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Full text of "Caspar Hauser; oder, Die Trägheit des Herzens, Roman"

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Eafpar Bayfer 
Die Trägheit des Herzen⸗ 


Roman 


FokohWoffermann 


Sechſte Auflage 





Beutfche Oerlage Qt uftalt 
Stuttgart ud? ipzig 


le Rechte, insbefondere Das der Aeberſedung, vorbehalten 


Published May 6tn, 1908. Privilege of copyright in the United 
States reserved under the act approved March 3, 1905 by 
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 


Drud der Deutſchen Berlags-Anftalt in Stuttgart 
Papier von der Papierfabrit Salach in Salach, Württemberg 





GRRDO 
Girt+ 


— 


Es iſt noch dieſelbe Sonne, 

die derſelben Erde lacht; 

aus demſelben Schleim und Blute 
find Gott, Mann und Kind gemacht. 
Nichts geblieben, nicht? geſchwunden, 
alles jung und alles alt, 

Tod und Leben find verbunden, 

zum Symbol wird die Geftalt. 


Erfter Teil 


Der fremde Züngling 


In den erften Sommertagen des Jahres 1828 
liefen in Nürnberg jonderbare Gerüchte über einen 
Menſchen, der im Veſtnerturm auf der Burg in 
Gewahrfam gehalten wurde und der ſowohl der 
Behörde wie den ihn beobachtenden Privatperfonen 
täglich mehr zu ftaunen gab. 

€3 war ein Jüngling von ungefähr fiebzehn 
Jahren. Niemand mußte, woher er kam. Er 
jelbft vermochte feine Auskunft darüber zu er- 
teilen, denn er war der Sprache nicht mlächtiger 
als ein zweijähriges Kind; nur mwenige Worte 
konnte er deutlich ausfprechen, und dieje wieder- 
holte ex immer wieder mit lallender Zunge, bald 

lagend, bald freudig, als wenn kein Sinn da- 
binterftedte und fie nur _unverftandene Zeichen 
feiner Angft oder feiner Luft wären. Auch fein 
Gang & dem eines Kindes, das gerade die 
erſten Schritte erlernt hat: nicht mit der Ferje be- 
rührte er zuerft den Boden, fondern trat fchwer- 
fällig und vorfichtig mit dem ganzen Fuße auf, 

Die Nürnberger find ein neugieriges Volt. 
Jeden Tag wanderten Hunderte den Burgberg 
hinauf und erflommen die zweiundneungig Stufen 
des finftern alten Turmes, um den Fremdling 
zu fehen. In die Halbverdunkelte Kammer zu 
treten, wo der Gefangene weilte, war unterfagt, 
und jo erblieten ihre Ddichtgedrängten Scharen 
von der Schwelle aus das munderliche Menjchen- 
weſen, da3 in der entfernteften Ecke de3 Raumes 
kauerie und meift mit einem Kleinen weißen Holz- 
pferbchen fpielte, das e3 zufällig bei den Ri 
des Wärters geleben und das man ihm, gerührt 
von dem unbeholfenen Stammeln feines Ver⸗ 


8 


langens, gejchenft hatte. Seine Augen fchienen 
— ist nicht erfaffen zu können; er hatte offen» 
bar Furcht vor der Bewegung feines eignen 
Körpers, und wenn er feine Hände zum Taften 
exhob, war e8, als ob ihm die Luft dabei einen 
rãtſelhaften Widerftand entgegenfebte, 

Welch ein arm! et es Ding, fagten die Leute; 
viele waren der Anftcht, daß man eine neue 
Spezies entdeckt habe, eine Art Höhlenmenfch 
etwa, unb unter den berichteten Seltjamfeiten war 
nicht die geringfte die, daß der Knabe An andre 
Nahrung als Waffer und Brot mit Abfcheu zu 


er und nad wurden die einzelnen Um⸗ 
ftände, unter denen der Fremdling aufgetaucht 
war, allgemein befannt, Am Pfingfimontag gegen 
die fünfte Nachmittagsftunde war er plötzlich auf 
dem Unfchlittplag, unweit vom neuen Tor, ge 
ftanden, hatte eine Weile verftört um fi Weine ge 
ſchaut und war dann dem zufällig des 
kommenden Schufter Weilmann geradezu in die 
Arme getaumelt. Seine bebenden ‚Singer wiefen 
einen Brief mit Adreſſe des Rittmeiſters 
Weſſenig vor, und nun — andre Perſonen 
Fra —3 ;pte man ihn mit ziemlicher Mühe 
bis zum Haus des Rittmeiſters. Dort fiel er 
erſchoͤpft auf die etufen, und durch die zerriſſenen 
—— 

Rittmeiſter iam erſt um die Dämmerungs» 
ftunde heim, und feine Frau erzählte ihm, daß 
in m ungexter a fe gl Suede, E 

treu im zug! ü fie 
ihm den Brief, ne fter, na Keen 
das Siegel er] hosen, mit größter ° Terunterun = 
einige Male durchlas; es war ein Schriftftü 


ebenfo humoriſtiſch in einigen Punkten wie in 
andern von graufamer Deutlichkeit. Der Ritt- 
meifter begab 19 in den Stall und ließ den 
Fremdling aufwerten, was mit vieler Anftrengung 
uftande gebracht wurde. Die militärifch gemefjenen 

gen des Offiziers wurden von dem Knaben 
nicht oder nur mit finnlofen Lauten beantwortet, 
und Herr von Zeefjeri entjchied fich Eurzerhand, 
den, mufer auf ie Boligeimachtfiabe bringen 
zu laſſen. 

Auch diefes Unternehmen war mit Schwierig. 
teiten verfnüpft, denn der Fremdling konnte faum 
mehr gehen; Slutfpuen bezeichneten jeinen Weg, 
wie ein ftörrifches Kalb mußte er Durch Die Straßen 
gegogen werden, und die von den. Feiertags- 
ausflügen heimkehrenden Bürger hatten ihren Spas 
an der Sache. „Was gibt’3 denn?“ fragten die, 
welche den ungewohnten Tumult nur aus der 
Ferne beobachteten. „Ei, fie führen einen be- 
teuntenen Bauern,“ Tautete der Beſcheid. 

Auf der Wachtſtube bemühte fich der Aktuar 
umfonft, mit dem Häftling ein Verhör anzuftellen; 
ex lallte immer wieder diefelben halb blödfinnigen 
Worte vor fih Hin, und Schimpfen und Drohen 
nußte nichts. Als einer der Soldaten Licht an- 
zündete, geſchah etwas Sonberbares. Der Knabe 
machte mit dem Oberkörper tangbärenhaft hüpfende 


Bewegungen und griff mit den Händen in bie. 


Kerzenflamme; aber al3 er dann die Brandwunde 
verjpürte, fing er fo zu weinen an, daß es allen 
duch Mark und Bein ging. 

lich hatte der Atuar den Einfall, ihm 
ein Stück Papier und einen Bleiftift vorzuhalten, 
danach griff der wunderliche Menſch und malte 
mit End großen Buchftaben langſam den Namen 


10 


Caſpar Haufer. Hierauf wankte er in eine Ede, 
brach förmlich zufammen und fiel in tiefen Schlaf. 
il Caſpar Haufer — fo wurde der Fremd» 
fing von nun ab genannt — bei feiner Ankunft 
in der Stadt bäuriſch gelleidet war, nämlich mit 
einem Fra, von dem die Schöße abgefchnitten 
waren, einem roten Slips und großen Schaft- 
ftiefeln, glaubte man zuerft, es mit einem Bauern- 
john aus der Gegend zu tun zu haben, ber auf 
Tegendeine Weiſe vernachläffigt oder in der Ent 
widlung verfümmert war. Der erfte, der biefer 
Meinung entſchieden widerſprach, war der Ge 
fängnismärter auf dem Turm. „So fteht fein 
Bauer aus,“ ſagte er und deutete auf dad mwal- 
Iende, bellbraune Haar feines Häftlinge, das 
etwas nicht ausdruckbar Unberührtes hatte umd 
länzend war wie da Fell von Tieren, die in 
infernis zu leben gewohnt find. „Und diefe 
feinen weißen Händchen und diefe fammetweiche 
Haut und die dünnen Schläfen und bie deut⸗ 
uͤchen blauen Adern zu beiden Seiten des Haljes, 
wahrhaftig, er Teict eher einem adligen Fräu⸗ 
lein als einem Bauern.“ 

„Nicht übel bemerkt," meinte Der Stabtgericts: 
arzt, der in feinem zu Protokoll gegebenen Gut- 
achten neben dieſen Merkmalen die befondere 
Bildung der Knie und die hornhautloſen Fuß: 
fohlen des Gefangenen hervorhob. „So viel tft 
Har," hieß es am Schluß, „Daß man e3 hier 
mit einem Menfchen zu tun hat, der nicht von 
feinesgleichen ahnt, nicht ißt, wicht trinkt, nicht 
fühlt, nicht fprict wie andre, der nichts von 
gelten, nichts von morgen weiß, die Beit nicht 

egreift, I] felber nicht ſpürt.“ 

Die hohe Polizeibehörde ließ ſich durch ein 

11 


ſolches Urteil nicht aus dem vorgefegten Gang 
der Unterfuchung lenken; es beitand der Verdacht, 
vb der Stabtgerichtsarzgt durch feinen Freund, 
mnaftalprofefjor Daumer, beeinflußt und 
Mr u bie jen Ueberſchwenglichleiten verführt morben 
ei Der Gefängniswärter Hill wurde beauftragt, 
Fremdling mi insgeheim zu belauern. Er fpäl te 
oft durch da das oerbongene Loch in der Türe, wenn 
fich der Knabe allein wähnen mußte; „aber es 
war immer derſelbe traurige Ernſt in den bald 
jen und beflommenen, bald wie durch den 
inblick eines unfichtbaren Furchtgebildes ver- 
zerrten und zerriffenen Zügen. Es war auch 
vergeblich, nacht, wenn er lieg, an fein Lager 
zu Ichlei In, hinzuknien, auf den Atem zu Horde 
und zu warten, ob er verräterifche Worte aus 
dem Innern So d die Lippen trug; Leute, die 
Ueble3 im Schild führen, pflegen "nämlich aus 
dem — zu reden, auch ſchlafen fie eher bei 
Tag als bei Nacht, wo fie ihren Gedanken und 
Entwürfen nachhängen, aber diefen umfing der 
Schlummer, fobald die Sonne fant, und er er⸗ 
machte, wenn fich ber erfte Morgenftrahl durch 
die verfchloffenen Läden zwängte. Es konnte 
Argwohn werten, daß er jedesmal zufammenzudte, 
wenn bie Tür feines Gefängnifjes geöffnet wurde; 
4 a nicht die Aal 


„Unfre en auf dem Rathaus werden noch 
viel Papier befchmieren müffen, wenn fie auf dem 
Weg mweiterlommen wollen,“ fagte der gute Am 
eines Morgen? — e8 war der britte Tag 


12 


Saft Caſpar Hauſers — zu Profeffor Daumer, 
der den ling befuchen Ball „ich kenne 
gewiß alle Schliche des Lumpenvolls, aber wenn 
der Burfche ein Simulante ift, will ich mid 
bin, en laſſen.“ 

ill fperrte auf, und —A Daumer trat 
in die Kammer, Wie roöonlich erſchrak der 
Gefangene, aber al3 der Ankömmling einmal im 
Raum war, ſchien ihn Cafpar Haufer nicht mehr 
u ewahren und fchaute, Beyaubert im dumpfen 

Nichtwifien, ftill vor fich nieder. 

Da geichah e3, als Hill den Fenfterladen ge 
öffnet hatte, daß_ber Knabe, vielleicht wie nie 
unor in feinem Leben, den geieieten Blick er⸗ 

ob, ihn von der ſchweigen en, gleichmäßigen 

rcht wegkehrte, die das Innere feiner Bru 
eherbergen mochte, und ihn durchs Fenſter hinaus: 
fürzeifen ließ in das bejonnte freie, mo Ziegel- 
dad an Pre] ſich Meil und glühenbeot auf 
einem tergrund von bläulich bämmernden 
Wiefen Sn äldern malte. Er ftredte feine 
Hanı aueh Bebereafihung und und Ft Staunen 
verzog feine Lippen, 3; geiff er mit dem 
Arm in das funkelnde —X als ob er das 
bunte Durcheinander draußen mit den Fingern 
anfaſſen wolle, und als er ſich überzeugt hatte, 
daß es nichts war, etwas Fernes, Trügerifches, 
Ungreifbares, da verfinfterte fich fein Geficht, und 
er wandte fih unmillig und enttäufcht ab. 

Am jelben Nachmittag kam der Vürgermeifter - 
Binder in Daumer Wohnung und teilte im 
ef eines Geſprächs über den Findling mit, 

die Herren vom Stadtmagiftrat eher finde 
h und ungläubig als —e lend gegen dieſen 
geftimmt feien. 

18 


„Ungläubig?" entgegnete Daumer verwundert, 
„in Telder Beziehung ngläubige" 
„Nun ja, man nimmt an, daß der Burſche 
fin Gautelfpiel mit uns treibt," verfeßte der 
üre en fie ben Ropf, an 
aumer fehüttelte den Kopf. „Welcher Menfch 
von Verftand oder Geſchicklichleit wird ſich aus 
zumee Heuchelei dazu berbeilafjen, von Brot und 
aſſer zu leben, und alles, was dem Gaumen 
behagt, mit Efel von fich weiſen?“ fragte er. 
„Um welches Vorteils willen ?“ 

„Gleichwiel,“ antwortete Binder unſchluſſig; 
„es ſcheint eine verwickelte Gefchichte. Da nie 
mand jagen noch vermuten Tann, worauf das 
Spiel hinaus will, ift Vorficht um fo mehr ger 
boten, als man durch leichtfinnige Gutgläubis Bit 
ve „gerechten Hohn der Urteilsfähigen heraus- 
ordert." . 


Ba Bu] N 
„Das Mingt ja beinahe, als ob nur bie 
Zweifler und Neinfager urteilsfähig heißen könn⸗ 
ten," bemerkte Daumer ftirnrungelnd. „Von der 
Gilde haben wir leider genug." 

Der Bürgermeifter zudte die Achſeln und 
blickte den jungen Lehrer mit jener milden Ironie 
an, melde die Waffe der Erfahrenen gegenüber 
den Enthuftaftifchen tjt. „Wir haben eine neuerliche 
Unterfuchung duch den Gerichtsarzt befchlofien,“ 
fuhr er fort. „Der Magiftratsrat Behold, der 
at m Aucher Fin Si, ni —— 
jollen dieſer Unterſuchung kommiſſari ei⸗ 
wohnen. Der aufzunehmende Alt wird dann, zu⸗ 
jammen mit den bereits vorhandenen polizeilichen 

rotokollen, der Kreisregierung überſchickt.“ 

„Ich verſtehe: Akten, Akten,“ fagte Daumer 
fpöttiich lächelnd. 

14 


Der Bürgermeifter legte ihm die Hand_auf 
die Schulter und ermiderte gutmütig:_ „Seien 
Sie nicht fo überlegen, Verehrter; unfre Welt 
Da an 

23 rmer doch wahrlich nicht die weni 
Schuld. Uebrigens,“ er griff in die Rockbruſt 
und brachte ein Sufemmengefalteten Stüd Papier 
zum Vorſchein, „als mie ied der Kommiſſion 
werben Sie gebeten, Einblick in ein michtiges 
Dokument zu nehmen. Es ift der Brief, den 
unfer Gefangener beim Rittmeifter Weflenig ab» 
gegeben hat. Lefen Sie." 

Das mit keiner Namensunterfhrift verfehene 
Schreiben lautete: „Ich ſchicke Ihnen hier einen 
Burſchen, Herr Nittmeijter, der möchte feinem 
König getreu dienen und will unter die Soldaten. 
Der Bunde ift mir elegt worden im Jahre 1815, 
in einer Winternact, lag er an meiner Tür. 

ab’ felber Kinder, bin arm, Tann mich felber 

m durchbringen, er ift ein Findling, und feine 
Mutter hab’ ich nicht erfragen können. Hab’ ihn 
nie einen Schritt aus dem Haus gelafien, fein 
Menſch weiß von ihm, er weiß nicht, wie mein 
gu beißt, und den Ort weiß er auch nicht. 

ie dürfen im ſchon fragen, er kann es aber 
mist jagen, enn mit der Sprache ift es noch 
schlecht bei ihm beftellt. Wenn er Eltern hätte, 
wie er feine hat, wär’ mas Tüchtiges aus ihm 
gemoorhen, Sie brauchen ihm nur etwas zu zeigen, 
a kann er es gleich. Mitten in der Nacht unbe 
ich ihn fortgeführt, und er —* kein Geld bei ſich, 
und wenn Sie ihn nicht behalten wollen, müſſen 
Sie ihn erfchlagen und in den Rauchfang 


Güngen.” 
Daumer gelefen hatte, gab er dem Bürger- 
15 


meifter das Schriftftüc zurück und ging mit ernfter 
Miene auf Se ab. 

„Nun, was halten Sie davon?" forjchte 
Binder; „einige unfrer Herren find der Anficht, 
de Unbelannte jelbjt Tönne den Brief gefchrieben 

jaben." 

Daumer hielt mit einem Rud in feiner Wan⸗ 
derung inne, flug die Hände zufammen und 
rief: „Ach, du himmlische Gnade!" 

„Dazu ift natürlich gar fein Grund vor- 
handen,“ beeilte fo ber Bürgermeifter hinzu⸗ 
zufügen. „Daß _bei der. Abfafjung des Schreibens 
eine zwedvolle Tücke gemwaltet hat, daß es dazu 
beftimmt ift, Nachforfchungen zu erſchweren und 
irrezuführen, ift offenbar. Es ift eine ſchnöde 
Kaltherzigkeit im Ton, die mir von Anfang an 
den Verdacht erregt hat, daß der Jüngling das 
unfchuldige Opfer eines Verbrechens ift." 

‚Cine mutige Meinung, in welcher der Bürger- 
meifter ducch einen Vorgang ſehr beftärft wurde, 
der & ereignete kurz nachdem die Herren von 
der Kommiffion am folgenden Morgen das Ge- 
füngnis Caſpar Haufers Detreten hatten. Während 

er Wärter damit beichäftigt war, den Knaben 

zu entkleiden, ließ fich drunten in einer Gaffe 
am Qurgberg eine Bauernmufif hören und Ei 
mit Hingendem Spiel an der Mauer vorüber. 
Da lief ein grauenhaft anzufchauendes Zittern 
über den Körper Haufers, fein Geficht, ja fogar 
feine Hände bededten ſich mit Schweiß, feine 
Augen verdrehten fich, alle Fibern lauſchten dem 
en entgegen, dann ftieß er einen tierifchen 
Schrei aus, ſtürzie zu Boden und blieb zudend 
und ſchluchzend Tiegen. 

Die Männer erbleichten und fahen einander 
16 


ratlos an. Nach einer Weile näherte ſich Daumer 
dem Unglüdlichen, legte die Hand auf fein Ha f 
und ſprach ein paar tröftende Worte. Dies wii 
beruhigend auf den Jungling, und er murde 
ftille; ziöt tsdeſtoweniger jchien der ungeheure 
Eindrud e3 gehörten Schals feinen Leib von 
innen und von außen verwundet zu haben. Tage 
lang nachher zeigte fein Weſen noch die Spuren 
der empfundenen Erſchütterung; er lag fiebernd 
auf dem Strohſack, und feine Haut war zitronen- 
gelb. Zeilnahmsvollen Fragen gegenüber mar 
ex allerdings herzlich bewegt, und er fuchte nach 
Worten, um feine Erkenntlichkeit zu bemeifen, 
wobei fein font jo klarer Blick ſich in dunkler 
Pein trübte; befonders für ben — Daumer, 
der zwei⸗ bis dreimal täglich zu ihm kam, Tegte 
er eine zärtliche Dankbarkeit, ſchweigend oder 
ftammelnd, dar. 

Bei einem diefer Befuche war Daumer mit 
dem Knaben ganz allein, und das zum erftenmal; 
der Wärter hatte auf feine Bitte das untere Tor 
abgeſperrt. Cr faß dicht neben dem Gefangenen, 
er Gebete, fragte, forjchte, alles mit einem ver« eb⸗ 
lichen Aufwand von Innigleit, Geduld und 
Zum Schluß bejchräntte er fih darauf, dad Tum 
und Lafjen des Junglings vol Spannung zu 
beobachten. Basic ie Cafpar Haufer eine 
verworrenen Taute auß: er — etwas zu for- 
dern und fpähte fuchend herum. Daumer erriet 
bald und reichte ihm den gefüllten Wafferkrug, 
den Hill auf die Ofenbanf geftellt hatte. Caſpar 
nahm den Krug, ſetzie ihn an die Lippen und trank. 
Er trank in langen Schlüden, mit befeligter 
Gelöftheit und einem begeifterten Aufleuchten der 
Augen, wie wenn er für den kurzen Zeitraum 

Waffermann, Caſpar Haufer 2 17 


des Genuſſes vergefjen hätte, daß das dämoniſch 
Unbelannte auf allen Seiten ihn bedrängte. 

Daumer geriet in eine ſeltſame Aufregung. 
Als er nach Haufe kam, durchmaß er länger als 
eine halbe Stunde mit großen Schritten jein 
Studierzimmer. Gegen acht Uhr pochte es an 
der Tür, feine Schweſter trat ein und rief ihn 
zum Abendefien. „Was glaubft du, Anna,” rief 
ex ihr Iebhaft und mit beziehungsvollem Ton zu, 
„zweimal zwei ift vier, wie?" 

„Es ſcheint jo," erwiderte das junge Mäd- 
hen, verwundert lachend, „alle Leute behaupten 
es. Haft bu denn entdeckt, daß e3 anders ift? 
Das fähe dir ähnlich, du Aufwiegler.“ 

„Nicht gerade das hab’ ich entdeckt, aber doch 
etwas der Art," fagte Daumer heiter und legte 
den Arm um die Schulter der Schweiter. „Sch 
will einmal unfre braven Philifter tanzen lafjen! 
Ja, tanzen follen fie mir und ftaunen.“ 

„Betrifft e8 etwa ger den Findling? Haft 
du was mit ihm vor? Sei nur auf der Hut, 
Friedrich, und laß dich nicht in Scherereien ein, 
man ift dir ohnedies nicht grün.“ 

„Geroiß,“ gab er, raſch verftimmt, zur Ant⸗ 
wort, „das Einmaleins könnte Schaden leiden." 

„Nun, weiß man noc gar nichts über den 
Sonderling?" fragte bei Tiſch Daumers Mutter, 
eine fanfte alte Dame. 

Daumer fchüttelte den Kopf. „Vorläufig kann 
man nur ahnen, bald wird man wifjen,“ ent- 
gegnete er mit ſiarr nach oben gerichtetem Blick. 

Am folgenden Tag brachte die „Morgenpoft“ 
einen Artikel, der die Ueberjchrift trug: Wer ift 
Caſpar Haufer? Zenngleich auf diejen Appell 
feiner ber Lefer eine Antwort zu erteilen ver- 
18 


mochte, wurde der Zudrang der Neugierigen fo 
toß, daß das Bürgermeijteramt ſich genötigt 
is die Befuchsftunden durch eine ſtrenge Vor- 
chrift zu regein. Bisweilen ftanden die Leute 
Kopf an Kopf vor der offenen Tür des Gefäng- 
nifjes, und in allen Gefichtern war bie Frage zu 
leſen: Was ift es mit ihm? Was ift es für ein 

tenfch, der die Worte nicht verfteht und den 
noch fprechen Tann, die Dinge nicht erkennt und 
dennoch jehen Tann, der zu lachen vermag, kaum 
daß ſein Weinen zu Ende, der arglos fepeint und 
geheimnisvoll ift und hinter defjen unfchuldig leuch⸗ 
tenden Augen vielleicht Uebeltat und Schande 
verborgen find? 

Sicherlich jpürte der Gefangene, fpürte es 
ſchmerzlich, was die Lüftern auf ihn gerichteten 
Blicke begehrten, und der Wunfch, ihnen zu will- 
fahren, erzeugte möglichermeife die erſte erhellende 
Dämmerung, welche ihm felbft die Vergangenheit 
langſam begreiflich machte, jo daß er in beun- 
ruhigter Bruft nach dem Geweſenen taftete, ein, 
Geweſenes erſt fühlte und die Gegenwart damit 
verband, im tiefiten jchaudernd an der Zeit 
mefjen lernte, was fie verändernd mit ihm getan, 
und was er fah, mit dem verglich, was er ehe— 

- dem gefehen. Er begriff das Fordernde der 
Frage und ward des Mittels inne, die verlangen: 
den Mienen zu befriedigen. 

Mit durftigen Sinnen fuchte er das Wort. 
Sein flehentlicher Blick grub es heraus aus dem 
fprechenden Mund der Menfchen. 

Hier war Daumer in feinem Element. Was 
Teinem andern, dem Arzt nicht, dem Wärter nicht, 
dem Bürgermeifter nicht, den Protofollanten erſt 
recht nicht gelingen wollte, daS vermochte nad) 

19 


und nad; feine Behutfamkeit und zmedvolle Ger 
duld. Die Perfon des Findlings beichäftigte ihn 
aber auch dermaßen, daß er feiner Studien und 
privaten Obliegenheiten, ja beinahe feines öffent- 
lichen Amtes darüber vergaß, und er erjchien fich 
wie ein Mann, den das Scidjal vor das ihm 
allein beftimmte Erlebnis geftelt bat, wodurch 
fein ganzes Leben und Denken eine glücliche Be: 
ftätigung erfährt. Unter feinen Notizen über 
Caſpar Haujer lautete eine der erſten wie folgt: 
„Diefe in einer fremden Welt hilflos ſchwankende 
Geftalt, dieſer fchlafumfangene Blick, diefe angft- 
verhaltene Gebärde, diefe über einem etwas ver⸗ 
kümmerten Untergeficht edel thronende Stirn, auf 
welcher Frieden und Reinheit ftrahlen: es find 
für mic) Zeugen von unbefiegbarer Deutkraft. 
Wenn fich die Vermutungen bemwahrheiten, mit 
denen fie mich erfüllen, wenn ich die Wurzeln 
diejes Dafeins aufgraben und feine Zweige zum 
Bluhen bringen kann, dann will ich der |tumpf- 
gewordenen Belt den Spiegelunbeflecten Menfchen- 
tums entgegenhalten, und man wird fehen, daß 
es gültige Bemeife gibt für die Exiftenz der Seele, 
die von allen Gößendienern der Zeit mit elender 
Leidenfchaft geleugnet wird.” 
Es war ein fgrierigee Weg, den der eifer- 
volle Pädagoge ging. , mo er zu beginnen 
jatte, war die menfliche Sprache ein mwejenlofes 
ing, Wort um Wort mußte erft feinem Sinn 
angeheftet, Erinnerung erft erweckt, Urſache und 
olge in ihrer Verkettung erſt entjchleiert werden. 
wiſchen einer Frage und der nächften lagen 
selten des Begreifens, ein Ja, ein Nein, oft 
ilflos hingeworfen, galt noch nichts, mo jeder 
jegriff erſt aus der Suntelheit eritand und die 
20 


Verftändigung von Vokabel zu Volabel ſtockte. 
Und doch fehien ein Licht wie aus weit entfernter 
Vergangenheit den Geiſt des Junglings viel raſcher 
zu beflügeln, als felbft der hoffnungsjelige Daumer 
zu erwarten gewagt hatte. Es war erftaunlich, 
mit welcher Leichtigkeit und Kraft er einmal 
Gefagtes fefthielt und wie er aus dem Chaos un= 
lebendiger Laute das für ihn Lebendige und 
Bedeutungsvolle bildvoll hervorzauberte, jo daß 
e3 Daumer zumute war, als hebe er bloß Schleier 
von den Augen feines Schüglings, als fpiele er 
die Rolle des Laufcher3 bei den langſam hervor: 
quellenden Erinnerungen. Er hielt den Körper, 
indes der Geift des Knaben zurückkehrte in den 
Bezirk, von mo er am, und eine Kunde brachte, 
dergleichen Fein Ohr je vernommen. 


Bericht Caſpar Haufers, von Daumer 
aufgezeichnet „ 


Soweit Cafpar fich entfinnen konnte, war er 
immer in einem dunfeln Raum geweſen, niemals 
ander3wo, immer in demjelben Raum. Niemals 
den Menfchen gefehen, niemals feinen Schritt ge 
hört, niemals feine Stimme, keinen Laut eines 
Vogels, fein Gejchrei eines Tieres, nicht den 
Strahl der Sonne erblict, nicht den Schimmer 
des Mondes. Nichts vernommen als fich felbft, 
und doc) nicht3 von fich felber wifjend, der Ein- 
famteit nicht inne werdend. 

Das Gemach muß von geringer Breite ge- 
wefen fein, denn er glaubte, einmal mit aus 

21 


geftveten Armen zwei gegenüber liegende Wände 
erührt zu haben. Wordem aber jchien es un- 
ermeßlich groß; angefettet an ein Strohlager, ohne 
die Feſſel zu fehen, hatte Caſpar niemals den 
Fleck Erde verlaffen, auf dem er traumlos fchlief, 
traumlos wachte. Dämmerung und Finjternis 
waren unterfchieden, fo mußte er alſo um Tag 
und Nacht; er kannte ihre Namen nicht, allein 
er fah die Schwärze, wenn er einmal in der 
Nacht erwachte und die Mauern entjchwunden 


waren. 

Er hatte fein Maß für die Zeit. Ex konnte 
nicht fagen, warn die unergründliche Einfamteit 
begonnen hatte, er dachte zu feiner Stunde daran, 
— fie einmal enden könne. Er fpürte keinerlei 
Verwandlung an feinem Leibe, er wünfchte nicht, 
daß etwas anders fein folle, als es war, es ſchreckte 
ihn kein Ungefähr, nichts Künftiges lockte ihn, 
nichts nergangenes hatte Worte, ftumm lief die 
regelvolle Uhr des kaum empfundenen Lebens, 
frumm war fein Inneres wie die Luft, die ihn 
umgab. 

Wenn er am Morgen ermachte, fand ex frifches 
Brot neben dem Lager und den Wafferkrug ges 
füllt. Bisweilen ſchmeckte das Waſſer anders 
als ſonſt; wenn er getrunken hatte, verlor er 
ſeine Munterkeit und — ein. Nach dem Auf⸗ 
wachen mußte er dann das Krüglein ſehr oft in 
die Hand nehmen, ex hielt es lange an den Mund, 
doch floß fein Wafjer mehr heraus; er ftellte es 
immer wieder hin und wartete, ob nicht bald 
Waffer komme, weil er nicht wußte, daß es ge- 
bracht wurde; hatte er doch feinen Begriff, daß 
außer ihm noch jemand fein könne. An ſolchen 
Tagen fand er reines Stroh auf feinem Bette, 


22 


ein frifches Hemd am Körper, die Nägel be 
fchnitten, die Haare fürzer, die Haut gereinigt. 
AU das war im Schlaf geicheben, ohne daß er 
es gemerkt, und fein Nachdenken darüber umflorte 
feinen Geift. 

Ganz allein war Cafpar Haufer nicht; er 
befaß einen Kameraden. Er hatte ein weißes 
FR aus Holz, ein namenloſes, regungs⸗ 
loſes Ding und gleichwohl etwas, in dem jein 
eigne8 Dajein Ih dunfel fpiegelte. Da er die 
lebendige Geftalt in ihm ante, bielt er e8 für 
feinesgleichen, und in den matten Glanz jeiner 
ünftlichen Augenperlen war alles Licht der äußeren 
Welt gebannt. Er fpielte nicht mit ihm, nicht 
einmal lautlofe Zwieſprach hielt er mit ihm, und 
obwohl es auf einem Brettchen mit Rädern ftand, 
dachte er nie daran, es hin und her zu. fchieben. 
Aber wenn er fein Brot aß, reichte er ihm jeden 
Biſſen hin, bevor er ihn jelbft zum Mund führte, 
und bevor er einfchlief, ftreichelte er e8 mit lieb⸗ 
koſender Hand. 

Das war fein einziges Tun in vielen Tagen, 
langen Jahren. 

Da gejchah es einft während der Beit bes 
Wachen, daß fich Die Mauer auftat, und von 
draußen ber, aus dem Niegefehenen, erjchien eine 
ungeheure Geſtalt, ein Auiegeiehener, der erſte 
Andre, der das MWörtchen Du ſprach und den 
Cafpar deshalb den Du nannte. Die Dede des 
Raumes ruhte auf feinen Schultern, etwas un- 
verftändlich Leichte und Veränderliches war in 
der Bewegung feiner Glieder, ein Lärm war um 
ihn, der das Ohr füllte, Laut um Laut floß raſch 
von feinen Lippen, zu atemlofem Hören zwang 
das Leuchten jeiner Augen, und an feinen Klei— 

23 


dm hing das Draußen als ein betäubender 


eruch. 

Bon den vielen Worten, die aus dem Munde 
des Du kamen, verftand Cafpar zunächſt feines, 
aber durch tieferregte8 Aufmerken begriff er all- 
mählich, daß der Ungeheure ihn fortbringen wolle, 
daß das Ding, das feine Einfamfeit geteilt, den 
Namen Roß trug, daß er andre Rofje erhalten 
werde und daß er lernen folle. 

Lernen," jagte der Du immer wieder, „lernen, 
lernen." Und wie um flarzuı , was das 
ER ftellte er einen Schemel mit vier runden 

üßen vor ihn hin, legte ein Blatt Papier darauf, 
chrieb zweimal den Namen Cafpar Haufer uni 
irte beim Nachjchreiben Caſpars Hand. Dies 
gefiel Caſpar, weil es ſchwarz und weiß ausfah. 

Darauf legte der Du ein Buch auf den Schemel 
und ſprach, auf die winzigen Zeichen deutend, die 
Worte vor. iſpar Tonnte fie alle wieberholen, 
ohne irgend den Sinn erfaßt zu haben. Auch 
andre Worte und gewiſſe Redensarten plapperte 
er nach), die ihm der Mann vorfagte, zum Bei- 
fpiel: „Ich möcht' ein folcher Reiter werden wie 
mein Vater." 

Der Du fchien zufrieden; jedenfall um ihn 
zu belohnen, zeigte er ihm, daß man das Holzpferd 
uf dem Boden bin und her rollen könne, und 
damit vergnügte fich Cafpar, als er am andern 
Morgen erwachte. Er jchob das Rößlein vor 
feinem Lager auf und ab, wobei ein Geräufch 
entftand, das den Ohren wehe tat; deshalb ließ 
ex es wieder und begann dafür mit dem Pferd 
u reden, indem er die unverftändlichen Laute aus 

em Munde de Du nachahmte. Es war eine 
wunderliche Luft für ihn, fich felbft zu hören, er- 
E23 


bob die Arme und füllte den Raum mit feinem 
freudigen Gelall. 

Seinen Kerkermeiſter mochte dies verdrießen 
und beuntuhigen, er wollte ihn zum Schweigen 
bringen: auf einmal fah Caſpar einen Stab über 
feine Schulter ſauſen und jpürte zugleich einen 
jo heftigen Schmerz auf dem Arm, daß er vor 
Schrecken nach vorne fiel. Mitten in ber Angft 
machte er die erftaunliche Wahrnehmung, daß er 
nicht mehr ans Lager angebunden war. Cine 
Beitlang verhielt er ſich ganz ftille, dann ver- 
juchte er, vorwärts zu rutjchen, aber ihm graute, 
als er mit feinen bloßen Füßen die kalte Erde 
berührte. Mit Mühe erreichte er fein Lager und 
verſank fofort in Schlaf. 

€3 wurde dreimal Nacht und Tag, ehe der 
Du wiederkam und verſuchte, ob Caſpar noch 
birge Namen ſchreiben und die Worte aus dem 

uch leſen konnte. Er verbarg nicht de Ver⸗ 
wunderung, als der Knabe dies mühelos ver- 
mochte. wies auf ‚Dinge rings im Raum und 
nannte ihre Namen; er redete langfam, Aug’ in 
Aug’ mit Cafpar, und hielt ihn dabei an der 
Schulter feit; durch feine Blicke, feine Gebärden, 
das Verzerren feiner Züge hindurch ahnte Caſpar, 
was er fagte, und ihm jchauderte, während feine 
ftotternde Zunge dem Mann gehorfam war. 

In der folgenden Nacht wurde er aus dem 
Schlaf gerüttelt. Lange und mit Qual fpürte er 
es und konnte doch nicht ganz erwachen. Als 
er endlich die Augen aufjchlug, war die Mauer 

öffnet, und ein purpurroter Schein floß in den 
aum. Der Du war über ihn gebeugt und 

ſprach leiſe, vielleicht um Caſpars Furcht zu 
ftillen. Er richtete ihn empor und bekleidete ihn 
26 


mit Hofen, mit einem Kittel und mit Stiefeln, 
dann ftellte er ihn auf die Füße, lehnte ihn gegen 
die Wand und kehrte fi mit dem Rüden gegen 
Im. Er umfaßte feine Beine, bob ihn auf, 

afpar umfchlang mit den Armen feinen Hals, 
und nun ging es hinauf, einen hohen Berg hinauf, 
jo ſchien es Caſpar; in Wirklichkeit war es 
wahrjcheinlich die Treppe des unterivdifchen Ver⸗ 
lieſes. Inntteten dröhnte der Atem des Mannes, 
etwas Kühles und Feuchtes ſchlug Caſpar ins 
Geſicht, ſetzte ſich in ſeinen Haaren ft die ſich 
von jelbjt zu bewegen anfingen, und Elammerte 
fi an feine Haut. 

Plötzlich wich die Schwärze, fie raufchte auf 
den Boden nieder; alles wurde weit, weich und 
blieb doch dunkel; in der Tiefe, in der Ferne 
wuchteten fremde große Dinge; von oben brach 
ein blauer Strahl und verlor fich wieder, das 
Schlüpfrig-Feuchte blähte die Falten der leider, 
durchdringende Gerüche wogten umher, Cafpar 
begann zu meinen und fchlief auf dem Rüden 
des Mannes ein. 

Beim Erwachen lag er auf dem Boden, das 
Geficht zur Erde gekehrt, und von unten ftrömte 
Kälte in den Leib. Der Du richtete ihn auf. 
Die Luft brannte fonderbar, und ein unerträglich 
heller Schein flierte vor den Augen. Der Du 
machte ihm begreiflich, daß er gehen lernen müffe; 
ex zeigte ihm, wie er gehen folle, ex hielt ihn von 
hinten unter den Armen und ftieß feinen Kopf 
gegen die Bruft, ihm jo befehlend, daß er auf 
den Boden jehen folle. Caſpar gehorste wan⸗ 
kend und zitternd, die Luft und der Schein 
brannten ihm die Augenlider, die Gerüche machten 
ihn ſchwindeln, die Sinne vergingen. 

26 


Er jchlief wieder; wie lange, das mußte er 
nicht. Auch wußte er nicht, wie oft er zu gehen 
probiert hatte, als es wieder dunkel wurde. 
Vielleicht glaubte er, es fei Nacht geworben, 
während fie fih nur in einem Wald befanden. 
Den Weg gewahrte er nicht, er konnte nicht fagen, 
ob e3 aufwärts oder abwärts ging. Ob Bäume 
ober Wiejen oder Häufer da waren, wußte er 
nicht. Bisweilen fchien ihm alles ringsum in 
rote Glut getaucht, aber wenn das Weiche, Dunkle 
tam, bdehnten fi Luft und Erde bläulih und 
grün. Ob Menfchen vorübergingen, konnte er 
nicht jagen, er gemahrte nicht den Himmel, er jah 
nicht einmal das Geficht des Mannes. Einmal 
fiel Waffer von der Höhe; er dachte, der Du 
chütte ihn mit Waffer an, und beklagte ſich, doch 
jener entgegnete, er jhütte ihn nicht an, er deutete 
in die Luft und rief: „Regen! Regen!" 

Wie lange er fo unterwegs geweſen, wußte 
er nicht. Ihm dünkte, jedesmal wenn er fich, 
erichöpft vom Gehen, zur Ruhe niedergelegt, ſei 
ein Tag vergangen. Furcht zog ihn hin und 
bemeifterte feine Müdigkeit, fie jpannte feine Ges 
Iente und riß fein Haupt nach oben, indes Die 
Augen unaufhörlich zur Tiefe ftarrten. Der Du 
gab ihm dasjelbe Brot zu efjen, das er im Kerker 
genoffen, und ließ ihn Waffer aus einer Flafche 
teinfen. Caſpars Geföäpfung und feine Anal, 
wenn der Wind durch die Büſche faufte, oder 
wenn ein Tier fchrie, oder wenn das Gras um 
feine Füße Elivrte, fuchte er durch das Verfprechen 
Ichöner Pferdchen zu befiegen, und als Caſpar 
endlich längere Beit allein gehen konnte, fagte 
er, nun feien fie bald da. Er wies mit dem 
Arm in die Ferne und fagte: „Große Stadt." 

27 


Caſpar ſah nichts, taumelnd tappte er vorwärts; 
nach einer Weile hielt ihn der Du bei den Armen 
zum Zeichen, hy ex ftehenbleiben folle, gab ihm 
einen Brief und jagte, den Mund nahe an Caſpars 
Ohr: „Laß dich weilen, wo der Brief Hingehört." 

Bi machte noch ein paar Schritte, und 
als er jich dann umfah, war der Du verjchwunden. 
Er fpürte plöglich Steine unter den Füßen, er 
taftete nach allen Seiten, um ſich zu halten, er 
fah Steinmauern, die im Sonnenlicht feurig 
lohten, aber Entjegen packte ihn erſt, als er 
Menjchen gewahrte, erſt einen, dann zwei, dann 
viele. Grauenhaft nah famen fie heran, umftanden 
ihn, fehrien ihm zu, einer ergeiff ihn und ſchleppte 
ihn vorwärts, alles vingsumher war Lärm und 
Getöſe; er begehrte zu fchlafen, fie verftanden ihn 
nicht; er ſprach von feinem Vater, von den Roffen, 
fie lachten und verftanden ihn nicht; er jammerte 
über feine wunden Füße, fie verfianden es nicht; 
ex jchlief im Stall des Rittmeifters, dann kamen 
wieder andre Geftalten, um, kaum daß fie fich 
geeigt, mit unbegreiflicher Haft wieder zu fliehen, 

i ft war ſchwer und kaum zu atmen, die 
ewaltigen Dinge, als welche ihm die Häufer er- 
Aeenene drängten fih an ihn an, umd auf ber 
Wachtſtube erjchredten ihn die wilden Mienen 
und Gebärden der Leute fo, daß er zu Tränen 
feine Zuflucht nahm. 

Wiederum fchlief er lange, und danach wurde 
ex auf den Turm gebraht. Der Mann, der 
ihn die große Stiege binaufführte, ſprach mit 
ftarter Stimme und öffnete eine Tür, die einen 
befonderen Hal von ſich gab. Kaum hatte er 
fo auf dem Strohſack niedergelaffen, fo begann 

ie Turmuhr zu jchlagen, worüber Caſpar 
28 . 


in unermeßliches Erſtaunen geriet. Er laufchte 
angeftrengt, aber nach und nach hörte er nichts 
mehr, feine Aufmerkfamkeit verlor fih und er 
fehlte nur das Brennen feiner Füße. In den 

fugen hatte er feine Schmerzen, da es dunkel 
war. Er ſetzte fi) auf und wollte nach dem 
Krüglein Langen, um feinen Durft zu ftillen. Er 
ſah fein Waffer und fein Brot, anftatt deflen 
jah er. einen Boden, der ganz anders befchaffen 
war als dort, wo er früher geweſen. Nun wollte 
er nad feinem Pferdchen greifen und mit ihm 
fpielen, es war aber keines & umd er fagte: „Ich 
möcht’ ein folder Reiter werden wie mein Vater." 

Das follte heißen: Wo ift das Waſſer Hin 
und das Brot und das Pferdchen? 

Er bemerkte den Strohſack, auf dem er lag, 
betrachtete ihn mit Verwunderung und mußte 
nicht, was es fei; mit dem Finger darauf Elopfend, 
vernahm er dasſelbe Geräufch wie von dem Stroh, 
das fonft fein Lager geweſen. Died erfüllte ihn 
mit Beruhigung, % daß er wieder einfchlief und 
erſt mitten in der Nacht vom oftmals wieder 

holten Ton der Glode erwachte. Er — 
lang, und als der Schall verklungen war, ſah er 
den Dfen, der eine grüne Farbe hatte und einen 
Glanz von fid gab (denn Caſpar vermochte felbft 
in tiefer Sutter 3 die Farben zu unterjcheiden). 
Er blickte fehr angefpannt hinüber und murmelte 
wieder: „ch möcht’ ein jolcher Reiter werden 
wie mein Vater.“ 

Das jollte heißen: Was ift denn dieſes und 
wo bin ich denn? Auch drüdte er damit fein 
Verlangen nad) dem glänzenden Ding aus. 

In der Frühe öffnete der Wärter Sie Fenſter⸗ 
en das belle Tageslicht tat Caſpars Augen 


29 


wehe; er fing zu weinen an und fagte: „Hin« 
weiſen, mo der Brief hingehört," und damit 
wollte erfagen: Warum tun mir die Augen weh? 
Tu e3 weg, wa3 mich brennt, gib mir das Pferdehen 
zurück und plag mid) nicht jo. Denn er ſprach 
im Geifte mit dem Du, von dem er glaubte, daß 
er Abhilfe ſchaffen könnte. Er hörte die Uhr 
wieder jhlagen, das nahm ihm die Hälfte der 
Schmerzen, und indes er horchte, fam ein Dann 
und ftellte allerhand Fragen, aber Caſpar gab 
Teine Antwort, weil feine Aufmerkſamkeit auf den 
verhallenden Klang gerichtet war. Der Mann 
faßte ihn am Kinn, hob feinen Kopf in die Höhe 
und redete mit jtarfer Stimme. Jetzt hörte 
Cafpar zu und fagte all feine gelernten Worte 
her, aber der Mann verftand ihn nicht. Er ließ 
feinen Kopf los, feßte fich neben Gafpar und 
fragte immerfort; al3 nun die Uhr wieder tönte, 
fagte Caſpar: „Ich möcht’ eim folder Reiter 
werden wie mein Vater.“ 

Das follte bedeuten: Gib mir das Ding, dad 
jo ſchön Klingt. 

Der Mann verftand ihn nicht und redete 
weiter, da fing Gafpar an zu weinen und fagte: 
„Roß geben,“ womit er den Mann bat, er möge 
ihn nicht fo quälen. . 

Er faß dann lange Zeit allein. Aus weiter 
Ferne Hang ein Trompetenjchall aus der Kaifer- 
ftallung, und als ein andrer Mann eintrat, fagte 
Cafpar die Redensart mit dem Brief; das follte 
heißen: Weißt du nicht, was das ift? Der Mann 
brachte. den Zafierteug und ließ Caſpar trinken, 
danach ward es ihm leicht zumute und er jagte: 
„Möcht' ein folher Reiter werden mie mein 
Vater." Das bedeutete: Jetzt darfſt du nicht mehr 


30 





fortgehen, Wafler. Bald erflang wieder die 
Trompete und Caſpar laufchte freudig; er dachte, 
wenn fein Pferdchen käme, würde er ihm er- 
zählen, was er gehört. 

An diefem Tag aber begann ſchon die Peini⸗ 
ung, die er von den vielen Menfchen auszus 
ſtehen hatte. 


Eine hohe amtliche Perfon wird Zeuge 
eines Schattenfpiels 


Natürlich hatte es wochenlang gedauert, bis 
Profefjor Daumer einen fo vollftändigen Einblick 
in die Vergangenheit de3 Süngtings gewonnen 
hatte. Dies alles ans Licht zu bringen, kündbar, 
greifbar, hatte Aehnlichkeit gehabt mit der Arbeit 
eines Brunnengräberd. Was anfangs ein Fieber 
traum gefchienen, befaß nun die Züge de3 Lebens. 
Daumer verfehlte nicht, der Behörde den 
Sachverhalt in einer gewiſſenhaften Niederfchrift 
vorzulegen. Die Folge davon war, daß fich der 
Magifteat entjchloß, die Bahn förmlicher Verhöre 
zu verlaffen und in eine vertrautere Beziehung 
u dem Unglüclichen zu treten. Die auffälligen 
jefonderheiten feines Weſens follten noch einmal 
überprüft werden, hieß es in einer der gericht» 
lichen Noten, deshalb wurden Aerzte, Gelehrte, 
Polizeibeamte, fcharffinnige Zuriften, kurz un 
göhtige Perjonen, die an feinem Schickſal freien 
inteil nahmen, zu ihm auf den Turm geſchickt. 
Es war ein endlofes Schnüffeln und Debattieren, 
Areeijein und Staunen, doc die verſchiedenen 
rklärungen liefen alle auf eins hinaus, und die 
31 


bloße Kraft des Augenfcheins mußte den Daumer- 
ſchen Bericht beftätigen. 

Wenige Tage fpäter, gegen Anfang Juli, ver- 
öffentlichte der Vürgermeifter einen Aufruf, der 
im ganzen Land Verwunderung und Beunruhigung 
erregte. Bunächft wurde darin das Erſcheinen 
Caſpar Hauſers geicibert, und nachdem die 
eigne Erzählung des Jünglings mit tunlichiter 
Ausführlichleit wiedergegeben war, bejchrieb der 
Verfafjer diefen felbft. Er ſprach von der alle 
Umgebung bezaubernden Sanftmut und Güte des 
Knaben, in der er anfangs immer nur mit Tränen 
und nun, im Gefühl der Erlöfung, mit Innig- 
keit feine3 Unterdrückers gebenfe; von feiner u 
renden Ergebenheit an diejenigen, die häufig mit 
ihm umgingen, von feiner unbedingten Willfaͤhrig⸗ 
keit zum Guten, die mit der Ahnung deſſen ver- 
bunden fei, was böfe ift, ferner von feiner außer- 
ordentlichen Lernbegierde. 

„Alle diefe Umftände,“ fuhr der beredfame 
Erlaß fort, „geben in demfelben Maß, in dem 
fe die Erinnerungen de3 Jünglings befräftigen, 

ie. Ueberzeugung, daß er mit herrlichen Anlagen 
de3 Geiftes und des Herzens außgeftattet ift, und 
berechtigen zu dem Verdacht, daß fich an feine 
Kerkergefangenſchaft ein ſchweres Verbrechen Inüpft, 
wodurch er jeiner Eltern, feiner Freiheit, feines 
Vermögens, vielleicht fogar der Vorzüge hoher 
Geburt, in jedem Fall aber der ſchönſten Freuden 
der Kindheit und höchften Güter des Lebens ver- 
luſng gerooeben iſt.“ 

ine kühne und fotgenfhmer: Vermutung, 
die eher dem mitleidigen Gemüt und dem roman- 
tifchen Geift als der behördlichen Vorficht eines 
hohen Bürgermeifteramtes zur Ehre gereichte! 
32 


„Bubem beweiſen mancherlei Anzeichen," hieß 
es weiter, „daß das Verbrechen zu einer Zeit 
verübt worden, wo ber Jüngling der Sprache 
ſchon einmal mächtig geweſen und der Grund zu 
einer edeln Erziehung gelegt war, die gleich einem 
Stern in finfterer Nacht aus feinem Weſen hervor⸗ 
leuchtet. Es ergeht daher an die Zuftize, Polizeiz, 
Zivil- und Militärbehörden und an jedermann, 
der ein menjchliches Herz im Bufen trägt, die 
dringende Aufforderung, alle, auch die unbebeu- 
tendften Spuren. und Verdachtögründe befanntzus 
geben. Und nicht etwa deswegen, um Gajpar 
Haufer zu entfernen, denn die Gemeinde, die ihn 
in ihren Schoß aufgenommen, liebt ihn, betrachtet 
ihn als ein von der Vorfehung ihr zugeführtes 
Pfand der Liebe, das fie ohne gültigen Beweis 
der Anfprüche andrer nicht abtreten wird, fondern 
nur, um die Uebeltat zu entdecken und den Böſe— 
wicht famt feinen Gehilfen der gerechten Sühne 
auszuliefern.“ 

Wahrfcheinlich wurden von den Urhebern 
große Hoffnungen an das Manifeit geknüpft, 
aber die Sache nahm einen ganz unerwarteten 
Berlauf und bereitete den Nürnberger pe 
mancherlei Verlegenheiten. Zunächſt lief eine 
Menge unfinniger und verleumberifcher Bezich— 
tigungen ein, durch welche eine Reihe von adligen 
Familien und von intimen Vorgängen in arijto- 
kratiſchen Kreifen dem Gerede ausgefegt wurden: 
Kindesmord, Kindesraub, Kindesunterfchiebung 
waren nach Anficht des gemeinen Bolts Ber- 
brechen, welche die vornehmen Leute täglich und 
zum Vergnügen begehen. 

Schlimmer war es, daß die magiftratiiche 
Belanntinahung dem Appellhof des Rezatkreiſes 


Waffermann, Gafpar Haufer 8 33 


auf nichtamtlichem Weg zu Händen kam. Irgend⸗ 
ein grimmiger Hofrat am felben Gerichtshof erließ 
allfogleich ein gepfeffertes Schreiben an die Kreis 
zegierung in Ansbach, worin erftlich die Publikation 
de3 Nürnberger ‚ofgermeiftere als vorſchrifts⸗ 
widrig, zweitens als abenteuerlich bezeichnet wurde, 
worin drittens der lebhafte Tadel darüber aus- 
gebrüdt war, daß durch das verfrühte Preisgeben 
wichtiger Umftände eine Kriminalunterfuhung 
wenn auch nicht vereitelt, jo doch ſehr erſchwert 
worden fei. Der ergeimmte Hofrat erfuchte da- 
her die Regierung, den Magiftrat zu frenge er 
vet zu ziehen und zu echter. aß die 

ehandelnden Polizeiakten unverzüglich, 
ee zu fenden jeien. 

Die Regierung ließ ſich das nicht zweimal 
fagen. Sie fendete ein Reſtript an den Stadt 
kommiſſaͤr von Nürnberg und äußerte ſich dahin, 
daß die erzählte Lebensbeſchreibung des Find⸗ 
Fr jo_viele grobe Unmwahrfcheinlichteiten ent» 

te, daß der Gedanke an eine ärgerliche Täufchung 
Kir Armen üte fei. Gleichzeitig wurden die noch 
vorhandenen Eremplare des Snteligergblattes" 
und des „Sriebens- und Kriegöfuriers", in welchen 
Zeitungen der Aufruf erfchienen war, befchlag- 
nahmt. Dies wurde dem Appellhof orbnungs- 
gemäß mitgeteilt und die oe Set daran ges 

üpft, ob die ftrafrechtliche erfolgung des 
Häftlings einzuleiten ſei oder nich 

Den Magiftratsherren nen ein heilloſer 
Schreden in die Glieder. Schleunigft ließen fie 
die Atenfafzikel zufammenpaden und fehicten fie 
mit Eilpoft nad) Ansbad hinüber. Vielleicht 
mähnten fie, daß nun alles gut ſei, aber der 
grimme Hofrat dortjelbft erhob alsbald wieder 


34 








feine Stimme. „Die Verhöre mit dem Häftling 
und die Zeugniffe über ihn find aftenmäßig nicht 
einwandfrei," zeterte er; „es find keineswegs alle 
PVerfonen, die zuerft mit ihm in Berührung ge- 
treten find, polizeilich vernommen worden; ferner 
gäe der PBrofefjor Daumer, um ber öffentlichen 

jefanntmachung des Magiſtrats eine rechtliche 
Baſis zu geben, feine Gejpräche mit dem Find- 
ling zu den Akten legen follen.“ 

Die Regierung, um ein übriges zu tun, warnte 
den Magiftrat vor einfeitigem Verfahren. Darauf 
erwiderte der Magiftrat in einem Anfall_von 
Trotz und Enträftung: ja, aber in den Maf- 
regeln, wie ihr fie verlangt, liegt Gefahr, die 
Entdeckung zu hemmen, welche Anklage die vor 
jejeste Behörde mit zorniger Energie zurückwies. 
Bat eure Verjäumniffe nach, diktierte fie, proto- 
golliert Verhöre, ſchickt Akten, Akten, nichts als 


Mit innerer Wut hatte der Profeſſor Daumer 
diefe Vor; zgänge verfolgt. Er bezeichnete das Treiben 
ber Ansbacher Behörde als widermärtige Feder⸗ 
fuchferei und hatte allen Exnftes die Abficht, feinem 
Unmut in einer geharniſchten Epiftel an die Re 
gierung Luft zu machen. Mit Mühe hielten be- 
fonnene Freunde ihn davon zurüd, „Aber es 
muß doch etwas gejchehen!” warf er ihnen voll 
Empörung entgegen, „man ift ja auf dem beiten 
Weg, einen Juftizmorb zu begehen, und foll ich 
dazu die Hände in den Schoß legen?" 

„Das ratfamfte wäre,“ Ontıortete der Frei- 
herr von Tucher, der bei diefem Auftritt anweſend 
man, 1 perſoͤnlich an den Staatsrat Feuerbach 


a hieße alſo, nach Ansbach reifen ?“ 
3 


„Gewiß." 

„Aber nehmen Sie denn an, daß er, ae 
KVräfident des apellgeri cht8, von den Maßnahm: 
feiner untergebenen Beamten nicht ſchon unter: 2 
richtet ift und fie etwa gar mißbillige?" 

„Gleichviel, ich verfpreche mir etwas von einer 
mündlichen Auseinanderfegung; ich kenne Heren 
von Feuerbadh, er ift der Ießte, der einer gerechten 
Sache ie, fin Ohr verichließt." 

Die Reife wurde beichlofien. Daumer und 

Herr von Tucher befanden fih am andern Tag 
ſchon in Ansbach. Unglüdlicherweife war, der 
Präfident Feuerbach gerade auf einer Inſpeltions⸗ 
reife durch den Bezirk, ſollte erſt am fünften Tag 
zurüdtommen, und die beiden Herren, fofern fie 
das vorgefeßte Biel erreichen wollten, mußten 
ihren Aufenthalt in der Kreishauptitadt über 
Gebühr verlängern. 

Mittlerweile Hatte der Findling eine gar böfe 
Zeit. Sein Turmgefängnis wurde das Biel_aller 
Aubiggänger und Neugierlinge der ganzen Stadt. 

Man lief hin wie zu der Ausftellung einer unter- 
haltfamen Rarität, denn der magiftratiiche Eilaß 
hatte ihn zu einem Öffentlichen Gegenftand ge- 
macht. Seine bisherigen Beſchützer waren ein 
wenig zurüdhaltenber geworden, denn man wußte 
ja nit, wie die Geidichte enden würde und ob 
nicht ein hochweiſes Appellgericht ihn zum ges 
wöhnlichen Schwindler ftempeln würde. Der Turm» 


* wörter durfte ber allgemeinen Volksbeluſtigung 


nicht fteuern, der Vürgermeifter ſelbſt hatte die 
früheren Sefehle aufgehoben, weil es zweckmäßig 
Klin, daß möglichft viele Leute den Fremdling 

hen. Oft erbarmte ihn der mehrloje Snabe, 
De ſchmeichelte es anderſeits feiner Eitelkeit, 


86 


Herr über ein ſolches Wunderding zu fein, auch 
fpazierte nebenbei mancher Grofchen in den Beutel. 
Brad) der Morgen an und Caſpar Haufer 
erhob fi) vom a, feltfam müde, mit den 
Augen das Licht meidend — er traurig ſtumm 
in der Ecke, während gi den Strohſack aufe 
fchüttelte und Waffer und Brot brachte, dann 
erſchienen ſchon die erften Beſucher, die beruf» 
mäßigen Frühauffteher: Straßenkehrer, Dienft- 
mãgde, Bäckergefellen, Handwerker, die zur Arbeit 
Eur ei auch Knaben, die auf dem Weg zur 
chule — ergötzlichen Abſtecher machten, — 
einige höchſt unbürgerlihe Erſcheinungen, zer- 
lumpte Herren, die die Nacht im Stabtgraben 
oder in einer Scheune verbracht hatten. 

Mit dem Verlauf de3 Tages wurde die Ge 
ſellſchaft vornehmer; es kamen ganze Familien, 
der Herr Rendant mit Weib und Kind, der Herr 
Major a. D., der Schneidermeijter Bügelfleiß, 
Graf Rotftrumpf mit_feinen Damen, Herr von 
Uebel und Herr von Strübel, die ihre Morgen- 
promenade zum Zweck einer Befihtigung des 
kurioſen Untier3 unterbrachen. 

Es war ein heiteres Treiben; man konverfierte, 
wifperte, lachte, fpottete und taufchte Meinungen 
aus. Wan war freigebig und brachte dem Jüng- 
ling allerlei Gefchente, die er anjah wie ein 
Hund, der noch nicht apportieren gelernt hat, 
den fertgem jeworfenen Spazierftod feines Herrn an- 
fieht. Man legte Eßwaren vor ihn bin, um 
feinen Appetit zu reizen; fo fchleppte zum Beis 
ſpiel die Ranzleirätin Bahnlos einmal eine ganze 
Schinkenkeule herauf, die allerdings am andern 
Tag verfchwunden war — wohin, das wußte nie- 
mand; doch zog man bebdeutfame Schlüffe daraus. 

37 


Vor allem hieß e8: zeigt und das Wunder, das 
angepriefene Wunder! Aber da der ſchweigſame, 
fanftherzige Knabe nicht von alledem tat, was 
te in ihrer Lüfternen Erwartung fich eingebilbet, 
0 begannen fie entweder zu jchimpfen — als 
ob fie Eintrittsgeld bezahlt hätten und darum 
betrogen worden wären — oder ftellten die er—⸗ 
ftaunlichften Torheiten an. Indem fie ihn fort- 
während mit Fragen quälten, woher er komme, 
wie er heiße, wie alt er fei und ähnliches, kamen 
fie ſich ſowohl witzig wie überlegen vor. Sein 
flehentliches Kopfichütteln, fein ungereimtes Nein 
oder Ja, das wie aus Kindermund froh-bereit- 
willig und furchtfam zugleich klang, fein Geftotter, 
fein gläubines Lauſchen, alles das erregte ihr 
Behagen. Einige brachten ihr Gefiht ganz nah 
an feines und waren höchft vergnügt, wenn er 
vor ihren Starrblicken ſichtlich bis ins Innerſte 
erſchräk. Sie befühlten ſeine Haare, feine Hände, 
feine Füße, zwangen ihn, durchs Zimmer zu 
pazieren, zeigten ihm Bilder, die er erklären 
follte, und taten zärtlich mit ihm, während fie 
einander liſtig zuzwinkerten. 

Aber die Harmloſigleit ſolcher Verſuche ward 
den unternehmenderen Geiſtern bald überdrüſſig. 
Man wollte ſich doch überzeugen, ob es ſeine 
Richtigkeit damit hatte, daß der Gefangene jede 
Nahrung außer Brot und Waſſer verichmähe. 
Man hielt ihm Fleifh und Wurft, Honig oder 
Butter, Milch oder Wein vor die Nafe und 
amüfierte fich Löftlich, wenn der Knabe vor Ekel 
förmlich außer fich geriet. „Ei, der Komödiant,“ 
Elan WA —TF —T— als bei Wr —* 
iffen verachte! Hat ſich wahrſcheinlich mal in 
eines großen Herrn Küche überfreſſen!“ 

38 


Einen Hauptipaß ER als einmal zwei 
junge Meifter der Goldichlägerinnung Schnaps 
berbeibrachten und fich verabredeten, dem Haufer 
das Getränt mit Gewalt aufzunötigen. Der eine 
hielt ihn, der andre wollte ihm das volle Glas 
zwifchen die Lippen fchütten. Doch konnten fie 
ihren Plan nicht ausführen, weil ihr Opfer durch 
den bloßen Geruch, der aus dem Gefäß ftrömte, 
das Bewußtſein verloren hatte. Sie waren 
einigermaßen verdußt und mußten mit dem Ohn- 
mächtigen nicht8 anzufangen; zum Glüd_ fahen 
fie ihn atmen und hatten weiter feine Furcht. 
„Glaubt ihm doch feine Kniffe nicht,“ meinte ein 
ftugerhaft gefleinetss Vürfchlein, das bisher ge 
langmeilt dabeigeftanden, „ih will ihn fehon 
wieder munter kriegen.“ Sprach's, zog lächelnd 
die goldene Schnupftabaksdoſe und ftedte eine 
volle Prife unter die Nafe des vermeintlichen 
Simulanten, deſſen Geficht fogleich von heftigen 
Zudungen bewegt wurde, worüber alle drei in 
Gelächter ausbrachen. As dann der Wärter 
kam und fie derb zur Rede ftellte, zogen ſie 
ſchimpfend ab und räumten den Plan einem 
gravitätifchen älteren Herrn, der den langſam 
zum Leben zurüdtehrenden Caſpar von vorn und 
von hinten bejchnüffelte, den Finger an die Stirn 
legte, ſich räufperte, den Kopf fchüttelte, erſt 
- franzöfifh, dann ſpaniſch, dann englifh auf den 
Süngling einvedete, mit dem Wärter tufchelte, 
kurz von Wichtigkeit barft. 
Caſpar jedoh jah ihn immer nur an und 
fagte in jämmerlichem Ton: „Heimmeifen.“ 
„Warum fpielft du nicht mit dem Rößlein?“ 
fragte, als die wichtige Perfon gegangen war, 
der Wärter. Man verjtändigte fe mit Cafpar 
39 


noch immer mehr durch Geften als durch Worte, 
und er jelbft las, mas Worte ihm nicht mit- 
teilen Tonnten, von den Augen und den Händen 
der Menfchen ab. 

Er blickte auch Hill lange an und fagte: 
„Heimweiſen.“ 

„Heimweiſen?“ antwortete der Wärter, halb 
verdrießlich, halb mitleidig. „Wohin denn heim? 
Wo bift du denn daheim, du Unglüdswurm? 
In dem unterirdifchen Zoch vielleicht? Nennft du 
das daheim?" 

„Der Du foll kommen," fagte Caſpar klar, 
langſam und hell. 

„Der wird ſich hüten,“ verſetzte Hill, bär- 
beißig lachend. 

„Der Du kommt, bald kommt," beharrte 
Cafpar, und er ſchaute mit einem Ausdrud 
feierlicher Inbrunft gegen den abendlichen Himmel, 
als fei er überzeugt, daß der Du durch die Lüfte 
ſchreiten könne. Dann erhob er fich in feiner 
mühevollen Weife, nahm fein Spielpferdchen und 
verjuchte e3 zu tragen, denn bies allein wollte er 
von den Gegenftänden, die er geſchenkt erhalten, 
mitnehmen, wenn der Du fäme, fonft nichts, 

Hill’begrifffein Vorhaben. „Nein, Cafpar, ſagte 
ex, „jest mußt du ſchon in dieſer Welt bleiben. 
Daß fie dir nicht gefallen mag, verſteh' ich wohl. 
Mir gefält fie auch nicht, aber dableiben mußt du.“ 

Caſpar, wenngleich er den Worten nicht ganz 
folgen Tonnte, erfaßte doch den unabänderlichen 
Beſchluß, den fie enthielten. Ex begann an allen 
Gliedern zu beben, laut weinend warf er fich zu 
Boden, aber auch fpäter, als es dem beftürzten 
Hill gelungen war, ihn zu tröſten, ſchien es, wie 
wenn er vor Kummer fein Herz verhauche. Die 
40 


Traurigkeit feines Gemüts überflutete das kind» 
hafte Geficht wie ein dunkler Schleier, und am 
Dlorgen waren feine Lider durch die während 
de3 Schlummers vergofjenen Tränen verklebt. 

Er wollte zum erjtenmal nicht mehr mit dem 
Pferdchen fpielen, fondern kauerte ftundenlang 
ohne Regung auf einem Fleck. Bei jedem Krachen 
der Treppe fchüitelte e8 ihn, und er fchauderte, 
wenn fi wieder und wieder ein neues Geficht 
über der Schwelle zeigte. Zitternd fah er die 
Menfchen an, der Geruch ihres Atemd war gm 
eine Bein und unerträglih, wenn fie ihn bes 
rührten. Am meiften Furcht hatte er vor ihren 
Händen. Zuerſt jah er immer die Hände an, 
merkte fich ihre verjchiedene Geftalt und Farbe, 
und ehe er fie an feiner Haut fpürte, erſchrak 
ex ſchon, denn fie erjchienen ihm wie felbftändige 
Geſchöpfe, kriechende, klebrige, gefährliche Tiere, 
deren Tun von einem Augenblick zum andern 
gar nicht abzufchägen war. 

Nur Daumers Hand, die einzige, deren Ber 
zübeungangenehmmar, mar verfhmsunden, Barum? 
dachte Cafpar, warum war dies alles? Warum 
das feltfame Getöfe von früh bis jpät? Woher 
Tamen die fremden Geftalten, warum fo viele, und 
warum war ihr Mund umd ihr Auge böfe? 

Das frifche Waſſer ſchmeckte ihm nicht mehr, 
auch hungerte ihn nicht mehr nach dem gewürzten 
Brot. In feiner Erſchöpfung dunkte ihm mitten 
am Tage, e3 ſei Nacht geworden, und das Heiß- 

leißende, -funfelnde, von dem man ihm gejagt, 
aß es der Schein der Sonne fei, wurde vor 
feinen müden Augen zu purpurnem Dunft. Es 
beängftigte ihn das Geräufch des Windes, denn 
er verwechjelte es mit den Stimmen der Menfchen. 

al 


Er fehnte fih in die Einfamleit feines Kerkers 
zurück; heimmeifen mar fein einziger Gedanke. 

€ war ein Sonntag. Spätnachmittags 
waren Daumer und Herr von Tucher aus Ans- 
bach wieder angelangt, und in ihrer Begleitun 
befand ſich der Staatsrat von Feuerbach, der ji 
entſchloſſen hatte, den Findling felbft zu befuchen 
und womöglich Klarheit in das unfruchtbare Hin- 
undher von Akten und Erläffen zu bringen. 
Nachdem er im Gafthof zum Lamm Quartier 
gemietet hatte, ließ fich der Präfident von den 
eiden Herren fogleich zur Burg und auf den 
Turm führen. Es hatte fchon neun Uhr ges 
ſchlagen, als fie dort anlamen. Groß war ihre 
Ueberraſchung, als fie da8 Zimmer Gafpars leer 
fanden; die Frau des Wärter8 erklärte verlegen, 
ihr Mann ſei mit Cafpar ins Wirtshaus zum 
Krokodil gegangen, Der Rittmeifter von Wefjenig 
habe nämlich einigen feiner von auswärts zu- 
gereiften Freunde den Findling zu zeigen ges 
wunſcht, habe heraufgeſchickt und befohlen, daß 
man Caſpar bringe. 

Daumer war erbleicht und fehaute, Schlimmes 
ahnend, finfter zu Boden; Herr von Tucher ver: 
mochte feinen Unmillen kaum zu bemeiftern, und 
über die bartlofen Lippen des Präfidenten Bujöte 
ein halb mofantes, halb verächtliches Lächeln; 
feine gebietende Haltung erinnerte an einen dur: 
Pflichtverfäumnifje vielfach beleidigten Fürſten, 
als er ſich mit der fchroffen Aufforderung zu 
feinen Begleitern wandte: „Führen Sie mid zu 
diefem Wirtshaus!" 

Die Dunkelheit war eingebrochen, über dem 
Dach des Nathaufes ftand fahlleuchtend der 
Mond. Schweigend fhritten die. drei Männer _ 


42 


den Berg hinab, und kaum waren fie, das wink⸗ 
lige Gaſſengewirr verlaffend, auf den Wein- 
markt getreten, als Daumer ftehenblieb und mit 
erregter Stimme flüfterte: „Da ift er.” 

In der Tat fahen fie Cafpar, der gleich 
einem zu Tod Erkrankten am Arme Hills aus 
dem Tor des Krofodilwirtshaufes wankte. Der 
Präſident und Herr von Tucher blieben ebenfalls 
ftehen, und fie bemerkten jest, daß der Jüngling 
plöglich innehielt, guritfigauberte und, ein maß- 
lofe8 Staunen in den vor Angſt weit aufgeriffenen 
Augen, zu Boden ftarrte. Die drei Männer näherten 
ſich eilig, um zu erfahren, was es fei. Sie fahen 
nichts weiter als die Mondfchatten des Jünglings 
und feines Vegleiter3 auf dem Pflafter. 

Caſpar wagte nicht mehr fich zu regen, weil 
er jede Bewegung feines Körper nachgeahmt 
ſah von dem unbegreiflichen Ding. Seine Lippen 
waren wie zum Schrei geöffnet, feine Zangen 
ſchneeweiß und die Knie fchlotterten ihm. 
es dog), als ob alles Grauenhafte und Geheim- 

nisvolle einer Welt, in die ein Ungefähr ihn ge 
fchleudert, ſich zu dem feltfam zudenden Gebild 
am Boden verdichtet habe. 

Daumer, Herr von Tucher und der Wärter 
bemühten ſich um ihn, der Präfident ftand wortlos 
daneben. Als er emporblicte, bemerkte Daumer, der 
ihn heimlich und geſpannt beobachtete, in feinem 
fieengen Geficht eine unverftellte Erfchütterung. 

3 fehlte nicht viel, jo wäre Hill, den der 
Zorn des Präfidenten am erjten traf, noch am 
jelben Abend aus feinem Amt gejagt worden; 
nur die mutige Fürjprache de3 Heren von Tucher 
rettete ihn und lenkte das Gemitter auf ſchuldigere 
Perſonen ab, denn die Vernachläffigung, die der 

43 


Gefangene erlitten, war allzu offenbar. Seiner 
ungeftümen Art gemäß fuchte der Präfident ſo⸗ 
leich den Bürgermeifter Binder auf, dem er die 
eftigften Vorwürfe machte. Herr Binder Eonnte 
nicht umhin, dem Präfidenten Eleinmütig beizu⸗ 
pflichten; die Entfchiedenheit, mit der er den 
Gegenſtand behandelt fah, übte tiefen Eindrud 
auf ihn, und er mußte einen Taum wieder gut- 
zumachenden Fehler vor fich ſelber eingeftehen. 
Von feiner Seite war nur Lauheit im Spiel 
gewejen, die Scherereien mit ber Regierung hatten 
ihn verdrofjen, jet auf einmal, da der mächtige 
Mann feine Stimme für den Findling erhob, 
wurde er fich feiner Bereitwilligleit bewußt, alles 
Fördernswerie für Cafpar Hauſer zu tun, und 
ex erflärte ſich ohne weiteres einverftanden, als 
‚Herr von Seuerbad) verlangte, der Knabe müffe 
jeiner bisherigen Lage entriffen werden. „Er 
ol in eine geordnete Pflege kommen,“ fagte der 
räfident, btofeflor Daumer bat fich freimilli 
exboten, ihn zu fih ins Haus zu nehmen, umi 
ich wünfche nicht, daß diefer Schritt im geringften 

verzögert werde.” 

Binder verbeugte fih. „IH werde morgen 
mit dem früheften die nötigen Anftalten treffen,” 
antwortete er. 

„Nicht, bevor ich felbft mit dem Knaben ge 
fprochen," verfegte der Präfident haftig; „ich 
werde um zehn Uhr auf dem Turm fein und 
bitte, daß man mic eine Stunde lang mit dem 
Gefangenen allein laſſe.“ 

Auch Daumer war ziemlich erregt heimgefommen. 
Raum daß er, nad tagelanger Abweſenheit, 
Mutter und Schwefter ordentlich begrüßte. „Die 
Herrichaften müffen artig gewütet haben,“ grollte 
4 


er, indem er unaufhörlich durch das ‚Zimmer 
wanderte, „der Knabe ift ja ganz verſtört. Das 
jeiß” ich menschlich fein, das Heiß’ ich Einficht 
jaben! Barbaren find fie, Schlächter find fie! Und 
unter ſolchem Volk zu leben bin ich gesmungen! 

„Barum fagft du es ihnen nicht felbjt?“ 
bemerkte Anna Daumer troden. „Hinter deinen 
vier Wänden zu fchimpfen fruchtet wenig.“ 

„Sag mal, Friedrich," wandte fih nun die 
alte Dame an ihren Sohn, „bit du denn wirt 
lich, feft davon überzeugt, daß du dein Herz nicht 
wieder einmal an einen Gößen wegwirkft?" 

„Aus deiner Frage erfennt man, daß du ihn 
noch immer nicht gejehen haſt,“ antwortete 
Daumer fat mitleidig. 

„Da3 wohl; e8 war mir ein zu groß Gerenne." 

„Afo. Wenn man von ihm fpricht, kann 
man nicht übertreiben, weil die Sprache zu ärm- 

lich iſt, um fein Wefen auszudrüden. Es ift wie 
eine uralte Legende, dies Emportauchen eines 
märchenhaften Geſchöpfs aus dem dunfeln Nirgend- 
wo; die reine Stimme der Natur tönt uns plöß- 
lich entgegen, ein Mythos wird zum Ereignis. 
Seine Seele gleicht einem koſtbaren Edelſtein, den 
noch keine habgierige Hand betaftet hat; ich aber 
will danad) greifen, mich rechtfertigt ein erhabener 
Zweck. Oder bin ich nicht würdig? Glaubt ihr, 
daß ich nicht würdig bin dazu?“ 

„Du ſchwärmſt,“ fagte Anna nad einem 
langen Stiliſchweigen faſt ureilig, 

Daumer zudte lächelnd die Achfeln. Dann 
trat er an den Tiſch und fagte in einem Ton, 
deſſen Sanftheit gleichwohl einen gefürchteten 
Widerftand im voraus zu bekämpfen fchien: 
„Caſpar wird morgen in unfer Haus ziehen; ich 

45 


babe Erzellenz Feuerbach darum angegangen und 
er bat meiner Bitte willfahrt. Br hoffe, ap 
du nichts dawider einzumenden haft, Mutter, un 

daß du mir glaubft, wenn ich verfichere, es ift 
eine Sache von großer Bedeutung für mich. Ich 
bin höchft wichtigen Entdeckungen auf der Spur.” 

Mutter und Tochter fahen erſchrocken ein- 
ander an und fchmwiegen. 

Am nächften Morgen um zehn fanden ſich 
Daumer, der Bürgermeifter, der Stadtkommiſſär, 
der Gerichtöarzt und einige andre Perfonen im 
Burghof vor dem Gefängnisturm ein und mar- 
teten dritthalb Stunden auf ben Präfidenten, der 
bei dem Findling oben war. Daumer, der Ge- 
fpräche mit andern vermeiden wollte, ftand faft 
ununterbrochen an der Umfafjungsmauer und 
blickte auf das malerifche Gafjen- und Dächer 
gewirr der Stadt hinunter. 

AS der Präfident endlich unter den Warten- 
den erfchien, drängten fich alle mit Eifer heran, 
um die Meinung de3 berühmten und gefürchteten 
Mannes zu hören. Doch das Geficht Feuerbach 
zeigte einen jo düfteren Exnft, daß niemand ihn 
mit einer Anrede zu beläftigen wagte; fein macht- 
volles Auge blickte brennend nad) innen, die Lippen 
waren gleichjam aufeinander geballt, auf der Stirn 
lag eine von Nachdenken zitternde ſenkrechte alte. 
Das Schweigen wurde vom Vürgermeifter mit 
der Frage unterbrochen, ob Erzellenz nicht geruhen 
wolle, das Mittagefjen in feinem Haus zu nehmen. 
Feuerbach dankte; dringende Gejchäfte nötigten 
ihn zu fofortiger Rückkehr nach Ansbach, ent 
gegnete er. Darauf wandte er fich an Daumer, 
veichte ihm die Hand umd fagte: „Sorgen Sie 
fogleich für die Weberfieblung des Haufer; der 
46 


arme Menfch braucht dringend Ruhe und Pflege. 
Sie werden bald von mir hören. Gott befohlen, 
meine Herren!" 

Damit entfernte er ſich in rafchen, Heinen, 
ftampfenden Schritten, eilte den Sig! hinab und 
derſchwand alsbald gegen die Sebalderficche, Die 
Zurüchleibenden machten etwas enttäufchte Mienen. 
Da fie alle überzeugt waren, daß der Scharffinn 
dieſes Mannes ohne Grenzen ſei und daß fein 
andres als fein Auge das Dunkel durchdringen 
tönne, welches über Untat und Verbrechen brütete, 
waren fie verjtimmt über eine Schweigfamleit, 
die ihnen beabjichtigt und planvoll erfchien. 

Am Abend befand ſich Caſpar in der Woh- 
nung Daumers. 


Der Spiegel fpricht 


Das Daumerfhe Haus lag neben dem jo- 
genannten Annengärtlein auf der Inſel Schütt; 
es mar ein altes Gebäude mit vielen Winkeln 
und halbfinftern Kammern, doch erhielt Cafpar 
ein ziemlich geräumiged und mohleingerichtetes 
Zimmer gegen den Fluß hinaus. 

Er mußte fogleich zu Bett gebracht werden. Es 
zeigten fich jest mit einem Schlag Die Folgen ber 
jüngftdurchlebten Zeit. Er war wieder ohne 
Sprache, ja bisweilen wie ohne Gefühl des Lebens. 
Auf den ungewohnten Kiffen warf ex fich fiebernd 
herum. Wie jammervoll, ihn bei jedem Knacken 
der Dielen erſchaudern zu jehen; auch das Ge 
räufch des Regens an den Fenjtern verfegte ihn 
in aufgewühlte Bangnis. Er hörte die Schritte, 
die auf dem weiten Plab vor dem Haus ver- 

47 


allten, er vernahm mit Unruhe die metallenen 
läge aus einer fernen Schmiede, jeder Stimmen- 
lärm brachte auf feiner ten mt 
ein Zeichen des Schmerzes hervor; und von 
ment zu Moment vertaufchten fine Büge den 
Ausdrud der Erſchöpfung mit dem gepeinigter 
Badjamteit, 

Drei Tage lang wich Daumer kaum von 
feinem Bett. Diefe Opferkraft und Hingebung 
erregte die Bewunderung der Seinen. „Er muß 
mir leben,“ fagte er. Und Caſpar fing an zu 
leben. Vom dritten Tag ab Defferte A fein 
Zuftand ftetig und ſchnell. Als er am Morgen 
erwachte, lag ein befinnendes Lächeln auf feinen 
Lippen. Daumer triumphierte 

„Du tuft ja, als ob du ſelbſt dem Kerker 
entronnen wärft,“ meinte feine Schmeiter, die nicht 
umbin konnte, an feiner Freude teilzunehmen. 

„Ja, und ich habe eine Welt zum Gefchent 
erhalten," antwortete er lebhaft; „fieh ihm nur 
an! Es it ein Menfchenfrühling." 

Am andern Tag durfte Cafpar das Bett ver- 
laſſen. Daumer führte ihn in den Garten. Da- 
mit das grelle Tageslicht feinen Augen nicht ſchade, 
band er ihm einen grünen Papierſchirm um die 
Stirn. Späterhin wurden die Dämmerungszeit 
ober die Stunden bewölften Himmels für dieſe 
Ausgänge Dorgeangen. 

waren ja Reifen, und nicht geichah, was 
nicht zum Ereignis wurde. Welche Mühe, ihn 
fehen, ihn das Gefehene nennen zu lehren, € 
mußte erft zu den Dingen Vertrauen gewinnen, 
und ehe nicht ihre Wirklichteit ihm felbjtverftänd- 
lich ward, machte ihn ihre unvermutete Nähe bes 
ftürzt. Als er endlich die Höhe des Himmels 
48 


unb auf ber Exde die Entfernung von Weg zu 
Weg begriff, wurde fein Gang ein wenig leichter 
und fein Schritt mutiger. Alles lag am Mut, 
alles lag daran, den it zu Träftigen. 

Das ift die Luft, Caſpar; du kannſt fie nicht 
greifen, aber d ift da; wenn fie fich bemegt, 
wird fie zum Wind, du brauchit den Wind nicht 
zu fürchten. Was hinter der Nacht Liegt, Hi 
geftern; was über der nächſten Nacht liegt, iſt 
morgen. Von geftern bis morgen vergeht Zeit, 
vergehen Stunden, Stunden find geteilte Zeit. 
Dies ift ein Baum, dies ift ein Strauch, hier 
Gras, hier Steine, dort Sand, da find Blätter, 
da Blüten, da Früchte... 

Aus dem dumpfen Hören heraus erwuchs 
das Wort. Die Form wurde einleuchtenb durch 
das Anvergeßliche Wort. Caſpar ſchmeckt das 
Wort auf der Zunge, er fpürt e8 bitter oder füß, 
e3 fättigt ihn oder läßt ihn unzufrieden. Auch 
hatten viele Worte Gefichter; oder fie tönten wie 
Glodenfchläge aus der Dunkelheit; oder fie ftan« 
den wie Flammen in einem Nebel, 

Es war ein langer Weg vom Ding bis zum 
Wort. Das Wort lief davon, man mußte nach 
laufen, und hatte man es endlich erwifcht, fo war 
es eigentlich gar nicht3 und machte einen traurig. 
Gleichwohl führte derfelbe Weg auch zu den 
Menſchen; ja, es war, als ob die Menfchen hinter 
einem Gitter von Worten ftünden, das ihre Züge 
fremd und fehrecflich machte; wenn man aber das 
Gitter zerriß oder dahinter kam, waren fie ſchön. 

‚ Hatte es am Morgen neu geklungen, zu fagen: 
die Blume, am Mittag war es ſchon vertraut, 
am Abend war es ſchon alt. „Dies Herz, Dies 
Hirn, zur Fruchtbarkeit aufbewahrt durch lange 


Baffermann, Gafpar Haufer 4 40 


Zeiten, treibt wie vertrocneter und endlich be— 
feuchteter Humus Sprößlinge, Blüten und Früchte 
in einer Nacht," notierte der eißige Daumer; „was 
dem matten Blick der Gewohnheit unwahrnehm- 
bar geworden, erjcheint diefem Auge friſch wie aus 
Gottes Hand. Und mo die Welt verſchloſſen ift 
und ihre Geheimnifje beginnen, da fteht er noch 
feltfam drängend und fragt fein zuverfichtliches 
Warum. Nach jedem Schall und jedem Schein 
tappt dies zweifelnde, erſiaunte, hungrige, ehr⸗ 
furchtsloſe Warum.“ 

Es iſt nicht zu leugnen, Daumer war oft 
erſchreckt durch das — eignen Ungenügens. 
Sei t das noch Iehren? grübelte er, heißt das 

Gärtner jein, wenn das wilde Wachstum 
fh dem ileger entwinbet, da3 maßlos wuchernde 
Getriebe feine Grenze a het? Wie jol das enden? 
Zweifellos bin ich * einem ungewöhnlichen 
Phänomen auf der Spur und meine teuern Zeit⸗ 
SL en werden ſich berbeilafjen müfjen, ein wenig 
—* zu glauben. 
ch immer war es die liebſte Vorſtellung 
Parse] einft beimtehren zu u dürfen; „erſt lernen, 
dann heim,“ fagte er mit dem Ausdrud unbefieg- 
barer Entjchiedenheit. „Aber du bift ja zu Haufe, 
bier bei uns bift du zu Haufe,“ wandte Daumer 
ein. Aber Caſpar fchüttelte den Kopf. 

Bisweilen ftand er am Zaun und fah in den 
Nachbargarten siniber, wo Kinder fpielten, deren 
Wefen er mit komiſchem Befremden ftudierte. 

„So Heine Menfchen,” fagte er zu Daumer, ber 
ihn einmal dabei überrafchte, „jo eine Menſchen.“ 
Seine Stimme Hang traurig und höchft verwundert. 

Daumer unterdrücte ein Lächeln und wäh— 
rend fie zufammen in? Haus gingen, fuchte er 
50 . 


ihm klarzumachen, daß jeder Menfch einmal 
fo Hein geweſen, auch Gafpar jelbft. Caſpar 
wollte daS durchaus nicht zugeben. „O nein, 
o nein,“ rief er aus, „Caſpar nicht, Cafpar 
immer jo gewefen wie jet, Cafpar nie jo kurze 
Arme und Beine gehabt, o nein!“ 

Dennoch jei dem jo, verficherte Daumer; nicht 
allein, daß er Hein geweſen, fonbern er wachſe 
ja noch täglich, verändere fich täglich, fei_beute 
ein ganz andrer als der Haufer auf dem Turm, 
und nad vielen Jahren werde er alt werden, 
feine Haare würden weiß fein, die Haut voller 
Runzeln. 

Da wurde Caſpar blaß vor Furcht; er fing 
an zu ſchluchzen und ſtotterte, das ſei nicht mög- 
lich, er wolle es nicht, Daumer möge machen, dh 
es nicht gefchehe. 

Daumer flüfterte jeiner Schweiter etwas zu, 
diefe ging in den Garten und brachte nach kurzer 
Weile eine Roſenknoſpe, eine aufgeblühte und 
eine verwelfte Roſe mit herauf. Caſpar ftredte 
die Hand nach der vollblühenden aus, wandte 
fich aber gleich mit Efel ab, denn jo ſehr er die 
tote Farbe vor allen andern liebte, der heftige 
Geruh der Blume war ihm unangenehm. A 
ihm Daumer den Unterfchied der Lebensalter an 
Knofpe und Blüte erflären wollte, fagte Caſpar: 
„Das haft du doch felbft gemacht, es ift ja tot, 
& hat feine Augen und feine Beine.” 

„SH Hab’ es nicht gemacht," entgegnete 
Daumer, „es ift lebendig, es ift gemachjen; alles 
Lebendige ift_gewachjen.” 

„Mes Lebendige geraden, wiederholte 
Caſpar faft atemlos, indem er nach jedem Wort 
paufierte. Hier drohte Verwirrung. Auch bie 

1 


Bäume im Garten feienglebendig, fagte man ihm, 
und er getraute fich nicht, den Bäumen zu nahen, 
das Rauſchen ihrer Kronen machte ihn beftürzt. 
Er fuhr fort zu zweifeln und fragte, wer die 
vielen Blätter ausgefchnitten habe und warum? 
warum fo viele? Auch fie feien gewachſen, wurde 
geantwortet. 

Aber mitten auf dem Rafen ftand eine alte 
Sandfteinftatue, die follte tot fein, troßdem fie 
ausjah wie ein Menſch. Caſpar konnte jtunden- 
lang die Blicke nicht davon wenden, Verwunde⸗ 
rung machte ihn ftumm. „Warum hat e3 denn 
ein Geficht ?" fragte er endlich, „warum it es jo 
weiß und fo Fomusig? Warum fteht es immer 
und wird nicht müde?" 

Als feine Furcht befiegt war, ging er heran 
und wagte die Figur zu betaften, denn ohne zu 
taften, glaubte er nicht dem, was er ſah. Er 
hatte den heftigen Wunfch, das Ding auseinander 
nehmen zu dürfen, um zu wiſſen, was innen war. 
Wie viel war überall innen, wie viel ftectte überall 
dahinter! i 

Es fiel ein Apfel vom Zweig und rollte ein 
Stück des abjchüffigen Weges entlang. Daumer 
hob ihn auf, und Gafpar fragte, ob der Apfel 
möübe ſei, weil er fo fchnell gelaufen. Mit Grauen 
wandte er fich ab, als Daumer ein Mefjer nahm 
und die Frucht entzweifchnitt. Da warb ein 
Wurm fihtbar und Frümmte feinen dünnen Leib 
gegen das Licht. - 

„Er war bi8 jegt im Finftern gefangen wie 
du im Kerker,“ fagte Daumer. 

Das Wort machte Cafpar nachdenklich; es 
machte ihn nachdenklich und mißtrauifch. Wie 
viele8 war da im Kerfer, wovon er nicht wußte! 
52 


Alles Innen war ein Kerker. Und in wunder- 
licher Verworrenheit Inüpfte ſich an dieſen Ge- 
danken die Erinnerung an den Schlag, den er 
damals erhalten, nachdem ihn der Du gelehrt, 
wie man das Pferdchen frei bewegen könne. In 
allen fremden Dingen Iauerte ber Sag, in allen 
unbefannten wohnte Gefahr. Eine gewiſſe ſtrah⸗ 
lende Heiterkeit, die allmählich Caſpars Weſen 
entftrömte und die das Entzüden feiner Ums 
gebung bildete, war daher ftet3 an jene er- 
wartungsvolle, ahnungsvolle Bangigfeit gebunden. 
Nach regneriſchen Stunden mit Daumer aus 
dem Tor tretend, gewahrte Caſpar einen Regen⸗ 
bogen am Himmel. Er war ſiarr vor Freude. 
Wer das gemacht habe, ftammelte er endlich. 
Die Sonne. Wie, die Sonne? Die Sonne fei 
doch Fein Menſch. Die natürlichen Erflärungen 
ließen Daumer im Stich, er mußte fich auf — 
beruſen. „Gott iſt der Schöpfer der belebten 
und unbelebten Natur," ſagte er. 
Cafpar ſchwieg. Der Name Gottes Hang 
ihm feltfam düſter. Das Bild, das er dazu 
ph, gs dem Du, fah aus wie der Du, als 
ie Dede des Gefängnifjes auf feinen Schultern 
ruhte, war unheimlich verborgen mie der Du, 
als er den Schlag geführt, weil Gafpar zu laut 
geſprochen. 
Wie geheimnisvoll war alles, was zwiſchen 
Morgen und Abend geſchahl Das Regen und 
Raunen der Welt, das Fliegen des Waſſers im 
Fluß, das Ziehen luftig-dunkler Gegenftände hoch 
in der Luft, die man Wolfen nannte, das Vor» 
übergehen und Nichtwiederfommen undeutbarer 
Ereigniffe, und vor allem das Flüchten der Men- 
ſchen, ihre fehmerzlichen Gebärden, ihr lautes 
53 


Reden, ihr fonderbares Gelächter. Wie viel war 
da zu erfahren und zu lernen! 

Es ſchnürte Daumer das Herz zufammen, 
wenn er den üngling in tiefem Nachdenken ſah. 
Caſpar fehien dann wie erfroren, er hodte zu- 
fammengefauert da, feine Hände waren geballt 
und er hörte und fpürte nicht mehr, was um 
ihn vorging. 

Ja, es war zu folchen Zeiten eine vollftän- 
dige Dunkelheit um Cafpar, und nur, wenn er 
lange genug verſunken war, hüpfte aus der ze 
etwas wie ein Feuerfunken, und in der Bruſt 
begann eine undeutlih murmelnde Stimme zu 
beein Wenn der Funken wieder verloſch, tat 

ie äußere Welt wieder fund, aber eine 
went Unzufriedenheit hatte ſich Caſpars 
emãchtigt. 


„Wir müſſen einmal mit ihm hinaus aufs 
Land,“ ſagte Anna Daumer eines Tages, als 
der Bruder mit ihr darüber geſprochen. „Er 
braugt Berftreuung.“ 

n braucht Zerftreuung," gab Daumer 
lächelnd zu, „er ift zu gefammelt, daS ganze Welt- 
al laſtet noch auf feinem Gemüt." 

a es jein erjter Spasiergang fein wird, 
wäre e8 gut, die Sache möglichft ſtill zu unter 
nehmen, ſonſt find wieder alle Neugierigen bei 
der Hand," meinte die alte Frau Daumer. „Sie 
ſchwatzen ohnehin genug über ihn und über u: 

Daumer nidte. Er wünfchte nur, daß Hear 
von Tucher mit von ber Partie fei. 

Am erften Feiertag im September fand der 
Ausflug ftatt. Es war ſchon fünf Uhr nach⸗ 
mittags, als fie vom Haus aufbrahen, und da 
fie auf Gafpars langfame Gangart Rüdficht nehmen 


54 


mußten, gelangten fie erſt fpät ins Freie. Die 
begegnenden Leute blieben ftehen, um der Gejell- 
m nachzuſchauen, und oft hörte man bie 
ſtaunenden oder ſpöttiſchen Worte: „Das ift ja 
der Caſpar Haufer! Ei, der Findling! Wie fein 
er's treibt, wie nobel!" Denn Cafpar trug ein 
neue3 blaues Frädlein, ein modifches Gilet, feine 
Beine taten in meißfeidenen Strümpfen und die 
Schuhe hatten filberne Schnallen. 

Er ging zwischen den beiden Frauen und hatte 
ſorgſam acht auf den Weg, der nicht mehr wie 
ehedem vor feinen Bliden auf» und abwärts 
ſchwankte. Die Männer (eritten in gemeffener 
Entfernung binterdrein. Plößlich erhob Daumer 
den rechten Arm nach vorn, und gleich darauf 
blieb Cafpar ftehen und ſah fich fragend um. 

Erfreut und in Iiebevollem Ton rief ihm 
Daumer zu, weiterzugeben. Nach ein paar Hundert 
Schritten hob er wieder den Arm, und abermals 
blieb Caſpar ftehen und blidte fih um. 

„Was ift das? Was bedeutet das?“ fragte 
Herr von Tucher erftaunt. 

„Darüber gibt es feine Erklärung,“ antwortete 
Daumer voll ftillen Triumphes. „Wenn Sie wollen, 
Tann ich Ihnen noch viel Merkwürdigeres zeigen." 

„Hexerei wird doch wohl kaum im Spiele 
— meinte Herr von Tucher ein bißchen 
ironiſch. 

„Hexerei? Nein. Aber wie ſagt Hamlet: Es 
gibt mehr Dinge zwiſchen Himmel und Erde —“ 

„Alſo ſind Sie ſchon an den Grenzen der 
Schulweisheit angelangt?" unterbrach Herr von 
Tucher noch. immer mit Jronie. „Ich für meinen 
Teil ſchlage mich zu den Skeptifern. Wir werden 
ja ſehen.“ 

55 


are werden jehen,“ wiederholte Daumer 
lich. 
Nach oftmaligem kurzem Raften warb am 
Rand einer Wiefe Halt gemacht, und alle ließen 
fih im Gras nieder. Caſpar fchlief ſogleich 
ein; Anna breitete ein Tuch über fein Geficht 
und padte fodann einige mitgebrachte Eßwaren 
aus einem Körbchen. Schweigend begannen alle 
vier zu efjen. Ein natürliches Schweigen war 
e3 nicht: der lieblich vergehende Tag, das fommer- 
liche Blühen forderten der zu heiteren Gejprächen 
auf, aber um den Schläfer lag ein eigner Bann, 
jeder fpürte die Gegenwart des Yünglings jebt 
ftärfer al8 vorher, und es hatte bei einigen gleich 
gültigen Nebensarten fein Bewenden, die leifer 
langen als felbft die Atemzüge des Schlummern- 
den. Weit und breit war fein Menfch zu fehen, 
da man abfichtlich einen felten begangenen Weg 
gewählt hatte. 

Die Sonne war am Sinken, als Caſpar er- 
wachte und, fich aufrichtend, die Freunde der 
Neihe nach dankbar und etwas befchämt anblickte. 
„Sieh nur hinüber, Caſpar, fieh den roten Feuer- 
ball,“ ſagte Daumer; „haft du die Sonne ſchon 
einmal fo groß gejehen ?" 

Caſpar fhaute hin. Es war ein ſchöner An- 
blick: Die purpurne Scheibe rollte herab, als zer- 
gänitte fie die Erde am Rand des Himmels; ein 

teer von Scharlachglut ftrömte ihr nach, die 
Lüfte waren entzündet, blutiges Geäder bezeich- 
nete einen Wald und rofige Schatten baufchten 
langſam über die Ebene. Nur noch wenige Mi- 
nuten, und ſchon zuckte die Dämmerung durch den 
fanften Rarmin des Nebels, in den die Ferne 
getaucht war, einen Augenblic lang bebte das Ge— 


56 


lände, umb geänteiftllene Strahlenbündel ſchoſſen 
über den Weften, der verfunfenen Sonne nad. 

Ein geifterhaftes Lächeln glitt über die Züge 
der beiden Männer und ber zwei Frauen, ald fe 
Cafpar mit einer Gebärde ftummer Angft binüber- 

reifen jahen gegen den Horigont. Daumer näherte 

I ihm und ergriff feine Hand, die eißfalt ges 
worden war. Caſpars Geficht wandte ſich er- 
zitternd ihm zu, voller Fragen, voller Zucht, und 
endlich bewegten fich die Lippen und er murmelte 
ſchüchiern: „Wo geht fie hin, die Sonne? Geht 
fie ganz fort?" 

Daumer vermochte nicht gleich zu antworten. 
So mag Adam vor feiner erſten Nacht im Para- 
dies gezittert haben, dachte er, und es geſchah 
nicht ohne Schauder, nicht ohne feltfame Ungewiß- 
beit, daß er den Jüngling tröftete, ihn der Wieder: 
kunft der Sonne verficherte. 

„Iſt dort Gott?" fragte Caſpar hauchend, 
„it die Sonne Gott?" 

Daumer deutete mit dem Arm weit ringsum 
und erwiderte: „Alles ift Gott." 

Indeſſen mochte ein jolches Diktum pantheifti- 
ſcher PHilofophie für die Auffafjungsgabe des 

ünglings ein wenig zu verwidelt fein. Er 
jchüttelte ungläubig den Kopf, dann fagte er mit 
dem Ausdruck dumpf⸗ abgöttiſcher Verehrung: 
„Caſpar liebt die Sonne.“ 

[uf dem Heimmeg war er ganz fhumm; auch 
die übrigen, ſelbſt die immer wohlgelaunte Anna, 
waren in einer wunderlich gedrüdten Stimmung, 
als wären fie nie zuvor durch einen fpätfommer- 
lichen Abend gemwandert, oder als fühlten fie den 
Auftritt voraus, der ihnen das Beifammenfein 
dieſer Stunden unvergeplich machen follte. 

57 


Kurz vor dem Stadttor nämlich blieb Anna 
ftehen und deutete mit einem Zuruf an alle in 
da3 herrlich geftiente Firmament. Auch Cafpar 
blickte hinauf, er erftaunte maßlos. Kleine, jähe, 
wirre Laute eines Teidenfchaftlichen Entzückens 
Tamen aus feinem Mund. „Sterne, Sterne," 
ftammelte ex, das gehörte Wort von Annas Lippen 
taubend. Er preßte die Hände gegen die Bruft, 
und ein umbefchreibtich feliges Lächeln verfchönte 
feine Züge. Er konnte fich nicht fattfehen; immer 
wieder fehrte er zum Anfchauen des Glanzes 
zurüd, und aus feinen feufzerartig abgebrochenen 
Worten war vernehmbar, daß er die Sterngruppen 
und die ausgezeichnet hellen Sterne bemerkte. Er 
fragte mit einem Ton des Außerfichjeins, mer 

ie vielen ſchönen Lichter da hinaufbringe, an- 
zünde und wieder verlöfche. 

Daumer antwortete ihm, daß fie beftändig 
leuchteten, jedoch nicht immer gefehen würben; 
da fragte er, wer fie zuerſt hinaufgeſetzt, daß fie 
immerfort brennten. 

Ploͤtzlich fiel er in tiefe Grübelei. Ex blieb 
eine Weile mit gejenktem Kopf ftehen und fah 
und hörte nichts. ALS er wieder zu fich kam, 
hatte fich feine Freude in Schwermut verwandelt, 
ex ließ fich auf den Raſen nieder und brad) in 
Tanges, nicht zu ftillendes Weinen aus. 

Es war weit über neun Uhr, als fie endlich nad} 
—* gelangten. Während Caſpar mit den Frauen 

jinaufging, nahm Herr von Tucher am Garten» 
tor von Daumer Abſchied. „Was mag in ihm vor⸗ 

egangen fein?“ meinteer. Und da Daumer ſchwieg, 
m r er finnend fort: „Wielleicht fpürt er ſchon die 
Unmiederbringlicheit der Jahre; vielleicht zeigt 
ihm die Vergangenheit ſchon ihre wahre Geftalt.“ 
58 


„Ohne Bweifel war es ihm ein Schmerz, das 
beglängte Gewölbe zu ſchauen,“ antwortete Daumer; 
„nie zuvor hat er den Blick zum nächtlichen Himmel 
erheben können. Ihm zeigt die Natur kein freund⸗ 
liches Antlitz, und von ihrer fogenannten Güte 
hat er wenig erfahren.“ 

Eine Beitlang ſchwiegen fie, dann fagte Daumer: 
„Sch habe für morgen nachmittag einige Freunde 
und Bekannte zu mir gebeten. Es handelt fich 
um eine Reihe von böchft intereffanten Erfahrungen 
und Beobahtungen, die ich an Caſpar gemacht 
habe. Ich würde mich freuen, wenn Sie babei 
fein wollten.” 

Herr von Tucher verfprach zu kommen. Zu 
feiner Verwunderung ward er, als er am andern 
Tag etwas verjpätet erfchien, in eine vollſtändig 
verfinfterte Kammer geführt. Die Produktion hatte 
ſchon begonnen. Von irgendeinem Winkel her 
vernahm man Cafpars eintönige Stimme leſend. 
„Es ift eine Seite aus der Bibel, die der Herr 
Stadtbibliothefar aufgefchlagen hat," flüfterte 
Daumer Herrn von Tucher zu. Die Dunkelheit war 
3 groß, daß die Zuhörer einander nicht gewahren 
onnten, trotzdem las Caſpar unbeirrt, als ob ſeine 
Augen ſelbſt eine Quelle des Lichtes ſeien. 

Man war erſtaunt. Man wurde es noch mehr, 
als Caſpar in der gleichen Dunkelheit die Farben 
berfiichener Gegenftände unterfcheiden Tonnte, die 
bald der eine, bald der andre von den Anmefen- 
den — um jeden Verdacht einer Verabredung 
oder Vorbereitung auszufchließen — ihm auf eine 
Entfernung von fünf oder ſechs Schritten vorhielt. 

Ich will jeßt die Weinprobe machen," jagte 
Daumer und öffnete die Läden. Gaipat preßte 
die Hände vor die Augen und brauchte lange Zeit, 

5 


bis er das Licht ertragen konnte. Jemand brachte 
Wein im umbunchfi en Glas, und Caſpar roch 
e3 nicht nur fogleich, jondern e3 zeigten ſich auch 
die Merkmale einer leichten Trunfenheit: feine 
Blicke flimmerten, A Mund verzog fi ſchief. 
Konnte das mit rechten Dingen Zugehen War 
folche Empfindlichkeit Denkbar oder möglih? Man 
wiederholte den Verſuch zweimal, dreimal, und 
fiehe, die Wirkung verftärkte fi. Beim vierten- 
mal wurde draußen Wafler ind Glas gegofien, 
und nun fagte Gafpat, er fpüre nichts. 

Doc viel wunderbarer war zu beobachten, 
wie er ſich gegen Metalle verhielt. Ein Herr ver⸗ 
ftedte, während Caſpar das Zimmer verlaffen 
hatte, ein Stück Kupferblech. Caſpar ward herein- 
gerufen, und alle verfolgten mit Spannung, wie 
er zu dem Verſteck förmlich hingezogen wurde ; 
es jah aus, wie wenn ein Hund ein Stück Fit 
erſchnuppert. Er fand e8, man Hatfchte Beifall, 
man achtete nicht darauf, daß er blaß war und 
mit kühlem Schweiß bededt. Nur Here von 
Tucher bemerkte es und mißbilligte das Treiben. 

Es hatte natürlich nicht bei dieſem einen 
Mal fein Bewenden. Die Sache redete fich fchnell 
herum, und das Haus wurde zum Mufeum. Alles, 
was Namen und Anfehen in der Stadt hatte, 
lief herzu, und Cafpar mußte immer bereit fein, 
immer tun, was man von ihm haben wollte. 
Wenn er müde war, durfte er jchlafen, aber wenn 
ex ſchlief, unterfuchten fie die Feſtigkeit feines 
Schlafes, und Daumer ſchwamm in Glüd, wenn 
der Herr Medizinalrat Rehbein behauptete, eine 
derartige Verfteinerung des Schlummer8 habe er 
nie für möglich gehalten. 

Selbſt gewiſffe Erankhafte Zuftände feines 
60 


Körper3 gaben Daumer Anlaß zur Vorführun— 
oder mwenigftend zum Studium. Er fuchte duch 
hypnotiſche Berührungen und mesmeriſtiſche Strei« 
Hungen Einfluß zu nehmen, denn er war ein 
glühender Verfechter jener damals nagelneuen Theo⸗ 
rien, die mit der Seele des Mengen hantierten 
wie ein Alchimiſt mit dem wohlbekannten Inhalt 
einer Retorie. Oder wenn auch dies nichts half, 
wandte er Heilmittel von einer befonderen Kategorie 
an, erprobte die Wirkungen von Arnifa und Ako— 
nitum und Nur vomica; immer befliffen, immer 
erfüllt von einer Miffton, immer mit dem Notizen⸗ 
zettel in der Hand, immer in rührender Obforge. 
Was für feriöfe Spiele! Welch ein Eifer, zu 
bemeifen, zu deuten, das Sonnenllare dunkel zu 
machen, das Einfache zu verwirten! Das Pu- 
blitum gab fich rebliche Mühe im Glauben, nad) 
allen Windrichtungen wurden die anfcheinenden 
Zaubereien auspoſaunt — nicht zum Vorteil unfer3 
Caſpar, keineswegs zu feinem Heil, wie fich bald 
berausftellen follte —, aber leider gibt es überall 
verwerfliche Kreaturen, die. noch zweifeln würden 
und wenn man ihnen die Skepſis überm Eſſen⸗ 
feuer ausräuchern würde. Vielleicht wollten fie 
jedesmal etwas Neues vorgefegt bekommen, ſchraub⸗ 
ten ihre Erwartungen zu hoch und fanden, daß 
der Wundermann nur in feinen eingelernten 
Paradeftückhen exzellierte, in denen er allerdings, 
jo drüdten fie ſich aus, etwas von der Fertigkeit 
eines dreſſierten Aeffchens an den Tag legte. 
Mit einem Wort, da Programm wurde ein 
wenig einförmig, höchſtens Neulinge Tonnten ihm 
noch Geſchmack abgewinnen. Die andern erblicten 
in Daumer etwas wie einen Zirkusdireltor oder 
einen Literaten, der feine Freunde mit der beftändig 


61 


wiederholten Borlefung eines mittelmäßigen Poems 
langweilt, während über Gafpar ſich zu amüfteren 
fie immerhin noch genug Gelegenheit fanden. 

Oder war e3 nicht amüjant, wenn er zum 
Beiſpiel einen hohen Offizier tadelte, daß fein 
Rockkragen beftäubt war, wenn er mit dem Finger 
das Haupt eines ehrwürdigen Kammerdireltors 
berührte und mitleidig-verwundert fagte: „Weiße 

aare, weiße Haare?" Wenn er während der 

inweſenheit einer vornehmen Standesperfon nur 
darauf achtete, wie diefe den Stock zwifchen den 
Fingern baumeln ließ, und es auch fo machen 
wollte, wenn er feinen Efel gegen den ſchwarzen 
Bart des Magiftratsrats Behold äußerte ober fich 
weigerte, einer Dame die Hand zu füfjen, indem 
ex jagte, man müſſe ja nicht hineinbeißen ? 

Durch ſolche Heine Zwiſchenfälle hielten fie 
fi für belohnt. Wenn man lachen konnte, war 
alles gut. Hingegen Daumer ärgerte ſich dar- 
über und fuchte ihm die Pflichten der Höflichkeit 
Segreitich zu maden. „Du vergißt ftet3, die 
Anlömmlinge zu begrüßen,“ fagte Daumer. In 
der Tat blickte Cafpar, in ein Buch oder Spiel 
verſenkt, erft empor, wenn man ihn anrief, bis⸗ 
weilen, wenn er ein befanntes.oder liebgewordenes 
Geſicht ſah, mit einem berüdend fchelmifchen 
Lächeln, und fing dann ohne Einleitung an zu 
fragen und zu plaudern. Mochten noch % wich. 
tige Perſonen gegegen fein, er verließ nie feinen 
Platz, ohne alle Dinge, mit denen er beichäftigt 
geweſen, forgfältig in Ordnung zu bringen un 
mit einem kleinen Befen den Tiſch von Papier- 
ſchnitzeln oder Brotkrumen zu reinigen. Man 
mußte warten, bis er fertig war. 

Er war ohne Schüchternheit. Alle Menſchen 
62 


ſchienen ihm gut, faſt alle hielt er für ſchön. Er 
fand es jelbjtoerftändlih, wenn ſich irgendein 
Herr vor ihn hinftellte und ihm aus einem bereit- 
gehaltenen Zettel endlos viele Namen oder endlos 
viele Zahlen vorlas. Sein Gedächtnis ließ ihn 
nicht im Stich, er konnte in der gleichen Reihen- 
folge Namen für Namen, Zahl Ar Bahl, und 
waren e3 hundert, wiederholen. Am Erſtaunen 
der Leute merkte er wohl, daß er Staunenswertes 
geleiftet, aber kein Schimmer von Eitelfeit zog 
über fein Geficht, nur ein wenig traurig wurde 
es, wenn immer dasfelbe kam, wenn fie nie zu» 
frieden jchienen. 

Er konnte es nicht verftehen, daß ihnen 
mwunberbar war, was ihm jo natürlich war. Aber 
was ihm wunderbar war, darum kümmerte fich 
teiner. Ex vermochte es Sc u jagen, e8 wur 
zelte im verborgenften Gel in Es war eine 
kaum gejpürte Frage, am Morgen, beim Er— 
wachen etwa, ein hajtiges, ftummes, verzmeifeltes 
Suden, wofür es feine Bezeichnung gab. Es 
lag weit zurüd; es war mit ihm verknüpft und 
ex befaß es doch nicht. Es war etwas mit ihm 
vorgegangen, irgendwo, irgendwann, und er 
mußt es nicht. Er taftete an ſich herum, er 
fand fich jelber kaum. fagte ‚Safpar‘ zu fi 
jelbft, aber das dort in der Ferne hörte nicht 
auf diefen Namen, So band fich die Erwartung 
an ein Neußeres; wenn die Uhr im andern 
Bimmer tönte, welch fonderbare Erwartung von 
Schlag zu Schlag! Als ob eine Mauer Pr aufs 
löfen, zu Luft vergehen müßte. Die eben ver- 
gangene Nacht war voll ungreifbarer Dorgänge 
gemefen, Hatte es am Fenſter gepocht?. Nein, 

ar jemand dageweſen, hatte gejprochen, ge— 
63 


rufen, gedroht? Nein. Es war etwas gejchehen, 
doch Cafpar hatte nichts damit zu tun. 

Unergründliche Sorge. Man mußte lernen, 
vielleicht wurde es dann Far. Lernen, wie alles 
beftand, lernen, was in der Nacht verborgen 
war, wenn man nicht lebte und dennoch ſpürte, 
das Unbelannte lernen, erhafchen, was fo fern, 
wiſſen, was fo dunkel war, die Menjchen fragen 
lernen. Sein Eifer bei den Büchern murde 
glühend. Er begann Ungebuld zu zeigen, wenn 
er von den fremden Beſuchern fich immer wieder 
empfindlich geftört fand, denn jetzt kamen bie 
Leute ſchon von auswärts, weil allentyalben im 
Land über Caſpar ‚Saufer geredet und geörieben 
wurde. Auch Daumer Tonnte ſich der Anfprüche, 
die an ihn geftellt wurden, faum erwehren. Er war 
oft mißgelaunt und matt, und e8 gab Stunden, wo 
ex bereute, Caſpar der Welt preisgegeben zu haben. 

Es gab Stunden, wo er, allein mit dem 
Jüngling, fich feiner befferen Würde erinnerte 
und diejem jeltiam Leibeigenen, Seeleneigenen 
ſich tiefer anſchloß, als der anfängliche Zweck 
gewollt. Es gab eine Stunde, mo Daumer_eines 
paradieſiſchen Bildes gewahr wurde: Cajpar 
im Garten, auf der Bank fiend, ein Bud in 
der Hand; Schwalben ziehen ihre Zickzackreife 
um ihn, Tauben picken vor feinen Füßen, ein 
Schmetterling ruht auf feiner Schulter, die Haus- 
Tage fchnurrt an feinem Arm. In ihm ift bie 
Menſchheit frei von Sünde, fagte fih Daumer 
bei diefem Anblid, und was wäre fonft zu leiften, 
als einen ſolchen Zuftand zu erhalten? Was 
wäre hier noch zu enträtjeln, was zu verkünden? 

Eines andern Tages erhob ſich im Nachbar- 
garten großer Lärm. Ein bifjiger Hund hatte 
64 


feine Kette zerriffen und rafte, Schaum vor dem 
Maul, in wilden Sprüngen umher, überrannte 
ein Kind, fchlug einem Knecht, der ihn. verfolgte, 
die Zähne ins Fleifh und ftürzte gm en 
Zaun des Daumerfchen Gartens. Cine Latte 
krachte unter dem Anprall, das Tier fchlüpfte 
berüber und richtete die blutunterlaufenen Augen 
wild auf die kleine Geſellſchaft, die unter . 
Linde faß: Daumer jelbit, deſfen Mutter, der 
Bürgermeifter Binder und Cafpar. Alle ftanden 
ängftlich auf, Binder erhob den Stod, das Tier 
madhte einige Sätze, blieb aber auf einmal ftehen, 
fchnupperte, trabte auf Caſpar zu, ber bleich und 
ftille ſaß, wedelte mit dem Schweif und leckte die 
herabhängende Hand des Jünglings. Mit einem 
lodernden ungewiſſen Blick ſah e3 ihn an, voll 
Ergebenheit faft, eine Zärtlichkeit erwartend, und 
e3 war, als erbitte e8 Verzeihung. Denjelben 
ungemwifjen und ergebenen Ausdrud hatte auch 
Gabber im Auge; ihn jammerte der Hund, er 
mußte nicht warum. 

Man erzählte fih, daß Daumer nach diefem 
Auftritt gemeint habe. 

Zwei Tage fpäter, an einem regnerifchen 
DOftoberabend, war es, daß ſich Daumer mit 
feiner Mutter und Cafpar im Wohnzimmer be- 
fand. Anna war zu einer Unterhaltung in bie 
Reunion gegangen, die alte Dame ſaß jtridend 
im Lehnſtuhl am offenen Fenſter, denn troß der 
vorgerückten Jahreszeit war die Luft warm und 
voll des feuchten Geruch verwelfender Pflanzen. 
Da wurde an die Türe geflopft, und der Glafer- 
meifter brachte einen großen Wandfpiegel, den 
die Magd in der vergangenen Woche zerbrochen 
hatte. Frau Daumer hieß ihn den Spiegel gegen 


BWaffermann, Gafpar Haufer 5 65 


die Mauer lehnen, das tat der Mann und ent- 
fernte fich wieder. 

Kaum, war er draußen, fo fragte Daumer 
verwundert, warum fie den Spiegel nicht gleich 
an jeinen Blah habe hängen lafjen, man hätte 
dann doch bie Arbeit für morgen erfpart. Die 
alte Dame erwiderte mit verlegenem Lächeln, am 
Abend dürfe man feinen Spiegel aufhängen, das 
bedeute Unheil. Daumer bejaß nicht genug Su 
mor für derlei halbernfte Grillen; er machte 
Mutter Vorwürfe wegen ihres Aberglaubeng, fie 
widerſprach, und da geriet er in Zorn, das heißt 
er fprac mit feiner janfteften Stimme zwiſchen 
die geiölofienen Zähne hindurch. 

par, der e8 nicht fehen konnte, wenn 
Daumers Geficht unfreundlich wurde, Iegte den 
Arm um deſſen Schulter und fuchte ihn mit 
Eindliher Schmeichelei zu begütigen. Daumer 
ſchlug die Auge en nieder, ſchwieg eine Weile und 
jagte dann, völlig beichämt: „Geh hin zur Mutter, 
Caſpar, und ſag ihr, daß ich im Unrecht bin,“ 

Caſpar nicte; ohne recht zu überlegen, trat er 

vor sie Frau hin und fagte: se bin im Unrecht.” 

Da lachte Daumer. „Nicht du, Cafpar! Ich!" 
tief er und deutete auf jeine Bruft. „ enn Caſpar 
im Unrecht iſt, darf er ſagen: ich —— e zu die: 
du, aber du fagft doch zu dir: ich. Verſtanden?“ 

Caſpars Augen wurden groß und nachdenf- 
lich, Das Wörthen Ich durchrann ihn plögfich 
” ein fremdartig ſchmeckender Trank. Es nahten 

ch ihm viele Hunderte von Geftalten, e3 nahte 

hd eine ganze Stadt voll Menjchen, Männer, 

tauen und Kinder, es nahten fi Fir die Tiere auf 
dem Boden, die Vögel in der die Blumen, 
die Bolten, die Steme, ja die Sonne jelbft, und 
66 


alle miteinander fagten zu ihm: Du. Er aber 
antwortete mit zaghafter Stimme: Ich. 

Er faßte fich mit flachen Händen an die Bruft 
und ließ die Hände heruntergleiten bis über die 
Hüften: fein Leib, eine Wand zwifchen Innen und 
Außen, eine Mauer zwifchen Ich und Dul 

In demfelben Augenblick tauchte aus dem Spies 
& dem gegenüber er ſtand, fein eignes Bild empor. 

i, dachte er ein wenig beftürzt, wer ift das? 

Natürlich war er ſchon oft an Spiegeln vor- 
beigegangen, aber fein von ben’ vielen Dingen 
der vielgefichtigen Welt geblendeter Blick war 
mitvorbeigegangen, ohne zu meilen, ohne zu 
denken, und er hatte fi) daran gewöhnt wie an 
den Schatten auf der Erde. Ein Ungefähr, das 
ihn nicht hemmte, konnte nicht zum Erlebnis werden. 

Jeizt war fein Auge reif für diefe Viſion. 
Er ſah hin. „Caſpar,“ Tifpelte er. Das Drinnen 
antwortete: Ich. Da waren Cafpars Mund und 
Wangen und die braunen Haare, die über Stirn 
und Ohren gefräufelt waren. Nähertretend, 
ſchaute er in fpielerifchezweifelnder Neugier hinter 
den Spiegel gegen die Mauer; dort war nichts, 
Dann jtellte er fich wieder davor, und nun ſchien 
ihm, al8 ob hinter feinem Bild im Spiegel fich 
das Licht zerteile und als ob ein langer, Tanger 
Pfad nad) rückwärts lief, und dort, in der weiten 
Ferne ftand noch ein Gafpar, noch ein Ich, das hatte 
zugeſchloſſene Augen und fah aus, als wiſſe es etwas, 
mas der Caſpar hier im Zimmer nicht wußte. 

Daumer, gewohnt, daS Betragen des Jüng- 
lings zu beobachten, lauerte gejpannt herüber. 
Da — ein feltfames Geräuſch; es ſurrte etwas 
in der Luft und fiel neben dem Tiſch zu Boden. 
Es war ein Stüd Papier, das von draußen 

67 


bereingeflogen war. Frau Daumer hob e8 auf; 
es mar wie ein Brief zufammengefaltet. Un: 
ſchlüſſig drehte fie e8 zwilchen den Fingern und 
reichte es dem Sohn. 

Der riß es auf und las folgende, mit großer 
Schrift geichriebene Worte: „ES wird gewarnt 
das Haus und wird gewarnt der Herr und wird 
gewarnt der Fremde." . 

Frau Daumer hatte ſich erhoben und las mit; 
ein Fröfteln lief über ihre Schultern. Daumer jedoch, 
indes er fchweigend auf den Zettel ftarrte, hatte 
das Gefühl, als fei vor feinen Füßen ein Schwert, 
die Spie nach oben, aus der Erde gemachien. 

Cafpar hatte von dem Vorgang nicht das 
mindefte wahrgenommen. Er verließ den Platz 
vor dem Spiegel und ging wie geiſtesabweſend 
an ben beiden vorüber zum Fenfter. Dort ftand 
er befinnend, beugte fich bejinnend vor, immer 
weiter, völlig felbftvergeffen, ganz vom Willen 
des Suchens erfült, bi8 die Bruft auf dem 
— lag und ſeine Stirn in die Nacht hinaus 
tauchte. 


Caſpar träumt 


Am andern Morgen übergab Daumer das 
unheimliche Papier der Polizeibehörde. Es wur: 
den Nachforſchungen angeftellt, die aber natürlich 

uchtlos blieben. Der Vorfall wurde auch amt» 
ich an das Appellationsgericht gemeldet, und 
nach einiger Zeit fchrieb der Regierungsrat Her- 
mann, der mit dem Baron Tucher befreundet 
war, an biefen einen Privatbrief, in welchem er 
unter anderm die Meinung vertrat, man folle 
68 


nicht —8 den Hauſer ſcharf zu bewachen 
und auszuforſchen, denn es ſei wohl möglich, daß 
er durch eine tiefeingepflanzte Furcht gezwungen 
ſei, manches ihm befannte Verhältnis zu ver- 
ſchweigen. 

Herr von Tucher ſuchte Daumer auf und las 
dieſe Stelle vor. Daumer konnte ein ſpöt⸗ 

e8 Lächeln nicht unterdrüdten. „ bin mir 
Bir I bewußt, daß ein Myſterium, von Menſchen ⸗ 
hand gewoben, hinter allem dem liegt, was mit 
Caſpar zuſammenhängt,“ ſagte er mit leiſem 

idermillen, „ganz abgejehen davon, daß mir 
audı der Präfident a] unlängft darüber 
ſchrieben hat, und zwar in höchft eigentümlichen 
— die auf etwas Beſonderes ſchließen 
laſſen. Aber was heißt das: ihn ausforfchen, 
ihn bewadhen? Hat man darin nicht ſchon 1% 
Aeußerfte verjucht? Aerztlich E Boriht und menſch⸗ 
liches Gefühl befehlen mi jet ohnehin ir 
äußerfte Behutfamkeit gegen ihn. wage es 
ja kaum, ihn, —F der einfachen Koſt zu ent⸗ 
wöhnen und i u ernähren, wie es durch 
die veränderte —F lage bedingt iſt.“ 

„Warum wagen Sie das nis fragte Herr 
von Tucher ziemlich erftaunt. „Wir find Doch 
übereingelommen, ihn endlich zum Genuß von 
Fleifh oder wenigftens von andern gelochten 
Speifen zu bringen?“ 

Daumer zögerte mit der Antwort. „Milch 
reis und warme Suppe verträgt er ſchon ganz 
gut," fagte er dann, „aber zur Fleiſchkoſt will 
ich ihm nicht ermuntern.“ 

„Warum nicht?“ 

Ich fürchte Kräfte zu zerftören, die vielleicht 
gerade an die Reinheit des Blutes gebunden find.* 

[2 


„Kräfte zeritören? Was für Kräfte vermöchten 
ihn und uns für die Gefundheit des Leibes und 
die Friſche feines Gemuts zu entjchädigen? Wäre 
es nicht vielmehr ratfam, ihn von der Richtung 
des Außerordentlichen abzulenken, die ihm früher 
oder fpäter Berhängnisnoll werben muß? Iſt e8 
gut, einen andern Maßftab an ihn zu legen als 
e3 einer natürlichen Erziehung entjpricht? Was 
wollen Sie überhaupt, was haben Sie mit ihm 
vor? Caſpar ift ein Kind, das dürfen wir nicht 
vergeffen." , 

„Er ift ein Mirakel,“ entgegnete Daumer 
baftig und ergeiffen; dann, in einem halb be- 
(ehrenden, halb bitteren Ton, der für einen Welt- 
mann wie Tucher verlegend klingen mußte, fuhr 
er fort: „Leider leben wir in einer Zeit, in der 
man mit jedem Hinweis uf Unerforfchliches den 
plumpen Alltagsverftand beleidigt. Sonft müßte 
jeder an diefem Menfchen fehen und fpüren, daß 
wir rings von geheimnisvollen Mächten der Natur 
umgeben find, in denen unfer ganzes Wefen ruht.” 

‚Here von Tucher ſchwieg eine Zeitlang; fein 
Geficht Hatte den Ausdruck abmehrenden Stolzes, 
als er ſagte: „Es ift befier, eine Wirklichkeit 
völlig zu ergreifen und ihr völlig genugzutun, 
als mit fruchtlofem Enthufiasmus im Nebel des 
Ueberfinnlichen zu irren.” 

„Rechtfertigt mich denn die Wirklichkeit noch 
nicht, auf die ich mich berufen Tann?" verſetzte 
Daumer, defien Stimme leifer und ſchmeichelnder 
wurde, je mehr das Geſpräch ihn erhitzte. „Muß 
ih Sie an Einzelheiten erinnern? Sind nicht 
Luft, Erde und Wafjer für diefen Menfchen noch 
von Dämonen bevölkert, mit denen er in leben⸗ 
diger Beziehung fteht?" 

70 


Baron Tuchers Gefiht wurde düfter. Ich 
fehe in allem dem nur die Folgen einer verderb⸗ 
lichen Ueberreiztheit,“ ſagte er kurz und fcharf. 
„Das find die Quellen nicht, aus denen Leben 

eboren wird, in ſolchen Formen Tann fich feine 

‚auchbarfeit bewähren!" 

Daumer duckte den Kopf, und in feinen 
Augen lag Ungebuld und Verachtung, doch ant⸗ 
wortete er im Ton nachgiebiger Freundlichkeit: 
„Wer weiß, Baron. Die Quellen de3 Lebens 
find unergründlich. Meine Hoffnungen wagen fi) 
weit hinauf und ich erwarte Dinge von unferm 

Caſpar, die Ihr Urteil ficherlich verändern werden. 
Aus diefem Stoff werden Genien gemacht." 

„Dan tut einem Menfchen ſtets unrecht, wenn 
man Erwartungen an jeine Zukunft knüpft,“ fagte 
Herr von Tucher mit trübem Lächeln. 

„Mag fein, mag fein, ich aber halte mid) an 
die Zukunft. Mich Tümmert nicht, was hinter 
ihm Tiegt, und was id) von feiner Vergangenheit 
weiß, ſoll mie nur dienen, ihn davon zu löfen. 
Das ift ja das hoffnungsvoll Wunderbare: daß 
man hier einmal ein Wefen ohne Vergangenheit 
bat, die ungebundene, unverpflichtete Kreatur vom 
erften Schöpfungstag, ganz Seele, ganz Inftinkt, 
ausgerüftet mit herrlichen Möglichkeiten, noch 
nicht verführt von der Schlange der Erkenntnis, 
ein Beuge für das Walten der geheimnisvollen 
Kräfte, deren Erforſchung die Aufgabe kommender 
Jahrhunderte ift. Mag fein, daß ich mic 
täufche, dann aber würde ich mich in der Menjch- 
heit getäufcht haben und meine Ideale für Lügen 
erflären milſſen.“ 

„Der Himmel bewahre Sie davor," ant- 
wortete Herr von Tucher und nahm eilig Abfchied. 


71 


Noch am felben Tag wurde Daumer durch 
feine Mutter aufmerkfam gemacht, daß Caſpars 
a nicht mehr fo ruhig fei wie fonft. Als 
Caſpar am andern Morgen ziemlich unerfrifcht 
zum Frühftüd kam, fragte ihn Daumer, ob er 
ſchlecht gejchlafen habe. 

Schledt geihlafen nicht," erwiderte Gafpar, 
„aber ich bin einmal aufgewacht und da war 
mir angft." 

„Wovor hatteft du denn Angſt?“ forjchte 
Daumer. 

„Bor dem Finſtern,“ entgegnete Cafpar, und 
bedächtig fügte er hinzu: „In Nacht fiht das 
Finftere auf der Lampe und brüllt.“ 

Den nãchſten Morgen kam er halbangefleidet 
aus feinem Schlafgemah in das Zimmer Dau- 
mers und erzählte beftürzt, es fei ein Mann bei 
ihm geweſen. Zuerſt erſchrak Daumer, dann 
wurde ihm klar, daß Caſpar geträumt habe. Er 
fragte, was für ein Mann es denn geweſen fei, 
und Cafpar antwortete, e3 fei ein grober höner 
Mann gemefen mit einem weißen Mantel. Ob 
der Mann mit ihm gefprochen? Caſpar ver- 
neinte; gefprochen habe er nicht, er habe einen 
Kranz getragen, den babe er auf den Tiſch ge 
legt, und als Caſpar danach gegriffen, habe der 
Kranz zu leuchten angefangen. 

„Du haft geträumt," ſagte Daumer. 

Cafpar wollte wiſſen, was daß heiße. „Wenn 
auch dein Körper ruht," erklärte Daumer, „jo wacht 
doch deine Seele, und was du am Tag erlebt 
ober empfunden, daraus macht fie im Schlummer 
ein Bild. Diejes Bild nennt man Traum." 

Nun verlangte Cafpar zu wiſſen, mas das 
fei, die Seele. Daumer fagte: „Die Seele gibt 


72 


deinem Körper das Leben. Leib und Seele find 
einander vermifcht. Jedes von beiden ift, was es 
ift, aber fie find fo untrennbar gemifcht wie 
affer und Wein, wenn man fie zufammengießt." 
‚Wie Wafler und Wein?" fragte €} ar 
mißbilligend. „Damit verderbt man aber Das 
Waffer.” 
jaumer lachte und meinte, das fei nur ein 
Gleichnis geweſen. In der Folge nahm er wahr, 
daß e3 mit Gafpard Träumen eigen beichaffen 
war. Sonft find Träume an ein Zufällige ge 
Inüpft, fagte ex fich, fpielen gefeglos mit Ahnung, 
Wunſch und Furt, bei ihm ähneln fie dem 
erumtaften eines Menfchen, der fich im finfteren 
ald verirrt hat und den Weg fucht; ba ift 
etwas nicht in Ordnung, ich muß der Sache auf 
den Grund gehen. 

Das aufelene war, daß gemifje Bilder 
ſich allmählich) zu einem einzigen Traum ſam⸗ 
melten, der von Nacht zu Nacht vollftändiger 
und Frremgale wurde und mit immer größerer 
Deutlichkeit regelmäßig wiederkehrte. Im Anfang 
konnte Gafpar nur abgeben davon erzählen, 
fo ftüchaft wie die Bilder fich ihm geigten, dann 
eine3 Tages, wie der Maler den Vorhang von 
einem vollendeten Gemälde zieht, vermochte er 
feinem Pflegeheren eine ausführliche Beſchreibung 
zu geben. 

Er Hatte über feine Gewohnheit Lange ge 
ſchlafen, deshalb ging Daumer in fein Zimmer, 
und faum mar er and Bett getreten, fo ſchlug 
Caſpar die Augen auf. Sein Geſicht glühte, der 
Blick ruhte —* im Innern, war aber voll und 
käftig und der Mund war zu fprechen ungeduldig. 
Mit langſamer, ergriffener Stimme erzählte er. 

73 


Er ift in einem großen Haus gemefen und 
bat gejchlafen. Eine Frau ift gefommen und hat 
ihn aufgewedt. Er bemerkt, daß das Bett fo 
ein ift, daß er nicht begreift, wie er darin 
Platz gehabt. Die Frau Hleidet ihn an und führt 
ihn in einen Saal, mo ringsum Spiegel mit 
goldenem Rande hängen. Hinter gläfernen 
Wänden bligen Silberjchüffeln und auf einem 
weißen Tiſch ftehen feine Eleine, zierlich bemalte 
BVorzellantäßchen. Er will bleiben und fchauen, 
die Kran zieht ihn weiter. Da ift ein Saal, wo 
viele Bücher find, und von der Mitte der ges 
bogenen Dede hängt ein ungeheurer Kronleuchter 
herab. Cafpar will die Bücher betrachten, da 
verlöfchen langfam die Flammen de3 Leuchters 
eine nad der andern und die Frau zieht ihn 
weiter. Sie führt ihn durch einen langen Flur 
und eine gewaltige Treppe hinab, fie fchreiten 
im Afnnern de3 Haufes den Wandelgang entlang. 
Er fieht Bilder an den Wänden, Männer im 
Helm und Frauen mit goldenem Schmud. Er 
ſchaut durch die Mauerbogen der Halle in den 
er, dort plätfchert ein Springbrunnen; die 

äule des Waſſers ift unten lbermeiß und 
oben von der Sonne rot. Sie kommen zu einer 
zweiten Treppe, deren Stufen wie goldene Wolfen 
aufwärts fteigen. Es fteht ein eiferner Mann 
daneben, er hat ein Schwert in der Rechten, doch 
fein Geficht ift ſchwarz, nein, er hat überhaupt 
fein Geſicht. Cajpar fürchtet fich vor ihm, will 
nicht vorbeigehen, da beugt fich die Frau und 
flüftert ihm etiwa8 ins Ohr. Er geht vorbei, er 
geht zu einer ungebeusen Tür und die Frau 
pocht an. Es wird nicht aufgemacht. Sie ruft 
und niemand hört. Sie will Öffnen, die Tür iſt 
74 


zugeſchloſſen. Es fcheint Caſpar, daß fich etwas 
® —* hinter der Tür ereignet, er ſelbſt beginnt 
zu rufen, doch in dieſem enblick erwacht er. 

