ringen um die Herrſchaft alle Mittel nicht nur er⸗ 
laubt, ſondern geboten ſeien. 

Es gehoͤrte zu dem politiſchen Irrſinn der ruͤck⸗ 
ſichtslos ihre Ziele verfolgenden Menſchen der italieni⸗ 
ſchen Renaiſſance, zu glauben, die „Freiheit“ zu er⸗ 
ringen durch den Mord der „Tyrannen“. Eine Auf⸗ 
faſſung, die noch ſo ſpaͤt und unter voͤllig veraͤnderten 
Verhaͤltniſſen fuͤr die romaniſchen Voͤlker in der fran⸗ 
zoͤſiſchen Revolution als verhaͤngnisvoller Irrtum 
wiederkehrte. Dolch und Gift waren im Italien der 
Renaiſſance gelaͤufige Mittel, um politiſche Gegner 
aus der Welt zu ſchaffen. Nach Burckhardts gewiegtem 
Urteil macht das Italien jener Jahrhunderte den Ein⸗ 


Von J. M. Berger f 193 


druck, „als ob auch in gewoͤhnlichen Zeiten die großen 
Verbrechen haͤufiger geweſen waͤren, als in anderen 
Laͤndern“. Sicher iſt, daß das „beſoldete, durch dritte 
Hand geuͤbte, das zum Gewerbe gewordene Morden in 
Italien große und ſchreckliche Ausdehnung gewonnen 
hatte“. Ein alter Schriftſteller, Pontano, ſchrieb uͤber 
das ſuͤdliche Italien, beſonders von Neapel: „Hier iſt 
nichts billiger zu kaufen als ein Menſchenleben.“ Im 
uͤbrigen Italien war das bezahlte Verbrechen haͤufiger 
oder ſeltener, je nachdem zahlungsfaͤhige hochgeſtellte 
Anſtifter vorhanden waren. Fuͤrſten und Regierungen 
gaben das ſchlimmſte Beiſpiel: ſie machten ſich gar 
kein Bedenken daraus, den Mord unter die Mittel 
ihrer Allmacht zu zaͤhlen. Es bedurfte dazu nicht erſt 
eines Ceſare Borgia; auch die Sforza, die Aragoneſen, 
die Republik Venedig, ſpaͤter auch die Werkzeuge 
Karls V. erlaubten ſich, was „zweckmaͤßig“ ſchien. 
In den venezianiſchen Archiven fanden ſich Schrift— 
ſtuͤcke uͤber fuͤnf vom Rat gutgeheißene Antraͤge, den 
tuͤrkiſchen Sultan zu vergiften, uͤber den dort gehegten 
Plan, Karl VIII. zu ermorden und uͤber den Auftrag 
an den Proveditor in Faenza, den Ceſare Borgia toͤten 
zu laſſen. 

Am 9. Juni 1477 wurde vom „Rat der Zehn“ in 
Venedig der Beſchluß gefaßt: Das Anerbieten, den 
Sultan Mohammed II. mit Hilfe des Meiſters Valcho, 
ſeines Leibarztes, zu ermorden, das von Salomoneino 
und ſeinen Bruͤdern ausgegangen iſt, wird angenommen. 
Zugleich ſoll dem Salomoncino und ſeinen Bruͤdern 
kraft der Vollmacht des Rates alles bewilligt werden, 
was ſie verlangt haben. Die Formel lautete: Wir 
verpflichten uns, dieſe Verſprechungen zu erfuͤllen, ſo⸗ 
bald bewiefen fein wird, daß der Tod des Sultans 

1913. X. 13 


194 Der Mord in der Stauts⸗ und Hauspolitif 


durch Meiſter Valcho herbeigefuͤhrt wurde. Salo⸗ 
moncino hatte ſich die Verleihung eines Bankprivi⸗ 
legiums vom Rat der Zehn ausgebeten. Der geplante 
Mord wurde nicht zur Tat. Mohammed II. ſtarb vier 
Jahre ſpaͤter eines natuͤrlichen Todes. | 

In den Abſolutionstaxen war feit 1514 die Er: 
mordung durch den Gatten, nicht aber jene des Mannes 
durch die Frau vorgeſehen. Selbſt bei Kroͤnungs⸗ 
maͤhlern brachten hohe Gaͤſte ihre eigenen Kellermeiſter 
und Weine mit, vielleicht weil man aus Erfahrung 
wußte, wie leicht Gifte in den Trank gemiſcht wurden. 
Dieſe Sitte war in Rom allgemein und: galt nicht als 
Beleidigung fuͤr den Gaſtgeber. 

Die Bravi, gedungene Moͤrder, waren uͤberall zu 
finden, zu erkaufen. Um 1487 ging alles in Waffen, 
alle Häufer der Großen waren voller Kriegsknechte, 
die ſtets zum Morden bereit waren; ; täglich gab es 
Gewalttaten; bei der Beerdigung eines ermordeten 
deutſchen Studenten in Venedig ſtellten ſich zwei Kol⸗ 
legien in Waffen gegeneinander auf. Bisweilen lieferten 
ſich die Bravi verſchiedener Haͤuſer Schlachten auf 
offenen Plaͤtzen. Ein Guͤnſtling Innocenz' VIII. 
wurde am hellen Tag auf der Gaſſe erſtochen, ein 
anderer Alexanders VI., der abgeſandt war, um zu 
ſchlichten, erntete offenen Hohn. Unter den Tyrannen, 
die gegen Ende des 15. Jahrhunderts nach Macht 
ſtrebten, kam es zu grauenvollen Taten. In den 
Schreckensjahren zu Perugia bekaͤmpften ſich die um 
die Herrſchaft ringenden Haͤuſer bis ans Meſſer. Knie⸗ 
faͤllig bat Simonetto ſeinen Oheim, den Jeronimo della 
Penna töten zu duͤrfen. Um die Mitte des Som⸗ 
mers 1500 reifte bei der Hochzeit des Aſtorre mit der 
Lavinia Colonna eine gewaltige Verſchwoͤrung. Von 


Von J. M. Berger 195 


den gedungenen Bravi bekam jeder noch fuͤnfzehn 
Helfer als Wachen geſtellt; in der Nacht vom 15. Juli 
wurden die Tuͤren eingerannt und der Mord an Guido, 
Aſtorre, Simonetto und Gismondo vollzogen. Die 
Sieger gingen bei den Freunden der Familie herum 
und wollten ſich empfehlen, fanden indes alles in 
Traͤnen und mit der Abreiſe auf die Landguͤter be: 
ſchaͤftigt. Damals wurde der Dom, der das meiſte 
dieſer Tragoͤdie in ſeiner Naͤhe geſehen, mit Wein ab⸗ 
gewaſchen und neu geweiht. Nach dieſem Morden, 
das Gianpaolo zum Herrn Perugias machte, ent— 
ſtand eine ſagenhafte Vorgeſchichte des Hauſes der 
Baglionen, dem die Ermordeten entſtammten. Alle 
Mitglieder der Familie ſollten von jeher eines boͤſen 
Todes geſtorben ſein, einſt ſiebenundzwanzig mitein⸗ 
ander. Ihre Haͤuſer ſeien geſchleift und mit den 
Ziegelſteinen die Straßen gepflaſtert worden. Im 
Jahre 1506 wurde Gianpaolo Baglione genötigt, Su: 
lius II. zu huldigen. Der Papſt hatte Perugia über: 
waͤltigt. Damals, meint Macchiavelli, habe Gianpaolo 
verſaͤumt, bei der Huldigung ſich durch die Ermordung 
Julius' II. unſterblich zu machen. Unter Leo X. lockte 
man Gianpaolo 1520 nach Rom und enthauptete ihn; 
einer ſeiner Soͤhne, Orazio, der Perugia zeitweiſe 
unter den gewaltſamſten Umſtaͤnden beſaß, wuͤtete im 
eigenen Hauſe aufs graͤßlichſte. Ein Oheim und drei 
Vettern, die ihm hinderlich waren, wurden ermordet, 
worauf ihm ſein Parteigaͤnger, der Herzog von Urbino, 
ſagen ließ, es ſei jetzt genug. Sein Bruder Malateſta 
Baglione beging als florentiniſcher Feldherr Verrat, 
ſein Sohn Ridolfo machte 1534 ſich, durch Ermordung 
des Legaten und der Beamten, nochmals fuͤr kurze 
aber ſchreckliche Zeit zum Herrn von Perugia. 


196 Der Mord in der Staats⸗ und Haus politik 


Manche dieſer kleineren Herrſcherfamilien dee 
fich bald zugrunde; Haͤuſer, die ſich um die Wende des 
15. Jahrhunderts noch maͤchtig ſahen, lebten, wie die 
Malateſta, nach drei Jahrzehnten als arme Verbannte. 

Um 1533 lebte ein Nachkomme der Fuͤrſten von Pico, 
der arme Gelehrte Lilio Gregorio Giraldi, bei ſeinem 
Verwandten Giovan Francesco Pico, der von ſeinem 
Neffen ermordet wurde. Lilio Giraldi ſelbſt zeichnete 
auf: „Im Oktober 1533 iſt der ungluͤckliche Fuͤrſt 
durch naͤchtlichen Mord von ſeinem Bruderſohn des 
Lebens und der Herrſchaft beraubt worden; ich ſelber 
bin in tiefem Elend kaum mit dem Leben davon⸗ 
gekommen.“ 

Die lateiniſchen und romaniſchen Völker ſind ihrer 
Art nach ſo beſchaffen, daß ſie, am Außerlichen haftend, 
die naͤchſtliegenden Erſcheinungen fuͤr die Urſachen zu 
nehmen gezwungen ſind, die ſie zu befeitigen ſtreben, 
weil ſie glauben, auf ſolche Weiſe die Freiheit oder 
das nationale Gluͤck erringen zu koͤnnen. Burck⸗ 
hardt urteilt uͤber die Italiener der Renaiſſance: „Sie 
ſahen, wie ſchlechte Arzte zu denken und handeln ge⸗ 
wohnt ſind, die Hebung der Krankheit in der Beſeitigung 
ihrer aͤußerlichen Erſcheinungen und glaubten, wenn 
man die Fuͤrſten ermorde, ſo gebe ſich die Freiheit von 
ſelber. Oder ſie dachten auch nicht einmal ſo weit 
und wollten nur dem allgemein verbreiteten Haß Luft 
machen oder nur eine Rache für Familienungluͤck 
oder perſoͤnliche Beleidigung uͤben. So wie die Herr⸗ 
ſchaft eine unbedingte, aller geſetzlichen. Schranken ent⸗ 
ledigte war, ſo iſt auch das Mittel der Gegner ein un⸗ 
bedingtes. Schon Boccaccio ſagt es offen: Soll ich 
den Gewaltherrn Koͤnig oder Fuͤrſt heißen und ihm 
Treue bewahren als meinem Obern? Nein! Denn er iſt 


Von J. M „Berger __197 


der Feind d des gemeinen Weſens. un ihn k. kann ich 
Waffen, Verſchwoͤrung, Spaͤher, Hinterhalt, Liſt ge⸗ 
brauchen; das iſt ein heiliges notwendiges Werk. Es 
gibt kein lieblicheres Opfer als Tyrannenblut.. Zu 
Ende der Renaiſſancezeit ſchreibt Giraldi Cinthio: 
„Kein angenehmeres Opfertier fuͤr Gott, als ein Tyrann, 
verrucht wie dieſer war.“ Man ſchreckte vor Mord⸗ 
anfaͤllen auch in der Kirche nicht zuruͤck. Die Fabria⸗ 
neſen ermordeten 1435 ihr Tyrannenhaus, die Chiavelli, 
waͤhrend eines Hochamtes laut Abrede bei den Worten 
des Kredo: Et incarnatus est. In Mailand wurde 
Herzog Giovan Maria Visconti 1412 am Eingang 
der Kirche San Gottardo ermordet und 1476 toͤtete 
man den Herzog Galeazzo Maria Sforza in der Kirche 
zu San Stefano. Ludovico Moro entging 1484 den 
Dolchen der Anhaͤnger der verwitweten Herzogin Bona 
nur dadurch, daß er die Kirche San Ambrogio durch 
eine andere Tuͤre betrat, als ſie erwarteten.“ 

Daß man den politiſchen Mord in jenen Zeiten als 
ruͤhmenswert erachtete, bezeugt eine Grabſchrift des 
Campugnani, der als Moͤrder Galeazzo Sforzas fiel. 
Sie lautet: „Hier liege ich gern, ein ewiges Merk⸗ 
zeichen den gegenwaͤrtigen und kuͤnftigen Herrſchern, 
daß fie nichts übles denken noch tun.“ Don den über: 
lebenden Moͤrdern Galeazzos zeigte Visconti Reue, 
Oligati blieb trotz aller Tortur dabei, daß ſeine Tat 
ein Gott wohlgefaͤlliges Opfer geweſen ſei, und ſagte 
noch, waͤhrend ihm der Henker mit dem Rad die Bruſt 
einſchlug: „Nimm dich zuſammen, Girolamo! Man 
wird lange an dich Ba der Tod iſt bitter, der 
Ruhm ewig.” 

Als Lorenzo Medici 1537 den Herzog Aleſſandro 
umbrachte und fluͤchtete, erſchien eine, wahrſcheinlich 


198 Der Mord in der Staats: und Hauspolitik 


in ſeinem Auftrag verfaßte Verteidigungsſchrift der 
Tat, worin er den Tyrannenmord an ſich als das 
verdienſtlichſte Werk preiſt; fuͤr den Fall, daß Aleſſandro 
wirklich ein echter Medici und demnach, wenn auch 
weitlaͤufig, mit ihm verwandt geweſen, vergleicht er 
ſich ruͤhmend mit Timoleon, dem Athener, dem antiken 
Brudermoͤrder aus Patriotismus. 

Der politiſche Mord wurde in jenen Zeiten unter 
die ſelbſtverſtaͤndlichen Mittel der Macht gezählt, nie⸗ 
mand ſcheute davor zuruͤck. Die Borgia legten ſich, 
nach Burckhardts Worten: „auf heimliche Vernichtung 
aller derer, die ihnen irgendwie im Wege waren, oder 
deren Erbſchaft ihnen begehrenswert ſchien“. Der 
venezianiſche Geſandte Paolo Capello meldet im Jahre 
1500: „Jede Nacht findet man in der Stadt vier oder 
fuͤnf Ermordete, Praͤlaten und andere, ſo daß ganz 
Rom davor zittert, vom Herzog Ceſare Borgia ermordet 
zu werden.“ Schon im Jahre 1499 war die Verzweif⸗ 
lung daruͤber ſo groß und allgemein, daß das Volk die 
Gardiſten uͤberfiel und umbrachte. Wem aber die 
Borgia mit offener Gewalt nicht beikamen, der unter: 
lag ihrem Gift. „Fuͤr diejenigen Faͤlle,“ ſagt Burck⸗ 
hardt, „in denen einige Vorſicht und Zuruͤckhaltung 
noͤtig ſchien, wurde jenes ſchneeweiße, angenehm 
ſchmeckende Pulver gebraucht, welches nicht blitzſchnell, 
ſondern allmaͤhlich wirkte und ſich unbemerkt jedem 
Gericht oder Getraͤnk beimiſchen ließ. Vielleicht hatte 
der tuͤrkiſche Prinz Dſchem davon in einem ſuͤßen 
Trank mitbekommen, bevor ihn Alexander an Karl VIII. 
im Jahre 1495 auslieferte. Man glaubte damals 
allgemein, daß Vater und Sohn ſich damit vergiftet 
haͤtten, indem ſie von dem fuͤr einen reichen Kardinal, 
wahrſcheinlich Adrian von Corneto, beſtimmten Kon: 


Von J. M. Berger 199 
fekt genoſſen.“ Der zeitgenoͤſſiſche Geſchichtſchreiber 
Onufrio Panvinio nennt die Kardinaͤle Orſini, Ferrari 
und Michiel unter den durch Gift Geſtorbenen ſowie 
den Namen des Kardinals Giovanni Borgia, den 
Ceſare Borgia vergiften ließ. | 

„Die Phantaſie der Nation erfüllte ſich allmählich 
dergeſtalt mit Vorausſetzungen dieſer Todesarten, daß 
man bei Maͤchtigen kaum mehr an ein natuͤrliches Ende 
glaubte. Von der Wirkungskraft der Gifte machte 
man ſich bisweilen fabelhafte Vorſtellungen.“ Schlei⸗ 
chend wirkende waren gewiß bekannt und wurden 
benuͤtzt. Es wird eines jener Gifte geweſen ſein, das 
der Fuͤrſt von Salerno dem Kardinal Aragon mit den 
Worten reichte: „In wenigen Tagen wirſt du ſterben, 
weil dein Vater, Koͤnig Ferrante, uns alle zertreten 
wollte.“ Aber der vergiftete Brief, den Caterina Riario 
an Alexander VI. ſandte, würde ihn ſchwerlich um: 
gebracht haben, auch wenn er ihn geleſen haͤtte. Als 
Alfons der Große von den Arzten gewarnt wurde, 
ja nicht in dem Livius zu leſen, den ihm Coſimo de 
Medici uͤberſandte, antwortete er ihnen gewiß mit 
Recht: „Hoͤret auf, ſo toͤricht zu reden.“ Vollends 
hätte jenes Gift nur ſympathetiſch wirken koͤnnen, 
womit der Sekretaͤr Piceininos den Tragſtuhl von 
Pius II. ein wenig anſtreichen wollte. Wie weit es 
ſich durchſchnittlich um mineraliſche oder Pflanzen⸗ 
gifte handelte, laͤßt ſich nicht beſtimmen. Die meiſten 
jener Gifte, von denen man noch immer in dunklen 
Wendungen fabelt, daß ſie im Koͤrper nicht nachweis⸗ 
bar waren, waͤren heute um ſo gewiſſer vom Chemiker 
zu erweiſen, nur war bei den damaligen alchimiſtiſchen 
Kenntniſſen eine erfolgreiche Unterſuchung nicht moͤglich, 
und dies ift der Grund zu allen, noch immer nicht zur Ruhe 


200 Der Mord in der Staats- und Hauspolitik 


gekommenen Erzählungen uͤber die Giftkoͤche der Re⸗ 
naiſſance. Vielartig waren die verſchlagenen Kuͤnſte, 
den Vorſichtigſten die toͤdlichen Stoffe beizubringen. 
Man vergiftete die ſtark gewuͤrzten Soßen der Braten, 
miſchte Gift in Brotteig und Konfekt; Brot, das man 
ſeiner Haͤrte und Unverdaulichkeit wegen zuerſt als 
Bratenteller benuͤtzte und erſt aß, wenn es von den 
Bratenſoßen durchtraͤnkt war; man beſtrich die Hemden 
des dem Tod Geweihten mit langſam toͤdlich wirkenden 
Salben, welche einen anfänglich ſcheinbar ungefähr: 
lichen Hautausſchlag hervorriefen, dann aber in ihren 
Wirkungen den Tod zur Folge hatten. Auf Meſſerklingen 
wurden auf einer Seite giftige Stoffe aufgetragen, 
man teilte in unverfaͤnglicher Weiſe Obſt damit und 
reichte die vergiftete Haͤlfte weiter. Auch Ringe, die 
an der Innenſeite eine unmerkliche, aber giftgetraͤnkte 
Spitze hatten, wurden verſchenkt; beim Haͤndedruck 
kam der toͤdliche Stoff mit dem Blut in Beruͤhrung. 

