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Eafpar Bayfer
Die Trägheit des Herzen⸗
Roman
FokohWoffermann
Sechſte Auflage
Beutfche Oerlage Qt uftalt
Stuttgart ud? ipzig
le Rechte, insbefondere Das der Aeberſedung, vorbehalten
Published May 6tn, 1908. Privilege of copyright in the United
States reserved under the act approved March 3, 1905 by
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart
Drud der Deutſchen Berlags-Anftalt in Stuttgart
Papier von der Papierfabrit Salach in Salach, Württemberg
GRRDO
Girt+
—
Es iſt noch dieſelbe Sonne,
die derſelben Erde lacht;
aus demſelben Schleim und Blute
find Gott, Mann und Kind gemacht.
Nichts geblieben, nicht? geſchwunden,
alles jung und alles alt,
Tod und Leben find verbunden,
zum Symbol wird die Geftalt.
Erfter Teil
Der fremde Züngling
In den erften Sommertagen des Jahres 1828
liefen in Nürnberg jonderbare Gerüchte über einen
Menſchen, der im Veſtnerturm auf der Burg in
Gewahrfam gehalten wurde und der ſowohl der
Behörde wie den ihn beobachtenden Privatperfonen
täglich mehr zu ftaunen gab.
€3 war ein Jüngling von ungefähr fiebzehn
Jahren. Niemand mußte, woher er kam. Er
jelbft vermochte feine Auskunft darüber zu er-
teilen, denn er war der Sprache nicht mlächtiger
als ein zweijähriges Kind; nur mwenige Worte
konnte er deutlich ausfprechen, und dieje wieder-
holte ex immer wieder mit lallender Zunge, bald
lagend, bald freudig, als wenn kein Sinn da-
binterftedte und fie nur _unverftandene Zeichen
feiner Angft oder feiner Luft wären. Auch fein
Gang & dem eines Kindes, das gerade die
erſten Schritte erlernt hat: nicht mit der Ferje be-
rührte er zuerft den Boden, fondern trat fchwer-
fällig und vorfichtig mit dem ganzen Fuße auf,
Die Nürnberger find ein neugieriges Volt.
Jeden Tag wanderten Hunderte den Burgberg
hinauf und erflommen die zweiundneungig Stufen
des finftern alten Turmes, um den Fremdling
zu fehen. In die Halbverdunkelte Kammer zu
treten, wo der Gefangene weilte, war unterfagt,
und jo erblieten ihre Ddichtgedrängten Scharen
von der Schwelle aus das munderliche Menjchen-
weſen, da3 in der entfernteften Ecke de3 Raumes
kauerie und meift mit einem Kleinen weißen Holz-
pferbchen fpielte, das e3 zufällig bei den Ri
des Wärters geleben und das man ihm, gerührt
von dem unbeholfenen Stammeln feines Ver⸗
8
langens, gejchenft hatte. Seine Augen fchienen
— ist nicht erfaffen zu können; er hatte offen»
bar Furcht vor der Bewegung feines eignen
Körpers, und wenn er feine Hände zum Taften
exhob, war e8, als ob ihm die Luft dabei einen
rãtſelhaften Widerftand entgegenfebte,
Welch ein arm! et es Ding, fagten die Leute;
viele waren der Anftcht, daß man eine neue
Spezies entdeckt habe, eine Art Höhlenmenfch
etwa, unb unter den berichteten Seltjamfeiten war
nicht die geringfte die, daß der Knabe An andre
Nahrung als Waffer und Brot mit Abfcheu zu
er und nad wurden die einzelnen Um⸗
ftände, unter denen der Fremdling aufgetaucht
war, allgemein befannt, Am Pfingfimontag gegen
die fünfte Nachmittagsftunde war er plötzlich auf
dem Unfchlittplag, unweit vom neuen Tor, ge
ftanden, hatte eine Weile verftört um fi Weine ge
ſchaut und war dann dem zufällig des
kommenden Schufter Weilmann geradezu in die
Arme getaumelt. Seine bebenden ‚Singer wiefen
einen Brief mit Adreſſe des Rittmeiſters
Weſſenig vor, und nun — andre Perſonen
Fra —3 ;pte man ihn mit ziemlicher Mühe
bis zum Haus des Rittmeiſters. Dort fiel er
erſchoͤpft auf die etufen, und durch die zerriſſenen
——
Rittmeiſter iam erſt um die Dämmerungs»
ftunde heim, und feine Frau erzählte ihm, daß
in m ungexter a fe gl Suede, E
treu im zug! ü fie
ihm den Brief, ne fter, na Keen
das Siegel er] hosen, mit größter ° Terunterun =
einige Male durchlas; es war ein Schriftftü
ebenfo humoriſtiſch in einigen Punkten wie in
andern von graufamer Deutlichkeit. Der Ritt-
meifter begab 19 in den Stall und ließ den
Fremdling aufwerten, was mit vieler Anftrengung
uftande gebracht wurde. Die militärifch gemefjenen
gen des Offiziers wurden von dem Knaben
nicht oder nur mit finnlofen Lauten beantwortet,
und Herr von Zeefjeri entjchied fich Eurzerhand,
den, mufer auf ie Boligeimachtfiabe bringen
zu laſſen.
Auch diefes Unternehmen war mit Schwierig.
teiten verfnüpft, denn der Fremdling konnte faum
mehr gehen; Slutfpuen bezeichneten jeinen Weg,
wie ein ftörrifches Kalb mußte er Durch Die Straßen
gegogen werden, und die von den. Feiertags-
ausflügen heimkehrenden Bürger hatten ihren Spas
an der Sache. „Was gibt’3 denn?“ fragten die,
welche den ungewohnten Tumult nur aus der
Ferne beobachteten. „Ei, fie führen einen be-
teuntenen Bauern,“ Tautete der Beſcheid.
Auf der Wachtſtube bemühte fich der Aktuar
umfonft, mit dem Häftling ein Verhör anzuftellen;
ex lallte immer wieder diefelben halb blödfinnigen
Worte vor fih Hin, und Schimpfen und Drohen
nußte nichts. Als einer der Soldaten Licht an-
zündete, geſchah etwas Sonberbares. Der Knabe
machte mit dem Oberkörper tangbärenhaft hüpfende
Bewegungen und griff mit den Händen in bie.
Kerzenflamme; aber al3 er dann die Brandwunde
verjpürte, fing er fo zu weinen an, daß es allen
duch Mark und Bein ging.
lich hatte der Atuar den Einfall, ihm
ein Stück Papier und einen Bleiftift vorzuhalten,
danach griff der wunderliche Menſch und malte
mit End großen Buchftaben langſam den Namen
10
Caſpar Haufer. Hierauf wankte er in eine Ede,
brach förmlich zufammen und fiel in tiefen Schlaf.
il Caſpar Haufer — fo wurde der Fremd»
fing von nun ab genannt — bei feiner Ankunft
in der Stadt bäuriſch gelleidet war, nämlich mit
einem Fra, von dem die Schöße abgefchnitten
waren, einem roten Slips und großen Schaft-
ftiefeln, glaubte man zuerft, es mit einem Bauern-
john aus der Gegend zu tun zu haben, ber auf
Tegendeine Weiſe vernachläffigt oder in der Ent
widlung verfümmert war. Der erfte, der biefer
Meinung entſchieden widerſprach, war der Ge
fängnismärter auf dem Turm. „So fteht fein
Bauer aus,“ ſagte er und deutete auf dad mwal-
Iende, bellbraune Haar feines Häftlinge, das
etwas nicht ausdruckbar Unberührtes hatte umd
länzend war wie da Fell von Tieren, die in
infernis zu leben gewohnt find. „Und diefe
feinen weißen Händchen und diefe fammetweiche
Haut und die dünnen Schläfen und bie deut⸗
uͤchen blauen Adern zu beiden Seiten des Haljes,
wahrhaftig, er Teict eher einem adligen Fräu⸗
lein als einem Bauern.“
„Nicht übel bemerkt," meinte Der Stabtgericts:
arzt, der in feinem zu Protokoll gegebenen Gut-
achten neben dieſen Merkmalen die befondere
Bildung der Knie und die hornhautloſen Fuß:
fohlen des Gefangenen hervorhob. „So viel tft
Har," hieß es am Schluß, „Daß man e3 hier
mit einem Menfchen zu tun hat, der nicht von
feinesgleichen ahnt, nicht ißt, wicht trinkt, nicht
fühlt, nicht fprict wie andre, der nichts von
gelten, nichts von morgen weiß, die Beit nicht
egreift, I] felber nicht ſpürt.“
Die hohe Polizeibehörde ließ ſich durch ein
11
ſolches Urteil nicht aus dem vorgefegten Gang
der Unterfuchung lenken; es beitand der Verdacht,
vb der Stabtgerichtsarzgt durch feinen Freund,
mnaftalprofefjor Daumer, beeinflußt und
Mr u bie jen Ueberſchwenglichleiten verführt morben
ei Der Gefängniswärter Hill wurde beauftragt,
Fremdling mi insgeheim zu belauern. Er fpäl te
oft durch da das oerbongene Loch in der Türe, wenn
fich der Knabe allein wähnen mußte; „aber es
war immer derſelbe traurige Ernſt in den bald
jen und beflommenen, bald wie durch den
inblick eines unfichtbaren Furchtgebildes ver-
zerrten und zerriffenen Zügen. Es war auch
vergeblich, nacht, wenn er lieg, an fein Lager
zu Ichlei In, hinzuknien, auf den Atem zu Horde
und zu warten, ob er verräterifche Worte aus
dem Innern So d die Lippen trug; Leute, die
Ueble3 im Schild führen, pflegen "nämlich aus
dem — zu reden, auch ſchlafen fie eher bei
Tag als bei Nacht, wo fie ihren Gedanken und
Entwürfen nachhängen, aber diefen umfing der
Schlummer, fobald die Sonne fant, und er er⸗
machte, wenn fich ber erfte Morgenftrahl durch
die verfchloffenen Läden zwängte. Es konnte
Argwohn werten, daß er jedesmal zufammenzudte,
wenn bie Tür feines Gefängnifjes geöffnet wurde;
4 a nicht die Aal
„Unfre en auf dem Rathaus werden noch
viel Papier befchmieren müffen, wenn fie auf dem
Weg mweiterlommen wollen,“ fagte der gute Am
eines Morgen? — e8 war der britte Tag
12
Saft Caſpar Hauſers — zu Profeffor Daumer,
der den ling befuchen Ball „ich kenne
gewiß alle Schliche des Lumpenvolls, aber wenn
der Burfche ein Simulante ift, will ich mid
bin, en laſſen.“
ill fperrte auf, und —A Daumer trat
in die Kammer, Wie roöonlich erſchrak der
Gefangene, aber al3 der Ankömmling einmal im
Raum war, ſchien ihn Cafpar Haufer nicht mehr
u ewahren und fchaute, Beyaubert im dumpfen
Nichtwifien, ftill vor fich nieder.
Da geichah e3, als Hill den Fenfterladen ge
öffnet hatte, daß_ber Knabe, vielleicht wie nie
unor in feinem Leben, den geieieten Blick er⸗
ob, ihn von der ſchweigen en, gleichmäßigen
rcht wegkehrte, die das Innere feiner Bru
eherbergen mochte, und ihn durchs Fenſter hinaus:
fürzeifen ließ in das bejonnte freie, mo Ziegel-
dad an Pre] ſich Meil und glühenbeot auf
einem tergrund von bläulich bämmernden
Wiefen Sn äldern malte. Er ftredte feine
Hanı aueh Bebereafihung und und Ft Staunen
verzog feine Lippen, 3; geiff er mit dem
Arm in das funkelnde —X als ob er das
bunte Durcheinander draußen mit den Fingern
anfaſſen wolle, und als er ſich überzeugt hatte,
daß es nichts war, etwas Fernes, Trügerifches,
Ungreifbares, da verfinfterte fich fein Geficht, und
er wandte fih unmillig und enttäufcht ab.
Am jelben Nachmittag kam der Vürgermeifter -
Binder in Daumer Wohnung und teilte im
ef eines Geſprächs über den Findling mit,
die Herren vom Stadtmagiftrat eher finde
h und ungläubig als —e lend gegen dieſen
geftimmt feien.
18
„Ungläubig?" entgegnete Daumer verwundert,
„in Telder Beziehung ngläubige"
„Nun ja, man nimmt an, daß der Burſche
fin Gautelfpiel mit uns treibt," verfeßte der
üre en fie ben Ropf, an
aumer fehüttelte den Kopf. „Welcher Menfch
von Verftand oder Geſchicklichleit wird ſich aus
zumee Heuchelei dazu berbeilafjen, von Brot und
aſſer zu leben, und alles, was dem Gaumen
behagt, mit Efel von fich weiſen?“ fragte er.
„Um welches Vorteils willen ?“
„Gleichwiel,“ antwortete Binder unſchluſſig;
„es ſcheint eine verwickelte Gefchichte. Da nie
mand jagen noch vermuten Tann, worauf das
Spiel hinaus will, ift Vorficht um fo mehr ger
boten, als man durch leichtfinnige Gutgläubis Bit
ve „gerechten Hohn der Urteilsfähigen heraus-
ordert." .
Ba Bu] N
„Das Mingt ja beinahe, als ob nur bie
Zweifler und Neinfager urteilsfähig heißen könn⸗
ten," bemerkte Daumer ftirnrungelnd. „Von der
Gilde haben wir leider genug."
Der Bürgermeifter zudte die Achſeln und
blickte den jungen Lehrer mit jener milden Ironie
an, melde die Waffe der Erfahrenen gegenüber
den Enthuftaftifchen tjt. „Wir haben eine neuerliche
Unterfuchung duch den Gerichtsarzt befchlofien,“
fuhr er fort. „Der Magiftratsrat Behold, der
at m Aucher Fin Si, ni ——
jollen dieſer Unterſuchung kommiſſari ei⸗
wohnen. Der aufzunehmende Alt wird dann, zu⸗
jammen mit den bereits vorhandenen polizeilichen
rotokollen, der Kreisregierung überſchickt.“
„Ich verſtehe: Akten, Akten,“ fagte Daumer
fpöttiich lächelnd.
14
Der Bürgermeifter legte ihm die Hand_auf
die Schulter und ermiderte gutmütig:_ „Seien
Sie nicht fo überlegen, Verehrter; unfre Welt
Da an
23 rmer doch wahrlich nicht die weni
Schuld. Uebrigens,“ er griff in die Rockbruſt
und brachte ein Sufemmengefalteten Stüd Papier
zum Vorſchein, „als mie ied der Kommiſſion
werben Sie gebeten, Einblick in ein michtiges
Dokument zu nehmen. Es ift der Brief, den
unfer Gefangener beim Rittmeifter Weflenig ab»
gegeben hat. Lefen Sie."
Das mit keiner Namensunterfhrift verfehene
Schreiben lautete: „Ich ſchicke Ihnen hier einen
Burſchen, Herr Nittmeijter, der möchte feinem
König getreu dienen und will unter die Soldaten.
Der Bunde ift mir elegt worden im Jahre 1815,
in einer Winternact, lag er an meiner Tür.
ab’ felber Kinder, bin arm, Tann mich felber
m durchbringen, er ift ein Findling, und feine
Mutter hab’ ich nicht erfragen können. Hab’ ihn
nie einen Schritt aus dem Haus gelafien, fein
Menſch weiß von ihm, er weiß nicht, wie mein
gu beißt, und den Ort weiß er auch nicht.
ie dürfen im ſchon fragen, er kann es aber
mist jagen, enn mit der Sprache ift es noch
schlecht bei ihm beftellt. Wenn er Eltern hätte,
wie er feine hat, wär’ mas Tüchtiges aus ihm
gemoorhen, Sie brauchen ihm nur etwas zu zeigen,
a kann er es gleich. Mitten in der Nacht unbe
ich ihn fortgeführt, und er —* kein Geld bei ſich,
und wenn Sie ihn nicht behalten wollen, müſſen
Sie ihn erfchlagen und in den Rauchfang
Güngen.”
Daumer gelefen hatte, gab er dem Bürger-
15
meifter das Schriftftüc zurück und ging mit ernfter
Miene auf Se ab.
„Nun, was halten Sie davon?" forjchte
Binder; „einige unfrer Herren find der Anficht,
de Unbelannte jelbjt Tönne den Brief gefchrieben
jaben."
Daumer hielt mit einem Rud in feiner Wan⸗
derung inne, flug die Hände zufammen und
rief: „Ach, du himmlische Gnade!"
„Dazu ift natürlich gar fein Grund vor-
handen,“ beeilte fo ber Bürgermeifter hinzu⸗
zufügen. „Daß _bei der. Abfafjung des Schreibens
eine zwedvolle Tücke gemwaltet hat, daß es dazu
beftimmt ift, Nachforfchungen zu erſchweren und
irrezuführen, ift offenbar. Es ift eine ſchnöde
Kaltherzigkeit im Ton, die mir von Anfang an
den Verdacht erregt hat, daß der Jüngling das
unfchuldige Opfer eines Verbrechens ift."
‚Cine mutige Meinung, in welcher der Bürger-
meifter ducch einen Vorgang ſehr beftärft wurde,
der & ereignete kurz nachdem die Herren von
der Kommiffion am folgenden Morgen das Ge-
füngnis Caſpar Haufers Detreten hatten. Während
er Wärter damit beichäftigt war, den Knaben
zu entkleiden, ließ fich drunten in einer Gaffe
am Qurgberg eine Bauernmufif hören und Ei
mit Hingendem Spiel an der Mauer vorüber.
Da lief ein grauenhaft anzufchauendes Zittern
über den Körper Haufers, fein Geficht, ja fogar
feine Hände bededten ſich mit Schweiß, feine
Augen verdrehten fich, alle Fibern lauſchten dem
en entgegen, dann ftieß er einen tierifchen
Schrei aus, ſtürzie zu Boden und blieb zudend
und ſchluchzend Tiegen.
Die Männer erbleichten und fahen einander
16
ratlos an. Nach einer Weile näherte ſich Daumer
dem Unglüdlichen, legte die Hand auf fein Ha f
und ſprach ein paar tröftende Worte. Dies wii
beruhigend auf den Jungling, und er murde
ftille; ziöt tsdeſtoweniger jchien der ungeheure
Eindrud e3 gehörten Schals feinen Leib von
innen und von außen verwundet zu haben. Tage
lang nachher zeigte fein Weſen noch die Spuren
der empfundenen Erſchütterung; er lag fiebernd
auf dem Strohſack, und feine Haut war zitronen-
gelb. Zeilnahmsvollen Fragen gegenüber mar
ex allerdings herzlich bewegt, und er fuchte nach
Worten, um feine Erkenntlichkeit zu bemeifen,
wobei fein font jo klarer Blick ſich in dunkler
Pein trübte; befonders für ben — Daumer,
der zwei⸗ bis dreimal täglich zu ihm kam, Tegte
er eine zärtliche Dankbarkeit, ſchweigend oder
ftammelnd, dar.
Bei einem diefer Befuche war Daumer mit
dem Knaben ganz allein, und das zum erftenmal;
der Wärter hatte auf feine Bitte das untere Tor
abgeſperrt. Cr faß dicht neben dem Gefangenen,
er Gebete, fragte, forjchte, alles mit einem ver« eb⸗
lichen Aufwand von Innigleit, Geduld und
Zum Schluß bejchräntte er fih darauf, dad Tum
und Lafjen des Junglings vol Spannung zu
beobachten. Basic ie Cafpar Haufer eine
verworrenen Taute auß: er — etwas zu for-
dern und fpähte fuchend herum. Daumer erriet
bald und reichte ihm den gefüllten Wafferkrug,
den Hill auf die Ofenbanf geftellt hatte. Caſpar
nahm den Krug, ſetzie ihn an die Lippen und trank.
Er trank in langen Schlüden, mit befeligter
Gelöftheit und einem begeifterten Aufleuchten der
Augen, wie wenn er für den kurzen Zeitraum
Waffermann, Caſpar Haufer 2 17
des Genuſſes vergefjen hätte, daß das dämoniſch
Unbelannte auf allen Seiten ihn bedrängte.
Daumer geriet in eine ſeltſame Aufregung.
Als er nach Haufe kam, durchmaß er länger als
eine halbe Stunde mit großen Schritten jein
Studierzimmer. Gegen acht Uhr pochte es an
der Tür, feine Schweſter trat ein und rief ihn
zum Abendefien. „Was glaubft du, Anna,” rief
ex ihr Iebhaft und mit beziehungsvollem Ton zu,
„zweimal zwei ift vier, wie?"
„Es ſcheint jo," erwiderte das junge Mäd-
hen, verwundert lachend, „alle Leute behaupten
es. Haft bu denn entdeckt, daß e3 anders ift?
Das fähe dir ähnlich, du Aufwiegler.“
„Nicht gerade das hab’ ich entdeckt, aber doch
etwas der Art," fagte Daumer heiter und legte
den Arm um die Schulter der Schweiter. „Sch
will einmal unfre braven Philifter tanzen lafjen!
Ja, tanzen follen fie mir und ftaunen.“
„Betrifft e8 etwa ger den Findling? Haft
du was mit ihm vor? Sei nur auf der Hut,
Friedrich, und laß dich nicht in Scherereien ein,
man ift dir ohnedies nicht grün.“
„Geroiß,“ gab er, raſch verftimmt, zur Ant⸗
wort, „das Einmaleins könnte Schaden leiden."
„Nun, weiß man noc gar nichts über den
Sonderling?" fragte bei Tiſch Daumers Mutter,
eine fanfte alte Dame.
Daumer fchüttelte den Kopf. „Vorläufig kann
man nur ahnen, bald wird man wifjen,“ ent-
gegnete er mit ſiarr nach oben gerichtetem Blick.
Am folgenden Tag brachte die „Morgenpoft“
einen Artikel, der die Ueberjchrift trug: Wer ift
Caſpar Haufer? Zenngleich auf diejen Appell
feiner ber Lefer eine Antwort zu erteilen ver-
18
mochte, wurde der Zudrang der Neugierigen fo
toß, daß das Bürgermeijteramt ſich genötigt
is die Befuchsftunden durch eine ſtrenge Vor-
chrift zu regein. Bisweilen ftanden die Leute
Kopf an Kopf vor der offenen Tür des Gefäng-
nifjes, und in allen Gefichtern war bie Frage zu
leſen: Was ift es mit ihm? Was ift es für ein
tenfch, der die Worte nicht verfteht und den
noch fprechen Tann, die Dinge nicht erkennt und
dennoch jehen Tann, der zu lachen vermag, kaum
daß ſein Weinen zu Ende, der arglos fepeint und
geheimnisvoll ift und hinter defjen unfchuldig leuch⸗
tenden Augen vielleicht Uebeltat und Schande
verborgen find?
Sicherlich jpürte der Gefangene, fpürte es
ſchmerzlich, was die Lüftern auf ihn gerichteten
Blicke begehrten, und der Wunfch, ihnen zu will-
fahren, erzeugte möglichermeife die erſte erhellende
Dämmerung, welche ihm felbft die Vergangenheit
langſam begreiflich machte, jo daß er in beun-
ruhigter Bruft nach dem Geweſenen taftete, ein,
Geweſenes erſt fühlte und die Gegenwart damit
verband, im tiefiten jchaudernd an der Zeit
mefjen lernte, was fie verändernd mit ihm getan,
und was er fah, mit dem verglich, was er ehe—
- dem gefehen. Er begriff das Fordernde der
Frage und ward des Mittels inne, die verlangen:
den Mienen zu befriedigen.
Mit durftigen Sinnen fuchte er das Wort.
Sein flehentlicher Blick grub es heraus aus dem
fprechenden Mund der Menfchen.
Hier war Daumer in feinem Element. Was
Teinem andern, dem Arzt nicht, dem Wärter nicht,
dem Bürgermeifter nicht, den Protofollanten erſt
recht nicht gelingen wollte, daS vermochte nad)
19
und nad; feine Behutfamkeit und zmedvolle Ger
duld. Die Perfon des Findlings beichäftigte ihn
aber auch dermaßen, daß er feiner Studien und
privaten Obliegenheiten, ja beinahe feines öffent-
lichen Amtes darüber vergaß, und er erjchien fich
wie ein Mann, den das Scidjal vor das ihm
allein beftimmte Erlebnis geftelt bat, wodurch
fein ganzes Leben und Denken eine glücliche Be:
ftätigung erfährt. Unter feinen Notizen über
Caſpar Haujer lautete eine der erſten wie folgt:
„Diefe in einer fremden Welt hilflos ſchwankende
Geftalt, dieſer fchlafumfangene Blick, diefe angft-
verhaltene Gebärde, diefe über einem etwas ver⸗
kümmerten Untergeficht edel thronende Stirn, auf
welcher Frieden und Reinheit ftrahlen: es find
für mic) Zeugen von unbefiegbarer Deutkraft.
Wenn fich die Vermutungen bemwahrheiten, mit
denen fie mich erfüllen, wenn ich die Wurzeln
diejes Dafeins aufgraben und feine Zweige zum
Bluhen bringen kann, dann will ich der |tumpf-
gewordenen Belt den Spiegelunbeflecten Menfchen-
tums entgegenhalten, und man wird fehen, daß
es gültige Bemeife gibt für die Exiftenz der Seele,
die von allen Gößendienern der Zeit mit elender
Leidenfchaft geleugnet wird.”
Es war ein fgrierigee Weg, den der eifer-
volle Pädagoge ging. , mo er zu beginnen
jatte, war die menfliche Sprache ein mwejenlofes
ing, Wort um Wort mußte erft feinem Sinn
angeheftet, Erinnerung erft erweckt, Urſache und
olge in ihrer Verkettung erſt entjchleiert werden.
wiſchen einer Frage und der nächften lagen
selten des Begreifens, ein Ja, ein Nein, oft
ilflos hingeworfen, galt noch nichts, mo jeder
jegriff erſt aus der Suntelheit eritand und die
20
Verftändigung von Vokabel zu Volabel ſtockte.
Und doch fehien ein Licht wie aus weit entfernter
Vergangenheit den Geiſt des Junglings viel raſcher
zu beflügeln, als felbft der hoffnungsjelige Daumer
zu erwarten gewagt hatte. Es war erftaunlich,
mit welcher Leichtigkeit und Kraft er einmal
Gefagtes fefthielt und wie er aus dem Chaos un=
lebendiger Laute das für ihn Lebendige und
Bedeutungsvolle bildvoll hervorzauberte, jo daß
e3 Daumer zumute war, als hebe er bloß Schleier
von den Augen feines Schüglings, als fpiele er
die Rolle des Laufcher3 bei den langſam hervor:
quellenden Erinnerungen. Er hielt den Körper,
indes der Geift des Knaben zurückkehrte in den
Bezirk, von mo er am, und eine Kunde brachte,
dergleichen Fein Ohr je vernommen.
Bericht Caſpar Haufers, von Daumer
aufgezeichnet „
Soweit Cafpar fich entfinnen konnte, war er
immer in einem dunfeln Raum geweſen, niemals
ander3wo, immer in demjelben Raum. Niemals
den Menfchen gefehen, niemals feinen Schritt ge
hört, niemals feine Stimme, keinen Laut eines
Vogels, fein Gejchrei eines Tieres, nicht den
Strahl der Sonne erblict, nicht den Schimmer
des Mondes. Nichts vernommen als fich felbft,
und doc) nicht3 von fich felber wifjend, der Ein-
famteit nicht inne werdend.
Das Gemach muß von geringer Breite ge-
wefen fein, denn er glaubte, einmal mit aus
21
geftveten Armen zwei gegenüber liegende Wände
erührt zu haben. Wordem aber jchien es un-
ermeßlich groß; angefettet an ein Strohlager, ohne
die Feſſel zu fehen, hatte Caſpar niemals den
Fleck Erde verlaffen, auf dem er traumlos fchlief,
traumlos wachte. Dämmerung und Finjternis
waren unterfchieden, fo mußte er alſo um Tag
und Nacht; er kannte ihre Namen nicht, allein
er fah die Schwärze, wenn er einmal in der
Nacht erwachte und die Mauern entjchwunden
waren.
Er hatte fein Maß für die Zeit. Ex konnte
nicht fagen, warn die unergründliche Einfamteit
begonnen hatte, er dachte zu feiner Stunde daran,
— fie einmal enden könne. Er fpürte keinerlei
Verwandlung an feinem Leibe, er wünfchte nicht,
daß etwas anders fein folle, als es war, es ſchreckte
ihn kein Ungefähr, nichts Künftiges lockte ihn,
nichts nergangenes hatte Worte, ftumm lief die
regelvolle Uhr des kaum empfundenen Lebens,
frumm war fein Inneres wie die Luft, die ihn
umgab.
Wenn er am Morgen ermachte, fand ex frifches
Brot neben dem Lager und den Wafferkrug ges
füllt. Bisweilen ſchmeckte das Waſſer anders
als ſonſt; wenn er getrunken hatte, verlor er
ſeine Munterkeit und — ein. Nach dem Auf⸗
wachen mußte er dann das Krüglein ſehr oft in
die Hand nehmen, ex hielt es lange an den Mund,
doch floß fein Wafjer mehr heraus; er ftellte es
immer wieder hin und wartete, ob nicht bald
Waffer komme, weil er nicht wußte, daß es ge-
bracht wurde; hatte er doch feinen Begriff, daß
außer ihm noch jemand fein könne. An ſolchen
Tagen fand er reines Stroh auf feinem Bette,
22
ein frifches Hemd am Körper, die Nägel be
fchnitten, die Haare fürzer, die Haut gereinigt.
AU das war im Schlaf geicheben, ohne daß er
es gemerkt, und fein Nachdenken darüber umflorte
feinen Geift.
Ganz allein war Cafpar Haufer nicht; er
befaß einen Kameraden. Er hatte ein weißes
FR aus Holz, ein namenloſes, regungs⸗
loſes Ding und gleichwohl etwas, in dem jein
eigne8 Dajein Ih dunfel fpiegelte. Da er die
lebendige Geftalt in ihm ante, bielt er e8 für
feinesgleichen, und in den matten Glanz jeiner
ünftlichen Augenperlen war alles Licht der äußeren
Welt gebannt. Er fpielte nicht mit ihm, nicht
einmal lautlofe Zwieſprach hielt er mit ihm, und
obwohl es auf einem Brettchen mit Rädern ftand,
dachte er nie daran, es hin und her zu. fchieben.
Aber wenn er fein Brot aß, reichte er ihm jeden
Biſſen hin, bevor er ihn jelbft zum Mund führte,
und bevor er einfchlief, ftreichelte er e8 mit lieb⸗
koſender Hand.
Das war fein einziges Tun in vielen Tagen,
langen Jahren.
Da gejchah es einft während der Beit bes
Wachen, daß fich Die Mauer auftat, und von
draußen ber, aus dem Niegefehenen, erjchien eine
ungeheure Geſtalt, ein Auiegeiehener, der erſte
Andre, der das MWörtchen Du ſprach und den
Cafpar deshalb den Du nannte. Die Dede des
Raumes ruhte auf feinen Schultern, etwas un-
verftändlich Leichte und Veränderliches war in
der Bewegung feiner Glieder, ein Lärm war um
ihn, der das Ohr füllte, Laut um Laut floß raſch
von feinen Lippen, zu atemlofem Hören zwang
das Leuchten jeiner Augen, und an feinen Klei—
23
dm hing das Draußen als ein betäubender
eruch.
Bon den vielen Worten, die aus dem Munde
des Du kamen, verftand Cafpar zunächſt feines,
aber durch tieferregte8 Aufmerken begriff er all-
mählich, daß der Ungeheure ihn fortbringen wolle,
daß das Ding, das feine Einfamfeit geteilt, den
Namen Roß trug, daß er andre Rofje erhalten
werde und daß er lernen folle.
Lernen," jagte der Du immer wieder, „lernen,
lernen." Und wie um flarzuı , was das
ER ftellte er einen Schemel mit vier runden
üßen vor ihn hin, legte ein Blatt Papier darauf,
chrieb zweimal den Namen Cafpar Haufer uni
irte beim Nachjchreiben Caſpars Hand. Dies
gefiel Caſpar, weil es ſchwarz und weiß ausfah.
Darauf legte der Du ein Buch auf den Schemel
und ſprach, auf die winzigen Zeichen deutend, die
Worte vor. iſpar Tonnte fie alle wieberholen,
ohne irgend den Sinn erfaßt zu haben. Auch
andre Worte und gewiſſe Redensarten plapperte
er nach), die ihm der Mann vorfagte, zum Bei-
fpiel: „Ich möcht' ein folcher Reiter werden wie
mein Vater."
Der Du fchien zufrieden; jedenfall um ihn
zu belohnen, zeigte er ihm, daß man das Holzpferd
uf dem Boden bin und her rollen könne, und
damit vergnügte fich Cafpar, als er am andern
Morgen erwachte. Er jchob das Rößlein vor
feinem Lager auf und ab, wobei ein Geräufch
entftand, das den Ohren wehe tat; deshalb ließ
ex es wieder und begann dafür mit dem Pferd
u reden, indem er die unverftändlichen Laute aus
em Munde de Du nachahmte. Es war eine
wunderliche Luft für ihn, fich felbft zu hören, er-
E23
bob die Arme und füllte den Raum mit feinem
freudigen Gelall.
Seinen Kerkermeiſter mochte dies verdrießen
und beuntuhigen, er wollte ihn zum Schweigen
bringen: auf einmal fah Caſpar einen Stab über
feine Schulter ſauſen und jpürte zugleich einen
jo heftigen Schmerz auf dem Arm, daß er vor
Schrecken nach vorne fiel. Mitten in ber Angft
machte er die erftaunliche Wahrnehmung, daß er
nicht mehr ans Lager angebunden war. Cine
Beitlang verhielt er ſich ganz ftille, dann ver-
juchte er, vorwärts zu rutjchen, aber ihm graute,
als er mit feinen bloßen Füßen die kalte Erde
berührte. Mit Mühe erreichte er fein Lager und
verſank fofort in Schlaf.
€3 wurde dreimal Nacht und Tag, ehe der
Du wiederkam und verſuchte, ob Caſpar noch
birge Namen ſchreiben und die Worte aus dem
uch leſen konnte. Er verbarg nicht de Ver⸗
wunderung, als der Knabe dies mühelos ver-
mochte. wies auf ‚Dinge rings im Raum und
nannte ihre Namen; er redete langfam, Aug’ in
Aug’ mit Cafpar, und hielt ihn dabei an der
Schulter feit; durch feine Blicke, feine Gebärden,
das Verzerren feiner Züge hindurch ahnte Caſpar,
was er fagte, und ihm jchauderte, während feine
ftotternde Zunge dem Mann gehorfam war.
In der folgenden Nacht wurde er aus dem
Schlaf gerüttelt. Lange und mit Qual fpürte er
es und konnte doch nicht ganz erwachen. Als
er endlich die Augen aufjchlug, war die Mauer
öffnet, und ein purpurroter Schein floß in den
aum. Der Du war über ihn gebeugt und
ſprach leiſe, vielleicht um Caſpars Furcht zu
ftillen. Er richtete ihn empor und bekleidete ihn
26
mit Hofen, mit einem Kittel und mit Stiefeln,
dann ftellte er ihn auf die Füße, lehnte ihn gegen
die Wand und kehrte fi mit dem Rüden gegen
Im. Er umfaßte feine Beine, bob ihn auf,
afpar umfchlang mit den Armen feinen Hals,
und nun ging es hinauf, einen hohen Berg hinauf,
jo ſchien es Caſpar; in Wirklichkeit war es
wahrjcheinlich die Treppe des unterivdifchen Ver⸗
lieſes. Inntteten dröhnte der Atem des Mannes,
etwas Kühles und Feuchtes ſchlug Caſpar ins
Geſicht, ſetzte ſich in ſeinen Haaren ft die ſich
von jelbjt zu bewegen anfingen, und Elammerte
fi an feine Haut.
Plötzlich wich die Schwärze, fie raufchte auf
den Boden nieder; alles wurde weit, weich und
blieb doch dunkel; in der Tiefe, in der Ferne
wuchteten fremde große Dinge; von oben brach
ein blauer Strahl und verlor fich wieder, das
Schlüpfrig-Feuchte blähte die Falten der leider,
durchdringende Gerüche wogten umher, Cafpar
begann zu meinen und fchlief auf dem Rüden
des Mannes ein.
Beim Erwachen lag er auf dem Boden, das
Geficht zur Erde gekehrt, und von unten ftrömte
Kälte in den Leib. Der Du richtete ihn auf.
Die Luft brannte fonderbar, und ein unerträglich
heller Schein flierte vor den Augen. Der Du
machte ihm begreiflich, daß er gehen lernen müffe;
ex zeigte ihm, wie er gehen folle, ex hielt ihn von
hinten unter den Armen und ftieß feinen Kopf
gegen die Bruft, ihm jo befehlend, daß er auf
den Boden jehen folle. Caſpar gehorste wan⸗
kend und zitternd, die Luft und der Schein
brannten ihm die Augenlider, die Gerüche machten
ihn ſchwindeln, die Sinne vergingen.
26
Er jchlief wieder; wie lange, das mußte er
nicht. Auch wußte er nicht, wie oft er zu gehen
probiert hatte, als es wieder dunkel wurde.
Vielleicht glaubte er, es fei Nacht geworben,
während fie fih nur in einem Wald befanden.
Den Weg gewahrte er nicht, er konnte nicht fagen,
ob e3 aufwärts oder abwärts ging. Ob Bäume
ober Wiejen oder Häufer da waren, wußte er
nicht. Bisweilen fchien ihm alles ringsum in
rote Glut getaucht, aber wenn das Weiche, Dunkle
tam, bdehnten fi Luft und Erde bläulih und
grün. Ob Menfchen vorübergingen, konnte er
nicht jagen, er gemahrte nicht den Himmel, er jah
nicht einmal das Geficht des Mannes. Einmal
fiel Waffer von der Höhe; er dachte, der Du
chütte ihn mit Waffer an, und beklagte ſich, doch
jener entgegnete, er jhütte ihn nicht an, er deutete
in die Luft und rief: „Regen! Regen!"
Wie lange er fo unterwegs geweſen, wußte
er nicht. Ihm dünkte, jedesmal wenn er fich,
erichöpft vom Gehen, zur Ruhe niedergelegt, ſei
ein Tag vergangen. Furcht zog ihn hin und
bemeifterte feine Müdigkeit, fie jpannte feine Ges
Iente und riß fein Haupt nach oben, indes Die
Augen unaufhörlich zur Tiefe ftarrten. Der Du
gab ihm dasjelbe Brot zu efjen, das er im Kerker
genoffen, und ließ ihn Waffer aus einer Flafche
teinfen. Caſpars Geföäpfung und feine Anal,
wenn der Wind durch die Büſche faufte, oder
wenn ein Tier fchrie, oder wenn das Gras um
feine Füße Elivrte, fuchte er durch das Verfprechen
Ichöner Pferdchen zu befiegen, und als Caſpar
endlich längere Beit allein gehen konnte, fagte
er, nun feien fie bald da. Er wies mit dem
Arm in die Ferne und fagte: „Große Stadt."
27
Caſpar ſah nichts, taumelnd tappte er vorwärts;
nach einer Weile hielt ihn der Du bei den Armen
zum Zeichen, hy ex ftehenbleiben folle, gab ihm
einen Brief und jagte, den Mund nahe an Caſpars
Ohr: „Laß dich weilen, wo der Brief Hingehört."
Bi machte noch ein paar Schritte, und
als er jich dann umfah, war der Du verjchwunden.
Er fpürte plöglich Steine unter den Füßen, er
taftete nach allen Seiten, um ſich zu halten, er
fah Steinmauern, die im Sonnenlicht feurig
lohten, aber Entjegen packte ihn erſt, als er
Menjchen gewahrte, erſt einen, dann zwei, dann
viele. Grauenhaft nah famen fie heran, umftanden
ihn, fehrien ihm zu, einer ergeiff ihn und ſchleppte
ihn vorwärts, alles vingsumher war Lärm und
Getöſe; er begehrte zu fchlafen, fie verftanden ihn
nicht; er ſprach von feinem Vater, von den Roffen,
fie lachten und verftanden ihn nicht; er jammerte
über feine wunden Füße, fie verfianden es nicht;
ex jchlief im Stall des Rittmeifters, dann kamen
wieder andre Geftalten, um, kaum daß fie fich
geeigt, mit unbegreiflicher Haft wieder zu fliehen,
i ft war ſchwer und kaum zu atmen, die
ewaltigen Dinge, als welche ihm die Häufer er-
Aeenene drängten fih an ihn an, umd auf ber
Wachtſtube erjchredten ihn die wilden Mienen
und Gebärden der Leute fo, daß er zu Tränen
feine Zuflucht nahm.
Wiederum fchlief er lange, und danach wurde
ex auf den Turm gebraht. Der Mann, der
ihn die große Stiege binaufführte, ſprach mit
ftarter Stimme und öffnete eine Tür, die einen
befonderen Hal von ſich gab. Kaum hatte er
fo auf dem Strohſack niedergelaffen, fo begann
ie Turmuhr zu jchlagen, worüber Caſpar
28 .
in unermeßliches Erſtaunen geriet. Er laufchte
angeftrengt, aber nach und nach hörte er nichts
mehr, feine Aufmerkfamkeit verlor fih und er
fehlte nur das Brennen feiner Füße. In den
fugen hatte er feine Schmerzen, da es dunkel
war. Er ſetzte fi) auf und wollte nach dem
Krüglein Langen, um feinen Durft zu ftillen. Er
ſah fein Waffer und fein Brot, anftatt deflen
jah er. einen Boden, der ganz anders befchaffen
war als dort, wo er früher geweſen. Nun wollte
er nad feinem Pferdchen greifen und mit ihm
fpielen, es war aber keines & umd er fagte: „Ich
möcht’ ein folder Reiter werden wie mein Vater."
Das follte heißen: Wo ift das Waſſer Hin
und das Brot und das Pferdchen?
Er bemerkte den Strohſack, auf dem er lag,
betrachtete ihn mit Verwunderung und mußte
nicht, was es fei; mit dem Finger darauf Elopfend,
vernahm er dasſelbe Geräufch wie von dem Stroh,
das fonft fein Lager geweſen. Died erfüllte ihn
mit Beruhigung, % daß er wieder einfchlief und
erſt mitten in der Nacht vom oftmals wieder
holten Ton der Glode erwachte. Er —
lang, und als der Schall verklungen war, ſah er
den Dfen, der eine grüne Farbe hatte und einen
Glanz von fid gab (denn Caſpar vermochte felbft
in tiefer Sutter 3 die Farben zu unterjcheiden).
Er blickte fehr angefpannt hinüber und murmelte
wieder: „ch möcht’ ein jolcher Reiter werden
wie mein Vater.“
Das jollte heißen: Was ift denn dieſes und
wo bin ich denn? Auch drüdte er damit fein
Verlangen nad) dem glänzenden Ding aus.
In der Frühe öffnete der Wärter Sie Fenſter⸗
en das belle Tageslicht tat Caſpars Augen
29
wehe; er fing zu weinen an und fagte: „Hin«
weiſen, mo der Brief hingehört," und damit
wollte erfagen: Warum tun mir die Augen weh?
Tu e3 weg, wa3 mich brennt, gib mir das Pferdehen
zurück und plag mid) nicht jo. Denn er ſprach
im Geifte mit dem Du, von dem er glaubte, daß
er Abhilfe ſchaffen könnte. Er hörte die Uhr
wieder jhlagen, das nahm ihm die Hälfte der
Schmerzen, und indes er horchte, fam ein Dann
und ftellte allerhand Fragen, aber Caſpar gab
Teine Antwort, weil feine Aufmerkſamkeit auf den
verhallenden Klang gerichtet war. Der Mann
faßte ihn am Kinn, hob feinen Kopf in die Höhe
und redete mit jtarfer Stimme. Jetzt hörte
Cafpar zu und fagte all feine gelernten Worte
her, aber der Mann verftand ihn nicht. Er ließ
feinen Kopf los, feßte fich neben Gafpar und
fragte immerfort; al3 nun die Uhr wieder tönte,
fagte Caſpar: „Ich möcht’ eim folder Reiter
werden wie mein Vater.“
Das follte bedeuten: Gib mir das Ding, dad
jo ſchön Klingt.
Der Mann verftand ihn nicht und redete
weiter, da fing Gafpar an zu weinen und fagte:
„Roß geben,“ womit er den Mann bat, er möge
ihn nicht fo quälen. .
Er faß dann lange Zeit allein. Aus weiter
Ferne Hang ein Trompetenjchall aus der Kaifer-
ftallung, und als ein andrer Mann eintrat, fagte
Cafpar die Redensart mit dem Brief; das follte
heißen: Weißt du nicht, was das ift? Der Mann
brachte. den Zafierteug und ließ Caſpar trinken,
danach ward es ihm leicht zumute und er jagte:
„Möcht' ein folher Reiter werden mie mein
Vater." Das bedeutete: Jetzt darfſt du nicht mehr
30
fortgehen, Wafler. Bald erflang wieder die
Trompete und Caſpar laufchte freudig; er dachte,
wenn fein Pferdchen käme, würde er ihm er-
zählen, was er gehört.
An diefem Tag aber begann ſchon die Peini⸗
ung, die er von den vielen Menfchen auszus
ſtehen hatte.
Eine hohe amtliche Perfon wird Zeuge
eines Schattenfpiels
Natürlich hatte es wochenlang gedauert, bis
Profefjor Daumer einen fo vollftändigen Einblick
in die Vergangenheit de3 Süngtings gewonnen
hatte. Dies alles ans Licht zu bringen, kündbar,
greifbar, hatte Aehnlichkeit gehabt mit der Arbeit
eines Brunnengräberd. Was anfangs ein Fieber
traum gefchienen, befaß nun die Züge de3 Lebens.
Daumer verfehlte nicht, der Behörde den
Sachverhalt in einer gewiſſenhaften Niederfchrift
vorzulegen. Die Folge davon war, daß fich der
Magifteat entjchloß, die Bahn förmlicher Verhöre
zu verlaffen und in eine vertrautere Beziehung
u dem Unglüclichen zu treten. Die auffälligen
jefonderheiten feines Weſens follten noch einmal
überprüft werden, hieß es in einer der gericht»
lichen Noten, deshalb wurden Aerzte, Gelehrte,
Polizeibeamte, fcharffinnige Zuriften, kurz un
göhtige Perjonen, die an feinem Schickſal freien
inteil nahmen, zu ihm auf den Turm geſchickt.
Es war ein endlofes Schnüffeln und Debattieren,
Areeijein und Staunen, doc die verſchiedenen
rklärungen liefen alle auf eins hinaus, und die
31
bloße Kraft des Augenfcheins mußte den Daumer-
ſchen Bericht beftätigen.
Wenige Tage fpäter, gegen Anfang Juli, ver-
öffentlichte der Vürgermeifter einen Aufruf, der
im ganzen Land Verwunderung und Beunruhigung
erregte. Bunächft wurde darin das Erſcheinen
Caſpar Hauſers geicibert, und nachdem die
eigne Erzählung des Jünglings mit tunlichiter
Ausführlichleit wiedergegeben war, bejchrieb der
Verfafjer diefen felbft. Er ſprach von der alle
Umgebung bezaubernden Sanftmut und Güte des
Knaben, in der er anfangs immer nur mit Tränen
und nun, im Gefühl der Erlöfung, mit Innig-
keit feine3 Unterdrückers gebenfe; von feiner u
renden Ergebenheit an diejenigen, die häufig mit
ihm umgingen, von feiner unbedingten Willfaͤhrig⸗
keit zum Guten, die mit der Ahnung deſſen ver-
bunden fei, was böfe ift, ferner von feiner außer-
ordentlichen Lernbegierde.
„Alle diefe Umftände,“ fuhr der beredfame
Erlaß fort, „geben in demfelben Maß, in dem
fe die Erinnerungen de3 Jünglings befräftigen,
ie. Ueberzeugung, daß er mit herrlichen Anlagen
de3 Geiftes und des Herzens außgeftattet ift, und
berechtigen zu dem Verdacht, daß fich an feine
Kerkergefangenſchaft ein ſchweres Verbrechen Inüpft,
wodurch er jeiner Eltern, feiner Freiheit, feines
Vermögens, vielleicht fogar der Vorzüge hoher
Geburt, in jedem Fall aber der ſchönſten Freuden
der Kindheit und höchften Güter des Lebens ver-
luſng gerooeben iſt.“
ine kühne und fotgenfhmer: Vermutung,
die eher dem mitleidigen Gemüt und dem roman-
tifchen Geift als der behördlichen Vorficht eines
hohen Bürgermeifteramtes zur Ehre gereichte!
32
„Bubem beweiſen mancherlei Anzeichen," hieß
es weiter, „daß das Verbrechen zu einer Zeit
verübt worden, wo ber Jüngling der Sprache
ſchon einmal mächtig geweſen und der Grund zu
einer edeln Erziehung gelegt war, die gleich einem
Stern in finfterer Nacht aus feinem Weſen hervor⸗
leuchtet. Es ergeht daher an die Zuftize, Polizeiz,
Zivil- und Militärbehörden und an jedermann,
der ein menjchliches Herz im Bufen trägt, die
dringende Aufforderung, alle, auch die unbebeu-
tendften Spuren. und Verdachtögründe befanntzus
geben. Und nicht etwa deswegen, um Gajpar
Haufer zu entfernen, denn die Gemeinde, die ihn
in ihren Schoß aufgenommen, liebt ihn, betrachtet
ihn als ein von der Vorfehung ihr zugeführtes
Pfand der Liebe, das fie ohne gültigen Beweis
der Anfprüche andrer nicht abtreten wird, fondern
nur, um die Uebeltat zu entdecken und den Böſe—
wicht famt feinen Gehilfen der gerechten Sühne
auszuliefern.“
Wahrfcheinlich wurden von den Urhebern
große Hoffnungen an das Manifeit geknüpft,
aber die Sache nahm einen ganz unerwarteten
Berlauf und bereitete den Nürnberger pe
mancherlei Verlegenheiten. Zunächſt lief eine
Menge unfinniger und verleumberifcher Bezich—
tigungen ein, durch welche eine Reihe von adligen
Familien und von intimen Vorgängen in arijto-
kratiſchen Kreifen dem Gerede ausgefegt wurden:
Kindesmord, Kindesraub, Kindesunterfchiebung
waren nach Anficht des gemeinen Bolts Ber-
brechen, welche die vornehmen Leute täglich und
zum Vergnügen begehen.
Schlimmer war es, daß die magiftratiiche
Belanntinahung dem Appellhof des Rezatkreiſes
Waffermann, Gafpar Haufer 8 33
auf nichtamtlichem Weg zu Händen kam. Irgend⸗
ein grimmiger Hofrat am felben Gerichtshof erließ
allfogleich ein gepfeffertes Schreiben an die Kreis
zegierung in Ansbach, worin erftlich die Publikation
de3 Nürnberger ‚ofgermeiftere als vorſchrifts⸗
widrig, zweitens als abenteuerlich bezeichnet wurde,
worin drittens der lebhafte Tadel darüber aus-
gebrüdt war, daß durch das verfrühte Preisgeben
wichtiger Umftände eine Kriminalunterfuhung
wenn auch nicht vereitelt, jo doch ſehr erſchwert
worden fei. Der ergeimmte Hofrat erfuchte da-
her die Regierung, den Magiftrat zu frenge er
vet zu ziehen und zu echter. aß die
ehandelnden Polizeiakten unverzüglich,
ee zu fenden jeien.
Die Regierung ließ ſich das nicht zweimal
fagen. Sie fendete ein Reſtript an den Stadt
kommiſſaͤr von Nürnberg und äußerte ſich dahin,
daß die erzählte Lebensbeſchreibung des Find⸗
Fr jo_viele grobe Unmwahrfcheinlichteiten ent»
te, daß der Gedanke an eine ärgerliche Täufchung
Kir Armen üte fei. Gleichzeitig wurden die noch
vorhandenen Eremplare des Snteligergblattes"
und des „Sriebens- und Kriegöfuriers", in welchen
Zeitungen der Aufruf erfchienen war, befchlag-
nahmt. Dies wurde dem Appellhof orbnungs-
gemäß mitgeteilt und die oe Set daran ges
üpft, ob die ftrafrechtliche erfolgung des
Häftlings einzuleiten ſei oder nich
Den Magiftratsherren nen ein heilloſer
Schreden in die Glieder. Schleunigft ließen fie
die Atenfafzikel zufammenpaden und fehicten fie
mit Eilpoft nad) Ansbad hinüber. Vielleicht
mähnten fie, daß nun alles gut ſei, aber der
grimme Hofrat dortjelbft erhob alsbald wieder
34
feine Stimme. „Die Verhöre mit dem Häftling
und die Zeugniffe über ihn find aftenmäßig nicht
einwandfrei," zeterte er; „es find keineswegs alle
PVerfonen, die zuerft mit ihm in Berührung ge-
treten find, polizeilich vernommen worden; ferner
gäe der PBrofefjor Daumer, um ber öffentlichen
jefanntmachung des Magiſtrats eine rechtliche
Baſis zu geben, feine Gejpräche mit dem Find-
ling zu den Akten legen follen.“
Die Regierung, um ein übriges zu tun, warnte
den Magiftrat vor einfeitigem Verfahren. Darauf
erwiderte der Magiftrat in einem Anfall_von
Trotz und Enträftung: ja, aber in den Maf-
regeln, wie ihr fie verlangt, liegt Gefahr, die
Entdeckung zu hemmen, welche Anklage die vor
jejeste Behörde mit zorniger Energie zurückwies.
Bat eure Verjäumniffe nach, diktierte fie, proto-
golliert Verhöre, ſchickt Akten, Akten, nichts als
Mit innerer Wut hatte der Profeſſor Daumer
diefe Vor; zgänge verfolgt. Er bezeichnete das Treiben
ber Ansbacher Behörde als widermärtige Feder⸗
fuchferei und hatte allen Exnftes die Abficht, feinem
Unmut in einer geharniſchten Epiftel an die Re
gierung Luft zu machen. Mit Mühe hielten be-
fonnene Freunde ihn davon zurüd, „Aber es
muß doch etwas gejchehen!” warf er ihnen voll
Empörung entgegen, „man ift ja auf dem beiten
Weg, einen Juftizmorb zu begehen, und foll ich
dazu die Hände in den Schoß legen?"
„Das ratfamfte wäre,“ Ontıortete der Frei-
herr von Tucher, der bei diefem Auftritt anweſend
man, 1 perſoͤnlich an den Staatsrat Feuerbach
a hieße alſo, nach Ansbach reifen ?“
3
„Gewiß."
„Aber nehmen Sie denn an, daß er, ae
KVräfident des apellgeri cht8, von den Maßnahm:
feiner untergebenen Beamten nicht ſchon unter: 2
richtet ift und fie etwa gar mißbillige?"
„Gleichviel, ich verfpreche mir etwas von einer
mündlichen Auseinanderfegung; ich kenne Heren
von Feuerbadh, er ift der Ießte, der einer gerechten
Sache ie, fin Ohr verichließt."
Die Reife wurde beichlofien. Daumer und
Herr von Tucher befanden fih am andern Tag
ſchon in Ansbach. Unglüdlicherweife war, der
Präfident Feuerbach gerade auf einer Inſpeltions⸗
reife durch den Bezirk, ſollte erſt am fünften Tag
zurüdtommen, und die beiden Herren, fofern fie
das vorgefeßte Biel erreichen wollten, mußten
ihren Aufenthalt in der Kreishauptitadt über
Gebühr verlängern.
Mittlerweile Hatte der Findling eine gar böfe
Zeit. Sein Turmgefängnis wurde das Biel_aller
Aubiggänger und Neugierlinge der ganzen Stadt.
Man lief hin wie zu der Ausftellung einer unter-
haltfamen Rarität, denn der magiftratiiche Eilaß
hatte ihn zu einem Öffentlichen Gegenftand ge-
macht. Seine bisherigen Beſchützer waren ein
wenig zurüdhaltenber geworden, denn man wußte
ja nit, wie die Geidichte enden würde und ob
nicht ein hochweiſes Appellgericht ihn zum ges
wöhnlichen Schwindler ftempeln würde. Der Turm»
* wörter durfte ber allgemeinen Volksbeluſtigung
nicht fteuern, der Vürgermeifter ſelbſt hatte die
früheren Sefehle aufgehoben, weil es zweckmäßig
Klin, daß möglichft viele Leute den Fremdling
hen. Oft erbarmte ihn der mehrloje Snabe,
De ſchmeichelte es anderſeits feiner Eitelkeit,
86
Herr über ein ſolches Wunderding zu fein, auch
fpazierte nebenbei mancher Grofchen in den Beutel.
Brad) der Morgen an und Caſpar Haufer
erhob fi) vom a, feltfam müde, mit den
Augen das Licht meidend — er traurig ſtumm
in der Ecke, während gi den Strohſack aufe
fchüttelte und Waffer und Brot brachte, dann
erſchienen ſchon die erften Beſucher, die beruf»
mäßigen Frühauffteher: Straßenkehrer, Dienft-
mãgde, Bäckergefellen, Handwerker, die zur Arbeit
Eur ei auch Knaben, die auf dem Weg zur
chule — ergötzlichen Abſtecher machten, —
einige höchſt unbürgerlihe Erſcheinungen, zer-
lumpte Herren, die die Nacht im Stabtgraben
oder in einer Scheune verbracht hatten.
Mit dem Verlauf de3 Tages wurde die Ge
ſellſchaft vornehmer; es kamen ganze Familien,
der Herr Rendant mit Weib und Kind, der Herr
Major a. D., der Schneidermeijter Bügelfleiß,
Graf Rotftrumpf mit_feinen Damen, Herr von
Uebel und Herr von Strübel, die ihre Morgen-
promenade zum Zweck einer Befihtigung des
kurioſen Untier3 unterbrachen.
Es war ein heiteres Treiben; man konverfierte,
wifperte, lachte, fpottete und taufchte Meinungen
aus. Wan war freigebig und brachte dem Jüng-
ling allerlei Gefchente, die er anjah wie ein
Hund, der noch nicht apportieren gelernt hat,
den fertgem jeworfenen Spazierftod feines Herrn an-
fieht. Man legte Eßwaren vor ihn bin, um
feinen Appetit zu reizen; fo fchleppte zum Beis
ſpiel die Ranzleirätin Bahnlos einmal eine ganze
Schinkenkeule herauf, die allerdings am andern
Tag verfchwunden war — wohin, das wußte nie-
mand; doch zog man bebdeutfame Schlüffe daraus.
37
Vor allem hieß e8: zeigt und das Wunder, das
angepriefene Wunder! Aber da der ſchweigſame,
fanftherzige Knabe nicht von alledem tat, was
te in ihrer Lüfternen Erwartung fich eingebilbet,
0 begannen fie entweder zu jchimpfen — als
ob fie Eintrittsgeld bezahlt hätten und darum
betrogen worden wären — oder ftellten die er—⸗
ftaunlichften Torheiten an. Indem fie ihn fort-
während mit Fragen quälten, woher er komme,
wie er heiße, wie alt er fei und ähnliches, kamen
fie ſich ſowohl witzig wie überlegen vor. Sein
flehentliches Kopfichütteln, fein ungereimtes Nein
oder Ja, das wie aus Kindermund froh-bereit-
willig und furchtfam zugleich klang, fein Geftotter,
fein gläubines Lauſchen, alles das erregte ihr
Behagen. Einige brachten ihr Gefiht ganz nah
an feines und waren höchft vergnügt, wenn er
vor ihren Starrblicken ſichtlich bis ins Innerſte
erſchräk. Sie befühlten ſeine Haare, feine Hände,
feine Füße, zwangen ihn, durchs Zimmer zu
pazieren, zeigten ihm Bilder, die er erklären
follte, und taten zärtlich mit ihm, während fie
einander liſtig zuzwinkerten.
Aber die Harmloſigleit ſolcher Verſuche ward
den unternehmenderen Geiſtern bald überdrüſſig.
Man wollte ſich doch überzeugen, ob es ſeine
Richtigkeit damit hatte, daß der Gefangene jede
Nahrung außer Brot und Waſſer verichmähe.
Man hielt ihm Fleifh und Wurft, Honig oder
Butter, Milch oder Wein vor die Nafe und
amüfierte fich Löftlich, wenn der Knabe vor Ekel
förmlich außer fich geriet. „Ei, der Komödiant,“
Elan WA —TF —T— als bei Wr —*
iffen verachte! Hat ſich wahrſcheinlich mal in
eines großen Herrn Küche überfreſſen!“
38
Einen Hauptipaß ER als einmal zwei
junge Meifter der Goldichlägerinnung Schnaps
berbeibrachten und fich verabredeten, dem Haufer
das Getränt mit Gewalt aufzunötigen. Der eine
hielt ihn, der andre wollte ihm das volle Glas
zwifchen die Lippen fchütten. Doch konnten fie
ihren Plan nicht ausführen, weil ihr Opfer durch
den bloßen Geruch, der aus dem Gefäß ftrömte,
das Bewußtſein verloren hatte. Sie waren
einigermaßen verdußt und mußten mit dem Ohn-
mächtigen nicht8 anzufangen; zum Glüd_ fahen
fie ihn atmen und hatten weiter feine Furcht.
„Glaubt ihm doch feine Kniffe nicht,“ meinte ein
ftugerhaft gefleinetss Vürfchlein, das bisher ge
langmeilt dabeigeftanden, „ih will ihn fehon
wieder munter kriegen.“ Sprach's, zog lächelnd
die goldene Schnupftabaksdoſe und ftedte eine
volle Prife unter die Nafe des vermeintlichen
Simulanten, deſſen Geficht fogleich von heftigen
Zudungen bewegt wurde, worüber alle drei in
Gelächter ausbrachen. As dann der Wärter
kam und fie derb zur Rede ftellte, zogen ſie
ſchimpfend ab und räumten den Plan einem
gravitätifchen älteren Herrn, der den langſam
zum Leben zurüdtehrenden Caſpar von vorn und
von hinten bejchnüffelte, den Finger an die Stirn
legte, ſich räufperte, den Kopf fchüttelte, erſt
- franzöfifh, dann ſpaniſch, dann englifh auf den
Süngling einvedete, mit dem Wärter tufchelte,
kurz von Wichtigkeit barft.
Caſpar jedoh jah ihn immer nur an und
fagte in jämmerlichem Ton: „Heimmeifen.“
„Warum fpielft du nicht mit dem Rößlein?“
fragte, als die wichtige Perfon gegangen war,
der Wärter. Man verjtändigte fe mit Cafpar
39
noch immer mehr durch Geften als durch Worte,
und er jelbft las, mas Worte ihm nicht mit-
teilen Tonnten, von den Augen und den Händen
der Menfchen ab.
Er blickte auch Hill lange an und fagte:
„Heimweiſen.“
„Heimweiſen?“ antwortete der Wärter, halb
verdrießlich, halb mitleidig. „Wohin denn heim?
Wo bift du denn daheim, du Unglüdswurm?
In dem unterirdifchen Zoch vielleicht? Nennft du
das daheim?"
„Der Du foll kommen," fagte Caſpar klar,
langſam und hell.
„Der wird ſich hüten,“ verſetzte Hill, bär-
beißig lachend.
„Der Du kommt, bald kommt," beharrte
Cafpar, und er ſchaute mit einem Ausdrud
feierlicher Inbrunft gegen den abendlichen Himmel,
als fei er überzeugt, daß der Du durch die Lüfte
ſchreiten könne. Dann erhob er fich in feiner
mühevollen Weife, nahm fein Spielpferdchen und
verjuchte e3 zu tragen, denn bies allein wollte er
von den Gegenftänden, die er geſchenkt erhalten,
mitnehmen, wenn der Du fäme, fonft nichts,
Hill’begrifffein Vorhaben. „Nein, Cafpar, ſagte
ex, „jest mußt du ſchon in dieſer Welt bleiben.
Daß fie dir nicht gefallen mag, verſteh' ich wohl.
Mir gefält fie auch nicht, aber dableiben mußt du.“
Caſpar, wenngleich er den Worten nicht ganz
folgen Tonnte, erfaßte doch den unabänderlichen
Beſchluß, den fie enthielten. Ex begann an allen
Gliedern zu beben, laut weinend warf er fich zu
Boden, aber auch fpäter, als es dem beftürzten
Hill gelungen war, ihn zu tröſten, ſchien es, wie
wenn er vor Kummer fein Herz verhauche. Die
40
Traurigkeit feines Gemüts überflutete das kind»
hafte Geficht wie ein dunkler Schleier, und am
Dlorgen waren feine Lider durch die während
de3 Schlummers vergofjenen Tränen verklebt.
Er wollte zum erjtenmal nicht mehr mit dem
Pferdchen fpielen, fondern kauerte ftundenlang
ohne Regung auf einem Fleck. Bei jedem Krachen
der Treppe fchüitelte e8 ihn, und er fchauderte,
wenn fi wieder und wieder ein neues Geficht
über der Schwelle zeigte. Zitternd fah er die
Menfchen an, der Geruch ihres Atemd war gm
eine Bein und unerträglih, wenn fie ihn bes
rührten. Am meiften Furcht hatte er vor ihren
Händen. Zuerſt jah er immer die Hände an,
merkte fich ihre verjchiedene Geftalt und Farbe,
und ehe er fie an feiner Haut fpürte, erſchrak
ex ſchon, denn fie erjchienen ihm wie felbftändige
Geſchöpfe, kriechende, klebrige, gefährliche Tiere,
deren Tun von einem Augenblick zum andern
gar nicht abzufchägen war.
Nur Daumers Hand, die einzige, deren Ber
zübeungangenehmmar, mar verfhmsunden, Barum?
dachte Cafpar, warum war dies alles? Warum
das feltfame Getöfe von früh bis jpät? Woher
Tamen die fremden Geftalten, warum fo viele, und
warum war ihr Mund umd ihr Auge böfe?
Das frifche Waſſer ſchmeckte ihm nicht mehr,
auch hungerte ihn nicht mehr nach dem gewürzten
Brot. In feiner Erſchöpfung dunkte ihm mitten
am Tage, e3 ſei Nacht geworden, und das Heiß-
leißende, -funfelnde, von dem man ihm gejagt,
aß es der Schein der Sonne fei, wurde vor
feinen müden Augen zu purpurnem Dunft. Es
beängftigte ihn das Geräufch des Windes, denn
er verwechjelte es mit den Stimmen der Menfchen.
al
Er fehnte fih in die Einfamleit feines Kerkers
zurück; heimmeifen mar fein einziger Gedanke.
€ war ein Sonntag. Spätnachmittags
waren Daumer und Herr von Tucher aus Ans-
bach wieder angelangt, und in ihrer Begleitun
befand ſich der Staatsrat von Feuerbach, der ji
entſchloſſen hatte, den Findling felbft zu befuchen
und womöglich Klarheit in das unfruchtbare Hin-
undher von Akten und Erläffen zu bringen.
Nachdem er im Gafthof zum Lamm Quartier
gemietet hatte, ließ fich der Präfident von den
eiden Herren fogleich zur Burg und auf den
Turm führen. Es hatte fchon neun Uhr ges
ſchlagen, als fie dort anlamen. Groß war ihre
Ueberraſchung, als fie da8 Zimmer Gafpars leer
fanden; die Frau des Wärter8 erklärte verlegen,
ihr Mann ſei mit Cafpar ins Wirtshaus zum
Krokodil gegangen, Der Rittmeifter von Wefjenig
habe nämlich einigen feiner von auswärts zu-
gereiften Freunde den Findling zu zeigen ges
wunſcht, habe heraufgeſchickt und befohlen, daß
man Caſpar bringe.
Daumer war erbleicht und fehaute, Schlimmes
ahnend, finfter zu Boden; Herr von Tucher ver:
mochte feinen Unmillen kaum zu bemeiftern, und
über die bartlofen Lippen des Präfidenten Bujöte
ein halb mofantes, halb verächtliches Lächeln;
feine gebietende Haltung erinnerte an einen dur:
Pflichtverfäumnifje vielfach beleidigten Fürſten,
als er ſich mit der fchroffen Aufforderung zu
feinen Begleitern wandte: „Führen Sie mid zu
diefem Wirtshaus!"
Die Dunkelheit war eingebrochen, über dem
Dach des Nathaufes ftand fahlleuchtend der
Mond. Schweigend fhritten die. drei Männer _
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den Berg hinab, und kaum waren fie, das wink⸗
lige Gaſſengewirr verlaffend, auf den Wein-
markt getreten, als Daumer ftehenblieb und mit
erregter Stimme flüfterte: „Da ift er.”
In der Tat fahen fie Cafpar, der gleich
einem zu Tod Erkrankten am Arme Hills aus
dem Tor des Krofodilwirtshaufes wankte. Der
Präſident und Herr von Tucher blieben ebenfalls
ftehen, und fie bemerkten jest, daß der Jüngling
plöglich innehielt, guritfigauberte und, ein maß-
lofe8 Staunen in den vor Angſt weit aufgeriffenen
Augen, zu Boden ftarrte. Die drei Männer näherten
ſich eilig, um zu erfahren, was es fei. Sie fahen
nichts weiter als die Mondfchatten des Jünglings
und feines Vegleiter3 auf dem Pflafter.
Caſpar wagte nicht mehr fich zu regen, weil
er jede Bewegung feines Körper nachgeahmt
ſah von dem unbegreiflichen Ding. Seine Lippen
waren wie zum Schrei geöffnet, feine Zangen
ſchneeweiß und die Knie fchlotterten ihm.
es dog), als ob alles Grauenhafte und Geheim-
nisvolle einer Welt, in die ein Ungefähr ihn ge
fchleudert, ſich zu dem feltfam zudenden Gebild
am Boden verdichtet habe.
Daumer, Herr von Tucher und der Wärter
bemühten ſich um ihn, der Präfident ftand wortlos
daneben. Als er emporblicte, bemerkte Daumer, der
ihn heimlich und geſpannt beobachtete, in feinem
fieengen Geficht eine unverftellte Erfchütterung.
3 fehlte nicht viel, jo wäre Hill, den der
Zorn des Präfidenten am erjten traf, noch am
jelben Abend aus feinem Amt gejagt worden;
nur die mutige Fürjprache de3 Heren von Tucher
rettete ihn und lenkte das Gemitter auf ſchuldigere
Perſonen ab, denn die Vernachläffigung, die der
43
Gefangene erlitten, war allzu offenbar. Seiner
ungeftümen Art gemäß fuchte der Präfident ſo⸗
leich den Bürgermeifter Binder auf, dem er die
eftigften Vorwürfe machte. Herr Binder Eonnte
nicht umhin, dem Präfidenten Eleinmütig beizu⸗
pflichten; die Entfchiedenheit, mit der er den
Gegenſtand behandelt fah, übte tiefen Eindrud
auf ihn, und er mußte einen Taum wieder gut-
zumachenden Fehler vor fich ſelber eingeftehen.
Von feiner Seite war nur Lauheit im Spiel
gewejen, die Scherereien mit ber Regierung hatten
ihn verdrofjen, jet auf einmal, da der mächtige
Mann feine Stimme für den Findling erhob,
wurde er fich feiner Bereitwilligleit bewußt, alles
Fördernswerie für Cafpar Hauſer zu tun, und
ex erflärte ſich ohne weiteres einverftanden, als
‚Herr von Seuerbad) verlangte, der Knabe müffe
jeiner bisherigen Lage entriffen werden. „Er
ol in eine geordnete Pflege kommen,“ fagte der
räfident, btofeflor Daumer bat fich freimilli
exboten, ihn zu fih ins Haus zu nehmen, umi
ich wünfche nicht, daß diefer Schritt im geringften
verzögert werde.”
Binder verbeugte fih. „IH werde morgen
mit dem früheften die nötigen Anftalten treffen,”
antwortete er.
„Nicht, bevor ich felbft mit dem Knaben ge
fprochen," verfegte der Präfident haftig; „ich
werde um zehn Uhr auf dem Turm fein und
bitte, daß man mic eine Stunde lang mit dem
Gefangenen allein laſſe.“
Auch Daumer war ziemlich erregt heimgefommen.
Raum daß er, nad tagelanger Abweſenheit,
Mutter und Schwefter ordentlich begrüßte. „Die
Herrichaften müffen artig gewütet haben,“ grollte
4
er, indem er unaufhörlich durch das ‚Zimmer
wanderte, „der Knabe ift ja ganz verſtört. Das
jeiß” ich menschlich fein, das Heiß’ ich Einficht
jaben! Barbaren find fie, Schlächter find fie! Und
unter ſolchem Volk zu leben bin ich gesmungen!
„Barum fagft du es ihnen nicht felbjt?“
bemerkte Anna Daumer troden. „Hinter deinen
vier Wänden zu fchimpfen fruchtet wenig.“
„Sag mal, Friedrich," wandte fih nun die
alte Dame an ihren Sohn, „bit du denn wirt
lich, feft davon überzeugt, daß du dein Herz nicht
wieder einmal an einen Gößen wegwirkft?"
„Aus deiner Frage erfennt man, daß du ihn
noch immer nicht gejehen haſt,“ antwortete
Daumer fat mitleidig.
„Da3 wohl; e8 war mir ein zu groß Gerenne."
„Afo. Wenn man von ihm fpricht, kann
man nicht übertreiben, weil die Sprache zu ärm-
lich iſt, um fein Wefen auszudrüden. Es ift wie
eine uralte Legende, dies Emportauchen eines
märchenhaften Geſchöpfs aus dem dunfeln Nirgend-
wo; die reine Stimme der Natur tönt uns plöß-
lich entgegen, ein Mythos wird zum Ereignis.
Seine Seele gleicht einem koſtbaren Edelſtein, den
noch keine habgierige Hand betaftet hat; ich aber
will danad) greifen, mich rechtfertigt ein erhabener
Zweck. Oder bin ich nicht würdig? Glaubt ihr,
daß ich nicht würdig bin dazu?“
„Du ſchwärmſt,“ fagte Anna nad einem
langen Stiliſchweigen faſt ureilig,
Daumer zudte lächelnd die Achfeln. Dann
trat er an den Tiſch und fagte in einem Ton,
deſſen Sanftheit gleichwohl einen gefürchteten
Widerftand im voraus zu bekämpfen fchien:
„Caſpar wird morgen in unfer Haus ziehen; ich
45
babe Erzellenz Feuerbach darum angegangen und
er bat meiner Bitte willfahrt. Br hoffe, ap
du nichts dawider einzumenden haft, Mutter, un
daß du mir glaubft, wenn ich verfichere, es ift
eine Sache von großer Bedeutung für mich. Ich
bin höchft wichtigen Entdeckungen auf der Spur.”
Mutter und Tochter fahen erſchrocken ein-
ander an und fchmwiegen.
Am nächften Morgen um zehn fanden ſich
Daumer, der Bürgermeifter, der Stadtkommiſſär,
der Gerichtöarzt und einige andre Perfonen im
Burghof vor dem Gefängnisturm ein und mar-
teten dritthalb Stunden auf ben Präfidenten, der
bei dem Findling oben war. Daumer, der Ge-
fpräche mit andern vermeiden wollte, ftand faft
ununterbrochen an der Umfafjungsmauer und
blickte auf das malerifche Gafjen- und Dächer
gewirr der Stadt hinunter.
AS der Präfident endlich unter den Warten-
den erfchien, drängten fich alle mit Eifer heran,
um die Meinung de3 berühmten und gefürchteten
Mannes zu hören. Doch das Geficht Feuerbach
zeigte einen jo düfteren Exnft, daß niemand ihn
mit einer Anrede zu beläftigen wagte; fein macht-
volles Auge blickte brennend nad) innen, die Lippen
waren gleichjam aufeinander geballt, auf der Stirn
lag eine von Nachdenken zitternde ſenkrechte alte.
Das Schweigen wurde vom Vürgermeifter mit
der Frage unterbrochen, ob Erzellenz nicht geruhen
wolle, das Mittagefjen in feinem Haus zu nehmen.
Feuerbach dankte; dringende Gejchäfte nötigten
ihn zu fofortiger Rückkehr nach Ansbach, ent
gegnete er. Darauf wandte er fich an Daumer,
veichte ihm die Hand umd fagte: „Sorgen Sie
fogleich für die Weberfieblung des Haufer; der
46
arme Menfch braucht dringend Ruhe und Pflege.
Sie werden bald von mir hören. Gott befohlen,
meine Herren!"
Damit entfernte er ſich in rafchen, Heinen,
ftampfenden Schritten, eilte den Sig! hinab und
derſchwand alsbald gegen die Sebalderficche, Die
Zurüchleibenden machten etwas enttäufchte Mienen.
Da fie alle überzeugt waren, daß der Scharffinn
dieſes Mannes ohne Grenzen ſei und daß fein
andres als fein Auge das Dunkel durchdringen
tönne, welches über Untat und Verbrechen brütete,
waren fie verjtimmt über eine Schweigfamleit,
die ihnen beabjichtigt und planvoll erfchien.
Am Abend befand ſich Caſpar in der Woh-
nung Daumers.
Der Spiegel fpricht
Das Daumerfhe Haus lag neben dem jo-
genannten Annengärtlein auf der Inſel Schütt;
es mar ein altes Gebäude mit vielen Winkeln
und halbfinftern Kammern, doch erhielt Cafpar
ein ziemlich geräumiged und mohleingerichtetes
Zimmer gegen den Fluß hinaus.
Er mußte fogleich zu Bett gebracht werden. Es
zeigten fich jest mit einem Schlag Die Folgen ber
jüngftdurchlebten Zeit. Er war wieder ohne
Sprache, ja bisweilen wie ohne Gefühl des Lebens.
Auf den ungewohnten Kiffen warf ex fich fiebernd
herum. Wie jammervoll, ihn bei jedem Knacken
der Dielen erſchaudern zu jehen; auch das Ge
räufch des Regens an den Fenjtern verfegte ihn
in aufgewühlte Bangnis. Er hörte die Schritte,
die auf dem weiten Plab vor dem Haus ver-
47
allten, er vernahm mit Unruhe die metallenen
läge aus einer fernen Schmiede, jeder Stimmen-
lärm brachte auf feiner ten mt
ein Zeichen des Schmerzes hervor; und von
ment zu Moment vertaufchten fine Büge den
Ausdrud der Erſchöpfung mit dem gepeinigter
Badjamteit,
Drei Tage lang wich Daumer kaum von
feinem Bett. Diefe Opferkraft und Hingebung
erregte die Bewunderung der Seinen. „Er muß
mir leben,“ fagte er. Und Caſpar fing an zu
leben. Vom dritten Tag ab Defferte A fein
Zuftand ftetig und ſchnell. Als er am Morgen
erwachte, lag ein befinnendes Lächeln auf feinen
Lippen. Daumer triumphierte
„Du tuft ja, als ob du ſelbſt dem Kerker
entronnen wärft,“ meinte feine Schmeiter, die nicht
umbin konnte, an feiner Freude teilzunehmen.
„Ja, und ich habe eine Welt zum Gefchent
erhalten," antwortete er lebhaft; „fieh ihm nur
an! Es it ein Menfchenfrühling."
Am andern Tag durfte Cafpar das Bett ver-
laſſen. Daumer führte ihn in den Garten. Da-
mit das grelle Tageslicht feinen Augen nicht ſchade,
band er ihm einen grünen Papierſchirm um die
Stirn. Späterhin wurden die Dämmerungszeit
ober die Stunden bewölften Himmels für dieſe
Ausgänge Dorgeangen.
waren ja Reifen, und nicht geichah, was
nicht zum Ereignis wurde. Welche Mühe, ihn
fehen, ihn das Gefehene nennen zu lehren, €
mußte erft zu den Dingen Vertrauen gewinnen,
und ehe nicht ihre Wirklichteit ihm felbjtverftänd-
lich ward, machte ihn ihre unvermutete Nähe bes
ftürzt. Als er endlich die Höhe des Himmels
48
unb auf ber Exde die Entfernung von Weg zu
Weg begriff, wurde fein Gang ein wenig leichter
und fein Schritt mutiger. Alles lag am Mut,
alles lag daran, den it zu Träftigen.
Das ift die Luft, Caſpar; du kannſt fie nicht
greifen, aber d ift da; wenn fie fich bemegt,
wird fie zum Wind, du brauchit den Wind nicht
zu fürchten. Was hinter der Nacht Liegt, Hi
geftern; was über der nächſten Nacht liegt, iſt
morgen. Von geftern bis morgen vergeht Zeit,
vergehen Stunden, Stunden find geteilte Zeit.
Dies ift ein Baum, dies ift ein Strauch, hier
Gras, hier Steine, dort Sand, da find Blätter,
da Blüten, da Früchte...
Aus dem dumpfen Hören heraus erwuchs
das Wort. Die Form wurde einleuchtenb durch
das Anvergeßliche Wort. Caſpar ſchmeckt das
Wort auf der Zunge, er fpürt e8 bitter oder füß,
e3 fättigt ihn oder läßt ihn unzufrieden. Auch
hatten viele Worte Gefichter; oder fie tönten wie
Glodenfchläge aus der Dunkelheit; oder fie ftan«
den wie Flammen in einem Nebel,
Es war ein langer Weg vom Ding bis zum
Wort. Das Wort lief davon, man mußte nach
laufen, und hatte man es endlich erwifcht, fo war
es eigentlich gar nicht3 und machte einen traurig.
Gleichwohl führte derfelbe Weg auch zu den
Menſchen; ja, es war, als ob die Menfchen hinter
einem Gitter von Worten ftünden, das ihre Züge
fremd und fehrecflich machte; wenn man aber das
Gitter zerriß oder dahinter kam, waren fie ſchön.
‚ Hatte es am Morgen neu geklungen, zu fagen:
die Blume, am Mittag war es ſchon vertraut,
am Abend war es ſchon alt. „Dies Herz, Dies
Hirn, zur Fruchtbarkeit aufbewahrt durch lange
Baffermann, Gafpar Haufer 4 40
Zeiten, treibt wie vertrocneter und endlich be—
feuchteter Humus Sprößlinge, Blüten und Früchte
in einer Nacht," notierte der eißige Daumer; „was
dem matten Blick der Gewohnheit unwahrnehm-
bar geworden, erjcheint diefem Auge friſch wie aus
Gottes Hand. Und mo die Welt verſchloſſen ift
und ihre Geheimnifje beginnen, da fteht er noch
feltfam drängend und fragt fein zuverfichtliches
Warum. Nach jedem Schall und jedem Schein
tappt dies zweifelnde, erſiaunte, hungrige, ehr⸗
furchtsloſe Warum.“
Es iſt nicht zu leugnen, Daumer war oft
erſchreckt durch das — eignen Ungenügens.
Sei t das noch Iehren? grübelte er, heißt das
Gärtner jein, wenn das wilde Wachstum
fh dem ileger entwinbet, da3 maßlos wuchernde
Getriebe feine Grenze a het? Wie jol das enden?
Zweifellos bin ich * einem ungewöhnlichen
Phänomen auf der Spur und meine teuern Zeit⸗
SL en werden ſich berbeilafjen müfjen, ein wenig
—* zu glauben.
ch immer war es die liebſte Vorſtellung
Parse] einft beimtehren zu u dürfen; „erſt lernen,
dann heim,“ fagte er mit dem Ausdrud unbefieg-
barer Entjchiedenheit. „Aber du bift ja zu Haufe,
bier bei uns bift du zu Haufe,“ wandte Daumer
ein. Aber Caſpar fchüttelte den Kopf.
Bisweilen ftand er am Zaun und fah in den
Nachbargarten siniber, wo Kinder fpielten, deren
Wefen er mit komiſchem Befremden ftudierte.
„So Heine Menfchen,” fagte er zu Daumer, ber
ihn einmal dabei überrafchte, „jo eine Menſchen.“
Seine Stimme Hang traurig und höchft verwundert.
Daumer unterdrücte ein Lächeln und wäh—
rend fie zufammen in? Haus gingen, fuchte er
50 .
ihm klarzumachen, daß jeder Menfch einmal
fo Hein geweſen, auch Gafpar jelbft. Caſpar
wollte daS durchaus nicht zugeben. „O nein,
o nein,“ rief er aus, „Caſpar nicht, Cafpar
immer jo gewefen wie jet, Cafpar nie jo kurze
Arme und Beine gehabt, o nein!“
Dennoch jei dem jo, verficherte Daumer; nicht
allein, daß er Hein geweſen, fonbern er wachſe
ja noch täglich, verändere fich täglich, fei_beute
ein ganz andrer als der Haufer auf dem Turm,
und nad vielen Jahren werde er alt werden,
feine Haare würden weiß fein, die Haut voller
Runzeln.
Da wurde Caſpar blaß vor Furcht; er fing
an zu ſchluchzen und ſtotterte, das ſei nicht mög-
lich, er wolle es nicht, Daumer möge machen, dh
es nicht gefchehe.
Daumer flüfterte jeiner Schweiter etwas zu,
diefe ging in den Garten und brachte nach kurzer
Weile eine Roſenknoſpe, eine aufgeblühte und
eine verwelfte Roſe mit herauf. Caſpar ftredte
die Hand nach der vollblühenden aus, wandte
fich aber gleich mit Efel ab, denn jo ſehr er die
tote Farbe vor allen andern liebte, der heftige
Geruh der Blume war ihm unangenehm. A
ihm Daumer den Unterfchied der Lebensalter an
Knofpe und Blüte erflären wollte, fagte Caſpar:
„Das haft du doch felbft gemacht, es ift ja tot,
& hat feine Augen und feine Beine.”
„SH Hab’ es nicht gemacht," entgegnete
Daumer, „es ift lebendig, es ift gemachjen; alles
Lebendige ift_gewachjen.”
„Mes Lebendige geraden, wiederholte
Caſpar faft atemlos, indem er nach jedem Wort
paufierte. Hier drohte Verwirrung. Auch bie
1
Bäume im Garten feienglebendig, fagte man ihm,
und er getraute fich nicht, den Bäumen zu nahen,
das Rauſchen ihrer Kronen machte ihn beftürzt.
Er fuhr fort zu zweifeln und fragte, wer die
vielen Blätter ausgefchnitten habe und warum?
warum fo viele? Auch fie feien gewachſen, wurde
geantwortet.
Aber mitten auf dem Rafen ftand eine alte
Sandfteinftatue, die follte tot fein, troßdem fie
ausjah wie ein Menſch. Caſpar konnte jtunden-
lang die Blicke nicht davon wenden, Verwunde⸗
rung machte ihn ftumm. „Warum hat e3 denn
ein Geficht ?" fragte er endlich, „warum it es jo
weiß und fo Fomusig? Warum fteht es immer
und wird nicht müde?"
Als feine Furcht befiegt war, ging er heran
und wagte die Figur zu betaften, denn ohne zu
taften, glaubte er nicht dem, was er ſah. Er
hatte den heftigen Wunfch, das Ding auseinander
nehmen zu dürfen, um zu wiſſen, was innen war.
Wie viel war überall innen, wie viel ftectte überall
dahinter! i
Es fiel ein Apfel vom Zweig und rollte ein
Stück des abjchüffigen Weges entlang. Daumer
hob ihn auf, und Gafpar fragte, ob der Apfel
möübe ſei, weil er fo fchnell gelaufen. Mit Grauen
wandte er fich ab, als Daumer ein Mefjer nahm
und die Frucht entzweifchnitt. Da warb ein
Wurm fihtbar und Frümmte feinen dünnen Leib
gegen das Licht. -
„Er war bi8 jegt im Finftern gefangen wie
du im Kerker,“ fagte Daumer.
Das Wort machte Cafpar nachdenklich; es
machte ihn nachdenklich und mißtrauifch. Wie
viele8 war da im Kerfer, wovon er nicht wußte!
52
Alles Innen war ein Kerker. Und in wunder-
licher Verworrenheit Inüpfte ſich an dieſen Ge-
danken die Erinnerung an den Schlag, den er
damals erhalten, nachdem ihn der Du gelehrt,
wie man das Pferdchen frei bewegen könne. In
allen fremden Dingen Iauerte ber Sag, in allen
unbefannten wohnte Gefahr. Eine gewiſſe ſtrah⸗
lende Heiterkeit, die allmählich Caſpars Weſen
entftrömte und die das Entzüden feiner Ums
gebung bildete, war daher ftet3 an jene er-
wartungsvolle, ahnungsvolle Bangigfeit gebunden.
Nach regneriſchen Stunden mit Daumer aus
dem Tor tretend, gewahrte Caſpar einen Regen⸗
bogen am Himmel. Er war ſiarr vor Freude.
Wer das gemacht habe, ftammelte er endlich.
Die Sonne. Wie, die Sonne? Die Sonne fei
doch Fein Menſch. Die natürlichen Erflärungen
ließen Daumer im Stich, er mußte fich auf —
beruſen. „Gott iſt der Schöpfer der belebten
und unbelebten Natur," ſagte er.
Cafpar ſchwieg. Der Name Gottes Hang
ihm feltfam düſter. Das Bild, das er dazu
ph, gs dem Du, fah aus wie der Du, als
ie Dede des Gefängnifjes auf feinen Schultern
ruhte, war unheimlich verborgen mie der Du,
als er den Schlag geführt, weil Gafpar zu laut
geſprochen.
Wie geheimnisvoll war alles, was zwiſchen
Morgen und Abend geſchahl Das Regen und
Raunen der Welt, das Fliegen des Waſſers im
Fluß, das Ziehen luftig-dunkler Gegenftände hoch
in der Luft, die man Wolfen nannte, das Vor»
übergehen und Nichtwiederfommen undeutbarer
Ereigniffe, und vor allem das Flüchten der Men-
ſchen, ihre fehmerzlichen Gebärden, ihr lautes
53
Reden, ihr fonderbares Gelächter. Wie viel war
da zu erfahren und zu lernen!
Es ſchnürte Daumer das Herz zufammen,
wenn er den üngling in tiefem Nachdenken ſah.
Caſpar fehien dann wie erfroren, er hodte zu-
fammengefauert da, feine Hände waren geballt
und er hörte und fpürte nicht mehr, was um
ihn vorging.
Ja, es war zu folchen Zeiten eine vollftän-
dige Dunkelheit um Cafpar, und nur, wenn er
lange genug verſunken war, hüpfte aus der ze
etwas wie ein Feuerfunken, und in der Bruſt
begann eine undeutlih murmelnde Stimme zu
beein Wenn der Funken wieder verloſch, tat
ie äußere Welt wieder fund, aber eine
went Unzufriedenheit hatte ſich Caſpars
emãchtigt.
„Wir müſſen einmal mit ihm hinaus aufs
Land,“ ſagte Anna Daumer eines Tages, als
der Bruder mit ihr darüber geſprochen. „Er
braugt Berftreuung.“
n braucht Zerftreuung," gab Daumer
lächelnd zu, „er ift zu gefammelt, daS ganze Welt-
al laſtet noch auf feinem Gemüt."
a es jein erjter Spasiergang fein wird,
wäre e8 gut, die Sache möglichft ſtill zu unter
nehmen, ſonſt find wieder alle Neugierigen bei
der Hand," meinte die alte Frau Daumer. „Sie
ſchwatzen ohnehin genug über ihn und über u:
Daumer nidte. Er wünfchte nur, daß Hear
von Tucher mit von ber Partie fei.
Am erften Feiertag im September fand der
Ausflug ftatt. Es war ſchon fünf Uhr nach⸗
mittags, als fie vom Haus aufbrahen, und da
fie auf Gafpars langfame Gangart Rüdficht nehmen
54
mußten, gelangten fie erſt fpät ins Freie. Die
begegnenden Leute blieben ftehen, um der Gejell-
m nachzuſchauen, und oft hörte man bie
ſtaunenden oder ſpöttiſchen Worte: „Das ift ja
der Caſpar Haufer! Ei, der Findling! Wie fein
er's treibt, wie nobel!" Denn Cafpar trug ein
neue3 blaues Frädlein, ein modifches Gilet, feine
Beine taten in meißfeidenen Strümpfen und die
Schuhe hatten filberne Schnallen.
Er ging zwischen den beiden Frauen und hatte
ſorgſam acht auf den Weg, der nicht mehr wie
ehedem vor feinen Bliden auf» und abwärts
ſchwankte. Die Männer (eritten in gemeffener
Entfernung binterdrein. Plößlich erhob Daumer
den rechten Arm nach vorn, und gleich darauf
blieb Cafpar ftehen und ſah fich fragend um.
Erfreut und in Iiebevollem Ton rief ihm
Daumer zu, weiterzugeben. Nach ein paar Hundert
Schritten hob er wieder den Arm, und abermals
blieb Caſpar ftehen und blidte fih um.
„Was ift das? Was bedeutet das?“ fragte
Herr von Tucher erftaunt.
„Darüber gibt es feine Erklärung,“ antwortete
Daumer voll ftillen Triumphes. „Wenn Sie wollen,
Tann ich Ihnen noch viel Merkwürdigeres zeigen."
„Hexerei wird doch wohl kaum im Spiele
— meinte Herr von Tucher ein bißchen
ironiſch.
„Hexerei? Nein. Aber wie ſagt Hamlet: Es
gibt mehr Dinge zwiſchen Himmel und Erde —“
„Alſo ſind Sie ſchon an den Grenzen der
Schulweisheit angelangt?" unterbrach Herr von
Tucher noch. immer mit Jronie. „Ich für meinen
Teil ſchlage mich zu den Skeptifern. Wir werden
ja ſehen.“
55
are werden jehen,“ wiederholte Daumer
lich.
Nach oftmaligem kurzem Raften warb am
Rand einer Wiefe Halt gemacht, und alle ließen
fih im Gras nieder. Caſpar fchlief ſogleich
ein; Anna breitete ein Tuch über fein Geficht
und padte fodann einige mitgebrachte Eßwaren
aus einem Körbchen. Schweigend begannen alle
vier zu efjen. Ein natürliches Schweigen war
e3 nicht: der lieblich vergehende Tag, das fommer-
liche Blühen forderten der zu heiteren Gejprächen
auf, aber um den Schläfer lag ein eigner Bann,
jeder fpürte die Gegenwart des Yünglings jebt
ftärfer al8 vorher, und es hatte bei einigen gleich
gültigen Nebensarten fein Bewenden, die leifer
langen als felbft die Atemzüge des Schlummern-
den. Weit und breit war fein Menfch zu fehen,
da man abfichtlich einen felten begangenen Weg
gewählt hatte.
Die Sonne war am Sinken, als Caſpar er-
wachte und, fich aufrichtend, die Freunde der
Neihe nach dankbar und etwas befchämt anblickte.
„Sieh nur hinüber, Caſpar, fieh den roten Feuer-
ball,“ ſagte Daumer; „haft du die Sonne ſchon
einmal fo groß gejehen ?"
Caſpar fhaute hin. Es war ein ſchöner An-
blick: Die purpurne Scheibe rollte herab, als zer-
gänitte fie die Erde am Rand des Himmels; ein
teer von Scharlachglut ftrömte ihr nach, die
Lüfte waren entzündet, blutiges Geäder bezeich-
nete einen Wald und rofige Schatten baufchten
langſam über die Ebene. Nur noch wenige Mi-
nuten, und ſchon zuckte die Dämmerung durch den
fanften Rarmin des Nebels, in den die Ferne
getaucht war, einen Augenblic lang bebte das Ge—
56
lände, umb geänteiftllene Strahlenbündel ſchoſſen
über den Weften, der verfunfenen Sonne nad.
Ein geifterhaftes Lächeln glitt über die Züge
der beiden Männer und ber zwei Frauen, ald fe
Cafpar mit einer Gebärde ftummer Angft binüber-
reifen jahen gegen den Horigont. Daumer näherte
I ihm und ergriff feine Hand, die eißfalt ges
worden war. Caſpars Geficht wandte ſich er-
zitternd ihm zu, voller Fragen, voller Zucht, und
endlich bewegten fich die Lippen und er murmelte
ſchüchiern: „Wo geht fie hin, die Sonne? Geht
fie ganz fort?"
Daumer vermochte nicht gleich zu antworten.
So mag Adam vor feiner erſten Nacht im Para-
dies gezittert haben, dachte er, und es geſchah
nicht ohne Schauder, nicht ohne feltfame Ungewiß-
beit, daß er den Jüngling tröftete, ihn der Wieder:
kunft der Sonne verficherte.
„Iſt dort Gott?" fragte Caſpar hauchend,
„it die Sonne Gott?"
Daumer deutete mit dem Arm weit ringsum
und erwiderte: „Alles ift Gott."
Indeſſen mochte ein jolches Diktum pantheifti-
ſcher PHilofophie für die Auffafjungsgabe des
ünglings ein wenig zu verwidelt fein. Er
jchüttelte ungläubig den Kopf, dann fagte er mit
dem Ausdruck dumpf⸗ abgöttiſcher Verehrung:
„Caſpar liebt die Sonne.“
[uf dem Heimmeg war er ganz fhumm; auch
die übrigen, ſelbſt die immer wohlgelaunte Anna,
waren in einer wunderlich gedrüdten Stimmung,
als wären fie nie zuvor durch einen fpätfommer-
lichen Abend gemwandert, oder als fühlten fie den
Auftritt voraus, der ihnen das Beifammenfein
dieſer Stunden unvergeplich machen follte.
57
Kurz vor dem Stadttor nämlich blieb Anna
ftehen und deutete mit einem Zuruf an alle in
da3 herrlich geftiente Firmament. Auch Cafpar
blickte hinauf, er erftaunte maßlos. Kleine, jähe,
wirre Laute eines Teidenfchaftlichen Entzückens
Tamen aus feinem Mund. „Sterne, Sterne,"
ftammelte ex, das gehörte Wort von Annas Lippen
taubend. Er preßte die Hände gegen die Bruft,
und ein umbefchreibtich feliges Lächeln verfchönte
feine Züge. Er konnte fich nicht fattfehen; immer
wieder fehrte er zum Anfchauen des Glanzes
zurüd, und aus feinen feufzerartig abgebrochenen
Worten war vernehmbar, daß er die Sterngruppen
und die ausgezeichnet hellen Sterne bemerkte. Er
fragte mit einem Ton des Außerfichjeins, mer
ie vielen ſchönen Lichter da hinaufbringe, an-
zünde und wieder verlöfche.
Daumer antwortete ihm, daß fie beftändig
leuchteten, jedoch nicht immer gefehen würben;
da fragte er, wer fie zuerſt hinaufgeſetzt, daß fie
immerfort brennten.
Ploͤtzlich fiel er in tiefe Grübelei. Ex blieb
eine Weile mit gejenktem Kopf ftehen und fah
und hörte nichts. ALS er wieder zu fich kam,
hatte fich feine Freude in Schwermut verwandelt,
ex ließ fich auf den Raſen nieder und brad) in
Tanges, nicht zu ftillendes Weinen aus.
Es war weit über neun Uhr, als fie endlich nad}
—* gelangten. Während Caſpar mit den Frauen
jinaufging, nahm Herr von Tucher am Garten»
tor von Daumer Abſchied. „Was mag in ihm vor⸗
egangen fein?“ meinteer. Und da Daumer ſchwieg,
m r er finnend fort: „Wielleicht fpürt er ſchon die
Unmiederbringlicheit der Jahre; vielleicht zeigt
ihm die Vergangenheit ſchon ihre wahre Geftalt.“
58
„Ohne Bweifel war es ihm ein Schmerz, das
beglängte Gewölbe zu ſchauen,“ antwortete Daumer;
„nie zuvor hat er den Blick zum nächtlichen Himmel
erheben können. Ihm zeigt die Natur kein freund⸗
liches Antlitz, und von ihrer fogenannten Güte
hat er wenig erfahren.“
Eine Beitlang ſchwiegen fie, dann fagte Daumer:
„Sch habe für morgen nachmittag einige Freunde
und Bekannte zu mir gebeten. Es handelt fich
um eine Reihe von böchft intereffanten Erfahrungen
und Beobahtungen, die ich an Caſpar gemacht
habe. Ich würde mich freuen, wenn Sie babei
fein wollten.”
Herr von Tucher verfprach zu kommen. Zu
feiner Verwunderung ward er, als er am andern
Tag etwas verjpätet erfchien, in eine vollſtändig
verfinfterte Kammer geführt. Die Produktion hatte
ſchon begonnen. Von irgendeinem Winkel her
vernahm man Cafpars eintönige Stimme leſend.
„Es ift eine Seite aus der Bibel, die der Herr
Stadtbibliothefar aufgefchlagen hat," flüfterte
Daumer Herrn von Tucher zu. Die Dunkelheit war
3 groß, daß die Zuhörer einander nicht gewahren
onnten, trotzdem las Caſpar unbeirrt, als ob ſeine
Augen ſelbſt eine Quelle des Lichtes ſeien.
Man war erſtaunt. Man wurde es noch mehr,
als Caſpar in der gleichen Dunkelheit die Farben
berfiichener Gegenftände unterfcheiden Tonnte, die
bald der eine, bald der andre von den Anmefen-
den — um jeden Verdacht einer Verabredung
oder Vorbereitung auszufchließen — ihm auf eine
Entfernung von fünf oder ſechs Schritten vorhielt.
Ich will jeßt die Weinprobe machen," jagte
Daumer und öffnete die Läden. Gaipat preßte
die Hände vor die Augen und brauchte lange Zeit,
5
bis er das Licht ertragen konnte. Jemand brachte
Wein im umbunchfi en Glas, und Caſpar roch
e3 nicht nur fogleich, jondern e3 zeigten ſich auch
die Merkmale einer leichten Trunfenheit: feine
Blicke flimmerten, A Mund verzog fi ſchief.
Konnte das mit rechten Dingen Zugehen War
folche Empfindlichkeit Denkbar oder möglih? Man
wiederholte den Verſuch zweimal, dreimal, und
fiehe, die Wirkung verftärkte fi. Beim vierten-
mal wurde draußen Wafler ind Glas gegofien,
und nun fagte Gafpat, er fpüre nichts.
Doc viel wunderbarer war zu beobachten,
wie er ſich gegen Metalle verhielt. Ein Herr ver⸗
ftedte, während Caſpar das Zimmer verlaffen
hatte, ein Stück Kupferblech. Caſpar ward herein-
gerufen, und alle verfolgten mit Spannung, wie
er zu dem Verſteck förmlich hingezogen wurde ;
es jah aus, wie wenn ein Hund ein Stück Fit
erſchnuppert. Er fand e8, man Hatfchte Beifall,
man achtete nicht darauf, daß er blaß war und
mit kühlem Schweiß bededt. Nur Here von
Tucher bemerkte es und mißbilligte das Treiben.
Es hatte natürlich nicht bei dieſem einen
Mal fein Bewenden. Die Sache redete fich fchnell
herum, und das Haus wurde zum Mufeum. Alles,
was Namen und Anfehen in der Stadt hatte,
lief herzu, und Cafpar mußte immer bereit fein,
immer tun, was man von ihm haben wollte.
Wenn er müde war, durfte er jchlafen, aber wenn
ex ſchlief, unterfuchten fie die Feſtigkeit feines
Schlafes, und Daumer ſchwamm in Glüd, wenn
der Herr Medizinalrat Rehbein behauptete, eine
derartige Verfteinerung des Schlummer8 habe er
nie für möglich gehalten.
Selbſt gewiſffe Erankhafte Zuftände feines
60
Körper3 gaben Daumer Anlaß zur Vorführun—
oder mwenigftend zum Studium. Er fuchte duch
hypnotiſche Berührungen und mesmeriſtiſche Strei«
Hungen Einfluß zu nehmen, denn er war ein
glühender Verfechter jener damals nagelneuen Theo⸗
rien, die mit der Seele des Mengen hantierten
wie ein Alchimiſt mit dem wohlbekannten Inhalt
einer Retorie. Oder wenn auch dies nichts half,
wandte er Heilmittel von einer befonderen Kategorie
an, erprobte die Wirkungen von Arnifa und Ako—
nitum und Nur vomica; immer befliffen, immer
erfüllt von einer Miffton, immer mit dem Notizen⸗
zettel in der Hand, immer in rührender Obforge.
Was für feriöfe Spiele! Welch ein Eifer, zu
bemeifen, zu deuten, das Sonnenllare dunkel zu
machen, das Einfache zu verwirten! Das Pu-
blitum gab fich rebliche Mühe im Glauben, nad)
allen Windrichtungen wurden die anfcheinenden
Zaubereien auspoſaunt — nicht zum Vorteil unfer3
Caſpar, keineswegs zu feinem Heil, wie fich bald
berausftellen follte —, aber leider gibt es überall
verwerfliche Kreaturen, die. noch zweifeln würden
und wenn man ihnen die Skepſis überm Eſſen⸗
feuer ausräuchern würde. Vielleicht wollten fie
jedesmal etwas Neues vorgefegt bekommen, ſchraub⸗
ten ihre Erwartungen zu hoch und fanden, daß
der Wundermann nur in feinen eingelernten
Paradeftückhen exzellierte, in denen er allerdings,
jo drüdten fie ſich aus, etwas von der Fertigkeit
eines dreſſierten Aeffchens an den Tag legte.
Mit einem Wort, da Programm wurde ein
wenig einförmig, höchſtens Neulinge Tonnten ihm
noch Geſchmack abgewinnen. Die andern erblicten
in Daumer etwas wie einen Zirkusdireltor oder
einen Literaten, der feine Freunde mit der beftändig
61
wiederholten Borlefung eines mittelmäßigen Poems
langweilt, während über Gafpar ſich zu amüfteren
fie immerhin noch genug Gelegenheit fanden.
Oder war e3 nicht amüjant, wenn er zum
Beiſpiel einen hohen Offizier tadelte, daß fein
Rockkragen beftäubt war, wenn er mit dem Finger
das Haupt eines ehrwürdigen Kammerdireltors
berührte und mitleidig-verwundert fagte: „Weiße
aare, weiße Haare?" Wenn er während der
inweſenheit einer vornehmen Standesperfon nur
darauf achtete, wie diefe den Stock zwifchen den
Fingern baumeln ließ, und es auch fo machen
wollte, wenn er feinen Efel gegen den ſchwarzen
Bart des Magiftratsrats Behold äußerte ober fich
weigerte, einer Dame die Hand zu füfjen, indem
ex jagte, man müſſe ja nicht hineinbeißen ?
Durch ſolche Heine Zwiſchenfälle hielten fie
fi für belohnt. Wenn man lachen konnte, war
alles gut. Hingegen Daumer ärgerte ſich dar-
über und fuchte ihm die Pflichten der Höflichkeit
Segreitich zu maden. „Du vergißt ftet3, die
Anlömmlinge zu begrüßen,“ fagte Daumer. In
der Tat blickte Cafpar, in ein Buch oder Spiel
verſenkt, erft empor, wenn man ihn anrief, bis⸗
weilen, wenn er ein befanntes.oder liebgewordenes
Geſicht ſah, mit einem berüdend fchelmifchen
Lächeln, und fing dann ohne Einleitung an zu
fragen und zu plaudern. Mochten noch % wich.
tige Perſonen gegegen fein, er verließ nie feinen
Platz, ohne alle Dinge, mit denen er beichäftigt
geweſen, forgfältig in Ordnung zu bringen un
mit einem kleinen Befen den Tiſch von Papier-
ſchnitzeln oder Brotkrumen zu reinigen. Man
mußte warten, bis er fertig war.
Er war ohne Schüchternheit. Alle Menſchen
62
ſchienen ihm gut, faſt alle hielt er für ſchön. Er
fand es jelbjtoerftändlih, wenn ſich irgendein
Herr vor ihn hinftellte und ihm aus einem bereit-
gehaltenen Zettel endlos viele Namen oder endlos
viele Zahlen vorlas. Sein Gedächtnis ließ ihn
nicht im Stich, er konnte in der gleichen Reihen-
folge Namen für Namen, Zahl Ar Bahl, und
waren e3 hundert, wiederholen. Am Erſtaunen
der Leute merkte er wohl, daß er Staunenswertes
geleiftet, aber kein Schimmer von Eitelfeit zog
über fein Geficht, nur ein wenig traurig wurde
es, wenn immer dasfelbe kam, wenn fie nie zu»
frieden jchienen.
Er konnte es nicht verftehen, daß ihnen
mwunberbar war, was ihm jo natürlich war. Aber
was ihm wunderbar war, darum kümmerte fich
teiner. Ex vermochte es Sc u jagen, e8 wur
zelte im verborgenften Gel in Es war eine
kaum gejpürte Frage, am Morgen, beim Er—
wachen etwa, ein hajtiges, ftummes, verzmeifeltes
Suden, wofür es feine Bezeichnung gab. Es
lag weit zurüd; es war mit ihm verknüpft und
ex befaß es doch nicht. Es war etwas mit ihm
vorgegangen, irgendwo, irgendwann, und er
mußt es nicht. Er taftete an ſich herum, er
fand fich jelber kaum. fagte ‚Safpar‘ zu fi
jelbft, aber das dort in der Ferne hörte nicht
auf diefen Namen, So band fich die Erwartung
an ein Neußeres; wenn die Uhr im andern
Bimmer tönte, welch fonderbare Erwartung von
Schlag zu Schlag! Als ob eine Mauer Pr aufs
löfen, zu Luft vergehen müßte. Die eben ver-
gangene Nacht war voll ungreifbarer Dorgänge
gemefen, Hatte es am Fenſter gepocht?. Nein,
ar jemand dageweſen, hatte gejprochen, ge—
63
rufen, gedroht? Nein. Es war etwas gejchehen,
doch Cafpar hatte nichts damit zu tun.
Unergründliche Sorge. Man mußte lernen,
vielleicht wurde es dann Far. Lernen, wie alles
beftand, lernen, was in der Nacht verborgen
war, wenn man nicht lebte und dennoch ſpürte,
das Unbelannte lernen, erhafchen, was fo fern,
wiſſen, was fo dunkel war, die Menjchen fragen
lernen. Sein Eifer bei den Büchern murde
glühend. Er begann Ungebuld zu zeigen, wenn
er von den fremden Beſuchern fich immer wieder
empfindlich geftört fand, denn jetzt kamen bie
Leute ſchon von auswärts, weil allentyalben im
Land über Caſpar ‚Saufer geredet und geörieben
wurde. Auch Daumer Tonnte ſich der Anfprüche,
die an ihn geftellt wurden, faum erwehren. Er war
oft mißgelaunt und matt, und e8 gab Stunden, wo
ex bereute, Caſpar der Welt preisgegeben zu haben.
Es gab Stunden, wo er, allein mit dem
Jüngling, fich feiner befferen Würde erinnerte
und diejem jeltiam Leibeigenen, Seeleneigenen
ſich tiefer anſchloß, als der anfängliche Zweck
gewollt. Es gab eine Stunde, mo Daumer_eines
paradieſiſchen Bildes gewahr wurde: Cajpar
im Garten, auf der Bank fiend, ein Bud in
der Hand; Schwalben ziehen ihre Zickzackreife
um ihn, Tauben picken vor feinen Füßen, ein
Schmetterling ruht auf feiner Schulter, die Haus-
Tage fchnurrt an feinem Arm. In ihm ift bie
Menſchheit frei von Sünde, fagte fih Daumer
bei diefem Anblid, und was wäre fonft zu leiften,
als einen ſolchen Zuftand zu erhalten? Was
wäre hier noch zu enträtjeln, was zu verkünden?
Eines andern Tages erhob ſich im Nachbar-
garten großer Lärm. Ein bifjiger Hund hatte
64
feine Kette zerriffen und rafte, Schaum vor dem
Maul, in wilden Sprüngen umher, überrannte
ein Kind, fchlug einem Knecht, der ihn. verfolgte,
die Zähne ins Fleifh und ftürzte gm en
Zaun des Daumerfchen Gartens. Cine Latte
krachte unter dem Anprall, das Tier fchlüpfte
berüber und richtete die blutunterlaufenen Augen
wild auf die kleine Geſellſchaft, die unter .
Linde faß: Daumer jelbit, deſfen Mutter, der
Bürgermeifter Binder und Cafpar. Alle ftanden
ängftlich auf, Binder erhob den Stod, das Tier
madhte einige Sätze, blieb aber auf einmal ftehen,
fchnupperte, trabte auf Caſpar zu, ber bleich und
ftille ſaß, wedelte mit dem Schweif und leckte die
herabhängende Hand des Jünglings. Mit einem
lodernden ungewiſſen Blick ſah e3 ihn an, voll
Ergebenheit faft, eine Zärtlichkeit erwartend, und
e3 war, als erbitte e8 Verzeihung. Denjelben
ungemwifjen und ergebenen Ausdrud hatte auch
Gabber im Auge; ihn jammerte der Hund, er
mußte nicht warum.
Man erzählte fih, daß Daumer nach diefem
Auftritt gemeint habe.
Zwei Tage fpäter, an einem regnerifchen
DOftoberabend, war es, daß ſich Daumer mit
feiner Mutter und Cafpar im Wohnzimmer be-
fand. Anna war zu einer Unterhaltung in bie
Reunion gegangen, die alte Dame ſaß jtridend
im Lehnſtuhl am offenen Fenſter, denn troß der
vorgerückten Jahreszeit war die Luft warm und
voll des feuchten Geruch verwelfender Pflanzen.
Da wurde an die Türe geflopft, und der Glafer-
meifter brachte einen großen Wandfpiegel, den
die Magd in der vergangenen Woche zerbrochen
hatte. Frau Daumer hieß ihn den Spiegel gegen
BWaffermann, Gafpar Haufer 5 65
die Mauer lehnen, das tat der Mann und ent-
fernte fich wieder.
Kaum, war er draußen, fo fragte Daumer
verwundert, warum fie den Spiegel nicht gleich
an jeinen Blah habe hängen lafjen, man hätte
dann doch bie Arbeit für morgen erfpart. Die
alte Dame erwiderte mit verlegenem Lächeln, am
Abend dürfe man feinen Spiegel aufhängen, das
bedeute Unheil. Daumer bejaß nicht genug Su
mor für derlei halbernfte Grillen; er machte
Mutter Vorwürfe wegen ihres Aberglaubeng, fie
widerſprach, und da geriet er in Zorn, das heißt
er fprac mit feiner janfteften Stimme zwiſchen
die geiölofienen Zähne hindurch.
par, der e8 nicht fehen konnte, wenn
Daumers Geficht unfreundlich wurde, Iegte den
Arm um deſſen Schulter und fuchte ihn mit
Eindliher Schmeichelei zu begütigen. Daumer
ſchlug die Auge en nieder, ſchwieg eine Weile und
jagte dann, völlig beichämt: „Geh hin zur Mutter,
Caſpar, und ſag ihr, daß ich im Unrecht bin,“
Caſpar nicte; ohne recht zu überlegen, trat er
vor sie Frau hin und fagte: se bin im Unrecht.”
Da lachte Daumer. „Nicht du, Cafpar! Ich!"
tief er und deutete auf jeine Bruft. „ enn Caſpar
im Unrecht iſt, darf er ſagen: ich —— e zu die:
du, aber du fagft doch zu dir: ich. Verſtanden?“
Caſpars Augen wurden groß und nachdenf-
lich, Das Wörthen Ich durchrann ihn plögfich
” ein fremdartig ſchmeckender Trank. Es nahten
ch ihm viele Hunderte von Geftalten, e3 nahte
hd eine ganze Stadt voll Menjchen, Männer,
tauen und Kinder, es nahten fi Fir die Tiere auf
dem Boden, die Vögel in der die Blumen,
die Bolten, die Steme, ja die Sonne jelbft, und
66
alle miteinander fagten zu ihm: Du. Er aber
antwortete mit zaghafter Stimme: Ich.
Er faßte fich mit flachen Händen an die Bruft
und ließ die Hände heruntergleiten bis über die
Hüften: fein Leib, eine Wand zwifchen Innen und
Außen, eine Mauer zwifchen Ich und Dul
In demfelben Augenblick tauchte aus dem Spies
& dem gegenüber er ſtand, fein eignes Bild empor.
i, dachte er ein wenig beftürzt, wer ift das?
Natürlich war er ſchon oft an Spiegeln vor-
beigegangen, aber fein von ben’ vielen Dingen
der vielgefichtigen Welt geblendeter Blick war
mitvorbeigegangen, ohne zu meilen, ohne zu
denken, und er hatte fi) daran gewöhnt wie an
den Schatten auf der Erde. Ein Ungefähr, das
ihn nicht hemmte, konnte nicht zum Erlebnis werden.
Jeizt war fein Auge reif für diefe Viſion.
Er ſah hin. „Caſpar,“ Tifpelte er. Das Drinnen
antwortete: Ich. Da waren Cafpars Mund und
Wangen und die braunen Haare, die über Stirn
und Ohren gefräufelt waren. Nähertretend,
ſchaute er in fpielerifchezweifelnder Neugier hinter
den Spiegel gegen die Mauer; dort war nichts,
Dann jtellte er fich wieder davor, und nun ſchien
ihm, al8 ob hinter feinem Bild im Spiegel fich
das Licht zerteile und als ob ein langer, Tanger
Pfad nad) rückwärts lief, und dort, in der weiten
Ferne ftand noch ein Gafpar, noch ein Ich, das hatte
zugeſchloſſene Augen und fah aus, als wiſſe es etwas,
mas der Caſpar hier im Zimmer nicht wußte.
Daumer, gewohnt, daS Betragen des Jüng-
lings zu beobachten, lauerte gejpannt herüber.
Da — ein feltfames Geräuſch; es ſurrte etwas
in der Luft und fiel neben dem Tiſch zu Boden.
Es war ein Stüd Papier, das von draußen
67
bereingeflogen war. Frau Daumer hob e8 auf;
es mar wie ein Brief zufammengefaltet. Un:
ſchlüſſig drehte fie e8 zwilchen den Fingern und
reichte es dem Sohn.
Der riß es auf und las folgende, mit großer
Schrift geichriebene Worte: „ES wird gewarnt
das Haus und wird gewarnt der Herr und wird
gewarnt der Fremde." .
Frau Daumer hatte ſich erhoben und las mit;
ein Fröfteln lief über ihre Schultern. Daumer jedoch,
indes er fchweigend auf den Zettel ftarrte, hatte
das Gefühl, als fei vor feinen Füßen ein Schwert,
die Spie nach oben, aus der Erde gemachien.
Cafpar hatte von dem Vorgang nicht das
mindefte wahrgenommen. Er verließ den Platz
vor dem Spiegel und ging wie geiſtesabweſend
an ben beiden vorüber zum Fenfter. Dort ftand
er befinnend, beugte fich bejinnend vor, immer
weiter, völlig felbftvergeffen, ganz vom Willen
des Suchens erfült, bi8 die Bruft auf dem
— lag und ſeine Stirn in die Nacht hinaus
tauchte.
Caſpar träumt
Am andern Morgen übergab Daumer das
unheimliche Papier der Polizeibehörde. Es wur:
den Nachforſchungen angeftellt, die aber natürlich
uchtlos blieben. Der Vorfall wurde auch amt»
ich an das Appellationsgericht gemeldet, und
nach einiger Zeit fchrieb der Regierungsrat Her-
mann, der mit dem Baron Tucher befreundet
war, an biefen einen Privatbrief, in welchem er
unter anderm die Meinung vertrat, man folle
68
nicht —8 den Hauſer ſcharf zu bewachen
und auszuforſchen, denn es ſei wohl möglich, daß
er durch eine tiefeingepflanzte Furcht gezwungen
ſei, manches ihm befannte Verhältnis zu ver-
ſchweigen.
Herr von Tucher ſuchte Daumer auf und las
dieſe Stelle vor. Daumer konnte ein ſpöt⸗
e8 Lächeln nicht unterdrüdten. „ bin mir
Bir I bewußt, daß ein Myſterium, von Menſchen ⸗
hand gewoben, hinter allem dem liegt, was mit
Caſpar zuſammenhängt,“ ſagte er mit leiſem
idermillen, „ganz abgejehen davon, daß mir
audı der Präfident a] unlängft darüber
ſchrieben hat, und zwar in höchft eigentümlichen
— die auf etwas Beſonderes ſchließen
laſſen. Aber was heißt das: ihn ausforfchen,
ihn bewadhen? Hat man darin nicht ſchon 1%
Aeußerfte verjucht? Aerztlich E Boriht und menſch⸗
liches Gefühl befehlen mi jet ohnehin ir
äußerfte Behutfamkeit gegen ihn. wage es
ja kaum, ihn, —F der einfachen Koſt zu ent⸗
wöhnen und i u ernähren, wie es durch
die veränderte —F lage bedingt iſt.“
„Warum wagen Sie das nis fragte Herr
von Tucher ziemlich erftaunt. „Wir find Doch
übereingelommen, ihn endlich zum Genuß von
Fleifh oder wenigftens von andern gelochten
Speifen zu bringen?“
Daumer zögerte mit der Antwort. „Milch
reis und warme Suppe verträgt er ſchon ganz
gut," fagte er dann, „aber zur Fleiſchkoſt will
ich ihm nicht ermuntern.“
„Warum nicht?“
Ich fürchte Kräfte zu zerftören, die vielleicht
gerade an die Reinheit des Blutes gebunden find.*
[2
„Kräfte zeritören? Was für Kräfte vermöchten
ihn und uns für die Gefundheit des Leibes und
die Friſche feines Gemuts zu entjchädigen? Wäre
es nicht vielmehr ratfam, ihn von der Richtung
des Außerordentlichen abzulenken, die ihm früher
oder fpäter Berhängnisnoll werben muß? Iſt e8
gut, einen andern Maßftab an ihn zu legen als
e3 einer natürlichen Erziehung entjpricht? Was
wollen Sie überhaupt, was haben Sie mit ihm
vor? Caſpar ift ein Kind, das dürfen wir nicht
vergeffen." ,
„Er ift ein Mirakel,“ entgegnete Daumer
baftig und ergeiffen; dann, in einem halb be-
(ehrenden, halb bitteren Ton, der für einen Welt-
mann wie Tucher verlegend klingen mußte, fuhr
er fort: „Leider leben wir in einer Zeit, in der
man mit jedem Hinweis uf Unerforfchliches den
plumpen Alltagsverftand beleidigt. Sonft müßte
jeder an diefem Menfchen fehen und fpüren, daß
wir rings von geheimnisvollen Mächten der Natur
umgeben find, in denen unfer ganzes Wefen ruht.”
‚Here von Tucher ſchwieg eine Zeitlang; fein
Geficht Hatte den Ausdruck abmehrenden Stolzes,
als er ſagte: „Es ift befier, eine Wirklichkeit
völlig zu ergreifen und ihr völlig genugzutun,
als mit fruchtlofem Enthufiasmus im Nebel des
Ueberfinnlichen zu irren.”
„Rechtfertigt mich denn die Wirklichkeit noch
nicht, auf die ich mich berufen Tann?" verſetzte
Daumer, defien Stimme leifer und ſchmeichelnder
wurde, je mehr das Geſpräch ihn erhitzte. „Muß
ih Sie an Einzelheiten erinnern? Sind nicht
Luft, Erde und Wafjer für diefen Menfchen noch
von Dämonen bevölkert, mit denen er in leben⸗
diger Beziehung fteht?"
70
Baron Tuchers Gefiht wurde düfter. Ich
fehe in allem dem nur die Folgen einer verderb⸗
lichen Ueberreiztheit,“ ſagte er kurz und fcharf.
„Das find die Quellen nicht, aus denen Leben
eboren wird, in ſolchen Formen Tann fich feine
‚auchbarfeit bewähren!"
Daumer duckte den Kopf, und in feinen
Augen lag Ungebuld und Verachtung, doch ant⸗
wortete er im Ton nachgiebiger Freundlichkeit:
„Wer weiß, Baron. Die Quellen de3 Lebens
find unergründlich. Meine Hoffnungen wagen fi)
weit hinauf und ich erwarte Dinge von unferm
Caſpar, die Ihr Urteil ficherlich verändern werden.
Aus diefem Stoff werden Genien gemacht."
„Dan tut einem Menfchen ſtets unrecht, wenn
man Erwartungen an jeine Zukunft knüpft,“ fagte
Herr von Tucher mit trübem Lächeln.
„Mag fein, mag fein, ich aber halte mid) an
die Zukunft. Mich Tümmert nicht, was hinter
ihm Tiegt, und was id) von feiner Vergangenheit
weiß, ſoll mie nur dienen, ihn davon zu löfen.
Das ift ja das hoffnungsvoll Wunderbare: daß
man hier einmal ein Wefen ohne Vergangenheit
bat, die ungebundene, unverpflichtete Kreatur vom
erften Schöpfungstag, ganz Seele, ganz Inftinkt,
ausgerüftet mit herrlichen Möglichkeiten, noch
nicht verführt von der Schlange der Erkenntnis,
ein Beuge für das Walten der geheimnisvollen
Kräfte, deren Erforſchung die Aufgabe kommender
Jahrhunderte ift. Mag fein, daß ich mic
täufche, dann aber würde ich mich in der Menjch-
heit getäufcht haben und meine Ideale für Lügen
erflären milſſen.“
„Der Himmel bewahre Sie davor," ant-
wortete Herr von Tucher und nahm eilig Abfchied.
71
Noch am felben Tag wurde Daumer durch
feine Mutter aufmerkfam gemacht, daß Caſpars
a nicht mehr fo ruhig fei wie fonft. Als
Caſpar am andern Morgen ziemlich unerfrifcht
zum Frühftüd kam, fragte ihn Daumer, ob er
ſchlecht gejchlafen habe.
Schledt geihlafen nicht," erwiderte Gafpar,
„aber ich bin einmal aufgewacht und da war
mir angft."
„Wovor hatteft du denn Angſt?“ forjchte
Daumer.
„Bor dem Finſtern,“ entgegnete Cafpar, und
bedächtig fügte er hinzu: „In Nacht fiht das
Finftere auf der Lampe und brüllt.“
Den nãchſten Morgen kam er halbangefleidet
aus feinem Schlafgemah in das Zimmer Dau-
mers und erzählte beftürzt, es fei ein Mann bei
ihm geweſen. Zuerſt erſchrak Daumer, dann
wurde ihm klar, daß Caſpar geträumt habe. Er
fragte, was für ein Mann es denn geweſen fei,
und Cafpar antwortete, e3 fei ein grober höner
Mann gemefen mit einem weißen Mantel. Ob
der Mann mit ihm gefprochen? Caſpar ver-
neinte; gefprochen habe er nicht, er habe einen
Kranz getragen, den babe er auf den Tiſch ge
legt, und als Caſpar danach gegriffen, habe der
Kranz zu leuchten angefangen.
„Du haft geträumt," ſagte Daumer.
Cafpar wollte wiſſen, was daß heiße. „Wenn
auch dein Körper ruht," erklärte Daumer, „jo wacht
doch deine Seele, und was du am Tag erlebt
ober empfunden, daraus macht fie im Schlummer
ein Bild. Diejes Bild nennt man Traum."
Nun verlangte Cafpar zu wiſſen, mas das
fei, die Seele. Daumer fagte: „Die Seele gibt
72
deinem Körper das Leben. Leib und Seele find
einander vermifcht. Jedes von beiden ift, was es
ift, aber fie find fo untrennbar gemifcht wie
affer und Wein, wenn man fie zufammengießt."
‚Wie Wafler und Wein?" fragte €} ar
mißbilligend. „Damit verderbt man aber Das
Waffer.”
jaumer lachte und meinte, das fei nur ein
Gleichnis geweſen. In der Folge nahm er wahr,
daß e3 mit Gafpard Träumen eigen beichaffen
war. Sonft find Träume an ein Zufällige ge
Inüpft, fagte ex fich, fpielen gefeglos mit Ahnung,
Wunſch und Furt, bei ihm ähneln fie dem
erumtaften eines Menfchen, der fich im finfteren
ald verirrt hat und den Weg fucht; ba ift
etwas nicht in Ordnung, ich muß der Sache auf
den Grund gehen.
Das aufelene war, daß gemifje Bilder
ſich allmählich) zu einem einzigen Traum ſam⸗
melten, der von Nacht zu Nacht vollftändiger
und Frremgale wurde und mit immer größerer
Deutlichkeit regelmäßig wiederkehrte. Im Anfang
konnte Gafpar nur abgeben davon erzählen,
fo ftüchaft wie die Bilder fich ihm geigten, dann
eine3 Tages, wie der Maler den Vorhang von
einem vollendeten Gemälde zieht, vermochte er
feinem Pflegeheren eine ausführliche Beſchreibung
zu geben.
Er Hatte über feine Gewohnheit Lange ge
ſchlafen, deshalb ging Daumer in fein Zimmer,
und faum mar er and Bett getreten, fo ſchlug
Caſpar die Augen auf. Sein Geſicht glühte, der
Blick ruhte —* im Innern, war aber voll und
käftig und der Mund war zu fprechen ungeduldig.
Mit langſamer, ergriffener Stimme erzählte er.
73
Er ift in einem großen Haus gemefen und
bat gejchlafen. Eine Frau ift gefommen und hat
ihn aufgewedt. Er bemerkt, daß das Bett fo
ein ift, daß er nicht begreift, wie er darin
Platz gehabt. Die Frau Hleidet ihn an und führt
ihn in einen Saal, mo ringsum Spiegel mit
goldenem Rande hängen. Hinter gläfernen
Wänden bligen Silberjchüffeln und auf einem
weißen Tiſch ftehen feine Eleine, zierlich bemalte
BVorzellantäßchen. Er will bleiben und fchauen,
die Kran zieht ihn weiter. Da ift ein Saal, wo
viele Bücher find, und von der Mitte der ges
bogenen Dede hängt ein ungeheurer Kronleuchter
herab. Cafpar will die Bücher betrachten, da
verlöfchen langfam die Flammen de3 Leuchters
eine nad der andern und die Frau zieht ihn
weiter. Sie führt ihn durch einen langen Flur
und eine gewaltige Treppe hinab, fie fchreiten
im Afnnern de3 Haufes den Wandelgang entlang.
Er fieht Bilder an den Wänden, Männer im
Helm und Frauen mit goldenem Schmud. Er
ſchaut durch die Mauerbogen der Halle in den
er, dort plätfchert ein Springbrunnen; die
äule des Waſſers ift unten lbermeiß und
oben von der Sonne rot. Sie kommen zu einer
zweiten Treppe, deren Stufen wie goldene Wolfen
aufwärts fteigen. Es fteht ein eiferner Mann
daneben, er hat ein Schwert in der Rechten, doch
fein Geficht ift ſchwarz, nein, er hat überhaupt
fein Geſicht. Cajpar fürchtet fich vor ihm, will
nicht vorbeigehen, da beugt fich die Frau und
flüftert ihm etiwa8 ins Ohr. Er geht vorbei, er
geht zu einer ungebeusen Tür und die Frau
pocht an. Es wird nicht aufgemacht. Sie ruft
und niemand hört. Sie will Öffnen, die Tür iſt
74
zugeſchloſſen. Es fcheint Caſpar, daß fich etwas
® —* hinter der Tür ereignet, er ſelbſt beginnt
zu rufen, doch in dieſem enblick erwacht er.
