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Full text of "Chs. Darwin's Lehre von der entstehung der arten im pflanzen- und thierreich in ihrer anwendung auf die schöpfungsgeschichte"

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| Ch: Darwin's 
Lehre von der Entſtehung der Arten 


Pflanzen- und CThierreich 


in ihrer Anwendung auf die 
Schöpfungsgeſchichte 


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von 


Dr. Friedr. Rolle. 


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Frankfurt am Main 1863. 
Joh. Chriſt. Hermann ſche Verlagsbuchhandlung. 


F. E. Suchsland. 


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BEDARF. 


Borwort. 


Nachdem ich, wie man finden wird, im Laufe des Textes immer 
bemüht war, alle rein perſönlichen Beziehungen im Gewebe des Großen 
und Ganzen aufgehen zu laſſen, wird man es mir wohl nicht ver— 
argen, wenn ich in dieſem Vorwort über meine individuelle Stellung 
zur Darwin'ſchen Lehre und über die Art der Entſtehung dieſes Werkes 
mich ausführlicher äußere. 

Unſere Lehr- und Handbücher find noch faſt durchgehends im 
Cu vier'ſchen Sinne geſchrieben und faſt unſere ganze heutige Natur— 
forſcher-Generation iſt unter dem mehr oder minder beherrſchenden 
Eindrucke dieſer Anſchauungen aufgewachſen. Es iſt nicht gerade 
leicht, von ſolchen anerzogenen Anſchauungen ſich wieder frei zu 
machen. Bei mir ſelbſt hat der Vorgang — freilich unter jahre— 
langen Pauſen — faſt ein Jahrzehend gedauert. 

Die Anſicht, daß die ſo ſehr in die Augen fallenden Abgren— 
zungen unſerer geologiſchen Formationen nur durch örtliche Einflüſſe 
hervorgerufen ſind, hat ſich bei mir zunächſt geltend gemacht. 

Ich verweiſe in dieſer Hinſicht namentlich auf zwei frühere 
Abhandlungen !), die in den Sitzungsberichten der k. Akademie der 
Wiſſenſchaften zu Wien erſchienen. 

Eine ſolche geologiſche Anficht erforderte als watrtgehe Er⸗ 
gänzung auf dem Gebiete der Phyſiologie die Annahme einer Ver— 
änderlichkeit der Art. Geologen und Paläontologen pflegen indeſſen 
mit Phyſiologie ſich wenig zu befaſſen. Erſt im Jannar 1858 wurde 
mir meine Stellung in dieſer Hinſicht klarer. Es geſchah unter 
dem Einfluſſe meines alten Studiengenoſſen, Dr. Guſtav Jäger 
jetzigem Director des zoologiſchen Gartens zu Wien. 


1) F. Rolle. Ueber einige an der Grenze von Keuper und Lias in 
Schwaben auftretende Verſteinerungen. Wien 1858. (Sitzungsberichte 1857. 
Band 26.) 

Ueber die geologiſche Stellung der Sotzka⸗ Schichten it in Steiermark. Wien 
1858. (Sitzungsberichte 1858. l 30.) 


Unſere damalige Abſicht war ein gemeinſames Werk über den 
genealogiſchen Zuſammenhang der älteren und neueren Lebewelt zu 
verfaſſen. Manigfache ungünſtige Verhältniſſe ließen dieſe Abſicht 
nicht zu Stande kommen. 

Doch trugen Jäger's !) und meine ſeitherigen Arbeiten das 
ganze Gepräge dieſer Richtung. 

Als in der Folge Darwin's Werk erſchien, ward mir von 
Seiten des Herrn Verlegers der Auftrag, eine populär-wiſſenſchaft⸗ 
liche Erläuterung des für jo manigfache Seiten der Cultur-Ent- 
wickelung unabſehbar folgenreichen Gegenſtandes zu geben und dabei 
vor Allem auf die Beziehung deſſelben zur Schöpfungsgeſchichte ein⸗ 
zugehen. 

Bei dieſer Aufgabe hatte ich mich im geologifch-paläontologifchen 
Theile auf langjährig mir geläufigem Gebiete zu bewegen. Mehr 
Schwierigkeiten bot mir der phyſiologiſche Theil der Aufgabe. Hier 
leiſtete mir aber die manigfache freundliche Theilnahme und Unter⸗ 
ſtützung der Herren Dr. Weinland und Dr. G. Jäger den we⸗ 
ſentlichſten Vorſchub, und ich erfülle eine natürliche Pflicht, wenn 
ich beiden Freunden und Studiengenoſſen hier meinen aufrichtigen 
Dank ausſpreche. 

Meine Arbeit hat, ſoweit es nach der Aufnahme der erſten 
Lieferungen ſich abnehmen läßt, bei einem Theile meiner Leſer leb⸗ 
hafte und aufrichtige Zuſtimmung, bei anderen finſteres Stillſchwei⸗ 
gen gefunden. Es liegt das auch ſehr wohl begründet im Gegenſtand 
und in der Zeit. 

Nicht das geringſte des bisherigen Lohnes der Arbeit aber war 
der briefliche Ausdruck offener Anerkennung des Strebens und Leiſtens 
von Herrn Che Darwin ſelbſt. 


Bad Hom burg, Weihnachten 1862. 


Dr. Friedr. Rolle. 


1) Ich verweiſe in dieſer Hinſicht auf 

Dr. G. Jäger. Die Darwin'ſche Theorie über die Entſtehung der Arten 
(Schriften des Vereins zur Verbreitung naturwiſſenſchaftlicher Kenntniſſe in 
Wien. Band I.). Wien 1862; ſowie auf einige ältere phyſiologiſche Abhand⸗ 
lungen deſſelben Verfaſſers, welche jetzt in Dr. Weinland's Zeitſchrift „der 
zoologiſche Garten“ neu geſammelt erſcheinen. 


Inhaltsverzeichniß. 


Seite 
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Erſtes Kapitel. Aeltere und neuere Anſichten über Entſtehung der 
Erde und der Pflanzen⸗ und Thierwelt. 
Moſes. Griechen und Römer. Mittelalter. Linné und ſeine Nachfolger. 
Lamarck und Geoffroy-Saint⸗Hilaire. Oken. Neptuniſten und Vulka— 


niſten. Cuvier. Lyell. Agaſſiz. Forbes. Darwin 2 5 
Zweites Kapitel. Darwin's Lehre von der Erblichkeit und der 
Veränderlichkeit. 


Beſondere Aeußerungen der Erblichkeit. Culturgewächſe. Mittelbare Ein- 
wirkung äußerer Bedingungen auf Culturgewächſe. Wirkung der Aus— 
wahl auf Culturgewächſe. Veredlung des Aepfel- und des Bienbaumes. 
Acclimatiſirung von Culturgewächſen. Kreuzung der Culturgewächſe. 
Verwilderung und Rüdfchlag der Culturgewächſe. Urſprung der Cultur— 
gewächſe. Hausthiere. Wirkung der Auswahl auf Hausthiere. Tiefe 
der Veränderung von Hausthieren. Acclimatiſirung von Hausthieren. 
Kreuzung der Hausthiere. Rütimeyer's Anſichten über Kreuzung von 
verſchiedenen Hausthierſtämmen. Verwilderung und Rückſchlag der Haus— 
thiere. Geſchichte der Hausthier- Züchtung 57 
Drittes Kapitel. Darwin's Lehre vom Kampf um's Daſein und 
der natürlichen Ausleſe. 
Natürliche Ausleſe. Züchtung neuer Pflanzen und Thierformen auf dem 
Wege der natürlichen Ausleſe. Fortſchreitendes Auseinandergehen der 
Formen. Einfluß geologiſcher Vorgänge auf die Geſtaltung der orga— 
niſchen Form. Weltreiſe der Ratten und Mäuſe. Rütimeyer's Beob— 
achtungen über das Gebiß der kleinen Raubthiere „ Be ee 
Viertes Kapitel. Stufenweiſe Vervollkommnung der Organismen. 
Vervollkommnung im Pflanzenreiche. Vervollkommnung im Thierreiche. Ur— 
ſachen der Vervollkommnung .. 2 
Fünftes Kapitel. Geologiſche Geſchichte der ene 
Organiſche Einſchlüſſe. Reihenfolge der geologiſchen Formationen. Urzeugung. 
Primordialfauna. Geologiſche Entwickelung der Meeresbewohner. Ent— 
wickelung des Land- und Luftlebens. Nachſchriftt.. 207 


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Fach- Regiſter. 


Acelimatiſirung 86. 119. 

Acephalen 238. 

Aegilops 96. 

Aepfelbaum 83. 

Affen 103. 260. 

Agnostus 232. 

Amphioxus 194. 234. 

Anomodonten 254. 

Archegoſauren 251. 

Art 26. 54. 116. 165. 

Ausleſe, natürliche 51. 
155. 

Auswahl 80. 110. 

Auſtern 239. 


Baſtarde 122. 

Beutelthiere 198. 258. 
259. 260. 271. 

Birnbaum 83. 

Brachiopoden 237. 

Braunvieh 128. 

Brücken (geologiſche) 26. 
55. 


Büffel 143. 


Cataſtrophen 23. 
Cephalaspiden 245. 
Cephalopoden 205. 244. 
Chirotherium 258. 
Chitonen 242. 

Cobaya 106. 118. 
Comatln 38. 237. 
Crinoiden 38. 236. 
Culturgewächſe 69. 


Dendrerpeton 253. 
Dickhäuter 261. 
Didelphen ſ. Beutelthiere. 
Diluvinm 41. 218. 
Dinotherium 261. 


Eidechſen 254. 

Eier 40. 

Eingeweidewürmer 205. 

Einwanderungen 26. 45. 
54. 174. 

Eiszeit 41. 47. 


Elephanten 24. 103. 213. 


262. 
Embryoniſche Typen 37. 
Enten 104. 
Entwickelungsgeſchichte 
(Embryologie) 183.269. 
Erblichkeit 57. 204. 
Erdbeere 81. 
Erratiſche Blöcke 42. 


Fiſche 35. 193. 
Fleckvieh 130. 


Formationen 53.210. 215. 
Fortpflanzung 59. 102. 


156. 
Foſſilien 210. 
Fröſche 199. 204. 


Gans 106. 

Gans, ägyptiſche 104. 
Gaſteropoden 241. 
Gebirgsketten 31. 
Gemüſepflanzen 82. 
Glacialepoche ſ. Eiszeit. 


Hausthiere 98. 
Hebungen 31. 53. 171. 
Hund 123. 136. 


Infuſorien 20. 221. 
Inzucht 126. 
Jura⸗Epoche 173. 


Kampf um's Daſein 51. 
145. 152. 


Kartoffel 95. 

Katze 118. 121. 124. 136. 
Knochenfiſche 194. 246. 
Kohl-Gewächſe 91. 95. 
Kreuzung 88 121. 126. 


Labyrinthodonten 251. 
258. 

Landbewohner 25. 47. 54. 
247. 269. 

Lepidosiren 195. 250. 

Lurchen ſ. Reptilien. 


Mais 90. 
Mastodonsaurus 252. 
Maſtodonten 213. 262. 
Mäuſe 180. 
Meeresbewohner 25. 47. 
54. 234. 267. 
Meerſchweinchenſ.Cobaya. 
Metamorphismus 23. 
Mißbildungen 62. 63. 107. 
Mittelformen (Mittel⸗ 
glieder) 27. 164. 263. 
Möhre 94. 
Mumien (Aegyptiſche) 66. 
Myxine 194. 


Naturphiloſophie 19. 28. 
Neptunismus 21. 


Obſtpflanzen 81. 82. 


Pachydermen ſiehe Dick— 
häuter. 

Paradoxides 230. 

Perioden (Geologiſche) 
35. 

Petrefacten ſ. Foſſilien. 

Pfahlbauten 126. 

Pferde 135. 261. 


Pfirſich 87. 
Phascolotherium 259. 
Placodermen 245. 
Plagiaulax 260. 
Primordialfauna 227.265. 
Progreſſive Typen 38. 
Prophetiſche Typen 37. 
Protopterus 195. 
Pterodactylen 37. 256. 


Raſſen 110. 

Ratten 176. 

Raubthiere 102. 180. 260. 

Raubvögel 102. 

Reptilien 195. 246. 250. 

Rinder (Stiere) 110. 128. 
142. 

Roſenſteiner Rindvieh⸗ 
ſtamm 144. 

Rückſchlag 90. 132. 


Sao 229. 
Säugethiere 197. 257. 
Schwanz 184. 272. 


Schweine 108. 126. 127. 
135. 

Sexualcharactere 63. 

Stammbau der Lebewelt 
52. 267 270. 

Sympathiſche Charactere 
159. 1 

Synthetiſche Typen 37. 


Tapir 261. 

Tarpan 135. 

Torfkuh 128. 
Torfſchwein 127. 
Trilobiten 35. 228. 234. 
Trochoceros 129. 


Ur 101. 128. 

Urſchleim 20. 223. 

Urzeugung, generatio 
spontanea 16. 219. 266. 


Variation (individuelle) 
51. 

Varietät (Abart) 26. 116. 
165. 


Veränderlichkeit (Variabi⸗ 
lität) 27. 64. 
Veredlung 141. 
Vermehrung der Indivi⸗ 
duen 146. 
Vervollkommnung 183. 
268. 
Verwilderung 90.132.147. 
Vögel 195. 197. 256. 
257. 263. 
Vulkanismus 21. 


Waizen 67. 95. 96. 

Wechſelbeziehung der Ent: 
wickelung 107. 

Widder, krummbeiniger 
111. 

Wildſchwein 127. 135. 

Wunder 39. 


Zellen 21. 185. 186. 266. 
Ziege, buckelnaſige, 106. 
Zierpflanzen 82. 
Züchtung 68. 140. 


Perſonen-Kegiſter. 


Agaſſiz 33. 205. 

Ariſtoteles 8. 

Buch (L. v.) 31. 

Buckland 41. 

Cuvier 23. 29. 33. 57. 
116. 

Darwin 48. 

Elie de Beaumont 31. 

Forbes (Edw.) 45. 

Göthe 12. 13. 28. 


Geoffroy-Saint- Hilaire Rütimeyer 101. 126. 139. 


18 27. 57. 66. 
Jäger (Guſtav) 165. 182. 
Lamarck 15. 
Lichtenberg 38. 
Linné 11. 13. 
Lyell 28. 
Metzger (J.) 92. 
Moſes 7. 
Olen 19. 28, 


180. 
Virgil 141. 
Vogt (K.) 44. 
Weinland 106. 107. 119. 
160. 
Werner 22. 216. 
Willdenow 69 75. 76. 83. 


Einleitung 


+ 
* 


Me Frage nach dem Urſprunge der Pflanzen- und Thierarten und 
nach dem des menſchlichen Stammes ſelbſt hat von jeher den denken— 
den Menſchen beſchäftigt und zu mannigfachen, oft einander ſehr wider— 
ſprechenden Antworten Anlaß gegeben. Sind Pflanzen, Thiere 
und Menſchen, eine jede Art unmittelbar ihrem gan— 
zen Weſen nach, durch das „Werde“ eines allmächtigen 
Schöpfers ins Leben gerufen? Oder ſind ſie Ergeb— 
niſſe eines viele Millionen Jahre hindurch fortgeſetzten 
Entwickelungsvorganges natürlicher Materien unter 
dem Einfluſſe allgemein und ewig wirkſamer Geſetze? 
Dieſe Fragen haben ſeit den älteſten Zeiten vorgelegen und liegen noch 
immer der heutigen Generation vor. Eine jede hat ihre Verfechter 
gefunden. Wir hatten daher von jeher und haben heut zu Tage noch 
zwei einander mehr oder minder feindlich gegenüberſtehende Feldlager 
im Gebiete der Naturforſchung, eine philoſophiſche und eine theo— 
logiſirende Schule. 

Im Mittelalter galt bei der Beantwortung jener Cardinalfrage 
nach dem Urſprung der Lebewelt, ſo gut wie bei allen naturwiſſen— 
ſchaftlichen Dingen überhaupt, die Bibel mit der Moſaiſchen Schöp— 
fungsurkunde als Hauptrichtſchnur. Kirchenbann und Verfolgung be— 
drohten den Andersdenkenden. Selbſt die freieren, ihre Zeit in andern 
Dingen weit überragenden Köpfe fühlten ſich nicht ſtark genug in 
Bezug auf die Geſchichte der Erde und ihrer Schöpfung die ererbte 
Feſſel abzuwerfen und auf Grund von Erfahrung und Rechnung ſelb— 
ſtändig vorzugehen. 

In unſeren Tagen entwickeln ſich die Anſichten der Forſcher weit 
unbeirrter. Jetzt iſt es vor allem die fortſchreitende Entwicklung der 

Rolle, Darwin's Lehre— 1 


2 


ſicheren Erkenntniß der natürlichen Dinge, welche für die Geſtaltung 
der Anſichten maßgebend wird und es iſt keinem Forſcher mehr ver— 
wehrt, die Feſſeln der theologiſchen Autorität abzuſtreifen. Ja, noch 
mehr, aus dem ehedem unterdrückten Theil iſt jetzt der angreifende 
geworden und wie ehedem gegen ihre, wenn auch noch ſo beſcheidenen 
und ungefährlichen Gegner ruft jetzt die Theologie gegen die immer 
mehr anwachſenden Angriffe ihrer zahlreicher und muthiger gewordenen 
Feinde den Arm der weltlichen Obrigkeit an. 

Wenige naturwiſſenſchaftliche Werke neuerer Zeit, welche auf die 
Löſung jener Hauptfragen der Naturwiſſenſchaft und die von ihr 
zunächſt abhängenden Folgerungen Bezug nehmen, haben ein ſo all— 
gemeines Aufſehen erregt und bei den verſchiedenen Schulen und Par— 
teien der Wiſſenſchaft eine ſo ganz entgegengeſetzte Aufnahme gefunden 
als des ausgezeichneten engliſcheu Naturforſchers und Weltumſeglers 
Charles Darwin's Werk über die Entſtehung der Arten in 
der Pflanzen- und Thierwelt. Der Grund davon liegt nicht 
in der Neuheit des Gegenſtandes. Darwin bringt nur neue Erklä— 
rungen für Vorgänge in der organiſchen Welt, die Lamarck ſchon 
zu Anfang unſeres Jahrhunderts darzulegen und zu deuten bemüht 
war. Lamarck's Philosophie zoologique hatte vielen Wider- 
ſpruch, aber im Laufe der Jahrzehende bei einem bald größeren bald 
geringeren Theile der Forſcher auch Beifall und Anerkennung gefun— 
den. Wir werden ſehen, daß eine eigentliche endgültige Entſcheidung 
immer noch nicht erfolgt war, beide Schulen hielten ſich im Laufe 
der letzten Jahrzehende mehr oder minder die Wage, aber das Be— 
dürfniß der Löſung rückte ſowohl für den Geologen als auch den 
Zoologen und Botaniker um ſo dringender heran. Da erſchien Dar— 
win's Werk und gab unter Einführung neuer Momente der Rech— 
nung den Anſtoß zu neuerer Aufnahme der alten, ſcheinbar beſeitigten, 
ſeit Jahrzehenden unter der Aſche fortglimmenden Streitfragen. 

Unter den Beweisgründen, die Darwin zuerſt in entſchiedener 
und ausgedehnter Weiſe zur Durchführung der ſchon von Lamarck 
begründeten Transmutationslehre ins Feld geführt hat, nimmt 
ſeine Darlegung der natürlichen Ausleſe, welche in ähnlicher 
Weiſe wie die bei der Gärtnerei und der Viehzucht in Anwendung 
ſtehende künſtliche Züchtung zur Heranbildung neuer Pflan- 
zen- und Thierformen führt, entſchieden den vorderſten Rang 
ein. Darwin begründet dieſen Vorgang einerſeits in der Neigung 


3 


aller Individuen zu einem geringen, oft nicht näher bemerkbaren Grade 
von der elterlichen Form abzuweichen, andererſeits in den innigen 
und höchſt verwickelten Beziehungen, in denen die Organismen nicht 
nur zu den äußeren Bedingungen, unter denen ſie leben, ſondern auch 
untereinander ſtehen. Aus der Wechſelwirkung dieſer beiden Momente 
erfolgt dann in allmähliger, meiſt für unſere gewöhnliche Wahrneh— 
mungsgabe nicht unmittelbar erſichtlicher Weiſe die Umgeſtaltung der 
einzelnen Formen der Pflanzen- und Thierwelt, die Entſtehung neuer 
Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w. 

Alle Vorgänge, auf die Darwin ſich dabei bezieht, ſind ſolche 
des gewöhnlichen Laufes der Natur. Es bedarf dazu keines wieder— 
holten unmittelbaren Eingreifens des Schöpfers in den natürlichen 
Lauf der Dinge, wie dieſes die alten Religionsurkunden und die 
Theologen aller Völker lehren. Während die Annahme der Unver— 
änderlichkeit der Arten im Pflanzen- und Thierreich unabänderlich 
ſtets wieder auf den alten der Naturwiſſenſchaft weſentlich fremden 
Wunderglauben zurückführt, räumt die Lehre Lamarck''s und Dar— 
win's vor allen Dingen der Vernunft das Recht ein, auch in Be— 
ziehung auf die Entſtehung der Lebeweſen ihre Anſprüche frei und 
ungehemmt zur Geltung zu bringen. Aber eben darum iſt ſie auch 
ein Gegenſtand des Anſtoßes für manche Perſonen und ſogar einzelne 
Naturforſcher, welche vor allen Dingen auf übernatürlichem Wege 
natürliche Vorgänge erklärt wiſſen wollen. 

Wie bei allen großartigen Verſuchen zu Aenderungen in der 
Wiſſenſchaft werden daher auch durch Darwin's Lehre viele wiſſen— 
ſchaftlichen und perſönlichen Intereſſen berührt. Alte eingewurzelte 
Anſichten und Gewohnheiten werden erſchüttert, mannigfache Vor— 
urtheile und Liebhabereien ſehen ſich verletzt. 

Indeſſen dürfen ſolche Nebenerſcheinungen auf die Hauptſache 
nicht zurückwirken. 

Die heutige naturwiſſenſchaftliche Forſchung hat kein anderes 
Ziel als die Aufdeckung der Wahrheit und zwar um der Wahrheit 
ſelbſt willen. Sie arbeitet auf Grundlage der Beobachtung der mate— 
riellen Erſcheinungen und verknüpft deren Ergebniſſe auf dem Wege 
der Rechnung. Sie hat kein andres Ziel und darf keine andren Wege 
einſchlagen. Sie ſtrebt an und für ſich weder nach dem Schönen noch 
nach dem Nützlichen. Sie marktet nicht mit andern menſchlichen Be— 
ſtrebungen. 

1 


Darwin's Verſuch einer neuen Löſung der alten Cardinal⸗ 
fragen der Naturwiſſenſchaft kann daher alle Anſprüche nicht nur 
auf aufmerkſame Prüfung, ſondern auch auf unparteiiſche Würdigung 
machen. Wenn von ſeiner Theorie auch noch ſo viele perſönliche An— 
ſichten oder Gemüthsſtimmungen und Neigungen berührt werden, ſo 
muß dieſen doch jeder Einfluß auf die Entſcheidung benommen bleiben. 
Der Gegenſtand hat eine viel zu allgemeine Bedeutung als daß per— 
ſönliche Beziehungen, Volksmeinungen oder politiſche Rückſichten dabei 
einen Ausſchlag geben dürften. 

Von der Entſcheidung der oben an die Spitze geſtellten Grund— 
frage wird überhaupt die Art der künftigen Weltanſchauung des Men- 
ſchen abhängen. Sie iſt zwar zunächſt nur für die Naturwiſſenſchaft 
ſelbſt von weſentlicher Bedeutung, ſie muß aber auch mehr oder minder 
auf die Entwicklung der Anthropologie, der Ethnographie und der 
Pſychologie ihren Einfluß äußern und wird allen dahin einſchlagenden 
Wiſſenſchaften überhaupt ein weites Feld für neue Richtungen der 
Forſchung eröffnen. 


— — —ꝛ— 


Erſtes Kapitel. 


Aeltere und neuere Anſichten über Entſtehung der Erde 
und der Pflanzen- und Thierwelt. 


Es liegt tief in der Natur des Menſchen begründet, allenthalben, 
ſoweit ſein Bereich geht, den Zuſammenhang zwiſchen Urſache und 
Wirkung ergründen zu wollen. Dieſes angeborne Streben des menſch— 
lichen Geiſtes iſt um ſo berechtigter als es grade zu den Haupt— 
characterzügen gehört, die einerſeits den Menſchen über das Thier 
erheben, andrerſeits in vielfachen Abſtufungen die Culturvölker von 
den roheren Jagd- und Nomadenvölkern unterſcheiden, aber auch 
letztre in erſtre überführen. 

Von jeher hat namentlich der denkende Menſch aller Zeiten und 
aller Völker nach dem Urſprung des Großen und Ganzen, des Welt— 
alls, der Erde und der belebten Schöpfung geforſcht, die alten Cul— 
turvölker haben ſogar auf den in dieſer Hinſicht gewonnenen Fort— 
ſchritt der Erkenntniß grade ein beſonderes Gewicht gelegt, dies iſt 
der Grund, warum Schöpfungsberichte entweder die Einleitung oder 
doch einen weſentlichen Beſtandtheil der alten Religionsurkunden und 
Stammesüberlieferungen bilden. Ja man wird ſich erinnern, daß hin 
und wieder ſogar Städtechroniken unſres deutſchen Mittelalters auf 
jenes alte und wohlberechtigte Fragen nach dem erſten Urſprung aller 
Dinge eine unverhältnißmäßige Rückſicht nahmen und ihre ſtädtiſche 
Geſchichte mit der Erſchaffung der Welt anfangen ließen. 

In unſern Zeiten kommt zu den Beweggründen des Forſchens 
noch ein anderes Moment. 

Unſre heutige Generation forſcht zur Hebung ihres materiellen 
Wohlſtandes und zur Erweiterung ihrer Kenntniſſe. 

Die Durchforſchung unſrer Gebirge und der mancherlei fie zu— 
ſammenſetzenden Felsmaſſen, das Verfolgen ihrer reichen Kohlen- und 
Erzniederlagen, das Studium der endloſen Mannigfaltigkeit der Pflanzen— 
und Thierformen und ihrer Lebenserſcheinungen hat zahlreiche wichtige 
Beziehungen zum praktiſchen Leben, es führt uns zu einer immer 


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höher geſteigerten Herrſchaft über die Elemente, über die Pflanzen- 
und Thierwelt, ja über unſern eigenen Körper. Das Studium der 
Gebirge hat ſeinen innigen Zuſammenhang mit dem Berg- und Hütten— 
weſen, auch mit der Landwirthſchaft und dem Bauweſen. Botanik 
und Zoologie haben vielfache praktiſche Anwendung auf die Kenntniß 
und vortheilhafte Ausbeutung der Nutzpflanzen und Nutzthiere gefun- 
den, an welche unſre Nahrung und Bequemlichkeit ſo eng gebunden 
iſt. Chemie und Phyſik haben uns bis zu einem gewiſſen Grade 
zum Herrn über Dampf, Blitz uns Licht gemacht. Die Anatomie 
und Phyſiologie endlich führte uns zu einer tieferen Erkenntniß unſres 
eignen Menſchenkörpers und ſeiner Lebenserſcheinungen und leitet jetzt 
den Arzt im Kampfe gegen unſre Erbfeinde, Krankheit und Tod. 

Das alles ſind ſchöne Erfolge der ſeit den älteſten Zeiten be— 
gonnenen und von unſerm Jahrhundert mit ſo hoch geſteigerter Energie 
fortgeführten Forſchung. Ihr verdanken wir es, daß wir jetzt * 
als je Herren der Elemente und der Naturkräfte ſind. 

Aber das iſt noch nicht ihr einziger und höchſter Zweck. 

Wir durchforſchen nicht allein die Natur, um unſer materielles 
Wohlſein zu vermehren, wir wollen auch unſer Wiſſen ausdehnen, 
wir ſtreben nach der wahren und ſichern Kenntniß der natürlichen 
Dinge, nach Erfaſſung des tauſendfältigen Zuſammenhangs der Er— 
ſcheinungen und nach Feſtſtellung der dieſen zu Grunde liegenden 
ewigen Naturgeſetze. Und grade dieſes Streben des Geiſtes nach 
Ausdehnung ſeiner Herrſchaft, ohne alle Rückſicht auf materielles 
Wohlſein iſt wieder einer jener Züge des menſchlichen Weſens, die, 
um ein altes und ſehr wahres Bild zu gebrauchen, erſt eigentlich 
den Menſchen zum Menſchen machen. 

Die erſten Anfänge eines Forſchens nach dem Urſprunge des 
Weltgebäudes, der Erde, der Lebeweſen und des Menſchen ſind ſo alt 
als die überlieferte Geſchichte unſres Stammes überhaupt zurückreicht. 
Anſichten über die Entſtehungsweiſe der belebten Welt waren bei 
allen Culturvölkern der älteſten Geſchichte ein Gegenſtand der münd— 
lichen oder ſchriftlichen Ueberlieferung und gingen in den Schatz der 
nationalen Urkunden über. Aber die alten Denker waren unbekannt 
mit dem näheren Weſen der Naturkräfte, ſie machten weder Verſuche 
zur Bewahrheitung ihrer Anſichten noch trieben ſie Statiſtik. Sie 
nahmen Bilder in ſich auf und gaben ſie wieder von ſich, rechneten 
aber nicht. Sie brachten es daher auch nicht weiter als zur Wie— 


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dergabe und Verknüpfung von jenen Bildern, die in ihrem Gemüth 
und ihrer Einbildungskraft ſich abgeſpiegelt hatten, und an die Stelle 
der Kräfte, welche Urſache und Wirkung in der Natur verknüpfen, 
mußten ſie — ſtatt der ihnen unbekannten oder doch dunklen Kräfte 
— Perſonen ſetzen. Solche nicht auf ſtrenge Forſchung, ſondern nur 
auf mehr oder minder getreue Wiedergabe der Gemüthseindrücke und 
auf Perſonificirung der Kräfte gegründete Schöpfungsberichte oder 
Cosmogenien bezeichnen den erſten Anfang der Geologie wie der Na— 
turwiſſenſchaft überhaupt. 

Sie ſind je nach der Bildungsſtufe und den angebornen Geiſtes— 
anlagen der verſchiedenen Völker ſehr mannigfacher Art, bald mehr 
auf Beobachtung von Naturerſcheinungen gegründet, bald mehr die 
Wirkungen von Naturkräften auf Götter und Helden übertragend und 
dann gewöhnlich um ſo mehr vom dichtenden Geiſte ausgeſchmückt. 


Moſes. 


Eine der älteſten der von den frühen Culturvölkern überlieferten 
Schöpfungsgeſchichten iſt die Moſaiſche, welche den Eingang der 
Religions- und Geſchichtsurkunden des Iſraelitiſchen Volkes bildet. Sie 
ſchildert uns die Entſtehung der Erde und ihrer Bevölkerung als das 
unmittelbare und perſönliche Werk der Gottheit ſelbſt. Sie unter— 
ſcheidet ſich ſehr zu ihrem Vortheile von den durch eine Fülle von 
Bildern und mythiſchen Vorſtellungen überladenen Cosmogenien der 
Griechen, Römer und anderer Völker des Alterthums, fie ift 
in Darſtellung und Entwicklung einfach, ungezwungen und würdig. 

Dieſe bibliſche Schöpfungsgeſchichte war, wie bekannt, für Juden 
und Chriſten durch Jahrhunderte und Jahrtauſende hindurch unbe— 
dingte Richtſchnur und Grenze der Forſchung, ja ſelbſt noch in unſren 
Tagen gibt es einzelne Geologen, welche ſich die Mühe geben, die 
Uebereinſtimmung ihrer Meinungen mit dem Schöpfungsberichte der 
Bibel nachzuweiſen. Indeſſen hat die Naturwiſſenſchaft dieſe Feſſeln 
ſchon geſprengt, und die Theologie wagt jetzt nur ſelten noch den 
andersgläubigen Forſcher in ſeiner bürgerlichen Sicherheit zu bedrohen. 
Heut zu Tage, wo alle Welt weiß, daß die Erde ſich um die Sonne 
und nicht, wie die bildliche Sprache der Bibel ſagt, die Sonne ſich 
um die Erde bewegt, iſt es in allen der Aufklärung zugänglichen 
Schichten der Geſellſchaft ziemlich allgemein anerkannt, daß die Bibel 


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d. h. das alte Teſtament eine Religions-, Geſetzes- und Stammes- 
urkunde des Iſraelitiſchen Volkes war und iſt. Auf naturwiſſen⸗ 
ſchaftliche Berechtigung hat die Bibel keinen Anſpruch, es iſt nament⸗ 
lich offenbar, daß alle aſtronomiſchen Gegenſtände, die ſie berührt, in 
falſchem Gewande, nämlich in dem Bilde, welches ſie auf unſre un— 
mittelbare Sinneswahrnehmung machen, dargeſtellt ſind, nicht aber 
in der Auffaſſung, welche die Wiſſenſchaft als die allein richtige uns 
lehrt. So wenig als die Aſtronomie können aber auch die Geologie 
und die übrigen naturwiſſenſchaftlichen Fächer durch die alte Bibel— 
Autorität in Schranken gebannt bleiben. Was im beſonderen den 
moſaiſchen Schöpfungsbericht anbelangt, ſo iſt er für die heutige Wiſſen— 
ſchaft unhaltbar. Viele Geologen haben an ihm gedreht und gedeutelt, 
um ihm eine ſolche Auslegung zu geben, die ihm das mindeſte Maß 
des Widerſpruchs mit der Wiſſenſchaft verleiht. Doch hat man damit 
wenig erreicht, und weder die ſtrenge Naturwiſſenſchaft noch die ſtrenge 
Orthodoxie erkennen ein ſolches Machwerk an. „Ein Kaiſerwort ſoll 
man nicht drehen noch deuteln,“ ſagte der Kaiſer Konrad vor 
Weinsberg, ein ähnliches ließe ſich auch ſehr wohl von der Aus— 
legung unſrer Religionsurkunden ſagen. Ueber die Wahrheit marktet 
man nicht. 


Griechen und Römer. 


Den eigentlichen Grund zu einer zuſammenhängenden, auf Be— 
obachtung gegründeten, durch Verſuche bewahrheiteten Naturwiſſenſchaft 
legten die alten Griechen. Sie waren es zuerſt von allen Völkern, 
die überhaupt dahin ſtrebten, die Erkenntniß der Dinge durch deut— 
liche Umgrenzung der Begriffe vorzubereiten und zuerſt ihre Erfolge 
in Grundſätze faßten. 

Ariſtoteles, der Schüler Platon's und Lehrer Alexanders 
des Großen ordnete das geſammte wiſſenſchaftliche Gebäude ſeiner 
Zeit, er wies der Naturgeſchichte ihr eignes Gebiet an, ſelbſtändig 
gegenüber dem der Meinung und des perſönlichen Glaubens, und 
wurde durch ſyſtematiſche Zuſammenſtellung der Naturkenntniſſe ſeiner 
Zeit und durch eigne Forſchungen der eigentliche Schöpfer der Natur— 
geſchichte. Er muß namentlich als erſter Begründer der Zoologie und 
Phyſiologie gelten. Er begnügte ſich nämlich nicht mit dem Erfaſſen 
der äußeren Charactere der” Lebeweſen, ſondern begann auch ihren 


9 


inneren Bau zu prüfen und verfolgte ihre Lebenserſcheinungen, nament— 
lich aber die Erzeugungs- und Fortpflanzungsweiſe. Manche ſeiner 
dahin einſchlagenden Beobachtungen erhielten ſogar erſt in neueren 
Zeiten ihre volle Beſtätigung. 

Während die Moſaiſche und andere Religionsurkunden die Er— 
zeugung der Pflanzen- und Thierformen als unmittelbares Werk 
der Gottheit darſtellten, nahm Ariſtoteles eine Urzeugung an. 
Neue lebende Weſen entſtehen nach ihm fortwährend aus trocknen 
Körpern, welche Nahrung geben können, ſobald ſie mit Feuchtigkeit in 
Berührung treten. So entſtehen Flöhe aus der Fäulniß verſchiedener 
kleinerer Körper z. B. im Miſte, Milben erzeugen ſich im Holz, 
Motten aus Wolle und wollenen Geweben. Eine derartige Ent— 
ſtehung kommt bei ſehr vielen blutloſen Thieren vor. Bei den mit 
Blut begabten iſt dagegen die Entſtehung aus Eiern Regel, nur der 
Aal macht noch eine Ausnahme, er entſteht nach Ariſtoteles in 
Sümpfen durch Fäulniß verſchiedener Stoffe. 

Den Römern ſagte die geduldige Beobachtung der Natur und 
die Erforſchung der Wahrheit aus bloßer Liebe zur Wahrheit ſehr 
wenig zu, ihr Geſichtspunkt war der unmittelbare Nutzen und die 
Annehmlichkeit. Ackerbau und Gartenwirthſchaft ſtanden bei ihnen in 
Blüthe und Anſehn, aber die Naturgeſchichte zu fördern, lag ihnen 
ferne. Sie waren ein rauhes, den Künſten des Friedens und den Wiſſen— 
ſchaften im Allgemeinen wenig zugängliches Kriegervolk und nur Prunk— 
ſucht trieb ſie an, in Künſten und Wiſſenſchaften um die Erbſchaft der 
alten Griechen ſich zu bewerben. Großes und Neues haben ſie auch 
nie darin geleiſtet. 


Mittelalter. 


Die Stürme der Völkerwanderung und die trüben rohen Zeiten 
des Mittelalters unterbrachen auf ein Jahrtauſend hin den Fortſchritt 
der Naturerkenntniß. Die Kirche ſchlug die freie Forſchung in Feſſeln 
und wo ein einzelner Denker, wie Keppler oder Galiläi die 
Feſſel brach, erdrückte ihn die Gewalt der Widerſacher und verſcholl 
ſein Wort wirkungslos an den tauben Ohren ſeiner Zeitgenoſſen. 

Man hielt ſich an die Schöpfungsgeſchichte der Bibel und ſchrieb 
die Griechiſchen und Römiſchen Autoren, namentlich den Ariſtoteles 
ab, ſoweit ihre Lehren mit dem Chriſtenthum des Mittelalters ſich 


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verquicken ließen. Der allgemeine Geiſt der Gelehrſamkeit jener Zeit 
war dunkel, trüb, geheimnißvoll. Ueber ſcholaſtiſche Spitzfindigkeiten 
vergaß man die großen Hauptſachen. Das Einfache, Klare und Wahre 
blieb unbeachtet bei Seite liegen und nur was in das Gewand des 
Geheimniſſes gehüllt war, dem Wunder- und Aberglauben ſchmeichelte 
und auf übernatürlichem Wege zu einem Siege über die Natur zu 
führen verſprach, fand Geltung bei hoch und nieder. 

Das war nicht die Zeit zu Fortſchritten in der Erkenntniß der 
einfachen und klaren, aber nur auf dem Wege des nüchternen Denkens, 
der Beobachtung und des Verſuchs zu ergründenden Naturgeſetze. 
Sterndeuterei, Goldmacherei und Geiſterbeſchwörungen blühten um ſo 
mehr und ſelbſt der große Keppler mußte um nicht dem Hunger 
zu erliegen, am Hofe des deutſchen Kaifers den Aſtrologen abgeben. 

Die Reſte urweltlicher Organismen, die dem Volk und den Ge— 
lehrten des Mittelalters zu Geſicht kamen, fanden ſeltſame dem Geiſte 
der Zeit gemäße Deutungen. Knochen und Zähne urweltlicher Ele— 
phanten oder Maſtodonten nahm man — was übrigens auch bei Grie— 
chen und Römern ſchon vorkam — für Rieſengebeine. Aber ganz 
eigenthümlich dem chriſtlichen Mittelalter war die Deutung der ur— 
weltlichen Meeresconchylien und der Pflanzenabdrücke der Kohlenge— 
birge. Man nahm ſie als bloſe Naturſpiele, unmittelbar aus Erde 
entſtanden durch einen eigenthümlichen die Formen der Pflanzen- und 
Thierwelt nachahmenden Bildungstrieb. Jahrhunderte lang zog ſich 
der Kampf der geſunderen Anſchauung einzelner Männer gegen jene 
mittelalterliche Deutung der Foſſilien fort und ſchloß erſt dicht an 
der Schwelle der Neuzeit. 

Nach tauſendjährigem Raſten brach endlich der Fortſchritt in der 
Erkenntniß der natürlichen Dinge ſich von Neuem Bahn, aber er ver— 
ließ jetzt die alte Wiege, den Orient und Griechenland, um in 
Mittel- und Nordeuropa zu neuem und energiſcherem Leben zu 
erwachen. Die Entdeckung der den Alten unbekannt gebliebenen Erd— 
theile und ihrer reichen, in Fülle, Pracht und ungewohnten Formen 
prangenden Pflanzen- und Thierwelt brachte eine mächtige Anregung, 
vor allem zwang ſie den Gelehrten jener Zeit vom ererbten Nach— 
beten der Bibel und des Ariſtoteles abzugehen und ſelbſt zu be— 
obachten, zu forſchen, zu beſchreiben und zu ordnen. 

Damit kamen dann allmählig auch wie ins geſammte Leben der 
germaniſchen und romaniſchen Völker, ſo auch in ihre Naturwiſſen— 


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ſchaft ganz neue und andre Anſchauungen und Methoden, die weiter 
fortwirkend und ſich einander ausgleichend wieder dahin führten, wo 
ſchon die großen Denker des alten Hellas begonnen hatten, nämlich 
zur freien und unbefangnen Erforſchung der Natur und der Wahr— 
heit um ihrer ſelbſt willen. 


Linné und ſeine Nachfolger. 


Was die alten Culturvölker darin geſchaffen und die Generation 
der neu belebten Wiſſenſchaften an eignen Beobachtungen hinzugefügt, 
wurde namentlich vom großen Schweden Linné zuerſt in ein ge— 
ordnetes Gebäude zuſammengefaßt. Seine Thätigkeit richtete ſich zu— 
nächſt auf das Ordnen und Beſchreiben der Pflanzen und Thiere, er 
war in dieſer Hinſicht der eigentliche Schöpfer einer logiſchen Natur— 
geſchichte. Aber dieſe Aufgabe nahm ihn ſo ſehr in Anſpruch, daß 
er in der Erforſchung des innern Bau's und der Lebenserſcheinungen 
minder thätig blieb. Er nahm ſich faſt nur der einen jener beiden 
Richtungen an, die bei Ariſtoteles noch verſchmolzen waren. 

Der große Einfluß, den Linné auf die Botanik und Zoologie 
ſeiner Zeit gewann und bis auf die heutigen Tage noch ausübt, be— 
gründet ſich vor allem in der eben ſo einfachen als vortheilhaften 
binären Namengebung, die, indem fie das beſondere unterſchied, zu— 
gleich das zunächſt ähnliche noch vereinigt erhält. Linné brachte 
mit dieſer Methode einen ſolchen Grad von Klarheit und Ueberſicht— 
lichkeit in die ſyſtematiſche Botanik und Zoologie, daß einerſeits ihr 
Fortſchritt mächtig dadurch gefördert wurde, andrerſeits auch alle Nach— 
folger bis auf den heutigen Tag ſich an ſie als weſentliche Bürg— 
ſchaft der Ordnung gebunden haben. 

Seit dem Wiedererwachen und der immer wachſenden Ausdeh— 
nung der Naturwiſſenſchaft von Linné's Zeiten an bis auf unſre 
Tage haben ſich in immer ſchärferem Gegenſatze zwei verſchiedene 
Methoden in der Auffaſſung der Naturgegenſtände überhaupt, der 
Pflanzen- und Thierwelt im beſonderen geltend gemacht. Sie haben 
in einzelnen hervorragenden Männern ihre vorzugsweiſen Vertreter 
und Verfechter gefunden, mehr oder minder gebundene Schulen haben 
ſich gewöhnlich im Anſchluß an die Coryphäen auf längere und kürzere 
Zeit hin gegenübergeftanden und nicht leicht hat ein nur einigermaßen 


12 


umfaſſender Forſcher dem Einfluß dieſer Schulen und der Partei- 
nahme ſich entziehen können. 

Die beiden Gegenſätze der Anſchauungsweiſe und Behandlung 
der Naturgegenſtände wurzeln, wie Göthe in einer ſeiner naturwiſſen— 
ſchaftlichen Abhandlungen hervorhebt, tief in der verſchiedenartigen 
Geiſtesanlage der Individuen. Sie ſtehen bald gleich entwickelt ein— 
ander im Kampfe gegenüber, bald herrſcht die eine oder die andere 
Decennien hindurch mehr oder minder unbeſtritten. 

Es gibt eine analytiſche Methode der Anſchauung, die vorzugs— 
weiſe auf der Thätigkeit des nüchternen Verſtandes beruht. Sie be— 
obachtet genau, merkt auf das beſondere und für ſich allein faßliche 
und hält das verſchiedene ſtreng auseinander. 

Die dieſer Methode nach natürlicher Geiſtesanlage oder Unter— 
richt huldigenden Männer des Wiſſens und Erkennens find wenig ge— 
neigt, das was dem Geiſte zwiſchen getrennten Erſcheinungen als ver— 
bindendes Mittelglied erſcheint, anzuerkennen, ſie ſuchen nicht nach 
dem geiſtigen Faden, der die trockne Materie zuſammenhält, ihre W 
erzeugniſſe bleiben Moſalk. 

Linné, Werner, Cuvier gehören weſentlich diefer Schule an. 

Eine andre Anſchauungsweiſe iſt die des Alles überſehenden 
Geiſtes, der nach der Verwandtſchaft der unſren Sinnen getrennt er— 
ſcheinenden Gegenſtände forſcht, Urſache und Wirkung ergründen und 
darnach den Zuſammenhang der getrennt auftretenden Dinge theoretiſch 
herſtellen will. Hier herrſcht die Syntheſe vor. 

Die Männer dieſer Anſchauung, die eigentlich die Thätigkeit des 
unterſcheidenden und ordnenden Geiſtes ſo weſentlich ergänzt, ſtehen 
trotz dem in Wirklichkeit oft den Vertretern der erſten Schule ſchroff 
gegenüber und zwar bleiben ſie im Kampfe mit dieſen nur zu leicht 
im Nachtheil. Denn es iſt ſchwer mit Argumenten, die man noch 
nicht in ſtrenger und faßlicher Weiſe beſitzt, einen Gegner zu bekämpfen, 
der nur mit exacten Dingen ſtreitet und jedes nicht exacte Argument 
bei Seite ſchiebt. 

Lamarck, Geoffroy-Saint-Hilaire, Oken und die 
deutſchen Naturphiloſophen, endlich Darwin gehören der Schule an, 
die nicht mit dem Aneinanderreihen der Thatſachen ſich befriedigt er— 
klärt, ſondern auch die noch nicht erfüllten Lücken im Geiſte ergänzt 
und ſo ein nach der Lehre von Urſache und Wirkung zum Abſchluſſe 
geführtes Gebäude aufzuführen beſtrebt iſt. 


13 


Auch Göthe gehörte nach ſeiner innerſten Anſchauung der philo— 
ſophiſchen Schule an und hat erfolgreich in ihrem Ringen mitgewirkt. 
Die neuere Zeit hat ſogar anerkannt, daß Göthe in dieſer Hinſicht 
dem Verſtändniß ſeiner Zeitgenoſſen weit vorausgeeilt war und na— 
mentlich Richtungen in der Verallgemeinerung von Einzelheiten des 
anatomiſchen Bau's der Pflanzen und Thiere anbahnte, die in einer 
ſpäteren Stufe der Wiſſenſchaft maßgebend wurden. 

Eine allgemeinere Bedeutung gewinnen jene beiden in der Natur— 
forſchung einander mehr oder minder ſchroff gegenüberſtehenden Schulen 
aber noch dadurch, daß mit der ſynthetiſchen oder analytiſchen Be— 
handlung der Forſchung gewöhnlich auch noch anderweitige Anſchau— 
ungen verknüpft ſind, die zwar nicht bei jedem einzelnen Forſcher zu— 
treffen, im Großen und Ganzen aber ſich entſchieden geltend machen. 
Die ſynthetiſche fällt nämlich in der Regel mit der philoſophiſchen, 
die analytiſche mit der theologiſchen Richtung zuſammen und dies gibt 
dem Kampfe der beiden großen Schulen eine weit über die Grenzen 
der Naturwiſſenſchaft hinausgehende Bedeutung. 

Der Schwerpunkt der Entſcheidung in dem großen Ringen über 
die Grundanſchauung der belebten Schöpfung liegt in der Feſtſtellung 
des Begriffs der Art oder Species. Je nachdem man die Art 
für veränderlich oder unveränderlich nimmt, müſſen die weiteren Fol— 
gerungen in der Geſchichte der organiſchen Schöpfung weit ausein— 
andergehen. 

Erſt Linné, der große Neubegründer der Botanik und Zoo— 
logie, unterſchied Art oder Species und Gattung oder Genus 
ſcharf und zwar faſt durch alle Klaſſen und Ordnungen der organiſchen 
Formen hindurch. Er vereinigte unter einer Art die Geſammtheit 
aller Individuen, welche eine bedeutende Summe von Aehnlichkeit mit 
einander gemein haben und dem entſprechend auch wenig oder gar 
nicht merklich von einander abweichen. 

Linné ſpricht ſich über die Entſtehung der Art dahin aus, es 
gebe ſo viel Arten als überhaupt verſchiedene Formen des Lebens von 
Anfang an erſchaffen wurden. (Species tot sunt, quot diversas for- 
mas ab initio produxit infinitum ens). 

Was die Charactere der Arten aber betrifft, ſo ſind ſie von 
Gott gemäß der Oeconomia naturalis oder natürlichen Haushaltung 
als ſolche und gleich allen übrigen natürlichen Dingen mit jenen 
Eigenthümlichkeiten erſchaffen worden, welche ſie zu ihren gemein— 


14 


ſamen Zwecken und mechjelfeitigen Verwendungen geeignet machen. 
Hier beruht alles auf Vorausbeſtimmung. 

Von dieſer Anſicht einer unmittelbaren Erſchaffung der Arten 
ging Linné nur bei den baſtardirten Formen ab. Er nahm näm⸗ 
lich an, daß die Vermehrung der Arten im Pflanzeureiche durch Kreu— 
zung in großer Ausdehnung ſtatt gefunden habe, und daß eine Menge 
jetziger wirklicher Arten auf ſolchem Wege entſtanden ſei. Dieſe Linns'⸗ 
ſche Annahme erſcheint aber nichts weniger als ſicher begründet. Viele 
ſpäteren Forſcher haben auf Grund ihrer Verſuche die Möglichkeit 
einer derartigen Entſtehung wirklicher und bleibender Arten beſtritten, 
einige Neuere find ihrerſeits in bejahendem Sinne wieder darauf zu= 
rück gekommen. Die ganze Angelegenheit aber ſcheint derzeit noch nicht 
vollftändig ausgetragen zu fein. 

In ſeiner Rede „de telluris habitabilis ineremento“ nimmt Linné 
an, daß wie Moſes berichtet hat, von jedem lebenden Weſen und 
vom Menſchen je ein Paar, ein Männlein und ein Weiblein, er⸗ 
ſchaffen wurden. Er hat dabei nur zu erinnern, daß es auch noch 
Weſen gebe, die nur ein einziges Geſchlecht beſitzen und Herma⸗ 
phroditen heißen, von dieſen, meint er, habe es ſchon genügt, wenn 
nur ein einziges Individuum ſei erſchaffen worden. Mit dem übrigen 
iſt er ſchon einverſtanden. 

Nach der Sündfluth mußte die Zerſtreuung der Weſen von einem 
Orte ausgehen, wo alle Pflanzen den ihnen zuſagenden Boden, alle 
Thiere ihr eigenthümliches Klima fanden. Dieſe Anforderungen treffen 
nur bei hohen Bergen warmer Länder zuſammen, deren Fuß ein warmes, 
deren Höhe ein kaltes Klima hat. 

Linns dachte ſich alſo als urſprüngliche Heimath der Pflanzen- 
und Thierwelt eine Gebirgsgegend des wärmeren Aſiens hoch genug 
anſteigend, um vom Fuß zum Gipfel alle klimatiſchen Stufen in ſich 
zu begreifen. Von dort aus ſollten ſich dann alle Pflanzen⸗ und 
Thierarten über die Erde hin verbreitet haben. Dieſen gemeinſamen 
Heerd der Schöpfung ſuchte Linné im Einklang mit der Moſaiſchen 
Urkunde an den Abhängen des Ararat in Armenien, an dem 
nach der „Sündfluth“ die Arche Noah's landete. 

Gegen eine ſolche Annahme ſprechen indeſſen ſo weſentliche 
Gründe, daß Linné 's bibelgemäße Hypotheſe von einem gemein— 
ſchaftlichen Mittelpunkt der geſammten lebenden Schöpfung bald ge— 
nug von den Naturforſchern wieder aufgegeben wurde. Der Ara rat, 


15 


etwas über 16000 Fuß Meereshöhe erreichend, beherbergt allerdings 
mehrere klimatiſche Zonen, aber nicht alle. Die Gegend an ſeinem 
Fuße iſt rauh und öde. Von einer tropiſchen Flora und Fauna iſt 
hier nichts zu finden, ſelbſt für viele europäiſche Arten iſt das Klima 
der Ararat⸗Gegend zu rauh, noch mehr gilt dies für Pflanzen 
und Thiere der Tropen. Eine Zerſtreuung der Pflanzen- und Thier⸗ 
welt von einem einzigen Mittelpunkte aus, wie Linné wollte, iſt 
aber auch noch aus andern Gründen ganz unannehmbar. Sowohl 
die Unmöglichkeit für zahlloſe Pflanzen- und Thierarten große Wan- 
derungen durch verſchiedene Klimaten zu machen, als auch die Tren— 
nung der Feſtländer durch gewaltige Meeresſtrecken ſtehen hier im 
Wege und nöthigen unaufhaltſam zu ganz andren Erklärungen der 
heutigen geographiſchen Verbreitung der Pflanzen- und Thierwelt. 


Lamarck und Geoffroy-Saint⸗ Hilaire. 


Lamarck, der berühmte Verfaſſer der „Histoire naturelle des 
Animaux sans vertcbres“, war durch das gleichzeitige Studium der 
lebenden wirbelloſen Thiere und der im Pariſer Tertiärbecken in ſo 
reichlicher Fülle und ausgezeichneter Erhaltung auftretenden foſſilen 
Conchylien auf die Verwandtſchaft älterer und neuerer Thierformen ge— 
führt worden und gelangte einerſeits auf dieſem Wege, andrerſeits auf 
rein zoologiſchem zur Annahme, daß die geſammte heutige Thierwelt 
nur als Folge jener früheren Lebeweſen beſtehe, deren foſſile Reſte 
wir in den verſchiedenen geologiſchen Ablagerungen finden. Er nahm 
eine Einheit des Organiſationsplans und der Abſtammung einerſeits 
für das Thierreich, andrerſeits für das Pflanzenreich an, beide aber 
betrachtete er als vom erſten Anfang an ſtreng geſchieden. 

Er legte dieſe Anſichten in ſeinem 1809 veröffentlichten Werke 
„Philosophie zoologique“ nieder, einer tiefdurchdachten ideenreichen 
Arbeit, die von Zeitgenoſſen und Nachwelt vielfach als unberechtigte 
Anhäufung unerweisbarer Hypotheſen verſchrieen worden iſt, in Wirk— 
lichkeit aber im prophetiſchen Schwunge des Gedankens weit der Mit— 
welt vorausgeeilt war. Es iſt dies überhaupt die erſte vollkommen 
durchgebildete und folgerichtige Theorie der Natur und Abſtammung 
der organiſchen Weſen. 1815 legte er im erſten Bande der „Ani- 
maux sans vertebres‘ ſeine Lehre in neuer Entwicklung dar. 

Lamarck geht in ſeiner Theorie namentlich von der in der heu— 


16 


tigen Schöpfung unverkennbar entwickelten Aufeinanderfolge der Thier- 
formen und deren von den Infuſorien an allmählig vor ſich gehenden 
Vervollkommnung und Annäherung an die Säugethiere und den Men- 
ſchen aus. Er geht dann zurück auf die älteſte Epoche der Schöpfung, 
er zeigt ihren Beginn in den niederſten einfachſten Lebeweſen und ver- 
folgt ihre ſtufenweiſe Entwicklung zu höher organiſirten Formen. Er 
zeigt, wie nach natürlichen Geſetzen aus jenen einfachſten, niederſten 
organiſchen Formen im Laufe unermeßlicher Zeiträume und unter dem 
wechſelnden Einfluſſe verſchiedener äußerer Lebensverhältniſſe hochorga⸗ 
niſirte organiſche Weſen entſtehen konnten. Die Natur kann in allen 
ihren Werken nur ſtufenweiſe vorgehen, ſie konnte die verſchiedenen 
Thierarten nicht alle auf einmal erſchaffen. Zuerſt entſtanden die ein- 
fachſten aus einer bloßen belebten Schleimzelle beſtehenden Weſen, 
ſpäter erſchienen zuſammengeſetztere, die Organe vervielfältigten ſich, 
ihre Energie erhöhte ſich und ſo ſchritt allmählig die Organiſation 
von Stufe zu Stufe bis zum höchſtorganiſirten Weſen vor. 

Eine urſprüngliche Entſtehung oder generatio spontanea fand 
von jeher nur für eine nicht näher feſtzuſtellende, aber wahrſcheinlich 
ſehr geringe Zahl von Pflanzen- und Thierformen ſtatt. Urzeugung 
nahm Lamarck auch für die niederſten einfachſten Organismen in 
Gewäſſern und Sümpfen der heutigen Welt an, beſtritt ihre Mög— 
lichkeit aber für alle höher organiſirten Weſen ſowohl in Bezug auf 
ehemalige oder noch fortdauernde Entſtehung ſolcher. Die Nachkom— 
menſchaft der Urpflanzen und Urthiere verbreitete ſich dann über die 
Erdoberfläche hin, änderte im Lauf der Zeit nach den Einflüſſen des 
Aufenthaltsortes und der Lebensweiſe allmählig ab, vervielfältigte ſich 
in der Typenzahl und erreichte in einem Theile derſelben eine immer 
höhere Organiſationsſtufe. So dachte ſich Lamarck die ununter— 
brochene Fortpflanzung im Thierreich vom infuſorienähnlichen Urthier 
bis zum Menſchen ſelbſt herauf. 

Varietäten, Arten, Gattungen und höhere ſyſtematiſche Abthei— 
lungen ſind darnach alſo keine unbedingt abgegrenzten und unmittelbar 
als ſolche entſtandenen Ausdrücke der organiſchen Form, ſondern ſie 
ſind erſt im Laufe der Zeit geworden was ſie ſind, ſie beſitzen nur 
eine beſchränkte Dauer und ſind in Zeit und Raum, je nach dem 
Wechſel der äußeren Einflüſſe, der Umgeſtaltung fähig. 

Die Umwandlung in der Geſtalt der Thiere erklärte Lamarck 
aus Uebung und Gewohnheit. Das Bedürfniß des Thiers führt zu 


17 


Beftrebungen und Bewegungen, durch äußere Einflüffe ändern aber 
die Bedürfniſſe ſich ab und dies führt zu neuen Beſtrebungen und 
Bewegungen. Alle Körpertheile entwickeln ſich nach Verhältniß ihres 
Gebrauches, Veränderungen der auf das Thier einwirkenden äußeren 
Einflüſſe verändern daher allmählich die Geſtalt von deſſen Theilen, 
ſie heben die Energie gewiſſer Organe und entwickeln Organe an 
Körpertheilen, wo bei den Vorfahren noch keine vorhanden waren. 
Solche Veränderungen und Vervollkommnungen der Thierform ſind 
erblicher Natur, ſie verpflanzen ſich von einem Thier auf die Nach— 
kommen, welche alſo ihre höhere Rangesſtufe mit der Geburt erhalten 
und ihrerſeits wieder erhöhen können. 