Naͤchſt Italien war Frankreich das Land der poli⸗ 
tiſchen Morde und Giftmiſchereien. Ludwig XIII. 
ehrte und liebte den mächtigen Staatsmann Richelieu 
und erfreute ihn gerne durch Aufmerkſamkeiten. Er 
ſandte ihm einſt einen Wildſchweinſchinken mit einem 
Begleitſchreiben, worin er ihm anriet, trotzdem die 
Gabe vom Koͤnig ſelber kaͤme, vorſichtshalber doch erſt 
einen anderen davon koſten zu laſſen. Richelieu hatte 
viele und maͤchtige Feinde, allen voran die Koͤnigin⸗ 
Mutter Maria aus dem Geſchlechte der Medici, die 
Tochter, Enkelin, Nichte und Baſe von Mördern, die 
ſelbſt der verſchiedenſten Giftbereitungen kundig war 
gleich dem Bruder des Koͤnigs. Beide ſchreckten vor 
keinem Mittel zuruͤck, um den mächtigen Staatsmann 
unſchaͤdlich zu machen. Ging doch Maria de Medici 


5 Bon J. M. Berger 201 


in ie Herrſchſucht ſo weit, ihren eigenen Sohn durch 
Gift aus dem Wege raͤumen zu wollen, das man ihm 
durch ein Kliſtier beizubringen ſuchte. 

Die Verherrlichung des politiſchen Meuchelmordes 
blieb in Italien auch in neueſter Zeit im Anſehen. 
Im Jahre 1858 wurde nach der Hinrichtung des Grafen 
Orſini, der mit einer Bombe einen Mordverſuch an 
Napoleon III. veruͤbte, an den Straßenecken Turins 
ein Sonett angeſchlagen, deſſen Worte lauteten: „Vor⸗ 
zeitig erſchienener Engel des Gottes der Rache, vor 
dem Holze deines Schafotts, Orſini, warf ich u 
nieder wie vor dem Holz des Kreuzes.“ 

Noch iſt nicht voͤllig vergeſſen, daß man noch in 
allerjüngfter Zeit den Trieſter Irredentiſten Wilhelm 
Oberdank, der im Vereine mit anderen im Auguſt 1882 
einen Bombenanſchlag auf Kaiſer Franz Joſeph ge⸗ 
plant hatte, in Italien feierte und dieſes . 
verherrlichte. 

Naͤchſt Italien, Spanien, Frankreich sin den 
Ländern Mittel: und Suͤdamerikas, deren herrfchende 
Klaffen faft durchweg dem Romanentum angehören, 
werden die meiften politiſchen Morde in Rußland ver: 
uͤbt. In Rußland begann die Mordpolitik ſchon unter 
der Dynaſtie Rurik. Fuͤrſt Danilowitſch Rurik ließ 
1319 im Kampfe um das Großfuͤrſtentum Susdal 
ſeinen Gegner ermorden, wurde aber ſelbſt von deſſen 
Sohn Dimitri erſtochen. Den Erben des letzten 
Herrſchers aus dieſem Stamme, den kleinen Dimitri, 
brachte Boris Godunow, ſein Schwager, ums Leben 
und bemaͤchtigte ſich des Thrones. Der falſche Demetrius 
ſtuͤrzte ihn; aber auch dieſer konnte nur ein Jahr ſeine 
Herrſchaft behaupten. Danach kamen 1612 die Ro: 
manows zur Regierung und ſchon nach einem Jahr— 


202 Der Mord in der Staats- und Hauspolitik 


hundert wurde der erſte Familienmord veruͤbt. Peter 
der Große ließ ſeinen Sohn Alexej, deſſen Gattin, 
ihren Bruder und andere Mitſchuldige einer gegen ihn 
gerichteten Verſchwoͤrung umbringen. Peter III., ein 
Enkel Peters des Großen, wurde mit Zuſtimmung 
ſeiner Gattin Katharina II. vom Fuͤrſten Orlow in 
Schluͤſſelburg erwuͤrgt. Dasſelbe Schickſal, mit Wiſſen 
und Willen von Gattin und Sohn, erlitt der Zar Paul. 
Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß man auch Alexander I. 
vergiftete. Alexander II. ſtarb 1881 durch die Bombe 
eines Anarchiſten; auch Alexander III. war einer Reihe 
von Attentaten ausgeſetzt, ganz zu ſchweigen von den 
an Großfuͤrſten, Miniſtern, Gouverneuren, Generalen 
und anderen Perſoͤnlichkeiten veruͤbten Morden. 

In Serbien machte das Petersburger Beiſpiel bald 
Schule. So fielen am 10. Juni 1868 im Park Tobſchider 
in Belgrad Fuͤrſt Michael, und in den Junitagen 1903 
das koͤnigliche Ehepaar Alexander und Draga Maſchin 
unter Moͤrderhaͤnden; auch Koͤnig Milan lebte ſtaͤndig 
in der Furcht vor moͤrderiſchen Anſchlaͤgen. 

Reichlich iſt auch England mit politiſchen Morden 
belaſtet. Koͤnig Eduard II. wurde im Jahre 1327 von 
ſeiner Gattin des Thrones beraubt und mit ihrer Zu⸗ 
ſtimmung auf eine hoͤchſt grauſame Art ums Leben 
gebracht; vierzig Jahre ſpaͤter wurde ſie ſelbſt auf 
Befehl ihres Neffen, des Koͤnigs Karl von Ungarn, 
ermordet, der auch im Jahre 1382 die Koͤnigin Jo⸗ 
hanna I. von Neapel durch Karl von Durazzo er: 
wuͤrgen ließ, um dann vier Jahre ſpaͤter in Gegenwart 
der Koͤnigin Martha und deren Mutter und unter 
Zuſtimmung beider das gleiche Schickſal zu erleiden. 
Ungemein reich ſind die Kriege der Roten und Weißen 
Roſe an Morden aus politiſchen Gründen innerhalb 


Von J. M. Berger 203 


der eigenen Familien. Der Name Richards III. allein 
eröffnet den Einblick in eine furchtbare Welt, die uns 
nicht zuletzt aus Shakeſpeares Dichtungen bekannt iſt. 
Ob man nicht auch die auf Befehl der Koͤnigin Eliſa⸗ 
beth erfolgte Hinrichtung der ungluͤcklichen Maria 
Stuart als politiſchen Mord zu betrachten hat, ſei 
dahingeſtellt. Selbſt noch in der neueren Geſchichte 
Englands ſind nicht weniger als vier Attentate auf 
die Koͤnigin Viktoria bekannt. 

Wohl die wenigſten Morde aus politiſchen Gründen . 
findet man in der deutſchen, wie auch in der ungariſchen 
Geſchichte. Nur halb politiſcher Natur iſt in neuerer 
Zeit eigentlich die Ermordung Kotzebues durch Sand 
geweſen. Wohl erfolgten Attentate auf Staatsober⸗ 
haͤupter und einflußreiche Staatsmaͤnner, doch kann 
man dieſe nicht im Sinne dieſer Ausfuͤhrungen als 
politiſche Morde bezeichnen. | 

Nicht unbedingt jedes Attentat, nicht jede Er: 
mordung eines gekroͤnten Hauptes oder eines viel: 
vermoͤgenden Staatsmannes iſt ein politiſcher Mord. 
Viele entſprangen nur unſauberen oder felbftfüchtigen 
Gründen, mehrere noch find auf Rache zuruͤckzu— 
fuͤhren. Das Attentat Orſinis auf Napoleon III. iſt 
anders zu bewerten, als jene von Kullmann und Hoͤdel 
auf Bismarck und Kaiſer Wilhelm I., wenngleich auch 
dieſe einen politiſchen Hintergrund haben. In vielen 
Faͤllen iſt es ſehr ſchwer, eine ſcharfe Grenzlinie zu 
ziehen. — 

Wenn die romaniſchen und „lateiniſchen“ Voͤlker 
und die Slawen bis in die neueſte Zeit durch ihre 
Raſſenbedingtheit des falſchen Glaubens ſind, durch 
Beſeitigung perſoͤnlicher Elemente Schaͤden zu beſſern, 
wo die eigentlichen Urſachen auf viel verwickelteren 


204 Der Mord in der Staats: und Hauspolitik 


Umſtaͤnden beruhen, fo beweiſt dies nur, daß fie einer: 
ſeits unfähig find, die Wahrheit der Lage zu erkennen, 
und anderſeits zu ohnmaͤchtig / ſie mit Vernunftmitteln 
zu beſſern. Darin liegt auch die weſentlichſte Unter⸗ 
ſcheidung deutſcher Art gegenuͤber allem andersgearteten 
Volkstum. Kein ſeiner Sinne voͤllig maͤchtiger Menſch 
unſerer Raſſe wird glauben, daß mit dem Verſchwinden 
einer Perſon Wirkungen endigen koͤnnten, die im 
tiefſten Grunde unperſoͤnlicher Natur find, Die Ver: 
wechſlung von Urſache und Wirkung, von Sein und 
Schein iſt das Verhängnis der romaniſch⸗-lateiniſchen 
Raſſe. Daß England heute glauben kann, die iriſche 
Frage durch einen Mord zu loͤſen, bezeugt nur, daß es 
auf eine mittelalterliche Stufe zuruͤckſank. Solche 
Ruͤckſchritte raͤchen ſich mit Naturnotwendigkeit. Nicht 
Roger Caſements Tod haͤtte die iriſche Frage geloͤſt, 
dies kann allein politiſcher Verſtand und vor allem 
Gerechtigkeit. Ein Begriff allerdings, fuͤr den England 
heute keinen Sinn, dafuͤr aber um 1 heuchleriſchere 
Redensarten aufbringt. 


Mannigfaltiges 


ö Die Japaner im Urteil der Völkerkunde. — Vor der 

„gelben Gefahr“ haben landeskundige Maͤnner aller Berufe, 
Miſſionare, Politiker, Beamte, Kaufleute und gelehrte For: 
ſchungsreiſende ſchon ſeit Jahren gewarnt. Gewoͤhnliche Be⸗ 
urteilungen nennen den Chineſen und Japaner meiſt in einem 
Atem als Angehoͤrige der gelben Raſſe und halten ſie fuͤr gleich 
begabt oder unbegabt. Alle Kenner aber wiſſen daruͤber genug 
zu ſagen, wie verſchieden dieſe beiden Nationen des Oſtens von⸗ 
einander ſind. Nach ihrer Meinung ſind die Chineſen den beſten 
Kaufleuten der Welt gleichzuſetzen; ſie beſitzen die Faͤhigkeit 
dazu in hohem Maße. Im Wettkampf mit den Chineſen haben 
nach Freiherrn v. Richthofens Urteil ſelbſt die Angehoͤrigen der 
ſemitiſchen Stämme und der europäifchen. Nationen nur geringe 
Erfolge gehabt. Nicht annaͤhernd ſo tuͤchtig und vor allem ſo 
ſolide wie die chineſiſchen ſind die japaniſchen Kaufleute. Es iſt 
ſprichwoͤrtlich im Oſten, daß eines Chineſen Wort genuͤgt, waͤh⸗ 
rend zehn Vertraͤge mit einem Japaner nicht genuͤgende 
Sicherheit bieten. Allgemein macht man dem Japaner un⸗ 
lauteren Wettbewerb und Lieferung minderwertiger Waren 
zum berechtigten Vorwurf. 

Durchſchnittlich ſind wir gewoͤhnt, alles um uns durch Ver⸗ 
gleiche, die uns naheliegen, zu beurteilen, und ſo geſchieht es 
auch meiſt, daß wir uns nur verblenden laſſen, wenn wir uͤber 
Japans neueſte „Kulturfortſchritte“ reden. Die Englaͤnder 
nennen ihren Bundesgenoſſen „Japs“ den Affen Europas; in 
dieſem Wort liegt Wahrheit, denn es bezieht ſich auf die Faͤhigkeit 
der bloßen Nachahmung an Stelle ſelbſtſchoͤpferiſcher Eigen⸗ 
ſchaften, die Europa in langen Jahrhunderten zu dem gemacht 
haben, was es heute iſt. Vor Jahren ſtellte Oskar Peſchel, der 
große Reiſende und Voͤlkerforſcher, einen weſentlichen Unter⸗ 
ſchied zwiſchen den Europaͤern und den Oſtaſiaten feſt, der 
immer bedacht zu werden verdiente, wenn es ſich um faͤlſchliche 
Überfchägung, um die Bewunderung der „ſchnellen, erſtaunlichen 
Fortſchritte“ jener durchaus andersgearteten oͤſtlichen Raſſen 
handelt. Peſchel ſagt: „Wir find die Zoͤglinge geſchichtlich be: 
prabener Nationen. Die Chineſen find Autodidakten — das 


206 Mannigfaltiges 


heißt ohne Anweiſung Selbſtbelehrte. Vergleichen wir aber 
unſeren Entwicklungsgang mit dem ihrigen, ſo werden wir uns 
bewußt, was ihnen fehlt und worauf unſere Groͤße beruht. Seit 
unſerem geiſtigen Erwachen, ſeit wir als Mehrer der Kulturſchaͤtze 
aufgetreten ſind, haben wir unverdroſſen nur nach einem Ding 
geſucht, von deſſen Daſein Chineſen und Japaner keine Ahnung 
haben, fuͤr das ſie auch ſchwerlich nur eine Schuͤſſel Reis geben 
wuͤrden. Dieſes unſichtbare Ding nennen wir — Kauſalitaͤt. 
(Wir wollen in allem die urſaͤchlichen Zuſammenhaͤnge erkennen, 
die notwendigen Wirkungsarten einer Urſache, die Bedingtheit 
aller Erſcheinungen durch vorher Dageweſenes feſtſtellen, die 
Zuſammenhaͤnge als geſetzlich ergruͤnden.) An den Chineſen haben 
wir eine Menge von Erfindungen bewundert und ſogar von 
ihnen uns angeeignet, aber wir verdanken ihnen nicht eine einzige 
Theorie — das heißt durch ſtrenge Vernunftbetrachtung ge⸗ 
wonnene wiſſenſchaftliche Grundlage einer Lehre — nicht einen 
einzigen tieferen Blick in den Zuſammenhang und die naͤchſten 
Urſachen der Erſcheinungen.“ 

Bezeichnend äußerte ſich in dieſer Hinſicht ein vornehmer 
Japaner vor kaum einem Jahrzehnt: „Ich kann eine Lokomotive 
machen, wenn ich ſie ſehe. Aber ich begreife nicht, wie man eine 
Lokomotive machen kann, wenn man ſie nicht geſehen hat.“ Als 
japaniſche „Ingenieure“ zu Beginn des Jahres 1905 in Berlin 
eine elektriſche Anlage fuͤr Tokio uͤbernahmen, fiel es auf, daß 
ſie ſich beeiferten, alle Einzelheiten zu zeichnen, zu meſſen und 
auf das ſorgfaͤltigſte und genaueſte zu kopieren, ohne den Dingen 
auf den Grund zu gehen und nach dem Wie und Warum zu 
fragen. Man iſt zu glauben geneigt, daß die Japaner ſchoͤpferiſche 
Kraft und ſelbſtaͤndiges Erfindertalent bisher darum „noch nicht 
betaͤtigten, weil ſie zu große Fortſchritte vorfanden und vor allem 
beſtrebt ſein mußten, dieſe Fortſchritte ſich zu eigen zu machen und 
zu verarbeiten“. Man beſtaͤtigte ihre Lernbegier und ihre 
Faͤhigkeit, das Zweckmaͤßigſte und Beſte als Vorbild zu waͤhlen, 
doch betraf das immer nur die mehr mechaniſchen und techniſchen 
europaͤiſchen Errungenſchaften, alſo eigentlich trotz allem nur 
ein aͤußerliches und mehr ziviliſatoriſches als weſentlich kultu⸗ 


Maunigfaltiges 207 


relles Element unſerer Welt. Tiefer hinabzudringen, das 
Geiſtige des Europaͤers zu erfaſſen, verſagt den oͤſtlichen Völkern 
ein hauptſaͤchlicher Mangel ihrer Raſſenveranlagung — der 
mangelnde Sinn fuͤr Kauſalitaͤt. H. Ho. 