Seltfam, dachte Daumer, da find Dinge, bie
ex nie zuvor gejehen haben kann, wie den gerüfteten
Mann ohne Geficht. Seltfam! Und fein Worte:
fuchen, feine Hilflofen Umfchreibungen bei ſolcher
Klarheit des Geſchauten. Seltfam.
„Wer war die Frau?" fragte Cafpar.
„E3 war eine Traumfrau," entgegnete Daus
mer heſchwichtigend.
„Und die Bücher und der Springbrunnen und
die Tür?" drängte Caſpar. „Waren's Traum
bücher, war's eine Traumtür? Warum ift fie
nicht aufgemacht worden, die Traumtür ?"
Daumer jeufzte und vergaß zu antworten.
Was befam da Gewalt über feinen Caſpar, fein
Seelenpräparat? Sehr an Welt und Stoff ge
bunden war diefer Traum.
Caſpar Heidete fih langſam an. Plötzlich
erhob er den Kopf und fragte, ob alle Menjchen
eine Mutter hätten? Und als Daumer bejahte,
ob alle Menjchen einen Vater hätten. Auch dies
mußte bejaht werden.
„Wo ift dein Vater?“ fragte Cafpar.
„Geftorben,“ antwortete Daumer.
Geſtorben?“ flüfterte Caſpar nad. Ein
Hauch des Schredens lief über feine Sipr. Er
grübelte. Dann begann er wieder: „Aber mo
it mein Vater?“
Daumer ſchwieg.
„Iſt e3 der, bei dem ich gewejen? Der Du?"
drängte Cafpar.
„Ich weiß es nicht,“ antwortete Daumer und
fühlte fich ungefchiett und ohne Weberlegenheit.
75
„Warum nicht? Du weißt doch alles? Und
hab’ ich auch eine Mutter?"
„Sicherlich.“
„Wo ift fie denn? Warum kommt fie nicht?"
„Vielleicht ift fie gleichfalls geftorben.“
„So? Können denn die Mütter auch ſterben?“
„Ach, Caſpar!“ rief Daumer ſchmerzlich.
„Geftorben ift meine Mutter nicht,” fagte
Caſpar mit wunderlicher Entſchiedenheit. Plöß-
lich flammte e3 über fein Geficht und er fagte
bewegt: „Vielleicht war meine Mutter hinter
der Tür?"
„Hinter welcher Tür, Caſpar?“
„Dort! im Traum...”
„Im Traum? Das ift doch nichts Wirk:
liches," belehrte Daumer zaghaft.
„Aber du Haft doc gejagt, die Seele ift
wirklich und macht den Traum —? Ja, fie war
hinter der Tür, ich weiß e8; das nächte Mal
will ich fie aufmachen.“
Daumer hoffte, das Traumweſen wurde fich
verlieren, doch dem war nicht jo. Dieſer eine
Traum, Caſpar nannte ihn den Traum vom
großen Haus, wuchs immer weiter, umſchlang
und krönte ſich mit allerlei Blüten- und Ranken⸗
werk gleich einer zauberhaften Pflanze. Immer
wieber ſchritt Caſpar einen Weg entlang und
immer wieder endete der Weg vor der hohen
Türe, die nicht geöffnet wurde. Cinmal zitterte
die Erde von Tritten, die innen waren, die Türe
ſchien fih zu baufchen wie ein Gewand, durch
einen Spalt über der Schwelle brach Flammen-
geloder, da erwachte er, und die nicht zu ver-
gefenbe Traumnot ſchlich durch die Stunden des
ages mit.
76
Die Geftalten wechfelten. Manchmal kam
ftatt der Frau ein Mann und führte ihn duch
die Bogenhalle. Und wie fie die Treppe binaufs
gehen wollten, kam ein andrer Mann und reichte
ihm mit ftrengem Bli etwas Gleißendes, das
lang und ſchmal war und das, als Caſpar es
fafjen wollte, in feiner Hand zerfloß wie Sonnen-
ſtrahlen. Er trat nahe an die Geftalt heran,
aud fie ward zu Luft, doch ſprach fie lauiſchal⸗
Iend ein Wort, welches Caſpar nicht zu deuten
verftand.
Daran hingen fich wieder befondere kleine
Träume, Träume von unbekannten Worten, die
er im Wachen nie gehört umd deren er, wenn
der Traum vorüber war, vergebens habhaft zu
werden fuchte. Sie hatten meift einen janften
Klang, bezogen fich aber, jo fühlte er, nie auf
ihn jelbft, fondern auf das, was hinter der ver-
ſchloſſenen Türe vor ſich eing
Traumboten waren es Vögeln des Meeres
gleich, die in beſtändiger Wiederkehr Gegenſtände
eines halbverſunkenen Schiffes an die ferne Küſte
tragen.
In einer Nacht lag Daumer fchlaflos und
hörte in Caſpars Zimmer ein dauerndes Geräufch.
Er erhob fih, fhlüpfte in den Schlafrod und
ing hinüber. Gafpar jaß im Hemde am Tifch,
Date ein Blatt Papier vor fih, einen Bleiftift
in der Hand und ſchien gejchrieben zu haben.
Ein matter Mondfchein ſchwamm im Zimmer.
DVerwundert fragte Daumer, was er treibe. Caſpar
richtete den bis zur Trunkenheit vertieften Blick
auf ihn und antwortete leife: „Sch war im großen
Haus; die Frau hat mich bi zum Springbrunnen
im Hof geführt. Sie hat mich zu einem Fenfter
77
hinaufſchauen laſſen; droben ift der Mann im
Mantel geftanden, ehr ſchön anzufchauen, und
bat etwas gejagt. Danach bin ich aufgewacht
und hab’3 geſchrieben.“
Daumer machte Licht, nahm das Blatt, las,
warf es wieber bin, ergriff beide Hände Caſpars
und rief halb bejtürzt, halb erzürnt: „Aber
Cafpar, das ift ja ganz unverftändliches Zeug!"
Caſpar ftarrte auf das Papier, buchftabierte
murmelnd und fagte: „Im Traum hab’ ich's
verſtanden.“
Unter den ſinnloſen Zeichen, die wie aus einer
ſelbſterdachten Sprache waren, ſtand am Ende
das Wort: Dukatus. Caſpar deutete auf das
Wort und flüſterte: „Davon bin ich aufgewacht,
weil es jo jchön geflungen hat."
Daumer fand fich verpflichtet, den Bürger-
meifter von den Beunruhigungen Caſpars, wie
er es nannte, in Kenntnis zu eben. Was er
befürchtet Hatte, geſchah. Herr Binder legte der
Sache eine große Wichtigkeit bei. „Zunächft ift
es geboten, dem Präfidenten Feuerbach einen
möglichft ausführlichen Bericht zu geben, denn
aus dieſen Träumen können ficherlich ganz bejtimmte
Schlüffe gezogen werben,” jagte er. „Dann mache
ih Ihnen den Vorfchlag, mit Gafpar einmal in
die Burg binaufzugehen."
die Burg? Warum das?“
„&3 ift fo eine Idee von mir. Da er immer
von einem Schloffe träumt, wird ihn der Anblick
eine wirklichen Schloſſes vielleicht aufrütteln und
uns bejtimmtere Anhaltspunkte geben.“
„3a, glauben Sie denn an eine reale Bedeutung
diefer Träume?“
„Ganz unbedingt. Ich bin davon überzeugt,
78
daß er bis zu feinem dritten oder vierten Lebens⸗
jahr in_einer derartigen Umgebung gelebt hat
und daß mit dem neuen Erwachen zum Leben
und zum Gelbftbewußtfein die Erinnerungen an
die frühere Eriftenz auf dem Weg der Träume
Form und Inhalt gewinnen."
„Eine ir nabeliegende, ſehr nüchterne Er⸗
klärung,“ bemerkte Daumer gallig. „Alfo der
Hintergrund diefes Schickſals wäre nichts meiter
als eine gewöhnliche Räubergeſchichte.“
„Eine Räubergefchichte? Mir recht, wenn
Sie es jo nennen. Ich verftehe nicht, weshalb
Sie fi dagegen wehren. Sol der Jüngling aus
dem Mond heruntergefallen fein? Wollen Sie
irdiſche Verhältniffe für ihn nicht gelten lafjen?“
„D gewiß, gewiß!" Daumer feufzte. Dann
fuhr er fort: „Ich fchmeichelte mir mit andern
Hoffnungen. Das Grübeln und Verlangen nad
rückwärts ift eben das, was ich Cafpar erſparen
wollte. Gerade das Freie, Freiſchwebende, Schick⸗
fallofe war es ja, was mich jo ftarf an ihm
ergriffen hat. Außerordentliche Umftände haben
diefen Menfchen mit Gaben bedacht, wie fein
andrer Sterblicher fich ihrer rühmen kann; und
das fol nun alles verfümmern, abgelenkt werden
in das Gleis von Erlebniſſen, die ja an fi
tragiſch genug fein mögen, aber doch nicht? Uns
gemeined an IR haben."
„Ich verftehe, Sie wollen den maftifgen
Nimbus nicht zerftören," verjegte der Bürger-
meifter mit etwas pedantifcher Geringſchätzung.
„Aber wir haben größere Pflichten gegen den
Mitmenſchen al3 gegen das Unikum Gafpar Haufer.
Laſſen Sie ſich das ernftlich gejagt fein, Lieber
Profeſſor. Es erſcheinen heutzutage keine Engel
79
u und wo Unrecht gefchehen ift, muß Sühne
ein.“
Daumer zudte die Achjeln. „Glauben Sie
denn, daß Sie damit etwas zum Heile Caſpars
tun?" fragte er mit einem Ton von Fanatismus,
der dem Bürgermeifter lächerlich erſchien. „Nur
Erdenfchwere und Erdenſchmutz heften Sie ihm
an, on jetzt erhebt fi ja ein Gezänke um
ihn, daß mir mein Anteil an feiner Sache ver-
bittert wird. Es werden böſe Gefchichten zu-
tage kommen."
„Das follen fie; wenn fie nur zutage fom-
‚ men," erwiderte Binder lebhaft. „Im übrigen
tue jeder, was feines Amtes."
Am nächften Vormittag ftellte fich der Bürger-
meifter in Daumers Wohnung ein und fie gingen
mit Caſpar zur Burg hinauf. Herr Binder läutete
an der Pförtnerwohnung; der Pförtner kam mit
einem großen Schlüffelbund und geleitete fie
hinüber.
ALS fie vor dem mächtigen zmweiflügeligen Tor
ftanden, war es, al ob fich Caſpars Geficht
plöglich entjchleiere. Er reckte fih auf, fein Ober
leib bog ſich nach vorn und er ftammelte: „So
eine Tür, genau fo eine Tür.“
„Was meinft du, Cafpar, was fünoebt dir
vor?" fragte der Bürgermeifter Tiebevol
Caſpar antwortete nicht. Mit geſenktem Auge
und nachtwandlerifcher Langfamkeit ſchritt er duch
die Halle. Die beiden Männer ließen ihn voran-
eben. Immer nad) ein paar Schritten blieb er
* und ſann. Seine Erſchütterung wuchs zu⸗
ehends, als er die breite Steintreppe hinaufſtieg.
Oben blickte er ſich ſeufzend um; ſein Geſicht war
bleich, die Schultern zuckten. Daumer hatte Mit-
so
Teid mit ihm und wollte ihn feiner Hingenommenheit
entreißen, doch wie er zu fprechen begann, ſah ihn
Caſpar mit einem fernweilenden Blid an, Kifpelte:
„Dulatus, Dukatus“ und lauſchte dabei, als wolle
er dem Wort einen heimlichen Sinn abhorchen.
Er gewahrte die lange Reihe der Burggrafen-
bildniſſe an den Wänden, er ſchaute durch bie
Flucht der offenen Säle, er ftand in der Galerie
und fchloß die Augen, und endlich, auf eine leiſe
Frage de3 Vürgermeifter8, wandte er fih um
und fagte mit erftikter Stimme, es jei ihm fo,
als habe er einmal ein ſolches Haus gehabt, und
er wiffe nicht, was er davon denken folle,
Der Bürgermeifter ſah Daumer ſchweigend an.
Nachmittags fuchten fie Heren von Tucher auf
und entwarfen in Gemeinſchaft mit ihm den Bericht
an den Präfidenten Feuerbach. Das ausführliche
Schreiben wurde noch felbigen Tags zur Poſt gegeben.
Sonderbarermeife erfolgte Darauf weder ein
Beſcheid noch überhaupt ein Zeichen, daß der
Präfident das Schriftſtück erhalten habe. Der
Brief mußte verloren gegangen oder geftohlen
worden fein. Baron Tucher ließ unter ber
Sum und auf privatem Weg bei Herrn von
uerbach anfragen, und man erfuhr wirklich, daß
diefer von nichts wife Unruhe und Beftürzung
bemächtigte fich der drei Herren, „Sollte da ein
unfichtbarer Arm im Spiel fein wie bei jenem
‚Zettel, den man mir ins Fenſter geworfen date"
‚meinte Daumer ängftlich. Nachforſchungen bei der
Poſt hatten kein Ergebnis, und jo ward der Bericht
zum zmweitenmal abgefaßt und durch einen ficheren
Boten dem Präfidenten perfönlic eingehändigt.
Feuerbach erwiderte in feiner kategoriſchen
Art, daß er die Sache im Auge behalten wolle
Baffermann, Gafpar Haufer 6 8
und ſich aus naheliegenden Gründen einer fchrift-
lichen Meinungsäußerung enthalte. „Ich ent-
nehme aus dem Geſundheitsatteſt des Amtsarztes,
worin bei einem fonjt befriedigenden Befund von
Safpars bleicher Gefichtsfarbe die Rede ift, daß
es dem jungen Menjchen an regelmäßiger Be-
jung in freier Luft fehlt,“ fchrieb er; „hier ift
Abhilfe dringend nötig. Man laſſe ihn reiten.
Es ift mir der Stallmeifter von Rumpler dortfelbft
empfohlen worden. Haufer ſoll dreimal wöchentlich
eine Reitftunde bei ihm nehmen, die Koften fol
der Stabtlommiffär auf Rechnung ſetzen.“
Vielleicht waren es die Träume, die Caſpar
blaß machten. Fast jede Nacht befand er fich in
dem großen Haus. Die gemölbten Hallen waren
von filbernem Licht durchflutet. Er ftand vor
der geiitefienen Tür und wartete, wartete...
dlich eines Nachts, die Dämmernden Räume
des großen Haufes dehnten fich ſchweigend und
leer, tauchte vom unterften Gang ber eine ſchwe—
bende Geſtalt auf. Cafpar dachte zuerſt, es fei
der Mann im weißen Mantel; aber als die Ge
ftalt näherfam, gemahrte er, daß es eine Frau
mar. Weiße Schleier umhüllten fie und flogen
bei den Schultern durch den Hauch eines unhör-
baren Windes empor. Gafpar blieb wie feft-
ewurzelt Ken; fein Herz tat ihm wehe, ala
Bitte eine Fauft danach) gegriffen und es gepadtt,
denn das Antlitz der Frau zeigte einen folchen
Ausdrud des Kummerd, wie er ihn noch an
feinem Menjchen bemerkt. Je näher fie kam,
je furchtbarer jchnärte fein Herz ſich zufammen;
ernſt ſchritt fie vorbei; ihre Lippen nannten feinen
Namen, es war nicht der Name Cafpar, und
doch wußte er, daß es fein Name war oder daß
82
ihm allein der Name galt. Sie hörte nicht auf,
denfelben Namen zu nennen, und als fie —
wieder in weiter Ferne war und die Schleier
wie weiße Flügel um ihre Schultern flatterten,
hörte er immer noch den Namen; da wußte er,
daß die Frau feine Mutter war.
Er wachte auf, in Tränen gebadet; und als
Daumer fam, ftürzte er ihm entgegen und rief:
„Ich hab’ fie gefehen, ich habe meine Mutter
geiehen, fie war es, fie hat mit mic geſprochen!“
Daumer jebte 8 an den Tiih und ftüßte
den Kopf in die Hand. „Sieh mal, Caſpar,“
fagte er nach einer Weile, „du darfjt dich folchen
Wahngebilden nicht gläubig hingeben. Es be»
drüdt mich aufrichtig und Toon lange. Es ift,
wie wenn jemand in einem Blumengarten luſt⸗
wandeln darf und, ftatt freudigem Genuß fich zu
überlafjen, die Wurzeln ausgräbt und die Erde
durchhöhlt. Verfteh mich wohl, Caſpar; ich will
nicht, daß du auf das Recht verzichteft, alles zu
erfahren, was auf beine Vergangenheit Bezug
bat und auf das Verbrechen, das an dir verübt
wurde. Aber bebente doch, daß Männer von
reicher Erfahrung, wie der Herr Präfident und
Here Binder, daft am Werke find. Du, Cafpar,
ſollteſt vorwärts ſchauen, dem Lichte leben und
nicht der Dunkelheit; im Lichte ruht dein Dafein,
dort ift das Gluck. Jeder Menſch von Vernunft
Tann, was er will; tu mie die Liebe und wende
dich ab von den Träumen. Nicht umfonft heißt
es ja: Träume find Schäume.“
Cafpar war beftürzt. Der Gedanke, daß in
feinen Träumen keine Wahrheit fein folle, wurde
ihm zum erjtenmal entgegengehalten, aber zum
erftenmal war die eigne Gemwißheit von einer
83
Sade feſter als die Meinung feines Lehrers.
Das zu empfinden, bereitete Ihm feine Genug«
tuung, fondern Bedauern.
Religion, Homöopathie, Beſuch von
allen Seiten
So war e3 Dezember geworden und eines
Morgens fiel der erjte nee des verjpäteten
Winters,
Caſpar wurde nicht müde, dem lautlofen
en der Flocken zuzufchauen; ex hielt fie
ir kleine beflügelte Tierchen, bis er die Hand
zum Fenfter hinausftredte und fie auf der warmen
Haut zerrannen. Garten und Straße, Dächer
und Simfe glißerten, und durch das Flockengewuͤhl
kroch Tichter Nebeldampf wie Hauch aus einem
atmenden Mund.
„Was fest du dazu, Caſpar?“ rief Frau
Daumer. „Erinnerft bu dich, daß du mir nicht
glauben wollteft, als ich dir einmal vom Winter
erzählte? Siehft du, wie alles weiß tft?"
Caſpar nickte, ohne einen Blick von draußen
zu wenden. „Weiß ift alt,“ murmelte er, „weiß
ft alt und kalt.“
„Um elf Uhr haft du Neitftunde, Caſpar,
vergiß es nicht," mahnte Daumer, der in feine
Schule gin,
Eine Überflüffige Sorge; das vergaß Cafpar
nicht, allzulieb war ihm ſchon das Reiten geworden
feit der kurzen Zeit, wo er damit begonnen.
Er liebte Pferde, war ihm doch ihre Geftalt
gar jehr vertraut. Es kam vor, daß abendliche
3
Schatten als ſchwarze Roſſe vorüberftärmten,
erit am feurigen Rand bes Himmels Halt machten
und ihn mit zurückſchauendem Blick aufforderten,
fie in die unbefannte Ferne zu geleiten. Auch
im Wind fauften Roffe, auch die Wolfen waren
Roffe, in den Rbptömen der Mufit hörte er das
taftbemeffene Traben ihrer Hufe, und wenn er
in „gendticher Stimmung an etwas Edles und
Volllommenes dachte, fh ex zuerſt das Bild eines
ſtolzen Roſſes.
Beim Reitunterricht hatte er von Anfang an
eine Gewandtheit gezeigt, die das größte Er-
faunen bes Stallmeifter8 erregt hatte. „Wie der
urfche fißt, wie er den Zügel Hält, wie er das
Tier verſteht. das muß man fich anſchauen,“ fagte
‚Here von Rumpler; „ich will hundert Jahre in
der Hölle braten, wenn das mit rechten Dingen
zugeht.“ Und alle, bie etwas von der Sache ver-
fanden, vedeten ähnlich.
€i, wie jelig war Cafpar beim Trab und
Galopp! Dies Ziehen und Fliehen, dies leichte
Getragenfein, hinaus und vorwärts, dies fanfte
Auf und Ab, das Lebendigfein auf Lebendigem!
Wenn nur nicht die Leute fo läſtig geweſen
wären. Beim erjten Ausritt mit dem Stallmeifter
wurden fie von einem ganzen Pöbelhaufen ver-
folgt und ſelbſt gefeste Bürger blieben ftehen
und lachten erbittert vor fih bin. „Der ver-
ſteht's,“ Höhnten fie, „der hat fich ein Bett ge-
macht, jo muß man's anfangen, damit einem
warm wird."
Auch heute war ſolch ein unbequemes Auf-
jehen. Der Himmel hatte is jelärt und die
Sonne fchien, als fie duch die Engelhardts ale
titten. Eine Rotte von Knaben zog hinter ihnen
° &
drein und rechts und links wurden die Fenſter
aufgerifjen. Der Stallmeifter gab feinem Tier
die Sporen und trieb Caſpars ‚Pferd mit der
Beitjche an. „Man kommt ſich ja, parbleu, wie
ein Birkusreiter vor," rief er zormig.
Sie fprengten bis zum Jakobstor. „He!
Holla!" rief da eine Stimme, und aus einer
Seitengaſſe fam, ebenfalls zu Pferde, Herr von
W eng auf fie zu. Numpler begrüßte den
Offizier und der Rittmeifter gejellte fih an Ca-
ſpars Geite,
et lieber Haufer, prächtig!" rief er
mit übertriebener Verwunderung, „wir reiten ja’
wie ein Indianerhäuptling. Und das alles bat
man erſt bei den braven Nürnbergern gelernt?
Nicht zu glauben.“
Caſpar hörte nicht den verfänglichen Unterton
der Rede; er blickte den Rittmeifter dankbar und
geichmeighelt an.
„Aber dent dir, Hauſer, was ich heute be
kominen habe,“ fuhr, der Rittmeifter fort, den es
judte, mit Caſpar einen 4 zu haben. „Sch
hab’ etwas befommen, was dich höchlichit angeht."
Caſpar machte ein fragendes Geſicht. Viel⸗
leicht war e8 der ebel-ruhige Ausdruck jeiner Züge,
der ben Rittmeifter zögern ließ. „a, ich hab’ etwas
bekommen,“ wiederholte er dann eigenjinnig, „ein
Brieflein hab’ ich bekommen." Er hatte den ein-
fältigen Ton, den bie Erwachſenen annehmen,
wenn fie mit Kindern herzen, und der lauernde
Blick in feinen Augen bejagte etwa: wollen mal
fehen, ob er Angft fı riegt.
„Ein Brieflein?“ Mgegnete Gafpar, „was
ſteht denn drinnen ?"
„Ja,“ rief der Rittmeifter und lachte knallend,
86
„das möchteft du wohl wiſſen? Wichtige Sachen
jtehen drin, wichtige Sachen!"
„Von wen ift es denn?" fragte Cafpar, dem
das Herz erwartungsvoll zu pochen anfing.
Herr von Wefjenig zeigte feine Zähne und
ſtellte fich vor Vergnügen in die Steigbilgel
„Nun rate mal," fagte er, „wir wollen mal fehen,
ob du raten kannſt. Won wen kann das Brief-
Iein fein?" Er zwinkerte Herrn von Rumpler
Ten nis zu, indes Cafpar den Kopf
jentte.
Es quoll auf einmal Traumluft um Caſpars
Sinne und eine Hoffnung liebkoſte ihn, die den
kargen Tag verleugnete. Aus ihren Schleiern
erhob ſich die Zummervolle Traumfrau und ſchwebte
ſtill vor den drei Roſſen dahin. Jäh blidte er
empor und fagte mit zögernden Lippen: „Sit
vielleicht von meiner Mutter der Brief?"
Der Rittmeifter runzelte ein wenig die Stirn,
als ob es ihm bedenklich fchiene, den Schabernad
zu weit zu treiben, doch entäußerte er fich ſchnell
der ernften Regung, klopfte Cafpar auf die
Schulter und rief: „Erraten, Teufelsterl! Er—
taten! Mehr ſag' ich aber nicht, Freundchen,
ſonſt könnt’ es mir übel befommen.“ Und mit
dem lebten Wort feste ex fich fefter in den Sattel
und fprengte davon.
Eine Viertelftunde fpäter kam Caſpar atem-
108 nad) Haufe. Daumers ſaßen ſchon bei Tifch,
fie jhauten dem Ankömmling gejpannt entgegen
und Anna erhob ſich unwillkürlich, als Cafpar
mit ſchweißbedeckter Stirne neben den Sefjel ihres
Bruder trat und mit | gebrochener Stimme hervor-
jubelte: „Der Herr Nittmeilter hat einen Brief
befommen von meiner Mutter!"
87
Daumer ſchůttelte erflaunt den Kopf. Ex _ver-
fuchte Saba Bene, zu madıen, daß ein Miß⸗
verftändnis oder eine Täufchung obmalten müfje;
Mutter und Schwefter unterftügten ihn darin
nad) Kräften. Es war umfonft. Caſpar faltete
flehentlich die Hände und bat, Daumer möge mit
ihm zu Herrn von Wefjenig gehen. Deſſen weis
ge FO Dumer en hiehe en, doch als Eafpars
ana wi ui. fih bereit, allein
von Weſſenig zu air Er FR —
— Teller leer, nahm Hut und Mantel
Caſpar lief zum Fenſter und ſah im Fer
Er wol le ſich nicht zu aid begeben, ehe Daumer
wieder da war. Cr zerfnüllte das Tafchentuch
in der Hand, raſch atmend ſtarrte er gegen den
Ms und date: Wenn ich dich liebhaben
ol, Sonne, mad), daß e3 wahr if. So wurde
es ein Uhr und Daumer kam zurüd. Er hatte
den Nittmeifter zur Rebe geftellt und eine heftige
Auseinanderfegung mit i jehabt. Herr von
Weffenig hatte die Sache zuerft humoriftiich ge—
nommen, damit lief er aber bei Daumer übel ab,
dem ohnehin das hämifche Gerede, das ihm täg-
lich zugetragen wurde, Verdruß genug erregte.
Erſt gejtern hatte man ihm erzählt, auf einer
Afjemblee bei_ der Magiftratsrätin Behold habe
fih ein angejehener Ariftofrat über ihn Iuftig
gemacht als über den Meifter fomnambuler und
magnetifcher Geheimkunft, der Caſpar Haufer feier-
lich den Zaubermantel unter bie Füße breite, aber
ftatt in den Wether zu entfchweben, wie jedermann
erwarte, bleibe der gute Gafpar gemächlich ſitzen
und lafje fi ausfüttern.
Solches nagte an Daumer und er hatte es
dem Nittmeifter ins Geficht gejagt, daß ihn das
83
ſcheele Geſchwätz ber nichtätuenden eleganten Welt
gleichgültig laſſe. „Bin ich auch eher auf Hilfe
und Zuftimmung al auf Verteidigung und Ab-
wehr gefaßt geweſen, fo weiß ich doch genau,
daß das erftarrte Herz von Ihnen und Ihres⸗
leichen nicht um einen Pulsfchlag gefühlvoller
’ lagen wird," rief er aus, „Das aber kann
ich fordern, daß man den Jüngling, der unter
meinem Schu und dem des Herrn Staatsrats
— wenigſtens mit böswilligen Scherzen ver⸗
ont.“
Sprach s und ging. Einen Freund ließ er
nicht zurüd, .
Zu Haufe ankommend und Caſpars ftummes
Drängen wahrnehmend, jagte er mit mühfamer
Milde: „Er hat dich zum Narren gehabt, Ca-
fpar. Es ift natürlich fein Wort wahr. Solchen
Leuten mußt du auch nicht glauben.“
„D!" machte Cafpar voll Schmerz. Dann
war er ftill.
Erft als Daumer ſich nad der Mittagsraft
zum Aufbruch anfchiette, entriß fich Caſpar feinem
Schweigen und fagte in mattem und verändertem
Ton: „Der Herr Rittmeifter hat alſo nicht die
Wahrheit gejagt?"
„Nein, er hat gelogen," verſetzte Daumer kurz.
„Das ift ſchlecht von ihm, fehr fchlecht,“ fagte
par.
Erſtaunlich fchien ihm zunächſt die Tatſache
des Lügens, erftaunlicher noch, daß ſich ein fo
großer Herr ihm gegenüber der Lüge fchuld:
gemadht. Warum hat er das mit dem Bri
gelost, grübelte er, und ftundenlang war er damit
ejchäftigt, fich des Nittmeifters Worte immer
wieder von neuem vorzufagen und fich das Ge:
89
ficht zurückzurufen, in welhem, von ihm nicht
gewußt, die Lüge wohnte,
Es war da etwas nicht in Ordnung. “ en
und fann und fam zu feinem Ende. m
auf andre Gedanken zu bringen, Klug er
Rechenfibel auf und ging an fein Tagespenſum.
Als auch dies nichts half, nahm er die Glas-
barmonila, die ihm eine Dame aus Bamberg
geſchenkt, und übte fich eine halbe Stunde lang
A den fimpeln Melodien, die er darauf zu fpielen
exlernt hatte.
Plötzlich erhob er fi und trat vor den
Spiegel. Starr blickte er jein eignes Gefiht an: -
er wollte jehen, ob Züge darin fei. Troß ber
Beklommenheit, die er dabei empfand, reiste es
ihn, einmal ſelber zu Lügen, nur um zu prüfen,
wie nachher fein Geficht ausfehen würde. Aengft-
Lich ſchauie er ſich um, blickte dann wieder in den
Spiegel und fagte leis: „E3 ſchneit. “
ei Er hielt das für eine Lüge, weil ja die Sonne
ien.
Nichts hatte fich in feinem Geſicht verändert:
man konnte alſo lügen, ohne daß es jemand be-
merfte. Er hatte geglaubt, die Sonne würde fich ver-
finftecn oder verftedten, aber fie ſchien ruhig weiter.
Am Abend fam Daumer mit einem neuen
Aerger nach Haufe. Von der Mutter gefragt,
was e3 denn ſchon wieber gebe, 30g er ein Kleines
Zeitungsblättchen aus der Tajche und warf es
auf den Tiih. Es war ber „Ratholifche Wochen-
ſchatz“; auf der erften Seite ftand eine Epiftel
über Cafpar Haufer, die mit den fettgedruckten
Settern begann: Warum läßt man den Nürn-
erger Gindling nicht der Segnungen der Religion
ei jaftig werden? j
„Sa, warum läßt man denn nicht?" fpottete Anna.
„Und das wagt man in einer proteftantifchen
Stadt," fagte Daumer mit finfterem Geſicht.
„Wenn diefe Herren nur müßten, was für eine
unmäßige Furcht der Jüngling vor ihren Geift-
chen bat. Während er noch auf dem Turm
mar, find eines Tages vier zu gleicher Zeit bei
ihm erjchienen. Glaubt ihr vielleicht, fie hätten
zu feinem Herzen gerebet oder feine Andacht zu
mweden geſucht? Weit gefehlt. Sie ſchwatzten
vom Zorn Gottes und von der Vergeltung der
Sünden, und als er immer furtfamer dreinfah,
fingen fie an zu wettern und zu drohen, als ob
er arme Menſch am nächiten Tag zum Galgen
jeführt werden follte. Zufällig kam ich dazu und
jedes fie höflich auf, ihre Bemühungen einzus
ſtellen.“
Da Caſpar ins Zimmer trat, wurde das Ge—
ſpräch abgebrochen.
Aber der Appell des „Katholiſchen Wochen⸗
ſchatzes“ verhallte nicht ungehört. „Mit der
Religion iſt nicht zu ſpaßen,“ ſagten die Herren
auf dem Magiftrat, und einer drückte fogar
den: Zweifel aus, ob ber Yüngling überhaupt
vetauft fei. Darüber ward eine Weile hin und
er debattiert, doch ließ man die Frage ſchließlich
fallen und die Taufe ward als jelbftverjtändlich
angenommen, da man ja unter Chriften in einem
riftlichen Lande lebe und der Jüngling auf feinen
Fall aus der Tatarei fommen fönne.
Nicht jo leicht war die Entſcheidung über die
Tatholifche oder evangelifche Konfeffion. Obgleich
die Pfaffen in der Stadt wenig Macht bejaßen,
mußte man doch die obdachloſe Seele dem
Hungrigen Rachen Roms entreißen, amderfeits
9a
war man zu zagbaft fie Br rauhes Zugreifen,
weil e3 möglich war, daß eine sinftußeeiche
Perſon über furz oder lang ein Anrecht andrer
Art geltend machen konnte.
Der Bürgermeifter wandte fi) an Daumer
und verlangte, Caſpar folle einen Religionslehrer
erhalten, man überlafje es Daumer, einen ver-
trauenswürbigen Mann zu beftimmen. „Wie
wäre e8 mit dem Kandidaten Regulein?“ meinte
Binder.
„Sch habe nichtS Dagegen,“ erwiderte Daumer
gleichgültig. Der Kandidat wohnte im Daumerfchen
Haus zu ebener Erde und genoß den Ruf eines
tofiden, und fleißigen Mannes,
Wenn ich ſelbſt auch nicht kirchlich fromm
— bin,“ ſagte der Bürgermeiſter, „jo iſt mir
och die modifche Freigeifterei von Herzen zumider,
und ic wünfchte nicht, daß unfer Cafpar in ein
ohrfurchtsloſes Weltwefen gerät. Auch in Ihrer
Abſicht Tann das nicht liegen.“
Aha, ein Stich, dad” Daumer ftillergeimmt,
man eleibigt, verdächtigt mich ſchon wieder, ich
bin niemand bequem, fehr ehrenwert, ihr Herren,
fehr ehrenwert. Laut antwortete er: Gewiß
nicht. Ich habe es auch nicht fehlen laſſen, im
meiner Art auf ihn zu wirken. Und meine Art
mag fein, wie fie will, fie ift nicht ſchlechter als
jede andre. Leider haben mir allechand Unberufene
beftändig hineingepfufcht. So war e3 mir in ber
exften Zeit mit großer Mühe gelungen, den ftarren
Eigenfinn feines Schauens zu, brechen und ihm
einen Begriff von dem allmäctigen Trieb des
Wachstums in der Natur zu geben. Kommt da
ein Frauenzimmer an, während Gafpar vor einem
Blumentopf ſitzt und mit feinem unfchuldigen
2
Staunen die über Nacht aufgefproßten Schößlinge
betrachtet. Nun, Gafpar, fragt fie ein! ing,
wer bat denn das wachjen afen? Es ij
ſelbſt gewachſen, erwidert er ſtoiz. Aber, afpar.
ruft jene, es muß doch jemand fein, der e3 hat
wachlen lafjen? Er würdigte fie feiner Antwort
mehr, aber die wohlwollende Dame ds! bin nnd
erzählte überall, Cafpar werde zum Atheilten ge-
macht. Da hat man eben einen ſchweren Stand“
„&3 handelt fih do am Ende nur darum,
ihm das Gefühl einer höheren Verpflichtung ein-
suimpfen, ſagte Binder.
ie hat er, die hat er, aber fein Verftand
anerkennt eben in jeinen Forderungen feine
Grenzen und will durchaus oefeieigt fein,“ fuhr
Daumer leidenſchaftlich fort. „Geftern abend
befuchten ihn zwei proteftantifche Geiftliche, der
eine aus Fürth, der andre aus Farnbach, der
eine dick, der andre mager, alle beide eifrig wie
eine Pauluffe. Sie machten mir erft allerlei
Elogen, ich lafje fie zu Caſpar hinein, und ehe
man brei zählen fann, fangen fie eine Disputation
mit ihm an. Ach, es war komiſch, es war höchſt
tomifh. Es kam die Rede auf die Erfchaffung
der Welt, und der Dicke aus Fürth fagte, Gott
Habe die Welt aus dem Nichts geſchaffen. Und
als nun Gafpar wiſſen wollte, wie das zu:
jegangen, ſtibitzten fie ihm bie Erklärung vor
#2 Nafe weg, indem fie alle zwei händefuchtelnd
auf ihn einredeten wie auf einen Heiden, der bei
feinem Götzen ſchwört. Endlich beruhigten fie
ih, und da fagte mein guter Caſpar zutulic,
wenn er etwas machen wolle, müffe er doch
etwas haben, woraus er e8 mache, fie möchten
ihm doc) fagen, wie daS bei Gott möglich fei. Da
3
ſchwiegen fe eine Weile, flüfterten untereinander,
und endlich antwortete der Magere, bei Gott jet
alles möglich, weil er nicht ein Menſch jei, fon-
dern ein Geift. Da lächelte mich Gafpar an,
denn er dachte, fie wollten fich über ihn Iuftig
machen, und er ftellte ſich, als glaube er ihnen,
was die befte Manier war, um fie loszuwerden.“
Der Vürgermeifter jchüttelte mißbilligend den
Kopf. Daumers Sarkasmus gefiel ihm ganz und
gar nicht. „ES gibt auch) eine gedachtere Anficht
von Gott als die, die fich jo mühelos verfpotten
läßt,“ wandte er ruhig ein.
„Eine _gedachtere Anficht? Ohne Zweifel.
Vergeſſen Sie nur nicht, daß die der gemeinen
dur und durch widerfpricht. Und wenn ich fie
ihm beizubringen fuche, ſetze ich mich Vorwürfen
und Mißfennungen aus. Nächſtes Jahr foll er
in die öffentliche Schule gehen, für einen Men-
ſchen von wenigſtens achtzehn Jahren ohnedies
eine Schwierigkeit, da würden nun meine Lehren
wieder zunichte gemacht und die Folge ift Kon-
fufion. Schon jetzt fange ich an feig zu werden
und fpeife ihm mit bequemen Antworten ab.
Neulih konnie er eingetretener Augenfchwäche
halber nicht arbeiten, und er fragte mic, ob er
von Gott etwas erbitten dürfe und ob er es
dann erhalten werde. Ich fagte, zu bitten fei
ihm geftattet, doch müſſe er es der Weisheit
Gottes anheimftellen, ob er die Bitte gemähren
wolle oder nicht. Er entgegmele, er wolle die
Genefung feiner Augen erbitten und damider
tönne ja Gott nicht? einzuwenden haben, denn
er gebrauche die Augen, um feine Zeit nicht in
unnügen Gefprächen und Spielereien vergeuden
zu müffen. Ich fagte darauf, Gott habe bis-
894
weilen unerforſchliche Gründe, etwas zu verfagen,
wovon wir glaubten, daß es heilfam wäre, er
wolle ung oft durch Leiden prüfen, in Geduld
und Ergebung üben. Da ließ er traurig den
Kopf hängen. Gewiß dachte er, ich fei auch nicht
befjer als die Frommen, deren Gründe er nur
für Ausreden nimmt."
„Was ift jedoch zu tun?" fragte der Bürger
meijter mit forgenvoller Stirn. „Auf dem Weg
des Zweifelns und Leugnens muß die Fähigkeit
zum Guten verfümmern."
„Zweifeln und Leugnen ift es wohl kaum,“
verfeßte Daumer unmillig. „Gott ift fein Be
wohner de3 Himmels, er hauft nur in unfrer
Bruft. Der reiche Geift birgt ihn im umfafjen-
den Gefühl, der arme wird durch die Not des
Lebens feiner gewahr und nennt es Glauben;
er könnte e8 auch Angft nennen. In Schönheit
und Freude geſtaltet jich der wahre Gott, im
Schaffen. Was Sie Zweifel und Leugnen heißen,
ift das aufrichtige Zagen der ihrer felbft noch
ungewiffen Seele. Dan gebe der Pflanze jo viel
Sonne, wie fie braucht, und fie befigt einen Gott."
„Das iſt Philoſophie,“ erwiderte Binder,
„und zudem Philoſophie, die einem Alltags—
menfchen wie mir frivol Elingen muß. “jeder
Bauer hat für feine Ernte mit Sturm und Un-
wetter zu rechnen, und nur ein überheblicher
Menſch Tann ſich einfallen laſſen, von felber
etwa zu gelten. Doc) genug davon. Waren Sie
eigentlich mit Caſpar ſchon einmal in der Kirche?“
„Nein, ich habe das bis jest vermieden."
„Morgen ift Sonntag. Haben Sie etwas
Dagegen einzumenden, wenn ich ihn zum Gottes»
dienft in die Frauenkirche mitnehme?"
»
„Nicht im geringften.“
„Gut, “ werde ihn um neun Uhr abholen."
Wenn fih Here Binder eine fonderliche
Wirkung von diefem Verſuch verfprochen hatte,
fo wurde er darin jehr enttäufcht. Als Cafpar
die Kirche betreten hatte und die erhobene Stimme
des Predigers vernahm, fragte er, warum der
Mann ſchimpfe. Die Kruzifige erregten feinen
tiefften Schauber, weil er die angenagelten
Ehriftusbilder für gemarterte lebendige Menfchen
hielt. Beſtändig fehaute er, beftändig verwunderte
er fih, das Spiel der Orgel und der Gejang
des Chors betäubten fein empfindliche Ohr der⸗
maßen, daß er die Harmonie der Klänge gar nicht
fpütte, und zum Schluß brachte ihn die Ausdünftung
der Menfchenmenge einer Ohnmacht nahe.
Der Bürgermeifter jah wohl feinen Fehlgriff
ein, doch ließ er nicht ab, auf einen regelmäßigen
Beſuch der Kirche zu dringen, obwohl ri Caſpar
jedesmal hartnäckig dagegen ſträubte. Wenn der
Kandidat Regulein Herrn Binder feine Not
klagte, ermwiderte diefer: „Nur Geduld, die Ge-
wohnheit wird ihn fehon zur Andacht nötigen.“
— Ich glaube nicht," verfeßte der Kandidat darauf
mutlos, „gebärdet er ſich doch, als ob er fein
Leben lafjen follte, wenn ich ihn zum Kirchgang
auffordere." — „Macht nichts, es ift Ihr Bes
ruf, feinen Widerftand zu brechen," lautete der
cheid.
Der gute, hilfloſe Kandidat Regulein! Ein
junges Männlein, das nie jung geweſen war
und deſſen Gottesgelehrtentum von ſo dünner
Beſchaffenheit war wie feine Beine. Er zitterte
insgeheim vor den Unterrichtäftunden, die er
Caſpar erteilen mußte, und fooft ihn eine Frage
%
in Verlegenheit ſetzte, was gar nicht felten ge
ſchah, verſchob er die Auskunft auf das nächte
Mal, wobei er fi) vornahm, in gewiſſen Büchern
nachzufchlagen, um nicht gegen die Theologie zu
verfehlen. Cajpar wartete treuherzig, aber in der
folgenden Stunde fam nichts oder wenig. Der
Kandidat, der im ftillen hoffte, fein Schüler habe
vergeffen, erſchrak und wich aus. Das half nicht;
der unbarmherzige Frager trieb ihn aus einer
Verſchanzung in die andre, bis daS verzweifelte
Argument aufgeftellt werden mußte, es ſei unrecht,
über dunkle Gegenftände des Glaubens zu forfchen.
Caſpar Tief zu Daumer und beflagte fich
bitter, daß er feine Auffchlüffe erhalte. Daumer
fragte, was er zu wifjen begehrt habe. Ex hatte
u wiffen verlangt, warum Gott nicht mehr wie
in früheren Zeiten zu den Menjchen herablomme,
um fie über fo vieles, was verborgen fei, zu
belehren. „Ya fieh mal, Caſpar,“ jagte Daumer,
„es gibt Geheimniffe in der Welt, die fich eben
beim beften Willen nicht verftehen lafien. Da
muß man Pertrauen ‚haben, daß Gott eines
Tages unfer Herz darüber erleuchtet. Wir alle
wifjen ja auch nicht, woher du fommft und wer
du bift, und trogdem — wir von der Ge⸗
rechtigleit und Allwiſſenheil Gottes, daß er ung
eine3 Tages darüber Aufſchluß gewährt.”
„Aber Gott hat doch nicht? damit zu tun,
daß ich im Kerker war," erwiderte Caſpar fanft,
„das haben doch die Menfchen getan.“ Und
ratlos ſetzte er hinzu: „So iſt's eben. Das eine
Mal jagt der Kandidat, Gott laſſe den Menfchen
ihren freien Willen, das andre Mal fagt er, Gott
ſirafe fie für ihre böfen Handlungen. Da werd’
ich ganz zum Narren.”
Baffermann, Gafpar Haufer 7 97
Diefe Unterhaltung fand an einem ftürmifchen
Nachmittag Ende März ſtatt und Daumer geriet
durch fie in eine fo trübe Stimmung, daß er
eine angefangene fchriftliche Arbeit nicht zu be
endigen vermochte. Man raubt ihn mir, man
bricht ihn mir zu Stüden, dachte er. Voll
Traurigkeit nahm er ein dickes gi zur Hand,
das feine Aufzeichnungen über Caſpar enthielt,
und blätterte drin herum. Er ſchrak zufammen,
als feine Schwefter ziemlich haftig eintrat, noch
mit Pelzlappe und Umhang, wie fie von der
Straße kam. Ihr Geficht verriet Aufregung,
und fie wandte fich mit der ſchnell hervorgeftoßenen
Frage an Daumer: „Weißt du ſchon, was man
in der Stabt fpricht?"
Nun?"
„Man erzählt fih, Caſpar Haufer ſei von
fürftlicher Abkunft, ein beifeitegefchaffter Prinz.“
Daumer lachte gezwungen. „Das fehlte noch,“
entgegnele er abſchätzig. „Was denn noch
alles!"
„Du glaubft nicht daran? Das hab’ ich mir
gleich gedacht. Aber woher mögen folche Ge-
rüchte ftammen? Irgend etwas muß doch das
She müßt muß Diner fein. So 1
„Gar nichts muß dahinter fein. Sie ſchwatzen
eben. Laß fie ſchwatzen.“
Eine halbe Stunde fpäter erhielt Daumer
den ven des Archivdireltor Wurm aus And»
bach. ar dies ein kleiner, etwas verwach⸗
ſener Mann, der nie lächelte; es hieß von ihm,
daß er jehr befreundet mit Herrn von Feuerbach
und die rechte Hand des Negierungspräfidenten
Mieg fei. Don erfterem beftellte er Grüße an
Daumer und fagte, der Staatsrat werde in aller
98
nädjfter Zeit nah Nürnberg kommen, er be
Bahn ſich angelegentlich mit der Sache Cafpar
aufers.
Nach einem kurzen, wenig belangvollen Hin-
und Herreden set der Yrkhiobirefior plöglich
in die Rocktaſche, brachte ein kleines brofchiertes
Buch zum Vorfchein und reichte es wortlos
Daumer. Diefer nahm e8 und las den Titel:
„Gafpar Haufer, nicht unmahrfcheinlich ein Bes
teüger. Vom Polizeirat Merker in Berlin.”
Daumer bejah das Büchlein mit feindjeligen
Augen und fagte matt: „Das ift deutlich. Was
will der Mann? Was ficht ihn an?"
„Es ift ein gehäffiges Pamphlet, tritt aber
höchſt plaufibel au erwiberte der Archivdireltor.
„E3 find da mit Fleiß und Geſchick alle Ver-
dachtsgründe, die jchon längft in mißtrauifchen
Gemütern ſpulen, gegen den Findlin zufammen-
girogen. Der Verfaſſer prüft alle Angaben
ſpars auf ihre Verdächtigkeit hin, hy gibt
er Beifpiele aus der Vergangenheit, wo ähnliche
Lügenkfünfte, wie er ſich ausdrückt, zu verjpäteter
Enthüllung gelangt find. Sie, lieber Profeflor,
und Ihre biefigen Freunde Tommen dabei nicht
zum beften weg.“
„Natürlich; Tann ich mir denken,“ murmelte
Daumer, und mit der flachen Hand auf das —
ſchlagend, rief er aus: „Nicht unwahrſcheinlit
ein Betrüger! Da gt fo ein mit allen Hunden
gehetzter Herr in Berlin und wagt es, wagt
es —! Himmeljchreiend! Man follte ihm diefen
nicht unwahrfcheinlichen Betrüger vorführen, man
follte ihn zwingen, dem Engelsblick ftandzuhalten,
ac, ſchändlich! Der einzige Troft dabei ift, daß
doch niemand das Zeug lejen wird."
oo
„Sie irren ſich,“ verfegte der Archivdireltor
ruhig, „das Heft findet reißenden Abſätz.“
„Nun gut, ich werde es leſen,“ ſagte Dau—
mer, „ich werde damit zum Redaktor Pfiſterle
von ber ‚Morgenpoft‘ gehen, ber iſt ber richtige
ea um dem famojen Polizeirat Widerpart
zu halten.“
Der Archivdireftor maß den aufgeregten Dau⸗
mer mit einem gleichgültig-fchnellen Blick. „Ich
möchte eine ſolche Maßregel nicht ohne weiters
gutheißen,“ bemerkte ex diplomatijch; „ich glaube
auh im Sinn de Herrn von Feuerbadh zu
jprechen, wenn ich Ihnen davon abrate. Wozu
a8 Beitungsgefchreibe? Was foll es nützen?
Man muß Bandeln, in aller Vorſicht und Stille
handeln, das iſt e8."
„In aller Vorſicht und Stille? Was wollen
Sie damit jagen?" fragte Daumer ängftlich und
argwöhniſch.
Der Archivdirektor zuckte die Achſeln und
ſchaute zu Boden. Dann erhob er fich, ſagte, er
wolle am folgenden Nachmittag wiederfommen, um
Caſpar zu fehen, und reichte Daumer die Hand.
Als er ſchon auf der Treppe war, eilte ihm
Daumer nad und fragte, ob es ihn nicht ftöre,
wenn er morgen fremde Leute hier im Haufe
treffe, es hätten fich einige Herrichaften zu Be—
ſuch angefagt. Der Archivdireftor verneinte,
Es gehörte zu den Charaftereigentümlichkeiten
Daumers, daß er fich in einmal gefafte Ideen
bis zur offenfichtlichen Schädlichkeit verrannte.
Treo der Abmahnung bes bejonnenen Heren
Wurm begab er fich, faum daß er das Buch des
Berliner PolizeiratS gelefen hatte, mas weniger
denn eine Stunde Zeit brauchte, voll Erbitterung
100
in die Redaktion der ‚Morgenpoft‘. Der Redak⸗
tor Pfifterle war ein hitziges Blut; wie ber
Geier aufs Aas ftürzte er fich auf dieſe Gelegen-
heit, feine immer in Vorrat vorhandene Wut und
Galle loszulaſſen. Er mwollte Material haben,
und Daumer beftellte ihn für den Mittag des
folgenden Tages zu fi in die Wohnung.
Am Abend berichte eine fonderbar ſchwüle
Luft im Daumerfchen Haus. Während des Nacht-
eſſens wurde wenig geredet, und Gafpar, der
von all dem, was rings um ihn vorging, nicht
im mindeften etwas ahnte, war verwundert über
manchen prüfenden Blick ober über das büftere
Schweigen auf eine herzliche Frage. Er hatte
die Gewohnheit, vor dem Schlafengehen noch ein
Buch zur Hand zu nehmen und zu lejen; das
tat er auch heute, und es geſchah nun, dab fein
Blick, al er das Buch aufgemacht, auf eine bes
ftimmte Stelle fiel, die ihn veranlaßte, entzüct
in die Hände zu fchlagen und in feiner herzlichen
Art zu lachen. Daumer fragte, was e3 gebe;
Cafpar deutete mit dem Finger auf das Blatt
und rief: „Sehen Sie nur, Herr Profeſſor!“
Seit einiger Zeit hatte er aufgehört, Daumer zu
duzen, und zwar ganz von felbft und eigentüm-
licherweiſe faſt an demielben Tag, an welchem
er zum erften Male Fleiſch genofjen und danach
frank geworden war.
Daumer blidte ind Buch. Die von Cafpar
aufgegriffenen Worte lauteten: „Die Sonne bringt
es an ben Tag.“
„Was gibt’3 dabei zu ftaunen?" fragte Anna,
die über die Schulter des Bruders gleichfalls in
das Buch fchaute.
„Wie ſchön, wie ſchön!“ rief Caſpar aus.
101
„Die Sonne bringt es an den Tag. Das ift
wunderſchön.“
Die drei andern ſchauten einander voll ſelt⸗
famer Gefühle in die Augen.
„Meberhaupt ift es ſchön, wenn man fo lieft:
die Sonne!" fuhr Caſpar fort. „Die Sonne!
Das hallt jo."
Als er gute Nacht gemwünfcht hatte, fagte
Frau Daumer: „Man muß ihn doch lieb haben.
Es wird einem ordentlich; wohl, wenn man ihn
in feiner artigen Gefchäftigleit beobachtet. Wie
ein Tierchen webt er für fich hin, niemals lang»
weilt er fih, nie fällt er durch Launen zur Laft.”
Wie verabredet, kam Pfifterle am nächiten
Tag kurz nach Tiſch, blieb jedoch über Gebühr
lange figen und verftand nicht die ungeduldigen
Andeutungen Daumers, der ihn gern vor dem
Eintreffen der erwarteten Gäfte losgeworden
wäre. Als diefe um drei Uhr erfchienen, jaß er
noch immer auf feinem le und blieb auch da.
Wahricheinlich Hatte es feine Neugierde gereizt,
daß ihm Daumer den Namen einer der drei
Perſonen mitgeteilt hatte; es mar dies ein da⸗
mals vielgelefener Schriftiteller aus dem Norden
de3 Reichs. Die andern beiden waren eine hol-
fteinifche Baronin und ein Leipziger Profefjor,
der auf einer Romreiſe begriffen war; ein Unter
nehmen, welches zu jener Zeit, wenigſtens in
Nürnberg, einem Mann den Nimbus eines Fühnen
Forſchers verlieh.
Daumer empfing bie Herrichaften ſehr liebens⸗
würdig, und nachdem er Caſpar herbeigeholt
hatte, zündete er troß der frühen Stunde die
ampe an, benn ber Nebel lag dicht wie graue
Wolle vor den Fenftern. Der Leipziger Profeſſor
102
309 Caſpar in eine'Unterhaltung, aber er ſprach
mit ihm wie von Turmeshöhe herunter. Auch
ließ er feinen Blick von ihm, und die gelblichen
Augen Hinter den kreisrunden Brillengläfern
fchimmerten bisweilen boshaft. Währenddem
famen noch Here von Tucher und der Archiv
Direktor, Tießen fich den Fremden vorftellen und
nahmen auf dem Sofa Platz.
„In deinem Kerker war es alfo immer dunkel ?“
gast der Romfahrer und ftrich Iangjam feinen
art.
Gafpar antwortete geduldig: „Dunkel, fehr
duntel.”
Der Schriftfteller Iachte, worauf ihm der
Profefjor vielfagend mit dem Kopf zunidte.
„Haben Sie den Unſinn gehört, der hier in
der Stadt über feine fürfliche Abkunft geredet
wird?" ließ ſich jegt die holfteinifche Baronin
hören, deren Stimme wie aus einem Keller—
loch kam.
Der Profeffor nickte wieder und fagte: „In
der Tat, es werden hier ftarfe Zumutungen an
die Leichtgläubigteit des Publikums geftellt."
Eine Zeitlang ſchwiegen alle, wie von einem
Schuß erſchreckt. Endlich entgegnete Daumer mit
—5 — timme und mit der Höflichkeit eines
hlechten Komödianten: „Was veranlaft Sie,
meine Ehre zu beichimpfen ?"
„Was mich veranlaßt?“ praffelte der chole-
riſche Herr auf. „Dieſe Gaufelfuhr veranlaßt
mich dazu. Der Umftand, daß man ein ganzes
Land ſtrupellos mit einem albernen Märchen
füttert. Muß denn der gute Deutſche immer
wieder da8 Opfer von Abenteurern A la Caglioftro
werden? Es ift eine Schmach.“
103
‚Herr von Tucher hatte fich erhoben und blickte
dem Aufgeregten mit fo unverhohlener Gering-
fchägung ins Geficht, daß dieſer plöglich ſchwieg.
„Wir find natürlich überzeugt," miſchie ſich
der Schriftfteller, ein klapperdürrer Herr mit
kahlem Schädel, vermittelnd ein, „daß Sie, Herr
Daumer, im beften Glauben handeln. Sie find
Opfer, wie wir alle."
Jetzt konnte fich Pfifterle, den die Wut förm-
lich aufgefchwellt Hatte, nicht länger halten. Mit
geballten Fäuften fprang er vom Stuhl empor
und fehrie: „Ja, zum Teufel, warum follen wir
uns denn das gefallen laſſen? Da kommen fie
her, niemand hat fie gerufen, kommen her, um
dagemwefen zu fein und mitreden zu können, haben
von Anfang an alles beffer gewußt, und wenn
fie blind wie die Maulwürfe find, werfen ſie fi
noch ſtolz in die Bruft und rufen: Wir jehen
nichts, aljo ift nichts da. Warum foll denn das
ein Unfinn fein, geehrte Dame, was man von
feiner Abftammung erzählt? Warum denn, bitte?
Reugnen Sie etwa, daß hinter den Mauern, wo
unfre Großen wohnen, ſich Dinge ereignen, die
das Tageslicht = jcheuen haben? Daß dort die
Verträge des Bluts für nichts geachtet und
Menjchenrechte mit Füßen getreten werben, wenn
der Vorteil eines Einzelnen es erheifcht? Soll
ich mit Tatfachen dienen? Sie können es nicht
leugnen. Bei uns wenigſtens find bie paar
Dugend_ Männer noch nicht vergeffen, die ihre
mutige Freiheitsfahne durch das Land getragen
und mit brennenden Fadeln in die Lügendämme⸗
rung der Paläfte geleuchtet haben.“
„Genug, genug!" unterbrach der Profeffor den '
tabiaten Zeitungsmann. „Mäßigen Sie fich, Herr!"
104
„Ein Demagoge!" fagte die Baronin und ftand
mit erfchrodenen Augen auf. Der Archivdirektor
heftete einen vorwurfsvollen und kühlen Blick auf
Daumer, der den Kopf gefenft und die Lippen
eigenfinnig gefchloffen hatte. Als er emporfchaute,
blieb fein Auge mit gerührtem Ausdrud auf
Caſpar ruhen, der frei und arglos daftand, den
lächelnden Haren Bli von einem zum andern
gleiten ließ, nicht als ob von ihm gefprochen
würde und er daran teilhätte, ſondern als ob
das bewegte Spiel der Mienen und Gebärden
lediglich feine Schauluft ermede. In der Tat
verjtand er faum, wovon die Rede war.
Der Leipziger Profefjor hatte feinen Hut er⸗
geiffen und wandte ſich noch einmal, an Pfifterle
vorüberfprechend, gran Daumer, „Was ift denn
bemiefen von den Mutmaßungen törichter Köpfe?“
fragte er gellend. „Nichts ift bewieſen. Feſt
fteht nur, daß aus irgendeinem gottverlafjenen
Dorf in den fränkischen Wäldern fich ein Bauern-
tölpel in die Stadt verirrt, daß er nicht ordent-
lich fprechen kann, daß ihm alle Werke der Kultur
unbefannt find, das Neue neu, das Fremde
fremd erfcheint. Und darüber geraten einige
Turzfichtige, fonft ganz mwadere Männer außer
fih und nehmen die plumpen Auffchneidereien
des geriebenen Landftreicher8 für bare Münze,
Wunderliche Verfchrobenheit!” s
„Ganz wie der Polizeirat Merker,“ Tonnte
fich der Archivdirektor nicht enthalten zu bemerken.
Auch Pfifterle wollte dawiderreden, wurde aber
durch eine energiſche Kopfbewegung des Herrn
von Tuer zum Schweigen gebracht.
Plötzlich wurde von der Frrape draußen das
Rollen einer Kutſche hörbar. Direktor Wurm ging
105
zum Fenfter, und nachdem der Wagen vor dem
8 gehalten hatte, fagte er: „Der Staatsrat
mm."
„Wie?" entgegnete Daumer raſch. „Herr
von Feuerbach?" ,
„sa, Herr von Feuerbach.”
in feiner Benommenheit verfäumte Daumer
die Pflicht des Hausherrn, und als er fih_auf-
taffte, um den Präfidenten zu empfangen, ftanb
diejer ſchon auf der Schwelle Wit feinem Im-
peratorenblick überflog er die Gefichter aller An-
wefenden, und als er den Archivdirektor gemahrte,
fagte er lebhaft: „Gut, daß ich Sie treffe, Lieber
Wurm, ich habe etwas mit Ihnen zu ſprechen.“
Er terug die einfache Kleidung eines Privat-
mannes, und außer einem Eleinen Ordenskreuz
neben dem Halsaufichlag des Rockes war keinerlei
Schmuck an ihm zu Teen, Die außerordentlich
ſtolze Haltung des gedrungenen, maffigen Kör—
pers und das fteif Aufrechte, foldatifch Gebietende
feines ftet3 etwas zurüdgemworfenen Hauptes er-
weckten ehrfurchtsvolle Scheu; fein Geficht, auf
den erften Anblic dem eines verdrieplichen alten
Fuhrmanns ähnlih, wurde durch die dunfel-
güühenben Augen, in denen die Unraft geiftiger
eidenfchaften lag, und durch die feſtgeſchloſſenen,
tühngebogenen Lippen geabelt.
Er machte nicht den Eindrud eines Mannes,
der viel Zeit hat. Troß der Würde, die ihm
jein Amt verlieh und die er nicht verringerte,
jatte fein Auftreten etwas Heftiges, und in der
et, wie er die im Zimmer Verſammelten be-
rüßte, war Förmlichkeit und Strenge enthalten.
3 wirkte darum erſchreckend auf alle, als ihm
Eafpar ungezwungen entgegentrat und ihm von
106
ſelbſt die Hand hinftredte, die Feuerbach auch
if ja fogar eine Zeitlang in der feinen
ehielt.
Cafpar war es wunderlich wohl gemorden,
feit der Präfident eingetreten war. Ex hatte oft
an ihn gedacht, feit er mit ihm auf dem Ge—
fängnisturm gejprochen hatte, und feit dem erften
Händedrud. liebte er beſonders die Hand des
Präfidenten, eine warme, harte, trockene Hand,
die fi) mwohlverfchloß beim Gruß, als ob fie
laubmwürdige Verfprechungen gäbe, und bie eigne
Sant ruhte dabei fo ficher in ihr wie der müde
irper abends im Bett.
Daumer geleitete den Präfidenten und ben
Direktor Wurm in fein Studierzimmer und kehrte
dann zurüd, Die fremden Gäfte ſchickten N an
zu gehen, fie hatten durch die Dazwiſchenkunft
Feuerbachs etwas von ihrer überlegenen Haltung
verloren. Cafpar wollte der Dame in den Mantel
Helfen, doch fie machte eine abmwehrende Gefte
und folgte eilig ihren Begleitern. Herr von
Tucher und Pfifterle entfernten fich ebenfalls.
Cafpar nahm ein Schreibheft aus der Lade
und ſetzie fich zur Lampe, um feine Iateinifche Arbeit
anzufertigen, da kamen der Präfident und Direktor
Wurm wieder ins Zimmer. Kar ging auf
Cafpar zu, legte die Hand auf fein Haar, bog
den Kopf des Fünglings leicht zurüd, jo daß ber
Lampenſchein voll in Caſpars Geficht fiel, be
trachtete ſeltſam lange und mit bohrender Aufs
merkſamkeit das feinem Blick ftillhaltende Antlitz
und murmelte endlich, gegen Wurm gewendet,
tief atmend: „Reine Taͤuſchung. Es find die
felben Züge.“
Der Arhiobirettor nickte ſtumm.
107
„Das und die Träume... zwei wichtige
Indizien," fagte der Präfident mit dem gleichen
Ton von Vertieftheit. Er fchritt zum enter,
die Hände auf dem Rüden, und’ fah eine Weile
hinaus. Darauf wandte er fih zu Daumer und
te unvermittelt, wie es mit Caſpars Er-
nährung ſtehe.
Daumer erwiderte, er habe in letzter gi
versucht, ihn an Zleifchkoft zu gewöhnen. „Zus
erſt hat ex fich ſehr gewehrt, auch hat es den
Anfchein nicht, als ob die veränderte Diät ihm
jr zuträglich fei. Es ift Kon zu befürchten,
aß fie feine inneren Kräfte weſentlich ver
mindert. Er wird zujehends ftumpfer.”
Feuerbach zog die Stirn empor und deutete
egen Caſpar. Vaumer verjtand den Wink und
——z8 Caſpar auf, zu den Frauen hinüberzu—⸗
jehen. Er wartete nicht ab, bis der Jüngling
3 Zimmer verlaffen hatte, ſondern fuhr mit
beffommenem Eifer fort: „An demſelben Tag,
100 Cafpar zum erftenmal Fleifch genoß, fchnappte
der Hund uͤnſers Nachbars, der ihm bis dahin
höchſt zugetan war, nach ihm und bellte ihn wütend
an. Das war mir eine wunderbare Lehre."
Der Präfident entgegnete finfter: „Dem mag
fein, wie ihm wolle. Aber ich mißbillige die zahl-
lofen Erperimente, die Sie mit dem jungen
Menfchen vornehmen. Wozu das alles? Wozu
magnetifche und andre Kuren? Man berichtet
mir, daß Sie gegen gewiſſe krankhafte Zuftände
bomdopathifche Seitmitte anwenden. Wozu?
Das muß einen jo zarten Organismus aufreiben.
Die Jugend ift e3, die die Krankheiten heilt.“
„Ich bin erftaunt, daß Eure Erzellenz da—
gegen etwas einzuwenden haben,“ verſetzte Dau⸗
108
mer Talt und demütig. „Der menfchliche Körper
wird oft von vorübergehenden Leiden befallen,
denen auf homöopathiihem Weg am beften bei-
zukommen iſt. ſt vorigen Montag hat, wie
ich beftimmt verfichern Tann, eine Kleine Dofis
Siligen Wunder gewirkt. Kennen Eure Erzellenz
nicht den ſchönen, alten Sprud:
Ein kluger Arzt, der nimmt da feine Hilfe her, von wo ber
Zöft Salafucht auf durch Salz, Ibſcht — —
öft Salzfucht auf durch Salz, uer aus buch Flammen.
hr Kinder der Natur, ihr zieht Rachen aufammen,
‚Macht weniges aus viel und wirtet viel Durch wenig.”,
Feuerbach mußte unmillfürlic lächeln. „Mag
fein, mag fein," polterte er, „aber damit it
nichts bewieſen, und wenn auch, fo trifft e8 die
Sache nicht."
„Meine Sache fteht auch nicht darauf."
„Um fo beffer. Vergefjen Sie nicht, daß hier
ein Recht durchzufegen ift, das Recht eines Lebens.
Iſt e8 nötig, deutlicher zu fein? Ich glaube
Taum. Gar bald, ich hoffe es, wird das Dunkel
fi lüften, das über den rätjelhaften Menfchen
ebreitet ift, und der Dank, den ich und andre
hnen ſchon jest jhulden, lieber Daumer, wird
nicht durch ein Mißvergnügen geichmälert fein,
Hr ſich Ay Ihre vielleicht ſchädlichen Irrtümer
eften muß.”
Das Klang feierlich.
Man kanzelt mic) ab wie einen Schulbuben,
dachte Daumer erbittert, als der Präfident und
Direktor Wurm fich verabfchiedet hatten; was ift
mir doch in den Kopf gefahren, daß ich die Sache
des heimatloſen Findlings zu meiner eignen
machen mußte? Wär’ ich nur bei meinem Leiften
geblieben, in meiner Einjamteit.
109
Es geht mich wenig an, was fie da über jein
Schickſal fabeln, fuhr er in feinen verdroffenen
Ueberlegungen fort; allerdings, der Ton des
BVräfidenten läßt auf etwas Ungemwöhnliches
ſchließen; das feltfame Gerede über Caſpars Her-
funft, follte es wirklich einen Pau haben? Gleich-
viel, was wäre das mir? Ob eine Bauern,
ob eines Fürften Sohn, was würde es bejagen?
Freilih, wenn fo ein hoher Herr einem in den
Weg läuft, gibt man ſich als beflifjenen Diener;
verbriefter Adel und erlauchte Abftammung for
dern nun einmal den Reſpekt des Bürgers. Doc
ein andre ift das Leben und ein andre die
ee; ein andres, den Mächtigen zu willfahren,
weil es zwecklos ift, ihnen zu trohen, und ein
andres, ihrer zu vergeffen, eingefchlofjen und ge-
feit in der goldenen Wohnung der Philofophie.
Bwifcheninne führt die Grenze, die den Menjchen
aus Staub von dem Menfchen aus Geift trennt.
Sollte ih in meinem Optimismus zu weit ge—
gangen fein, wenn ich in Gafpar den Menfchen
aus Geift ſah? Noch fteht es zu bezweifeln.
Ein Gedanfengang, der nicht frei von ahnungs⸗
voller Betrübnis war.
Daumer ftellt die Metaphyſik auf die
Probe .
Der Präfident blieb länger als eine Woche
in der Stadt. Während diejer Zeit kam er ent-
weder ind Daumerjhe Haus, um Gafpar zu
fprechen, oder er ließ den Jüngling zu fih in
den Gafthof rufen. Feuerbach liebte nicht Zeugen
110
feines Zuſammenſeins mit Gafpar. Seit er an
einem ber erften Tage mit ihm durch die Straßen
gegangen war g3 der früh gealterte, doc) mächtig
anzufchauende Mann neben dem zarten, ein wenig
gebückt gehenden jungen Menſchen allentyalben
Auffehen erregt hatte) und an einer Edle, an der
die beiden vorüber mußten, ein Kerl wie aus der
Erde gewachjen plöglich neben ihnen hergefchlichen
mar, verzichtete der Präfident darauf, ſich mit
feinem Schügling öffentlich zu zeigen.
Seine Gefpräche mit Caſpar, jo geſchickt fie
auch eine Beziehungslofigkeit bisweilen vortäufchen
mochten, verfolgten natürlich einen ganz be
ftimmten Zweck. Cafpar, der davon wenig merkte,
teilte fich feinem hohen Gönner ohne Befangen-
heit mit, und durch fein unfchuldiges Geplauder
wurde Feuerbachs Herz oft jonderbar bewegt, fo
daß er, dem Wort und Sprache in Fülle ge
geben waren, fich nicht felten zum Schweigen ver-
urteilt fand: Ya, er verlor an Sicherheit;
„Caſpars Blick gleicht dem Glanz eines morgend»
lich reinen Himmels, bevor die Sonne aufgeht,“
ſchrieb er an eine altvertraute Freundin, „und
manchmal ift mir unter diefem Blick zumute, als
hielte der raſend dahinftürmende Schiefalswagen
um erften Male ftill; die ganze Vergangenheit
Yet auf, erlittene Wilke und der Trug des
Rechts, die Kränkungen des Neides und manche
Tat, deren Früchte gen und efel am Wege liegen.
Dazu kommt, dafs ich in betreff feiner unbekannten
Herkunft auf einer Spur bin, die mich, ich fürchte
ſehr, an den Rand eines verberblichen Abgrunds
Fahrt, wo es gilt, ſich den Göttern zu vertrauen,
enn Menſchen werben dort keinem Geſetz mehr
untertan fein."
11
Am lebten Tag der Anweſenheit Feuerbachs
ige fih Cafpar eine Stunde vor Abend zum
usgehen an, da der Präfident ihn zu fich bes
ftellt hatte. Er trat ins Wohnzimmer, um zu
jagen, daß er gehe, und fand Anna Daumer allein.
Sie jap am Fenſter und las gerade das Büch-
lein des Polizeirats Merker. Kaum daß Cafpar
die Tür geöffnet, verſteckte fie das Heft raſch und
erſchreckt unter der Schürze. „Was leſen Sie
denn da und warum verbergen Sie e8 denn?“
fragte Caſpar lächelnd.
Anna errötete und ftotterte etwas. Darauf
ſchaute fie mit feuchten Augen empor und fagte:
„Ah, Cafpar, die Menfchen find doch gar zu
ſchlecht.“
Er entgegnete nichts, ſondern lächelte noch
immer. Das erſchien Anna auffallend, aber
Cafpar dachte ſich meiter gar nichts dabei.
Es war eine jeiner Seltfamkeiten, daß er fich
nie entſchließen konnte, eine Frauensperjon ganz
ernft zu nehmen; Frauenzimmer fönnen nichts
als dafigen und ein wenig nähen oder ftriden,
pflegte er zu fagen; fie eſſen und trinken unauf«
hörlich und alles durcheinander und deswegen find
fie immer frank; auf andre Weiber jchmähen fie
und wenn fie dann mit ihnen beifammen find,
tun e ſchön und lieb. Als er einmal in ſoicher
Weife redete, beklagte fich Frau Daumer, doc er
antwortete ihr: „Sie find fein Frauenzimmer,
Sie find eine Mutter." Auch ereignete es ſich
einft, daß er bei einem Barabenıg von Geil
tänzern einem zu Pferd figenden Mädchen, deifen
bunter Bug und Reitkunft feine Aufmerkſamkeit
erwedt hatte, ein ‚paar Straßen weit folgte;
darüber ärgerte er ſich nachher gewaltig, und er
112
meinte, nunffei ihm doch auch einmal gejchehen,
was bei andern, wie er höre, zumeilen ber Fall
fei, er fei einem Weibe nachgelaufen.
Er fagte, daß er zum Nachteffen wieder zu
Haufe fein werde, aber Anna erwiderte, daß ſei
wohl zu fpät, ihr Bruder habe davon gefprochen,
daß er den Abend mit Cafpar bei ber Magiftrats-
rätin Behold verbringen wollte; die Rätin habe
ſchon einige Male darum gebeten, fie fei eine
einflußreiche Perſon, und wenn Daumer fic nicht
eine Feindin an ihr machen wolle, müffe er der
Einladung folgen.
„Der Ser: Präfident geht vor," fagte Caſpar
verdroffen und ging.
Es war mildes Wetter, der Schnee war längit
verfchmunden, weiße Wolken zogen über die fo
giebligen Dächer hin. Als Cafpar in das Zimmer
trat, das der Präfident bewohnte, ſaß dieſer am
Schreibtifch und blickte mit zurückgelehntem Körper
düfter finnend ins Leere. Erſt nad) einer Weile
wandte er jich zu Cafpar und redete ihn, aus
feinem dunfeln Nachdenken heraus, ohne Be—
geüßung an. „Ich kehre morgen nad, Ansbach
zuruͤck, Cafpar, wie Sie ja willen," begann er
und verdeckte die Augen mit der Hand; „Sie
werden mich einige Wochen, ja vielleicht monate-
lang nicht jehen. Ich möchte hie und da von
Ihnen Nachricht haben, von Ihnen ſelbſt, will
Sie aber nicht auffordern, mir regelmäßi
Schreiben, damit Ihnen nicht eine ungern erfüllte
Pflicht daraus erwachſe. Nun dachte ich mir,
"Ihnen eine Gelegenheit zur Mitteilung zu geben,
bei der Sie mehr auf fich felbft als an andre
gewieſen find. Sie follen nicht zur Rechenſchaft
befohlen fein, aber was Sie einem Freund oder
Baffermann, Caſpar Haufer 8 118
jagen wir Ihrer Mutter vertrauen würden,
follen Sie hier bewahren.”
Damit reichte er Cafpar ein in blauen Pappen⸗
deckel gebundenes Schreibheft. Caſpar ergriff. es
mechanisch und las auf einem weißen heraförmigen
Schildchen: Tagebuch — Stundenbuch für Caſpar
Hauſer. Er ſchlug es auf und gewahrte, auf der
erſten Seite eingeklebt, das Bild Feuerbachs und
darunter, von der. Hand des Präfidenten gefchrieben,
die Worte: Wer die Stunde liebt, der liebt Gott;
der Lafterhafte entflieht fich ſelbſt.
Caſpar ſchaute den Präfidenten mit großen
Augen ängftlih an. Er wiederholte & fi im
ftillen, mit fichtbarer Bewegung der Li , die
gefchriebenen Worte und dann, was der Präfident
zu ihm gejagt; alles verfloß im Nebel und, des
feierlichen Tones halber, in eine Ahnung von
X.
Es pochte an der Tür und auf das Herein
des Präfidenten brachte ein Eilbote einen Brief.
Raum hatte Feuerbach, ohne das Schreiben zu
öffnen, einen Blick auf das Siegel geworfen, als
er die Handglode läutete und dem eintretenden
Diener den Befehl gab, es folle ſogleich angefpannt
werden. „Ich muß noch diefen Abend reifen,"
fagte er zu Gafpar.
In unbeftimmten Laufchen und Warten blieb
Caſpar ftehen. Der Poftillon im Hof knallte mit
der Peitſche. Ein Hauch der Ferne ummehte Caſpar,
ex fpürte plößlich etwas von der Größe der Welt,
und die Wollen am Himmel ſchienen Arme her-
unterzuſtrecken, um ihn emporzuheben. Als ihm
der Präfident die Hand zum Abfchied reichte, bat
er fchmeichelnd, mit verlangendem Lächeln: „Möcht'
aud mitfahren."
114
„Wie, Cafpar!" rief der Präfident in ges
fpielter Weberrafhung, und plößlich wieder das
frühere Du der Anrede wählend, „willft du denn
fort von den Nürnbergern? Haft du denn ver-
sehen, was du deinem gütigen Pflegevater ſchuldig
ft? Was würde Here Daumer fagen, wenn
du ihn fo undankbar zeriepeft und viele andre
wackere Männer, die ſich deiner angenommen
haben? Es erftaunt mich, Caſpar. Bift du
denn nicht gern hier?"
Caſpar ſchwieg und fenkte die Augen. Hier
ift immer dasfelbe, dachte er. Er fehnte ſich fort;
ex dachte, einmal könne man fortgehen, man könnte
in der Nacht das Tor öffnen und könnte gehen,
ohne den Weg zu wiſſen. Vielleicht Täme dann
einer, um zu fragen: wohin, Gafpar? Und er
führte ihn zu einem Schloß, vor dem viel Volks
verfammelt ift; drinnen ruft eine Stimme Caſpars
Namen, die Seute machen Platz und viele Arme
deuten auf da8 Tor, dem er zufchreitet.
„Sprich!“ mahnte dev Präfivent barſch.
„Ste find alle gut mit mir," flüfterte Caſpar
mit zudenden Lippen.
„Nun aljo!"
Es ift nur —"
"Was? Was ift —? Heraus mit ber
Sprache!“
Caſpar ſchlug langſam die Augen auf, machte
mit dem Arm eine weite Gefte, als wolle ex den
ganzen Erdkreis in das Wort einbeziehen und
jagte: „Die Mutter."
Feuerbach wandte ſich weg, ging zum Fenfter
und blieb ſchweigend jtehen.
Eine Viertelftunde fpäter jhritt Cafpar durch
die engen Gafjen beim Rathaus und kam als-
115
bald auf den menfchenverlafjenen Egydienplatz.
Es war fchon_ dunkel geworben, vor der Kirche
brannte eine Dellaterne, und während er nad)
lints abbog, wo das niedere Buſchwerk einer
Gartenanlage den Platz gegen die gaufergaffe ſchloß,
gewahrte er einen ruhig ſtehenden Mann, der
gebeugten Kopfes nach tom herſah. Cafpar ging
ein wenig langjamer, plötzlich ſah er, daß der
Mann den Arm erhob und mit dem Finger winkte.
Gafpars Herz Hopfte Iaut. Irgend etwas
zwang ihn, der jtummen Aufforderung des Un-
befannten zu folgen. Der Mann fuhr fort, mit
dem Finger zu winken, und wie hingezogen tat
Caſpar ein paar Schritte auf ihn zu. Da ging
der Mann tiefer in das Gehölz, hörte aber nicht
auf zu winken. Caſpar konnte fein Geficht nicht
jehen, das unter dem weit in die Stirn gedrüdten
Hut verſteckt war.
Er folgte dem Menſchen, obwohl alle Fibern
ſeines Leibes widerſtrebten, mit Grauen fühlte er
fich Schritt um Schritt gezogen, feine Augen waren
aufgerifjen, Staunen und Schreden lagen in feinem
Geliht, und die Hände hielt er mit gefpreizten
Fingern von fich geftredt.
Schon war er dem Unbelannten fo nahe, daß
er deſſen gelbe Zähne zwiſchen den Lippen
ſchimmern ſah, und wer weiß, was gejchehen
wäre, wenn fich nicht in diefem Augenblid auf
der andern Seite des Gebüfches ein Trupp be
trunfener junger Leute hätte hören lafjen; der
fremde Mann ftieß einen gurrenden Laut aus,
büctte fich vafch und war unter dem Schub des
Laubwerks im Nu verſchwunden.
Auch Cafpar kehrte um und rannte gegen die
Kirche; er Tief geradesweg3 mitten in die Schar
116
der Lärmmacher hinein, die ihn aufzuhalten fuchten,
und fo vermifchte fich ein Schreden mit dem
andern. Nur mit Mühe riß er fich los, einige
folgten ihm jchreiend, er verboppelte feine Eile,
der Hut fiel ihm vom Kopf, er ließ ihn liegen,
rannte, fo ſchnell er fonnte, durch die Judengaſſe
und weiter und gu exft wieder langjamer, als
er ſich auf der Brüde zur Infel Schütt befand.
Daumer war ſchon unruhig geworden und
wartete vor dem Haustor. Betroffen hörte er
Caſpars haftigen und unklaren Bericht an, und
nach einiger Ueberlegung meinte er, er glaube
nicht recht an das Abenteuer; „da hat dir wohl
deine allweil erregte Phantafie einen törichten
Streich gefpielt,“ fagte er ungewöhnlich ftreng.
„Nein, es ift wirklich wahr," beteuerte Cafpar.
Dann klagte er, daß er den Hut verloren habe,
und fchließlich zeigte er, auf einmal ganz heiter
geworden, das Heft, das ihm der Präfident ge
ſchenkt und daS erwährend der ganzen Beit frampf-
haft in der Hand feitgehalten hatte.
Berftreut befah e3 Daumer. „Hat dir Anna
nicht gejagt, daß wir zur Magiftratsrätin gehen ?“
fragte er mißgelaunt. „Es iſt höchſte Zeit; mach
flink und zieh dir den Sonntagsrod an.“
Caſpar fchaute ihn mit fchrägem Blid von
unten an und ging zögernd ins Haus. Daumer,
der fchon im Goefellichaftsfleid war, wandelte
zweimal bis zum Pegnigufer und wieder zurüd;
eine halbe Stunde verfloß und Caſpars langes
Ausbleiben machte ihn endlich ungeduldig. Er
eilte die Stiege hinan und betrat Caſpars Zim—
mer, wo eine Kerze brannte. Zu feinem Aerger
nahm er wahr, daß Cafpar angefleivet auf dem
Bette lag und jchlief. Er rüttelte ihn an der
117
Schulter, ließ aber plötzlich ab, durchmaß ein paar-
mal das Bimmer, ohne feines Mibmuts Herr zu
werden, dann ftieß er zornig hervor: „Ach was,
fol die Neugier der guten Leute um ihren Schmaus
betrogen werden!"
Durch den finftern Flur ſchritt er ins Gemach
der Schweiter, die vor dem Klavier jaß und fpielte,
Er Tegte ihr den Fall vor und Anna gab ihm
ohne weiteres recht, daß er Cafpar zu Haufe
laffe. „Dann muß jemand zur Rätin und unfer
Ausbleiben entjchuldigen,“ fagte Daumer in einem
Ton, al3 ob das Verſäumnis fonft fchlecht aus-
nr legt werben könne und er Unannehmlichkeiten
u befürchten habe. Anna erwiberte, die Magd
* nicht da, und nach einigem Beſinnen erklärte
ſie 1) bereit, den Gang felbft zu tun.
Als fie fort war, Pte fi) Daumer zu den
Büchern, rüdte die Sampe zurecht und lad. Doch
er hatte ein fchlechtes Gewiſſen und fuhr bei
jedem Laut zufammen. Nach einer geraumen
Weile hörte er Schritte; Anna trat hinter feinen
Stuhl und ſagte Yaftig, die Magijtratscätin fei.
mitgelommen, um Caſpar zu holen. Daumer
fprang auf; „Daß heiße ich den Spaß zu weit
etrieben,“ murmelte er entrüftet. Anna legte
ihm die Sand auf den Mund, denn ſchon ftand
die Rätin in der Türe; reich gefchmückt, im Geiden-
mantel, ein Toftbares Spihentuch um den Kopf.
Sie war eine nicht mehr ganz junge, aber
ſehr ftattliche Frau, „ungemäßnti groß gewachſen,
mit ungewöhnlich Hleinem Kopf. In ihrem Be-
tragen vermifchte ſich das Modiſch-Franzöſiſche
und das Nürnbergerifch- Provinzliche auf eine
nicht immer gan einwandfreie Weije, und mo
jenes zur Geltung fommen follte, gudte dieſes
118
wie der Zipfel eines fchlechtverborgenen Armeleut-
gewands unter einer brofatenen Tunika hervor.
Sie raufchte auf Daumer zu, majeftätifch wie
eine ſchaumige Woge, und ber gute Dann, nieber-
gejchmettert von jo viel Glanz, vergaß feinen
Groll und führte die bargereichte Hand der Dame
an feine Lippen. „Muß ich jelbit Sie an Ihr
Verſprechen erinnern?" rief fie mit einer fonoren,
Träftigen Stimme. „Was foll’3 bedeuten, Pro-
ſeſſor? Was ift vorgefalen? Weshalb die Ab-
jage? Sie jehen, ich verlaffe meine Gäfte, um
ein Wort einzulöfen, das Ihnen zu brechen jo
leicht wird. Keine Ausflucht, lieber Daumer,
Caſpar muß mit, wo ift ev?"
„Er ſchläft,“ erwiderte Daumer zaghaft.
„Nom de Dieu! Er ſchläft! Daß dich das
Mäusle beißt! So wird man ihn halt wecken.
Marſch, marjch, voran!"
Daumer hatte nicht den Mut, zu widerfprechen,
dies zupackende Gebaren beraubte ihn der gegen-
ftändlihen Gründe Er nahm die Lampe und
jchritt voraus. Anna, die zurüchlieb, räufperte
ſich empört, dies beirrte aber Frau Behold feines-
Ze als Antwort zuckte fie nur verächtlich die
ein.
Daumer ſtand ſo verſonnen an Caſpars Lager,
daß er die Lampe wegzuſtellen vergaß. er
Tat mochte es ſchwerlich etwas Schöneres zu fehen
geben als den Engelsfrieden und die rofenhafte
Heiterkeit, Die au dem Geficht des Schläfers
leuchteten. Frau Behold fatug unmilltürlich die
en zufammen, und darin lag Wahrheit und
e
„Beftehen Sie noch darauf, ihn zu medten ?"
fragte Daumer richterlih. „Der Schlaf ift heilig.
119
Die feligen, Geifter werden fliehen, fobald unfre
Hand ihn berührt.“
Frau Behold klappte die Lider auf und zu,
als wolle fie das bißchen Rührung davonjagen,
wie man liegen mit einem Wedel vertreibt.
„Schön — “ fpottete ſie, und ihre Stimme
Ira wie das Nädchen einer Spindel. „Aber
ich beftehe auf meinem Schein. Ich will dem
Yuben was dafür fchenken, und was die feligen
Geiſter betrifft, die kommen wieder, zum Schlafen
gibt's Nächte genug.”
Während Daumer den Schlafenden bei den
Schultern emporhob und durch zärtliches Zureden
mehr ſich ſelbſt als Caſpar zu beichwichtigen fchien,
zeigte fich in dem Heinen Geſicht der Frau Behold
eine wunder! liche Erregung. Sie blinzelte mit
den Augen, ihre Unterlippe wurde ſchlaff und
entblößte eine fehmale, feite Zahnreihe wie bei
einem Nagetier. „Pauvre diable,* murmelte fie,
„armes Herzle," und erfaßte Caſpars Hand.
Davon erwachte Caſpar völlig, befreite die
Hand mit einem Ruck umd fehüttelte fich. Sein
teunken-müder Blick fragte, was man mit ihm
vorhabe, Daumer erflärte e3, fchenkte Waſſer in
ein Gla3 und gs es ihm zu trinken, nahm den
Sonntagsrod‘, der ſchon bereitlag, und hielt ihn
zum Anziehen bin.
Caſpar heftete den verdunfelten Blick auf Frau
Fam und fagte trogig: „Sch will nicht zu der
au.“
„Wie, Caſpar?“ rief Daumer erftaunt und
verlegt. Zum erftenmal vernahm er dies „ich
will nicht", zum erjtenmal ftand Caſpars Wille
gegen ihn auf. Cafpar war felber erſchrocken,
jein Blick war ſchon wieder gefügig, als Daumer
120
mit ernfbaftem Ton fortfuhr: „Ich aber will es.
Ich will aud, daß du die Dame um Verzeihung
bitteft. Es gebt nicht an, daß du eine Laune
über dich Herr werden täßt. Wenn wir und der
Nuüdfichten gegen die Menſchen entbinden würden,
ſtunden wir alle ſo hilflos da wie du am erſten
Tag.
pie niedergefchlagenen Augen tat Cafpar,
was ihm befohlen worden. Frau Behold nahm
den ganzen Auftritt nicht ſchwer. Sie tätfchelte
Caſpars Wange und fand den Profeffor Daumer
ziemlich komiſch.
Eine halbe Stunde fpäter waren fie in den
feftlich erleuchteten Zimmern der Rätin. Caſpar,
von Menſchen umdrängt, mußte die gewöhnliche
Zlut der Fragen über fich ergehen lafjen. Frau
Behold wich nicht von feiner Seite, fie lachte
beinahe zu allem, was er fagte, und er wurde
allmählich verwirrt und unruhig, empfand Angjt
vor den Worten; es fchien ihm gefährlih, zu
fprechen, e3 war, al3 ob alle Worte zweifach vor-
handen wären, einmal offenbar, da8 andre Mal
verhüllt, und fo wie die Worte hatten auch die
Menfchen etwas Zwiefaches, und unwillkürlich
ſuchten feine Blicke in ein und derjelben Perfon
die zweite, die lauernd Hinterherging und ver-
führerifch mit dem Finger winkte.
Es war ihm unverftändlid, was fie von ihm
wollten, ihre Kleidung, ihre Gebärden, ihr Niden,
ihr Lächeln, ihr VBeifammenfein, alles war ihm
unverftändlich, und auch er felbft, er felbft fing
an, fich unverftändlich zu werden.
Indeſſen verlebte Daumer eine böfe Stunde,
Frau Behold, die ftolz darauf war, ihr Haus
zum Sammelort vornehmer Fremden zu machen,
121
hatte heute einen Heren zu Gaſt, der, wie man
fich erzählte, unter faljchem Namen reifte, da er
in wichtiger diplomatifcher Mifftion nad) einer
Nefidenz im Often des Landes unterwegs jei.
Man raunte ſich auch zu, daß der hohe Fremde
großes Intereſſe an dem Findling Haufer nehme
und daß er vielen einflußreichen Perfonen gegen-
über fich abfällig und tadelnd über die unfinnigen
Gerüchte geäußert habe, die Caſpars Herkunft
zum Gegenftand hatten. Und man muß geftehen,
daß die einflußreichen Perfonen fich dem Gewicht
einer ſolchen Meinung nicht verfchloffen, aber das
Treiben de3 vornehmen Herrn gab auch Anlaß
zu mancherlei Verdacht, und der Redakteur Pfifterle,
Querulant wie immer, behauptete fogar, der
diplomatifche Herr fei nach feiner Anficht nichts
andre al3 ein verfappter Spion.
Wie dem auch war, von all diefen Neuig-
keiten hatte Daumer in feiner Weltverlorenheit
nichts erfahren. Der Fremde gefellte ſich nach
kurzer Weile zu ihm, und fie kamen ins Geſpräch,
wobei es jener leicht anzuftellen wußte, daß fie
fi von den übrigen Gäften abfonderten. Dau-
mer, eingeſchüchtert durch die Manieren, die delis
Tate Zmanglofigfeit des hohen Herrn, defien Rod-
bruft voller Orden hing, mußte zuerjt faum etwas
zu jagen, antwortete bloß wie ein Schüler mit
nein und ja. Allmählich gab er fic freier und
erzählte feinem Zuhörer vieles von Caſpar, kam
auf defjen furchtfames Wefen zu fprechen und
ſchilderie wie zur Erläuterung das Benehmen des
Yünglings‘, als er heute abend, vor einem ein
jebildeten, ohne Bmeifel eingebildeten, Verfolger
üchtend nach Haufe gefommen mar.
Der Fremde hörte aufmerkfam zu. „Vielleicht
122
bat er _fich aber gar nicht getäufcht," entgegnete
er vorfichtigen Tons, „ed mag na Da mancherlei
in der Verborgenheit abfpielen. Meines Wiſſens
haben ja aud Sie, lieber Profefjor, vor längerer
‚Zeit eine Art von Warnung erhalten. Sie dürfen
fih daher nicht wundern, wenn aus gemifjen
Drohungen Ernft wird.“
Daumer ftußte, doch der Fremde fuhr mit
Hiebenswürdiger Offenheit, fcheinbar harmlos
plaudernd, fort: „Sie follten fih an den Ge
danken gewöhnen, daß da Mächte im Spiel find,
die vor nicht zurückſchrecken, um ihre Maßregeln
mit Nachdruck durchzuführen. Das unruhige Ge
muntel wird vielleicht als ftörend empfunden,
vielleicht hat man etwas auf dem Kerbholz und
möchte die Deffentlichkeit vermeiden. Vorläufig
mag es der Gewalt, die da im Hintergrund ift,
darum zu tun fein, die Dinge möglichft in Ver—
borgenheit abzumachen, aber fie könnte wohl auch
offenes Spiel treiben, fie könnte der Polizei und
den Gerichten mit Gemütsruhe die Hände binden.
Einftweilen begnügt man ſich aber, die Fäden
binter den Kuliffen zu ziehen."
Bon neuem ſtutzte Daumer; die Worte feines
Gegenüber fchienen einen genauen Bezug zu haben;
doch der Fremde ließ ihm feine Zeit zu Überlegen,
er fuhr mit heller Stimme, faft vertraulichen
Tone fort: „Ich glaube vor allem, daß man
die Verbreitung all des hirnlofen Geſchwätzes
durch das bequeme und naheliegende Mittel der
Druckſchrift fürchtet und ahnden wird. Man
demaskiert ſich dort oben ungern, noch weniger
will man von andern demasfiert werden, man
liebt es nicht auf den Markt zu treten, noch feine
privaten Angelegenheiten da ausgeboten zu ſehen;
128
das ift begreiflich. Der Staatsbürger hat Frei⸗
heiten genug; in feinem Bereich mag er fich tum-
meln, nach oben joll ex fich gebunden finden.”
Was war das? Daumer meinte zu verftehen,
worauf es hinauswollte; er bejchloß, dem dunkeln
Befehl zu gehorchen; war doch dem Zwang ſchon
feine eigne Freiwilligkeit zuvorgefommen.
„Ich möchte mir eine Frage erlauben, ver-
ehrter Profefjor," begann der Fremde wieder;
„Sind Sie wirklich überzeugt, daß der hergelaufene
Rnabe, an dem ich auf meine Art, ich will es
nicht Teugnen, ein gewiſſes äußeres Intereſſe
nehme, die ununterbrochene Aufmerkſamkeit ernſt⸗
after Männer verdient und rechtfertigt? Lohnt
e3 fich denn, die ganze Welt mit feiner zweifel⸗
haften Sache zu beichäftigen? Was bleibt für
die großen Angelegenheiten ber Nation, der
Wiſſenſchaft, der Kunft, der Religion, de3 Lebens
überhaupt, wenn ein Mann wie Sie die beften
Geifteskräfte an ein empfindfames Naturfpiel ver⸗
ſchwendet? ManrühmtdieaußergemöhnlichenGaben
des Findlings. Ich bemühe mich umfonft, folche
Gaben zu entdeden; ich bin kühn genug, zu be
haupten, Mr ich damit nur an Ihre eigne Un-
gewißheit rühre. Laſſen wir noch ein wenig Beit
vergehen und wir werden über diefen Punkt eine
betrübende Sicherheit gewinnen. innerhalb der
menfchlichen Gefellichaft gibt es Hunderttaufende
von Weſen, die, mit ebenfogroßen oder noch
größeren Eigenfchaften geboren, gleichwohl einem
ungleich elenderen Los verfallen find. Die wahr⸗
hafte Tugend müßte fich auch für fie entflammen,
denn in der “dee darf dem Erbarmen mit der
menfchlichen Not feine Grenze gefegt fein. Aber
wo endete der Mann, der fein Herz nach allen
124
Seiten hin zerriffe und in Fetzen austeilte? Er
ftünde leer da an dem Tage, wo ein würdiger
Gegenstand ein würdiges Opfer von ihm forderte.
Denken Sie fih von Caſpars Lebensalter ein
Dusend Jahre hinweg und das vermeintliche
Wunder ift enthüllt bi8 auf den Grund und hat
Ihnen nichts mehr zu geben als die beſchämeude
Selbftverftändlichleit einer natürlichen Tatſache.
Beftenfall3 bleibt ein Kuriofum, mit welhem man
ein Tifchgefpräh würzen kann. Ein Kuriofum
und das bißchen Geheimnis, das allen unreifen
Köpfen jo aufregend dünft."
iderjpruch und Abwehr malten fich in Dau-
mers Zügen; fein umherſchweifender Blick fuchtenach
Caſpar, aber alles, was er zu jagen wußte, war:
„Nicht durch Worte kann die Seele für ſich zeugen."
Der Fremde lächelte bitter. „Die Seele! die
Seele!" erwiderte er ſpöttiſch. „Sie kann nicht
durch Worte zeugen, denn fie ift nur ein Wort
wie jedes andre. Das Auge ſchaut, der Finger
fpürt, jedes Härchen lebt auf eigne Weife, das
Blut durchſpritzt die Adern, jeder Sinn macht
den Raum lebendig, den Tod fühlbar, was ziert
ihr euch da und wollt ein Bejonderes haben und
ſprecht von Geele, als ſei die Seele wie ein
Schmudjtüd, das eine eitle Frau im Käftchen
verſchließt und gelegentlich an ihren Buſen fteckt,
um beim Ball damit zu glänzen! Jeder ift im
allgemeinen ausgeteilt und jein Zuſchuß von
Kräften ift Fein Privileg, fondern nur eine Hoff-
nung Oder dürfte der Adler die Seele für ſich
in Befchlag nehmen, weil er beffer zu fliegen
vermag al3 die Gans? Die Seele! Ihr Herren
beleidigt den Schöpfer damit, ob ihr fie leugnet
oder ob ihr Bücher jchreibt, um fie zu beweiſen.“
125
Es entftand ein Schweigen. Er fpricht wie
ein Satan, dachte Daumer, und als er fich an-
ſchickte zu antworten, kam ihm der Fremde mit
höftiher Eindringlichkeit zuvor. „Ich weiß, Sie
ſieben Caſpar,“ jagte er mit veränderter Stimme,
ernft und herzlih, „Sie lieben ihn brüderlich,
und nicht Mitleid nährt diefen Trieb, fondern die
ſchöne Begierde, die ſtets den Gott in der Bruft
des andern fucht und nur im Ebenbild fich ſelbſt
erkennen will. Aber Sie möchten eine Ausrede
haben für Ihre Liebe, das ift es. Muß ich
Ihnen jagen, daß es feine tieferen Wunden gibt
als die Enttäufchungen aus ſolchem Zwiefpalt?
rate Ihnen, fliehen Sie den Anblid und die
Geſellſchaft deffen, der Ihnen nicht3 mehr zu bieten
hat al3 Enttäufhung."
„Alſo find wir denn zu ſchwach, dem Er-
Tebnis gegenüber jo zu bleiben wie wir zu fein
glaubten, indem wir es erfehnten!“ rief Daumer
verzweifelt.
Der Fremde verzog fein faltig-altes Geficht
zu einer Grimaffe des Bedauerns. Eine leichte
Gebärbe verriet, daß das Geſpräch für ihn er-
ſchöpft fei, und fie mifchten ſich wieder unter die
übrigen Gäfte. Daumer, völlig aus der Faffung
gebracht, wünfchte nichts weiter, al3 den lärmen-
den Kreis zu verlafien. Er fuchte Caſpar und
bemerkte ihn, blaß und ſchweigſain, mitten unter
hillernden Noben und grauen und braunen
räden; Frau Behold ſaß auf einem niedrig en
chemel faft zu feinen Füßen, und ihr Seit
ſah hart und düfter aus,
Der Abfchied war umftändlich. Als fie auf
den vereinfamten Gaſſen jchweigend ein Stüd
Wegs zurückgelegt hatten, ſchlang Daumer den
126
Arm; um Cafpars- Schulter und fagte: „Ach,
Cafpar, Cafpar!" Es klang wie eine Beſchwörung.
par, den es nad) elehrung dürftete umi
defien Herz zum Meberfließen voll von Fragen
war, feufzte auf und lächelte feinem Lehrer in
wigdererwachtem Vertrauen zu. Sei e8 num, daß
Blick und Lächeln Daumer an einer Stelle feines
Innern trafen, mo er fich unficher und ſchuldig
fühlte, fei es, daß die Nacht, die Einſamkeit, die
quälenden Zweifel, das wunderliche Geſpräch, das
er eben geführt, feinen Geift zu übertriebener
Inbrunft tgänbeten, ex blieb ftehen, umarmte
Caſpar noch fefter und rief mit emporgemanbten
Augen: „Menſch, o Menſch!“
Das Wort ging Caſpar duch Mark und
. Ihm war, als eröffne fich aim auf ein⸗
mal, was dies zu bedeuten habe: Menſch! Er
ſah ein Gefchöpf, tief unten verftrictt und an-
jefettet, von tief unten hinaufſchauend, kenb ſich
Kan fı fremd dem andern, dem es das Wort Menſch
zuſchrie und der ihm nichts antworten fonnte als
eben Biefen. inhaltsvollen Auf: Men!
Sein Ohr hielt den Klang feit, der durch
die Ergriffenheit Daumers etwas Weihevolles
für ihn befommen hatte. Am andern Mor; en
nahm er jein Tagebuch zur Hand, und
erfte Eintragung, die er darin machte, waren
die drei Worte: Menfch, o Menſch — für jeden
andern natürlich eine finnlofe Hieroglgphe, für
ihn aber ein deutung3voller Hinweis, ein ent-
ſchleiertes Geheimnis beinahe, ein Wahl und
Zauberfpruch zur Abmendung von Gefahren.
Es entiprady feinem Tindifchen Weſen, daß er
von derjelben Stunde ab das Tagebuch als eine
Art von Heiligtum betrachtete, welches nur in
127
Zeiten der Andacht und Sammlung zugänglich
war, und in einer jener fehnfüchtigen und angſt⸗
voll traurigen Stimmungen, die ihn häufig be
fielen, faßte er den fonderbaren und folgen»
ſchweren Entfhluß, daß fein andrer Menfch außer
jeiner Mutter jemals Einblict in diejes Heft er-
langen, jemals leſen jollte, was er darin aufs
ſchreiben würde. Solche Vorſätze ftarrfinnig zu
halten, dazu war er durchaus imftande.
ALS wenige Tage nachher die Pringeffinnen
von Kurland in Daumerd Haus kamen, die mit
Feuerbach befreundet waren und große Teilnahme
für Cafpar hegten, kam zufälligerweife die Rede
auf das Gefchent, daS der Präſident feinem Schüß-
ling gemacht, und da Daumer erzählte, es bes
fände ſich in dem Büchlein ein fehr gutes Stahl-
ftichporträt des Präfidenten, wünfchten die Damen
das Heft gern zu fehen. Zu aller Erſtaunen
weigerte ſich Gafpar, e3 zu zeigen. Daumer warf
ihm erſchrocken jeine Unhöflichkeit vor, aber er
blieb hartnäckig. Die Damen beftanden nicht
weiter darauf, ja fie lenkten ſogar die Unterhaltung
taktvoll in eine andre Richtung, aber als fie fort-
gegangen waren, nahm Daumer den üngling
ins Gebet und fragte ihn nach dem Grund feiner
Weigerung. Cafpar ſchwieg. „Und würdeſt du
auch mir, wenn ich es verlangte, das Heftchen
vorenthalten?" fragte Daumer. Caſpar jah ihn
geoß an und antwortete treuherzig: „Sie werden
es gewiß nicht verlangen, bitte ſchön!“
Daumer war ehr betroffen und entfernte
ſich ſtill.
Gegen Abend kam Ser: von Tucher, bat
Daumer um eine Unterredung unter vier Augen,
und als fie allein waren, jagte er ohne weitere
128
Einleitung: „Ich muß Sie leider davon in Kennt-
nis fegen, daß ich unfern Caſpar zweimal beim
Zügen ertappt habe."
Daumer ſchiug ftumm die Hände zufammen.
Das fehlte nur noch, dachte er.
Beim Lügen! Zweimal beim Lügen ertappt!
€i du gütiger Himmel, wie war das zugegangen !
Die Sache verhielt fa fo: Am Sonntag fei
er mit dem Bürgermeifter in Caſpars Zimmer
jetreten, erzählte Herr von Tucher, und habe den
füngling erjucht, ihn in feine Pehwung zu bes
gleiten. Da habe Caſpar, der bei den Büchern
gefefien, erwidert, er dürfe nicht, Daumer habe
ihm verboten, das Haus zu verlafien. Dem
Bürgermeifter fei da3 gleich bedenklich erſchienen,
beſonders da ihn Gafpar kaum anzufehen gerast,
er babe fih unauffällig bei Daumer erkundigt,
wie diefer ſich wohl erinnern werde, und feinen
Verdacht beftätigt gefunden. Am andern Tag
jeien beide, Herr Binder und Herr von Tucher,
während Daumer vom Haufe fortgemefen, zu
Cafpar gefommen und hätten ihm feine Unmwahr-
heit vorgehalten. Unter Erglühen und Erblafjen
habe ex fein Vergehen zugeftanden, habe aber,
wie ein gejcheuchter Safe in die Enge getrieben
und ben erjten beiten Ausweg ergreifend, alberner-
weiſe eine Gefchichte erfunden von einer Dame,
die bei ihm gemejen umd die ihm ein Gejchent
verfprochen, weshalb er auf fie gewartet habe.
„Auf unfer mehr beftürztes als ſtrenges Bu:
reden befannte er fich auch diefer Unmahrheit
ſchuldig.“ fuhr Herr von Tucher mit unerfchütter-
lihem Ernſt fort. „Er gab zu, daß er nur in
Ruhe Habe ftudieren wollen und daß ihm fein
andıe8 Mittel eingefallen jei, um die läftigen
Baffermann, Gafpar Haufer 9 129
Störungen abzumenden. Inſtändig flehte er uns
an, Ihnen nichts von feinem Fehltritt zu erzählen,
er wolle e8 nie wieder tun. Sch hab’ mir’3 aber
überlegt und bin zu dem Schluß gelangt, daß es
beſſer ift, wenn Sie alles wiſſen. Es ift viel»
leicht noch Zeit, um das böfe Lafter mit Erfolg
zu befämpfen. Man kann ihm ja nicht ins Herz
hauen, doch ich glaube noch immer an die Un—
verdorbenheit ſeines Gemüts, wenngleich ich über⸗
zeugt bin, daß uns nur die äußerfte Wachjamteit
und umerbittliche Maßnahmen vor gröberen Ent-
täufhungen bewahren können."
Daumer ſah vollfommen vernichtet aus. „Und
das von einem Menfchen, auf deſſen heiliges
Wahrheitsgefühl ich ide geſchworen hätte,“
murmelte er, „Wenn Sie e3 nicht wären, der
mir da8 erzählt, ich würde lachen. Noch vor
einer Stunde hätte ich jeden für einen Schurken
erachtet, der mir gejagt hätte, Cafpar fei einer
Lüge fähig."
„Auch mir ift es nahgegangen,” verſetzte
Herr von Tuer. „Aber wir müfjen Geduld
haben. Sehen Sie zu, halten Sie die Augen
offen, warten Sie auf den nächiten gegründeten
Anlaß, dann greifen Sie ein, und zwar mit
mwuchtiger Hand."
Eine Lüge; nein, zmei Lügen auf einmal!
Der arme Daumer, er müßte fich feinen Rat.
Er ging hin und überlegte. Herr von Tucher
nimmt den ganzen Vorgang zu ſchwer, fagte er
ſich; Herr von Tucher ift eine fehr gerechte Natur,
aber ohne Bmeifel ein Mann mit vielen Vor—
urteilen, die ihn dazu verführen, eine Lüge mit
allen —— Zeichen der Uebeltat auszu-
ftatten; Herr von Tucher kennt das tägliche Leben
130
nicht, das unfereinen unterfcheiben lehrt zwifchen
dem, mas fchlecht ift und was der Andrang ges
bieterifcher Umftände auch dem Redlichſten ent-
preßt. Aber was geht mich Herr von Tucher
an, hier handelt e8 ſich um Caſpar. ch glaubte
einft, von ihm fordern zu dürfen, was feiner fonft
von feinem fordern darf. War es eine Ver—
blendung, eine Anmaßung von mir? Wir wollen
fehen; ich muß jegt herausbekommen, ob er fchon
zu den Gewöhnlichen gehört oder ob fein Wille
noch einer unhörbar rufenden Stimme zu ge
horchen fähig ift. Hat fich fein Ohr jedem Geifter-
hauch und {hal ſchon verſchloſſen, dann ift feine
Züge eine Lüge wie jede andre, ann ich aber
noch überfinnliche Kräfte des Verftehens in ihm
weden, dann will ich die Philifter verachten, die
immer gleich mit dem Bafel erjcheinen.
Es bedurfte einer fchlaflofen Nacht, um dem
fonderbaren Plan Daumers, der eine Art Gotted-
urteil in ſich fehließen follte, auf die Beine zu
helfen. Die Weigerung Cafpars, fein Tagebuch)
zu zeigen, gab den Anſtoß. Ich will ihn
bewegen, mir aus eignem Trieb das Heft zu
bringen, kalkulierte Daumer; ich will etwas wie
eine metaphufifche Kommunikation zwifchen mir
und ihm herſiellen; ich werde ihn, ohne ein Wort
zu fprechen, mit meinem geiftigen Verlangen zu
erfüllen teachten und werde eine Stunde feitjegen,
innerhalb deren das nur Gewünfchte zu geichehen
hat. Kann er folgen, fo ift alles gut; wenn nicht,
dann ade, Wunderglaube, dann hat diefer bered⸗
fame Materialift recht gehabt, mir die Seele weg-
zudisputieren.
Am Morgen, fo gegen neun Uhr, kam Anna
zu ihrem Bruder und fagte, Cafpar gefalle ihr
131
heute ganz unb gar nicht; ex fei ſchon um fünf
aufgeftanden und es fei eine Unruhe in ihm, Die
fie noch nie wahrgenommen; beim Frühſtück habe
ex fortwährend ängftlih um fich herumgefchaut
und feinen Biffen gegefjen.
Daumer lächelte. Sollte ex jett ſchon fpüren,
was ich mit ihm vorhabe? dachte er, und feine
Stimmung wurde mild und zuverfichtlich.
Ein ſchicklicher Vorwand, die Frauen aus
dem Haus zu jchaffen, fand ſich ungezwungen;
au Daumer mußte ohnehin auf den Markt,
inna wurde überredet, einige Befuche zu machen.
Um elf Uhr machte fich Cafpar an feine Schul-
arbeiten, Daumer ging ins Nebenzimmer, ließ
aber die Tür offen. Er feste ſich, das Geficht
gegen Caſpars Platz gerichtet, ein wenig hinter
er Schwelle auf ein Stühlchen, und es giang
ihm alsbald, mit erjtaunlicher Energie all feine
jebanfen auf das eine Ziel zu richten, auf dem
einen Punkt zu fammeln. Im Haus war e8 jehr
ftill, fein Laut ftörte daS wunderliche Beginnen.
Bleih und geipannt faß er aljo und be
obachtete, daß Calpar häufig aufftand und zum
Fenfter trat. Einmal öffnete er das Fenfter, das
andre Mal ſchloß er es wieder. Dann begab er
ſich zur Tür und fchien zu überlegen, ob er
hinausgehen folle. Sein Auge war ohne Stetig-
feit und fein Mund eigentümlich gramvoll ver-
sogen, Aha, es rumort in ihm, frohlodte Daumer,
und immer, wenn Caſpar ſich dem Schränfchen
näherte, in dem das blaue Heft wahrjcheinlic lag,
— * unglückliche Magier vor Erwartung
erzklopfen.
Wie weit war Caſpar davon entfernt, auch
nur zu ahnen, was in Daumer vorging! zu
132
ahnen, daß in diefer Stunde fein Geichid und
Weſen vor ein Tribunal geftellt wurde!
Es war ihm ungeheuer bang heute. Es war
ihm fo bang, daß er ein paarmal die ganz bes
flimmte Vorftellung hatte, e8 würde ihm etwas
limmes zuftoßen. Ya, er hatte das unab»
weisbare Gefühl, daß einer unterwegs fei, ber
ihm etwas zuleide tun werde. Erſtickend lag die
Luft im Raum, die Wolfen am Himmel blieben
lauernd ftehen; wenn durch die Baumkronen vor
dem Fenſter eine Schwalbe ſtrich, fah es aus,
ala ob eine ſchwarze Hand pfeiljchnell aufs und
niedertauche; das Deckengebälk bog fich niedriger,
Fr Er Getäfel der Wand knackte es un-
jeimlich.
Cajpar ertrug e8 nicht mehr. Sein Blid
ftach, eine fühlfchaurige Angft floß ihm durch die
jaare, die Bruft wurde eng, es trieb ihn hinaus,
inaus ... Plöglich verließ er mit fliehenden
Gebärden das Bimmer.
Ruhig blieb Daumer joe und ftierte vor fi)
hin wie einer, der aus dem Raufch erwacht. Worüber,
ie Friſt war verftrichen. Er ſchämte fich ſowohl
feiner Niederlage als auch feines vermeffenen Unter-
fangens, denn er war ja ein gejcheiter Kopf und
hatte Selbjtbefinnung genug, um bie fpielerifche
Willkür defien, was er gewollt, ernüchtert zu
empfinden. .
Trotzdem ergriff ihn eine finftere Gleichgültig⸗
feit. Der Hoffnungen zu gedenken, die ſich noch
vor kurzem an den Namen Gafpar gefnüpft, ver»
urfachte ihm einen fchalen Gejchmad auf der
Zunge. Er faßte den unerjhütterlichen Vorſatz,
fein Lesen wie ehedem dem Beruf, der Einfamfeit
und den Studienzumidmen und die Kräfte des Geiftes
183
nur dort zu opfern, wo im Frieden der Erkenntnis
und des Forſchens jede Gabe fichtbar bezahlt wird.
Eine vermummte Perfon tritt auf
Caſpar war in den Garten gegangen. Er
Tief über den feuchten Boden bis zum Zaun und
ſchaute gegen den Fluß hinüber. Ein bleifarbener
Dunft umtleidete die QTürmchen und ‚ineinander
gejhobenen Dächer der Stadt, nur das bunte
Dach der Lorenzerkicche glänzte hell, doch glich
alles zufammen mehr einem Spiegelbild im Waffer
als einer greifbaren Wirflichteit.
Cafpar fröftelte, und es war doch warm. Er
wandte fi wieder gegen da8 Haus. Al er
das Pförtchen geöffnet hatte, machte ihn der Teer
daliegende Flur betroffen. Ein breiter Streifen
Sonne, der über die Steinftiejen fam und zitternd
die weißen Stufen der Wendeltreppe hinauflief,
verftärkte den Eindruck der Verlafjenheit. Hinter
einer Tür des Flurs, aus der Wohnung des
Kandidaten Regulein, tönten Geigenklänge; ber
Kandidat übte. Den einen Fuß ſchon auf der
Treppe, blieb Cafpar ftehen und Laufchte.
Da! Da war es! Da kam er! Ein Schatten
erft, dann_eine Geftalt, dann eine Stimme. Was
fagte die Stimme, die tiefe Stimme?
Eine tiefe Stimme ſprach hinter ihm die
Worte: „Cafpar, du mußt ſterben.“
Sterben? dachte Caſpar erftaunt, und feine
Arme wurden fteif wie Hölzer.
\ jah einen Mann vor fich ftehen, der ein
ſeidig⸗ſchwarzes, Ianghängendes, vom Zugwind
134
ein wenig geblähtes Tuch vor dem — — hatte.
Er hatte braune Schuhe, braune Strümpfe und
einen braunen Anzug. Ueber feinen Händen trug
er Handſchuhe, und in feiner Rechten funfelte
etwas Metallenes, funfelte fchnell und erloſch.
Er flug Cafpar damit. Während Cafpar den
gelähmten Bli nach oben zwang, fpürte er einen
donnernden Schmerz im Hirn.
Auf einmal hörte der Kandidat Regulein auf,
die Geige zu fpielen. Es erſchallten Schritte,
die wieder verklangen, doch mochte der Bermummte
ſtutzig geworden fein und die Furcht ihm ver-
hindern, zum ‚zweitenmal auszuholen. Als Cafpar
die Augen auftat, über die von der Mitte ber
Stirn herunter eine brennende Näffe floß, war
der Mann verſchwunden.
Ei, hätte er nur nicht Handſchuhe gehabt,
unter taufend Händen wollte ich feine Hand er=
kennen, dachte Cafpar, indem er zur Seite tor-
felte. Un der Schmalfeite des Flurs fand er
feinen Halt; er probierte die Stiege —
Himmen, aber ber Sonnenftreifen erfchien wie
ein bindernder Strom Feuers. Er glitt nieder,
umflammerte die Steinfäule und blieb eine halbe
Minute lautlos figen, bis ihn die Angft padte,
der Vermummte könne wieder zurückkommen. Mit
aller Kraft hielt er das fliehende Bewußtſein noch
feft, richtete fih auf, taumelte vorwärts und
taftete ſich an der Wand entlang, als fuche er
ein Loch, um fich zu, verfrjechen.
Als er bei der Kellertveppe war, gab die nur
angelehnte Tür dem Druc feiner Hand nad, fo
daß er faft hinuntergeftürzt wäre, Raum ſehend
und ohne zu überlegen tappte er fo ſchnell wie
möglich die finfteren Stufen hinunter, denn ſchon
135
glaubte er den Vermummten hinter. fih. Als er
im Keller war, fpriste Waffer von feinen Schritten
auf; es war Regenwaſſer, das bei fchlechtem
Wetter hier unten Pfüsen bildete. Endlich fand
er einen trockenen Winkel; während er fich niederließ
und fih, voller Furcht und Grauen, förmlich zu=
fammentollte, hörte er noch von den Turmuhren
zwölf ſchlagen, danach jah und fühlte er nichts mehr.
Um viertel eins kamen die Daumerfchen
Frauen zurück. Anna, die im Flur vorangin:
gewahrte die große Blutlache vor der Stiege un
ſrie auf. Gleichzeitig kam der Kandidat Regu⸗
ein aus feiner Wohnung und meinte: „Na, was
ift denn das für eine Beſcherung!“ Die alte
Frau, die an nichts Schlimmes dachte, äußerte
fi, wahrſcheinlich habe jemand Nafenbluten ges
habt. Anna jedoch, mehr und mehr voll Ahnung,
wies auf die blutigen Fingerabdrüde hin, die an
der Mauer bis zur Kellertür ſichtbar waren. Sie
frag hinauf, ihr erfter Gedanke war Caſpar,
te fuchte ihn in allen Zimmern und ſagte zum
Bruder: „Du, da unten ift alles voll Blut.“
Daumer erhob fich mit einem beflommenen Aus-
ruf vom Schreibtifch und eilte hinaus.
Inzwiſchen war der Kandidat der Blutſpur
bis in den Keller gefolgt. Mit heiferer Stimme
chrie er von unten nach Licht und fügte gellend
inzu: „Da unten ift er, da liegt ber Haufer!
Hilfe, Hilfe, ſchnell!“ "
Alle drei Daumers ftürzten in den Keller,
Anna kam Teuchend wieder zurück, um die Kerze
zu holen, die andern verfuchten, den verfauerten
Körper Cafpars aufzurichten, und dann trugen
fie ihn felbdritt hinauf. „Zum Arzt, zum Arzt!"
kreiſchte Frau Daumer der entgegenrennenden
186
Anna zu, die das Licht ausblies, zu Boden warf
und davonfprang.
As Cajpar endlich oben auf dem Bett lag,
wuſchen fie das geftocdte Blut von feinem Ge—
fiht, und es fam eine nicht unbedeutende Wunde
inmitten der Stirn zum Lenghen Daumer lief
mit gerungenen Händen im Zimmer auf und ab
und ftöhnte fortwährend: „Das muß mir pafs
fieren! Das muß in meinem Haus paffieren! Ich
hab's ja gleich gefagt, ich hab’3 immer gewußt!"
Der Pla vor dem Haus war ſchon voller
Menſchen, als Anna mit dem Arzt zurückkam.
Im Flur ftanden einige Magiftrat3- und Polizeir
leute. Ein wenig fpäter erſchien auch der Ge—
richtsarzt; beide Doktoren verficherten, daß die
Wunde ungefährlich fei, ob aber das Gemüt des
Jünglings nicht eine bedenkliche Erſchütterung
erlitten habe, ließen fie dahingeftellt.
Ein amtliches Protokoll konnte nicht auf
enommen werden, Caſpar war immer nur kurze
Seit bei Befinnung; er ftammelte dann ein paar
Worte, die allerdings das, was mit ihm gefchehen
war, wie unter Blißesleuchten erkennbar machten,
ſprach von dem Vermummten, von feinen glän-
zenden Stiefeln und gelben Handſchuhen, fiel
aber danach in heftige Wahn- und Fieberdelirien.
Bei der Befichtigung der Lofalität wurde der
Weg entdedt, auf dem der Unbefannte ins Haus
gedrungen war: unter der Stiege befand fich näm-
lich gegen den Baumannfchen Garten ein eines
Türchen, deſſen Vorlegejhloß zeriprengt war.
Die Vernehmung Daumers war fruchtloß, er
ftand kaum Rede. Gegen Abend kam Herr von
Tucher und teilte mit, daß man einen Eilboten
an den Präfidenten Feuerbach abgefertigt habe.
337
Das VBürgermeifteramt hatte fogleih um—
faffende Nachforfchungen veranftaltet. An allen
aupt- und NMebentoren der Stadt wurde die
1 zu erhöhter Aufmerkſamkeit verpflichtet;
die Wirtshäufer und Herbergen, wo Leute ges
meinen Schlags ſich aufzuhalten pflegten, wurden
forsfättig durchſucht, auch wurden die Gen-
jarmerie und die benachbarten Landgemeinden zu
tätiger Vigilanz aufgefordert. An die Amtstafel
des Rathauſes wurde eine öffentliche Belannt-
machung angefchlagen, und zwei Aftuare und die
halbe Polizeimannfchaft wurden mit der DVer-
folgung des Frevlers betraut.
Die Untat gefhah an einem Montag; eine
zu leitende Gerichtsverhandlung hinderte uͤnglück⸗
licherweife den Präfidenten, foort nad Nürnberg
zu kommen, erſt am Donnerstag traf er mit
Extrapoft in der Stadt ein und begab fich un-
verzüglih auf Rathaus. Er ließ ſich vom
Magijtratsvorjtand über die polizeilichen Maß-
regeln und deren Ergebniffe Bericht erſtatten,
zeigte fich aber mit allem fo unzufrieden und ges
riet über eine Reihe von Mißgriffen in folchen
Born, daß die ganze Beamtenjchaft den Kopf
verlor. Ueber die vom Aktuar ihm vorgelegten
Protokolle und Zeugenausfagen machte er jar-
Taftifche Bemerkungen; da war eine Hallwächters⸗
frau, melde am Schießgraben beim Hauptipital
einen wohlgefleideten Herrn geieben hatte, der
fih in einer Feuerkufe die Hände wuſch; da war
ein Debftnerweib, die in Sankt Johannis einem
Fremden begegnet war, welcher fich bei ihr er-
Tundigt hatte, wer am Tiergärtner Tor Erami-
nator fei und ob man, ohne angehalten zu
werden, in die Stadt gelangen könne; da waren
138
verbächtige Handwerksburſchen und unterftandaloje
Strolche verhaftet worden; da hatte man zwei
Kerle beobachtet, den einen im hellen Schalt,
den andern im dunfeln Frad, die auf der Fleifch-
brüde zufammengetommen waren und einander
‚Zeichen gegeben hatten.
„Bu fpät, zu fpät," knirſchte der Präfident.
„Warum hat man nicht die Namenslifte der zus
und abgereiften Fremden in den Gafthöfen Ton
teolliert ?" fuhr er den zitternden Altuar an.
„Die Spuren laufen nach vielen Richtungen,"
bemerkte fchüchtern der —B—
„Gewiß, die Unfähigkeit hat viele Wege,"
antwortete der Präfident beißend, und mit Bes
deutung ‚fügte er hinzu: „Hören Sie, Mann
Gottes! Der Webeltäter, auf den wir da fahn-
den, wäſcht feine Hände nicht auf offener Straße,
er läßt fich mit feinem Debftnerweib in Gefpräche
ein und braucht feinen Eraminator zu fürchten.
Zu niedrig habt ihr gegriffen, viel zu niedrig."
Er nahm einen Schreiber mit, um den Lokal⸗
augenfchein im Daumerfchen Haus nochmals ſelbſt
vorzunehmen. Der Magiftratsrat Behold be»
gleitete ihn und ward ihm durch mannigfaches
Reden läftig; unter anderm äußerte Behold, er
babe gehört, Profefjor Daumer wolle Cajpar
richt länger behalten, und machte ſich erbötig,
dem Jüngling in feinem Haus Obdach zu ge
währen. Feuerbach hielt dies für leeres Ge-
ſchwätz und entlebigte fich des Mannes, indem er
ihn mit einem Auftcag zu Heren von Tucher ſchickte.
Aber als er dann mit Daumer fprach, erregte
deſſen Zerfahrenheit fein Befremden. Um ihn
nicht nod) mehr zu verwirren, legte Feuerbach
das DVerhör mit ihm fo an, daß e3 mehr einer
139
freundfchaftlichen Unterhaltung glich. Daumer
erinnerte ſich der geheimnisvollen Begegnung, die
Caſpar vor der Egydienkicche gehabt hatte, und
rücte damit heraus.
„Und davon erfährt man jebt exit?“ braufte
der Präfident auf. „Und hatte die Sache feine
unmittelbaren Folgen? Haben Sie nachher nichts
Verdãchtiges beobachtet?"
„Nein,“ ftotterte. Daumer, in Furcht geſetzt
dur) den ftählern durchdringenden Blick des
Präfidenten. „Das heißt, eines fällt mir noch
ein: ich traf am felben Abend bei Frau Behold
einen Herrn, der ſich mir gegenüber in ganz
feltfamen Andeutungen oder Warnungen gefiel,
wie man e3 auffafjen foll, weiß ich nicht.”
„Was war der Mann? Wie hieß er?"
„Man fagte, es fei ein zugereifter Diplomat,
des Namens entfinne ich mich nicht. Oder doc),
jawohl: Herr von Schlotheim-Lavancourt; er fol ſich
aber unter falſchem Namen bier aufgehalten haben.” -
„Wie jah er aus?"
„Did, groß, ein wenig podennarbig, ein
hoher Fünfziger.”
„Schildern Sie mir das Geſpräch mit ihm."
Daumer u fo gut er es vermochte, den
Inhalt der Unterredung. Feuerbach verjant in
langes Nachdenken, dann jchrieb er einige Notizen
in Fin Taſchenbuch. „Lafjen Sie uns zu Caſpar
gehen," jagte er, ſich erhebend.
Cafpars Stirn mar noch verbunden; das
Gefiht war beinahe jo weiß wie das Tuch; auch
das Lächeln, womit er den Präfidenten empfing,
war geihem weiß. Er hatte bereit8 drei oder
vier Verhöre überftanden; ſchon beim erften hatte
er alles Erzählenswerte erzählt; das hielt den
140
guten Amtsſchimmel nicht ab, ımmer wieder von
neuem anzutraben, man fragte die Kreuz und
Quer, um das Opfer auf einem Widerſpruch zu
erwiſchen mit Widerſprüchen kann man arbeiten,
wenn einer jedesmal dasſelbe ſagt, wird die Ge
ſchichte ausſichtslos. Der Präfident unterließ das
Fragen; er fand einen veränderten Denon in
Cafpar; es war etwas Bellommenes an ihm, fein
Blick war weniger frei, nicht mebt fo tiefftrahlend
und feltfam ahnung3los, näher an die Dinge gefettet.
Während die Frauen fi) über Caſpars Be-
finden befriedigt äußerten, fam auch der Arzt
und beftätigte gern, daß von irgendwelcher Ge-
fahr feine Rede mehr fein Tönne In einem
Ton, der mehr Befehl als Wunſch enthielt, fagte
der Präfident, er hoffe, daß in diefen Tagen
fremde Befucher ohne Ausnahme abgewieſen würden.
Daumer erwiderte, das verftehe fi von felbft,
erſt diefen Morgen habe er einem betreßten Lakaien
abfchlägigen Beſcheid geben laſſen.
„&3 war der Diener eines vornehmen Eng-
länders, der_im Gafthof zum Adler wohnte “
fügte Frau Daumer hinzu; „er war übrigens
nach einer Stunde noch einmal da, um ſich aus-
— zu erkundigen, wie es Caſpar ginge.“
Es klopfte an die Tür, Herr von Tucher trat
ein, begrüßte ben Präfidenten und machte nad)
kurzer Weile eine überrafchende Mitteilung: der⸗
ſelbe Engländer, ein anfcheinend fehr veicher Graf
oder Lord, habe dem Bürgermeiſter einen Beſuch
abgefattet und ihm Hundert Dufaten überreicht
als Belohnung für denjenigen, dem es gelingen
würde, den Urheber des an Caſpar verübten
Ueberfalls zu entdecken.