So konnte nach Lamarck z. B. ein Mollusk, der fortdauernd 
ſtrebte vor ihm liegende Gegenſtände zu befühlen, durch dieſes Be— 
ſtreben die Thätigkeit ſeines Nerven- und Gefäßſyſtems vorzugsweiſe 
dem vorderen Körpertheile zuwenden und dieſer verlängerte ſich dann 
in Fühler. 

Fröſche erhielten ihre Schwimmfüße durch das Bedürfniß und 
das Beſtreben zu ſchwimmen. 

Die Giraffe gelangte zu ihrem langen Halſe durch die Noth— 
wendigkeit ihn nach dem Laube hoher Bäume auszurecken, das ſie 
abweidet. 

Durch veränderte Lebensweiſe, namentlich den aufrechten Gang, 
der zur Abplattung der Fußſohle führte, wurde endlich auch der Affe 
zum Menſchen. 

Alle dieſe Vorgänge geſchahen nach Lamarck nur allmählich 
und ſtufenweiſe. Ueberhaupt, ſagt er, gehen alle Operationen der 
Natur mit einer im Verhältniß zu unſrer individuellen Dauer ſehr 
großen Langſamkeit vor ſich und verſchwinden daher für unſre Wahr— 
nehmung. Dieſe Unmöglichkeit mit unſrer Beobachtung einen beträcht— 
lichen Zeitraum zu umfaſſen iſt es denn, welche unſeren Sinnen einen 
wirklichen Stillſtand der Erſcheinungen vorſpiegelt und zur falſchen 
Anſicht führt, als ſeien alle Lebeweſen ſo alt wie die Natur ſelbſt 
und von ganz unveränderlicher Verfaſſung. 

Lamarck's Annahme einer tiefgehenden Aenderung der Körper— 
geſtalt und namentlich einer Entſtehung neuer Organe durch den 
Einfluß von Bedürfniß, Beſtrebung, Gebrauch und Gewohnheit 
war nicht geeignet ſeiner Anſchauungsweiſe allgemeinen Eingang zu 
verſchaffen. 


Rolle, Darwin's Lehre. 2 


18 


Daß aus einem Infuſorium im Verlaufe der Zeit und unter 
dem Einfluſſe der äußern Bedingungen ein Fiſch, Reptil, Vogel und 
Säugethier werden könne, war der exacten Forſchung allzuſehr vor— 
gegriffen, um nicht die meiſten Stimmen der Zeitgenoſſen gegen ſich 
zu haben. 

In der That war die Darlegung des Weges, auf dem nach 
Lamarck die Umgeſtaltung vor ſich gegangen ſein ſollte, zu einem 
gewiſſen Grade verfehlt. Lamarck ſchrieb dieſe faſt einzig und allein 
auf Rechnung der Thätigkeit und Angewöhnung des Thiers an die 
äußeren Umſtände, es iſt außer Zweifel, daß dieſen ein Theil der Ver— 
änderungen, welche die organiſche Welt betroffen haben, zuzuſchreiben 
iſt, aber in Wirklichkeit iſt der Einfluß der äußeren Umſtände ein 
weit mächtigerer. Das organiſche Weſen wird von den äußeren Mo- 
menten weit häufiger vernichtet oder abgeändert, als es ſich ihnen 
durch eigne Thätigkeit anbequemen kann. Lamarck nahm das Thier 
in Bezug auf die phyſiſchen Einflüſſe viel zu ſehr als ſelbſtthätig an, 
während es dieſen gegenüber eigentlich vorwiegend leidend iſt. 

Die Lamarck' ſche Theorie mußte daher im Laufe der beſſeren 
Erkenntniß eine Umgeſtaltung erfahren. So wie er ſie ſelbſt gab, 
hat ſie wohl kein andrer Forſcher angenommen. Neu aufgefriſcht 
und mit andern Rechnungselementen ausgeſtattet aber haben fie na- 
mentlich Geoffroy und in neueſter Zeit Charles Darwin. Ein 
Anderes iſt die Aufſtellung einer Anſicht, ein Anderes die Beweisfüh— 
rung für ſie. 

Geoffroy-Saint-Hilaire theilte im Weſentlichen die An- 
ſchauungsweiſe von Lamarck, auch er nahm eine weit gehende Ver— 
änderlichkeit der Art und der übrigen organiſchen Formen und eine 
unter ſtufenweiſer Veränderung vor ſich gegangene Abſtammung der 
heutigen Schöpfung von wenigen Urorganismen anderer und zwar ſehr 
einfacher Organiſation an. Aber die Urſachen der Veränderung fand 
er in ganz anderen Einflüßen als Lamarck. 

Nach Geoffroy hängt die Veränderung der organiſchen Welt 
im Laufe der geologiſchen Epochen vorzugsweiſe von Veränderungen 
im qualitativen und quantitativen Zuſtand unſrer Atmosphäre ab. 
Kein Organismus kann der Athmung entbehren und Veränderungen 
in der Natur des eingeathmeten Mittels müſſen daher von mächtigem 
Einfluß auf ſeine Geſtaltung einwirken. 

So nahm Geoffroy an, daß von einer bloſen Aenderung im 


19 


Reſpirationsmedium aus einem Reptil ein Vogel mit all feinen körper— 
lichen Eigenthümlichkeiten werden konnte. Die nächſte Folge war eine 
Veränderung im Lungenſack des Reptils, es erfolgte eine Steigerung 
des Athmungsvorgangs, eine Veränderung und höhere Erwärmung 
des Bluts, aus den Hautwarzen entwickelten ſich Federn u. ſ. w. 
So entſtand durch bloſe Veränderung des atmosphäriſchen Mittels 
aus einem Reptil der erſte Typus eines Vogels. 

Geoffroy's Lehre iſt jedenfalls nicht ganz zu verwerfen, die 
Geologie hat namentlich dahin geführt anzunehmen, daß z. B. der 
Kohlenſäure-Gehalt der Luft in den älteren Epochen der Ausbildung 
der Erdrinde größer als der heutige war und die Paläontologie zeigt, 
daß Vertreter des Land- und Luftlebens ſpäter als die Meeresbe— 
wohner auftreten und ſpäter als dieſe an Häufigkeit und Manigfaltig— 
keit gewinnen. Aber mit dieſem einen Grundſatz ließ das Ganze 
der Erſcheinungen noch nicht ſich erklären. 


O ken. 


In Deutſchland waren Oken und die übrigen Naturphiloſophen 
bemüht, auf ähnlichen Wegen wie in Frankreich Lamarck und Geof— 
froy-Saint-Hilaire, nach den verbindenden Fäden der einzelnen 
todten Thatſachen zu ſuchen und an die Stelle des bloſen Aneinander— 
reihens ſelbſtändiger Einzelheiten ein dem Streben des Geiſtes ange— 
meſſenes idealiſtiſches Gebäude zu ſetzen. Aus Mangel an hinreichendem 
poſitivem Material und aus einer leicht begreiflichen Geringſchätzung 
gegen einzeln ſtehende nicht in ihren Bauplan paſſende Thatſachen 
waren indeſſen unſere deutſchen Idealiſten oft genug genöthigt, aus 
der Tiefe ihres ahnenden Gemüthes Grundſätze zu entwickeln und 
Färbungen ſich hervor zu zaubern, die ſie in ihre Naturſyſteme trugen, 
ohne zu ahnen wie weit ſie damit von der poſitiven Wahrheit ſich 
entfernten. So konnte ihnen denn mit Recht auch Cuvier vor— 
halten, daß ſie mit Metaphern ſtatt mit Beweisgründen kämpften. 

O ken, der in feinem Lehrbuch der Naturphiloſophie (1809 — 1811) 
und in einer Reihe ſpäterer Werke dieſe deutſch-idealiſtiſche Richtung 
vorzugsweiſe vertrat und ausbildete, hat zwar viele klare und tiefe 
Gedanken ausgeſprochen, allein ſie liegen gewöhnlich verborgen unter 
einer Decke dunkler Bilder und myſtiſcher Gleichniſſe. Oken erinnert 
in ſeiner Behandlung der Naturwiſſenſchaft oft an die Prieſter des 

2 * 


20 

delphiſchen Apoll und an die Alchymiſten des Mittelalters, deren 
Hauptſtärke darin beſtand, das Klare in unverſtändliche Myſticismen 
gehüllt mitzutheilen. Nicht ſelten tauchen bei dieſer ſeltſamen Dar— 
ſtellungsweiſe des deutſchen Naturphiloſophen Bilder auf, die aller 
unbefangenen Naturbetrachtung geradezu widerſprechen. 

Nimmt man ſich die Mühe, Oken's eigentliche Gedanken aus 
dem Wuſte geheimnißvoller Bilder und Zuthaten, unter denen er ſie 
verſteckte, herauszuſchälen, ſo trifft man zunächſt über Entſtehung be— 
lebter Weſen auf dem Wege der Urzeugung eine Entwicklung von Ge— 
danken, die noch heute dem Weſentlichen nach Beiſtimmung finden kann. 

Alles Organiſche iſt aus Schleim hervorgegangen und iſt über— 
haupt nichts anderes als belebter verſchiedenartig geſtalteter Schleim. 
Unter Schleim verſteht Oken eine jede weiche halbflüßige (ſogenannte 
organiſche) Subſtanz aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff, und Sauerſtoff be— 
ſtehend. Die erſten Organismen entſtanden aus dem Urſchleim. Dieſer 
bildete ſich im Verlaufe der Entwicklung des Planeten, er war im 

deere von Anfang an weſentlich vorhanden und aus dem Meere 
entſtand alles Pflanzen- und Thierleben. 

Die erſten Organismen waren Bläschen von Urſchleim, aus einem 
feſten Umfang und aus einer flüſſigen Mitte beſtehend. Ihre Be— 
lebung beruht auf dem Vorgang der Athmung. Ohne Athmung iſt 
kein Organismus denkbar, erſt die Athmung macht den Nahrungsſaft 
für die Ernährung brauchbar. Jene älteſten Organismen waren In- 
fuſorien, von Oken auch Mile genannt. Die Infuſorien ſind nichts 
andres als einfache ſchleimige Urbläschen. Sie entſtanden, nachdem 
der Erdkörper als Ganzes ſeine Metamorphoſe beendet hatte, unmittel— 
bar aus unorganiſchem Stoffe und entſtehen noch jetzt durch Fäulniß 
der verſchiedenen organiſchen Materien. 

Weniger naturgemäß iſt Okens Gedankengang in ſeiner Dar— 
ſtellung der Entſtehungsweiſe höherer Organismen. f 

Während nämlich die Infuſorien als niederſte Formen unmittel— 
bar aus unorganiſchem Stoffe entſtehen konnten, entſtehen die höheren 
Organismen nur aus ſchon gebildeter organiſcher Materie. Alle höheren 
Organismen ſind nicht erſchaffen, ſondern entwickelt, auch der Menſch 
iſt gleich ihnen nicht erſchaffen, ſondern entwickelt. 

Alle höheren Organismen entſtehen durch Syntheſe von In— 
fuſorien. Die ganze organiſche Welt hat nämlich zu ihrer Grundlage 
eine Unendlichkeit von Bläschen. Dieſe Bläschen aber ſind Infuſorien. 


21 


Alſo muß die ganze organiſche Welt auch aus Jufuſorien ſich ent— 
wickelt haben. Pflanzen und Thiere beſtehen ferner nicht nur aus 
zuſammengetretenen Infuſorien, ſondern ſie löſen ſich auch nach ihrem 
Tode durch Fäulniß wieder in ſolche auf. Verfaulung iſt nichts 
anderes als ein Zerfallen höherer Organismen in Infuſorien, eine Zu— 
rückführung des höheren Lebens auf das Urleben. 

Nach Oken iſt auch der Menſch nichts anderes als eine innige 
Verbindung und Verſchmelzung von Infuſorien und durch eine Syntheſi— 
rung ſolcher urſprünglich entſtanden. 

Indeſſen hat in Wirklichkeit Niemand eine derartige Vereinigung 
von Infuſorien zur Erzeugung höherer Weſen in der Natur beobach— 
tet, überhaupt auch Niemand den Verſuch gemacht, die Aphorismen, 
welche Oken in feiner gewöhnlichen orakelartigen Sprache aufſtellte, 
näher zu bewahrheiten. In Wirklichkeit beruhte Okens Anſicht auf 
einer Verwechslung der die Grundlage des Pflanzen- und Thier— 
körpers bildenden Zelle mit der als Infuſorium frei und als wahres 
Individuum lebenden Zelle. Der eigentliche Sachverhalt iſt, daß alle 
höheren Organismen aus einer Syntheſe von Zellen entſtanden, die 
niederſten Organismen aber, namentlich ein Theil der Infuſorien, ein— 
fache freie Zellen find, welches letztere übrigens auch ſchon von neueren 
Mikroskopikern beſtritten wird. 


Neptuniſten und Vulkaniſten. 


Nur in mittelbarem Bezug zur Entwicklung der Anſichten über 
Entſtehung der lebenden Schöpfung ſteht der langjährige Kampf der 
Neptuniſten und Vulkaniſten über die Art der erſten Entſtehung 
und der nachfolgenden Ausbildung unſeres Erdkörpers. Schon die 
alten Griechen ſchrieben theils dem Waſſer theils dem Feuer den 
Hauptantheil bei letzterem Vorgange zu. Es ſtanden ſich alſo da— 
mals in ähnlicher Weiſe die Anſichten ſchon gegenüber, wie ſpäter 
als die beiden geologiſchen Schulen der Neptuniſten und Vulkani— 
ſten, die namentlich in den erſten Jahrzehenden unſeres Jahrhunderts 
einander auf's lebhafteſte befehdeten, die Grundlagen der geologiſchen 
Forſchung erörterten und allmählig feſtſtellten. 

Die Neptuniſten ſchrieben vorwiegend oder ausſchließlich dem 
Waſſer die urſprüngliche Bildung der Erdmaſſe zu. Dieſe Anſicht 
ſtammt aus den älteſten Zeiten, fie herrſchte bei Aegyptern und 


22 


Griechen. Moſes und die Hebräer waren weſentlich Neptuni- 
ſten. Die Griechen betrachteten allgemein den Ocean als den Schooß 
aller irdiſchen Erzeugniſſe. Doch gab es auch unter ihnen ſchon Phi— 
loſophen, welche den Aetna und die übrigen vulkaniſchen Erſchei— 
nungen der Mittelmeerländer ſtudirten und daraufhin dem Feuer den 
Hauptantheil an der Entſtehung des Erdkörpers zuerfannten. Die 
Neptuniſten der neueren Zeit, an ihrer Spitze der um die poſitive 
Begründung der Geologie — oder wie er ſelbſt fie nannte der Geog— 
noſie — hochverdiente deutſche Bergmann Abraham Gottlob 
Werner, lehrten, das Urgebirge, das den Kern unſerer meiſten Ge— 
birgsmaſſen bildet, ſei aus wäſſerigem Lößungsmittel in kryſtalliniſcher 
Form niedergeſchlagen worden. Sie leiteten auch die verſchiedenen 
Arten von Porphyr und Baſalt von derartigen Niederſchlägen ab und 
erkannten den Vulkanen nur einen untergeordneten ſehr örtlichen Ein— 
fluß auf die Veränderungen der Erdrinde zu. 

Werner gewann durch die klare und maßvolle Entwicklung 
ſeines Syſtems und namentlich auf Grund ſeiner Herrſchaft über den 
damaligen exacten Theil der Wiſſenſchaft faſt alle Zeitgenoſſen für 
ſeine Anſichten. Doch verließen noch zu ſeinen Lebzeiten ein Theil 
ſeiner bedeutendſten Schüler das neptuniſtiſche Feldlager und wandten 
ſich dem Vulkanismus und den Lehren von Werner's wiſſenſchaft⸗ 
lichen Gegnern Hutton und Voigt zu. Der Hauptkampf betraf da- 
bei die wäſſerige oder feurige Entſtehung der Baſalte. Alexander 
von Humboldt und Leopold von Buch gaben in der Folge dem 
Streite den Ausſchlag und zwar zu Gunſten von Hutton und Voigt. 

Humboldt's von ſo vielſeitigem Erfolg gekrönte Forſchungen 
in Südamerika lenkten namentlich die Blicke der Geologen auf die 
gewaltigen Vulkanenreihen der Cordilleren und zeigten wie unzureichend 
Werner's Deutung des Vulkanismus geweſen war. 

Heutzutage, wo die geologiſchen Studien über ſo viele Theile der 
Erde ſich verbreitet haben und einzelne volkreiche Länder ſchon ſo 
ſorgfältig durchforſcht find, wo Chemie und Phyſik fo fruchtbringend 
auf geologiſchem Gebiete gewirkt haben, halten ſich in der Wiſſenſchaft 
Neptunismus und Vulkanismus die Wage. 

Feuer und Waſſer haben gleich wichtigen Antheil an der Bil— 
dung der äußeren Erdrinde. Einerſeits bedingte der feurigflüſſige Weg 
ausſchließlich die erſten Stufen der Ausbildung und gab ſeither von 
der Tiefe des Erdinnern aus theils ununterbrochen, theils periodiſch 


23 


wechſelnd in Hebungen und Senkungen, Vulkanen und warmen Quellen 
ſich kund, anderſeits war der Einfluß des Waſſers und der Atmos— 
phäre ſeither fortwährend thätig, die Erzeugniſſe des Vulkanismus 
entweder zu zerſtören und neu umzubilden oder wenigſtens langſam um— 
zuändern. Laven⸗ und Aſchenauswürfe der Vulkane find vulkaniſche Ge— 
bilde. Abſätze von Schlamm, Sand und Geröllen mit Einſchlüſſen von 
Pflanzen- und Thierreſten find Erzeugniſſe des neptuniſchen Elements. 

Aber der Einfluß des Waſſers, der Atmosphärilien und der 
manigfachſten anderen chemiſchen und phyſicaliſchen Agentien wirkt auf 
beiderlei Erzeugniſſe wieder ein, verändert ihre chemiſche Zuſammen— 
ſetzung und die phyſicaliſche Anordnung ihrer Theile. Je älter ein 
Geſtein, um ſo mehr pflegt es umgewandelt zu ſein und um ſo ſchwie— 
riger wird es, die Art ſeiner erſten Entſtehung jetzt noch zu ermitteln. 

Damit begründet ſich gewiſſermaßen eine dritte Schule, die des 
Metamorphis mus oder der Geſteinsumwandlungen. Bous kann 
als ihr erſter Begründer gelten, Lyell hat ſie ſpäter folgerichtig 
durchgeführt und zur allgemeinſten Anerkennung gebracht. 

Die ausgezeichnetſten Erzeugniſſe des Metamorphismus ſind die 
ſogenannten kryſtalliniſchen Schiefer, wie Gneis, Glimmerſchiefer u. ſ. w., 
welche die Kryſtallinität und den Mangel organiſcher Einſchlüſſe der 
vulkaniſchen mit der regelmäßigen Lagerungsweiſe der neptuniſchen 
Gebilde theilen. Sie gelten jetzt allgemein als ehemalige von Ge— 
wäſſern ſchichtenweiſe abgelagerte neptuniſche Sedimente, deren urſprüng— 
liche Natur aber durch den anhaltenden Einfluß der natürlichen Agen— 
tien beträchtliche Umgeſtaltungen erlitten hat. 


Gi et. 


Georg Cuvier, der große Reformator und Neubegründer 
der vergleichenden Anatomie, deſſen umfaſſendes Werk über die ur— 
weltlichen Säugethiere ſo mächtig zur Erweiterung der Paläontologie 
beitrug, ſtand in ſeinen Grundanſichten über das gegenſeitige Verhal— 
ten der Formen des organiſchen Lebens zu einander ſeinen Collegen 
Lamarck und Geoffroy ſcharf gegenüber. Wie ſeine erfolgreiche 
Thätigkeit im Beſtimmen und Ordnen nur mit der eines Lin ns zu 
vergleichen iſt, ſo ſtand er auch in der allgemeinen Naturanſchauung 
ihm zunächſt. Cuvier wie Linné waren von Natur aus darauf 
angewieſen, ſtreng an der exacten Thatſache feſtzuhalten und auf ſie 


24 


ihr wiſſenſchaftliches Gebäude zu begründen und hierin lag ihre Stärke 
wie ihre Schwäche. 

Cuvier's Anſichten über die Entſtehungsweiſe der Schöpfung 
gewannen eine um ſo ausgedehntere Geltung, als er ſie dem herr— 
ſchenden geologiſchen Syſteme der damaligen Zeit angepaßt hatte. 
Wenn man von Lamarck und Geoffroy ſagte, ſie eilten mit ihren 
Hypotheſen ihrer Zeit voraus, fo muß man von Cuvier ſagen, 
ſeine Lehre entſprach genau dem Stande und dem Bedürfniſſe ſeiner 
Zeitgenoſſen. Sein wiſſenſchaftliches Gebäude fand bei ihnen den all— 
gemeinſten Eingang und brach erſt lange nach ſeinem Tode, als der 
Stand der Wiſſenſchaft ein anderer geworden, dann aber auch unauf— 
haltbar zuſammen. 

Cuvier ) nahm eine Anzahl großartiger Störungen und Um— 
wälzungen der Erdrinde an, mit denen Einbrüche und nachherige 
Rückzüge des Meeres verknüpft waren. Sie gingen theilweiſe lang— 
ſam, ſtufenweiſe und in örtlicher Ausdehnung vor ſich, meiſtens aber 
traten ſie plötzlich ein. 

Eine plötzlich eingetretene Cataſtrophe erkannte er 12 in 
jenem letzten Einbruch und Wiederzurücktreten des Meeres, welches 
„unſre heutigen Continente oder wenigſtens einen großen Theil ihrer 
Oberfläche erſt überſchwemmte, dann trocken zurückließ.“ Dieſer letzte 
Meereseinbruch lagerte nach ihm in dem hohen Norden Sibiriens 
jene Leichen großer Vierfüßer ab, die von Eis eingehüllt ſich faſt 
unverſehrt auf unſre Tage mit Haut, Haaren und Fleiſch erhalten 
haben. Es gab nach ihm einen und denſelben Augenblick, der jenen 
urweltlichen Elephanten und Nashörnern Sibiriens den Tod gab und 
das Land, das ſie unter milderem Klima bewohnt hatten, mit Eis 
bedeckte. Dies Ereigniß mußte plötzlich und ohne alle Zwiſchenſtufen 
eingetreten ſein. 

Indem Cuvier eine Reihenfolge großartiger Erdrevolutionen 
annahm, beſtritt er die Möglichkeit durch die gegenwärtig auf der 
Oberfläche unſeres Planeten wirkſamen Kräfte die Erſcheinungen der 
Geologie älterer Epochen erklären zu können. Er ſagte „der Gang 
der Natur iſt verändert, der Faden der Wirkſamkeiten zerriſſen.“ 
Keines der Agentien, deren ſich die Natur heute bedient — weder der 


) Cuvier's Umwälzungen der Erdrinde. Deutſch von Noeggerath. 
Bonn I. 1880 p. 7. p. 12. p. 25 u. ſ. w. 


5 


D 


Einfluß von Regen, Froſt, Thauwetter, fließenden Gewäſſern und 
Meeresbrandung, noch die Thätigkeit der Vulkane, welche die feſten 
Schichten des Bodens durchbrochen und hier ihre Auswürfe aufhäu— 
fen — würde zureichen, Wirkungen, wie die, welche die Ablagerungen 
der verſchiedenen geologiſchen Epochen zeigen, jetzt noch hervorzubringen. 

Mit jenen großartigen Umwälzungen, welche die Erdrinde um— 
geſtalteten, hingen nun nach Cuvier auch die Veränderungen zuſam— 
men, welche im Laufe der geologiſchen Epochen die Thierwelt betrafen. 

Die Wirkung der Ereigniſſe war bis zu einem gewiſſen Grade 
verſchieden für die Land- und für die Meeresbevölkerung. 

Die Landbewohner und namentlich die Säugethiere wurden durch 
die Einbrüche des Meeres über das Feſtland, das ſie bewohnten, 
vernichtet. Die Meeresbewohner dagegen und namentlich die Mollus— 
ken erlagen nach ihm Aenderungen, welche in Folge der großen Ka— 
taſtrophen „in der Natur der Flüßigkeit und der darin aufgelöſten 
Stoffe“ vor ſich gingen. 

Cuvier ſcheint ſich der Ungeheuerlichkeit einer ſolchen Theorie, 
die vom gewöhnlichen Laufe der Natur ganz abſieht und zu ihrer 
Durchführung Agentien, von deren Art wir uns keine nähere Rechen— 
ſchaft geben können, in Anſpruch nehmen muß, bewußt geweſen zu ſein. 
Er hat ſeiner Darlegung nebenbei Zugeſtändniſſe beigefügt, welche 
folgerichtig zu ganz anderen Ergebniſſen führen. 

Er geſteht nämlich fürs erſte in Bezug auf die Meeresbevölke— 
rung zu, daß der Einfluß der Kataſtrophen kein allgemeiner und voll— 
ſtändiger war, namentlich daß an einigen ruhigen Orten des Meeres 
die Arten ungeſtört ſich erhalten und von da aus ſpäter von Neuem 
ſich verbreiten konnten. Er gibt zu, daß hie und da gewiſſe Arten 
in (chronologiſch) kurzen Entfernungen wiederkehren, daß namentlich 
auch in den jüngern lockeren Ablagerungen die Conchylien der Gat— 
tung nach mit den Bewohnern unſerer heutigen Meere übereinkommen, 
ja ſogar in den jüngſten vorweltlichen Ablagerungen einige Arten auf— 
treten, welche auch das geübteſte Auge nicht von den an den benach— 
barten Meeresküſten jetzt noch fortlebenden unterſcheiden kann. Es 
iſt das aber ein Zugeſtändniß, welches, ſobald ein noch größeres Ge— 
wicht in die Wagſchale fällt, die weſentlichen Grundlagen der Cu— 
vier'ſchen Theorie ganz aufhebt. 

Noch klarer ſpricht ſich Cuvier gegen den allgemeinen und voll— 
ſtändigen Untergang der Landbevölkerungen aus. Einbrüche des Meeres 


26 


in Folge großartiger Störungen des Gleichgewichts der Erde ver- 
nichteten die landbewohnenden Säugethiere und die übrige Landbe— 
völkerung, aber Cuvier war ſo weit davon entfernt, eine über den 
ganzen Erdball hingehende ausnahmsloſe Vernichtung anzunehmen, 
daß er ſogar die Wiederbevölkerung eines auf ſolche Weiſe verheerten 
Feſtlandes durch die Arten eines andern nicht von Störungen betrof— 
fenen Gebiets in Rechnung zog. 

Er hat ſich in dieſer Hinſicht ganz beſtimmt für die Möglichkeit 
einer verbindenden Brücke, die durch geologiſche Veränderungen zwi— 
ſchen zwei vordem getrennten Feſtländern entſteht, ausgeſprochen.!) 
Er ſetzt den Fall, daß ein Feſtland durch den Einbruch des Meeres 
überfluthet, ſeine Landbevölkerung vernichtet und ſein Boden mit 
einer Ablagerung von Sand und Felstrümmern überdeckt wurde. Die 
nämliche Umwälzung legte auch eine bis dahin beſtandene Meeresenge 
trocken und ſchuf ſo eine verbindende Brücke zwiſchen dem ſo eben 
erſt verheerten Lande und einem andern von der Umwälzung unbe⸗— 
rührt gebliebenen. Ueber dieſe Brücke konnte dann die Landbevöl— 
kerung des ungeſtört gebliebenen Gebietes in das Bereich des über— 
flutheten und dann wieder trocken gelegten Landes ihren Einzug halten 
und hier über dem Grabe einer älteren erloſchenen, von ihr ab— 
weichenden Urbevölkerung eine neue Heimath finden. 

Cuvier ſpricht ſich dahin aus, daß derartige Vernichtungen 
von Landfaunen und nachherige Einwanderungen anderer wirklich in 
Europa, Aſien und Amerika ſtattfanden. Er ſtellt ſogar die Ver— 
muthung auf, man werde vielleicht einſt finden, daß überhaupt alle 
Feſtländer ſchon ähnliche wechſelſeitige Austauſche ihrer organiſchen 
Bevölkerungen erfahren haben. 

Cuvier hat dies Thema nicht weiter verfolgt, er hätte dann 
auch die Anſchauungen, die den eigentlichen Grund ſeiner Theorie 
bildeten, aufgeben müſſen. Es iſt aber in hohem Grade merkwürdig, 
ihn damit ſchon auf einem Wege — wenn auch nur in Form nach— 
träglicher Zugeſtändniſſe — zu ſehen, der ſeither ein ſo allgemeines 
und erfolgreiches Mittel zur Erklärung der Thier- und pflanzen⸗ 
geographiſchen Erſcheinungen geworden iſt. 

Cuvier's Anſichten über Art und Varietät ſchloſſen ſich an 
die Linné's an. Er nahm die Art als einen den weſentlichen 


) Cuvier. Umwälzungen I. 1830. p. 117. 


27 


Characteren nach unveränderlich feſtſtehenden Lebensausdruck, er ge— 
ſtand den Varietäten einer und derſelben Art nur einen geringen und 
beſtimmten Spielraum zu und beſtritt die Annahme, als könne aus 
einer Varietät eine eigene Art werden. 

Er machte gegen die Lehren Lamarck's und Geoffroy's, 
als könne die Veränderlichkeit der thieriſchen Form über den engbe— 
grenzten Spielraum der Varietät hinausgehen und ſo eine Art der 
Stamm einer oder mehrerer anderer werden, namentlich geltend, daß 
wenn im Laufe der geologiſchen Epochen die Arten ſich nach und 
nach geändert hätten, man Spuren von derartigen ſtufenweiſen Ver— 
wandlungen habe foſſil finden müſſen. Er bemerkt, daß man z. B. 
zwiſchen den Paläothieren, die in den Ablagerungen des Pariſer 
Beckens und den dieſen gleichzeitigen Gebilden auftreten, und den 
ihnen zunächſt verwandten heutigen Thierarten einige Mittelformen 
entdecken müßte, daß davon ſich aber noch kein Beiſpiel gezeigt habe. 
Er behauptet vielmehr, daß die Arten der früheren Epochen der 
Schöpfungsgeſchichte eben ſo beſtändig waren, als es die unſrigen 
ſeien, und daß ſie durch Umwälzungen der Erdrinde zum Erlöſchen 
gebracht wurden, nicht aber in einer veränderten Nachkommenſchaft 
noch fortleben. 

Bei dem tiefen Gegenſatze der Methode und Anſchauungsweiſe 
zwiſchen Cuvier einerſeits, Lamarck und Geoffroy andrerſeits, 
konnte es ſich nicht fehlen, daß es eines Tags zu einem offenen Kampfe 
der Coryphäen kam, in dem die Wucht und Schärfe der Argumente 
zur Probe gebracht wurde. Es war in der Sitzung der franzöſiſchen 
Akademie der Wiſſenſchaften vom 22. Februar 1830, wo zwiſchen 
Cuvier und Geoffroy-Sainte-Hilaire ein lebhafter Kampf 
ausbrach, der die Berechtigung der beiden Grundanſichten, welche da— 
mals die Forſcher in zwei große Feldlager theilten, wenn auch nicht 
für immer, doch wenigſtens für die nächſten Jahresfolgen entſcheiden 
ſollte. 

Cuvier ſtrtt für die Selbſtändigkeit und Unwandelbarkeit der 
Art und in weiterer Folge für die alleinige Berechtigung des auf 
exacte Merkmale gebauten Syſtems, Geoffroy dagegen verfocht die 
Berechtigung des Syſtems der Analogien und die Einheit der orga— 
niſchen Bildung im Thierreiche, er lehrte die Veränderlichkeit und die 
gemeinſame Abſtammung der lebenden Weſen. Cuvier hatte den 
Vortheil der genauen Kenntniß und Unterſcheidung der zur Zeit be— 


23 


kannt gewordenen Naturgegenſtände, Geoffroy dagegen war auf 
die Darlegung der vielverſprechenden Analogien der Geſchöpfe und 
ihrer dem ahnenden Geiſte offenbaren, aber auf dem ſtrengen Wege 
der Wiſſenſchaft noch nicht ergründeten Verwandtſchaften angewieſen, 
er hatte, wie jeder Andere in ähnlichem Falle, den Nachtheil, Alles, 
was er ahnte und als nothwendiges Bindeglied zwiſchen vorhandenen 
aber getrennten Gegenſtänden beanſpruchte, von ſeinem günſtiger ge— 
ſtellten Gegner abgelehnt und als unberechtigte aprioriſtiſche Specu— 
lation bezeichnet zu ſehen. 

Dieſer Zuſammenſtoß zweier einander ſo ganz entgegengeſetzter 
Schulen vertreten durch zwei ſo hoch begabte Männer erregte nicht 
nur in Paris, ſondern auch in den wiſſenſchaftlichen Kreiſen von 
ganz Europa das lebhafteſte Aufſehen. Göthe, der ſeiner geſamm— 
ten Naturanſchauung nach von jeher Geoffroy's Anſichten theilte, 
hat ihn in einer eignen Abhandlung, einer ſeiner letzten, dargeſtellt. 

Cuvier war mit ſeinen durch die umfaſſende und unbeſtrittene 
Herrſchaft über die ſtreng thatſächliche Wiſſenſchaft ſeiner Zeit ge— 
ſchärften Argumenten weſentlich im Vortheil und ihm ſchrieb die Mehr— 
zahl der Forſcher jener Epoche den Sieg zu. Auf Jahrzehende hin 
war die Niederlage der naturphiloſophiſchen Richtung entſchieden, um 
ſo mehr als auch in Deutſchland Oken und die Naturphiloſophen 
ſich durch ſo manche Ausſchreitungen ihr eignes Gebiet verwüſtet hatten. 

Jetzt ſind die Argumente der beiden großen Gegner von 1830 
zum größten Theile veraltet und unbrauchbar geworden und der da— 
malige Sieg Cuvier's hat die Wiederaufnahme deſſelben Ringens 
um Feſtſtellung der alten Streitpunkte in neueren Jahren nicht ver— 
hindern können. In dem Grade als die Baſis der exacten Beobach— 
tungen im Laufe der Zeit wieder anwuchs, mußte auch das Urtheil 
über die Natur der noch unausgefüllt bleibenden Lücken wieder an 
Berechtigung gewinnen und in einem ſolchen Falle erfolgt dann immer 
über kurz oder lang wieder ein Anprall der entgegengeſetzten Lehren 
unter mehr oder minder veränderter Form, mit anderen Argumenten 
und anderen Schlagworten. 


er 
Die nächſte Reaction gegen die Cuvier'ſche Lehre großartiger 
Erdrevolutionen und entſprechender über weite Gebiete hin ausgedehnter 
Vernichtung alles Lebendigen ging aus der Geologie hervor, ſpäter 


23 
erſt wandte ſich der Rückſchlag auch gegen feine Lehren von der Art 
und von der Entſtehung der Organismen. 

Die großen Fortſchritte, welche die Geologie ſeit Cuvier ge— 
macht hat, führten zu einer ganz anderen Geſammtanſchauung über 
den Ausbau der Erdrinde. Wenn Cuvier noch lehrte, daß der Gang 
der Natur ehedem ein anderer war und daß die heute thätigen Agen— 
tien zur Erzeugung ſolcher Erſcheinungen, wie ſie die älteren und 
jüngeren Schichten der Erdrinde verkünden, nicht ausreichen würden, 
ſo fußt die heutige Geologie auf demſelben Axiom, von dem auch 
Geſchichtsforſchung, Ethnographie und andere verwandte Fächer der 
Forſchung ausgehen, nämlich dem Satze, daß die Kräfte ſich ewig 
gleich bleiben und nur die Stärke ihrer Wirkung abändert. In dem 
vielfachen zeitlichen Wechſel der Dinge und Erſcheinungen iſt es immer 
nur eine Veränderung der Form und nie des Weſens der Kräfte, 
welche die Verſchiedenheit der Wirkungen bedingt. Das Spiel der die 
Geſtalt der Erdoberfläche umwandelnden Kräfte wich in keinem Zeit— 
alter der Erde wirklich und weſentlich von jenen Vorgängen ab, die 
heute noch thätig ſind, nur dem Grade nach treten bald in ſtetigem, 
bald in periodiſchem Wechſel Aenderungen ein. 

Noch jetzt wie von jeher nagt der Einfluß des Waſſers und der 
Atmosphärilien die feſten Felsgebilde an und führt zu Ablagerungen 
neuer Schichten in Niederungen und auf dem Boden der Seen und 
des Meeres. Reſte von Pflanzen und Thieren werden noch fort— 
während darin eingeſchloſſen, um hier unter dem Einfluß von Luft, 
Waſſer und gelöſten Mineraltheilen zu verkohlen oder zu verſteinern. 
Noch jetzt heben ſich, wie in früheren Epochen, unter dem Einfluß 
der vulkaniſchen Kräfte des Erdinnern bald hie bald da einzelne 
Inſeln oder ganze Länder empor oder ſenken ſich. Oertliche ſtürmiſche 
Ausbrüche, welche feurigflüſſige Maſſen aus dem Erdinnern zu Tage 
fördern und weite Gebiete mit Auswürflingen und aſchenartigen Theilen 
überdecken, finden auch jetzt noch von Zeit zu Zeit ſtatt. Auch Pflan— 
zen- und Thierarten ſehen wir hie und da neu auftauchen, verpflanzt 
in Gegenden, in denen ſie noch nicht bekannt waren, durch das Spiel 
der Elemente oder die Hand des Menſchen. 

Alles dies beobachten wir heut zu Tage und erkennen die Spuren 
entſprechender Vorgänge im Character der urweltlichen Ablagerungen. 
Aber zu einer Annahme von allgemeinen und alles Leben vernichten— 
den Umwälzungen ſehen wir uns nicht geführt, wir ſind vielmehr dahin 


30 


gelangt, eine Menge örtlicher geologiſcher Erſcheinungen, welche die 
älteren Geologen und Cuvier durch plötzliche und heftige Vorgänge 
erklären zu müſſen glaubten, weit berechtigter auf dem Wege der all- 
mählichen und langſamen Bildung erklären zu können. 

Es war namentlich Charles Lyell, der in feinem in zahl- 
reichen und wiederholt auf's Neue umgearbeiteten Auflagen erſchiene— 
nen Werke »Prineiples of geology« (Grundſätze der Geologie) die 
bekannten Erſcheinungen im Bau des Erdkörpers und die heutige 
Wirkſamkeit geologiſcher Agentien in einer ihm eigenthümlichen Weiſe 
mit einander in Einklang geſetzt hat, die von dem früher herrſchen— 
den Gange der Auffaſſung ſehr abweicht und namentlich der Cu vier'- 
ſchen Geologie ſich ſchroff gegenüber ſtellt. | 

Nach Lyell find es allein die heute noch thätigen Urſachen, die 
»existing causes«, welche alle geologiſchen Erſcheinungen hervorge— 
rufen haben. Sie ſind von den älteſten Epochen der Erdbildung an 
thätig geweſen und aus ihnen müſſen ſich alle Verhältniſſe, welche 
das Innere der Gebirge uns darbietet, erklären laſſen. Lyell for— 
dert um aus ihnen den gegenwärtigen Zuſtand der Erde ableiten 
zu können, vor allem nur lange unſere gewöhnlichen Maße überſchrei— 
tende Zeiträume. Kräfte andrer Art als die heutigen, wie dies 
namentlich Cuvier und ſeine Schule beanſpruchten, ſind zu keiner 
Zeit auf Erden thätig geweſen. 

Lyell's Annahmen und Beweisführungen haben von mehreren 
Seiten aus Einwendungen erfahren. Zugegeben, daß auch nie andre 
Urſachen auf Erden wirkten, als die heute zu Tage noch thätigen, 
iſt es doch unverkeunbar, daß das Maß und der Umfang der Wir— 
kung zu verſchiedenen Zeiten verſchieden ſein konnte. Der Zuſtand 
des ganzen Planeten im Laufe ſeiner Entwicklung hat ſich manigfach 
verändert und auf dieſer Grundlage hin mußten auch die Wirkungen 
derſelben Kräfte entſprechend ſich ändern. 

Auch iſt gegen Lyell's Lehre eingewendet worden, daß wir 
zwar die auf der Erdoberfläche wirkſamen Kräfte recht wohl kennen, 
von den Vorgängen im Erdinnern aber, die weſentlich auf die Ge— 
ſtaltung der Erdrinde eingewirkt haben müſſen, nur geringe Kennt— 
niſſe haben und dieſe nur durch dunkle Vorſtellungen zu verknüpfen 
vermögen. 

Die Erklärung der Störungen, welche wir in den von den Ge— 
wäſſern urſprünglich ſölig abgelagerten Schichten der Erdrinde wahr— 


31 


nehmen, muß von jenen verhüllten Kräften des Erdinnern entnommen 
werden, welche in Erdbeben, Vulkanen und heißen Quellen ſich kund— 
geben. Hier geht die Lyell'ſche Lehre von den durch die hervor— 
ragendſten Geologen, namentlich durch Leopold von Buch und 
Elie de Beaumont vertretenen Theorien weit ab und die Ent— 
ſcheidung ſcheint hier noch nicht gefallen zu ſein. 

Das Meer lagerte im Verlaufe der geologiſchen Epochen wieder— 
holt horizontale Schichten von mehr oder minder beträchtlicher Mäch— 
tigkeit ab, bald nur mit Reſten von Meeresbewohnern erfüllt, bald 
auch eingeſchwemmte Landbewohner enthaltend, bald endlich auch in 
Wechſellagerung mit ausgezeichneten Abſätzen ſüßer Binnengewäſſer 
oder brakiſcher Strandlagunen. Dieſe horizontalen Ablagerungen des 
neptuniſchen Elements wurden zu wiederholten Malen durch eine ge— 
waltſame Urſache auf manigfache Weiſe gebrochen und aufgerichtet. 
Gebirge entſtanden an Stellen die vordem Meerestiefen geweſen. Das 
Meer änderte dabei manigfach ſeine Grenzen gegenüber dem Feſtland, 
lagerte in ſeinem neuen Bette abermals horizontale Schichten ab und 
dieſe wurden dann mehr oder minder wieder von ähnlichen gewalt— 
ſamen Störungen betroffen. Kryſtalliniſche Felsmaſſen, frei von or— 
ganiſchen Reſten und in Zuſammenſetzung und räumlichem Verhalten 
mehr oder minder mit den Erzeugniſſen unſerer heute thätigen Vulkane 
übereinkommend, traten dabei aus dem Erdinnern hervor. Sie durch— 
brechen die neptuniſchen Gebilde und bilden den Kern vieler Berge 
und ganzer Gebirgszüge. 

L. v. Buch war der erſte, der darauf hin deutete, wie in ge— 
wiſſen Gegenden beſtimmte Richtungen der Gebirgszüge vorherrſchen. 
Ihnen entſpricht dann mehr oder minder die Streichungslinie der 
Schichten und der Lauf der Thäler, oft auch die Grenze der Ablage— 
rungen. Daß die Gebirge aber durch Hebungen aus dem Erdinnern 
entſtanden, geht aus der aufgerichteten Stellung der an ihren Ge— 
hängen auftretenden Schichten hervor. Jüngere Ablagerungen ſpäterer 
Epoche ſtoßen dann mit füliger oder doch ſehr flacher Lage der Schich— 
ten an jene gehobenen an. 

Elie de Beaumont hat auf Buch's Beobachtungen fußend 
und weiter fortbauend, 1830 ſeine berühmte Erhebungstheorie auf— 
geſtellt, nach welcher alle Gebirgsketten gleichen geologiſchen Alters 
auch gleiche Richtung haben und theils in weit von einander liegen— 
den parallelen Linien auftreten, theils nach Unterbrechungen in gleicher 


32 


Richtung in andern Gegenden wieder hervortauchen. Ihre Entftehung 
leitet er von großartigen plötzlichen und über weite Erdtheile erſtreck— 
ten Kataſtrophen ab, ohne ihnen indeſſen eine gleichzeitige Ausdehnung 
über die Erdoberfläche beizulegen. 

Lyell hat auf Grundlage ſeiner eigenthümlichen Ausgangspunkte 
eine andere Erklärung für die Entſtehungsweiſe der Gebirgsketten ver— 
ſucht. Er geht von den Hebungen aus, die heut zu Tage noch große 
Landſtriche entweder ganz allmählig oder abſatzweiſe um wenige Fuße 
erheben. Würden ſolche Emporhebungen viele Jahrtauſende hindurch 
in ähnlicher Weiſe fortdauern, ſo könnten ſie zur Bildung hoher Ge— 
birgsketten und tiefer Meeresabgründe führen. 

Mögen nun auch jene großartigen Veränderungen, welche den 
Verlauf der ſedimentären Ablagerungen unterbrachen, auf raſcherem 
oder mehr allmähligem Wege vor ſich gegangen ſein, ſo entſpricht 
doch das ganze neuere Gebäude der geologiſchen Wiſſenſchaft dem 
Grundſatze der ewigen und unveränderlichen Naturkräfte und ſchließt 
Annahmen von zeitweiſen Unterbrechungen des geſetzmäßigen Laufs 
der Natur und von allgemeinen alles Leben vernichtenden Umwälzungen 
vollkommen aus. 

Lyell's Lehre, wenn ſie ihren Grundſatz auch in Bezug auf 
das Maaß der Kräfte zu weit ausgedehnt hat, brachte doch ohne 
Zweifel der geologiſchen Wiſſenſchaft eine neue und kräftige Anregung 
und hat in einer Menge von Fällen zur Erkenntniß geführt, daß 
wichtige Erſcheinungen, die man vordem durch plötzliche und heftige 
Ereigniſſe hervorgerufen wähnte, vom langſamen und andauernden 
Einfluß anſcheinend geringer kaum merklicher Kräfte herrühren. Hier— 
mit haben ſich manigfache Aenderungen der theoretiſchen Geologie 
ergeben und zwar in einer Weiſe, die in dem Grade als ſie von 
der Cuvier'ſchen Anſchauung abführte, der Lamarck' ſchen näher 
rücken mußte. 

Säculare oder andauernd in aller Stille wirkende Vorgänge, ähn— 
lich wie die, welche Lamarck für die Thierwelt in langſam aber all— 
mählig tief wirkender Weiſe annahm, hat Lyell mit größerem und 
theilweiſe unbezweifeltem Erfolg für die Entwicklungsgeſchicht der Erd— 
rinde durchgeführt und es liegt, wenn die eine Seite dieſer Forſchungen 
als berechtigt und erfolgreich anerkannt wird, auch nahe, die andere 
einer erneuten Prüfung zu würdigen. 


Agaſſiz. 


Zu jener Zeit als Cuvier's Lehre vom Zuſammenhang des 
Wechſels der Pflanzen- und Thierformen in den verſchiedenen For— 
mationen mit großartigen und plötzlichen Umwälzungen der Erdrinde 
durch die fortſchreitende Geologie an Boden verlor und einerſeits 
Lyell's ganz abweichende Anſchauung ſich mehr und mehr geltend 
machte, andererſeits die geologiſche Geſchichte der Schöpfung aus den 
Feſſeln des Cuvier 'ſchen Lehrgebäudes ſich frei zu machen begann, 
trat Agaſſiz mit einer neuen und geſteigerten Faſſung der Lehre 
des Meiſters auf und entwickelte mit Scharfſinn und großer Phan— 
taſie eine Reihe von Anſichten, die, wenn fie auch nur theilweiſe als 
begründet gelten können, doch auf die Entwicklung der Wiſſenſchaft 
großen Einfluß hatten. 

Das neue Moment, das er zur Ueberbrückung der immer klaf— 
fender gewordenen Riſſe des alten Gebäudes einführte, war der un— 
mittelbare und perſönliche Eingriff des Schöpfers. 

Agaſſiz erklärt, die verſchiedenen Formationen und die ihnen 
angehörigen Thier- und Pflanzenſchöpfungen ſind durch großartige 
und allgemein wirkende Ereigniſſe von einander getrennt, jede ſteht 
ſelbſtändig da, jede kann nur für ſich allein erklärt werden und zur 
Entſtehung einer jeden muß die unmittelbar eingreifende Hand Gottes 
in Anſpruch genommen werden. Es wird dies durch die Behauptung 
begründet, daß die organiſchen Einſchlüſſe zweier einander folgenden 
Formationen größere Verſchiedenheiten zeigen, als den Veränderungen, 
welche jetzt lebende Weſen unter dem Einfluſſe der Zeit, des Klima's 
und der Temperatur erleiden, entſprechen können. Agaſſiz hat, 
indem er Cuvier's Grundanſichten zu den ſeinigen machte und noch 
höher ſteigerte, wohlweislich jene Zugeſtändniſſe, die einſt Cuvier 
ſelbſt nebenbei und nachträglich machte, ganz bei Seite gelaſſen, er 
brach die Brücke, die Cuvier zu einer etwaigen zukünftigen beſſeren 
Erkenntniß der Dinge offen lies, entſchloſſen ab und ſteht damit um 
ſo ſchroffer dem Gegner gegenüber. 

Agaſſiz fährt weiter fort. Die Schöpfungen, welche in den 
großen Schichtengruppen des geologiſchen Syſtems ihre foſſilen Reſte 
hinterlaſſen haben, ſind von einander unabhängig, jede geologiſche 
Formation hat ihre eigne Schöpfung von Pflanzen und Thieren. Sie 
haben „kein genetiſches Band“ mit einander gemeinſam, das heißt, 

Rolle, Darwin's Lehre. 3 


34 


ſie hängen nicht auf dem Wege der allmähligen Fortpflanzung mit 
einander zuſammen. Nichts deſtoweniger ſind ſie „Theile eines ge— 
meinſamen Zweckes“ und „durch Bande einer höheren Art mit ein— 
ander verknüpft.“ 

Die einzelnen Epochen zeigen nach ihrer chronologiſchen Folge 
nach Agaſſiz, wenn auch nicht in der Geſtaltung der wirbellosen 
Thiere, doch in der der Wirbelthiere eine fortſchreitende Entwicklung 
von der niederen zur höheren Form. Man kann darnach das erſte 
Zeitalter als das Reich der Fiſche, das zweite als das der Rep— 
tilien, das dritte als das der Säugethiere bezeichnen, dann erſt 
folgt der Menſch nach. Auch zeigt ſich, daß die älteſten Organis— 
men alle Meeresbewohner waren, erſt in der Steinkohlenepoche zeigen 
ſich auch Landpflanzen, das Erſcheinen der Landthiere fällt noch etwas 
ſpäter. In dieſer Stufenfolge der Vervollkommnung von der älteſten 
Lebewelt an, die nur Meeresbewohner und unter ihnen keine höher 
organiſirten Formen als Fiſche zählte, bis zur Schöpfung des heu— 
tigen Tages mit ihrer Fülle und Manigfaltigkeit der Formen erkennt 
aber Agaſſiz immer noch kein Band, welches im Sinne von La— 
marck und Geoffroy die getrennten Erſcheinungen verknüpft, ſon— 
dern für ihn iſt die Kluft von einer zur andern Epoche vollkommen 
und kein Thier, keine Pflanze einer Schöpfung ſtammt von einem 
Weſen einer früheren Formation ab, jede Art iſt unveränderlich, ent— 
ſteht und vergeht ſelbſtändig. Die Stufenfolge der Vervollkommnung 
iſt vielmehr das unmittelbare Werk Gottes, der in der Reihenfolge 
ſeiner Schöpfungen an der Stelle, wo er den Faden des Lebens 
zerriß, ſpäter von Neuem wieder anknüpfte, alles nur in der be— 
ſtimmten Abſicht, durch allmählige Steigerung der Manigfaltigkeit der 
organiſchen Formen und der Lebensbedingungen endlich eine letzte 
Schöpfung zu Stande zu bringen, welche dem Menſchen als eigent- 
lichem prädeſtinirten Ziele die zur körperlichen und geiſtigen Entwick— 
lung geeignetſte Wohnſtätte bieten könne. 

Die Agaſſiz' ſche Schöpfungstheorie iſt aus ſehr verſchiedenen 
Momenten zuſammengeſetzt. 

Was zunächſt die Annahme einer vollkommenen Abſonderung der 
verſchiedenen Schöpfungsepochen von einander und die Unterbrechung 
des Lebensfadens betrifft, ſo hat ſie ſich, wenn auch bis jetzt noch 
nicht in allen, doch jedenfalls in einer Reihe von Fällen als entſchie— 
den verfehlt herausgeſtellt. 


35 


Die großen Perioden der Ausbildung der Erdrinde gründen fich 

allerdings auf nachweisbare und oft ſehr auffallende Eigenthümlich— 
keiten der Flora und Fauna. Aber erſtlich ſind dieſe faſt nie allge— 
mein und gleichförmig für die einzelnen chronologiſchen Glieder einer 
Formation, ſondern ſie nehmen mit ihnen zu oder ab. Zweitens ſind 
ſie faſt nie einer der großen Perioden für ſich allein eigen. 
Die merkwürdige Gruppe der Trilobiten erſcheint allerdings auf 
die paläozoiſchen Gebilde allein beſchränkt, aber ſie erſcheint über ſie 
nicht gleichmäßig verbreitet und erliſcht nicht plötzlich. Wir ſehen ſie 
vielmehr erſcheinen, an Zahl der Gattungen und Arten zunehmen, 
dann wieder abnehmen und endlich mit einer Gattung und einigen 
wenigen Arten erlöſchen. Das iſt kein Zeichen einer gewaltſamen Ver— 
nichtung, ſondern einer nach allmählig wirkenden natürlichen Einflüſſen 
vorgegangenen Ausbreitung, Verminderung und Abſterbung. 

Von vielen Formationen wiſſen wir beſtimmt, daß ein Theil 
ihrer foſſilen Arten nicht ihnen allein eigen iſt, ſondern einzelne der— 
ſelben reichen aus älteren Ablagerungen in ſie herein, andere reichen 
aus ihnen in die nächſtfolgenden hinüber. Aus der Tertiärformation 
ließen ſich viele Belege davon geben. So hat das Tertiärbecken von 
Wien nach Dr. Hoernes Unterſuchungen bis jetzt über 500 Arten 
von foſſilen Gaſteropoden geliefert, davon leben noch mehr als 100 
Arten heute fort, meiſt im Mittelmeer, einige auch zugleich im briti— 
ſchen Meer, andere nur am Senegal oder vielleicht im Indiſchen Meer. 

Ein anderes Moment iſt die Lehre von der ſtufenweiſen Vervoll— 
kommnung der organiſchen Formen von den älteſten Epochen an bis 
zur Jetztwelt. Agaſſiz hat um die Darlegung und Durchführung 
dieſer Lehre große und unbeſtreitbare Verdienſte; ſeine Erfolge in 
dieſer Hinſicht kommen übrigens mehr ſeinen wiſſenſchaftlichen Gegnern 
als ihm ſelbſt zu ſtatten. 

Er beſchränkte dieſe Lehre auf die Wirbelthiere, er weiſt darauf 
hin, wie in den älteſten geologiſchen Schichten, wo Reſte von Wirbel— 
thieren zuerſt gefunden werden, die Fiſche auftreten, indeſſen alle 
höheren Wirbelthierformen noch fehlen. Zu den Fiſchen treten ſpäter 
dann die erſten Reptilien, noch ſpäter die erſten Säugethiere und zu— 
letzt erſt der Menſch. 

Bei den Fiſchen hat Agaſſiz eine ſolche Stufenfolge auch noch 
für die Ordnungen nachgewieſen und gezeigt wie dabei in vielen Fällen 
die älteſten Formen ſich zu den ſpäteren oder den heute lebenden ver— 

3 * 


36 


halten, wie Embryonen und Jugendzuſtände zu der reifen Thierform. 
Mit andern Worten, ausgewachſenen Thieren älterer Formationen 
ſind Charaktere eigenthümlich, die wir bei ſpäteren Formen nur in 
der erſteu Jugend finden. Entwicklungszuſtände, welche ein Thier in 
alten Epochen erreichte, aber nicht überſchritt, erreichten die ihm ent— 
ſprechenden nächſten Verwandten in ſpäteren Epochen ebenfalls, über— 
ſchreiten fie nun aber in früher Jugend ſchon und gelangen mit der 
Reife zu anderer und höher abgeſtufter Geſtaltung. 

Bei den Fiſchen, wie allen Wirbelthieren überhaupt, iſt das Skelett 
anfangs knorplig und bleibt mit der Reife des Individuums bald 
auf dieſer Stufe ſtehen, bald verknöchert es. Wirbelthiere mit ver— 
knöchertem Skelett ſtehen aber im Großen und Ganzen jedenfalls auf 
höherer Stufe, als jene, deren Skelett knorplig bleibt. Eine ähnliche 
Stufenfolge weiſt nun Agaſſiz auch in geologiſcher Hinſicht für die 
Fiſche nach. Er zeigt, daß die älteſten Fiſchformen nur ein knorp— 
liges oder erſt ſehr unvollſtändig verknöchertes Skelett beſaßen, in 
den mittleren Epochen nahm bei einem Theile der Fiſche die Ver— 
knöcherung des Skelettes zu, in der Kreideepoche endlich erſcheinen auch 
die erſten Vertreter der Teleoſtier oder ächten Knochenfiſche, welche 
in unſern heutigen Gewäſſer die große Mehrzahl der Klaſſe darſtellen. 
Formen mit knorpligem Skelett erhalten ſich von den älteſten Zeiten 
und ſind noch in unſeren heutigen Meeren namentlich durch Haie und 
Rochen vertreten. Auch andere Charaktere, wie namentlich die Ge— 
ſtaltung der Schwanzfloſſen führt zur Annahme geologiſcher Stufen— 
folgen in der Entwicklung der Fiſchform, Arten der älteren Forma— 
tionen haben ungleichlappige Schwanzfloſſen, ſpäter treten zu ihnen 
auch gleichlappige und heut zu Tage herrſchen die letzteren vor. 

Nach Agaſſiz ſcheinen zwar die wirbelloſen Thiere gleichen 
Geſetzen der geologiſchen Entwicklung nicht unterworfen geweſen zu 
ſein und es läßt ſich aus ihren Verzweigungen keine allgemeine Stu— 
fenleiter bilden; ſie haben ſich von den älteſten Epochen bis zur Jetzt— 
welt wohl manigfach verändert, aber nicht immer zugleich zu höheren, 
Typen ausgebildet. Indeſſen hat ſeither K. Vogt für die Echino— 
dermen und einige Abtheilungen der Cruſtaceen ähnliche Analogien 
zwiſchen der embryologiſchen Entwicklung der Individuen und der geo— 
logiſchen Stufenfolge der Typen nachgewieſen. 

Eine über alle Klaſſen und Ordnungen gehende Anwendung der 
Agaſſiz'ſchen Lehre einer geologiſchen Fortentwicklung der Thier— 


37 


welt im Einklang mit der embryonalen Entwicklung der Individuen 
hat ſich allerdings nicht durchführen laſſen, aber auch das, was in 
dieſer Nichtung dargethan wurde, ſpricht nicht für, ſondern gegen 
A gaſſiz Annahme wiederholter Vernichtungen und Wiederherſtellungen 
der Lebewelt. 

A gaſſiz unterſcheidet unter den im Laufe der geologiſchen Epo— 
chen auf der Erdoberfläche erſchienenen Thierformen prophetiſche, 
embryoniſche und progreſſive Typen) je nach dem Verhältniß 
in welchem ſie zu Arten, Gattungen oder Familien ſpäterer Epochen ſtehen. 