Eine Jugendbekanntſchaft. — Der aͤltere Vanderbilt, 
genannt der Kommodore, der bei ſeinem Tode 1877 ein Ver⸗ 
moͤgen von hundert Millionen Dollars hinterließ, war ein Kind 
ganz armer Eltern. Ebenſo arm war ſeine Frau geweſen, die 
Tochter eines kleinen Schankwirtes. 

Als er laͤngſt zu Anſehen und Reichtum gelangt war, ſaß 
er einmal mit ſeiner Tochter in dem Badeorte Saratoga auf der 
Terraſſe eines der eleganteſten Hotels, als ein alter Mann 
vorbeitrippelte und, ſowie er Kornelius Vanderbilt erkannte, 
mit ausgeſtreckten Haͤnden auf ihn zukam. „Hallo, Kommodore,“ 
rief er dabei laut, „ſieht man Sie auch einmal wieder? Wie 
geht's Ihnen denn?“ 

Die Tochter, die in Samt und Seide gekleidet, dazu reich 
mit Diamanten geſchmuͤckt war, zog ihre Kleider dichter an ſich, 
wie wenn fie ſich vor Anſteckung ſchuͤtzen muͤſſe, und verhielt 
ſich ſo ablehnend wie moͤglich gegen das alte Maͤnnlein. Der 
Vater aber ſtand ihm Rede und Antwort und unterhielt ſich 
ganz unbefangen mit ihm. Nach kurzer Zeit entfernte ſich der 
Alte, und nun machte die junge Dame ihrem Vater ernpinde 
Vorhaltungen. 

„Wie konnteſt du dich ſo wegwerfen und die alte Vogel: 
ſcheuche auch nur eines Blickes wuͤrdigen — hier auf dieſem 
Sammelplatz der eleganten Welt!“ 

Er aber meinte ganz gemuͤtlich und durchaus nicht fluͤſternd: 
„Kind, hab' dich nicht ſo! Er iſt eine alte Jugendbekanntſchaft 
deiner Eltern. Von deiner Mutter hat er ſein Bier vorgeſetzt 
bekommen, und hat dobei mitangeſehen, wie ich ihr den 
Hof machte.“ N C. D. 

Staatsgeheimnifje und drahtloſe Telegraphie. — Die 
Einrichtung der drahtlofen Telegraphie bedeutet für ein Kriege 
ſchiff nichts Geringeres als die Verd can zung des Signalbuches, 
jener geſchichtlichen und um endlicher, Einrichtung, die in allen 


208 Mannigfaltiges 


— —— — 


Marinen in zwei Formen vorhanden iſt: in einer fuͤr den inter⸗ 
nationalen Verkehr und in einer zweiten fuͤr den Verkehr der 
Schiffe einer Flotte untereinander. Das Signalbuch iſt wohl 
das am ſorgfaͤltigſten verwahrte Regierungseigentum an Bord, 
und der Kapitän des Schiffes ſelber iſt für den ſtarken Band 
verantwortlich, der viele Tauſende von Silben, Worten, Satz⸗ 
teilen und ganzen Saͤtzen enthaͤlt, wie man ſie zur Abfaſſung 
eines Telegrammes braucht. Jede Silbe, jedes Wort und jeder 
Satz wird gebildet durch Zuſammenſtellung von Mitlauten, die 
zu Gruppen von zwei, drei, vier und fuͤnf Buchſtaben vereinigt 
ſind. Die Gruppen von zwei und drei Buchſtaben gelten wegen 
der Moͤglichkeit raſchen Gebens und e als „Not⸗ 
ſignale“. 

Will der Kapitaͤn eines Schiffes ſich mit einem anderen Schiffe 
oder mit einer Signalſtation auf dem Lande in Verbindung 
ſetzen, ſo ſchreibt er ſein Telegramm in gewoͤhnlicher Schrift 
nieder und ſchickt es dem Signaloffizier. Der uͤbertraͤgt es nach 
dem Signalbuche in Gruppen von Mitlauten und uͤbergibt 
es dem „Signalgaſte“, der die Fahnen hißt, welche die Buch⸗ 
ſtabengruppen darſtellen. Da nun ein langes Telegramm eine 
ganze Reihe ſolcher Fahnenhiſſungen erforderlich macht, ſo 
leuchtet es ein, daß die Weitergabe unter umftaͤnden ſchwierig 
und zeitraubend iſt. 

Das Syſtem des Siguvalbuches hat vor allem den Nachteil, 
daß ein Exemplar irgendwie einmal in die Hand des Feindes 
gelangen kann. In unſerer Marine iſt ſeit ihrem Beſtehen noch 
kein Signalbuch in Feindeshaͤnde gekommen. In der engliſchen 
Marine warf vor mehreren Jahren ein betrunkener Signalgaſt 
das Buch uͤber Bord, und erſt nach muͤhſeligem Suchen konnte 
es von Tauchern wieder aufgefiſcht werden. Waͤre es nicht ge⸗ 
funden worden, ſo haͤtte das damals in Gebrauch befindliche 
Signalbuch zuruͤckgezogen und ein anderes dafuͤr eingefuͤhrt 
werden muͤſſen. 

In der franzoͤſiſchen Marine mußte im Laufe des letzten 
Jahrzehnts das Signalbuch zweimal geaͤndert werden, weil 
Exemplare davon an andere Maͤchte verkauft worden waren. 


Mannigfaltiges 209 


Wenn ein Schiff vom Feinde gekapert wird, iſt es eine ganz be⸗ 
ſondere Sorge, das Buch rechtzeitig uͤber Bord zu bringen. 
Damit es raſch verſinkt, iſt ſeine Einbanddecke mit Blei beſchlagen, 
auch iſt der Kaſten, in dem es aufbewahrt wird, ſehr ſchwer und 
durchloͤchert. 

Ein anderer Einwand, den man gegen das Signalbuch 
geltend macht, iſt der, daß infolge der vielen neu hinzutretenden 
Namen von Schiffen, Haͤfen, techniſchen Verbeſſerungen des 
oͤfteren Nachtraͤge herausgegeben werden muͤſſen. 

Die Anwendung der drahtloſen Telegraphie macht die Be⸗ 
nuͤtzung des Signalbuches immer weniger notwendig, da man zur 
Verſtaͤndigung nicht mehr auf die Flaggenſignale allein ange⸗ 
wieſen iſt. Sie ermoͤglicht auch eine viel ſchnellere Nachrichten⸗ 
uͤbermittlung. Die Verſchiedenheit der Laͤnge der elektriſchen 
Wellen bringt es mit ſich, daß eine Depeſche von einem Appa⸗ 
rate nur aufgefangen wird, wenn er ganz genau mit dem 
„Sender“, dem uͤbermittelnden Apparate, abgeſtimmt iſt. Das 
Telegramm kann alſo hier unmittelbar von der erſten Nieder⸗ 
ſchrift aus aufgegeben werden, und fuͤr die Geheimhaltung 
kommen die gleichen Maßnahmen wie bei ſonſtigen Depeſchen in 
Betracht. Der Vorteil liegt auf der Hand; denn in dem Ge⸗ 
tuͤmmel und der Aufregung einer Seeſchlacht kann der Verluſt 
einer einzigen Minute bei der Übermittlung eines Befehles 
Sieg oder Niederlage bedeuten. 

Tritt auch das private Signalbuch in den Marinen aller 
ziviliſierten Völker wohl immer mehr in den Hintergrund, fo 
laͤßt ſich das von der Chifferſchrift der Diplomaten keineswegs 
behaupten. Wichtige Nachrichten, die zwiſchen dem Sitze der 
Regierung und ihren auswaͤrtigen Vertretern ausgetauſcht 
werden, muͤſſen vorausſichtlich auch fernerhin in Geheimſchrift 
geſchrieben werden. Aber ebenſo wie das Überfeßen eines Be: 
fehls auf dem Schiffe fuͤr den Signaloffizier eine recht zeit⸗ 
raubende Arbeit iſt, iſt auch das Dechiffrieren eines diplomatiſchen 
Berichtes ſehr umſtaͤndlich. Das von unſerer Regierung ange⸗ 
wandte Chiffrierſyſtem iſt fuͤr jeden Uneingeweihten ein Buch 
mit ſieben Siegeln. Man behauptet jedoch, daß es kein Syſtem 

1916. X 14 


210 Mannigfaltiges 


einer Geheimſchrift gebe, das nicht zu entziffern wäre, Daran 
iſt etwas Wahres, weil alle Geheimſchriften auf einer aͤhnlichen, 
ſyſtematiſchen Grundlage beruhen muͤſſen. Man kann aber 
fuͤr die guten Geheimſchriften dasſelbe gelten laſſen, was ein 
ehrlicher Geldſchrankfabrikant von ſeinen Erzeugniſſen ſagte: 
„Ich will nicht behaupten, daß meine Schraͤnke unbedingt ein⸗ 
bruchſicher ſind; das Offnen eines meiner Schraͤnke erfordert 
aber ſo viel Zeit, daß der Dieb erwiſcht wuͤrde, ehe er das Geheim⸗ 
nis des Schloſſes ergruͤndet haͤtte.“ 

Überdies wird kein vorſichtiger Diplomat regelmaͤßig die⸗ 
ſelben Chiffern benutzen. Jede Geheimſchrift, in der man Staats⸗ 
geheimniſſe zu Papier bringt, muß zahlreiche Veränderungen 
und Umſtellungen geſtatten, damit auch der Schlüffel, wenn er 
in unbefugte Haͤnde geraͤt, nicht ohne weiteres alle Tuͤren oͤffnet. 

Das Entwerfen eines modernen Anforderungen entſprechen⸗ 
den Chiffrierſyſtems iſt zu einer wahren Wiſſenſchaft geworden, 
und ein Syſtem von heute aͤhnelt einem vor fuͤnfzig Jahren 
gebrauchten wie ein Kraftwagen einem alten Bauernfuhrwerk. 
Die fruͤheren Geheimſchriften waren fuͤr einen Gebildeten oft auf 
den erſten Blick zu entziffern. Bis zum Krimkriege waren die 
Chiffern, die die engliſche Regierung anwandte, einfache Um⸗ 
ſtellungen, das heißt, ein Buchſtabe ſtand in regelmaͤßiger Folge 
fuͤr den andern; B ſollte beiſpielsweiſe A bedeuten, C ſtand für B, 
und ſo ging es weiter. Spaͤter gebrauchte das engliſche Aus⸗ 
waͤrtige Amt Zahlen für gewiſſe Worte, Namen, Städte und 
Laͤnder. Unter gewiſſen Umſtaͤnden erweiſt ſich ein ſolches Syſtem 
als recht praktiſch; doch erfordert die Abfaſſung eines Telegramms 
viel Zeit, und dann muß der Empfaͤnger ſtets den „Schluͤſſel“ 
bei ſich tragen. Ein vollkommenes Chiffrierſyſtem verlangt aber, 
daß man den „Schluͤſſel“ im Kopfe und nicht in der Depeſchen⸗ 
mappe habe. 

Waͤhrend des letzten Burenkrieges war zwiſchen zwei 
Handlungshaͤuſern ein Chiffrierſyſtem in Gebrauch, das auf 
dem „Gedaͤchtnisſchluͤſſel“ beruhte. Der bekannte „AbC⸗Code“ 
bildete die Grundlage. Man war uͤbereingekommen, daß der 
Empfänger des Telegrammes nicht den Satz leſen ſollte, der dem 


Mannigfaltiges 211 


telegraphierten Codewort gegenüber, ſondern den, der mehrere 
Worte weiter unten ſtand, und zwar ſo viel Worte weiter, als 
das Telegramm ſelber Worte zaͤhlte. Waren beiſpielsweiſe 
die Codeworte „abſolut“, „Kamin“, „Menſchheit“ telegraphiert, 
ſo ſollte der Empfaͤnger drei Worte von „abſolut“ aus zaͤhlen und 
fand dann „abſolviert“. Der dieſem Worte gegenuͤberſtehende 
Satz war der, den der Abſender zum Ausdruck bringen wollte. 
Dieſes einfache Syſtem bot zwei große Vorteile: einmal konnte 
man den „Schluͤſſel“ im Kopfe behalten, und es war ausge⸗ 
ſchloſſen, daß er in die Haͤnde Unbefugter geriet; zweitens aber, 
war jemand wirklich durch Zufall in den Beſitz des richtigen 
„Schluͤſſels“ gelangt, ſo konnte er ihm deswegen wenig nuͤtzen, 
weil ja beim Leſen eines jeden Telegrammes eine andere Wort⸗ 
zahl abgezaͤhlt wurde. Tauſenderlei Arten gab es, vermittels 
derer der „Schluͤſſel“ geaͤndert werden konnte, ohne daß das 
Gedächtnis des Abſenders oder Empfängers zu ſchwer belaſtet 
wurde. Obwohl mehr als zwanzig dieſer Telegramme von den 
Buren aufgefangen wurden, hat man doch Grund zu der An⸗ 
nahme, daß ſie in keinem einzigen Falle entziffert wurden. 
Trotz aller Phantaſien von Romanſchreibern und Theater⸗ 
dichtern darf man annehmen, daß ein chiffriertes Telegramm in 
Friedenszeiten nur hoͤchſt ſelten, wenn uͤberhaupt je, in die Haͤnde 
einer feindlich geſinnten Macht faͤllt. Durch beſondere Boten — 
Feldjaͤger — werden ſie befoͤrdert, und nur durch Gewalttaͤtigkeit 
koͤnnten ſie aus der wohlverwahrten Depeſchenmappe in die 
Haͤnde des Diebes gelangen. Telegraphiſche Mitteilungen 
fremder Regierungen moͤgen vielleicht manchmal aufgefangen 
werden. Das iſt ja weiter nicht ſchwer. Etwas anderes aber 
iſt es, zu erkennen, fuͤr wen dieſe Botſchaften beſtimmt ſind; 
denn diplomatiſche Telegramme von großer Wichtigkeit gehen 
auf Umwegen und nie unmittelbar an die Perſonen, fuͤr die ſie 
beſtimmt ſind. So kann es leicht kommen, daß ein Vertreter im 
Ausland Häufig Mitteilungen von feiner Regierung erhält, ohne 
daß die Geheimpoliziften, die dieſen Vertreter ftändig beobachten, 
auch nur von einem einzigen Telegramm an ihn berichten 
koͤnnen. J. Caſſirer. 


212 Mannigfaltiges 


Kaiferin Maria Thereſia und die Zenſur. — Der feiner: 
zeit in Wien lebende, mit den franzoͤſiſchen Enzyklopaͤdiſten 
geiſtig in Verbindung ſtehende Schriftſteller Sonnenfels be⸗ 
klagte ſich eines Tages bei der ihm ſehr wohlgeſinnten Kaiſerin 
uͤber die Wiener Zenſurbeamten, die ihm ein Buch „boͤs zu⸗ 
ſammengeſchmettert“ und ihn ſogar noch zu drei Wochen Ge⸗ 
faͤngnis verurteilt haͤtten. 