Ein erftauntes Schweigen. entftand, welches
141
der Präfident mit der Frage unterbrach, ob man
wiſſe, weshalb fich der Fremde in der Stadt
aufhalte. Herr von QTucher verneint. „Man
weiß nur, daß er vorgeftern abends angelommen
iſt,“ antwortete er; „ein Rad feines Wagens ſoll
in der Nähe von Burgfarenbach gebrochen fein,
und er wartet bier, bi8 der Schaden ausgebejjert
iſt.“ Der Präfident zog die Brauen zufammen,
Argwohn umbüfterte feinen Blick; fo wird der
Jagdhund ftugig, wenn fich abſeits von verwirren-
den Fährten eine neue Spur zeigt. „Wie nennt
fih der Mann?" Feet ex ſcheinbar gleichgültig.
„Der Name ift mir entfallen,“ entgegnete
Baron Tucher, „doch foll e8 in der Tat ein
hoher Herr jein, Bürgermeifter Binder preift
feine Leutſeligkeit in allen Tönen.“
„Hohe Herren gelten ſchon für leutfelig, wenn
fie einem auf den Fuß treten und ſich nachher
freundlich entjchuldigen," Tieß fi, Anna, die an
Caſpars Bett jaß, nafeweis vernehmen. Daumer
warf ihr einen ftrafenden Blick zu, doch der Präſi⸗
dent brach in eine ſchmetternde Lache aus, die auf
alle anſteckend wirkte; noch minutenlang Ticherte er
vor fich hin und zwinferte vergnügt mit den Augen.
Bloß Cafpar nahm an dem heiteren Zwiſchen⸗
fpiel keinen Zeil, fein Blick war nachdenklich ins
Freie gerichtet, er wünfchte jenen Mann zu jehen,
der aus weiter Ferne kam und fo viel Geld her»
gs damit der gefunden werde, der ihn gefchlagen.
us weiter Ferne! Das war es; nur aus weiter
Ferne konnte kommen, wonach Caſpar Verlangen
trug, vom Meere her, von unbefannten Ländern
ber. Auch der Präfident fam aus der. Ferne,
aber doch nicht von fo weit, daß feine Stirn
gefärbt war von fremdem Schein, daß ein füßer
142
Wind an feinen Kleidern hing oder daß feine
Augen wie die Sterne waren, ohne Vorwurf,
ohne das ewige Fragen. Der aus der Ferne
kam, im filbernen Kleid vielleicht und mit vielen
Roſſen, der brauchte nicht zu fragen, er wußte
alles von jelbft, die andern aber, alle die Nahen,
die immer da waren, immer hereingingen und
immer wieder fort, fie ſahen niemal® aus, als
ob fie von fehäumenden Roffen geftiegen wären,
ihr Atem war dumpf wie Kellerluft, ihre Hand
müde wie feines Neiterd Hand; ihr Antlig war
vermummt, nicht ſchwarz vermummt wie das Ge-
ſicht defjen, der ihn gejchlagen und der ihm fo
nah gemefen wie feiner jonft, fondern undeutlich
vermummt; darum redeten fie mit unreiner Stimme
und in verftellten Tönen, und darum war es auch,
daß Gafpar fich jetzt verftellen mußte und nicht
mehr imftande war, ihnen feſt ins Auge zu ſehen
und alles zu jagen, was er hätte jagen können.
Er fand e3 heimlicher und trauriger zu ſchweigen
als zu reden, befonders wenn fie darauf warteten,
daß er reden folle; ja, er liebte es, ein wenig
traurig zu fein, viele Träume und Gedanken zu -
verbergen und fie zu dem Glauben zu bringen,
daß fie ihm doch nicht nahfommen Tönnten.
Daumer war zu jehr mit fich jelbft befchäftigt
und zu bebrücdt von ber bevorjtehenden Aus-
führung eines unabänderlichen Entſchluſſes, um
darauf zu achten, ob Caſpar ihm noch in der-
jelben Tindlich offenen Weife entgegenfomme wie
jonft. Erſt Herr von Tucher war es, der auf
jewifje Sonderbarkeiten in Caſpars Betragen
Einwies, und er ließ auc) gegen den Präfidenten
einige Andeutungen darüber fallen, als fie zu-
jammen aus dem Daumerfchen Haus gingen.
145.
Der Präfident zucte die Achſeln und ſchwieg.
bat den Baron, ihn nach dem Gafthof zum
Adler zu begleiten; dort erfundigten fie ſich, ob
der englifche Herr zu Saufe fei, erfuhren jedoch,
daß Seine Herrlichteit Lord Stanhope, fo drüdte
fi der Kellner aus, vor einer fnappen Stunde
abgereift war. Der Präfident war unangenehm
überrafcht und fragte, ob man wiſſe, welche Richtung
der Wagen genommen habe; da3 wiſſe man nicht
genau, ward geantwortet, doch da er das Jakobs⸗
tor _paffiert, jei zu vermuten, daß er die Richtung
nad} Süden, etwa nad München, eingefchlagen habe.
„Zu fpät, überall zu jpät,“ murmelte der
Präſident. „Ich hätte gern gewußt," wandte er
fih an Herrn von Tucher, „was Seine —
keit bewogen hat, ſo viel Dukaten aufs Rathaus
zu tragen.“ Das Geſicht Feuerbachs war dermaßen
zerarbeitet von Gedanken und Sorgen, von der An-
frengung einer beftändigen Wachjamkeit wie von
der Glut eines zehrenden Temperaments, daß es
dem eines Kranken oder eines Vejefjenen glich.
Und fo war e3 feit Monaten. Die ihm unter-
fetten Beamten fürchteten feine Gegenwart;
ie geringfte Pflichtverlegung, ja, der geringfte
Widerfpruch brachte ihn zur Raferei, und waren
die Ausbrüche feines Zornes jchon von jeher
furchtbar geweſen, fo zitterten fie jet um fo
mehr davor, al3 der unbedeutendjte Anlaß einen
folhen Sturm heraufbeſchwören konnte. Dann
gellte feine Stimme durch die Hallen und Korri-
dore des Appellgerichts, die Bauern auf dem
Markt unten blieben ftehen und fagten bedauernd:
„Die Erzellenz hat das Grimmen,“ und vom
Regierungsrat bis zum legten Schreibersmann
jaß alles blaß und artig auf den Stühlen.
14
Vielleicht hätten fie williger dies Joch ge
tragen, wenn fie gewußt hätten, welche Bein da-
durch dem Urheber ſelbſt bereitet ward, wie jehr
ex, befiegt durch jein eignes Wüten, Scham und
Neue litt, jo daß. er bisweilen, wie um durch
irgendeine Handlung fich loszufaufen, dem erft-
beften Bettler auf der Gafje eine Silbermünze
hinwarf. Sie ahnten freilich nicht, daß die trüben
Nebel diefer Laune ein bewegtes Widerfpiel von
Pflicht und Ehre bargen und daß hier ein Genius
am Werk war, um inmitten fcheinbarer Unraft und
Friedlofigkeit ein Wunderwerk der Kombination
zu ſchaffen und mit wahrem Seherblid eine Hölle
von Verworfenheit und Mifjetat zu durchdringen.
Mit Zaubrerhand war e8 ihm gelungen, aus
den dunkeln Fäden, die das Schickſal Caſpar
Haufer8 an eine unbefannte Vergangenheit ban-
den, ein Gewebe zu knüpfen, auf welchem jäh-
ling wie in Brandlettern flammte, was duch
die Fügung der Umftände und die Zeit ſelbſt mit
Finfternis bedeckt war.
Voll Schreden ftand er vor feiner Schöpfung,
denn der Boden jeiner Exiſtenz wankte unter
ihm. Es gab für ihn feinen Bmeifel mehr.
Aber durfte er es wagen, mit der fürchterlichen
Wahrheit auf den Plan zu treten und die Rück
ſicht hintanzufegen, die ihm duch fein Amt und
das Dertrauen feines Königs auferlegt war?
Schien e8 nicht befjer, das Gefchäft des Spions
in Heimlichfeit weiter zu betreiben, um den ränle-
vollen Gemalten, tückiſch mie fie jelbft, erſt bei ge-
legener Stunde in den Rüden zu fallen? &
war nicht3 zu gewinnen, nicht einmal Dank, aber
alles war zu verlieren.
D Dual, dachte er oft in fehlaflofen Näch-
Baffermann, Caſpar Haufer 10 145
ten, fonderbare Qual, dem rechtlofen Treiben
als beftellter Wächter und mit untätiger Hand
äufehen zu müſſen, groß und Heine Sünde am
ungenügenden Geſetz zu mefjen, die Feder auf
den Buchftaben [u fpießen, indes das Leben feine
Bahn läuft und Form auf Form gebiert, zer-
ftört, niemal® Herr der Taten zu en immer
Spürhund der Täter und nie zu wiſſen, was zu
verhüten fei, was zu befördern!
Er wäre nicht der gewefen, der er war, wenn
er nicht einen Weg zwiſchen Deffentlichfeit und
feigem Verſchweigen gefunden hätte, ber feiner
Selbftahtung Genüge tat. Er richtete ein aus-
führfiches Memorial an den König, worin er
mit bedächtiger Gliederung aller Merkmale den
Fall darlegte, frei und kühn vom Anfang bis
zum Ende; ein Hammerſchlag jeder Satz.
Das Schriftftüd begann mit der Auseinander-
fesung, jr Caſpar Haufer fein uneheliches, fon-
ern ein eheliches Kind fein müſſe.
Wäre er eim umeheliches Kind, hieß e3, fo
wären leichtere, weniger graufame und weniger
gefäßelihe Mittel angewendet worden, um feine
bitammung zu verheimlichen, als die ungeheure
Tat der viele Jahre lang fortgefeßten Gefangen»
haltung und endlichen Ausſetzung. Je vornehmer
eine3 der Eltern war, deſto mühelofer konnte das
Kind entfernt werden, und noch weniger Urfache
zu fo bedeutenden und verräterifchen Anftalten
hätten Leute geringen Standes und geringen Ver-
mögen gehabt; das Brot und Wafjer, melces
Caſpar im verborgenen verzehren mußte, hätte
man ihm auch vor aller Welt reichen dürfen.
Denkt man ſich Caſpar als uneheliches Kind hoher
oder niedriger, reicher oder armer Eltern, in
146
keinem Fall fteht das Mittel im Verhältnis zum
Zwed. Und wer übernimmt grundlos die Laft
eines jo ſchweren Verbrechens, zumal wenn er dabei
die angftvolle Plage hat, e8 für unabſehbare Zeit
Tag für Tag wieder und wieber verüben zu müſſen?
Aus alledem geht hervor, fo fuhr der unerbitt-
liche Ankläger fort, daß ſehr mächtige und fee
reiche Perſonen an dem Verbrechen beteiligt find,
welche über gemeine Hinderniffe unſchwer hinweg⸗
ſchreiten, welche durch Furcht, außerordentliche
Vorteile und glänzende Hoffnungen willige Werk -
zeuge in Bewegung fegen, Zungen feſſeln und
goldene Schlöfler vor mehr als einen Mund
legen Eönnen. Ließe e3 ſich fonft erklären, daß
die Ausfegung Cafpars in einer Stadt wie Nürn-
berg am hellen Tage erfolgen und der Täter
fpurlos verfhwinden Tonnte; daß durch alle ſeit
vielen Monaten mit unermüdlichem Eifer be
teiebenen Nachforjchungen fein rechtlich geltend zu
machender Umftand entdeckt werben Tonnte, der
auf einen beftimmten Ort ober einen beftimmten
Menſchen führte, daß sent hohe Belohnungen
Teine einzige befriedigende Anzeige veranlaßten?
Deshalb muß Cajpar eine Perfon fein, mit
deren Leben oder Tod weittragende Intereſſen
verfettet find, folgerte Feuerbach. Nicht Rache
und nicht Haß konnten Motive zur Einkerferung
geweien fein, ſondern er wurde bejeitigt, um
andern Vorteile zuzumenden und zu fichern, die
ihm allein gebührten. Er mußte verfchwinden,
damit andre ihn beerben, damit andre fich in der
Erbſchaft behaupten fonnten. Er muß von hoher
Geburt fein, dafür jprechen merkwürdige Träume,
die er gehabt und die fonft nichts find als
wiebererwachte Erinnerungen aus früher Jugend,
147
dafür jprechen der ganze Verlauf feiner Gefangen»
{haft und die daraus fich ergebenden Schlüffe;
er wurde freilich im Kerker gehalten und ſpärlich
ernährt, aber man hat Beiſpiele von Menfchen,
die nicht in böswilliger, fondern in wohltätiger
Abficht eingekerkert wurden, nicht um fie zu ver-
derben, fondern um fie gegen diejenigen zu fchügen, -
die ihnen nach dem Leben getrachtet. Vielleicht
auch, daß durch fein bloßes Dafein ein Drud
ausgeübt werden jollte auf jemand, der mit
zauderndem Gemiffen an der Unternehmung teil-
gehabt und doch nicht wagen durfte, Einfprud;
zu erheben. Es wurde Sorgfalt und Milde an
Cafpar geübt; warum? Warum hat ihn der
Geheimnisvolle nicht getötet? Warum nicht einen
Tropfen Opium mehr in das Waffer getan, das ihn
bisweilen betäuben follte? Das Verließ für den
Lebendigen wurde ein doppelt ficheres für den Toten.
Wenn nun in irgendeiner hohen, oder nur
vornehmen, ober nur angefehenen Familie in Ca-
ſpars Perfon ein Kind verfchwunden wäre, ohne
daß man über deſſen Tod oder Leben und wie
es hinweggefommen, etwas in Erfahrung brachte,
jo müßte doc längft öffentlich befannt fein, in
welcher Familie dies Unglück vorgefallen. Da
aber feit Jahren und unerachtet Caſpars Schid-
ſal ein weitbeſprochenes Ereignis geworden, nicht
das mindefte davon verlautet hat, jo ift Cafpar
unter den Geftorbenen zu fuchen, a8 will
beißen: ein Kind wurde für tot ausgegeben und
wird noch jegt dafür gehalten, welches in Wirk—
lichteit am Leben ft, und zwar in der Perfon
Caſpars; das will heißen, ein Kind, in deſſen
Perſon der nächfte Erbe oder der ganze Mannes»
ftamm feiner Familie erlöfchen follte, wurde bei—
148
feitegefehafft, um nie wieder zu ericheinen; es
wurde diejem Kind, das vielleicht gerade Frank
gelegen, ein andres, totes oder fterbendes Kind
unterfchoben, dieſes als tot ausgeftellt und bes
geben und fo Caſpar in die Totenlifte gebracht.
jar der Arzt im Spiel, hatte er Befehl, das
‚Kind zu morden, fand er jedoch in feinem Herzen
oder im feiner Klugheit Gründe, den Auftrag
Scheinbar zu vollziehen und das Kind zu retten, jo
konnte der fromme Betrug leichterdings vollzogen
werden. Hier handelte jeder auf höhere Weiſung,
aber wo war dergebietende Mund? Wo der mächtige
Geift, der ein folches Gewicht von Verantwortung
für ewige Zeiten zu agen unternahm? Wo das
Haus, in welchem das Unerhörte geichah?
An diefer Stelle des Berichts ftocte die Hand
des Präfidenten, — tagelang, wochenlang. Nicht
aus Schwäche noch aus Wankelmut, fondern mit
dem fchmerglichen Zagen eines Feldherrn, der des
Unheils und Berderbens ficher ift, wie immer die
Schlacht auch enden möge. Die Krone von einem
Fürftenhaupt zu reißen und mit Fingern auf das
befleckte Diadem deuten, hieß das nicht, die Maje-
ftät auch des eignen Königs beleidigen, geheiligte
Meberlieferungen mit Füßen treten, die unmündigen
Völker zum Widerpart ftacheln? Doch wie nie zu=
vor empfand er die engenbe Bemalt des Wortes und
wie Wahrheit aus Wahrheit fließt und drängt.
Er nannte das Haus mit Namen. Er wies
nach, daß das alte Geſchlecht jählings, in aufs
fallender Weife und gegen jede menichliche Ver—
mutung im Mannesftamm erlofchen fei, um einem
aus morganatifcher Ehe entjprofjenen Nebenzweig
Platz zu machen. Nicht etwa in einer finderlofen,
jondern in einer mit Kindern wohlgeſegneten Ehe
149
hatte fich dies Ausfterben ereignet, und nur die
Söhne farben, die Töchter aber Iebten meiter.
So wurde die Mutter zur mwahrhaften Niobe,
doch traf Apollos tötendes Gefchoß ohne Unter-
ſchied Söhne und Töchter, bier aber ging der
Würgengel an den Töchtern vorüber und erſchlug
die Söhne. Und nicht bloß auffallend, fondern ,
einem Wunder ähnlich, daß der Würgengel ſchon
an der Wiege der Knaben ftand und fie heraus-
git mitten aus der Reihe blühender Schweftern.
ie wäre e8 erflärbar, fragte Feuerbach, daß
eine Mutter demfelben Vater drei gefunde Töchter
jebiert und als Söhne lauter Sterblinge? Darin
üt fein Zufall, behauptete er furchtlos, jondern
Syftem, oder man muß glauben, die Vorſehung
got habe einmal in den gewöhnlichen Lauf der
atur eingegriffen und Außerordentliches getan,
um einen politijchen Streich auszuführen. Nicht
lange nach dem Erfcheinen Caſpars hat fich in
Nürnberg das Gerücht verbreitet, Caſpar jei
ein für tot ausgegebener Prinz jenes Gejchlechts,
und immer wieder redeten die dunkeln Stimmen,
fogar von einer angeblichen le! einung
wurde, wie öffentliche Blätter erzählten, die Be-
hauptung gewagt, daß die gegenwärtigen Re—
genten den Thron durch Ufurpation befäßen und
daß noch ein echter Prinz am Leben fei. Gerüchte
find freilich nur Gerüchte; aber fie fließen oft
aus guten Quellen; fie haben, wo es geheime
Verbrechen gibt, häufig ihre Entftehung darin,
daß ein Mitichuldiger geplaudert, oder mit feinem
Vertrauen zu freigebig geweſen, oder eine Un-
vorfichtigfeit begangen, oder jein Gewiſſen er-
leichteren wollte, oder feine getäufchten Hoffnungen
zu rächen fich vorgefeßt, oder im ftillen die Ent-
150
deckung der Wahrheit herbeizuführen gefucht, ohne
die Rolle des Verräters fpielen zu müffen.
Der Präfident nannte nicht bloß die Dynaftie
mit Namen und das Land, das ihr erbeigen war,
er nannte auch den Fürften, deſſen plößlicher Tod
vor mehr al3 einem Jahrzehnt Argwohn erregt
hatte, er nannte die Fürftin, die, von hoch—
erlauchter Abkunft, in ſelbſterwählter Einſamkeit
ein unfaßbares Geſchick betrauerte; er nannte
diejenigen, die ſo über Leichen hinweg zum Thron
eſchriften, und neben dem Bild eines ſchwachen,
och ehrgeizigen Mannes tauchte die Geftalt eines
Weibes auf, voll von dämonifchem Weſen, der
vegierende Wille über dem graufen Gejchehen.
Es war etwas von der Bitterfeit eignen Erlebens
in den unummundenen Hinweiſen de3 Präfidenten.
Denn er kannte die höfijche Welt, in der Tüde und
Hinterlift in eine Wolle von Aeohigeriihen gebettet
find und wo die Niedertracht ihre Opfer mit heuch⸗
lerifchen Gnaden betäubt; er hatte ihre Luft ge-
atmet, er hatte von ihren Tifchen geipeift, von
ihrem Gift genoffen, den beften Teil jeines Lebens
und feiner Kräfte in ihrem Dienft vergeudet und
war für die reinfte Hingebung mit Schmach und
Verfolgung belohnt worden; er kannte ihre Rrea-
turen und Helferähelfer, ev kannte fie, denen die
Geſchichte nicht3 bedeutet al3 eine Stammbaum»
chronik, Religion eine Priefterlitanei, Philofophie
einen fluchmwärdigen Jakobinismus, Politit einen
Blindekuhreigen mit Noten und Protofollen, der
Staatshaushalt ein Nechenerempel ohne Probe,
Menichenrechte ein Pfänderfpiel, der Monarch ein
Schild ihrer eignen Größe, das Vaterland ein Pacht⸗
gut und Freiheit das fträfliche Vermeſſen aber-
witziger Toren. Die unerfeglichen Jahre jhrien Hinter
151
feinen Worten hervor, erlittene Zurückſetzung und
ein verfinfterter Geiſt. Er wollte feiner jelbft
nicht gedenken, doch die Worte entjchleierten
feinen Gram, wenn auch nicht für das Auge des
Königs, der nur zu leſen brauchte, was ge-
ſchrieben ftand.
‘Die Schrift ward unter Anwendung pein-
licher Vorficht abgeſandt, damit fie in feine andern
ände als in die de3 Regenten gerate, und ber
rräſident wartete von Woche zu Woche vergeb-
lich auf Erwiderung, auf einen Befcheid, auf
irgendein Zeichen. Da kam die Kunde von dem
ordanfall auf Caſpar. Feuerbach reifte nach
Nürnberg; feine eignen Maßnahmen hatten fo
wenig Erfolg wie die der Polizei. Am zehnten
Tag jeines Aufenthalts erhielt er ein Schreiben
aus der königlichen Privatlanzlei, worin mit ge
bührendem Dank von feinen Mitteilungen Notiz
genommen und mit Anerkennung des nicht genug
zu beftaunenden Scharffinns in der Entwirrung
verwicelter Verhältniffe gedacht war, das aber
in allen wefentlichen Punkten eine ſpröde Burüd-
haltung zeigte; man werde prüfen; man merde
überlegen; man müfje abwarten; gemichtige Rück⸗
ſichten feien zu beachten; leicht erflärliche Be—
Siehungen legten unbequeme Pflichten auf; die
atur des Unglaublichen felbjt veranlafje eher
zur Verwunderung, zur Betürzung als zu un-
befonnenem Eingreifen; doc, verfpreche man, ja
man verfpreche; vor allem werde Schweigen emp⸗
fohlen, unbedingtes Schweigen; bei Verluft aller
Gnade dürfe feine derartige Kunde als authentifch
durch den Mund eines hohen Staatsbeamten nad)
außen dringen: man erwarte über den Punkt
Verftändigung und Unterwerfung.
152
Die Wirkung dieſes geheimen Erlafjes, mit
welchem man ihm zugleich Ypmeicheite und drohte,
der einer freundlich dargereichten Hand glich,
worin der gefchliffene Dolch bligte, war um fo
heftiger, al3 der Inhalt längft geahnt und ge-
fürchtet war. Feuerbach fhäumte. Er zertrat
das Gendfchreiben mit den Füßen; er rannte mit
teuchender Bruft, die Fäufte gegen die Schläfen
gedrüdt, eine ganze Weile im Zimmer auf und
ab, dann ftürzte er aufs Bett, daS Saufen feiner
Pulſe beängftigte ihn und er erlöfte fich ſchließlich in
einem lauten, langen Gelächter voll Wut und Zorn.
Dann blieb er Hunbenlang liegen und fonnte
nichts andres denken als das einzige Wort:
Schweigen, Schweigen, Schweigen.
An demfelben Nachmittag war der Bürger
meifter Binder mehrmald im Gafthof geweſen und
hatte den Präfidenten zu fprechen gewünſcht. Der
Kellner war ftet3 mit dem Befcheid zurücgelom-
men, fein Pochen fei vergeblich, der Herr Staats⸗
rat jcheine zu fehlafen oder wünſche nicht geftört
zu werben. Gegen Abend kam Binder wieder
und wurde endlich vorgelaffen. Er fand den
Präſidenten in ein Aftenheft vertieft, und feine
Sntiehufbigung wurde mit der verlegend kurzen
Bitte ermidert, er möge zur Sache kommen.
Der Bürgermeifter trat betroffen einen Schritt
zurüd und fagte ftolz, er wifje nicht, wodurch er
ich das Mißfallen Seiner Exzellenz zugezogen
aben könne, doch wie dem auch jei, er müffe
eine derartige Behandlung zurüctweifen. Da er-
hob fich Feuerbach und entgegnete: „Ums Himmels
willen, Mann, laffen Sie das! Wer auf einem
Scheiterhaufen fchmort, hat einigen Grund, wenn
er die Negeln der Höflichkeit vergißt!"
158
Binder ſenlte ben Kopf und fchwieg verwundert.
Dann erklärte ev den Zweck feines Beſuchs. Daß
Daumer die Abficht habe, Caſpar aus feinem Haus
zu entfernen, jei dem Präfidenten wahrfcheinlich
befannt. Da nun der Jüngling fomweit hergeftellt
fei, habe fi) Daumer entichloffen, damit nicht
Bingumarten, fondern ihn baldmöglichft zu den
jeholdiichen zu bringen, die Cafpar mit Freuden
aufnehmen wollten. Alles dies ſei genügend bes
fprochen und man wünſche nur, den Präfidenten
zu unterrichten, und bitte um feine Gutheißung.
„Sa, ich weiß, daß Daumer die Gedichte
jatt hat,“ antwortete Feuerbach verdrießlih. „Ich
made ihm feinen Vorwurf daraus. Niemand
bat Luft, fein Haus au einer umlauerten Mord-
ftätte werden zu lafjen, obwohl dagegen Maßs
regeln ergriffen werden können, werden müſſen.
Bon heute ab foll Cafpar unter genauer polizei»
licher Ueberwachung ftehen; die Stadt haftet mir
für ihn. Doch warum hat Daumer folche Eile? Und
marum gibt man Cafpar in die Familie Behold,
warum nicht zu Herrn von Tucher oder zu Ihnen?"
„Herr von Tucher ift während der nächiten
Monate berufshalber gezwungen, feinen Äuf—
enthalt in Augsburg zu nehmen, und ich —“
der Vürgermeifter zögerte, und fein Geficht wurde
vorübergehend bleich, — „mas mich betrifft, mein
Haus ift fein Ort des Friedens."
Raſch ſchaute der Präfident empor; ſodann
ging er hin und reichte Binder ftumm die Rechte.
„Und mas ift e3 mit diefen Beholds? Was find
es für Leute?“ fragte er ablenfend.
„D, es find gute Leute,“ verjeßte der Bürger-
meifter etwas unficher. „Der Mann jedenfalls;
ift ein geachteter Kaufherr.. Die Frau... dar
154
über find die Meinungen geteilt. Sie gibt viel
auf Pug und dergleichen, verſchwendet viel Geld.
Böfes kann man ihr nicht nachſagen. Da es
für Cafpar, wie wir ja verabredet, von Vorteil
it, wenn er jetzt die öffentliche Säule befucht,
genügt fchließlich die bloße Veauffichtigung in
einem Kreis anftändiger Menſchen.“
„Daben die Leute Kinder?"
„Ein dreizehnjähriges Mädchen.” Der Bürger
meifter, dem es wie aller Welt mohlbefannt war,
daß Frau Behold diefe Tochter ſchlecht behanbelte,
wollte noch etwas hinzufügen, um fein Gemiffen
zu beruhigen, doch da wurden Daumer und der
Magiftratsrat Behold gemeldet. Der Präfident
tieß bitten. Alsbald zeigte ſich das freundlich
infende Geficht bes Rats; der feierliche ſchwarze
Ainnbart ftand in einem Fomifchen Gegenfatz zu
dem ſchon ergräuten Ropfhanr, das in feuchten
Strähnen pomabeduftend über die Stirn hing.
Unter beftändigen Verbeugungen trat er auf
Feuerbach zu, der ihn nur eines flüchtigen Grußes
würdigte und fich Togteich an Daumer wandte,
Diefer wagte kaum dem forfchenden Auge des
PVräfidenten zu begegnen, und hr Frage, ob man
Caſpar die innere und äußere Anftrengung eines
fo durchgreifenden Wechſels fehon zumuten dürfe,
beantwortete er durch verlegenes Schweigen. Als
Ir Here Behold ins Geſpräch mifchte und ver-
fiherte, Caſpar folle in feinem Haus wie ein
leiblicher Sohn betrachtet werden, unterbrach ihn
der Bürgermeifter mit den faft wiberrmill hervor-
gepreßten Worten, darauf halte er nichts, wie
man an Cafpar felbft ehe, gebe e8 ja Eltern,
die ihre leiblichen Kinder verfümmern ließen. Der
Nat machte ein verlegenes Geficht, rieb feine
155
ausgemergelten Finger an der Stuhlfante und
ftotterte, er könne nicht3 weiter jagen, was an
ihm läge, wolle er tun.
Der Präfident, ftußig geworden durd die
BesishungSvollen Reden, jah die beiden Männer
abmechjelnd an. Darauf trat er dicht vor Daumer
bin, legte die Hand auf defien Schulter und
fragte ernft: „Muß e3 denn fein?"
Daumer feufzte und entgegnete bewegt: „Exr-
zellenz, wie hart mein Entihluß mich ankommt,
das weiß nur Gott.”
„Gott mag es wifjen,“ verfeßte der Präfident
geollend, und feine unterjeßte feilte Geftalt ſchien
plößlich drohend zu machen, „aber wird er es
darum ſchon billigen? Wenn man Stein und
Stahl zujammenfdlägt, gibt es Funken; wehe
aber, wenn bloß Schmuß und Krümel vom Stein
fliegen. Da ift feine Dauer und feine Tüchtig-
keit der Natur."
Er kanzelt mich ſchon wieder ab, dachte
Daumer, und die Röte des Unmillens ftieg i
ins Geſicht. „Ich habe getan, was in meinen
Kräften ftand," ſagte er haftig und mit Troß.
„Ich verſchließe Caſpar nicht mein Haus. Und
mein Herz fchon ganz und gar nicht. Aber
erſtens kann ich feine Gewähr für feine Sicher-
heit mehr leiften, und ich glaube, niemand Tann
es. Wie ift es möglih, Säemann zu fein auf
einem Acer, unter dem ein verberbliches Feuer
glofet und jeden Samen verbrennt? Und dann,
was mehr ift, ich bin enttäufcht, ich geftehe es,
ich bin enttäufcht. Nie will ich vergefjen, mas
mir Caſpar geweſen ift, wer könnte ihn auch
vergefjen! Aber das Wunder ift vorüber, die
Zeit hat es aufgefreſſen.“
156
„Vorüber, ja vorüber," murmelte Feuerbach
düfter, „da8 Wort mußte fallen. Die Augen werden
ſtumpf vom Schauen ins Licht. Die Söhne
werben verftoßen, wenn fie unfrer Liebe ein
Uebermaß abnötigen. Aber der Bettler Friegt
feine Bettelſuppe. Meine gejchäßten Herren,”
fuhr er laut und förmlich fort, „tun Sie, wie
Ihnen beliebt; in jedem Fall, deſſen jeien Sie
eingebent, bleiben Sie mir für das Wohl Caſpars
verantwortlich."
Als Daumer auf der Straße war, ärgerte
er ſich noch immer über den Ton und die Worte
des Präfidenten. Doch zugleich Tonnte er fi
feine Selsftungufeiebenbeit nicht verhehlen. In
einer der verödeten Straßen nahe der Burg bes
gegnete er dem Nittmeifter Weſſenig. Daumer
war froh, eine Ansprache zu haben, und begleitete
den Mann bis zur Reiterkaſerne. Bon Anfan,
an lenkte der Rittmeiſter die Unterhaltung auf
Cafpar, und Daumer bemerkte nicht oder wollte
nicht bemerken, daß die Geſprächigleit des Ritt-
meifters einen hohnvollen Beigeſchmack Hatte.
„Eine geheimnisvolle Sa das mit dem
Vermummten," meinte Herr von Bellen ig, plöß-
lich deutlicher werdend. „Sollte e8 Leute geben,
die daran ernftlich glauben? Am hellichten Tag
dringt ein Kerl, ein Kerl mit Handſchuhen, bitte,
Kt t in ein bewohntes Haus, hängt ſich einen
chleier übers Geficht und zieht ein Beil aus der
— Oder ſollie er das Beil vorher offen
über die Straße getragen haben? Mit Hand-
ſchuhen, wie? Beim heiligen Tonmafius, das
tft eine gewaltige Räuberhijtorie!"
Da Daumer nicht? antwortete, fuhr der Ritt-
meifter eifrig fort: „Nehmen mir einmal an, ber
157
jamofe Vermummte hat die Abficht gehabt, den
urfchen zu töten. Warum dann die unbedeutende
Wunde? Er brauchte ja nur ein Bipchen kräf⸗
tiger zuzuſchlagen und alles war aus, der Mund,
der ihn verraten mußte, war ſtumm. Man muß
rein glauben, der behandſchuhie Mörder hat fein
Opfer einftweilen nur ein bißchen kitzeln wollen.
Wahrhaftig, eine kitzlige Gejchichte. Alle meine
Belannten, parole d’honneur, lieber Profeſſor,
find empört über die Leichtgläubigkeit, die
I von jo albernem Spuk zum beften halten
läßt."
Daumer bielt es für unter feiner Würde,
Zorn ober Entrüftung zu zeigen. Er ftellte ſich,
als hätte er nicht übel Luft, dem Nittmeifter beis
zuftimmen, und fragte gelebrig, wie man fich aber
den ganzen Vorgang zu benten habe. Herr von
Wefjenig zuckte —2 die Achſeln; er mochte
heftiges Aufbrauſen und ſcharfe Zurechtweiſung
erwartet haben, und weil dies nicht eintraf, legte
ex fein verhalten-feindfeliges Weſen ab, war jedoch
vorfichtig genug, fih nur in allgemeinen Ber-
mutungen zu äußern. „Dielleicht ift der gute
Haufer betrunken geweſen und auf der Treppe
gefallen und hat dann die Mordsgefchichte aus-
geheckt, um fich interefjamt zu machen. Das wäre
ja noch harmlos, ndre ſehen bei weitem
ſchwärzer; man traut dem Halunken fchon zu,
daß er feine Wohltäter durch einen feingefäbelten
Streich hinters Licht geführt hat.”
Seht vermochte Daumer nicht mehr an fich
zu halten. Er blieb ftehen, wehrte mit beiden
Händen ab, als drängen die Reden feines Be—
gleiter3 wie giftige Fliegen auf ihn ein, und ftürzte
ohne Wort noch Gruß davon.
158
Das ift alfo die Welt, das find ihre Stim-
men, dachte er beitürzt; daS zu denken, ift möge
lich, es auszusprechen, fteht jedem Mund frei!
Und diefer Abgrund von Unfinn und Bosheit fol
dich verjchlingen, armer Cafpar! Wenn du auch
nicht der Himmelszeuge bift, den ich wähnte, über
ihnen jchmebft du doch wie der Adler über Kobolds⸗
gezücht. Freilich, fie werden dir die Flügel
brechen; vergebens wird die Schuldlofigkeit aus
deinem Innern ftrahlen, fie werden es nicht ſehen;
vergebend wirft du vor ihnen weinen und ver-
gebens lächeln, du wirft ihre gab faffen und
vor Kälte jchaudern, du wirft fie anbliden, und
fie werden ftumm fein, angftvoll fucht dein Geift
die Wege zu ihnen und Verrat führt dich auf
den verderblichiten von allen... .
Man ift Prophet und hat ein mitleidiges Ge-
müt; man fennt die Menfchen, man weiß, daß
das Feuer brennt, daß die Nadel fticht, und daß
der Hafe, wenn er angefchofjen wird, ins Gras
fällt und ftirbt; man fennt die Folgen deſſen,
was man tut, nicht wahr, Here Daumer? Aber
ift dies etwa ein Grund, den Gefchehnifjen, wie
einem Feind, der da8 Schwert erhoben hat, in
die Arme zu fallen und den Schlag abzuwenden ?
Nein, es ift fein Grund. Oder ift e8 nur Grund,
ein kleines Entſchlüßchen rüdgängig zu machen?
Nein, es ift kein Grund. Darin haben die
Idealiſten und Seelenforfcher nicht3 voraus vor
Dieben und Wucherern.
Man geht nach Haufe, philofophierend geht
man nad) Haufe, legt ſich jchlafen, und am näch—
ften Morgen fieht die Welt weit annehmbarer
aus als am geftrigen, veichlich verftimmten
Abend.
159
Das Amfelherz
Vierundzwanzig Stunden fpäter hält eine
Kutſche vor dem Daumerfchen Haus, und Frau
Behold felber kommt, um Cafpar zu holen. Wirklich,
Frau Behold hat fich’3 etwas koſien Iaffen, eine
ſchwarzlackierte Kutjche mit zwei Pferden und einen
Dann mit goldenen Knöpfen auf dem Bod.
Cafpar wird von Daumer und den beiden
Feruen zum Tor geleitet, auch der Kandidat
legulein verläßt feine Junggeſellenklauſe. Anna
kann ſich der Tränen nicht erwehren, Daumer
blickt finfter vor fich hin, Frau Behold gibt dem
Nutfcher ein Zeichen, die Roſſe jchnauben, die
Näder rollen und die Zurücbleibenden ſchauen
er in die Dunkelheit, die das Gefährt ver-
lingt.
Das war der Abſchied, und Caſpar war's,
als gehe es weit fort. Aber es ging nur von
einem Haus auf der Schütt zu einem Haus am
Markt. Es war dies ein ſchmales, hohes Haus,
welches fo eingepreßt fland zwifchen zwei andern,
daß e8 ausjah, als fehle ihm die Luft zum
Atmen. Es hatte einen gezinnten Giebel, fteil-
abhängend wie die Schultern eines verhungerten
Kanzliſten, die Fenfter hatten nichts Freifchauen-
des, jondern etwas Blinzelndes, das Tor war
feltfam verſteckt und innen wand fich eine dunkle
Treppe in vielen Biegungen, gleichjam in vielen
Ausreden durch die Stockwerke; die alten Treppen
knarrten und ftöhnten bei jedem Schritt, und
wenn die Türen geöffnet wurden, floß nur ein
dämmeriges Licht aus den Stuben.
Cafpar wohnte in einem Gemach gegen den
vieredigen Hof; vor den Fenftern lief eine Holz»
160
alerie mit verfchnörkeltem Geländer, auf jeder
Eite waren grünverhangene Glastüren, und
unten jtand ein eiferner Brunnen, aus dem fein
Waſſer floß.
Das Wunderliche lag darin, daß draußen der
Markt war, wo viele Menfchen laut redeten, wo
die Händler ihre Heinen Läden und Verkaufszelte
jatten, wo von morgens bis abends Frauen
eilfchten, Kinder kreiſchten, Roſſe mieherten, das
Geflügel gaderte, und daß man bloß das Tor
Hinter fich zu fchließen brauchte und e3 wurde fo
ftill, als ob man in die Erde hineingeftiegen jei.
Dies machte Cafpar im Anfang och, Es
glich einem Verſteckenſpiel, er fand es Iuftig, ſich
zu verfteden, und gelegentlich ſah er es darauf
ab, ein andres Geficht zu zeigen, als ihm zu Sinn
war, oder andre Dinge zu jagen, als man von
ihm erwartete. An einem der erften Tage verlor
Frau Behold ein filbernes Kettchen; Cafpar bes
hauptete, es im Vorplatz geſehen zu haben, ob-
wohl er es keineswegs gejehen hatte.
Es wurde ihm verboten, ohne Erlaubnis das
Haus zu verlafien. Er fragte, wer es verboten
habe, da wurde ihm geantwortet, Frau Behold
habe e3 verboten, und als er fih an Frau Be
Hold wandte, fagte fie, der Magiftratsrat habe
e3 verboten, und als er fi) an den Magiftrats-
rat wandte, fagte der, der Präfident habe es
verboten. Dermaßen war alles verzwict und
verfteckt in diefem —
Einmal wollte Frau Behold in ſein Zimmer
gehen; fie fand es derſperrt, er hatte von innen
zugeriegelt. „Was fperrft du dich denn ein am
hellichten Tag?" fragte fie und jchnüffelte auf
dem Tiih herum, wo feine Bücher und Schul
Baffermann, Gafpar Haufer 11 161
arbeiten lagen. „Fürchteſt du dich vielleicht?“
pe fie zungengeläufig fort. „Bei mir braucht
u dich nicht zu fürchten, bei mir gibt es feine
vermummten Spigbuben.“ Cr gab zu, daß er
ſich fürchte, und daS fchmeichelte Frau Behold,
fie nahm eine geimmige Beichügermiene an und
lächelte herausfordernd.
Jeden Vormittag, wenn er von der Schule
kam — ex befuchte jest zwei Stunden täglich die
dritte Klafje des Gymnafiums —, erfundigte fich
Frau Behold, wie es ihm gegangen fei. Salcdıe
iſt's gegangen,“ entgegnete er dann trübfelig,
und in der Tat, er hatte wenig Freude davon.
Die Lehrer klagten, daß feine Gegenwart die
andern Schüler der Aufmerkfamfeit beraube; der
Umftand, daß auf der Gaſſe ſtets ein Polizei⸗
diener hinter ihm herging und daß die Polizei
Tag und Nacht das Haus bewachte, in dem er
wohnte, dünkte die Knaben aufregend fonderbar,
und fie beläftigten ihn mit den albernften Fragen.
Seine Schweigjamfeit wurde natürlich ganz faljch
jedeutet, und wenn er von felbft unbefangen das
ort am fie richtete, wichen fie entweder fcheu
zurücd oder höhnten ihn, denn er war in ihren
Augen nichts weiter als ein großer dummer
Teufel, der, faft doppelt fo alt als fie, noch in
den Anfangsgründen der Wifjenfchaft ſteckte. Es
kam häufig vor, daß er während des Unterrichts
aufftand und eine feiner Eindifchen Fragen ftellte;
da brach dann die ganze Klafje in Gelächter aus,
und der Lehrer lachte mit. Einmal, während
eines gewaltigen Sturmminds, der draußen heulte,
verließ er feinen Platz und flüchtete in die Ofen-
ede; da kannte das Vergnügen der andern feine
Grenze, und als ihn der dicke Lehrer hervorzog
162
und zu den Bänken jchob, begleiteten fie den
Vorgang mit einer wahren Katzenmuſik.
(m eigentümlichften war es aber anzufehen,
wenn er auf dem Nachhaufeweg mitten unter
der Knabenſchar ging, jtill, verſchloſſen und
forgenvoll _ unter den Lärmenden und Unbe—
fümmerten, männlich unter den Halbwüchslingen —
und ihm zur Seite beftändig der Wächter des
Geſetzes.
Sehr häufig ſprach Daumer vor, um bei
den Kollegen Auskunft über Caſpar einzuholen.
„Ach,“ hieß es da, „er hat freilich den beiten
Willen, aber leider nur einen mittelmäßigen
Kopf. Er ermeift fih anftellig, aber es bleibt
nicht viel haften. Wir können ihn nicht tadeln,
aber zu loben ift auch nichts."
Daumer war gekränkt. Ihr könnt nicht
tadeln, ihr Herren, ei, und tadelt doch, dachte
er; Tadel ift leicht, befonder8 wenn er den
Tadler lobt, wie e3 fein Merkmal ift. Er wandte
fih, an den Magiftratsrat und fuchte ihm eine
Lobpreifung auf Cajpar förmlich abzuliften, aber
Herr Behold war fein Freund von offenen Mei-
nungen. Er war ein einjchichtig Iebender Menſch,
der feine Tage in einem düftern Kontor am
Zwinger verbrachte, und wer von ihm etwas
haben wollte, erhielt gewöhnlich die Antwort:
„Da müffen Sie ſich an meine Frau menden."
Daumer glich faft feinem unglüdfichen Lieb⸗
haber darin, wie er jest achtſam und befümmert
den Wegen feines früheren Pfleglings folgte,
wobei er aber gern vermied, Caſpar zu jehen
und zu fprechen. Mit großem Mißtrauen verfolgte
ex insgeheim das Tun und Treiben der Frau
Behold, und er zerbrach fich den Kopf darüber,
163
weshalb diefe fo gierig getrachtet hatte, den Jüng-
ling in ihre Nähe zu befommen. „Was willft du,*
meinte Anna, die ebenfoviel gefunden Menfchen-
verstand bejaß wie ihr Bruder phantaftiichen
Peſſimismus, „es ift ja ganz Klar, fie braucht
eine Spielpuppe, eine Unterhaltung für ihren
Salon." ö
„Eine Spielpuppe? Sie hat doch ein Kind, und
fie vernachläffigt ſogar dieſes Kind, wie man hört."
„Freilich; aber daran iſt nichts Merkwür—
diges, ein Kind zu haben wie alle andern Leute;
es muß etwas fein, wovon man redet, was Inter⸗
eſſantes muß es fein; man kann dabei die große
Dame fpielen und lieſt bie und da den eignen
Namen in der Zeitung. Auch gilt man nebenher
für eine Wohltäterin, der Herr Gemahl kann einen
hohen Orden befommen, und mas die Hauptfache
ift, man vertreibt fich die Langeweile. Die Berfon
tenn’ ich, als ob ich's jelber wäre. Der Caſpar
tut mir leid."
Frau Behold mar immer unterwegs und
eigentlich nur zu Haufe, wenn fie Gäfte hatte.
Sie mußte immer Menfchen jehen, fie liebte
mohtgefteibee, uigelaunte Menjchen, Männer
mit Titeln und Frenen von Rang, liebte Fefte,
Schmud und prächtige Gewänder. Man hätte
fie eine joviale Natur nennen dürfen, wenn der
Ehrgeiz fie nicht fo unruhig gemacht hätte; fie
wäre bisweilen behäbig, ja gemütlich erjchienen
ohne eine gewiſſe zielloje Neugierde, von der fie
bis ins Innerſte, bis in den Schlaf der Nächte
behaftet war. Sie hatte eine Unmafje fran-
zöſiſcher Romane verfchlungen und war dadurd)
empfindfam und abenteuerluftig geworden, und
das gute Teil Phlegma, das ihrem Temperament
164
beigemifht war, machte diefe Eigenfchaften nur
um fo bintergründiger. Wer fie jo nahm, wie
fie fi) gab, war im voraus betrogen.
Was Cafpar betrifft, fo ſah fie ihn zu-
nächſt bloß humoriftiih und am meiften dann,
wenn er ernjt und nachdenklich) war. „Nein,
was ex heute wieder. Romijches gejagt hat," war
ihre beftändige Phrafe. Es hatte oft den An-
ſchein, als habe fie einen Heinen Hofnarren in
Dienft genommen. „Alfo, mein liebes Mond-
tälbchen, fprich,“ forderte fie ihn vor den Gäften
auf. Wenn fie ihn gar eifrig befliffen jah, Iatei-
nische Vokabeln auswendig zu lernen, lachte fie
aus vollem Hals. „Wie gelehrt, wie gelehrt!"
rief fie und fuhr ihm mit der Hand mwüft duch
das Lodenhaar. „Laß es fein, laß es fein,“
tröftete fie ihn, wenn er über die Schwierigkeit
einer Rechnung klagte, „bringft’3 ja doc zu
nichts, ift genau fo, wie wenn ich ſeiltanzen wollte."
Indes erregte er auf andre Weile bald eine
munderliche Neugierde in ihr. Eines Morgens
tam fie dazu, als er in der Küche ftand und
Zeuge war, wie der Metzgerburſche das rohe und
noch blutige Fleifch aus dem Korb nahm und
auf die Anrichte legte. Eine unendliche Wehmut
malte ſich in Caſpars Zügen, er wich zurüd,
zitterte und war feines Lautes fähig, dann floh
er mit bedrängten Schritten. Frau Behold war
betroffen und mollte ihrer Rührung nicht nach-
geben. Was ift das? dachte fie; er verftellt fich
wohl; was ift ihm das Blut der Tiere?
Um ihm gefällig zu fein, tat fie mehr, als
ihre Bequemlichkeit ihr ſonſt verftattet hätte,
Trogdem fehien er fich nicht wohl im Haus zu
fühlen. „Sapperment, was ift dir übers Leber-
- 165
lein geg fuhr ſie ihn an, wenn ſie ein
trauriges Geſicht an ihm bemerkte. „Wenn du
nicht Tuftig bift, führ' ich dich in die Schlachtbant
und du mußt zufchauen, wie man den Kälbern
den Hals abſchneidet,“ drohte fie ihm einmal und
wollte ſich ausfchütten vor Lachen über die Miene
des Entſetzens, die er darüber zeigte.
Nein, Cafpar fühlte fich keineswegs wohl.
Frau Behold war !m ganz und gar unverftänd-
lich, ihr Blick, ihre Rede, A Gehaben, alles das
ftieß ihm aufs äußerfte ab. Es Loftete ihn nicht
wenig Kunft und Nachdenken, um feinen Wider
willen nicht merfen zu laffen, gleichwohl war er
Tran und elend, wenn er nur eine Stunde mit
Frau Behold verbracht hatte. Es fehlte ihm
dann jegliche Arbeitsluft, und die Schule zu bes
fuchen, die ihm ohnehin verhaßt war, unterließ
ex ganz. Die Lehrer befchwerten fich beim Ma-
giftrat; Herr von Tucher, der jet wieder in der
Stadt weilte und der vom Gericht zu Caſpars
Vormund ernannt worden war, ftellte ihn zur
Nede. Caſpar wollte nicht mit der Sprache her-
aus, ein Betragen, das Herr von Tucher als
Verftocktheit auffaßte und das ihm zu ſchlimmen
Defücchtungen nlaß bot.
Und da war noch eines, was Cafpar zu
denfen gab. Manchmal begegnete ihm auf der
Stiege ober im Flur oder in einem entlegenen
Zimmer Frau Beholds Tochter, ein Mädchen,
halb erwachſen und bleich von Geſicht. Ihre
Augen waren feindjelig auf ihn gerichtet. Wenn
er fie anreden wollte, Tief fie davon. Einmal
ſchaute er von der Galerie in den Hof und ſah
fie am Brunnen ftehen, hinter deſſen eifernem
Rohr ein Brett mweggefchoben war, jo daß der
166
Blick in die Tiefe offen lag. Das Mädchen ftand
unbeweglic und ftarrte mindeftens eine Viertel-
ftunde ae bie in das ſchwarze Loch, Cafpar ver-
ließ leiſe die Galerie und fchlich hinunter; er
betrat no kaum den Hof, fo flüchtete das
Dit en mit böfem Geficht an ihm vorüber.
afpar ihr zaudernd folgte, begegnete ihm
Pe da Rat, und Cafpar erzählte voll Eifer,
was er mitangeihaut Herr Behold zog die
Stirn kraus und fagte bejchwichtigend: „Ja, ja,
gewiß; das Kind ift nicht gefund. Kümmer’ Er
fg nicht darum, Cafpar, fümmer’ Er fich nicht
arum.“
Gafpar tümmerte fi) aber doch darum. Er
fragte die Mägde, was mit dem Kind ſei, und
eine von tönen. erwiberte biffig: „Sie Eriegt nichts
zu eſſen, der Findling frißt ihr alles weg!"
| eilte er fpornjtreich8 zu Frau Behold,
wieberholte ihr die Worte der Magd und fragte,
ob das wahr jei. Frau Behold befam einen
Wutanfal und jagte die Magd auf der Stelle
davon. Als jedoch Caſpar fie auch dann noch
in feiner ungeſchickten und alttlugen Weiſe er-
mahnte, daß fie mehr auf ihre Tochter achten
möge al3 auf ihn und daß er fonft fortgehen
Fang: ſchnitt fie ihm das Wort ab und verwies
ihm den Vorwitz. „Wie willſt du denn fort
gehen?“ fuhr fie auf. „Wohin denn? Wo bift
du denn daheim, wenn man fragen darf?"
Es entftand jest in Frau Behold die Mei-
nung, daß Gafpar in ihre Tochter verliebt ſei.
Sie legte es darauf an, ihn über den Punkt aus-
zuholen. Auf ihre Fragen antwortete er jedoch,
fo blöde, daß fie fich beinahe ihres Verdachts
gefhämt hätte. „Grand Dieu,“ fagte fie laut
167
vor fich hin, „mir fcheint, der Einfaltspinfel weiß
nicht einmal, was Liebe ift!" Ja, noch mehr,
fie jpürte, daß er fich nicht einmal im entfern-
teften einen Gedanken darüber machte. Das war
der guten Dame doc überaus jeltfam, ihr, deren
Begierden und Gelüfte immer im trüben Gemwäffer
halb Here halb fchlüpfriger Leidenfchaften
plätfcherten, jo tugendhaft fie auch vor ihren
Mitbürgern fich halten mußte.
Er ift doch aus Fleifh und Blut, Falkulierte
fie, und wenn ſchon der närrifche Daumer in
allen Tönen von feiner Engelsunſchuld ſchwärmt,
als ermachjener Menſch meiß man, was der
Hahn mit den Hühnern treibt. Er heuchelt, er
hält mich zum beften; warte, Kerl, ich will dir
den Gaumen troden machen.
Auf dem Markt, zur Rechten vor dem Be—
oldſchen Haus, ftand der fogenannte jchöne
rrunnen, ein Meiſterwerk mittelalterlich-nürn-
berger Kunft. Seit grauen Beiten erzählte man
den Kindern, daß der Storch die Neugeborenen
aus der Tiefe des Brunnens hole. Frau Behold
fragte Caſpar, ob er davon vernommen habe,
und als er verneinte, fah fie ihn mit ſchlauem
Augenzwinfern an und mollte willen, ob er
daran glaube. „Sch ſeh' nur nicht, wo der’
Storch da hinunterfliegen kann," antwortete er
harmlos, „es ift ja alles mit Gittern vermacht.“
Frau Behold jtaunte. „Ei du Tropf!“ rief
fie aus, „ſchau mich einmal aufrichtig an!"
haute fie an. Da. mußte fie die Augen
ſenken. Und plöglih erhob fie fich, eilte zur
Kredenz, riß eine Lade auf, ſchenkte fich ein Glas
Wein vol und trank es auf einen Bug leer.
Sodann ging fie ans Fenfter, faltete die Hände
168 .
und murmelte mit einem Ausdrud von Stumpf ⸗
finn: „Jeſus Chriftus, bewahre mich vor Sünde
und führe mich nicht in Verſuchung.“
Es bedarf kaum der Erwähnung, daß fie
ſonſt eine höchft aufgeflärte Dame war, die fih
das ganze Jahr nick in ber Kirche fehen ließ.
Es war ſchon Mitte Auguft und große Hite
herrfchte. An einem Sonntag veranitaltete ber
Vürgermeifter ein Waldfeft im Schmaufenbuf;
Cafpar war am Morgen mit dem Stallmeifter
Rumpler und einigen jungen Leuten bis Buch
geritten und war jo müde, daß er nad) Tiſch in
jeinem Zimmer einjchlief. Frau Behold weckte
ihn ſelbſt und hieß ihn fich anfleiden, da der
Wagen warte, der fie zum Feſtplatz bringen
ſollte. Auf Cafpars Frage, ob noch wer mit-
ehe, ermiderte fie, zwei Knaben führen mit
inaus, die Söhne des Generals Hartung. Da
jagte Cafpar enttäufcht, er münfchte, daß Frau
Behold tr Tochter mitgehen lafje, denn die
werde ſich grämen, wenn fie zu Haufe bleiben
müſſe. Frau Behold ftußte und wollte zornig wer:
den, nahm fich aber zufammen. Sie beugte fich vor,
ergriff mit der Hand einen Bündel Roden auf
Caſpars Kopf und fagte boshaft: „Ich jchneide dir
die Haare ab, wenn du wieder davon anfängſt.“
par entwand fich ihr. „Nicht jo nahe,“
flehte er mit aufgeriffenen Augen, „und nicht
ſchneiden, bitte!“
„Hab' ich dich!" drohte Frau Behold, ge
gwungen ſcherzend. „Hab’ ich dich, furchtiames
Menjchlein? Noch ein Widerpart, und ich komme
mit der Schere!“
Während der Fahrt blieb Cafpar ſchweigſam.
Die beiden Knaben, die vierzehn und fünfzehn
169
Jahre alt waren, nedten ihn und juchten etwas
aus ihm herauszuloden, da fie ftet3 mie über
eine Art Wundertier über ki prechen gehört
hatten. Nach Schuljungengewohnheit fingen fte an,
prahleriſche Reden zu führen, als ob es feine
gelehrteren und fhneffinnigeren Menjchen gäbe.
Weit auf der Sannfteape raußen der eine,
er höre ſchon die Muſik aus dem Wald, da ent-
gegnete Caſpar, ärgerlich über das Weſen, das
die beiden von ſich machten, das wundre ihn, er
höre nichts, da en ſehe er auf einer hohen
Stange fern über Bäumen eine Heine Fahne.
„D die Fahne,“ meinten den geringjhägig, „die
fehen wir jchon lang!“ Auch hierüber wunderte
ſich Caſpar, denn er hatte fie erft im Augenblick
wahrgenommen, ein ſchmales Streifchen, das nur
im Wehen des Windes fichtbar war.
„Gut,“ fagte er, „wenn fie wieder weht, will
ih euch fragen, ob ihr e8 bemerkt." Ex wartete
eine Weile und ftellte dann, während die Fahne
ruhig war, bie inreführende Frage: „Alfo, weht
fie jegt oder nicht?"
„Sie weht!" antworteten die Knaben wie
aus einem Mund, doch Caſpar verjegte ruhig:
„Ich fehe daraus, daß ihr nichts jeht.“
Oho!“ tiefen j jene, „dann lügſt du!“
"So jagt mir doch," fuhr Caſpar unbeküm-
mert fort, „was für eine Farbe fie hat."
Die Knaben ſchwiegen und guckten, dann riet
der eine ziemlich Heinlaut: „rot," der andre,
etwas fühner: „blau.“ Caſpar ſchüttelte den
Kopf und wiederholte: „Ich fehe, daß ihr nichts
It weiß und grün ift fie.”
Daran mar 1 wer zu mäleln, eine Viertel⸗
ftunde jpäter fonnten fich alle von der Wahrheit
170
überzeugen. Aber die Knaben blickten Caſpar
vol Haß ins Geficht; fie hätten gern vor Frau
Behold geglänzt, die die ganze Unterhaltung
wortlos mitangehört Hatte.
Caſpars Gegenwart beim Zelt 30g, mie immer,
eine Anzahl. Safer herbei, darunter waren einige
Belannte, junge Leute, die ſich feiner annehmen
zu follen glaubten und ihn Frau Behold uner-
achtet ihres Widerſpruchs entriffen. Es war
anfangs nur eine Heine Gefellfehaft, die fich aber
aligemach vergrößerte und, indem einer ben
mdern anfeuerte, lauter Tolpeiten beging. Sie
warfen Tiſche und Bänke um, ſchreckten bie
Mädchen, kauften die Krämerbuden leer, verübten
ein müftes Gefchrei und ftellten fich "dabei an,
ala ob Caſpar ihr Gebieter fei und fie kom—
mandiere. Das Treiben murde immer aus:
gelafjener; als e3 Abend geworden war, riffen
fie die Lampions von den Säumen und zwangen
ein paar Muftkanten, ihnen vorauszuziehen, um
den Tumult mit ihren Trompeten zu begleiten.
Zwei junge Kaufleute hoben Cafpar auf ihre
Schultern, und er, dem ſchon Hören und Sehen
verging, wünſchte fich weit weg und auerte mit
dem unglüclichften Geficht von der Welt auf
feinem lebendigen Sitz.
Unter Gelang und Gelächter kam die ent-
feffelte Schar vor die Eftrade, wo der Tanz be-
gonnen hatte; ; per fonnte fie nicht weiter, die
angejammelte Menge verjperrte den a kr
rückwärts und feitwärts. Plötzlich ra par
janz nahe die beiden Knaben, die in Fr
— Kutſche mitgefahren waren; ſie landen af
der Treppe zum Tanzpodium und trugen einen
langen Baumzmweig mit einem meißen Pappen-
171
dedel an der Spitze, worauf in großen Lettern
die Worte gemalt waren: „Hier ift zu fehen
Seine Majeftät Cafperle, König von Schwindel
heim.“ Gie hielten die Tafel jo, daß die Auf»
Phrift Caſpar zugefehrt war, auch alle Umfiehen-
en gewahrten fie alsbald, und es erhob ſich ein
ſchallendes Gelächter. Die Trompeter gaben einen
Tuſch, und der Zug fette fich wieder, am Wirts«
haus vorbei, gegen den illuminierten Wald in
Bewegung.
Caſpar rief, man ſolle ihn herunterlaſſen,
aber niemand achtete darauf. Nun zog er mit
der einen Hand am Ohr des einen, mit der
andern an den Haaren des zweiten ſeiner —
„Au, was zwickſt du mich!“ ſchrie dieſer und der
andre: „Au, mich zebelt er!" Wütend traten fie
beifeite, wodurch Caſpar herunterglitt. Die beiden
Geiloträger ftanden vor ihm und grinften höh⸗
niſch. „Wir haben auch ein Fähnlein für
fagte der ältere, „fieh mal zu, ob e3 weht.“
jelben Augenblick ſchraken fie zufammen, denn eine
gebieterifche Stimme fchrie Dröhnend ihren Namen.
Es war der Vater der beiden, der General, der”
mit einigen andern Herren und mit Frau Behold
in geringer Entfernung an einem abſeits ftehen-
den Tiſch ſaß. Diefe alle erhoben fich, denn am
Himmel waren ſchwere Wolfen aufgezogen, und
man hörte fchon den Donner grollen.
Frau Behold empfing Caſpar mit den Worten:
„Du machit ja ſchöne Streiche, ſchämſt dich nicht?
Alons! Wir fahren heim." Mit überlautem
Wefen verabjchiedete fie fich von den Herren und
eilte zum Ausgang des Feſtplatzes, wo fie mit
treifchender Stimme ihren Kutfcher rief. „Seb
dich!" herrſchte fie Caſpar an, als fie den Wagen
172
erreicht hatten. Sie felbft ftieg zum Kutjcher
auf den Bock, ergriff die Zügel, und nun degamn
ein tolles Fahren, erſt duch den Wald, dann
die ſtaubſchäumende Chauffee entlang. Sie trieb
die Tiere an, daß fie nur jo hüpften und von
jedem Niejelftein, den ihr Huf traf, Funken
Iprigten. Kein Stern war zu jehen, die Land-
ſchaft breitete fich büfter Hin, häufig zudten Blitze
auf und der Donner rollte näher.
In wenig mehr denn einer halben Stunde
waren fie in der Stadt, und als die Pferde am
Marktplatz hielten, dampfte der Schweiß von '
ihren Flanken. Frau Behold jperrte das Hauss
tor auf und ließ Caſpar vorangehen. Er taftete
fich in der Dunkelheit bis zu feiner Zimmertür, doc)
die Frau ergriff ihn am Arm, 308 ihn weiter und
trat mit ihm in den fogenannten grünen Salon,
einen großen Raum, wo die Fenfter geichloffen waren
und eine muffige Luft herrſchte. Frau Behold zündete
eine Kerze an, warf Hut und Mantille auf das
Sofa und feßte fih in einen Lederfeflel. Sie
fummte leiſe vor fich hin, plötzlich umterbuach fie
fich und fagte in derfelben fingenden Weife: „Komm
einmal her zu mir, du unfchuldiger Sünder.“
Caſpar gehorchte.
„Knie nieder!" gebot die Frau.
86, ernd Iniete er auf den Boden und jah
Frau Behold ängftlich an.
Wie am Nachmittag näherte fie wieder ihr
Geficht dem feinen. Ihr ſchmales, Tanges Kinn
zitterte ein wenig, und ihre dugen lachten ſonder⸗
bar. „Was ſträubſt du dich denn jo?" gurrte
fie, da er den Kopf zurückbäumte. „Ma foi,
er fträubt fih, der Füngling! Haft wohl no:
fein lebendiges Fleifch gerochen? He, du Gtrid,
173
wer's glaubt! Was Teufel, Erg dich am
Ende? Hab’ ich dir nicht die beften Biſſen auf-
tragen laffen? Hab’ ich Dir nicht geftern erft eine
ſchoͤne Amſel geſchenkt? Ich hab’ ein gutes Herz,
Cafpar, da horch, wie's jchlägt, wie's tidt.. ."
Mit großer Kraft zog fie feinen Kopf gegen
ihre Bruft. Er dachte, fie wolle ihm ein Abe
tun, und fchrie, da drüdte fie die Lippen auf
feinen Mund. hm wurde eisfalt vor Grauen,
jein Körper ſank zufammen, wie wenn die Knochen
aus den Gelenken gelöft wären, und als Frau
Behold diefer jähen Erſchlaffung inne ward, er
ſchrak fie und fprang auf. Ihr Haar hatte fich
gelodert, und ein dider Zopf lag mie eine
Schlange auf der Schulter. Caſpar hockte auf
dem Boden, krampfhaft umflammerte feine Linke
die Rücklehne. Frau Behold beugte fich noch
einmal zu ihm und ſchnupperte ſeltſam, denn fie
liebte den Geruch feines Leibes, der fie an Honig
erinnerte. Aber kaum fpürte Caſpar ihre aber
malige Nähe, als er emportaumelte und ans
andre Ende des Zimmers floh. Die Seite gegen
die Tür gefchmiegt, den Kopf vorgebudt, die
Arme halb ausgeftrectt, jo blieb er ftehen.
Die ferne Ahnung von etwas Ungeheuerm
dämmerte in ihm auf. Kein jemals gehörtes
Wort gab einen Hinmeis, doch er ahnte es, wie
man auf eine Feuersbrunft, die hinter den Bergen
wũtet, aus der Nöte des Himmels fchließt.
Schändlic war ihm zumut, insgeheim fühlte er
ſich an, ob er denn auch feine Kleider am Körper
trüge, und dann fehaute er auf feine Hände
nieder, ob fie nicht voll Schmuß feien. Er ſchämte
fich, er ſchämte fi, vor den Wänden, vor dem
Seffel, vor der brennenden Kerze ſchämte er fich;
174
ex wünfchte, die Tür möchte von felber fich öffnen,
damit er unhörbar Derfhminben Tonne,
Es war wiedasentfegliche Aufleuchten von Augen,
als ein roſiger Blisftrahl ins Zimmer fuhr; der
Donner folgte wie ein enormer Schrei. Cafpar
drückte die Schultern zufammen und fing an zu
zittern.
Mittlerweile ging Frau Behold mit wahren
Mannesſchritten auf und ab, lachte ein paarmal
kurz vor fi) hin, plöglich ergriff fie die Kerze
und trat auf Cajpar zu. „Du Nas, du ver-
dorbenes, was haft du denn geglaubt,“ fagte fie
exbittert, „glaubft du vielleicht, mir liegt etwas
an dir? Ja, einen alten Stiefel! Mac, daß
du mweiterfommft, und unterfteh dich nicht, darüber
zu fprechen, ſonſt mafjafrier’ ich dich!"
Sie lachte dabei, als folle e8 im Grunde doc
nur Scherz fein, aber Cafpar erjchien fie über-
groB ihr ſchwarzer Schatten erfüllte den ganzen
aum, außer ſich vor Furcht, rannte er hinaus,
die Frau hinter ihm her, er, die Treppe hinab
zum Tor, rüttelte an der Klinke; es war zus
eſperrt. Er hörte draußen den Regen aufs
flafter praffeln, zugleich vernahm er haftig trip-
pelnde Schritte, ein Schlüfjel drehte ſich im Schloß
und der Magiftratsrat erſchien auf der Schwelle.
Die unaufhörlichen Blitze beleuchteten Caſpars
fchlotternde Geftalt und das Donnergefchmetter
verſchlang die Fragen de3 beftürzten Mannes.
Oben an der Stiege ftand Frau Behold, der
nahe Kerzenſchein durchfurchte ihr Geficht mit ver-
wildernden Lichtern, und ihre Stimme übertönte den
Donner, als fie ihrem Manne zufchrie: „Ex hat
ſich betunfen, der Kerl! Auf dem Schmaufenbut
haben fie ihn betrunfen gemacht! Laß Er fich heute
175.
Au nicht mehr bfiden! Mari, ins Bett mit
ihm!“
Der Magiftratsrat ſchloß das Tor und Happte
den triefenden Parapluie zu. „Nun, nun... aber,
aber," machte er, „lo ſchlimm wird's doch nicht
gleich fein.“
Frau Behold antwortete nicht. Sie ſchlug
eine Tür zu, dann war e3 ftill und finfter.
„Komm Er nur mit, Caſpar,“ fagte der Rat,
„wie wollen mal Licht anzünden und nachiehen,
was e3 denn da gibt. Reich Er mir den Arm,
0." Er geleitete Cafpar in deſſen Zimmer, machte
Licht und murmelte fortwährend Kleine, bejchmwich-
tigende Sätzchen vor ſich hin. Dann beroch er
Caſpars Atem, um zu fehen, ob er wirklich ge-
trunten babe, jchüttelte den Kopf und meinte
verwundert: „Nicht dergleichen. Die Rätin ift
da ficherlich im Irrtum. Aber mad) Er fich nichts
draus, Gafpar, empfehl Er Seine Sache dem
Herrn, und es wird wohl enden. Gute Nacht!"
Als Cafpar allein war, irrte fein ſcheues
Auge von Blis zu Blitz. Bei jedem Aufflammen
hatte er unter den Lidern Schmerzen wie von
Nadelftihen, bei jedem Donnerfchlag war ihm,
als ob alles in feinem Leibe locker ſei. Hände
und Füße waren ihm eißfalt. Er magte fi
nicht ins Bett zu begeben, fondern blieb wie an—
gewurzelt ftehen, wo er ſtand. Er erinnerte fich
mit Grauen des erſten Gemitterd, das er im
Turm auf der Burg erlebt hatte. Er war in
einen Mauerwinkel gekrochen, und die Frau des
Wärters war gekommen, ihn zu tröften. Sie fagte:
„Man darf nicht hinausgehen, e3 ift ein großer
Mann draußen, der zankt." Immer wenn e8 don-
nerte, bückte ex ſich ganz zur Erde, und die Frau
176
fagte: „Hab feine Angft, Cafpar, ich bleib’ bei
dir."
Auch jest war es ihm, als jei ein großer
Mann draußen, der zankte. Aber es mar niemand da,
um ihn zu teöften. Die Amfel, die in einem Käfig
beim Fenſter geduct auf dem Holzftäbchen hodte,
ließ bisweilen piepfende Eleine Laute hören. Er hätte
fie ſchon längit Peigelaffen, weil ihn das Tier er
barmte, doch fürchtete er Frau Ir A Zorn.
Als das Gewitter im Wegziehen war, ent-
ledigte er fich fchnell der Kleider, kroch ins Bett
und deckte ſich bis zur Stirn hinauf zu, um das
Blitzen nicht jehen zu müffen. In der Eile vergaß
ex fogar, die Türe abzuriegeln, und diefer Um—
ken hatte ein gar jonderbares Gefchehnis zur
'olge.
m Morgen beim Aufwachen fpürte er einen
durchdringenden Geruch. Ja, e8 roch nach Blut
im Zimmer. Schaudernd blicte er fih um, und
das erfte, wa er fah, war, daß der Vogelbauer
am Fenſier leer war. Cafpar fuchte nad) dem
Tierchen und gewahrte, daß die Amfel auf dem
Tiſch lag, tot, mit ausgebreiteten Flügeln, in
einem Blutgerinnfel. Und daneben, auf einem
weißen Teller, lag das blutige Heine Herz.
Was mochte dies bedeuten? Cajpar verzog
das Gef, und fein Mund zuckte wie bei einem
Kind, bevor e3 weint, Er kleidete ſich an, um
in die Küche zu gehen und die Leute zu fragen,
doch als er das Zimmer verließ, erſchrak er,
denn Frau Behold ftand im Flur neben der Tür.
Sie hatte einen Kehrbefen in der Hand und ſah
unordentlich aus. Caſpar Be in ihr fahles Ge-
fiht, er ſah fie lange an, falt fo matt und bemegt,
mie er den toten Vogel angejehen.
Baffermann, Caſpar Haufer 12 177
Botſchaft aus der Ferne
Es war aber von da an nicht mehr auszu-
halten mit Frau Behold. Wahrjcheinlich bereitete
fi in diefer Zeit ſchon der furchtbare Gemüts-
uftand vor, der fpäterhin ihr Schickſal ver-
Vängnisvoll 5 beſchloß. Jedermann fcheute fich, mit
ihr zu tun zu haben. Kaum hatte fie fich irgendwo
bingefegt, jo ſprang fie auch ſchon wieder auf,
um fünf Uhr früh war ſie ſchon munter, lärmte
in den Zimmern und auf den Stiegen und Hlopfte
Cafpar aus dem Schlaf, wobei fie ein jolches
Gepolter an feiner Tür machte, daß er mit wehem
Kopfe erwachte und den ganzen Tag zu feiner
Arbeit fähig war. Bei Tiſch follte er nicht veden,
und menn er einmal Beiberfprud hielt, drohte
fie, ihn beim Gefinde in der Küche eſſen zu laſſen.
Kam ein Fremder und Caſpar wurde gerufen,
fo erging, fie fr in biffigen Wendungen. „3
bin neugierig, ob Sie aus dem Stockfiſch etwas
nen fagte fie etwa; „man hat Ihnen
icherlich weisgemacht, daß Sie ein Unikum von
Klugheit an ihm finden werden. Ueberzeugen
Sie ſich doch; jehen Gie zu, ob die arme Seele
ein vernünftiges Wort hergibt." Solches machte
den Gaſt, wer er auch war, verlegen, und Caſpar
fand da und wußte nicht, wohin ex ſchauen follte.
Wie früher mußten Menjchen her, um die
Räume des Haufes zu füllen, Gelächter follte
über die morjchen Siegen hallen und kniſternde
Schleppen den Staub der Jahrzehnte abfegen.
Aber die Tage waren von den Mächten fo ver-
ſchieden wie der Ballfaal, wenn die Lichter bren-
nen und dann, wenn die Leute gegangen find,
der Pförtner die Kerzen auslöfcht und Mäufe
178
über bie befleckten Teppiche huſchen. In einem
ſolchen Daſein wächſt Schuld wie das Unkraut
auf nichtgepflägtem Ader. Große Schuld kann
reinigen in Buße ober Leiden; bie Heinen Ver⸗
fäumniffe und unnennbaren Miffetaten, die an
vielen Stunden vieler Tage hängen, zermürben
die Seele und frefien das Mark des Lebens auf.
Jedenfalls war Frau Behold eine jehr mo-
ralifche Natur, weil fie dem Menfchen nicht ver
zeihen fonnte, der ihre Tugend ind Wanfen ge-
bracht hatte, wenngleich nur für eine fchwüle
Gewitterftunde. Aber lag e8 bloß daran? War
ihr nicht vielmehr die ganze Welt auf den Kopf
gefelt duch das unerwartete Bild der Unſchuld,
Kr ihr der Zi ni et Min
folche umgedrehte Welt war ihr nicht erträglich,
um darin zu leben. Es war ein Raub an ihr
gefchehen und fie verlangte nach Rache.
Den Freunden Caſpars blieb der veränderte
Zuftand im Haufe Behold nicht verborgen.
Bürgermeifter Binder war der erfte, der mit
Nachdruck erklärte, Cafpar dürfe nicht Tänger
dort verbleiben. Daumer unterftüßte diefe Mei-
nung lebhaft, und der Redakteur Pfifterle, hitzig
und unbequem wie immer, befchimpfte in feiner
Zeitung den Magiſtratsrat und äußerte den Ver-
dacht, man würd ‚e den Findling unfchädlich zu
maden und die Stimmen mit Gewalt zum
Schweigen zu bringen, welche die Antechte feiner
geheimnisvollen Geburt durchjegen wollten. „Da
lebt er, ber ee Knabe, dem ein unficht-
bares Diadem auf der Stirn glänzt, wie ein
einfames Tier, das fi nur mit ein paar fchüch-
ternen Sprüngen ans Licht getraut und, während
& über den Acer hüpft, poffierlich mit Schwanz
179
und Ohren wadelt, um feine Feinde zu ergößen,
dabei aber ängftlich nach allen Seiten fpist, um
bald wieder ins erſte beite Loch zu kriechen.“
So der aufgeregte Schreibersmann. Danach
entſchloſſen fi die Stabtväter nach mancherlei
Beratungen, wie vordem einen Erziehungs⸗ und
KRoftbeittag aus der Gemeindelafje. auszufegen,
und weil niemand fo wie Herr von Tucher ge-
eignet ſchien, dem Elternlojen ein Obdach zu
bieten, legte man ihm die Sache bemeglichermeife
ans Herz, appellierte an feine Großmut und an
die ausgejelänete Stellung feiner Familie, deren
Name allein genügen würde, den Jüngling vor
gemeinen Berfolgungen zu fchüßen.
Herr von Tucher hatte jedoch Bedenken. Das
plögliche Gegeter gegen die Beholbichen verbroß
ihn. „Grft jeid ihr froh gemefen, für den jungen
Menſchen einen Unterfchlupf zu finden, und auf
einmal wird hohes Rammergericht geipielt,“ fügte
ex; „Toll ich annehmen, daß es mir beſſer er-
bt? ch will nicht Gefahr Iaufen, daß mein
rivatleben von oben bis unten bejchnüffelt wird,
ich will nicht jedem müßigen Hahn erlauben, fein
Kilerili in meinen Frieden zu krähen.“
Auch, die Familie, befonderd feine Mutter,
erhob Einſpruch und warnte ihn, fi in Aben⸗
teuer zu begeben. Es hieß fogar, die alte Freir
frau babe dem Sohn einen unangenehmen Aufs
tritt bereitet und ihm gejagt, wenn er den Saufer
zu fi) nehmen wolle, möge er nur deſſen Unter-
halt aus Gemeindefoften beftreiten, fie gebe feinen
Grafen dafür ber.
er Herr von Tucher war ein Pflichtmenich.
Er fand, daß es feine Pflicht fei, Cajpar auf
zunehmen. Da er in ihm fchon einen halb Ver-
180
lorenen ſah, ftellte er ſich vor, daß er damit
einen unglüclich Irrenden wieder auf die ges
bahnten Wege des Lebens führen könne. Der
au Cafpar ermangelt vielleicht nur einer männ-
ich-träftigen Hand, ſege er ſich; die Faſeleien
von Uebernatur und Ausnahmsweſen, das be—
ftändige Beitarrt: und Bewundertwerden, alles
das war ihm verberblich; Einfachheit, Ordnung,
überlegte Strenge, kurz, die Prinzipien einer
gefunden Zucht werden ihm heilfam fein. Pro-
Gere don Luder atte ih, af
von Tucher Hatte ſich alfo Hier eine
Aufgabe geftellt, und da8 war das mi te. Er
erklärte: Ir bin bereit, den Findling zu betreuen,
Inüpfe jedoch die Bedingung daran, daß man
mid) in allen Dingen gewähren und daß niemand,
wer es auch fei, fich einfallen läßt, mich in meinen
Plänen zu beeinträchtigen oder in irgendwelcher
Abficht zwifchen mich und Gafpar zu treten."
Natürlich wurde das zugefagt und verfprochen.
Raum hatte Frau Behold gehört, was fich
Hinter ihrem Rücken abfpielte, fo bejchloß fie, den
eigniffen zunorzutommen. Sie wartete eine
Nahmittagsftunde ab, während welcher Caſpar
nicht zu Haufe war, ließ alles, was fein Eigen-
tum war, leider, Wäiche, Bücher und jonftige
Gegenftände, in_eine Kiſte werfen und dieje ohne
Dedel auf die Straße ftellen. Dann fperrte fie
felber da8 Tor zu und lehnte ſich befrieigt
lächelnd zum Erkerfenſter des erſten Stockwerks
heraus, um auf Caſpars Ruckkehr zu harren
und die Verbluffung des angeſammelten Volkes
zu genießen.
Cafpar kam bald; er wurde von feinem Leib⸗
poliziften über das Vorgefallene belehrt, und ins
181
des der Mann von Amts wegen aufs Rathaus
trollte, um Meldung zu erftatten, lehnte fich
Caſpar gegen feine Kifte und ſchaute bin und
wieder verwundert zu Frau Behold hinauf. Es
dauerte gute zwei Stunden, bi8 man ſich auf
dem Rathaus entfchieden hatte, was zu tun fei,
und Herr von Tucher benachrichtigt worden war.
Währenddem fing e8 an zu regnen, und hätte
nicht ein gutmütiges Marktweib einen Hopfenſack
berbeigebracht, mit dem fie die Kifte bededte, fo
wäre Caſpars ganzes Hab und Gut durchnäßt
worden. nd zeigte ſich der Polizift wieder
in Begleitung eine Qucherfchen Bebienten; fie
brachten ein Handwägelchen mit und fchleppten
die Kifte hinauf. Nun ging's fort, und ein ein⸗
fältig ſchwatzender Saufen Menſchen folgte bis
in die Hirfchelgaffe and Tucherhaus.
Es begann nun wieder ein ganz neues Leben
für Cafpar. Vor allem hörte der Beſuch der
Schule auf und anftatt deſſen fam zweimal täg-
lich ein junger Lehrer ind Haus, ein Stubiofus
namens? Schmidt. Sodann wurde jedem un-
berufenen Fremden die Tür verriegelt. Ferner
wurde das Reiten nicht mehr geftattet. nDerlei
Uebungen find für Ariſtokraten und reiche Leute,
nicht aber für einen Menfchen, der zu bürger-
lichem Brotverdienft erzogen werden muß und
fiherlich einft darauf angemiefen fein wird, fich
mit feiner Hände Arbeit durchzuſchlagen,“ fagte
Herr von Tucher.
Daraus war erfichtlich, daß er den Redereien
von vornehmer Abjtammung, die im Lauf der
Zeit keineswegs verjtummt waren, nicht die min-
defte Bedeutung zumaf. „Die gegebenen DVer-
hältniſſe find ſchwierig genug,“ erwiderte Herr
182
von Tucher, wenn man ihn nur auf eine Mög«
lichteit diefer Art hinwies; „ich bin durchaus
nicht gefonnen, einem folhen Phantom, und mehr
ift es nicht, meine Grundfäge zu opfern."
Here von Tucher war ein Mann, der uner-
fhütterlich an feine Grundfäge glaubte. Grund»
jäße zu haben, war für u das erſte Element
des Lebens, nad ihnen zu handeln, ein felbftver-
ſucee Gebot. Es gehörte zu dieſen Grund⸗
lägen, daß er von Anfang an eine Entfernun—
zwiſchen ſich und Caſpar ſchuf, die den Reſpekt
ficherte. Vertrauliche Beziehungen waren ohne
hin feine Sache nicht; Gefühle zu zeigen, war
ihm verhaßt; die aufrechte Haltung, der gemefjene
Gang, der fühle Blick, die Tadellofigkeit in Klei-
dung und Manieren fennzeichneten auch ganz und
gar fein Inneres.
Strenge erjchien ihm wichtig; er zeigte Caſpar
ein ſtrenges Geficht. Die_oberite Marime war:
ſich nicht rühren laffen. Daneben war e3 billig,
ir erfüllte Pflicht Anerkennung zu gewähren.
ie Stunden vom Morgen bis zum Abend waren
aufs genauefte eingeteilt. Am Vormittag der
Unterricht, dann ein Spaziergang unter Aufficht
des Diener3 oder Poliziften, am Nachmittag be
ſchäftigte ſich Caſpar allein. Neben feiner Stube
mar eine feine Kammer als Werkſtätte ein-
gerichtet, und wenn er die Aufgaben beendigt
jatte, verfertigte er allerlei Tifchler- und Papp⸗
arbeiten, wozu er viel Geſchick bewies. Auch an
Uhren und deren derleaung und Zufammenfegung
fand er Freude. Sein Betragen befriedigte Herrn
von Tucher volllommen. Er konnte nicht umhin,
den eifernen Fleiß des Jünglings und feinen
hartnäckigen Lern- und Bildungseifer zu bewun⸗
188
dern. Es gab nicht Widerfpruch noch Auf
lehnung, niemal® tat Cafpar weniger, al3 von
ihm gefordert wurde. Ganz Har, man hat mich
falſch berichtet, dachte Herr von Tucher, die Leute,
die bisher um ihn waren, haben ihn nicht zu
behandeln gewußt, zum erjtenmal erfährt er den
Segen einer folgerechten Leitung.
Die Grundfäge triumphierten.
Das häufige und lange Alleinfein war Cafpar
zuerft angenehm, aber im Verlauf der Zeit wurde
ihm doch fühlbar, daß dem ein Zwang obmaltete,
und er hörte auf, die Gelegenheiten zu fliehen,
die ihm Zerſtreuung und Unterhaltung ver-
fprachen. Wenn auf der fonft jo öden Hirfchel-
alle Lärm entftand, riß er das Fenfter auf und
ehnte erwartungsvoll über den Sims, bis es
wieder ftille war. Es brauchten nur zwei alte
Weiber ſchwatzend ftehenzubleiben, gleich mar
unfer Caſpar auf dem Poften und laufchte. Er
mußte genau, um welche Zeit die Bäderjungen
am Morgen vom Webersplab herfamen, und er-
gößte fich an ihrem Pfeifen. Sobald der Poftillon
am Laufertor fein Horn blies, unterbrach er die
Arbeit und feine Augen glänzten. So machte
ihn auch jedes Geräufch aus dem Innern des
weitläufigen Haufes ftugig, und nicht felten lief
ex zur Tür, öffnete den Spalt und horchte aufs
geregt, wenn er eine Stimme vernommen hatte,
die unbefannt klang. Die Dienflleute wurden
darauf aufmerffam; fie fagten, er fei ein Türen-
borcher und lege e8 darauf an, fie dem Baron
zu verklatfchen.
Bor dem Haufe jelber empfand Cafpar eine
unbeftimmte Hochachtung; er jchritt faft auf Zehen
über die Korridore, etwa mie man in der Gegen⸗
184
wart eine3 vornehmen Herrn leife Ipricht. In
ſtolzer Zugefchloffenheit thronte der Bau abjeits
vom Getriebe, und mer Einlaß heifchte, mußte
fih von einem Iangbärtigen Pförtner befichtigen
und befragen Iaffen. Die Mauern waren fo ge:
waltig in die Erde gebohrt, Faſſade, Dach und
Sieb jo majefi fätiie gefügt und verwachſen, als
hätten altverbriefte Rechte mehr als die Kunft
des Baumeiſters ihnen zu folchem Anfehen ver-
bolfen. Der Turm im Hof mit der Wendeltreppe
feffelte Cafpar3 Auge gern am Abend, wenn
die feinnerfehnörtelten Formen, ducchglüht von
bläulihem Dunft, ſich ineinanderwirfend zu be
leben fchienen.
Bisweilen gewahrte er binter_ einem ver»
ſperrten Zenfter einen eisgrauen Scheitel über
einem pergamentenen Geſicht. Es war die alte
ne ie fich fonft ihm niemals zeigte. Man
Iagte ihm, daß fie von ſchwacher Sefunbheit fei
ängftlih das Zimmer büte. Dies Fremd ⸗
jein Wand an Wand erregte fein Nachdenken.
Allmählich wurde es ihm klar, daß er unter
lauter fremden Menfchen herumging und von
der Mitleidsfchüffel fpeifte Einer nahm ihn
und nährte ihn; da kam ein Wagen, und er
murde geholt, Ein andres Haus; eines Tages
wirft man fein Zeug auf die Gafje: wieder mo-
andershin.
Wie Ins 8 das zu? Andre lebten ftändig an
ihrer Stelle, Tannten ihr Bett von Kindheit an,
keiner durfte fie losreißen, fie hatten Rechte, Das
war e3, fie Hatten angeftammte und gewaltige
Nechte. Es gab Arme, die um Geld dienten,
die zu den Füßen derer lagen, welche man als
reich bezeichnete, ſelbſt die jtanden irgendwo feſt
185
auf der Erde, hielten irgend etwas feſt in den
jänden, fie verrichteten eine Arbeit, man bezahlte
fie für die Arbeit und fie Eonnten hingehen und
ch ihre Brot kaufen. Der eine machte Röcke,
er zweite Schuhe, der dritte baute Säufer, der
vierte war Soldat, und fo war einer dem andern
Schutz und Hilfe und befam einer vom andern
Speife und Trank. Warum konnte man fie nicht
wegreißen von der Stelle, wo fie hauften?
Darum war e3, ja, darum war's: weil fie
eines Vater? und einer Mutter Sohn waren.
Das hielt einen jeden. Vater und Mutter trugen _
jeden zur Gemeinfchaft der Menjchen und zeigten
ſomit allen andern an, woher er gekommen ſei
und mas er fein wollte,
Das war es, Cafpar wußte nicht, woher er
gelommen fei; aus irgendeinem unentdedbaren
rund war er, er ganz allein vaterlos, mutter-
los. Und er mußte es herausbringen, warum.
Er mußte zu erfahren fuchen, wer und wo fein
Bater und feine Mutter waren, und vor allem
mußte er hingehen und fich feinen Plab erobern,
von dem man ihn nicht vertreiben Tonnte.
An einem Winterabend betrat Herr von
Tucher Cafpar3 Zimmer und fand ihn tief in
ſich gelehrt. Zwei⸗ oder dreimal möchentlich
prsgte ‚Herr von Tucher nach beendetem Tage
merk feinen Bögling zu befuchen, um I ein
wenig mit ihm zu unterhalten. Es lag Dies im
Schema de3 Erziehungsplanes, Das Prinzip
verlangte aber von Herrn von Tucher, daß er
eine würdevolle Unnahbarfeit bemwahre; das
Prinzip zwang ihn, auf die Freuden eines natür-
lichen Verkehr zu verzichten. Und wenn es ihm
auch manchmal ſchwer wurde, folche Ueberwindung
186
zu üben, fei e8 durch ein eignes Bedürfnis, ſich
mitzuteilen, ober weil_ein jtumm forſchender Blick
Caſpars an fein Herz faßte, es gab kein
Schwanten, das Prinzip, mig wie ein Vitzli⸗
pußli, verftattete nicht, daß man die Grenze der
Zurückhaltung mehr als nüßlich überfchreite.
Wie er aber Caſpar fo gewahrte, verborgenem
Sinnen bingegeben, ergriff ihn der Anblid doch
und feine Stimme nahm wider Willen einen
milderen Klang an, als er den Jüngling um die
Urfache feines Nachdentens beftagte.
Caſpar überlegte, ob er fich auffchließen dürfe.
Wie bei jeber Gemütsbewegung war die linke
Seite feines Gefichtes konvulſiviſch durchzuckt.
Dann ftrich er mit einer ihm eignen unnachahm-
lich Tieblichen Gefte die Haare von ber einen
Wange gegen dad Ohr zuräd und fragte mit
einem Ton aus innerjter Bruft: „Was fol ich
denn eigentlich werden ?"
Ba von Tucher beruhigten dieſe Worte jo-
leich. Er machte eine Miene, als wolle er jagen:
ie Rechnung ftimmt. Darüber Kar er auch
ſchon nachgel ach, erwiderte er; Safpar möge
ihm doch jagen, wozu er am meiften ft bat.
PR Gafyar ſchwieg und ſchaute unentſchloſſen vor
fü
Wie wäre es mit ber Gärtnerei?" fuhr
Herr von Tucher wohlmollend fort. „Oder wie
wäre e3, wenn du Tifchler würbeft ober Buch⸗
binder? Deine Papparbeiten find ganz vortreff-
lich, und du könnteſt das Buchbindergewerbe in
kurzer Zeit erlernen."
„Dürft’ ich dann alle Bücher leſen, die ich
einbinden fol?" fragte Caſpar verjonnen, der fo
gedudt ſaß, daß fein Kinn die Tifchplatte berührte,
187
‚Herr von Tucher runzelte die Stirn. „Das
bieße eben den Beruf vernachläffigen,” ant-
mortete er.
„Ich könnte ja auch Uhrmacher werden,"
fagte Caſpar; er hatte in dieſem Augenblic eine
ziemlich überfpannte Vorftellung von einem Uhr-
macher; er jah einen Mann, der im Innern
hoher Türme fteht und den Gloden zu läuten
befiehlt, der goldene Rüden | ineinander fügt und
duch einen Bauberfprud die Beit unfichtbar
macht und in ein winziges Gehäufe bannt. Ueber⸗
haupt mit folchen Namen war es ſchwer; nicht
fein Wollen lag dahinter, fondern ein unbegreifs
lich verwickeltes Bild des ganzen Lebens. Herr
von Tucher, voll Argwohn, als wurzle in dem
Gehaben Caſpars doc fein wahrer Exnft, erhob
fih und fagte kalt, er werde fi die Sache
überlegen.
Um nächſten Abend wurde Cafpar in Herrn
von Tucher8 Bimmer gerufen. „Ich bin nun
mit — auf unſer geſtriges geſrac zu fol⸗
gendem Entſchluß gelangt," fagte der Baron;
„du bleibft das Frühjahr us den Sommer über
noch in meinem Baus. Wenn du fleißig bift,
kann deine Ausbildung in den Elementarfächern
bis zum September beendet fein, deſſen verfichert
mic) aud Herr Schmidt. Damit nun der Ta,
ein ununterbrochene8 Ganzes für dich wird, follit
du des Mittags nicht mehr mit mir effen, ſon⸗
ve alle Mahtpeiten auf deinem Zimmer ein-
nehmen. Ich werde bald mit einem anftändigen
Buchbindermeiſter drehen; wir wiffen dann,
woran wir find. Biſt du’ ‚ufrieben, Gafpar?
Der haft du andre Wünfche? Nur frifch heraus
mit der Sprache, du kannſt noch immer wählen.“
188
Ein flüchtiger Schauer lief Cafpar über den
Rücken. Er ſchüttelte ſich ein wenig, ſetzte ſich
nieder und ſchwieg. Herr von Tucher wollte ihn
nicht weiter bebrängen, er wollte ihm Zeit laſſen.
Eine Weile ging ex hin und her, dann nahm er
vor dem Flügel Platz und fpielte einen Iangjamen
Sonatenjat. Es gejchah dies nicht aus — er
Laune; am Dienstag und Freitag von fe is
ſieben Uhr abends ſpielte Herr von Tucher
Klavier, und da der Kuckuck der Schwarzwälder
uhr foeben ſechs gefrächzt hatte, wäre eine Ver-
fäumnis fehr gegen die Regel gemejen.
Es war eine ziemlich ſchwermütige Melodie,
Für Caſpar war dergleichen eine Qual; fo gern
er Märiche, Walzer und Iuftige Lieder hörte —
die Anna Daumer, die kann fpielen, ja te er
immer —, ſo unbehaglich war ihm bei eigen
Tönen. MS Herr von Tucher den Schlußakkord
bes Stückes angefchlagen hatte, fich auf dem Dreh⸗
ſeſſel umkehrte und Salpar fragend anfchaute, dachte
ex, ex folle de äußern, wie es ihm gefalle, und
er jagte: „Das ift nichts. Traurig Tann ich von
alleine fein, dazu brauch’ ich feine Muſik.“
ert von Tucher zog erjtaunt die rauen in
die Höhe. „Was mabeft du dir an?" entgegnete
er ruhig. „Ich habe kein mufikalifches Urteil
von dir verlangt, und ich habe nicht den Ehrgeiz,
deinen Geſchmack in diefer Hinficht zu veredeln.
Im übrigen geh auf dein Zimmer.“
Caſpar war es ganz lieb, daß er nicht mehr
mit dem Baron zu efjen brauchte. Das fteife
Beieinanderſitzen erfchien ihm jedesmal unfinnig
und läſtig. Vieles entzückte ihn an dieſem
Manne, beſonders feine Ruhe und fein fachtes
Sprechen, das überaus Reinliche feines Körpers,
189
die porzellanweißen Zähne und vor allem die
tofigen gewölbten Nägel ber langen Hände. Er
Tannte viele Leute mit blafjen Nägeln und miß-
traute ihnen; blaffe Nägel ermecten ihm die
Dorfeltung des Neides und der Graufamteit.
och immer hatte Caſpar das Gefühl, als
ob Here von Tucher auf irgenbmoefehe Art ſchlechte
Nachrichten über ihn erhielte und fich davon be-
tören lajje; es war ihm manchmal, als müffe er ihm
äurufen: e8 ift ja alles nicht wahr! Aber was?
Was follte nicht wahr fein? Das mußte Cafpar
nicht zu fagen.
In feiner Einfamkeit war ihm zumute, als
feien die Menfchen feiner überdräffig und gingen
damit um, fich feiner zu entledigen. Er war
voller Ahnungen, voller Unruhe. In Nächten,
wo der Mond am Himmel ftand, verlöfchte er
die Lampe früher als ſonſt, fegte fich ans Fenfter
und verfolgte unverwandt die Bahn des Geſtirns.
An Vollmondtagen ward er häufig unmohl, e3 .
feor ihn am ganzen Leibe, erſt der Anblic des
Mondes felbft nahm den Drud von feiner Bruft.
Er mußte, von welchem Dach oder zwifchen
welchen Giebeln bie helle Scheibe emporfteigen
müffe, bob fie wie mit Händen aus der Tiefe
des Himmels heraus, und wenn Wolfen da
waren, zitterte er davor, daß fie den Mond be-
rühren Fönnten, weil er glaubte, das fteahlende
Licht müffe befleckt werden.
Sein Ohr ſchien in biefer Zeit manchmal den
Lauten einer Geifterwelt zu lauſchen. Eines
Morgens erhob er ſich während des Unterrichts
löslich, ging um Fenfter und beugte fich weit
inaus, ge chmidt, der Studiojus, ließ ihn
gewähren, als es aber zu lange dauerte, rief er
190
ihn zurüd,. Caſpar richtete fich auf und ſchloß
das Fenſter, fein Geficht war jo bleich, daß der
Studioſus beforgt fragte, was ihm jei.
„Mir war, wie wenn jemand käme," verſetzte
Cafpar.
„Wie wenn jemand käme? Wer denn?“
„Sa, wie wenn mich jemand unten gerufen
*
e.
Der Studiofus fand dies wunderlich. Er
dachte eine Weile nach und hätte gern eine Frage
geftellt. Es war da neuerdings in ber Stadt
viel von einer feltfamen Gefchichte die Rede, die
Cafpar ul, oder auf ihn gedeutet wurbe und
die in allen Journalen, auch draußen im Reich,
des langen und breiten durchgehechelt wurde.
Aber weil Herr von Tucher dem Studioſus aufs
Er verboten hatte, mit Cafpar jemals über
—J— a zu fprechen, nahm er fi zufammen
und ſchwieg.
Nun Hatte Cafpar jeit Monaten die Ge-
wohnheit, alle Zeitungsblätter, die ihm in die
Hand kamen und die er fich zum Teil heimlich
zu verichaffen wußte — denn Herr von Tucher
fürchtete von diefer Seite her Beeinfluffungen
mit gutem Grund —, aufs genauefte durchzu-
leſen. Hin und wieder geſchah es, daß er irgend⸗
eine Nachricht, eine Mitteilung über NEN elbſt
entdeckte, und obgleich ex noch nie etwas Wejent-
liches gefunden hatte, befam er jedesmal $
Hopfen, fobald er nur feinen Namen - gebru
ſah. Sur Zeit nad jenem Heinen Zwiegeſpräch
mit dem Lehrer fpielte ihm ber Zufall eine ſchon
mehrere Tage alte Nummer der „Morgenpojt“
in die Hände, und beim Lefen fand er folgende
eigentümliche Erzählung:
191
Vor mehr als zehn Jahren hatte ein Fifcher
bei Breiſach eine ſchwimmende Flaſche aus dem
Rheinftrom- gezogen, und dieſe Flaſche enthielt
einen Bettel, auf welchem gejchtieben ftand: „Im
einem unterirdiichen Kerfer bin ich begraben.
Nicht weiß der von meinem Kerker, der auf
meinem Thron fist. Graufam bin ich bewacht.
Keiner Tennt mich, feiner vermißt mic, feiner
rettet mich, feiner nennt mid." Dann kam ein
halb unlejerliher und verftellter Name, von dem
alle deutlichen Buchitaben auch im Namen Cafpar
Haufer enthalten waren.
Alles das war damals ſchon von einigen Zei⸗
tungen gemeldet worden, war aber bei dem Mangel
jeglichen Anhaltspunttes natürlich wieder in Ver-
geffenheit geraten. Da hatte vor vier Wochen
etwa irgendein ungenannter Schnüffler den Vor—
fall aus einem alten Jahrgang der ‚Magdeburger
Zeitung‘ neuerdings ans Licht gebracht. Andre
Sournale bemächtigten I der Angelegenheit, die
nah und nad viel Staub aufmwirbelte. Auf
einmal wurde nachgewieſen, daß feinerzeit ein
Piariftenmönd von einer gemiffen Negierung
bezichtigt wurde, die Flafche in den Rhein ge
worfen zu haben. Es ftellte fich ferner heraus,
daß derjelbe Mönch plötzlich verſchwunden und
eines ſchönen Tages im Elſaß, in einem Wald
der Vogeſen, ermordet aufgefunden worden war.
Den Täter hatte man nie entdeckt.
„Wenn auf diefe Spur hin das fterium,
das über dem Findling ſchwebt, nicht endlich ge-
lüftet wird,“ rief der Querulant in der ‚Morgen-
poft‘, nachdem er die Gefchichte alfo ausführlich
berichtet hatte, „dann gebe ich feinen Pfifferling
für unfre ganze Juſtizpflege!“
192
Cafpar las und las. Zwei Stunden ver-
brachte er damit, die wunderliche Hiſtoria immer
wieder von vorn anzufangen und beinahe jedes
einzelne Wort zu überlegen. Dabei überrafchte
ihn der Studioſus; er vergemwifjerte fi, daß es
eben diefelbe Affäre fei, von der er neulich nicht
fprechen gewollt, und fagte Haftig: „Ci, was
treiben Sie da, Gafpar? Was jagen Sie übrigens
dazu? Die meiften Leute halten es für Quark,
trotzdem es ein unmiberlegliches Faktum ift, daß
die Sache damals in der ‚Magdeburger Zeitung‘
geftanden hat. Was jagen Sie dazu, Hauer?"
Cafpar hörte faum; als der Mann feine
Frage wiederholte, erhob er das Geficht, ſchlug
den feuchten Blict zum Himmel empor und fagte
leife: „Ich hab’ e8 nicht gejchrieben, was da
vom Kerker fteht."
„Vom Kerker und vom Throne," fügte der
Studiofus mit fonderbarem und begierigem Lächeln
hinzu. „Daß Sie es nicht gejchrieben haben,
glaub’ ich ſchon, Sie haben ja das Schreiben
erſt bei uns gelernt."
„Aber wer kann e3 gefchrieben haben?"
„Wer? Das ift eben die Frage. Vielleicht
einer, der helfen wollte; ein verborgener Freund
vielleicht."
„Vom Kerker und vom Throne," lallte Caſpar
mit willenloſen Mund. Er begab Bin in die
Dfenede, kauerte fich auf einem Schemel zufammen
und verſank in tiefe Grübelei. Weder Auf noch
Mahnung noch Befehl vermochten ihn zu weden,
und der Studiofus, der ſich ſchuldig fühlte, blieb,
um fein Auffehen zu machen, die Stunde über
figen und entfernte fih dann ſtill.
Am felben Abend war eine Afjemblee im
Baffermann, Gafpar Haufer 18 193
Tucherfchen Haus, alle Freunde der Familie
waren geladen, und eine halbe Stunde lang
dauerte das Wagengerafjel vor dem Haus. ALS
die erſten Tanzweiſen vom Saal heraufihallten,
begab fich Gajpar in den Korridor und horchte.
€r hatte nicht mehr Zutritt zu folchen Feſten.
Während er noch ftand, ans Geländer ge-
preßt, den Kopf vorgebeugt, und er fich jo recht
verjtoßen vorkam, berührte eine Hand feine
Schulter. Es war der Lakai, der ihm auf filberner
Platte einige Sup feiten brachte. Caſpar air
telte den Kopf un ir te: „Süßes mag ich nicht,"
worauf der Diener ihn mürriſch mit den Blicken
maß und ſich zu gehen anfchicte,
Da kamen Schritte von der zweiten Treppe
ber, die unbeleuchtet war, und unverſehens ftand
die alte Freifrau in graufeidenem Kleid und fei-
dener Haarfchärpe vor den beiden; indem fie
ihre blauen Augen ftreng in die des Jünglings
bohrte, fagte fie jtolz und befremdet: „Süßes mag
er nicht? Warum mag er denn Süßes nicht?"
Sie kam von unten; Caſpar roch deutlich
den Menfchendunft an ihren Gewändern. Es
war ihre Art, fich früh zurückzuziehen. Bevor
fie zur Ruhe ging, pflegte fie täglich durch dag
janze Haus zu wandern, um nachzufehen, ob fein
er jei und fein Dieb fich eingejchlichen habe.
Vor ihren rauh klingenden Worten duckte
Caſpar den Kopf. Es ift anzunehmen, daß feine
Phantafie ungewöhnlich erregt war. Plötzlich
ſpürte ex eine lähmende Furcht. Schwärze ſtieg
um ſeine Augen, es war ihm, als habe er die
Stimme des Vermummten gehört, und den Arm
ausſtreckend, ſchrie er bittend: „Nicht ſchlagen,
nicht fchlagen!"
194
Die alte Dame, die e8 fo fchlimm eben nicht
gemeint hatte, blicte verwundert und erfchroden
auf, Indes hatte Caſpars lauter Schrei die
Aufmerkjamfeit einiger Gäfte erregt, die im uns
teren Flur auf und ab fpazierten. Sie wandten
fih an Heren von Tucher, und dieſer ging die
Treppe empor, gerolgt von einigen Herren. Unter
der Gefellichaft im Saal’ verbreitete ſich das Ge
rücht, es jei etwas paffiert, und da Caſpars
Aufenthalt im Buße, natürlich befannt mar,
dachten alle an ein Ereignis wie das bei Daumer
vorgefallene. Es entitand ein Schweigen, bie
Tanzmufif verftummte, viele drängten hinaus,
befonder die jungen Damen waren erregt, und
. eine Anzahl von ihnen ftieg die Treppe empor
und blieb ſchauend ftehen.
‚Herr von Tucher, der. dies alles aufs pein⸗
lichſte empfand, wie ihm denn jedes unnüge Auf⸗
jehen ein Greuel war, ſchickte fih an, Caſpar
zur Rebe zu ftellen, wurbe aber durch das vers
fteinerte Bild des Jünglings abgeſchreckt, auch
— ihn die beſtürzte Haltung feiner Mutter
rung, ging etwas Ungeheures in Cafpar vor.
Ihm war, als habe er, was jett geſchah, ſchon
einmal erlebt. Wie mit einer Sturzwelle riß es
ihn zurüd, und die Zeit fchien ihren Atem ans
zubalten. Da mar die alte Frau, fürftlich ger
chmückt und ma, aeftätii anzufehen; mie, glich
je nicht einem Bei, das einft in ein Gemach
gefommen, wo auch er geweſen war, und hatte
Ihe Gegenwart nicht alle andern exftarren laſſen?
Lag —*— jemand auf dem Bett und vergrub den
Kopf in die Kiffen? Da mar der Diener, der
eine filberne Platte in Händen hielt; war das
195
nicht alt? Stand nicht auch damals einer da,
der Geſchenle brachte oder Süßes oder Koftbares?
Da waren feierlich gefleidete Männer, die auf
einen Befehl zu harren ſchienen, darauf warteten,
daß_einer Täme, +] feftlicher angetan als fie
keit, vor dem fie fic) verneigen mußten? Und
ieſe ſchlanken weißen Mädchen in weißen
Schleiern, deren Blicke tief und bang mwaren?
Und hier oben die Dämmerung, die ſich über
zahllofe Marmorftufen hinab ins Licht verlor?
Cafpar hätte jauchzen mögen, denn er erſchien
ſich fremd umd zugleich von allen angebetet; fie
jenften das Haupt, fie erfannten den Herrn in
ihm; ja, er ahnte, was er war und von wo er
tam, er fpürte, was jenes Wort vom Kerker und
vom Throne zu bedeuten hatte; ein geifterhaftes
Lächeln umjpielte feine Lippen.
‚Herr von Tucher bereitete dem unangenehmen
Auftritt ein möglichft ftilleg Ende. Er führte
Gatpar in fein Zimmer, gebot ihm, ſich zu Bett
u begeben, wartete, bis er lag, verlöjchte dann
Kst das Licht und fagte beim Hinausgehen in
ſcharfem Ton, er werde ihn am andern Morgen
wegen feiner ungehörigen Aufführung zur Rechen-
ſchaft ziehen. .
Darum feherte ſich Cafpar wenig. Es wurde
auch nicht viel aus der gedrohten Abrechnung.
Herr von Tucher jah ein, daß den Grundfäßen
eigentlich nichts zuleide gefchehen war. Sein
Koch verriet ihm im hohlen Ton der Prophezeiung,
Caſpar fei mondfüchtig und werde ficherlich ein-
mal auf3 Dad; fteigen und herunterftürzen. Herr
von Tucher konnte den Mond nicht abfchaffen;
da der Jüngling krankhaften Zuftänden unter-
worfen ſchien, durfte man ihn für gewiſſe Fehl-
196
teitte nicht verantwortlich machen. Ob Caſpar
Tischler oder Buchbinder werden folle, war noch
immer unentfchieden. Es mußte hierzu die Mei
nung be3 Präfidenten Feuerbach eingeholt werden.
Ser: von Tucher nahm fich vor, im April nach Ans⸗
ach zu fahren und mit dem Präfidenten zu fprechen.
Cafpar aber war voller Erwartung. Ex
wartete auf einen, der kommen mußte, auf
einen, der irgendwo unter den Menſchen ging
und den Weg zu ihm fuchte, und fo feit war der
Glaube an diefen Kommenben, daß er jeden Morgen
dachte: Heute, und jeden Abend: morgen. Er
lebte in einem bejtändigen innerlichen Spähen,
und feine ahnungsvolle Freude glich einem Traum.
Aber wie der Pfau feinen Schweif niederfchlägt,
wenn er feine häßlichen Füße gewahrt, jo machte
feine eigne Stimme, fein eigner Schritt ihn fehon
wieder gaghaft, um wie viel mehr erſt der An-
blick von Menjchen, die täglich feine Erwartung
enttäufchen mußten.
in ganzes Treiben in diefer Zeit mar
aufiergervößnlih, und_die aufmerkſam horchende
Spannung gegen ein Leeres bin hatte etwas von
Wahnwig. Freilich, zufammengehalten mit dem
Verlauf der Ereigniffe bot fie ein andres Geficht
und hätte einem Mann wie Daumer abjonder-
lichen Stoff für feine Ideen geliefert.
Es Tauerte viel Heimliches und Feindfeliges
auf Caſpars Wegen, und e3 überlief ihn kalt,
wenn im Nebel ein Tropfen von einer Dachrinne
pt Angftvorftellungen begleiteten ihn Bis in
en Schlaf, und weil er oftmal3 erwachte und
die Finfternis ihn quälte, bat er, daß man neben
N ett ein Dellämpchen brennen laſſe. Dies
geſchah.
197
Einftmald in einer Nacht fpürte er, noch
rar ein eigentümli Ziehen im Ge
ſicht, als ob ihn von oben her ein kühler Atem
fteeife. Jählings richtete er fich auf, blickte über
Bett und Wand und gemahrte eine große Spinne,
die an einem Faden in der Nähe feines Kopfes
ding. Entſetzt fprang er aus dem Bett, und
unfähig, ſich zu regen, beobachtete er, wie das
Tier Fr aufs Kifjen niederließ und über das
weiße innen Troch, einen gligernden Faden hinter
ſich herſchleppend.
Caſpars ganzer Leib war wie mit einer neuen,
ſchaudernden falten Haut bedeckt. Ex preßte die
Hände zufammen und flüfterte angftvoll und
jeltfam ſchmeichelnd: „Spinne! Was. fpinnft
du, Spinne?"
Die Spinne ducte den gelblichen Leib.
„Was fpinnft du, Spinne?" wiederholte er
lehend.
Das Tier überklomm den Bettpfoſten und
gewann die Mauer. ‚Was ſchickſt du dich denn
fo, Spinne?" hauchte Cafpar. „Warum fo eilig?
Sudjft du was? tw’ dir nichts ...“
ie Spinne war ſchon oben an der Dede,
Caſpar feste ſich auf den Stuhl, wo die Kleider
hingen. „Spinne, Spinne!" fagte er tonlos vor
ih hin. Es ſchlug vier Uhr draußen und er
jatte ſich noch immer nicht ins Bett, zurüd-
etraut. Dann, ehe er fich hinlegte, wiſchte er
iffen und Wand eifrig mit dem Tafchentuch ab.
Er trug von der unbefleidet verwachten
Stunde eine Erkältung davon, die ihn mehrere
Tage ans Lager feffelte. Er wurde Bau, des
Warten war er fehon mühe. Obwohl ihm
ſchließlich nichts mehr fehlte, hatte er Teine Luft,
198
das Zimmer zu verlaffen. von Tucher
nahm feinen Zuſtand für ein —
Zwiſchenſpiel; als er ſich jedoch überzeugte, Di
ſowohl — vorſaͤhi je Gleichgültigleit wie He
gütiger Zuſpruch fruchtlos blieben und daß da
eine unverftellte feelenvolle Betrübnis waltete,
ward er bejorgt.
Nun geſchah es an einem biefer Tage, daß
ein —— Bote im Haus vorſtellig wurde,
der zu Cafpar geführt zu werden verlangte, um
ihm einen Brief auszuhänbigen. Herr von Tucher
Dermeigerte die Erlaubnis dazu. Nach einigem
Bedenken überließ ihm ber Mann das Schreiben
und entfernte ſich mwieber. Bu von Tucher hielt
fih für —5— den Brief zu öffnen. Er war
von rätfelhafter Fa} Jung; noch vätfelhafter da⸗
Buch, daß ihm ein — Diamantring beilag,
den Cafpar Damit ale 8 Geſchenk befam. Herr
von Zuch er war une g, —E er tun ſolle.
Brief Ring dem Gericht oder dem Präſidenten
Feuerbach auszuliefern, erſchien ihm das rat-
ſamſte. Doch widerſprach es immerhin ſeinem
Rechtsgefühl. ine flüchtige Stimmung von
Weichheit gegenüber Cafpar ließ ihn den Vorſatz
völlig Dergeffen; ex hoffte, den Jüngling aus
feiner Niedergefchlagenheit aufzurätteln, und
dieſen Zweck erreichte er volllommen. Ex brachte
Brief und Ring herbei.
Caſpar las: „Du, der du das Anrecht —
zu fein, was viele leugnen, vertrau dem Freun
der in der Ferne für dich wirft. Bald wird er
vor die ftehen, bald dich umarmen. Nimm
-einftweilen den Ring als Beichen feiner Treue
und bete für fein Wohlergehen, wie er für das
deine zu Gott fleht."
189
Als Cafpar dies gelefen hatte, drückte er das
Geficht gegen den Arm und weinte ſtill für fich
bin. Here von Tucher ſaß am Tiih und ließ
den ſchönen Stein des Rings nachdenklich im
Sonnenlicht fpielen.
Der englifche Graf
In den Nachmittagsftunden eines der lebten
Apriltage rollte ein vornehmer Reifemagen vor
die Einfahrt des Hotel3 zum wilden Mann, und
alsbald verließ ein hochgewachſener Herr den
Schlag und begrüßte Teutjelig den herbeiftirgen-
den Wirt, der eines ſolchen Gaftes nicht gewärtig
war, ba in feinem Haufe faft nur Kaufleute und
Handlungsrerfende verkehrten. Der Fremde for-
derte die beiten Zimmer, und ohne ſich nad) dem
Preis zu erkundigen, fchritt er durch das Spalier
von Gaffern in das meitbogige Tor. Diener
und Kutjcher trugen die Koffer, den Nachtſack
und fonftige Reifegegenftände in die Halle. Der
Antömmling verlangte von felbjt das Fremden⸗
buch, und bald konnie jeder ehrfürchtig-fhaudernd
die mit Riefenfchrift gefchriebenen Worte leſen:
„Henry Lord Stanhope, Earl of Chefterfield, Pair
von England."
Das Ereignis machte ſolches Auffehen in der
Gegend, daß noch fpät abends Leute auf der
Gaſſe ftanden und zu den hellen Fenftern empor-
ſtarrten, hinter denen der erlauchte Herr Iogierte.
Am nächften Morgen gab der Lord in der Woh—
nung de3 Bürgermeiſters ſowie bei einigen Nota-
bilitäten der Stadt feine Karte ab, und ſchon
200
wenige Stunden darauf erhielt er in feinem
Quartier die Gegenbefuche, vor allem denjenigen ö
Binders, der fich der früheren Anweſenheit des
Lords natürlich wohl erinnerte.
In der ziemlich Iangen Unterredung mit dem
Bürgermeifter geftand Graf Stanhope ohne Um—
chweife, deß wie jenes erſte Mal ſo auch heute
ie Perſon des Caſpar Hauſer den Grund ſeines
Aufenthaltes in der Stadt bilde. Er hege für
den Findling die größte Teilnahme, fagte er und
ließ durchblicken, daß er etwas Entjcheidendes für
ihn zu unternehmen gefonnen ſei.
Der Bürgermeifter ermiderte, er verftatte
Seiner Herrlichkeit, ſoweit es die Vorfchriften
erlaubten, freien Spielraum.
„Was für Vorfchriften?” fragte der Lord raſch.
Binder verjeßte, Herr von Tucher fei Kurator
des Findlings habe weitgehende Rechte und
werde der Einmiſchung eines Fremden nicht
freundlich gegenüberftehen; außerdem könne man
ohne Wiflen de3 Staatsrats Feuerbach feine
Veränderung befürworten, die das Leben Cafpar
Hauſers betreffe.
Der Lord machte ein befümmertes Geficht.
„Da werde ich einen ſchweren Stand haben,”
bemerkte er. Hierauf erkunbigte ex fi), ob man
wegen des Ueberfalls im Daumerf Haufe
irgend Anhaltspunkte gewonnen habe und ob die
jeinerzeit von ihm ausgeſetzte Prämie feinen Emp-
fänger habe finden können. Dies mußte Binder
verneinen; er entgegnete, die jo großmätig zur
Verfügung geftellte Summe liege unangetaftet auf
dem Rathaus und Seine Lordichaft könne fie zu
Oeliebiger Stunde zurücerhalten, da doch jede
Entdedungsausficht nunmehr geſchwunden jei.
. 201
san en zuge gt —* — —*
ließlich mit der ung geſellſchaftli—
Pflichten. Zu Mittag, zum Tee und zu rg
mar er eingelaben oder gab fleine, aber exzellente
Mahlzeiten in feinem Hotel, wozu er eigens einen
franzöfifhen Koch in Dienft nahm. Wenn e8
feine geheime Abſicht war, fich auf diefe Weife
Freunde und Bewunderer zu verfchaffen, jo blieb
ihm darin nichts zu wünjchen übrig, Wenn er
den Zweck verfolgte, all die guten Leute und ihre
Gefinnungen kennen zu lernen, fo fiel ihm das
nicht ſonderlich ſchwer; man gab fich rückhaltlos,
man fühlte fich geehrt durch feine Gegenwart,
man _beftaunte jeine geringften Handlungen.
Jeder Anlaß war ihm recht, um das Geſpräch
auf Caſpar Haufer zu lenken; er wollte miflen,
immer Neues willen, ſchwelgte in den rührenden
Einzelheiten, die man zu berichten wußte, fand
es aber dabei doc nicht notwendig — eine Unter-
lafjung, die allerdings auffallend gefunden
wurde —, den Profeflor Daumer zu bejuchen,-
fondern begnügte fi) damit, den Gefängnis-
wärter Hi zu fih kommen zu lafjen und ihn
auszufragen.
Hi, von diefer Auszeichnung etwas aus dem
Gleichgewicht gebracht, fehilderte % beweglich, daß
e3 von einem unter Verbrechern ergrauten Mann
wunderbar zu hören war, jene hold verlorene
Weben und ergreifende Darnieberfinten Caſpars
während feines Aufenthalts im Turm; zum
Schluß vief er, glühend vor Eifer, er, was an
ihm Tiege, er werde die Unfchuld des Sünglings
bezeugen, und wenn Gott jelber da8 Gegenteil
behaupte, ar Stanhope war fichtbar er-
ſchüttert; er lächelte, fagte, Hier fei ja nicht von
202
— die Rede, und entließ den Mann fürſtlich
ohnt.
Nun endlich entſchloß er ſich, Herrn von
Tucher und damit auch Caſpar ſelbſt gegenüber
zutreten. Wenn man ihn verwundert gefragt
hatte, weshalb er dies jo lang verzögere, hatte
ex erwibert, er bedürfe dazu feiner ganzen Samm«
lung und Seelenfraft, denn vor dem Augenblid,
wo er Gafpar zum erftenmal fehen werde, fei
ihm bange, freudig bang wie einem Kind vor
dem Weihnachtabend.
‚Herr von Tucher befand fich in feinem Arbeits:
zimmer, al8 man ihm die Karte de Engländers
brachte. Es verfteht & von jelbft, daß er
von der Anmefenheit Stanhopes in der Stadt
Kenntnis hatte und von deſſen Umtrieben unter-
richtet war. Da er in jedem Fall einen Friedens»
fire in ihm ſah, war er nicht zugunften des
Mannes voreingenommen.
Nah allen ®ı Hreibungen hatte er in dem
Fremden eine liebenswürdige und geminnende
Erſcheinung zu finden erwartet; gleihwohl war
ex überrafcht, ais er den vornehmen Gaft auf
Id zufchreiten fah, und im Nu ſchwand feine
urch das ; görenfogen und trübe Vorgefühle ent-
ftandene Abneigung.
Es war allerdings etwas Gefährliches um
den Mann, das fpürte Herr von Tucher auf den
erſten Blick, doch ebenfojehr Iag ein beftrickender
Neiz von Weltlichleit und geiftreicher Anmut
über feiner Berfon. Da feine Saltın ſtolz war,
erſchien die Bartheit der ſchlanken Geftalt nicht
weibiſch; die Züge, durchaus engliſch markant,
waren edel_gejchnitten und ließen die fahle Fär-
bung der Haut vergefien; das wechſelnde Feuer
208
der durchfichtigen Augen erinnerte bald an die
fanfte Gazelle, bald an die Ruhe des Tigers,
kurz, Herr von Tucher wurde in einen Zuftand
angenehmer Spannung und Erregung verjeßt,
der duch das fchnell in Fluß gebrachte Gefpräch
nicht im mindeſten betrogen wurde.
Die bloßen Fragen des Lord nach Caſpars
Teiblicher und geiftiger Verfafjung befundeten
ſchon einen Menfchen von hoher Einficht und
Kenntnis des Lebens, und was er jagte, eroberte
die Buftimmung des Hörers mühelos.
Auf die Beweggründe de3 Hierfeins kam er
von felbft zu fprechen. Was er vorbrachte, lang
unbeftimmt genug; er mar augenfcheinlich ein
Meifter in der Kunft, feine wahren Abfichten zu
verjchleiern, aber fein Argwohn konnte Herrn
von Tucher beifallen. Der Name Stanhope gab
ausreichende Bürgfchaft. Was. konnte einen Lord
Stanhope verhindern, deutlich zu fein? War es
nicht Feingefühl und angeftammter Takt, fo war
& eine Verjchwiegenheit, bie zugleich das Ge
löbnis enthielt, zur gebotenen Stunde alles ſchick-
lich offenbar zu machen. Herr von Tucher fand
II dadurch eher verpflichtet als enttäufcht; ohne
ie ausgefprochene Bitte des Lords abzuwarten,
fragte er höflich, ob e8 ihm genehm jei, Caſpar
u fehen. Indem er die Verficherung der Dant-
arkeit feines Gaftes lächelnd abwehrte, läutete
ex und gab Auftrag, daß man den Züngling hole.
Es entftand nun eine Stille; Herr von Tucher
verblieb in unmillffirlichem Laufchen an der Tür,
und der Lord faß mit übergefchlagenen Beinen,
den Kopf in die behandſchuhie Linke geſtützt, das
Gefiht dem offenen Fenfter zugekehrt. Es war
ein fonniger Sonntagnacdhmittag ; der Himmel lag
204
blauftrahlend über dem fächrigen Gejchiebe der
roten Dächer, zwitjchernde Schwalben ſchoſſen
längs der grauen Häuferfronten hin. Als Caſpar
in das Zimmer trat, veränderte Stanhope lang-
jam die Richtung feines Blickes, und ohne jenen
eigentlich anzufehen, ſchien er doch das ae
Bild des Menfchen in ſich feitzufetten. Noch
während Cafpar, dur ein paar rafche Worte
des Heren von Tucher über die Perfon des
illuſtern Mannes belehrt, auf den Grafen zuging,
erhob fich diefer und ſagte mit überrajchender
Erregung und fichtlich tiefberähtt: „Caſpar!
Alfo endlich! Gefegnete Stunde!" Dann ftredte
ex die Arme nach ihm aus, und wie zu einem Tor,
das ihm nach, jehnfuchtSnollem Harren aufgetan
worden, begab fih Caſpar in diefe_geöffneten
Arme, ein heller, ſcharfer, Fühler Strahl der
Freude durchfuhr ihn von oben bis unten, und
ex vermochte weder zu fprechen noch ſich zu
vegen.
as war er, der aus weiter Ferne am.
Von ihm der Ring, von ihm die Botjchaft.
Schon oben, al8 er die Kalefche vor dem Haus
ſtillhalten ß ört, war eine Erftarrung von
Caſpars Gliedern gefallen, und als der Diener
ihn vief, war es, als ob ein Morgenjchein das
Haus durchglühe. Als er die Schwelle des Bim-
mer3 erreicht hatte, ſah Caſpar nur ihn, den
Fremden, Fremdvertrauten, und wie wenn ihm
bisher die Hälfte feines Herzens gefehlt hätte,
fühlte er fi auf einmal ganz geworden, rund
und neu: mit gebadetem Auge ſah er fich ſelbſt,
zwedvoll erſchaffen. Mild an ihre Glode ſchlug
die Uhr und das Licht des Nachmittags war wie
Honig und füß zu ſchmecken.
205
Auf den Lord übte die wunderbare Ergriffen-
heit Caſpars anfcheinend große Wirkung. Für
ie Dauer mehrerer Sekunden war jein Gelicht
heftig bewegt und die Augen trübten ſich wie in
peinvollem Erftaunen. war ohne Zweifel
verwirrt, die allzeit dienftbare Phrafe verfagte
fi ihm, und bei der erften zärtlichen Anrede
ang die fonft ſeidenweiche Stimme rauf. Mit
der Hand ftreichelte er Caſpars Haare, gesbte
die Wange des Junglings gegen feinen Bufen,
und ein verlorener Bli traf den ſtumm abjeit3
fiebenben Heren von Tucher, der mit Berwun-
rung die ungewöhnliche Szene beobachtete.
Stanbape bat ihn dann, weil das Verhüllte des
Borgangs zu irgendeiner Klärung drängte, oh
er Caſpar für einige Stunden mit fich nehmen
dürfe, ein Anfuchen, dem Herr von Tucher nicht
widerſtehen Tonnte.
Bald darauf ſaß Caſpar an der Seite des
Lords im Wagen; der Polizift mußte natürlich
mit und faß Eintenauf, Während das Gefährt
zum Tor hinaus gegen die Marfeldgärten rollte,
entſpann ſich langſam ein Geſpräch.
Caſpar klagte, zum erſtenmal durfte er klagen.
Doch war er ſchon verſöhnt mit dem Augenblick,
wo geſchehenes Unrecht als ſolches erkannt und
verſtanden wurde. Vie Welt ſchien ſchlecht bis
auf dieſen Tag, jetzt tat ſich ihr Himmel auf und
es zeigte ſich ein waltender Arm.
Doch nicht ſo ſehr um das Nahgeſchehene
handelte ſich's: bier war einer, der wiſſen
mußte! Cafpar fragte. Kühn und leidenſchaft⸗
in fragte er: wer bin ic}? wer war ih? was
fo 18 wo ift mein Vater? wo meine Mutter?
Und die Antwort des Grafen? Verlegenheit.
206
Eine Umarmung. „Geduld, Caſpar; bis morgen
nur Geduld: das läßt ſich nicht in einem Atem-
a abtun, allzuviel ift zu Tagen. Erzähl mir
lieber: wie haft du gelebt? Erzähl von deinen
Träumen. Dan jagt mir, du habeft wunderbare
Träume. ° Erzähl!"
Caſpar ließ nicht lange bitten. Die weſens⸗
vollen Gebilde machten den Laufcher ftugig, er
umfchloß Caſpar feiter und verbarg fo fein Ge—
nit vor ihm; bei der gejchilderten Erſcheinung
er Mutter fuhr er wie vor Schreck zufammen,
und abermals juchte er abzulenken, wollte Einzel-
heiten über das Leben Caſpars im Daumerfchen,
im Beholdfchen Haufe willen; der Gegenjtan
war gefahrlos. Stanhope fand fich ergößt durch
Caſpars urfprüngliche und bezeichnende Aus:
drucksweiſe, die komiſche Anwendung von Sprich:
mwörtern und Nürnberger Redensarten. Auf dem
Rückweg fragte er, wo Caſpar den Ring habe,
den er ihm gefchidt. „Hab’ mich nicht grau,
ihn an den Singer zu tum," antwortete Cafpar.
„Warum denn nicht?"
„Weiß nicht warum."
„War er dir nicht ſchön genug?"
„D nein; umgekehrt wird ein Schuh draus,
Viel zu fehön war er mir. Hab’ immer Herz
Hopfen gehabt, wenn ich ihn angeſehen.“
„Aber jest wirft du ihn tragen?“
., da, jegt will ich ihn tragen, Jetzt weiß
ich, er gehört wirklich mir."
Der Wagen hielt vor dem Tor, Stanhope
nahm zärtlichen Abſchied von Cafpar und beftellte
ihn für den nächiten Vormittag in den Gaft-
hof. „Auf Wiederfehen, Liebling!" rief er ihm
noch zu.
207
‚ Gafpar ftand beflommen. Jetzt kroch die Zeit
wieder träge. Jeder Schritt ind Haus war ein
ſchmerzliches Sichentfernen aus dem Kreis des
herrlichen Mannes; mas jeßt die Hand, der Blick
berührte, war alt, war tot.
Schon um zehn Uhr morgens war er im
„Wilden Mann“. Der Unterrichtsftunde war er
einfach entlaufen; hätte ihn jemand abzuhalten
verjuht, er wäre an einem Strict vom Fenfter
heruntergeflettert.