Unter prophetiſchen Typen verſteht Agaſſiz gewiſſe in 
früheren Epochen aufgetretene Thierformen, die durch einzelne Charac— 
tere ihrer Organiſation gleichſam im voraus Formen anzeigen, die 
gleichzeitig mit ihnen noch nicht exiſtirten, ſondern erſt in ſpäteren 
Epochen gefunden werden. 

Ein ſolcher prophetiſcher Typus ſind die Pterodactylen, 
welche nach Agaſſiz die Vögel im voraus anſagen. Es waren flie— 
gende Reptilien, im allgemeinen Körperbau, namentlich der Form von 
Hals und Kopf, dem Vogeltypus ſehr nahe kommend, ihrer Lebens— 
weiſe nach offenbar land- und luftbewohnende Weſen, wie ſie heute 
unter den Reptilien nicht mehr vorkommen, welche ſeither unter Vögeln 
und Fledermäuſen aber ähnlich gebaute Nachfolger von anderer Klaſſe 
gefunden haben. 


grenzten Spielraumes ſich bewegen und Charactere verſchiedener Ord— 
nungen, die ſpäter nur getrennt vorkommen, noch vereinigt zeigen, 
nennt Agaſſiz ſynthetiſche. Dahin gehören z. B. Sauroiden 
und Ichthyoſauren. Die Sauroiden find Fiſche, die in den älteren 
Epochen beginnen und: heute faſt erloſchen find, fie vereinigen mit dem 
Fiſchcharacter noch Charactere von Reptilien, die bei den heutigen typi— 
ſchen Fiſchformen oder ſogenannten Teleoſtiern nicht vorkommen. 

Die Ichthyoſauren vereinigen in ähnlicher Weiſe mit dem Rep— 
tilientypus noch Charactere von Delphinen. 

Embryoniſche Typen ſtellen gewiſſermaßen dauernd gewor— 
dene Embryonalformen ſpäter erſt hervortretender Thiergruppen, Fa— 
milien oder Ordnungen dar. Sie ſind alſo auch prophetiſcher Natur, 
aber nur für das Bereich ihres eigenen Typus, nicht auch für ent— 


) L. Agassiz. Contributions to Natural history, vol J. part. I. p. 116. 


38 


fernt abliegende Formen. So entſprechen die älteſten Fiſchformen, wie 
oben ſchon dargelegt wurde, den Embryonen der heute lebenden höher 
organiſirten Fiſche. 

Die in den älteren Epochen ſo reichlich vertretenen Crinoiden 
entſprechen dem Jugendzuſtand der heute noch lebenden, ganz ähnlich 
den Crinoiden gebauten, aber nicht mehr wie letztere lebenslänglich 
ſondern nur in ihrer Jugend feſtſitzenden Comateln. 

Endlich unterſcheidet Agaſſiz noch progreſſive Typen oder 
ſolche, bei denen eine natürliche Steigerung gewiſſer Charactere ohne 
Beziehung zur embryonalen Entwicklung ſtatt hat. So gehören z. B. 
dahin die Goniatiten, Ceratiten und Ammoniten, bei denen mit dem 
chronologiſchen Verlaufe der Epochen eine höhere Complication der 
Loben ſich entwickelt. 8 

Allen dieſen Unterſcheidungen und Entwicklungen liegen viele ſehr 
wahre und wichtige Beobachtungen zu Grunde, nur paſſen ſie ſich der 
Lamarck'ſchen Lehre weit beſſer als der Cuvier 'ſchen an. Agaſſiz 
hat, indem er dieſe Unterſcheidungen entwickelte, daher auch nur Be— 
lege für ihre Wahrheit aufgeführt, aber keinen Verſuch gemacht, nach— 
zuweiſen, warum die Verhältniſſe gerade ſo und nicht anders waren. 
Jeder Verſuch hätte in der That zur Transmutationslehre, der 
Agaſſiz ſo weit ausweicht, zurückführen müſſen. 

In der That beſchränkt ſich die Erſcheinung der embryoniſchen 
Typen auf die ganz oder faſt ganz gradlinige Abſtammung von einer 
Reihe von Formen. Synthetiſche erſcheinen, wenn ein Typus im Ver: 
laufe der Umgeſtaltung ſich in zwei oder mehr Hauptäſte gabelt und die 
noch übrig bleibenden rein prophetiſchen Typen dürften auf bloßer Ana⸗ 
logie entfernter weit auseinander gegangener Zweige gleicher Stamm— 
formen beruhen, hervorgerufen durch den Einfluß identer äußerer Ver— 
hältniſſe auf deren Nachkommen in verſchiedenen Zeiten. 

Ein dritter Grundzug der Agaſſiz'ſchen Lehre von der Ent— 
ſtehung der Lebewelt und des Menſchen iſt die Annahme wiederholter 
und tief gehender Eingriffe der Gottheit in den natürlichen Gang 
der Kräfte. 

Hiergegen iſt vielerlei einzuwenden. Schon im vorigen Jahr- 
hundert hob Lichtenberg mit der ganzen Klarheit und Schärfe 
ſeiner Naturanſchauung hervor, daß der nächſte und ſicherſte Weg des 
Forſchers darin beſteht, einen einfachen Zuſtand der Materie in ihrer 
jetzigen elementaren Zuſammenſetzung aber in anderen Verbindungen 


a u 


Mea ng 


39 


und Formen anzunehmen und auf fie die natürlichen Kräfte nach den 
heute gültigen Geſetzen wirken zu laſſen. Von Wundern dürfen wir 
aber nicht ausgehen und noch viel weniger eine wiederholte Reihe 
von Wundern annehmen. Wunder ſind Argumente der Theologie und 
nicht der Naturwiſſenſchaft. Hier liegt unſere Aufgabe. Und ſelbſt 
wenn das Ziel für den heutigen Stand der Wiſſenſchaften noch zu 
hoch liegen ſollte und wir unſere Aufgabe noch nicht ganz würden 
löſen können, jo bliebe uns wenigſtens die Befriedigung nach dem 
Wahren auf dem einfachſten und nächſten Wege geſtrebt und der Nach⸗ 
kommenſchaft die Bahn eröffnet zu haben. 

Wunder im Laufe der Natur anzunehmen iſt das bequemſte 
Mittel der Erklärung, es überhebt uns jeder weiteren Mühe des 
Denkens und Forſchens. Man hat davon gewöhnlich um ſo mehr Ge⸗ 
brauch gemacht, je weniger man die Natur und ihre Geſetze kannte. 
Unter den Geologen des vorigen Jahrhunderts war die Annahme von 
Wundern für die Entſtehung der Erde und ihrer belebten Schöpfung 
am allgemeinſten, — ſehr begreiflich, denn der Betrag des Wiſſens war 
der geringſte. Es gab damals, ſagt Lichtenberg, Geologen, die 
ſogar die Erde gerade ſo wie ſie jetzt iſt, mit allen ihren Schichten 


und deren n unmittelbar aus den Händen des Schöpfers 
hervorgehen ließen. Doch war auch damals ſchon der Verſuch all⸗ 


gemein, wenigſtens einen Theil des Zuſtandes der Erde und die Be- 
grabung der Pflanzen⸗ und Thierreſte nach dem natürlichen Gange 
der Kräfte zu deuten. Im Laufe der Zeit haben dieſe Verſuche dann 
ſo weit Platz gegriffen und ſo vielfach zur Aufdeckung der Wahrheit 
geführt, daß jetzt gewöhnlich nur für den erſten Anfang der Ausbil⸗ 
dung der Erde und ihrer Lebewelt oder auch für den Eintritt all⸗ 
gemeiner Kataſtrophen. Wunder in Anſpruch genommen werden. Aber 
es bleibt folgerichtig unſere Aufgabe auch für die entlegenſten Vor⸗ 
gänge der Natur immer noch die Deutung auf natürlichem Wege 
zu wagen. 

Wenn in unſeren Jahrzehnden aber Agaſſiz ſich herausnahm, 
zu wiederholten Malen und zum Behufe vollſtändiger Vernichtungen 
und unmittelbar neuer Herſtellungen der belebten Welt die eingreifende 
Hand Gottes in Anſpruch zu nehmen, ſo war dies nur ein Beweis 
dafür, in welche unlösbaren Widerſprüche er ſich durch die einſeitig 
geſteigerte Durchführung der Cuvier ſchen Annahmen geſtürzt hatte. 
Dieſe auszufüllen konnten freilich nur noch Wunder helfen. 


Was den unmittelbaren Vorgang der Entſtehung der einzelnen 
Arten von Lebeweſen betrifft, ſo verhehlte ſich auch allerdings Agaſſiz 
die große Schwierigkeit nicht, für ſie irgend eine wiſſenſchaftliche Er— 
klärung beizubringen. Aus dieſer Verlegenheit entſtammt ſeine ſeltſame 
Hypotheſe, als ſeien alle Lebeweſen in Form von Eiern erſchaffen 
worden, mithin alſo das Ei ſei älter als die Henne. 

Agaſſiz ſagt in dieſer Hinſicht in feinen Beiträgen zur Natur- 
geſchichte von Nordamerika, erſter Theil, S. 12, die Thiere können 
nicht durch rein phyſikaliſche Verhältniſſe entſtanden ſein, ſondern jede 
Art, welche für die erſte Flora und Fauna erſchaffen wurde, bedurfte 
beſonderer Beziehungen und beſonderer Fürſorge. Auf einem und dem— 
ſelben engeren Gebiete können ſie nicht entſtanden ſein, denn die äußeren 
Umftände eines ſolchen begrenzten Gebietes, die den einen günſtig 
waren, ſchloſſen die andern aus. Innerhalb eines weiteren Gebietes 
aber ſind die phyſikaliſchen Agentien in ihrer Thätigkeit auch noch 
viel zu einförmig um zu ſo vielen weſentlichen Unterſchieden, wie ſie 
zwiſchen den erſten Weſen unſerer Erde beſtehen, den Grund legen 
zu können. 

Konnten die Thiere nicht durch einfache phyſikaliſche Vorgänge 
entſtehen und bedurften ſie noch beſonderer Fürſorge, ſo fragt ſich ob 
erwachſene Individuen oder Eier erſchaffen wurden. Eine Annahme, 
als ſeien die Thiere ſofort ſchon in erwachſenem Zuſtande aufgetreten, 
würde großen Schwierigkeiten unterliegen, namentlich mit Hinſicht auf 
den zuſammengeſetzten Bau höherer Thiere überhaupt, wie auch ſchon 
jener, von denen man weiß, daß ſie unter den erſten Bewohnern der 
Erde waren. Agaſſiz nimmt daher ſeine Zuflucht zur Annahme einer 
Erſchaffung von Eiern. Er ſagt, es ſei unmöglich, einfachere Umſtände 
zu finden, unter denen Pflanzen oder Thiere entſtehen können, als jene 
Bedingungen, die zu ihrer Reproduction nöthig erſcheinen, ſobald fie 
einmal vorhanden ſind. Er glaubt daher, die Thiere ſeien in Form 
von Eiern erſchaffen worden und die äußeren Bedingungen, deren es zu 
ihrem Heranwachſen bedarf, ſeien vor ihrem erſten Erſcheinen ſchon her— 
geſtellt geweſen. Indeſſen mit dieſer Vereinfachung iſt für die Erklärung 
des Vorgangs einer Erſchaffung immer noch nicht viel gewonnen. 

Agaſſiz ſelbſt hebt hervor, wie zuſammengeſetzt und wie ört— 
lich beſchränkt zu gleicher Zeit die Bedingungen ſind, unter denen die 
Thiere ſich fortpflanzen. Das Ei entſteht in einem beſonderen Organ, 
dem Eierſtock, es wächſt dort bis zu einer gewiſſen Größe, dann 


41 


braucht es der Befruchtung, d. h. des Einfluffes eines anderen lebenden 
Weſens oder wenigſtens des Erzeugniſſes eines andern Organ's, des 
Hoodens, um die fernere Entwickelung des Keim's zu veranlaſſen, 
welcher letztere dann unter mannigfachen Einflüſſen alle die Verän— 
derungen durchmacht, die ſchließlich zu einem vollkommenen Lebeweſen 
führen. 

Agaſſiz muß nun annehmen, es ſeien für jene neu und eltern— 
los erſchaffenen Eier ähnliche Bedingungen zugleich erzeugt worden, 
wie jene unter denen die lebenden Vertreter der Typen ſich jetzt fort— 
pflanzen. Welcher Art aber dieſe erſte Erſchaffung und die nach— 
herige Beförderung des Fortwachſens der Ur-Eier geweſen ſeien, dar— 
über getraut er ſich nicht, weiter Vermuthungen auszuſprechen. Offen— 
bar gibt es nach dem natürlichen Wege der Dinge nur einen Ort, 
wo das Ei entſtehen kann, nämlich der Eierſtock eines mütterlichen 
Weſens und Niemand hat bis jetzt eine andere Möglichkeit irgend— 
wie noch dargethan. Eine elternloſe Erzeugung eines Ei's iſt phyſio— 
logiſch ebenſo ſehr eine Unmöglichkeit als die eines erwachſenen In— 
dividuums einer höheren Pflanzen- oder Thierform. 

Ihren Gipfel erreichte die Agaſſiz'ſche Weltanſchauung mit 
ſeiner Theorie der Eiszeit. 

Man hat ſeit einer Reihe von Jahren jene der geſchichtlichen 
Epoche unmittelbar vorausgegangenen und den jüngſten Meeresab— 
lagerungen der ſogenannten Tertiärepoche nachgefolgten Ablagerungen 
von Geröllen, Sand, Lehm und großen Felsblöcken, welche unſere 
Ebenen, den Grund der Thäler und die Abhänge von Hügeln und 
Bergen überdecken, unter dem Namen Diluvium oder diluviale 
Gebilde zuſammengefaßt. Aeltere Geologen hatten ſie als Zeugen 
der Noachiſchen Fluht oder der ſogenannten Sündfluht gedeutet und 
hiervon blieb der Name, die Deutung aber iſt längſt eine andere 
geworden. Selbſt Buckland, der in ſeinem berühmten Werke 
„Reliquize diluvienae“ die jüngſten angeſchwemmten Gebilde noch von 
der bibliſchen Sündfluht ableitete, hat ſpäter ſelbſt dieſe Deutung zu— 
rückgenommen. 

Unter dieſen Diluvialgebilden ſpielt eine Ablagerung von Ge— 
birgsſchutt und großen Felsblöcken in der Schweiz und den benach— 
barten Alpenländern eine Hauptrolle. Faſt die ganze Hügelgegend 
zwiſchen den Schweizer Alpen und dem Jura überdecken mehr oder 
minder zuſammenhängend eine reichliche Menge von loſe liegenden 


42 


theils kleineren theils größeren, in einzelnen Fällen ſogar rieſenhaft 
großen Felstrümmern, ſie ſind unter dem Namen Findlinge oder 
erratiſche Blöcke bekannt. Was ſie beſonders auffallend macht, iſt 
der Umſtand, daß ſie meiſtens in der Gegend, in der man ſie abge— 
lagert findet, offenbare Fremdlinge ſind, ihre Geſteinsbeſchaffenheit 
iſt eine fremdartige und führt auf Felsmaſſen anderer Gegenden zu— 
rück. Eine genaue Unterſuchung dieſer ſogenannten Findlinge des 
Schweizer Hügellandes mit Rückſicht auf das Vorkommen ähnlicher 
Geſteine an urſprünglicher Heimathsſtätte führte zum Nachweiſe, daß 
ſie alle aus der Alpenkette ſtammen. Es ſtellte ſich dabei heraus, 
daß im Allgemeinen die Vertheilung der Blöcke dem Laufe der großen 
Stromgebiete entſpricht und daß man die in den Niederungen und im 
Hügelland zerſtreuten Felsarten gewöhnlich im Quellbezirke einer jeden 
Gegend in anftehenden Felsmaſſen wiederfindet. Von bier find fie 
alſo ausgegangen und bis zu dem gegenüber gelegenen Abhange des 
Jura geführt worden, wo ſie mehrere hundert Fuß Höhe über den 
benachbarten Thalſohlen erreichen. In Verbindung damit findet man 
an zahlreichen Stellen die Oberfläche des feſten anſtehenden Geſteins 
angeſchliffen und zugleich von gröberen und feineren Einfurchungen, 
deren Richtung dem Verlaufe der Thäler entſpricht, durchzogen. 

Man hat den erratiſchen Blöcken und der Erſcheinung der an— 
geſchliffenen und gefurchten Felſenoberflächen der Schweiz mehrere 
Deutungen unterlegt, ſchließlich aber iſt durch die Unterſuchungen von 
Venetz, Charpentier, Agaſſiz und anderen die Auſicht zu all— 
gemeiner Geltung gebracht worden, daß ſie von einer ehemaligen den 
heutigen Stand weit überſchreitenden Ausdehnung der Gletſcher des 
Hochgebirges herrühren. 

Eine ſolche Epoche einer gewaltigen Ausbreitung und Aufſtauung 
der heut zu Tage nur die verborgenen Thalurſprünge der Alpenkette 
erfüllenden Gletſchermaſſen war nur zur Zeit eines weit kälteren 
Klima's möglich und dieſer Annahme kommen dann auch noch eine 
Reihe anderer Thatſachen, zu denen die neueren Fortſchritte der Geo— 
logie geführt, beſtätigend entgegen. So ſtimmt dazu namentlich das 
Vorkommen ähnlicher Findlingsblöcke in den Ebenen Norddeutſchlands, 
Polen's u. ſ. w., die von Felſen des ſcandinaviſchen Nordens her- 
rühren und offenbar nur von ſchwimmenden Eismaſſen einer nordiſchen 
Meeresſtrömung dahin transportirt worden fein können, endlich auch 
die Nachweiſung nordiſcher Thierreſte in Schichten jener Formation 


45 


in Gegenden, die heut zu Tage ein milderes Klima beſitzen, als jene 
foſſilen Formen erfordern. N 

Für jeden Forſcher, der den Gang der Natur unbefangen ver— 
folgt und nur den uns bekannten Naturkräften Wirkungen zuzuſchreiben 
ſich gewöhnt hat, konnte ein für die Dauer der Diluvialepoche über 
Nord- und Mitteleuropa hereingebrochenes kaltes Klima nur eine 
geographiſch begrenzte Erſcheinung und nur eine Folge von Urſachen 
ſein, die je nach Veränderungen im Verhältniß von Feſtland und 
Meer, auch jetzt noch in unſerm oder andern Theilen der Erde ein— 
treten könnten. 

Für Agaſſiz Schöpfungslehre aber mußte folgerichtig die Deu— 
tung eine andere ſein. 

Agaſſiz lehrte, daß nicht allein in der ſogenannten Eiszeit die 
Gletſcher das ganze Gebiet des Schweizer Hochgebirgs und die zu— 
nächſt angrenzenden Gegenden überdeckten, ſondern daß auch gleichzeitig 
eine ſolche Herrſchaft der Kälte und des Eiſes über die ganze Erd— 
oberfläche hin erging und weiterhin eine allgemeine Vernichtung alles 
organiſchen Lebens zur Folge hatte. 

Nach ſeiner Anſicht überdeckten zwei Eiskruſten von großer Mäch— 
tigkeit, die rings um den Aequator wahrſcheinlich einen breiteren oder 
engeren Gürtel offen ließen, den größten Theil der Erdoberfläche. 
Das Polareis, welches heute die öden Gefilde von Nord-Sibirien, 
Spitzbergen und Grönland überzieht, erſtreckte ſich damals weit 
hinein in die gemäßigte Zone der nördlichen Halbkugel. Ruß land 
Schweden und Norwegen, die britiſchen Inſeln, Deutſch— 
land und Frankreich über die Alpen hinaus bis zu den Nie— 
derungen Italien's zugleich mit dem ganzen Nordaſien waren 
damals nach Agaſſizv ein einziges Eisfeld, deſſen ſüdliche Grenze er 
indeſſen noch unbeſtimmt ließ. Aehnlich war der Stand der Dinge in 
Nordamerika. Dieſe Eisdecke vernichtete, ſoweit ſie vordrang, alles 
Lebende und hüllte die Ueberreſte organiſcher Weſen ein, die vor ihrem 
Eintritt an Ort und Stelle gelebt hatten. Das ſind jene unmittelbar 
der heutigen Schöpfung vorausgegangenen Organismen, die jetzt im 
Lehm und Sand unſerer Ebenen oder unter dem Eismantel des nörd— 
lichen Sibiriens begraben liegen. Die Eiszeit war eine vollkommen 
trennende Epoche zwiſchen der Diluvialzeit (d. h. dem ſogenannten 
älteren Diluvium anderer Geologen) und der Jetztwelt. Sie hat gleich 
einem ſcharfen Schwerte die Geſammtheit der diluvialen Flora und 
Fauna von jener der Jetztwelt abgeſchnitten. 


Hin 
— 


Agaſſiz Hypotheſe von einer die ganze Erdoberfläche bis auf 
einen dem Aequator entſprechenden Gürtel überziehenden Vereiſung 
hat ſich im Verlaufe weiterer Forſchungen als vollkommen unhaltbar 
erwieſen. Wir wiſſen jetzt, daß in der ſogenannten Eisepoche das Sinken 
der Temperatur nur auf Nord- und Mitteleuropa, Nordaſien 
und Nordamerika ſich erſtreckte. Die Drift-Erſcheinungen ſowohl als 
die geſteigerte Vergletſcherung der Hochgebirge bleiben auf beſtimmte 
Gegenden beſchränkt. Ebenſo ſind wir im Stande die ſüdliche Grenze 
zu beſtimmen, welche die glaciale Fauna des Nordens bei ihrer da— 
maligen größeren Ausbreitung erreichte. Damit erhält die ganze Er— 
ſcheinung den Character eines, weun auch ſehr ausgedehnten, doch 
jedenfalls geographiſch begrenzten Vorganges und gibt dann auch keinen 
Stützpunkt für Agaſſiz'ſche Schöpfungstheorien mehr ab. Wir wiſſen 
jetzt, daß in allen wärmeren Gegenden der Erde von den Küſten— 
ländern des Mittelmeeres an zur Zeit der Diluvialepoche keine Ab— 
lagerungen glacialer Gebilde ſtatt hatten und keine Polarthiere lebten. 
Es iſt daher nicht anders anzunehmen als daß in allen wärmeren 
Himmelsſtrichen, indeſſen in unſeren Gegenden die nordiſche Kälte zur 
Herrſchaft gelangt war, eine ungeſtörte Fortentwicklung des organiſchen 
Lebens ſtatt hatte. 

Dafür treffen wir aber auch wieder, wenn wir die Aequatorial— 
gegenden überſchreiten, im äußerſten Theile von Südamerika Erſchei— 
nungen, die denen des Nordens ſehr nahe kommen. Patagonien und 
das ſüdliche Chili beſitzen eine Ablagerung von Schutt und Blöcken, 
die in ihren weſentlichen Characteren ganz denen unſerer nordiſchen 
Drift ſich anſchließt, im Maßſtabe aber abweicht. Die Driftbildung 
von Chili und Patagonien ſcheint mit keiner nachweisbar größeren 
Ausdehnung der Kälteregion des antarktiſchen Kreiſes verbunden ge— 
weſen zu ſein, ſie iſt überhaupt auch weit örtlicher als jene der nörd— 
lichen Halbkugel ausgeſprochen und kann noch weniger als letztere zur 
Hypotheſe einer vollſtändigen Vereiſung der Erdrinde angerufen werden. 

K. Vogt hat weſentlich beigetragen, die Aga ſſiz'ſchen Lehren 
in weiteren Kreiſen zu verbreiten, hat aber ſeltſamer Weiſe das einzige 
bindende Moment des Syſtems, nämlich die Annahme eines perſön— 
lichen Eingriffs der Gottheit in den Lauf der Natur aus individuellen 
Gründen ausgeſchloſſen und fo dem Agaſſiz'ſchen Syſtem gerade 
das genommen, wodurch es allein erſt als Syſtem erſcheinen kann. 

K. Vogt lehrt, die Art iſt unveränderlich, aus einer Art kann 


45 


nie eine andre Art werden, aber fie kann auch nicht erſchaffen fein. 
Er lehrt ferner, ein ruhiger Fortſchritt durch geſetzmäßige Entwick— 
lung der Formen hat in der Natur nicht ſtattgefunden, wohl aber 
ſind gewaltſame Umwälzungen und durchgreifende Vernichtungen der 
Lebewelt zu wiederholten Malen eingetreten. Aber eine Wiedererſchaf— 
fung der gewaltſam vernichteten Lebewelt hat auch nicht ſtattgefunden. 

Indeſſen iſt nicht jede nach perſönlicher Liebhaberei gemachte Aus— 
wahl von Annahmen noch ein Syſtem. Die Vogt'ſche Schöpfungs— 
geſchichte iſt darum kein Syſtem mehr, ſondern nur noch ein Torſo 
eines ſolchen. 


Forbes. 


Der der Wiſſenſchaft allzufrühe entriſſene geniale engliſche Natur— 
forſcher Edward Forbes hat 1846 in ſeiner Abhandlung über 
den Zu ſammenhang zwiſchen der gegenwärtigen Fauna und Flora der 
britiſchen Inſeln und den geologiſchen Veränderungen, welche deren 
Oberfläche zur Zeit der nordiſchen Ueberfluthung erlitten ), die Ver— 
hältniſſe der Glacialgebilde und ihrer Fauna mit Rückſicht auf die 
unmittelbar vorhergegangenen Epochen und auf die Jetztwelt in einer 
wahrhaft überraſchenden Weiſe zur Klarheit gebracht, ja er hat damit 
recht eigentlich den Schwerpunkt der Entſcheidung über das Weſen 
der geologiſchen Formationen in das Gebiet der Glacialepoche verlegt. 
Anſchauungsweiſe wie Ergebniſſe ſtehen in ſchroffem Gegenſatz zu 
Agaſſiz Lehren und bezeichnen, ſowie dieſe als letzter und hochge— 
ſteigerter Verſuch einer Durchführung alter Theorien daſtehen, ihrer— 
ſeits den Fortſchritt einer naturgemäßeren und reicher Entwicklung 
fähigen Forſchung im Sinne der neueren Wiſſenſchaft. 

Ganz im Gegenſatz zu Agaſſiz knüpft Edward Forbes 
zunächſt an den ſchon von Cuvier zugegebenen Satz an, daß eine 
Inſel ihre Landbevölkerung durch Einwanderung von einem anderen 
Feſtlande erhalten konnte, wenn ſie mit dieſem im Laufe der geolo— 
giſchen Ereigniſſe zeitweiſe in unmittelbarem Zuſammenhang ſtand. 
Wurde die Verbindung nachfolgend durch andere natürliche Urſachen 
wieder abgebrochen, ſo behielt das abermals vereinzelte Gebiet eine 


) In den Memoirs of the geological Survey of Great Britain. 1846. 
vol. I. p. 336. 


46 


Flora und Fauna, die aus verſchiedenen Elementen, einem urſprüng— 
lich einheimiſchen und einem zur Zeit des Zuſammenhanges von einem 
oder mehreren benachbarten Landſtrichen aus eingewanderten fremd— 
artigen Elemente beſtehen. 

Forbes ſtellt dies aber nicht nur als Möglichkeit hin, ſondern 
er weiſt auch einen ſolchen Vorgang im Verlaufe der Glacialepoche 
für die britiſchen Inſeln nach. Er zerlegt die britiſche Flora 
und Fauna in einheimiſche und in fremde erſt damals eingewanderte 
Elemente und zeigt, wie mit dem Eintritte der Kälteepoche und dem 
Wiedereintritte des milderen Klima's Veränderungen in der Geſtal— 
tung von Feſtland und Meer einhergingen, welche Wanderungen von 
Pflanzen und Thieren vermitteln konnten. 

Seine Auseinanderſetzung iſt eine ſehr umfaſſende, ſie betrifft 
Land- und Meeresbevölkerung, Pflanzen und Thiere, tertiäre, glaciale 
und heutige Lebewelt und wo er in einzelnen Punkten auch zunächſt 
noch nicht die letzte und entſcheidende Lößung der Fragen getroffen 
haben ſollte, hat ſeine Lehre doch anſtatt der weiteren Forſchung den 
Weg abzuſchneiden, vielmehr neue Richtungen ihr eröffnet, die ihre 
guten Erfolge verbürgen. 8 

Forbes zeigt, wie die große Mehrzahl der Pflanzen- und Thier— 
Arten der britiſchen Inſeln ſolche ſind, die dem germaniſchen Feſtlande 
zugleich noch angehören. Mit dieſen treffen nun aber — und zwar 
namentlich im ſüdweſtlichen England und im ſüdöſtlichen Irland 
— eine Anzahl von ſonſt dem ſüdlichen Europa angehörigen Arten 
zuſammen. Die hohen Gebirge, beſonders von Schottland und 
Wales, haben ihrerſeits Arten aufzuweiſen, die vorzugsweiſe mit 
dem ſcandinaviſchen Norden, zum Theil auch mit der europäiſchen 
Alpenkette gemeinſam ſind. Die Frage iſt alſo ſehr nahe gelegt, ob 
vieſe verſchiedenen Beſtandtheile der britiſchen Flora und Fauna auf 
dem Wege ehemaligen Bodenzuſammenhanges aus jenen jetzt durch das 
Meer davon getrennten Theilen des europäiſchen Feſtlandes wirklich 
eingewandert ſein können. 

Hierzu kommt noch ein anderes in der Thierwelt der britiſchen 
Inſeln ausgeſprochenes Verhältniß. Es iſt eine allgemein bekannte 
Thatſache, daß in Irland eine Anzahl von Thierarten fehlen, die 
England und dem benachbarten Theile des Feſtlandes eigenthümlich 
find, namentlich fällt die große Armuth Irland's an Reptilien 
auf. Thomſon hat darüber eine vergleichende Zuſammenſtellung ge— 


47 


liefert. Von 22 Arten von Reptilien, die noch in Belgien leben, 
reichen nur 11 nach England und nur 5 Arten nach Irland. Eigene 
Arten von Reptilien, die dem europäiſchen Feſtlande fehlten, haben 
die britiſchen Inſeln nicht aufzuweiſen. Die Arten ſelbſt ſind alle 
dieſſelben, nur ihre Zahl ändert für jedes dieſer drei Gebiete ab. 
Kamen die Thiere der britiſchen Inſeln alſo durch Einwanderung vom 
europäiſchen Feſtland erſt auf dieſelben, ſo mußten dabei gewiſſe Hem— 
mungen obwalten, welche eine Thierart bei ihrer Wanderung über— 
wand, eine andere nicht. Arten, die bis England und Schott— 
land gelangten, vermochten dann Irland nicht zu erreichen. 

Während der Glacialepoche hatte das britiſche Meer, wie die 
conchylienreichen Ablagerungen jener Zeit erweiſen, eine zum größten 
Theile andere Bevölkerung als ſie in der Tertiärepoche war und gleicher— 
weiſe auch von derjenigen der Jetztwelt verſchieden. Die Umgeſtaltung 
aber entſprach dem Einfluſſe eines allmähligen Sinkens und eines 
nachherigen Steigens der Temperatur. Nichts deutet dabei auf einge— 
tretene allgemeine Vernichtungen alles Lebendigen und auf nachherige 
unmittelbare Neuerſchaffung von Pflanzen und Thieren. Forbes 
zeigt vielmehr, daß die Glacialfauna im ſüdlichen Irland ihre Grenze 
erreichte und hier ſchon mit einer ſüdlicheren Bevölkerung ſich miſchte. 
Mollusken-Arten, die heute dem hohen Norden angehören, hatten da— 
mals der klimatiſchen Aenderung folgend im britiſchen Meer ſich an— 
geſiedelt, mit dem Wiedereintritte milderer Temperaturen erloſchen ſie 
theils hier und leben heut zu Tage nur noch an den Küſten der ark— 
tiſchen Länder, theils blieben ſie als neues Element im britiſchen 
Meere zurück. So beſteht denn nach Forbes klaſſiſchen Forſchungen 
die heutige Meeresfauna der britiſchen Inſeln nachweisbar aus einer 
Vergeſellſchaftung von drei Faunen, erſtens Arten, die in der Tertiär— 
epoche ſchon hier lebten, die Glacialepoche überſtanden und heute 
noch als Urbewohner fortbeſtehen, zweitens Arten, die erſt mit der 
Glacialepoche aus dem hohen Norden an die britiſchen Inſeln kamen 
und hier ausdauerten, endlich drittens ſolchen, die beim Wiederein— 
tritte des milderen Klima's aus den benachbarten wärmeren Meeren 
hereingelangten. 

Aehnlicher aber im Einzelnen anderer Art war die Entſtehung 
der heutigen Landbevölkerung von England, Schottland und 
Irland. 

Während der Glacialepoche ſtanden große Strecken der britiſchen 


48 


Inſeln unter Meeresbedeckung, die heutigen Gebirge derſelben ragten 
nur als niedere Inſeln über den Spiegel des germaniſchen Eismeeres 
hervor, aus welchem ſich Schichten mit Seethieren von hochnordiſchem 
Typus ablagerten. Mit dem Eintritte des milderen Klima's war 
eine Hebung des britiſchen Gebietes verknüpft, ein feſtes Land in Form 
einer ungeheuren Ebene verband jetzt die britiſchen Inſeln mit dem 
europäiſchen Continent und über dieſe Brücke wanderten in langſamer 
Folge Pflanzen- und Thierarten des Oſtens auf die damals gewiß 
nur ſparſam bevölkerten britiſchen Länder ein. So erhielten dieſe 
die deutſche Flora und Fauna, die jetzt dort vorwiegt. 

Eine Einwanderung von Pflanzen und Thieren in ein neues 
Gebiet kann indeſſen nicht plötzlich geſchehen, ſie bedarf vielmehr langer 
Zeiträume. So mochte es kommen, daß Irland durch Bildung eines 
Meeresarmes früher ſchon von England als dieſes vom Continent 
wieder getrennt wurde. War dies der Fall, ſo konnten viele der Ein⸗ 
wanderer Irland nicht erreichen, andere, die jetzt Belgien, Nord— 
frankreich und Deutſchland bewohnen, erreichten auch nicht ein— 
mal England. 

Pflanzen⸗ und Thierarten des hohen Nordens, die mit dem Vor— 
rücken der nordiſchen Kälte nach Mitteleuropa gewandert waren, wur— 
den hier von dem Wiedereintritt eines milderen Klima's überraſcht, 
welches ihnen nicht zuſagte. Sie zogen ſich damals auf die kühleren 
Zonen der Gebirge zurück. Die Alpenflora iſt daher ſo nahe ident 
mit der Skandinaviſchen. 


Du r w I n. 


Lyell's und Forbes Erfolge mußten nothwendig auf La— 
marck's und Geoffroy's Anſichten über den Zuſammenhang der 
Lebewelt wieder zurückführen. Hatte Lyell die Geologen gelehrt, die 
alten Erſcheinungen der Geſchichte der Erdrinde nach den heute wir— 
kenden Kräften zu erklären und Forbes in ſeiner Arbeit über die 
britiſche Flora und Fauna dargelegt, welche eingreifenden Verände— 
rungen die allmähligen Hebungen und Senkungen des Feſtlandes auf 
deſſen organiſche Bevölkerung haben können, jo lag es nahe, auf La— 
marck's Ausgangspunkte wieder zurückzugehen. Ein für die Aus— 
bildung der Erdrinde angenommener Vorgang konnte und mußte auch 
auf die Deutung der organiſchen Welt eine Rückwirkung äußern, 


49 


infofern Pflanze wie Thier ja von den großen Phaſen der Geſchichte 
unſeres Planeten abhängt. War der eine Vorgang allmählig und gleich- 
förmig, ſo konnte es auch der andere ſein. Hatte ja doch Lamarck 
in einer an Lyell's Gedankengang in hohem Grade erinnernden 
Weiſe es ausgeſprochen, daß der Gang der Natur in der Umge— 
ſtaltung der Lebewelt ein im Verhältniß zu unſerer eigenen Lebenszeit 
ganz langſamer und allmähliger ſei und daß daher die Wirkung für 
unſere unmittelbare Sinneswahrnehmung verſchwinde. 

Cuvier's und Agaſſiz entgegenſtehende Lehren gründeten ſich 
auf die Annahme gewaltiger und vernichtender Erdrevolutionen. Nahm 
man dieſe an, ſo mußten auch allgemeine Vernichtungen und Neuer— 
ſchaffungen der Pflanzen- und Thierwelt ſtattgefunden haben. Verwarf 
man aber die Lehre von der Allgemeinheit der geologiſchen Revolu— 
tionen, ſo mußte man auch die Continuität des Lebensfadens der 
Pflanzen⸗ und Thierbevölkerung zugeſtehen. 

Lamarck's und Geoffroy's Lehre von der Abſtammung der 
geſammten Lebewelt von einigen wenigen einfach organiſirten Urformen 
trat damit wieder in den Vordergrund, und verlangte Prüfung auf 
Grund der von der Geologie und Paläontologie im Laufe der Jahr— 
zehende ſo weſentlich erweiterten Baſis. Auch in der organiſchen Welt 
mußten kleine unſcheinbar wirkende Einflüſſe im Laufe ungeheurer Zeit— 
räume große Veränderungen erzeugt haben, es fragte ſich nur, ob die 
neuere Wiſſenſchaft nähere Aufklärung über die Art jener Einflüſſe 
und den Gang der durch ſie erzeugten Veränderungen zu gewähren 
vermag. 

Ch. Darwin hat dieſen Verſuch gewagt. Er hat die Lehre 
Lamarck's und Geoffroy's den weſentlichen Grundzügen nach 
neu aufgenommen, den Vorgang der Umbildung aber auf neuen und 
ihm eigenthümlichen Weiſen darzuthun verſucht. 

Nach Darwin's Theorie ſind, ganz ſo wie Lamarck, Geof— 
froy und andere annahmen, alle Organismen, ſowohl alle heute leben— 
den als alle in foſſilem Zuſtande gefundenen die Nachkommenſchaft 
einiger wenigen oder vielleicht ſelbſt einer einzigen einfach organiſirten 
Grundform und der Umbildungsvorgang war vom erſten Anfang des 
organiſchen Lebens an bis zum heutigen Tage derſelbe, deſſen lang— 
ſame, allmählige und kaum erkennbare Bewegung jetzt noch unter 
unſeren Augen vor ſich geht. 

Die zur Veränderung und Vervollkommnung der pflanzlichen und 


Rolle, Darwin's Lehre. 4 


50 


der thieriſchen Form führenden Momente und die Art der Umgeftal- 
tung ſelbſt ſind in vieler Hinſicht anders als Lamarck und Geof— 
froy lehrten. 

Darwin geht von der allſeitig anerkannten Thatſache aus, daß 
jede Art von Organismen innerhalb gewiſſer Grenzen veränderlich iſt 
und bald äußere Einflüſſe, bald innere Vorgänge eine ſolche Abweichung 
der Nachkommenſchaft von ihren Eltern hervorrufen. i 

Iſt der Character der erſchienenen Abänderung dem Organismus 
unnütz oder ſchädlich, ſo verliert ſich die neu erſchienene Form über 
kurz oder lang wieder. Iſt ſie aber dem Organismus im Kampfe 
gegen die zu ſeiner Vernichtung wirkenden Einflüſſe nützlich und ſei 
es auch in einem noch ſo unmerklichen Grade, ſo hat die neue Form 
in einem entſprechenden Grade Ausſicht ſich fortzuerhalten und die 
gleichzeitigen Individuen von gleichgültiger oder gar ſchädlicher Varia— 
tion zu überleben. Sie kann ſich dann je nach den Umſtänden im 
Laufe der Generationen mehr und mehr befeſtigen, d. h. ſcheinbar 
ſtabil werden, oder auch bei einem Wechſeln der Einflüſſe weiterhin 
umgeſtalten. 

Von der Nachkommenſchaft eines und deſſelben Stammes können 
ſolche Abweichungen in ſehr verſchiedener Richtung ſich entwickeln, ſie 
hängen zuſammen mit der Art des Aufenthalts, der klimatiſchen Ver— 
hältniſſe, der Nahrung und der feindlichen Mitwelt. Sie treten am 
meiſten hervor, wenn durch äußere Einflüſſe der Verbreitungsbezirk 
einer Art in mehrere zertheilt wird. 

Das Auseinandergehen der Nachkommenſchaft einer und derſelben 
Form muß dann im Laufe langer Zeiträume immer weiter und ſchrof— 
fer werden, die Natur ſetzt ihm keine Grenze, aus einer Art entſtehen 
erſt Varietäten, aus dieſen dann Arten. Die neuen Arten weichen 
ihrerſeits, indem die Mittelglieder gemäß ihrer geringeren Mitbewer— 
bungs⸗Fähigkeit der Verminderung und dem Untergang zugeführt wer- 
den, wiederum weiter auseinander. Die damit entſtehenden Abſtände be— 
dingen dann das Hervortreten neuer Gattungen, Familien, Ordnungen, 
Klaſſen. Gewöhnlich, doch nicht in allen Fällen, iſt mit der Abände— 
rung auch eine phyſiologiſche Vervollkommnung verknüpft. Dies führt 
dann zum Hervortreten jener Stufenleiter vom niederen zum höheren 
Weſen, welche ſowohl in der Statiſtick als auch in der Geſchichte der 
Organismen ſo bedeutend hervortritt, ohne indeſſen vollkommen durch— 
zugreifen. Zu allem dieſem bedarf es nach Darwin nur der Wirk— 


51 


ſamkeit der heute noch thätigen Naturkräfte innerhalb langer Zeit- 
räume, wie dies auch Lamarck für die Aenderungen der Thierform, 
Lyell für die Aenderungen im Bau der Erdrinde annahmen. 

Darwin's Theorie ſtützt ſich darnach auf folgende Grundſätze: 

1. die Erblichkeit. Eltern vererben ihre Charactere auf die 
Nachkommen. a 

2. Die individuelle Variation. Wenn die Erblichkeit 
auch allgemeine Regel im Pflanzen- und Thierreich iſt, ſo erleidet 
ſie doch dadurch eine Ausnahme, daß durch ſie die Charactere nie 
vollkommen von den Eltern auf die Kinder übertragen werden, ſondern 
immer kleine individuelle Abweichungen auftreten; es können ſogar 
Junge einer und derſelben Geburt von einander merklich abweichen. 

3. Vererbung der Variation. Bildet die individuelle 
Variation auch eine Ausnahme von dem Grundſatze der Erblichkeit, 
ſo kann ſie trotzdem doch ſelbſt wieder vererbt werden und geht dann in 
vorwiegend unveränderter Form auf die weitere Nachkommenſchaft über. 

4. Kampf um's Daſein. Alle Pflanzen und Thiere haben 
Feinde, die nach ihrer Vernichtung ſtreben. Die Pflanze kämpft mehr 
oder minder günſtig gegen klimatiſche Einflüſſe, Wechſel der Jahres— 
zeiten, Trockenheit und Näſſe u. ſ. w. Das Thier muß ſich feine 
Nahrung gewinnen. Pflanzenfreſſer ſtellen den Pflanzen, Raubthiere 
den Pflanzenfreſſern nach. Aber auch Individuen gleicher Art, oder 
verſchiedener auf ähnliche Weiſe lebenden Arten machen ſich Raum 
und Nahrung ſtreitig. In dieſem allgemeinen Kampf ums Daſein 
ſind aber nicht alle Individuen gleich günſtig geſtellt. 

5. Natürliche Ausleſe, natural selection. Individuen, 
welche durch die Art ihrer individuellen Variation günſtiger im Kampf 
ums Daſein geſtellt ſind, vermögen eher der Vernichtung zu entgehen 
als die übrigen. Sie erlangen daher ein relatives Uebergewicht der 
Zahl, pflanzen ſich dem entſprechend um ſo eher unter einander fort 
und befeſtigen dabei jenen Grad der Abweichung, der ſie den übrigen 
günſtiger gegenüber ſtellt. Auf dieſem Wege entſtehen allmählig neue 
Varietäten und neue Arten. Darwin vergleicht dieſe Ausleſe, welche 
im Laufe der natürlichen Dinge ſtatt hat, der abſichtlichen Züchtung 
neuer Raſſen von Nutzpflanzen und Hausthieren durch den Menſchen. 
Der Vorgang iſt zugleich auch ein ähnlicher wie der der natürlichen 
Anreicherung bei gewiſſen geologiſchen Vorgängen. 

Gerade dieſer Grundſatz der natürlichen Ausleſe oder natürlichen 

4 * 


52 


Züchtung iſt nun der eigentliche Schwerpunkt der Darwin 'ſchen 
Lehre, die mit ihm ſtehen und fallen wird. Es iſt anziehend in dieſer 
Hinſicht Lamarck und Darwin zu vergleichen. Lamarck hatte 
die Veränderung und Vervollkommnung der Thierform von der un— 
mittelbaren Thätigkeit des Thieres im Kampfe gegen die äußeren Um— 
ſtände gefunden, Darwin dagegen, beide Momente abwägend, er— 
kennt den äußeren Einflüſſen, welche das Thier im Daſein bedrohen, 
die größere Bedeutung zu und ſieht im Thiere vor allem nur den 
leidenden Theil. Nach ſeiner Anſicht trifft die Natur gleichſam eine 
Auswahl unter Pflanzen und Thieren, ſie läßt die äußeren feindlichen 
Momente auf ſie einwirken, behält nur jene Formen am Leben, die 
kräftigen Widerſtand leiſten und züchtet aus dieſen ausgewählten In⸗ 
dividuen neue Varietäten und neue Arten. So iſt die Darwin'ſche 
Theorie gleichſam eine inverſe Wiedergabe der Lamarck'ſchen; ſie 
iſt ihr Spiegelbild. Man wird dabei an Stahl und La voiſier 
erinnert, deren Lehren in ähnlicher Weiſe Zuſammenhang und Gegen— 
ſatz zugleich bieten. 

Darwin hat ſeiner Lehre von der heute noch vor ſich gehen— 
den Umgeſtaltung der Flora und Fauna auch auf die Reihenfolge der 
urweltlichen Organismen Anwendung zu geben verſucht. Wie ſich faſt 
von ſelbſt verſteht, hat er dabei zunächſt an Lyell's und Forbes 
Ergebniſſe anknüpfen müſſen und ſteht dadurch um jo ſchroffer Ag aſſiz 
gegenüber. 

Die ganze heutige Lebewelt ſtammt darnach von einigen wenigen 
oder auch einer einzigen urſprünglichen Grundform ab. Von dieſem 
Anfangspunkt aus müßten wir nun durch eine zahlloſe Reihe von 
Uebergängen den Stammbaum divergirend bis zur heutigen Flora und 
Fauna führen. Hierzu ſehen wir allerdings auch die Grundzüge durch 
den heutigen Stand der Geologie und der Paläontologie vorgezeichnet, 
aber die Ausführung ins Einzelne iſt zur Zeit noch nicht thunlich. 
Der Grund davon liegt in der Unvollkommenheit unſerer Kenntniß 
von den urweltlichen Organismen und ihren Lebensverhältniſſen. In- 
deſſen ſchreitet dieſe Kenntniß voran und wir ſind im Stande ſchon 
vorauszuſehen, in welcher Weiſe die noch klaffenden Lücken im Laufe 
der Jahre ausgefüllt oder überbrückt werden müſſen. Wir ſind mit 
einer zahlloſen Menge organiſcher Formen noch unbekannt, welche, 
wenn die Lehre von dem Zuſammenhang der Lebewelt aller Zeiten 
wahr iſt, nothwendig beſtanden haben müſſen und die foſſil nachge— 


53 


wieſenen Formen unter einander und mit denen der Jetztwelt ver- 
knüpften. Indeſſen ſind unſere paläontologiſchen Muſeen noch zu arm, 
um eine genügende Reihe zuſammenhängender Formen liefern zu können 
und die Erforſchung der geologiſchen Gebilde iſt noch nicht ſo weit 
vorgerückt, um alle äußeren Einflüſſe, welche in den verſchiedenen geo— 
logiſchen Epochen die lebenden Formen betrafen und ihre Umgeſtaltung 
mehr oder minder zur Folge hatten, in ein klares Licht zu ſtellen. 
So ſind namentlich eine große Anzahl von Lebeweſen gar nicht zu 
foſſiler Erhaltung fähig, andere können nur unter ſehr ſeltenen und 
ungewöhnlich günſtigen Verhältniſſen in entſtehenden Bodenſchichten 
einen feſteren Theil ihres Körpers oder einen Abdruck ihrer Geſtalt 
hinterlaſſen. Noch andere Lebeweſen werden in Folge der Art ihres 
Aufenthaltes nur ſehr ſelten erhalten werden. So kennen wir z. B. 
von Landbewohnern im Laufe langer geologiſchen Epochen erſt ſehr 
ſpärliche Reſte, allerdings wächſt im Laufe der fortſchreitenden For— 
ſchung von Jahr zu Jahr ihre Zahl, aber ſie bleibt immer noch un— 
genügend zur Herſtellung einer zuſammenhängenden Reihe. Solche 
Lücken können die Durchführung der Theorie erſchweren, aber ſie wider— 
legen ſie nicht. 

Die ſcharfen Abtrennungen der meiſten geologiſchen Formationen 
von einander, die großen Unterſchiede, welche ſo oft ihre Floren und 
Faunen an ſolchen Grenzlinien darbieten, ſprechen auf den erſten 
Anblick allerdings ſehr gegen die Lehre eines chronologiſchen Zuſam— 
menhanges der Lebewelt. Indeſſen iſt dieſer Umſtand nach Darwin 
nur ſcheinbar, denn er beruht auf dem Erfolg langſam wirkender geo— 
logiſcher Agentien, welche uns in der Reihenfolge der Formationen 
ſcharfe Grenzen ſehen laſſen, wo eigentlich nur lange zeitliche Unter— 
brechungen vorliegen. Darwin zeigt, daß langſame Hebungen und 
Senkungen größerer Theile der Erdoberfläche noch heute ununter— 
brochen fortdauern und wahrſcheinlich auch in allen älteren Epochen 
der Erdausbildung ſtatt hatten. Solche Vorgänge aber müſſen großen 
Einfluß auf die Ablagerung neuer Bodenſchichten haben, je nachdem 
ſie Raum dazu bereiten oder Raum entziehen. Allmählige Senkungen 
von Meerestheilen begünſtigen die Ablagerung mächtiger Bodenſchich— 
ten auf dem Meeresgrunde, Hebungen führen dagegen zu einer Wie— 
derzerſtörung neugebildeter Schichten. Wo alſo auf Meeresboden He— 
bungen und Senkungen von langer Dauer abwechſelten, führten die 
Zeiten der Erhebung zu ſcheinbaren geologiſchen Abgrenzungen, ſie 


54 


riefen Lücken in den auf uns gekommenen geologischen Urkunden her- 
vor. Der Zuſammenhang des organiſchen Lebens auf Erden war 
alſo nie vollſtändig unterbrochen und jene Linien, wo für unſere un- 
mittelbare geologiſche Beobachtung Unterbrechungen erſcheinen, beruhten 
auf der Wirkung örtlicher Ereigniſſe. 

Die Geologie liefert uns ungemeſſene, die gewöhnliche Faſſungs— 
gabe weit überſchreitende Zeiträume, innerhalb dieſer konnte die Um⸗ 
geſtaltung der Formen vor ſich gehen. Daß ſolche Umgeſtaltungen vor 
ſich gegangen ſind, beweiſen aber z. B. die offenbaren Aufeinander⸗ 
folgen eng verbundener örtlicher Typen auf beſtimmten örtlich begrenz- 
ten Gebieten. So haben im Laufe der tertiären Epochen die Säuge— 
thierfaunen auf Neuholland, in Südamerika und im Gebiete der 
alten Welt eine von einander unabhängige Entwicklung gefunden. Der 
allgemeine Typus der erloſchenen Säugethierfauna von Neu holland 
war derſelbe wie er heute iſt, nur die Arten, theilweiſe auch die Gat— 
tungen, ſind andere geworden. Eben ſolche Erſcheinungen bietet die 
Säugethierwelt von Südamerika und in ſtarkem Gegenſatz zu ihr 
ſteht ſowohl die heutige Säugethierfauna der alten Welt, als auch 
ihre unmittelbar vorausgegangenen urweltlichen Vorläufer. Ein ſolcher 
Gegenſatz der Faunen dreier Gebiete, fortlaufend durch verſchiedene 
Epochen, iſt aber mit keiner anderen entgegenſtehenden Theorie natur⸗ 
gemäß vereinbar, während er mit dem Zuſammenhang des Lebens— 
fadens bei ſtets fortgehender Formenumgeſtaltung in vollem Einklange 
ſteht und von ihm ganz naturgemäß bedingt wird. 

Arten erſcheinen im Laufe der geologiſchen Epochen oft ſo plötz— 
lich mit einer gewiſſen Schichte, daß der erſte Eindruck zur Annahme 
führt, ſie ſeien zur Zeit der Ablagerung jener Schichte neu erſchaffen 
worden. Aber Darwin beruft ſich hier auf die von Forbes dar— 
gelegten Ein- und Auswanderungen von Floren und Faunen ſowohl 
des Meeres als des Feſtlandes zur Zeit der Diluvialepoche. See— 


thiere wanderten im britiſchen Meer mit dem Wechſel von Kälte und 


Wärme aus und ein. Sie entſtanden nicht neu zur Zeit der Ablage— 
rung jener Schichten, in denen ſie aufzutreten beginnen, ſondern ſie 
wanderten zu jener Zeit aus anderen Meerestheilen ein. Kälteliebende 
Scandinaviſche Meeres-Mollusken, die in der Tertiärepoche 
im britiſchen Meere fehlten, gelangten in der Eiszeit des Diluviums 
herein und viele von ihnen leben jetzt noch in dem damals neu be— 
tretenen Gebiet. Aber auch Eu ropäiſche Landbewohner machten in 


55 


der Diluvialepoche Wanderungen in ausgedehntem Maaßſtabe. Jetzt 
erſcheinen gewiſſe kälteliebende Pflanzen- und Thierarten von einander 
vereinzelt auf den kalten Höhen der Alpen und auf den briti— 
ſchen Bergen, ſie ſtimmen theils genau der Art nach mit ſolchen 
von Scandinavien und von Grönland überein, theils ſind ſie 
ihre nächſten, der Art nach kaum zu unterſcheidenden Verwandten. Sie 
hatten ſich mit dem Eindringen des kalten Klima's in Nord- und 
Mitteleuropa hier ausgebreitet und zogen ſich ſpäter mit dem 
Wiedereintritt des milderen Klima's in die kalte Region der Gebirge 
zurück. So durch geologiſche Ereigniſſe in getrennte Bezirke verſprengt, 
wurden ſie abweichenden phyſiſchen Verhältniſſen ausgeſetzt, ein Theil 
der Arten widerſtand dieſen und behielt ſeine Charactere unverändert 
bei, andere zertheilten ſich, nachdem ſie auf verſchiedene Gebiete zer— 
theilt worden waren, dem phyſiſchen Einfluſſe nachgebend, auch in ver— 
ſchiedene Varietäten oder in mehr oder minder ausgeſprochene Arten. 
Arten ſind im Laufe der geologiſchen Epochen verſchwunden, ohne 
daß ein anderer Grund, als der einer Vernichtung durch gewaltſame 
Kataſtrophen angenommen werden zu können ſcheint. Aber nach Dar— 
win hat die Erlöſchung derſelben einen ganz anderen Grund. 
Getrennte Feſtländer mit verſchiedenartiger Flora und Fauna 
können durch geologiſche Ereigniſſe mit einander verbunden, Inſeln 
durch Ueberbrückung an Continente angeſchloſſen werden. Die Folge 
davon iſt dann, daß zwei Floren und zwei Faunen einander durch— 
dringen und daß die einzelnen Individuen derſelben mit einander 
kämpfen und ſich die Exiſtenz ſtreitig machen werden. Es wird dabei 
darauf ankommen, bei welchem beider Theile die Organiſation in Be— 
zug auf den Kampf ums Daſein am höchſten geſteigert iſt. Iſt von 
zwei Gebieten die Flora und Fauna des einen in dieſer Hinſicht hoch— 
entwickelt wie z. B. die der alten Welt, die andere aber auf der Stufe 
einer der älteren geologiſchen Epochen ſtehen geblieben, ſo iſt kein 
Zweifel, daß der erſtere Theil den letzteren überwinden und allmählig 
oder ganz vernichten wird. Neuholland und Neuſeeland er— 
ſcheinen, der alten Welt verglichen, im Character ihrer Pflanzen- und 
Thierwelt wie auf einer der älteren chronologiſchen Epochen ſtehen ge— 
blieben. Würde heut zu Tage eine Ueberbrückung zwiſchen dieſen Ge— 
bieten und dem Feſtlande von Südaſien ſtattfinden, ſo würde ge— 
wiß die hochgeſteigerte Lebewelt von Südaſien die dürftigen Formen 
von Neuholland und von Neuſeeland überwinden und mehr oder 


56 


minder ausrotten. Zu ähnlichen Erfolgen hat die Coloniſation dieſer 
Länder durch die Engländer geführt. Engliſche Pflanzen und Thier— 
arten dringen heut zu Tage mächtig ein in Neuholland und Neu- 
ſeeland, breiten ſich aus und machen den eingeborenen Formen 
Boden und Daſein ſtreitig. Aber von einem ausgedehnten Eindringen 
neuſeeländiſcher Pflanzen oder Thiere in England als Folge des 
lebhaften Seeverkehrs hat man noch nichts gehört. 

Solche Verhältniſſe dürfen wir auch für die älteren Epochen und 
ihre lebende Welt annehmen. Europa war in der Secundärepoche 
durch Säugethiere aus der Klaſſe der Beutelthiere ausgezeichnet. So 
viel wir bis jetzt wiſſen, waren fie damals in Europa ziemlich eben- 
jo vorwiegend, als jetzt in Neuholland. Heut zu Tage beſitzt 
bekanntlich Europa und das Feſtland der alten Welt überhaupt 
keine Beutelthiere mehr. Wir brauchen für das Erlöſchen derſelben 
auf dem ehemaligen Gebiete aber keine gewaltſamen Eingriffe in die 
Natur anzunehmen, es iſt offenbar viel einfacher und ungezwungener 
zu ſchließen, daß ſie in Folge der Mitbewerbung kräftigerer Pflanzen— 
freſſer, in Folge der Nachſtellungen überlegener Raubthiere und durch 
andere natürliche äußere Einflüſſe allmählig an Individuenzahl und 
Verbreitung eingeengt und ſchließlich vernichtet worden ſind. In Neu— 
holland aber erhielten ſie ſich, denn ſie hatten dort keine ihnen 
überlegenen Mitbewerber. 

Die Vertreibung und faſt vollſtändige Ausrottung unſerer ehe— 
dem ſehr häufigen europäiſchen Haus ratte durch die aus Aſien 
erſt in geſchichtlicher Zeit zu uns vorgedrungene größere und muthigere 
Wanderratte iſt ein anderer Beleg hierzu. 

Aehnliche Vorgänge müſſen aber in zahlloſen Fällen auch in der 
Vorwelt vor ſich gegangen ſein und führen in der unmittelbaren geo— 
logiſchen Urkunde zum Hervortreten ſcharf ausgeſprochener Gegenſätze, 
aus der unſere theologiſirenden Geologen auf eine abſichtliche Ver— 
nichtung einer Art durch den allmächtigen Willen des Schöpfers und 
die Neuerſchaffung der anderen irrigerweiſe geſchloſſen haben. 


57 


Zweites Kapitel. 


Darwin's Lehre von der Erblichkeit und der Veränderlichkeit. 


In der Thier- Morphologie d. h. in der Deutung des Zuſam— 
menhanges zwiſchen Weſen und Form des Thieres ſtanden ſich lange 
zwei ſehr entgegengeſetzte und ſcheinbar einander ganz ausſchließende 
Grundanſichten gegenüber, die namentlich durch Geoffroy-Saint— 
Hilaire einer- und Cuvier andrerſeits heftig verfochten wurden. 