Maria Thereſia troͤſtete ihn mit den im gemuͤtlichſten Wiene⸗ 
riſch herausgeplauderten Worten: „Was iſt's denn halter mit 
Ihm? Sekkieren's Ihn ſchon wieder? Was hat Er denn aus⸗ 
gefreſſen, mein lieber Sonnenfels? Hat Er was gegen mich 
geſchrieben? Ach Gott, wenn's weiter nix wär’! Das verzeih’ 
ich Ihm gern. Ein rechter Patriot muß nicht alles geduldig 
hinnehmen, was von oben kommt. Weiß ſchon, wie Er's meint! 
Oder hat Er was gegen die guten Sitten geſchrieben? Nein, 
Sonnenfels, ein ſolcher Saumagen iſt Er nicht, das weiß ich! 
Alſo troͤſt' Er ſich, deswegen ſoll Ihm nichts paſſieren! Aber 
eins, lieber Sonnenfels, da kann ich nix tun: Wenn Er was 
gegen die Miniſter geſchrieben hat. Da muß Er ſich ſchon ſelber 
heraushauen! Hab' Ihn oft genug gewarnt!“ 

Sonnenfels hatte aber gerade in der letzten Hinſicht ein 
boͤſes Gewiſſen, und ſo kam er trotz des Wohlwollens ſeiner 
Herrſcherin auf drei Wochen ins Loch. O. Th. St. 

Schauſpieler als „unehrliche“ Leute. — Nach alter 
deutſcher Auffaſſung war es ein tiefer Unterſchied, ob jemand 
Geſang, Saitenſpiel und Verſeſprechen als freie, das Leben ver⸗ 
ſchoͤnernde Kuͤnſte übte oder davon lebte. Geſchah es, daß einer 
aus freiem Herzensdrang, zur Ehre Gottes, des Vaterlandes 
oder edlen Frauen zuliebe ſich in ſolchen Kuͤnſten hören ließ, er 
konnte, wie Volker, der fuͤrſtliche Schweſterſohn Kriemhildens 
im Nibelungenliede, ein Edelmann ſein, ein Bannerherr uͤber 
Land und Leute. Wer aber mit Singen und Saitenſpiel fuͤr 
Geld und Gaben zu anderer Ergoͤtzen aufwartete, den konnte 
man unmöglich achten. Aufgeben der freien Mannes wuͤrde 
erkannte man in ſolchem Tun, ſolches „Sich⸗zu⸗eigen⸗Geben“ 
erſchien nach altem Ehrbegriff ſo veraͤchtlich als das Spielen mit 


Mannigfaltiges | | 213 


dem Ernſt, das Darſtellen unempfundener Geſinnungen und 
Gefuͤhle, um den Preis von Geld und Geldeswert. Alle, die 
mit Geſang, Saitenſpiel und Reimeſprechen nach Geld trachteten, 
nannte man „Spielleute“ kurzweg. Als Grundſatz galt: 
„Unehrlich ſind Spielleute und alle, die Gut ſtatt Ehre nehmen, 
ſich fuͤr Geld zu eigen geben.“ Im Grunde ſpricht ſich echt 
deutſche Anſchauung aus in ſolch unbedingter Unterordnung des 
Gutes unter Ehre, in der tiefen Verachtung der Preisgabe inner⸗ 
licher Freiheit und Botmaͤßigkeit, geiſtiger Fremdhoͤrigkeit. Mit 
Unehrlichkeit war Rechtloſigkeit verbunden. Kein Spielmann 
konnte Schoͤffe ſein, als Zeuge nicht volle Glaubwuͤrdigkeit 
beanſpruchen, niemals durch bloßen „Reinigungseid“ wider ihn 
erhobene Anklage entkraͤften. Nur was Hab und Gut anging, 
konnte ihm unparteiliches Recht werden. Einem unverdient 
gekraͤnkten Spielmann konnte man nur die Genugtuung geben, 
daß man ihm den Schatten ſeines im Sonnenſchein gegen die 
Wand geſtellten Beleidigers preisgab. Dem Schattenbild an 
der Mauer konnte er einen Schlag an den Hals geben; damit 
war ihm zugefuͤgtes Unrecht gebuͤßt, der Schaden getilgt. Dieſer 
Rechtsauffaſſung liegt der Gedanke zugrunde: wer Gut fuͤr 
Ehre nimmt, dem iſt Ehre nur ein Schatten, bei Kraͤnkungen 
mag er ſich alſo an den Schatten halten. Eine der aͤlteſten Reichs⸗ 
polizeiordnungen verfügt, daß alle „Pfeifer, Spielleute, Singer 
und Reimeſprecher“ eine leicht erkennbare, beſondere Kleidung 
tragen ſollten, um ſie von ehrlichen Leuten zu unterſcheiden. Man 
vermutete, daß die lang wahrnehmbare Vorliebe der Mimen fuͤr 
auffallenden Aufzug durch die Macht einer alten Gewohnheit 
lebendig blieb. Späte Reichsgeſetze reden noch mit unverhuͤllter 
Verachtung uͤber alles leichtfertige Volk, „ſo ſich auf Singen 
und Reimſprechen leget und darin den geiſtlichen wie den welt⸗ 
lichen Stand veraͤchtlich antaſtet, naͤmlich alſo, daß ſie bei den 
Geiſtlichen Übles fingen von denen Weltlichen und bei den 
Weltlichen Argerliches von denen Geiſtlichen“. Alle dieſe 
Saͤnger, mit gebuͤhrlicher Ausnahme „derer ſo den Meiſterſang 
ſingen“, ohne Geld und Gaben zu nehmen, wurden als fahrende 
Leute zu den unehrlichen Schalksnarren geworfen Vom Makel 


214 Mannigfaltiges 


feines Gewerbes konnte der mittelalterliche Spielmann ſich nur 
reinigen, wenn es ihm durch Kunſt und ſittlichen Wandel gelang, 
im Dienſt der Kirche zu ſtehen; dann war er des „Herrgotts 
Spielmann“. Darauf zielt die Grabſchrift: 


„Hier ligt begraven Peter Quann, 

Organiſt to Travemuͤnde. 

Gott vergav em fine Stube, 
Denn he was ſin Spelemann.“ 


Fuͤr den Schauſpieler gab es keine Möglichkeit, ehrlich zu 
werden, wie fuͤr die Muſiker, die als Feldtrompeter und Pfeifer 
durch Kaiſer Ferdinand II. ſeit 1630 ehrlich geſprochen waren, 
ihr Beruf galt ſeitdem als „frei- ritterliche Kunſt“. Begab ſich 
aber ein „ehrlicher Trompeter von der Kunſt zu den Komoͤ⸗ 
dianten, ſo ſoll er der Kunſt“ — und damit der Ehrlichkeit im 
buͤrgerlich⸗geſetzlichen Sinne — „gänzlich bera ubet fein“, beſtimmt 
eine Verordnung vom 10. Juli 1650. 

Dieſe Auffaſſungen galten im weſentlichen auch in Frankreich. 
Am 17. Februar 1673 ſtarb in Paris der große Dichter Moliere, 
der auch die Hauptrollen ſeiner Stuͤcke ſpielte. Er hauchte ſein 
Leben in der Rolle des „Eingebildeten Kranken“ auf der Buͤhne 
aus. Sein Leben war ſo ernſt und edel, daß ſeine Feinde niemals 
vermochten, den Koͤnig, der ihn 1665 zum Direktor der Schau⸗ 
ſpielertruppe ernannte, gegen ihn auszuſpielen. Er war auch 
ſeiner Truppe ein wirklicher Vater. Als man den Schwerkranken 
abhalten wollte, am letzten Abend zu ſpielen, ſagte er: „Was 
ſollen die armen Theaterarbeiter anfangen, wenn ich nicht auf: 
trete? Wie ſollte ich mir verzeihen, wenn ich ſie nur an einem 
Tag um ihr Brot gebracht hätte.” Nach feinem Tod verweigerte 
der Erzbiſchof von Paris der Leiche des großen Dichters das 
Begraͤbnis auf dem Friedhof, weil er ein Komoͤdiant geweſen 
ſei. Als Ludwig XIV. davon hoͤrte, ließ er den Erzbiſchof 
rufen und ſuchte, ihn zu beſſerer Geſinnung zu bringen, mußte 
aber hören, es ſei unmöglich, daß ein unehrlicher Schauſpieler 
in geweihter Erde ſein Grab faͤnde. Da fragte der Koͤnig, 
ſcheinbar beruhigt, wie tief die Weihe des Bodens reiche, und er⸗ 


Mannigfaltiges 215 


hielt zur Antwort, daß man mit ſieben Fuß rechne. Tiefer wuͤrden 
die Gruͤfte und Gräber nicht ausgehoben. Ludwig XIV. befahl, 
daß man Molieères Grab zwoͤlf Fuß tief, alſo fern genug von der 
geweihten Erde, machen ſolle und ſetzte ſeinen Willen durch. 

In Hamburg 
verweigerte 1690 
die Geiſtlichkeit 
dem Hans wurſt 
der Veltheim⸗ 
ſchen Truppe das 
Abendmahl und 
ein kirchliches 
Begraͤbnis. Der 
alte Schuͤtze ſagt 
in ſeiner Ham⸗ 
burger Theater⸗ 
geſchichte, daß 
noch in der letz⸗ 
ten Haͤlfte des 
achtzehnten Jahr⸗ 
hunderts einige 
wuͤrdige Mitglie⸗ 
der der beſſeren 


%%% 68 6886666888688 8680848108 60066 668680 6000 6 6060086 06 


2 7 [ 5 een ,, re 
a Hichal be Jean Baptiſte Moliöre, 
8 geboren 15. Januar 1622, geſtorben 


troffen habe; 17. Februar 16 
man war noch 1 = 


immer ber Meinung: „daß Komoͤdianten in einem Stande lebten, 
von dem ſehr fraglich ſei, ob er Gott wohlgefalle,“ wie Paſtor 
Schultz im Jahre 1697 ſchrieb. Friedrich der Große, ſonſt weit 
entfernt von landlaͤufigen Meinungen, nannte die kunſtvollſte 
Mimik „Kapriolenſchneiden“. Als er einſt einige Saͤngerinnen 
verabſchiedete, ſchrieb er ſeinem Fredersdorf: „Es iſt verdeubeltes 
Cropzeug, ich wollte, daß ſie alle der Deubel holte. Dieſe Ca⸗ 
naillen bezahlt man doch zum plaisir und nicht um Schererei 
von ihnen zu haben.“ Bei anderer Gelegenheit ſchreibt er: 


216 Mannigfaltiges 


„Die Opernleute find ſolche Bagage, daß ich fie tauſendmal 
muͤde bin. Ich jage ſie zum Deubel, ſolches Luderzeug kriegt 
man alle Tage wieder. Ich brauche mein Geld lieber vor Ka⸗ 
nonen und nicht vor ſolche Haſelanten.“ 

Der große Schauſpieler Friedrich Ludwig Schröter lernte 
in der Naͤhe von Duͤſſeldorf eine arme Lehrerstochter kennen 
und begehrte ſie zur Frau; ſie geſtand ihm, daß ſie ihn als Men⸗ 
ſchen wohl leiden moͤge, aber keinen Mann wolle, der auf oͤffent⸗ 
lichem Theater Poſſen reiße. Frankreich revolutionierte ſeit 1789 
die ſtaatlichen und ſittlichen Zuſtaͤnde; es iſt einer der denk⸗ 
wuͤrdigſten Streitpunkte der Revolutionszeit, daß man ſich kurz 
vor ihrem Ende nicht daruͤber klar werden konnte, ob der Schau⸗ 
ſpieler Anteil an den „allgemeinen Menſchenrechten“ haben 
duͤrfe. Erſt ſeit dem neunzehnten Jahrhundert begann der 
Makel zu ſchwinden, und die Anſchauung verlor ſich, daß Gut fuͤr 
Ehre zu nehmen buͤrgerlich unehrlich mache. St. St. 

Dem Feind keine Fahne. — Nach der Schlacht bei Roßbach 
war Friedrich dem Großen, wie er ſelbſt ſagte, nur die Freiheit 
gegeben, neue Gefahren in Schleſien aufzuſuchen. Nach der 
Schlacht ſchrieb er an ſeine Schweſter Wilhelmine, die Mark⸗ 
graͤfin von Bayreuth: „Nach ſo viel Angſt endlich einmal, dem 
Himmel ſei Dank, ein gluͤckliches Ereignis! Nun wird es in 
der Welt heißen, daß zwanzigtauſend Preußen fuͤnfzigtauſend 
Deutſche und Franzoſen geſchlagen haben. Jetzt kann ich mich 
mit Frieden in mein Grab legen, denn Ruhm und Ehre meines 
Volkes iſt gerettet. Wir koͤnnen noch ungluͤcklich, aber nicht mehr 
ehrlos ſein.“ Nur hundert Mann ſeiner Truppen waren bei 


Roßbach gefallen. Zwiſchen der Schlacht von Roßbach und 


jener, die bei Leuthen folgen ſollte, ſchrieb der Koͤnig ſein Teſta⸗ 
ment. Am 4. Dezember 1757 hielt er am Vorabend der Leuthener 
Schlacht die herzergreifende Rede an ſeine Generale und Stabs⸗ 
offiziere, zu denen er ſagte: „Wir muͤſſen den Feind ſchlagen oder 
uns alle vor ſeinen Batterien begraben laſſen. So denke ich, ſo 
werde ich handeln.“ Es ging um Leben und Tod. In jener 
tiefernſten, entſcheidenden Stunde ſagte der Koͤnig noch: „Iſt 
einer oder der andere unter Ihnen, der ſich fuͤrchtet, alle Gefahren 


Mannigfaltiges 217 


mit mir zu teilen, der kann noch heute feinen Abſchied erhalten, 
ohne von mir den geringſten Vorwurf zu leiden.“ Und Major 
Billerbeck ſprach die Worte: „Das muͤßte ein infamer Hundsfott 
ſein: nun waͤre es Zeit.“ Heilige Stille folgte dieſem Ausbruch. 
Damals erließ der Koͤnig noch die Beſtimmung: „Das Bataillon 
Infanterie, es treffe, worauf es wolle, das nur zu ſtocken anfaͤngt, 
verliert Fahnen und Saͤbel, und ich laſſe ihm die Borten von der 
Montur abſchneiden. Nun leben Sie wohl, meine Herren; in 
kurzem haben wir den Feind geſchlagen, oder wir ſehen uns nie 
wieder.“ Die Schlacht bei Leuthen wurde glaͤnzend gewonnen; 
kein Regiment verlor mit der Fahne feine Ehre. Am 17. Ok: 
tober 1806 war bei Halle eine preußiſche Fahne nach einem 
ungluͤcklichen Kampf in Gefahr, den Franzoſen in die Haͤnde 
zu fallen. Das ganze Regiment v. Treskow, das bei der Papier⸗ 
muͤhle zunaͤchſt der Saale focht, wurde beinahe aufgerieben, 
nachdem es ſich mehrere Stunden gegen weit uͤberlegene Macht 
aufs tapferſte gehalten. Zwei Junker des Regiments, v. Kleiſt 
aus Pommern und v. Koͤnitz aus Ansbach, ſahen ſich von Fran⸗ 
zoſen umringt; es war unmoͤglich, die ihnen anvertraute 
Fahne zu retten. Man rief ihnen zu, ſich mit der Fahne zu 
ergeben. „Ihr ſollt ſie nicht haben,“ ſchrien die jungen Offiziere, 
ſtuͤrzten ſich mit dem Regimentsbanner in die reißende Saale 
und ertranken. Tho. L. 
Schlagfertig. — Friedrich der Große ſah einſt auf der Straße 
einen Angetrunkenen, in dem er, als er naͤherkam, einen Schreiber 
aus der Kanzlei eines ſeiner Miniſter erkannte. Zornig daruͤber, 
einen preußiſchen Beamten in einem ſolchen Zuſtande auf der 
Straße zu ſehen, trat er an ihn heran und herrſchte ihn an: 
„Wie heißt Er und wo dient Er?“ Der alſo Angeredete er⸗ 
widerte uͤbermuͤtig, in ſeiner Trunkenheit den Frager nicht 
erkennend: „Er heißt die dritte Perſon in der Deklination der 
perſoͤnlichen Fuͤrwoͤrter und Er dient in der Kanzlei des Mi⸗ 
niſters Hardenberg.“ Der Koͤnig war außer ſich uͤber dieſe 
unerwartete Unverſchaͤmtheit und ſprach: „Was, Er will mich 
deutſche Grammatik lehren und weiß nicht einmal, daß der 
Eigenname nicht gebeugt wird, ſobald ein Artikel vor ihm fteht?” 


218 Mannigfaltiges 


Dabei fah er den Witzmacher durchbohrend an. Dieſem fiel es 
plotzlich wie Schuppen von den Augen, er erkannte den vor 
ihm Stehenden, im Augenblick wich die Trunkenheit von ihm 
und, ſich ſtramm aufrichtend, ſagte er mit einer beiſpielloſen 
Schlagfertigkeit: „Vor Eurer Koͤniglichen Majeſtaͤt muß ſich 
alles beugen, ob es einen Artikel vor ſich hat oder nicht.“ Dar⸗ 
uͤber vergaß Friedrich ſeinen Zorn und ſagte laͤchelnd zu dem 
Suͤnder: „Nun, gehe Er man geraden Weges nach Hauſe und 
beuge Er hinfuͤro das Glaͤschen nicht zu tief, ſonſt iſt es doch 
einmal aus mit Ihm.“ A. Sch. 