Der Lord kam ihm in der oberen Halle ent-
gegen, küßte ihn vor vielen Bufchauern auf die
Stirn und führte ihn ins Empfangszimmer, wo
auf einem Tiſchlein Geſchenke für Cafpar lagen:
eine goldene Uhr, goldene Hemdfnöpfe, filberne
SHubfnallen und feine weiße Wäfche. Cafpar
traute feinen Augen nicht, der Ueberſchwang des
Dantes verjperrte ihm die Kehle, er wußte nichts
andres, als immer nur die freigebige Hand des
Spenders in der feinen feftzuhalten.
Der Lord nahm den ftillen Anſturm mit ge
rührtem Schweigen auf. Aber nachdem fie ein
paarmal Arm in Arm durch die Mitte des
Raumes gewandelt waren und Cafpar noch immer
‘mit fichtbarer Anftrengung nach Be feiner
Erkennilichkeit rang, ermahnte ihn Stanhope janft,
er möge doch jeden Dank unterlaffen. „Diefe
Dinge find ja nur geringfügige Merkmale meiner
Liebe zu dir,“ fagte er; „Das Wirkliche, das
Große, was ich für dich tun will, bleibt der
Zukunft vorbehalten. Inzwiſchen bleibe du fo,
wie du bift, mein Cafpar, denn fo bift du mir eben
recht; nicht geräufchvoll in Worten, aber zuverläffig
in deinem Herzen. BZuverläffig und treu ſollſt du
mir bleiben, ein Sohn, ein Kamerad, ein Freund.”
208
Caſpar feufzte. Das war zu viel des Glücks.
Nie hätte er geglaubt, daß ein Menfchenmund
fo fprechen könne. Bur Beteuerung war er ohn-
mädtig, nur fein Auge gab Kunde in einem
ſchwärmeriſchen Blick.
Stanhope öffnete eine Tür und geleitete den
Jungling zu einer Heinen Frühſtückstafel, die im
Nebenzimmer bloß für fe beide gedeckt war. Sie
nahmen Plab, der Lord füllte Wein in die Gläfer
und lächelte fonderbar, als Caſpar erklärte, er
trinke niemal® Wein. „Wie wird es dann wer-
den, Cafpar, wenn wir zufammen in die Länder
de3 Südens reifen? Auf allen Hügeln glüht dort
der Wein und die Luft ift voll davon. Was
ſchauſt du mid fo an? Glaubft du mir nicht?“
Wirklich? Werden wir wirklich zufammen
reifen?" fragte Caſpar jubelnd.
„Gewiß werden wir das. Denkjt du denn,
daß ich mich von dir trennen will? Oder denkſt
du, daß ich dich in diefer Stadt laffe, wo dir
fo viel Uebles widerfahren ift?"
„Alfo fort? Wirklich fort? Fort in die weite
Ferne!“ vief Caſpar, preßte wie außer ſich beide
Hände vor den Mund und zog in freudigem
Krampf die Schultern bis an die Ohren. „Was
wird aber Herr von Tucher dazu jagen? Und der
Herr Bürgermeifter? Und der Herr Präftdent?"
fügte er hinzu, vor lauter Haft plappernd, wäh:
rend fich in feinem Geficht die ganze Betrübnis
malte, die er bei der Vorflellung empfand, jene
Männer Tönnten die Pläne des Grafen miß-
billigen oder zunichte machen.
„Sie werden es gefchehen laffen, fie werden
feine Gewalt mehr über dich Haben, dein Weg
führt dich über fie empor," antwortete Stanhope
Baffermann, Gafpar Haufer 14 209
snft und fah Cafpar zugleich mit einem ſcharfen,
ja durchbohrenden Blick an.
Cafpar erbleichte, von einem grenzenlofen
Gefühl überwältigt. Während in feiner Bruft
Wunſch und Zweifel, dunkel umfchlungen, alle
Kräfte der Seele an ſich sogen, erhob ſich vor
Kan Geifte Yeuchtender als je das Bild der
rau aus dem Traumfchloß. Mit einer ergreifen-
den Gebärde des Flehend wandte er fih zu
Stanhope und fragte: „Herr Graf, werden Sie
mich zu meiner Mutter bringen?"
Stanhope legte Meſſer und Gabel beifeite
und ftüßte den Kopf in die Hand. „Hier liegen
fuehthare Geheimniſſe, Caſpar,“ flüfterte er
umpf. „Ich werde reden und ich muß reden,
aber du mußt ſchweigen, feinem andern Menfchen
darfft du vertrauen als mir. Deine Hand,
Caſpar dein Gelöbnis! Hergensmenfch ! Ungtüct
lich⸗Glücklicher, ja, ich will dich zu deiner Mutter
bringen, die Vorfehung hat mich ermwählt, dir
zu helfen!“
Cafpar ſank hin, die Beine trugen ihn nicht
mehr, fein Kopf fiel auf die Knie des Grafen.
Die Luftadern pochten um ihn, ein Schluchzen
Töfte die ungeheure Spannung feiner Bruft. „Wie
foll ich denn zu dir reden?" fragte er mit der
Kühnheit eines Trunfenen, denn die Formeln, in
denen man fonft zu Menfchen fpricht, erjchienen ihm
fremd, fte taten feiner dankbaren Liebe nicht genug.
Der Lord bob ihn jachte empor und fagte
zärtlich: „Recht jo, das traute Du fol zwiſchen
und herrſchen; du follft mich Heinrich nennen,
als ob ich dein Bruder wäre."
In fo inniger Nähe erblickte fie der ein-
tretende Bebiente, der den Bürgermeifter und den
210
Regierungstommiffär anmeldete. Durch die ger
öffnete Tür forderte der Lord die Wartenden
ins Zimmer. Es fah aus, als wünſche er, daß
die beiden Zeugen feiner Liebfofungen gegen
Caſpar würden. Er tat, als könne er fich nicht
von ihm trennen; da die Befucher nach ehrfürch⸗
tigem Gruß Pla genommen, fehritt er, noch
leife plaudernd und ihn bei der Schulter um-
ſchlungen haltend, mit Cafpar auf und ab, fo-
dann begleitete er ihn zur Stiege, eilte zurück,
ging ans Fenfter, beugte fich hinaus, ſah Caſpar
Hi und winkte ihm mit dem Tafchentuch. Die
Verwunderung feiner Gäfte wohl bemerfend,
mäßigte er fich troßdem nicht, im Gegenteil, er
gebärdete ſich wie ein Derliebter, der jeine Emp-
findungen ohne Scheu _preisgibt.
Die Gefchente des Lords wurden einige Stun-
den nachher ins Tucherfche Haus gebracht. Herrn
. von Tucers Erftaunen beim Anblid der wert
vollen Gaben war groß. „Ich werde dieſe
Gegenftände an mich nehmen und aufbewahren,”
äußerte er zu Caſpar nach einigem Nachdenken;
„es fteht einem zukünftigen Buchbinderlehrling
nicht an, derlei auffallenden Luxus zu treiben.”
Da hätte man Cajpar jehen follen! „O nein,” rief
er aus, „das gehört mir! Das ift mein, und ich will's
haben, das darf mir feiner nehmen!" Seine Haltung
war geradezu drohend, und fein Blick funtelte,
u3 Herrn von Tuchers Zügen wich alle
Farbe. Ohne eine Silbe zu erwidern, verließ er
das Zimmer. Alſo ein Undankbarer, dachte er
bitter, ein Undanfbarer! Einer, der eis —
die Gelegenheit nutzt und den einen Wohltaͤter
„ verleugnet, wenn ber andre beſſer zahlt!
Die Grundfäge hörten auf zu triumphieren.
au
Sie machten ein zerfnirfchtes Geficht und hüllten
fih in Sad und Ace. *
Nachgiebigkeit wäre in diefem Fall eine un-
würdige Schwäche, deren ich mich fhämen müßte,
fagte fich Herr von Tucher. Aber was tun?
Soll ich Gewalt anwenden? Gewalt ift un—
moralifeh. Er wandte fi) an Lord Stanhope
und trug ihm die Sache vor. Der Graf hörte
ihn freundlih an, er gab ſich Mühe, die Ver—
gehung Gafpars als eine kindiſche Maßlofigkeit zu
verteidigen, und verſprach, ihn dahin zu bringen, daß
er dem Bormund die Gefchente freiwillig überreiche.
Here von Tucher war von der Liebenswürdig-
keit des Lords bezaubert und verließ ihn im
befter Zuverficht. Auf den verheißenen Gehor-
ſam Caſpars wartete er aber vergeblich. Kein
Zweifel, die Mühe des Lords war ohne Erfolg
geblieben; fein Zweifel, Caſpar verftand es, den
gätigen Mann zu befchwagen. Kein Zweifel,
iefer Burſche war mit allen Salben glemirt
ein Charakter voll Heimlichkeit und Lift. Biel
zu ſtolz, um einen Dritten zum Mitwifier feiner
niebderfchmetternden Srfahrungen zu machen, be
gnügte ſich Herr von Zucher vorläufig, den Er⸗
eigniffen ruhig zuzuſehen, wenn auch mit dem
Verdruß eines Mannes, der ſich Bintergangen
jasıt Daß Cafpar fich nicht ein einziges Mal
erwogen fand, über die Art feiner Beziehung zu
dem Lord, über den Gegenftand ihrer Gefpräche
ich zu äußern, verlegte ihn tief; einen folchen
angel an zutraulicher Mitteilfamfeit hätte er
zum allerwenigften erwartet.
In der eriten Zeit hatte fich der Lord darauf
befehräntt, Gafpar im Tucherfchen Haus zu bes _
fuchen oder ihn Höchftens nach förmlich erbetener
212
Erlaubnis des Barons zu einer Spazierfahrt ab⸗
zuholen. Allmählich änderte fi) das, und er
beftellte den Jüngling an fremde Orte, mo
Cafpar3 unvermeidliche Leibwache fih fünfzig
Schritte entfernt halten mußte. Herr von Tucher
führte beim Bürgermeiſter Beſchwerde; er bes
hauptete, der Lord handle damit feiner ausdrüd-
lich gegebenen Zufage entgegen. Aber was fonnte
err Binder tun? Durfte er den vornehmen
errn zur Rede ftellen? Er wagte einmal eine
ſchüchterne Andeutung. Der Lord beruhigte ihn
mit einem Scherz; um nicht für wortbrüdig zu
elten, war e8 leicht, den Verſtoß auf Caſpars
nbefonnenheit zu jchieben.
So fah man die beiden auffallenden Geftalten
häufig am Abend durch die Gaffen wandeln.
Arm in Arm; im eifrigen Gefpräc, achteten fie
der Blicke nicht, die fie verfolgten. Meift gingen
fie über den Stadtgraben und dann auf die
urg; hier durfte fih Gafpar wehmütiger Er-
innerung überlafjen; der düftere Turm barg die
größten Schreckniſſe feines Lebens, und wenn er
auf die Stadt niederfchaute, wo zwinkernde
Lichter aus vielen Fenftern das dunkelverſchlungene
Gaffengewirr belebten, vernahm er mit ganz an-
dern Gefühlen die Stundentöne der Glode; jebt
band und einte die Zeit ihre Schläge und zerriß
fie nicht mehr zu Paufen des Grauens.
Der Lord wurde nicht müde zu erzählen. Er
erzählte von feinen Reifen. Er verſtand es,
Dinge und Begebenheiten mit einfachen Worten
zu malen. Caſpar erfuhr von den Alpen und
daß dort Berge mit ewigem Schnee feien und
ückliche Täler, wo freie Menfchen lebten. Er
fa Italien — das Wort war ſchon ein Rauſch —,
218
geſchmückte Kirchen, enorme Paläfte, Gärten mit
wunderbaren Statuen, voller Rofen, Lorbeer und
Orangen, einen märchenhaft blauen Himmel und
die fchönften Frauen. Er fah das Meer und
Schiffe mit blanfen Segeln auf der Flut. Seine
Sehnfucht wurde fo 83 ß er manchmal
Ba lachen mußte. Einmal wirklich dort fein
ürfen in den Ländern der Sonne und der un«
befannten Früchte, dort fein dürfen, und das
bald, folche Hoffnung machte das Herz ftillftehen.
Es war eine Freude, die weh tat.
An einem regnerifchen Abend befanden fie fih
im Hotel. Der Lord öffnete eine Truhe und
zeigte einige3 von den Schäßen, die er auf feinen
Reifen gejammelt. Da waren feltene Münzen
und Steine; Kupferftiche, Statuetten, Gemmen,
Kameen, Perlen und altertümliches Gefchmeibe;
ein geweihter Rofenkranz aus dem Heiligen Land;
ein filberner Becher mit kunſtvoll gravierten
Figuren; eine Bibel mit den herrlichiten Initialen
und Malereien, ein Damaszenerdold mit gol-
denem Griff, der Siegefring eines PBapftes, ein
indiſcher Mantel aus Seide, beſtickt mit Sternen;
ein pompejanifches Lämpchen und altfranzöfiiche
RVorzellanväschen und vieles andre, alles jeltfam,
alles fremdartig, alles be jinem Duft von weiter
Welt und ob Sc)
Das en Sh ih Dam n urfürften von Mainz
bekommen," fagte der Lord etwa, „und dies ift
ein Gefchent de3 Herzogs von Savoyen; dieſe
ſchöne Miniature habe ich bei einem Händler in
Barcelona gekauft, und dies Tonfigüicchen jtammt
aus Syrafus, Da ift ein Talisman, den hat
mir Scheit Abderrahman verehrt, und diefe
orientalifchen Stoffe hat mir meine Bafe aus
214
Syrien geſchickt; fie ift eine wunderliche Perſon,
zieht mit Arabern und Beduinen durch die Wüfte,
ſchläft in Zelten und treibt Alchimie und Aſtrologie.“
Welche Laute, welche Fernen! Mit offenbarer
Luft ſchürte der Graf das Feuer des Verlangens
in Caſpar. Vielleicht nahm er es mit feinen
Verheigungen ernft. Vielleicht bereitete es ihm
bloß eine Wonne, Wunſch und Lüfte aufzus
peitfchen. Vielleicht war es nur ein Spiel der
Rede. Bielleicht aber das furchtbare Dergnügen,
dem Bogel im Bauer, im nie zu öÖffnenden, jo
lange vom Flug durch den goldnen Aether zu
erzählen, bis endlich der jubelnde Freiheitsgefang
durch feine Kehle bricht.
Wie er ſprach, wie er die Worte befaß!
Zwiſchen den Lippen und den weißen Zähnen
fpielte das Lächeln wie ein Liftiges Tierchen. Er
war nicht gleichmäßig heiter. Was war das?
Oft 309 Finfternis über fein Geficht. Bisweilen
pflegte er aufzuftehen und wie ein Zaufcher an
die Tür zu treten. Seine Lieblofungen waren
nicht felten vol Schwermut, dann jaß er wieder
Famzeigenb da, und fein fuchender Blick glitt
üfter an dem Süngling vorüber. Da faßte
Cafpar einmal Mut und fragte: „Biſt du denn
eigentlich, gieis, Heinrich ?"
„Glücklich, Caſpar? O nein. Glüdlich, was
fprichft du da? Haft du fchon von Ahasver ge
hört, dem ewigen Juben, dem ewigen Wanderer?
Er gilt als der unglüdlichite aller Menſchen.
Ah, ich möchte mein Leben vor dir aufblättern,
denn auf feinen dunfeln Seiten liegt der Gram.
Aber ich darf nicht, ich ann nicht. Später vielleicht,
wenn dein eigne3 Geſchick fich entjchieden Hat, wenn
du mit mir in meine Heimat gehſt ...“
215
„Sit denn das möglich, wird denn das fein?"
Es jhüttelte den Lord plötzlich; es war, als
werfe er einen Mantel ab oder wolle ſich einem
unſichtbaren Druck entziehen. Eine krampfhafte
Lebendigkeit ergriff ihn, er begann von Caſpars
künftiger Größe zu fprechen, doch wie ſtets nur
in Geheimnisvolen Wendungen und mit der feier-
lichen Ermahnung zur Verjchwiegenheit. Ja, er
ſprach von Caſpars Reich, von feinen Untertanen,
und das zum erjtenmal, wie einem Zwang ge-
horchend, jelber ſchaudernd, felbft zitternd, immer
von neuem das Gelöbnis des Schweigens be-
tonend, Singerifien von einem Phantom —
und alle Gefahr vergeſſend. „Ich will Dich
führen; ich will deine —* zermalmen, du bift
taufendmal mehr wert als jeder einzelne von
ihnen. Wir gehen zuerft nach dem Süden, um
fie irreguführen, dann fliehen wir zu mir nad
Haufe, jchaffen uns einen Hinterhalt, von wo
die Verfolger zu treffen find, mo man Kräfte
fammeln kann für den entjcheidenden Schlag."
Wieder zur Tür; wieder laufchen; nachjehen,
ob fein Horcher verftectt fei. Dann, ängſilich
ablentend, fchilderte der er feine Heimat, den
Frieden eines englifchen Landfiges, die herrenhafte
Unabhängigkeit auf es em, Gebiet; die
tiefen Wälder und Haren Flüffe, die balfamifche
Luft, das behagliche Weilen überall, Frühling,
Herbſt und Winter, eingefchloffen in einem Ring
unfchuldiger Genüffe.
ſolchen Bildern lag etwas von der Weh-
mut reuigen Gewiſſens und dem Schmerz eines
ayf immer DVerftoßenen. Zum andern Teil aber
enthielten fie viel von der modiſchen Empfind-
jamfeit, die auch das verhärtetfte Gemilt unter
216
Umftänden davon fehwärmen ließ, feine felbft-
eichaffene Unraft am Bufen der Natur zu be
änftigen. Und dann ſprach er doc von jeinem
Leben. Er wußte fih als einen Mann darzu-
ftellen, der, vielbeneidet, mit Ehren und Aemtern
und greifbaren Önetsgitern beladen, gleichwohl
das Opfer feinblicher Mächte ift. Das Schickſal
trat in romantischer Verkleidung auf und jagte
den Sohn eines verfluchten Gejchlechts unftet
von Land zu Land. Vater und Mutter tot, ehe
malige Freunde gegen den edeln Sproß des
Su es verſchworen und er, ein Mann von fünfzig
Jahren, ohne Heim und Weib und Find,
Ahasver!
Derlei EntHüllungen öffneten wie nichts fonft
Caſpars Herz der Freundichaft. Denn da war
enblich einer, der ſich gab, fich öffnete, die Ver-
mummung abmarf. Es war bitterfüße Luft, die
angebetete Geftalt den Sodel verlaſſen zu jehen,
auf dem fie für alle übrigen thronte,
Was ihn betrifft, er bot in diefer Zeit das
Schaufpiel eines ruhenden Menfchen; außen und
innen ruhend, gelöft von hemmender Feffel, Blick
und Gebaͤrde gelöft, bie Geftalt aufgerichtet, die
Stirn wie entjchleiert, die Lippen gejchwellt von
einem beftändigen Lächeln.
Er wurde feiner Jugend inne. Er dehnte
fih aus, e8 war ihm, als jei er ein Baum und
jeine Hände wie Zweige voller Blüten. Ihm fchien,
als ftröme fein Blut einen Wohlgeruch aus; die
Luft ſchrie nach ihm, das Land ſchrie nach ihm,
alles war voll von ihm, alles nannte feinen
Namen.
Er pflegte manchmal laut mit fich felbft zu
reden, und wenn er dabei überrafcht wurbe, lachte
217
er. Die Leute, die mit ihm in Berührung famen,
waren bezaubert; fie fanden fein Ende, die über
alles Tiebliche Erſcheinung zu preiſen, in der Kind
und Jungling zu rührendem Verein gediehen
waren. Es gab junge Frauen, die ihm zärtliche
Briefchen fchrieben, und Herr von Tucher wurde
vielfah mit Bitten beläftigt, ihn von einem
Maler Eonterfeien zu laffen.
Das üble Gerede gegen ihn war auf einmal
wie verblafen. Keiner wollte je etwas Schlechtes
eſagt haben, die eingefleifchten Widerfacher duckten
ih, die ganze Stadt warf fich plößlich zu feinem
jeſchützer auf. Es hieß mit immer fühnerer
Deutlichkeit, man müfje ihn gegen die Machen-
haften des englifchen Grafen in Schuß nehmen.
Eines Tages mußte Stanhope zu feiner
größten Beſtürzung wahrnehmen, daß er von
allen Seiten peinlich überwacht und behorcht war.
Er mußte ſich entfchließen zu handeln.
Die geheimnisvolle Miffion und was
ihrer Ausführung im Wege fteht
Schon lange hieß es an allen Wirtshaus-
tiichen, der Lord wolle Caſpar Haufer an Na em
Statt annehmen. In der Tat ftellte Stanhope
Mitte Juni den förmlichen Antrag an den Ma—
giftrat, ihm den Jüngling zu überlaffen, er
wünfche für feine Zukunft zu jorgen. Der Ma-
giftrat ließ durch den Bürgermeiſter erwidern:
zum erften, daß ein folches Erſuchen in pleno
vorgetragen werden müffe; zum zweiten, daß der
218
Lord vor allem den Nachweis eines hinlänglichen
Vermögens erbringen müffe, damit die Stadt
eine fichere Gewähr für das Wohlergehen ihres
Pfleglings habe.
Slanhope nahm den Befcheid ſehr ungnädig
auf. Er ging zum Bürgermeifter, zeigte ihm
feine Orden, die Peplaubigum en fremder Höfe,
jogar vertrauliche SL hoher Fürftlichkeiten;
Here Binder, bei aller Ehrfurcht vor Seiner Lord»
ſchaft, bedauerte, den einftimmigen Beſchluß des
Kollegium nicht rückgängig machen zu können.
Der Graf war unvorfichtig genug, in einer
Geſellſchaft, wo er zu Gaft geladen war, jeine
Geringſchätung gegen das pedantifch-überhebliche
Vürgerpad zu äußern. Dies wurde ruchbar, und
obgleich er I beeilte, in einem Brief an ben
Magiftratsvorftand fein Benehmen zu entſchul⸗
digen und es al3 einen duch Weinlaune verur-
ſachten Ausbruch verzeihlichen Aergers hinzus
ftellen, machte die Sache doch böfes Blut. Der
Argwohn war einmal geweckt. Man wollte
wien, daß er in feinem Hotel häufig Perſön⸗
Tichleiten von zmeifelhaftem Ausfehen empfange,
mit denen er Hinter verfchloffenen Türen lange
Derhandlungen führte. Wie kommt e8 überhaupt,
fragte man fi, daß der angeblich fo reiche und
oornehme Dann fein Quartier in einem Gaft-
haus zweiten Ranges nimmt? Fürchtet er am
Ende, von feinen eignen Landsleuten gejehen zu
werden, wenn er wie fie im „Adler” oder im
„Bayriſchen Hof“ wohnt? Dies ſchien plaufibel,
wenn man einer unverfolgbaren Nachricht trauen
durfte, die irgendwer eines Tages verbreitete und nach
welcher der Lord ehedem ala Traftätchenverfäufer
im Dienft der Jefuiten in Sachſen herumgezogen fei.
219
Stanhope beeilte ſich zu reifen. Er ftattete
dem Bürgermeiſter in feiner Kanzlei einen Ab-
ſchiedsbeſuch ab und ſprach von dringlichen Ge-
ſchäften, die ihn megberiefen; bei feiner Rückkunft
werde er den geforderten Vermögensnachweis vor⸗
legen. Bugteid deponierte er fünfhundert Gulden
in guten Scheinen, welche Summe ausichließlich
ii die kleinen Wünfche und Bedürfniffe feines
iebling® zu verwenden fei. Der Vürgermeifter
wandte ein, daß eigentlich Herr von Tucher die
Verwaltung biejes Geldes übernehmen müſſe,
doch der Lord fchüttelte den Kopf und meinte,
in Heren von Tuchers Verfahren liege zu viel
vorgefaßte Strenge, er handle nad) einem er-
dachten Ideal von Tugend, eine fo zarte Lebens-
Pflanze könne nur in liebevollfter Nachficht aufs
gezogen werden. „Seien mir doch eingebent,
daß das Schickſal eine alte Schuld an Gafpar
abzutragen hat und daß es engherzig ift, immer-
fort hemmen und befchneiden zu wollen, wo die
Natur jelbft gegen den Willen der Menfchen ein
fo herrliches Gebilde erzeugt hat.”
Der Ernſt diefer Worte wie auch das hoheits⸗
volle Weſen des Lords machten großen Eindrud
auf den Bürgermeijter. Er fprach nochmals fein
Bedauern darüber aus, daß die Abfichten des
Grafen nicht jogleich verwirklicht werden konnten,
und verficherte, daß die Stadt es fich ftet3 zur
Ehre rechnen würde, einen folchen Gaſt in ihren
Mauern zu beherbergen.
Don bier begab ſich Stanhope unvermeilt zu
Heren von Tucher. Man jagte ihm, der Baron
jei mit einigen Bekannten auf die Jagd geritten,
auch Cafpar fei ausgegangen, müfle aber in
Bälde zurückkehren, er möge zu warten geruhen.
220
Ungebuldig fehritt er in dem großen Salon auf
und ab. Er nahm die Brieftafche heraus, zählte
Geld, notierte mit dem Bleiftift Ziffern auf ein
Blatt, wobei er mit den Zähnen knirſchte und
der feine weiße Hals fa langfamı dunkelrot färbte
wie bei einem Trinker. Er jtampfte aufden Boden,
. das Gefiht war förmlich aufgerifien, der Blick
gligerte. „Gottverdammte Beftien,“ murmelte er,
an auf den ſchmalen Lippen lag eine wilde Ver-
achtung.
Da war nicht? mehr von der Gemeſſenheit
und Würde des Edelmannd, DO, Herr Graf,
muß der Vorhang des öffentlichen Theaters nur
für eine Viertelftunde ‘fallen, damit der Schau-
pieler, überbrüffig der qutgelernten Rolle, fein
geſchminktes Anilitz zu furchtbarer Wahrheit ver-
ändere? Schade, daß fein Spiegel in dem Raum
angebracht war, vielleicht hätte er den Lord zur
Befmmung gebraht und zur Behutſamkeit er-
mahnt, denn e3 brauchte ja nur jchnell eine Tür
aufzugehen, und da8 Stück begann von neuem.
Aber zeugte diefer Umftand nicht zugunften des
Grafen? Wäre mehr Beherrſchung nicht ein
Beweis von größerer Kunft gemejen? Der echte
Komödiant tragiert fein Spiel auch leeren Räumen
vor und macht jelbjt die Wände zu Zufchauern.
In diefer Bruft aber waren noch Stimmen des
Verrats, in ihrer Tiefe war noch Sturm, ihr
dumpfes Höhlengetier hatte noch Augen, die vom
Strahl der Wandelbarkeit getroffen wurden.
Es ſcheint, daß der Lord ein chlechter Rechner
war, denn die aufgeftellten Zahlen wollten nicht
das notwendige Ergebnis liefern, fo daß er immer
wieder von neuem begann und mit gerungelter
Stirn einzelne Poſten auf ihre Richtigleit prüfte.
221
„Für Popularitätszwede entichieden zu wenig,”
jagte er mürriſch, eine Aeußerung, deren Un-
bedachtfamfeit dadurch gemildert war, daß ſie in
engliſcher Sprache getan wurde, Dann noch ein
fonderbaresg Wort, unheimlich anzuhören, nicht
wie aus einem geiftreichen Schaufpiel, ſondern
wie aus einem Räuberdrama: „Wenn der Graue
ſich wieder bliden läßt, will ich ihn in den
Schwanz fneifen; feine’Beute ift wahrhaftig groß
genug. Kronen find feine Marktware, er mag
ehrlicher im Zeilen fein.“
Bellagenswerter Lord! Auch die Einfam-
feit hat ihre Laute. Durch eine fchlechtver-
ſchloſſene Fenfteripalte zwängt fi) der Wind,
und e8 gleicht einer Stimme, oder das Holz
der jahrhundertalten Möbel zieht fich zufammen,
und es klingt wie ein Schuß ober wie ein
Miniaturgemwitter. Zudem war Graf Stan
hope abergläubiih; das Rieſeln der Kalkkörner
hinter den Tapeten erinnerte ihn an den Tod;
wenn er mit dem Iinfen Fuß ein Zimmer betrat,
wurde ihm übel und ängftlih. Dies war hier
geſchehen; er nahm fich zufammen und fehmieg,
um fo mehr al3 er vom Flur herauf Caſpars
helle Stimme hörte; er begab fich wieder in feine
Rolle, die Augen gewannen ihren geelenbaften
Glanz zurüd, er holte einen Band Roufjeaufcher
Schriften aus dem Bücherregal in der Ede, ſehte
fih in den Lehnftuhl und begann mit finniger
Miene zu leſen.
Und doch, als Caſpar eintrat, als das freude
verflärte Antlit aus dem Dämmer tauchte, da
zitterte empfundener Schmerz über die Züge des
Lords und eine plögliche Verzagtheit raubte ihm
die Sprache. Ja, er wurde verwirrt, er lenkte
222
den Blick abjeits, und Bil als Caſpar, dur
das fremdere Weſen betroffen, ihn leiſe anrief,
brach er das Schweigen; e3 Tag nahe, die bevor-
ftehende Neife als Grund der Verftimmung an⸗
zuführen, aber der Zuftand inneren Zurückbebens
und jähen Wankelmutes in ſolchen Augenbliden
war dem Lord nicht unbekannt, Fe Pi
ſich heute ftärker als fonft fühlbar machte. Ihm
war dann, als ob der Anblick des Fünglings
den vorgefeßten Willen lähme, als ob mühfam
aufgebaute Pläne zufammenbräcen, wie von
einem Orkan gefaßt, jo daß er das Werk wieder
von vorn beginnen Tonnte, wenn er allein war
und fid erholt hatte; er glich dann der Pene-
Iope, die, was fie tagsüber kunſtvoll gejponnen,
bei Nacht wieder in feine Fäden trennte.
Caſpars wehmütige Klage bei der unerwar-
teten Kunde wurde nicht Belhmigti t durch den
Hinweis, daß fein eignes Wohl ice Trennung
erforderlich made, auch nicht durch die Ver—
fiherung Stanhopes, daß er jobald als möglich,
vielleicht ſchon nad) Verlauf eines Monats, zus
rüdtehren werde. Caſpar fchüttelte den Kopf
und fagte mit erfticter Stimme, die Welt fei gar
u groß; er umklammerte den Freund und bat
Venen, mitgenommen zu werden, der Graf
ſolie den Diener entlafen, er, Cajpar, wolle
dienen, er brauche fein Bett, auch feinen Lohn,
er wolle wieder von Brot und Waſſer leben.
„Ah, tu e8, Heinrich!" rief er unter Tränen.
„Was fol ich denn ohne dich hier anfangen?"
Der Lord ftand auf und befreite fich fanft
aus den Armen des Jünglings. Der Teoft, den
er ſpenden durfte, vettete ihn vor fich ſelbſt und
verlieh feinen Worten größeres Gewicht. „Daß
223
du fo Heinmütig bift, Caſpar, beweiſt ein Kleines
Vertrauen zu mir," fagte er, „mie fannft du nur
glauben, daß Gott, der uns endlich vereinigt hat,
und num wieder voneinander reißen wird? Das
bieße feine Weisheit und Güte verdächtigen. Die
Welt ift ein Bau von hoher Harmonie, und der
Menſch findet fich zum Menfchen durch ein aus-
ermwähltes Geſetz; halte du deine Beftimmung feſt,
fo tragen did) Raum und Zeit ans Ziel, und ob
ih eine Stunde lang oder wochenlang von dir
fort bin, gilt gleichviel vor der Gemwißheit der
Erfüllung. Wartet doch mancher bis zum Tod
auf den Erisfer und wird nicht ungeduldig. Auch
mußt du dich beherrjchen lernen, Cafpar; Fürſten⸗
föhne weinen nicht."
€3 war mittlerweile dunkel geworden; der
Lord führte Cafpar zum offenen Fenſter und ſprach
bewegt: ¶ Blick auf zum Himmel, Cafpar, jchau,
mie die Sterne durch das Firmament breden!
In diefem ie wollen wir uns erkennen.”
Mit Befriedigung bemerkte Stanhope, daß
Caſpar nachdenklich wurde und, feierlich geftimmt,
ſich der _zügellofen Derzweiflung ſchämte, die
feinen Zwang des Wechſels anerkennen, feine
Zukunft gegen die beglüdte Gegenwart in Kauf
nehmen — Es war, als ſpüre Caſpar die
höhere Notwendigkeit, welche die Schichſale fteigert
und heimlich ineinander ſtickt; vielleicht erwachte
fein verwundert umherſchauendes Auge in diefer
Stunde zum Begreifen und der Damm, der den
Strom der Sehnfucht hemmte, wurde eine Kraft
der Seele; die befiegte Leidenfchaft adelt den
Jüngling zum Mann. Fürftenföhne weinen nicht;
ein ftarke8 Wort; der leife Windhauch, der die
Vorhänge baufchte, flüfterte es nad).
224
Der Lord ſchaute auf die Uhr und erklärte,
daß er Eile habe, er wolle der Hite wegen die
Naht duch fahren. Bor dem Wagen unten
nahm er Abjchied; Stanhope reichte Cafpar einen
Heinen mit Goldftücen gefüllten Beutel; er gebot
ihm, damit nach feinem Belieben zu fchalten und
feiner Einrede Gehör zu leihen.
Diefe unbedachte oder vielleicht ſchlau berech⸗
nete Weifung verjchuldete ein ernſtes Zerwürfnis
zwifchen Gajpar und feinem Vormund. Herr
von Tucher erfuhr von dem abermaligen Gejchent
des Grafen und verlangte, daß — ihm das
Geld abliefere. Caſpar weigerte ſich wiederum,
Herr von Tucher befiand jedoch mit feiner ganzen
Autorität darauf, und er würde Gewalt an-
‚gewendet haben, wenn nicht Caſpar, eingeſchüchtert
duch Drohungen wie durch das Gefahr der Ab»
mefenheit jeines mächtigen Freundes, Hein bei—
gegeben hätte. Doch verhartte er in dumpfer
uflegnung, und dies brachte Herrn von Tucher
außer fich. „Ich werde dich aus dem Haus ſtoßen,“
Tief ex, nicht mehr fähig, fich zu beberefchen, „ich
werde deine Schande der Welt offenbaren; man
ſoll dich endlich Kennen lernen, du Schlad!"
Caſpar, betrübt und erregt, glaubte in feiner
Weiſe ebenfalls drohen zu follen. „Ach, wenn
da8 der Graf wüßte, der würde Augen machen!"
fagte er erbittert und mit naiver Bedeutſamkeit,
als ob e3 in der Macht des Grafen läge, jedes
Unrecht zu fühnen.
„Der Graf? Auch gegen ihn machſt du dich
ja des Undanks ſchuldig,“ verſetzte Herr von
Tuer. „Wie oft hat er mir verfichert, er habe
dich zur Folgfamkeit und Treue ermahnt, habe
dich Himmelhoch gebeten, deinen Wohltätern feinen
Waffermann, Gafpar Haufer 16 225
Anlaß zur Klage zu geben. Du aber mißachteſt
fein Gebot und bift feiner großmütigen Liebe
ganz und gar unwürdig.“
Caſpar erftaunte. Won folhen Ratjchlägen
des Grafen wußte er nichts, eher vom Gegenteil;
ex beftritt daher, daf der Lord dergleichen gejagt
babe. Da ſchalt ihn Here von Tucher mit ver-
Ächtlicher Ruhe einen Lugner, woraus erfichtlich
ift, daß das jo weiſe aufgerichtete Erziehungsfgften
ch nicht einmal für feinen Schöpfer als tragfähig
genug erwies, um Ausbrüche empörter Leidenjchaft
und vermwundeten Selbftgefühls hintanzuhalten.
Die Grundfäge waren endgültig in die Flucht
gelchlagen. Herr von Tucher war de3 unerquid-
lichen Kampfes müde; obwohl entichlofjen, Cafpar
nicht länger zu behalten, verjchob er die Aus-
führung ſeines Vorſatzes bis zur Rückkehr des
Grafen. Um nicht durch Caſpars Anblict der be-
ftändigen Pein der Enttäufchung ausgefeßt zu fein,
Kiste er der Einladung eines Vetters und begab
ich für den Reſt des Sommers auf ein Landgut
in der Nähe von Hersbruck, wo feine Mutter
ſchon feit drei Monaten weilte. Da es Ferienzeit
war und der Lehrer ohnedies nicht ins Haus
am, brauchte er für den Unterricht Caſpars keine
Mafnahmen zu treffen; er empfahl ihm fleißiges
Eigenftudium, trug Sorge für feine täglichen Be—
dürfnifje, ließ ihm vier Silbertaler an Tafchen-
gm zurüct und ging nach faltem Abſchied, die
ufficht über ihn der Polizei und einem alten
Diener de3 Haujes überlaffend.
. Cafpar zählte die Tage und ducchftrich jeden
vergangenen mit roter Kreide auf dem Kalender.
Das Iautlofe Haus, die verödete Gaffe, in der
die Sonne brütete, ließen ihm das Alleinfein
226
ftetig fühlbar werden. Gejellichaft hatte er feine,
Fremde, die noch immer — kamen, zahl⸗
reicher noch, ſeit die paſſionierte Teilnahme eines
Lord Cheſierfield den Findling wie mit einem
Nimbus umgab, wurden nicht zugelafien, die
früheren Belannten aufzufuchen hatte er feine Luft.
Am Abend nahm er manchmal fein Tagebuch
zur Hand und fchrieb; da war ihm dann ber
Freund näher, es glich einer Unterhaltung mit
ihm durch die trennende Ferne. Ohne da8 Ge
loͤbnis des Stillſchweigens über das, was Stan-
hope ihm anvertraut, zu vergefien, wurde doch
auf ſolche Weile das Papier zum Mitwifjer der
myfteriöfen Andeutungen. Aber aus feiner Art,
ie zu fafjen, erhellte klar, daß er fich im min-
eften nicht dabei zurechtfinden konnie. Es war
ein Märchen. Er verjtand nicht den Bau der
Debmungen, nicht das labyrinthiich verſchlungene
Gefüge der menfchlichen Gefellihaft. Noch war
da3 Schloß mit feinen weiten Hallen ein Traum:
da wehten die Schauer unbelannter Sterne. Nur
heimzugehen war fein Wunſch, dies Wort hatte
Sinn und Kraft. Wehe, wenn er zum Begreifen
erwachte; erſt wenn die Finfternis entwichen,
Tann der verierte Wanderer ermefjen, wie weit
er von feinem Ziel verfhlagen worden.
Anfaı E September erhielt Cafpar die erſte
kurze Naı Ei vom Grafen, die auch defjen be-
vorftehende Rückkehr meldete. Seine Freude war
groß, doch war ihr ein ahnender (Schmerz zus
jemifcht, als könne es zwifchen ihm umd dem
und nicht mehr werden wie vordem, als hätte
die Zeit fein Antlitz verwandelt. Bei jedem
Wagenrollen, jedem Läuten am Tor dehnte ſich
fein Herz bis zum Springen. Als der Erwar-
227
tete endlich erſchien, war Caſpar feines Lautes
mächtig; er taumelte nur fo und griff um fich,
mie wenn er an der Wahrheit der Erfcheinung
zweifle. Der Lorb veränderte Haltung und
Miene; es jah aus, als verfchiebe er ein vnor-
Side ver Andersfein für fpäter, daS Lauern feiner
lide ank in der —* Regung, in die
der ihn ſtets verſeizte, der einzige Menſch
vielleicht, dem er Macht über fein Inneres zu⸗
jeitehen mußte und deſſen Geſchick er zugleich
Bier ſich berfchleifte wie der Jäger das er-
eutete Wi
Er fand Caſpar ſchlecht ausſehend und fragte
ihn, ob er genug zu eſſen gehabt habe. Der
jericht über die mit Herrn von Tucher vor-
gefallenen Streitigkeiten entlodte ihm nur Sar⸗
asmen, doch fehlen er nicht weiter mißgelaunt
darüber. „Haft du denn bisweilen an mich ge»
dacht, Cafpar?" erkundigte er fih, und Caſpar
antwortete mit dem Blicd eines treuen Hundes:
„Viel, immer." Dann fügte ex Hinzu: „Ich habe
jogar an dich gefchrieben, Heinrich.”
„An mich geji eben" wieberholte der Lord
aaa oent Su wußteſt doch meinen Aufenthalt
nicht!“
Cafpar drückte die Hände zufammen und
Tähelte, „In mein Bud hab’ ich’8 gejchriel
228
Stanhope brach das Geſpräch ab, nahm fich
aber vor, der Sache auf den Grund zu gehen.
Er war wieder im „Wilden Mann“ ab-
geftiegen, doch Iebte ex anders als vorher. Zu
jeder zeit bejtellte er Champagner und teure
Weine und trieb den größten Aufwand, als fei
& ihm darum zu tun, Reichtum zu zeigen. Er
brachte feine eigne Equipage mit, deren Räder
vergoldet waren, während am Schlag Wappen
und Adelskrone prangten. Als Dienerjchaft hatte
er einen Jäger und zwei Kämmerlinge, und dieſe
heei Betreten erregten das Staunen der Nürn-
erger. U
Er fäumte nicht, fein Anfuchen um die Ueber-
lafjung Cafpar Haufer8 zu erneuern. Zum Beleg
feines . günftigen Vermögensſtandes mies er,
Ieinbaz nur nebenbei, auf die Kreditbriefe hin,
ie ex feit feiner Rückkunft beim Marktvorfteher
Simon Merkel deponiert hatte. Es lag darin
eine Gebärde von Prahlerei, als feien jo gering-
fügige Summen faum der Rede wert; in ber
Tat aber waren die Affreditive, von deutjchen
Wechielhäufern aus Frankfurt und Karlsruhe
ausgeftelt, von riefiger Höhe.
er Magiſtrat jah ſich jedes ftichhaltigen
Einwands gegen die Wünjche des Lords beraubt.
Im der Verfammlung der Stadtväter wurde die
Frage aufgeworfen: ja warum? Was will er
eigentlich mit dem Haufer? Darauf las Bürger
meifter Binder mit bejonderem Nachdruck eine
Stelle aus der Zujchrift des Grafen vor, worin
es hieß: „Der Unterzeichnete fühlt um jo mehr
den Beruf, ſich des unglüdlichen Findlings an»
zunehmen, als er bei langem Umgang mit ihm die
jelbft einem Vaterherzen mohltuende ‚Erfahrung
229
t hat, wie fehr ihm dies Eindliche Gemit
Ih fi er Anhänglichkeit und Dankbarkeit ex.
geben iſt.“
„Fragen wir aljo den Haufer felber," hieß es,
— muß wiffen, ob er PN bat, Yen (A zu
folgen.”
Caſpar wurde vor Gericht zitiert. In tiefer
gemegum erklärte er, er ſei überzeugt, daß ber
dr K den innigften Anteil an feinem Schie-
jal nehme, erflärte, mit dem Grafen g zu
wollen, wohin ihn bieſer auch führen mwı
Trotz alledem verzögerte ſich bie förmtic
Bewilligung des Magiftratd durch eine
exit ſcheinhafter und ungreifbarer Umftände, de
aber ie und ich IR ehe ZBiberfkand
erwuchſen, bis fie fü ließlich in einer einzelnen
Stimme Gehör verfchafften, welcher niemand zu
widerftehen may
Wider ühermähige Eifer de3 Lords, fi der
Perſon Caſpars zu verfihern, rührte den —
irdiſch murrenden Argwohn immer wieder
Sein pomphaftes Auftreten mißfiel dem Birger,
der einer beheben Lebensführung, auch bei
Großen, mehr Vertrauen entgegenbrachte als
einer Verſchwendungsſucht, die nur die fchlechten
Inftinkte des Pöbels nährte. Es erbitterte, wenn
der Graf in jeiner Prunlklaroſſe daherfuhr, mit
Abſicht die belebteſten Platze wählte und nach rechts
und links Kupfermünzen ins Volk ſtreute, das ſich
dann, jeder Würde bat, vor dem in nachläſſiger
Leutjeligteit thronenden Fremdling im Kot mälzte.
Man ſprach davon, daß Ar vom Markt:
vorfteher Merkel auf die Kreditbriefe hin hohe
Summen entlehnt habe. Merkel, wenngleich er
gefichert jchien, wurde zur Vorficht ermahnt; es
230
Tief das Gerücht, der Lord dürfe die Papiere
gar nicht angreifen oder doch nur bis zu einer
vorgejchriebenen Grenze.
Mittlerweile war Herr von Tucher vom Land
zurücgefehtt. Die Entwiclung der Dinge war
ihm befannt; er wollte für feinen Teil ein klares
Ende herbeiführen. Er richtete an den Lord
einen ziemlich weitläufigen Brief, in welchem ex
ihn fchließlich vor die Wahl ftellte: entweder den
Züngling ganz zu fi zu nehmen und ihn, ben
Baron, damit feiner Verantwortlichkeitspflicht zu
entheben, oder einen jährlichen Beitrag auszuſetzen,
welcher es ermögliche, Caſpar einem verftändigen
und gebildeten nn vollftändig zu übergeben;
in lesterem Falle müfje Seine Herrlichkeit aller-
dings bie Güte haben, jedem Verkehr mit Caſpar
ſchriftlich wie mündlich für die Dauer mehrerer
Jahre zu entfagen; er jeinerfeit3 wurde fich dafür
gern verbinden, dem Lord regelmäßigen Bericht
über Cafpard Tun und Treiben abauftatten,
In der fonftigen Fafjung des Schreibens
herrſchte jedoch die geboten Devotion vor. „Mit
dem wärmften Dank habe ich, hochzunerehrender
Herr, die zahllofen Beweiſe des Wohlmolleng
anzuerfennen, mit denen Sie mich feit den wenigen
Wochen Ihres Hierfeins überſchüttet haben,“
hieß es unter anderm; „aus dem Grund meiner
Seele habe ich die ungeheuchelte Verehrung an
den Tag zu legen, zu welcher mich Ihre Herzend-
güte und Ihr feltener Edelmut zwingen. Aus
diefer Gefinnung entfpringt mir auch die Pflicht
de3 Vertrauens, zu der Sie mich jo oft aufs
gefordert haben, und fo trete ich vor Ihnen,
edler Mann, geraden und offenen Sinnes auf
mit der Buverficht, daß Sie meinen Worten ein
231
geneigte Ohr ſchenken werben. Caſpar ift nicht
der, für den Sie ihn zu halten ſcheinen. Wie
konnten Sie auch diefes wunderliche Zwitterding
Tennen lernen, da ihn ja im Umgang mit Ihnen,
dem er alles verdankt und von dem er alle er-
wartet, was fein Sinn begehrt, auch alles dazu
einlud, im beiten Licht zu leuchten. Herr Graf!
Sie haben ihm eine Freundfchaft bez igt, wie
man fie nur einem Gleichgeftellten fchentt. Bei
der unbegrenzten Eitelkeit, mit welcher die Natur
neben fo reichen Gaben, feine Seele verunftaltet
hat und die von einjältigen Menfchen hier noch
grobgegogen wurde, haben Sie unfchuldigermeife
ein Gift in fein am fich ſchon krankes Weſen ge-
mifcht, das fein Seelenarzt, auch nicht der ge
fchidtefte, wird jemals wieder daraus entfernen
können. Ich bin von nicht? weiter entfernt, als
men damit einen Vorwurf zu machen, ich bitte
Sie inftändig, auch nicht einen folchen finden zu
wollen. Sie find außer Schuld. Aber feftftellen
muß ich, daß mährend ber ganzen Zeit, bie
Caſpar in meinem Haufe weilte, fein Anlaß war,
mit ihm unzufrieden zu fein, während er feit
Ihrem Aufenthalt. dahier, ich fage es mit bluten-
dem Herzen und mit der Baghaftigkeit, die mir
Liebe und Ehrfurcht gegen Sie, vortrefflicher Mann,
gebieten, wie umgewandelt und verkehrt ift.“
Eine ſolche Sprache mußte auch dem ver-
wöhnteften Ohr fchmeicheln. Nichtsdeftomeniger
ab fg Lord Stanhope den Anfchein, durch den
rief des Freiheren herausgefordert und verletzt
worden zu fein, ſprach auch überall in Geſellſchaft
davon. In einer Eingabe an das FKreisgericht
in Ansbach, die ſich als notwendig erwiefen und
worin er feine Bereitwilligfeit anzeigte, nicht nur
232
während feines Lebens für Cajpar Haufer zu
forgen, ſondern auch deſſen Erhaltung für den
Tall feines Todes zu fichern, erwähnte er, di
zwiſchen ihm und Heren von Tucher Verhältnifje
eingetreten feien, die ihm für jest und Künftig
jeden Verkehr unmöglich machten; es fei deshall
von Aictigeit, daß Caſpar tunlichjt bald in
eine andre Umgebung verfeßt werde.
Hofrat Hofmann in Ansbach beeilte fich,
Herrn von Tucher von der verhüllten Anklage
des Lords zu unterrichten. Herr von Tucher
war außer fich. Er teilte der Behörde feinen an
Stanhope gerichteten Brief wörtlich mit, fehilderte
nod einmal und in büfteren Farben den unheil-
vollen Einfluß des Grafen auf Caſpars Charakter
und erſuchte um fchleunige Decharge von einer
Vormundichaft, die ihm, wie er ſich ausdrüdte,
Sorgen, Plagen und Laften und zulegt noch Un-
dank und Verargung jeines vedlichen Willens
zugezogen habe. Da das Ansbacher Amt ein
Gutachten über die Perfon des Lords gewünſcht,
ſchrieb er zurüd, er habe den Herrn Grafen als
einen feltenen Mann von ausgezeichneten Eigen-
haften fennen gelernt. Das Gerücht bezeichne
ihn als ſehr vermöglich, er jelbft behaupte, eine
jährliche Rente von zwanzigtaufend Pfund Ster-
ling, alfo dreimaldunderttaufend Gulden, zu ge
nießen, melches Einkommen ihn übrigens als
Earl und erblichen Pair von Großbritannien
noch keineswegs unter die reichen Edelleute feines
Landes ſetze. „Borausgefebt, daß die Hochlöbliche
Kuratelbehörde genügende Sicherheit erlangt,“
ſchloß ex fein mächtig langes Schreiben, „auch
ſolche, die über gemifle bedenkliche Konjunkturen
in England Aufihluß gibt, habe ich als Vor—
238
mund gegen die Adoption Caſpar Haufers durch
Lord Stanhope, ſonderlich in finanzieller Hinficht,
nichts einzuwenden."
Ein umftändlihes Verfahren, ein endlofer
Inſtanzenweg. Stanhope zappelte jhon vor Uns
geduld und But, Doh ſchienen ungeachtet des
gfaäftigen Klatſches und der widerftreitenden
einungen alle Hinderniffe befeitigt, und er job
Ic Sem von Anfang an mit Inmgiemer Zänigteit eit
ten Ziele nahe, als plötzlich alles wieder
— tet wurde. Der Präfident Feuerbach legte
nämlih fein Veto ein en die Entfernung
Caſpars aus Nürnberg. — chickte einen Privat-
boten an den Vürgermeifter Binder und ließ ihn
wiffen, daß er foeben von feiner Badekur in
Karlsbad zurücgefommen und was im Werke fei
als volltommene Neuigfeit vernehme. En unter-
ſagte jede —F idung, bevor er den ihm ver⸗
worren und verdächtig erſcheinenden Fall g
und die ausjuführenden Schritte gutgeheißen abe.
Der Bürgermeifter fand fich verbu
Lord fogleich von der neuen Wendung der one
in Kenntnis zu fegen. Stanhope empfing und
las das Briefchen Binders in feinem Hotel gerade
während man ihn raſierte. Er ftieß den Vader
beifeite, fprang auf und rannte, noch mit dem
Seifenſchaum auf feiner ange, heftig erregt
durch daS Zimmer. Es dauerte geraume Zeit,
bis er fich feiner Toilettenpflicht wieder erinnerte;
er zerriß den Zettel, den ihm Binder geidjidt,
in hundert — Stüde und ſaß dann unter dem
Rafiermefjer mit einem Geficht jo voll Haß und
Galle, daß die Hand des erſchrockenen Barbiers
zu zittern begann und er fich nad vollendeter
Arbeit eilig aus dem Staube machte.
234
Zu fpät bedachte der Graf, daß er ſich ver-
& en habe; aber wie empfindlich mußte der
lag fein, der ihn getroffen, wenn dadurch die
eherne Ruhe und Zurädhaltung eines fo vom
Zweck Umpanzerten erfchüttert werben konnte!
Mit fliehender Hand jchrieb er einige Zeilen,
ſchloß und fiegelte den Brief, ließ den Jäger
Tommen, gebot ihm, ein Pferd zu fatteln, und
trug ihm auf, die Botfchaft vor Ablauf von
hunbvierzig Stunden an Ort und Stelle zu
bringen, koſt' es, was es wolle.
er Mann entfernte fi fümoeigenb. &
Tannte feinen Herrn. Er wußte, daß fein Herr
fih nicht mit Späßen beſchäftigte, Liebeshändeln
und Heinen Intrigen. Er kannte dieſes Geficht
an Seiner Lordichaft, diefe Spannung eines grä
lichen Entweber- Oder, dieſe Miene eines an-
ſtrengten Wettläufers, dieſe krampfhafte Seflıng
3 Hafardfpielers. Man te dergleichen Ritte
ſchon oft unternommen bei Tag wie bei Nacht;
man mußte eine verſchwiegene Zunge haben, um
die unbehaglichen Zutaten ſolcher Obliegenheiten
vor einer wißbegierigen Welt bergen zu können,
denn es hatte nicht felten den Anjchein, als ob
man der Mittler Tichtfcheuer Gefchäfte ſei. Eile
war jtet3 geboten; man kam auch ſtets zurecht,
doch jenes „Roft’ e8, was es wolle" war ein
bißchen aufſchneideriſch man erhielt micht immer
feinen Lohn, man mußte oft wochenlang warten
und heimlich nach den Boden hajchen, die von
der geäflihen Tafel abgetragen wurden; Seine
Herrlichkeit war eben nicht bei Kaſſa, man er-
wartete Gelder aus England oder aus Frankreich
ober man wurde fogar um Geld zu irgendeinem
vornehmen Herrn geſchickt, und es war auffallend,
235
daß dem gräflichen Verlangen häufig nicht eben
dienfteifrig Begegnet wurde, der vornehme Herr
ließ in feiner Sprache eher etwas von Gering-
jhäsung als von Ehrfurcht gegen die Perfon
Lords merken.
Woran hing das alles? Wohin liefen die
Fäden, die diejes über den Pöbel erhobene Schick-
fal an die gemeine Notdurft Enüpften? Der
edle Abkömmling eines edeln Gejchlechts, feine
Tage in einer erbärmlichen Spelunte friftend,
einer der ftolgejten Namen eines ſtolzen Reiches
abhängig von der ſchmierigen Freundlichkeit eines
Gajtwirts, verdammt, feines Lebens Mark und
Kern mit eignen Füßen in den Schlamm zu treten,
das ftrenge Gedächtnis unantajtbarer Ahnen preis-
zugeben, wofür? Woran hing das alles?
Jede gegenwärtige Stunde mar eine Ruine
der Vergangenheit, jeder Tag die Trümmerftätte
eines goldenen Ehemals; ehemals, da der Name
Stanhope in den Hauptitädten Europas noch jene
Rolle gejpielt, die feinem Träger felbft nur noch
wie eine Sage erfchien, als der jugendliche Lord
das Entzücden der Salons von Paris und Wien
gemefen mar, als er reich geweſen und den
eichtum benußt hatte, um jeine maßlofe Jugend
damit zu fättigen und der Welt feiner Standes»
genofien das Schauſpiel einer Verſchwendung
ohnegleichen zu geben. Seine Feſte und Gaſi—
mähler waren berühmt geweſen. Er war von
Land zu Land gereiſt mit einem Hofſtaat von
Köchen, Sekretären, Kammerdienern, Handwerkern
und Spaßmachern. Er hatte bei einer Pergola
in Madrid für fünfundzwanzigtaufend Livres
Blumen an die Frauen verteilen laſſen. Er hatte
während des Wiener Kongrefjes die Könige und
236
Fürſten bemirtet, Wettrennen veranjtaltet, die
allein ein Vermögen verfchlangen, und Oratorien
-und Opern für eigne Rechnung aufführen laſſen.
Seine luxuriöſen Saunen hielten die Gefellichaft
in Atem; er beſchenkte feine Freunde mit Villen
und Landgütern und feine Freundinnen mit
Perlenketten. Er war jahrelang der Timon des
Kontinent? geweſen, um den ſich eine Armee von
geilen Schmarogern drängte, die alle ihr Profitchen
an ihm machten und ihre außfchweifenden Ges
füfte bei ihm befriedigten. Seine Gutherzigkeit
und Freigebigleit war ſprichwörtlich gemorden,
feine Art, mit immer gefüllten Händen Gold um
fich her zu ſtreuen, achtlos, ob e8 in die Goffe oder
auf die Teppiche fiel, glich dem Wahnfinn oder
einer tollen Probe auf die menfchliche Sabgier.
Dann das Ende: Fallifjement und Selbſt⸗
mord eines Bankiers befehleunigten den unauf-
haltfamen Zuſammenbruch. Es war an einem
Abend im Palais Bourbon, man hatte hoch ge-
fpielt, Stanhope verlor viele Taujende, um jo
bezaubernder wirkte fein unbefangenes Geplauder,
da3 Feuer und die Anmut feines Geiftes. Der
Gefandte, Lord Saftterengb, trat zu ihm. und
machte ihm eine haftige Mitteilung. Man ſah
ihn erblaffen, ein Lächeln von eigner Schwermut
gefror auf den feinen Zügen, andern Tags reifte
er. Er glaubte in der Heimat das zurüd-
gezogene Leben eines Landedelmannes führen zu
innen, dies mißlang. Die Güter waren über-
ſchuldei, von allen Seiten drängten Gläubiger,
außerdem graute ihm vor der Einfamteit, haßte
ex die menjchenlofe Natur. Er floh. Der Glanz
vergangener Zeiten mußte Fegen borgen für ein
Dajein, das allmählich) von innen ausgehöhlt
237
wurde duch die Angft um das nadte Brot. Es
war ſtill um ihn geworben; feine Wanderzüge
waren eine Jagd nach den früheren Freunden
und Genoffen, aber auf einmal gab es feinen
mehr, der nicht alles vorher gemußt hätte und
aus ficherer Schanze heraus Verdammnis predi
In einem römifchen Hotel nahm er, verzwe
erihöpft, aller Hoffnung bar, Strychnin Um
junge Sigilianerin pflegte und rettete ihn. Das
Gift, das feinen Körper verlafien Hatte, fchien
von feiner Seele Beſitz zu ergreifen. Er rang
mit dem Dämon, der ihn niedergeftoßen; er
wurde wild und alt; feine ans Erhabene ftrei-
fende —I erleichterte ihm, die
Schwächen ſeiner Umgebung zu benutzen. Er
Phi fih in den Dienft hoher Herren und
ſtudierte die ke en Moyfterien ihrer Vor—
—* und ihrer Hintertreppen. wurde
iſſär des Papftes und bezahlter Agent Metter-
nice. Bald war fein Name sehen aus
der Lifte der Untadeligen und jenen Abenteurern
zugezählt, die an den Grenzbezirken der Gefell-
ſchaft eine gefürchtete Korſarenrolle jpielen. Die
außerordentlichen Talente, die er beſaß, machten
ihm feine arufgabe Kamenz. der unabläffige Zwang
zu handeln, die Bielfäl tigkeit der Beziehun; en
erftiten die Stimmen des Gewiſſens und
Empfindung dunkler Schmach. Oben geächtet
und bei aller Nüglichfeit gemieden, war er in
den Niederungen noch immer der erlauchte Mann;
er wurde ein geübter — und Seelen⸗
fänger; was dem Druck des Unglucks entſprungen
mar, wurde Metier; das unwi ———— ſanfte
Lächeln: Metier; die edeln Manieren, das ritter
liche Betragen, die gewinnende Konverfation, die
288
treffliche Bildung: alles Metier; jedes Zucken der
Wimpern, jede Verbeugung war Geichäft; alles
hatte Folgen, alles Urfache, ein nase ſiges Wort
konnte das Mißlingen einer Atujgabe edeuten —
und doch, wie entbehrungsvoll war ein folches
Dafein, wie jämmerlich der Lohn! Und wie ging
es bei alldem langſam bergab, ins Kleine hinein,
als ob die Kette, an der er z0g, von felber und
ohne daß fie fich lockerte, Glied um Glied abſetzte,
um ihn in den Abgrund zu zerren.
Eines Tages hieß die Kriegsloſung Caſpar
jaufer. Der Auftrag war deutlich, feine Duelle
lar, die Umftände finfter wie nicht8 zuvor. Man
fagte: Du bift der rechte Mann, das Unter
men iſt fchwer, aber Einträglich, es fcheint
von geringer jedeutung, doch Ungeheures jteht
auf dem Spiel. Die Verhandlungen wurden
nicht von Geſicht zu Geficht geführt, alles war
hinter Vorhängen verjteckt, jeder Mittler trug das
Wort eine namenlojen bieterd. Das Ger
penfterteeiben reiste die Phantafte, der Abgrund
egarın zu leuchten. Das Ausipinnen des Plans
hatte etwas von Wolluft; der jeltene Vogel mußte
meifterlich bejchlichen werden.
Sa, der Auftrag war deutlich, er hatte Hand
und Fuß. Du haft den Findling aus dem Be—
reich zu entfernen, in welchem er anfängt für uns
gefährlich zu werden, lautete die Weifung; nimm
ihn zu dir, nimm ihn mit in ein Land, wo nie
mand von ihm weiß; laß ihn verſchwinden,
ſtürze ihn ins Meer oder wirf ihn in eine
Schlucht oder miete das Mefjer eines Bravo oder
laß ihn unbeilbar krank werden, wenn du dich
auf Quackſalberei verftehft, aber verrichte daS Werk
gründlich, fonft ift ung nicht gedient. Unfers Dankes
239
bijt du ven rt; wir notieren unjern Dan mit
der und der Summe bei Srael Blauftein in &.
Was war zu überlegen? Alle Not Tonnte zu
Ende jein. Jedes Bo machte ſchon mit-
ſchuldig; den untätigen Wiffer zu befeitigen war
Bi jene ein Zwang. Es gab feine Wahl. Der
jeginn des Unternehmens lag weit zuräd; ſchon
damals, mo man den Mordgejellen in Daumers
Haus geſchickt, Hatte Stanhope Befehl, einzu-
greifen, falls der Anfchlag, an dem er felber
unbeteiligt war, ie gelingen follte. Die Roheit
und Vermorfenbei er angewandten Mittel
ſchreckten ihn, Geleiigten feinen guten Geſchmack,
rüttelten fein beſſeres Wefen auf. Er floh, er
verbarg ſich. Das Elend und drohender Hunger
lockten ihn wieder ins Garn, und fo machte er
fi auf „aus weiter Ferne", um fein Opfer zu
betören.
Doch wie fonderbar war ſchon das erfte Ber
garen und Zufammenfein! Welch eine Stimme!
Welch ein Auge! Was erjchütterte den Der-
derber und riß ihn hin? Er wurde betört, er!
Diefer Vogel verjtand auch zu fingen, das hatte
der Nebefnüpfer nicht bedacht. Auf einmal fah
er fich geliebt. Nicht wie Frauen lieben, das
hatte er erfahren, das kann gewürdigt und auch
vergefien werben, es liegt im Fluß der Dinge
begründet, Zufall und Trieb haben een An-
daran; au nicht wie Männer lieben oder
Eltern oder Geſchwiſter oder wie ein Kind liebt;
Geſetz und Aneignung, Not und Wille binden die
Kreatur an ihresgleichen; doch im tiefften Grund
ruht Wetteifer, Kampf und Feindichaft. Dies aber
war ander, ungeahnt und wunderfam rührte die
Schönheit einer Seele an das ummauerte Herz.
240
Es gibt eine Sage, die von einem Land et-
zählt, wo nicht Tau noch Regen fiel, daher ent
ftand Trodenheit und Wafjermangel, weil nur
ein einziger Brunnen war, ber Waſſer erſt in
großer Tiefe enthielt; wie nun die Leute zu ver-
ſchmachten anfingen, da kam ein Jüngling zu
dem Brunnen, der die Zither fpielte und feinem
Inſtrument jo füße Melodien entlockte, daß das
Waffer bis zur Mündung des Brunnens herauf-
ftieg und im Ueberfluß dahinſtrömte.
So wie dem Brunnen erging e3 dem Lord,
wenn der Jüngling Caſpar bei ihm weilte und
die füßen Melodien feines Weſens fpielte. Sein
Geiſt ftieg aus der Tiefe, ein jammernder Blick
flog rückwärts, Scham entzündete das bebende
Gemüt, Teicht fchien e8 daS Uebel ungefchehen zu
machen, er fand fich jelbft wieder, e3 ſtrahlte
ihm aus diefem Antliß das Bild der eignen noch
unbeflecten Jugend entgegen, und fo, wie er
hätte fein können, wenn das Schickſal nicht fein
Edelſtes zermalmt hätte, jo ſah er fich genommen,
eglaubt und verherrlicht. Und jo wahr, fo reich,
0 grundlos ſchenkend, daß der verruchtefte Geig-
als und Böſewicht feine Truhe nach Koftbar-
eiten durchwühlt hätte, nur um fich der Dual
der Verfhuldung zu entledigen.
Aber er gab — nichts. Er konnte fich nicht
felber geben, denn feine Perſon war zum voraus
verfehrieben, fein Leben mar von denen bezahlt,
denen er diente, bezahlt fein Tag und feine Nacht,
bezahlt feine Reue, fein Unfrieden, fein ſchlechtes
Gewiſſen. Er führte eine Tat im Schilde, die
jede Salte feines Gefichts mit Lüge bemalte, aber
bisweilen dachte er in Wirklichkeit daran, mit
Caſpar zu fliehen. Doch wohin? Wo gab es
Baffermann, Gafpar Baufer 16 241
eine Ruheſtatt für den Geächteten eines Erdteils?
Ad, wenn er die ftillen Stunden mit Gafpar
verbrachte und dieſes Antlitz ihm zugeneigt war,
in dem der reine Glanz des Menfchen wohnte,
da fühlte er, daß auch er noch ein Menſch war,
und er konnte in umermeßlicher Wehmut vor fich
bintrauern. Dann vergaß er Zweck und Sen-
dung und rächte ſich an jenen, deren fchuldiges
Opfer er war, indem er hinwarf, was er von
ihren Geheimnifien wußte, und doppelten Verrat
b ing Er erfüllte Caſpar mit Erwartungen
auf acht und Größe, das war feine Gegengabe,
das Geſchenk des Geizhalſes. Ein Glüd, daß
der Zauber an Kraft verlor, wenn er von dem
Süngling entfernt war und er nicht mehr jenen
fragenden Blick auf fich laſten fühlte, bei bem
ihm zumute war, als jei ein Gejandter Gottes
neben ihn hingeſtellt. Inmitten der finftern
Ueberlegung und im erfolg der furchtbaren
Pläne jchrieb er gleichwohl kurze leidenfchaftliche
Briefhen an den Umgarnten, wie dies: „In der
erften Woche, da ich dich kennen lernte, 3 ih
mic, deinen Vaſall; ſollieſt du je für eine Frau
dasjelbe fühlen, was du fir mich empfindeft, fo
bin ich verloren." Oder: „Wenn du einmal
Kälte an mir bemerfft, fo fchreibe es nicht einer
Herzlofigkeit zu, jondern nimm e3 für den Aus-
drud jenes Schmerzes, den ich bis ans Grab in
mic verchließen muß; meine Ver: es iſt
ein Kirchhof, als ich dich fand, hatte ich Gott
ſchon halb verloren, du mwarft der Glöckner, der
mir die Emigfeit einläutete." Es waren Wen-
dungen im Gejgmad der Beit, beeinflußt durch
Modepoeten, aber fie befundeten doch die Ratlofig-
keit eines bis ins Innerſte verworrenen Gemüts.
242
So hin- und hergeriffen, hemmte er felbft den
Gang feiner Unternefmung. Ex ließ gejchehen,
was geſchah, und unterlag dem Anprall der Er—
eignifje, denn fie waren mächtiger als feine Ent ⸗
ſchlüffe. Er wußte, daß er fein ſchändliches Werk
enden würde und enden müſſe, aber er zauderte,
und dies Zaudern gab ihm Zeit, fein Geſchick zu
beflagen. Er verfuchte fich eine Ausrede vor
dem Himmel zu fchaffen, indem er betete, und
vor dem Richter in fich jelbft, indem er aus
feinem Dafein ein Fatum machte. Den an Genuß
und Wohlleben hängenden Geift bejchwichtigte er
duch den Sophismus, daß die Notwendigleit
ſtärker ſei als Liebe und Erbarmen, und das klare
ild des Endes eskamotierte er hinweg mit einem
billigen: es wird ge jo ſchlimm nicht werben!
ide jen wurde auch nad) der haftigen Ab⸗
jendung des jers die Unficherheit feiner Lage
immer größer, die Koften des AufenthaltS wuchſen
beftändig, die Kreditbriefe nußten wenig, fie waren
einftweilen nur ein Aushängeihild, die Ber
drängnis zwang ihn zu Taten, und er faßte den
Entſchluß, nach Ansbach zu reifen und mit dem
Peäfdenten Feuerbach perjönlich zu unterhandeln,
in einem Samdtag zu Ende November gebot
er, eilends den Reiſewagen injtand zu ſetzen,
und ſchickte eine Nachricht ind Tucherſche Haus,
daß Caſpar fogleich zu ihm Tommen möge. Er
aber begab fich, nachdem er Auftrag erteilt,
Caſpar bis zu feiner Wiederkehr zurüdzuhalten,
auf einem Weg, wo er dem Gerufenen nicht zu
begegnen fürchten mußte, felbft dorthin, Ließ ſich
in Cajpars Zimmer führen, ‚gab vor, auf ihn
warten zu wollen, und als er allein war, durch
ftöberte er in gehegter Eile alle Schubläden,
243
Bücher und Hefte des Jünglings, um einen vor
Wochen von ihm felbjt an Cajpar gefchriebenen
Brief zu finden, in welchem ihm höchſt unbedachte,
auf die Zukunft Caſpars bezügliche Bemerkungen
entjchlüpft waren und den er um jeden Preis
aus der Welt jchaffen wollte, denn ſchon hatte
man ihn gewarnt, fehon hatten die Finfteren
hinter dem Vorhang gedroht.
Sein Suchen war vergeblich.
Da öffnete ſich auf einmal die Tür, und Herr
von Tucher ftand auf der Schwelle. In jeinem
ängftlichen: Eifer hatte der Lord die nahenden
Shhritte überhört. Herr von Tucher jah mächtig
groß aus, da fein Scheitel den oberen Pfoften der
Türe berührte; in feiner Haltung lag ein ſchmerzliches
Erftaunen, und nad} einem langen Schweigen fagte
ex mit heiferer Stimme: „Herr Graf! Das find
doch nicht etwa die Gejchäfte eines Spions?"
Stanhope zudtezufammen. „Einen Anwurf ſol⸗
her Art erlauben Sie mir wohl mit Schweigen zu
übergehen," enigegnete ex mit gelafjenem Hochmut.
„Aber was joll das,“ fuhr Herr von Tucher fort,
„wie foll ich den Augenjchein deuten? Mir ahnt,
Herr Graf, eine innere Stimme verrät e3 mir,
Br bier nicht alles auf geraden Wegen vor fi
geht."
Der Lord geriet in Verwirrung; er preßte
die eine Hand an die Stirn, und mit flehendem
Ton fagte er: „Sch bedarf mehr des Mitleid
und der Nachjficht, als Sie denken, Baron." Er
309 das Tafchentuh aus der Brufttafche, drückte
e3 vor die Augen und begann plößlich zu weinen,
wirkliche, 'unverftellte Tränen. Here von Tucher
war ſprachlos. Seine erfte Regung war ein düfterer
Argwohn und der Verdacht, daß alle trüben und
244
verftetten Rebereien über Caſpars Schickſal eines
ernftlichen Grundes doch nicht entbehren mochten.
M Stanhope, wer n% Fon in Ba Tan
anne vorging, faßte fi nell und ſagte:
„Mebmen Sie fich eines ſchwankenden Herzens
Ih tappe im Dunkeln. Ja, e8 will in
Bars gebracht fein, ich. zweifle an Cafpar! ch
vermag ihn nicht loszuſprechen von gemiffen Un;
aufrichtigleiten und heuchlerifchen Künften .
„Auch Sie alfo!" Tonnte ſich Herr von Fer
nicht en, auszurufen.
ich fahnde nach Beweiſen.“
ie eneie, fuchen Sie in Schubladen und
Schränken, Herr Graf?"
„Es handelt ſich um geheime Aufzeichnungen,
die er mir vorenthielt."
„Wie? Geheime Aufzeichnungen? Davon ift
mir nicht das mindefte bekannt.“
„Sie find nichtsdeftomeniger vorhanden.“
Vielleicht meinen Sie am Ende das Tage
buch), da3 er vom Präfidenten erhalten hat?"
Stanhope griff diefen Gedanken, der ihn aus
der Mai, Situation halbwegs rettete, mit Ver-
gmägen auf. „Sa, gerade diefes, ohne Frage
sjelbe,“ beteuerte er raſch, indem er fich zu-
glei gewiſſer verräterifcher Andeutungen Caſpars
arüber entjann.
„Ich weiß nicht, wo er e8 aufbewahrt,“ fagte
Herr von Tucher; „ih, würde auch Anftand
nehmen, es Ihnen in feiner Abweſenheit auszu-
liefern. Im übrigen weiß ich zufällig, daß er
vor einiger Zeit aus bdemfelben Tagebuch das
Bildnis des Präfidenten, das fich auf der erften
Seite befand, herausgefchnitten und das Ihre,
Herr Graf, an deſſen Stelle gefett hat.” Damit
245 .
langte Herr von Tucher nad) einer Mappe, die
auf dem Schreibpult lag, zog ein darin befind-
liches Blatt hervor und reichte es Stanhope. Es
war Feuerbadh Porträt. °
Der Lord fah eine Weile darauf nieder, und
beim Anfchauen diejer jupiterhaften Züge beſchlich
ihn eine niegefannte Furcht. „Das ift alfo der be-
rühmte Mann,“ murmelte er; „ich bin im Begriff,
ihn aufzufuchen, ich erwarte viel von feiner unbejteh-
lichen Einſicht.“ Doch alles, was er plante, der Weg
dorthin, der Zwang, dem furchtbaren Blick diejer
Augen ftandhalten zu follen, verſetzte ihn in eine
Befangenheit, deren er nicht Herr werben konnte,
„Erzellenz Feuerbach wird zweifellos entzückt
fein, Ihre Bekanntſchaft zu machen,” fagte Baron
Tucher Höflih, und da Stanhope fich anfchicte
zu gehen, bat er ihn, dem Präſidenten feine vers
ehrungsvollen Grüße zu übermitteln.
Zwei Stunden fpäter faufte der Wagen des
Lords auf der Reichsſtraße dahin. Es war ein
arger Sturm, in Wellen und Spiralen krümmte
ſich der Staub empor, der Lord fauerte, in Tücher
eingehüllt, in der Edle des Gefährts und wandte
feinen Blick von der herbftlich-trübfeligen Land-
ſchaft. Doch fein krankhaft Teuchtendes Auge fah
weder Felder noch Wälder, fondern fchien die
Ebene nad) verborgenen Gefahren zu durchipähen.
Das Auge eines Befefjenen oder eines Flücht-
lings. Als kurz vor dem Städtchen Heilsbronn
das Gebudel eines Leiermanns hörbar wurde,
drückte er die Hände gegen die Ohren, wandte fich
ab und ftöhnte feine zur Einſamkeit verdammte
Qual in das jeidene Ruhekiſſen des Wagens.
Danach faß er wieder aufrecht, hart und kalt wie
Stahl, ein Herenlächeln um bie dünnen Lippen.
246
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Geſpräch zwifchen einem, der masfiert
bleibt, und einem, der fich enthüllt
Es regnete in Strömen, al3 die Kalefche des
Lords am fpäten Abend über den Ansbacher
Schloßplatz donnerte. Dazu ſcheuten die Pferde
plöglich vor einem über den Weg trottenden
Hund, und der elſäſſiſche Kutfcher fluchte in
jeinem greulichen Dialekt jo laut, daß fich hinter
en dunkeln Senfterquadraten ein paar meiße
Bipfelmügen zeigten. Die Zimmer im Gafthof
zum Stern waren vorausgemietet, der Wirt tän-
zelte mit einem Parapluie vor3 Tor und begrüßte
den Fremdling mit unzähligen tiefen Komplimenten
und Krabfüßen.
Stanhope ſchritt an ihm vorüber zur Treppe,
da trat ihm ein Herr in der Uniform eines
Gendarmerieoffiziers entgegen, fehr eilfertig, mit
regentriefendem Mantel und ftellte fih ihm als
Polizeileutnant Hickel vor, der die Ehre gehabt
babe, Seiner Lordſchaft vor einigen Wochen beim
Nittmeifter Wefjenig in Nürnberg flüchtig, „leider
allzu flüchtig“, begegnet zu fein. Er nehme fich die
Freiheit, dem Herrn Grafen feine Dienfte in_der
unbetannten Stadt anzubieten, und bitte um Ver⸗
gebung für die einem Ueberfall ähnliche Störung,
aber es fei zu vermuten, daß Seine richt
wenig Beit und vielerlei Geſchäfte habe, darum wolle
ex nicht verfäumen, in erfter Stunde nachzufragen.
Stanhope ſchaute den Mann verwundert und
ziemlich von oben herab an. Er fah ein frifches,
volles Geficht mit eigentümlich kecken und dabei
zärtlich ergebenen Augen. Unwillkürlich zurüd-
tretend, hatte Stanhope das Gefühl, daß hier
248
einer feine ganze Perfon als Werkzeug antrug,
gleichviel zu welchen Zwecken; nichts Neues war
ihm der begehrlich ftreberiiche Glanz jolcher
Blicke, ſchon glaubte er feinen Mann in» und
auswendig zu fennen. Aber moher mußte der
Dienftbeflifjene davon? Wer hatte ihn auf die
Fährte gebracht? Eine feine Nafe war ihm
jedenfalls zuzutvauen. Der Lord dankte ihm kurz
und erbat fi für eine beftimmte Stunde feinen
Beſuch, worauf der Polizeileutnant militäriſch
grüßte und ebenfo eilig, wie er gelommen war,
wieder in den Regen hinausrannte.
Stanhope bewohnte den ganzen erften Stock
und ließ fogleich in allen Zimmern Kerzen aufs
ftellen, da ihm unbeleuchtete Räume verhaßt
maren; während der Rammerbiener ben Tee bes
reitete, nahm er ein in Saffian gebundenes An-
dachtsbüchlein aus der — und begann
darin zu leſen. Oder wenigſtens hatte es den
Anſchein, als leſe er, in Wirklichkeit dachte er
hundert zerſtreute Gebanfen, die Ruhe des Tleinen
Landftäbtchens war ihm unheimlicher als Kirch⸗
bofsftille. Nach dem Imbiß ließ er den Wirt
rufen, befragte ihn über die und jenes, über die
Verhältniffe im Ort, über den anfäffigen Adel
“und die Beamtenfchaft. Der Wirt zeigte fich den
neuen Läuften gründlich überlegen. Er hatte
noch die felige Marfgrafenzeit erlebt, und mit -
dem Tag, wo Höfling und Hofdame aus ihren
ziervollen Rokofopaläftchen die Flucht vor dem
heranfaufenden Kriegsiturm iffen hatten, war
es aus mit dem Glanz der Welt; ein ftinkendes
Rattenneft war fie geworden, ein Aktentrödelmarkt
mit dem hochtrabenden Namen Appellationsfenat,
eine Tintenhöhle, ein Paragraphenloch.
249
Damals, ach, damals! Wie verftand man zu
ſchäkern, wie heiter war das Treiben, man fpielte,
man parlierte, man tanzte — und der dide Mann
fing vor den Augen bed Lords an, einige gravi⸗
tätijche Menuettpofen und Pas de deur zu
illuftrieren, wozu er eine_verjchollene Melodie
teällerte und mit zwei Fingern jeder Hand
ſchelmiſch die Rodichöße hob.
Der Lord blieb volltommen ernfthaft. Er fragte
auch beiläufig, ob Herr von Feuerbach in der
Stabt fei, doch bei diefen Worten zog der Die
ein fäuerliches Geficht. „Die Erzellenz?" grollte
er. „Ya, die ift da. Wohler wäre uns, fie
wär’ nicht da. Wie ein brummiger Kater lauert
fie und auf und faucht und an, wenn wir ein
bibchen pfeifen. Er kümmert fi um alles, ob
die Straßen gefehrt find, ob die Milch vermäffert
ift; überall iſt er hinterher, aber Galanterie hat
ex feine im Leib. Nur eines verfteht er gründlich,
er ift ein ſcharfer Effer, und halten zu Gnaden,
‚Herr Graf, wenn Sie mit ihm zu tun haben, müfjen
Sie alles Toben, was auf feinen Tiſch kommt.“
Stanhope entließ den Schwäßer huldvoll,
dann bezeichnete er dem Diener bie Kleider, die
für morgen inftand zu ſetzen feien, und begab fih ,
zur Ruhe. Am andern Morgen erhob er ſich
ſpät, ſchickte den Lakaien in die Wohnung Feuer-
bachs und ließ um eine Unterredung bitten. Der
Mann kam mit der Botfchaft zurüd, der Herr
Staatsrat könne heute und wohl auch in den
nächſten Tagen nicht empfangen, er erfuche Seine
Lordſchaft, ihm das Anliegen ſchriftlich mitzus
teilen. Stanhope war wütend. Er begriff, daß
ex ſich überftürzt Habe, und fuhr fogleih zum
Hofrat Hofmann, der ihm empfohlen war.
250
Indeſſen hatte fich die Kunde von feiner An-
wejenheit verbreitet, und nach weiteren vierund⸗
zwanzig Stunden war fchon ein Sagenkranz um
feine Perſon geflochten. Ein halb Dutzend mit
Goldguineen gefüllte Säde feien auf dem Reife
wagen de3 Fremdlings aufgefchnallt gemefen, hieß
es, und er wolle das Markgrafenſchloß ſamt dem
Hofgarten kaufen, er führe ein Bett mit Schwanen⸗
daunen mit fich und gefticte Wäsche, er ſei ein
Vetter de3 Königs von England und Cafpar
Haufer fein leiblicher Sohn. Stanhope, kühl bis
in die Nieren, fah ſich als Mittelpunkt klein—
ftädtifchen Schwatzes und war e3 zufrieden.
Der Hofrat hatte ihm feine Erklärung über
das Verhalten des Präfidenten zu geben vermocht.
Um die dienftlichen Schritte zu beraten, fuchten
fie den Archipdirektor Wurm auf, der bei Feuer⸗
bach großes Vertrauen genoß. Stanhope ſpürte,
daß man nur mit feheuer Vorficht an die Sache
ging; die amt3fälfigen Herren konnten fich feines
freien Berhältnifjes zu einem Manne rühmen,
deffen Hand wie Eifenlaft auf ihnen ruhte.
- Am Abend folgte Stanhope der Einladung
in einen Familienkreis. Als er hier die Nede
auf den Präfidenten brachte, wurde eine Reihe
von Anekdoten erzählt, die teils lächerlich, teils
bigzarr Hangen, oder man berichtete, wie um den
Mangel an Liebe und echtem Sichbeſcheiden
durch Umftände zu verdedfen, welche da3 Mitleid
bherausforderten, von dem Unglück, welches Feuer-
bad) an zweien feiner Söhne erlebe, von einer
zerrütteten Ehe, von der menfchenhaffenden Ein-
famkeit, in welcher der Alte haufte, und in der
man doch wieder etwas wie eine dunkle Ver—
ſchuldung fehen wollte. „Ex ift ein Fanatiker,“
21
ließ ſich ein kahlköpfiger Kanzleivorftand ver-
nehmen, „er würde, wie Horatius, feine eignen
Kinder dem Henkersknecht ausliefern.“
„Er vergibt niemals einem Feind," fagte ein
andrer klagend, „und dies bemeift feine chriftliche
Gefinnung.”
„Das alles wäre nicht jo fchlimm, wenn er
nicht in jedem Menfchen eine Art von Uebeltäter
jehen würde," meinte die Dame des Haufes,
„und bei jeder Harmlofigfeit ge das ganze
Strafgefeb aufmarjchieren Tieße, Neulich gin
ich um die Dämmerung mit meiner Tochter aut
der Triedorfer Straße fpazieren, und wir waren
unbedadhtfam genug, ein paar Nepfel von den
Bäumen zu pflüden ; auf einmal fteht die Exzellenz
vor uns, jchwingt den Stod in der Luft und
ſchreit mit einer, fürchterlich krähenden Stimme:
Oho, meine Gnädige, das ift Diebitahl am Ge-
meindegut! Nun bitt’ ich einen Menfchen, Dieb-
ftahl! Was foll_ denn das heißen?“
„Du mußt aber auch jagen, Mama," fügte
die Tochter hinzu, „daß er babei ganz pfiffig
efhmungelt hat und fi) kaum das Lachen ver-
beißen konnte, als wir, vor Schrecken zitternd,
die Aepfel in den Graben warfen."
Der bloße Name des Mannes glich einem
Steinblod im Strom, vor dem das Saffer ftaut
und aufprallt. Stanhope machte fein Hehl aus
feiner Bewunderung für den Präfidenten. Er
zitierte Stellen aus feinen Schriften, ſchien felbft
die trodenften juriftiichen Abhandlungen zu Fennen
und prie3 bie von Feuerbach Bungee Ab-
ſchaffung der Folter als eine Tat, die über die
Jahrhunderte leuchten würde. Es war ein Mittel
zu blenden, wie irgendein andres.
252
Auf allen Gafjen, in allen Salons gab es
alsbald nur einen einzigen © — *— und
das war Lord Stanhope. Lord Stanhope, der
eld und die Zuflucht der umfchulkig Derjolgten,
ord Stanhope, der Gipfel der Eleganz, Lord
Stanhope, der Freigeift, Lord Stanhope, der
Siebting des Glüds und der Mode, Lord Stans
bope, er Melancholifche, und Lord Stanhope,
er Strengreligiöfe. So viel Tage, jo viel Ge
ſichter; heute ift Lord Stanhope Talt, morgen ift
ex leidenihaftlich; zeigt er fich hier heiter und
ungebunden, dort wird er Sieffinnig und würde⸗
vol fein; Gelehrſamkeit und leichte Tändelei, die
Stimme des Gemüts und fittliche Forderung:
es fommt nur auf das Negifter an, das ber
geſchickte Orgelſpieler braucht. Wie intereffant
I Aberglauben, wenn er in einem Birkel bei
au von Smhefi feine Furcht vor Gefpenftern be
fennt und jchildert, daß er dabei geweſen, wie
ein Landsmann in den Krater des Bejun zur Hölle
gefahren fei; wie entzückend die Ironie, mit der
ex bei andrer Gelegenheit gottlofe Gebichte von
Byron zu vezitieren verfteht.
Die Elemente mifchen fi), man weiß nicht
wie. Es ift eine Luft, die Welle zu Schaum zu
fchlagen und den Kleinen provinzlihen Sumpf
im vergoldeten Kahn zu durchfahren. -
Am fünften Tag kam der Jäger zurüd. Er
brachte erweiterte Vollmachten; Befehle, denen
Stanhope durch feine Reife nach Ansbach zum
Teil zuvorgelommen war, aus benen als bes
merkenswert etwa3 wie Furcht vor den Maß-
nahmen Feuerbachs auffiel. Es murde ihm ges
boten, fi dem Präfidenten in jedem Fall zu
fügen, da Widerftand Verdacht erweckt hätte;
253
das Aeußerſte zu verfuchen, aber fich zu fügen
und neue Minen zu graben, wenn die alten
wirkungslo8 geworden. Von einem gefährlichen
Dokument war die Rede, das einftweilen beifeite-
gebracht oder unfchädlich gemacht werden müffe,
von deſſen Inhalt aber jedenfalls Abſchrift zu
nehmen ſei.
Das überreichte Schreiben follte im Beifein
de3 Jägers zerrifjen und verbrannt werden. Dies
geihah. Vor allem brachte der Burſche Geld,
herrliches bares Geld. Stanhope atmete auf.
Am nächiten Abend Iud er einige der vor-
nehmften Familien der Stadt zu einem gefelligen
Beifammenfein in die Räume des Kafinog. Man
raunte fich zu, daß er die Speifen nach befon-
deren Rezepten habe bereiten lafjen und die
Mufikpiecen mit dem Kapellmeifter felbft durch-
probiert habe. Bor Beginn des Tanzes erhielt
jede Dame ein ebenfo finniges wie koſtbares An«
gebinde: ein Kleines Schildchen von Gold, auf
welchem in emaillierter Schrift die Devife ftand:
„Dieu et le cour.“ Danach nahm der Lord
jein Glas und forderte die Anweſenden auf, mit
ihm das Wohl eines Menſchen auszubringen,
der ihm ſo teuer fei, daß er den Namen vor fo
vielen Ohren gar nicht auszufprechen mage,
müßten doch alle, wen er meine: jenes wunder-
bare Geſchöpf, vom Schickſal wie auf eine Warte
der Zeit hingeftellt: Dieu et le cour, die gelte
ihm, dem Mutterlofen, deſſen die Mütter gedenken
möchten, welche Kinder geboren, und die Jung-
frauen, die fi der Liebe weihten.
Man war gerührt; man war außerordentlich
gerührt. Ein paar weiße Tafchentücher flatterten
in fanften Händen, und eine ergriffene Baß⸗
254
ftimme murrte: „Seltener Mann." Der feltene
ann, als ob ex feine eigne Bewegung nicht
ander3 meiftern Tönne, begab’ ſich auf den an-
ftoßenden Balkon und fchaute finnend auf das
Bolt, das teils in ehrfürchtig flüfternden Gruppen
ftand, teils in der Dunkelheit auf und ab pro-
menierte. Viele auch hatten fi, der Muſik
laufend, an die gegenüberliegende Mauer ge-
drängt, und eine ganze Reihe von Gefichtern
länzte fahl in dem aus den Fenftern flutenden
ichtichein.
Da gewahrte Stanhope den Uniformierten,
der ſich ihm bei feiner Ankunft in der Stadt
präfentiert. Ex hatte ihn feitdem völlig aus dem
Gedächtnis verloren, der Mann war zur felt-
gesten Stunde im Hotel geweſen, doch hatte
tanhope die Verabredung nicht gehalten, und
jener hatte nur die Karte zurüctgelaffen. Seht
ftand er wenige Schritte entfernt unter einem
Laternenpfahl, und fein Geficht, ſchien auf
fallend böje.
Ein Unbehagen überlief den Lord. Er ver-
beugte fich höflich nach der Richtung, wo der
Regungslofe fand. Darauf hatte der nur ge-
wartet; er trat näher, und dicht am Balkon
ftehend, war fein Geficht etwa in Brufthöhe des
Grafen.
„Polizeileutnant Hickel, wenn ich nicht irre,"
jagte Stanhope und reichte ihm die Hand; „ich
jatte das Unglück, Ihren Beſuch zu verfäumen,
ich bitte mich zu entjchuldigen."
Der Polizeileutnant fteahlte vor Ergebenheit
und heftete den Blick andächtig auf den redenden
Mund des Grafen. „Schade, verſetzte er, „ich
hätte fonft gewiß den Vorzug, den heutigen Abend
255
in Mylords Gefellfchaft zu verbeingen. Man
rechnet meine Wenigkeit bier gleichfalls zu den
oberen Zehntaufend, haha!“
Stanhope rückte kaum merklich den Kopf.
Was für ein unangenehmer Gefelle, dachte er.
„Waren Eure Herrlichkeit jchon beim Stants-
tat Feuerbach?" fuhr der Polizeileutnant fort.
„Ich meine heute. Die Erzellenz war nämlich
big jeßt ſtarrköpfig, wollte mit Eurer Herrlichkeit
nur fehriftlich unterhandeln. Es ift mir endlich
gelungen, den eigenfinnigen Mann andern Sinnes
zu machen.“
AU da3 wurde in der biederften Weife vor«
ebracht; doch Stanhope zeigte ein befremdetes
eficht. „Wie das?" fragte er ftodend.
„Nun ja, ich kann bei dem guten Präftdenten
manches durchfegen, woran andre ſich umfonft
die Zähne ausbeißen,“ erwiderte Hickel, ebenfalls
mit dem_ heiterften und gefälligiten Ausdruck.
„Sole Hitzköpfe find um den Finger zu wideln,
wenn man fie zu nehmen verfteht. a, das ift
luſtig: um den Finger gewickelte Hitzköpfe, haha!"
Stanhope blieb eiſig. Er empfand einen an
Ekel grenzenden Widerwillen. Der Polizeileut-
nant ließ fi) nicht beirren. „Mylord follten
keinesfalls Tange überlegen," fagte er. „Wenn
auch die Angelegenheit jetzt nicht gerade fonderlich
drängt, fo treffen Sie doch den Staatsrat in
einem Zuftand von Unentihtoffenbeit, dünkt mich,
der auszunugen iſt. Und was das bedrohliche
Dokument anbelangt..." Er hielt inne und
machte eine Paufe.
Stanhope fühlte, daß er bis in den Hals
exbleichte. „Das Dokument? Bon welchem Doku
ment prechen Sie?" murmelte er haftig.
256
„Sie werden mich vollftändig verftehen, Herr
Graf, wenn Sie mir eine halbe Stunde Gehör
ſchenken wollen,“ antwortete Hidel mit einer
Untermwürfigfeit, die fich beinahe wie Spott aus-
nahm. „Was wir uns zu jagen haben, ift nicht
unwichtig, muß aber keineswegs noch heute gefagt
— Ich ſtehe zu jeder beliebigen Zeit zur
gung." .
Seiner Unruhe trogend, glaubte Stanhope
Gleichgültigkeit zeigen zu ſollen. Obwohl ein
Stichwort gefallen war, da3 er nicht überhören
durfte, verjchanzte er fich Hinter einer vornehmen
Unnahbarkeit. „Ich werde mich ficherlich an Sie
wenden, wenn ich Ihrer bedarf, Herr Polizei»
leutnant," fagte er kurz und wandte fich ftirn-
ET" A auf die Sven, fä
ickel biß fich auf die Lippen, fehaute mit
einiger Verblüffung dem Grafen nach, der durch
die offene Saaltür verſchwunden war, und ging
dann leife pfeifend über die Straße. Plößli—
drehte er ſich um, verbeugte ſich höhniſch und
fagte mit gefchraubter Verbindlichkeit, wie wenn
Stanhope noch vor ihm ftünde: „Der Herr Graf
find im Sertum; auch bei dero Gnaden wird
mit Waſſer gekocht."
Als Stanhope wieder unter feine Gäfte ges
treten war, 30g er den Generalfommiffär von
Stichaner ins Geſpräch. Im Verlauf der Unter-
haltung äußerte er, er habe ſich entichloffen, dem
Präfidenten morgen feinen Beſuch zu machen;
wenn Feuerbach auch dann bei feinem wunder⸗
lichen Starrfinn verbleibe, werde er es als vor-
fäßlichen Affront auffaffen und abreifen.
Er fagte das mit fo lauter Stimme, daß
einige danebenftehende Herren und Damen es
Baffermann, Gafpar Haufer 17 257
gm mußten; unter biefen befand fih auch
au von mög, die mit Feuerbach jehr be
feeunbet war. An fie hatte fich der Lord offen-
ar wenden wollen. Frau von Imhoff war auf-
merkſam geworden, fie blickte herüber und fagte
etwas verwundert: „Wenn ich mich nicht täufche,
Mylord, jo hat Erzellenz ja Ihnen einen Beſuch
abgeftattet. Ich traf ihn fpät nachmittags in
feinem Garten, al3 er eben im Begriff war,
zum ‚Stern‘ zu gehen. Sie waren wohl nicht
zu Haufe?“
B Ich verließ mein Hotel um acht Uhr,“ ant-
wortete Stanhope.
Eine Stunde fpäter ſchickten fich viele zum
Aufbruh an. Der Lord erbot fi, Frau von
Imboff, deren Gatte verreift war, in feinem
Wagen nach Haufe zu bringen. Da fte der Weg
vorüberführte, ließ Stanhope beim „Stern" halten
und erkundigte Ir ob in feiner Abmwefenheit
jemand vorgefprochen habe. In der Tat hatte
Feuerbach feine Karte abgegeben.
Am andern Vormittag um elf Uhr hielt die
geäfihe Karoſſe in der Heiligenkreuggaffe vor
em Tor des Feuerbachſchen Gartens. Mit
ariftofratifch gebundenen Schritten, die gertenhaft
biegfame Geftalt unnahahmlich geſtreckt, näherte
fih Stanhope dem Iandhausähnlichen Gebäude,
indem er gun die Mitte der kahlen Baumallee
einhielt. Sein Anzug befundete peinliche Sorg-
falt; in dem Knopfloch des braunen Gehrods
glühte ein rotes Ordensbändchen, die Krawatte
war durch eine Diamantjchließe gehalten und mie
ein geiftiger Schmuck umfpielte ein müdes Lächeln
die glattrafierten Lippen. Als er ungefähr zwei
Drittel des Wegs zurückgelegt hatte, hörte er
258
eine brüllende Stimme aus dem Haus, zugleich
rannte eine Kate vor ihm fiber den Kies. Ein
55 je3 Omen, dachte er, verfärbte fich, blieb ftehen
ſchaute unwillkürlich zurüd. Es war fo
"neblig, daß er feinen Wagen nicht mehr jah.
Er 309 die Glode am Tor und wartete ge
vaume Weile, ohne daß geöffnet wurde. Indes
dauerte das Gefchrei drinnen fort, e8 war eine
Männerftimme in Tönen wilder Wut. Stanhope
drückte endlich auf die Klinke, fand den Eingan,
unverfperrt und betrat den Flur. Er ſah niemani
und trug Bedenken, weiterzugeben. Plötzlich
wurde eine Tür aufgeriffen, ein Frauenzimmer
ftürgte heraus, anjcheinend eine Magd, und binter-
her eine gedrungene Geftalt mit en
Schädel, in welcher Stanhope fofort den Präfi-
denten erkannte, Doch erfchrat er dermaßen vor
dem zornverzerrten Geficht, den gefträubten Haaren
und ‚der ducchdringenden Stimme, daß er wie
angemwurzelt ftehen blieb.
Was hatte I ereignet? War ein Unheil
paffiert? Ein Verbrechen zu Tag jefommen ?
Nichts von alledem, Bloß ein ftintender Qualm
30g durch den Korribor, weil ein Topf mit Milch
in der Küche übergelaufen war. Die Frauens-
perfon hatte fich beim Wafjerholen verſchwatzt,
und da war es benn ein gar würdelofer Anblick,
den alten Berferker zu fehen, mie er mit den
Armen fuchtelte und bei jeder jammernden Wider:
rede der Gefcholtenen von neuem rafte, die Zähne
fletfchte, mit den Füßen ftampfte und ſich vor
Bosheit überfchrie.
Ein komisches Männlein, dachte Stanhope
voll Verachtung; und vor biejem Heinen Provinz:
tyrannen und Polizeiphiliſter habe ich gebebt!
259
Sich vornehm räufpernd, fchritt er die drei
Stufen empor, die ihn noch von dem Lächerlichen
Kriegsſchauplatz trennten, da wandte fich Feuer-
bach blißfchnell um. Der Lord vernieigte fich tief,
nannte feinen Namen und bat nachjichtig lächelnd
um Entſchuldigung, wenn er ftöre.
Schnelle Nöte überflog das Geficht Feuer-
bachs. Er warf einen feiner jähen, fait ftechen-
den Blicke auf den Grafen, dann zudte es um
Nafe und Mund, und auf einmal brach er in
ein Gelächter aus, in welchem Beſchämung,
Selbftironie und irgendeine gemütliche Verficherung
lag, kurz, es hatte einen befreienden, wohltuenden
und überlegenen Klang.
Mit einer Handbewegung forderte er den
Gaft zum Eintreten auf; fie famen in ein großes
mohlerhaltenes Zimmer, das bis in jeden Winkel
von auferordentlicher Alkurateſſe zeugte. Feuer⸗
bad; begann ſogleich über fein bisheriges Ver—
halten gegen den Lord zu fprechen, und ohne
Gründe anzuführen, fagte er, die Notwendigkeit,
die ihn beftimmt, fei Härter als die geſellſchaft⸗
liche ke Doch habe er eingefehen, daß er
einen Mann von jolchem Rang und Anſehen nicht
verlegen könne, zumal ihm fchägenswerte Freunde
fo viel Anziehendes berichtet hätten, deshalb habe
ex Seine Lordſchaft geftern aufgefuct.
Stanhope verbeugte ſich abermals, bebauerte,
daß er Seiner Erzellenz nicht habe aufwarten
können, und fügte befcheiden hinzu, ex muſſe diefe
Stunde zu den höchften feines Lebens rechnen,
vergönne fie ihm doch die Bekanntſchaft eines
Mannes, defjen Ruf und Ruhm einzig und über
die Grenzen der Sprache wie der Nation hinaus-
gedrungen fei.
260
Bon neuem der jähe, feharfe Blick des Präfi-
denten, ein fehamhaft fatirifches Schmunzeln in
dem verwitterten Geficht und dahinter, fait rüh-
rend, ein Strahl naiver Dankbarkeit und Freude.
Der Lord ſeinerſeits ftellte vollendet einen Mann
der großen Welt dar, der vielleicht zum erſten⸗
mal _befangen ift.
Sie nahmen Platz, der Präfident durch die
Gewohnheit de3 Berufs mit dem Rüden gegen
das Fenſter, um feinen Gaſt im Licht zu haben.
Er fagte, eine der Urfachen, weshalb er ihn zu
fprechen verlange, fei ein geftern eingetroffener
Brief des Herrn von Tucher, worin ıhm diefer
nahelege, Caſpar zu ſich ind Haus zu nehmen.
Diefe plögliche Sinnesänderung ſei ihm um fo
merkwürdiger erſchienen, als er ja wifle, daß
Herr von Tucher den Abfichten des Grafen ge-
neigt gemejen; er habe den Faden verloren, die
ganze Gefchichte jei ihm verſchwommen geworden,
er habe nun jehen und hören wollen.
Im Tone größten Befremdens erwiderte
Stanhope, er könne fich das Vorgehen Herrn von
Tuchers durchaus nicht erklären. „Man braucht
den Menjchen nur den Rüden zu ehren und
fie verwandeln ihr Geficht," fagte er gering
chatig
„Das iſt nun fo," verſetzte der Präſident
teoden. „Ich will übrigens Ihre Erwartung
nicht hinhalten, Here Graf. Wie ich ſchon dem
Bürgermeiſter Binder mitteilte, kann e3 auf feinen
Tal gefchehen, daß Ihnen Caſpar überlaffen
werde. Ein folches Anfinnen muß ich gänzlich
und ohne Bedenken abweiſen.“
Stanhope ſchwieg. Ein ſchlaffer Unmillen
malte ſich in ſeinen Bügen, Er blickte unabläffig
261
auf die Füße des Präfidenten, und als ob ihn
dad Sprechen Ueberwindung koſte, fagte er end»
lich: „Laſſen Sie mich nen, Erzellenz, vor
Augen führen, daß Caſpars Lage in Nürnberg
unhaltbar ift. Aufs fonderbarfte angefeindet und
von feinem unter allen, die fich feine Schüßer
nennen, verftanden; mit dem Drud einer Dankes⸗
ſchuld beladen, die das Schickſal ſelbſt für ihn .
aufgenommen bat und die er niemals wird be-
zahlen können, da ihm ja fonjt jeder Tag und
jedes Erlebnis zu einer mucherifchen Binfenabgabe
würde und er, ein junger, ein Wachjender, der
ex ift, fein Dafein für fich verzehren muß, ift er
waffenlos ausgeſetzt. Zudem will die Stadt, wie
mir ausdrüdlich verfichert wurde, nur noch bis
zum nächſten Sommer für ihn jorgen und ihn
dann einem Handwerfgmeifter in die Lehre geben.
Das, Erzellenz, dünkt mich ſchade.“ (Hier erhob
der Lord feine Stimme ein wenig, und fein Ges
pi mit den niebergefchlagenen Augen erhielt
en Ausdruck verbiffenen Hochmuts.) „Es dünft
mich fehade, die feltene Blume in einen von aller
Welt zerftampften Rafen fegen zu laſſen.“
Der eäfbent hatte aufmerkfam zugehört.
„Gewiß, das alles ift mir bekannt,“ antwortete
er. „Eine fellene Blume, gewiß. War doch fein
erſtes Auftreten derart, daß man einen durch ein
Wunder auf die Erde verlorenen Dürger eines
andern Planeten zu ſehen vermeinte, oder jenen
Menſchen des Plato, der, im Unterirdiſchen auf⸗
gewachſen, erſt im Alter der Reife auf die Ober:
welt und zum Licht des Himmels geitiegen ift.“
Stanhope nicte. „Meine Hinneigung zu ihm,
die dem allgemeinen Urteil übertrieben erjchienen
iſt, entftand mit dem erſten Hörenfagen über feine
262
Perfon; fie findet auch in der Gefchichte meines
Geſchlechts etwas wie. eine ataviftiiche Necht-
fertigung," fuhr er in fühlem Plauberton fort.
„Einer meiner Ahnen wurde unter Crommell
jeächtet und floh in ein Grabgewölbe. Die eigne
ochter hielt ihn verborgen und nährte ihn, bis
die Flucht gelang, kümmerlih mit erftohlenen
Broden. Seitdem weht vielleicht ein menig
Grabesluft um die Nachgeborenen. ch bin der
Letzte meine® Stammes, ich bin kinderlos. Nur
noch ein Traum oder, wenn Sie wollen, eine
fire Idee bindet mich and Leben.“
Feuerbach warf den Kopf zurüd. Die Linie
feines Mundes zudte in die Länge wie ein Bogen,
effen Sehne zerriffen iſt. Plötzlich Tag Größe
in feiner Gebärde. „Eine innere Verantwortung
hindert mich, Ihnen zu willfahren, Herr Graf,”
jagte er. „Hier fteht fo Ungeheures auf dem
Spiel, daß jeder Gnadenbemeis und jedes Liebes»
opfer daneben gar nicht mehr in Frage kommt.
Hier iſt den in Abgründen Fauernden Dämonen
des Verbrechens ein Recht zu entreißen und dem
bangen Auge der Mitwelt, wenn nicht als Trophäe,
fo doch als Beweis dafür entgegenzuhalten, daß
es auch dort eine Vergeltung gibt, wo Untaten
mit dem Purpurmantel bedeckt werden.“
Der Lord nickte wieder — doch ganz mechanisch,
Denn innerlich erftarrte er. Es wurde ihm ſchwül
vor der elementaren Gewalt, die aus der Bruft
diefes Mannes zu ihm redete, und die felbft das
Pathos verzehrte, das ihm anfangs unbehaglich
war und ihn ironisch gejtimmt hatte. Er fühlte,
daß gegen dieſen Willen zu kämpfen, der fich wie
Unwetter verfündigte, ein Being Mühen
fein würde, und wenn es ein Beſchluß über ihm
263
mar, durch den er in das Labyrinth lichtſcheuer
Verrichtungen mehr geglitten als geichritten war,
fo fand er fich jet ratlos und ohnmächtig darin,
und es wurde ihm auf einmal wichtig, einen
Anſchein von Ehre und Tugend aus dem Chaos
jeine3 Innern w vetten. Er beugte fi) vor und
agte ſanft: „ Und iſt das Recht, das Sie jenen
entreißen wollen, die Leiden deſſen wert, dem es
zukommt ?
„Ja! Auch dann, wenn er daran verbluten
müßte!“
„Und wenn er verblutet, ohne daß Sie Ihr
‚Biel erreichen?“
„Dann wird aus feinem Grab die Sühne
wachen."
Ich ermahne Sie zur Vorficht, Exzellenz,
um Shretwillen,” flüfterte Stanhope, indem fein
Blick langſam von den Fenftern zur Tür wanderte.
Feuerbach ſah überrafht aus. Es war etwas
Verräterifches in diefer Wendung, in irgendeinem
Sinn verräterifch. Aber die blauen Augen des
Lords ftrahlten durchfichtig wie Saphire, und
eine frauenhafte Trauer lag in der Neigung des
{malen Hauptes. Der —2 In ich
bingegogen zu dem Manne, und unwillkürlich
nahmen feine Worte einen milden, ja_faft lieb⸗
reichen Klang an, al3 er fagte: „Auch Sie?
Auch Sie fprechen von Borfiht? Meine Sprache
ſcheint Ihnen fühn; fie ift es. Ich bin es fatt,
auf einem Schiff zu dienen, das durch. die Ver-
blendung feiner Offiziere in den jchmählichen
Untergang rennt. Aber ich könnte mir denken,
daß e8 einem Bürger des freien England un—
begreiflich ift, wenn ein Menfch mie ich feine
Ruhe und die Sicherheit der Exiſtenz aufgeben
264 .
muß, um das Gewiſſen des Staats für die
primitioften Forderungen der Gejellichaft wach⸗
zurütteln. Es ift überfläffig, mich zur Vorficht
zu mahnen, Mylord. Ich würde alles das auch
demjenigen ins Ohr fehreien, der fih mir als
Denunziant befennte. ch fürchte nichts, weil
ich nichts zu hoffen habe.“
Stanhope Tieß einige Sekunden verftreichen,
bevor er verjonnen antwortete: „Mein Unkenruf
wird Sie weniger verwundern, wenn ich Ihnen
eftehe, daß ich nicht uneingemeiht in die Ver-
jälmifje bin, auf die Sie hindeuten. Ich bin
nicht daS Werkzeug des Zufalls. Ich bin nicht
ohne äußeren Antrieb zu dem Findling gekommen.
Es ift eine Frau, es ift die unglüdlichfte aller
Frauen, al3 deren Sendboten ich, mich betrachte."
Der Präfident fprang empor, al3 ob ein
Blitz im Zimmer gezünbet hätte. „Here Graf!"
tief er außer fi. „Sie wiſſen alſo —“
„Ich weiß," verjeßte Stanhope ruhig. Nach-
dem er mit düfterer Miene beobachtet hatte, wie
der Präfident krampfhaft die Stuhllehne gepackt
hielt, jo daß die Arme fichtbar zitterten, und wie
das große Geficht fich verfaltete und bewegte, fuhr
er mit monotoner Stimme und einem matten, felt-
ſam füßlichen Lächeln fort: „Sie werden mich
fragen: Wozu die Ummege? Was wollen Sie
mit dem Knaben? Ich antworte Ihnen: Ich
will ihn in Sicherheit bringen, ich will ihn in
ein andres Land bringen, ich will ihn verbergen,
ich will ihn der Waffe entziehen, die fortwährend
gegen ihn gezückt ift. Kann man Elarer fein?
Wollen Sie noch mehr? Erzellenz, ich habe
Kenntnis von Dingen, die mein Blut gefrieren
laſſen, jelbft wenn ich nacht3 erwache und in der
265
Paufe zwiſchen Schlaf und Schlaf daran bente,
wie man an ein Fieberbild denkt. Erſparen Sie
mir die Ausführlichkeit. Rückſichten, bindender
als Schwüre, machen meine Zunge lahm. Auch
Sie Ieinen ja, e3 ift mir vätfelhaft, auf welche
Weife, Einblick gewonnen zu haben in dieſen
rauenhaften Schlund von Schande, Mord und
Sammer: fo darf ich Ihnen wohl ja en, daß
ich, der den Königen und Herren der Erde ehr
genau und fehr nah ins Geficht geſchaut
niemal3 ein Antlig jah, dem Geburt und ent
einen gleich hohen Adel und der Schmerz eine
ergreifendere Macht verliehen haben als dem jener
Frau. Ich warb ihr Sklave mit dem Augenblic,
wo das Bild ihrer tragifchen Erfcheinung zum
erſtenmal mein Gemüt belud. Es wurde meine
Lebensidee, die ihr vom Schicjal zu effgten
Wunden in ihrem Dienft zu mildern. Ich will
ſchweigen darüber, wie ich Gewißheit über den
Zuftand der gemarterten und am Rand des
Todes hinfiechenden Seele gewann und mie fich
mir von denen, die ein Sahrgehnte hindurch fort-
gefponnenes Gewebe von Leiden um dad un-
beihüßte Daſein der Unglücklichen flochten, lang⸗
ſam Stirn um Stirn entſchleierte. Das Haupt
der Meduſe Tann nicht gräßlicher ſein. Genug
damit, daß ich meine wahre Natur unterdrüden
und mid, harmlos geben mußte; ich mußte Lügen,
fchmeicheln, fchleihen und Ränke durch Raͤnke
ſchlagen, ich habe mich verkleidet und täufchungs-
volle Aufgaben übernommen. Dabei fraß mir
der Zorn am Mark und ich fragte mich, wie es
möglich fei, eiterguleben mit folcher Wiſſenſchaft
in der Bruft. Aber das ift es ja eben: man
lebt weiter. Man it, man trinkt, man fchläft,
266
man gebt zu feinem Schneider, man promeniert,
man läßt fich Die Haare feheren, und Tag reiht
ich an Tag, als ob nichts gefchehen wäre. Und
genau fo tt es mit jenen, von welchen man
glaubt, daß das böfe Gewiſſen ihre Sinne ver-
wüſten und ihre Adern verdorren müſſe, fie eflen,
trinken, jchlafen, Tachen, amüfieren fich, und ihre
Taten rinnen von ihnen ab wie Waffer von
einem Dad.“
Sehr wahr! Das ift es, fo ift es!" rief
Feuerbach Teidenfchaftlich bewegt. Er eilte ein
paarmal duch das Zimmer, dann blieb er vor
Stanhope ftehen und fragte ftreng: „Und weiß
die Frau von allem —? Weiß fie von ihm?
her ift ihr befannt? Was erwartet, was hofft
fie 2"
„Aus perjönlicher Erfahrung kann ich Darüber
nicht8 melden,“ entgegnete der Lord mit derfelben
traurigen und matten Stimme wie bisher. „Vor
furzem wurde bei der Gräfin Bodmer erzählt,
fie babe laut aufgeweint, als man den Namen
Caſpar Haufer vor ihr genannt. Mag fein,
ganz glaubwürdig ift es nicht. Hingegen ift mir
ein andrer Vorfall befannt, der auf eine faft
überfinnliche Beigun ſchließen läßt. Eines
Mittags vor zwei Fahren befand ſich die Fürſtin
allein in der Schloßfapelle und verrichtete ihr
Gebet. Nachdem fie geendet und fich erheben
wollte, fah fie plöglich über dem Altar das Bild
eine fhönen Jünglings, deffen Geficht einen un-
endlichen Kummer ausbrüdte Sie rief den
Namen ihres Sohnes, Stephan hieß er, der Erſt⸗
geborene, dann fiel fie in Ohnmacht. Später
erzählte fie die Vifion einer vertrauten Dame,
und diefe, die Caſpar felbft in Nürnberg gejehen
. 267
hatte, war von der Aehnlichkeit tief berührt. Und
das Wunderbare ift, daß die Erſcheinung ſich
am jelben Tag und zur felben Stunde gezeigt
— wo der Mordanfall im Hauſe Daumers
ſtattfand. So viel ift kiar, daß ſich auf beiden
Seiten ein geheimnißvolles Zuſammenſtreben offen-
bart, Ferner ift e8 Har, Exzellenz, daß jedes
Zaubern Gefahr bedeutet und ein leichtfertiges
Vergeuden günftiger Gelegenheit. Ich rufe Ihnen
das in ernfter Not entgegen. Es könnte fommen,
daß unfre Verfäumnifle vor einen Richterſtuhl
gefordert werden, wo feine Reue das Gefchehene
ausgleicht."
er Lord erhob fich und trat zum Fenfter.
Seine Augenlider waren gerötet, fein Bück ber⸗
dunkelt. en verriet er agent wen belog
er? Seine Auftraggeber? en Yüngling, den
er an fich gefettet? Den Präfidenten? Sich
jelbft? wußte es nicht. Er war erfchüttert
von feinen eignen Worten, denn fie erjchienen
ihm wahr. ie fonderbar, alles das erjchien
ihm wahr, als ob er der Retter wirklich fei. Er
liebte ſich in_diefen Minuten und hätfchelte fein
gen Eine Finſternis des Vergeſſens kam über
ihn, und fofern er Müdigkeit und Ekel zu er
fennen gab, galten fie nur dem mefenlofen
Schemen, das an feiner Stelle geſeſſen, an feiner
Statt geredet und gehandelt hatte. Er löſchte
zwanzig Jahre Vergangenheit von der Tafel feines
Gedächtniffes hinweg und ftand da — reingewafchen
durch eine Halluzination von Güte und Mitleid.
Feuerbach hatte fich vor feinen Schreibtifch
niedergelaffen. Den Kopf in die Hand geftüßt,
ſchaute er finnend in die Luft. „Wir FR die
Diener unfrer Taten, Mylord," begann er nad)
268 .
langem Schweigen, und die fonft polternde
oder fchrille Stimme hatte einen janften und
en Klang, „Bor dem fchlimmen Endezittern,
jieße jede Schlacht aufgeben, bevor fie geichlagen.
Offenheit gegen Offenheit, Herr Graf! Bedenken
Site, ich ftehe hier auf einem verlorenen Poften
des Landes. Mein Leben war für eine andre
Bahn beftimmt, einft glaubte ich es menigftens,
als in der Verborgenheit einer Kreisftadt bes
ſchloſſen zu werden. Ich habe meinem König
Dienfte geleiftet, die gewürdigt worden find und
die vielleicht dazu beigetragen haben, feinem
Namen das ftolze Attribut des Gerechten zu ver⸗
leihen. Noch größere wollte ich leiften, fein Volk
erhöhen, die Krone zu einem Symbol der Menfch-
Tichteit machen. Died jcheiterle. ch ward zurüd-
geitoßen. Freilich, man hat mich belohnt, aber
nicht ander3 als wie Domeſtiken belohnt werden."
Er hielt inne, rieb das Kinn mit dem Hand»
rücken und Inirichte mit den Zähnen. Dann
fuhr er fort: „Bon früher Jugend an habe ih
mich dem Gefeß geweiht. Ich habe den Buchs
ftaben verachtet, um den Sinn zu veredeln. Der
Menſch war mir wichtiger als der Paragraph.
Mein Streben war darauf gerichtet, die Regel
zu finden, die Trieb von nerantmortung feibet
Ich habe das Lafter ftudiert wie ein Botaniker
die Pflanze. Der Verbrecher war mir ein Gegen⸗
ftand der Obforge; in feinem erkrankten Gemüt
wog ich ab, was von jeinen Sünden auf die
Verirrungen des Staates und der Gejellichaft
entfiel. Ich bin bei den Meiftern des Rechts
und bei den großen Apofteln der Humanität in
die Lehre gegangen, ich wollte das Zeitalter der
überlebten Barbarei entreißen und Pfade zur
269
Zukunft bauen. Ueberflüffig zu beteuern. Meine
Schriften, meine Bücher, meine Erläſſe, meine
ganze Vergangenheit, das heißt eine Kette ruhe
lofer Tage und arbeitSvoller Nächte, find Zeugen.
Ich lebte nie für mich, ich lebte faum für meine
Familie; ich habe die Vergnügungen der Gefellig-
teit, der Freundfchaft, der Liebe entbehrt; ich zog
feinen Gewinn aus eroberter Gunft; fein Erfolg
ſchenkte mir Raſt oder nachweisbares Gut, ich
war arm, ich blieb arm, geduldet von oben, be-
geifert von unten, mißbraucht von den Starken,
überliftet von den Schwachen. Meine Gegner
waren mächtiger, ihre Anfichten waren bequemer,
ihre Mittel gewiſſenlos; fie waren viele, ich einer.
Ich bin verfolgt worden wie ein räudiger Hund;
Basquillanten und Verleumder befubelten meine
gute *3 mit Schmutz. Es war eine Zeit, da
konnte ich nicht durch die Straßen der Reſidenz
ehen, ohne die gröblichiten Injulten des Pöbels
icchten zu müffen. ALS ich, durch wiberwärtige
trigen und Ainfeindungen ezwungen, mein
Profefjorenamt in Landshut aufgeben mußte, als
man den ftudentifchen Janhagel gegen mich in
Raferei verſetzt hatte und ich nach meiner Heimat
floh, Weib und Kind im Stich laſſend, da trach-⸗
teten mir bezahlte Schergen nach dem Leben. Es
war der große Krieg, alle Ordnung war zer
rüttet; von der öfterreichifchen Partei wurde
ausgeiprengt, daß ich mit der franzöfifchen Partei
im Bündnis ftehe, die dem Kaifer Napoleon zur
Errichtung eines olzidentaliſchen Kaiſerreichs den
Weg bahnen und die fouveränen Fürften ſtürzen
wolle, die Franzofen verdächtigten umgekehrt
meine Beziehungen zu Oefterreih. Es gab einen
Mann, einen Imte und Berufsgenofien, einen
270
Gelehrten, berühmt und angefehen — o, ein feiger
Poltron, die Zeit wird feinen Namen an einen
der Schandpfähle des Jahrhunderts Heften! —,
der ſich nicht entblöbete, mich öffentlich ala Spion
zu bezeichnen, und mein Proteftantentum zum
Vorwand nahm, den König gegen mich miß-
trauiſch zu machen. Ich erlag nicht. Die Widrig-
teiten hatten ein Ende, mein Fürft nahm mich
wieder, in Gnaden auf, freilich nur in Gnaden.
Ein neuer Herr beftieg den Thron, ich blieb in
Gnaden. Heute bin ich ein alter Mann, ſitze
hier in der Gtille, immer in Gnaden. Auch
meine Feinde find befänftigt oder fie ftellen fich
fo, auch fie find in Gnaden. Aber was es be-
deutet, eine aufs Große und Allgemeine gerigtete
Exiftenz vernichtet zu jehen, bevor noch die lehte
geier des Geiftes, ber fie trug und nährte, ihre
raft verzehrt hat, das empfinden nicht jene, das
weiß nur ich."
Feuerbach ftand auf und atmete tief. Hierauf
gift er zur Schnupftabatsdofe, nahm eine Priſe,
ann wandte er Stanhope voll das Geficht zu,
und unter den barjchen Brauen bligte ein rührend-
ängftlicher und dantharer Blick hervor, während
er jagte: „Herr Graf, ich bin mir nicht ganz
klar darüber, was mich bewegt, jp zu Ihnen zu
ſprechen. Es erftaunt mich felbft. Sie find der
erſte, der zu hören befommt, was fo verzweifelt
den Klagen eines Zurücgefeßten ähnelt und doc
nur die Erklärung für eine unabänderliche Not-
wendigkeit bieten fol. Es ift mir in der An—
gelegenbeit Caſpars nicht3 an dem Befonderen
es Falles gelegen, und nicht da8 Bejondere der
Perſon ift e8, was meinen Beſchluß ſtärkt. An
mich tritt der härtefte Zwang heran, der einen
arı
Mann von grauen Haaren treffen Tann, und
nötigt mich zu der Frage an das Schickſal: ob
denn alles Geopferte und Gewirlte umfonft ge-
wejen, ob e3 mir und den Gleichjtrebenden keine
andre Frucht gi gegiigt hat ala Ohnmacht hier und
Gleichgültigkeit dort. Sch muß die Probe machen,
muß e3 durchführen, fomme, was da wolle;
wiffen, ob ich in Wind geredet und auf
Sand gejhrieben habe; ich muß wiſſen, ob die
Verfprehungen, mit denen man bie Bitterkeit
meines Exils verfüßt hat, nur wohlfeile Lockſpeiſe
waren; ih muß und will wiffen, ob man es
ernft meint mit mir und meiner Sache. Ich
habe Bemeife, Graf, e3 liegen furchtbare Indizien
vor; ich kann dreinfchlagen, ich habe den Donner»
feil und Tann das Wetter machen, alles ift von
mir figiert und in einem befonberen Dokument
dargeftellt; man weiß es, man wird es nicht zum
Aeußerften treiben, denn zum Aeußerſten bin ich
entfchloffen, um das toftbare Gut zu wahren, zu
dem ich vor Gott und den Menfchen al3 Hüter
beftellt bin. Immerhin, ich werde warten, große
Dinge, brauchen viel Geduld. Aber Cafpar darf
mir nicht entfernt werden. Er ift die lebendige
Waffe und der lebendige Zeuge, deren ich bedarf,
und zwar in ſtets erreichharer Nähe. Verlöre
ih ihn, fo wäre das Fundament meines legten
Werts dahin, ich ſpür' es wohl, es iſt das lebte,
und jeder Anfpruch auf Gehör würde weſenlos
Und Sie, edler Mann, was verlören Sie?
Wollen Sie eine Tat der Barmherzigkeit oder
der Liebe verrichten und der Gerechtigkeit nicht
jebenten? Das hieße Gold wegwerfen, um
äderling zu erhalten.“
Stanhopes Gefiht war nad) und nad) fo fahl
272
eworden, als flöffe fein Blut mehr unter der
aut. Er hatte ſich niedergeſetzt, fich geduckt,
wie wenn er fich verfriechen wollte; ein paarmal
waren Blicke aus feinen Augen gebrochen wie
wilde Tiere, die ihren Käfig zerfrümmert haben,
dann rief er fie wieder zurüd, faugte fie in fs
inein, bielt den Atem an, neftelte mit den
ingern am Settchen des Lorgnons, und als ber
Präfident am Ende war, richtete er fich mit einer
leidenfchaftlichen Bewegung auf. Er hatte Mühe,
ſich zu finden, er hatte — Worte zu finden,
in beftigem Wechfel zuckte es um feinen nd,
mie wenn er laden oder einen körperlichen
Schmerz verbeißen wollte, und als er die Hand
des Präfidenten ergriff, wurde ihm eislalt; ber
Doppelgänger ftand an feiner Seite, dieſer
Schattenleib de3 Gelebten, VBegangenen, Ber
fäumten, und zifchelte ihm das Wort des Verrats
ins Ohr, aber feine Augen waren feucht, als er
jagte: „Sch verftehe. Alles, was ich zu ant-
worten vermag, ift: nehmen Sie we als Freund,
Kg betrachten Sie mic, als een Helfer.
Ihr Vertrauen ift mir wie ein Wink von oben.
Doc welche Bürgichaft Haben Sie? Welche Ge
währ, daß Sie hr Herz nicht einem Unmwür-
digen eröffnet haben, der nur beffer zu heucheln
verfteht als alle andern? ch hätte Caſpar ent
führen können, ich könnte e8 noch —“
„Wenn dies Antlis lügt, Mylord, mit dem
Sie hier vor mir ftehen, dann will ich es meinet⸗
wegen für ein Hirngefpinft erklären, Wahrheit
auf Erden zu fuchen,” unterbrach ihn Feuerbach
lebhaft. „Entführen, Gafpar entführen?“ fuhr
utmütig lachend fort. „Sie ſcherzen; ich
möchte dad jedem Manne mwiderraten, der noch
BWarfermann, Gafpar Haufer 18 273
Wert darauf legt, im Sonnenfchein ſpazierenzu⸗
gehen."
Stanhope verfant eine Weile in 1 eagun loſes
Grübeln, dann fragte er haſtig: „WW nn ae
geſch en? Schnelle Handeln ift —— Wohin
mit — gu
Er joll hierher nach Ansbach," verfegte
Beuibag Tategorifch.
terher? Zu Ihnen ?“
u mir, nein. Das iſt leider unmöglich,
aus" vielen Gründen unmöj glich. Ich, muß viel
allein fein, ich habe viel zu arbeiten, ich bin viel
auf Reifen, meine Gefundheit ift erfchüttert, mein
Charakter eignet fich_fchlecht zu der Rolle, die ich
dabei übernehmen müßte, und außerdem verbietet es
die Sache, ein allzu perfönliches Band zu Inüpfen.“
Stanhope atmete auf. „Wohin aljo mit ihm?“
beharrte er.
„Ich werde nach einer Familie Umfrage
halten, ha er Erg lege pm geitig ra fitt-
e Unterftügung et," te ent.
Ei heute will ich mit ra von Imhoff
fprechen und ihren Rat einholen, fie kennt die
hieſigen Leute, Seien Sie deſſen ver jert, My—
lord, daß ich über den gingling, ma werde
mie über mein eignes Kind. Die Nürnberger
Schwabenftreiche find zu Ende. Daß ich Ihrem
Verkehr mit Cajpar keinerlei. Schranken ſetze,
bedarf nicht der Erwähnung. Herr Graf, pH
Haus ift‘ das Ihre. Glauben Sie mir, auch
unter der Hülle des Beamten und Richters ji lägt
ein für Freundfchaft empfängliches Herz.
wird in diefem Land der enges nicht vers
wöhnt durch den Umgang mit Männern.”
Nachdem fie noch üchtig über die an Herrn
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anzuftellen. Im Gafthof angelangt, ſchloß er
fi) ein und machte eine halbe Stunde lang Fecht-
Übungen mit dem Florett.
Er unterbrach fi erft, als er von draußen
eine Stimme vernahm, die mit dem Kammerdiener
unterhandelte, der Auftrag hatte, niemand vorzu⸗
Iaffen. Stanhope lauſchte; er erkannte Di
Stimme, nicte gleichgültig, und mit dem Degen
noch in ber Hand Öffnete er. Es war Hidel,
der auch fofort eintrat und den ihn fhweigend
betrachtenden Gra fen etwas verlegen begrüßte,
Nach feinem Begehr gefragt, räufperte er fich
und ftotterte ein paar unzujammenhängende Flos⸗
teln, aus denen hervorging, daß er um den
Beſuch Stanhopes bei Feuerbad) mußte. Sein
Benehmen verriet troß einer unangenehm wirfen-
den Kriecherei eine nicht zu faflende freche Ver—
traulichkeit.
Stanhope verwandte feinen Blick von dem
aufgeregten Mann in der kleidſamen Uniform.
„Was hatte es eigentlich zu Bebeuten, vo Sie
mir F einer Zuſammenkunft mit dem Herrn
* enten Ihre Hilfe anboten ?" — er froſt
Der Herr Graf haben ſich F er meine Hill
y gefallen laſſen,“ ermiderte Hicel, Er
‚ ob der Staatsrat ohne mich zu haben ges
we wäre, er verfteht es, fich zu verfchanzen.