Darwin hat ſie neuerlich wieder aufgenommen, aber die eine 
wie die andere einem tiefer liegenden Grundgeſetze untergeordnet. 

Nach Geoffroy liegt allen Thieren ein gemeinſchaftlicher Plan 
der Organiſation (unite de composition organique) zu Grunde. Alle 
ihre verſchiedenen Formen entſtanden im Verlaufe der Abſtammung 
durch ſtufenweiſe Entwicklung eines Körpertheiles oder Organes, mit 
der immer — und oft in auffallender Weiſe — eine entſprechende Zu— 
rückdrängung oder Unterdrückung eines anderen Theiles verknüpft war. 
Sie zeigen daher auch eine von der Lebensweiſe unabhängige Ueber— 
einſtimmung im Grundplane des Baues. 

Cuvier beſtritt die Nachweisbarkeit eines ſolchen gemeinſamen 
Grundplanes der Organiſation aller Thiere, er erklärte das Auftreten 
der Analogien, auf die Geoffroy und die deutſchen Naturphiloſo— 
phen ſich ſtützten, für etwas untergeordnetes und vertrat dem gegen— 
über die Bedeutung der exacten Thatſache. Er lehrte, daß jedes Thier 
eine den äußeren Lebensbedingungen angemeſſene Organiſation unab— 
hängig für ſich erhalten habe. 

Indeſſen genügt jede dieſer beiden Anſchauungen für ſich allein 
noch nicht zur Erklärung der Form- und Bau-Eigenthümlichkeiten der 
Lebewelt. Darwin ſpricht ſich dahin aus, daß, wie allgemein jetzt 
anerkannt wird, die organiſchen Weſen als nach zwei großen Geſetzen 
ausgebildet angeſehen werden können: 

1. der Einheit des Typus oder der Uebereinſtimmung im Grund— 

plane des Baues unabhängig von der Lebensweiſe; 

2. der Anpaſſung an die Bedingungen des Daſeins. 


5 


N 


Von dieſen beiden Momenten aber erklärt fid) die Einheit des Typus 
einfach aus der Einheit der Abſtammung. Alle Organismen, die von 
der gleichen Stammform hergekommen ſind, müſſen auch nach gleichem 
Grundplan gebaut fein. Die Anpafjung an die Lebensbedingungen, 
die Cuvier einſt ſo bedeutend in den Vordergrund geſtellt hatte, iſt 
nach Darwin aber ebenſo maßgebend für die Geſtaltung der Lebewelt. 

Sie beruht theilweiſe auf unmittelbarem Einfluß äußerer Lebens⸗ 
bedingungen, in manchen Fällen auch theilweiſe auf dem Gebrauch oder 
Nichtgebrauch der Körpertheile. Am eingreifendſten aber äußert ſie ſich 
im Zuſammenwirken der phyſiſchen Daſeinsbedingungen und der beleb— 
ten Mitwelt auf jede Art von Organismen, Pflanze wie Thier. Sie 
macht ſich hier auf dem Wege einer natürlichen Aus leſe geltend, 
welche zwiſchen Lebeweſen, die ſich den Lebensbedingungen mehr und 
ſolchen die ſich ihnen minder gut anpaſſen, unterſcheidet. Letztere ſterben 
allmählig aus, die bevorzugten, beſſer den Verhältniſſen angepaßten 
Individuen aber erhalten ſich am Leben und werden für den Charac- 
ter der nächſten Generation maßgebend. 

Beiden von Darwin angenommenen Hauptgeſetzen, dem der 
Einheit des idealen Bau's und dem der Anpaſſung, liegt aber ein 
noch tieferes Moment zu Grunde, das Geſetz der Erblichkeit. 
Nach dieſem pflanzten ſich erſtens der Grundplan der Organiſation 
und zweitens die von den Stammformen ſchon vollbrachten Anpaſſun⸗ 
gen an die Lebensbedingungen in vorwiegender Gleichheit durch alle 
Generationen von Eltern auf die Nachkommen fort. 

Die Natur der Erblichkeit drückt ſich durch den Satz „Gleiches 
erzeugt Gleiches“ aus. Charactere von Individuen, ſowohl ſolche 
von allgemeiner Art als ſolche, welche in denſelben individuell eigenen 
Abweichungen beſtehen, vererben ſich vorwiegend oder vollſtändig 
auf die Nachkommen. 

Eine ſolche Vererbung iſt im Pflanzen- wie im Thierreich vor— 
wiegend, jedoch nicht ganz ausſchließlich ausgeſprochen. Jedes Einzel— 
weſen gleicht mehr oder minder und zwar gewöhnlich in weit über— 
wiegendem Grade denen, von welchen es herſtammt. Dieſes Verhältniß 
iſt jo allgemein gültig, daß wir es als an und für ſich ſelbſtverſtänd⸗ 
lich zu überſehen pflegen. Alle unſre Eintheilungen und Beſchreibun— 
gen von Arten, Varietäten und Raſſen gründen ſich darauf. Aber es 
gibt auch Stammesfolgen, wo die Züge der Aehnlichkeit geringer bleiben 
und unſre Syſteme Ausnahmen unterliegen. Die Erblichkeit iſt, wie 
Darwin ſagt, die allgemeine Regel, aber es gibt Ausnahmen davon. 


59 


So beobachtet man zahlreiche Fälle, in denen einzelne Merkmale 
von Eltern nicht erblich ſind. Aber ſie verſchwinden doch gegenüber 
der Geſammtzahl und wichtigeren Bedeutung jener andern Vorgänge, 
in denen eine Vererbung ſtatt findet. Man findet ferner andere Fälle, 
wo eine Abweichung als Ausnahme von der Erblichkeit auftritt, aber 
alsbald ſelbſt vererblich wird, alſo dem Geſetze der Vererbung wieder 
ſich unterordnet. 

Erblichkeit und Abweichungen von der Erblichkeit ſtehen innig im 
Zuſammenhang mit der Mannigfaltigkeit der organiſchen Formen. Voll⸗ 
kommene Erblichkeit würde eine vollkommen gleichartige Lebewelt er— 
zeugen, wie ſie jetzt nicht vorhanden iſt. Allgemeine und grenzenloſe 
Abweichung von der Vererbung aber würde zu einer entſprechenden 
Verwirrung aller organiſchen Formen führen. Nach Darwin iſt alſo 
keins dieſer beiden Momente mit Rückſicht auf den Stand der heutigen 
Lebewelt für ſich allein denkbar. | 

Die Erblichkeit der Pflanzen- und Thiercharactere begründet ſich durch 
den Zuſammenhang der materiellen Theile und der Lebens— 
erſcheinungen des elterlichen und des neuerzeugten Lebeweſens. 

Die lebende Natur bietet einen ewigen Fortgang des Lebens 
durch Selbſttheilung, Knospung, Sporen- und Eierbildung. Dieſe 
verſchiedenen Arten der Fortpflanzung laſſen ſich in eine geſchlechtsloſe 
und eine geſchlechtliche theilen. Erſtere iſt die einfachere und kommt 
vorzugsweiſe den Pflanzen und den niederen thieriſchen Organismen 
zu, letztere iſt zuſammengeſetzter, ſie kommt bei höheren Pflanzen und 
niederen Thierformen gewöhnlich neben voriger vor, iſt aber bei höheren 
Thieren ausſchließlich entwickelt. In allen dieſen Fällen ſtehen erzeu— 
gende und erzeugte Lebeweſen in Continuität der materiellen Grund— 
lage und vererben daher ihre Eigenthümlichkeiten. 

Die Fortpflanzung überhaupt iſt nur eine Fortſetzung von 
Ernährung und Wachsthum, welche, nachdem ſie für die Aus— 
bildung des Individuums genug gewirkt, zur Erzeugung neuer In— 
dividuen wirkſam werden. 

Geſchlechtsloſe Fortpflanzung iſt eine einfache Wachsthumserſchei— 
nung. Ein lebender Theil trennt ſich vom Ganzen, um, wenn die 
Umſtände günſtig ſind, ſeine Entwicklung allein fortzuſetzen. 

Der Baum ſproßt Jahrzehende und Jahrhunderte lang fort und 
fort Knospen auf Knospen, jede ein mehr oder minder ſelbſtändig 
lebensfähiger Zuſtand derſelben Art. Die Knospe iſt ein nur zu theil— 


60 


weiſe ſelbſtändigem Leben entwickelter Theil des Organismus, fie er- 
hält deſſen weſentliche materielle Grundlage und ererbt damit auch 
alle weſentlichen Lebenserſcheinungen. Knospen, vom elterlichen Or— 
ganismus durch äußere Einflüſſe abgelößt und in entſprechende Lebens- 
verhältniſſe gelangt, wachſen in zahlloſen Fällen ſelbſtändig fort und 
behalten dabei alle elterlichen Charactere bei. Der Menſch kann dieſen 
Vorgang im Pflanzenreiche in zahlreichen Fällen durch Hervorrufung 
günſtiger Umſtände weiter ausdehnen. Ein Weidenzweig, in feuchten 
Boden gepflanzt, treibt bald unten Wurzel und oben neue Zweige und 
wird in kurzem eine neue Pflanze, welche alle elterlichen Charactere 
geerbt hat. Alle Trauerweiden und alle italieniſchen Pappeln ſind durch 
ſolche Ableger künſtlich fortgepflanzt. 

Bei einer Reihe von ſehr nieder ſtehenden Thierformen beſitzt 
ähnlich wie bei Pflanzen die organiſche Körpergrundlage die Fähigkeit 
durch Theilung, durch Knospung oder Sproſſung ſich zu mehreren — 
ſei es nun frei werdenden oder zuſammenhängend bleibenden In 
dividuen zu vervielfältigen. 

Selbſttheilung kommt vor bei Rhizopoden, Infuſorien, An— 
thozoen, Hydroiden, Planarien, Naiden. Sie geſchieht bei einigen For— 
men der Länge, bei andern der Quere nach. Regenwürmer zeigen zwar 
nicht von ſelbſt aber doch in Folge äußerer Eingriffe eine ſehr aus— 
gezeichnete Quertheilung. 

Knospen oder Gemmen, Ausläufer oder Stolonen 
erſcheinen häufig bei Anthozoen, ſowie auch bei Bryozoen und Tunica— 
ten. Der Vorgang iſt ganz ähnlich wie im Pflanzenreih. In man⸗ 
chen Fällen lößen die Knospen ſich los und werden zu wahren Indi— 
viduen, in andern bleiben ſie in Zuſammenhang mit dem Mutterthier. 

Die Fortpflanzung auf geſchlechtlichem Wege durch Samen und 
Eier iſt ein ähnlicher aber zuſammengeſetzterer Vorgang. Hier ver— 
einigen ſich zwei verſchiedengeſtaltete Theile, einerſeits das Ei’ chen 
(ovulum), andrerſeits die Zooſpermien oder der Pollenſtaub, 
um ein neues Weſen zu bilden. Der Vorgang iſt hier doppelt, aber 
ſonſt von gar nicht anderem Weſen. Das Ei'chen einerſeits, die Zoo— 
ſpermien und Pollenkörner andererſeits entſtehen auf dieſſelbe Weiſe aus 
einem lebenden Weſen, nach welcher die Ernährung zur geſchlechtsloſen 
Fortpflanzung führt, d. h. ihre Entſtehung beruht auf einer Abtren— 
nung eines belebten Theiles von einem Individuum. Sie geht von 
einer Zelle aus, die zur Gewebe-Grundlage des elterlichen Organis— 


61 


mus gehörte. Geſchieht eine ſolche Entwicklung in zwei getrennten 
Theilen eines und deſſelben Individuums, ſo heißt die Art ein Her— 
maphrodit. Bilden ſich aber Ei'chen in einem, Zooſpermien oder 
Pollenkörner nur in einem andern Individuum, ſo haben wir damit 
Weſen von getrenntem Geſchlecht, Männchen und Weibchen. 
Das Ei'chen und die Zooſpermie oder das Pollenkorn ſtehen ſowohl 
in Hinſicht der Entſtehungsweiſe als auch im Bau den niederſten Or— 
ganiſationsformen, die zum Theil nicht mehr als wie freie ſelbſtändig— 
lebende Zellen zu ſein ſcheinen, ſehr nahe gleich. Dieſer Vergleich 
gilt z. B. jedenfalls für die Hefenzellen und die Pollenkörner. Doch 
ſcheinen auch wohl die niederſten Infuſorien wenig mehr als einfache 
Zellen zu ſein. 

Das befruchtete Ei des Thiers oder das Samenkorn der Pflanze 
entſtehen alſo aus der materiellen Grundlage des hermaphroditen 
elterlichen Weſens oder des geſchlechtlich verſchiedenen Elternpaares 
durch Wachsthumsvorgänge. Die auf ſie übergehenden materiellen 
Theile der Stammform bleiben Träger von deren Lebenserſcheinungen 
und ſo erbt das neue Weſen von Vater und Mutter. 

Daß es gerade die Continuität der materiellen Grundlage zwiſchen 
dem elterlichen Organismus und dem Kinde iſt, was die Vererbung 
der Charactere bedingt, geht aus einer bekannten Erfahrung der Gärt— 
ner hervor. Man vermehrt Pflanzen bald durch Samen, bald durch 
Stecklinge oder Propfreiſer. Der Grad der Uebertragung des für die 
elterliche Pflanze geltenden Bildungsgeſetzes auf ihre Nachkommen iſt 
nun aber ſehr verſchieden, je nach der Art der Vermehrung, er iſt 
höher bei Ablegern, geringer bei Samen. Die Uebertragung iſt am 
vollſtändigſten bei Theilen, die mit der Mutterpflanze in der innigſten 
Verbindung geſtanden haben. Knospen und Stecklinge vermögen dar— 
nach am vollſtändigſten die Merkmale der Mutterpflanze zu vererben. 
Deßhalb vermehren wir auch unſere Obſtbäume, ferner die Trauer— 
eſche, die Blutbuche und viele andere Nutz- oder Zierpflanzen, deren 
Hauptwerth in Varietäten-Characteren beſteht, durch Stecklinge und 
Propfreiſer. Der ganze Betrag des individuellen Characters bleibt 
hier erhalten. 

Anders iſt es in vielen Fällen mit der Fortpflanzung mittelſt 
Samen. Der Zuſammenhang des Samens mit der Mutterpflanze 
wird hier ſchon frühzeitig unterbrochen. Der Samen pflanzt daher 
oft nur einen geringeren Betrag von Merkmalen der Mutterpflanze 


62 


fort. Veredelte Obſtſorten können wegen dieſes Umſtandes gewöhnlich 
nicht durch Samen nach ihrem vollen Character fortgepflanzt werden, 
ihre Samen liefern nicht mehr Nachkommen vom veredelten Character 
ſondern bei weitem der Mehrzahl nach nur Wildlinge von faſt der 
Natur der wilden Urform. 

Indeſſen liefert die Botanik doch auch merkwürdige Beiſpiele von 
Vererbung ganz individueller Eigenthümlichkeiten durch Samen, die 
man im Voraus nicht hätte erwarten mögen. 

Dahin gehört die Vererbung der ſogenannten Drehſucht bei 
Waldbäumen. Es iſt dies eine eigenthümliche Art von Mißbildung, 
bei der der ganze Holzkörper in einer ſchlaffen Spirale gewunden iſt. 
Man kann dies z. V. bei Eichen äußerlich an der in entſprechender 
Spirale aufgeborſtenen Rinde erkennen. Dieſe krankhafte Bildung 
pflanzt ſich theilweiſe durch Samen fort und es wird daher dem Forſt— 
mann abgerathen von ſolchergeſtalt mißbildeten Stämmen Samen zu 
nehmen, vergleiche C. Heyer. Waldbau. Leipzig 1854. p. 80. 


Beſondere Aeußerungen der Erblichkeit. 


Ein gewiſſermaßen fortlaufender Beweis für die Erblichkeit der 
Charactere bei Pflanzen und Thieren iſt einerſeits die Landwirthſchaft 
und Gärtnerei, andrerſeits die Viehzucht. Langjährige Erfahrungen 
lehren, daß unſere Wagen- und Reitpferde, unſere lang- und kurz⸗ 
gehörnten Raſſen von Rindvieh, unſere mannigfachen Sorten von 
zahmem Geflügel, deßgleichen unſere angebauten Nahrungsgewächſe ſich 
unter theils vollkommener, theils weſentlich vorwiegender Beibehaltung 
der ſie auszeichnenden Charactere durch eine nicht mehr zu überſehende 
Reihe von Generationen fortgepflanzt haben. Auffallendere Abwei— 
chungen, die dabei von der Erblichkeit vorkamen, erſchienen nur in 
ſeltenen Ausnahmen plötzlich. In der Regel ſind ſie verſchwindend 
gering und pflegen nur beim Vergleiche ſehr entfernter Generations- 
glieder bemerkbar zu werden. In allen Fällen aber, gleichviel ob ſie 
verhältnißmäßig plötzlich oder vielmehr in unmerklichen Abſtufungen 
erſchienen, immer bleiben ſie gering gegenüber der zahlloſen Menge 
der Charactere, welche ſich durch Fortpflanzung vollſtändig vererben. 

In jener die Mehrzahl der Fälle bildenden Form, wo die Erb— 
lichkeit allgemein oder doch öfters vorkommende Charactere betrifft, 
pflegt man im gewöhnlichen Leben ihre Wirkung ganz zu überſehen, 


* 


63 


weil man ſie als ſelbſtverſtändlich nimmt. Deſto unzweifelhafter aber 
tritt die Natur der Erblichkeit in jenen Fällen hervor, wo ein Cha— 
racter von ſeltener oder auch ganz neuer Beſchaffenheit an einem 
Individuum auftritt und auch bei ſeiner Nachkommenſchaft ſich wieder— 
holt, ohne bei der Menge anderer Individuen, welche in ganz der— 
ſelben Gegend und unter ganz denſelben Einflüſſen leben, hervorzu— 
treten. Hier erſcheint die Erblichkeit als Urſache der Wiederkehr eines 
und deſſelben Characters außer Zweifel. So gibt es Fälle von Ver— 
erbung angeborener Mißbildungen, z. B. überzähliger Finger bei Men— 
ſchen, überzähliger Zehenglieder bei Hühnern u. ſ. w. Auch manche 
Krankheiten vererben ſich von Eltern auf Kinder. 

Die beſonderen Geſetze, nach welchen die Erblichkeit gewiſſer, 
namentlich individuell aufgetretener Charactere ſich regelt, ſind noch 
ganz unermittelt. Eine und dieſelbe Eigenthümlichkeit eines Indivi— 
duums kann in einem Falle ſich auf die Nachkommen vererben, in 
einem anderen iſt es nicht der Fall, ohne daß wir uns über die be— 
ſondere Urſache Rechenſchaft geben können. Charactere, die von einem 
Individuum auf den unmittelbaren Nachkommen ſich nicht in wahr— 
nehmbarer Weiſe vererbten, können deſſenungeachtet beim Enkel oder 
ſelbſt beim Urenkel ſich wiederholen. Hierher gehört z. B. der Rück— 
ſchlag gezüchteter und veredelter Hausthier-Raſſen oder angebauter 
Gewächſe in eine andere der Urform mehr oder minder gleiche Raſſe. 
Es gibt endlich Fälle, wo eine Eigenthümlichkeit ſich von den Eltern 
auf die Nachkommen beiderlei Geſchlechts vererbt und andere, wo ſie 
nur auf die Nachkommen eines derſelben beſchränkt bleibt. So kommen 
z. B. bei Hühnern, bei Hirſchen, beim Löwen Eigenthümlichkeiten bei 
Männchen vor, die nur auf männliche Nachkommen ſich vererben. 
Es ſind dies die ſogenannten ſecundären Sexualcharactere. 

Nach Darwin ſcheint es, daß die Erblichkeit ſelbſt da bei Nach— 
kommen noch ausgeſprochen iſt, wo ihr Erfolg noch gar nicht äußerlich 
wahrnehmbar hervortritt. Der in der materiellen Grundlage des Nach— 
kommens liegende Anlaß äußert nicht immer offenbare und auffallende 
Wirkungen, er kann auch innerlich und verborgen — oder latent — 
vorhanden bleiben und in dieſer verborgenen Form ſich weiter vererben. 

Ohne dieſe Annahme dürfte der Rückſchlag gezüchteter Raſſen in 
Charactere der Stammart nicht zu erklären ſein. Der Verlauf der Em- 
bryonal⸗Entwicklung ſcheint damit zuſammenzuhängen, auch der Ver— 
lauf gewiſſer erblicher Krankheiten. 


64 


Ueberhaupt erkennt Darwin aus einer Reihe von Thatſachen 
ein Streben, im Nachkommen das Erſcheinen eines Characters, der 
bei beiden Eltern oder auch nur bei einem derſelben ausgedrückt war, 
wieder an dem entſprechenden Körpertheile und in dem entſprechenden 
Lebensabſchnitte, wo er den Eltern zukam, hervorzurufen. Der Cha— 
racter geht nicht auf andere Theile des Körpers über, er tritt oft in 
einer beſtimmten Zeit des Lebens hervor und iſt früher und ſpäter 
nicht wahrnehmbar. Als Beiſpiel einer Vererbung von Characteren, 
die nur in einer der früheren Stufen der Körperentwicklung für unſer 
Auge erkennbar find, erwähnt Darwin die Seidenraupe. Man be- 
obachtet bei ihrer Züchtung Eigenthümlichkeiten, die nur den Raupen⸗ 
und Puppenzuſtand betreffen. Andererſeits können ſich beim Rind 
Charactere der Hörner erſt im reiferen Alter zeigen, ſie vererben ſich 
auf die Nachkommen, der Anlaß zu ihrer Entwicklung aber ſcheint im 
Jugendzuſtande latent angenommen werden zu müſſen. Pflanzen, die 
nur in Blüthe oder Frucht von einander abweichen, vermögen wir 
beim Keimen des Samens noch nicht zu unterſcheiden. 

Für die nähere Feſtſtellung und geſetzmäßige Faſſung aller dieſer 
Erblichkeitserſcheinungen bleibt noch viel zu thun, unſere ſyſtematiſchen 
Botaniker und Zoologen haben ſich gewöhnlich mit ſolchen Aufgaben 
gar nicht befaßt. 


Abweichungen von der Erblichkeit und Vererbung der 
Abweichungen. 


Wenn auch die Vererbung der Charactere allgemeine und an— 
erkannte Regel bei der Fortpflanzung aller Pflanzen- und Thierformen 
iſt, ſo hat ſie doch, wie mehrfach ſchon geſagt wurde, auch mannig— 
fache — und zwar meiſtens ſehr geringe, in ſeltenen Fällen auch wohl 
auffallendere Ausnahmen, vermöge welcher entweder Merkmale von 
Eltern ſich bei den Abkömmlingen nicht wiederholen oder auch wohl 
neue Charactere bei Nachkommen allmählig oder plötzlich auftauchen. 

Eine ſolche Veränderungsfähigkeit iſt bei ſo zahlreichen Formen, 
deren Lebensweiſe und Fortpflanzung wir genauer kennen, nachgewieſen, 
daß man fie ohne Bedenken auf alle Organismen, auch die in dieſer Hin- 
ſicht noch nicht näher unterſuchten, ausdehnen kann. Aber ihre Abſtu— 
fungen ſind je nach den einzelnen Arten und je nach den Verhältniſſen, 


65 


denen die einzelnen Individuen einer Art ausgeſetzt erſcheinen, ſehr 
mannigfach. 

Sowie es überhaupt in der körperlichen Welt keine zwei abſolut 
gleichen Dinge gibt, ſo gleichen auch ungeachtet der Herrſchaft der Erb— 
lichkeit die Nachkommen nie vollkommen ihren Eltern und ſind auch 
nie vollkommen unter ſich gleich. Sie zeigen immer einen gewiſſen, 
wenn auch geringen Betrag von Abweichung in äußerlichen und ober— 
flächlichen Characteren, die man dann als unweſentliche Merkmale 
bezeichnet. 

Die Veränderlichkeit der Pflanzen- und Thierformen innerhalb 
gewiſſer, aber kaum näher feſtzuſtellender Grenzen iſt, ſowohl wenn 
wir die Eltern mit den Nachkommen, als wenn wir dieſe unter ſich 
vergleichen, eine allgemeine und unzweifelhafte Regel. Sie iſt am auf— 
fallendſten bei Culturpflanzen und Hausthieren, aber auch ſicher nach— 
weisbar an zahlreichen Pflanzen- und Thierformen im Naturzuſtande 
und außerhalb der Einflüſſe des Menſchen. Ihre Wahrnehmbarkeit 
hat übrigens zahlreiche Abſtufungen und fällt wohl bei der Mehrzahl 
der Individuen jenſeits der Grenzen der gewöhnlichen Wahrnehmungs— 
gabe, namentlich für Laien. Bei einer Heerde Schafe, an deren 
Stücken wir keine faßbaren individuellen Unterſchiede zu finden ver— 
mögen, wird der Hirt gleichwohl doch jedes Stück an ſeinen Eigen— 
thümlichkeiten zu erkennen vermögen. Aus einer noch ſo großen An— 
zahl von Vögeln, bei denen wir alle Individuen einer Art vollkommen 
übereinſtimmend finden, wird doch ein zuſammengehöriges Paar ſich 
mit Leichtigkeit immer wieder zuſammenzufinden vermögen. Ebenſo 
weiß der Gärtner, daß ſogar nicht einmal die Knospen einer und 
derſelben Pflanze einander vollkommen gleich ſind, einige ſind günſtiger 
geartet und finden ſeine beſondere Aufmerkſamkeit, andere um ſo weniger. 

Wir ſind darnach zur Annahme berechtigt, daß eine jede Gene— 
ration von Pflanzen und Thieren von den vorhergehenden um einen 
gewiſſen, wenn auch noch ſo geringen Betrag abweicht. Dieſe Ab— 
weichung aber findet nicht bei allen Individuen in gleicher Richtung 
ſtatt. Richtung und Grad ſind verſchieden. In manchen Fällen er— 
ſcheinen die abweichenden Charactere in ſehr wahrnehmbarer Weiſe, 
in anderen minder deutlich ausgeſprochen. In noch anderen bleiben 
ſie für unſere Sinnesbegabung unmerklich, ſind aber nichts deſto weniger 
doch immer thatſächlich vorhanden. 

Bei gleichbleibenden äußeren Bedingungen — alſo des Klima's, 

Rolle, Darwin's Lehre. 5 


66 


der Nahrung und der lebenden Mitwelt — bleibt dieſe allen orga⸗ 
niſchen Weſen unter allen Umſtänden zukommende Veränderlichkeit ent⸗ 
weder immer oder doch faſt immer innerhalb ſehr enger Grenzen. 
Alle Individuen weichen von einander ab. Aber ihre Abweichungen 
gleichen ſich dann in Folge der Vermiſchung und Fortpflanzung wieder 
ſo weit aus, daß nach langen Generationsfolgen noch kein größerer 
Unterſchied zwiſchen den äußerſten Generationsgliedern eingetreten zu 
ſein ſcheint. Geſchichtliche Vergleiche liefern dafür manche Belege und 
man hat aus ihnen oft, aber allzu voreilig, auf eine vollkommene 
und allgemein gültige Beſtändigkeit der Arten geſchloſſen. 

Die ägyptiſchen Thiermumien liefern den Beweis, daß eine An⸗ 
zahl von Thierarten ſeit mehreren, jedenfalls über zwei, vielleicht ſelbſt 
drei bis vier Jahrtauſende hindurch beſtändig geblieben ſind. Aegypten 
liefert uns aus den entlegenen Zeiten der Pharaonen nicht nur auf 
ſeinen Steindenkmälern die Bilder der damals dort lebenden Thiere, 
ſondern auch in ſeinen Grabmälern die einbalſamirten Körper von 
vielen derſelben. Man hat unter dieſen ägyptiſchen Thiermumien Reſte 
von Katzen, Hunden, Affen, Ochſen, Krokodilen und mehreren Arten 
von Vögeln, namentlich von dem bei den alten Aegyptern in beſonderer 
Heiligkeit gehaltenen Ibis gefunden. 

Geoffroy-Saint-Hilaire hat ſich mit beſonderem Eifer 
der Unterſuchung dieſer ägyptiſchen Thiermumien gewidmet, von denen 
manche ein Alter von dreitauſend Jahren oder mehr haben mögen. 
Es hat ſich als Ergebniß dieſer Forſchungen im Allgemeinen gezeigt, 
daß zwiſchen den als Mumien erhaltenen Exemplaren und den noch 
heute in Aegypten lebenden Nachkommen derſelben Art nicht mehr 
Unterſchiede beſtehen, als zwiſchen den Mumien des damaligen Men- 
ſchen und Skeletten der heutigen Nachkommen der alten Aegypter. 
Das heißt, die individuelle Variation iſt in dieſen Fällen wirklich auch 
auf die Individuen beſchränkt geblieben. 

Nur unter den Krokodilmumien der ägyptiſchen Katakomben fand 
Geoffroy Exemplare, die durch erhebliche Charactere vom jetzigen 
Krokodile des Nilthales abweichen und die er unter eignen Artnamen 
beſchrieben hat. Neuere Zoologen haben ſie als bloſe Varietäten von 
Crocodilus vulgaris Cuv. gedeutet, indeſſen ſcheinen doch darunter er— 
loſchene Formen zu ſein. 

Auch die Unterſuchung der in den vor Jahrtauſenden errichteten 
Grabdenkmälern der Aegypter erhaltenen, ſowie der in Pompeji 


67 


verſchütteten Pflanzenreſte, wie Datteln, Oliven, Waizen u. ſ. w. hat 
gezeigt, daß die Arten im Laufe der geſchichtlichen Epoche ſich weſent— 
lich gleich geblieben find. Waizenkörner aus den ägyptiſchen Pyra⸗ 
miden konnten unter gewiſſen Vorſichtsmaßregeln noch ausgeſät wer— 
den, keimten und trugen Aehren. Man erhielt aus ihnen eine Waizen- 
varietät, die mit einer der heute noch in Anbau ſtehenden vollſtändig 
übereinſtimmt. (Es war der Talavera - Waizen, Triticum vulgare, 
variet. spica laxa, mutica, alba, glabra. Vergleiche Graf Sternberg 
im Amtl. Bericht der deutſch. Naturforſch. Verſamml. 1834 Stutt⸗ 
gart 1835.) 

Wenn nun aber auch in einer Anzahl von Fällen im Laufe der 
letzten Jahrtauſende die individuelle Abänderung der Lebeweſen ſich 
innerhalb ſo enger Grenzen erhalten hat, daß ihr Betrag ſelbſt beim 
Vergleich der äußerſten Endglieder noch nicht merklich oder wenigſtens 
nur zweifelhaft hervortritt, ſo iſt damit immer noch nicht die Mög— 
lichkeit ausgeſchloſſen, daß in längeren Zeiträumen und unter Einfluß 
größerer äußerer Veränderungen auch tiefer gehende Umgeſtaltungen 
der Lebewelt vorkommen konnten. 

Nach Darwin iſt der Eintritt von größeren individuellen Ab— 
weichungen und deren Anhäufung an beſtimmte Umſtände gebunden. 
Machen ſich dieſe nicht geltend, ſo treten nicht leicht größere Abwei— 
chungen von der Erblichkeit ein oder wo deren auftreten, verlieren ſie 
ſich bald wieder. Wenn ſich auch wirklich im Laufe der letzten paar 
Jahrtauſende in der Flora und Fauna von Aegypten keine merklichen 
Veränderungen der Arten und Varietäten ſollten zugetragen haben, ſo 
können im Lanfe der vielen Millionen Jahre der geologiſchen Epochen 
doch in hinreichender Zahl und Ausdehnung Umſtände eingetreten ſein, 
die einen ſolchen Eintritt größerer Veränderungen und deren Erhal— 
tung und Anhäufung bedingten. 

Uebrigens braucht man noch nicht auf geologiſche Zeitabſtände 
zurückzugehen. Veränderungen, welche an einer Reihe von wilden 
Thieren ſeit der Zeit der erſten Einwanderung des Menſchen in Europa 
vorgegangen ſind, hat, wie ſpäter noch genauer zu erörtern ſein wird, 
Dr. Rütimeyer nachgewieſen. Wie lange Zeit es dazu bedurfte, iſt 
noch unermittelt, aber es mag ſehr wohl den ſeit Errichtung der 
ägyptiſchen Pyramiden verfloſſenen Zeitraum beträchtlich überſchreiten. 

Welcher Art jene die Veränderung der Formen begünſtigenden 
Umſtände waren, lehrt beſonders die Beobachtung unſerer Cultur— 

5 * 


68 


pflanzen und Hausthiere. Daß fie aber wirklich wirkſam waren, geht 
hinreichend aus der geologiſchen Geſchichte der Schöpfung hervor, welche 
fo mannigfache chronologiſche Reihenfolgen von Typen darſtellt. 

Culturpflanzen und Hausthiere zeigen, daß im Laufe der geſchicht— 
lichen Epoche Arten ſo verändert worden ſind, daß wir ihre Stamm— 
form oft nur noch ahnen, aber zur Zeit noch nicht ſicher ausmitteln 
können. Die geologiſche Geſchichte aber zeigt, daß während einzelne 
Thierarten durch eine Reihe von geologiſchen Epochen ganz oder bei— 
nahe ganz unverändert reichen, andere neben ihnen zu gleicher Zeit 
manigfache Umgeſtaltungen erlitten, bei denen wir dann gewöhnlich auch 
nur die Anfangs- und die Endglieder vergleichen, die Mittelglieder 
aber in ähnlicher Weiſe wie bei cultivirten Formen errathen müſſen. 

Der Eintritt von individuellen Veränderungen bei Pflanzen und 
Thieren, welche das gewöhnliche allgemeine Maß merklich überſchrei— 
ten, hängt nach Darwin von mehreren Momenten ab, die in 
ſehr ungleichem Grade einwirken und einzeln oder vereinigt wirken 
können. Der unmittelbare Wechſel der äußeren Daſeinsbedingungen 
kann unmittelbar für ſich allein einiges bewirken, ebenſo der Gebrauch 
oder Nichtgebrauch der Körpertheile, am weſentlichſten aber erſcheint 
nach Darwin der Einfluß des Wechſels der äußeren Bedingungen 
auf das Fortpflanzungsſyſtem der Organismen. Dieſer letztere Weg 
iſt es, auf dem auf experimentellem Wege die größten Veränderungen 
der organiſchen Form hervorgerufen werden können. 

Der Menſch hat ſeit undenklichen Zeiten jene Umſtände, welche 
auf die Veränderung der Pflanzen und Thiere befördernd einwirken, 
vielfach und in ausgedehnter Weiſe, theils unabſichtlich, theils mit 
berechnender Einſicht hervorgerufen und zu ſeinem Vortheile dadurch 
mannigfache Umgeſtaltungen in einem Theile der Pflanzen- und Thier- 
welt bewirkt. Die heutigen, von den urſprünglichen Stammarten mehr 
oder minder abweichenden Formen unſerer Culturgewächſe und Haus— 
thiere ſind das Ergebniß dieſes Vorganges. Für die älteſten Zeiten 
des Menſchengeſchlechtes und vielleicht für manche heutige, auf ſehr 
tiefer Stufe ſtehen gebliebene Völker kann man mit Darwin eine 
unabſichtliche Züchtung annehmen. Doch gibt es in dieſer Hin— 
ſicht keine feſten Grenzen und die hiſtoriſchen Nachrichten laſſen uns 
vielfach im Stich, wenn wir nach der Geſchichte und ehemaligen Be- 
handlung der Hausthiere und Culturpflanzen forſchen. In unſeren 
Zeiten, wo man Urſache und Wirkung auch bei den von uns gezüch⸗ 


69 


teten Pflanzen und Thieren beſſer zu durchſchauen gelernt hat, betreibt 
man auch eine abſichtliche Züchtung nach Plan und Berechnung. 
Man erzielt mit ihr in kurzer Zeit noch weit raſchere und zugleich 
tiefer gehende Veränderungen, als ſonſt die unabſichtliche Züchtung in 
längeren Friſten hervorrief. 

Die Erfolge, welche in dieſer Hinſicht der Menſch erzielte, unter— 
ſcheiden ſich von den Veränderungen der Lebewelt, welche im Laufe 
der geologiſchen Epochen vor ſich gingen, dadurch, daß ſie raſcher er— 
folgten, aber auch weniger tief eingreifen und ſich weniger befeſtigt 
haben. 


Culturgewächſe. 


Landwirthſchaft und Gärtnerei beruhen auf der Wechſelbeziehung 
zwiſchen Erblichkeit, Veränderlichkeit und Vererbung der Verände— 
rungen in der Pflanzenwelt. Der Menſch kann in dies Spiel der 
organiſchen Bewegungen bis zu einem gewiſſen Grade eingreifen, es 
geſchieht dies in leichtem Grade in der Landwirthſchaft, in höherem 
bei der Kunſtgärtnerei, welche letztere auch in Beziehung auf den Grad 
der erzeugten Veränderungen und die mehr oder minder willkührliche 
Beherrſchung derſelben die größten Erfolge aufzuweiſen hat. 

In der Kunſtgärtnerei haben unzählige Verſuche und Erfah— 
rungen gelehrt, daß die ſcheinbar ſo unveränderliche Form der Pflanze 
unter der Hand des Menſchen einen überraſchenden Grad von Bild— 
ſamkeit darbietet. Der Gärtner iſt im Stande durch Wechſel der 
Lebensverhältniſſe, durch Kreuzung und durch Benutzung von ſcheinbar 
ganz unbeträchtlichen individuellen Abweichungen der von ihm ange— 
bauten Pflanzen eine wunderbar manigfaltige Reihe von neuen For— 
men und Farben zu erzielen. 

Pflanzen im freien Naturzuſtande ſind nur wenig zur Verän— 
derlichkeit geneigt, ſie bleiben ſich gewöhnlich von Generation zu Ge— 
neration ſehr gleich und Abänderungen treten bei ihnen nur ſelten in 
wahrnehmbarem Grade auf. Sobald wir ſie aber in Gärten ziehen, 
ändern ſie ab und liefern dann gewöhnlich eine Reihe beſonderer Ab— 
änderungen, welche für den Gärtner den Anlaß zu noch weiter n 
der Steigerung der beſonderen Eigenthümlichkeiten geben. 

So ſagt auch Willdenow, einer der vorzüglichſten älteren 
deutſchen Botaniker, Abarten von wilden Gewächſen ſind ſeltener als 


70 


ſolche von Culturpflanzen und finden ſich in gebirgigem Lande ſowie 
in wärmerem Klima häufiger als in ebenen und in kälteren Gegenden. 
Sie vergehen aber auch bald wieder, ſo daß keine Spur von ihnen 
zurückbleibt, wenn ſie der Menſch nicht in ſeine Gärten verſetzt und 
da fie zu erhalten oder weiter zu vervielfachen bemtiht iſt. Auf dieſe 
Art haben wir in unſeren Gärten z. B. die Birke mit zerſchlitzten 
Blättern (Betula alnus var. laeiniata), die Blutbuche (Fagus sylvatica 
Lin. var. foliis atropurpureis) und mehrere andere Gewächſe erhalten, 
von denen wir jetzt nichts mehr wiſſen würden, wäre man nicht be— 
müht geweſen, dieſe Abänderungen weiter zu vermehren und aus der 
Wildniß in unſere Parke zu verſetzen. Auffallender aber wirkt die 
Cultur auf alle ihr unterzogenen Pflanzen, jede wilde Art, wenn ſie 
einer ſorgfältigeren Pflege gewürdigt wird, liefert neue Abänderungen 
und ſetzt dieſen Vorgang ins endloſe fort. 

Ein Theil der bei Culturpflanzen hervorgebrachten Eigenthüm— 
lichkeiten kommt auf Rechnung der verſchiedenen Lebensbedingungen, 
denen man ſie ausſetzt, namentlich der theilweiſe veränderten und meiſt 
viel reichlicheren Nahrung, die wir ihnen zuführen. Die Ernährungs- 
vorgänge bei der angebauten Pflanze ſind andere als bei der wilden, 
dies bedingt dann gewiſſe Verſchiedenheiten in der chemiſchen Miſchung 
der Säfte, die dann ihrerſeits wieder auf die Formentwicklung der 
Pflanze einwirken. Ein anderer Theil der Eigenthümlichkeiten unſerer 
Culturpflanzen beruht auf Angewöhnung; der Einfluß des Menſchen 
iſt auf dieſem Felde im Ganzen genommen aber nur gering. 

Licht, Wärme, Luft, Waſſer und Beſchaffenheit des Bodens 
wirken zunächſt auf die Entwicklung der Pflanzen ein. Dieſe Einwir⸗ 
kung geſchieht je nach dem Grade der einzelnen Momente in ſehr 
verſchiedenen Abſtufungen, ihre Folgen äußern ſich theils unmittelbar 
ſchon am pflanzlichen Individuum, theils erſt an deſſen Samen und 
Sämlingen. Hierdurch entſtehen unter unſeren Augen und unter unſeren 
Händen bald allmählig, bald raſcher neue Varietäten. Die Verände— 
rungen betreffen vorzugsweiſe Vermehrung oder Verminderung der 
Maſſe einer Pflanze, ſei es des Ganzen oder einzelner Theile der— 
ſelben, dann auch die Zuſammenſetzung des Zelleninhaltes und der 
Ausſcheidungen, alſo z. B. der Färbung und der aromatiſchen Be— 
ſtandtheile, endlich auch wohl bis zu einem gewiſſen Grade die Form 
der Pflanze und ihrer Theile, z. B. der Blätter und Blüthen. 

Alles, was überhaupt die Lebensthätigkeit der Pflanze anregt, wie 


71 


Licht und Wärme, alles, was der Pflanze Nahrung zuführt, alſo nament⸗ 
lich Luft, Waſſer, Humusgehalt des Bodens, Kohlenſäure, Ammoniak und 
einige für das Pflanzenleben weſentliche mineraliſche Subſtanzen, wirken 
ſchon unmittelbar auf die Vergrößerung der Pflanze und ihrer Theile ein. 

Es iſt eine allgemeine Erfahrung, daß ein von Natur aus guter, 
und die nöthige mineraliſche Zuſammenſetzung zeigender humusreicher 
oder ein künſtlich hinreichend gedüngter Boden Gewächſe aller Art in 
ihrem Wachsthum fördert, die Größe und Fruchtbarkeit erhöht, über— 
haupt den ökonomiſchen Ertrag vervielfacht. Verminderung jener för— 
dernden Einflüſſe verkümmert den Pflanzenwuchs mehr oder minder. 
Die einzelnen Pflanzen ſind darin ſehr verſchieden. Die meiſten Pflan— 
zen zeigen in einem an vermodernden organiſchen Subſtanzen ſehr 
armen Boden auch nur ein ſehr kümmerliches Wachsthum, in einem 
von ſolchen Beſtandtheilen freien pflegen ſogar die meiſten ſchnell zu 
Grunde zu gehen. Sehr genügſamer Art find die Föhre (Pinus syl- 
vestris Lin.) und die verſchiedenen Heidearten (Erica und Calluna), 
ſie gedeihen ſchon in einem Boden, der nur Spuren von Humus zeigt. 
Unſere Cerealien und Gemüßepflanzen dagegen bedürfen zu einem kräf— 
tigen Gedeihen eines hinreichend humusreichen oder gedüngten Bodens. 

Manche Sträucher und Baumarten, bei denen im wilden Zu— 
ſtand regelmäßig ein Theil der Aeſte durch Verkümmerung der Knos— 
pen in Form von Dornen verbleibt, entwickeln, wenn ſie — wie 
z. B. der Schlehenſtrauch, Prunus spinosa Linné, die Holzbirne, die 
deutſche Miſpel u. ſ. w. behufs der Veredlung zu Obſtbäumen — in 
fruchtbaren Gartenboden verſetzt werden, zufolge der geſteigerten Nah— 
rungszufuhr auch jene verkümmerten Knospen, ſo daß die Dornen zu 
vollkommenen knospentragenden Zweigen werden. Ein wilder dorniger 
Baum verliert aber nach De Candolle ſeine Dornen nicht gleich 
ſchon im folgenden Jahre, wenn er in einen guten Boden verſetzt 
wird, ſondern es bedarf mehrerer Jahre dazu, daß die geänderten 
Verhältniſſe zur vollen Geltendmachung ihres Einfluſſes gelangen können 
und dann erhält ſich der neue Character fort. 

Aenderungen in der Miſchung des Bodens, Düngung mit Moor— 
erde, Eiſenocher, Aſche u. dgl. erzeugen bei einer Anzahl von Pflan- 
zen manigfache Veränderungen in einem Theile der chemiſchen Be— 
ſtandtheile, namentlich des Zellinhaltes, daher auch eine entſprechende 
Aenderung von Geſchmack, Geruch und Farbe. Bisweilen erfolgt da— 
von zugleich auch eine Vermehrung oder Verminderung des Wuchſes. 


12 


Manche Pflanzen trockner und ſonniger Standorte zeichnen fich 
durch einen behaarten Ueberzug aus; Haare vergrößern die Ober— 
fläche und find ein wichtiges Organ' der Pflanze für Aufſaugung von 
Feuchtigkeit aus der Luft. Solche behaarte Pflanzen werden aber 
kahler, wenn man ſie an einen feuchteren oder ſchattigeren Ort ver— 
pflanzt. Waſſerpflanzen bedürfen keiner Behaarung, ſie ſind daher meiſt 
glatt. Aber manche derartige Gewächſe von feuchten ſchattigen an 
trocknere Standorte verpflanzt, werden behaarter. 

Licht und Wärme befördern und beſchleunigen unter ſonſt günſti— 
gen Umſtänden, und namentlich wenn nicht zugleich überflüſſige Feuch— 
tigkeit hinzukommt, alle Lebenserſcheinungen der Pflanze überhaupt. 
Sie rufen früheres Keimen, früheres Blühen, früheres Reifen hervor. 
So werden z. B. mehrere bei uns zweijährige Gewächſe in wärmeren 
Ländern einjährig. 

Viele jener Veränderungen, welche die unmittelbaren Lebensbe— 
dingungen in den Pflanzen hervorrufen und der Menſch auch durch 
dieſſelben beliebig bei Pflanzen zu Stande bringen kann, beruhen auf 
Gegenſatz oder Antitheſe der Entwicklung, indem die geſteigerte Aus— 
bildung nur einen Theil der Pflanze betrifft und deren Lebensthätig- 
keit ſo weit erhöht, daß dadurch andere Theile zurückbleiben oder gar 
nicht zur Entwicklung gelangen. In einen ſolchen Gegenſatz treten 
unter gewiſſen Umſtänden namentlich die nutritiven oder vegeta— 
tiven Theile der Pflanze, wie Wurzeln, Stengel und Blätter, die 
vorzugsweiſe für Aufſaugung, Athmung und Ernährung wirken, zu 
den generativen Theilen, den Blüthen und Früchten, welche vor— 
zugsweiſe die Fortpflanzung vermitteln. 

Manche Aenderungen des Bodens, z. B. Auflockerung, reichliche 
Düngung und reichliche Befeuchtung tragen zunächſt zur Vermehrung 
der Thätigkeit der Wurzeln und der vegetativen Verrichtungen über— 
haupt bei. Sumpfboden, Schatten, Dunkelheit, anhaltender Regen 
und Nebel wirken auf dieſſelbe Weiſe. Sie erhöhen vorzugsweiſe die 
Thätigkeit und Entwicklung von Wurzeln, Stengeln und Blättern, 
vermindern dagegen antithetiſch die Entwicklung von Blüthe und Frucht. 

Bei allzu üppicher Entwicklung der Vegetation, alſo der Stengel— 
und Blatt-Bildung, erſcheint nämlich entweder keine Blüthe oder die 
Blüthe erleidet eine vegetative Rückbildung, welche die Erzeugung der 
Frucht verhindert. Die Rückbildung zur vegetativen Form geſchieht 
unter kräftigerer Entwicklung der Blüthentheile. So entſtehen unſere 


73 


gefüllten Garten- und Treibhausblumen wie die gefüllten Nelken, 
Roſen, Tulpen u. ſ. w. 

Man kann daher auch die einſeitige Vegetation einer Cultur— 
pflanze begünſtigen, ſobald man auf die Gewinnung von Früchten 
Verzicht leiſtet oder auch der Bildung ſolcher ſelbſt entgegenwirkt. So 
kann z. B. der Ertrag der Kartoffelerndte geſteigert werden, wenn 
man die Blüthen zeitig abpflückt. Der Ertrag der Zwiebeln wird 
vermehrt, wenn man den Blüthenſchaft, ſobald er ſich zeigt, weg— 
ſchneidet. Die blätterreichen Varietäten des Weißkohls können nur 
durch Unterdrückung der Blüthen gewonnen werden. Hemmt man 
Blüthe- und Fruchtbildung einjähriger Pflanzen, ſo können ſie dadurch 
ſogar in zweijährige umgewandelt werden. Die einjährige Reseda 
odorata kann, wenn man fie am Blühen hindert, bis zu einem ſechs 
Fuß hohen Strauche herangezogen werden. Dies Beiſpiel zeigt auch 
wie der Menſch durch Benutzung natürlicher Verhältniſſe die eigen— 
thümliche Lebensdauer der Pflanzen zu einem gewiſſen Grade ver— 
längern oder verkürzen kann. 

Feſter und humusarmer Boden, Trockenheit und Licht wirken 
mehr auf Entwicklung der generativen Organe, Blüthe und Frucht. 
Wer daher die generativen Verrichtungen einer Culturpflanze begün— 
ſtigen will, muß entweder jene Verhältniſſe hervorrufen oder auf an— 
derweitem Wege die Entwicklung der vegetativen Theile von einer ge— 
wiſſen Grenze an hemmen. So beſchneidet man die Spalierbäume, 
dies erzeugt eine mäßige Verminderung des vegetativen Lebens und 
führt den dabei erſparten Nahrungshaft der Fruchtbildung zu. Bei 
den Erdbeeren vermehrt man nach ähnlichem Grundſatz die Frucht— 
bildung durch Ablößung der Ausläufer. 

Eine natürliche Hemmung der Vegetation zum Vortheil des 
generativen Syſtems iſt die Bildung der Knospen bei unſeren Bäumen. 
Sie ermöglicht die Fruchtbildung. Hieraus erklärt ſich warum viele 
europäiſchen Bäume, wenn man ſie in tropiſche Gegenden verſetzt oder 
in Treibhäuſern hält — wo eine unausgeſetzt gleichmäßige Vegetation 
bei ihnen hervorgerufen wird — gar nicht zum blühen gelangen und 
daher auch keine Früchte tragen. 

Viele exotiſche Pflanzen, welche in unſern Treibhäuſern gehalten 
werden, ſetzen nie oder nur ſehr ſelten Samen an, weil die Einflüſſe, 
unter denen fie hier leben, ihr Fortpflauzungsſyſtem benachtheiligen. 
Es gibt aber bei manchen derſelben Mittel dieſe ſtörenden Einflüſſe 


74 


zu befeitigen, z. B. Veränderungen des Bodens oder der Feuchtigkeits- 
menge. Manche Treibhauspflanzen bringen ſeltſamer Weiſe nur dann 
ihre Früchte zur Reife, wenn man bei einer gewiſſen Ausbildungsſtufe 
den blüthentragenden Stengel abſchneidet. Dies iſt namentlich bei 
manchen Lilienarten der Fall. 


Mittelbare Einwirkung äußerer Bedingungen auf 
Culturgewächſe. 


Wenn die unmittelbaren Einwirkungen veränderter Bedingungen, 
denen wir die Pflanzen ausſetzen, ſchon ziemlich beträchtlich ſind, ſo 
ſind es die mittelbaren Folgen noch mehr. Dieſe binden ſich vorzugs— 
weiſe an den Samen der Pflanze, in einzelnen Fällen auch an Knos— 
pen und führen zur Vererbung erworbener Eigenſchaften auf die Nach— 
kommen. 

Darwin hebt hervor, daß der Anbau wilder Gewächſe in vielen 
Fällen ſehr weſentlich auf die Verrichtungen ihres Fortpflanzungs— 
ſyſtemes einwirkt. Vermehrte Zuführung der Nahrung, ſobald ſie nicht 
durch allzugroßes Maaß die Blüthen- oder wenigſtens die Fruchtbil— 
dung fehlſchlagen macht, wirkt im Allgemeinen vortheilhaft auf den 
Samen ein. Darwin iſt der Anſicht, daß derartige vortheilhafte 
Einwirkungen nun aber auch in vielen Fällen die Neigung zur Ver— 
änderlichkeit in den Samen vergrößern. Viele ältere und neuere Bo— 
taniker ſprechen ſich in der That gelegentlich ebenſo dahin aus. 

Es ſtehen uns für die Einwirkung auf die Fruchtbildung der 
Pflanze manigfache Grade der Einwirkung zu, wir können ſie theil— 
weiſe begünſtigen, und theilweiſe oder ganz hemmen. Wo die Einwir— 
kung aber die günſtigſte iſt, führt ſie zu reichlicher Ausbildung der 
Samen. Dieſe liefern dann auch entweder in allen oder doch einem 
Theile der Individuen günſtiger geartete oder veredelte Sämlinge. In 
manchen Fällen iſt dies bei Samen derſelben Pflanze entſchieden in 
ungleichem Grade der Fall. Sämlinge von einer und derſelben Frucht 
erzogen, weichen bisweilen in beträchtlichem Grade von einander ab, 
was beſonders bei der Ausſaat von Samen unſerer obſttragenden 
Bäume und Sträuche wiederholt beobachtet wurde. Auf einem ſolchen 
Wege wird alſo die individuelle Variation der Pflanze vermehrt und 
erhöht. 

Dieſe Anſicht hat in der That ſehr viel wahrſcheinliches, denn 


75 


wenn die verſchiedenen Methoden des Anbaues in ſo vielen Fällen 
ſtörend auf die Verrichtungen des Fortpflanzungsſyſtems der Pflanzen 
einwirken, ſo iſt es auch ſehr wohl annehmbar, daß ſie in ſolchen 
Fällen auch weſentlich verändernd auf die Natur der Pflanzen ein— 
wirken, wo die Samenbildung noch nicht durch ſie gehemmt wird. 
Dieſe Veränderungen bleiben zunächſt mehr oder minder latent, über— 
tragen fi aber auf den Samen und äußern fi dann erſt bei der 
Nachkommenſchaft. Darwin iſt geneigt, dieſem mittelbaren, auf dem 
Wege der Fortpflanzung zur Aeußerung gelangenden Einfluß der 
äußeren Lebensbedingungen einen weſentlichen Antheil an der Erzeu— 
gung der großen Menge von Varietäten zuzuſchreiben, durch welche 
die meiſten unſerer Culturpflanzen in einem ſo auffallenden Gegenſatz 
zu den nächſt verwandten wilden Gewächſe ſtehen. 

Wenn alſo die Erzeugung von Culturformen durch Anbau, wie 
Darwin annimmt, eng mit phyſiologiſchen Vorgängen, alſo der 
Miſchung der Nahrungsſäfte und der Geſtaltung des Samens zu— 
ſammenhängt, ſo iſt es auch begreiflich, daß ſie bei niederen Pflanzen, 
wie z. B. Cryptogamen und außerdem auch bei Coniferen faſt nie 
ausgeführt worden iſt. Bei dieſen iſt ſowohl die Leiſtung in Erzeu— 
gung von Nahrungsſtoffen an ſich gering als auch die Samenbildung 
wahrſcheinlich zu einfach, um von den Cultureinflüſſen merklich berührt 
werden zu können. 

Ganz ähnlich ſprach ſich vor Jahrzehenden ſchon der ausgezeich— 
nete deutſche Botaniker Willdenow über die individuelle Variation 
wilder wie auch angebauter Pflanzen aus. 

Er ſagt, es iſt höchſt wahrſcheinlich, das man den Grund wo 
nicht aller Abarten doch der meiſten im Samen ſuchen muß. Nach— 
dem dieſer durch die beſondere Art der Befruchtung, der Ernährung, 
Witterung u. ſ. w. ſich zu entwickeln Gelegenheit hatte, nach dem 
Grade wird auch die aus ihm hervorgehende Pflanze mehr oder we— 
niger Verſchiedenheiten zeigen. Unter unſeren heimiſchen Waldbäumen 
find die Steineiche (Guercus robur) und die Stieleiche (Qu. 
peduneulata Ehrh ) in Rückſicht ihrer Blattform gewiß den meiſten Ab— 
änderungen unterworfen. Man ſehe eine Baumſchule von Eichen an, 
wo ſie aus dem Samen in gleichem Boden und in gleicher Lage ge— 
zogen und alle gleicher Behandlung unterworfen wurden, wie verſchie— 
den werden ſich die Individuen hier zeigen! Ein Bäumchen wird 
raſcher in die Höhe gewachſen ſein als das andere, jenes früher aus— 


16 


treiben als das neben ſtehende, ein anderes dunkler oder blaſſer ge— 
färbt ſein, wieder ein anderes tiefer oder flacher eingeſchnittene Blätter 
haben. Bei derartigen Verſchiedenheiten können nicht Klima, Boden, 
Lage u. ſ. w. die betreffenden Veränderungen hervorbringen. Es liegt 
allein im Samen, es kann eine Menge von Urſachen auf dieſen ge— 
wirkt haben. 

De Candolle iſt gleicher Anſicht. Er geht davon aus, daß 
eine durch äußere Einflüſſe hervorgerufene Veränderung der inneren 
oder äußeren Bildung der Organe einer Pflanze von Einfluß wird 
auf die Bildungsweiſe der nachfolgend erſt zur Entwicklung gelangen— 
den Organe und dieſe ihrerſeits dann wieder auf die nachfolgenden 
Knospen, Samen u. ſ. w. einwirken können. Eine Umgeſtaltung im 
Stengel kann auf die Früchte einwirken. 

Ebenſo ſpricht ſich Schleiden aus (Phyſiologie 1851. S. 383). 
Er bemerkt, daß die Einwirkung, welche ein an Nahrungsſtoffen reicher 
Boden auf die angebaute Pflanze ausübt, vorzugsweiſe ſich in der 
Ausbildung des Samens geltend macht. Ferner, daß ein von über— 
mäßig reichem Boden gewonnener Samen keine vorzugsweiſe gleich— 
artigen Sämlinge liefert, ſondern vielmehr zur Hervorbringung manig- 
facher Spielarten geeignet iſt. 

Wie vielſeitig aber auch ſelbſt in den einfachſten Formen des 
Anbaues die Aenderungen ſind, die wir beim Erziehen einer wilden 
Pflanze in ihrer Lebensweiſe hervorrufen, und wie leicht dieſe dann 
auf den Samen ihre Wirkungen übertragen können, hat ebenfalls unſer 
trefflicher Willdenow längſt ſchon in klarer Weiſe hervorgehoben 
und es läßt ſich in dieſer Hinſicht kein beſſerer Commentar zu einem 
Theile von Darwin's Anſichten geben, als eine bloße Wiedergabe 
von Willdenow's Darſtellungen ſchon ausdrückt. 

Bei der wilden Pflanze, jagt Willdenow, tft der ganze Bo- 
den umher mit verſchiedenen anderen Gewächſen beſetzt, die einen Raſen 
bilden, der den Sonnenſtrahlen den Zugang verſagt und zugleich den 
Boden feuchter erhält. Die Wurzeln können ſich nicht frei ausbreiten, 
ſie dehnen ſich nur ſo weit aus, als es bei der dichten Beſetzung 
des Bodens der Raum erlaubt. Die Feuchtigkeit, welche ein ſo weſent— 
liches Nahrungsmittel der Gewächſe iſt, wird ihr blos durch die Atmos— 
phäre unter mancherlei Geſtalt — als Regen, Thau, Waſſergas u. ſ. w. 
— mitgetheilt. 