Zur Belagerung der Feſtung Longwy. — Die Übergabe der 
Feſtung Longwy an den Deutſchen Kronprinzen am 26. Auguſt 
1914 weckt die Erinnerung an einen Vorgang, der ſich genau 
zwei Jahre vorher, am 25. Auguſt 1912, dort abſpielte: Die Ein⸗ 
weihung des Denkmals zur Erinnerung an die dreimalige Be⸗ 
lagerung der Feſtung Longwy. 

Das Denkmal ſteht im ſtaͤdtiſchen Friedhofe und ehrt das 
Gedaͤchtnis an fruͤhere Verteidiger der Feſtung waͤhrend der 
dreimaligen Belagerung in den Jahren 1792, 1815 und 1870. 
Es iſt ein Werk des Bildhauers Buffiere und ſtellt eine weibliche 
Idealgeſtalt dar, auf deren Antlitz ſich Willenskraft und Ent⸗ 
ſchloſſenheit auspraͤgen — die Lorraine. In der Linken Hält fie 
einen Degen, mit der Rechten druͤckt ſie eine Fahne an ihre Bruſt, 
zu ihren Füßen liegt eine Palme mit dem Spruch „Pro Patria 

Der Tag der Einweihung, ein Sonntag, war vom herrlichſten 
Wetter beguͤnſtigt, reges Leben herrſchte ſchon vom fruͤhen Morgen 
an in der kleinen franzoͤſiſchen Grenzfeſtung. Die Teilnahme 
des damaligen Minifterpräfidenten, jetzigen Praͤſidenten der 
Franzoͤſiſchen Republik, Poincaré, an der Einweihung hob dieſe 
uͤber den Rahmen einer einfachen patriotiſchen Erinnerungsfeier 
hinaus, und daß man ſich deſſen durchaus bewußt war, das zeig⸗ 
ten die Inſchriften der zahlreichen Ehrenpforten, deren eine zum 
Beiſpiel die Widmung aufwies: „Es lebe Poincaré — der große 
Unterhaͤndler.“ Eine Anſpielung auf die vorangegangenen 
Beſuche des Praͤſidenten an den Hoͤfen der befreundeten und 
verbuͤndeten Maͤchte. 


Denkmal zur Erinnerung an die dreimalige Belagerung 
der Feſtung Longwy. 


220 Mannigfaltiges 


Poincaré war bei ſeinem Eintreffen auf dem Bahnhof 
Longwy nicht nur von der franzoͤſiſchen Bevoͤlkerung, ſondern 
auch von Abordnungen aus Belgien und Luxemburg mit großer 
Warme begruͤßt worden. Unter den Feſtteilnehmern gewahrte 
man auch den damaligen Kommandeur des 6. Armeekorps. 
General d' Amade. 

Um die Mittagſtunde erfolgte die feierliche Denknials⸗ 
einweihung. Nachdem ein Longwyer mit dem urfranzoͤſiſchen 
Namen Beckerich „im Namen des franzoͤſiſchen Gedenkens“ 
und ein anderer im Namen der Veteranen geſprochen hatte, 
ergriff der Miniſterpraͤſident das Wort zu der eigentlichen Weihe⸗ 
rede, deren vieldeutige Ausfuͤhrungen die Verſammelten tief 
erregte und zu begeiſtertem Beifall hinriß. | 

Poincaré erzählte von der bewegten und ruhmreichen Ges 
ſchichte Longwys und wies darauf hin, daß insbeſondere drei 
große Ereigniſſe fuͤr wuͤrdig erachtet worden ſeien, der Erinnerung 
der Nachwelt uͤberliefert zu werden. 

Das erſte aus dem großen Revolutions jahre 1792, in dem 
ganz Europa gegen Frankreich geſtanden habe. Der Miniſter⸗ 
praͤſident verbreitete ſich zunaͤchſt über die kinnahme von Longwy 
durch den Herzog von Braunſchweig und die Befreiung der Stadt 
aus den Haͤnden der Feinde durch die ſiegreiche franzoͤſiſche Armee. 

Dann beſprach er die zweite Belagerung der Stadt im 
Jahre 1815. Wohl wiſſend, welche Zugeſtaͤndniſſe er der Eigen⸗ 
liebe ſeiner franzoͤſiſchen Zuhoͤrer machen muͤſſe, flocht Poincaré 
hier einige ruͤhrſame Geſchichten ein von einem jungen Kanonier, 
Dehaye, der, ohne ſich zu beſinnen, von den Waͤllen aus ſein 
vaͤterliches Beſitztum draußen vor den Toren in Brand ſchoß, 
um den Feind dahinter zu vertreiben; von einem alten Veteranen, 
Sebaſtian Coquerre, Vater von ſieben Kindern, der vom Kirch⸗ 
turm aus die Bewegungen des Feindes beobachtete, das Artillerie⸗ 
feuer der Belagerten leitete und nicht von ſeinem Poſten wich, 
obwohl die Kanonenkugeln zu Hunderten uͤber ihn wegſauſten, 
die zerſchoſſenen Turmzieraten auf ihn herabregneten und die 
Bruſtwehr des Rundganges in die Tiefe ſtuͤrzte. Auch der 
Standhaftigkeit, mit der die Eingeſchloſſenen die Schrecken der 


Mannigfaltiges 221 


Belagerung ertrugen, zollte der Redner reichliches Lob. Trotz 
allen Heldenmutes von Soldaten und Buͤrgern habe, ſo fuhr 
Poincaré fort, am 15. September 1815 die Übergabe der Stadt 
an die erdruͤckende feindliche Übermacht erfolgen muͤſſen. 

Fuͤnfundfuͤnfzig Jahre ſpaͤter ſei Frankreich noch grauſamer 
vom Gluͤck verlaſſen worden. Am 27. Auguſt 1870 ſchickte der 
Kronprinz von Preußen, der Longwy belagerte, einen hoͤheren 
Huſarenoffizier mit der Aufforderung zur Übergabe in die 
Feſtung. Aber die Antwort des Kommandanten war ein rundes 
Nein. Die Geſamtzahl der Verteidiger betrug in jenem denk⸗ 
wuͤrdigen Augenblicke nur 110 Infanteriſten, 69 Artilleriſten, 
160 Grenzwaͤchter und eine Anzahl Poliziſten und Forſtbeamte. 
Ermutigt und unterſtuͤtzt von den Einwohnern uͤberraſchte ein 
Teil dieſer geringen Beſatzung in der Nacht vom 29. zum 30. Au⸗ 
guſt die Belagerer durch einen Ausfall und konnte ſich ſogar 
damit bruͤſten, ihnen einen Verluſt von 60 Toten und 14 Ge⸗ 
fangenen beigebracht zu haben. Weitere aͤhnliche kuͤhne und 
erfolgreiche Unternehmungen hielten in den folgenden Wochen 
die Deutſchen fortwaͤhrend in Atem. Ohne Zweifel die Stadt fuͤr 
ſtark beſetzt haltend und nicht gewillt, durch einen Sturmangriff 
viel Leute einzubuͤßen, wozu keine zwingende Notwendigkeit vor⸗ 
lag, begnuͤgten ſich die Deutſchen damit, ſich in den Doͤrfern der 
Umgebung feſtzuſetzen. 

Inzwiſchen hatten ſich 300 verſprengte Franzoſen, die dem 
Zuſammenbruche bei Sedan entronnen waren, bis Longwy 
durchgeſchlagen. Durch ſie und durch weitere Verſtaͤrkung aus 
der Umgegend erhoͤhte ſich die Zahl der Verteidiger auf etwa 
1800 bis 1900 Mann. Die deutſchen Batterien eroͤffneten ploͤtz⸗ 
lich das Feuer, und waͤhrend mehr als einer Woche fielen Tag 
und Nacht ohne Unterbrechung gegen 30 000 Geſchoſſe in die 
Stadt. Bald waren die Geſchuͤtze der Feſtung unbrauchbar 
gemacht, die Bruſtwehren zerſchoſſen, ganze Haͤuſerreihen nieder⸗ 
gebrannt; das Hoſpital drohte uͤber den Kranken und Ver⸗ 
wundeten zuſammenzuſtuͤrzen, Arzte und Pfleger wurden in 
Ausuͤbung ihres Dienſtes getoͤtet. Die Stadt glich nur noch 
einem Truͤmmerhaufen. Beſatzung und Buͤrgerſchaft blieben 


222 Mannigfaltiges 


jedoch bereit, den Kampf fortzuſetzen. Aber mit Ruͤckſicht auf 
das zuſammengeſchmolzene Haͤuflein der Verteidiger glaubte 
der Kommandant, Oberſt Maſſaroli, keinen Ausfall mehr wagen 
zu koͤnnen, und ſo unterzeichnete er am 24. Januar 1871 die 


Übergabeerflärung. Die Bürger Longwys aber hatten ihre 


Pflicht gegen das Vaterland erfuͤllt bis ans Ende! 

Soweit Poincarés! Man ſieht, daß er, um die Empfind⸗ 
lichkeit ſeiner Landsleute nicht zu verletzen, es mit der hiſtoriſchen 
Treue ſeines geſchichtlichen Abriſſes nicht allzu genau nahm, 
in deutſchen wiſſenſchaftlichen Darſtellungen lieſt man es anders. 
Danach hielt die Feſtung Longwy, die in ihrer hohen Lage und 
der ſtarken Felſenbefeſtigungen einen bedeutenden Schutz be⸗ 
ſitzt, die deutſche Beſchießung vom 16. bis zum 25. Januar 1871 
aus, nachdem ſie ſeit dem 27. Dezember 1870 vom 4. Ober⸗ 
ſchleſiſchen Landwehrregiment unter Oberſt v. Krenski einge⸗ 
ſchloſſen geweſen war. Die Übergabe erfolgte mit einer Beſatzung 
von 4000 Mann und 200 Geſchuͤtzen. Allerdings waren Kirche, 
Rathaus und verſchiedene militaͤriſche Gebaͤude nur noch Ruinen, 
doch hatte die Stadt im allgemeinen wenig gelitten, und man 
wunderte ſich, daß der Kommandant, der ſich bis zum letzten 
Mann hatte ſchlagen wollen, die Feſtung ſo fruͤh uͤbergab. 
Wahrſcheinlich geſchah es, weil die deutſchen Granaten die Kaſe⸗ 
matten durchſchlagen hatten und man deshalb fuͤr die Pulver⸗ 
kammern fuͤrchten mußte. Der Einzug der deutſchen Truppen 
fand am 26. Januar ſtatt. 

Das waren die drei Ereigniſſe, deren Gedaͤchtnis das Denkmal 
auf dem Friedhof zu Longwy lebendig erhalten ſoll. Nun hat 
die Feſtung wieder einen deutſchen Kronprinzen als Sieger in 
ihre Mauern einziehen ſehen. Auch daran mag ſpaͤterhin eine 
neue Inſchrift auf dem alten Denkmal gemahnen, das zwar den 
tapferen Verteidigern der Stadt gewidmet iſt, aber im Grunde 
an lauter franzoͤſiſche Niederlagen erinnert, denn die Verteidi⸗ 
gung der Feſtung endete in jedem der geſchilderten Faͤlle mit der 
Übergabe an die Deutſchen. Hermann Limbach. 

Italiens mögliches Geſchick. — Wie England aus feiner 
planmaͤßigen Verhetzung der europaͤiſchen Maͤchte gewaltige 


Mannigfaltiges 223 


Vorteile erwuchſen, fo verdankte Italien feine Erhebung nicht 
erſt in neueſter Zeit nirgends den eigenen ſittlichen Kraͤften. 
Es iſt groͤßer geworden nur durch die Gunſt der Stunde; unſer 
großer Kanzler half ihm 1870 zur nationalen Einigung. Zu 
Moritz Buſch aͤußerte ſich Bismarck: „Die Italiener ſind wie 
der Rabe am Schlachtfeld, der ſich ſein Futter von andern 
beſorgen laͤßt. Sie waren 1870 bereit, uns mit anzufallen, 
wenn man ihnen ein Stuͤck von Tirol gaͤbe. Da ſagte ein 
ruſſiſcher Diplomat: ‚Die wollen ſchon wieder was haben 
und haben doch noch keine Schlacht verloren!! Aber es wird 
mit ihnen noch dahin kommen wie mit Spanien unter Iſa⸗ 
bella. ... Italien iſt wie die Frau im Märchen vom Fiſcher, 
der den goldenen Fiſch gefangen hat. Wie hieß ſie doch gleich? 
— Ilſebill — die nicht genug kriegen konnte. Die werden ein⸗ 
mal wieder in ihrem Topfe wohnen muͤſſen. Neapel und der 
Kirchenſtaat koͤnnen wiederhergeſtellt werden.“ Bismarck ſagte 
1888: „Auf Italien iſt kein rechter Verlaß. Die Franzoſen 
koͤnnen dort doch wieder Boden und Freundſchaft gewinnen, 
wenn andere Parteien an die Regierung kommen. Sogar die 
Republik iſt möglich, und Italien kann ſich mit Wiederauf⸗ 
nahme der irredentiſtiſchen Pläne und Anſpruͤche gegen Oſter⸗ 
reich kehren.“ Daß Italiens „Emporkommen und Macht⸗ 
vergrößerung faſt nur auf Treuloſigkeit und Verrat beruhte“, 
ſind Worte des Geſchichtſchreibers Schloſſer. Artur Schopen⸗ 
hauer fand als Hauptzug des Nationalcharakters der Italiener 
„vollkommene Unverſchaͤmtheit“. Er ſchrieb daruͤber: „Dieſe 
beſteht darin, daß man einesteils ſich fuͤr nichts zu ſchlecht haͤlt, 
alſo unmaßend und frech iſt; andernteils ſich für nichts zu gut 
haͤlt, alſo niedertraͤchtig iſt. Wer hingegen Scham hat, iſt fuͤr 
einige Handlungen zu bloͤde, fuͤr andere zu ſtolz. Der Italiener 
iſt weder das eine noch das andere, ſondern nach Umſtaͤnden 
allenfalls furchtſam oder hochfahrend.“ Ahnlich urteilte 
Napoleon I., als er 1797 aus Italien an Talleyrand ſchrieb: 
„Sie bilden ſich ein, daß die Freiheit ein weichliches, aber⸗ 
glaͤubiſches, hans wurſtmaͤßiges und feiges Volk große Dinge 
verrichten laͤßt. Es iſt aber eine ſehr entnervte, ſehr feige Nation“ 


224 Mannigfaltiges 


Worte, die der Korſe 1806 an den Vizekoͤnig von Italien, Eugen 
Beauharnais, richtete, ſind zur heutigen Stunde hoͤchſt be⸗ 
-achtenswert für uns: „Ihr tut unrecht, wenn ihr wähnet, die 
Italiener ſeien wie die Kinder. Es ſteckt boͤſer Wille in ihnen. 
Laßt ſie nicht vergeſſen, daß ich Herr bin und tun und laſſen 
kann, was ich will.... Ihr werdet von ihnen nur ſoweit ge: 
achtet werden, als ihr von ihnen gefuͤrchtet ſeid, und ſie werden 
euch nur fuͤrchten, ſofern ſie gewiß ſind, daß ihr treuloſer, 
tuͤckiſcher Charakter euch bekannt iſt.“ Schon im Januar 1873 
nannte Ludwig Windhorſt die Vereinigung Deutſchlands mit 
Italien den „Uranfang alles Ungluͤcks“. Er ſagte: „Es iſt eine 
Allianz zwiſchen Fauſt und Mephiſto, und wir in Deutſchland 
ſpielen die Rolle des Fauſt.“ Wenn unſere Diplomaten ſich 
unſerer kriegeriſchen Fuͤhrer wuͤrdig erweiſen werden, dann mag 
es kommen, wie Fuͤrſt Bismarck dachte. Die groͤßenwahnſinnige 
Ilſebill im Maͤrchen vom Fiſcher und ſeiner Frau wollte Kaiſer 
werden und Papſt, zuletzt noch wie der liebe Gott, und endigte 
elend im Pißtopf. Wir wollen nicht wieder erleben, daß Worte 
wie jene des alten Feldmarſchalls Bluͤcher an den Staatskanzler 
Fuͤrſten von Hardenberg geſchrieben werden muͤſſen: „Wenn 
ihr Herren von der Feder doch nur einmal in ein ſcharfes Feuer 
kaͤmet, damit ihr wuͤßtet, was es heißt, eure Fehler wieder gut⸗ 
zumachen.“ Fuͤrſt von Bluͤcher ſchrieb damals an den Koͤnig: 
„Ich bitte alleruntertaͤnigſt, die Diplomaten dahin anzuweiſen, 
daß ſie nicht wieder das verlieren, was der Soldat mit ſeinem 
Blute errungen hat.“ St. St. 