Der Here Graf geruhen das nicht anzuerkennen.
Je nun," fügte er achjelgudtend Hinzu, „große
Herren haben ihre Launen.“
„Wie fommen Sie denn überhaupt dazu, fich
zum Zwifchenträger anzubieten?"
‚„Bwilchenträger? Der Herr Graf legen
meiner unjchuldigen Zuvorfommenheit ein zu
großes Gewicht bei."
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hoff zum Tee erfcheinen und fragte den Polizei⸗
leutnant, ob er ein Stück Wegs mitfahre, Sb
wohl aus der —* der Wunſch einer Ablehnung
Hang m m Hickel, dem es darum zu tun mar,
em Lord öffentlich gefehen zu werden, das
Anerbieten dankbar an.
Die Straßen waren jetzt etwas belebter als
am Mittag; die alten Beamten und PVenfioniften
machten um diefe Stunde ihren täglichen Spagter-
gang über die Promenade. Viele blieben ftehen
En — gegen das Innere der hocherlauchten
m paſſierte es, daß an einer Straßenecke
der Mann auf dem Bod wieder einmal fein
welſches Gefchrei ertönen ließ; es fand nämlich
mitten auf dem Fahrdamm ein träumerifch wollen⸗
wãrts guckender Herr, der von dem Herannahen
der gräflichen Karofje keine Notiz zu nehmen
Fra öchft erſchrocken — er beiſeite, als
der Elſaſſer zu fluchen be och nicht fehnell
genug, iß nicht jeine Teider duch, den Kot
eſchmutzt wurden, der von den Hufen der Pferde
und den Rädern aufſpritzte.
Hickel bog den Kopf zum Fenſter hinaus und
geiente, denn der Vefubelte ftand mit einem ver-
usten und unglücklichen N hielt die Arme
vom Fe und jah fih die Beſcherung an.
Wer ift der ungeſchickte Mann?" erkundigte
I Stanhope, | die Schadenfreude des Polizei⸗
leutnants verdroß.
„Das? Das hi der Lehrer Duandt, Mylord."
Eigner Zufall; eine halbe Stunde ſpäter
wurde ei Frau von Imhoff derfelbe Name ge-
nannt. Der Präfident und feine Freundin
waren nad) langen Beratungen übereingefommen,
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drei hohe Fenfter gewährten Ausficht gegen den
Garten. Der Raum war wohnlich geihmüdt,
aud bier alles von der größten Nettigleit. In
einer Art von vertiefter Niſche Bing ein gutes
Delbild Napoleon Bonapartes im Krönungsornat;
Stanhope betrachtete es mit vorgeblichem Intereſſe;
in Aeitligteit prüfte er aufmerkſam das Weſen
und Gehaben des Lehrers.
Quandt war mittelgroß und hager; über der
hohen Stirn waren tabaksgelbe Haare mit Hilfe
von Pomade ganz lächerlich glatt zurückgefämmt.
Die Augen biiekten ſchüchtern, faft betrübt, und
blinzelten bisweilen, die Hakennaſe ſtach ein wenig
ahlerifch in die Luft, der Mund, verſteckt unter
jemütigen und zerbiffenen Schnurrbarttoppeln,
hatte einen fäuerlichen Bug, der die Berufs:
gewohnheit vielen Nörgelns verriet.
Der Lord war nicht unzufrieden mit dem
Ergebnis feiner Beobachtung; er fragte den
Präfidenten, ob die Verhandlungen aum ge⸗
wünſchten Ziel geführt hätten, und als dieſer be-
jahte, wandte er fi an Quandt, reichte ihm
ſtumm dankend bie ect und fagte, er werde
ihm am Nachmittag feinen Beſuch abftatten.
Sehr benommen von folcher Huld, verbeugte fich
der Lehrer abermalß tief, machte fein Kompliment
gegen den Präfidenten und ging.
Auch Stanhope entfernte fich bald, da Feuer-
bach zu einer Gerichtsfigung mußte. Im Hotel
angefommen, verbrachte er zwei Stunden mit dem
Schreiben eines Briefes, und als er fertig war,
ſchickte er den Jäger damit ab. Um halb zwei
ftellte fi), wie verabredet, der Polizeileutnant
FR IM aßen zufammen und gingen hernach zu
möt,
280
Das Häuschen des Lehrers, das am Kronacher
Bud beim oberen Tor lag, war auf den Glanz
hergerichtet; Frau Quandt, eine frifche, gelttiee
junge Frau, mit dem roftfarbigen Seidenkleid wie
zu einer Hochzeit angetan, ftand knickſend am
Eingang, in der guten Stube war der Tifch mit
Ronditorkuchen beladen, und das feine Porzellan-
Ki blinkte einfadend auf dem fchneemeißen
ud.
Der Lord war gegen die Lehrerin von väter:
licher Freundlichkeit; a fie guter Hoffnung war,
wünſchie er Glüd, ein Haͤndedruck bekräftigte
feine zarte Teilnahme; er fragte, ob es das erjte-
mal fei; das junge Weib murbde purpurrot,
ſchüttelte den Kopf und jagte, fie habe ſchon
einen dreijährigen Knaben. Als der Kaffee auf-
getragen war, gab ihr Quandt einen Wink, fie
sing ſtill hinaus und die drei Männer blieben
allein.
Stanhope ſagte, noch könne er ſich nicht in
den Gedanken einer Trennung von Caſpar finden,
aber er ſei enchantiert von dieſer friedlichen und
geordneten Häuslichleit und es beruhige ihn un—⸗
gemein, ſeinen Liebling hier untergebracht zu
wiſſen. So dürfe man denn endlich hoffen, daß
der Unglückliche, an dem ſchon jo viele Pfufcher-
hände ——— und der dabei an Leib und
Seele Schaden erlitten, einen vettenden Port er-
reicht habe.
Quandt legte beteuernd die Hand auf die Bruft.
„Ja,“ —* ſich Hickel ein, indem er den
letzten Biſſen Kuchen hinunterſchluckte und Schnurr⸗
bart und Lippen mit dem Handrücken abwiſchte,
„das wohl; und e8 muß nun einmal Licht werden
um dieſes Kind der Dunkelheit."
281
Der Lord runzelte die Brauen, ein Zeichen
des Unmillens, das Hidel nicht entging; er
lächelte Teer vor fich Hin, nahm aber eine drohende
Miene an.
„Leider ift ja Anlaß zum Argmohn vor-
handen,” fuhr Stanhope fort, und feine Stimme
war tonlos und falt; „wohin man fi auch
wendet und wie man e3 auch betrachtet, überall
Argwohn und mei, Da iſt e3 fein Wunder,
wenn die urjprüngliche Nei ung von Bitterfeit
durchtränkt iſt. WIN ich mich gleich dem Tieben-
den Gefühl hingeben, fo melden fich doch immer
wieder Stimmen, deren Urteil oder Gewicht ge
verbächtigen finnlo8 wäre, und der ſchlummernde
Zunte des Mißtrauens Löfcht nicht aus."
„Nun alfo,” ließ fich Hickel wieder vernehmen,
„jo hab’ ich doch recht! Man muß reinen Tiich
machen. Man muß ben binterliftigen Burſchen
endlich Mores lehren. Man muß ihm die Mucken
aus dem Kopf jagen.“
Stanhope erblaßte; über Hickel hinwegblickend,
fagte er hneibenb: „Herr Polizeifeutnant, ich
muß mich gegen einen folhen Ton verwahren.
Was immer auch gegen den Jüngling zeugen
mag, fo ift er doch nur als die mißleitete Kreatur
eines unbefannten Frevlers zu betrachten.”
Hickel fenkte den Kopf, und von neuem irrte
das leere Lächeln über jein Geſicht. „Verzeihen
Eure Lordichaft," enigegnete er haftig und ziem-
lich erichtoden, „aber das ift die Meinung der
ganzen Welt, zumindeft des aufgeflärten und
vernünftigen Publitums. Erſt gejtern war ich
Zeuge, wie der Ritter von Lang und der lareer
en ſich über den Findling und die Dumm»
eit der Nürnberger geäußert haben. Das hätten
282
der Herr Graf nur hören follen. Wir wiſſen
ja dahier auch, es ift von Gerichts wegen befannt
jervorden, was der Herr von Tucher über den
ndant und die moralifche Verderbtheit des
Findlings an Eure Lordichaft gefchrieben hat.
Zeigen Sie doch Herrn Quandt den Brief des
Baron und er wird fich überzeugen, daß ich
nur gejagt habe, was jeder anftändige und vor-
urteilsloſe Mann darüber denkt." Und Hidel
beftete auf den Grafen einen befremdet⸗forſchen⸗
den Blick.
„Dem ift nicht ganz fo," verfeßte Stanhope
abweifend und nippte mechaniſch von ber Kaffee⸗
tafje. „Herr von Tucher ſpricht in feinem Brief
nur von einigen übeln Gewohnheiten Cafpars.
Au “ babe Augen; ein liebendes Herz ift nie
mals blind; verjteht es —S ſo iſt
‚ihm doch die Gabe der Ahnung eigen.
übrigen wollen wir unferm mwürbigen Gaftgeber
nicht vorgreifen. An ihm wird es fein, zu richten.
Was krumm gewachſen ift, kann er grade biegen,
und wenn er mir die häßlichen Gleken von
meinem Kleinod nimmt, will ich's ihm fürftlich
danten.“
Hickel verzog das Geficht und ſchwieg. Quandt
hatte mit gejpannter Aufmerkjamkeit das Geſpräch
verfolgt. Wozu der Wortftreit? dachte er; als
ob es nicht die Teichtefte Sache von der Welt
wäre, zu erkennen, ob einer ein Spigbube ift.
Man muß die Augen offen halten, das HE alles;
der Gute ift gut, er Böſe ijt bös, wo liegt da
die Schwierigkeit? Ein Uebel auszurotten, wenn
es ſich nicht zu tief eingefreffen hat, ift nur eine
Frage der Zatkraft und Umficht. Aber mir
fcheint, mix fcheint, meditierte der Xehrer in feinem
283
ſtillen Sinne weiter, da find noch ganz andre
Dinge verborgen, die Herren reden nicht von der
Und d Bamit traf er wohl das Richtige, wie fich
bald ermeifen follte. Er entwidelte dem höflich
guhörenben 1 Lord feine Anfchauungen über Moral,
über den Verkehr mit Menfchen, den Umgang
mit Schülern, die Notwendigleit der Aufmun-
terung, den Wert der Zenfur; alles ein wenig
umftändlih und verflaufuliert, aber einfach,
ftaunenswert einfach; nur die egrgenvolle Miene
ab einen Anſchein von Schwierigteit und Philo-
ſophie. Der Lord nickte ein paarmal mit dem
Ba, während Hickel entjchiedene Zeichen von
ingeduld von ſich gab. Dann beim —
— Stanhoꝛ Ba von der Frau vera
ihm zu: a Sie a nicht ins ‚Bastshorn
es
geſchichte nimmt in abjonderlich Her. & leiſten
ihm einen gewaltigen Dienſt, wenn Sie den
Schwindler entlarven.“
Das war das Merkwort und der Anſchlag.
Es barg den Kern des Komplotts. Nun, Caſpar,
ſollſt du in ein kleines Städichen gehen und in
ein Meines Haus, ſollſt in — jenheit leben,
und die Wände der Welt follen Yr verengen,
— wieder zum Kerker werden. Gewalt hat
er Lift verbrüdert; der Richter wird richten,
he er —— und nicht wiſſen, mas er fühlt.
Niedrig ſollſt du werden, damit die Freunde ſich in
Feinde verwandeln und deine Einfamteit leichtere
Beute des Verfolger fei. Das Blut foll gegen
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zu treiben. Er fpricht, denft und träumt von
nicht8 anderm als von der bevorftehenden Reife,
und wenn Dinen, Mylord, noch ein Geringes an
dem Wohl des unglüdlichen Sünglings gelegen
ift, fo vermag ich feinen ftärferen Appell an Ihre
Güte zu erheben als den, ein fo drängendes und
fruchtlofes Hinweben in möglichfter Bälde zu bes
enden. Sie find der einzige Menfch auf Erden,
defien Wort und Name no Gewicht in feinen
Ohren hat, und fein grenzenloſes Vertrauen gegen
Sie muß auch das Herz desjenigen bewegen, der
fonft durch die Launen, die Unverläßlichteit und
Biitterhaftigfeit des rätjelvollen Weſens eines
ehemals intenfiven Attachements für ihn beraubt
wurde.
Daumer an den Präfidenten Feuerbadh:
Eure Erzellenz haben mir die Ehre erwiefen,
mich um Auskunft über Cafpar Sale nuns
mehrige Verfaſſung zu erſuchen. Ich muß_ge:
ftehen, daß mich dies einigermaßen in Der-
legenheit gejeßt hat. Ich habe mich in ben
Ießten anderthalb Jahren wohl gehütet, dem fo
jorgfältig Abgefchlofjenen nahezutreten, weil ja
ierzulande jeder ängftlic bedacht ift, fein kleinſtes
Privileg vor fremdem Einfpruch zu wahren, und
fo wird ein Intereſſe, das die Menjchheit angeht
und jeben freien Geift in Mitleidenfchaft ziehen
muß, unverjehens zur Angelegenheit einer Partei.
Eure Exzellenz möge diefe Infinuation entſchul⸗
digen, fte möge lediglich für meine unerlofchene
Teilnahme an dem Los bed Findlings zeugen,
das feinen Freunden heute weniger als je Anlaß
zu Abertribenen Hoffnum en gibt. Die vertrauend-
volle Zuſchrift Eurer ‚ellenz hat meine Be—
286
denklichkeit befiegt, ich habe Gafpar letzter Tage
im Zucherfchen Haus aufgefucht, er ift auch, zum
erſtenmal feit langer Beit, bei mir geweſen, und
ich gebe Ihnen hier einige Mitteilungen über ihn,
die, wiewohl allgemeiner Natur, doch das Be
fondere feiner gegenwärtigen Lage erhellen.
Caſpar ift ein hochaufgefchoffener junger Mann
geworden, der jet gut und gern den Eindruck
eines etwa Smeiundgrangigjähel en macht. Träte
er, der nun dem gelitteten Menſchen von Lebens-
art zugerechnet werden muß, unerfannt in eine
Gefellichaft, fo würde er doch als eine befremd-
liche Erſcheinung auffallen; fein Gang hat etwas
von dem Furchtſam⸗ Zaudernden und Vorfichtigen
einer Rabe; feine Züge find weder männlich noch
£indlich, weder jung noch alt: fie find alt und
jung zugleich, befonder8 auf der Stirn verraten
einige leicht geaogene Furchen feltfam ein vor»
eitiges Altern. uf feiner Lippe fproßt heller
Beartflaum, dies ſcheint ihn oft Sejongen zu machen,
will auch nicht zu der janften Mädchenhaftigteit
des Geficht3 und den noch immer bis zur Schulter
hängenden braunen Haarloden ftimmen. Seine
Freundlichkeit ift herzgewinnend, fein Exnft be⸗
dächtig, über beiden ſchwebt ftet3 ein Hauch von
Melandolie. Sein Benehmen ift altklug, hat
abex eine vornehme, ganz ungezwungene Gravität.
Tölpelhaft und ſchwerfällig find bloß noch manche
feiner Gebärden, auch feine Sprache ift hart und
te Worte find ihm nicht immer bereit. Er liebt
es, mit wichtiger Miene und in anmaßendem
Ton Dinge zu jagen, die bei jedem andern läp⸗
piſch Hängen, aus feinem Mund jedoch fich ein
ſchnierzlich⸗ mitleidiges Lächeln erzwingen; jo ift
es höchft poſſierlich wenn er von feinen Zufunfts-
287
plänen ſpricht, von der Art, wie er ſich einrichten
wolle, wenn er was Rechtes gelernt, und wie
er es mit feiner Frau halten wolle. Eine Frau
betrachtet er als notwendigen Hausrat, als etwas
wie eine Obermagd, die man behält, folange fe e
taugt, und fortſchickt, wenn fie die Suppe verfi
ober bie Hemden nicht ordentlich flidkt.
Sein immer fi ‚gleichbleibenbes ftiltes Gemüt
ähnelt einem fpiegelglatten See in ber Ruhe einer
Mondſcheinnacht. iſt unfähig zu geleibigen,
ex kann feinem Tier weh tun, er ijt barmherzig
gen den Wurm, den er zu zertreten fürchtet.
liebt den Menfchen; jedes Menfchengeficht
wird ihm zum Götterantlig,, und er fucht den
ganzen Himmel darin. Nichts Außerorbentliches
it mehr an ihm als das Außerordentliche feines
Schickſals. Ein reifer Jüngling, der keine Kind»
beit bejefien, die erjte Jugend verloren, er weiß
nicht wie, ohne Vaterland, ohne Heimat, ohne
Eltern, ohne Verwandte, ohne ne aan
ohne Freunde, gleichfam das einzige Geſchöpf
feiner Gattung, erinnert ihn jeder end
jeine Einſamkeit mitten im Gemwühl der ihn ums
drängenden Welt, an feine Ohnmadt, an feine
Abhängigkeit von der Gunft und Ungunft der
Menfchen. Und fo ift eigentlich all fein Tun nur
Notwehr; Notwehr feine Gabe zu beobachten,
Notwehr "ber um! ſichtige © aufbtie womit er jebe
Beſonderheit und Schwäche des andern erfaßt,
Notwehr die Klugheit, womit er feine Wünfche
‚anbringt und den guten Willen feiner Gönner
fih dienftbar zu machen weiß.
Ja, Eure jellenz, er ift ohne Freunde,
Denn wir, die wohlwollen, ihn vor ber
gröbften Bedrängnis des Lebens bewahren, wir
288
find doch nur Zufchauer vor dem Ungeheuern -
feiner Exiſtenz. Und jener vielberedete Mann,
Graf Stanhope, darf er in Wahrheit Caſpars
Freund genannt werden? Was dürfen wir
lauben? Wo findet der begründete Zweifel
tillung? Mir ahnt Schredfliches, wenn ich der
Erwartungen de3 Jünglings in bezug auf den
Grafen denke, der ein Heiliger, ein Obnegleichen
fein müßte, wenn ſich alle Verſprechungen erfüllen
würden, die mit feinem Auftreten für Gafpar
verbunden waren. Und erfüllen fie fich nicht,
erfüllt fich nur ein Hundertſtel von ihnen nicht,
jo prophezeie ich ein böje8 Ende. Denn ein
jolches Herz, aus der Tiefe emporgehoben zum
Leben der Welt, aus äußerſtem Frieden den aus:
ſchweifendſten Lockungen erjchloffen, will alles,
fordert das ganze Maß de3 Glüd oder muß,
nur um ein weniges betrogen, einer ungemefjenen
Devaftation anheimfallen.
Ich geitehe, daß mein ſchwarzſichtiges Tempera-
ment mehr al3 das immer unverhohlener werdende
Gerede der Hiefigen mir die Kühnheit zu folchen
Erwägungen gibt; wie dürfte fich auch mein Miß-
trauen an einem fo hochgeftellten Mann vermefjen.
Aber man fpricht feit heute davon, daß Cajpar
nah Ansbah in Pflege kommen folle. Frau
Behold, die alte Feindin Caſpars, trägt das
Gerücht in der Stadt herum und verfündet über-
all mit Schadenfreude, daß aus ber englifchen
Neife und aus den Luftichlöffern des Sraren
nicht? gemorden fei. Wie mir meine Schweſter
erzählt, habe die Magiftratsrätin indirekte Nach-
richt von der Lehrerin Quandt erhalten; beide
Frauen find Jugendfreundinnen und in demfelben
Haus mitfammen aufgewachſen. Gott verhüte,
Waffermann, Gafpar Haufer 19 289
"daß Gafpar von diefem Geſchwätz etwas erfährt.
wäre Eurer Erzellenz jehr zu Dank ver
pflichtet, wenn Sie mir darüber genaue Auskunft
berichten ließen, damit ich dem ungereimten Ge—
Mathe jo entgegentreten Tann, wie es für das
Wohl unfers Schüslings wünſchbar ift.
Feuerbady an Heren von Tucher:
Dem Verlangen Euer Hochgeboren wie der
eingetretenen Notwendigkeit Rechmun tragend,
teile ich Ihnen Hierdurch mit, da| & Ihres
Amtes als Vormund Caſpar Hauſers von heute
ab enthoben ſind. Eine gleichzeitige Urkunde des
Kreis und Stadtgerichtes wird Spnen dies in
amtlicher Form befanntgeben, wie auch weiter
hin die Verfügung, daß Caſpar dem Grafen
Stanhope zu überlaffen ſei; freilich einftweilen
nur der Form nach, denn biß die jchmierigen und
verwidelten Verhältniffe eine Aenderung erlauben
werden, fol Caſpar in der Familie des Lehrers
Quandt Aufnahme finden; Lord Stanhope bat
während diefer Zeit für feine zweckmäßige Er⸗
siehung und Verpflegung zu forgen, ich jelbft
werde in Abmefenheit des Pflegevater über das
Wohl des Jünglings wachen. Am fiebenten des
Monats wird der Öendarmerieoberleutnant Hictel
bei Jhnen eintreffen, ein energifcher Beamter, der
duch Regierungsdelret zum pepialkurater für
die Heberfiedlung Cafpar3 nad; Ansbach beftellt
iſt. Seine Lordihaft, Graf Stanhope, hat fich
in letzter Stunde entichloffen, einer Handlung,
die in den Augen des Publikums einen durchaus
amtlichen Charakter tragen ſoll, fernzubleiben,
und diefer Vorſatz hat meine volle Bilfigung.
Ich fehe keine Schwierigkeit darin, Gafpar von
290
der veränderten Lage der Dinge zu unterrichten,
und halte die Beforgniffe wegen diejes Punktes
für übertrieben. Ich jelbft werde diefer Tage
eine längft vorbereitete Reiſe nach der Hauptftadt
antreten, ich hoffe bei biefer Gelegenheit eine
günftige Wendung in den Lebensumftänden Caſpars
endgültig herbeizuführen.
Baron Tuer an den Präfidenten Feuerbach:
Eurer Erzellenz die untertänige Nachricht, daß
der plößliche Tod meines Oheims mich zwingt,
die Stadt zu verlaffen_und nad) Augsburg zu
zeifen. Ich babe die Obforge für den noch in
meinem geufe weilenden Caſpar Herrn Bürger-
meifter Binder und Herrn Profeſſor Daumer
übergeben und e3 ihnen anbeimgefiett, Caſpar
ier zu belaſſen oder für die reſtliche Friſt feines
ufenthaltes in der Stadt zu ſich zu nehmen,
Eine Mitteilung über das Bevorjtehende oder
auch nur eine Andeutung ift von meiner Geite
aus gegen den Jüngling noch nicht erfolgt, und
ich muß ohne Hehl befennen, daß mich eine ges
wiſſe unbejiegbare Furcht davon abhält. Caſpar
glaubt noch jteif und feſt daran, Bap er mit
jeinem erlauchten Beſchützer nach England oder
Stalien reifen ſoll, ihm erjcheint eine, wenn auch
nur zeitweife Entfernung von dem Grafen als
eine Sache der Unmöglichkeit, und derjenige, der
ihm eine folche Kunde überbringt, müßte eine
göttliche Ueberredungskunſt befigen, um ihn mit
den neuen Umftänden zu verjöhnen. Meinem
unmaßgeblichen Erachten nad ift e8 ein Fehler,
den Knaben wiederum in enge Verhältniffe zu
bringen, die ihn niemal® werben befriedigen,
feinen Durft nach Leben und Betätigung nicht
291
werben ftillen können. Der Hang feiner Ideen
bat eine verhängnisvolle Anmaßung gewonnen,
er ift dem Kreis frieblicher Buͤrgerlichkeit ent
wachen, fein Lerneifer in ben vergangenen
Monaten war gleih Null, alle feine Gedanken,
fein ganzes Streben ift auf den Lord gerich-
tet, und wenn nun Graf Stanhope von ihm
gehen wird, dann bin ich ficher, daß er einen
unglüdlihen Gefellen, ein unnützes und be
dauernswertes, aus jedem fozialen Bufammen-
hang gelöftes Glied der menfchlichen Gefell-
{haft zurädlafien wird. Wenn es der eigent-
liche Wefenszug der Fürftenkinder wäre, daß fie
dem privaten Leben untauglih und hilflos gegen-
überftehen, dann allerdings wäre Gafpar ein Aus-
erwählter unter den Prinzen. Vielleicht aber
ſchmiedet ihn das Schickſal noch, und es wird
ein Mann aus ihm, der eine Krone zu erwerben
vermag, wenn es auch eben feine Fürſtenkrone
iſt. Für mid ift die Epifode Caſpar Haufer
nunmehr abgejchloffen, und was auch immer ich
an Enttäufchung und Bitterfeit daraus gewonnen
habe, fie hat mir einen Einblid in Menſchenwahn
und Menjcengefchäfte gegeben, den ich für mein
ferneres Leben nicht mifjen möchte. So muß eben
jeder auf feine Weiſe bezahlen.
Daumer an den Präfidenten Feuerbach:
Ich fühle mich verpflichtet, Eurer Erzellenz
von den Ereigniffen der legten Tage eine wahr-
heitögetreue Darftellung zu machen, infomweit eben
Wahrheit auf zwei Augen ruht.. Vielleicht klingt
viele8 von dem, was ich zu berichten habe, jo
ungewöhnlich, daß ich mich fragen muß, ob ein
Mann, der den übeln Auf eines nicht ganz
292 .
nüchternen Kopfes genießt, die geeignete ‚Perfon
Eh ſolche Aa en en Gas Ir Mr
ge Einfiht Eurer lenz ‚babe ich no:
am wenigften zu fürchten; wenn ich fachlich bin,
wird bie Sache — ſich felber bean und meiner
Hand bleibt nur die Aufgabe, die Reihenfolge
der Begebniffe feftzuhalten, mas freilich nicht immer
ganz leicht fein mag,
Vor vier Tagen bejuchte mich Herr von Tucher
und teilte mir mit, daß er wegen eines Todes»
falles verreifen mäffe, Schon vorher hatte er
mich wie auch Heren Binder gebeten, die Aufficht
über Cafpar zu führen fo lange, als der Jüng⸗
ling nod in Nürnberg bleiben müfle. Da mir
dies befremdlich erfchienen war, ließ von
Tucher durchblicken, die an höherer Stelle beliebte
Umgehung feiner Perfon mache ihm ein folches
andeln zum Gebot. Er meinte das Schreiben
jellenz, durch welches ich, Halb wider
Willen, bewogen wurde, Caſpar sufnfuen und
mich neuerdings mit ihm zu befchäfti Dies
hatte der von Tucher fehr übel au nommen.
“ gab mir feine Mühe, den ftolzen Mann
andern Sinnes zu machen, auch vermute ich zu
feiner Ehre, daß dies Betragen noch eine ernftere,
menſchliche Regung habe, denn als ich ihn fragte,
ob er Cafparn ſchon eine Andeutung über die
zu erwartende Ankunft des Polizeileutnants Sidel
gemacht, wich er aus und gta mete haftig, er
wolle dies mir überlafjen, der ich doch di ge
winnenberen Burebens fähig jei und bei Gafpar
mehr Vertrauen genieße.
Am Nachmittag beſchloß ih, zu Cafpar zu
gehen. Als ich in fein Zimmer trat, las er die
Hriftliche Andacht des Tages, Er Shaute heiter
293
von dem Buch empor, blickte in mein Geficht und,
Seltfameres ift nicht zu denken, im Nu überzogen
fi) feine Wangen mit leichenfahler Bläſſe. Es
war mir ſchwul um die Bruft, ich ſetzte mich auf
einen Stuhl und ſchwieg ängflic. Ganz und
gm vergaß ich die übernommene Rolle, ich fühlte
loß mit ihm, ich ſah, daß er alles, was ich ihm
zu jagen hatte und weswegen ich gefommen war,
von meinen Augen abgelefen hatte, die unbemußte
rcht mußte wohl in feinem Innern gejchlummert
jaben, anders Tann ich e3 auf natürlichem Weg
nicht erklären, ich fühlte, wie plößlich die Wurzeln
feines Herzens aufgeriffen wurden. Er erhob fich,
er ſchwankte, ich wollte ihn halten, er gewahrte
mic) faum, er jchien völlig betäubt. Ich folgte
ihm bis zum Bett, er warf fich darauf hin, Frümmte
den Körper und fing in einer ſolchen Weife zu
weinen an, daß mir das Mark in den Anochen
or.
Noch war nichts gefchehen, es konnte noch
alles gut werben; fo bildete ich mir ein und ließ
e3 an tröftlichen Worten nicht fehlen. Das Weinen
dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Dann erhob
er fih, jhlih in den Winkel, fauerte hin und
bedeckte das — mit den Händen. Sch redete
unabläffig in ihn Hinein, ich weiß nicht mehr,
was ich alle8 vorbrachte. Gegen ſechs Uhr abends
verließ ich ihn, und obgleich er bis dahin noch
nicht einmal den Mund aufgetan, dachte ich mir,
er werbe mit der Gefchichte ſchon fertig werben.
Ich empfahl dem Diener, fich bisweilen nad
Cajpar umzufehen, und im ftilen nahm ich mir
vor, nad ein paar Stunden wieberzulommen,
aber e3 war unausführbar, meine Berufsarbeit
nahm mich bis in die Nacht in Anſpruch. Als
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einmal über die verbunfelte Seele heraufzu-
bejchwören; was mic entſchuldigt, ift, MN)
felber ja kaum mit Klarheit wußte, was im
war, und daß mich die zermalmende Wirkung von
etwas vollftändig Unausgefprochenem, deren Zeuge
“ war, mehr lähmte und erfchütterte al3 das
iffen darum. Doch will ich Eure Erzellenz
nicht durch Betrachtungen verwirren und hübſch
in der Ordnung bleiben.
Ich hatte Ghon zuviel Zeit verloren, ich
mußte fort. Nach vieler Mühe war e3 mir ge»
lungen, Caſpar zu überreden, daß er fi ein
biß nieberlege, auch hatte er mir verſprochen,
mittags bei uns zu eflen; das war mehr als ich
erwarten durfte, ich ging alſo berubigter meinen
Geſchäften nach, war um Halb eins wie gemöhn-
lich zu Haufe, wir warteten einige Beit, aber
wer nicht kommt, ift Caſpar. Ich vermutete, er
fei eingefchlafen, denn daß er die Nacht über nicht
ein Auge geichlofien, hatte ich ihm angefehen,
und ohne böfe Gedanken ging ich um zwei Uhr
wieder ins Gymnaſium mit dem Vorſatz, beim
Vachhauſeweg in der Hirſchelgaſſe nachzuſchauen.
Das tat ich auch, es war halb fünf und dämmerte
ſchon ftart, als ich am Tucherhaus war, aber wie
wurde mir, al3 mir der Pförtner mitteilte, Caſpar
babe ſchon um zwölf Uhr das Haus verlafien
und angegeben, er ‚gebe zu mir. Ich war wie
vor den Kopf gefchlagen; neben aller Verant⸗
wortlichkeit durfte ich auch die begründetite Sorge
für den armen Menfchen hegen; ich lief in meine
Wohnung, da hatte fich fein Gafpar bliden laſſen,
ich ſchickte die Schwefter zum Bitegermeilter, die
alte Mutter fogar machte fich auf die Beine, um
bei einigen Bekannten nachzufragen; während»
296
Antli verriet nichts als einen unbeweglichen, gar
nicht einmal fchmerzlichen, fondern ftarren, faſt
ftupiden Ernſt. Meine Mutter fuhr fort, in ihn
zu dringen, er folle doch jagen, wo er herfomme
und wo er geweſen ſei. Da fah er uns alle der
Neihe nach an, jchüttelte den Kopf und faltete
bittend die Hände.
Wir beredeten und nun, daß Caſpar in un⸗
ſerm Haufe bleiben und da übernachten folle;
wir hatten, um das Auffehen wegen Caſpars
Verſchwinden gleich wieder zu erftiden, die Magd
zum Bürgermeifter gefchiett, auch zu den andern
Leuten, die wir ſchon inkommodiert hatten, und
meine Mutter ging in die Küche, um fürs Abend-
efien zu forgen, da erſchien der Tucherfche Diener,
erfundigte ji), ob Caſpar bei ung fei, und als
wir die bejahten, fagte er, ex folle gleich nach
Haufe, der WBolizeileutnant Hidel aus Ans-
bad) wäre da und Caſpar müfje noch am Abend
mit ihm abfahren. Eine folhe Botichaft kam
mir nicht weiter unerwartet, nur daß die Sache
gar fo eilig fein folle, verſetzte mic, einigermaßen
in Wallung, und ich war unüberlegt genug, dem
Menſchen eine fcharfe Antwort zu geben; wenn
ich mich recht erinnere, fo fagte ich, der Herr
BVolizeileutnant möge fich doch gedulden, es fei
ja nicht ein Sad Kartoffeln zu erpedieren, den
man bolterdiepolter auflade. Meine Erregung
muß jedem verftändlich erjcheinen, der das Vor—
hergegangene in gerechte Erwägung zieht, es
Tamen mir aber doc Bedenken an, ich ärgerte
mich nachher über meine Unbejonnenheit und ver
anlaßte den Kandidaten Regulein, daß er ins
Tucherfche Haus gehe, um mit dem Herrn aus
Ansbach zu ſprechen und ihm tunlichſt aufzu=
298
klären. Das wäre jomeit ganz gut gemefen, nur
paffierte dabei die Yatalität, daß der Kandidat,
der etwa rebfeliger Natur ift und der froh war,
den Fremden mit irgend etwas unterhalten zu
Tonnen, dem Heren Polizeileutnant die Gefchichte
von dem Verſchwinden Caſpars brühwarm hinter-
brachte, woraus fich denn fpäter der peinlichite
Auftritt ergab.
Es war ſchon fieben, als das Efjen auf den
Tiſch gefegt wurde, der Kandidat war noch nicht
zurüd, wir nahmen alle Pla und waren nun
wieder einmal, wie in früheren Zeiten, mit
Caſpar ganz unter und. Aber wie anders waren
die Zeiten, wie anders Caſpar! Ich mußte mic
den Menjchen beftändig amjehen, wie er mit
niebergefchlagenen Augen daſaß und Luftlos in
der Grüße löffelte. Seine Blicke waren jest un-
ruhig und bisweilen überlief ein Schauber feine
Haut. Lange konnte ich mich folchen —
tungen nicht überlaſſen, denn gegen viertel acht
wurde mit ſonderbarer Heftigfeit an der Haus-
glocte gerifjen, Anna lief hinunter, um zu öffnen,
und alsbald erjchien ein Offizier in Gendarmen-
uniform, und bevor er noch feinen Namen nannte,
wußte ich natürlich, wer e8 war. Cafpar war
bei dem grellen Glodenlärm ſtark zujammen-
gefahren. Hinzufügen muß ich noch, daß die
vorher erwähnte Auseinanderfegung mit dem
Diener jowie das Gefpräch mit dem Kandidaten
im Flur vor der Treppe ftattgefunden umd
Caſpar nichts davon gehört hatte; er erhob fich
jegt und fchaute mit einem langen Blick gegen
die Türe, und als er des Herrn Sofigeifeutnants
anfichtig geworden, wurden feine Wangen wieder
genau jo tödlich fahl wie tags zuvor, da ich in
29
fein Zimmer gelommen war. Ich kann mir,
wenn ich die Tatfachen im Zufammenhang gegen«
einander halte, feine andre Erklärung denken,
als daß Cafpar alles das, was fih nun feit
vierundzwanzig Stunden abfpielte, von innen aus
erriet, fozufagen durch ein inneres Geſicht, und
daß er der äußeren Beftätigung durch die Er—
eigniſſe gar nicht mehr —— denn es gab ſich
eine Verſunkenheit an ihm kund, die ich nur mit
der ſchrecklichen Ruhe eines Schlafwandlers ver⸗
gleichen kann. Ich ſelbſt war nachgerade fo be⸗
nommen, daß ich, wie ich fürchte, Herrn Hickel
mit einer unfreundlich wirkenden Kälte empfing.
Glücklicherweife fchien diefer Leine Notiz davon
zu nehmen, und nachdem er fich gegen meine
Damen verbeugt, wandte er ſich an Caſpar und
fagte mit einem Ton der Ueberrafchung, der freis
lich nicht ganz aufrichtig Hang: „Das ift alfo
der Haufer! ft ja ein ganz ausgemachfener
Menjch, mit dem wird fich ja reden lafjen!" Cafpar
ſchaute den Mann groß an, und zwar mit einem
finfter prüfenden Blick, in dem durchaus nichts
Wehleidiges ober Jämmerliches war. Es ent
ftand nun ein alljeitiges Schweigen; ich über-
legte mir, wie ich es anftellen könnte, damit Ca-
par die Nacht über noch in meinem Haufe bleiben
önne, denn in feinem Buftand ihn einem Frem-
den zu überlafjen erjchien mir unratfam. Ich
erflärte mich Herrn Hickel mit offenen Worten,
er hörte mich ruhig an, fagte aber dann, er habe
gemefjenen Auftrag, Cajpar gleich mitzunehmen,
es fei feine Zeit zu verlieren, die Sachen müßten
noch gepadt werden und der Wagen Rebe ſchon
bereit. Meine Schweſter Anna, unbändig wie
fie ift, vief mir zu, ich folle mich darum nicht
300
kümmern, zugleich trat fie, wie um ihn zu ſchützen,
an Caſpars Seite. Herr Hickel lächelte und fagte,
wenn uns fo viel an einem Auffchub gelegen ſei
aus, al3 es die ärgſte weftrhtung malen konnte.
Beſonders die letzten Worte des Leutnants hatten
mich wie auch meine Angehörigen mit Schrecken
erfüllt. Was ſollten wir von der Zukunft Caſpars
denken, was von feinem Glüc erhoffen, wenn
Drohungen von fo brutaler Art unverhüllt auftreten
durften? Das Herz war mir fehwer geworden.
* Doch war zu grübeln nicht die Zeit. Ich beſchloß,
zum Bürgermeifter zu gehen und mich mit ihm zu
beraten. Anna hatte — auf dem Sofa ein
Lager bereitet, fie —* Caſpar hin, er ſank
nieder, und kaum ruhte ſein Kopf auf dem Kiſſen,
fo ſchlief er auch ſchon. Indes ich mich zum
Fortgehen anſchickte, läutete es, und Herr Binder
tam jelbft. Ich verftändigte ihn in Eile von
dem VBorgefallenen, er war höchlichſt befremdet
von dem Auftreten des Ansbacher Herrn, und
da er e3 für tunlich hielt, mit diefem felbft zu
ſprechen, forderte er mich auf, ihn zu begleiten.
Wir überliegen Caſpar der Obhut ber Frauen
und gingen in die Hirfchelgaffe. Es hatten fich
trog der Abendftunde eine Menge Menfchen
Kg nr Fer der ae Zozuage he
dem Tucherjchen Haus eingefunden, die, ich wei
nicht durch welche Umftände, von der bevor-
ftehenden Abreife Caſpars unterrichtet waren und
eis | laut, teil murrend ihre Mißbilligung aus-
en.
AL wir die Tür von Cafpar3 Zimmer ges
öffnet Hatten, bot fi uns ein fonderbarer An-
blick. Die Kommodeihubladen und Schränte
waren vollftändig ausgeräumt; Wäſche, Kleider,
Bücher, Papier, Spielwaren, alles lag wäft auf
dem Boden und auf Stühlen, und Herr Hidel
kommandierte den Diener, der damit begonnen
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zu nehmen. Herr Hicel verfeßte, das fei uns
möglich, er habe ftriften Befehl und müffe auf
feiner Anordnung beftehen. ir waren ratlos,
Der Polizeileutnant hatte Bi auf den Tiſch⸗
rand gejest und blickte und Schweigende ſpöttiſch⸗
erwartungsvoll an. Da vernahmen wir Schritte,
und als wir und ummandten, die Türe ftand
offen, jahen wir Caſpar und hinter ihm meine
Schweſter. Anna_flüfterte mir zu, Cafpar fei
kurz nad) unferm Fortgehen erwacht, er habe er-
ärt, mit dem fremden Mann gehen zu wollen,
und fich durch feinen Einwand zurüchalten laſſen;
jo habe fie ihn denn begleitet.
Caſpar ſchaute ſich forſchend um, dann fagte
ex, zu Herrn Hickel gewandt: „Nehmen Sie mich
nur mit, Herr Offizier. Ich weiß fchon, wohin
Sie mich bringen wollen, ich fürcht' mich nicht.“
Es war in diefen Worten, jo wenig Bejonderes
fie enthielten, ein wunderbarer Antrieb und das,
was man Haltung nennt, und ich kann nicht ver
eg daß ich durch fie aufß tieffte bewegt wurde.
hätte viel darum gegeben, wenn ich Cafpar
jest eine Stunde lang für mich allein hätte haben
Tönnen. Der Herr Polizeileutnant verbarg feine
Freude über die unvermutete Wandlung nicht
und antwortete lachend: „Na, fürchten, Saufer!
Warum nicht gar! Es geht ja nicht nad Sir
birien!" Er näherte fih nun dem Jüngling,
legte beide Hände auf deſſen Schulter und fragte:
Seht feien Sie einmal ganz offen, Sauer, und
‚lagen Sie mir ohne Umſchweife, wo Sie den
Nachmittag über gefteckt Haben?“ Cafpar ſchwieg
und bejann 5% ann entgegnete er bumpf:
„Das Tann ich Ihnen nicht fagen." — „Ja wie
denn, was denn, was foll das heißen, heraus
804
mit der Sprache!" rief der Leutnant, und Caſpar
darauf: „Ich hab' was eu — „a, was
i eg." — „Bum
jeinen fei. Die Zunächftitehenden ftießen drohende
Neden aus, Herr Hidel forderte vom Bürger-
meifter, daß er die Wache aufziehen laſſen folle,
doch eine ſolche Maßregel erklärte diefer für über-
flüſſig, und in der Tat genügte fein bloßes Er—
ſcheinen, um die Ruhe wiederherzuftellen.
As Caſpar zum Wagenfchlag trat, rannte
alles zuhauf, jeder wollte ihn noch einmal jehen.
Die Fenſter der gegenüberliegenden Häufer waren
erleuchtet und Frauen winkten mit Tüchern herab.
Die Kiften und Vachen waren aufgebunden, der
Baffermann, Gafpar Haufer 20 305
Kutſcher fchnalzte, die Pferde zogen an — und
fort war er.
Hebergeugt, daß Eure Erzellenz zu den wenigen
aufrichtigen Öönnern bes Sünglings gehören, fühlte
ich mich im Innerſten gedrängt, Ihnen über dieſe
Vorfälle genauen Vericht zu erftatten. Nur einige
Stunden find feit den erzählten Begebenheiten
verflofien, e3 ift weit über Mitternacht, die Feder
will meiner Hand entfinten, aber ich durfte feine
Feift verftreichen lafjen, um nicht felber zum
Falſcher meiner Erinnerung zu werden. Wo die
Verleumdbung jo unermüdlih am Werk ift, foll
auch der utgefinnte eine Nachtwache mic heuen,
wenn er zu fürchten bat, daß ihn der bloße
Schlaf nur um eine Linie von der Deutlich
teit feines Erleben betrügen könnte. Vielleicht
inden Eure Exgellenz, daß ich die Dinge: faljch
eute oder in ihrer Wichtigkeit überſchätze. Mag
fein, ich habe jedoch meine Pflicht erfüllt und bin
mir feiner Verjäumnis bewußt. Sch trage ſchwere
Sorge um Caſpar, ohne daß ich ganz zu jagen ver⸗
möchte weshalb, aber ich bin nun einmal als Geifter-
und Gefpenfterjeher auf die Welt gekommen, und
Fe Auge fieht den Schatten früher als das
icht.
Nicht vergeſſen will ich zum Schluß die Er-
mwähnung, daß mir Here von Tucher bei feinem
Iegten — die hundert Goldgulden übergab,
die Caſpar vom Herrn Grafen Stanhope geſchenkt
erhalten. Ich werde die Summe mit nächſter
fahrender Poft an Eure Erzellenz überfchiden.
Frau Behold an Frau Quandt:
Werte Frau, excusez, daß ich mich jchriftlich
an Sie wende, was Gie ertraordinaire finden
306 .
werden, da ich Ihnen doch im ganzen fremd bin,
obwohl Sie in meiner Eltern Haufe Ihre Jugend
verlebten. Mit großem Etonnement vernehme
ih, daß der Caſpar Haufer nunmehr in Ihrem
Sem weilen wird, und ich fühle mich gedrungen,
‚nen zum Belehr etwelches über den Sonder-
ling zu eröffnen. Sie wiſſen body‘, daß der
SHaufer das Wunderfind von Nürnberg war.
ob und Verhätfchelei hätten bei einem Haar den
Rnaben zum Narren gemacht, es ift eben ein
tolles Volk dahier. In ſolchem verderbten Zu-
ftand haben wir ihn aus reinem driftlihem it⸗
leid und, ich ſchwöre, ohne jede Nebenabſicht zu
und genommen. Bei aller Tollheit haben die
andern doch vor dem vermummten Kerl mit dem
Beil Angft gehabt, wir aber fürchteten nichts,
und der Haufer wurde bei ung mie ein Kind
geliebt und eftimieret. Uebel ift ung das gelohnt
worden; feine Erfenntlichkeit vom Haufer, und
noch dazu die böfe Nachrede feines Anhangs.
Wieviel ärgerliche Stunden, wieviel Verbruß
er und ducch feine entjebliche Lügenhaftigteit be=
reitet hat, davon find alle Mäuler ftumm. Nach-
ber freilich hat er alleweil Befjerung gelobet und
ward mit feifcher Liebe an unjer Herz gefchloffen,
aber fruchten tat es nichts, der Lügengeift war
nicht zu bannen, immer tiefer verjan er in diefes
abjcheuliche Laſter. Iſt viel Gerede geweſen von
feinem keuſchen Sinn und feiner Innocence in
allem Dahergehörigen. Auch Hierüber kann ich
ein Wörtlein melden, denn ich hab’3 mit meinen
eignen Augen gefehen, wie er fi) meiner damals
dreigehnjährigen Tochter, heute ift fie in der
Schweiz in Penfion, unziemlih und unmiß-
verjtehlich näherte. Nachher zur Rede geitellt,
807
wollt’ er's nicht wahr haben, und aus Rache
hat er mir die arme Amfel umgebrungen, die
ich ihm donationieret. Gebe Gott, daß Sie
nicht Ähnliche Erfahrungen an ihm machen; er
ſteckt voller Eitelkeit, meine Liebe, voller Eitels
teit, und wenn er ben Gutmäütigen agieret, ift
der Schalf dahinter verborgen, und fo man ihm
den Willen bricht, ift es mit feiner Katzenfreund⸗
lichkeit am Ende. Wieviel wir auch durch fein
deteftable8 Betragen zu dulden hatten, Undank
und Galomnie, aus unfern Lippen ift eine Klage
gefahren, denn warum, man hätt’ ihm auch dann
die Wahrheit nicht mehr glauben können, und
ein Betrüger ift er nicht, nur ein armer Teufel,
ein fehr armer Teufel. Ihnen und dem Herrn
Gemahl glaube ich Hingegen einen Gefallen zu
erweifen, wenn ich die Dede Lüpfe, unter ber er
feinen Unfug treibet; der gegen ihn fo gütig ge
finnte Graf Gtanhope wird gewiß bald zu der
ſchmerzlichen Entd un elangen, daß er eine
Schlange an feinem fen nähret. Wäre der
Here Graf nur zu mir gelommen, dieſes aber
hat der Pfiffikus Haufer hintertrieben, und aus
guten Gründen. Seien Sie nur recht wachjam,
ute Frau; er hatte alleweil Heimlichkeiten, bald
$, bald dort verſteckt er was in einem Winkel,
das läßt auf nichts Gutes fchließen. Und nun
bitte ich Sie oder den Herrn Gemahl, mir in
einiger Zeit Nachricht zu geben, wie fih Ihr
Bögling produzieret und was Sie von ihm halten,
denn ohneracht alles Gejchehenen nimmt er doch
ein Plägchen in meinem Herzen ein, und ich
wünſche nur, daß er tätig an feiner Selbft-
befferung arbeite, ehe er in die große Welt
entrieret, wo er viel mehr Kraft und Be
308
ftändigfeit vonnöten haben wird als in unfrer
tleinen.
Von mir ſelbſt iſt nicht viel Gutes zu ſagen,
ich bin krank; der eine Doktor meint, es ift ein
Geſchwũr auf der Milz, der andre nennt's eine
Maladie du cœur. die große Teuerung der
Zebensmittel ift auch nicht angetan, einem die
Laune zu verbeffern, Gott fer Lob gehen die
Mannsgefhäfte im allgemeinen gut.
Bericht Hickels über den vollführten Auftrag
der Ueberſiedlung Cafpar Haufers:
traf am 7. ds. vorjchriftsgemäß in Nürn-
berg ein, verfügte mich fogleih in die Wohnung
des Freiherrn von Tucher, fand aber den Ku-
randen nicht zu Auer und erfuhr zu meiner Ver-
wunderung, daß er fich den ganzen Nachmittag
über aufſichtslos und unbefannt wo herumgetrieben
babe, was doch gegen die Vorjchrift ift, und daß
ex ſich zurzeit beim Profeſſor Daumer aufhalte,
wahrfcheinlich in der Abficht, die Reife zu ver-
zögern und dabei die Unterftügung feiner Freunde
zu finden. Denn als ich bei Herrn Daumer vor-
ſprach, wurden zu bejagtem Zwed alle möglichen
Ausreden verfucht, au gefiel ſich der fu
felbft in einigen leicht Durchfchaubaren Schnurr-
pfeifereien, was mich aber nicht hinderte, auf der
mir erteilten Weifung zu beharren. Eine ftrenge
Inquiſition nach feinem Verbleib während des
Nachmittags blieb fruchtlos, der Burfche gab die
albernften Antworten von der Welt. Mein ent
ſchiedenes Auftreten hatte die Wirkung, daß von
einer Verzögerung nicht weiter gefprochen wurde,
um neun Uhr war der Wagen zur Stelle, es
war großer Zulauf in ben Gaffen, die Leute,
309
vermutlich insgeheim aufgehegt, gebärbeten ſich
einigermaßen tevoltant, wurden aber durch meine
Drohung, daß ich bie Wache aufziehen laſſen
würde, önell eingefchüchtert. Dem Kutfcher ge-
bot ich Eile, und nach einer Viertelftunde —
wir das MWeichbifd der Stadt verlaſſen. Wäh-
rend, der ganzen drei Stunden bis zum Dorfe
Großhaslach fieß mein Kurand nicht eine Silbe
verlauten, fondern ftarrte ununterbrochen in die
Dunkelheit hinaus; gewiß mag es ihm gar trüb-
felig zumute geweſen fein, da er nun doc er-
Tennen mußte, daß e3 mit feinen großen Hirn-
geipinften atthäi am letzten war. ch hatte
en Gergeanten nad, Großhaslach beftellt, und
derweil die Pferde gefüttert und getränkt wurden,
verfügten wir und % die Poſtſtube. Haufer legte
ſich dafelbft atjogteich auf die Ofenbant und ent
ſchlief. onnte aber des Verdachts nicht
ledig werden, daß er ſich nur ſchlafend ſtellte,
um mich und den Sergeanten ficher zu machen
und unfer Gejpräch zu belaufchen. a diefem
Argwohn beträftigte mic) auch das jedesmalige
Blmyeln feiner Lider, wenn ich in nicht gerade
ſchmeichelhaften Ausdrüden feiner Perſon er-
wähnte. Um der Sache auf den Grund zu gehen
und zugleich herauszubringen, was e3 mit dem
allerwärt3 verbreiteten Märchen von feinem ſtei⸗
nernen Schlummer für eine Bewandtnis habe,
nahm ich meine Zuflucht zu einer kleinen Lift.
Nach einer Weile gab ic nämlich dem Sergeanten
einen Wink, und wir erhoben uns leife, ald ob
wir gehen wollten, und fiehe da, kaum hatte ich
die Turklinke gefaßt, fo {chnellte mein Haufer
wie von der Zarantel geftochen empor, tat ein
wenig wirr und verftört und folgte uns, die wir
310
uns faum das Lachen verbeißen konnten. Im
Wagen fragte mich Haufer plößlich, ob der Herr
— noch in Ansbach weile; ich bejahte, fügte
. aber Bing, daß Seine Lordichaft diefer Tage
gen Frankreich fahren werde, worauf Haufer einen
tiefen Seufzer ausſtieß; er Iehnte fich in die Ecke
zurüd, fchloß die Augen und fchlief nun wirklich
ein, wie ich aus feinen tiefen Atemzügen ent-
nehmen konnte. Die Weiterfahrt verlief ohne
bemerkenswerte Vorfälle, e8 war ein Viertel nach
drei, als wir bei Schneetreiben vor dem Stern-
gafthof anlangten; ich hatte diesmal harte Mühe,
den Haufer aus dem Schlaf zu bringen, und erft
als ich ihn energiſch anichrie, entfchloß er fich,
aus der Kutfche zu fteigen. Da nur der Tor-
wart zugegen war und ich den Herrn Grafen
nicht weden laſſen wollte, brachten wir den jungen
Menſchen in eine Kammer unterm Dach; ich be-
fahl ihm, fich zu Bette zu begeben, fperrte der
größeren Sicherheit halber die Tür von außen
zu und hieß meinen Sergeanten, bis zum Anbruch
des Tages auf Wache zu bleiben. Soll ich nun
um Sätuffe über die Perſon und das Betragen
e3 Kuranden ein Urteil abgeben, jo muß ich
befennen, daß mir der Junge Mann wenig Syms
pathie oder Mitgefühl abnötigte. Sein_ver-
ſchloſſenes, trotziges und Hinterhältiges Weſen
läßt auf einen, wenn auch nicht verdorbenen,
fo doch amgefaulten und widrigen Charakter
ſchließen. Von wunderbaren Eigenfchaften hab’
ich an ihm nicht8 beobachtet, als eine in der Tat
wunderbare Begabung zur Schaufpielerei, was
noch milde ausgebrüdt ift. ch fürchte, man
wird hieſigenorts manche Enttäufhung an ihm
erleben.
311
Binder an Beuerbath:
Um des ferneren allem überflüffigen Gerede
und Vermuten vorzubeugen, das in derſelben
Sache ſchon an Eure Exzellenz gelangt fein mag,
diene die Nachricht, daß ich bereits genügenden
Aufſchluß habe über den rätjelhaften, vier bis
fünf Stunden andauernden Verbleib Caſpar
auſers am Iehten Nachmittag feines Aufent-
alt? in Hiefiger Stadt. Freilich, diefer Auf-
ſchluß ift im Grunde keiner, denn fo wenig der
Jüngling fich ſelbſt hatte erflären wollen, fo
wenig erklären die mir bekannt gewordenen
Einzelheiten feine ganze Handlungsweiſe.
Ich will mich kurz faſſen. Am Morgen u
Caſpars Abreife kam der Ba Hi
zu mir und berichtete, der Haufer ſei geftern
mittag nach eins bei ihm auf dem Turm er-
ſchienen und Habe gebeten, ihm-die Kammer zu
zeigen, worin er einſt gefangen gemwefen. Bus
u ig war an jenem Tag fein Säflin auf dem
uginsland, und er, Su, babe nach einigem
verwunderten Fragen und Forfchen Gafpar ein-
treten laffen. Nachdem er eine Weile grübelnd
dageftanden, begab er fich im diejelbe Ede, wo
Fr em fein Strohlager gemwejen, hodte auf den
oden und brütete ftumm vor fich hin. Dem
Hill war das befremdlich, und da alle Verfuche,
den Yüngling feiner Lethargie zu entreißen, nichts
fruchteten, te er in feine Wohnung zurück
und machte feiner Ehefrau von dem Vorfall
Mitteilung. Sie überlegten gerade, was zu tun
fei, da kam Caſpar von —— die Stufen herunter
und trat in das Zimmerchen, das ihm ebenfalls
von früher wohlbekannt war, das er jedoch mit
bohrend nachdenklichen Blicken durchmufterte, ge—
312
nau wie er oben in der Zelle getan. Hill und
ein Weib dachten nicht anders al3 der arme
enich habe den Verftand eingebüßt. Die Frau
näherte ſich ihm, ftellte einige Fragen, erhielt
aber feine Antwort. Da fiel fein jchweifendes
Auge, auf die beiden Kinder des Wärters, die
auf einem Tritt beim Fenfter mitfammen fpielten,
und plößlich lächelte er gar wunderlich, ſchlich
fich heran und ſetzte fih am Rand des über den
joden erhöhten Tritt3 nieder.
HiN tat das Vernünftigfte, was er tun konnte,
er ließ ihn gemäheen und wartete ab, mas daraus
werden würde. Nachdem ſich Cafpar alſo nieder-
gelafjen, begann er die zwei Kinder auf eine
Weiſe anzuftarren, als ob er nie im Leben Kinder
eſehen hätte; er beugte fich vorwärts, er ftudierte
fi ihre Finger, ihre Lippen, feine heiß-
hungrigen Blicke verfchlangen — jede ihrer
Gebärden; der Frau wurde dabei angſt und bang,
mit Mühe hielt Hill fie ab, dazwiſchenzufahren,
denn er fürchtete nichts. „Kenn’ ich doch Haufers
janfte Seele," fo drüdte er fich mir gegenüber
aus. Auf einmal fprang Cafpar auf, ftrecte die
Arme in die Luft, ftöhnte, ftarrte vor fich hin,
als jehe er einen Geift, dann kehrte ex fich um
und rannte mit erftaunlicher Geſchwindigkeit zur
Tür und die Treppe hinunter auf den Platz.
gu folgte ihm unverzüglich, denn er ſchloß mit
echt, daß Caſpar in einer bedenklichen Ver—
fafjung fei und daß man ihn fo nicht fich jelber
überlafjen dürfe, As er den Burgberg herunter
gegen die FUN lief, gewahrte er ihn noch recht»
zeilig und Tonnte ihn im Auge behalten.
par eilte num durch mehrere Gaffen, und
zwar ganz unfinnig die kreuz und quer, danach
313
über die Glacis und nad) St. Johannis hinüber.
Hill folgte in einer Entfernung von fünfzig oder
Es Ellen und hatte auf jede Bewegung
Caſpars — u acht. Trotzdem es den Anſchein
ielloſen Gehens hatte, war doch ber Schritt des
Fünglings fo beichleunigt, ge ungeduldig, als
wolle er ein vor ihm fliehendes Etwas erhafchen.
Es ging nun dur die Mühlgaffe, am Ende
dieſer Gaſſe breitet ſich das flache Feld aus und
die Straße verwandelt ſich in einen Wieſenweg,
ber läng$ der Mauer des Johanniskirchhoſs gu
Pegnitz und zum Wald hinunterführt. An
Kirchhofsmauer, die fe niedrig ift, daß auch ein
mittelgroßer Menſch leicht über jie hinwegbliden
Tann, blieb Safpar jählings ftehen, riß den Hut
vom Kopf und preßte die Hand gegen bie Stirn.
Es wird Eurer Eyzellenz bekannt jein, eine wie
ungeheure Wirkung fehon früher einmal bei der
Annäherung an den Gräberort an ihm wahr:
genommen 9 orben it. Er ſchien zu zittern, er -
atmete mit offenem Mund, feine Züge drückten
Grauen aus, die Hautfarbe wurde bleifahl, er
I aus, al fönne er ſich nicht losreißen, plöb-
aber ftürzte er fo fchnell weiter, daß fein
Beobachter Mühe hatte, ihm nah zu bleiben, auch
dachte Hil, Gafpar müfle ins Waſſer ftärzen,
da er am Flußufer in ein wildes Torkeln geriet.
Glüdlicherweife wandte er ſich gegen den Haben
Forft und an alsbald zwifchen den
Stämmen. Hill hatte Angft, daß er ihm ent-
tommen lönnte; er bemerkte einige Arbeiter, die
an einer Erdgrube Sand ſchaufelten, und forderte
fie auf, ihm zu helfen; drei oder vier gefellten
ga zu ihm, und fie drangen verteilt ins Gehölz;
och Hill jelbft war es, der Caſpar nach langem
314
Suchen und al8 er ſchon höchlichſt beforgt wurde,
zuerſt wieder erblidte. Er ſah ihn kniend am
ß einer mächtigen Tanne, er fah, wie er die
nde aufhob, und hörte ihn mit einer leiden-
Beſug flehenden Stimme rufen: „O Baum!
du Baum!“ Nichts weiter als diefe Worte,
und mit folchem Gefühl, wie man ein Gebet
fpricht, wenn der Geift in höchiter Bedrängnis
it. Hill fagte aus, er habe es nicht über ſich
ebracht, ihn anzurufen, überhaupt hat der ein
fache Mann bei all diefen Vorgängen ein Bart
gefühl und eine Menfchlichfeit bemwiefen, um
deretwillen ich ihm meine Anerkennung nicht ver⸗
fagen kann. Die Arbeiter, die er mitgenommen,
riefen ihm, er gab ein Zeichen, fie Tamen herbei;
Caſpar hatte Fr indes erfchroden aufgerichtet,
blickte die Leute der Reihe nach an, und es jchien,
als erkenne er Hill nicht. Diefer dankte den
Männern und bedeutete ihnen, daß er fie nicht
mehr brauche. Don ihm untergefaßt, Tieß fich
Caſpar ohne Widerftand aus dem Forft heraus-
führen; im Gegenfah zu feinem bisherigen Wefen
zeigte er nun eine volltommene Gelafjenheit. Hill
fragte ihn, wohin er denn gehen wolle, und nad}
einigem Zögern antwortete Gafpar, er müfje zum
Mittagefien zu Herren Daumer. Da lachte Hill
und erinnerte ihn, daß Mittag längft vorbei jei;
als fie vor der Stadtmauer ankamen, begann es
ſchon zu dämmern. Caſpar ging jetzt außer
orbentlih langſam, und trogdem Hill um vier
Uhr auf der Poigeinnaghe hätte fein follen, be»
gleitete er ihn noch zu Profeſſor Daumers Haus
und wich erſt von der Stelle, als ſich das Tor
hinter feinem Schüßling gefchloffen hatte,
Dies, Erzellenz, die getreue Wiedergabe deſſen,
. 315
wa3 der Mann berichtet bat. Ich habe feine
Erzählung, deren Glaubwürdigkeit zu bezweifeln
tein Anlaß vorliegt, protofollieren lafjen. Aus
den Begebniſſen jelbit weiß ich, wie gelant, nichts
zu machen, auch ift es nicht an mir, den Schlüffen
Eurer Erzellenz vorzugreifen. Geftern habe ich
mid) von Hill zu der Stelle führen laſſen, wo
Cafpar Eniend gefunden wurde, denn ich dachte
mit, daß da vielleicht etwas Beſonderes jei. Es
ift, ungemöhnlich bei folcher Stadtnähe, ein
friedensvoller Ort; der Wald ift dicht beitanden,
lautlofe Einfamteit fordert zu befchaulicher Stim«
mung auf. Hill erkannte den Platz mit Sicher-
heit wieder und deigte zum Beweis auf Fuß-
abdrüce und zermühltes Moos. Sonft habe ich
nicht3 Bemerkenswertes wahrgenommen.
Der Bolizeifoldat, der durch feine Nachläffig-
keit in Caſpars Bewachung all diefes verjchuldet
bat, wurde der verdienten Strafe zugeführt.
Lord Stanhope an den Grauen:
Ich weile noch immer in dem meltentlegenen
Net, obwohl ich. zu Weihnachten in Paris fein
wollte. Ich fehne mich nach freier Ronverfation,
nach Mastenbällen, nach ber italienifchen Oper,
nad einem Spaziergang. auf den Boulevards.
Hier find aller Augen auf mich gerichtet, jeder
will teilhaben an mir; von einer gemifjen Hof»
ratsfamilie, die nicht in den beften Verhältniſſen
lebt, wird erzählt, fie habe eine goldene Stehuhr,
ein vortreffliches Erbſtück, verfeßt, um eine Soiree
zu Ehren des Lord3 geben zu können. Man
verdächtigt eine Dame, rau von Imhoff — ur-
alter Patrizieradel! —, der näheren Beziehung
zu mir, vielleicht nur deswegen, weil die Arme
316
in einer unglücklichen Ehe lebt, an der ſich der
Klatſch feit Fahren mäftet. Scherzhafter Unfinn.
Die Dame ift, leider, ein makelloſer Menſch. Das
übrige Volk ift faum der Rede wert. Die guten
Deutjchen find fervil bis zum Erbrechen. Der
behäbige KRanzleidireftor, der mit einer ſtklaviſch
tiefen Reverenz ben Hut vor mir zieht, würde
mir mit Vergnügen die Stiefel pugen, wenn ich's
ihm. befähle. Nichts hindert mich, hier eine Art
ligula zu fpielen.
dur Sade. Ein äußerer Grund meines Ver—
weilens hier ift nicht mehr vorhanden. Der bis⸗
lang vorgefchriebene Teil meiner Aufgabe ift er-
Ir Was verlangt man noch von mir? Weſſen
lt man mich noch weiterhin für fähig? Hat
Euer Hochgeboren oder dero Gebietende noch in-
time Wünjche, fo wäre e3 geraten, fie in Bälde
vernehmen zu laffen, denn der ergebenft Unter
zeichnete ift fatt. Die Mahlzeit füllt ihn bis zum
Hal, er muß jest ans Verdauen denken.
gehe mit der Abficht um, in Nom Prälat zu
werden oder mich hinter Kloſtermauern einzu=
fperren, vorher muß ich noch das nötige Schwer-
eld für den Ablaß beifammen haben; wenn der
apft kein Einfehen hat, Fehr’ ich in den Schoß
der puritanifhen Kirche zurüd, fo bin ich wenig.
ftend der Sorge und des Efel3 enthoben, mir
den Bart wachen laffen zu müffen. Auch in
meinem Land gibt es Masten und jedenfalls ein
würdigeres Koftim. Iſt der Minifter 9. in S.,
der Penfionift, von allen Vorgängen Berftänbigt
und bat man Ahn jegen eberfälle gefichert? An
welcher Bantjtelle fann ich meinen nächften Zins⸗
groſchen beheben? Dreißig Silberlinge; mit
welcher Zahl darf ich die Summe multiplizieren ?
317
Denn auf Multiplikation ift num einmal_mein
Leben — Herr von F. iſt vor einigen Tagen
nach München abgereiſt; dies zur Notiz. Das
bewußte Dokument ift, wie ein ranziges Stück
Zleifch, von einem gemwiflenhaften Raben in Aus-
fiht genommen, vorläufig aber noch unzugänglich.
Wie hoch normiert man den Preis und, follten
im Sriegsfalle fühnere Maßregeln geboten fein,
was billigt man demjenigen zu, der die Hölle um
einen neuen Untertanen reicher machen will? ch
muß die wiffen, gegenwärtig ftellen aud bie
eringſten Diener- des Satans ihre Anfprüche.
Denn Herr von F. fo weit fommt, mit der
Königin zu verhandeln, wie er beabfichtigt, muß
ein geeigneter Nepräjentant gefunden werben,
um das angefachte Feuer zu löſchen; freilich
wird dann das ranzige Stück Fleifch anfangen zu
ftinfen. Dabei fällt mir ein penetranter —
in dem letzten Schreiben von Eurer Hochgeboren
ein; wie lautet er doc) ‚ges: „Sie beginnen,
mein lieber Graf, zu viel Wert auf das Ver-
ruchte und DVerfluchte zu legen, fobald e8 nur
einen Anſchein von Zweckmäßigkeit und Behendig-
teit hat.” Ich nehme diefen Worten die Schminte
und leſe: es ijt unglaublih, was Sie für ein
. Spigbube find. Kennen Sie die hübſche Replik
des alten Fürften M., als ihn der amerikanifche
Gefandte ins Geficht hinein einen Betrüger
nannte? „Mein Lieber, Teurer,” erwiderte der
Fürft mit feinem fanfteften Lächeln, „daß Sie
doch in Ihren Ausdrüden niemals maßhalten
konnen!“ Ya, halten wir Maß, wenn aud) nicht im
Tun, p doch im Reben. ozu Sottifen? Ein
Schurke wird geboren fo gut wie ein Edelmann.
Wer ſich anmaßt, in den Lauf eines fremden Schick⸗
318
ſals zu pfufchen, ift ein Philifter oder ein Dumm
kopf, wenn nicht beides. Wer kennt mich? Wer
will mich richten oder formen? Verrät mich nicht
jeder ‚Atemzug? Verwandte Sterne haben über
Ihrer -und meiner Wiege geleuchtet. Sie find
ein getreuer Diener. Das ift eine munderfchöne
Ausrede. Werfen Gie ab, was Sie bindet,
fliehen Sie in eine Einöde, auf da8 Meer, in
die Wüfte, zum Pol, auf einen andern Planeten,
u ra Net unb erproben Sie, ob Sie ſich noch
Glanz de3 Himmel und am Schein der
Sonne zu freuen vermögen, und menn das ber
Fall ift, wollen wir über das Thema weiter ver-
handeln. Schlagen wir uns in bie Nacht wie
Wölfe und fammeln wir Mut, denn das Opfer
könnte mwehrhaft werden.
Unfer Schutzbefohlener bereitet mir neueſtens
mancherlei Sorge, und i u muß geftehen, daß
er es ift, der mich in dieſer gottverlaffenen
Gegend noch immer feithält. Allerdings ohne
daß er davon weiß, aber er ift mir in jeder
Hinſicht verdächtig geworden, und ich komme
mir bisweilen wie ein tauber Muſikant vor,
der auf einer verftopften Flöte fpielen muß.
Aber nicht nur dies hält We fonbern auch mod)
ein andres, womit ich jeboch IH find-
famfeiten abholdes Ohr nicht Brühe will. Auf
jeden Fall, und dies nun im Ernit, entlaffen Sie
mich) aus der Arena. ch bin betäubt, ich bin
müde, meine Nerven gehorchen nicht mehr, ih
werde alt, ich fange an, den Geſchmack an Treib-
jagden zu verlieren; es erregt meinen Wider⸗
willen, wenn ber geängfige aje dem Siffitten
der Hunde von ſelbſt in die Zähne rennt, i
zu fehr Schöngeift, um dies noch ergösli zu
319
den, und ich könnte kaum ,
Ba a en a —— FA
eiberfette fchlage, die der verfolgten Kreatur
zur Flucht verh Au Dann aber könnte ſich eine
merfwürdige Metamorphofe begeben, der Haſe
tönnte zum Löwen — und zurüdtehren und
Fr ee te ibn en © in ihre
inter! chleit ten Sie nichts:
dies find —ãA—— und art
Gewiſſens.
meiner ſelbſt. Das aa befiehlt. une Lüfte
find die Schergen der Seele. Nur der Dieb, der
eine PBhilofo; — im Leibe — Paar ge ehängt
zu werden. Er meiner Jugẽ
übrig, wenn ich mir den — Rnaben
auf iccios Bild in Venedig betrachtete, jett
bliebe ich ungerührt, wenn man das Kind von
der Mutterbruft rifje und feinen Schädel am
Ninnftein zerſchmetterte. Das macht die Philo-
fophie. Wenn fie fich beifer bezahlte, wäre ich
vielleicht fröhlicher. Bei diefer Gelegenheit muß
ich Ihnen einen amüfanten Traum erzählen, de
ich neulich hatte, eine wahre Gorgo von Traum.
Wir beide, ich und Sie, feilichten um eine gewiſſe
Ware; plöglich unterbrachen Sie mid) mit den
Worten: „Nehmen Sie, was ich Ihnen biete,
denn wenn Sie jet erwachen, befommen Sie
gar nichts." Fe fand dies Argument göttlich
und fo wenig zu widerlegen, daß ich in der Tat,
mit Angſtſchweiß bededt, erwachte.
Genug, übergenug. Mein Jäger überbringt
Ihnen diefen Brief, der durch feinen Mangel an
Inhalt Ihren Verdruß erregen wird. Das bei-
Tiegende Afzept, um deſſen Signierung ich_bitte,
dürfte Sie noch weniger verföhnen. Dem Lehrer
320
habe ich ein Halbjahr im voraus bezahlt. Er
ift ein brauchbarer Mann, unbeftechlih wie
Brutus und lenkbar wie ein frommes Pferd.
Wie alle Deutfchen hat er Prinzipien, die fein
Selbftvertrauen hervorbringen. Gott befohlen,
die Nacht will ihren Schlaf.
Anbetung der Sonne
Am Morgen nad) Caſpars Ankunft blieb der
Lord länger als gerösnlie in feinen Zimmern.
Auch dann vermied er es noch, Cafpar rufen zu
lafjen, und machte erft die tägliche Promenade,
AB er zurückkam, ging Cafpar vor dem Salon
auf und ab; die Bewegung Stanhopes, als wolle
er ihn umarmen, ſchien Gafpar zu überfehen; er
blickte fteif zu Boden. Sie traten ins Zimmer,
der Lord Anttebigte fich feines ſchneebedeckten Pelz.
mantel3 und ftellte möglichft unbefangen Fragen:
wie es Gafpar ergangen, wie der Abjchied, wie
die Reife geweſen und mehr dergleichen. Caſpar
antwortete bereitwillig, wenn auch ohne Ausführ-
lichkeit, war freundlich und keineswegs bebrüdt
ober vorwurfsvoll. Dies gab Stanhope zu denten,
und e3 bedurfte einer gewiſſen Anftrengung von
kun Seite, um die fonderbar fühle Unterhaltung
jortzufegen. Er konnte fogar einen leifen —
nicht unterdrücken, wenn er Caſpar anſah, der
ihn mit feinen weinfarbigen Augen fortwährend
fremd betrachtete.
Es war eine Exlöfung, al der Bolizeileutnant
- gemeldet wurde. Stanhope empfing ihn im Neben-
zimmer; fie fprachen dort über eine halbe Stunde
BWaffermann, Gafpar Haufer 21 321
leife miteinander. Nachdem der Graf hinaus-
gegangen war, trat Gafpar zum Schreibtifch,
freine den Diamantring von feinem Finger und
te ihm mit bedächtiger Gebärde auf einen an-
en in englijcher Sprache gejchriebenen
dann fehritt er zum Fenfter und blidte in
das m en.
Stanhope Ham allein zurüd. Er fragte, ob
Caſpar wiffe, wo er untergebracht werden folle.
Caſpar bejahte.
„Es it am beften, mir gehen mal gleich zu
den Lehrergleuten hin, um bein Lünftiges Auartier
in Augenfchein zu nehmen,“ fagte der Lord,
Caſpar nickte und wiederholte: „Ja, es ift
am beften."
„Der Weg ift nicht zii, “ meinte Stanhope,
„wir können zu Fuß gehen; wenn du es aber
a t und die ubringlichteit der Menſchen
uft, die zu erwarten ift, kann ich den Wagen
— len.“
„Nein,“ erwiderte Caſpar freundlich, „ich gehe
lieber; die Leute werden ſich ſchon tröſten, wenn
ſie fen, Fr ich aud) une Beinen ſpaziere.“
Da Stanhopes Blick auf ben Ring.
Erftaunt —* er ie in bie Hand, fah Cafpar
on, jah den Ring an, überlegte mit zuſammen⸗
gezogenen Brauen, lächelte Anıstig und wild,
dann legte er den Ring jemeigenb, in eine Lade,
die er verfeloß, Als ob nichts geſchehen wäre,
308 ER den Mantel an und fagte: 5 bin bereit,“
Auffehen in den Gaffen war erträi ag;
es Pte fih alles in Ruhe ab, das Volk hier
war gutmätig und fcheu.
Ueber dem Tor des Quandtſchen Haufes war
ein Kranz aus Immergrün aufgehängt, in deſſen
322
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dem fehließenden Ring des Himmels ftrömt Welt
auf Welt hervor.
Es war nicht mehr an dem.
Unten im Wohnzimmer bunfteten die_frifch-
iefegten Dielen noch von Feuchtigkeit. Duandt
Pike dem Lord die ih gften Punkte feines Bros
gen ammö auseinander. Bisweilen ſchaute er Cajpar
bei an, und fein Blick war dann durchdringend
wie bei einem Schüßen, der das Biel fixiert, ehe
er die Flinte anlegt.
Stanhope ja; u“ er ſchätze fich sth, A
Caſpar endlich Ausfü Lauf eine gerraete © dung
habe, alles bisheri, en u nur Tilktr und Un-
jefähr gemefen. der Herr Staatsrat nicht
® feft darauf beftanden hätte, daß Cafpar in
Ansbach bleibe — dies follte offenbar eine Er-
Härung gegen den ftill zuhörenden Jüngling fein —,
wären fie ohne Smile heute ſchon in England
oder doch auf dem Weg dahin. „Da ich ihn
aber in fo guten Händen weiß," For ex hinzu,
„bin ich — er froh; man ſieht daraus,
daß aud) ein unerwünfchter Bwang oft die erjprieß-
lichften Folgen hat.”
Seine Worte waren troden; es war, als rede
fein Hut ober fein Stod. Das Kompliment, das
fie enthielten, war ſchal, oft gebraucht wie Spül-
waffer. Aber für Quandt waren fie eine Herzens»
erquietung. x belebte fich zufehends und ee
eifrig, e8 fei am_geratenften, wenn Cafpar noch
heute einziehe. Stanhope ſchaute Ca} Br, fra; feagenb
an; diefer fenkte den Kopf, worauf ir
zu einem nachfichtigen Lächeln —
wollen nichts überftürzen,“ ſagte er. Ich' laſſe
morgen I das Gepäd herſchaffen, heute joll
er noch bei mir bleiben."
324
€3 war dunkel geworden, als beide das Haus
verließen. Quandt begleitete fie bis auf die
Straße. Zurückkehrend ſchloß er ganz leife und
. langfam die Tür, wie er immer zu tun pflegte,
dann ftellte er fi in die Mitte des Zimmers,
legte beide Hände flach gegen die Bruſt und .
ſchüttelte mindeſtens eine Viertelminute lang in
lautlofem Erftaunen den Kopf.
„Warum fchüttelft du denn fo den Kopf?"
fragte Frau Quandt.
„Ich begreife nicht, ich begreife nicht,“ ant-
mortete der Lehrer befümmert und ſchlich herum,
al fuche er etwas auf dem Boden.
„Was begreifft du denn wieder nicht?" fragte
die Frau verdrießlich.
Quandt zog einen Stuhl herbei, feste fich
neben feine Gattin und fchaute fie aus feinen
blafjen Augen feft an, bevor er fortfuhr: get
du vielleicht etwas Wunderbare an dem Men⸗
fchen bemerkt? Sprich dich nur aus, liebe Jette,
haft du etwas, irgend etwas Außergemöhnliches
bemerft, irgend etwas, das ihn von einem andern
Menſchen unterfcheidet 2"
Frau Quandt lachte. „Ich habe nur bemerkt,
dab ex nicht beſonders höflich war und daß er
feidene Strümpfe trägt wie ein Marquis," ent
gegnete fie Teichthin.
„Ja, nicht wahr? nicht beſonders höflich,
wie? und feidene Strümpfe, ganz recht," ſagie
Quandt mit fonderbarer Haft, als ſei er einer
Entdeckung auf der Spur. „Na, die feidenen
Strümpfe werden wir ihm ſchon abgemöhnen
und das Modeweſtchen auch); dergleichen ſchickt
fih nicht für unſer einfaches Haus. Aber ich
frage dich: verftehft du die Menfchen? verftehft
825
du die Welt? Davon hört man nun feit Jahren
als von einem noch nie dagemefenen Wunder
reden! Dafür erhiten fich geiftreiche Männer,
Männer von Geihmad, von Welt, von Kennt
niffen; ift es zu faſſen? Gibt es denn feinen,
der mit feinen eignen, ihm von Gott eingefehten
Augen jehen kann? Iſt es zu faſſen?“
Mittlerweile waren Caſpar und der Lord zum
Gaſthof zurüdgefehrt. Stanhope war nicht gerade
roſig geftimmt. Die Schweigjamteit feines Be
leiter3 exbofte ihn; es war ihm, als werde
* einem Vorhang eine Piſtole gegen ihn
gerichtet.
Er war unruhig, fühlte Bi) in bie Enge ge-
trieben. Es gibt einen Punkt, wo die Schiefjale
fih wie auf einem feymalen Pfad zwifchen Ab-
geünden begegnen und mo es zum Austrag kommen
muß. Da ftellen ſich Worte umgerufen ein; bie
Dämonen erheben ſich aus dem Schlummer.
Stanhope fchellte dem Diener, ließ die Lichter
anzünden und Holz ins Kaminfeuer legen. Gleich
darauf wurde ber Hofrat Hofmann gemeldet;
der Lord fagte, er jei nicht zu fprechen, gab auch
Befehl, niemand mehr vorzulaffen. Er machte
fi unter feinen apieren zu ſchaffen und fragte
— Safpar: „Wie haben dir die Lehreräleute.
gefallen?"
Caſpar wußte nicht recht, wie, und gab eine
unbeftimmte Antwort. In Wahrheit wußte er
überhaupt gar nicht mehr, wie Herr Quandt oder
deſſen Frau oder das Haus ausfahen. Er er-
innerte fih bloß, daß Frau Quandt ihren Kaffee
aus der Untertaffe getrunken und den Zucker dazu
abgebifjen hatte, was ihm fehr albern erfchienen
war,
326
rastic tehrte ſich Stanhope um und fragte
mit der Miene eines Menfchen, der die Geduld
verliert: „Alfo, was ift es mit dem Ring? Was
wollteft du damit jagen?"
Cafpar antwortete nicht; in traurigem Trotz
ſchaute er ins Leere. Stanhope näherte fich ihm,
tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Schulter
und ogte ſcharf: „Sprich; — wehe bir!"
Mir iſt ſchon weh genug,“ entgegnete Caſpar
eintönig, und fein Blick glitt von der Geftalt
des Grafen wie von etwas Sahlipfeigem hinweg
auf die dunkelrote Tapete, auf welcher das Kamin⸗
feuer Schatten malte,
Was hätte er jagen follen? War doch fein
Gefühl faft ungemindert gegen den, der ihm
Weg gewieſen, der zum erftenmal wie ein Menſch
zu ihm geredet. Sollte er von ber furchtbaren
Nacht im Tucherfchen Saus erzählen, wo er ges
feffen, die Fäufte in der Bruft, daS Herz zerrieben,
einfam und der Welt beraubt? Wie er an
gefangen hatte zu fuchen, zu fuchen, wie er die
‚Zeit aufgegraben, gleichwie man im Garten Erde
aufgräbt, wie es Tag geworden und er enteilt
war, wie er Kinder gefehen, den Fluß gefehen,
an einem Baume gefniet, alle wie nie zuvor,
alle8 anders, er Perbit verwandelt, mit neuen
Augen, von Unmiffenheit exlöft... Unmöglich,
folches mitzuteilen; dafür gab es keine Worte,
Er fuhr fort, ins Leere zu ftarren, indes
Stanhops, die Hände auf dem Rüden, auf und
ab wanderte und widermillig, haftig, ſtoßweiſe zu
reden begann. „Willft du mic) etwa anklagen ?
Soll ich mich rechtfertigen? Goddam, ich habe
I dich gefämpft wie für mein eigen Fleiſch und
Tut, Vermögen und Ehre zum Pfand gejebt,
827
feine Demütigung geſcheut, mich unter Pöbelvolk
und Pedanten herumgeichlagen, was denn noch?
Wer das Unmögliche von mir verlangt, ift mir
nicht mwohlgefinnt. Noch ift nicht aller Tage
Abend, das Garn ift noch nicht abgemwidelt, ich
ftelle noch immer meinen Mann, aber ih muß
mir verbitten, daß du mich wie den Ausfteller
eines Schuld hein beim Buchſtaben packſt und
meine ſchoͤne illigkeit unter moraliſchen Druck
ſetzeſt. Wenn du von mir forderſt, anſtatt das
Gewährte dankbar zu erkennen, dann find wir
geichiedene Leute.“
Was er doch alles fpricht, dachte Caſpar, der
kaum zu folgen vermochte,
Der nächite Gedanke Stanhopes war, Caſpar
habe vielleicht eine geheime Verbindung und von
daher Lehre und Ermunterung empfangen, denn
er ſah wohl, und mit Angſt nahm er e3 wahr,
daß er nicht mehr das willenloſe Gefchöpf von
ehebem vor fich hatte. Aber auf feine rauh zu⸗
fahrende Frage machte Cafpar ein jo verwundertes
Geſicht, daß er den Argwohn fogleich fallen ließ.
Caſpar Iegte die Hände das zufammen und
fagte nun in feiner um Deutlichkeit bemühten
Weife, er habe Stanhope nicht Fränfen wollen,
aud mit dem ing nicht; es fei nur etwas ge-
ſchehen, was die —X betreffe; man habe
ihm immer Geſchichten erzählt, Geſchichten von
ihm ſelbſt, er habe zugehört und doch mist ordent⸗
lich verſtanden. Es ſei wie 7 dem pie =
hen gewefen, mit dem er in feinem
redet und gejpielt und das doch nichts Aebendics
gemwefen fei. „Aber jetzt,“ fügte ex ſtockend hinzu,
„iegt ift das "Solgpferbihen lebendig gemorden.“
Stanhope warf den Kopf zurüd. „Wie?
328
was denn?“ vief er fchnell und furchtfam, „Iprich
deutlich." Er nahm die Lorgnette und fchaute
Caſpar ftirnrungelnd durch die Gläfer an, eine
Gebärde, die Hochmut ausdrücken follte, aber im
Grunde nur DVerlegenheit war.
„3a, das Hohpferbien ift lebendig geworden,"
wiederholte Gafpar bedeutungsvoll.
Ohne Zweifel glaubte er mit diefem find-
lichen Sinnbild alle dargelegt zu haben, was
ihm das entfchleierte Antlitz der Vergangenheit
verraten hatte. Er mochte die Gemalten ahnen,
die fein Schickſal ‚gem! hatten, und jedenfalls
begriff er das Wirfliche, das ſchwer von Gründen
Wirkliche feiner langen Gefangenfchaft, die ihn,
außerhalb der hai bis über das Jünglings⸗
alter hinaus zum Zuftand eines Halbtiers ver-
urteilt hatte. Es mochte ihm Mar geworden fein,
daß es fich dabei um eine Sache handelte, der in
den Augen der Menjchen ein hoher, ja der höchfte
Wert zulam; daß fein Anrecht auf biefe Sache
ungefchmälert fortbeftand und daß, wenn er nur
hinginge, um zu zeigen, daß er Iebe, um zu
jagen, daß er wifje, aller Widerftand und Will-
für zu Ende fei und er befigen durfte, weſſen er
freventlich beraubt.
Das war ed etwa, aber es war noch mehr.
Und es fügte fi, daß der Lord felbft, in Angſt
iv — für feine Auftraggeber, für die Zukunft,
it das gene Gebäude, an dem er mitgezimmert
und von dem er, wenn es zufammenbrach, vielleicht
mit zerfchmetterten Gliedern in eine bobenloje
Tiefe ftürzen mußte, daß er ſelbſt das Wort fand
und ausfprach, welches dies andre, Größere, Un-
fagbare für. Caſpar zauberhaft und ſchrecklich er⸗
leuchtete.
829
Beinahe fühlte ſich Stanhope befiegt, und er
hatte nur. noch wenig Luft, gegen eine Macht zu
kämpfen, die gleichfam aus dem Nichts entftanden
war und wie der Jfrid aus Salomons Wunder-
flafhe den ganzen Himmel verfinfterte. Ich war
zu großmütig, dachte er; ich war zu lau; Wankel⸗
mut_trägt die eigne Haut zu Markt; läßt man
die Träumer aufmachen, & greifen fie nach den
Bügeln und pr die Rofje ſcheu; das füße
Zeug ſchmeckt nicht länger, nun gilt e8 Salz in
den Brei zu tun.
Er ſetzte fih an den Tiſch, Cafpar gegenüber,
und indem er beim Sprechen faum die Zähne
voneinander entfernte und fortwährend düfter und
blicklos lächelte, fagte er: „Ich glaube dich zu
verftehen. Man kann e8 bir nicht verübeln, daß
du Schlüffe aus meinen, wie ich befennen muß,
ein wenig unvorfichtigen Erzählungen gezogen
haft. Ich werde in dieſem Augenblide ſogar noch
weiter gehen und dir an Deutlichleit nichts zu
mwünfchen übriglaffen. Ich will bein Iebendig
jervordened — aufzäumen, und wenn
u dann Luſt haft, kannſt du es meinetmoegen
reiten. Ich babe dich nicht getäufcht: du bift
durch deine Abkunft den mär Hgften unter den
Furſten ebenbürtig, bu bift das Opfer der ſcheuß⸗
lichften Kabale, die Satans Bosheit je erſonnen
bat; hätteſt du keine andre Inſtanz zu fürchten
als die der Tugend und des moraliſchen Rechts,
dann jäßeft du nicht hier, und ich wäre nicht ge-
zwungen, dich fo zu warnen, wie ich es jeht tue.
Denn merk auf. So gegründet deine Anfprüche,
deine Hoffnungen find, jo verderblich müfjen fie
die werden, ſobald fie dich nur den: erften Schritt
zum vorgefaßten Ziele lenken. Die erfte Hand-
330
lung, das erfte Wort befiegelt unabänderlich deinen
Tod. Du wirft vernichtet fein, eh du noch den
Finger ausgeſtreckt haft, um zu nehmen, was dir
gebührt. Vielleicht kommt eine Stunde, morgen
oder in einem Monat oder in einem Jahr, wo
du an der Aufrichtigfeit deſſen, mas ich dir ſage,
zweifeln fönnteft; nun, fo beſchwöre ich dich:
glaube mir! Laß deine Lippen fetenfag ver⸗
nietet ſein. Fürchte die Luft und den Schlaf,
daß ſie dich nicht verraten. Möglich, daß einſt
der zug kommt, an dem du fein darfit, was du
bift, aber bis dahin halte til, wenn dir dein
Leben lieb ift, und laß dein Holgpferdchen hübſch
im Stall."
Langſam hatte ſich Cafpar erhoben. Ein über-
pemoalfiger Schrecken donnerte, vielgeftaltig wie
ie Blöde eines Felsfturzes, um ihn her. Um
feine Gedanken anderswo hinzulenten, betrachtete
ex mit einer an Wahnfinn grenzenden Aufmerf-
famteit die lebloſen Gegenftände: Tiih, Schrank
und Stühle, den Leuchter, die Gipsfiguren am
Kamin, den Trummgebogenen Schürhafen. War
ihm dien er neu oder kin ee Keines-
wegs. Es hatte, wie giftige Luft, fehon lange
um ihn ber gebrütet. dir ein andres das bloße
Ahnen und Spüren und ein andre das zer-
malmende Wiffen.
Auch Stanhope war ns er trat
nahe vor Caſpar hin und fuhr mit eigentümlich
näfelnder Stimme fort: „Es hilft nichts; im
diejem Zeichen Bift du eben geboren; in dieſem
Zeichen hat dich deine Mutter geboren. Das ift
das Blut. Es richtet dich und rechtfertigt dich;
es ift dein Führer und dein Verführer.“
Und nad) einer Weile: „Laß uns nun jchlafen
331
geben, es ift fpät. Morgen früh wollen wir in
ie Kirche und beten. Wielleicht ſchickt uns Gott
eine Erleuchtung.”
Caſpar fchien nicht zu hören. Blut! das
war dad Wort. Das war die Kraft, die alle
Poren feines Weſens durchdrang. Schrie nicht
jein Blut aus ihm, und von fernher wurde der
Schrei erwidert? Blut trug aller Sefgeinungen
Grund, verborgen, wie es war, in Adern, im
Geftein, in Blättern und im Licht. Liebte er fi
nicht in feinem Blut, fpürte er nicht die eigne
Seele wie einen Spiegel aus Blut, in dem er
ſich ruhend beſchauen konnte? Wieviel Menfchen
in der Welt, jo nahe beieinander, fo reich be—
wegt, fo fremd und ftumm, und alle durch einen
Strom von Blut wandelnd, und fein Blut doch
befonder3 taufchend, ein befonderes Ding, in ein-
ſamem Bette fließend, voll von Geheimniffen, un-
befannter Schickſale voll!
Auch ala er den Blick wieder gegen den Grafen
tehrte, war es, als wandle der Durch Blut, eine
Vorſtellung, die freilich durch die ſcharlachfarbene
Tapete begünftigt, wenn nicht erzeugt wurde.
Wenn man die Kerzen verlöfcht, dachte Cafpar,
wird alles tot fein, das Blut und die Worte, er
und ih; ich will nicht fchlafen diefe Nacht, nicht
fterben. Ja, Cafpar hätte, was fein Mund ge-
redet, gern wieder in fich hineingeſchluckt, in jenen
Kerker des Leibes gefperrt; der Schweigen hieß.
Gehorfam fein, unmiffend fein, unglüdlich fein,
Schande und Schimpf ertragen, die Stimme des
Blutes erftiden, nur nicht fterben müſſen, nur
leben, leben, leben. Ei, man wird fich fürchten,
man wird feig fein wie eine Maus, man wird
Türen und Senfter verriegeln, man wird die
332
Träume vergefjen, den Freund vergeffen, man wird
fich Elein machen, man wird das ‚Bolgpferbehen
vergraben, aber man wird leben, leben, leben...
Der Lord wünſchte, daß Cafpar nicht in
feiner Manfarbe, fondern hier unten nächtige.
Er befahl dem Aufwärter, ein Bett a dem
Sofa zu richten. Indes Caſpar g9 entkleibete,
ging er hinaus, kam jedoch nad) einiger Zeit
wieder, überzeugte fich, daß der Jüngling ruhig
lag, und Bay die Lichter. Die Verbindungs-
tür zu feinem Zimmer ließ ex. offen ftehen. -
Ungeachtet feines Vorſatzes fchlief Cafpar
bald ein und nahm fein aufgewühltes Gemüt in
den Schlummer hinüber. Er mochte vier bis fünf
Stunden geſchlafen haben, als fich fein bleiernes
Daliegen in ein ruheloſes Herumwälzen ver-
wandelte. Plöglich erwachte ev mit einem tiefen
Seufzer und ftarrte brennenden Auges in die
- Finfternis. An den Fenſterſcheiben war ein
Kribbeln und Taften, daS von den anprallenden
Schneefloden herrührte und dem leiſen Pochen
einer Hand ähnlich war. Aus dem Nebenraum
hörte er die gleichmäßigen Atemzüge des fchlafen-
den Stanhope; höchſt befremdlih klang dies
Atmen des andern Menfchen in der Nacht, wie
ein drohendes Geflüfter: hüte dich, hüte Dich.
Ex ertrug es nicht mehr im Bett. Es war,
als fei ihm der Körper mit taufend Fäden um—
ſchnürt, und als er aufftand, geſchah es nur,
weil er ſich vergemifjern wollte, ob er ſich noch frei
bewegen könne. Er jchlug die Wolldecke um die
Schultern und trat barfüßig ans Feniter.
Das ganze große AU war angefüllt mit den
eſprochenen Worten, die wie rote Beeren in der
untelheit hingen. Ueberall Gefahr; bloß zu
333
denten, war ſchon Gefahr; jeder Anhauch aus
fremdem Deane Gefahr.
Er fing an zu zittern. Die Knie faßen loſer
in den Gelenken, es war ihm fo leicht und ſchwer
augleich; fein Nachdenken hatte eine andre, nähere
Folge, auch alle Gegenftände waren näher, und
das Ganze der Erde und des Himmels, Wollen,
Wind und Nacht Hatten etwas eingebüßt, etwas
unbegreiflich Flüchtiges und Wandelbares. Alles
iſt nun fo mwunderlih wahr. Caſpar hält die
cherben eines koſtbaren Gefäßes in der Hand,
und feine Phantafte will nicht einmal die jchöne
Form, wie fie geweſen, zurücfgeftalten.
Unten auf der Gaſſe geht lautlos der Nacht-
wächter. Der zuckende Eden feiner Laterne ver-
oldet den Schnee. Cafpar folgt ihm mit den
ſlicken, denn es ift, als ob der Mann in irgend»
einem unerklärlichen Zufammenhang mit feinem
Schickſal ftehe. Sie wandeln miteinander über
ein verjchneites Feld, jener fragt Gafpar, ob ihn
friere, und wirft ihm einen Teil feines Mantels
um die Schultern, fo daß fie beide unter ber-
jeiben Hülle aim. Auf einmal gewahrt Caſpar,
aß es fein Männergejicht ift, das fich fo mild
erbarmend zu ihm Tehrt, fondern das fchöne,
traurige Geficht einer rau. Es enthalten dieje
Trauer und diefe Schönheit etwas Redendes,
und. daß fie zufammen unter demfelben Mantel
wandern, hat den allertiefften Sinn, etwas, das
mit Qual und Freuden eines ift und vom An-
fang der Dinge ftammt.
Da tönte das ungeheure Wort des Grafen
neufhallend in die Nacht: „In diefem Zeichen
bat dich deine Mutter geboren.”
Dich) geboren! Welcher Laut! Was war
334
darin beſchloſſen! Gaipar legte beide Hände vor
Genät; ihm fchmwindelte.
a hörte er ein Geräuſch von Schritten.
Ja drehte er ſich um, es war ein Emportauchen
aus finfterer Flut; der Graf ftand im Schlafrod
vor ihm. Wahrſcheinlich hatte Cafpars nächt-
liches Wachfein ihn aufgeweckt, er hatte einen
leifen Schlummer.
„Was treibt du?" fragte Stanhope mürriſch.
Cafpar machte einen Schritt auf ihn zu und
fagte dringlih, atemlos, drohend und flehenb:
„Sühr mich zu ihr, deinrich Einmal laß mich
die Mutter fehen, nur einmal, nur jehen; nicht
jetzt, fpäter vielleicht. Einmal, nur einmal! Nur
eben! Nur einmal!"
Stanhope wich zurück. Diefer Auffchrei hatte
etwas Ueberirdiſches. „Gebuld," murmelte er,
„Geduld."
„Geduld? Wie lange noh? Hab’ ſchon lange
Gent erfpre
" verfpreche dir —“
„Qu verſprichſt e8, aber wie foll ich glauben 9“
„Segen wir die Feift eines Jahres feſt.“
"Ein Jahr ift lang.
„gang und kurz. in kleines, kurzes Jahr
nd dann —“
„Dann — ?"
„Dann will ich wiederfommen —“
„Und mich holen?"
„Dich holen."
„Gelobjt du das?" Caſpar heftete einen
fuchenden und mie ein mattes Flämmchen er-
Löfchenden Blick auf den Grafen. Da der Wider-
ſchein des Schnee die Nacht erhellte, Tonnte jeder
des andern Züge deutlich unterfcheiden.
335
„Ich gelob’ es.“
Du gelobſt es, aber wie kann ich's wiſſen 2"
Stanhope geriet in eine ſonderbare Be—
drängnis; Dies & jenüberftehen zu folder Stunde,
die immer herrifcher, ftürmifcher werdenden Fra-
gen des Jünglings wirkten wie Gefpenfterichauer
auf feine Einbildungskraft. „Reiß mich aus
deinem Herzen aus, wenn es nicht geſchieht,“
murmelte er dumpf; er mußte in diefem Augen-
Blict Tebhaft bes Mannes gebenfen, der vom
Teufel Iebendigen Leibes in den feuerfpeienden
DVefun gefchleudert wurde,
Und Cafpar darauf: „Was Tann mir das
nügen? Sag mir den Namen, fag mir ihren
Namen, ſag mir meinen Namen."
„Nein! niemals! niemals! Aber glaube mir
nur. Es wacht ein Gott über dir, Caſpar. Es
kann dir nichts verfagt fein, denn du haft die
Kauffumme für das One zum voraus entrichtet,
die wir andern täglich in Heiner Münze bezahlen
müffen. Und bezahlt muß werben, alles muß
bezahlt werden, das ift der Sinn des Lebens."
„Du verſprichſt aljo, in einem Jahr wieder
dazufein ?"
In einem Jahr."
Caſpar bohrte die Finger in Stanhopes Hand
und richtete einen tiefen, jeltfam feelenhaften,
feltfam ſtolzen Bli auf den Lord, der jeiner-
ſeits die Augen ſenkte, während fein Geficht ftein-
alt ausſah. WS er in fein Zimmer zurüdging,
begann er plößlich leiſe plappernd das Vaterunfer
zu beten.
Erſt gegen Morgen entichlief er wieder. Als
er fi) mittags erhob, war Caſpar längft auf; er
ſaß am Fenfter und ſchien die Eishlumen zu ftudieren.
336
Um ein Uhr verließ er mit ihm daS Hotel.
Arm in Arm, ein Schaugepränge für die Ein-
wohnerſchaft, fpazierten fie über den hochliegen-
den Schnee durch das Herrieder Tor zum Markt.
Dort war eine go erfammlung von Bauern
und Händlern. Bor dem Portal der Gumbertus-
tirche blieb Stanhope ftehen und forderte Gafpar
auf, mit hineinzugehen. Caſpar zögerte, folgte
jedoch dem Scale in den hohen, ſchmuckloſen,
von Ichwarzem Gebält, überdachten Raum.
Mit raſchen Schritten eilte Stanhope zum
Altar, warf ſich mit den Knien auf die jteinernen
Stufen, beugte die Stirn herab und verblieb fo
in volllommener Unbeweglichkeit.
Caſpar, peinlich berührt, ſchaute fich unwill-
türlih um, ob niemand Zeuge diefer demütigen
Handlung fei. Aber die Kirche war leer. Warum
Trüppelt er ſich fo zufammen, dachte er verftimmt,
Gott kann doch nicht im Boden drinnen fein.
Allmählich ward ihm bange; das Schweigen des
tiefigen Raumes ftrömte bi3 in feine Bruft. Und
wie er nun in die Höhe blickte, ſah er oben,
durch ein geöffnetes Bogenfenfter, wie die Sonne
mit Macht die winterlichen Nebel zu gemältigen
ſuchte. Da rötete fich fein bläßliches Seht zu
hüchterner Freude und das Schweigen in feiner
ruft wandelte ſich zu einer hinaufziehenden Ver⸗
Ehrung.
„O Sonne," fagte er halblaut und mit ein-
fältiger Inbrunft, „mach doch, daß alles nicht fo
ft, wie es ift. Mach e3 doch anders, Sonne.
Du weißt ja, wie e3 ift; bu meißt ja, wer ich
bin. Scheine nur, Sonne, daß meine Augen
dich immer fehen können, immer wollen dich
meine Augen ſehen.“
Baffermann, Gafpar Haufer 28 837
Indem er fo ſprach, flutete eine.goldene Licht»
welle bis auf die kreidig ⸗ weißen liefen, und
Caſpar, ſehr zufrieden, meinte, die Sonne hätte
ihm damit auf ihre Weife eine Antwort erteilt.
Man erfährt einiges über Herrn Quandt
fowie über eine vorläufig noch unge—
nannte Dame
Die Weberfiedlung Caſpars ins Lehrerhaus
fand ohne Zwifchenfälle ftatt.
„Nun wohlan denn,“ ke Quandt während
der eriten gemeinfamen Mahlzeit, als die Suppen-
ſchüſſel aufgetragen wurde, „jest beginnt für Sie
ein neues Leben, Haufer. Hoffentlich ift es ein
Leben der Gottesfurcht und des Fleißes. Wenn
wir uns lobensmwert betätigen und in unfern Ge⸗
danken nicht den Schöpfer aller Dinge vergeſſen,
wird unfer irdifches Bemühen ftets von Erfolg
gekrönt fein.“
Nah Tiſch mußte Quandt zur Schule, und
als er um vier Uhr zurückkam, erfundigte er ſich
befliffen, was Caſpar die Zeit über getrieben
be. Seine Frau konnte ihm nur ungenügenden
jejcheid geben, und er tabelte fie deshalb. „Wir
müffen aufpaffen, liebe Jette,” fagte er, „wir
müfſen die Augen offen halten.“
In der Tat, Ouandt paßte auf. Wie
ein emfiger Buchhalter legte er in feinem Innern
ein Konto an, um alle Worte und Handlungen
feines Pflegebefohlenen zu verzeichnen. Bei diejer
umfichtigen Geichäftsführung jtellte es fich bald
heraus, daß Soll und Haben einander nicht bie.
338
Wage hielten, daß die Schuldfeite nach und nach ber
denklich überlaftet wurde. Das betrübte den Lehrer
aufrichtig; jedoch gab es ein geheimes Winkelchen
in feiner Bruft, worin er fich Defjen freute.
Es war nämlich mit diefem Manne derart
beſchaffen, daß er in einer merkwürdigen Zwei⸗
heit eriftierte. Der eine Teil war die öffentliche
Berfon, der Bürger, der Steuerzahler, der Kol⸗
lege, das Familienhaupt, der Patriot; der andre
Zeil war fozufagen der Quandt an fi. Jener
war ein Hero8 der Tugend, eine wahre Mufter-
jammlung von Tugenden; diefer lag verftedtt in
einer ftillen Ede und belauerte die liebe Gottes»
welt. Die öffentliche Perfon, der Bürger, der
Patriot nahm herzlichen Anteil an den allge
meinen Angelegenheiten, moßingegen der Quandt
an fi} vergnügt die Hände rieb, wenn irgendwo
irgendwas pafjierte: jei es nun ein unerwarteter
Todesfall oder nur ein Beinbruch oder die Kalt⸗
ftellung eines verdienten Beamten oder ein Dieb-
ftahl bei einer Vereinskaſſa oder ein Radſchaden
an der Poſtkutſche oder eine Heine Feuersbrunſt
beim reichen Bauern Soundfo oder die ffandalöje
Heirat der Gräfin Ypfilon mit ihrem Gtalls
burſchen. So unverbrühlich der Steuerzahler,
das Familienhaupt, der Kollege feinen Pflichten
nachkam, der Quandt an fich hatte etwas von
einem Revolutionär und war immer auf dem
Poſten, um der Weltregierung auf die Finger zu
‘hauen, und ſtets beforgt, daß feinem mehr Ehre
eſchah, als er nach genauer Bilanz über feine
serdienfte und Mängel, feine Vorzüge und Lafter
füglich beanfpruchen durfte. er Öffentliche
Quandt fehien zufrieden mit feinem Los, der ges
heime fand fich allerorten und zu jeder Zeit
339
aurüdgefeßt, beleidigt, vor den Kopf geftoßen und
in feinen vornehmften Rechten gekränki.
Nun follte man denken, mit zwei jo vers
ſchieden gefinnten Koftgängern unter einem Dach
jet ſchwer zu wirtfchaften. Nichtsdeitomeniger
kamen die beiden Quandts trefflich nebeneinander
aus. Freilich, der Neid ift ein boshaftes Tier;
er bucchlöcherte manchmal die Scheidewand zwi⸗
ſchen den zwei Seelen, und wie oft der ftärkfte
Damm nicht genügt, um eine verheerende Weber-
ſchwemmung zu verhindern, fo brach eben diejer
Neid bisweilen ein in die reinlichen, fruchtbaren und
wohlbeftellten Gefilde des Gottes» und Menfchen-
freunde8 Quandt.
Und was gab e3 doch nicht alles in der Welt,
worüber das tüdifche Untier ſich gefräßig her⸗
machen fonnte! Da hatte einer einen Orden be-
tommen, der das ganze Leben lang hinterm Ofen
hodte und Maulaffen feilhielt; dort hatte ein
andrer zehntaufend Taler geerbt, der ſchon ohne⸗
hin die Woche zweimal Pafteten aß und Mofel-
wein trank; da wurde ein Name lobend in der
Zeitung erwähnt, ohne daß man xfoejchen Tonnte,
ob ihm eine folche Auszeichnung von Rechtswegen
zukam, dort hatte ein Ichweißnichtwer eine Ent-
dedung gemacht, auf die man, hätte man fich zu:
fällig mit dem Gegenſtand bejchäftigt, leichterdings
aud hätte verfallen können. Warum denn der?
Warum nicht ich? murrte dann der heimlich aufs
rührerifche Quandt. Es war ein beftändiger und
unfichtbarer Zmeilampf mit dem Schickſal unter
der Barole: Warum der andre, warum nicht ich?
Vielleicht Iitt der gute Quandt unter feiner
Abftammung; fein Vater war Paftor gemejen,
mütterlicherjeitd kam er von Bauern ber. Er
340
befaß viel vom Bauern und vom Paftor: fein
ſehr irdifches Streben war rundherum mit Theo-
logie behangen. Dabei war der Bauer dem
Paſtor beftändig im Wege, denn wo hätte man
je gehört, daß ein auf Religion und Friebfertig-
teit ee Gemüt —— eg
und ehrgeizig geweſen wäre? Die Wahrhei
liebte Quandt über alles; er fagte es, er be
teuerte es und es war auch fo. Nichts war ihm
offenbar genug; nirgends ftimmte die Rechnung;
überall hatten die Menfchen eine faljche Addition
gemacht oder den Kafus verwechielt. Ex fagte
und beteuerte, daß er niemals in feinem Leben
gelogen hatte. Ein bewundernswerter Fall; und
wirklich ftand es feſt und war nachzuweiſen, daß
er mit dem einzigen Bufenfreund, den er je
befeffen, einem Schulamt3fandidaten in Tauber-
bifchofsheim, deshalb für immer gebrochen hatte,
weil er ihm auf eine Lüge gefommen war.
Wie ratlos mußte nun Caſpar einer fo ernften
Wachfamteit, einer folchen Vereinigung von fel-
tenen und vorbildlichen Eigenfchaften, wie fie der
beffere Teil des Lehrers bot, gegenüberitehen.
Wir, der Lefer und ich, haben darin leichtes
Spiel, uns Tann man nicht betrügen, uns find
die Kleiderfalten offen und die Haut über dem
Be ift uns durchfichtig; wir weilen auf einer
Öheren Warte, wir find Seher und Humoriften;
wir verfolgen Heren Quandt, wenn er in einen
Krämerladen tritt, mit höflicher Gemeffenheit
ein halbes Pfund Käfe verlangt und dabei mit
unruhig · eifrigen Augen die Einkäufe feiner Neben-
menfchen, gleichviel ob e3 Köchinnen oder Generale
find, in feinem Innern notiert; wir hören ihn,
wenn er mit dem Oberinfpeftor Kakelberg ſpricht
341
und fi) mit Schmerz über die zunehmende Ver-
lotterung der Schuljugend beklagt; wir jehen ihn
jeden Sonntagmorgen gebürftet, friſiert, gewaſchen
zum Gottesdienft eilen und mit Beſcheidenheit
fein Gebetbüchlein aufichlagen; wir wien, daß
er reſpeltvoll gegen Hobere und unnachſichtig
jegen Seringere ft, denn fein Pflichtbemußt-
Ei nach beiden Seiten unterliegt feinem Zweifel.
Aber wir wifjen auch, daß er jeden Abend vor dem
Schlafengehen im Nachthemd auf der Kante feines
Beites fist und fi mit düfterer Miene erinnert,
Hr ihn der Regierungsrat Hermann heute ziem⸗
lich nachläffig gegrüßt hat; mit Bedauern nehmen
wir von der Tatjache Kenntnis, daß er feine
Schüler, jelbftverftändlih nur die faulen und
ftörrifchen, mit einem ſorgſam getrodneten ſpa⸗
nifchen Rohrſtock empfindlich zu züchtigen pflegt,
und leider dürfen wir nicht verhehlen, daß er
feine gutmütige Frau nicht immer fo zart und
rüdfichtsvoll behandelt, wie e8 vor Fremden ge
ſchieht, die nach ihren Beobachtungen ohne weis
tere3 der Anficht find, daß diefe Ehe als das
Teuchtende Beifpiel eines guten Einvernehmens
zwifchen Gatten zu betrachten ſei.
So war für Gafpar, der den Vorteil unfrer
Alrifjenheit und Allgegenwart natürlich nicht
genießt, Herr Quandt eine zwar dunkle und
unfrobe, aber durchaus imponierende Geftalt.
Ein bißchen Alpdruck fpürte er jedesmal, wenn
Quandt in wunderlich forfchendem Ton und mit
unabgewandtem Blic zu ihm ſprach. Er fühlte
ch anfangs bedrüct in diejer gar engen Häuslich⸗
feit, in der man feft nicht einmal mit feinen Ges
danken allein fein fonnte, und der einzige Troft
war, daß der Graf, der ſchon anfangs Dezember
32
hatte reifen wollen, noch immer in der Stadt
war. Stanhope behauptete zwar, auf wichtige
Briefe warten zu müſſen, in Wirklichkeit harrte er
jedoch der Rückkehr des Präfidenten Feuerbach,
da ihn das Beginnen des Mannes, der Grund
feines Fernſeins beunruhigte wie den Wanderer
ein brohendes Gemitter.
Auch Cafpar hielt ihn, und das im eigner
Weife. Er pflegte den ZJüngling_jeden Nach ⸗
mittag für eine ober anderthalb Stunden zum
Spenge jehen ed fie gingen dann ger
wöl — en Weg zum Schloßberg hinauf und
gegen das Bernadotter Tal, das in jchöner Ab-
geichiedenheit wie eine Vorhalle zu den finfter
umfchließenden und weitgedehnten Wäldern lag.
Gafpar empfand einen ſehr wohltuenden Einfluß
von der Bewegung in der falten, meift. froft-
klaren Luft.
Ihre eipräde Al ebten ftet3 von einem un-
verbindend perfönlichen Punkt aus ins Allge-
meine, wo das zu Sagende gefahrlos wurde und
doch das Lehrhafte wie das Erzählende nicht den
Reiz einer anmutenden Vertraulichkeit entbehrte.
Es ſchien dem ein Uebereinfommen zugrunde
zu liegen, ein Friedensſchluß vor einer dumpf
fühlten Wandlung, welche die vergangene Schön-
det ihres Verhältniffes vollends zeritören mußte.
So gingen ſie dahin, anzuſehen wie Freunde,
in einer ihrem Schickſalskreis fremden Region
aufrichtig einander ergeben, den Unterfchied der
Sabre und der Erfahrung ausgleichend durch
ein williges Schenken von ber einen und ein
aiht minder williges Empfangen von der andern
er Lord fand ſich duch diefe Form eines
313
Verkehrs lebhaft angezogen, ja im wahrften Sinn
ergriffen. Durfte er fich doch auch einmal wieder
unbefangen fühlen, ohne Joch, von feiner Peitſche
zu ausbedungenem Ziel gezwungen; in fich felber
ruhend, betrachtſam und nicht ohne Wehmut übers
ſchauend, wie das Leben in feiner Bruft gehauft
und was e3 dem zwecklos fpielenden Geift übrig
gelaſſen, der ja das eigentliche Element ift, in
welchem der Menſch den Menichen erkennt. Cr
ging über die Tiefen feines Dafeins hin wie über
eine gebrechliche Brücke, die der leichtefte Wind-
hauch in den Abgrund ftürzen kann.
Am liebften redete er über Menfchenlos und
Menſchendinge: erzählte, wie der begonnen, wie
jener geendet, was diefen ins Unheil geſtürzt und
jenem zu Anfehen verholfen; wie er einen im
Glück gewahrt, an der Tafel des Königs ſchwel⸗
gr, und wie felbiger zwei Jahre fpäter in einer
chlammer elend Erepiert war. Ungleich ging
& zu auf Exden; in ſchwer erflimmbarer Höhe
blühten die Blumen; nichts ficher, nichts von
Beitand, nirgends Verlag. Gemiffe Regeln
durften nicht unbeachtet bleiben, nach welchen das
Wirken des einzelnen fich zu fügen hatte. Stan-
hope erwähnte das Buch des Lord Chefterfield,
eines Vorfahrs und weitläufigen Verwandten,
der_in berühmten Briefen an feinen Sohn gar
treffliche Marimen gegeben hatte; ganze Seiten
daraus mußte er aus dem Gedächtnis herzu-
jagen. Derjelbe Chefterfield Habe, um den Ahnen-
ſtolz des Adels zu verfpotten, in feinem Schloß
zwei Bilder aufhängen lafjen, einen nadten Dann
und ein nadtes Weib, und darunter gefchrieben:
Adam Stanhope, Eva Stanhope.
Der Graf gab feiner Ueberraſchung darüber
34
oft draftifchen Ausdrud, einen wie klugen Kopf
er in Gajpar bei aller Einfalt und Schweigſam⸗
keit entdeckte: immer zutreffend im Widerpart,
durchaus weltlich geftimmt, in Frage und Ant
wort aus erfter Hand, das Gegenfäßliche mühe:
108 erfaffend und phantafievoll verfnüpfend.
Die Wandlung kam bald. Ein unbedeuten-
der Anlaß führte fie herbei.
Eines Tages, während der Rückkehr nach der
Stadt, ſprach fi Stanhope darüber aus, wie
fruchtbar es für die innere Haltung eines Men-
ſchen fei, wenn er feine Selesnifte nicht Teicht»
finnig vorüberfließen laffe, fondern fie moraliſch
zu nügen fuche, indem er durch fchriftliche oder
mündliche Mütteilung den Stoff feines Nach—
denkens bereichere. Cafpar fragte, wie er das
meine; ftatt der Antwort ftellte der Graf, den
diefer Umftand längft beunrubigte, die lauernde
heſrage, ob ſpar 106 ein Tagebuch
re.
Caſpar bejahte,
„Und willft du mir nicht gelegentlich daraus
vorlejen?"
Caſpar erſchrak, überlegte und antwortete
zögernd, ja, er wolle es tun.
„So nehmen wir die gute Stunde wahr und
machen ung gleich daran," fagte Stanhope. „Ich
wünſche nur einen ungefähren Einblid zu er-
— und bin neugierig, wie du jo etwas an⸗
packſt.“
Zu Hauſe angelangt, begleitete der Lord
Caſpar auf deſſen Zimmer und nahm, der Er—⸗
füllung des Verſprechens gemwärtig, auf dem
Ranapee Pla. Im Ofen praffelte uer;
draußen herrſchte ſeit dem Mittag ſtarker Tau⸗
345
wind; es dämmerte ſchon, die Hügel waren
violett umfchleiert.
Caſpar race fih unter feinen Büchern zu
Pöaften, doch Minute auf Minute verging, ohne
aß er fich im geringften anſchickte zu tun, was
Stanhope erwartete.
„Nun, Caſpar,“ meldete ſich endlich) un-
geduldig der Graf, „ich bin bereit."
Da gab ſich Caſpar einen Ruck und fagte,
ex könne nicht.
Stanhope fah ihn groß an; Caſpar fchlug
die Augen nieder. Das Tagebuch ei unter vielen
andern Sachen verftedt, und es ſei unbequem,
e3 zu erreichen, murmelte er ſtockend.
„So fo," verjete der Lord und lachte faft
lautlos durch die Nafe. „Wie flint du in Aus-
flüchten bift, Caſpar; ich hätte nicht geglaubt,
® vos jo fine in... Ausflüchten bift. Ei,
ieh doch !"
In diefem Moment Hlopfte und fcharrte e3
an der Tür, der Lord rief und die Geftalt
Quandts ſchob ſich langſam ins Zimmer. Cr
tat erſtaunt, den Herrn Grafen hier zu finden,
und fragte, ob Seiner Lordichaft eine Kleine Er-
friſchung gefällig fei. Der Lord dankte ſtumm
und beftete den Blick fortgefet auf Cafpar.
Duandt merkte glei), daß da was auf der
Pfanne brobelte. & erhunbigte fih, ob Seine
Herrlichkeit Anlaß habe, mit dem Haufer unzu⸗
frieden zu fein. Stanhope entgegnete, er habe
allerdings einigen Grund, fich zu ärgern, und in
kurzen Worten teilte ec dem Lehrer mit, worum
es fich handle. Hierauf, zu Cafpar gewandt,
fagte er laut und markiert: „Wenn es von vorn:
herein nicht in deiner Abficht Tag, mir von deinen
346
Intimitäten Kenntnis zu geben, jo hätteft du es
re rende
pr ereut haft, fo durfteft du es fchi
lich wieder zurücdnehmen. Aber ftatt deſſen zu
einer folhen“ — eine berebte Heine Pauſe —
„Ausflucht zu geeifen, das jcheint mir deiner und
— nicht würdig."
Er erhob ſich und verließ das Zimmer.
Quandt folgte ihm. Unten im Flur blieb Stan-
Hope ftehen und fragte den Lehrer kurz angebun-
den, ob er fich in der verfloffenen Beit ſchon ein
Urteil über die Fähiı teten und den guten Willen
Caſpars gebildet habe.
„Eben wollte ich Eure Lordichaft ergebenft
erjuchen, mir zur Beſprechung ieſes —
eine Viertelſtunde Gehör zu ſchenken,“ erwiderte
Quandt. Er nahm das Dellämpchen vom Nagel
und befomplimentierte den Lord in fein Studio.
Ide ſich Stanhope in den Lederſtuhl ſetzte,
Bein auf Bein kreuzte und gelangweilt in die
Luft ſtarrte, ramſchte Quandt ſeine Notizblätter
zuſammen und ſagte, er habe den Hauſer gleich
vom erſten Tag an tüchtig vorgenommen, ihm
diktiert, ihn leſen und rechnen fen, die deutſche
und Tateinifche Grammatik al egelzagt alles aus
dem Gröbften und nur des Weber! Tick halber.
„Und das Ergebnis?" fragte Stanhope, wobei
die Langweile feine Nafenflügel auseinander dehnte.
f ans Ergebnis? Leider ziemlich troftlos,
feider!"
Es mußte ein Schmerz Herrn Quandt
fein, denn in diefem „leider“ Id ein tiefgefühlter
Ton. Es mußte ein Schmerz für ihn jein, daß
Caſpars Handichrift fo viel zu wünfchen übrig»
ließ. „Er hat nicht? Freies und Bügiges in
347
feiner Hand, und mit der Orthographie fteht er
auf gejpanntem Fuß," fagte er. Es mußte ein
Schmerz Erd Quandt fein, wenn ein Menjch den
Dativ nicht in allen Fällen vom Akkuſativ unter-
fügiden konnte. „Bon der funktionellen Bedeutung
es Konjunktivs hat er nicht die geringfte Vor—
ftellung,," fagte Quandt und fuhr fort: „Im
fprachlichen Ausdruck fcheint er nicht ungemwandt, *
bier ragt er fogar über feine fonftige Bildungs:
fufe hinaus, und er kennt die Säße und ihre
jerbindungen fo weit, daß er den Punkt, das
Kolon, da3 Anführungs-, Frage und Ausrufungs-
zeichen genau und das fogar von Sprachforſchern
io Berfihieben in Anwendung gebrachte Semitolon
manchmal richtig zu fegen weiß.“
Immerhin ein Lichtjtrahl. Hingegen bie
Arithmetit, o weh! Er beherrjcht die vier Grund-
rechnungen in gleichbenannten Zahlen noch nicht
mit Sicherheit. „Eine Null wird für ihn bald
da, bald dort zum unüberwindlichen Hindernis,"
fagte Quandt. Die Lehre von den Brüchen, vom
Kettenſatz, von den einfachen und zufammen-
gejeßten Broportionen: ein boffnungstofes Duntel.
Erſtaunlicherweiſe arbeitet er jedoch in diefen
Dingen am vwilligften,“ fagte Quandt.
„Die erklären Sie ſich das?" erfunbigte fich
der Lord mit der Neugierde eines Verfchlafenen,
den man an den Füßen kitzelt.
„Ich erkläre mir das fo: Jedes Erempel ftellt
ſich als ein für fich beftehendes Ganzes dar. Ein
ſolches zu gejtalten, dazu hat er immer Luft und
Verlangen, und es macht ihm Spaß, wenn er
es vollendet fieht. Was ihn aber Lange beichäftigt,
erregt fein Mißbehagen und Tann ihn fogar zu
allerlei unwahren Entfchuldigungen veranlaffen.
348
Daher zeigt er fich auch verdrießlich bis zum
Zorn, wenn er ein leichtes Erempel falſch ge-
rechnet bat und den Fehler der Oberflächlichteit
nicht finden kann.“
Weiter, weiter: Gefchichte, Geographie, Malen,
Zeichnen... Was die Gefchichte betreffe, fo habe
Quandt noch niemal® und bei feinem Menſchen
eine ähnliche Seihgütigeit gefunden, ſowohl
gegen vaterlänbijche Begebenheiten wie gegen welt⸗
— Fakta, gegen Monarchen, Staats-
männer, Schlachten, Ummälzungen, Helden und
Entdecker. „Nur die Anekdote feſſelt ihn, ein
Gefehichtlein, damit Tann man ihn ködern.“
Traurig! Und die Geographie? „Auf der Erd⸗
kugel fühlt er fich keineswegs zu Haufe," fagte
Quandt. „Auch ift er oft zerftreut; er merkt
nicht auf. Die nürnbergiiche Schwärmerei über
fein wunderbares Gedächtnis ift mir ein Rätſel,
ein unfagbares Rätſel, Mylord."
Mylord hatte genug. Vom Malen und Zeichnen
wollte Mylord nichts mehr wiſſen; er unter-
brach den Lehrer, der Proben zeigen wollte, und
warf ein, daß ihm die Ausbildung in dieſen
Nebenfär zwar wunſchenswert ericheine, daß
er aber fein großes Gemwicht darauf lege.
„Wünfchenswert, jawohl,“ verſetzte Quandt,
„und das Wünfchenswerte ſollte doch gepflegt
werden. Der Geiſt eines Menſchen iſt wie ein
Zuchtgarten, in welchem das Schöne und das
Nüsliche nebeneinander gedeihen dürfen. Ich
glaube, der mächtigfte Anjporn für den Hauſer
üt feine Eitelteit. Wenn man es verfteht, feine
itelfeit zu befriedigen, Tann man ihn zu allem
haben. Noch eine Frage, Mylord, haben Sie
befondere Wünfche wegen de3 Religiongunter-
349
richts? Ich. babe fehon mit Herrn Pfarrer Fuhr⸗
mann gefptochen, der ſich erboten hat, zweimal
wöchentlich Cajpar eine Stunde zu geben. Die Bibel
babe ich ſelbſt mit ihm durchzunehmen begonnen."
Stanhope hatte nicht? damwider; er wollte
aufbrechen, aber mit verlegenem Stottern brachte
Quandt jest das Quartiergeld auf3 Tapet, feine
Frau liege ihm über die zunehmende Teuerung
am Hals. Der Lord, ganz Seigneur, bewilligte
turzerhand einen Zufchuß; e3 wurde vereinbart,
daß Gafpar einen Mittagstifch für zwölf und
einen Abendtifch für acht Kreuzer erhalten folle.
Um den übeln Eindrud dieſer Erörterung zu
verwifchen, die ihn beſchämte und demiltigte,
äußerte Quandt den Wunſch, Seiner Lordfchaft
nad) deren Abreife periodijchen Bericht über die
Fortſchritte Caſpars zu fenden. Stanhope, ſchon
völlig ergeben, ftellte dies feinem Belieben ans
heim. „E3 wäre ratſam,“ fchlug Quandt vor,
„Haufers Briefe an Eure Herrlichkeit zugleich als
Stilübungen zu betrachten. Ich könnte, ohne
natürlich am Gedanken etwas zu verändern, die
auptfehler Forrigieren und mit roter Tinte eine
enfur darunter Noreißen. So hätten Sie immer
ein Bild feiner derzeitigen Fähigkeiten.“
Stanhope fand diejen Gedanken unvergleich-
lich. Sie traten nun in den Flur, Quandt trug
wieder das Dellämpchen voran. Auf einmal
prallte er zurüc umd hielt daS Lämpchen hoch.
Am Stiegengeländer ftand eine dunkle Geftalt.
Es war Caſpar.
Aha, der hat gehorcht, fuhr es Quandt durch
den Kopf. Er drehte ſich um und ſah den Lord
beziehungsvoll an.
Caſpar trat auf Stanhope zu und bat ihn
350
mit bemegter Stimme, noch einmal auf fein
Bimmer zu fommen. Der Graf antwortete kalt,
er habe wenig Zeit, Caſpar möge fein Anliegen
hier vorbringen. Caſpar fchüttelte den Kopf; der
Lord dachte, Caſpar habe fich eines Beſſern be-
fonnen, er ftellte fich, als ob es ihn Ueberwindung
tote, dem Wunſch zu willfahren, dann ging er
mit einen, wie gezählten Schritten die Stiege
hinan. Quandt folgte unaufgefordert und blieb
im Zimmer oben al3 ftumme Perfon neben der
Tür _ftehen.
Caſpar fagte, er wolle dem Lord das Tage
buch gerne zeigen, aber dieſer möge ihm ver-
fprechen, nicht3 darin zu leſen.
Der Lord verjchräntte die Arme über der
Bruft. Dies wurde ihm denn doch zu bunt.
Aber er antwortete mit der Ruhe einer vollendeten
Selbſtbeherrſchung: „Du Eannft mir wohl glauben,
daß ich ohne deine Einwilligung nicht im deine
Privatangelegenheiten dringen werde.“
Cafpar öffnete die Schublade des Kommode
täftchens und hob den Bipfel eines Seidentüch⸗
leins, unter welchem das blaue Heft lag. Der
Graf näherte fich und blickte in wortloſer Ber
fremdung bald auf das Heft, bald auf Cafpar.
„Was für eine kindiſche Zeremonie!" ftieß er
finfter heraus, „Ich hatte nicht die geringfte Be—
gierhe geäußert, deinen papierenen Schatz zu ſehen.
oviel ich weiß, wollteft Du mir daraus vorlejen;
mit Flunkereien bitte ich mich zu verſchonen.“
Auch, Quandt war num herangelommen, und
mit zmweifelnden Bliden maß er das myjteriöje
Heft. Cafpar fehaute währenddem, auch indes
der Lord das Zimmer fehweigend verließ, mit
einem chinefifch-jchiefen, fchiefzbefinnenden Blick
861
vor fich hin, einem Blick der Verfunkenheit und
Senfeitigkeit, wie ihn manche Köpfe auf jehr alten
Bildern haben. j
„Wenn ich meine unmaßgeblihe Meinung
äußern darf," fagte Quandt, der den Grafen
zum Tor begleitete, „jo muß ich geftehen, ich
glaube nicht an diefes Tagebuh. Ich glaube
nicht, daß ein Charakter wie der des Haufer von
ſich ſelbſt aus den Antrieb findet, ein Tagebuch
zu führen. Ich kann mir nicht helfen, Miylord,
aber ich glaube nicht daran."