Ganz verſchieden hiervon lebt die Culturpflanze. Die Erde um— 


77 


her wird durch die fleißige Hand des Gärtners von allem Unkraut 
befreit, ihre Wurzel kann ſich beſſer ausbreiten und bei großer Dürre 
wird ſie nach Bedürfniß mit Waſſer begoſſen. Sie iſt nicht mehr ſich 
ſelbſt überlaſſen, ſondern muß manigfachen Antrieben folgen, die ihr 
der Menſch ertheilt. Den ihr angemeſſenen Standort, die Lage und 
das Erdreich, das ihr bisher am angemeſſenſten war, verliert ſie ganz 
und muß auf dem Boden fortkommen, den ihr die Hand des Gärt— 
ners zutheilt. 

Es iſt natürlich, daß die Pflanze nicht die vorige Geſtält und 
die urſprünglichen Eigenſchaften beibehalten kann. Es müſſen bei der 
Verſchiedenheit der Nahrungsmittel, bei der veränderten Lage und den 
übrigen umgeſtalteten Verhältniſſen auch Veränderungen in der Mi— 
ſchung der Säfte hervorgebracht werden, die einen großen Einfluß 
auf die Bildung der folgenden Generationen haben müſſen. 
Wird nun eine ſolche Behandlung auch bei dieſen fortgeſetzt und außer— 
dem noch durch allerhand Kunſtgriffe unterſtützt, ſo iſt es einleuchtend, 
daß am Ende eine beinahe ganz neue Form erzeugt werden muß, die 
der Stammart nur noch in wenig Eigenthümlichkeiten gleich oder auch 
nur noch ähnlich iſt. So finden wir denn zufolge jener veränderten 
Lebensverhältniſſe bei allen angebauten Pflanzen mehr oder weniger 
tief eingreifende Verſchiedenheiten hervorgerufen, die ſie von der wil— 
den Stammform unterſcheiden. 

Am auffallendſten iſt die individuelle Variation der Pflanzen in 
dem hin und wieder zu beobachtenden Auftreten abweichender 
Knospen. 

Es gibt eine Anzahl von Pflanzenarten, bei denen einzelne Knos— 
pen oder Sproßen plötzlich einen neuen und von dem der übrigen 
Pflanze oft ſehr abweichenden Character annehmen und bei ihrer wei— 
teren Entwicklung zu einem Zweige oder Aſte kund geben. 

Solche Knospen kann man durch Pfropfen oder auch wohl durch 
Samen mit Beibehaltung der neu hervorgetretenen Charactere fort— 
pflanzen, ſie behalten die engeren Eigenthümlichkeiten des Wachsthums, 
der Färbung u. ſ. w. auch nach ihrer Trennung von der Mutter- 
pflanze noch bei. In der freien Natur ſcheint der Fall ſehr ſelten 
zu ſein, im Culturzuſtande der Pflanzen aber iſt er nichts ungewöhn— 
liches. Die Gärtner nennen ſolche plötzlich hervorgetretene Formen 
Spielpflanzen, sporting plants. 

De Candolle gibt ein Beiſpiel davon. Zeigt ein Zweig Blätter 


78 


von ringförmig zurückgebogener Geſtalt wie bei der Ringweide, ſo 
beeilt ſich der Gärtner davon Pfropfreiſer oder Stecklinge zu nehmen; 
dadurch wird die neue Form erhalten und fortgepflanzt. 

Schleiden gibt ein anderes Beiſpiel aus dem Bereich der wild 
wachſenden Pflanzen. Wenn im dichten Wald eine Eiche gefällt wird, 
ſo entwickeln ſich nicht ſelten an dem ſtehengebliebenen Stocke Neben— 
knospen, die zu Zweigen auswachſen. Dieſe Zweige unterſcheiden 
ſich dann aber von den gewöhnlichen der Eiche durch auffallend große 
oft fußlange und drei Zoll breite Blätter. 

Was Culturpflanzen betrifft, jo kommt namentlich bei Oſtbäumen 
ein großer Theil des jetzigen Standes der Veredlung auf Rechnung 
der Auswahl unter den Knospen. Nicht alle Knospen deſſelben Baums 
ſind einander vollkommen in Natur und in Culturwerth gleich, einige 
ſind beſſer genährt als andere, einige entwickeln ſich früher, andere 
ſpäter. Die günſtiger geſtellten erhält der Gärtner, die minder vor— 
theilhaften ſchneidet er ab. Sehr ausgezeichnete Knospen geben einen 
dankbaren Gegenſtand der Propfung ab und führen zur Erzielung 
werthvoller neuer Spielarten, die von da an dem Gartenſchatz erhalten 
bleiben. 

Darwin ſchließt aus dieſer Bildungsweiſe neuer Pflanzenformen, 
daß die Einflüſſe, welche bei der Cultur der Gewächſe dieſe zu größerer 
Veränderlichkeit beſtimmen, nicht nothwendig auf dem Wege der Frucht— 
bildung ſich geltend machen müſſen, ſondern auch anderweitig ſich 
äußern können. Damit ergibt ſich denn auch weiterhin noch der Schluß, 
daß jene Einflüſſe auch da, wo fie das Ei'chen und den Pollen be- 
treffen, nicht erſt bei deren Bildung auftraten. Sie wirkten vielmehr 
vorerſt auf die Mutterpflanze ein und erzeugten eine Reihe theils in 
die Augen fallender, theils auch zunächſt latent bleibender Verände— 
rungen. Dieſe übertragen ſich dann auf das Ei'chen oder den Pollen 
oder auf beide, ferner auch bei der Erzeugung der Spielpflanzen auf 
eine einzelne Sproße. 

Das heißt mit andern Worten, der Einfluß der äußeren Be⸗ 
dingungen, denen wir eine Pflanze beim Anbau ausſetzen, äußert ſich 
theils unmittelbar an der Pflanze ſelbſt ſchon, theils mittelbar und 
zwar alsdann in höherem Grade an ihrer Nachkommenſchaft. Hier⸗ 
mit ergibt ſich denn auch die Erklärung davon wie Aenderungen, die 
beim Verpflanzen einer wilden Art auf Felder oder in Gärten ein⸗ 
treten und ihr den Character einer Culturpflanze ertheilen, oft weder 


79 


bei der erſten Generation, noch auch bei der zweiten, ſondern gewöhn— 
lich erſt im Laufe von mehr oder minder Saaten allmählig erſcheinen 
und ſich ſo weit ſteigern, als der Einfluß der ihnen zugewieſenen 
Lebensbedingungen es mit ſich bringen kann. 

Es iſt nun aber in Wirklichkeit auch ziemlich allgemein ange— 
nommen, daß die meiſten der Veränderungen, welche der Menſch mit 
der Cultur bei den Pflanzen hervorruft, in einem größeren und auf— 
fallenderen Maaße erſt hervortreten, wenn dieſelben einige Genera— 
tionen hindurch neuen Lebensbedingungen ausgeſetzt waren. 

So hat z. B. Favre bei ſeinen merkwürdigen Verſuchen zur 
Umbildung des wilden Aegilops in eine Waitzenart auf dem Wege 
des Anbaues gezeigt, daß der Vorgang mehrere Jahre hindurch fort— 
geſetzt werden muß, um die wilde Form in eine Culturform über— 
zuführen. 

Hat die Organiſation der Pflanzen unter dem Einfluß des Men— 
ſchen einmal begonnen abzuändern, ſo erhält ſich die davon erfolgte 
Abänderung dann gewöhnlich durch alle folgenden Generationen hin— 
durch, ſo lange überhaupt die neuen Lebensbedingungen fortdauern. 
Man kennt keinen Fall, daß eine Culturpflanze im weiteren Verlaufe 
der Cultur je wieder in die wilde Urform von ſelbſt zurückgeſchlagen 
wäre. 

Iſt durch den Einfluß des Menſchen einmal eine von der Ur— 
form hinwegführende Abänderung hervorgetreten, ſo findet die Ver— 
änderlichkeit gewöhnlich keine weiteren Grenzen mehr. Unſere älteſten 
Culturpflanzen, deren Anbau in die früheſten Anfänge der Geſittung 
zurückreicht, haben noch nicht aufgehört veränderlich zu ſein. Zahl— 
reiche Arten zeigen ſich mit Entſchiedenheit immer noch fähig unter 
dem Einfluſſe des Menſchen raſch neue Umänderungen und Vered— 
lungen einzugehen. 

Indeſſen ſind darin nicht alle Culturpflanzen gleich. Wenn es 
einerſeits deren gibt, die ſchon zahlloſe Varietäten entwickelt haben, ſo 
gibt es wiederum auch andere, welche in hohem Grade dem verän— 
dernden Einfluſſe der Cultur zu widerſtreben ſcheinen und im ange— 
bauten Znſtande vielleicht kaum mehr und kaum ſtärkere Abänderungen 
als im freien Zuſtande entwickelt haben. Oft hat es darin ſeinen 
Grund, daß der Menſch keinen Anlaß hatte, eine Vervielfältigung 
der Abarten zu begünſtigen, in anderen Fällen mag es in der natür— 
lichen Anlage der Pflanzen ſelbſt liegen. 


80 


Wirkung der Auswahl auf Culturgewä ſe. 


Zu jenen theils mittelbaren theils erſt in den ſpäteren Genera— 
tionen hervortretenden Veränderungen, welche der Anbau der Pflanzen 
mit ſich bringt, kommt nun noch durch die näher eingreifende Hand 
des Menſchen ein anderes Moment, welches zwar an ſich keine Ver— 
änderungen erzeugt, wohl aber eingetretene erhält und ſteigert. Dieſes 
Moment iſt die Auswahl der für beſondere Zwecke des Menſchen, 
ſei es nun durch Nutzen oder Schönheit beſonders hervorleuchtenden 
Individuen. | 

Die einfachſte Art der Auswahl beſteht in der Verwendung ſtarker 
Pflanzen oder ſtarker Samen zur Nachzucht, ſie führt zu einer Steige— 
rung des ökonomiſchen Ertrags. So läßt ſich der Ertrag aller mittelſt 
Samen erzogener Ackergewächſe erhöhen, wenn man durch Sieben, 
Werfen oder Ausleſen nur die größten und ſpecifiſch ſchwerſten Samen 
zur Ausſaat ausſcheidet. 

Eine ſorgfältigere Auswahl findet in der Gärtnerei ſtatt Man 
wählt aus den neu gebildeten Variationen, welche die Natur bei Acker— 
und Gartengewächſen freiwillig liefert, die nützlichſten oder ſchönſten 
heraus und verwendet ſie zur Nachzucht. Der einfachſte Weg dazu iſt, 
daß man aus den Beeten die am wenigſten befriedigenden Pflanzen 
entfernt, es bleibt dann eine edlere Sorte übrig, welche zur Nachzucht 
zugelaſſen, ihre Vorzüge auf die Nachkommen vererbt. Genauer aber 
geht auf die Auswahl der Kunſtgärtner aus, der bei werthvollen 
Artikeln jedes einzelne Pflanzen-Individuum ſorgſam prüft und dabei 
die entweder aus Sämlingen oder aus einzelnen Knospen hervor— 
gegangenen ungewöhnlich ſtarken oder frühzeitigen Variationen heraus— 
ſucht, um aus ihnen durch ausſchließliche Haltung eine edlere Sorte 
heranzuziehen. 

Aus dieſen verſchiedenen Graden der Auswahl gehen die ver— 
ſchiedenen geſchichtlichen Epochen der Gärtnerei hervor. Anfangs fuchte 
man nur gute Individuen ſich zu erhalten, ſpäter ging man mit Ab— 
ſicht und berechnendem Plan auf Erziehung neuer und edlerer Sor— 
ten aus. Die Grenzen ſind allerdings keine ſcharfen, ſondern nur 
ſtufenweiſe verfolgbar, aber in vielen Fällen läßt ſich der geſchichtliche 
Vorgang doch bis zu einem gewiſſen Grade noch nachweiſen. 

Unſere Culturpflanzen haben durch die Auswahl der ſchönſten, 
kräftigſten oder ſonſt vorzugsweiſe nützlichen Individuen allmählig 


81 


einen Grad der Veredlung erlangt, der urſprünglich nicht in der Ab— 
ſicht der älteſten Gärtner und Landwirthe lag. Man erkennt dies 
aus der geſchichtlich nachweisbaren Zunahme der Schönheit bei Zier— 
pflanzen und der Zartheit und des Wohlgeſchmackes bei Obſtſorten. 

Die jetzigen Varietäten unſerer Zierpflanzen ſind zahlreicher und 
ſchöner als jene, welche man in früheren Jahren in den Gärten 
hatte. Daſſelbe gilt von den verſchiedenen Obſtſorten. So ſcheint 
die Birne nach Plinius Nachrichten in der Zeit der römiſchen Kaiſer 
noch eine Obſtſorte von geringerer Güte und weniger Manigfaltigkeit 
geweſen zu ſein. De Candolle ſagt mit Rückſicht darauf: „heut 
zu Tage würde uns der Nachtiſch des Lucull kläglich erſcheinen.“ 

Das Verfahren bei dieſer allmähligen Veredlung der Obſtſorten 
im Laufe der Jahrhunderte war ein ſehr einfaches und Niemand 
konnte im erſten Anfange ahnen, zu welchem Ziele es führen würde. 
Man ſuchte zu neuen Anpflanzungen die beſte Sorte zu erhalten, die 
zu Gebote ſtand, und bemühte ſich, ſie fortzupflanzen. Von der er— 
haltenen Nachkommenſchaft behielt man dann nicht alle bei; wenn 
man aber zum Ausjäten der Ueberflüſſigen Anlaß hatte, jätete man 
gewiß die geringeren Individuen aus. Der Erfolg war, daß man 
ſeine Sorte nicht nur erhielt und fortpflanzte, ſondern auch allmählig 
noch ſie veredelte. 

Es hat ſich in Folge dieſes zu einem gewiſſen Grade unabſicht— 
lichen Vorganges eine ſolche Summe von individuellen Verſchiedenhei— 
ten angehäuft und durch lang fortgeſetzte Vererbung zu Raſſen-Cha— 
racteren befeſtigt, daß wir ſogar in vielen Fällen die heutigen Varie— 
täten oder Raſſen nicht mehr wohl mit Sicherheit auf die früheren 
und oft noch weniger auf die urſprünglich wilden Arten zurückführen 
können. Dies betrifft ſowohl eine Anzahl der von Alters her in 
unſeren Blumen- und Küchengärten angebauten Pflanzen als auch 
einen Theil der Obſtarten und faſt alle Getraidearten. 

Ein Beiſpiel einer Pflanze, die eine Menge von neuen Varie— 
täten erſt vor kurzer Zeit geliefert hat und deren wilde nur ſehr 
wenig variirende Stammform man ſehr gut kennt, iſt unſere Garten— 
erdbeere, eine der wenigen in Nordeuropa einheimiſchen Gar— 
tenfrüchte. Man kannte lange von ihr nur wenige Sorten und erſt 
ſeit jener Zeit, als die Gärtner ihr eine größere Aufmerkſamkeit zu 
widmen begannen, iſt ſie durch ſorgfältige Pflege und Auswahl zu einer 
großen Manigfaltigkeit der Formen ausgebildet worden. Es ſcheint klar, 

Rolle, Darwin's Lehre. 6 


82 


daß die Erdbeere abänderte, ſo lange fie überhaupt je angepflanzt 
wurde, aber man vernachläßigte früher die bei ihr vorgekommenen in— 
dividuellen Abweichungen, ſuchte auch nicht durch berechnete Behand— 
lung ihr Hervortreten noch beſonders zu begünſtigen. Später erſt be- 
gannen die Gärtner die Pflanzen mit etwas größeren wohlſchmecken⸗ 
deren oder früher reifenden Früchten herauszuheben und zur Nachzucht 
zu verwenden. Durch ſolche Auswahl, wie auch durch Kreuzung gut 
gearteter Sorten hat man ſeither in wenigen Jahrzehnden eine große 
Reihe bemerkenswerther und werthvoller Sorten der Gartenerdbeere 
erzielt, die in Größe, Farbe und ſonſtiger Beſchaffenheit des Frucht⸗ 
fleiſches ziemlich weit untereinander abweichen. 

Der Gegenſtand der Veredlung bei unſeren Culturgewächſen iſt, 
wie Darwin hervorhebt, bald dieſer bald jener Theil der Pflanze 
in mehr unmittelbarer Weiſe. Die anderen Theile werden dann davon 
weniger, oft überhaupt gar nicht in einer merklichen Weiſe verändert. 
In dieſer Hinſicht iſt der Grad des Erfolges der menſchlichen Ein— 
wirkung auf die Pflanze ein weit größerer als man gewöhnlich an— 
nimmt. Der Gärtner veredelt nämlich nur die Theile einer Pflanze, die 
ihm Nutzen bringen und läßt die unverändert, die ihm gleichgültig ſind. 

So betrifft die Veredlung bei vielen Gemüſepflanzen, na— 
mentlich den meiſten Kohlarten zunächſt die Blätter. Dieſe will 
der Menſch brauchen und jede an dieſen auftretende, ſeinen Abſichten 
entgegenkommende Variation konnte Gegenſtand der Nachzucht werden. 
Die Blätter ändern daher bei den verſchiedenen Sorten des Kohls 
weit ab, indeſſen in denſelben Fällen die Blüthen u. ſ. w. einander 
ſehr ähnlich bleiben. 

Bei vielen Zierpflanzen veredelt man nur die Blüthen, 
man erzielt in dieſer Hinſicht die manigfachſten Reihen von Formen 
und Färbungen, aber die Blätter werden davon faſt gar nicht berührt. 
Wir können in vielen Fällen ganze Reihen von Abarten oder Spiel- 
arten aufſtellen, deren Blüthen manigfach abändern, indeſſen das Laub⸗ 
werk faſt ganz das gleiche bleibt und entweder nur wenig abweicht oder 
wenigſtens keine ganz offenbaren und auffallenden Unterſchiede zeigt. 

Bei den Obſtſorten veredelt man die Frucht, denn dieſe 
will man verwenden, die übrigen Theile der Pflanze ſind ſehr gleich— 
gültig. Wir haben daher im Laufe der Jahre eine reichliche Menge 
von Varietäten der verſchiedenen Obſtarten in Bezug auf die Größe 
und Güte der Früchte erhalten. Hier bleiben Blüthen und Blätter 
der verſchiedenſten Sorten einander ziemlich ähnlich. 


83 


Ein großer Theil dieſes Erfolges der Veredlung kommt bei 
Obſtbäumen auf Rechnung der Auswahl unter den Knospen. Nicht 
alle Knospen deſſelben Baumes ſind einander vollkommen gleich, einige 
ſind beſſer genährt als andere, einige entwickeln ſich früher, andere 
ſpäter. Die nach den beſtimmten Anforderungen des Nutzens oder 
des Geſchmackes beſſer gearteten erhält der Gärtner, die minder vor— 
theilhaften Knospen ſchneidet er ab. Eine derartige Pflege und Aus— 
wahl Jahrhunderte lang fortgeſetzt, führt aber zu einer weitgehenden 
Veränderung und Veredlung des Obſtbaumes und zwar in der Rich— 
tung, welche der die Auswahl leitende Nutzen des Menſchen vorzeichnet. 

Dieſe Richtung mußte durchaus nicht ſo ſein, wie ſie war. Es 
können auch neue jetzt nachträglich noch eingeſchlagen werden. So wäre 
es z. B. eine würdige Aufgabe für einen geſchickten Obſtgärtner, die 
Züchtung neuer Aepfel- und Birnenſorten zu ſuchen, bei denen man 
unter Preisgebung des jetzt cultivirten Fruchtfleiſches nur eine mög— 
lichſte Vergrößerung der Samenkörner bezweckte, ſo zwar, daß 
dieſe etwa die Stelle der Mandeln vertreten könnten. Dieſe Auf— 
gabe hat ſich vielleicht bisher noch nie ein Gärtner geſtellt, und doch 
könnte ſich ein wichtiger Nahrungszweig daran knüpfen laſſen. 


Veredlung des Aepfel- und des Birnbaumes. 


Willdenow's vor jo langer Zeit ſchon über die Entitehung der 
verſchiedenen Sorten des Aepfel- und des Birnbaumes ausgeſprochene 
Anſichten ergänzen in ſo ausgezeichneter Weiſe Darwin's Vorſtel— 
lungen, daß ein darauf bezüglicher Auszug aus Willdenow's Schrif— 
ten hier ſehr an ſeinem Platz ſein dürfte. 

Die Stammformen der Aepfel und Birnen, ſagt Willdenow, 
ſind bei uns in den Waldungen in freiem Zuſtande bis auf den heu— 
tigen Tag noch anzutreffen. Wir finden ſie durch ganz Mittel- und 
Südeuropa verbreitet, . jedoch in den ſüdlicheren als den 
nördlicheren Ländern. In Deutſchland ſind Holzäpfel und Holz— 
birnen unſtreitig von Anfang an zu Hauſe, da ſchon vor nahe zwei— 
tauſend Jahren unſere Vorfahren nach Tacitus theilweiſe von den 
Früchten dieſer Bäume lebten. — Sie nehmen alſo ſehr verſchiedene 
Lagen und Klimaten ein. Sie werden ſicherlich im wilden Zuſtande 
von jeher manche Abarten erzeugt haben, ſo gut wie dies auch jetzt 
noch der Forſtmann bei ſo manchen Waldbäumen beobachtet. Dies 


6 * 


84 


wird aber beſonders in wärmeren Gegenden der Fall geweſen fein. 
Wärme macht allenthalben, beſonders, wenn die Pflanzen einen ſolchen 
Standort haben, daß ſie deren ganzen Einfluß genießen, alle Früchte 
ſüßer, wie man beſonders an vielen Spielarten des Weinſtockes ſieht. 
Unſere Vorfahren deutſchen Stammes züchteten im Beginn un— 
ſerer beglaubigten Geſchichte noch keine Obſtbäume. Tacitus ſagt, 
daß Holzäpfel zur gewöhnlichen Nahrung der Germanen gehörten, 
ihr Land aber ſonſt untüchtig zur Obſtcultur ſei. Es iſt nun nach 
Willdenow immerhin möglich, daß auch unſere deutſchen Vorfahren 
ſchon in ihren Waldungen beſonders gute Varietäten des wilden Obſtes 
von minder guten unterſchieden und ſie verpflegten. Indeſſen bietet doch 
jedenfalls unſer Klima für die freiwillige Erzeugung milder und ſüßer 
Varietäten des wilden Obſtes nicht ſo viel Ausſicht als Südeuropa. 
Hier iſt daher die eigentliche Heimath der Aepfel- und Birnen⸗ 
cultur. In dem wärmeren Klima von Griechenland und von Ita— 
lien konnten in den Wäldern einzelne plötzlich und von ſelbſt entſtan— 
dene Spielarten der Aepfel und Birnen vorgefunden werden, die von 
milderem Gewebe und von ſüßerem angenehmerem Geſchmacke waren. 
Man pflanzte dieſe in den Garten, nahm deren Samen, ſäte ihn in gu⸗ 
tem unausgeſogenem Boden aus und erzog wieder Früchte davon. Man 
erhielt dann in einzelnen, wenn auch nur wenigen Bäumen weitere 
Spielarten, die wieder beſſere Früchte als der wilde Stamm erzeugten. 
Griechen und Römer hatten in den Zeiten der erſten Kaiſer 
ſchon ziemlich viele Aepfel-, Biru- und andere Obſtſorten, Dios— 
corides, Plinius und andere reden davon, ſie ſagen aber nicht, 
woher ihr Volk dieſſelben erhielt. Aus Aegypten und den wär— 
meren Gegenden Aſiens erhielten die Griechen und Römer dieſe 
Obſtſorten nicht, da ſie dort nicht wild angetroffen werden. Auch die 
Juden ſcheinen Aepfel und Birnen in alter Zeit noch nicht gehabt zu 
haben. Es iſt aber wohl möglich, daß Griechen und Römer ſchon 
von den Urbewohnern ihrer Länder mehrere Obſtſorten erhielten und 
deren Urſprung alſo weit über die Grenze der Geſchichte hinausreicht. 
Deutſchland erhielt ſeine edleren Aepfel- und Birnenſorten 
ſicher von den Römern, die ſchon damals, als die Germanen noch 
mit Holzäpfeln ſich begnügten, im Gartenbau ziemlich weit vorgeſchrit— 
ten waren. Seitdem hat denn die fortdauernde Pflege im Laufe der 
Jahrhunderte noch manchen weiteren veredelnden Einfluß auf die Sor— 
ten geäußert. 


85 


Ueber die Erzeugung neuer Sorten aus Samen äußert ſich Will— 
denow in folgender Weiſe. Aepfel und Birnen, wenn ſie aus Samen 
gezogen werden, brauchen viele Jahre, ehe man ſich von ihnen Früchte 
verſprechen kann. Je nach Verſchiedenheit des Bodens kann es zehn, 
fünfzehn, zwanzig Jahre dauern, ehe der Sämling fruchtbare Blüthen 
bringt. Man gelangt viel früher und überhaupt vortheilhafter dazu 
durch Propfen, Oculiren u. ſ. w. Man iſt dann nicht nur der beab- 
ſichtigten edlen Sorte ſicher, man erhält auch von demſelben Bäum— 
chen viel früher Früchte. 

Dennoch kennt man auch Verſuche von Vermehrung der Obſt— 
bäume durch Samen. Das Ergebniß läuft in Bezug auf Aaepfel— 
baumzucht dahin aus, daß man unter tauſend Samen einer beſtimm— 
ten Sorte von Aepfeln nur wenige Stämme, vielleicht kaum zehn, 
erhält, die faſt ganz oder doch ſehr annähernd ſolche Früchte wie der 
Mutterſtamm tragen. Noch ſeltener iſt unter dieſer Zahl ein oder 
der andere Baum, der beſſere Früchte hervorbringt. Viele werden 
geringer an Güte und einige kommen dem wilden Holzapfel ſehr nahe, 
ja ſie ſind zuweilen in nichts von dieſem verſchieden. Niemals wird 
man von einer gezüchteten edlen Sorte dieſſelbe aus Samen vollſtändig 
wieder erhalten, allenfalls neue Sorten, die beſſer oder ſchlechter aus— 
fallen, auch wohl Mittelſorten, die mit zwei oder mehr andern Ab— 
arten Aehnlichkeit haben. 

Beim Aepfelbaum findet ſich, daß alle durch Ausſäen erhaltenen 
Spielarten entweder mehr dem Holzapfel (Pyrus malus Lin.) oder 
mehr dem Johannisapfel, Paradies apfel (Pyrus praecox s, 
paradisiaca) nahe kommen. Daher Willdenow vermuthet, daß aus 
letzteren zwei Arten die manigfachen Spielarten entſtanden ſind, welche 
jetzt unſere Gärten aufzuweiſen haben. Vom Holzapfel ſcheinen die 
meiſten Sorten Aepfel zu kommen, vom Johannisapfel aber jene, 
welche kleinere, rundere und ſüßere Früchte tragen. 

Bei der Birne hingegen gehen alle aus Samen gezogenen Sorten 
in den wilden Birnbaum oder die Holzbirne, den Pyraster der Alten 
über. Die Birnen haben daher nur eine einzige Stammart, Pyrus 
communis Lin, 

(K. L. von Willdenow und A. H. Homayer. Gekrönte Preis⸗ 
ſchriften über die von der Akademie der nützlichen Wiſſenſchaften zu 
Erfurt aufgegebenen pomologiſchen Preisfragen. Erfurt 1801.) 


86 


Acclimatiſirung von Culturgewächſen. 


Eine weitere eigenthümliche Richtung des Einfluſſes des Menſchen 
auf die Pflanzen iſt die Acclimatiſation oder klimatiſche Einbür- 
gerung. Sie beruht theilweiſe auf Angewöhnung, es kommt aber 
in manchen Fällen dabei wohl eine Ausleſe ins Spiel. 

Die Gewöhnung hat auf Pflanzen in vielen Fällen einen entſchiede— 
nen Einfluß. So ändert ſich bei der Verſetzung einer Pflanzenart in ein 
anderes Klima ſehr bald die Blüthezeit, die Zeit des Schlafes u. ſ. w. 

Im Allgemeinen iſt jede Art von Pflanzen dem Klima ihrer be— 
ſonderen Heimath angepaßt und kann daher nur in andere Erdtheile ver— 
pflanzt werden, welche ein ihm ganz oder beinahe gleiches Klima haben. 
Arten, welche einer kalten oder gemäßigten Gegend angehören, können 
in einer tropiſchen nicht fortkommen. Umgekehrt, Palmen, Cycadeen 
und andere Tropenpflanzen kommen bei uns nur in Treibhäuſern fort 
und dürfen nur während der wärmeren Zeit unſeres Sommers ins 
Freie gebracht werden. Auch können Pflanzen feuchter Standorte oft 
nicht an trockene Stellen, Gebirgspflanzen oft nicht in der Ebene an— 
gepflanzt werden. 

Wenn dies nun auch im Allgemeinen richtig iſt, ſo iſt doch die 
Anpaſſung der Pflanzen an ſolche beſonderen klimatiſchen Verhältniſſe 
weder eine durch das ganze Pflanzenreich gleichmäßig durchgreifende, 
noch eine überhaupt vollkommen bindende. Es gibt vielmehr Aus— 
nahmen davon in den manigfachſten Abſtufungen und auch die Kunſt 
kann bis zu einem gewiſſen Grade eingreifen. 0 

Unmittelbare Beweiſe für die Möglichkeit einer Acclimatiſirung 
der Pflanzen liegen einerſeits in der großen Zahl von Pflanzenarten, 
welche bereits aus wärmeren Klimaten in unſere Gegenden verpflanzt 
wurden und hier, die einen mehr, die andern minder, manche aber ſehr 
ausgezeichnet gedeihen, audererſeits in dem ſchwankenden Erfolge der 
Verſuche, noch andere Pflanzen wärmeren Klimate bei uns einzubür— 
gern, welche darthun, daß die Kunſt in manchen Fällen noch nicht die 
richtigen Wege eingeſchlagen haben dürfte. 

So ſind mehrere werthvolle Obſtbäume und Sträuche erſt in 
geſchichtlicher Zeit bei uns aus wärmeren Gegenden eingeführt worden. 
Wallnußbäume, Zwetſchen-, Sauerkirſchen- und Mandelbäume, der 
Weinſtock und andere werthvolle Nutzpflanzen zeigen ſich im Beginn 
unſerer geſchichtlichen Epoche nur in den wärmeren Gegenden Vorder— 


87 


aſiens einheimiſch und find von da aus erft über Griechenland 
und Italien allmählig weiter nach Weſten verbreitet und bei uns 
eingebürgert worden. Die Acclimatiſirung erfolgte noch nicht bei allen 
gleichmäßig. Der Wallnußbaum, aus Perſien ſtammend, leidet 
3. B. noch jetzt, nachdem er ſchon Jahrhunderte lang bei uns ange— 
pflanzt worden, oft ſehr von kalten Wintern oder Nachtfröſten. Es 
iſt aber ſehr möglich, daß ſeine Acclimatiſirung noch immer in ſehr 
allmähligem Wachſen iſt und er in Zukunft unſer Klima beſſer noch 
vertragen wird. 

Einen merkwürdigen Grad der Acclimatiſirung hat der Pfirſich, 
Amygalus persiea Lin., gewonnen, deſſen urſprüngliche Heimath Oſt— 
indien ſein dürfte. Zu Ariſtoteles Zeiten war der Pfirſich noch 
eine weit zärtlichere Pflanze als heute. Damals konnten in Griechen— 
land noch keine Pfirſiche gezogen werden. Aegypten war damals 
ihre nächſte Stätte. Selbſt auf Rhodus, wohin der Pfirſich wahr— 
ſcheinlich von Kleinaſien aus zuerſt hinkam, brachte er es damals 
nur zur Blüthe und in einzelnen Fällen nur zu Früchten. Seit den 
letzten zweitauſend Jahren iſt der Pfirſichbaum ſeither viel weiter 
nach Oſten und Norden verpflanzt worden und ſogar bis Mittel— 
deutſchland gelangt. Offenbar iſt dieſer Vorgang noch nicht ab— 
geſchloſſen und in ſpäteren Jahrhunderten dürfte man wohl noch 
weiter nördlich auch Pfirſiche ziehen. 

Auf dem Wege der Auswahl, vermuthet Darwin, müßten ſich 
in der Acclimatiſation der Pflanzen noch manche Erfolge erzielen 
laſſen. Darwin behauptet nämlich, daß die Gewöhnung für ſich 
allein nicht immer zur Acclimatiſirung führen werde, daß aber eine 
Auswahl beſonders geeigneter Individuen während einer hinreichend 
langen Reihe von Generationen den Vorgang weſentlich ſteigern müſſe. 

So wird von der Schminkbohne (Phaseolus vulgaris L.) be= 
hauptet, daß ſie nur in einem beſtimmten Klima gedeihe und es nicht 
möglich ſei, ſie von einer gewiſſen Grenze an in einem andern einzu— 
bürgern. Nach Darwin's Vorſchlag müßte man nun in einer Ge— 
gend, wo die Schminkbohne noch gut gedeiht, ſie eine Reihe von Ge— 
nerationen hindurch ſo frühzeitig ausſäen, daß ein großer Theil der 
Pflänzchen noch vom Froſte zerſtört wird. Die davon verſchonten, 
dem Ertragen des Froſtes alſo beſſer gewachſenen Individuen aber müßte 
man ſorgſam zuſammenhalten und in ähnlicher Weiſe von Jahr zu 
Jahr wieder einer Ausmuſterung durch den Froſt unterwerfen. Hätte 


88 


man die Schminkbohne in einer größeren Reihe von Generationen 
einer derartigen Einwirkung der Kälte oft genug ausgeſetzt, ſo dürfte 
davon wahrſcheinlich eine kältefähigere Abart entſtehen, welche in ein 
nördlicheres Klima, als es unſere heutige Schminkbohne verträgt, ver— 
pflanzt werden könnte. Es würde das alſo eine neue aus Angewöh— 
nung und Auswahl combinirte Methode der Acclimatiſation ſein. 
Hier bleibt mithin noch ein weiter Spielraum der Verſuche für den 
rationellen und unternehmenden Gärtner oder Landwirth. 


Krenzung der Culturgewächſe. 


Wiederum ein anderer Weg zur Erzielung neuer Pflanzenformen 
nach künſtlichem Verfahren liegt in der Kreuzung verſchiedener 
Arten oder verſchiedener Varietäten von Gewächſen. 

Zu einer ſolchen Kreuzung liegt, wie die klaſſiſchen Arbeiten von 
Kölreuter und Gärtner dargelegt haben, im Allgemeinen wenig 
Neigung zwiſchen verſchiedenen Arten vor, aber es beſteht dazu große 
Neigung zwiſchen verſchiedenen, namentlich aber zwiſchen wenig von 
einander abweichenden Varietäten derſelben Art. Gelangt der Pollen- 
ſtaub einer Pflanze zugleich mit dem einer anderen, wenn auch nahe 
verwandten Art auf die Narbe, ſo hat der eigne Pollen einen ſo 
überwiegenden Einfluß auf die Bildung der Frucht, daß er jede Folge 
des fremden Zeugungsſtoffes gänzlich aufhebt. Man muß daher bei 
einer Pflanze, von der man eine gekreuzte Form erzielen will, erſtlich 
die Staubfäden wegſchneiden, dann die Narbe mit dem Samenſtaub 
einer anderen Art beſtreuen und endlich die ſo behandelte Pflanze ein— 
ſchließen, damit nicht Bienen u. ſ. w. den Staub einer anderen Pflanze 
ihrer Art noch hinzubringen und ſo den Erfolg der Kreuzung ſtören. 

Auf dieſe, in den gewöhnlichen Lauf der Natur gewaltſam ein— 
greifende Weiſe laſſen ſich zwiſchen den meiſten Arten der Dicotyle— 
donen gleicher Gattung mehr oder minder leicht Baſtarde oder hybride 
Formen erzeugen, zuweilen auch wohl zwiſchen Arten beſonderer aber 
nur wenig verſchiedener Gattungen. In der Natur kommen ſolche 
Baſtardirungen, wie von unſeren neueren Botanikern angenommen 
wird, auch auf freiwilligem Wege vor, aber da die Neigung dazu an 
ſich gering iſt, auch nur ſelten und ſpärlich. Winde, Inſecten, be— 
ſonders Bienen, tragen oft den Pollen von einer Art auf die Narbe 
einer anderen und erzeugen ſo Blendlinge zweier Arten oder zweier 


89 


Varietäten. Dies wird namentlich von Weidenarten, Habichtskräutern 
(Hieracium) u. ſ. w. angenommen. 

Die aus der Kreuzung verſchiedener Pflanzenarten gewonnenen 
Formen halten bald mehr das Mittel zwiſchen den beiden Stamm— 
formen, bald ſtehen ſie auch einer von beiden näher. Solche Verſchie— 
denheiten werden ſogar bei Baſtarden beobachtet, die aus Samen 
einer und derſelben Samenkapſel gezogen ſind. 

Gewöhnlich ſind die Baſtardpflanzen im Fortpflanzungsſyſtem ge— 
ſchwächt. Manche ſind ganz unfruchtbar, andere tragen weniger beträcht— 
liche Mengen von Samen und erlöſchen dann in einer der nächſten Gene— 
rationen. Es gibt in dieſer Hinſicht ſehr vielfache Abſtufungen, darunter 
wie es ſcheint auch Fälle von ganz unverminderter Fortpflanzungsfähigkeit 
der Baſtarde, doch iſt letzterer Fall noch ſtreitig unter den Botanikern. 

Wenn auch die ſo gewonnenen hybriden Pflanzenformen wenig 
oder in vielen Fällen gar keine Ausſicht zu einer bleibenden Erhal— 
tung durch Samen bieten, ſo haben ſie doch eine andere Bedeutung 
noch für den Kunſtgärtner, nämlich den, ein dankbarer Stoff für die 
Vermehrung durch Stecklinge, Knospen u. ſ. w. zu ſein. Hier erhält 
ſich die durch Kreuzung erworbene Form eines beliebigen Individuums 
auch bei den durch Ableger erzielten Abkömmlingen noch in ausgezeich— 
neter Weiſe. 

Die künſtliche Kreuzung von Varietäten einer und derſelben Art 
gelingt in der Regel ohne Schwierigkeit und liefert reichlich frucht— 
baren Samen. So z. B. zwiſchen den gezüchteten Varietäten der vor 
wenig Jahrzehenden aus Japan zu uns gebrachten Camellia und 
bei denen vieler anderen Zierpflanzen. Auch bei einigen Obſtarten hat 
man dieſen Weg zur Erzielung neuer Formen benutzt. Die Neigung 
verſchiedener Varietäten derſelben Art iſt nach Darwin's Verſuchen 
in der That ſo groß, daß man gewiſſe Culturpflanzen, z. B. Kohl, 
Lauch u. a. nur in einer Anzahl von verſchiedenen Varietäten neben 
einander zu pflanzen braucht, um in Folge natürlicher Uebertragung 
des Pollens Blendlinge zu erhalten. Die aus Samen ſolcher neben 
einander gewachſenen Pflanzen gezogenen Abkömmlinge ſind nach Dar— 
win ſogar der Mehrzahl nach von gemiſchter Abſtammung. 

Doch gibt es auch Fälle, wo ſehr nahe ſtehende Pflanzenformen, 
welche die Botaniker nach ihren naturgeſchichtlichen Characteren ohne 
Bedenken als Varietäten einer und derſelben Art anerkennen würden, 
der künſtlichen Kreuzung mehr oder minder große Schwierigkeiten ent— 


90 


gegenſetzen. Es iſt dies ſogar der Fall mit gewiſſen Varietäten des 
Maiſes, die noch Niemand für eigne Arten genommen hat. 

Gärtner fand nämlich, daß eine Sorte von Zwergmais mit 
gelbem Samen (Zea mays Lin. var. nana) durch eine größere Mais— 
ſorte (Zea mays Lin. var. major) befruchtet, nur in ſehr wenig Fällen 
(1: 13) zur Samenbildung gelangt, es entſtand von dreizehn befruch- 
teten Maispflanzen nur ein einziger Kolben und auch dieſer trug nur 
fünf Samenkörner, welche letztere dann übrigens vollkommen fruchtbar 
waren“ 

Wenn dieſer Fall nun auch noch nicht beweiſt, daß unter den 
verſchiedenen Sorten des angebauten Maiſes bereits mehr als eine 
einzige Art vorliegt, ſo läßt er doch vermuthen, daß die Veränderungen, 
welche die Cultur bei Gewächſen hervorruft, auch auf die Blüthen— 
organe verſchiedener Varietäten ſo weit verſchieden wirken können, daß 
dadurch ein Anfang jenes Gegenſatzes hervortritt, der ſonſt allgemein 
die Kreuzung verſchiedener Arten erſchwert. Der Fall iſt um ſo be— 
deutſamer als ſich Aehnliches bei gewiſſen Hausthieren wiederholt. 


Verwilderung und Rückſchlag der Culturgewächſe. 


Obſchon die auf den verſchiedenen Wegen, welche zur Verände— 
rung der Pflanzen führen, erzielten neuen Formen manigfach von den 
Arten abweichen und oft ſelbſt den gewöhnlichen Spielraum der Gat— 
tung überſchreiten, ſo können wir doch nach dem jetzigen Stande der 
Erfahrungen nicht wohl behaupten, daß der Menſch auf dem Wege 
des Anbaues ſchon wirklich neue Arten von ganz unzweifelhaftem Art- 
Naturell erzeugt habe. Der Menſch hat wohl vielfach die Natur einer 
wilden Pflanze durch die Cultureinflüſſe ſo ſehr erſchüttert, daß ſie 
weit über den gewöhnlichen Spielraum der Art hinaus abändert. 
Aber es iſt noch nicht gelungen ſolche neu hervorgerufenen Charactere 
in dem Grade zu befeſtigen, daß ſie eben ſo zähe der Culturform 
anhaften, als es ſonſt mit Characteren wilder Formen zu ſein pflegt. 
Es iſt auch wohl erſt in wenig Fällen — vielleicht überhaupt erſt 
beim Mais — gelungen, eine Pflanze durch Cultur ſo umzuändern, 
daß ſie mit ihrer Stammform oder mit anderen cultivirten Varietäten 
nur noch ſchwer oder gar nicht mehr zu kreuzen iſt. Wenn man alſo 
der Erzeugung neuer Arten auch ſchon nahe kam, ſo ſcheint dies Ziel 
doch noch nicht wirklich erreicht worden zu ſein. Mit anderen Worten, 


91 


die jeder Pflanze eigenthümliche latente Erblichkeit iſt ſo groß, daß 
Charactere der Urform nach langen Generationen unter gewiſſen Um— 
ſtänden immer wieder zum Durchbruch kommen können. Der Menſch 
hat es in den meiſten, vielleicht allen Fällen, ſelbſt im Laufe aller 
geſchichtlichen Zeiten des Anbaues noch nicht fertig bringen können, 
dieſe tief im Weſen der Pflanzenarten liegende Vererbung der ur— 
ſprünglichen Eigenſchaften vollkommen zu überwinden. Wir müſſen 
annehmen, daß es dazu noch längerer Zeiträume bedarf, als der Be— 
trag der geſammten geſchichtlichen Epoche beträgt — ein Schluß den 
auch gewiſſe geologiſche Erſcheinungen bekräftigen, welche zeigen, daß 
zur Ausbilbung einer Art ein längerer Zeitraum gehört. Unſere Cultur— 
formen ſind alle mehr oder weniger noch dem Rückſchlage aus— 
geſetzt. 

Culturpflanzen, welche man eine Reihe von Generationen hin— 
durch in einen ganz armen Boden verpflanzt oder geradezu verwil— 
dern läßt, verändern ihre Charactere und kehren ganz oder faſt ganz 
wieder zu ihrer wilden Urform zurück; ſie ſchlagen zurück. Sie 
verlieren namentlich jene für uns ökonomiſch wichtigen Characterzüge, 
die ihren eigentlichen Culturwerth darſtellen. Es iſt, als habe der 
Menſch durch die Cultur der Pflanze derſelben gewiſſe Charactere 
aufgedrungen, deren ſie ſich, ſobald ſie ſeinem Einfluß entzogen wor— 
den und wieder unter die ihr urſprünglich angemeſſenen Lebensbe— 
dingungen gelaugt iſt, raſch oder allmählig wieder entledigt, um die 
ihrer entfernten Voreltern von Neuem anzunehmen. 

Eine ſolche Rückkehr ſcheint in zweierlei Momenten ihre Urſache 
zu haben, erſtens im unmittelbaren Einfluß der Veränderung des 

Bodens und anderer Lebensbedingungen, zweitens aber im Geſetze der 
Erblichkeit. Die urſprünglichen Charactere erhalten ſich, in latenter 
Form an die materielle Grundlage der Individuen geknüpft, von der 
Urform durch die ganze Reihe der Generationen und treten nun, wo 
die äußeren Verhältniſſe wieder ſich ändern, auch von neuem wieder 
hervor. Eine Aenderung der äußeren Bedingungen gehört aber un— 
umgänglich dazu. Wo eine Culturpflauze anhaltend in den Lebens— 
verhältniſſen erhalten wird, unter welchen ſie ihre auszeichnenden Cha— 
zactere gewann, wird fie auch nie aus eigenem Antrieb in die Urform 
zurückſchlagen. 

Durch Verwilderung ſollen, wie die meiſten Botaniker als ſicher 
annehmen, die verſchiedenen Kohl-Gewächſe unſerer Gärten, wie 


92 


der Blumenkohl, der Roſenkohl, der Kohlrabi, der Kopf— 
kohl u. ſ. w. in die wilde Kohlform, den Strauchkohl, Brassiva 
o!eracea Lin. ver. fruticosa, — mit dürrem, holzigem, mehrjährigem 
Stengel und unangenehm bitter ſchmeckenden Blättern — zurückge— 
führt werden. 

Garteninſpector Metzger!) in Heidelberg hat darüber eine 
Reihe von Verſuchen angeſtellt und namentlich einzelne Varietäten des 
Kohls in andere übergeführt. Er hat z. B. aus Samen von Braun- 
kohl (var. acephala) zugleich den Kohlrabi mit knopfartig verkürztem 
fleiſchig entwickeltem Strunke (var. caulorapa) und alle Uebergänge 
von dieſem bis zum drei Fuß hohen Braunkohl erhalten. Als Er— 
gebniß ſeiner Verſuche und Beobachtungen ſpricht er ſich dahin aus, 
daß der wilde Strauchkohl, der noch jetzt an der Meeresküſte von 
Italien, Frankreich, England und Jütland wild gefunden 
wird, die unzweifelhafte Stammform der verſchiedenen cultivirten Kohl— 
ſorten iſt. Am nächſten ſteht ihm der Gartenſtrauchkohl, der 
beſonders in Frankreich gezogen wird und vom wilden nur ſehr 
gering abweicht. Bei ihm ſind durch den Einfluß der Cultur die 
Aeſte ſchon etwas vermindert, die Blätter dafür aber kräftiger ent— 
wickelt. Von dieſer Stufe iſt nur noch ein kleiner Schritt zum Blatt— 
kohl (ver. acephala), bei welchem die Aeſte faſt ganz verkümmert 
ſind und nur noch kleine Knospen mit roſenartig geſtellten Blättern 
darſtellen. Bei dem Kohlrabi (var. caulorapa) endlich iſt auch der 
Strunk bedeutend umgebildet und es ſind von den Aeſten nur noch 
ganz unanſehnliche Spuren (Augen) vorhanden, wogegen bei dieſer 
Sorte die Blätter, die hier nicht Gegenſtand der Aufmerkſamkeit des 
Gärtners ſind, wieder nahe zur Form jener des wilden Strauch— 
kohls zurückgekehrt erſcheinen. 

Metzger hat unzweifelhaft die Abſtammung der cultivirten Kohl— 
ſorten vom wilden Strauchkohl dargethan. Er gibt indeſſen doch kein 
Beiſpiel einer vollkommen gelungenen Zurückführung der cultivirten 
Formen auf die genaue Form des wilden Strauchkohls. 

Auch Darwin ſelbſt iſt geneigt, die Möglichkeit eines vollkom— 
menen Rückſchlags der Gartenkohlſorten in den wilden Kohl zuzuge— 
ſtehen, es ſcheint ihm aber auch keine die Frage ganz entſcheidend 
löſende Thatſache vorzuliegen. 5 

1) J. Metzger. Syſtematiſche Beſchreibung der eultivirten Kohlarten. 
Heidelberg. 1833. 


93 


Wenn, wie es ſcheint, nicht alle Hausthiere durch Verwilderung 
genau wieder zur Form ihrer Stammart zurückkehren, ſo wäre es auch 
ſehr möglich, daß bei gewiſſen Culturpflanzen der Rückſchlag nie voll— 
kommen wird. Um dies genau feſtzuſtellen, bedarf es aber noch manig— 
facher Verſuche. Die Wiſſenſchaft iſt bis jetzt in dieſer Hinſicht noch 
ſehr lückenhaft. i 

Ueberhaupt ſcheint man in Bezug auf die Frage, wie tief die Ver— 
änderungen, welche der Menſch bei Culturpflanzen hervorruft, gewiſſer— 
maßen ins Innere der Natur derſelben eindringen und wie weit ſie 
ſich befeſtigen können, noch wenige ſichere Kenntniſſe geſammelt zu 
haben. De Candolle unterſcheidet z. B. Spielarten von Pflanzen, 
die nur durch Theilung unverändert vermehrt werden können und Ab— 
arten, die ſich auch durch Samen unbeſchadet ihres beſonderen Cha— 
racters fortpflanzen laſſen. Aber er glaubt, daß Spielarten, die ſich 
kräftig und dauernd ausbilden, im Laufe der Zeit zu Abarten ſich be— 
feſtigen können; er ſagt, dies iſt eine allgemeine und gleichſam ſelbſt— 
verſtändliche Annahme der Landwirthe und Gärtner, für welche nament— 
lich auch die Ergebniſſe des Weinbaues und anderer Culturverfahren 
ſprechen. Indeſſen finde ich für dieſe Annahme, die eine wichtige 
Seite der Trausmutationslehre zu werden verſpricht, keine genaueren 
Belege. Leider haben unſere Gärtner von ihren vielen und wichtigen 
Naturbeobachtungen immer nur weniges aufgezeichnet und betrachten 
Vorgänge als ſelbſtverſtändlich, deren genaue Beobachtung für die 
theoretiſche Wiſſenſchaft von förderlichſter Bedeutung werden könnte. 


Urſprung der Culturgewächſe. 


Die Frage nach dem erſten Urſprunge unſerer Culturgewächſe 
wurde von den alten Völkern dahin beantwortet, daß ſie, wie nament— 
lich die Getraide-Arten, der Weinſtock, der Oelbaum u. ſ. w., ein un— 
mittelbares Geſchenk der Gottheit oder einzelner Nationalgötter ſeien. 

Von dem Botaniker wird eine andere Antwort verlangt. 

Es fragt ſich, ob die Culturgewächſe von dem Menſchen in der 
Natur ſchon ſo, wie ſie ſich jetzt darbieten, urſprünglich vorgefunden 
wurden, oder ob fie damals in einer andern Form wild wuchſen, dieſe 
Form aber unter der Einwirkung des Menſchen für ſeine Zwecke ver— 
ändert wurde. 

Offenbar iſt nun der erſtere Fall für manche jetzt angebaute 


94 


Pflanzen ſehr möglich, der zweite aber für die größere Mehrzahl und 
namentlich für alle in zahlreiche Varietäten zertheilten Culturgewächſe 
ganz unzweifelhaft. Abſtufungen manigfacher Art gibt es auch hier 
wieder und Fälle von ſicherem Verlauf, ſowie ſolche von theilweiſe 
räthſelhafter Art. 

Der Fall, daß Culturgewächſe irgendwo wild vorkommen, iſt 
zwar oft von Reiſenden, namentlich der älteren Zeit, in Bezug auf 
unſere Cerealien behauptet worden, er iſt aber immer nur ſchwer mit 
Strenge darzuthun. Namentlich bedarf es, um den Zuſtand der ur— 
ſprünglichen Wildheit einer im freien Zuſtande beobachteten Nutzpflanze 
von dem der bloſen Verwilderung zu unterſcheiden, eines längeren 
Verweilens des Beobachters an der Stätte des Vorkommens, als es 
gewöhnlich einem Reiſenden geſtattet zu ſein pflegt. 

Unſere Getraidearten will man in vielen Fällen in Vorder- und 
Inneraſien in wildem Zuſtand beobachtet haben, aber es iſt immer 
von anderer Seite eingewendet worden, ſolche angeblich wilde Vor— 
kommen ſeien nur verwilderte Pflanzen. = 

Gewiß aber ift für eine Reihe von Culturgewächſen dargethan, 
daß von ihnen noch eine eigenthümliche wilde Form als mehr oder 
minder abweichender Typus vorhanden iſt. Gewöhnlich iſt dann auch 
in unſeren Gärten die Nachkommenſchaft dieſer wilden Form durch den 
Einfluß der Cultur und der Auswahl ſo ſehr verändert worden, daß 
das Erzeugniß nunmehr in gewiſſen, dem Menſchen ökonomiſch wich— 
tigen Hinſichten ſtark von der Urform abweicht und mehr oder minder 
dauerhafte Varietät-Charaktere erhalten hat oder ſelbſt ſchon der Art- 
Selbſtändigkeit nahe gekommen iſt. Die Form des wilden Zuſtands 
kann dann — auf anderem Boden oder in anderen Gegenden — un— 
verändert noch neben der durch die Cultur erzeugten Form zu leben 
fortfahren. 

Unſere zweijährige cultivirte Möhre oder Gelbe Rübe (Daueus 
carota Linné) mit der wohlbekannten fleiſchigen Wurzel läßt ſich aus 
der einjährigen wilden Form, die auf Wieſen und an trocknen Hügeln 
nicht ſelten bei uns iſt, ſicher herleiten. Die Wurzel dieſer wilden 
Form iſt dünn, zähe und von beißendem Geſchmack, überhaupt un— 
genießbar nach heutigem Maßſtab. Sie kann aber durch die Kunſt 
des Gärtners, der ſie mehrere Generationen hindurch in geeignetem 
Boden anpflanzt, vollkommen in die Form der Cultur übergeführt 
werden. Die Römer bauten ſie ſchon an. 


95 


Aehnlich iſt es mit den verſchiedenen Kohl-Arten, dem Kopf— 
kohl, Blumenkohl u. ſ. w. unſerer Gärten. Man leitet ſie all— 
gemein von dem in den Küſtenländern des Mittelmeeres noch vor— 
kommenden wilden Strauchkohl, Brassica oleracea L. var. fruticosa 
ab, der im freien Zuſtande eine oft mehrere Jahre dauernde ſtrauch— 
artige Pflanze mit verholzendem Stengel und dürftiger Blätterbildung 
darſtellt. 

In anderen Fällen iſt die Umgeſtaltung irgend einer wilden 
Pflanze durch die Cultur wohl als ſicher anzunehmen, aber der Ueber— 
gang der wilden in eine Culturform durch Verſuche noch nicht wirk— 
lich wiederholt worden. 

Von unſerer aus Amerika eingeführten Kartoffel kennen wir 
die Urform noch nicht mit Beſtimmtheit. Zur Zeit der Entdeckung 
von Amerika wurde fie ſchon auf den Anden Südamerika's von 
Chili bis Neugranada angebaut, war aber in Mexiko noch 
unbekannt. Man kennt auf den mittleren Gebirgen von Südamerika 
und von Mexiko mehrere anſcheinend wilde Solanum- Arten, welche 
von den Botanikern unter eignen Namen als beſondere Arten im 
Syſteme aufgeführt werden. Aber es werden von den verſchiedenen 
Auctoren bald dieſe bald jene der wilden Arten, bald eine mexikaniſche, 
bald eine peruaniſche oder chileſiſche, für die Urformen unſerer cultivir— 
ten Form ausgegeben. Es ſcheint daher, daß hier eine Umänderung 
der urſprünglichen Form durch die Cultur vor ſich gegangen iſt, 
welche durch fortgeſetzte Wiedererzeugung dauerhaft wurde und jetzt 
den Zuſammenhang mit der eigentlichen Urform verhüllt. In der 
That iſt auch die Kartoffel in gewiſſen auf europäiſchem Boden ge— 
züchteten Sorten nachträglich in Mexiko wieder eingeführt worden, 
wo ſie jetzt als europäiſches Gewächs erſcheint. 

Eine Anzahl von älteren Naturforſchern, wie Olivier und 
Andere haben behauptet, daß unſere Getraidearten ihr urſprüngliches 
Vaterland in Mittel- und in Vorderaſien haben. Weizen und 
Gerſte ſollen aus Syrien, oder der Weizen aus dem Baſchkiren— 
land, endlich der Spelz aus den Gebirgen von Perſien herſtam— 
men und jetzt dort noch in wildem Zuſtande fortkommen. Wieder 
nach anderen Reiſenden ſollen Weizen, Dinkel und Gerſte zuſammen 
in den Euphratgegenden wild vorkommen. 

Andererſeits aber wird behauptet, daß unſere Getraidearten ver— 
edelte Formen von ganz anders gearteten Urtypen ſind und daß die 


96 


Umgeſtaltung von Gräſern zu Getraidepflanzen experimentell nachweis⸗ 
bar iſt. So hat namentlich ein ausgezeichneter franzöſiſcher Gärtner 
Fabre die Anſicht verfochten und auf dem Wege des Verſuches 
glaubwürdig durchgeführt, daß die edelſte unſerer Getraidearten, der 
Weizen (Triticum), nichts anderes als eine veredelte Form der in 
mehreren Arten in den Küſtenländern des Mittelländiſchen und des 
Adriatiſchen Meeres verbreiteten Gräſergattung Aegilops iſt. Fabre 
hat während eines Zeitraumes von zwölf Jahren (von 1838 bis 1850) 
ſeine darauf bezüglichen Verſuche fortgeſetzt. Er fand, daß die Gat— 
tung Aegilops durch die Cultur in die nach weſentlichen Characteren 
abweichende Gattung Triticum übergeführt werden könne. 

Es gelang ihm Aegilops ovata durch fortgeſetzten Anbau in eine 
Weizenform überzuführen. Von dieſer Art in der veredelten Form 
gewann Fabre in freiem Felde während vier auf einander folgen- 
den Jahren Erndten gleich denen von anderem Getraide dieſer Art. 
Im Laufe des Anbau's traten bei Aegilops ovata mehrere Verände⸗ 
rungen ein. Die Pflanzen bekamen längere Fruchtähren, es ſchlugen 
immer weniger von den Blüthen fehl und die Samen wurden dicker. 
Zugleich wandelten ſich gewiſſe Charactere der Samenhüllen, welche 
ſonſt als generiſche Unterſchiede zwiſchen den Gattungen Aegilops und 
Tritieum gelten, in der Weiſe um, daß man zuletzt ſtatt eines Aegilops 
ein Triticum hatte. Kurz, Acgilops ovata war in Folge von zwölf⸗ 
jährigem Anbau in eine Form übergegangen, die jedermann für ein 
Triticum anerkennen mußte und behielt dieſe auch im Laufe der Cul— 
tur bei, ohne in die frühere zurückzufallen. 

Dieſelben Verſuche ſtellte Fabre auch mit Aegilops triaristata 
an. Dieſe Art ging eine ähnliche Umgeſtaltung ein, wurde indeß nicht 
vollſtändig zur Weizenform gebracht. 