Seltfam, dachte Daumer, da find Dinge, bie 
ex nie zuvor gejehen haben kann, wie den gerüfteten 
Mann ohne Geficht. Seltfam! Und fein Worte: 
fuchen, feine Hilflofen Umfchreibungen bei ſolcher 
Klarheit des Geſchauten. Seltfam. 

„Wer war die Frau?" fragte Cafpar. 

„E3 war eine Traumfrau," entgegnete Daus 
mer heſchwichtigend. 

„Und die Bücher und der Springbrunnen und 
die Tür?" drängte Caſpar. „Waren's Traum 
bücher, war's eine Traumtür? Warum ift fie 
nicht aufgemacht worden, die Traumtür ?" 

Daumer jeufzte und vergaß zu antworten. 
Was befam da Gewalt über feinen Caſpar, fein 
Seelenpräparat? Sehr an Welt und Stoff ge 
bunden war diefer Traum. 

Caſpar Heidete fih langſam an. Plötzlich 
erhob er den Kopf und fragte, ob alle Menjchen 
eine Mutter hätten? Und als Daumer bejahte, 
ob alle Menjchen einen Vater hätten. Auch dies 
mußte bejaht werden. 

„Wo ift dein Vater?“ fragte Cafpar. 

„Geftorben,“ antwortete Daumer. 

Geſtorben?“ flüfterte Caſpar nad. Ein 
Hauch des Schredens lief über feine Sipr. Er 
grübelte. Dann begann er wieder: „Aber mo 
it mein Vater?“ 

Daumer ſchwieg. 

„Iſt e3 der, bei dem ich gewejen? Der Du?" 
drängte Cafpar. 

„Ich weiß es nicht,“ antwortete Daumer und 
fühlte fich ungefchiett und ohne Weberlegenheit. 

75 


„Warum nicht? Du weißt doch alles? Und 
hab’ ich auch eine Mutter?" 

„Sicherlich.“ 

„Wo ift fie denn? Warum kommt fie nicht?" 

„Vielleicht ift fie gleichfalls geftorben.“ 

„So? Können denn die Mütter auch ſterben?“ 

„Ach, Caſpar!“ rief Daumer ſchmerzlich. 

„Geftorben ift meine Mutter nicht,” fagte 
Caſpar mit wunderlicher Entſchiedenheit. Plöß- 
lich flammte e3 über fein Geficht und er fagte 
bewegt: „Vielleicht war meine Mutter hinter 
der Tür?" 

„Hinter welcher Tür, Caſpar?“ 

„Dort! im Traum...” 

„Im Traum? Das ift doch nichts Wirk: 
liches," belehrte Daumer zaghaft. 

„Aber du Haft doc gejagt, die Seele ift 
wirklich und macht den Traum —? Ja, fie war 
hinter der Tür, ich weiß e8; das nächte Mal 
will ich fie aufmachen.“ 

Daumer hoffte, das Traumweſen wurde fich 
verlieren, doch dem war nicht jo. Dieſer eine 
Traum, Caſpar nannte ihn den Traum vom 
großen Haus, wuchs immer weiter, umſchlang 
und krönte ſich mit allerlei Blüten- und Ranken⸗ 
werk gleich einer zauberhaften Pflanze. Immer 
wieber ſchritt Caſpar einen Weg entlang und 
immer wieder endete der Weg vor der hohen 
Türe, die nicht geöffnet wurde. Cinmal zitterte 
die Erde von Tritten, die innen waren, die Türe 
ſchien fih zu baufchen wie ein Gewand, durch 
einen Spalt über der Schwelle brach Flammen- 
geloder, da erwachte er, und die nicht zu ver- 
gefenbe Traumnot ſchlich durch die Stunden des 

ages mit. 
76 


Die Geftalten wechfelten. Manchmal kam 
ftatt der Frau ein Mann und führte ihn duch 
die Bogenhalle. Und wie fie die Treppe binaufs 
gehen wollten, kam ein andrer Mann und reichte 
ihm mit ftrengem Bli etwas Gleißendes, das 
lang und ſchmal war und das, als Caſpar es 
fafjen wollte, in feiner Hand zerfloß wie Sonnen- 
ſtrahlen. Er trat nahe an die Geftalt heran, 
aud fie ward zu Luft, doch ſprach fie lauiſchal⸗ 
Iend ein Wort, welches Caſpar nicht zu deuten 
verftand. 

Daran hingen fich wieder befondere kleine 
Träume, Träume von unbekannten Worten, die 
er im Wachen nie gehört umd deren er, wenn 
der Traum vorüber war, vergebens habhaft zu 
werden fuchte. Sie hatten meift einen janften 
Klang, bezogen fich aber, jo fühlte er, nie auf 
ihn jelbft, fondern auf das, was hinter der ver- 
ſchloſſenen Türe vor ſich eing 

Traumboten waren es Vögeln des Meeres 
gleich, die in beſtändiger Wiederkehr Gegenſtände 
eines halbverſunkenen Schiffes an die ferne Küſte 
tragen. 

In einer Nacht lag Daumer fchlaflos und 
hörte in Caſpars Zimmer ein dauerndes Geräufch. 
Er erhob fih, fhlüpfte in den Schlafrod und 

ing hinüber. Gafpar jaß im Hemde am Tifch, 
Date ein Blatt Papier vor fih, einen Bleiftift 
in der Hand und ſchien gejchrieben zu haben. 
Ein matter Mondfchein ſchwamm im Zimmer. 
DVerwundert fragte Daumer, was er treibe. Caſpar 
richtete den bis zur Trunkenheit vertieften Blick 
auf ihn und antwortete leife: „Sch war im großen 
Haus; die Frau hat mich bi zum Springbrunnen 
im Hof geführt. Sie hat mich zu einem Fenfter 

77 


hinaufſchauen laſſen; droben ift der Mann im 
Mantel geftanden, ehr ſchön anzufchauen, und 
bat etwas gejagt. Danach bin ich aufgewacht 
und hab’3 geſchrieben.“ 

Daumer machte Licht, nahm das Blatt, las, 
warf es wieber bin, ergriff beide Hände Caſpars 
und rief halb bejtürzt, halb erzürnt: „Aber 
Cafpar, das ift ja ganz unverftändliches Zeug!" 

Caſpar ftarrte auf das Papier, buchftabierte 
murmelnd und fagte: „Im Traum hab’ ich's 
verſtanden.“ 

Unter den ſinnloſen Zeichen, die wie aus einer 
ſelbſterdachten Sprache waren, ſtand am Ende 
das Wort: Dukatus. Caſpar deutete auf das 
Wort und flüſterte: „Davon bin ich aufgewacht, 
weil es jo jchön geflungen hat." 

Daumer fand fich verpflichtet, den Bürger- 
meifter von den Beunruhigungen Caſpars, wie 
er es nannte, in Kenntnis zu eben. Was er 
befürchtet Hatte, geſchah. Herr Binder legte der 
Sache eine große Wichtigkeit bei. „Zunächft ift 
es geboten, dem Präfidenten Feuerbach einen 
möglichft ausführlichen Bericht zu geben, denn 
aus dieſen Träumen können ficherlich ganz bejtimmte 
Schlüffe gezogen werben,” jagte er. „Dann mache 
ih Ihnen den Vorfchlag, mit Gafpar einmal in 
die Burg binaufzugehen." 

die Burg? Warum das?“ 

„&3 ift fo eine Idee von mir. Da er immer 
von einem Schloffe träumt, wird ihn der Anblick 
eine wirklichen Schloſſes vielleicht aufrütteln und 
uns bejtimmtere Anhaltspunkte geben.“ 

„3a, glauben Sie denn an eine reale Bedeutung 
diefer Träume?“ 

„Ganz unbedingt. Ich bin davon überzeugt, 
78 


daß er bis zu feinem dritten oder vierten Lebens⸗ 
jahr in_einer derartigen Umgebung gelebt hat 
und daß mit dem neuen Erwachen zum Leben 
und zum Gelbftbewußtfein die Erinnerungen an 
die frühere Eriftenz auf dem Weg der Träume 
Form und Inhalt gewinnen." 

„Eine ir nabeliegende, ſehr nüchterne Er⸗ 
klärung,“ bemerkte Daumer gallig. „Alfo der 
Hintergrund diefes Schickſals wäre nichts meiter 
als eine gewöhnliche Räubergeſchichte.“ 

„Eine Räubergefchichte? Mir recht, wenn 
Sie es jo nennen. Ich verftehe nicht, weshalb 
Sie fi dagegen wehren. Sol der Jüngling aus 
dem Mond heruntergefallen fein? Wollen Sie 
irdiſche Verhältniffe für ihn nicht gelten lafjen?“ 

„D gewiß, gewiß!" Daumer feufzte. Dann 
fuhr er fort: „Ich fchmeichelte mir mit andern 
Hoffnungen. Das Grübeln und Verlangen nad 
rückwärts ift eben das, was ich Cafpar erſparen 
wollte. Gerade das Freie, Freiſchwebende, Schick⸗ 
fallofe war es ja, was mich jo ftarf an ihm 
ergriffen hat. Außerordentliche Umftände haben 
diefen Menfchen mit Gaben bedacht, wie fein 
andrer Sterblicher fich ihrer rühmen kann; und 
das fol nun alles verfümmern, abgelenkt werden 
in das Gleis von Erlebniſſen, die ja an fi 
tragiſch genug fein mögen, aber doch nicht? Uns 
gemeined an IR haben." 

„Ich verftehe, Sie wollen den maftifgen 
Nimbus nicht zerftören," verjegte der Bürger- 
meifter mit etwas pedantifcher Geringſchätzung. 
„Aber wir haben größere Pflichten gegen den 
Mitmenſchen al3 gegen das Unikum Gafpar Haufer. 
Laſſen Sie ſich das ernftlich gejagt fein, Lieber 
Profeſſor. Es erſcheinen heutzutage keine Engel 

79 


u und wo Unrecht gefchehen ift, muß Sühne 

ein.“ 

Daumer zudte die Achjeln. „Glauben Sie 
denn, daß Sie damit etwas zum Heile Caſpars 
tun?" fragte er mit einem Ton von Fanatismus, 
der dem Bürgermeifter lächerlich erſchien. „Nur 
Erdenfchwere und Erdenſchmutz heften Sie ihm 
an, on jetzt erhebt fi ja ein Gezänke um 
ihn, daß mir mein Anteil an feiner Sache ver- 
bittert wird. Es werden böſe Gefchichten zu- 
tage kommen." 

„Das follen fie; wenn fie nur zutage fom- 

‚ men," erwiderte Binder lebhaft. „Im übrigen 
tue jeder, was feines Amtes." 

Am nächften Vormittag ftellte fich der Bürger- 
meifter in Daumers Wohnung ein und fie gingen 
mit Caſpar zur Burg hinauf. Herr Binder läutete 
an der Pförtnerwohnung; der Pförtner kam mit 
einem großen Schlüffelbund und geleitete fie 
hinüber. 

ALS fie vor dem mächtigen zmweiflügeligen Tor 
ftanden, war es, al ob fich Caſpars Geficht 
plöglich entjchleiere. Er reckte fih auf, fein Ober 
leib bog ſich nach vorn und er ftammelte: „So 
eine Tür, genau fo eine Tür.“ 

„Was meinft du, Cafpar, was fünoebt dir 
vor?" fragte der Bürgermeifter Tiebevol 

Caſpar antwortete nicht. Mit geſenktem Auge 
und nachtwandlerifcher Langfamkeit ſchritt er duch 
die Halle. Die beiden Männer ließen ihn voran- 

eben. Immer nad) ein paar Schritten blieb er 
* und ſann. Seine Erſchütterung wuchs zu⸗ 
ehends, als er die breite Steintreppe hinaufſtieg. 
Oben blickte er ſich ſeufzend um; ſein Geſicht war 
bleich, die Schultern zuckten. Daumer hatte Mit- 
so 


Teid mit ihm und wollte ihn feiner Hingenommenheit 
entreißen, doch wie er zu fprechen begann, ſah ihn 
Caſpar mit einem fernweilenden Blid an, Kifpelte: 
„Dulatus, Dukatus“ und lauſchte dabei, als wolle 
er dem Wort einen heimlichen Sinn abhorchen. 
Er gewahrte die lange Reihe der Burggrafen- 
bildniſſe an den Wänden, er ſchaute durch bie 
Flucht der offenen Säle, er ftand in der Galerie 
und fchloß die Augen, und endlich, auf eine leiſe 
Frage de3 Vürgermeifter8, wandte er fih um 
und fagte mit erftikter Stimme, es jei ihm fo, 
als habe er einmal ein ſolches Haus gehabt, und 
er wiffe nicht, was er davon denken folle, 
Der Bürgermeifter ſah Daumer ſchweigend an. 
Nachmittags fuchten fie Heren von Tucher auf 
und entwarfen in Gemeinſchaft mit ihm den Bericht 
an den Präfidenten Feuerbach. Das ausführliche 
Schreiben wurde noch felbigen Tags zur Poſt gegeben. 
Sonderbarermeife erfolgte Darauf weder ein 
Beſcheid noch überhaupt ein Zeichen, daß der 
Präfident das Schriftſtück erhalten habe. Der 
Brief mußte verloren gegangen oder geftohlen 
worden fein. Baron Tucher ließ unter ber 
Sum und auf privatem Weg bei Herrn von 
uerbach anfragen, und man erfuhr wirklich, daß 
diefer von nichts wife Unruhe und Beftürzung 
bemächtigte fich der drei Herren, „Sollte da ein 
unfichtbarer Arm im Spiel fein wie bei jenem 
‚Zettel, den man mir ins Fenſter geworfen date" 
‚meinte Daumer ängftlich. Nachforſchungen bei der 
Poſt hatten kein Ergebnis, und jo ward der Bericht 
zum zmweitenmal abgefaßt und durch einen ficheren 
Boten dem Präfidenten perfönlic eingehändigt. 
Feuerbach erwiderte in feiner kategoriſchen 
Art, daß er die Sache im Auge behalten wolle 


Baffermann, Gafpar Haufer 6 8 


und ſich aus naheliegenden Gründen einer fchrift- 
lichen Meinungsäußerung enthalte. „Ich ent- 
nehme aus dem Geſundheitsatteſt des Amtsarztes, 
worin bei einem fonjt befriedigenden Befund von 
Safpars bleicher Gefichtsfarbe die Rede ift, daß 
es dem jungen Menjchen an regelmäßiger Be- 
jung in freier Luft fehlt,“ fchrieb er; „hier ift 
Abhilfe dringend nötig. Man laſſe ihn reiten. 
Es ift mir der Stallmeifter von Rumpler dortfelbft 
empfohlen worden. Haufer ſoll dreimal wöchentlich 
eine Reitftunde bei ihm nehmen, die Koften fol 
der Stabtlommiffär auf Rechnung ſetzen.“ 
Vielleicht waren es die Träume, die Caſpar 
blaß machten. Fast jede Nacht befand er fich in 
dem großen Haus. Die gemölbten Hallen waren 
von filbernem Licht durchflutet. Er ftand vor 
der geiitefienen Tür und wartete, wartete... 
dlich eines Nachts, die Dämmernden Räume 
des großen Haufes dehnten fich ſchweigend und 
leer, tauchte vom unterften Gang ber eine ſchwe— 
bende Geſtalt auf. Cafpar dachte zuerſt, es fei 
der Mann im weißen Mantel; aber als die Ge 
ftalt näherfam, gemahrte er, daß es eine Frau 
mar. Weiße Schleier umhüllten fie und flogen 
bei den Schultern durch den Hauch eines unhör- 
baren Windes empor. Gafpar blieb wie feft- 
ewurzelt Ken; fein Herz tat ihm wehe, ala 
Bitte eine Fauft danach) gegriffen und es gepadtt, 
denn das Antlitz der Frau zeigte einen folchen 
Ausdrud des Kummerd, wie er ihn noch an 
feinem Menjchen bemerkt. Je näher fie kam, 
je furchtbarer jchnärte fein Herz ſich zufammen; 
ernſt ſchritt fie vorbei; ihre Lippen nannten feinen 
Namen, es war nicht der Name Cafpar, und 
doch wußte er, daß es fein Name war oder daß 


82 


ihm allein der Name galt. Sie hörte nicht auf, 
denfelben Namen zu nennen, und als fie — 
wieder in weiter Ferne war und die Schleier 
wie weiße Flügel um ihre Schultern flatterten, 
hörte er immer noch den Namen; da wußte er, 
daß die Frau feine Mutter war. 

Er wachte auf, in Tränen gebadet; und als 
Daumer fam, ftürzte er ihm entgegen und rief: 
„Ich hab’ fie gefehen, ich habe meine Mutter 
geiehen, fie war es, fie hat mit mic geſprochen!“ 

Daumer jebte 8 an den Tiih und ftüßte 
den Kopf in die Hand. „Sieh mal, Caſpar,“ 
fagte er nach einer Weile, „du darfjt dich folchen 
Wahngebilden nicht gläubig hingeben. Es be» 
drüdt mich aufrichtig und Toon lange. Es ift, 
wie wenn jemand in einem Blumengarten luſt⸗ 
wandeln darf und, ftatt freudigem Genuß fich zu 
überlafjen, die Wurzeln ausgräbt und die Erde 
durchhöhlt. Verfteh mich wohl, Caſpar; ich will 
nicht, daß du auf das Recht verzichteft, alles zu 
erfahren, was auf beine Vergangenheit Bezug 
bat und auf das Verbrechen, das an dir verübt 
wurde. Aber bebente doch, daß Männer von 
reicher Erfahrung, wie der Herr Präfident und 
Here Binder, daft am Werke find. Du, Cafpar, 
ſollteſt vorwärts ſchauen, dem Lichte leben und 
nicht der Dunkelheit; im Lichte ruht dein Dafein, 
dort ift das Gluck. Jeder Menſch von Vernunft 
Tann, was er will; tu mie die Liebe und wende 
dich ab von den Träumen. Nicht umfonft heißt 
es ja: Träume find Schäume.“ 

Cafpar war beftürzt. Der Gedanke, daß in 
feinen Träumen keine Wahrheit fein folle, wurde 
ihm zum erjtenmal entgegengehalten, aber zum 
erftenmal war die eigne Gemwißheit von einer 

83 


Sade feſter als die Meinung feines Lehrers. 
Das zu empfinden, bereitete Ihm feine Genug« 
tuung, fondern Bedauern. 


Religion, Homöopathie, Beſuch von 
allen Seiten 


So war e3 Dezember geworden und eines 
Morgens fiel der erjte nee des verjpäteten 
Winters, 

Caſpar wurde nicht müde, dem lautlofen 
en der Flocken zuzufchauen; ex hielt fie 

ir kleine beflügelte Tierchen, bis er die Hand 
zum Fenfter hinausftredte und fie auf der warmen 
Haut zerrannen. Garten und Straße, Dächer 
und Simfe glißerten, und durch das Flockengewuͤhl 
kroch Tichter Nebeldampf wie Hauch aus einem 
atmenden Mund. 

„Was fest du dazu, Caſpar?“ rief Frau 
Daumer. „Erinnerft bu dich, daß du mir nicht 
glauben wollteft, als ich dir einmal vom Winter 
erzählte? Siehft du, wie alles weiß tft?" 

Caſpar nickte, ohne einen Blick von draußen 
zu wenden. „Weiß ift alt,“ murmelte er, „weiß 
ft alt und kalt.“ 

„Um elf Uhr haft du Neitftunde, Caſpar, 
vergiß es nicht," mahnte Daumer, der in feine 
Schule gin, 


Eine Überflüffige Sorge; das vergaß Cafpar 


nicht, allzulieb war ihm ſchon das Reiten geworden 
feit der kurzen Zeit, wo er damit begonnen. 

Er liebte Pferde, war ihm doch ihre Geftalt 
gar jehr vertraut. Es kam vor, daß abendliche 
3 


Schatten als ſchwarze Roſſe vorüberftärmten, 
erit am feurigen Rand bes Himmels Halt machten 
und ihn mit zurückſchauendem Blick aufforderten, 
fie in die unbefannte Ferne zu geleiten. Auch 
im Wind fauften Roffe, auch die Wolfen waren 
Roffe, in den Rbptömen der Mufit hörte er das 
taftbemeffene Traben ihrer Hufe, und wenn er 
in „gendticher Stimmung an etwas Edles und 
Volllommenes dachte, fh ex zuerſt das Bild eines 
ſtolzen Roſſes. 

Beim Reitunterricht hatte er von Anfang an 
eine Gewandtheit gezeigt, die das größte Er- 
faunen bes Stallmeifter8 erregt hatte. „Wie der 

urfche fißt, wie er den Zügel Hält, wie er das 
Tier verſteht. das muß man fich anſchauen,“ fagte 
‚Here von Rumpler; „ich will hundert Jahre in 
der Hölle braten, wenn das mit rechten Dingen 
zugeht.“ Und alle, bie etwas von der Sache ver- 
fanden, vedeten ähnlich. 

€i, wie jelig war Cafpar beim Trab und 
Galopp! Dies Ziehen und Fliehen, dies leichte 
Getragenfein, hinaus und vorwärts, dies fanfte 
Auf und Ab, das Lebendigfein auf Lebendigem! 

Wenn nur nicht die Leute fo läſtig geweſen 
wären. Beim erjten Ausritt mit dem Stallmeifter 
wurden fie von einem ganzen Pöbelhaufen ver- 
folgt und ſelbſt gefeste Bürger blieben ftehen 
und lachten erbittert vor fih bin. „Der ver- 
ſteht's,“ Höhnten fie, „der hat fich ein Bett ge- 
macht, jo muß man's anfangen, damit einem 
warm wird." 

Auch heute war ſolch ein unbequemes Auf- 
jehen. Der Himmel hatte is jelärt und die 
Sonne fchien, als fie duch die Engelhardts ale 
titten. Eine Rotte von Knaben zog hinter ihnen 

° & 


drein und rechts und links wurden die Fenſter 
aufgerifjen. Der Stallmeifter gab feinem Tier 
die Sporen und trieb Caſpars ‚Pferd mit der 
Beitjche an. „Man kommt ſich ja, parbleu, wie 
ein Birkusreiter vor," rief er zormig. 

Sie fprengten bis zum Jakobstor. „He! 
Holla!" rief da eine Stimme, und aus einer 
Seitengaſſe fam, ebenfalls zu Pferde, Herr von 
W eng auf fie zu. Numpler begrüßte den 
Offizier und der Rittmeifter gejellte fih an Ca- 
ſpars Geite, 

et lieber Haufer, prächtig!" rief er 
mit übertriebener Verwunderung, „wir reiten ja’ 
wie ein Indianerhäuptling. Und das alles bat 
man erſt bei den braven Nürnbergern gelernt? 
Nicht zu glauben.“ 

Caſpar hörte nicht den verfänglichen Unterton 
der Rede; er blickte den Rittmeifter dankbar und 
geichmeighelt an. 

„Aber dent dir, Hauſer, was ich heute be 
kominen habe,“ fuhr, der Rittmeifter fort, den es 
judte, mit Caſpar einen 4 zu haben. „Sch 
hab’ etwas befommen, was dich höchlichit angeht." 

Caſpar machte ein fragendes Geſicht. Viel⸗ 
leicht war e8 der ebel-ruhige Ausdruck jeiner Züge, 
der ben Rittmeifter zögern ließ. „a, ich hab’ etwas 
bekommen,“ wiederholte er dann eigenjinnig, „ein 
Brieflein hab’ ich bekommen." Er hatte den ein- 
fältigen Ton, den bie Erwachſenen annehmen, 
wenn fie mit Kindern herzen, und der lauernde 
Blick in feinen Augen bejagte etwa: wollen mal 
fehen, ob er Angft fı riegt. 

„Ein Brieflein?“ Mgegnete Gafpar, „was 
ſteht denn drinnen ?" 

„Ja,“ rief der Rittmeifter und lachte knallend, 
86 


„das möchteft du wohl wiſſen? Wichtige Sachen 
jtehen drin, wichtige Sachen!" 

„Von wen ift es denn?" fragte Cafpar, dem 
das Herz erwartungsvoll zu pochen anfing. 

Herr von Wefjenig zeigte feine Zähne und 
ſtellte fich vor Vergnügen in die Steigbilgel 
„Nun rate mal," fagte er, „wir wollen mal fehen, 
ob du raten kannſt. Won wen kann das Brief- 
Iein fein?" Er zwinkerte Herrn von Rumpler 
Ten nis zu, indes Cafpar den Kopf 
jentte. 


Es quoll auf einmal Traumluft um Caſpars 
Sinne und eine Hoffnung liebkoſte ihn, die den 
kargen Tag verleugnete. Aus ihren Schleiern 
erhob ſich die Zummervolle Traumfrau und ſchwebte 
ſtill vor den drei Roſſen dahin. Jäh blidte er 
empor und fagte mit zögernden Lippen: „Sit 
vielleicht von meiner Mutter der Brief?" 

Der Rittmeifter runzelte ein wenig die Stirn, 
als ob es ihm bedenklich fchiene, den Schabernad 
zu weit zu treiben, doch entäußerte er fich ſchnell 
der ernften Regung, klopfte Cafpar auf die 
Schulter und rief: „Erraten, Teufelsterl! Er— 
taten! Mehr ſag' ich aber nicht, Freundchen, 
ſonſt könnt’ es mir übel befommen.“ Und mit 
dem lebten Wort feste ex fich fefter in den Sattel 
und fprengte davon. 

Eine Viertelftunde fpäter kam Caſpar atem- 
108 nad) Haufe. Daumers ſaßen ſchon bei Tifch, 
fie jhauten dem Ankömmling gejpannt entgegen 
und Anna erhob ſich unwillkürlich, als Cafpar 
mit ſchweißbedeckter Stirne neben den Sefjel ihres 
Bruder trat und mit | gebrochener Stimme hervor- 
jubelte: „Der Herr Nittmeilter hat einen Brief 
befommen von meiner Mutter!" 

87 


Daumer ſchůttelte erflaunt den Kopf. Ex _ver- 
fuchte Saba Bene, zu madıen, daß ein Miß⸗ 
verftändnis oder eine Täufchung obmalten müfje; 
Mutter und Schwefter unterftügten ihn darin 
nad) Kräften. Es war umfonft. Caſpar faltete 
flehentlich die Hände und bat, Daumer möge mit 
ihm zu Herrn von Wefjenig gehen. Deſſen weis 
ge FO Dumer en hiehe en, doch als Eafpars 

ana wi ui. fih bereit, allein 
von Weſſenig zu air Er FR — 
— Teller leer, nahm Hut und Mantel 

Caſpar lief zum Fenſter und ſah im Fer 

Er wol le ſich nicht zu aid begeben, ehe Daumer 
wieder da war. Cr zerfnüllte das Tafchentuch 
in der Hand, raſch atmend ſtarrte er gegen den 
Ms und date: Wenn ich dich liebhaben 
ol, Sonne, mad), daß e3 wahr if. So wurde 
es ein Uhr und Daumer kam zurüd. Er hatte 
den Nittmeifter zur Rebe geftellt und eine heftige 
Auseinanderfegung mit i jehabt. Herr von 
Weffenig hatte die Sache zuerft humoriftiich ge— 
nommen, damit lief er aber bei Daumer übel ab, 
dem ohnehin das hämifche Gerede, das ihm täg- 
lich zugetragen wurde, Verdruß genug erregte. 
Erſt gejtern hatte man ihm erzählt, auf einer 
Afjemblee bei_ der Magiftratsrätin Behold habe 
fih ein angejehener Ariftofrat über ihn Iuftig 
gemacht als über den Meifter fomnambuler und 
magnetifcher Geheimkunft, der Caſpar Haufer feier- 
lich den Zaubermantel unter bie Füße breite, aber 
ftatt in den Wether zu entfchweben, wie jedermann 
erwarte, bleibe der gute Gafpar gemächlich ſitzen 
und lafje fi ausfüttern. 

Solches nagte an Daumer und er hatte es 
dem Nittmeifter ins Geficht gejagt, daß ihn das 
83 


ſcheele Geſchwätz ber nichtätuenden eleganten Welt 
gleichgültig laſſe. „Bin ich auch eher auf Hilfe 
und Zuftimmung al auf Verteidigung und Ab- 
wehr gefaßt geweſen, fo weiß ich doch genau, 
daß das erftarrte Herz von Ihnen und Ihres⸗ 
leichen nicht um einen Pulsfchlag gefühlvoller 
’ lagen wird," rief er aus, „Das aber kann 
ich fordern, daß man den Jüngling, der unter 
meinem Schu und dem des Herrn Staatsrats 
— wenigſtens mit böswilligen Scherzen ver⸗ 
ont.“ 

Sprach s und ging. Einen Freund ließ er 
nicht zurüd, . 

Zu Haufe ankommend und Caſpars ftummes 
Drängen wahrnehmend, jagte er mit mühfamer 
Milde: „Er hat dich zum Narren gehabt, Ca- 
fpar. Es ift natürlich fein Wort wahr. Solchen 
Leuten mußt du auch nicht glauben.“ 

„D!" machte Cafpar voll Schmerz. Dann 
war er ftill. 

Erft als Daumer ſich nad der Mittagsraft 
zum Aufbruch anfchiette, entriß fich Caſpar feinem 
Schweigen und fagte in mattem und verändertem 
Ton: „Der Herr Rittmeifter hat alſo nicht die 
Wahrheit gejagt?" 

„Nein, er hat gelogen," verſetzte Daumer kurz. 

„Das ift ſchlecht von ihm, fehr fchlecht,“ fagte 


par. 

Erſtaunlich fchien ihm zunächſt die Tatſache 
des Lügens, erftaunlicher noch, daß ſich ein fo 
großer Herr ihm gegenüber der Lüge fchuld: 
gemadht. Warum hat er das mit dem Bri 
gelost, grübelte er, und ftundenlang war er damit 
ejchäftigt, fich des Nittmeifters Worte immer 
wieder von neuem vorzufagen und fich das Ge: 

89 


ficht zurückzurufen, in welhem, von ihm nicht 
gewußt, die Lüge wohnte, 

Es war da etwas nicht in Ordnung. “ en 
und fann und fam zu feinem Ende. m 
auf andre Gedanken zu bringen, Klug er 
Rechenfibel auf und ging an fein Tagespenſum. 
Als auch dies nichts half, nahm er die Glas- 
barmonila, die ihm eine Dame aus Bamberg 

geſchenkt, und übte fich eine halbe Stunde lang 
A den fimpeln Melodien, die er darauf zu fpielen 
exlernt hatte. 

Plötzlich erhob er fi und trat vor den 
Spiegel. Starr blickte er jein eignes Gefiht an: - 
er wollte jehen, ob Züge darin fei. Troß ber 
Beklommenheit, die er dabei empfand, reiste es 
ihn, einmal ſelber zu Lügen, nur um zu prüfen, 
wie nachher fein Geficht ausfehen würde. Aengft- 
Lich ſchauie er ſich um, blickte dann wieder in den 
Spiegel und fagte leis: „E3 ſchneit. “ 
ei Er hielt das für eine Lüge, weil ja die Sonne 

ien. 

Nichts hatte fich in feinem Geſicht verändert: 
man konnte alſo lügen, ohne daß es jemand be- 
merfte. Er hatte geglaubt, die Sonne würde fich ver- 
finftecn oder verftedten, aber fie ſchien ruhig weiter. 

Am Abend fam Daumer mit einem neuen 
Aerger nach Haufe. Von der Mutter gefragt, 
was e3 denn ſchon wieber gebe, 30g er ein Kleines 
Zeitungsblättchen aus der Tajche und warf es 
auf den Tiih. Es war ber „Ratholifche Wochen- 
ſchatz“; auf der erften Seite ftand eine Epiftel 
über Cafpar Haufer, die mit den fettgedruckten 
Settern begann: Warum läßt man den Nürn- 

erger Gindling nicht der Segnungen der Religion 
ei jaftig werden? j 


„Sa, warum läßt man denn nicht?" fpottete Anna. 

„Und das wagt man in einer proteftantifchen 
Stadt," fagte Daumer mit finfterem Geſicht. 
„Wenn diefe Herren nur müßten, was für eine 
unmäßige Furcht der Jüngling vor ihren Geift- 
chen bat. Während er noch auf dem Turm 
mar, find eines Tages vier zu gleicher Zeit bei 
ihm erjchienen. Glaubt ihr vielleicht, fie hätten 
zu feinem Herzen gerebet oder feine Andacht zu 
mweden geſucht? Weit gefehlt. Sie ſchwatzten 
vom Zorn Gottes und von der Vergeltung der 
Sünden, und als er immer furtfamer dreinfah, 
fingen fie an zu wettern und zu drohen, als ob 

er arme Menſch am nächiten Tag zum Galgen 
jeführt werden follte. Zufällig kam ich dazu und 

jedes fie höflich auf, ihre Bemühungen einzus 
ſtellen.“ 

Da Caſpar ins Zimmer trat, wurde das Ge— 
ſpräch abgebrochen. 

Aber der Appell des „Katholiſchen Wochen⸗ 

ſchatzes“ verhallte nicht ungehört. „Mit der 
Religion iſt nicht zu ſpaßen,“ ſagten die Herren 
auf dem Magiftrat, und einer drückte fogar 
den: Zweifel aus, ob ber Yüngling überhaupt 
vetauft fei. Darüber ward eine Weile hin und 
er debattiert, doch ließ man die Frage ſchließlich 
fallen und die Taufe ward als jelbftverjtändlich 
angenommen, da man ja unter Chriften in einem 
riftlichen Lande lebe und der Jüngling auf feinen 
Fall aus der Tatarei fommen fönne. 

Nicht jo leicht war die Entſcheidung über die 
Tatholifche oder evangelifche Konfeffion. Obgleich 
die Pfaffen in der Stadt wenig Macht bejaßen, 
mußte man doch die obdachloſe Seele dem 
Hungrigen Rachen Roms entreißen, amderfeits 

9a 


war man zu zagbaft fie Br rauhes Zugreifen, 
weil e3 möglich war, daß eine sinftußeeiche 
Perſon über furz oder lang ein Anrecht andrer 
Art geltend machen konnte. 

Der Bürgermeifter wandte fi) an Daumer 
und verlangte, Caſpar folle einen Religionslehrer 
erhalten, man überlafje es Daumer, einen ver- 
trauenswürbigen Mann zu beftimmen. „Wie 
wäre e8 mit dem Kandidaten Regulein?“ meinte 
Binder. 

„Sch habe nichtS Dagegen,“ erwiderte Daumer 
gleichgültig. Der Kandidat wohnte im Daumerfchen 
Haus zu ebener Erde und genoß den Ruf eines 
tofiden, und fleißigen Mannes, 

Wenn ich ſelbſt auch nicht kirchlich fromm 
— bin,“ ſagte der Bürgermeiſter, „jo iſt mir 
och die modifche Freigeifterei von Herzen zumider, 
und ic wünfchte nicht, daß unfer Cafpar in ein 
ohrfurchtsloſes Weltwefen gerät. Auch in Ihrer 
Abſicht Tann das nicht liegen.“ 

Aha, ein Stich, dad” Daumer ftillergeimmt, 
man eleibigt, verdächtigt mich ſchon wieder, ich 
bin niemand bequem, fehr ehrenwert, ihr Herren, 
fehr ehrenwert. Laut antwortete er: Gewiß 
nicht. Ich habe es auch nicht fehlen laſſen, im 
meiner Art auf ihn zu wirken. Und meine Art 
mag fein, wie fie will, fie ift nicht ſchlechter als 
jede andre. Leider haben mir allechand Unberufene 
beftändig hineingepfufcht. So war e3 mir in ber 
exften Zeit mit großer Mühe gelungen, den ftarren 
Eigenfinn feines Schauens zu, brechen und ihm 
einen Begriff von dem allmäctigen Trieb des 
Wachstums in der Natur zu geben. Kommt da 
ein Frauenzimmer an, während Gafpar vor einem 
Blumentopf ſitzt und mit feinem unfchuldigen 
2 


Staunen die über Nacht aufgefproßten Schößlinge 
betrachtet. Nun, Gafpar, fragt fie ein! ing, 

wer bat denn das wachjen afen? Es ij 
ſelbſt gewachſen, erwidert er ſtoiz. Aber, afpar. 
ruft jene, es muß doch jemand fein, der e3 hat 
wachlen lafjen? Er würdigte fie feiner Antwort 
mehr, aber die wohlwollende Dame ds! bin nnd 
erzählte überall, Cafpar werde zum Atheilten ge- 
macht. Da hat man eben einen ſchweren Stand“ 
„&3 handelt fih do am Ende nur darum, 
ihm das Gefühl einer höheren Verpflichtung ein- 

suimpfen, ſagte Binder. 

ie hat er, die hat er, aber fein Verftand 
anerkennt eben in jeinen Forderungen feine 
Grenzen und will durchaus oefeieigt fein,“ fuhr 
Daumer leidenſchaftlich fort. „Geftern abend 
befuchten ihn zwei proteftantifche Geiftliche, der 
eine aus Fürth, der andre aus Farnbach, der 
eine dick, der andre mager, alle beide eifrig wie 
eine Pauluffe. Sie machten mir erft allerlei 
Elogen, ich lafje fie zu Caſpar hinein, und ehe 
man brei zählen fann, fangen fie eine Disputation 
mit ihm an. Ach, es war komiſch, es war höchſt 
tomifh. Es kam die Rede auf die Erfchaffung 
der Welt, und der Dicke aus Fürth fagte, Gott 
Habe die Welt aus dem Nichts geſchaffen. Und 
als nun Gafpar wiſſen wollte, wie das zu: 
jegangen, ſtibitzten fie ihm bie Erklärung vor 
#2 Nafe weg, indem fie alle zwei händefuchtelnd 
auf ihn einredeten wie auf einen Heiden, der bei 
feinem Götzen ſchwört. Endlich beruhigten fie 
ih, und da fagte mein guter Caſpar zutulic, 
wenn er etwas machen wolle, müffe er doch 
etwas haben, woraus er e8 mache, fie möchten 
ihm doc) fagen, wie daS bei Gott möglich fei. Da 
3 


ſchwiegen fe eine Weile, flüfterten untereinander, 
und endlich antwortete der Magere, bei Gott jet 
alles möglich, weil er nicht ein Menſch jei, fon- 
dern ein Geift. Da lächelte mich Gafpar an, 
denn er dachte, fie wollten fich über ihn Iuftig 
machen, und er ftellte ſich, als glaube er ihnen, 
was die befte Manier war, um fie loszuwerden.“ 

Der Vürgermeifter jchüttelte mißbilligend den 
Kopf. Daumers Sarkasmus gefiel ihm ganz und 
gar nicht. „ES gibt auch) eine gedachtere Anficht 
von Gott als die, die fich jo mühelos verfpotten 
läßt,“ wandte er ruhig ein. 

„Eine _gedachtere Anficht? Ohne Zweifel. 
Vergeſſen Sie nur nicht, daß die der gemeinen 
dur und durch widerfpricht. Und wenn ich fie 
ihm beizubringen fuche, ſetze ich mich Vorwürfen 
und Mißfennungen aus. Nächſtes Jahr foll er 
in die öffentliche Schule gehen, für einen Men- 
ſchen von wenigſtens achtzehn Jahren ohnedies 
eine Schwierigkeit, da würden nun meine Lehren 
wieder zunichte gemacht und die Folge ift Kon- 
fufion. Schon jetzt fange ich an feig zu werden 
und fpeife ihm mit bequemen Antworten ab. 
Neulih konnie er eingetretener Augenfchwäche 
halber nicht arbeiten, und er fragte mic, ob er 
von Gott etwas erbitten dürfe und ob er es 
dann erhalten werde. Ich fagte, zu bitten fei 
ihm geftattet, doch müſſe er es der Weisheit 
Gottes anheimftellen, ob er die Bitte gemähren 
wolle oder nicht. Er entgegmele, er wolle die 
Genefung feiner Augen erbitten und damider 
tönne ja Gott nicht? einzuwenden haben, denn 
er gebrauche die Augen, um feine Zeit nicht in 
unnügen Gefprächen und Spielereien vergeuden 
zu müffen. Ich fagte darauf, Gott habe bis- 


894 


weilen unerforſchliche Gründe, etwas zu verfagen, 
wovon wir glaubten, daß es heilfam wäre, er 
wolle ung oft durch Leiden prüfen, in Geduld 
und Ergebung üben. Da ließ er traurig den 
Kopf hängen. Gewiß dachte er, ich fei auch nicht 
befjer als die Frommen, deren Gründe er nur 
für Ausreden nimmt." 

„Was ift jedoch zu tun?" fragte der Bürger 
meijter mit forgenvoller Stirn. „Auf dem Weg 
des Zweifelns und Leugnens muß die Fähigkeit 
zum Guten verfümmern." 

„Zweifeln und Leugnen ift es wohl kaum,“ 
verfeßte Daumer unmillig. „Gott ift fein Be 
wohner de3 Himmels, er hauft nur in unfrer 
Bruft. Der reiche Geift birgt ihn im umfafjen- 
den Gefühl, der arme wird durch die Not des 
Lebens feiner gewahr und nennt es Glauben; 
er könnte e8 auch Angft nennen. In Schönheit 
und Freude geſtaltet jich der wahre Gott, im 
Schaffen. Was Sie Zweifel und Leugnen heißen, 
ift das aufrichtige Zagen der ihrer felbft noch 
ungewiffen Seele. Dan gebe der Pflanze jo viel 
Sonne, wie fie braucht, und fie befigt einen Gott." 

„Das iſt Philoſophie,“ erwiderte Binder, 
„und zudem Philoſophie, die einem Alltags— 
menfchen wie mir frivol Elingen muß. “jeder 
Bauer hat für feine Ernte mit Sturm und Un- 
wetter zu rechnen, und nur ein überheblicher 
Menſch Tann ſich einfallen laſſen, von felber 
etwa zu gelten. Doc) genug davon. Waren Sie 
eigentlich mit Caſpar ſchon einmal in der Kirche?“ 

„Nein, ich habe das bis jest vermieden." 

„Morgen ift Sonntag. Haben Sie etwas 
Dagegen einzumenden, wenn ich ihn zum Gottes» 
dienft in die Frauenkirche mitnehme?" 

» 


„Nicht im geringften.“ 

„Gut, “ werde ihn um neun Uhr abholen." 

Wenn fih Here Binder eine fonderliche 
Wirkung von diefem Verſuch verfprochen hatte, 
fo wurde er darin jehr enttäufcht. Als Cafpar 
die Kirche betreten hatte und die erhobene Stimme 
des Predigers vernahm, fragte er, warum der 
Mann ſchimpfe. Die Kruzifige erregten feinen 
tiefften Schauber, weil er die angenagelten 
Ehriftusbilder für gemarterte lebendige Menfchen 
hielt. Beſtändig fehaute er, beftändig verwunderte 
er fih, das Spiel der Orgel und der Gejang 
des Chors betäubten fein empfindliche Ohr der⸗ 
maßen, daß er die Harmonie der Klänge gar nicht 
fpütte, und zum Schluß brachte ihn die Ausdünftung 
der Menfchenmenge einer Ohnmacht nahe. 

Der Bürgermeifter jah wohl feinen Fehlgriff 
ein, doch ließ er nicht ab, auf einen regelmäßigen 
Beſuch der Kirche zu dringen, obwohl ri Caſpar 
jedesmal hartnäckig dagegen ſträubte. Wenn der 
Kandidat Regulein Herrn Binder feine Not 
klagte, ermwiderte diefer: „Nur Geduld, die Ge- 
wohnheit wird ihn fehon zur Andacht nötigen.“ 
— Ich glaube nicht," verfeßte der Kandidat darauf 
mutlos, „gebärdet er ſich doch, als ob er fein 
Leben lafjen follte, wenn ich ihn zum Kirchgang 
auffordere." — „Macht nichts, es ift Ihr Bes 
ruf, feinen Widerftand zu brechen," lautete der 


cheid. 

Der gute, hilfloſe Kandidat Regulein! Ein 
junges Männlein, das nie jung geweſen war 
und deſſen Gottesgelehrtentum von ſo dünner 
Beſchaffenheit war wie feine Beine. Er zitterte 
insgeheim vor den Unterrichtäftunden, die er 
Caſpar erteilen mußte, und fooft ihn eine Frage 
% 


in Verlegenheit ſetzte, was gar nicht felten ge 
ſchah, verſchob er die Auskunft auf das nächte 
Mal, wobei er fi) vornahm, in gewiſſen Büchern 
nachzufchlagen, um nicht gegen die Theologie zu 
verfehlen. Cajpar wartete treuherzig, aber in der 
folgenden Stunde fam nichts oder wenig. Der 
Kandidat, der im ftillen hoffte, fein Schüler habe 
vergeffen, erſchrak und wich aus. Das half nicht; 
der unbarmherzige Frager trieb ihn aus einer 
Verſchanzung in die andre, bis daS verzweifelte 
Argument aufgeftellt werden mußte, es ſei unrecht, 
über dunkle Gegenftände des Glaubens zu forfchen. 

Caſpar Tief zu Daumer und beflagte fich 
bitter, daß er feine Auffchlüffe erhalte. Daumer 
fragte, was er zu wifjen begehrt habe. Ex hatte 
u wiffen verlangt, warum Gott nicht mehr wie 
in früheren Zeiten zu den Menjchen herablomme, 
um fie über fo vieles, was verborgen fei, zu 
belehren. „Ya fieh mal, Caſpar,“ jagte Daumer, 
„es gibt Geheimniffe in der Welt, die fich eben 
beim beften Willen nicht verftehen lafien. Da 
muß man Pertrauen ‚haben, daß Gott eines 
Tages unfer Herz darüber erleuchtet. Wir alle 
wifjen ja auch nicht, woher du fommft und wer 
du bift, und trogdem — wir von der Ge⸗ 
rechtigleit und Allwiſſenheil Gottes, daß er ung 
eine3 Tages darüber Aufſchluß gewährt.” 

„Aber Gott hat doch nicht? damit zu tun, 
daß ich im Kerker war," erwiderte Caſpar fanft, 
„das haben doch die Menfchen getan.“ Und 
ratlos ſetzte er hinzu: „So iſt's eben. Das eine 
Mal jagt der Kandidat, Gott laſſe den Menfchen 
ihren freien Willen, das andre Mal fagt er, Gott 
ſirafe fie für ihre böfen Handlungen. Da werd’ 
ich ganz zum Narren.” 

Baffermann, Gafpar Haufer 7 97 


Diefe Unterhaltung fand an einem ftürmifchen 
Nachmittag Ende März ſtatt und Daumer geriet 
durch fie in eine fo trübe Stimmung, daß er 
eine angefangene fchriftliche Arbeit nicht zu be 
endigen vermochte. Man raubt ihn mir, man 
bricht ihn mir zu Stüden, dachte er. Voll 
Traurigkeit nahm er ein dickes gi zur Hand, 
das feine Aufzeichnungen über Caſpar enthielt, 
und blätterte drin herum. Er ſchrak zufammen, 
als feine Schwefter ziemlich haftig eintrat, noch 
mit Pelzlappe und Umhang, wie fie von der 
Straße kam. Ihr Geficht verriet Aufregung, 
und fie wandte fich mit der ſchnell hervorgeftoßenen 
Frage an Daumer: „Weißt du ſchon, was man 
in der Stabt fpricht?" 

Nun?" 

„Man erzählt fih, Caſpar Haufer ſei von 
fürftlicher Abkunft, ein beifeitegefchaffter Prinz.“ 

Daumer lachte gezwungen. „Das fehlte noch,“ 
entgegnele er abſchätzig. „Was denn noch 
alles!" 

„Du glaubft nicht daran? Das hab’ ich mir 
gleich gedacht. Aber woher mögen folche Ge- 
rüchte ftammen? Irgend etwas muß doch das 
She müßt muß Diner fein. So 1 

„Gar nichts muß dahinter fein. Sie ſchwatzen 
eben. Laß fie ſchwatzen.“ 

Eine halbe Stunde fpäter erhielt Daumer 
den ven des Archivdireltor Wurm aus And» 
bach. ar dies ein kleiner, etwas verwach⸗ 
ſener Mann, der nie lächelte; es hieß von ihm, 
daß er jehr befreundet mit Herrn von Feuerbach 
und die rechte Hand des Negierungspräfidenten 
Mieg fei. Don erfterem beftellte er Grüße an 
Daumer und fagte, der Staatsrat werde in aller 


98 


nädjfter Zeit nah Nürnberg kommen, er be 
Bahn ſich angelegentlich mit der Sache Cafpar 
aufers. 

Nach einem kurzen, wenig belangvollen Hin- 
und Herreden set der Yrkhiobirefior plöglich 
in die Rocktaſche, brachte ein kleines brofchiertes 
Buch zum Vorfchein und reichte es wortlos 
Daumer. Diefer nahm e8 und las den Titel: 
„Gafpar Haufer, nicht unmahrfcheinlich ein Bes 
teüger. Vom Polizeirat Merker in Berlin.” 

Daumer bejah das Büchlein mit feindjeligen 
Augen und fagte matt: „Das ift deutlich. Was 
will der Mann? Was ficht ihn an?" 

„Es ift ein gehäffiges Pamphlet, tritt aber 
höchſt plaufibel au erwiberte der Archivdireltor. 
„E3 find da mit Fleiß und Geſchick alle Ver- 
dachtsgründe, die jchon längft in mißtrauifchen 
Gemütern ſpulen, gegen den Findlin zufammen- 
girogen. Der Verfaſſer prüft alle Angaben 

ſpars auf ihre Verdächtigkeit hin, hy gibt 
er Beifpiele aus der Vergangenheit, wo ähnliche 
Lügenkfünfte, wie er ſich ausdrückt, zu verjpäteter 
Enthüllung gelangt find. Sie, lieber Profeflor, 
und Ihre biefigen Freunde Tommen dabei nicht 
zum beften weg.“ 

„Natürlich; Tann ich mir denken,“ murmelte 
Daumer, und mit der flachen Hand auf das — 
ſchlagend, rief er aus: „Nicht unwahrſcheinlit 
ein Betrüger! Da gt fo ein mit allen Hunden 
gehetzter Herr in Berlin und wagt es, wagt 
es —! Himmeljchreiend! Man follte ihm diefen 
nicht unwahrfcheinlichen Betrüger vorführen, man 
follte ihn zwingen, dem Engelsblick ftandzuhalten, 
ac, ſchändlich! Der einzige Troft dabei ift, daß 
doch niemand das Zeug lejen wird." 

oo 


„Sie irren ſich,“ verfegte der Archivdireltor 
ruhig, „das Heft findet reißenden Abſätz.“ 

„Nun gut, ich werde es leſen,“ ſagte Dau— 
mer, „ich werde damit zum Redaktor Pfiſterle 
von ber ‚Morgenpoft‘ gehen, ber iſt ber richtige 
ea um dem famojen Polizeirat Widerpart 
zu halten.“ 

Der Archivdireftor maß den aufgeregten Dau⸗ 
mer mit einem gleichgültig-fchnellen Blick. „Ich 
möchte eine ſolche Maßregel nicht ohne weiters 
gutheißen,“ bemerkte ex diplomatijch; „ich glaube 
auh im Sinn de Herrn von Feuerbadh zu 
jprechen, wenn ich Ihnen davon abrate. Wozu 
a8 Beitungsgefchreibe? Was foll es nützen? 
Man muß Bandeln, in aller Vorſicht und Stille 
handeln, das iſt e8." 

„In aller Vorſicht und Stille? Was wollen 
Sie damit jagen?" fragte Daumer ängftlich und 
argwöhniſch. 

Der Archivdirektor zuckte die Achſeln und 
ſchaute zu Boden. Dann erhob er fich, ſagte, er 
wolle am folgenden Nachmittag wiederfommen, um 
Caſpar zu fehen, und reichte Daumer die Hand. 
Als er ſchon auf der Treppe war, eilte ihm 
Daumer nad und fragte, ob es ihn nicht ftöre, 
wenn er morgen fremde Leute hier im Haufe 
treffe, es hätten fich einige Herrichaften zu Be— 
ſuch angefagt. Der Archivdireftor verneinte, 

Es gehörte zu den Charaftereigentümlichkeiten 
Daumers, daß er fich in einmal gefafte Ideen 
bis zur offenfichtlichen Schädlichkeit verrannte. 
Treo der Abmahnung bes bejonnenen Heren 
Wurm begab er fich, faum daß er das Buch des 
Berliner PolizeiratS gelefen hatte, mas weniger 
denn eine Stunde Zeit brauchte, voll Erbitterung 


100 


in die Redaktion der ‚Morgenpoft‘. Der Redak⸗ 
tor Pfifterle war ein hitziges Blut; wie ber 
Geier aufs Aas ftürzte er fich auf dieſe Gelegen- 
heit, feine immer in Vorrat vorhandene Wut und 
Galle loszulaſſen. Er mwollte Material haben, 
und Daumer beftellte ihn für den Mittag des 
folgenden Tages zu fi in die Wohnung. 

Am Abend berichte eine fonderbar ſchwüle 
Luft im Daumerfchen Haus. Während des Nacht- 
eſſens wurde wenig geredet, und Gafpar, der 
von all dem, was rings um ihn vorging, nicht 
im mindeften etwas ahnte, war verwundert über 
manchen prüfenden Blick ober über das büftere 
Schweigen auf eine herzliche Frage. Er hatte 
die Gewohnheit, vor dem Schlafengehen noch ein 
Buch zur Hand zu nehmen und zu lejen; das 
tat er auch heute, und es geſchah nun, dab fein 
Blick, al er das Buch aufgemacht, auf eine bes 
ftimmte Stelle fiel, die ihn veranlaßte, entzüct 
in die Hände zu fchlagen und in feiner herzlichen 
Art zu lachen. Daumer fragte, was e3 gebe; 
Cafpar deutete mit dem Finger auf das Blatt 
und rief: „Sehen Sie nur, Herr Profeſſor!“ 
Seit einiger Zeit hatte er aufgehört, Daumer zu 
duzen, und zwar ganz von felbft und eigentüm- 
licherweiſe faſt an demielben Tag, an welchem 
er zum erften Male Fleiſch genofjen und danach 
frank geworden war. 

Daumer blidte ind Buch. Die von Cafpar 
aufgegriffenen Worte lauteten: „Die Sonne bringt 
es an ben Tag.“ 

„Was gibt’3 dabei zu ftaunen?" fragte Anna, 
die über die Schulter des Bruders gleichfalls in 
das Buch fchaute. 

„Wie ſchön, wie ſchön!“ rief Caſpar aus. 

101 


„Die Sonne bringt es an den Tag. Das ift 
wunderſchön.“ 

Die drei andern ſchauten einander voll ſelt⸗ 
famer Gefühle in die Augen. 

„Meberhaupt ift es ſchön, wenn man fo lieft: 
die Sonne!" fuhr Caſpar fort. „Die Sonne! 
Das hallt jo." 

Als er gute Nacht gemwünfcht hatte, fagte 
Frau Daumer: „Man muß ihn doch lieb haben. 
Es wird einem ordentlich; wohl, wenn man ihn 
in feiner artigen Gefchäftigleit beobachtet. Wie 
ein Tierchen webt er für fich hin, niemals lang» 
weilt er fih, nie fällt er durch Launen zur Laft.” 

Wie verabredet, kam Pfifterle am nächiten 
Tag kurz nach Tiſch, blieb jedoch über Gebühr 
lange figen und verftand nicht die ungeduldigen 
Andeutungen Daumers, der ihn gern vor dem 
Eintreffen der erwarteten Gäfte losgeworden 
wäre. Als diefe um drei Uhr erfchienen, jaß er 
noch immer auf feinem le und blieb auch da. 
Wahricheinlich Hatte es feine Neugierde gereizt, 
daß ihm Daumer den Namen einer der drei 
Perſonen mitgeteilt hatte; es mar dies ein da⸗ 
mals vielgelefener Schriftiteller aus dem Norden 
de3 Reichs. Die andern beiden waren eine hol- 
fteinifche Baronin und ein Leipziger Profefjor, 
der auf einer Romreiſe begriffen war; ein Unter 
nehmen, welches zu jener Zeit, wenigſtens in 
Nürnberg, einem Mann den Nimbus eines Fühnen 
Forſchers verlieh. 

Daumer empfing bie Herrichaften ſehr liebens⸗ 
würdig, und nachdem er Caſpar herbeigeholt 
hatte, zündete er troß der frühen Stunde die 

ampe an, benn ber Nebel lag dicht wie graue 
Wolle vor den Fenftern. Der Leipziger Profeſſor 


102 


309 Caſpar in eine'Unterhaltung, aber er ſprach 
mit ihm wie von Turmeshöhe herunter. Auch 
ließ er feinen Blick von ihm, und die gelblichen 
Augen Hinter den kreisrunden Brillengläfern 
fchimmerten bisweilen boshaft. Währenddem 
famen noch Here von Tucher und der Archiv 
Direktor, Tießen fich den Fremden vorftellen und 
nahmen auf dem Sofa Platz. 

„In deinem Kerker war es alfo immer dunkel ?“ 
gast der Romfahrer und ftrich Iangjam feinen 

art. 

Gafpar antwortete geduldig: „Dunkel, fehr 
duntel.” 

Der Schriftfteller Iachte, worauf ihm der 
Profefjor vielfagend mit dem Kopf zunidte. 

„Haben Sie den Unſinn gehört, der hier in 
der Stadt über feine fürfliche Abkunft geredet 
wird?" ließ ſich jegt die holfteinifche Baronin 
hören, deren Stimme wie aus einem Keller— 
loch kam. 

Der Profeffor nickte wieder und fagte: „In 
der Tat, es werden hier ftarfe Zumutungen an 
die Leichtgläubigteit des Publikums geftellt." 

Eine Zeitlang ſchwiegen alle, wie von einem 
Schuß erſchreckt. Endlich entgegnete Daumer mit 
—5 — timme und mit der Höflichkeit eines 
hlechten Komödianten: „Was veranlaft Sie, 
meine Ehre zu beichimpfen ?" 

„Was mich veranlaßt?“ praffelte der chole- 
riſche Herr auf. „Dieſe Gaufelfuhr veranlaßt 
mich dazu. Der Umftand, daß man ein ganzes 
Land ſtrupellos mit einem albernen Märchen 
füttert. Muß denn der gute Deutſche immer 
wieder da8 Opfer von Abenteurern A la Caglioftro 
werden? Es ift eine Schmach.“ 

103 


‚Herr von Tucher hatte fich erhoben und blickte 
dem Aufgeregten mit fo unverhohlener Gering- 
fchägung ins Geficht, daß dieſer plöglich ſchwieg. 

„Wir find natürlich überzeugt," miſchie ſich 
der Schriftfteller, ein klapperdürrer Herr mit 
kahlem Schädel, vermittelnd ein, „daß Sie, Herr 
Daumer, im beften Glauben handeln. Sie find 
Opfer, wie wir alle." 

Jetzt konnte fich Pfifterle, den die Wut förm- 
lich aufgefchwellt Hatte, nicht länger halten. Mit 
geballten Fäuften fprang er vom Stuhl empor 
und fehrie: „Ja, zum Teufel, warum follen wir 
uns denn das gefallen laſſen? Da kommen fie 
her, niemand hat fie gerufen, kommen her, um 
dagemwefen zu fein und mitreden zu können, haben 
von Anfang an alles beffer gewußt, und wenn 
fie blind wie die Maulwürfe find, werfen ſie fi 
noch ſtolz in die Bruft und rufen: Wir jehen 
nichts, aljo ift nichts da. Warum foll denn das 
ein Unfinn fein, geehrte Dame, was man von 
feiner Abftammung erzählt? Warum denn, bitte? 
Reugnen Sie etwa, daß hinter den Mauern, wo 
unfre Großen wohnen, ſich Dinge ereignen, die 
das Tageslicht = jcheuen haben? Daß dort die 
Verträge des Bluts für nichts geachtet und 
Menjchenrechte mit Füßen getreten werben, wenn 
der Vorteil eines Einzelnen es erheifcht? Soll 
ich mit Tatfachen dienen? Sie können es nicht 
leugnen. Bei uns wenigſtens find bie paar 
Dugend_ Männer noch nicht vergeffen, die ihre 
mutige Freiheitsfahne durch das Land getragen 
und mit brennenden Fadeln in die Lügendämme⸗ 
rung der Paläfte geleuchtet haben.“ 

„Genug, genug!" unterbrach der Profeffor den ' 
tabiaten Zeitungsmann. „Mäßigen Sie fich, Herr!" 
104 


„Ein Demagoge!" fagte die Baronin und ftand 
mit erfchrodenen Augen auf. Der Archivdirektor 
heftete einen vorwurfsvollen und kühlen Blick auf 
Daumer, der den Kopf gefenft und die Lippen 
eigenfinnig gefchloffen hatte. Als er emporfchaute, 
blieb fein Auge mit gerührtem Ausdrud auf 
Caſpar ruhen, der frei und arglos daftand, den 
lächelnden Haren Bli von einem zum andern 
gleiten ließ, nicht als ob von ihm gefprochen 
würde und er daran teilhätte, ſondern als ob 
das bewegte Spiel der Mienen und Gebärden 
lediglich feine Schauluft ermede. In der Tat 
verjtand er faum, wovon die Rede war. 

Der Leipziger Profefjor hatte feinen Hut er⸗ 
geiffen und wandte ſich noch einmal, an Pfifterle 
vorüberfprechend, gran Daumer, „Was ift denn 
bemiefen von den Mutmaßungen törichter Köpfe?“ 
fragte er gellend. „Nichts ift bewieſen. Feſt 
fteht nur, daß aus irgendeinem gottverlafjenen 
Dorf in den fränkischen Wäldern fich ein Bauern- 
tölpel in die Stadt verirrt, daß er nicht ordent- 
lich fprechen kann, daß ihm alle Werke der Kultur 
unbefannt find, das Neue neu, das Fremde 
fremd erfcheint. Und darüber geraten einige 
Turzfichtige, fonft ganz mwadere Männer außer 
fih und nehmen die plumpen Auffchneidereien 
des geriebenen Landftreicher8 für bare Münze, 
Wunderliche Verfchrobenheit!” s 

„Ganz wie der Polizeirat Merker,“ Tonnte 
fich der Archivdirektor nicht enthalten zu bemerken. 
Auch Pfifterle wollte dawiderreden, wurde aber 
durch eine energiſche Kopfbewegung des Herrn 
von Tuer zum Schweigen gebracht. 

Plötzlich wurde von der Frrape draußen das 
Rollen einer Kutſche hörbar. Direktor Wurm ging 


105 


zum Fenfter, und nachdem der Wagen vor dem 
8 gehalten hatte, fagte er: „Der Staatsrat 
mm." 


„Wie?" entgegnete Daumer raſch. „Herr 
von Feuerbach?" , 
„sa, Herr von Feuerbach.” 
in feiner Benommenheit verfäumte Daumer 
die Pflicht des Hausherrn, und als er fih_auf- 
taffte, um den Präfidenten zu empfangen, ftanb 
diejer ſchon auf der Schwelle Wit feinem Im- 
peratorenblick überflog er die Gefichter aller An- 
wefenden, und als er den Archivdirektor gemahrte, 
fagte er lebhaft: „Gut, daß ich Sie treffe, Lieber 
Wurm, ich habe etwas mit Ihnen zu ſprechen.“ 
Er terug die einfache Kleidung eines Privat- 
mannes, und außer einem Eleinen Ordenskreuz 
neben dem Halsaufichlag des Rockes war keinerlei 
Schmuck an ihm zu Teen, Die außerordentlich 
ſtolze Haltung des gedrungenen, maffigen Kör— 
pers und das fteif Aufrechte, foldatifch Gebietende 
feines ftet3 etwas zurüdgemworfenen Hauptes er- 
weckten ehrfurchtsvolle Scheu; fein Geficht, auf 
den erften Anblic dem eines verdrieplichen alten 
Fuhrmanns ähnlih, wurde durch die dunfel- 
güühenben Augen, in denen die Unraft geiftiger 
eidenfchaften lag, und durch die feſtgeſchloſſenen, 
tühngebogenen Lippen geabelt. 
Er machte nicht den Eindrud eines Mannes, 
der viel Zeit hat. Troß der Würde, die ihm 
jein Amt verlieh und die er nicht verringerte, 
jatte fein Auftreten etwas Heftiges, und in der 
et, wie er die im Zimmer Verſammelten be- 
rüßte, war Förmlichkeit und Strenge enthalten. 
3 wirkte darum erſchreckend auf alle, als ihm 
Eafpar ungezwungen entgegentrat und ihm von 


106 


ſelbſt die Hand hinftredte, die Feuerbach auch 
if ja fogar eine Zeitlang in der feinen 
ehielt. 


Cafpar war es wunderlich wohl gemorden, 
feit der Präfident eingetreten war. Ex hatte oft 
an ihn gedacht, feit er mit ihm auf dem Ge— 
fängnisturm gejprochen hatte, und feit dem erften 
Händedrud. liebte er beſonders die Hand des 
Präfidenten, eine warme, harte, trockene Hand, 
die fi) mwohlverfchloß beim Gruß, als ob fie 
laubmwürdige Verfprechungen gäbe, und bie eigne 
Sant ruhte dabei fo ficher in ihr wie der müde 

irper abends im Bett. 

Daumer geleitete den Präfidenten und ben 
Direktor Wurm in fein Studierzimmer und kehrte 
dann zurüd, Die fremden Gäfte ſchickten N an 
zu gehen, fie hatten durch die Dazwiſchenkunft 
Feuerbachs etwas von ihrer überlegenen Haltung 
verloren. Cafpar wollte der Dame in den Mantel 
Helfen, doch fie machte eine abmwehrende Gefte 
und folgte eilig ihren Begleitern. Herr von 
Tucher und Pfifterle entfernten fich ebenfalls. 

Cafpar nahm ein Schreibheft aus der Lade 
und ſetzie fich zur Lampe, um feine Iateinifche Arbeit 
anzufertigen, da kamen der Präfident und Direktor 
Wurm wieder ins Zimmer. Kar ging auf 
Cafpar zu, legte die Hand auf fein Haar, bog 
den Kopf des Fünglings leicht zurüd, jo daß ber 
Lampenſchein voll in Caſpars Geficht fiel, be 
trachtete ſeltſam lange und mit bohrender Aufs 
merkſamkeit das feinem Blick ftillhaltende Antlitz 
und murmelte endlich, gegen Wurm gewendet, 
tief atmend: „Reine Taͤuſchung. Es find die 
felben Züge.“ 

Der Arhiobirettor nickte ſtumm. 

107 


„Das und die Träume... zwei wichtige 
Indizien," fagte der Präfident mit dem gleichen 
Ton von Vertieftheit. Er fchritt zum enter, 
die Hände auf dem Rüden, und’ fah eine Weile 
hinaus. Darauf wandte er fih zu Daumer und 

te unvermittelt, wie es mit Caſpars Er- 
nährung ſtehe. 

Daumer erwiderte, er habe in letzter gi 
versucht, ihn an Zleifchkoft zu gewöhnen. „Zus 
erſt hat ex fich ſehr gewehrt, auch hat es den 
Anfchein nicht, als ob die veränderte Diät ihm 
jr zuträglich fei. Es ift Kon zu befürchten, 

aß fie feine inneren Kräfte weſentlich ver 
mindert. Er wird zujehends ftumpfer.” 

Feuerbach zog die Stirn empor und deutete 

egen Caſpar. Vaumer verjtand den Wink und 
——z8 Caſpar auf, zu den Frauen hinüberzu—⸗ 
jehen. Er wartete nicht ab, bis der Jüngling 

3 Zimmer verlaffen hatte, ſondern fuhr mit 
beffommenem Eifer fort: „An demſelben Tag, 
100 Cafpar zum erftenmal Fleifch genoß, fchnappte 
der Hund uͤnſers Nachbars, der ihm bis dahin 
höchſt zugetan war, nach ihm und bellte ihn wütend 
an. Das war mir eine wunderbare Lehre." 

Der Präfident entgegnete finfter: „Dem mag 
fein, wie ihm wolle. Aber ich mißbillige die zahl- 
lofen Erperimente, die Sie mit dem jungen 
Menfchen vornehmen. Wozu das alles? Wozu 
magnetifche und andre Kuren? Man berichtet 
mir, daß Sie gegen gewiſſe krankhafte Zuftände 
bomdopathifche Seitmitte anwenden. Wozu? 
Das muß einen jo zarten Organismus aufreiben. 
Die Jugend ift e3, die die Krankheiten heilt.“ 

„Ich bin erftaunt, daß Eure Erzellenz da— 
gegen etwas einzuwenden haben,“ verſetzte Dau⸗ 
108 


mer Talt und demütig. „Der menfchliche Körper 
wird oft von vorübergehenden Leiden befallen, 
denen auf homöopathiihem Weg am beften bei- 
zukommen iſt. ſt vorigen Montag hat, wie 
ich beftimmt verfichern Tann, eine Kleine Dofis 
Siligen Wunder gewirkt. Kennen Eure Erzellenz 
nicht den ſchönen, alten Sprud: 


Ein kluger Arzt, der nimmt da feine Hilfe her, von wo ber 

Zöft Salafucht auf durch Salz, Ibſcht — — 
öft Salzfucht auf durch Salz, uer aus buch Flammen. 
hr Kinder der Natur, ihr zieht Rachen aufammen, 

‚Macht weniges aus viel und wirtet viel Durch wenig.”, 


Feuerbach mußte unmillfürlic lächeln. „Mag 
fein, mag fein," polterte er, „aber damit it 
nichts bewieſen, und wenn auch, fo trifft e8 die 
Sache nicht." 

„Meine Sache fteht auch nicht darauf." 

„Um fo beffer. Vergefjen Sie nicht, daß hier 
ein Recht durchzufegen ift, das Recht eines Lebens. 
Iſt e8 nötig, deutlicher zu fein? Ich glaube 
Taum. Gar bald, ich hoffe es, wird das Dunkel 
fi lüften, das über den rätjelhaften Menfchen 

ebreitet ift, und der Dank, den ich und andre 
hnen ſchon jest jhulden, lieber Daumer, wird 
nicht durch ein Mißvergnügen geichmälert fein, 
Hr ſich Ay Ihre vielleicht ſchädlichen Irrtümer 
eften muß.” 

Das Klang feierlich. 

Man kanzelt mic) ab wie einen Schulbuben, 
dachte Daumer erbittert, als der Präfident und 
Direktor Wurm fich verabfchiedet hatten; was ift 
mir doch in den Kopf gefahren, daß ich die Sache 
des heimatloſen Findlings zu meiner eignen 
machen mußte? Wär’ ich nur bei meinem Leiften 
geblieben, in meiner Einjamteit. 

109 


Es geht mich wenig an, was fie da über jein 
Schickſal fabeln, fuhr er in feinen verdroffenen 
Ueberlegungen fort; allerdings, der Ton des 
BVräfidenten läßt auf etwas Ungemwöhnliches 
ſchließen; das feltfame Gerede über Caſpars Her- 
funft, follte es wirklich einen Pau haben? Gleich- 
viel, was wäre das mir? Ob eine Bauern, 
ob eines Fürften Sohn, was würde es bejagen? 
Freilih, wenn fo ein hoher Herr einem in den 
Weg läuft, gibt man ſich als beflifjenen Diener; 
verbriefter Adel und erlauchte Abftammung for 
dern nun einmal den Reſpekt des Bürgers. Doc 
ein andre ift das Leben und ein andre die 
ee; ein andres, den Mächtigen zu willfahren, 
weil es zwecklos ift, ihnen zu trohen, und ein 
andres, ihrer zu vergeffen, eingefchlofjen und ge- 
feit in der goldenen Wohnung der Philofophie. 
Bwifcheninne führt die Grenze, die den Menjchen 
aus Staub von dem Menfchen aus Geift trennt. 
Sollte ih in meinem Optimismus zu weit ge— 
gangen fein, wenn ich in Gafpar den Menfchen 
aus Geift ſah? Noch fteht es zu bezweifeln. 

Ein Gedanfengang, der nicht frei von ahnungs⸗ 
voller Betrübnis war. 


Daumer ftellt die Metaphyſik auf die 
Probe . 

Der Präfident blieb länger als eine Woche 
in der Stadt. Während diejer Zeit kam er ent- 
weder ind Daumerjhe Haus, um Gafpar zu 
fprechen, oder er ließ den Jüngling zu fih in 
den Gafthof rufen. Feuerbach liebte nicht Zeugen 
110 


feines Zuſammenſeins mit Gafpar. Seit er an 
einem ber erften Tage mit ihm durch die Straßen 
gegangen war g3 der früh gealterte, doc) mächtig 
anzufchauende Mann neben dem zarten, ein wenig 
gebückt gehenden jungen Menſchen allentyalben 
Auffehen erregt hatte) und an einer Edle, an der 
die beiden vorüber mußten, ein Kerl wie aus der 
Erde gewachjen plöglich neben ihnen hergefchlichen 
mar, verzichtete der Präfident darauf, ſich mit 
feinem Schügling öffentlich zu zeigen. 

Seine Gefpräche mit Caſpar, jo geſchickt fie 
auch eine Beziehungslofigkeit bisweilen vortäufchen 
mochten, verfolgten natürlich einen ganz be 
ftimmten Zweck. Cafpar, der davon wenig merkte, 
teilte fich feinem hohen Gönner ohne Befangen- 
heit mit, und durch fein unfchuldiges Geplauder 
wurde Feuerbachs Herz oft jonderbar bewegt, fo 
daß er, dem Wort und Sprache in Fülle ge 
geben waren, fich nicht felten zum Schweigen ver- 
urteilt fand: Ya, er verlor an Sicherheit; 
„Caſpars Blick gleicht dem Glanz eines morgend» 
lich reinen Himmels, bevor die Sonne aufgeht,“ 
ſchrieb er an eine altvertraute Freundin, „und 
manchmal ift mir unter diefem Blick zumute, als 
hielte der raſend dahinftürmende Schiefalswagen 
um erften Male ftill; die ganze Vergangenheit 
Yet auf, erlittene Wilke und der Trug des 
Rechts, die Kränkungen des Neides und manche 
Tat, deren Früchte gen und efel am Wege liegen. 
Dazu kommt, dafs ich in betreff feiner unbekannten 
Herkunft auf einer Spur bin, die mich, ich fürchte 
ſehr, an den Rand eines verberblichen Abgrunds 
Fahrt, wo es gilt, ſich den Göttern zu vertrauen, 

enn Menſchen werben dort keinem Geſetz mehr 
untertan fein." 
11 


Am lebten Tag der Anweſenheit Feuerbachs 
ige fih Cafpar eine Stunde vor Abend zum 
usgehen an, da der Präfident ihn zu fich bes 
ftellt hatte. Er trat ins Wohnzimmer, um zu 
jagen, daß er gehe, und fand Anna Daumer allein. 
Sie jap am Fenſter und las gerade das Büch- 
lein des Polizeirats Merker. Kaum daß Cafpar 
die Tür geöffnet, verſteckte fie das Heft raſch und 
erſchreckt unter der Schürze. „Was leſen Sie 
denn da und warum verbergen Sie e8 denn?“ 
fragte Caſpar lächelnd. 

Anna errötete und ftotterte etwas. Darauf 
ſchaute fie mit feuchten Augen empor und fagte: 
„Ah, Cafpar, die Menfchen find doch gar zu 
ſchlecht.“ 

Er entgegnete nichts, ſondern lächelte noch 
immer. Das erſchien Anna auffallend, aber 
Cafpar dachte ſich meiter gar nichts dabei. 
Es war eine jeiner Seltfamkeiten, daß er fich 
nie entſchließen konnte, eine Frauensperjon ganz 
ernft zu nehmen; Frauenzimmer fönnen nichts 
als dafigen und ein wenig nähen oder ftriden, 
pflegte er zu fagen; fie eſſen und trinken unauf« 
hörlich und alles durcheinander und deswegen find 
fie immer frank; auf andre Weiber jchmähen fie 
und wenn fie dann mit ihnen beifammen find, 
tun e ſchön und lieb. Als er einmal in ſoicher 
Weife redete, beklagte fich Frau Daumer, doc er 
antwortete ihr: „Sie find fein Frauenzimmer, 
Sie find eine Mutter." Auch ereignete es ſich 
einft, daß er bei einem Barabenıg von Geil 
tänzern einem zu Pferd figenden Mädchen, deifen 
bunter Bug und Reitkunft feine Aufmerkſamkeit 
erwedt hatte, ein ‚paar Straßen weit folgte; 
darüber ärgerte er ſich nachher gewaltig, und er 
112 


meinte, nunffei ihm doch auch einmal gejchehen, 
was bei andern, wie er höre, zumeilen ber Fall 
fei, er fei einem Weibe nachgelaufen. 

Er fagte, daß er zum Nachteffen wieder zu 
Haufe fein werde, aber Anna erwiderte, daß ſei 
wohl zu fpät, ihr Bruder habe davon gefprochen, 
daß er den Abend mit Cafpar bei ber Magiftrats- 
rätin Behold verbringen wollte; die Rätin habe 
ſchon einige Male darum gebeten, fie fei eine 
einflußreiche Perſon, und wenn Daumer fic nicht 
eine Feindin an ihr machen wolle, müffe er der 
Einladung folgen. 

„Der Ser: Präfident geht vor," fagte Caſpar 
verdroffen und ging. 

Es war mildes Wetter, der Schnee war längit 
verfchmunden, weiße Wolken zogen über die fo 
giebligen Dächer hin. Als Cafpar in das Zimmer 
trat, das der Präfident bewohnte, ſaß dieſer am 
Schreibtifch und blickte mit zurückgelehntem Körper 
düfter finnend ins Leere. Erſt nad) einer Weile 
wandte er jich zu Cafpar und redete ihn, aus 
feinem dunfeln Nachdenken heraus, ohne Be— 
geüßung an. „Ich kehre morgen nad, Ansbach 
zuruͤck, Cafpar, wie Sie ja willen," begann er 
und verdeckte die Augen mit der Hand; „Sie 
werden mich einige Wochen, ja vielleicht monate- 
lang nicht jehen. Ich möchte hie und da von 
Ihnen Nachricht haben, von Ihnen ſelbſt, will 
Sie aber nicht auffordern, mir regelmäßi 
Schreiben, damit Ihnen nicht eine ungern erfüllte 
Pflicht daraus erwachſe. Nun dachte ich mir, 
"Ihnen eine Gelegenheit zur Mitteilung zu geben, 
bei der Sie mehr auf fich felbft als an andre 
gewieſen find. Sie follen nicht zur Rechenſchaft 
befohlen fein, aber was Sie einem Freund oder 

Baffermann, Caſpar Haufer 8 118 


jagen wir Ihrer Mutter vertrauen würden, 
follen Sie hier bewahren.” 

Damit reichte er Cafpar ein in blauen Pappen⸗ 
deckel gebundenes Schreibheft. Caſpar ergriff. es 
mechanisch und las auf einem weißen heraförmigen 
Schildchen: Tagebuch — Stundenbuch für Caſpar 
Hauſer. Er ſchlug es auf und gewahrte, auf der 
erſten Seite eingeklebt, das Bild Feuerbachs und 
darunter, von der. Hand des Präfidenten gefchrieben, 
die Worte: Wer die Stunde liebt, der liebt Gott; 
der Lafterhafte entflieht fich ſelbſt. 

Caſpar ſchaute den Präfidenten mit großen 
Augen ängftlih an. Er wiederholte & fi im 
ftillen, mit fichtbarer Bewegung der Li , die 
gefchriebenen Worte und dann, was der Präfident 
zu ihm gejagt; alles verfloß im Nebel und, des 
feierlichen Tones halber, in eine Ahnung von 


X. 

Es pochte an der Tür und auf das Herein 
des Präfidenten brachte ein Eilbote einen Brief. 
Raum hatte Feuerbach, ohne das Schreiben zu 
öffnen, einen Blick auf das Siegel geworfen, als 
er die Handglode läutete und dem eintretenden 
Diener den Befehl gab, es folle ſogleich angefpannt 
werden. „Ich muß noch diefen Abend reifen," 
fagte er zu Gafpar. 

In unbeftimmten Laufchen und Warten blieb 
Caſpar ftehen. Der Poftillon im Hof knallte mit 
der Peitſche. Ein Hauch der Ferne ummehte Caſpar, 
ex fpürte plößlich etwas von der Größe der Welt, 
und die Wollen am Himmel ſchienen Arme her- 
unterzuſtrecken, um ihn emporzuheben. Als ihm 
der Präfident die Hand zum Abfchied reichte, bat 
er fchmeichelnd, mit verlangendem Lächeln: „Möcht' 
aud mitfahren." 

114 


„Wie, Cafpar!" rief der Präfident in ges 
fpielter Weberrafhung, und plößlich wieder das 
frühere Du der Anrede wählend, „willft du denn 
fort von den Nürnbergern? Haft du denn ver- 
sehen, was du deinem gütigen Pflegevater ſchuldig 

ft? Was würde Here Daumer fagen, wenn 
du ihn fo undankbar zeriepeft und viele andre 
wackere Männer, die ſich deiner angenommen 
haben? Es erftaunt mich, Caſpar. Bift du 
denn nicht gern hier?" 

Caſpar ſchwieg und fenkte die Augen. Hier 
ift immer dasfelbe, dachte er. Er fehnte ſich fort; 
ex dachte, einmal könne man fortgehen, man könnte 
in der Nacht das Tor öffnen und könnte gehen, 
ohne den Weg zu wiſſen. Vielleicht Täme dann 
einer, um zu fragen: wohin, Gafpar? Und er 
führte ihn zu einem Schloß, vor dem viel Volks 
verfammelt ift; drinnen ruft eine Stimme Caſpars 
Namen, die Seute machen Platz und viele Arme 
deuten auf da8 Tor, dem er zufchreitet. 

„Sprich!“ mahnte dev Präfivent barſch. 

„Ste find alle gut mit mir," flüfterte Caſpar 
mit zudenden Lippen. 

„Nun aljo!" 

Es ift nur —" 

"Was? Was ift —? Heraus mit ber 
Sprache!“ 

Caſpar ſchlug langſam die Augen auf, machte 
mit dem Arm eine weite Gefte, als wolle ex den 
ganzen Erdkreis in das Wort einbeziehen und 
jagte: „Die Mutter." 

Feuerbach wandte ſich weg, ging zum Fenfter 
und blieb ſchweigend jtehen. 

Eine Viertelftunde fpäter jhritt Cafpar durch 
die engen Gafjen beim Rathaus und kam als- 


115 


bald auf den menfchenverlafjenen Egydienplatz. 
Es war fchon_ dunkel geworben, vor der Kirche 
brannte eine Dellaterne, und während er nad) 
lints abbog, wo das niedere Buſchwerk einer 
Gartenanlage den Platz gegen die gaufergaffe ſchloß, 
gewahrte er einen ruhig ſtehenden Mann, der 
gebeugten Kopfes nach tom herſah. Cafpar ging 
ein wenig langjamer, plötzlich ſah er, daß der 
Mann den Arm erhob und mit dem Finger winkte. 

Gafpars Herz Hopfte Iaut. Irgend etwas 
zwang ihn, der jtummen Aufforderung des Un- 
befannten zu folgen. Der Mann fuhr fort, mit 
dem Finger zu winken, und wie hingezogen tat 
Caſpar ein paar Schritte auf ihn zu. Da ging 
der Mann tiefer in das Gehölz, hörte aber nicht 
auf zu winken. Caſpar konnte fein Geficht nicht 
jehen, das unter dem weit in die Stirn gedrüdten 
Hut verſteckt war. 

Er folgte dem Menſchen, obwohl alle Fibern 
ſeines Leibes widerſtrebten, mit Grauen fühlte er 
fich Schritt um Schritt gezogen, feine Augen waren 
aufgerifjen, Staunen und Schreden lagen in feinem 
Geliht, und die Hände hielt er mit gefpreizten 
Fingern von fich geftredt. 

Schon war er dem Unbelannten fo nahe, daß 
er deſſen gelbe Zähne zwiſchen den Lippen 
ſchimmern ſah, und wer weiß, was gejchehen 
wäre, wenn fich nicht in diefem Augenblid auf 
der andern Seite des Gebüfches ein Trupp be 
trunfener junger Leute hätte hören lafjen; der 
fremde Mann ftieß einen gurrenden Laut aus, 
büctte fich vafch und war unter dem Schub des 
Laubwerks im Nu verſchwunden. 

Auch Cafpar kehrte um und rannte gegen die 
Kirche; er Tief geradesweg3 mitten in die Schar 
116 


der Lärmmacher hinein, die ihn aufzuhalten fuchten, 
und fo vermifchte fich ein Schreden mit dem 
andern. Nur mit Mühe riß er fich los, einige 
folgten ihm jchreiend, er verboppelte feine Eile, 
der Hut fiel ihm vom Kopf, er ließ ihn liegen, 
rannte, fo ſchnell er fonnte, durch die Judengaſſe 
und weiter und gu exft wieder langjamer, als 
er ſich auf der Brüde zur Infel Schütt befand. 

Daumer war ſchon unruhig geworden und 
wartete vor dem Haustor. Betroffen hörte er 
Caſpars haftigen und unklaren Bericht an, und 
nach einiger Ueberlegung meinte er, er glaube 
nicht recht an das Abenteuer; „da hat dir wohl 
deine allweil erregte Phantafie einen törichten 
Streich gefpielt,“ fagte er ungewöhnlich ftreng. 
„Nein, es ift wirklich wahr," beteuerte Cafpar. 
Dann klagte er, daß er den Hut verloren habe, 
und fchließlich zeigte er, auf einmal ganz heiter 
geworden, das Heft, das ihm der Präfident ge 
ſchenkt und daS erwährend der ganzen Beit frampf- 
haft in der Hand feitgehalten hatte. 

Berftreut befah e3 Daumer. „Hat dir Anna 
nicht gejagt, daß wir zur Magiftratsrätin gehen ?“ 
fragte er mißgelaunt. „Es iſt höchſte Zeit; mach 
flink und zieh dir den Sonntagsrod an.“ 

Caſpar fchaute ihn mit fchrägem Blid von 
unten an und ging zögernd ins Haus. Daumer, 
der fchon im Goefellichaftsfleid war, wandelte 
zweimal bis zum Pegnigufer und wieder zurüd; 
eine halbe Stunde verfloß und Caſpars langes 
Ausbleiben machte ihn endlich ungeduldig. Er 
eilte die Stiege hinan und betrat Caſpars Zim— 
mer, wo eine Kerze brannte. Zu feinem Aerger 
nahm er wahr, daß Cafpar angefleivet auf dem 
Bette lag und jchlief. Er rüttelte ihn an der 


117 


Schulter, ließ aber plötzlich ab, durchmaß ein paar- 
mal das Bimmer, ohne feines Mibmuts Herr zu 
werden, dann ftieß er zornig hervor: „Ach was, 
fol die Neugier der guten Leute um ihren Schmaus 
betrogen werden!" 

Durch den finftern Flur ſchritt er ins Gemach 
der Schweiter, die vor dem Klavier jaß und fpielte, 
Er Tegte ihr den Fall vor und Anna gab ihm 
ohne weiteres recht, daß er Cafpar zu Haufe 
laffe. „Dann muß jemand zur Rätin und unfer 
Ausbleiben entjchuldigen,“ fagte Daumer in einem 
Ton, al3 ob das Verſäumnis fonft fchlecht aus- 
nr legt werben könne und er Unannehmlichkeiten 

u befürchten habe. Anna erwiberte, die Magd 
* nicht da, und nach einigem Beſinnen erklärte 
ſie 1) bereit, den Gang felbft zu tun. 

Als fie fort war, Pte fi) Daumer zu den 
Büchern, rüdte die Sampe zurecht und lad. Doch 
er hatte ein fchlechtes Gewiſſen und fuhr bei 
jedem Laut zufammen. Nach einer geraumen 
Weile hörte er Schritte; Anna trat hinter feinen 


Stuhl und ſagte Yaftig, die Magijtratscätin fei. 


mitgelommen, um Caſpar zu holen. Daumer 
fprang auf; „Daß heiße ich den Spaß zu weit 
etrieben,“ murmelte er entrüftet. Anna legte 
ihm die Sand auf den Mund, denn ſchon ftand 
die Rätin in der Türe; reich gefchmückt, im Geiden- 
mantel, ein Toftbares Spihentuch um den Kopf. 

Sie war eine nicht mehr ganz junge, aber 
ſehr ftattliche Frau, „ungemäßnti groß gewachſen, 
mit ungewöhnlich Hleinem Kopf. In ihrem Be- 
tragen vermifchte ſich das Modiſch-Franzöſiſche 
und das Nürnbergerifch- Provinzliche auf eine 
nicht immer gan einwandfreie Weije, und mo 
jenes zur Geltung fommen follte, gudte dieſes 
118 


wie der Zipfel eines fchlechtverborgenen Armeleut- 
gewands unter einer brofatenen Tunika hervor. 

Sie raufchte auf Daumer zu, majeftätifch wie 
eine ſchaumige Woge, und ber gute Dann, nieber- 
gejchmettert von jo viel Glanz, vergaß feinen 
Groll und führte die bargereichte Hand der Dame 
an feine Lippen. „Muß ich jelbit Sie an Ihr 
Verſprechen erinnern?" rief fie mit einer fonoren, 
Träftigen Stimme. „Was foll’3 bedeuten, Pro- 
ſeſſor? Was ift vorgefalen? Weshalb die Ab- 
jage? Sie jehen, ich verlaffe meine Gäfte, um 
ein Wort einzulöfen, das Ihnen zu brechen jo 
leicht wird. Keine Ausflucht, lieber Daumer, 
Caſpar muß mit, wo ift ev?" 

„Er ſchläft,“ erwiderte Daumer zaghaft. 

„Nom de Dieu! Er ſchläft! Daß dich das 
Mäusle beißt! So wird man ihn halt wecken. 
Marſch, marjch, voran!" 

Daumer hatte nicht den Mut, zu widerfprechen, 
dies zupackende Gebaren beraubte ihn der gegen- 
ftändlihen Gründe Er nahm die Lampe und 
jchritt voraus. Anna, die zurüchlieb, räufperte 
ſich empört, dies beirrte aber Frau Behold feines- 
Ze als Antwort zuckte fie nur verächtlich die 

ein. 

Daumer ſtand ſo verſonnen an Caſpars Lager, 
daß er die Lampe wegzuſtellen vergaß. er 
Tat mochte es ſchwerlich etwas Schöneres zu fehen 
geben als den Engelsfrieden und die rofenhafte 
Heiterkeit, Die au dem Geficht des Schläfers 
leuchteten. Frau Behold fatug unmilltürlich die 
en zufammen, und darin lag Wahrheit und 

e 


„Beftehen Sie noch darauf, ihn zu medten ?" 
fragte Daumer richterlih. „Der Schlaf ift heilig. 
119 


Die feligen, Geifter werden fliehen, fobald unfre 
Hand ihn berührt.“ 

Frau Behold klappte die Lider auf und zu, 
als wolle fie das bißchen Rührung davonjagen, 
wie man liegen mit einem Wedel vertreibt. 
„Schön — “ fpottete ſie, und ihre Stimme 
Ira wie das Nädchen einer Spindel. „Aber 

ich beftehe auf meinem Schein. Ich will dem 
Yuben was dafür fchenken, und was die feligen 
Geiſter betrifft, die kommen wieder, zum Schlafen 
gibt's Nächte genug.” 

Während Daumer den Schlafenden bei den 
Schultern emporhob und durch zärtliches Zureden 
mehr ſich ſelbſt als Caſpar zu beichwichtigen fchien, 
zeigte fich in dem Heinen Geſicht der Frau Behold 
eine wunder! liche Erregung. Sie blinzelte mit 
den Augen, ihre Unterlippe wurde ſchlaff und 
entblößte eine fehmale, feite Zahnreihe wie bei 
einem Nagetier. „Pauvre diable,* murmelte fie, 
„armes Herzle," und erfaßte Caſpars Hand. 

Davon erwachte Caſpar völlig, befreite die 
Hand mit einem Ruck umd fehüttelte fich. Sein 
teunken-müder Blick fragte, was man mit ihm 
vorhabe, Daumer erflärte e3, fchenkte Waſſer in 
ein Gla3 und gs es ihm zu trinken, nahm den 
Sonntagsrod‘, der ſchon bereitlag, und hielt ihn 
zum Anziehen bin. 

Caſpar heftete den verdunfelten Blick auf Frau 
Fam und fagte trogig: „Sch will nicht zu der 

au.“ 


„Wie, Caſpar?“ rief Daumer erftaunt und 
verlegt. Zum erftenmal vernahm er dies „ich 
will nicht", zum erjtenmal ftand Caſpars Wille 
gegen ihn auf. Cafpar war felber erſchrocken, 
jein Blick war ſchon wieder gefügig, als Daumer 
120 


mit ernfbaftem Ton fortfuhr: „Ich aber will es. 
Ich will aud, daß du die Dame um Verzeihung 
bitteft. Es gebt nicht an, daß du eine Laune 
über dich Herr werden täßt. Wenn wir und der 
Nuüdfichten gegen die Menſchen entbinden würden, 
ſtunden wir alle ſo hilflos da wie du am erſten 
Tag. 

pie niedergefchlagenen Augen tat Cafpar, 
was ihm befohlen worden. Frau Behold nahm 
den ganzen Auftritt nicht ſchwer. Sie tätfchelte 
Caſpars Wange und fand den Profeffor Daumer 
ziemlich komiſch. 

Eine halbe Stunde fpäter waren fie in den 
feftlich erleuchteten Zimmern der Rätin. Caſpar, 
von Menſchen umdrängt, mußte die gewöhnliche 
Zlut der Fragen über fich ergehen lafjen. Frau 
Behold wich nicht von feiner Seite, fie lachte 
beinahe zu allem, was er fagte, und er wurde 
allmählich verwirrt und unruhig, empfand Angjt 
vor den Worten; es fchien ihm gefährlih, zu 
fprechen, e3 war, al3 ob alle Worte zweifach vor- 
handen wären, einmal offenbar, da8 andre Mal 
verhüllt, und fo wie die Worte hatten auch die 
Menfchen etwas Zwiefaches, und unwillkürlich 
ſuchten feine Blicke in ein und derjelben Perfon 
die zweite, die lauernd Hinterherging und ver- 
führerifch mit dem Finger winkte. 

Es war ihm unverftändlid, was fie von ihm 
wollten, ihre Kleidung, ihre Gebärden, ihr Niden, 
ihr Lächeln, ihr VBeifammenfein, alles war ihm 
unverftändlich, und auch er felbft, er felbft fing 
an, fich unverftändlich zu werden. 

Indeſſen verlebte Daumer eine böfe Stunde, 
Frau Behold, die ftolz darauf war, ihr Haus 
zum Sammelort vornehmer Fremden zu machen, 

121 


hatte heute einen Heren zu Gaſt, der, wie man 
fich erzählte, unter faljchem Namen reifte, da er 
in wichtiger diplomatifcher Mifftion nad) einer 
Nefidenz im Often des Landes unterwegs jei. 
Man raunte ſich auch zu, daß der hohe Fremde 
großes Intereſſe an dem Findling Haufer nehme 
und daß er vielen einflußreichen Perfonen gegen- 
über fich abfällig und tadelnd über die unfinnigen 
Gerüchte geäußert habe, die Caſpars Herkunft 
zum Gegenftand hatten. Und man muß geftehen, 
daß die einflußreichen Perfonen fich dem Gewicht 
einer ſolchen Meinung nicht verfchloffen, aber das 
Treiben de3 vornehmen Herrn gab auch Anlaß 
zu mancherlei Verdacht, und der Redakteur Pfifterle, 
Querulant wie immer, behauptete fogar, der 
diplomatifche Herr fei nach feiner Anficht nichts 
andre al3 ein verfappter Spion. 

Wie dem auch war, von all diefen Neuig- 
keiten hatte Daumer in feiner Weltverlorenheit 
nichts erfahren. Der Fremde gefellte ſich nach 
kurzer Weile zu ihm, und fie kamen ins Geſpräch, 
wobei es jener leicht anzuftellen wußte, daß fie 
fi von den übrigen Gäften abfonderten. Dau- 
mer, eingeſchüchtert durch die Manieren, die delis 
Tate Zmanglofigfeit des hohen Herrn, defien Rod- 
bruft voller Orden hing, mußte zuerjt faum etwas 
zu jagen, antwortete bloß wie ein Schüler mit 
nein und ja. Allmählich gab er fic freier und 
erzählte feinem Zuhörer vieles von Caſpar, kam 
auf defjen furchtfames Wefen zu fprechen und 
ſchilderie wie zur Erläuterung das Benehmen des 
Yünglings‘, als er heute abend, vor einem ein 
jebildeten, ohne Bmeifel eingebildeten, Verfolger 
üchtend nach Haufe gefommen mar. 

Der Fremde hörte aufmerkfam zu. „Vielleicht 
122 


bat er _fich aber gar nicht getäufcht," entgegnete 
er vorfichtigen Tons, „ed mag na Da mancherlei 
in der Verborgenheit abfpielen. Meines Wiſſens 
haben ja aud Sie, lieber Profefjor, vor längerer 
‚Zeit eine Art von Warnung erhalten. Sie dürfen 
fih daher nicht wundern, wenn aus gemifjen 
Drohungen Ernft wird.“ 

Daumer ftußte, doch der Fremde fuhr mit 
Hiebenswürdiger Offenheit, fcheinbar harmlos 
plaudernd, fort: „Sie follten fih an den Ge 
danken gewöhnen, daß da Mächte im Spiel find, 
die vor nicht zurückſchrecken, um ihre Maßregeln 
mit Nachdruck durchzuführen. Das unruhige Ge 
muntel wird vielleicht als ftörend empfunden, 
vielleicht hat man etwas auf dem Kerbholz und 
möchte die Deffentlichkeit vermeiden. Vorläufig 
mag es der Gewalt, die da im Hintergrund ift, 
darum zu tun fein, die Dinge möglichft in Ver— 
borgenheit abzumachen, aber fie könnte wohl auch 
offenes Spiel treiben, fie könnte der Polizei und 
den Gerichten mit Gemütsruhe die Hände binden. 
Einftweilen begnügt man ſich aber, die Fäden 
binter den Kuliffen zu ziehen." 

Bon neuem ſtutzte Daumer; die Worte feines 
Gegenüber fchienen einen genauen Bezug zu haben; 
doch der Fremde ließ ihm feine Zeit zu Überlegen, 
er fuhr mit heller Stimme, faft vertraulichen 
Tone fort: „Ich glaube vor allem, daß man 
die Verbreitung all des hirnlofen Geſchwätzes 
durch das bequeme und naheliegende Mittel der 
Druckſchrift fürchtet und ahnden wird. Man 
demaskiert ſich dort oben ungern, noch weniger 
will man von andern demasfiert werden, man 
liebt es nicht auf den Markt zu treten, noch feine 
privaten Angelegenheiten da ausgeboten zu ſehen; 

128 


das ift begreiflich. Der Staatsbürger hat Frei⸗ 
heiten genug; in feinem Bereich mag er fich tum- 
meln, nach oben joll ex fich gebunden finden.” 

Was war das? Daumer meinte zu verftehen, 
worauf es hinauswollte; er bejchloß, dem dunkeln 
Befehl zu gehorchen; war doch dem Zwang ſchon 
feine eigne Freiwilligkeit zuvorgefommen. 

„Ich möchte mir eine Frage erlauben, ver- 
ehrter Profefjor," begann der Fremde wieder; 
„Sind Sie wirklich überzeugt, daß der hergelaufene 
Rnabe, an dem ich auf meine Art, ich will es 
nicht Teugnen, ein gewiſſes äußeres Intereſſe 
nehme, die ununterbrochene Aufmerkſamkeit ernſt⸗ 
after Männer verdient und rechtfertigt? Lohnt 
e3 fich denn, die ganze Welt mit feiner zweifel⸗ 
haften Sache zu beichäftigen? Was bleibt für 
die großen Angelegenheiten ber Nation, der 
Wiſſenſchaft, der Kunft, der Religion, de3 Lebens 
überhaupt, wenn ein Mann wie Sie die beften 
Geifteskräfte an ein empfindfames Naturfpiel ver⸗ 
ſchwendet? ManrühmtdieaußergemöhnlichenGaben 
des Findlings. Ich bemühe mich umfonft, folche 
Gaben zu entdeden; ich bin kühn genug, zu be 
haupten, Mr ich damit nur an Ihre eigne Un- 
gewißheit rühre. Laſſen wir noch ein wenig Beit 
vergehen und wir werden über diefen Punkt eine 
betrübende Sicherheit gewinnen. innerhalb der 
menfchlichen Gefellichaft gibt es Hunderttaufende 
von Weſen, die, mit ebenfogroßen oder noch 
größeren Eigenfchaften geboren, gleichwohl einem 
ungleich elenderen Los verfallen find. Die wahr⸗ 
hafte Tugend müßte fich auch für fie entflammen, 
denn in der “dee darf dem Erbarmen mit der 
menfchlichen Not feine Grenze gefegt fein. Aber 
wo endete der Mann, der fein Herz nach allen 
124 


Seiten hin zerriffe und in Fetzen austeilte? Er 
ftünde leer da an dem Tage, wo ein würdiger 
Gegenstand ein würdiges Opfer von ihm forderte. 
Denken Sie fih von Caſpars Lebensalter ein 
Dusend Jahre hinweg und das vermeintliche 
Wunder ift enthüllt bi8 auf den Grund und hat 
Ihnen nichts mehr zu geben als die beſchämeude 
Selbftverftändlichleit einer natürlichen Tatſache. 
Beftenfall3 bleibt ein Kuriofum, mit welhem man 
ein Tifchgefpräh würzen kann. Ein Kuriofum 
und das bißchen Geheimnis, das allen unreifen 
Köpfen jo aufregend dünft." 
iderjpruch und Abwehr malten fich in Dau- 
mers Zügen; fein umherſchweifender Blick fuchtenach 
Caſpar, aber alles, was er zu jagen wußte, war: 
„Nicht durch Worte kann die Seele für ſich zeugen." 
Der Fremde lächelte bitter. „Die Seele! die 
Seele!" erwiderte er ſpöttiſch. „Sie kann nicht 
durch Worte zeugen, denn fie ift nur ein Wort 
wie jedes andre. Das Auge ſchaut, der Finger 
fpürt, jedes Härchen lebt auf eigne Weife, das 
Blut durchſpritzt die Adern, jeder Sinn macht 
den Raum lebendig, den Tod fühlbar, was ziert 
ihr euch da und wollt ein Bejonderes haben und 
ſprecht von Geele, als ſei die Seele wie ein 
Schmudjtüd, das eine eitle Frau im Käftchen 
verſchließt und gelegentlich an ihren Buſen fteckt, 
um beim Ball damit zu glänzen! Jeder ift im 
allgemeinen ausgeteilt und jein Zuſchuß von 
Kräften ift Fein Privileg, fondern nur eine Hoff- 
nung Oder dürfte der Adler die Seele für ſich 
in Befchlag nehmen, weil er beffer zu fliegen 
vermag al3 die Gans? Die Seele! Ihr Herren 
beleidigt den Schöpfer damit, ob ihr fie leugnet 
oder ob ihr Bücher jchreibt, um fie zu beweiſen.“ 


125 


Es entftand ein Schweigen. Er fpricht wie 
ein Satan, dachte Daumer, und als er fich an- 
ſchickte zu antworten, kam ihm der Fremde mit 
höftiher Eindringlichkeit zuvor. „Ich weiß, Sie 
ſieben Caſpar,“ jagte er mit veränderter Stimme, 
ernft und herzlih, „Sie lieben ihn brüderlich, 
und nicht Mitleid nährt diefen Trieb, fondern die 
ſchöne Begierde, die ſtets den Gott in der Bruft 
des andern fucht und nur im Ebenbild fich ſelbſt 
erkennen will. Aber Sie möchten eine Ausrede 
haben für Ihre Liebe, das ift es. Muß ich 
Ihnen jagen, daß es feine tieferen Wunden gibt 
als die Enttäufchungen aus ſolchem Zwiefpalt? 

rate Ihnen, fliehen Sie den Anblid und die 
Geſellſchaft deffen, der Ihnen nicht3 mehr zu bieten 
hat al3 Enttäufhung." 

„Alſo find wir denn zu ſchwach, dem Er- 
Tebnis gegenüber jo zu bleiben wie wir zu fein 
glaubten, indem wir es erfehnten!“ rief Daumer 
verzweifelt. 

Der Fremde verzog fein faltig-altes Geficht 
zu einer Grimaffe des Bedauerns. Eine leichte 
Gebärbe verriet, daß das Geſpräch für ihn er- 
ſchöpft fei, und fie mifchten ſich wieder unter die 
übrigen Gäfte. Daumer, völlig aus der Faffung 
gebracht, wünfchte nichts weiter, al3 den lärmen- 
den Kreis zu verlafien. Er fuchte Caſpar und 
bemerkte ihn, blaß und ſchweigſain, mitten unter 
hillernden Noben und grauen und braunen 

räden; Frau Behold ſaß auf einem niedrig en 
chemel faft zu feinen Füßen, und ihr Seit 
ſah hart und düfter aus, 

Der Abfchied war umftändlich. Als fie auf 
den vereinfamten Gaſſen jchweigend ein Stüd 
Wegs zurückgelegt hatten, ſchlang Daumer den 
126 


Arm; um Cafpars- Schulter und fagte: „Ach, 
Cafpar, Cafpar!" Es klang wie eine Beſchwörung. 

par, den es nad) elehrung dürftete umi 
defien Herz zum Meberfließen voll von Fragen 
war, feufzte auf und lächelte feinem Lehrer in 
wigdererwachtem Vertrauen zu. Sei e8 num, daß 
Blick und Lächeln Daumer an einer Stelle feines 
Innern trafen, mo er fich unficher und ſchuldig 
fühlte, fei es, daß die Nacht, die Einſamkeit, die 
quälenden Zweifel, das wunderliche Geſpräch, das 
er eben geführt, feinen Geift zu übertriebener 
Inbrunft tgänbeten, ex blieb ftehen, umarmte 
Caſpar noch fefter und rief mit emporgemanbten 
Augen: „Menſch, o Menſch!“ 

Das Wort ging Caſpar duch Mark und 

. Ihm war, als eröffne fich aim auf ein⸗ 
mal, was dies zu bedeuten habe: Menſch! Er 
ſah ein Gefchöpf, tief unten verftrictt und an- 
jefettet, von tief unten hinaufſchauend, kenb ſich 
Kan fı fremd dem andern, dem es das Wort Menſch 
zuſchrie und der ihm nichts antworten fonnte als 
eben Biefen. inhaltsvollen Auf: Men! 

Sein Ohr hielt den Klang feit, der durch 
die Ergriffenheit Daumers etwas Weihevolles 
für ihn befommen hatte. Am andern Mor; en 
nahm er jein Tagebuch zur Hand, und 
erfte Eintragung, die er darin machte, waren 
die drei Worte: Menfch, o Menſch — für jeden 
andern natürlich eine finnlofe Hieroglgphe, für 
ihn aber ein deutung3voller Hinweis, ein ent- 
ſchleiertes Geheimnis beinahe, ein Wahl und 
Zauberfpruch zur Abmendung von Gefahren. 
Es entiprady feinem Tindifchen Weſen, daß er 
von derjelben Stunde ab das Tagebuch als eine 
Art von Heiligtum betrachtete, welches nur in 

127 


Zeiten der Andacht und Sammlung zugänglich 
war, und in einer jener fehnfüchtigen und angſt⸗ 
voll traurigen Stimmungen, die ihn häufig be 
fielen, faßte er den fonderbaren und folgen» 
ſchweren Entfhluß, daß fein andrer Menfch außer 
jeiner Mutter jemals Einblict in diejes Heft er- 
langen, jemals leſen jollte, was er darin aufs 
ſchreiben würde. Solche Vorſätze ftarrfinnig zu 
halten, dazu war er durchaus imftande. 

ALS wenige Tage nachher die Pringeffinnen 
von Kurland in Daumerd Haus kamen, die mit 
Feuerbach befreundet waren und große Teilnahme 
für Cafpar hegten, kam zufälligerweife die Rede 
auf das Gefchent, daS der Präſident feinem Schüß- 
ling gemacht, und da Daumer erzählte, es bes 
fände ſich in dem Büchlein ein fehr gutes Stahl- 
ftichporträt des Präfidenten, wünfchten die Damen 
das Heft gern zu fehen. Zu aller Erſtaunen 
weigerte ſich Gafpar, e3 zu zeigen. Daumer warf 
ihm erſchrocken jeine Unhöflichkeit vor, aber er 
blieb hartnäckig. Die Damen beftanden nicht 
weiter darauf, ja fie lenkten ſogar die Unterhaltung 
taktvoll in eine andre Richtung, aber als fie fort- 
gegangen waren, nahm Daumer den üngling 
ins Gebet und fragte ihn nach dem Grund feiner 
Weigerung. Cafpar ſchwieg. „Und würdeſt du 
auch mir, wenn ich es verlangte, das Heftchen 
vorenthalten?" fragte Daumer. Caſpar jah ihn 
geoß an und antwortete treuherzig: „Sie werden 
es gewiß nicht verlangen, bitte ſchön!“ 

Daumer war ehr betroffen und entfernte 


ſich ſtill. 
Gegen Abend kam Ser: von Tucher, bat 
Daumer um eine Unterredung unter vier Augen, 
und als fie allein waren, jagte er ohne weitere 


128 


Einleitung: „Ich muß Sie leider davon in Kennt- 
nis fegen, daß ich unfern Caſpar zweimal beim 
Zügen ertappt habe." 

Daumer ſchiug ftumm die Hände zufammen. 
Das fehlte nur noch, dachte er. 

Beim Lügen! Zweimal beim Lügen ertappt! 
€i du gütiger Himmel, wie war das zugegangen ! 

Die Sache verhielt fa fo: Am Sonntag fei 
er mit dem Bürgermeifter in Caſpars Zimmer 
jetreten, erzählte Herr von Tucher, und habe den 
füngling erjucht, ihn in feine Pehwung zu bes 
gleiten. Da habe Caſpar, der bei den Büchern 
gefefien, erwidert, er dürfe nicht, Daumer habe 
ihm verboten, das Haus zu verlafien. Dem 
Bürgermeifter fei da3 gleich bedenklich erſchienen, 
beſonders da ihn Gafpar kaum anzufehen gerast, 
er babe fih unauffällig bei Daumer erkundigt, 
wie diefer ſich wohl erinnern werde, und feinen 
Verdacht beftätigt gefunden. Am andern Tag 
jeien beide, Herr Binder und Herr von Tucher, 
während Daumer vom Haufe fortgemefen, zu 
Cafpar gefommen und hätten ihm feine Unmwahr- 
heit vorgehalten. Unter Erglühen und Erblafjen 
habe ex fein Vergehen zugeftanden, habe aber, 
wie ein gejcheuchter Safe in die Enge getrieben 
und ben erjten beiten Ausweg ergreifend, alberner- 
weiſe eine Gefchichte erfunden von einer Dame, 
die bei ihm gemejen umd die ihm ein Gejchent 
verfprochen, weshalb er auf fie gewartet habe. 

„Auf unfer mehr beftürztes als ſtrenges Bu: 
reden befannte er fich auch diefer Unmahrheit 
ſchuldig.“ fuhr Herr von Tucher mit unerfchütter- 
lihem Ernſt fort. „Er gab zu, daß er nur in 
Ruhe Habe ftudieren wollen und daß ihm fein 
andıe8 Mittel eingefallen jei, um die läftigen 

Baffermann, Gafpar Haufer 9 129 


Störungen abzumenden. Inſtändig flehte er uns 
an, Ihnen nichts von feinem Fehltritt zu erzählen, 
er wolle e8 nie wieder tun. Sch hab’ mir’3 aber 
überlegt und bin zu dem Schluß gelangt, daß es 
beſſer ift, wenn Sie alles wiſſen. Es ift viel» 
leicht noch Zeit, um das böfe Lafter mit Erfolg 
zu befämpfen. Man kann ihm ja nicht ins Herz 
hauen, doch ich glaube noch immer an die Un— 
verdorbenheit ſeines Gemüts, wenngleich ich über⸗ 
zeugt bin, daß uns nur die äußerfte Wachjamteit 
und umerbittliche Maßnahmen vor gröberen Ent- 
täufhungen bewahren können." 

Daumer ſah vollfommen vernichtet aus. „Und 
das von einem Menfchen, auf deſſen heiliges 
Wahrheitsgefühl ich ide geſchworen hätte,“ 
murmelte er, „Wenn Sie e3 nicht wären, der 
mir da8 erzählt, ich würde lachen. Noch vor 
einer Stunde hätte ich jeden für einen Schurken 
erachtet, der mir gejagt hätte, Cafpar fei einer 
Lüge fähig." 

„Auch mir ift es nahgegangen,” verſetzte 
Herr von Tuer. „Aber wir müfjen Geduld 
haben. Sehen Sie zu, halten Sie die Augen 
offen, warten Sie auf den nächiten gegründeten 
Anlaß, dann greifen Sie ein, und zwar mit 
mwuchtiger Hand." 

Eine Lüge; nein, zmei Lügen auf einmal! 
Der arme Daumer, er müßte fich feinen Rat. 
Er ging hin und überlegte. Herr von Tucher 
nimmt den ganzen Vorgang zu ſchwer, fagte er 
ſich; Herr von Tucher ift eine fehr gerechte Natur, 
aber ohne Bmeifel ein Mann mit vielen Vor— 
urteilen, die ihn dazu verführen, eine Lüge mit 
allen —— Zeichen der Uebeltat auszu- 
ftatten; Herr von Tucher kennt das tägliche Leben 


130 





nicht, das unfereinen unterfcheiben lehrt zwifchen 
dem, mas fchlecht ift und was der Andrang ges 
bieterifcher Umftände auch dem Redlichſten ent- 
preßt. Aber was geht mich Herr von Tucher 
an, hier handelt e8 ſich um Caſpar. ch glaubte 
einft, von ihm fordern zu dürfen, was feiner fonft 
von feinem fordern darf. War es eine Ver— 
blendung, eine Anmaßung von mir? Wir wollen 
fehen; ich muß jegt herausbekommen, ob er fchon 
zu den Gewöhnlichen gehört oder ob fein Wille 
noch einer unhörbar rufenden Stimme zu ge 
horchen fähig ift. Hat fich fein Ohr jedem Geifter- 
hauch und {hal ſchon verſchloſſen, dann ift feine 
Züge eine Lüge wie jede andre, ann ich aber 
noch überfinnliche Kräfte des Verftehens in ihm 
weden, dann will ich die Philifter verachten, die 
immer gleich mit dem Bafel erjcheinen. 

Es bedurfte einer fchlaflofen Nacht, um dem 
fonderbaren Plan Daumers, der eine Art Gotted- 
urteil in ſich fehließen follte, auf die Beine zu 
helfen. Die Weigerung Cafpars, fein Tagebuch) 
zu zeigen, gab den Anſtoß. Ich will ihn 
bewegen, mir aus eignem Trieb das Heft zu 
bringen, kalkulierte Daumer; ich will etwas wie 
eine metaphufifche Kommunikation zwifchen mir 
und ihm herſiellen; ich werde ihn, ohne ein Wort 
zu fprechen, mit meinem geiftigen Verlangen zu 
erfüllen teachten und werde eine Stunde feitjegen, 
innerhalb deren das nur Gewünfchte zu geichehen 
hat. Kann er folgen, fo ift alles gut; wenn nicht, 
dann ade, Wunderglaube, dann hat diefer bered⸗ 
fame Materialift recht gehabt, mir die Seele weg- 
zudisputieren. 

Am Morgen, fo gegen neun Uhr, kam Anna 
zu ihrem Bruder und fagte, Cafpar gefalle ihr 

131 


heute ganz unb gar nicht; ex fei ſchon um fünf 
aufgeftanden und es fei eine Unruhe in ihm, Die 
fie noch nie wahrgenommen; beim Frühſtück habe 
ex fortwährend ängftlih um fich herumgefchaut 
und feinen Biffen gegefjen. 

Daumer lächelte. Sollte ex jett ſchon fpüren, 
was ich mit ihm vorhabe? dachte er, und feine 
Stimmung wurde mild und zuverfichtlich. 

Ein ſchicklicher Vorwand, die Frauen aus 
dem Haus zu jchaffen, fand ſich ungezwungen; 

au Daumer mußte ohnehin auf den Markt, 
inna wurde überredet, einige Befuche zu machen. 
Um elf Uhr machte fich Cafpar an feine Schul- 
arbeiten, Daumer ging ins Nebenzimmer, ließ 
aber die Tür offen. Er feste ſich, das Geficht 
gegen Caſpars Platz gerichtet, ein wenig hinter 
er Schwelle auf ein Stühlchen, und es giang 
ihm alsbald, mit erjtaunlicher Energie all feine 

jebanfen auf das eine Ziel zu richten, auf dem 
einen Punkt zu fammeln. Im Haus war e8 jehr 
ftill, fein Laut ftörte daS wunderliche Beginnen. 

Bleih und geipannt faß er aljo und be 
obachtete, daß Calpar häufig aufftand und zum 
Fenfter trat. Einmal öffnete er das Fenfter, das 
andre Mal ſchloß er es wieder. Dann begab er 
ſich zur Tür und fchien zu überlegen, ob er 
hinausgehen folle. Sein Auge war ohne Stetig- 
feit und fein Mund eigentümlich gramvoll ver- 
sogen, Aha, es rumort in ihm, frohlodte Daumer, 
und immer, wenn Caſpar ſich dem Schränfchen 
näherte, in dem das blaue Heft wahrjcheinlic lag, 
— * unglückliche Magier vor Erwartung 

erzklopfen. 

Wie weit war Caſpar davon entfernt, auch 
nur zu ahnen, was in Daumer vorging! zu 
132 


ahnen, daß in diefer Stunde fein Geichid und 
Weſen vor ein Tribunal geftellt wurde! 

Es war ihm ungeheuer bang heute. Es war 
ihm fo bang, daß er ein paarmal die ganz bes 
flimmte Vorftellung hatte, e8 würde ihm etwas 

limmes zuftoßen. Ya, er hatte das unab» 
weisbare Gefühl, daß einer unterwegs fei, ber 
ihm etwas zuleide tun werde. Erſtickend lag die 
Luft im Raum, die Wolfen am Himmel blieben 
lauernd ftehen; wenn durch die Baumkronen vor 
dem Fenſter eine Schwalbe ſtrich, fah es aus, 
ala ob eine ſchwarze Hand pfeiljchnell aufs und 
niedertauche; das Deckengebälk bog fich niedriger, 
Fr Er Getäfel der Wand knackte es un- 

jeimlich. 

Cajpar ertrug e8 nicht mehr. Sein Blid 
ftach, eine fühlfchaurige Angft floß ihm durch die 

jaare, die Bruft wurde eng, es trieb ihn hinaus, 
inaus ... Plöglich verließ er mit fliehenden 
Gebärden das Bimmer. 
Ruhig blieb Daumer joe und ftierte vor fi) 
hin wie einer, der aus dem Raufch erwacht. Worüber, 
ie Friſt war verftrichen. Er ſchämte fich ſowohl 
feiner Niederlage als auch feines vermeffenen Unter- 
fangens, denn er war ja ein gejcheiter Kopf und 
hatte Selbjtbefinnung genug, um bie fpielerifche 
Willkür defien, was er gewollt, ernüchtert zu 
empfinden. . 

Trotzdem ergriff ihn eine finftere Gleichgültig⸗ 
feit. Der Hoffnungen zu gedenken, die ſich noch 
vor kurzem an den Namen Gafpar gefnüpft, ver» 
urfachte ihm einen fchalen Gejchmad auf der 
Zunge. Er faßte den unerjhütterlichen Vorſatz, 
fein Lesen wie ehedem dem Beruf, der Einfamfeit 
und den Studienzumidmen und die Kräfte des Geiftes 


183 


nur dort zu opfern, wo im Frieden der Erkenntnis 
und des Forſchens jede Gabe fichtbar bezahlt wird. 


Eine vermummte Perfon tritt auf 


Caſpar war in den Garten gegangen. Er 
Tief über den feuchten Boden bis zum Zaun und 
ſchaute gegen den Fluß hinüber. Ein bleifarbener 
Dunft umtleidete die QTürmchen und ‚ineinander 
gejhobenen Dächer der Stadt, nur das bunte 
Dach der Lorenzerkicche glänzte hell, doch glich 
alles zufammen mehr einem Spiegelbild im Waffer 
als einer greifbaren Wirflichteit. 

Cafpar fröftelte, und es war doch warm. Er 
wandte fi wieder gegen da8 Haus. Al er 
das Pförtchen geöffnet hatte, machte ihn der Teer 
daliegende Flur betroffen. Ein breiter Streifen 
Sonne, der über die Steinftiejen fam und zitternd 
die weißen Stufen der Wendeltreppe hinauflief, 
verftärkte den Eindruck der Verlafjenheit. Hinter 
einer Tür des Flurs, aus der Wohnung des 
Kandidaten Regulein, tönten Geigenklänge; ber 
Kandidat übte. Den einen Fuß ſchon auf der 
Treppe, blieb Cafpar ftehen und Laufchte. 

Da! Da war es! Da kam er! Ein Schatten 
erft, dann_eine Geftalt, dann eine Stimme. Was 
fagte die Stimme, die tiefe Stimme? 

Eine tiefe Stimme ſprach hinter ihm die 
Worte: „Cafpar, du mußt ſterben.“ 

Sterben? dachte Caſpar erftaunt, und feine 
Arme wurden fteif wie Hölzer. 

\ jah einen Mann vor fich ftehen, der ein 
ſeidig⸗ſchwarzes, Ianghängendes, vom Zugwind 
134 


ein wenig geblähtes Tuch vor dem — — hatte. 
Er hatte braune Schuhe, braune Strümpfe und 
einen braunen Anzug. Ueber feinen Händen trug 
er Handſchuhe, und in feiner Rechten funfelte 
etwas Metallenes, funfelte fchnell und erloſch. 
Er flug Cafpar damit. Während Cafpar den 
gelähmten Bli nach oben zwang, fpürte er einen 
donnernden Schmerz im Hirn. 

Auf einmal hörte der Kandidat Regulein auf, 
die Geige zu fpielen. Es erſchallten Schritte, 
die wieder verklangen, doch mochte der Bermummte 
ſtutzig geworden fein und die Furcht ihm ver- 
hindern, zum ‚zweitenmal auszuholen. Als Cafpar 
die Augen auftat, über die von der Mitte ber 
Stirn herunter eine brennende Näffe floß, war 
der Mann verſchwunden. 

Ei, hätte er nur nicht Handſchuhe gehabt, 
unter taufend Händen wollte ich feine Hand er= 
kennen, dachte Cafpar, indem er zur Seite tor- 
felte. Un der Schmalfeite des Flurs fand er 
feinen Halt; er probierte die Stiege — 
Himmen, aber ber Sonnenftreifen erfchien wie 
ein bindernder Strom Feuers. Er glitt nieder, 
umflammerte die Steinfäule und blieb eine halbe 
Minute lautlos figen, bis ihn die Angft padte, 
der Vermummte könne wieder zurückkommen. Mit 
aller Kraft hielt er das fliehende Bewußtſein noch 
feft, richtete fih auf, taumelte vorwärts und 
taftete ſich an der Wand entlang, als fuche er 
ein Loch, um fich zu, verfrjechen. 

Als er bei der Kellertveppe war, gab die nur 
angelehnte Tür dem Druc feiner Hand nad, fo 
daß er faft hinuntergeftürzt wäre, Raum ſehend 
und ohne zu überlegen tappte er fo ſchnell wie 
möglich die finfteren Stufen hinunter, denn ſchon 

135 


glaubte er den Vermummten hinter. fih. Als er 
im Keller war, fpriste Waffer von feinen Schritten 
auf; es war Regenwaſſer, das bei fchlechtem 
Wetter hier unten Pfüsen bildete. Endlich fand 
er einen trockenen Winkel; während er fich niederließ 
und fih, voller Furcht und Grauen, förmlich zu= 
fammentollte, hörte er noch von den Turmuhren 
zwölf ſchlagen, danach jah und fühlte er nichts mehr. 

Um viertel eins kamen die Daumerfchen 
Frauen zurück. Anna, die im Flur vorangin: 
gewahrte die große Blutlache vor der Stiege un 
ſrie auf. Gleichzeitig kam der Kandidat Regu⸗ 
ein aus feiner Wohnung und meinte: „Na, was 
ift denn das für eine Beſcherung!“ Die alte 
Frau, die an nichts Schlimmes dachte, äußerte 
fi, wahrſcheinlich habe jemand Nafenbluten ges 
habt. Anna jedoch, mehr und mehr voll Ahnung, 
wies auf die blutigen Fingerabdrüde hin, die an 
der Mauer bis zur Kellertür ſichtbar waren. Sie 
frag hinauf, ihr erfter Gedanke war Caſpar, 
te fuchte ihn in allen Zimmern und ſagte zum 
Bruder: „Du, da unten ift alles voll Blut.“ 
Daumer erhob fich mit einem beflommenen Aus- 
ruf vom Schreibtifch und eilte hinaus. 

Inzwiſchen war der Kandidat der Blutſpur 
bis in den Keller gefolgt. Mit heiferer Stimme 
chrie er von unten nach Licht und fügte gellend 

inzu: „Da unten ift er, da liegt ber Haufer! 
Hilfe, Hilfe, ſchnell!“ " 

Alle drei Daumers ftürzten in den Keller, 
Anna kam Teuchend wieder zurück, um die Kerze 
zu holen, die andern verfuchten, den verfauerten 
Körper Cafpars aufzurichten, und dann trugen 
fie ihn felbdritt hinauf. „Zum Arzt, zum Arzt!" 
kreiſchte Frau Daumer der entgegenrennenden 
186 


Anna zu, die das Licht ausblies, zu Boden warf 
und davonfprang. 

As Cajpar endlich oben auf dem Bett lag, 
wuſchen fie das geftocdte Blut von feinem Ge— 
fiht, und es fam eine nicht unbedeutende Wunde 
inmitten der Stirn zum Lenghen Daumer lief 
mit gerungenen Händen im Zimmer auf und ab 
und ftöhnte fortwährend: „Das muß mir pafs 
fieren! Das muß in meinem Haus paffieren! Ich 
hab's ja gleich gefagt, ich hab’3 immer gewußt!" 

Der Pla vor dem Haus war ſchon voller 
Menſchen, als Anna mit dem Arzt zurückkam. 
Im Flur ftanden einige Magiftrat3- und Polizeir 
leute. Ein wenig fpäter erſchien auch der Ge— 
richtsarzt; beide Doktoren verficherten, daß die 
Wunde ungefährlich fei, ob aber das Gemüt des 
Jünglings nicht eine bedenkliche Erſchütterung 
erlitten habe, ließen fie dahingeftellt. 

Ein amtliches Protokoll konnte nicht auf 

enommen werden, Caſpar war immer nur kurze 

Seit bei Befinnung; er ftammelte dann ein paar 
Worte, die allerdings das, was mit ihm gefchehen 
war, wie unter Blißesleuchten erkennbar machten, 
ſprach von dem Vermummten, von feinen glän- 
zenden Stiefeln und gelben Handſchuhen, fiel 
aber danach in heftige Wahn- und Fieberdelirien. 
Bei der Befichtigung der Lofalität wurde der 
Weg entdedt, auf dem der Unbefannte ins Haus 
gedrungen war: unter der Stiege befand fich näm- 
lich gegen den Baumannfchen Garten ein eines 
Türchen, deſſen Vorlegejhloß zeriprengt war. 

Die Vernehmung Daumers war fruchtloß, er 
ftand kaum Rede. Gegen Abend kam Herr von 
Tucher und teilte mit, daß man einen Eilboten 
an den Präfidenten Feuerbach abgefertigt habe. 

337 


Das VBürgermeifteramt hatte fogleih um— 
faffende Nachforfchungen veranftaltet. An allen 
aupt- und NMebentoren der Stadt wurde die 
1 zu erhöhter Aufmerkſamkeit verpflichtet; 
die Wirtshäufer und Herbergen, wo Leute ges 
meinen Schlags ſich aufzuhalten pflegten, wurden 
forsfättig durchſucht, auch wurden die Gen- 
jarmerie und die benachbarten Landgemeinden zu 
tätiger Vigilanz aufgefordert. An die Amtstafel 
des Rathauſes wurde eine öffentliche Belannt- 
machung angefchlagen, und zwei Aftuare und die 
halbe Polizeimannfchaft wurden mit der DVer- 
folgung des Frevlers betraut. 

Die Untat gefhah an einem Montag; eine 
zu leitende Gerichtsverhandlung hinderte uͤnglück⸗ 
licherweife den Präfidenten, foort nad Nürnberg 
zu kommen, erſt am Donnerstag traf er mit 
Extrapoft in der Stadt ein und begab fich un- 
verzüglih auf Rathaus. Er ließ ſich vom 
Magijtratsvorjtand über die polizeilichen Maß- 
regeln und deren Ergebniffe Bericht erſtatten, 
zeigte fich aber mit allem fo unzufrieden und ges 
riet über eine Reihe von Mißgriffen in folchen 
Born, daß die ganze Beamtenjchaft den Kopf 
verlor. Ueber die vom Aktuar ihm vorgelegten 
Protokolle und Zeugenausfagen machte er jar- 
Taftifche Bemerkungen; da war eine Hallwächters⸗ 
frau, melde am Schießgraben beim Hauptipital 
einen wohlgefleideten Herrn geieben hatte, der 
fih in einer Feuerkufe die Hände wuſch; da war 
ein Debftnerweib, die in Sankt Johannis einem 
Fremden begegnet war, welcher fich bei ihr er- 
Tundigt hatte, wer am Tiergärtner Tor Erami- 
nator fei und ob man, ohne angehalten zu 
werden, in die Stadt gelangen könne; da waren 


138 


verbächtige Handwerksburſchen und unterftandaloje 
Strolche verhaftet worden; da hatte man zwei 
Kerle beobachtet, den einen im hellen Schalt, 
den andern im dunfeln Frad, die auf der Fleifch- 
brüde zufammengetommen waren und einander 
‚Zeichen gegeben hatten. 

„Bu fpät, zu fpät," knirſchte der Präfident. 
„Warum hat man nicht die Namenslifte der zus 
und abgereiften Fremden in den Gafthöfen Ton 
teolliert ?" fuhr er den zitternden Altuar an. 

„Die Spuren laufen nach vielen Richtungen," 
bemerkte fchüchtern der —B— 

„Gewiß, die Unfähigkeit hat viele Wege," 
antwortete der Präfident beißend, und mit Bes 
deutung ‚fügte er hinzu: „Hören Sie, Mann 
Gottes! Der Webeltäter, auf den wir da fahn- 
den, wäſcht feine Hände nicht auf offener Straße, 
er läßt fich mit feinem Debftnerweib in Gefpräche 
ein und braucht feinen Eraminator zu fürchten. 
Zu niedrig habt ihr gegriffen, viel zu niedrig." 

Er nahm einen Schreiber mit, um den Lokal⸗ 
augenfchein im Daumerfchen Haus nochmals ſelbſt 
vorzunehmen. Der Magiftratsrat Behold be» 
gleitete ihn und ward ihm durch mannigfaches 
Reden läftig; unter anderm äußerte Behold, er 
babe gehört, Profefjor Daumer wolle Cajpar 
richt länger behalten, und machte ſich erbötig, 
dem Jüngling in feinem Haus Obdach zu ge 
währen. Feuerbach hielt dies für leeres Ge- 
ſchwätz und entlebigte fich des Mannes, indem er 
ihn mit einem Auftcag zu Heren von Tucher ſchickte. 

Aber als er dann mit Daumer fprach, erregte 
deſſen Zerfahrenheit fein Befremden. Um ihn 
nicht nod) mehr zu verwirren, legte Feuerbach 
das DVerhör mit ihm fo an, daß e3 mehr einer 

139 


freundfchaftlichen Unterhaltung glich. Daumer 
erinnerte ſich der geheimnisvollen Begegnung, die 
Caſpar vor der Egydienkicche gehabt hatte, und 
rücte damit heraus. 

„Und davon erfährt man jebt exit?“ braufte 
der Präfident auf. „Und hatte die Sache feine 
unmittelbaren Folgen? Haben Sie nachher nichts 
Verdãchtiges beobachtet?" 

„Nein,“ ftotterte. Daumer, in Furcht geſetzt 
dur) den ftählern durchdringenden Blick des 
Präfidenten. „Das heißt, eines fällt mir noch 
ein: ich traf am felben Abend bei Frau Behold 
einen Herrn, der ſich mir gegenüber in ganz 
feltfamen Andeutungen oder Warnungen gefiel, 
wie man e3 auffafjen foll, weiß ich nicht.” 

„Was war der Mann? Wie hieß er?" 

„Man fagte, es fei ein zugereifter Diplomat, 
des Namens entfinne ich mich nicht. Oder doc), 
jawohl: Herr von Schlotheim-Lavancourt; er fol ſich 
aber unter falſchem Namen bier aufgehalten haben.” - 

„Wie jah er aus?" 

„Did, groß, ein wenig podennarbig, ein 
hoher Fünfziger.” 

„Schildern Sie mir das Geſpräch mit ihm." 

Daumer u fo gut er es vermochte, den 
Inhalt der Unterredung. Feuerbach verjant in 
langes Nachdenken, dann jchrieb er einige Notizen 
in Fin Taſchenbuch. „Lafjen Sie uns zu Caſpar 
gehen," jagte er, ſich erhebend. 

Cafpars Stirn mar noch verbunden; das 
Gefiht war beinahe jo weiß wie das Tuch; auch 
das Lächeln, womit er den Präfidenten empfing, 
war geihem weiß. Er hatte bereit8 drei oder 
vier Verhöre überftanden; ſchon beim erften hatte 
er alles Erzählenswerte erzählt; das hielt den 
140 


guten Amtsſchimmel nicht ab, ımmer wieder von 
neuem anzutraben, man fragte die Kreuz und 
Quer, um das Opfer auf einem Widerſpruch zu 
erwiſchen mit Widerſprüchen kann man arbeiten, 
wenn einer jedesmal dasſelbe ſagt, wird die Ge 
ſchichte ausſichtslos. Der Präfident unterließ das 
Fragen; er fand einen veränderten Denon in 
Cafpar; es war etwas Bellommenes an ihm, fein 
Blick war weniger frei, nicht mebt fo tiefftrahlend 
und feltfam ahnung3los, näher an die Dinge gefettet. 

Während die Frauen fi) über Caſpars Be- 
finden befriedigt äußerten, fam auch der Arzt 
und beftätigte gern, daß von irgendwelcher Ge- 
fahr feine Rede mehr fein Tönne In einem 
Ton, der mehr Befehl als Wunſch enthielt, fagte 
der Präfident, er hoffe, daß in diefen Tagen 
fremde Befucher ohne Ausnahme abgewieſen würden. 
Daumer erwiderte, das verftehe fi von felbft, 
erſt diefen Morgen habe er einem betreßten Lakaien 
abfchlägigen Beſcheid geben laſſen. 

„&3 war der Diener eines vornehmen Eng- 
länders, der_im Gafthof zum Adler wohnte “ 
fügte Frau Daumer hinzu; „er war übrigens 
nach einer Stunde noch einmal da, um ſich aus- 
— zu erkundigen, wie es Caſpar ginge.“ 

Es klopfte an die Tür, Herr von Tucher trat 
ein, begrüßte ben Präfidenten und machte nad) 
kurzer Weile eine überrafchende Mitteilung: der⸗ 
ſelbe Engländer, ein anfcheinend fehr veicher Graf 
oder Lord, habe dem Bürgermeiſter einen Beſuch 
abgefattet und ihm Hundert Dufaten überreicht 
als Belohnung für denjenigen, dem es gelingen 
würde, den Urheber des an Caſpar verübten 
Ueberfalls zu entdecken. 