„Ja, denken Sie denn, daß er uns da bloß leeres
Papier gezeigt hat?" verſetzte Stanhope fchroff.
„Das nicht, aber... ."
„Was aljo?" .
„se nun, man muß der Sache nachgehen,
man muß fi damit bejchäftigen, man muß jehen,
was dahinter ſteckt.“
Stanhope zuckte die Achſeln und ging. Er
hatte gehofft, aus den Aufzeichnungen des Jüng⸗
lings mancherlei über fich felbft zu hören; dies
lodte; er mußte, daß er dort auf einem hohen
Poſtament ftand und daß er vergöttert worden
war; es ift di vergöttert zu werden, wie
wenig Aehnlichleit man auch mit einem Gott
haben und wenngleich das Götterbild vom
Sodel erkürgt war, um jeine Trümmer mußte
noch eine reizende Romantik blühen. Dies lodte.
An das DVerräterifche des Büchleins dachte er
nicht, wollte er nicht denken, damit mochten fich
die Schergen abfinden.
Trogdem begab er ſich am nächſten Mittag
ins Lehrerhaus, trat in Caſpars Zimmer und
orberte kurz und ftreng von dem Jungling die
blieferung der Briefe, die er ihm während ihrer
352
Trennung nad) Nürnberg gefchrieben. Caſpar
gehorchte ohne zu fragen. Die Briefe, e8 waren
nur drei, darunter ber gefährliche, geſchwätzige,
den der Graf zu fürchten hatte, lagen in einer
befonderen Mappe in einer Hülle von Goldpapier.
Stanhope zählte fie nach, ſieckte fie in die Bruft-
taſche und jagte dann etwas milderen Tons:
„Du holſt mich heute abend um acht Uhr vom
Hotel ab. Wir find aufs Schlößchen zu Frau
von Imhoff geladen. Zieh dich gut an."
Caſpar nidte.
Stanhope ſchritt zur Tür. Die Klinke in der
Hand, drehte er fs noch einmal um: „Morgen
reife ih." Im der Krümmung feines Muni
Tag Ueberbruß und Grauen. Ihm graute plöß-
lich vor diefer Stadt und vor ihren Menichen,
ihm graute vor etwas, das er wie eine hölliiche
Unholdfrage über fich in der Luft hängen fah
und dem er durch die Gefchwindigfeit feiner
Pferde zu entrinnen hoffte. Den Präfidenten zu
erwarten hatte er aufgegeben, denn Feuerbach
hatte feinem Stellvertreter gejchrieben, er fäme
erſt nach Neujahr.
„Morgen jchon?" flüfterte Caſpar betrübt;
und nach einer Pauſe fügte er ſcheu Hinzu: „Was
abgemacht ift, das gilt aber?"
„Was abgemadt ift, daS bleibt beſtehen.“
Die Einladung der Imhoffs_ war zugleich eine
Abfchiedsfeier für den Grafen. Es waren gebeten:
der Regierungspräfident Mieg, der Hofrat Hofe
mann, der Direktor Wurm, Generaltommiffär von
Stihaner mit Frau und Töchtern und einige
andre Herrfchaften; alle famen in großer Gala.
Man war jehr gejpannt auf Caſpars erſtes Er-
ſcheinen in der hiefigen Gefellfchaft.
Balfermann, Gafpar Haufer 28 353
Sein Auftreten enttäufchte nicht. Wie fetierte
man ihn, bemühte man ſich um ihn; man fagte
ihm Komplimente, die lächerlichiten Komplimente,
lobte feine einen Obren und ſchmalen Hände,
fand, dab ihm die Narbe auf der Stirn, die
vom Sc on des Vermummten bi rte, inter-
effant zu Geficht ftehe, beftaunte fein Reden und
fein Schweigen und mähnte damit den Lord zu
entzücten, der fich jedoch über eine gemefjene Höf-
lichkeit hinaus nicht verpflichtete und dem über
ſchwenglichen Weſen der Damen feinen verbind-
lichiten Sarkasmus entgegenfebte.
Nachdem die Tafel aufgehoben war, erfchien
der Rämmerling des Lords und brachte ein Paket,
welches in ungefähr einem Dutzend Eremplaren das
in Kupfer geitochene Portät Stanhopes enthielt,
worauf er in Pairstracht mit der Grafenfrone
dargeftellt war. Er verteilte die Bilder an „die
lieben Ansbacher Freunde”, wie er mit bezaubern-
dem Lächeln fagte.
Das Runftwert erfuhr die Iautefte Bewunde⸗
rung, ſowohl in bezug auf die Aehnlichleit wie
auf die Ausführung; als jeder feinen Dank ge
zollt, kam das Gejpräch auf Bilder überhaupt,
und es entitand eine Meinungsverjchiedenheit
darüber, ob man aus den Zügen eines Porträts
auf die Charaktereigenfchaften der betreffenden
Perſon ſchließen Tönne. Der Hofrat Hofmann,
als der negative Geift, der er überhaupt war,
befiritt e8 mit großer Lebhaftigkeit und mit Aufe
wand von vielen Gründen; er jagte, jedes Bildnis
gebe ſchließlich doch nur eine Eſſenz der beiten
oder einichmeichelndften oder am offenſten fich
darbietenden Eigenfchaften, e8 komme dem Maler
oder Stecher nur darauf an, einen bejonberen,
354
feinem Kunftwefen verwandten Zug bis zur vor-
gejegten Wirkung zu übertreiben, jo daß von der
wahren Art des betreffenden Menjchen kaum
noch etwas übrigbleibe. Dem murde heftig
widerfprochen; das bänge ja vor allem von dem
Genie de3 Künftler8 ab, wurde erwidert, und
Lord Stanhope, der die Aeußerungen des Hof
rats bei diefem Anlaß als einen Mangel an
Delitatefje empfinden mußte, ereiferte fich fehr
gegen feine fonftige Gepflogenheit und behauptete,
ex jeinerfeit3 getraue fich aus jedem Bildnis, wen
es auch darftelle und von weſſen Hand auch
immer e3 gefertigt fei, die ſeeliſche Beſchaffenheit
ber abgebildeten Perſon zu erraten.
Bei diefen Worten lächelte die Hausfrau bes
deutungsvoll. Sie verfchwand in einem Neben-
raum und kehrte alabald mit einem goldgerahmten
ovalen Delbild zurüd, das fie, noch immer
lächelnd, in Kurzer Entfernung von dem Grafen
aufrecht auf den Tiſchrand ſtellte. Die Gäſte
drängten fich Herzu, und faft von allen Lippen
erfholl ein Ausruf der Bewunderung.
Es mar ein äußerft lebendig und natürlich
gemaltes Bild, welches eine junge Frau _von ver
lüffender Schönheit barjtellte: ein Geficht weiß
wie Aabafter und überhaucht von zartem Rofen-
rot; Hare und ebenmäßige Büge, einen Blick,
dem offenbar die Kurzjichtigfeit etwas Poe⸗
tifches und Schüchternes gab, und im ganzen
Fr Fhyſtognorüe ein himmliſches Leuchten von
„Nun, Mylord?“ fragte Frau von Imhoff
ſchelmiſch.
Stanhope nahm eine neunmalweiſe Miene an
und ließ ſich vernehmen: „Wahrlich, in dieſem
865
Geſchöpf verbindet ſich orientalifche Weichheit mit
andalufifcher Grazie.“
Frau von Imhoff nickte, ald ob fie das Ge-
fagte vortrefflich fände. „Schön, Mylord,"
meinte fie, „wir wollen etwas über den Charakter
der Dame wiſſen.“
„D, man will mic, attrappieren!" verfeßte
Stanhope heiter. „Nun gut. Ich denke, es ift
das eine Frau, welche jede Art von Leiden oder
Ungemach mit außerordentlicher Langmut zu er-
tragen verfteht. Sie ift Kg fie ift gottes-
für tig, fie liebt den idylliichen Frieden des
Zandlebens, ihre Neigungen gehören den ſchönen
Künſten —"
Frau von Imhoff konnte nicht mehr an IN
halten und hrach in beluftigtes Lachen aus. „
bin ficher, Graf, daß Sie nur, um mich zu
neden, eine jo faljhe Deutung unternommen
haben," fagte fie.
Der Hofrat machte ein molantes Geſicht,
Stanhope errötete. „Wenn ich mich blamiert
habe, fo belehren Sie mich eines Befjern, gnädige
Frau,“ antwortete er galant.
„Am das zu können, müßte ich Ihre Geduld
Tänger als le in Anfpruch nehmen," fagte
Frau von Imhoff plöglich ernit. „Sch müßte
Ihnen von dem ungewöhnlichen Schickſal diejer
Frau erzählen, die meine befte Freumdin ift, und
ich würde Gefahr laufen, die gute Stimmung zu
zerftören, in der Sie fich alle befinden."
Aber man wollte fich nicht damit zufrieden
geben, und Frau von Imhoff mußte jchließlich
em allgemeinen Drängen willfahren.
„Meine Freundin kam als Mädchen von acht»
zehn Jahren an den Hof einer mittelbeutichen
356
Reſidenz,“ begann fie mit einer veizenden Be—
fangenpeit. „Sie war vater- und mutterlo8 und
in ihrer Eriftenz ganz auf ihren Bruder an-
gewieſen. Diefer Bruder, ich will ihn der Kürze
wegen ben Freiheren nennen, galt troß feiner
Jugend, er war nur um zehn ‚re älter denn
feine ſchöne Schweiter, für einen Dann von her
vorragenden Talenten; der Fürft, obwohl ſchwaͤchlich
und ausfchweifend, wußte feine Fähigkeiten voll-
auf zu würdigen, gab eine der höchiten Stellen
de3 Landes unter jeine Verwaltung und über-
häufte ihn mit Ehren und Ausgeidmuingen, Do
nahm der Freiherr an den Vergnügungen des
Hofes nur infofern teil, al3 er die Schwefter in
die Salons und Gefellfchaften des Adels ein-
führte, und er hatte auch die Genugtuung, daß
fe nicht nur durch ihre Schönheit, jondern auch
uch Geift, Anmut und ein felten befeuertes
Naturell der Mittelpunkt jedes Kreiſes wurde, in
dem fie fich fehen ließ.
„Eines Tages nun wurde das ruhige Zu-
fammenleben der beiden Menfchen auf eine furcht-
bare Weiſe zerſtört. Faſt zufällig machte der
Freiherr die Entdedung, daß in der Finanz
verwaltung des Landes ganz ungeheuerliche Unter-
fchleife ftattgefunden Hatten, es handelte fih um
viele Hunderttaufende von Talern, und daß der
Fürft jelbft, in Bedrängnis geraten durch eine
arge Mätrefjen- und a bei
diefen zum Nachteil des Volles ausgeführten
Manipulationen beteiligt war. Der Freiherr
mußte fich feinen Nat. Er vertraute fich der
Schweſter an. Diefe fagte ihm: Hier gibt es
fein Schwanken, geh zum Fürften und mac ihn
ohne Rückhalt auf die Schwere eines folchen Ver-
857
brechens aufmerkſam. Es gefchah. Der Fürft
geriet in Zorn, wies dem jungen Mann die Tür
und deutete ihm an, daß er feinen Abjchied zu
nehmen habe. Als der Freiherr feiner Schwefter
von dem unerwarteten Ausgang feines Unter
nehmen Mitteilung machte, drängte fie ihn, die
Geſchichte vor die verfammelten Landftände zu
bringen. Auch dazu erklärte ſich der Freiherr
bereit, eröffnete fich aber vorher noch einem feiner
Freunde, der den Entſchluß zu billigen fchien.
Derfelbe Freund jchrieb ihm am nächſien Abend
ein Briefchen, worin er ihn dringlichft aufforderte,
einer wichtigen Beſprechung halber fogleih in
ein nahe der Stadt gelegenes Luſthaus zu kommen.
Ohne Zögern folgte der Freiherr dem Auf, ließ,
trotzdem es ſchon fpät und die Nacht finfter war,
fein Pferd fatteln und ritt davon.
„Seit diefer Stunde wurde er nicht mehr
geſehen. Einige Leute wollten gegen Mitternacht
in der Nähe jenes Luſthauſes Schüſſe gehört
haben, aber wie dem auch fein mochte, der Frei-
herr war verſchwunden, und was mit ihm ges
ſchehen war, blieb ein unerflärtes Rätſel. Den
Schmerz der Schweiter Tann man ſich denten.
Doch vom erften Tag an verſchmähte fie e3,
diefem Schmerz fich hinzugeben, und entfaltete
eine erjtaunliche Tätigkeit. Da fie nach und nad
den Tod de3 Bruders glauben mußte, ſetzte fie
alles daran, um wenigftens feinen Leichnam aus»
findig zu machen. Sie nahm Arbeiter auf, die
in der Umgebung des Lufthaufes wochenlang die
Erde aufgraben mußten, mit Güte, mit Lift, mit
Drohungen beſchwor fie den angeblichen Freund
des Bruderd, zu reden, wenn er etwas wiſſe;
«3 war umfonft, er behauptete, nichts zu wiſſen.
368
Niemand wollte etwas wiſſen. Sie warf fi
dem Fürften zu Füßen, der fie huldvoll anhörte
und, anſcheinend jelbft ergriffen, alles zu tun
verfprach, um der Sache auf die Spur zu kommen.
€3 war umfonft. Einige Zuge darauf erkrankte
fie, ohne Zweifel durch Gift; der Verfuch wieder-
holte fi. Plötzlich aber ftarb der Fürft an
einem Schlagfluß. Ihres Bleibens an_jenem
ſchrecklichen war nun nicht mehr. Sie be
gann zu reifen und fuchte an allen einen und
großen Höfen Deutfchlands, fpäter ſogar in Lon-
don und Paris Minifter, Monarchen und Männer
der Oeffentlichkeit zu gewinnen, um Sühne oder
wenigſtens Aufklärung zu erlangen. Stellen Sie fich
das Leben vor,“ fuhr Frau Imhoff fort, „das
meine Freundin auf ſolche Weife länger al3 drei
Jahre führte, immer unterwegs, immer in Haft,
mit beftändigen Widerwärtigfeiten fämpfend. Ein
großer Teil ihres Vermögens ging nad) und
nad durch ihre fruchtlofen Anftrengungen ver-
loren. AB fie nun endlich einjehen mußte,
daß fie nichts erreichen würde, daß die Ver—
brüderung der Schlehten und Gleichgültigen
zu mächtig ift, entjagte fie mit derfelben Ent-
ſchloſſenheit, die fie bisher an den Tag gelegt,
allen weiteren Verfuchen, zog in eine Heine Uni—
verfitätsftadt und warf fich mit einem wunder
baren Eifer auf das Studium der Politik, der
Jurisprudenz und der Nationalöfonomie. Nicht
als ob fie jich damit gegen die Welt verfchloß,
ganz im Gegenteil. Sie hatte ihre private Sache
mit einer öffentlichen vertaufcht. Ihre glühende
Seele, für den Gedanken der Dörferfreibeit und
der Menfchenrechte entflammt, fuchte Betätigung.
Bor zwei Jahren heiratete fie einen unbedeuten-
359
den und keineswegs geliebten Mann; es geſchah
deshalb, weil fich der Mann, dem fie fich ſchon
gemeigert hatte, .aus Leidenfchaft zu ihr im Bade
ie Adern geöffnet hatte; er wurde gerettet und
fie nahm ihn. Doch wurde die Ehe ſchon nach
wenigen Monaten in friedlihem Einverftänbnis
elöft, der Mann ift nach) Amerifa gegangen und
Farmer geworden. Meine Freundin fing aber-
mals ihr merkwürdiges Wanderleben an; ich
habe Briefe von ihr bald aus Rußland, bald
aus Wien, bald aus Athen; feit einigen Monaten
weilt fie in Ungarn. Ueberall unterfucht fie die
Lage der Bauern und die Not des arbeitenden
Volkes, nicht etwa nur oberflächlich und empfind-
ſam, jondern mit fachlicher Gründlichkeit; ihr
profundes Wiſſen und ihre Kenntnis der Geſetze,
PVerfaffungen und öffentlichen Einrichtungen hat
ſchon mandem gelehrten Herrn Bewunderung
abgezwungen. Ste ift heute fünfundzwanzig
Jahre alt und fieht ſaſt immer noch fo aus wie
auf diefem Bild, dus vor ſechs Jahren gemalt
wurde. Nach alledem werden Sie mir wohl
(auben, Mylord, daß bei ihr von orientalijcher
jeichheit und fanfter Leidensdemut nicht wohl
die Rede fein kann. Sanft ift fie, ja fie iſt janft,
aber ganz anders, wie man ſich daS gewöhnlich
vorftellt. Ihre Sanftmut hat etwas Freudiges
und Tätiges, denn es ift in ihr ein kühner Geift
und ein erhabenes Vertrauen zu allem, mas
menfchlich if. Immer ift ihr die Gegenwart das
Höchſie.“
Ein lautloſes Schweigen bezeugte der Er—
zählerin die tiefe Wirkung, die ſie hervorgerufen.
Und iſt es denn nicht prächtig, iſt es nicht
prächtig⸗ſpannend und angenehm-grufelig, ſich
860
dergleichen im mohldurchheizten, hellerleuchteten
Zimmer vorerzählen zu laffen? Der Mann am
Kamin reibt fich gemütlich die Hände, wenn es
draußen ftürmt und wettert. Dem Mann am
Kamin verurfacht es ein füßpridelndes Behagen,
wenn er fich vorftellt, daß draußen einige Leute
ohne Ueberzieher und Handſchuhe herumfpazieren.
Er, der Dann am Kamin, iſt jogar imftande,
mit folchen Unglüclichen auf das lebhaftefte zu
ſympathiſieren.
Caſpar war, als Frau von Imhoff zu
fprechen angefangen, etwas außerhalb des Zu-
börerkreifes gejefjen, dann hatte er fi langſam
echoben, war näher gekommen, bis er an ihrer
Seite ftand, und hatte wie verzaubert auf ihren
redenden Mund geblidt, Jetzt, da fie fertig war,
lachte er plötzlich. Die Züge kamen in Bewegung
und erhielten etwas unendlic, Anziehendes,' Fran
von Imhoff geftand fpäter, daß ihr ein folder
Ausdruck Tindlicher Freude noch nirgends vor
jefommen jei; ja, es glich dem Lachen eines
leinen Kindes, nur daß ſich eine höhere und
reinere Kraft des Bewußtſeins darin zu erkennen
gab und die Empfindung feines Innern mit den
ftärkften Farben malte. Die Umfigenden waren
neugierig, was er jagen würde, und beugten fich
vor, doch er ftellte nur die zaghafte Frage: „Wie
heißt denn die Frau?"
Frau von Imhoff legte den Arm um feine
Schulter und antwortete, gütig lächelnd, das zu
verraten ftehe ihr jegt nicht zu, fpäter vielleicht
werde er es erfahren, auch an ihm nehme fie
herzlichen Anteil,
Er blieb. nachdenklich. Auch als die Gefellig-
keit wieder geräufchvoller wurde und das jüngite
361
Fräulein von Stihaner am Klavier Lieder fang,
behielt er feinen fchiefsbefinnenden Blick. Sonder:
bar wurde fein Gefühl durch das jo beweglich
geſchilderte Schickſal jener Unbelannten nach außen
getrieben, und wie durch den Wink eines unficht-
aren Geiftes öffnete fih zum erftenmal fein
Herz den Leiden eined andern Ichs, einer fremden
PR Es fann doch nicht jo mit den Frauen
beichaffen fein, wie ich's mir immer eingebildet
babe, dachte er.
Das gab ihm zu denken. An irgendeinem
Punkt erzitterte auf einmal der Bau der Welt,
und ein zmwiefaches Antlitz zeigten die Kreaturen:
das eine wohlvertraut und nicht geliebt, das zweite
unfaßbar wie Schatten, fern wie der Mond, ver-
fchwiftert beinahe dem der nie gefehenen Mutter.
Auf der VBrüde zwiſchen Abend und Abend
reitet daS Leben; was es heute ſchenkt, wird
morgen Beſitz. Ohne dieſe Stunde hätte ein Er⸗
eignis der folgenden Nacht, bei dem er nur der
flüchtige und faum bemerkte Zeuge war, nicht fo
gemaltig in fein Inneres gewuchtet, daß er tage
sn danach ſich in der ſchmerzlichſten Verwirrung
and,
Joſeph und feine Brüder
Als Abſchiedsgabe erhielt Cafpar vom Lord
zwei Paar Schuhe, eine Schachtel mit Brüffeler
Spitzen und ſechs Meter feinen Stoff zu einem
Anzug. Nachdem er ſchon den ganzen Vor—
mittag mit ihm verbracht, fam Stanhope nad)
Tiſch ins Quandtſche Haus, um Caſpar Lebewohl
362
zu fagen. Um halb vier fuhr der Wagen vor.
Caſpar geleitete den Grafen. auf die Gaſſe. Er war
bleich bis in die Augen; dreimal umarmte er den
Scheidenden und biß die Zähne zufammen, um
nicht aufchreien zu müflen, war e3 doch ein
Stüd feines innigften Seins, das ſich graufam
von ihm trennte — für immer, das fühlte er
wohl, ob er den fo teuer gewordenen Mann
wiederfah oder nicht. Mit ihm nahm er Abfchied
von ber Unſchuld feligften Vertrauens und von
der Süßigkeit ſchöner Wünfche und Täufchungen.
Auch der Lord war zu Tränen gerührt. Es
entſprach feiner reizbaren Natur, fich bei folchen
Anläffen einer mwohltätigen Gemütserjchütterung
zu überlafjen. Sein letztes Wort Hang wie ein
Schuß vor Selbftvorwürfen; als wolle er geſchwind
noch ins Schickſalsrad greifen und die Speichen
zurüddrehen; die Kutſche war ſchon im Fahren,
da rief er Quandt und dem Polizeileutnant
Hidel, die beide am Tor ftanden, mit feierlich
era Brauen zu: „Bewahrt mir meinen
ohn!“
Quandt drückte die Hände beteuernd gegen
jeine Bruft. Das Gefährt rollte gegen die Krails-
heimer Straße.
Fünf Minuten fpäter erfchienen Herr von
Imboff und der Hofrat Hofmann; fie mußten
zu ihrem Leidweſen erfahren, daß fie die Zeit
verpaßt hatten. Um Caſpar feiner Traurigkeit
zu entreißen, re fie ihn zu einem Spazier-
gang in den Hofgarten auf, ein Vorfchlag, dem
der Lehrer eifrig zuftimmte. Hickel bat, ſich an-
ſchließen zu dürfen.
Raum waren die vier Perſonen um die nächfte
Ede gebogen, als Quandt raſch ins Haus zurüd-
363
eilte und feiner Frau einen Wink gab, die ihm,
ohne zu fragen, weil da8 Unternehmen verab-
redet war, in den oberen Flur folgte, wo fie ſich
bei der Treppe als Schildwache aufitellte. Quandt
feinerfeits machte fih nun daran, das Tagebuch
u fuchen. Er hatte fich zu dem Ende ein zweites
—* Schlüffel anfertigen laſſen und konnte da⸗
mit die Kommode und den Schrank öffnen. In
der Kommodeſchublade fand er nichts, das blaue
& war nicht mehr darin. Aber auch den
rank durchſtöberte er vergeblich, die Kleider,
die Tifchlade, die Bücher, daS Kanapee; vergeblich
kroch er in jeden Winkel, e8 war nichts zu
finden.
Erſchöpft trocknete er fi den Schweiß von
der Stirn und rief feiner Frau durch die offene
Tür zu: „Siehft du, Jette, was 1“) Immer fage:
der Kerl hat's fauftdie hinter den Ohren."
„Da ja, er ift faljch wie Bohnenſtroh,“ er-
widerte die Frau, „und lauter Scherereien macht
ex einem." Sie fehimpfte bloß ihrem Mann zu
Gefallen, denn im Grund hatte fie den Jünglin,
gern, weil noch _nie ein Menſch fich jo Hoflich
und nett gegen fie betragen hatte.
Quandt blieb für den Reſt des Tages ver-
ftimmt wie einer, der um ein edles Wert be—
trogen wurde. Und mar es nicht jo? War es
nicht feine Miſſion auf diefer Erde, die Lüge
von der Wahrheit zu jcheiden und als rechter
Herzensalchimiſt den ‚Diitmenfcjen die unvermiſch⸗
ten Elemente aufzuzeigen ? durfte nicht ruhig
zufehen und nicht Nachficht üben, wo der Atem
der Lüge wehte.
Von folchen Empfindungen bewegt, hielt er
am jelben Abend feiner Gattin eine längere Rebe,
364
worin er fich folgendermaßen ausſprach: „Sieh
mal, Jette, ift dir nicht fein gerades und aufs
rechtes Sigen bei Tiſch ſchon aufgefallen? Kann
man annehmen, daß fo ein Menſch jahrzehnter
lang in einem unterivdifchen Loch vegetiert hat?
Kann man die glauben, wenn man feine fünf
Sinne ordentlich beieinander hat? Won feiner
gerühmten Kindlichkeit und Unſchuld Tann ich,
offen geftanden, nichts entdecken. Er ift gutmätig,
ja; gutmütig mag er fein, aber was beweift das?
nd wie er vor den reichen und vornehmen Leuten
ſcharwenzelt und liebedienert als der ausgemachte
Duchmäufer, der er ift! Da bat deine Freundin,
die Frau Behold, den Nagel auf den Kopf ge
troffen. Sieh mal, oft, wenn ich unverjehens in
fein Zimmer trete, es liegt mir natürlich daran,
ihn zu überrafchen, aber da hockt er dir manche
mal in der Ede — es ift fonderlich anzuschauen.
Ich weiß nicht, ift ex jo geiftesabmejend oder
ftellt ex fi nur fo, aber wenn er mich dann
bemerkt, verändert ſich fein Geficht bligfchnell zu
der beuchlerifchen Grimaſſe von Freundlichkeit,
die einen leider entwaffnet. Einmal hab’ ich ihn
fogar am hellichten Tag bei Beruntergelaflenen
Rouleaus ‚gefunden, Was Tann das bedeuten ?
Es ſteckt eben was dahinter.”
„Was fol denn dahinter ſtecken?“ fragte die
Lehrerin.
Quandt zudte die Achſeln und feufzte. „Das
mag Gott wiffen,“ fagte er. „Bei alledem mag
ich ihn leiden," ſchloß er mit verforgtem Stirn⸗
runzeln; „ich mag ihn gut leiden, er ift ein auf⸗
jeweckter und trätabler Burſche. Man muß aber
jehen, was dahinter ſteckt. Es ift etwas Unheim-
liches um den Menjchen."
865
Die Lehrerin, die fich für Die Nacht frifierte,
war des Schwatzens müde. Ihr hübſches Geficht
jatte den Ausdrud eines dummen, ſchläfrigen
ogels, und ihre auffallend nah beieinander
rg Augen blinzelten matt ins Kerzenlicht.
löslich Tieß fie den Kamm ruhen und fagte:
„Hoch mal, Quandt."
Quandt blieb ftehen und laufchte. Caſpars
Zimmer lag über dem ehelichen Schlafgemadh, und
fie vernahmen nun in der eingetretenen Stille die
unaufhörlich auf und ab gehenden Schritte ihres
rätfelhaften Hausgenofjen.
„Was mag er treiben?" meinte die Frau
verwundert,
„Ja, was mag er treiben,“ wiederholte
Quandt und ftarrte finfter zur Dede. „Ich weiß
nicht, mir wurde immer gejagt, daß er mit den
Hübner fchlafen geht; is merke nicht3 davon.
m fiehft du's, da foll man fich auskennen.
Jedenfalls wollen wir ihm das Spazierengehen
bei Nacht abgewöhnen." Quandt öffnete leiſe
die Tür und ſchlich auf Pantoffeln vorfihtig
hinaus. Vorfichtig jchlich er die Treppe empor,
und al® er vor Caſpars Tür angelangt war,
verfuchte er durchs Schlüffelloch zu fpähen, aber
da er nichts fehen fonnte, legte er in derjelben
gebücten Stellung das Ohr and Schloß. a,
da wandelte er herum, der Unerforfchliche, wan⸗
delte herum und ſchmiedete feine dunfeln Pläne.
Quandt drückte die Klinke, die Tür war vers
fperrt. Da erhob er feine Stimme und forderte
energiih Ruhe. Sogleih ward es drinnen
mäuschenftill.
Als nun der Lehrer wieder zu feiner Frau
kam, fand fich, daß mit unerwarteter Plötzlichkeit
866
deren ſchwere Stunde angebrochen war. Schon
lag fie ftöhnend_auf dem Bett und verlangte nad)
er Hebamme. Duandt wollte die Magd jchiden;
die Frau fagte: „Nein, das geht nicht, geh du
felber, die Perſon ift blöde und wird den Weg
verfehlen.“ Wohl oder übel mußte ſich Duandt
dazu entichließen, jo unbequem auch die Sendung
war, denn erſtlich hatte er fich aufs Bett gefreut,
zweitens fürchtete er fich ein wenig vor dem Gang
durch die finftern Gaffen, war doch erſt zu
Pfingften hinter der Karlskirche ein Rechnungs⸗
alzeſſiſt überfallen und halb ehe jen: worden.
Verdroſſen haftete er in die Kleider; hierauf
holte er die Magd aus ben Federn und befahl
ihr, eine befreundete Nachbarin zu rufen, die ſich
im Notfall zur Sitfeleitung erboten hatte, dann
fehlurfte er wieder herein, durchkramte die Truhe:
nad) jeinen Piftolen, wobei er das Nähtifchlein
ummarf, was ihn wieder derart in Verzweiflung
fette, daß er mit den Händen feinen Kopf padte
und fein unfeliges 203 verwünfchte. Die Frau,
der das Elend ſchon den Sinn verrüdte, ent—
nahm ihrem Zuftand den Mut, ihm allerlei fonft
feig zurüdtgehaltene Aufeichtigteiten zuutäleubern,
welche ihn im bejondern und das Mannsvolk im.
allgemeinen trafen. Das hatte die befte Wirkung,
und nachdem er fein Meines Söhnchen, das neben-
an fchlief und von dem Tumult erwacht war,
a Magdlammer getragen hatte, trolite er fich
endlich.
Caſpar, im Begriff ſich nieberzulegen, ver-
nahm auf einmal mit Schaudern die ſchmerzens⸗
volle Stimme der Frau unten. Immer furcht⸗
barer wurden die Laute, immer greller drangen
fie herauf. Dann war e3 wieder eine Beitlang
. 367
ftille, dann knarrte die Haustüre, Schritte gingen,
Schritte famen, und nun begann das Schreien
viel ärger. Caſpar dachte, ein großes Unglück
fei paſſiert; fein erfter Trieb war, ſich zu retten.
Er lief zur Tür, fperrte auf und eilte die Stiege
hinab. Die Wohnzimmertüre war offen, über-
heizte Luft quoll ihm entgegen. Die Magd und
die Nachbarin ftanden gefchäftig am Bett der
Frau Duandt; diefe fchrie nad) ihrem Mann,
ſchrie zu Gott und bäumte ſich auf.
Ad, was ſah Cafpar da! Wie ward ihm
doch zumute! Ein Köpflein fah er, einen weißen
fleinen Rumpf, ein ganzes winziges Menfchlein,
emporgehoben mit Händen, die nicht Heiner waren
als es felbft! Alle Glieder zitterten an Cafpar,
er wandte fih um, und ohne daß ihn jemand
erblickt, floh er die Stiege hinauf, ſank auf dem
oberſten Treppenabfaß atemlos hin und blieb figen.
Wieder ging die Haustür, Quandt erichien
mit der Wehfrau, doch ſchon ftürzte ihm die Nach-
barin jubelnd entgegen: „Ein Töchterlein, Herr
Lehrer!"
„Ei, fieh da!" vief Quandt mit einer Stimme,
fo ftolz, als hätte er dabei etwas Nennenswertes
geleiftet.
Biepfendes Geplärr beftätigte die Anmwejen-
heit der neuen Weltbürgerin. Nach einer Weile
am trällernd die Map. und Caſpar jah, daß
fie eine Schüffel voll Blut trug.
Es mochte in allem nicht mehr denn eine
Stunde verflofjen fein, als Cafpar ſich endlich
erhob und in feine Kammer taumelte. Wie
betrunfen entfleidete er ſich, wühlte fich in die
Betten und vergrub das Geficht.
Er konnte nichts dawider tun: aus der Nacht
368
erhob fich gleich einer purpurnen Scheibe die
Schüſſel voll Blut.
Er konnte nichts andres fehen als dies: aus
einem blutigen Schlund krochen junge Wefen und
wurden Menfchen genannt. Nadend und winzig,
einfam und hilflos und unter dem Jammer der
Mutter krochen fie wehevoll aus einem Kerker
ohnegleichen, wurden geboren, ja, geboren, ſowie
die Mutter ihn geboren.
Das ift e8 alfo, dachte Caſpar. Er fpürte
das Band, begriff den Zufammenhang, fühlte feine
Wurzeln tief in der blutenden Erde, alles ftarre
Leben regte fich, das Geheimnis war entjchleiert,
die Bedeutung offenbar.
Doch Mitleid und Grauen, Sehnfucht und
Furcht waren nun eines, Leben und Sterben zu
einem Namen verfchmiedet. Ex wollte nicht ein-
fülofen und fchlief ein, aber je näher der Schlummer
am, eine je qualvollere Todesangjt umfing ihn,
fo daß er fich nur widerſtrebend ergab: ein banger
Heiner Tod im Leben.
Da er am Morgen über die gewohnte Stunde
ausblieb, verwunderte fi Duandt, ging hinauf
und pochte an der Tür. Obgleich er das Zimmer
vom Abend her verfperrt wußte, drüdte er auf
die Klinke, fand jedoch zu feinem Erſtaunen die
Tür unverfchloffen. An Caſpars Bett tretend,
rüttelte er ihn und fagte ärgerlich: „Nun, Haufer,
Sie fangen ja an, ein Siebenfchläfer zu werben.
Was him denn?"
Caſpar ſetzte fih auf, und der Lehrer jah,
daß das KRopffifien ganz naß mar; er deutete
hin und fragte, was das fei. Caſpar befann fich
ein wenig und antwortete, es ſei vom Weinen,
er habe im Schlaf gemeint.
Baffermann, Gafpar Haufer 24 369
Was, geweint? dachte Quandt ———
warum geweint? wieſo weiß er es denn jo ſchnei
wenn er im Schlaf geweint hat? und warum hat
er fo lange gewartet, bis ich mich entſchloſſen, ihn
zu holen
inter ſteckt eine inte, entſchied Quandt,
er will mich milde ftimmen. Forfchend ſchaute
er fih um, und fein Blick fiel auf das Wafjer-
gies, da3 auf dem Nachttifchlein ftand. Er nahm
a8 Glas und hob es prüfend empor, es war
ya leer. „Haben Sie Waffer getrunfen, Hauſer?“
agte er duͤſter.
Caſpar fah ihn-verftändniglos an. Der Blick
de3 Lehrers, von dem Glas auf das Kiffen
gleitend, befam einen vorwurfsvollen Ausdrud.
„Sollten Sie nicht aus Verſehen das Wafler
verfchüttet haben?“ fragte er weiter; „ich
fage: aus DVerfehen und meine durchaus nichts
Fr red, Sie können freimütig mit mir reden,
aufer."
Caſpar fchüttelte langſam den Kopf; er ver⸗
ftand nicht, was der Mann wollte.
Verſtockt, verftoct, dachte Quandt und gab
das Verhör auf. Als Cafpar zum Unterricht ind
Wohnzimmer kam, teilte ihm Quandt in geziemen-
der Würde mit, daß ihm eine Tochter geſchenkt
worden fei.
Wieſo gejchenkt?“ fragte Cafpar naiv.
Quandt runzelte die Stirn. Die Gleichgültig-
feit, mit welcher der Jüngling ein ſolches Er—
eignis aufnahm, verdroß ihn ſehr. Seine Haltung
war kalt und förmlich, als er jagte: „Wir be-
innen wie gewöhnlich mit der Bibelftunde. Leſen
& Ihr Penſum vor."
Es war die Gefhichte Joſephs.
370
Da ift ein alter Mann, der viele Söhne hat,
aber den jüngften unter ihnen am meiſten liebt
und ihm einen bunten Rod gibt, um ihn aus⸗
zuzeichnen. Deswegen haffen ihn nun Die Brüder
und wollen nicht mehr freundlich mit ihm reden.
Und Yofeph erzählt ihnen einen Traum von ben
Garben. „Siehe, wir banden Garben auf dem
Felde", erzählt er, „da ftand meine Garbe auf und
blieb ftehen und fiehe, eure Garben waren vings-
um und beugten ſich vor meiner Garbe.“ Da
antworten die Brüder: „Willſt du denn König
werben über und? willft du herrfchen über ung?"
Und fie haſſen ihn noch mehr wegen feiner
Träume. Aber Joſeph ift fehr arglos, er feheint
den Grund ihrer Abneigung nicht zu ahnen, er
erzählt ihnen al8bald einen zweiten Traum, näms
lich wie die Sonne, der Mond und elf Sterne
fih vor ihm beugten. Ein Traum von leichter
Deutbarkeit, denn elf ift die Zahl der Brüder.
Sogar der Vater ſchili ihn wegen diefes Traumes.
„Was denkſt du, Joſeph,“ ſpricht er vorwurfsvoll,
„jo ich und deine Mutter und deine Brüder,
jollen wir kommen, uns vor dir zu beugen?" Und
bald darauf gehen die Brüder, die alle Hirten
Br aufs Feld, um die Schafe zu meiden, und
joſeph wird von feinem Vater zu ihnen gejandt.
Und wie die Brüder ihn von ferne fehen, Sprechen
fie zueinander: „Seht, da kommt der Träumer."
Und fie befchließen ihn zu erwürgen, fie wollen
ihn in_eine Grube werfen und vorgeben, ein
wildes Tier habe ihn verzehrt; „dann werden wir
ja ſehen, was aus feinen Träumen wird," fagen
fie hohnvoll. Da ift aber einer unter den Brüdern,
der Exrbarmen hat, und er warnt die andern. Er
rät ihnen, den Jüngling in die Grube zu werfen,
871
ihm jedoch nicht zu töten. Und fo geichieht es
auch; fie ziehen ihm den Rod aus, den bunten
Rock, den er trägt, und werfen den Knaben in
die Grube, und als die vollbracht ift, erſcheint
ein Zug von Kaufleuten aus fernem Land, und
die Brüder einigen fich jest, den Joſeph zu ver-
taufen, und fie verkaufen ihn um Geld. Dann
nehmen fie Joſephs Kleid, tauchen es in das
Blut eines geiglachteten Tieres und fprechen zum
Vater: „Das blutige Kleid haben wir gefen en,
fieh doch, ob e8 nicht deines jüngften Sohnes
Kleid iſt.“ Der Alte zerreißt I Gewand und
ruft aus: „Trauernd will ich hinunterfahren zu
meinem Sohn in die Unterwelt."
Als Cafpar fo weit gefommen war, vi te
ihm die Stimme. Er ftand auf, legte das Buch
beifeite, und feine Bruft ward von Seufzern nur
fo geſchüttelt. Die Hand vor den Mund geprefit,
erſtickte er mit großer Anftrengung das herauf⸗
quellende Schluchzen.
Quandt ſtutzie. Er beobachtete den Jungling
ſcharf. Er hatte dabei den ſchrägen Bück einer
an den Pfahl gebundenen Ziege. „Hören Sie
mal, Haufer," jagte er endlih. „Sie werden
mir doc) nicht weismachen wollen, daß Sie von
diefer fimpeln Gefchichte fo ergriffen find, die
Ihnen noch dazu mwohlbefannt fein muß; meines
Wiffens haben Sie ja diefen Teil des Alten
Teftament3 ſchon beim Profeffor Daumer durchs
genommen. Da muß Ihnen doch auch gegen-
märtig fein, daß es dem Joſeph noch recht glück
ich ergangen it, denn er war ein reiner und
guter enſch. Ich bitte, ſparen Sie ſich alfo
ie Mühe. Wenn Sie pflichtgetreu, aufrichtig
und folgſam ſind, werden Sie bei mir zehnmal
372 -
beffer fahren als durch die ungeitige Schauftellung
von fo weit bergeholten Affelten. Ich glaube
Ihnen Ihre Tränen einfach nicht; ich denke Ihnen
das heute ſchon einmal deutlich genug bewieſen
zu haben. Damit erzielen Sie bei- mir nur das
Gegenteil von dem, was Sie beabfichtigen mögen,
ih bin nämlich kein Freund von Gerühlsnus.
brüchen, im allgemeinen nicht, und bei fo un-
gegrändetem Anlaß ſchon gar nicht. Es iſt nach ⸗
gerade Zeit für Sie, ſich an den Ernſt des Lebens
zu gewöhnen. Und weil wir nun ſchon jo offen
miteinander reden, möchte ich Sie dringend warnen,
alle Leute, mit denen Sie zu tun haben, für
dumm, zu halten; das ift eine Verblendung von
Ihnen, welche die nachteifigiten Folgen haben
wird. Ich bin Ihnen wohlgefinnt, Haufer, ich
meine es wahrhaft gut mit Ihnen, vielleicht haben
Sie keinen befjern Freund als mich, was Gie
Fe erſt einfehen werden, wenn es zu fpät
ein wird. Aber hüten Sie fich, mich hinter3 Licht
du führen! Und nun fahren wir fort. Ich will
iefen Zwiſchenfall al3 nicht geichehen betrachten.“
Verlauf diefer eindrucsvollen Predigt"
war die Stimme des Lehrer3 weich und gütig
geworden, und es hatte beinahe den Anfchein,
al wolle er nun Cafpar nehmen und an fein
Herz drüden. Aber Cafpar ſtand mit albernem
Gefiht, in welchem ein Lächeln hilflos zuckte,
vor ihm da. Was ift denn. das? dachte er, was
will der Mann?
Es war ihm, auch bei fpäterem Nachdenken,
ganz und gar nicht verjtändlich, worauf die Worte
de3 Lehrer hinzielten, und er kam u der An-
It, daß Quandt der rätjelhaftefte Menſch ſei,
em er je begegnet.
373
Schloß Faltenhaus
Der Präfident traf erjt am Dreilönigstag,
nah faft vierwöchiger Abweſenheit, wieder
in der Stadt ein. Die ihm naheftehenden Per
ſonen wollten eine bedeutende Veränderung feines
Weſens an ihm bemerken; er erjchien wortkarg
und finfter, und fein Anteil an den Amtsgeſchäften
hatte bisweilen etwas von Lauheit.
Es fiel auf, daß er mehrere Tage verftreichen
Tieß, ehe er ſich nach Caſpar erkundigte. Als
ihn der Hofrat Hofmann während des gemein-
ſamen Nachhaufewegs unbefangen fragte, ob er
den Jüngling ſchon gefehen habe, gab Feuerbach
Teine Antwort. Tags darauf erfchien der Polizei⸗
leutnant bei ihm. Hickel ftellte fich um die Sicher-
heit de3 Hauſer bejorgt und meinte, man folle
für eine Ueberwachung forgen; der Präfident ging
auf die Sache nicht weiter ein und jagte bloß,
er werde fich’8 überlegen. Am jelben Nachmittag
ließ er den Lehrer rufen und ftellte ihn über
Befinden und Betragen feines Zöglings zur Rede.
Quandt fagte die und fagte das; es war nicht
ſchwarz noch weiß; zum Schluß zog er einen
Brief aus der Tafche, e8 war das Schreiben der
Magiftratsrätin Behold, welches dem Präfidenten
zu überreichen ex fich entſchloſſen hatte,
Feuerbach überlas das Schriftſtück, und eine
Wolfe von Mißmut Tagerte ſich auf feine Stirn.
„Sie müfjen auf derlei Zeug fein Geroicht legen,
lieber Quandt,” fagte er barſch, „wo kämen wir
denn bin, wenn wir auf das Gewäſch jeder
folchen Närrin hören wollten? Sie haben fich
nicht mit der Vergangenheit des Haufer zu be=
ſchaͤftigen, das ift nicht Ihres Amts; ich habe
874
Sie dazu bejtellt, einen tüchtigen Menschen aus
ihm zu maden, wenn Sie in der Hinficht zu
Hagen haben, bin ich ganz Ohr, mit andern
Dingen verfchonen Sie mich."
läßt fich denken, daß eine fo grobe Ab»
fertigung die Empfindlichkeit des Lehrers tief ver-
leßte, ging exbittert heim, und obwohl ihm
der Präfident den Auftrag gegeben hatte, Caſpar
am Sonntag früh zu ihm zu ſchicken, teilte er
dies dem Singing exit zwei Tage fpäter, am
Samstag abend, mit.
Als Cafpar zur beftimmten Stunde ins
Feuerbachſche Haus kam, mußte er im Flur ziem-
lich lange warten, dann erjchien erſt Henriette,
die Tohker des Präfidenten, und führte ihn ins
Wohnzimmer. „Ich weiß nicht, ob der Vater
Sie heute empfangen wird," jagte fie und er-
zählte dann, in der vergangenen Nacht ſei ein
Einbruch in das Arbeitszimmer des Präfidenten
verübt worden; die unbelannten Täter hätten
alle Papiere auf dem Schreibtifch durchwühlt
und mit Nachſchlüſſeln die Laden geöffnet; es
fei anzunehmen, daß die Verbrecher irgend beftimmte
Briefe oder Handichriften hätten an fich bringen
wollen, denn es fei nichts geraubt worden, aud)
die gewünfchte Beute hätten fie nicht machen
tönnen, da der Vater feine wichtigen Papiere
gut verwahrt habe; nur die erbrochenen Fenſter
und eine gewaltige Unorbnung habe von ihrem
Treiben Zeugnis gegeben.
Das Fräulein Mit während diefes Berichts
in männlicher-Weije auf und ab, die Arme über
der Bruft verfchräntt, Groll und Zorn in Stimme
und Miene. Eie fagte, der DBater fei natürlich
außer fich über den Vorfall; währenddeſſen öffnete
375
fi) die Tür und der Präfident trat in Begleitung
eines ſchlanken, etwa dreißigjährigen genaen
Mannes auf die Schwelle. „Aha, da ift Caſpar
geuier, Anſelm,“ fagte der Präfident. Der
(ngeredete ftußte und bliette Caſpar gedantenvoll
und zerftreut ins Geficht. Caſpar war betroffen
von der außergewöhnlichen Schönheit diefes Men-
hen; wie er ſpäter erfuhr, war es der zweit-
ältefte Sohn Feuerbachs, der, verfolgt von einem
widrigen Geſchick, für einige Tage ins Eltern-
haus geflüchtet war, um Nat und Hilfe feines
Vaters in Anfpruch zu nehmen. Cafpar liebte
ſchöne Gefihter, zumal wenn fie fo voll Geift
und Schwermut waren, bei Männern ganz be>
fonder8; aber e8 war dies nur eine kurze Er—⸗
ſcheinung, er fah ihn nicht wieder.
Der Präfident ließ Eafpar ins Stantsgemach
treten und kam erft nach einer Weile. Sofort
fiel Caſpars Blick auf das Napoleonbildnis an
‘der Wand. Wie wunderlich es war: ſolche Aehn-
licheit im Ausdruck der ſtolz- abweiſenden Maje-
ftät und der finfteren Trauer um die anmutig
jeſchwungenen Lippen mit jenem Mann, den er
— geſehen! Dazu noch der prunkvolle Ornat,
Krone, Halsſchmuck und Purpurmantel. Caſpar
war bewegt; eine höhere Welt tat ſich ihm auf;
am liebſten wäre er hingegangen, um, was an
dem Bild geftalthaft fchien, mit Händen zu pacten
und, mas ihn fo hoheiisvoll daraus anrebete, in
laute Zwieſprach zu verwandeln. Unwillkürlich
reckte er fi auf, als zwinge ihn die Fönigliche
Figur zur Nachahmung; er machte ein paar
Schritte hin und her und war freudig erſchrocken
bei der Wahrnehmung, daß die Augen des Bildes
ihn mit dunkler Glut verfolgten.
376
Alſo befchäftigt fand ihn der Präſident und
blieb überrafcht neben der Tür ftehen. Mochte
& Zufall genannt werden oder war es eine der
unergrünblichen Verkettungen, in denen dies nicht
jewöhnliche Schickſal ſich offenbarte, Feuerbach
in dem zauberartigen Gegenüberſtehen von
ild und Jüngling etwas wie ein Ordal, eine
Beglaubigung von oben. War doch Caſpars
Mutter (feine Mutter, ja, ſofern der ganze Bau
der furchtbaren Annahmen und halben Gewiß-
beiten im Licht der Wirklichkeit nur irgend beſtehen
Tonnte) durch verwandtfchaftliche Bande an jenen
Heros gelnüpft.
„Wiſſen Sie denn auch, wer das ift, Caſpar?“
fragte Feuerbach mit lauter Stimme,
Caſpar fchüttelte den Kopf.
„So will ich's Ihnen jagen. Das ift ein
Mann, der die Menfchheit davon überzeugt hat,
daß ein großer Wille alles vermag. Haben Sie
denn nos nie was vom Kaiſer Napoleon gehört?
Ich kannte ihn, Caſpar, ich habe ihn geleben,
ich habe mit ihm ygejprochen, ich war Mittels-
mann zwifchen ihm und unferm König Mar.
Es war eine große Zeit und nicht mehr viel ift
von ihr übrig."
Mit mehmitig-finnendem Blick wandte fi
Feuerbach ab, Er fpürte die Laft der Jahre;
lange genug hatte er gegen ihre Pranken
gewehrt; faſt mit — ſtreifte ſein Auge den
immer noch ſchweigend daſtehenden Jüngling, als
erwarte er von ihm das Richterwort, das ſeine
nicht mehr zu verbergende Ohnmacht der Welt
preisgeben mußte. Das zuletzt Erfahrene, dort
bei den Mächtigen Erlittene überflutete fein Herz
mit Scham; eine Flamme des Ingrimms und
377
des Hafles gegen alles, was Menfchen hieß,
Ioderte plöglidy in ihm auf, zähneknirſchend rannte
er ein halbdutzendmal zwiſchen den Fenſtern
und der Tür hin und her, und erft der Anblic des
vor Furcht erbleichten Caſpar gab ihm die Be
finnung einigermaßen zurüd, und er ftellte bie
mürrifhe Frage, ob Gafpar bei Quandt genug
zu eflen befomme.
Caſz öer iſt nicht zu Magen," antwortete
par.
Den zweideutigen Ton, in welchem er dies
vorbrachte, ſchien Feuerbach zu überhören. „Und
mas ijt e3 mit dem Lord?" fragte er weiter mit
einem ftarr-Deohenden Blick, "Eaben Sie ſchon
Nachricht von ihm? Haben Sie felbft ihm ſchon
geſchrieben ?"
„Einmal jede Woche fehreib’ ich ihm," fagte
ſpar.
„Wo befindet er ſich?“
„Er will jest nach Spanien."
„Nach Spanien; jojo; nach Spanien. Das
iſt r weit, mein Beſter.“
„Ja, das fol weit fein.“
Diefe einfilbige Unterhaltung wurde durch
einen spöligeibeamten unterbrochen, der eine fchrift-
liche Meldung wegen des nächtlichen Einbruchs
brachte. Cajpar verabichiedete fich.
„Wo bleiben Sie denn fo lang?" empfing
ihn Quandt ärgerlich.
„Ich war beim Präfidenten, das wiſſen Sie
doch," verjeßte Gafpar. .
„Schön; aber es verrät wenig Lebensart,
daß Sie einen Beſuch nicht zu kürzen verftehen,
wenn man zu Haus mit dem Abendefjen auf Sie
wartet." ö
378
Das Efjen war nämlich eine wichtige An-
gelegenheit bei Quandts. Der Lehrer fehte fich
immer mit einer gewiſſen Rührung zu Tiſch, und
fein prüfender Blick ſchien alle Teilnehmer der
Mahlzeit auf den Grad ihrer Andacht zu era
minieren. Wenn Frau Quandt verfündigte, was
man de3 Guten zu erwarten habe, begleitete der
Lehrer ihre Aufzählungen entweder mit einem
Kopfnicken oder bedenklichem Runzeln der Stirne.
Schmedte Am ein Geriht, fo muhs feine gute
Laune, fand es nicht feinen Beifall, jo aß er
jeden Bifjen mit einem Ausdruck mweltüberlegener
Ironie. Für manches hatte er eine befondere
Vorliebe, wie zum Beſpiel für ſaure Gurken oder
angewärmten Kartoffeljalat, und er unterließ es
dann felten, während er fich delektierte, die Ein-
fachheit feiner Bebürfnifje hervorzuheben. Die
Lehrerin verſtand trefflich zu kochen, und wenn
ihr eine Leibipeife des Mannes gelungen war,
blieb fie für fein Lob nicht unempfänglich, ob-
ſchon e3 bisweilen in eine zu gelehrte Form ge
leidet war; jo pflegte Quandt im Scherz zu
fagen, wenn er fie nicht genommen hätte, wäre
ſicherlich der felige Trimalchio wieder auferftanden,
um fie zu heiraten. Nach dem Abendefjen kam die
gemättiche Stunde mit Pantoffeln, Schlafrod,
ehnftuhl und Zeitungslefen. Ins Wirtshaus ging
Quandt faft nie, einmal wegen der Koſten un!
dann, weil er feine Anfprache fand. Er zog die
bequeme Ofenecke vor.
Aber feit Caſpar im Haus weilte, war diefe
idylliſche Abendjtimmung ohne rechten Reiz.
Quandt war gequält und wußte mandmal faum
die Urfache. Stellen wir uns einen Hund vor,
einen Eugen, nervigen, wachjamen Hund. Stellen
879
wir uns vor, daß diefer Hund bei feinem Schnup⸗
ern in dem anvertrauten Revier irgendwo einen
Braten Gift erwifcht hat und daß er nun, das
verderbliche Feuer in feinem Leib, unbewußt das
Dunkel fucht, alle feuchten Winkel lechzend durch
taft, den Schatten verfolgt, die Fliege beknurrt,
[e8 um fi und über fi) nur auf das eine
tolle Drängen bezieht und die ganze Welt für
vergiftet hält, während es bloß jeine armen Ge
därme find, jo hätten wir ein anfchauliches Bild
von dem Zuſtand des bedauernswerten Mannes.
Sein Dämon fehmiebete ihn feft an den Jüng-
ling; es wurde ihm vor allen Dingen wichtig,
„dahinterzukommen“; er hätte ein paar feines
Lebens hergegeben, wenn er dadurch gefchwind zu
der Kenntnis gelangt wäre, was „dahinterftedte”.
Um acht Uhr kam der Polizeileutnant zu Be-
ſuch; er war ſchlecht gelaunt, denn er hatte letzte
Nacht im Rafino fünfundjechzig Gulden beim
dbaras verloren und war das Geld noch ſchuldig.
en Cafpar zeigte er fich auffallend freundlich;
er fragte ihn aus, was er mit dem Präfidenten
efprochen, nahm aber ben getreuen Bericht des
ünglings, als zu belanglos, mit Mißtrauen auf.
„Ja, unfer guter Freund ift recht zurüd-
haltend,“ beffagte ſich Quandt; „ich wußte gar
nichts von dem Einbruch beim Präftdenten, und
mit Müh und Not, daß er überhaupt davon
erzählt hat. Wiffen Sie Näheres, Herr Polizei-
leutnant? Hat man fchon Spuren?"
Hickel erwiberte gierämätig, man babe bei
Pe einen verdächtigen Landftreiher aufs
gegriffen.
„Was doc alles vorgeht!" vief Quandt;
„welche Frechheit gehört dazu, das Oberhaupt
380
der Behörde zum Opfer eines ſolchen Anfchlags
zu machen!" Insgeheim aber räfonierte er:
recht fo; das wird den Unantajtbarkeitswahn der
Erzellenz ein bißchen erfchüttern; vecht fo; auch
von den Spigbuben können die großen Herren
mitunter eine nüßliche Lehre empfangen.
„Es follte mich fehr wundern," fagte Hidel
mit vornehm gejchloffenen Lippen — eine Fineffe,
die er dem Lord Stanhope abgegudt —, „wenn
diefe Gefchichte nicht wieder irgendwie mit unferm
Haufer zufammenhinge."
Quandt machte große Augen, dann ſchaute
er ſchräg auf Gafpar, deſſen erſchrockener Blick
dem ſeinen entglitt. J
„Ih habe Gründe zu einer ſolchen Vermutung,“
fuhr Hidel fort und ftarrte die blankgeſcheuerlen
Nägel feiner roten Bauernhände an; diefe Hände
flößten sn ſtets einen namenlofen Widermillen
ein; „ich habe Gründe und werde vielleicht feiner-
zeit damit herausrüden. Der Staatsrat felber
iſt geſcheit genug, um zu wiffen, was die Glocke
geſchlagen hat. Aber er will's nicht Wort haben,
es ift ihm nicht geheuer dabei zumut.“
„Nicht geheuer zumut? a3 Sie jagen!"
verſetzte Quandt, und ein angenehmes Gruſeln
lief ihm über den Rücken. Äuch die Lehrerin
hörte mit dem Strümpfeſtopfen auf und ſah neu—
gierig von einem zum andern.
„Ja ja,“ fuhr Hidel fort und lächelte den
Lehrer mit feinen gelbblinfenden Zähnen an,
Sie haben ihm dort unten in München gehörig
eingeheizt, und er trägt den Kopf bei weitem nicht
mehr fo zuverfichtlih. Meinen Sie nicht auch,
Haufer?" fragte er und ſah bald Quandt, bald
deffen Frau ſtrahlend an.
381
„Ich meine, es ift nicht in der Ordnung, '
daß Sie fo vom Herrn Staatsrat fprechen,”
antwortete Caſpar kühn.
Hickel verfärbte fih und biß ſich auf die
Lippen. „Sieh mal an, fieh mal an,“ fagte er
büfter. „Haben Sie das gehört, Herr Lehrer?
Schon untt die Kröte, es wird Frühjahr.”
„Eine höchft unpaffende Bemerkung, Saufen,
ließ ſich Quandt zürnend vernehmen. „Sie find
dem Herrn Polizeileutnant Ehrfurcht und Be—
Bee ſchuldig fo wie mir. Gegen den Baron
mhoff oder den Generallommifjär würden Sie
ii jo etwas nicht unterftehen, des bin ich ficher.
ind ein doppelt Geficht, ein faljch Geficht, heißt
es. Ich werde das dem Grafen ſchreiben.“
„Schauffieren Sie ſich nicht, Here Lehrer,”
unterbrach ihn Hicel, „es lohnt fich nicht, mar
muß e3 feinem Unverjtand zugut balten. Im
übrigen hab’ ich geftern einen Brief vom Grafen
befommen;" er griff in die Rockbruſt und zog ein
zufammengefaltetes Papier heraus. „Sie möchten
mohl gerne wiſſen, was er fchreibt, Haufer?
Na, gar fo fchmeichelhaft ei es eben nicht für
Sie. Der gute Graf macht ſich Sorgen wie
immer und empfiehlt uns rückſichtsloſe Strenge,
falls Sie nicht parieren.”
Caſpar machte ein ungläubiges Gefiht. „Das
hat er gefchrieben?" fragte er jtocfend.
Hickel nickte.
„Er bat ſich auch damals zu ſehr geärgert über
die Heimlichtuerei mit dem Tagebuch," jagte Quandt. -
„Da8 werd’ ich ihm alles erklären, wenn er
wiederkommt,“ verjegte Cafpar.
Hickel rieb den Rüden an der Ofenede und
lachte. „Wenn er wiederfommt! Wenn! Wer
382
weiß aber, ob er wiederkommt? Mir deucht,
er bat nicht allzu große Luft dazu. Glauben Sie
denn, Sie Kindstopf, fo ein Mann hat nichts
Beſſeres zu tun, al feine Zeit dahier zu verfigen ?"
„Er fommt wieder, Herr Polizeileutnant,”
fagte Cafpar mit triumphierendem Lächeln.
„Do, oho!“ riet Bidet „das klingt ja aller-
dings verläßlich. ober weiß man denn das
jo genau?"
„Weil er es verjprochen hat," entgegnete
Caſpar mit treuherziger Offenheit. „Ex hat heilig
verjprochen, in einem Jahr wieder da zu fein.
Am achten Dezember hat er's verfprochen, find
Fer noch zehn Monate und fechzehn Tage bis
ahin."
Hickel ſah Quandt an, Quandt ſah feine Frau
an, und alle drei brachen in Gelächter aus. „Im
Rechnen fcheint er ſich ja geübt zu haben,“
meinte Hickel teoden. Dann legte er Gafpar die
Hand auf den Kopf und fragte: „Wer hat Ihm
denn die herrlichen Locken abgejchnitten?"
Quandt erwiderte, Caſpar habe es jelbft ge-
münjcht, nachdem er ihm vorgeftellt, daß e3 fir
einen erwachfenen Menſchen nicht ſchicklich fei, mit
fo einem Haarwald herumzulaufen. „Sie können
jest fchlafen gehen, Haufer,“ ſagte er hierauf.
Caſpar reichte jedem die Hand und ging.
Als er draußen war, öffnete Quandt leiſe die
Tür und lauſchte. „Sehen Sie, Herr Polizei-
leutnant,“ flüfterte ev Hickel befümmert zu, „wenn
er weiß oder annimmt, daß man ihn hört, fteigt
er ganz langfam und bedächtig die Stiege hinan,
wenn er fi) aber unbeachtet glaubt, da fann er
wie ein Hafe fpringen, gleich über drei Stufen
auf einmal, Iſt's nicht jo, Frau?"
383
das Wort verwundere. wird aber doch
die ‚Bayrifhe Deputiertenlammer in jedem an-
ftändigen Haufe gelefen, nicht wahr? Außerdem
at er Tag für Tag Gelegenheit Bun das
latt auf unferm Tiſch zu fehen, und der Name
konnte ihm unmöglidy neu fein. Ich frage aljo,
ob er denn nicht wiſſe, was das jei, eine Depu-
tiertenfammer. Darauf fagt er mir mit feinem
unfehuldigften Geficht: das [4 wohl ein Zimmer,
mo man Leute einfperre. m bitt' ich Sie um
alles in der Welt, das geht doch über den grünen
Klee. Es muß fchon ein Engel vom Himmel
bherunterfommen, damit ich ſolche Ungereimtheiten
auf Treu und Glauben hinnehmen fol, und felbit
dann getrau’ ich mich noch zu bezweifeln, ob e8 auch
ein richtiger Engel ift und fein nachgemachter."
„Was wollen Sie," antwortete der Polizei»
Ieutnant, „es ift alles Schwindel, alles ift
Schwindel." Und indem er fih auf den ge
384 :
ai Beinen hin und her wiegte, loderte in
jeinen Augen ein unbeftimmter, träger Haß.
Alles Schwindel; ein Urteil, das fich nicht
etwa bloß auf die vorgetragene Anekdote bezo;
jondern auf das ganze, ihm bis zum Ekel gleich
gültige Treiben der Menfchen, jofern es nicht
mit Fine Rbohlbehagen verknüpft war. Moch⸗
tem fie fich einander die Köpfe abhaden, mochten
fie über Himmel und Hölle, um König und Land
fteeiten, mochten fie ihre Häufer bauen, ihre
Kinder zeugen, mochten fie morden, ftehlen, ein-
brechen, fhänden und Beträgen oder fich ehrlich
rackern und edle Taten vollbringen, ihm war
letzten Endes alles Schwindel, ausgenommen der
Freibrief für ein ee Dafein, den ihm
die Gefellfchaft nach feiner Anficht ſchuldig war.
Der Ritter von Lang, der an Hickel wegen
ſeines einfthmeichelnden Weſens allen hatte,
pflegte gern zu erzählen, wie Hickel einſt mit
jeinem, des Ritters, Sohn, einem jungen Doktor
der Philofophie, über die Landftraße gegangen
und wie der junge Mann, gegen das ausgeftiente
Firmament deutend, angefangen babe, von ben
zahliofen Welten dort oben zu reden; da habe
Hickel mit feinem mofanteften Gefiht erwidert:
„Sa, glauben Sie denn im Ernſt, Doktor,
daß dieje hübfchen Lichterchen etwas andres find
als eben — Lichterchen ?"
Das war nicht etwa bloß Unbilbung, fondern
nur der Ausdrud jener Weberlegenheit, die in
dem Worte gipfelte: alles Schwindel,
Man mußte in der ganzen Stadt, daß Hickel
über feine Verhältnifje lebte. Es war fein Ideal,
für einen Ravalier zu gelten, feine Leidenſchaft,
elegant zu fein, auch bejaß er die feinfte Nafe
Waffermann, Gafpar Haufer 26 385
für die Echtheit und Legitimität aller damit zu=
jammenhängenden Dinge. Als vor einiger Zeit
feine Aufnahme in den vornehmen Beamtenklub
fteittig gewefen war, hatte man lange gezögert,
denn er war feinesmwegs beliebt und außerdem
war er von niedriger Ablunft, feine Eltern waren
arme Kätnersleute in Dombühl; ſchließlich hatte
er feinen Wunſch mit Hilfe einiger erjchlichener
Familiengeheimniffe durchgeſetzt, mit denen er den
betreffenden Perjönlichkeiten bange zu machen
verftand. Der Hofrat Hofmann, fein früherer
Vorgefegter, gab dem vorherrfchenden Gefühl
gegen ihn bezeichnenden Ausdrud, indem er ver-
f jerte: „Er decouvriert fich nicht; dieſer Hickel
ecouvriert ſich nicht." In der Tat hatte es
ftet8 den Anfchein, als ob der Polizeileutnant
mit etwas Gefährlichem im Hinterhalt bleibe.
Ausgezeichnet verftand er es, fich mit dem
Vräfidenten zu ftellen. Er durfte fü I er⸗
lauben, dem ſonſt fo Unnahbaren gewiſſe Wahr-
heiten zu fagen, bie liebenswürdig oder forgenvott
Hangen, im Grunde aber nicht waren als ver-
zuckerte Bosheiten. Er beſaß eine nicht zu leug⸗
nende Geſchicklichkeit im Erzählen amüſanter
Sitöchen und mancherlei einlaufenden Stadt:
itſches. Dies ergößte Feuerbach und ftimmte
‚ihn für vieles andre nachſichtig. „Rätſelhaft,“
fagten die Leute, „mas der Staatsrat an dem
idel für einen Narren gefreſſen hat." Jeden⸗
als fand der Polizeileutnant ſtets williges Ge
bör bei Feuerbah, und mit Schlauheit ließ er
5 Baftr gern gefallen, daß der Präfident in
jeiner bärbeißigen Manier an ihm herum erzog,
Kan leichtjinnigen Wandel tadelte und feine
ſchlechten Inſtinkte mit erſtaunlichem Scharfblick
386
fozufagen in den Wurzeln entblößte. Iſt es
nicht wahrfcheinlich, daß gerade dies den fir
denten verführte und verſtrickte? Indem er jo
klar die Leerheit und Düfterkeit dieſer Seele
durchſchaute, Hatte er fich vielleicht ſchon zu ver-
traut gemacht mit ihr, um fie von fich ftoßen
zu können.
Hickel wußte den Präfidenten nach und nad)
zu überreden, daß man Safpat nicht jo frei wie
bisher herumgehen lafjen dürfe, und e3 wurde
als Wächter ein alter Veteran beftellt, der einen
Stelzfuß hatte und einarmig war. Diejer Wackere
faßte feine neue Obliegenheit ſehr gemifjenhaft
auf und folgte Caſpar auf Schritt und Tritt
zum Gelächter der Gafjenjugend. Der Polizei
Teutnant hatte richtig fpefuliert, wenn die jo für-
forglich ausſehende Mafregel dazu dienen follte,
die Bewegungsfreiheit des Yünglings möglichit
zu hemmen. Es gab Beſchwerden über Ber
ſchwerden, bald von Quandt, bald von Caſpar,
bald von dem Invaliden, den Cafpar nicht felten
überfiftete, indem er ſich heimlich davonſtahl.
Er Elagte dem Pfarrer Fuhrmann, bei dem
ex Religionsunterricht empfing, feine Not; diefer
ihm en Greis ermahnte ihn zur Geduld.
„Was fol es nutzen, geduldig zu fein!“ rief
Caſpar trogig, „wird ja doch immer fchlechter!”
„Was es nutzen fol?" verjegte der Pfarrer
mild. „Was nubt e8 Gott, daß er unferm un-
finnigen Treiben zufchaut! Durch Geduld führt
ex und zum Guten. Geduld bringt Roſen.“
Dennoch wandte fih Pfarrer Fuhrmann an
den Präfidenten, und dieſer verfprach Abhilfe,
ohne jedoch vorläufig etwas zu umternehmen.
Die jährliche Infpektionsreife durch den Bezirk
387
entfernte ihn für drei Wochen aus der Giabt;
als er zurücgefehrt war, ließ er eines
den Polizeileutnant auf fein Arbeitszimmer
„Hören & mal, Hicel," vedete er ihn an, „Sie
find doch in der Bieigen Gegend ziemlich gut
befannt? Schön. n Sie mal etwas über
das ——e— gehört ?"
„Gewiß, Green antwortete Hickel. „Das
alkenhaus ift ein uraltes markgräf-
des aeeisth im 2 Triesdorfer Wald,“
Stimmt, Das Objekt interefftert mich ſchon
feit einiger Zeit. Ich habe Machtorfchungen ein-
jegogen und habe folgendes erfahren. Das Falten-
u8 bat bis vor ungefähr vier Jahren als
Fo — gedient, und zwar hat der letzte
Forſter jahrzehntelang mutterſeelenallein dort ge⸗
lebt. Der Mann hat nie mit irgendeinem Men-
{chen verkehrt, ift nie in einem Wirtshaus gefehen
worden und bat feine Einkäufe in den umliegenden
Dörfern felbit beforgt. Eines Tages ift er plöß-
lich verjchwunden geweſen, und ein verabfchiebeter
Gendarm jol ihn im Schwäbifchen als Beſitzer
ober Verwalter eines Gutshofs wiedergeſehen
haben. ch bin auch diefer Spur nachgegangen,
und es bat fich herausgeftellt, nicht nur, daß es
damit feine Richtigkeit hat, fondern auch, daß der
Mann im Oftober 1830 de3 Nachts in feinem
Bett ermordet worden ift.“
„Davon ift mir nichts befannt. Ich weiß
nur, daß das Falkenhaus verödet und unbemwohnt
g "und daß im Volt allerlei geipenfterhaftes
ns, über die unheimliche Einſiedelei erzählt
wird,
* Riciten Sie jedenfalls Ihr Augenmerk dar
auf," jagte der Präfident; „am beten, Sie
388
jenden einen ortöfundigen Mann Hin, der forg-
fältige Exhebungen einziehen fol."
„Bu Befehl, Erzellenz. Darf ich fragen, um
melden Fall e3 fi) dabei handelt?"
„Es handelt fih um Gafpar Haufer und feine
Gefangenschaft."
!o GBickel räufperte ſich und machte eine
Verben ung, ©ott weiß warum.
glaube mit Veftimmtheit annehmen zu
dürfen, daß das Falkenhaus die Stätte feiner
genufomen Kerkerhaft ift. Es war mir ſchon feit
en erften Erzählungen Cafpars über die Art
feine Wanderung mit dem Unbelannten zweifel-
08, daß der Ort in Franken felbft, nicht v4
weit von Nürnberg oder Ansbach zu ungen lei
PH haben mich die Spuren zum Fall haus
führt.“
„Wahrfcheinlich brauchen Eure Exzellenz diefes
Indizium u der Schrift über den Haufer,” bes
merkte Hickel ſchmeichelnd.
„So iſt es.“
„Und fol die Veröffentlichung des Werks
noch in diefem Jahr vor fich gehen? Exzellenz
verzeihen meine Neugier, aber ich bin ja herzlich
intere fiert bei der Sache.”
e fragen mich zu viel, Hickel. Laffen Sie
das." Da ift ein Vriefchen für den Hofrat Hof-
Erg N gen Sie es draußen zur Beförderung.
mit dem Hofrat und Cajpar morgen
3 Falkenhaus fahren. Benachrichtigen Sie den
Haufer, daß er fich bereithält, srmähnen Sie
aber_beifeibe nicht8 von dem Zweck der Fahrt."
Zur feftgejegten Stunde fand ſich Caſpar ein
und ſah fich alsbald zu feiner Verwunderung in
der bequemen Kaleſche gegenüber dem Präfidenten
389
und dem Hofrat figen. In felten unterbrochenem
Schweigen ging es durch die fonnige Frühlings-
landſchaft.
Sie langten an. Ein Gang durch daS ver-
Iafjene Waldhaus und die eingehende Prüfung
jeiner Lofalitäten brachte nicht den ggerinaften
Aufſchluß. War ein unterirdiſcher Raum zu
jenem fürchterlichen Gebrauch vorhanden gemefen,
jo hatte der einjtige Bewohner ihn perl ver⸗
ſchüttet, und bie Zeit hatte alle Merkmale un—
fichtbar werden lafjen.
Da entdeckte das ſcharf umherfuchende Auge
des Präfidenten im Freien neben dem rechten
Trakt des Gebäudes eine fonderbar geftaltete
Erdgrube. Die Anzeichen Liegen darauf jchließen,
daß fich vordem ein Holzſchuppen oder dergleichen
darüber erhoben hatte, denn Eingum lagen noch
vermorjchte Bretter und Ballen und riffige
indeln. Es führten fieben in den Sand ge
ſchlagene und fehon verfallene Stufen hinab, und
unten war die feltfam geglättete Erde von gelb-
lihem Moos bededt.
Feuerbach verfärbte fich, als er biefes fah.
Nah langem Verſunkenſein ftieg er hinunter,
betaftete einige Stellen der Wände, bückte ſich in
einer Ede auf den Boden, alles dies finfter und
wortlos. Als er wieder herauffam, fah er Cafpar
durchdringend an. Der aber ftand ruhig da und
ließ den ummifjenden Blick in die Tiefen des
Forftes ſchweiſen. Ahnt er nichts? dachte
Er ahnt er nicht, worauf em Fuß tritt?
Wedt ihn fein Hauch ber angenheit?
Sprechen die Bäume nicht zu ihm? Verrät ihm
die Luft nichts? Und da es nicht fo fheint,
darf ich mich unterfangen, mit einem Ja
390
oder Nein! die fchauerliche Ungemißheit zu ent-
ſcheiden
Der Wagen hielt an der Heerſtraße draußen.
Beim Rückweg duch den Wald blieb Caſpar,
den plößlich eine umbefiegbare Schwermut über-
fallen hatte, die ihn zu langſamem Gehen zwang,
ein großes Stüd hinter den beiden Männern.
er Hofrat Hofmann benußte die Gelegenheit,
um dem Präfidenten feine vernunftgemäßen
Zweifel mitzuteilen. „Ich möchte nur eines
wiſſen,“ fagte er mit veriniffenem Geficht, „ich
möchte wiljen, warum man den Menfchen, wenn
ex wirklich fo lange in Gefangenschaft gejchmachtet
hatte, auf einmal freiließ, und nicht nur das,
jondern mitten in eine große Stadt gebracht hat,
wo er das ungeheuerjte Auffehen erregen, alſo
notwendigermweife feine Peiniger verraten mußte.
Eine ſolche Logik will mir nicht einleuchten."
„Mein Gott, dafür laſſen ſich mancherlei Er-
klärungen denken,“ erwiderte der Präfident ruhig;
„entweder man war feiner überdrüſſig grade;
ihn länger zu beherbergen war mit Schwierig-
keit, ja mit Gefahr verknüpft; fein Kerkermeiſter
Tonnte den Auftrag erhalten haben, ihn zu töten,
eßte jedoch im eimer begreiflichen Regung des
barmens oder der Anhänglichteit ober ber
Furt den Entihluß, ihn auf andre Art ver-
ſchwinden zu laflen, und wo konnte das mit
mehr Ausfiht auf Erfolg geiheen als gerade
in einer großen Stadt? Man dachte ſich die
Sache jo: der Rittmeifter Wefjenig, dem mit-
gardenen Schreiben folgend, ſteckt ihn unter die
oldaten; dort gibt e8 der Analphabeten und
Halbidioten die Menge, dort wird er nicht weiter
auffallen, vermeinte der Berbrecher in einem
391
Optimismus, der freilich nur von feiner eignen
Unbildung zeugt. As aber die Dinge en
gana andern Weg nahmen‘, bekam er’3 mit der
ingſt, teilte ſich, mußte fich denen mitteilen,
welche die Fäden von Anfang an in der Hand
hielten, und diefe mußten aujehen, wie fie den
furchtbarſten Zeugen ihrer Schuld wieder un-
ſchädlich machen konnten, der nun, geſchützt von einer
Welt, ihnen als Auferftandener gegenübertrat."
„Seht fein, ſehr fein,“ murmelte der Hafen
beifällig, ohne merken zu laſſen, daß er keines⸗
wegs überzeugt war.
Spät nachmittags kamen fie in die Stadt
zurüd, Caſpar trennte fih von den Herren und
ging heimwärts. Auf dem Promenadeweg be-
gegnete er Frau von Imhoff. Sie begrüßte ihn
8 Fa warum er ſich jo lange nicht bei ihr
jehen Tafje.
„Hab' feine Zeit, hab’ viel zu arbeiten,“ ant»
woriete Caſpar, doch ‚mit fo verlegenem Geficht,
daß die Huge Dame merkte, dies fönne nicht der
wahre Grund fein. Sie unterließ es aber, ihn
auszuforfchen, und fragte ablentend, ob er fi
auch des hlings vecht erfreue.
Caſpar ſchaute in die Luft und in die Kronen
der Ulmen, al3 habe er den Frühling bis jetzt
überfehen, und jchüttelte den Kopf. Gern hätte
er vieles gejagt, das Herz war ihm voll, über-
voll, doch auf der Zunge lag es wie ein Stein,
und er hatte nicht das Gefühl, daß diefe Frau,
fo freundlich ſie ſich aud gab, miete für ihn
aufgelegt ſei. Was kann es nuben? dachte er.
„SH habe Ihnen einen Gruß zu beftellen,“
fagte fie dann beim Abfchied und nachdem fie
ihn für den Sonntag zu Tiſch gebeten hatte;
392
„erinnern Sie ſich noch der Gefchichte meiner
Freundin, die ich am Abend, als Lord Stanhope
bei ung war, erzählt habe? Die läßt Sie grüßen.
Und ein Gruß bedeutet bei ihr viel."
„Wie heißt die Frau?" fragte Cafpar, genau
wie damals, nur nicht lächelnd und froh, fondern
7 Imhoff lachte; dieſe Wihbegi
au von off ‚lachte; dieſe jier
nach einem Namen erjchien ihr komiſch. Kanna⸗
wurf heißt fie, Clara von Kannawurf,“ ante
wortete fie gutmütig.
Ganz hübfch, daß fie mich grüßen läßt, dachte
Caſpar, während er jeinen Weg fortjegte, aber
was fann es nutzen? Was fol’3 mir nugen?
Quandt begibt fich auf ein heikles Gebiet
Kaum war Cafpar zu Haus in die Wohn-
ftube getreten, fo merkte er, daß etwas Beſon⸗
deres los fein mußte. Duandt ſaß am Tiſch
und Torrigierte mit finfterer Miene die Schüler-
hefte, die Lehrerin — den Säugling auf den
Knien und erwiderte, dem Beifpiel Ge, Mannes
folgend, feinen Abendgruß nicht, Die Lampe
war noch nicht angezündet, ein fcharlachner
Abendhimmel flammte durch die Fenfter, und als
— ſeinen aufgehängt, ging er wieder
hinaus in den Dort fi fpielte ba 8 vierjährige
vn des res mit Schufiern, Caſpar
feste fich daneben auf die Steinbank; nach einer
Weile erichien Quandt, und kaum hatte er die
beiden beieinander gefehen, als er bineilte, das
393
Kind bei der Hand ergriff und es raſch wie
von einem mit anſteckender Krankheit Behafteten
wegführte.
Caſpar folgte alsbald dem Lehrer ins Haus.
Doch Quandt war nicht im Zimmer, und er traf
die Frau: allein. „Was gibt es denn bei ung,
Frau Lehrerin?" fragte er.
„Na, wiſſen Sie denn nicht?" verjeßte die
Frau befangen. „Haben Sie denn nichts davon
ehört, daß fich die Magiftratsrätin Behold zum
Sehlter heruntergeſtürzt hat? Es fteht in der
Nürnberger Beitung heut.”
MR flüfterte Cafpar aufgeregt.
„a; vom Dachboden ihres Haufes hat fie
fih in den Hof geftürzt und den Kopf zer-
fchmettert. Die ganze legte Zeit her foll fie ſich
wie eine Verrüdte aufgeführt haben.“
Gafpar wußte nicht8 zu fagen; feine Augen
erweiterten fich, und er feufzte.
„Es ſcheint Ihnen ja nicht beſonders nahe
zugehen, Haufer,” ließ fich plöglich die Stimme
Quandts vernehmen, der leiſe hereingetreten war,
als er die beiden jprechen gehört hatte.
Caſpar wandte fih um und fagte traurig:
„Sie war ein ſchlechtes Weib, Herr Lehrer.”
Quandt ftellte fich dicht vor ihn hin und rief
fchneidend: „Unfeliger, der du dich nicht ent
blödeft, das Andenken einer Toten zu bejubeln!
Das fol Ihnen unvergefjen bleiben! Nun haben
Sie Ihre ſchwarze Seele enthält! Pfui, pfui,
jage ich, und abermals pfui! Gehen Sie mir aus
en Augen! Fällt e8 Ihnen denn nicht aufs
Herz, daß die Hingegangene am Ende vielleicht
durch Sie, durch den Kummer über den erlittenen
Undank zu einer folchen Tat getrieben wurde?
394
Ahnen Sie das nicht? Freilich, ein Selbſtſucht ⸗
ling wie Sie ſchert fi wenig um bie Leiden
andrer Menfchen, ihm ift nur das eigne Wohl-
ergehen wichtig."
„Mann, Dann, berubige dich doch,“ mifchte
fi) die Lehrerin ein mit einem ſcheuen Blick auf
Cafpar, der ajchfahl geworden war und mit
völlig gefchloffenen Augen daſtand, während er
die Fingerfpigen feiner Hände gegeneinander _
gelegt hatte.
„Du haft recht, Frau," erwiderte Quandt,
„ich vergeude meine Entrüftung an taube Ohren.
Was kann an einem Menfchen noch zu befiern
fein, der felbft dem Tob gegenüber nicht ein
bißchen Andacht und Demut aufbringt? Da ift
Hopfen und Malz verloren."
Caſpar in fein Zimmer kam, glängte
noch die legte Glut des Sonnenuntergangs über
den Hügeln. Er ſetzte ſich ans Fenfter, nahm
einen der Blumentöpfe zur Hand und fchaute
darauf nieder, Die Stengel in den Hyazinthen-
kelchen fehüttelten fich, und ihm war, als vernehme .
er ferne Geläute. Er münfchte fi) das An-
efiht einer Blume, um feinen Blid eines
enſchenauges erwidern zu müffen. Ober er
mwünfchte wenigftens fi im Schoß einer Blume
bergen zu können, folange bis das Jahr vorüber
war, von deſſen Wende er fo vieles hoffte. Dort
könnte man ftille fein und warten.
In den nächften Tagen wurde der Magiftrats-
rätin feine Erwähnung getan, Quandt vermied
es forgfältig, den Namen der Frau Behold zu
nennen. Um fo mehr war er überrafcht, als
Cafpar felbft davon anfing; am Samstag beim
Mittagefien fagte er plößlich, es gereue ihn, mas
395
er über die Tote gejagt, er jehe ein, daß es un-
recht fei, eine Verſtorbene anguttagen.
Quandt horchte Hoch auf. Aha, dachte er,
fein Gemiffen vegt fih! Aber er entgegnete
nichts, fondern verzog nur das Geficht, als wolle
er jagen: Laſſen wir das, ich weiß mein Teil.
Doch ftach ihn die Galle, und während fie alle
drei ſchweigend die Suppe löffelten, konnte er
ich nicht enthalten zu jagen: „Sie müßten ſich
och eigentlich bi8 in den Fußboden hinein ſchämen,
Haufer, wenn Sie an Ihr Benehmen gegen die
unfchuldige Tochter der Magiftratsrätin denken.“
Bier“ verfeßte Caſpar verwundert. „Was
hab’ ich denn getan?“
„Ei, wollen Sie auch jest nod das Lämmchen
fpielen ?“ antwortete der Lehrer abſchätzig. „Gott-
lob hab’ ich alles fchriftlich und eigenhändig von
der Seligen, da hilft kein Leugnen ·
Caſpar ftaunte unruhig vor fih hin. Er
fragte wieder, da ging Quandt zum Sekretär,
olte aus einer Schublade den Brief der Frau
jehold hervor und las, neben Caſpar ftehend,
mit dumpfer Stimme vor: „Iſt viel Gerede ge-
weſen von feinem keuſchen Sinn und feiner
Innocence in allem Dahergehörigen. Auch hier
über Tann ich ein Wörtlein melden, denn ich
hab's mit meinen eignen Augen gejehen, wie er
jich meiner damals dreizehnjährigen Tochter... .
ungziemlih und unmißverftehlich näherte.“
Caſpar begriff allmählich. Langſam legte er
Löffel und Brot beifeite, und der Biffen blieb
ihm im Munde fteden. Seine Augen wurden
gm dunkel, er erhob fich, rief mit jammernder
stimme: „Ach, diefe Menjchen, diefe Menſchen!“
und ftürzte hinaus.
896
Das Ehepaar ſah einander an. Die Lehrerin
fegte die Hand breit auf das Tifhtuc und ſagte
nahdrüdlih: „Nein, Quandt, ich kann's nicht
lauben. Da muß fich die felige Rätin geirrt
Baben. Er weiß doch nicht mal, was eine
Frau iſt.“
Auch Quandt war gerührt. „Das eben fteht
dahin, das wäre zu bemeilen,“ meinte er kopf⸗
ſchüttelnd. „Du bift Teichtgläubig, meine Gute.
Sch erinnere dich nur daran, daß er bei der Ge—
burt unfer® Mädchens zu meiner Befremdung
wie ein gereifter Mann über die Sache jprach.
Es war mir das gleich enorm verdächtig. Immer⸗
bin gebe ich zu, daß Frau Behold in dem Brief
zu weit gegangen fein mag und daß ich mich
infolgedefjen zu einer Uebereilung habe hinreißen
Iajjen. Aber ich muß dahinterfommen, wie weit,
feine Wiffenfchaft in dem Punkte geht, denn an
jein Kindergemüt, das weißt du, glaub’ ich num
einmal nicht."
„Du mußt ihn wieder verföhnen, Quandt, es
war zu arg, das da," fagte die Lehrerin.
Quandt machte eine bedenkliche Miene. „Ver⸗
Töhnen? Ja, gut; ih will's gern tun. Aber
er ift dann immer fo lieb und anjchmiegfam, daß
man ihm ſchwer widerſtehen kann, und dadurch
wird das objektive Urteil getrübt. Ich werde
morgen einmal mit dem Pfarrer Fuhrmann über
das Thema fprechen."
Gefagt, getan. Doch leider zeigte Quandt
bei dieſem Anlaß die Umftändlichkeit einer alten
Jungfer und umfchrieb das, was er jagen wollte,
mit blühenden Redefiguren, als ob zwifchen
Mann und Weib nur Beziehungen ätherifcher
Art wären, die zumeilen unglücklicherweiſe in
397
den Staub gezogen und befleckt würden durch
beleidigende, aber nicht auszurottende Zwiſchenfälle
Der geiftliche Herr mußte lächeln. ach
einigem. verwunderten Nachdenken antwortete er,
er habe an Hauſers Charakter nach diefer Rich-
tung etwas Anftößiges nicht im geringften beob⸗
achtet, Saipar ſcheine ihm in allem, was das
Verhältnis der Gefchlechter betreffe, noch ein voll-
ftändiges Kind, Zum Beweis defien erzählte er
dem Behrer, daß Cafpar vor ungefähr einem
Monat beim Lefen einer Bibelftelle, die ihm auf-
gefallen war und die er ihm fo gut e8 ging er-
klärt, mit fchönem Zaubern von einer gewiſſen
wiederkehrenden Beunruhigung gefprochen habe,
einem Buftande, der ihn ficherlich ſchon oft be
drängt und für deſſen Deutung er nirgends eine
vertrauende Anjprache gefunden. Der alte Mann
verficherte, daß ihm die Art und Weife, wie
Caſpar dies vorgebradht, umvergelih fein werde,
es habe wie ein ahnungslojer Vorwurf gegen die
Natur geffungen, die etwas mit ihm anftellte,
wogegen ex fich nicht wehren könne.
Quandt ließ fi fein Wort entgehen. Er
je das mit ganz andern Augen an. Ex erblicte
arin die Merkmale einer verderbten Phantafie.
Doch äußerte er von feiner Anficht gegen den
Pfarrheren nichts, jondern begab fich in ftillem
Vorbedacht nach Haufe, Tegte N emfig auf die
Lauer und paßte die Gelegenheit ab.
Am Tag darauf follte Caſpar bei Imhoffs
effen, er kam aber wieder zurüd, denn die Baronin
war frank und lag zu Bett. Beim Abendtifch
Tam das Geſpräch darauf, und da Quandt fein
Bedauern ausdrücte, fagte Cafpar: „Ad, die
wird vielleicht nie mehr ganz geſund.“
398
Was reden Sie da, Haufer,” fiel die Lehrerin
ein, „fo eine junge Frau, fo reich und jo ſchön.“
„Ach,“ entgegnete Caſpar wehmütig, „Reichs
tum und Schönheit tun’3 nicht. Die hat fich
ſchon zu ſehr hinuntergegrämt.“
„3a, hat fie denn ihren Kummer am Ende
Ihnen anvertraut?“ forſchte Quandt ungläubig.
Caſpar beantwortete die Frage nicht und hub
wie zu ſich felbft vedend fort: „Nichts fehlt ihr
auf der Welt, nur der Mann ift nicht wie er
ein follte, hat andre lieber. Warum? Er ift
och ſonſt jo gefcheit! Aber wenn fich die Frau ,
auch zu Tod betrübt, deshalb wird es nicht befjer.
Und die Leute Hinterbringen ihr alles; ich hab’
ihr gejagt, das find feine Freunde, die Ihnen
— eug erzählen, wahre Freunde find das
nicht."
„Hm,“ machte Duandt und fehaute eigentüm-
lich Tächelnd auf feinen Teller. Ex befiegte fein
jamgefühl und fragte mit gezwungener Leich-
tigleit, ob denn Herr von Sm in neuerer
Zeit feiner Frau wieder Anlaß zur Sorge gegeben
babe, feines Wifjens habe doch erjt im März eine
Verſöhnung ftatigefunden.
„3a, freilich hat er Anlaß gegeben," verſetzte
Caſpar unbefangen, „es ift ja wieder ein Kind
von ihm da."
Quandt erjhrat. Da haben wir's, dachte er.
Und fo hart es ihn auch ankam, er beichloß,
Cafpar gleih auf den Zahn zu fühlen. Er
wechfelte mit feiner Frau einen Blic des Ein»
verftändnifjes und bat fie, fie folle nad den
Kindern fchauen. Als nun die Frau das Zimmer
verlafjen hatte, wandte fich der Lehrer, blaß und
aufgeregt durch die Schwierigkeit feines Vor—⸗
399
habens, an Caſpar und fragte ihn unvermittelt,
ob er ſchon einmal mit einem Frauenzimmer
etwas gehabt habe, e3 lägen verfchiedene Mut-
mafungen vor, und Cafpar möge offen wie mit
einem Bater zu ihm reden.
Diefe Worte en Gafpar dankbar; er
fah in ihnen ein Zeichen von Teilnahme, obgleich
ex ihren Sinn und Zweck nicht verftand, fondern
bloß das trübe Element, aus dem fie fliegen,
furchtſam ahnte,
Er überlegte. „Mit einem Frauenzimmer?
Ja ri ven, fe
„Meine Frage ift do« ich, Haufer; ftellen
Sie fich nicht fo kindiſch.“
„3a, ich verſteh' ſchon,“ fagte Caſpar eilig,
um die gute Laune des Lehrer nicht zu ver-
ſcherzen; „und da ift auch was geweſen.“
„Na, nur heraus damit! Nur Mut!"
Und harmlos begann Caſpar zu erzählen:
„So vor ungefähr ſechs Wochen hab’ ich meinen
Sonntagsanzug zur Putzerin in bie Ugensgaffe
getragen. Sie wiſſen doch, Herr Lehrer, es ift
das kleine Haus neben dem Bäder. Wie ich
hingekommen bin, war der Laden verfperrt, da
bin ich hinauf in die Wohnung gegangen und
hab’ an die Tür gelfopft. Da hat’ mir ein
junges Mädle aufgemacht und war im Nachtleid,
weiter hat fie nichts am Leib gehabt, die ganze
Bruft hat man jehen können, es war fcheuf ie
Sie hat mir die Sachen abgenommen und hat
gefagt, fie wollt’ es der Putzerin ausrichten.
war immer noch vor der Tür. Komm nur
herein, jagt fie Da bin ich hinein und frage,
was fie will, Da Hat fie angefangen vor mir
herumzutänzeln, bat gelacht und fonderliches Zeug
400
erebet, hat mich gefragt, ob ich ihr Bräutigam
Fein will, und zuleßt —“ er zögerte Lächelnd.
„Bulest? Was zulegt?" fragte Quandt, ine
dem er den Kopf meit —*8
Da bob’ ich: ihr geſagt, dazu ſoll ſte fich einen an⸗
dern wůnſ chen ich verſteh· mich nicht aufs Schmatzen.“
„Und weiter?"
„Weiter? Weiter war nichts. Ich bin dann
fortgegangen und fie hat mir vom Fenſter aus
nachgeſchaut.“
„Wie konnten Sie denn das bemerken ?“
"Weil ich mich umgedreht hab’."
„Sofo. Umgedreht. Wie heißt die Perſon?“
„Das weiß ich nicht.“
„Das wifjen Sie niht? Hm. Und... ein
zweites Mal waren Sie nicht dort?"
Caſpar verneinte,
„Schöne Geſchichten,“ murmelte Quandt und
echob fih mit einem Blid zum Himmel.
Er fpürte vorfihtig nad. erfuhr, daß
bei jener Pusmacherin wirklich ein Frauenzimmer
zweifelhafter Gattung zur Miete wohne. Der
Erzählung Cafpars noch näher auf den Grund
zu gehen hinderte ihn die licht auf feinen
Ruf hatte er doch ohnehin den Eindruck gewonnen,
daß der Jüngling an der ganzen Begebenheit jo
unſchuldig nicht fin. konnte, als ex fich anftellte;
denn, jo argumentierte er, zu einem derartig
niebrigen Benehmen mie dem jenes weiblichen
Geſchöpfs kann nur ein Menſch Anlaß geben,
dem eine gemifje mocakifeie Ungulängfichtet auf
der Stirn gejchrieben fteht.
Baffermann, Gafpar Gaufer 20 401
Ja, wenn er nicht lügen würde, dann wäre
alles ander3, dachte Quandt; aber er lügt, er
lügt, und das ift das Fürchterlihe. Hat er mir
nicht erzählt, die Herzogin von Kurland habe ihm
ein Dutzend geſtickter Tafchentücher gejchenkt ?
Kein Wort wahr. Hat er nicht behauptet, er
kenne den Minifterialvat von Spieß und habe im
Schloßtheater mit ihm gejprochen? Lüge. Hat
ex nicht dem Muſikus Schüler weisgemacht, er
habe die Idyllen von Gegner gelefen, und als
ich ihn danach fragte, wußte er fein Wort darüber
zu jeom, wußte nicht einmal, was eine Idylle ift?
Gibt er nicht immer vor, dringende Bejorgungen
vn haben, einmal für den Präfidenten, daS andre
Mal für den Hofrat, und fpäter zeigt es fich,
daß er bloß herumgebummelt ift, um einen neuen
Schlips fpazierenzutragen? Steht das nicht
alles feft, oder bin ich felbft jo dumm und fo
ungerecht, daß ich diefen Dingen eine Bedeutung
zumeffe, die niemand fonft darin finden kann?
Quandt wandte ſich an den Pfarrer Fuhr-
mann und legte ihm Punkt für Punkt die ver-
dammensmerten Vergehungen vor.
„Sehen Sie denn nicht, Tieber Quandt,"
fagte darauf der Pfarrer, „daß das lauter arm
Iiige, Heine Süglein find, Taum daß fie_den
men verdienen? Es ift das mehr ein si
liebmachenwollen oder eine durch ihre Ohnmacht
bemitleidenswerte Anftrengung, Feſſeln abzus
fteeifen, oder gar nur das harmloſe Vergnügen
an einem Wort, an einer Redensart. Vielleicht
fpiett er nur mit feiner Zunge, wie er andre
ade damit fpielen fieht, nur eben viel un-
geſchickter.“
„So?“ ereiferte ſich Quandt, „dann will ich
402
Ihnen, ‚Borhrolchen, eine Geſchichte erzählen, die
den ſirikten Beweis des Gegenteils erbringt.
Hören Sie zu. Vorige Woche — unſre Magd
des Morgens ſeinen Leuchter mit RM
Handhabe; fie zeigt es meiner Frau, meine Frau
macht mich darauf aufmerfjam, und ich Eonftatiere,
daß der Henkel nicht abgebrochen, jondern ab»
geſchmolzen ift; das Rohr war bis ganz hinunter
von der Hite des Lichtes fchwarzgebrannt und
von außen vötlichhlau überflammt, in der Schale
konnte man deutlich jehen, wie hoch das zerflofjene
Unfchlitt gereicht und wie es an mehreren Stellen
abgeichabt mar; von der ganzen Kerze, die Haufer
den Abend zuvor erhalten, war feine Spur mehr
da. Nun müffen Sie wiſſen, daß ich ihm ftreng
verboten hatte, bei Kerzenlicht zu Iejen ober zu
arbeiten; trogdem wollte ich ihn fehonen und ließ
ihn nur duch meine Frau verwarnen. Aber da
leugnet er plöglich alles ab, verfichert, daß er die
Kerze weder wiſſentlich habe verbrennen laſſen,
noch dabei eingejchlafen fei und erfühnt fi am
Ende zu der Vehauptung, e3 fei gar nicht fein
Leuchter, fondern der der Magd, denn beide fähen
gleich aus. Was fagen Sie dazu?“
Der Pfarrer zuckie die Achjeln. „Wir dürfen
doch nicht vergeffen, daß er troß allem ein Wejen
von bejonderer Sefehaffenbeit Fr erwiderte er
nachdenlich. „Ich habe mich jelbft davon über-
zeugt. ch beige eine Heine Elektrifiermafchine,
mit der ich manchmal ein bißchen erperimentiere.
Neulich nahm ich das Ding vor, während Caſpar
dabei war, ließ die Funken fpringen und Iud bie
Leidener Flafhe. Da wird mir der arme Menſch
bleich und zuſehends bleicher, fängt zu zittern an,
ſpreizt die Finger ſtarr von. fih und fein Körper
408
zuckt wie ein Hecht, den man auf den Sand wirft.
Ich war ſehr erſchrocken und räumte das Zeug
beifeite, worauf er wieder in feinen gewöhnlichen
Zuftand zurüdkehrte. Doch ſchmerzte ihn
Kopf noch ta; Klang 1 nachher, wie er mir geftand
wenn er im Bette lag, hatte er kalten Shweh,
und die Dinge, die er anfühlte, ftachen ihn wie
mit winzigen Nadeln. VBezeichnenderweife fagte
ex, beim Gemitter fei ihm jedesmal ähnlih, da
tißle ihn und brenne ihn das Blut, daß er
immerfort fchreien möchte.“
„Und daran glauben Sie?" rief Quanbt, die
Hände zufammenjchlagend.
„Ja, warum denn nicht?"
„Nun, wenn Sie daran glauben, befinde ich
mic) allerdings in einem großen Nachteil gegen
den Menfchen, das muß ich zugeben," kat
Quandt. „Das muß ich zugeben," wiederholte
er befümmert.
So ift e8 immer, dachte der Lehrer auf dem
Nachhauſeweg; erſt wird entfchuldigt und be
ſchönigt, und wenn man feine triftigen Gründe
Dorbringt, werben die Achſeln gezudt, und man
tifcht einem Hiftöcchen auf, die nicht geftogen und
geflogen find, und von denen ſich in Jota bes
weiſen läßt. Was für ein Satan ſteckt dod in
dem Burfchen, daß er überall Neigung und Teil-
nahme zu erwecken verfteht, wo er fich auch zeigen
mag! Daß fein Menich feine Lafter jehen will
und ganz fremde Leute, darauf verjeflen, ihn
kennen zu lernen, das windigſte Entzüden äußern
und ihn verhätfcheln, als ob Te verzaubert wären,
Pr ob er ihnen ein Liebestränfchen eingegeben
ätte!
Das erbitterte Duandt. Er fagte fih: nehmen
404
wir an, ich träte unter unbefannte Menfchen und
jäbe vor, der Heilige Geift oder fein Apoftel zu
Fin oder fpielte mich als Wundertäter auf, und
es fiele dem oder jenem bei, ein wirkliches Wunder
zu verlangen, und ich müßte zugeben, e3 fei die
blante Spiegelfechterei, was würde da paſſieren?
Man würde mich ind Narrenhaus ſtecken oder
mit Prügeln traktieren; ja, da8 würde man, wenn
ich auch noch fo ein Engelögefiht aufſetzte, das
würde man, und mit Recht; nicht aber würde
man mich mit Gefchenten überhäufen und mid
anhimmeln und meine jhönen Augen und weißen
Hände bewundern und mir Haare zum Andenken
abfchneiden, wie ich das, Gott ſei's geklagt, von
einer verblendeten Menfchheit hier erleben muß.
Aus einem Serbitgeipeäch folder Art geht
klar hervor, wieviel Kopfzerbrechen und welche
ernſte Seelenlämpfe dem Lehrer aus dem Umgang
mit feinem Zögling erwuchfen.
Und was war früher mit ihm? grübelte
Quandt. Wo kommt er eigentlich her? Dahinter
müßte doch zu Tommen fein. Wie hat er Ko
das alles zurechtgelegt, womit er die Dunkel⸗
männer betört? ‘a, das ift eben das Geheimnis,
jagen die Dunkelmänner. Geheimnis? Es gibt
‚ein Geheimnis; ich verwerfe das Geheimnis. Die
Welt von oben bis unten ift ein Mares Gebilde,
und wo die Sonne fcheint, verfteden ſich bie
Eulen. Gäbe mir nur der Herrgott einen Wink,
wie ich dieſer diabolifchen DVerjtellungskunft zu
Leibe gehen Fönnte! Man müßte einmal ernftlich
äufehen, wie e8 mit dem Tagebuch beichaffen ift
und was dahinterſteckt. Das Tagebuch ſcheint
zu eriftieren, es feheint damit feine Richtigkeit zu
haben, abgefehen von allem Geflunker; vielleicht
405
ift es eine Art Veichtgelegenheit für ihn; man
muß dahinterfommen.
Die Begebenheiten halfen Quandt, raſcher da⸗
hinterzufommen, als er gehofft.
Eine Stimme ruft
Eines Nachmittags im Hochſommer erſchien
Hickel und reichte Gafpat einen an ihn, den
olizeileutnant, gerichteten, aber im Grunde für
fpar beftimmten Brief des Grafen Stanhope,
in welchem diefer dem Jüngling klipp und ar
befahl, da8 Tagebudy an Hickel auszuliefern.
Caſpar überlas das Schreiben dreimal, ehe er
endlich Worte fand; er weigerte ſich zu gehorchen.
„Sa, mein Beſter,“ fagte Hidel, „wenn es
nicht gutwillig geht, muß ich leider Gewalt ans
wenden.“
Caſpar befann fich, dann fagte er mit trüber
Stimme, der einzige, dem er das Tagebuch geben
könne, fei der Präfident, und dem wolle er es
morgen bringen, wenn man darauf bejtehe.
„Gut,“ entgegnete der Polizeileutnant, „ich
werde Sie morgen früh abholen, und dann gehen
wir mit dem Heft zum Präſidenten.“
ickel wollte Zeit gewinnen. Er hatte natürs
lich feine Luft, das Tagebuch in die Hände Feuer-
bach3 fommen zu laſſen, gerade dies zu verhindern,
hatte er Auftrag, und er überlegte, was zu tun
gi; Was Cafpar betrifft, fo ftahl er fich gegen
ittag aus dem Haus und lief in die Wohnung
des Präfidenten, um fich zu befchweren. Feuers
bad) war im Senat; Caſpar vertraute feine Sorge
406
der Tochter an, und diefe verſprach dem Vater
Bericht zu geben.
Nachmittags Täutete e8 bei Quandts, und der
Präſident trat ins Zimmer. Mittlerweile hatte
Caſpar, um auch dieſem fonft verehrten Dann
den gehüteten Schaf nicht außfiefern zu müffen,
fich eine Ausrede erdadht, und als der Präfident
im Beifein Quandts nad dem Tagebuch fragte
und ob e3 wahr fei, daß er e3 nicht zeigen wolle,
fagte er jchnell, er habe e8 verbrannt,
Da gab e3 dem Lehrer einen Ruck, und er
Tonnte fich eines zornigen Ausrufs nicht enthalten.
„Wann haben Sie e3 verbrannt?" fragte
Feuerbach ruhig. .
Heute."
„Und warum?"
„Damit ich's nicht hergeben muß.“
„Warum wollen Sie e8 nicht hergeben ?"
Caſpar ſchwieg und ftarrte zu Boden.
„Das ift eine Lüge, er hat es nicht verbrannt,
Exzellenz,“ zeterte Quandt, bebend vor Xerger.
„Und wenn er überhaupt ein Tagebuch geführt
hat, jo muß e3 ſchon länger beifeitegebradht fein.
Don Weihnachten an hab’ ich e8 überall gefucht,
in jedem Winkel feines Zimmers hab’ ich Um—
ſchau gehalten, und nie, niemal® war eine Spur
davon zu finden." .
Der Präfident ſchaute Quandt aus großen
Augen ftumm und verwundert an; e3 war ein
Blick, der etwas Mattes und Gramvolles hatte.
„Wo war denn das Tagebuch) aufbewahrt,
Eafpar?" fuhr er dann zu fragen fort.
Gafpar antwortete zaubernd, er habe es bald
da, bald dort verſteckt; bald unter den Büchern,
bald im Schrank, zuleßt an einem Nagel hinter
407
der Schreiblommobe. Quandt ſchüttelte dabei un-
aufhörlich den Kopf und lächelte böfe. „Haben
Sie denn den Nagel ſelbſt eingefchlagen?" in-
quirierte er.
u
"Mer bat Ihnen die Erlaubnis dazu er-
teilt 2“
„Gehen Sie jett, Caſpar,“ ſchnitt der Präft-
dent das Zwiegeipräch gebieterifch ab. „Sch ber
greife nicht," wandte er fich, als Gafpar draußen
war, an den Lehrer, „weshalb Lord Stanhope
plöglich fo großes Gewicht auf das Tagebuch
legt; wahrſcheinlich überjchägt er die ohne Zweifel
harmloſen Schreibereien. Mit Güte und Ueber-
redung wäre man übrigens beſſer gefahren als
durch einen kategoriſchen Befehl."
„Güte, Weberredung ?" verſetzte Quandt händes
ringend. „Da haben Euer Exzellenz einen fchlechten
Begriff von diefem Menfchen. Durch Güte ent-
fefielt man nur feine Selbſtſucht, und jeder Ver-
ſuch, ihn zu überreden, vergrößert feine Bock—
beinigfeit. Ja, er dünkt fich fchon etwas, ſtellt
I] auf die Hinterfüße, hält Widerpart und ift
ähig, mir eine Antwort zu geben, daß ich da-
ftehe wie vor den Mund gejchlagen. Euer Exzellenz
mögen verzeihen, aber ich bin der Meinung, daß
ſogar Sie durch Güte und Ueberredung nichts
mehr bei ihm ausrichten können.“
„Na, na,“ machte Feuerbach, fchritt zum Senfter
und fah düfter in die regentriefenden Zweige des
Birnbaums, der an der Hofmauer wuchs.
„Ich getraue mich auch, Euer Exzellenz auf
das allerbeftimmtefte zu verfichern, daß er das -
Tagebuch nicht verbrannt hat," ſchloß Duandt
mit beſchwörender Stimme,
408
Der Präfident antwortete nichts. Wie wider-
wärtig war e3 ihm, all den Heinen Hader aus⸗
tragen zu follen, den fie ihm da herbeifchleppten.
Ihn dürftete nach Frieden. Das eine Werk noch,
vollendet mußte es werden, dann — Friede.
Kaum war Feuerbach gegangen, fo eilte Quandt
in Caſpars Zimmer, rückte die Schreiblommode
von der Wand und fah nach, ob dort ein Nagel
ftede. In der Tat war ein Nagel ins Holz ge-
ſchlagen Quandt rief die Magd herauf. „Hat
der Haufer in letzter Zeit den Hammer gehabt
und haben Sie ihn Hopfen gehört?" fragte er.
Die Magd bejahte; er habe vorige Woche Hammer
und Nägel aus der Küche geholt, und fie habe
ihn klop ehört.
Plöglich hatte Quandt eine Erleuchtung. Wir
find ja im Sommer, dachte er, und wenn er das
Heft wirflich verbrannt hat, muß die Aſche noch
im Ofen zu finden fein. Er ging zum Ofen,
kniete nieder, öffnete da8 Türchen und feheuerte
mit gierigen Händen alles, was von verbrannten
und verfohlten Reſten in dem Loch war, heraus
auf den Boden.
Es kam viel Papierafche zum Vorfchein.
Quandt gab acht, daß die größeren Stüde nicht
zerbrachen, da man auf Ale eine Schrift noch
leſen Tann. Sorgſam ſchob er die Trümmer
auseinander. Er fürchtete das eine oder das
andre mit dem Finger anzugreifen und blies es
mit dem Atem feines Mundes zur Seite; wenn
e3 bejchrieben war, verfuchte er die Worte zu
lefen, fand aber feinen Zufammenhang.
Da näherten ſich Schritte und Gafpar trat
ein, nicht wenig erftaunt über die Lage, in der
ex den Lehrer ſah, deſſen Hände und Geficht von
409
Ruß geſchwärzt waren, indes ihm ber Schweiß
von den ‚Hauren troff.
Quandt ließ ſich nicht ſtören. „So viel Aſche
kann doch unmöglich von dem einen Tagebuch
herruhren,“ fagte er.
„Ich hab’ auch alte Briefe und Schriften da-
mit verbrannt," erwiderte Caſpar.
Die kühlſachliche Antwort trieb Quandt die
Zornröte ins Gefiht; er jtand haft ig auf,
murmelte etwas durch die Zähne und verließ das
Zimmer, die Tür hinter fi zudonnernd. „Sie
fommen mir heut abend nicht mit auf bie
‚Neffouree‘," fchrie er auf der Stiege.
In der „Reſſource“ war ein Gartenfeft, das
der Schüßenverein veranftaltete. Quandt hatte
eigentlich Teine Luft, Hinzugehen, dergleichen koſtete
immer Geld. Aber die Frau wollte auch einmal
ein Amiüfement haben, war des verdrießlichen
Zuhauſehockens fatt. Sie hatte ſich ſchon vor
acht Tagen ein Kattunkleid für diefen Zweck ges
macht, und fo mußte denn der Lehrer fich fügen
und, wie er fich ausdrückte, der Unvernunft feinen
Bol entrichten, zumal das Wetter gegen Abend
ſchön geworben war.
Caſpar blieb, bis die Dunkelheit anbrach, am
offenen Fenfter figen und genoß der Stille. Dann
machte er Licht, und ein Lächeln umfpielte feine
Lippen, al3 er zur Wand ging, den Stahljtich
über dem Kanapee herunternahm, die hinter dem
Bild befeitigte Holztafel Ioslöfte und nun das fo
verborgene Tagebuch hervorzog. Er fette fich
damit zum Tiſch, blätterte nachdenklich in dem
Heft herum und überlas einige Stellen.
Hier war ein Lebensalter, eine Menſchwerdung
zufammengepreßt in den Verlauf von nicht mehr
410
als vier Jahren, mit unheimlicher Geſchwindigkeit
Sech an Epoche drängend. Was es an mangel⸗
usgefprochenem, Gefchildertem enthielt, die
unſchuldigen Ergüffe erfter Freuden und Schmerzen,
das erfte bange Welterkennen, Inabenhafte Philo-
fophie und troiges Hadern mit ahnungsvoll ala
feindlich empfundenen Mächten irdifcher und über-
tedifcher Natur, alles da3 hätte die auf dieſe Beute
verfefjenen Jäger bitter enttäufcht. Aber e8 war
nicht für jene, e3 war für die Mutter, ihr war
es zugelobt ein für allemal, und mit der ihm
eignen Wunderlichleit war Caſpar der Gedanke
anz unfaßlich, daß ein andre Auge je auf diefen
lättern ruhen ſollte. Es mag auch fein, daß
ihm das Heft nach und nach in der Einbildung
zu feinem einzigen wirklichen Befi geworden war;
das einzige Ding, das ihm völlig zugehörte und
fein gganaes Vertrauen bejaß.
(uf einer der erften Seiten ftand: „Neulich
hab’ ich aus Gartenkrefje meinen Namen geſäet,
iſt vecht ſchön gewachſen und hat mir große Freude
gemacht. Iſt einer in den Garten hereingefommen,
bat Birnen geftohlen, der hat mir meinen Namen
zertreten, da hab’ ic) geweint. Herr Daumer hat
gejagt, ich foll ihn wieder machen, hab’ ich ihn
wieder gemacht, am andern Morgen haben ihn
Katzen zertreten.“
Es folgten in demſelben unbeholfenen Stil
einige Verſuche, feine Kerkerhaft zu beſchreiben,
etwa jo: „Die Geſchichte von Caſpar Hauſer; ich
will e3 ſelbſt erzählen, wie hart e8 mir ergangen.
Zwar da, wo ich eingejperrt war in bem Gefängnis,
iſt es mir recht gut vorgefommen, weil ich von
der Welt nichts gemußt und feinen Menfchen
niemals gefehen habe."
411
In diefem Ton es es weiter; fpäterhin
tamen einige zum Schönrebnerifchen ftrebende
Stellen, und eine begann mit dem Sat: „Welcher
Erwachſene gedächte nicht mit trauriger Rührung
an meine unverdiente Einfperrung, in ber ich
meine blühendfte Lebenszeit zugebracht habe, und
wo jo manche Jugend in goldenen Vergnügungen
lebte, da war meine Natur noch gar nicht er-
wedet."
Träume, Hoffnungen, Sehnfuchtsbilder, Be⸗
richte über Heine Ausflüge, über Unterhaltungen
mit Fremden; bier und da ein beherzigenswertes
Wort, in einem Buch gefunden oder aus einem
Wuft fonft inhaltlofer Geſpräche geffaubt; al»
mählih Sätze, an denen etwas mie perfönlicher
Schliff hervortrat und eine merkwürdige verhüllte
Düjterfeit des Stils. Unmittelbar war nie ein
Kummer, ein Urteil, eine Meinung ausgedrüdt;
ex hatte es eben, wie Quandt diefe Eigenfchaft
formulierte, hinter den Ohren. Bon einem be
deutungsvollen Tag ftand oft nur das Datum
vermerkt und daneben ein Sternen; manches
Ereigniffes war nur in fcheuen Umfcreibungen
gedacht; auch Lakonismen waren Bielem Geift
nicht fremd; jo hieß es von dem Mordanfall in
Daumerd Haufe kurz: „Der Erntemonat wäre
bald mein Sterbemonat worden.”
Kleine Vorfälle des täglichen Lebens: „Gejtern
hat mich eine Biene geftochen, das Fräulein von
Stihaner hat mir die Wunde ausgefaugt, fie
fagte, wen die Biene fticht, ber Int luck.“
Oder: „Geſtern war eine Feuersbrunſt, über
Dautenwinden hat der Wald gebrannt, ich bin
die halbe Nacht am Fenſter geſeſſen und hab’
gedacht, die Welt geht unter.”
412
Sinnliche Empfindlichkeiten kamen zu lapidarem
Ausdrud: „Herr Quandt riecht nach alter Luft,
die Lehrerin nach Wolle, der Hofrat nad Papier,
der Präfident nach Tabak, BVolizeileutnant
nad; Del, der Herr Pfarrer nach Kleiderſchrank.
Faſt alle Menfchen riechen fchlecht, nur der Graf
bat wie ein Leib gerochen, an dem nichts ift als
guter Odem.“
Dem Grafen war mande Seite gewidmet;
bier wurde der Ton poetifch und nicht felten
drängend in der Art eines Gebets. Stanhope
und die Sonne wurden zu Bildern von ver-
wandter Kraft. Seit dem Äbſchied aus Nürnberg
hatte das aufgehört, der Name des Lord wurde
nicht mehr erwähnt, nur das Gelöbnis vom
achten Dezember war aufgejchrieben.
Aus den legten Tagen ſtammte eine Beich-
nung, welche über die Hälfte einer Seite füllte:
die Ümriſſe eines männlichen Kopfes, mit aufs
fallend geſchickter Hand feftgehalten. Es war ein
fremdartiges Geficht, feinem irdiſchen ähnlich, eher
dem einer Statue, doch wie aus einer ſchauer—
lichen Viſion gerifjen, von jchmerzlicher Unbewegt-
heit. Darunter war gefchrieben:
- D großer Menſch. was tueft bu mir an?
Du folgeft mir, und meine Spur ift blind,
Unb fo du mic, eriehauft, bin id) verranbelt.
Dem Kerter ift entflohn das arme Kind,
Der Mantel feplt und Krone aud) und Schwert,
Und ohne Reiter läuft das weiße Pferd.
Die Zeichnung war in der Nacht gefertigt
worden; aus einem Traum auffahrend, hatte
Cafpar das Geficht vor fich gefehen; er war aus
dem Bett gefprungen und hatte es beim Mond-
licht gezeichnet. Die Verje hatte er am Morgen
beim Erwachen fertig auf den Lippen gefunden.
418
Ihrem Sinn hatte er nicht weiter nachgegrübelt,
exit jest wurbe er ftußig und flüfterte die Worte
mehrere Male vor fich hin.
Mittlerweile war es fpät geworden, Caſpar
wollte gerade vom Tiſch auffteben. da hörte er
das Haustor Inarren, raſche Schritte näherten
ſich, es klopfte an die Tür, und Duandts Stimme
befahl zu Öffnen. Erſchrocken blies Caſpar das
Licht aus. Im Finftern taftete er fich zum Sofa,
brachte das Tagebuch wieder in jein ſtech, und
während Quandt immer ftärker pochte, gelang es
ihm, das Bild an den Nagel zu hängen.
Quandt hatte nämlih, vom Spitalmeg fom-
mend, ſchon aus der Ferne in Caſpars Zimmer
Licht bemerkt. Er padte feine Frau am Arm
und rief: „Sieh mal, Frau, fieh mal!"
„Was gibt's denn ſchon wieder?" murrte die
Frau, die voll Aerger darüber war, daß Quandt
ihr mit feiner übeln Laune den ganzen Abend
verdorben hatte.
„Jetzt haft du doch den Beweis, daß er bei
der Kerze ſitzt,“ fagte Quandt.
Das Haus hatte durch ein Gartenpförtchen
auch einen Zugang von der Rückſeite. Quandt
wählte den, und als er mit ber Frau im Hof
fand, fiel ihm ein, ob er nicht zuerft den Jüng⸗
ing auf irgendwelche Art belaufchen und jehen
Tönne, was er treibe. Der Birnbaum an der
Mauer war wie gefchaffen dazu. Quandt war ge-
ſchickt und Fräftig, ohne Mühe erklomm er die Mauer
und dann einen breiten Ajt, von wo er Caſpars
Zimmer überfhauen konnte. Was er ſah, genügte.
Nach) kurzer Weile kam er aufgeregt herab, raunte
feiner Frau zu: „Ich hab’ Im erwiſcht, Jette,“
und ſtuͤrzte ins Haus und die Stiege empor.
414
Da ſich auf fein Klopfen drinnen nichts rührte,
eriet er in Wut, Er fing an, mit den Fäuften,
Fodann mit den Abfägen an die Tür zu trommeln,
und als auch dies nichts half, befcloß der _bes
klagenswerte Mann in feiner Raferei, ein Beil
zu holen und die Türe einzufchlagen. Vorher
lief er noch gefchwind in den Hof zurück und jah,
daß e3 in Caſpars Zimmer indeſſen finfter ge⸗
worden war, ein Umftand, der feinen Zorn nur
noch fteigerte.
Von dem Lärm waren die Kinder und die
Magd aufgewacht; die Lehrerin trat Quandt
jammernd entgegen, als er mit der Holzhade aus
er Küche rannte, Er ftieß fie weg, ſchäumte:
„Ich will's ihm ſchon zeigen,“ und ſtürzte
wieder hinauf.
Nach dem erſten Schlag mit dem Beil öffnete
ſich die Tür, und Caſpar trat im Hemd auf die
Schwelle. Der Anblid der ruhigen Geftalt hatte
etwas fo Unerwartetes und Exnüchterndes für
den Lehrer, daß er förmlich zufammenklappte,
nicht zu fagen und zu tun wußte und nur fonder-
bar mit den Zähnen knirſchte. „Machen Sie
Licht," murmelte ev nach einem langen Gtill-
Köreigen, Do ſchon kam die Frau mit einem
icht, leiſe Heulend, die Stiege herauf. Caſpar
erblickte das Beil im gefenkten Arm des Lehrers
und fing an, heftig zu zittern. Bei diefem Zeichen
von Furcht verlor Quandt vollends die Haltung.
Er ſchämte ſich, und tief auffeufzend fagte er:
„Haufer, Sie bereiten mir großen Kummer." Da-
mit drehte er fich um und ging langſam hinunter.
Caſpar jchlief erft ein, al3 der Tag dämmerte.
Beim hftück, vor der gewohnten Unterrichts-
ftunde, erfuhr er, daß Quandt ſchon ausgegangen
415.
up
fein Sie auf Ihrem Zimmer, Haufer. Ber
Bolizeileutnant will mit Ihnen fprechen.“
Caſpar legte fi oben aufs Kanapee. Es
war ein heißer Augufttag, Gewitterwolfen lagerten
am Himmel, am offenen Fenſter flogen Schwalben
ängftlich zwitf vorüber, die ſchwũl erhißte
Sutt furrte und fang im engen Gemad). ch
müde von der Nacht, entſchlummerte Caſpar als⸗
bald, und erft ein heftiges Nütteln an feiner
Schulter weckte ihn. Hidel und der Lehrer ftanden
neben ihm, er feste ſich auf, rieb die Augen und
ſah die beiden Männer fchweigend an. Hidel
Inöpfte mit einer amtlichen Gebärde feinen Uniform-
tod zu und fagte: „Ich fordere Sie hiermit auf,
Haufer, mir Ihr Tagebuch abzuliefern.”
Caſpar erhob fich tiefatmend und antwortete
mit einer mehr von innerem Zwang al Mut ein-
gegebenen Feſtigkeit: „Herr Polizeileutnant, ich
werde Ihnen mein Tagebuch nicht geben.“
Quandt flug die Bände zufammen und rief
Hogenb: „HBaufer! Haujer! Sie treiben Ihre un
Tindliche Widerfeglichleit zu weit."
Cafpar ſchaute fich verzweifelt um und erwiderte
zudenden Mundes: „Sa, bin ich denn ein Eigen-
tum von einem andern? Bin ich denn wie ein
Tier? Was wollen Sie denn noch? ch hab’ ja
ſchon Keher daß ich das Buch verbrannt habe!"
„Wollen Sie etwa leugnen, Haufer, daß Sie
heute nacht bei der Kerze gejchrieben haben?"
fragte Quandt dringlich. „Briefe Haben Sie doch
nicht zu fchreiben gehabt und mit den Exerzitien
waren Sie fertig."
416
Caſpar fämisg, Er wußte nicht ein noch aus.
„Ein. guter Menſch hat überhaupt die Ein-
fit" in Ian Tagebuch nicht zu ſcheuen,“ fuhr
Quandt fort, „im Gegenteil, fie muß ihm er⸗
wunſcht fein, da doch feine Unbeicholtenheit da-
mit bezeugt wird. Sie am allerwenigften, lieber
ben haben Grund, ein geheimes Tagebuch zu
en."
je lange werben Sie und noch warten
a rag Hickel mit Höflicher Kälte,
ill ich doch lieber jterben, als daß ih
das "es "ushalten fol!" rief Caſpar und bo)
den Arm, um fein Gefiht darin zu verbergen.
„Nun, nun,“ fagte Duandt beunruhigt, „wir
meinen e3 ja gut mit Ihnen, auch der Herr
Polizeileutnant will nur Ihr Beſtes.“
„Freilich,“ beftätigte Hidel trocken; „übrigens
kann ich Ihnen kom, daß das Sterben zurzeit
nicht der befte Einfall von Ihnen wäre. Da
Tönnte man unter Umftänden auf Jhrem Grab»
ftein lefen: Hier Liegt der Betrüger Cafpar Haufer.“
„Ganz abgefehen davon, daß fi in einem
ſolchen Sab eine höchſt verwerfliche Gefinnung
ausdrüdt," fügte Quandt tadelnd Hinzu, „eine
feige und unfittliche Geſinnung.“
„Es liegt mir am Leben nichts, wenn man
mich immer mit folchen Geſchichten plagt und
mir nicht glaubt," entgegnete Caſpar bedrüdt;
„ich hab’ ja früher auch nicht gelebt und hab’
lange nicht gewußt, baß ich Iebe.”
ikel ging indes an der Wand entlang und
klopfte mit den Knöcheln mie fpielend an einige
Stellen der Mauer; plöglich dien ſich ſeine Auf⸗
merkſamleit gegen bas Bild über dem Sofa zu
richten. Er nahm es lächelnd herab, betrachtete
BWaffermann, Caſpar Haufer 27 417
es nad, allen Seiten und Happte jchließlich die
Scharniere auf, um bie Holztafel zu entfernen.
Gafpar wurde jchlohweiß und bebte wie
Eipenlaub.
Aber al3 nun Hidel das blaue Heft ſchmun⸗
elnd in feiner Hand hielt, ging eine ſeitſame
erwandlung mit Gafpar vor. Es jah aus, als
wachſe er ꝓlötzlich und merbe um Kopfeslänge
großen Mit zwei Schritten ſtand er Dicht vor
em Polizeileutnant, Sein Geficht war förmlich
aufgeriffen. In feiner Miene war etwas Er»
habenes. Sein Blick glühte von einer leiden⸗
Schaftlichen und gebieterifchen Kraft. Hidel, in
dem dumpfen Gefühl, ald werde er zermalmt oder
zertreten, wich Tangfam und fafziniert gegen bie
Tür zurüd. Der kalte Schweiß brach aus feiner
Haut, als ihm Cafpar folgte, Schritt für Schritt,
den Arm außftredte, das Heft mit einem Aud
aus feinen umklammernden Fingern 30g, es mitten
durchriß, die beiden Hälften noch einmal und
noch einmal zerriß, bis alles in Feßen auf dem
Boden lag.
Wer weiß, mas noch gefchehen wäre, wenn
die Dazwifchenkunft einer vierten Perſon in diefem
Augenblid nicht die Situation verändert hätte.
Es war der Pfarrer Fuhrmann, der im Vorüber-
jehen Cafpar hatte befuchen wollen, um ihn zu
Ka en, weshalb er heute vom Unterricht forte
geblieben war. Al er eintrat, mußte fih ihm
eine Ahnung des Gefchehenen aufbrängen; er
bfictte ftumm von einem zum andern. Quandt,
der dem ganzen Vorgang mit entjeten Augen
zugeſchaut/ gewann nur mühſam feine Faflung
und fagte in verlegenem Ton: „Was haben Sie
denn da für ein Gefchnißel gemacht, Hauſer?“
418
Hickel wanderte mit ein paar großen Schritten
durchs Zimmer, dann grüßte er den Pfarrer
militärifh und ging mit Faltem und finfterem
Gefiht. Unter der Tür drehte er ſich um, deutete
auf den Papierhaufen und machte eine befehlende
Kopfbewegung gegen Duandt. Dieſer begriff.
Er bückte fih, um die Schnigel zufammenzufharren.
Aber Cajpar durchſchaute feine Abficht; ex ftellte
fih mit den Füßen darauf und fagte: „Das
Tommt ins Feuer, Herr Lehrer."
Er kniete nieder, vaffte daS Papier mit zwei
änden auf, trug e3 zum Dfen, öffnete mit dem
6 das Türchen und warf alles hinein. Darauf
ſchlug er Feuer, und eine Minute fpäter brannte
es lichterloh.
. Der Pfarrer Fuhrmann war bloß ſchweigen⸗
der Zeuge des Auftritts, Hickel mar gegangen,
und der Lehrer, beftändig hüftelnd, ſchritt mit
der Gleichmäßigteit eines Wachpoſtens vor dem
Dfen auf und ab, indes Cafpar kauernd zufchaute,
bis das legte Fünfchen verglommen war; dann
nahm er den Schürhaken und zerjchlug die Aſchen⸗
reſie zu Staub.
Der Pfarrer hatte nachher. eine Unterredung
mit Cafpar, welche troß dem herabgeftimmten
Gemütszuftande des jungen Menjchen und einer
ſchier krankhaften Unluft zu fprechen doc zu
mandherlei Eröffnungen führte, die den geiftlichen
Heren bewogen, ſich wegen des Vorgefallenen an
den Präfidenten Feuerbach. zu wenden.
„Es ift eigen mit dem Lehrer Quandt,” fagte
er im Verlauf feiner Mitteilungen zu Feuerbach;
„ein ſonſt jo vortrefflicher Mann, und in allem,
was den Haufer betrifft, wie verhert. Die Ruhe
des Haufer macht ihn fribblig, feine Sanftheit
419
rauh, feine Schweigjamteit redfelig, feine Melan-
holie fpöttifch, feine Heiterkeit — und ſeine
mgefepnetiteit gibt ihm die durchtriebenften Liften
3 allem, wa3 der Hauſer tut und jagt,
füließt er im fülen dns Gegen, fogar das
aus diefem Mund fcheint ihm eine
Züge. Ich glaube, er möchte ihm am fiehften
Be und kg wenn er e3 ſchon kennt;
verdächtig, wenn er — e ſchläft, und verbächtis
wenn er früh auffteht; er das Theater liebt
und die Muſik nicht Hiebt, verbächtig; daß er es
hinunterſchluckt, wenn man ihm zankt, Hingegen
die Streitigkeiten zwifchen andern, zum Beifpiel
awi hen Quandt und feiner Frau, immer ſchlichten
: verdächtig. Alles ift verdächtig. Wie fol
das enden!"