Dies führt denn zum Schluſſe, daß gewiſſe Formen des von uns 
angebauten Weizens, wo nicht alle, nur bloſe durch Anbau veredelte 
Raſſen von gewiſſen Aegilops- Arten oder vielleicht auch nur einer 
einzelnen Art dieſer Gattung ſein mögen. Weiterhin wird man dann 
allerdings auch zur Vermuthung geführt, daß alle Getraidearten über— 
haupt nur Veredlungen wild wachſender und von ihrer urſprünglichen 
Form ziemlich weit abweichender Gräſer ſind. 

Iſt dies richtig, ſo erklärt es ſich auch wieder, warum die Ge— 
traidearten ein auf uns gekommenes Erbſtück der älteſten Culturvölker 
ſind und warum Völker auf tiefſter Geſittungsſtufe faſt durchweg keine 


97 


veredelten Nutzpflanzen beſaßen, welche der Europäer ihnen hätte ent- 
lehnen und in ſeiner Heimath einbürgern können. 

Der Grund davon, daß man in den von wilden oder ſehr ge— 
ring geſitteten Völkern bewohnten Erdtheilen z. B. im Capland, in 
Auſtralien und Neuſeeland keine ausgebildeten Culturgewächſe 
angetroffen hat, liegt nach Darwin durchaus nicht daran, daß alle 
dieſe Theile unſeres Planeten von der Natur im Vergleiche zu andern 
Gegenden ſtiefmütterlich behandelt worden wären. Vielmehr iſt jedes 
Land von Natur aus mit einer freilich bald größeren bald geringeren 
Anzahl von nützlichen Urformen verſehen, manche wie z. B. Neu- 
ſeeland, Neuguinea und andere abgelegene Inſeln nur in ſehr 
geringem Grade, andere wie z. B. Südafrika in höherem. 

In der That ſind faſt alle Hauptgruppen des Pflanzenreichs 
ausgeſtattet mit zahlreichen Nahrungspflanzen und mit noch mehr der 
Veredlung zu ſolchen fähigen Formen. Am meiſten iſt dies der Fall 
mit den Monocotyledonen, mit den Dicotyledonen und den Cycadeen. 
Am dürftigſten an Nahrungspflanzen find die Coniferen und die Cryp— 
togamen. Im Ganzen gehören die Mehrzahl der Nahrungspflanzen 
den höher organiſirten Typen an. 

Die Haupturſache des größeren oder geringeren derartigen Reich— 
thums eines Landes liegt vor allem im Menſchen und ſeiner Geſittung. 
Die Zahl der Culturgewächſe, welche ein Land hervorgebracht hat, 
entſpricht nur theilweiſe dem natürlichen Vorkommen, weit mehr aber 
der größeren oder geringeren Pflege, die der Menſch auf die von ihm 
in jeder Gegend vorgefundenen Nutzpflanzen verwendete. Es hat Jahr— 
hunderte und Jahrtauſende ſorgfältiger Pflege und mehr oder minder 
berechneter Auswahl bedurft, um unſere heutigen europäiſchen Cultur— 
gewächſe bis zum dermaligen Stande zu veredeln und in die manig— 
fachſten bald dem Boden und Klima, bald der beabſichtigten Verwen— 
dung angepaßten Varietäten und Raſſen zu zertheilen. 

Es iſt daher leicht einzuſehen, warum Erdtheile, die von wilden 
Völkern bewohnt wurden, keine ausgebildeten Culturgewächſe haben. 
Auch dieſe Länder haben ſicher Nutzpflanzen, die einen mehr, die an— 
dern weniger. Dieſe einheimiſchen Pflanzenformen hätten ſich jeden— 
falls umgeſtalten, veredeln und in Varietäten zertheilen laſſen. Aber es 
fehlte an jener unausgeſetzten Pflege und Auswahl, welche ſchon unſere 
älteſten Vorfahren in den Culturländern der alten Welt überhaupt, 


Rolle, Darwin's Lehre. 7 


98 


noch mehr aber die neueren Völker Europa's den Nutzpflanzen ihres 
Bereiches angedeihen ließen. 

Auch dieſe Betrachtung eröffnet wieder einen weiten Spielraum 
zu neuen Verſuchen. Wenn nur die alten Culturvölker in Ermang⸗ 
lung eines beſſeren aus wildem Stamme edle Pflanzenformen gezüch⸗ 
tet haben, die wilden Volksſtämme aber nicht, muß es dann nicht 
noch eine Menge wilder Pflanzen geben, die unter der ſorgſam pflegen- 
den und verſtändig berechnenden Hand des Gärtners ausgezeichnete 
Obſt⸗ oder Gemüſeſorten geben könnten? Wenn jo viele unſerer euro- 
päiſchen Culturpflanzen nachweisbar aus Aſien eingeführt ſind, ſollte 
nicht auch bei einem oder dem andern Pflänzchen der deutſchen Flora 
unter unanſehnlicher Form noch der Keim zu einer fruchtreichen Ber- 
edlung liegen? Die alten Germanen waren keine Pflanzenzüchter, unſere 
beſten Nutzpflanzen find von ihnen und andern Völkern des Alter- 
thums aus dem Oſten zu uns gebracht worden, auch die Römer haben 
gewiß mehr Nutzpflanzen aus Oſten eingeführt als ſelbſt gezüchtet. 
Der Gärtner veredelt die Blumen unſerer deutſchen Wieſen zu ge— 
füllten Gartenblumen, die neben den ſchönſten exotiſchen ſich zeigen 
können, aber an Verſuche zu einer Veredlung einheimiſcher nahrhafter 
Wieſenkräuter zu Gemüßepflanzen ſcheint kaum jemand noch zu denken! 
Hier iſt aber ſehr vieles noch möglich, wenn der Menſch nur will und 
zwar mit Ausdauer will. 


Hausthiere. 


Wie bei der Cultur gewiſſer Pflanzen hat der Menſch auch bei 
der Zähmung und Züchtung gewiſſer Thiere im Laufe lang fortge⸗ 
ſetzter Behandlung anſehnliche Umgeſtaltungen der urſprünglichen Form 
zu Wege gebracht. Ebenſo wie bei den Pflanzen waren es auch bei 
den Thieren vorzugsweiſe die höheren Klaſſen, welche Gegenſtände zu 
einer ſolchen Umgeſtaltung geliefert haben, es ſind faſt nur Vögel und 
Säugethiere, welche der Menſch zu Hausthieren gemacht hat. (Von 
Goldfiſchen, Bienen, Seidenraupen u. ſ. w. kann man wohl abſehen.) 

Ein Theil der Hausthiere ſind dabei dem Menſchen in hohem 
Grade unterwürfig geworden, anderen iſt ein etwas größeres Feld der 
Unabhängigkeit erhalten geblieben. Erſtere ſind auch im Allgemeinen 
ſtärker, letztere gewöhnlich in geringerem Grade verändert worden. 
Der Hund bietet ein Beiſpiel des erſteren, die Katze des letzteren Falles. 


99 


Die Herrſchaft des Menſchen hat überhaupt aber bei den ver- 
ſchiedenen Arten der Hausthiere in manigfacher Weiſe bald mehr nach 
Ausdehnung, bald auch mehr nach der Tiefe die angeerbte natürliche 
Verfaſſung geändert. Unter ſeiner Hand entwickeln ſich gewöhnlich 
aus einer Art eine Menge von Abarten, welche die Art, im freien 
Zuſtande lebend und ſich ſelbſt überlaſſen, nie erzeugt haben würde. 

Die Lebensweiſe des Thieres im wilden und im zahmen Zuſtande 
iſt eine ſehr verſchiedene. Das wilde Thier iſt gewöhnlich genäthigt, 
ſich mit einiger Anſtrengung ſeine Nahrung zu ſuchen und oft ſelbſt 
aus der Fern: herbei zu holen. Es hat in vieler Hinſicht freie Wahl 
unter den ihm zuſagenden Nahrungsmitteln. Es iſt gewöhnlich an— 
haltend in freier Luft und oft zugleich in anhaltender und lebhafter 
Bewegung. Es muß Feinden entgehen oder ſich gegen ſie wehren 
können. Fleiſchfreſſer müſſen dabei oft lange Zeit und in peinlicher 
Weiſe die Qualen des Hungers dulden. Pflanzenfreſſer in Steppen- 
gegenden ſind oft ſtarkem Waſſermangel ausgeſetzt. Dies alles wird 
bei dem eingefangenen und dem gezähmten Thiere anders. Jetzt findet 
daſſelbe immer ſeine Nahrung bereit, es wird ſelten Mangel leiden, 
es muß aber auch die Nahrungsmittel, die man ihm vorſetzt, anneh— 
men und öfters ſind dieſe von jenen, welche ihm die Natur bot, ſehr 
verſchieden. Die Bewegung in freier Luft iſt mehr oder minder ein— 
geſchränkt. Dafür hält dann auch der Menſch vom gefangenen und 
vom gezähmten Thiere alle Feinde ab. Die Umſtände ſind alſo in 
ſolcher Ausdehnung und Tiefe verändert, daß es kein Wunder iſt, wenn 
davon Aenderungen in der Miſchung der Säfte eintreten und demzu— 
folge dann eine veränderte Nachkommenſchaft erſcheint. Es entſtehen 
alſo zunächſt individuelle Abweichungen. 

Aus dieſen wählt der Menſch aus. Er verſteht durch Auswahl 
der Individuen zur Nachzucht große Erfolge mit Sicherheit zu er— 
zielen und dabei gleichſam die organiſche Form ſeinen eigenen Be— 
dürfniſſen anzupaſſen. Am merkwürdigſten iſt es in dieſer Hinſicht, 
daß der Menſch bei der Züchtung von Thieren Charactere und An— 
paſſungen erzielt, die ihm ſelbſt, nicht aber eigentlich dem Thiere vor— 
theilhaft ſind. 

Dieſe Herrſchaft des Menſchen über die Thierwelt iſt nichts we— 
niger als gleichmäßig. Die Zahl der Hausthiere aller Völker der 
Erde zuſammengenommen iſt eine verhältnißmäßig ſehr geringe. Man 
iſt zwar fortwährend mehr oder minder beſtrebt, noch eine Anzahl 

3 


100 


anderer Thierarten zu unterwerfen. Aber hier ſtellen ſich viele Schwie- 
rigkeiten in Weg. Manche Thiere, ihrer gewohnten Lebensweiſe ent— 
zogen, ſterben ſchon nach wenig Tagen, Wochen oder Monaten. Andere 
leben zwar in der Gefangenſchaft fort, bringen dabei aber keine Junge. 
Noch andere vermehren ſich auch, widerſtreben aber vermöge einer 
vorwiegenden Zähigkeit der Vererbung im hohem Grade der Zähmung 
und dem Anlaß zur Veränderlichkeit. Sie zeigen nur geringe Abän- 
derungen und vielleicht kaum mehr als im wilden Zuſtande ſolche auch 
vorkommen könnten. So iſt denn eine manigfache Reihe von Abſtu⸗ 
fungen in dieſer Einwirkung des Menſchen auf die Thiere ausgejpro- 
chen, und ihr ein bald näheres, bald entfernteres Ziel geſteckt, bald 
auch ein bis jetzt noch unbegrenzt gebliebener Spielraum offen gelaſſen. 
Man hat wohl behauptet, daß die Wirkung der Zähmung nicht weiter 
gehe, als es der Typus einer jeden Art zuläßt, indeſſen iſt dies 
eine willkürliche vorgefaßte und verfrühte Behauptung. In Wirklich⸗ 
keit ſind die Verſuche künſtlicher Züchtung zum Behufe der Löſung rein 
wiſſenſchaftlicher Aufgaben erſt in ſo geringer Ausdehnung und ſeit ſo 
kurzer Zeit gemacht worden, daß man die Frage als noch nicht gelöſt be— 
zeichnen kann. Es hat vielmehr den Anſchein, als ob es der fortſchreitenden 
Züchtung noch manigfach gelingen dürfte, heute als unüberwindlich gel— 
tende Schwierigkeiten künftig noch, aber auf neuen Wegen zu überwinden. 
Wenigſtens erhalten wir jetzt jedes Jahr aus den zoologiſchen Gärten 
Berichte von einzelnen Erfolgen, die man ehedem für nicht möglich 
hielt. Erfolg und Erkenntniß aber ſchreiten hier in wechſelſeitiger 
Einwirkung voran und erweitern das Gebiet. 

Bei der Betrachtung der Veränderungen, welche der Menſch an 
den Thieren, denen er ſeinen Einfluß zuwendet, zu erzielen verſteht, 
müſſen wir, wie früher bei den Culturpflanzen, wieder unmittelbare 
Einwirkungen und mittelbare unterſcheiden und dann den Erfolg der 
Auswahl kennen lernen. 

Die unmittelbaren Lebensbedingungen, denen wir ein dem wilden 
Zuſtande entnommenes Thier ausſetzen, äußern ſtets, je nach dem 
Grade ihrer Fremdartigkeit und nach dem Grade der Empfänglichkeit 
deſſelben, einen gewiſſen Einfluß, manchmal einen unmerklichen, oft 
aber auch einen ſehr ſtörenden und- in vielen Fällen ſelbſt tödlichen. 

Fragen wir nun nach der Urſache der großen Varietäten- und 
Raſſenzahl unſerer Hausthiere, ſo drängt ſich zunächſt die Annahme 
auf, daß fie eine Folge von Abänderung der äußeren Lebensbedin⸗ 


101 


gungen ift. Die wilden Formen unferer gezähmten Thiere leben unter 
ſehr beſtimmten Verhältniſſen, denen ihre Verfaſſung ſich erblich an— 
gepaßt hat. Indem wir ſie in unſer Haus aufnehmen, entfremden 
wir ſie dieſen angeerbten Lebensverhältniſſen. Wir rauben ihnen den 
Spielraum der Bewegung, entheben fie des Bedürfniſſes, ihre Speife 
ſich ſelbſt zu ſuchen und befreien ſie von der Nachſtellung ihrer Feinde. 
Wir ſetzen ſie zugleich aber noch dem Einfluß manigfacher anderer 
Umſtände aus, von denen wir uns oft ſelbſt nicht ſo leicht Rechenſchaft 
geben können. Alles dies muß unmittelbar ſchon auf ein Thier ſeinen 
Einfluß äußern, am meiſten aber ſcheint auf das gefangene Thier, 
ſobald es überhanpt einmal in der Gefangenſchaft ſich am Leben zu 
erhalten vermag, die überflüſſige Nahrung einzuwirken, welche wir 
unſeren Hausthieren gewöhnlich darreichen. 

So hat Dr. Rütimeyer gefunden, daß die Knochen von Haus⸗ 
thieren ſich von denen wilder Thiere, ſowohl im Grade der Feſtig— 
keit, als auch in der Art der Oberflächenbildung ſo ſehr auszeichnen, 
daß man oft kleine Bruchſtücke darnach ſchon unterſcheiden kann. 
Knochen wilder Thiere ſind von dichtem Gefüge, hart, ſpröde, ſehr 
fettlos. Namentlich iſt bei den Gliedmaßenknochen das verhältniß— 
mäßig ſehr hohe ſpecifiſche Gewicht auffallend. Man vergleiche nur 
die Knochen des Hirſches, ihre Oberfläche iſt rauher, alle Eindrücke 
von Muskelanſätzen und Gefäßen find ſchärfer ausgeprägt als bei Haus- 
thieren. So zeichnen ſich die Knochen des Ur und des Wiſent durch 
weit ſchärfere Oberflächenzeichnung, als die des Haus-Stieres aus. 
Knochen von Hausthieren aber ſind immer lockerer, leichter und 
weicher, dabei im Allgemeinen fetthaltiger als die der wilden Formen. 
Man kann darnach Knochen des Hundes leicht von denen des Fuchſes 
unterſcheiden. Das ſind offenbar Folgen der veränderten Lebensweiſe 
des Hausthieres, namentlich aber ſeiner reichlicheren Ernährung und 
ſeiner geringeren Bewegung. 

Viele Thiere, namentlich Vögel und Säugethiere, ſeltener Thiere 
aus niedrigeren Klaſſen, werden im Laufe der Gefangenſchaft zahm, 
d. h. ſie verlernen es, im Menſchen einen Feind zu ſehen, ſie fliehen 
ihn nicht mehr, wehren ſich nicht mehr gegen ihn, nehmen Nahrung 
von ihm an und äußern in gewiſſen Fällen ſelbſt Dankbarkeit, Freund⸗ 
ſchaft, Gehorſam. Ein jo hoher Grad von Umgeftaltung in den 
Aeußerungen der Seelenverfaſſung zeigt ſich am meiſten bei lang ſchon 
gezüchteten Hausthieren, in vieleu Fällen aber ſogar auch bei jung 


102 - 


eingefangenen Thieren wilder Arten, z. B. beim Elephanten, der in 
der Gefangenſchaft ſich nur ſelten fortpflanzt und daher immer wieder 
neu eingefangen werden muß. 

Der unmittelbare Einfluß des Menſchen auf das in Gefangen— 
ſchaft gehaltene Thier zeigt ſich ferner noch in Veränderungen, welche 
in den Geſchlechtsverrichtungen eintreten. 

Darwin erdweiſt es aus zahlreichen Beobachtungen an gefangen 
gehaltenen Thieren, daß das Fortpflanzungsſyſtem derſelben für die 
Einflüſſe gewiſſer und zum Theil noch dunkler Veränderungen in den 
allgemeinen Lebensbedingungen viel empfänglicher als jeder andere 
Theil des Organismus ſein muß. 

Dieſer Umſtand macht ſich unter den unmittelbaren Folgen der 
Gefangenſchaft ſchon merklich geltend, noch viel mehr aber unter den 
mittelbaren. In vielen Fällen äußert die Einſperrung wilder Thiere 
ſehr bemerkenswerthe Veränderungen in den Verrichtungen des Ge— 
ſchlechtsſyſtems, vermindert ſie oder hebt ſie ganz auf. Iſt es auch 
gelungen, eine wilde Thierart in der Gefangenſchaft aufzuziehen, ſo 
iſt in vielen Fällen immer noch eine große Schwierigkeit zu über— 
winden, ſie zu einer freiwilligen Fortpflanzung zu bringen. Eine 
Menge von Thieren wollen ſich in der That nicht fortpflanzen, ob— 
ſchon ſie lange Zeit hindurch in einer verhältnißmäßig nicht ſehr engen 
Gefangenſchaft in ihrer Heimathgegend und unter den ihrer Lebens— 
weiſe, ſoweit es thunlich iſt, am nächſten kommenden Verhältniſſen 
gehalten werden. 

Raubvögel pflanzen ſich in der Gefangenſchaft entweder nie oder 
in nur höchſt feltenen Fällen fort. Selbſt der Edelfalke, der im Mittel- 
alter ſo häufig zur Jagd abgerichtet wurde und in hohem Preiſe 
ſtand, hat trotz ſeiner Abrichtung nie zum Hausthiere werden können. 
Die große Mehrzahl der Papagayen läßt ſich eben ſo wenig in der 
Gefangenſchaft züchten, man muß ſie zum Behuf der Zähmung immer 
wieder neu einfangen. Stelzvögel eignen ſich ſehr wenig zur Züch— 
tung, nur der Storch und der graue Reiher ſind neuerdings in einigen 
Fällen zur Fortpflanzung gebracht worden. Genauere Beobachtung 
der Thiere und angemeſſenere Pflege dürfte in Zukunft ſolche Fälle 
übrigens noch ſehr vermehren. 

Die vierfüßigen Raubthiere pflegen ſich in der Gefangenſchaft 
ziemlich leicht fortzupflanzen, es iſt dies ſelbſt bei den aus den Tropen 
gebrachten Stücken der Fall. Bei einzelnen Arten der Bärenfamilie 


103 


iſt es allerdings, wie z. B. beim Waſchbär, beim Naſenbär und beim 
Dachs, bis jetzt noch nicht gelungen. 

Affen pflanzen fich bei uns in der Gefangenſchaft ſelten fort. 
Die meiſten Arten müſſen fortwährend neu eingeführt werden. In— 
ſectivoren, wie der Igel, und Chiropteren, wie die Fledermaus, wahr— 
ſcheinlich nie oder nur ſelten. 

Der Elephant iſt in der Gefangenſchaft ebenfalls nur in den ſel— 
tenſten Fällen zur Fortpflanzung zu bringen und muß, gleichwie die 
Papagayen zum Behuf der Zähmung immer wieder aufs neue im 
jungen Zuſtand eingefangen werden. Dies geſchieht um ſo mehr beim 
Elephanten, als das Einfangen junger wilder Thiere ökonomiſch immer 
wohlfeiler iſt, als das Aufziehen ſolcher von Paaren. Der Elephant 
iſt daher auch noch nicht ſeiner Art, ſondern immer nur einzelnen In— 
dividuen nach zum Hausthier geworden. 

Beträchtlicher als die unmittelbaren ſind die mittelbaren erſt im 
Laufe einer Reihe von Generationen hervortretenden Folgen der Ge— 
fangenſchaft und Zähmung. Sie beruhen auf Angewöhnung und An— 
paſſung, auf Gebrauch oder Nichtgebrauch der Körpertheile und auf 
Veränderungen im Fortpflanzungsſyſtem. 

Die Gewöhnung hat auf das Thier in einer Reihe von Fällen 
einen entſchiedenen Einfluß. Bei den im wilden Zuſtande lebenden 
Thieren beobachtet man viele Charactere, die durch Gewöhnung er— 
langt zu ſein ſcheinen, aber es iſt ſchwer, den beſtimmten Beweis da— 
für zu liefern, daß die betreffenden Charactere wirklich auf dieſe Weiſe 
erlangt wurden. Sicher erweisbar aber iſt der Vorgang in vielen 
Fällen bei Hausthieren. 

Verpflanzt man z. B. unſere Hausthiere in die Tropen, ſo 
müſſen fie ſich au ganz andere klimatiſche und anderweitige Lebens— 
bedingungen gewöhnen. Mehrere Arten erleiden dabei Aenderungen, 
die gewöhnlich zu Eigenthümlichkeiten führen, die mit ſolchen von dort 
einheimiſchen Formen analog ſind. Unſere Schaf-Raſſen in die heißen 
Ebenen Afrikas oder auf die Antillen verpflanzt, verlieren mehr 
oder minder von ihrer warmen Wollbekleidung. Der Hund im heißen 
Afrika iſt dünnbehaart oder faſt haarlos. Verpflanzt man dieſe nackte 
Hunderaſſe wieder in unſere Klimate, ſo nimmt mit den nächſtfolgen— 
den Generationen ihre Behaarung allmählig zu. Die Hunde der 
Eskimo's ſind dagegen durch langen und dicken Haarpelz ausge— 
zeichnet, was eine weitere Stufe deſſelben Vorgangs ſein mag. 


104 


Das Haushuhn iſt nah Roulin imtropiſſchen Amerika faft H 
nackt geworden, es bringt nur wenigen Flaum zur Welt, verliert 
dieſen bald wieder und iſt dann nackt bis auf die Schwungfedern. 

Ein merkwürdiges Beiſpiel von Angewöhnung lieferte vor zwei 
Jahrzehenden die ägyptiſche Gans, Anser aegyptiacus Br'ss., welche 
in Europa vordem nur ſchwer aufzuziehen war, weil ſie hier, wie 
im wärmeren Aegypten ihre Eier im December legte und daher 
die früheſte Jugend ihrer Jungen in unſere ſtrengſte Jahreszeit fiel. 
In den Pariſer Thiergärten begannen erſt im Jahre 1843 dieje⸗ 
nigen Thiere, welche bis dahin noch im December gelegt hatten, ſo 
wie deren in Frankreich aufgezogenen Abkömmlinge, ihre Eier im 
Februar, dann 1844 im März und 1845 im April zu legen und 
ſeitdem hat ihr Fortkommen im Freien keine Schwierigkeit mehr. 

Gebrauch oder Nichtgebrauch eines Organes entſcheidet häufig 
bis zu einem gewiſſen Grade über deſſen Ausbildung. Der Gebrauch 
ſtärkt und dehnt gewiſſe Körpertheile aus, der Nichtgebrauch ſchwächt 
ſie. Solchergeſtalt erzeugte Abänderungen ſind aber vererblich. Es 
gehören dahin folgende Erſcheinungen bei Hausthieren. 

Bei der Hausente (Anas boschas L.) ſind nach Darwin's 
Beobachtung die Flügelknochen leichter und die Beinknochen ſchwerer 
im Verhältniß zum ganzen Skelett, als bei ihrer frei lebenden Stamm⸗ 
form — der Wildente (Stockente) — welche in Nord- und Mittel- 
europa heimiſch iſt. Man kann dieſe Umänderung ſehr wohl dem 
Umſtande zuſchreiben, daß die zahme Ente weniger fliegt und mehr geht, 
als dies bei der im Naturzuſtande lebenden Stammform der Fall iſt. 

Bei unſerm zahmen Geflügel überhaupt iſt aus Mangel an Uebung 
die Flugkraft geſchwächt und die Schwung⸗ und Steuerfedern ſind kürzer 
geworden, als ſie bei den wilden Formen derſelben Arten ſich zeigen. 

Bei Ziegen und bei Kühen erſcheint eine vererbliche ſtärkere Ent⸗ 
wicklung der Euter in ſolchen Gegenden, wo die Thiere regelmäßig 
gemolken werden. Vernachläßigt man die Thiere oder läßt man ſie 
verwildern, ſo nimmt die Stärke des Euters und damit auch der 
Milchertrag ab. Die Thiere geben dann nur Milch, ſo lange ſie 
Junge ſäugen. 

Es gibt in verſchiedenen Gegenden Raſſen von Hausthieren mit 
hängenden Ohren. Unſere meiſten zahmen Hunderaſſen zeigen dieſen 
Character, aber die halbwilden Hunde von Java, China u. ſ w. 
haben ſpitze aufrechtſtehende Ohren. 


105 


Ein ähnlicher Fall zeigt ſich beim Kaninchen. Die wilde Form 
hat ſpitze aufrecht ſtehende, aber unter den zahmen Raſſen zeigen 
ſich Formen mit ſchlaffen herabhängenden Ohren. 

Es ſcheint, daß der Character hängender Ohren eine Folge vom 
ſeltenen Gebrauch der Ohrmuskeln iſt, indem das Thier unter dem 
Schutze des Menſchen ſich nicht mehr ſo durch drohende Gefahren 
beunruhigt fühlt, wie dies bei wilden Thieren der Fall iſt. Der 
Hühnerhund und der Dachshund verlaſſen ſich auf die Schärfe ihres 
Geruchs, ihr Gehör kommt minder ins Spiel, ſie können daher herab⸗ 
hängende Ohren haben. 

Eine andere Folge der Zähmung, die auf Nichtgebrauch von 
Theilen beruht, iſt die minder ſtarke Entwicklung der Nacken⸗ und 
Kaumusculatur zahmer Thiere im Gegenſatz zum Character ihrer 
nächſten wilden Verwandten. Man vergleiche z. B. Hund und Katze 
mit Wolf und Wildkatze. 

Die wichtigſte mittelbare Folge, welche aus den veränderten Lebens⸗ 
verhältniſſen hervorgeht, denen der Menſch das eingefangene wilde Thier 
ausſetzt, iſt nach Darwin's Lehre die Veränderung, die in der ge⸗ 


ſchlechtlichen Sphäre eintritt. 


Wenn auch bei der Züchtung unſerer Hausthiere ein gewiſſer 
Theil des Erfolges unzweifelhaft dem Einfluſſe äußerer Verhältniſſe 
und der Gewöhnung an dieſelben zuzuſchreiben iſt, ſo entſcheiden dieſe 
Momente doch jedenfalls für ſich allein noch nicht viel. Hiervon allein 
würden die manigfachen Raſſen, in welche wir unſere Hausthiere 
zerſpalten haben, noch nicht ſich gebildet haben, es bedarf dazu noch 
tiefer eingreifende Momente. 

Darwin iſt der Anſicht, daß die weſentlichſte und häufigſte 
Urſache zur Abänderung der Thierformen in Einflüſſen zu ſuchen iſt, 
welche das männliche oder das weibliche Element der Fortpflanzung 
ſchon vor der Befruchtung des Eies erfahren hat. Der Einfluß der 
veränderten äußeren Lebensbedingungen erzeugt unmittelbar auf die 
Thiere gewöhnlich nur unerhebliche Wirkungen. Deſto größer iſt in 
einer Reihe von Fällen der Erfolg dieſer Einflüſſe auf die geſchlecht⸗ 
liche Sphäre und dadurch auch auf den Character der Nachkommen. 

Aus der Beobachtung an wild eingefangenen und dann dem Ein⸗ 
fluß des Menſchen ausgeſetzten Thieren ergeben ſich manigfache Ab⸗ 
ſtufungen in den Störungen des geſchlechtlichen Syſtems. Die Züch⸗ 
tung der Thiere wird dadurch in vielen Fällen, wie ſchon erörtert 


106 


wurde, unmöglich gemacht. Die Thiere fterben in der Gefangenschaft 
aus, ohne Nachkommen zu hinterlaſſen. Eine Reihe von anderen 
Thieren aber pflanzen ſich in der Gefangenſchaft fort und dieſe können 
dann Gegenſtand einer Züchtung zu Hausthieren werden. Nach ſo 
vielen Beiſpielen eines weſentlich ſtörenden Einfluſſes der Gefangen— 
ſchaft auf die Fortpflanzung von Thieren, erſcheint es leicht begreif- 
lich, daß bei Thieren, bei denen eine Fortpflanzung in der Gefangen- 
ſchaft ſtatt hat, auch eine Veränderung im Fortpflanzungsſyſtem, aber 
von milderer Art, eingetreten iſt. Sie hat dann den Erfolg, daß 
daſſelbe nicht vollkommen in der früheren ererbten Weiſe wirkt, ſon— 
dern zur Erzeugung einer Nachkommenſchaft führt, welche den Aeltern 
weniger ähnlich iſt, als dieſe den Vorältern waren und welche dann 
auch zu weiteren Veränderungen geneigt iſt. 5 
Darwin legt hierbei auf den Umſtand Gewicht, daß ſchon bei den 
Jungen eines und deſſelben Wurfes — namentlich bei Hausthieren — 
ein beträchtlicher Grad von individueller Abweichung vorkommen kann. 
Solche Fälle find bei Hausthieren nicht felten. Pr. Weinland 
(Zoologiſcher Garten III. 1862. p. 101.) beichrieb eine dahin ein- 
ſchlagende merkwürdige Zwillingsgeburt bei der aus Aegypten 
ſtammenden buckelnaſigen Ziege (Augoceros eapra, var. resima), von 
der es eine Raſſe mit langen herabhängenden und eine andere mit 
ganz kurzen aufrichtbaren Ohren gibt. Im Frankfurter zoologi— 
ſchen Garten erzeugte nun ein Paar von der kurzohrigen Raſſe Zwil— 
linge, von denen ein Individuum der Raſſe mit langen hängenden, 
das andere der mit kurzen ſtehenden Ohren angehörte. Weinland 
hat beide Köpfe abgebildet. Leider kamen dieſe Jungen todt zur Welt. 
Daß aber wirklich das Fortpflanzungsſyſtem der Thiere in 
vielen Fällen, auch da noch, wo die Verrichtungen nicht gehemmt ſind, 
entſchieden von Aenderungen der allgemeinen Lebensbedingungen be— 
troffen wird, geht aus einer namhaften Reihe von Thatſachen hervor. 
Die aus Europa nach Bogota in Neu-Granada ver⸗ 
pflanzten Gänſe legten anfangs nur wenige Eier und auch von dieſen 
kamen nur wenige Jungen auf. Die zweite Generation gedieh ſchon 
beſſer, doch waren die Gänſe noch immer nicht ſo fruchtb ar als in 
Europa. Hier hat alſo offenbar die Veränderung der Lebensbedin- 
gungen auf das Fortpflanzungsſyſtem ſchwächend eingewirkt. 
Eine bedeutende Erhöhung der Fruchtbarkeit ſcheint d agegen bei 
den Meerſchweinchen, Cavia cobaya, eingetreten zu fein, fie find bei 


107 


uns in der Gefangenſchaft weit fruchtbarer als ihre nächſten Ver— 
wandten in der Heimath, von denen man ſie abgeſtammt glaubt. 
Kaninchen und Frettchen zeigen in der Gefangenſchaft eine ähuliche 
Ueppigkeit der Vermehrung. 

Eine andere eigenthümliche Wirkung der Gefangenſchaft auf 
manche Thiere iſt nach mündlicher Mittheilung von br. Weinland, 
die in den zoologiſchen Gärten gemachte (bisher ſpärliche) Erfahrung, 
daß von den hier vorgekommenen Geburten von Thieren, z. B. von 
Antilopen, eine das gewöhnliche Verhältniß überſchreitende Mehrzahl 
dem männlichen Geſchlechte anzugehören ſcheint. 

Dieſe Angabe ergänzt ſich ſehr gut durch eine andere, nach 
welcher Rinder und Schafe in Neu-Südwales nicht nur gut ge— 
diehen, ſondern auch an Fruchtbarkeit zunahmen und dabei verhältniß— 
mäßig mehr weibliche als männliche Jungen zur Welt brachten. 

Die Variation der Thierform regelt ſich, wie Darwin zeigt, nach 
gewiſſen Geſetzen, von denen wir zur Zeit aber erſt wenige nach ein— 
zelnen Andeutungen mehr oder minder klar erkennen oder überhaupt 
erſt ahnen können. Im Ganzen genommen ſind wir über die Geſetze, 
nach denen die Veränderungen vor ſich gehen, noch ſehr im Dunkel 
und der Fall iſt ſelten, daß wir, wenn ein Theil eines Organismus 
von dem entſprechenden ſeiner Eltern abweicht, den genaueren Grund 
davon zu erkennen vermögen. 

Darwin hebt eins dieſer Geſetze hervor, welches er das der 
Wechſelbeziehung der Entwicklung nennt. Es beſteht darin, 
daß eine Veränderung in einem Theile des Thierkörpers gewöhnlich 
von ſolchen in einem anderen Theile deſſelben begleitet iſt. Es ſtellen 
ſich dabei oft Wechſelbeziehungen ſehr ſonderbarer Art heraus. Die 
Erſcheinung überhaupt hat ſowohl bei der Entſtehung von Monſtro— 
ſitäten, als bei der von neuen Raſſen eines Hausthieres ſtatt. 

Bei Mißbildungen hat Geoffroy mehrfach eine Wechſelbezie— 
hung von Körpertheilen nachgewieſen, er zeigte nämlich, daß gewiſſe 
Formen der Mißbildung ſehr häufig in demſelben Individuum zu— 
ſammen vorkommen. Einer der auffallendſten Fälle dieſer Art iſt, 
daß Katzen mit blauen Augen allezeit taub ſind. 

Ebenſo ſtellt ſich eine Wechſelwirkung der Entwicklung bei der 
Züchtung neuer Raſſen von Hausthieren vielfach heraus. Es ſind 
dabei namentlich homologe, das heißt urſprünglich gleichartige, 
aber zu verſchiedenen Verrichtungen und in verſchiedener Form aus— 


108 


gebildete Theile des Thieres, welche inſoweit einen Zuſammenhang 
unter einander zeigen, daß ſie gleichzeitig abzuändern pflegen. | 

So bemerkt Darwin, daß nach der Anſicht der Viehzüchter 
Hausthiere mit verlängerten Beinen gewöhnlich auch durch eine ver— 
längerte Form des Kopfes bezeichnet ſeien. Gliedmaßen und Unter— 
kiefer ſind aber homologe Theile. So unterſcheidet ſich z. B. das 
zahme Schwein von Oſtaſien vom gemeinen europäiſchen Haus— 
ſchwein zugleich durch kürzere Schnautze und durch kürzere Beine. In 
ähnlichem Zuſammenhang ſtehen bei den Tauben die Länge der Schnäbel 
und die der Füße. Tauben mit kurzen Schnäbeln haben kleine Füße 
und ſolche mit langen Schnäbeln auch lange Füße. 

Behaarung, Bezahnung und Hörner ſind ebenfalls homologe Ge— 
bilde. So bemerkt Darwin, daß vermöge der Wechſelbeziehung 
beim unbehaarten oder ſogenannten türkiſchen Hunde die Bezah— 
nung unvollkommen ſei. Rindvieh-Raſſen mit langem und grobem 
Haare ſollen geneigter ſein, lange Hörner zu bekommen, als ſolche 
mit feiner kurzer Behaarung. 

Ein anderes Geſetz, welches die Aeußerungen der Veränderlich— 
keit regelt, beſteht darin, daß, wenn ein Theil des Thierkörpers ſich 
ſtark entwickelt, er zufolge der innigen Verkettung aller einzelnen Theile 
und Verrichtungen der Organiſation mehr oder minder dahin ſtrebt, 
anderen, beſonders benachbarten Theilen, Nahrung zu entziehen und 
ſo zu deren Verkümmerung führt. 

So hindert die Steigerung der Wollerzeugung beim Schafe eine 
reichlichere Fleiſch- und Fettbildung. Das feinwollige Merinoſchaf 
hat z. B. als Schlachtthier weniger Werth als unſere gemeine Schaf— 
Raſſe. Dafür züchtet man aber in England auch eine beſondere 
Kaffe von Fleiſch-Schafen als Schlachtvieh, bei denen man die Woll- 
erzeugung nicht mehr im Auge hat. 

Gänſe, die regelmäßig gerupft werden, entwickeln weniger Fleiſch 
und Fett als andere. 

Beim chineſiſchen Maſtſchwein hat man eine ſolche Steige— 
rung der Fettablagerung hervorgerufen, daß gewiſſe Körpertheile und 
deren Verrichtungen darunter leiden, namentlich die Bewegungswerk— 
zeuge gering entwickelt bleiben, wobei allerdings auch deren geringerer 
Gebrauch noch mit in Betracht kommt. 

Raſſen des Haushuhns mit einer großen Federhaube auf dem 
Kopfe pflegen einen um ſo kleineren Kamm zu tragen. 


169 


Von den Veränderungen, welche die Thiere im Verlaufe der 
Züchtung erleiden, ſind manche vererblich, andere bleiben auf das In— 
dividuum beſchränkt. ö 

Im Allgemeinen iſt die Neigung zur Vererbung der elterlichen 
Charactere, ſowohl der anerkannt weſentlichen als auch der erſt durch die 
Züchtung hervorgerufenen, bei allen Hausthieren ſehr ausgeſprochen. Sie 
vererben dieſelben namentlich ſo lange, als ſie unter den Bedingungen, 
die verändernd auf ſie einwirkten, auch nachfolgend noch gehalten 
bleiben. Es gibt ſowohl Raſſen von Pferden, Rindern und anderen 
Vierfüßern, als auch ſolche von zahmem Geflügel, welche ſich unter 
gleichgebliebener Behandlung und Pflege Jahrhunderte und Jahrtau— 
ſende hindurch in ſo weſentlich gleicher Form erhielten, daß unmittel— 
bare Vergleichung der älteſten bekannten Formen, z. B. aus Grab— 
mälern, mit heute lebenden Exemplaren nur geringe oder überhaupt 
gar keine Raſſenverſchiedenheit nachzuweiſen vermag Erſt wenn die 
Hausthiere entweder durch andere Behandlung oder durch Verwilde— 
rung unter Bedingungen gebracht werden, die den Lebensverhältniſſen 
ihrer Urformen nahe oder gleichkommen, beginnen ſie die angenom— 
menen Eigenthümlichkeiten wieder abzulegen, ſie ſchlagen zurück. In 
andern Fällen verändert der Menſch auch abſichtlich ihre Lebensweiſe, 
um neue Veränderungen hervorzurufen oder er verpflanzt ſie in an— 
dere Gegenden, in der Hoffnung, ſie in dieſen unverändert erhalten 
zu können, und wird dann dadurch Urheber neuer Raſſen. In allen 
dieſen Fällen iſt aber ein Wechſel der Lebensbedingungen von mehr 
oder minder hohem Grade nothwendig, um der Neigung des Thiers, 
ſowohl die ererbten allgemeinen als auch die ererbten Cultur-Charactere 
weiter fortzupflanzen, entgegenzuwirken und der Veränderlichkeit eine 
andere Bahn zu eröffnen. 

Es herrſcht in dieſer Hinſicht bei unſeren Hausthieren ein fort— 
währendes oft merkliches, oft vorübergehend ruhendes Schwanken, einer— 
ſeits zwiſchen der Neigung zur Vererbung aller elterlichen Charactere, 
andererſeits der ſelbſtändigen Veränderung nach eigenthümlicher Rich— 
tung, endlich drittens der Wirkung einer latenten Vererbung von 
Characteren einer weit entlegen wilden Stammform. Dieſe dreierlei 
Beſtrebungen liegen im Hausthiere im mehr oder minder offen aus— 
geſprochenem Widerſtreit. Je nach den Einflüſſen der äußeren Verhält— 
niſſe erlangt bald dieſes, bald jenes die Oberhand. Je manigfacher 
aber das Spiel dieſer verſchiedenen Momente ſich geſtaltet, um ſo 


110 


mehr kann auch der Menſch in den Verlauf der Bewegungen ein- 
greifen. 

Das weſentlichſte und fruchtbringendſte Mittel dazu iſt die Aus- 
wahl, die den eigentlichen Schwerpunkt der Züchtung darſtellt und 
auf dem raſcheſten Wege zur Erzeugung neuer Raſſen führen kann. 


Wirkung der Auswahl auf Hausthiere. 


Durch den Einfluß von Gefangenſchaft, Fütterung und Zäh— 
mung allein würden ſich nicht bei Hausthieren ſo zahlreiche Raſſen ge— 
bildet haben, namentlich aber nicht ſo manche auffallenden Eigenthüm⸗ 
lichkeiten, die gar nicht zu des Thieres eigenem Vortheile ſind, ſondern 
nur des Menſchen Nutzen und Liebhaberei entſprechen. Die Züchtung 
bedarf, um nach Ausdehnung und Tiefe ſo weit eingreifen zu können, 
noch ein weiteres weſentliches Moment, der Züchter muß die einge— 
tretenen Veränderungen auch nach Belieben feſthalten, d. h. zur Ber- 
erbung bringen können. Dies geſchieht vermittelſt der Auswahl 
zur Nachzucht. 

Der Menſch greift unter den manigfachen Veränderungen, welche 
in Folge von Einzelheiten der Lebensweiſe oder von ſexuellen Vor- 
gängen bei Hausthieren allmählig oder auch plötzlich entſtanden ſind, 
ſolche heraus, welche ihm vorzugsweiſe nützlich oder angenehm er— 
ſcheinen, widmet ihnen ſeine beſondere Pflege und zieht Nachkommen 
von ihnen. Neu auftretende Variationen, die an ſich leicht individuell 
bleiben würden und namentlich bei der Kreuzung mit anderen Formen 
der gleichen Art ſogleich oder doch in wenigen Generationen wieder 
verſchwinden müßten, bleiben durch einen ſolchen Eingriff des Men— 
ſchen erhalten. Der Menſch züchtet aus der individuellen Variation 
einen beſonderen Stamm, der, wenn er hinreichend auszeichnende Cha— 
ractere beſitzt, den übrigen gegenüber als Raſſe ſich geltend macht. 
So müſſen vor alter Zeit viele Raſſen entſtanden ſein und ſo werden 
deren oft noch heut zu Tage neu erzeugt. 

Ausgezeichnete Beweiſe für die Möglichkeit einer Züchtung neuer 
Raſſen von einzelnen abſonderlich gearteten Individuen geben das un— 
gehörnte Rind und der krummbeinige Widder. 

In Paraguay wurde, wie Azara berichtet, im Jahre 1770 
von einem gewöhnlichen Hornvieh-Paare ein Stier erzeugt, der ſich 
von ſeinen Eltern durch den vollkommenen Mangel von Hörnern un— 


111 


terſchied. Dieſer ungehörnte Stier erzeugte mit einer gehörnten Kuh 
ungehörnte Junge, alſo einen ganz beſonderen Stamm. Alle Nach— 
kommen erbten in der Folge dieſe Eigenthümlichkeit, und da ſie den 
Viehzüchtern vortheilhaft ſchien, ſo benützten ſie den hörnerloſen Stier 
und ſeine Nachkommenſchaft ausſchließlich zur Nachzucht. Man ließ 
gleichzeitig die gehörnte Rindviehraſſe allmählig erlöſchen und jetzt iſt 
der ganze dort einheimiſche Viehſtand ungehörnt. 

In England wurde in neuerer Zeit ein mißgebildeter Widder 
mit krummen kurzen Beinen geworfen. Man erhielt von ihm krumm— 
beinige Lämmer und da dieſe beliebt wurden, weil ſie nicht leicht über 
Hecken ſpringen können, ſo züchtete man aus ihnen eine beſondere 
neue Raſſe krummbeiniger Schafe. 

Aehnliche Fälle mögen in früheren Jahrhunderten und Jahrtau— 
ſenden oft genug zum plötzlichen Hervortauchen von neuen Hausthier— 
Raſſen Anlaß gegeben haben. 

Es gibt aber noch eine andere Art der Auswahl, die auf weniger 
hervortretende Eigenthümlichkeiten der Individuen Rückſicht nimmt und 
erſt im Laufe längerer Friſten zu größeren Gegenſätzen führt. Es 
iſt dies, was Darwin unabſichtliche oder unbewußte Züchtung nennt. 
Dieſer Vorgang hat gewiß in den älteſten Zeiten vorzugsweiſe ſtatt— 
gefunden. 

Die Natur liefert vermöge des allgemein herrſchenden Geſetzes 
der individuellen Veränderlichkeit bei unſeren Hausthieren bald dieſe, 
bald jene neue leichte Abänderung. Nicht alle erſcheinen dem Men— 
ſchen gleich nützlich oder gleich ſchön. Er prüft und wählt. 

Offenbar iſt jedermann, auch der ungeſittetſte Wilde beſtrebt, 
die beſten Thiere zu beſitzen und nachzuziehen. Man will erhalten, 
was man hat, aber der Vorgang bleibt nicht dabei ſtehen, es tritt 
im Laufe der Generationen dann noch eine Veränderung und zwar 
eine ſolche ein, die, inſofern ſie dem Menſchen vortheilhaft erſcheint, 
eine Veredlung iſt. Ihr Grund iſt die generationsweiſe Anhäufung 
gewiſſer Charactere, auf welche der Menſch ein Augenmerk hat. Meh— 
rere andere, durchaus nicht immer bewußte Handlungen des Menſchen 
führen zu demſelben Ergebniß. Allenthalben wird der Menſch aus 
ſeinen Thierheerden ſchwächliche oder anderweit den übrigen nachſte— 
hende Stücke zuerſt wegſchlachten und bei Wanderungen oder zur Zeit 
von Hungersnoth die beſten Stücke am längſten ſich erhalten. Da— 
mit iſt aber der Weg der Veredlung ſchon betreten. 


112 


Auf dieſem Wege ſcheint ein großer Theil der heutigen Raſſen 
unſerer Hausthiere entſtanden zu ſein, Darwin belegt dies ſogar 
mit geſchichtlichen Nachrichten. Er berichtet, daß gewiſſe Schafraſſen 
in andere Gegenden verpflanzt und hier in reiner Miſchung erhalten, 
doch nach Verlauf von Jahrzehenden ſo von dem Character der 
Stammform abgewichen waren, daß damit der Grund zur Erzeugung 
einer neuen Raſſe gelegt ſchien. In Wirklichkeit aber hatten die Be— 
ſitzer der Heerden nur erhalten, nicht ändern wollen. 

Nach Darwin ſcheint es unzweifelhaft, daß die Raſſen unſerer 
Jagdhunde im Laufe der letzten zwei oder drei Jahrhunderte ſich ver— 
ändert und zwar veredelt d. h. dem Vortheil des Menſchen gemäß 
verändert haben. Auch Pferde und Rinder haben ſich in dieſer Zeit 
mehrfach verändert. 

Dadurch daß der Menſch kleine aber ihm nützliche oder ander— 
weitig zuſagende Abweichungen, die ihm durch die Hand der Natur 
dargeboten werden, erfaßt und bei ſeinem Thierſtande zu erhalten 
ſucht, erzielt er allerdings neue ihm vortheilhafte Raſſen. Aber das 
Moment der Erhaltung vortheilhafter Charactere iſt es noch nicht 
allein, was jene Erfolge erklärt, welche der Menſch im Laufe der 
Jahrtauſende bei den Hausthieren hervorgebracht hat. Wir finden 
unter denſelben eine Menge von Raſſen, die gewiß nicht ſo vollkom— 
men und mit ſo ſehr für uns vortheilhaften Characteren auf einmal 
durch Zufall erſchienen, daß ſie der Menſch nur feſtzuhalten und fort— 
zupflanzen brauchte, wie dies z. B. bei der ungehörnten Rinder-Raſſe 
von Südamerika der Fall war. ‚ 

Es bedurfte alſo zur Ergänzung des Grundſatzes der Auswahl 
behufs Erhaltung noch ein weiteres Moment. Es beſteht dies im 
Vermögen des Menſchen, die Eigenthümlichkeiten der Hausthiere durch 
Auswahl nicht nur zu erhalten und zu befeſtigen, ſondern auch 
noch zu ſteigern. 

Indem wir jene Individuen zur Nachzucht auswählen, welche 
die gewünſchten Eigenſchaften im bisherigen höchſten Grade beſitzen, 
ſteigern wir deren Betrag bei jeder folgenden Generation noch um 
einen, wenn auch ganz unſcheinbaren Grad. Wir glauben zu erhalten, 
ſteigern aber zugleich auch. Eine Generation weicht von der nächſt— 
folgenden nicht oder kaum merklich ab. Aber wenn wir die End— 
glieder der Generationsreihe vergleichen, finden wir das letzte gegen 
das erſte Glied veredelt. Dieſer Vorgang iſt phyſiologiſch noch ziemlich 


113 


räthſelhaft, er ſcheint nur von Characteren zu gelten, die noch nicht 
durch langjährige Vererbung ſtabil geworden ſind. Wir können alſo 
nur dann Charactere durch entſprechende Inzucht ſteigern, wenn die 
Natur der betreffenden Theile überhaupt erſt kurz vorher durch Do— 
meſticirung erſchüttert worden iſt. 

Die klare Erkenntniß hierüber iſt erſt Sache der neueren Zeit 
und begründet eine Epoche bewußter und planmäßiger Thierzüchtung, 
deren Erfolge alles übertreffen, was in dieſer Hinſicht unſere Vor— 
fahren auf mehr unbewußten Wegen erzielten. 

Als Folge einer ſolchen fortdauernd anhäufenden Züchtung er— 
ſcheint oft ein monſtröſer Character bei einer oder der anderen 
zahmen Raſſe von Hausthieren, d. h. eine Abweichung eines oder 
mehrerer Theile des Körpers, die einen ungewöhnlich hohen Grad 
erreicht, oft ſelbſt den gewöhnlichen Spielraum der Artform über— 
ſchreitet. So namentlich bei manchen Raſſen der Haustaube und des 
Haushuhns. 

Dieſe Erſcheinung beruht auf einer weit gegangenen Anhäufung 
individueller Abweichungen im Laufe größerer Reihen von Generationen. 
Der Menſch hat ſie je nach ſeinem Bedürfniſſe und ſeiner Laune durch 
Auswahl der ihm vortheilhafteſten Individuen für die Nachzucht her— 
vorgerufen und kann ſie in vielen Fällen jetzt noch, wo er es für 
gut findet, zu Stande bringen. Es wäre z. B. gewiß ausführbar, 
eine ebenſo fettbäuchige Raſſe von Maſthunden zu erzielen, als es 
bei Schweinen möglich war. Nur hat der Menſch wenigſtens in 
unſeren Gegenden noch nicht Geſchmack daran gefunden. Die Chineſen 
mäſten übrigens auch die Hunde um ſie zu verſpeiſen, deßgleichen auch 
die Ratten. 

Gleichwie bei den Culturpflanzen iſt alſo auch bei Hausthieren 
der Menſch im Stande, nicht nur überhaupt neue Raſſen hervorzu— 
rufen, ſondern im einzeln auch jene beſonderen Charactere zu ſteigern, 
die ihm einen beſtimmten Vortheil bieten oder wenigſtens ſeiner Laune 
zuſagen. 

So erzeugt der Taubenzüchter je nach ſeiner Liebhaberei oder 
auf Beſtellung beſondere Taubenraſſen mit z. B. langen oder kurzen 
Schnäbeln und mancherlei Abänderungen des Gefieders. Der Hahnen— 
züchter erzeugt Kampfhähne, bei denen nur ſolche Charactere geſteigert 
werden, welche vorzugsweiſe beim Hahnenkampf den Ausſchlag geben. 

Der engliſche Bulldogge wird zum Kampfhund gezogen, man 

Rolle, Darwin's Lehre. 8 


114 


ſieht bei feiner Züchtung auf Stärke der Kiefern und Kiefermuskeln, 
dann auch, damit das Thier ſich vom Gegner nicht werfen läßt, auf 
Stärke der Gliedmaßen. Man hält mit ſo gezüchteten Thieren Schau— 
kämpfe ab. 

Eine gewiſſe Einſchränkung dürfte indeſſen die willkührliche Lei— 
tung einer ſolchen Steigerung einzelner Körpertheile wahrſcheinlich durch 
das Geſetz der Wechſelbeziehungen der Entwicklung erfahren. Dieſem 
eigenthümlichen inneren Zuſammenhang gemäß wird man nach Dar— 
win vermuthlich bei der künſtlichen Züchtung und Veredlung von 
einer Thierart nicht nur jene Eigenthümlichkeiten ſteigern, die man 
in höherem Grade zu erhalten wünſcht, ſondern öfters nebenbei andere 
Theile des Körpers auch noch mehr oder minder abändern. 

Ein anderes Hinderniß für den Fortgang der Züchtung und 
künſtlichen Veränderung iſt oft ein hoher Grad von zäher Vererbung 
der eigenthümlichen Charactere. Nicht nur die Thiere überhaupt, 
ſondern auch die ſchon gezüchteten Thiere unter ſich find darin ſehr 
verſchieden. Es iſt eine ausgemachte Thatſache, daß bei den verſchie— 
denen Arten unſerer Hausthiere ein ſehr ungleiches Verhältniß zwiſchen 
der Erhaltung der angeerbten und der Entſtehung neuer Eigenthümlich— 
keiten ſtattgefunden hat. Ein Theil davon kommt auf Rechnung an— 
geborener Verſchiedenheiten in der Zähigkeit der Vererbung, ein anderer 
Theil hängt aber von verſchiedener Art der Behandlung ab. Es iſt 
unzweifelhaft, daß bei ungleichen aber ſonſt nahe verwandten Arten 
derſelben Thiergattung oft ein ungleicher Grad von Zähigkeit im Feſt— 
halten der für die Art von jeher eigenthümlichen Charactere ſtatt hat. 
Die einen erleiden bei einer Verſetzung unter andere Lebensbedingungen 
eine mehr oder minder ausgeſprochene Veränderung ihrer Eigenthüm— 
lichkeiten, ſie werden zahm und bilden neue Raſſen. Andere erhalten 
ſich, auch nachdem ihnen der Menſch eine andere Lebensweiſe oder zu— 
gleich auch noch ein anderes Klima zugewieſen hat, doch nahezu un— 
verändert, ſie werden entweder nie recht zahm oder entwickeln doch 
keine neuen und zur Züchtung in höherem Grade geeigneten Abarten 
unter den neuen Lebensbedingungen. Sehr wenig verändert haben ſich 
in der Gefangenſchaft der Büffel, der Indian (Truthahn), der Pfau 
und die Faſanen. 

In vielen Fällen tritt dabei das Geſetz hervor, daß die Verän— 
derungen, welche gewiſſe Hausthiere unter dem Einfluſſe der künſt— 
lichen Züchtung erlitten haben, im Allgemeinen im Verhältniß zur 


115 


Macht ſtehen, welche der Menſch über eine jede Art gewonnen hat, 
namentlich aber im beſonderen zu dem Einfluſſe, den er ſich auf ihre 
Fortpflanzung gewahrt hat. Hund und Katze geben hierfür gute Bei— 
ſpiele ab. Thiere wie die Katze, denen man erlaubt, ſich nach ihrer 
eignen Wahl unter einander zu paaren, erhalten ſich vorzugsweiſe 
unabhängig vom Einfluſſe der Züchtung und bleiben gewiſſermaßen 
auf halber Stufe der Zähmung ſtehen. Die Katze hat zugleich auch 
in Folge deſſen nur ſehr wenig neue Raſſen geliefert. — Ganz anders 
ſteht der Hund da, er iſt von allen Hausthieren dasjenige, welches 
der Menſch unter ſeiner genaueſten Obhut erhält und am allgemein— 
ſten zum Begleiter hat. Dem Hunde zeichnet man die Fortpflanzung 
vor, ſobald man nur will, verwirft ſtörrige, bösartige oder ſchwäch— 
liche Individuen und gibt denen, die man beibehält, ihres gleichen 
zur Geſellſchaft. So iſt der Hund durch die vollſtändigere Unterwer— 
fung unter die Gewalt des Menſchen, einerſeits mehr gezähmt, an— 
dererſeits in mehr Raſſen zerſpalten worden als die Katze. 
Beträchtliche Aenderungen hat die künſtliche Züchtung auch bei 
den gezähmten Pflanzenfreſſern, namentlich den Wiederkäuern hervor— 
gerufen, denen wir einen Theil unſerer Arbeiten zugewieſen haben. 
Bei ihnen richtet ſich der Grad der Veredlung, den man im Laufe 
der Jahrtauſende erzielte, einerſeits zwar nach dem angeborenen mehr 
oder minder zu überwindenden Naturell, andererſeits aber zugleich 
auch nach der Art ihrer Haltung in vielen oder in einzelnen Indi— 
viduen und nach dem Werth, den ſie für die menſchliche Geſellſchaft 
haben. So hat das Pferd als Gegenſtand von Werth und Bedeutung 
überhaupt und als vorzugsweiſes Hausthier des Reichen manigfache 
Veredlung erlitten und zahlreiche Raſſen geliefert. Der Eſel aber, der 
in unſeren Gegenden mehr dem Haushalt des Armen angehört und 
auch bei dieſem nur ſehr einförmige Verwendung und nachläſſige Be— 
handlung findet, hat ſich in Europa nur in wenig Raſſen, faſt nur 
zwei klimatiſche Schläge, zerſpalten und es iſt auch heut zu Tag von 
einer Auswahl bei ihm verhältnißmäßig wenig die Rede. Im Orient 
iſt er Gegenſtand einer ſorgfältigeren Pflege und Auswahl und hier 
hat man auch beſondere und edlere Raſſen deſſelben erzielt, die theuer 
bezahlt werden. — Bei Thieren, die man, wie die Schafe, Rinder 
u. ſ. w. in Heerden hält, wächſt die Raſſenerzeugung gewöhnlich mit 
der Zeit, da man Gelegenheit hat, die Thiere bald in Menge zu 
halten, bald, wenn es das Bedürfniß erfordert, wieder auf eine mindeſte 
8 * 


116 


Zahl zu verringern. Ein folder Wechſel ift immer mit einer Aus⸗ 
wahl verknüpft, die zu Veränderungen der Thierform führt. Es iſt 
dies um fo mehr der Fall, wo die polygamiſche Natur eines Haus— 
thieres, wie namentlich beim Rind, die Erhaltung eines einzigen Stieres 
bei einer größeren Heerde genügend erſcheinen läßt. In Gegenden, 
wo die Thiere unter kleine Eigenthümer zerſtreut ſind und nicht in 
Heerden zuſammengehalten werden, pflegen meiſt nur geringe Raſſen 
vorzukommen, die auch im Laufe längerer Zeit nicht durch unabſicht— 
liche Vorgänge, wie das bei der heerdenweiſen Haltung ſehr wohl 
möglich iſt, veredelt werden. 


Tiefe der Veränderung von Hausthieren. 