Des Kriegers Teſtament. — Schon vor nunmehr zwei 
Jahrtauſenden konnte nach dem alten roͤmiſchen Recht der 
Soldat, der im Felde ſtand, in jeder beliebigen Form ſeinen 
letzten Willen niederlegen. Dieſes Vorrecht hat ſich bis auf 
den heutigen Tag fortgeerbt, und zwar gelten derzeit die Be⸗ 
ſtimmungen des Reichsmilitaͤrgeſetzes vom 2. Mai 1874 mit 
einigen Ergaͤnzungen. Der Soldat, der aus dem Frieden 
ſeines Heims heraus in den Kampf geſtellt wird, ſoll ſtets in 
der Lage ſein, angeſichts des lauernden Todes anzuordnen, was 
nach ihm werden ſoll. | 


Mannigfaltiges | 223 


Darum hat der auf dem Schlachtfeld liegende Verwundete, 
der, von Todesahnung erfuͤllt, noch einmal ſeine ganze Kraft 
zuſammennimmt und mit einem Bleiſtift auf ein Stuͤck Papier 
die Worte ſchreibt: „Meine Ehefrau und mein Sohn ſollen 
je die Haͤlfte meines Nachlaſſes erhalten. Otto Lindner“, 
ein vollguͤltiges Teſtament errichtet. Die Angabe von Ort 
und Zeit iſt zur Wirkſamkeit der letztwilligen Verfuͤgung beim 
Militaͤrteſtament nicht erforderlich. Oft wird ja der Erblaſſer 
gar nicht wiſſen, wo er ſich befindet, und nicht ſelten wird er 
ſich in der langen Reihe muͤhſeliger Kaͤmpfe nicht mehr genau 
entſinnen koͤnnen, an welchem Kalendertage er die Nieder: 
ſchrift vollzieht. Hat er Ort und Datum dazugeſchrieben, ſe 
wird er damit allerdings ſtets im Intereſſe der Anerkennung 
ſeines letzten Willens handeln und manchen Streit uͤber den 
Beſtand feiner Anordnungen vermeiden. Aber nicht jedem 
vergoͤnnt es das Geſchick, den letzten Willen draußen im-Felde 
noch von Anfang bis zu Ende ſelbſt niederzuſchreiben. Mancher 
vermag wohl ſeinen Namen noch zu ſchreiben, doch erlaubt 
ſein koͤrperlicher Zuſtand keine weitere ſchriftliche Aufzeichnung. 
Auch hier bilft das Geſetz. Statt der eigenhaͤndigen Nieder: 
ſchrift genuͤgt fuͤr das Militaͤrteſtament die eigenhaͤndige Unter⸗ 
ſchrift des Erblaſſers unter die von fremder Hand zu Papier 
gebrachten letztwilligen Anordnungen, wenn die ſo abgefaßte 
Urkunde noch von zwei Zeugen mit unterzeichnet wird, an 
deren Stelle auch ein Kriegsgerichtsrat, ein Oberkriegsgerichts⸗ 
rat oder ein Offizier treten koͤnnen. Bei verwundeten oder 
kranken Militaͤrperſonen duͤrfen die Kriegsgerichtsraͤte oder 
Offiziere auch durch Militaͤraͤrzte, hoͤhere Lazarettbeamte oder 
Militaͤrgeiſtliche vertreten werden. Das Geſetz will dadurch, 
daß es die Mitvollziehung des Teſtaments durch maßgebende 
dritte Perſonen vorſchreibt, ſichere Garantien dafuͤr ſchaffen, 
daß dasſelbe auch den wirklichen Willen ſeines Urhebers zum 
Ausdruck bringt. Die Gefahr liegt ſonſt zu nahe, es moͤchten 
irrtuͤmliche oder gefaͤlſchte Teſtamente zuſtande kommen. Ort 
und Zeit der Errichtung brauchen auch bei dieſer Art von mili⸗ 
taͤriſchen letztwilligen Verfuͤgungen nicht angegeben zu ſein. 

1916. X. 15 


226 Mannigfaltiges 


Schließlich ſorgt das Geſetz auch noch für die Bedauernswerten, 
die ihre letzten Wuͤnſche nur noch muͤndlich zu aͤußern in der 
Lage find. Muͤndliche Militaͤrteſtamente find gültig, wenn fie 
vor einem Kriegsgerichtsrat, einem Oberkriegsgerichtsrat oder 
einem Offizier unter Zuziehung von zwei Zeugen oder an deren 
Stelle von einer der vorgenannten Urkundsperſonen unter⸗ 
zeichnet werden. 

Auch ein in Briefen ausgeſprochener letzter Wille hat recht⸗ 
lich vollen Anſpruch auf Geltung. Das Teſtament im Feld⸗ 
poſtbrief ſpielt zurzeit ſogar eine betraͤchtliche Rolle. Dieſe 
Erſcheinung mag ſich aus der vielfach beſtehenden Abneigung 
der Erblaſſer erklaͤren, fremden Augen und Ohren im Herzen 
verſchloſſene Wuͤnſche und Gedanken kundzutun. So ein Feld⸗ 
poſtbriefteſtament gab dem Reichsgericht Anlaß zu einer ſehr 
bedeutſamen, freilich auch viel befehdeten großzügigen Ent: 
ſcheidung. Es handelte ſich dabei um die Frage der Guͤltigkeit 
eines mit bloßem Vornamen unterzeichneten brieflichen letzten 
Willens. Die Braut eines im Felde gefallenen Vizefeldwebels 
legte dem Amtsgerichte einen Brief des Verſtorbenen, unter⸗ 
zeichnet „Dein Fritz“, vor und bat um Erteilung eines Erb: 
ſcheines. Drei Inſtanzen erklaͤrten die Unterſchrift lediglich mit 
dem Vornamen fuͤr unzureichend. Erſt unſer oberſter Gerichts⸗ 
hof verhalf der Braut zur Erfuͤllung ihres Begehrs, indem er 
im vorliegenden Fall das Teſtament trotz des fehlenden Familien⸗ 
namens rechtsverbindlich nannte. Nach der reichsgerichtlichen 
Auffaſſung muß die Unterzeichnung eigenhaͤndiger Erklaͤrungen, 
die ſich an nahe Angehoͤrige richten, mit dem bloßen Vornamen 
mindeſtens dann als ausreichend und zulaͤſſig angeſehen werden, 
wenn fich, aus dem unterſchriebenen Text der Urkunde die 
Perſon des Ausſtellers für jeden dritten mit Sicherheit ergibt. 
So aber lag die Sache hier; der Erblaſſer hatte in dem Briefe 
vor der Unterſchrift ſeine genaue Feldadreſſe mit Familien⸗ 
namen mitgeteilt. 

Das Militaͤrteſtament iſt ein Notteſtament. Es wird ver⸗ 
faßt mit Ruͤckſicht auf die beſondere Lage. Kehrt der Verfaſſer 
aus dem Felde zuruͤck, dann werden ſich die Verhaͤltniſſe und 


- 


Mannigfaltiges 227 


Wuͤnſche ſehr oft aͤndern. Deshalb ſoll die Geltungsdauer 
ſolcher Notteſtamente die Zeit der Bedraͤngnis, in der ſie ent⸗ 
ſtanden, nicht lange uͤberleben. Sie verlieren ihre Guͤltigkeit mit 
dem Ablaufe eines Jahres von dem Tage ab, an welchem der 
Truppenteil, dem der Teſtator zugeteilt war, demobil gemacht 
wurde, oder von dem Tage ab, von dem an der Teſtator keinem 
mobilen Truppenteil mehr angehoͤrt. Dr. Hans Lieske. 

Die hunde und Katzen von Neuenburg. — Als im Jahre 1638 
der Herzog Bernhard von Weimar die Stadt Neuenburg be⸗ 
lagerte, ſtieß er auf heftigen Widerſtand. Die Stadt dachte nicht 
daran, ſich zu ergeben, was den ſieggewohnten Feldherrn aufs 
aͤußerſte erbitterte. Schließlich forderte er ein letztes Mal zur 
Übergabe auf, mußte aber erleben, daß feine ſchweren Drohungen 
keine Beachtung fanden. Da rief er zornig: „Die Stadt weigert 
die Übergabe, gut. Ich werde die Stadt erobern, und dann ſoll 
kein Hund und keine Katze am Leben bleiben.“ Dieſen Ent⸗ 
ſchluß ließ er ſofort den Neuenburgern mitteilen. Sie ver⸗ 
doppelten nun ihre Anſtrengungen, und ihr Mut und ihre 
Unerſchrockenheit noͤtigten ſelbſt dem Herzog die größte Achtung 
ab. Nach Verlauf einiger Wochen war die Stadt voͤllig aus⸗ 
gehungert und mußte ſich ergeben. Der Herzog aber meinte 
zu ſeiner Umgebung: „Ich bereue meinen Schwur, dieſe Helden 
haben ihn nicht verdient.“ N 

Die Sieger ſahen bei ihrem Einzug in die Stadt uͤberall 
bleiche Geſichter, Menſchen, die noch angeſichts des Todes ihre 
Wuͤrde wahrten und nicht um ihr Leben bettelten, das ſie un⸗ 
widerruflich fuͤr verwirkt hielten. Der Herzog aber ließ die 
Einwohnerſchaft auf dem Marktplatz zuſammenrufen und 
redete ſie an: „Buͤrger von Neuenburg! Ich bedauere euer 
Schickſal und ſpreche euch fuͤr euren Heldenmut meine Be⸗ 
wunderung aus. Meinen Schwur aber muß ich halten — und 
ſo geht denn hin und toͤtet alle Hunde und Katzen, wie ich es ge⸗ 
ſagt habe. Ihr ſelber aber ſollt leben.“ A. Sch. 

Der Hofprediger Maria Thereſias. — Durch lange Jahre 
kamen Leute aller Staͤnde an zwei bis drei Tagen der Woche 
mit Bitten vor die Kaiſerin Maria Thereſia. Sie klagten der 


228 Mannigfaltiges 
D/ —jçꝙ»—.——ß———— 
Landesmutter manches ſchreiende Unrecht. Die Hoͤflinge 
fuͤrchteten die Enthuͤllung eigener Bloͤßen oder ſolche ihrer Ver⸗ 
wandten und Freunde, nuͤtzten geringe Vorkommniſſe, falſch 
berichtete oder uͤbertrieben geſchilderte Geſchehniſſe und klagten, 
daß durch den freien Zutritt das gemeine Volk nur aufdringlich, 
unbeſcheiden und haͤndelſuͤchtig gemacht werde. Auch ſei das 
endloſe Anhoͤren des meiſt unerheblichen Geſchwaͤtzes der Ge⸗ 
ſundheit und Laune der Kaiſerin ſchaͤdlich. So brachten ſie es 
dahin, daß niemand mehr vorgelaſſen werden durfte. Da ſagte 
der Hofprediger, dem die wahren Gruͤnde bekannt waren, vor 
den Ohren der Maria Thereſia: „Wie ſollen Koͤnige und Herren 
von dem hoͤren, was ihre Voͤlker leiden, wenn undurchdring⸗ 
liche Mauern ſie von ihnen abſperren? Gott hat die Koͤnige zu 
Vaͤtern der Armen, Witwen, Waiſen und Unmuͤndigen einge⸗ 
ſetzt. Die Koͤnige ſollen die Klagen der Elenden hoͤren und ihnen 
helfen, ſonſt waͤre es beſſer, ſie legten ihre Kronen ab. Vor Gott 
und der Welt ſind treulos gegen ihr Volk handelnde Maͤchtige 
nicht im Rechte, ſie zu tragen, wenn ſie ſich hindern laſſen, ihre 
von Gott auferlegte und geforderte Pflicht zu tun.“ 

Die Koͤnigin ließ darauf bekannt machen, daß die Tuͤren des 
Palaſtes wieder allen offen ſtuͤnden. Als die geiſtlichen Oberen 
den Prediger ſtrafen wollten, verbot es Maria Thereſia mit den 
Worten: „Er hat vor Gott und mir feine Pflicht erfullt; ich will 
die meinige nach ſeinen Worten tun. Man laſſe den redlichen 
Mann ungekraͤnkt.“ Ma. S. 

Wie ermittelt man die genaue Lage eines Geſchoſſes 
im menſchlichen Körper? — In den vierziger Jahren des 
vergangenen Jahrhunderts tauchten Theorien auf und wurden 
Verſuchsanordnungen gemacht, um den Nachweis unſichtbarer 
Lichtſtrahlen zu erbringen. Schon A. Kundt (1838 —1894) 
erkannte, daß unter gewiſſen Umſtaͤnden Durchlaͤſſigkeit von 
Metallen für Licht eintreten kann. Hertz (18571894) und 
v. Lenard beſchaͤftigten ſich auf Grund anderer Arbeiten erneut 
mit Verſuchen und bemuͤhten ſich, geeignete Metalle zu finden, 
die den Strahlen Durchlaß erlaubten. Bis um das Jahr 1900 
lagen eine große Menge „unbezweifelter Wahrheiten, ſchwanken⸗ 


Mannigfaltiges 229 


der Erklaͤrungsweiſen und ungelöfter Raͤtſel“ auf dieſem dunklen 
Forſchungsgebiete vor. Im Jahre 1892 war man mit v. Lenards 
Aluminiumfenſter bekannt geworden, welches an das Ende 
einer mit verduͤnntem Gaſe gefuͤllten Glasroͤhre geſetzt, den 
groͤßten Teil der durch Elektrizitaͤt erzeugten Kathodenſtrahlen 
frei durchgehen ließ. Die wahre Wuͤrdigung dieſer Licht⸗ 
ſtrahlen wurde in dem Augenblick möglich, da fie aus der Glas⸗ 
roͤhre, in der ſie durch elektriſche Spannung erzeugt wurden, 
frei heraustraten. Man durfte um dieſe Zeit hoffen, 
dieſer Erſcheinung unter neuen Verſuchsanordnungen und Be: 
dingungen nachzuſpuͤren und damit auch an ihr manche unbe— 
kannte Eigentuͤmlichkeiten aufdecken zu koͤnnen. Niemand aber 
mochte an eine ſo voͤllig unerwartete Art der Erfuͤllung dieſer 
Hoffnung denken, wie ſie dann kommen ſollte. Es erwies ſich, 
daß die durch ein derartiges „Fenſter“ gegangenen Kathoden— 
ſtrahlen in ihrem Charakter ſich umgeaͤndert zeigten, in fo: 
genannte X⸗Strahlen verwandelten. Als gegen Ende 1895 
durch Karl Wilhelm Röntgen, geboren 1845, eine „vor: 
laͤufige Mitteilung“ darüber erſchien, wurde fie mit Staunen 
und Unglauben wahrgenommen, weil fie den abgetanen 
Begriff aus der Mitte des Jahrhunderts von unſichtbarem Licht 
in eigenartiger Weiſe zu neuem Leben zu erwecken ſchien. Statt 
des Aluminiumverſchluſſes der Glasroͤhre diente bei Roͤntgens 
Verſuchen zuerſt ſchwarzer Karton, der die außerordentlich ſtark 
ausgepumpte, luftleer gemachte, dem Durchgange des elektriſchen 
Funkens ausgeſetzte Roͤhre verhuͤllte. Wurde das Beobachtungs⸗ 
zimmer verdunkelt und ein Fluoreſzenzſchirm den durch den 
Karton gegangenen Strahlen in den Weg geſtellt, ſo leuchtete 
der Schirm auf, ſobald der Strom durch die Roͤhre ging, einerlei 
welche Seite der Schirmplatte, die mit Paſte beſtrichene oder 
freie, davon zuerſt getroffen worden war. Stanniolblaͤtter, 
Holzkloͤtze, dicke Bücher erwieſen ſich als durchgängig für jene 
Strahlen, denen Röntgen den Namen X-Strahlen, das heißt 
„Unbekannte“, gab, weil ſie ſich ganz anders als ſonſt eigentliche 
Lichtſtrahlen offenbarten. Die Fachwelt gab ihnen den Namen 
Roͤntgenſtrahlen. 


230 Mannigfaltiges 


Bald beſchaͤftigten ſich eine Reihe Gelehrte mit dieſer 
neuen Erſcheinung und wenn auch theoretiſch Zuverlaͤſſiges 
uͤber die Art dieſer Strahlen umſtritten blieb, ihre praktiſche 
Verwendung wuchs in wenigen Jahren ins Unermeßliche. 
Bald gelang es, durch eee mit der Photographie, die 

neue Entdeckung 
f fuͤr die innere 
Medizin und 
Chirurgie nutz⸗ 
bar zu machen; 
die Kriege der 
naͤchſten Jahre 
haben ihren 
Wert fuͤr die 
Pflege und ope⸗ 
rative Eingriffe 
an Verwundeten 
auf das entſchie⸗ 
denſte erwieſen, 
und das fortge⸗ 
ſetzte Beſtreben, 
dieſe großen Vor⸗ 
teile moͤglichſt 
raſch zu nuͤtzen, 
fuͤhrte die Ap⸗ 
parate techniſcher 
. P | Vervollkomm⸗ 
Abb. 1. . einer zwanzigjaͤhrigen Perſon. nung entgegen. 
Heute dienen ſie 
uͤberall auf den Kriegſchauplaͤtzen unmittelbar hinter der Front. 
Die erſte Verwendung fanden fie in den Sudanfeldzuͤgen Eng— 
lands. Im griechiſch⸗tuͤrkiſchen und im ſuͤdafrikaniſchen Feldzug 
erwarben ſich von deutſcher Seite die Vereine vom Roten Kreuz 
durch Ausſtattung eines Verwundetenlazaretts mit geeigneten 
Apparaten beſondere Verdienſte. Abbildung 1 gibt die Auf⸗ 
nahme der Hand einer zwanzigjaͤhrigen Perſon. In neuerer 


Mannigfaltiges 231 


Zeit gelang es auch kinematographiſche Serienaufnahmen zu 
machen, welche in die Taͤtigkeit der inneren Organe uͤber⸗ 
raſchende Einblicke geſtatteten. 