Aber, wie man fo bezeichnend jagt, ein Wort
ab das andre, und zum Schluß kam nichts
eraus.
Der Präfident, merkwürdig zerſtreut, verfpradh,
den Polizeileutnant zur Rede zu ftellen. Er ließ
Hickel rufen und fchrie ihn gleich beim Eintritt
an, daß dem Verdutzten Hören und Gehen ver-
Leider diente die Schimpferei der Sache
ei: als der Zorn verdampft war, trug Hickeis
ü {egene Ruhe und berechnete Schmiegjamleit
den Sieg davon. Es kam nichts heraus.
blieb alles beim alten. Nur daß der Polizei⸗
leutnant, in feiner Eitelkeit tief gefräntt, Doppelt
ftil und kalt feiner Wege ging.
420
„Die Bemühung, dem Haufer eine annehm-
liche Eriftenz zu verichaffen, muß man wohl als
gejcheitert betrachten,“ ſagte Feuerbach eines Tages
zu feiner Tochter. „Der Merſch leidet in feiner
jesigen Umgebung, und die Art, wie man ihn
behandelt, ſcheint gegen alle Vernunft und Billigkeit.“
„Mag jein; aber kann man es ändern?"
verfegte Henriette achjelzudend.
„Mich beruhigt nur die Zuverficht, daß ja
eine Entjheidung ohnehin fallen muß, wenn die
Bei a erjchienen ift,“ fagte der Präfident
vor ſich hin.
I ſchadet es auch dem jungen Menfchen,
wenn die Wogen des Lebens über jeinem
Kopf aufammenjchlagen ?" fuhr Henriette fort.
„Vielleicht Iernt er ſchwimmen dabei. Es ift
— an Ihnen, Vater, feinen Präzeptor zu
machen.
„Vielleicht lernt er ſchwimmen dabei. Vor—
trefflich ausgedrückt, meine Tochter. Dereinft mag
er dann der überjtandenen Prüfungen dankbar
jedenken. Ein Gekrönter, der eine ſolche Schickſals-
Ahle erfahren hat, von der tiefften Tiefe_zur
böchften Höhe geftiegen ift — ei, das gäbe Hoff-
nungen! Fehlte es den Großen der Erde nicht
an Lebensfenntnis, fo wäre ihnen das Volt mehr
und etwas andres als eine Melkkuh. Lafjen wir
alfo den Stahl glühen, damit er hart werde.
Sind heute Korrekturen gekommen?“
enriette verneinte und ging feufzend hinaus,
3 gibt eine innere Stimme, die beredfamer
ift als die Weisheit der Sentenzen. Feuerbach
erfuhr die Gewalt diefer Stimme ftet3 auf3 neue,
wenn er ſich Gafpar gegenüberbefand. Es war
ihm nicht gegeben, fich um den Appell einer höheren
421
Inftanz, al3 es Vernunft und Erfahrung find,
berumzulügen. Den Freimut ber DBerantwortlih”
Teit, den er vor dem eignen Herzen empfand,
hatte das Alter nicht abgeftumpft, fondern ges
läutert; er mußte fich befennen, daß das, was
ihn quälte, ganz einfach das fchlechte Gewiffen war.
Welch ein Dilemma für einen folchen Mann!
Auf der einen Seite die bis zur Selbtverleug-
nung getriebene Erfüllung der dee, auf der
andern das vorwurfsvolle Auge deffen, dem die
Idee galt und dem er ſich nicht ergeben konnte
und durfte — aus Furcht vor dem allzu be=
teiligten Gefühl, aus Furcht vor der Trübung
des Urteils, aus Furcht, daß der Engel der Ge-
rechtigkeit feiner vorgeſetzten Bahn entfliehen würde,
wenn Neigung, Rüdficht und herzliche Annähe-
rung ins Spiel Tämen.
So wie an die nächften Freunde jchicte der
Präſident in diefen Tagen die Aushängebogen
feiner Cafpar-Haufer-Schrift auch an Stanhope,
der fich zurzeit in Nom aufhiell. Der Graf
dankte oder antwortete mit feinem Wort.
Eines ſchlimmeren Zeichens bedurfte Feuerbach
nicht. Wie hatte Doch das große Wort gelautet,
das er einft in lebendiger Stunde zu jenem Mann
gejprochen? „Wenn diejes Antlitz trügt, Mylord,
mit dem Sie hier vor mir ftehen, dann..."
a, dann! Was dann? Kindliche Anmaßung!
Würde die Welt untergehen, weil ein Feuerbach
fich getäufht? Wie vielfältig ift der Menfch,
wie viele Gefichter find ihm eigen, wie viele
Worte findet er um eine3 erbärmlichen Vorteils
willen! Für den Biſſen Brot ift jeder Bettler
joon ein Fürſt der Worte, und mas Staats-
arofien, was Pairfchaft, mas anmutige Ma-
422
nieren umd überredendes Gefühl, wenn dem
allen nur das Wort die Schminte ift, das eine
ausjägige Haut verfhönt? Dazu aiſo Herzen
gsralienent, im Dunkel der Seelen gewählt, mit
ichterfunft und »patho8 Tat und Untat auf ihr
menſchlich Maß geprüft, damit ein aufgeſchmückter
Schelm aus England kam, um damit ein far-
donifches Spiel zu treiben und alles lächelnd ins
Abfurde zu führen. - "
Den alten Mann ekelte. Aber die Bor-
Ken von der Macht und den Hilfsmitteln der
inde, mit denen er fich in ungleichen Kampf
eingelafjen, wurde allmählich ungeheuer, und wenn
aud fein Vorhaben nicht die geringfte Beein—
trächtigung erfuhr und er nicht für die Dauer
eines Angenbtics ins Schmwanten geriet, nahm
doch eine verbüfternde Unruhe von ihm Beſitz.
Seit jenem nächtlichen Einbruch, deſſen Anjtifter
aller. aufgerandten Mühe zum Trotz unentdeckt
jeblieben waren, entbehrte er des dauernden
lafs. Er erhob ſich bisweilen aus dem Bett,
wanderte mit dem Licht durch die Zimmer, über
Treppen und Flur, rüttelte an den Fenſtern,
probierte die Zeftigkeit der Schlöffer und erſchrak
nicht felten vor feinem eignen Schatten. Es war
jür feine Kinder ein erjchütterndes Schaufpiel,
diefen Mann der Leidenſchaft und des eingefleifch-
ten Mutes in dergleichen Geſpenſterweſen verftrict
zu fehen. Einſtmals am frühen Morgen fand
man an der äußeren Seite des Haustor3 fol-
gende mit Kreide angefchriebenen Verſe:
Unfelm, Ritter von Feuerbach!
2öfh '3 Feuer unter deinem Dad!
2a den falichen Freund nimmer ein!
30 den Degen und Hau bısin,
onft wirb’8 um Did) gefchehen fein.
428
An einem Abend zu Ende Oktober kam Quandt
und begehrte den Präfidenten zu fprechen. Feuer⸗
bach ließ ihn eintreten und beobachtete ſofort in
feinem Benehmen etwas Verlegenes und Be—
ftürztes, doch ac der Lehrer nicht die gemöhn-
liche Umftändlichteit, fondern rückte ſchnell mit
feinem Anliegen heraus. Cr berichtete, Caſpar
habe vorgeftern einen Brief des Grafen erhalten
und feitdem habe er fich ganz verändert; ob Seine
Exzellenz nicht eine Stunde erübrigen könne, um
mit dem Menjchen zu reden, er felbft bringe fein
Wort aus ihm heraus.
Der Präfident fragte, worin die Veränderung
beftehe. “
„Es ift, als wäre er taubftumm geworden,“
verfeßte Quandt. „Bei Tiſch läßt er die Speifen
unberührt, beim Unterricht ift er äußerft unauf-
merffam, ja geiſtesabweſend, die Aufgaben macht
er nicht mehr, auf Fragen antwortet er nicht,
pöteist herum wie ein Todfranfer und ftarrt in
ie ih Geftern nachts hab’ ich und meine
Frau ihn belaufcht und wir haben zugehört, wie
er erit eine ganze Weile vor fich hingewimmert,
dann auf einmal hat er einen gräßlichen Schrei
en
Wiſſen Sie vielleicht, ma in dem Brief des
Grafen geftanden hat?" forfchte der Präfident.
„O ja, das weiß ich wohl," entgegnete der
Lehrer harmlos; „es ift meine Gepflogenheit, alle
Briefe, die er erhält, vorher zu öffnen.“
Feuerbach blickte jäh empor und fah den Lehrer
mit finfterer Neugier an. „Nun, und?" fragte er.
„Sch könnte den Inhalt des Schreibens
durchaus nicht mit einer folhen Wirkung zu—
ſammenreimen,“ erwiderte Quandt bebächtig.
424
Der Präfident ftampfte ungeduldig mit dem
Fuß. „Gut, gut," rief er barſch, „aber mas
ftand denn drin, da Sie es doch einmal wiſſen ?“
Quandt erſchrak. „Es ftand drin, der Graf
tönne in diefem Jahr nicht mehr nach Ansbach
fommen, unerwartete Zwijchenfälle nötigten ihn,
diefen Plan ins Unbeftimmte zu verfchieben. Nun
ift mir freilich bekannt, daß Haufer mit der Her-
kunft des Lords ſtark gerechnet hat, er ſprach
fogar immer von einem feſten Termin und hielt
es für einen Frevel, wenn man ihm das aus»
reden wollte; er fchien es geradezu für eine Pflicht
des Grafen zu erachten, denn in feinem kindiſchen
Kopf glaubt er noch fir daran, daß ihn der Graf
mit nach England auf feine Schlöffer nehmen
werbe, und er ahnt gar nicht, daß ber Herr
Graf ſchon längſt fein Herz von ihm ab»
gewandt hat —"
„Woher wifien Sie das, Mann?" braufte der
Präfident auf und erhob fich mit ſolchem Ungeftüm,
daß der Stuhl hinter ihm umftürzte,
„Eure Exzellenz verzeihen,” ftotterte Quandt
furdhtfam, „aber das ift doc) ſonnenklar.“ Er
ging hin, ftellte den Stuhl mit einer höflichen
Grimaffe wieder auf und während der Präfident
mit feinen fteifen, Turzen Schritten auf und ab
wanderte, jagte er fchlichtern: „Trotz allem ift
mir die Wirkung diefer in den urbanfien Formen
gehaltenen Abfage unerflärlih und bejorgnis-
erregend; es muß da etwas dahinter ſtecken, und
Eure Erzellenz find vielleicht imftande, e3 heraus⸗
zubringen.“
„Ich werde der Sache nachgehen," ſchnitt
Feuerbach das Geſpräch kurz ab. Quandt machte
feinen Bücling und entfernte fih. Er ging nicht
425
heimmärts, fondern wandte fich gegen die Her-
rieder Vorjtadt, da er feine Frau vom Haus ihrer
Mutter abholen wollte. Es war ein befiger
Sturm, Blätter und Zweige wirbelten durch die
auf, Quandts Mantelumdang flatterte hochauf,
und mit beiden Händen mußte er die Ränder
feines Schlapphut3 fefthalten.
Kurz nad) dem Lehrer hatte Caſpar heimlich
das Haus verlaffen, eigentlich ohne Ziel.
ex auf der Straße war, fiel ihm ein, ob er nicht
zu Frau von Imhoff gehen tönne, und uns
- geachtet der Dunkelheit und des böfen Wetters, und
obgleich das Imhoffſchlößchen -eine Viertelftunde
vor der Stadt gelegen war, entſchloß er fich dazu.
Aber als er angelangt war, als er am Gittertor
in und zu den erleuchteten Fenftern binaufs
Haute, ſchwand ihm alle Luft und er fürchtete
ſich vor den hellen Zimmern, Sah er fich boch
ſchon droben; hörte er doch ſchon die Worte, die
ihm nichtS waren und nicht? galten, er fannte
fie alle, er hätte fie auswendig an der Schwelle
berfagen können. Ja, er kannte num die Worte
der Menfchen, er erfuhr nichts Neues durch fie,
fie fielen in das unermeliche Meer feiner Traurig»
feit wie Heine trübe Tropfen, deren Auffchall die
Tiefe verfchlang. .
Ein Schatten glitt an den Fenftern vorbei,
ein andrer folgte. So meilten fie in ihren
Wohnungen, ftil und emfig zündeten ihre Lichter
an und wußten nicht, wer draußen jtand am Tor.
Mitten im Win gebraufe vernahm Caſpar Töne
wie von einem Saiteninftrument, das unter den
Wolken aufgehängt war. Es befand ſich näm—
lich auf dem Dach des Schlößchens eine Aeols-
harfe, Caſpar wußte dies nicht und hielt e8 für
426
eine geifterhafte Muſik. Als er den Rückweg
antrat, flugen immer von Beit zu Zeit bie
orgelnden Akkorde an fein Ohr.
Er wünfchte noch nicht heimzugehen; der gleiche
dumpfe Drang, der ihn vor das Schlößchen der
Imhoffs getrieben hatte, führte ihn noch zum
Bad des Generallommifjärs, dann zum Haus
des Regierungspräjidenten, dann zum Feuerbach-
ſchen Haus und jchließlich vor ein Gebäude, das
unbewohnt war und das mit feinen verfchloffenen
Läden, feinen bemoften Simfen und feinem hoch—
bogigen Tor, über welchem ein Auge in den
Stein und darüber die Worte gemeißelt waren:
„Zum Auge Gottes", ſchon lang vorher feine Wiß-
begier aufgewedt hatte. Zur Markgrafenzeit
follte ein Goldmacher darin gewohnt haben.
Es war ihm zumute, wie wenn er in all
diefen Häufern zu Gaft gemefen fei, wie wenn
er unfichtbar unter ihren Bewohnern oder in
ihren leeren Räumen herumgegangen fei und als
ob er dabei eine merkwürdige Kenntnis von dem
vergangenen und gegenmärtigen Leben ihrer Men⸗
ſchen gewonnen hätte.
Ziemlich müde und dabei tief erregt Tangte
er im Lehrerhaus an. Quandt und feine Frau
waren noch nicht daheim, die Kinder fchliefen, die
Magd war nicht zu jehen, es herrſchte eine große
Stille, nur der Wind umheulte die Mauern, und
das Flurlämpchen fladerte wie vor Furcht. Da,
während Cajpar zur Treppe fchritt, vernahm er
eine Ianggezogene feine Stimme, ähnlich dem
Birpen der Sommergrille, und die Stimme rief:
„Stephan!“
Er blieb befremdet ftehen und fah fih um.
Da alles ruhig war, glaubte er fich getäufcht zu
427
haben, glaubte, es fei eine Stimme draußen auf
Straße gewefen. Aber kaum hatte er drei
Schritte getan, fo erichallte die Stimme neuer-
dings, nur unvergleichlich lauter, anjcheinend aus
dichterer Nähe:
„Stephan!“
&3 war etwas ‚unendlich Ergreifendes in dem
Ton; es Hang, wie wenn einer, der zu ertrinfen
fürchtet, aus dem Wafler ruft. Unverkennbar
mar e3 eine männliche Stimme, die nun zum
drittenmal wie von Schluchzen erftict ausrief:
„Stephan !"
Kein Zweifel, der Auf galt ihm, ihm, Cafpar.
Er trete die Arme aus und fragte: „Wo?
Wo bift du? Wo bift du?“
Da fah er oben über der Tür, körperlos
ſchwebend, ein fahlleuchtendes Gefiht. Es war
das Gefiht Stanhopes, mit aufgerifjenen Augen
und aufgerifjenem Mund, wie in äußerjtem
een verzerrt, häßlich, ſchier unfenntlich
* lich
Caſpar verharrte angewurzelt an feinem Platz,
feine Glieder, ja feine Augen waren wie ver-
fteinert. Als er zum zmweitenmal hinblidte, war
das Antlig verjhmunden, auch die Stimme ließ
fich nicht mehr vernehmen. Flur und Stiege er-
leuchtet, alle Türen zu, fein Menſch zu jehen,
fein Laut zu hören.
Es wird eine Reife beſchloſſen
Eines Nachmittags im Dezember ſahen er-
ftaunte Nachbarn den Lehrer Quandt wie be
428
fefien aus feinem Haus und gegen die Neuftadt
ftürmen, wo die Wohnung des Polizeileutnants
lag. Er trat ins Zimmer des Leutnants, und
ohne fich Zeit zu gönnen, feinen Hut vom Kopf
zu nehmen, griff er in die Rocktaſche und hielt
Hidel wortlos ein dünnes Drudheft entgegen.
Es war die vor kurzem erfhienene Cafpar-
Saufer-Brofchtre Feuerbachs. Quandt hatte das
üchlein erſt heute in die Hände befommen und
es in einem Bug durchgelefen.
Hickel nahm das Heft, befah e8 rundum und
fagte gelaffen: „Na, und? Was jol’3? Meinen
- Sie, daß das eine Neuigkeit für mich ift? Sie
echauffieren ſich doc nicht etwa? Der Alte
fchreibt, weil das fein Geſchäft ift. Eher können
Sie einer Henne das Eierlegen abgesöhnen als
einem geborenen Federfuchier das Schreiben."
Quandt atmete tief auf. „Schreiben, ſchön;
ich laſſe ja vieles gelten," antwortete er, „aber
das geht denn doch zu weit. Erlauben Sie —"
er padte das Heft, ſchlug das Titelblatt auf und
las vor: „Cafpar Haufer oder Beiſpiel eines
Verbrechens am Seelenleben de3 Menjchen. Das
Mlingt ja nad) etwas.“ fagte er bitter; „es ftreut
den Leuten von vornherein Sand in die Augen.
Aber das Ganze ift ein Roman, und nicht ein-
mal einer von der beften Sorte."
Ex blätterte und deutete mit dem Finger auf
eine Stelle, die er gleichfalls höhnijch betont
vorlag: „Caſpar Haufer, das rare Eremplar der
Gattung Menſch —! Lieber Herr Polizeileut-
nant, da bin ich mit meiner Weisheit zu Ende.
Das kommt mir fo vor, al3 ob man den notorifch
fchlechteften meiner Schüler vor verfammeltem
Volt als einen großen Gelehrten erklärte. Rares
429
Eremplar! In dem Punkt weiß ich beſſer Be⸗
ſcheid, halten zu Gnaden, Erzellenz; da könnte
ich einem verehrlichen Publifo ganz anders die
ugen Öffnen. Rares Eremplar, gewiß! Aber
man muß nur aud) das Alphabet von vorne und
nicht von hinten leſen. Das ijt aljo der große
Kriminalift, der beitaunte Alleswiffer! So fra
der Ruhm aus, wenn man ihn aus der Nähe
betrachtet! Und nun erft das ganze dynaftifche
Hintertreppenmärchen! Es wäre ja zum Lachen,
wenn es nicht jo traurig wäre. Herrgott, ift
da3 eine Zeit, i das eine Welt!"
Der_Polizeileutnant hörte mit kaum merk»
fichem Lächeln den Ausbruch des Lehrers an.
AL Quandt zu Ende war, fagte er gleichmütig:
„Was wollen Sie? Als getreue Diener find
mir nun einmal dazu verurteilt, die dummen
Streiche unfrer Herrichaft mitanzufehen. Uebri
gens Tann ich Sie in einer Hinficht beruhigen.
Der Präfivent hat felber feine rechte Freude an
dem Büchlein. Er klagt über Gedächtnisfehler,
die ihm dabei paffiert find, und daß es ihn mehr
Mühe gekoftet hat, die Gefchichte zu Papier zu
bringen, denn ein ganzes Corpus juris, Und
jest muß er's erleben, daß man ihm draußen im
Neich hart zufeßt. Es geht die Rede, daß die
Bundestommiffton zu Frankfurt die Schrift fon-
fiszieren wird."
„Recht fo," rief Ouandt. „Auch die Fürften
follten etwas dagegen unternehmen.“
„Das laſſen Sie nur die Sache der Fürften
fein,“ verfeßte Hickel, deſſen Geficht plöslich böfe
und forgenvoll wurde. „Pot Kreuz, lieber Quandt,
Sie ereifern ſich ja da, als ob's Ihnen an den
Kragen ginge. Ich möchte nur gar zu gern
430
wiffen, ob Sie auch fo viel Mut zeigen würden,
wenn die Exzellenz dahier im Zimmer wäre."
Quandt ſchaute fich mißtrauifh um. Dann
zuckte er die Achjeln und erwiderte: „Sie belieben
zu ſcherzen, Herr. Polizeileutnant. Schlimm ges
nug, daß man mit feiner wahren Meinung bin-
term Berg halten muß. Wir haben alle ver-
gefien, wie ein Mann den Kopf tragen foll.
Kuſchen, das haben wir gelernt, das verjtehen
A von Grumd aus. Aber ich will nicht mehr
uſchen.“
„pſt!“ unterbrach ihn Hickel unwirſch; „laſſen
wir das; es ſchmeckt nach Demagogentum. Sagen
Sie mir lieber: Hat der Haufer Kenntnis von
der Brofchüre?"
„Nicht daß ich wüßte," entgegnete Quandt.
„Aber es wird nicht zu vermeiden fein, daß er
davon erfährt, gibt es doch Unverftändige genug,
die fih_ein Vergnügen daraus machen werden.
Haben Sie, Herr Polizeileutnant, nicht auch von
der Schrift eines gewiſſen Garnier gehört?“
Bei der Nennung dieſes Namens zudte Hickel
zufammen und fah den Lehrer finfter an. Es
dauerte eine ganze Weile, bevor er fich zu einer
Antwort entſchloß. „Garnier? a, das ift ein
landesflüchtiges Subjekt. In_feinem Pamphlet
bringt er diefelben finnlofen Dinge vor mie der
Staatsrat, bloß noch verbrämt mit dem windigiten
Hofklatſch. Das Machwerk ift nicht der Rede
wert."
Wie fol ich mich aber verhalten, wenn der
Haufer irgendwie in den Beſitz eines diefer Pro-
dukte kommt?" fragte Quandt.
Hickel fpazierte mit feinen langen Schritten
herum und nagte mit den Zähnen nervös an der
431
Unterlippe. „Zreffen Sie Vorſorge,“ erwiderte
ex kalt. „Laffen Sie ihn nicht aus den Augen.
Mid kümmert das übrigens gar nicht; ift mir
völlig egal. Man wird den jungen Mann ſchon
karwanzen.“
Quandt ſeufzte. „Herr Polizeileutnant,“ ſagte
er bedrüct, „ich kann Ihnen nicht ſchildern, wie
mir iſt. Meine halbe Seligfeit gäb’ ich drum,
wenn e3 mir vergönnt wäre, den Menjchen zu
einem offenen Gejtändnis zu bringen."
„Man wird’3 Ihnen billiger machen," ver-
feste Hickel düfter.
„Wiflen Ste denn das Neueſte?“ fuhr Quandt
fort. „Der Präfident will den Haufer als
Schreiber beim Appellgericht beichäftigen. Morgen
fol er ſchon anfangen.“
„Und was wird der Graf dazu ſagen?“
„Man bat es ihm fchreiben wollen; weiß
aber nicht, wo er fich aufhält. Es ift feit vier
Wochen nur ein einziger Brief von ihm gekommen,
und den bat der Haufer nicht einmal angefehen.
Meines Erachtens muß er fich über die Maß—
regel freuen. Für ein Metier im engeren Sinn
ift der Haufer doch nicht zu brauchen, er hat leider
den Verkehr mit den gebildeten und höheren
Ständen zu lange genofjen, als daß es ihn nicht
rebellifch machen müßte, wenn er ihn plößlich
mit der Umgebung in einer Werkftätte vertaufchen
müßte. Anderfeit3 ift er auch zu einem Beruf
ungeeignet, der eine tiefere Ausbildung erfordert,
denn zu einem ernfthaften Studium fehlt ihm
Sinn und Ausdauer. Der Staatsrat hat dem-
nad) die befte Löfung getroffen, die auch mich
von einem Teil meiner DVerantwortlichkeit ent
laftet. Bei der Schreiberei kann ſich der Haufer
432
nicht nur zu einem Beamten de3 niederen Dienftes,
fondern bei einigem Fleiß fogar für eine Stelle beim
Regiftratur- oder Rechnungsweſen ausbilden."
Hickel hörte der weitläufigen Auseinander-
ſetzung faum zu. Sie gingen nun zufammen fort;
vor der Hofapothefe verabfchiedete fich Hickel,
um fih, wie er fagte, ein Piülverchen gegen
Schlaflofigkeit verfchreiben zu Laffen.
Auf dem Nachhaufeweg wurde Quandt vom
Hofrat Hofmann ehr freundlich gegrüßt, eine
Tatſache, die hinreichend mar, feine mürriſche
Stimmung ungemein aufzubeitern. Beim Mittag-
effen, es gab Kalbsbruft und Ochjenmaulfalat,
wurde er og: Iuftig und trieb allerlei Scherze
mit feiner Gattin. Aber wie es bei jeriöfen
Naturen der Fall zu fein pflegt, geriet feine Auf-
geräumtheit ziemlich ins Plumpe. Unter anderm
nahm er das Mefier und fuchtelte der Lehrerin
lachend damit vor der Nafe herum. Da erblafte
Caſpar, ftand auf und fagte: „Um Gottes willen,
Here Lehrer, legen Sie doch das Mefjer weg,
ich kann's nicht ſehen.“
Quandt, gleich wieder verdrießlich, brummte:
„Na, hören Sie mal, Hauſer, ein ſolches Be—
tragen ſchmeckt ſtark nach Affektation.“
„Sie find ein ſchöner Tappel,“ ſagte die
Lehrerin, „ein Mann muß mutig fein. Was
wollen Sie denn tun, mwenn’3 mal Krieg gibt?
Da beißt es mit Anjtand ſterben.“
„Sterben? Nein, da jag’ ich Dank, fterben
mag ich nicht," erwiderte Cafpar haftig.
„Und doch haben Sie fi) damals vor dem
Volizeileutnant in einer höchſt widerwärtigen
Weile über denfelben Punkt geäußert," ließ ſich
Quandt vernehmen.
Baffermann, Gafpar Haufer 28 433
„Nein, jo feig,“ fuhr die Lehrerin fort, „mit
dem Kadetten Hugenpoet von ben ‚Dragonern
haben Sie ſich legten Sommer ja auch einmal
fo feig, Benommen,
„Was ift denn das für eine Gefchichte?" er-
kundigte fi Quandt, „davon weiß ich gar nichts."
„Er war doc mit dem Kadeiten oft bei-
fammen; der hat dem Haufer immerzu vor
eſchwärmt, er joll Soldat werden, in ein paar
Sahren braͤcht' er es leicht zum Offizier. Wär’
ja nicht fo übel, die Kabetten haben e8 gut und
kommen fchnell vorwärts. Unfer Hauſer war
auch begeiftert von der Idee, aber auf einmal
mar die Freundſchaft aus."
„Ei, und aus welchem Grund?"
„Das war fo. An einem Abend im Sep-
tember ift er mit dem Kadetten am Nezatufer
fpazieren gegangen, und fie find zu einer Stelle
gefommen, wo viele Knaben und Burfchen fich
gebabet haben, denn es war furchtbar warm an
dem Tag. Der Kadett jagt, das wollen wir auch
machen, zieht fich aus und will den Haufer über-
reden, gleichfal8 zu baden. Der war aber zu
Tod erichroden von dem Vorjchlag und fagt,
ins Waffer geht er nicht. Das hören die andern,
fteigen heraus, ftellen ſich um ihn herum, ver-
fpotten ihn und wollen ihn mit Gewalt ins
Waſſer bringen. Da reißt er fich los, eh’ man
fs verfieht, ift er in feiner Höllenangjt über
ie Felder Davongelaufen, und die nadigten Kerle
höhnen Hinter ihm ber. Dem Kabetten war's zu
bunt, und ex fieht ihm nicht mehr an ſeitdem.
Iſt's wahr, Haufer, oder nicht?"
Caſpar nicte. Der Lehrer ſchüttelte fich vor
Sachen.
434
Ein paar Tage fpäter kamen Frau von Im⸗
hoff und das Fräulein von Stichaner, um Caſpar
zu befuchen. Die Lehrerin, ftolz auf die vor-
nehmen Gäfte, wich nicht vom Fleck. Der Unter-
haltung zuliebe und weil ihr nichts Geſcheiteres
einfiel, erzählte fie im Beiſein Caſpars abermals
die Geichichte mit dem Kadetten und dem ver-
weigerten Bad, doch hatte fie nicht benfelben
Erfolg wie vor ihrem Ehegemahl. Die beiden
Damen hörten | ſchweigend zu.
„So Feigheit ift eatlich nicht ſchön,“
bemerkte das Fräulein von Stichaner dann auf
der Straße gegen Frau von Imhoff.
„Man kann es nicht gut Feigheit nennen,“
antwortete diefe; „er Tiehe das Leben zu ſehr,
das iſt es. Er liebt das Leben wie ein Toller,
wie ein Tier liebt er es, wie ein Geizhals ſein
Gold. Er hat mir ſelbſt gitanden, daß er jedes⸗
mal vor dem Einſchlafen Angft Hat, jein Schlaf
könne fich ihm unbewußt in Tod verwandeln,
und er betet, Gott möge ihn doch ganz gewiß
am andern Morgen — aufwachen laſſen.
Nein, es iſt nicht Feigheit; es iſt vielleicht die
Ahnung einer großen Gefahr, aud der Trieb,
viel Verfäumtes nachzuholen. Man muß ihn nur
manchmal fehen, wie er fich freuen kann, und
über das Allergeringfte, woran jeder andre fumpf
vorübergeht. Seine Freude Hat etwas Groß-
artiges, etwas Erdentrücktes, jo wie feine Furcht
und feine Traurigkeit etwas Schauerliches haben."
u Haufe wurde Frau von Imhoff durch
einen Brief ihrer Freundin, der Frau von Kanna-
wurf, überrafcht, doppelt angenehm überrafcht,
da Frau von Kannamurf, fie weilte gegenwärtig
in Wien, fchrieb, fie wolle im März nach Ans—
435
bach kommen. In dem Brief war überdies viel
von Cafpar die Rede. „ch habe in den letzten
Tagen die Feuerbachſche Schrift gelefen,” hieß es
unter anderm, „und muß dir geftehen, daß mich
noch niemal3 ein Buch dermaßen im Innerſten
auf gemähtt hat. Ich kann feitdem nichts andres
denken, und es flieht mich der Schlaf. Weil
Caſpar Haufer jelbft von diefer Schrift? Uni
wie ftellt er fich dazu? Was äußert er darüber ?"
Frau von Imhoff verfäumte es, über den
Punkt Beſcheid zugeben; e3 fiel ja auch ſchwer,
Caſpar zu befragen. Hat er das Buch nicht
gelejen, jo ift e8 peinlich und fonderbar, ihn
darüber in Unmifjenheit zu fehen, dachte fie; noch
peinlicher und fonderbarer, wenn er es gelejen
bat; peinlich und jonderbar fein Aufenthalt hier,
fein Ropiftenamt auf dem Gericht, fein ganzes
Treiben; und mie ift es möglich, eine Ausſprache
herbeizuführen? “Jedes offene Wort kann unheil-
voll werden.
Trogdem unternahm es Frau von Imhoff,
Cafpar vorfichtig auszuholen, ob er überhaupt
von der Sache wifje oder davon reden gehört.
Und er wußte davon. Nicht im entfernteften
aber hegte er den Wunſch, ſich Klarheit zu ver-
ſchaffen. Erſtens aus Furcht; die Furcht ließ
ihn vor jedem Schritt zurüctbeben, der auf eine
Veränderung feiner Lage zielte, feine Gedanken
von der krampfhaft umflammerten Gegenwart
ablenken Eonnte; und dann, weil er wahrjcheinlich
annahm, es handle fich bei der Schrift des Präfi-
denten auch nur um das bodenloje Gerede, das
ex in- und auswendig wußte und von dem ihm,
mie ex zu fagen pflegte, bloß Kopf- und Herz
weh und ein dummes Nachſchauen blieb. Er
436
hatte dergleichen oft genug erfahren, und aus
lauter Ueberdruß daran war er am Ende jo un-
neugierig geworden, daß eine einzige Andeutung,
während eine Gefprächs etwa, hinreichte, um feinem
Geficht den Ausdrud fchalfter Langweile zu geben.
Wie er chlielich doch dazu gelangte, das für
ihn und um feinetwillen gefchaffene Werk Tennen
zu lernen, das hatte eine eigentümliche Be—
wandtnis.
Es war an einem unfreundlichen Vormittag
im März, da verbreitete ſich plötzlich im Appell-
erichtsgebäude und bald darauf in der ganzen
— die Nachricht, der Präſident ſei im großen
Gerichtsſaal während. einer Verhandlung, die er
leitete, ohnmädhtig vom Stuhl gejtürzt. Alle
Beamten liefen fofort aus ihren Zimmern und
ftanden alsbald auf den Treppen und Korridoren.
Auch Cafpar Hatte feinen Arbeitstiſch verlaffen
und gefellte fich zu den übrigen. Er ſchlich aber
abfichtlich wieder davon, um nicht Zeuge fein
zu müffen, wie man den Präfidenten von oben
heruntertrug.
As er fih in das Zimmer zurücbegab, in
welchem er an allen Vormittagen von acht bis
zwölf Uhr fchrieb, und zwar nur in Geſellſchaft
eines alten Kanzliften, eines gemifjen Dillmann,
war biejer fein Amtsgefährte noch nicht wieder
da. Caſpar, fehr traurig und erjchroden, ftellte
fih zum Fenſter und malte, ſchmerzlich verfonnen,
wie er war, mit dem Finger den Namen Feuer-
bach in die beichweißte Scheibe.
Indes trat Dillmann -ein und ging hände—
ringend auf feinen Pla zu.
Bis auf diefen Tag hatte der alte Kanzlift,
und Gafpar befand ſich nun über neun Wochen
437
auf dem Amt, noch nicht ein Dutzend überflüffiger
Worte mit dem neuen Kollegen gewechielt; er
hatte ſich im mindeften nicht um ihn gekümmert
und eine grämliche Gleichgültigteit gegen ihn zur
Schau getragen. Im Verlauf der sreibig Sahre,
während welcher er Alten, Erläffe, Verordnungen
und Urteile Topierte, hatte er es zu einer befon-
deren Gefchiclichkeit im Schlafen gebracht, und
es war komiſch zu fehen, wenn er, den Federkiel
aufs Papier gefpießt, leiſe fchnarchend feine
Siefta hielt und ſogleich die Hand fchreibend
weiterbewegte, wenn fi) draußen der Schritt
eines Vorgeſetzten vernehmen ließ, da er die
Gangart jedes einzelnen Heren genau ftudiert
und fozufagen im Kopf hatte,
Um fo verwunderter war Gafpar, als Dill:
mann auf ihn zufchritt und mit zitternder Stimme
fagte: „Der unvergleichlihe Mann! Wenn ihm
nur nichts zuftößt! Wenn ihm nur nicht? Menfch-
liches paffiert!”
Caſpar drehte fich um, entgegnete aber nichts.
„Na, Haufer, und für Sie wäre es gar ein
unerjeßlicher Verluſt,“ fuhr der Alte jeltfam
teifend und zänkiſch fort; „wo gibt’3 denn in
diefer Iummerigen Welt einen Menfchen, der fich
fo für einen andern Menjchen einfest? Sollte
mich nicht erftaunen, wenn das ein fchlimmes
Ende nähme. Ja, es wird ein fchlimmes Ende
nehmen, ein ſchlimmes Ende."
Cafpar hörte ſchweigend zu; feine Augen
blinzelten.
„So ein Mann!" rief Dillmann aus. „Ih
bab’, ſeit ich bier fie, fchon fieben Präfidenten
und zweiundzwanzig Regierungsräte zum Grab
geleitet, Hauſer, aber fo einer war nicht dabei.
438
Ein Titan, Haufer, ein Titan! Die Sterne könnt’
ex vom Himmel reißen um der Gerechtigkeit willen.
Man muß ihn nur betrachten; haben Sie ihn mal
jenau betrachtet? Der Budel über der Nafe!
8 deutet, wie man jagt, auf eine genialifi
Konzeption; diefe Jupiterftion! Und das Buch,
Haufer, das er für Sie gefchrieben hat! Das
it ein Buch! Ein wahrer Scheiterhaufen iſt's!
Die Zähne muß man zufammenbeißen und die
Fäufte ballen, wenn man's lieſt.“
Cafpar machte ein märrifes Gefiht. „IH
hab's nicht gelejen,“ fagte er kurz.
Dem alten Kanzliften gab e3 einen Ruck.
Er riß den Mund auf und fchnappte. „Nicht
jelefen? * ftotterte er. „Sie — nicht gelefen?
Ja wie ift denn das möglich? Da foll mich doch
aid der Teufel holen!“ Eilig trippelte er zu
einem Tiſch, ſchob eine Lade auf, fuchte herum
und brachte das Büchlein zum Vorfchein. Er
reichte es Cafpar hin, ſtieß es ihm förmlich in
die Hand und knurrte: „Lefen, lejen! Sapper-
Iot, leſen!“
Cafpar machte es beinahe wie Hicel dem
Lehrer Quandt gegenüber. Er drehte das Buch
um und um umd zeigte eine unfchläffige Miene.
Dann erſt ſchlug er es auf und las, fichtlich er-
bleichend, den Titel. Immerhin genügte auch
dies noch nicht, um ihn meugierig oder um-
geduldig werden zu lafien. Er ſteckie daS Buch
a —F aſche und fagte troden: „Bu Haufe will
ich's leſen.
Schlag zwölf Uhr verließ er, wie gewöhnlich,
das Amt, feste ſich zu Haufe, als obnichis ge—
ſchehen wäre, zu Tiſch und hörte ftill den Ge—
jprächen zu, die fich ausfchlieglich um das dem
J 439
Präfidenten widerfahrene Unglüd drehten. „Am
legten Sonntag nor dem Kirchgang,“ plauderte
die Lehrerin, „da hab’ ich den Staatsrat gefehen,
ggeabe wie ihm vier Totenweiber begegnet find.
er Staatsrat ift ganz erſchrocken geweſen, ift
ftehengeblieben und hat ihnen nachgeſchaut. Ich
hab’ mir gleich gedacht, das kann nichts Gutes
bebeuten.“
„Wenn ihr Frauenzimmer nur nicht alleweil
euch anmaßen wolltet, dem Herrgott in die Karten
zu gaffen,“ verfeßte Duandt unwirſch. „Da
predigt man und predigt das liebe lange Jahr,
glaubt mwunder3 wie auf den Höhen der Auf-
ärung zu wandeln und fchließlich ſpuckt einem
die eigne Sirrjeaft am fräftigften in die Suppe."
Caſpar belachte diefe Worte, was ihm von
der Lehrerin einen giftigen Blick eintrug.
Er begab fih dann in fein Zimmer.
Um zwei Uhr follte er zum Unterricht kommen,
erft von vier Uhr an brauchte er im Amt zu
fein. Als zehn Minuten über die Zeit vergangen
waren, trat Quandt in den Hausflur und rief.
Es erfolgte feine Antwort. Er ging hinauf und
überzeugte fi, daß Gafpar nicht da war. Sein
Unwillen verwandelte ſich in Schreden, als er
bei feiner fpionierenden Umfchau die Feuerbachſche
Schrift auf Caſpars Tiſch Liegen ſah.
„Alſo doch,“ murmelte ex bitter.
Er nahm das Buch an fich, fuchte unten feine
Frau und fagte mit tonlofer Stimme: „Sette,
ih habe da eine furchtbare Entdeckung gemacht.
Der Haufer hat die Schrift des Staatsrat auf
feinem Zimmer gehabt. O die gemiffenlofen
Fr Wer doch das wieder eingefädelt
t!“
440
Die Lehrerin zeigte wenig DVerftändnis für
den Borfall. „Laß ihn gehen,“ oder „fag’3 ihm
doch," oder „gib’3 ihm nur orbentlih,“ war
meift alles, was ſie zu entgegnen wußte, wenn
Quandt ungehaltn über Caſpar war.
„Wann ift denn der Haufer fort?" erfundigte
fi) Quandt bei der Magd. Diefe wußte von
nichts. Da trat Cafpar jelber ind Zimmer und
entſchuldigte fich höflich.
„Wo waren Sie denn?“ forfchte der Lehrer.
„Ih bin zu Feuerbachs gegangen und wollte
fragen, wie es dem Staatsrat geht."
Duandt ende feinen Verdruß hinunter und
begnügte fih, Caſpars Fortgehen als Eigen-
maͤchtigkeit zu tadeln. Als er mit dem Jüngling
allein war, wandelte er eine Weile ratlos auf
und ab. Endlich begann er: „Ich war vorhin
auf Ihrer Kammer, Haufer. Ich habe bei dieſer
Gelegenheit einen Fund gemacht, der mich, gelinde
ausgedrüct, ſehr mit Bedenken erfüllt. Ich will
mid nun über die Schrift des Herrn Staaisrats
nicht weiter außlaffen, obwohl alle vernünftigen
Menſchen darüber einer Meinung find; ich Halte
mich nicht für befugt, Ihnen gegenüber einen fo
verdienftollen Mann herunterzujegen. Auch will
ich nicht weiter unterfuchen, wer Ihnen das Buch
in die Hand gefpielt hat, da ich mich dabei doch
nur der Gefahr ausfegen würde, von Ihnen an—
gelogen zu werden. Aber mein Bedenken Bat es
erregt, daß Sie fogar bei einem folchen Anlaß
heimlich verfahren zu müſſen glauben. Warum
tommen Sie nicht, wie ſich's gehört, zu mir und
fprechen fi aus? Denken & denn, daß ich
Sie des Vergnügens beraubt hätte, eine hübſche
Fabel zu Iefen, die ein ehemals großer und bes
441
rühmter, doch nun franfer und geiftesmüder
Mann verfaßt hat? Weiß ich denn nicht auch,
wie Ihnen in Ihrem Innern zumute fein muß,
wenn man ein ſolches Märchen in Ihre Ver-
angenheit hineinfpinnt? Cine Vergangenheit, die
Iren wahrlich beffer befannt ift al3 dem armen
Staatsrat? Aber warum denn um Gottes willen
die ewige Verſteckenſpielerei? Hab’ ich das um
Sie verdient? Bin ich nicht wie ein Vater zu
Ihnen gemejen? Sie leben in meinem Haus,
Sie efjen an meinem Tiih, Sie genießen mein
Vertrauen, Sie nehmen teil an unferm Wohl
und Wehe, Tann Sie denn nichts in der Welt
bewegen, Sie heimlicher Menſch, einmal offen
und rückhaltlos zu fein?"
O mwunderfam! Dem Lehrer ftanden die
Augen voller Tränen. . Er zog die Schrift des
Präfidenten aus der Taſche, ging zum Tiſch
und Iegte das Büchlein mit Affekt vor
Caſpar hin.
Cafpar blidte den Lehrer an, als ob dieſer
in einer weiten Entfernung ſtehe. Es war etwas
Stiered in feinem Blick und eine volllommene
Abwefenheit der Gedanken. Auf der Stirn: lag
es wie geifterhaftes Gewölk, die Lippen waren
geöffnet und zuckten.
Wie böfe er ausfieht, dachte Duandt und
fing an, fich zu ängftigen. „Sprechen Sie doch!"
ſchrie er heifer.
Caſpar jchüttelte Iangjam den Kopf. „Man
muß Gebuli haben," fagte er wie im Traum.
„Es wird fich was ereignen, Lehrer, pafjen
Sie nur auf. Es wird fid) bald was ereignen,
lauben Sie mir." Unwillkürlich ſtreckte er die
and nach dem Lehrer aus.
442
Quandt kehrte ſich angewidert ab. „Ders
ſchonen Sie mich mit Ihren Redensarten," jagte
er kalt. „Sie find ein abfcheulicher Komödiant.“
Damit war das Gefpräch beendet und Duandt
verließ das Zimmer,
Durch den Archivdireftor Wurm erfuhr Quandt,
daß Cafpar allerdings zu Mittag im Feuerbach⸗
chen Haus gemefen war, daß er aber nicht bloß
nad) dem Befinden des Präfidenten gefragt, fon-
dern auch mit auffallender Dringlichkeit den
Staatsrat zu ſprechen verlangt habe. Natürlich
habe man ihm durchaus nicht willfahren können.
Er war noch) eine halbe Stunde lang unbeweg-
lich am Tor ftehengeblieben, und bevor er fich
entfernt, war er um das ganze Haus herum-
gegangen und hatte zu den Fenftern hinaufgejchaut,
wobei fein Gejicht ander3 als je, wild und ver-
ftört, ausgejehen.
Nun kam er aber den nächften Tag wieder,
und ebenfo am dritten und vierten Tag, jedesmal
mit demfelben dringenden Begehren, und jedesmal
wurde er abgewiejen. Der Peifident bebürfe der
Ruhe, wurde ihm gefagt; fein Zuftand, der an-
fangs zu Veforgniffen Grund gegeben, beffere
fich jedoch ftetig.
Direktor Warm erzählte endlich dem Präfi-
denten davon. Feuerbach befahl, daß man
Caſpar zu ihm führen folle, wenn er das
nächte Mal käme, und beitand troß dem Ab-
reden Henriette auf feinem Willen. Es ver-
ging aber die ganze Woche, ehe fi Cajpar
wieder ſehen ließ.
Eines Nachmittags, ſchon ziemlich jpät, er-
ſchien er und wurde von Henriette, nicht eben
freundlich empfangen, in das Zimmer ihres
443
Vater geleitet. Der Präfident ſaß im Lehn-
ſtuhl und hatte einen Heinen Berg von Akten
vor ſich aufgeſchichtet. Ex ſah ſehr gealtert aus,
weiße Bartitoppeln umftanden Kinn und Wangen,
fein Auge blickte ruhig, hatte aber einen ängit-
lichen Schimmer, wie bei einem, dem der
äußerft geffchtete Tod näher geweſen ift als er
benten will, .
„Nun, was wünfchen Sie von mir, Haufer?"
wandte er ſich an Cafpar, der neben der Tür
ftehengeblieben war.
Caſpar trat heran, ftolperte vor dem Schemel,
fiel plößlich auf die Knie und beugte in pagen-
bafter Demut das Haupt. Auch feine Arme
ſanken jchlaff herunter, und er verharrte mit
ergebener und düfterer Miene in derſelben
Stellung. .
Feuerbach verfärbte fih. Er padte Caſpar
bei den Haaren und bog den Kopf zurüd, aber
die Augen Caſpars blieben geſchloſſen. „Was
gibt’8, junger Mann?" vief der Präfident hart.
Jetzt erhob Caſpar den fprechenden Blick.
a hab’ es gelefen,“ fagte er.
er Präfident ballte die Lippen aufeinander,
und feine Augen verſchwanden unter den Brauen.
Ein langes Schweigen trat ein.
„Stehen Sie auf herrſchte endlich der Präfi-
dent Caſpar an. Dieſer gehorchte.
Feuerbach padte ihn beim Handgelent und
fagte halb drohend, halb beſchwörend: „Nicht
mucjen, Haufer, nicht muckſen! Stille halten!
Stille fein! Abwarten! Iſt vorläufig nichts
weiter zu tun.“
Caſpars Geficht, ftumm erregt wie daS eines
Fiebernden, wurde ftarrer.
444
„Es graut Jhnen, jawohl,“ fuhr der Präft-
dent fort, „auch mir graut, und dabei muß es
fein Bewenden haben. Unjerm Arm find nicht
alle Fernen und Höhen erreichbar. Wir haben
nit Joſuas Schlachttrompeten und Oberons
Horn. Die hochgewaltigen Koloſſe find mit
Flegeln bewehrt und dreichen fo hageldicht, di
Si en Schlag und Schlag fich unzerknit
fein Lichtſtrahl zwängen Tann. Geduld, Haufer,
und nicht mucen, nicht muckſen. Zu verjprechen
ift nichts; eine Hoffnung bleibt noch, aber dazu
drauch’ ich Gefundheit. Genug für jetzt!“
Er machte eine verabjchiedende Gefte.
Cafpar jah den alten Mann zum erftenmal
ar und ruhig an. Der fefte Blick mwunderte
den geifdenten. Ei der Zaufend, dachte er,
der Burjche hat Blut in ſich und fein Zucker⸗
waſſer. Schon im Fortgehen begriffen, drehte
ſich Caſpar noch einmal um und fagte: „Erzellenz,
ich hätte eine große Bitte.“
„Eine Bitte? Heraus damit!"
Es ift mic fo läftig, daß ich bei jedem Aus-
gehen immer auf den Invaliden warten foll. Er
ommt oft jo fpät, daß es De nicht mehr
ums Zegaehen lohnt. 8 Appellgericht kann
ich doch alleine gehen und zu meinen Belannten
auch.“
Hm," machte Feuerbah, „will's überlegen,
werd’ es richten."
ALS Cafpar das Zimmer verließ, huſchte eine
weibliche Geftalt längs des Korridors davon,
einer ertappten Lauſcherin geid, Es war Hen-
riette, die, in bejtändiger Angjt um den Vater,
nichts fo ſehr fürchtete wie die Gefahr, die aus
deſſen Teidenfchaftlichem Anteil an dem Schick-
445
jal Caſpars drohte. Es mag dafür ein
Brief Zeugnis geben, den fieran ihren in der
Pfalz wohnenden Bruder Anfelm fchrieb und
der die unheilfchwere Luft, die in der Um—
gebung des Präjidenten laftete, mit jeder Beile
jpüren ließ,
„Der Zuftand unfer Vaters,“ fo begann
das Schreiben, „hat fi, Gott jei Dank, zum
Beſſern gewandt. Er vermag ſchon, auf einen
Stock geſtützt, durchs Zimmer zu gehen und hat
auch wieder Freude an einem guten Braten,
wenngleich fein Appetit nicht mehr der frühere
ift und er hin und wieder über Magenfchmerzen
tagt. Was aber feine Stimmung im allgemeinen
anbelangt, fo ift fie fchlechter denn je, und zwar
hängt dies vornehmlih mit der unglüceligen
Cafpar-Haufer-Schrift zufammen. Du weißt, welch
viefiges Aufjehen die -Brofchüre im ganzen Land
hervorgerufen hat. Tauſende von Stimmen haben
fich dafür und damider erhoben, aber es ſcheint,
daß das Damider allmählich die Oberhand be
Balten hat. Die gelefeniten Zeitungen brachten
xtifel, die einander auffallend ähnlich waren und
worin das Werk als Produft eines überfpannten
Kopfes höhniſch abgetan wurde. Nachdem zwei
Auflagen in rafcher Folge verkauft waren, weigerte
der Verleger plöglich unter allerlei Ausflüchten den
Drud, und als man ſich an zwei andre wandte,
kamen ebenfalls Abjagen. Daß dahinter die
tückiſcheſten Umtriebe ftecden, famt und fonders
aus ein und derjelben Quelle, kann man fich nicht
verhehlen, und ich möchte mir die Lippen mund
beißen, wenn ich daran denke, in was für Zus
ftänden wir zu leben gezwungen find, daß ſelbſt
ein Mann wie unfer Vater für eine Sache, die
446
fo, wie fie ift, zum Himmel fchreit, fein williges
Ohr findet, von tätiger Hilfe ganz zu ſchweigen.
Wahrhaftig, die Menfchen Ti träge, ftumpfe,
dumme Tiere, fonft wäre mehr Empörung in der
Welt. Nun magft du dir aber erft unfern Vater
vorftellen: feine bittere Derftimmung, feinen
Schmerz, feine Verachtung, und alles zurüd-
gehalten, in feiner Bruſt zugefchloffen. Was
mußte er fühlen, da fogar aus dem nächſten
Freundeskreis fein Zeichen des Beifalls, des Dantes,
der Liebe mehr zu ihm flog! Gewiſſe hochgeftellte
BVerfonen hielten mit ihrem Aerger nicht zurüd,
und bier, in dem abjcheulichen Krähmintel, hatte
man ohnehin wenig Aufhebend von der ganzen
Geſchichte gemacht, begreiflichermeife, denn Chriftus
mag Rom erobern, zu Serufalem ift er nur
ein fehäbiger Rabbi. Ich bin in großer Sorge
für _unfern Vater. ch kenne ihn erg, um zu
wiſſen, daß feine jetzige äußerlice uhe nur
den inneren Sturm verbirgt. Manchmal fist
ex ftundenlang und ftarrt auf eine einzige Stelle
an der Wand, und wenn man ihn dann ftört,
ſchaut er einen mit großen Augen an und lacht
lautlos und weh. Neulich fagte er ganz plötzlich
und mit finfterer Miene zu mir: das Rechte fei,
wenn aus folder Urfache heraus wie in früheren
Zeiten der ganze Mann fich ftelle, mit Haut und
dag müſſe man ſich opfern und dürfe ſich nicht
inter einem Wall bedruckten Papiers verſchanzen.
Er wälzt Pläne in ſeinem Hirn, die Nachricht,
daß im Badiſchen eine Revolution ausgebrochen
it, hat ihn mächtig angegriffen, und in der Tat
fcheint diefe Kataftrophe mit der Cafpar-Haufer-
Sache in innigem Zufammenhange zu ftehen.
Er glaubt in einem verabfchiedeten und irgend-
447
wo am Main lebenden Minifter einen der
Seuptanftifter der an dem Findling begangenen
reuel vermuten zu dürfen, und — kaum will
mir der Sa in die Feder! — er hat die Ab-
— den Mann aufzuſuchen, ihn zu einem Ge—
ändni3 zu zwingen. Der Polizeileutnant Hicdel,
der unheimliche Gefelle, dem ich nicht über den Weg
traue, fommt num faft täglich ins Haus und hat
lange Konferenzen mit Vater, und foviel ich bis jetzt
den Andeutungen des Vaters entnommen habe, fol
ihn Hickel in einigen Wochen auf die Reife begleiten.
Könnt’ ich doch das, nur das verhindern!
wird um diefer umfeligen Gefchichte willen den
legten Frieden feines Alters hingeben und er wird
nicht ausrichten, nichts, nichts und wäre er ein
Sejeins an Beredfamteit, ein Simſon an Kraft
ein Maflabäus an Mut. Ad, wir Feuer-
bachs find ein gezeichnete Gefchlecht! Das Kains⸗
mal der jelofigkeit bedeckt unſre Stirnen.
Sinnlos wirtjchaften wir mit unfern Kräften und
unfern Vermögen, und wenn die Weberbleibjel
noch gerade bis zur Kirchhofsmauer reichen, ift
es ſchon ein Glück. Es ift uns nicht gegeben,
einen harmlofen Spaziergang zu machen, wir
müffen immer gleich ein Biel haben, wir können
nicht atmen, ohne eines wichtigen Zweckes zu ge
denken, und in der Erwartung des nächſten Tages
entgleitet uns jede holde Gegenwart. So ift ex,
fo bift du, fo bin ich, fo find mir alle. Ich
babe noch nie an einer Roſe gerochen, ohne
darüber zu trauern, daß fie morgen vermelkt fein
wird, noch nie ein ſchönes Beitelkind erblickt,
ohne über die Ungleichheit der Loſe zu ſpintiſieren.
Leb wohl, Bruder, der Himmel mache meine
ſchlimmen Ahnungen unwirklich.“
448
So der Brief. Das darin zum Ausdrud
gebrachte Mißtrauen gegen den Polizeileutnant
wuchs fchließlich dermaßen, daß Henriette alle
möglichen Anftrengungen machte, um den Vater
mit Hickel zu entzweien. Es fruchtete nichts,
aber Hicel roch Lunte und zeigte in feinem Bes
nehmen gegen die Tochter des Präfidenten als-
bald eine unduchdringliche, füßliche Liebens-
würdigfeit. AL ihn Quandt auffuchte und fir
lebhaft darüber beklagte, daß der Präſident fir
von Haufer habe —— laſſen und deſſen
unbewachtes und unbehindertes Herumlaufen in
der Stadt bemilligt habe, fagte Hickel, das paſſe
ihm nicht, er werde dem Staatsrat fchon den
Kopf zurechtjegen.
Er ließ fich bei Feuerbach melden und trug
ihm feine Bedenken gegen die unerwünfchte Maß-
regel vor. „Eure Erzellenz dürften nicht über-
legt haben, welche Verantwortung Sie mir damit
aufbürden,” fagte er. „Wenn ich feine Kontrolle
habe, wo der Menfch feine Zeit hinbringt, wie
fol ih dann für feine Sicherheit Garantie
bieten?"
„Larifari," knurrte Feuerbach; „ich kann einen
erwachjenen Menfchen nicht einfperren, damit Sie
Ihre Nachmittagsitunden mit Gemütsruhe im
Kaſino verfigen können.“
Hickel beftete einen böfen Blick auf feine
Hände, antwortete aber mit einer nicht übel ge
fpielten Treuberzigleit; „Ich bin mir ja eines
Laſters bervußt, das Eure an jo ftreng
verurteilen. Immerhin, ein Plätschen muß der
Menſch doch haben, wo er fich wärmen fann,
fonderlich wenn er ein Hageftolz ift. Wenn Sie
in meiner Haut ftedten, Enpellng, und ih in
Ballermann, Cafpar Haufer 20 49
der Ihren, würde ich milder über einen geplagten .
Beamten denten.“ rs
uerbach lachte. „Was ift Ihnen denn über
die Leber gekrochen?“ fragte er gutmütig. „Haben
Sie Liebeskummer?" Er hielt den Polizeileutnant
für einen großen Suitier.
„In diefem Punkt, Exzellenz, bin ich leider
zu bartgefotten,“ entgegnete Hickel, „obgleich ein
Anlaß dafür vorhanden wäre; feit einigen Tagen
hat unfre Stadt die Ehre, eine ganz ausgezeich-
nete Schönheit zu beherbergen."
„So?“ fragte der Präfident neugierig. „Er-
zählen Sie mal.“ Er hatte, nicht zu leugnen,
eine Meine naive Schwäche für die Frauen.
„Die Dame ift bei Frau von Imhoff zu
Beſuch —" .
Jawohl, richtig, die Baronin ſprach davon,”
unterbrach Feuerbach.
„Sie wohnte zuerſt im ‚Stern‘," fuhr Hickel
fort, „ich ging ein paarmal vorüber und fah fie
edankenvoll am Fenſter weilen, den Blick zum
Simmel aufgefchlagen wie eine Heilige; ich blieb
dann immer ftehen und ſchaute hinauf, aber kaum
daß fie mich bemerkte, trat fie erſchrocken zurüd.“
„Na, das laſſ' ich mir gefallen, das heißt gut
beobachten,“ nedte der Präfident, „es ift alſo
ſchon eine Art Einverftändnis_gefchaffen.”
„Leider nein, Erzellenz; offen geftanden, für
galante Abenteuer ift die Zeit zu ernſt.“
„Das follt’ ich meinen,“ bejtätigte Feuerbach,
und das Lächeln erlojch auf feinen Zügen. Er
erhob fich und ſagte energifh: „Aber fie ift auch
reif, die Zeit. Ich gedenke am 28. April auf
zubrechen. Sie nehmen vorher Dispens vom
Amt und ftellen fih mir zur Verfügung.“
450
Hickel verbeugte fih. Er fehaute den Präfi-
denten ermartungsvoll an, und diefer verftand
den Blick. „Ach jo,“ ſagte er. „Ich muß Ihnen
allerdings zugeben, daß es fein Untunliches hat,
den Haufer Ri felbft zu überlaffen. Anderjeits
ift es nicht billig, ihm die Welt vor der Nafe
zuzuriegeln. Davon mag er genug haben. Durch
Einbuße an feiwiliger Betätigung wird ein zum
Leben gemandter Wille ebenjo empfindlich getroffen
wie durch Ketten und Handfefjel." Er konnte
nicht einig mit ſich werden; mie immer dem
Volizeileutnant gegenüber fand er fih in feinen
Entſchlüſſen beengt; es war ein Anprall von
Kraft, Jugend, Kälte und Gemifjenlofigkeit, dem
er dabei unterlag.
„Aber Eure Erzellenz kennen doch die Ge
fahren —“ wandte Side ein.
„Solange ich in diefer Stadt die Augen offen
abe, wird niemand wagen, ihm ein Haar zu
ümmen, befjen ſeien Sie ganz gewiß."
Hickel hob die Brauen hoch und betrachtete
wieder die geftrecften Finger feiner Hand. „Und
wenn er uns eine3 Tages über alle Berge rennt?“
Be er finfter. „Dem ift manches zuzutrauen.
ſchlage vor, daß man ihn wenigftens de
Abends und auf Spaziergängen überwachen läßt.
Bei Veforgungen in der Stadt mag er im Not»
fall allein bleiben, Dem alten Invaliden können
mir den Laufpaß geben, und ich will ſtatt
deffen meinen Burfchen abrichten. Er foll ſich
vaalıch um fünf Uhr nachmittags im Lehrerhaus
melden.
‚Das wäre eine Löſung,“ fagte Feuerbach.
„It der Mann verläplic?" u
Treu wie Gold."
451
t
— iſt ein Bäckersſohn aus dem
—2 jei es fo."
ickel ſchon unter der Tür war, rief il
der Bi ident noch einmal zurüd und hörte
ihm wegen ber bevorftehenden gemeinjamen Reife
unbedingtes Stillſchweigen ein. Hickel verſetzte,
einer ſolchen Mahnung bebürfe es nicht.
Ich könnte die Reife keinesfalls allein unter-
nehmen,“ fagte der Präfident, „ich braude die
Hilfe eines umfichtigen Mannes. Die Gelegenheit
muß forgfältig ausgekundſchaftet werden. Vorſicht
& geboten. Vergeſſen Sie niemals, daß ich
Ihnen in diefer Sache einen großen Berveis von
Vertrauen gebe.“
Er fchaute den Polizeileutnant durchbohrend
Hidel nicte mechaniſch. Ueber Feuerbachs
Then ſenkte ſich plötlich eine Wolke ahnungs⸗
voller Sorge. „Gehen Sie,“ befahl er kurz.
Die Reife wird angetreten
Am felben Abend fuchte Hickel den Lehrer
auf und teilte ihm mit, daß der Soldat Schild-
fnecht von nun an den "Saufer überwachen werde.
Cafpar war nicht daheim, und auf die Frage
nad ihm antwortete Quandt, er fei ins Theater.
„Schon wieder ins Theater!" rief Hickel.
„Das dritte Mal feit vierzehn Tagen, wenn ich
zeit gi. J
Er hat eine große Vorliebe dafür gefaßt,“
.
erwiberte Quandt; „beinahe fein ganzes Taſchen ⸗
geld verwendet er dazu, um Billette zu Laufen."
„Mit dem Tafchengeld wird es, nebenbei
bemerkt, nächftens hapern,“ fagte der Polizei⸗
leutnant, „der Graf hat mir diesmal nur die
Bäte des vereinbarten Monatswechſels geſchickt.
ffenbar wird ihm die Sache zu Eoftfi a
Stanhope hatte von Anfang an die für Caſpar
zu verwendenden Gelder an Hickel geſandt.
„KRoftipielig? Dem Lord? Einem Pair der
Krone Großbritannien? Diefe Lappalie koſt⸗
ſpielig Quandt riß vor Erſtaunen die Augen auf.
„Das erzählen Sie nur keinem andern, ſonſt
denkt man, Sie machen ſich luſtig über den
Grafen,“ fagte die Lehrerin. Neugierig prüfend
ſchaute fie den Polizetleutnant an. Vieſer aal-
glatte und gejchniegelte Mann war ihr ſtets merk:
würdig und reizvoll erfchienen. Ex brachte das
bißchen Phantafie, das fie hatte, in Bewegung.
„Kann nicht helfen,“ ſchloß Hickel unwirſch
das Geſpräch, „es iſt ſo. Der Poſtzettel liegi
bei mir zur Einſicht vor. Der Graf wird ſchon
wiſſen, was er tut.“
Als Caſpar nach Hauſe kam, fragte ihn
Quandt, wie er ſich unterhalten habe. „Gar
nicht, e8 war foviel von Liebe in dem Stüd,“
antwortete er ärgerlich. „Ich kann das Zeu;
nun einmal nicht ausftehen. Da ſchwätzen fie uni
jammern, daß einem ganz dumm wird, und was
ift das Ende? Es mwird geheiratet. Da will ich
lieber mein Geld einem Bettler ſchenken.“
„Vorhin war der Herr Polizeileutnant bier
und bat uns eröffnet, daß der Graf Ihre Bezüge
erheblich gemindert hat," fagte Quandt. „Sie
werben atto alle Ausgaben überhaupt beichränten
458
und den Theaterbefuch, fürchte ich, ganz aufgeben
müfjen."
Caſpar feste ſich zum Tiih, aß fein Abend-
brot und fagte lange nichts. „Schade,“ Tieß er
ſich endlich vernehmen, „übernächite Woche ift der
‚Don Carlos‘ von Schiller. Das foll ein herr⸗
liches Stüd fein, das möcht’ ich noch ſehen.“
„Wer hat Ihnen denn mitgeteilt, daß es ein
herrliches Stüd ift?“ fragte Quandt mit der nach⸗
fihtig überlegenen Miene des Fachmannes.
„Ich hab’ Frau von Imhoff und Frau von
Kannawurf im Theater getroffen,” erflärte Caſpar,
„beide haben es gejagt."
Die Lehrerin hob den Kopf: „Frau von
Rannawurf? Wer ift denn das nun wieder?"
„Eine Freundin von der Imhoff,“ erwiderte
Caſpar.
Quandt beſprach ſich mit ſeiner Frau noch
bis Mitternacht darüber, wie man ſich in die vom
Grafen getroffene Veränderung zu ſchicken habe.
Es wurde vereinbart, daf Gaipar von jest ab
den Mittagstifch für zehn und den Abendtiich für
acht Kreuzer haben ſolle. „Wenn das jo ift,
wie der Polizeileutnant jagt, muß ich in jedem
Fall draufzahlen,“ meinte die Lehrerin.
„Wir dürfen nicht vergefien, daß der Haufer
im Effen und Trinken ie beifpiellos mäßig
iſt,“ verfegte Quandt, deſſen Redlichkeit fich gegen
eine unrechtmäßige Beſchränkung fträubte.
„Macht nichts," beharrte die Frau, „ich muß
doch immer um fo viel mehr / in der Küche haben,
pe ein Hungriger fatt wird. Das Frieg’ ich nicht
geſchenkt.“
im andern Nachmittag brachte Hickel das
Monatsgeld. Er und Quandt traten gerade in
454
den Flur, als Cafpar, zum Ausgehen fertig, aus
feinem Zimmer herunterfam. Vom Lehrer gefragt,
wohin er gehe, antwortete er verlegen, ex wolle
zum Uhrmacher, feine Uhr fei nicht in Ordnung,
und er müffe fie richten lafjen. Quandt verlangte
die Uhr zu jehen, Caſpar reichte fie ihm, der Lehrer
hielt fie ang Ohr, bellopfte das Gehäufe, probierte,
ob fie aufzuziehen fei, und fagte ſchließlich: „Der
Uhr fehlt ja nicht das mindeſte.“
Cafpar errötete und fagte nun, er habe fih
bloß feinen Namen auf den el geavieren laſſen
wollen; doch er hätte ein viel gejchickterer Heuchler
gi müffen, um feinen Worten den Stempel der
usflucht zu nehmen. Duandt und Hickel fahen
einander an. „Wenn Sie einen Funken Ehrgefühl
im Leib haben, fo geftehen Sie jetzt offen, wohin
Sie gehen wollten,“ fagte Quandt ernit.
par befann ſich und erwiderte zögernd, et
babe die Abficht gehabt, in die Orangerie zu gehen.
‚an die Orangerie? Warum? Bu welchem
„Der Blumen wegen. Es find dort im Früh-
jahr immer jo ſchöne Blumen."
Hickel räufperte fich bedeutſam. Er blickte
Laſpar ſcharf an und fagte ironisch: „Ein Poet.
Unter Blumen — laß mich feufzen...“ Dann
nahm ex feine militärifche Miene an und erklärte
bündig, er habe den Präſidenten beftimmt, die
unbedacht gewährte Erlaubnis zu freiem Aus-
gehen wieder zu faffieren. Täglich um fünf Uhr
werde fein Burjche antreten, und in deſſen Gejell-
{haft möge Gajpar tun, was ihm _beliebe.
Caſpar blickte ftill auf die Gaſſe hinaus, wo
die Frühlingsfonne lag. „Es fcheint —“ murmelte
ex, ſtockte aber und ſah ergeben vor fich Hin.
455
Zw
„Was fcheint?" fragte der Lehrer. „Nur
heraus damit. Halbgefagtes verbrennt die Zunge.“
Caſpar richtete die Augen forjhend auf ihn.
„Es ſcheint,“ beendete er den Sat, „daß beim
ga ten doch recht behält, wer zulegt kommt.“
13 er der Wirkung diefer bitteren Worte inne
ward, hätte er fie gern wieder ungeſprochen
jemacht. Der Lehrer jchüttelte entſetzt den Kopf,
Site pfiff leife durch Die gefpigten Lippen. Dann
nahm er jein Notizbuch, das zwifchen zwei Knöpfen
feines Rockes ftat, und fchrieb etwas auf. Caſpar
beobachtete ihm mit fcheuen Blicken, es fladerte
wie ein Blitz über jene Stirn.
„Da werde ich den Staatsrat von diefer
ungiemlichen Bemerkung unterrichten,“ fagte Hickel
in amtlihem Ton.
AS der Poligeileutnant gegangen war, bat
Caſpar den Lehrer, er möge ihn doch ausnahma«
weife heute fortlafjen, weil jo fchönes Wetter ſei.
„Es tut mir leid,” entgegnete Quandt, „ich muß
nad meiner Inſtruktion handeln."
Der Burſche Hickels erfchien erjt gegen halb
ſechs. Caſpar begab fich mit ihm auf den Weg
nad dem Hofgarten, aber als fie hinfamen, war
die Orangerie Akon geſchloſſen. Schildfnecht ſchlug
vor, am Onolzbach entlang ſpazierenzugehen;
Caſpar fchüttelte den Kopf. Ex ftellte fih an
eines der offenen Fenſter des Gewächshauſes und
blickte hinein,
„Suchen Sie wen?" fragte Schildfnecht.
„Sa, eine Frau wollte mich hier treffen,“
erwiderte Caſpar. „Macht nichts, gehen wir
wieder heim.“
Sie Tehrten um; als fie auf den Schloßplas
gelangten, ſah Caſpar Frau von Kannawurf, die
456
in der Mitte des Platzes ftand und einer großen
Menge von Spaten Brofamen hinftreute. Cafpar
blieb außerhalb der Sperlingsverfammlung ftehen;
er fhaute zu und vergaß ganz zu grüßen. Die
Fütterung war bald beendet, Frau von Kanna⸗
wurf fette den Hut wieder auf, den fie am Band
über den Arm gehängt hatte, und jagte, fie fei
anderthalb Stunden lang im Gewächshaus gemefen.
„Ich bin kein freier Menſch, kann nicht halten,
was ich verſpreche,“ antwortete Cafpar.
Sie gingen die Promenade hinunter, dann
links gegen die Vorftadtgärten. Schildfnecht
marjchierte Hinterdrein ; der rotbackige Heine Menſch
in der grünen Uniform fah drollig aus, Der
größte von_ den breien war überhaupt Gafpar,
enn auch Frau von Kannamurf hatte eine Find»
liche Geitalt.
Nachdem fie lange Zeit ſchweigend neben-
einander her gewandert waren, fagte die junge
Frau: „Ich bin eigentlich Ihretwegen in diefe
Stadt gefommen, Hauſer.“ Die ein wenig fingende
Stimme hatte einen fremden Afzent, und während
fie fprach, pflegte fie hie und da mit den Lidern zu
blinzeln, wie Leute tun, die ermüdete Augen haben.
„Ja, und was wollen Sie von mir?" ver
jeßte Caſpar mehr unbeholfen als fchroff. „Das
haben Sie mir ſchon geftern im Theater gefagt,
daß Sie meinetwegen gefommen find.“
„Das ift Ihnen nichts Neues, denken Sie.
Aber ich will nichts von Ihnen haben, im Gegen-
teil. Es ift ſehr ſchwer, im Gehen darüber zu
reden. Sehen wir uns dort oben ins Gras."
Sie ftiegen den Abhang des Nußbaumberges
hinan und ließen ſich vor - einer Hede auf den
Rafen nieder. Ihnen gegenüber ſank die. Sonne
457
die Waldfuppen der Kdroäbifhen Berge.
En fu nn bin, Frau von Kannawin
Ellbogen aufs Gras und fah in die vio-
ira ar Schildfnecht, als verftehe er, dafs feine
Gegenwart nicht ermünfcht fei, date ſich weit
unterhalb auf einen umgeftürzten Baum gejebt.
befie ein Heines Gut in der Schweiz,“
begann Frau von Kannamurf, „ich habe e8 vor
zei Jahren gefauft, um mir in einem freien
einen Zufluchts- und Ruheplatz zu ſchaffen.
Ich made Ihnen den Vorſchlag, mit mir dort⸗
hin zu reifen. Sie können dort ganz nach Ihrem
Wunſch leben, ohne Zeeſtzuns und ohne Gefahr.
Nicht einmal ich ſelbſt werde Sie ſtören,
ich kann nirgends bleiben, es treibt mich immer
woanders bin. Das Haus liegt vollftändig ein-
jam zmifchen hohen Bergen im Tal und an einem
See. Hua Großartigeres läßt fich denken als
der Anblic des ewigen Schnees, wenn man dort
im Garten unter den Apfelbäumen ſitzt. Da es
viel Schwierigkeiten und viel Zeit koſten würde,
wenn ich es durchſetzen wollte, Sie vor aller Welt
binzubringen, bin ich dafir, daß Sie mit mir
fliehen. Sie brauchen nur ja zu jagen und alles
tft bereit.”
Sie hatte Cafpar jest das Geficht voll zu-
gewandt, und diejer Tehrte den etwas geblendeten
Blick von dem roten Sonnenball weg und ſchaute
fe an. Er hätte von Holz fein mäffen, um
iefem wunderſchönen Antlitz gegenüber unempfind-
us zu bleiben, und ganz von jelbft, und als ob
ihr gar nicht zugehört hätte, fielen die ver-
un erten Worte von feinen Lippen: „Sie find
aber ſehr ſchön.“
Frau von Kannawurf errötete. Es gelang ihr
458
nicht, hinter ihrem fpöttifchen Lächeln ein ſchmerz⸗
liches Gefühl zu verbergen. Ihr Mund, der etwas
Kindlih- Süßes hatte, zucte beftändig, wenn fie
ſchwieg. Caſpar geriet in Verwirrung unter ihrem
erftaunten Blick und ſah wieder in die Sonne.
„Sie antworten mir nicht?" fragte Frau von
Kannawurf leife und enttäufcht.
Caſpar fehüttelte den Kopf. „Es ift unmög-
ich zu tun, was Sie von mir wollen," fagte er.
„Unmöglih? warum?" Frau von Kanna⸗
wurf richtete ſich jäh auf.
Gafder Ar ih dort nicht hingehöre,“ ſagte
par jeft.
Das junge Weib ſah ihn an. Ihr Geficht
hatte den Ausdrud eines aufmerkfamen Kindes
und wurde nad) und nad) fo blaß wie der Himmel
über ihnen. „Wollen Sie ſich denn opfern?"
fragte fie ftarr.
„Weil ich dorthin muß, wo ich Hingehöre,“
fuhr Gafpar unbeirrt fort und blicte immer noch
gegen die Stelle, wo die Sonne jest verſchwunden
war.
Ihn zu meinem Plan zu befehren, ift ver-
geblih, dachte Frau von Kannamurf ſogleich;
grober Gott, wie wahr, wie einfach alles vor ihm
tegt: ja — nein, ſchön — häßlich; er betrachtet
die Dinge nur von oben. Und mie fein Geftcht
gerseniche Güte mit einer naiven und zärtlichen
vaurigfeit vereint; man ift benommen und er-
ftaunt, wenn man ihn anfchaut.
„Was aber wollen Sie tun?" fragte fie
N ———
„Ich weiß es noch nicht,” entgegnete er wie im
Traum und verfolgte mit den Augen eine Wolle,
welche die Geftalt eines laufenden Hundes hatte.
459
Alfo was man mir berichtet hat, ift falſch;
er fürchtet ſich ja gar nicht, dachte das junge
Weib. Sie erhob fih und ging ungeftüm voraus,
den Hügel hinunter an — it vorbei, der
zu fchlafen ſchien. Man muß ihn jchüßen, dachte
fie weiter, er ift imftande und rennt in fein
erderben; was er tun wird, weiß er nicht,
natürlich, er iſt wahrfcheinlich nicht fähig, einen
Plan zu machen, aber er wird handeln, er trägt
eine Tat-mit fich herum und wird vor nichts mehr
zurücichredten; es ift nicht ſchwer, ihn zu erraten,
obwohl er ausfieht wie das Schweigen jelbit.
Sie blieb ftehen und wartete auf Cafpar.
„Ei, Sie können ordentlich Laufen,” fagte ex. be—
wundernd, alg er wieder an ihrer Seite war.
„Die friiche Luft macht mich ein bißchen wild,"
antwortete fie und holte tief Atem.
Frau von Kannawurf und Gafpar durch
den Torbogen des Herrieder Turmes gingen,
ben fie plößlich neben einem leeren Schilder-
jäuschen den Polizeileutnant. Und beide blieben
unmillfürlich ftehen, denn der Anbli hatte
etwas Erſchreckendes. Hickel Iehnte nämlich mit
der Schulter gegen das Häuschen und fah aus
wie zur Bildjäule erftarrt. Trotz der Duntel-
heit konnte man wahrnehmen, daß fein Geficht
afchfahl war, und es lag über feinen Zügen
eine bleierne Düfterfeit. Hinter ihm ftand fein
Hund, eine große graue Dogge; das Tier war
genau fo regungslos wie fein Herr und blickte
unverwandt an ihm empor.
Caſpar zog grüßend den Hut; Sie bemerkte
es nicht. Frau von Kannawurf ſah noch einmal
zurüd und flüfterte fröſtelnd: „Wie furchtbar!
Was für ein Mann! Was mag ihn peinigen!“
460
War e3 denkbar, daß der Polizeileutnant, etwa
durch neue Spielverlufte in vergmeiffung gebracht,
Il jo weit vergefien konnte, daß er, wennfchon
uch die Dunkelheit und einen Mauerwinkel ge-
Thüst, auf offener Gaffe das Schaufpiel eines
vom Krampf Befallenen darbot? Das iſt den
Spielern fonft nicht eigen; fie überfchlafen ihren
Unglücdsraufh und geben ſich faltblütig dem
tüdifchen Zufall von neuem in die Hände. Aber
Spieler pflegen ſtrupellos zu fein; ſetzen fie nicht
Geld auf Karten, fo joe fie auf Seelen, und
dabei Tann e3 ſich wohl ereignen, daß ihnen der
Teufel eine gräßliche Schuldverfchreibung vorhält,
die fie mit ihrem Blut unterzeichnen müffen.
18 Hidel am Nachmittag nach Haufe ger
tommen war, trat ihm vor der Tür feiner Woh-
nung ein unbefannter Mann entgegen, übergab
ihm ein verfiegeltes Schreiben und verſchwand
wieder, ohne gejprochen zu haben. Der erfahrene
Blick des Volizeileutnant3 Tonnte nicht im um-
Haren darüber bleiben, daß der Menſch falſches
San: und falichen Bart getragen hatte. Der
rief, den Hicel fogleich öffnete, war ciffriert;
feine Entzifferung tojtete, trogdem der Schlüffel
befannt war, den Reſt des Nachmittags. Der
Inhalt des Schreibens bezog ſich auf die mit dem
Bräfidenten gemeinfchaftlich anzutretende Reife.
— las, las und las wieder. Er hatte ſchon
eim erſten Male verſtanden, aber er las, um
nicht denken zu müffen. B
Punkt fieben Uhr erhob er fi vom Schreib-
tiich und ging zehn Minuten lang pfeifend im
Zimmer auf und ab. Sodann öffnete er ein
Glasſchränkchen, nahm eine Flafche mit Whisky
heraus, die er vom Grafen Stanhope gefchenkt
461
erhalten hatte, füllte ein nettes filbernes Becher⸗
hen damit und trank es in einem Zuge leer,
Hierauf griff er zur Vürfte, veinigte den Rod,
danach hing er den Säbel um und um halb ai
verließ er mit dem Hund feine Wohnung.
ſchien gutgelaunt, denn er pfiff und fummte noch
immer vor fih hin und — hier und da mit
den Fingern. Doc unter dem Bogen des Her-
rieder Turmes blieb er auf einmal ftehen und ſah
angelegentlich zur Erde nieder. Ein durchfahren
Handwagen ftieß ihn an der Hüfte an, deshalb
ing er ein paar Schritte weiter bis zum Schilders
Dane um die Ede. Dort gewahrte ihn das heim-
kehrende Paar.
Es würde einen ungenügenden Einblick in den
Charakter des Polizeileutnants beweifen, wenn
man annehmen wollte, daß diefe Sinnesverbunt.
lung länger peut babe, als gemeinhin eine vor⸗
übergehende Blutleere im Kopf dauert. Um acht
Uhr jaß er ſchon mit einigen Kollegen beim Fiſch⸗
effen in der „Goldenen Gabel“ und um neun
Uhr war er im Rafino; follte diefe genaue Stunden»
angabe etwas Verdrießliches haben, jo fei hinzu»
® gt, daß er in der Zeit von neun bis vier
r überhaupt feinen Glockenſchlag mehr, ſondern
nur noch das eintönige Kniftern der Spiellarten
vernahm. Er gewann. Auf dem Heimmeg durch)
die grauende Frühe paffierte dann das Auffällige,
daß er vor dem Sterngafthof in der Mitte der
Straße Halt machte, den Säbel an das Bein
quebte und einen langen, faugenden Blick gegen
asjelbe Fenfter hinaufſchickte, hinter dem ex einft
die ſchöne Fremde gejehen hatte,
Am Morgen föef er lange, und als der
Burfche mit dem Rapport kam, hörte er kaum
482
zu. Schildknecht war verpflichtet, jeden Morgen
Bericht zu erftatten, wo er den Nachmittag oder
Abend vorher mit Cafpar geweſen. Faft jedesmal
hieß es von nun ab: wir haben die Frau von Kanna ⸗
wurf abgeholt, oder: die Frau von Kannawurf
ift ung Degegnet und wir find fpagierengegangen,
oder bei Hegenmwetter: wir find im Imhoffſchen
Garten in der Laube geſeſſen. Diejes „Wir"
— aber in Schildknechts Mund einen ſehr be
heidenen Klang; er ſprach von Caſpar ftet8 mit
achtungsvoller Zurückhaltung. Da er die Wahr-
nehmung machte, daß fein Herr die Berichte über
das regelmäßige Veifammenfein der beiden mit
Unruhe aufnahm, wußte er in feinen Ton etwas
wie eine Verficherung von Sarmlofigteit zu legen,
fügte zum Beiſpiel hinzu: „fie haben viel über
a8 Wetter geſprochen,“ oder: „fie haben ſich
über gebildete Sachen unterhalten." Solche Einzel»
heiten erfand er, denn in Wirklichkeit hielt er ſich
jedesmal in einer taftoollen Entfernung hinter
en beiden.
Hickel begann demjungen Menfchen zu mißtrauen.
Eines Abends erwiſchte er ihn, wie er in
einem Winkel der Küche hodte, eine Kerze vor
Ds und mit dem Zeigefinger buchftabierend über
ie Beilen eines Buches glitt. Als er fich geiiet
fand, war er wie entgeiftert, feine roten Baden
hatten die Farbe verloren. Hickel nahm das Buch,
und fein Geficht wurde finfter wie die Nacht, als
er ſah, daß es die Feuerbachſche Schrift war.
„Woher hat Er das?“ fchrie er Schildfnecht an.
Der Burjche erwiderte, er habe e8 auf dem Bücher⸗
ſchrank des Herrn Leutnant gefunden. „Das ift
eine wiberrechtliche Aneignung, ich werde Ihn
davonjagen und difziplinieren laſſen, wenn fo
468
etwas nochmal vorkommt, merk' Er ſich das!"
donnerte Hidel.
Wahrjcheinlich hätte die erſtbeſte Seeräuber-
efhichte die Neugier des Tölpels ebenfo gereizt,
kr ſich Hickel ſpäter und erklärte fein Auf⸗
braufen für eine Unbeſonnenheit. Gleichwohl
witterte er Gefahr, der Burſche war nicht nad
feinem Sinn, und er bejchloß, ſich „gene zu ent
ledigen. Ein Anlaß ergab fich bald.
Als Schildfnecht tags darauf Gafpar abholte,
merkte er, daß diefer verftimmt war. Er fuchte
ihn aufzuheitern, indem er ein paar luſtige
Schnurren aus dem Kafernenleben vorbrachte.
Cafpar ging auf die eg ein, er fragte
den zutraulichen Menjchen nach feiner Heimat,
nad feinen Eltern, und Schildfnecht bemühte fich,
auch davon möglichſt gutgelaunt zu erzählen, ob-
ſchon es ein trauriges Kapitel für ifn war. Er
hatte eine Stiefmutter gehabt, der Vater hatte
ihn in früher Jugend unter fremde Leute gegeben,
faum war er von Haufe fort, jo hatte ein Lieb-
baber der Frau den Vater im Raufhandel er-
fo en. Gebt jaß der Liebhaber famt der Frau
uchthaus, und die Brüder hatten das Vers
mögen durchgebracht.
Schildknecht wagte zu fragen, weshalb Caſpar
Heute feine Freundin nicht treffe.
„Sie geht ins Theater," antwortete Gafpar.
Warum denn er nicht gehe, fragte Schildfnecht
weiter.
Er habe fein Geld.
„Kein Geld ? Wieviel braucht man denn dazu?"
„Sechs Grofchen.“
„Soviel hab’ ich grad’ bei mir,“ meinte
Schildknecht, „ich leih's Ihnen.“
464
Caſpar nahm das Anerbieten mit Vergnügen
an. €s. wurde nämlich der „Don Carlos"
sgeben, auf den er fi ſchon lange gefreut
das Stüd gersgte mit Ausnahme de3 verrücten
Brauengimmers, das den Prinzen verführen will,
Entzücten. Und mie ward ihm, als der
—8* zum König ſprach:
Sie haben umfonft
Den harten Kampf mit der Natur gerungen,
Umfonft ein großes Königlicje Leben
Kun —— ingeopfert,
er Menfe) ift mehr, als Sie von ihm gehalten.
ıngen Schlummer® Bande tirb er brechen
33 FR erfordern fein geheiligt Recht.
Er erhob fi von feinem Pla, ftarrte gierig,
mit funkelnden Augen auf die Bühne und enthielt
fih nur mit Mühe eines lauten Ausrufs. Zum
Glüd wurde die Störung in der berrichenden
Dunkelheit nicht meiter beachtet; fein Nachbar,
ein böfer alter Ranzleivat, zerrte ihn grob auf
den Sitz zurüd,
Das Ausbleiben über den Abend hatte zunächft
ein Verhör dur, den Lehrer zur Folge. .
eftand, im Schloßtheater geweſen zu fein. „UBor
der haben Sie Geld?" fragte Quandt. Cafpar
erwiberte, er habe das Billett gefchenkt bekommen.
„Yon wem?" Gebankenlos, noch ganz gefangen
von der Dichtung, nannte Caſpar irgendeinen
Namen. Duandt erkundigte fih am andern Tag,
erfuhr felbftverftändlic, Sa ihn Caſpar belogen
hatte, und ftellte ihn zur Rede. In die Enge
gerieben, befannte Cajpar die Wahrheit, und
uandt machte dem Polizeileutnant Mitteilung.
Um fünf Uhr nachmittags ertönte im Hof
vor Caſpars Fenfter der wohlbefannte Pfiff, zwei
Baffermann, Gafpar Haufer 30 465
melodiſche Zriolen, mit denen ildknecht
erhaupt wenn ich frei bin, dahier in
den Hof kommen und meinen Pfiff pfeifen.
Vielleicht brauchen Sie mich mal. Warum nicht,
kann ja möglich, fein.“
Es lag in den Worten eine über alle Maßen
tiefe Herzlichkeit. Caſpar richtete den aufmerk-
famen Buͤck in SchildfnechtS freundlich Tächelndes
Geficht und erwiderte langſam und bedächtig:
„Es kann möglich fein, das ift wahr."
„Zopp! Abgemacht!" rief Schildfnecht.
Sie gingen durch den Flur nad der Straße.
Vor dem Tor ftand ein Amtsdiener, und da er
Caſpars anfichtig wurde, fagte er, er habe ihn
ucht, der Herr Staatsrat ſchicke ihn her, Caſpar
Bi fe gleich Hinfommen. Cafpar fragte, was es
gäbe. „Der Herr Staatsrat reift um ſechs Uhr
mit dem Herrn Polizeileutnant ab und will noch
mit Ihnen fprechen," antwortete der Mann.
Caſpar machte fi auf den Weg. Ein paar
hundert Schritte vom Lehrerhaus entfernt konnte
er nicht weiter. Ein Ziegelmagen war vor dem
Einfahren in ein Tor mit gebrochener Radachſe
umgeftürzt und verfperrte die Gaſſe. Caſpar
466
martete eine Weile, kehrte dann um und mußte
nun durch die Würzburger Straße und über die
Felder. Infolgedeſſen kam er zu fpät. Als er
vor dem Feuerbachichen Garten anlangte, war
der Präfident fchon weggefahren. Henriette und
der Hofrat Hofmann ftanden am Gartentor und
nahmen Caſpars triftige Entfchuldigung fmeigend
auf. Henriette hatte verweinte Augen. Sie blidte
lange die Gafje hinunter, mo der Wagen ver-
ſchwunden war, dann drehte fie fih wortlos
um und fchritt gegen das Haus.
Schildknecht
Der Mai brachte viel Regen. Wenn das
Wetter es irgend erlaubte, wanderten Caſpar und
Frau von Kannewurf anze Nachmittage lang
durch die Umgegend. Galpar vernadhläffigte plöß-
lich fein Amt. Auf Vorhaltungen entgegnete er:
„Ich bin der dummen Schreiberei überdrüſſig.“
Was ihm von den maßgebenden Perfonen höch-
lichſt verübelt wurde.
Der von Hickel neuaufgenommene und für die
Dauer feiner Abmefenheit ftreng untermiefene
Burfche ward ges zu Anfang fo läftig, daß
ich Frau von Kannawurf beim Hofrat Hofmann
arüber befchwerte. Weniger aus Einficht als
um der fhönen Frau gefällig zu fein, geftattete
der Hofrat, daß Cafpar feine Spaziergänge mit
ihr allein unternehme. oe entführen Sie
mir den Haufer nicht," fagte er mit feinem fis⸗
Kalifch-fchlauen Lächeln zu der Sprachlofen.
un aber machte wieder Quandt Schwierig.
467
keiten. „Ich beftehe auf meiner Inſtruktion,“
war fein eilerne® Sprüchlein. Eines Morgens
erſchien daher Frau von Kannawurf in der Studier-
ftube des Lehrers und ftellte ihn kühn zur Rede,
Quandt konnte ihr nicht ins Geſicht fehen; er
war vollfommen verdattert und wurde abwechſelnd
rot und blaf. „Ich bin ganz zu Ihren Dienften,
Madame," fagte er mit dem Ausdrud eines
Menfchen, der ſich auf der Folter zu allem ent-
fchließt, was man von ihm haben will.
Frau von Kannawurf ſchaute fich mit gelafjener
Neugier im Zimmer um. „Wie verhalten Ste fih
eigentlich innerlich zu Caſpar?“ fragte fie auf
einmal. „Lieben Sie ihn?"
Quandt feufzte. „Ich wollte, ich könnte ihn
jo lieben, wie feine achtungswerten Freunde
lauben, daß er e8 verdient," antwortete er meifter-
aft verfchnörkelt.
Frau von Kannawurf erhob fih. „Wie fol
ich daS verſtehen ?“ brach fie leidenſchaftlich aus,
„ie kann man ihn nicht lieben, ihn nicht auf
Händen tragen?" Ihr Geficht glühte, fie trat
dicht vor den erſchrockenen Lehrer hin und jah
ihn drohend und traurig an.
Doch fie befänftigte fich ſchnell und ſprach
nun von andern Dingen, um den ihr erftaunlichen
Mann befjer kennen zu lernen. Ihr war jeder
Menſch ein Wunder und fat alles, was Menjchen
taten, etwas Wunderbare. Deshalb erreichte fie
felten ein vorgefegtes Ziel. Sie vergaß fi) und
überjchritt die Grenze, die ein oberflächlicher Ver⸗
kehr bedingt.
Quandt ärgerte fich nachher gründlich über
feine nachgiebige Haltung. Was mag denn da
wieder dahinter fteden? grübelte er. So oft bie
468
Heinen Briefchen von Frau von Kannawurf an
Cafpar kamen, öffnete er und las fie, ehe er fie
dem Sengling gab. Er brachte nichts heraus;
der Inhalt war zu unverfänglih. Wahrſchein⸗
lich verjtändigen fie fi in irgendeiner Geheim-
fprache, dachte Quandt und ftellte gemiffe wieder⸗
Tehrende Phrafen zufammen in der Hoffnung,
damit den Schlüfjel zu finden. Cafpar wehrte
ſich gegen diefe Eingriffe, worauf Quandt ihm
mit ungewöhnlicher Beredfamfeit das Recht der
Grzieher auf die Rorrefpondenz ihrer Pfleglinge
ies.
Schließlich bat Caſpar ſeine Freundin, ihm
nicht mehr zu ſchreiben. So unverfänglich wie
die Briefe hätte der Lehrer auch, wenn er uns
fihtbar die beiden hätte belaufchen fönnen, ihre
Gefpräche gefunden. Es kam vor, daß fie ftunden-
lang ohne zu reden nebeneinander her gingen. „Sit
es nicht ſchön im Wald?“ fragte dann die junge
Frau mit dem innigften Klang ihrer füßen Stimme
und einem Kleinen, vogelhaft zwitſchernden Lachen.
Ober fie pflücte eine Blume vom Wieſenrain
und fragte: „It das nicht ſchön?“
„Es ift ſchön,“ antwortete Cafpar.
„So _teoden, fo ernſthaft?“
„Daß e3 fchön ift, weiß ich noch nicht gar
lange,“ bemerkte Caſpar tief, „das Schöne fommt
zuletzt.“
machte der Frühling diesmal glücklich.
Mit jedem Atemzug fühlte er ſich eigentümlich
bevorzugt. Wahrhaf 8 daß e3 ſchön war, hatte
ex bis jet noch nie bedacht. Die feiende Welt
ſchlang fi) wie ein Kranz um ihn. Solang die
Sonne am blauen Himmel ftand, leuchteten feine
Augen in verwundertem Glüd. Er ift wie ein
469
Kind, das man nach langer Krankheit zum erſten⸗
mal in den Garten führt, fagte fih Frau von
Kannawurf. Ihr gütiges Her; ph höher _bei
dem Gedanken, daß fie Diefeicht nicht ohne Ein-
fluß auf diefe Stimmung war. Bismweilen wand
fie junges Waldlaub um feinen Hut, und dann
jah er ftolz aus. Aber er war doch immer in
ſich gekehrt und immer fo- verhalten, als ringe
er mit einem großen Entiehluß.
Eines Tages kamen fie überein, daß er fie
einfach Clara und fie ihn Cafpar nennen ſolle.
Sie amüfierte fich über die ee Ge
fegtheit, mit der er ſeinerſeits diefen Vertrag ein-
hielt. Er beluftigte fie überhaupt oft, befonders
wenn er ihr fleine Moralpredigten hielt oder
etwas, was er frauenzimmerlich nannte, geärgert
tadelte. Er gemahnte fie auch, nicht gar fo viel
herumzulaufen und ihre Gefundheit zu fchonen.
Nun ſah e3 ja manchmal wirklich aus, als habe
fie die Abficht, fich zu ermüden und zu erjchöpfen.
Eine ihrer Leidenſchaften beftand darin, auf Zürme
zu fteigen; auf dem Turm der Johanniskirche
wohnte ein alter Glöcner, ein weiſer Mann in
feiner Art, durch lange Einfamkeit beſchaulich und
janft geworden; fie Pheute nicht bie Anftvengung
der vielen hundert Stufen und lief oft zweimal
täglich zu dem Alten hinauf, plauderte mit ihm
wie mit einem Freund oder lehnte über die eiferne
Brüftung der ſchmalen Galerie und ſchaute über
das Land in die Fernen. Der Glöckner hatte fie
auch jo ins Herz gejchloffen, daß er zu gemiffen
Abendſtunden nah der Richtung des —
ſchlößchens verabredete Zeichen mit feiner La-
terne gab.
Jeden Tag machte fie neue Neifepläne, denn
470
Kane ſich nicht in der Heinen Stadt. Caſpar
te, warum fie denn fo fortdränge, aber darüber
mußte fie im Grund feinen Aufihluß zu geben.
„I darf nicht wurzeln,“ agte fie, „ich werde
en ), wenn ich zufrieden bin,
au
Sie doch gar nicht. Allein wie im Kerker, das
ift e8 eben, nur nicht mehr drunten, fondern
droben —“ Sie konnte nicht meiterreden, er
legte die eine Hand auf ihren Mund und die
andre auf den feinen. Dabei glänzten feine
Augen beinahe vol Haß. Plöglich dachte er mit
einer Art freubiger Beſturzung: ob meine Mutter
jo ähnlich iſt wie diefe da ? hatte ein durftiges
a7ı
und brennendes Gefühl auf den Lippen, und es
war vo A in ee monot ihn n, miberte
Pr 9 er mit wunderlichem
Tnilen ya, jernte
mutigfte aller Menfchen, dachte Pr e — nicht
einmal, wieviel Mut er beſitzt; was mi
doc fo fehr, wenn ich mit ihm rede oder ſchweige?
Warum — — 2 mic) fo, wenn ich ihn ſich feibft
überlafjen
Den ging ärts und brauchte zu einem
Weg von wenig ge als taufend Schritten über
eine Dei Stunde. Im Weiten Ieuchteten Blitze
ae ie fen Bett begeb
Caſpar hatte zeitig zu Bett begeben.
Es mochte ungefähr vier Uhr morgens fein, da
würde er durch einen lauten Auf aufgewedt. Es
war auf der Straße außerhalb des Hofs, und
die Stimme rief: „Quandt! Quandt!”
Caſpar, noch im Halbſchlaf, glaubte die Stimme
ae zu erkennen. Es wurde irgendwo ein
ter geöffnet, der von der Straße jagte etwas,
har) Caſpar nicht verſtehen konnte, ball Hernach
ing eine Tür im Haus. Es blieb dann eine
jeile ruhig. Caſpar legte ſich auf die Seite,
um weiterzufchlafen, da pochte es an feine Zimmer-
tür. „Was gibt's?“ fragte Gafpar.
„Machen Sie auf, Haufer!“ antwortete
Quandts Stimme.
Cafpar fprang aus dem Bett und fchob den
Riegel zurüd, Quandt, vollftändig angefleidet,
. 472
trat auf die Schwelle. Sein Geficht fah im
Morgengrauen grünlich fahl aus
„Der Präfident ift tot," ja te er.
In einem f&windeinden jefühl ſetzte fich
Caſpar auf den Bettrand.
„SH bin im Begriff biraugshen, wenn Sie
ſich anfchließen wollen, machen Sie raſch,“ fuhr
Quandt murmelnd fort.
Gafpar ſchlüpfte in die Kleider; er war wie
Fr Minuten darauf ſchritt er neben Quandt
auf dem Weg zur Heiligenkreuzgaſſe. Im Garten
vor dem Feuerbachſchen Haus ftanden Leute, die
halb verſchlafen, Halb beftürzt ausſahen. Ein
Bäcerjunge ſaß auf der Treppe und heulte in
feine weiße Söhlize hinein. „Glauben Sie, daß
man mad, oben darf?“ fragte Quandt den
Schreiber Dillmann, der mit ingrimmigem Geficht
und tief in die Stirn gebrüctem Hut auf und
ab gi
St; Leiche ift ja noch gar nicht in der
Stadt, " fagte ein alter Artilleriehauptmann, an
deſſen Schnurrbart fleine Regentropfen hingen.
„Das. weiß ich,“ entgegnete Quandt, und er
folgte etwas beflommen Gajpar, der ins Haus
eingetreten war. Im unteren Stock ftanden alle
Türen offen. In ber Küche faßen zwei Mägde
vor einem Haufen Holz, das zu Scheiten gefchlagen
war. Gie ſchienen angftvoll zu Horchen. Caſpar
und Quandt vernahmen eine durchdringende
Stimme, die fih näherte. Sie fahen alsbald eine
meibliche Geftalt mit hochgehobenen Armen durch
eines der Zimmer laufen. Sie fchrie vor ſich
bin wie raſend.
„Die Unglücliche,” fagte Quandt verjtört.
478
—— * — ——
fie haben ihn mir vergiftet, ihn
mar rot. Sie ftürmte in ein andres Fl
da3 loſe Nachtgewand flatterte hinter ihr, und
immer gellender ſchallte ihr —S Sie haben
ihn vergiftet! vergiftet! ver; u
Caſpar hatte keinen — Ruhepunkt für
ſein e das Napolgonbild, dem er gegen
überftand. Es kam ihm vor, als müfje der ge-
malte Kaifer ſchon müde fein von der unab-
läffigen majeftätifchen Drehung, die fein Hals
machte.
Laſſen Sie uns gehen, ‚Haufer,“ fagte Quandt,
„es ift zuviel des Jammers.
Im Flur ſtand der Regierungspräfident Mieg
im Geipräch mit Hidel. Der —
berichtete alle Einzelheiten der Kataſtro— opbe.
Ochſenfurt am Main habe Seine Crzellenz in
Unmohlfein geflagt und_fei zu Bett gegangen;
in der Nacht habe er gefebert, der gerujene rat
habe ihm zur Ader gelafjen und habe behaupte,
die Seantheit ſei bebeutungslos. Am Morgen
darauf fei plöglic) das Ende eingetreten.
„Und welcher —A— ſchrieb der Arzt ſeinen
Tod zu?“ erkundigte Herr von Mieg und
verbeugte ſich Pe da Frau von Imhoff
und Frau von Kannamurf an feine Seite traten.
Frau von Imhoff weinte,
474
Hickel zudte die Achfeln. „Er glaubte an
Selhmäge,! erwiberte er.
ingeachtet des frühen Morgens war fchon
die ganze Stadt auf den Beinen. Ueber dem
Sch des Appellgerichts wehten zwei ſchwarze
nen.
Gafpar blieb den Tag über in feinem Zimmer.
Niemand ftörte ihn. Er lag auf dem Sofa, die
gände unterm Kopf, und ftarrte in bie Luft.
pät nachmittags befam er Hunger und ging in
die Wohnftube. Duandt war nicht da, Die
Lehrerin fagte: „Um vier Uhr ift die Leiche an-
gefommen; Sie jollten eigentlich hingehen, Haufer,
und ihn nochmal fehen, bevor er begraben wird.”
a var würgte an einem Stüd Brot und
nickte.
„Sehen Sie, wie recht ich damals hatte mit
den Totenmweibern,“ fuhr die Lehrerin geſchwätzig
fort, „aber die Männer denen immer, alles geht
jo, wie ſie's ausrechnen."
Der Flur des Feuerbachſchen Haufes war
angefült von Menſchen. Caſpar drüdte fich in
einen Winkel und ftand eine Weile unbeachtet.
Er zitterte an allen Gliedern. Der eigentümliche
Geruch, der im Haufe herrfchte, benahm ihm die
Sinne. Da fpürte er ſich bei der Hand gepackt.
Auffchauend, erkannte er Frau von Imhof. Sie
gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie führte
ihn in ein großes Zimmer, in defjen Mitte der
Tote aufgebahrt war. Drei Söhne Feuerbach
faßen zu Häupten des Vaters, Henriette lag
regungslos über die Leiche Hingeworfen. Am
Fenſter ftanden der Hofrat Hofmann und der
Archivdirektor Wurm. Sonft war niemand im
Zimmer.
475
Das Geficht des Toten war gelb mie eine
itrone. Um die Winkel des fcharfen, verbifienen
tundes hatten ſich geche Mustfelfnoten gebildet.
Das fchiefergraue Kopfhaar glich einem kurz⸗
geichorenen Tierfell. Es war nichts mehr von
röße in diefen Zügen, nur zähneknirſchender
Schmerz und eine unmenfchliche, eifige Angft.
Caſpar hatte noch nie einen Toten gejehen.
Sein Geficht befam einen qualvoll- wißbegierigen
Ausdrud, die Augäpfel drehten fich in die Winkel,
und mit allen zehn Fingern umkrampfte er Kinn
und Mund. Sein ganzes Herz löſte ſich in
Tränen auf.
Henriette Feuerbach erhob den Kopf von der
Bahre, und als fie den Züngling jah, verzerrten
fich ihre Züge gräßlich. „Deinetwegen hat er
fterben müfjen!" fchrie fie mit einer Stimme, vor
der alle erbebten. .
Cafpar öffnete die Lippen. Weit nach vorn
jebeugt, ftarrte er das halbwahnfinnige Weib an.
Frmeimat klopfte er ſich mit der Hand gegen bie
Bruſt — er jchien zu lachen —, plöblich gab er
einen dumpfen Laut von ſich und ftürzte ohn-
mächtig zu Boden. .
Ale waren erſtarrt. Die Söhne des. Präfi-
denten waren aufgeftanden und fchauten befümmert
auf den am Boden liegenden Jüngling. Direktor
Wurm eilte, als er 6 gefeht hatte, zur Tür,
wahrſcheinlich um einen Arzt zu rufen. Der be-
Im Hofrat hielt ihn zurück und meinte, man
olle fein unnötiges Aufjehen machen. Frau von
Imhoff kniete neben Caſpar und befeuchtete feine
Schläfe mit ihrem Riechwaſſer. Ex kam langſam
zu fi), doch dauerte es eine Viertelftunde, bis er
fich erheben und gehen konnte, Frau von Imhoff
476
begleitete ihn hinaus. Damit fie fich nicht durch
die Menge der Befucher im Korridor zu drängen
brauchten, führte fie ihn über eine Hintertreppe
in den Garten und anerbot fih, ihn nad, Haus
zu bringen. „Nein," ſagte er unnatürlich leife,
„ich will allein gehen.“ Er ftedtte feine Naſe in
die Luft und fehnüffelte unbewußt. Sein Puls
ing jo ſchnell, daß die Adern am Hals förmlich
en,
gen.
Er entwand fich dem Tiebreichen Zufpruch der
jungen $rau und ging mit trägen Schritten gegen
die Hauptallee de3 Gartens. Vor dem Portal
ftieß er auf den Poligeileutnant. „Nun, Haufer!"
redete ihn Hickel an.
Caſpar blieb ftehen.
„Zur Trauer haben Sie gegründeten Anlaß,"
fagte Hickel mit unheilvoller Betonung, „denn wer
wird eines Feuerbach gewichtiges Fürwort erſetzen ?
Caſpar antwortete nichts und ſchaute gleich
ſam durch den Polizeileutnant hindurch, als ob
er aus Glas wäre.
„Guten Abend,“ ertönte da eine glodenhelle
Stimme, die Caſpar wunderfam berührte. Frau
von Rannawurf trat an feine Seite. Hidels
Gefiht wurde um eine Schattierung bleicher.
„Gnädigite Frau,” fagte er mit einer Galanterie,
die ſich krampfhaft ausnahm, „darf ich die Ge
legenheit benußen, Ihnen meine ungemefjene Ver-
ehrung zu Füßen zu legen?"
Frau‘von Kannamurf trat unmwillkürlich einen
Schritt zurück und fah erjchroden aus.
Der Polizeileutnant hatte die Miene eines
Menſchen, der ſich in ein tiefes Waſſer ftürzt.
Er beugte fich nieder, und ehe Frau von Kanna-
wurf es hindern Tonnte, padte er ihre Hand und
477
drückte einen Ruß darauf, und zwar mit den
nadten Zähnen; als er fich aufrichtete, waren
feine Lippen noch getrennt. Ohne eine Gilbe
weiter zu fprechen, eilte er davon.
Mit weiten Augen blicte ihm Frau von
Kannawurf nah. „Grauenhaft ift mir der
Menſch,“ flüfterte fie. Cafpar blieb völlig teil-
nahmlos. Frau von Kannamwurf begleitete ihn
ſchweigend nach Haufe.
Als er in feinem Zimmer war, befamen feine
Augen einen geifterhaften Glanz und flammten
in der Dämmerung wie zwei Glühmwürmer. Er
ftellte fih in die Mitte de3 Raumes, und vom
Kopf bis zu den Füßen zitternd, fagte er in be»
ſchwörendem Ton folgendes:
Kenn’ ich dich, jo nenn’ ich dich. Biſt du
die Mutter, jo höre mich. Ich geh’ zu dir. ch
muß zu dir. Einen Boien ſchick ich dir. Bift
du die Mutter, fo frag’ ich dich: warum das
lange Warten? Keine Furcht hab’ ich mehr,
und die Not ift groß. Cafpar Haufer heißen
fie mi, aber du nennt mich anders. Zu dir
muß ‚ich gehn ins Schloß. Der Bote ift treu,
Gott wird ihn führen und die Sonne ihm leuchten.
Sprich zu ihm, gib mir Kunde durch ihn.“
Plötzlich ergriff ihn eine fonderbare Ruhe.
Er jegte ſich an den Tiſch, nahm einen Bogen
gapier und fchrieb, ohne daß ihn die Dunkelheit
Hinderte, dieſelben Worte nieder. Darauf faltete
er ben Bogen zufammen, und da er kein Wachs
befaß, zündete er die Kerze an, ließ das Unfchlitt
aufs Papier träufeln und drüdte das Giegel
darauf, das ein Pferd vorftellte mit der Legende:
Stolz, doch janft.
Es verging eine halbe Stunde; er faß regungs⸗
478
los da und lächelte mit gefchlofienen Augen.
Bisweilen ſchien es, als bete er, denn feine Lippen
Demegten ſich ſuchend Er dachte an Schild⸗
knecht. Er wünſchte ihn herbei mit aller Kraft
feiner Seele. J
Und als ob dieſem Wünfchen die Macht
innegewohnt hätte, Wirklichkeit zu erzeugen, ſchallie
auf einmal vom Hof herauf der mwohllautende
Triolenpfiff. Cafpar ging zum Fenfter und
öffnete; es war Schildfnecht. „Ich komm' hin-
unter,” rief ihm Caſpar zu.
Unten angelangt, Bade er Schilöfnecht beim
Rockärmel und zog ihn durch das Pförtchen auf
die einfame Gafje. Dort forderte er ihn ftumm
auf, ihm weiter zu folgen. Bisweilen hielt er
zögernd inne und fpähte umher. Sie kamen
beim Häus des Zolleinnehmers vorüber und
auf einen Wiejenplan. Auf dem Rain ftand ein
Bauernmagen. Cafpar ſetzie ſich auf die Deichfel
und sn childfnecht neben fih. Er näherte
feinen Nund dem Ohr des Soldaten und fagte:
deg brauch' ich Sie.“
Schildknecht nickte.
„Es gebt um alles," fuhr Caſpar fort.
Sit! knecht nice,
„Da iſt ein Brief," fagte Cafpar, „ben ſoll
meine Mutter bekommen.“
Schildfnecht nickte wieder, diesmal voll An-
dacht. „Weiß „son,“ antwortete er, „die Fürftin
Stephanie —
„Woher wifjen Sie’3?" hauchte Caſpar betroffen.
„Hab’8 geleſen. Hab's in dem Buch vom
Staatsrat gelejen."
„Und weißt auch, wo du Hingehen mußt,
Schildknecht 2"
479
Weiß es. Iſt ja unfer Land."
„Und it ihr den Brief geben ?"
"Und KZ beſt bei deiner Seligkeit, du
ihr (eiber den Brief gibft? muß“ Sing ehſt?
In die Kirche, wenn ſie dort iſt? ——
— een fie auf der PR führt?“
mölt fein Schwören nötig. Ih tu's, und
wenn’3 Knollen regnet.“
„Wenn ich's tun wollte, Schilöfnecht, ich käm'
nicht bis ins nächfte Dorf. Sie würden mic
le und einſperren. “
rg it du's anftellen ?"
" Bauernkleider anziehen, bei Tag im Wald
ſchlafen bei Nacht laufen.“
„Und wo den Brief verftedten ?"
„Unter der Sohle, im Strumpf."
„Und warn kaunſt du fort?"
„Wann's beliebt. Morgen, heute, gleich,
wenn’3 beliebt. ft zwar Fahnenflucht, macht
aber nichts."
„Wenn’s gelingt, u es nichts. Haft du
Geld?"
„Nicht einen Taler. t aber nichts."
„Nein. Geld ift ae rauchſt viel Geld.
Geh mit mir, ich hole Geld."
Caſpar fprang empor und ſchritt in der
Richtung des Fmhoffichlößchens voran. Am Tor
gebot Cafpar dem Soldaten zu warten. Er ging
hinein und fagte zum Pförtner, er müſſe Frau
von Kannawurf jprechen. Es mar etwas in
feinem Ausfehen, was dem alten Hausmeifter
Beine machte. Frau von Kannamurf kam ihm
alsbald entgegen. Sie führte ihn über eine Stiege
480
in einen Meinen Saal, ber nicht erleuchtet war.
Ein wandhoher Spiegel gligerte im Mondfchein.
Der Bförtner machte Licht und entfernte fich
zögernd.
„Fragen Sie mich nichts,“ ſagte Caſpar mit
fliegendem Atem zu der Freundin, die keines
Wortes mächtig war, „ich brauche zehn Dukaten.
Geben Sie mir zehn Dukaten.“
Sie blickte ihn ängftlich an. „Warten Sie,"
antwortete fie leife und ging hinaus.
Es dünfte Caſpar eine Emigteit, bis fie
wiederkam. Er ftand am Fenſter und ftrich bes
ftändig mit der einen Hand über feine Wange,
Still, wie fie gegangen, kehrte Frau von Kanna-
wurf zurüd und reichte ihm eine Kleine Rolle.
Er nahm ihre Hand und ftammelte etwas. Ihr
Geficht zucte über und über, ihre Augen ſchwam⸗—
men wie im Nebel. Verſtand fie ihn? Sie
mußte wohl ahnen; doc fie fragte nicht. Ein
teübes Lächeln irrte um ihre Lippen, al fie
Cafpar hinausbegleitete. Sie war ergreifend ſchoͤn
in dieſem Augenblid.
Schildknecht lehnte am Mauerpfeiler des Tors
und gudte ernfthaft in den Mond. Sie gingen
zufammen ftadtwärtd; nad ein paar hundert
Schritten blieb Caſpar ftehen und gab Scild-
knecht den Brief und die Geldrolle. Schildfnecht
fagte feine Silbe. Ex blies ein wenig die Baden
auf und ſah harmlos aus.
Vor dem Kronacher Buck meinte Schildfnecht,
e3 ſei befjer, wenn man fie nicht mehr beieinander
fähe. Ein Händedrud, und fie jhieden. Dann
drehte fich Schildfnecht noch einmal um und rief
anfcheinend geöbtig: „Auf Wiederjehen!"
Cafpar blieb noch lange wie verhert an dem»
Baffermann, Gafpar Haufer 31 481
felben Fleck ftehen. Er hatte Luft, fich ins Gras
zu werfen und die Arme in die Erde zu wühlen,
für die er plöglich Dankbarkeit empfand.
Spät kam er heim, blieb aber glüsklichermeife
ungefragt, denn Quandt war einer wichtigen
Belpredu ung halber zum Hofrat Hofmann be
fohlen. Er brachte eine Neuigkeit mit. „Höre
nur, Jette," fagte er, „der Staatsrat hat fich
während der letzten Tage, die er mit dem Polizei⸗
leutnant beifammen war, von ber Sade des
auſer gänzlich Iosgefagt. Er ſoll jogar mit bem
lan umgegangen In die Denkſchrift für den
auſer öffentlich al einen Sertum zu erklären."
„Wer hat’3 gejagt?" fragte die Rehrerin.
„Der Polizeileutnant; e3 heißt auch allgemein
fo. Der Hofrat ift derjelben Anficht.”
„Es heißt aber auch, daß der Staatsrat ver-
si worden ift."
(ch was, dummes Ge “ fuhr Quandt
auf." ‚hl dich nur, du dergleichen ver⸗
lauten läßt. Der Wale eutnant bat gedroht,
daß er die Berbreiter von fo gefährlichen
Nedensarten verhaften laſſen und unerbittlich
u Bra ziehen werde. Was macht der
aufer?
Ich glaube, er ift ſchon ſchlafen gegangen.
Nachmittags war er bei mir in der Küche und
beffagte ſich über die vielen Fliegen in feinem
Zimmer.
fe a HER er jebt feine Sorgen? Das
t ihm ähnlic
„sa. Ich jagte ‚ihm, er foll fie doch hinaus»
jagen. Das tw ich ja, antwortete er, aber dann
kommen immer gleich zwanzig wieder herein.”
„Bwanzig?" ſagte Quandt mißbilligend.
482
„Wiefo zwanzig? Das ift doch nur eine wills
Türliche Zahl?"
m begab fich zur Ruhe.
Am Tage von Feuerbachs Begräbnis trafen
Daumer und Herr von Tucher aus Nürnberg
ein und ftiegen im „Stern“ ab. Daumer fuchte
alsbald Caſpar auf. Cafpar war gun feinen
erſten Beſchützer frei und offen, und doch hatte
Daumer den quälenden Eindrud, als fehe und
höre ihn Cafpar gar nicht. Er fand ihn blaß,
größer geworden, ſchweigſam wie ftet8 und von
einer wunderlichen Heiterkeit; ja, ganz zugefchloffen,
ganz eingefponnen in diefe Heiterkeit, die, ſeltſam
wirkend, dunkle Schatten um ihn warf.
In einem Brief an feine Schwefter fchrieb
Daumer unter anderm: „ch müßte lügen, wenn
ich behaupten wollte, es mache mir Freude, den
Züngling zu fehen. Nein, es ift mir fchmerzlich,
ihn zu fehen, und fragſt du mic) nad) dem Grund,
jo muß ich wie ein dummer Schüler antworten:
Ich weiß nicht. Uebrigens lebt er hier ganz in
Frieden und wird wohl, trübjelig zu melden,
all feine Tage hindurch als ein obſturer Gerichts-
ſchreiber oder dergleichen figurieren."
Während Herr von Tucher am felben Nach-
mittag wieder abreifle, und zwar ohne fih um
Cafpar zu kümmern, blieb Daumer noch drei
Tage in der Stadt, da er Gejchäfte bei der Re—
ierung hatte. Beim Begräbnis des Präfidenten
A er Cafpar nicht; er erfuhr fpäter, daß Frau
von Imhoff feine Anweſenheit zu verhindern ge-
wußt hatte. Er machte bald die kränkende Ent⸗
deckung, daß Cafpar ihm geflifientlich auswich.
Eine inde vor feiner Abreife fprach er mit
dem Lehrer Quandi darüber.
483
wor
„Kann ein Mann von Ihrer Einficht um eine
Erllärung dieſes Betragens verlegen fein?" fagte
Auanbt erftaunt. „ES ift doch ganz Mar, daß
t jet, wo er eine immer größer werbende
Slerepiltigteit um fi entfiehe fieht und die
Folgen davon täglich empfinden muß, daß er
jest durch den Anblick feiner Nürnberger Freunde
in Berlegenheit gerät und fie nad Kräften zu
meiden fucht. Denn dort ftand er ja in floribus
und glaubte wunder was für Rofinen in feinem
Kuchen ſteckten. Wir aber, verehrter Herr Pro-
feffor, find ihm dicht auf der Spur; es wird
nicht mehr Lange dauern und Sie werden mert⸗
würdige Nachrichten hören."
Quandt fah befümmert aus, und feine Worte
klangen fanatiih. Ob danach Daumer gerade
mit —A Bruſt die Fahrt zum heimat⸗
ezirk angetreten habe, fteht zu bezweifeln.
Bi hätte er wie in jener ftillen Nacht, als er
ſpar im Geift und leibhaftig an fich gedrüdt,
klagend über die fommerlichen Felder gerufen:
Menſch, 0 Menſch! Aber dabei hatte es fein
Bewenden nicht. Ein zwangvolles Grübeln be»
mädhtigte fich des verwirrten Mannes; in feinem
Hirn gährte es wie fchlechtes Gewiffen, und
Ian fam, den Entjchluß zur Tat und Sühne
end, zur viel zu fpäten Tat und Sühne,
entftand. eine erſte Ahnung der Wahrheit.
Ein unterbrochenes Spiel
Im Verlauf der folgenden Wochen gab
in den Salons und Bürgerftuben der Stabt
484
allerlei fonderliche Dinge zu munkeln. Ohne daß
das Gerede beftimmte Formen annahm, wollte
man doc) in dem plößlichen Tod des Präfidenten
Feuerbad auch weiterhin nichts fehen als die
Frucht einer myfteriöfen Verſchwörung. Eine
weifbare Aeußerung fiel natürlich nicht; die
lüfterer nahmen fi in acht. Sehr insgeheim
raunten fie fich zu, auch Lord ram ſei an
diefer Verſchwörung beteiligt, und nach und nad)
tauchte das beftimmte Gerücht auf, der Lord gehe
damit um, ‚einen Kriminalprozeß gegen Sahhar
Haufer anzuftengen, und habe fich zu dem Ende
ſchon der Hilfe eines bedeutenden Rechtögelehrten
verfichert. Auf einmal bekannte fich fein Menſch
mehr zu dem früheren Enthufiasmus für den
Grafen, das großartige Andenken, das er hinter-
lafjen, war verwifcht, und in einigen maß-
jebenden Familien, mo er der Abgott gemejen,
{mus man bereit3 mit ängftlicher VBorficht feinen
amen aus,
Cafpars Freunde wurden beforgt. Frau von
Imhoff fuchte eines Tages den Polizeileutnant
auf und erfundigte fi, was von dem Gemuntel
zu halten fei. it fühlem Bedauern erwiderte
Fe daß die öffentliche Meinung in diefem
unft nicht fehlgehe. „Das Blatt hat fich eben
ewendet,“ jagte er; „Seine Lordſchaft ſieht in
par Haufer jet nur einen gewöhnlichen
Schwindler.“
Darauf verließ Frau von Imhoff den Polizei⸗
Ieutnant, ohne ein Wort zu entgegnen und ohne
ruß.
& die fanften Seelen, höhnte Hickel für fich,
das Graufen faßt fie an.
Hickel hatte eine neue Wohnung auf der
485
Ge gemietet und lebte wie ein großer
. Woher mag er die Mittel haben? fragten
die Leute. Er hat Glück am Kartentiich, fagten
einige; andre behaupteten im Gegenteil, daß er
fortwährend große Summen verliere.
Auch damit war der Gefprächsftoff nicht er-
ſchöpft. Eine andre Seltfamkeit: Im Sommer
war aus der Infanteriefaferne ein Soldat auf
unaufgeflärte Zeile verſchwunden. Zu andrer
Zeit wäre ein folches Ereignis vielleicht unbe
achtet geblieben. est befteten ſich auch daran
lei Fabeleien. Es wurde gejagt, jener Sol
dat, der den Haufer beauffichtigt, habe von ge-
wiſſen Geheimniffen Kenntnis erhalten und jei
beijeitegefchafft worden. Man wurde furchtfam;
man verſchloß bei Nacht forgfältig die Haus-
türen. Es war nicht mehr geheuer in der guten,
ftillen Stadt. Wer fremden Namens war, wurde
beargmwöhnt.
elbft Frau von Kannamurf erfuhr folchen
Argwohn, mwenngleih um fie etwas Unantaft-
bares war, das den verleumderifchen Worten die
Kraft raubte. Dennoch) fiel e8 auf, daß fie fich
des Umgangs mit ihresgleichen entzog und fich
anftatt defien häufig unter Menſchen der niederiten
Volksklaſſe herumtrieb. Sie verbrachte viele
Stunden in geiftlofem Geipräh mit YBauern-
weibern und Arbeiterfrauen, ftieg zu ihrem Türmer
hinauf ober gefellte ſich zu den Kindern, bie von
der Schule heimkehrten. Da gefchah es denn oft,
daß fie zum maßlofen Staunen der begegnenden
Bürger einen lärmenden Schwarm von Knaben
und Mädchen um fich verfammelt hatte und in
ihrer Mitte lächelnd durch die Gaſſen 309.
Wahrjcheinlich ift fie eine Demagogin, hieß
486
e3. Gefinnungstüchtige Eltern verboten ihren
Sprößlingen, fih an den flandalöfen Aufzügen
zu beteiligen. Nein Zweifel, auch die Behörde
fand da8 Treiben anftößig, denn einmal am
Abend hatte man beobachtet, daß der Polizei-
leutnant vor dem Imhoffſchlößchen Poften faßte;
zwei Stunden lang war er in der Dunkelheit
unbemweglich unter_einem Baum geftanden.
Es ift wahr, Frau von Kannawurf war eine
auffallende Perſon und benahm fich auffallend.
Aber ihre kurioſen ‚Banblungen hatten einen An-
ſchein von Leichtigkeit, ja Läffigkeit. Sie hatte
eine Art von Lächeln, in welchem fich felbftver-
effene Hingebung an irgendein Gedachtes, Ge—
Fahttes mit der Verzweiflung über bie eigne Un-
zulänglichkeit aufs vührendfte mifchten. Sie lebte
an allem und in allem, ftarb mit jedem Seufzer
gleihfam dahin, flog mit jeder Freude in eine
entrückte Region.
Eines Abends im Auguft trat fie ins Zimmer
ihrer Freundin, warf % wie atemlo8 vom
Laufen auf das Sofa und war lange nicht zu
fprechen fähig. j .
„Was haft du nur wieder getrieben, Clara?"
fagte Frau von Imhoff vorwurfsvoll; „das heißt
nicht leben, das heißt fich verbrennen.”
„Es hilft nichts," murmelte das junge Weib
erſchlafft, „ich muß reiſen.“
Frau von Imhoff ſchüttelte liebenswürdig
tadelnd den Kopf. Dieſe Worte hatte ſie ſeit drei
Monaten des öfteren vernommen. „Bi8 zu unſerm
Familienfeſt wirft du doch noch bleiben, Clara,"
erwiderte jie herzlich.
Wieviel Willenskraft gehört doch manchmal
dazu, einen Entſchluß nicht auszuführen, jagte
487
Clara von Kannamurf zu fich jelbft; und nad
einer Paufe de3 Schweigens wandte fte das Ge
ficht der Freundin entgegen und fragte: „Warum,
Bettine, kannſt du Caſpar nicht zu dir ins Haus
nehmen? Er fol und darf nicht länger beim
Lehrer Quandt bleiben, Dieſes Haus zu betreten
ift mir unmöglich. Seine Lage ift ſchauderhaft,
Bettine. Wozu jage ich dir das! Du weißt es,
ihr wißt e3 ja alle; ihr bedauert «8 alle, aber
feiner rührt nur den Finger. Keiner, feiner hat
den Mut zu tun, was er getan zu haben wünfcht,
wenn das gefchehen ift, was er im ftillen fürchtet."
Frau von Imhoff blickte betreten auf ihre
Handarbeit. „Ich bin nicht glücklich und nicht
unglücklich genug, um mit Aufopferung de3 eignen
einem fremden Schiefal mich hinzugeben,“ ver-
ſetzte ſie endlich.
Clara ftüßte den Kopf in die Hand. „Ihr
left ein ſchönes Buch, ihr feht ein ergreifendes
Theaterſtück und ſeid erfchättert von dieſen nur
eingebildeten Leiden," fuhr fie bewegt und ein-
deinglich fort. „Ein trauriges Lied kann dir
Tränen entloden, Bettine; erinnere dich nur, wie
du weinteſt, al3 Fräulein von Stichaner neulich
den ‚Wanderer‘ von Schubert fang. Bei den
Worten: Dort, wo du nicht bift, fh das Glüd,
haft du gemeint, Du fonnteft eine Nacht lang
nicht fehlafen, als man uns erzählte, drüben im
Weinberge habe eine Mutter ihr eignes Kind
verhungern laffen. Warum ift e8 immer nur
das Unmirkliche oder das Ferne, woran ihr eure
Zeitnahme verfchwendet? Warum immer nur
dem Wort, dem Klang, dem Bild glauben und
nicht dem lebendigen Menfchen, deffen Not band,
greiflich ift? verfteh’ es nicht, verſteh' es
488
nicht, das quält mich, daran, ja daran ver-
brenn’ ich."
Das leiſe, melodijche Stimmchen verging in
einem Hauden. Frau von Imhoff jtüßte den
Kopf in die Hand und fchwieg lange. Dann
erhob fie fich, feste fich neben Clara, ftreichelte
die Stirn der Freundin und fagte: „Sprich mal
mit um Er foll zu und kommen. Ich will es
durcesen.
lara umſchlang fie mit beiden Armen und
küßte fie danfbar. Aber nicht mit freiem Herzen
hatte Frau von Imhoff diefen Entſchluß gefaßt,
und fie atmete jeltfam etlei auf, ihr at
d fie atmete feltfam erleichtert auf, als m
andern Tag Frau von Kannamurf die Eröffnung
machte, Caſpar habe fich unbegreiflicherweife hart-
nädig gegen den Vorſchlag gefträubt, das Haus
des Lehrer zu verlafjen. Zuerſt habe er feinen
Grund für feine Weigerung nennen wollen, als
er aber Claras Betrübnis wahrgenommen, habe
er gejagt: „Dort hat man mich hingebracht, und
dort will ich bleiben. Ich will nicht, daß es
beißt, beim Lehrer Quandt hat er's nicht gut
enug gehabt, da haben ihn aus Mitleid die
Smupens genommen. Ich hab’ ja mein Brot und
mein Bett, mehr brauch” ich nicht, und das Bett
tft das Allerbefte, was ich auf der Welt kennen
gelernt habe, alles andre ift ſchlecht.“
Da fruchtete Feine Einrede mehr. „Schließ-
Lich könnt ihr ja mit mir anftellen, was ihr wollt,"
fügte er Hinzu, „aber daß ich freimillig Dingehen
fol, das wird nicht gefchehen. Wozu auch? Lang
kann's nimmer dauern.”