Es hat unter den Naturforſchern in den letzten Jahrzehenden 
viele Verſchiedenheit der Anſichten darüber geherrſcht, bis zu welchem 
Grade der Tiefe die Veränderungen ſich erſtrecken können, welche der 
Menſch durch ſeinen Einfluß auf die gezähmten Thiere hervorruft. 
Die Beantwortung dieſer Frage greift in der That in den inneren 
Zwieſpalt über die Feſtſtellung des Begriffes von Varietät, Art und 
Gattung mächtig ein und Naturforſcher der ausſchließlichen Schule, 
die ſonſt das Studium des gezüchteten Thieres als gleichſam außer— 
halb der Naturwiſſenſchaft ſtehend zu nehmen ſchienen, mußten doch 
wenigſtens nebenbei jene Frage berühren, um ihre Schulbegriffe nach 
dieſer Seite hin zu decken. 

Cuvier und ſeine Schule legten ihrem Syſteme getreu den 
durch Züchtung erzielten Raſſen nur den mindeſten möglichen Betrag 
von Bedeutung bei. Cuvier, der die Art als gegebene und feſte 
Form nahm, ſprach ſich dahin aus, die Abarten und Raſſen hätten 
keinen weiteren Spielraum als jenen, innerhalb deſſen auch Verſchie— 
denheiten zwiſchen Eltern und Abkömmlingen möglich ſind. Gleichwie 
die Form der Art nahm er auch den Spielraum der Abart oder 
Raſſe als prädeſtinirt an. Von ſtetig fortſchreitenden Veränderungen 
konnte bei ihm folgerichtig auch hier nicht die Rede ſein. 

Cuvier behauptete, daß ſich bei den durch künſtliche Züchtung 
erzielten Raſſen unſerer Hausthiere die Geſtalten der Knochen über— 
haupt wenig veränderten, daß aber ihre Verbindungen, ihre Einlen— 
kungen und die Geſtalt der großen Backenzähne nie vom urfprüng- 
lichen Character abgehen. Das äußerſte Ziel der Raſſenverſchieden⸗ 


117 


heiten, welche der Einfluß des Menſchen bei Hausthieren zu erzeugen 
vermag, ſind nach Cuvier die geringe Entwicklung der Hauzähne 
beim zahmen Schwein und das Verwachſen der Klauen bei einigen 
Raſſen deſſelben, dann die überzählige Zehe gewiſſer Hunderaſſen, die 
eine Zehe und dem entſprechend einen Fußwurzelknochen mehr als die 
übrigen Raſſen beſitzen. 

Cuvier geſteht alſo doch immer einige wenige Fälle von hohem 
Grade der Abweichung einer Raſſe vom normalen Typus zu. Dieſer 
Fälle gibt es indeſſen noch mehr und es iſt zugleich einzuſehen, warum 
ſie nicht noch häufiger ſind. Ihre Urſache liegt nämlich nicht in dem 
prädeſtinirten Abſchluſſe der Art, ſondern in anderen Umſtänden, wie 
einerſeits Darwin darthu“, andererſeits Rütimeyer wahrſcheinlich 
macht. 

Wenn Cuvier und die übrigen Vertreter der Lehre von der 
unveränderlichen Natur der Arten darauf hinwieſen, daß die Verän— 
derungen, welche die Hausthiere eingehen, vorzugsweiſe nur äußere 
und ziemlich unweſentliche Theile oder doch nur in ſeltenen Fällen 
weſentlichere äußere oder innere Theile betreffen, jo ſpricht ſich Dar— 
win dahin aus, daß das in der That ſo der Fall ſei, er gibt aber 
auch die Erklärung davon. 

Da ein großer Theil der von den Thieren im Laufe der Züch— 
tung angenommenen Charactere auf der Auswahl der Individuen zur 
Nachzucht beruht, ſo kann es überhaupt nicht anders der Fall ſein. 
Denn der Menſch kann bei ſeiner Auswahl nur auf äußerlich bemerk— 
bare Abweichungen des Characters Rückſicht nehmen. Er faßt dieſe 
ins Auge, hält ſie durch Nachzucht feſt und ſteigert ſie zugleich. Es 
iſt daher natürlich, daß auch die Verſchiedenheiten der ſo erzielten 
Raſſen vorzugsweiſe nur auf den äußeren zunächſt in die Augen fallen— 
den Theilen beruhen. Der innere Bau der Thiere iſt weit weniger 
zugänglich. Auf ihn nimmt man bei der Züchtung keine vorzugsweiſe 
Rückſicht, was auch bei völliger Abſicht nur ſehr ſchwer auszuführen 
wäre. Es iſt daher auch natürlich, daß auf dieſem Wege nur wenig 
oder gar keine inneren Verſchiedenheiten zum Vorſchein gebracht werden. 

Uebrigens gehen nach Darwin die Verſchiedenheiten der ge— 
züchteten Raſſen im Knochenbau doch weiter als man auf die älteren 
Behauptungen hin gewöhnlich anzunehmen geneigt iſt. Darwin hat 
Skelette der verſchiedenen Tauben-Raſſen unterſucht. Er fand, daß 
eine Menge von Einzelheiten des Skelettes in weitem Spielraum ab— 


118 


weichen. Die Geſichtsknochen ändern außerordentlich ab in Länge, 
Breite und Krümmung je nach den einzelnen Raſſen. Ebenſo der 
Unterkiefer ſowohl in der Form als auch in den Maßen. Auch die 
Zahl der Heiligenbeinwirbel und der Schwanzwirbel, deßgleichen der 
Rippen wechſelt. Bruſtbein und Gabelbein zeigen bei den Tauben— 
Raſſen ſehr veränderlichen Character. Kurz es bleibt kaum ein Theil 
des Skelettes, der nicht von der Veränderlichkeit mehr oder minder 
berührt würde. 

Wollte man in Zukunft neue Raſſen züchten, bei denen man 
Verſchiedenheiten des inneren Baues bezweckte und die äußeren Cha— 
ractere bei Seiten laſſen würde, jo müßte man in dieſer Hinſicht 
gewiß auch Erfolge erringen. Wo bisher innerliche Aenderungen ein- 
traten, beruhten ſie auf zufällig hervorgetretenen individuellen Varia— 
tionen, die ohne Abſicht des Züchters fortgepflanzt wurden. Sie können 
auch wohl auf einer Wechſelbeziehung der Entwicklung oder auf Nicht— 
gebrauch gewiſſer Theile beruhen, aber auch dann erfolgten ſie, in— 
ſofern ſie nicht in der Abſicht des Züchters lagen, ſpontaner Weiſe. 

Es ſcheint ferner noch feſtzuſtehen, daß die Zähmung von Thieren 
auch in den Verrichtungen eines Organes eigenthümliche Umände— 
rungen hervorrufen kann. 

So gilt allgemein ſeit Azara's Berichten das bei uns in ge— 
zähmtem Zuſtande lebende und ohne Zweifel aus Südamerika bei 
uns eingeführte Cobaya oder Meerſchweinchen, Cavia cobaya Pall. 
als veränderter Nachkomme von dem in den Waldungen von Bra— 
ſilien und Paraguay wild lebenden Cavia aperea Erxl. Indeſſen 
das Meerſchweinchen wird bei uns in der Gefangenſchaft jährlich mehr— 
mals trächtig und wirft gewöhnlich mehrere Junge. Vom wilden 
Cavia aperea weiß man dagegen, daß es jährlich nur ein bis zwei 
Junge zur Welt bringt. 

Das Kaninchen ſoll im freien Zuſtande bis viermal, im ge— 
fangenen aber, wo es reichlicher genährt und das ganze Jahr über 
in warmen Ställen gehalten wird, bis achtmal jährlich werfen. 

Die zahme Katze paart ſich im tropiſchen Amerika zu jeder 
Jahreszeit — bei uns gewöhnlich nur im Februar oder März und 
dann noch einmal im Sommer. Sehr verhätſchelte Zimmerkatzen ſollen 
aber auch gar keine beſtimmte Zeit im Jahre mehr einhalten. 

Die in Paris künſtlich erzielte Angewöhnung der Aegyptiſchen 
Gans an eine andere Brütezeit wurde ſchon erwähnt. 


179 


Phyſiologiſche Veränderungen kommen alſo bei einzelnen Haus— 
thierformen in ebenſo eingreifender Tiefe als anatomiſche Abweichungen 
bei anderen vor und dies alles zuſammen erweiſt wie unberechtigt 
und willkührlich die Hypotheſe eines prädeſtinirten Abſchluſſes der 
Artcharactere war. 


Acclimatiſtrung von Hausthieren. 


ja 


Ein eigenthümlicher Weg zur Umgeftaltung der Form der Haus— 
thiere liegt, wie in einem Theile der früher gegebenen Beiſpiele ſchon 
angedeutet iſt, in der Acclimatiſirung. Die verſchiedenen Arten 
zeigen in dieſer Hinſicht ſehr weit abweichende Naturanlagen. 

Die meiſten von Alters her gezähmten und gezüchteten Haus— 
thiere zeigen ein ungewöhnlich großes Vermögen, die verſchiedenen 
Klimate, unter welche ſie der Menſch führt, auszuhalten und was 
noch mehr bedeutet, auch unter ihnen ſich fruchtbar fortzupflanzen. 

So begleiten der Hund, das Pferd, das Rind, das Schaf, das 
Schwein, die Ziege den Menſchen faſt durch alle Theile der Erde, 
eine Art in höherem, die andere in geringerem Grade, die eine mehr 
in kältere, die andere mehr in wärmere Erdtheile. Sein treueſter Ge— 
fährte, der Hund, folgt ihm unter den Aequator und ſelbſt noch in 
die entlegeuſten Einöden der Polarländer, unter deren eiſigem Klima 
die Landbevölkerung auf den mindeſten Betrag herabſinkt und der 
Kampf gegen die Elemente offenbar der härteſte iſt. 

In den Tropengegenden, inſoweit hier nicht Dürre des Bodens 
die Vegetation allzuſehr beſchränkt, kommen die meiſten unſerer mittel— 
europäiſchen Hausthiere noch gut fort, liefern aber gewöhnlich neue 
klimatiſche Varietäten. 

Sehr gut gedeihen in vegetationsreichen Tropengegenden das 
Rind, das Pferd, der Eſel, das Schwein, die Ziege und die Katze. 
Am meiſten ſcheint ſich von ihnen unter dem Tropenklima das Pferd 
und das Schaf zu verändern. Das Pferd wird kleiner und behender. 
Stärker noch verändert wird das Schaf, welches namentlich von der 
Fülle ſeines Wollkleides einbüßt. Der Hund gedeiht wohl noch, aber 
nur in wenig Raſſen. Dr. Wein land traf auf Haiti, den Antillen, 
dicht am Wendekreiſe, nur noch eine einzige ſchakalartige Hunderaſſe. 
Eingeführte Jagdhunde verkümmern auf Haiti und erliegen bald 
dem Klima. 


120 


Gegen Norden zu erreichen unſere Hausthiere eine raſchere Ab- 
nahme. In die äußerſte überhaupt noch zugängliche Polarregion geht 
nur der Hund und auch dieſer bei den Eskimo's nur in einer ein— 
zigen halbwilden Raſſe, welche ihr ganzes Leben in freier Luft zubringt 
und Nachts ſich in den Schnee Höhlen gräbt. 

Indeſſen gibt es auch Hausthiere, die nur ſehr geringe Fähigkeit 
zur Ertragung klimatiſcher Wechſel beſitzen und daher auf beſchränktere 
Zonen der Erdoberfläche angewieſen bleiben. Das Rennthier gehört 
den nördlichſten Breiten der alten und der neuen Welt an und wird 
im nördlichen Skandinavien und in Sibirien als Hausthier 
gehalten, es beſitzt für Wärme nur ein geringes Ausdauerungsvermö⸗ 
gen, wegen ſeines dichten und doppelten Haarkleides verträgt es die 
Sommerwärme nicht gut. Doch verfolgen neuerdings unſere Thier— 
gärten mit Erfolg die Aufgabe, auch bei uns das Rennthier einzu— 
bürgern. Kameel und Dromedar ſind gegen Kälte empfindlich, ſie 
vertragen die Verſetzung in kältere Klimate nur ſchwer oder gar nicht, 
am wenigſten das arabiſche Dromedar, mehr ſchon das baktriſche 
Kameel. Beide ſcheinen übrigens nicht minder als an das Klima auch 
an die Bodenbeſchaffenheit ihrer heutigen Wohnſtätten gebunden zu ſein. 

Vielleicht hängt die Unfähigkeit zur Anpaſſung an andere Kli- 
maten bei manchen dieſer Thiere mit der geringen Zahl der Raſſen— 
veränderungen zuſammen, die ſie in ihrer urſprünglichen Heimath 
zeigen. Namentlich das Rennthier, aber vielleicht auch das Kameel und 
Dromedar haben bisher durch die Zähmung nur geringe Verände— 
rungen erlitten, das Rennthier wenigſtens hat noch keine, die beiden 
Kameelarten aber nur wenig neue und wenig unter einander abweichende 
Raſſen geliefert. Man hat übrigens auch in Mitteleuropa noch wenig 
Anlaß gehabt, von etwa vorgekommenen zur Verpflanzung geeigneten 
Raſſen Gebrauch zu machen. 

Wenn auch ein großer Theil der Acclimatiſationsfähigkeit zu— 
nächſt auf unmittelbare Rechnung der Gewöhnung kommt, ſo ſcheinen 
doch auch andere Momente dabei mitzuwirken. Es iſt ſehr möglich, 
daß ein anderer Theil mit einer natürlichen Ausleſe zuſammenhängt, 
welche individuelle Abänderungen mit beſonders günſtiger Körperver— 
faſſung in der neuen klimatiſch abweichenden Heimath herrſchend macht. 
Neigt aber eine Thierart entweder an ſich oder in Folge einer noch 
nicht lange genug fortgeſetzten Züchtung wenig zur Erzeugung von 
Abänderungen, ſo wird dadurch auch die Acclimatiſation erſchwert. 


121 


Dies mag beim Kameel, beim Dromedar und beim Rennthier der 
Fall ſein. 

Unſere heutigen mitteleuropäiſchen Hausthiere würden dieſer 
Anſicht nach in den erſten Stufen ihrer Züchtung auch erſt wenig 
zur Acclimatiſation in Gegenden geeignet geweſen ſein, in denen man 
ſie ſpäter eingebürgert hat. So iſt namentlich die Einführung der 
Katze und des Eſels in Mittel- und einem Theile von Nord— 
europa nur ſehr allmählig vor ſich gegangen und es ſcheint dabei 
eine langſame Angewöhnung an das kältere Klima mit im Spiele 
geweſen zu ſein. 

Für den praktiſchen Verſuch bleibt hier noch ein weites Feld 
der Leiſtung offen. Nicht ohne Intereſſe würde es z. B. ſein, die 
abyſſiniſche Felis manienlota Rüpp., welche man jetzt ziemlich all— 
gemein als wilde Stammart unſerer Hauskatze annimmt, in unſere 
Thiergärten zu verpflanzen und ihr Verhalten zu unſerem Klima feſt— 
zuſtellen. 


Kreuzung der Hausthiere. 


Ein weiteres wichtiges Mittel zur Vervielfältigung der Form iſt 
die Kreuzung, indeſſen ſcheint doch ihre Wichtigkeit von den älteren 
Naturforſchern mitunter ſtark überſchätzt worden zu ſein. Man hat 
ehedem oft der Kreuzung verſchiedener Thier-Arten in Bezug auf 
Erzeugung von neuen Formen große Erfolge zugeſchrieben, ſowohl 
bei Hausthieren als auch bei wild lebenden Thieren. 

Indeſſen haben Verſuche gelehrt, daß Thiere verſchiedener Arten 
ſich nur ſelten und nur unter ſehr beſchränkten Umſtänden paaren 
und daß, wo dieſe Nachkommen überhaupt erzeugen, die letzteren ge— 
wöhnlich ſchon gleich oder doch in der nächſten oder einer der folgen— 
den Generationen unfruchtbar werden. Am meiſten hat man ſolche 
Kreuzungen mit gezähmten oder in ſehr enger Gefangenſchaft gehal— 
tenen Thieren angeſtellt, gewöhnlich zwiſchen verſchiedenen Arten von 
Hausthieren oder zwiſchen einem Hausthier und einer gefangen ge— 
haltenen wilden Form. 

Die Zähmung der Thiere begünſtigt allerdings die Kreuzung, 
aber die Baſtarde zweier verſchiedenen Arten bleiben auch hier, ſoweit 
aus den bisher angeſtellten Verſuchen hervorgeht, entweder ſogleich 
unfruchtbar oder ihre Nachkommen werden es doch in einer der nächſten 
Generationen. 


122 


Baſtarde zwiſchen Pferd und Eſel werden ſehr häufig erzeugt, 
fie find indeſſen entweder gleich ſchon zur Fortpflanzung untüchtig 
oder dieſer Fall tritt doch mit der nächſten Generation ein. Das 
mildere Klima Spaniens und Italiens iſt, wie mehrfach an— 
gegeben wird, der Fortpflanzungsfähigkeit von Maulthier und Maul- 
eſel etwas günſtiger als das unſere. Auch aus Oſtindien wird 
Aehnliches berichtet. 

Den Hund hat man häufig mit dem Wolf und neuerdings auch 
mit dem Schakal gekreuzt. Die Baſtard-Nachfolge erliſcht hier, wenn 
ſie weit geht, mit der dritten Generation (Flourens). 

Steinbock und Hausziege hat man ehemals und auch neuerdings 
öfter gekreuzt und Nachkommen dabei erzielt, die wenigſtens einige 
Geſchlechtsfolgen hindurch ſich fortpflanzten. Die Erzielung einer neuen 
Mittelraſſe auf dieſem Wege ſcheint aber noch nicht gelungen zu ſein. 

Bisweilen ſollen Baſtarde mit einer der elterlichen Stammarten 
ſich leichter als unter einander paaren, dann aber auch die Nach— 
kommenſchaft in jenen elterlichen Stamm wieder übergehen. So ſollen 
ſich Baſtarde von Pferd und Eſel nie unter einander, in einzelnen 
Fällen aber mit Individuen der elterlichen Arten paaren, in welchem 
Falle dann die Nachkommenſchaft wieder mehr in den Typus der 
einen elterlichen Art zurückgehe. Eine neue Raſſe iſt aber auch auf 
dieſem Wege noch nicht erzielt worden. g 

Die bisherigen hier zum Theil erörterten Verſuche über Kreu— 
zung haben allerdings in Folge der ſogleich oder wenigſtens in ſpä— 
terer Linie eintretenden Unfruchtbarkeit nur zu ſehr vorübergehenden 
Ergebniſſen geführt, doch fragt es ſich, ob Kreuzungen in größerer An— 
zahl der Fälle zugleich vorgenommen und Herſtellung ganzer Heerden 
von Baſtarden unter Anwendung geeigneter Auswahl zur Nachzucht 
vorzugsweiſe tüchtiger Stücke nicht zu bleibenden Erfolgen, nämlich 
zur Erzeugung von andauernd fortpflanzungsfähigen Mittelformen 
führen würde. Dieſer Verſuch, der allerdings die Kräfte des einzelnen 
Züchters allzuſehr überſteigen dürfte, iſt bis jetzt noch nicht angeſtellt 
worden, verdiente aber die Aufmerkſamkeit größerer Geſellſchaften. 
Nur in Frankreich hat man neuerdings in größerer Ausdehnung 
eine Kreuzung des oſtindiſchen YHak-Stieres mit der europäiſchen 
Kuh verſucht in der Abſicht eine neue Baſtardraſſe für die Dauer zu 
erhalten. 

Eine andere Frage, die noch auf dem Wege des Verſuches zu 


123 


löſen iſt, betrifft den Grad der Begünſtigung, den die Zähmung und 
Züchtung auf das Gelingen der Baſtarderzeugung hat. Wenn wir 
wilde Thiere mit wilden, oder Hausthiere mit wilden kreuzen, ſo 
werden, wie bemerkt wurde, die erzeugten Miſchlingsformen entweder 
gleich ſchon oder in der nächſten Folge unfruchtbar. Aber noch Nie 
mand hat in neuerer Zeit in ausgedehntem Maßſtabe verſucht, zwei 
wilde, einander nahe verwandte und nur geographiſch vicarirende 
Formen erſt durch eine längere Generationsreihe zu Hausthieren zu 
zähmen und dann in den hinreichend gezähmten Nachkommen einer 
Kreuzung zu unterziehen. In einem ſolchen Falle dürfte ſich leichtlich 
ein günſtigeres Ergebniß herausſtellen, als man beim Verfolgen der 
bisherigen Wege erhielt. 

Wahrſcheinlich haben in den älteren Epochen der Geſchichte des 
Menſchen ſolche Vorgänge ſtattgehabt, aber kein Geſchichtsſchreiber hat 
ſie verzeichnet. Wir müſſen aus gewiſſen Anzeigen darauf zurück— 
ſchließen, allerdings ſpricht das Mißlingen ſo mancher in unſeren 
Tagen vorgekommenen Baſtardirungsverſuche dagegen, indeſſen bleibt 
die Möglichkeit, daß wenigſtens in Zukunft durch abſichtliche Verſuche 
die Möglichkeit des Vorganges noch erwieſen werden kann. 

Derartige Verſuche, an ſich vielleicht von praktiſcher Bedeutung, 
würden aber auch für die Wiſſenſchaft wichtige Ergebniſſe bringen 
können. Eine ältere Anſicht, die zuerſt von dem berühmten Zoologen 
Pallas ausging, ſchreibt unſeren meiſten namentlich aber den ſchon 
ſeit Alters her in viele Raſſen zertheilten Hausthieren eine Abſtam— 
mung von verſchiedenen wilden Stammeltern zu. Mau hat verſucht, 
für jede, wenn auch nur wenig ausgezeichnete alte Raſſe, welche bei 
reiner Inzucht ihre unterſcheidenden Charactere bewahrt, einen eigen— 
thümlichen Urſtamm anzunehmen. Nach Darwin's Meinung iſt 
dieſe Anſicht von gewiſſen Schriftſtellern willkührlich und weit über 
Gebühr ausgedehnt worden, mag aber wohl in einzelnen Fällen be— 
rechtigt ſein. Es ſcheint daß gewiſſe Arten, die im wilden Zuſtande 
einander meiden, gezähmt nach einer Reihe von Stammesfolgen ſich 
fruchtbar begatten und fortpflanzungszähige Nachkommen liefern. So 
iſt es nach Darwin ſehr wahrſcheinlich, freilich aber zur Zeit noch 
nicht völlig erweisbar, daß der Haushund mit ſeinen ſo weit aus— 
einandergehenden Raſſen und ſeinen vielen halbwilden Formen von 
verſchiedenen wilden Arten herſtammt, von denen jede durch ein be— 
ſonderes Volk gezähmt wurde und erſt viel ſpäter mit einer von 


124 


einem anderen Volke gezähmten ſich vermiſchen konnte. Dieſe Anficht 
hat viel Wahrſcheinlichkeit für ſich und kann namentlich den beveut- 
ſamen Umſtand für ſich anführen, daß gewiſſe außereuropäiſche Hunde 
Raſſen (z. B. nach Darwin gewiſſe ſüdamerikaniſche Formen) ſich 
nur mit den wenigſten von den unſeren fruchtbar begatten. 

Bis jetzt iſt dieſe Frage durch das Experiment noch nicht ent— 
ſcheidend gelöſt worden, könnte aber durch Zähmung gewiſſer an ſich 
nahe verwandten Arten und planmäßig fortgeſetzte Kreuzung ihrer 
gezähmten Nachkommen vielleicht auf entſcheidende Weiſe zum Aus- 
trag gebracht werden. Uebrigens verſpricht einſtweilen in Ermanglung 
ſolcher Verſuche der Weg der antiquariſchen Forſchung, den Dr. Rüti— 
meyer mit ſo großem Erfolg im Bereiche der Schweizer Hausthiere 
des Steinalters eröffnet hat, demnächſt noch zu wichtigen Ergebniſſen 
führen zu wollen, worüber weiter unten noch Näheres. 

Eine andere Bedeutung als die Kreuzung verſchiedener Arten 
gleicher Thiergattungen hat für uns die von verſchiedenen Varietäten 
der gleichen Art. 

Alle Varietäten von Hausthieren paaren ſich ſowohl unter ein- 
ander als auch mit ihrer wilden Stammart fruchtbar und erzeugen 
eine zur Fortpflanzung tüchtige Nachkommenſchaft. Dieſer Satz iſt 
im Großen und Ganzen richtig, erleidet indeſſen doch wahrſcheinlich 
gewiſſe Ausnahmen. 

Nicht alle Hunderaſſen kreuzen ſich fruchtbar mit einander und 
wir wiſſen noch nicht, ob dies von einer Abſtammung derſelben von 
verſchiedenen Stammeltern oder von einer weit gegangenen, dem Art— 
character nahe gekommenen Ausartung gewiſſer Raſſen kommt. 

Das Meerſchweinchen, Cavia cobaya, gilt als Abkömmling des 
wilden Cavia aperea, paart ſich aber nicht mehr mit dem wilden 
Stamme, wiewohl dieſer ſelbſt wieder zähmbar iſt. Ob man hier 
wirklich nur eine Art vor ſich hat, von der der gezähmte Zweig ſich 
ſo weit verändert hat, daß er mit dem wilden ſich nicht mehr paart, 
iſt zwar noch nicht außer Zweifel geſtellt, aber doch ſehr wahrſcheinlich. 

Ein anderer Fall eines Anfanges von ſexueller Art-Ausbildung 
iſt folgender. Nach Rengger iſt die Katze ſeit 300 Jahren in 
Paraguay eingeführt, ſie iſt in dieſer Zeit um ein Viertel kleiner 
und viel zartgliedriger geworden. Jetzt vermiſcht ſie ſich nur ſelten 
mit neuen Ankömmlingen. Würden dieſe Einwirkungen noch einige 


125 


hundert oder tauſend Jahre fortdauern, ſo würde fie vermuthlich mit 
ihrer Stamm-⸗Raſſe ſich gar nicht mehr paaren. 

Es iſt darnach ziemlich wahrſcheinlich, daß man jenem voran— 
geſtellten Hauptſatze ſpäter noch die Clauſel anhängen wird, daß 
Raſſen, die durch tief eingreifende Lebensänderungen ſich in Bau und 
Gewohnheiten weit von anderen Raſſen oder von der Stammform 
entfernt haben, unter gewiſſen Umſtänden auch in Bezug auf Fort— 
pflanzung den Character einer Art gewinnen, ſie kreuzen ſich nicht 
mehr gern mit den Ausgangsformen oder erzeugen wenigſtens nicht 
mehr fortpflanzungstüchtige Nachkommen mit denſelben. 

Neue Raſſen von Hausthieren können durch Kreuzung aus ſchon 
vorhandenen älteren Raſſen gezüchtet werden. Namentlich aber läßt 
ſich eine Raſſe durch gelegentliche Kreuzung mit einer anderen bei 
ſorgfältiger Auswahl der Blendlinge beträchtlich veredeln. 

Indeſſen iſt, wie es ſcheint, die Ausdehnung und willkührliche 
Leitung dieſer Raſſen-Erzeugung auf dem Wege der Kreuzung ſchon 
öfter übertrieben worden. Man kann z. B. die Entſtehung unſerer 
verſchiedenen Hunderaſſen nicht vorwiegend von einer Kreuzung ebenſo 
vieler Stammtypen ableiten, denn Kreuzung liefert vorwiegend Nach— 
kommen, die entweder das Mittel zwiſchen beiden Eltern einhalten 
oder dem einen der beiden vorwiegend folgen, kann alſo keine äußerſten 
Endglieder von Reihen hervorbringen. Der Spielraum iſt demnach 
ein durch die bereits vorausgegangene anderweitige Bildung von extre— 
men Endgliedern jedenfalls ſehr begrenzter. 

Aber auch innerhalb dieſes Spielraumes iſt die Kreuzung der 
Varietäten nicht von ganz gleichen und ſicheren Erfolgen begleitet. 

So ſtellt es namentlich Darwin in Zweifel, ob man überhaupt 
im Stande ſei, zwiſchen zwei weit auseinander gegangenen Raſſen 
derſelben Art mit Beſtimmtheit eine nahezu das Mittel zwiſchen beiden 
elterlichen Formen haltende neue Raſſe zu ziehen. Es ſind zu dieſem 
Behufe wirklich ſchon Züchtungsverſuche angeſtellt worden. Dabei hat 
ſich gezeigt, daß je weiter auseinander gehende Raſſen bei einem ſolchen 
Verſuche zu Grunde gelegt werden, auch die Nachkommenſchaft um 
ſo unregelmäßiger abändert. Die individuelle Variation gewinnt über 
die beabſichtigte Züchtung die Oberhand und es iſt entweder gar nicht 
oder nur durch ſehr ſorgfältige und ſehr lang fortgeſetzte Auswahl 
unter den erhaltenen Formen möglich, die weiteren Generationen in 
der beabſichtigten Richtung fortzuleiten. Darwin ſagt ſogar, daß 


126 


ihm kein einziger Fall bekannt ſei, wo man durch Kreuzung weit ab- 
ſtehender Raſſen und nachfolgende Auswahl eine bleibende Mittel— 
Raſſe erzielt habe. 

Anders iſt es mit der Kreuzung wenig von einander abweichen— 
der Raſſen. Hier ſind alle Ausſichten günſtig und es gelingt leicht, 
aus zwei Raſſen durch Kreuzung eine dritte nahezu das Mittel zwi— 
ſchen beiden haltende zum Vorſchein zu bringen. 

So gelingt es auch leicht, das Hausſchwein mit ſeiner wilden 
Stammform, dem Wildſchwein, zu kreuzen. Die Jungen ſind voll— 
kommen fruchtbar. Sauparke können auf dieſem Wege neu bevölkert 
werden. 

Inzucht iſt eine fortgeſetzte Kreuzung zwiſchen Nachkommen des— 
ſelben Paares. In den erſten Generationen wirkt ſie erhaltend und 
befeſtigend, aber allzu weit fortgeführt, wirkt ſie nachtheilig. Es iſt 
eine allgemein anerkannte Regel, daß eine Verbindung unter allzu 
nahen Verwandten ſowohl die körperliche Verfaſſung überhaupt als 
auch die Fruchtbarkeit ſchwächt. Dies gilt namentlich für Hausthiere, 
ſcheint indeſſen nicht auf alle wild lebenden Thiere Anwendung zu finden. 

Im Regents-Park bei London hat man feit 1836 Giraf-⸗ 
fen gezogen und zwar von einem einzigen Paare aus. Der Stamm 
ft nach Weinland's Mittheilungen ſchon etwas klein geworden, 
was jedenfalls theilweiſe auf Rechnung der zu engen Inzucht kommen 
mag. Ein Zufluß von neuem Blut wird in ſolchen Fällen nöthig, 
wenn man den Stamm nicht der Verkümmerung preisgeben will. 

Auch das Merino-Schaf in Sachſen wurde durch fortgeſetzte 
Inzucht jo feingliedrig und ſchwächlich, daß man zur Auffriſchung 
der Raſſe wieder neue Stücke des derberen ſpaniſchen Stammes nach— 
kommen laſſen mußte. 


Rütimehyer's Anfichten über Kreuzung von verſchiedenen 
Hausthier-Stämmen. 


Dr. L. Rütimeyer ) iſt bei feinen ausgedehnten Unterſuchungen 
der aus den Pfahlbauten der Schweizer Seen erhaltenen Reſte von 
Hausthieren des ſogenannten Steinalters zu einer Reihe von Ergeb— 
niſſen gelangt, welche im Sinne Darwin's die Anſicht von der 


— — 


1) L. Rütimeyer. Die Fauna der Pfahlbauten in der Schweiz. Baſel 1861. 


127 


vollkommenen Unfähigkeit ſelbſtändiger Arten durch Kreuzung eine 
fruchtbare Nachkommenſchaft zu erzeugen, mächtig erſchüttern. Seine 
Ergebniſſe deuten an, daß auch dieſe Grenze der Art keine völlig 
ſcharfe und unüberſchreitbare iſt, vielmehr ſchon in vielen Fällen unter 
dem Einfluſſe der Zähmung ganz aufgehoben wurde. 

Rütimeyer lernte aus den Pfahlbauten ſowohl die wilden 
Thiere kennen, welche während des Steinalters und den ſpäteren Zei— 
ten der Bronze und des Eiſens in der Schweiz lebten, als auch die 
Hausthiere, die damals gehalten wurden. Bei letzteren ergaben ſich 
der Zeit nach manigfache Unterſchiede von Vorkommen, Häufigkeit 
und Körperbildung. Manche Hausthiere waren bei dem erſten Beginne 
der alten Anſiedelungen ſchon in gezähmtem Zuſtande vorhanden, andere 
erſcheinen erſt ſpäter und von dieſen zeigen ſich ein Theil aus der 
Zähmung einheimiſcher wilder Thiere gewonnen, ein anderer aus dem 
Auslande in bereits gezähmten Stücken nachträglich eingeführt. Zwiſchen 
dieſen verſchiedenen Hausthierſtämmen entdeckte aber Rütimeyer 
wiederholt Mittelformen, die er von einer ſchon damals eingetretenen 
Kreuzung zahmer von verſchiedenen wilden Arten abſtammender Haus— 
thiere ableitet. 

So lebten zur Zeit der älteſten Anſiedelungen im ſogenannten 
Steinalter zwei Formen wilder Schweine in der Schweiz, das heutige 
Wildſchwein und das damals in wildem oder doch verwildertem 
Zuſtand häufige, ſeither aber (der Urform nach) längſt erloſchene Torf— 
ſchwein, welches kleiner als das Wildſchwein war und ſchwächere Eck— 
zähne führte. Die alten See-Anſiedler zähmten beide wilden Schweine. 
Indeſſen die älteſten Anſiedelungen noch keine Spur eines zahmen 
Schweines aufzuweiſen haben, ſtellen ſich etwas ſpäter ſichere Spuren 
von einer Zähmung des Torfſchweines, ja vielleicht, wie Rütimeyer 
glaubt, vielleicht auch ſchoͤn einer Kreuzung des gezähmten Torfſchweines 
mit dem Wildſchwein heraus. 

Das gezähmte Torfſchwein wird mit den ſpäteren Pfahlbauten 
allmählig häufiger und ſcheint nach Rütimeyer im Bündtner Schwein, 
welches in Graubündten, Uri und Wallis verbreitet iſt, noch 
fortzuleben. Sein erſter Urſprung iſt räthſelhaft, ſein nächſter Ver— 
wandter iſt das im ſüdöſtlichen Aſien verbreitete Siameſiſche Schwein. 
Vermuthlich wurde dieſes von wandernden Stämmen des Oſtens nach 
Europa gebracht, wo es demnächſt eine Zeitlang verwildert lebte, 
aber in dieſem Zuſtande auch frühe ſchon wieder erloſch. 


128 


Das gewöhnliche Wildſchwein wurde ſicher erſt ſpäter gezähmt, 
als das Torfſchwein. Rütimeyer fand erſt in den Pfahlbauten 
aus den ſpäteren Zeiten des Steinalters Reſte des gezähmten Wild— 


ſchweines, größer als das Torfſchwein und mit ſtärkeren Eckzähnen 


als daſſelbe. Dies iſt der älteſte Urſprung des gemeinen Haus— 
ſchweines, welches jetzt über ganz Europa vorherrſchend verbreitet 
iſt und in vielen Characterzügen ſeine Abſtammung von der heute 
noch lebenden Form des Wildſchweines verkündet. 

Unſer heutiges Hausſchwein, deſſen Raſſen ſämmtlich und ohne 
Beeinträchtigung der Fruchtbarkeit gekreuzt werden können, ſtammt 
alſo von zwei — oder wie ſich vielleicht ſpäter noch herausſtellen 
kann, von noch mehr — verſchiedenen wilden Formen ab, deren Ab— 
kömmlinge jetzt zu einer vielgeſtaltigen Culturform zuſammengehen. 

Zu ähnlichen aber noch entſchiedeneren Ergebniſſen gelangte 
Rütimeyer für das Rind, welches Owen in England und 
Nilſſon in Schweden früher ſchon in ziemlich ähnlicher Weiſe 
zum Gegenſtand ihrer Forſchungen gemacht hatten. Im wilden Zu— 
ſtande lebte zur Zeit der See-Anſiedler der Ur, Bos primigenius Boj., 
der Urus des Cäſar. Aber in den Reſten von Hausthieren, welche 
die Ausbeutung der alten Pfahlbauten lieferte, erkannte Rütimeyer 
drei Raſſen von zahmen Rindern, von denen nur eine vom Ur ab— 
geleitet werden kann und zwei andere vom Menſchen erſt in gezähm— 
tem Zuſtande aus anderen Ländern eingeführt wurden. 

In den Pfahlbauten des ganzen Steinalters herrſcht vor allen 
anderen eine kleine, zartgebaute, ſchlankgliedrige Raſſe mit kleinen, 
kurzen Hörnern weit vor, Rütimeyer nennt ſie Torfkuh oder 
Brachyceros-Naffe Sie iſt entſchieden die zahme Form des 
im Diluvium und Torf von England, Irland und Scandi— 
navien foſſil vorkommenden Bos brachyceros oder B. longifrons Ow., 
von welchem zudem auch R. Owen einen Theil der engliſchen 
Gebirgsraſſen des zahmen Rindes und Nilſſon das kleinhörnige 
Rind von Finnland ableiten. In der Schweiz lebt die Torfkuh 
des Steinalters mit großer Uebereinſtimmung der Charactere im ſo— 
genannten Braunvieh oder thierfarbenen (hellgrauen oder ſchwarz— 
braunen) Rind von Graubündten, Wallis, Uri u. ſ. w. noch 
fort. Wahrſcheinlich wurde die Torfkuh in gezähmtem Zuſtande von 
jenem Volksſtamm, der zuerſt die Pfahlbauten der Schweizer Seen an— 
legte, aus dem nördlicheren Europa in der Schweiz eingeführt. 


129 


Neben den Reſten der kleinen Torfkuh erſcheinen in den Pfahl- 
bauten noch ſolche zweier großen Rindvieh-Raſſen. Eine derſelben er— 
weiſt ſich als gezähmte Form des ehedem in ganz Mitteleuropa 
wild lebenden Ur oder Bos primigenius Boj. Schädel- und Hörner— 
bildung, Größe und Derbheit des Knochenbaues weiſen entſchieden 
auf die wilde Stammform zurück. Rütimeyer nennt dieſe Ab— 
kömmlinge des Ur Primigenijus-Raſſe und iſt der Anſicht, daß 
die großen Rindviehſchläge von Friesland, Holſtein und Jüt— 
land ebenfalls ſolcher Abſtammung ſind. 

Eine dritte Raſſe der Schweizer Pfahlbauten iſt der gezähmte 
Trochoceros von 
großem Wuchs und ein— 
fach halbkreisförmig ge— 
bogenen Hörnern. Sie 
findet ſich nur in den 
jüngeren Pfahlbauten 
des Neuenburger 
See's und ſtammt nach 
Rütimeyer wahr- 
ſcheinlich aus Italien, 
wo in der Diluvial— 
epoche ein ganz ähn— 
licher und nur durch be— e 
deutendere Größe aus— | 000 B 
gezeichneter Stier, Bos ( 
trochoceros Mey, ſchon x 
vor der Einwanderung des Menſchen lebte. Wahrſcheinlich wurde 
dieſe wilde Art frühe in Südeuropa gezähmt und im zahmen 
Zuſtande erſt in der ſpäteren Zeit des Steinalters in der Schweiz 
eingeführt. Heut zu Tage iſt der Trochoceros ſowohl in wildem Zu— 
ſtande als auch als Hausthier erloſchen. Wenigſtens war es Rüti— 
meyer nicht möglich, eine lebende Viehraſſe ausfindig zu machen, die 
demſelben angeſchloſſen werden könnte. 

Hierzu kommt noch der Umſtand, daß in den Pfahlbauten des 
Neuenburger See's Schädelſtücke vorkamen, welche die Merkmale 
des zahmen Trochoceros und des zahmen Primigenius in Miſchung 
enthielten, ſo daß Rütimeyer eine damals vorgefallene wirkliche 
Kreuzung beider Raſſen als unzweifelhaft annimmt. | 

Rolle, Darwin's Lehre. 9 


130 


Von den genannten drei Raſſen, welche die alten See-Anſiedler 
der Schweiz vor vielen Tauſend Jahren — weit vor Beginn der 
geſchichtlichen Zeit der europäiſchen Völker — beſaßen, iſt eine er— 
loſchen, zwei leben noch und zu ihnen kommt in der heutigen euro— 
päiſchen Hausthierfaung noch eine vierte, welche Rütimeyer Fron- 
tosus-Raſſe nennt. Sie fehlt unter den Hausthieren der Pfahlbau— 
Periode in der Schweiz noch gänzlich und iſt erſt ſpäter aus Nord— 
europa hier eingeführt worden. Rütimeyer verſteht hierunter das 
Simmenthaler Vieh oder ſogenannte Fleckvieh. 

Dieſe vierte Raſſe ſtammt von dem in Scandinavien in 
Torfmooren foſſil gefundenen Bos krontosus Nils. ab, der an Größe 
zwiſchen dem Ur und dem Brachyceros ſtand und ſich durch ſeitlich 
und zugleich abwärts gerichtete Hörner auszeichnete. 

Aus dieſen manigfachen und ein ganz neues Feld der Forſchung 
erſchließenden Unterſuchungen von Owen und Rütimeyer über 
unſere älteſten Hausthierformen und ihre zum Theil nur noch den 
jüngeren geologiſchen Ablagerungen angehörenden und jetzt erloſchenen 
wilden Stammarten ergeben ſich naturgemäß eine Reihe von Schlüſſen 
von ſehr eingreifender Art: g 

1. Einem Theile unſerer heutigen Hausthiere unterliegt zwar 
gewiß nur je eine einzige wilde Stammart, es gibt aber auch andere, 
die von mehreren unter einander verſchiedenen aber nahe verwandten 
Arten derſelben Gattung abſtammen. 

2. Durch die Zähmung verlieren die wilden Arten an Selb 
ſtändigkeit des Characters, ſo zwar, daß einander nahe verwandte 
Arten gleicher Gattung, z. B. eine Anzahl Arten von Bos nicht mehr 
denſelben Gegenſatz zu einander bieten, den ſie als wilde Arten hatten. 
Nach der Zähmung miſchen ſie ſich unter einander, erzeugen frucht— 
bare Nachkommen, welche dann Bindeglieder früher getrennter For— 
men liefern und gehen ſo durch Kreuzung immer vollſtändiger in 
einander über. Mit anderen Worten, aus mehreren Arten, die im, 
Laufe der geologiſchen Epochen aus gemeinſamer Wurzel entſtanden, 
wird durch Zähmung und Kreuzung wieder eine einzige, ſehr viel— 
geſtaltige aber durch Mittelglieder zuſammengehaltene Form. 

3. Da die Zähmung der wilden Arten zu fruchtbarer Kreuzung 
und zu unverminderter Fruchtbarkeit der Blendlinge führt, ſo ſind 
die einzelnen Raſſen unſerer Hausthiere, auch wenn für eine jede die 
Ableitung von irgend einer wilden Stammart offen darliegt, doch 


131 


keine Arten mehr in dem Sinne, wie dies für wilde Formen gilt, 
denn die eigentlichen abgrenzenden Artcharactere gehen ihnen ab, ſie 
können namentlich jetzt in beliebiger Weiſe unter einander gekreuzt 
werden, was bekanntlich für wilde Thierarten nicht ſo gilt. 

Wir können alſo z. B. bei unſerem zahmen Rind nicht mehr - 
drei Arten, einen Bos primigenius, einen Bos brachyceros und einen 
Bos frontosus unterſcheiden. Unſer zahmes Rind ſtammt wohl von 
dieſen drei oder von noch mehr Arten ab, aber es iſt in Folge der 
Verwiſchung der alten Artcharactere und manigfacher Kreuzung der 
von jenen Arten abſtammenden zahmen Thiere ein ganz neuer Stamm, 
Bos taurus, entſtanden. Er begreift eine Anzahl von Raſſen: 

a) aus alten Stammformen hervorgegangene Raſſen oder ſogenannte 
reine Raſſen, wie 

Braunvieh, brachyceros-Raſſe, 

Friesländer Schlag, Primigenius-Raſſe, 

Fleckvieh, Simmenthaler Schlag, Frontosus-Raſſe; 
b) durch den Einfluß von Züchtung, Kreuzung und Auswahl neu ge— 

bildete Raſſen, welche mehr oder minder von den reinen Raſſen 
abweichen und den Anfang zur Hervorbringung neuer, nicht im 
wilden Zuſtande vorgekommener Arten darſtellen. 

Die erſteren Raſſen kann man nicht mehr mit beſonderen Art— 
namen belegen, weil es Formen ſind, die ihres beſonderen Artcharacters 
verluſtig gegangen ſind. Die neu erzeugten Cultur-Raſſen aber ebenſo 
wenig, da ſie noch nicht in Art-Abſtand von den übrigen getreten ſind. 

Es gibt alſo überhaupt nur ſtufenweiſe Anzeigen für die Art— 
benennung von Hausthieren. Hat eine gezähmte Form ſich bis un— 
gefähr zum Art-Abſtand von ihrer wilden Stammform entfernt, ſo 
verdient fie einen eigenen Namen, jo z. B. das Cobaya im Gegenſatz 
zum Aperea. Wenn Rengger's Bericht von der Paraguay-Raſſe 
der Hauskatze richtig iſt, ſo befindet ſich dieſe auf dem Weg einen 
ähnlichen Art-Abſtand zu gewinnen. Man wird daher in entfernter 
Zukunft Hausthier-Raſſen, die jetzt noch keinen Artnamen beanſpruchen 
können, einmal mit Grund als berechtigte Arten anerkennen müſſen. 

4. Allgemein laſſen ſich dieſe einzelnen Momente alle in dem 
Satze zuſammen faſſen, daß die Natur aus einer und derſelben Thier— 
form in freiem Zuſtande mehrere beſondere und von einander ab— 
ſtehende Arten entſtehen läßt, daß der Menſch die von der Natur 
gezogenen Schranken ſolcher Formen niederreißen und die getrenn— 

9 * 


132 


ten Formen wieder zu einer einzigen vielgeſtaltigen Culturform ver— 
ſchmelzen kann und daß der Menſch endlich auch aus den ſo erzeugten 
Culturformen einzelne wieder herausgreifen, dauernd vereinzeln und 
dadurch in Art-Abſtand von den übrigen verſetzen kann. 


Verwilderung und Rückſchlag der Hausthiere. 


Wenn auch, wie eine Menge von Fälle beweiſen, der Menſch 
im Laufe der Zähmung und Züchtung manigfache und häufig weſent⸗ 
liche Veränderungen bei einer Anzahl von Thieren hervorgerufen hat, 
ſowohl in Bezug auf äußere Merkmale, als auch auf Knochenbau und 
phyſiologiſche Verrichtungen, ſo kann man doch, da der Zufammen- 
hang zwiſchen den Hunderaſſen, ſowie der zwiſchen Cobaya und Aperea 
und eine Reihe von anderen Fällen noch nicht recht feſtgeſtellt ſind, 
auch noch nicht mit Sicherheit behaupten, daß der Einfluß des Men— 
ſchen auf die Thierwelt ſchon neue Arten hervorgerufen habe. 
Jedenfalls iſt man aber dem ſchon nahe gekommen und es iſt un⸗ 
zweifelhaft, daß wenn unſere Voreltern ſtatt nützlicher Haus— 
thiere beabſichtigt hätten, zur beſſeren Belehrung der prädeſtinations— 
gläubigen Naturforſcher des neunzehnten Jahrhunderts neue Species 
zu züchten, wir auch dieſem Ziele weit näher gerückt wären. So aber 
bleibt dies der Zukunft anheimgeſtellt, welcher das bisher bei Züch— 
tungen behufs anderer Zwecke gelegentlich hervorgetretene Ergebniß 
den weiteren Weg vorzeichnen wird. 

Es iſt bis jetzt nur gelegentlich geſchehen, daß eine Hausthier— 
form ſich im Laufe der Cultureinflüſſe ſo weit von ihrer Stammform 
entfernt hat, daß ſie ungefähr in Art-Abſtand von ihr getreten er— 
ſcheint. Gewöhnlich war dabei die Kreuzung mit anderen Formen 
ungehindert und der Abſtand wurde dann auch nie ganz unzweifelhaft. 
In wenigen oben erwähnten Fällen blieb aber die Kreuzung aus- 
geſchloſſeu, alſo namentlich erſt ſeit der Entdeckung von Amerika, 
und dann erfolgte ein ſtärkeres Hervortreten des Abſtandes. Zu künf— 
tigen planmäßigen Verſuchen der Erzeugung neuer Arten auf dem 
Wege der Zähmung und Züchtung wird man dieſe Erfahrungen wohl 
ſchon verwerthen können und zu ſolchen Verſuchen wird es jetzt, wo 
man über die zu Grunde liegenden Vorgänge mehr und mehr Licht 
erhält, gewiß auch kommen. 

Die Züchtung unſerer Hausthiere hat erſt in einem gewiſſen, oft 


133 


fogar erft ſehr geringen Grade vermocht, die Vererbung der primi— 
tiven Charactere zu überwinden und wir müſſen ſehen, wie ſie bald 
hier bald da wieder hervortauchen. Erblichkeit und Veränderlichkeit 
liegen bei der Erzeugung einer organiſchen Form immer im Kampfe 
und je nach dem Zwiſchentreten eines oder des anderen äußeren 
Momentes gewinnt bald die eine bald die andere Seite die Oberhand. 
Je länger die Züchtung gewirkt, je tiefer ſie eingegriffen hat, um ſo 
mehr iſt auch die Vererbung der Urcharactere unterdrückt, aber auch 
dann noch ſind die neuen Charactere erſt ſo oberflächlich der Form 
aufgeprägt worden, daß ſie meiſt durch veränderte Lebensverhältniſſe 
leicht wieder weggeſpühlt werden können. Wir haben verſtanden die 
ererbte Organiſation der Thierform zu erſchüttern, aber wir haben 
noch nicht recht gelernt, ſie dann wieder in Stillſtand zu bringen. 

Es iſt dies ſehr begreiflich, denn noch kein Züchter hat es ver— 
ſucht. Man hat die Hausthiere für jeden beſonderen Zweck ausgebildet, 
für den ſie Fähigkeit verriethen. Aber auf eine möglichſt vollkommene 
Unterdrückung der Vererbung von Characteren der Vorfahren, auf 
eine möglichſt tiefe und möglichſt ausſchließliche Einprägung der Cul— 
turcharactere hat noch Niemand hinzuarbeiten geſucht, es war für das 
praktiſche Bedürfniß der Haushaltung und der Landwirthſchaft nicht 
nöthig und iſt daher auch nicht geſchehen. Aber es dürfte in längerer 
oder kürzerer Friſt eine Zeit kommen, wo auch zur Löſung wiſſen— 
ſchaftlicher Fragen das leicht umzugeſtaltende Naturell des Hausthieres 
Gegenſtand der Verſuche ſein wird. Unſere zoologiſchen Gärten, die 
jetzt bei ihrer Entſtehung zunächſt der bloßen Schauluſt Rechnung 
tragen müſſen, werden in Zukunft bei feſterer Begründung ihrer Lage 
gewiß jener manigfachen Aufgaben ſich nicht entſchlagen können. 

Es iſt bei den Naturforſchern ſeit langer Zeit ziemlich allgemein 
angenommen, daß unſere Hausthier-Raſſen, wenn ſie verwildern, all— 
mählig aber doch immer mit Sicherheit den Character ihrer wilden 
Stammeltern wieder annehmen. Es liegt dieſer Behauptung jedenfalls 
viel Wahres zu Grunde, indeſſen laſſen ſich auch einige weſentliche 
Einwände dagegen erheben, die zu einer beträchtlichen Einſchränkung 
führen dürften. 

Veränderungen treten bei der Verwilderung zahmer Raſſen gewiß 
ein, aber es fragt ſich nur, ob die dabei ſtattfindende Bewegung immer 
und nothwendig jene Richtung einhält, welche zum Character der ur— 
ſprünglichen Stammform zurück führt. Und wenn auch die Richtung 


134 


ganz oder beinahe jene ift, fo fragt ſich immer noch, ob fie noth— 
wendig immer denſelben Grad, von dem die Form ausging, rück— 
ſchreitend wieder erreichen muß oder ſchon bei einem näheren unab— 
änderlich ſtehen bleiben kann. 

Daß bei unſeren gezüchteten Raſſen in gewiſſen Fällen Indivi— 
duen auftreten, die in einzelnen Merkmalen zur Stammform zurüd- 
kehren, iſt ſicher. Dies hat beſonders ſtatt bei Characteren, die mit 
der dem Hausthiere ertheilten Lebensweiſe nicht in geradem Wider— 
ſpruche ſtehen. Der Fall iſt z. B. ſehr häufig, daß unter den Haus— 
thieren z. B. bei Katzen, bei Tauben u. ſ. w. einzelne Individuen 
in auffallender Art die Färbung der wilden Stammart wiederholen. 
Kreuzung entfernt ſtehender Raſſen ſcheint oft Anlaß zu ſolchem theil— 
weiſem Rückſchlage zu werden. Darwin führt Beiſpiele davon auf, 
die bei Kreuzung gewiſſer Taubeuraſſen vorkamen. 

Wie weit aber der Cinfluß einer völligen Verwilderung auf die 
verſchiedenen Arten unſerer Hausthiere geht, ſcheint noch nicht recht 
feſtzuſtehen. Die Beobachtung der gelegentlich vorgefallenen derartigen 
Veränderungen läßt in vielen Fällen im Verhältniß zur Wichtigkeit 
des Gegenſtandes noch ſehr an Genauigkeit vermiſſen. Audererſeits 
ſind dahin einſchlagende abſichtliche Verſuche in umſchloſſenen Forſten 
wohl bis jetzt noch nicht mit hinreichender planmäßiger Anlage und 
in genügender Ausdehnung vorgekommen oder ſie ſind auch wohl noch 
nicht lange genug fortgeſetzt worden, um zu feſten Ergebniſſen führen 
zu können. 

Aus mehreren Anzeigen ſcheint hervorzugehen, daß bei der Ver— 
wilderung von Hausthieren die veränderten Lebensverhältniſſe theils 
unmittelbar für ſich wirken, theils einen Kampf zwiſchen der Neigung 
zum Durchbruch latent gebliebener Eigenthümlichkeiten und der Nei- 
gung zur Vererbung der durch die Cultur erlangten Merkmale ver— 
anlaſſen. Das Ergebniß zwiſchen dieſen drei Momenten wird natürlich 
nicht bei allen Hausthier-Arten gleich ſein. Es wird namentlich darauf 
ankommen, wie lange die Züchtung zuvor gedauert und wie weit ſie 
die Organiſation vom Character der Stammform hinweggeführt hat. 
So läßt ſich z. B. faſt im voraus behaupten, daß das Rennthier 
oder das Schwein früher und vollſtändiger bei der Verwilderung zu— 
rückſchlagen werden als das Pferd. Die Katze wahrſcheinlich mehr 
als der Hund. 

Es liegen ziemlich viel ältere und neuere Nachrichten über Ver— 


135 


wilderung von Hausthieren vor, aber meiſt nur von kurzer und ziem— 
lich ungenügender Faſſung. 

Vom zahmen Schwein wird allgemein behauptet, daß es bei der 
Verwilderung in die Form des Wildſchweines zurückſchlage. Das in 
den Wäldern von Südamerika ſtellenweiſe verwilderte Schwein 
hat nach dem Berichte von Roulin wieder die ſchwarze Farbe, die 
Borſten, die Hauer, den großen Kopf des Ebers angenommen. Wein— 
land traf das Schwein in ähnlicher Weiſe verwildert und mit un— 
gewöhnlicher Körpergröße auf den Gebirgen von Haiti. 

Das zahme Kaninchen von der verſchiedenſten Färbung ſoll ins 
Freie ausgeſetzt, ſchon im Verlaufe weniger Jahre Junge von ein— 
farbig grauer Behaarung zur Welt bringen, die von der wilden 
Stammform gar nicht zu unterſcheiden ſind. 

Während indeſſen von einer Anzahl von Thieren behauptet wird, 
daß ſie aus dem zahmen Zuſtande in den wilden zurückverſetzt, in 
allen Characteren wieder zur Stammform zurückkehren, gibt es auch 
andere Fälle, wo nach Jahrhunderten eine verwilderte Hausthierart 
noch nicht den beſonderen Raſſencharacter einbüßte, den ſie im Cultur— 

zuſtande beſeſſen hatte. 

Amerika beſaß, als die Spanier vor nahe vierhundert Jahren 
ihren Einzug hielten, weder Pferde noch Rinder und von Hunden 
nur wenige, ſehr dürftige Raſſen. Seither ſind Pferd, Rind und 
Hund europäiſcher Abſtammung in mehreren Theilen von Amerika, 
namentlich aber in den Pampas oder Grasebenen der Laplata— 
Gegend verwildert. 

Die Pampas, ehedem nur der Tummelplatz des Guanako, des 
Steppenhirſches und des Straußes, wimmeln jetzt von Heerden ver— 
wilderter Pferde und Rinder, von welchen Azara, Humboldt 
und Darwin Nachrichten gegeben haben. Das Pferd hat aber noch 
keineswegs den Character der Andaluſiſchen Raſſe, von dem es ur— 
ſprünglich abſtammt, im Laufe der Jahrhunderte eingebüßt. Azara 
ſagt nur, daß es an Schönheit der Form, Stärke und Schnelligkeit 
etwas abgenommen habe und nur noch einfarbig hellbraune Farbe zeige. 
Das ſind aber nur geringe Aenderungen, die von einem Rückſchlag 
in die Form des Tarpan oder wilden Pferdes, wie es die Step— 
pen von Mittelaſien bevölkert, noch weit entfernt ſind. Die be— 
zeichnende Stärke der Mähne und des Schweifes iſt noch ganz dem 
Pampas⸗Pferde geblieben. Noch auffallender aber iſt, daß ſelbſt von 


136 


der zahmen Natur des europäiſchen Pferdes ein guter Theil ſich beim 
verwilderten amerikaniſchen Pferde fortgeerbt hat. Ein geſchickter Reiter 
bändigt ein von den Pampas wild eingefangenes junges Pferd in einigen 
Stunden ſo vollkommen, als ein Thier aus der ununterbrochen ge— 
zähmten Raſſe. Die Cultur hat alſo nicht nur auf den Körper, 
ſondern auch auf die Seele des Pferdes eine vererbliche Nachwirkung 
hinterlaſſen. Aehnliches beobachtet man in den Steppen von Dft- 
europa und Vorderaſien am verwilderten Pferde oder dem ſo— 
genannten Muzin der Koſaken, aber der eigentliche wilde Stamm 
der großen Tartarei, nämlich der Tarpan, iſt faſt ganz unzähmbar. 
Eingefangen wehrt er ſich mit Heftigkeit und Bosheit gegen den 
Menſchen und ſtirbt eingeſperrt ſehr bald. Seine phyſiſchen Cha— 
ractere ſind eigenthümlich abweichend, Mähne und Schweif kurzhaarig. 

Auch das verwilderte Rind der Pampas iſt außer der Farbe, 
die einen ſehr beſtändigen Character angenommen hat, nur wänig von 
der ſpaniſchen Stammraſſe abgewichen. | 

In den Pampas von Buenos Ayres gibt es nad Azara 
eine große Menge von wilden Hunden die unzweifelhaft Nachkommen 
jener ſind, welche die Spanier vor etwas mehr als dreihundert 
Jahren hier einführten. Sie graben Höhlen und leben als ächte Raub— 
thiere. Aber ſie ſind in dieſen drei Jahrhunderten weder zu Wölfen, 
noch zu Schakalen geworden, noch in irgend eine andere wilde Form 
zurückgeſchlagen. Azara vergleicht die verwilderte Form vielmehr der 
großen däniſchen Raſſe. — Die Verwilderung hat alſo auch hier nicht 
auf eine Artform zurückgeführt, ſondern iſt bei der Stufe der Varietät 
ſtehen geblieben. 