Ein erftauntes Schweigen. entftand, welches 


141 


der Präfident mit der Frage unterbrach, ob man 
wiſſe, weshalb fich der Fremde in der Stadt 
aufhalte. Herr von QTucher verneint. „Man 
weiß nur, daß er vorgeftern abends angelommen 
iſt,“ antwortete er; „ein Rad feines Wagens ſoll 
in der Nähe von Burgfarenbach gebrochen fein, 
und er wartet bier, bi8 der Schaden ausgebejjert 
iſt.“ Der Präfident zog die Brauen zufammen, 
Argwohn umbüfterte feinen Blick; fo wird der 
Jagdhund ftugig, wenn fich abſeits von verwirren- 
den Fährten eine neue Spur zeigt. „Wie nennt 
fih der Mann?" Feet ex ſcheinbar gleichgültig. 

„Der Name ift mir entfallen,“ entgegnete 
Baron Tucher, „doch foll e8 in der Tat ein 
hoher Herr jein, Bürgermeifter Binder preift 
feine Leutſeligkeit in allen Tönen.“ 

„Hohe Herren gelten ſchon für leutfelig, wenn 
fie einem auf den Fuß treten und ſich nachher 
freundlich entjchuldigen," Tieß fi, Anna, die an 
Caſpars Bett jaß, nafeweis vernehmen. Daumer 
warf ihr einen ftrafenden Blick zu, doch der Präſi⸗ 

dent brach in eine ſchmetternde Lache aus, die auf 
alle anſteckend wirkte; noch minutenlang Ticherte er 
vor fich hin und zwinferte vergnügt mit den Augen. 

Bloß Cafpar nahm an dem heiteren Zwiſchen⸗ 
fpiel keinen Zeil, fein Blick war nachdenklich ins 
Freie gerichtet, er wünfchte jenen Mann zu jehen, 
der aus weiter Ferne kam und fo viel Geld her» 
gs damit der gefunden werde, der ihn gefchlagen. 

us weiter Ferne! Das war es; nur aus weiter 
Ferne konnte kommen, wonach Caſpar Verlangen 
trug, vom Meere her, von unbefannten Ländern 
ber. Auch der Präfident fam aus der. Ferne, 
aber doch nicht von fo weit, daß feine Stirn 
gefärbt war von fremdem Schein, daß ein füßer 
142 


Wind an feinen Kleidern hing oder daß feine 
Augen wie die Sterne waren, ohne Vorwurf, 
ohne das ewige Fragen. Der aus der Ferne 
kam, im filbernen Kleid vielleicht und mit vielen 
Roſſen, der brauchte nicht zu fragen, er wußte 
alles von jelbft, die andern aber, alle die Nahen, 
die immer da waren, immer hereingingen und 
immer wieder fort, fie ſahen niemal® aus, als 
ob fie von fehäumenden Roffen geftiegen wären, 
ihr Atem war dumpf wie Kellerluft, ihre Hand 
müde wie feines Neiterd Hand; ihr Antlig war 
vermummt, nicht ſchwarz vermummt wie das Ge- 
ſicht defjen, der ihn gejchlagen und der ihm fo 
nah gemefen wie feiner jonft, fondern undeutlich 
vermummt; darum redeten fie mit unreiner Stimme 
und in verftellten Tönen, und darum war es auch, 
daß Gafpar fich jetzt verftellen mußte und nicht 
mehr imftande war, ihnen feſt ins Auge zu ſehen 
und alles zu jagen, was er hätte jagen können. 
Er fand e3 heimlicher und trauriger zu ſchweigen 
als zu reden, befonders wenn fie darauf warteten, 
daß er reden folle; ja, er liebte es, ein wenig 
traurig zu fein, viele Träume und Gedanken zu - 
verbergen und fie zu dem Glauben zu bringen, 

daß fie ihm doch nicht nahfommen Tönnten. 
Daumer war zu jehr mit fich jelbft befchäftigt 
und zu bebrücdt von ber bevorjtehenden Aus- 
führung eines unabänderlichen Entſchluſſes, um 
darauf zu achten, ob Caſpar ihm noch in der- 
jelben Tindlich offenen Weife entgegenfomme wie 
jonft. Erſt Herr von Tucher war es, der auf 
jewifje Sonderbarkeiten in Caſpars Betragen 
Einwies, und er ließ auc) gegen den Präfidenten 
einige Andeutungen darüber fallen, als fie zu- 
jammen aus dem Daumerfchen Haus gingen. 
145. 


Der Präfident zucte die Achſeln und ſchwieg. 
bat den Baron, ihn nach dem Gafthof zum 
Adler zu begleiten; dort erfundigten fie ſich, ob 
der englifche Herr zu Saufe fei, erfuhren jedoch, 
daß Seine Herrlichteit Lord Stanhope, fo drüdte 
fi der Kellner aus, vor einer fnappen Stunde 
abgereift war. Der Präfident war unangenehm 
überrafcht und fragte, ob man wiſſe, welche Richtung 
der Wagen genommen habe; da3 wiſſe man nicht 
genau, ward geantwortet, doch da er das Jakobs⸗ 
tor _paffiert, jei zu vermuten, daß er die Richtung 
nad} Süden, etwa nad München, eingefchlagen habe. 
„Zu fpät, überall zu jpät,“ murmelte der 
Präſident. „Ich hätte gern gewußt," wandte er 
fih an Herrn von Tucher, „was Seine — 
keit bewogen hat, ſo viel Dukaten aufs Rathaus 
zu tragen.“ Das Geſicht Feuerbachs war dermaßen 
zerarbeitet von Gedanken und Sorgen, von der An- 
frengung einer beftändigen Wachjamkeit wie von 
der Glut eines zehrenden Temperaments, daß es 
dem eines Kranken oder eines Vejefjenen glich. 
Und fo war e3 feit Monaten. Die ihm unter- 
fetten Beamten fürchteten feine Gegenwart; 
ie geringfte Pflichtverlegung, ja, der geringfte 
Widerfpruch brachte ihn zur Raferei, und waren 
die Ausbrüche feines Zornes jchon von jeher 
furchtbar geweſen, fo zitterten fie jet um fo 
mehr davor, al3 der unbedeutendjte Anlaß einen 
folhen Sturm heraufbeſchwören konnte. Dann 
gellte feine Stimme durch die Hallen und Korri- 
dore des Appellgerichts, die Bauern auf dem 
Markt unten blieben ftehen und fagten bedauernd: 
„Die Erzellenz hat das Grimmen,“ und vom 
Regierungsrat bis zum legten Schreibersmann 
jaß alles blaß und artig auf den Stühlen. 
14 


Vielleicht hätten fie williger dies Joch ge 
tragen, wenn fie gewußt hätten, welche Bein da- 
durch dem Urheber ſelbſt bereitet ward, wie jehr 
ex, befiegt durch jein eignes Wüten, Scham und 
Neue litt, jo daß. er bisweilen, wie um durch 
irgendeine Handlung fich loszufaufen, dem erft- 
beften Bettler auf der Gafje eine Silbermünze 
hinwarf. Sie ahnten freilich nicht, daß die trüben 
Nebel diefer Laune ein bewegtes Widerfpiel von 
Pflicht und Ehre bargen und daß hier ein Genius 
am Werk war, um inmitten fcheinbarer Unraft und 
Friedlofigkeit ein Wunderwerk der Kombination 
zu ſchaffen und mit wahrem Seherblid eine Hölle 
von Verworfenheit und Mifjetat zu durchdringen. 

Mit Zaubrerhand war e8 ihm gelungen, aus 
den dunkeln Fäden, die das Schickſal Caſpar 
Haufer8 an eine unbefannte Vergangenheit ban- 
den, ein Gewebe zu knüpfen, auf welchem jäh- 
ling wie in Brandlettern flammte, was duch 
die Fügung der Umftände und die Zeit ſelbſt mit 
Finfternis bedeckt war. 

Voll Schreden ftand er vor feiner Schöpfung, 
denn der Boden jeiner Exiſtenz wankte unter 
ihm. Es gab für ihn feinen Bmeifel mehr. 
Aber durfte er es wagen, mit der fürchterlichen 
Wahrheit auf den Plan zu treten und die Rück 
ſicht hintanzufegen, die ihm duch fein Amt und 
das Dertrauen feines Königs auferlegt war? 
Schien e8 nicht befjer, das Gefchäft des Spions 
in Heimlichfeit weiter zu betreiben, um den ränle- 
vollen Gemalten, tückiſch mie fie jelbft, erſt bei ge- 
legener Stunde in den Rüden zu fallen? & 
war nicht3 zu gewinnen, nicht einmal Dank, aber 
alles war zu verlieren. 

D Dual, dachte er oft in fehlaflofen Näch- 


Baffermann, Caſpar Haufer 10 145 


ten, fonderbare Qual, dem rechtlofen Treiben 
als beftellter Wächter und mit untätiger Hand 
äufehen zu müſſen, groß und Heine Sünde am 
ungenügenden Geſetz zu mefjen, die Feder auf 
den Buchftaben [u fpießen, indes das Leben feine 
Bahn läuft und Form auf Form gebiert, zer- 
ftört, niemal® Herr der Taten zu en immer 
Spürhund der Täter und nie zu wiſſen, was zu 
verhüten fei, was zu befördern! 

Er wäre nicht der gewefen, der er war, wenn 
er nicht einen Weg zwiſchen Deffentlichfeit und 
feigem Verſchweigen gefunden hätte, ber feiner 
Selbftahtung Genüge tat. Er richtete ein aus- 
führfiches Memorial an den König, worin er 
mit bedächtiger Gliederung aller Merkmale den 
Fall darlegte, frei und kühn vom Anfang bis 
zum Ende; ein Hammerſchlag jeder Satz. 

Das Schriftftüd begann mit der Auseinander- 
fesung, jr Caſpar Haufer fein uneheliches, fon- 
ern ein eheliches Kind fein müſſe. 

Wäre er eim umeheliches Kind, hieß e3, fo 
wären leichtere, weniger graufame und weniger 
gefäßelihe Mittel angewendet worden, um feine 

bitammung zu verheimlichen, als die ungeheure 
Tat der viele Jahre lang fortgefeßten Gefangen» 
haltung und endlichen Ausſetzung. Je vornehmer 
eine3 der Eltern war, deſto mühelofer konnte das 
Kind entfernt werden, und noch weniger Urfache 
zu fo bedeutenden und verräterifchen Anftalten 
hätten Leute geringen Standes und geringen Ver- 
mögen gehabt; das Brot und Wafjer, melces 
Caſpar im verborgenen verzehren mußte, hätte 
man ihm auch vor aller Welt reichen dürfen. 
Denkt man ſich Caſpar als uneheliches Kind hoher 
oder niedriger, reicher oder armer Eltern, in 


146 


keinem Fall fteht das Mittel im Verhältnis zum 
Zwed. Und wer übernimmt grundlos die Laft 
eines jo ſchweren Verbrechens, zumal wenn er dabei 
die angftvolle Plage hat, e8 für unabſehbare Zeit 
Tag für Tag wieder und wieber verüben zu müſſen? 
Aus alledem geht hervor, fo fuhr der unerbitt- 
liche Ankläger fort, daß ſehr mächtige und fee 
reiche Perſonen an dem Verbrechen beteiligt find, 
welche über gemeine Hinderniffe unſchwer hinweg⸗ 
ſchreiten, welche durch Furcht, außerordentliche 
Vorteile und glänzende Hoffnungen willige Werk - 
zeuge in Bewegung fegen, Zungen feſſeln und 
goldene Schlöfler vor mehr als einen Mund 
legen Eönnen. Ließe e3 ſich fonft erklären, daß 
die Ausfegung Cafpars in einer Stadt wie Nürn- 
berg am hellen Tage erfolgen und der Täter 
fpurlos verfhwinden Tonnte; daß durch alle ſeit 
vielen Monaten mit unermüdlichem Eifer be 
teiebenen Nachforjchungen fein rechtlich geltend zu 
machender Umftand entdeckt werben Tonnte, der 
auf einen beftimmten Ort ober einen beftimmten 
Menſchen führte, daß sent hohe Belohnungen 
Teine einzige befriedigende Anzeige veranlaßten? 
Deshalb muß Cajpar eine Perfon fein, mit 
deren Leben oder Tod weittragende Intereſſen 
verfettet find, folgerte Feuerbach. Nicht Rache 
und nicht Haß konnten Motive zur Einkerferung 
geweien fein, ſondern er wurde bejeitigt, um 
andern Vorteile zuzumenden und zu fichern, die 
ihm allein gebührten. Er mußte verfchwinden, 
damit andre ihn beerben, damit andre fich in der 
Erbſchaft behaupten fonnten. Er muß von hoher 
Geburt fein, dafür jprechen merkwürdige Träume, 
die er gehabt und die fonft nichts find als 
wiebererwachte Erinnerungen aus früher Jugend, 
147 


dafür jprechen der ganze Verlauf feiner Gefangen» 
{haft und die daraus fich ergebenden Schlüffe; 
er wurde freilich im Kerker gehalten und ſpärlich 
ernährt, aber man hat Beiſpiele von Menfchen, 
die nicht in böswilliger, fondern in wohltätiger 
Abficht eingekerkert wurden, nicht um fie zu ver- 
derben, fondern um fie gegen diejenigen zu fchügen, - 
die ihnen nach dem Leben getrachtet. Vielleicht 
auch, daß durch fein bloßes Dafein ein Drud 
ausgeübt werden jollte auf jemand, der mit 
zauderndem Gemiffen an der Unternehmung teil- 
gehabt und doch nicht wagen durfte, Einfprud; 
zu erheben. Es wurde Sorgfalt und Milde an 
Cafpar geübt; warum? Warum hat ihn der 
Geheimnisvolle nicht getötet? Warum nicht einen 
Tropfen Opium mehr in das Waffer getan, das ihn 
bisweilen betäuben follte? Das Verließ für den 
Lebendigen wurde ein doppelt ficheres für den Toten. 

Wenn nun in irgendeiner hohen, oder nur 
vornehmen, ober nur angefehenen Familie in Ca- 
ſpars Perfon ein Kind verfchwunden wäre, ohne 
daß man über deſſen Tod oder Leben und wie 
es hinweggefommen, etwas in Erfahrung brachte, 
jo müßte doc längft öffentlich befannt fein, in 
welcher Familie dies Unglück vorgefallen. Da 
aber feit Jahren und unerachtet Caſpars Schid- 
ſal ein weitbeſprochenes Ereignis geworden, nicht 
das mindefte davon verlautet hat, jo ift Cafpar 
unter den Geftorbenen zu fuchen, a8 will 
beißen: ein Kind wurde für tot ausgegeben und 
wird noch jegt dafür gehalten, welches in Wirk— 
lichteit am Leben ft, und zwar in der Perfon 
Caſpars; das will heißen, ein Kind, in deſſen 
Perſon der nächfte Erbe oder der ganze Mannes» 
ftamm feiner Familie erlöfchen follte, wurde bei— 
148 


feitegefehafft, um nie wieder zu ericheinen; es 
wurde diejem Kind, das vielleicht gerade Frank 
gelegen, ein andres, totes oder fterbendes Kind 
unterfchoben, dieſes als tot ausgeftellt und bes 
geben und fo Caſpar in die Totenlifte gebracht. 
jar der Arzt im Spiel, hatte er Befehl, das 
‚Kind zu morden, fand er jedoch in feinem Herzen 
oder im feiner Klugheit Gründe, den Auftrag 
Scheinbar zu vollziehen und das Kind zu retten, jo 
konnte der fromme Betrug leichterdings vollzogen 
werden. Hier handelte jeder auf höhere Weiſung, 
aber wo war dergebietende Mund? Wo der mächtige 
Geift, der ein folches Gewicht von Verantwortung 
für ewige Zeiten zu agen unternahm? Wo das 
Haus, in welchem das Unerhörte geichah? 

An diefer Stelle des Berichts ftocte die Hand 
des Präfidenten, — tagelang, wochenlang. Nicht 
aus Schwäche noch aus Wankelmut, fondern mit 
dem fchmerglichen Zagen eines Feldherrn, der des 
Unheils und Berderbens ficher ift, wie immer die 
Schlacht auch enden möge. Die Krone von einem 
Fürftenhaupt zu reißen und mit Fingern auf das 
befleckte Diadem deuten, hieß das nicht, die Maje- 
ftät auch des eignen Königs beleidigen, geheiligte 
Meberlieferungen mit Füßen treten, die unmündigen 
Völker zum Widerpart ftacheln? Doch wie nie zu= 
vor empfand er die engenbe Bemalt des Wortes und 
wie Wahrheit aus Wahrheit fließt und drängt. 

Er nannte das Haus mit Namen. Er wies 
nach, daß das alte Geſchlecht jählings, in aufs 
fallender Weife und gegen jede menichliche Ver— 
mutung im Mannesftamm erlofchen fei, um einem 
aus morganatifcher Ehe entjprofjenen Nebenzweig 
Platz zu machen. Nicht etwa in einer finderlofen, 
jondern in einer mit Kindern wohlgeſegneten Ehe 

149 


hatte fich dies Ausfterben ereignet, und nur die 
Söhne farben, die Töchter aber Iebten meiter. 
So wurde die Mutter zur mwahrhaften Niobe, 
doch traf Apollos tötendes Gefchoß ohne Unter- 
ſchied Söhne und Töchter, bier aber ging der 
Würgengel an den Töchtern vorüber und erſchlug 
die Söhne. Und nicht bloß auffallend, fondern , 
einem Wunder ähnlich, daß der Würgengel ſchon 
an der Wiege der Knaben ftand und fie heraus- 
git mitten aus der Reihe blühender Schweftern. 

ie wäre e8 erflärbar, fragte Feuerbach, daß 
eine Mutter demfelben Vater drei gefunde Töchter 
jebiert und als Söhne lauter Sterblinge? Darin 
üt fein Zufall, behauptete er furchtlos, jondern 
Syftem, oder man muß glauben, die Vorſehung 
got habe einmal in den gewöhnlichen Lauf der 

atur eingegriffen und Außerordentliches getan, 
um einen politijchen Streich auszuführen. Nicht 
lange nach dem Erfcheinen Caſpars hat fich in 
Nürnberg das Gerücht verbreitet, Caſpar jei 
ein für tot ausgegebener Prinz jenes Gejchlechts, 
und immer wieder redeten die dunkeln Stimmen, 
fogar von einer angeblichen le! einung 
wurde, wie öffentliche Blätter erzählten, die Be- 
hauptung gewagt, daß die gegenwärtigen Re— 
genten den Thron durch Ufurpation befäßen und 
daß noch ein echter Prinz am Leben fei. Gerüchte 
find freilich nur Gerüchte; aber fie fließen oft 
aus guten Quellen; fie haben, wo es geheime 
Verbrechen gibt, häufig ihre Entftehung darin, 
daß ein Mitichuldiger geplaudert, oder mit feinem 
Vertrauen zu freigebig geweſen, oder eine Un- 
vorfichtigfeit begangen, oder jein Gewiſſen er- 
leichteren wollte, oder feine getäufchten Hoffnungen 
zu rächen fich vorgefeßt, oder im ftillen die Ent- 
150 


deckung der Wahrheit herbeizuführen gefucht, ohne 
die Rolle des Verräters fpielen zu müffen. 

Der Präfident nannte nicht bloß die Dynaftie 
mit Namen und das Land, das ihr erbeigen war, 
er nannte auch den Fürften, deſſen plößlicher Tod 
vor mehr al3 einem Jahrzehnt Argwohn erregt 
hatte, er nannte die Fürftin, die, von hoch— 
erlauchter Abkunft, in ſelbſterwählter Einſamkeit 
ein unfaßbares Geſchick betrauerte; er nannte 
diejenigen, die ſo über Leichen hinweg zum Thron 

eſchriften, und neben dem Bild eines ſchwachen, 
och ehrgeizigen Mannes tauchte die Geftalt eines 
Weibes auf, voll von dämonifchem Weſen, der 
vegierende Wille über dem graufen Gejchehen. 

Es war etwas von der Bitterfeit eignen Erlebens 
in den unummundenen Hinweiſen de3 Präfidenten. 
Denn er kannte die höfijche Welt, in der Tüde und 
Hinterlift in eine Wolle von Aeohigeriihen gebettet 
find und wo die Niedertracht ihre Opfer mit heuch⸗ 
lerifchen Gnaden betäubt; er hatte ihre Luft ge- 
atmet, er hatte von ihren Tifchen geipeift, von 
ihrem Gift genoffen, den beften Teil jeines Lebens 
und feiner Kräfte in ihrem Dienft vergeudet und 
war für die reinfte Hingebung mit Schmach und 
Verfolgung belohnt worden; er kannte ihre Rrea- 
turen und Helferähelfer, ev kannte fie, denen die 
Geſchichte nicht3 bedeutet al3 eine Stammbaum» 
chronik, Religion eine Priefterlitanei, Philofophie 
einen fluchmwärdigen Jakobinismus, Politit einen 
Blindekuhreigen mit Noten und Protofollen, der 
Staatshaushalt ein Nechenerempel ohne Probe, 
Menichenrechte ein Pfänderfpiel, der Monarch ein 
Schild ihrer eignen Größe, das Vaterland ein Pacht⸗ 
gut und Freiheit das fträfliche Vermeſſen aber- 
witziger Toren. Die unerfeglichen Jahre jhrien Hinter 

151 


feinen Worten hervor, erlittene Zurückſetzung und 
ein verfinfterter Geiſt. Er wollte feiner jelbft 
nicht gedenken, doch die Worte entjchleierten 
feinen Gram, wenn auch nicht für das Auge des 
Königs, der nur zu leſen brauchte, was ge- 
ſchrieben ftand. 
‘Die Schrift ward unter Anwendung pein- 
licher Vorficht abgeſandt, damit fie in feine andern 
ände als in die de3 Regenten gerate, und ber 
rräſident wartete von Woche zu Woche vergeb- 
lich auf Erwiderung, auf einen Befcheid, auf 
irgendein Zeichen. Da kam die Kunde von dem 
ordanfall auf Caſpar. Feuerbach reifte nach 
Nürnberg; feine eignen Maßnahmen hatten fo 
wenig Erfolg wie die der Polizei. Am zehnten 
Tag jeines Aufenthalts erhielt er ein Schreiben 
aus der königlichen Privatlanzlei, worin mit ge 
bührendem Dank von feinen Mitteilungen Notiz 
genommen und mit Anerkennung des nicht genug 
zu beftaunenden Scharffinns in der Entwirrung 
verwicelter Verhältniffe gedacht war, das aber 
in allen wefentlichen Punkten eine ſpröde Burüd- 
haltung zeigte; man werde prüfen; man merde 
überlegen; man müfje abwarten; gemichtige Rück⸗ 
ſichten feien zu beachten; leicht erflärliche Be— 
Siehungen legten unbequeme Pflichten auf; die 
atur des Unglaublichen felbjt veranlafje eher 
zur Verwunderung, zur Betürzung als zu un- 
befonnenem Eingreifen; doc, verfpreche man, ja 
man verfpreche; vor allem werde Schweigen emp⸗ 
fohlen, unbedingtes Schweigen; bei Verluft aller 
Gnade dürfe feine derartige Kunde als authentifch 
durch den Mund eines hohen Staatsbeamten nad) 
außen dringen: man erwarte über den Punkt 
Verftändigung und Unterwerfung. 


152 


Die Wirkung dieſes geheimen Erlafjes, mit 
welchem man ihm zugleich Ypmeicheite und drohte, 
der einer freundlich dargereichten Hand glich, 
worin der gefchliffene Dolch bligte, war um fo 
heftiger, al3 der Inhalt längft geahnt und ge- 
fürchtet war. Feuerbach fhäumte. Er zertrat 
das Gendfchreiben mit den Füßen; er rannte mit 
teuchender Bruft, die Fäufte gegen die Schläfen 
gedrüdt, eine ganze Weile im Zimmer auf und 
ab, dann ftürzte er aufs Bett, daS Saufen feiner 
Pulſe beängftigte ihn und er erlöfte fich ſchließlich in 
einem lauten, langen Gelächter voll Wut und Zorn. 

Dann blieb er Hunbenlang liegen und fonnte 
nichts andres denken als das einzige Wort: 
Schweigen, Schweigen, Schweigen. 

An demfelben Nachmittag war der Bürger 
meifter Binder mehrmald im Gafthof geweſen und 
hatte den Präfidenten zu fprechen gewünſcht. Der 
Kellner war ftet3 mit dem Befcheid zurücgelom- 
men, fein Pochen fei vergeblich, der Herr Staats⸗ 
rat jcheine zu fehlafen oder wünſche nicht geftört 
zu werben. Gegen Abend kam Binder wieder 
und wurde endlich vorgelaffen. Er fand den 
Präſidenten in ein Aftenheft vertieft, und feine 
Sntiehufbigung wurde mit der verlegend kurzen 
Bitte ermidert, er möge zur Sache kommen. 

Der Bürgermeifter trat betroffen einen Schritt 
zurüd und fagte ftolz, er wifje nicht, wodurch er 
ich das Mißfallen Seiner Exzellenz zugezogen 

aben könne, doch wie dem auch jei, er müffe 
eine derartige Behandlung zurüctweifen. Da er- 
hob fich Feuerbach und entgegnete: „Ums Himmels 
willen, Mann, laffen Sie das! Wer auf einem 
Scheiterhaufen fchmort, hat einigen Grund, wenn 
er die Negeln der Höflichkeit vergißt!" 

158 


Binder ſenlte ben Kopf und fchwieg verwundert. 
Dann erklärte ev den Zweck feines Beſuchs. Daß 
Daumer die Abficht habe, Caſpar aus feinem Haus 
zu entfernen, jei dem Präfidenten wahrfcheinlich 
befannt. Da nun der Jüngling fomweit hergeftellt 
fei, habe fi) Daumer entichloffen, damit nicht 
Bingumarten, fondern ihn baldmöglichft zu den 

jeholdiichen zu bringen, die Cafpar mit Freuden 
aufnehmen wollten. Alles dies ſei genügend bes 
fprochen und man wünſche nur, den Präfidenten 
zu unterrichten, und bitte um feine Gutheißung. 

„Sa, ich weiß, daß Daumer die Gedichte 
jatt hat,“ antwortete Feuerbach verdrießlih. „Ich 
made ihm feinen Vorwurf daraus. Niemand 
bat Luft, fein Haus au einer umlauerten Mord- 
ftätte werden zu lafjen, obwohl dagegen Maßs 
regeln ergriffen werden können, werden müſſen. 
Bon heute ab foll Cafpar unter genauer polizei» 
licher Ueberwachung ftehen; die Stadt haftet mir 
für ihn. Doch warum hat Daumer folche Eile? Und 
marum gibt man Cafpar in die Familie Behold, 
warum nicht zu Herrn von Tucher oder zu Ihnen?" 

„Herr von Tucher ift während der nächiten 
Monate berufshalber gezwungen, feinen Äuf— 
enthalt in Augsburg zu nehmen, und ich —“ 
der Vürgermeifter zögerte, und fein Geficht wurde 
vorübergehend bleich, — „mas mich betrifft, mein 
Haus ift fein Ort des Friedens." 

Raſch ſchaute der Präfident empor; ſodann 
ging er hin und reichte Binder ftumm die Rechte. 
„Und mas ift e3 mit diefen Beholds? Was find 
es für Leute?“ fragte er ablenfend. 

„D, es find gute Leute,“ verjeßte der Bürger- 
meifter etwas unficher. „Der Mann jedenfalls; 
ift ein geachteter Kaufherr.. Die Frau... dar 
154 


über find die Meinungen geteilt. Sie gibt viel 
auf Pug und dergleichen, verſchwendet viel Geld. 
Böfes kann man ihr nicht nachſagen. Da es 
für Cafpar, wie wir ja verabredet, von Vorteil 
it, wenn er jetzt die öffentliche Säule befucht, 
genügt fchließlich die bloße Veauffichtigung in 
einem Kreis anftändiger Menſchen.“ 

„Daben die Leute Kinder?" 

„Ein dreizehnjähriges Mädchen.” Der Bürger 
meifter, dem es wie aller Welt mohlbefannt war, 
daß Frau Behold diefe Tochter ſchlecht behanbelte, 
wollte noch etwas hinzufügen, um fein Gemiffen 
zu beruhigen, doch da wurden Daumer und der 
Magiftratsrat Behold gemeldet. Der Präfident 
tieß bitten. Alsbald zeigte ſich das freundlich 

infende Geficht bes Rats; der feierliche ſchwarze 
Ainnbart ftand in einem Fomifchen Gegenfatz zu 
dem ſchon ergräuten Ropfhanr, das in feuchten 
Strähnen pomabeduftend über die Stirn hing. 

Unter beftändigen Verbeugungen trat er auf 
Feuerbach zu, der ihn nur eines flüchtigen Grußes 
würdigte und fich Togteich an Daumer wandte, 
Diefer wagte kaum dem forfchenden Auge des 
PVräfidenten zu begegnen, und hr Frage, ob man 
Caſpar die innere und äußere Anftrengung eines 
fo durchgreifenden Wechſels fehon zumuten dürfe, 
beantwortete er durch verlegenes Schweigen. Als 

Ir Here Behold ins Geſpräch mifchte und ver- 
fiherte, Caſpar folle in feinem Haus wie ein 
leiblicher Sohn betrachtet werden, unterbrach ihn 
der Bürgermeifter mit den faft wiberrmill hervor- 
gepreßten Worten, darauf halte er nichts, wie 
man an Cafpar felbft ehe, gebe e8 ja Eltern, 
die ihre leiblichen Kinder verfümmern ließen. Der 
Nat machte ein verlegenes Geficht, rieb feine 


155 


ausgemergelten Finger an der Stuhlfante und 
ftotterte, er könne nicht3 weiter jagen, was an 
ihm läge, wolle er tun. 

Der Präfident, ftußig geworden durd die 
BesishungSvollen Reden, jah die beiden Männer 
abmechjelnd an. Darauf trat er dicht vor Daumer 
bin, legte die Hand auf defien Schulter und 
fragte ernft: „Muß e3 denn fein?" 

Daumer feufzte und entgegnete bewegt: „Exr- 
zellenz, wie hart mein Entihluß mich ankommt, 
das weiß nur Gott.” 

„Gott mag es wifjen,“ verfeßte der Präfident 
geollend, und feine unterjeßte feilte Geftalt ſchien 
plößlich drohend zu machen, „aber wird er es 
darum ſchon billigen? Wenn man Stein und 
Stahl zujammenfdlägt, gibt es Funken; wehe 
aber, wenn bloß Schmuß und Krümel vom Stein 
fliegen. Da ift feine Dauer und feine Tüchtig- 
keit der Natur." 

Er kanzelt mich ſchon wieder ab, dachte 
Daumer, und die Röte des Unmillens ftieg i 
ins Geſicht. „Ich habe getan, was in meinen 
Kräften ftand," ſagte er haftig und mit Troß. 
„Ich verſchließe Caſpar nicht mein Haus. Und 
mein Herz fchon ganz und gar nicht. Aber 
erſtens kann ich feine Gewähr für feine Sicher- 
heit mehr leiften, und ich glaube, niemand Tann 
es. Wie ift es möglih, Säemann zu fein auf 
einem Acer, unter dem ein verberbliches Feuer 
glofet und jeden Samen verbrennt? Und dann, 
was mehr ift, ich bin enttäufcht, ich geftehe es, 
ich bin enttäufcht. Nie will ich vergefjen, mas 
mir Caſpar geweſen ift, wer könnte ihn auch 
vergefjen! Aber das Wunder ift vorüber, die 
Zeit hat es aufgefreſſen.“ 

156 


„Vorüber, ja vorüber," murmelte Feuerbach 
düfter, „da8 Wort mußte fallen. Die Augen werden 
ſtumpf vom Schauen ins Licht. Die Söhne 
werben verftoßen, wenn fie unfrer Liebe ein 
Uebermaß abnötigen. Aber der Bettler Friegt 
feine Bettelſuppe. Meine gejchäßten Herren,” 
fuhr er laut und förmlich fort, „tun Sie, wie 
Ihnen beliebt; in jedem Fall, deſſen jeien Sie 
eingebent, bleiben Sie mir für das Wohl Caſpars 
verantwortlich." 

Als Daumer auf der Straße war, ärgerte 
er ſich noch immer über den Ton und die Worte 
des Präfidenten. Doch zugleich Tonnte er fi 
feine Selsftungufeiebenbeit nicht verhehlen. In 
einer der verödeten Straßen nahe der Burg bes 
gegnete er dem Nittmeifter Weſſenig. Daumer 
war froh, eine Ansprache zu haben, und begleitete 
den Mann bis zur Reiterkaſerne. Bon Anfan, 
an lenkte der Rittmeiſter die Unterhaltung auf 
Cafpar, und Daumer bemerkte nicht oder wollte 
nicht bemerken, daß die Geſprächigleit des Ritt- 
meifters einen hohnvollen Beigeſchmack Hatte. 

„Eine geheimnisvolle Sa das mit dem 
Vermummten," meinte Herr von Bellen ig, plöß- 
lich deutlicher werdend. „Sollte e8 Leute geben, 
die daran ernftlich glauben? Am hellichten Tag 
dringt ein Kerl, ein Kerl mit Handſchuhen, bitte, 
Kt t in ein bewohntes Haus, hängt ſich einen 

chleier übers Geficht und zieht ein Beil aus der 
— Oder ſollie er das Beil vorher offen 
über die Straße getragen haben? Mit Hand- 
ſchuhen, wie? Beim heiligen Tonmafius, das 
tft eine gewaltige Räuberhijtorie!" 

Da Daumer nicht? antwortete, fuhr der Ritt- 
meifter eifrig fort: „Nehmen mir einmal an, ber 

157 


jamofe Vermummte hat die Abficht gehabt, den 

urfchen zu töten. Warum dann die unbedeutende 
Wunde? Er brauchte ja nur ein Bipchen kräf⸗ 
tiger zuzuſchlagen und alles war aus, der Mund, 
der ihn verraten mußte, war ſtumm. Man muß 
rein glauben, der behandſchuhie Mörder hat fein 
Opfer einftweilen nur ein bißchen kitzeln wollen. 
Wahrhaftig, eine kitzlige Gejchichte. Alle meine 
Belannten, parole d’honneur, lieber Profeſſor, 
find empört über die Leichtgläubigkeit, die 
I von jo albernem Spuk zum beften halten 
läßt." 

Daumer bielt es für unter feiner Würde, 
Zorn ober Entrüftung zu zeigen. Er ftellte ſich, 
als hätte er nicht übel Luft, dem Nittmeifter beis 
zuftimmen, und fragte gelebrig, wie man fich aber 
den ganzen Vorgang zu benten habe. Herr von 
Wefjenig zuckte —2 die Achſeln; er mochte 
heftiges Aufbrauſen und ſcharfe Zurechtweiſung 
erwartet haben, und weil dies nicht eintraf, legte 
ex fein verhalten-feindfeliges Weſen ab, war jedoch 
vorfichtig genug, fih nur in allgemeinen Ber- 
mutungen zu äußern. „Dielleicht ift der gute 
Haufer betrunken geweſen und auf der Treppe 
gefallen und hat dann die Mordsgefchichte aus- 
geheckt, um fich interefjamt zu machen. Das wäre 
ja noch harmlos, ndre ſehen bei weitem 
ſchwärzer; man traut dem Halunken fchon zu, 
daß er feine Wohltäter durch einen feingefäbelten 
Streich hinters Licht geführt hat.” 

Seht vermochte Daumer nicht mehr an fich 
zu halten. Er blieb ftehen, wehrte mit beiden 
Händen ab, als drängen die Reden feines Be— 
gleiter3 wie giftige Fliegen auf ihn ein, und ftürzte 
ohne Wort noch Gruß davon. 

158 


Das ift alfo die Welt, das find ihre Stim- 
men, dachte er beitürzt; daS zu denken, ift möge 
lich, es auszusprechen, fteht jedem Mund frei! 
Und diefer Abgrund von Unfinn und Bosheit fol 
dich verjchlingen, armer Cafpar! Wenn du auch 
nicht der Himmelszeuge bift, den ich wähnte, über 
ihnen jchmebft du doch wie der Adler über Kobolds⸗ 
gezücht. Freilich, fie werden dir die Flügel 
brechen; vergebens wird die Schuldlofigkeit aus 
deinem Innern ftrahlen, fie werden es nicht ſehen; 
vergebend wirft du vor ihnen weinen und ver- 
gebens lächeln, du wirft ihre gab faffen und 
vor Kälte jchaudern, du wirft fie anbliden, und 
fie werden ftumm fein, angftvoll fucht dein Geift 
die Wege zu ihnen und Verrat führt dich auf 
den verderblichiten von allen... . 

Man ift Prophet und hat ein mitleidiges Ge- 
müt; man fennt die Menfchen, man weiß, daß 
das Feuer brennt, daß die Nadel fticht, und daß 
der Hafe, wenn er angefchofjen wird, ins Gras 
fällt und ftirbt; man fennt die Folgen deſſen, 
was man tut, nicht wahr, Here Daumer? Aber 
ift dies etwa ein Grund, den Gefchehnifjen, wie 
einem Feind, der da8 Schwert erhoben hat, in 
die Arme zu fallen und den Schlag abzuwenden ? 
Nein, es ift fein Grund. Oder ift e8 nur Grund, 
ein kleines Entſchlüßchen rüdgängig zu machen? 
Nein, es ift kein Grund. Darin haben die 
Idealiſten und Seelenforfcher nicht3 voraus vor 
Dieben und Wucherern. 

Man geht nach Haufe, philofophierend geht 
man nad) Haufe, legt ſich jchlafen, und am näch— 
ften Morgen fieht die Welt weit annehmbarer 
aus als am geftrigen, veichlich verftimmten 
Abend. 

159 


Das Amfelherz 


Vierundzwanzig Stunden fpäter hält eine 
Kutſche vor dem Daumerfchen Haus, und Frau 
Behold felber kommt, um Cafpar zu holen. Wirklich, 
Frau Behold hat fich’3 etwas koſien Iaffen, eine 
ſchwarzlackierte Kutjche mit zwei Pferden und einen 
Dann mit goldenen Knöpfen auf dem Bod. 

Cafpar wird von Daumer und den beiden 
Feruen zum Tor geleitet, auch der Kandidat 

legulein verläßt feine Junggeſellenklauſe. Anna 
kann ſich der Tränen nicht erwehren, Daumer 
blickt finfter vor fich hin, Frau Behold gibt dem 
Nutfcher ein Zeichen, die Roſſe jchnauben, die 
Näder rollen und die Zurücbleibenden ſchauen 
er in die Dunkelheit, die das Gefährt ver- 
lingt. 

Das war der Abſchied, und Caſpar war's, 
als gehe es weit fort. Aber es ging nur von 
einem Haus auf der Schütt zu einem Haus am 
Markt. Es war dies ein ſchmales, hohes Haus, 
welches fo eingepreßt fland zwifchen zwei andern, 
daß e8 ausjah, als fehle ihm die Luft zum 
Atmen. Es hatte einen gezinnten Giebel, fteil- 
abhängend wie die Schultern eines verhungerten 
Kanzliſten, die Fenfter hatten nichts Freifchauen- 
des, jondern etwas Blinzelndes, das Tor war 
feltfam verſteckt und innen wand fich eine dunkle 
Treppe in vielen Biegungen, gleichjam in vielen 
Ausreden durch die Stockwerke; die alten Treppen 
knarrten und ftöhnten bei jedem Schritt, und 
wenn die Türen geöffnet wurden, floß nur ein 
dämmeriges Licht aus den Stuben. 

Cafpar wohnte in einem Gemach gegen den 
vieredigen Hof; vor den Fenftern lief eine Holz» 
160 


alerie mit verfchnörkeltem Geländer, auf jeder 
Eite waren grünverhangene Glastüren, und 
unten jtand ein eiferner Brunnen, aus dem fein 
Waſſer floß. 

Das Wunderliche lag darin, daß draußen der 
Markt war, wo viele Menfchen laut redeten, wo 
die Händler ihre Heinen Läden und Verkaufszelte 

jatten, wo von morgens bis abends Frauen 
eilfchten, Kinder kreiſchten, Roſſe mieherten, das 
Geflügel gaderte, und daß man bloß das Tor 
Hinter fich zu fchließen brauchte und e3 wurde fo 
ftill, als ob man in die Erde hineingeftiegen jei. 

Dies machte Cafpar im Anfang och, Es 
glich einem Verſteckenſpiel, er fand es Iuftig, ſich 
zu verfteden, und gelegentlich ſah er es darauf 
ab, ein andres Geficht zu zeigen, als ihm zu Sinn 
war, oder andre Dinge zu jagen, als man von 
ihm erwartete. An einem der erften Tage verlor 
Frau Behold ein filbernes Kettchen; Cafpar bes 
hauptete, es im Vorplatz geſehen zu haben, ob- 
wohl er es keineswegs gejehen hatte. 

Es wurde ihm verboten, ohne Erlaubnis das 
Haus zu verlafien. Er fragte, wer es verboten 
habe, da wurde ihm geantwortet, Frau Behold 
habe e3 verboten, und als er fih an Frau Be 
Hold wandte, fagte fie, der Magiftratsrat habe 
e3 verboten, und als er fi) an den Magiftrats- 
rat wandte, fagte der, der Präfident habe es 
verboten. Dermaßen war alles verzwict und 
verfteckt in diefem — 

Einmal wollte Frau Behold in ſein Zimmer 
gehen; fie fand es derſperrt, er hatte von innen 
zugeriegelt. „Was fperrft du dich denn ein am 
hellichten Tag?" fragte fie und jchnüffelte auf 
dem Tiih herum, wo feine Bücher und Schul 


Baffermann, Gafpar Haufer 11 161 


arbeiten lagen. „Fürchteſt du dich vielleicht?“ 
pe fie zungengeläufig fort. „Bei mir braucht 
u dich nicht zu fürchten, bei mir gibt es feine 
vermummten Spigbuben.“ Cr gab zu, daß er 
ſich fürchte, und daS fchmeichelte Frau Behold, 
fie nahm eine geimmige Beichügermiene an und 
lächelte herausfordernd. 

Jeden Vormittag, wenn er von der Schule 
kam — ex befuchte jest zwei Stunden täglich die 
dritte Klafje des Gymnafiums —, erfundigte fich 
Frau Behold, wie es ihm gegangen fei. Salcdıe 
iſt's gegangen,“ entgegnete er dann trübfelig, 
und in der Tat, er hatte wenig Freude davon. 
Die Lehrer klagten, daß feine Gegenwart die 
andern Schüler der Aufmerkfamfeit beraube; der 
Umftand, daß auf der Gaſſe ſtets ein Polizei⸗ 
diener hinter ihm herging und daß die Polizei 
Tag und Nacht das Haus bewachte, in dem er 
wohnte, dünkte die Knaben aufregend fonderbar, 
und fie beläftigten ihn mit den albernften Fragen. 
Seine Schweigjamfeit wurde natürlich ganz faljch 

jedeutet, und wenn er von felbft unbefangen das 

ort am fie richtete, wichen fie entweder fcheu 
zurücd oder höhnten ihn, denn er war in ihren 
Augen nichts weiter als ein großer dummer 
Teufel, der, faft doppelt fo alt als fie, noch in 
den Anfangsgründen der Wifjenfchaft ſteckte. Es 
kam häufig vor, daß er während des Unterrichts 
aufftand und eine feiner Eindifchen Fragen ftellte; 
da brach dann die ganze Klafje in Gelächter aus, 
und der Lehrer lachte mit. Einmal, während 
eines gewaltigen Sturmminds, der draußen heulte, 
verließ er feinen Platz und flüchtete in die Ofen- 
ede; da kannte das Vergnügen der andern feine 
Grenze, und als ihn der dicke Lehrer hervorzog 
162 


und zu den Bänken jchob, begleiteten fie den 
Vorgang mit einer wahren Katzenmuſik. 

(m eigentümlichften war es aber anzufehen, 
wenn er auf dem Nachhaufeweg mitten unter 
der Knabenſchar ging, jtill, verſchloſſen und 
forgenvoll _ unter den Lärmenden und Unbe— 
fümmerten, männlich unter den Halbwüchslingen — 
und ihm zur Seite beftändig der Wächter des 
Geſetzes. 

Sehr häufig ſprach Daumer vor, um bei 
den Kollegen Auskunft über Caſpar einzuholen. 
„Ach,“ hieß es da, „er hat freilich den beiten 
Willen, aber leider nur einen mittelmäßigen 
Kopf. Er ermeift fih anftellig, aber es bleibt 
nicht viel haften. Wir können ihn nicht tadeln, 
aber zu loben ift auch nichts." 

Daumer war gekränkt. Ihr könnt nicht 
tadeln, ihr Herren, ei, und tadelt doch, dachte 
er; Tadel ift leicht, befonder8 wenn er den 
Tadler lobt, wie e3 fein Merkmal ift. Er wandte 
fih, an den Magiftratsrat und fuchte ihm eine 
Lobpreifung auf Cajpar förmlich abzuliften, aber 
Herr Behold war fein Freund von offenen Mei- 
nungen. Er war ein einjchichtig Iebender Menſch, 
der feine Tage in einem düftern Kontor am 
Zwinger verbrachte, und wer von ihm etwas 
haben wollte, erhielt gewöhnlich die Antwort: 
„Da müffen Sie ſich an meine Frau menden." 

Daumer glich faft feinem unglüdfichen Lieb⸗ 
haber darin, wie er jest achtſam und befümmert 
den Wegen feines früheren Pfleglings folgte, 
wobei er aber gern vermied, Caſpar zu jehen 
und zu fprechen. Mit großem Mißtrauen verfolgte 
ex insgeheim das Tun und Treiben der Frau 
Behold, und er zerbrach fich den Kopf darüber, 


163 


weshalb diefe fo gierig getrachtet hatte, den Jüng- 
ling in ihre Nähe zu befommen. „Was willft du,* 
meinte Anna, die ebenfoviel gefunden Menfchen- 
verstand bejaß wie ihr Bruder phantaftiichen 
Peſſimismus, „es ift ja ganz Klar, fie braucht 
eine Spielpuppe, eine Unterhaltung für ihren 
Salon." ö 

„Eine Spielpuppe? Sie hat doch ein Kind, und 
fie vernachläffigt ſogar dieſes Kind, wie man hört." 

„Freilich; aber daran iſt nichts Merkwür— 
diges, ein Kind zu haben wie alle andern Leute; 
es muß etwas fein, wovon man redet, was Inter⸗ 
eſſantes muß es fein; man kann dabei die große 
Dame fpielen und lieſt bie und da den eignen 
Namen in der Zeitung. Auch gilt man nebenher 
für eine Wohltäterin, der Herr Gemahl kann einen 
hohen Orden befommen, und mas die Hauptfache 
ift, man vertreibt fich die Langeweile. Die Berfon 
tenn’ ich, als ob ich's jelber wäre. Der Caſpar 
tut mir leid." 

Frau Behold mar immer unterwegs und 
eigentlich nur zu Haufe, wenn fie Gäfte hatte. 
Sie mußte immer Menfchen jehen, fie liebte 
mohtgefteibee, uigelaunte Menjchen, Männer 
mit Titeln und Frenen von Rang, liebte Fefte, 
Schmud und prächtige Gewänder. Man hätte 
fie eine joviale Natur nennen dürfen, wenn der 
Ehrgeiz fie nicht fo unruhig gemacht hätte; fie 
wäre bisweilen behäbig, ja gemütlich erjchienen 
ohne eine gewiſſe zielloje Neugierde, von der fie 
bis ins Innerſte, bis in den Schlaf der Nächte 
behaftet war. Sie hatte eine Unmafje fran- 
zöſiſcher Romane verfchlungen und war dadurd) 
empfindfam und abenteuerluftig geworden, und 
das gute Teil Phlegma, das ihrem Temperament 
164 


beigemifht war, machte diefe Eigenfchaften nur 
um fo bintergründiger. Wer fie jo nahm, wie 
fie fi) gab, war im voraus betrogen. 

Was Cafpar betrifft, fo ſah fie ihn zu- 
nächſt bloß humoriftiih und am meiften dann, 
wenn er ernjt und nachdenklich) war. „Nein, 
was ex heute wieder. Romijches gejagt hat," war 
ihre beftändige Phrafe. Es hatte oft den An- 
ſchein, als habe fie einen Heinen Hofnarren in 
Dienft genommen. „Alfo, mein liebes Mond- 
tälbchen, fprich,“ forderte fie ihn vor den Gäften 
auf. Wenn fie ihn gar eifrig befliffen jah, Iatei- 
nische Vokabeln auswendig zu lernen, lachte fie 
aus vollem Hals. „Wie gelehrt, wie gelehrt!" 
rief fie und fuhr ihm mit der Hand mwüft duch 
das Lodenhaar. „Laß es fein, laß es fein,“ 
tröftete fie ihn, wenn er über die Schwierigkeit 
einer Rechnung klagte, „bringft’3 ja doc zu 
nichts, ift genau fo, wie wenn ich ſeiltanzen wollte." 

Indes erregte er auf andre Weile bald eine 
munderliche Neugierde in ihr. Eines Morgens 
tam fie dazu, als er in der Küche ftand und 
Zeuge war, wie der Metzgerburſche das rohe und 
noch blutige Fleifch aus dem Korb nahm und 
auf die Anrichte legte. Eine unendliche Wehmut 
malte ſich in Caſpars Zügen, er wich zurüd, 
zitterte und war feines Lautes fähig, dann floh 
er mit bedrängten Schritten. Frau Behold war 
betroffen und mollte ihrer Rührung nicht nach- 
geben. Was ift das? dachte fie; er verftellt fich 
wohl; was ift ihm das Blut der Tiere? 

Um ihm gefällig zu fein, tat fie mehr, als 
ihre Bequemlichkeit ihr ſonſt verftattet hätte, 
Trogdem fehien er fich nicht wohl im Haus zu 
fühlen. „Sapperment, was ift dir übers Leber- 

- 165 


lein geg fuhr ſie ihn an, wenn ſie ein 
trauriges Geſicht an ihm bemerkte. „Wenn du 
nicht Tuftig bift, führ' ich dich in die Schlachtbant 
und du mußt zufchauen, wie man den Kälbern 
den Hals abſchneidet,“ drohte fie ihm einmal und 
wollte ſich ausfchütten vor Lachen über die Miene 
des Entſetzens, die er darüber zeigte. 

Nein, Cafpar fühlte fich keineswegs wohl. 
Frau Behold war !m ganz und gar unverftänd- 
lich, ihr Blick, ihre Rede, A Gehaben, alles das 
ftieß ihm aufs äußerfte ab. Es Loftete ihn nicht 
wenig Kunft und Nachdenken, um feinen Wider 
willen nicht merfen zu laffen, gleichwohl war er 
Tran und elend, wenn er nur eine Stunde mit 
Frau Behold verbracht hatte. Es fehlte ihm 
dann jegliche Arbeitsluft, und die Schule zu bes 
fuchen, die ihm ohnehin verhaßt war, unterließ 
ex ganz. Die Lehrer befchwerten fich beim Ma- 
giftrat; Herr von Tucher, der jet wieder in der 
Stadt weilte und der vom Gericht zu Caſpars 
Vormund ernannt worden war, ftellte ihn zur 
Nede. Caſpar wollte nicht mit der Sprache her- 
aus, ein Betragen, das Herr von Tucher als 
Verftocktheit auffaßte und das ihm zu ſchlimmen 
Defücchtungen nlaß bot. 

Und da war noch eines, was Cafpar zu 
denfen gab. Manchmal begegnete ihm auf der 
Stiege ober im Flur oder in einem entlegenen 
Zimmer Frau Beholds Tochter, ein Mädchen, 
halb erwachſen und bleich von Geſicht. Ihre 
Augen waren feindjelig auf ihn gerichtet. Wenn 
er fie anreden wollte, Tief fie davon. Einmal 
ſchaute er von der Galerie in den Hof und ſah 
fie am Brunnen ftehen, hinter deſſen eifernem 
Rohr ein Brett mweggefchoben war, jo daß der 
166 


Blick in die Tiefe offen lag. Das Mädchen ftand 
unbeweglic und ftarrte mindeftens eine Viertel- 
ftunde ae bie in das ſchwarze Loch, Cafpar ver- 
ließ leiſe die Galerie und fchlich hinunter; er 
betrat no kaum den Hof, fo flüchtete das 
Dit en mit böfem Geficht an ihm vorüber. 

afpar ihr zaudernd folgte, begegnete ihm 
Pe da Rat, und Cafpar erzählte voll Eifer, 
was er mitangeihaut Herr Behold zog die 
Stirn kraus und fagte bejchwichtigend: „Ja, ja, 
gewiß; das Kind ift nicht gefund. Kümmer’ Er 
fg nicht darum, Cafpar, fümmer’ Er fich nicht 
arum.“ 

Gafpar tümmerte fi) aber doch darum. Er 
fragte die Mägde, was mit dem Kind ſei, und 
eine von tönen. erwiberte biffig: „Sie Eriegt nichts 
zu eſſen, der Findling frißt ihr alles weg!" 
| eilte er fpornjtreich8 zu Frau Behold, 
wieberholte ihr die Worte der Magd und fragte, 
ob das wahr jei. Frau Behold befam einen 
Wutanfal und jagte die Magd auf der Stelle 
davon. Als jedoch Caſpar fie auch dann noch 
in feiner ungeſchickten und alttlugen Weiſe er- 
mahnte, daß fie mehr auf ihre Tochter achten 
möge al3 auf ihn und daß er fonft fortgehen 
Fang: ſchnitt fie ihm das Wort ab und verwies 
ihm den Vorwitz. „Wie willſt du denn fort 
gehen?“ fuhr fie auf. „Wohin denn? Wo bift 
du denn daheim, wenn man fragen darf?" 

Es entftand jest in Frau Behold die Mei- 
nung, daß Gafpar in ihre Tochter verliebt ſei. 
Sie legte es darauf an, ihn über den Punkt aus- 
zuholen. Auf ihre Fragen antwortete er jedoch, 
fo blöde, daß fie fich beinahe ihres Verdachts 
gefhämt hätte. „Grand Dieu,“ fagte fie laut 


167 


vor fich hin, „mir fcheint, der Einfaltspinfel weiß 
nicht einmal, was Liebe ift!" Ja, noch mehr, 
fie jpürte, daß er fich nicht einmal im entfern- 
teften einen Gedanken darüber machte. Das war 
der guten Dame doc überaus jeltfam, ihr, deren 
Begierden und Gelüfte immer im trüben Gemwäffer 
halb Here halb fchlüpfriger Leidenfchaften 
plätfcherten, jo tugendhaft fie auch vor ihren 
Mitbürgern fich halten mußte. 

Er ift doch aus Fleifh und Blut, Falkulierte 
fie, und wenn ſchon der närrifche Daumer in 
allen Tönen von feiner Engelsunſchuld ſchwärmt, 
als ermachjener Menſch meiß man, was der 
Hahn mit den Hühnern treibt. Er heuchelt, er 
hält mich zum beften; warte, Kerl, ich will dir 
den Gaumen troden machen. 

Auf dem Markt, zur Rechten vor dem Be— 
oldſchen Haus, ftand der fogenannte jchöne 
rrunnen, ein Meiſterwerk mittelalterlich-nürn- 

berger Kunft. Seit grauen Beiten erzählte man 
den Kindern, daß der Storch die Neugeborenen 
aus der Tiefe des Brunnens hole. Frau Behold 
fragte Caſpar, ob er davon vernommen habe, 
und als er verneinte, fah fie ihn mit ſchlauem 
Augenzwinfern an und mollte willen, ob er 
daran glaube. „Sch ſeh' nur nicht, wo der’ 
Storch da hinunterfliegen kann," antwortete er 
harmlos, „es ift ja alles mit Gittern vermacht.“ 

Frau Behold jtaunte. „Ei du Tropf!“ rief 
fie aus, „ſchau mich einmal aufrichtig an!" 

haute fie an. Da. mußte fie die Augen 
ſenken. Und plöglih erhob fie fich, eilte zur 
Kredenz, riß eine Lade auf, ſchenkte fich ein Glas 
Wein vol und trank es auf einen Bug leer. 
Sodann ging fie ans Fenfter, faltete die Hände 
168 . 


und murmelte mit einem Ausdrud von Stumpf ⸗ 
finn: „Jeſus Chriftus, bewahre mich vor Sünde 
und führe mich nicht in Verſuchung.“ 

Es bedarf kaum der Erwähnung, daß fie 
ſonſt eine höchft aufgeflärte Dame war, die fih 
das ganze Jahr nick in ber Kirche fehen ließ. 

Es war ſchon Mitte Auguft und große Hite 
herrfchte. An einem Sonntag veranitaltete ber 
Vürgermeifter ein Waldfeft im Schmaufenbuf; 
Cafpar war am Morgen mit dem Stallmeifter 
Rumpler und einigen jungen Leuten bis Buch 
geritten und war jo müde, daß er nad) Tiſch in 
jeinem Zimmer einjchlief. Frau Behold weckte 
ihn ſelbſt und hieß ihn fich anfleiden, da der 
Wagen warte, der fie zum Feſtplatz bringen 
ſollte. Auf Cafpars Frage, ob noch wer mit- 
ehe, ermiderte fie, zwei Knaben führen mit 
inaus, die Söhne des Generals Hartung. Da 
jagte Cafpar enttäufcht, er münfchte, daß Frau 
Behold tr Tochter mitgehen lafje, denn die 
werde ſich grämen, wenn fie zu Haufe bleiben 
müſſe. Frau Behold ftußte und wollte zornig wer: 
den, nahm fich aber zufammen. Sie beugte fich vor, 
ergriff mit der Hand einen Bündel Roden auf 
Caſpars Kopf und fagte boshaft: „Ich jchneide dir 
die Haare ab, wenn du wieder davon anfängſt.“ 

par entwand fich ihr. „Nicht jo nahe,“ 
flehte er mit aufgeriffenen Augen, „und nicht 
ſchneiden, bitte!“ 

„Hab' ich dich!" drohte Frau Behold, ge 
gwungen ſcherzend. „Hab’ ich dich, furchtiames 
Menjchlein? Noch ein Widerpart, und ich komme 
mit der Schere!“ 

Während der Fahrt blieb Cafpar ſchweigſam. 
Die beiden Knaben, die vierzehn und fünfzehn 

169 


Jahre alt waren, nedten ihn und juchten etwas 
aus ihm herauszuloden, da fie ftet3 mie über 
eine Art Wundertier über ki prechen gehört 
hatten. Nach Schuljungengewohnheit fingen fte an, 
prahleriſche Reden zu führen, als ob es feine 
gelehrteren und fhneffinnigeren Menjchen gäbe. 
Weit auf der Sannfteape raußen der eine, 
er höre ſchon die Muſik aus dem Wald, da ent- 
gegnete Caſpar, ärgerlich über das Weſen, das 
die beiden von ſich machten, das wundre ihn, er 
höre nichts, da en ſehe er auf einer hohen 
Stange fern über Bäumen eine Heine Fahne. 
„D die Fahne,“ meinten den geringjhägig, „die 
fehen wir jchon lang!“ Auch hierüber wunderte 
ſich Caſpar, denn er hatte fie erft im Augenblick 
wahrgenommen, ein ſchmales Streifchen, das nur 
im Wehen des Windes fichtbar war. 

„Gut,“ fagte er, „wenn fie wieder weht, will 
ih euch fragen, ob ihr e8 bemerkt." Ex wartete 
eine Weile und ftellte dann, während die Fahne 
ruhig war, bie inreführende Frage: „Alfo, weht 
fie jegt oder nicht?" 

„Sie weht!" antworteten die Knaben wie 
aus einem Mund, doch Caſpar verjegte ruhig: 
„Ich fehe daraus, daß ihr nichts jeht.“ 

Oho!“ tiefen j jene, „dann lügſt du!“ 

"So jagt mir doch," fuhr Caſpar unbeküm- 
mert fort, „was für eine Farbe fie hat." 

Die Knaben ſchwiegen und guckten, dann riet 
der eine ziemlich Heinlaut: „rot," der andre, 
etwas fühner: „blau.“ Caſpar ſchüttelte den 
Kopf und wiederholte: „Ich fehe, daß ihr nichts 
It weiß und grün ift fie.” 

Daran mar 1 wer zu mäleln, eine Viertel⸗ 
ftunde jpäter fonnten fich alle von der Wahrheit 
170 


überzeugen. Aber die Knaben blickten Caſpar 
vol Haß ins Geficht; fie hätten gern vor Frau 
Behold geglänzt, die die ganze Unterhaltung 
wortlos mitangehört Hatte. 

Caſpars Gegenwart beim Zelt 30g, mie immer, 
eine Anzahl. Safer herbei, darunter waren einige 
Belannte, junge Leute, die ſich feiner annehmen 
zu follen glaubten und ihn Frau Behold uner- 
achtet ihres Widerſpruchs entriffen. Es war 
anfangs nur eine Heine Gefellfehaft, die fich aber 

aligemach vergrößerte und, indem einer ben 

mdern anfeuerte, lauter Tolpeiten beging. Sie 
warfen Tiſche und Bänke um, ſchreckten bie 
Mädchen, kauften die Krämerbuden leer, verübten 
ein müftes Gefchrei und ftellten fich "dabei an, 
ala ob Caſpar ihr Gebieter fei und fie kom— 
mandiere. Das Treiben murde immer aus: 
gelafjener; als e3 Abend geworden war, riffen 
fie die Lampions von den Säumen und zwangen 
ein paar Muftkanten, ihnen vorauszuziehen, um 
den Tumult mit ihren Trompeten zu begleiten. 
Zwei junge Kaufleute hoben Cafpar auf ihre 
Schultern, und er, dem ſchon Hören und Sehen 
verging, wünſchte fich weit weg und auerte mit 
dem unglüclichften Geficht von der Welt auf 
feinem lebendigen Sitz. 

Unter Gelang und Gelächter kam die ent- 
feffelte Schar vor die Eftrade, wo der Tanz be- 
gonnen hatte; ; per fonnte fie nicht weiter, die 
angejammelte Menge verjperrte den a kr 
rückwärts und feitwärts. Plötzlich ra par 

janz nahe die beiden Knaben, die in Fr 

— Kutſche mitgefahren waren; ſie landen af 

der Treppe zum Tanzpodium und trugen einen 

langen Baumzmweig mit einem meißen Pappen- 
171 


dedel an der Spitze, worauf in großen Lettern 
die Worte gemalt waren: „Hier ift zu fehen 
Seine Majeftät Cafperle, König von Schwindel 
heim.“ Gie hielten die Tafel jo, daß die Auf» 
Phrift Caſpar zugefehrt war, auch alle Umfiehen- 
en gewahrten fie alsbald, und es erhob ſich ein 
ſchallendes Gelächter. Die Trompeter gaben einen 
Tuſch, und der Zug fette fich wieder, am Wirts« 
haus vorbei, gegen den illuminierten Wald in 
Bewegung. 

Caſpar rief, man ſolle ihn herunterlaſſen, 
aber niemand achtete darauf. Nun zog er mit 
der einen Hand am Ohr des einen, mit der 
andern an den Haaren des zweiten ſeiner — 
„Au, was zwickſt du mich!“ ſchrie dieſer und der 
andre: „Au, mich zebelt er!" Wütend traten fie 
beifeite, wodurch Caſpar herunterglitt. Die beiden 
Geiloträger ftanden vor ihm und grinften höh⸗ 
niſch. „Wir haben auch ein Fähnlein für 
fagte der ältere, „fieh mal zu, ob e3 weht.“ 
jelben Augenblick ſchraken fie zufammen, denn eine 
gebieterifche Stimme fchrie Dröhnend ihren Namen. 
Es war der Vater der beiden, der General, der” 
mit einigen andern Herren und mit Frau Behold 
in geringer Entfernung an einem abſeits ftehen- 
den Tiſch ſaß. Diefe alle erhoben fich, denn am 
Himmel waren ſchwere Wolfen aufgezogen, und 
man hörte fchon den Donner grollen. 

Frau Behold empfing Caſpar mit den Worten: 
„Du machit ja ſchöne Streiche, ſchämſt dich nicht? 
Alons! Wir fahren heim." Mit überlautem 
Wefen verabjchiedete fie fich von den Herren und 
eilte zum Ausgang des Feſtplatzes, wo fie mit 
treifchender Stimme ihren Kutfcher rief. „Seb 
dich!" herrſchte fie Caſpar an, als fie den Wagen 
172 


erreicht hatten. Sie felbft ftieg zum Kutjcher 
auf den Bock, ergriff die Zügel, und nun degamn 
ein tolles Fahren, erſt duch den Wald, dann 
die ſtaubſchäumende Chauffee entlang. Sie trieb 
die Tiere an, daß fie nur jo hüpften und von 
jedem Niejelftein, den ihr Huf traf, Funken 
Iprigten. Kein Stern war zu jehen, die Land- 
ſchaft breitete fich büfter Hin, häufig zudten Blitze 
auf und der Donner rollte näher. 

In wenig mehr denn einer halben Stunde 
waren fie in der Stadt, und als die Pferde am 
Marktplatz hielten, dampfte der Schweiß von ' 
ihren Flanken. Frau Behold jperrte das Hauss 
tor auf und ließ Caſpar vorangehen. Er taftete 
fich in der Dunkelheit bis zu feiner Zimmertür, doc) 
die Frau ergriff ihn am Arm, 308 ihn weiter und 
trat mit ihm in den fogenannten grünen Salon, 
einen großen Raum, wo die Fenfter geichloffen waren 
und eine muffige Luft herrſchte. Frau Behold zündete 
eine Kerze an, warf Hut und Mantille auf das 
Sofa und feßte fih in einen Lederfeflel. Sie 
fummte leiſe vor fich hin, plötzlich umterbuach fie 
fich und fagte in derfelben fingenden Weife: „Komm 
einmal her zu mir, du unfchuldiger Sünder.“ 

Caſpar gehorchte. 

„Knie nieder!" gebot die Frau. 

86, ernd Iniete er auf den Boden und jah 
Frau Behold ängftlich an. 

Wie am Nachmittag näherte fie wieder ihr 
Geficht dem feinen. Ihr ſchmales, Tanges Kinn 
zitterte ein wenig, und ihre dugen lachten ſonder⸗ 
bar. „Was ſträubſt du dich denn jo?" gurrte 
fie, da er den Kopf zurückbäumte. „Ma foi, 
er fträubt fih, der Füngling! Haft wohl no: 
fein lebendiges Fleifch gerochen? He, du Gtrid, 

173 


wer's glaubt! Was Teufel, Erg dich am 
Ende? Hab’ ich dir nicht die beften Biſſen auf- 
tragen laffen? Hab’ ich Dir nicht geftern erft eine 
ſchoͤne Amſel geſchenkt? Ich hab’ ein gutes Herz, 
Cafpar, da horch, wie's jchlägt, wie's tidt.. ." 

Mit großer Kraft zog fie feinen Kopf gegen 
ihre Bruft. Er dachte, fie wolle ihm ein Abe 
tun, und fchrie, da drüdte fie die Lippen auf 
feinen Mund. hm wurde eisfalt vor Grauen, 
jein Körper ſank zufammen, wie wenn die Knochen 
aus den Gelenken gelöft wären, und als Frau 
Behold diefer jähen Erſchlaffung inne ward, er 
ſchrak fie und fprang auf. Ihr Haar hatte fich 
gelodert, und ein dider Zopf lag mie eine 
Schlange auf der Schulter. Caſpar hockte auf 
dem Boden, krampfhaft umflammerte feine Linke 
die Rücklehne. Frau Behold beugte fich noch 
einmal zu ihm und ſchnupperte ſeltſam, denn fie 
liebte den Geruch feines Leibes, der fie an Honig 
erinnerte. Aber kaum fpürte Caſpar ihre aber 
malige Nähe, als er emportaumelte und ans 
andre Ende des Zimmers floh. Die Seite gegen 
die Tür gefchmiegt, den Kopf vorgebudt, die 
Arme halb ausgeftrectt, jo blieb er ftehen. 

Die ferne Ahnung von etwas Ungeheuerm 
dämmerte in ihm auf. Kein jemals gehörtes 
Wort gab einen Hinmeis, doch er ahnte es, wie 
man auf eine Feuersbrunft, die hinter den Bergen 
wũtet, aus der Nöte des Himmels fchließt. 
Schändlic war ihm zumut, insgeheim fühlte er 
ſich an, ob er denn auch feine Kleider am Körper 
trüge, und dann fehaute er auf feine Hände 
nieder, ob fie nicht voll Schmuß feien. Er ſchämte 
fich, er ſchämte fi, vor den Wänden, vor dem 
Seffel, vor der brennenden Kerze ſchämte er fich; 
174 


ex wünfchte, die Tür möchte von felber fich öffnen, 
damit er unhörbar Derfhminben Tonne, 

Es war wiedasentfegliche Aufleuchten von Augen, 
als ein roſiger Blisftrahl ins Zimmer fuhr; der 
Donner folgte wie ein enormer Schrei. Cafpar 
drückte die Schultern zufammen und fing an zu 
zittern. 

Mittlerweile ging Frau Behold mit wahren 
Mannesſchritten auf und ab, lachte ein paarmal 
kurz vor fi) hin, plöglich ergriff fie die Kerze 
und trat auf Cajpar zu. „Du Nas, du ver- 
dorbenes, was haft du denn geglaubt,“ fagte fie 
exbittert, „glaubft du vielleicht, mir liegt etwas 
an dir? Ja, einen alten Stiefel! Mac, daß 
du mweiterfommft, und unterfteh dich nicht, darüber 
zu fprechen, ſonſt mafjafrier’ ich dich!" 

Sie lachte dabei, als folle e8 im Grunde doc 
nur Scherz fein, aber Cafpar erjchien fie über- 
groB ihr ſchwarzer Schatten erfüllte den ganzen 

aum, außer ſich vor Furcht, rannte er hinaus, 
die Frau hinter ihm her, er, die Treppe hinab 
zum Tor, rüttelte an der Klinke; es war zus 
eſperrt. Er hörte draußen den Regen aufs 
flafter praffeln, zugleich vernahm er haftig trip- 
pelnde Schritte, ein Schlüfjel drehte ſich im Schloß 
und der Magiftratsrat erſchien auf der Schwelle. 
Die unaufhörlichen Blitze beleuchteten Caſpars 
fchlotternde Geftalt und das Donnergefchmetter 
verſchlang die Fragen de3 beftürzten Mannes. 

Oben an der Stiege ftand Frau Behold, der 
nahe Kerzenſchein durchfurchte ihr Geficht mit ver- 
wildernden Lichtern, und ihre Stimme übertönte den 
Donner, als fie ihrem Manne zufchrie: „Ex hat 
ſich betunfen, der Kerl! Auf dem Schmaufenbut 
haben fie ihn betrunfen gemacht! Laß Er fich heute 

175. 


Au nicht mehr bfiden! Mari, ins Bett mit 
ihm!“ 

Der Magiftratsrat ſchloß das Tor und Happte 
den triefenden Parapluie zu. „Nun, nun... aber, 
aber," machte er, „lo ſchlimm wird's doch nicht 
gleich fein.“ 

Frau Behold antwortete nicht. Sie ſchlug 
eine Tür zu, dann war e3 ftill und finfter. 
„Komm Er nur mit, Caſpar,“ fagte der Rat, 

„wie wollen mal Licht anzünden und nachiehen, 
was e3 denn da gibt. Reich Er mir den Arm, 
0." Er geleitete Cafpar in deſſen Zimmer, machte 
Licht und murmelte fortwährend Kleine, bejchmwich- 
tigende Sätzchen vor ſich hin. Dann beroch er 
Caſpars Atem, um zu fehen, ob er wirklich ge- 
trunten babe, jchüttelte den Kopf und meinte 
verwundert: „Nicht dergleichen. Die Rätin ift 
da ficherlich im Irrtum. Aber mad) Er fich nichts 
draus, Gafpar, empfehl Er Seine Sache dem 
Herrn, und es wird wohl enden. Gute Nacht!" 

Als Cafpar allein war, irrte fein ſcheues 
Auge von Blis zu Blitz. Bei jedem Aufflammen 
hatte er unter den Lidern Schmerzen wie von 
Nadelftihen, bei jedem Donnerfchlag war ihm, 
als ob alles in feinem Leibe locker ſei. Hände 
und Füße waren ihm eißfalt. Er magte fi 
nicht ins Bett zu begeben, fondern blieb wie an— 
gewurzelt ftehen, wo er ſtand. Er erinnerte fich 

mit Grauen des erſten Gemitterd, das er im 
Turm auf der Burg erlebt hatte. Er war in 
einen Mauerwinkel gekrochen, und die Frau des 
Wärters war gekommen, ihn zu tröften. Sie fagte: 
„Man darf nicht hinausgehen, e3 ift ein großer 
Mann draußen, der zankt." Immer wenn e8 don- 
nerte, bückte ex ſich ganz zur Erde, und die Frau 


176 


fagte: „Hab feine Angft, Cafpar, ich bleib’ bei 
dir." 


Auch jest war es ihm, als jei ein großer 
Mann draußen, der zankte. Aber es mar niemand da, 
um ihn zu teöften. Die Amfel, die in einem Käfig 
beim Fenſter geduct auf dem Holzftäbchen hodte, 
ließ bisweilen piepfende Eleine Laute hören. Er hätte 
fie ſchon längit Peigelaffen, weil ihn das Tier er 
barmte, doch fürchtete er Frau Ir A Zorn. 

Als das Gewitter im Wegziehen war, ent- 
ledigte er fich fchnell der Kleider, kroch ins Bett 
und deckte ſich bis zur Stirn hinauf zu, um das 
Blitzen nicht jehen zu müffen. In der Eile vergaß 
ex fogar, die Türe abzuriegeln, und diefer Um— 
ken hatte ein gar jonderbares Gefchehnis zur 

'olge. 

m Morgen beim Aufwachen fpürte er einen 
durchdringenden Geruch. Ja, e8 roch nach Blut 
im Zimmer. Schaudernd blicte er fih um, und 
das erfte, wa er fah, war, daß der Vogelbauer 
am Fenſier leer war. Cafpar fuchte nad) dem 
Tierchen und gewahrte, daß die Amfel auf dem 
Tiſch lag, tot, mit ausgebreiteten Flügeln, in 
einem Blutgerinnfel. Und daneben, auf einem 
weißen Teller, lag das blutige Heine Herz. 

Was mochte dies bedeuten? Cajpar verzog 
das Gef, und fein Mund zuckte wie bei einem 
Kind, bevor e3 weint, Er kleidete ſich an, um 
in die Küche zu gehen und die Leute zu fragen, 
doch als er das Zimmer verließ, erſchrak er, 
denn Frau Behold ftand im Flur neben der Tür. 
Sie hatte einen Kehrbefen in der Hand und ſah 
unordentlich aus. Caſpar Be in ihr fahles Ge- 
fiht, er ſah fie lange an, falt fo matt und bemegt, 
mie er den toten Vogel angejehen. 

Baffermann, Caſpar Haufer 12 177 


Botſchaft aus der Ferne 


Es war aber von da an nicht mehr auszu- 
halten mit Frau Behold. Wahrjcheinlich bereitete 
fi in diefer Zeit ſchon der furchtbare Gemüts- 
uftand vor, der fpäterhin ihr Schickſal ver- 
Vängnisvoll 5 beſchloß. Jedermann fcheute fich, mit 
ihr zu tun zu haben. Kaum hatte fie fich irgendwo 
bingefegt, jo ſprang fie auch ſchon wieder auf, 
um fünf Uhr früh war ſie ſchon munter, lärmte 
in den Zimmern und auf den Stiegen und Hlopfte 
Cafpar aus dem Schlaf, wobei fie ein jolches 
Gepolter an feiner Tür machte, daß er mit wehem 
Kopfe erwachte und den ganzen Tag zu feiner 
Arbeit fähig war. Bei Tiſch follte er nicht veden, 
und menn er einmal Beiberfprud hielt, drohte 
fie, ihn beim Gefinde in der Küche eſſen zu laſſen. 
Kam ein Fremder und Caſpar wurde gerufen, 
fo erging, fie fr in biffigen Wendungen. „3 
bin neugierig, ob Sie aus dem Stockfiſch etwas 
nen fagte fie etwa; „man hat Ihnen 
icherlich weisgemacht, daß Sie ein Unikum von 
Klugheit an ihm finden werden. Ueberzeugen 
Sie ſich doch; jehen Gie zu, ob die arme Seele 
ein vernünftiges Wort hergibt." Solches machte 
den Gaſt, wer er auch war, verlegen, und Caſpar 
fand da und wußte nicht, wohin ex ſchauen follte. 

Wie früher mußten Menjchen her, um die 
Räume des Haufes zu füllen, Gelächter follte 
über die morjchen Siegen hallen und kniſternde 
Schleppen den Staub der Jahrzehnte abfegen. 
Aber die Tage waren von den Mächten fo ver- 
ſchieden wie der Ballfaal, wenn die Lichter bren- 
nen und dann, wenn die Leute gegangen find, 
der Pförtner die Kerzen auslöfcht und Mäufe 


178 


über bie befleckten Teppiche huſchen. In einem 
ſolchen Daſein wächſt Schuld wie das Unkraut 
auf nichtgepflägtem Ader. Große Schuld kann 
reinigen in Buße ober Leiden; bie Heinen Ver⸗ 
fäumniffe und unnennbaren Miffetaten, die an 
vielen Stunden vieler Tage hängen, zermürben 
die Seele und frefien das Mark des Lebens auf. 

Jedenfalls war Frau Behold eine jehr mo- 
ralifche Natur, weil fie dem Menfchen nicht ver 
zeihen fonnte, der ihre Tugend ind Wanfen ge- 
bracht hatte, wenngleich nur für eine fchwüle 
Gewitterftunde. Aber lag e8 bloß daran? War 
ihr nicht vielmehr die ganze Welt auf den Kopf 
gefelt duch das unerwartete Bild der Unſchuld, 

Kr ihr der Zi ni et Min 
folche umgedrehte Welt war ihr nicht erträglich, 
um darin zu leben. Es war ein Raub an ihr 
gefchehen und fie verlangte nach Rache. 

Den Freunden Caſpars blieb der veränderte 
Zuftand im Haufe Behold nicht verborgen. 
Bürgermeifter Binder war der erfte, der mit 
Nachdruck erklärte, Cafpar dürfe nicht Tänger 
dort verbleiben. Daumer unterftüßte diefe Mei- 
nung lebhaft, und der Redakteur Pfifterle, hitzig 
und unbequem wie immer, befchimpfte in feiner 
Zeitung den Magiſtratsrat und äußerte den Ver- 
dacht, man würd ‚e den Findling unfchädlich zu 
maden und die Stimmen mit Gewalt zum 
Schweigen zu bringen, welche die Antechte feiner 
geheimnisvollen Geburt durchjegen wollten. „Da 
lebt er, ber ee Knabe, dem ein unficht- 
bares Diadem auf der Stirn glänzt, wie ein 
einfames Tier, das fi nur mit ein paar fchüch- 
ternen Sprüngen ans Licht getraut und, während 
& über den Acer hüpft, poffierlich mit Schwanz 

179 


und Ohren wadelt, um feine Feinde zu ergößen, 
dabei aber ängftlich nach allen Seiten fpist, um 
bald wieder ins erſte beite Loch zu kriechen.“ 

So der aufgeregte Schreibersmann. Danach 
entſchloſſen fi die Stabtväter nach mancherlei 
Beratungen, wie vordem einen Erziehungs⸗ und 
KRoftbeittag aus der Gemeindelafje. auszufegen, 
und weil niemand fo wie Herr von Tucher ge- 
eignet ſchien, dem Elternlojen ein Obdach zu 
bieten, legte man ihm die Sache bemeglichermeife 
ans Herz, appellierte an feine Großmut und an 
die ausgejelänete Stellung feiner Familie, deren 
Name allein genügen würde, den Jüngling vor 
gemeinen Berfolgungen zu fchüßen. 

Herr von Tucher hatte jedoch Bedenken. Das 
plögliche Gegeter gegen die Beholbichen verbroß 
ihn. „Grft jeid ihr froh gemefen, für den jungen 
Menſchen einen Unterfchlupf zu finden, und auf 
einmal wird hohes Rammergericht geipielt,“ fügte 
ex; „Toll ich annehmen, daß es mir beſſer er- 

bt? ch will nicht Gefahr Iaufen, daß mein 
rivatleben von oben bis unten bejchnüffelt wird, 
ich will nicht jedem müßigen Hahn erlauben, fein 
Kilerili in meinen Frieden zu krähen.“ 

Auch, die Familie, befonderd feine Mutter, 
erhob Einſpruch und warnte ihn, fi in Aben⸗ 
teuer zu begeben. Es hieß fogar, die alte Freir 
frau babe dem Sohn einen unangenehmen Aufs 
tritt bereitet und ihm gejagt, wenn er den Saufer 
zu fi) nehmen wolle, möge er nur deſſen Unter- 
halt aus Gemeindefoften beftreiten, fie gebe feinen 
Grafen dafür ber. 

er Herr von Tucher war ein Pflichtmenich. 
Er fand, daß es feine Pflicht fei, Cajpar auf 
zunehmen. Da er in ihm fchon einen halb Ver- 
180 


lorenen ſah, ftellte er ſich vor, daß er damit 
einen unglüclich Irrenden wieder auf die ges 
bahnten Wege des Lebens führen könne. Der 
au Cafpar ermangelt vielleicht nur einer männ- 
ich-träftigen Hand, ſege er ſich; die Faſeleien 
von Uebernatur und Ausnahmsweſen, das be— 
ftändige Beitarrt: und Bewundertwerden, alles 
das war ihm verberblich; Einfachheit, Ordnung, 
überlegte Strenge, kurz, die Prinzipien einer 
gefunden Zucht werden ihm heilfam fein. Pro- 
Gere don Luder atte ih, af 
von Tucher Hatte ſich alfo Hier eine 
Aufgabe geftellt, und da8 war das mi te. Er 
erklärte: Ir bin bereit, den Findling zu betreuen, 
Inüpfe jedoch die Bedingung daran, daß man 
mid) in allen Dingen gewähren und daß niemand, 
wer es auch fei, fich einfallen läßt, mich in meinen 
Plänen zu beeinträchtigen oder in irgendwelcher 
Abficht zwifchen mich und Gafpar zu treten." 
Natürlich wurde das zugefagt und verfprochen. 
Raum hatte Frau Behold gehört, was fich 
Hinter ihrem Rücken abfpielte, fo bejchloß fie, den 
eigniffen zunorzutommen. Sie wartete eine 
Nahmittagsftunde ab, während welcher Caſpar 
nicht zu Haufe war, ließ alles, was fein Eigen- 
tum war, leider, Wäiche, Bücher und jonftige 
Gegenftände, in_eine Kiſte werfen und dieje ohne 
Dedel auf die Straße ftellen. Dann fperrte fie 
felber da8 Tor zu und lehnte ſich befrieigt 
lächelnd zum Erkerfenſter des erſten Stockwerks 
heraus, um auf Caſpars Ruckkehr zu harren 
und die Verbluffung des angeſammelten Volkes 
zu genießen. 
Cafpar kam bald; er wurde von feinem Leib⸗ 
poliziften über das Vorgefallene belehrt, und ins 
181 


des der Mann von Amts wegen aufs Rathaus 
trollte, um Meldung zu erftatten, lehnte fich 
Caſpar gegen feine Kifte und ſchaute bin und 
wieder verwundert zu Frau Behold hinauf. Es 
dauerte gute zwei Stunden, bi8 man ſich auf 
dem Rathaus entfchieden hatte, was zu tun fei, 
und Herr von Tucher benachrichtigt worden war. 
Währenddem fing e8 an zu regnen, und hätte 
nicht ein gutmütiges Marktweib einen Hopfenſack 
berbeigebracht, mit dem fie die Kifte bededte, fo 
wäre Caſpars ganzes Hab und Gut durchnäßt 
worden. nd zeigte ſich der Polizift wieder 
in Begleitung eine Qucherfchen Bebienten; fie 
brachten ein Handwägelchen mit und fchleppten 
die Kifte hinauf. Nun ging's fort, und ein ein⸗ 
fältig ſchwatzender Saufen Menſchen folgte bis 
in die Hirfchelgaffe and Tucherhaus. 

Es begann nun wieder ein ganz neues Leben 
für Cafpar. Vor allem hörte der Beſuch der 
Schule auf und anftatt deſſen fam zweimal täg- 
lich ein junger Lehrer ind Haus, ein Stubiofus 
namens? Schmidt. Sodann wurde jedem un- 
berufenen Fremden die Tür verriegelt. Ferner 
wurde das Reiten nicht mehr geftattet. nDerlei 
Uebungen find für Ariſtokraten und reiche Leute, 
nicht aber für einen Menfchen, der zu bürger- 
lichem Brotverdienft erzogen werden muß und 
fiherlich einft darauf angemiefen fein wird, fich 
mit feiner Hände Arbeit durchzuſchlagen,“ fagte 
Herr von Tucher. 

Daraus war erfichtlich, daß er den Redereien 
von vornehmer Abjtammung, die im Lauf der 
Zeit keineswegs verjtummt waren, nicht die min- 
defte Bedeutung zumaf. „Die gegebenen DVer- 
hältniſſe find ſchwierig genug,“ erwiderte Herr 
182 


von Tucher, wenn man ihn nur auf eine Mög« 
lichteit diefer Art hinwies; „ich bin durchaus 
nicht gefonnen, einem folhen Phantom, und mehr 
ift es nicht, meine Grundfäge zu opfern." 

Here von Tucher war ein Mann, der uner- 
fhütterlich an feine Grundfäge glaubte. Grund» 
jäße zu haben, war für u das erſte Element 
des Lebens, nad ihnen zu handeln, ein felbftver- 
ſucee Gebot. Es gehörte zu dieſen Grund⸗ 
lägen, daß er von Anfang an eine Entfernun— 
zwiſchen ſich und Caſpar ſchuf, die den Reſpekt 
ficherte. Vertrauliche Beziehungen waren ohne 
hin feine Sache nicht; Gefühle zu zeigen, war 
ihm verhaßt; die aufrechte Haltung, der gemefjene 
Gang, der fühle Blick, die Tadellofigkeit in Klei- 
dung und Manieren fennzeichneten auch ganz und 
gar fein Inneres. 

Strenge erjchien ihm wichtig; er zeigte Caſpar 
ein ſtrenges Geficht. Die_oberite Marime war: 
ſich nicht rühren laffen. Daneben war e3 billig, 

ir erfüllte Pflicht Anerkennung zu gewähren. 
ie Stunden vom Morgen bis zum Abend waren 
aufs genauefte eingeteilt. Am Vormittag der 
Unterricht, dann ein Spaziergang unter Aufficht 
des Diener3 oder Poliziften, am Nachmittag be 
ſchäftigte ſich Caſpar allein. Neben feiner Stube 
mar eine feine Kammer als Werkſtätte ein- 
gerichtet, und wenn er die Aufgaben beendigt 
jatte, verfertigte er allerlei Tifchler- und Papp⸗ 
arbeiten, wozu er viel Geſchick bewies. Auch an 
Uhren und deren derleaung und Zufammenfegung 
fand er Freude. Sein Betragen befriedigte Herrn 
von Tucher volllommen. Er konnte nicht umhin, 
den eifernen Fleiß des Jünglings und feinen 
hartnäckigen Lern- und Bildungseifer zu bewun⸗ 
188 


dern. Es gab nicht Widerfpruch noch Auf 
lehnung, niemal® tat Cafpar weniger, al3 von 
ihm gefordert wurde. Ganz Har, man hat mich 
falſch berichtet, dachte Herr von Tucher, die Leute, 
die bisher um ihn waren, haben ihn nicht zu 
behandeln gewußt, zum erjtenmal erfährt er den 
Segen einer folgerechten Leitung. 

Die Grundfäge triumphierten. 

Das häufige und lange Alleinfein war Cafpar 
zuerft angenehm, aber im Verlauf der Zeit wurde 
ihm doch fühlbar, daß dem ein Zwang obmaltete, 
und er hörte auf, die Gelegenheiten zu fliehen, 
die ihm Zerſtreuung und Unterhaltung ver- 
fprachen. Wenn auf der fonft jo öden Hirfchel- 
alle Lärm entftand, riß er das Fenfter auf und 
ehnte erwartungsvoll über den Sims, bis es 
wieder ftille war. Es brauchten nur zwei alte 
Weiber ſchwatzend ftehenzubleiben, gleich mar 
unfer Caſpar auf dem Poften und laufchte. Er 
mußte genau, um welche Zeit die Bäderjungen 
am Morgen vom Webersplab herfamen, und er- 
gößte fich an ihrem Pfeifen. Sobald der Poftillon 
am Laufertor fein Horn blies, unterbrach er die 
Arbeit und feine Augen glänzten. So machte 
ihn auch jedes Geräufch aus dem Innern des 
weitläufigen Haufes ftugig, und nicht felten lief 
ex zur Tür, öffnete den Spalt und horchte aufs 
geregt, wenn er eine Stimme vernommen hatte, 
die unbefannt klang. Die Dienflleute wurden 
darauf aufmerffam; fie fagten, er fei ein Türen- 
borcher und lege e8 darauf an, fie dem Baron 
zu verklatfchen. 

Bor dem Haufe jelber empfand Cafpar eine 
unbeftimmte Hochachtung; er jchritt faft auf Zehen 
über die Korridore, etwa mie man in der Gegen⸗ 
184 


wart eine3 vornehmen Herrn leife Ipricht. In 
ſtolzer Zugefchloffenheit thronte der Bau abjeits 
vom Getriebe, und mer Einlaß heifchte, mußte 
fih von einem Iangbärtigen Pförtner befichtigen 
und befragen Iaffen. Die Mauern waren fo ge: 
waltig in die Erde gebohrt, Faſſade, Dach und 
Sieb jo majefi fätiie gefügt und verwachſen, als 
hätten altverbriefte Rechte mehr als die Kunft 
des Baumeiſters ihnen zu folchem Anfehen ver- 
bolfen. Der Turm im Hof mit der Wendeltreppe 
feffelte Cafpar3 Auge gern am Abend, wenn 
die feinnerfehnörtelten Formen, ducchglüht von 
bläulihem Dunft, ſich ineinanderwirfend zu be 
leben fchienen. 

Bisweilen gewahrte er binter_ einem ver» 
ſperrten Zenfter einen eisgrauen Scheitel über 
einem pergamentenen Geſicht. Es war die alte 
ne ie fich fonft ihm niemals zeigte. Man 

Iagte ihm, daß fie von ſchwacher Sefunbheit fei 
ängftlih das Zimmer büte. Dies Fremd ⸗ 
jein Wand an Wand erregte fein Nachdenken. 
Allmählich wurde es ihm klar, daß er unter 
lauter fremden Menfchen herumging und von 
der Mitleidsfchüffel fpeifte Einer nahm ihn 
und nährte ihn; da kam ein Wagen, und er 
murde geholt, Ein andres Haus; eines Tages 
wirft man fein Zeug auf die Gafje: wieder mo- 
andershin. 

Wie Ins 8 das zu? Andre lebten ftändig an 
ihrer Stelle, Tannten ihr Bett von Kindheit an, 
keiner durfte fie losreißen, fie hatten Rechte, Das 
war e3, fie Hatten angeftammte und gewaltige 
Nechte. Es gab Arme, die um Geld dienten, 
die zu den Füßen derer lagen, welche man als 
reich bezeichnete, ſelbſt die jtanden irgendwo feſt 


185 


auf der Erde, hielten irgend etwas feſt in den 
jänden, fie verrichteten eine Arbeit, man bezahlte 
fie für die Arbeit und fie Eonnten hingehen und 
ch ihre Brot kaufen. Der eine machte Röcke, 
er zweite Schuhe, der dritte baute Säufer, der 
vierte war Soldat, und fo war einer dem andern 
Schutz und Hilfe und befam einer vom andern 
Speife und Trank. Warum konnte man fie nicht 
wegreißen von der Stelle, wo fie hauften? 

Darum war e3, ja, darum war's: weil fie 
eines Vater? und einer Mutter Sohn waren. 
Das hielt einen jeden. Vater und Mutter trugen _ 
jeden zur Gemeinfchaft der Menjchen und zeigten 
ſomit allen andern an, woher er gekommen ſei 
und mas er fein wollte, 

Das war es, Cafpar wußte nicht, woher er 
gelommen fei; aus irgendeinem unentdedbaren 

rund war er, er ganz allein vaterlos, mutter- 
los. Und er mußte es herausbringen, warum. 
Er mußte zu erfahren fuchen, wer und wo fein 
Bater und feine Mutter waren, und vor allem 
mußte er hingehen und fich feinen Plab erobern, 
von dem man ihn nicht vertreiben Tonnte. 

An einem Winterabend betrat Herr von 
Tucher Cafpar3 Zimmer und fand ihn tief in 
ſich gelehrt. Zwei⸗ oder dreimal möchentlich 
prsgte ‚Herr von Tucher nach beendetem Tage 
merk feinen Bögling zu befuchen, um I ein 
wenig mit ihm zu unterhalten. Es lag Dies im 
Schema de3 Erziehungsplanes, Das Prinzip 
verlangte aber von Herrn von Tucher, daß er 
eine würdevolle Unnahbarfeit bemwahre; das 
Prinzip zwang ihn, auf die Freuden eines natür- 
lichen Verkehr zu verzichten. Und wenn es ihm 
auch manchmal ſchwer wurde, folche Ueberwindung 


186 


zu üben, fei e8 durch ein eignes Bedürfnis, ſich 
mitzuteilen, ober weil_ein jtumm forſchender Blick 
Caſpars an fein Herz faßte, es gab kein 
Schwanten, das Prinzip, mig wie ein Vitzli⸗ 
pußli, verftattete nicht, daß man die Grenze der 
Zurückhaltung mehr als nüßlich überfchreite. 

Wie er aber Caſpar fo gewahrte, verborgenem 
Sinnen bingegeben, ergriff ihn der Anblid doch 
und feine Stimme nahm wider Willen einen 

milderen Klang an, als er den Jüngling um die 
Urfache feines Nachdentens beftagte. 

Caſpar überlegte, ob er fich auffchließen dürfe. 
Wie bei jeber Gemütsbewegung war die linke 
Seite feines Gefichtes konvulſiviſch durchzuckt. 
Dann ftrich er mit einer ihm eignen unnachahm- 
lich Tieblichen Gefte die Haare von ber einen 
Wange gegen dad Ohr zuräd und fragte mit 
einem Ton aus innerjter Bruft: „Was fol ich 
denn eigentlich werden ?" 

Ba von Tucher beruhigten dieſe Worte jo- 

leich. Er machte eine Miene, als wolle er jagen: 
ie Rechnung ftimmt. Darüber Kar er auch 
ſchon nachgel ach, erwiderte er; Safpar möge 
ihm doch jagen, wozu er am meiften ft bat. 
PR Gafyar ſchwieg und ſchaute unentſchloſſen vor 
fü 

Wie wäre es mit ber Gärtnerei?" fuhr 
Herr von Tucher wohlmollend fort. „Oder wie 
wäre e3, wenn du Tifchler würbeft ober Buch⸗ 
binder? Deine Papparbeiten find ganz vortreff- 
lich, und du könnteſt das Buchbindergewerbe in 
kurzer Zeit erlernen." 

„Dürft’ ich dann alle Bücher leſen, die ich 
einbinden fol?" fragte Caſpar verjonnen, der fo 
gedudt ſaß, daß fein Kinn die Tifchplatte berührte, 


187 


‚Herr von Tucher runzelte die Stirn. „Das 
bieße eben den Beruf vernachläffigen,” ant- 
mortete er. 

„Ich könnte ja auch Uhrmacher werden," 
fagte Caſpar; er hatte in dieſem Augenblic eine 
ziemlich überfpannte Vorftellung von einem Uhr- 
macher; er jah einen Mann, der im Innern 
hoher Türme fteht und den Gloden zu läuten 
befiehlt, der goldene Rüden | ineinander fügt und 
duch einen Bauberfprud die Beit unfichtbar 
macht und in ein winziges Gehäufe bannt. Ueber⸗ 
haupt mit folchen Namen war es ſchwer; nicht 
fein Wollen lag dahinter, fondern ein unbegreifs 
lich verwickeltes Bild des ganzen Lebens. Herr 
von Tucher, voll Argwohn, als wurzle in dem 
Gehaben Caſpars doc fein wahrer Exnft, erhob 
fih und fagte kalt, er werde fi die Sache 
überlegen. 

Um nächſten Abend wurde Cafpar in Herrn 
von Tucher8 Bimmer gerufen. „Ich bin nun 
mit — auf unſer geſtriges geſrac zu fol⸗ 
gendem Entſchluß gelangt," fagte der Baron; 
„du bleibft das Frühjahr us den Sommer über 
noch in meinem Baus. Wenn du fleißig bift, 
kann deine Ausbildung in den Elementarfächern 
bis zum September beendet fein, deſſen verfichert 
mic) aud Herr Schmidt. Damit nun der Ta, 
ein ununterbrochene8 Ganzes für dich wird, follit 
du des Mittags nicht mehr mit mir effen, ſon⸗ 
ve alle Mahtpeiten auf deinem Zimmer ein- 
nehmen. Ich werde bald mit einem anftändigen 
Buchbindermeiſter drehen; wir wiffen dann, 
woran wir find. Biſt du’ ‚ufrieben, Gafpar? 
Der haft du andre Wünfche? Nur frifch heraus 
mit der Sprache, du kannſt noch immer wählen.“ 


188 


Ein flüchtiger Schauer lief Cafpar über den 
Rücken. Er ſchüttelte ſich ein wenig, ſetzte ſich 
nieder und ſchwieg. Herr von Tucher wollte ihn 
nicht weiter bebrängen, er wollte ihm Zeit laſſen. 
Eine Weile ging ex hin und her, dann nahm er 
vor dem Flügel Platz und fpielte einen Iangjamen 
Sonatenjat. Es gejchah dies nicht aus — er 
Laune; am Dienstag und Freitag von fe is 
ſieben Uhr abends ſpielte Herr von Tucher 
Klavier, und da der Kuckuck der Schwarzwälder 
uhr foeben ſechs gefrächzt hatte, wäre eine Ver- 
fäumnis fehr gegen die Regel gemejen. 

Es war eine ziemlich ſchwermütige Melodie, 
Für Caſpar war dergleichen eine Qual; fo gern 
er Märiche, Walzer und Iuftige Lieder hörte — 
die Anna Daumer, die kann fpielen, ja te er 
immer —, ſo unbehaglich war ihm bei eigen 
Tönen. MS Herr von Tucher den Schlußakkord 
bes Stückes angefchlagen hatte, fich auf dem Dreh⸗ 
ſeſſel umkehrte und Salpar fragend anfchaute, dachte 
ex, ex folle de äußern, wie es ihm gefalle, und 
er jagte: „Das ift nichts. Traurig Tann ich von 
alleine fein, dazu brauch’ ich feine Muſik.“ 

ert von Tucher zog erjtaunt die rauen in 
die Höhe. „Was mabeft du dir an?" entgegnete 
er ruhig. „Ich habe kein mufikalifches Urteil 
von dir verlangt, und ich habe nicht den Ehrgeiz, 
deinen Geſchmack in diefer Hinficht zu veredeln. 
Im übrigen geh auf dein Zimmer.“ 

Caſpar war es ganz lieb, daß er nicht mehr 
mit dem Baron zu efjen brauchte. Das fteife 
Beieinanderſitzen erfchien ihm jedesmal unfinnig 
und läſtig. Vieles entzückte ihn an dieſem 
Manne, beſonders feine Ruhe und fein fachtes 
Sprechen, das überaus Reinliche feines Körpers, 

189 


die porzellanweißen Zähne und vor allem die 
tofigen gewölbten Nägel ber langen Hände. Er 
Tannte viele Leute mit blafjen Nägeln und miß- 
traute ihnen; blaffe Nägel ermecten ihm die 
Dorfeltung des Neides und der Graufamteit. 

och immer hatte Caſpar das Gefühl, als 
ob Here von Tucher auf irgenbmoefehe Art ſchlechte 
Nachrichten über ihn erhielte und fich davon be- 
tören lajje; es war ihm manchmal, als müffe er ihm 
äurufen: e8 ift ja alles nicht wahr! Aber was? 
Was follte nicht wahr fein? Das mußte Cafpar 
nicht zu fagen. 

In feiner Einfamkeit war ihm zumute, als 
feien die Menfchen feiner überdräffig und gingen 
damit um, fich feiner zu entledigen. Er war 
voller Ahnungen, voller Unruhe. In Nächten, 
wo der Mond am Himmel ftand, verlöfchte er 
die Lampe früher als ſonſt, fegte fich ans Fenfter 
und verfolgte unverwandt die Bahn des Geſtirns. 
An Vollmondtagen ward er häufig unmohl, e3 . 
feor ihn am ganzen Leibe, erſt der Anblic des 
Mondes felbft nahm den Drud von feiner Bruft. 
Er mußte, von welchem Dach oder zwifchen 
welchen Giebeln bie helle Scheibe emporfteigen 
müffe, bob fie wie mit Händen aus der Tiefe 
des Himmels heraus, und wenn Wolfen da 
waren, zitterte er davor, daß fie den Mond be- 
rühren Fönnten, weil er glaubte, das fteahlende 
Licht müffe befleckt werden. 

Sein Ohr ſchien in biefer Zeit manchmal den 
Lauten einer Geifterwelt zu lauſchen. Eines 
Morgens erhob er ſich während des Unterrichts 

löslich, ging um Fenfter und beugte fich weit 
inaus, ge chmidt, der Studiojus, ließ ihn 
gewähren, als es aber zu lange dauerte, rief er 
190 


ihn zurüd,. Caſpar richtete fich auf und ſchloß 
das Fenſter, fein Geficht war jo bleich, daß der 
Studioſus beforgt fragte, was ihm jei. 

„Mir war, wie wenn jemand käme," verſetzte 
Cafpar. 

„Wie wenn jemand käme? Wer denn?“ 

„Sa, wie wenn mich jemand unten gerufen 

* 


e. 

Der Studiofus fand dies wunderlich. Er 
dachte eine Weile nach und hätte gern eine Frage 
geftellt. Es war da neuerdings in ber Stadt 
viel von einer feltfamen Gefchichte die Rede, die 
Cafpar ul, oder auf ihn gedeutet wurbe und 
die in allen Journalen, auch draußen im Reich, 
des langen und breiten durchgehechelt wurde. 
Aber weil Herr von Tucher dem Studioſus aufs 
Er verboten hatte, mit Cafpar jemals über 
—J— a zu fprechen, nahm er fi zufammen 
und ſchwieg. 

Nun Hatte Cafpar jeit Monaten die Ge- 
wohnheit, alle Zeitungsblätter, die ihm in die 
Hand kamen und die er fich zum Teil heimlich 
zu verichaffen wußte — denn Herr von Tucher 
fürchtete von diefer Seite her Beeinfluffungen 
mit gutem Grund —, aufs genauefte durchzu- 
leſen. Hin und wieder geſchah es, daß er irgend⸗ 
eine Nachricht, eine Mitteilung über NEN elbſt 
entdeckte, und obgleich ex noch nie etwas Wejent- 
liches gefunden hatte, befam er jedesmal $ 
Hopfen, fobald er nur feinen Namen - gebru 
ſah. Sur Zeit nad jenem Heinen Zwiegeſpräch 
mit dem Lehrer fpielte ihm ber Zufall eine ſchon 
mehrere Tage alte Nummer der „Morgenpojt“ 
in die Hände, und beim Lefen fand er folgende 
eigentümliche Erzählung: 

191 


Vor mehr als zehn Jahren hatte ein Fifcher 
bei Breiſach eine ſchwimmende Flaſche aus dem 
Rheinftrom- gezogen, und dieſe Flaſche enthielt 
einen Bettel, auf welchem gejchtieben ftand: „Im 
einem unterirdiichen Kerfer bin ich begraben. 
Nicht weiß der von meinem Kerker, der auf 
meinem Thron fist. Graufam bin ich bewacht. 
Keiner Tennt mich, feiner vermißt mic, feiner 
rettet mich, feiner nennt mid." Dann kam ein 
halb unlejerliher und verftellter Name, von dem 
alle deutlichen Buchitaben auch im Namen Cafpar 
Haufer enthalten waren. 

Alles das war damals ſchon von einigen Zei⸗ 
tungen gemeldet worden, war aber bei dem Mangel 
jeglichen Anhaltspunttes natürlich wieder in Ver- 
geffenheit geraten. Da hatte vor vier Wochen 
etwa irgendein ungenannter Schnüffler den Vor— 
fall aus einem alten Jahrgang der ‚Magdeburger 
Zeitung‘ neuerdings ans Licht gebracht. Andre 
Sournale bemächtigten I der Angelegenheit, die 
nah und nad viel Staub aufmwirbelte. Auf 
einmal wurde nachgewieſen, daß feinerzeit ein 
Piariftenmönd von einer gemiffen Negierung 
bezichtigt wurde, die Flafche in den Rhein ge 
worfen zu haben. Es ftellte fich ferner heraus, 
daß derjelbe Mönch plötzlich verſchwunden und 
eines ſchönen Tages im Elſaß, in einem Wald 
der Vogeſen, ermordet aufgefunden worden war. 
Den Täter hatte man nie entdeckt. 

„Wenn auf diefe Spur hin das fterium, 
das über dem Findling ſchwebt, nicht endlich ge- 
lüftet wird,“ rief der Querulant in der ‚Morgen- 
poft‘, nachdem er die Gefchichte alfo ausführlich 
berichtet hatte, „dann gebe ich feinen Pfifferling 
für unfre ganze Juſtizpflege!“ 

192 


Cafpar las und las. Zwei Stunden ver- 
brachte er damit, die wunderliche Hiſtoria immer 
wieder von vorn anzufangen und beinahe jedes 
einzelne Wort zu überlegen. Dabei überrafchte 
ihn der Studioſus; er vergemwifjerte fi, daß es 
eben diefelbe Affäre fei, von der er neulich nicht 
fprechen gewollt, und fagte Haftig: „Ci, was 
treiben Sie da, Gafpar? Was jagen Sie übrigens 
dazu? Die meiften Leute halten es für Quark, 
trotzdem es ein unmiberlegliches Faktum ift, daß 
die Sache damals in der ‚Magdeburger Zeitung‘ 
geftanden hat. Was jagen Sie dazu, Hauer?" 

Cafpar hörte faum; als der Mann feine 
Frage wiederholte, erhob er das Geficht, ſchlug 
den feuchten Blict zum Himmel empor und fagte 
leife: „Ich hab’ e8 nicht gejchrieben, was da 
vom Kerker fteht." 

„Vom Kerker und vom Throne," fügte der 
Studiofus mit fonderbarem und begierigem Lächeln 
hinzu. „Daß Sie es nicht gejchrieben haben, 
glaub’ ich ſchon, Sie haben ja das Schreiben 
erſt bei uns gelernt." 

„Aber wer kann e3 gefchrieben haben?" 

„Wer? Das ift eben die Frage. Vielleicht 
einer, der helfen wollte; ein verborgener Freund 
vielleicht." 

„Vom Kerker und vom Throne," lallte Caſpar 
mit willenloſen Mund. Er begab Bin in die 
Dfenede, kauerte fich auf einem Schemel zufammen 
und verſank in tiefe Grübelei. Weder Auf noch 
Mahnung noch Befehl vermochten ihn zu weden, 
und der Studiofus, der ſich ſchuldig fühlte, blieb, 
um fein Auffehen zu machen, die Stunde über 
figen und entfernte fih dann ſtill. 

Am felben Abend war eine Afjemblee im 

Baffermann, Gafpar Haufer 18 193 


Tucherfchen Haus, alle Freunde der Familie 
waren geladen, und eine halbe Stunde lang 
dauerte das Wagengerafjel vor dem Haus. ALS 
die erſten Tanzweiſen vom Saal heraufihallten, 
begab fich Gajpar in den Korridor und horchte. 
€r hatte nicht mehr Zutritt zu folchen Feſten. 

Während er noch ftand, ans Geländer ge- 
preßt, den Kopf vorgebeugt, und er fich jo recht 
verjtoßen vorkam, berührte eine Hand feine 
Schulter. Es war der Lakai, der ihm auf filberner 
Platte einige Sup feiten brachte. Caſpar air 
telte den Kopf un ir te: „Süßes mag ich nicht," 
worauf der Diener ihn mürriſch mit den Blicken 
maß und ſich zu gehen anfchicte, 

Da kamen Schritte von der zweiten Treppe 
ber, die unbeleuchtet war, und unverſehens ftand 
die alte Freifrau in graufeidenem Kleid und fei- 
dener Haarfchärpe vor den beiden; indem fie 
ihre blauen Augen ftreng in die des Jünglings 
bohrte, fagte fie jtolz und befremdet: „Süßes mag 
er nicht? Warum mag er denn Süßes nicht?" 

Sie kam von unten; Caſpar roch deutlich 
den Menfchendunft an ihren Gewändern. Es 
war ihre Art, fich früh zurückzuziehen. Bevor 
fie zur Ruhe ging, pflegte fie täglich durch dag 

janze Haus zu wandern, um nachzufehen, ob fein 
er jei und fein Dieb fich eingejchlichen habe. 

Vor ihren rauh klingenden Worten duckte 
Caſpar den Kopf. Es ift anzunehmen, daß feine 
Phantafie ungewöhnlich erregt war. Plötzlich 
ſpürte ex eine lähmende Furcht. Schwärze ſtieg 
um ſeine Augen, es war ihm, als habe er die 
Stimme des Vermummten gehört, und den Arm 
ausſtreckend, ſchrie er bittend: „Nicht ſchlagen, 
nicht fchlagen!" 

194 


Die alte Dame, die e8 fo fchlimm eben nicht 
gemeint hatte, blicte verwundert und erfchroden 
auf, Indes hatte Caſpars lauter Schrei die 
Aufmerkjamfeit einiger Gäfte erregt, die im uns 
teren Flur auf und ab fpazierten. Sie wandten 
fih an Heren von Tucher, und dieſer ging die 
Treppe empor, gerolgt von einigen Herren. Unter 
der Gefellichaft im Saal’ verbreitete ſich das Ge 
rücht, es jei etwas paffiert, und da Caſpars 
Aufenthalt im Buße, natürlich befannt mar, 
dachten alle an ein Ereignis wie das bei Daumer 
vorgefallene. Es entitand ein Schweigen, bie 

Tanzmufif verftummte, viele drängten hinaus, 
befonder die jungen Damen waren erregt, und 
. eine Anzahl von ihnen ftieg die Treppe empor 
und blieb ſchauend ftehen. 

‚Herr von Tucher, der. dies alles aufs pein⸗ 
lichſte empfand, wie ihm denn jedes unnüge Auf⸗ 
jehen ein Greuel war, ſchickte fih an, Caſpar 
zur Rebe zu ftellen, wurbe aber durch das vers 
fteinerte Bild des Jünglings abgeſchreckt, auch 
— ihn die beſtürzte Haltung feiner Mutter 


rung, ging etwas Ungeheures in Cafpar vor. 
Ihm war, als habe er, was jett geſchah, ſchon 
einmal erlebt. Wie mit einer Sturzwelle riß es 
ihn zurüd, und die Zeit fchien ihren Atem ans 

zubalten. Da mar die alte Frau, fürftlich ger 
chmückt und ma, aeftätii anzufehen; mie, glich 
je nicht einem Bei, das einft in ein Gemach 
gefommen, wo auch er geweſen war, und hatte 
Ihe Gegenwart nicht alle andern exftarren laſſen? 
Lag —*— jemand auf dem Bett und vergrub den 
Kopf in die Kiffen? Da mar der Diener, der 
eine filberne Platte in Händen hielt; war das 
195 


nicht alt? Stand nicht auch damals einer da, 
der Geſchenle brachte oder Süßes oder Koftbares? 
Da waren feierlich gefleidete Männer, die auf 
einen Befehl zu harren ſchienen, darauf warteten, 
daß_einer Täme, +] feftlicher angetan als fie 
keit, vor dem fie fic) verneigen mußten? Und 
ieſe ſchlanken weißen Mädchen in weißen 
Schleiern, deren Blicke tief und bang mwaren? 
Und hier oben die Dämmerung, die ſich über 
zahllofe Marmorftufen hinab ins Licht verlor? 
Cafpar hätte jauchzen mögen, denn er erſchien 
ſich fremd umd zugleich von allen angebetet; fie 
jenften das Haupt, fie erfannten den Herrn in 
ihm; ja, er ahnte, was er war und von wo er 
tam, er fpürte, was jenes Wort vom Kerker und 
vom Throne zu bedeuten hatte; ein geifterhaftes 
Lächeln umjpielte feine Lippen. 

‚Herr von Tucher bereitete dem unangenehmen 
Auftritt ein möglichft ftilleg Ende. Er führte 
Gatpar in fein Zimmer, gebot ihm, ſich zu Bett 
u begeben, wartete, bis er lag, verlöjchte dann 
Kst das Licht und fagte beim Hinausgehen in 
ſcharfem Ton, er werde ihn am andern Morgen 
wegen feiner ungehörigen Aufführung zur Rechen- 
ſchaft ziehen. . 

Darum feherte ſich Cafpar wenig. Es wurde 
auch nicht viel aus der gedrohten Abrechnung. 
Herr von Tucher jah ein, daß den Grundfäßen 
eigentlich nichts zuleide gefchehen war. Sein 
Koch verriet ihm im hohlen Ton der Prophezeiung, 
Caſpar fei mondfüchtig und werde ficherlich ein- 
mal auf3 Dad; fteigen und herunterftürzen. Herr 
von Tucher konnte den Mond nicht abfchaffen; 
da der Jüngling krankhaften Zuftänden unter- 
worfen ſchien, durfte man ihn für gewiſſe Fehl- 
196 


teitte nicht verantwortlich machen. Ob Caſpar 
Tischler oder Buchbinder werden folle, war noch 
immer unentfchieden. Es mußte hierzu die Mei 
nung be3 Präfidenten Feuerbach eingeholt werden. 
Ser: von Tucher nahm fich vor, im April nach Ans⸗ 
ach zu fahren und mit dem Präfidenten zu fprechen. 

Cafpar aber war voller Erwartung. Ex 
wartete auf einen, der kommen mußte, auf 
einen, der irgendwo unter den Menſchen ging 
und den Weg zu ihm fuchte, und fo feit war der 
Glaube an diefen Kommenben, daß er jeden Morgen 
dachte: Heute, und jeden Abend: morgen. Er 
lebte in einem bejtändigen innerlichen Spähen, 
und feine ahnungsvolle Freude glich einem Traum. 
Aber wie der Pfau feinen Schweif niederfchlägt, 
wenn er feine häßlichen Füße gewahrt, jo machte 
feine eigne Stimme, fein eigner Schritt ihn fehon 
wieder gaghaft, um wie viel mehr erſt der An- 
blick von Menjchen, die täglich feine Erwartung 
enttäufchen mußten. 

in ganzes Treiben in diefer Zeit mar 

aufiergervößnlih, und_die aufmerkſam horchende 
Spannung gegen ein Leeres bin hatte etwas von 
Wahnwig. Freilich, zufammengehalten mit dem 
Verlauf der Ereigniffe bot fie ein andres Geficht 
und hätte einem Mann wie Daumer abjonder- 
lichen Stoff für feine Ideen geliefert. 

Es Tauerte viel Heimliches und Feindfeliges 
auf Caſpars Wegen, und e3 überlief ihn kalt, 
wenn im Nebel ein Tropfen von einer Dachrinne 
pt Angftvorftellungen begleiteten ihn Bis in 
en Schlaf, und weil er oftmal3 erwachte und 
die Finfternis ihn quälte, bat er, daß man neben 
N ett ein Dellämpchen brennen laſſe. Dies 
geſchah. 


197 


Einftmald in einer Nacht fpürte er, noch 
rar ein eigentümli Ziehen im Ge 
ſicht, als ob ihn von oben her ein kühler Atem 
fteeife. Jählings richtete er fich auf, blickte über 
Bett und Wand und gemahrte eine große Spinne, 
die an einem Faden in der Nähe feines Kopfes 
ding. Entſetzt fprang er aus dem Bett, und 
unfähig, ſich zu regen, beobachtete er, wie das 
Tier Fr aufs Kifjen niederließ und über das 
weiße innen Troch, einen gligernden Faden hinter 
ſich herſchleppend. 

Caſpars ganzer Leib war wie mit einer neuen, 
ſchaudernden falten Haut bedeckt. Ex preßte die 
Hände zufammen und flüfterte angftvoll und 
jeltfam ſchmeichelnd: „Spinne! Was. fpinnft 
du, Spinne?" 

Die Spinne ducte den gelblichen Leib. 

„Was fpinnft du, Spinne?" wiederholte er 

lehend. 

Das Tier überklomm den Bettpfoſten und 
gewann die Mauer. ‚Was ſchickſt du dich denn 
fo, Spinne?" hauchte Cafpar. „Warum fo eilig? 
Sudjft du was? tw’ dir nichts ...“ 

ie Spinne war ſchon oben an der Dede, 
Caſpar feste ſich auf den Stuhl, wo die Kleider 
hingen. „Spinne, Spinne!" fagte er tonlos vor 
ih hin. Es ſchlug vier Uhr draußen und er 
jatte ſich noch immer nicht ins Bett, zurüd- 
etraut. Dann, ehe er fich hinlegte, wiſchte er 
iffen und Wand eifrig mit dem Tafchentuch ab. 

Er trug von der unbefleidet verwachten 
Stunde eine Erkältung davon, die ihn mehrere 
Tage ans Lager feffelte. Er wurde Bau, des 
Warten war er fehon mühe. Obwohl ihm 
ſchließlich nichts mehr fehlte, hatte er Teine Luft, 
198 


das Zimmer zu verlaffen. von Tucher 
nahm feinen Zuſtand für ein — 
Zwiſchenſpiel; als er ſich jedoch überzeugte, Di 
ſowohl — vorſaͤhi je Gleichgültigleit wie He 
gütiger Zuſpruch fruchtlos blieben und daß da 
eine unverftellte feelenvolle Betrübnis waltete, 
ward er bejorgt. 

Nun geſchah es an einem biefer Tage, daß 
ein —— Bote im Haus vorſtellig wurde, 
der zu Cafpar geführt zu werden verlangte, um 
ihm einen Brief auszuhänbigen. Herr von Tucher 
Dermeigerte die Erlaubnis dazu. Nach einigem 
Bedenken überließ ihm ber Mann das Schreiben 
und entfernte ſich mwieber. Bu von Tucher hielt 
fih für —5— den Brief zu öffnen. Er war 
von rätfelhafter Fa} Jung; noch vätfelhafter da⸗ 
Buch, daß ihm ein — Diamantring beilag, 

den Cafpar Damit ale 8 Geſchenk befam. Herr 
von Zuch er war une g, —E er tun ſolle. 
Brief Ring dem Gericht oder dem Präſidenten 
Feuerbach auszuliefern, erſchien ihm das rat- 
ſamſte. Doch widerſprach es immerhin ſeinem 
Rechtsgefühl. ine flüchtige Stimmung von 
Weichheit gegenüber Cafpar ließ ihn den Vorſatz 
völlig Dergeffen; ex hoffte, den Jüngling aus 
feiner Niedergefchlagenheit aufzurätteln, und 
dieſen Zweck erreichte er volllommen. Ex brachte 
Brief und Ring herbei. 

Caſpar las: „Du, der du das Anrecht — 
zu fein, was viele leugnen, vertrau dem Freun 
der in der Ferne für dich wirft. Bald wird er 
vor die ftehen, bald dich umarmen. Nimm 
-einftweilen den Ring als Beichen feiner Treue 
und bete für fein Wohlergehen, wie er für das 
deine zu Gott fleht." 

189 


Als Cafpar dies gelefen hatte, drückte er das 
Geficht gegen den Arm und weinte ſtill für fich 
bin. Here von Tucher ſaß am Tiih und ließ 
den ſchönen Stein des Rings nachdenklich im 
Sonnenlicht fpielen. 


Der englifche Graf 


In den Nachmittagsftunden eines der lebten 
Apriltage rollte ein vornehmer Reifemagen vor 
die Einfahrt des Hotel3 zum wilden Mann, und 
alsbald verließ ein hochgewachſener Herr den 
Schlag und begrüßte Teutjelig den herbeiftirgen- 
den Wirt, der eines ſolchen Gaftes nicht gewärtig 
war, ba in feinem Haufe faft nur Kaufleute und 
Handlungsrerfende verkehrten. Der Fremde for- 
derte die beiten Zimmer, und ohne ſich nad) dem 
Preis zu erkundigen, fchritt er durch das Spalier 
von Gaffern in das meitbogige Tor. Diener 
und Kutjcher trugen die Koffer, den Nachtſack 
und fonftige Reifegegenftände in die Halle. Der 
Antömmling verlangte von felbjt das Fremden⸗ 
buch, und bald konnie jeder ehrfürchtig-fhaudernd 
die mit Riefenfchrift gefchriebenen Worte leſen: 
„Henry Lord Stanhope, Earl of Chefterfield, Pair 
von England." 

Das Ereignis machte ſolches Auffehen in der 
Gegend, daß noch fpät abends Leute auf der 
Gaſſe ftanden und zu den hellen Fenftern empor- 
ſtarrten, hinter denen der erlauchte Herr Iogierte. 
Am nächften Morgen gab der Lord in der Woh— 
nung de3 Bürgermeiſters ſowie bei einigen Nota- 
bilitäten der Stadt feine Karte ab, und ſchon 
200 


wenige Stunden darauf erhielt er in feinem 
Quartier die Gegenbefuche, vor allem denjenigen ö 
Binders, der fich der früheren Anweſenheit des 
Lords natürlich wohl erinnerte. 

In der ziemlich Iangen Unterredung mit dem 
Bürgermeifter geftand Graf Stanhope ohne Um— 
chweife, deß wie jenes erſte Mal ſo auch heute 
ie Perſon des Caſpar Hauſer den Grund ſeines 
Aufenthaltes in der Stadt bilde. Er hege für 
den Findling die größte Teilnahme, fagte er und 
ließ durchblicken, daß er etwas Entjcheidendes für 
ihn zu unternehmen gefonnen ſei. 

Der Bürgermeifter ermiderte, er verftatte 
Seiner Herrlichkeit, ſoweit es die Vorfchriften 
erlaubten, freien Spielraum. 

„Was für Vorfchriften?” fragte der Lord raſch. 

Binder verjeßte, Herr von Tucher fei Kurator 
des Findlings habe weitgehende Rechte und 
werde der Einmiſchung eines Fremden nicht 
freundlich gegenüberftehen; außerdem könne man 
ohne Wiflen de3 Staatsrats Feuerbach feine 
Veränderung befürworten, die das Leben Cafpar 
Hauſers betreffe. 

Der Lord machte ein befümmertes Geficht. 
„Da werde ich einen ſchweren Stand haben,” 
bemerkte er. Hierauf erkunbigte ex fi), ob man 
wegen des Ueberfalls im Daumerf Haufe 
irgend Anhaltspunkte gewonnen habe und ob die 
jeinerzeit von ihm ausgeſetzte Prämie feinen Emp- 
fänger habe finden können. Dies mußte Binder 
verneinen; er entgegnete, die jo großmätig zur 
Verfügung geftellte Summe liege unangetaftet auf 
dem Rathaus und Seine Lordichaft könne fie zu 
Oeliebiger Stunde zurücerhalten, da doch jede 
Entdedungsausficht nunmehr geſchwunden jei. 

. 201 


san en zuge gt —* — —* 
ließlich mit der ung geſellſchaftli— 
Pflichten. Zu Mittag, zum Tee und zu rg 
mar er eingelaben oder gab fleine, aber exzellente 
Mahlzeiten in feinem Hotel, wozu er eigens einen 
franzöfifhen Koch in Dienft nahm. Wenn e8 
feine geheime Abſicht war, fich auf diefe Weife 
Freunde und Bewunderer zu verfchaffen, jo blieb 
ihm darin nichts zu wünjchen übrig, Wenn er 
den Zweck verfolgte, all die guten Leute und ihre 
Gefinnungen kennen zu lernen, fo fiel ihm das 
nicht ſonderlich ſchwer; man gab fich rückhaltlos, 
man fühlte fich geehrt durch feine Gegenwart, 
man _beftaunte jeine geringften Handlungen. 

Jeder Anlaß war ihm recht, um das Geſpräch 
auf Caſpar Haufer zu lenken; er wollte miflen, 
immer Neues willen, ſchwelgte in den rührenden 
Einzelheiten, die man zu berichten wußte, fand 
es aber dabei doc nicht notwendig — eine Unter- 
lafjung, die allerdings auffallend gefunden 
wurde —, den Profeflor Daumer zu bejuchen,- 
fondern begnügte fi) damit, den Gefängnis- 
wärter Hi zu fih kommen zu lafjen und ihn 
auszufragen. 

Hi, von diefer Auszeichnung etwas aus dem 
Gleichgewicht gebracht, fehilderte % beweglich, daß 
e3 von einem unter Verbrechern ergrauten Mann 
wunderbar zu hören war, jene hold verlorene 
Weben und ergreifende Darnieberfinten Caſpars 
während feines Aufenthalts im Turm; zum 
Schluß vief er, glühend vor Eifer, er, was an 
ihm Tiege, er werde die Unfchuld des Sünglings 
bezeugen, und wenn Gott jelber da8 Gegenteil 
behaupte, ar Stanhope war fichtbar er- 
ſchüttert; er lächelte, fagte, Hier fei ja nicht von 
202 


— die Rede, und entließ den Mann fürſtlich 
ohnt. 

Nun endlich entſchloß er ſich, Herrn von 
Tucher und damit auch Caſpar ſelbſt gegenüber 
zutreten. Wenn man ihn verwundert gefragt 
hatte, weshalb er dies jo lang verzögere, hatte 
ex erwibert, er bedürfe dazu feiner ganzen Samm« 
lung und Seelenfraft, denn vor dem Augenblid, 
wo er Gafpar zum erftenmal fehen werde, fei 
ihm bange, freudig bang wie einem Kind vor 
dem Weihnachtabend. 

‚Herr von Tucher befand fich in feinem Arbeits: 
zimmer, al8 man ihm die Karte de Engländers 
brachte. Es verfteht & von jelbft, daß er 
von der Anmefenheit Stanhopes in der Stadt 
Kenntnis hatte und von deſſen Umtrieben unter- 
richtet war. Da er in jedem Fall einen Friedens» 
fire in ihm ſah, war er nicht zugunften des 
Mannes voreingenommen. 

Nah allen ®ı Hreibungen hatte er in dem 
Fremden eine liebenswürdige und geminnende 
Erſcheinung zu finden erwartet; gleihwohl war 
ex überrafcht, ais er den vornehmen Gaft auf 
Id zufchreiten fah, und im Nu ſchwand feine 

urch das ; görenfogen und trübe Vorgefühle ent- 
ftandene Abneigung. 

Es war allerdings etwas Gefährliches um 
den Mann, das fpürte Herr von Tucher auf den 
erſten Blick, doch ebenfojehr Iag ein beftrickender 
Neiz von Weltlichleit und geiftreicher Anmut 
über feiner Berfon. Da feine Saltın ſtolz war, 
erſchien die Bartheit der ſchlanken Geftalt nicht 
weibiſch; die Züge, durchaus engliſch markant, 
waren edel_gejchnitten und ließen die fahle Fär- 
bung der Haut vergefien; das wechſelnde Feuer 

208 


der durchfichtigen Augen erinnerte bald an die 
fanfte Gazelle, bald an die Ruhe des Tigers, 
kurz, Herr von Tucher wurde in einen Zuftand 
angenehmer Spannung und Erregung verjeßt, 
der duch das fchnell in Fluß gebrachte Gefpräch 
nicht im mindeſten betrogen wurde. 

Die bloßen Fragen des Lord nach Caſpars 
Teiblicher und geiftiger Verfafjung  befundeten 
ſchon einen Menfchen von hoher Einficht und 
Kenntnis des Lebens, und was er jagte, eroberte 
die Buftimmung des Hörers mühelos. 

Auf die Beweggründe de3 Hierfeins kam er 
von felbft zu fprechen. Was er vorbrachte, lang 
unbeftimmt genug; er mar augenfcheinlich ein 
Meifter in der Kunft, feine wahren Abfichten zu 
verjchleiern, aber fein Argwohn konnte Herrn 
von Tucher beifallen. Der Name Stanhope gab 
ausreichende Bürgfchaft. Was. konnte einen Lord 
Stanhope verhindern, deutlich zu fein? War es 
nicht Feingefühl und angeftammter Takt, fo war 
& eine Verjchwiegenheit, bie zugleich das Ge 
löbnis enthielt, zur gebotenen Stunde alles ſchick- 
lich offenbar zu machen. Herr von Tucher fand 
II dadurch eher verpflichtet als enttäufcht; ohne 
ie ausgefprochene Bitte des Lords abzuwarten, 
fragte er höflich, ob e8 ihm genehm jei, Caſpar 
u fehen. Indem er die Verficherung der Dant- 

arkeit feines Gaftes lächelnd abwehrte, läutete 
ex und gab Auftrag, daß man den Züngling hole. 

Es entftand nun eine Stille; Herr von Tucher 
verblieb in unmillffirlichem Laufchen an der Tür, 
und der Lord faß mit übergefchlagenen Beinen, 
den Kopf in die behandſchuhie Linke geſtützt, das 
Gefiht dem offenen Fenfter zugekehrt. Es war 
ein fonniger Sonntagnacdhmittag ; der Himmel lag 
204 


blauftrahlend über dem fächrigen Gejchiebe der 
roten Dächer, zwitjchernde Schwalben ſchoſſen 
längs der grauen Häuferfronten hin. Als Caſpar 
in das Zimmer trat, veränderte Stanhope lang- 
jam die Richtung feines Blickes, und ohne jenen 
eigentlich anzufehen, ſchien er doch das ae 
Bild des Menfchen in ſich feitzufetten. Noch 
während Cafpar, dur ein paar rafche Worte 
des Heren von Tucher über die Perfon des 
illuſtern Mannes belehrt, auf den Grafen zuging, 
erhob fich diefer und ſagte mit überrajchender 
Erregung und fichtlich tiefberähtt: „Caſpar! 
Alfo endlich! Gefegnete Stunde!" Dann ftredte 
ex die Arme nach ihm aus, und wie zu einem Tor, 
das ihm nach, jehnfuchtSnollem Harren aufgetan 
worden, begab fih Caſpar in diefe_geöffneten 
Arme, ein heller, ſcharfer, Fühler Strahl der 
Freude durchfuhr ihn von oben bis unten, und 
ex vermochte weder zu fprechen noch ſich zu 
vegen. 
as war er, der aus weiter Ferne am. 
Von ihm der Ring, von ihm die Botjchaft. 
Schon oben, al8 er die Kalefche vor dem Haus 
ſtillhalten ß ört, war eine Erftarrung von 
Caſpars Gliedern gefallen, und als der Diener 
ihn vief, war es, als ob ein Morgenjchein das 
Haus durchglühe. Als er die Schwelle des Bim- 
mer3 erreicht hatte, ſah Caſpar nur ihn, den 
Fremden, Fremdvertrauten, und wie wenn ihm 
bisher die Hälfte feines Herzens gefehlt hätte, 
fühlte er fi auf einmal ganz geworden, rund 
und neu: mit gebadetem Auge ſah er fich ſelbſt, 
zwedvoll erſchaffen. Mild an ihre Glode ſchlug 
die Uhr und das Licht des Nachmittags war wie 
Honig und füß zu ſchmecken. 
205 


Auf den Lord übte die wunderbare Ergriffen- 

heit Caſpars anfcheinend große Wirkung. Für 
ie Dauer mehrerer Sekunden war jein Gelicht 
heftig bewegt und die Augen trübten ſich wie in 
peinvollem Erftaunen. war ohne Zweifel 
verwirrt, die allzeit dienftbare Phrafe verfagte 
fi ihm, und bei der erften zärtlichen Anrede 
ang die fonft ſeidenweiche Stimme rauf. Mit 
der Hand ftreichelte er Caſpars Haare, gesbte 
die Wange des Junglings gegen feinen Bufen, 
und ein verlorener Bli traf den ſtumm abjeit3 
fiebenben Heren von Tucher, der mit Berwun- 

rung die ungewöhnliche Szene beobachtete. 
Stanbape bat ihn dann, weil das Verhüllte des 
Borgangs zu irgendeiner Klärung drängte, oh 
er Caſpar für einige Stunden mit fich nehmen 
dürfe, ein Anfuchen, dem Herr von Tucher nicht 
widerſtehen Tonnte. 

Bald darauf ſaß Caſpar an der Seite des 
Lords im Wagen; der Polizift mußte natürlich 
mit und faß Eintenauf, Während das Gefährt 
zum Tor hinaus gegen die Marfeldgärten rollte, 
entſpann ſich langſam ein Geſpräch. 

Caſpar klagte, zum erſtenmal durfte er klagen. 
Doch war er ſchon verſöhnt mit dem Augenblick, 
wo geſchehenes Unrecht als ſolches erkannt und 
verſtanden wurde. Vie Welt ſchien ſchlecht bis 
auf dieſen Tag, jetzt tat ſich ihr Himmel auf und 
es zeigte ſich ein waltender Arm. 

Doch nicht ſo ſehr um das Nahgeſchehene 
handelte ſich's: bier war einer, der wiſſen 
mußte! Cafpar fragte. Kühn und leidenſchaft⸗ 
in fragte er: wer bin ic}? wer war ih? was 
fo 18 wo ift mein Vater? wo meine Mutter? 
Und die Antwort des Grafen? Verlegenheit. 


206 





Eine Umarmung. „Geduld, Caſpar; bis morgen 
nur Geduld: das läßt ſich nicht in einem Atem- 
a abtun, allzuviel ift zu Tagen. Erzähl mir 
lieber: wie haft du gelebt? Erzähl von deinen 
Träumen. Dan jagt mir, du habeft wunderbare 
Träume. ° Erzähl!" 

Caſpar ließ nicht lange bitten. Die weſens⸗ 
vollen Gebilde machten den Laufcher ftugig, er 
umfchloß Caſpar feiter und verbarg fo fein Ge— 
nit vor ihm; bei der gejchilderten Erſcheinung 

er Mutter fuhr er wie vor Schreck zufammen, 
und abermals juchte er abzulenken, wollte Einzel- 
heiten über das Leben Caſpars im Daumerfchen, 
im Beholdfchen Haufe willen; der Gegenjtan 
war gefahrlos. Stanhope fand fich ergößt durch 
Caſpars  urfprüngliche und bezeichnende Aus: 
drucksweiſe, die komiſche Anwendung von Sprich: 
mwörtern und Nürnberger Redensarten. Auf dem 
Rückweg fragte er, wo Caſpar den Ring habe, 
den er ihm gefchidt. „Hab’ mich nicht grau, 
ihn an den Singer zu tum," antwortete Cafpar. 

„Warum denn nicht?" 

„Weiß nicht warum." 

„War er dir nicht ſchön genug?" 

„D nein; umgekehrt wird ein Schuh draus, 
Viel zu fehön war er mir. Hab’ immer Herz 
Hopfen gehabt, wenn ich ihn angeſehen.“ 

„Aber jest wirft du ihn tragen?“ 

., da, jegt will ich ihn tragen, Jetzt weiß 
ich, er gehört wirklich mir." 

Der Wagen hielt vor dem Tor, Stanhope 
nahm zärtlichen Abſchied von Cafpar und beftellte 
ihn für den nächiten Vormittag in den Gaft- 
hof. „Auf Wiederfehen, Liebling!" rief er ihm 
noch zu. 

207 


‚ Gafpar ftand beflommen. Jetzt kroch die Zeit 
wieder träge. Jeder Schritt ind Haus war ein 
ſchmerzliches Sichentfernen aus dem Kreis des 
herrlichen Mannes; mas jeßt die Hand, der Blick 
berührte, war alt, war tot. 

Schon um zehn Uhr morgens war er im 
„Wilden Mann“. Der Unterrichtsftunde war er 
einfach entlaufen; hätte ihn jemand abzuhalten 
verjuht, er wäre an einem Strict vom Fenfter 
heruntergeflettert. 