Durch photographiſche Aufnahmen ergeben ſich nun nicht 
unmittelbar völlig genaue Aufſchluͤſſe über Ort und Lage 
irgendwelcher in den Koͤrper geratener Fremdſtoffe. Die Er⸗ 
mittlung der wirklichen Lage eines in den menſchlichen Koͤrper 
eingedrungenen Geſchoſſes iſt eine weit ſchwierigere Aufgabe 
als es auf den erſten Blick ſcheint. Die Roͤntgenſtrahlen durch⸗ 
dringen wohl auch den menſchlichen Koͤrper und erzeugen ein 
Schattenbild des Fremdkoͤrpers. Über feine Lage iſt damit 
aber noch kein unbedingter Aufſchluß gegeben. Das einfache 
Roͤntgenbild vermag nichts uͤber die wirkliche, raͤumliche Lage 
eines Geſchoſſes in Beziehung auf umliegende Weichteile oder 
Knochen zu lehren. Durch Fehler, die bei dem rein mecha= 
niſchen Verfahren der Anfertigung der Bilder unterlaufen, 
entſtehen Irrtuͤmer, die verhaͤngnisvoll werden muͤßten, wenn 
man ihnen unbedingt trauen wuͤrde. Ein in der rechten 
Kopfhaͤlfte ſitzendes Geſchoß koͤnnte man dem koͤrperlichen 
Bilde nach als in der linken Hälfte gelegen annehmen. Ein 
Roͤntgenbild vermag dadurch zuſtande zu kommen, daß die 
von einem Punkt ausgehenden Roͤntgenſtrahlen ein Schatten⸗ 
bild ſaͤmtlicher auf ihrem Wege in verſchiedener räumlicher Ent: 
fernung liegenden Koͤrperteile aufzeichnen, und zwar nicht 
etwa raͤumlich, ſondern in einer einzigen Ebene, derjenigen der 
photographiſchen Platte. Zwei Koͤrper, die ein beſtimmter 
Roͤntgenſtrahl auf ſeinem Wege nacheinander trifft, und die um 
viele Zentimeter innerhalb des Koͤrpers auseinanderliegen, 
werden auf der photographiſchen Platte ſo mit ihren Schatten 
uͤbereinanderfallen, daß es ausſieht, als ob ſie in Wirklichkeit 
nebeneinander laͤgen. Das ſind die Gruͤnde, weshalb aus einem 
gewöhnlichen Roͤntgenbild unbedingte Schluͤſſe auf die raͤum⸗ 
liche Lage des Geſchoſſes nicht zu ziehen ſind. 

Trotzdem hilft das Roͤntgenverfahren zur Ermittlung en 
wirklichen Lage, aber nur unter Vorausſetzung befonderer Vor: 
kehrungen. Statt der einfachen Aufnahme muß eine ſogenannte 


s Geſchoſſes. 


2 


eine 


2. Stercoaufnahme 


+ 


Abb 


Mannigfaltiges | 2 33 


Sterevaufnahme, das heißt eine doppelte Roͤntgenaufnahme 
gemacht werden, wie ſie Abbildung 2 darſtellt. Dies geſchieht 
dadurch, daß man zunaͤchſt eine gewoͤhnliche Aufnahme macht, 
dann jedoch den Patienten und die Platte ruhig an ihrem Platz 
liegen laͤßt, dafür aber die Roͤntgenroͤhre um einige Zentimeter 
ſeitlich verſchiebt und darauf nochmals dasſelbe Objekt auf Die, 
gleiche photographiſche Platte aufnimmt. Man legt nun für 
dieſe Sterebaufnahme Auf die Oberfläche des Körpers ein Blei: 
kreuz und ſteckt in einen Schenkel des Bleikreuzes eine Stahl: 
nadel, die nach der erſten Aufnahme wieder herausgenommen 
wird, ſo daß dieſe Stahlnadel nur einmal auf der photo— 
graphiſchen Platte erſcheint. Das Bleikreuz hat in ſeiner Mitte 
eine Durchlochung; man gibt nun auf der Hautoberflaͤche durch 
Anaͤtzen mit Hoͤllenſtein den Punkt an, den dieſes Loch im 
Kreuz zu bezeichnen erlaubt. Auf gleiche Weiſe wird eine Linie 
auf der Haut gezogen, welche die Richtung angibt, in der die 
Stahlnadel dort lag. 

In der Stereoaufnahme erſcheinen nun alle Schatten wie 
die Umriſſe der Knochen, der Schatten des Geſchoſſes und des 
Bleikreuzes doppelt und nur der Schatten, welcher bei der erſten 
Aufnahme durch die im Bleikreuz ſteckende Stahlnadel hervor: 
gerufen wurde, iſt einfach zu ſehen. Dieſe Aufnahme reicht nun 
vollkommen zur räumlichen Lagebeſtimmung des im Körper 
ſitzenden Geſchoſſes aus. Man benutzt dazu ein zirkelartiges 
Inſtrument, den Roͤntgentiefenmeſſer, deſſen Spitzen auf die 
einzelnen Schattenbilder des Geſchoſſes und des Bleikreuzes 
aufgeſetzt werden, von deſſen Skalen die der jeweiligen Stel: 
lung der Zirkelſpitzen entſprechenden Zahlen abgeleſen werden. 
Die Konſtruktion des Tiefenmeſſers beruht auf einer Reihe von 
mathematiſchen Vorausſetzungen und Berechnungen, die wegen 
ihrer Schwierigkeit hier nicht wiedergegeben werden koͤnnen. 
Es genuͤgt zu wiſſen, daß dieſe ein fuͤr allemal ausgefuͤhrten 
Berechnungen es ermöglichen, auf dem Meßwerkzeug genau ab: 
zuleſen, wie tief das Geſchoß in den Koͤrper eingedrungen iſt, und 
wie weit es ſeitlich von dem auf die Koͤrperoberflaͤche aufgelegten 
Bleikreuz entfernt iſt. Auch die Richtung, in der ſich das Geſchoß 


234 Mannigfaltiges 


befindet, wird ermittelt durch die Ausmeſſung desjenigen 
Winkels, den die auf der Sterevaufnahme ſichtbaren weißen 
Linien mit der Schattenlinie einſchließen. 

Wenn die ſorgfaͤltige Ausmeſſung der Sbercdnd e 
vollendet iſt, werden ihre Ergebniſſe auf den Koͤrper uͤbertragen, 
wie es Abbildung 3 veranſchaulicht. Der kleine, unter dem 
Halsanſatz befindliche Punkt weiſt die Stelle nach, an welcher 


Abb. 3. Übertragung des Reſultats der tagebeſimmung 
auf den Patienten. 


die Durchbohrung des Bleikreuzes bei der Aufnahme lag. Die 
nach unten hin ſich daran anſchließende Linie bezeichnet die Lage 
der Stahlnadel bei der Aufnahme. Durch die gehörige Aus: 
meſſung der Sterebaufnahme kommt man nun erſt auf eine 
Linie, wie man ſie in unſerem Bilde nach links oben ſchraͤg ver— 
laufend erblickt. Die Laͤnge dieſes Richtpunktes wurde ebenfalls 
durch den Tiefenmeſſer feſtgeſtellt. Nun erſt iſt zu erſehen, wie 
am Endpunkte der Strecke das Geſchoß in ſeiner wirklichen 


Mannigfaltiges 235 


Geſtalt ſitzt. Auch die Tiefe, in der ſich das Geſchoß befindet, 
in dieſem Falle 3,5 Zentimeter, wurde ſo gefunden. Dieſes Ver⸗ 
fahren ermoͤglicht, daß die operative Entfernung des Geſchoſſes 
auf Grund genauer Beſtimmung ſeiner Lage vorgenommen 
werden kann. ö g 
- Durch überrafchend einfache Nachprüfung ift weiterhin mit 
Hilfe der Roͤntgenſtrahlen feftzuftellen, ob die Lage des Geſchoſſes 
auch vollkommen richtig ermittelt wurde. Wenn die Beſtim⸗ 
mung richtig war, daß ein Geſchoß in der feſtgeſtellten Zahl 
von Zentimetern ſenkrecht unter dem auf der Haut beſtimmten 
Punkt lag, ſo muß eine Roͤntgenaufnahme, die mit einem in 
dieſer Richtung verlaufenden Roͤntgenſtrahl vorgenommen wird, 
das Geſchoß im Rahmen eines kleinen Bleifenſters, das auf den 
beſtimmten Punkt gelegt wuͤrde, auf der Platte erſcheinen. 
Liegen Bleifenſter und Geſchoß ſenkrecht untereinander, ſo 
bringt ſie der in gleicher Richtung gehende Roͤntgenſtrahl auf eine 
und dieſelbe Stelle der photographiſchen Platte. Durch dieſe 
nachpruͤfende Aufnahme faͤllt der Geſchoßſchatten mit der 
Schattenausſparung des Bleifenſters zuſammen. Damit iſt 
der Nachweis aller vorherigen, durch Aufnahme und Berechnung 
gefundenen Ortsangaben beſtimmt erfolgt und der Chirurg kann 
gewiß fein, keine unangenehmen Überrafchungen zu erleben. 
Otto Milenius. 
Engliſches Flegelweſen und Dünkelhaftigkeit geſtern wie 
heute. — Henry Arthur Tilley ließ 1861 ein Werk über „Japan, 
den Amur und das Stille Weltmeer“ in London erſcheinen. 
Auf langjaͤhrigen Reiſen fand er vieles an ſeinen „Gentlemen“ 
tadelnswert und ſchreibt mit großer Offenheit daruͤber, allerdings 
vom Glauben beſeelt, dadurch auf ihr Betragen zu wirken. Er 
beſtaͤtigt, die Engländer feien als „Geſamtmenge betrachtet, 
außerhalb ihrer Inſel nirgends beliebt, weil ſie in allen fuͤnf 
Erdteilen von abſtoßendem Weſen ſind. Sie ſtellen ſich uͤberall 
ſouveraͤn hin, verletzen Gefuͤhle und Eigentuͤmlichkeiten anderer 
Voͤlker, gehen da, wo ſie Macht haben, ohne jede Schonung und 
Ruͤckſicht vor und haben in ihrem Weſen nichts Gewinnendes. 
Es ſind Leute, welche in Japan auf den heiligen Berg des Landes 


236 Mannigfaltiges 


hinauf galoppieren, um dort Tee zu kochen und Zigarren zu 
qualmen, Menſchen, die den indiſchen Spahis Patronen mit dem 
Fett von geheiligten Kuͤhen geben und in Japan mit bewußter 
Roheit die Landesgeſetze uͤbertreten. ... Ich ſah oͤfters, daß 
Maͤnner, welche die engliſche Sprache redeten, mit beſudelten 
Stiefeln in japaniſche Zimmer eindrangen und gegen alle Bitten 
und Vorſtellungen des Hausbeſitzers taub blieben. Ich wuͤnſchte, 
meine Landsleute möchten nicht vergeſſen, daß es völlig unpaſſend 
ſei, die Japaner wie indiſche Diener oder chineſiſche Kulis zu 
behandeln.“ 

Dieſer Bericht ſtammt aus dem Jahre der Einaͤſcherung des 
kaiſerlichen Sommerpalaſtes in Peking. Damals ſchrieb die 
„Overland China Mail“, ein engliſches Blatt: „Es ſteht den 
Englaͤndern uͤbel an, Gemeinplaͤtze uͤber die Roheit der Vandalen 
und Muſelmaͤnner, welche die Bibliothek in Alexandria ver⸗ 
brannten, zu Hauſe zum beſten zu geben. Im Sommerpalaſt 
befand ſich auch eine ‚Galerie der Quelle der Wiſſenſchaften'“, 
eine ungeheuer reichhaltige Buͤcherſammlung. Der franzoͤſiſche 
General proteſtierte gegen die Zerſtoͤrung dieſer aͤußerſt wert⸗ 
vollen Schaͤtze, aber der engliſche General ließ ſie mit Vor⸗ 
bedacht vernichten, obgleich er Tauſende von Soldaten zur 
Hand hatte, welche die Buͤcher retten konnten. Schimpf und 
Schande dieſer nicht vandaliſchen, nein engliſchen Barbarei, 
fallen auf Großbritannien allein.“ j 

Dieſelbe Zeitung führt Klage: „Das uͤbermuͤtige Benehmen, 
ja das hoͤchſt unverſchaͤmte Betragen vieler von unſeren Land— 
und Secoffizieren iſt nicht zu geringem Grade an dem Wider⸗ 
willen ſchuld, welchen die Orientalen ganz allgemein gegen den 
engliſchen Charakter hegen.“ Das Blatt laͤßt den Chineſen 
Gerechtigkeit widerfahren und ſtellt die vornehmen Sitten ihrer 
Staatsmaͤnner der „hochmuͤtigen Roheit und dem Mangel jeder 
Erziehung“ entgegen, die Lord Elgins Bruder, der jetzt in Peking 
reſidierende Geſandte Bruce, in ſo bedauernswerter Weiſe be⸗ 
tätigt habe. Er allein ſei „durch fein ſtupid⸗hochfahrendes Weſen 
am dritten Kriege gegen China ſchuld; er habe Flegelei mit 
ſtaatsmaͤnniſcher Wuͤrde verwechſelt“. Bei anderer Gelegenheit 


Mannigfaltiges 237 


ſchrieb die gleiche Zeitung: „Wir alle, vom Gouverneur ange: 
fangen, find gar zu geneigt, die Chineſen als niedrig ſtehende 
Menſchen, als untergeordnete Weſen zu betrachten. Vor wenigen 
Monaten hatte ein ſechzigjaͤhriger Mann eine Zeugenausſage 
zu machen. Man ließ ihn vier volle Stunden ſtehen und bot 
ihm keinen Stuhl an, trotzdem er ſich vor Mattigkeit oft an die 
Wand lehnen mußte. Und dies in einem Lande, wo es mehr als 
irgendwo das natuͤrliche Recht des Alters iſt, achtungsvoll be⸗ 
handelt zu werden. Einem jungen Englaͤnder, der gleichfalls 
Zeugnis ablegen ſollte, bot man ſogleich einen Sitz an. Es iſt 
ein verhaͤngnisvoller Irrtum, zu waͤhnen, daß wir gebildete 
Chineſen wie Neger behandeln duͤrften.“ 

Die „Overland China Mail“ hatte gut predigen, was ihre 
Landsleute nicht zu achten brauchten; denn ſie fuͤhlten ſich, 
gleichviel ob in Indien oder China, nicht genoͤtigt, im Menſchen 
ihresgleichen zu achten. Sie glaubten nach Pitts Worten, daß 
ſie das „Salz der Erde“ ſeien, daß unter „allen Himmeln nichts 
dem Briten Vergleichbares lebe“. Was ein engliſcher „Ge— 
lehrter“ im Jahre 1866 wagen konnte, vor einer gelehrten 
Koͤrperſchaft auszuſprechen, dafuͤr bietet ein Herr L. O. Pike 
den Beweis. Er ſprach in der Anthropologiſchen Geſellſchaft zu 
London uͤber die phyſiſchen Charaktereigentuͤmlichkeiten des eng⸗ 
liſchen Volkes. Der Vortrag erſchien woͤrtlich im „Journal of 
the Anthropological Society“, im Juli 1866. Er ftellte vier 
Voͤlker einander vergleichend gegenuͤber: die alten Briten, die 
alten Griechen, die heutigen Deutſchen und die Englaͤnder. Der 
Charakter der Englaͤnder gleiche jenem der — alten Griechen, 
belehrte Pike feine Hörer. Das am „Ichärflten hervortretende 
Gemuͤtsmerkmal“ der Deutſchen ſei — das Wunder; ſie ſpraͤchen 
alle Augenblicke von wunderbar und wunderſam, und dieſe 
„Liebhaberei am Wunder“ laſſe ſich an den „Eigentuͤmlichkeiten 
ihrer Sprache, Literatur, Kunſt und — Wiſſenſchaft nachweiſen“. 
Die Englaͤnder haͤtten keinen Hang zum Wunder und Wunder⸗ 
baren, ſie waͤren ausgezeichnet durch — Beſcheidenheit, durch 
zarte Selbſtachtung und durch den Sinn fuͤr perſoͤnliche Ver⸗ 
antwortlichkeit. Außerdem beſaͤßen fie vor allem „viel größere 


238 | Mannigfaltiges 


konſtruktive Fahigkeit“, weil ihre Anlage „Ahnlichkeiten heraus⸗ 
zufinden“ ſtaͤrker ſei, aber ſie beſaͤßen weniger als die Deutſchen 
die Kraft im „Herausarbeiten der Einzelheiten“. 