So war ihm denn das Wort entjchläpft.
War deshalb der tiefe Glanz in feinen Augen?
Blickte er deshalb mit ſtummer Spannung die
489
Straßen entlang, wenn er morgens zum Appell
gericht ging? War’3 deswegen, daß er funden-
ang am Senfte lehnte und binüberfpähte gegen
die Chaufjee? Daß er gierig aufhorchte, wenn
er irgendwo zwei Menjchen leiſe miteinander
“eben ſah? Daß er ah dabei fein mußte,
venn der Poftwagen anlam, und daß er dem
Sriefboten ausfragte, ob er nichts für ihn habe?
Dem rätjelhaften Wefen tat die Zeit feinen
Thbruh. Es lag Frau von Kannamurf daran,
hn einer Gebundenheit zu entreißen, die ihn einem
nnigen Verhältnis w umgebenden Welt ent-
iehen und jede frohe Betätigung zwangvoll machen
außte. Sie ker immer auf aibfendung, und
mes Familienfeſt, von dem ihre Freundin Bettine
eiprochen, gab Gelegenheit, damit Cafpar wieder
inmal aus fich heraus und einer anteilvollen
Belt gegenübertrete.
Die Feier wurde.von Herrn von Imhoff zu
Ehren der Goldenen Hochzeit feiner Eltern ver-
nſtaltet und follte am zwölften September ftatt-
inden. Der junge Doktor Lang, ein Freund des
dauſes, hatte zu der Gelegenheit ein ſinnreiches
Jühnenfpiel in Berfen verfaßt, welches von einigen
damen und Herren der Gejellfchaft ausgeführt
verden ſollte. Bei den Proben, die im oberen
5aal des Schlofjes abgehalten wurden, zeigte
8 ſich, daß einer der jungen Leute, der die Rolle
ines jtummen Schäfer darjtellte, feines plumpen
zenehmens halber unfähig war, den Part zu
ewünſchter Wirkung zu bringen. Da hatte Frau
on Rannamurf, die jelbjt mitjpielte, den Einfall,
iefe Ei Kafpar zu übertragen. Die Anregung
ifall.
Caſpar willigte ein. Da er eine Perfon vor
%
zuftellen hatte, die nicht? zu fprechen brauchte,
glaubte er fich der Aufgabe Teichterdings gewachſen,
die feiner alten Neigung für das Theater entgegen-
kam. Er ging fleißig zu den Proben, und wenn⸗
gleich das phrajenhafte Wefen des Stüds nicht
eben fein Gefallen erwedtte, fo erfreute er fich
doch an der wechjelvollen Bewegung innerhalb
eines abgemefjenen Vorgangs.
Das harmlofe Spiel hatte einen berechneten
und für das Publikum unschwer durchſchaubaren
Bezug auf ein ſchon weit zurüdliegendes Er—
eignis in der Familie der Imhoffs. Einer der
Brüder des Barons hatte fich zu Anfang der
wanziger Jahre an burfchenfchaftlichen Umtrieben
eteiligt und war, von dem feierlichen Bannfluch
des Vater3 und nebenbei von den politifchen Bes
hörden verfolgt, nad) Amerika entflohen. Nach
erlafjener Amneftie war er zurüdgefehrt, hatte
vor dem YFamilienhaupt alle freiheitlichen Ideen
abgeſchworen, und von da ab hatte ihm die
väterliche Gnade wieder geleuchtet.
Diefe etwas philifteöje Begebenheit Hatte den
Bauspoeten zu feiner Dichtung begeiftert. Ein
önig gibt einem ihm befuchenden Freund und
Waffengenoffen ein Gaftmahl. Ein zweiter Poly-
frates, brüftet er ſich bei diefem Anlaß mit
feiner Macht, dem Frieden feiner Länder, den
Tugenden feiner Untertanen. Die Höflinge an
der Tafel beftärken ihn voll fchmeichlerischen Eifers
in feinem Glüdsmahn, nur der Gaftfreund wagt
das kühne Wort, daß er auf dem Purpur des
He 3 doch einen Mabkel bemerke. Der Köni
fühlt fich geteoffen und läßt jenen hart an, u
weiß er zu verhindern, daß der Freund weiter-
fpreche, da feine Gemahlin Zeichen eines großen
. 491
Seelenjchmerges von fich gibt. Unterdeſſen ziehen
im Burghof Schnitter und Schnitterinnen mit
Lachen und munteren Zwiegefprächen auf, und
Mufit begleitet die Gemtefeir, Plötzlich entfteht
sin Stillihmweigen; die Geigen, die Aufe, das
elächter verftummen, und auf die Frage des
znigs wird mitgeteilt, der ſchwarze Schäfer,
r ſich ſchon feit Menfchengedenken nicht im
nd babe fehen laſſen, fei unter daS Volk ge-
sten. Der Gaftfreund begehrt zu wiſſen, was
r eine Bewandinis e3 mit diefem Schäfer habe,
id man antwortet ihm, der Wunderbare befite
? Gabe, durch feinen bloßen Anblict bei jedem
tenfchen die Erinnerung an deſſen ftärkjte Schuld
achzurufen, Schuldloje aber den Gegenjtand
nggehegter Sehnfucht fchauen zu laſſen. Zur
sftätigung deſſen hört man auch aus der Mitte
5 Volkes Weinen und allerlei Elagende —
er König befiehlt, daß fich der Fremdling en
me, doch die Königin, unterftüßt von ben —
3 Gaftfreunds und der Höflinge, fleht den Ge-
ahl an, ihn heraufkommen zu lafjen. Der König
gt fich, und alsbald betritt der ftumme Schäfer
: Szene. Er ſchaut den König an; der ver-
ut jein Gefiht; er ſchaut die Königin an, und
eſe, dunkel seen, ergeht fich in einem län-
ven Selbſtgeſpräch, aus welchem deutlich wird,
ß ihr erftgeborener Sohn wegen einer un-
fonnen angeftifteten Verſchwörung vom Vater
eftoßen wurde und feitdem verfchollen ift. Mit
‚Sgebreiteten Armen, unwiderſtehlich gezogen,
ht fie auf den Schäfer zu, und fiehe, es ift
rt reuig zurückgefehrte Prinz. Man erkennt,
an umarmt ihn, das Eis des königlichen Her-
13 ſchmilzt, und alles Löft fich in Wonne auf.
2
Caſpar benahm ſich nicht ungeſchickt. Im
Lauf der Vorbereitungen fand er von ſich ſelbſt
aus einen heftigen Antrieb zu der Rolle und fühlte
ſich fo hinein, als ob fein alltägliches Leben von
ihm abgelöft wäre. Aehnlich verhielt es fich mit
Frau von Kannamurf, die die Königin machte;
auch fie gab ſich ihrer Aufgabe mit einem Ernſt
hin, der das Spielhafte des Vorgangs undien-
lich vertiefte und daher die Rollen ihrer Partner
ſchattenhaft werden ließ. So webten die beiden
gleihfam in einer eignen Welt für ſich.
3 mar ein fehr warmer Septembertag, als
gegen ſechs Uhr abends bie geladenen Säle er⸗
ſchienen, im ganzen etwa fünfzig Perſonen, die
Frauen in großer Pracht, unmäßig aufgedonnert,
die Männer in Fräden und gefticten Uniformen.
Das Podium fir die Komödie nahm die Schmal-
wand des Saales völlig ein, Kuliſſen und Requi⸗
fiten, auch eine Anzahl Statiften waren vom
Diveltor des Schloßtheaters zur Verfügung ge-
ftellt worden. Die Tafel befand fih in einem
Nebenfaal; dort hatte fich auch die Mufitfapelle
eingefunden, denn nad) dem Eſſen follte getanzt
werden. ‚
Um fieben Uhr ertönte ein Glockenzeichen,
alles begab ſich auf die Plätze. Der Vorhang
rollte auf, und der König begann feine überheb-
liche Tirade. Der Gaftfreund, vom Verfaſſer
felbjt gemimt, hielt reſpektvollen Widerpart, dann
kam das beitere Broifchenfpiel auf dem Hof, und
das Folgende nahm feinen ruhigen Fortgang.
Nun trat Caſpar auf. Das ſchwarze Gewand
kleidete ihn_teefflich und hob die Bläſſe feines
Gefichts. Sein Erſcheinen auf der Bühne hatte
, eine unmittelbare Wirkung. Das Huften und
493
Näufpern hörte auf; ZTotenftille entftand. Wie
er den König und die Königin anblidte, wie er
auf fie zufchritt und traumhaft lächelte, das war
ergreifend. Einige fahen ihn fogar zittern und
beobachteten, daß fich feine Finger wie im Krampf
in die Hand fehlofien. Nun der Monofog der
Königin; auch dies Hang anders, als Schaufpieler
ſonſt fich geben, fie tritt an den Jüngling heran,
fie legt die Arme um feinen Hals...
diefem Augenblid eilte ein Mann aus
dem Hintergrund de3 Saales bis vor die Rampe
und rief ein gellendes: „Halt!” Die Spieler auf
der Szene fuhren erfchroden zufammen, die Zur
ſchauer erhoben fi, und eine allgemeine Unruhe
entftand. „Wer ift da8? Wer wagt das? Was
gibt’3?" wurde Durcheinander gerufen; man drängte
nad, vorn, die Frauen fehrien ängitid, Stühle
wurden umgemworfen, und nur mit Mühe gelang
es dem Hausheren, eine gefährliche Panik zu ver-
ten.
Indes ftand der Urheber der Verwirrung
noch immer unbemweglich vor dem Podium. Es
war Hidel. Bleich und feindfelig jtierte er auf
die Szene und fchien nicht zu gemahren außer
Cafpar und Frau von Kannawurf, die, an«
einander gedrängt, furchtfam in den verdunfelten
Saal fchauten. Der erſte, der fih an Hickel
wandte, war der junge Doktor Lang. In feinem
gantafiete ſtüm des „Gaftfreundes” trat er an den
and der Ejtrade und fragte wütend nach dem
— einer fo unverantwortlichen Handlungs«
weiſe.
Der Polizeileutnant holte tief Atem und ſagte
laut mit einer gläſernen Stimme: „Ich muß die
hochgeehrte Verſammlung taufendmal um Ent
494
ſchuldigung bitten, und da ich felbft zu den hier
Geladenen gehöre, wird meine Verficherung viel:
leicht Glauben finden, daß mir ein folcher Schritt
nicht leicht geworden ift. Aber ich Tann nicht
dulden, daß der are ein frivole3 Amiüfement
zu einer Stunde fortjegt, wo ich die Nachricht
von einem fchredlichen Unglüd_ erfahren babe,
das ihn wie feinen andern trifft und für fein
een Leben von folgenjchwerer Bedeutung
ein wird."
Finſtere, neugierige und unmillige Augen
blietten auf den SBolizeileutnant. Der Doltor
Lang entgegnete zornig: „Unfinn! Eine Teufelei
ift e8, weiter nichts. Was auch immer vorgefallen
it, jo kann weder ich noch irgend jemand von
den Anmejenden Ihnen das Necht zu einer fo
groben Eigenmãchtigkeit zugeftehen. Iſt es ſchlimm,
was Sie zu melden haben, ſo war um ſo mehr
Grund zu warten, unſer Spiel war ja am Ende.
* an Wahnfinn, ein Mißbrauch der Gaft-
em *
„Jawohl, der Doktor hat recht," riefen
einige Stimmen.
Hickel ſenkte den Kopf und legte die Hand
vor die Stirn.
„Darf ich wiffen, worum e3 fich handelt?"
trat nun Here von Imhoff dazwiſchen.
Hickel raffte fi empor und ermiderte dumpf:
„Graf Stanhope hat feinem Leben freiwillig ein
Ende gemacht.
Es entftand eine lange Stille. Faft alle
blickten auf Caſpar, der gegen eine Soffitte lehnte
und langjam die
U loß.
jat ſich een fragte Herr von
495
„Nein," antwortete Hidel, „er hat ſich er-
hängt."
Hafcgetnde Laute des Schreckens ließen fich
vernehmen. Herr von Imhoff biß ſich auf die
— „Weib man Näheres?" fuhr er fort zu
agen.
„Nein. Das heißt, ich habe nur eine all-
gemein gehaltene Nachricht von feinem Jäger.
war bei einem Freund, dem Grafen von Bel-
gabe, an der normannijhen Küfte zu Beſuch.
m Morgen des vierten September fand man
ihn im Turmzimmer des Schlofjes an einer
Seidenfchnur hängend als Leiche."
Herr von Imhoff ſah zu Boden. Als er
wieder aufblicte, firierte er den Polizeileutnant
fremd und fagte: „Es tut uns allen von Herzen
leid. Ich glaube, daß niemand in diefem Saal
ift, der dem unglüdlichen Mann nit ein
lebendiges Andenken bewahren wird. Nichts:
deftomeniger, Herr Zeutnant, bleiben Sie mir
Ihres jonderbaren Vorgehens halber Rechenſchaft
ſchuldig.“
Zae verbeugte ſich ſtumm.
ie Hausfrau und mit ihr einige andre
Damen waren bemüht, die Gäſte zu beruhigen,
aber während die Diener die Kerzen des großen
Kronleuchters anzündeten, meldete man rau von
Imhoff, daß ihre Schwiegermutter, die Jubilarin,
infolge der außgeftandenen Aufregung unmohl
jeworden fei und ſich auf ihr Zimmer begeben
abe. Sie folgte fogleich nah. Dies war ein
Signal zu allgemeinem Aufbruch. Der Regierung»
präfident und der Generaltommiffär mit ihren
Frauen verließen zuerft den Saal, und ſchließlich
blieben nur ein paar intime Freunde des Barons
496
um diefen verfammelt und nahmen in gebrücter
Stimmung an der weitläufigen Tafel Platz.
„Ich hab’ e8 immer geahnt, daß uns der
gute Lord noch einmal eine grimmige Ueber
raſchung bereiten würde," fagte Herr von Imhoff.
„Was wird aber nun mit dem armen Haufer
geſchehen ?“ meinte einer aus der Gejellichaft.
Man ſprach allerlei Vermutungen darüber
aus; die Unterhaltung fam in Fluß, und wie oft
ein unglüdliche8 Ereignis dazu dient, die Phan-
tafie der entfernt Beteiligten mohltätig anzuregen,
fo aud hier. Man gab fi bis über Mitter-
nacht lebhaften Geſpraͤchen hin.
Caſpar date fih, während des raſchen Auf-
bruchs der Gäfte in dem Keinen Ankleidezimmer
für die Schaufpieler verſteckt. Die jungen Leute
entieigten I} eilfertig ihres Koftüms und ver⸗
ſchwanden. Nach einer Weile kam ein Diener,
um die Lichter auszulöfchen, und diefer entdeckte
Cafpar. Als Cafpar gegen die Treppe zu ging,
hörte er Schritte hinter fich, und Frau von Kannas
wurf trat an feine Seite. Sie fragte ihn, ob er
nad Haufe wolle, und er bejahte. „EB regnet,"
ker fie unten beim Tor und ftrectte die Hand
inaus. Sie wartete ein wenig, um den Regen
vorübergehen zu Iafjen, aber es wurde ein heftiger
Guß daraus, und dad Waſſer Enatterte lärmend
auf die Bäume und den ausgedörrten Boden.
Ein kaltfeuchter Luftſtrom ſchlug ihnen entgegen,
und Frau von Kannawurf forderte Cafpar auf,
mit ihr ind Zimmer zu gehen, es könne allzu»
lang dauern. Er folgte ftill.
Oben machte fie Licht, dann ftand_fie und
fah verjonnen in die Flamme. Ihre Schultern
bebten fröftlich. Cafpar hatte fi auf das Sofa
Wafjermann, Caſpar Haufer 32 497
eſetzt. Allgemach fpürte er eine jo große Müdig-
ker daß me örmlich hintüberzog, un — er mußte
ſich auf den Rüden legen. Da trat Clara zu
ihm und ergriff feine Hand, die er ihr jedoch
haftig wieder entriß. Er machte die Augen zu,
und einen Moment lang war fein Geſicht voll-
tommen leblos. Frau von Kannawurf ftieß einen
matten Angſtruf aus u fiel neben ihm auf die
Knie. Dann rief fie ihre Ke ofe und bat
um Wafler; fie ſchenkte ein Glas voll und reichte
es ihm zu temten. Ex trank ein paar Schlüde.
„Was ift dir, Caſpar?“ flüfterte fie, und zum
erflenmal Duz te fie J — lächelte dankbar.
‚Du bift De eine weiter,“ — ® 4
und berührte mit den ‚Fingern
über ihn gebeugten — a Sort
Schweſter Hatte in feinem Mund einen eignen
Klang; es tönte wie ein nie zuvor gefprochenes
ort,
Clara ſchmiegte fi) an feine Seite; ihr war,
als müßte fie ihn wärmen, er aber rückte ängft-
lich fort, da wollte fie fich wieder erheben, doch
betaftete er mit der Hand ihren Arm und ſah
fie an mit einem bittenden Ausdrud von Schmerz
und Liebe. „Clara,“ fagte er, und fie glaubte
vergeben zu ‚follen oder zu einem andern Leben
grmachen zu "miüffen, denn die en
liche Art, wie er diefen Namen ausſprach, hatte
etwas Ueberivbifch ches.
Es kam nun fo, daß Stunde auf Stunde
verging und fie immer nebeneinander lagen,
ftumm, ftumm, regungslos und über und über
sitternd beide. Sie ſireckte die Hand nad ihm
aus, und der Atem feines Mundes floß im die
al gleich dem ihren.
AUS es von der Schloßuhr zwölf hab
ſchauerte Clara zuſammen. Sie ſich
ſagte mit tiefer Beteuerung vor ſich Al „Nie,
nie, nie, nie.” Dann fchritt fie zum Fenſter und
öffnete ‘8. Der Negen hatte längft aufgehört,
das Firmament war Har, der ganze Sternen-
Simmel lag funfelnd vor ihr da. Ihre volle
ruft drängte den unbelannten Welten ent
—T denn von dieſer, auf der ſie lebte, war
ſie ſatt.
Sie ſagte zu Caſpar, er könne die Nacht im
Schloß verbleiben, aber er entgegnete, das wolle
er nicht. Sie ging dann hinaus, um zu fehen,
ob Frau von Imhoff noch wach ſei. Sie jchritt
am Speifefaal vorbei, wo die Herren noch beim
Wein My und laut vedeten. Die Baronin
hatte fich gleichfalls and nicht zur Ruhe begeben.
Clara teile Fl mit, daß Cafpar bis jeßt bei ihr
gegen fei. Frau von Imhoff nidte, ſah aber
ie Freundin eiwas verlegen und verwundert an.
„Ih werde morgen fen meinen Koffer paden
und reifen," fagte Clara leife und mit einem Aus»
druck unmiderruflicher Beftimmtheit, der ihr bis⸗
weilen eigen war und ihre Tindlichen Züge felt-
ſam hart und leidend machte. Frau von off
erhob fich überrafcht und trat nahe an bie
Freumdin heran. — fielen ſie einander in
die Arme, und Clara ſch luchzte.
ß verſtanden ſich; es war nicht nötig zu
ſprechen.
As ſich Clara losriß, ſagte fie, fie werde
Caſpar noch in die Stadt begleiten. „Das Fannft
du unmöglich tun," wandte Frau von Imhoff
ein, „oder ich werde dir wenigſtens ben Diener
mitgeben.“
499
„Bitte, nicht," antwortete Clara lächelnd, „du
weißt doch, daß ich feine Furcht habe. Es bes
irrt mich auch, wenn man meinethalben ängftlich
iſt. Die Nacht tut mir gut, und ich freue mich
auf den einfamen Rückweg."
Eine Viertelftunde fpäter wanderte fie mit
Cafpar über die noch feuchte Straße gegen bie
Stadt. Sie redeten auch jest nichts, und vor
dem Lehrerhaus reichten fie einander die Hände.
„est gehſt du mwahrjcheinlih fort von mir,
Clara,” jagte da plöhlich Cafpar und fchaute fie
mit einem verfchleierten Blick an.
Sie war ebenfo erjtaunt mie bemegt über
diefe Worte, die ein tiefes DVorgefühl verrieten.
Wie ſchön find feine Augen, dachte fie, fie find
hellbraun wie die eines Rehs; gleicht er Doch auch
fonft einem Reh, das traurigeverwundert im
dunkeln Wald fteht.
Ja, ich gehe," erwiderte fie endlich.
„Und warum denn? Bei dir war mir wohl.“
Ich komme wieder," verficherte fie mit einer
gezwungenen Herzlichkeit, hinter der ein Auffchrei
erftarb. „Ich fomme wieder. Wir werden uns
ſchreiben. Zu Weihnachten komm’ ich wieder.“
„Sch komme wieder; das hab’ ich ſchon ein-
mal gehört," jagte Caſpar bitter. „Bis Weih-
nachten ift lang. Und fchreiben tu’ ich nicht. Was
hat man vom Schreiben, ift ja doch nur Papier.
Geh nur, leb wohl.”
„Es kann nicht anders fein,“ fläfterte Clara,
und ihr Blick fuchte die Sterne. „Sieh, Cafpar,
dort oben ift das Ewige. Wir wollen es nicht
vergeffen wie alle andern. Wir wollen nichts
vergejjen. Ach, vergefien, vergeffen, darin liegt
alle Bosheit der Welt. Uns gehören die Sterne,
500
Gafpar, und wenn du binauffchauft, bin ich
ei dir."
Cafpar fehüttelte den Kopf. „Leb wohl,”
fagte er matt.
Im Erdgefchoß wurde ein Fenſter geöffnet,
und das mit einer Bettmütze gefrönte Haupt des
Lehrers wurde fihtbar, um gleich darauf wieder
u verfchwinden. Es war eine jchmeigende
ahnung.
ch will Bettine bitten, daß fie ihn tägli
befucht, überlegte Clara, während fie allein dur
die öben Gaſſen ging; ic} bring’ ihm Unheil, wenn
ich bleibe, ein Abgrund gähnt mir enige en, wie
ex fürchterlicher nicht zu denken ift. weiter !
Wie war mir doch, als er mich Schwefter nannte!
Die himmlische Seligkeit pochte mir an die Bruſt.
So hätt’ ich einen verlorenen Bruder gefunden,
und mehr noch; .aber, gerechter Gott, mehr darf
es nicht fein. Ihn anzutaften! Seinen Schlummer
ftören! O verbrecherifche Lippen, denen ein Ruß
nichts bedeutet! Häit' ich's getan, ih müßte
feine Mörberin heißen, was Tann ich Befjeres
tun als fliehen? Ein guter Genius wird ihn
hüten; vermeffen, wollt’ ich durch meine arm⸗
jelige Gegenwart ihn behütet glauben; ein fo
edles Ding kann nicht zugrunde gehen, meil ſich
zwei Augen von ihm menden.
Diefe wirre und aufgeregte Gebantenfolge
entfchleiert ein rettungslos verſtricktes Gemüt, das
in feiner Schwärmerei den Euefätu eines Opfers
faßt, verzagt, geblendet Dur, en Anblid von fo
viel Schickſal und in feiner Betrübnis irregehend
an den Kreuzwegen der Liebe.
Den Blick beftändig zum Himmel gerichtet,
und zwar auf das ſchöne Sternbild des Wagens,
das wie ein erftarrter Zadenblig im Dunkelblauen
ſchwamm, bemerkte Clara nicht, daß am Portal
des Schloffes eine Geftalt lehnte. Sie prallte
erſt zurüd, als ihre die mächtige Perfon
den Weg verftellte. O Gott, der ©rauenvolle,
dachte fie.
Hickel, denn diefer war es, verneigte fich
gegen die beftürzie Frau. Bergebung, Madame,
ergebung," murmelte er. „Und nicht nur für
diefen Ueberfall, auch für das andre. Gie find
zu ſchön, Madame. Wenn Sie die Gnade hätten,
zu erwägen, daß Ihre fublime Schönheit mit
meinem Kopf umfpringt wie ein mutwilliger Knabe
mit feinem Kreifel, wenn Sie in Betracht. ziehen
wollten, daß es ſelbſt beim Komödieſpiel einen
Punkt gibt, wo die verrüct gewordene Phantafie
den Gegenftand ihrer Binfee befudelt und das
Bildliche eiferfüchtig für ein Wirkliches hält, jo
würden Sie vielleicht Ihren zerfnirfchten Diener
durch ein tröftliches Wort beglücken."
Ales dies Hang einfältig, formlos, geziert,
höhniſch und verzweifelt. Er jchien die Worte
zmifchen den Zähnen zu zerquetfchen, und man
onnte ihm anjehen, daß er fih nur mit An-
ftrengung fteif und ruhig hielt.
Cara trat einen Schritt zurüd, verjchränfte
die Arme, drücte fie feft gegen die Bruft und
fagte befehlend: „Lafien Sie mich vorbei!"
„Madame, von Ihrem Mund hängt zur
Stunde mandes ab," fuhr Hickel fort und hob
den Arm mit der ftarren Bewegung einer Wachs⸗
figur. „Ich bin nie ein Bettler geweſen. Hier
fteh’ ich und bettle. Derleugnen Sie nicht Ihr
Geficht, das einen Engel glauben läßt!"
Er trat zur Seite, wortlos ging Clara an
6502
ihm vorüber. Sie läutete, und der Pförtner, der
auf fie gewartet, öffnete ſogleich. AS fie drinnen
war, ſpuͤrte fie eine entfeßliche Uebelleit. In ihrem
Hirn war etwas wie gerrfien. Auf der Treppe
ftodtte fie; ihr war, al3 müffe fie umkehren und
den furchtbaren Mann noch einmal anreden.
Als Cafpar am nächſten Nachmittag zu Im—
hoffs kam, wurde ihm mitgeteilt, dab Seas von
Kannawurf ſchon abgereift fei. Er bat Frau
von Imhoff, fie möchte ihm Claras Bild zeigen,
das er feit dem erſten Gejellfchaftsabend, dem er
im Schlofje beigemohnt, nicht mehr gejehen. Die
Baronin führte ihn in ein Erkergemach, wo das
Porträt zwiſchen zwei Ahnenbildnifjen an ber
Wand hing.
Er ſetzte fih davor und betrachtete es lange
mit ftummer Aufmerkſamkeit. Als er ging, ver«
ſprach Frau von Imhoff, ihm eine Feknung
von dem Bild anfertigen zu laffen. Ex war jo
zerſtreut, daß er nicht einmal dankte,
Quandt unternimmt den legten Sturm
auf das Geheimnis
Obmohl eine Zeitlang von einer Strafvers
fegung Hidel3 die Rede war, verlautete darüber
nichts Näheres, und die Sache ſchien allmählich
in Pergeffenheit zu geraten. Ohne Bmeifel
waren da allerlei verborgene Einflüfje im Spiel,
die den Polizeileutnant ficherftellten. „Dem Dann
ift nicht beizuklommen,“ fagten die Eingeweihten;
„ex ift zu gefährlich und weiß zuviel.“ Freilich
war Hidel brauchbar im Dienft und von feinen
508
Untergebenen äußerft gefürchtet. Dabei wurde fein
Lebenswandel immer undurchdringlicher; außer
im Kaſino und im Amt fprach er mit feinem
Menſchen. Auf der Polizeiwache ſaß er halbe
Nächte, aber nur deswegen, um feine Leute zu
Drangfalieren.
ar Duandt hatte ihn fürchten gelernt.
Eines mittags im Oktober, der Lehrer ſaß
mit feiner Frau und Caſpar beim Kaffee, trat
plöglich jähelrafjelnd Hickel ins Zimmer, ſchritt
ohne Gruß auf Cafpar zu und fragte berrifch:
„Sagen Sie mal, Haufer, wiffen Sie vielleicht
etwas über den Verbleib des Soldaten Schildfnecht ?""
Cafpar wurde afchfahl. Der Polizeileutnant
fizierte ihn mit gligernden Augen und donnerte,
ungeduldig über das lange Schweigen: „Wiffen
Sie etwa3 oder wifjen Sie nicht3? Reden Gie,
Menſch, oder, fo wahr mir Gott helfe, ich laſſe
Sie auf der Stelle ins Gefängnis bringen!"
Caſpar erhob fi. Ein Knopf feiner Joppe
verwidelte ſich in die Franſen des Tiſchluchs,
und während er zurüdwich, fiel die Kaffeefanne
um und das ſchwarze Gebräu ergoß ſich über
das Linnen.
Die Lehrerin tat einen Schrei; Quandt aber
machte ein ärgerliches Geficht, denn das groß-
fpurige Auftreten de3 KPolizeileutnants verdroß
ihn, auch war es ihm um fo vermunderlicher,
als Hickel gerade Cafpar gegenüber ſich feit
Monaten einer fteifen und finfteren Zurücthaltung
befliffen hatte. „Was fol er denn mit dem
Deferteur zu fehaffen haben?” fagte er unwillig.
„Das laffen Sie nur meine Sorge fein!“
braufte Hickel auf.
„Dbo, Here Bolizeileutnant, in meinem Haufe
504
bitte ich mir ein höflicheres Benehmen aus,"
verſetzte Quandt.
„Ach was! Sie ſind ein Schwachmatikus,
Herr Lehrer. Was nicht auf Ihrem Miſt wächſt,
das äftimieren Sie nicht. Ueberhaupt, was iſt's
denn? Zwei Jahre find’3 her, feit der Menſch
bei Ihnen wohnt, und wir find genau fo Hug
wie zuvor. Wenn da3 Ihre ganze Kunft war,
dann laſſen Sie ſich nur heimgeigen.”
Der Hieb ſaß. Quandt verbiß feinen Groll
und ſchwieg.
„Aber es hat ein Ende jeßt," fuhr Hidel
fort; „ich werde mit dem Hofrat reden, und der
Haufer kommt zu mir in die Pflege.”
„Damit werden Sie mir bloß einen Gefallen
erweifen,“ erwiderte Quandt und verließ hoch⸗
aufgerichtet daS Zimmer,
Die Lehrerin blieb mit geſenkten Augen fiten.
Hickel marjchierte haſtig auf und ab und trodnete
mit dem Aermel feine Stirn. „Wie mir nur
it, wie mir nur iſt,“ murmelte er faft verftört.
Dann wandte er ſich wieder ſchimpfend an
Cafpar. „Unglücjeliger, verdammt Unglüdeliger!
Was für ein Teufel Dat Sie geritten! pen,"
fügte er leife hinzu und ftellte ſich neben Caſpar,
„der Burſche ift verhaftet und wird ausgeliefert.
Kommt auf die Plaffenburg, der Kerl.“
„Das ift nicht wahr," ſagte Caſpar, ebenfalls
leife, gebehnt umd etwas fingend. Cr lächelte,
dann lachte er, ja, er lachte, wobei fein Geficht
ſtark erbleichte.
Hickel wurde ſtutzig. Er kaute an feiner
Lippe und ſah düſter ins Leere. Plöglich griff
er nach feiner Kappe, und mit einem böfen, eiligen
Blick auf Caſpar entfernte er fich.
505
Quandt war nicht gefonnen, den Schimpf,
den ihm der Polizeileutnant angetan, auf fi
figen zu laſſen. Er bejchwerte fich beim Hofrat
Hofmann, doch diefer ſchien nicht ſehr bereit,
ſich einzumifchen. Der Lehrer nahm die Gelegen-
beit wahr, noch eine andre Sache zum Austrag
zu bringen.
Seit Feuerbachs Tod hatte der Hofrat die
Oberaufficht über Cafpard Pflege. Auf eine
Hilfe wie die vom Grafen Stanhope war nicht
mehr zu rechnen, man hatte den Bürgermeifter
Ender3 und die Gemeinde um Unterftüßung an-
ggangen, aber ein Beſchluß war noch in der
chwebe. Einftweilen erhielt Cafpar vom Gericht
eine Heine Lohnerhöhung für feine Schreiberei;
das Geld lieferte er pünktlich dem Lehrer ab.
Die beſchränkten Verhältniffe erlaubten ihm nicht
die geringfte Freiheit in feinen Ausgaben. Ans
fangs Dftober war er konfirmiert worden, und
mit Sehnfucht erwartete er das fogenannte Tag-
geld, das ihm von der Stadt ehe ausgeſetzt
war. Ungehalten über die Verfchleppung, wandte
er fih an den Pfarrer Fuhrmann; dieſer riet
ihm, er folle den Lehrer erfuchen, aufs Ge
meindeamt zu gehen, um die Auszahlung zu bes
Be ’ ich wicht, Hert Gofrat, ic
„So etwas tu’ ich nicht, ofrat, i
mache nicht den Bittfteller, m en erlaubt
das nicht,” fagte Quandt.
Der Hofrat zuckte die Achſeln. „Geben Sie
ihm doch die paar Taler einjtweilen aus Ihrer
Tafche," fagte er, „man wird's Ihnen gewiß
"Sm Sinfit auf den Baufer gist es m
Pi inficht auf den Haufer gibt es feine
Gewißheiten,“ verjegte Quandt; „ich habe ohnes
506
Hin Auslagen genug und weiß nicht, ob ich noch
lange fo zufehen Tann."
Der Hofrat überlegte. „Er bat doch wohl-
habende und reiche ‚Seeunde, „“ ſagte er dann,
„die können doch helfen.
„Ad du lieber Gott, " feufzte der Lehrer,
„denen ift er viel zu —** als daß ſie an
ſeine kleine Notdurft denken."
pr" Fi a morgen zu nen eh
un "den auſer fragen, wozu er denn eigentlic
— — Geld braucht," ſchloß der Hofrat
a3 räch.
Des Abends Fam Caſpar noch fpät in Quandts
Zimmer und flehte ihn mit aufgehobenen Händen
an, ihn doc) nicht aus dem Haus zu geben, er
wolle ja alles tun, was man von ihm verlange;
„nur nicht zum SPolizeileutnant, alles, nur das
nicht ſagte er.
er Kehren berubigte ihn nad Kräften und
haste davon tönne vorläufig feine Rede fein, der
BVolizeileutnant habe ihn bloß jchreden mollen.
„Nein,“ antwortete Caſpar, „auch der Offiziant
Maier bat heute auf dem Gericht davon ges
ſprochen.“
„Nun, Hauſer, jetzt gekten Sie fi aber
mie"ein Heiner Knabe un! d doch ſchließlich
ein erwachſener Mann,“ ge Quandt tabelnd,
„Ich Tann das nicht ganz ernft nehmen, Sie
lieben es zu übertreiben und fih kindiſch zu
ftellen. A olizeileutnant würde Ihnen auch
nicht den Kopf abbeißen, wennjchon ich zugebe,
daß er bisweilen etwa3 derbe Manieren hat.
Aber Sie find ja jest auch ein Chrift in des
Wortes voller Bedeutung, und ohne Zweifel
haben Sie den Spruch ſchon gehört: Tue deinen
507
zur
Feinden Gute, damit du feurige Kohlen auf
dem Haupt Sammelft, “
Caſpar nicte. „Cs fteht ein Gefäglein dar⸗
über in Dittmard ‚Weigenförnern‘, " erwiderte er.
„Ganz vecht; wie haben es ja zufammen
duchgenommen," fuhr Quandt lebhaft fort.
„Wifjen Sie was! Damit Sie das ſchöne Merk—
wort genau im Gedächtnis behalten, ſchlage ih
Ihnen vor, mir Ihre eignen Gebanten darüber
niederzufchreiben. Ich will es meinetwegen als
ein Penjum für fich betrachten und Sie können
den ganzen morgigen Nachmittag dazu ver
wenden.”
Cafpar ſchien einverftanben.
Der Hofrat kam nicht, wie er verfprochen,
am nächften, ſondern erſt am zweitfolgenden Tag.
AS er ins Zimmer trat, tebete der Lehrer gerade
mit zornigen Gebärden auf Cafpar ein. he die
Frage des Hofrats, was Caſpar verbrochen habe,
fagte Quandt: „IH muß mic) do« gu zu viel
mit ihm berumärgern. — ſtellte ich ihm
ein Thema für den deutfchen Aufſatz, er verjprach
mir, e3 auszuarbeiten, und er hatte ben ganzen
geftrigen Zerua dazu Zeit. Soeben verlang'
5 nun fein Fr und bier, überzeugen Sie ſich
ſeibſt, in ofrat, auch nicht eine Zeile hat er
eg rieben. Eine ſolche Trägheit iſt himmel⸗
— reichte dem Hofrat das aufgeſchlagene
get: oben auf einer Seiie ftand der Titel des
ufjages: Tue deinen Feinden Gutes, damit
du feurige Kohlen auf ihrem Haupt fammelit;
danach kam aber nichts und die Seite war leer.
„Warum haben Sie’3 denn nicht gemacht ?“ fragte
der Hofrat fühl.
508
Caſpar antwortete: „Ich kann nicht.”
„Das müſſen Sie können!" rief Quandt.
„Vorgejtern haben Sie mir ja erzählt, daß ber
Gegenftand in Ihrem — behandelt ift, eine
Gedankenfolge zu finden, hätte Ihnen alſo nicht
Knete Tonnen, wenn Sie dort angefnüpft
ten.“
„Probieren Sie's doch einmal, Haufer,“ fiel
der Hofrat befänftigend ein. „Schreiben Sie
meinetwegen nur ein paar Säte nieder. ch
werde mich mit dem Herrn Lehrer ins Neben»
zimmer begeben, und wenn wir zurückkommen,
ſollen Sie uns irgend etwas vorzeigen und ben
Beweis liefern, daß Sie mwenigftens den guten
Willen haben.“
Quandt nidte und ging mit dem Hofrat
hinaus. Als fie im Wohnzimmer waren, übergab
der Hofrat dem Lehrer zwei Golddukaten und
fagte, die feien von Frau von Amboft, der er
Caſpars Verlegenheit geſchildert habe; die gütige
Dame babe fi nos hoch entfchuldigt, daß es
aur fo wenig jei, aber fie habe über das Geld
feine freie Verfügung. „Uebrigens war der
Haufer geftern bei mir," fuhr der Hofrat fort,
„und zwar kam er, um mic) zu bitten, ich möchte
es doch verhindern, daß er dem Polizeileutnant
in Pie jegeben werde.“ ,
„ f och des Teufels; er beläftigt alle
Leute mit feinen kindiſchen Miſeren,“ Magte
Quandt, „auch mich Hat er ſchon darum ans
gegangen!
„Vor dem Hidel fcheint er ja eine Heiden-
angft zu haben.“
„Sa, der Polizeileutnant ift eben ſehr ftreng
mit ihm.”
509
„Ich fagte ihm, daß von meiner Seite eine
folche Abficht nicht vorliege, und er möge nur
feine Pflicht tun, dann werde ihm niemand zu
nahe treten.”
„Sehe wahr."
„Wir redeien noch über feine Geldfalamität,
und da wollte er nicht mit der Farbe heraus.
Ich verſprach, ihm zu feinem Geburtstag fünf
Taler zu fchenten, und fragte ihn, warn er Ges
burtstag habe. Darauf antwortete er traurig,
das mie ex nicht, und ich muß geftehen, e8 war
da etwaß in feinem Weſen, was mich rührte. Aber
ſonſt ſchien er mir doch gar zu fehmeichlerifch, und
fein ndlich Geblinzel und Getue mißfiel mir."
„Leider, leider, fchmeichlerifch ift er, da haben
Sie recht, Herr Hofrat; beſonders wo er feine
Pläne durchjegen will."
Nah diefem Meinungsaustaufch kehrten fie
wieder zu Cafpar zurüd. Er ſaß am Tiih, den
Kopf in die Hand geſtützt. „Na, was haben Sie
fertiggebracht ?" rief der Hofrat jovial. Er nahm
as , ſtutzte, da er nur einen einzigen Satz
gejchrieben fand, und las vor: „Wenn fie dir
ebles_an deinem Körper zugefügt haben, tue
ihnen Gutes dafür." — „Das iſt alles, Hauſer?“
„Sonderbar,“ murmelte Quandt.
Der Hofrat ftellte fich vor Cafpar hin, drehte
den Kopf gegen die Schulter und begann uns
vermittelt: „Sagen Sie mal, Haufer, wen haben
Sie denn eigentlich von allen Menfchen, die Sie
bisher fennen gelernt haben, am meiften lieb»
jewonnen?" ein Geficht jah HEHE aus; er
hate von feinem Amt al Gerichtsfunttionär die
tanier behalten, auch das Harmloſe mit einem
Ausdrud von fäuerlihem Spott zu äußern.
510
„Stehen Sie doc auf, wenn der Herr Hofs
rat mit Ihnen fpricht," flüfterte & —
Caſpar zu.
Caſpar ſtand auf. Cr blidte ratlos vor ſich
in. witterte eine Falle hinter der Frage.
dachte plöglich: Wahrfcheinlich ift der Lehrer
darum fo böfe, daß ich den Aufſatz nicht gemacht:
habe, weil er glaubt, ich halte ihn für meinen
Feind. Er ſchaute zu Duandt hinüber und fagte
Bee: „Den Herrn Lehrer hab’ ih am
liebſten.“
Der Hofrat wechſelte mit Quandt einen Blick
I Einverſtãndniſſes und räuſperte ſich bes
ut
jam.
a, ein Beſtechungsverſuch, dachte Quandt
und war ſtolz darauf, nicht im mindeften von
der Antwort erbaut zu fein.
Caſpars Leben wurde nun immer einförmiger
und zurüdgezogener. Er hatte niemand, mit dem
er eine vertrauliche Unterhaltung führen konnte.
Frau von Kannamwurf ließ auch nichts von fi
hören, und daS wurmte ihn denn doch, trodem
ex behauptet hatte, an Briefen jei ihm nichts
gelegen. Wo war fie überhaupt? Lebte fie noch?
& mochte oft nicht ausgehen, alle Wege waren
ihm verhaßt, jede Verrihtung fand ihn lau. Zus
dem war das Wetter immer fchlecht, der November
brachte gewaltige Stürme, und jo ſaß er in der
eien Zeit auf feinem Zimmer, glitt mit den
licken über die Hügelvänder oder ftreifte bang
den Himmel und finnierte unabläffig. Ex wartete,
wartete. Einmal ging er insgeheim in die Kaferne
und erfundigte ſich vorfichtig, ob man dort etwas
über Schildfnecht wiſſe. in konnte ihm feine
Auskunft geben. Das nährte die verfladternde
5
offnungsflamme, aber in den darauffolgenden
ven fühlte er fich krank und wollte fich des
Morgens kaum zum Verlaſſen des Bettes ent-
jöte en. Es kamen noch manchmal Fremde zu
eſuch; er verhielt fich ftörrifch und einfilbig.
Wenn er aufgefordert wurde, in Gejellichaft zu
gehe, fagte er bitter: „Was foll mir das
üben?" Als er eines Abends über den
Schloßplag ging und an der mächtigen Faſſade
mit den Yobene immer geſchloſſenen Fenftern
emporjah, glaubte er in ben leergedachten Sälen
übergroße Geftalten wahrzunehmen, die ihn feind-
fein, beobachteten. Sie jchienen alle in urpur
gekleidet, mit golbenen Ketten um den Hals. Ein
grenzenlos ermattender Sch drückte ihn nieder,
und er war nahe daran, fo) auf das Pflafter
zu werfen und zu heulen gleich einem Hund.
- Er fühlte fih jo falt, fo trüb. einer‘
Nacht träumte er, er fähe auf einem grünen
Steinblod eine goldene Schale und darauf lagen
fünf feltfam qualmende Herzen, doch nicht in
natürlicher Form, ſondern fo wie Lebküchner die
Herzen baden; er ftand davor und fagte laut:
Das ift meines Vaters Herz, das ift meiner
Mutter Herz, das ift meines Bruders Herz, das
ift meiner Schwefter Herz, das ift mein eignes
Ben. Sein eignes Tag oben und hatte zwei
febendige, traurige Augen.
Nicht felten hatte er das beitimmte Gefühl
von der fernen Wirkung einer überaus teuern
Perfon. Die Perſon handelte, ſprach und litt
für ihn, aber eine Welt lag dagmildhen, und mas
auch immer fie unternahm, konnte die Weite
zwiſchen ihm und ihr nicht verringern. Er fpürte
unheimliche Vorgänge fo deutlich, da er oft da»
512
en
ftand und lauſchte wie auf ein Geſpräch hinter.
einer dünnen Wand. Und er faltete die Hände
unterm Kinn und lächelte ängftlich.
Blind hätte der Lehrer fein müffen, wenn er
von alledem nichts bemerkt hätte. Seine Beob-
achtungen jammelte er ſozuſagen unter einem
Titel, und- diefer Titel lautete: Der Kampf mit
dem fchlechten Gewiſſen. „Sch habe fein Wohl-
wollen mehr für den Menfchen," erflärte Quandt,
„ich habe fein Wohlwollen mehr für ihn, feit ich
gefehen habe, wie gleichgültig ihn die Kataſtrophe
mit dem Lord gelafjen hat. War mir felbjt doch
zumut, als hätte ich einen Bruder verloren, und
er wollte ſich nicht, einmal zu einer den Schein
wahrenden Trauer verftellen. Ex hat ein Herz
von, Stein und eine ganz pöbelhafte- Undant-
arkeit.“
Wir ſehen den Lehrer gleichſam hinter einer
Hecke, wir ſehen ihn lauern, wir ſehen, wie er
mannigfaltige Nachrichten über Caſpar aus
iheren Jahren zuſaminenträgt, Falten und Um»
jtände, die er mit dem Spürfinn eines Unter-
uchungsrichter8 aufftöbert, deutet, beleuchtet und
ſtill zum Zweck bereithält. Wir jehen ihn in
Haß entbrennen gegen den emig Verſtockten,
immer Verſchloſſenen, und wir können nicht um⸗
bin, ihn einem Menfchen ähnlich zu finden, den
ein Irrlicht fo Iange geneckt und gelockt hat, bis
er endlih in eine Art von tafender Trunkenheit
gerät. i
Zu Anfang Dezember, es war an einem
Donnerstag, abends nach Tiſch, fragte Quandt
Caſpar, ob er feine Ueberjegung für morgen fchon
fertig habe. Caſpar erwiderte in ernſter Stim⸗
mung, doch mit unaufrichtiger Freundlichkeit, wie
Waſſer mann, Gafpar Haufer 38 518
es Quandt vorlam, ja, er ſei damit fertig. Quandt
nahm das Buch, zeigte ihm, wie groß die Auf-
gabe fei, und fragte noch einmal, ob er denn
wirklich jo weit überfeßt habe.
Caſpar bejahte. „Ich bin fogar noh um
einen Abfat weitergefommen," fagte er.
Quandt glaubte es nicht; e8 war ihm un=
wahrſcheinlich; die Aufgabe enthielt ein paar Fälle,
mit denen Caſpar nicht allein hätte fertig werden
können und bei denen er feine Hilfe unbedingt
hätte in Anſpruch nehmen müſſen. Indes fand
er es für gut, im Beifein feiner Frau nichts
weiter zu bemerken, fondern ihn ungeftört auf
fein Zimmer gehen zu laſſen.
Ungefähr Kant Minuten fpäter ergriff Quandt
das Iateinijche Eiementarbuch und folgte Caſpar.
Caſpar hatte die Tur ſchon zugeriegelt, und be=
vor er öffnete, fragte ex, ob der Lehrer noch
etwad wünſche. „Machen Sie auf!" befahl
Quandt kurz. ALS er drinnen war, las er ihm
einige willkuͤrlich herausgerifjene Sätze vor und
erſuchte ihn zu jagen, wie er es überjeßt habe.
Cafpar ſchwieg eine Weile, dann entgegnete er,
ex habe bloß präpariert, er wolle erſt jett über-
jegen. Quandt blickte ihn ruhig an, fagte aus»
—e— „So,“ wünſchte gute Nacht und ent—
ernte ſich.
Drunten erzählte er den Sachverhalt ſeiner
Frau, und fie famen überein, daß dahinter ein
bübifcher Trotz ftecle, weiter nichts. Am andern
Morgen berichtete er auch dem Hofrat darüber,
diefer ſchrieb ein kurzes Briefchen an Cafpar und
‚ab es dem Lehrer mit. Caſpar las das Schreiben
in Quandt3 Gegenwart, und als er zu Ende
war, reichte er e8 dem Lehrer, fichtlich verjtimmt.
514
In dem Brief warnte ihn der Hofrat ſchonend
vor Eigenfhaften, denen nur gemeine Naturen,
fih Be bie —— IR zer pi eg
„unſerm Haufer leider nicht zu fein ſcheinen“.
ee jelben Abend, wiederum nad) dem Nacht»
mahl, brachte Duandt eines der Bebungeh fe
Caſpars zum Vorſchein und fagte: „Aus dieſem
t ift ein Blatt herausgefchnitten, Haufer. Sie
wiſſen doch, daß ich Ihnen das ſchon zahllofe
Male verboten habe.”
„Ich hatte in das Blatt einen Flecken ges
macht, und den mollte ich nicht in der Schrift
haben,“ verſetzte Caſpar.
Statt aller Antwort forderte Quandt den
Jungling auf, mit ihm in fein Studierzimmer
zu kommen. Seiner Frau fagte er, fie möge die
Kerze anzünden, ergriff die Lampe und fchritt
voran. andern Zimmer angelangt, ſchloß
ex forgfältig beide Türen, hieß Cafpar Platz
nehmen und begann: „Sie werden mir doch wohl
nicht zumuten, daß ich Ihre Ausrede für bare
Münze nehme?"
„Was für eine Ausrede?“ fragte Caſpar matt.
„Nun, das mit dem Flecken. Ich glaube
nicht an diefen Flecken.“
„Warum wollen Sie e8 denn nicht glauben?“
„Sie kennen doch das Sprihwort: Wer ein
mal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er,
aud) die Wahrheit fpricht. Sie, lieber Fremd,
lügen öfter als einmal.“
„Ich lüge nicht,“ erwiderte Caſpar ebenfo
matt und tonlos.
„Das getrauen Sie ſich mir ins Geficht zu
behaupten?"
Rx weiß nicht, daß ich Lüge."
515
„O, ſchelmiſcher Rabulift!" rief Quandt bitter.
„Wenn ich Ihre häufigen Unmahrheiten nicht
jedesmal berede, jo beftimmt mich dazu die nach
und nad) gewonnene Einficht, daß ich Sie von
dem Uebel doch nicht heilen kann. Wozu alfo
fol ich mich vergeblich grämen? Sie find ger
wohnt, fo lange nein zu jagen, bis man Sie der-
maßen überführt hat, daß Sie nicht mehr nein
jegen tönnen, und dann fprechen Sie dennoch
n Ja."
„Soll ich ja jagen, wenn nein ift? Beweiſen
Sie mir, daß ich gelogen habe." Caſpar jah
den Lehrer mit einem jener Bfice an, die biefer
als tückifch zu bezeichnen pflegte.
„Ach, — wie ſchmerzt es mich, Sie mir
gegenüber jo zu fehen,“ verſetzte Quandt. „Ich
in um Beweiſe nicht verlegen und habe jo viele,
daß ich. gar nicht Fr wo ih — ſoll.
Erinnern Sie ſich nicht an die Geſchichte mit
dem Leuchter? Sie behaupteten, die Handhabe
ſei abgebrochen, und es ift doch unmiderleglich
nachgeriefen, daß fie abgeſchmolzen war?“
„Es war fo, wie ich gejagt habe.“
„Damit laſſe ich mich nicht abfpeifen. Sie
Lönnen übrigens verfichert fein, u} ich mir den
Vorfall mit allem Fleiß notiert habe, nämlich
ſchriftlich, um nötigenfalls vollſtändige Rechen⸗
ſchaft über Sie geben zu können.“
Caſpar machte. ein ſehr betroffenes Geſicht;
er ſchwieg.
„Und weiter, betrachten wir einen Fall ingften
Datums," fuhr Quandt fort;. „es. war Doc
einerlei, ob Sie vorgeftern mit der Ueberſetzung
fertig waren oder ob Sie fie erft im Zimmer
machen wollten. Da Sie tagsüber bejchäftigt waren,
516
jo konnten und durften Sie die Arbeit abends
machen. Warum fagten Sie, Sie jeien fertig, wäh⸗
rend Sie nicht daS geringfte daran getan hatten?“
„Ich habe gemeint, Sie fragen, ob ich präs
pariert hätte,”
„Lächerlich. Sie hatten neulich jchon die Frech-
heit, meine Worte einfach zu verdrehen. Ich habe
deutlich efragt: Haben Sie Ihre Ueberjegung ge-
mat? Meine Frau war zugegen und ift Zeuge.“
„Wenn Sie es gejagt haben, habe ich’8 eben
anders verſtanden.“
„Die gewohnten Ausflüchte. Sie hatten ja
nicht einmal präpariert. Das können Sie jemand
aufbinven, der Sie nicht fo genmu kennt wie ich.
Ich wünſchte, ich hätte Sie nie kennen gelernt;
am Ende kommt man dur Sie noch um den
Auf eines redlichen Mannes. Aber Sie werden
durchſchaut, nicht nur von mir, fondern auch von
andern. Es gibt nur noch wenig Familien, bei
denen Sie für liebenswürdig und aufrichti
gelten; die meiften jehen ein, daß Sie eine
tägliche Einbildung und einen niedrigen Hochmut
bejigen, daß Sie gleichgültig und anmaßend
gan weniger Vornehme find, fobald Sie bei
ornehmeren Zutritt finden. Und was Ihre
Verlogenheit betrifft, ? bin ich erbötig, Ihnen
in jedem einzelnen Fall auf den Kopf zuzufagen,
ob Sie bei der Wahrheit geblieben find, was in
und außer Jhrem Horizont liegt, was Ihre Auf-
merkjamteit fefjeln kann und mas nicht. Ich
jebe Sen ein artiges mpelchen aus der
esten Zeit. Es war beim Mittagstisch die Rede
vom Regierungsrat Fliegen. Meine Frau meinte,
es fei dem guten alten Mann unangenehm, daß
er nicht bei den Seinen in Worms fein könne
517
Ich bemerkte hierauf, daß der Regierungsrat eine
oße Verwandtſchaft im Aheinkreis und jo und
N viele Enkel habe. Darauf fagten Sie: Elf
Entel hat er, e8 wurde beim Generalfommiffär
davon gefprochen. Ich antwortete, daß ich von
neunzehn Enteln gehört, Sie verficherten aber,
es jeien elf. 36 wußte dem nun allerdings
nicht entgegenzufegen, aber das wußte ich bes
ftimmt, di & die Zahl nur in der Geſchwindig⸗
keit aufgegriffen Batten, um uns zu imponieren,
um den Namen des Generaltommiffärs in den
Mund nehmen zu können und und zu zeigen,
daß Sie mit den PVerhältniffen der Perfonen
vertraut feien, die jenes Haus befuchten. Hand
aufs Herz: ift’3 nicht jo?"
ri ——— an * Tafel von elf Enkeln
geſprochen. Ganz gewiß."
„Das glaube ie nicht. “
‚Bo ſchämen Sie fich, Saufer, in einem fo
ernften Augenblick auf der Züge zu beharren.
Dazu gehört ein hoher Grad von Erbärmlichkeit,
um nicht zu jagen Nichtswürdigleit. An der
Sache ſelbſt ijt ja wenig gelegen, aber Ihre
fortgejeßte dreifte Behauptung läßt tief bliden.
Sie zeigt, daß Sie nie einen Fehler auf eigne
Rechnung nehmen, daß Sie nie eine Schwäche
äugeftehen wollen und es dabei aufs Aeußerfte
ankommen laffen. In der erften freien Stunde
werde ich den Regierungsrat ſelbſt fragen, wie
viele Enkel er hat. Sind es wirklich elf, fo
werbe ich Ihnen gehörige Genugtuung geben, im
andern Fall will ich Sie in einer Weife befchämen,
daß Sie an mich denken follen.“
Caſpar ſenkte ergeben den Kopf.
518
„Aber das Eigentliche, was ich Ihnen vorzu⸗
Halten habe, kommt noch, lieber Freund,“ bes
gann Quandt nad; einer Paufe, während welcher
man den Sturmwind gegen die Fenfter donnern
und im Kamin wimmern hörte. „Es ift jebt
endlich an der Zeit, daß Sie einem Mann wie
mir, der an Ihrem Schickſal ungeheuchelten An-
teil nimmt, reinen Wein einfchenten. Sie fcheinen
immer noch der Meinung, die ganze Welt ftehe
Ihrem Märchen von ber geheimnisvollen Ein»
ferferung oder gar von der hohen Abkunft gläubig
g jenüber. Sie befinden fich in einem Fand
en Irrtum, lieber Haufer. Anfangs, ich gebe
e3 zu, hat man ſich damit al3 einem ätfelhaften
Beorgang befhäftigt, aber nad und nad find
doc alle vernünftigen Menfchen zu der Einficht
gelangt, daß fie das Opfer — lafien Sie mic
die Eigenſchaft nicht nennen, deren Opfer fie
jerworden waren. Ich kann mir wohl denfen,
aufer, daß Sie den Anſchlag urſprünglich nicht
jo weit treiben wollten. Im vorigen Winter,
als die Schrift des Präfidenten erſchienen war,
da zeigten Ste fich felbit erichroden von den
Folgen IHrer Tat, und Sie erinnerten mid an
ein Kino, das ein bißchen mit dem Feuer gejpielt
bat und unverjehens das ganze Haus in Flammen
fieht. Sie fürdteten, den Futterplatz zu ver-
lieren, den Sie fi) durch Ihre fett ver⸗
ſchafft Hatten, Sie mußten gerade da eine Ent-
dedung umd die mohlverdiente Strafe fürchten,
wo Ihre verblendeten Freunde das Glüd für
Sie fahen. Prüfen Sie ſich doch in Ihrem
Innern, ob ich nicht recht habe."
Cafpar ſah dem Lehrer mit einem Ieblofen
Blick ins Auge.
519
" „Schön; ih will Sie nicht zur Antwort
zwingen,“ fuhr Quandt mit büfterer Befriedigung
fort. „Es iſt nun wieder ſtill um Sie geworben,
Haufer. Eigentümlich ſtill ıft e8 geworden. Man
will ſich nicht mehr recht um Sie fümmern. So
ftill war es auch damals um Sie geworden, be=
vor der angebliche Mordanfall im Haufe des
Profefjor3 Daumer fich ereignet hat. Kein Menich
unter all den vielen Taufenden, welche die Stadt
Nürnberg bewohnen, hat zur Eritifchen Beit oder
päter eine Perjon beobachtet, die auch nur im
entfernteften im Bufammenhang mit einer folchen
Greueltat gedacht werden konnte. Ihre Freunde
laubten troßdem an den vermummten Unhold,
1 wie fie an den phantaftifchen Kerkermeifter
glaubten, der Sie das Lejen und Schreiben ge-
lehrt haben fol. Nichtebeftomeniger at Sie der
Profeſſor Daumer alsbald vor die Tür geſetzt.
Er wird wohl gewußt Haben, warum. Und heute
fteht Ihre Sache fo, daß Sie fich entfchließen
müffen. Ihre mãchtigſten Gönner, der Staates
rat, der Lord Stanhope, die Frau Behold, haben
daS Zeitliche verlaffen. Erkennen Sie darin nicht
einen Wink des Emmen! Es hat ja num feinen
Zweck mehr für Sie, die Fiktion aufrechtzuerhalten.
Sie find doch jetzt ein Mann, Sie wollen doch
ein nübliches Glied der menſchlichen Geſellſchaft
werden. Sprechen Sie zu mir, Haufer, eröffnen
Sie fih! Sprechen Sie mit Ihrem wahren
Mund, aus wahrem Herzen!"
„Sa, was foll ich denn Besen?! fragte
Caspar dumpf und langfam, indes feine Geftalt
verfiel wie die eines Greiſes und auch in feinem
Geficht lauter greifenhafte Falten entſtanden.
Der Lehrer trat zu ihm und ergriff feine
520
Iehmere ſteinkalte Hand. „Die Wahrheit follen
Sie ſprechen !“ rief er beichwörend. „Ach, Haufer,
es ift ja ein Sammer, Sie anzufchauen, wie das
(dt Serien gefpenfterhaft aus jedem Ihrer
lugt. Ihr Gemüt iſt bedruckt. Aufl
ve eaualte Bruft, Haufer! Laffen Sie end
einmal bie Sonne Simeinfcheinen! u, Mut, Ver:
Kunft, die — Bates —
men die
der. hieß, bei dem geweſen. gr werben
mich doch nicht für fo naar halten, daß ich
glaube, Sie müßten das nicht. Ohne Zweifel
mar es doch hr Vater oder Ihr Oheim ober
ein Bruder oder ein Gpielgenofie, gleichviel.
Haufer! Stellen Sie fi vor, Sie befänden fih
vor Gottes Angefiht. Und Gott wiirde fragen:
Woher kommſt du? Wo ift deine Heimat, der
Ort, wo du geboren bift? Wer hat dir einen
falfchen Namen angedichtet und wie heißt du mit
dem Namen, den du in der Wiege empfangen
521
haft? Wer bat dich unterrichtet und angelernt,
die Menfchen zu täufhen? Was würden Sie
in Ihrer Seelennot antworten, was antworten,
wenn der erhabene Gott Sie zur Rechtfertigung
aufforderte, zur Sühnung des verübten Trugs?"
Caſpar ftarrte den Lehrer atemlos an. Das
Blut ſiockte ihm. Die ganze Welt verfehrte fich
m. .
„Was würden Sie antworten?" wiederholte
Quandt mit einem Ton zwiſchen Angft und
Hoffnung; ihm ſchien es, als ſei er nahe daran,
die verfchlofjene Pforte zu fprengen.
Caſpar ftand ſchwerfällig auf und ſagte mit
zuckendem nd: „Ich würde antworten: Du
bift gen Gott, wenn du folches von mir ver-
angft. *
Quandt prallte zurück und ſchlug die Hände
zufammen. „Läſterer!“ fchrie er mit durch
dringender Stimme. Dann ſtreckte er den rechten
Arm aus und rief: „Hebe dich weg, du Unzucht,
du verfluchter Lügengeiſt! Hinaus mit dir, Ine
famer! Beſudle meine Luft nicht Länger!“
Caſpar kehrte ſich um, und während er nad)
der Türklinke taftete, krächzte Hinter ihm die
Wanduhr zehn Schläge in das Sturmgebrobel.
Seufzend, ſchlaflos wälzte fih Duandt die
ganze Nacht auf den Kiffen. Seine Heftigkeit,
mochte ihn gereuen, denn im Lauf des folgenden
Tages fuchte er ſich Gafpar wieder zu nähern.
Aber Cafpar blieb kalt und in I gekehrt.
Abends brachte Duandt das Geſpraͤch auf den
Regierungsrat Fließen; er fagte, daß er ſich er-
kundigt "abe, und rief Caſpar ſcherzend zu:
„Achtzehn Enkel, Haufer, achtzehn find es! Na,
jehen Sie, daß ich recht gehabt habe ?“
522
Caſpar ſchwieg.
„Aber Snufers Sie eſſen ja gar nichtS mehr,"
fagte die Sehrerin beforgt.
habe keinen Appetit,“ ermwiderte Gafpar;
„kaum daß ich angefangen habe zu efjen, bin ich
auch ſchon fatt."
m Mittwoch, dem elften Dezember, kam
Quandt verfpätet und ſehr —F zu Tiſch. Er
hatte auf dem Heimweg von der Schule einen
heftigen Auftritt mit einem Eng: gehabt,
der in der bergigen Pfarrgafie fein Pferd zu-
{handen gefchlagen hatte, weil es den chwer⸗
beladenen Wagen nicht zum —A inauf⸗
ziehen konnte. Quandt hatte dem rohen Kumpan
Dorftellungen gemacht und einige hinzufommende
liegen zu Sum der —ã—— Quãlerei
ngerufen. Dafür war der Fuhrknecht mit er-
Hobenem Veitfchenftiel auf ihn losgegangen und
—* ihn angebrüllt, er el fih zum Teufel
fcheren und fi nicht um Sachen fümmern, die
ihm nicht angingen. „Gott ſei Dank ift mir
der Name des Kerls befannt, und ich werde dem
BVolizeileutnant darüber Meldung erftatten,“ ſchloß
Quandt. Er wurde nicht müde zu befehreiben, wie
der armfelige Klepper vor dem Gefährt immer
wieber vergeblich an den Strängen gezerrt habe
und wie das ſchwarze Blut unter feinen Rippen
bervorgequollen fei. „Der Spitzbube,“ grollte er,
nich werde es ihm zeigen, ein Tier fo zu rackern.“
Nachher, als Caſpar weggegangen war, fragte
ihn feine Frau, ob es ihm denn nicht aufgefallen
fei, daß Cafpar gar fein Wort über die Gelhigte
fallen_gelafien habe.
„Ja, er mar ganz ftumm, es ift mir aufs
gefallen, * beftätigte Quandt,
528
Eine halbe Stunde darauf ging er in Caſpars
Bimmer und bat ihn, die — Anzeige
egen den Fuhrknecht, die er verfaßt hatte, in
de Wohnung Hickels abzugeben. Um drei Uhr
tehrte Caſpar mit der Nachricht zuräd, der
BVoligeileutnant habe einen mehrtägigen Urlaub
genommen und jei verreift.
Aenigma sui temporis
Es geihah am übernächften Tage, einem Freis
tag, als Caſpar kurz nach zwölf das Gerichts-
gebäude verlafjen wollte, daß er im Korridor
dor der unteren Treppe von einem fremden Herrn
angefprochen wurde, einem anfcheinend fehr vor-
nehmen Mann, der groß und ſchlank war, einen
ſchwarzen Baden- und Kinnbart trug, und der
ihm aufforderte, ihm wenige Minuten Gehör zu
ichenten.
Caſpar ftugte, denn in der Stimme des
Mannes war etwas fehr Dringliches und etwas
ſehr Achtungsvolles.
Sie gingen ein paar Schritte ſeitwärts von
der Treppe, wo niemand vorüberfommen konnte.
Der Fremde lächelte ermutigend, al3 er Caſpars
ſcheues Weſen bemerkte, und begann ſogleich in
erjelben dringlichen und achtungsvollen Weiſe:
„Sie find Caſpar Haufer? Bis heute find Sie
e3 gewejen. Morgen werben Sie diejen Namen
abſtreifen. Wie mich ſchon der erſie Blick in
Ihr Geficht belehrt umd erjchüttert hat! Prinz,
mein Brinz! Erlauben Sie mir, Ihnen die Hand
zu küſſen.“
524
- Er bückte ſich raſch und küßte ehrfurchtsvoll
Caſpars Hand.
Caspar hatte keine Worte. Er ſah aus wie
einer, dem plöglich das Herz ftilljteht.
„Sch komme vom Hof, ich komme ala Ab—
jefandter Ihrer Mutter, ich komme, Sie zu holen,“
r der Fremde fort, nicht weniger haftig, nicht
weniger vejpelterfüllt. „Sch vermute, daß Sie
feit langem darauf vorbereitet find. Doch müffen
wir ar der Hut fein. Wir haben große Hinder-
niffe zu fcheuen, Sie müffen mit mir entfliehen.
es ift bereit. Die Frage ift nur, ob Sie willens
find, fich ohne Rüchalt mir anzuvertrauen, und
ob ih auf Ihre umbedingte Verſchwiegenheit
zechnen darf?“
Wie follte Caſpar imftande fein, darauf zu
antworten? Er fchaute in das Geficht des
Mannes, das ihm in jeder Veziehung außer-
öhnlich, ja märchenhaft erſchien, und mit
Aupider Aufmertfamfeit haftete jein Blick auf den
zahllofen Kleinen Blatternarben, die auf der Nafe
und den Wangen des Fremden fihtbar waren.
„Ihr Schweigen ift für mich beredt,“ fagte
der Fremde mit einer jchnellen Verbeugung. „Der
Plan ift der: Sie finden ſich morgen nachmittag
um vier Uhr im Hofgarten ein, und zwar neben
der Lindenallee, wenn man vom Freibergichen
Haus kommt. Man wird Sie von dort zu einem
bereitftehenden Wagen führen. Die einbrechende
Dunkelheit wird unfre Flucht begünftigen. Kommen
Sie ohne Mantel, fo wie Sie find; Sie werden
firnbeögemäße Kleider finden. Bei der erfien
aftftattion an der Grenze, die wir in drei
Stunden erreichen können, werden Sie fich um—
Heiden. Ich bin Ihnen unbelannt. Sie follen
525
ſich dem Unbekannten nicht auf Treu und Glauben
übergeben. Bevor Sie in den Wagen fteigen,
werde ich Ihnen ein Zeichen behändigen, an dem
Sie unzweifelhaft erkennen werden, daB ich zu
meinem Auftrag von Ihrer Mutter bevoll=
mädhtigt bin."
Caſpar rührte fich nicht. Nur fein ganzer
Körper ſchwankte ein wenig, als wäre er erſtarrt
und der Wind drohe ihn umzublafen.
„Darf ich dies alles als abgemacht anfehen ?“
fragte der Fremde. .
Er mußte die Frage wiederholen. Da nidte
Caſpar — ernithaft, ſchwer, und auf einmal war
ihm die Kehle wie verbrannt.
„Werden Sie fi zur beftimmten Stunde
am beftimmten Plage einfinden, mein Prinz?"
Mein ‚Being! Cafpar wurde leichenblaß. Er
ſchaute wieder die Blatternarben mit verzehrender
Aufmerkfamfeit an. Dann nickte er. abermals,
mit einer Bewegung, die den Schein von Kälte
oder von Verjchlafenheit hatte.
Fremde lüpfie mit demutsvoller Höflich-
keit ben Hut; hierauf ging er und verſchwand in
der Richtung gegen die Schwanengaffe.
Während des ganzen Auftritte, der etwa
acht bis zehn Minuten gedauert hatte, war alfo
nicht ein einzige8 Wort aus Caſpars Lippen ges
kommen.
War es Freude, die Caſpar empfand? War
Freude ſo beſchaffen, daß einen dabei fror bis ins
Mark? Daß beftändig Schauder über den Rücken
liefen wie kaltes Waller?
Er machte immer nur ein halb Dugend Schritte
und hielt dann inne, weil er glaubte, der Erd⸗
boden finfe unter feinen Füßen. Menfchen, geht
526
mir aus bem Weg, dachte er; weh mich nicht
an, Schnee; Wind, fei nicht jo wild. Er ber
trachtete feine Hand und berührte mit der Spitze
feines Fingers ſtarr nachdenklich die Stelle, auf
die der Fremde ihn geküßt.
Warum arbeiten die ‚gehuftergefellen noch, es
iſt ja Mittagszeit, grübelte er, als er im Vorbei⸗
ehen in einen Laden blictte. Unaufhörlich rannen
RR Schauber über den Naden herab.
Es war ſchön, zu willen, daß mit jedem
Schritt, mit jedem Blit, mit jedem Gedanken
Zeit verging. Denn darum handelte es ſich jetzt
ganz allein: daß die Zeit verging.
Als er nach Haufe fam, fagte er zur Magd,
ex wolle nichts efjen, und fperrte fich in feinem
Zimmer ein. Er ftellte fih ans genen, und
während ihm die Tränen über die
fagte er: „Dufatus ift gelommen.“
Seine Gedanken hatten etwas von einem
nächtlichen Flug wilder Vögel, Bis heute war
ich Caſpar fer, dachte er, von morgen an bin
ich der andre; und was bin ich Ba Geitern
war ic) noch ein Schreiberlein, und morgen werd’
ich vielleicht einen blauen Mantel tragen, mit
goldenen Borten verziert; auch einen Degen foll
mir Dufatus bringen, lang und ſchmal und aufs
echt wie ein Binjenhalm. Aber ift denn alles
wahr, kann e3 denn fein? Freilich kann es fein,
weil es doch fein muß.
Erſt als e3 völlig finfter war, zündete Caſpar
das Licht an. Die Vehrerin ſchickte herauf und
Tieß fragen, ob er nichts zu fich nehmen wolle.
Er bat um ein Stüd Brot und ein Glas Milch.
Dies wurde gebracht. Sodann fing er an, feine
Laden außzuräumen; einen ganzen Stoß von
527
acken liefen,
Toplan und Briefen warf er ins Feuer, die
reibhefte und Bücher ordnete er mit peinlicher
Sorgfalt. Er öffnete eine Truhe und zog unter
mancherlei Kram das Holzpferbchen hervor, das
ex noch von der Gefangenjchaft auf dem Veftner-
turm ber beſaß. Er betrachtete e8 lange; es war
weiß ladiert, mit ſchwarzen Fleden, und hatte
weit, der bis auf das Brettchen fiel.
5 Röblem, dachte er, haft mich manches Sabre
begleitet, was wird num aus dir? Ich wi
wiederkommen und dich holen, umd einen —*
Stall werd' ich dir bauen. Damit ſtellte er das
sen See behutfam auf ein Ecktiſchchen neben
faglich wundernehmen, daß ein Gemüt
wie Ges feine, jo mit Ahnung begabt, fo mit
Sefahrun Hy vielerlei Art gefüllt, vom erjten
jenblid der vermeintlichen Wandlung feines
ickſals in eine dermaßen blinde @läubigteit
— daß auch nicht ein Funke des Mißtrauens,
er Furcht oder nur des zweifelnden Staunens
* N im erglomm. Ein Vorgang, fo weit außer
halb de3 gebundenen Wirklichen, fo abenteuertich
h en For, fo. zierdelos und fimpel,
aß ein Schüler, ein Kind, ein Verrücter batan
nee genommen hätte, und ex, dem fo viele
Menfchengefichter unvermummt oder durch Schuld
entmummt gegenübergetreten waren, er, dem die
Welt nichts andre3 war, als was der Schwalbe,
die vom Süden kommt, das durch Bubenhände
zerſtörte Net, ex exgeiff mit unerfchütterlicher
Zuverficht die unbekannie Hand, die ſich aus
unbefanntem Dunfel ihm entgegenjtredte, die
ftarre, Talte, ftumme Hand.
Aber bei ihm war feine andre Hoffnung mehr.
528
Ober es war überhaupt von Hoffnung keine Rebe.
Hier, war, das felbftverftändlich Endliche, das
jenfeitig Sichere, das Ungefragte, dem un Wort
der menſchlichen Sprache, ja nicht einmal ein
Gebante, eine Vorftellung, eine Viſion mehr nahe-
kommen konnte und das fich · ſo vorbeftimmt voll»
sieht wie der Aufgang der Sonne, wenn es Tag
wird. O ihr miüdgetriebenen Glieder, ihr Ketten
an ben Öliedern, ihr trägen Minuten, ihr ſchweigen⸗
den Stunden! Noch prafjelt der Kalt in der
Mauer, noch bellt von fern ein Hund, noch bläft
der Sturm den Schnee ans Fenfter, noch kniſtert
das Licht auf der Kerze, und alles dies ift voll Bos⸗
beit, weil e3 jo beftändig ſcheint, jo Tangiam gerget
Um neun Uhr begab er ſich zur Ruhe.
ſchlief feſt, fpäter der Nacht hörte er ale
Viertelſtundenſchläge von den Kirchen. Bisweilen
richtete er ſich auf und ſchaute beflommen in die
Finſternis. Dann fam ein Traum, in dem Schlaf
und Wachen unmerflich ineinander flofjen. Ihm
träumte nämlich, er ftehe vor dem Spiegel, und
er dachte: Wie fonderbar, ich habe ein fo be-
ftimmtes Gefühl von der Glätte des Spiegel»
glafes, und doch träume ich nur. Er erwachte
oder glaubte zu erwachen, verließ das Bett ober
glaubte es zu tun, machte fi im Zimmer zu
Ichaffen, Tegte fich wieder hin, ſchlief ein, erwachte
abermals und grübelte: Sollte ih das mit dem
Spiegel nur geträumt haben? Jetzt trat er vor
den Spiegel hin, gemahrte fein umfchattetes Bild,
fand etwas Fremdes daran, wovoͤr ihm graute,
und bededte den Spiegel mit einem Tuch, das
blau war und goldene Borten hatte. ALS er fich
nun hingelegt hatte und nad) einer Weile wirklich
erwachte, da erfannte er, daß alles nur ein
BWaffermann, Gafpar Haufer 34 529
Traum gemwejen war, denn der Spiegel war
leineswegs verhängt.
Es war eine — Nacht.
Des Morgens ging er wie gewöhnlich aufs
Gericht. Er verrichtete ſeine Schreibarbeit wie
mit verſchleierten Augen. Um elf Uhr klappte er
das Tintenfaß zu, räumte auch hier alles faͤuber⸗
lich zuſammen und entfernte Biun
Quandt war wegen einer erkonferenz über
Mittag vom Haufe fort. Caſpar ſaß mit der
Frau allein bei Tiſch. Sie ſprach beftändig vom
Wetter. „Der Sturm hat den Schlot auf unferm
Dach) umgeriffen," erzählte fie, „und der Schneider
Wüft von nebenan ift durch die herunterfallenden
Ziegel ae en erſchlagen worden."
„nafpar blickte ſchweigend hinaus: er konnte
jenüberliegende Gebäude ſehen;
— und nee untermiſcht wirbelten durch
die verdunkelte Gaſſe.
Caſpar aß nur die Suppe; als das Fleiſch
tam, ſtand er auf und ging in fein Zimmer,
Punkt drei Uhr Fam er wieder herunter, nur
mit jeinem alten braunen Rock bekleidet und ohne
Mantel.
„Wo wollen Sie denn hin, Hauſer?“ rief
ihn die amt von der Küche au an.
muß beim Generalkommiſſär etwas
PR u entgegnete ex zubig
„Ohne Mantel? Bei der Kälte?" fragte die
Frau erftaunt und trat auf die Schwelle.
Er ſah zeätreut an ſich herab, dann fagte er:
„Adieu, Frau Lehrerin,“ und ging.
Bevor er die ‚gaustte ſchloß, warf er noch
einen Abjchiedsblid in den Flur, auf das ge
ſchweifte Geländer der Treppe, auf den alten
530
braunen Schrank mit den Meffingfchnallen, der
zwifchen Küchen- und Wohnzimmertür ftand, auf
das Rehrichtfaß in der Ede, das mit Kartoffel-
ſchalen, Käferinden, Knochen, Holzipänen und
Glasſplittern angefült war, und auf die Kate,
die ftetS heimlich und genäfchig hier herumfchlich.
Treo des blighaft ſchnellen Anſchauens dieſer
Dinge ſchien es Cafpar, al3 ob er fie nie deut
licher und nie jo abjonderlich gefehen hätte.
AS die Klinke eingefehnappt war, ließ der
ſchier unerträgliche Drud, der feine Bruft ver-
ſchnürte, ein wenig nad), und feine Lippen ver-
zogen fich zu einem fchalen Lächeln,
Dem Lehrer werd’ ich fchreiben, dachte er;
ober nein, befjer ift e3, jelber zu fommen; wenn
der Winter vorbei ift, werd’ ich kommen und
mit dem Wagen vors Haus fahren; ich werd'
e3 einrichten, daß es Nachmittag fein wird, da
ift er daheim. Wenn er vors Tor tritt, werd’
ich ihm nicht die Hand reichen, ich will mich
ftellen, als ob ich ein andrer wäre, in meinen
ſchönen Kleidern wird er mich ja nicht erkennen,
Er wird einen tiefen Bückling machen: „Wollen
Euer Gnaden gnädigft eintreten?“ wird er
ſprechen. Wenn wir im Zimmer find, ſtell' ich
mich vor ihn hin und frage: „Erkennen Sie mich
nun?" Er wird auf die Anie fallen, aber ich
reiche ihm die Hand und fage: „Sehen Sie jeßt
ein, daß Sie mir unrecht getan haben?“ Er wird
es einjehen. „Ei,“ fag’ ich, „zeigen Sie mir doch
mal Ihre Kinder und ſchicken Sie nad dem
RVolizeileutnant." Den Kindern werd’ ich Gejchente
bringen, und wenn dann der Polizeileutnant
kommt, zu dem merd’ ich nicht reden, den werd’
ich nur anschauen, nur anſchauen ...
531
Bon der Gumbertusficche ſchlug es halb vier.
Es war noch viel zu früh. Auf dem unteren
Markt ging Cafpar rings an den Häufern herum.
Vor dem Sfarchaus blieb er eine Weile finnend
ftehen. Infolge feiner inneren Hitze fpürte er
die Kälte kaum. Er jah nur wenige Leute, die,
wie vom Wind gepeitfcht, ſchnell vorüberhufchten.
As er ſich von der Hofapothele rechts gegen
den Schloßdurchlaß wandte, ſchlug es dreiviertel.
Da rief jemand; er blickte empor, der Fremde
von gejtern ftand neben ihm. Er trug einen
Mantel mit mehreren Kragen und darüber noch
einen Pelztragen. Er verbeugte ſich und jagte
ein paar höfliche Worte. Caſpar verftand ihn
nicht, denn der Wind war gerade fo heftig, daß
man hätte en müffen, um einander zu hören.
Daher machte der Fremde bloß eine Gebärde,
durch die er Caſpar bat, mit ihm gehen zu dürfen.
Offenbar war er jelbjt eben im Seguift geweſen,
den Ort des Stelldicheins aufzuſuchen.
Bis zum Hofgarten waren es nur noch wenige
Schritte. Der Fremde öffnete das Türchen und
fieß Cafpar den Vortritt. Caſpar ging voran,
als ob es fo fein mäffe. Eine Miſchung von
einfältiger Ergebenheit und ruhigem Stolz zeigte
ſich in feinem Geficht, um mit jonderbarer Raſch—
heit einem Ausdrud des Grauens Plaß zu machen,
denn der Augenblick war zu ſtark, er konnte feine
Wucht nicht ertragen. In dem Zeitraum, den
er brauchte, um von dem Pförtchen über den
dichtbefchneiten Orangerieplag zu den Bäumen
der erften Allee zu gehen, durchlebte er in feinem
Innern eine Reihe gänzlich unzufammenhängender
Szenen aus ferner Vergangenheit, eine Er—
ſcheinung, die von Seelenforjchern auf biejelbe
532
Wurzel zurüctgeführt werben Tann wie etwa bie,
aß ein von einem Turm Fallender während der
Zeit des Sturzes fein ganzes Dafein an fich
vorübergleiten jieht. Er erblidte zum Beifpiel
die Amfel, die mit ausgebreiteten Flügeln auf
dem Tiſch lag; dann fah er mit ungemeiner
Deutlichleit den Waſſerkrug, aus dem er in feinem
Kerker getrunken; dann ah ex eine ſchöne goldene
Kette, die ihm der Lord aus feinen Schäßen ge-
zeigt, womit die angenehme Empfindung ver-
bunden war, die ihm Stanhopes weiße, feine
San erregte; ferner fah er fich im Saal ber
ienberger Burg, wohin Daumer ihn geführt,
und feine Auge weilte auf der fanften Linie
einer gotifchen Fenſterwölbung mit einem Ent-
zücken, das er damals ficherlich nicht verſpürt hatte.
Sie kamen zum Kreuzweg, da eilte der
Fremde voraus und gab mit erhobenem Arm
irgendein Zeichen. Gahpar gewahrte hinter dem
Gebüfch noch zwei andre Perfonen, deren Ge—
fichter durch die aufgeftellten Mantelkragen völlig
verhüllt waren.
Wer find diefe?" fragte er und zauberte,
weil er annahm, Hier ſei der verabredete Platz.
Mit den Blicken fuchte er den Wagen. Das
Schneegeftöber erlaubte jedoch nicht weiter als
zehn Ellen zu fehen. .
„Wo ift der Wagen?“ fragte er. Da ber
Fremde auf beide Fragen nicht antwortete, ſchaute
er ratlos gegen die zwei hinter dem Gebüfch.
Diefe näherten fich oder es ſchien wenigſtens fo.
Sie riefen dem Vlatternarbigen etwas zu, exit
der eine, dann ber andre. Darauf entfernten
fie ſich wieder und ftanden dann auf der andern
Seite des Wegs.
583
Der Fremde drehte fih um, geiff in die
Tafche feines Mantel3, brachte ein lilafarbenes
Beutelchen zum Vorjchein und fagte mit heiferer
Stimme: „Oeffnen Sie es; Sie werden darin
das Zeichen finden, das ung Ihre Mutter übergab.“
Cafpar nahm das Beutelchen entgegen.
Während er fih bemühte, die Schnur zu ent-
Inüpfen, durch die es zugebunden war, hob der
Fremde einen langen, bligenden Gegenſtand in
der Fauft und jchnellte mit dem Arm gegen
Caſpars Bruft.
Was ift das? dachte Caſpar beftärzt. Er
fühlte etwas Eiskaltes tief in fein Fleifch glitſchen.
Ad Gott, das ſticht ja, dachte er und wankte
dabei. Den Beutel ließ er fallen.
O ungeheuer, ungeheurer Schreden! Er
geiff nad einem der Baumftämmchen und ver-
ſuchte zu fchreien, aber es ging nicht. Auf.einmal
brach er in die Knie. Bor feinen Augen wurde
es ſchwarz. Er wollte den Fremden bitten, daß
er ihm helfe, doch die Füße des Mannes, die er
noch eine Sekunde zuvor gefehen, waren ver-
ſchwunden. Die Schwärze vor den Augen wich
wieder; er ſah fih um; niemand war mehr da;
us die beiden hinter dem Gebüfch waren nicht
mehr da.
Er kroch nun auf allen vieren ein wenig am
Gebüfch entlang und ſenkte den Kopf herunter, um
fein Geficht vor dem nafjen Schneejtaub zu ſchützen,
den ihm der Wind entgegenjprigte. Ex machte
ein paar Bewegungen mit dem Körper, als ſuche
er in der Erde eine Höhlung zum Hineinſchlüpfen,
konnte dann nicht weiter und blieb figen. Ihm
ſchien, als viefle etwas im Innern feines Leibes.
Es fror ihn jest erbärmlich.
534
Möcht’ fehen, was in dem Beutel ift, dachte
er, mährend feine Zähne Happerten. O uns
Ehe su Schreden, der ihn abbielt, no jener
telle zu blicken, mo der Fremde geftanden.
Wenn id nur ein Wort wüßte, durch das
mir leichter würde, dachte er, wie einer, ber fich
durch Bauberformein zu fügen wähnt. Und er
fagte zweimal: „Dufatus"
Welches Wunder, plöglich ward ihm leicht.
Er glaubte aufftehen und nach Haufe gehen zu
können. Er erhob fih. Er jah, daß er gehen
konnte. Nachdem er einige taumelnde Schritte
gemacht, fing er an zu laufen. Ihm war, als
ob fein Körper ahne Schwere fei, ihm war, als
fliege er. Er lief, lief, lief. Bis zum Tor des
Gartens; über den Schloßplat; über den Markt
an der Ricche vorbei; bis yum um Kronacher Bud,
Hr ef den Flur des Quandtſchen Haufes; lief,
lief, Tief.
In Schweiß, jebabet, ſtürzte er in ben Flur.
. Weiter ging's nicht mehr; keuchend lehnte er fich
an die Wand. Die Magb gewahrte ihn zuerft.
Ueber fein Ausfehen entjebt, gab fie einen gellen-
den Schrei von fi. Da kam Quandt aus der
Stube; feine Frau folgte ihm.
Cafpar ſtarrte ihnen entgegen, ſprach aber
nichts, jondeen deutete bloß auf feine Bruft.
uns ift gefchehen?“ fragte Quandt rauh
Zharen — ogtechen “ ftammelte Caſpar.
Und Quandt? Wir fehen ihn fehmungeln.
Nichts andres: wir km, ihn ſchmunzeln. Und
wenn Jahrhunderte, feierlich in Purpur angetan
wie Gottes Engel, auf uns zutreten und uns
beſchwören, die Tatjachen nicht zu verzerren, fo
585
und
ift nichts andres zu erwidern, als daß Quandt
fhmungelte, feltfam ſchmunzelte. „Wo find Sie
denn geftochen, mein Lieber?" fragte er gebehnt.
Wieder deutete Caſpar auf feine Bruft. .
Quandt Inöpfte ihm Rod, Weite und Hemd
auf, um die Wunde anzufcauen, Richtig, da
mar ein Stich, nicht größer als eine —
Aber nicht die geringe Spur von Blut war
zu bemerken. Eine Wunde ohne Blut, das gibt
es nicht; das ift wie eine Behauptung ohne
Beweiß.
„Alfo geftochen,“ ſagte Quandt. „So lafjen
Sie und fofort umkehren und zeigen Sie mir den
Play im Hofgarten, wo das paifiert fein fol,“
fügte ex energisch hinzu. „Was haben Ste denn
zu diefer Stunde und bei folchem Wetter im
Hofgarten zu tun gehabt? Marſch, kommen
Sie! Die Sache muß unverzüglich aufgeklärt
werden.“
Caſpar widerſprach nicht. Er jchleppte ſich
au des Lehrer Seite wieder auf die Galle.
Quandt A. ihn unter, wie ein Krüppel jchlich
Caſpar dahin.
Nach langem Schweigen fagte Duandt in ver-
biffenem Ton: „Diesmal haben Sie Ihren dümm⸗
ften Streich gemacht, Haufer. Diesmal wird es
feinen fo guten Ausgang nehmen wie beim Pro-
feſſor Daumer, das kann ich Ihnen ſchriftlich
afvar blieb ftehen, warf einen jchnellen Blick
gen — und ſagte: „Gott — wiſſen.“
„Machen, Sie nur keine Faren,“ zeterte
Quandt, „ich weiß, was ich weiß. Wenn Sie
ſich auch noch ſo ſehr auf Gott berufen, damit
haben Sie bei mir fein Glück, denn Sie find
530
ein gottlofer Menſch von Grund auf. Ich kann
onen nur raten, fpielen Sie nicht länger die
Stumme von Portici umd geftehen Sie lieber
gleich. Ein wenig bange magen wollen Sie ung,
die Leute wollen Sie durcheinander heben. Ge:
ftohen? Wer foll Sie denn geftochen haben?
Vielleicht um Ihnen Ihre jämmerlihen paar
Moneten aus der Tajche zu ziehen? So ein
Unfinn! Gehen Sie ‚nicht jo langſam, Haufer,
meine Zeit ift knapp.“
„Den Beutel — will ich holen,“ ftammelte
Safpar leiſe.
Was denn für einen Beutel?“
„Der Mann — mir gegeben.“
„as für ein Mann ?*
‚Der mich geftochen."
"Aber nen, Haufer, es ift ja himmel-
Kl ilden "Sie In denn ein, daß ich an
iejen Mann nur im entfernteften glaul ? &
wie an den fchmarzen Peter. Bilden Sie
Fr enn ein, daß ich über den wahren Täter
einen Augenblick im Zweifel bin? Geftehen
Sie's doch! Geftehen Sie, daß Sie Al jelber
an bißchen geſtochen haben. Ich will über bie
Sache noch einmal fehweigen, ich will Gnade für
Recht ergehen laſſen.“
Cafpar meinte.
Dicht vor dem Hofgarten brach er plötzlich
äufammen. Quandt mar verwirtt. Es kamen
einige Männer des Weges, diefe bat er, daß fie
den Züngling nad) Haufe führen möchten, er jelbit
wolle zur Polizei. Die Männer mußten erſt ge⸗
raume Weile warten, bis ſich Caſpar ein wenig
erholt hatte; auch dann hielt es ſchwer, ihn zum
Gehen zu bewegen.
637
Es wurde fpäter von den Aerzten als eine
Unbegreiffichfeit bezeichnet, daß Caſpar mit der
furchtbaren Deiesung in der Bruft imftande
jerwejen war, den Weg vom Hofgarten. zum
hrerhaus, hernach vom Lehrerhaus zum Schloß-
platz und endlih vom Schloßplat wieder nach
Haufe zurüdzulegen, das erftemal laufend, das
zweitemal am Arme Quandts, da3 drittemal von
den Männern halb gezogen, im ganzen über
ſechzehnhundert Schritte.
As Quandt den Weg nach dem Rathaus
einfchlug, war es finfter geworden. Der bienjt-
tuende Offiziant erflärte, daß ohne fpeziellen
Auftrag des Bürgermeifters, der im Babe jei,
die Anzeige nicht protofolliert werden dürfe. Der
Lehrer ſchwatzte noch eine Weile mit ihm, dann
begab er fi unmillig und verdrofien in die
eine Viertelftunde vor der Stadt gelegene Rlein-
ſchrottſche Badewirtſchaft, wo ber Dürgermeifter
im Kreis feiner Vertrauten beim Bier faß.
Quandt trug den Fall vor. Man jtaunte, zweifelte,
lädierte, bejtieg den Amtsfchimmel und geftattete
ierauf die förmliche Proiokollaufnahme. Um
ſechs Uhr wurde das interefjante Alienprodukt
ei Zaternen- und Kerzenjchein dem Stadtgericht
zur weiteren Unterſuchung übergeben.
Quandt kehrte nach Haufe zurüd. Auf der
Gaſſe vor feiner Wohnung fand er viele Menjchen,
und zwar waren e3 Perjonen jeglichen Standes,
die dem Unmetter zum Trotz gekommen maren
und in einem Schweigen verharrten, das den
Lehrer ſtutzig machte. Er ging fogleih in das
Bimmer Caſpars, der zu Bett gebracht worben
war. Der Doktor Horlacher mar zugegen. Er
hatte die Wunde ſchon unterfucht,
538
„Wie ſteht's?“ fragte Quandt.
Der Doktor antwortete, e3 ſei fein Grund
zu ernfter Beſorgnis vorhanden,
„Das dacht’ ich mir," verfegte Quandt.
Jetzt erichien der Hofrat. Hofmann. Ein
Volizeifoldat hatte ihm unten den Tilafarbenen
Beutel übergeben, der an der Unglüdsftätte ge-
funden worden war.
„Kennen Sie diefen Beutel?" fragte der Hofrat.
Mit fieberglänzenden Augen blidte Caſpar
auf den Beutel, den der Hofrat öffnete. Es
lag ein Zettel darin, der, fo fchien es zunächit,
mit Hieroglyphen bedeckt war.
Die Lehrerin, die dabeijtand, fchüttelte den
Kopf. Sie zog ihren Mann beifeite und fagte
zu ihm: „Es 4 doch eigen; genau ſo legt der
auſer immer feine Briefe zuſammen, wie das
sapier im Beutel zufammengefaltet war.”
Quandt nidte und trat an die Seite des
Hofrats, der den Zettel erft prüfend betrachtete
"und dann einen Handſpiegel verlangte.
cken ift wohl Spiegelichrift," ſagte Quandt
ächelnd.
da," erwiderte der Hofrat; „eine ſonderbare
Er ftellte Schrift und Spiegel einander gegen-
über und las vor: „Safpar Haufer wird Euch genau
erzählen können, wie ich ausfehe und wer ich bin.
Dem Haufer die Mühe zu Sparen, denn er
könnte ſchweigen müffen, will ich aber jelber
jagen, woher ich komme. Ich komme von der
bayriſchen Grenze am Fluß. Ich will Euch fogar
meinen Namen verraten: M.L. O.“
„Das Mingt ja geradezu höhnifch,“ fagte der
Hofrat nad} einem verwunderten Schweigen.
589
Quandt nidte erbittert vor ſich hin.
Als Caſpar die vorgelefenen Worte ver-
nommen hatte, fiel fein Kopf ſchwer in das Kiffen
und eine grenzenlofe Verzweiflung malte fich in
feinen Zügen. Es ſchloß ſich fein Mund mit
einem Ausdrud, al wolle er von nun an nie
mehr reden. Und daß er hätte reden können,
womit diefer M. L. O. offenbar, nicht gerechnet
hatte, empfanb er bis in das Fieber hinein als
eine Art ſchmerzlichen Triumphes.
Quandt, den Zettel, den ihm ber Hofrat ge=
jeben, zwifchen den Händen, wanderte aufgeregt
in und her. „Das find fchöne Streiche,” rief
er aus, „Ichöne Streiche! Sie halten das Mitleid
Ihres Jahrhunderts zum beften, Haufer. Sie ver-
dienen eine Tracht Prügel, das verdienen Sie."
Der Hofrat runzelte die Stirn. „Gemadh,
Herr Lehrer; laſſen Sie das doch!" fagte er mit
ungewöhnlich ernftem Ton. Bevor er fich ver-
abichiedete, verſprach er, am nächften Morgen den
Kreisphyſikus zu ſchicken, woraus erfichtlih war,
daß auch er an keine unmittelbare Gefahr dachte.
Indes kam der Kreisphyfifus, von Frau von
Imhoff dazu bewogen, noch am ſelben Abend.
Es war der Medizinalcat Doktor Albert. Er
unterfuchte Caſpar mit großer Sorgfalt; als er
fertig war, machte er ein bedenkliches Geficht.
Quandt, feltfam gereizt dadurch, fagte faft heraus-
fordernd: „Es fließt ja gar fein Blut aus der
Senftei das d [die mög-
hr af Herz und empfahl die mög.
540
Quandt griff ſich an die Stirn. „Wie,"
fagte er zu jeiner Frau, „ſollte ſich der Burſche
in feinem Leichtfinn doch ernftlichen Schaden zu-
gefügt haben?"
gie Lehrerin ſchwieg.
„Ich bezweifle es, ich muß es bezweifeln,”
fuhr Quandt fort. „Sie doch felbft, der fonft
jo wehleidige Wienſch klagt ja mit keiner Silbe
über Schmerzen.“
„Ex antwortet auch nichts, wenn man ihn
fragt, ” fügte die Frau hinzu.
Um neun Uhr fing Caſpar an zu delitieren.
—* war eniſchloſſen, an das Delirium nicht
lauben. Als Cajpar aus dem Bett fpri en
Sole, ſchrie er ihn an: „Machen Sie nicht fo
wiberlichen Umftände, Haufer! Gehen Sie Khteunig
in u Bett zurück.“
Pfarıze Fuhrmann trat gerade in das
Simmerv hörte dies. „Aber Ouandt! Quandt!"
ſagte er entfegt. „Ein wenig Milde, Quandt,
im Namen unfrer Religion.”
„D," verfegte Quandt kopfſchüttelnd, „Milde
iſt hier fchlecht angebracht. In Nürnberg, wo
er doch auch fo eine vermorfene Komödie auf
jeführt ‚hat, gebärdete er fich genau fo, und ich
habe mir fagen lafjen müſſen, daß er dabei von
zwei Männern ift gehalten worden, Was mid) bes
teifft, ich laſſe mir fo ein Schaufpiel nicht bieten.“
Frau von Imhoff hatte eine Pflegerin vom
Krankenhaus geſchickt, die über Nacht an Caſpars
Lager wachte. Er ſchlummerte zwei bis drei
Stunden.
Schon früh am Morgen erjchien eine Gerichts»
fommiffton. Cafpar war bei klarem Bemußtfein.
Vom Unterfuhungsrichter aufgefordert, erzählte
541
Brunnen in den Hofgarten beftellt.
„gu welchem Zweck beftellt ?"
„Das weiß ich nicht."
„Er hat darüber gar nichts gejagt?"
„Doch; er hat gejagt, man Fönnte die Ton-
arten des Brunnens bejichtigen."
„Und daraufhin find Sie ihm ſchon gefolgt?
Wie jah er aus?"
Caſpar gab eine kurze, abgerifen elallte
Beſchreibung und der Art, wie ihn ‚ende
gejtochen. Sonft war nichts aus ihm heraus-
zubringen. \
ev, ein fremder Ei babe ihn zum arteſiſchen
€3 wurde nach Zeugen gefahndet. Es ftellten
fih Zeugen. Zu fpät für die Verfolgung des
Täter. Schon die erfte Anzeige war, durch die
Mitfhuld Quandts, unverantwortlich verzögert
worden. Als man die am Ort des Verbrechens
befindlichen Blutfpuren unterfuchen wollte, ergab
es fih, daß inzwifchen fchon zuviele Menſchen
dageweſen waren und den Schnee zertreten hatten.
Aus einem fo wichtigen Umftand Nuten zu ziehen
mußte alſo von vornherein verzichtet werden.
Zeugen fanden fi genug. Die Zirkelwirtin
in der Rofengaffe befundete, gegen zwei Uhr fei
ein Mann in ihr Haus gekommen, den fie nie
zuvor gejehen, und habe gefragt, wann eine Retour
nad Nördlingen gehe. Der Mann war ungefähr
fünfunddreißig Jahre alt geweſen, von mittlerer
Größe, bräunlicher Hautfarbe und mit Blatter-
narben im Geficht.
Er habe einen blauen Mantel mit Pelzkragen,
542
einen runden ſchwarzen Hut, grüne Pantalons
und Stiefel mit gelben Schraubiporen getragen.
In der Hand hielt er eine Neitgerte. Er habe
nur fünf Minuten geweilt unb ganz mwenig ge-
m en; auffallend ſei es geweſen, daß er nicht
jagen gewollt, wo er logierle.
So beichrieb auch der Afjefjor Donner einen
Mann, den er um drei Uhr im Hofgarten neben
der Lindenallee gejehen, und zwar in Gefellichaft
von zwei andern Männern, die der Affefjor je:
doch nicht betrachtet hatte.
Ein Spiegelarbeiter namens Leich ging ein
paar Minuten vor vier Uhr von feiner Wohnun;
auf dem neuen Weg durch die Poftftraße auf
die Promenade und von da über den Schloß-
platz. Er ſah vom Schloß ber zwei Männer
über die Gafje fchreiten und, die Reitbahn zur
Linken laſſend, zum Hofgarten gehen. Er erkannte
in, dem einen von ihnen Cafpar Haufer. Als die
beiden zum Laternenpfahl am Et der Reitbahn
Tamen, wandte fih Caſpar Haufer um und blidte
den Schloßplag hinauf, fo daß ihn der Be—
obachter noch einmal und genau hatte fehen
Tönnen. Bei den Schranken blieb der Fremde
keben, um Haufer mit böflicher Gebärde den
ortritt zu lafjen. Der Arbeiter dachte für fich:
wie doch die Herren bei folhem Sturm und
Schnee fpazierengehen mögen.
„Drei Viertelftunden fpäter,“ erzählte der
Mann, „als ich von einer Beſorgung beim
Büttner Pfaffenberger zurückkam, ftanden auf dem
Schloßplatz viele Leute, die jammerten und fagten,
der. Haufer ſei im Hof Igarten exftochen worden.“
Und weiter. Ein Gärtnergehilfe, der in ber
Orangerie befchäftigt ift, hört gegen vier Uhr
543
Stimmen. Er blidt zum Fenſter Hinaus und
ieht einen Mann im Mantel vorüberlaufen. Der
ann läuft einen guten Trab. Die Stimmen
find etwa einen Büchſenſchuß weit vom Drangerie-
Ya entfernt pewdien, nicht fo weit, wie das
ſche Dentmal tft. Es waren Wweierlei Stimmen,
eine Baß⸗ und eine helle Stimme.
Neben der Weidenmühle wohnt eine Näherin.
Ihr Fenſter geht auf den Hofgarten; fie fieht
bis in die zwei gegen den hölzernen Tempel zu
führenden Allen. Bei beginnender Dämmerung
jerwahrt fie den Mann im Mantel; er tritt aus
dem neuen Gittertor gm fteigt am Abhang der
Nezatwiefe hinab. Er ftußt, als er vor dem
hochgeſchwollenen Waffer fteht. Ex kehrt um und
wendet fich gegen die Stäffelhen an der Mühle,
geht über den Steg auf der Eiberftraße und
verfchwindet. Die Frau hat von feinem Geficht
nur einen fchräglaufenden ſchwarzen Bart wahr-
nehmen können.
Es meldet fich auch der Schreiber Dillmann
u einer Ausfage. Die unverbrüchliche Gewohn⸗
beit de3 alten Kanzliften ift e8, jeden Nachmittag,
wie das Wetter auch befchaffen it, zwei Stunden
lang im Hofgarten zu promenieren. Er bat
Caſpar und den Fremden gefehen. Ex verfichert
aber, nicht vorangegangen ſei Cafpar bem
den, fondern hintennach fei er gegangen. „
it ihm efolgt, wie das Lamm dem enger ur zur
chlachtbank folgt," ſagt er.
Zu ſpät. Zu ſpät der Eifer. Zu ſpät die
erlaffenen Stedbriefe und Streifzüge der Gen-
darmerie. Es konnte nicht mehr fruchten, daß
man fogar den Rezatitrom aus feinem Bett leitete,
um vielleicht da8 Mordinftrument zu entdeden,
54
das der Unbefannte bei feiner Flucht von fich
geworfen haben mochte. Was lag an diefem Dolch?
Was lag an den Zeugen? Was lag an den
Verhören? Was lag an den Indizien, womit
eine haumfefige Juſtiz ihre Anfebigtet prableeiich
verbrämte? Es wurde gejagt, daß die Nach:
forfhungen planlos und kopflos betrieben wurden.
&3 wurde gejagt, eine geheimnisvolle Hand fei
im Spiel, deren Machenfchaften darin gipfelten,
die wahren Spuren allmähli und mit Abficht
u vermischen und die Aufmerkſamkeit der Be—
örde ivrezuleiten. Wer es jagt, konnte natür-
lich nicht erkundet werden, Denn die öffentliche
Meinung, ein Ding, ebenfo feig wie umgeeifbar,
oralelt nur aus ficheren Hinterhalten. Und fie
ſchwieg gar bald file hier, wo Verleumdung,
Bosheit, Lüge, Dummheit und Heuchelei
ſchönes Menſchenbild wie zwiſchen Mühlrädern
zermalmten, bis daß nichts mehr übrigblieb als
ein ärmliches Märchen, wovon ſich das Volt
diefer Gegenden an rauhen Winterabenden vor
dem Ofen unterhält.
Am Sonntag nachmittag traf Quandt den
jungen Feuerbach, den Bhilofophen, auf der Straße.
„Wie geht’3 dem Haufer?” fragte der den
ver.
„Ei, er ift ganz außer Gefahr; dank’ der
Nachfrage, Herr Doktor," antwortete Duandt
gchämänig; „Die Gelbfucht ift eingetreten, aber
as fol ja die gemöhnliche Folge einer heftigen
Erregung fein. Ich bin Abergeugt, dag er in
ein paar Tagen das Bett wird verlafjen können.“
Baffermann, Gafpar Haufer 35 545
Sie fprachen noch eine Weile von andern
Dingen, berg um Si) von der neuerdings zwiſchen
rth geplanten Dampfichienen-
Prag ein Unternehmen, gegen das Quandt eine
janze Kanonade von Pl ſis auffahren Lie,
dann Derabfiiebete er e ich von dem ftillen jungen
Mann mit der Dankbarkeit eines beklatfchten
Redners und eilte, Seftänbig vor fih —e
nach Haufe. Er war in einer höchſt auserfiche
lichen Stimmung, einer Stimmung, in
bereit ift, feinen ärgiten Feinden ac to pr
eihen zu laſſen. Warum, das mochten die
ötter wiſſen. War der jchöne Tag daran
ſchuld? Man darf nicht vergefien, daß in Quandt
33 eine Art von Poet ſteckte; oder war es die
Nähe des Weihnachtsfeſtes, das jedem guten
Chriſtenmenſchen gleichſam eine Erneuerung feiner
Seele verjpriht? Oder war e8 am Ende ber
Umftand, daß gegenwärtig fo viele vornehme und
ausgezeichnete Gelonen fe fein. beſcheidenes Heim
aufjuchten und daß er inmitten dieſes bejcheidenen
Heims eine Stellung von ungeahnter Wichtigkeit
innehatte? Genug, wie dem auch fein mochte,
er war mit ſich zufrieden, ii ftammte jein
Lächeln aus der lauterften Duelle.
Vor feiner Wohnung traf er auf den gpoligei
leutnant. „Ab, vom Urlaub zurüd?" bi
er ihn mit gedankenlofer Freundlichkeit, Gfei
darauf fagte er fh: mit dem habe ich ja no
ein Hühnchen zu en.
idel drüdte die Augen zufammen und ſah
aus, als ob er lachen wollte.
Sie gingen miteinander hinauf.
Cafpar ſaß mit nacktem Oberleib im Bette,
gegen anfgetüumte Kiffen gelehnt, ſtarr wie eine
546
Figur aus Lehm, das Geficht grau wie Vims⸗
jtein, die Haut des Rörpes graben weiß wie eine
Magnefiumflamme. edizinalrat hatte fo-
eben den Verband abgenommen und wuſch die
Wunde. Außerdem war noch ein Kommiljtons-
altuar zugegen. Diefer hatte am Tiſch Platz
genommen; ein Protofollformular lag bei ihm,
auf dem die lafonifchen Worte ftanden: „Der
Damnifitat verbleibt bei feinen bisherigen De
pofitionen.“ Ueber einen eingefangenen Straßen»
räuber hätte man fich nicht beffer und nieblicher _
ausdrücen können.
Raum hatte Caſpar den eintretenden Hidel
geroabrt, als er den wie einen gebrochenen Blumen»
elch feitwärts gefenkten Kopf aufrichtete und
mit weitgeöffneten Augen, in denen ein ganz un»
fäglicher Schreden lag, dem Ankömmling ins
Geficht ftarrte.
Ohne zu Iren, erhob Hickel drohend den
Zeigefinger. Diefe Gebärde ſchien den Schreden
Caſpars aufs äußerfte zu treiben; er faltete die
ände und murmelte ächzend: „Nicht nahe
ommen! Ich Hab’ ja doch nicht jelber
getan.”
„Aber Haufer! Was fällt Ihnen denn ein!"
tief Hickel mit einer Luftigfeit, die man etwa im
Wirtshaus zur Schau trägt, und feine gelben
Zähne blinkten zwiſchen den vollen Lippen; „ich
hab’ Ihnen ja mur gedroht, weil Sie ohne Er-
laubnis in den Hofgarten gegangen find. Wollen
Sie das vielleicht auch leugnen ?"
„Keine Auseinanberjegungen, wenn ich bitten
darf," mahnte der Medizinalrat unwillig. Er
hatte den Verband erneuert, zog nun den Lehrer
eifeite und fagte leife und ermft: „Ich kann
547
Ihnen nicht verhehlen, daß Haufer wahrſcheinlich
die Nacht nicht überleben A
Dffenen Mundes ftierte Quandt den Arzt an.
Seine Knie wurden weich wie Butter. „Wie?
Was?" hauchte er, „iſt's möglich?" Er fchaute
alle Anweſenden ber Reihe Bun kangfam an,
wobei jein Geficht dem eines Menfchen glich,
der fich joeben behaglich zum Eſſen ken wollte
und dem plötzlich Schüfjel, Teller, Mefjer und
Gabel, ja ber ganze Tiſch weggezaubert wird.
„Kommen Sie mit mir, Herr Lehrer,“ fagte
mit heiferer Stimme Hickel, der am Ofen ſtand
und mit finnlofer Gefchäftigfeit feine Hände an
den Kacheln vieb.
Quandt nickte und fehritt mechanifch voraus.
„Iſt's möglich!" murmelte er wieder, als er
a der Stiege ftand. „Iſt's möglich!" Hilfe
uchend blickte er den Polizeileutnant an. „Ach,“
ihr er elegifch fort, „wir Haben doch unfer
redlich Teil getan. An treuer Fürforge haben
wirs wahrlig, nicht fehlen laſſen.“
„Laffen Sie doch die Flaufen, Quandt,“ ant-
mwortete der Polizeileutnant grob. „Sagen Sie
mir lieber, was hat denn der Haufer alles ge-
tedet in feinem Wahn?"
„Unfinn, lauter Unfinn,“ verſetzte Quandt
bekümmert.
„Achtung, Herr Lehrer, da ſehen Sie mal
— rief Hickel, indem er ſich über das
eländer beugte.
„Was denn?“ gab Quandt erſchrocken zurück,
„ich ſehe nichts."
„Ste jehen nicht8? Pob Kübel, ich auch nicht.
Es fcheint, wir fehen beide nichts." Ex lachte
munderlich, richtete fich wieder kerzengerade auf
548
und hüftelte trocken. Dann ging er, indes Quandt
ihm nicht wenig betroffen nachguckte.
Wohin fol e8 auch kommen mit der Welt,
wenn Leute wie Hickel unter die Gefpenfterjeher
geraten? Auf ihren robuften Schultern ruhen
die Fundamente der Ordnung, des Gehorfams
und aller ftaatlich anerfannten Tugenden. Mag
& auch in diefem befonderen Fall & beichaffen
eweſen fein, daß die Ausgeburt rühmensmwerter
Intertaneneigenfchaften dennoch einer Negung
böfen Gewiſſens anheimfiel, nun, dann muß er-
Härt werden, daß diejes böfe Gewiffen mit einem
martialifchen Ausfehen gefegnet war, daß es zu
allen Mahlzeiten einen beneidenswerten Appetit
entwidelte und daß es das fanftejte en
für einen unvergleichlich gefunden Schlaf war,
der duch feine Feuerglode und fein Tedeum
hätte geftört werben können.
Zimmer Caſpars hatte der Kommiffions«
aktuar neuerdings ein Verhör begonnen. Gafpar
follte jagen, ob noch ein Dritter zugegen geweſen
jei, während er im Appellgericht mit dem fremden _
Mann gejprochen.
Caſpar antwortete matt, er habe niemand
bemerkt, nur vor dem Tor feien Leute geweſen.
„Arme Leute pafjen mir immer dort auf," fagte
er, „zum Beifpiel eine gewiſſe Feigelein, der hab’
ich manchmal einen Kreuzer gegeben, auch. die
Tuchmacherswitwe Weigel."
Der Altuar wollte weiterfragen, doch Caſpar
lifpelte: „Müde — recht müde.“
„Wie ift Ihnen, Hauſer?“ erfundigte ſich die
ärterin.
„Müde,“ wiederholte er; „werd' jest bald
weggehen von diefer Laftermelt."
549
Eine Weile jhrie und redete er für fich Hin,
hernach wurde er wieder ganz ſtille.
Er ſah ein Licht, das langſam erloſch. Er
vernahm Töne, die aus dem Innern feines Ohrs
zu dringen ſchienen; e8 lang, wie wenn man mit
einem Hammer auf eine Metallglode haut. Er
erblickt eine weite, einfame, dämmernde Ebene.
Eine menſchliche Geftalt rennt ſchnell darüber hin.
O Gott, es ift Schilöfnecht. as läufit du fo,
Schildknecht? ruft er ihm zu. Hab’ Eile, große
Eile, antwortet jener. Auf einmal_jchrumpft
Schildknecht zuſammen, bis er eine Spinne ift,
die an einem glühenden Faden zum Aſt eines
tiefengroßen Baumes emporklimmt. Tränen des
Grauens wie Regen aus Gafpar Augen.
Er fah ein ſeltſames Gebäude; es glich einer
Toloffalen Kuppel; es hatte fein Tor, feine Tür,
fein Fenſter. Aber Cafpar konnte fliegen, flog
hinauf und ſchaute durch eine kreisrunde Deff-
nung in das innere, dad von himmelblauer Luft
erfüllt war. Auf himmelblauen Marmorfliefen
ftand eine Frau. Vor diefe trat ein Menich,
faum deutlicher zu jehen als ein Schatten, und
er teilte ihr mit, daß Cafpar geftorben fei. Die
Frau hob die Arme und fchrie vor Schmerz, daß
die Wölbung erzitterte. Da klaffte der Boden
auseinander und es fam ein langer Zug von
Menichen, die alle weinten. Und Galpar ſah,
daß ihre Herzen zitterten und zuckten wie lebendige
Fiſche in der Hand des Fiſchers. Und einer trat
heraus, der gerüftet war und ein Schwert trug,
der ſprach ungeheure Worte, aus denen fich das
ganze Geheimnis enthüllte. Und alle, die zuhörten,
preßten die Hände gegen die Ohren, jchloffen
die Augen und ftürzten vor Kummer zu Boden.
550
Dann war alles verwandelt. Cafpar fpürte
fs vol von wunderbaren Kräften. Ex jpürte
ie Metalle in der Exde, von tief unten zogen
fie ihn an, und die Steine fpürte er, die Adern
von Erz hatten. Dazwiſchen ruhte vielfältiger
Samen, und er brach auf, und die Würzlein
füofien und bebend hoben fich die Gräfer. Aus
em Boden fprangen Quellen hoch empor wie
Fontänen und auf Yen Spitzen leuchtete die will-
ommene Sonne. Und inmitten des Weltalls
ftand ein Baum mit weitem Gipfel und unzähligen
Veräftelungen; rote Beeren wuchſen aus den
Queigen, und auf der Krone oben bilbeten die
eeren die Form eines Herzens. Innen im Stamm
floß Blut, und wo die Rinde Keaen war,
ſickerten fhroägticheote Tropfen hindurch.
Mitten in diefem Wogen verzweiflungsvoller
Bilder und krankhafter Entzüdungen war es
Cafpar, als ob ihn jemand in einen Raum trüge,
wo feine Luft zum Atmen mehr war. Da half
kein Sträuben und Sihbäumen, es trug ihn hin
und ein kühler Wind wehte über fein Haar, feine
Finger krümmten ſich, als fuche er fich irgendwo
zu halten. Es war eine namenlofe Erſchoͤpfung,
von welcher der vergebliche Kamp begleitet war.
Auf der Straße fuhr der Nürnberger Poſt⸗
wagen vorbei, und der Poſtillon blies ins Horn.
Es Tamen bis zum Abend viele Leute, um
nad Kar Befinden zu fragen. Frau von
Imhoff blieb lange an feinem Bett figen.
Um acht Uhr ſchickte die Pflegerin zum Pfarrer
uhrmann, der mit größter Schneli, keit eintraf.
legte Caſpar die Hand auf die Stirn. Mit
angftvoll grchen Augen ſchaute fih Cafpar um;
feine Schultern zitterten. Er machte mit dem
551
igefinger auf dem Deckbett Bewegungen, als
mol m e —X Das dauerte jedoch nicht
iange haben mir einmal geſagt, lieber Hauſer,
daß Sie auf Gott vertrauen und mit ſeiner
Sende jeden Kampf kämpfen wollen," fagte der
Weiß es nicht," flüfterte Caſpar.
„Haben Sie denn heute ſchon zu Gott &
betet und ihn um feinen Beiltand angerufen?“
Caſpar nicte.
„And wie ift Ihnen barauf, gemwejen? Haben
Sie ſich nicht geftärkt gefühlt?"
hr: [par ſchwieg.
sollen Sie nicht wieder beten?“
re; vergehen mir gleich die
Gedanken." Und nach einer Weile fagte er wie
ie fich, fekfem leiernd: „Das ermüdete Haupt
ittet um Aube.”
„So will ich ein Gebet fpreden,“ fuhr der
Pfarrer ‚fort, „beten Sie im ftillen mit. Vater,
nicht mein —"
„Sondern dein Wille geſchehe,“ vollendete
Caſpar hauchend.
„Wer bat jo gebetet?"
„Der Heiland."
„Und wann?“
"Bor — feinem — Sterben." Bei diefem
Wort fteäubte fich fein Körper empor und über fein
Sen t ging ein höchſt qualvolles Buden. Er
knirſchte mit den Zähnen und fehrie breimal
gellend: „Wo bin ich denn?"
„Aber, Haufer, in Ihrem Bett find Gie,"
berubigte ihn Quandt. „Es kommt ja bei Kranken
öfter vor, daß fie fich an einem andern Ort zu
662
befinden wähnen," wandte er ſich erflärend an
den Pfarrer Fuhrmann.
„Geben Sie ihm zu trinken,“ fagte dieſer.
ze Lehrerin Grade ein Glas files Waſſer.
Als Caſpar getrunken hatte, wiſchte Ir
Quandt den kalten Schweiß von der Stirn.
felber bebte an allen Gliedern. Er beu— je Mi
über den Jüngling und fragte dringend,
beihmörend: „Haufer! Haufer! Haben Si mi
mic mehr zu jagen? Sehen Sie mich einmal fo
t aufrichtig an, Haufer! Haben Sie mir
ichts 18 mehr zu beichten 2"
Da padte Cam in böcfer Herzensnot
die Hand des Lehrers. „Ad Gott, ach Gott,
fo al kratzen müffen mit ‚Shimpf und Schande!"
ſtieß er jamı
Das waren ſeine Testen Worte. Ex tel nie
ſich ein menig auf die rechte Seite und drehte das
Gefiht zur and. Jedes Glied feines Körpers
ſtarb einzeln ab.
Zwei Tage fpäter wurde er begraben. Es
war nachmittag und der Himmel von molten-
lofer Bläue. Die ganze Stadt war in Bewegung.
Ein berühmter Beitgenoffe, der Gafpar Haufer
das Kind von Europa nennt, erh It, es ſei zu
der Stunde Mond und Sonne u eher Zeit am
Firmament 1 geftanben, jener im Often, diefe im
Weiten, und beide Geftirne hätten im jelben
fahlen Glanz geleuchtet.
Etwa anderthalb Wochen fpäter, drei Tage
nad Weihnachten, es war Abend und Quandt
und feine Frau wollten ſich eben zu Bett bes
geben, erſchallten ſtarke Schläge gegen das Haus-
568
tor. Sehr erfchroden, zögerte Quandt eine Weile;
erſt als fich die Schläge wiederholten, nahm er
das Licht und ging, um zu öffnen.
Draußen fand Frau von Kannawurf.
Führen Sie mid in Caſpars Zimmer,” fagte
e zum Lehrer.
Jetzt noh? In der Nacht?" wagte diefer
nzuwenden.
„Jetzt, in der Nacht," beharrte die Frau.
Ihr Weſen ſchüchterte Quandt bergeftalt ein,
er ſtumm zur Seite trat, fie vorangehen
eß und mit dem Licht folgte.
In Cafpars Zimmer erinnerte wenig an den
erftorbenen. Es war alles umgeftellt und
rräumt. Nur das Holzpferdchen fand noch
if dem Ecktiſch neben dem Fenſter.
„Laffen Sie mich allein," gebot Frau von
annamurf. Quandt ftellte den Leuchter bin,
tfernte ſich ſchweigend und wartete in Gemein-
joft mit feiner rau unten an der Stiege.
ift ſehr gutmätig von mir, daß ich mir jo
was in meinem Haufe gefallen lafje," murrte er.
Mit verſchränkten Armen ſchriti Clara von
amnamurf im Zimmer auf und ab. Ihr Blick
1 auf den Tiſch, wo eine Abfchrift des Sektions-
:otofolles lag; es ging daraus hervor, daß man
ıh dem To * Sehens a bat eines
erzens ganz ducchftochen gefunden hatte. Clara
ıhm da8 Papier mit beiden Händen und zer-
itterte es in ihren Sale
Was fruchtet aller Schmerz und Reue? Man
am nicht die Gemwefenen aus Luft gurüdgeftalten;
an kann der Erde nicht ihre Beute abfordern.
vänen beruhigen; aber dieſe Trauernde_hatte
ine Tränen mehr; für fie waren feine Sterne
4
mehr, fein Glanz de Himmels; für fie wuchs
tein Gras mehr, duftete feine Blume mehr, ihr
ſchmeckte der Tag nicht mehr und die Nacht nicht .
mehr, für fie Hatte ch alles Menfchentreiben,
ja jelbjt das Schaf der Elemente in eine
einzige düftere Wolfe von nie wieder gutzumachen-
der Schuld zufammengeballt.
Es mochte eine halbe Stunde verflofjen fein,
als Clara wieber herablam. Sie blieb_ganz dicht
vor dem Lehrer ftehen, und während fie ihn mit
meitaufgeiälngenen Augen anſah, fagte fie bebend
und kalt: „Mörder.
Dies war für Quandt etwa fo, wie wenn
man ihm einen Schwefelbrand unter die Nafe
galten hätte. Es läßt fich denken, der wadere
ann war volltommen ahnungslos; im Schlaf-
tod, geſticktem Hausfäppchen und mit Schlapp-
ſchuhen an den Füßen wartet er, daß ber un-
gebetene Gaft fein Haus wieder verlaffe, und
da fällt ein Wort, wie e8 nicht einmal ein böfer
Traum erzeugen fann.
„Das Weib ift wahnfinnig! Ich werde fie
zur Rechenſchaft ziehen," tobte er noch im Bette.
Clara wohnte bei Imhoffs. Sie fand die
Freundin noch auf. Frau von Imhoff fagte ihr,
daß man morgen auf den Kirchhof gehen wolle,
weil das Kreuz auf Caſpar Hauſers Grab er-
richtet werde. Frau von Imhoff empfand Claras
Schweigfamteit wie einen Alpdrud und erzählte,
erzählte. Vieles von Cafpar, viele8 von denen,
die um ihn waren. Quandt wolle ein Buch
ſchreiben, worin er haarklein nachzumeilen ge»
denke, daß Gafpar ein Betrüger geweſen; daß
Bidel den Dienjt quittiert habe und aus Ans-
ach wegziehe, wohin, wiſſe niemand, daß alle
565
Bemühungen, dem furchtbaren Verbrechen auf
den Grund zu kommen, vergeblich geweſen ſeien
Clara blieb wie aus Stein. Als fie fich für die
Nacht trennten, fagte fie leiſe und mit unheimlicher
Sanftmut: „Auch du bift feine Mörderin."
Frau von Imhoff prallte zurück. Doc Clara
fuhr ebenfo leiſe und janft fort: „Weißt du es
denn nicht? willft du's nicht wiſſen? Verſteckſt
du dich vor der Wahrheit wie Kain vor Gottes
Ruf? Weißt du denn nicht, wer er war? Glaubft
du denn, daß die Welt immer und ewig darüber
ſchweigen wird, fo wie fie jeßt ſchweigt? Ex wird
auferftehen, Bettine, er wird uns zur Rechenfchaft
fordern und unfre Namen mit Schmach bededen; er
wird das Gewiſſen der Nachgebornen vergiften, er
wird fo mächtig im Tode fein, als er ohnmächtig im
Leben war. Die Sonne bringt es an den Tag."
Darauf verließ Clara das Zimmer ruhig wie
ei anbern I fe ſech nom Hauf
im andern Morgen ging fie vom Haufe
im Sie befuchte ihren — auf der Jo⸗
janniskicche, ſaß lange oben auf der Steinbank
in ber fehmalen Galerie und blickte weit über
die winterliche Ebene. Sie ſah aber nicht Schnee,
fie ab nur vergoffenes Blut. Sie ſah nicht das
Land, fie ſah nur ein durchftochenes Herz.
Dann ſchlug fie den Weg nach dem Kirchhof
ein. Der Totengräber führte fie zum Grab.
Eben kamen zwei Arbeiter und lehnten ein höl-
zernes Kreuz gegen den Stamm einer Trauerweide.
Nach wenigen Minuten erſchien der Pfarrer
Fuhrmann. Er erkannte Clara und grüßte fie ernft
und höflich. Sie, ohne I" danfen, ſchaute an ihm
vorüber, ihr Blick ftreifte den mit gfemmusigem
Schnee bedestten Grabhügel und die Arbeiter, die
556
jest das Kreuz zu Häupten des Grabes einrammten.
Auf einem großen, herzförmigen Schild, das in-
mitten de3 Grabkreuzes befeftigt war, fanden in
weißen Lettern die Worte:
HIC JACET
CASPA
A
Sie las es, ſchlug die Hände vor Geficht
und brach in ein gellend wehes Gelächter aus.
Jählings wurde fie aber wieder ganz ftill. Sie
drehte fich gegen den Pfarrer um und rief ihm
zu: „Mörder !"
In diefem Augenblick kamen vom Hauptpfad
ber einige Leute, die der Zeremonie der Kreuz-
aufftellung hatten beimohnen wollen: Herr und
Frau von Imhoff, Herr von Stichaner, Medizinal-
rat Albert, der Hofrat Sofmann, Quandt und
feine Frau. Sie fahen den Pfarrer bleih und
aufgeregt, und der Eindrud eines jeden war, daß
etwas Schlimmes vor fi gehe. Frau von
Imhoff, voller Ahnung, eilte auf ihre Freun-
din zu und umfblang fie mit den Armen.
Aber mit verwilderten Gebärden machte ſich
Clara 1o8, ftürgte der Gruppe der Nahenden
entgegen und fchrie mit durchdringender Stimme:
„Mörder feid ihr! Mörder! Mörder! Mörder!"
Nun rannte fie an ihnen vorbei, auf die
Straße hinaus, wo fich alsbald viele Menfchen
je verfammelten, und fchrie, fchrie! Endlich
wurde fie von einigen Männern umtingt und
am Weiterlaufen verhindert.
5657
Quandt hatte wieder einmal recht behalten.
Sie war wahnfinnig geworden. Noch am felben
Tag wurde fie in eine Anftalt gebracht. Mit
der Zeit verging die Raſerei, aber ihr Geiſt
blieb umnachtet.
Sehr zu Herzen war der Auftritt am
Grabe dem Pfarrer Fuhrmann gegangen. Er
wollte fich nicht zufrieden geben, wenn man
ihm vorhielt, daß es doch eine Irre geweſen,
die fo gehandelt. Noch vor feinem kurz darauf
erfolgten Ableben fagte er zu Frau von Imhoff,
die ihm befuchte: ich freut die Welt nicht
mehr. Warum klagie fie mich an? Mich, gerade
mi? Ich hab’ ihn ja liebgehabt, den Hauſer.“
‚Die Unglüdliche," erwiderte Frau von
Imboff Teife, „an Liebe allein hatte fie nicht
genug."
„SH trage feine Schuld," fuhr der alte
Mann fort. „Oder doch nicht mehr, als dem
blichen Leib überhaupt zukommt. Schuldig
find alle, die wir da mandeln. Aus Schuld
eimt Leben, fonjt hätte unfer Stammvater im
Paradies nicht fündigen dürfen. Auch unfern
bingefchiedenen Freund Tann ich nicht freifprechen.
Was hat es ihm gefrommt, das Träumen über
feine Herkunft ® Verrat von allen Lippen
quiltt, flieht der Tüchtige_in den Kreis frucht-
barer Neigungen. Aber Schmwärmer hören nur
ſich ſelbſt. Unſchuldig, meine Vefte, unſchuldig
iſt nur Gott. Er gnade meiner Seele und der
des edeln Caſpar Hauſer.“
Ende,
568
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