Der Lord kam ihm in der oberen Halle ent- 
gegen, küßte ihn vor vielen Bufchauern auf die 
Stirn und führte ihn ins Empfangszimmer, wo 
auf einem Tiſchlein Geſchenke für Cafpar lagen: 
eine goldene Uhr, goldene Hemdfnöpfe, filberne 
SHubfnallen und feine weiße Wäfche. Cafpar 
traute feinen Augen nicht, der Ueberſchwang des 
Dantes verjperrte ihm die Kehle, er wußte nichts 
andres, als immer nur die freigebige Hand des 
Spenders in der feinen feftzuhalten. 

Der Lord nahm den ftillen Anſturm mit ge 
rührtem Schweigen auf. Aber nachdem fie ein 
paarmal Arm in Arm durch die Mitte des 
Raumes gewandelt waren und Cafpar noch immer 
‘mit fichtbarer Anftrengung nach Be feiner 
Erkennilichkeit rang, ermahnte ihn Stanhope janft, 
er möge doch jeden Dank unterlaffen. „Diefe 
Dinge find ja nur geringfügige Merkmale meiner 
Liebe zu dir,“ fagte er; „Das Wirkliche, das 
Große, was ich für dich tun will, bleibt der 
Zukunft vorbehalten. Inzwiſchen bleibe du fo, 
wie du bift, mein Cafpar, denn fo bift du mir eben 
recht; nicht geräufchvoll in Worten, aber zuverläffig 
in deinem Herzen. BZuverläffig und treu ſollſt du 
mir bleiben, ein Sohn, ein Kamerad, ein Freund.” 
208 





Caſpar feufzte. Das war zu viel des Glücks. 
Nie hätte er geglaubt, daß ein Menfchenmund 
fo fprechen könne. Bur Beteuerung war er ohn- 
mädtig, nur fein Auge gab Kunde in einem 
ſchwärmeriſchen Blick. 

Stanhope öffnete eine Tür und geleitete den 
Jungling zu einer Heinen Frühſtückstafel, die im 
Nebenzimmer bloß für fe beide gedeckt war. Sie 
nahmen Plab, der Lord füllte Wein in die Gläfer 
und lächelte fonderbar, als Caſpar erklärte, er 
trinke niemal® Wein. „Wie wird es dann wer- 
den, Cafpar, wenn wir zufammen in die Länder 
de3 Südens reifen? Auf allen Hügeln glüht dort 
der Wein und die Luft ift voll davon. Was 
ſchauſt du mid fo an? Glaubft du mir nicht?“ 

Wirklich? Werden wir wirklich zufammen 
reifen?" fragte Caſpar jubelnd. 

„Gewiß werden wir das. Denkjt du denn, 
daß ich mich von dir trennen will? Oder denkſt 
du, daß ich dich in diefer Stadt laffe, wo dir 
fo viel Uebles widerfahren ift?" 

„Alfo fort? Wirklich fort? Fort in die weite 
Ferne!“ vief Caſpar, preßte wie außer ſich beide 
Hände vor den Mund und zog in freudigem 
Krampf die Schultern bis an die Ohren. „Was 
wird aber Herr von Tucher dazu jagen? Und der 
Herr Bürgermeifter? Und der Herr Präftdent?" 
fügte er hinzu, vor lauter Haft plappernd, wäh: 
rend fich in feinem Geficht die ganze Betrübnis 
malte, die er bei der Vorflellung empfand, jene 
Männer Tönnten die Pläne des Grafen miß- 
billigen oder zunichte machen. 

„Sie werden es gefchehen laffen, fie werden 
feine Gewalt mehr über dich Haben, dein Weg 
führt dich über fie empor," antwortete Stanhope 


Baffermann, Gafpar Haufer 14 209 


snft und fah Cafpar zugleich mit einem ſcharfen, 
ja durchbohrenden Blick an. 

Cafpar erbleichte, von einem grenzenlofen 
Gefühl überwältigt. Während in feiner Bruft 
Wunſch und Zweifel, dunkel umfchlungen, alle 
Kräfte der Seele an ſich sogen, erhob ſich vor 
Kan Geifte Yeuchtender als je das Bild der 

rau aus dem Traumfchloß. Mit einer ergreifen- 
den Gebärde des Flehend wandte er fih zu 
Stanhope und fragte: „Herr Graf, werden Sie 
mich zu meiner Mutter bringen?" 

Stanhope legte Meſſer und Gabel  beifeite 
und ftüßte den Kopf in die Hand. „Hier liegen 
fuehthare Geheimniſſe, Caſpar,“ flüfterte er 

umpf. „Ich werde reden und ich muß reden, 
aber du mußt ſchweigen, feinem andern Menfchen 
darfft du vertrauen als mir. Deine Hand, 
Caſpar dein Gelöbnis! Hergensmenfch ! Ungtüct 
lich⸗Glücklicher, ja, ich will dich zu deiner Mutter 
bringen, die Vorfehung hat mich ermwählt, dir 
zu helfen!“ 

Cafpar ſank hin, die Beine trugen ihn nicht 
mehr, fein Kopf fiel auf die Knie des Grafen. 
Die Luftadern pochten um ihn, ein Schluchzen 
Töfte die ungeheure Spannung feiner Bruft. „Wie 
foll ich denn zu dir reden?" fragte er mit der 
Kühnheit eines Trunfenen, denn die Formeln, in 
denen man fonft zu Menfchen fpricht, erjchienen ihm 
fremd, fte taten feiner dankbaren Liebe nicht genug. 

Der Lord bob ihn jachte empor und fagte 
zärtlich: „Recht jo, das traute Du fol zwiſchen 
und herrſchen; du follft mich Heinrich nennen, 
als ob ich dein Bruder wäre." 

In fo inniger Nähe erblickte fie der ein- 
tretende Bebiente, der den Bürgermeifter und den 
210 


Regierungstommiffär anmeldete. Durch die ger 
öffnete Tür forderte der Lord die Wartenden 
ins Zimmer. Es fah aus, als wünſche er, daß 
die beiden Zeugen feiner Liebfofungen gegen 
Caſpar würden. Er tat, als könne er fich nicht 
von ihm trennen; da die Befucher nach ehrfürch⸗ 
tigem Gruß Pla genommen, fehritt er, noch 
leife plaudernd und ihn bei der Schulter um- 
ſchlungen haltend, mit Cafpar auf und ab, fo- 
dann begleitete er ihn zur Stiege, eilte zurück, 
ging ans Fenfter, beugte fich hinaus, ſah Caſpar 
Hi und winkte ihm mit dem Tafchentuch. Die 
Verwunderung feiner Gäfte wohl bemerfend, 
mäßigte er fich troßdem nicht, im Gegenteil, er 
gebärdete ſich wie ein Derliebter, der jeine Emp- 
findungen ohne Scheu _preisgibt. 
Die Gefchente des Lords wurden einige Stun- 
den nachher ins Tucherfche Haus gebracht. Herrn 
. von Tucers Erftaunen beim Anblid der wert 
vollen Gaben war groß. „Ich werde dieſe 
Gegenftände an mich nehmen und aufbewahren,” 
äußerte er zu Caſpar nach einigem Nachdenken; 
„es fteht einem zukünftigen Buchbinderlehrling 
nicht an, derlei auffallenden Luxus zu treiben.” 
Da hätte man Cajpar jehen follen! „O nein,” rief 
er aus, „das gehört mir! Das ift mein, und ich will's 
haben, das darf mir feiner nehmen!" Seine Haltung 
war geradezu drohend, und fein Blick funtelte, 
u3 Herrn von Tuchers Zügen wich alle 
Farbe. Ohne eine Silbe zu erwidern, verließ er 
das Zimmer. Alſo ein Undankbarer, dachte er 
bitter, ein Undanfbarer! Einer, der eis — 
die Gelegenheit nutzt und den einen Wohltaͤter 
„ verleugnet, wenn ber andre beſſer zahlt! 
Die Grundfäge hörten auf zu triumphieren. 
au 


Sie machten ein zerfnirfchtes Geficht und hüllten 
fih in Sad und Ace. * 

Nachgiebigkeit wäre in diefem Fall eine un- 
würdige Schwäche, deren ich mich fhämen müßte, 
fagte fich Herr von Tucher. Aber was tun? 
Soll ich Gewalt anwenden? Gewalt ift un— 
moralifeh. Er wandte fi) an Lord Stanhope 
und trug ihm die Sache vor. Der Graf hörte 
ihn freundlih an, er gab ſich Mühe, die Ver— 
gehung Gafpars als eine kindiſche Maßlofigkeit zu 
verteidigen, und verſprach, ihn dahin zu bringen, daß 
er dem Bormund die Gefchente freiwillig überreiche. 

Here von Tucher war von der Liebenswürdig- 
keit des Lords bezaubert und verließ ihn im 
befter Zuverficht. Auf den verheißenen Gehor- 
ſam Caſpars wartete er aber vergeblich. Kein 
Zweifel, die Mühe des Lords war ohne Erfolg 
geblieben; fein Zweifel, Caſpar verftand es, den 
gätigen Mann zu befchwagen. Kein Zweifel, 

iefer Burſche war mit allen Salben glemirt 
ein Charakter voll Heimlichkeit und Lift. Biel 
zu ſtolz, um einen Dritten zum Mitwifier feiner 
niebderfchmetternden Srfahrungen zu machen, be 
gnügte ſich Herr von Zucher vorläufig, den Er⸗ 
eigniffen ruhig zuzuſehen, wenn auch mit dem 
Verdruß eines Mannes, der ſich Bintergangen 
jasıt Daß Cafpar fich nicht ein einziges Mal 
erwogen fand, über die Art feiner Beziehung zu 
dem Lord, über den Gegenftand ihrer Gefpräche 
ich zu äußern, verlegte ihn tief; einen folchen 

angel an zutraulicher Mitteilfamfeit hätte er 
zum allerwenigften erwartet. 

In der eriten Zeit hatte fich der Lord darauf 
befehräntt, Gafpar im Tucherfchen Haus zu bes _ 
fuchen oder ihn Höchftens nach förmlich erbetener 
212 


Erlaubnis des Barons zu einer Spazierfahrt ab⸗ 
zuholen. Allmählich änderte fi) das, und er 
beftellte den Jüngling an fremde Orte, mo 
Cafpar3 unvermeidliche Leibwache fih fünfzig 
Schritte entfernt halten mußte. Herr von Tucher 
führte beim Bürgermeiſter Beſchwerde; er bes 
hauptete, der Lord handle damit feiner ausdrüd- 
lich gegebenen Zufage entgegen. Aber was fonnte 
err Binder tun? Durfte er den vornehmen 
errn zur Rede ftellen? Er wagte einmal eine 
ſchüchterne Andeutung. Der Lord beruhigte ihn 
mit einem Scherz; um nicht für wortbrüdig zu 
elten, war e8 leicht, den Verſtoß auf Caſpars 
nbefonnenheit zu jchieben. 

So fah man die beiden auffallenden Geftalten 
häufig am Abend durch die Gaffen wandeln. 
Arm in Arm; im eifrigen Gefpräc, achteten fie 
der Blicke nicht, die fie verfolgten. Meift gingen 
fie über den Stadtgraben und dann auf die 

urg; hier durfte fih Gafpar wehmütiger Er- 
innerung überlafjen; der düftere Turm barg die 
größten Schreckniſſe feines Lebens, und wenn er 
auf die Stadt niederfchaute, wo zwinkernde 
Lichter aus vielen Fenftern das dunkelverſchlungene 
Gaffengewirr belebten, vernahm er mit ganz an- 
dern Gefühlen die Stundentöne der Glode; jebt 
band und einte die Zeit ihre Schläge und zerriß 
fie nicht mehr zu Paufen des Grauens. 

Der Lord wurde nicht müde zu erzählen. Er 
erzählte von feinen Reifen. Er verſtand es, 
Dinge und Begebenheiten mit einfachen Worten 
zu malen. Caſpar erfuhr von den Alpen und 
daß dort Berge mit ewigem Schnee feien und 
ückliche Täler, wo freie Menfchen lebten. Er 
fa Italien — das Wort war ſchon ein Rauſch —, 

218 


geſchmückte Kirchen, enorme Paläfte, Gärten mit 
wunderbaren Statuen, voller Rofen, Lorbeer und 
Orangen, einen märchenhaft blauen Himmel und 
die fchönften Frauen. Er fah das Meer und 
Schiffe mit blanfen Segeln auf der Flut. Seine 
Sehnfucht wurde fo 83 ß er manchmal 
Ba lachen mußte. Einmal wirklich dort fein 
ürfen in den Ländern der Sonne und der un« 
befannten Früchte, dort fein dürfen, und das 
bald, folche Hoffnung machte das Herz ftillftehen. 
Es war eine Freude, die weh tat. 

An einem regnerifchen Abend befanden fie fih 
im Hotel. Der Lord öffnete eine Truhe und 
zeigte einige3 von den Schäßen, die er auf feinen 
Reifen gejammelt. Da waren feltene Münzen 
und Steine; Kupferftiche, Statuetten, Gemmen, 
Kameen, Perlen und altertümliches Gefchmeibe; 
ein geweihter Rofenkranz aus dem Heiligen Land; 
ein filberner Becher mit kunſtvoll gravierten 
Figuren; eine Bibel mit den herrlichiten Initialen 
und Malereien, ein Damaszenerdold mit gol- 
denem Griff, der Siegefring eines PBapftes, ein 
indiſcher Mantel aus Seide, beſtickt mit Sternen; 
ein pompejanifches Lämpchen und altfranzöfiiche 
RVorzellanväschen und vieles andre, alles jeltfam, 
alles fremdartig, alles be jinem Duft von weiter 
Welt und ob Sc) 

Das en Sh ih Dam n urfürften von Mainz 
bekommen," fagte der Lord etwa, „und dies ift 
ein Gefchent de3 Herzogs von Savoyen; dieſe 
ſchöne Miniature habe ich bei einem Händler in 
Barcelona gekauft, und dies Tonfigüicchen jtammt 
aus Syrafus, Da ift ein Talisman, den hat 
mir Scheit Abderrahman verehrt, und diefe 
orientalifchen Stoffe hat mir meine Bafe aus 
214 





Syrien geſchickt; fie ift eine wunderliche Perſon, 
zieht mit Arabern und Beduinen durch die Wüfte, 
ſchläft in Zelten und treibt Alchimie und Aſtrologie.“ 

Welche Laute, welche Fernen! Mit offenbarer 
Luft ſchürte der Graf das Feuer des Verlangens 
in Caſpar. Vielleicht nahm er es mit feinen 
Verheigungen ernft. Vielleicht bereitete es ihm 
bloß eine Wonne, Wunſch und Lüfte aufzus 
peitfchen. Vielleicht war es nur ein Spiel der 
Rede. Bielleicht aber das furchtbare Dergnügen, 
dem Bogel im Bauer, im nie zu öÖffnenden, jo 
lange vom Flug durch den goldnen Aether zu 
erzählen, bis endlich der jubelnde Freiheitsgefang 
durch feine Kehle bricht. 

Wie er ſprach, wie er die Worte befaß! 
Zwiſchen den Lippen und den weißen Zähnen 
fpielte das Lächeln wie ein Liftiges Tierchen. Er 
war nicht gleichmäßig heiter. Was war das? 
Oft 309 Finfternis über fein Geficht. Bisweilen 
pflegte er aufzuftehen und wie ein Zaufcher an 
die Tür zu treten. Seine Lieblofungen waren 
nicht felten vol Schwermut, dann jaß er wieder 
Famzeigenb da, und fein fuchender Blick glitt 

üfter an dem Süngling vorüber. Da faßte 
Cafpar einmal Mut und fragte: „Biſt du denn 
eigentlich, gieis, Heinrich ?" 

„Glücklich, Caſpar? O nein. Glüdlich, was 
fprichft du da? Haft du fchon von Ahasver ge 
hört, dem ewigen Juben, dem ewigen Wanderer? 
Er gilt als der unglüdlichite aller Menſchen. 
Ah, ich möchte mein Leben vor dir aufblättern, 
denn auf feinen dunfeln Seiten liegt der Gram. 
Aber ich darf nicht, ich ann nicht. Später vielleicht, 
wenn dein eigne3 Geſchick fich entjchieden Hat, wenn 
du mit mir in meine Heimat gehſt ...“ 

215 


„Sit denn das möglich, wird denn das fein?" 

Es jhüttelte den Lord plötzlich; es war, als 
werfe er einen Mantel ab oder wolle ſich einem 
unſichtbaren Druck entziehen. Eine krampfhafte 
Lebendigkeit ergriff ihn, er begann von Caſpars 
künftiger Größe zu fprechen, doch wie ſtets nur 
in Geheimnisvolen Wendungen und mit der feier- 
lichen Ermahnung zur Verjchwiegenheit. Ja, er 
ſprach von Caſpars Reich, von feinen Untertanen, 
und das zum erjtenmal, wie einem Zwang ge- 
horchend, jelber ſchaudernd, felbft zitternd, immer 
von neuem das Gelöbnis des Schweigens be- 
tonend, Singerifien von einem Phantom — 
und alle Gefahr vergeſſend. „Ich will Dich 
führen; ich will deine —* zermalmen, du bift 
taufendmal mehr wert als jeder einzelne von 
ihnen. Wir gehen zuerft nach dem Süden, um 
fie irreguführen, dann fliehen wir zu mir nad 
Haufe, jchaffen uns einen Hinterhalt, von wo 
die Verfolger zu treffen find, mo man Kräfte 
fammeln kann für den entjcheidenden Schlag." 

Wieder zur Tür; wieder laufchen; nachjehen, 
ob fein Horcher verftectt fei. Dann, ängſilich 
ablentend, fchilderte der er feine Heimat, den 
Frieden eines englifchen Landfiges, die herrenhafte 
Unabhängigkeit auf es em, Gebiet; die 
tiefen Wälder und Haren Flüffe, die balfamifche 
Luft, das behagliche Weilen überall, Frühling, 
Herbſt und Winter, eingefchloffen in einem Ring 
unfchuldiger Genüffe. 

ſolchen Bildern lag etwas von der Weh- 

mut reuigen Gewiſſens und dem Schmerz eines 
ayf immer DVerftoßenen. Zum andern Teil aber 
enthielten fie viel von der modiſchen Empfind- 
jamfeit, die auch das verhärtetfte Gemilt unter 
216 


Umftänden davon fehwärmen ließ, feine felbft- 
eichaffene Unraft am Bufen der Natur zu be 
änftigen. Und dann ſprach er doc von jeinem 
Leben. Er wußte fih als einen Mann darzu- 
ftellen, der, vielbeneidet, mit Ehren und Aemtern 
und greifbaren Önetsgitern beladen, gleichwohl 
das Opfer feinblicher Mächte ift. Das Schickſal 
trat in romantischer Verkleidung auf und jagte 
den Sohn eines verfluchten Gejchlechts unftet 
von Land zu Land. Vater und Mutter tot, ehe 
malige Freunde gegen den edeln Sproß des 
Su es verſchworen und er, ein Mann von fünfzig 
Jahren, ohne Heim und Weib und Find, 
Ahasver! 

Derlei EntHüllungen öffneten wie nichts fonft 
Caſpars Herz der Freundichaft. Denn da war 
enblich einer, der ſich gab, fich öffnete, die Ver- 
mummung abmarf. Es war bitterfüße Luft, die 
angebetete Geftalt den Sodel verlaſſen zu jehen, 
auf dem fie für alle übrigen thronte, 

Was ihn betrifft, er bot in diefer Zeit das 
Schaufpiel eines ruhenden Menfchen; außen und 
innen ruhend, gelöft von hemmender Feffel, Blick 
und Gebaͤrde gelöft, bie Geftalt aufgerichtet, die 
Stirn wie entjchleiert, die Lippen gejchwellt von 
einem beftändigen Lächeln. 

Er wurde feiner Jugend inne. Er dehnte 
fih aus, e8 war ihm, als jei er ein Baum und 
jeine Hände wie Zweige voller Blüten. Ihm fchien, 
als ftröme fein Blut einen Wohlgeruch aus; die 
Luft ſchrie nach ihm, das Land ſchrie nach ihm, 
alles war voll von ihm, alles nannte feinen 
Namen. 

Er pflegte manchmal laut mit fich felbft zu 
reden, und wenn er dabei überrafcht wurbe, lachte 

217 


er. Die Leute, die mit ihm in Berührung famen, 
waren bezaubert; fie fanden fein Ende, die über 
alles Tiebliche Erſcheinung zu preiſen, in der Kind 
und Jungling zu rührendem Verein gediehen 
waren. Es gab junge Frauen, die ihm zärtliche 
Briefchen fchrieben, und Herr von Tucher wurde 
vielfah mit Bitten beläftigt, ihn von einem 
Maler Eonterfeien zu laffen. 
Das üble Gerede gegen ihn war auf einmal 
wie verblafen. Keiner wollte je etwas Schlechtes 
eſagt haben, die eingefleifchten Widerfacher duckten 
ih, die ganze Stadt warf fich plößlich zu feinem 
jeſchützer auf. Es hieß mit immer fühnerer 
Deutlichkeit, man müfje ihn gegen die Machen- 
haften des englifchen Grafen in Schuß nehmen. 
Eines Tages mußte Stanhope zu feiner 
größten Beſtürzung wahrnehmen, daß er von 
allen Seiten peinlich überwacht und behorcht war. 
Er mußte ſich entfchließen zu handeln. 


Die geheimnisvolle Miffion und was 
ihrer Ausführung im Wege fteht 


Schon lange hieß es an allen Wirtshaus- 
tiichen, der Lord wolle Caſpar Haufer an Na em 
Statt annehmen. In der Tat ftellte Stanhope 
Mitte Juni den förmlichen Antrag an den Ma— 
giftrat, ihm den Jüngling zu überlaffen, er 
wünfche für feine Zukunft zu jorgen. Der Ma- 
giftrat ließ durch den Bürgermeiſter erwidern: 
zum erften, daß ein folches Erſuchen in pleno 
vorgetragen werden müffe; zum zweiten, daß der 
218 





Lord vor allem den Nachweis eines hinlänglichen 
Vermögens erbringen müffe, damit die Stadt 
eine fichere Gewähr für das Wohlergehen ihres 
Pfleglings habe. 

Slanhope nahm den Befcheid ſehr ungnädig 
auf. Er ging zum Bürgermeifter, zeigte ihm 
feine Orden, die Peplaubigum en fremder Höfe, 
jogar vertrauliche SL hoher Fürftlichkeiten; 
Here Binder, bei aller Ehrfurcht vor Seiner Lord» 
ſchaft, bedauerte, den einftimmigen Beſchluß des 
Kollegium nicht rückgängig machen zu können. 

Der Graf war unvorfichtig genug, in einer 
Geſellſchaft, wo er zu Gaft geladen war, jeine 
Geringſchätung gegen das pedantifch-überhebliche 
Vürgerpad zu äußern. Dies wurde ruchbar, und 
obgleich er I beeilte, in einem Brief an ben 
Magiftratsvorftand fein Benehmen zu entſchul⸗ 
digen und es al3 einen duch Weinlaune verur- 
ſachten Ausbruch verzeihlichen Aergers hinzus 
ftellen, machte die Sache doch böfes Blut. Der 
Argwohn war einmal geweckt. Man wollte 
wien, daß er in feinem Hotel häufig Perſön⸗ 
Tichleiten von zmeifelhaftem Ausfehen empfange, 
mit denen er Hinter verfchloffenen Türen lange 
Derhandlungen führte. Wie kommt e8 überhaupt, 
fragte man fi, daß der angeblich fo reiche und 
oornehme Dann fein Quartier in einem Gaft- 
haus zweiten Ranges nimmt? Fürchtet er am 
Ende, von feinen eignen Landsleuten gejehen zu 
werden, wenn er wie fie im „Adler” oder im 
„Bayriſchen Hof“ wohnt? Dies ſchien plaufibel, 
wenn man einer unverfolgbaren Nachricht trauen 
durfte, die irgendwer eines Tages verbreitete und nach 
welcher der Lord ehedem ala Traftätchenverfäufer 
im Dienft der Jefuiten in Sachſen herumgezogen fei. 

219 


Stanhope beeilte ſich zu reifen. Er ftattete 
dem Bürgermeiſter in feiner Kanzlei einen Ab- 
ſchiedsbeſuch ab und ſprach von dringlichen Ge- 
ſchäften, die ihn megberiefen; bei feiner Rückkunft 
werde er den geforderten Vermögensnachweis vor⸗ 
legen. Bugteid deponierte er fünfhundert Gulden 
in guten Scheinen, welche Summe ausichließlich 
ii die kleinen Wünfche und Bedürfniffe feines 

iebling® zu verwenden fei. Der Vürgermeifter 
wandte ein, daß eigentlich Herr von Tucher die 
Verwaltung biejes Geldes übernehmen müſſe, 
doch der Lord fchüttelte den Kopf und meinte, 
in Heren von Tuchers Verfahren liege zu viel 
vorgefaßte Strenge, er handle nad) einem er- 
dachten Ideal von Tugend, eine fo zarte Lebens- 
Pflanze könne nur in liebevollfter Nachficht aufs 
gezogen werden. „Seien mir doch eingebent, 
daß das Schickſal eine alte Schuld an Gafpar 
abzutragen hat und daß es engherzig ift, immer- 
fort hemmen und befchneiden zu wollen, wo die 
Natur jelbft gegen den Willen der Menfchen ein 
fo herrliches Gebilde erzeugt hat.” 

Der Ernſt diefer Worte wie auch das hoheits⸗ 
volle Weſen des Lords machten großen Eindrud 
auf den Bürgermeijter. Er fprach nochmals fein 
Bedauern darüber aus, daß die Abfichten des 
Grafen nicht jogleich verwirklicht werden konnten, 
und verficherte, daß die Stadt es fich ftet3 zur 
Ehre rechnen würde, einen folchen Gaſt in ihren 
Mauern zu beherbergen. 

Don bier begab ſich Stanhope unvermeilt zu 
Heren von Tucher. Man jagte ihm, der Baron 
jei mit einigen Bekannten auf die Jagd geritten, 
auch Cafpar fei ausgegangen, müfle aber in 
Bälde zurückkehren, er möge zu warten geruhen. 
220 


Ungebuldig fehritt er in dem großen Salon auf 
und ab. Er nahm die Brieftafche heraus, zählte 
Geld, notierte mit dem Bleiftift Ziffern auf ein 
Blatt, wobei er mit den Zähnen knirſchte und 
der feine weiße Hals fa langfamı dunkelrot färbte 
wie bei einem Trinker. Er jtampfte aufden Boden, 

. das Gefiht war förmlich aufgerifien, der Blick 
gligerte. „Gottverdammte Beftien,“ murmelte er, 
an auf den ſchmalen Lippen lag eine wilde Ver- 
achtung. 

Da war nicht? mehr von der Gemeſſenheit 
und Würde des Edelmannd, DO, Herr Graf, 
muß der Vorhang des öffentlichen Theaters nur 
für eine Viertelftunde ‘fallen, damit der Schau- 
pieler, überbrüffig der qutgelernten Rolle, fein 
geſchminktes Anilitz zu furchtbarer Wahrheit ver- 
ändere? Schade, daß fein Spiegel in dem Raum 
angebracht war, vielleicht hätte er den Lord zur 
Befmmung gebraht und zur Behutſamkeit er- 
mahnt, denn e3 brauchte ja nur jchnell eine Tür 
aufzugehen, und da8 Stück begann von neuem. 
Aber zeugte diefer Umftand nicht zugunften des 
Grafen? Wäre mehr Beherrſchung nicht ein 
Beweis von größerer Kunft gemejen? Der echte 
Komödiant tragiert fein Spiel auch leeren Räumen 
vor und macht jelbjt die Wände zu Zufchauern. 
In diefer Bruft aber waren noch Stimmen des 
Verrats, in ihrer Tiefe war noch Sturm, ihr 
dumpfes Höhlengetier hatte noch Augen, die vom 
Strahl der Wandelbarkeit getroffen wurden. 

Es ſcheint, daß der Lord ein chlechter Rechner 
war, denn die aufgeftellten Zahlen wollten nicht 
das notwendige Ergebnis liefern, fo daß er immer 
wieder von neuem begann und mit gerungelter 
Stirn einzelne Poſten auf ihre Richtigleit prüfte. 

221 


„Für Popularitätszwede entichieden zu wenig,” 
jagte er mürriſch, eine Aeußerung, deren Un- 
bedachtfamfeit dadurch gemildert war, daß ſie in 
engliſcher Sprache getan wurde, Dann noch ein 
fonderbaresg Wort, unheimlich anzuhören, nicht 
wie aus einem geiftreichen Schaufpiel, ſondern 
wie aus einem Räuberdrama: „Wenn der Graue 
ſich wieder bliden läßt, will ich ihn in den 
Schwanz fneifen; feine’Beute ift wahrhaftig groß 
genug. Kronen find feine Marktware, er mag 
ehrlicher im Zeilen fein.“ 

Bellagenswerter Lord! Auch die Einfam- 
feit hat ihre Laute. Durch eine fchlechtver- 
ſchloſſene Fenfteripalte zwängt fi) der Wind, 
und e8 gleicht einer Stimme, oder das Holz 
der jahrhundertalten Möbel zieht fich zufammen, 
und es klingt wie ein Schuß ober wie ein 
Miniaturgemwitter. Zudem war Graf Stan 
hope abergläubiih; das Rieſeln der Kalkkörner 
hinter den Tapeten erinnerte ihn an den Tod; 
wenn er mit dem Iinfen Fuß ein Zimmer betrat, 
wurde ihm übel und ängftlih. Dies war hier 
geſchehen; er nahm fich zufammen und fehmieg, 
um fo mehr al3 er vom Flur herauf Caſpars 
helle Stimme hörte; er begab fich wieder in feine 
Rolle, die Augen gewannen ihren geelenbaften 
Glanz zurüd, er holte einen Band Roufjeaufcher 
Schriften aus dem Bücherregal in der Ede, ſehte 
fih in den Lehnftuhl und begann mit finniger 
Miene zu leſen. 

Und doch, als Caſpar eintrat, als das freude 
verflärte Antlit aus dem Dämmer tauchte, da 
zitterte empfundener Schmerz über die Züge des 
Lords und eine plögliche Verzagtheit raubte ihm 
die Sprache. Ja, er wurde verwirrt, er lenkte 
222 





den Blick abjeits, und Bil als Caſpar, dur 
das fremdere Weſen betroffen, ihn leiſe anrief, 
brach er das Schweigen; e3 Tag nahe, die bevor- 
ftehende Neife als Grund der Verftimmung an⸗ 
zuführen, aber der Zuftand inneren Zurückbebens 
und jähen Wankelmutes in ſolchen Augenbliden 
war dem Lord nicht unbekannt, Fe Pi 
ſich heute ftärker als fonft fühlbar machte. Ihm 
war dann, als ob der Anblick des Fünglings 
den vorgefeßten Willen lähme, als ob mühfam 
aufgebaute Pläne zufammenbräcen, wie von 
einem Orkan gefaßt, jo daß er das Werk wieder 
von vorn beginnen Tonnte, wenn er allein war 
und fid erholt hatte; er glich dann der Pene- 
Iope, die, was fie tagsüber kunſtvoll gejponnen, 

bei Nacht wieder in feine Fäden trennte. 
Caſpars wehmütige Klage bei der unerwar- 
teten Kunde wurde nicht Belhmigti t durch den 
Hinweis, daß fein eignes Wohl ice Trennung 
erforderlich made, auch nicht durch die Ver— 
fiherung Stanhopes, daß er jobald als möglich, 
vielleicht ſchon nad) Verlauf eines Monats, zus 
rüdtehren werde. Caſpar fchüttelte den Kopf 
und fagte mit erfticter Stimme, die Welt fei gar 
u groß; er umklammerte den Freund und bat 
Venen, mitgenommen zu werden, der Graf 
ſolie den Diener entlafen, er, Cajpar, wolle 
dienen, er brauche fein Bett, auch feinen Lohn, 
er wolle wieder von Brot und Waſſer leben. 
„Ah, tu e8, Heinrich!" rief er unter Tränen. 
„Was fol ich denn ohne dich hier anfangen?" 
Der Lord ftand auf und befreite fich fanft 
aus den Armen des Jünglings. Der Teoft, den 
er ſpenden durfte, vettete ihn vor fich ſelbſt und 
verlieh feinen Worten größeres Gewicht. „Daß 
223 


du fo Heinmütig bift, Caſpar, beweiſt ein Kleines 
Vertrauen zu mir," fagte er, „mie fannft du nur 
glauben, daß Gott, der uns endlich vereinigt hat, 
und num wieder voneinander reißen wird? Das 
bieße feine Weisheit und Güte verdächtigen. Die 
Welt ift ein Bau von hoher Harmonie, und der 
Menſch findet fich zum Menfchen durch ein aus- 
ermwähltes Geſetz; halte du deine Beftimmung feſt, 
fo tragen did) Raum und Zeit ans Ziel, und ob 
ih eine Stunde lang oder wochenlang von dir 
fort bin, gilt gleichviel vor der Gemwißheit der 
Erfüllung. Wartet doch mancher bis zum Tod 
auf den Erisfer und wird nicht ungeduldig. Auch 
mußt du dich beherrjchen lernen, Cafpar; Fürſten⸗ 
föhne weinen nicht." 

€3 war mittlerweile dunkel geworden; der 
Lord führte Cafpar zum offenen Fenſter und ſprach 
bewegt: ¶ Blick auf zum Himmel, Cafpar, jchau, 
mie die Sterne durch das Firmament breden! 
In diefem ie wollen wir uns erkennen.” 

Mit Befriedigung bemerkte Stanhope, daß 
Caſpar nachdenklich wurde und, feierlich geftimmt, 
ſich der _zügellofen Derzweiflung ſchämte, die 
feinen Zwang des Wechſels anerkennen, feine 
Zukunft gegen die beglüdte Gegenwart in Kauf 
nehmen — Es war, als ſpüre Caſpar die 
höhere Notwendigkeit, welche die Schichſale fteigert 
und heimlich ineinander ſtickt; vielleicht erwachte 
fein verwundert umherſchauendes Auge in diefer 
Stunde zum Begreifen und der Damm, der den 
Strom der Sehnfucht hemmte, wurde eine Kraft 
der Seele; die befiegte Leidenfchaft adelt den 
Jüngling zum Mann. Fürftenföhne weinen nicht; 
ein ftarke8 Wort; der leife Windhauch, der die 
Vorhänge baufchte, flüfterte es nad). 


224 


Der Lord ſchaute auf die Uhr und erklärte, 
daß er Eile habe, er wolle der Hite wegen die 
Naht duch fahren. Bor dem Wagen unten 
nahm er Abjchied; Stanhope reichte Cafpar einen 
Heinen mit Goldftücen gefüllten Beutel; er gebot 
ihm, damit nach feinem Belieben zu fchalten und 
feiner Einrede Gehör zu leihen. 

Diefe unbedachte oder vielleicht ſchlau berech⸗ 
nete Weifung verjchuldete ein ernſtes Zerwürfnis 
zwifchen Gajpar und feinem Vormund. Herr 
von Tucher erfuhr von dem abermaligen Gejchent 
des Grafen und verlangte, daß — ihm das 
Geld abliefere. Caſpar weigerte ſich wiederum, 
Herr von Tucher befiand jedoch mit feiner ganzen 
Autorität darauf, und er würde Gewalt an- 
‚gewendet haben, wenn nicht Caſpar, eingeſchüchtert 
duch Drohungen wie durch das Gefahr der Ab» 
mefenheit jeines mächtigen Freundes, Hein bei— 
gegeben hätte. Doch verhartte er in dumpfer 

uflegnung, und dies brachte Herrn von Tucher 
außer fich. „Ich werde dich aus dem Haus ſtoßen,“ 
Tief ex, nicht mehr fähig, fich zu beberefchen, „ich 
werde deine Schande der Welt offenbaren; man 
ſoll dich endlich Kennen lernen, du Schlad!" 

Caſpar, betrübt und erregt, glaubte in feiner 
Weiſe ebenfalls drohen zu follen. „Ach, wenn 
da8 der Graf wüßte, der würde Augen machen!" 
fagte er erbittert und mit naiver Bedeutſamkeit, 
als ob e3 in der Macht des Grafen läge, jedes 
Unrecht zu fühnen. 

„Der Graf? Auch gegen ihn machſt du dich 
ja des Undanks ſchuldig,“ verſetzte Herr von 
Tuer. „Wie oft hat er mir verfichert, er habe 
dich zur Folgfamkeit und Treue ermahnt, habe 
dich Himmelhoch gebeten, deinen Wohltätern feinen 

Waffermann, Gafpar Haufer 16 225 


Anlaß zur Klage zu geben. Du aber mißachteſt 
fein Gebot und bift feiner großmütigen Liebe 
ganz und gar unwürdig.“ 

Caſpar erftaunte. Won folhen Ratjchlägen 
des Grafen wußte er nichts, eher vom Gegenteil; 
ex beftritt daher, daf der Lord dergleichen gejagt 
babe. Da ſchalt ihn Here von Tucher mit ver- 
Ächtlicher Ruhe einen Lugner, woraus erfichtlich 
ift, daß das jo weiſe aufgerichtete Erziehungsfgften 

ch nicht einmal für feinen Schöpfer als tragfähig 
genug erwies, um Ausbrüche empörter Leidenjchaft 
und vermwundeten Selbftgefühls hintanzuhalten. 

Die Grundfäge waren endgültig in die Flucht 
gelchlagen. Herr von Tucher war de3 unerquid- 
lichen Kampfes müde; obwohl entichlofjen, Cafpar 
nicht länger zu behalten, verjchob er die Aus- 
führung ſeines Vorſatzes bis zur Rückkehr des 
Grafen. Um nicht durch Caſpars Anblict der be- 
ftändigen Pein der Enttäufchung ausgefeßt zu fein, 
Kiste er der Einladung eines Vetters und begab 

ich für den Reſt des Sommers auf ein Landgut 
in der Nähe von Hersbruck, wo feine Mutter 
ſchon feit drei Monaten weilte. Da es Ferienzeit 
war und der Lehrer ohnedies nicht ins Haus 
am, brauchte er für den Unterricht Caſpars keine 
Mafnahmen zu treffen; er empfahl ihm fleißiges 
Eigenftudium, trug Sorge für feine täglichen Be— 
dürfnifje, ließ ihm vier Silbertaler an Tafchen- 
gm zurüct und ging nach faltem Abſchied, die 
ufficht über ihn der Polizei und einem alten 
Diener de3 Haujes überlaffend. 
. Cafpar zählte die Tage und ducchftrich jeden 
vergangenen mit roter Kreide auf dem Kalender. 
Das Iautlofe Haus, die verödete Gaffe, in der 
die Sonne brütete, ließen ihm das Alleinfein 


226 


ftetig fühlbar werden. Gejellichaft hatte er feine, 
Fremde, die noch immer — kamen, zahl⸗ 
reicher noch, ſeit die paſſionierte Teilnahme eines 
Lord Cheſierfield den Findling wie mit einem 
Nimbus umgab, wurden nicht zugelafien, die 
früheren Belannten aufzufuchen hatte er feine Luft. 

Am Abend nahm er manchmal fein Tagebuch 
zur Hand und fchrieb; da war ihm dann ber 
Freund näher, es glich einer Unterhaltung mit 
ihm durch die trennende Ferne. Ohne da8 Ge 
loͤbnis des Stillſchweigens über das, was Stan- 
hope ihm anvertraut, zu vergefien, wurde doch 
auf ſolche Weile das Papier zum Mitwifjer der 
myfteriöfen Andeutungen. Aber aus feiner Art, 
ie zu fafjen, erhellte klar, daß er fich im min- 

eften nicht dabei zurechtfinden konnie. Es war 

ein Märchen. Er verjtand nicht den Bau der 
Debmungen, nicht das labyrinthiich verſchlungene 
Gefüge der menfchlichen Gefellihaft. Noch war 
da3 Schloß mit feinen weiten Hallen ein Traum: 
da wehten die Schauer unbelannter Sterne. Nur 
heimzugehen war fein Wunſch, dies Wort hatte 
Sinn und Kraft. Wehe, wenn er zum Begreifen 
erwachte; erſt wenn die Finfternis entwichen, 
Tann der verierte Wanderer ermefjen, wie weit 
er von feinem Ziel verfhlagen worden. 

Anfaı E September erhielt Cafpar die erſte 
kurze Naı Ei vom Grafen, die auch defjen be- 
vorftehende Rückkehr meldete. Seine Freude war 
groß, doch war ihr ein ahnender (Schmerz zus 

jemifcht, als könne es zwifchen ihm umd dem 
und nicht mehr werden wie vordem, als hätte 
die Zeit fein Antlitz verwandelt. Bei jedem 
Wagenrollen, jedem Läuten am Tor dehnte ſich 
fein Herz bis zum Springen. Als der Erwar- 

227 


tete endlich erſchien, war Caſpar feines Lautes 
mächtig; er taumelte nur fo und griff um fich, 
mie wenn er an der Wahrheit der Erfcheinung 
zweifle. Der Lorb veränderte Haltung und 
Miene; es jah aus, als verfchiebe er ein vnor- 
Side ver Andersfein für fpäter, daS Lauern feiner 
lide ank in der —* Regung, in die 
der ihn ſtets verſeizte, der einzige Menſch 
vielleicht, dem er Macht über fein Inneres zu⸗ 
jeitehen mußte und deſſen Geſchick er zugleich 
Bier ſich berfchleifte wie der Jäger das er- 
eutete Wi 

Er fand Caſpar ſchlecht ausſehend und fragte 
ihn, ob er genug zu eſſen gehabt habe. Der 

jericht über die mit Herrn von Tucher vor- 
gefallenen Streitigkeiten entlodte ihm nur Sar⸗ 
asmen, doch fehlen er nicht weiter mißgelaunt 

darüber. „Haft du denn bisweilen an mich ge» 
dacht, Cafpar?" erkundigte er fih, und Caſpar 
antwortete mit dem Blicd eines treuen Hundes: 
„Viel, immer." Dann fügte ex Hinzu: „Ich habe 
jogar an dich gefchrieben, Heinrich.” 

„An mich geji eben" wieberholte der Lord 
aaa oent Su wußteſt doch meinen Aufenthalt 
nicht!“ 

Cafpar drückte die Hände zufammen und 
Tähelte, „In mein Bud hab’ ich’8 gejchriel 


228 


Stanhope brach das Geſpräch ab, nahm fich 
aber vor, der Sache auf den Grund zu gehen. 
Er war wieder im „Wilden Mann“ ab- 
geftiegen, doch Iebte ex anders als vorher. Zu 
jeder zeit bejtellte er Champagner und teure 
Weine und trieb den größten Aufwand, als fei 
& ihm darum zu tun, Reichtum zu zeigen. Er 
brachte feine eigne Equipage mit, deren Räder 
vergoldet waren, während am Schlag Wappen 
und Adelskrone prangten. Als Dienerjchaft hatte 
er einen Jäger und zwei Kämmerlinge, und dieſe 
heei Betreten erregten das Staunen der Nürn- 
erger. U 

Er fäumte nicht, fein Anfuchen um die Ueber- 
lafjung Cafpar Haufer8 zu erneuern. Zum Beleg 
feines . günftigen Vermögensſtandes mies er, 
Ieinbaz nur nebenbei, auf die Kreditbriefe hin, 
ie ex feit feiner Rückkunft beim Marktvorfteher 
Simon Merkel deponiert hatte. Es lag darin 
eine Gebärde von Prahlerei, als feien jo gering- 
fügige Summen faum der Rede wert; in ber 
Tat aber waren die Affreditive, von deutjchen 
Wechielhäufern aus Frankfurt und Karlsruhe 

ausgeftelt, von riefiger Höhe. 
er Magiſtrat jah ſich jedes ftichhaltigen 
Einwands gegen die Wünjche des Lords beraubt. 
Im der Verfammlung der Stadtväter wurde die 
Frage aufgeworfen: ja warum? Was will er 
eigentlich mit dem Haufer? Darauf las Bürger 
meifter Binder mit bejonderem Nachdruck eine 
Stelle aus der Zujchrift des Grafen vor, worin 
es hieß: „Der Unterzeichnete fühlt um jo mehr 
den Beruf, ſich des unglüdlichen Findlings an» 
zunehmen, als er bei langem Umgang mit ihm die 
jelbft einem Vaterherzen mohltuende ‚Erfahrung 
229 


t hat, wie fehr ihm dies Eindliche Gemit 
Ih fi er Anhänglichkeit und Dankbarkeit ex. 
geben iſt.“ 

„Fragen wir aljo den Haufer felber," hieß es, 
— muß wiffen, ob er PN bat, Yen (A zu 

folgen.” 

Caſpar wurde vor Gericht zitiert. In tiefer 
gemegum erklärte er, er ſei überzeugt, daß ber 
dr K den innigften Anteil an feinem Schie- 

jal nehme, erflärte, mit dem Grafen g zu 
wollen, wohin ihn bieſer auch führen mwı 

Trotz alledem verzögerte ſich bie förmtic 
Bewilligung des Magiftratd durch eine 
exit ſcheinhafter und ungreifbarer Umftände, de 
aber ie und ich IR ehe ZBiberfkand 
erwuchſen, bis fie fü ließlich in einer einzelnen 
Stimme Gehör verfchafften, welcher niemand zu 


widerftehen may 
Wider ühermähige Eifer de3 Lords, fi der 
Perſon Caſpars zu verfihern, rührte den — 
irdiſch murrenden Argwohn immer wieder 
Sein pomphaftes Auftreten mißfiel dem Birger, 
der einer beheben Lebensführung, auch bei 

Großen, mehr Vertrauen entgegenbrachte als 
einer Verſchwendungsſucht, die nur die fchlechten 
Inftinkte des Pöbels nährte. Es erbitterte, wenn 
der Graf in jeiner Prunlklaroſſe daherfuhr, mit 
Abſicht die belebteſten Platze wählte und nach rechts 
und links Kupfermünzen ins Volk ſtreute, das ſich 
dann, jeder Würde bat, vor dem in nachläſſiger 
Leutjeligteit thronenden Fremdling im Kot mälzte. 

Man ſprach davon, daß Ar vom Markt: 

vorfteher Merkel auf die Kreditbriefe hin hohe 
Summen entlehnt habe. Merkel, wenngleich er 
gefichert jchien, wurde zur Vorficht ermahnt; es 
230 


Tief das Gerücht, der Lord dürfe die Papiere 
gar nicht angreifen oder doch nur bis zu einer 
vorgejchriebenen Grenze. 

Mittlerweile war Herr von Tucher vom Land 
zurücgefehtt. Die Entwiclung der Dinge war 
ihm befannt; er wollte für feinen Teil ein klares 
Ende herbeiführen. Er richtete an den Lord 
einen ziemlich weitläufigen Brief, in welchem ex 
ihn fchließlich vor die Wahl ftellte: entweder den 
Züngling ganz zu fi zu nehmen und ihn, ben 
Baron, damit feiner Verantwortlichkeitspflicht zu 
entheben, oder einen jährlichen Beitrag auszuſetzen, 
welcher es ermögliche, Caſpar einem verftändigen 
und gebildeten nn vollftändig zu übergeben; 
in lesterem Falle müfje Seine Herrlichkeit aller- 
dings bie Güte haben, jedem Verkehr mit Caſpar 
ſchriftlich wie mündlich für die Dauer mehrerer 
Jahre zu entfagen; er jeinerfeit3 wurde fich dafür 
gern verbinden, dem Lord regelmäßigen Bericht 
über Cafpard Tun und Treiben abauftatten, 

In der fonftigen Fafjung des Schreibens 
herrſchte jedoch die geboten Devotion vor. „Mit 
dem wärmften Dank habe ich, hochzunerehrender 
Herr, die zahllofen Beweiſe des Wohlmolleng 
anzuerfennen, mit denen Sie mich feit den wenigen 
Wochen Ihres Hierfeins überſchüttet haben,“ 
hieß es unter anderm; „aus dem Grund meiner 
Seele habe ich die ungeheuchelte Verehrung an 
den Tag zu legen, zu welcher mich Ihre Herzend- 
güte und Ihr feltener Edelmut zwingen. Aus 
diefer Gefinnung entfpringt mir auch die Pflicht 
de3 Vertrauens, zu der Sie mich jo oft aufs 
gefordert haben, und fo trete ich vor Ihnen, 
edler Mann, geraden und offenen Sinnes auf 
mit der Buverficht, daß Sie meinen Worten ein 

231 


geneigte Ohr ſchenken werben. Caſpar ift nicht 
der, für den Sie ihn zu halten ſcheinen. Wie 
konnten Sie auch diefes wunderliche Zwitterding 
Tennen lernen, da ihn ja im Umgang mit Ihnen, 
dem er alles verdankt und von dem er alle er- 
wartet, was fein Sinn begehrt, auch alles dazu 
einlud, im beiten Licht zu leuchten. Herr Graf! 
Sie haben ihm eine Freundfchaft bez igt, wie 
man fie nur einem Gleichgeftellten fchentt. Bei 
der unbegrenzten Eitelkeit, mit welcher die Natur 
neben fo reichen Gaben, feine Seele verunftaltet 
hat und die von einjältigen Menfchen hier noch 
grobgegogen wurde, haben Sie unfchuldigermeife 
ein Gift in fein am fich ſchon krankes Weſen ge- 
mifcht, das fein Seelenarzt, auch nicht der ge 
fchidtefte, wird jemals wieder daraus entfernen 
können. Ich bin von nicht? weiter entfernt, als 

men damit einen Vorwurf zu machen, ich bitte 
Sie inftändig, auch nicht einen folchen finden zu 
wollen. Sie find außer Schuld. Aber feftftellen 
muß ich, daß mährend ber ganzen Zeit, bie 
Caſpar in meinem Haufe weilte, fein Anlaß war, 
mit ihm unzufrieden zu fein, während er feit 
Ihrem Aufenthalt. dahier, ich fage es mit bluten- 
dem Herzen und mit der Baghaftigkeit, die mir 
Liebe und Ehrfurcht gegen Sie, vortrefflicher Mann, 
gebieten, wie umgewandelt und verkehrt ift.“ 

Eine ſolche Sprache mußte auch dem ver- 
wöhnteften Ohr fchmeicheln. Nichtsdeftomeniger 
ab fg Lord Stanhope den Anfchein, durch den 
rief des Freiheren herausgefordert und verletzt 
worden zu fein, ſprach auch überall in Geſellſchaft 
davon. In einer Eingabe an das FKreisgericht 
in Ansbach, die ſich als notwendig erwiefen und 
worin er feine Bereitwilligfeit anzeigte, nicht nur 
232 





während feines Lebens für Cajpar Haufer zu 
forgen, ſondern auch deſſen Erhaltung für den 
Tall feines Todes zu fichern, erwähnte er, di 
zwiſchen ihm und Heren von Tucher Verhältnifje 
eingetreten feien, die ihm für jest und Künftig 
jeden Verkehr unmöglich machten; es fei deshall 
von Aictigeit, daß Caſpar tunlichjt bald in 
eine andre Umgebung verfeßt werde. 

Hofrat Hofmann in Ansbach beeilte fich, 
Herrn von Tucher von der verhüllten Anklage 
des Lords zu unterrichten. Herr von Tucher 
war außer fich. Er teilte der Behörde feinen an 
Stanhope gerichteten Brief wörtlich mit, fehilderte 
nod einmal und in büfteren Farben den unheil- 
vollen Einfluß des Grafen auf Caſpars Charakter 
und erſuchte um fchleunige Decharge von einer 
Vormundichaft, die ihm, wie er ſich ausdrüdte, 
Sorgen, Plagen und Laften und zulegt noch Un- 
dank und Verargung jeines vedlichen Willens 
zugezogen habe. Da das Ansbacher Amt ein 
Gutachten über die Perfon des Lords gewünſcht, 
ſchrieb er zurüd, er habe den Herrn Grafen als 
einen feltenen Mann von ausgezeichneten Eigen- 
haften fennen gelernt. Das Gerücht bezeichne 
ihn als ſehr vermöglich, er jelbft behaupte, eine 
jährliche Rente von zwanzigtaufend Pfund Ster- 
ling, alfo dreimaldunderttaufend Gulden, zu ge 
nießen, melches Einkommen ihn übrigens als 
Earl und erblichen Pair von Großbritannien 
noch keineswegs unter die reichen Edelleute feines 
Landes ſetze. „Borausgefebt, daß die Hochlöbliche 
Kuratelbehörde genügende Sicherheit erlangt,“ 
ſchloß ex fein mächtig langes Schreiben, „auch 
ſolche, die über gemifle bedenkliche Konjunkturen 
in England Aufihluß gibt, habe ich als Vor— 

238 


mund gegen die Adoption Caſpar Haufers durch 
Lord Stanhope, ſonderlich in finanzieller Hinficht, 
nichts einzuwenden." 

Ein umftändlihes Verfahren, ein endlofer 
Inſtanzenweg. Stanhope zappelte jhon vor Uns 
geduld und But, Doh ſchienen ungeachtet des 
gfaäftigen Klatſches und der widerftreitenden 

einungen alle Hinderniffe befeitigt, und er job 
Ic Sem von Anfang an mit Inmgiemer Zänigteit eit 

ten Ziele nahe, als plötzlich alles wieder 

— tet wurde. Der Präfident Feuerbach legte 
nämlih fein Veto ein en die Entfernung 
Caſpars aus Nürnberg. — chickte einen Privat- 
boten an den Vürgermeifter Binder und ließ ihn 
wiffen, daß er foeben von feiner Badekur in 
Karlsbad zurücgefommen und was im Werke fei 
als volltommene Neuigfeit vernehme. En unter- 
ſagte jede —F idung, bevor er den ihm ver⸗ 
worren und verdächtig erſcheinenden Fall g 

und die ausjuführenden Schritte gutgeheißen abe. 

Der Bürgermeifter fand fich verbu 
Lord fogleich von der neuen Wendung der one 
in Kenntnis zu fegen. Stanhope empfing und 
las das Briefchen Binders in feinem Hotel gerade 
während man ihn raſierte. Er ftieß den Vader 
beifeite, fprang auf und rannte, noch mit dem 
Seifenſchaum auf feiner ange, heftig erregt 
durch daS Zimmer. Es dauerte geraume Zeit, 
bis er fich feiner Toilettenpflicht wieder erinnerte; 
er zerriß den Zettel, den ihm Binder geidjidt, 
in hundert — Stüde und ſaß dann unter dem 
Rafiermefjer mit einem Geficht jo voll Haß und 
Galle, daß die Hand des erſchrockenen Barbiers 
zu zittern begann und er fich nad vollendeter 
Arbeit eilig aus dem Staube machte. 

234 





Zu fpät bedachte der Graf, daß er ſich ver- 
& en habe; aber wie empfindlich mußte der 
lag fein, der ihn getroffen, wenn dadurch die 
eherne Ruhe und Zurädhaltung eines fo vom 

Zweck Umpanzerten erfchüttert werben konnte! 
Mit fliehender Hand jchrieb er einige Zeilen, 
ſchloß und fiegelte den Brief, ließ den Jäger 
Tommen, gebot ihm, ein Pferd zu fatteln, und 
trug ihm auf, die Botfchaft vor Ablauf von 
hunbvierzig Stunden an Ort und Stelle zu 

bringen, koſt' es, was es wolle. 

er Mann entfernte fi fümoeigenb. & 
Tannte feinen Herrn. Er wußte, daß fein Herr 
fih nicht mit Späßen beſchäftigte, Liebeshändeln 
und Heinen Intrigen. Er kannte dieſes Geficht 

an Seiner Lordichaft, diefe Spannung eines grä 
lichen Entweber- Oder, dieſe Miene eines an- 
ſtrengten Wettläufers, dieſe krampfhafte Seflıng 
3 Hafardfpielers. Man te dergleichen Ritte 
ſchon oft unternommen bei Tag wie bei Nacht; 
man mußte eine verſchwiegene Zunge haben, um 
die unbehaglichen Zutaten ſolcher Obliegenheiten 
vor einer wißbegierigen Welt bergen zu können, 
denn es hatte nicht felten den Anjchein, als ob 
man der Mittler Tichtfcheuer Gefchäfte ſei. Eile 
war jtet3 geboten; man kam auch ſtets zurecht, 
doch jenes „Roft’ e8, was es wolle" war ein 
bißchen aufſchneideriſch man erhielt micht immer 
feinen Lohn, man mußte oft wochenlang warten 
und heimlich nach den Boden hajchen, die von 
der geäflihen Tafel abgetragen wurden; Seine 
Herrlichkeit war eben nicht bei Kaſſa, man er- 
wartete Gelder aus England oder aus Frankreich 
ober man wurde fogar um Geld zu irgendeinem 
vornehmen Herrn geſchickt, und es war auffallend, 
235 


daß dem gräflichen Verlangen häufig nicht eben 
dienfteifrig Begegnet wurde, der vornehme Herr 
ließ in feiner Sprache eher etwas von Gering- 
jhäsung als von Ehrfurcht gegen die Perfon 

Lords merken. 

Woran hing das alles? Wohin liefen die 
Fäden, die diejes über den Pöbel erhobene Schick- 
fal an die gemeine Notdurft Enüpften? Der 
edle Abkömmling eines edeln Gejchlechts, feine 
Tage in einer erbärmlichen Spelunte friftend, 
einer der ftolgejten Namen eines ſtolzen Reiches 
abhängig von der ſchmierigen Freundlichkeit eines 
Gajtwirts, verdammt, feines Lebens Mark und 
Kern mit eignen Füßen in den Schlamm zu treten, 
das ftrenge Gedächtnis unantajtbarer Ahnen preis- 
zugeben, wofür? Woran hing das alles? 

Jede gegenwärtige Stunde mar eine Ruine 
der Vergangenheit, jeder Tag die Trümmerftätte 
eines goldenen Ehemals; ehemals, da der Name 
Stanhope in den Hauptitädten Europas noch jene 
Rolle gejpielt, die feinem Träger felbft nur noch 
wie eine Sage erfchien, als der jugendliche Lord 
das Entzücden der Salons von Paris und Wien 
gemefen mar, als er reich geweſen und den 

eichtum benußt hatte, um jeine maßlofe Jugend 
damit zu fättigen und der Welt feiner Standes» 
genofien das Schauſpiel einer Verſchwendung 
ohnegleichen zu geben. Seine Feſte und Gaſi— 
mähler waren berühmt geweſen. Er war von 
Land zu Land gereiſt mit einem Hofſtaat von 
Köchen, Sekretären, Kammerdienern, Handwerkern 
und Spaßmachern. Er hatte bei einer Pergola 
in Madrid für fünfundzwanzigtaufend Livres 
Blumen an die Frauen verteilen laſſen. Er hatte 
während des Wiener Kongrefjes die Könige und 


236 


Fürſten bemirtet, Wettrennen veranjtaltet, die 
allein ein Vermögen verfchlangen, und Oratorien 
-und Opern für eigne Rechnung aufführen laſſen. 
Seine luxuriöſen Saunen hielten die Gefellichaft 
in Atem; er beſchenkte feine Freunde mit Villen 
und Landgütern und feine Freundinnen mit 
Perlenketten. Er war jahrelang der Timon des 
Kontinent? geweſen, um den ſich eine Armee von 
geilen Schmarogern drängte, die alle ihr Profitchen 
an ihm machten und ihre außfchweifenden Ges 
füfte bei ihm befriedigten. Seine Gutherzigkeit 
und Freigebigleit war ſprichwörtlich gemorden, 
feine Art, mit immer gefüllten Händen Gold um 
fich her zu ſtreuen, achtlos, ob e8 in die Goffe oder 
auf die Teppiche fiel, glich dem Wahnfinn oder 
einer tollen Probe auf die menfchliche Sabgier. 
Dann das Ende: Fallifjement und Selbſt⸗ 
mord eines Bankiers befehleunigten den unauf- 
haltfamen Zuſammenbruch. Es war an einem 
Abend im Palais Bourbon, man hatte hoch ge- 
fpielt, Stanhope verlor viele Taujende, um jo 
bezaubernder wirkte fein unbefangenes Geplauder, 
da3 Feuer und die Anmut feines Geiftes. Der 
Gefandte, Lord Saftterengb, trat zu ihm. und 
machte ihm eine haftige Mitteilung. Man ſah 
ihn erblaffen, ein Lächeln von eigner Schwermut 
gefror auf den feinen Zügen, andern Tags reifte 
er. Er glaubte in der Heimat das zurüd- 
gezogene Leben eines Landedelmannes führen zu 
innen, dies mißlang. Die Güter waren über- 
ſchuldei, von allen Seiten drängten Gläubiger, 
außerdem graute ihm vor der Einfamteit, haßte 
ex die menjchenlofe Natur. Er floh. Der Glanz 
vergangener Zeiten mußte Fegen borgen für ein 
Dajein, das allmählich) von innen ausgehöhlt 
237 


wurde duch die Angft um das nadte Brot. Es 
war ſtill um ihn geworben; feine Wanderzüge 
waren eine Jagd nach den früheren Freunden 
und Genoffen, aber auf einmal gab es feinen 
mehr, der nicht alles vorher gemußt hätte und 
aus ficherer Schanze heraus Verdammnis predi 
In einem römifchen Hotel nahm er, verzwe 
erihöpft, aller Hoffnung bar, Strychnin Um 
junge Sigilianerin pflegte und rettete ihn. Das 
Gift, das feinen Körper verlafien Hatte, fchien 
von feiner Seele Beſitz zu ergreifen. Er rang 
mit dem Dämon, der ihn niedergeftoßen; er 
wurde wild und alt; feine ans Erhabene ftrei- 
fende —I erleichterte ihm, die 
Schwächen ſeiner Umgebung zu benutzen. Er 
Phi fih in den Dienft hoher Herren und 
ſtudierte die ke en Moyfterien ihrer Vor— 
—* und ihrer Hintertreppen. wurde 
iſſär des Papftes und bezahlter Agent Metter- 
nice. Bald war fein Name sehen aus 
der Lifte der Untadeligen und jenen Abenteurern 
zugezählt, die an den Grenzbezirken der Gefell- 
ſchaft eine gefürchtete Korſarenrolle jpielen. Die 
außerordentlichen Talente, die er beſaß, machten 
ihm feine arufgabe Kamenz. der unabläffige Zwang 
zu handeln, die Bielfäl tigkeit der Beziehun; en 
erftiten die Stimmen des Gewiſſens und 
Empfindung dunkler Schmach. Oben geächtet 
und bei aller Nüglichfeit gemieden, war er in 
den Niederungen noch immer der erlauchte Mann; 
er wurde ein geübter — und Seelen⸗ 
fänger; was dem Druck des Unglucks entſprungen 
mar, wurde Metier; das unwi ———— ſanfte 
Lächeln: Metier; die edeln Manieren, das ritter 
liche Betragen, die gewinnende Konverfation, die 


288 


treffliche Bildung: alles Metier; jedes Zucken der 
Wimpern, jede Verbeugung war Geichäft; alles 
hatte Folgen, alles Urfache, ein nase ſiges Wort 
konnte das Mißlingen einer Atujgabe edeuten — 
und doch, wie entbehrungsvoll war ein folches 
Dafein, wie jämmerlich der Lohn! Und wie ging 
es bei alldem langſam bergab, ins Kleine hinein, 
als ob die Kette, an der er z0g, von felber und 
ohne daß fie fich lockerte, Glied um Glied abſetzte, 
um ihn in den Abgrund zu zerren. 

Eines Tages hieß die Kriegsloſung Caſpar 
jaufer. Der Auftrag war deutlich, feine Duelle 
lar, die Umftände finfter wie nicht8 zuvor. Man 

fagte: Du bift der rechte Mann, das Unter 

men iſt fchwer, aber Einträglich, es fcheint 
von geringer jedeutung, doch Ungeheures jteht 
auf dem Spiel. Die Verhandlungen wurden 
nicht von Geſicht zu Geficht geführt, alles war 
hinter Vorhängen verjteckt, jeder Mittler trug das 
Wort eine namenlojen bieterd. Das Ger 
penfterteeiben reiste die Phantafte, der Abgrund 

egarın zu leuchten. Das Ausipinnen des Plans 

hatte etwas von Wolluft; der jeltene Vogel mußte 
meifterlich bejchlichen werden. 

Sa, der Auftrag war deutlich, er hatte Hand 
und Fuß. Du haft den Findling aus dem Be— 
reich zu entfernen, in welchem er anfängt für uns 
gefährlich zu werden, lautete die Weifung; nimm 
ihn zu dir, nimm ihn mit in ein Land, wo nie 
mand von ihm weiß; laß ihn verſchwinden, 
ſtürze ihn ins Meer oder wirf ihn in eine 
Schlucht oder miete das Mefjer eines Bravo oder 
laß ihn unbeilbar krank werden, wenn du dich 
auf Quackſalberei verftehft, aber verrichte daS Werk 
gründlich, fonft ift ung nicht gedient. Unfers Dankes 

239 


bijt du ven rt; wir notieren unjern Dan mit 
der und der Summe bei Srael Blauftein in &. 
Was war zu überlegen? Alle Not Tonnte zu 
Ende jein. Jedes Bo machte ſchon mit- 
ſchuldig; den untätigen Wiffer zu befeitigen war 
Bi jene ein Zwang. Es gab feine Wahl. Der 
jeginn des Unternehmens lag weit zuräd; ſchon 
damals, mo man den Mordgejellen in Daumers 
Haus geſchickt, Hatte Stanhope Befehl, einzu- 
greifen, falls der Anfchlag, an dem er felber 
unbeteiligt war, ie gelingen follte. Die Roheit 
und Vermorfenbei er angewandten Mittel 
ſchreckten ihn, Geleiigten feinen guten Geſchmack, 
rüttelten fein beſſeres Wefen auf. Er floh, er 
verbarg ſich. Das Elend und drohender Hunger 
lockten ihn wieder ins Garn, und fo machte er 
fi auf „aus weiter Ferne", um fein Opfer zu 
betören. 
Doch wie fonderbar war ſchon das erfte Ber 
garen und Zufammenfein! Welch eine Stimme! 
Welch ein Auge! Was erjchütterte den Der- 
derber und riß ihn hin? Er wurde betört, er! 
Diefer Vogel verjtand auch zu fingen, das hatte 
der Nebefnüpfer nicht bedacht. Auf einmal fah 
er fich geliebt. Nicht wie Frauen lieben, das 
hatte er erfahren, das kann gewürdigt und auch 
vergefien werben, es liegt im Fluß der Dinge 
begründet, Zufall und Trieb haben een An- 
daran; au nicht wie Männer lieben oder 
Eltern oder Geſchwiſter oder wie ein Kind liebt; 
Geſetz und Aneignung, Not und Wille binden die 
Kreatur an ihresgleichen; doch im tiefften Grund 
ruht Wetteifer, Kampf und Feindichaft. Dies aber 
war ander, ungeahnt und wunderfam rührte die 
Schönheit einer Seele an das ummauerte Herz. 
240 





Es gibt eine Sage, die von einem Land et- 
zählt, wo nicht Tau noch Regen fiel, daher ent 
ftand Trodenheit und Wafjermangel, weil nur 
ein einziger Brunnen war, ber Waſſer erſt in 
großer Tiefe enthielt; wie nun die Leute zu ver- 
ſchmachten anfingen, da kam ein Jüngling zu 
dem Brunnen, der die Zither fpielte und feinem 
Inſtrument jo füße Melodien entlockte, daß das 
Waffer bis zur Mündung des Brunnens herauf- 
ftieg und im Ueberfluß dahinſtrömte. 

So wie dem Brunnen erging e3 dem Lord, 
wenn der Jüngling Caſpar bei ihm weilte und 
die füßen Melodien feines Weſens fpielte. Sein 
Geiſt ftieg aus der Tiefe, ein jammernder Blick 
flog rückwärts, Scham entzündete das bebende 
Gemüt, Teicht fchien e8 daS Uebel ungefchehen zu 
machen, er fand fich jelbft wieder, e3 ſtrahlte 
ihm aus diefem Antliß das Bild der eignen noch 
unbeflecten Jugend entgegen, und fo, wie er 
hätte fein können, wenn das Schickſal nicht fein 
Edelſtes zermalmt hätte, jo ſah er fich genommen, 

eglaubt und verherrlicht. Und jo wahr, fo reich, 
0 grundlos ſchenkend, daß der verruchtefte Geig- 
als und Böſewicht feine Truhe nach Koftbar- 
eiten durchwühlt hätte, nur um fich der Dual 
der Verfhuldung zu entledigen. 

Aber er gab — nichts. Er konnte fich nicht 
felber geben, denn feine Perſon war zum voraus 
verfehrieben, fein Leben mar von denen bezahlt, 
denen er diente, bezahlt fein Tag und feine Nacht, 
bezahlt feine Reue, fein Unfrieden, fein ſchlechtes 
Gewiſſen. Er führte eine Tat im Schilde, die 
jede Salte feines Gefichts mit Lüge bemalte, aber 
bisweilen dachte er in Wirklichkeit daran, mit 
Caſpar zu fliehen. Doch wohin? Wo gab es 

Baffermann, Gafpar Baufer 16 241 


eine Ruheſtatt für den Geächteten eines Erdteils? 
Ad, wenn er die ftillen Stunden mit Gafpar 
verbrachte und dieſes Antlitz ihm zugeneigt war, 
in dem der reine Glanz des Menfchen wohnte, 
da fühlte er, daß auch er noch ein Menſch war, 
und er konnte in umermeßlicher Wehmut vor fich 
bintrauern. Dann vergaß er Zweck und Sen- 
dung und rächte ſich an jenen, deren fchuldiges 
Opfer er war, indem er hinwarf, was er von 
ihren Geheimnifien wußte, und doppelten Verrat 
b ing Er erfüllte Caſpar mit Erwartungen 
auf acht und Größe, das war feine Gegengabe, 
das Geſchenk des Geizhalſes. Ein Glüd, daß 
der Zauber an Kraft verlor, wenn er von dem 
Süngling entfernt war und er nicht mehr jenen 
fragenden Blick auf fich laſten fühlte, bei bem 
ihm zumute war, als jei ein Gejandter Gottes 
neben ihn hingeſtellt. Inmitten der finftern 
Ueberlegung und im erfolg der furchtbaren 
Pläne jchrieb er gleichwohl kurze leidenfchaftliche 
Briefhen an den Umgarnten, wie dies: „In der 
erften Woche, da ich dich kennen lernte, 3 ih 
mic, deinen Vaſall; ſollieſt du je für eine Frau 
dasjelbe fühlen, was du fir mich empfindeft, fo 
bin ich verloren." Oder: „Wenn du einmal 
Kälte an mir bemerfft, fo fchreibe es nicht einer 
Herzlofigkeit zu, jondern nimm e3 für den Aus- 
drud jenes Schmerzes, den ich bis ans Grab in 
mic verchließen muß; meine Ver: es iſt 
ein Kirchhof, als ich dich fand, hatte ich Gott 

ſchon halb verloren, du mwarft der Glöckner, der 

mir die Emigfeit einläutete." Es waren Wen- 

dungen im Gejgmad der Beit, beeinflußt durch 

Modepoeten, aber fie befundeten doch die Ratlofig- 

keit eines bis ins Innerſte verworrenen Gemüts. 


242 





So hin- und hergeriffen, hemmte er felbft den 
Gang feiner Unternefmung. Ex ließ gejchehen, 
was geſchah, und unterlag dem Anprall der Er— 
eignifje, denn fie waren mächtiger als feine Ent ⸗ 
ſchlüffe. Er wußte, daß er fein ſchändliches Werk 
enden würde und enden müſſe, aber er zauderte, 
und dies Zaudern gab ihm Zeit, fein Geſchick zu 
beflagen. Er verfuchte fich eine Ausrede vor 
dem Himmel zu fchaffen, indem er betete, und 
vor dem Richter in fich jelbft, indem er aus 
feinem Dafein ein Fatum machte. Den an Genuß 
und Wohlleben hängenden Geift bejchwichtigte er 
duch den Sophismus, daß die Notwendigleit 
ſtärker ſei als Liebe und Erbarmen, und das klare 

ild des Endes eskamotierte er hinweg mit einem 
billigen: es wird ge jo ſchlimm nicht werben! 
ide jen wurde auch nad) der haftigen Ab⸗ 
jendung des jers die Unficherheit feiner Lage 
immer größer, die Koften des AufenthaltS wuchſen 
beftändig, die Kreditbriefe nußten wenig, fie waren 
einftweilen nur ein Aushängeihild, die Ber 
drängnis zwang ihn zu Taten, und er faßte den 
Entſchluß, nach Ansbach zu reifen und mit dem 
Peäfdenten Feuerbach perjönlich zu unterhandeln, 
in einem Samdtag zu Ende November gebot 
er, eilends den Reiſewagen injtand zu ſetzen, 
und ſchickte eine Nachricht ind Tucherſche Haus, 
daß Caſpar fogleich zu ihm Tommen möge. Er 
aber begab fich, nachdem er Auftrag erteilt, 
Caſpar bis zu feiner Wiederkehr zurüdzuhalten, 
auf einem Weg, wo er dem Gerufenen nicht zu 
begegnen fürchten mußte, felbft dorthin, Ließ ſich 
in Cajpars Zimmer führen, ‚gab vor, auf ihn 
warten zu wollen, und als er allein war, durch 
ftöberte er in gehegter Eile alle Schubläden, 
243 


Bücher und Hefte des Jünglings, um einen vor 
Wochen von ihm felbjt an Cajpar gefchriebenen 
Brief zu finden, in welchem ihm höchſt unbedachte, 
auf die Zukunft Caſpars bezügliche Bemerkungen 
entjchlüpft waren und den er um jeden Preis 
aus der Welt jchaffen wollte, denn ſchon hatte 
man ihn gewarnt, fehon hatten die Finfteren 
hinter dem Vorhang gedroht. 

Sein Suchen war vergeblich. 

Da öffnete ſich auf einmal die Tür, und Herr 
von Tucher ftand auf der Schwelle. In jeinem 
ängftlichen: Eifer hatte der Lord die nahenden 
Shhritte überhört. Herr von Tucher jah mächtig 
groß aus, da fein Scheitel den oberen Pfoften der 
Türe berührte; in feiner Haltung lag ein ſchmerzliches 
Erftaunen, und nad} einem langen Schweigen fagte 
ex mit heiferer Stimme: „Herr Graf! Das find 
doch nicht etwa die Gejchäfte eines Spions?" 

Stanhope zudtezufammen. „Einen Anwurf ſol⸗ 
her Art erlauben Sie mir wohl mit Schweigen zu 
übergehen," enigegnete ex mit gelafjenem Hochmut. 

„Aber was joll das,“ fuhr Herr von Tucher fort, 
„wie foll ich den Augenjchein deuten? Mir ahnt, 
Herr Graf, eine innere Stimme verrät e3 mir, 
Br bier nicht alles auf geraden Wegen vor fi 
geht." 

Der Lord geriet in Verwirrung; er preßte 
die eine Hand an die Stirn, und mit flehendem 
Ton fagte er: „Sch bedarf mehr des Mitleid 
und der Nachjficht, als Sie denken, Baron." Er 
309 das Tafchentuh aus der Brufttafche, drückte 
e3 vor die Augen und begann plößlich zu weinen, 
wirkliche, 'unverftellte Tränen. Here von Tucher 
war ſprachlos. Seine erfte Regung war ein düfterer 
Argwohn und der Verdacht, daß alle trüben und 


244 


verftetten Rebereien über Caſpars Schickſal eines 
ernftlichen Grundes doch nicht entbehren mochten. 
M Stanhope, wer n% Fon in Ba Tan 
anne vorging, faßte fi nell und ſagte: 
„Mebmen Sie fich eines ſchwankenden Herzens 
Ih tappe im Dunkeln. Ja, e8 will in 
Bars gebracht fein, ich. zweifle an Cafpar! ch 
vermag ihn nicht loszuſprechen von gemiffen Un; 
aufrichtigleiten und heuchlerifchen Künften . 

„Auch Sie alfo!" Tonnte ſich Herr von Fer 

nicht en, auszurufen. 
ich fahnde nach Beweiſen.“ 

ie eneie, fuchen Sie in Schubladen und 
Schränken, Herr Graf?" 

„Es handelt ſich um geheime Aufzeichnungen, 
die er mir vorenthielt." 

„Wie? Geheime Aufzeichnungen? Davon ift 
mir nicht das mindefte bekannt.“ 

„Sie find nichtsdeftomeniger vorhanden.“ 
Vielleicht meinen Sie am Ende das Tage 
buch), da3 er vom Präfidenten erhalten hat?" 

Stanhope griff diefen Gedanken, der ihn aus 
der Mai, Situation halbwegs rettete, mit Ver- 
gmägen auf. „Sa, gerade diefes, ohne Frage 

sjelbe,“ beteuerte er raſch, indem er fich zu- 
glei gewiſſer verräterifcher Andeutungen Caſpars 
arüber entjann. 

„Ich weiß nicht, wo er e8 aufbewahrt,“ fagte 
Herr von Tucher; „ih, würde auch Anftand 
nehmen, es Ihnen in feiner Abweſenheit auszu- 
liefern. Im übrigen weiß ich zufällig, daß er 
vor einiger Zeit aus bdemfelben Tagebuch das 
Bildnis des Präfidenten, das fich auf der erften 
Seite befand, herausgefchnitten und das Ihre, 
Herr Graf, an deſſen Stelle gefett hat.” Damit 

245 . 


langte Herr von Tucher nad) einer Mappe, die 
auf dem Schreibpult lag, zog ein darin befind- 
liches Blatt hervor und reichte es Stanhope. Es 
war Feuerbadh Porträt. ° 

Der Lord fah eine Weile darauf nieder, und 
beim Anfchauen diejer jupiterhaften Züge beſchlich 
ihn eine niegefannte Furcht. „Das ift alfo der be- 
rühmte Mann,“ murmelte er; „ich bin im Begriff, 
ihn aufzufuchen, ich erwarte viel von feiner unbejteh- 
lichen Einſicht.“ Doch alles, was er plante, der Weg 
dorthin, der Zwang, dem furchtbaren Blick diejer 
Augen ftandhalten zu follen, verſetzte ihn in eine 
Befangenheit, deren er nicht Herr werben konnte, 

„Erzellenz Feuerbach wird zweifellos entzückt 
fein, Ihre Bekanntſchaft zu machen,” fagte Baron 
Tucher Höflih, und da Stanhope fich anfchicte 
zu gehen, bat er ihn, dem Präſidenten feine vers 
ehrungsvollen Grüße zu übermitteln. 

Zwei Stunden fpäter faufte der Wagen des 
Lords auf der Reichsſtraße dahin. Es war ein 
arger Sturm, in Wellen und Spiralen krümmte 
ſich der Staub empor, der Lord fauerte, in Tücher 
eingehüllt, in der Edle des Gefährts und wandte 
feinen Blick von der herbftlich-trübfeligen Land- 
ſchaft. Doch fein krankhaft Teuchtendes Auge fah 
weder Felder noch Wälder, fondern fchien die 
Ebene nad) verborgenen Gefahren zu durchipähen. 
Das Auge eines Befefjenen oder eines Flücht- 
lings. Als kurz vor dem Städtchen Heilsbronn 
das Gebudel eines Leiermanns hörbar wurde, 
drückte er die Hände gegen die Ohren, wandte fich 
ab und ftöhnte feine zur Einſamkeit verdammte 
Qual in das jeidene Ruhekiſſen des Wagens. 
Danach faß er wieder aufrecht, hart und kalt wie 
Stahl, ein Herenlächeln um bie dünnen Lippen. 
246 


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Geſpräch zwifchen einem, der masfiert 
bleibt, und einem, der fich enthüllt 


Es regnete in Strömen, al3 die Kalefche des 
Lords am fpäten Abend über den Ansbacher 
Schloßplatz donnerte. Dazu ſcheuten die Pferde 
plöglich vor einem über den Weg trottenden 
Hund, und der elſäſſiſche Kutfcher fluchte in 
jeinem greulichen Dialekt jo laut, daß fich hinter 

en dunkeln Senfterquadraten ein paar meiße 
Bipfelmügen zeigten. Die Zimmer im Gafthof 
zum Stern waren vorausgemietet, der Wirt tän- 
zelte mit einem Parapluie vor3 Tor und begrüßte 
den Fremdling mit unzähligen tiefen Komplimenten 
und Krabfüßen. 

Stanhope ſchritt an ihm vorüber zur Treppe, 
da trat ihm ein Herr in der Uniform eines 
Gendarmerieoffiziers entgegen, fehr eilfertig, mit 
regentriefendem Mantel und ftellte fih ihm als 
Polizeileutnant Hickel vor, der die Ehre gehabt 
babe, Seiner Lordſchaft vor einigen Wochen beim 
Nittmeifter Wefjenig in Nürnberg flüchtig, „leider 
allzu flüchtig“, begegnet zu fein. Er nehme fich die 
Freiheit, dem Herrn Grafen feine Dienfte in_der 
unbetannten Stadt anzubieten, und bitte um Ver⸗ 
gebung für die einem Ueberfall ähnliche Störung, 
aber es fei zu vermuten, daß Seine richt 
wenig Beit und vielerlei Geſchäfte habe, darum wolle 
ex nicht verfäumen, in erfter Stunde nachzufragen. 

Stanhope ſchaute den Mann verwundert und 
ziemlich von oben herab an. Er fah ein frifches, 
volles Geficht mit eigentümlich kecken und dabei 
zärtlich ergebenen Augen. Unwillkürlich zurüd- 
tretend, hatte Stanhope das Gefühl, daß hier 
248 


einer feine ganze Perfon als Werkzeug antrug, 
gleichviel zu welchen Zwecken; nichts Neues war 
ihm der begehrlich ftreberiiche Glanz jolcher 
Blicke, ſchon glaubte er feinen Mann in» und 
auswendig zu fennen. Aber moher mußte der 
Dienftbeflifjene davon? Wer hatte ihn auf die 
Fährte gebracht? Eine feine Nafe war ihm 
jedenfalls zuzutvauen. Der Lord dankte ihm kurz 
und erbat fi für eine beftimmte Stunde feinen 
Beſuch, worauf der Polizeileutnant militäriſch 
grüßte und ebenfo eilig, wie er gelommen war, 
wieder in den Regen hinausrannte. 

Stanhope bewohnte den ganzen erften Stock 
und ließ fogleich in allen Zimmern Kerzen aufs 
ftellen, da ihm unbeleuchtete Räume verhaßt 
maren; während der Rammerbiener ben Tee bes 
reitete, nahm er ein in Saffian gebundenes An- 
dachtsbüchlein aus der — und begann 
darin zu leſen. Oder wenigſtens hatte es den 
Anſchein, als leſe er, in Wirklichkeit dachte er 
hundert zerſtreute Gebanfen, die Ruhe des Tleinen 
Landftäbtchens war ihm unheimlicher als Kirch⸗ 
bofsftille. Nach dem Imbiß ließ er den Wirt 
rufen, befragte ihn über die und jenes, über die 
Verhältniffe im Ort, über den anfäffigen Adel 
“und die Beamtenfchaft. Der Wirt zeigte fich den 
neuen Läuften gründlich überlegen. Er hatte 
noch die felige Marfgrafenzeit erlebt, und mit - 
dem Tag, wo Höfling und Hofdame aus ihren 
ziervollen Rokofopaläftchen die Flucht vor dem 
heranfaufenden Kriegsiturm iffen hatten, war 
es aus mit dem Glanz der Welt; ein ftinkendes 
Rattenneft war fie geworden, ein Aktentrödelmarkt 
mit dem hochtrabenden Namen Appellationsfenat, 
eine Tintenhöhle, ein Paragraphenloch. 

249 


Damals, ach, damals! Wie verftand man zu 
ſchäkern, wie heiter war das Treiben, man fpielte, 
man parlierte, man tanzte — und der dide Mann 
fing vor den Augen bed Lords an, einige gravi⸗ 
tätijche Menuettpofen und Pas de deur zu 
illuftrieren, wozu er eine_verjchollene Melodie 
teällerte und mit zwei Fingern jeder Hand 
ſchelmiſch die Rodichöße hob. 

Der Lord blieb volltommen ernfthaft. Er fragte 
auch beiläufig, ob Herr von Feuerbach in der 
Stabt fei, doch bei diefen Worten zog der Die 
ein fäuerliches Geficht. „Die Erzellenz?" grollte 
er. „Ya, die ift da. Wohler wäre uns, fie 
wär’ nicht da. Wie ein brummiger Kater lauert 
fie und auf und faucht und an, wenn wir ein 
bibchen pfeifen. Er kümmert fi um alles, ob 
die Straßen gefehrt find, ob die Milch vermäffert 
ift; überall iſt er hinterher, aber Galanterie hat 
ex feine im Leib. Nur eines verfteht er gründlich, 
er ift ein ſcharfer Effer, und halten zu Gnaden, 
‚Herr Graf, wenn Sie mit ihm zu tun haben, müfjen 
Sie alles Toben, was auf feinen Tiſch kommt.“ 

Stanhope entließ den Schwäßer huldvoll, 
dann bezeichnete er dem Diener bie Kleider, die 
für morgen inftand zu ſetzen feien, und begab fih , 
zur Ruhe. Am andern Morgen erhob er ſich 
ſpät, ſchickte den Lakaien in die Wohnung Feuer- 
bachs und ließ um eine Unterredung bitten. Der 
Mann kam mit der Botfchaft zurüd, der Herr 
Staatsrat könne heute und wohl auch in den 
nächſten Tagen nicht empfangen, er erfuche Seine 
Lordſchaft, ihm das Anliegen ſchriftlich mitzus 
teilen. Stanhope war wütend. Er begriff, daß 
ex ſich überftürzt Habe, und fuhr fogleih zum 
Hofrat Hofmann, der ihm empfohlen war. 

250 


Indeſſen hatte fich die Kunde von feiner An- 
wejenheit verbreitet, und nach weiteren vierund⸗ 
zwanzig Stunden war fchon ein Sagenkranz um 
feine Perſon geflochten. Ein halb Dutzend mit 
Goldguineen gefüllte Säde feien auf dem Reife 
wagen de3 Fremdlings aufgefchnallt gemefen, hieß 
es, und er wolle das Markgrafenſchloß ſamt dem 
Hofgarten kaufen, er führe ein Bett mit Schwanen⸗ 
daunen mit fich und gefticte Wäsche, er ſei ein 
Vetter de3 Königs von England und Cafpar 
Haufer fein leiblicher Sohn. Stanhope, kühl bis 
in die Nieren, fah ſich als Mittelpunkt klein— 
ftädtifchen Schwatzes und war e3 zufrieden. 

Der Hofrat hatte ihm feine Erklärung über 
das Verhalten des Präfidenten zu geben vermocht. 
Um die dienftlichen Schritte zu beraten, fuchten 
fie den Archipdirektor Wurm auf, der bei Feuer⸗ 
bach großes Vertrauen genoß. Stanhope ſpürte, 
daß man nur mit feheuer Vorficht an die Sache 
ging; die amt3fälfigen Herren konnten fich feines 
freien Berhältnifjes zu einem Manne rühmen, 
deffen Hand wie Eifenlaft auf ihnen ruhte. 

- Am Abend folgte Stanhope der Einladung 
in einen Familienkreis. Als er hier die Nede 
auf den Präfidenten brachte, wurde eine Reihe 
von Anekdoten erzählt, die teils lächerlich, teils 

bigzarr Hangen, oder man berichtete, wie um den 
Mangel an Liebe und echtem Sichbeſcheiden 
durch Umftände zu verdedfen, welche da3 Mitleid 
bherausforderten, von dem Unglück, welches Feuer- 
bad) an zweien feiner Söhne erlebe, von einer 
zerrütteten Ehe, von der menfchenhaffenden Ein- 
famkeit, in welcher der Alte haufte, und in der 
man doch wieder etwas wie eine dunkle Ver— 
ſchuldung fehen wollte. „Ex ift ein Fanatiker,“ 
21 


ließ ſich ein kahlköpfiger Kanzleivorftand ver- 
nehmen, „er würde, wie Horatius, feine eignen 
Kinder dem Henkersknecht ausliefern.“ 

„Er vergibt niemals einem Feind," fagte ein 
andrer klagend, „und dies bemeift feine chriftliche 
Gefinnung.” 

„Das alles wäre nicht jo fchlimm, wenn er 
nicht in jedem Menfchen eine Art von Uebeltäter 
jehen würde," meinte die Dame des Haufes, 
„und bei jeder Harmlofigfeit ge das ganze 
Strafgefeb aufmarjchieren Tieße, Neulich gin 
ich um die Dämmerung mit meiner Tochter aut 
der Triedorfer Straße fpazieren, und wir waren 
unbedadhtfam genug, ein paar Nepfel von den 
Bäumen zu pflüden ; auf einmal fteht die Exzellenz 
vor uns, jchwingt den Stod in der Luft und 
ſchreit mit einer, fürchterlich krähenden Stimme: 
Oho, meine Gnädige, das ift Diebitahl am Ge- 
meindegut! Nun bitt’ ich einen Menfchen, Dieb- 
ftahl! Was foll_ denn das heißen?“ 

„Du mußt aber auch jagen, Mama," fügte 
die Tochter hinzu, „daß er babei ganz pfiffig 

efhmungelt hat und fi) kaum das Lachen ver- 
beißen konnte, als wir, vor Schrecken zitternd, 
die Aepfel in den Graben warfen." 

Der bloße Name des Mannes glich einem 
Steinblod im Strom, vor dem das Saffer ftaut 
und aufprallt. Stanhope machte fein Hehl aus 
feiner Bewunderung für den Präfidenten. Er 
zitierte Stellen aus feinen Schriften, ſchien felbft 
die trodenften juriftiichen Abhandlungen zu Fennen 
und prie3 bie von Feuerbach Bungee Ab- 
ſchaffung der Folter als eine Tat, die über die 
Jahrhunderte leuchten würde. Es war ein Mittel 
zu blenden, wie irgendein andres. 


252 


Auf allen Gafjen, in allen Salons gab es 
alsbald nur einen einzigen © — *— und 
das war Lord Stanhope. Lord Stanhope, der 
eld und die Zuflucht der umfchulkig Derjolgten, 
ord Stanhope, der Gipfel der Eleganz, Lord 
Stanhope, der Freigeift, Lord Stanhope, der 
Siebting des Glüds und der Mode, Lord Stans 
bope, er Melancholifche, und Lord Stanhope, 
er Strengreligiöfe. So viel Tage, jo viel Ge 
ſichter; heute ift Lord Stanhope Talt, morgen ift 
ex leidenihaftlich; zeigt er fich hier heiter und 
ungebunden, dort wird er Sieffinnig und würde⸗ 
vol fein; Gelehrſamkeit und leichte Tändelei, die 
Stimme des Gemüts und fittliche Forderung: 
es fommt nur auf das Negifter an, das ber 
geſchickte Orgelſpieler braucht. Wie intereffant 
I Aberglauben, wenn er in einem Birkel bei 

au von Smhefi feine Furcht vor Gefpenftern be 
fennt und jchildert, daß er dabei geweſen, wie 
ein Landsmann in den Krater des Bejun zur Hölle 
gefahren fei; wie entzückend die Ironie, mit der 
ex bei andrer Gelegenheit gottlofe Gebichte von 
Byron zu vezitieren verfteht. 

Die Elemente mifchen fi), man weiß nicht 
wie. Es ift eine Luft, die Welle zu Schaum zu 
fchlagen und den Kleinen provinzlihen Sumpf 
im vergoldeten Kahn zu durchfahren. - 

Am fünften Tag kam der Jäger zurüd. Er 
brachte erweiterte Vollmachten; Befehle, denen 
Stanhope durch feine Reife nach Ansbach zum 
Teil zuvorgelommen war, aus benen als bes 
merkenswert etwa3 wie Furcht vor den Maß- 
nahmen Feuerbachs auffiel. Es murde ihm ges 
boten, fi dem Präfidenten in jedem Fall zu 
fügen, da Widerftand Verdacht erweckt hätte; 


253 


das Aeußerſte zu verfuchen, aber fich zu fügen 
und neue Minen zu graben, wenn die alten 
wirkungslo8 geworden. Von einem gefährlichen 
Dokument war die Rede, das einftweilen beifeite- 
gebracht oder unfchädlich gemacht werden müffe, 
von deſſen Inhalt aber jedenfalls Abſchrift zu 
nehmen ſei. 

Das überreichte Schreiben follte im Beifein 
de3 Jägers zerrifjen und verbrannt werden. Dies 
geihah. Vor allem brachte der Burſche Geld, 
herrliches bares Geld. Stanhope atmete auf. 

Am nächiten Abend Iud er einige der vor- 
nehmften Familien der Stadt zu einem gefelligen 
Beifammenfein in die Räume des Kafinog. Man 
raunte fich zu, daß er die Speifen nach befon- 
deren Rezepten habe bereiten lafjen und die 
Mufikpiecen mit dem Kapellmeifter felbft durch- 
probiert habe. Bor Beginn des Tanzes erhielt 
jede Dame ein ebenfo finniges wie koſtbares An« 
gebinde: ein Kleines Schildchen von Gold, auf 
welchem in emaillierter Schrift die Devife ftand: 
„Dieu et le cour.“ Danach nahm der Lord 
jein Glas und forderte die Anweſenden auf, mit 
ihm das Wohl eines Menſchen auszubringen, 
der ihm ſo teuer fei, daß er den Namen vor fo 
vielen Ohren gar nicht auszufprechen mage, 
müßten doch alle, wen er meine: jenes wunder- 
bare Geſchöpf, vom Schickſal wie auf eine Warte 
der Zeit hingeftellt: Dieu et le cour, die gelte 
ihm, dem Mutterlofen, deſſen die Mütter gedenken 
möchten, welche Kinder geboren, und die Jung- 
frauen, die fi der Liebe weihten. 

Man war gerührt; man war außerordentlich 
gerührt. Ein paar weiße Tafchentücher flatterten 
in fanften Händen, und eine ergriffene Baß⸗ 
254 


ftimme murrte: „Seltener Mann." Der feltene 

ann, als ob ex feine eigne Bewegung nicht 
ander3 meiftern Tönne, begab’ ſich auf den an- 
ftoßenden Balkon und fchaute finnend auf das 
Bolt, das teils in ehrfürchtig flüfternden Gruppen 
ftand, teils in der Dunkelheit auf und ab pro- 
menierte. Viele auch hatten fi, der Muſik 
laufend, an die gegenüberliegende Mauer ge- 
drängt, und eine ganze Reihe von Gefichtern 
länzte fahl in dem aus den Fenftern flutenden 
ichtichein. 

Da gewahrte Stanhope den Uniformierten, 
der ſich ihm bei feiner Ankunft in der Stadt 
präfentiert. Ex hatte ihn feitdem völlig aus dem 
Gedächtnis verloren, der Mann war zur felt- 
gesten Stunde im Hotel geweſen, doch hatte 

tanhope die Verabredung nicht gehalten, und 
jener hatte nur die Karte zurüctgelaffen. Seht 
ftand er wenige Schritte entfernt unter einem 
Laternenpfahl, und fein Geficht, ſchien auf 
fallend böje. 

Ein Unbehagen überlief den Lord. Er ver- 
beugte fich höflich nach der Richtung, wo der 
Regungslofe fand. Darauf hatte der nur ge- 
wartet; er trat näher, und dicht am Balkon 
ftehend, war fein Geficht etwa in Brufthöhe des 
Grafen. 

„Polizeileutnant Hickel, wenn ich nicht irre," 
jagte Stanhope und reichte ihm die Hand; „ich 
jatte das Unglück, Ihren Beſuch zu verfäumen, 
ich bitte mich zu entjchuldigen." 

Der Polizeileutnant fteahlte vor Ergebenheit 
und heftete den Blick andächtig auf den redenden 
Mund des Grafen. „Schade, verſetzte er, „ich 
hätte fonft gewiß den Vorzug, den heutigen Abend 

255 


in Mylords Gefellfchaft zu verbeingen. Man 
rechnet meine Wenigkeit bier gleichfalls zu den 
oberen Zehntaufend, haha!“ 

Stanhope rückte kaum merklich den Kopf. 
Was für ein unangenehmer Gefelle, dachte er. 

„Waren Eure Herrlichkeit jchon beim Stants- 
tat Feuerbach?" fuhr der Polizeileutnant fort. 
„Ich meine heute. Die Erzellenz war nämlich 
big jeßt ſtarrköpfig, wollte mit Eurer Herrlichkeit 
nur fehriftlich unterhandeln. Es ift mir endlich 
gelungen, den eigenfinnigen Mann andern Sinnes 
zu machen.“ 

AU da3 wurde in der biederften Weife vor« 
ebracht; doch Stanhope zeigte ein befremdetes 
eficht. „Wie das?" fragte er ftodend. 

„Nun ja, ich kann bei dem guten Präftdenten 
manches durchfegen, woran andre ſich umfonft 
die Zähne ausbeißen,“ erwiderte Hickel, ebenfalls 
mit dem_ heiterften und gefälligiten Ausdruck. 
„Sole Hitzköpfe find um den Finger zu wideln, 
wenn man fie zu nehmen verfteht. a, das ift 
luſtig: um den Finger gewickelte Hitzköpfe, haha!" 

Stanhope blieb eiſig. Er empfand einen an 
Ekel grenzenden Widerwillen. Der Polizeileut- 
nant ließ fi) nicht beirren. „Mylord follten 
keinesfalls Tange überlegen," fagte er. „Wenn 
auch die Angelegenheit jetzt nicht gerade fonderlich 
drängt, fo treffen Sie doch den Staatsrat in 
einem Zuftand von Unentihtoffenbeit, dünkt mich, 
der auszunugen iſt. Und was das bedrohliche 
Dokument anbelangt..." Er hielt inne und 
machte eine Paufe. 

Stanhope fühlte, daß er bis in den Hals 
exbleichte. „Das Dokument? Bon welchem Doku 
ment prechen Sie?" murmelte er haftig. 

256 


„Sie werden mich vollftändig verftehen, Herr 
Graf, wenn Sie mir eine halbe Stunde Gehör 
ſchenken wollen,“ antwortete Hidel mit einer 
Untermwürfigfeit, die fich beinahe wie Spott aus- 
nahm. „Was wir uns zu jagen haben, ift nicht 
unwichtig, muß aber keineswegs noch heute gefagt 
— Ich ſtehe zu jeder beliebigen Zeit zur 

gung." . 

Seiner Unruhe trogend, glaubte Stanhope 
Gleichgültigkeit zeigen zu ſollen. Obwohl ein 
Stichwort gefallen war, da3 er nicht überhören 
durfte, verjchanzte er fich Hinter einer vornehmen 
Unnahbarkeit. „Ich werde mich ficherlich an Sie 
wenden, wenn ich Ihrer bedarf, Herr Polizei» 
leutnant," fagte er kurz und wandte fich ftirn- 
ET" A auf die Sven, fä 

ickel biß fich auf die Lippen, fehaute mit 
einiger Verblüffung dem Grafen nach, der durch 
die offene Saaltür verſchwunden war, und ging 
dann leife pfeifend über die Straße. Plößli— 
drehte er ſich um, verbeugte ſich höhniſch und 
fagte mit gefchraubter Verbindlichkeit, wie wenn 
Stanhope noch vor ihm ftünde: „Der Herr Graf 
find im Sertum; auch bei dero Gnaden wird 
mit Waſſer gekocht." 

Als Stanhope wieder unter feine Gäfte ges 
treten war, 30g er den Generalfommiffär von 
Stichaner ins Geſpräch. Im Verlauf der Unter- 
haltung äußerte er, er habe ſich entichloffen, dem 
Präfidenten morgen feinen Beſuch zu machen; 
wenn Feuerbach auch dann bei feinem wunder⸗ 
lichen Starrfinn verbleibe, werde er es als vor- 
fäßlichen Affront auffaffen und abreifen. 

Er fagte das mit fo lauter Stimme, daß 
einige danebenftehende Herren und Damen es 

Baffermann, Gafpar Haufer 17 257 


gm mußten; unter biefen befand fih auch 

au von mög, die mit Feuerbach jehr be 

feeunbet war. An fie hatte fich der Lord offen- 
ar wenden wollen. Frau von Imhoff war auf- 
merkſam geworden, fie blickte herüber und fagte 
etwas verwundert: „Wenn ich mich nicht täufche, 
Mylord, jo hat Erzellenz ja Ihnen einen Beſuch 
abgeftattet. Ich traf ihn fpät nachmittags in 
feinem Garten, al3 er eben im Begriff war, 
zum ‚Stern‘ zu gehen. Sie waren wohl nicht 
zu Haufe?“ 

B Ich verließ mein Hotel um acht Uhr,“ ant- 
wortete Stanhope. 

Eine Stunde fpäter ſchickten fich viele zum 
Aufbruh an. Der Lord erbot fi, Frau von 
Imboff, deren Gatte verreift war, in feinem 
Wagen nach Haufe zu bringen. Da fte der Weg 
vorüberführte, ließ Stanhope beim „Stern" halten 
und erkundigte Ir ob in feiner Abmwefenheit 
jemand vorgefprochen habe. In der Tat hatte 
Feuerbach feine Karte abgegeben. 

Am andern Vormittag um elf Uhr hielt die 
geäfihe Karoſſe in der Heiligenkreuggaffe vor 
em Tor des Feuerbachſchen Gartens. Mit 
ariftofratifch gebundenen Schritten, die gertenhaft 
biegfame Geftalt unnahahmlich geſtreckt, näherte 
fih Stanhope dem Iandhausähnlichen Gebäude, 
indem er gun die Mitte der kahlen Baumallee 
einhielt. Sein Anzug befundete peinliche Sorg- 
falt; in dem Knopfloch des braunen Gehrods 
glühte ein rotes Ordensbändchen, die Krawatte 
war durch eine Diamantjchließe gehalten und mie 
ein geiftiger Schmuck umfpielte ein müdes Lächeln 
die glattrafierten Lippen. Als er ungefähr zwei 
Drittel des Wegs zurückgelegt hatte, hörte er 
258 


eine brüllende Stimme aus dem Haus, zugleich 
rannte eine Kate vor ihm fiber den Kies. Ein 
55 je3 Omen, dachte er, verfärbte fich, blieb ftehen 
ſchaute unwillkürlich zurüd. Es war fo 
"neblig, daß er feinen Wagen nicht mehr jah. 

Er 309 die Glode am Tor und wartete ge 
vaume Weile, ohne daß geöffnet wurde. Indes 
dauerte das Gefchrei drinnen fort, e8 war eine 
Männerftimme in Tönen wilder Wut. Stanhope 
drückte endlich auf die Klinke, fand den Eingan, 
unverfperrt und betrat den Flur. Er ſah niemani 
und trug Bedenken, weiterzugeben. Plötzlich 
wurde eine Tür aufgeriffen, ein Frauenzimmer 
ftürgte heraus, anjcheinend eine Magd, und binter- 
her eine gedrungene Geftalt mit en 
Schädel, in welcher Stanhope fofort den Präfi- 
denten erkannte, Doch erfchrat er dermaßen vor 
dem zornverzerrten Geficht, den gefträubten Haaren 
und ‚der ducchdringenden Stimme, daß er wie 
angemwurzelt ftehen blieb. 

Was hatte I ereignet? War ein Unheil 
paffiert? Ein Verbrechen zu Tag jefommen ? 
Nichts von alledem, Bloß ein ftintender Qualm 
30g durch den Korribor, weil ein Topf mit Milch 
in der Küche übergelaufen war. Die Frauens- 
perfon hatte fich beim Wafjerholen verſchwatzt, 
und da war es benn ein gar würdelofer Anblick, 
den alten Berferker zu fehen, mie er mit den 
Armen fuchtelte und bei jeder jammernden Wider: 
rede der Gefcholtenen von neuem rafte, die Zähne 
fletfchte, mit den Füßen ftampfte und ſich vor 
Bosheit überfchrie. 

Ein komisches Männlein, dachte Stanhope 
voll Verachtung; und vor biejem Heinen Provinz: 
tyrannen und Polizeiphiliſter habe ich gebebt! 

259 


Sich vornehm räufpernd, fchritt er die drei 
Stufen empor, die ihn noch von dem Lächerlichen 
Kriegsſchauplatz trennten, da wandte fich Feuer- 
bach blißfchnell um. Der Lord vernieigte fich tief, 
nannte feinen Namen und bat nachjichtig lächelnd 
um Entſchuldigung, wenn er ftöre. 

Schnelle Nöte überflog das Geficht Feuer- 
bachs. Er warf einen feiner jähen, fait ftechen- 
den Blicke auf den Grafen, dann zudte es um 
Nafe und Mund, und auf einmal brach er in 
ein Gelächter aus, in welchem Beſchämung, 
Selbftironie und irgendeine gemütliche Verficherung 
lag, kurz, es hatte einen befreienden, wohltuenden 
und überlegenen Klang. 

Mit einer Handbewegung forderte er den 
Gaft zum Eintreten auf; fie famen in ein großes 
mohlerhaltenes Zimmer, das bis in jeden Winkel 
von auferordentlicher Alkurateſſe zeugte. Feuer⸗ 
bad; begann ſogleich über fein bisheriges Ver— 
halten gegen den Lord zu fprechen, und ohne 
Gründe anzuführen, fagte er, die Notwendigkeit, 
die ihn beftimmt, fei Härter als die geſellſchaft⸗ 
liche ke Doch habe er eingefehen, daß er 
einen Mann von jolchem Rang und Anſehen nicht 
verlegen könne, zumal ihm fchägenswerte Freunde 
fo viel Anziehendes berichtet hätten, deshalb habe 
ex Seine Lordſchaft geftern aufgefuct. 

Stanhope verbeugte ſich abermals, bebauerte, 
daß er Seiner Erzellenz nicht habe aufwarten 
können, und fügte befcheiden hinzu, ex muſſe diefe 
Stunde zu den höchften feines Lebens rechnen, 
vergönne fie ihm doch die Bekanntſchaft eines 
Mannes, defjen Ruf und Ruhm einzig und über 
die Grenzen der Sprache wie der Nation hinaus- 
gedrungen fei. 

260 


Bon neuem der jähe, feharfe Blick des Präfi- 
denten, ein fehamhaft fatirifches Schmunzeln in 
dem verwitterten Geficht und dahinter, fait rüh- 
rend, ein Strahl naiver Dankbarkeit und Freude. 
Der Lord ſeinerſeits ftellte vollendet einen Mann 
der großen Welt dar, der vielleicht zum erſten⸗ 
mal _befangen ift. 

Sie nahmen Platz, der Präfident durch die 
Gewohnheit de3 Berufs mit dem Rüden gegen 
das Fenſter, um feinen Gaſt im Licht zu haben. 
Er fagte, eine der Urfachen, weshalb er ihn zu 
fprechen verlange, fei ein geftern eingetroffener 
Brief des Herrn von Tucher, worin ıhm diefer 
nahelege, Caſpar zu ſich ind Haus zu nehmen. 
Diefe plögliche Sinnesänderung ſei ihm um fo 
merkwürdiger erſchienen, als er ja wifle, daß 
Herr von Tucher den Abfichten des Grafen ge- 
neigt gemejen; er habe den Faden verloren, die 
ganze Gefchichte jei ihm verſchwommen geworden, 
er habe nun jehen und hören wollen. 

Im Tone größten Befremdens erwiderte 
Stanhope, er könne fich das Vorgehen Herrn von 
Tuchers durchaus nicht erklären. „Man braucht 
den Menjchen nur den Rüden zu ehren und 
fie verwandeln ihr Geficht," fagte er gering 
chatig 
„Das iſt nun fo," verſetzte der Präſident 
teoden. „Ich will übrigens Ihre Erwartung 
nicht hinhalten, Here Graf. Wie ich ſchon dem 
Bürgermeiſter Binder mitteilte, kann e3 auf feinen 
Tal gefchehen, daß Ihnen Caſpar überlaffen 
werde. Ein folches Anfinnen muß ich gänzlich 
und ohne Bedenken abweiſen.“ 

Stanhope ſchwieg. Ein ſchlaffer Unmillen 
malte ſich in ſeinen Bügen, Er blickte unabläffig 

261 


auf die Füße des Präfidenten, und als ob ihn 
dad Sprechen Ueberwindung koſte, fagte er end» 
lich: „Laſſen Sie mich nen, Erzellenz, vor 
Augen führen, daß Caſpars Lage in Nürnberg 
unhaltbar ift. Aufs fonderbarfte angefeindet und 
von feinem unter allen, die fich feine Schüßer 
nennen, verftanden; mit dem Drud einer Dankes⸗ 
ſchuld beladen, die das Schickſal ſelbſt für ihn . 
aufgenommen bat und die er niemals wird be- 
zahlen können, da ihm ja fonjt jeder Tag und 
jedes Erlebnis zu einer mucherifchen Binfenabgabe 
würde und er, ein junger, ein Wachjender, der 
ex ift, fein Dafein für fich verzehren muß, ift er 
waffenlos ausgeſetzt. Zudem will die Stadt, wie 
mir ausdrüdlich verfichert wurde, nur noch bis 
zum nächſten Sommer für ihn jorgen und ihn 
dann einem Handwerfgmeifter in die Lehre geben. 
Das, Erzellenz, dünkt mich ſchade.“ (Hier erhob 
der Lord feine Stimme ein wenig, und fein Ges 
pi mit den niebergefchlagenen Augen erhielt 
en Ausdruck verbiffenen Hochmuts.) „Es dünft 
mich fehade, die feltene Blume in einen von aller 
Welt zerftampften Rafen fegen zu laſſen.“ 

Der eäfbent hatte aufmerkfam zugehört. 
„Gewiß, das alles ift mir bekannt,“ antwortete 
er. „Eine fellene Blume, gewiß. War doch fein 
erſtes Auftreten derart, daß man einen durch ein 
Wunder auf die Erde verlorenen Dürger eines 
andern Planeten zu ſehen vermeinte, oder jenen 
Menſchen des Plato, der, im Unterirdiſchen auf⸗ 
gewachſen, erſt im Alter der Reife auf die Ober: 
welt und zum Licht des Himmels geitiegen ift.“ 

Stanhope nicte. „Meine Hinneigung zu ihm, 
die dem allgemeinen Urteil übertrieben erjchienen 
iſt, entftand mit dem erſten Hörenfagen über feine 
262 


Perfon; fie findet auch in der Gefchichte meines 
Geſchlechts etwas wie. eine ataviftiiche Necht- 
fertigung," fuhr er in fühlem Plauberton fort. 
„Einer meiner Ahnen wurde unter Crommell 
jeächtet und floh in ein Grabgewölbe. Die eigne 
ochter hielt ihn verborgen und nährte ihn, bis 
die Flucht gelang, kümmerlih mit erftohlenen 
Broden. Seitdem weht vielleicht ein menig 
Grabesluft um die Nachgeborenen. ch bin der 
Letzte meine® Stammes, ich bin kinderlos. Nur 
noch ein Traum oder, wenn Sie wollen, eine 
fire Idee bindet mich and Leben.“ 

Feuerbach warf den Kopf zurüd. Die Linie 
feines Mundes zudte in die Länge wie ein Bogen, 

effen Sehne zerriffen iſt. Plötzlich Tag Größe 
in feiner Gebärde. „Eine innere Verantwortung 
hindert mich, Ihnen zu willfahren, Herr Graf,” 
jagte er. „Hier fteht fo Ungeheures auf dem 
Spiel, daß jeder Gnadenbemeis und jedes Liebes» 
opfer daneben gar nicht mehr in Frage kommt. 
Hier iſt den in Abgründen Fauernden Dämonen 
des Verbrechens ein Recht zu entreißen und dem 
bangen Auge der Mitwelt, wenn nicht als Trophäe, 
fo doch als Beweis dafür entgegenzuhalten, daß 
es auch dort eine Vergeltung gibt, wo Untaten 
mit dem Purpurmantel bedeckt werden.“ 

Der Lord nickte wieder — doch ganz mechanisch, 
Denn innerlich erftarrte er. Es wurde ihm ſchwül 
vor der elementaren Gewalt, die aus der Bruft 
diefes Mannes zu ihm redete, und die felbft das 
Pathos verzehrte, das ihm anfangs unbehaglich 
war und ihn ironisch gejtimmt hatte. Er fühlte, 
daß gegen dieſen Willen zu kämpfen, der fich wie 
Unwetter verfündigte, ein Being Mühen 
fein würde, und wenn es ein Beſchluß über ihm 


263 


mar, durch den er in das Labyrinth lichtſcheuer 
Verrichtungen mehr geglitten als geichritten war, 
fo fand er fich jet ratlos und ohnmächtig darin, 
und es wurde ihm auf einmal wichtig, einen 
Anſchein von Ehre und Tugend aus dem Chaos 

jeine3 Innern w vetten. Er beugte fi) vor und 

agte ſanft: „ Und iſt das Recht, das Sie jenen 
entreißen wollen, die Leiden deſſen wert, dem es 
zukommt ? 

„Ja! Auch dann, wenn er daran verbluten 
müßte!“ 

„Und wenn er verblutet, ohne daß Sie Ihr 
‚Biel erreichen?“ 

„Dann wird aus feinem Grab die Sühne 
wachen." 

Ich ermahne Sie zur Vorficht, Exzellenz, 
um Shretwillen,” flüfterte Stanhope, indem fein 
Blick langſam von den Fenftern zur Tür wanderte. 

Feuerbach ſah überrafht aus. Es war etwas 
Verräterifches in diefer Wendung, in irgendeinem 
Sinn verräterifch. Aber die blauen Augen des 
Lords ftrahlten durchfichtig wie Saphire, und 
eine frauenhafte Trauer lag in der Neigung des 
{malen Hauptes. Der —2 In ich 
bingegogen zu dem Manne, und unwillkürlich 
nahmen feine Worte einen milden, ja_faft lieb⸗ 
reichen Klang an, al3 er fagte: „Auch Sie? 
Auch Sie fprechen von Borfiht? Meine Sprache 
ſcheint Ihnen fühn; fie ift es. Ich bin es fatt, 
auf einem Schiff zu dienen, das durch. die Ver- 
blendung feiner Offiziere in den jchmählichen 
Untergang rennt. Aber ich könnte mir denken, 
daß e8 einem Bürger des freien England un— 
begreiflich ift, wenn ein Menfch mie ich feine 
Ruhe und die Sicherheit der Exiſtenz aufgeben 
264 . 


muß, um das Gewiſſen des Staats für die 
primitioften Forderungen der Gejellichaft wach⸗ 
zurütteln. Es ift überfläffig, mich zur Vorficht 
zu mahnen, Mylord. Ich würde alles das auch 
demjenigen ins Ohr fehreien, der fih mir als 
Denunziant befennte. ch fürchte nichts, weil 
ich nichts zu hoffen habe.“ 

Stanhope Tieß einige Sekunden verftreichen, 
bevor er verjonnen antwortete: „Mein Unkenruf 
wird Sie weniger verwundern, wenn ich Ihnen 

eftehe, daß ich nicht uneingemeiht in die Ver- 
jälmifje bin, auf die Sie hindeuten. Ich bin 
nicht daS Werkzeug des Zufalls. Ich bin nicht 
ohne äußeren Antrieb zu dem Findling gekommen. 
Es ift eine Frau, es ift die unglüdlichfte aller 
Frauen, al3 deren Sendboten ich, mich betrachte." 

Der Präfident fprang empor, al3 ob ein 
Blitz im Zimmer gezünbet hätte. „Here Graf!" 
tief er außer fi. „Sie wiſſen alſo —“ 

„Ich weiß," verjeßte Stanhope ruhig. Nach- 
dem er mit düfterer Miene beobachtet hatte, wie 
der Präfident krampfhaft die Stuhllehne gepackt 
hielt, jo daß die Arme fichtbar zitterten, und wie 
das große Geficht fich verfaltete und bewegte, fuhr 
er mit monotoner Stimme und einem matten, felt- 
ſam füßlichen Lächeln fort: „Sie werden mich 
fragen: Wozu die Ummege? Was wollen Sie 
mit dem Knaben? Ich antworte Ihnen: Ich 
will ihn in Sicherheit bringen, ich will ihn in 
ein andres Land bringen, ich will ihn verbergen, 
ich will ihn der Waffe entziehen, die fortwährend 
gegen ihn gezückt ift. Kann man Elarer fein? 
Wollen Sie noch mehr? Erzellenz, ich habe 
Kenntnis von Dingen, die mein Blut gefrieren 
laſſen, jelbft wenn ich nacht3 erwache und in der 

265 


Paufe zwiſchen Schlaf und Schlaf daran bente, 
wie man an ein Fieberbild denkt. Erſparen Sie 
mir die Ausführlichkeit. Rückſichten, bindender 
als Schwüre, machen meine Zunge lahm. Auch 
Sie Ieinen ja, e3 ift mir vätfelhaft, auf welche 
Weife, Einblick gewonnen zu haben in dieſen 
rauenhaften Schlund von Schande, Mord und 
Sammer: fo darf ich Ihnen wohl ja en, daß 
ich, der den Königen und Herren der Erde ehr 
genau und fehr nah ins Geficht geſchaut 
niemal3 ein Antlig jah, dem Geburt und ent 
einen gleich hohen Adel und der Schmerz eine 
ergreifendere Macht verliehen haben als dem jener 
Frau. Ich warb ihr Sklave mit dem Augenblic, 
wo das Bild ihrer tragifchen Erfcheinung zum 
erſtenmal mein Gemüt belud. Es wurde meine 
Lebensidee, die ihr vom Schicjal zu effgten 
Wunden in ihrem Dienft zu mildern. Ich will 
ſchweigen darüber, wie ich Gewißheit über den 
Zuftand der gemarterten und am Rand des 
Todes hinfiechenden Seele gewann und mie fich 
mir von denen, die ein Sahrgehnte hindurch fort- 
gefponnenes Gewebe von Leiden um dad un- 
beihüßte Daſein der Unglücklichen flochten, lang⸗ 
ſam Stirn um Stirn entſchleierte. Das Haupt 
der Meduſe Tann nicht gräßlicher ſein. Genug 
damit, daß ich meine wahre Natur unterdrüden 
und mid, harmlos geben mußte; ich mußte Lügen, 
fchmeicheln, fchleihen und Ränke durch Raͤnke 
ſchlagen, ich habe mich verkleidet und täufchungs- 
volle Aufgaben übernommen. Dabei fraß mir 
der Zorn am Mark und ich fragte mich, wie es 
möglich fei, eiterguleben mit folcher Wiſſenſchaft 
in der Bruft. Aber das ift es ja eben: man 
lebt weiter. Man it, man trinkt, man fchläft, 
266 


man gebt zu feinem Schneider, man promeniert, 
man läßt fich Die Haare feheren, und Tag reiht 
ich an Tag, als ob nichts gefchehen wäre. Und 
genau fo tt es mit jenen, von welchen man 
glaubt, daß das böfe Gewiſſen ihre Sinne ver- 
wüſten und ihre Adern verdorren müſſe, fie eflen, 
trinken, jchlafen, Tachen, amüfieren fich, und ihre 
Taten rinnen von ihnen ab wie Waffer von 
einem Dad.“ 

Sehr wahr! Das ift es, fo ift es!" rief 
Feuerbach Teidenfchaftlich bewegt. Er eilte ein 
paarmal duch das Zimmer, dann blieb er vor 
Stanhope ftehen und fragte ftreng: „Und weiß 
die Frau von allem —? Weiß fie von ihm? 
her ift ihr befannt? Was erwartet, was hofft 
fie 2" 

„Aus perjönlicher Erfahrung kann ich Darüber 
nicht8 melden,“ entgegnete der Lord mit derfelben 
traurigen und matten Stimme wie bisher. „Vor 
furzem wurde bei der Gräfin Bodmer erzählt, 
fie babe laut aufgeweint, als man den Namen 
Caſpar Haufer vor ihr genannt. Mag fein, 
ganz glaubwürdig ift es nicht. Hingegen ift mir 
ein andrer Vorfall befannt, der auf eine faft 
überfinnliche Beigun ſchließen läßt. Eines 
Mittags vor zwei Fahren befand ſich die Fürſtin 
allein in der Schloßfapelle und verrichtete ihr 
Gebet. Nachdem fie geendet und fich erheben 
wollte, fah fie plöglich über dem Altar das Bild 
eine fhönen Jünglings, deffen Geficht einen un- 
endlichen Kummer ausbrüdte Sie rief den 
Namen ihres Sohnes, Stephan hieß er, der Erſt⸗ 
geborene, dann fiel fie in Ohnmacht. Später 
erzählte fie die Vifion einer vertrauten Dame, 
und diefe, die Caſpar felbft in Nürnberg gejehen 

. 267 


hatte, war von der Aehnlichkeit tief berührt. Und 
das Wunderbare ift, daß die Erſcheinung ſich 
am jelben Tag und zur felben Stunde gezeigt 
— wo der Mordanfall im Hauſe Daumers 
ſtattfand. So viel ift kiar, daß ſich auf beiden 
Seiten ein geheimnißvolles Zuſammenſtreben offen- 
bart, Ferner ift e8 Har, Exzellenz, daß jedes 
Zaubern Gefahr bedeutet und ein leichtfertiges 
Vergeuden günftiger Gelegenheit. Ich rufe Ihnen 
das in ernfter Not entgegen. Es könnte fommen, 
daß unfre Verfäumnifle vor einen Richterſtuhl 
gefordert werden, wo feine Reue das Gefchehene 
ausgleicht." 
er Lord erhob fich und trat zum Fenfter. 
Seine Augenlider waren gerötet, fein Bück ber⸗ 
dunkelt. en verriet er agent wen belog 
er? Seine Auftraggeber? en Yüngling, den 
er an fich gefettet? Den Präfidenten? Sich 
jelbft? wußte es nicht. Er war erfchüttert 
von feinen eignen Worten, denn fie erjchienen 
ihm wahr. ie fonderbar, alles das erjchien 
ihm wahr, als ob er der Retter wirklich fei. Er 
liebte ſich in_diefen Minuten und hätfchelte fein 
gen Eine Finſternis des Vergeſſens kam über 
ihn, und fofern er Müdigkeit und Ekel zu er 
fennen gab, galten fie nur dem mefenlofen 
Schemen, das an feiner Stelle geſeſſen, an feiner 
Statt geredet und gehandelt hatte. Er löſchte 
zwanzig Jahre Vergangenheit von der Tafel feines 
Gedächtniffes hinweg und ftand da — reingewafchen 
durch eine Halluzination von Güte und Mitleid. 
Feuerbach hatte fich vor feinen Schreibtifch 
niedergelaffen. Den Kopf in die Hand geftüßt, 
ſchaute er finnend in die Luft. „Wir FR die 
Diener unfrer Taten, Mylord," begann er nad) 
268 . 


langem Schweigen, und die fonft polternde 
oder fchrille Stimme hatte einen janften und 
en Klang, „Bor dem fchlimmen Endezittern, 
jieße jede Schlacht aufgeben, bevor fie geichlagen. 
Offenheit gegen Offenheit, Herr Graf! Bedenken 
Site, ich ftehe hier auf einem verlorenen Poften 
des Landes. Mein Leben war für eine andre 
Bahn beftimmt, einft glaubte ich es menigftens, 
als in der Verborgenheit einer Kreisftadt bes 
ſchloſſen zu werden. Ich habe meinem König 
Dienfte geleiftet, die gewürdigt worden find und 
die vielleicht dazu beigetragen haben, feinem 
Namen das ftolze Attribut des Gerechten zu ver⸗ 
leihen. Noch größere wollte ich leiften, fein Volk 
erhöhen, die Krone zu einem Symbol der Menfch- 
Tichteit machen. Died jcheiterle. ch ward zurüd- 
geitoßen. Freilich, man hat mich belohnt, aber 
nicht ander3 als wie Domeſtiken belohnt werden." 

Er hielt inne, rieb das Kinn mit dem Hand» 
rücken und Inirichte mit den Zähnen. Dann 
fuhr er fort: „Bon früher Jugend an habe ih 
mich dem Gefeß geweiht. Ich habe den Buchs 
ftaben verachtet, um den Sinn zu veredeln. Der 
Menſch war mir wichtiger als der Paragraph. 
Mein Streben war darauf gerichtet, die Regel 
zu finden, die Trieb von nerantmortung feibet 
Ich habe das Lafter ftudiert wie ein Botaniker 
die Pflanze. Der Verbrecher war mir ein Gegen⸗ 
ftand der Obforge; in feinem erkrankten Gemüt 
wog ich ab, was von jeinen Sünden auf die 
Verirrungen des Staates und der Gejellichaft 
entfiel. Ich bin bei den Meiftern des Rechts 
und bei den großen Apofteln der Humanität in 
die Lehre gegangen, ich wollte das Zeitalter der 
überlebten Barbarei entreißen und Pfade zur 


269 


Zukunft bauen. Ueberflüffig zu beteuern. Meine 
Schriften, meine Bücher, meine Erläſſe, meine 
ganze Vergangenheit, das heißt eine Kette ruhe 
lofer Tage und arbeitSvoller Nächte, find Zeugen. 
Ich lebte nie für mich, ich lebte faum für meine 
Familie; ich habe die Vergnügungen der Gefellig- 
teit, der Freundfchaft, der Liebe entbehrt; ich zog 
feinen Gewinn aus eroberter Gunft; fein Erfolg 
ſchenkte mir Raſt oder nachweisbares Gut, ich 
war arm, ich blieb arm, geduldet von oben, be- 
geifert von unten, mißbraucht von den Starken, 
überliftet von den Schwachen. Meine Gegner 
waren mächtiger, ihre Anfichten waren bequemer, 
ihre Mittel gewiſſenlos; fie waren viele, ich einer. 
Ich bin verfolgt worden wie ein räudiger Hund; 
Basquillanten und Verleumder befubelten meine 
gute *3 mit Schmutz. Es war eine Zeit, da 
konnte ich nicht durch die Straßen der Reſidenz 
ehen, ohne die gröblichiten Injulten des Pöbels 

icchten zu müffen. ALS ich, durch wiberwärtige 

trigen und Ainfeindungen ezwungen, mein 
Profefjorenamt in Landshut aufgeben mußte, als 
man den ftudentifchen Janhagel gegen mich in 
Raferei verſetzt hatte und ich nach meiner Heimat 
floh, Weib und Kind im Stich laſſend, da trach-⸗ 
teten mir bezahlte Schergen nach dem Leben. Es 
war der große Krieg, alle Ordnung war zer 
rüttet; von der öfterreichifchen Partei wurde 
ausgeiprengt, daß ich mit der franzöfifchen Partei 
im Bündnis ftehe, die dem Kaifer Napoleon zur 
Errichtung eines olzidentaliſchen Kaiſerreichs den 
Weg bahnen und die fouveränen Fürften ſtürzen 
wolle, die Franzofen verdächtigten umgekehrt 
meine Beziehungen zu Oefterreih. Es gab einen 
Mann, einen Imte und Berufsgenofien, einen 
270 


Gelehrten, berühmt und angefehen — o, ein feiger 
Poltron, die Zeit wird feinen Namen an einen 
der Schandpfähle des Jahrhunderts Heften! —, 
der ſich nicht entblöbete, mich öffentlich ala Spion 
zu bezeichnen, und mein Proteftantentum zum 
Vorwand nahm, den König gegen mich miß- 
trauiſch zu machen. Ich erlag nicht. Die Widrig- 
teiten hatten ein Ende, mein Fürft nahm mich 
wieder, in Gnaden auf, freilich nur in Gnaden. 
Ein neuer Herr beftieg den Thron, ich blieb in 
Gnaden. Heute bin ich ein alter Mann, ſitze 
hier in der Gtille, immer in Gnaden. Auch 
meine Feinde find befänftigt oder fie ftellen fich 
fo, auch fie find in Gnaden. Aber was es be- 
deutet, eine aufs Große und Allgemeine gerigtete 
Exiftenz vernichtet zu jehen, bevor noch die lehte 
geier des Geiftes, ber fie trug und nährte, ihre 
raft verzehrt hat, das empfinden nicht jene, das 

weiß nur ich." 
Feuerbach ftand auf und atmete tief. Hierauf 
gift er zur Schnupftabatsdofe, nahm eine Priſe, 
ann wandte er Stanhope voll das Geficht zu, 
und unter den barjchen Brauen bligte ein rührend- 
ängftlicher und dantharer Blick hervor, während 
er jagte: „Herr Graf, ich bin mir nicht ganz 
klar darüber, was mich bewegt, jp zu Ihnen zu 
ſprechen. Es erftaunt mich felbft. Sie find der 
erſte, der zu hören befommt, was fo verzweifelt 
den Klagen eines Zurücgefeßten ähnelt und doc 
nur die Erklärung für eine unabänderliche Not- 
wendigkeit bieten fol. Es ift mir in der An— 
gelegenbeit Caſpars nicht3 an dem Befonderen 
es Falles gelegen, und nicht da8 Bejondere der 
Perſon ift e8, was meinen Beſchluß ſtärkt. An 
mich tritt der härtefte Zwang heran, der einen 
arı 


Mann von grauen Haaren treffen Tann, und 
nötigt mich zu der Frage an das Schickſal: ob 
denn alles Geopferte und Gewirlte umfonft ge- 
wejen, ob e3 mir und den Gleichjtrebenden keine 
andre Frucht gi gegiigt hat ala Ohnmacht hier und 
Gleichgültigkeit dort. Sch muß die Probe machen, 
muß e3 durchführen, fomme, was da wolle; 
wiffen, ob ich in Wind geredet und auf 
Sand gejhrieben habe; ich muß wiſſen, ob die 
Verfprehungen, mit denen man bie Bitterkeit 
meines Exils verfüßt hat, nur wohlfeile Lockſpeiſe 
waren; ih muß und will wiffen, ob man es 
ernft meint mit mir und meiner Sache. Ich 
habe Bemeife, Graf, e3 liegen furchtbare Indizien 
vor; ich kann dreinfchlagen, ich habe den Donner» 
feil und Tann das Wetter machen, alles ift von 
mir figiert und in einem befonberen Dokument 
dargeftellt; man weiß es, man wird es nicht zum 
Aeußerften treiben, denn zum Aeußerſten bin ich 
entfchloffen, um das toftbare Gut zu wahren, zu 
dem ich vor Gott und den Menfchen al3 Hüter 
beftellt bin. Immerhin, ich werde warten, große 
Dinge, brauchen viel Geduld. Aber Cafpar darf 
mir nicht entfernt werden. Er ift die lebendige 
Waffe und der lebendige Zeuge, deren ich bedarf, 
und zwar in ſtets erreichharer Nähe. Verlöre 
ih ihn, fo wäre das Fundament meines legten 
Werts dahin, ich ſpür' es wohl, es iſt das lebte, 
und jeder Anfpruch auf Gehör würde weſenlos 
Und Sie, edler Mann, was verlören Sie? 
Wollen Sie eine Tat der Barmherzigkeit oder 
der Liebe verrichten und der Gerechtigkeit nicht 
jebenten? Das hieße Gold wegwerfen, um 
äderling zu erhalten.“ 
Stanhopes Gefiht war nad) und nad) fo fahl 
272 


eworden, als flöffe fein Blut mehr unter der 

aut. Er hatte ſich niedergeſetzt, fich geduckt, 
wie wenn er fich verfriechen wollte; ein paarmal 
waren Blicke aus feinen Augen gebrochen wie 
wilde Tiere, die ihren Käfig zerfrümmert haben, 
dann rief er fie wieder zurüd, faugte fie in fs 
inein, bielt den Atem an, neftelte mit den 
ingern am Settchen des Lorgnons, und als ber 
Präfident am Ende war, richtete er fich mit einer 
leidenfchaftlichen Bewegung auf. Er hatte Mühe, 
ſich zu finden, er hatte — Worte zu finden, 
in beftigem Wechfel zuckte es um feinen nd, 
mie wenn er laden oder einen körperlichen 
Schmerz verbeißen wollte, und als er die Hand 
des Präfidenten ergriff, wurde ihm eislalt; ber 
Doppelgänger ftand an feiner Seite, dieſer 
Schattenleib de3 Gelebten, VBegangenen, Ber 
fäumten, und zifchelte ihm das Wort des Verrats 
ins Ohr, aber feine Augen waren feucht, als er 
jagte: „Sch verftehe. Alles, was ich zu ant- 
worten vermag, ift: nehmen Sie we als Freund, 
Kg betrachten Sie mic, als een Helfer. 
Ihr Vertrauen ift mir wie ein Wink von oben. 
Doc welche Bürgichaft Haben Sie? Welche Ge 
währ, daß Sie hr Herz nicht einem Unmwür- 
digen eröffnet haben, der nur beffer zu heucheln 
verfteht als alle andern? ch hätte Caſpar ent 
führen können, ich könnte e8 noch —“ 

„Wenn dies Antlis lügt, Mylord, mit dem 
Sie hier vor mir ftehen, dann will ich es meinet⸗ 
wegen für ein Hirngefpinft erklären, Wahrheit 
auf Erden zu fuchen,” unterbrach ihn Feuerbach 
lebhaft. „Entführen, Gafpar entführen?“ fuhr 

utmütig lachend fort. „Sie ſcherzen; ich 
möchte dad jedem Manne mwiderraten, der noch 

BWarfermann, Gafpar Haufer 18 273 


Wert darauf legt, im Sonnenfchein ſpazierenzu⸗ 
gehen." 

Stanhope verfant eine Weile in 1 eagun loſes 
Grübeln, dann fragte er haſtig: „WW nn ae 
geſch en? Schnelle Handeln ift —— Wohin 
mit — gu 

Er joll hierher nach Ansbach," verfegte 
Beuibag Tategorifch. 
terher? Zu Ihnen ?“ 

u mir, nein. Das iſt leider unmöglich, 
aus" vielen Gründen unmöj glich. Ich, muß viel 
allein fein, ich habe viel zu arbeiten, ich bin viel 
auf Reifen, meine Gefundheit ift erfchüttert, mein 
Charakter eignet fich_fchlecht zu der Rolle, die ich 
dabei übernehmen müßte, und außerdem verbietet es 
die Sache, ein allzu perfönliches Band zu Inüpfen.“ 

Stanhope atmete auf. „Wohin aljo mit ihm?“ 
beharrte er. 

„Ich werde nach einer Familie Umfrage 
halten, ha er Erg lege pm geitig ra fitt- 

e Unterftügung et," te ent. 
Ei heute will ich mit ra von Imhoff 
fprechen und ihren Rat einholen, fie kennt die 
hieſigen Leute, Seien Sie deſſen ver jert, My— 
lord, daß ich über den gingling, ma werde 
mie über mein eignes Kind. Die Nürnberger 
Schwabenftreiche find zu Ende. Daß ich Ihrem 
Verkehr mit Cajpar keinerlei. Schranken ſetze, 
bedarf nicht der Erwähnung. Herr Graf, pH 
Haus ift‘ das Ihre. Glauben Sie mir, auch 
unter der Hülle des Beamten und Richters ji lägt 
ein für Freundfchaft empfängliches Herz. 
wird in diefem Land der enges nicht vers 
wöhnt durch den Umgang mit Männern.” 

Nachdem fie noch üchtig über die an Herrn 
274 


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anzuftellen. Im Gafthof angelangt, ſchloß er 
fi) ein und machte eine halbe Stunde lang Fecht- 
Übungen mit dem Florett. 

Er unterbrach fi erft, als er von draußen 
eine Stimme vernahm, die mit dem Kammerdiener 
unterhandelte, der Auftrag hatte, niemand vorzu⸗ 
Iaffen. Stanhope lauſchte; er erkannte Di 
Stimme, nicte gleichgültig, und mit dem Degen 
noch in ber Hand Öffnete er. Es war Hidel, 
der auch fofort eintrat und den ihn fhweigend 
betrachtenden Gra fen etwas verlegen begrüßte, 

Nach feinem Begehr gefragt, räufperte er fich 
und ftotterte ein paar unzujammenhängende Flos⸗ 
teln, aus denen hervorging, daß er um den 
Beſuch Stanhopes bei Feuerbad) mußte. Sein 
Benehmen verriet troß einer unangenehm wirfen- 
den Kriecherei eine nicht zu faflende freche Ver— 
traulichkeit. 

Stanhope verwandte feinen Blick von dem 
aufgeregten Mann in der kleidſamen Uniform. 

„Was hatte es eigentlich zu Bebeuten, vo Sie 
mir F einer Zuſammenkunft mit dem Herrn 
* enten Ihre Hilfe anboten ?" — er froſt 

Der Herr Graf haben ſich F er meine Hill 
y gefallen laſſen,“ ermiderte Hicel, Er 
‚ ob der Staatsrat ohne mich zu haben ges 
we wäre, er verfteht es, fich zu verfchanzen. 
Der Here Graf geruhen das nicht anzuerkennen. 
Je nun," fügte er achjelgudtend Hinzu, „große 
Herren haben ihre Launen.“ 

„Wie fommen Sie denn überhaupt dazu, fich 
zum Zwifchenträger anzubieten?" 