Pike fand ſofort eine hoͤchſt derbe Zuruͤckweiſung durch ein 
Mitglied der Geſellſchaft, Doktor Charnock, der ſeinen Vortrag 
als eine ungerechtfertigte „Vergoͤtterung“ der Engländer be⸗ 
zeichnete, der nichts als eine unſinnige, ſeichte Schmaͤhung fuͤr 
Deutſchland ſei. Er hielt ihm vor, daß er ihm nicht zuzuſtimmen 
vermoͤge, daß die Englaͤnder durchaus ehrenhaft und beſcheiden 
waͤren, weil ſie es nur durch gegenteilige Eigenſchaften uͤberall 
in der Welt jo weit zu bringen verſtaͤnden. Er, Charnock, habe 
Reiſen durch ganz Europa gemacht und ſich uͤberzeugt, daß die 
Voͤlker auf dem Feſtlande mindeſtens ſo ehrenhaft und beſcheiden 
ſeien, als Pike dies allein von Englaͤndern behaupten zu muͤſſen 
ſich bemuͤßigt ſehe. Pike habe uͤberdies gewaltig viel Ruͤhmens 
von dem geiſtigen und ſittlichen Charakter der engliſchen Staats⸗ 
maͤnner gemacht, hoffentlich aber damit nicht die in unſerem 
Jahrhundert lebenden lobpreiſen wollen. Charnock ſagte woͤrtlich: 
„Denn, wenn man mich fragen wuͤrde, wie ich den Charakter 
unſerer Staats maͤnner, ich meine jene der letztverfloſſenen fünfzig 
Jahre, bezeichnen will, dann faſſe ich alles kurz zuſammen und 
ſage: Machiavellismus, Mephiſtophelis mus, Jeſuiterei und 
prophezeie als das Ende das Tollhaus.“ H. Bu. 

Baut Sonnenblumen! — Wer im vergangenen Sommer 
mit der Eiſenbahn reiſte, wird verwundert überall in den deut⸗ 
ſchen Landſchaften an den Bahndaͤmmen, den Ackerraͤndern, 
den Gaͤrtchen der Bahnwaͤrter, den Schrebergaͤrten die leuchten⸗ 
den Geſichter der Sonnenblumen bemerkt haben. Nun, ſie 
taten auch eine Art Kriegsdienſt, denn ihre Kerne lieferten uns 
Ol fuͤr Kriegszwecke. Wie viele Tauſende von Tonnen Ol kann 
eine ausgiebig veranſtaltete Sonnenblumenzucht ſtellen! Das 
haben auch unſere Behoͤrden erkannt und den Ruf in alle Teile 
Deutſchlands ergehen laſſen: Baut Sonnenblumen! Es iſt 


unſere vaterlaͤndiſche Pflicht, dieſem Rufe Folge zu leiſten. 


Der Anbau von Sonnenblumen (Helianthus annuus) iſt 
einfach. Die Ausſaat erfolgt bis in den Mai hinein. Man 


— —äfà0 — ſ——— — 


Mannigfaltiges 239 


wird aber immer gut tun, die Pflanzen vortreiben zu laſſen, 
das heißt man ſaͤt die Kerne in Holzkaͤſten oder großen Blumen⸗ 
toͤpfen dicht aus, bedeckt ſie mit Erde, befeuchtet und laͤßt ſie im 
Zimmer aufgehen. Sind ſie etwa fingerlang geworden, dann 
werden ſie ins Freie an Ort und Stelle, mit einem Abſtand 
von 60 bis 70 Zentimeter nach allen Seiten, verpflanzt. Man 
kann die Kerne aber auch ſofort an ihren Standort etwa 2 bis 
3 Zentimeter tief auslegen. Die Sonnenblume nimmt mit 
jedem Standort vorlieb, vorausgeſetzt, daß er ſonnig iſt. Nach 
dem Volksglauben wendet die Blume ihr leuchtendes Geſicht 
immer der Sonne zu. Wo ſie geduͤngten Boden hat, gedeiht 
ſie natuͤrlich uͤppiger, und viele hundert Kerne ſitzen dann in 
den Scheiben. Man duͤngt den Boden mit Gefluͤgelmiſt oder 
Kompoſterde oder mit in Waſſer aufgeloͤſtem Blumenduͤnger. 
Einer weiteren Pflege beduͤrfen ſie nicht. Wenn im Spaͤtſommer 
die Scheiben ſchwerer werden, ſo bindet man die Staͤmme an 
Pfaͤhlen an und ſtuͤtzt die Scheiben. Die aͤlteren Blaͤtter koͤnnen 
entfernt werden und bilden fuͤr Kuͤhe, Ziegen und Schafe ein 
willkommenes Futter. Geerntet wird der Sonnenblumenſamen, 
wenn ſich die Kerne braun faͤrben. Man ſchneidet die Scheiben 
mit etwa 60 Zentimeter langen Stielen ab und haͤngt ſie zur 
Nachreife unter einem luftigen Schuppen auf. Noch beſſer iſt 
es, die Pflanzen mit der Wurzel herauszuziehen. 

Wer nur einen Hof, eine Veranda, einen Balkon ſein eigen 
nennt, ſollte die Blumenkaͤſten oder große Blumentoͤpfe mit 
Sonnenblumen beſetzen. Fuͤr dieſe Zwecke eignet ſich die kleine, 
gurkenblaͤtterige Sorte (Helianthus cucumeri folius) am beſten. 
Kleine Gartenſtreifen an kahlen Mauern, an Waͤnden von nach⸗ 
barlichen Seitengebaͤuden, die Sonne haben, find geeignete Stand: 
orte. Vor Gehoͤlzgruppen oder Buſchwerk, auch an den Seiten von 
Lauben kommen ſie ſehr gut fort. Die Raͤnder unſerer Gemuͤſe⸗ 
beete laſſen ſich ebenfalls mit Sonnenblumen beſetzen; ſie werfen, 
weil ſie ziemlich hoch werden, keinen Schatten und ſchaden dem 
Gemuͤſe nicht. Auch auf Rabatten koͤnnen wir ſie zwiſchen die 
abgebluͤhten Stauden verſetzen, wo ſie bis in den Herbſt hinein 
ihren leuchtenden Flor entfalten. Weit umfangreicher laͤßt ſich 


240 Mannigfaltiges 


der Anbau im freien Felde betreiben. Wie viele Raine und 
Wegraͤnder koͤnnten den Sonnenblumen zum Standort dienen. 

Unſere Kinder haben ſich mit lobenswertem Eifer der Sache 
angenommen und im vorigen Jahre Tauſende von Zentnern 
der Sonnenblumenkerne abgeliefert. Alle leitenden Perſoͤnlich⸗ 
keiten des flachen Landes ſeien dabei darauf aufmerkſam ge— 
macht, daß vielfach auf den Friedhoͤfen Ältere Gräber daliegen, 
die mittlerweile mit Unkraut bewachſen ſind. Die Grabflaͤchen 
ſind aber meiſt mit guter Erde beſetzt. Hier ſollte fuͤr die Kinder 
ein ergiebiges Feld fuͤr den Anbau der Sonnenblumen erſtehen. 
Die Beſitzer der Graͤber werden gern ihre Erlaubnis dazu geben. 
Dann erhalten die Graͤber einen leuchtenden und dabei auch 
nuͤtzlichen Pflanzenſchmuck, und die Kinder werden viel Freude 
erleben an der Loſung: Baut Sonnenblumen! R. Reichhardt. 

* Raſch und gründlich. — Aus einer der großen Farmen im 
Nordweſten Amerikas waren zwei Pferde geſtohlen worden. Die 
nach K. weiſende Spur ließ, vermuten, daß der Dieb wegen feines 
großen Vorſprungs von den Reitern der Farm nicht mehr eingeholt 
werden koͤnne. Man telegraphierte alſo an den Scheriff in K. und 
bat um Anordnungen zur Feſtnahme des Fluͤchtlings. Zwei Stun⸗ 
den ſpaͤter traf die Antwort ein: „Pferde hier, Dieb gehangen.“ 

* Deutſch⸗amerikaniſcher humor. — Komiſch, daß die 
Italiener ſich nicht beſſer hauen — fie hauen doch ſonſt ... jeden 
uͤbers Ohr. — Luͤgen haben kurze Beine? Und gehen doch von 
England aus über die ganze Welt. — Die edlen Italiani: der 
Re Vittorio und der Poeta Gabriele ... der eine ſitzt in der 
Tinte, der andere in der Kreide. — „Mir kann man nichts in die 
Schuhe ſchieben,“ ſagte der Peter von Serbien, als er barfuß 
nach Griechenland floh. — London meldet: Die Deutſchen haben 
unſichtbare Überluftfchiffe. Paris meldet: Die Deutſchen haben 
ſinkbare Unterſeedreadnoughts. Rom meldet: Die Deutſchen 
haben unſinkbare Überfeedreadnoughts. — — — Nein, was ſind 
doch dieſe Deutſchen fuͤr Kerle! 


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von 
. Karl Theodor Senger in Stuttgart, 
in Oſterreich⸗ Ungarn verantwortlich Dr. Ernft Perles in iR 


Einige Winke, um widerſtandsfähig 
und geſund zu bleiben. 

Was die Geſundheit für jedes Individuum bedeutet, wie innig 
alle Lebensaͤußerungen, die Taͤtigkeit, die Freude an der Arbeit, 
die Leiſtungsfaͤhigkeit, das Wohlbefinden damit zuſammenhängen, 
erfaͤhrt jeder an ſeinem eigenen Leibe. Es weiß auch jeder, welche 
Folgen Störungen der koͤrperlichen oder geiſtigen Geſundheit für 
die Familien haben und daß die Produktivitaͤt und Wehrkraft 
einer Nation, ſomit auch ihr Wohlſtand, unmittelbar von den 
Geſundheitsverhaͤltniſſen abhaͤngen. Letztere zu heben, iſt man 
denn auch in Erkenntnis ihrer großen Bedeutung eifrigſt beſtrebt. 
Mannigfache hygieniſche Reformen legen Zeugnis ab von dem 
lebhaften Beduͤrfnis weiter Kreiſe, an dieſen Aufgaben mitzu— 
arbeiten. Ebenſo iſt es nicht genug zu begruͤßen, daß uns Wiſſen— 
ſchaft und Erfahrung zahlreiche natuͤrliche Hilfsmittel darbieten, um 
Krankheiten vorzubeugen, unſere Widerſtandsfaͤhigkeit zu erhoͤhen 
und unſere Geſundheit zu kraͤftigen. Auf einige dieſer Mittel ſei 
mit nachfolgenden Zeilen in aller Kuͤrze aufmerkſam gemacht. 

Nach den neueſten Forſchungen aͤrztlicher Autoritaͤten ſind die 
meiſten Krankheiten einem nicht gefunden Magen zuzuſchreiben. 
Iſt der Magen nicht in Ordnung, ſo kann er auch keine geſunden 
Saͤfte weitergeben. Bei Magenbeſchwerden, Katarrh, Sodbrennen, 
ſchlechter Verdauung uſw. find nun mit Wasmuth's Magnd-Präparat 
beiſpielloſe Reſultate erzielt worden. Es handelt ſich um ein hoch— 
oxydiertes Magneſiumpraͤparat, das durch feinen Sauerſtoffgehalt 
eine ſchmerzloſe reinigende Wirkung des Magens und des Darmes 
und ſomit auch des Blutes bewirkt. Bei Magenleiden und Ver— 
dauungsbeſchwerden ſollte deshalb ſtets das durchaus unſchaͤdliche 
Maxyd⸗Praͤparat angewendet werden, zumal es ſchon für M. 1.— 
zu haben iſt. 

Eine ſogenannte Blutreinigungskur ſollte jeder mindeſtens 
einmal im Jahre vornehmen. Allerdings eine, die wirklichen Er— 
folg hat. Dieſer Erfolg ſtellt ſich unbedingt ein bei Verwendung 
des aus der Frangula-Rinde gewonnenen und einen billigen Er— 
faß der teueren Rhabarberwurzel darſtellenden Wasmuth'ſchen 
Frangula⸗Tees, da er in ſeltener Weiſe das Blut reinigt und die 
Verdauung foͤrdert. Beſonders leiſtet er bei Haͤmorrhoidalleiden, 
Leberleiden, Milzleiden, habitueller Verſtopfung, Waſſerſucht uſw. 
vorzuͤgliche Dienſte. Er iſt zu dem beſcheidenen Preiſe von 25 Pfennig 
per Paket zu haben. 

Mit dem denkbar beſten Erfolg wird ferner ſeit Jahren bei 
allen Bruſt⸗ und Lungenleiden der aus der Kndterich-Pflanze ge⸗ 


wonnene Wasmuth'ſche Knöterich⸗Tee angewandt. Er iſt von 
hoͤchſter Eräftigender, adſtringierender und blutverbeſſernder Wir⸗ 
kung und befoͤrdert in vorzuͤglichſter Weiſe den Stoffwechſel. Huſten 
und Auswurf werden durch ihn vertrieben und durch ſeine hoͤchſt 
wichtigen Bildungsſtoffe Appetit und Wohlbefinden geſteigert. 
Auch er iſt zu einem recht geringen Preiſe zu haben. (25 und 
50 Pfennig per Paket.) 

Bei Huſten, Heiſerkeit, Verſchleimung, Katarrhen, dann aber 
auch bei Keuchhuſten hat ſich in gleicher Weiſe Wasmuth's 
Fenchel⸗Honig bewährt, da auch er vermöge feiner Stoffe ſtaͤrkend, 
blutbildend, blutreinigend, naͤhrend und appetitanregend wirkt. 
Jede Kur wird durch ſeine Verwendung auf das wertvollſte unter⸗ 
ftüßt. Jedenfalls haben wir es in ihm mit einem wichtigen Heil⸗ 
und Naͤhrmittel zu tun, das unter den Heilfaktoren mit die erſte Stelle 
einnimmt. Wasmuth's Fenchel⸗Honig iſt in Flaſchen zu 60 Pfennig 
und M. 1.— zu haben. Eine Probeflaſche koſtet 30 Pfennig. 

Zum Schluß bleibe nicht unerwaͤhnt, daß uns auch in Was⸗ 
muth's Pain Killer ein Mittel an die Hand gegeben wurde, das, 
da es ſchmerz⸗ und krampfſtillend ſowie bazillentoͤtend wirkt, bei 
Kopfſchmerzen, Leibſchmerzen, Ohren⸗ und Zahnſchmerzen, Magen⸗ 
verſtimmungen, Rheumatismus, Gicht, Iſchias, Muskel- und Glieder⸗ 
reißen und ferner bei Brandwunden, Verbruͤhungen, Schnittwunden, 
Abſchuͤrfungen, Verſtauchungen uſw. Tauſenden raſch und ſicher 
half. Aeußerlich oder innerlich angewandt, bewirkt Pain Killer 
eine baldige Linderung und vollſtaͤndige Geneſung. Der Preis 
der einzelnen Flaſche ſtellt ſich auf 66 Pfennig und M. 1.—. 

Im Hinblick auf die mannigfachen Vorzuͤge vorſtehend ge⸗ 
nannter Präparate iſt es zu verſtehen, daß fie von Tauſenden 
als wahre Labſale bezeichnet werden. In gleicher Weiſe wird 
aͤrztlicherſeits in ſtetig ſteigendem Maße beſtaͤtigt, daß mit ihnen 
die guͤnſtigſten Erfolge erzielt werden koͤnnen. Aus dieſen Gruͤnden 
halten wir es für unſere Pflicht, die Kenntnis der Wasmuth' chen 
Praͤparate in immer weitere Kreiſe dringen zu laſſen. Welche 
guͤnſtige Ruͤckwirkung von ihnen auf die Geſundheit des Einzelnen, 
auf das Familienleben und endlich auf den nationalen Wohlſtand 
ausgehen kann, liegt nur zu klar vor Augen. An alle, denen das 
Volkswohl aufrichtig am Herzen liegt, ſei deshalb die Bitte ge⸗ 
richtet, für Einfuͤhrung vorſtehender Mittel nach Möglichkeit 
Sorge zu tragen. 8 

Der Ratgeber uͤber den Gebrauch der bewaͤhrten, durch 
Kaiſerliche Verordnung freigegebenen Arzneimittel »Erfte Hilfe⸗ 
iſt in den Niederlaſſungen der Firma A. Wasmuth & Co., 
Hamburg 39 oder von dieſer direkt koſtenlos zu beziehen. 


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