‚„Bwilchenträger? Der Herr Graf legen 
meiner unjchuldigen Zuvorfommenheit ein zu 
großes Gewicht bei." 

276 


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hoff zum Tee erfcheinen und fragte den Polizei⸗ 
leutnant, ob er ein Stück Wegs mitfahre, Sb 
wohl aus der —* der Wunſch einer Ablehnung 
Hang m m Hickel, dem es darum zu tun mar, 

em Lord öffentlich gefehen zu werden, das 
Anerbieten dankbar an. 

Die Straßen waren jetzt etwas belebter als 
am Mittag; die alten Beamten und PVenfioniften 
machten um diefe Stunde ihren täglichen Spagter- 
gang über die Promenade. Viele blieben ftehen 
En — gegen das Innere der hocherlauchten 


m paſſierte es, daß an einer Straßenecke 
der Mann auf dem Bod wieder einmal fein 
welſches Gefchrei ertönen ließ; es fand nämlich 
mitten auf dem Fahrdamm ein träumerifch wollen⸗ 
wãrts guckender Herr, der von dem Herannahen 
der gräflichen Karofje keine Notiz zu nehmen 
Fra öchft erſchrocken — er beiſeite, als 
der Elſaſſer zu fluchen be och nicht fehnell 
genug, iß nicht jeine Teider duch, den Kot 

eſchmutzt wurden, der von den Hufen der Pferde 
und den Rädern aufſpritzte. 

Hickel bog den Kopf zum Fenſter hinaus und 
geiente, denn der Vefubelte ftand mit einem ver- 
usten und unglücklichen N hielt die Arme 
vom Fe und jah fih die Beſcherung an. 

Wer ift der ungeſchickte Mann?" erkundigte 
I Stanhope, | die Schadenfreude des Polizei⸗ 
leutnants verdroß. 

„Das? Das hi der Lehrer Duandt, Mylord." 
Eigner Zufall; eine halbe Stunde ſpäter 
wurde ei Frau von Imhoff derfelbe Name ge- 
nannt. Der Präfident und feine Freundin 
waren nad) langen Beratungen übereingefommen, 


278 


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drei hohe Fenfter gewährten Ausficht gegen den 
Garten. Der Raum war wohnlich geihmüdt, 
aud bier alles von der größten Nettigleit. In 
einer Art von vertiefter Niſche Bing ein gutes 
Delbild Napoleon Bonapartes im Krönungsornat; 
Stanhope betrachtete es mit vorgeblichem Intereſſe; 
in Aeitligteit prüfte er aufmerkſam das Weſen 
und Gehaben des Lehrers. 

Quandt war mittelgroß und hager; über der 
hohen Stirn waren tabaksgelbe Haare mit Hilfe 
von Pomade ganz lächerlich glatt zurückgefämmt. 
Die Augen biiekten ſchüchtern, faft betrübt, und 
blinzelten bisweilen, die Hakennaſe ſtach ein wenig 

ahlerifch in die Luft, der Mund, verſteckt unter 
jemütigen und zerbiffenen Schnurrbarttoppeln, 
hatte einen fäuerlichen Bug, der die Berufs: 
gewohnheit vielen Nörgelns verriet. 

Der Lord war nicht unzufrieden mit dem 
Ergebnis feiner Beobachtung; er fragte den 
Präfidenten, ob die Verhandlungen aum ge⸗ 
wünſchten Ziel geführt hätten, und als dieſer be- 
jahte, wandte er fi an Quandt, reichte ihm 
ſtumm dankend bie ect und fagte, er werde 
ihm am Nachmittag feinen Beſuch abftatten. 
Sehr benommen von folcher Huld, verbeugte fich 
der Lehrer abermalß tief, machte fein Kompliment 
gegen den Präfidenten und ging. 

Auch Stanhope entfernte fich bald, da Feuer- 
bach zu einer Gerichtsfigung mußte. Im Hotel 
angefommen, verbrachte er zwei Stunden mit dem 
Schreiben eines Briefes, und als er fertig war, 
ſchickte er den Jäger damit ab. Um halb zwei 
ftellte fi), wie verabredet, der Polizeileutnant 
FR IM aßen zufammen und gingen hernach zu 

möt, 


280 


Das Häuschen des Lehrers, das am Kronacher 
Bud beim oberen Tor lag, war auf den Glanz 
hergerichtet; Frau Quandt, eine frifche, gelttiee 
junge Frau, mit dem roftfarbigen Seidenkleid wie 
zu einer Hochzeit angetan, ftand knickſend am 
Eingang, in der guten Stube war der Tifch mit 
Ronditorkuchen beladen, und das feine Porzellan- 
Ki blinkte einfadend auf dem fchneemeißen 

ud. 

Der Lord war gegen die Lehrerin von väter: 
licher Freundlichkeit; a fie guter Hoffnung war, 
wünſchie er Glüd, ein Haͤndedruck bekräftigte 
feine zarte Teilnahme; er fragte, ob es das erjte- 
mal fei; das junge Weib murbde purpurrot, 
ſchüttelte den Kopf und jagte, fie habe ſchon 
einen dreijährigen Knaben. Als der Kaffee auf- 
getragen war, gab ihr Quandt einen Wink, fie 
sing ſtill hinaus und die drei Männer blieben 
allein. 

Stanhope ſagte, noch könne er ſich nicht in 
den Gedanken einer Trennung von Caſpar finden, 
aber er ſei enchantiert von dieſer friedlichen und 
geordneten Häuslichleit und es beruhige ihn un—⸗ 
gemein, ſeinen Liebling hier untergebracht zu 
wiſſen. So dürfe man denn endlich hoffen, daß 
der Unglückliche, an dem ſchon jo viele Pfufcher- 
hände ——— und der dabei an Leib und 
Seele Schaden erlitten, einen vettenden Port er- 
reicht habe. 

Quandt legte beteuernd die Hand auf die Bruft. 

„Ja,“ —* ſich Hickel ein, indem er den 
letzten Biſſen Kuchen hinunterſchluckte und Schnurr⸗ 
bart und Lippen mit dem Handrücken abwiſchte, 
„das wohl; und e8 muß nun einmal Licht werden 
um dieſes Kind der Dunkelheit." 


281 


Der Lord runzelte die Brauen, ein Zeichen 
des Unmillens, das Hidel nicht entging; er 
lächelte Teer vor fich Hin, nahm aber eine drohende 
Miene an. 

„Leider ift ja Anlaß zum Argmohn vor- 
handen,” fuhr Stanhope fort, und feine Stimme 
war tonlos und falt; „wohin man fi auch 
wendet und wie man e3 auch betrachtet, überall 
Argwohn und mei, Da iſt e3 fein Wunder, 
wenn die urjprüngliche Nei ung von Bitterfeit 
durchtränkt iſt. WIN ich mich gleich dem Tieben- 
den Gefühl hingeben, fo melden fich doch immer 
wieder Stimmen, deren Urteil oder Gewicht ge 
verbächtigen finnlo8 wäre, und der ſchlummernde 
Zunte des Mißtrauens Löfcht nicht aus." 

„Nun alfo,” ließ fich Hickel wieder vernehmen, 
„jo hab’ ich doch recht! Man muß reinen Tiich 
machen. Man muß ben binterliftigen Burſchen 
endlich Mores lehren. Man muß ihm die Mucken 
aus dem Kopf jagen.“ 

Stanhope erblaßte; über Hickel hinwegblickend, 
fagte er hneibenb: „Herr Polizeifeutnant, ich 
muß mich gegen einen folhen Ton verwahren. 
Was immer auch gegen den Jüngling zeugen 
mag, fo ift er doch nur als die mißleitete Kreatur 
eines unbefannten Frevlers zu betrachten.” 

Hickel fenkte den Kopf, und von neuem irrte 
das leere Lächeln über jein Geſicht. „Verzeihen 
Eure Lordichaft," enigegnete er haftig und ziem- 
lich erichtoden, „aber das ift die Meinung der 
ganzen Welt, zumindeft des aufgeflärten und 
vernünftigen Publitums. Erſt gejtern war ich 
Zeuge, wie der Ritter von Lang und der lareer 
en ſich über den Findling und die Dumm» 

eit der Nürnberger geäußert haben. Das hätten 
282 


der Herr Graf nur hören follen. Wir wiſſen 
ja dahier auch, es ift von Gerichts wegen befannt 
jervorden, was der Herr von Tucher über den 
ndant und die moralifche Verderbtheit des 
Findlings an Eure Lordichaft gefchrieben hat. 
Zeigen Sie doch Herrn Quandt den Brief des 
Baron und er wird fich überzeugen, daß ich 
nur gejagt habe, was jeder anftändige und vor- 
urteilsloſe Mann darüber denkt." Und Hidel 
beftete auf den Grafen einen befremdet⸗forſchen⸗ 
den Blick. 

„Dem ift nicht ganz fo," verfeßte Stanhope 
abweifend und nippte mechaniſch von ber Kaffee⸗ 
tafje. „Herr von Tucher ſpricht in feinem Brief 
nur von einigen übeln Gewohnheiten Cafpars. 
Au “ babe Augen; ein liebendes Herz ift nie 
mals blind; verjteht es —S ſo iſt 

‚ihm doch die Gabe der Ahnung eigen. 
übrigen wollen wir unferm mwürbigen Gaftgeber 
nicht vorgreifen. An ihm wird es fein, zu richten. 
Was krumm gewachſen ift, kann er grade biegen, 
und wenn er mir die häßlichen Gleken von 
meinem Kleinod nimmt, will ich's ihm fürftlich 
danten.“ 

Hickel verzog das Geficht und ſchwieg. Quandt 
hatte mit gejpannter Aufmerkjamkeit das Geſpräch 
verfolgt. Wozu der Wortftreit? dachte er; als 
ob es nicht die Teichtefte Sache von der Welt 
wäre, zu erkennen, ob einer ein Spigbube ift. 
Man muß die Augen offen halten, das HE alles; 
der Gute ift gut, er Böſe ijt bös, wo liegt da 
die Schwierigkeit? Ein Uebel auszurotten, wenn 
es ſich nicht zu tief eingefreffen hat, ift nur eine 
Frage der Zatkraft und Umficht. Aber mir 
fcheint, mix fcheint, meditierte der Xehrer in feinem 

283 


ſtillen Sinne weiter, da find noch ganz andre 
Dinge verborgen, die Herren reden nicht von der 


Und d Bamit traf er wohl das Richtige, wie fich 
bald ermeifen follte. Er entwidelte dem höflich 
guhörenben 1 Lord feine Anfchauungen über Moral, 
über den Verkehr mit Menfchen, den Umgang 
mit Schülern, die Notwendigleit der Aufmun- 
terung, den Wert der Zenfur; alles ein wenig 
umftändlih und verflaufuliert, aber einfach, 
ftaunenswert einfach; nur die egrgenvolle Miene 
ab einen Anſchein von Schwierigteit und Philo- 

ſophie. Der Lord nickte ein paarmal mit dem 
Ba, während Hickel entjchiedene Zeichen von 

ingeduld von ſich gab. Dann beim — 

— Stanhoꝛ Ba von der Frau vera 


ihm zu: a Sie a nicht ins ‚Bastshorn 
es 


geſchichte nimmt in abjonderlich Her. & leiſten 
ihm einen gewaltigen Dienſt, wenn Sie den 
Schwindler entlarven.“ 

Das war das Merkwort und der Anſchlag. 
Es barg den Kern des Komplotts. Nun, Caſpar, 
ſollſt du in ein kleines Städichen gehen und in 
ein Meines Haus, ſollſt in — jenheit leben, 
und die Wände der Welt follen Yr verengen, 

— wieder zum Kerker werden. Gewalt hat 

er Lift verbrüdert; der Richter wird richten, 
he er —— und nicht wiſſen, mas er fühlt. 
Niedrig ſollſt du werden, damit die Freunde ſich in 
Feinde verwandeln und deine Einfamteit leichtere 
Beute des Verfolger fei. Das Blut foll gegen 


284 


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zu treiben. Er fpricht, denft und träumt von 
nicht8 anderm als von der bevorftehenden Reife, 
und wenn Dinen, Mylord, noch ein Geringes an 
dem Wohl des unglüdlichen Sünglings gelegen 
ift, fo vermag ich feinen ftärferen Appell an Ihre 
Güte zu erheben als den, ein fo drängendes und 
fruchtlofes Hinweben in möglichfter Bälde zu bes 
enden. Sie find der einzige Menfch auf Erden, 
defien Wort und Name no Gewicht in feinen 
Ohren hat, und fein grenzenloſes Vertrauen gegen 
Sie muß auch das Herz desjenigen bewegen, der 
fonft durch die Launen, die Unverläßlichteit und 
Biitterhaftigfeit des rätjelvollen Weſens eines 
ehemals intenfiven Attachements für ihn beraubt 
wurde. 


Daumer an den Präfidenten Feuerbadh: 

Eure Erzellenz haben mir die Ehre erwiefen, 
mich um Auskunft über Cafpar Sale nuns 
mehrige Verfaſſung zu erſuchen. Ich muß_ge: 
ftehen, daß mich dies einigermaßen in Der- 
legenheit gejeßt hat. Ich habe mich in ben 
Ießten anderthalb Jahren wohl gehütet, dem fo 
jorgfältig Abgefchlofjenen nahezutreten, weil ja 
ierzulande jeder ängftlic bedacht ift, fein kleinſtes 
Privileg vor fremdem Einfpruch zu wahren, und 
fo wird ein Intereſſe, das die Menjchheit angeht 
und jeben freien Geift in Mitleidenfchaft ziehen 
muß, unverjehens zur Angelegenheit einer Partei. 
Eure Exzellenz möge diefe Infinuation entſchul⸗ 
digen, fte möge lediglich für meine unerlofchene 
Teilnahme an dem Los bed Findlings zeugen, 
das feinen Freunden heute weniger als je Anlaß 
zu Abertribenen Hoffnum en gibt. Die vertrauend- 
volle Zuſchrift Eurer ‚ellenz hat meine Be— 
286 


denklichkeit befiegt, ich habe Gafpar letzter Tage 
im Zucherfchen Haus aufgefucht, er ift auch, zum 
erſtenmal feit langer Beit, bei mir geweſen, und 
ich gebe Ihnen hier einige Mitteilungen über ihn, 
die, wiewohl allgemeiner Natur, doch das Be 
fondere feiner gegenwärtigen Lage erhellen. 
Caſpar ift ein hochaufgefchoffener junger Mann 
geworden, der jet gut und gern den Eindruck 
eines etwa Smeiundgrangigjähel en macht. Träte 
er, der nun dem gelitteten Menſchen von Lebens- 
art zugerechnet werden muß, unerfannt in eine 
Gefellichaft, fo würde er doch als eine befremd- 
liche Erſcheinung auffallen; fein Gang hat etwas 
von dem Furchtſam⸗ Zaudernden und Vorfichtigen 
einer Rabe; feine Züge find weder männlich noch 
£indlich, weder jung noch alt: fie find alt und 
jung zugleich, befonder8 auf der Stirn verraten 
einige leicht geaogene Furchen feltfam ein vor» 
eitiges Altern. uf feiner Lippe fproßt heller 
Beartflaum, dies ſcheint ihn oft Sejongen zu machen, 
will auch nicht zu der janften Mädchenhaftigteit 
des Geficht3 und den noch immer bis zur Schulter 
hängenden braunen Haarloden ftimmen. Seine 
Freundlichkeit ift herzgewinnend, fein Exnft be⸗ 
dächtig, über beiden ſchwebt ftet3 ein Hauch von 
Melandolie. Sein Benehmen ift altklug, hat 
abex eine vornehme, ganz ungezwungene Gravität. 
Tölpelhaft und ſchwerfällig find bloß noch manche 
feiner Gebärden, auch feine Sprache ift hart und 
te Worte find ihm nicht immer bereit. Er liebt 
es, mit wichtiger Miene und in anmaßendem 
Ton Dinge zu jagen, die bei jedem andern läp⸗ 
piſch Hängen, aus feinem Mund jedoch fich ein 
ſchnierzlich⸗ mitleidiges Lächeln erzwingen; jo ift 
es höchft poſſierlich wenn er von feinen Zufunfts- 
287 


plänen ſpricht, von der Art, wie er ſich einrichten 
wolle, wenn er was Rechtes gelernt, und wie 
er es mit feiner Frau halten wolle. Eine Frau 
betrachtet er als notwendigen Hausrat, als etwas 
wie eine Obermagd, die man behält, folange fe e 
taugt, und fortſchickt, wenn fie die Suppe verfi 
ober bie Hemden nicht ordentlich flidkt. 

Sein immer fi ‚gleichbleibenbes ftiltes Gemüt 
ähnelt einem fpiegelglatten See in ber Ruhe einer 
Mondſcheinnacht. iſt unfähig zu geleibigen, 
ex kann feinem Tier weh tun, er ijt barmherzig 
gen den Wurm, den er zu zertreten fürchtet. 

liebt den Menfchen; jedes Menfchengeficht 
wird ihm zum Götterantlig,, und er fucht den 
ganzen Himmel darin. Nichts Außerorbentliches 
it mehr an ihm als das Außerordentliche feines 
Schickſals. Ein reifer Jüngling, der keine Kind» 
beit bejefien, die erjte Jugend verloren, er weiß 
nicht wie, ohne Vaterland, ohne Heimat, ohne 
Eltern, ohne Verwandte, ohne ne aan 
ohne Freunde, gleichfam das einzige Geſchöpf 
feiner Gattung, erinnert ihn jeder end 
jeine Einſamkeit mitten im Gemwühl der ihn ums 
drängenden Welt, an feine Ohnmadt, an feine 
Abhängigkeit von der Gunft und Ungunft der 
Menfchen. Und fo ift eigentlich all fein Tun nur 
Notwehr; Notwehr feine Gabe zu beobachten, 
Notwehr "ber um! ſichtige © aufbtie womit er jebe 
Beſonderheit und Schwäche des andern erfaßt, 
Notwehr die Klugheit, womit er feine Wünfche 
‚anbringt und den guten Willen feiner Gönner 
fih dienftbar zu machen weiß. 

Ja, Eure jellenz, er ift ohne Freunde, 
Denn wir, die wohlwollen, ihn vor ber 
gröbften Bedrängnis des Lebens bewahren, wir 
288 


find doch nur Zufchauer vor dem Ungeheuern - 
feiner Exiſtenz. Und jener vielberedete Mann, 
Graf Stanhope, darf er in Wahrheit Caſpars 
Freund genannt werden? Was dürfen wir 
lauben? Wo findet der begründete Zweifel 
tillung? Mir ahnt Schredfliches, wenn ich der 
Erwartungen de3 Jünglings in bezug auf den 
Grafen denke, der ein Heiliger, ein Obnegleichen 
fein müßte, wenn ſich alle Verſprechungen erfüllen 
würden, die mit feinem Auftreten für Gafpar 
verbunden waren. Und erfüllen fie fich nicht, 
erfüllt fich nur ein Hundertſtel von ihnen nicht, 
jo prophezeie ich ein böje8 Ende. Denn ein 
jolches Herz, aus der Tiefe emporgehoben zum 
Leben der Welt, aus äußerſtem Frieden den aus: 
ſchweifendſten Lockungen erjchloffen, will alles, 
fordert das ganze Maß de3 Glüd oder muß, 
nur um ein weniges betrogen, einer ungemefjenen 
Devaftation anheimfallen. 

Ich geitehe, daß mein ſchwarzſichtiges Tempera- 
ment mehr al3 das immer unverhohlener werdende 
Gerede der Hiefigen mir die Kühnheit zu folchen 
Erwägungen gibt; wie dürfte fich auch mein Miß- 
trauen an einem fo hochgeftellten Mann vermefjen. 
Aber man fpricht feit heute davon, daß Cajpar 
nah Ansbah in Pflege kommen folle. Frau 
Behold, die alte Feindin Caſpars, trägt das 
Gerücht in der Stadt herum und verfündet über- 
all mit Schadenfreude, daß aus ber englifchen 
Neife und aus den Luftichlöffern des Sraren 
nicht? gemorden fei. Wie mir meine Schweſter 
erzählt, habe die Magiftratsrätin indirekte Nach- 
richt von der Lehrerin Quandt erhalten; beide 
Frauen find Jugendfreundinnen und in demfelben 
Haus mitfammen aufgewachſen. Gott verhüte, 

Waffermann, Gafpar Haufer 19 289 


"daß Gafpar von diefem Geſchwätz etwas erfährt. 

wäre Eurer Erzellenz jehr zu Dank ver 
pflichtet, wenn Sie mir darüber genaue Auskunft 
berichten ließen, damit ich dem ungereimten Ge— 
Mathe jo entgegentreten Tann, wie es für das 
Wohl unfers Schüslings wünſchbar ift. 


Feuerbady an Heren von Tucher: 

Dem Verlangen Euer Hochgeboren wie der 
eingetretenen Notwendigkeit Rechmun tragend, 
teile ich Ihnen Hierdurch mit, da| & Ihres 
Amtes als Vormund Caſpar Hauſers von heute 
ab enthoben ſind. Eine gleichzeitige Urkunde des 
Kreis und Stadtgerichtes wird Spnen dies in 
amtlicher Form befanntgeben, wie auch weiter 
hin die Verfügung, daß Caſpar dem Grafen 
Stanhope zu überlaffen ſei; freilich einftweilen 
nur der Form nach, denn biß die jchmierigen und 
verwidelten Verhältniffe eine Aenderung erlauben 
werden, fol Caſpar in der Familie des Lehrers 
Quandt Aufnahme finden; Lord Stanhope bat 
während diefer Zeit für feine zweckmäßige Er⸗ 
siehung und Verpflegung zu forgen, ich jelbft 
werde in Abmefenheit des Pflegevater über das 
Wohl des Jünglings wachen. Am fiebenten des 
Monats wird der Öendarmerieoberleutnant Hictel 
bei Jhnen eintreffen, ein energifcher Beamter, der 
duch Regierungsdelret zum pepialkurater für 
die Heberfiedlung Cafpar3 nad; Ansbach beftellt 
iſt. Seine Lordihaft, Graf Stanhope, hat fich 
in letzter Stunde entichloffen, einer Handlung, 
die in den Augen des Publikums einen durchaus 
amtlichen Charakter tragen ſoll, fernzubleiben, 
und diefer Vorſatz hat meine volle Bilfigung. 
Ich fehe keine Schwierigkeit darin, Gafpar von 
290 





der veränderten Lage der Dinge zu unterrichten, 
und halte die Beforgniffe wegen diejes Punktes 
für übertrieben. Ich jelbft werde diefer Tage 
eine längft vorbereitete Reiſe nach der Hauptftadt 
antreten, ich hoffe bei biefer Gelegenheit eine 
günftige Wendung in den Lebensumftänden Caſpars 
endgültig herbeizuführen. 


Baron Tuer an den Präfidenten Feuerbach: 
Eurer Erzellenz die untertänige Nachricht, daß 
der plößliche Tod meines Oheims mich zwingt, 
die Stadt zu verlaffen_und nad) Augsburg zu 
zeifen. Ich babe die Obforge für den noch in 
meinem geufe weilenden Caſpar Herrn Bürger- 
meifter Binder und Herrn Profeſſor Daumer 
übergeben und e3 ihnen anbeimgefiett, Caſpar 
ier zu belaſſen oder für die reſtliche Friſt feines 
ufenthaltes in der Stadt zu ſich zu nehmen, 
Eine Mitteilung über das Bevorjtehende oder 
auch nur eine Andeutung ift von meiner Geite 
aus gegen den Jüngling noch nicht erfolgt, und 
ich muß ohne Hehl befennen, daß mich eine ges 
wiſſe unbejiegbare Furcht davon abhält. Caſpar 
glaubt noch jteif und feſt daran, Bap er mit 
jeinem erlauchten Beſchützer nach England oder 
Stalien reifen ſoll, ihm erjcheint eine, wenn auch 
nur zeitweife Entfernung von dem Grafen als 
eine Sache der Unmöglichkeit, und derjenige, der 
ihm eine folche Kunde überbringt, müßte eine 
göttliche Ueberredungskunſt befigen, um ihn mit 
den neuen Umftänden zu verjöhnen. Meinem 
unmaßgeblichen Erachten nad ift e8 ein Fehler, 
den Knaben wiederum in enge Verhältniffe zu 
bringen, die ihn niemal® werben befriedigen, 
feinen Durft nach Leben und Betätigung nicht 
291 


werben ftillen können. Der Hang feiner Ideen 
bat eine verhängnisvolle Anmaßung gewonnen, 
er ift dem Kreis frieblicher Buͤrgerlichkeit ent 
wachen, fein Lerneifer in ben vergangenen 
Monaten war gleih Null, alle feine Gedanken, 
fein ganzes Streben ift auf den Lord gerich- 
tet, und wenn nun Graf Stanhope von ihm 
gehen wird, dann bin ich ficher, daß er einen 
unglüdlihen Gefellen, ein unnützes und be 
dauernswertes, aus jedem fozialen Bufammen- 
hang gelöftes Glied der menfchlichen Gefell- 
{haft zurädlafien wird. Wenn es der eigent- 
liche Wefenszug der Fürftenkinder wäre, daß fie 
dem privaten Leben untauglih und hilflos gegen- 
überftehen, dann allerdings wäre Gafpar ein Aus- 
erwählter unter den Prinzen. Vielleicht aber 
ſchmiedet ihn das Schickſal noch, und es wird 
ein Mann aus ihm, der eine Krone zu erwerben 
vermag, wenn es auch eben feine Fürſtenkrone 
iſt. Für mid ift die Epifode Caſpar Haufer 
nunmehr abgejchloffen, und was auch immer ich 
an Enttäufchung und Bitterfeit daraus gewonnen 
habe, fie hat mir einen Einblid in Menſchenwahn 
und Menjcengefchäfte gegeben, den ich für mein 
ferneres Leben nicht mifjen möchte. So muß eben 
jeder auf feine Weiſe bezahlen. 


Daumer an den Präfidenten Feuerbach: 

Ich fühle mich verpflichtet, Eurer Erzellenz 
von den Ereigniffen der legten Tage eine wahr- 
heitögetreue Darftellung zu machen, infomweit eben 
Wahrheit auf zwei Augen ruht.. Vielleicht klingt 
viele8 von dem, was ich zu berichten habe, jo 
ungewöhnlich, daß ich mich fragen muß, ob ein 
Mann, der den übeln Auf eines nicht ganz 
292 . 





nüchternen Kopfes genießt, die geeignete ‚Perfon 
Eh ſolche Aa en en Gas Ir Mr 
ge Einfiht Eurer lenz ‚babe ich no: 
am wenigften zu fürchten; wenn ich fachlich bin, 
wird bie Sache — ſich felber bean und meiner 
Hand bleibt nur die Aufgabe, die Reihenfolge 
der Begebniffe feftzuhalten, mas freilich nicht immer 
ganz leicht fein mag, 

Vor vier Tagen bejuchte mich Herr von Tucher 
und teilte mir mit, daß er wegen eines Todes» 
falles verreifen mäffe, Schon vorher hatte er 
mich wie auch Heren Binder gebeten, die Aufficht 
über Cafpar zu führen fo lange, als der Jüng⸗ 
ling nod in Nürnberg bleiben müfle. Da mir 
dies befremdlich erfchienen war, ließ von 
Tucher durchblicken, die an höherer Stelle beliebte 
Umgehung feiner Perfon mache ihm ein folches 

andeln zum Gebot. Er meinte das Schreiben 
jellenz, durch welches ich, Halb wider 
Willen, bewogen wurde, Caſpar sufnfuen und 
mich neuerdings mit ihm zu befchäfti Dies 
hatte der von Tucher fehr übel au nommen. 
“ gab mir feine Mühe, den ftolzen Mann 
andern Sinnes zu machen, auch vermute ich zu 
feiner Ehre, daß dies Betragen noch eine ernftere, 
menſchliche Regung habe, denn als ich ihn fragte, 
ob er Cafparn ſchon eine Andeutung über die 
zu erwartende Ankunft des Polizeileutnants Sidel 
gemacht, wich er aus und gta mete haftig, er 
wolle dies mir überlafjen, der ich doch di ge 
winnenberen Burebens fähig jei und bei Gafpar 
mehr Vertrauen genieße. 
Am Nachmittag beſchloß ih, zu Cafpar zu 
gehen. Als ich in fein Zimmer trat, las er die 
Hriftliche Andacht des Tages, Er Shaute heiter 
293 


von dem Buch empor, blickte in mein Geficht und, 
Seltfameres ift nicht zu denken, im Nu überzogen 
fi) feine Wangen mit leichenfahler Bläſſe. Es 
war mir ſchwul um die Bruft, ich ſetzte mich auf 
einen Stuhl und ſchwieg ängflic. Ganz und 
gm vergaß ich die übernommene Rolle, ich fühlte 
loß mit ihm, ich ſah, daß er alles, was ich ihm 
zu jagen hatte und weswegen ich gefommen war, 
von meinen Augen abgelefen hatte, die unbemußte 

rcht mußte wohl in feinem Innern gejchlummert 
jaben, anders Tann ich e3 auf natürlichem Weg 
nicht erklären, ich fühlte, wie plößlich die Wurzeln 
feines Herzens aufgeriffen wurden. Er erhob fich, 
er ſchwankte, ich wollte ihn halten, er gewahrte 
mic) faum, er jchien völlig betäubt. Ich folgte 
ihm bis zum Bett, er warf fich darauf hin, Frümmte 
den Körper und fing in einer ſolchen Weife zu 
weinen an, daß mir das Mark in den Anochen 


or. 

Noch war nichts gefchehen, es konnte noch 
alles gut werben; fo bildete ich mir ein und ließ 
e3 an tröftlichen Worten nicht fehlen. Das Weinen 
dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Dann erhob 
er fih, jhlih in den Winkel, fauerte hin und 
bedeckte das — mit den Händen. Sch redete 
unabläffig in ihn Hinein, ich weiß nicht mehr, 
was ich alle8 vorbrachte. Gegen ſechs Uhr abends 
verließ ich ihn, und obgleich er bis dahin noch 
nicht einmal den Mund aufgetan, dachte ich mir, 
er werbe mit der Gefchichte ſchon fertig werben. 
Ich empfahl dem Diener, fich bisweilen nad 
Cajpar umzufehen, und im ftilen nahm ich mir 
vor, nad ein paar Stunden wieberzulommen, 
aber e3 war unausführbar, meine Berufsarbeit 
nahm mich bis in die Nacht in Anſpruch. Als 
294 





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einmal über die verbunfelte Seele heraufzu- 
bejchwören; was mic entſchuldigt, ift, MN) 
felber ja kaum mit Klarheit wußte, was im 
war, und daß mich die zermalmende Wirkung von 
etwas vollftändig Unausgefprochenem, deren Zeuge 
“ war, mehr lähmte und erfchütterte al3 das 
iffen darum. Doch will ich Eure Erzellenz 
nicht durch Betrachtungen verwirren und hübſch 
in der Ordnung bleiben. 

Ich hatte Ghon zuviel Zeit verloren, ich 
mußte fort. Nach vieler Mühe war e3 mir ge» 
lungen, Caſpar zu überreden, daß er fi ein 
biß nieberlege, auch hatte er mir verſprochen, 
mittags bei uns zu eflen; das war mehr als ich 
erwarten durfte, ich ging alſo berubigter meinen 
Geſchäften nach, war um Halb eins wie gemöhn- 
lich zu Haufe, wir warteten einige Beit, aber 
wer nicht kommt, ift Caſpar. Ich vermutete, er 
fei eingefchlafen, denn daß er die Nacht über nicht 
ein Auge geichlofien, hatte ich ihm angefehen, 
und ohne böfe Gedanken ging ich um zwei Uhr 
wieder ins Gymnaſium mit dem Vorſatz, beim 
Vachhauſeweg in der Hirſchelgaſſe nachzuſchauen. 
Das tat ich auch, es war halb fünf und dämmerte 
ſchon ftart, als ich am Tucherhaus war, aber wie 
wurde mir, al3 mir der Pförtner mitteilte, Caſpar 
babe ſchon um zwölf Uhr das Haus verlafien 
und angegeben, er ‚gebe zu mir. Ich war wie 
vor den Kopf gefchlagen; neben aller Verant⸗ 
wortlichkeit durfte ich auch die begründetite Sorge 
für den armen Menfchen hegen; ich lief in meine 
Wohnung, da hatte fich fein Gafpar bliden laſſen, 
ich ſchickte die Schwefter zum Bitegermeilter, die 
alte Mutter fogar machte fich auf die Beine, um 
bei einigen Bekannten nachzufragen; während» 
296 


Antli verriet nichts als einen unbeweglichen, gar 
nicht einmal fchmerzlichen, fondern ftarren, faſt 
ftupiden Ernſt. Meine Mutter fuhr fort, in ihn 
zu dringen, er folle doch jagen, wo er herfomme 
und wo er geweſen ſei. Da fah er uns alle der 
Neihe nach an, jchüttelte den Kopf und faltete 
bittend die Hände. 

Wir beredeten und nun, daß Caſpar in un⸗ 
ſerm Haufe bleiben und da übernachten folle; 
wir hatten, um das Auffehen wegen Caſpars 
Verſchwinden gleich wieder zu erftiden, die Magd 
zum Bürgermeifter gefchiett, auch zu den andern 
Leuten, die wir ſchon inkommodiert hatten, und 
meine Mutter ging in die Küche, um fürs Abend- 
efien zu forgen, da erſchien der Tucherfche Diener, 
erfundigte ji), ob Caſpar bei ung fei, und als 
wir die bejahten, fagte er, ex folle gleich nach 
Haufe, der WBolizeileutnant Hidel aus Ans- 
bad) wäre da und Caſpar müfje noch am Abend 
mit ihm abfahren. Eine folhe Botichaft kam 
mir nicht weiter unerwartet, nur daß die Sache 
gar fo eilig fein folle, verſetzte mic, einigermaßen 
in Wallung, und ich war unüberlegt genug, dem 
Menſchen eine fcharfe Antwort zu geben; wenn 
ich mich recht erinnere, fo fagte ich, der Herr 
BVolizeileutnant möge fich doch gedulden, es fei 
ja nicht ein Sad Kartoffeln zu erpedieren, den 
man bolterdiepolter auflade. Meine Erregung 
muß jedem verftändlich erjcheinen, der das Vor— 
hergegangene in gerechte Erwägung zieht, es 
Tamen mir aber doc Bedenken an, ich ärgerte 
mich nachher über meine Unbejonnenheit und ver 
anlaßte den Kandidaten Regulein, daß er ins 
Tucherfche Haus gehe, um mit dem Herrn aus 
Ansbach zu ſprechen und ihm tunlichſt aufzu= 
298 





klären. Das wäre jomeit ganz gut gemefen, nur 
paffierte dabei die Yatalität, daß der Kandidat, 
der etwa rebfeliger Natur ift und der froh war, 
den Fremden mit irgend etwas unterhalten zu 
Tonnen, dem Heren Polizeileutnant die Gefchichte 
von dem Verſchwinden Caſpars brühwarm hinter- 
brachte, woraus fich denn fpäter der peinlichite 
Auftritt ergab. 

Es war ſchon fieben, als das Efjen auf den 
Tiſch gefegt wurde, der Kandidat war noch nicht 
zurüd, wir nahmen alle Pla und waren nun 
wieder einmal, wie in früheren Zeiten, mit 
Caſpar ganz unter und. Aber wie anders waren 
die Zeiten, wie anders Caſpar! Ich mußte mic 
den Menjchen beftändig amjehen, wie er mit 
niebergefchlagenen Augen daſaß und Luftlos in 
der Grüße löffelte. Seine Blicke waren jest un- 
ruhig und bisweilen überlief ein Schauber feine 
Haut. Lange konnte ich mich folchen — 
tungen nicht überlaſſen, denn gegen viertel acht 
wurde mit ſonderbarer Heftigfeit an der Haus- 
glocte gerifjen, Anna lief hinunter, um zu öffnen, 
und alsbald erjchien ein Offizier in Gendarmen- 
uniform, und bevor er noch feinen Namen nannte, 
wußte ich natürlich, wer e8 war. Cafpar war 
bei dem grellen Glodenlärm ſtark zujammen- 
gefahren. Hinzufügen muß ich noch, daß die 
vorher erwähnte Auseinanderfegung mit dem 
Diener jowie das Gefpräch mit dem Kandidaten 
im Flur vor der Treppe ftattgefunden umd 
Caſpar nichts davon gehört hatte; er erhob fich 
jegt und fchaute mit einem langen Blick gegen 
die Türe, und als er des Herrn Sofigeifeutnants 
anfichtig geworden, wurden feine Wangen wieder 
genau jo tödlich fahl wie tags zuvor, da ich in 

29 


fein Zimmer gelommen war. Ich kann mir, 
wenn ich die Tatfachen im Zufammenhang gegen« 
einander halte, feine andre Erklärung denken, 
als daß Cafpar alles das, was fih nun feit 
vierundzwanzig Stunden abfpielte, von innen aus 
erriet, fozufagen durch ein inneres Geſicht, und 
daß er der äußeren Beftätigung durch die Er— 
eigniſſe gar nicht mehr —— denn es gab ſich 
eine Verſunkenheit an ihm kund, die ich nur mit 
der ſchrecklichen Ruhe eines Schlafwandlers ver⸗ 
gleichen kann. Ich ſelbſt war nachgerade fo be⸗ 
nommen, daß ich, wie ich fürchte, Herrn Hickel 
mit einer unfreundlich wirkenden Kälte empfing. 
Glücklicherweife fchien diefer Leine Notiz davon 
zu nehmen, und nachdem er fich gegen meine 
Damen verbeugt, wandte er ſich an Caſpar und 
fagte mit einem Ton der Ueberrafchung, der freis 
lich nicht ganz aufrichtig Hang: „Das ift alfo 
der Haufer! ft ja ein ganz ausgemachfener 
Menjch, mit dem wird fich ja reden lafjen!" Cafpar 
ſchaute den Mann groß an, und zwar mit einem 
finfter prüfenden Blick, in dem durchaus nichts 
Wehleidiges ober Jämmerliches war. Es ent 
ftand nun ein alljeitiges Schweigen; ich über- 
legte mir, wie ich es anftellen könnte, damit Ca- 
par die Nacht über noch in meinem Haufe bleiben 
önne, denn in feinem Buftand ihn einem Frem- 
den zu überlafjen erjchien mir unratfam. Ich 
erflärte mich Herrn Hickel mit offenen Worten, 
er hörte mich ruhig an, fagte aber dann, er habe 
gemefjenen Auftrag, Cajpar gleich mitzunehmen, 
es fei feine Zeit zu verlieren, die Sachen müßten 
noch gepadt werden und der Wagen Rebe ſchon 
bereit. Meine Schweſter Anna, unbändig wie 
fie ift, vief mir zu, ich folle mich darum nicht 
300 


kümmern, zugleich trat fie, wie um ihn zu ſchützen, 
an Caſpars Seite. Herr Hickel lächelte und fagte, 
wenn uns fo viel an einem Auffchub gelegen ſei 


aus, al3 es die ärgſte weftrhtung malen konnte. 
Beſonders die letzten Worte des Leutnants hatten 
mich wie auch meine Angehörigen mit Schrecken 
erfüllt. Was ſollten wir von der Zukunft Caſpars 
denken, was von feinem Glüc erhoffen, wenn 
Drohungen von fo brutaler Art unverhüllt auftreten 
durften? Das Herz war mir fehwer geworden. 
* Doch war zu grübeln nicht die Zeit. Ich beſchloß, 
zum Bürgermeifter zu gehen und mich mit ihm zu 
beraten. Anna hatte — auf dem Sofa ein 
Lager bereitet, fie —* Caſpar hin, er ſank 
nieder, und kaum ruhte ſein Kopf auf dem Kiſſen, 
fo ſchlief er auch ſchon. Indes ich mich zum 
Fortgehen anſchickte, läutete es, und Herr Binder 
tam jelbft. Ich verftändigte ihn in Eile von 
dem VBorgefallenen, er war höchlichſt befremdet 
von dem Auftreten des Ansbacher Herrn, und 
da er e3 für tunlich hielt, mit diefem felbft zu 
ſprechen, forderte er mich auf, ihn zu begleiten. 
Wir überliegen Caſpar der Obhut ber Frauen 
und gingen in die Hirfchelgaffe. Es hatten fich 
trog der Abendftunde eine Menge Menfchen 
Kg nr Fer der ae Zozuage he 
dem Tucherjchen Haus eingefunden, die, ich wei 
nicht durch welche Umftände, von der bevor- 
ftehenden Abreife Caſpars unterrichtet waren und 
eis | laut, teil murrend ihre Mißbilligung aus- 


en. 

AL wir die Tür von Cafpar3 Zimmer ges 
öffnet Hatten, bot fi uns ein fonderbarer An- 
blick. Die Kommodeihubladen und Schränte 
waren vollftändig ausgeräumt; Wäſche, Kleider, 
Bücher, Papier, Spielwaren, alles lag wäft auf 
dem Boden und auf Stühlen, und Herr Hidel 
kommandierte den Diener, der damit begonnen 
302 





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zu nehmen. Herr Hicel verfeßte, das fei uns 
möglich, er habe ftriften Befehl und müffe auf 
feiner Anordnung beftehen. ir waren ratlos, 

Der Polizeileutnant hatte Bi auf den Tiſch⸗ 
rand gejest und blickte und Schweigende ſpöttiſch⸗ 
erwartungsvoll an. Da vernahmen wir Schritte, 
und als wir und ummandten, die Türe ftand 
offen, jahen wir Caſpar und hinter ihm meine 
Schweſter. Anna_flüfterte mir zu, Cafpar fei 
kurz nad) unferm Fortgehen erwacht, er habe er- 
ärt, mit dem fremden Mann gehen zu wollen, 
und fich durch feinen Einwand zurüchalten laſſen; 
jo habe fie ihn denn begleitet. 

Caſpar ſchaute ſich forſchend um, dann fagte 
ex, zu Herrn Hickel gewandt: „Nehmen Sie mich 
nur mit, Herr Offizier. Ich weiß fchon, wohin 
Sie mich bringen wollen, ich fürcht' mich nicht.“ 
Es war in diefen Worten, jo wenig Bejonderes 
fie enthielten, ein wunderbarer Antrieb und das, 
was man Haltung nennt, und ich kann nicht ver 
eg daß ich durch fie aufß tieffte bewegt wurde. 

hätte viel darum gegeben, wenn ich Cafpar 
jest eine Stunde lang für mich allein hätte haben 
Tönnen. Der Herr Polizeileutnant verbarg feine 
Freude über die unvermutete Wandlung nicht 
und antwortete lachend: „Na, fürchten, Saufer! 
Warum nicht gar! Es geht ja nicht nad Sir 
birien!" Er näherte fih nun dem Jüngling, 
legte beide Hände auf deſſen Schulter und fragte: 
Seht feien Sie einmal ganz offen, Sauer, und 
‚lagen Sie mir ohne Umſchweife, wo Sie den 
Nachmittag über gefteckt Haben?“ Cafpar ſchwieg 
und bejann 5% ann entgegnete er bumpf: 
„Das Tann ich Ihnen nicht fagen." — „Ja wie 
denn, was denn, was foll das heißen, heraus 


804 


mit der Sprache!" rief der Leutnant, und Caſpar 
darauf: „Ich hab' was eu — „a, was 
i eg." — „Bum 


jeinen fei. Die Zunächftitehenden ftießen drohende 
Neden aus, Herr Hidel forderte vom Bürger- 
meifter, daß er die Wache aufziehen laſſen folle, 
doch eine ſolche Maßregel erklärte diefer für über- 
flüſſig, und in der Tat genügte fein bloßes Er— 
ſcheinen, um die Ruhe wiederherzuftellen. 

As Caſpar zum Wagenfchlag trat, rannte 
alles zuhauf, jeder wollte ihn noch einmal jehen. 
Die Fenſter der gegenüberliegenden Häufer waren 
erleuchtet und Frauen winkten mit Tüchern herab. 
Die Kiften und Vachen waren aufgebunden, der 

Baffermann, Gafpar Haufer 20 305 


Kutſcher fchnalzte, die Pferde zogen an — und 
fort war er. 

Hebergeugt, daß Eure Erzellenz zu den wenigen 
aufrichtigen Öönnern bes Sünglings gehören, fühlte 
ich mich im Innerſten gedrängt, Ihnen über dieſe 
Vorfälle genauen Vericht zu erftatten. Nur einige 
Stunden find feit den erzählten Begebenheiten 
verflofien, e3 ift weit über Mitternacht, die Feder 
will meiner Hand entfinten, aber ich durfte feine 
Feift verftreichen lafjen, um nicht felber zum 
Falſcher meiner Erinnerung zu werden. Wo die 
Verleumdbung jo unermüdlih am Werk ift, foll 
auch der utgefinnte eine Nachtwache mic heuen, 
wenn er zu fürchten bat, daß ihn der bloße 
Schlaf nur um eine Linie von der Deutlich 
teit feines Erleben betrügen könnte. Vielleicht 

inden Eure Exgellenz, daß ich die Dinge: faljch 
eute oder in ihrer Wichtigkeit überſchätze. Mag 
fein, ich habe jedoch meine Pflicht erfüllt und bin 
mir feiner Verjäumnis bewußt. Sch trage ſchwere 
Sorge um Caſpar, ohne daß ich ganz zu jagen ver⸗ 
möchte weshalb, aber ich bin nun einmal als Geifter- 
und Gefpenfterjeher auf die Welt gekommen, und 
Fe Auge fieht den Schatten früher als das 
icht. 

Nicht vergeſſen will ich zum Schluß die Er- 
mwähnung, daß mir Here von Tucher bei feinem 
Iegten — die hundert Goldgulden übergab, 
die Caſpar vom Herrn Grafen Stanhope geſchenkt 
erhalten. Ich werde die Summe mit nächſter 
fahrender Poft an Eure Erzellenz überfchiden. 


Frau Behold an Frau Quandt: 

Werte Frau, excusez, daß ich mich jchriftlich 
an Sie wende, was Gie ertraordinaire finden 
306 . 





werden, da ich Ihnen doch im ganzen fremd bin, 
obwohl Sie in meiner Eltern Haufe Ihre Jugend 
verlebten. Mit großem Etonnement vernehme 
ih, daß der Caſpar Haufer nunmehr in Ihrem 
Sem weilen wird, und ich fühle mich gedrungen, 
‚nen zum Belehr etwelches über den Sonder- 
ling zu eröffnen. Sie wiſſen body‘, daß der 
SHaufer das Wunderfind von Nürnberg war. 
ob und Verhätfchelei hätten bei einem Haar den 
Rnaben zum Narren gemacht, es ift eben ein 
tolles Volk dahier. In ſolchem verderbten Zu- 
ftand haben wir ihn aus reinem driftlihem it⸗ 
leid und, ich ſchwöre, ohne jede Nebenabſicht zu 
und genommen. Bei aller Tollheit haben die 
andern doch vor dem vermummten Kerl mit dem 
Beil Angft gehabt, wir aber fürchteten nichts, 
und der Haufer wurde bei ung mie ein Kind 
geliebt und eftimieret. Uebel ift ung das gelohnt 
worden; feine Erfenntlichkeit vom Haufer, und 
noch dazu die böfe Nachrede feines Anhangs. 
Wieviel ärgerliche Stunden, wieviel Verbruß 
er und ducch feine entjebliche Lügenhaftigteit be= 
reitet hat, davon find alle Mäuler ftumm. Nach- 
ber freilich hat er alleweil Befjerung gelobet und 
ward mit feifcher Liebe an unjer Herz gefchloffen, 
aber fruchten tat es nichts, der Lügengeift war 
nicht zu bannen, immer tiefer verjan er in diefes 
abjcheuliche Laſter. Iſt viel Gerede geweſen von 
feinem keuſchen Sinn und feiner Innocence in 
allem Dahergehörigen. Auch Hierüber kann ich 
ein Wörtlein melden, denn ich hab’3 mit meinen 
eignen Augen gefehen, wie er fi) meiner damals 
dreigehnjährigen Tochter, heute ift fie in der 
Schweiz in Penfion, unziemlih und unmiß- 
verjtehlich näherte. Nachher zur Rede geitellt, 
807 


wollt’ er's nicht wahr haben, und aus Rache 
hat er mir die arme Amfel umgebrungen, die 
ich ihm donationieret. Gebe Gott, daß Sie 
nicht Ähnliche Erfahrungen an ihm machen; er 
ſteckt voller Eitelkeit, meine Liebe, voller Eitels 
teit, und wenn er ben Gutmäütigen agieret, ift 
der Schalf dahinter verborgen, und fo man ihm 
den Willen bricht, ift es mit feiner Katzenfreund⸗ 
lichkeit am Ende. Wieviel wir auch durch fein 
deteftable8 Betragen zu dulden hatten, Undank 
und Galomnie, aus unfern Lippen ift eine Klage 
gefahren, denn warum, man hätt’ ihm auch dann 
die Wahrheit nicht mehr glauben können, und 
ein Betrüger ift er nicht, nur ein armer Teufel, 
ein fehr armer Teufel. Ihnen und dem Herrn 
Gemahl glaube ich Hingegen einen Gefallen zu 
erweifen, wenn ich die Dede Lüpfe, unter ber er 
feinen Unfug treibet; der gegen ihn fo gütig ge 
finnte Graf Gtanhope wird gewiß bald zu der 
ſchmerzlichen Entd un elangen, daß er eine 
Schlange an feinem fen nähret. Wäre der 
Here Graf nur zu mir gelommen, dieſes aber 
hat der Pfiffikus Haufer hintertrieben, und aus 
guten Gründen. Seien Sie nur recht wachjam, 
ute Frau; er hatte alleweil Heimlichkeiten, bald 
$, bald dort verſteckt er was in einem Winkel, 
das läßt auf nichts Gutes fchließen. Und nun 
bitte ich Sie oder den Herrn Gemahl, mir in 
einiger Zeit Nachricht zu geben, wie fih Ihr 
Bögling produzieret und was Sie von ihm halten, 
denn ohneracht alles Gejchehenen nimmt er doch 
ein Plägchen in meinem Herzen ein, und ich 
wünſche nur, daß er tätig an feiner Selbft- 
befferung arbeite, ehe er in die große Welt 
entrieret, wo er viel mehr Kraft und Be 


308 


ftändigfeit vonnöten haben wird als in unfrer 
tleinen. 

Von mir ſelbſt iſt nicht viel Gutes zu ſagen, 
ich bin krank; der eine Doktor meint, es ift ein 
Geſchwũr auf der Milz, der andre nennt's eine 
Maladie du cœur. die große Teuerung der 
Zebensmittel ift auch nicht angetan, einem die 
Laune zu verbeffern, Gott fer Lob gehen die 
Mannsgefhäfte im allgemeinen gut. 


Bericht Hickels über den vollführten Auftrag 
der Ueberſiedlung Cafpar Haufers: 
traf am 7. ds. vorjchriftsgemäß in Nürn- 
berg ein, verfügte mich fogleih in die Wohnung 
des Freiherrn von Tucher, fand aber den Ku- 
randen nicht zu Auer und erfuhr zu meiner Ver- 
wunderung, daß er fich den ganzen Nachmittag 
über aufſichtslos und unbefannt wo herumgetrieben 
babe, was doch gegen die Vorjchrift ift, und daß 
ex ſich zurzeit beim Profeſſor Daumer aufhalte, 
wahrfcheinlich in der Abficht, die Reife zu ver- 
zögern und dabei die Unterftügung feiner Freunde 
zu finden. Denn als ich bei Herrn Daumer vor- 
ſprach, wurden zu bejagtem Zwed alle möglichen 
Ausreden verfucht, au gefiel ſich der fu 
felbft in einigen leicht Durchfchaubaren Schnurr- 
pfeifereien, was mich aber nicht hinderte, auf der 
mir erteilten Weifung zu beharren. Eine ftrenge 
Inquiſition nach feinem Verbleib während des 
Nachmittags blieb fruchtlos, der Burfche gab die 
albernften Antworten von der Welt. Mein ent 
ſchiedenes Auftreten hatte die Wirkung, daß von 
einer Verzögerung nicht weiter gefprochen wurde, 
um neun Uhr war der Wagen zur Stelle, es 
war großer Zulauf in ben Gaffen, die Leute, 
309 


vermutlich insgeheim aufgehegt, gebärbeten ſich 
einigermaßen tevoltant, wurden aber durch meine 
Drohung, daß ich bie Wache aufziehen laſſen 
würde, önell eingefchüchtert. Dem Kutfcher ge- 
bot ich Eile, und nach einer Viertelftunde — 
wir das MWeichbifd der Stadt verlaſſen. Wäh- 
rend, der ganzen drei Stunden bis zum Dorfe 
Großhaslach fieß mein Kurand nicht eine Silbe 
verlauten, fondern ftarrte ununterbrochen in die 
Dunkelheit hinaus; gewiß mag es ihm gar trüb- 
felig zumute geweſen fein, da er nun doc er- 
Tennen mußte, daß e3 mit feinen großen Hirn- 
geipinften atthäi am letzten war. ch hatte 
en Gergeanten nad, Großhaslach beftellt, und 
derweil die Pferde gefüttert und getränkt wurden, 
verfügten wir und % die Poſtſtube. Haufer legte 
ſich dafelbft atjogteich auf die Ofenbant und ent 
ſchlief. onnte aber des Verdachts nicht 
ledig werden, daß er ſich nur ſchlafend ſtellte, 
um mich und den Sergeanten ficher zu machen 
und unfer Gejpräch zu belaufchen. a diefem 
Argwohn beträftigte mic) auch das jedesmalige 
Blmyeln feiner Lider, wenn ich in nicht gerade 
ſchmeichelhaften Ausdrüden feiner Perſon er- 
wähnte. Um der Sache auf den Grund zu gehen 
und zugleich herauszubringen, was e3 mit dem 
allerwärt3 verbreiteten Märchen von feinem ſtei⸗ 
nernen Schlummer für eine Bewandtnis habe, 
nahm ich meine Zuflucht zu einer kleinen Lift. 
Nach einer Weile gab ic nämlich dem Sergeanten 
einen Wink, und wir erhoben uns leife, ald ob 
wir gehen wollten, und fiehe da, kaum hatte ich 
die Turklinke gefaßt, fo {chnellte mein Haufer 
wie von der Zarantel geftochen empor, tat ein 
wenig wirr und verftört und folgte uns, die wir 


310 








uns faum das Lachen verbeißen konnten. Im 
Wagen fragte mich Haufer plößlich, ob der Herr 
— noch in Ansbach weile; ich bejahte, fügte 
. aber Bing, daß Seine Lordichaft diefer Tage 
gen Frankreich fahren werde, worauf Haufer einen 
tiefen Seufzer ausſtieß; er Iehnte fich in die Ecke 
zurüd, fchloß die Augen und fchlief nun wirklich 
ein, wie ich aus feinen tiefen Atemzügen ent- 
nehmen konnte. Die Weiterfahrt verlief ohne 
bemerkenswerte Vorfälle, e8 war ein Viertel nach 
drei, als wir bei Schneetreiben vor dem Stern- 
gafthof anlangten; ich hatte diesmal harte Mühe, 
den Haufer aus dem Schlaf zu bringen, und erft 
als ich ihn energiſch anichrie, entfchloß er fich, 
aus der Kutfche zu fteigen. Da nur der Tor- 
wart zugegen war und ich den Herrn Grafen 
nicht weden laſſen wollte, brachten wir den jungen 
Menſchen in eine Kammer unterm Dach; ich be- 
fahl ihm, fich zu Bette zu begeben, fperrte der 
größeren Sicherheit halber die Tür von außen 
zu und hieß meinen Sergeanten, bis zum Anbruch 
des Tages auf Wache zu bleiben. Soll ich nun 
um Sätuffe über die Perſon und das Betragen 
e3 Kuranden ein Urteil abgeben, jo muß ich 
befennen, daß mir der Junge Mann wenig Syms 
pathie oder Mitgefühl abnötigte. Sein_ver- 
ſchloſſenes, trotziges und Hinterhältiges Weſen 
läßt auf einen, wenn auch nicht verdorbenen, 
fo doch amgefaulten und widrigen Charakter 
ſchließen. Von wunderbaren Eigenfchaften hab’ 
ich an ihm nicht8 beobachtet, als eine in der Tat 
wunderbare Begabung zur Schaufpielerei, was 
noch milde ausgebrüdt ift. ch fürchte, man 
wird hieſigenorts manche Enttäufhung an ihm 

erleben. 
311 


Binder an Beuerbath: 
Um des ferneren allem überflüffigen Gerede 
und Vermuten vorzubeugen, das in derſelben 
Sache ſchon an Eure Exzellenz gelangt fein mag, 
diene die Nachricht, daß ich bereits genügenden 
Aufſchluß habe über den rätjelhaften, vier bis 
fünf Stunden andauernden Verbleib Caſpar 
auſers am Iehten Nachmittag feines Aufent- 
alt? in Hiefiger Stadt. Freilich, diefer Auf- 
ſchluß ift im Grunde keiner, denn fo wenig der 
Jüngling fich ſelbſt hatte erflären wollen, fo 
wenig erklären die mir bekannt gewordenen 
Einzelheiten feine ganze Handlungsweiſe. 

Ich will mich kurz faſſen. Am Morgen u 
Caſpars Abreife kam der Ba Hi 
zu mir und berichtete, der Haufer ſei geftern 
mittag nach eins bei ihm auf dem Turm er- 
ſchienen und Habe gebeten, ihm-die Kammer zu 
zeigen, worin er einſt gefangen gemwefen. Bus 
u ig war an jenem Tag fein Säflin auf dem 

uginsland, und er, Su, babe nach einigem 
verwunderten Fragen und Forfchen Gafpar ein- 
treten laffen. Nachdem er eine Weile grübelnd 
dageftanden, begab er fich im diejelbe Ede, wo 
Fr em fein Strohlager gemwejen, hodte auf den 

oden und brütete ftumm vor fich hin. Dem 
Hill war das befremdlich, und da alle Verfuche, 
den Yüngling feiner Lethargie zu entreißen, nichts 
fruchteten, te er in feine Wohnung zurück 
und machte feiner Ehefrau von dem Vorfall 
Mitteilung. Sie überlegten gerade, was zu tun 
fei, da kam Caſpar von —— die Stufen herunter 
und trat in das Zimmerchen, das ihm ebenfalls 
von früher wohlbekannt war, das er jedoch mit 
bohrend nachdenklichen Blicken durchmufterte, ge— 
312 





nau wie er oben in der Zelle getan. Hill und 
ein Weib dachten nicht anders al3 der arme 
enich habe den Verftand eingebüßt. Die Frau 
näherte ſich ihm, ftellte einige Fragen, erhielt 
aber feine Antwort. Da fiel fein jchweifendes 
Auge, auf die beiden Kinder des Wärters, die 
auf einem Tritt beim Fenfter mitfammen fpielten, 
und plößlich lächelte er gar wunderlich, ſchlich 
fich heran und ſetzte fih am Rand des über den 
joden erhöhten Tritt3 nieder. 

HiN tat das Vernünftigfte, was er tun konnte, 
er ließ ihn gemäheen und wartete ab, mas daraus 
werden würde. Nachdem ſich Cafpar alſo nieder- 
gelafjen, begann er die zwei Kinder auf eine 
Weiſe anzuftarren, als ob er nie im Leben Kinder 

eſehen hätte; er beugte fich vorwärts, er ftudierte 
fi ihre Finger, ihre Lippen, feine heiß- 
hungrigen Blicke verfchlangen — jede ihrer 
Gebärden; der Frau wurde dabei angſt und bang, 
mit Mühe hielt Hill fie ab, dazwiſchenzufahren, 
denn er fürchtete nichts. „Kenn’ ich doch Haufers 
janfte Seele," fo drüdte er fich mir gegenüber 
aus. Auf einmal fprang Cafpar auf, ftrecte die 
Arme in die Luft, ftöhnte, ftarrte vor fich hin, 
als jehe er einen Geift, dann kehrte ex fich um 
und rannte mit erftaunlicher Geſchwindigkeit zur 
Tür und die Treppe hinunter auf den Platz. 
gu folgte ihm unverzüglich, denn er ſchloß mit 
echt, daß Caſpar in einer bedenklichen Ver— 
fafjung fei und daß man ihn fo nicht fich jelber 
überlafjen dürfe, As er den Burgberg herunter 
gegen die FUN lief, gewahrte er ihn noch recht» 
zeilig und Tonnte ihn im Auge behalten. 
par eilte num durch mehrere Gaffen, und 
zwar ganz unfinnig die kreuz und quer, danach 
313 


über die Glacis und nad) St. Johannis hinüber. 
Hill folgte in einer Entfernung von fünfzig oder 
Es Ellen und hatte auf jede Bewegung 
Caſpars — u acht. Trotzdem es den Anſchein 
ielloſen Gehens hatte, war doch ber Schritt des 
Fünglings fo beichleunigt, ge ungeduldig, als 
wolle er ein vor ihm fliehendes Etwas erhafchen. 
Es ging nun dur die Mühlgaffe, am Ende 
dieſer Gaſſe breitet ſich das flache Feld aus und 
die Straße verwandelt ſich in einen Wieſenweg, 
ber läng$ der Mauer des Johanniskirchhoſs gu 
Pegnitz und zum Wald hinunterführt. An 
Kirchhofsmauer, die fe niedrig ift, daß auch ein 
mittelgroßer Menſch leicht über jie hinwegbliden 
Tann, blieb Safpar jählings ftehen, riß den Hut 
vom Kopf und preßte die Hand gegen bie Stirn. 
Es wird Eurer Eyzellenz bekannt jein, eine wie 
ungeheure Wirkung fehon früher einmal bei der 
Annäherung an den Gräberort an ihm wahr: 
genommen 9 orben it. Er ſchien zu zittern, er - 
atmete mit offenem Mund, feine Züge drückten 
Grauen aus, die Hautfarbe wurde bleifahl, er 
I aus, al fönne er ſich nicht losreißen, plöb- 
aber ftürzte er fo fchnell weiter, daß fein 
Beobachter Mühe hatte, ihm nah zu bleiben, auch 
dachte Hil, Gafpar müfle ins Waſſer ftärzen, 
da er am Flußufer in ein wildes Torkeln geriet. 
Glüdlicherweife wandte er ſich gegen den Haben 
Forft und an alsbald zwifchen den 
Stämmen. Hill hatte Angft, daß er ihm ent- 
tommen lönnte; er bemerkte einige Arbeiter, die 
an einer Erdgrube Sand ſchaufelten, und forderte 
fie auf, ihm zu helfen; drei oder vier gefellten 
ga zu ihm, und fie drangen verteilt ins Gehölz; 
och Hill jelbft war es, der Caſpar nach langem 


314 





Suchen und al8 er ſchon höchlichſt beforgt wurde, 
zuerſt wieder erblidte. Er ſah ihn kniend am 
ß einer mächtigen Tanne, er fah, wie er die 
nde aufhob, und hörte ihn mit einer leiden- 
Beſug flehenden Stimme rufen: „O Baum! 
du Baum!“ Nichts weiter als diefe Worte, 
und mit folchem Gefühl, wie man ein Gebet 
fpricht, wenn der Geift in höchiter Bedrängnis 
it. Hill fagte aus, er habe es nicht über ſich 
ebracht, ihn anzurufen, überhaupt hat der ein 
fache Mann bei all diefen Vorgängen ein Bart 
gefühl und eine Menfchlichfeit bemwiefen, um 
deretwillen ich ihm meine Anerkennung nicht ver⸗ 
fagen kann. Die Arbeiter, die er mitgenommen, 
riefen ihm, er gab ein Zeichen, fie Tamen herbei; 
Caſpar hatte Fr indes erfchroden aufgerichtet, 
blickte die Leute der Reihe nach an, und es jchien, 
als erkenne er Hill nicht. Diefer dankte den 
Männern und bedeutete ihnen, daß er fie nicht 
mehr brauche. Don ihm untergefaßt, Tieß fich 
Caſpar ohne Widerftand aus dem Forft heraus- 
führen; im Gegenfah zu feinem bisherigen Wefen 
zeigte er nun eine volltommene Gelafjenheit. Hill 
fragte ihn, wohin er denn gehen wolle, und nad} 
einigem Zögern antwortete Gafpar, er müfje zum 
Mittagefien zu Herren Daumer. Da lachte Hill 
und erinnerte ihn, daß Mittag längft vorbei jei; 
als fie vor der Stadtmauer ankamen, begann es 
ſchon zu dämmern. Caſpar ging jetzt außer 
orbentlih langſam, und trogdem Hill um vier 
Uhr auf der Poigeinnaghe hätte fein follen, be» 
gleitete er ihn noch zu Profeſſor Daumers Haus 
und wich erſt von der Stelle, als ſich das Tor 
hinter feinem Schüßling gefchloffen hatte, 
Dies, Erzellenz, die getreue Wiedergabe deſſen, 
. 315 


wa3 der Mann berichtet bat. Ich habe feine 
Erzählung, deren Glaubwürdigkeit zu bezweifeln 
tein Anlaß vorliegt, protofollieren lafjen. Aus 
den Begebniſſen jelbit weiß ich, wie gelant, nichts 
zu machen, auch ift es nicht an mir, den Schlüffen 
Eurer Erzellenz vorzugreifen. Geftern habe ich 
mid) von Hill zu der Stelle führen laſſen, wo 
Cafpar Eniend gefunden wurde, denn ich dachte 
mit, daß da vielleicht etwas Beſonderes jei. Es 
ift, ungemöhnlich bei folcher Stadtnähe, ein 
friedensvoller Ort; der Wald ift dicht beitanden, 
lautlofe Einfamteit fordert zu befchaulicher Stim« 
mung auf. Hill erkannte den Platz mit Sicher- 
heit wieder und deigte zum Beweis auf Fuß- 
abdrüce und zermühltes Moos. Sonft habe ich 
nicht3 Bemerkenswertes wahrgenommen. 

Der Bolizeifoldat, der durch feine Nachläffig- 
keit in Caſpars Bewachung all diefes verjchuldet 
bat, wurde der verdienten Strafe zugeführt. 


Lord Stanhope an den Grauen: 

Ich weile noch immer in dem meltentlegenen 
Net, obwohl ich. zu Weihnachten in Paris fein 
wollte. Ich fehne mich nach freier Ronverfation, 
nach Mastenbällen, nach ber italienifchen Oper, 
nad einem Spaziergang. auf den Boulevards. 
Hier find aller Augen auf mich gerichtet, jeder 
will teilhaben an mir; von einer gemifjen Hof» 
ratsfamilie, die nicht in den beften Verhältniſſen 
lebt, wird erzählt, fie habe eine goldene Stehuhr, 
ein vortreffliches Erbſtück, verfeßt, um eine Soiree 
zu Ehren des Lord3 geben zu können. Man 
verdächtigt eine Dame, rau von Imhoff — ur- 
alter Patrizieradel! —, der näheren Beziehung 
zu mir, vielleicht nur deswegen, weil die Arme 
316 


in einer unglücklichen Ehe lebt, an der ſich der 
Klatſch feit Fahren mäftet. Scherzhafter Unfinn. 
Die Dame ift, leider, ein makelloſer Menſch. Das 
übrige Volk ift faum der Rede wert. Die guten 
Deutjchen find fervil bis zum Erbrechen. Der 
behäbige KRanzleidireftor, der mit einer ſtklaviſch 
tiefen Reverenz ben Hut vor mir zieht, würde 
mir mit Vergnügen die Stiefel pugen, wenn ich's 
ihm. befähle. Nichts hindert mich, hier eine Art 
ligula zu fpielen. 

dur Sade. Ein äußerer Grund meines Ver— 
weilens hier ift nicht mehr vorhanden. Der bis⸗ 
lang vorgefchriebene Teil meiner Aufgabe ift er- 
Ir Was verlangt man noch von mir? Weſſen 
lt man mich noch weiterhin für fähig? Hat 
Euer Hochgeboren oder dero Gebietende noch in- 
time Wünjche, fo wäre e3 geraten, fie in Bälde 
vernehmen zu laffen, denn der ergebenft Unter 
zeichnete ift fatt. Die Mahlzeit füllt ihn bis zum 

Hal, er muß jest ans Verdauen denken. 
gehe mit der Abficht um, in Nom Prälat zu 
werden oder mich hinter Kloſtermauern einzu= 
fperren, vorher muß ich noch das nötige Schwer- 
eld für den Ablaß beifammen haben; wenn der 
apft kein Einfehen hat, Fehr’ ich in den Schoß 
der puritanifhen Kirche zurüd, fo bin ich wenig. 
ftend der Sorge und des Efel3 enthoben, mir 
den Bart wachen laffen zu müffen. Auch in 
meinem Land gibt es Masten und jedenfalls ein 
würdigeres Koftim. Iſt der Minifter 9. in S., 
der Penfionift, von allen Vorgängen Berftänbigt 
und bat man Ahn jegen eberfälle gefichert? An 
welcher Bantjtelle fann ich meinen nächften Zins⸗ 
groſchen beheben? Dreißig Silberlinge; mit 
welcher Zahl darf ich die Summe multiplizieren ? 
317 


Denn auf Multiplikation ift num einmal_mein 

Leben — Herr von F. iſt vor einigen Tagen 

nach München abgereiſt; dies zur Notiz. Das 
bewußte Dokument ift, wie ein ranziges Stück 
Zleifch, von einem gemwiflenhaften Raben in Aus- 
fiht genommen, vorläufig aber noch unzugänglich. 
Wie hoch normiert man den Preis und, follten 
im Sriegsfalle fühnere Maßregeln geboten fein, 
was billigt man demjenigen zu, der die Hölle um 
einen neuen Untertanen reicher machen will? ch 
muß die wiffen, gegenwärtig ftellen aud bie 
eringſten Diener- des Satans ihre Anfprüche. 
Denn Herr von F. fo weit fommt, mit der 
Königin zu verhandeln, wie er beabfichtigt, muß 
ein geeigneter Nepräjentant gefunden werben, 
um das angefachte Feuer zu löſchen; freilich 
wird dann das ranzige Stück Fleifch anfangen zu 
ftinfen. Dabei fällt mir ein penetranter — 
in dem letzten Schreiben von Eurer Hochgeboren 
ein; wie lautet er doc) ‚ges: „Sie beginnen, 
mein lieber Graf, zu viel Wert auf das Ver- 
ruchte und DVerfluchte zu legen, fobald e8 nur 
einen Anſchein von Zweckmäßigkeit und Behendig- 
teit hat.” Ich nehme diefen Worten die Schminte 
und leſe: es ijt unglaublih, was Sie für ein 

. Spigbube find. Kennen Sie die hübſche Replik 
des alten Fürften M., als ihn der amerikanifche 
Gefandte ins Geficht hinein einen Betrüger 
nannte? „Mein Lieber, Teurer,” erwiderte der 
Fürft mit feinem fanfteften Lächeln, „daß Sie 
doch in Ihren Ausdrüden niemals maßhalten 
konnen!“ Ya, halten wir Maß, wenn aud) nicht im 
Tun, p doch im Reben. ozu Sottifen? Ein 
Schurke wird geboren fo gut wie ein Edelmann. 
Wer ſich anmaßt, in den Lauf eines fremden Schick⸗ 
318 





ſals zu pfufchen, ift ein Philifter oder ein Dumm 
kopf, wenn nicht beides. Wer kennt mich? Wer 
will mich richten oder formen? Verrät mich nicht 
jeder ‚Atemzug? Verwandte Sterne haben über 
Ihrer -und meiner Wiege geleuchtet. Sie find 
ein getreuer Diener. Das ift eine munderfchöne 
Ausrede. Werfen Gie ab, was Sie bindet, 
fliehen Sie in eine Einöde, auf da8 Meer, in 
die Wüfte, zum Pol, auf einen andern Planeten, 
u ra Net unb erproben Sie, ob Sie ſich noch 

Glanz de3 Himmel und am Schein der 
Sonne zu freuen vermögen, und menn das ber 
Fall ift, wollen wir über das Thema weiter ver- 
handeln. Schlagen wir uns in bie Nacht wie 
Wölfe und fammeln wir Mut, denn das Opfer 
könnte mwehrhaft werden. 

Unfer Schutzbefohlener bereitet mir neueſtens 
mancherlei Sorge, und i u muß geftehen, daß 
er es ift, der mich in dieſer gottverlaffenen 
Gegend noch immer feithält. Allerdings ohne 
daß er davon weiß, aber er ift mir in jeder 
Hinſicht verdächtig geworden, und ich komme 
mir bisweilen wie ein tauber Muſikant vor, 
der auf einer verftopften Flöte fpielen muß. 
Aber nicht nur dies hält We fonbern auch mod) 
ein andres, womit ich jeboch IH find- 
famfeiten abholdes Ohr nicht Brühe will. Auf 
jeden Fall, und dies nun im Ernit, entlaffen Sie 
mich) aus der Arena. ch bin betäubt, ich bin 
müde, meine Nerven gehorchen nicht mehr, ih 
werde alt, ich fange an, den Geſchmack an Treib- 
jagden zu verlieren; es erregt meinen Wider⸗ 
willen, wenn ber geängfige aje dem Siffitten 
der Hunde von ſelbſt in die Zähne rennt, i 
zu fehr Schöngeift, um dies noch ergösli zu 

319 


den, und ich könnte kaum , 
Ba a en a —— FA 


eiberfette fchlage, die der verfolgten Kreatur 
zur Flucht verh Au Dann aber könnte ſich eine 
merfwürdige Metamorphofe begeben, der Haſe 
tönnte zum Löwen — und zurüdtehren und 
Fr ee te ibn en © in ihre 
inter! chleit ten Sie nichts: 
dies find —ãA—— und art 
Gewiſſens. 


meiner ſelbſt. Das aa befiehlt. une Lüfte 
find die Schergen der Seele. Nur der Dieb, der 
eine PBhilofo; — im Leibe — Paar ge ehängt 
zu werden. Er meiner Jugẽ 

übrig, wenn ich mir den — Rnaben 
auf iccios Bild in Venedig betrachtete, jett 
bliebe ich ungerührt, wenn man das Kind von 
der Mutterbruft rifje und feinen Schädel am 
Ninnftein zerſchmetterte. Das macht die Philo- 
fophie. Wenn fie fich beifer bezahlte, wäre ich 
vielleicht fröhlicher. Bei diefer Gelegenheit muß 
ich Ihnen einen amüfanten Traum erzählen, de 

ich neulich hatte, eine wahre Gorgo von Traum. 
Wir beide, ich und Sie, feilichten um eine gewiſſe 
Ware; plöglich unterbrachen Sie mid) mit den 
Worten: „Nehmen Sie, was ich Ihnen biete, 
denn wenn Sie jet erwachen, befommen Sie 
gar nichts." Fe fand dies Argument göttlich 
und fo wenig zu widerlegen, daß ich in der Tat, 
mit Angſtſchweiß bededt, erwachte. 

Genug, übergenug. Mein Jäger überbringt 
Ihnen diefen Brief, der durch feinen Mangel an 
Inhalt Ihren Verdruß erregen wird. Das bei- 
Tiegende Afzept, um deſſen Signierung ich_bitte, 
dürfte Sie noch weniger verföhnen. Dem Lehrer 
320 





habe ich ein Halbjahr im voraus bezahlt. Er 
ift ein brauchbarer Mann, unbeftechlih wie 
Brutus und lenkbar wie ein frommes Pferd. 
Wie alle Deutfchen hat er Prinzipien, die fein 
Selbftvertrauen hervorbringen. Gott befohlen, 
die Nacht will ihren Schlaf. 


Anbetung der Sonne 


Am Morgen nad) Caſpars Ankunft blieb der 
Lord länger als gerösnlie in feinen Zimmern. 
Auch dann vermied er es noch, Cafpar rufen zu 
lafjen, und machte erft die tägliche Promenade, 
AB er zurückkam, ging Cafpar vor dem Salon 
auf und ab; die Bewegung Stanhopes, als wolle 
er ihn umarmen, ſchien Gafpar zu überfehen; er 
blickte fteif zu Boden. Sie traten ins Zimmer, 
der Lord Anttebigte fich feines ſchneebedeckten Pelz. 
mantel3 und ftellte möglichft unbefangen Fragen: 
wie es Gafpar ergangen, wie der Abjchied, wie 
die Reife geweſen und mehr dergleichen. Caſpar 
antwortete bereitwillig, wenn auch ohne Ausführ- 
lichkeit, war freundlich und keineswegs bebrüdt 
ober vorwurfsvoll. Dies gab Stanhope zu denten, 
und e3 bedurfte einer gewiſſen Anftrengung von 
kun Seite, um die fonderbar fühle Unterhaltung 
jortzufegen. Er konnte fogar einen leifen — 
nicht unterdrücken, wenn er Caſpar anſah, der 
ihn mit feinen weinfarbigen Augen fortwährend 
fremd betrachtete. 
Es war eine Exlöfung, al der Bolizeileutnant 
- gemeldet wurde. Stanhope empfing ihn im Neben- 
zimmer; fie fprachen dort über eine halbe Stunde 


BWaffermann, Gafpar Haufer 21 321 


leife miteinander. Nachdem der Graf hinaus- 
gegangen war, trat Gafpar zum Schreibtifch, 
freine den Diamantring von feinem Finger und 
te ihm mit bedächtiger Gebärde auf einen an- 
en in englijcher Sprache gejchriebenen 
dann fehritt er zum Fenfter und blidte in 

das m en. 

Stanhope Ham allein zurüd. Er fragte, ob 
Caſpar wiffe, wo er untergebracht werden folle. 
Caſpar bejahte. 

„Es it am beften, mir gehen mal gleich zu 
den Lehrergleuten hin, um bein Lünftiges Auartier 
in Augenfchein zu nehmen,“ fagte der Lord, 

Caſpar nickte und wiederholte: „Ja, es ift 
am beften." 

„Der Weg ift nicht zii, “ meinte Stanhope, 
„wir können zu Fuß gehen; wenn du es aber 
a t und die ubringlichteit der Menſchen 

uft, die zu erwarten ift, kann ich den Wagen 
— len.“ 

„Nein,“ erwiderte Caſpar freundlich, „ich gehe 
lieber; die Leute werden ſich ſchon tröſten, wenn 
ſie fen, Fr ich aud) une Beinen ſpaziere.“ 

Da Stanhopes Blick auf ben Ring. 
Erftaunt —* er ie in bie Hand, fah Cafpar 
on, jah den Ring an, überlegte mit zuſammen⸗ 
gezogenen Brauen, lächelte Anıstig und wild, 
dann legte er den Ring jemeigenb, in eine Lade, 
die er verfeloß, Als ob nichts geſchehen wäre, 
308 ER den Mantel an und fagte: 5 bin bereit,“ 

Auffehen in den Gaffen war erträi ag; 
es Pte fih alles in Ruhe ab, das Volk hier 
war gutmätig und fcheu. 

Ueber dem Tor des Quandtſchen Haufes war 
ein Kranz aus Immergrün aufgehängt, in deſſen 
322 


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dem fehließenden Ring des Himmels ftrömt Welt 
auf Welt hervor. 

Es war nicht mehr an dem. 

Unten im Wohnzimmer bunfteten die_frifch- 

iefegten Dielen noch von Feuchtigkeit. Duandt 
Pike dem Lord die ih gften Punkte feines Bros 
gen ammö auseinander. Bisweilen ſchaute er Cajpar 

bei an, und fein Blick war dann durchdringend 
wie bei einem Schüßen, der das Biel fixiert, ehe 
er die Flinte anlegt. 

Stanhope ja; u“ er ſchätze fich sth, A 
Caſpar endlich Ausfü Lauf eine gerraete © dung 
habe, alles bisheri, en u nur Tilktr und Un- 

jefähr gemefen. der Herr Staatsrat nicht 

® feft darauf beftanden hätte, daß Cafpar in 
Ansbach bleibe — dies follte offenbar eine Er- 
Härung gegen den ftill zuhörenden Jüngling fein —, 
wären fie ohne Smile heute ſchon in England 
oder doch auf dem Weg dahin. „Da ich ihn 
aber in fo guten Händen weiß," For ex hinzu, 
„bin ich — er froh; man ſieht daraus, 
daß aud) ein unerwünfchter Bwang oft die erjprieß- 
lichften Folgen hat.” 

Seine Worte waren troden; es war, als rede 
fein Hut ober fein Stod. Das Kompliment, das 
fie enthielten, war ſchal, oft gebraucht wie Spül- 
waffer. Aber für Quandt waren fie eine Herzens» 
erquietung. x belebte fich zufehends und ee 
eifrig, e8 fei am_geratenften, wenn Cafpar noch 
heute einziehe. Stanhope ſchaute Ca} Br, fra; feagenb 
an; diefer fenkte den Kopf, worauf ir 
zu einem nachfichtigen Lächeln — 
wollen nichts überftürzen,“ ſagte er. Ich' laſſe 
morgen I das Gepäd herſchaffen, heute joll 
er noch bei mir bleiben." 

324 





€3 war dunkel geworden, als beide das Haus 
verließen. Quandt begleitete fie bis auf die 
Straße. Zurückkehrend ſchloß er ganz leife und 

. langfam die Tür, wie er immer zu tun pflegte, 
dann ftellte er fi in die Mitte des Zimmers, 
legte beide Hände flach gegen die Bruſt und . 
ſchüttelte mindeſtens eine Viertelminute lang in 
lautlofem Erftaunen den Kopf. 

„Warum fchüttelft du denn fo den Kopf?" 
fragte Frau Quandt. 

„Ich begreife nicht, ich begreife nicht,“ ant- 
mortete der Lehrer befümmert und ſchlich herum, 
al fuche er etwas auf dem Boden. 

„Was begreifft du denn wieder nicht?" fragte 
die Frau verdrießlich. 

Quandt zog einen Stuhl herbei, feste fich 
neben feine Gattin und fchaute fie aus feinen 
blafjen Augen feft an, bevor er fortfuhr: get 
du vielleicht etwas Wunderbare an dem Men⸗ 
fchen bemerkt? Sprich dich nur aus, liebe Jette, 
haft du etwas, irgend etwas Außergemöhnliches 
bemerft, irgend etwas, das ihn von einem andern 
Menſchen unterfcheidet 2" 

Frau Quandt lachte. „Ich habe nur bemerkt, 
dab ex nicht beſonders höflich war und daß er 
feidene Strümpfe trägt wie ein Marquis," ent 
gegnete fie Teichthin. 

„Ja, nicht wahr? nicht beſonders höflich, 
wie? und feidene Strümpfe, ganz recht," ſagie 
Quandt mit fonderbarer Haft, als ſei er einer 
Entdeckung auf der Spur. „Na, die feidenen 
Strümpfe werden wir ihm ſchon abgemöhnen 
und das Modeweſtchen auch); dergleichen ſchickt 
fih nicht für unſer einfaches Haus. Aber ich 
frage dich: verftehft du die Menfchen? verftehft 

825 


du die Welt? Davon hört man nun feit Jahren 
als von einem noch nie dagemefenen Wunder 
reden! Dafür erhiten fich geiftreiche Männer, 
Männer von Geihmad, von Welt, von Kennt 
niffen; ift es zu faſſen? Gibt es denn feinen, 
der mit feinen eignen, ihm von Gott eingefehten 
Augen jehen kann? Iſt es zu faſſen?“ 

Mittlerweile waren Caſpar und der Lord zum 
Gaſthof zurüdgefehrt. Stanhope war nicht gerade 
roſig geftimmt. Die Schweigjamteit feines Be 

leiter3 exbofte ihn; es war ihm, als werde 
* einem Vorhang eine Piſtole gegen ihn 
gerichtet. 

Er war unruhig, fühlte Bi) in bie Enge ge- 
trieben. Es gibt einen Punkt, wo die Schiefjale 
fih wie auf einem feymalen Pfad zwifchen Ab- 
geünden begegnen und mo es zum Austrag kommen 
muß. Da ftellen ſich Worte umgerufen ein; bie 
Dämonen erheben ſich aus dem Schlummer. 

Stanhope fchellte dem Diener, ließ die Lichter 
anzünden und Holz ins Kaminfeuer legen. Gleich 
darauf wurde ber Hofrat Hofmann gemeldet; 
der Lord fagte, er jei nicht zu fprechen, gab auch 
Befehl, niemand mehr vorzulaffen. Er machte 
fi unter feinen apieren zu ſchaffen und fragte 
— Safpar: „Wie haben dir die Lehreräleute. 
gefallen?" 

Caſpar wußte nicht recht, wie, und gab eine 
unbeftimmte Antwort. In Wahrheit wußte er 
überhaupt gar nicht mehr, wie Herr Quandt oder 
deſſen Frau oder das Haus ausfahen. Er er- 
innerte fih bloß, daß Frau Quandt ihren Kaffee 
aus der Untertaffe getrunken und den Zucker dazu 
abgebifjen hatte, was ihm fehr albern erfchienen 
war, 

326 





rastic tehrte ſich Stanhope um und fragte 
mit der Miene eines Menfchen, der die Geduld 
verliert: „Alfo, was ift es mit dem Ring? Was 
wollteft du damit jagen?" 

Cafpar antwortete nicht; in traurigem Trotz 
ſchaute er ins Leere. Stanhope näherte fich ihm, 
tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Schulter 
und ogte ſcharf: „Sprich; — wehe bir!" 

Mir iſt ſchon weh genug,“ entgegnete Caſpar 
eintönig, und fein Blick glitt von der Geftalt 
des Grafen wie von etwas Sahlipfeigem hinweg 
auf die dunkelrote Tapete, auf welcher das Kamin⸗ 
feuer Schatten malte, 

Was hätte er jagen follen? War doch fein 
Gefühl faft ungemindert gegen den, der ihm 
Weg gewieſen, der zum erftenmal wie ein Menſch 
zu ihm geredet. Sollte er von ber furchtbaren 
Nacht im Tucherfchen Saus erzählen, wo er ges 
feffen, die Fäufte in der Bruft, daS Herz zerrieben, 
einfam und der Welt beraubt? Wie er an 
gefangen hatte zu fuchen, zu fuchen, wie er die 
‚Zeit aufgegraben, gleichwie man im Garten Erde 
aufgräbt, wie es Tag geworden und er enteilt 
war, wie er Kinder gefehen, den Fluß gefehen, 
an einem Baume gefniet, alle wie nie zuvor, 
alle8 anders, er Perbit verwandelt, mit neuen 
Augen, von Unmiffenheit exlöft... Unmöglich, 
folches mitzuteilen; dafür gab es keine Worte, 

Er fuhr fort, ins Leere zu ftarren, indes 
Stanhops, die Hände auf dem Rüden, auf und 
ab wanderte und widermillig, haftig, ſtoßweiſe zu 
reden begann. „Willft du mic) etwa anklagen ? 
Soll ich mich rechtfertigen? Goddam, ich habe 
I dich gefämpft wie für mein eigen Fleiſch und 

Tut, Vermögen und Ehre zum Pfand gejebt, 
827 


feine Demütigung geſcheut, mich unter Pöbelvolk 
und Pedanten herumgeichlagen, was denn noch? 
Wer das Unmögliche von mir verlangt, ift mir 
nicht mwohlgefinnt. Noch ift nicht aller Tage 
Abend, das Garn ift noch nicht abgemwidelt, ich 
ftelle noch immer meinen Mann, aber ih muß 
mir verbitten, daß du mich wie den Ausfteller 
eines Schuld hein beim Buchſtaben packſt und 
meine ſchoͤne illigkeit unter moraliſchen Druck 
ſetzeſt. Wenn du von mir forderſt, anſtatt das 
Gewährte dankbar zu erkennen, dann find wir 
geichiedene Leute.“ 

Was er doch alles fpricht, dachte Caſpar, der 
kaum zu folgen vermochte, 

Der nächite Gedanke Stanhopes war, Caſpar 
habe vielleicht eine geheime Verbindung und von 
daher Lehre und Ermunterung empfangen, denn 
er ſah wohl, und mit Angſt nahm er e3 wahr, 
daß er nicht mehr das willenloſe Gefchöpf von 
ehebem vor fich hatte. Aber auf feine rauh zu⸗ 
fahrende Frage machte Cafpar ein jo verwundertes 
Geſicht, daß er den Argwohn fogleich fallen ließ. 
Caſpar Iegte die Hände das zufammen und 
fagte nun in feiner um Deutlichkeit bemühten 
Weife, er habe Stanhope nicht Fränfen wollen, 
aud mit dem ing nicht; es fei nur etwas ge- 
ſchehen, was die —X betreffe; man habe 
ihm immer Geſchichten erzählt, Geſchichten von 
ihm ſelbſt, er habe zugehört und doch mist ordent⸗ 
lich verſtanden. Es ſei wie 7 dem pie = 
hen gewefen, mit dem er in feinem 
redet und gejpielt und das doch nichts Aebendics 
gemwefen fei. „Aber jetzt,“ fügte ex ſtockend hinzu, 
„iegt ift das "Solgpferbihen lebendig gemorden.“ 

Stanhope warf den Kopf zurüd. „Wie? 
328 


was denn?“ vief er fchnell und furchtfam, „Iprich 
deutlich." Er nahm die Lorgnette und fchaute 
Caſpar ftirnrungelnd durch die Gläfer an, eine 
Gebärde, die Hochmut ausdrücken follte, aber im 
Grunde nur DVerlegenheit war. 

„3a, das Hohpferbien ift lebendig geworden," 
wiederholte Gafpar bedeutungsvoll. 

Ohne Zweifel glaubte er mit diefem find- 
lichen Sinnbild alle dargelegt zu haben, was 
ihm das entfchleierte Antlitz der Vergangenheit 
verraten hatte. Er mochte die Gemalten ahnen, 
die fein Schickſal ‚gem! hatten, und jedenfalls 
begriff er das Wirfliche, das ſchwer von Gründen 
Wirkliche feiner langen Gefangenfchaft, die ihn, 
außerhalb der hai bis über das Jünglings⸗ 
alter hinaus zum Zuftand eines Halbtiers ver- 
urteilt hatte. Es mochte ihm Mar geworden fein, 
daß es fich dabei um eine Sache handelte, der in 
den Augen der Menjchen ein hoher, ja der höchfte 
Wert zulam; daß fein Anrecht auf biefe Sache 
ungefchmälert fortbeftand und daß, wenn er nur 
hinginge, um zu zeigen, daß er Iebe, um zu 
jagen, daß er wifje, aller Widerftand und Will- 
für zu Ende fei und er befigen durfte, weſſen er 
freventlich beraubt. 

Das war ed etwa, aber es war noch mehr. 
Und es fügte fi, daß der Lord felbft, in Angſt 

iv — für feine Auftraggeber, für die Zukunft, 
it das gene Gebäude, an dem er mitgezimmert 
und von dem er, wenn es zufammenbrach, vielleicht 
mit zerfchmetterten Gliedern in eine bobenloje 
Tiefe ftürzen mußte, daß er ſelbſt das Wort fand 
und ausfprach, welches dies andre, Größere, Un- 
fagbare für. Caſpar zauberhaft und ſchrecklich er⸗ 

leuchtete. 
829 


Beinahe fühlte ſich Stanhope befiegt, und er 
hatte nur. noch wenig Luft, gegen eine Macht zu 
kämpfen, die gleichfam aus dem Nichts entftanden 
war und wie der Jfrid aus Salomons Wunder- 
flafhe den ganzen Himmel verfinfterte. Ich war 
zu großmütig, dachte er; ich war zu lau; Wankel⸗ 
mut_trägt die eigne Haut zu Markt; läßt man 
die Träumer aufmachen, & greifen fie nach den 
Bügeln und pr die Rofje ſcheu; das füße 
Zeug ſchmeckt nicht länger, nun gilt e8 Salz in 
den Brei zu tun. 

Er ſetzte fih an den Tiſch, Cafpar gegenüber, 
und indem er beim Sprechen faum die Zähne 
voneinander entfernte und fortwährend düfter und 
blicklos lächelte, fagte er: „Ich glaube dich zu 
verftehen. Man kann e8 bir nicht verübeln, daß 
du Schlüffe aus meinen, wie ich befennen muß, 
ein wenig unvorfichtigen Erzählungen gezogen 
haft. Ich werde in dieſem Augenblide ſogar noch 
weiter gehen und dir an Deutlichleit nichts zu 
mwünfchen übriglaffen. Ich will bein Iebendig 

jervordened — aufzäumen, und wenn 
u dann Luſt haft, kannſt du es meinetmoegen 
reiten. Ich babe dich nicht getäufcht: du bift 
durch deine Abkunft den mär Hgften unter den 
Furſten ebenbürtig, bu bift das Opfer der ſcheuß⸗ 
lichften Kabale, die Satans Bosheit je erſonnen 
bat; hätteſt du keine andre Inſtanz zu fürchten 
als die der Tugend und des moraliſchen Rechts, 
dann jäßeft du nicht hier, und ich wäre nicht ge- 
zwungen, dich fo zu warnen, wie ich es jeht tue. 
Denn merk auf. So gegründet deine Anfprüche, 
deine Hoffnungen find, jo verderblich müfjen fie 
die werden, ſobald fie dich nur den: erften Schritt 
zum vorgefaßten Ziele lenken. Die erfte Hand- 
330 





lung, das erfte Wort befiegelt unabänderlich deinen 
Tod. Du wirft vernichtet fein, eh du noch den 
Finger ausgeſtreckt haft, um zu nehmen, was dir 
gebührt. Vielleicht kommt eine Stunde, morgen 
oder in einem Monat oder in einem Jahr, wo 
du an der Aufrichtigfeit deſſen, mas ich dir ſage, 
zweifeln fönnteft; nun, fo beſchwöre ich dich: 
glaube mir! Laß deine Lippen fetenfag ver⸗ 
nietet ſein. Fürchte die Luft und den Schlaf, 
daß ſie dich nicht verraten. Möglich, daß einſt 
der zug kommt, an dem du fein darfit, was du 
bift, aber bis dahin halte til, wenn dir dein 
Leben lieb ift, und laß dein Holgpferdchen hübſch 
im Stall." 

Langſam hatte ſich Cafpar erhoben. Ein über- 
pemoalfiger Schrecken donnerte, vielgeftaltig wie 
ie Blöde eines Felsfturzes, um ihn her. Um 
feine Gedanken anderswo hinzulenten, betrachtete 
ex mit einer an Wahnfinn grenzenden Aufmerf- 
famteit die lebloſen Gegenftände: Tiih, Schrank 
und Stühle, den Leuchter, die Gipsfiguren am 
Kamin, den Trummgebogenen Schürhafen. War 
ihm dien er neu oder kin ee Keines- 
wegs. Es hatte, wie giftige Luft, fehon lange 
um ihn ber gebrütet. dir ein andres das bloße 
Ahnen und Spüren und ein andre das zer- 
malmende Wiffen. 

Auch Stanhope war ns er trat 
nahe vor Caſpar hin und fuhr mit eigentümlich 
näfelnder Stimme fort: „Es hilft nichts; im 
diejem Zeichen Bift du eben geboren; in dieſem 
Zeichen hat dich deine Mutter geboren. Das ift 
das Blut. Es richtet dich und rechtfertigt dich; 
es ift dein Führer und dein Verführer.“ 

Und nad) einer Weile: „Laß uns nun jchlafen 

331 


geben, es ift fpät. Morgen früh wollen wir in 
ie Kirche und beten. Wielleicht ſchickt uns Gott 
eine Erleuchtung.” 

Caſpar fchien nicht zu hören. Blut! das 
war dad Wort. Das war die Kraft, die alle 
Poren feines Weſens durchdrang. Schrie nicht 
jein Blut aus ihm, und von fernher wurde der 
Schrei erwidert? Blut trug aller Sefgeinungen 
Grund, verborgen, wie es war, in Adern, im 
Geftein, in Blättern und im Licht. Liebte er fi 
nicht in feinem Blut, fpürte er nicht die eigne 
Seele wie einen Spiegel aus Blut, in dem er 
ſich ruhend beſchauen konnte? Wieviel Menfchen 
in der Welt, jo nahe beieinander, fo reich be— 
wegt, fo fremd und ftumm, und alle durch einen 
Strom von Blut wandelnd, und fein Blut doch 
befonder3 taufchend, ein befonderes Ding, in ein- 
ſamem Bette fließend, voll von Geheimniffen, un- 
befannter Schickſale voll! 

Auch ala er den Blick wieder gegen den Grafen 
tehrte, war es, als wandle der Durch Blut, eine 
Vorſtellung, die freilich durch die ſcharlachfarbene 
Tapete begünftigt, wenn nicht erzeugt wurde. 
Wenn man die Kerzen verlöfcht, dachte Cafpar, 
wird alles tot fein, das Blut und die Worte, er 
und ih; ich will nicht fchlafen diefe Nacht, nicht 
fterben. Ja, Cafpar hätte, was fein Mund ge- 
redet, gern wieder in fich hineingeſchluckt, in jenen 
Kerker des Leibes gefperrt; der Schweigen hieß. 
Gehorfam fein, unmiffend fein, unglüdlich fein, 
Schande und Schimpf ertragen, die Stimme des 
Blutes erftiden, nur nicht fterben müſſen, nur 
leben, leben, leben. Ei, man wird fich fürchten, 
man wird feig fein wie eine Maus, man wird 
Türen und Senfter verriegeln, man wird die 


332 





Träume vergefjen, den Freund vergeffen, man wird 
fich Elein machen, man wird das ‚Bolgpferbehen 
vergraben, aber man wird leben, leben, leben... 

Der Lord wünſchte, daß Cafpar nicht in 

feiner Manfarbe, fondern hier unten nächtige. 
Er befahl dem Aufwärter, ein Bett a dem 
Sofa zu richten. Indes Caſpar g9 entkleibete, 
ging er hinaus, kam jedoch nad) einiger Zeit 
wieder, überzeugte fich, daß der Jüngling ruhig 
lag, und Bay die Lichter. Die Verbindungs- 
tür zu feinem Zimmer ließ ex. offen ftehen. - 

Ungeachtet feines Vorſatzes fchlief Cafpar 

bald ein und nahm fein aufgewühltes Gemüt in 
den Schlummer hinüber. Er mochte vier bis fünf 
Stunden geſchlafen haben, als fich fein bleiernes 
Daliegen in ein ruheloſes Herumwälzen ver- 
wandelte. Plöglich erwachte ev mit einem tiefen 
Seufzer und ftarrte brennenden Auges in die 
- Finfternis. An den Fenſterſcheiben war ein 
Kribbeln und Taften, daS von den anprallenden 
Schneefloden herrührte und dem leiſen Pochen 
einer Hand ähnlich war. Aus dem Nebenraum 
hörte er die gleichmäßigen Atemzüge des fchlafen- 
den Stanhope; höchſt befremdlih klang dies 
Atmen des andern Menfchen in der Nacht, wie 
ein drohendes Geflüfter: hüte dich, hüte Dich. 

Ex ertrug es nicht mehr im Bett. Es war, 

als fei ihm der Körper mit taufend Fäden um— 
ſchnürt, und als er aufftand, geſchah es nur, 
weil er ſich vergemifjern wollte, ob er ſich noch frei 
bewegen könne. Er jchlug die Wolldecke um die 
Schultern und trat barfüßig ans Feniter. 

Das ganze große AU war angefüllt mit den 
eſprochenen Worten, die wie rote Beeren in der 
untelheit hingen. Ueberall Gefahr; bloß zu 

333 


denten, war ſchon Gefahr; jeder Anhauch aus 
fremdem Deane Gefahr. 

Er fing an zu zittern. Die Knie faßen loſer 
in den Gelenken, es war ihm fo leicht und ſchwer 
augleich; fein Nachdenken hatte eine andre, nähere 
Folge, auch alle Gegenftände waren näher, und 
das Ganze der Erde und des Himmels, Wollen, 
Wind und Nacht Hatten etwas eingebüßt, etwas 
unbegreiflich Flüchtiges und Wandelbares. Alles 
iſt nun fo mwunderlih wahr. Caſpar hält die 

cherben eines koſtbaren Gefäßes in der Hand, 
und feine Phantafte will nicht einmal die jchöne 
Form, wie fie geweſen, zurücfgeftalten. 

Unten auf der Gaſſe geht lautlos der Nacht- 

wächter. Der zuckende Eden feiner Laterne ver- 

oldet den Schnee. Cafpar folgt ihm mit den 

ſlicken, denn es ift, als ob der Mann in irgend» 
einem unerklärlichen Zufammenhang mit feinem 
Schickſal ftehe. Sie wandeln miteinander über 
ein verjchneites Feld, jener fragt Gafpar, ob ihn 
friere, und wirft ihm einen Teil feines Mantels 
um die Schultern, fo daß fie beide unter ber- 
jeiben Hülle aim. Auf einmal gewahrt Caſpar, 
aß es fein Männergejicht ift, das fich fo mild 
erbarmend zu ihm Tehrt, fondern das fchöne, 
traurige Geficht einer rau. Es enthalten dieje 
Trauer und diefe Schönheit etwas Redendes, 
und. daß fie zufammen unter demfelben Mantel 
wandern, hat den allertiefften Sinn, etwas, das 
mit Qual und Freuden eines ift und vom An- 
fang der Dinge ftammt. 

Da tönte das ungeheure Wort des Grafen 
neufhallend in die Nacht: „In diefem Zeichen 
bat dich deine Mutter geboren.” 

Dich) geboren! Welcher Laut! Was war 
334 





darin beſchloſſen! Gaipar legte beide Hände vor 
Genät; ihm fchmwindelte. 

a hörte er ein Geräuſch von Schritten. 
Ja drehte er ſich um, es war ein Emportauchen 
aus finfterer Flut; der Graf ftand im Schlafrod 
vor ihm. Wahrſcheinlich hatte Cafpars nächt- 
liches Wachfein ihn aufgeweckt, er hatte einen 
leifen Schlummer. 

„Was treibt du?" fragte Stanhope mürriſch. 

Cafpar machte einen Schritt auf ihn zu und 
fagte dringlih, atemlos, drohend und flehenb: 
„Sühr mich zu ihr, deinrich Einmal laß mich 
die Mutter fehen, nur einmal, nur jehen; nicht 
jetzt, fpäter vielleicht. Einmal, nur einmal! Nur 
eben! Nur einmal!" 

Stanhope wich zurück. Diefer Auffchrei hatte 
etwas Ueberirdiſches. „Gebuld," murmelte er, 
„Geduld." 

„Geduld? Wie lange noh? Hab’ ſchon lange 
Gent erfpre 

" verfpreche dir —“ 

„Qu verſprichſt e8, aber wie foll ich glauben 9“ 

„Segen wir die Feift eines Jahres feſt.“ 

"Ein Jahr ift lang. 

„gang und kurz. in kleines, kurzes Jahr 
nd dann —“ 

„Dann — ?" 

„Dann will ich wiederfommen —“ 

„Und mich holen?" 

„Dich holen." 

„Gelobjt du das?" Caſpar heftete einen 
fuchenden und mie ein mattes Flämmchen er- 
Löfchenden Blick auf den Grafen. Da der Wider- 
ſchein des Schnee die Nacht erhellte, Tonnte jeder 
des andern Züge deutlich unterfcheiden. 


335 


„Ich gelob’ es.“ 

Du gelobſt es, aber wie kann ich's wiſſen 2" 

Stanhope geriet in eine ſonderbare Be— 
drängnis; Dies & jenüberftehen zu folder Stunde, 
die immer herrifcher, ftürmifcher werdenden Fra- 
gen des Jünglings wirkten wie Gefpenfterichauer 
auf feine Einbildungskraft. „Reiß mich aus 
deinem Herzen aus, wenn es nicht geſchieht,“ 
murmelte er dumpf; er mußte in diefem Augen- 
Blict Tebhaft bes Mannes gebenfen, der vom 
Teufel Iebendigen Leibes in den feuerfpeienden 
DVefun gefchleudert wurde, 

Und Cafpar darauf: „Was Tann mir das 
nügen? Sag mir den Namen, fag mir ihren 
Namen, ſag mir meinen Namen." 

„Nein! niemals! niemals! Aber glaube mir 
nur. Es wacht ein Gott über dir, Caſpar. Es 
kann dir nichts verfagt fein, denn du haft die 
Kauffumme für das One zum voraus entrichtet, 
die wir andern täglich in Heiner Münze bezahlen 
müffen. Und bezahlt muß werben, alles muß 
bezahlt werden, das ift der Sinn des Lebens." 

„Du verſprichſt aljo, in einem Jahr wieder 
dazufein ?" 

In einem Jahr." 

Caſpar bohrte die Finger in Stanhopes Hand 
und richtete einen tiefen, jeltfam feelenhaften, 
feltfam ſtolzen Bli auf den Lord, der jeiner- 
ſeits die Augen ſenkte, während fein Geficht ftein- 
alt ausſah. WS er in fein Zimmer zurüdging, 
begann er plößlich leiſe plappernd das Vaterunfer 
zu beten. 

Erſt gegen Morgen entichlief er wieder. Als 
er fi) mittags erhob, war Caſpar längft auf; er 
ſaß am Fenfter und ſchien die Eishlumen zu ftudieren. 
336 


Um ein Uhr verließ er mit ihm daS Hotel. 
Arm in Arm, ein Schaugepränge für die Ein- 
wohnerſchaft, fpazierten fie über den hochliegen- 
den Schnee durch das Herrieder Tor zum Markt. 
Dort war eine go erfammlung von Bauern 
und Händlern. Bor dem Portal der Gumbertus- 
tirche blieb Stanhope ftehen und forderte Gafpar 
auf, mit hineinzugehen. Caſpar zögerte, folgte 
jedoch dem Scale in den hohen, ſchmuckloſen, 
von Ichwarzem Gebält, überdachten Raum. 

Mit raſchen Schritten eilte Stanhope zum 
Altar, warf ſich mit den Knien auf die jteinernen 
Stufen, beugte die Stirn herab und verblieb fo 
in volllommener Unbeweglichkeit. 

Caſpar, peinlich berührt, ſchaute fich unwill- 
türlih um, ob niemand Zeuge diefer demütigen 
Handlung fei. Aber die Kirche war leer. Warum 
Trüppelt er ſich fo zufammen, dachte er verftimmt, 
Gott kann doch nicht im Boden drinnen fein. 
Allmählich ward ihm bange; das Schweigen des 
tiefigen Raumes ftrömte bi3 in feine Bruft. Und 
wie er nun in die Höhe blickte, ſah er oben, 
durch ein geöffnetes Bogenfenfter, wie die Sonne 
mit Macht die winterlichen Nebel zu gemältigen 
ſuchte. Da rötete fich fein bläßliches Seht zu 
hüchterner Freude und das Schweigen in feiner 

ruft wandelte ſich zu einer hinaufziehenden Ver⸗ 
Ehrung. 

„O Sonne," fagte er halblaut und mit ein- 
fältiger Inbrunft, „mach doch, daß alles nicht fo 
ft, wie es ift. Mach e3 doch anders, Sonne. 
Du weißt ja, wie e3 ift; bu meißt ja, wer ich 
bin. Scheine nur, Sonne, daß meine Augen 
dich immer fehen können, immer wollen dich 
meine Augen ſehen.“ 

Baffermann, Gafpar Haufer 28 837 


Indem er fo ſprach, flutete eine.goldene Licht» 
welle bis auf die kreidig ⸗ weißen liefen, und 
Caſpar, ſehr zufrieden, meinte, die Sonne hätte 
ihm damit auf ihre Weife eine Antwort erteilt. 


Man erfährt einiges über Herrn Quandt 
fowie über eine vorläufig noch unge— 
nannte Dame 


Die Weberfiedlung Caſpars ins Lehrerhaus 
fand ohne Zwifchenfälle ftatt. 

„Nun wohlan denn,“ ke Quandt während 
der eriten gemeinfamen Mahlzeit, als die Suppen- 
ſchüſſel aufgetragen wurde, „jest beginnt für Sie 
ein neues Leben, Haufer. Hoffentlich ift es ein 
Leben der Gottesfurcht und des Fleißes. Wenn 
wir uns lobensmwert betätigen und in unfern Ge⸗ 
danken nicht den Schöpfer aller Dinge vergeſſen, 
wird unfer irdifches Bemühen ftets von Erfolg 
gekrönt fein.“ 

Nah Tiſch mußte Quandt zur Schule, und 
als er um vier Uhr zurückkam, erfundigte er ſich 
befliffen, was Caſpar die Zeit über getrieben 

be. Seine Frau konnte ihm nur ungenügenden 

jejcheid geben, und er tabelte fie deshalb. „Wir 
müffen aufpaffen, liebe Jette,” fagte er, „wir 
müfſen die Augen offen halten.“ 

In der Tat, Ouandt paßte auf. Wie 
ein emfiger Buchhalter legte er in feinem Innern 
ein Konto an, um alle Worte und Handlungen 
feines Pflegebefohlenen zu verzeichnen. Bei diejer 
umfichtigen Geichäftsführung jtellte es fich bald 
heraus, daß Soll und Haben einander nicht bie. 
338 


Wage hielten, daß die Schuldfeite nach und nach ber 
denklich überlaftet wurde. Das betrübte den Lehrer 
aufrichtig; jedoch gab es ein geheimes Winkelchen 
in feiner Bruft, worin er fich Defjen freute. 

Es war nämlich mit diefem Manne derart 
beſchaffen, daß er in einer merkwürdigen Zwei⸗ 
heit eriftierte. Der eine Teil war die öffentliche 
Berfon, der Bürger, der Steuerzahler, der Kol⸗ 
lege, das Familienhaupt, der Patriot; der andre 
Zeil war fozufagen der Quandt an fi. Jener 
war ein Hero8 der Tugend, eine wahre Mufter- 
jammlung von Tugenden; diefer lag verftedtt in 
einer ftillen Ede und belauerte die liebe Gottes» 
welt. Die öffentliche Perfon, der Bürger, der 
Patriot nahm herzlichen Anteil an den allge 
meinen Angelegenheiten, moßingegen der Quandt 
an fi} vergnügt die Hände rieb, wenn irgendwo 
irgendwas pafjierte: jei es nun ein unerwarteter 
Todesfall oder nur ein Beinbruch oder die Kalt⸗ 
ftellung eines verdienten Beamten oder ein Dieb- 
ftahl bei einer Vereinskaſſa oder ein Radſchaden 
an der Poſtkutſche oder eine Heine Feuersbrunſt 
beim reichen Bauern Soundfo oder die ffandalöje 
Heirat der Gräfin Ypfilon mit ihrem Gtalls 
burſchen. So unverbrühlich der Steuerzahler, 
das Familienhaupt, der Kollege feinen Pflichten 
nachkam, der Quandt an fich hatte etwas von 
einem Revolutionär und war immer auf dem 
Poſten, um der Weltregierung auf die Finger zu 
‘hauen, und ſtets beforgt, daß feinem mehr Ehre 

eſchah, als er nach genauer Bilanz über feine 
serdienfte und Mängel, feine Vorzüge und Lafter 

füglich beanfpruchen durfte. er Öffentliche 
Quandt fehien zufrieden mit feinem Los, der ges 
heime fand fich allerorten und zu jeder Zeit 
339 


aurüdgefeßt, beleidigt, vor den Kopf geftoßen und 
in feinen vornehmften Rechten gekränki. 

Nun follte man denken, mit zwei jo vers 
ſchieden gefinnten Koftgängern unter einem Dach 
jet ſchwer zu wirtfchaften. Nichtsdeitomeniger 
kamen die beiden Quandts trefflich nebeneinander 
aus. Freilich, der Neid ift ein boshaftes Tier; 
er bucchlöcherte manchmal die Scheidewand zwi⸗ 
ſchen den zwei Seelen, und wie oft der ftärkfte 
Damm nicht genügt, um eine verheerende Weber- 
ſchwemmung zu verhindern, fo brach eben diejer 
Neid bisweilen ein in die reinlichen, fruchtbaren und 
wohlbeftellten Gefilde des Gottes» und Menfchen- 
freunde8 Quandt. 

Und was gab e3 doch nicht alles in der Welt, 
worüber das tüdifche Untier ſich gefräßig her⸗ 
machen fonnte! Da hatte einer einen Orden be- 
tommen, der das ganze Leben lang hinterm Ofen 
hodte und Maulaffen feilhielt; dort hatte ein 
andrer zehntaufend Taler geerbt, der ſchon ohne⸗ 
hin die Woche zweimal Pafteten aß und Mofel- 
wein trank; da wurde ein Name lobend in der 
Zeitung erwähnt, ohne daß man xfoejchen Tonnte, 
ob ihm eine folche Auszeichnung von Rechtswegen 
zukam, dort hatte ein Ichweißnichtwer eine Ent- 
dedung gemacht, auf die man, hätte man fich zu: 
fällig mit dem Gegenſtand bejchäftigt, leichterdings 
aud hätte verfallen können. Warum denn der? 
Warum nicht ich? murrte dann der heimlich aufs 
rührerifche Quandt. Es war ein beftändiger und 
unfichtbarer Zmeilampf mit dem Schickſal unter 
der Barole: Warum der andre, warum nicht ich? 

Vielleicht Iitt der gute Quandt unter feiner 
Abftammung; fein Vater war Paftor gemejen, 
mütterlicherjeitd kam er von Bauern ber. Er 
340 


befaß viel vom Bauern und vom Paftor: fein 
ſehr irdifches Streben war rundherum mit Theo- 
logie behangen. Dabei war der Bauer dem 
Paſtor beftändig im Wege, denn wo hätte man 
je gehört, daß ein auf Religion und Friebfertig- 
teit ee Gemüt —— eg 
und ehrgeizig geweſen wäre? Die Wahrhei 
liebte Quandt über alles; er fagte es, er be 
teuerte es und es war auch fo. Nichts war ihm 
offenbar genug; nirgends ftimmte die Rechnung; 
überall hatten die Menfchen eine faljche Addition 
gemacht oder den Kafus verwechielt. Ex fagte 
und beteuerte, daß er niemals in feinem Leben 
gelogen hatte. Ein bewundernswerter Fall; und 
wirklich ftand es feſt und war nachzuweiſen, daß 
er mit dem einzigen Bufenfreund, den er je 
befeffen, einem Schulamt3fandidaten in Tauber- 
bifchofsheim, deshalb für immer gebrochen hatte, 
weil er ihm auf eine Lüge gefommen war. 

Wie ratlos mußte nun Caſpar einer fo ernften 
Wachfamteit, einer folchen Vereinigung von fel- 
tenen und vorbildlichen Eigenfchaften, wie fie der 
beffere Teil des Lehrers bot, gegenüberitehen. 
Wir, der Lefer und ich, haben darin leichtes 
Spiel, uns Tann man nicht betrügen, uns find 
die Kleiderfalten offen und die Haut über dem 
Be ift uns durchfichtig; wir weilen auf einer 

Öheren Warte, wir find Seher und Humoriften; 
wir verfolgen Heren Quandt, wenn er in einen 
Krämerladen tritt, mit höflicher Gemeffenheit 
ein halbes Pfund Käfe verlangt und dabei mit 
unruhig · eifrigen Augen die Einkäufe feiner Neben- 
menfchen, gleichviel ob e3 Köchinnen oder Generale 
find, in feinem Innern notiert; wir hören ihn, 
wenn er mit dem Oberinfpeftor Kakelberg ſpricht 

341 


und fi) mit Schmerz über die zunehmende Ver- 
lotterung der Schuljugend beklagt; wir jehen ihn 
jeden Sonntagmorgen gebürftet, friſiert, gewaſchen 
zum Gottesdienft eilen und mit Beſcheidenheit 
fein Gebetbüchlein aufichlagen; wir wien, daß 
er reſpeltvoll gegen Hobere und unnachſichtig 
jegen Seringere ft, denn fein Pflichtbemußt- 
Ei nach beiden Seiten unterliegt feinem Zweifel. 
Aber wir wifjen auch, daß er jeden Abend vor dem 
Schlafengehen im Nachthemd auf der Kante feines 
Beites fist und fi mit düfterer Miene erinnert, 
Hr ihn der Regierungsrat Hermann heute ziem⸗ 
lich nachläffig gegrüßt hat; mit Bedauern nehmen 
wir von der Tatjache Kenntnis, daß er feine 
Schüler, jelbftverftändlih nur die faulen und 
ftörrifchen, mit einem ſorgſam getrodneten ſpa⸗ 
nifchen Rohrſtock empfindlich zu züchtigen pflegt, 
und leider dürfen wir nicht verhehlen, daß er 
feine gutmütige Frau nicht immer fo zart und 
rüdfichtsvoll behandelt, wie e8 vor Fremden ge 
ſchieht, die nach ihren Beobachtungen ohne weis 
tere3 der Anficht find, daß diefe Ehe als das 
Teuchtende Beifpiel eines guten Einvernehmens 
zwifchen Gatten zu betrachten ſei. 

So war für Gafpar, der den Vorteil unfrer 
Alrifjenheit und Allgegenwart natürlich nicht 
genießt, Herr Quandt eine zwar dunkle und 
unfrobe, aber durchaus imponierende Geftalt. 
Ein bißchen Alpdruck fpürte er jedesmal, wenn 
Quandt in wunderlich forfchendem Ton und mit 
unabgewandtem Blic zu ihm ſprach. Er fühlte 

ch anfangs bedrüct in diejer gar engen Häuslich⸗ 
feit, in der man feft nicht einmal mit feinen Ges 
danken allein fein fonnte, und der einzige Troft 
war, daß der Graf, der ſchon anfangs Dezember 
32 


hatte reifen wollen, noch immer in der Stadt 
war. Stanhope behauptete zwar, auf wichtige 
Briefe warten zu müſſen, in Wirklichkeit harrte er 
jedoch der Rückkehr des Präfidenten Feuerbach, 
da ihn das Beginnen des Mannes, der Grund 
feines Fernſeins beunruhigte wie den Wanderer 
ein brohendes Gemitter. 

Auch Cafpar hielt ihn, und das im eigner 
Weife. Er pflegte den ZJüngling_jeden Nach ⸗ 
mittag für eine ober anderthalb Stunden zum 
Spenge jehen ed fie gingen dann ger 
wöl — en Weg zum Schloßberg hinauf und 
gegen das Bernadotter Tal, das in jchöner Ab- 
geichiedenheit wie eine Vorhalle zu den finfter 
umfchließenden und weitgedehnten Wäldern lag. 
Gafpar empfand einen ſehr wohltuenden Einfluß 
von der Bewegung in der falten, meift. froft- 
klaren Luft. 

Ihre eipräde Al ebten ftet3 von einem un- 
verbindend perfönlichen Punkt aus ins Allge- 
meine, wo das zu Sagende gefahrlos wurde und 
doch das Lehrhafte wie das Erzählende nicht den 
Reiz einer anmutenden Vertraulichkeit entbehrte. 
Es ſchien dem ein Uebereinfommen zugrunde 
zu liegen, ein Friedensſchluß vor einer dumpf 

fühlten Wandlung, welche die vergangene Schön- 
det ihres Verhältniffes vollends zeritören mußte. 
So gingen ſie dahin, anzuſehen wie Freunde, 
in einer ihrem Schickſalskreis fremden Region 
aufrichtig einander ergeben, den Unterfchied der 
Sabre und der Erfahrung ausgleichend durch 
ein williges Schenken von ber einen und ein 
aiht minder williges Empfangen von der andern 


er Lord fand ſich duch diefe Form eines 
313 


Verkehrs lebhaft angezogen, ja im wahrften Sinn 
ergriffen. Durfte er fich doch auch einmal wieder 
unbefangen fühlen, ohne Joch, von feiner Peitſche 
zu ausbedungenem Ziel gezwungen; in fich felber 
ruhend, betrachtſam und nicht ohne Wehmut übers 
ſchauend, wie das Leben in feiner Bruft gehauft 
und was e3 dem zwecklos fpielenden Geift übrig 
gelaſſen, der ja das eigentliche Element ift, in 
welchem der Menſch den Menichen erkennt. Cr 
ging über die Tiefen feines Dafeins hin wie über 
eine gebrechliche Brücke, die der leichtefte Wind- 
hauch in den Abgrund ftürzen kann. 

Am liebften redete er über Menfchenlos und 
Menſchendinge: erzählte, wie der begonnen, wie 
jener geendet, was diefen ins Unheil geſtürzt und 
jenem zu Anfehen verholfen; wie er einen im 
Glück gewahrt, an der Tafel des Königs ſchwel⸗ 
gr, und wie felbiger zwei Jahre fpäter in einer 

chlammer elend Erepiert war. Ungleich ging 
& zu auf Exden; in ſchwer erflimmbarer Höhe 
blühten die Blumen; nichts ficher, nichts von 
Beitand, nirgends Verlag. Gemiffe Regeln 
durften nicht unbeachtet bleiben, nach welchen das 
Wirken des einzelnen fich zu fügen hatte. Stan- 
hope erwähnte das Buch des Lord Chefterfield, 
eines Vorfahrs und weitläufigen Verwandten, 
der_in berühmten Briefen an feinen Sohn gar 
treffliche Marimen gegeben hatte; ganze Seiten 
daraus mußte er aus dem Gedächtnis herzu- 
jagen. Derjelbe Chefterfield Habe, um den Ahnen- 
ſtolz des Adels zu verfpotten, in feinem Schloß 
zwei Bilder aufhängen lafjen, einen nadten Dann 
und ein nadtes Weib, und darunter gefchrieben: 
Adam Stanhope, Eva Stanhope. 

Der Graf gab feiner Ueberraſchung darüber 


34 


oft draftifchen Ausdrud, einen wie klugen Kopf 
er in Gajpar bei aller Einfalt und Schweigſam⸗ 
keit entdeckte: immer zutreffend im Widerpart, 
durchaus weltlich geftimmt, in Frage und Ant 
wort aus erfter Hand, das Gegenfäßliche mühe: 
108 erfaffend und phantafievoll verfnüpfend. 

Die Wandlung kam bald. Ein unbedeuten- 
der Anlaß führte fie herbei. 

Eines Tages, während der Rückkehr nach der 
Stadt, ſprach fi Stanhope darüber aus, wie 
fruchtbar es für die innere Haltung eines Men- 
ſchen fei, wenn er feine Selesnifte nicht Teicht» 
finnig vorüberfließen laffe, fondern fie moraliſch 
zu nügen fuche, indem er durch fchriftliche oder 
mündliche Mütteilung den Stoff feines Nach— 

denkens bereichere. Cafpar fragte, wie er das 

meine; ftatt der Antwort ftellte der Graf, den 

diefer Umftand längft beunrubigte, die lauernde 

heſrage, ob ſpar 106 ein Tagebuch 
re. 


Caſpar bejahte, 

„Und willft du mir nicht gelegentlich daraus 
vorlejen?" 

Caſpar erſchrak, überlegte und antwortete 
zögernd, ja, er wolle es tun. 

„So nehmen wir die gute Stunde wahr und 
machen ung gleich daran," fagte Stanhope. „Ich 
wünſche nur einen ungefähren Einblid zu er- 
— und bin neugierig, wie du jo etwas an⸗ 
packſt.“ 

Zu Hauſe angelangt, begleitete der Lord 
Caſpar auf deſſen Zimmer und nahm, der Er—⸗ 
füllung des Verſprechens gemwärtig, auf dem 
Ranapee Pla. Im Ofen praffelte uer; 
draußen herrſchte ſeit dem Mittag ſtarker Tau⸗ 

345 


wind; es dämmerte ſchon, die Hügel waren 
violett umfchleiert. 

Caſpar race fih unter feinen Büchern zu 
Pöaften, doch Minute auf Minute verging, ohne 

aß er fich im geringften anſchickte zu tun, was 
Stanhope erwartete. 

„Nun, Caſpar,“ meldete ſich endlich) un- 
geduldig der Graf, „ich bin bereit." 

Da gab ſich Caſpar einen Ruck und fagte, 
ex könne nicht. 

Stanhope fah ihn groß an; Caſpar fchlug 
die Augen nieder. Das Tagebuch ei unter vielen 
andern Sachen verftedt, und es ſei unbequem, 
e3 zu erreichen, murmelte er ſtockend. 

„So fo," verjete der Lord und lachte faft 
lautlos durch die Nafe. „Wie flint du in Aus- 
flüchten bift, Caſpar; ich hätte nicht geglaubt, 
® vos jo fine in... Ausflüchten bift. Ei, 
ieh doch !" 

In diefem Moment Hlopfte und fcharrte e3 
an der Tür, der Lord rief und die Geftalt 
Quandts ſchob ſich langſam ins Zimmer. Cr 
tat erſtaunt, den Herrn Grafen hier zu finden, 
und fragte, ob Seiner Lordichaft eine Kleine Er- 
friſchung gefällig fei. Der Lord dankte ſtumm 
und beftete den Blick fortgefet auf Cafpar. 

Duandt merkte glei), daß da was auf der 
Pfanne brobelte. & erhunbigte fih, ob Seine 
Herrlichkeit Anlaß habe, mit dem Haufer unzu⸗ 
frieden zu fein. Stanhope entgegnete, er habe 
allerdings einigen Grund, fich zu ärgern, und in 
kurzen Worten teilte ec dem Lehrer mit, worum 
es fich handle. Hierauf, zu Cafpar gewandt, 
fagte er laut und markiert: „Wenn es von vorn: 
herein nicht in deiner Abficht Tag, mir von deinen 
346 


Intimitäten Kenntnis zu geben, jo hätteft du es 
re rende 

pr ereut haft, fo durfteft du es fchi 
lich wieder zurücdnehmen. Aber ftatt deſſen zu 
einer folhen“ — eine berebte Heine Pauſe — 
„Ausflucht zu geeifen, das jcheint mir deiner und 
— nicht würdig." 

Er erhob ſich und verließ das Zimmer. 
Quandt folgte ihm. Unten im Flur blieb Stan- 
Hope ftehen und fragte den Lehrer kurz angebun- 
den, ob er fich in der verfloffenen Beit ſchon ein 
Urteil über die Fähiı teten und den guten Willen 
Caſpars gebildet habe. 

„Eben wollte ich Eure Lordichaft ergebenft 
erjuchen, mir zur Beſprechung ieſes — 
eine Viertelſtunde Gehör zu ſchenken,“ erwiderte 
Quandt. Er nahm das Dellämpchen vom Nagel 
und befomplimentierte den Lord in fein Studio. 
Ide ſich Stanhope in den Lederſtuhl ſetzte, 

Bein auf Bein kreuzte und gelangweilt in die 
Luft ſtarrte, ramſchte Quandt ſeine Notizblätter 
zuſammen und ſagte, er habe den Hauſer gleich 
vom erſten Tag an tüchtig vorgenommen, ihm 
diktiert, ihn leſen und rechnen fen, die deutſche 
und Tateinifche Grammatik al egelzagt alles aus 
dem Gröbften und nur des Weber! Tick halber. 

„Und das Ergebnis?" fragte Stanhope, wobei 
die Langweile feine Nafenflügel auseinander dehnte. 
f ans Ergebnis? Leider ziemlich troftlos, 
feider!" 

Es mußte ein Schmerz Herrn Quandt 
fein, denn in diefem „leider“ Id ein tiefgefühlter 
Ton. Es mußte ein Schmerz für ihn jein, daß 
Caſpars Handichrift fo viel zu wünfchen übrig» 
ließ. „Er hat nicht? Freies und Bügiges in 

347 


feiner Hand, und mit der Orthographie fteht er 
auf gejpanntem Fuß," fagte er. Es mußte ein 
Schmerz Erd Quandt fein, wenn ein Menjch den 
Dativ nicht in allen Fällen vom Akkuſativ unter- 
fügiden konnte. „Bon der funktionellen Bedeutung 
es Konjunktivs hat er nicht die geringfte Vor— 
ftellung,," fagte Quandt und fuhr fort: „Im 
fprachlichen Ausdruck fcheint er nicht ungemwandt, * 
bier ragt er fogar über feine fonftige Bildungs: 
fufe hinaus, und er kennt die Säße und ihre 

jerbindungen fo weit, daß er den Punkt, das 
Kolon, da3 Anführungs-, Frage und Ausrufungs- 
zeichen genau und das fogar von Sprachforſchern 
io Berfihieben in Anwendung gebrachte Semitolon 
manchmal richtig zu fegen weiß.“ 

Immerhin ein Lichtjtrahl. Hingegen bie 
Arithmetit, o weh! Er beherrjcht die vier Grund- 
rechnungen in gleichbenannten Zahlen noch nicht 
mit Sicherheit. „Eine Null wird für ihn bald 
da, bald dort zum unüberwindlichen Hindernis," 
fagte Quandt. Die Lehre von den Brüchen, vom 
Kettenſatz, von den einfachen und zufammen- 
gejeßten Broportionen: ein boffnungstofes Duntel. 
Erſtaunlicherweiſe arbeitet er jedoch in diefen 
Dingen am vwilligften,“ fagte Quandt. 

„Die erklären Sie ſich das?" erfunbigte fich 
der Lord mit der Neugierde eines Verfchlafenen, 
den man an den Füßen kitzelt. 

„Ich erkläre mir das fo: Jedes Erempel ftellt 
ſich als ein für fich beftehendes Ganzes dar. Ein 
ſolches zu gejtalten, dazu hat er immer Luft und 
Verlangen, und es macht ihm Spaß, wenn er 
es vollendet fieht. Was ihn aber Lange beichäftigt, 
erregt fein Mißbehagen und Tann ihn fogar zu 
allerlei unwahren Entfchuldigungen veranlaffen. 
348 


Daher zeigt er fich auch verdrießlich bis zum 
Zorn, wenn er ein leichtes Erempel falſch ge- 
rechnet bat und den Fehler der Oberflächlichteit 
nicht finden kann.“ 

Weiter, weiter: Gefchichte, Geographie, Malen, 
Zeichnen... Was die Gefchichte betreffe, fo habe 
Quandt noch niemal® und bei feinem Menſchen 
eine ähnliche Seihgütigeit gefunden, ſowohl 
gegen vaterlänbijche Begebenheiten wie gegen welt⸗ 
— Fakta, gegen Monarchen, Staats- 
männer, Schlachten, Ummälzungen, Helden und 
Entdecker. „Nur die Anekdote feſſelt ihn, ein 
Gefehichtlein, damit Tann man ihn ködern.“ 
Traurig! Und die Geographie? „Auf der Erd⸗ 
kugel fühlt er fich keineswegs zu Haufe," fagte 
Quandt. „Auch ift er oft zerftreut; er merkt 
nicht auf. Die nürnbergiiche Schwärmerei über 
fein wunderbares Gedächtnis ift mir ein Rätſel, 
ein unfagbares Rätſel, Mylord." 

Mylord hatte genug. Vom Malen und Zeichnen 
wollte Mylord nichts mehr wiſſen; er unter- 
brach den Lehrer, der Proben zeigen wollte, und 
warf ein, daß ihm die Ausbildung in dieſen 
Nebenfär zwar wunſchenswert ericheine, daß 
er aber fein großes Gemwicht darauf lege. 

„Wünfchenswert, jawohl,“ verſetzte Quandt, 
„und das Wünfchenswerte ſollte doch gepflegt 
werden. Der Geiſt eines Menſchen iſt wie ein 
Zuchtgarten, in welchem das Schöne und das 
Nüsliche nebeneinander gedeihen dürfen. Ich 
glaube, der mächtigfte Anjporn für den Hauſer 
üt feine Eitelteit. Wenn man es verfteht, feine 

itelfeit zu befriedigen, Tann man ihn zu allem 
haben. Noch eine Frage, Mylord, haben Sie 
befondere Wünfche wegen de3 Religiongunter- 

349 


richts? Ich. babe fehon mit Herrn Pfarrer Fuhr⸗ 
mann gefptochen, der ſich erboten hat, zweimal 
wöchentlich Cajpar eine Stunde zu geben. Die Bibel 
babe ich ſelbſt mit ihm durchzunehmen begonnen." 

Stanhope hatte nicht? damwider; er wollte 
aufbrechen, aber mit verlegenem Stottern brachte 
Quandt jest das Quartiergeld auf3 Tapet, feine 
Frau liege ihm über die zunehmende Teuerung 
am Hals. Der Lord, ganz Seigneur, bewilligte 
turzerhand einen Zufchuß; e3 wurde vereinbart, 
daß Gafpar einen Mittagstifch für zwölf und 
einen Abendtifch für acht Kreuzer erhalten folle. 

Um den übeln Eindrud dieſer Erörterung zu 
verwifchen, die ihn beſchämte und demiltigte, 
äußerte Quandt den Wunſch, Seiner Lordfchaft 
nad) deren Abreife periodijchen Bericht über die 
Fortſchritte Caſpars zu fenden. Stanhope, ſchon 
völlig ergeben, ftellte dies feinem Belieben ans 
heim. „E3 wäre ratſam,“ fchlug Quandt vor, 
„Haufers Briefe an Eure Herrlichkeit zugleich als 
Stilübungen zu betrachten. Ich könnte, ohne 
natürlich am Gedanken etwas zu verändern, die 

auptfehler Forrigieren und mit roter Tinte eine 
enfur darunter Noreißen. So hätten Sie immer 
ein Bild feiner derzeitigen Fähigkeiten.“ 

Stanhope fand diejen Gedanken unvergleich- 
lich. Sie traten nun in den Flur, Quandt trug 
wieder das Dellämpchen voran. Auf einmal 
prallte er zurüc umd hielt daS Lämpchen hoch. 
Am Stiegengeländer ftand eine dunkle Geftalt. 
Es war Caſpar. 

Aha, der hat gehorcht, fuhr es Quandt durch 
den Kopf. Er drehte ſich um und ſah den Lord 
beziehungsvoll an. 

Caſpar trat auf Stanhope zu und bat ihn 
350 


mit bemegter Stimme, noch einmal auf fein 
Bimmer zu fommen. Der Graf antwortete kalt, 
er habe wenig Zeit, Caſpar möge fein Anliegen 
hier vorbringen. Caſpar fchüttelte den Kopf; der 
Lord dachte, Caſpar habe fich eines Beſſern be- 
fonnen, er ftellte fich, als ob es ihn Ueberwindung 
tote, dem Wunſch zu willfahren, dann ging er 
mit einen, wie gezählten Schritten die Stiege 
hinan. Quandt folgte unaufgefordert und blieb 
im Zimmer oben al3 ftumme Perfon neben der 
Tür _ftehen. 

Caſpar fagte, er wolle dem Lord das Tage 
buch gerne zeigen, aber dieſer möge ihm ver- 
fprechen, nicht3 darin zu leſen. 

Der Lord verjchräntte die Arme über der 
Bruft. Dies wurde ihm denn doch zu bunt. 
Aber er antwortete mit der Ruhe einer vollendeten 
Selbſtbeherrſchung: „Du Eannft mir wohl glauben, 
daß ich ohne deine Einwilligung nicht im deine 
Privatangelegenheiten dringen werde.“ 

Cafpar öffnete die Schublade des Kommode 
täftchens und hob den Bipfel eines Seidentüch⸗ 
leins, unter welchem das blaue Heft lag. Der 
Graf näherte fich und blickte in wortloſer Ber 
fremdung bald auf das Heft, bald auf Cafpar. 
„Was für eine kindiſche Zeremonie!" ftieß er 
finfter heraus, „Ich hatte nicht die geringfte Be— 
gierhe geäußert, deinen papierenen Schatz zu ſehen. 

oviel ich weiß, wollteft Du mir daraus vorlejen; 
mit Flunkereien bitte ich mich zu verſchonen.“ 

Auch, Quandt war num herangelommen, und 
mit zmweifelnden Bliden maß er das myjteriöje 
Heft. Cafpar fehaute währenddem, auch indes 
der Lord das Zimmer fehweigend verließ, mit 
einem chinefifch-jchiefen, fchiefzbefinnenden Blick 

861 


vor fich hin, einem Blick der Verfunkenheit und 
Senfeitigkeit, wie ihn manche Köpfe auf jehr alten 
Bildern haben. j 

„Wenn ich meine unmaßgeblihe Meinung 
äußern darf," fagte Quandt, der den Grafen 
zum Tor begleitete, „jo muß ich geftehen, ich 
glaube nicht an diefes Tagebuh. Ich glaube 
nicht, daß ein Charakter wie der des Haufer von 
ſich ſelbſt aus den Antrieb findet, ein Tagebuch 
zu führen. Ich kann mir nicht helfen, Miylord, 
aber ich glaube nicht daran." 

„Ja, denken Sie denn, daß er uns da bloß leeres 
Papier gezeigt hat?" verſetzte Stanhope fchroff. 

„Das nicht, aber... ." 

„Was aljo?" . 

„se nun, man muß der Sache nachgehen, 
man muß fi damit bejchäftigen, man muß jehen, 
was dahinter ſteckt.“ 

Stanhope zuckte die Achſeln und ging. Er 
hatte gehofft, aus den Aufzeichnungen des Jüng⸗ 
lings mancherlei über fich felbft zu hören; dies 
lodte; er mußte, daß er dort auf einem hohen 
Poſtament ftand und daß er vergöttert worden 
war; es ift di vergöttert zu werden, wie 
wenig Aehnlichleit man auch mit einem Gott 
haben und wenngleich das Götterbild vom 
Sodel erkürgt war, um jeine Trümmer mußte 
noch eine reizende Romantik blühen. Dies lodte. 
An das DVerräterifche des Büchleins dachte er 
nicht, wollte er nicht denken, damit mochten fich 
die Schergen abfinden. 

Trogdem begab er ſich am nächſten Mittag 
ins Lehrerhaus, trat in Caſpars Zimmer und 
orberte kurz und ftreng von dem Jungling die 

blieferung der Briefe, die er ihm während ihrer 
352 


Trennung nad) Nürnberg gefchrieben. Caſpar 
gehorchte ohne zu fragen. Die Briefe, e8 waren 
nur drei, darunter ber gefährliche, geſchwätzige, 
den der Graf zu fürchten hatte, lagen in einer 
befonderen Mappe in einer Hülle von Goldpapier. 
Stanhope zählte fie nach, ſieckte fie in die Bruft- 
taſche und jagte dann etwas milderen Tons: 
„Du holſt mich heute abend um acht Uhr vom 
Hotel ab. Wir find aufs Schlößchen zu Frau 
von Imhoff geladen. Zieh dich gut an." 

Caſpar nidte. 

Stanhope ſchritt zur Tür. Die Klinke in der 
Hand, drehte er fs noch einmal um: „Morgen 
reife ih." Im der Krümmung feines Muni 
Tag Ueberbruß und Grauen. Ihm graute plöß- 
lich vor diefer Stadt und vor ihren Menichen, 
ihm graute vor etwas, das er wie eine hölliiche 
Unholdfrage über fich in der Luft hängen fah 
und dem er durch die Gefchwindigfeit feiner 
Pferde zu entrinnen hoffte. Den Präfidenten zu 
erwarten hatte er aufgegeben, denn Feuerbach 
hatte feinem Stellvertreter gejchrieben, er fäme 
erſt nach Neujahr. 

„Morgen jchon?" flüfterte Caſpar betrübt; 
und nach einer Pauſe fügte er ſcheu Hinzu: „Was 
abgemacht ift, das gilt aber?" 

„Was abgemadt ift, daS bleibt beſtehen.“ 

Die Einladung der Imhoffs_ war zugleich eine 
Abfchiedsfeier für den Grafen. Es waren gebeten: 
der Regierungspräfident Mieg, der Hofrat Hofe 
mann, der Direktor Wurm, Generaltommiffär von 
Stihaner mit Frau und Töchtern und einige 
andre Herrfchaften; alle famen in großer Gala. 
Man war jehr gejpannt auf Caſpars erſtes Er- 
ſcheinen in der hiefigen Gefellfchaft. 

Balfermann, Gafpar Haufer 28 353 


Sein Auftreten enttäufchte nicht. Wie fetierte 
man ihn, bemühte man ſich um ihn; man fagte 
ihm Komplimente, die lächerlichiten Komplimente, 
lobte feine einen Obren und ſchmalen Hände, 
fand, dab ihm die Narbe auf der Stirn, die 
vom Sc on des Vermummten bi rte, inter- 
effant zu Geficht ftehe, beftaunte fein Reden und 
fein Schweigen und mähnte damit den Lord zu 
entzücten, der fich jedoch über eine gemefjene Höf- 
lichkeit hinaus nicht verpflichtete und dem über 
ſchwenglichen Weſen der Damen feinen verbind- 
lichiten Sarkasmus entgegenfebte. 

Nachdem die Tafel aufgehoben war, erfchien 
der Rämmerling des Lords und brachte ein Paket, 
welches in ungefähr einem Dutzend Eremplaren das 
in Kupfer geitochene Portät Stanhopes enthielt, 
worauf er in Pairstracht mit der Grafenfrone 
dargeftellt war. Er verteilte die Bilder an „die 
lieben Ansbacher Freunde”, wie er mit bezaubern- 
dem Lächeln fagte. 

Das Runftwert erfuhr die Iautefte Bewunde⸗ 
rung, ſowohl in bezug auf die Aehnlichleit wie 
auf die Ausführung; als jeder feinen Dank ge 
zollt, kam das Gejpräch auf Bilder überhaupt, 
und es entitand eine Meinungsverjchiedenheit 
darüber, ob man aus den Zügen eines Porträts 
auf die Charaktereigenfchaften der betreffenden 
Perſon ſchließen Tönne. Der Hofrat Hofmann, 
als der negative Geift, der er überhaupt war, 
befiritt e8 mit großer Lebhaftigkeit und mit Aufe 
wand von vielen Gründen; er jagte, jedes Bildnis 
gebe ſchließlich doch nur eine Eſſenz der beiten 
oder einichmeichelndften oder am offenſten fich 
darbietenden Eigenfchaften, e8 komme dem Maler 
oder Stecher nur darauf an, einen bejonberen, 


354 


feinem Kunftwefen verwandten Zug bis zur vor- 
gejegten Wirkung zu übertreiben, jo daß von der 
wahren Art des betreffenden Menjchen kaum 
noch etwas übrigbleibe. Dem murde heftig 
widerfprochen; das bänge ja vor allem von dem 
Genie de3 Künftler8 ab, wurde erwidert, und 
Lord Stanhope, der die Aeußerungen des Hof 
rats bei diefem Anlaß als einen Mangel an 
Delitatefje empfinden mußte, ereiferte fich fehr 
gegen feine fonftige Gepflogenheit und behauptete, 
ex jeinerfeit3 getraue fich aus jedem Bildnis, wen 
es auch darftelle und von weſſen Hand auch 
immer e3 gefertigt fei, die ſeeliſche Beſchaffenheit 
ber abgebildeten Perſon zu erraten. 

Bei diefen Worten lächelte die Hausfrau bes 
deutungsvoll. Sie verfchwand in einem Neben- 
raum und kehrte alabald mit einem goldgerahmten 
ovalen Delbild zurüd, das fie, noch immer 
lächelnd, in Kurzer Entfernung von dem Grafen 
aufrecht auf den Tiſchrand ſtellte. Die Gäſte 
drängten fich Herzu, und faft von allen Lippen 
erfholl ein Ausruf der Bewunderung. 

Es mar ein äußerft lebendig und natürlich 
gemaltes Bild, welches eine junge Frau _von ver 

lüffender Schönheit barjtellte: ein Geficht weiß 
wie Aabafter und überhaucht von zartem Rofen- 
rot; Hare und ebenmäßige Büge, einen Blick, 
dem offenbar die Kurzjichtigfeit etwas Poe⸗ 
tifches und Schüchternes gab, und im ganzen 
Fr Fhyſtognorüe ein himmliſches Leuchten von 


„Nun, Mylord?“ fragte Frau von Imhoff 

ſchelmiſch. 
Stanhope nahm eine neunmalweiſe Miene an 
und ließ ſich vernehmen: „Wahrlich, in dieſem 
865 


Geſchöpf verbindet ſich orientalifche Weichheit mit 
andalufifcher Grazie.“ 

Frau von Imhoff nickte, ald ob fie das Ge- 
fagte vortrefflich fände. „Schön, Mylord," 
meinte fie, „wir wollen etwas über den Charakter 
der Dame wiſſen.“ 

„D, man will mic, attrappieren!" verfeßte 
Stanhope heiter. „Nun gut. Ich denke, es ift 
das eine Frau, welche jede Art von Leiden oder 
Ungemach mit außerordentlicher Langmut zu er- 
tragen verfteht. Sie ift Kg fie ift gottes- 
für tig, fie liebt den idylliichen Frieden des 
Zandlebens, ihre Neigungen gehören den ſchönen 
Künſten —" 

Frau von Imhoff konnte nicht mehr an IN 
halten und hrach in beluftigtes Lachen aus. „ 
bin ficher, Graf, daß Sie nur, um mich zu 
neden, eine jo faljhe Deutung unternommen 
haben," fagte fie. 

Der Hofrat machte ein molantes Geſicht, 
Stanhope errötete. „Wenn ich mich blamiert 
habe, fo belehren Sie mich eines Befjern, gnädige 
Frau,“ antwortete er galant. 

„Am das zu können, müßte ich Ihre Geduld 
Tänger als le in Anfpruch nehmen," fagte 
Frau von Imhoff plöglich ernit. „Sch müßte 
Ihnen von dem ungewöhnlichen Schickſal diejer 
Frau erzählen, die meine befte Freumdin ift, und 
ich würde Gefahr laufen, die gute Stimmung zu 
zerftören, in der Sie fich alle befinden." 

Aber man wollte fich nicht damit zufrieden 
geben, und Frau von Imhoff mußte jchließlich 

em allgemeinen Drängen willfahren. 

„Meine Freundin kam als Mädchen von acht» 
zehn Jahren an den Hof einer mittelbeutichen 
356 


Reſidenz,“ begann fie mit einer veizenden Be— 
fangenpeit. „Sie war vater- und mutterlo8 und 
in ihrer Eriftenz ganz auf ihren Bruder an- 
gewieſen. Diefer Bruder, ich will ihn der Kürze 
wegen ben Freiheren nennen, galt troß feiner 
Jugend, er war nur um zehn ‚re älter denn 
feine ſchöne Schweiter, für einen Dann von her 
vorragenden Talenten; der Fürft, obwohl ſchwaͤchlich 
und ausfchweifend, wußte feine Fähigkeiten voll- 
auf zu würdigen, gab eine der höchiten Stellen 
de3 Landes unter jeine Verwaltung und über- 
häufte ihn mit Ehren und Ausgeidmuingen, Do 
nahm der Freiherr an den Vergnügungen des 
Hofes nur infofern teil, al3 er die Schwefter in 
die Salons und Gefellfchaften des Adels ein- 
führte, und er hatte auch die Genugtuung, daß 
fe nicht nur durch ihre Schönheit, jondern auch 
uch Geift, Anmut und ein felten befeuertes 
Naturell der Mittelpunkt jedes Kreiſes wurde, in 
dem fie fich fehen ließ. 

„Eines Tages nun wurde das ruhige Zu- 
fammenleben der beiden Menfchen auf eine furcht- 
bare Weiſe zerſtört. Faſt zufällig machte der 
Freiherr die Entdedung, daß in der Finanz 
verwaltung des Landes ganz ungeheuerliche Unter- 
fchleife ftattgefunden Hatten, es handelte fih um 
viele Hunderttaufende von Talern, und daß der 
Fürft jelbft, in Bedrängnis geraten durch eine 
arge Mätrefjen- und a bei 
diefen zum Nachteil des Volles ausgeführten 
Manipulationen beteiligt war. Der Freiherr 
mußte fich feinen Nat. Er vertraute fich der 
Schweſter an. Diefe fagte ihm: Hier gibt es 
fein Schwanken, geh zum Fürften und mac ihn 
ohne Rückhalt auf die Schwere eines folchen Ver- 

857 


brechens aufmerkſam. Es gefchah. Der Fürft 
geriet in Zorn, wies dem jungen Mann die Tür 
und deutete ihm an, daß er feinen Abjchied zu 
nehmen habe. Als der Freiherr feiner Schwefter 
von dem unerwarteten Ausgang feines Unter 
nehmen Mitteilung machte, drängte fie ihn, die 
Geſchichte vor die verfammelten Landftände zu 
bringen. Auch dazu erklärte ſich der Freiherr 
bereit, eröffnete fich aber vorher noch einem feiner 
Freunde, der den Entſchluß zu billigen fchien. 
Derfelbe Freund jchrieb ihm am nächſien Abend 
ein Briefchen, worin er ihn dringlichft aufforderte, 
einer wichtigen Beſprechung halber fogleih in 
ein nahe der Stadt gelegenes Luſthaus zu kommen. 
Ohne Zögern folgte der Freiherr dem Auf, ließ, 
trotzdem es ſchon fpät und die Nacht finfter war, 
fein Pferd fatteln und ritt davon. 

„Seit diefer Stunde wurde er nicht mehr 
geſehen. Einige Leute wollten gegen Mitternacht 
in der Nähe jenes Luſthauſes Schüſſe gehört 
haben, aber wie dem auch fein mochte, der Frei- 
herr war verſchwunden, und was mit ihm ges 
ſchehen war, blieb ein unerflärtes Rätſel. Den 
Schmerz der Schweiter Tann man ſich denten. 
Doch vom erften Tag an verſchmähte fie e3, 
diefem Schmerz fich hinzugeben, und entfaltete 
eine erjtaunliche Tätigkeit. Da fie nach und nad 
den Tod de3 Bruders glauben mußte, ſetzte fie 
alles daran, um wenigftens feinen Leichnam aus» 
findig zu machen. Sie nahm Arbeiter auf, die 
in der Umgebung des Lufthaufes wochenlang die 
Erde aufgraben mußten, mit Güte, mit Lift, mit 
Drohungen beſchwor fie den angeblichen Freund 
des Bruderd, zu reden, wenn er etwas wiſſe; 
«3 war umfonft, er behauptete, nichts zu wiſſen. 
368 


Niemand wollte etwas wiſſen. Sie warf fi 
dem Fürften zu Füßen, der fie huldvoll anhörte 
und, anſcheinend jelbft ergriffen, alles zu tun 
verfprach, um der Sache auf die Spur zu kommen. 
€3 war umfonft. Einige Zuge darauf erkrankte 
fie, ohne Zweifel durch Gift; der Verfuch wieder- 
holte fi. Plötzlich aber ftarb der Fürft an 
einem Schlagfluß. Ihres Bleibens an_jenem 
ſchrecklichen war nun nicht mehr. Sie be 
gann zu reifen und fuchte an allen einen und 
großen Höfen Deutfchlands, fpäter ſogar in Lon- 
don und Paris Minifter, Monarchen und Männer 
der Oeffentlichkeit zu gewinnen, um Sühne oder 
wenigſtens Aufklärung zu erlangen. Stellen Sie fich 
das Leben vor,“ fuhr Frau Imhoff fort, „das 
meine Freundin auf ſolche Weife länger al3 drei 
Jahre führte, immer unterwegs, immer in Haft, 
mit beftändigen Widerwärtigfeiten fämpfend. Ein 
großer Teil ihres Vermögens ging nad) und 
nad durch ihre fruchtlofen Anftrengungen ver- 
loren. AB fie nun endlich einjehen mußte, 
daß fie nichts erreichen würde, daß die Ver— 
brüderung der Schlehten und Gleichgültigen 
zu mächtig ift, entjagte fie mit derfelben Ent- 
ſchloſſenheit, die fie bisher an den Tag gelegt, 
allen weiteren Verfuchen, zog in eine Heine Uni— 
verfitätsftadt und warf fich mit einem wunder 
baren Eifer auf das Studium der Politik, der 
Jurisprudenz und der Nationalöfonomie. Nicht 
als ob fie jich damit gegen die Welt verfchloß, 
ganz im Gegenteil. Sie hatte ihre private Sache 
mit einer öffentlichen vertaufcht. Ihre glühende 
Seele, für den Gedanken der Dörferfreibeit und 
der Menfchenrechte entflammt, fuchte Betätigung. 
Bor zwei Jahren heiratete fie einen unbedeuten- 

359 


den und keineswegs geliebten Mann; es geſchah 
deshalb, weil fich der Mann, dem fie fich ſchon 
gemeigert hatte, .aus Leidenfchaft zu ihr im Bade 
ie Adern geöffnet hatte; er wurde gerettet und 
fie nahm ihn. Doch wurde die Ehe ſchon nach 
wenigen Monaten in friedlihem Einverftänbnis 
elöft, der Mann ift nach) Amerifa gegangen und 
Farmer geworden. Meine Freundin fing aber- 
mals ihr merkwürdiges Wanderleben an; ich 
habe Briefe von ihr bald aus Rußland, bald 
aus Wien, bald aus Athen; feit einigen Monaten 
weilt fie in Ungarn. Ueberall unterfucht fie die 
Lage der Bauern und die Not des arbeitenden 
Volkes, nicht etwa nur oberflächlich und empfind- 
ſam, jondern mit fachlicher Gründlichkeit; ihr 
profundes Wiſſen und ihre Kenntnis der Geſetze, 
PVerfaffungen und öffentlichen Einrichtungen hat 
ſchon mandem gelehrten Herrn Bewunderung 
abgezwungen. Ste ift heute fünfundzwanzig 
Jahre alt und fieht ſaſt immer noch fo aus wie 
auf diefem Bild, dus vor ſechs Jahren gemalt 
wurde. Nach alledem werden Sie mir wohl 
(auben, Mylord, daß bei ihr von orientalijcher 

jeichheit und fanfter Leidensdemut nicht wohl 
die Rede fein kann. Sanft ift fie, ja fie iſt janft, 
aber ganz anders, wie man ſich daS gewöhnlich 
vorftellt. Ihre Sanftmut hat etwas Freudiges 
und Tätiges, denn es ift in ihr ein kühner Geift 
und ein erhabenes Vertrauen zu allem, mas 
menfchlich if. Immer ift ihr die Gegenwart das 
Höchſie.“ 

Ein lautloſes Schweigen bezeugte der Er— 
zählerin die tiefe Wirkung, die ſie hervorgerufen. 
Und iſt es denn nicht prächtig, iſt es nicht 
prächtig⸗ſpannend und angenehm-grufelig, ſich 
860 


dergleichen im mohldurchheizten, hellerleuchteten 
Zimmer vorerzählen zu laffen? Der Mann am 
Kamin reibt fich gemütlich die Hände, wenn es 
draußen ftürmt und wettert. Dem Mann am 
Kamin verurfacht es ein füßpridelndes Behagen, 
wenn er fich vorftellt, daß draußen einige Leute 
ohne Ueberzieher und Handſchuhe herumfpazieren. 
Er, der Dann am Kamin, iſt jogar imftande, 
mit folchen Unglüclichen auf das lebhaftefte zu 
ſympathiſieren. 

Caſpar war, als Frau von Imhoff zu 

fprechen angefangen, etwas außerhalb des Zu- 
börerkreifes gejefjen, dann hatte er fi langſam 
echoben, war näher gekommen, bis er an ihrer 
Seite ftand, und hatte wie verzaubert auf ihren 
redenden Mund geblidt, Jetzt, da fie fertig war, 
lachte er plötzlich. Die Züge kamen in Bewegung 
und erhielten etwas unendlic, Anziehendes,' Fran 
von Imhoff geftand fpäter, daß ihr ein folder 
Ausdruck Tindlicher Freude noch nirgends vor 
jefommen jei; ja, es glich dem Lachen eines 
leinen Kindes, nur daß ſich eine höhere und 
reinere Kraft des Bewußtſeins darin zu erkennen 
gab und die Empfindung feines Innern mit den 
ftärkften Farben malte. Die Umfigenden waren 
neugierig, was er jagen würde, und beugten fich 
vor, doch er ftellte nur die zaghafte Frage: „Wie 
heißt denn die Frau?" 

Frau von Imhoff legte den Arm um feine 
Schulter und antwortete, gütig lächelnd, das zu 
verraten ftehe ihr jegt nicht zu, fpäter vielleicht 
werde er es erfahren, auch an ihm nehme fie 
herzlichen Anteil, 

Er blieb. nachdenklich. Auch als die Gefellig- 
keit wieder geräufchvoller wurde und das jüngite 

361 


Fräulein von Stihaner am Klavier Lieder fang, 
behielt er feinen fchiefsbefinnenden Blick. Sonder: 
bar wurde fein Gefühl durch das jo beweglich 
geſchilderte Schickſal jener Unbelannten nach außen 
getrieben, und wie durch den Wink eines unficht- 
aren Geiftes öffnete fih zum erftenmal fein 
Herz den Leiden eined andern Ichs, einer fremden 
PR Es fann doch nicht jo mit den Frauen 
beichaffen fein, wie ich's mir immer eingebildet 
babe, dachte er. 

Das gab ihm zu denken. An irgendeinem 
Punkt erzitterte auf einmal der Bau der Welt, 
und ein zmwiefaches Antlitz zeigten die Kreaturen: 
das eine wohlvertraut und nicht geliebt, das zweite 
unfaßbar wie Schatten, fern wie der Mond, ver- 
fchwiftert beinahe dem der nie gefehenen Mutter. 

Auf der VBrüde zwiſchen Abend und Abend 
reitet daS Leben; was es heute ſchenkt, wird 
morgen Beſitz. Ohne dieſe Stunde hätte ein Er⸗ 
eignis der folgenden Nacht, bei dem er nur der 
flüchtige und faum bemerkte Zeuge war, nicht fo 
gemaltig in fein Inneres gewuchtet, daß er tage 
sn danach ſich in der ſchmerzlichſten Verwirrung 

and, 


Joſeph und feine Brüder 


Als Abſchiedsgabe erhielt Cafpar vom Lord 
zwei Paar Schuhe, eine Schachtel mit Brüffeler 
Spitzen und ſechs Meter feinen Stoff zu einem 
Anzug. Nachdem er ſchon den ganzen Vor— 
mittag mit ihm verbracht, fam Stanhope nad) 
Tiſch ins Quandtſche Haus, um Caſpar Lebewohl 
362 


zu fagen. Um halb vier fuhr der Wagen vor. 
Caſpar geleitete den Grafen. auf die Gaſſe. Er war 
bleich bis in die Augen; dreimal umarmte er den 
Scheidenden und biß die Zähne zufammen, um 
nicht aufchreien zu müflen, war e3 doch ein 
Stüd feines innigften Seins, das ſich graufam 
von ihm trennte — für immer, das fühlte er 
wohl, ob er den fo teuer gewordenen Mann 
wiederfah oder nicht. Mit ihm nahm er Abfchied 
von ber Unſchuld feligften Vertrauens und von 
der Süßigkeit ſchöner Wünfche und Täufchungen. 

Auch der Lord war zu Tränen gerührt. Es 
entſprach feiner reizbaren Natur, fich bei folchen 
Anläffen einer mwohltätigen Gemütserjchütterung 
zu überlafjen. Sein letztes Wort Hang wie ein 
Schuß vor Selbftvorwürfen; als wolle er geſchwind 
noch ins Schickſalsrad greifen und die Speichen 
zurüddrehen; die Kutſche war ſchon im Fahren, 
da rief er Quandt und dem Polizeileutnant 
Hidel, die beide am Tor ftanden, mit feierlich 
era Brauen zu: „Bewahrt mir meinen 

ohn!“ 

Quandt drückte die Hände beteuernd gegen 
jeine Bruft. Das Gefährt rollte gegen die Krails- 
heimer Straße. 

Fünf Minuten fpäter erfchienen Herr von 
Imboff und der Hofrat Hofmann; fie mußten 
zu ihrem Leidweſen erfahren, daß fie die Zeit 
verpaßt hatten. Um Caſpar feiner Traurigkeit 
zu entreißen, re fie ihn zu einem Spazier- 
gang in den Hofgarten auf, ein Vorfchlag, dem 
der Lehrer eifrig zuftimmte. Hickel bat, ſich an- 
ſchließen zu dürfen. 

Raum waren die vier Perſonen um die nächfte 
Ede gebogen, als Quandt raſch ins Haus zurüd- 


363 





eilte und feiner Frau einen Wink gab, die ihm, 
ohne zu fragen, weil da8 Unternehmen verab- 
redet war, in den oberen Flur folgte, wo fie ſich 
bei der Treppe als Schildwache aufitellte. Quandt 
feinerfeits machte fih nun daran, das Tagebuch 
u fuchen. Er hatte fich zu dem Ende ein zweites 
—* Schlüffel anfertigen laſſen und konnte da⸗ 
mit die Kommode und den Schrank öffnen. In 
der Kommodeſchublade fand er nichts, das blaue 
& war nicht mehr darin. Aber auch den 

rank durchſtöberte er vergeblich, die Kleider, 
die Tifchlade, die Bücher, daS Kanapee; vergeblich 
kroch er in jeden Winkel, e8 war nichts zu 
finden. 

Erſchöpft trocknete er fi den Schweiß von 
der Stirn und rief feiner Frau durch die offene 
Tür zu: „Siehft du, Jette, was 1“) Immer fage: 
der Kerl hat's fauftdie hinter den Ohren." 

„Da ja, er ift faljch wie Bohnenſtroh,“ er- 
widerte die Frau, „und lauter Scherereien macht 
ex einem." Sie fehimpfte bloß ihrem Mann zu 
Gefallen, denn im Grund hatte fie den Jünglin, 
gern, weil noch _nie ein Menſch fich jo Hoflich 
und nett gegen fie betragen hatte. 

Quandt blieb für den Reſt des Tages ver- 
ftimmt wie einer, der um ein edles Wert be— 
trogen wurde. Und mar es nicht jo? War es 
nicht feine Miſſion auf diefer Erde, die Lüge 
von der Wahrheit zu jcheiden und als rechter 
Herzensalchimiſt den ‚Diitmenfcjen die unvermiſch⸗ 
ten Elemente aufzuzeigen ? durfte nicht ruhig 
zufehen und nicht Nachficht üben, wo der Atem 
der Lüge wehte. 

Von folchen Empfindungen bewegt, hielt er 
am jelben Abend feiner Gattin eine längere Rebe, 
364 


worin er fich folgendermaßen ausſprach: „Sieh 
mal, Jette, ift dir nicht fein gerades und aufs 
rechtes Sigen bei Tiſch ſchon aufgefallen? Kann 
man annehmen, daß fo ein Menſch jahrzehnter 
lang in einem unterivdifchen Loch vegetiert hat? 
Kann man die glauben, wenn man feine fünf 
Sinne ordentlich beieinander hat? Won feiner 
gerühmten Kindlichkeit und Unſchuld Tann ich, 
offen geftanden, nichts entdecken. Er ift gutmätig, 
ja; gutmütig mag er fein, aber was beweift das? 

nd wie er vor den reichen und vornehmen Leuten 
ſcharwenzelt und liebedienert als der ausgemachte 
Duchmäufer, der er ift! Da bat deine Freundin, 
die Frau Behold, den Nagel auf den Kopf ge 
troffen. Sieh mal, oft, wenn ich unverjehens in 
fein Zimmer trete, es liegt mir natürlich daran, 
ihn zu überrafchen, aber da hockt er dir manche 
mal in der Ede — es ift fonderlich anzuschauen. 
Ich weiß nicht, ift ex jo geiftesabmejend oder 
ftellt ex fi nur fo, aber wenn er mich dann 
bemerkt, verändert ſich fein Geficht bligfchnell zu 
der beuchlerifchen Grimaſſe von Freundlichkeit, 
die einen leider entwaffnet. Einmal hab’ ich ihn 
fogar am hellichten Tag bei Beruntergelaflenen 
Rouleaus ‚gefunden, Was Tann das bedeuten ? 
Es ſteckt eben was dahinter.” 

„Was fol denn dahinter ſtecken?“ fragte die 
Lehrerin. 

Quandt zudte die Achſeln und feufzte. „Das 
mag Gott wiffen,“ fagte er. „Bei alledem mag 
ich ihn leiden," ſchloß er mit verforgtem Stirn⸗ 
runzeln; „ich mag ihn gut leiden, er ift ein auf⸗ 

jeweckter und trätabler Burſche. Man muß aber 
jehen, was dahinter ſteckt. Es ift etwas Unheim- 
liches um den Menjchen." 


865 


Die Lehrerin, die fich für Die Nacht frifierte, 
war des Schwatzens müde. Ihr hübſches Geficht 
jatte den Ausdrud eines dummen, ſchläfrigen 
ogels, und ihre auffallend nah beieinander 
rg Augen blinzelten matt ins Kerzenlicht. 
löslich Tieß fie den Kamm ruhen und fagte: 
„Hoch mal, Quandt." 

Quandt blieb ftehen und laufchte. Caſpars 
Zimmer lag über dem ehelichen Schlafgemadh, und 
fie vernahmen nun in der eingetretenen Stille die 
unaufhörlich auf und ab gehenden Schritte ihres 
rätfelhaften Hausgenofjen. 

„Was mag er treiben?" meinte die Frau 
verwundert, 

„Ja, was mag er treiben,“ wiederholte 
Quandt und ftarrte finfter zur Dede. „Ich weiß 
nicht, mir wurde immer gejagt, daß er mit den 
Hübner fchlafen geht; is merke nicht3 davon. 

m fiehft du's, da foll man fich auskennen. 
Jedenfalls wollen wir ihm das Spazierengehen 
bei Nacht abgewöhnen." Quandt öffnete leiſe 
die Tür und ſchlich auf Pantoffeln vorfihtig 
hinaus. Vorfichtig jchlich er die Treppe empor, 
und al® er vor Caſpars Tür angelangt war, 
verfuchte er durchs Schlüffelloch zu fpähen, aber 
da er nichts fehen fonnte, legte er in derjelben 
gebücten Stellung das Ohr and Schloß. a, 
da wandelte er herum, der Unerforfchliche, wan⸗ 
delte herum und ſchmiedete feine dunfeln Pläne. 

Quandt drückte die Klinke, die Tür war vers 
fperrt. Da erhob er feine Stimme und forderte 
energiih Ruhe. Sogleih ward es drinnen 
mäuschenftill. 

Als nun der Lehrer wieder zu feiner Frau 
kam, fand fich, daß mit unerwarteter Plötzlichkeit 


866 


deren ſchwere Stunde angebrochen war. Schon 
lag fie ftöhnend_auf dem Bett und verlangte nad) 
er Hebamme. Duandt wollte die Magd jchiden; 
die Frau fagte: „Nein, das geht nicht, geh du 
felber, die Perſon ift blöde und wird den Weg 
verfehlen.“ Wohl oder übel mußte ſich Duandt 
dazu entichließen, jo unbequem auch die Sendung 
war, denn erſtlich hatte er fich aufs Bett gefreut, 
zweitens fürchtete er fich ein wenig vor dem Gang 
durch die finftern Gaffen, war doch erſt zu 
Pfingften hinter der Karlskirche ein Rechnungs⸗ 
alzeſſiſt überfallen und halb ehe jen: worden. 

Verdroſſen haftete er in die Kleider; hierauf 
holte er die Magd aus ben Federn und befahl 
ihr, eine befreundete Nachbarin zu rufen, die ſich 
im Notfall zur Sitfeleitung erboten hatte, dann 
fehlurfte er wieder herein, durchkramte die Truhe: 
nad) jeinen Piftolen, wobei er das Nähtifchlein 
ummarf, was ihn wieder derart in Verzweiflung 
fette, daß er mit den Händen feinen Kopf padte 
und fein unfeliges 203 verwünfchte. Die Frau, 
der das Elend ſchon den Sinn verrüdte, ent— 
nahm ihrem Zuftand den Mut, ihm allerlei fonft 
feig zurüdtgehaltene Aufeichtigteiten zuutäleubern, 
welche ihn im bejondern und das Mannsvolk im. 
allgemeinen trafen. Das hatte die befte Wirkung, 
und nachdem er fein Meines Söhnchen, das neben- 
an fchlief und von dem Tumult erwacht war, 
a Magdlammer getragen hatte, trolite er fich 
endlich. 

Caſpar, im Begriff ſich nieberzulegen, ver- 
nahm auf einmal mit Schaudern die ſchmerzens⸗ 
volle Stimme der Frau unten. Immer furcht⸗ 
barer wurden die Laute, immer greller drangen 
fie herauf. Dann war e3 wieder eine Beitlang 
. 367 


ftille, dann knarrte die Haustüre, Schritte gingen, 
Schritte famen, und nun begann das Schreien 
viel ärger. Caſpar dachte, ein großes Unglück 
fei paſſiert; fein erfter Trieb war, ſich zu retten. 
Er lief zur Tür, fperrte auf und eilte die Stiege 
hinab. Die Wohnzimmertüre war offen, über- 
heizte Luft quoll ihm entgegen. Die Magd und 
die Nachbarin ftanden gefchäftig am Bett der 
Frau Duandt; diefe fchrie nad) ihrem Mann, 
ſchrie zu Gott und bäumte ſich auf. 

Ad, was ſah Cafpar da! Wie ward ihm 
doch zumute! Ein Köpflein fah er, einen weißen 
fleinen Rumpf, ein ganzes winziges Menfchlein, 
emporgehoben mit Händen, die nicht Heiner waren 
als es felbft! Alle Glieder zitterten an Cafpar, 
er wandte fih um, und ohne daß ihn jemand 
erblickt, floh er die Stiege hinauf, ſank auf dem 
oberſten Treppenabfaß atemlos hin und blieb figen. 

Wieder ging die Haustür, Quandt erichien 
mit der Wehfrau, doch ſchon ftürzte ihm die Nach- 
barin jubelnd entgegen: „Ein Töchterlein, Herr 
Lehrer!" 

„Ei, fieh da!" vief Quandt mit einer Stimme, 
fo ftolz, als hätte er dabei etwas Nennenswertes 
geleiftet. 

Biepfendes Geplärr beftätigte die Anmwejen- 
heit der neuen Weltbürgerin. Nach einer Weile 
am trällernd die Map. und Caſpar jah, daß 
fie eine Schüffel voll Blut trug. 

Es mochte in allem nicht mehr denn eine 
Stunde verflofjen fein, als Cafpar ſich endlich 
erhob und in feine Kammer taumelte. Wie 
betrunfen entfleidete er ſich, wühlte fich in die 
Betten und vergrub das Geficht. 

Er konnte nichts dawider tun: aus der Nacht 
368 


erhob fich gleich einer purpurnen Scheibe die 
Schüſſel voll Blut. 

Er konnte nichts andres fehen als dies: aus 
einem blutigen Schlund krochen junge Wefen und 
wurden Menfchen genannt. Nadend und winzig, 
einfam und hilflos und unter dem Jammer der 
Mutter krochen fie wehevoll aus einem Kerker 
ohnegleichen, wurden geboren, ja, geboren, ſowie 
die Mutter ihn geboren. 

Das ift e8 alfo, dachte Caſpar. Er fpürte 
das Band, begriff den Zufammenhang, fühlte feine 
Wurzeln tief in der blutenden Erde, alles ftarre 
Leben regte fich, das Geheimnis war entjchleiert, 
die Bedeutung offenbar. 

Doch Mitleid und Grauen, Sehnfucht und 
Furcht waren nun eines, Leben und Sterben zu 
einem Namen verfchmiedet. Ex wollte nicht ein- 
fülofen und fchlief ein, aber je näher der Schlummer 
am, eine je qualvollere Todesangjt umfing ihn, 
fo daß er fich nur widerſtrebend ergab: ein banger 
Heiner Tod im Leben. 

Da er am Morgen über die gewohnte Stunde 
ausblieb, verwunderte fi Duandt, ging hinauf 
und pochte an der Tür. Obgleich er das Zimmer 
vom Abend her verfperrt wußte, drüdte er auf 
die Klinke, fand jedoch zu feinem Erſtaunen die 
Tür unverfchloffen. An Caſpars Bett tretend, 
rüttelte er ihn und fagte ärgerlich: „Nun, Haufer, 
Sie fangen ja an, ein Siebenfchläfer zu werben. 
Was him denn?" 

Caſpar ſetzte fih auf, und der Lehrer jah, 
daß das KRopffifien ganz naß mar; er deutete 
hin und fragte, was das fei. Caſpar befann fich 
ein wenig und antwortete, es ſei vom Weinen, 
er habe im Schlaf gemeint. 


Baffermann, Gafpar Haufer 24 369 





Was, geweint? dachte Quandt ——— 
warum geweint? wieſo weiß er es denn jo ſchnei 
wenn er im Schlaf geweint hat? und warum hat 
er fo lange gewartet, bis ich mich entſchloſſen, ihn 
zu holen 
inter ſteckt eine inte, entſchied Quandt, 

er will mich milde ftimmen. Forfchend ſchaute 
er fih um, und fein Blick fiel auf das Wafjer- 
gies, da3 auf dem Nachttifchlein ftand. Er nahm 
a8 Glas und hob es prüfend empor, es war 
ya leer. „Haben Sie Waffer getrunfen, Hauſer?“ 

agte er duͤſter. 

Caſpar fah ihn-verftändniglos an. Der Blick 
de3 Lehrers, von dem Glas auf das Kiffen 
gleitend, befam einen vorwurfsvollen Ausdrud. 
„Sollten Sie nicht aus Verſehen das Wafler 
verfchüttet haben?“ fragte er weiter; „ich 
fage: aus DVerfehen und meine durchaus nichts 
Fr red, Sie können freimütig mit mir reden, 

aufer." 

Caſpar fchüttelte langſam den Kopf; er ver⸗ 
ftand nicht, was der Mann wollte. 

Verſtockt, verftoct, dachte Quandt und gab 
das Verhör auf. Als Cafpar zum Unterricht ind 
Wohnzimmer kam, teilte ihm Quandt in geziemen- 
der Würde mit, daß ihm eine Tochter geſchenkt 
worden fei. 

Wieſo gejchenkt?“ fragte Cafpar naiv. 

Quandt runzelte die Stirn. Die Gleichgültig- 
feit, mit welcher der Jüngling ein ſolches Er— 
eignis aufnahm, verdroß ihn ſehr. Seine Haltung 
war kalt und förmlich, als er jagte: „Wir be- 
innen wie gewöhnlich mit der Bibelftunde. Leſen 
& Ihr Penſum vor." 

Es war die Gefhichte Joſephs. 

370 


Da ift ein alter Mann, der viele Söhne hat, 
aber den jüngften unter ihnen am meiſten liebt 
und ihm einen bunten Rod gibt, um ihn aus⸗ 
zuzeichnen. Deswegen haffen ihn nun Die Brüder 
und wollen nicht mehr freundlich mit ihm reden. 
Und Yofeph erzählt ihnen einen Traum von ben 
Garben. „Siehe, wir banden Garben auf dem 
Felde", erzählt er, „da ftand meine Garbe auf und 
blieb ftehen und fiehe, eure Garben waren vings- 
um und beugten ſich vor meiner Garbe.“ Da 
antworten die Brüder: „Willſt du denn König 
werben über und? willft du herrfchen über ung?" 
Und fie haſſen ihn noch mehr wegen feiner 
Träume. Aber Joſeph ift fehr arglos, er feheint 
den Grund ihrer Abneigung nicht zu ahnen, er 
erzählt ihnen al8bald einen zweiten Traum, näms 
lich wie die Sonne, der Mond und elf Sterne 
fih vor ihm beugten. Ein Traum von leichter 
Deutbarkeit, denn elf ift die Zahl der Brüder. 
Sogar der Vater ſchili ihn wegen diefes Traumes. 
„Was denkſt du, Joſeph,“ ſpricht er vorwurfsvoll, 
„jo ich und deine Mutter und deine Brüder, 
jollen wir kommen, uns vor dir zu beugen?" Und 
bald darauf gehen die Brüder, die alle Hirten 
Br aufs Feld, um die Schafe zu meiden, und 

joſeph wird von feinem Vater zu ihnen gejandt. 
Und wie die Brüder ihn von ferne fehen, Sprechen 
fie zueinander: „Seht, da kommt der Träumer." 
Und fie befchließen ihn zu erwürgen, fie wollen 
ihn in_eine Grube werfen und vorgeben, ein 
wildes Tier habe ihn verzehrt; „dann werden wir 
ja ſehen, was aus feinen Träumen wird," fagen 
fie hohnvoll. Da ift aber einer unter den Brüdern, 
der Exrbarmen hat, und er warnt die andern. Er 
rät ihnen, den Jüngling in die Grube zu werfen, 
871 


ihm jedoch nicht zu töten. Und fo geichieht es 
auch; fie ziehen ihm den Rod aus, den bunten 
Rock, den er trägt, und werfen den Knaben in 
die Grube, und als die vollbracht ift, erſcheint 
ein Zug von Kaufleuten aus fernem Land, und 
die Brüder einigen fich jest, den Joſeph zu ver- 
taufen, und fie verkaufen ihn um Geld. Dann 
nehmen fie Joſephs Kleid, tauchen es in das 
Blut eines geiglachteten Tieres und fprechen zum 
Vater: „Das blutige Kleid haben wir gefen en, 
fieh doch, ob e8 nicht deines jüngften Sohnes 
Kleid iſt.“ Der Alte zerreißt I Gewand und 
ruft aus: „Trauernd will ich hinunterfahren zu 
meinem Sohn in die Unterwelt." 

Als Cafpar fo weit gefommen war, vi te 
ihm die Stimme. Er ftand auf, legte das Buch 
beifeite, und feine Bruft ward von Seufzern nur 
fo geſchüttelt. Die Hand vor den Mund geprefit, 
erſtickte er mit großer Anftrengung das herauf⸗ 
quellende Schluchzen. 

Quandt ſtutzie. Er beobachtete den Jungling 
ſcharf. Er hatte dabei den ſchrägen Bück einer 
an den Pfahl gebundenen Ziege. „Hören Sie 
mal, Haufer," jagte er endlih. „Sie werden 
mir doc) nicht weismachen wollen, daß Sie von 
diefer fimpeln Gefchichte fo ergriffen find, die 
Ihnen noch dazu mwohlbefannt fein muß; meines 
Wiffens haben Sie ja diefen Teil des Alten 
Teftament3 ſchon beim Profeffor Daumer durchs 
genommen. Da muß Ihnen doch auch gegen- 
märtig fein, daß es dem Joſeph noch recht glück 
ich ergangen it, denn er war ein reiner und 
guter enſch. Ich bitte, ſparen Sie ſich alfo 
ie Mühe. Wenn Sie pflichtgetreu, aufrichtig 
und folgſam ſind, werden Sie bei mir zehnmal 
372 - 


beffer fahren als durch die ungeitige Schauftellung 
von fo weit bergeholten Affelten. Ich glaube 
Ihnen Ihre Tränen einfach nicht; ich denke Ihnen 
das heute ſchon einmal deutlich genug bewieſen 
zu haben. Damit erzielen Sie bei- mir nur das 
Gegenteil von dem, was Sie beabfichtigen mögen, 
ih bin nämlich kein Freund von Gerühlsnus. 
brüchen, im allgemeinen nicht, und bei fo un- 
gegrändetem Anlaß ſchon gar nicht. Es iſt nach ⸗ 
gerade Zeit für Sie, ſich an den Ernſt des Lebens 
zu gewöhnen. Und weil wir nun ſchon jo offen 
miteinander reden, möchte ich Sie dringend warnen, 
alle Leute, mit denen Sie zu tun haben, für 
dumm, zu halten; das ift eine Verblendung von 
Ihnen, welche die nachteifigiten Folgen haben 
wird. Ich bin Ihnen wohlgefinnt, Haufer, ich 
meine es wahrhaft gut mit Ihnen, vielleicht haben 
Sie keinen befjern Freund als mich, was Gie 
Fe erſt einfehen werden, wenn es zu fpät 
ein wird. Aber hüten Sie fich, mich hinter3 Licht 
du führen! Und nun fahren wir fort. Ich will 
iefen Zwiſchenfall al3 nicht geichehen betrachten.“ 

Verlauf diefer eindrucsvollen Predigt" 
war die Stimme des Lehrer3 weich und gütig 
geworden, und es hatte beinahe den Anfchein, 
al wolle er nun Cafpar nehmen und an fein 
Herz drüden. Aber Cafpar ſtand mit albernem 
Gefiht, in welchem ein Lächeln hilflos zuckte, 
vor ihm da. Was ift denn. das? dachte er, was 
will der Mann? 

Es war ihm, auch bei fpäterem Nachdenken, 
ganz und gar nicht verjtändlich, worauf die Worte 
de3 Lehrer hinzielten, und er kam u der An- 
It, daß Quandt der rätjelhaftefte Menſch ſei, 

em er je begegnet. 
373 


Schloß Faltenhaus 


Der Präfident traf erjt am Dreilönigstag, 
nah faft vierwöchiger Abweſenheit, wieder 
in der Stadt ein. Die ihm naheftehenden Per 
ſonen wollten eine bedeutende Veränderung feines 
Weſens an ihm bemerken; er erjchien wortkarg 
und finfter, und fein Anteil an den Amtsgeſchäften 
hatte bisweilen etwas von Lauheit. 

Es fiel auf, daß er mehrere Tage verftreichen 
Tieß, ehe er ſich nach Caſpar erkundigte. Als 
ihn der Hofrat Hofmann während des gemein- 
ſamen Nachhaufewegs unbefangen fragte, ob er 
den Jüngling ſchon gefehen habe, gab Feuerbach 
Teine Antwort. Tags darauf erfchien der Polizei⸗ 
leutnant bei ihm. Hickel ftellte fich um die Sicher- 
heit de3 Hauſer bejorgt und meinte, man folle 
für eine Ueberwachung forgen; der Präfident ging 
auf die Sache nicht weiter ein und jagte bloß, 
er werde fich’8 überlegen. Am jelben Nachmittag 
ließ er den Lehrer rufen und ftellte ihn über 
Befinden und Betragen feines Zöglings zur Rede. 
Quandt fagte die und fagte das; es war nicht 
ſchwarz noch weiß; zum Schluß zog er einen 
Brief aus der Tafche, e8 war das Schreiben der 
Magiftratsrätin Behold, welches dem Präfidenten 
zu überreichen ex fich entſchloſſen hatte, 

Feuerbach überlas das Schriftſtück, und eine 
Wolfe von Mißmut Tagerte ſich auf feine Stirn. 
„Sie müfjen auf derlei Zeug fein Geroicht legen, 
lieber Quandt,” fagte er barſch, „wo kämen wir 
denn bin, wenn wir auf das Gewäſch jeder 
folchen Närrin hören wollten? Sie haben fich 
nicht mit der Vergangenheit des Haufer zu be= 
ſchaͤftigen, das ift nicht Ihres Amts; ich habe 
874 


Sie dazu bejtellt, einen tüchtigen Menschen aus 
ihm zu maden, wenn Sie in der Hinficht zu 
Hagen haben, bin ich ganz Ohr, mit andern 
Dingen verfchonen Sie mich." 

läßt fich denken, daß eine fo grobe Ab» 
fertigung die Empfindlichkeit des Lehrers tief ver- 
leßte, ging exbittert heim, und obwohl ihm 
der Präfident den Auftrag gegeben hatte, Caſpar 
am Sonntag früh zu ihm zu ſchicken, teilte er 
dies dem Singing exit zwei Tage fpäter, am 
Samstag abend, mit. 

Als Cafpar zur beftimmten Stunde ins 
Feuerbachſche Haus kam, mußte er im Flur ziem- 
lich lange warten, dann erjchien erſt Henriette, 
die Tohker des Präfidenten, und führte ihn ins 
Wohnzimmer. „Ich weiß nicht, ob der Vater 
Sie heute empfangen wird," jagte fie und er- 
zählte dann, in der vergangenen Nacht ſei ein 
Einbruch in das Arbeitszimmer des Präfidenten 
verübt worden; die unbelannten Täter hätten 
alle Papiere auf dem Schreibtifch durchwühlt 
und mit Nachſchlüſſeln die Laden geöffnet; es 
fei anzunehmen, daß die Verbrecher irgend beftimmte 
Briefe oder Handichriften hätten an fich bringen 
wollen, denn es fei nichts geraubt worden, aud) 
die gewünfchte Beute hätten fie nicht machen 
tönnen, da der Vater feine wichtigen Papiere 
gut verwahrt habe; nur die erbrochenen Fenſter 
und eine gewaltige Unorbnung habe von ihrem 
Treiben Zeugnis gegeben. 

Das Fräulein Mit während diefes Berichts 
in männlicher-Weije auf und ab, die Arme über 
der Bruft verfchräntt, Groll und Zorn in Stimme 
und Miene. Eie fagte, der DBater fei natürlich 
außer fich über den Vorfall; währenddeſſen öffnete 

375 


fi) die Tür und der Präfident trat in Begleitung 
eines ſchlanken, etwa  dreißigjährigen genaen 
Mannes auf die Schwelle. „Aha, da ift Caſpar 
geuier, Anſelm,“ fagte der Präfident. Der 

(ngeredete ftußte und bliette Caſpar gedantenvoll 
und zerftreut ins Geficht. Caſpar war betroffen 
von der außergewöhnlichen Schönheit diefes Men- 
hen; wie er ſpäter erfuhr, war es der zweit- 
ältefte Sohn Feuerbachs, der, verfolgt von einem 
widrigen Geſchick, für einige Tage ins Eltern- 
haus geflüchtet war, um Nat und Hilfe feines 
Vaters in Anfpruch zu nehmen. Cafpar liebte 
ſchöne Gefihter, zumal wenn fie fo voll Geift 
und Schwermut waren, bei Männern ganz be> 
fonder8; aber e8 war dies nur eine kurze Er—⸗ 
ſcheinung, er fah ihn nicht wieder. 

Der Präfident ließ Eafpar ins Stantsgemach 

treten und kam erft nach einer Weile. Sofort 
fiel Caſpars Blick auf das Napoleonbildnis an 
‘der Wand. Wie wunderlich es war: ſolche Aehn- 
licheit im Ausdruck der ſtolz- abweiſenden Maje- 
ftät und der finfteren Trauer um die anmutig 

jeſchwungenen Lippen mit jenem Mann, den er 
— geſehen! Dazu noch der prunkvolle Ornat, 
Krone, Halsſchmuck und Purpurmantel. Caſpar 
war bewegt; eine höhere Welt tat ſich ihm auf; 
am liebſten wäre er hingegangen, um, was an 
dem Bild geftalthaft fchien, mit Händen zu pacten 
und, mas ihn fo hoheiisvoll daraus anrebete, in 
laute Zwieſprach zu verwandeln. Unwillkürlich 
reckte er fi auf, als zwinge ihn die Fönigliche 
Figur zur Nachahmung; er machte ein paar 
Schritte hin und her und war freudig erſchrocken 
bei der Wahrnehmung, daß die Augen des Bildes 
ihn mit dunkler Glut verfolgten. 

376 


Alſo befchäftigt fand ihn der Präſident und 
blieb überrafcht neben der Tür ftehen. Mochte 
& Zufall genannt werden oder war es eine der 
unergrünblichen Verkettungen, in denen dies nicht 
jewöhnliche Schickſal ſich offenbarte, Feuerbach 
in dem zauberartigen Gegenüberſtehen von 
ild und Jüngling etwas wie ein Ordal, eine 
Beglaubigung von oben. War doch Caſpars 
Mutter (feine Mutter, ja, ſofern der ganze Bau 
der furchtbaren Annahmen und halben Gewiß- 
beiten im Licht der Wirklichkeit nur irgend beſtehen 
Tonnte) durch verwandtfchaftliche Bande an jenen 
Heros gelnüpft. 

„Wiſſen Sie denn auch, wer das ift, Caſpar?“ 
fragte Feuerbach mit lauter Stimme, 

Caſpar fchüttelte den Kopf. 

„So will ich's Ihnen jagen. Das ift ein 
Mann, der die Menfchheit davon überzeugt hat, 
daß ein großer Wille alles vermag. Haben Sie 
denn nos nie was vom Kaiſer Napoleon gehört? 
Ich kannte ihn, Caſpar, ich habe ihn geleben, 
ich habe mit ihm ygejprochen, ich war Mittels- 
mann zwifchen ihm und unferm König Mar. 
Es war eine große Zeit und nicht mehr viel ift 
von ihr übrig." 

Mit mehmitig-finnendem Blick wandte fi 
Feuerbach ab, Er fpürte die Laft der Jahre; 
lange genug hatte er gegen ihre Pranken 
gewehrt; faſt mit — ſtreifte ſein Auge den 
immer noch ſchweigend daſtehenden Jüngling, als 
erwarte er von ihm das Richterwort, das ſeine 
nicht mehr zu verbergende Ohnmacht der Welt 
preisgeben mußte. Das zuletzt Erfahrene, dort 
bei den Mächtigen Erlittene überflutete fein Herz 
mit Scham; eine Flamme des Ingrimms und 

377 





des Hafles gegen alles, was Menfchen hieß, 
Ioderte plöglidy in ihm auf, zähneknirſchend rannte 
er ein halbdutzendmal zwiſchen den Fenſtern 
und der Tür hin und her, und erft der Anblic des 
vor Furcht erbleichten Caſpar gab ihm die Be 
finnung einigermaßen zurüd, und er ftellte bie 
mürrifhe Frage, ob Gafpar bei Quandt genug 
zu eflen befomme. 

Caſz öer iſt nicht zu Magen," antwortete 

par. 

Den zweideutigen Ton, in welchem er dies 
vorbrachte, ſchien Feuerbach zu überhören. „Und 
mas ijt e3 mit dem Lord?" fragte er weiter mit 
einem ftarr-Deohenden Blick, "Eaben Sie ſchon 
Nachricht von ihm? Haben Sie felbft ihm ſchon 
geſchrieben ?" 

„Einmal jede Woche fehreib’ ich ihm," fagte 


ſpar. 

„Wo befindet er ſich?“ 

„Er will jest nach Spanien." 

„Nach Spanien; jojo; nach Spanien. Das 
iſt r weit, mein Beſter.“ 

„Ja, das fol weit fein.“ 

Diefe einfilbige Unterhaltung wurde durch 
einen spöligeibeamten unterbrochen, der eine fchrift- 
liche Meldung wegen des nächtlichen Einbruchs 
brachte. Cajpar verabichiedete fich. 

„Wo bleiben Sie denn fo lang?" empfing 
ihn Quandt ärgerlich. 

„Ich war beim Präfidenten, das wiſſen Sie 
doch," verjeßte Gafpar. . 

„Schön; aber es verrät wenig Lebensart, 
daß Sie einen Beſuch nicht zu kürzen verftehen, 
wenn man zu Haus mit dem Abendefjen auf Sie 
wartet." ö 


378 


Das Efjen war nämlich eine wichtige An- 
gelegenheit bei Quandts. Der Lehrer fehte fich 
immer mit einer gewiſſen Rührung zu Tiſch, und 
fein prüfender Blick ſchien alle Teilnehmer der 
Mahlzeit auf den Grad ihrer Andacht zu era 
minieren. Wenn Frau Quandt verfündigte, was 
man de3 Guten zu erwarten habe, begleitete der 
Lehrer ihre Aufzählungen entweder mit einem 
Kopfnicken oder bedenklichem Runzeln der Stirne. 
Schmedte Am ein Geriht, fo muhs feine gute 
Laune, fand es nicht feinen Beifall, jo aß er 
jeden Bifjen mit einem Ausdruck mweltüberlegener 
Ironie. Für manches hatte er eine befondere 
Vorliebe, wie zum Beſpiel für ſaure Gurken oder 
angewärmten Kartoffeljalat, und er unterließ es 
dann felten, während er fich delektierte, die Ein- 
fachheit feiner Bebürfnifje hervorzuheben. Die 
Lehrerin verſtand trefflich zu kochen, und wenn 
ihr eine Leibipeife des Mannes gelungen war, 
blieb fie für fein Lob nicht unempfänglich, ob- 
ſchon e3 bisweilen in eine zu gelehrte Form ge 
leidet war; jo pflegte Quandt im Scherz zu 
fagen, wenn er fie nicht genommen hätte, wäre 
ſicherlich der felige Trimalchio wieder auferftanden, 
um fie zu heiraten. Nach dem Abendefjen kam die 
gemättiche Stunde mit Pantoffeln, Schlafrod, 

ehnftuhl und Zeitungslefen. Ins Wirtshaus ging 
Quandt faft nie, einmal wegen der Koſten un! 
dann, weil er feine Anfprache fand. Er zog die 
bequeme Ofenecke vor. 

Aber feit Caſpar im Haus weilte, war diefe 
idylliſche Abendjtimmung ohne rechten Reiz. 
Quandt war gequält und wußte mandmal faum 
die Urfache. Stellen wir uns einen Hund vor, 
einen Eugen, nervigen, wachjamen Hund. Stellen 

879 


wir uns vor, daß diefer Hund bei feinem Schnup⸗ 
ern in dem anvertrauten Revier irgendwo einen 
Braten Gift erwifcht hat und daß er nun, das 
verderbliche Feuer in feinem Leib, unbewußt das 
Dunkel fucht, alle feuchten Winkel lechzend durch 
taft, den Schatten verfolgt, die Fliege beknurrt, 

[e8 um fi und über fi) nur auf das eine 
tolle Drängen bezieht und die ganze Welt für 
vergiftet hält, während es bloß jeine armen Ge 
därme find, jo hätten wir ein anfchauliches Bild 
von dem Zuſtand des bedauernswerten Mannes. 
Sein Dämon fehmiebete ihn feft an den Jüng- 
ling; es wurde ihm vor allen Dingen wichtig, 
„dahinterzukommen“; er hätte ein paar feines 
Lebens hergegeben, wenn er dadurch gefchwind zu 
der Kenntnis gelangt wäre, was „dahinterftedte”. 

Um acht Uhr kam der Polizeileutnant zu Be- 
ſuch; er war ſchlecht gelaunt, denn er hatte letzte 
Nacht im Rafino fünfundjechzig Gulden beim 
dbaras verloren und war das Geld noch ſchuldig. 

en Cafpar zeigte er fich auffallend freundlich; 
er fragte ihn aus, was er mit dem Präfidenten 
efprochen, nahm aber ben getreuen Bericht des 

ünglings, als zu belanglos, mit Mißtrauen auf. 

„Ja, unfer guter Freund ift recht zurüd- 
haltend,“ beffagte ſich Quandt; „ich wußte gar 
nichts von dem Einbruch beim Präftdenten, und 
mit Müh und Not, daß er überhaupt davon 
erzählt hat. Wiffen Sie Näheres, Herr Polizei- 
leutnant? Hat man fchon Spuren?" 

Hickel erwiberte gierämätig, man babe bei 
Pe einen verdächtigen Landftreiher aufs 
gegriffen. 

„Was doc alles vorgeht!" vief Quandt; 
„welche Frechheit gehört dazu, das Oberhaupt 
380 


der Behörde zum Opfer eines ſolchen Anfchlags 
zu machen!" Insgeheim aber räfonierte er: 
recht fo; das wird den Unantajtbarkeitswahn der 
Erzellenz ein bißchen erfchüttern; vecht fo; auch 
von den Spigbuben können die großen Herren 
mitunter eine nüßliche Lehre empfangen. 

„Es follte mich fehr wundern," fagte Hidel 
mit vornehm gejchloffenen Lippen — eine Fineffe, 
die er dem Lord Stanhope abgegudt —, „wenn 
diefe Gefchichte nicht wieder irgendwie mit unferm 
Haufer zufammenhinge." 

Quandt machte große Augen, dann ſchaute 
er ſchräg auf Gafpar, deſſen erſchrockener Blick 
dem ſeinen entglitt. J 

„Ih habe Gründe zu einer ſolchen Vermutung,“ 
fuhr Hidel fort und ftarrte die blankgeſcheuerlen 
Nägel feiner roten Bauernhände an; diefe Hände 
flößten sn ſtets einen namenlofen Widermillen 
ein; „ich habe Gründe und werde vielleicht feiner- 
zeit damit herausrüden. Der Staatsrat felber 
iſt geſcheit genug, um zu wiffen, was die Glocke 
geſchlagen hat. Aber er will's nicht Wort haben, 
es ift ihm nicht geheuer dabei zumut.“ 

„Nicht geheuer zumut? a3 Sie jagen!" 
verſetzte Quandt, und ein angenehmes Gruſeln 
lief ihm über den Rücken. Äuch die Lehrerin 
hörte mit dem Strümpfeſtopfen auf und ſah neu— 
gierig von einem zum andern. 

„Ja ja,“ fuhr Hidel fort und lächelte den 
Lehrer mit feinen gelbblinfenden Zähnen an, 
Sie haben ihm dort unten in München gehörig 
eingeheizt, und er trägt den Kopf bei weitem nicht 
mehr fo zuverfichtlih. Meinen Sie nicht auch, 
Haufer?" fragte er und ſah bald Quandt, bald 
deffen Frau ſtrahlend an. 

381 


„Ich meine, es ift nicht in der Ordnung, ' 
daß Sie fo vom Herrn Staatsrat fprechen,” 
antwortete Caſpar kühn. 

Hickel verfärbte fih und biß ſich auf die 
Lippen. „Sieh mal an, fieh mal an,“ fagte er 
büfter. „Haben Sie das gehört, Herr Lehrer? 
Schon untt die Kröte, es wird Frühjahr.” 

„Eine höchft unpaffende Bemerkung, Saufen, 
ließ ſich Quandt zürnend vernehmen. „Sie find 
dem Herrn Polizeileutnant Ehrfurcht und Be— 
Bee ſchuldig fo wie mir. Gegen den Baron 

mhoff oder den Generallommifjär würden Sie 
ii jo etwas nicht unterftehen, des bin ich ficher. 

ind ein doppelt Geficht, ein faljch Geficht, heißt 
es. Ich werde das dem Grafen ſchreiben.“ 

„Schauffieren Sie ſich nicht, Here Lehrer,” 
unterbrach ihn Hicel, „es lohnt fich nicht, mar 
muß e3 feinem Unverjtand zugut balten. Im 
übrigen hab’ ich geftern einen Brief vom Grafen 
befommen;" er griff in die Rockbruſt und zog ein 
zufammengefaltetes Papier heraus. „Sie möchten 
mohl gerne wiſſen, was er fchreibt, Haufer? 
Na, gar fo fchmeichelhaft ei es eben nicht für 
Sie. Der gute Graf macht ſich Sorgen wie 
immer und empfiehlt uns rückſichtsloſe Strenge, 
falls Sie nicht parieren.” 

Caſpar machte ein ungläubiges Gefiht. „Das 
hat er gefchrieben?" fragte er jtocfend. 

Hickel nickte. 

„Er bat ſich auch damals zu ſehr geärgert über 
die Heimlichtuerei mit dem Tagebuch," jagte Quandt. - 

„Da8 werd’ ich ihm alles erklären, wenn er 
wiederkommt,“ verjegte Cafpar. 

Hickel rieb den Rüden an der Ofenede und 
lachte. „Wenn er wiederfommt! Wenn! Wer 


382 


weiß aber, ob er wiederkommt? Mir deucht, 
er bat nicht allzu große Luft dazu. Glauben Sie 
denn, Sie Kindstopf, fo ein Mann hat nichts 
Beſſeres zu tun, al feine Zeit dahier zu verfigen ?" 

„Er fommt wieder, Herr Polizeileutnant,” 
fagte Cafpar mit triumphierendem Lächeln. 

„Do, oho!“ riet Bidet „das klingt ja aller- 
dings verläßlich. ober weiß man denn das 
jo genau?" 

„Weil er es verjprochen hat," entgegnete 
Caſpar mit treuherziger Offenheit. „Ex hat heilig 
verjprochen, in einem Jahr wieder da zu fein. 
Am achten Dezember hat er's verfprochen, find 
Fer noch zehn Monate und fechzehn Tage bis 
ahin." 

Hickel ſah Quandt an, Quandt ſah feine Frau 
an, und alle drei brachen in Gelächter aus. „Im 
Rechnen fcheint er ſich ja geübt zu haben,“ 
meinte Hickel teoden. Dann legte er Gafpar die 
Hand auf den Kopf und fragte: „Wer hat Ihm 
denn die herrlichen Locken abgejchnitten?" 

Quandt erwiderte, Caſpar habe es jelbft ge- 
münjcht, nachdem er ihm vorgeftellt, daß e3 fir 
einen erwachfenen Menſchen nicht ſchicklich fei, mit 
fo einem Haarwald herumzulaufen. „Sie können 
jest fchlafen gehen, Haufer,“ ſagte er hierauf. 

Caſpar reichte jedem die Hand und ging. 
Als er draußen war, öffnete Quandt leiſe die 
Tür und lauſchte. „Sehen Sie, Herr Polizei- 
leutnant,“ flüfterte ev Hickel befümmert zu, „wenn 
er weiß oder annimmt, daß man ihn hört, fteigt 
er ganz langfam und bedächtig die Stiege hinan, 
wenn er fi) aber unbeachtet glaubt, da fann er 
wie ein Hafe fpringen, gleich über drei Stufen 
auf einmal, Iſt's nicht jo, Frau?" 

383 


das Wort verwundere. wird aber doch 
die ‚Bayrifhe Deputiertenlammer in jedem an- 
ftändigen Haufe gelefen, nicht wahr? Außerdem 
at er Tag für Tag Gelegenheit Bun das 
latt auf unferm Tiſch zu fehen, und der Name 
konnte ihm unmöglidy neu fein. Ich frage aljo, 
ob er denn nicht wiſſe, was das jei, eine Depu- 
tiertenfammer. Darauf fagt er mir mit feinem 
unfehuldigften Geficht: das [4 wohl ein Zimmer, 
mo man Leute einfperre. m bitt' ich Sie um 
alles in der Welt, das geht doch über den grünen 
Klee. Es muß fchon ein Engel vom Himmel 
bherunterfommen, damit ich ſolche Ungereimtheiten 
auf Treu und Glauben hinnehmen fol, und felbit 
dann getrau’ ich mich noch zu bezweifeln, ob e8 auch 
ein richtiger Engel ift und fein nachgemachter." 
„Was wollen Sie," antwortete der Polizei» 
Ieutnant, „es ift alles Schwindel, alles ift 
Schwindel." Und indem er fih auf den ge 
384 : 


ai Beinen hin und her wiegte, loderte in 
jeinen Augen ein unbeftimmter, träger Haß. 
Alles Schwindel; ein Urteil, das fich nicht 
etwa bloß auf die vorgetragene Anekdote bezo; 
jondern auf das ganze, ihm bis zum Ekel gleich 
gültige Treiben der Menfchen, jofern es nicht 
mit Fine Rbohlbehagen verknüpft war. Moch⸗ 
tem fie fich einander die Köpfe abhaden, mochten 
fie über Himmel und Hölle, um König und Land 
fteeiten, mochten fie ihre Häufer bauen, ihre 
Kinder zeugen, mochten fie morden, ftehlen, ein- 
brechen, fhänden und Beträgen oder fich ehrlich 
rackern und edle Taten vollbringen, ihm war 
letzten Endes alles Schwindel, ausgenommen der 
Freibrief für ein ee Dafein, den ihm 
die Gefellfchaft nach feiner Anficht ſchuldig war. 

Der Ritter von Lang, der an Hickel wegen 
ſeines einfthmeichelnden Weſens allen hatte, 
pflegte gern zu erzählen, wie Hickel einſt mit 
jeinem, des Ritters, Sohn, einem jungen Doktor 
der Philofophie, über die Landftraße gegangen 
und wie der junge Mann, gegen das ausgeftiente 
Firmament deutend, angefangen babe, von ben 
zahliofen Welten dort oben zu reden; da habe 
Hickel mit feinem mofanteften Gefiht erwidert: 
„Sa, glauben Sie denn im Ernſt, Doktor, 
daß dieje hübfchen Lichterchen etwas andres find 
als eben — Lichterchen ?" 

Das war nicht etwa bloß Unbilbung, fondern 
nur der Ausdrud jener Weberlegenheit, die in 
dem Worte gipfelte: alles Schwindel, 

Man mußte in der ganzen Stadt, daß Hickel 
über feine Verhältnifje lebte. Es war fein Ideal, 
für einen Ravalier zu gelten, feine Leidenſchaft, 
elegant zu fein, auch bejaß er die feinfte Nafe 

Waffermann, Gafpar Haufer 26 385 


für die Echtheit und Legitimität aller damit zu= 
jammenhängenden Dinge. Als vor einiger Zeit 
feine Aufnahme in den vornehmen Beamtenklub 
fteittig gewefen war, hatte man lange gezögert, 
denn er war feinesmwegs beliebt und außerdem 
war er von niedriger Ablunft, feine Eltern waren 
arme Kätnersleute in Dombühl; ſchließlich hatte 
er feinen Wunſch mit Hilfe einiger erjchlichener 
Familiengeheimniffe durchgeſetzt, mit denen er den 
betreffenden Perjönlichkeiten bange zu machen 
verftand. Der Hofrat Hofmann, fein früherer 
Vorgefegter, gab dem vorherrfchenden Gefühl 
gegen ihn bezeichnenden Ausdrud, indem er ver- 
f jerte: „Er decouvriert fich nicht; dieſer Hickel 
ecouvriert ſich nicht." In der Tat hatte es 
ftet8 den Anfchein, als ob der Polizeileutnant 
mit etwas Gefährlichem im Hinterhalt bleibe. 
Ausgezeichnet verftand er es, fich mit dem 
Vräfidenten zu ftellen. Er durfte fü I er⸗ 
lauben, dem ſonſt fo Unnahbaren gewiſſe Wahr- 
heiten zu fagen, bie liebenswürdig oder forgenvott 
Hangen, im Grunde aber nicht waren als ver- 
zuckerte Bosheiten. Er beſaß eine nicht zu leug⸗ 
nende Geſchicklichkeit im Erzählen amüſanter 
Sitöchen und mancherlei einlaufenden Stadt: 
itſches. Dies ergößte Feuerbach und ftimmte 
‚ihn für vieles andre nachſichtig. „Rätſelhaft,“ 
fagten die Leute, „mas der Staatsrat an dem 
idel für einen Narren gefreſſen hat." Jeden⸗ 
als fand der Polizeileutnant ſtets williges Ge 
bör bei Feuerbah, und mit Schlauheit ließ er 
5 Baftr gern gefallen, daß der Präfident in 
jeiner bärbeißigen Manier an ihm herum erzog, 
Kan leichtjinnigen Wandel tadelte und feine 
ſchlechten Inſtinkte mit erſtaunlichem Scharfblick 
386 


fozufagen in den Wurzeln entblößte. Iſt es 
nicht wahrfcheinlich, daß gerade dies den fir 
denten verführte und verſtrickte? Indem er jo 
klar die Leerheit und Düfterkeit dieſer Seele 
durchſchaute, Hatte er fich vielleicht ſchon zu ver- 
traut gemacht mit ihr, um fie von fich ftoßen 
zu können. 

Hickel wußte den Präfidenten nach und nad) 
zu überreden, daß man Safpat nicht jo frei wie 
bisher herumgehen lafjen dürfe, und e3 wurde 
als Wächter ein alter Veteran beftellt, der einen 
Stelzfuß hatte und einarmig war. Diejer Wackere 
faßte feine neue Obliegenheit ſehr gemifjenhaft 
auf und folgte Caſpar auf Schritt und Tritt 
zum Gelächter der Gafjenjugend. Der Polizei 
Teutnant hatte richtig fpefuliert, wenn die jo für- 
forglich ausſehende Mafregel dazu dienen follte, 
die Bewegungsfreiheit des Yünglings möglichit 
zu hemmen. Es gab Beſchwerden über Ber 
ſchwerden, bald von Quandt, bald von Caſpar, 
bald von dem Invaliden, den Cafpar nicht felten 
überfiftete, indem er ſich heimlich davonſtahl. 

Er Elagte dem Pfarrer Fuhrmann, bei dem 
ex Religionsunterricht empfing, feine Not; diefer 
ihm en Greis ermahnte ihn zur Geduld. 
„Was fol es nutzen, geduldig zu fein!“ rief 
Caſpar trogig, „wird ja doch immer fchlechter!” 

„Was es nutzen fol?" verjegte der Pfarrer 
mild. „Was nubt e8 Gott, daß er unferm un- 
finnigen Treiben zufchaut! Durch Geduld führt 
ex und zum Guten. Geduld bringt Roſen.“ 

Dennoch wandte fih Pfarrer Fuhrmann an 
den Präfidenten, und dieſer verfprach Abhilfe, 
ohne jedoch vorläufig etwas zu umternehmen. 
Die jährliche Infpektionsreife durch den Bezirk 

387 


entfernte ihn für drei Wochen aus der Giabt; 
als er zurücgefehrt war, ließ er eines 

den Polizeileutnant auf fein Arbeitszimmer 
„Hören & mal, Hicel," vedete er ihn an, „Sie 
find doch in der Bieigen Gegend ziemlich gut 
befannt? Schön. n Sie mal etwas über 
das ——e— gehört ?" 

„Gewiß, Green antwortete Hickel. „Das 

alkenhaus ift ein uraltes markgräf- 

des aeeisth im 2 Triesdorfer Wald,“ 
Stimmt, Das Objekt interefftert mich ſchon 
feit einiger Zeit. Ich habe Machtorfchungen ein- 

jegogen und habe folgendes erfahren. Das Falten- 
u8 bat bis vor ungefähr vier Jahren als 
Fo — gedient, und zwar hat der letzte 
Forſter jahrzehntelang mutterſeelenallein dort ge⸗ 
lebt. Der Mann hat nie mit irgendeinem Men- 
{chen verkehrt, ift nie in einem Wirtshaus gefehen 
worden und bat feine Einkäufe in den umliegenden 
Dörfern felbit beforgt. Eines Tages ift er plöß- 
lich verjchwunden geweſen, und ein verabfchiebeter 
Gendarm jol ihn im Schwäbifchen als Beſitzer 
ober Verwalter eines Gutshofs wiedergeſehen 
haben. ch bin auch diefer Spur nachgegangen, 
und es bat fich herausgeftellt, nicht nur, daß es 
damit feine Richtigkeit hat, fondern auch, daß der 
Mann im Oftober 1830 de3 Nachts in feinem 

Bett ermordet worden ift.“ 

„Davon ift mir nichts befannt. Ich weiß 
nur, daß das Falkenhaus verödet und unbemwohnt 
g "und daß im Volt allerlei geipenfterhaftes 

ns, über die unheimliche Einſiedelei erzählt 
wird, 

* Riciten Sie jedenfalls Ihr Augenmerk dar 
auf," jagte der Präfident; „am beten, Sie 


388 


jenden einen ortöfundigen Mann Hin, der forg- 
fältige Exhebungen einziehen fol." 

„Bu Befehl, Erzellenz. Darf ich fragen, um 
melden Fall e3 fi) dabei handelt?" 

„Es handelt fih um Gafpar Haufer und feine 
Gefangenschaft." 

!o GBickel räufperte ſich und machte eine 
Verben ung, ©ott weiß warum. 

glaube mit Veftimmtheit annehmen zu 
dürfen, daß das Falkenhaus die Stätte feiner 
genufomen Kerkerhaft ift. Es war mir ſchon feit 
en erften Erzählungen Cafpars über die Art 
feine Wanderung mit dem Unbelannten zweifel- 
08, daß der Ort in Franken felbft, nicht v4 
weit von Nürnberg oder Ansbach zu ungen lei 
PH haben mich die Spuren zum Fall haus 
führt.“ 

„Wahrfcheinlich brauchen Eure Exzellenz diefes 
Indizium u der Schrift über den Haufer,” bes 
merkte Hickel ſchmeichelnd. 

„So iſt es.“ 

„Und fol die Veröffentlichung des Werks 
noch in diefem Jahr vor fich gehen? Exzellenz 
verzeihen meine Neugier, aber ich bin ja herzlich 
intere fiert bei der Sache.” 

e fragen mich zu viel, Hickel. Laffen Sie 
das." Da ift ein Vriefchen für den Hofrat Hof- 
Erg N gen Sie es draußen zur Beförderung. 

mit dem Hofrat und Cajpar morgen 
3 Falkenhaus fahren. Benachrichtigen Sie den 
Haufer, daß er fich bereithält, srmähnen Sie 
aber_beifeibe nicht8 von dem Zweck der Fahrt." 

Zur feftgejegten Stunde fand ſich Caſpar ein 
und ſah fich alsbald zu feiner Verwunderung in 
der bequemen Kaleſche gegenüber dem Präfidenten 

389 


und dem Hofrat figen. In felten unterbrochenem 
Schweigen ging es durch die fonnige Frühlings- 
landſchaft. 

Sie langten an. Ein Gang durch daS ver- 
Iafjene Waldhaus und die eingehende Prüfung 
jeiner Lofalitäten brachte nicht den ggerinaften 
Aufſchluß. War ein unterirdiſcher Raum zu 
jenem fürchterlichen Gebrauch vorhanden gemefen, 
jo hatte der einjtige Bewohner ihn perl ver⸗ 
ſchüttet, und bie Zeit hatte alle Merkmale un— 
fichtbar werden lafjen. 

Da entdeckte das ſcharf umherfuchende Auge 
des Präfidenten im Freien neben dem rechten 
Trakt des Gebäudes eine fonderbar geftaltete 
Erdgrube. Die Anzeichen Liegen darauf jchließen, 
daß fich vordem ein Holzſchuppen oder dergleichen 
darüber erhoben hatte, denn Eingum lagen noch 
vermorjchte Bretter und Ballen und riffige 

indeln. Es führten fieben in den Sand ge 
ſchlagene und fehon verfallene Stufen hinab, und 
unten war die feltfam geglättete Erde von gelb- 
lihem Moos bededt. 

Feuerbach verfärbte fich, als er biefes fah. 
Nah langem Verſunkenſein ftieg er hinunter, 
betaftete einige Stellen der Wände, bückte ſich in 
einer Ede auf den Boden, alles dies finfter und 
wortlos. Als er wieder herauffam, fah er Cafpar 
durchdringend an. Der aber ftand ruhig da und 
ließ den ummifjenden Blick in die Tiefen des 
Forftes ſchweiſen. Ahnt er nichts? dachte 
Er ahnt er nicht, worauf em Fuß tritt? 
Wedt ihn fein Hauch ber angenheit? 
Sprechen die Bäume nicht zu ihm? Verrät ihm 
die Luft nichts? Und da es nicht fo fheint, 
darf ich mich unterfangen, mit einem Ja 
390 


oder Nein! die fchauerliche Ungemißheit zu ent- 
ſcheiden 


Der Wagen hielt an der Heerſtraße draußen. 
Beim Rückweg duch den Wald blieb Caſpar, 
den plößlich eine umbefiegbare Schwermut über- 
fallen hatte, die ihn zu langſamem Gehen zwang, 
ein großes Stüd hinter den beiden Männern. 

er Hofrat Hofmann benußte die Gelegenheit, 
um dem Präfidenten feine vernunftgemäßen 
Zweifel mitzuteilen. „Ich möchte nur eines 
wiſſen,“ fagte er mit veriniffenem Geficht, „ich 
möchte wiljen, warum man den Menfchen, wenn 
ex wirklich fo lange in Gefangenschaft gejchmachtet 
hatte, auf einmal freiließ, und nicht nur das, 
jondern mitten in eine große Stadt gebracht hat, 
wo er das ungeheuerjte Auffehen erregen, alſo 
notwendigermweife feine Peiniger verraten mußte. 
Eine ſolche Logik will mir nicht einleuchten." 

„Mein Gott, dafür laſſen ſich mancherlei Er- 
klärungen denken,“ erwiderte der Präfident ruhig; 
„entweder man war feiner überdrüſſig grade; 
ihn länger zu beherbergen war mit Schwierig- 
keit, ja mit Gefahr verknüpft; fein Kerkermeiſter 
Tonnte den Auftrag erhalten haben, ihn zu töten, 
eßte jedoch im eimer begreiflichen Regung des 

barmens oder der Anhänglichteit ober ber 
Furt den Entihluß, ihn auf andre Art ver- 
ſchwinden zu laflen, und wo konnte das mit 
mehr Ausfiht auf Erfolg geiheen als gerade 
in einer großen Stadt? Man dachte ſich die 
Sache jo: der Rittmeifter Wefjenig, dem mit- 
gardenen Schreiben folgend, ſteckt ihn unter die 

oldaten; dort gibt e8 der Analphabeten und 
Halbidioten die Menge, dort wird er nicht weiter 
auffallen, vermeinte der Berbrecher in einem 


391 


Optimismus, der freilich nur von feiner eignen 
Unbildung zeugt. As aber die Dinge en 
gana andern Weg nahmen‘, bekam er’3 mit der 

ingſt, teilte ſich, mußte fich denen mitteilen, 
welche die Fäden von Anfang an in der Hand 
hielten, und diefe mußten aujehen, wie fie den 
furchtbarſten Zeugen ihrer Schuld wieder un- 
ſchädlich machen konnten, der nun, geſchützt von einer 
Welt, ihnen als Auferftandener gegenübertrat." 

„Seht fein, ſehr fein,“ murmelte der Hafen 
beifällig, ohne merken zu laſſen, daß er keines⸗ 
wegs überzeugt war. 

Spät nachmittags kamen fie in die Stadt 
zurüd, Caſpar trennte fih von den Herren und 
ging heimwärts. Auf dem Promenadeweg be- 
gegnete er Frau von Imhoff. Sie begrüßte ihn 
8 Fa warum er ſich jo lange nicht bei ihr 
jehen Tafje. 

„Hab' feine Zeit, hab’ viel zu arbeiten,“ ant» 
woriete Caſpar, doch ‚mit fo verlegenem Geficht, 
daß die Huge Dame merkte, dies fönne nicht der 
wahre Grund fein. Sie unterließ es aber, ihn 
auszuforfchen, und fragte ablentend, ob er fi 
auch des hlings vecht erfreue. 

Caſpar ſchaute in die Luft und in die Kronen 
der Ulmen, al3 habe er den Frühling bis jetzt 
überfehen, und jchüttelte den Kopf. Gern hätte 
er vieles gejagt, das Herz war ihm voll, über- 
voll, doch auf der Zunge lag es wie ein Stein, 
und er hatte nicht das Gefühl, daß diefe Frau, 
fo freundlich ſie ſich aud gab, miete für ihn 
aufgelegt ſei. Was kann es nuben? dachte er. 

„SH habe Ihnen einen Gruß zu beftellen,“ 
fagte fie dann beim Abfchied und nachdem fie 
ihn für den Sonntag zu Tiſch gebeten hatte; 
392 


„erinnern Sie ſich noch der Gefchichte meiner 
Freundin, die ich am Abend, als Lord Stanhope 
bei ung war, erzählt habe? Die läßt Sie grüßen. 
Und ein Gruß bedeutet bei ihr viel." 

„Wie heißt die Frau?" fragte Cafpar, genau 
wie damals, nur nicht lächelnd und froh, fondern 


7 Imhoff lachte; dieſe Wihbegi 
au von off ‚lachte; dieſe jier 
nach einem Namen erjchien ihr komiſch. Kanna⸗ 

wurf heißt fie, Clara von Kannawurf,“ ante 
wortete fie gutmütig. 

Ganz hübfch, daß fie mich grüßen läßt, dachte 
Caſpar, während er jeinen Weg fortjegte, aber 
was fann es nutzen? Was fol’3 mir nugen? 


Quandt begibt fich auf ein heikles Gebiet 


Kaum war Cafpar zu Haus in die Wohn- 
ftube getreten, fo merkte er, daß etwas Beſon⸗ 
deres los fein mußte. Duandt ſaß am Tiſch 
und Torrigierte mit finfterer Miene die Schüler- 
hefte, die Lehrerin — den Säugling auf den 
Knien und erwiderte, dem Beifpiel Ge, Mannes 
folgend, feinen Abendgruß nicht, Die Lampe 
war noch nicht angezündet, ein fcharlachner 
Abendhimmel flammte durch die Fenfter, und als 
— ſeinen aufgehängt, ging er wieder 
hinaus in den Dort fi fpielte ba 8 vierjährige 
vn des res mit Schufiern, Caſpar 
feste fich daneben auf die Steinbank; nach einer 
Weile erichien Quandt, und kaum hatte er die 
beiden beieinander gefehen, als er bineilte, das 

393 


Kind bei der Hand ergriff und es raſch wie 
von einem mit anſteckender Krankheit Behafteten 


wegführte. 

Caſpar folgte alsbald dem Lehrer ins Haus. 
Doch Quandt war nicht im Zimmer, und er traf 
die Frau: allein. „Was gibt es denn bei ung, 
Frau Lehrerin?" fragte er. 

„Na, wiſſen Sie denn nicht?" verjeßte die 
Frau befangen. „Haben Sie denn nichts davon 

ehört, daß fich die Magiftratsrätin Behold zum 
Sehlter heruntergeſtürzt hat? Es fteht in der 
Nürnberger Beitung heut.” 

MR flüfterte Cafpar aufgeregt. 

„a; vom Dachboden ihres Haufes hat fie 
fih in den Hof geftürzt und den Kopf zer- 
fchmettert. Die ganze legte Zeit her foll fie ſich 
wie eine Verrüdte aufgeführt haben.“ 

Gafpar wußte nicht8 zu fagen; feine Augen 
erweiterten fich, und er feufzte. 

„Es ſcheint Ihnen ja nicht beſonders nahe 
zugehen, Haufer,” ließ fich plöglich die Stimme 
Quandts vernehmen, der leiſe hereingetreten war, 
als er die beiden jprechen gehört hatte. 

Caſpar wandte fih um und fagte traurig: 
„Sie war ein ſchlechtes Weib, Herr Lehrer.” 

Quandt ftellte fich dicht vor ihn hin und rief 
fchneidend: „Unfeliger, der du dich nicht ent 
blödeft, das Andenken einer Toten zu bejubeln! 
Das fol Ihnen unvergefjen bleiben! Nun haben 
Sie Ihre ſchwarze Seele enthält! Pfui, pfui, 
jage ich, und abermals pfui! Gehen Sie mir aus 

en Augen! Fällt e8 Ihnen denn nicht aufs 
Herz, daß die Hingegangene am Ende vielleicht 
durch Sie, durch den Kummer über den erlittenen 
Undank zu einer folchen Tat getrieben wurde? 
394 


Ahnen Sie das nicht? Freilich, ein Selbſtſucht ⸗ 
ling wie Sie ſchert fi wenig um bie Leiden 
andrer Menfchen, ihm ift nur das eigne Wohl- 
ergehen wichtig." 

„Mann, Dann, berubige dich doch,“ mifchte 
fi) die Lehrerin ein mit einem ſcheuen Blick auf 
Cafpar, der ajchfahl geworden war und mit 
völlig gefchloffenen Augen daſtand, während er 
die Fingerfpigen feiner Hände gegeneinander _ 
gelegt hatte. 

„Du haft recht, Frau," erwiderte Quandt, 
„ich vergeude meine Entrüftung an taube Ohren. 
Was kann an einem Menfchen noch zu befiern 
fein, der felbft dem Tob gegenüber nicht ein 
bißchen Andacht und Demut aufbringt? Da ift 
Hopfen und Malz verloren." 

Caſpar in fein Zimmer kam, glängte 
noch die legte Glut des Sonnenuntergangs über 
den Hügeln. Er ſetzte ſich ans Fenfter, nahm 
einen der Blumentöpfe zur Hand und fchaute 
darauf nieder, Die Stengel in den Hyazinthen- 
kelchen fehüttelten fich, und ihm war, als vernehme . 
er ferne Geläute. Er münfchte fi) das An- 
efiht einer Blume, um feinen Blid eines 

enſchenauges erwidern zu müffen. Ober er 
mwünfchte wenigftens fi im Schoß einer Blume 
bergen zu können, folange bis das Jahr vorüber 
war, von deſſen Wende er fo vieles hoffte. Dort 
könnte man ftille fein und warten. 

In den nächften Tagen wurde der Magiftrats- 
rätin feine Erwähnung getan, Quandt vermied 
es forgfältig, den Namen der Frau Behold zu 
nennen. Um fo mehr war er überrafcht, als 
Cafpar felbft davon anfing; am Samstag beim 
Mittagefien fagte er plößlich, es gereue ihn, mas 

395 


er über die Tote gejagt, er jehe ein, daß es un- 
recht fei, eine Verſtorbene anguttagen. 

Quandt horchte Hoch auf. Aha, dachte er, 
fein Gemiffen vegt fih! Aber er entgegnete 
nichts, fondern verzog nur das Geficht, als wolle 
er jagen: Laſſen wir das, ich weiß mein Teil. 
Doch ftach ihn die Galle, und während fie alle 
drei ſchweigend die Suppe löffelten, konnte er 

ich nicht enthalten zu jagen: „Sie müßten ſich 
och eigentlich bi8 in den Fußboden hinein ſchämen, 
Haufer, wenn Sie an Ihr Benehmen gegen die 
unfchuldige Tochter der Magiftratsrätin denken.“ 

Bier“ verfeßte Caſpar verwundert. „Was 
hab’ ich denn getan?“ 

„Ei, wollen Sie auch jest nod das Lämmchen 
fpielen ?“ antwortete der Lehrer abſchätzig. „Gott- 
lob hab’ ich alles fchriftlich und eigenhändig von 
der Seligen, da hilft kein Leugnen · 

Caſpar ftaunte unruhig vor fih hin. Er 
fragte wieder, da ging Quandt zum Sekretär, 

olte aus einer Schublade den Brief der Frau 
jehold hervor und las, neben Caſpar ftehend, 
mit dumpfer Stimme vor: „Iſt viel Gerede ge- 
weſen von feinem keuſchen Sinn und feiner 
Innocence in allem Dahergehörigen. Auch hier 
über Tann ich ein Wörtlein melden, denn ich 
hab's mit meinen eignen Augen gejehen, wie er 
jich meiner damals dreizehnjährigen Tochter... . 
ungziemlih und unmißverftehlich näherte.“ 

Caſpar begriff allmählich. Langſam legte er 
Löffel und Brot beifeite, und der Biffen blieb 
ihm im Munde fteden. Seine Augen wurden 
gm dunkel, er erhob fich, rief mit jammernder 

stimme: „Ach, diefe Menjchen, diefe Menſchen!“ 
und ftürzte hinaus. 
896 


Das Ehepaar ſah einander an. Die Lehrerin 
fegte die Hand breit auf das Tifhtuc und ſagte 
nahdrüdlih: „Nein, Quandt, ich kann's nicht 

lauben. Da muß fich die felige Rätin geirrt 
Baben. Er weiß doch nicht mal, was eine 
Frau iſt.“ 

Auch Quandt war gerührt. „Das eben fteht 
dahin, das wäre zu bemeilen,“ meinte er kopf⸗ 
ſchüttelnd. „Du bift Teichtgläubig, meine Gute. 
Sch erinnere dich nur daran, daß er bei der Ge— 
burt unfer® Mädchens zu meiner Befremdung 
wie ein gereifter Mann über die Sache jprach. 
Es war mir das gleich enorm verdächtig. Immer⸗ 
bin gebe ich zu, daß Frau Behold in dem Brief 
zu weit gegangen fein mag und daß ich mich 
infolgedefjen zu einer Uebereilung habe hinreißen 
Iajjen. Aber ich muß dahinterfommen, wie weit, 
feine Wiffenfchaft in dem Punkte geht, denn an 
jein Kindergemüt, das weißt du, glaub’ ich num 
einmal nicht." 

„Du mußt ihn wieder verföhnen, Quandt, es 
war zu arg, das da," fagte die Lehrerin. 

Quandt machte eine bedenkliche Miene. „Ver⸗ 
Töhnen? Ja, gut; ih will's gern tun. Aber 
er ift dann immer fo lieb und anjchmiegfam, daß 
man ihm ſchwer widerſtehen kann, und dadurch 
wird das objektive Urteil getrübt. Ich werde 
morgen einmal mit dem Pfarrer Fuhrmann über 
das Thema fprechen." 

Gefagt, getan. Doch leider zeigte Quandt 
bei dieſem Anlaß die Umftändlichkeit einer alten 
Jungfer und umfchrieb das, was er jagen wollte, 
mit blühenden Redefiguren, als ob zwifchen 
Mann und Weib nur Beziehungen ätherifcher 
Art wären, die zumeilen unglücklicherweiſe in 

397 


den Staub gezogen und befleckt würden durch 
beleidigende, aber nicht auszurottende Zwiſchenfälle 

Der geiftliche Herr mußte lächeln. ach 
einigem. verwunderten Nachdenken antwortete er, 
er habe an Hauſers Charakter nach diefer Rich- 
tung etwas Anftößiges nicht im geringften beob⸗ 
achtet, Saipar ſcheine ihm in allem, was das 
Verhältnis der Gefchlechter betreffe, noch ein voll- 
ftändiges Kind, Zum Beweis defien erzählte er 
dem Behrer, daß Cafpar vor ungefähr einem 
Monat beim Lefen einer Bibelftelle, die ihm auf- 
gefallen war und die er ihm fo gut e8 ging er- 
klärt, mit fchönem Zaubern von einer gewiſſen 
wiederkehrenden Beunruhigung gefprochen habe, 
einem Buftande, der ihn ficherlich ſchon oft be 
drängt und für deſſen Deutung er nirgends eine 
vertrauende Anjprache gefunden. Der alte Mann 
verficherte, daß ihm die Art und Weife, wie 
Caſpar dies vorgebradht, umvergelih fein werde, 
es habe wie ein ahnungslojer Vorwurf gegen die 
Natur geffungen, die etwas mit ihm anftellte, 
wogegen ex fich nicht wehren könne. 

Quandt ließ fi fein Wort entgehen. Er 
je das mit ganz andern Augen an. Ex erblicte 
arin die Merkmale einer verderbten Phantafie. 
Doch äußerte er von feiner Anficht gegen den 
Pfarrheren nichts, jondern begab fich in ftillem 
Vorbedacht nach Haufe, Tegte N emfig auf die 
Lauer und paßte die Gelegenheit ab. 

Am Tag darauf follte Caſpar bei Imhoffs 
effen, er kam aber wieder zurüd, denn die Baronin 
war frank und lag zu Bett. Beim Abendtifch 
Tam das Geſpräch darauf, und da Quandt fein 
Bedauern ausdrücte, fagte Cafpar: „Ad, die 
wird vielleicht nie mehr ganz geſund.“ 


398 


Was reden Sie da, Haufer,” fiel die Lehrerin 
ein, „fo eine junge Frau, fo reich und jo ſchön.“ 

„Ach,“ entgegnete Caſpar wehmütig, „Reichs 
tum und Schönheit tun’3 nicht. Die hat fich 
ſchon zu ſehr hinuntergegrämt.“ 

„3a, hat fie denn ihren Kummer am Ende 
Ihnen anvertraut?“ forſchte Quandt ungläubig. 

Caſpar beantwortete die Frage nicht und hub 
wie zu ſich felbft vedend fort: „Nichts fehlt ihr 
auf der Welt, nur der Mann ift nicht wie er 
ein follte, hat andre lieber. Warum? Er ift 
och ſonſt jo gefcheit! Aber wenn fich die Frau , 
auch zu Tod betrübt, deshalb wird es nicht befjer. 
Und die Leute Hinterbringen ihr alles; ich hab’ 
ihr gejagt, das find feine Freunde, die Ihnen 
— eug erzählen, wahre Freunde find das 
nicht." 


„Hm,“ machte Duandt und fehaute eigentüm- 
lich Tächelnd auf feinen Teller. Ex befiegte fein 

jamgefühl und fragte mit gezwungener Leich- 
tigleit, ob denn Herr von Sm in neuerer 
Zeit feiner Frau wieder Anlaß zur Sorge gegeben 
babe, feines Wifjens habe doch erjt im März eine 
Verſöhnung ftatigefunden. 

„3a, freilich hat er Anlaß gegeben," verſetzte 
Caſpar unbefangen, „es ift ja wieder ein Kind 
von ihm da." 

Quandt erjhrat. Da haben wir's, dachte er. 
Und fo hart es ihn auch ankam, er beichloß, 
Cafpar gleih auf den Zahn zu fühlen. Er 
wechfelte mit feiner Frau einen Blic des Ein» 
verftändnifjes und bat fie, fie folle nad den 
Kindern fchauen. Als nun die Frau das Zimmer 
verlafjen hatte, wandte fich der Lehrer, blaß und 
aufgeregt durch die Schwierigkeit feines Vor—⸗ 

399 


habens, an Caſpar und fragte ihn unvermittelt, 
ob er ſchon einmal mit einem Frauenzimmer 
etwas gehabt habe, e3 lägen verfchiedene Mut- 
mafungen vor, und Cafpar möge offen wie mit 
einem Bater zu ihm reden. 

Diefe Worte en Gafpar dankbar; er 
fah in ihnen ein Zeichen von Teilnahme, obgleich 
ex ihren Sinn und Zweck nicht verftand, fondern 
bloß das trübe Element, aus dem fie fliegen, 
furchtſam ahnte, 

Er überlegte. „Mit einem Frauenzimmer? 
Ja ri ven, fe 

„Meine Frage ift do« ich, Haufer; ftellen 
Sie fich nicht fo kindiſch.“ 

„3a, ich verſteh' ſchon,“ fagte Caſpar eilig, 
um die gute Laune des Lehrer nicht zu ver- 
ſcherzen; „und da ift auch was geweſen.“ 

„Na, nur heraus damit! Nur Mut!" 

Und harmlos begann Caſpar zu erzählen: 
„So vor ungefähr ſechs Wochen hab’ ich meinen 
Sonntagsanzug zur Putzerin in bie Ugensgaffe 
getragen. Sie wiſſen doch, Herr Lehrer, es ift 
das kleine Haus neben dem Bäder. Wie ich 
hingekommen bin, war der Laden verfperrt, da 
bin ich hinauf in die Wohnung gegangen und 
hab’ an die Tür gelfopft. Da hat’ mir ein 
junges Mädle aufgemacht und war im Nachtleid, 
weiter hat fie nichts am Leib gehabt, die ganze 
Bruft hat man jehen können, es war fcheuf ie 
Sie hat mir die Sachen abgenommen und hat 
gefagt, fie wollt’ es der Putzerin ausrichten. 
war immer noch vor der Tür. Komm nur 
herein, jagt fie Da bin ich hinein und frage, 
was fie will, Da Hat fie angefangen vor mir 
herumzutänzeln, bat gelacht und fonderliches Zeug 
400 


erebet, hat mich gefragt, ob ich ihr Bräutigam 
Fein will, und zuleßt —“ er zögerte Lächelnd. 

„Bulest? Was zulegt?" fragte Quandt, ine 
dem er den Kopf meit —*8 


Da bob’ ich: ihr geſagt, dazu ſoll ſte fich einen an⸗ 
dern wůnſ chen ich verſteh· mich nicht aufs Schmatzen.“ 

„Und weiter?" 

„Weiter? Weiter war nichts. Ich bin dann 
fortgegangen und fie hat mir vom Fenſter aus 
nachgeſchaut.“ 

„Wie konnten Sie denn das bemerken ?“ 

"Weil ich mich umgedreht hab’." 

„Sofo. Umgedreht. Wie heißt die Perſon?“ 

„Das weiß ich nicht.“ 

„Das wifjen Sie niht? Hm. Und... ein 
zweites Mal waren Sie nicht dort?" 

Caſpar verneinte, 

„Schöne Geſchichten,“ murmelte Quandt und 
echob fih mit einem Blid zum Himmel. 

Er fpürte vorfihtig nad. erfuhr, daß 
bei jener Pusmacherin wirklich ein Frauenzimmer 
zweifelhafter Gattung zur Miete wohne. Der 
Erzählung Cafpars noch näher auf den Grund 
zu gehen hinderte ihn die licht auf feinen 
Ruf hatte er doch ohnehin den Eindruck gewonnen, 
daß der Jüngling an der ganzen Begebenheit jo 
unſchuldig nicht fin. konnte, als ex fich anftellte; 
denn, jo argumentierte er, zu einem derartig 
niebrigen Benehmen mie dem jenes weiblichen 
Geſchöpfs kann nur ein Menſch Anlaß geben, 
dem eine gemifje mocakifeie Ungulängfichtet auf 
der Stirn gejchrieben fteht. 

Baffermann, Gafpar Gaufer 20 401 


Ja, wenn er nicht lügen würde, dann wäre 
alles ander3, dachte Quandt; aber er lügt, er 
lügt, und das ift das Fürchterlihe. Hat er mir 
nicht erzählt, die Herzogin von Kurland habe ihm 
ein Dutzend geſtickter Tafchentücher gejchenkt ? 
Kein Wort wahr. Hat er nicht behauptet, er 
kenne den Minifterialvat von Spieß und habe im 
Schloßtheater mit ihm gejprochen? Lüge. Hat 
ex nicht dem Muſikus Schüler weisgemacht, er 
habe die Idyllen von Gegner gelefen, und als 
ich ihn danach fragte, wußte er fein Wort darüber 
zu jeom, wußte nicht einmal, was eine Idylle ift? 
Gibt er nicht immer vor, dringende Bejorgungen 
vn haben, einmal für den Präfidenten, daS andre 
Mal für den Hofrat, und fpäter zeigt es fich, 
daß er bloß herumgebummelt ift, um einen neuen 
Schlips fpazierenzutragen? Steht das nicht 
alles feft, oder bin ich felbft jo dumm und fo 
ungerecht, daß ich diefen Dingen eine Bedeutung 
zumeffe, die niemand fonft darin finden kann? 

Quandt wandte ſich an den Pfarrer Fuhr- 
mann und legte ihm Punkt für Punkt die ver- 
dammensmerten Vergehungen vor. 

„Sehen Sie denn nicht, Tieber Quandt," 
fagte darauf der Pfarrer, „daß das lauter arm 
Iiige, Heine Süglein find, Taum daß fie_den 

men verdienen? Es ift das mehr ein si 
liebmachenwollen oder eine durch ihre Ohnmacht 
bemitleidenswerte Anftrengung, Feſſeln abzus 
fteeifen, oder gar nur das harmloſe Vergnügen 
an einem Wort, an einer Redensart. Vielleicht 
fpiett er nur mit feiner Zunge, wie er andre 

ade damit fpielen fieht, nur eben viel un- 
geſchickter.“ 

„So?“ ereiferte ſich Quandt, „dann will ich 


402 


Ihnen, ‚Borhrolchen, eine Geſchichte erzählen, die 
den ſirikten Beweis des Gegenteils erbringt. 
Hören Sie zu. Vorige Woche — unſre Magd 
des Morgens ſeinen Leuchter mit RM 
Handhabe; fie zeigt es meiner Frau, meine Frau 
macht mich darauf aufmerfjam, und ich Eonftatiere, 
daß der Henkel nicht abgebrochen, jondern ab» 
geſchmolzen ift; das Rohr war bis ganz hinunter 
von der Hite des Lichtes fchwarzgebrannt und 
von außen vötlichhlau überflammt, in der Schale 
konnte man deutlich jehen, wie hoch das zerflofjene 
Unfchlitt gereicht und wie es an mehreren Stellen 
abgeichabt mar; von der ganzen Kerze, die Haufer 
den Abend zuvor erhalten, war feine Spur mehr 
da. Nun müffen Sie wiſſen, daß ich ihm ftreng 
verboten hatte, bei Kerzenlicht zu Iejen ober zu 
arbeiten; trogdem wollte ich ihn fehonen und ließ 
ihn nur duch meine Frau verwarnen. Aber da 
leugnet er plöglich alles ab, verfichert, daß er die 
Kerze weder wiſſentlich habe verbrennen laſſen, 
noch dabei eingejchlafen fei und erfühnt fi am 
Ende zu der Vehauptung, e3 fei gar nicht fein 
Leuchter, fondern der der Magd, denn beide fähen 
gleich aus. Was fagen Sie dazu?“ 

Der Pfarrer zuckie die Achjeln. „Wir dürfen 
doch nicht vergeffen, daß er troß allem ein Wejen 
von bejonderer Sefehaffenbeit Fr erwiderte er 
nachdenlich. „Ich habe mich jelbft davon über- 
zeugt. ch beige eine Heine Elektrifiermafchine, 
mit der ich manchmal ein bißchen erperimentiere. 
Neulich nahm ich das Ding vor, während Caſpar 
dabei war, ließ die Funken fpringen und Iud bie 
Leidener Flafhe. Da wird mir der arme Menſch 
bleich und zuſehends bleicher, fängt zu zittern an, 
ſpreizt die Finger ſtarr von. fih und fein Körper 

408 


zuckt wie ein Hecht, den man auf den Sand wirft. 
Ich war ſehr erſchrocken und räumte das Zeug 
beifeite, worauf er wieder in feinen gewöhnlichen 
Zuftand zurüdkehrte. Doch ſchmerzte ihn 
Kopf noch ta; Klang 1 nachher, wie er mir geftand 
wenn er im Bette lag, hatte er kalten Shweh, 
und die Dinge, die er anfühlte, ftachen ihn wie 
mit winzigen Nadeln. VBezeichnenderweife fagte 
ex, beim Gemitter fei ihm jedesmal ähnlih, da 
tißle ihn und brenne ihn das Blut, daß er 
immerfort fchreien möchte.“ 

„Und daran glauben Sie?" rief Quanbt, die 
Hände zufammenjchlagend. 

„Ja, warum denn nicht?" 

„Nun, wenn Sie daran glauben, befinde ich 
mic) allerdings in einem großen Nachteil gegen 
den Menfchen, das muß ich zugeben," kat 
Quandt. „Das muß ich zugeben," wiederholte 
er befümmert. 

So ift e8 immer, dachte der Lehrer auf dem 
Nachhauſeweg; erſt wird entfchuldigt und be 
ſchönigt, und wenn man feine triftigen Gründe 
Dorbringt, werben die Achſeln gezudt, und man 
tifcht einem Hiftöcchen auf, die nicht geftogen und 
geflogen find, und von denen ſich in Jota bes 
weiſen läßt. Was für ein Satan ſteckt dod in 
dem Burfchen, daß er überall Neigung und Teil- 
nahme zu erwecken verfteht, wo er fich auch zeigen 
mag! Daß fein Menich feine Lafter jehen will 
und ganz fremde Leute, darauf verjeflen, ihn 
kennen zu lernen, das windigſte Entzüden äußern 
und ihn verhätfcheln, als ob Te verzaubert wären, 
Pr ob er ihnen ein Liebestränfchen eingegeben 

ätte! 

Das erbitterte Duandt. Er fagte fih: nehmen 
404 


wir an, ich träte unter unbefannte Menfchen und 
jäbe vor, der Heilige Geift oder fein Apoftel zu 
Fin oder fpielte mich als Wundertäter auf, und 
es fiele dem oder jenem bei, ein wirkliches Wunder 
zu verlangen, und ich müßte zugeben, e3 fei die 
blante Spiegelfechterei, was würde da paſſieren? 
Man würde mich ind Narrenhaus ſtecken oder 
mit Prügeln traktieren; ja, da8 würde man, wenn 
ich auch noch fo ein Engelögefiht aufſetzte, das 
würde man, und mit Recht; nicht aber würde 
man mich mit Gefchenten überhäufen und mid 
anhimmeln und meine jhönen Augen und weißen 
Hände bewundern und mir Haare zum Andenken 
abfchneiden, wie ich das, Gott ſei's geklagt, von 
einer verblendeten Menfchheit hier erleben muß. 

Aus einem Serbitgeipeäch folder Art geht 
klar hervor, wieviel Kopfzerbrechen und welche 
ernſte Seelenlämpfe dem Lehrer aus dem Umgang 
mit feinem Zögling erwuchfen. 

Und was war früher mit ihm? grübelte 
Quandt. Wo kommt er eigentlich her? Dahinter 
müßte doch zu Tommen fein. Wie hat er Ko 
das alles zurechtgelegt, womit er die Dunkel⸗ 
männer betört? ‘a, das ift eben das Geheimnis, 
jagen die Dunkelmänner. Geheimnis? Es gibt 
‚ein Geheimnis; ich verwerfe das Geheimnis. Die 
Welt von oben bis unten ift ein Mares Gebilde, 
und wo die Sonne fcheint, verfteden ſich bie 
Eulen. Gäbe mir nur der Herrgott einen Wink, 
wie ich dieſer diabolifchen DVerjtellungskunft zu 
Leibe gehen Fönnte! Man müßte einmal ernftlich 
äufehen, wie e8 mit dem Tagebuch beichaffen ift 
und was dahinterſteckt. Das Tagebuch ſcheint 
zu eriftieren, es feheint damit feine Richtigkeit zu 
haben, abgefehen von allem Geflunker; vielleicht 

405 


ift es eine Art Veichtgelegenheit für ihn; man 
muß dahinterfommen. 

Die Begebenheiten halfen Quandt, raſcher da⸗ 
hinterzufommen, als er gehofft. 


Eine Stimme ruft 


Eines Nachmittags im Hochſommer erſchien 
Hickel und reichte Gafpat einen an ihn, den 
olizeileutnant, gerichteten, aber im Grunde für 
fpar beftimmten Brief des Grafen Stanhope, 
in welchem diefer dem Jüngling klipp und ar 
befahl, da8 Tagebudy an Hickel auszuliefern. 

Caſpar überlas das Schreiben dreimal, ehe er 
endlich Worte fand; er weigerte ſich zu gehorchen. 

„Sa, mein Beſter,“ fagte Hidel, „wenn es 
nicht gutwillig geht, muß ich leider Gewalt ans 
wenden.“ 

Caſpar befann fich, dann fagte er mit trüber 
Stimme, der einzige, dem er das Tagebuch geben 
könne, fei der Präfident, und dem wolle er es 
morgen bringen, wenn man darauf bejtehe. 

„Gut,“ entgegnete der Polizeileutnant, „ich 
werde Sie morgen früh abholen, und dann gehen 
wir mit dem Heft zum Präſidenten.“ 

ickel wollte Zeit gewinnen. Er hatte natürs 
lich feine Luft, das Tagebuch in die Hände Feuer- 
bach3 fommen zu laſſen, gerade dies zu verhindern, 
hatte er Auftrag, und er überlegte, was zu tun 
gi; Was Cafpar betrifft, fo ftahl er fich gegen 
ittag aus dem Haus und lief in die Wohnung 
des Präfidenten, um fich zu befchweren. Feuers 
bad) war im Senat; Caſpar vertraute feine Sorge 
406 


der Tochter an, und diefe verſprach dem Vater 
Bericht zu geben. 

Nachmittags Täutete e8 bei Quandts, und der 
Präſident trat ins Zimmer. Mittlerweile hatte 
Caſpar, um auch dieſem fonft verehrten Dann 
den gehüteten Schaf nicht außfiefern zu müffen, 
fich eine Ausrede erdadht, und als der Präfident 
im Beifein Quandts nad dem Tagebuch fragte 
und ob e3 wahr fei, daß er e3 nicht zeigen wolle, 
fagte er jchnell, er habe e8 verbrannt, 

Da gab e3 dem Lehrer einen Ruck, und er 
Tonnte fich eines zornigen Ausrufs nicht enthalten. 

„Wann haben Sie e3 verbrannt?" fragte 
Feuerbach ruhig. . 

Heute." 

„Und warum?" 

„Damit ich's nicht hergeben muß.“ 

„Warum wollen Sie e8 nicht hergeben ?" 

Caſpar ſchwieg und ftarrte zu Boden. 

„Das ift eine Lüge, er hat es nicht verbrannt, 
Exzellenz,“ zeterte Quandt, bebend vor Xerger. 
„Und wenn er überhaupt ein Tagebuch geführt 
hat, jo muß e3 ſchon länger beifeitegebradht fein. 
Don Weihnachten an hab’ ich e8 überall gefucht, 
in jedem Winkel feines Zimmers hab’ ich Um— 
ſchau gehalten, und nie, niemal® war eine Spur 
davon zu finden." . 

Der Präfident ſchaute Quandt aus großen 
Augen ftumm und verwundert an; e3 war ein 
Blick, der etwas Mattes und Gramvolles hatte. 
„Wo war denn das Tagebuch) aufbewahrt, 
Eafpar?" fuhr er dann zu fragen fort. 

Gafpar antwortete zaubernd, er habe es bald 
da, bald dort verſteckt; bald unter den Büchern, 
bald im Schrank, zuleßt an einem Nagel hinter 

407 


der Schreiblommobe. Quandt ſchüttelte dabei un- 
aufhörlich den Kopf und lächelte böfe. „Haben 
Sie denn den Nagel ſelbſt eingefchlagen?" in- 
quirierte er. 

u 


"Mer bat Ihnen die Erlaubnis dazu er- 
teilt 2“ 


„Gehen Sie jett, Caſpar,“ ſchnitt der Präft- 
dent das Zwiegeipräch gebieterifch ab. „Sch ber 
greife nicht," wandte er fich, als Gafpar draußen 
war, an den Lehrer, „weshalb Lord Stanhope 
plöglich fo großes Gewicht auf das Tagebuch 
legt; wahrſcheinlich überjchägt er die ohne Zweifel 
harmloſen Schreibereien. Mit Güte und Ueber- 
redung wäre man übrigens beſſer gefahren als 
durch einen kategoriſchen Befehl." 

„Güte, Weberredung ?" verſetzte Quandt händes 
ringend. „Da haben Euer Exzellenz einen fchlechten 
Begriff von diefem Menfchen. Durch Güte ent- 
fefielt man nur feine Selbſtſucht, und jeder Ver- 
ſuch, ihn zu überreden, vergrößert feine Bock— 
beinigfeit. Ja, er dünkt fich fchon etwas, ſtellt 
I] auf die Hinterfüße, hält Widerpart und ift 
ähig, mir eine Antwort zu geben, daß ich da- 
ftehe wie vor den Mund gejchlagen. Euer Exzellenz 
mögen verzeihen, aber ich bin der Meinung, daß 
ſogar Sie durch Güte und Ueberredung nichts 
mehr bei ihm ausrichten können.“ 

„Na, na,“ machte Feuerbach, fchritt zum Senfter 
und fah düfter in die regentriefenden Zweige des 
Birnbaums, der an der Hofmauer wuchs. 

„Ich getraue mich auch, Euer Exzellenz auf 
das allerbeftimmtefte zu verfichern, daß er das - 
Tagebuch nicht verbrannt hat," ſchloß Duandt 
mit beſchwörender Stimme, 


408 


Der Präfident antwortete nichts. Wie wider- 
wärtig war e3 ihm, all den Heinen Hader aus⸗ 
tragen zu follen, den fie ihm da herbeifchleppten. 
Ihn dürftete nach Frieden. Das eine Werk noch, 
vollendet mußte es werden, dann — Friede. 

Kaum war Feuerbach gegangen, fo eilte Quandt 
in Caſpars Zimmer, rückte die Schreiblommode 
von der Wand und fah nach, ob dort ein Nagel 
ftede. In der Tat war ein Nagel ins Holz ge- 
ſchlagen Quandt rief die Magd herauf. „Hat 
der Haufer in letzter Zeit den Hammer gehabt 
und haben Sie ihn Hopfen gehört?" fragte er. 
Die Magd bejahte; er habe vorige Woche Hammer 
und Nägel aus der Küche geholt, und fie habe 
ihn klop ehört. 

Plöglich hatte Quandt eine Erleuchtung. Wir 
find ja im Sommer, dachte er, und wenn er das 
Heft wirflich verbrannt hat, muß die Aſche noch 
im Ofen zu finden fein. Er ging zum Ofen, 
kniete nieder, öffnete da8 Türchen und feheuerte 
mit gierigen Händen alles, was von verbrannten 
und verfohlten Reſten in dem Loch war, heraus 
auf den Boden. 

Es kam viel Papierafche zum Vorfchein. 
Quandt gab acht, daß die größeren Stüde nicht 
zerbrachen, da man auf Ale eine Schrift noch 
leſen Tann. Sorgſam ſchob er die Trümmer 
auseinander. Er fürchtete das eine oder das 
andre mit dem Finger anzugreifen und blies es 
mit dem Atem feines Mundes zur Seite; wenn 
e3 bejchrieben war, verfuchte er die Worte zu 
lefen, fand aber feinen Zufammenhang. 

Da näherten ſich Schritte und Gafpar trat 
ein, nicht wenig erftaunt über die Lage, in der 
ex den Lehrer ſah, deſſen Hände und Geficht von 


409 


Ruß geſchwärzt waren, indes ihm ber Schweiß 
von den ‚Hauren troff. 

Quandt ließ ſich nicht ſtören. „So viel Aſche 
kann doch unmöglich von dem einen Tagebuch 
herruhren,“ fagte er. 

„Ich hab’ auch alte Briefe und Schriften da- 
mit verbrannt," erwiderte Caſpar. 

Die kühlſachliche Antwort trieb Quandt die 
Zornröte ins Gefiht; er jtand haft ig auf, 
murmelte etwas durch die Zähne und verließ das 
Zimmer, die Tür hinter fi zudonnernd. „Sie 
fommen mir heut abend nicht mit auf bie 
‚Neffouree‘," fchrie er auf der Stiege. 

In der „Reſſource“ war ein Gartenfeft, das 
der Schüßenverein veranftaltete. Quandt hatte 
eigentlich Teine Luft, Hinzugehen, dergleichen koſtete 
immer Geld. Aber die Frau wollte auch einmal 
ein Amiüfement haben, war des verdrießlichen 
Zuhauſehockens fatt. Sie hatte ſich ſchon vor 
acht Tagen ein Kattunkleid für diefen Zweck ges 
macht, und fo mußte denn der Lehrer fich fügen 
und, wie er fich ausdrückte, der Unvernunft feinen 
Bol entrichten, zumal das Wetter gegen Abend 
ſchön geworben war. 

Caſpar blieb, bis die Dunkelheit anbrach, am 
offenen Fenfter figen und genoß der Stille. Dann 
machte er Licht, und ein Lächeln umfpielte feine 
Lippen, al3 er zur Wand ging, den Stahljtich 
über dem Kanapee herunternahm, die hinter dem 
Bild befeitigte Holztafel Ioslöfte und nun das fo 
verborgene Tagebuch hervorzog. Er fette fich 
damit zum Tiſch, blätterte nachdenklich in dem 
Heft herum und überlas einige Stellen. 

Hier war ein Lebensalter, eine Menſchwerdung 
zufammengepreßt in den Verlauf von nicht mehr 


410 


als vier Jahren, mit unheimlicher Geſchwindigkeit 
Sech an Epoche drängend. Was es an mangel⸗ 
usgefprochenem, Gefchildertem enthielt, die 
unſchuldigen Ergüffe erfter Freuden und Schmerzen, 
das erfte bange Welterkennen, Inabenhafte Philo- 
fophie und troiges Hadern mit ahnungsvoll ala 
feindlich empfundenen Mächten irdifcher und über- 
tedifcher Natur, alles da3 hätte die auf dieſe Beute 
verfefjenen Jäger bitter enttäufcht. Aber e8 war 
nicht für jene, e3 war für die Mutter, ihr war 
es zugelobt ein für allemal, und mit der ihm 
eignen Wunderlichleit war Caſpar der Gedanke 
anz unfaßlich, daß ein andre Auge je auf diefen 
lättern ruhen ſollte. Es mag auch fein, daß 
ihm das Heft nach und nach in der Einbildung 
zu feinem einzigen wirklichen Befi geworden war; 
das einzige Ding, das ihm völlig zugehörte und 
fein gganaes Vertrauen bejaß. 

(uf einer der erften Seiten ftand: „Neulich 
hab’ ich aus Gartenkrefje meinen Namen geſäet, 
iſt vecht ſchön gewachſen und hat mir große Freude 
gemacht. Iſt einer in den Garten hereingefommen, 
bat Birnen geftohlen, der hat mir meinen Namen 
zertreten, da hab’ ic) geweint. Herr Daumer hat 
gejagt, ich foll ihn wieder machen, hab’ ich ihn 
wieder gemacht, am andern Morgen haben ihn 
Katzen zertreten.“ 

Es folgten in demſelben unbeholfenen Stil 
einige Verſuche, feine Kerkerhaft zu beſchreiben, 
etwa jo: „Die Geſchichte von Caſpar Hauſer; ich 
will e3 ſelbſt erzählen, wie hart e8 mir ergangen. 
Zwar da, wo ich eingejperrt war in bem Gefängnis, 
iſt es mir recht gut vorgefommen, weil ich von 
der Welt nichts gemußt und feinen Menfchen 
niemals gefehen habe." 

411 


In diefem Ton es es weiter; fpäterhin 
tamen einige zum Schönrebnerifchen ftrebende 
Stellen, und eine begann mit dem Sat: „Welcher 
Erwachſene gedächte nicht mit trauriger Rührung 
an meine unverdiente Einfperrung, in ber ich 
meine blühendfte Lebenszeit zugebracht habe, und 
wo jo manche Jugend in goldenen Vergnügungen 
lebte, da war meine Natur noch gar nicht er- 
wedet." 

Träume, Hoffnungen, Sehnfuchtsbilder, Be⸗ 
richte über Heine Ausflüge, über Unterhaltungen 
mit Fremden; bier und da ein beherzigenswertes 
Wort, in einem Buch gefunden oder aus einem 
Wuft fonft inhaltlofer Geſpräche geffaubt; al» 
mählih Sätze, an denen etwas mie perfönlicher 
Schliff hervortrat und eine merkwürdige verhüllte 
Düjterfeit des Stils. Unmittelbar war nie ein 
Kummer, ein Urteil, eine Meinung ausgedrüdt; 
ex hatte es eben, wie Quandt diefe Eigenfchaft 
formulierte, hinter den Ohren. Bon einem be 
deutungsvollen Tag ftand oft nur das Datum 
vermerkt und daneben ein Sternen; manches 
Ereigniffes war nur in fcheuen Umfcreibungen 
gedacht; auch Lakonismen waren Bielem Geift 
nicht fremd; jo hieß es von dem Mordanfall in 
Daumerd Haufe kurz: „Der Erntemonat wäre 
bald mein Sterbemonat worden.” 

Kleine Vorfälle des täglichen Lebens: „Gejtern 
hat mich eine Biene geftochen, das Fräulein von 
Stihaner hat mir die Wunde ausgefaugt, fie 
fagte, wen die Biene fticht, ber Int luck.“ 
Oder: „Geſtern war eine Feuersbrunſt, über 
Dautenwinden hat der Wald gebrannt, ich bin 
die halbe Nacht am Fenſter geſeſſen und hab’ 
gedacht, die Welt geht unter.” 

412 


Sinnliche Empfindlichkeiten kamen zu lapidarem 
Ausdrud: „Herr Quandt riecht nach alter Luft, 
die Lehrerin nach Wolle, der Hofrat nad Papier, 
der Präfident nach Tabak, BVolizeileutnant 
nad; Del, der Herr Pfarrer nach Kleiderſchrank. 
Faſt alle Menfchen riechen fchlecht, nur der Graf 
bat wie ein Leib gerochen, an dem nichts ift als 
guter Odem.“ 

Dem Grafen war mande Seite gewidmet; 
bier wurde der Ton poetifch und nicht felten 
drängend in der Art eines Gebets. Stanhope 
und die Sonne wurden zu Bildern von ver- 
wandter Kraft. Seit dem Äbſchied aus Nürnberg 
hatte das aufgehört, der Name des Lord wurde 
nicht mehr erwähnt, nur das Gelöbnis vom 
achten Dezember war aufgejchrieben. 

Aus den legten Tagen ſtammte eine Beich- 
nung, welche über die Hälfte einer Seite füllte: 
die Ümriſſe eines männlichen Kopfes, mit aufs 
fallend geſchickter Hand feftgehalten. Es war ein 
fremdartiges Geficht, feinem irdiſchen ähnlich, eher 
dem einer Statue, doch wie aus einer ſchauer— 
lichen Viſion gerifjen, von jchmerzlicher Unbewegt- 
heit. Darunter war gefchrieben: 

- D großer Menſch. was tueft bu mir an? 
Du folgeft mir, und meine Spur ift blind, 
Unb fo du mic, eriehauft, bin id) verranbelt. 
Dem Kerter ift entflohn das arme Kind, 
Der Mantel feplt und Krone aud) und Schwert, 
Und ohne Reiter läuft das weiße Pferd. 

Die Zeichnung war in der Nacht gefertigt 
worden; aus einem Traum auffahrend, hatte 
Cafpar das Geficht vor fich gefehen; er war aus 
dem Bett gefprungen und hatte es beim Mond- 
licht gezeichnet. Die Verje hatte er am Morgen 
beim Erwachen fertig auf den Lippen gefunden. 

418 


Ihrem Sinn hatte er nicht weiter nachgegrübelt, 
exit jest wurbe er ftußig und flüfterte die Worte 
mehrere Male vor fich hin. 

Mittlerweile war es fpät geworden, Caſpar 
wollte gerade vom Tiſch auffteben. da hörte er 
das Haustor Inarren, raſche Schritte näherten 
ſich, es klopfte an die Tür, und Duandts Stimme 
befahl zu Öffnen. Erſchrocken blies Caſpar das 
Licht aus. Im Finftern taftete er fich zum Sofa, 
brachte das Tagebuch wieder in jein ſtech, und 
während Quandt immer ftärker pochte, gelang es 
ihm, das Bild an den Nagel zu hängen. 

Quandt hatte nämlih, vom Spitalmeg fom- 
mend, ſchon aus der Ferne in Caſpars Zimmer 
Licht bemerkt. Er padte feine Frau am Arm 
und rief: „Sieh mal, Frau, fieh mal!" 

„Was gibt's denn ſchon wieder?" murrte die 
Frau, die voll Aerger darüber war, daß Quandt 
ihr mit feiner übeln Laune den ganzen Abend 
verdorben hatte. 

„Jetzt haft du doch den Beweis, daß er bei 
der Kerze ſitzt,“ fagte Quandt. 

Das Haus hatte durch ein Gartenpförtchen 
auch einen Zugang von der Rückſeite. Quandt 
wählte den, und als er mit ber Frau im Hof 
fand, fiel ihm ein, ob er nicht zuerft den Jüng⸗ 
ing auf irgendwelche Art belaufchen und jehen 
Tönne, was er treibe. Der Birnbaum an der 
Mauer war wie gefchaffen dazu. Quandt war ge- 
ſchickt und Fräftig, ohne Mühe erklomm er die Mauer 
und dann einen breiten Ajt, von wo er Caſpars 
Zimmer überfhauen konnte. Was er ſah, genügte. 
Nach) kurzer Weile kam er aufgeregt herab, raunte 
feiner Frau zu: „Ich hab’ Im erwiſcht, Jette,“ 
und ſtuͤrzte ins Haus und die Stiege empor. 
414 


Da ſich auf fein Klopfen drinnen nichts rührte, 
eriet er in Wut, Er fing an, mit den Fäuften, 
Fodann mit den Abfägen an die Tür zu trommeln, 
und als auch dies nichts half, befcloß der _bes 
klagenswerte Mann in feiner Raferei, ein Beil 
zu holen und die Türe einzufchlagen. Vorher 
lief er noch gefchwind in den Hof zurück und jah, 
daß e3 in Caſpars Zimmer indeſſen finfter ge⸗ 
worden war, ein Umftand, der feinen Zorn nur 
noch fteigerte. 

Von dem Lärm waren die Kinder und die 
Magd aufgewacht; die Lehrerin trat Quandt 
jammernd entgegen, als er mit der Holzhade aus 

er Küche rannte, Er ftieß fie weg, ſchäumte: 
„Ich will's ihm ſchon zeigen,“ und ſtürzte 
wieder hinauf. 

Nach dem erſten Schlag mit dem Beil öffnete 
ſich die Tür, und Caſpar trat im Hemd auf die 
Schwelle. Der Anblid der ruhigen Geftalt hatte 
etwas fo Unerwartetes und Exnüchterndes für 
den Lehrer, daß er förmlich zufammenklappte, 
nicht zu fagen und zu tun wußte und nur fonder- 
bar mit den Zähnen knirſchte. „Machen Sie 
Licht," murmelte ev nach einem langen Gtill- 
Köreigen, Do ſchon kam die Frau mit einem 

icht, leiſe Heulend, die Stiege herauf. Caſpar 
erblickte das Beil im gefenkten Arm des Lehrers 
und fing an, heftig zu zittern. Bei diefem Zeichen 
von Furcht verlor Quandt vollends die Haltung. 
Er ſchämte ſich, und tief auffeufzend fagte er: 
„Haufer, Sie bereiten mir großen Kummer." Da- 
mit drehte er fich um und ging langſam hinunter. 

Caſpar jchlief erft ein, al3 der Tag dämmerte. 
Beim hftück, vor der gewohnten Unterrichts- 
ftunde, erfuhr er, daß Quandt ſchon ausgegangen 

415. 


up 
fein Sie auf Ihrem Zimmer, Haufer. Ber 
Bolizeileutnant will mit Ihnen fprechen.“ 

Caſpar legte fi oben aufs Kanapee. Es 
war ein heißer Augufttag, Gewitterwolfen lagerten 
am Himmel, am offenen Fenſter flogen Schwalben 
ängftlich zwitf vorüber, die ſchwũl erhißte 
Sutt furrte und fang im engen Gemad). ch 
müde von der Nacht, entſchlummerte Caſpar als⸗ 
bald, und erft ein heftiges Nütteln an feiner 
Schulter weckte ihn. Hidel und der Lehrer ftanden 
neben ihm, er feste ſich auf, rieb die Augen und 
ſah die beiden Männer fchweigend an. Hidel 
Inöpfte mit einer amtlichen Gebärde feinen Uniform- 
tod zu und fagte: „Ich fordere Sie hiermit auf, 
Haufer, mir Ihr Tagebuch abzuliefern.” 

Caſpar erhob fich tiefatmend und antwortete 
mit einer mehr von innerem Zwang al Mut ein- 
gegebenen Feſtigkeit: „Herr Polizeileutnant, ich 
werde Ihnen mein Tagebuch nicht geben.“ 

Quandt flug die Bände zufammen und rief 
Hogenb: „HBaufer! Haujer! Sie treiben Ihre un 
Tindliche Widerfeglichleit zu weit." 

Cafpar ſchaute fich verzweifelt um und erwiderte 
zudenden Mundes: „Sa, bin ich denn ein Eigen- 
tum von einem andern? Bin ich denn wie ein 
Tier? Was wollen Sie denn noch? ch hab’ ja 
ſchon Keher daß ich das Buch verbrannt habe!" 

„Wollen Sie etwa leugnen, Haufer, daß Sie 
heute nacht bei der Kerze gejchrieben haben?" 
fragte Quandt dringlich. „Briefe Haben Sie doch 
nicht zu fchreiben gehabt und mit den Exerzitien 
waren Sie fertig." 

416 


Caſpar fämisg, Er wußte nicht ein noch aus. 
„Ein. guter Menſch hat überhaupt die Ein- 
fit" in Ian Tagebuch nicht zu ſcheuen,“ fuhr 
Quandt fort, „im Gegenteil, fie muß ihm er⸗ 
wunſcht fein, da doch feine Unbeicholtenheit da- 
mit bezeugt wird. Sie am allerwenigften, lieber 
ben haben Grund, ein geheimes Tagebuch zu 
en." 

je lange werben Sie und noch warten 

a rag Hickel mit Höflicher Kälte, 

ill ich doch lieber jterben, als daß ih 
das "es "ushalten fol!" rief Caſpar und bo) 
den Arm, um fein Gefiht darin zu verbergen. 

„Nun, nun,“ fagte Duandt beunruhigt, „wir 
meinen e3 ja gut mit Ihnen, auch der Herr 
Polizeileutnant will nur Ihr Beſtes.“ 

„Freilich,“ beftätigte Hidel trocken; „übrigens 
kann ich Ihnen kom, daß das Sterben zurzeit 
nicht der befte Einfall von Ihnen wäre. Da 
Tönnte man unter Umftänden auf Jhrem Grab» 
ftein lefen: Hier Liegt der Betrüger Cafpar Haufer.“ 

„Ganz abgefehen davon, daß fi in einem 
ſolchen Sab eine höchſt verwerfliche Gefinnung 
ausdrüdt," fügte Quandt tadelnd Hinzu, „eine 
feige und unfittliche Geſinnung.“ 

„Es liegt mir am Leben nichts, wenn man 
mich immer mit folchen Geſchichten plagt und 
mir nicht glaubt," entgegnete Caſpar bedrüdt; 
„ich hab’ ja früher auch nicht gelebt und hab’ 
lange nicht gewußt, baß ich Iebe.” 

ikel ging indes an der Wand entlang und 
klopfte mit den Knöcheln mie fpielend an einige 
Stellen der Mauer; plöglich dien ſich ſeine Auf⸗ 
merkſamleit gegen bas Bild über dem Sofa zu 
richten. Er nahm es lächelnd herab, betrachtete 


BWaffermann, Caſpar Haufer 27 417 


es nad, allen Seiten und Happte jchließlich die 
Scharniere auf, um bie Holztafel zu entfernen. 

Gafpar wurde jchlohweiß und bebte wie 
Eipenlaub. 

Aber al3 nun Hidel das blaue Heft ſchmun⸗ 
elnd in feiner Hand hielt, ging eine ſeitſame 

erwandlung mit Gafpar vor. Es jah aus, als 
wachſe er ꝓlötzlich und merbe um Kopfeslänge 
großen Mit zwei Schritten ſtand er Dicht vor 
em Polizeileutnant, Sein Geficht war förmlich 
aufgeriffen. In feiner Miene war etwas Er» 
habenes. Sein Blick glühte von einer leiden⸗ 
Schaftlichen und gebieterifchen Kraft. Hidel, in 
dem dumpfen Gefühl, ald werde er zermalmt oder 
zertreten, wich Tangfam und fafziniert gegen bie 
Tür zurüd. Der kalte Schweiß brach aus feiner 
Haut, als ihm Cafpar folgte, Schritt für Schritt, 
den Arm außftredte, das Heft mit einem Aud 
aus feinen umklammernden Fingern 30g, es mitten 
durchriß, die beiden Hälften noch einmal und 
noch einmal zerriß, bis alles in Feßen auf dem 
Boden lag. 

Wer weiß, mas noch gefchehen wäre, wenn 
die Dazwifchenkunft einer vierten Perſon in diefem 
Augenblid nicht die Situation verändert hätte. 
Es war der Pfarrer Fuhrmann, der im Vorüber- 

jehen Cafpar hatte befuchen wollen, um ihn zu 

Ka en, weshalb er heute vom Unterricht forte 
geblieben war. Al er eintrat, mußte fih ihm 
eine Ahnung des Gefchehenen aufbrängen; er 
bfictte ftumm von einem zum andern. Quandt, 
der dem ganzen Vorgang mit entjeten Augen 
zugeſchaut/ gewann nur mühſam feine Faflung 
und fagte in verlegenem Ton: „Was haben Sie 
denn da für ein Gefchnißel gemacht, Hauſer?“ 
418 


Hickel wanderte mit ein paar großen Schritten 
durchs Zimmer, dann grüßte er den Pfarrer 
militärifh und ging mit Faltem und finfterem 
Gefiht. Unter der Tür drehte er ſich um, deutete 
auf den Papierhaufen und machte eine befehlende 
Kopfbewegung gegen Duandt. Dieſer begriff. 
Er bückte fih, um die Schnigel zufammenzufharren. 
Aber Cajpar durchſchaute feine Abficht; ex ftellte 
fih mit den Füßen darauf und fagte: „Das 
Tommt ins Feuer, Herr Lehrer." 

Er kniete nieder, vaffte daS Papier mit zwei 

änden auf, trug e3 zum Dfen, öffnete mit dem 

6 das Türchen und warf alles hinein. Darauf 
ſchlug er Feuer, und eine Minute fpäter brannte 
es lichterloh. 
. Der Pfarrer Fuhrmann war bloß ſchweigen⸗ 
der Zeuge des Auftritts, Hickel mar gegangen, 
und der Lehrer, beftändig hüftelnd, ſchritt mit 
der Gleichmäßigteit eines Wachpoſtens vor dem 
Dfen auf und ab, indes Cafpar kauernd zufchaute, 
bis das legte Fünfchen verglommen war; dann 
nahm er den Schürhaken und zerjchlug die Aſchen⸗ 
reſie zu Staub. 

Der Pfarrer hatte nachher. eine Unterredung 
mit Cafpar, welche troß dem herabgeftimmten 
Gemütszuftande des jungen Menjchen und einer 
ſchier krankhaften Unluft zu fprechen doc zu 
mandherlei Eröffnungen führte, die den geiftlichen 
Heren bewogen, ſich wegen des Vorgefallenen an 
den Präfidenten Feuerbach. zu wenden. 

„Es ift eigen mit dem Lehrer Quandt,” fagte 
er im Verlauf feiner Mitteilungen zu Feuerbach; 
„ein ſonſt jo vortrefflicher Mann, und in allem, 
was den Haufer betrifft, wie verhert. Die Ruhe 
des Haufer macht ihn fribblig, feine Sanftheit 

419 


rauh, feine Schweigjamteit redfelig, feine Melan- 
holie fpöttifch, feine Heiterkeit — und ſeine 
mgefepnetiteit gibt ihm die durchtriebenften Liften 
3 allem, wa3 der Hauſer tut und jagt, 

füließt er im fülen dns Gegen, fogar das 
aus diefem Mund fcheint ihm eine 

Züge. Ich glaube, er möchte ihm am fiehften 


Be und kg wenn er e3 ſchon kennt; 
verdächtig, wenn er — e ſchläft, und verbächtis 
wenn er früh auffteht; er das Theater liebt 
und die Muſik nicht Hiebt, verbächtig; daß er es 
hinunterſchluckt, wenn man ihm zankt, Hingegen 
die Streitigkeiten zwifchen andern, zum Beifpiel 
awi hen Quandt und feiner Frau, immer ſchlichten 

: verdächtig. Alles ift verdächtig. Wie fol 
das enden!" 

Aber, wie man fo bezeichnend jagt, ein Wort 
ab das andre, und zum Schluß kam nichts 
eraus. 

Der Präfident, merkwürdig zerſtreut, verfpradh, 
den Polizeileutnant zur Rede zu ftellen. Er ließ 

Hickel rufen und fchrie ihn gleich beim Eintritt 
an, daß dem Verdutzten Hören und Gehen ver- 
Leider diente die Schimpferei der Sache 
ei: als der Zorn verdampft war, trug Hickeis 
ü {egene Ruhe und berechnete Schmiegjamleit 
den Sieg davon. Es kam nichts heraus. 
blieb alles beim alten. Nur daß der Polizei⸗ 
leutnant, in feiner Eitelkeit tief gefräntt, Doppelt 
ftil und kalt feiner Wege ging. 
420 


„Die Bemühung, dem Haufer eine annehm- 
liche Eriftenz zu verichaffen, muß man wohl als 
gejcheitert betrachten,“ ſagte Feuerbach eines Tages 
zu feiner Tochter. „Der Merſch leidet in feiner 
jesigen Umgebung, und die Art, wie man ihn 
behandelt, ſcheint gegen alle Vernunft und Billigkeit.“ 

„Mag jein; aber kann man es ändern?" 
verfegte Henriette achjelzudend. 

„Mich beruhigt nur die Zuverficht, daß ja 
eine Entjheidung ohnehin fallen muß, wenn die 
Bei a erjchienen ift,“ fagte der Präfident 
vor ſich hin. 

I ſchadet es auch dem jungen Menfchen, 
wenn die Wogen des Lebens über jeinem 
Kopf aufammenjchlagen ?" fuhr Henriette fort. 
„Vielleicht Iernt er ſchwimmen dabei. Es ift 
— an Ihnen, Vater, feinen Präzeptor zu 
machen. 

„Vielleicht lernt er ſchwimmen dabei. Vor— 
trefflich ausgedrückt, meine Tochter. Dereinft mag 
er dann der überjtandenen Prüfungen dankbar 

jedenken. Ein Gekrönter, der eine ſolche Schickſals- 
Ahle erfahren hat, von der tiefften Tiefe_zur 
böchften Höhe geftiegen ift — ei, das gäbe Hoff- 
nungen! Fehlte es den Großen der Erde nicht 
an Lebensfenntnis, fo wäre ihnen das Volt mehr 
und etwas andres als eine Melkkuh. Lafjen wir 
alfo den Stahl glühen, damit er hart werde. 
Sind heute Korrekturen gekommen?“ 
enriette verneinte und ging feufzend hinaus, 
3 gibt eine innere Stimme, die beredfamer 
ift als die Weisheit der Sentenzen. Feuerbach 
erfuhr die Gewalt diefer Stimme ftet3 auf3 neue, 
wenn er ſich Gafpar gegenüberbefand. Es war 
ihm nicht gegeben, fich um den Appell einer höheren 
421 


Inftanz, al3 es Vernunft und Erfahrung find, 
berumzulügen. Den Freimut ber DBerantwortlih” 
Teit, den er vor dem eignen Herzen empfand, 
hatte das Alter nicht abgeftumpft, fondern ges 
läutert; er mußte fich befennen, daß das, was 
ihn quälte, ganz einfach das fchlechte Gewiffen war. 

Welch ein Dilemma für einen folchen Mann! 
Auf der einen Seite die bis zur Selbtverleug- 
nung getriebene Erfüllung der dee, auf der 
andern das vorwurfsvolle Auge deffen, dem die 
Idee galt und dem er ſich nicht ergeben konnte 
und durfte — aus Furcht vor dem allzu be= 
teiligten Gefühl, aus Furcht vor der Trübung 
des Urteils, aus Furcht, daß der Engel der Ge- 
rechtigkeit feiner vorgeſetzten Bahn entfliehen würde, 
wenn Neigung, Rüdficht und herzliche Annähe- 
rung ins Spiel Tämen. 

So wie an die nächften Freunde jchicte der 
Präſident in diefen Tagen die Aushängebogen 
feiner Cafpar-Haufer-Schrift auch an Stanhope, 
der fich zurzeit in Nom aufhiell. Der Graf 
dankte oder antwortete mit feinem Wort. 

Eines ſchlimmeren Zeichens bedurfte Feuerbach 
nicht. Wie hatte Doch das große Wort gelautet, 
das er einft in lebendiger Stunde zu jenem Mann 
gejprochen? „Wenn diejes Antlitz trügt, Mylord, 
mit dem Sie hier vor mir ftehen, dann..." 

a, dann! Was dann? Kindliche Anmaßung! 
Würde die Welt untergehen, weil ein Feuerbach 
fich getäufht? Wie vielfältig ift der Menfch, 
wie viele Gefichter find ihm eigen, wie viele 
Worte findet er um eine3 erbärmlichen Vorteils 
willen! Für den Biſſen Brot ift jeder Bettler 
joon ein Fürſt der Worte, und mas Staats- 
arofien, was Pairfchaft, mas anmutige Ma- 
422 


nieren umd überredendes Gefühl, wenn dem 
allen nur das Wort die Schminte ift, das eine 
ausjägige Haut verfhönt? Dazu aiſo Herzen 
gsralienent, im Dunkel der Seelen gewählt, mit 
ichterfunft und »patho8 Tat und Untat auf ihr 
menſchlich Maß geprüft, damit ein aufgeſchmückter 
Schelm aus England kam, um damit ein far- 
donifches Spiel zu treiben und alles lächelnd ins 
Abfurde zu führen. - " 
Den alten Mann ekelte. Aber die Bor- 
Ken von der Macht und den Hilfsmitteln der 
inde, mit denen er fich in ungleichen Kampf 
eingelafjen, wurde allmählich ungeheuer, und wenn 
aud fein Vorhaben nicht die geringfte Beein— 
trächtigung erfuhr und er nicht für die Dauer 
eines Angenbtics ins Schmwanten geriet, nahm 
doch eine verbüfternde Unruhe von ihm Beſitz. 
Seit jenem nächtlichen Einbruch, deſſen Anjtifter 
aller. aufgerandten Mühe zum Trotz unentdeckt 
jeblieben waren, entbehrte er des dauernden 
lafs. Er erhob ſich bisweilen aus dem Bett, 
wanderte mit dem Licht durch die Zimmer, über 
Treppen und Flur, rüttelte an den Fenſtern, 
probierte die Zeftigkeit der Schlöffer und erſchrak 
nicht felten vor feinem eignen Schatten. Es war 
jür feine Kinder ein erjchütterndes Schaufpiel, 
diefen Mann der Leidenſchaft und des eingefleifch- 
ten Mutes in dergleichen Geſpenſterweſen verftrict 
zu fehen. Einſtmals am frühen Morgen fand 
man an der äußeren Seite des Haustor3 fol- 
gende mit Kreide angefchriebenen Verſe: 
Unfelm, Ritter von Feuerbach! 
2öfh '3 Feuer unter deinem Dad! 
2a den falichen Freund nimmer ein! 


30 den Degen und Hau bısin, 
onft wirb’8 um Did) gefchehen fein. 


428 


An einem Abend zu Ende Oktober kam Quandt 
und begehrte den Präfidenten zu fprechen. Feuer⸗ 
bach ließ ihn eintreten und beobachtete ſofort in 
feinem Benehmen etwas Verlegenes und Be— 
ftürztes, doch ac der Lehrer nicht die gemöhn- 
liche Umftändlichteit, fondern rückte ſchnell mit 
feinem Anliegen heraus. Cr berichtete, Caſpar 
habe vorgeftern einen Brief des Grafen erhalten 
und feitdem habe er fich ganz verändert; ob Seine 
Exzellenz nicht eine Stunde erübrigen könne, um 
mit dem Menjchen zu reden, er felbft bringe fein 
Wort aus ihm heraus. 

Der Präfident fragte, worin die Veränderung 
beftehe. “ 

„Es ift, als wäre er taubftumm geworden,“ 
verfeßte Quandt. „Bei Tiſch läßt er die Speifen 
unberührt, beim Unterricht ift er äußerft unauf- 
merffam, ja geiſtesabweſend, die Aufgaben macht 
er nicht mehr, auf Fragen antwortet er nicht, 
pöteist herum wie ein Todfranfer und ftarrt in 

ie ih Geftern nachts hab’ ich und meine 
Frau ihn belaufcht und wir haben zugehört, wie 
er erit eine ganze Weile vor fich hingewimmert, 
dann auf einmal hat er einen gräßlichen Schrei 
en 

Wiſſen Sie vielleicht, ma in dem Brief des 
Grafen geftanden hat?" forfchte der Präfident. 

„O ja, das weiß ich wohl," entgegnete der 
Lehrer harmlos; „es ift meine Gepflogenheit, alle 
Briefe, die er erhält, vorher zu öffnen.“ 

Feuerbach blickte jäh empor und fah den Lehrer 
mit finfterer Neugier an. „Nun, und?" fragte er. 

„Sch könnte den Inhalt des Schreibens 
durchaus nicht mit einer folhen Wirkung zu— 
ſammenreimen,“ erwiderte Quandt bebächtig. 
424 


Der Präfident ftampfte ungeduldig mit dem 
Fuß. „Gut, gut," rief er barſch, „aber mas 
ftand denn drin, da Sie es doch einmal wiſſen ?“ 

Quandt erſchrak. „Es ftand drin, der Graf 
tönne in diefem Jahr nicht mehr nach Ansbach 
fommen, unerwartete Zwijchenfälle nötigten ihn, 
diefen Plan ins Unbeftimmte zu verfchieben. Nun 
ift mir freilich bekannt, daß Haufer mit der Her- 
kunft des Lords ſtark gerechnet hat, er ſprach 
fogar immer von einem feſten Termin und hielt 
es für einen Frevel, wenn man ihm das aus» 
reden wollte; er fchien es geradezu für eine Pflicht 
des Grafen zu erachten, denn in feinem kindiſchen 
Kopf glaubt er noch fir daran, daß ihn der Graf 
mit nach England auf feine Schlöffer nehmen 
werbe, und er ahnt gar nicht, daß ber Herr 
Graf ſchon längſt fein Herz von ihm ab» 
gewandt hat —" 

„Woher wifien Sie das, Mann?" braufte der 
Präfident auf und erhob fich mit ſolchem Ungeftüm, 
daß der Stuhl hinter ihm umftürzte, 

„Eure Exzellenz verzeihen,” ftotterte Quandt 
furdhtfam, „aber das ift doc) ſonnenklar.“ Er 
ging hin, ftellte den Stuhl mit einer höflichen 
Grimaffe wieder auf und während der Präfident 
mit feinen fteifen, Turzen Schritten auf und ab 
wanderte, jagte er fchlichtern: „Trotz allem ift 
mir die Wirkung diefer in den urbanfien Formen 
gehaltenen Abfage unerflärlih und bejorgnis- 
erregend; es muß da etwas dahinter ſtecken, und 
Eure Erzellenz find vielleicht imftande, e3 heraus⸗ 
zubringen.“ 

„Ich werde der Sache nachgehen," ſchnitt 
Feuerbach das Geſpräch kurz ab. Quandt machte 
feinen Bücling und entfernte fih. Er ging nicht 

425 


heimmärts, fondern wandte fich gegen die Her- 
rieder Vorjtadt, da er feine Frau vom Haus ihrer 
Mutter abholen wollte. Es war ein befiger 
Sturm, Blätter und Zweige wirbelten durch die 
auf, Quandts Mantelumdang flatterte hochauf, 
und mit beiden Händen mußte er die Ränder 
feines Schlapphut3 fefthalten. 

Kurz nad) dem Lehrer hatte Caſpar heimlich 
das Haus verlaffen, eigentlich ohne Ziel. 
ex auf der Straße war, fiel ihm ein, ob er nicht 
zu Frau von Imhoff gehen tönne, und uns 
- geachtet der Dunkelheit und des böfen Wetters, und 
obgleich das Imhoffſchlößchen -eine Viertelftunde 
vor der Stadt gelegen war, entſchloß er fich dazu. 
Aber als er angelangt war, als er am Gittertor 
in und zu den erleuchteten Fenftern binaufs 
Haute, ſchwand ihm alle Luft und er fürchtete 
ſich vor den hellen Zimmern, Sah er fich boch 
ſchon droben; hörte er doch ſchon die Worte, die 
ihm nichtS waren und nicht? galten, er fannte 
fie alle, er hätte fie auswendig an der Schwelle 
berfagen können. Ja, er kannte num die Worte 
der Menfchen, er erfuhr nichts Neues durch fie, 
fie fielen in das unermeliche Meer feiner Traurig» 
feit wie Heine trübe Tropfen, deren Auffchall die 
Tiefe verfchlang. . 

Ein Schatten glitt an den Fenftern vorbei, 
ein andrer folgte. So meilten fie in ihren 
Wohnungen, ftil und emfig zündeten ihre Lichter 
an und wußten nicht, wer draußen jtand am Tor. 

Mitten im Win gebraufe vernahm Caſpar Töne 
wie von einem Saiteninftrument, das unter den 
Wolken aufgehängt war. Es befand ſich näm— 
lich auf dem Dach des Schlößchens eine Aeols- 
harfe, Caſpar wußte dies nicht und hielt e8 für 
426 


eine geifterhafte Muſik. Als er den Rückweg 
antrat, flugen immer von Beit zu Zeit bie 
orgelnden Akkorde an fein Ohr. 

Er wünfchte noch nicht heimzugehen; der gleiche 
dumpfe Drang, der ihn vor das Schlößchen der 
Imhoffs getrieben hatte, führte ihn noch zum 
Bad des Generallommifjärs, dann zum Haus 
des Regierungspräjidenten, dann zum Feuerbach- 
ſchen Haus und jchließlich vor ein Gebäude, das 
unbewohnt war und das mit feinen verfchloffenen 
Läden, feinen bemoften Simfen und feinem hoch— 
bogigen Tor, über welchem ein Auge in den 
Stein und darüber die Worte gemeißelt waren: 
„Zum Auge Gottes", ſchon lang vorher feine Wiß- 
begier aufgewedt hatte. Zur Markgrafenzeit 
follte ein Goldmacher darin gewohnt haben. 

Es war ihm zumute, wie wenn er in all 
diefen Häufern zu Gaft gemefen fei, wie wenn 
er unfichtbar unter ihren Bewohnern oder in 
ihren leeren Räumen herumgegangen fei und als 
ob er dabei eine merkwürdige Kenntnis von dem 
vergangenen und gegenmärtigen Leben ihrer Men⸗ 
ſchen gewonnen hätte. 

Ziemlich müde und dabei tief erregt Tangte 
er im Lehrerhaus an. Quandt und feine Frau 
waren noch nicht daheim, die Kinder fchliefen, die 
Magd war nicht zu jehen, es herrſchte eine große 
Stille, nur der Wind umheulte die Mauern, und 
das Flurlämpchen fladerte wie vor Furcht. Da, 
während Cajpar zur Treppe fchritt, vernahm er 
eine Ianggezogene feine Stimme, ähnlich dem 
Birpen der Sommergrille, und die Stimme rief: 

„Stephan!“ 

Er blieb befremdet ftehen und fah fih um. 
Da alles ruhig war, glaubte er fich getäufcht zu 


427 


haben, glaubte, es fei eine Stimme draußen auf 
Straße gewefen. Aber kaum hatte er drei 
Schritte getan, fo erichallte die Stimme neuer- 
dings, nur unvergleichlich lauter, anjcheinend aus 
dichterer Nähe: 

„Stephan!“ 

&3 war etwas ‚unendlich Ergreifendes in dem 
Ton; es Hang, wie wenn einer, der zu ertrinfen 
fürchtet, aus dem Wafler ruft. Unverkennbar 
mar e3 eine männliche Stimme, die nun zum 
drittenmal wie von Schluchzen erftict ausrief: 

„Stephan !" 

Kein Zweifel, der Auf galt ihm, ihm, Cafpar. 
Er trete die Arme aus und fragte: „Wo? 
Wo bift du? Wo bift du?“ 

Da fah er oben über der Tür, körperlos 
ſchwebend, ein fahlleuchtendes Gefiht. Es war 
das Gefiht Stanhopes, mit aufgerifjenen Augen 
und aufgerifjenem Mund, wie in äußerjtem 

een verzerrt, häßlich, ſchier unfenntlich 


* lich 

Caſpar verharrte angewurzelt an feinem Platz, 
feine Glieder, ja feine Augen waren wie ver- 
fteinert. Als er zum zmweitenmal hinblidte, war 
das Antlig verjhmunden, auch die Stimme ließ 
fich nicht mehr vernehmen. Flur und Stiege er- 
leuchtet, alle Türen zu, fein Menſch zu jehen, 
fein Laut zu hören. 


Es wird eine Reife beſchloſſen 


Eines Nachmittags im Dezember ſahen er- 
ftaunte Nachbarn den Lehrer Quandt wie be 
428 


fefien aus feinem Haus und gegen die Neuftadt 
ftürmen, wo die Wohnung des Polizeileutnants 
lag. Er trat ins Zimmer des Leutnants, und 
ohne fich Zeit zu gönnen, feinen Hut vom Kopf 
zu nehmen, griff er in die Rocktaſche und hielt 
Hidel wortlos ein dünnes Drudheft entgegen. 

Es war die vor kurzem erfhienene Cafpar- 
Saufer-Brofchtre Feuerbachs. Quandt hatte das 

üchlein erſt heute in die Hände befommen und 
es in einem Bug durchgelefen. 

Hickel nahm das Heft, befah e8 rundum und 
fagte gelaffen: „Na, und? Was jol’3? Meinen 

- Sie, daß das eine Neuigkeit für mich ift? Sie 
echauffieren ſich doc nicht etwa? Der Alte 
fchreibt, weil das fein Geſchäft ift. Eher können 
Sie einer Henne das Eierlegen abgesöhnen als 
einem geborenen Federfuchier das Schreiben." 

Quandt atmete tief auf. „Schreiben, ſchön; 
ich laſſe ja vieles gelten," antwortete er, „aber 
das geht denn doch zu weit. Erlauben Sie —" 
er padte das Heft, ſchlug das Titelblatt auf und 
las vor: „Cafpar Haufer oder Beiſpiel eines 
Verbrechens am Seelenleben de3 Menjchen. Das 
Mlingt ja nad) etwas.“ fagte er bitter; „es ftreut 
den Leuten von vornherein Sand in die Augen. 
Aber das Ganze ift ein Roman, und nicht ein- 
mal einer von der beften Sorte." 

Ex blätterte und deutete mit dem Finger auf 
eine Stelle, die er gleichfalls höhnijch betont 
vorlag: „Caſpar Haufer, das rare Eremplar der 
Gattung Menſch —! Lieber Herr Polizeileut- 
nant, da bin ich mit meiner Weisheit zu Ende. 
Das kommt mir fo vor, al3 ob man den notorifch 
fchlechteften meiner Schüler vor verfammeltem 
Volt als einen großen Gelehrten erklärte. Rares 

429 


Eremplar! In dem Punkt weiß ich beſſer Be⸗ 
ſcheid, halten zu Gnaden, Erzellenz; da könnte 
ich einem verehrlichen Publifo ganz anders die 

ugen Öffnen. Rares Eremplar, gewiß! Aber 
man muß nur aud) das Alphabet von vorne und 
nicht von hinten leſen. Das ijt aljo der große 
Kriminalift, der beitaunte Alleswiffer! So fra 
der Ruhm aus, wenn man ihn aus der Nähe 
betrachtet! Und nun erft das ganze dynaftifche 
Hintertreppenmärchen! Es wäre ja zum Lachen, 
wenn es nicht jo traurig wäre. Herrgott, ift 
da3 eine Zeit, i das eine Welt!" 

Der_Polizeileutnant hörte mit kaum merk» 
fichem Lächeln den Ausbruch des Lehrers an. 
AL Quandt zu Ende war, fagte er gleichmütig: 
„Was wollen Sie? Als getreue Diener find 
mir nun einmal dazu verurteilt, die dummen 
Streiche unfrer Herrichaft mitanzufehen. Uebri 
gens Tann ich Sie in einer Hinficht beruhigen. 
Der Präfivent hat felber feine rechte Freude an 
dem Büchlein. Er klagt über Gedächtnisfehler, 
die ihm dabei paffiert find, und daß es ihn mehr 
Mühe gekoftet hat, die Gefchichte zu Papier zu 
bringen, denn ein ganzes Corpus juris, Und 
jest muß er's erleben, daß man ihm draußen im 
Neich hart zufeßt. Es geht die Rede, daß die 
Bundestommiffton zu Frankfurt die Schrift fon- 
fiszieren wird." 

„Recht fo," rief Ouandt. „Auch die Fürften 
follten etwas dagegen unternehmen.“ 

„Das laſſen Sie nur die Sache der Fürften 
fein,“ verfeßte Hickel, deſſen Geficht plöslich böfe 
und forgenvoll wurde. „Pot Kreuz, lieber Quandt, 
Sie ereifern ſich ja da, als ob's Ihnen an den 
Kragen ginge. Ich möchte nur gar zu gern 
430 


wiffen, ob Sie auch fo viel Mut zeigen würden, 
wenn die Exzellenz dahier im Zimmer wäre." 

Quandt ſchaute fich mißtrauifh um. Dann 
zuckte er die Achjeln und erwiderte: „Sie belieben 
zu ſcherzen, Herr. Polizeileutnant. Schlimm ges 
nug, daß man mit feiner wahren Meinung bin- 
term Berg halten muß. Wir haben alle ver- 
gefien, wie ein Mann den Kopf tragen foll. 
Kuſchen, das haben wir gelernt, das verjtehen 
A von Grumd aus. Aber ich will nicht mehr 
uſchen.“ 

„pſt!“ unterbrach ihn Hickel unwirſch; „laſſen 
wir das; es ſchmeckt nach Demagogentum. Sagen 
Sie mir lieber: Hat der Haufer Kenntnis von 
der Brofchüre?" 

„Nicht daß ich wüßte," entgegnete Quandt. 
„Aber es wird nicht zu vermeiden fein, daß er 
davon erfährt, gibt es doch Unverftändige genug, 
die fih_ein Vergnügen daraus machen werden. 
Haben Sie, Herr Polizeileutnant, nicht auch von 
der Schrift eines gewiſſen Garnier gehört?“ 

Bei der Nennung dieſes Namens zudte Hickel 
zufammen und fah den Lehrer finfter an. Es 
dauerte eine ganze Weile, bevor er fich zu einer 
Antwort entſchloß. „Garnier? a, das ift ein 
landesflüchtiges Subjekt. In_feinem Pamphlet 
bringt er diefelben finnlofen Dinge vor mie der 
Staatsrat, bloß noch verbrämt mit dem windigiten 
Hofklatſch. Das Machwerk ift nicht der Rede 
wert." 

Wie fol ich mich aber verhalten, wenn der 
Haufer irgendwie in den Beſitz eines diefer Pro- 
dukte kommt?" fragte Quandt. 

Hickel fpazierte mit feinen langen Schritten 
herum und nagte mit den Zähnen nervös an der 

431 


Unterlippe. „Zreffen Sie Vorſorge,“ erwiderte 
ex kalt. „Laffen Sie ihn nicht aus den Augen. 
Mid kümmert das übrigens gar nicht; ift mir 
völlig egal. Man wird den jungen Mann ſchon 
karwanzen.“ 

Quandt ſeufzte. „Herr Polizeileutnant,“ ſagte 
er bedrüct, „ich kann Ihnen nicht ſchildern, wie 
mir iſt. Meine halbe Seligfeit gäb’ ich drum, 
wenn e3 mir vergönnt wäre, den Menjchen zu 
einem offenen Gejtändnis zu bringen." 

„Man wird’3 Ihnen billiger machen," ver- 
feste Hickel düfter. 

„Wiflen Ste denn das Neueſte?“ fuhr Quandt 
fort. „Der Präfident will den Haufer als 
Schreiber beim Appellgericht beichäftigen. Morgen 
fol er ſchon anfangen.“ 

„Und was wird der Graf dazu ſagen?“ 

„Man bat es ihm fchreiben wollen; weiß 
aber nicht, wo er fich aufhält. Es ift feit vier 
Wochen nur ein einziger Brief von ihm gekommen, 
und den bat der Haufer nicht einmal angefehen. 
Meines Erachtens muß er fich über die Maß— 
regel freuen. Für ein Metier im engeren Sinn 
ift der Haufer doch nicht zu brauchen, er hat leider 
den Verkehr mit den gebildeten und höheren 
Ständen zu lange genofjen, als daß es ihn nicht 
rebellifch machen müßte, wenn er ihn plößlich 
mit der Umgebung in einer Werkftätte vertaufchen 
müßte. Anderfeit3 ift er auch zu einem Beruf 
ungeeignet, der eine tiefere Ausbildung erfordert, 
denn zu einem ernfthaften Studium fehlt ihm 
Sinn und Ausdauer. Der Staatsrat hat dem- 
nad) die befte Löfung getroffen, die auch mich 
von einem Teil meiner DVerantwortlichkeit ent 
laftet. Bei der Schreiberei kann ſich der Haufer 
432 


nicht nur zu einem Beamten de3 niederen Dienftes, 
fondern bei einigem Fleiß fogar für eine Stelle beim 
Regiftratur- oder Rechnungsweſen ausbilden." 

Hickel hörte der weitläufigen Auseinander- 
ſetzung faum zu. Sie gingen nun zufammen fort; 
vor der Hofapothefe verabfchiedete fich Hickel, 
um fih, wie er fagte, ein Piülverchen gegen 
Schlaflofigkeit verfchreiben zu Laffen. 

Auf dem Nachhaufeweg wurde Quandt vom 
Hofrat Hofmann ehr freundlich gegrüßt, eine 
Tatſache, die hinreichend mar, feine mürriſche 
Stimmung ungemein aufzubeitern. Beim Mittag- 
effen, es gab Kalbsbruft und Ochjenmaulfalat, 
wurde er og: Iuftig und trieb allerlei Scherze 
mit feiner Gattin. Aber wie es bei jeriöfen 
Naturen der Fall zu fein pflegt, geriet feine Auf- 
geräumtheit ziemlich ins Plumpe. Unter anderm 
nahm er das Mefier und fuchtelte der Lehrerin 
lachend damit vor der Nafe herum. Da erblafte 
Caſpar, ftand auf und fagte: „Um Gottes willen, 
Here Lehrer, legen Sie doch das Mefjer weg, 
ich kann's nicht ſehen.“ 

Quandt, gleich wieder verdrießlich, brummte: 
„Na, hören Sie mal, Hauſer, ein ſolches Be— 
tragen ſchmeckt ſtark nach Affektation.“ 

„Sie find ein ſchöner Tappel,“ ſagte die 
Lehrerin, „ein Mann muß mutig fein. Was 
wollen Sie denn tun, mwenn’3 mal Krieg gibt? 
Da beißt es mit Anjtand ſterben.“ 

„Sterben? Nein, da jag’ ich Dank, fterben 
mag ich nicht," erwiderte Cafpar haftig. 

„Und doch haben Sie fi) damals vor dem 
Volizeileutnant in einer höchſt widerwärtigen 
Weile über denfelben Punkt geäußert," ließ ſich 
Quandt vernehmen. 

Baffermann, Gafpar Haufer 28 433 


„Nein, jo feig,“ fuhr die Lehrerin fort, „mit 
dem Kadetten Hugenpoet von ben ‚Dragonern 
haben Sie ſich legten Sommer ja auch einmal 
fo feig, Benommen, 

„Was ift denn das für eine Gefchichte?" er- 
kundigte fi Quandt, „davon weiß ich gar nichts." 

„Er war doc mit dem Kadeiten oft bei- 
fammen; der hat dem Haufer immerzu vor 

eſchwärmt, er joll Soldat werden, in ein paar 

Sahren braͤcht' er es leicht zum Offizier. Wär’ 
ja nicht fo übel, die Kabetten haben e8 gut und 
kommen fchnell vorwärts. Unfer Hauſer war 
auch begeiftert von der Idee, aber auf einmal 
mar die Freundſchaft aus." 

„Ei, und aus welchem Grund?" 

„Das war fo. An einem Abend im Sep- 
tember ift er mit dem Kadetten am Nezatufer 
fpazieren gegangen, und fie find zu einer Stelle 
gefommen, wo viele Knaben und Burfchen fich 
gebabet haben, denn es war furchtbar warm an 
dem Tag. Der Kadett jagt, das wollen wir auch 
machen, zieht fich aus und will den Haufer über- 
reden, gleichfal8 zu baden. Der war aber zu 
Tod erichroden von dem Vorjchlag und fagt, 
ins Waffer geht er nicht. Das hören die andern, 
fteigen heraus, ftellen ſich um ihn herum, ver- 
fpotten ihn und wollen ihn mit Gewalt ins 
Waſſer bringen. Da reißt er fich los, eh’ man 
fs verfieht, ift er in feiner Höllenangjt über 

ie Felder Davongelaufen, und die nadigten Kerle 

höhnen Hinter ihm ber. Dem Kabetten war's zu 
bunt, und ex fieht ihm nicht mehr an ſeitdem. 
Iſt's wahr, Haufer, oder nicht?" 

Caſpar nicte. Der Lehrer ſchüttelte fich vor 
Sachen. 


434 


Ein paar Tage fpäter kamen Frau von Im⸗ 
hoff und das Fräulein von Stichaner, um Caſpar 
zu befuchen. Die Lehrerin, ftolz auf die vor- 
nehmen Gäfte, wich nicht vom Fleck. Der Unter- 
haltung zuliebe und weil ihr nichts Geſcheiteres 
einfiel, erzählte fie im Beiſein Caſpars abermals 
die Geichichte mit dem Kadetten und dem ver- 
weigerten Bad, doch hatte fie nicht benfelben 
Erfolg wie vor ihrem Ehegemahl. Die beiden 
Damen hörten | ſchweigend zu. 

„So Feigheit ift eatlich nicht ſchön,“ 
bemerkte das Fräulein von Stichaner dann auf 
der Straße gegen Frau von Imhoff. 

„Man kann es nicht gut Feigheit nennen,“ 
antwortete diefe; „er Tiehe das Leben zu ſehr, 
das iſt es. Er liebt das Leben wie ein Toller, 
wie ein Tier liebt er es, wie ein Geizhals ſein 
Gold. Er hat mir ſelbſt gitanden, daß er jedes⸗ 
mal vor dem Einſchlafen Angft Hat, jein Schlaf 
könne fich ihm unbewußt in Tod verwandeln, 
und er betet, Gott möge ihn doch ganz gewiß 
am andern Morgen — aufwachen laſſen. 
Nein, es iſt nicht Feigheit; es iſt vielleicht die 
Ahnung einer großen Gefahr, aud der Trieb, 
viel Verfäumtes nachzuholen. Man muß ihn nur 
manchmal fehen, wie er fich freuen kann, und 
über das Allergeringfte, woran jeder andre fumpf 
vorübergeht. Seine Freude Hat etwas Groß- 
artiges, etwas Erdentrücktes, jo wie feine Furcht 
und feine Traurigkeit etwas Schauerliches haben." 

u Haufe wurde Frau von Imhoff durch 
einen Brief ihrer Freundin, der Frau von Kanna- 
wurf, überrafcht, doppelt angenehm überrafcht, 
da Frau von Kannamurf, fie weilte gegenwärtig 
in Wien, fchrieb, fie wolle im März nach Ans— 

435 


bach kommen. In dem Brief war überdies viel 
von Cafpar die Rede. „ch habe in den letzten 
Tagen die Feuerbachſche Schrift gelefen,” hieß es 
unter anderm, „und muß dir geftehen, daß mich 
noch niemal3 ein Buch dermaßen im Innerſten 
auf gemähtt hat. Ich kann feitdem nichts andres 
denken, und es flieht mich der Schlaf. Weil 
Caſpar Haufer jelbft von diefer Schrift? Uni 
wie ftellt er fich dazu? Was äußert er darüber ?" 

Frau von Imhoff verfäumte es, über den 
Punkt Beſcheid zugeben; e3 fiel ja auch ſchwer, 
Caſpar zu befragen. Hat er das Buch nicht 
gelejen, jo ift e8 peinlich und fonderbar, ihn 
darüber in Unmifjenheit zu fehen, dachte fie; noch 
peinlicher und fonderbarer, wenn er es gelejen 
bat; peinlich und jonderbar fein Aufenthalt hier, 
fein Ropiftenamt auf dem Gericht, fein ganzes 
Treiben; und mie ift es möglich, eine Ausſprache 
herbeizuführen? “Jedes offene Wort kann unheil- 
voll werden. 

Trogdem unternahm es Frau von Imhoff, 
Cafpar vorfichtig auszuholen, ob er überhaupt 
von der Sache wifje oder davon reden gehört. 
Und er wußte davon. Nicht im entfernteften 
aber hegte er den Wunſch, ſich Klarheit zu ver- 
ſchaffen. Erſtens aus Furcht; die Furcht ließ 
ihn vor jedem Schritt zurüctbeben, der auf eine 
Veränderung feiner Lage zielte, feine Gedanken 
von der krampfhaft umflammerten Gegenwart 
ablenken Eonnte; und dann, weil er wahrjcheinlich 
annahm, es handle fich bei der Schrift des Präfi- 
denten auch nur um das bodenloje Gerede, das 
ex in- und auswendig wußte und von dem ihm, 
mie ex zu fagen pflegte, bloß Kopf- und Herz 
weh und ein dummes Nachſchauen blieb. Er 
436 


hatte dergleichen oft genug erfahren, und aus 
lauter Ueberdruß daran war er am Ende jo un- 
neugierig geworden, daß eine einzige Andeutung, 
während eine Gefprächs etwa, hinreichte, um feinem 
Geficht den Ausdrud fchalfter Langweile zu geben. 

Wie er chlielich doch dazu gelangte, das für 
ihn und um feinetwillen gefchaffene Werk Tennen 
zu lernen, das hatte eine eigentümliche Be— 
wandtnis. 

Es war an einem unfreundlichen Vormittag 
im März, da verbreitete ſich plötzlich im Appell- 

erichtsgebäude und bald darauf in der ganzen 
— die Nachricht, der Präſident ſei im großen 
Gerichtsſaal während. einer Verhandlung, die er 
leitete, ohnmädhtig vom Stuhl gejtürzt. Alle 
Beamten liefen fofort aus ihren Zimmern und 
ftanden alsbald auf den Treppen und Korridoren. 
Auch Cafpar Hatte feinen Arbeitstiſch verlaffen 
und gefellte fich zu den übrigen. Er ſchlich aber 
abfichtlich wieder davon, um nicht Zeuge fein 
zu müffen, wie man den Präfidenten von oben 
heruntertrug. 

As er fih in das Zimmer zurücbegab, in 
welchem er an allen Vormittagen von acht bis 
zwölf Uhr fchrieb, und zwar nur in Geſellſchaft 
eines alten Kanzliften, eines gemifjen Dillmann, 
war biejer fein Amtsgefährte noch nicht wieder 
da. Caſpar, fehr traurig und erjchroden, ftellte 
fih zum Fenſter und malte, ſchmerzlich verfonnen, 
wie er war, mit dem Finger den Namen Feuer- 
bach in die beichweißte Scheibe. 

Indes trat Dillmann -ein und ging hände— 
ringend auf feinen Pla zu. 

Bis auf diefen Tag hatte der alte Kanzlift, 
und Gafpar befand ſich nun über neun Wochen 


437 


auf dem Amt, noch nicht ein Dutzend überflüffiger 
Worte mit dem neuen Kollegen gewechielt; er 
hatte ſich im mindeften nicht um ihn gekümmert 
und eine grämliche Gleichgültigteit gegen ihn zur 
Schau getragen. Im Verlauf der sreibig Sahre, 
während welcher er Alten, Erläffe, Verordnungen 
und Urteile Topierte, hatte er es zu einer befon- 
deren Gefchiclichkeit im Schlafen gebracht, und 
es war komiſch zu fehen, wenn er, den Federkiel 
aufs Papier gefpießt, leiſe fchnarchend feine 
Siefta hielt und ſogleich die Hand fchreibend 
weiterbewegte, wenn fi) draußen der Schritt 
eines Vorgeſetzten vernehmen ließ, da er die 
Gangart jedes einzelnen Heren genau ftudiert 
und fozufagen im Kopf hatte, 

Um fo verwunderter war Gafpar, als Dill: 
mann auf ihn zufchritt und mit zitternder Stimme 
fagte: „Der unvergleichlihe Mann! Wenn ihm 
nur nichts zuftößt! Wenn ihm nur nicht? Menfch- 
liches paffiert!” 

Caſpar drehte fich um, entgegnete aber nichts. 

„Na, Haufer, und für Sie wäre es gar ein 
unerjeßlicher Verluſt,“ fuhr der Alte jeltfam 
teifend und zänkiſch fort; „wo gibt’3 denn in 
diefer Iummerigen Welt einen Menfchen, der fich 
fo für einen andern Menjchen einfest? Sollte 
mich nicht erftaunen, wenn das ein fchlimmes 
Ende nähme. Ja, es wird ein fchlimmes Ende 
nehmen, ein ſchlimmes Ende." 

Cafpar hörte ſchweigend zu; feine Augen 
blinzelten. 

„So ein Mann!" rief Dillmann aus. „Ih 
bab’, ſeit ich bier fie, fchon fieben Präfidenten 
und zweiundzwanzig Regierungsräte zum Grab 
geleitet, Hauſer, aber fo einer war nicht dabei. 
438 


Ein Titan, Haufer, ein Titan! Die Sterne könnt’ 
ex vom Himmel reißen um der Gerechtigkeit willen. 
Man muß ihn nur betrachten; haben Sie ihn mal 

jenau betrachtet? Der Budel über der Nafe! 

8 deutet, wie man jagt, auf eine genialifi 
Konzeption; diefe Jupiterftion! Und das Buch, 
Haufer, das er für Sie gefchrieben hat! Das 
it ein Buch! Ein wahrer Scheiterhaufen iſt's! 
Die Zähne muß man zufammenbeißen und die 
Fäufte ballen, wenn man's lieſt.“ 

Cafpar machte ein märrifes Gefiht. „IH 
hab's nicht gelejen,“ fagte er kurz. 

Dem alten Kanzliften gab e3 einen Ruck. 
Er riß den Mund auf und fchnappte. „Nicht 
jelefen? * ftotterte er. „Sie — nicht gelefen? 
Ja wie ift denn das möglich? Da foll mich doch 
aid der Teufel holen!“ Eilig trippelte er zu 
einem Tiſch, ſchob eine Lade auf, fuchte herum 
und brachte das Büchlein zum Vorfchein. Er 
reichte es Cafpar hin, ſtieß es ihm förmlich in 
die Hand und knurrte: „Lefen, lejen! Sapper- 
Iot, leſen!“ 

Cafpar machte es beinahe wie Hicel dem 
Lehrer Quandt gegenüber. Er drehte das Buch 
um und um umd zeigte eine unfchläffige Miene. 
Dann erſt ſchlug er es auf und las, fichtlich er- 
bleichend, den Titel. Immerhin genügte auch 
dies noch nicht, um ihn meugierig oder um- 
geduldig werden zu lafien. Er ſteckie daS Buch 
a —F aſche und fagte troden: „Bu Haufe will 
ich's leſen. 

Schlag zwölf Uhr verließ er, wie gewöhnlich, 
das Amt, feste ſich zu Haufe, als obnichis ge— 
ſchehen wäre, zu Tiſch und hörte ftill den Ge— 
jprächen zu, die fich ausfchlieglich um das dem 
J 439 


Präfidenten widerfahrene Unglüd drehten. „Am 
legten Sonntag nor dem Kirchgang,“ plauderte 
die Lehrerin, „da hab’ ich den Staatsrat gefehen, 
ggeabe wie ihm vier Totenweiber begegnet find. 

er Staatsrat ift ganz erſchrocken geweſen, ift 
ftehengeblieben und hat ihnen nachgeſchaut. Ich 
hab’ mir gleich gedacht, das kann nichts Gutes 
bebeuten.“ 

„Wenn ihr Frauenzimmer nur nicht alleweil 
euch anmaßen wolltet, dem Herrgott in die Karten 
zu gaffen,“ verfeßte Duandt unwirſch. „Da 
predigt man und predigt das liebe lange Jahr, 
glaubt mwunder3 wie auf den Höhen der Auf- 

ärung zu wandeln und fchließlich ſpuckt einem 
die eigne Sirrjeaft am fräftigften in die Suppe." 

Caſpar belachte diefe Worte, was ihm von 
der Lehrerin einen giftigen Blick eintrug. 

Er begab fih dann in fein Zimmer. 

Um zwei Uhr follte er zum Unterricht kommen, 
erft von vier Uhr an brauchte er im Amt zu 
fein. Als zehn Minuten über die Zeit vergangen 
waren, trat Quandt in den Hausflur und rief. 
Es erfolgte feine Antwort. Er ging hinauf und 
überzeugte fi, daß Gafpar nicht da war. Sein 
Unwillen verwandelte ſich in Schreden, als er 
bei feiner fpionierenden Umfchau die Feuerbachſche 
Schrift auf Caſpars Tiſch Liegen ſah. 

„Alſo doch,“ murmelte ex bitter. 

Er nahm das Buch an fich, fuchte unten feine 
Frau und fagte mit tonlofer Stimme: „Sette, 
ih habe da eine furchtbare Entdeckung gemacht. 
Der Haufer hat die Schrift des Staatsrat auf 
feinem Zimmer gehabt. O die gemiffenlofen 
Fr Wer doch das wieder eingefädelt 

t!“ 


440 


Die Lehrerin zeigte wenig DVerftändnis für 
den Borfall. „Laß ihn gehen,“ oder „fag’3 ihm 
doch," oder „gib’3 ihm nur orbentlih,“ war 
meift alles, was ſie zu entgegnen wußte, wenn 
Quandt ungehaltn über Caſpar war. 

„Wann ift denn der Haufer fort?" erfundigte 
fi) Quandt bei der Magd. Diefe wußte von 
nichts. Da trat Cafpar jelber ind Zimmer und 
entſchuldigte fich höflich. 

„Wo waren Sie denn?“ forfchte der Lehrer. 

„Ih bin zu Feuerbachs gegangen und wollte 
fragen, wie es dem Staatsrat geht." 

Duandt ende feinen Verdruß hinunter und 
begnügte fih, Caſpars Fortgehen als Eigen- 
maͤchtigkeit zu tadeln. Als er mit dem Jüngling 
allein war, wandelte er eine Weile ratlos auf 
und ab. Endlich begann er: „Ich war vorhin 
auf Ihrer Kammer, Haufer. Ich habe bei dieſer 
Gelegenheit einen Fund gemacht, der mich, gelinde 
ausgedrüct, ſehr mit Bedenken erfüllt. Ich will 
mid nun über die Schrift des Herrn Staaisrats 
nicht weiter außlaffen, obwohl alle vernünftigen 
Menſchen darüber einer Meinung find; ich Halte 
mich nicht für befugt, Ihnen gegenüber einen fo 
verdienftollen Mann herunterzujegen. Auch will 
ich nicht weiter unterfuchen, wer Ihnen das Buch 
in die Hand gefpielt hat, da ich mich dabei doch 
nur der Gefahr ausfegen würde, von Ihnen an— 
gelogen zu werden. Aber mein Bedenken Bat es 
erregt, daß Sie fogar bei einem folchen Anlaß 
heimlich verfahren zu müſſen glauben. Warum 
tommen Sie nicht, wie ſich's gehört, zu mir und 
fprechen fi aus? Denken & denn, daß ich 
Sie des Vergnügens beraubt hätte, eine hübſche 
Fabel zu Iefen, die ein ehemals großer und bes 

441 


rühmter, doch nun franfer und geiftesmüder 
Mann verfaßt hat? Weiß ich denn nicht auch, 
wie Ihnen in Ihrem Innern zumute fein muß, 
wenn man ein ſolches Märchen in Ihre Ver- 
angenheit hineinfpinnt? Cine Vergangenheit, die 
Iren wahrlich beffer befannt ift al3 dem armen 
Staatsrat? Aber warum denn um Gottes willen 
die ewige Verſteckenſpielerei? Hab’ ich das um 
Sie verdient? Bin ich nicht wie ein Vater zu 
Ihnen gemejen? Sie leben in meinem Haus, 
Sie efjen an meinem Tiih, Sie genießen mein 
Vertrauen, Sie nehmen teil an unferm Wohl 
und Wehe, Tann Sie denn nichts in der Welt 
bewegen, Sie heimlicher Menſch, einmal offen 
und rückhaltlos zu fein?" 

O mwunderfam! Dem Lehrer ftanden die 
Augen voller Tränen. . Er zog die Schrift des 
Präfidenten aus der Taſche, ging zum Tiſch 
und Iegte das Büchlein mit Affekt vor 
Caſpar hin. 

Cafpar blidte den Lehrer an, als ob dieſer 
in einer weiten Entfernung ſtehe. Es war etwas 
Stiered in feinem Blick und eine volllommene 
Abwefenheit der Gedanken. Auf der Stirn: lag 
es wie geifterhaftes Gewölk, die Lippen waren 
geöffnet und zuckten. 

Wie böfe er ausfieht, dachte Duandt und 
fing an, fich zu ängftigen. „Sprechen Sie doch!" 
ſchrie er heifer. 

Caſpar jchüttelte Iangjam den Kopf. „Man 
muß Gebuli haben," fagte er wie im Traum. 
„Es wird fich was ereignen, Lehrer, pafjen 
Sie nur auf. Es wird fid) bald was ereignen, 
lauben Sie mir." Unwillkürlich ſtreckte er die 

and nach dem Lehrer aus. 
442 


Quandt kehrte ſich angewidert ab. „Ders 
ſchonen Sie mich mit Ihren Redensarten," jagte 
er kalt. „Sie find ein abfcheulicher Komödiant.“ 

Damit war das Gefpräch beendet und Duandt 
verließ das Zimmer, 

Durch den Archivdireftor Wurm erfuhr Quandt, 
daß Cafpar allerdings zu Mittag im Feuerbach⸗ 
chen Haus gemefen war, daß er aber nicht bloß 
nad) dem Befinden des Präfidenten gefragt, fon- 
dern auch mit auffallender Dringlichkeit den 
Staatsrat zu ſprechen verlangt habe. Natürlich 
habe man ihm durchaus nicht willfahren können. 
Er war noch) eine halbe Stunde lang unbeweg- 
lich am Tor ftehengeblieben, und bevor er fich 
entfernt, war er um das ganze Haus herum- 
gegangen und hatte zu den Fenftern hinaufgejchaut, 
wobei fein Gejicht ander3 als je, wild und ver- 
ftört, ausgejehen. 

Nun kam er aber den nächften Tag wieder, 
und ebenfo am dritten und vierten Tag, jedesmal 
mit demfelben dringenden Begehren, und jedesmal 
wurde er abgewiejen. Der Peifident bebürfe der 
Ruhe, wurde ihm gefagt; fein Zuftand, der an- 
fangs zu Veforgniffen Grund gegeben, beffere 
fich jedoch ftetig. 

Direktor Warm erzählte endlich dem Präfi- 
denten davon. Feuerbach befahl, daß man 
Caſpar zu ihm führen folle, wenn er das 
nächte Mal käme, und beitand troß dem Ab- 
reden Henriette auf feinem Willen. Es ver- 
ging aber die ganze Woche, ehe fi Cajpar 
wieder ſehen ließ. 

Eines Nachmittags, ſchon ziemlich jpät, er- 
ſchien er und wurde von Henriette, nicht eben 
freundlich empfangen, in das Zimmer ihres 

443 


Vater geleitet. Der Präfident ſaß im Lehn- 
ſtuhl und hatte einen Heinen Berg von Akten 
vor ſich aufgeſchichtet. Ex ſah ſehr gealtert aus, 
weiße Bartitoppeln umftanden Kinn und Wangen, 
fein Auge blickte ruhig, hatte aber einen ängit- 
lichen Schimmer, wie bei einem, dem der 
äußerft geffchtete Tod näher geweſen ift als er 
benten will, . 

„Nun, was wünfchen Sie von mir, Haufer?" 
wandte er ſich an Cafpar, der neben der Tür 
ftehengeblieben war. 

Caſpar trat heran, ftolperte vor dem Schemel, 
fiel plößlich auf die Knie und beugte in pagen- 
bafter Demut das Haupt. Auch feine Arme 
ſanken jchlaff herunter, und er verharrte mit 
ergebener und düfterer Miene in derſelben 
Stellung. . 

Feuerbach verfärbte fih. Er padte Caſpar 
bei den Haaren und bog den Kopf zurüd, aber 
die Augen Caſpars blieben geſchloſſen. „Was 
gibt’8, junger Mann?" vief der Präfident hart. 

Jetzt erhob Caſpar den fprechenden Blick. 
a hab’ es gelefen,“ fagte er. 

er Präfident ballte die Lippen aufeinander, 
und feine Augen verſchwanden unter den Brauen. 
Ein langes Schweigen trat ein. 

„Stehen Sie auf herrſchte endlich der Präfi- 
dent Caſpar an. Dieſer gehorchte. 

Feuerbach padte ihn beim Handgelent und 
fagte halb drohend, halb beſchwörend: „Nicht 
mucjen, Haufer, nicht muckſen! Stille halten! 
Stille fein! Abwarten! Iſt vorläufig nichts 
weiter zu tun.“ 

Caſpars Geficht, ftumm erregt wie daS eines 
Fiebernden, wurde ftarrer. 


444 


„Es graut Jhnen, jawohl,“ fuhr der Präft- 
dent fort, „auch mir graut, und dabei muß es 
fein Bewenden haben. Unjerm Arm find nicht 
alle Fernen und Höhen erreichbar. Wir haben 
nit Joſuas Schlachttrompeten und Oberons 
Horn. Die hochgewaltigen Koloſſe find mit 
Flegeln bewehrt und dreichen fo hageldicht, di 
Si en Schlag und Schlag fich unzerknit 
fein Lichtſtrahl zwängen Tann. Geduld, Haufer, 
und nicht mucen, nicht muckſen. Zu verjprechen 
ift nichts; eine Hoffnung bleibt noch, aber dazu 
drauch’ ich Gefundheit. Genug für jetzt!“ 

Er machte eine verabjchiedende Gefte. 

Cafpar jah den alten Mann zum erftenmal 
ar und ruhig an. Der fefte Blick mwunderte 
den geifdenten. Ei der Zaufend, dachte er, 
der Burjche hat Blut in ſich und fein Zucker⸗ 
waſſer. Schon im Fortgehen begriffen, drehte 
ſich Caſpar noch einmal um und fagte: „Erzellenz, 
ich hätte eine große Bitte.“ 

„Eine Bitte? Heraus damit!" 

Es ift mic fo läftig, daß ich bei jedem Aus- 
gehen immer auf den Invaliden warten foll. Er 
ommt oft jo fpät, daß es De nicht mehr 
ums Zegaehen lohnt. 8 Appellgericht kann 
ich doch alleine gehen und zu meinen Belannten 
auch.“ 


Hm," machte Feuerbah, „will's überlegen, 
werd’ es richten." 

ALS Cafpar das Zimmer verließ, huſchte eine 
weibliche Geftalt längs des Korridors davon, 
einer ertappten Lauſcherin geid, Es war Hen- 
riette, die, in bejtändiger Angjt um den Vater, 
nichts fo ſehr fürchtete wie die Gefahr, die aus 
deſſen Teidenfchaftlichem Anteil an dem Schick- 

445 


jal Caſpars drohte. Es mag dafür ein 
Brief Zeugnis geben, den fieran ihren in der 
Pfalz wohnenden Bruder Anfelm fchrieb und 
der die unheilfchwere Luft, die in der Um— 
gebung des Präjidenten laftete, mit jeder Beile 
jpüren ließ, 

„Der Zuftand unfer Vaters,“ fo begann 
das Schreiben, „hat fi, Gott jei Dank, zum 
Beſſern gewandt. Er vermag ſchon, auf einen 
Stock geſtützt, durchs Zimmer zu gehen und hat 
auch wieder Freude an einem guten Braten, 
wenngleich fein Appetit nicht mehr der frühere 
ift und er hin und wieder über Magenfchmerzen 
tagt. Was aber feine Stimmung im allgemeinen 
anbelangt, fo ift fie fchlechter denn je, und zwar 
hängt dies vornehmlih mit der unglüceligen 
Cafpar-Haufer-Schrift zufammen. Du weißt, welch 
viefiges Aufjehen die -Brofchüre im ganzen Land 
hervorgerufen hat. Tauſende von Stimmen haben 
fich dafür und damider erhoben, aber es ſcheint, 
daß das Damider allmählich die Oberhand be 
Balten hat. Die gelefeniten Zeitungen brachten 

xtifel, die einander auffallend ähnlich waren und 
worin das Werk als Produft eines überfpannten 
Kopfes höhniſch abgetan wurde. Nachdem zwei 
Auflagen in rafcher Folge verkauft waren, weigerte 
der Verleger plöglich unter allerlei Ausflüchten den 
Drud, und als man ſich an zwei andre wandte, 
kamen ebenfalls Abjagen. Daß dahinter die 
tückiſcheſten Umtriebe ftecden, famt und fonders 
aus ein und derjelben Quelle, kann man fich nicht 
verhehlen, und ich möchte mir die Lippen mund 
beißen, wenn ich daran denke, in was für Zus 
ftänden wir zu leben gezwungen find, daß ſelbſt 
ein Mann wie unfer Vater für eine Sache, die 


446 


fo, wie fie ift, zum Himmel fchreit, fein williges 
Ohr findet, von tätiger Hilfe ganz zu ſchweigen. 
Wahrhaftig, die Menfchen Ti träge, ftumpfe, 
dumme Tiere, fonft wäre mehr Empörung in der 
Welt. Nun magft du dir aber erft unfern Vater 
vorftellen: feine bittere Derftimmung, feinen 
Schmerz, feine Verachtung, und alles zurüd- 
gehalten, in feiner Bruſt zugefchloffen. Was 
mußte er fühlen, da fogar aus dem nächſten 
Freundeskreis fein Zeichen des Beifalls, des Dantes, 
der Liebe mehr zu ihm flog! Gewiſſe hochgeftellte 
BVerfonen hielten mit ihrem Aerger nicht zurüd, 
und bier, in dem abjcheulichen Krähmintel, hatte 
man ohnehin wenig Aufhebend von der ganzen 
Geſchichte gemacht, begreiflichermeife, denn Chriftus 
mag Rom erobern, zu Serufalem ift er nur 
ein fehäbiger Rabbi. Ich bin in großer Sorge 
für _unfern Vater. ch kenne ihn erg, um zu 
wiſſen, daß feine jetzige äußerlice uhe nur 
den inneren Sturm verbirgt. Manchmal fist 
ex ftundenlang und ftarrt auf eine einzige Stelle 
an der Wand, und wenn man ihn dann ftört, 
ſchaut er einen mit großen Augen an und lacht 
lautlos und weh. Neulich fagte er ganz plötzlich 
und mit finfterer Miene zu mir: das Rechte fei, 
wenn aus folder Urfache heraus wie in früheren 
Zeiten der ganze Mann fich ftelle, mit Haut und 
dag müſſe man ſich opfern und dürfe ſich nicht 
inter einem Wall bedruckten Papiers verſchanzen. 
Er wälzt Pläne in ſeinem Hirn, die Nachricht, 
daß im Badiſchen eine Revolution ausgebrochen 
it, hat ihn mächtig angegriffen, und in der Tat 
fcheint diefe Kataftrophe mit der Cafpar-Haufer- 
Sache in innigem Zufammenhange zu ftehen. 
Er glaubt in einem verabfchiedeten und irgend- 

447 


wo am Main lebenden Minifter einen der 
Seuptanftifter der an dem Findling begangenen 
reuel vermuten zu dürfen, und — kaum will 
mir der Sa in die Feder! — er hat die Ab- 
— den Mann aufzuſuchen, ihn zu einem Ge— 
ändni3 zu zwingen. Der Polizeileutnant Hicdel, 
der unheimliche Gefelle, dem ich nicht über den Weg 
traue, fommt num faft täglich ins Haus und hat 
lange Konferenzen mit Vater, und foviel ich bis jetzt 
den Andeutungen des Vaters entnommen habe, fol 
ihn Hickel in einigen Wochen auf die Reife begleiten. 
Könnt’ ich doch das, nur das verhindern! 
wird um diefer umfeligen Gefchichte willen den 
legten Frieden feines Alters hingeben und er wird 
nicht ausrichten, nichts, nichts und wäre er ein 
Sejeins an Beredfamteit, ein Simſon an Kraft 
ein Maflabäus an Mut. Ad, wir Feuer- 
bachs find ein gezeichnete Gefchlecht! Das Kains⸗ 
mal der jelofigkeit bedeckt unſre Stirnen. 
Sinnlos wirtjchaften wir mit unfern Kräften und 
unfern Vermögen, und wenn die Weberbleibjel 
noch gerade bis zur Kirchhofsmauer reichen, ift 
es ſchon ein Glück. Es ift uns nicht gegeben, 
einen harmlofen Spaziergang zu machen, wir 
müffen immer gleich ein Biel haben, wir können 
nicht atmen, ohne eines wichtigen Zweckes zu ge 
denken, und in der Erwartung des nächſten Tages 
entgleitet uns jede holde Gegenwart. So ift ex, 
fo bift du, fo bin ich, fo find mir alle. Ich 
babe noch nie an einer Roſe gerochen, ohne 
darüber zu trauern, daß fie morgen vermelkt fein 
wird, noch nie ein ſchönes Beitelkind erblickt, 
ohne über die Ungleichheit der Loſe zu ſpintiſieren. 
Leb wohl, Bruder, der Himmel mache meine 
ſchlimmen Ahnungen unwirklich.“ 
448 





So der Brief. Das darin zum Ausdrud 
gebrachte Mißtrauen gegen den Polizeileutnant 
wuchs fchließlich dermaßen, daß Henriette alle 
möglichen Anftrengungen machte, um den Vater 
mit Hickel zu entzweien. Es fruchtete nichts, 
aber Hicel roch Lunte und zeigte in feinem Bes 
nehmen gegen die Tochter des Präfidenten als- 
bald eine unduchdringliche, füßliche Liebens- 
würdigfeit. AL ihn Quandt auffuchte und fir 
lebhaft darüber beklagte, daß der Präſident fir 
von Haufer habe —— laſſen und deſſen 
unbewachtes und unbehindertes Herumlaufen in 
der Stadt bemilligt habe, fagte Hickel, das paſſe 
ihm nicht, er werde dem Staatsrat fchon den 
Kopf zurechtjegen. 

Er ließ fich bei Feuerbach melden und trug 
ihm feine Bedenken gegen die unerwünfchte Maß- 
regel vor. „Eure Erzellenz dürften nicht über- 
legt haben, welche Verantwortung Sie mir damit 
aufbürden,” fagte er. „Wenn ich feine Kontrolle 
habe, wo der Menfch feine Zeit hinbringt, wie 
fol ih dann für feine Sicherheit Garantie 
bieten?" 

„Larifari," knurrte Feuerbach; „ich kann einen 
erwachjenen Menfchen nicht einfperren, damit Sie 
Ihre Nachmittagsitunden mit Gemütsruhe im 
Kaſino verfigen können.“ 

Hickel beftete einen böfen Blick auf feine 
Hände, antwortete aber mit einer nicht übel ge 
fpielten Treuberzigleit; „Ich bin mir ja eines 
Laſters bervußt, das Eure an jo ftreng 
verurteilen. Immerhin, ein Plätschen muß der 
Menſch doch haben, wo er fich wärmen fann, 
fonderlich wenn er ein Hageftolz ift. Wenn Sie 
in meiner Haut ftedten, Enpellng, und ih in 

Ballermann, Cafpar Haufer 20 49 


der Ihren, würde ich milder über einen geplagten . 
Beamten denten.“ rs 


uerbach lachte. „Was ift Ihnen denn über 
die Leber gekrochen?“ fragte er gutmütig. „Haben 
Sie Liebeskummer?" Er hielt den Polizeileutnant 
für einen großen Suitier. 

„In diefem Punkt, Exzellenz, bin ich leider 
zu bartgefotten,“ entgegnete Hickel, „obgleich ein 
Anlaß dafür vorhanden wäre; feit einigen Tagen 
hat unfre Stadt die Ehre, eine ganz ausgezeich- 
nete Schönheit zu beherbergen." 

„So?“ fragte der Präfident neugierig. „Er- 
zählen Sie mal.“ Er hatte, nicht zu leugnen, 
eine Meine naive Schwäche für die Frauen. 

„Die Dame ift bei Frau von Imhoff zu 
Beſuch —" . 

Jawohl, richtig, die Baronin ſprach davon,” 
unterbrach Feuerbach. 

„Sie wohnte zuerſt im ‚Stern‘," fuhr Hickel 
fort, „ich ging ein paarmal vorüber und fah fie 

edankenvoll am Fenſter weilen, den Blick zum 
Simmel aufgefchlagen wie eine Heilige; ich blieb 
dann immer ftehen und ſchaute hinauf, aber kaum 
daß fie mich bemerkte, trat fie erſchrocken zurüd.“ 

„Na, das laſſ' ich mir gefallen, das heißt gut 
beobachten,“ nedte der Präfident, „es ift alſo 
ſchon eine Art Einverftändnis_gefchaffen.” 

„Leider nein, Erzellenz; offen geftanden, für 
galante Abenteuer ift die Zeit zu ernſt.“ 

„Das follt’ ich meinen,“ bejtätigte Feuerbach, 
und das Lächeln erlojch auf feinen Zügen. Er 
erhob fich und ſagte energifh: „Aber fie ift auch 
reif, die Zeit. Ich gedenke am 28. April auf 
zubrechen. Sie nehmen vorher Dispens vom 
Amt und ftellen fih mir zur Verfügung.“ 

450 





Hickel verbeugte fih. Er fehaute den Präfi- 
denten ermartungsvoll an, und diefer verftand 
den Blick. „Ach jo,“ ſagte er. „Ich muß Ihnen 
allerdings zugeben, daß es fein Untunliches hat, 
den Haufer Ri felbft zu überlaffen. Anderjeits 
ift es nicht billig, ihm die Welt vor der Nafe 
zuzuriegeln. Davon mag er genug haben. Durch 
Einbuße an feiwiliger Betätigung wird ein zum 
Leben gemandter Wille ebenjo empfindlich getroffen 
wie durch Ketten und Handfefjel." Er konnte 
nicht einig mit ſich werden; mie immer dem 
Volizeileutnant gegenüber fand er fih in feinen 
Entſchlüſſen beengt; es war ein Anprall von 
Kraft, Jugend, Kälte und Gemifjenlofigkeit, dem 
er dabei unterlag. 

„Aber Eure Erzellenz kennen doch die Ge 
fahren —“ wandte Side ein. 

„Solange ich in diefer Stadt die Augen offen 
abe, wird niemand wagen, ihm ein Haar zu 
ümmen, befjen ſeien Sie ganz gewiß." 
Hickel hob die Brauen hoch und betrachtete 

wieder die geftrecften Finger feiner Hand. „Und 
wenn er uns eine3 Tages über alle Berge rennt?“ 
Be er finfter. „Dem ift manches zuzutrauen. 

ſchlage vor, daß man ihn wenigftens de 
Abends und auf Spaziergängen überwachen läßt. 
Bei Veforgungen in der Stadt mag er im Not» 
fall allein bleiben, Dem alten Invaliden können 
mir den Laufpaß geben, und ich will ſtatt 
deffen meinen Burfchen abrichten. Er foll ſich 
vaalıch um fünf Uhr nachmittags im Lehrerhaus 
melden. 


‚Das wäre eine Löſung,“ fagte Feuerbach. 
„It der Mann verläplic?" u 
Treu wie Gold." 


451 


t 
— iſt ein Bäckersſohn aus dem 


—2 jei es fo." 
ickel ſchon unter der Tür war, rief il 
der Bi ident noch einmal zurüd und hörte 
ihm wegen ber bevorftehenden gemeinjamen Reife 
unbedingtes Stillſchweigen ein. Hickel verſetzte, 
einer ſolchen Mahnung bebürfe es nicht. 

Ich könnte die Reife keinesfalls allein unter- 
nehmen,“ fagte der Präfident, „ich braude die 
Hilfe eines umfichtigen Mannes. Die Gelegenheit 
muß forgfältig ausgekundſchaftet werden. Vorſicht 
& geboten. Vergeſſen Sie niemals, daß ich 

Ihnen in diefer Sache einen großen Berveis von 
Vertrauen gebe.“ 
Er fchaute den Polizeileutnant durchbohrend 

Hidel nicte mechaniſch. Ueber Feuerbachs 
Then ſenkte ſich plötlich eine Wolke ahnungs⸗ 
voller Sorge. „Gehen Sie,“ befahl er kurz. 


Die Reife wird angetreten 


Am felben Abend fuchte Hickel den Lehrer 
auf und teilte ihm mit, daß der Soldat Schild- 
fnecht von nun an den "Saufer überwachen werde. 
Cafpar war nicht daheim, und auf die Frage 
nad ihm antwortete Quandt, er fei ins Theater. 

„Schon wieder ins Theater!" rief Hickel. 

„Das dritte Mal feit vierzehn Tagen, wenn ich 
zeit gi. J 
Er hat eine große Vorliebe dafür gefaßt,“ 
. 





erwiberte Quandt; „beinahe fein ganzes Taſchen ⸗ 
geld verwendet er dazu, um Billette zu Laufen." 

„Mit dem Tafchengeld wird es, nebenbei 
bemerkt, nächftens hapern,“ fagte der Polizei⸗ 
leutnant, „der Graf hat mir diesmal nur die 
Bäte des vereinbarten Monatswechſels geſchickt. 

ffenbar wird ihm die Sache zu Eoftfi a 

Stanhope hatte von Anfang an die für Caſpar 
zu verwendenden Gelder an Hickel geſandt. 

„KRoftipielig? Dem Lord? Einem Pair der 
Krone Großbritannien? Diefe Lappalie koſt⸗ 
ſpielig Quandt riß vor Erſtaunen die Augen auf. 

„Das erzählen Sie nur keinem andern, ſonſt 
denkt man, Sie machen ſich luſtig über den 
Grafen,“ fagte die Lehrerin. Neugierig prüfend 
ſchaute fie den Polizetleutnant an. Vieſer aal- 
glatte und gejchniegelte Mann war ihr ſtets merk: 
würdig und reizvoll erfchienen. Ex brachte das 
bißchen Phantafie, das fie hatte, in Bewegung. 

„Kann nicht helfen,“ ſchloß Hickel unwirſch 
das Geſpräch, „es iſt ſo. Der Poſtzettel liegi 
bei mir zur Einſicht vor. Der Graf wird ſchon 
wiſſen, was er tut.“ 

Als Caſpar nach Hauſe kam, fragte ihn 
Quandt, wie er ſich unterhalten habe. „Gar 
nicht, e8 war foviel von Liebe in dem Stüd,“ 
antwortete er ärgerlich. „Ich kann das Zeu; 
nun einmal nicht ausftehen. Da ſchwätzen fie uni 
jammern, daß einem ganz dumm wird, und was 
ift das Ende? Es mwird geheiratet. Da will ich 
lieber mein Geld einem Bettler ſchenken.“ 

„Vorhin war der Herr Polizeileutnant bier 
und bat uns eröffnet, daß der Graf Ihre Bezüge 
erheblich gemindert hat," fagte Quandt. „Sie 
werben atto alle Ausgaben überhaupt beichränten 

458 


und den Theaterbefuch, fürchte ich, ganz aufgeben 
müfjen." 


Caſpar feste ſich zum Tiih, aß fein Abend- 
brot und fagte lange nichts. „Schade,“ Tieß er 
ſich endlich vernehmen, „übernächite Woche ift der 
‚Don Carlos‘ von Schiller. Das foll ein herr⸗ 
liches Stüd fein, das möcht’ ich noch ſehen.“ 

„Wer hat Ihnen denn mitgeteilt, daß es ein 
herrliches Stüd ift?“ fragte Quandt mit der nach⸗ 
fihtig überlegenen Miene des Fachmannes. 

„Ich hab’ Frau von Imhoff und Frau von 
Kannawurf im Theater getroffen,” erflärte Caſpar, 
„beide haben es gejagt." 

Die Lehrerin hob den Kopf: „Frau von 
Rannawurf? Wer ift denn das nun wieder?" 

„Eine Freundin von der Imhoff,“ erwiderte 
Caſpar. 

Quandt beſprach ſich mit ſeiner Frau noch 
bis Mitternacht darüber, wie man ſich in die vom 
Grafen getroffene Veränderung zu ſchicken habe. 
Es wurde vereinbart, daf Gaipar von jest ab 
den Mittagstifch für zehn und den Abendtiich für 
acht Kreuzer haben ſolle. „Wenn das jo ift, 
wie der Polizeileutnant jagt, muß ich in jedem 
Fall draufzahlen,“ meinte die Lehrerin. 

„Wir dürfen nicht vergefien, daß der Haufer 
im Effen und Trinken ie beifpiellos mäßig 
iſt,“ verfegte Quandt, deſſen Redlichkeit fich gegen 
eine unrechtmäßige Beſchränkung fträubte. 

„Macht nichts," beharrte die Frau, „ich muß 
doch immer um fo viel mehr / in der Küche haben, 
pe ein Hungriger fatt wird. Das Frieg’ ich nicht 

geſchenkt.“ 

im andern Nachmittag brachte Hickel das 
Monatsgeld. Er und Quandt traten gerade in 
454 


den Flur, als Cafpar, zum Ausgehen fertig, aus 
feinem Zimmer herunterfam. Vom Lehrer gefragt, 
wohin er gehe, antwortete er verlegen, ex wolle 
zum Uhrmacher, feine Uhr fei nicht in Ordnung, 
und er müffe fie richten lafjen. Quandt verlangte 
die Uhr zu jehen, Caſpar reichte fie ihm, der Lehrer 
hielt fie ang Ohr, bellopfte das Gehäufe, probierte, 
ob fie aufzuziehen fei, und fagte ſchließlich: „Der 
Uhr fehlt ja nicht das mindeſte.“ 

Cafpar errötete und fagte nun, er habe fih 
bloß feinen Namen auf den el geavieren laſſen 
wollen; doch er hätte ein viel gejchickterer Heuchler 
gi müffen, um feinen Worten den Stempel der 

usflucht zu nehmen. Duandt und Hickel fahen 

einander an. „Wenn Sie einen Funken Ehrgefühl 

im Leib haben, fo geftehen Sie jetzt offen, wohin 
Sie gehen wollten,“ fagte Quandt ernit. 

par befann ſich und erwiderte zögernd, et 

babe die Abficht gehabt, in die Orangerie zu gehen. 

‚an die Orangerie? Warum? Bu welchem 


„Der Blumen wegen. Es find dort im Früh- 
jahr immer jo ſchöne Blumen." 

Hickel räufperte fich bedeutſam. Er blickte 
Laſpar ſcharf an und fagte ironisch: „Ein Poet. 
Unter Blumen — laß mich feufzen...“ Dann 
nahm ex feine militärifche Miene an und erklärte 
bündig, er habe den Präſidenten beftimmt, die 
unbedacht gewährte Erlaubnis zu freiem Aus- 
gehen wieder zu faffieren. Täglich um fünf Uhr 
werde fein Burjche antreten, und in deſſen Gejell- 
{haft möge Gajpar tun, was ihm _beliebe. 

Caſpar blickte ftill auf die Gaſſe hinaus, wo 
die Frühlingsfonne lag. „Es fcheint —“ murmelte 
ex, ſtockte aber und ſah ergeben vor fich Hin. 

455 


Zw 


„Was fcheint?" fragte der Lehrer. „Nur 
heraus damit. Halbgefagtes verbrennt die Zunge.“ 
Caſpar richtete die Augen forjhend auf ihn. 
„Es ſcheint,“ beendete er den Sat, „daß beim 
ga ten doch recht behält, wer zulegt kommt.“ 
13 er der Wirkung diefer bitteren Worte inne 
ward, hätte er fie gern wieder ungeſprochen 
jemacht. Der Lehrer jchüttelte entſetzt den Kopf, 
Site pfiff leife durch Die gefpigten Lippen. Dann 
nahm er jein Notizbuch, das zwifchen zwei Knöpfen 
feines Rockes ftat, und fchrieb etwas auf. Caſpar 
beobachtete ihm mit fcheuen Blicken, es fladerte 
wie ein Blitz über jene Stirn. 

„Da werde ich den Staatsrat von diefer 
ungiemlichen Bemerkung unterrichten,“ fagte Hickel 
in amtlihem Ton. 

AS der Poligeileutnant gegangen war, bat 
Caſpar den Lehrer, er möge ihn doch ausnahma« 
weife heute fortlafjen, weil jo fchönes Wetter ſei. 
„Es tut mir leid,” entgegnete Quandt, „ich muß 
nad meiner Inſtruktion handeln." 

Der Burſche Hickels erfchien erjt gegen halb 
ſechs. Caſpar begab fich mit ihm auf den Weg 
nad dem Hofgarten, aber als fie hinfamen, war 
die Orangerie Akon geſchloſſen. Schildfnecht ſchlug 
vor, am Onolzbach entlang ſpazierenzugehen; 
Caſpar fchüttelte den Kopf. Ex ftellte fih an 
eines der offenen Fenſter des Gewächshauſes und 
blickte hinein, 

„Suchen Sie wen?" fragte Schildfnecht. 

„Sa, eine Frau wollte mich hier treffen,“ 
erwiderte Caſpar. „Macht nichts, gehen wir 
wieder heim.“ 

Sie Tehrten um; als fie auf den Schloßplas 
gelangten, ſah Caſpar Frau von Kannawurf, die 
456 





in der Mitte des Platzes ftand und einer großen 
Menge von Spaten Brofamen hinftreute. Cafpar 
blieb außerhalb der Sperlingsverfammlung ftehen; 
er fhaute zu und vergaß ganz zu grüßen. Die 
Fütterung war bald beendet, Frau von Kanna⸗ 
wurf fette den Hut wieder auf, den fie am Band 
über den Arm gehängt hatte, und jagte, fie fei 
anderthalb Stunden lang im Gewächshaus gemefen. 

„Ich bin kein freier Menſch, kann nicht halten, 
was ich verſpreche,“ antwortete Cafpar. 

Sie gingen die Promenade hinunter, dann 
links gegen die Vorftadtgärten. Schildfnecht 
marjchierte Hinterdrein ; der rotbackige Heine Menſch 
in der grünen Uniform fah drollig aus, Der 
größte von_ den breien war überhaupt Gafpar, 
enn auch Frau von Kannamurf hatte eine Find» 
liche Geitalt. 

Nachdem fie lange Zeit ſchweigend neben- 
einander her gewandert waren, fagte die junge 
Frau: „Ich bin eigentlich Ihretwegen in diefe 
Stadt gefommen, Hauſer.“ Die ein wenig fingende 
Stimme hatte einen fremden Afzent, und während 
fie fprach, pflegte fie hie und da mit den Lidern zu 
blinzeln, wie Leute tun, die ermüdete Augen haben. 

„Ja, und was wollen Sie von mir?" ver 
jeßte Caſpar mehr unbeholfen als fchroff. „Das 
haben Sie mir ſchon geftern im Theater gefagt, 
daß Sie meinetwegen gefommen find.“ 

„Das ift Ihnen nichts Neues, denken Sie. 
Aber ich will nichts von Ihnen haben, im Gegen- 
teil. Es ift ſehr ſchwer, im Gehen darüber zu 
reden. Sehen wir uns dort oben ins Gras." 

Sie ftiegen den Abhang des Nußbaumberges 
hinan und ließen ſich vor - einer Hede auf den 
Rafen nieder. Ihnen gegenüber ſank die. Sonne 

457 


die Waldfuppen der Kdroäbifhen Berge. 
En fu nn bin, Frau von Kannawin 
Ellbogen aufs Gras und fah in die vio- 
ira ar Schildfnecht, als verftehe er, dafs feine 
Gegenwart nicht ermünfcht fei, date ſich weit 
unterhalb auf einen umgeftürzten Baum gejebt. 
befie ein Heines Gut in der Schweiz,“ 
begann Frau von Kannamurf, „ich habe e8 vor 
zei Jahren gefauft, um mir in einem freien 
einen Zufluchts- und Ruheplatz zu ſchaffen. 
Ich made Ihnen den Vorſchlag, mit mir dort⸗ 
hin zu reifen. Sie können dort ganz nach Ihrem 
Wunſch leben, ohne Zeeſtzuns und ohne Gefahr. 
Nicht einmal ich ſelbſt werde Sie ſtören, 
ich kann nirgends bleiben, es treibt mich immer 
woanders bin. Das Haus liegt vollftändig ein- 
jam zmifchen hohen Bergen im Tal und an einem 
See. Hua Großartigeres läßt fich denken als 
der Anblic des ewigen Schnees, wenn man dort 
im Garten unter den Apfelbäumen ſitzt. Da es 
viel Schwierigkeiten und viel Zeit koſten würde, 
wenn ich es durchſetzen wollte, Sie vor aller Welt 
binzubringen, bin ich dafir, daß Sie mit mir 
fliehen. Sie brauchen nur ja zu jagen und alles 
tft bereit.” 

Sie hatte Cafpar jest das Geficht voll zu- 
gewandt, und diejer Tehrte den etwas geblendeten 
Blick von dem roten Sonnenball weg und ſchaute 
fe an. Er hätte von Holz fein mäffen, um 

iefem wunderſchönen Antlitz gegenüber unempfind- 
us zu bleiben, und ganz von jelbft, und als ob 

ihr gar nicht zugehört hätte, fielen die ver- 
un erten Worte von feinen Lippen: „Sie find 
aber ſehr ſchön.“ 

Frau von Kannawurf errötete. Es gelang ihr 
458 





nicht, hinter ihrem fpöttifchen Lächeln ein ſchmerz⸗ 
liches Gefühl zu verbergen. Ihr Mund, der etwas 
Kindlih- Süßes hatte, zucte beftändig, wenn fie 
ſchwieg. Caſpar geriet in Verwirrung unter ihrem 
erftaunten Blick und ſah wieder in die Sonne. 

„Sie antworten mir nicht?" fragte Frau von 
Kannawurf leife und enttäufcht. 

Caſpar fehüttelte den Kopf. „Es ift unmög- 
ich zu tun, was Sie von mir wollen," fagte er. 

„Unmöglih? warum?" Frau von Kanna⸗ 
wurf richtete ſich jäh auf. 

Gafder Ar ih dort nicht hingehöre,“ ſagte 
par jeft. 

Das junge Weib ſah ihn an. Ihr Geficht 
hatte den Ausdrud eines aufmerkfamen Kindes 
und wurde nad) und nad) fo blaß wie der Himmel 
über ihnen. „Wollen Sie ſich denn opfern?" 
fragte fie ftarr. 

„Weil ich dorthin muß, wo ich Hingehöre,“ 
fuhr Gafpar unbeirrt fort und blicte immer noch 
gegen die Stelle, wo die Sonne jest verſchwunden 
war. 


Ihn zu meinem Plan zu befehren, ift ver- 
geblih, dachte Frau von Kannamurf ſogleich; 
grober Gott, wie wahr, wie einfach alles vor ihm 
tegt: ja — nein, ſchön — häßlich; er betrachtet 
die Dinge nur von oben. Und mie fein Geftcht 
gerseniche Güte mit einer naiven und zärtlichen 

vaurigfeit vereint; man ift benommen und er- 
ftaunt, wenn man ihn anfchaut. 

„Was aber wollen Sie tun?" fragte fie 
N ——— 

„Ich weiß es noch nicht,” entgegnete er wie im 
Traum und verfolgte mit den Augen eine Wolle, 
welche die Geftalt eines laufenden Hundes hatte. 

459 


Alfo was man mir berichtet hat, ift falſch; 
er fürchtet ſich ja gar nicht, dachte das junge 
Weib. Sie erhob fih und ging ungeftüm voraus, 
den Hügel hinunter an — it vorbei, der 
zu fchlafen ſchien. Man muß ihn jchüßen, dachte 
fie weiter, er ift imftande und rennt in fein 

erderben; was er tun wird, weiß er nicht, 
natürlich, er iſt wahrfcheinlich nicht fähig, einen 
Plan zu machen, aber er wird handeln, er trägt 
eine Tat-mit fich herum und wird vor nichts mehr 
zurücichredten; es ift nicht ſchwer, ihn zu erraten, 
obwohl er ausfieht wie das Schweigen jelbit. 

Sie blieb ftehen und wartete auf Cafpar. 
„Ei, Sie können ordentlich Laufen,” fagte ex. be— 
wundernd, alg er wieder an ihrer Seite war. 

„Die friiche Luft macht mich ein bißchen wild," 
antwortete fie und holte tief Atem. 

Frau von Kannawurf und Gafpar durch 
den Torbogen des Herrieder Turmes gingen, 
ben fie plößlich neben einem leeren Schilder- 
jäuschen den Polizeileutnant. Und beide blieben 
unmillfürlich ftehen, denn der Anbli hatte 
etwas Erſchreckendes. Hickel Iehnte nämlich mit 
der Schulter gegen das Häuschen und fah aus 
wie zur Bildjäule erftarrt. Trotz der Duntel- 
heit konnte man wahrnehmen, daß fein Geficht 
afchfahl war, und es lag über feinen Zügen 
eine bleierne Düfterfeit. Hinter ihm ftand fein 
Hund, eine große graue Dogge; das Tier war 
genau fo regungslos wie fein Herr und blickte 
unverwandt an ihm empor. 

Caſpar zog grüßend den Hut; Sie bemerkte 
es nicht. Frau von Kannawurf ſah noch einmal 
zurüd und flüfterte fröſtelnd: „Wie furchtbar! 
Was für ein Mann! Was mag ihn peinigen!“ 
460 


War e3 denkbar, daß der Polizeileutnant, etwa 
durch neue Spielverlufte in vergmeiffung gebracht, 
Il jo weit vergefien konnte, daß er, wennfchon 

uch die Dunkelheit und einen Mauerwinkel ge- 
Thüst, auf offener Gaffe das Schaufpiel eines 
vom Krampf Befallenen darbot? Das iſt den 
Spielern fonft nicht eigen; fie überfchlafen ihren 
Unglücdsraufh und geben ſich faltblütig dem 
tüdifchen Zufall von neuem in die Hände. Aber 
Spieler pflegen ſtrupellos zu fein; ſetzen fie nicht 
Geld auf Karten, fo joe fie auf Seelen, und 
dabei Tann e3 ſich wohl ereignen, daß ihnen der 
Teufel eine gräßliche Schuldverfchreibung vorhält, 
die fie mit ihrem Blut unterzeichnen müffen. 

18 Hidel am Nachmittag nach Haufe ger 
tommen war, trat ihm vor der Tür feiner Woh- 
nung ein unbefannter Mann entgegen, übergab 
ihm ein verfiegeltes Schreiben und verſchwand 
wieder, ohne gejprochen zu haben. Der erfahrene 
Blick des Volizeileutnant3 Tonnte nicht im um- 
Haren darüber bleiben, daß der Menſch falſches 
San: und falichen Bart getragen hatte. Der 

rief, den Hicel fogleich öffnete, war ciffriert; 
feine Entzifferung tojtete, trogdem der Schlüffel 
befannt war, den Reſt des Nachmittags. Der 
Inhalt des Schreibens bezog ſich auf die mit dem 
Bräfidenten gemeinfchaftlich anzutretende Reife. 
— las, las und las wieder. Er hatte ſchon 
eim erſten Male verſtanden, aber er las, um 
nicht denken zu müffen. B 

Punkt fieben Uhr erhob er fi vom Schreib- 
tiich und ging zehn Minuten lang pfeifend im 
Zimmer auf und ab. Sodann öffnete er ein 
Glasſchränkchen, nahm eine Flafche mit Whisky 
heraus, die er vom Grafen Stanhope gefchenkt 

461 


erhalten hatte, füllte ein nettes filbernes Becher⸗ 
hen damit und trank es in einem Zuge leer, 
Hierauf griff er zur Vürfte, veinigte den Rod, 
danach hing er den Säbel um und um halb ai 
verließ er mit dem Hund feine Wohnung. 
ſchien gutgelaunt, denn er pfiff und fummte noch 
immer vor fih hin und — hier und da mit 
den Fingern. Doc unter dem Bogen des Her- 
rieder Turmes blieb er auf einmal ftehen und ſah 
angelegentlich zur Erde nieder. Ein durchfahren 
Handwagen ftieß ihn an der Hüfte an, deshalb 

ing er ein paar Schritte weiter bis zum Schilders 
Dane um die Ede. Dort gewahrte ihn das heim- 
kehrende Paar. 

Es würde einen ungenügenden Einblick in den 
Charakter des Polizeileutnants beweifen, wenn 
man annehmen wollte, daß diefe Sinnesverbunt. 
lung länger peut babe, als gemeinhin eine vor⸗ 
übergehende Blutleere im Kopf dauert. Um acht 
Uhr jaß er ſchon mit einigen Kollegen beim Fiſch⸗ 
effen in der „Goldenen Gabel“ und um neun 
Uhr war er im Rafino; follte diefe genaue Stunden» 
angabe etwas Verdrießliches haben, jo fei hinzu» 
® gt, daß er in der Zeit von neun bis vier 

r überhaupt feinen Glockenſchlag mehr, ſondern 
nur noch das eintönige Kniftern der Spiellarten 
vernahm. Er gewann. Auf dem Heimmeg durch) 
die grauende Frühe paffierte dann das Auffällige, 
daß er vor dem Sterngafthof in der Mitte der 
Straße Halt machte, den Säbel an das Bein 
quebte und einen langen, faugenden Blick gegen 

asjelbe Fenfter hinaufſchickte, hinter dem ex einft 
die ſchöne Fremde gejehen hatte, 

Am Morgen föef er lange, und als der 
Burfche mit dem Rapport kam, hörte er kaum 


482 


zu. Schildknecht war verpflichtet, jeden Morgen 
Bericht zu erftatten, wo er den Nachmittag oder 
Abend vorher mit Cafpar geweſen. Faft jedesmal 
hieß es von nun ab: wir haben die Frau von Kanna ⸗ 
wurf abgeholt, oder: die Frau von Kannawurf 
ift ung Degegnet und wir find fpagierengegangen, 
oder bei Hegenmwetter: wir find im Imhoffſchen 
Garten in der Laube geſeſſen. Diejes „Wir" 
— aber in Schildknechts Mund einen ſehr be 
heidenen Klang; er ſprach von Caſpar ftet8 mit 
achtungsvoller Zurückhaltung. Da er die Wahr- 
nehmung machte, daß fein Herr die Berichte über 
das regelmäßige Veifammenfein der beiden mit 
Unruhe aufnahm, wußte er in feinen Ton etwas 
wie eine Verficherung von Sarmlofigteit zu legen, 
fügte zum Beiſpiel hinzu: „fie haben viel über 
a8 Wetter geſprochen,“ oder: „fie haben ſich 
über gebildete Sachen unterhalten." Solche Einzel» 
heiten erfand er, denn in Wirklichkeit hielt er ſich 
jedesmal in einer taftoollen Entfernung hinter 

en beiden. 
Hickel begann demjungen Menfchen zu mißtrauen. 
Eines Abends erwiſchte er ihn, wie er in 
einem Winkel der Küche hodte, eine Kerze vor 
Ds und mit dem Zeigefinger buchftabierend über 
ie Beilen eines Buches glitt. Als er fich geiiet 
fand, war er wie entgeiftert, feine roten Baden 
hatten die Farbe verloren. Hickel nahm das Buch, 
und fein Geficht wurde finfter wie die Nacht, als 
er ſah, daß es die Feuerbachſche Schrift war. 
„Woher hat Er das?“ fchrie er Schildfnecht an. 
Der Burjche erwiderte, er habe e8 auf dem Bücher⸗ 
ſchrank des Herrn Leutnant gefunden. „Das ift 
eine wiberrechtliche Aneignung, ich werde Ihn 
davonjagen und difziplinieren laſſen, wenn fo 
468 


etwas nochmal vorkommt, merk' Er ſich das!" 
donnerte Hidel. 

Wahrjcheinlich hätte die erſtbeſte Seeräuber- 

efhichte die Neugier des Tölpels ebenfo gereizt, 

kr ſich Hickel ſpäter und erklärte fein Auf⸗ 
braufen für eine Unbeſonnenheit. Gleichwohl 
witterte er Gefahr, der Burſche war nicht nad 
feinem Sinn, und er bejchloß, ſich „gene zu ent 
ledigen. Ein Anlaß ergab fich bald. 

Als Schildfnecht tags darauf Gafpar abholte, 
merkte er, daß diefer verftimmt war. Er fuchte 
ihn aufzuheitern, indem er ein paar luſtige 
Schnurren aus dem Kafernenleben vorbrachte. 
Cafpar ging auf die eg ein, er fragte 
den zutraulichen Menjchen nach feiner Heimat, 
nad feinen Eltern, und Schildfnecht bemühte fich, 
auch davon möglichſt gutgelaunt zu erzählen, ob- 
ſchon es ein trauriges Kapitel für ifn war. Er 
hatte eine Stiefmutter gehabt, der Vater hatte 
ihn in früher Jugend unter fremde Leute gegeben, 
faum war er von Haufe fort, jo hatte ein Lieb- 
baber der Frau den Vater im Raufhandel er- 
fo en. Gebt jaß der Liebhaber famt der Frau 

uchthaus, und die Brüder hatten das Vers 
mögen durchgebracht. 

Schildknecht wagte zu fragen, weshalb Caſpar 
Heute feine Freundin nicht treffe. 

„Sie geht ins Theater," antwortete Gafpar. 

Warum denn er nicht gehe, fragte Schildfnecht 
weiter. 

Er habe fein Geld. 

„Kein Geld ? Wieviel braucht man denn dazu?" 

„Sechs Grofchen.“ 

„Soviel hab’ ich grad’ bei mir,“ meinte 
Schildknecht, „ich leih's Ihnen.“ 

464 


Caſpar nahm das Anerbieten mit Vergnügen 
an. €s. wurde nämlich der „Don Carlos" 
sgeben, auf den er fi ſchon lange gefreut 


das Stüd gersgte mit Ausnahme de3 verrücten 
Brauengimmers, das den Prinzen verführen will, 
Entzücten. Und mie ward ihm, als der 
—8* zum König ſprach: 
Sie haben umfonft 
Den harten Kampf mit der Natur gerungen, 
Umfonft ein großes Königlicje Leben 
Kun —— ingeopfert, 
er Menfe) ift mehr, als Sie von ihm gehalten. 
ıngen Schlummer® Bande tirb er brechen 
33 FR erfordern fein geheiligt Recht. 

Er erhob fi von feinem Pla, ftarrte gierig, 
mit funkelnden Augen auf die Bühne und enthielt 
fih nur mit Mühe eines lauten Ausrufs. Zum 
Glüd wurde die Störung in der berrichenden 
Dunkelheit nicht meiter beachtet; fein Nachbar, 
ein böfer alter Ranzleivat, zerrte ihn grob auf 
den Sitz zurüd, 

Das Ausbleiben über den Abend hatte zunächft 
ein Verhör dur, den Lehrer zur Folge. . 

eftand, im Schloßtheater geweſen zu fein. „UBor 
der haben Sie Geld?" fragte Quandt. Cafpar 
erwiberte, er habe das Billett gefchenkt bekommen. 
„Yon wem?" Gebankenlos, noch ganz gefangen 
von der Dichtung, nannte Caſpar irgendeinen 
Namen. Duandt erkundigte fih am andern Tag, 
erfuhr felbftverftändlic, Sa ihn Caſpar belogen 
hatte, und ftellte ihn zur Rede. In die Enge 
gerieben, befannte Cajpar die Wahrheit, und 
uandt machte dem Polizeileutnant Mitteilung. 

Um fünf Uhr nachmittags ertönte im Hof 
vor Caſpars Fenfter der wohlbefannte Pfiff, zwei 


Baffermann, Gafpar Haufer 30 465 


melodiſche Zriolen, mit denen ildknecht 


erhaupt wenn ich frei bin, dahier in 
den Hof kommen und meinen Pfiff pfeifen. 
Vielleicht brauchen Sie mich mal. Warum nicht, 
kann ja möglich, fein.“ 

Es lag in den Worten eine über alle Maßen 
tiefe Herzlichkeit. Caſpar richtete den aufmerk- 
famen Buͤck in SchildfnechtS freundlich Tächelndes 
Geficht und erwiderte langſam und bedächtig: 
„Es kann möglich fein, das ift wahr." 

„Zopp! Abgemacht!" rief Schildfnecht. 

Sie gingen durch den Flur nad der Straße. 
Vor dem Tor ftand ein Amtsdiener, und da er 
Caſpars anfichtig wurde, fagte er, er habe ihn 

ucht, der Herr Staatsrat ſchicke ihn her, Caſpar 
Bi fe gleich Hinfommen. Cafpar fragte, was es 
gäbe. „Der Herr Staatsrat reift um ſechs Uhr 
mit dem Herrn Polizeileutnant ab und will noch 
mit Ihnen fprechen," antwortete der Mann. 

Caſpar machte fi auf den Weg. Ein paar 
hundert Schritte vom Lehrerhaus entfernt konnte 
er nicht weiter. Ein Ziegelmagen war vor dem 
Einfahren in ein Tor mit gebrochener Radachſe 
umgeftürzt und verfperrte die Gaſſe. Caſpar 
466 


martete eine Weile, kehrte dann um und mußte 
nun durch die Würzburger Straße und über die 
Felder. Infolgedeſſen kam er zu fpät. Als er 
vor dem Feuerbachichen Garten anlangte, war 
der Präfident fchon weggefahren. Henriette und 
der Hofrat Hofmann ftanden am Gartentor und 
nahmen Caſpars triftige Entfchuldigung fmeigend 
auf. Henriette hatte verweinte Augen. Sie blidte 
lange die Gafje hinunter, mo der Wagen ver- 
ſchwunden war, dann drehte fie fih wortlos 
um und fchritt gegen das Haus. 


Schildknecht 


Der Mai brachte viel Regen. Wenn das 
Wetter es irgend erlaubte, wanderten Caſpar und 
Frau von Kannewurf anze Nachmittage lang 
durch die Umgegend. Galpar vernadhläffigte plöß- 
lich fein Amt. Auf Vorhaltungen entgegnete er: 
„Ich bin der dummen Schreiberei überdrüſſig.“ 
Was ihm von den maßgebenden Perfonen höch- 
lichſt verübelt wurde. 

Der von Hickel neuaufgenommene und für die 
Dauer feiner Abmefenheit ftreng untermiefene 
Burfche ward ges zu Anfang fo läftig, daß 
ich Frau von Kannawurf beim Hofrat Hofmann 

arüber befchwerte. Weniger aus Einficht als 
um der fhönen Frau gefällig zu fein, geftattete 
der Hofrat, daß Cafpar feine Spaziergänge mit 
ihr allein unternehme. oe entführen Sie 
mir den Haufer nicht," fagte er mit feinem fis⸗ 
Kalifch-fchlauen Lächeln zu der Sprachlofen. 
un aber machte wieder Quandt Schwierig. 
467 


keiten. „Ich beftehe auf meiner Inſtruktion,“ 
war fein eilerne® Sprüchlein. Eines Morgens 
erſchien daher Frau von Kannawurf in der Studier- 
ftube des Lehrers und ftellte ihn kühn zur Rede, 
Quandt konnte ihr nicht ins Geſicht fehen; er 
war vollfommen verdattert und wurde abwechſelnd 
rot und blaf. „Ich bin ganz zu Ihren Dienften, 
Madame," fagte er mit dem Ausdrud eines 
Menfchen, der ſich auf der Folter zu allem ent- 
fchließt, was man von ihm haben will. 

Frau von Kannawurf ſchaute fich mit gelafjener 
Neugier im Zimmer um. „Wie verhalten Ste fih 
eigentlich innerlich zu Caſpar?“ fragte fie auf 
einmal. „Lieben Sie ihn?" 

Quandt feufzte. „Ich wollte, ich könnte ihn 
jo lieben, wie feine achtungswerten Freunde 

lauben, daß er e8 verdient," antwortete er meifter- 
aft verfchnörkelt. 

Frau von Kannawurf erhob fih. „Wie fol 
ich daS verſtehen ?“ brach fie leidenſchaftlich aus, 
„ie kann man ihn nicht lieben, ihn nicht auf 
Händen tragen?" Ihr Geficht glühte, fie trat 
dicht vor den erſchrockenen Lehrer hin und jah 
ihn drohend und traurig an. 

Doch fie befänftigte fich ſchnell und ſprach 
nun von andern Dingen, um den ihr erftaunlichen 
Mann befjer kennen zu lernen. Ihr war jeder 
Menſch ein Wunder und fat alles, was Menjchen 
taten, etwas Wunderbare. Deshalb erreichte fie 
felten ein vorgefegtes Ziel. Sie vergaß fi) und 
überjchritt die Grenze, die ein oberflächlicher Ver⸗ 
kehr bedingt. 

Quandt ärgerte fich nachher gründlich über 
feine nachgiebige Haltung. Was mag denn da 
wieder dahinter fteden? grübelte er. So oft bie 


468 


Heinen Briefchen von Frau von Kannawurf an 
Cafpar kamen, öffnete er und las fie, ehe er fie 
dem Sengling gab. Er brachte nichts heraus; 
der Inhalt war zu unverfänglih. Wahrſchein⸗ 
lich verjtändigen fie fi in irgendeiner Geheim- 
fprache, dachte Quandt und ftellte gemiffe wieder⸗ 
Tehrende Phrafen zufammen in der Hoffnung, 
damit den Schlüfjel zu finden. Cafpar wehrte 
ſich gegen diefe Eingriffe, worauf Quandt ihm 
mit ungewöhnlicher Beredfamfeit das Recht der 
Grzieher auf die Rorrefpondenz ihrer Pfleglinge 
ies. 


Schließlich bat Caſpar ſeine Freundin, ihm 
nicht mehr zu ſchreiben. So unverfänglich wie 
die Briefe hätte der Lehrer auch, wenn er uns 
fihtbar die beiden hätte belaufchen fönnen, ihre 
Gefpräche gefunden. Es kam vor, daß fie ftunden- 
lang ohne zu reden nebeneinander her gingen. „Sit 
es nicht ſchön im Wald?“ fragte dann die junge 
Frau mit dem innigften Klang ihrer füßen Stimme 
und einem Kleinen, vogelhaft zwitſchernden Lachen. 
Ober fie pflücte eine Blume vom Wieſenrain 
und fragte: „It das nicht ſchön?“ 

„Es ift ſchön,“ antwortete Cafpar. 

„So _teoden, fo ernſthaft?“ 

„Daß e3 fchön ift, weiß ich noch nicht gar 
lange,“ bemerkte Caſpar tief, „das Schöne fommt 


zuletzt.“ 

machte der Frühling diesmal glücklich. 
Mit jedem Atemzug fühlte er ſich eigentümlich 
bevorzugt. Wahrhaf 8 daß e3 ſchön war, hatte 
ex bis jet noch nie bedacht. Die feiende Welt 
ſchlang fi) wie ein Kranz um ihn. Solang die 
Sonne am blauen Himmel ftand, leuchteten feine 
Augen in verwundertem Glüd. Er ift wie ein 


469 


Kind, das man nach langer Krankheit zum erſten⸗ 
mal in den Garten führt, fagte fih Frau von 
Kannawurf. Ihr gütiges Her; ph höher _bei 
dem Gedanken, daß fie Diefeicht nicht ohne Ein- 
fluß auf diefe Stimmung war. Bismweilen wand 
fie junges Waldlaub um feinen Hut, und dann 
jah er ftolz aus. Aber er war doch immer in 
ſich gekehrt und immer fo- verhalten, als ringe 
er mit einem großen Entiehluß. 

Eines Tages kamen fie überein, daß er fie 
einfach Clara und fie ihn Cafpar nennen ſolle. 
Sie amüfierte fich über die ee Ge 
fegtheit, mit der er ſeinerſeits diefen Vertrag ein- 
hielt. Er beluftigte fie überhaupt oft, befonders 
wenn er ihr fleine Moralpredigten hielt oder 
etwas, was er frauenzimmerlich nannte, geärgert 
tadelte. Er gemahnte fie auch, nicht gar fo viel 
herumzulaufen und ihre Gefundheit zu fchonen. 
Nun ſah e3 ja manchmal wirklich aus, als habe 
fie die Abficht, fich zu ermüden und zu erjchöpfen. 
Eine ihrer Leidenſchaften beftand darin, auf Zürme 
zu fteigen; auf dem Turm der Johanniskirche 
wohnte ein alter Glöcner, ein weiſer Mann in 
feiner Art, durch lange Einfamkeit beſchaulich und 
janft geworden; fie Pheute nicht bie Anftvengung 
der vielen hundert Stufen und lief oft zweimal 
täglich zu dem Alten hinauf, plauderte mit ihm 
wie mit einem Freund oder lehnte über die eiferne 
Brüftung der ſchmalen Galerie und ſchaute über 
das Land in die Fernen. Der Glöckner hatte fie 
auch jo ins Herz gejchloffen, daß er zu gemiffen 
Abendſtunden nah der Richtung des — 
ſchlößchens verabredete Zeichen mit feiner La- 
terne gab. 

Jeden Tag machte fie neue Neifepläne, denn 
470 





Kane ſich nicht in der Heinen Stadt. Caſpar 
te, warum fie denn fo fortdränge, aber darüber 
mußte fie im Grund feinen Aufihluß zu geben. 
„I darf nicht wurzeln,“ agte fie, „ich werde 
en ), wenn ich zufrieden bin, 

au 


Sie doch gar nicht. Allein wie im Kerker, das 
ift e8 eben, nur nicht mehr drunten, fondern 
droben —“ Sie konnte nicht meiterreden, er 
legte die eine Hand auf ihren Mund und die 
andre auf den feinen. Dabei glänzten feine 
Augen beinahe vol Haß. Plöglich dachte er mit 
einer Art freubiger Beſturzung: ob meine Mutter 
jo ähnlich iſt wie diefe da ? hatte ein durftiges 

a7ı 


und brennendes Gefühl auf den Lippen, und es 
war vo A in ee monot ihn n, miberte 
Pr 9 er mit wunderlichem 
Tnilen ya, jernte 


mutigfte aller Menfchen, dachte Pr e — nicht 
einmal, wieviel Mut er beſitzt; was mi 
doc fo fehr, wenn ich mit ihm rede oder ſchweige? 
Warum — — 2 mic) fo, wenn ich ihn ſich feibft 
überlafjen 
Den ging ärts und brauchte zu einem 
Weg von wenig ge als taufend Schritten über 
eine Dei Stunde. Im Weiten Ieuchteten Blitze 
ae ie fen Bett begeb 
Caſpar hatte zeitig zu Bett begeben. 
Es mochte ungefähr vier Uhr morgens fein, da 
würde er durch einen lauten Auf aufgewedt. Es 
war auf der Straße außerhalb des Hofs, und 
die Stimme rief: „Quandt! Quandt!” 
Caſpar, noch im Halbſchlaf, glaubte die Stimme 
ae zu erkennen. Es wurde irgendwo ein 
ter geöffnet, der von der Straße jagte etwas, 
har) Caſpar nicht verſtehen konnte, ball Hernach 
ing eine Tür im Haus. Es blieb dann eine 
jeile ruhig. Caſpar legte ſich auf die Seite, 
um weiterzufchlafen, da pochte es an feine Zimmer- 
tür. „Was gibt's?“ fragte Gafpar. 
„Machen Sie auf, Haufer!“ antwortete 
Quandts Stimme. 
Cafpar fprang aus dem Bett und fchob den 
Riegel zurüd, Quandt, vollftändig angefleidet, 


. 472 





trat auf die Schwelle. Sein Geficht fah im 
Morgengrauen grünlich fahl aus 

„Der Präfident ift tot," ja te er. 

In einem f&windeinden jefühl ſetzte fich 
Caſpar auf den Bettrand. 

„SH bin im Begriff biraugshen, wenn Sie 
ſich anfchließen wollen, machen Sie raſch,“ fuhr 
Quandt murmelnd fort. 

Gafpar ſchlüpfte in die Kleider; er war wie 


Fr Minuten darauf ſchritt er neben Quandt 
auf dem Weg zur Heiligenkreuzgaſſe. Im Garten 
vor dem Feuerbachſchen Haus ftanden Leute, die 
halb verſchlafen, Halb beftürzt ausſahen. Ein 
Bäcerjunge ſaß auf der Treppe und heulte in 
feine weiße Söhlize hinein. „Glauben Sie, daß 
man mad, oben darf?“ fragte Quandt den 
Schreiber Dillmann, der mit ingrimmigem Geficht 
und tief in die Stirn gebrüctem Hut auf und 


ab gi 

St; Leiche ift ja noch gar nicht in der 
Stadt, " fagte ein alter Artilleriehauptmann, an 
deſſen Schnurrbart fleine Regentropfen hingen. 

„Das. weiß ich,“ entgegnete Quandt, und er 
folgte etwas beflommen Gajpar, der ins Haus 
eingetreten war. Im unteren Stock ftanden alle 
Türen offen. In ber Küche faßen zwei Mägde 
vor einem Haufen Holz, das zu Scheiten gefchlagen 
war. Gie ſchienen angftvoll zu Horchen. Caſpar 
und Quandt vernahmen eine durchdringende 
Stimme, die fih näherte. Sie fahen alsbald eine 
meibliche Geftalt mit hochgehobenen Armen durch 
eines der Zimmer laufen. Sie fchrie vor ſich 
bin wie raſend. 

„Die Unglücliche,” fagte Quandt verjtört. 

478 


—— * — —— 


fie haben ihn mir vergiftet, ihn 


mar rot. Sie ftürmte in ein andres Fl 
da3 loſe Nachtgewand flatterte hinter ihr, und 
immer gellender ſchallte ihr —S Sie haben 
ihn vergiftet! vergiftet! ver; u 

Caſpar hatte keinen — Ruhepunkt für 
ſein e das Napolgonbild, dem er gegen 
überftand. Es kam ihm vor, als müfje der ge- 
malte Kaifer ſchon müde fein von der unab- 
läffigen majeftätifchen Drehung, die fein Hals 
machte. 

Laſſen Sie uns gehen, ‚Haufer,“ fagte Quandt, 
„es ift zuviel des Jammers. 

Im Flur ſtand der Regierungspräfident Mieg 
im Geipräch mit Hidel. Der — 
berichtete alle Einzelheiten der Kataſtro— opbe. 
Ochſenfurt am Main habe Seine Crzellenz in 
Unmohlfein geflagt und_fei zu Bett gegangen; 
in der Nacht habe er gefebert, der gerujene rat 
habe ihm zur Ader gelafjen und habe behaupte, 
die Seantheit ſei bebeutungslos. Am Morgen 
darauf fei plöglic) das Ende eingetreten. 

„Und welcher —A— ſchrieb der Arzt ſeinen 
Tod zu?“ erkundigte Herr von Mieg und 
verbeugte ſich Pe da Frau von Imhoff 
und Frau von Kannamurf an feine Seite traten. 
Frau von Imhoff weinte, 

474 


Hickel zudte die Achfeln. „Er glaubte an 
Selhmäge,! erwiberte er. 

ingeachtet des frühen Morgens war fchon 
die ganze Stadt auf den Beinen. Ueber dem 


Sch des Appellgerichts wehten zwei ſchwarze 


nen. 

Gafpar blieb den Tag über in feinem Zimmer. 
Niemand ftörte ihn. Er lag auf dem Sofa, die 
gände unterm Kopf, und ftarrte in bie Luft. 

pät nachmittags befam er Hunger und ging in 
die Wohnftube. Duandt war nicht da, Die 
Lehrerin fagte: „Um vier Uhr ift die Leiche an- 
gefommen; Sie jollten eigentlich hingehen, Haufer, 
und ihn nochmal fehen, bevor er begraben wird.” 
a var würgte an einem Stüd Brot und 
nickte. 
„Sehen Sie, wie recht ich damals hatte mit 
den Totenmweibern,“ fuhr die Lehrerin geſchwätzig 
fort, „aber die Männer denen immer, alles geht 
jo, wie ſie's ausrechnen." 

Der Flur des Feuerbachſchen Haufes war 
angefült von Menſchen. Caſpar drüdte fich in 
einen Winkel und ftand eine Weile unbeachtet. 
Er zitterte an allen Gliedern. Der eigentümliche 
Geruch, der im Haufe herrfchte, benahm ihm die 
Sinne. Da fpürte er ſich bei der Hand gepackt. 
Auffchauend, erkannte er Frau von Imhof. Sie 
gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie führte 
ihn in ein großes Zimmer, in defjen Mitte der 
Tote aufgebahrt war. Drei Söhne Feuerbach 
faßen zu Häupten des Vaters, Henriette lag 
regungslos über die Leiche Hingeworfen. Am 
Fenſter ftanden der Hofrat Hofmann und der 
Archivdirektor Wurm. Sonft war niemand im 
Zimmer. 

475 


Das Geficht des Toten war gelb mie eine 
itrone. Um die Winkel des fcharfen, verbifienen 
tundes hatten ſich geche Mustfelfnoten gebildet. 

Das fchiefergraue Kopfhaar glich einem kurz⸗ 

geichorenen Tierfell. Es war nichts mehr von 
röße in diefen Zügen, nur zähneknirſchender 

Schmerz und eine unmenfchliche, eifige Angft. 

Caſpar hatte noch nie einen Toten gejehen. 
Sein Geficht befam einen qualvoll- wißbegierigen 
Ausdrud, die Augäpfel drehten fich in die Winkel, 
und mit allen zehn Fingern umkrampfte er Kinn 
und Mund. Sein ganzes Herz löſte ſich in 
Tränen auf. 

Henriette Feuerbach erhob den Kopf von der 
Bahre, und als fie den Züngling jah, verzerrten 
fich ihre Züge gräßlich. „Deinetwegen hat er 
fterben müfjen!" fchrie fie mit einer Stimme, vor 
der alle erbebten. . 

Cafpar öffnete die Lippen. Weit nach vorn 

jebeugt, ftarrte er das halbwahnfinnige Weib an. 
Frmeimat klopfte er ſich mit der Hand gegen bie 
Bruſt — er jchien zu lachen —, plöblich gab er 
einen dumpfen Laut von ſich und ftürzte ohn- 
mächtig zu Boden. . 

Ale waren erſtarrt. Die Söhne des. Präfi- 
denten waren aufgeftanden und fchauten befümmert 
auf den am Boden liegenden Jüngling. Direktor 
Wurm eilte, als er 6 gefeht hatte, zur Tür, 
wahrſcheinlich um einen Arzt zu rufen. Der be- 
Im Hofrat hielt ihn zurück und meinte, man 
olle fein unnötiges Aufjehen machen. Frau von 
Imhoff kniete neben Caſpar und befeuchtete feine 
Schläfe mit ihrem Riechwaſſer. Ex kam langſam 
zu fi), doch dauerte es eine Viertelftunde, bis er 
fich erheben und gehen konnte, Frau von Imhoff 
476 





begleitete ihn hinaus. Damit fie fich nicht durch 
die Menge der Befucher im Korridor zu drängen 
brauchten, führte fie ihn über eine Hintertreppe 
in den Garten und anerbot fih, ihn nad, Haus 
zu bringen. „Nein," ſagte er unnatürlich leife, 
„ich will allein gehen.“ Er ftedtte feine Naſe in 
die Luft und fehnüffelte unbewußt. Sein Puls 
ing jo ſchnell, daß die Adern am Hals förmlich 
en, 


gen. 

Er entwand fich dem Tiebreichen Zufpruch der 
jungen $rau und ging mit trägen Schritten gegen 
die Hauptallee de3 Gartens. Vor dem Portal 
ftieß er auf den Poligeileutnant. „Nun, Haufer!" 
redete ihn Hickel an. 

Caſpar blieb ftehen. 

„Zur Trauer haben Sie gegründeten Anlaß," 
fagte Hickel mit unheilvoller Betonung, „denn wer 
wird eines Feuerbach gewichtiges Fürwort erſetzen ? 

Caſpar antwortete nichts und ſchaute gleich 
ſam durch den Polizeileutnant hindurch, als ob 
er aus Glas wäre. 

„Guten Abend,“ ertönte da eine glodenhelle 
Stimme, die Caſpar wunderfam berührte. Frau 
von Rannawurf trat an feine Seite. Hidels 
Gefiht wurde um eine Schattierung bleicher. 
„Gnädigite Frau,” fagte er mit einer Galanterie, 
die ſich krampfhaft ausnahm, „darf ich die Ge 
legenheit benußen, Ihnen meine ungemefjene Ver- 
ehrung zu Füßen zu legen?" 

Frau‘von Kannamurf trat unmwillkürlich einen 
Schritt zurück und fah erjchroden aus. 

Der Polizeileutnant hatte die Miene eines 
Menſchen, der ſich in ein tiefes Waſſer ftürzt. 
Er beugte fich nieder, und ehe Frau von Kanna- 
wurf es hindern Tonnte, padte er ihre Hand und 


477 


drückte einen Ruß darauf, und zwar mit den 
nadten Zähnen; als er fich aufrichtete, waren 
feine Lippen noch getrennt. Ohne eine Gilbe 
weiter zu fprechen, eilte er davon. 

Mit weiten Augen blicte ihm Frau von 
Kannawurf nah. „Grauenhaft ift mir der 
Menſch,“ flüfterte fie. Cafpar blieb völlig teil- 
nahmlos. Frau von Kannamwurf begleitete ihn 
ſchweigend nach Haufe. 

Als er in feinem Zimmer war, befamen feine 
Augen einen geifterhaften Glanz und flammten 
in der Dämmerung wie zwei Glühmwürmer. Er 
ftellte fih in die Mitte de3 Raumes, und vom 
Kopf bis zu den Füßen zitternd, fagte er in be» 
ſchwörendem Ton folgendes: 

Kenn’ ich dich, jo nenn’ ich dich. Biſt du 
die Mutter, jo höre mich. Ich geh’ zu dir. ch 
muß zu dir. Einen Boien ſchick ich dir. Bift 
du die Mutter, fo frag’ ich dich: warum das 
lange Warten? Keine Furcht hab’ ich mehr, 
und die Not ift groß. Cafpar Haufer heißen 
fie mi, aber du nennt mich anders. Zu dir 
muß ‚ich gehn ins Schloß. Der Bote ift treu, 
Gott wird ihn führen und die Sonne ihm leuchten. 
Sprich zu ihm, gib mir Kunde durch ihn.“ 

Plötzlich ergriff ihn eine fonderbare Ruhe. 
Er jegte ſich an den Tiſch, nahm einen Bogen 
gapier und fchrieb, ohne daß ihn die Dunkelheit 
Hinderte, dieſelben Worte nieder. Darauf faltete 
er ben Bogen zufammen, und da er kein Wachs 
befaß, zündete er die Kerze an, ließ das Unfchlitt 
aufs Papier träufeln und drüdte das Giegel 
darauf, das ein Pferd vorftellte mit der Legende: 
Stolz, doch janft. 

Es verging eine halbe Stunde; er faß regungs⸗ 
478 





los da und lächelte mit gefchlofienen Augen. 
Bisweilen ſchien es, als bete er, denn feine Lippen 
Demegten ſich ſuchend Er dachte an Schild⸗ 
knecht. Er wünſchte ihn herbei mit aller Kraft 
feiner Seele. J 

Und als ob dieſem Wünfchen die Macht 
innegewohnt hätte, Wirklichkeit zu erzeugen, ſchallie 
auf einmal vom Hof herauf der mwohllautende 
Triolenpfiff. Cafpar ging zum Fenfter und 
öffnete; es war Schildfnecht. „Ich komm' hin- 
unter,” rief ihm Caſpar zu. 

Unten angelangt, Bade er Schilöfnecht beim 
Rockärmel und zog ihn durch das Pförtchen auf 
die einfame Gafje. Dort forderte er ihn ftumm 
auf, ihm weiter zu folgen. Bisweilen hielt er 
zögernd inne und fpähte umher. Sie kamen 
beim Häus des Zolleinnehmers vorüber und 
auf einen Wiejenplan. Auf dem Rain ftand ein 
Bauernmagen. Cafpar ſetzie ſich auf die Deichfel 
und sn childfnecht neben fih. Er näherte 
feinen Nund dem Ohr des Soldaten und fagte: 
deg brauch' ich Sie.“ 

Schildknecht nickte. 
„Es gebt um alles," fuhr Caſpar fort. 

Sit! knecht nice, 

„Da iſt ein Brief," fagte Cafpar, „ben ſoll 
meine Mutter bekommen.“ 

Schildfnecht nickte wieder, diesmal voll An- 
dacht. „Weiß „son,“ antwortete er, „die Fürftin 
Stephanie — 

„Woher wifjen Sie’3?" hauchte Caſpar betroffen. 

„Hab’8 geleſen. Hab's in dem Buch vom 
Staatsrat gelejen." 

„Und weißt auch, wo du Hingehen mußt, 
Schildknecht 2" 

479 


Weiß es. Iſt ja unfer Land." 
„Und it ihr den Brief geben ?" 


"Und KZ beſt bei deiner Seligkeit, du 
ihr (eiber den Brief gibft? muß“ Sing ehſt? 
In die Kirche, wenn ſie dort iſt? —— 
— een fie auf der PR führt?“ 

mölt fein Schwören nötig. Ih tu's, und 
wenn’3 Knollen regnet.“ 

„Wenn ich's tun wollte, Schilöfnecht, ich käm' 
nicht bis ins nächfte Dorf. Sie würden mic 
le und einſperren. “ 


rg it du's anftellen ?" 

" Bauernkleider anziehen, bei Tag im Wald 
ſchlafen bei Nacht laufen.“ 

„Und wo den Brief verftedten ?" 

„Unter der Sohle, im Strumpf." 

„Und warn kaunſt du fort?" 

„Wann's beliebt. Morgen, heute, gleich, 
wenn’3 beliebt. ft zwar Fahnenflucht, macht 
aber nichts." 

„Wenn’s gelingt, u es nichts. Haft du 
Geld?" 

„Nicht einen Taler. t aber nichts." 

„Nein. Geld ift ae rauchſt viel Geld. 
Geh mit mir, ich hole Geld." 

Caſpar fprang empor und ſchritt in der 
Richtung des Fmhoffichlößchens voran. Am Tor 
gebot Cafpar dem Soldaten zu warten. Er ging 
hinein und fagte zum Pförtner, er müſſe Frau 
von Kannawurf jprechen. Es mar etwas in 
feinem Ausfehen, was dem alten Hausmeifter 
Beine machte. Frau von Kannamurf kam ihm 
alsbald entgegen. Sie führte ihn über eine Stiege 
480 


in einen Meinen Saal, ber nicht erleuchtet war. 
Ein wandhoher Spiegel gligerte im Mondfchein. 
Der Bförtner machte Licht und entfernte fich 
zögernd. 

„Fragen Sie mich nichts,“ ſagte Caſpar mit 
fliegendem Atem zu der Freundin, die keines 
Wortes mächtig war, „ich brauche zehn Dukaten. 
Geben Sie mir zehn Dukaten.“ 

Sie blickte ihn ängftlich an. „Warten Sie," 
antwortete fie leife und ging hinaus. 

Es dünfte Caſpar eine Emigteit, bis fie 
wiederkam. Er ftand am Fenſter und ftrich bes 
ftändig mit der einen Hand über feine Wange, 
Still, wie fie gegangen, kehrte Frau von Kanna- 
wurf zurüd und reichte ihm eine Kleine Rolle. 
Er nahm ihre Hand und ftammelte etwas. Ihr 
Geficht zucte über und über, ihre Augen ſchwam⸗— 
men wie im Nebel. Verſtand fie ihn? Sie 
mußte wohl ahnen; doc fie fragte nicht. Ein 
teübes Lächeln irrte um ihre Lippen, al fie 
Cafpar hinausbegleitete. Sie war ergreifend ſchoͤn 
in dieſem Augenblid. 

Schildknecht lehnte am Mauerpfeiler des Tors 
und gudte ernfthaft in den Mond. Sie gingen 
zufammen ftadtwärtd; nad ein paar hundert 
Schritten blieb Caſpar ftehen und gab Scild- 
knecht den Brief und die Geldrolle. Schildfnecht 
fagte feine Silbe. Ex blies ein wenig die Baden 
auf und ſah harmlos aus. 

Vor dem Kronacher Buck meinte Schildfnecht, 
e3 ſei befjer, wenn man fie nicht mehr beieinander 
fähe. Ein Händedrud, und fie jhieden. Dann 
drehte fich Schildfnecht noch einmal um und rief 
anfcheinend geöbtig: „Auf Wiederjehen!" 

Cafpar blieb noch lange wie verhert an dem» 


Baffermann, Gafpar Haufer 31 481 


felben Fleck ftehen. Er hatte Luft, fich ins Gras 
zu werfen und die Arme in die Erde zu wühlen, 
für die er plöglich Dankbarkeit empfand. 

Spät kam er heim, blieb aber glüsklichermeife 
ungefragt, denn Quandt war einer wichtigen 
Belpredu ung halber zum Hofrat Hofmann be 
fohlen. Er brachte eine Neuigkeit mit. „Höre 
nur, Jette," fagte er, „der Staatsrat hat fich 
während der letzten Tage, die er mit dem Polizei⸗ 
leutnant beifammen war, von ber Sade des 

auſer gänzlich Iosgefagt. Er ſoll jogar mit bem 
lan umgegangen In die Denkſchrift für den 
auſer öffentlich al einen Sertum zu erklären." 
„Wer hat’3 gejagt?" fragte die Rehrerin. 

„Der Polizeileutnant; e3 heißt auch allgemein 
fo. Der Hofrat ift derjelben Anficht.” 

„Es heißt aber auch, daß der Staatsrat ver- 
si worden ift." 

(ch was, dummes Ge “ fuhr Quandt 
auf." ‚hl dich nur, du dergleichen ver⸗ 
lauten läßt. Der Wale eutnant bat gedroht, 
daß er die Berbreiter von fo gefährlichen 
Nedensarten verhaften laſſen und unerbittlich 
u Bra ziehen werde. Was macht der 

aufer? 

Ich glaube, er ift ſchon ſchlafen gegangen. 
Nachmittags war er bei mir in der Küche und 
beffagte ſich über die vielen Fliegen in feinem 
Zimmer. 
fe a HER er jebt feine Sorgen? Das 

t ihm ähnlic 

„sa. Ich jagte ‚ihm, er foll fie doch hinaus» 
jagen. Das tw ich ja, antwortete er, aber dann 
kommen immer gleich zwanzig wieder herein.” 

„Bwanzig?" ſagte Quandt mißbilligend. 
482 


„Wiefo zwanzig? Das ift doch nur eine wills 
Türliche Zahl?" 
m begab fich zur Ruhe. 
Am Tage von Feuerbachs Begräbnis trafen 
Daumer und Herr von Tucher aus Nürnberg 


ein und ftiegen im „Stern“ ab. Daumer fuchte 


alsbald Caſpar auf. Cafpar war gun feinen 
erſten Beſchützer frei und offen, und doch hatte 
Daumer den quälenden Eindrud, als fehe und 
höre ihn Cafpar gar nicht. Er fand ihn blaß, 
größer geworden, ſchweigſam wie ftet8 und von 
einer wunderlichen Heiterkeit; ja, ganz zugefchloffen, 
ganz eingefponnen in diefe Heiterkeit, die, ſeltſam 
wirkend, dunkle Schatten um ihn warf. 

In einem Brief an feine Schwefter fchrieb 
Daumer unter anderm: „ch müßte lügen, wenn 
ich behaupten wollte, es mache mir Freude, den 
Züngling zu fehen. Nein, es ift mir fchmerzlich, 
ihn zu fehen, und fragſt du mic) nad) dem Grund, 
jo muß ich wie ein dummer Schüler antworten: 
Ich weiß nicht. Uebrigens lebt er hier ganz in 
Frieden und wird wohl, trübjelig zu melden, 
all feine Tage hindurch als ein obſturer Gerichts- 
ſchreiber oder dergleichen figurieren." 

Während Herr von Tucher am felben Nach- 
mittag wieder abreifle, und zwar ohne fih um 
Cafpar zu kümmern, blieb Daumer noch drei 
Tage in der Stadt, da er Gejchäfte bei der Re— 

ierung hatte. Beim Begräbnis des Präfidenten 
A er Cafpar nicht; er erfuhr fpäter, daß Frau 
von Imhoff feine Anweſenheit zu verhindern ge- 
wußt hatte. Er machte bald die kränkende Ent⸗ 
deckung, daß Cafpar ihm geflifientlich auswich. 
Eine inde vor feiner Abreife fprach er mit 
dem Lehrer Quandi darüber. 

483 


wor 


„Kann ein Mann von Ihrer Einficht um eine 
Erllärung dieſes Betragens verlegen fein?" fagte 
Auanbt erftaunt. „ES ift doch ganz Mar, daß 

t jet, wo er eine immer größer werbende 
Slerepiltigteit um fi entfiehe fieht und die 
Folgen davon täglich empfinden muß, daß er 
jest durch den Anblick feiner Nürnberger Freunde 
in Berlegenheit gerät und fie nad Kräften zu 
meiden fucht. Denn dort ftand er ja in floribus 
und glaubte wunder was für Rofinen in feinem 
Kuchen ſteckten. Wir aber, verehrter Herr Pro- 
feffor, find ihm dicht auf der Spur; es wird 
nicht mehr Lange dauern und Sie werden mert⸗ 
würdige Nachrichten hören." 

Quandt fah befümmert aus, und feine Worte 
klangen fanatiih. Ob danach Daumer gerade 
mit —A Bruſt die Fahrt zum heimat⸗ 

ezirk angetreten habe, fteht zu bezweifeln. 
Bi hätte er wie in jener ftillen Nacht, als er 
ſpar im Geift und leibhaftig an fich gedrüdt, 
klagend über die fommerlichen Felder gerufen: 
Menſch, 0 Menſch! Aber dabei hatte es fein 
Bewenden nicht. Ein zwangvolles Grübeln be» 
mädhtigte fich des verwirrten Mannes; in feinem 
Hirn gährte es wie fchlechtes Gewiffen, und 
Ian fam, den Entjchluß zur Tat und Sühne 
end, zur viel zu fpäten Tat und Sühne, 
entftand. eine erſte Ahnung der Wahrheit. 


Ein unterbrochenes Spiel 


Im Verlauf der folgenden Wochen gab 
in den Salons und Bürgerftuben der Stabt 
484 


allerlei fonderliche Dinge zu munkeln. Ohne daß 
das Gerede beftimmte Formen annahm, wollte 
man doc) in dem plößlichen Tod des Präfidenten 
Feuerbad auch weiterhin nichts fehen als die 
Frucht einer myfteriöfen Verſchwörung. Eine 
weifbare Aeußerung fiel natürlich nicht; die 
lüfterer nahmen fi in acht. Sehr insgeheim 
raunten fie fich zu, auch Lord ram ſei an 
diefer Verſchwörung beteiligt, und nach und nad) 
tauchte das beftimmte Gerücht auf, der Lord gehe 
damit um, ‚einen Kriminalprozeß gegen Sahhar 
Haufer anzuftengen, und habe fich zu dem Ende 
ſchon der Hilfe eines bedeutenden Rechtögelehrten 
verfichert. Auf einmal bekannte fich fein Menſch 
mehr zu dem früheren Enthufiasmus für den 
Grafen, das großartige Andenken, das er hinter- 
lafjen, war verwifcht, und in einigen maß- 
jebenden Familien, mo er der Abgott gemejen, 
{mus man bereit3 mit ängftlicher VBorficht feinen 

amen aus, 

Cafpars Freunde wurden beforgt. Frau von 
Imhoff fuchte eines Tages den Polizeileutnant 
auf und erfundigte fi, was von dem Gemuntel 
zu halten fei. it fühlem Bedauern erwiderte 
Fe daß die öffentliche Meinung in diefem 

unft nicht fehlgehe. „Das Blatt hat fich eben 
ewendet,“ jagte er; „Seine Lordſchaft ſieht in 

par Haufer jet nur einen gewöhnlichen 
Schwindler.“ 

Darauf verließ Frau von Imhoff den Polizei⸗ 

Ieutnant, ohne ein Wort zu entgegnen und ohne 
ruß. 

& die fanften Seelen, höhnte Hickel für fich, 

das Graufen faßt fie an. 

Hickel hatte eine neue Wohnung auf der 

485 


Ge gemietet und lebte wie ein großer 
. Woher mag er die Mittel haben? fragten 
die Leute. Er hat Glück am Kartentiich, fagten 
einige; andre behaupteten im Gegenteil, daß er 
fortwährend große Summen verliere. 

Auch damit war der Gefprächsftoff nicht er- 
ſchöpft. Eine andre Seltfamkeit: Im Sommer 
war aus der Infanteriefaferne ein Soldat auf 
unaufgeflärte Zeile verſchwunden. Zu andrer 
Zeit wäre ein folches Ereignis vielleicht unbe 
achtet geblieben. est befteten ſich auch daran 

lei Fabeleien. Es wurde gejagt, jener Sol 
dat, der den Haufer beauffichtigt, habe von ge- 
wiſſen Geheimniffen Kenntnis erhalten und jei 
beijeitegefchafft worden. Man wurde furchtfam; 
man verſchloß bei Nacht forgfältig die Haus- 
türen. Es war nicht mehr geheuer in der guten, 
ftillen Stadt. Wer fremden Namens war, wurde 
beargmwöhnt. 

elbft Frau von Kannamurf erfuhr folchen 
Argwohn, mwenngleih um fie etwas Unantaft- 
bares war, das den verleumderifchen Worten die 
Kraft raubte. Dennoch) fiel e8 auf, daß fie fich 
des Umgangs mit ihresgleichen entzog und fich 
anftatt defien häufig unter Menſchen der niederiten 
Volksklaſſe herumtrieb. Sie verbrachte viele 
Stunden in geiftlofem Geipräh mit YBauern- 
weibern und Arbeiterfrauen, ftieg zu ihrem Türmer 
hinauf ober gefellte ſich zu den Kindern, bie von 
der Schule heimkehrten. Da gefchah es denn oft, 
daß fie zum maßlofen Staunen der begegnenden 
Bürger einen lärmenden Schwarm von Knaben 
und Mädchen um fich verfammelt hatte und in 
ihrer Mitte lächelnd durch die Gaſſen 309. 

Wahrjcheinlich ift fie eine Demagogin, hieß 
486 


e3. Gefinnungstüchtige Eltern verboten ihren 
Sprößlingen, fih an den flandalöfen Aufzügen 
zu beteiligen. Nein Zweifel, auch die Behörde 
fand da8 Treiben anftößig, denn einmal am 
Abend hatte man beobachtet, daß der Polizei- 
leutnant vor dem Imhoffſchlößchen Poften faßte; 
zwei Stunden lang war er in der Dunkelheit 
unbemweglich unter_einem Baum geftanden. 

Es ift wahr, Frau von Kannawurf war eine 
auffallende Perſon und benahm fich auffallend. 
Aber ihre kurioſen ‚Banblungen hatten einen An- 
ſchein von Leichtigkeit, ja Läffigkeit. Sie hatte 
eine Art von Lächeln, in welchem fich felbftver- 

effene Hingebung an irgendein Gedachtes, Ge— 

Fahttes mit der Verzweiflung über bie eigne Un- 
zulänglichkeit aufs vührendfte mifchten. Sie lebte 
an allem und in allem, ftarb mit jedem Seufzer 
gleihfam dahin, flog mit jeder Freude in eine 
entrückte Region. 

Eines Abends im Auguft trat fie ins Zimmer 
ihrer Freundin, warf % wie atemlo8 vom 
Laufen auf das Sofa und war lange nicht zu 
fprechen fähig. j . 

„Was haft du nur wieder getrieben, Clara?" 
fagte Frau von Imhoff vorwurfsvoll; „das heißt 
nicht leben, das heißt fich verbrennen.” 

„Es hilft nichts," murmelte das junge Weib 
erſchlafft, „ich muß reiſen.“ 

Frau von Imhoff ſchüttelte liebenswürdig 
tadelnd den Kopf. Dieſe Worte hatte ſie ſeit drei 
Monaten des öfteren vernommen. „Bi8 zu unſerm 
Familienfeſt wirft du doch noch bleiben, Clara," 
erwiderte jie herzlich. 

Wieviel Willenskraft gehört doch manchmal 
dazu, einen Entſchluß nicht auszuführen, jagte 

487 


Clara von Kannamurf zu fich jelbft; und nad 
einer Paufe de3 Schweigens wandte fte das Ge 
ficht der Freundin entgegen und fragte: „Warum, 
Bettine, kannſt du Caſpar nicht zu dir ins Haus 
nehmen? Er fol und darf nicht länger beim 
Lehrer Quandt bleiben, Dieſes Haus zu betreten 
ift mir unmöglich. Seine Lage ift ſchauderhaft, 
Bettine. Wozu jage ich dir das! Du weißt es, 
ihr wißt e3 ja alle; ihr bedauert «8 alle, aber 
feiner rührt nur den Finger. Keiner, feiner hat 
den Mut zu tun, was er getan zu haben wünfcht, 
wenn das gefchehen ift, was er im ftillen fürchtet." 

Frau von Imhoff blickte betreten auf ihre 
Handarbeit. „Ich bin nicht glücklich und nicht 
unglücklich genug, um mit Aufopferung de3 eignen 
einem fremden Schiefal mich hinzugeben,“ ver- 
ſetzte ſie endlich. 

Clara ftüßte den Kopf in die Hand. „Ihr 
left ein ſchönes Buch, ihr feht ein ergreifendes 
Theaterſtück und ſeid erfchättert von dieſen nur 
eingebildeten Leiden," fuhr fie bewegt und ein- 
deinglich fort. „Ein trauriges Lied kann dir 
Tränen entloden, Bettine; erinnere dich nur, wie 
du weinteſt, al3 Fräulein von Stichaner neulich 
den ‚Wanderer‘ von Schubert fang. Bei den 
Worten: Dort, wo du nicht bift, fh das Glüd, 
haft du gemeint, Du fonnteft eine Nacht lang 
nicht fehlafen, als man uns erzählte, drüben im 
Weinberge habe eine Mutter ihr eignes Kind 
verhungern laffen. Warum ift e8 immer nur 
das Unmirkliche oder das Ferne, woran ihr eure 
Zeitnahme verfchwendet? Warum immer nur 

dem Wort, dem Klang, dem Bild glauben und 
nicht dem lebendigen Menfchen, deffen Not band, 
greiflich ift? verfteh’ es nicht, verſteh' es 
488 


nicht, das quält mich, daran, ja daran ver- 
brenn’ ich." 

Das leiſe, melodijche Stimmchen verging in 
einem Hauden. Frau von Imhoff jtüßte den 
Kopf in die Hand und fchwieg lange. Dann 
erhob fie fich, feste fich neben Clara, ftreichelte 
die Stirn der Freundin und fagte: „Sprich mal 
mit um Er foll zu und kommen. Ich will es 
durcesen. 

lara umſchlang fie mit beiden Armen und 
küßte fie danfbar. Aber nicht mit freiem Herzen 
hatte Frau von Imhoff diefen Entſchluß gefaßt, 
und fie atmete jeltfam etlei auf, ihr at 
d fie atmete feltfam erleichtert auf, als m 
andern Tag Frau von Kannamurf die Eröffnung 
machte, Caſpar habe fich unbegreiflicherweife hart- 
nädig gegen den Vorſchlag gefträubt, das Haus 
des Lehrer zu verlafjen. Zuerſt habe er feinen 
Grund für feine Weigerung nennen wollen, als 
er aber Claras Betrübnis wahrgenommen, habe 
er gejagt: „Dort hat man mich hingebracht, und 
dort will ich bleiben. Ich will nicht, daß es 
beißt, beim Lehrer Quandt hat er's nicht gut 
enug gehabt, da haben ihn aus Mitleid die 
Smupens genommen. Ich hab’ ja mein Brot und 
mein Bett, mehr brauch” ich nicht, und das Bett 
tft das Allerbefte, was ich auf der Welt kennen 
gelernt habe, alles andre ift ſchlecht.“ 

Da fruchtete Feine Einrede mehr. „Schließ- 
Lich könnt ihr ja mit mir anftellen, was ihr wollt," 
fügte er Hinzu, „aber daß ich freimillig Dingehen 
fol, das wird nicht gefchehen. Wozu auch? Lang 
kann's nimmer dauern.” 

So war ihm denn das Wort entjchläpft. 
War deshalb der tiefe Glanz in feinen Augen? 
Blickte er deshalb mit ſtummer Spannung die 

489 


Straßen entlang, wenn er morgens zum Appell 
gericht ging? War’3 deswegen, daß er funden- 
ang am Senfte lehnte und binüberfpähte gegen 
die Chaufjee? Daß er gierig aufhorchte, wenn 
er irgendwo zwei Menjchen leiſe miteinander 
“eben ſah? Daß er ah dabei fein mußte, 
venn der Poftwagen anlam, und daß er dem 
Sriefboten ausfragte, ob er nichts für ihn habe? 

Dem rätjelhaften Wefen tat die Zeit feinen 
Thbruh. Es lag Frau von Kannamurf daran, 
hn einer Gebundenheit zu entreißen, die ihn einem 
nnigen Verhältnis w umgebenden Welt ent- 
iehen und jede frohe Betätigung zwangvoll machen 
außte. Sie ker immer auf aibfendung, und 
mes Familienfeſt, von dem ihre Freundin Bettine 
eiprochen, gab Gelegenheit, damit Cafpar wieder 
inmal aus fich heraus und einer anteilvollen 
Belt gegenübertrete. 

Die Feier wurde.von Herrn von Imhoff zu 
Ehren der Goldenen Hochzeit feiner Eltern ver- 
nſtaltet und follte am zwölften September ftatt- 
inden. Der junge Doktor Lang, ein Freund des 
dauſes, hatte zu der Gelegenheit ein ſinnreiches 
Jühnenfpiel in Berfen verfaßt, welches von einigen 
damen und Herren der Gejellfchaft ausgeführt 
verden ſollte. Bei den Proben, die im oberen 
5aal des Schlofjes abgehalten wurden, zeigte 
8 ſich, daß einer der jungen Leute, der die Rolle 
ines jtummen Schäfer darjtellte, feines plumpen 
zenehmens halber unfähig war, den Part zu 
ewünſchter Wirkung zu bringen. Da hatte Frau 
on Rannamurf, die jelbjt mitjpielte, den Einfall, 
iefe Ei Kafpar zu übertragen. Die Anregung 

ifall. 

Caſpar willigte ein. Da er eine Perfon vor 
% 


zuftellen hatte, die nicht? zu fprechen brauchte, 
glaubte er fich der Aufgabe Teichterdings gewachſen, 
die feiner alten Neigung für das Theater entgegen- 
kam. Er ging fleißig zu den Proben, und wenn⸗ 
gleich das phrajenhafte Wefen des Stüds nicht 
eben fein Gefallen erwedtte, fo erfreute er fich 
doch an der wechjelvollen Bewegung innerhalb 
eines abgemefjenen Vorgangs. 

Das harmlofe Spiel hatte einen berechneten 
und für das Publikum unschwer durchſchaubaren 
Bezug auf ein ſchon weit zurüdliegendes Er— 
eignis in der Familie der Imhoffs. Einer der 
Brüder des Barons hatte fich zu Anfang der 
wanziger Jahre an burfchenfchaftlichen Umtrieben 
eteiligt und war, von dem feierlichen Bannfluch 
des Vater3 und nebenbei von den politifchen Bes 
hörden verfolgt, nad) Amerika entflohen. Nach 
erlafjener Amneftie war er zurüdgefehrt, hatte 
vor dem YFamilienhaupt alle freiheitlichen Ideen 
abgeſchworen, und von da ab hatte ihm die 
väterliche Gnade wieder geleuchtet. 

Diefe etwas philifteöje Begebenheit Hatte den 
Bauspoeten zu feiner Dichtung begeiftert. Ein 

önig gibt einem ihm befuchenden Freund und 
Waffengenoffen ein Gaftmahl. Ein zweiter Poly- 
frates, brüftet er ſich bei diefem Anlaß mit 
feiner Macht, dem Frieden feiner Länder, den 
Tugenden feiner Untertanen. Die Höflinge an 
der Tafel beftärken ihn voll fchmeichlerischen Eifers 
in feinem Glüdsmahn, nur der Gaftfreund wagt 
das kühne Wort, daß er auf dem Purpur des 
He 3 doch einen Mabkel bemerke. Der Köni 
fühlt fich geteoffen und läßt jenen hart an, u 
weiß er zu verhindern, daß der Freund weiter- 
fpreche, da feine Gemahlin Zeichen eines großen 

. 491 


Seelenjchmerges von fich gibt. Unterdeſſen ziehen 
im Burghof Schnitter und Schnitterinnen mit 
Lachen und munteren Zwiegefprächen auf, und 
Mufit begleitet die Gemtefeir, Plötzlich entfteht 
sin Stillihmweigen; die Geigen, die Aufe, das 
elächter verftummen, und auf die Frage des 
znigs wird mitgeteilt, der ſchwarze Schäfer, 
r ſich ſchon feit Menfchengedenken nicht im 
nd babe fehen laſſen, fei unter daS Volk ge- 
sten. Der Gaftfreund begehrt zu wiſſen, was 
r eine Bewandinis e3 mit diefem Schäfer habe, 
id man antwortet ihm, der Wunderbare befite 
? Gabe, durch feinen bloßen Anblict bei jedem 
tenfchen die Erinnerung an deſſen ftärkjte Schuld 
achzurufen, Schuldloje aber den Gegenjtand 
nggehegter Sehnfucht fchauen zu laſſen. Zur 
sftätigung deſſen hört man auch aus der Mitte 
5 Volkes Weinen und allerlei Elagende — 
er König befiehlt, daß fich der Fremdling en 
me, doch die Königin, unterftüßt von ben — 
3 Gaftfreunds und der Höflinge, fleht den Ge- 
ahl an, ihn heraufkommen zu lafjen. Der König 
gt fich, und alsbald betritt der ftumme Schäfer 
: Szene. Er ſchaut den König an; der ver- 
ut jein Gefiht; er ſchaut die Königin an, und 
eſe, dunkel seen, ergeht fich in einem län- 
ven Selbſtgeſpräch, aus welchem deutlich wird, 
ß ihr erftgeborener Sohn wegen einer un- 
fonnen angeftifteten Verſchwörung vom Vater 
eftoßen wurde und feitdem verfchollen ift. Mit 
‚Sgebreiteten Armen, unwiderſtehlich gezogen, 
ht fie auf den Schäfer zu, und fiehe, es ift 
rt reuig zurückgefehrte Prinz. Man erkennt, 
an umarmt ihn, das Eis des königlichen Her- 
13 ſchmilzt, und alles Löft fich in Wonne auf. 
2 


Caſpar benahm ſich nicht ungeſchickt. Im 
Lauf der Vorbereitungen fand er von ſich ſelbſt 
aus einen heftigen Antrieb zu der Rolle und fühlte 
ſich fo hinein, als ob fein alltägliches Leben von 
ihm abgelöft wäre. Aehnlich verhielt es fich mit 
Frau von Kannamurf, die die Königin machte; 
auch fie gab ſich ihrer Aufgabe mit einem Ernſt 
hin, der das Spielhafte des Vorgangs undien- 
lich vertiefte und daher die Rollen ihrer Partner 
ſchattenhaft werden ließ. So webten die beiden 
gleihfam in einer eignen Welt für ſich. 

3 mar ein fehr warmer Septembertag, als 
gegen ſechs Uhr abends bie geladenen Säle er⸗ 
ſchienen, im ganzen etwa fünfzig Perſonen, die 
Frauen in großer Pracht, unmäßig aufgedonnert, 
die Männer in Fräden und gefticten Uniformen. 
Das Podium fir die Komödie nahm die Schmal- 
wand des Saales völlig ein, Kuliſſen und Requi⸗ 
fiten, auch eine Anzahl Statiften waren vom 
Diveltor des Schloßtheaters zur Verfügung ge- 
ftellt worden. Die Tafel befand fih in einem 
Nebenfaal; dort hatte fich auch die Mufitfapelle 
eingefunden, denn nad) dem Eſſen follte getanzt 
werden. ‚ 

Um fieben Uhr ertönte ein Glockenzeichen, 
alles begab ſich auf die Plätze. Der Vorhang 
rollte auf, und der König begann feine überheb- 
liche Tirade. Der Gaftfreund, vom Verfaſſer 
felbjt gemimt, hielt reſpektvollen Widerpart, dann 
kam das beitere Broifchenfpiel auf dem Hof, und 
das Folgende nahm feinen ruhigen Fortgang. 
Nun trat Caſpar auf. Das ſchwarze Gewand 
kleidete ihn_teefflich und hob die Bläſſe feines 
Gefichts. Sein Erſcheinen auf der Bühne hatte 

, eine unmittelbare Wirkung. Das Huften und 


493 





Näufpern hörte auf; ZTotenftille entftand. Wie 
er den König und die Königin anblidte, wie er 
auf fie zufchritt und traumhaft lächelte, das war 
ergreifend. Einige fahen ihn fogar zittern und 
beobachteten, daß fich feine Finger wie im Krampf 
in die Hand fehlofien. Nun der Monofog der 
Königin; auch dies Hang anders, als Schaufpieler 
ſonſt fich geben, fie tritt an den Jüngling heran, 
fie legt die Arme um feinen Hals... 

diefem Augenblid eilte ein Mann aus 
dem Hintergrund de3 Saales bis vor die Rampe 
und rief ein gellendes: „Halt!” Die Spieler auf 
der Szene fuhren erfchroden zufammen, die Zur 
ſchauer erhoben fi, und eine allgemeine Unruhe 
entftand. „Wer ift da8? Wer wagt das? Was 
gibt’3?" wurde Durcheinander gerufen; man drängte 
nad, vorn, die Frauen fehrien ängitid, Stühle 
wurden umgemworfen, und nur mit Mühe gelang 
es dem Hausheren, eine gefährliche Panik zu ver- 


ten. 

Indes ftand der Urheber der Verwirrung 
noch immer unbemweglich vor dem Podium. Es 
war Hidel. Bleich und feindfelig jtierte er auf 
die Szene und fchien nicht zu gemahren außer 
Cafpar und Frau von Kannawurf, die, an« 
einander gedrängt, furchtfam in den verdunfelten 
Saal fchauten. Der erſte, der fih an Hickel 
wandte, war der junge Doktor Lang. In feinem 
gantafiete ſtüm des „Gaftfreundes” trat er an den 

and der Ejtrade und fragte wütend nach dem 
— einer fo unverantwortlichen Handlungs« 
weiſe. 

Der Polizeileutnant holte tief Atem und ſagte 
laut mit einer gläſernen Stimme: „Ich muß die 
hochgeehrte Verſammlung taufendmal um Ent 
494 


ſchuldigung bitten, und da ich felbft zu den hier 
Geladenen gehöre, wird meine Verficherung viel: 
leicht Glauben finden, daß mir ein folcher Schritt 
nicht leicht geworden ift. Aber ich Tann nicht 
dulden, daß der are ein frivole3 Amiüfement 
zu einer Stunde fortjegt, wo ich die Nachricht 
von einem fchredlichen Unglüd_ erfahren babe, 
das ihn wie feinen andern trifft und für fein 
een Leben von folgenjchwerer Bedeutung 
ein wird." 

Finſtere, neugierige und unmillige Augen 
blietten auf den SBolizeileutnant. Der Doltor 
Lang entgegnete zornig: „Unfinn! Eine Teufelei 
ift e8, weiter nichts. Was auch immer vorgefallen 
it, jo kann weder ich noch irgend jemand von 
den Anmejenden Ihnen das Necht zu einer fo 
groben Eigenmãchtigkeit zugeftehen. Iſt es ſchlimm, 
was Sie zu melden haben, ſo war um ſo mehr 
Grund zu warten, unſer Spiel war ja am Ende. 
* an Wahnfinn, ein Mißbrauch der Gaft- 

em * 

„Jawohl, der Doktor hat recht," riefen 
einige Stimmen. 

Hickel ſenkte den Kopf und legte die Hand 
vor die Stirn. 

„Darf ich wiffen, worum e3 fich handelt?" 
trat nun Here von Imhoff dazwiſchen. 

Hickel raffte fi empor und ermiderte dumpf: 
„Graf Stanhope hat feinem Leben freiwillig ein 
Ende gemacht. 

Es entftand eine lange Stille. Faft alle 
blickten auf Caſpar, der gegen eine Soffitte lehnte 
und langjam die 


U loß. 
jat ſich een fragte Herr von 


495 





„Nein," antwortete Hidel, „er hat ſich er- 


hängt." 

Hafcgetnde Laute des Schreckens ließen fich 
vernehmen. Herr von Imhoff biß ſich auf die 
— „Weib man Näheres?" fuhr er fort zu 

agen. 

„Nein. Das heißt, ich habe nur eine all- 
gemein gehaltene Nachricht von feinem Jäger. 

war bei einem Freund, dem Grafen von Bel- 
gabe, an der normannijhen Küfte zu Beſuch. 

m Morgen des vierten September fand man 
ihn im Turmzimmer des Schlofjes an einer 
Seidenfchnur hängend als Leiche." 

Herr von Imhoff ſah zu Boden. Als er 
wieder aufblicte, firierte er den Polizeileutnant 
fremd und fagte: „Es tut uns allen von Herzen 
leid. Ich glaube, daß niemand in diefem Saal 
ift, der dem unglüdlichen Mann nit ein 
lebendiges Andenken bewahren wird. Nichts: 
deftomeniger, Herr Zeutnant, bleiben Sie mir 
Ihres jonderbaren Vorgehens halber Rechenſchaft 
ſchuldig.“ 

Zae verbeugte ſich ſtumm. 

ie Hausfrau und mit ihr einige andre 
Damen waren bemüht, die Gäſte zu beruhigen, 
aber während die Diener die Kerzen des großen 
Kronleuchters anzündeten, meldete man rau von 
Imhoff, daß ihre Schwiegermutter, die Jubilarin, 
infolge der außgeftandenen Aufregung unmohl 
jeworden fei und ſich auf ihr Zimmer begeben 
abe. Sie folgte fogleich nah. Dies war ein 
Signal zu allgemeinem Aufbruch. Der Regierung» 
präfident und der Generaltommiffär mit ihren 
Frauen verließen zuerft den Saal, und ſchließlich 
blieben nur ein paar intime Freunde des Barons 
496 


um diefen verfammelt und nahmen in gebrücter 
Stimmung an der weitläufigen Tafel Platz. 

„Ich hab’ e8 immer geahnt, daß uns der 
gute Lord noch einmal eine grimmige Ueber 
raſchung bereiten würde," fagte Herr von Imhoff. 

„Was wird aber nun mit dem armen Haufer 
geſchehen ?“ meinte einer aus der Gejellichaft. 

Man ſprach allerlei Vermutungen darüber 
aus; die Unterhaltung fam in Fluß, und wie oft 
ein unglüdliche8 Ereignis dazu dient, die Phan- 
tafie der entfernt Beteiligten mohltätig anzuregen, 
fo aud hier. Man gab fi bis über Mitter- 
nacht lebhaften Geſpraͤchen hin. 

Caſpar date fih, während des raſchen Auf- 
bruchs der Gäfte in dem Keinen Ankleidezimmer 
für die Schaufpieler verſteckt. Die jungen Leute 
entieigten I} eilfertig ihres Koftüms und ver⸗ 
ſchwanden. Nach einer Weile kam ein Diener, 
um die Lichter auszulöfchen, und diefer entdeckte 
Cafpar. Als Cafpar gegen die Treppe zu ging, 
hörte er Schritte hinter fich, und Frau von Kannas 
wurf trat an feine Seite. Sie fragte ihn, ob er 
nad Haufe wolle, und er bejahte. „EB regnet," 
ker fie unten beim Tor und ftrectte die Hand 

inaus. Sie wartete ein wenig, um den Regen 

vorübergehen zu Iafjen, aber es wurde ein heftiger 
Guß daraus, und dad Waſſer Enatterte lärmend 
auf die Bäume und den ausgedörrten Boden. 
Ein kaltfeuchter Luftſtrom ſchlug ihnen entgegen, 
und Frau von Kannawurf forderte Cafpar auf, 
mit ihr ind Zimmer zu gehen, es könne allzu» 
lang dauern. Er folgte ftill. 

Oben machte fie Licht, dann ftand_fie und 
fah verjonnen in die Flamme. Ihre Schultern 
bebten fröftlich. Cafpar hatte fi auf das Sofa 


Wafjermann, Caſpar Haufer 32 497 





eſetzt. Allgemach fpürte er eine jo große Müdig- 
ker daß me örmlich hintüberzog, un — er mußte 
ſich auf den Rüden legen. Da trat Clara zu 
ihm und ergriff feine Hand, die er ihr jedoch 
haftig wieder entriß. Er machte die Augen zu, 
und einen Moment lang war fein Geſicht voll- 
tommen leblos. Frau von Kannawurf ftieß einen 
matten Angſtruf aus u fiel neben ihm auf die 
Knie. Dann rief fie ihre Ke ofe und bat 
um Wafler; fie ſchenkte ein Glas voll und reichte 
es ihm zu temten. Ex trank ein paar Schlüde. 
„Was ift dir, Caſpar?“ flüfterte fie, und zum 
erflenmal Duz te fie J — lächelte dankbar. 
‚Du bift De eine weiter,“ — ® 4 
und berührte mit den ‚Fingern 
über ihn gebeugten — a Sort 
Schweſter Hatte in feinem Mund einen eignen 
Klang; es tönte wie ein nie zuvor gefprochenes 
ort, 

Clara ſchmiegte fi) an feine Seite; ihr war, 
als müßte fie ihn wärmen, er aber rückte ängft- 
lich fort, da wollte fie fich wieder erheben, doch 
betaftete er mit der Hand ihren Arm und ſah 
fie an mit einem bittenden Ausdrud von Schmerz 
und Liebe. „Clara,“ fagte er, und fie glaubte 
vergeben zu ‚follen oder zu einem andern Leben 

grmachen zu "miüffen, denn die en 
liche Art, wie er diefen Namen ausſprach, hatte 
etwas Ueberivbifch ches. 

Es kam nun fo, daß Stunde auf Stunde 
verging und fie immer nebeneinander lagen, 
ftumm, ftumm, regungslos und über und über 
sitternd beide. Sie ſireckte die Hand nad ihm 
aus, und der Atem feines Mundes floß im die 
al gleich dem ihren. 


AUS es von der Schloßuhr zwölf hab 
ſchauerte Clara zuſammen. Sie ſich 
ſagte mit tiefer Beteuerung vor ſich Al „Nie, 
nie, nie, nie.” Dann fchritt fie zum Fenſter und 
öffnete ‘8. Der Negen hatte längft aufgehört, 
das Firmament war Har, der ganze Sternen- 
Simmel lag funfelnd vor ihr da. Ihre volle 
ruft drängte den unbelannten Welten ent 
—T denn von dieſer, auf der ſie lebte, war 
ſie ſatt. 

Sie ſagte zu Caſpar, er könne die Nacht im 
Schloß verbleiben, aber er entgegnete, das wolle 
er nicht. Sie ging dann hinaus, um zu fehen, 
ob Frau von Imhoff noch wach ſei. Sie jchritt 
am Speifefaal vorbei, wo die Herren noch beim 
Wein My und laut vedeten. Die Baronin 
hatte fich gleichfalls and nicht zur Ruhe begeben. 
Clara teile Fl mit, daß Cafpar bis jeßt bei ihr 
gegen fei. Frau von Imhoff nidte, ſah aber 

ie Freundin eiwas verlegen und verwundert an. 
„Ih werde morgen fen meinen Koffer paden 
und reifen," fagte Clara leife und mit einem Aus» 
druck unmiderruflicher Beftimmtheit, der ihr bis⸗ 
weilen eigen war und ihre Tindlichen Züge felt- 
ſam hart und leidend machte. Frau von off 
erhob fich überrafcht und trat nahe an bie 
Freumdin heran. — fielen ſie einander in 
die Arme, und Clara ſch luchzte. 

ß verſtanden ſich; es war nicht nötig zu 
ſprechen. 

As ſich Clara losriß, ſagte fie, fie werde 
Caſpar noch in die Stadt begleiten. „Das Fannft 
du unmöglich tun," wandte Frau von Imhoff 
ein, „oder ich werde dir wenigſtens ben Diener 
mitgeben.“ 


499 





„Bitte, nicht," antwortete Clara lächelnd, „du 
weißt doch, daß ich feine Furcht habe. Es bes 
irrt mich auch, wenn man meinethalben ängftlich 
iſt. Die Nacht tut mir gut, und ich freue mich 
auf den einfamen Rückweg." 

Eine Viertelftunde fpäter wanderte fie mit 
Cafpar über die noch feuchte Straße gegen bie 
Stadt. Sie redeten auch jest nichts, und vor 
dem Lehrerhaus reichten fie einander die Hände. 
„est gehſt du mwahrjcheinlih fort von mir, 
Clara,” jagte da plöhlich Cafpar und fchaute fie 
mit einem verfchleierten Blick an. 

Sie war ebenfo erjtaunt mie bemegt über 
diefe Worte, die ein tiefes DVorgefühl verrieten. 
Wie ſchön find feine Augen, dachte fie, fie find 
hellbraun wie die eines Rehs; gleicht er Doch auch 
fonft einem Reh, das traurigeverwundert im 
dunkeln Wald fteht. 

Ja, ich gehe," erwiderte fie endlich. 

„Und warum denn? Bei dir war mir wohl.“ 

Ich komme wieder," verficherte fie mit einer 
gezwungenen Herzlichkeit, hinter der ein Auffchrei 
erftarb. „Ich fomme wieder. Wir werden uns 
ſchreiben. Zu Weihnachten komm’ ich wieder.“ 

„Sch komme wieder; das hab’ ich ſchon ein- 
mal gehört," jagte Caſpar bitter. „Bis Weih- 
nachten ift lang. Und fchreiben tu’ ich nicht. Was 
hat man vom Schreiben, ift ja doch nur Papier. 
Geh nur, leb wohl.” 

„Es kann nicht anders fein,“ fläfterte Clara, 
und ihr Blick fuchte die Sterne. „Sieh, Cafpar, 
dort oben ift das Ewige. Wir wollen es nicht 
vergeffen wie alle andern. Wir wollen nichts 
vergejjen. Ach, vergefien, vergeffen, darin liegt 
alle Bosheit der Welt. Uns gehören die Sterne, 
500 


Gafpar, und wenn du binauffchauft, bin ich 
ei dir." 

Cafpar fehüttelte den Kopf. „Leb wohl,” 
fagte er matt. 

Im Erdgefchoß wurde ein Fenſter geöffnet, 
und das mit einer Bettmütze gefrönte Haupt des 
Lehrers wurde fihtbar, um gleich darauf wieder 
u verfchwinden. Es war eine jchmeigende 

ahnung. 

ch will Bettine bitten, daß fie ihn tägli 
befucht, überlegte Clara, während fie allein dur 
die öben Gaſſen ging; ic} bring’ ihm Unheil, wenn 
ich bleibe, ein Abgrund gähnt mir enige en, wie 
ex fürchterlicher nicht zu denken ift. weiter ! 
Wie war mir doch, als er mich Schwefter nannte! 
Die himmlische Seligkeit pochte mir an die Bruſt. 
So hätt’ ich einen verlorenen Bruder gefunden, 
und mehr noch; .aber, gerechter Gott, mehr darf 
es nicht fein. Ihn anzutaften! Seinen Schlummer 
ftören! O verbrecherifche Lippen, denen ein Ruß 
nichts bedeutet! Häit' ich's getan, ih müßte 
feine Mörberin heißen, was Tann ich Befjeres 
tun als fliehen? Ein guter Genius wird ihn 
hüten; vermeffen, wollt’ ich durch meine arm⸗ 
jelige Gegenwart ihn behütet glauben; ein fo 
edles Ding kann nicht zugrunde gehen, meil ſich 
zwei Augen von ihm menden. 

Diefe wirre und aufgeregte Gebantenfolge 
entfchleiert ein rettungslos verſtricktes Gemüt, das 
in feiner Schwärmerei den Euefätu eines Opfers 
faßt, verzagt, geblendet Dur, en Anblid von fo 
viel Schickſal und in feiner Betrübnis irregehend 
an den Kreuzwegen der Liebe. 

Den Blick beftändig zum Himmel gerichtet, 
und zwar auf das ſchöne Sternbild des Wagens, 


das wie ein erftarrter Zadenblig im Dunkelblauen 
ſchwamm, bemerkte Clara nicht, daß am Portal 
des Schloffes eine Geftalt lehnte. Sie prallte 
erſt zurüd, als ihre die mächtige Perfon 
den Weg verftellte. O Gott, der ©rauenvolle, 
dachte fie. 

Hickel, denn diefer war es, verneigte fich 
gegen die beftürzie Frau. Bergebung, Madame, 

ergebung," murmelte er. „Und nicht nur für 
diefen Ueberfall, auch für das andre. Gie find 
zu ſchön, Madame. Wenn Sie die Gnade hätten, 
zu erwägen, daß Ihre fublime Schönheit mit 
meinem Kopf umfpringt wie ein mutwilliger Knabe 
mit feinem Kreifel, wenn Sie in Betracht. ziehen 
wollten, daß es ſelbſt beim Komödieſpiel einen 
Punkt gibt, wo die verrüct gewordene Phantafie 
den Gegenftand ihrer Binfee befudelt und das 
Bildliche eiferfüchtig für ein Wirkliches hält, jo 
würden Sie vielleicht Ihren zerfnirfchten Diener 
durch ein tröftliches Wort beglücken." 

Ales dies Hang einfältig, formlos, geziert, 
höhniſch und verzweifelt. Er jchien die Worte 
zmifchen den Zähnen zu zerquetfchen, und man 
onnte ihm anjehen, daß er fih nur mit An- 
ftrengung fteif und ruhig hielt. 

Cara trat einen Schritt zurüd, verjchränfte 
die Arme, drücte fie feft gegen die Bruft und 
fagte befehlend: „Lafien Sie mich vorbei!" 

„Madame, von Ihrem Mund hängt zur 
Stunde mandes ab," fuhr Hickel fort und hob 
den Arm mit der ftarren Bewegung einer Wachs⸗ 
figur. „Ich bin nie ein Bettler geweſen. Hier 
fteh’ ich und bettle. Derleugnen Sie nicht Ihr 
Geficht, das einen Engel glauben läßt!" 

Er trat zur Seite, wortlos ging Clara an 
6502 





ihm vorüber. Sie läutete, und der Pförtner, der 
auf fie gewartet, öffnete ſogleich. AS fie drinnen 
war, ſpuͤrte fie eine entfeßliche Uebelleit. In ihrem 
Hirn war etwas wie gerrfien. Auf der Treppe 
ftodtte fie; ihr war, al3 müffe fie umkehren und 
den furchtbaren Mann noch einmal anreden. 

Als Cafpar am nächſten Nachmittag zu Im— 
hoffs kam, wurde ihm mitgeteilt, dab Seas von 
Kannawurf ſchon abgereift fei. Er bat Frau 
von Imhoff, fie möchte ihm Claras Bild zeigen, 
das er feit dem erſten Gejellfchaftsabend, dem er 
im Schlofje beigemohnt, nicht mehr gejehen. Die 
Baronin führte ihn in ein Erkergemach, wo das 
Porträt zwiſchen zwei Ahnenbildnifjen an ber 
Wand hing. 

Er ſetzte fih davor und betrachtete es lange 
mit ftummer Aufmerkſamkeit. Als er ging, ver« 
ſprach Frau von Imhoff, ihm eine Feknung 
von dem Bild anfertigen zu laffen. Ex war jo 
zerſtreut, daß er nicht einmal dankte, 


Quandt unternimmt den legten Sturm 
auf das Geheimnis 


Obmohl eine Zeitlang von einer Strafvers 
fegung Hidel3 die Rede war, verlautete darüber 
nichts Näheres, und die Sache ſchien allmählich 
in Pergeffenheit zu geraten. Ohne Bmeifel 
waren da allerlei verborgene Einflüfje im Spiel, 
die den Polizeileutnant ficherftellten. „Dem Dann 
ift nicht beizuklommen,“ fagten die Eingeweihten; 
„ex ift zu gefährlich und weiß zuviel.“ Freilich 
war Hidel brauchbar im Dienft und von feinen 

508 


Untergebenen äußerft gefürchtet. Dabei wurde fein 
Lebenswandel immer undurchdringlicher; außer 
im Kaſino und im Amt fprach er mit feinem 
Menſchen. Auf der Polizeiwache ſaß er halbe 
Nächte, aber nur deswegen, um feine Leute zu 
Drangfalieren. 

ar Duandt hatte ihn fürchten gelernt. 
Eines mittags im Oktober, der Lehrer ſaß 
mit feiner Frau und Caſpar beim Kaffee, trat 
plöglich jähelrafjelnd Hickel ins Zimmer, ſchritt 
ohne Gruß auf Cafpar zu und fragte berrifch: 
„Sagen Sie mal, Haufer, wiffen Sie vielleicht 
etwas über den Verbleib des Soldaten Schildfnecht ?"" 

Cafpar wurde afchfahl. Der Polizeileutnant 
fizierte ihn mit gligernden Augen und donnerte, 
ungeduldig über das lange Schweigen: „Wiffen 
Sie etwa3 oder wifjen Sie nicht3? Reden Gie, 
Menſch, oder, fo wahr mir Gott helfe, ich laſſe 
Sie auf der Stelle ins Gefängnis bringen!" 

Caſpar erhob fi. Ein Knopf feiner Joppe 
verwidelte ſich in die Franſen des Tiſchluchs, 
und während er zurüdwich, fiel die Kaffeefanne 
um und das ſchwarze Gebräu ergoß ſich über 
das Linnen. 

Die Lehrerin tat einen Schrei; Quandt aber 
machte ein ärgerliches Geficht, denn das groß- 
fpurige Auftreten de3 KPolizeileutnants verdroß 
ihn, auch war es ihm um fo vermunderlicher, 
als Hickel gerade Cafpar gegenüber ſich feit 
Monaten einer fteifen und finfteren Zurücthaltung 
befliffen hatte. „Was fol er denn mit dem 
Deferteur zu fehaffen haben?” fagte er unwillig. 

„Das laffen Sie nur meine Sorge fein!“ 
braufte Hickel auf. 


„Dbo, Here Bolizeileutnant, in meinem Haufe 
504 





bitte ich mir ein höflicheres Benehmen aus," 
verſetzte Quandt. 

„Ach was! Sie ſind ein Schwachmatikus, 
Herr Lehrer. Was nicht auf Ihrem Miſt wächſt, 
das äftimieren Sie nicht. Ueberhaupt, was iſt's 
denn? Zwei Jahre find’3 her, feit der Menſch 
bei Ihnen wohnt, und wir find genau fo Hug 
wie zuvor. Wenn da3 Ihre ganze Kunft war, 
dann laſſen Sie ſich nur heimgeigen.” 

Der Hieb ſaß. Quandt verbiß feinen Groll 
und ſchwieg. 

„Aber es hat ein Ende jeßt," fuhr Hidel 
fort; „ich werde mit dem Hofrat reden, und der 
Haufer kommt zu mir in die Pflege.” 

„Damit werden Sie mir bloß einen Gefallen 
erweifen,“ erwiderte Quandt und verließ hoch⸗ 
aufgerichtet daS Zimmer, 

Die Lehrerin blieb mit geſenkten Augen fiten. 
Hickel marjchierte haſtig auf und ab und trodnete 
mit dem Aermel feine Stirn. „Wie mir nur 
it, wie mir nur iſt,“ murmelte er faft verftört. 
Dann wandte er ſich wieder ſchimpfend an 
Cafpar. „Unglücjeliger, verdammt Unglüdeliger! 
Was für ein Teufel Dat Sie geritten! pen," 
fügte er leife hinzu und ftellte ſich neben Caſpar, 
„der Burſche ift verhaftet und wird ausgeliefert. 
Kommt auf die Plaffenburg, der Kerl.“ 

„Das ift nicht wahr," ſagte Caſpar, ebenfalls 
leife, gebehnt umd etwas fingend. Cr lächelte, 
dann lachte er, ja, er lachte, wobei fein Geficht 
ſtark erbleichte. 

Hickel wurde ſtutzig. Er kaute an feiner 
Lippe und ſah düſter ins Leere. Plöglich griff 
er nach feiner Kappe, und mit einem böfen, eiligen 
Blick auf Caſpar entfernte er fich. 

505 


Quandt war nicht gefonnen, den Schimpf, 
den ihm der Polizeileutnant angetan, auf fi 
figen zu laſſen. Er bejchwerte fich beim Hofrat 
Hofmann, doch diefer ſchien nicht ſehr bereit, 
ſich einzumifchen. Der Lehrer nahm die Gelegen- 
beit wahr, noch eine andre Sache zum Austrag 
zu bringen. 

Seit Feuerbachs Tod hatte der Hofrat die 
Oberaufficht über Cafpard Pflege. Auf eine 
Hilfe wie die vom Grafen Stanhope war nicht 
mehr zu rechnen, man hatte den Bürgermeifter 
Ender3 und die Gemeinde um Unterftüßung an- 
ggangen, aber ein Beſchluß war noch in der 

chwebe. Einftweilen erhielt Cafpar vom Gericht 
eine Heine Lohnerhöhung für feine Schreiberei; 
das Geld lieferte er pünktlich dem Lehrer ab. 
Die beſchränkten Verhältniffe erlaubten ihm nicht 
die geringfte Freiheit in feinen Ausgaben. Ans 
fangs Dftober war er konfirmiert worden, und 
mit Sehnfucht erwartete er das fogenannte Tag- 
geld, das ihm von der Stadt ehe ausgeſetzt 
war. Ungehalten über die Verfchleppung, wandte 
er fih an den Pfarrer Fuhrmann; dieſer riet 
ihm, er folle den Lehrer erfuchen, aufs Ge 
meindeamt zu gehen, um die Auszahlung zu bes 
Be ’ ich wicht, Hert Gofrat, ic 

„So etwas tu’ ich nicht, ofrat, i 
mache nicht den Bittfteller, m en erlaubt 
das nicht,” fagte Quandt. 

Der Hofrat zuckte die Achſeln. „Geben Sie 
ihm doch die paar Taler einjtweilen aus Ihrer 
Tafche," fagte er, „man wird's Ihnen gewiß 
"Sm Sinfit auf den Baufer gist es m 

Pi inficht auf den Haufer gibt es feine 
Gewißheiten,“ verjegte Quandt; „ich habe ohnes 
506 


Hin Auslagen genug und weiß nicht, ob ich noch 
lange fo zufehen Tann." 

Der Hofrat überlegte. „Er bat doch wohl- 
habende und reiche ‚Seeunde, „“ ſagte er dann, 

„die können doch helfen. 

„Ad du lieber Gott, " feufzte der Lehrer, 
„denen ift er viel zu —** als daß ſie an 
ſeine kleine Notdurft denken." 

pr" Fi a morgen zu nen eh 
un "den auſer fragen, wozu er denn eigentlic 

— — Geld braucht," ſchloß der Hofrat 

a3 räch. 

Des Abends Fam Caſpar noch fpät in Quandts 
Zimmer und flehte ihn mit aufgehobenen Händen 
an, ihn doc) nicht aus dem Haus zu geben, er 
wolle ja alles tun, was man von ihm verlange; 
„nur nicht zum SPolizeileutnant, alles, nur das 
nicht ſagte er. 

er Kehren berubigte ihn nad Kräften und 
haste davon tönne vorläufig feine Rede fein, der 
BVolizeileutnant habe ihn bloß jchreden mollen. 
„Nein,“ antwortete Caſpar, „auch der Offiziant 
Maier bat heute auf dem Gericht davon ges 
ſprochen.“ 

„Nun, Hauſer, jetzt gekten Sie fi aber 
mie"ein Heiner Knabe un! d doch ſchließlich 
ein erwachſener Mann,“ ge Quandt tabelnd, 
„Ich Tann das nicht ganz ernft nehmen, Sie 
lieben es zu übertreiben und fih kindiſch zu 
ftellen. A olizeileutnant würde Ihnen auch 
nicht den Kopf abbeißen, wennjchon ich zugebe, 
daß er bisweilen etwa3 derbe Manieren hat. 
Aber Sie find ja jest auch ein Chrift in des 
Wortes voller Bedeutung, und ohne Zweifel 
haben Sie den Spruch ſchon gehört: Tue deinen 


507 


zur 


Feinden Gute, damit du feurige Kohlen auf 
dem Haupt Sammelft, “ 

Caſpar nicte. „Cs fteht ein Gefäglein dar⸗ 
über in Dittmard ‚Weigenförnern‘, " erwiderte er. 

„Ganz vecht; wie haben es ja zufammen 
duchgenommen," fuhr Quandt lebhaft fort. 

„Wifjen Sie was! Damit Sie das ſchöne Merk— 
wort genau im Gedächtnis behalten, ſchlage ih 
Ihnen vor, mir Ihre eignen Gebanten darüber 
niederzufchreiben. Ich will es meinetwegen als 
ein Penjum für fich betrachten und Sie können 
den ganzen morgigen Nachmittag dazu ver 
wenden.” 

Cafpar ſchien einverftanben. 

Der Hofrat kam nicht, wie er verfprochen, 
am nächften, ſondern erſt am zweitfolgenden Tag. 
AS er ins Zimmer trat, tebete der Lehrer gerade 
mit zornigen Gebärden auf Cafpar ein. he die 
Frage des Hofrats, was Caſpar verbrochen habe, 
fagte Quandt: „IH muß mic) do« gu zu viel 
mit ihm berumärgern. — ſtellte ich ihm 
ein Thema für den deutfchen Aufſatz, er verjprach 
mir, e3 auszuarbeiten, und er hatte ben ganzen 

geftrigen Zerua dazu Zeit. Soeben verlang' 
5 nun fein Fr und bier, überzeugen Sie ſich 
ſeibſt, in ofrat, auch nicht eine Zeile hat er 
eg rieben. Eine ſolche Trägheit iſt himmel⸗ 


— reichte dem Hofrat das aufgeſchlagene 
get: oben auf einer Seiie ftand der Titel des 
ufjages: Tue deinen Feinden Gutes, damit 
du feurige Kohlen auf ihrem Haupt fammelit; 
danach kam aber nichts und die Seite war leer. 
„Warum haben Sie’3 denn nicht gemacht ?“ fragte 
der Hofrat fühl. 
508 


Caſpar antwortete: „Ich kann nicht.” 

„Das müſſen Sie können!" rief Quandt. 
„Vorgejtern haben Sie mir ja erzählt, daß ber 
Gegenftand in Ihrem — behandelt ift, eine 
Gedankenfolge zu finden, hätte Ihnen alſo nicht 
Knete Tonnen, wenn Sie dort angefnüpft 

ten.“ 

„Probieren Sie's doch einmal, Haufer,“ fiel 
der Hofrat befänftigend ein. „Schreiben Sie 
meinetwegen nur ein paar Säte nieder. ch 
werde mich mit dem Herrn Lehrer ins Neben» 
zimmer begeben, und wenn wir zurückkommen, 
ſollen Sie uns irgend etwas vorzeigen und ben 
Beweis liefern, daß Sie mwenigftens den guten 
Willen haben.“ 

Quandt nidte und ging mit dem Hofrat 
hinaus. Als fie im Wohnzimmer waren, übergab 
der Hofrat dem Lehrer zwei Golddukaten und 
fagte, die feien von Frau von Amboft, der er 
Caſpars Verlegenheit geſchildert habe; die gütige 
Dame babe fi nos hoch entfchuldigt, daß es 
aur fo wenig jei, aber fie habe über das Geld 
feine freie Verfügung. „Uebrigens war der 
Haufer geftern bei mir," fuhr der Hofrat fort, 
„und zwar kam er, um mic) zu bitten, ich möchte 
es doch verhindern, daß er dem Polizeileutnant 
in Pie jegeben werde.“ , 

„ f och des Teufels; er beläftigt alle 
Leute mit feinen kindiſchen Miſeren,“ Magte 
Quandt, „auch mich Hat er ſchon darum ans 
gegangen! 

„Vor dem Hidel fcheint er ja eine Heiden- 
angft zu haben.“ 

„Sa, der Polizeileutnant ift eben ſehr ftreng 
mit ihm.” 

509 


„Ich fagte ihm, daß von meiner Seite eine 
folche Abficht nicht vorliege, und er möge nur 
feine Pflicht tun, dann werde ihm niemand zu 
nahe treten.” 

„Sehe wahr." 

„Wir redeien noch über feine Geldfalamität, 
und da wollte er nicht mit der Farbe heraus. 
Ich verſprach, ihm zu feinem Geburtstag fünf 
Taler zu fchenten, und fragte ihn, warn er Ges 
burtstag habe. Darauf antwortete er traurig, 
das mie ex nicht, und ich muß geftehen, e8 war 
da etwaß in feinem Weſen, was mich rührte. Aber 
ſonſt ſchien er mir doch gar zu fehmeichlerifch, und 
fein ndlich Geblinzel und Getue mißfiel mir." 

„Leider, leider, fchmeichlerifch ift er, da haben 
Sie recht, Herr Hofrat; beſonders wo er feine 
Pläne durchjegen will." 

Nah diefem Meinungsaustaufch kehrten fie 
wieder zu Cafpar zurüd. Er ſaß am Tiih, den 
Kopf in die Hand geſtützt. „Na, was haben Sie 
fertiggebracht ?" rief der Hofrat jovial. Er nahm 

as , ſtutzte, da er nur einen einzigen Satz 
gejchrieben fand, und las vor: „Wenn fie dir 
ebles_an deinem Körper zugefügt haben, tue 
ihnen Gutes dafür." — „Das iſt alles, Hauſer?“ 

„Sonderbar,“ murmelte Quandt. 

Der Hofrat ftellte fich vor Cafpar hin, drehte 
den Kopf gegen die Schulter und begann uns 
vermittelt: „Sagen Sie mal, Haufer, wen haben 
Sie denn eigentlich von allen Menfchen, die Sie 
bisher fennen gelernt haben, am meiften lieb» 

jewonnen?" ein Geficht jah HEHE aus; er 

hate von feinem Amt al Gerichtsfunttionär die 
tanier behalten, auch das Harmloſe mit einem 

Ausdrud von fäuerlihem Spott zu äußern. 

510 





„Stehen Sie doc auf, wenn der Herr Hofs 
rat mit Ihnen fpricht," flüfterte & — 
Caſpar zu. 

Caſpar ſtand auf. Cr blidte ratlos vor ſich 
in. witterte eine Falle hinter der Frage. 

dachte plöglich: Wahrfcheinlich ift der Lehrer 
darum fo böfe, daß ich den Aufſatz nicht gemacht: 
habe, weil er glaubt, ich halte ihn für meinen 
Feind. Er ſchaute zu Duandt hinüber und fagte 
Bee: „Den Herrn Lehrer hab’ ih am 
liebſten.“ 

Der Hofrat wechſelte mit Quandt einen Blick 
I Einverſtãndniſſes und räuſperte ſich bes 

ut 


jam. 

a, ein Beſtechungsverſuch, dachte Quandt 
und war ſtolz darauf, nicht im mindeften von 
der Antwort erbaut zu fein. 

Caſpars Leben wurde nun immer einförmiger 
und zurüdgezogener. Er hatte niemand, mit dem 
er eine vertrauliche Unterhaltung führen konnte. 
Frau von Kannamwurf ließ auch nichts von fi 
hören, und daS wurmte ihn denn doch, trodem 
ex behauptet hatte, an Briefen jei ihm nichts 
gelegen. Wo war fie überhaupt? Lebte fie noch? 
& mochte oft nicht ausgehen, alle Wege waren 
ihm verhaßt, jede Verrihtung fand ihn lau. Zus 
dem war das Wetter immer fchlecht, der November 
brachte gewaltige Stürme, und jo ſaß er in der 

eien Zeit auf feinem Zimmer, glitt mit den 
licken über die Hügelvänder oder ftreifte bang 
den Himmel und finnierte unabläffig. Ex wartete, 
wartete. Einmal ging er insgeheim in die Kaferne 
und erfundigte ſich vorfichtig, ob man dort etwas 
über Schildfnecht wiſſe. in konnte ihm feine 
Auskunft geben. Das nährte die verfladternde 
5 





offnungsflamme, aber in den darauffolgenden 

ven fühlte er fich krank und wollte fich des 
Morgens kaum zum Verlaſſen des Bettes ent- 
jöte en. Es kamen noch manchmal Fremde zu 

eſuch; er verhielt fich ftörrifch und einfilbig. 
Wenn er aufgefordert wurde, in Gejellichaft zu 
gehe, fagte er bitter: „Was foll mir das 
üben?" Als er eines Abends über den 
Schloßplag ging und an der mächtigen Faſſade 
mit den Yobene immer geſchloſſenen Fenftern 
emporjah, glaubte er in ben leergedachten Sälen 
übergroße Geftalten wahrzunehmen, die ihn feind- 
fein, beobachteten. Sie jchienen alle in urpur 
gekleidet, mit golbenen Ketten um den Hals. Ein 
grenzenlos ermattender Sch drückte ihn nieder, 
und er war nahe daran, fo) auf das Pflafter 
zu werfen und zu heulen gleich einem Hund. 

- Er fühlte fih jo falt, fo trüb. einer‘ 
Nacht träumte er, er fähe auf einem grünen 
Steinblod eine goldene Schale und darauf lagen 
fünf feltfam qualmende Herzen, doch nicht in 
natürlicher Form, ſondern fo wie Lebküchner die 
Herzen baden; er ftand davor und fagte laut: 
Das ift meines Vaters Herz, das ift meiner 
Mutter Herz, das ift meines Bruders Herz, das 
ift meiner Schwefter Herz, das ift mein eignes 
Ben. Sein eignes Tag oben und hatte zwei 
febendige, traurige Augen. 

Nicht felten hatte er das beitimmte Gefühl 
von der fernen Wirkung einer überaus teuern 
Perfon. Die Perſon handelte, ſprach und litt 
für ihn, aber eine Welt lag dagmildhen, und mas 
auch immer fie unternahm, konnte die Weite 
zwiſchen ihm und ihr nicht verringern. Er fpürte 
unheimliche Vorgänge fo deutlich, da er oft da» 
512 


en 





ftand und lauſchte wie auf ein Geſpräch hinter. 
einer dünnen Wand. Und er faltete die Hände 
unterm Kinn und lächelte ängftlich. 

Blind hätte der Lehrer fein müffen, wenn er 
von alledem nichts bemerkt hätte. Seine Beob- 
achtungen jammelte er ſozuſagen unter einem 
Titel, und- diefer Titel lautete: Der Kampf mit 
dem fchlechten Gewiſſen. „Sch habe fein Wohl- 
wollen mehr für den Menfchen," erflärte Quandt, 
„ich habe fein Wohlwollen mehr für ihn, feit ich 
gefehen habe, wie gleichgültig ihn die Kataſtrophe 
mit dem Lord gelafjen hat. War mir felbjt doch 
zumut, als hätte ich einen Bruder verloren, und 
er wollte ſich nicht, einmal zu einer den Schein 
wahrenden Trauer verftellen. Ex hat ein Herz 
von, Stein und eine ganz pöbelhafte- Undant- 

arkeit.“ 

Wir ſehen den Lehrer gleichſam hinter einer 
Hecke, wir ſehen ihn lauern, wir ſehen, wie er 
mannigfaltige Nachrichten über Caſpar aus 

iheren Jahren zuſaminenträgt, Falten und Um» 
jtände, die er mit dem Spürfinn eines Unter- 
uchungsrichter8 aufftöbert, deutet, beleuchtet und 
ſtill zum Zweck bereithält. Wir jehen ihn in 
Haß entbrennen gegen den emig Verſtockten, 
immer Verſchloſſenen, und wir können nicht um⸗ 
bin, ihn einem Menfchen ähnlich zu finden, den 
ein Irrlicht fo Iange geneckt und gelockt hat, bis 
er endlih in eine Art von tafender Trunkenheit 
gerät. i 

Zu Anfang Dezember, es war an einem 
Donnerstag, abends nach Tiſch, fragte Quandt 
Caſpar, ob er feine Ueberjegung für morgen fchon 
fertig habe. Caſpar erwiderte in ernſter Stim⸗ 
mung, doch mit unaufrichtiger Freundlichkeit, wie 


Waſſer mann, Gafpar Haufer 38 518 


es Quandt vorlam, ja, er ſei damit fertig. Quandt 
nahm das Buch, zeigte ihm, wie groß die Auf- 
gabe fei, und fragte noch einmal, ob er denn 
wirklich jo weit überfeßt habe. 

Caſpar bejahte. „Ich bin fogar noh um 
einen Abfat weitergefommen," fagte er. 

Quandt glaubte es nicht; e8 war ihm un= 
wahrſcheinlich; die Aufgabe enthielt ein paar Fälle, 
mit denen Caſpar nicht allein hätte fertig werden 
können und bei denen er feine Hilfe unbedingt 
hätte in Anſpruch nehmen müſſen. Indes fand 
er es für gut, im Beifein feiner Frau nichts 
weiter zu bemerken, fondern ihn ungeftört auf 
fein Zimmer gehen zu laſſen. 

Ungefähr Kant Minuten fpäter ergriff Quandt 
das Iateinijche Eiementarbuch und folgte Caſpar. 
Caſpar hatte die Tur ſchon zugeriegelt, und be= 
vor er öffnete, fragte ex, ob der Lehrer noch 
etwad wünſche. „Machen Sie auf!" befahl 
Quandt kurz. ALS er drinnen war, las er ihm 
einige willkuͤrlich herausgerifjene Sätze vor und 
erſuchte ihn zu jagen, wie er es überjeßt habe. 
Cafpar ſchwieg eine Weile, dann entgegnete er, 
ex habe bloß präpariert, er wolle erſt jett über- 
jegen. Quandt blickte ihn ruhig an, fagte aus» 
—e— „So,“ wünſchte gute Nacht und ent— 
ernte ſich. 

Drunten erzählte er den Sachverhalt ſeiner 
Frau, und fie famen überein, daß dahinter ein 
bübifcher Trotz ftecle, weiter nichts. Am andern 
Morgen berichtete er auch dem Hofrat darüber, 
diefer ſchrieb ein kurzes Briefchen an Cafpar und 

‚ab es dem Lehrer mit. Caſpar las das Schreiben 
in Quandt3 Gegenwart, und als er zu Ende 
war, reichte er e8 dem Lehrer, fichtlich verjtimmt. 
514 


In dem Brief warnte ihn der Hofrat ſchonend 
vor Eigenfhaften, denen nur gemeine Naturen, 
fih Be bie —— IR zer pi eg 
„unſerm Haufer leider nicht zu fein ſcheinen“. 
ee jelben Abend, wiederum nad) dem Nacht» 
mahl, brachte Duandt eines der Bebungeh fe 
Caſpars zum Vorſchein und fagte: „Aus dieſem 

t ift ein Blatt herausgefchnitten, Haufer. Sie 
wiſſen doch, daß ich Ihnen das ſchon zahllofe 
Male verboten habe.” 

„Ich hatte in das Blatt einen Flecken ges 
macht, und den mollte ich nicht in der Schrift 
haben,“ verſetzte Caſpar. 

Statt aller Antwort forderte Quandt den 
Jungling auf, mit ihm in fein Studierzimmer 
zu kommen. Seiner Frau fagte er, fie möge die 
Kerze anzünden, ergriff die Lampe und fchritt 
voran. andern Zimmer angelangt, ſchloß 
ex forgfältig beide Türen, hieß Cafpar Platz 
nehmen und begann: „Sie werden mir doch wohl 
nicht zumuten, daß ich Ihre Ausrede für bare 
Münze nehme?" 

„Was für eine Ausrede?“ fragte Caſpar matt. 

„Nun, das mit dem Flecken. Ich glaube 
nicht an diefen Flecken.“ 

„Warum wollen Sie e8 denn nicht glauben?“ 

„Sie kennen doch das Sprihwort: Wer ein 
mal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er, 
aud) die Wahrheit fpricht. Sie, lieber Fremd, 
lügen öfter als einmal.“ 

„Ich lüge nicht,“ erwiderte Caſpar ebenfo 
matt und tonlos. 

„Das getrauen Sie ſich mir ins Geficht zu 
behaupten?" 

Rx weiß nicht, daß ich Lüge." 

515 


„O, ſchelmiſcher Rabulift!" rief Quandt bitter. 
„Wenn ich Ihre häufigen Unmahrheiten nicht 
jedesmal berede, jo beftimmt mich dazu die nach 
und nad) gewonnene Einficht, daß ich Sie von 
dem Uebel doch nicht heilen kann. Wozu alfo 
fol ich mich vergeblich grämen? Sie find ger 
wohnt, fo lange nein zu jagen, bis man Sie der- 
maßen überführt hat, daß Sie nicht mehr nein 
jegen tönnen, und dann fprechen Sie dennoch 

n Ja." 


„Soll ich ja jagen, wenn nein ift? Beweiſen 
Sie mir, daß ich gelogen habe." Caſpar jah 
den Lehrer mit einem jener Bfice an, die biefer 
als tückifch zu bezeichnen pflegte. 

„Ach, — wie ſchmerzt es mich, Sie mir 
gegenüber jo zu fehen,“ verſetzte Quandt. „Ich 

in um Beweiſe nicht verlegen und habe jo viele, 

daß ich. gar nicht Fr wo ih — ſoll. 
Erinnern Sie ſich nicht an die Geſchichte mit 
dem Leuchter? Sie behaupteten, die Handhabe 
ſei abgebrochen, und es ift doch unmiderleglich 
nachgeriefen, daß fie abgeſchmolzen war?“ 

„Es war fo, wie ich gejagt habe.“ 

„Damit laſſe ich mich nicht abfpeifen. Sie 
Lönnen übrigens verfichert fein, u} ich mir den 
Vorfall mit allem Fleiß notiert habe, nämlich 
ſchriftlich, um nötigenfalls vollſtändige Rechen⸗ 
ſchaft über Sie geben zu können.“ 

Caſpar machte. ein ſehr betroffenes Geſicht; 
er ſchwieg. 

„Und weiter, betrachten wir einen Fall ingften 
Datums," fuhr Quandt fort;. „es. war Doc 
einerlei, ob Sie vorgeftern mit der Ueberſetzung 
fertig waren oder ob Sie fie erft im Zimmer 
machen wollten. Da Sie tagsüber bejchäftigt waren, 
516 


jo konnten und durften Sie die Arbeit abends 
machen. Warum fagten Sie, Sie jeien fertig, wäh⸗ 
rend Sie nicht daS geringfte daran getan hatten?“ 

„Ich habe gemeint, Sie fragen, ob ich präs 
pariert hätte,” 

„Lächerlich. Sie hatten neulich jchon die Frech- 
heit, meine Worte einfach zu verdrehen. Ich habe 
deutlich efragt: Haben Sie Ihre Ueberjegung ge- 
mat? Meine Frau war zugegen und ift Zeuge.“ 

„Wenn Sie es gejagt haben, habe ich’8 eben 
anders verſtanden.“ 

„Die gewohnten Ausflüchte. Sie hatten ja 
nicht einmal präpariert. Das können Sie jemand 
aufbinven, der Sie nicht fo genmu kennt wie ich. 
Ich wünſchte, ich hätte Sie nie kennen gelernt; 
am Ende kommt man dur Sie noch um den 
Auf eines redlichen Mannes. Aber Sie werden 
durchſchaut, nicht nur von mir, fondern auch von 
andern. Es gibt nur noch wenig Familien, bei 
denen Sie für liebenswürdig und aufrichti 
gelten; die meiften jehen ein, daß Sie eine 
tägliche Einbildung und einen niedrigen Hochmut 
bejigen, daß Sie gleichgültig und anmaßend 
gan weniger Vornehme find, fobald Sie bei 

ornehmeren Zutritt finden. Und was Ihre 
Verlogenheit betrifft, ? bin ich erbötig, Ihnen 
in jedem einzelnen Fall auf den Kopf zuzufagen, 
ob Sie bei der Wahrheit geblieben find, was in 
und außer Jhrem Horizont liegt, was Ihre Auf- 
merkjamteit fefjeln kann und mas nicht. Ich 
jebe Sen ein artiges mpelchen aus der 
esten Zeit. Es war beim Mittagstisch die Rede 
vom Regierungsrat Fliegen. Meine Frau meinte, 
es fei dem guten alten Mann unangenehm, daß 
er nicht bei den Seinen in Worms fein könne 
517 


Ich bemerkte hierauf, daß der Regierungsrat eine 
oße Verwandtſchaft im Aheinkreis und jo und 
N viele Enkel habe. Darauf fagten Sie: Elf 
Entel hat er, e8 wurde beim Generalfommiffär 
davon gefprochen. Ich antwortete, daß ich von 
neunzehn Enteln gehört, Sie verficherten aber, 
es jeien elf. 36 wußte dem nun allerdings 
nicht entgegenzufegen, aber das wußte ich bes 
ftimmt, di & die Zahl nur in der Geſchwindig⸗ 
keit aufgegriffen Batten, um uns zu imponieren, 
um den Namen des Generaltommiffärs in den 
Mund nehmen zu können und und zu zeigen, 
daß Sie mit den PVerhältniffen der Perfonen 
vertraut feien, die jenes Haus befuchten. Hand 
aufs Herz: ift’3 nicht jo?" 
ri ——— an * Tafel von elf Enkeln 
geſprochen. Ganz gewiß." 
„Das glaube ie nicht. “ 


‚Bo ſchämen Sie fich, Saufer, in einem fo 
ernften Augenblick auf der Züge zu beharren. 
Dazu gehört ein hoher Grad von Erbärmlichkeit, 
um nicht zu jagen Nichtswürdigleit. An der 
Sache ſelbſt ijt ja wenig gelegen, aber Ihre 
fortgejeßte dreifte Behauptung läßt tief bliden. 
Sie zeigt, daß Sie nie einen Fehler auf eigne 
Rechnung nehmen, daß Sie nie eine Schwäche 
äugeftehen wollen und es dabei aufs Aeußerfte 
ankommen laffen. In der erften freien Stunde 
werde ich den Regierungsrat ſelbſt fragen, wie 
viele Enkel er hat. Sind es wirklich elf, fo 
werbe ich Ihnen gehörige Genugtuung geben, im 
andern Fall will ich Sie in einer Weife befchämen, 
daß Sie an mich denken follen.“ 
Caſpar ſenkte ergeben den Kopf. 
518 


„Aber das Eigentliche, was ich Ihnen vorzu⸗ 
Halten habe, kommt noch, lieber Freund,“ bes 
gann Quandt nad; einer Paufe, während welcher 
man den Sturmwind gegen die Fenfter donnern 
und im Kamin wimmern hörte. „Es ift jebt 
endlich an der Zeit, daß Sie einem Mann wie 
mir, der an Ihrem Schickſal ungeheuchelten An- 
teil nimmt, reinen Wein einfchenten. Sie fcheinen 
immer noch der Meinung, die ganze Welt ftehe 
Ihrem Märchen von ber geheimnisvollen Ein» 
ferferung oder gar von der hohen Abkunft gläubig 
g jenüber. Sie befinden fich in einem Fand 
en Irrtum, lieber Haufer. Anfangs, ich gebe 
e3 zu, hat man ſich damit al3 einem ätfelhaften 
Beorgang befhäftigt, aber nad und nad find 
doc alle vernünftigen Menfchen zu der Einficht 
gelangt, daß fie das Opfer — lafien Sie mic 
die Eigenſchaft nicht nennen, deren Opfer fie 
jerworden waren. Ich kann mir wohl denfen, 
aufer, daß Sie den Anſchlag urſprünglich nicht 
jo weit treiben wollten. Im vorigen Winter, 
als die Schrift des Präfidenten erſchienen war, 
da zeigten Ste fich felbit erichroden von den 
Folgen IHrer Tat, und Sie erinnerten mid an 
ein Kino, das ein bißchen mit dem Feuer gejpielt 
bat und unverjehens das ganze Haus in Flammen 
fieht. Sie fürdteten, den Futterplatz zu ver- 
lieren, den Sie fi) durch Ihre fett ver⸗ 
ſchafft Hatten, Sie mußten gerade da eine Ent- 
dedung umd die mohlverdiente Strafe fürchten, 
wo Ihre verblendeten Freunde das Glüd für 
Sie fahen. Prüfen Sie ſich doch in Ihrem 
Innern, ob ich nicht recht habe." 
Cafpar ſah dem Lehrer mit einem Ieblofen 
Blick ins Auge. 
519 


" „Schön; ih will Sie nicht zur Antwort 
zwingen,“ fuhr Quandt mit büfterer Befriedigung 
fort. „Es iſt nun wieder ſtill um Sie geworben, 
Haufer. Eigentümlich ſtill ıft e8 geworden. Man 
will ſich nicht mehr recht um Sie fümmern. So 
ftill war es auch damals um Sie geworden, be= 
vor der angebliche Mordanfall im Haufe des 
Profefjor3 Daumer fich ereignet hat. Kein Menich 
unter all den vielen Taufenden, welche die Stadt 
Nürnberg bewohnen, hat zur Eritifchen Beit oder 
päter eine Perjon beobachtet, die auch nur im 
entfernteften im Bufammenhang mit einer folchen 
Greueltat gedacht werden konnte. Ihre Freunde 

laubten troßdem an den vermummten Unhold, 
1 wie fie an den phantaftifchen Kerkermeifter 
glaubten, der Sie das Lejen und Schreiben ge- 
lehrt haben fol. Nichtebeftomeniger at Sie der 
Profeſſor Daumer alsbald vor die Tür geſetzt. 
Er wird wohl gewußt Haben, warum. Und heute 
fteht Ihre Sache fo, daß Sie fich entfchließen 
müffen. Ihre mãchtigſten Gönner, der Staates 
rat, der Lord Stanhope, die Frau Behold, haben 
daS Zeitliche verlaffen. Erkennen Sie darin nicht 
einen Wink des Emmen! Es hat ja num feinen 
Zweck mehr für Sie, die Fiktion aufrechtzuerhalten. 
Sie find doch jetzt ein Mann, Sie wollen doch 
ein nübliches Glied der menſchlichen Geſellſchaft 
werden. Sprechen Sie zu mir, Haufer, eröffnen 
Sie fih! Sprechen Sie mit Ihrem wahren 
Mund, aus wahrem Herzen!" 

„Sa, was foll ich denn Besen?! fragte 
Caspar dumpf und langfam, indes feine Geftalt 
verfiel wie die eines Greiſes und auch in feinem 
Geficht lauter greifenhafte Falten entſtanden. 

Der Lehrer trat zu ihm und ergriff feine 
520 





Iehmere ſteinkalte Hand. „Die Wahrheit follen 
Sie ſprechen !“ rief er beichwörend. „Ach, Haufer, 
es ift ja ein Sammer, Sie anzufchauen, wie das 
(dt Serien gefpenfterhaft aus jedem Ihrer 
lugt. Ihr Gemüt iſt bedruckt. Aufl 

ve eaualte Bruft, Haufer! Laffen Sie end 
einmal bie Sonne Simeinfcheinen! u, Mut, Ver: 


Kunft, die — Bates — 
men die 


der. hieß, bei dem geweſen. gr werben 
mich doch nicht für fo naar halten, daß ich 
glaube, Sie müßten das nicht. Ohne Zweifel 
mar es doch hr Vater oder Ihr Oheim ober 
ein Bruder oder ein Gpielgenofie, gleichviel. 
Haufer! Stellen Sie fi vor, Sie befänden fih 
vor Gottes Angefiht. Und Gott wiirde fragen: 
Woher kommſt du? Wo ift deine Heimat, der 
Ort, wo du geboren bift? Wer hat dir einen 
falfchen Namen angedichtet und wie heißt du mit 
dem Namen, den du in der Wiege empfangen 


521 


haft? Wer bat dich unterrichtet und angelernt, 
die Menfchen zu täufhen? Was würden Sie 
in Ihrer Seelennot antworten, was antworten, 
wenn der erhabene Gott Sie zur Rechtfertigung 
aufforderte, zur Sühnung des verübten Trugs?" 

Caſpar ftarrte den Lehrer atemlos an. Das 
Blut ſiockte ihm. Die ganze Welt verfehrte fich 


m. . 

„Was würden Sie antworten?" wiederholte 
Quandt mit einem Ton zwiſchen Angft und 
Hoffnung; ihm ſchien es, als ſei er nahe daran, 
die verfchlofjene Pforte zu fprengen. 

Caſpar ftand ſchwerfällig auf und ſagte mit 
zuckendem nd: „Ich würde antworten: Du 
bift gen Gott, wenn du folches von mir ver- 
angft. * 

Quandt prallte zurück und ſchlug die Hände 
zufammen. „Läſterer!“ fchrie er mit durch 
dringender Stimme. Dann ſtreckte er den rechten 
Arm aus und rief: „Hebe dich weg, du Unzucht, 
du verfluchter Lügengeiſt! Hinaus mit dir, Ine 
famer! Beſudle meine Luft nicht Länger!“ 

Caſpar kehrte ſich um, und während er nad) 
der Türklinke taftete, krächzte Hinter ihm die 
Wanduhr zehn Schläge in das Sturmgebrobel. 

Seufzend, ſchlaflos wälzte fih Duandt die 
ganze Nacht auf den Kiffen. Seine Heftigkeit, 
mochte ihn gereuen, denn im Lauf des folgenden 
Tages fuchte er ſich Gafpar wieder zu nähern. 
Aber Cafpar blieb kalt und in I gekehrt. 
Abends brachte Duandt das Geſpraͤch auf den 
Regierungsrat Fließen; er fagte, daß er ſich er- 
kundigt "abe, und rief Caſpar ſcherzend zu: 
„Achtzehn Enkel, Haufer, achtzehn find es! Na, 
jehen Sie, daß ich recht gehabt habe ?“ 

522 


Caſpar ſchwieg. 
„Aber Snufers Sie eſſen ja gar nichtS mehr," 
fagte die Sehrerin beforgt. 
habe keinen Appetit,“ ermwiderte Gafpar; 
„kaum daß ich angefangen habe zu efjen, bin ich 
auch ſchon fatt." 

m Mittwoch, dem elften Dezember, kam 
Quandt verfpätet und ſehr —F zu Tiſch. Er 
hatte auf dem Heimweg von der Schule einen 
heftigen Auftritt mit einem Eng: gehabt, 
der in der bergigen Pfarrgafie fein Pferd zu- 
{handen gefchlagen hatte, weil es den chwer⸗ 
beladenen Wagen nicht zum —A inauf⸗ 
ziehen konnte. Quandt hatte dem rohen Kumpan 
Dorftellungen gemacht und einige hinzufommende 
liegen zu Sum der —ã—— Quãlerei 

ngerufen. Dafür war der Fuhrknecht mit er- 

Hobenem Veitfchenftiel auf ihn losgegangen und 
—* ihn angebrüllt, er el fih zum Teufel 
fcheren und fi nicht um Sachen fümmern, die 
ihm nicht angingen. „Gott ſei Dank ift mir 
der Name des Kerls befannt, und ich werde dem 
BVolizeileutnant darüber Meldung erftatten,“ ſchloß 
Quandt. Er wurde nicht müde zu befehreiben, wie 
der armfelige Klepper vor dem Gefährt immer 
wieber vergeblich an den Strängen gezerrt habe 
und wie das ſchwarze Blut unter feinen Rippen 
bervorgequollen fei. „Der Spitzbube,“ grollte er, 
nich werde es ihm zeigen, ein Tier fo zu rackern.“ 

Nachher, als Caſpar weggegangen war, fragte 
ihn feine Frau, ob es ihm denn nicht aufgefallen 
fei, daß Cafpar gar fein Wort über die Gelhigte 
fallen_gelafien habe. 

„Ja, er mar ganz ftumm, es ift mir aufs 
gefallen, * beftätigte Quandt, 


528 


Eine halbe Stunde darauf ging er in Caſpars 
Bimmer und bat ihn, die — Anzeige 
egen den Fuhrknecht, die er verfaßt hatte, in 
de Wohnung Hickels abzugeben. Um drei Uhr 
tehrte Caſpar mit der Nachricht zuräd, der 
BVoligeileutnant habe einen mehrtägigen Urlaub 
genommen und jei verreift. 


Aenigma sui temporis 


Es geihah am übernächften Tage, einem Freis 
tag, als Caſpar kurz nach zwölf das Gerichts- 
gebäude verlafjen wollte, daß er im Korridor 
dor der unteren Treppe von einem fremden Herrn 
angefprochen wurde, einem anfcheinend fehr vor- 
nehmen Mann, der groß und ſchlank war, einen 
ſchwarzen Baden- und Kinnbart trug, und der 
ihm aufforderte, ihm wenige Minuten Gehör zu 
ichenten. 

Caſpar ftugte, denn in der Stimme des 
Mannes war etwas fehr Dringliches und etwas 
ſehr Achtungsvolles. 

Sie gingen ein paar Schritte ſeitwärts von 
der Treppe, wo niemand vorüberfommen konnte. 
Der Fremde lächelte ermutigend, al3 er Caſpars 
ſcheues Weſen bemerkte, und begann ſogleich in 

erjelben dringlichen und achtungsvollen Weiſe: 
„Sie find Caſpar Haufer? Bis heute find Sie 
e3 gewejen. Morgen werben Sie diejen Namen 
abſtreifen. Wie mich ſchon der erſie Blick in 
Ihr Geficht belehrt umd erjchüttert hat! Prinz, 
mein Brinz! Erlauben Sie mir, Ihnen die Hand 
zu küſſen.“ 

524 


- Er bückte ſich raſch und küßte ehrfurchtsvoll 
Caſpars Hand. 

Caspar hatte keine Worte. Er ſah aus wie 
einer, dem plöglich das Herz ftilljteht. 

„Sch komme vom Hof, ich komme ala Ab— 

jefandter Ihrer Mutter, ich komme, Sie zu holen,“ 

r der Fremde fort, nicht weniger haftig, nicht 
weniger vejpelterfüllt. „Sch vermute, daß Sie 
feit langem darauf vorbereitet find. Doch müffen 
wir ar der Hut fein. Wir haben große Hinder- 
niffe zu fcheuen, Sie müffen mit mir entfliehen. 

es ift bereit. Die Frage ift nur, ob Sie willens 
find, fich ohne Rüchalt mir anzuvertrauen, und 
ob ih auf Ihre umbedingte Verſchwiegenheit 
zechnen darf?“ 

Wie follte Caſpar imftande fein, darauf zu 
antworten? Er fchaute in das Geficht des 
Mannes, das ihm in jeder Veziehung außer- 

öhnlich, ja märchenhaft erſchien, und mit 
Aupider Aufmertfamfeit haftete jein Blick auf den 
zahllofen Kleinen Blatternarben, die auf der Nafe 
und den Wangen des Fremden fihtbar waren. 

„Ihr Schweigen ift für mich beredt,“ fagte 
der Fremde mit einer jchnellen Verbeugung. „Der 
Plan ift der: Sie finden ſich morgen nachmittag 
um vier Uhr im Hofgarten ein, und zwar neben 
der Lindenallee, wenn man vom Freibergichen 
Haus kommt. Man wird Sie von dort zu einem 
bereitftehenden Wagen führen. Die einbrechende 
Dunkelheit wird unfre Flucht begünftigen. Kommen 
Sie ohne Mantel, fo wie Sie find; Sie werden 
firnbeögemäße Kleider finden. Bei der erfien 

aftftattion an der Grenze, die wir in drei 
Stunden erreichen können, werden Sie fich um— 
Heiden. Ich bin Ihnen unbelannt. Sie follen 


525 


ſich dem Unbekannten nicht auf Treu und Glauben 
übergeben. Bevor Sie in den Wagen fteigen, 
werde ich Ihnen ein Zeichen behändigen, an dem 
Sie unzweifelhaft erkennen werden, daB ich zu 
meinem Auftrag von Ihrer Mutter bevoll= 
mädhtigt bin." 

Caſpar rührte fich nicht. Nur fein ganzer 
Körper ſchwankte ein wenig, als wäre er erſtarrt 
und der Wind drohe ihn umzublafen. 

„Darf ich dies alles als abgemacht anfehen ?“ 
fragte der Fremde. . 

Er mußte die Frage wiederholen. Da nidte 
Caſpar — ernithaft, ſchwer, und auf einmal war 
ihm die Kehle wie verbrannt. 

„Werden Sie fi zur beftimmten Stunde 
am beftimmten Plage einfinden, mein Prinz?" 

Mein ‚Being! Cafpar wurde leichenblaß. Er 
ſchaute wieder die Blatternarben mit verzehrender 
Aufmerkfamfeit an. Dann nickte er. abermals, 
mit einer Bewegung, die den Schein von Kälte 
oder von Verjchlafenheit hatte. 

Fremde lüpfie mit demutsvoller Höflich- 
keit ben Hut; hierauf ging er und verſchwand in 
der Richtung gegen die Schwanengaffe. 

Während des ganzen Auftritte, der etwa 
acht bis zehn Minuten gedauert hatte, war alfo 
nicht ein einzige8 Wort aus Caſpars Lippen ges 
kommen. 

War es Freude, die Caſpar empfand? War 
Freude ſo beſchaffen, daß einen dabei fror bis ins 
Mark? Daß beftändig Schauder über den Rücken 
liefen wie kaltes Waller? 

Er machte immer nur ein halb Dugend Schritte 
und hielt dann inne, weil er glaubte, der Erd⸗ 
boden finfe unter feinen Füßen. Menfchen, geht 
526 





mir aus bem Weg, dachte er; weh mich nicht 
an, Schnee; Wind, fei nicht jo wild. Er ber 
trachtete feine Hand und berührte mit der Spitze 
feines Fingers ſtarr nachdenklich die Stelle, auf 
die der Fremde ihn geküßt. 

Warum arbeiten die ‚gehuftergefellen noch, es 
iſt ja Mittagszeit, grübelte er, als er im Vorbei⸗ 
ehen in einen Laden blictte. Unaufhörlich rannen 
RR Schauber über den Naden herab. 

Es war ſchön, zu willen, daß mit jedem 
Schritt, mit jedem Blit, mit jedem Gedanken 
Zeit verging. Denn darum handelte es ſich jetzt 
ganz allein: daß die Zeit verging. 

Als er nach Haufe fam, fagte er zur Magd, 
ex wolle nichts efjen, und fperrte fich in feinem 
Zimmer ein. Er ftellte fih ans genen, und 
während ihm die Tränen über die 
fagte er: „Dufatus ift gelommen.“ 

Seine Gedanken hatten etwas von einem 
nächtlichen Flug wilder Vögel, Bis heute war 
ich Caſpar fer, dachte er, von morgen an bin 
ich der andre; und was bin ich Ba Geitern 
war ic) noch ein Schreiberlein, und morgen werd’ 
ich vielleicht einen blauen Mantel tragen, mit 
goldenen Borten verziert; auch einen Degen foll 
mir Dufatus bringen, lang und ſchmal und aufs 
echt wie ein Binjenhalm. Aber ift denn alles 
wahr, kann e3 denn fein? Freilich kann es fein, 
weil es doch fein muß. 

Erſt als e3 völlig finfter war, zündete Caſpar 
das Licht an. Die Vehrerin ſchickte herauf und 
Tieß fragen, ob er nichts zu fich nehmen wolle. 
Er bat um ein Stüd Brot und ein Glas Milch. 
Dies wurde gebracht. Sodann fing er an, feine 
Laden außzuräumen; einen ganzen Stoß von 


527 


acken liefen, 


Toplan und Briefen warf er ins Feuer, die 
reibhefte und Bücher ordnete er mit peinlicher 
Sorgfalt. Er öffnete eine Truhe und zog unter 
mancherlei Kram das Holzpferbchen hervor, das 
ex noch von der Gefangenjchaft auf dem Veftner- 
turm ber beſaß. Er betrachtete e8 lange; es war 
weiß ladiert, mit ſchwarzen Fleden, und hatte 
weit, der bis auf das Brettchen fiel. 
5 Röblem, dachte er, haft mich manches Sabre 
begleitet, was wird num aus dir? Ich wi 
wiederkommen und dich holen, umd einen —* 
Stall werd' ich dir bauen. Damit ſtellte er das 
sen See behutfam auf ein Ecktiſchchen neben 


faglich wundernehmen, daß ein Gemüt 

wie Ges feine, jo mit Ahnung begabt, fo mit 
Sefahrun Hy vielerlei Art gefüllt, vom erjten 

jenblid der vermeintlichen Wandlung feines 

ickſals in eine dermaßen blinde @läubigteit 
— daß auch nicht ein Funke des Mißtrauens, 

er Furcht oder nur des zweifelnden Staunens 
* N im erglomm. Ein Vorgang, fo weit außer 
halb de3 gebundenen Wirklichen, fo abenteuertich 
h en For, fo. zierdelos und fimpel, 

aß ein Schüler, ein Kind, ein Verrücter batan 
nee genommen hätte, und ex, dem fo viele 
Menfchengefichter unvermummt oder durch Schuld 
entmummt gegenübergetreten waren, er, dem die 
Welt nichts andre3 war, als was der Schwalbe, 
die vom Süden kommt, das durch Bubenhände 
zerſtörte Net, ex exgeiff mit unerfchütterlicher 
Zuverficht die unbekannie Hand, die ſich aus 
unbefanntem Dunfel ihm entgegenjtredte, die 
ftarre, Talte, ftumme Hand. 

Aber bei ihm war feine andre Hoffnung mehr. 
528 


Ober es war überhaupt von Hoffnung keine Rebe. 
Hier, war, das felbftverftändlich Endliche, das 
jenfeitig Sichere, das Ungefragte, dem un Wort 
der menſchlichen Sprache, ja nicht einmal ein 
Gebante, eine Vorftellung, eine Viſion mehr nahe- 
kommen konnte und das fich · ſo vorbeftimmt voll» 
sieht wie der Aufgang der Sonne, wenn es Tag 
wird. O ihr miüdgetriebenen Glieder, ihr Ketten 
an ben Öliedern, ihr trägen Minuten, ihr ſchweigen⸗ 
den Stunden! Noch prafjelt der Kalt in der 
Mauer, noch bellt von fern ein Hund, noch bläft 
der Sturm den Schnee ans Fenfter, noch kniſtert 
das Licht auf der Kerze, und alles dies ift voll Bos⸗ 
beit, weil e3 jo beftändig ſcheint, jo Tangiam gerget 

Um neun Uhr begab er ſich zur Ruhe. 
ſchlief feſt, fpäter der Nacht hörte er ale 
Viertelſtundenſchläge von den Kirchen. Bisweilen 
richtete er ſich auf und ſchaute beflommen in die 
Finſternis. Dann fam ein Traum, in dem Schlaf 
und Wachen unmerflich ineinander flofjen. Ihm 
träumte nämlich, er ftehe vor dem Spiegel, und 
er dachte: Wie fonderbar, ich habe ein fo be- 
ftimmtes Gefühl von der Glätte des Spiegel» 
glafes, und doch träume ich nur. Er erwachte 
oder glaubte zu erwachen, verließ das Bett ober 
glaubte es zu tun, machte fi im Zimmer zu 
Ichaffen, Tegte fich wieder hin, ſchlief ein, erwachte 
abermals und grübelte: Sollte ih das mit dem 
Spiegel nur geträumt haben? Jetzt trat er vor 
den Spiegel hin, gemahrte fein umfchattetes Bild, 
fand etwas Fremdes daran, wovoͤr ihm graute, 
und bededte den Spiegel mit einem Tuch, das 
blau war und goldene Borten hatte. ALS er fich 
nun hingelegt hatte und nad) einer Weile wirklich 
erwachte, da erfannte er, daß alles nur ein 

BWaffermann, Gafpar Haufer 34 529 


Traum gemwejen war, denn der Spiegel war 
leineswegs verhängt. 

Es war eine — Nacht. 

Des Morgens ging er wie gewöhnlich aufs 
Gericht. Er verrichtete ſeine Schreibarbeit wie 
mit verſchleierten Augen. Um elf Uhr klappte er 
das Tintenfaß zu, räumte auch hier alles faͤuber⸗ 
lich zuſammen und entfernte Biun 

Quandt war wegen einer erkonferenz über 
Mittag vom Haufe fort. Caſpar ſaß mit der 
Frau allein bei Tiſch. Sie ſprach beftändig vom 
Wetter. „Der Sturm hat den Schlot auf unferm 
Dach) umgeriffen," erzählte fie, „und der Schneider 
Wüft von nebenan ift durch die herunterfallenden 
Ziegel ae en erſchlagen worden." 

„nafpar blickte ſchweigend hinaus: er konnte 

jenüberliegende Gebäude ſehen; 

— und nee untermiſcht wirbelten durch 
die verdunkelte Gaſſe. 

Caſpar aß nur die Suppe; als das Fleiſch 
tam, ſtand er auf und ging in fein Zimmer, 

Punkt drei Uhr Fam er wieder herunter, nur 
mit jeinem alten braunen Rock bekleidet und ohne 
Mantel. 

„Wo wollen Sie denn hin, Hauſer?“ rief 
ihn die amt von der Küche au an. 

muß beim Generalkommiſſär etwas 
PR u entgegnete ex zubig 
„Ohne Mantel? Bei der Kälte?" fragte die 
Frau erftaunt und trat auf die Schwelle. 

Er ſah zeätreut an ſich herab, dann fagte er: 
„Adieu, Frau Lehrerin,“ und ging. 

Bevor er die ‚gaustte ſchloß, warf er noch 
einen Abjchiedsblid in den Flur, auf das ge 
ſchweifte Geländer der Treppe, auf den alten 


530 





braunen Schrank mit den Meffingfchnallen, der 
zwifchen Küchen- und Wohnzimmertür ftand, auf 
das Rehrichtfaß in der Ede, das mit Kartoffel- 
ſchalen, Käferinden, Knochen, Holzipänen und 
Glasſplittern angefült war, und auf die Kate, 
die ftetS heimlich und genäfchig hier herumfchlich. 
Treo des blighaft ſchnellen Anſchauens dieſer 
Dinge ſchien es Cafpar, al3 ob er fie nie deut 
licher und nie jo abjonderlich gefehen hätte. 

AS die Klinke eingefehnappt war, ließ der 
ſchier unerträgliche Drud, der feine Bruft ver- 
ſchnürte, ein wenig nad), und feine Lippen ver- 
zogen fich zu einem fchalen Lächeln, 

Dem Lehrer werd’ ich fchreiben, dachte er; 
ober nein, befjer ift e3, jelber zu fommen; wenn 
der Winter vorbei ift, werd’ ich kommen und 
mit dem Wagen vors Haus fahren; ich werd' 
e3 einrichten, daß es Nachmittag fein wird, da 
ift er daheim. Wenn er vors Tor tritt, werd’ 
ich ihm nicht die Hand reichen, ich will mich 
ftellen, als ob ich ein andrer wäre, in meinen 
ſchönen Kleidern wird er mich ja nicht erkennen, 
Er wird einen tiefen Bückling machen: „Wollen 
Euer Gnaden gnädigft eintreten?“ wird er 
ſprechen. Wenn wir im Zimmer find, ſtell' ich 
mich vor ihn hin und frage: „Erkennen Sie mich 
nun?" Er wird auf die Anie fallen, aber ich 
reiche ihm die Hand und fage: „Sehen Sie jeßt 
ein, daß Sie mir unrecht getan haben?“ Er wird 
es einjehen. „Ei,“ fag’ ich, „zeigen Sie mir doch 
mal Ihre Kinder und ſchicken Sie nad dem 
RVolizeileutnant." Den Kindern werd’ ich Gejchente 
bringen, und wenn dann der Polizeileutnant 
kommt, zu dem merd’ ich nicht reden, den werd’ 
ich nur anschauen, nur anſchauen ... 

531 


Bon der Gumbertusficche ſchlug es halb vier. 
Es war noch viel zu früh. Auf dem unteren 
Markt ging Cafpar rings an den Häufern herum. 
Vor dem Sfarchaus blieb er eine Weile finnend 
ftehen. Infolge feiner inneren Hitze fpürte er 
die Kälte kaum. Er jah nur wenige Leute, die, 
wie vom Wind gepeitfcht, ſchnell vorüberhufchten. 

As er ſich von der Hofapothele rechts gegen 
den Schloßdurchlaß wandte, ſchlug es dreiviertel. 
Da rief jemand; er blickte empor, der Fremde 
von gejtern ftand neben ihm. Er trug einen 
Mantel mit mehreren Kragen und darüber noch 
einen Pelztragen. Er verbeugte ſich und jagte 
ein paar höfliche Worte. Caſpar verftand ihn 
nicht, denn der Wind war gerade fo heftig, daß 
man hätte en müffen, um einander zu hören. 
Daher machte der Fremde bloß eine Gebärde, 
durch die er Caſpar bat, mit ihm gehen zu dürfen. 
Offenbar war er jelbjt eben im Seguift geweſen, 
den Ort des Stelldicheins aufzuſuchen. 

Bis zum Hofgarten waren es nur noch wenige 
Schritte. Der Fremde öffnete das Türchen und 
fieß Cafpar den Vortritt. Caſpar ging voran, 
als ob es fo fein mäffe. Eine Miſchung von 
einfältiger Ergebenheit und ruhigem Stolz zeigte 
ſich in feinem Geficht, um mit jonderbarer Raſch— 
heit einem Ausdrud des Grauens Plaß zu machen, 
denn der Augenblick war zu ſtark, er konnte feine 
Wucht nicht ertragen. In dem Zeitraum, den 
er brauchte, um von dem Pförtchen über den 
dichtbefchneiten Orangerieplag zu den Bäumen 
der erften Allee zu gehen, durchlebte er in feinem 
Innern eine Reihe gänzlich unzufammenhängender 
Szenen aus ferner Vergangenheit, eine Er— 
ſcheinung, die von Seelenforjchern auf biejelbe 
532 





Wurzel zurüctgeführt werben Tann wie etwa bie, 
aß ein von einem Turm Fallender während der 
Zeit des Sturzes fein ganzes Dafein an fich 
vorübergleiten jieht. Er erblidte zum Beifpiel 
die Amfel, die mit ausgebreiteten Flügeln auf 
dem Tiſch lag; dann fah er mit ungemeiner 
Deutlichleit den Waſſerkrug, aus dem er in feinem 
Kerker getrunken; dann ah ex eine ſchöne goldene 
Kette, die ihm der Lord aus feinen Schäßen ge- 
zeigt, womit die angenehme Empfindung ver- 
bunden war, die ihm Stanhopes weiße, feine 
San erregte; ferner fah er fich im Saal ber 

ienberger Burg, wohin Daumer ihn geführt, 
und feine Auge weilte auf der fanften Linie 
einer gotifchen Fenſterwölbung mit einem Ent- 
zücken, das er damals ficherlich nicht verſpürt hatte. 

Sie kamen zum Kreuzweg, da eilte der 
Fremde voraus und gab mit erhobenem Arm 
irgendein Zeichen. Gahpar gewahrte hinter dem 
Gebüfch noch zwei andre Perfonen, deren Ge— 
fichter durch die aufgeftellten Mantelkragen völlig 
verhüllt waren. 

Wer find diefe?" fragte er und zauberte, 
weil er annahm, Hier ſei der verabredete Platz. 

Mit den Blicken fuchte er den Wagen. Das 
Schneegeftöber erlaubte jedoch nicht weiter als 
zehn Ellen zu fehen. . 

„Wo ift der Wagen?“ fragte er. Da ber 
Fremde auf beide Fragen nicht antwortete, ſchaute 
er ratlos gegen die zwei hinter dem Gebüfch. 
Diefe näherten fich oder es ſchien wenigſtens fo. 
Sie riefen dem Vlatternarbigen etwas zu, exit 
der eine, dann ber andre. Darauf entfernten 
fie ſich wieder und ftanden dann auf der andern 
Seite des Wegs. 

583 


Der Fremde drehte fih um, geiff in die 
Tafche feines Mantel3, brachte ein lilafarbenes 
Beutelchen zum Vorjchein und fagte mit heiferer 
Stimme: „Oeffnen Sie es; Sie werden darin 
das Zeichen finden, das ung Ihre Mutter übergab.“ 

Cafpar nahm das Beutelchen entgegen. 
Während er fih bemühte, die Schnur zu ent- 
Inüpfen, durch die es zugebunden war, hob der 
Fremde einen langen, bligenden Gegenſtand in 
der Fauft und jchnellte mit dem Arm gegen 
Caſpars Bruft. 

Was ift das? dachte Caſpar beftärzt. Er 
fühlte etwas Eiskaltes tief in fein Fleifch glitſchen. 
Ad Gott, das ſticht ja, dachte er und wankte 
dabei. Den Beutel ließ er fallen. 

O ungeheuer, ungeheurer Schreden! Er 
geiff nad einem der Baumftämmchen und ver- 
ſuchte zu fchreien, aber es ging nicht. Auf.einmal 
brach er in die Knie. Bor feinen Augen wurde 
es ſchwarz. Er wollte den Fremden bitten, daß 
er ihm helfe, doch die Füße des Mannes, die er 
noch eine Sekunde zuvor gefehen, waren ver- 
ſchwunden. Die Schwärze vor den Augen wich 
wieder; er ſah fih um; niemand war mehr da; 
us die beiden hinter dem Gebüfch waren nicht 
mehr da. 

Er kroch nun auf allen vieren ein wenig am 
Gebüfch entlang und ſenkte den Kopf herunter, um 
fein Geficht vor dem nafjen Schneejtaub zu ſchützen, 
den ihm der Wind entgegenjprigte. Ex machte 
ein paar Bewegungen mit dem Körper, als ſuche 
er in der Erde eine Höhlung zum Hineinſchlüpfen, 
konnte dann nicht weiter und blieb figen. Ihm 
ſchien, als viefle etwas im Innern feines Leibes. 
Es fror ihn jest erbärmlich. 

534 





Möcht’ fehen, was in dem Beutel ift, dachte 
er, mährend feine Zähne Happerten. O uns 
Ehe su Schreden, der ihn abbielt, no jener 

telle zu blicken, mo der Fremde geftanden. 

Wenn id nur ein Wort wüßte, durch das 
mir leichter würde, dachte er, wie einer, ber fich 
durch Bauberformein zu fügen wähnt. Und er 
fagte zweimal: „Dufatus" 

Welches Wunder, plöglich ward ihm leicht. 
Er glaubte aufftehen und nach Haufe gehen zu 
können. Er erhob fih. Er jah, daß er gehen 
konnte. Nachdem er einige taumelnde Schritte 
gemacht, fing er an zu laufen. Ihm war, als 
ob fein Körper ahne Schwere fei, ihm war, als 
fliege er. Er lief, lief, lief. Bis zum Tor des 
Gartens; über den Schloßplat; über den Markt 
an der Ricche vorbei; bis yum um Kronacher Bud, 
Hr ef den Flur des Quandtſchen Haufes; lief, 
lief, Tief. 

In Schweiß, jebabet, ſtürzte er in ben Flur. 

. Weiter ging's nicht mehr; keuchend lehnte er fich 
an die Wand. Die Magb gewahrte ihn zuerft. 
Ueber fein Ausfehen entjebt, gab fie einen gellen- 
den Schrei von fi. Da kam Quandt aus der 
Stube; feine Frau folgte ihm. 

Cafpar ſtarrte ihnen entgegen, ſprach aber 
nichts, jondeen deutete bloß auf feine Bruft. 

uns ift gefchehen?“ fragte Quandt rauh 


Zharen — ogtechen “ ftammelte Caſpar. 
Und Quandt? Wir fehen ihn fehmungeln. 
Nichts andres: wir km, ihn ſchmunzeln. Und 
wenn Jahrhunderte, feierlich in Purpur angetan 
wie Gottes Engel, auf uns zutreten und uns 
beſchwören, die Tatjachen nicht zu verzerren, fo 
585 


und 





ift nichts andres zu erwidern, als daß Quandt 
fhmungelte, feltfam ſchmunzelte. „Wo find Sie 
denn geftochen, mein Lieber?" fragte er gebehnt. 

Wieder deutete Caſpar auf feine Bruft. . 

Quandt Inöpfte ihm Rod, Weite und Hemd 
auf, um die Wunde anzufcauen, Richtig, da 
mar ein Stich, nicht größer als eine — 
Aber nicht die geringe Spur von Blut war 
zu bemerken. Eine Wunde ohne Blut, das gibt 
es nicht; das ift wie eine Behauptung ohne 
Beweiß. 

„Alfo geftochen,“ ſagte Quandt. „So lafjen 
Sie und fofort umkehren und zeigen Sie mir den 
Play im Hofgarten, wo das paifiert fein fol,“ 
fügte ex energisch hinzu. „Was haben Ste denn 
zu diefer Stunde und bei folchem Wetter im 
Hofgarten zu tun gehabt? Marſch, kommen 
Sie! Die Sache muß unverzüglich aufgeklärt 
werden.“ 

Caſpar widerſprach nicht. Er jchleppte ſich 
au des Lehrer Seite wieder auf die Galle. 
Quandt A. ihn unter, wie ein Krüppel jchlich 
Caſpar dahin. 

Nach langem Schweigen fagte Duandt in ver- 
biffenem Ton: „Diesmal haben Sie Ihren dümm⸗ 
ften Streich gemacht, Haufer. Diesmal wird es 
feinen fo guten Ausgang nehmen wie beim Pro- 
feſſor Daumer, das kann ich Ihnen ſchriftlich 


afvar blieb ftehen, warf einen jchnellen Blick 
gen — und ſagte: „Gott — wiſſen.“ 

„Machen, Sie nur keine Faren,“ zeterte 
Quandt, „ich weiß, was ich weiß. Wenn Sie 
ſich auch noch ſo ſehr auf Gott berufen, damit 
haben Sie bei mir fein Glück, denn Sie find 
530 


ein gottlofer Menſch von Grund auf. Ich kann 
onen nur raten, fpielen Sie nicht länger die 
Stumme von Portici umd geftehen Sie lieber 
gleich. Ein wenig bange magen wollen Sie ung, 
die Leute wollen Sie durcheinander heben. Ge: 
ftohen? Wer foll Sie denn geftochen haben? 
Vielleicht um Ihnen Ihre jämmerlihen paar 
Moneten aus der Tajche zu ziehen? So ein 
Unfinn! Gehen Sie ‚nicht jo langſam, Haufer, 
meine Zeit ift knapp.“ 
„Den Beutel — will ich holen,“ ftammelte 
Safpar leiſe. 

Was denn für einen Beutel?“ 

„Der Mann — mir gegeben.“ 

„as für ein Mann ?* 

‚Der mich geftochen." 
"Aber nen, Haufer, es ift ja himmel- 
Kl ilden "Sie In denn ein, daß ich an 
iejen Mann nur im entfernteften glaul ? & 
wie an den fchmarzen Peter. Bilden Sie 
Fr enn ein, daß ich über den wahren Täter 
einen Augenblick im Zweifel bin? Geftehen 
Sie's doch! Geftehen Sie, daß Sie Al jelber 
an bißchen geſtochen haben. Ich will über bie 
Sache noch einmal fehweigen, ich will Gnade für 
Recht ergehen laſſen.“ 

Cafpar meinte. 

Dicht vor dem Hofgarten brach er plötzlich 
äufammen. Quandt mar verwirtt. Es kamen 
einige Männer des Weges, diefe bat er, daß fie 
den Züngling nad) Haufe führen möchten, er jelbit 
wolle zur Polizei. Die Männer mußten erſt ge⸗ 
raume Weile warten, bis ſich Caſpar ein wenig 
erholt hatte; auch dann hielt es ſchwer, ihn zum 
Gehen zu bewegen. 

637 


Es wurde fpäter von den Aerzten als eine 
Unbegreiffichfeit bezeichnet, daß Caſpar mit der 
furchtbaren Deiesung in der Bruft imftande 
jerwejen war, den Weg vom Hofgarten. zum 

hrerhaus, hernach vom Lehrerhaus zum Schloß- 
platz und endlih vom Schloßplat wieder nach 
Haufe zurüdzulegen, das erftemal laufend, das 
zweitemal am Arme Quandts, da3 drittemal von 
den Männern halb gezogen, im ganzen über 
ſechzehnhundert Schritte. 

As Quandt den Weg nach dem Rathaus 
einfchlug, war es finfter geworden. Der bienjt- 
tuende Offiziant erflärte, daß ohne fpeziellen 
Auftrag des Bürgermeifters, der im Babe jei, 
die Anzeige nicht protofolliert werden dürfe. Der 
Lehrer ſchwatzte noch eine Weile mit ihm, dann 
begab er fi unmillig und verdrofien in die 
eine Viertelftunde vor der Stadt gelegene Rlein- 
ſchrottſche Badewirtſchaft, wo ber Dürgermeifter 
im Kreis feiner Vertrauten beim Bier faß. 
Quandt trug den Fall vor. Man jtaunte, zweifelte, 

lädierte, bejtieg den Amtsfchimmel und geftattete 
ierauf die förmliche Proiokollaufnahme. Um 
ſechs Uhr wurde das interefjante Alienprodukt 
ei Zaternen- und Kerzenjchein dem Stadtgericht 
zur weiteren Unterſuchung übergeben. 

Quandt kehrte nach Haufe zurüd. Auf der 
Gaſſe vor feiner Wohnung fand er viele Menjchen, 
und zwar waren e3 Perjonen jeglichen Standes, 
die dem Unmetter zum Trotz gekommen maren 
und in einem Schweigen verharrten, das den 
Lehrer ſtutzig machte. Er ging fogleih in das 
Bimmer Caſpars, der zu Bett gebracht worben 
war. Der Doktor Horlacher mar zugegen. Er 
hatte die Wunde ſchon unterfucht, 


538 





„Wie ſteht's?“ fragte Quandt. 

Der Doktor antwortete, e3 ſei fein Grund 
zu ernfter Beſorgnis vorhanden, 

„Das dacht’ ich mir," verfegte Quandt. 

Jetzt erichien der Hofrat. Hofmann. Ein 
Volizeifoldat hatte ihm unten den Tilafarbenen 
Beutel übergeben, der an der Unglüdsftätte ge- 
funden worden war. 

„Kennen Sie diefen Beutel?" fragte der Hofrat. 

Mit fieberglänzenden Augen blidte Caſpar 
auf den Beutel, den der Hofrat öffnete. Es 
lag ein Zettel darin, der, fo fchien es zunächit, 
mit Hieroglyphen bedeckt war. 

Die Lehrerin, die dabeijtand, fchüttelte den 
Kopf. Sie zog ihren Mann beifeite und fagte 
zu ihm: „Es 4 doch eigen; genau ſo legt der 

auſer immer feine Briefe zuſammen, wie das 
sapier im Beutel zufammengefaltet war.” 

Quandt nidte und trat an die Seite des 
Hofrats, der den Zettel erft prüfend betrachtete 
"und dann einen Handſpiegel verlangte. 
cken ift wohl Spiegelichrift," ſagte Quandt 
ächelnd. 
da," erwiderte der Hofrat; „eine ſonderbare 


Er ftellte Schrift und Spiegel einander gegen- 
über und las vor: „Safpar Haufer wird Euch genau 
erzählen können, wie ich ausfehe und wer ich bin. 
Dem Haufer die Mühe zu Sparen, denn er 
könnte ſchweigen müffen, will ich aber jelber 
jagen, woher ich komme. Ich komme von der 
bayriſchen Grenze am Fluß. Ich will Euch fogar 
meinen Namen verraten: M.L. O.“ 

„Das Mingt ja geradezu höhnifch,“ fagte der 
Hofrat nad} einem verwunderten Schweigen. 

589 


Quandt nidte erbittert vor ſich hin. 

Als Caſpar die vorgelefenen Worte ver- 
nommen hatte, fiel fein Kopf ſchwer in das Kiffen 
und eine grenzenlofe Verzweiflung malte fich in 
feinen Zügen. Es ſchloß ſich fein Mund mit 
einem Ausdrud, al wolle er von nun an nie 
mehr reden. Und daß er hätte reden können, 
womit diefer M. L. O. offenbar, nicht gerechnet 
hatte, empfanb er bis in das Fieber hinein als 
eine Art ſchmerzlichen Triumphes. 

Quandt, den Zettel, den ihm ber Hofrat ge= 
jeben, zwifchen den Händen, wanderte aufgeregt 
in und her. „Das find fchöne Streiche,” rief 

er aus, „Ichöne Streiche! Sie halten das Mitleid 
Ihres Jahrhunderts zum beften, Haufer. Sie ver- 
dienen eine Tracht Prügel, das verdienen Sie." 

Der Hofrat runzelte die Stirn. „Gemadh, 
Herr Lehrer; laſſen Sie das doch!" fagte er mit 
ungewöhnlich ernftem Ton. Bevor er fich ver- 
abichiedete, verſprach er, am nächften Morgen den 
Kreisphyſikus zu ſchicken, woraus erfichtlih war, 
daß auch er an keine unmittelbare Gefahr dachte. 

Indes kam der Kreisphyfifus, von Frau von 
Imhoff dazu bewogen, noch am ſelben Abend. 
Es war der Medizinalcat Doktor Albert. Er 
unterfuchte Caſpar mit großer Sorgfalt; als er 
fertig war, machte er ein bedenkliches Geficht. 
Quandt, feltfam gereizt dadurch, fagte faft heraus- 
fordernd: „Es fließt ja gar fein Blut aus der 


Senftei das d [die mög- 
hr af Herz und empfahl die mög. 
540 





Quandt griff ſich an die Stirn. „Wie," 
fagte er zu jeiner Frau, „ſollte ſich der Burſche 
in feinem Leichtfinn doch ernftlichen Schaden zu- 
gefügt haben?" 

gie Lehrerin ſchwieg. 

„Ich bezweifle es, ich muß es bezweifeln,” 
fuhr Quandt fort. „Sie doch felbft, der fonft 
jo wehleidige Wienſch klagt ja mit keiner Silbe 
über Schmerzen.“ 

„Ex antwortet auch nichts, wenn man ihn 
fragt, ” fügte die Frau hinzu. 

Um neun Uhr fing Caſpar an zu delitieren. 
—* war eniſchloſſen, an das Delirium nicht 

lauben. Als Cajpar aus dem Bett fpri en 

Sole, ſchrie er ihn an: „Machen Sie nicht fo 
wiberlichen Umftände, Haufer! Gehen Sie Khteunig 
in u Bett zurück.“ 

Pfarıze Fuhrmann trat gerade in das 
Simmerv hörte dies. „Aber Ouandt! Quandt!" 
ſagte er entfegt. „Ein wenig Milde, Quandt, 
im Namen unfrer Religion.” 

„D," verfegte Quandt kopfſchüttelnd, „Milde 
iſt hier fchlecht angebracht. In Nürnberg, wo 
er doch auch fo eine vermorfene Komödie auf 

jeführt ‚hat, gebärdete er fich genau fo, und ich 
habe mir fagen lafjen müſſen, daß er dabei von 
zwei Männern ift gehalten worden, Was mid) bes 
teifft, ich laſſe mir fo ein Schaufpiel nicht bieten.“ 

Frau von Imhoff hatte eine Pflegerin vom 
Krankenhaus geſchickt, die über Nacht an Caſpars 
Lager wachte. Er ſchlummerte zwei bis drei 
Stunden. 

Schon früh am Morgen erjchien eine Gerichts» 
fommiffton. Cafpar war bei klarem Bemußtfein. 
Vom Unterfuhungsrichter aufgefordert, erzählte 

541 


Brunnen in den Hofgarten beftellt. 

„gu welchem Zweck beftellt ?" 

„Das weiß ich nicht." 

„Er hat darüber gar nichts gejagt?" 

„Doch; er hat gejagt, man Fönnte die Ton- 
arten des Brunnens bejichtigen." 

„Und daraufhin find Sie ihm ſchon gefolgt? 
Wie jah er aus?" 

Caſpar gab eine kurze, abgerifen elallte 
Beſchreibung und der Art, wie ihn ‚ende 
gejtochen. Sonft war nichts aus ihm heraus- 
zubringen. \ 


ev, ein fremder Ei babe ihn zum arteſiſchen 


€3 wurde nach Zeugen gefahndet. Es ftellten 
fih Zeugen. Zu fpät für die Verfolgung des 
Täter. Schon die erfte Anzeige war, durch die 
Mitfhuld Quandts, unverantwortlich verzögert 
worden. Als man die am Ort des Verbrechens 
befindlichen Blutfpuren unterfuchen wollte, ergab 
es fih, daß inzwifchen fchon zuviele Menſchen 
dageweſen waren und den Schnee zertreten hatten. 
Aus einem fo wichtigen Umftand Nuten zu ziehen 
mußte alſo von vornherein verzichtet werden. 

Zeugen fanden fi genug. Die Zirkelwirtin 
in der Rofengaffe befundete, gegen zwei Uhr fei 
ein Mann in ihr Haus gekommen, den fie nie 
zuvor gejehen, und habe gefragt, wann eine Retour 
nad Nördlingen gehe. Der Mann war ungefähr 
fünfunddreißig Jahre alt geweſen, von mittlerer 
Größe, bräunlicher Hautfarbe und mit Blatter- 
narben im Geficht. 

Er habe einen blauen Mantel mit Pelzkragen, 


542 





einen runden ſchwarzen Hut, grüne Pantalons 
und Stiefel mit gelben Schraubiporen getragen. 
In der Hand hielt er eine Neitgerte. Er habe 
nur fünf Minuten geweilt unb ganz mwenig ge- 
m en; auffallend ſei es geweſen, daß er nicht 
jagen gewollt, wo er logierle. 

So beichrieb auch der Afjefjor Donner einen 
Mann, den er um drei Uhr im Hofgarten neben 
der Lindenallee gejehen, und zwar in Gefellichaft 
von zwei andern Männern, die der Affefjor je: 
doch nicht betrachtet hatte. 

Ein Spiegelarbeiter namens Leich ging ein 
paar Minuten vor vier Uhr von feiner Wohnun; 
auf dem neuen Weg durch die Poftftraße auf 
die Promenade und von da über den Schloß- 
platz. Er ſah vom Schloß ber zwei Männer 
über die Gafje fchreiten und, die Reitbahn zur 
Linken laſſend, zum Hofgarten gehen. Er erkannte 
in, dem einen von ihnen Cafpar Haufer. Als die 
beiden zum Laternenpfahl am Et der Reitbahn 
Tamen, wandte fih Caſpar Haufer um und blidte 
den Schloßplag hinauf, fo daß ihn der Be— 
obachter noch einmal und genau hatte fehen 
Tönnen. Bei den Schranken blieb der Fremde 
keben, um Haufer mit böflicher Gebärde den 

ortritt zu lafjen. Der Arbeiter dachte für fich: 
wie doch die Herren bei folhem Sturm und 
Schnee fpazierengehen mögen. 

„Drei Viertelftunden fpäter,“ erzählte der 
Mann, „als ich von einer Beſorgung beim 
Büttner Pfaffenberger zurückkam, ftanden auf dem 
Schloßplatz viele Leute, die jammerten und fagten, 
der. Haufer ſei im Hof Igarten exftochen worden.“ 

Und weiter. Ein Gärtnergehilfe, der in ber 
Orangerie befchäftigt ift, hört gegen vier Uhr 

543 


Stimmen. Er blidt zum Fenſter Hinaus und 
ieht einen Mann im Mantel vorüberlaufen. Der 
ann läuft einen guten Trab. Die Stimmen 
find etwa einen Büchſenſchuß weit vom Drangerie- 
Ya entfernt pewdien, nicht fo weit, wie das 
ſche Dentmal tft. Es waren Wweierlei Stimmen, 
eine Baß⸗ und eine helle Stimme. 

Neben der Weidenmühle wohnt eine Näherin. 
Ihr Fenſter geht auf den Hofgarten; fie fieht 
bis in die zwei gegen den hölzernen Tempel zu 
führenden Allen. Bei beginnender Dämmerung 
jerwahrt fie den Mann im Mantel; er tritt aus 
dem neuen Gittertor gm fteigt am Abhang der 
Nezatwiefe hinab. Er ftußt, als er vor dem 
hochgeſchwollenen Waffer fteht. Ex kehrt um und 
wendet fich gegen die Stäffelhen an der Mühle, 
geht über den Steg auf der Eiberftraße und 
verfchwindet. Die Frau hat von feinem Geficht 
nur einen fchräglaufenden ſchwarzen Bart wahr- 
nehmen können. 

Es meldet fich auch der Schreiber Dillmann 
u einer Ausfage. Die unverbrüchliche Gewohn⸗ 
beit de3 alten Kanzliften ift e8, jeden Nachmittag, 
wie das Wetter auch befchaffen it, zwei Stunden 
lang im Hofgarten zu promenieren. Er bat 
Caſpar und den Fremden gefehen. Ex verfichert 
aber, nicht vorangegangen ſei Cafpar bem 
den, fondern hintennach fei er gegangen. „ 
it ihm efolgt, wie das Lamm dem enger ur zur 

chlachtbank folgt," ſagt er. 

Zu ſpät. Zu ſpät der Eifer. Zu ſpät die 
erlaffenen Stedbriefe und Streifzüge der Gen- 
darmerie. Es konnte nicht mehr fruchten, daß 
man fogar den Rezatitrom aus feinem Bett leitete, 
um vielleicht da8 Mordinftrument zu entdeden, 
54 


das der Unbefannte bei feiner Flucht von fich 
geworfen haben mochte. Was lag an diefem Dolch? 

Was lag an den Zeugen? Was lag an den 
Verhören? Was lag an den Indizien, womit 
eine haumfefige Juſtiz ihre Anfebigtet prableeiich 
verbrämte? Es wurde gejagt, daß die Nach: 
forfhungen planlos und kopflos betrieben wurden. 
&3 wurde gejagt, eine geheimnisvolle Hand fei 
im Spiel, deren Machenfchaften darin gipfelten, 
die wahren Spuren allmähli und mit Abficht 
u vermischen und die Aufmerkſamkeit der Be— 
örde ivrezuleiten. Wer es jagt, konnte natür- 
lich nicht erkundet werden, Denn die öffentliche 
Meinung, ein Ding, ebenfo feig wie umgeeifbar, 
oralelt nur aus ficheren Hinterhalten. Und fie 
ſchwieg gar bald file hier, wo Verleumdung, 
Bosheit, Lüge, Dummheit und Heuchelei 
ſchönes Menſchenbild wie zwiſchen Mühlrädern 
zermalmten, bis daß nichts mehr übrigblieb als 
ein ärmliches Märchen, wovon ſich das Volt 
diefer Gegenden an rauhen Winterabenden vor 
dem Ofen unterhält. 


Am Sonntag nachmittag traf Quandt den 

jungen Feuerbach, den Bhilofophen, auf der Straße. 
„Wie geht’3 dem Haufer?” fragte der den 
ver. 

„Ei, er ift ganz außer Gefahr; dank’ der 
Nachfrage, Herr Doktor," antwortete Duandt 
gchämänig; „Die Gelbfucht ift eingetreten, aber 
as fol ja die gemöhnliche Folge einer heftigen 
Erregung fein. Ich bin Abergeugt, dag er in 
ein paar Tagen das Bett wird verlafjen können.“ 

Baffermann, Gafpar Haufer 35 545 





Sie fprachen noch eine Weile von andern 
Dingen, berg um Si) von der neuerdings zwiſchen 
rth geplanten Dampfichienen- 
Prag ein Unternehmen, gegen das Quandt eine 
janze Kanonade von Pl ſis auffahren Lie, 
dann Derabfiiebete er e ich von dem ftillen jungen 
Mann mit der Dankbarkeit eines beklatfchten 
Redners und eilte, Seftänbig vor fih —e 
nach Haufe. Er war in einer höchſt auserfiche 
lichen Stimmung, einer Stimmung, in 
bereit ift, feinen ärgiten Feinden ac to pr 
eihen zu laſſen. Warum, das mochten die 
ötter wiſſen. War der jchöne Tag daran 
ſchuld? Man darf nicht vergefien, daß in Quandt 
33 eine Art von Poet ſteckte; oder war es die 
Nähe des Weihnachtsfeſtes, das jedem guten 
Chriſtenmenſchen gleichſam eine Erneuerung feiner 
Seele verjpriht? Oder war e8 am Ende ber 
Umftand, daß gegenwärtig fo viele vornehme und 
ausgezeichnete Gelonen fe fein. beſcheidenes Heim 
aufjuchten und daß er inmitten dieſes bejcheidenen 
Heims eine Stellung von ungeahnter Wichtigkeit 
innehatte? Genug, wie dem auch fein mochte, 
er war mit ſich zufrieden, ii ftammte jein 
Lächeln aus der lauterften Duelle. 
Vor feiner Wohnung traf er auf den gpoligei 
leutnant. „Ab, vom Urlaub zurüd?" bi 
er ihn mit gedankenlofer Freundlichkeit, Gfei 
darauf fagte er fh: mit dem habe ich ja no 
ein Hühnchen zu en. 
idel drüdte die Augen zufammen und ſah 
aus, als ob er lachen wollte. 
Sie gingen miteinander hinauf. 
Cafpar ſaß mit nacktem Oberleib im Bette, 
gegen anfgetüumte Kiffen gelehnt, ſtarr wie eine 
546 


Figur aus Lehm, das Geficht grau wie Vims⸗ 
jtein, die Haut des Rörpes graben weiß wie eine 
Magnefiumflamme. edizinalrat hatte fo- 
eben den Verband abgenommen und wuſch die 
Wunde. Außerdem war noch ein Kommiljtons- 
altuar zugegen. Diefer hatte am Tiſch Platz 
genommen; ein Protofollformular lag bei ihm, 
auf dem die lafonifchen Worte ftanden: „Der 
Damnifitat verbleibt bei feinen bisherigen De 
pofitionen.“ Ueber einen eingefangenen Straßen» 
räuber hätte man fich nicht beffer und nieblicher _ 
ausdrücen können. 

Raum hatte Caſpar den eintretenden Hidel 
geroabrt, als er den wie einen gebrochenen Blumen» 
elch feitwärts gefenkten Kopf aufrichtete und 
mit weitgeöffneten Augen, in denen ein ganz un» 
fäglicher Schreden lag, dem Ankömmling ins 
Geficht ftarrte. 

Ohne zu Iren, erhob Hickel drohend den 
Zeigefinger. Diefe Gebärde ſchien den Schreden 
Caſpars aufs äußerfte zu treiben; er faltete die 

ände und murmelte ächzend: „Nicht nahe 
ommen! Ich Hab’ ja doch nicht jelber 
getan.” 

„Aber Haufer! Was fällt Ihnen denn ein!" 
tief Hickel mit einer Luftigfeit, die man etwa im 
Wirtshaus zur Schau trägt, und feine gelben 
Zähne blinkten zwiſchen den vollen Lippen; „ich 
hab’ Ihnen ja mur gedroht, weil Sie ohne Er- 
laubnis in den Hofgarten gegangen find. Wollen 
Sie das vielleicht auch leugnen ?" 

„Keine Auseinanberjegungen, wenn ich bitten 
darf," mahnte der Medizinalrat unwillig. Er 
hatte den Verband erneuert, zog nun den Lehrer 
eifeite und fagte leife und ermft: „Ich kann 

547 


Ihnen nicht verhehlen, daß Haufer wahrſcheinlich 
die Nacht nicht überleben A 

Dffenen Mundes ftierte Quandt den Arzt an. 
Seine Knie wurden weich wie Butter. „Wie? 
Was?" hauchte er, „iſt's möglich?" Er fchaute 
alle Anweſenden ber Reihe Bun kangfam an, 
wobei jein Geficht dem eines Menfchen glich, 
der fich joeben behaglich zum Eſſen ken wollte 
und dem plötzlich Schüfjel, Teller, Mefjer und 
Gabel, ja ber ganze Tiſch weggezaubert wird. 

„Kommen Sie mit mir, Herr Lehrer,“ fagte 
mit heiferer Stimme Hickel, der am Ofen ſtand 
und mit finnlofer Gefchäftigfeit feine Hände an 
den Kacheln vieb. 

Quandt nickte und fehritt mechanifch voraus. 

„Iſt's möglich!" murmelte er wieder, als er 
a der Stiege ftand. „Iſt's möglich!" Hilfe 
uchend blickte er den Polizeileutnant an. „Ach,“ 

ihr er elegifch fort, „wir Haben doch unfer 
redlich Teil getan. An treuer Fürforge haben 
wirs wahrlig, nicht fehlen laſſen.“ 

„Laffen Sie doch die Flaufen, Quandt,“ ant- 
mwortete der Polizeileutnant grob. „Sagen Sie 
mir lieber, was hat denn der Haufer alles ge- 
tedet in feinem Wahn?" 

„Unfinn, lauter Unfinn,“ verſetzte Quandt 
bekümmert. 

„Achtung, Herr Lehrer, da ſehen Sie mal 
— rief Hickel, indem er ſich über das 

eländer beugte. 

„Was denn?“ gab Quandt erſchrocken zurück, 
„ich ſehe nichts." 

„Ste jehen nicht8? Pob Kübel, ich auch nicht. 
Es fcheint, wir fehen beide nichts." Ex lachte 
munderlich, richtete fich wieder kerzengerade auf 
548 


und hüftelte trocken. Dann ging er, indes Quandt 
ihm nicht wenig betroffen nachguckte. 

Wohin fol e8 auch kommen mit der Welt, 
wenn Leute wie Hickel unter die Gefpenfterjeher 
geraten? Auf ihren robuften Schultern ruhen 
die Fundamente der Ordnung, des Gehorfams 
und aller ftaatlich anerfannten Tugenden. Mag 
& auch in diefem befonderen Fall & beichaffen 

eweſen fein, daß die Ausgeburt rühmensmwerter 
Intertaneneigenfchaften dennoch einer Negung 
böfen Gewiſſens anheimfiel, nun, dann muß er- 
Härt werden, daß diejes böfe Gewiffen mit einem 
martialifchen Ausfehen gefegnet war, daß es zu 
allen Mahlzeiten einen beneidenswerten Appetit 
entwidelte und daß es das fanftejte en 
für einen unvergleichlich gefunden Schlaf war, 
der duch feine Feuerglode und fein Tedeum 
hätte geftört werben können. 

Zimmer Caſpars hatte der Kommiffions« 
aktuar neuerdings ein Verhör begonnen. Gafpar 
follte jagen, ob noch ein Dritter zugegen geweſen 
jei, während er im Appellgericht mit dem fremden _ 
Mann gejprochen. 

Caſpar antwortete matt, er habe niemand 
bemerkt, nur vor dem Tor feien Leute geweſen. 
„Arme Leute pafjen mir immer dort auf," fagte 
er, „zum Beifpiel eine gewiſſe Feigelein, der hab’ 
ich manchmal einen Kreuzer gegeben, auch. die 
Tuchmacherswitwe Weigel." 

Der Altuar wollte weiterfragen, doch Caſpar 
lifpelte: „Müde — recht müde.“ 

„Wie ift Ihnen, Hauſer?“ erfundigte ſich die 

ärterin. 

„Müde,“ wiederholte er; „werd' jest bald 
weggehen von diefer Laftermelt." 

549 


Eine Weile jhrie und redete er für fich Hin, 
hernach wurde er wieder ganz ſtille. 

Er ſah ein Licht, das langſam erloſch. Er 
vernahm Töne, die aus dem Innern feines Ohrs 
zu dringen ſchienen; e8 lang, wie wenn man mit 
einem Hammer auf eine Metallglode haut. Er 
erblickt eine weite, einfame, dämmernde Ebene. 
Eine menſchliche Geftalt rennt ſchnell darüber hin. 
O Gott, es ift Schilöfnecht. as läufit du fo, 
Schildknecht? ruft er ihm zu. Hab’ Eile, große 
Eile, antwortet jener. Auf einmal_jchrumpft 
Schildknecht zuſammen, bis er eine Spinne ift, 
die an einem glühenden Faden zum Aſt eines 
tiefengroßen Baumes emporklimmt. Tränen des 
Grauens wie Regen aus Gafpar Augen. 

Er fah ein ſeltſames Gebäude; es glich einer 
Toloffalen Kuppel; es hatte fein Tor, feine Tür, 
fein Fenſter. Aber Cafpar konnte fliegen, flog 
hinauf und ſchaute durch eine kreisrunde Deff- 
nung in das innere, dad von himmelblauer Luft 
erfüllt war. Auf himmelblauen Marmorfliefen 
ftand eine Frau. Vor diefe trat ein Menich, 
faum deutlicher zu jehen als ein Schatten, und 
er teilte ihr mit, daß Cafpar geftorben fei. Die 
Frau hob die Arme und fchrie vor Schmerz, daß 
die Wölbung erzitterte. Da klaffte der Boden 
auseinander und es fam ein langer Zug von 
Menichen, die alle weinten. Und Galpar ſah, 
daß ihre Herzen zitterten und zuckten wie lebendige 
Fiſche in der Hand des Fiſchers. Und einer trat 
heraus, der gerüftet war und ein Schwert trug, 
der ſprach ungeheure Worte, aus denen fich das 
ganze Geheimnis enthüllte. Und alle, die zuhörten, 
preßten die Hände gegen die Ohren, jchloffen 
die Augen und ftürzten vor Kummer zu Boden. 
550 


Dann war alles verwandelt. Cafpar fpürte 
fs vol von wunderbaren Kräften. Ex jpürte 
ie Metalle in der Exde, von tief unten zogen 
fie ihn an, und die Steine fpürte er, die Adern 
von Erz hatten. Dazwiſchen ruhte vielfältiger 
Samen, und er brach auf, und die Würzlein 
füofien und bebend hoben fich die Gräfer. Aus 
em Boden fprangen Quellen hoch empor wie 
Fontänen und auf Yen Spitzen leuchtete die will- 
ommene Sonne. Und inmitten des Weltalls 
ftand ein Baum mit weitem Gipfel und unzähligen 
Veräftelungen; rote Beeren wuchſen aus den 
Queigen, und auf der Krone oben bilbeten die 
eeren die Form eines Herzens. Innen im Stamm 
floß Blut, und wo die Rinde Keaen war, 

ſickerten fhroägticheote Tropfen hindurch. 
Mitten in diefem Wogen verzweiflungsvoller 
Bilder und krankhafter Entzüdungen war es 
Cafpar, als ob ihn jemand in einen Raum trüge, 
wo feine Luft zum Atmen mehr war. Da half 
kein Sträuben und Sihbäumen, es trug ihn hin 
und ein kühler Wind wehte über fein Haar, feine 
Finger krümmten ſich, als fuche er fich irgendwo 
zu halten. Es war eine namenlofe Erſchoͤpfung, 
von welcher der vergebliche Kamp begleitet war. 
Auf der Straße fuhr der Nürnberger Poſt⸗ 
wagen vorbei, und der Poſtillon blies ins Horn. 
Es Tamen bis zum Abend viele Leute, um 
nad Kar Befinden zu fragen. Frau von 

Imhoff blieb lange an feinem Bett figen. 
Um acht Uhr ſchickte die Pflegerin zum Pfarrer 
uhrmann, der mit größter Schneli, keit eintraf. 
legte Caſpar die Hand auf die Stirn. Mit 
angftvoll grchen Augen ſchaute fih Cafpar um; 
feine Schultern zitterten. Er machte mit dem 
551 





igefinger auf dem Deckbett Bewegungen, als 
mol m e —X Das dauerte jedoch nicht 


iange haben mir einmal geſagt, lieber Hauſer, 
daß Sie auf Gott vertrauen und mit ſeiner 
Sende jeden Kampf kämpfen wollen," fagte der 


Weiß es nicht," flüfterte Caſpar. 
„Haben Sie denn heute ſchon zu Gott & 
betet und ihn um feinen Beiltand angerufen?“ 
Caſpar nicte. 
„And wie ift Ihnen barauf, gemwejen? Haben 
Sie ſich nicht geftärkt gefühlt?" 
hr: [par ſchwieg. 
sollen Sie nicht wieder beten?“ 
re; vergehen mir gleich die 
Gedanken." Und nach einer Weile fagte er wie 
ie fich, fekfem leiernd: „Das ermüdete Haupt 
ittet um Aube.” 

„So will ich ein Gebet fpreden,“ fuhr der 
Pfarrer ‚fort, „beten Sie im ftillen mit. Vater, 
nicht mein —" 

„Sondern dein Wille geſchehe,“ vollendete 
Caſpar hauchend. 

„Wer bat jo gebetet?" 

„Der Heiland." 

„Und wann?“ 

"Bor — feinem — Sterben." Bei diefem 
Wort fteäubte fich fein Körper empor und über fein 
Sen t ging ein höchſt qualvolles Buden. Er 

knirſchte mit den Zähnen und fehrie breimal 
gellend: „Wo bin ich denn?" 

„Aber, Haufer, in Ihrem Bett find Gie," 
berubigte ihn Quandt. „Es kommt ja bei Kranken 
öfter vor, daß fie fich an einem andern Ort zu 
662 


befinden wähnen," wandte er ſich erflärend an 
den Pfarrer Fuhrmann. 

„Geben Sie ihm zu trinken,“ fagte dieſer. 

ze Lehrerin Grade ein Glas files Waſſer. 

Als Caſpar getrunken hatte, wiſchte Ir 
Quandt den kalten Schweiß von der Stirn. 
felber bebte an allen Gliedern. Er beu— je Mi 
über den Jüngling und fragte dringend, 
beihmörend: „Haufer! Haufer! Haben Si mi 
mic mehr zu jagen? Sehen Sie mich einmal fo 

t aufrichtig an, Haufer! Haben Sie mir 

ichts 18 mehr zu beichten 2" 

Da padte Cam in böcfer Herzensnot 
die Hand des Lehrers. „Ad Gott, ach Gott, 
fo al kratzen müffen mit ‚Shimpf und Schande!" 
ſtieß er jamı 

Das waren ſeine Testen Worte. Ex tel nie 
ſich ein menig auf die rechte Seite und drehte das 
Gefiht zur and. Jedes Glied feines Körpers 
ſtarb einzeln ab. 

Zwei Tage fpäter wurde er begraben. Es 
war nachmittag und der Himmel von molten- 
lofer Bläue. Die ganze Stadt war in Bewegung. 
Ein berühmter Beitgenoffe, der Gafpar Haufer 
das Kind von Europa nennt, erh It, es ſei zu 
der Stunde Mond und Sonne u eher Zeit am 
Firmament 1 geftanben, jener im Often, diefe im 
Weiten, und beide Geftirne hätten im jelben 
fahlen Glanz geleuchtet. 


Etwa anderthalb Wochen fpäter, drei Tage 
nad Weihnachten, es war Abend und Quandt 
und feine Frau wollten ſich eben zu Bett bes 
geben, erſchallten ſtarke Schläge gegen das Haus- 

568 


tor. Sehr erfchroden, zögerte Quandt eine Weile; 
erſt als fich die Schläge wiederholten, nahm er 
das Licht und ging, um zu öffnen. 

Draußen fand Frau von Kannawurf. 
Führen Sie mid in Caſpars Zimmer,” fagte 
e zum Lehrer. 

Jetzt noh? In der Nacht?" wagte diefer 
nzuwenden. 

„Jetzt, in der Nacht," beharrte die Frau. 

Ihr Weſen ſchüchterte Quandt bergeftalt ein, 

er ſtumm zur Seite trat, fie vorangehen 

eß und mit dem Licht folgte. 

In Cafpars Zimmer erinnerte wenig an den 
erftorbenen. Es war alles umgeftellt und 
rräumt. Nur das Holzpferdchen fand noch 
if dem Ecktiſch neben dem Fenſter. 

„Laffen Sie mich allein," gebot Frau von 
annamurf. Quandt ftellte den Leuchter bin, 
tfernte ſich ſchweigend und wartete in Gemein- 
joft mit feiner rau unten an der Stiege. 

ift ſehr gutmätig von mir, daß ich mir jo 

was in meinem Haufe gefallen lafje," murrte er. 

Mit verſchränkten Armen ſchriti Clara von 
amnamurf im Zimmer auf und ab. Ihr Blick 
1 auf den Tiſch, wo eine Abfchrift des Sektions- 
:otofolles lag; es ging daraus hervor, daß man 
ıh dem To * Sehens a bat eines 
erzens ganz ducchftochen gefunden hatte. Clara 
ıhm da8 Papier mit beiden Händen und zer- 
itterte es in ihren Sale 

Was fruchtet aller Schmerz und Reue? Man 
am nicht die Gemwefenen aus Luft gurüdgeftalten; 
an kann der Erde nicht ihre Beute abfordern. 
vänen beruhigen; aber dieſe Trauernde_hatte 
ine Tränen mehr; für fie waren feine Sterne 


4 


mehr, fein Glanz de Himmels; für fie wuchs 
tein Gras mehr, duftete feine Blume mehr, ihr 
ſchmeckte der Tag nicht mehr und die Nacht nicht . 
mehr, für fie Hatte ch alles Menfchentreiben, 
ja jelbjt das Schaf der Elemente in eine 
einzige düftere Wolfe von nie wieder gutzumachen- 
der Schuld zufammengeballt. 

Es mochte eine halbe Stunde verflofjen fein, 
als Clara wieber herablam. Sie blieb_ganz dicht 
vor dem Lehrer ftehen, und während fie ihn mit 
meitaufgeiälngenen Augen anſah, fagte fie bebend 
und kalt: „Mörder. 

Dies war für Quandt etwa fo, wie wenn 
man ihm einen Schwefelbrand unter die Nafe 
galten hätte. Es läßt fich denken, der wadere 

ann war volltommen ahnungslos; im Schlaf- 
tod, geſticktem Hausfäppchen und mit Schlapp- 
ſchuhen an den Füßen wartet er, daß ber un- 
gebetene Gaft fein Haus wieder verlaffe, und 
da fällt ein Wort, wie e8 nicht einmal ein böfer 
Traum erzeugen fann. 

„Das Weib ift wahnfinnig! Ich werde fie 
zur Rechenſchaft ziehen," tobte er noch im Bette. 

Clara wohnte bei Imhoffs. Sie fand die 
Freundin noch auf. Frau von Imhoff fagte ihr, 
daß man morgen auf den Kirchhof gehen wolle, 
weil das Kreuz auf Caſpar Hauſers Grab er- 
richtet werde. Frau von Imhoff empfand Claras 
Schweigfamteit wie einen Alpdrud und erzählte, 
erzählte. Vieles von Cafpar, viele8 von denen, 
die um ihn waren. Quandt wolle ein Buch 
ſchreiben, worin er haarklein nachzumeilen ge» 
denke, daß Gafpar ein Betrüger geweſen; daß 
Bidel den Dienjt quittiert habe und aus Ans- 

ach wegziehe, wohin, wiſſe niemand, daß alle 
565 


Bemühungen, dem furchtbaren Verbrechen auf 
den Grund zu kommen, vergeblich geweſen ſeien 
Clara blieb wie aus Stein. Als fie fich für die 
Nacht trennten, fagte fie leiſe und mit unheimlicher 
Sanftmut: „Auch du bift feine Mörderin." 
Frau von Imhoff prallte zurück. Doc Clara 
fuhr ebenfo leiſe und janft fort: „Weißt du es 
denn nicht? willft du's nicht wiſſen? Verſteckſt 
du dich vor der Wahrheit wie Kain vor Gottes 
Ruf? Weißt du denn nicht, wer er war? Glaubft 
du denn, daß die Welt immer und ewig darüber 
ſchweigen wird, fo wie fie jeßt ſchweigt? Ex wird 
auferftehen, Bettine, er wird uns zur Rechenfchaft 
fordern und unfre Namen mit Schmach bededen; er 
wird das Gewiſſen der Nachgebornen vergiften, er 
wird fo mächtig im Tode fein, als er ohnmächtig im 
Leben war. Die Sonne bringt es an den Tag." 
Darauf verließ Clara das Zimmer ruhig wie 
ei  anbern I fe ſech nom Hauf 
im andern Morgen ging fie vom Haufe 
im Sie befuchte ihren — auf der Jo⸗ 
janniskicche, ſaß lange oben auf der Steinbank 
in ber fehmalen Galerie und blickte weit über 
die winterliche Ebene. Sie ſah aber nicht Schnee, 
fie ab nur vergoffenes Blut. Sie ſah nicht das 
Land, fie ſah nur ein durchftochenes Herz. 
Dann ſchlug fie den Weg nach dem Kirchhof 
ein. Der Totengräber führte fie zum Grab. 
Eben kamen zwei Arbeiter und lehnten ein höl- 
zernes Kreuz gegen den Stamm einer Trauerweide. 
Nach wenigen Minuten erſchien der Pfarrer 
Fuhrmann. Er erkannte Clara und grüßte fie ernft 
und höflich. Sie, ohne I" danfen, ſchaute an ihm 
vorüber, ihr Blick ftreifte den mit gfemmusigem 
Schnee bedestten Grabhügel und die Arbeiter, die 
556 





jest das Kreuz zu Häupten des Grabes einrammten. 
Auf einem großen, herzförmigen Schild, das in- 
mitten de3 Grabkreuzes befeftigt war, fanden in 
weißen Lettern die Worte: 


HIC JACET 
CASPA 
A 


Sie las es, ſchlug die Hände vor Geficht 
und brach in ein gellend wehes Gelächter aus. 
Jählings wurde fie aber wieder ganz ftill. Sie 
drehte fich gegen den Pfarrer um und rief ihm 
zu: „Mörder !" 

In diefem Augenblick kamen vom Hauptpfad 
ber einige Leute, die der Zeremonie der Kreuz- 
aufftellung hatten beimohnen wollen: Herr und 
Frau von Imhoff, Herr von Stichaner, Medizinal- 
rat Albert, der Hofrat Sofmann, Quandt und 
feine Frau. Sie fahen den Pfarrer bleih und 
aufgeregt, und der Eindrud eines jeden war, daß 
etwas Schlimmes vor fi gehe. Frau von 
Imhoff, voller Ahnung, eilte auf ihre Freun- 
din zu und umfblang fie mit den Armen. 
Aber mit verwilderten Gebärden machte ſich 
Clara 1o8, ftürgte der Gruppe der Nahenden 
entgegen und fchrie mit durchdringender Stimme: 
„Mörder feid ihr! Mörder! Mörder! Mörder!" 

Nun rannte fie an ihnen vorbei, auf die 
Straße hinaus, wo fich alsbald viele Menfchen 

je verfammelten, und fchrie, fchrie! Endlich 
wurde fie von einigen Männern umtingt und 
am Weiterlaufen verhindert. 


5657 





Quandt hatte wieder einmal recht behalten. 
Sie war wahnfinnig geworden. Noch am felben 
Tag wurde fie in eine Anftalt gebracht. Mit 
der Zeit verging die Raſerei, aber ihr Geiſt 
blieb umnachtet. 

Sehr zu Herzen war der Auftritt am 
Grabe dem Pfarrer Fuhrmann gegangen. Er 
wollte fich nicht zufrieden geben, wenn man 
ihm vorhielt, daß es doch eine Irre geweſen, 
die fo gehandelt. Noch vor feinem kurz darauf 
erfolgten Ableben fagte er zu Frau von Imhoff, 
die ihm befuchte: ich freut die Welt nicht 
mehr. Warum klagie fie mich an? Mich, gerade 
mi? Ich hab’ ihn ja liebgehabt, den Hauſer.“ 

‚Die Unglüdliche," erwiderte Frau von 
Imboff Teife, „an Liebe allein hatte fie nicht 
genug." 

„SH trage feine Schuld," fuhr der alte 
Mann fort. „Oder doch nicht mehr, als dem 

blichen Leib überhaupt zukommt. Schuldig 
find alle, die wir da mandeln. Aus Schuld 
eimt Leben, fonjt hätte unfer Stammvater im 
Paradies nicht fündigen dürfen. Auch unfern 
bingefchiedenen Freund Tann ich nicht freifprechen. 
Was hat es ihm gefrommt, das Träumen über 
feine Herkunft ® Verrat von allen Lippen 
quiltt, flieht der Tüchtige_in den Kreis frucht- 
barer Neigungen. Aber Schmwärmer hören nur 
ſich ſelbſt. Unſchuldig, meine Vefte, unſchuldig 
iſt nur Gott. Er gnade meiner Seele und der 
des edeln Caſpar Hauſer.“ 


Ende, 


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