Auch die Hauskatze iſt nach Darwin in den Steppen der 
Laplata-Gegend verwildert, fie bewohnt hier felſige Hügel und 
hat ſich durch die Verwilderung in ein großes wildes Thier verwandelt. 

Wie ſehr aber auch die Katze im zahmen Zuſtande noch ihre 
wilden Neigungen vererbt, iſt aus manchen Characterzügen erſichtlich. 
Unter anderem macht Ober-Medicinalrath Jäger in den württemb. 
naturwiſſ. Jahresheften, Jahrgang IV. 1848. S. 65, darauf auf- 
merkſam, wie die junge Katze, von angeerbter Neigung getrieben, ſich 
nicht ſelten im Erklettern von Bäumen übt, auf welchen ehedem ihre 
wilden Stammes-Vorfahren im Naturzuſtande ſich theilweiſe ihre Nah— 
rung ſuchen mußten. Die Mutterkatze aber, welche den Jungen be— 
kanntlich einen ſo merkwürdigen methodiſchen Unterricht ertheilt, übt 


137 


ihr Junges heutzutage im Erflettern der Bäume nicht weiter ein. Wo 
eine Verwilderung eintritt, wird ſie es aber gewiß wieder thun, ſo 
gut als es bei der wilden Stammform vorgekommen ſein mag. 

Aus allem dieſem geht hervor, daß es allerdings wahrſcheinlich 
bei allen Hausthieren eine latente Neigung zur Entwicklung von Charac— 
teren der Stammart gibt, die oft vielleicht in langen Reihen von 
Generationen nur in der inneren Anlage ausgeſprochen bleibt, ohne 
als individuelle Variation hervorzutreten. Unter gewiſſen Einflüſſen 
aber gelangt ſie zum Ausdruck. Sie tritt bald zufällig bei zahmen 
Thieren und dann gewöhnlich nur in geringem Grade, z. B. nur in 
der Haarfarbe, auf, gewinnt aber bei völliger Verwilderung mehr oder 
minder die Oberhand. Bei wenig von der Cultur betroffenen Thieren 
dürfte ſie am eheſten einen vollſtändigen Rückſchlag hervorrufen. Es 
gibt aber auch eine Neigung zur Vererbung der durch die Cultur 
erworbenen Charactere und ſie macht ſich ſelbſt in der Verwilderung 
noch geltend, ſobald eine Thierart von der Cultur hinreichend nach 
Dauer und Tiefe verändert worden iſt. Das zweite Moment wirkt 
aber dem Rückſchlage in die Urform kräftig entgegen. So iſt es beim 
Pferd, beim Rind, beim Hund. 

Geſchichte der Hausthier-Züchtung. 

Der Menſch hat ſeit den älteſten Zeiten in allen ſeinen Wohn— 
ſitzen theils zu ſeiner Wohlfahrt, theils aus Willkühr die Verbrei— 
tungsgrenzen jener Thiere, mit denen er in nähere Berührung kam, 
abzuändern begonnen und theilweiſe in ſehr hohem Grade auch ver— 
ändert. Der Menſch hat ſchädliche Thiere allenthalben verfolgt und 
zum Theil, wie die Bären und Wölfe, auch auf weite Strecken hin 
ausgerottet. Er hat andere, theils aus Gewinnſucht, theils aus Will— 
kühr und Laune, wie z. B. den Vogel Dudu und die Steller'ſche 
Seekuh, ganz von der Erde vertilgt. Er hat dafür auch gleichzeitig 
die ihm nützlichen oder ſeinem Auge und Gemüth angenehmen Thier— 
arten in vielen Fällen gepflegt und zu vermehren geſucht. Auf dieſe 
hat er verändernd eingewirkt und aus wilden Arten Hausthiere ge— 
macht. Die kaukaſiſche Raſſe hat von jeher in allen dieſen Umgeſtal— 
tungen des Thierreichs die größten Erfolge erzielt und iſt ſeit Ent— 
deckung von Amerika und Auſtralien in erhöhtem Grad beſchäftigt, 
dieſe Erfolge weiter über alle Theile der Erde auszudehnen. Wilde 
Völker haben gewöhnlich nur unbedeutendes in dieſer Hinſicht vermocht. 


138 


Der Urſprung der meiſten Hausthiere iſt dunkel, theils in ge— 
ſchichtlicher Hinſicht, theils ſelbſt für das Bereich der wiſſenſchaftlichen 
Prüfung. Man hat beſonders in alten Zeiten unſere werthvollen 
Hausthiere als Geſchenke der Götter bezeichnet, wie dies namentlich 
in der Mythologie der alten Griechen und Römer ausgeſprochen iſt. 
Neuere Theologen und theologiſirende Naturforſcher haben ſie wenigſtens 
als prädeſtinirte Ausſtattungen des Menſchengeſchlechtes gedeutet. 

Indeſſen Darwin nimmt an, daß der Menſch ſchon auf der 
niederſten Stufe der Geſittung begann, Thiere einzufangen und zu 
zähmen und daß ein Theil unſerer heutigen Hausthiere urſprünglich 
aus jenen älteſten Zeiten des menſchlichen Geſchlechtes ſich herleitet. 

Die Teleologen haben auch geglaubt, der Menſch ſei in Folge 
ehemaliger providentieller Bevorzugung im Stande geweſen, vorzugs— 
weiſe ſich ſolche Thierarten zur Zähmung auszuwählen, welche eine 
beſondere Bildſamkeit des Naturells und namentlich auch ein unge— 
wöhnlich großes Vermögen beſeſſen hätten, abzuändern und unter ver- 
ſchiedenen Klimaten auszudauern. Indeſſen Darwin zeigt, daß alle 
dieſe Fähigkeiten der Hausthiere, welche ſoviel zum Werthe derſelben 
beitragen, vom Einfluſſe der Züchtung im Widerſtreite mit einer mehr 
oder minder zähen Vererbung von Stammart-Characteren herrühren. 

Der Menſch auf der erſten Stufe der Geſittung, der das erſte 
Paar einer Thierart zähmte, konnte nicht wiſſen, ob deren Nachkom— 
men viel oder wenig ſeinem Einfluſſe nachgeben und viel oder wenig 
abändern würden, geſchweige denn, ob ſie auch in anderen Klimaten 
im Stande ſein würden auszudauern. Der primitive Menſch fing 
wilde Thiere ein oder zog ihre Jungen aus Neſtern auf, weil ſie 
ihm nützlich oder angenehm waren. Er verſuchte ſie zu zähmen und 
an ſein Hausweſen zu gewöhnen, er ſetzte dies um ſo ausdauernder 
fort, ſobald ſie in der Gefangenſchaft leicht fortzupflanzen waren und 
dabei ſeinen Bemühungen merklich nachkamen. 

Es gibt noch jetzt Thiere, von denen jedes im jungen Zuſtande 
der Wildheit entnommene Einzelweſen gezähmt werden kann. Manche, 
wie z. B. der Elephant und die meiſten Papageyen pflanzen ſich wenig 
oder nicht in der Gefangenſchaft fort. Dieſe konnten nie recht eigent— 
liche Hausthiere werden. Andere, die nicht uur zur Zähmung, ſondern 
auch zur Fortpflanzung zu bringen waren, konnten wirkliche Hausthiere 
werden. Es blieb alſo nur ein kleiner Betrag aus einer größeren 
Zahl von Arten eines jeden Gebietes für die Züchtung übrig und 


139 


auf dieſe ift die Bemühung des Menſchen gewöhnlich dann auch be— 
grenzt geblieben. 

Nicht alle Völker des Alterthums und nicht alle wilden Stämme 
neuerer Zeit haben in gleicher Weiſe zur Erzielung von Hausthieren 
beigetragen. Darwin erkennt darin keine göttliche Bevorzugung ein— 
zelner Stämme des Menſchengeſchlechts vor andern, er ſtellt vielmehr 
die Behauptung auf, daß, wenn der Menſch in anderen Theilen der 
Erde auch in gleichem Grade, wie die alten Culturvölker von Mit— 
telaſien und Nordafrika, bemüht geweſen ſei, Arten von wilden 
Thieren einzufangen, zu pflegen und zu zähmen, dieſe anderen Arten 
in einer gleich langen Reihe von Generationen ebenfalls zu Hausthieren 
umgewandelt worden wären. Nur ſehr wenige Theile der Erde, wie 
z. B. Neuſeeland, machen davon eine Ausnahme. Es liegt alſo 
nicht ſo ſehr an der Natur der Thiere ſelbſt, als vielmehr an den 
verſchiedenen Anlagen und Neigungen der beſonderen Volksſtämme, 
wenn ein Gebiet wohl ausgebildete Hausthiere und dabei zugleich viele 
beſonders abgeſtufte und zu beſonderen Verwendungen geeignete Raſſen 
beſitzt, ein anderes aber in dieſer Hinſicht weit zurückſteht. Aehnlich 
wie auf die Pflanzenwelt war in dieſer Hinſicht der Einfluß des 
Menſchen auf die Thierwelt ſeiner beſonderen Wohnſitze. 

Zahl und Ausbildung der Hausthiere, Reinheit und Steigerung 
der vorzugsweiſe nützlichen Raſſen ſind, wie Weinland 1859 aus— 
einander geſetzt hat, nicht nur bei den verſchiedenen Volksſtämmen ver— 
ſchieden, ſondern ſie geben auch einen Maßſtab für die geiſtige Aus— 
bildung der Völker ſelbſt ab. 

Wilde Völker begnügen ſich immer mit wenigen Hausthieren, 
verpflegen ſie gewöhnlich ſchlecht und geben ſie allen Unbilden der 
Witterung preis. Sie beſitzen nur ſelten Raſſen, die eine Verpflan— 
zung in andere Gegenden verlohnen würden. Je höher aber die mate— 
rielle Cultur bei einer Nation vorangeſchritten iſt, um ſo größer pflegt 
die Zahl der Arten der Hausthiere und deren Raſſen zu ſein und um 
ſo mehr Gewicht wird auf ihre Pflege und Veredlung gelegt. 

So fand Dr Rütimeyer, daß die älteſten Pfahlbauten der 
Schweiz, in denen nur Steingeräthe und noch keine Spur von Bronze 
vorkommt, erſt ſechs Arten von Säugethieren in zuſammen ſieben 
Raſſen enthalten, nämlich die Torfkuh, den zahmen Ur, die Ziege, 
das Schaf, das Torfſchwein und den Hund, wovon nur das Schaf 
in zwei Raſſen auftritt. In den ſpäteren Pfahlbauten, in denen neben 


140 


Steingeräthe auch Bronze-Arbeiten vorkommen, deuten die gefundenen 
Knochenreſte ſchon auf eine etwas größere Zahl von Hausthier-Formen. 

Die meiſten unſerer Hausthierraſſen verdanken offenbar ihre Ent— 
ſtehung einer Reihe von Vorgängen, welche, ſo weit der Menſch dabei 
betheiligt war, wohl den Zweck hatten, eine gut geeignete Thierform 
zu erhalten und zu vermehren, inſofern aber als unabſichtlich erſchei— 
nen, als ſie zugleich zu einer Veredlung der Art, nämlich einer An— 
häufung und Steigerung ihrer nutzbaren Eigenthümlichkeiten führten. 

Die einfachſte Form der Züchtung, wie ſie die älteſten Stämme 
der Menſchheit betrieben haben mögen und wie ſie vielfach bei uns, 
dann aber auch bei wilden Völkern noch betrieben wird, beſteht darin, 
daß der Züchter die kräftigſten oder gewandteſten oder ſonſt geeignetſten 
Thiere zu beſitzen ſtrebt oder auch plötzlich hervorgetretene ſehr auf— 
fallende Abweichungen herausgreift, ſie verpflegt und fortpflanzt. Er 
beabſichtigt dabei eigentlich keine Veredlung, aber ſie tritt im Laufe 
der Zeit durch fortgeſetzte Pflege und Auswahl von ſelbſt ein. Unſere 
meiſten alten Raſſen, inſofern ſie nicht Abkömmlinge beſonderer Stamm— 
arten ſind, ſcheinen auf ſolche Art gezüchtet worden zu ſein, der Vor— 
gang war ein ſo allmähliger, durch Jahrhunderte oder ſelbſt Jahr— 
tauſende fortgeſetzter, daß wir in vielen Fällen denſelben nicht mehr 
genau verfolgen können, ſondern uns begnügen müſſen die End— 
glieder der Generationsreihen zu vergleichen. Die Unterſchiede bei 
ſolchen unabſichtlichen Veredlungen der Hausthiere ſind an ſich ſo 
geringer und unmerklicher Art, daß ſie bei Vergleichung zweier unmit— 
telbar einander gefolgten Glieder gar nicht ins Auge fallen würden. 
Es nimmt alſo auch nicht leicht Jemand Anlaß, Einzelheiten eines ſo 
unmerklichen Vorganges aufzuzeichnen. 

Daß aber der Vorgang von dieſer Art geweſen ſein muß, geht 
unter anderem aus jenen Fällen hervor, wo die Züchtung Anpaſſun— 
gen und Charactere erzielt hat, die dem Menſchen, nicht aber dem 
Thiere ſelbſt, vortheilhaft ſind. Solche Raſſen können nicht ſo freiwil— 
lig wie z. B. Varietäten wilder Thiere entſtanden ſein, ſondern er— 
klären ſich nur von einer fortdauernden Anhäufung, die der Menſch 
unabſichtlich oder abſichtlich hervorgerufen hat. 

Es bedurfte einer länger fortgeſetzten Züchtung, bis man zur 
Erfahrung gelangte, daß Fortpflanzung von beſonders gutgearteten 
Thieren mit Ihresgleichen und ſorgfältige Auswahl aus der von 
ihnen gefallenen Nachkommenſchaft im Laufe der Generationen allmäh— 


141 


lich zu einer Veredlung der Form führe — das heißt zu einer 
Steigerung jener Characterzüge, auf die der Meuſch Werth legt. Mit 
einer ſolchen Erkenntniß trat die Züchtung in ihre erſte wiſſenſchaft— 
liche Stufe. Der Zeitpunkt war ein ſehr verſchiedener für die einzel— 
nen Völker und iſt jetzt nachträglich nur in wenigen Fällen noch 
genauer feſtzuſtellen. Für die hauptſächlichſten Urvölker und die älteſten 
Hausthiere aber bleiben wir am meiſten im Dunkeln. 

Virgil, ein Zeitgenoſſe des Kaiſers Auguſtus, bringt im drit— 
ten Buche ſeines für die Culturgeſchichte des Römiſchen Volkes ſo 
werthvollen Gedichtes von der Landwirthſchaft ſchon ſehr beſtimmte 
Anſichten über Pflege der Thiere und Auswahl zur Nachzucht zum 
Behufe der Erhaltung werthvoller edler Raſſen, doch ſieht man wohl, 
daß zu ſeiner Zeit eine ſteigernde Wirkung der Auswahl noch nicht 
erkannt worden war und man damals noch nicht planmäßig neue 
Raſſen heranzuziehen verſtand. 

Virgil ſagt: 

Seu quis, Olympiacae miratus praemia palmae, 
Pascit equos, seu quis fortes ad aratra juvencos; 


Corpora praecipue matrum legat. 
(Virgilii Georgicon lib. III. vers. 49) 


Wer vom Preiſe der Olympiſchen Palme begeiſtert, Roſſe nährt 
oder für den Pflug ſtarke Stiere aufzieht, der wähle ſorgſam die 
Leiber der Mutterthiere aus. Trotzigen und finſteren Ausdruckes ſei 
die Kuh, grob und breitgeſtirnt ihr Haupt, ſtark und mächtig ihr 
Nacken, vom Kinn zu den Beinen herab hänge ihr die Kehlhaut 
(Wamme), langgeſtreckt ſei die Seite, alles gewaltig, auch der Fuß 
ſtark, die Ohren rauh und die Hörner eingekrümmt. 

In ähnlicher Weiſe gibt Virgil auch beſtimmte Regeln der 
Auswahl (dilectus) für die Zucht der edleren Pferde-Raſſen: 

Nee non et pecori est idem dilectus equino, 

„Nicht minder als das Rind bedarf auch das Roß der Aus— 
wahl.“ — Auch wie man aus den Heerden fortwährend die geringe— 
ren Stücke ausſcheiden und durch beſſere erſetzen ſolle, lehrt Virgil: 

Semper erunt, quarum mutari corpora malis, 
Semper enim refice; ac ne post amissa requiras 


Anteveni et subolem armento sortire quotannis, 
Georgicon lib. III. vers. 69. 


Immer werden Stücke in der Heerde ſein, deren Leiber du 
gern umgetauſcht ſehen möchteſt. Dieſe erſetze immer durch andere. 


142 


Und daß du Verluſt nicht bereueſt, komme zuvor und verjünge die 
Heerde mit alljährlichem Anwachs. 

Virgil und ſeine Zeitgenoſſen erkannten alſo ſicher ſchon, daß 
Vorzüge der Hausthier-Raſſen bei ſorgfältiger Pflege und Auswahl 
ſich forterben. Doch läßt ſich noch keine Andeutung über eine im 
voraus bedachte Veredlung einer geringeren Raſſe zu einer werthvol— 
leren erkennen. Die erſte Andeutung einer ſolchen planmäßigen Züch— 
tung ſcheint aus einer Stelle im achten Buche der Naturgeſchichte des 
Plinius hervorzugehen. In unſerem Erdtheile, berichtet Plinius, 
haben die Epirotiſchen Stiere, wie man meint, ſeit ihrer ſorgfältigen 
Züchtung durch den König Pyrrhus den Vorzug. Sie wurden dadurch 
ſo außerordentlich groß, daß man ſie erſt im vierten Jahre zur Be— 
gattung zulies, und noch bis jetzt haben ſich einige von dieſem Stamm 
erhalten. Jetzt läßt man ſie im erſten, höchſtens im zweiten Jahre 
ſich vereinigen. 

Hier liegt alſo eine abſichtliche Steigerung einer Raſſe behufs 
kräftigerer Ausbildung der Nachkommenſchaft vor, doch ſcheinen ſolche 
Vorgänge im Alterthum ſehr zerſtreut geblieben zu ſein. 

Heut zu Tage erzielt man neue Raſſen von Hausthieren mit 
beſtimmter Abſicht und nach einem vorgeſteckten Ziele. Was man in 
früheren Jahrtauſenden ohne tiefere Kenntniß des Vorgangs und ohne 
förmliche Abſicht allmählig und unmerklich zum Vorſchein brachte, das 
ſucht man jetzt mit bewußter Abſicht und mit Benutzung aller älteren 
Erfahrungen in kürzeren Friſten zu erreichen. 

Pflege und Auswahl reicht dazu nicht aus, allzuenge Inzucht 
kann ſogar nachtheilig wirken, mit großem Erfolg und beträchtlicher 
Zeiterſparniß aber bedient man ſich jetzt dabei der Raſſenkreuzung 
und bezieht zu dieſem Behufe geeignete Schläge aus entfernten Erd— 
theilen. Mit Anwendung dieſer verſchiedenen Momente läßt ſich jetzt 
nach vorbedachtem Plan vielfach und oft weit eingreifend auf die 
Thierform einwirken. 

Die Auswahl geeigneter Individuen zur Nachzucht iſt dabei nichts 
weniger als leicht und erfordert Erfahrung und Urtheil. Die Kreuzung 
darf auch nur mit Umſicht angewendet werden. Kreuzung von einander 
weit abſtehender Raſſen eignet ſich nicht zur Erzielung einer beſtimmt 
im voraus entworfenen Form, ſie führt zu Unregelmäßigkeiten, die vom 
gefaßten Ziele weit wieder abſeits führen. Um ſo vortheilhafter iſt die 
Kreuzung von wohl gearteten, einander nahe verwandten Raſſen. 


143 


Man hat viele Beiſpiele, daß ausgezeichnete Viehzüchter inner— 
halb eines Menſchenalters von wichtigen Nutzthieren, z. B. vom Rind 
und vom Schaf, zu beſtimmten Verwendungen und für beſtimmte 
Gegenden auf dem Wege der Züchtung vorhandene Raſſen ſo ſehr 
umgeſtaltet und veredelt haben, daß die hervorgebrachten Formen als 
neue und werthvolle Raſſen daſtehen, die dann oft zu hohen Preiſen 
abgeſetzt und weithin in andere Länder ausgeführt werden. 

Jedes neue Jahr bringt in dieſer Hinſicht ein oder das andere, 
ſei es nun ein zufällig gewonnenes und feſtgehaltenes oder mit Vor— 
bedacht willkührlich herbeigeführtes Ergebniß und man muß ſagen, daß 
das Auscinandergehen der Raſſen unter dem Einfluß des Menſchen 
noch ununterbrochen bald bei der einen, bald bei der anderen Art 
ſich kund gibt. Manche wenig bildſame Hausthiere dürften bald auch 
in lebhafteren Angriff genommen und ihr ſtarres Naturell in eine 
unſerem Haushalt vortheilhafte Bewegung geſetzt werden. So hat ſich 
der aus Hindoſtan ſtammende, im öſtlichen und ſüdlichen Europa 
ſchon im frühen Mittelalter eingeführte Büffel erſt ſehr wenig vom 
wilden Zuſtande entfernt und noch keine eigenen Raſſen geliefert. In 
anderen Fällen gilt es, aus einer Anzahl älterer Raſſen zu ganz be— 
ſtimmten Zwecken eine neue zu Stande zu bringen. Aufgaben liegen 
genug vor, dahin gehört z. B., um nur ein Beiſpiel zu nennen, die 
Anforderung an die Stelle der in den letzten Jahrzehnten erloſchenen 
Bernharder Hunderaſſe, welche in verſchneiten Gebirgen Verirrte ret— 
ten hilft, eine neue zu züchten, die deren Verluſt zu erſetzen vermag. 
Noch viel ausgedehnter iſt man bemüht, ausländiſche Thiere, z. B. 
den jo ſehr werthvollen oſtindiſchen Yak oder Grunzochſen, das indiſche 
Zebu oder den Buckelochſen u. ſ. w. bei uns einzubürgern, ein Vor— 
gang, der nicht anders möglich iſt, als dadurch, daß das Naturell des 
Thieres in eine Bewegung verſetzt wird, die zu Veränderungen führt. 
Dieſe Aufgabe aber wird gelöſt werden, entweder durch einfache An— 
paſſung oder, was noch tiefer eingreift, durch Auswahl neu erzeugter, 
vorzugsweiſe den neuen Bedingungen angepaßter Variationen. Gelun— 
gen ſind ſolche Acclimatiſirungen beim Büffel, den man im Laufe der 
Jahrhunderte aus Oſtindien bis nach Italien und Ungarn 
verflanzt hat und beim ſpaniſchen Merinoſchaf, welches nach Deutſch— 
land verpflanzt, hier unter Kreuzung mit einheimiſchen Formen, eine 
neue und noch edlere Raſſe geliefert hat. 

Von den vielen Fällen gelungener Durchführung einer im voraus 


144 


bedachten Züchtung einer neuen, für feſtſtehende Lebensverhältniſſe 
und abgegrenzte Leiſtungen beſtimmten Hausthierraſſe bleiben auf 
Grund des perſönlichen Gewinnes die meiſten den Einzelheiten nach 
für größere Kreiſe verborgen. Man erfährt nur das Ergebniß, die 
beſonderen Mittel und Wege aber bewahrt der Züchter ſich ſelbſt. 

In dieſer Hinſicht gewinnt die rückhaltloſe Mittheilung über die 
ſyſtematiſche Heranbildung einer neuen Rinderraſſe von beſtimmt beab— 
ſichtigten Eigenſchaften auf der Württembergiſchen Meierei Roſen— 
ſtein, unweit Stuttgart, eine beſondere Wichtigkeit. 

J. von Hügel und G. F. Schmidt berichten in ihrem 
Werke „Die Geſtüte und Meiereien Sr. Maj. des Königs von Würt— 
temberg“. (Stuttgart 1861) darüber folgendes. Die neue Raſſe oder 
der weiße Roſenſteiner Rindvieh-Stamm wurde durch 
Kreuzung mehrerer Stämme, namentlich des Holländer und des 
Schwyzer Stammes, in ſechs bis ſieben Generationen und in einer 
Zeit von fünfundzwanzig Jahren hervorgebracht. Dieſe Zeit genügte 
bei ſorgfältiger Pflege und Auswahl, um den Stamm ſo heranzubil— 
den, daß auf deſſen Fähigkeit ſeine werthvollen Eigenſchaften auf die 
Nachkommen zu vererben, ſchon mit genügender Sicherheit zu rech— 
nen war. 

Man erhielt dadurch eine ſehr große, kräftige und zugleich an— 
dauernd milchergiebige Raſſe von weißer Farbe, welche namentlich 
die werthvollen Eigenſchaften des holländer Stammes, dabei aber 
gefälligere Formen darbietet und größere Arbeitskraft beſitzt. 

Nach der von Dr. Rütimeyer verſuchten Deutung der urſprüng— 
lichen Abſtammung der Rinderraſſen würde das weiße Roſenſteiner 
Rind wohl als Abkömmling von B. primigenius und B. brachyceros 
zu nehmen ſein. 


145 


Drittes Kapitel. 


Darwin's Lehre vom Kampf um's Daſein und der natür⸗ 
lichen Ausleſe. 


Wenn ſchon Culturpflanzen und Hausthiere, deren beſondere Natur 
wir gewiß am beſten kennen und deren Veränderungen unter dem Ein— 
fluſſe beſtimmter Verhältniſſe wir am genaueſten zu verfolgen vermögen, 
in vielen Fällen dunklen Urſprungs find und wir oft nur hypothetiſch 
die dermalige Culturform auf Grund mehr oder minder vereinzelter 
Zwiſchenſtufen mit ihrer weit abſtehenden Stammart in Verbindung 
ſetzen können, ſo iſt es nicht auffallend, dieſelben Schwierigkeiten 
bei der Beurtheilung des genealogiſchen Zuſammenhangs der wilden 
Flora und Fauna und deren urweltlicher Vorläufer wieder und zwar 
in noch weit höherem Grade anzutreffen. 

Die wilde Pflanze und das wilde Thier liegen unſerer Beobach— 
tung ferner. Wir wiſſen im Allgemeinen weniger von ihrer Lebens— 
weiſe und verfolgen gewöhnlich ihre genauere Genealogie nicht, ſo daß 
nur in ſeltneren Fällen einmal ein Beiſpiel einer auffallenden indivi— 
duellen Variation oder einer ungewöhnlichen Vererbung zur Kennt— 
niß gelangt. 

Zugleich deuten geſchichtliche wie geologiſche Erfahrungen darauf 
hin, daß wo Veränderungen an Arten der wilden Flora und Fauna 
vorgekommen, ſie im Allgemeinen ſpärlicher und unbedeutender bleiben, 
als die ſind, welche wir an unſeren Culturformen hervorrufen. Wir 
ſind nach allem dieſem weit mehr auf Vergleichung ſehr entfernt liegen— 
der Glieder der Stammesfolgen angewieſen und müſſen dabei faſt 
immer das Bereich der geſchichtlichen Epoche überſchreiten. Ueberhaupt 
wird das Feld nach Raum und Zeit größer und führt immer mehr 
und mehr über die Grenzen einer unmittelbaren und genaueren wiſ— 
ſenſchaftlichen Beobachtung hinaus. Wenn uns ſchou bei den Cultur— 
formen die Verfolgung beſonderer Raſſen oder Arten durch verſchiedene 
Länder und verſchiedene Jahrhunderte oder Jahrtauſende ſo manche 
Schwierigkeit bot, ſo muß die bequeme Sicherheit der Straße noch 

Rolle, Darwin's Lehre. 10 


146 


um jo mehr uns im Stiche laſſen, wenn wir die entlegenen Epochen 
der urweltlichen Schöpfung, deren Ausdehnung nach Millionen von 
Jahren ſich mißt, in das Bereich unſerer Forſchung zu ziehen genö— 
thigt ſind. g 

Aber auch hier pflanzt die Theorie mit ahnendem Blick ihr Panier 
auf, vereinigt im Geiſte die getrennt vorliegenden Stufen der Genea— 
logie der verſchiedenen Pflanzen- und Thierformen und forſcht nach 
dem möglichen Zuſammenhang zwiſchen denſelben. 

Darwin's Wege auf dieſem beſonderen Gebiete der Forſchung 
ſind ihm ausſchließlich eigenthümlich. Er lehrt, daß die geometriſche 
Zunahme der Individuenzahl bei Pflanzen und Thieren, ihr Kampf 
um's Daſein und die daraus erfolgende natürliche Ausleſe es iſt, was 
auf Grundlage der allen Organismen weſentlich zukommenden Erb— 
lichkeit und Veränderlichkeit im Laufe der geologiſchen Epochen zum 
Hervortreten neuer Varietäten, Arten, Gattungen, Familien, Ordnun⸗ 
gen und Klaſſen Anlaß gegeben hat. 

Gehen wir nun auf dieſen weſentlichen Theil der Darwin'ſchen 
Lehre näher ein. 

Allen Pflanzen- und Thierarten wohnt das Beſtreben inne, ſich 
in einer mehr oder minder raſchen geometriſchen Progreſſion zu ver— 
mehren. Sie ſind fähig, unter ſonſt gleichen Umſtänden jede zu ihrem 
Fortkommen geeignete Gegend in kürzerer oder längerer Zeit zu bevöl— 
kern und vollkommen einzunehmen. Sie weichen darin nur dem Grade 
nach von einander ab. Bei einer Art iſt die Uebervölkerung einer be— 
ſtimmten Gegend raſcher möglich, bei anderen bedürfte es dazu einer 
längeren Friſt; unter günſtigen Umſtänden aber könnte der Fall für 
die einen wie für die andern Arten eintreten. 

Die Verſchiedenheiten in dieſer Fähigkeit der Vermehrung ſind alſo 
nur ſtufenweiſe und beſchränken ſich darauf, ob eine Pflanze oder ein 
Thier jährlich nur wenige oder vielleicht hunderte und tauſende von 
Samen und Eiern hervorbringt. Der Erfolg wird darnach nur je 
nach der Zeitdauer des Vorganges etwas verſchieden ſein, von der dann 
freilich auch die Wahrſcheinlichkeit eines Eintrittes bis zu einem ge— 
wiſſen Grade abhängig ſein wird. 

Bei vielen niederen Thieren, auch noch bei Fiſchen, iſt der 
Fall häufig, daß ein einziger Wurf tauſende, ja hunderttauſende von 
Eiern liefert. 

Sehr groß iſt die Fruchtbarkeit bei vielen Nagethieren, nament— 


147 


lich den Mäuſen und Hatten, bei denen das Weibchen gewöhnlich 
drei bis ſechsmal im Jahre und zwar mindeſtens je vier bis ſechs 
Junge auf einmal wirft. Berechnet man die geometriſche Vermehrung 
eines einzigen Mäuſepaares unter der Vorausſetzung, daß nichts der 
fortſchreitenden Zunahme entgegenwirkt, ſo gelangt man zum Ergeb— 
niß, daß ſchon nach wenig Jahren für die Nachkommenſchaft jenes 
erſten Paares der 32 Raum der Erdoberfläche nicht mehr 
ausreichen würde. 

Zu den Thierarten, die ſich am langſamſten fortpflanzen, gehört 
der Elephant. Er wird erſt im dreißigſten Jahre fruchtbar und bringt 
von da an bis zum neunzigſten Lebensjahre nur drei Paar Junge 
zur Welt. Legt man mit Darwin dies Verhältniß der Vermehrung zu 
Grunde und nimmt an, daß nicht nur alle Jungen am Leben erhal— 
ten bleiben, ſondern dieſelben ſich auch in gleicher Weiſe fortpflanzen, 
ſo gelangt man zum Schluſſe, daß die Nachkommenſchaft eines einzi— 
gen Elephantenpaares ſchon nach fünfhundert Jahren die gewaltige 
Summe von fünfzehn Millionen Individuen betragen würde. 

Vorübergehende Fälle von ähnlicher raſcher Individuenzunahme 
einer oder der anderen Thierart werden in der That in der Natur 
häufig beobachtet. Sie führen bisweilen zu Uebervölkerung, Hungers— 
noth und großartigen Auswanderungen. 

Die Verwilderung einiger Arten unſerer Hausthiere in verſchie— 
denen ausgedehnten, wenig bevölkerten Theilen der Erde liefert merk— 
würdige Beweiſe raſcher Vermehrung der Individuenzahl bei günſtigen 
äußeren Umſtänden. Das Rind und das Pferd, beides Thiere, die ſich 
verhältnißmäßig langſam vermehren, haben doch im Laufe dreier 
Jahrhunderte in Südamerika ſo an Zahl zugenommen, daß die 
Summen ſchon über die gewöhnlichen Zahlenbegriffe zu gehen beginnen. 

So leben nach Humboldts Schätzung in den Pampas der 
Laplata⸗Länder an drei Millionen Pferde, die alle von wenigen vor 
etwa dreihundert Jahren eingeführten Thieren ſpaniſcher Raſſe her— 
ſtammen. Das Rind hat ſich in derſelben Gegend in der gleichen Zeit 
ſo vermehrt, daß davon eine Reihe von Jahren hindurch jährlich an 
30,000 Felle in den Handel gebracht wurden, bis endlich in Folge der 
ſtarken Nachſtellungen eine merkliche Abnahme der Zahl eintrat. 

Dem Streben der Pflanzen und Thiere fortwährend an Zahl 
überhand zu nehmen, wird nun aber durch eine ebenfalls fortwährend 

10° 


148 


dauernde Vernichtung von Einzelweſen eine unüberwindliche Schranke 
geſetzt. Ohne dies würde eine jede Pflanzen- und Thierart in kurzer 
Friſt ſo überhand nehmen, daß bald kein Raum der Erde für ihren 
Aufenthalt und ihre Nahrung noch ausreichen würde. 

Die vernichtenden Einflüſſe betreffen zum Theil die ganze Lebens- 
dauer der Individuen, zum Theil vorzugsweiſe den Jugendzuſtand 
und die Eier oder den Samen. Andere Vernichtungen, z. B. durch 
Seuchen oder durch geologiſche Begebenheiten, treten in beſtimmten 
Gebieten ſeltener auf, ſie betreffen im Ganzen genommen nur eins 
von vielen Gliedern einer Reihe von Generationen, bedrohen dann 
aber gleichzeitig und nahe gleichmäßig alle Individuen einer Gene— 
ration von einer oder mehrerer Arten und können ſo eine ganze Be— 
völkerung zu gleicher Zeit an den Rand des Unterganges bringen. 

Erſcheint durch irgend einen Anlaß eins dieſer Hinderniſſe der 
Vermehrung theilweiſe oder ganz beſeitigt, ſo folgt eine raſche Ver— 
mehrung der Individuen und dauert ſo lange fort, bis ſie am aber— 
maligen Eintritt deſſelben oder eines anderweitigen Hinderniſſes wieder 
eine Schranke findet, die zum früheren normalen Zuſtande wieder 
zurückführt. Solche Vorgänge beobachten wir häufig, freilich oft ohne 
nähere Einſicht in ihre Urſachen gewinnen zu können. 

Zunahme wie Verminderung der Individuen einer Art hängen 
oft von ſehr zuſammengeſetzten Verhältniſſen des Naturhaushaltes ab. 
Es iſt oft ſchwer dieſen Zuſammenhang zu ermitteln oder auch nur 
dauernd vor Augen zu behalten. In andern Fällen liegt die Art des 
Vorgangs dagegen ziemlich offen vor. 

Eine große Menge von Beiſpielen aus der Pflanzen- und der 
Thierwelt thun dar, wie die Thiere theils von Pflanzen, theils von 
anderen Thieren und andererſeits gewiſſe Pflanzen wieder von Thieren 
abhängig ſind. Raubthiere ſind nach ihrer Ernährungsweiſe abhängig von 
Pflanzenfreſſern, letztere aber ihrerſeits von der Vegetation. Aus dieſer 
Wechſelwirkung ſtellt ſich dann allenthalben ein allgemeines Gleichge— 
wicht der numeriſchen Verhältniſſe her, welches zwar mannigfach ge— 
ſtört werden kann, aber in den nächſten Generationen ſich immer wieder 
in derſelben oder je nach der Art des eingetretenen Zwiſchenfalls, 
in einer etwas veränderten Weiſe herſtellt. Vermehren ſich Pflanzen— 
freſſer in ungewöhnlichem Grade, ſo vermindern ſie die Vegetation der 
Gegend in dem Maße, daß ſie dann ſelbſt Nahrungsnoth erleiden 
und dadurch an Zahl wieder abnehmen. Oder wo die Vegetation ſo— 


149 


bald noch nicht erſchöpft ift, führt die Zunahme der Pflanzenfreſſer 
auch zu einem allmähligen Anwachſen der Zahl der Raubthiere, die 
dann wieder die allzu große Vermehrung der Pflanzenfreſſer be— 
ſchränken. 

Am auffallendſten ſind ſolche Vorgänge auf kleinen abgegrenzten 
Gebieten, namentlich Inſeln, auf welche der Menſch neue Thierarten 
verpflanzt. 

Ein Beiſpiel davon gibt St. Helena. Die Inſel war im 
ſechzehnten Jahrhundert noch mit Wald bedeckt. Die Europäer führ— 
ten aber Ziege und Schwein dort ein, dieſe vermehrten ſich dann 
bald in übermäßiger Weiſe, ſie weideten allmählig mehr und mehr 
den jungen Nachwuchs der Bäume ab und nach zwei Jahrhunderten 
war in Folge deſſen die Inſel ganz von Wald entblößt. Dieſe Ver— 
heerung der Vegetation hatte dann natürlich wieder ihre Rückwirkung 
auf die Thierwelt. Eine Anzahl von Thierarten nahmen raſch an 
Individuenzahl ab, andere mögen auch ganz dadurch vertilgt worden 
ſein. So findet man namentlich Reſte einer Anzahl von Landmollusken— 
Arten in geringer Tiefe des Bodens der Inſel eingelagert, es ſind 
die einzigen Ueberreſte von beſonderen nur hier beobachteten, heutzu 
Tage erloſchenen Arten. Aller Wahrſcheinlichkeit nach iſt ihr Erlöſchen 
eine Folge der Verheerung und Vernichtung der ehemaligen Waldun— 
gen. Vergl. Ch. Darwin, naturwiſſenſchaftliche Reiſen. 2. Theil 
(1844). S. 274. 

Auf der Inſel Juan Fernandez im Chileſiſchen Meere 
(34° S. Br.) waren von Seefahrern Ziegen ausgeſetzt worden und 
hatten ſich raſch vermehrt. Die Spanier, um Flibuſtier und andere 
Seefahrer zu hindern, hier zu jagen, ſetzten indeſſen ihrerſeits 
Hunde zur Vertilgung der Ziegen aus. Der Erfolg war, daß die 
Hunde die Ziegen jagten, raſch an Zahl zunahmen und die Ziegen 
bald gänzlich vertilgten, nunmehr aber auch ſelbſt wieder an Zahl 
raſch abnahmen. 

Einen ähnlichen Vorgang beobachtet man häufig in unſeren Kiefern— 
Waldungen beim Auftreten der fogenannten Nonne, Liparis monacha L., 
deren gefräßige Raupe dem Nadelholz ſehr ſchädlich wird. Hat dieſe 
in einem Jahre einmal ungewöhnlich überhand genommen, ſo vermeh— 
ren ſich auch die Schlupfwespen oder Ichneumonen, welche in die 
Leiber der Raupen ihre Eier legen und deren Untergang dadurch be— 
wirken. Allmählig hat ſich dann im Laufe einiger Jahre die Kiefern— 


150 


raupe durch ihre Gefräßigkeit ihr Nahrungsfeld verwüſtet; Nahrungs- 
mangel, und Krankheiten ſowie Nachſtellung ihrer Feinde führen nun zu 
ihrer faſt völligen Ausrottung. Alsdann kommt nachträglich die Reihe 
an die Ichneumonen. Sie finden keine Raupen mehr zur Ablagerung 
ihrer Eier und erleiden nun ihrerſeits auch wieder eine Verminderung 
auf den gewöhnlichen Stand der Individuenzahl. Das normale Gleich— 
gewicht tritt alſo ſchließlich immer wieder ein. 

In Folge derartiger Wechſelwirkungen zwiſchen den Organismen, 
die eine und dieſelbe Gegend bewohnen, findet allenthalben ein gewiſ— 
ſes Gleichgewicht ſtatt oder ſtellt ſich doch nach eingetretenen Schwan— 
kungen bald wieder her. Es zeigt ſich durchweg in der Natur, daß 
trotz der Fähigkeit aller Arten ſich auf eine ungeheuere Anzahl von 
Individuen zu vermehren und für ſich allein ihr Verbreitungsgebiet 
zu übervölkern, doch die Individuenzahl einer Art innerhalb längerer 
Zeiträume nur um kleine Beträge ſchwankt. 

Die an ſich ſo ſehr ungleiche Vermehrungsfähigkeit der verſchie— 
denen Arten wird in vielen Fällen durch eine dem entſprechende größere 
oder geringere Sicherheit des Aufkommens der Nachkommenſchaft wieder 
ziemlich ausgeglichen. Thiere, welche Eier oder Junge in großer Anzahl 
zur Welt bringen, ſchützen ſie entweder gar nicht oder doch nur in 
weit geringerem Grade, als ſolche, die nur ſpärliche Nachkommenſchaft 
haben. Es kommen nur wenige von der großen Individuenzahl der 
Eier oder der Jungen auf, ſie genügen aber zur Erhaltung der Art. 
Thiere, welche wenige Eier oder Junge zur Welt bringen, ſchützen ſie 
gewöhnlich längere Zeit und überlaſſen ſie erſt dann ſich ſelbſt, wenn 
die Nachkommenſchaft im Stande iſt, ſelbſt ihre Nahrung zu finden 
und ſich ſelbſt der Nachſtellungen von Feinden zu erwehren. Die 
Schildkröte kann ohne Schutz ihrer Eier ſich forterhalten, denn es 
bleiben, wenn auch die Mehrzahl derſelben ſchutzlos der Vernichtung 
anheimfallen, doch immer einige übrig, welche die Art fortpflanzen. 
Aber Pferde, Rinder, Elephanten u. ſ. w. welche die Jungen gleich 
nach der Geburt ſich ſelbſt überließen, würden in kurzer Zeit aus der 
Reihe der Lebendigen verſchwinden. — Die meiſten Säugethiere und 
Vögel pflegen demgemäß ihre Jungen noch eine gewiſſe Zeit hindurch, 
ſchützen ſie gegen ihre Feinde und bringen dadurch wieder ein, was 
ſie durch Spärlichkeit der Fortpflanzung verſäumen. | 

Bei dieſem Gleichgewicht der Vermehrungfähigkeit der Arten und 
der Erhaltungsfähigkeit der Eier und Jungen iſt es möglich, daß ver— 


151 


ſchiedene Arten, von denen die einen ſehr wenig Eier oder Junge her— 
vorbringen, die anderen aber deren viel mehr liefern, doch auf beſtimm— 
tem Gebiete in der Menge der Individuen ſich nahe gleich bleiben 
oder ſich in irgend einem anderen beſtimmten Zahlenverhältniß an— 
dauernd die Wage halten. 

Indem in dieſer Weiſe die zur Vermehrung und die zur Ver— 
minderung einer jeden Pflanzen- und Thierart führenden Einflüſſe 
ſich im Großen und auf längere Zeitdauer bei ſonſt gleich bleibenden 
Bedingungen im Gleichgewichte erhalten und der geſammte Stand 
innerhalb längerer Friſten immer weſentlich der gleiche bleibt, ſtellt 
ſich ein innerhalb gewiſſer Grenzen feſter Naturhaushalt für 
jedes einzelne Gebiet der Erdoberfläche heraus, in welchem jeder Art 
von Pflanze und Thier eine Stelle zukommt, die ſie innerhalb engerer 
oder weiterer Grenzen einhält oder einzuhalten genöthigt iſt. 

In dieſer beſtimmten Stellung muß jedes Einzelweſen um Raum 
und Nahrung, überhaupt um's Daſein kämpfen. 

Das Leben der Pflanze iſt ein mehr oder minder augenfälliges 
ununterbrochenes Ringen einestheils gegen die äußeren Verhältniſſe, 
Klima, Näſſe, Trockenheit u. ſ. w., dann aber auch gegen andere 
Pflanzen, welche den Raum beſetzt halten und ſich auszudehnen ſtreben 
und gegen Thiere, die von Pflanzennahrung leben. Ein großer Theil 
des erzeugten Samens fällt der Vernichtung anheim. Es gibt Pflan— 
zen, die alljährlich hunderte und tauſende von Samen erzeugen, von 
denen aber im Durchſchnitt vielleicht nur einer zur Entwickelung ge— 
langt, und die Art fortpflanzt. Eine Menge von Thierarten ſtreben 
zufolge ihrer Lebensweiſe nach Vernichtung gewiſſer Pflanzenarten. 
Zahlloſe Vögel leben von Pflanzenſamen und tragen dadurch zur 
Verminderung der Individuenzahl derſelben mächtig bei. Periodiſche 
Eintritte ſehr geſteigerter klimatiſcher Erſcheinungen, z. B. von ſehr 
kalter oder ſehr trockener Witterung wirken oft auf weite Strecken hin 
der Vermehrung der Pflanzen vernichtend entgegen. 

Ebenſo iſt das Leben des Thieres ein faſt ununterbrochener Kampf 
gegen Klima, gegen mitbewerbende Individuen der gleichen Art und 
gegen überlegene Feinde, ſeien es nun Raubthiere oder Paraſiten. 
Pflanzenfreſſer leben gewöhnlich nur zu beſtimmten Zeiten in einem 
Ueberfluſſe von Nahrung. Sobald die kalte Jahreszeit beginnt und 
die Thätigkeit der Pflanze einſchlummert, tritt für ſie eine mehr 
oder minder harte Zeit des Futtermangels ein. Ein ungewöhnlich 


152 


kalter Winter kann unter der Vogelbevölkerung und dem Wildſtande 
eines beſtimmten Reviers eine weitgehende Verminderung hervorrufen. 
Pflanzenfreſſer können auch durch eine gelegentliche Ueberhandnahme 
ihrer Zahl ſo ſehr ihre Nahrungspflanzen vermindern, daß ſie als— 
bald in Folge deſſen Mangel leiden. Fleiſchfreſſer ſtellen den Pflanzen⸗ 
freſſern nach. Ein großer Theil der munteren Sänger unſerer Wälder 
und Fluren leben vorwiegend von Inſekten. Den Singvögeln und ihren 
Eiern aber ſtellen wieder Raubvögel und andere Raubthiere, z. B. Katzen 
und Marder nach. Dem Haſen und dem Reh drohen Füchſe und 
Wölfe. Individuen derſelben Art ſind dabei gleichzeitig allenthalben 
Mitbewerber, der Untergang des einen erleichtert mehr oder minder 
das Fortkommen des andern. 

Dieſes Verhältniß von Mitbewerbung jedes Lebeweſens mit 
ſeinesgleichen und mit Individuen anderer Art, bei ſteter Vernich— 
tung eines Theiles der Arten durch beſtimmte andere Organismen 
oder durch phyſiſche Einflüſſe bezeichnet Darwin als Kampf um's 
Daſein. 

Die Wirklichkeit dieſes Vorganges iſt nicht zu beſtreiten. Es 
iſt allzuaugenfällig, wie eine Menge von Arten dadurch, daß ſie mit 
ihrer Ernährung auf andere angewieſen ſind, und noch andere Arten 
durch ihr bisweilen raſches Zunehmen mehr oder minder die übrigen 
Bewohner deſſelben Gebietes zu vermindern ſtreben. Indeſſen ſtellt 
ſich dabei immer ſo raſch wieder ein gewiſſes Gleichgewicht heraus, 
daß wir bei dem Vorgange der individuellen Vernichtungen in der 
Regel keine weiteren Erfolge wahrnehmen und den Vorgang ſelbſt 
ſogar im gewöhnlichen Leben ganz überſehen. Augenfälliger aber 
wird der Vorgang, wo elementare Ereigniſſe das gewohnte Verhältniß 
des Daſeins für ganze Floren und Faunen erſchütterten, alſo z. B. 
nach großen Ueberſchwemmungen, harten Wintern, Waldbränden, ver- 
heerenden Seuchen u. ſ. w. Am meiſten aber entbrennt der Kampf 
unter unſeren Augen, wo der Menſch auf die Geſtaltung begrenzter 
Verbreitungsgebiete ſeinen Einfluß ausdehnt, z. B. wo Mäuſe und 
Ratten durch Schiffe ausgeſetzt werden und ſpäter der Seefahrer als 
Erſatz des Schadens, den er unfreiwillig dem neuen Gebiete zugefügt, 
auch die Katze noch nachführen muß. Hier hat man Veränderungen, 
welche die allgemeinen Daſeinsbedingungen mächtig ſtören, ein heftiger 
Kampf iſt die Folge des geſtörten Gleichgewichtes, und erſt nach einer 
Reihe von Generationen hält Art der Art wieder die Wage. 


153 


In zahlreichen Fällen iſt aber der maßgebende Zuſammenhang 
ein ſo zuſammengeſetzter und verſteckter, daß wir ihn zur Zeit erſt 
unvollſtändig zu durchſchauen vermögen und über die Urſache zahl— 
reicher Vorgänge daher mehr oder minder noch im Dunkeln bleiben. 
Eine ſolche Kette von Erſcheinungen iſt nach Darwin folgende. 
Hummeln begünſtigen durch den Beſuch der Blüthen die Fortpflan⸗ 
zung des rothen Klees, Feldmäuſe ſtellen den Neſtern der Hummeln 
nach, Katzen und andere kleine Raubthiere aber verfolgen ihrerſeits 
wieder die Mäuſe. 

Nach Darwin iſt die fortwährende Vernichtung zahlloſer In— 
dividuen von Pflanzen und Thieren keine regelloſe und allerwegs gleich— 
mäßige, ſondern ſie bedroht die Individuen je nach ihrem individuellen 
Character entweder mehr oder weniger nahe. Im Kampfe Aller gegen 
Alle verdrängt auch bei einer und derſelben Art der ſtärkere oder der 
gewandere den ſchwächeren und trägeren und zwar um ſo unvermeid— 
licher, als nicht alle Samen und Eier, nicht alle Pflanzen und Thiere 
die zum Leben gelangen, auch am Leben ſich zu erhalten vermögen. 

Offenbar ſind nicht alle Individuen einer Art einander ganz gleich, 
es gibt bei Pflanzen wie bei Thieren ſtärkere und ſchwächere Indivi— 
duen, bei Thieren auch behendere und trägere. Endlich gibt es auch 
plötzlich auftretende individuelle Variationen, welche vererbt werden 

können und unter gewiſſen Verhältniſſen nothwendig zur Erzeugung 
neuer Varietäten-Stämme einer Art führen müſſen, die günſtiger ge— 
ſtellt ſind. 

Alles dies kommt beim Kampf ums Daſein in Betracht und be— 
wirkt, daß die fortwährende Vernichtung der Individuen nicht alle 
gleichmäßig bedroht. Das eine überlebt die Gefahr leichter als das 
andere. 6 

Darwin unterſcheidet demnach in Bezug auf die Wirkung, welche 
die fortwährende maſſenhafte Vernichtung auf die Individuen einer 
und derſelben Art ausübt, drei verſchiedene Fähigkeitsabſtufungen von 
individueller Variation, eine für die Erhaltung der Art nützliche, eine 
gleichgültige und eine ſchädliche. 

Von weſentlichem Einfluß auf das Beſtehen des Kampfes und 
in zweiter Linie auf die fortlaufende Umgeſtaltung der organiſchen 
Form ſind davon die nützlichen Variationen, denn die ſchädlichen wer— 
den raſch wieder ſich verlieren, die gleichgültigen aber ohne Einfluß 
auf die organiſche Formenbewegung bleiben. 


154 


Eine jede individuelle Abänderung, ſobald fie nur einigermaßen 
für die Individuen der Art von Vortheil iſt, muß im allgemeinen 
Wettkampfe um Raum, Nahrung und Forterhaltung entſprechend günſtig 
mitwirken. Sie muß dieſelben in den manigfachen Beziehungen zur 
äußeren Natur und zu anderen Organismen ſchützend und erhaltend 
begünſtigen. 

Indem alſo nicht alle Individuen einer Art beim Kampf ums 
Daſein gleich günſtig geſtellt ſind, ſondern die einen leichter erliegen, 
die andern mehr Ausſicht zur Erhaltung haben, findet unter den In— 
dividuen eine beſtändige Ausleſe oder Ausmuſterung ſtatt. Die 
günſtiger geſtellten überleben die minder bevorzugten. 

Der Lauf der natürlichen Dinge führt alſo zu einer ähnlichen 
Sichtung, wie die, welche der Menſch ſeit Jahrtauſenden an den 
Culturpflanzen und Hausthieren theils unbewußt, theils mit klarer 
Abſicht ausgeführt hat. Wir ſind darum auch zum Verſuche berechtigt, 
die bei der Beobachtung der letzteren gewonnenen Erfahrungen über all— 
mählige Aenderungen der Form auch auf die in freiem Zuſtande leben— 
den Pflanzen und Thiere anzuwenden. Es iſt zwar von verſchiedenen 
Naturforſchern behauptet worden, daß man von Beobachtungen an 
cultivirten Pflanzen und an eingeſperrten und gezüchteten Thieren nicht 
auf die wildlebenden Arten zurückſchließen dürfe. Bei richtiger Abwä— 
gung des Betrags der Einflüſſe, welche der Meuſch auf Culturpflanzen 
und Hausthiere ausübt, iſt ein ſolches Vorgehen aber durchaus berechtigt. 
Der Menſch kann auf Pflanzen und Thiere keine Einflüſſe ausüben, 
welche nicht auch im Laufe der natürlichen Dinge unabhängig vom 
Menſchen denſelben Erfolg äußern würden. Der Unterſchied liegt nicht 
im Weſen, ſondern nur im Grade der zur Anwendung gebrachten Ein— 
flüſſe und in der mehr oder minder vollkommenen Abhaltung anderer, 
welche beim freien Vorgange nicht abgehalten worden wären. Der 
Verlauf der Natur kann daher zu ähnlichen Veränderungen der orga— 
niſchen Form führen, wie die, welche der Menſch erzielt hat und 
noch fortwährend erzielt. Nur werden die Ergebniſſe, weil der Grad 
und die Dauer der Einflüſſe verſchieden ſind, auch mehr oder 
minder von anderem Grade und anderer Richtung ſein. Der Menſch 
züchtet Pflanze und Thier zu ſeinem Vortheil, nicht um der Pflanze 
und des Thiers ſelbſt willen. Die Vorgänge der freien Natur führen 
allerdings in einzelnen Fällen zu Veränderungen, die der Pflanze und 
dem Thier theils nützlich, theils gleichgültig, theils ſchädlich ſind, aber 


155 


nur jene können zu einer allgemeinen Umgeſtaltung der ſpäteren Ge— 
nerationen führen, die für die Pflanze und das Thier ſelbſt nütz— 
lich ſind. 

Wenn demnach in einem beſtimmten Gebiete eine Vergeſellſchaf— 
tung von Pflanzen- und Thierarten eine ſehr lange Reihe von Ge— 
nerationen hindurch beſtanden hat, ſo werden zufolge der Veränder— 
lichkeit der organiſchen Form und des Ringens um die Exiſtenz Aen— 
derungen mehr oder minder auffallender Art in dem Sinne einge— 
treten ſein, welche dem Vortheile der Individuen der betreffenden Flora 
und Fauna des gegebenen Gebiets entſpricht. 

In der Dauer, der Ausdehnung und Tiefe des Vorgangs aber 
wird es dabei je nach der Natur von Flora und Fauna, ſowie nach 
der Beſchaffenheit des Verbreitungsgebiets und der Gleichförmigkeit oder 
Abwechslung der äußeren Einflüſſe die manigfachſten Abſtufungen geben. 


Natürliche Ausleſe. 


Natürliche Ausleſe, natural selection, nennt Darwin 
die im Verlaufe des die Pflanzen- und Thierwelt ſtetig betreffenden 
Vernichtungsvorganges ſtattfindende Bevorzugung der am beſten für das 
Beſtehen des Kampfes geeigneten individuellen Abänderungen einer 
jeden Pflanzen- und Thierart. 

Bei dem innigen und oft für unſere Wahrnehmungsgabe kaum 
zu erfaſſenden Wechſelverhältniß der Organismen zu einander, muß 
jede die Fähigkeit einer Lebensform vortheilhaft erhöhende Abweichung 
vom elterlichen Typus einen günſtigen Ausſchlag geben und für die 
betreffende Form erhaltend wirken. 

Eine Variation, welche an Fähigkeit hinter den übrigen Indivi— 
duen zurückſteht, wird von der Vernichtung mehr betroffen, als die 
andere. Sie geht entweder gleich ſchon mit dem erſten Individuum 
unter oder breitet ſich doch nur gering aus und wird ſchließlich wieder 
zum Erlöſchen gebracht. 

Iſt dagegen eine Variation vor den übrigen Individuen durch 
einen oder den anderen vortheilhaften Characterzug ausgezeichnet, iſt 
ſie mit größerer Widerſtandsfähigkeit gegen Klima, Mitbewerber und 
Feinde ausgerüſtet, oder zur Gewinnung ihrer Nahrung beſſer geeig— 
net, ſo hat ſie um ſo größere Ausſicht, ſich gegenüber den Gefahren, 
die ihr mannigfach drohen, am Leben zu erhalten und weiter fortzu— 


156 


pflanzen. Viele Samen werden von der Pflanze, viele Eier oder 
Junge vom Thiere hervorgebracht, aber nur wenige von den Samen 
und Eiern gelangen zur Entwickelung und gewöhnlich kommen auch 
von den heranreifenden Individuen wieder nur wenige zur vollen 
Reife und dem natürlichen Lebensende. Diejenigen aber, welche über— 
leben, werden vorzugsweiſe ſolche ſein, welche vermöge günſtiger Ge— 
ſtaltung ihrer individuellen Charactere am beſten den Anforderungen 
entſprechen, welche die ihrer Art im Naturhaushalte zukommende Stel— 
lung bedingt. Je mehr die Pflanze, deren Laub und Zweige oder deren 
Rinde das Schaf oder Rind oder Wild abweidet, den Verluſt zu erſetzen 
vermag, je mehr ſie nach einem Uebermaß von Froſt oder Trocken— 
heit ſich wieder zu erholen vermag, je behender der Grasfreſſer dem 
Raubthier entfliehen oder je beſſer er ſeine Ruheſtätte zu ſichern ver— 
mag, um ſo mehr hat ein jedes in ſolcher Hinſicht günſtiger geartetes 
Individuum Ausſicht, die zahlloſe Menge der gleichzeitigen Individuen 
ſeiner Art zu überleben. 

Es iſt nun aber eine naheliegende Folgerung, daß wenn einmal 
eine in ſolcher Weiſe bevorzugte Variation einer Pflanzen- oder Thier- 
form hervorgetreten und zur Fortpflanzung gelangt iſt, ſie auch mit 
jeder nächſten Geſchlechtsfolge in ihren Vertretern mehr und mehr die 
übrigen Individuen überleben wird. Die für ſie auszeichnenden Züge 
vererben ſich und befeſtigen ſich, ſie ſteigern ſich wohl auch noch, ſo— 
bald einmal eine Paarung gleich begünſtigter Individuen eingetreten 
iſt. Mit der Zeit wird dann die Ausſicht zur Fortdauer der zuerſt 
bei einem oder wenigen Individuen eingetretenen Bevorzugung immer 
günſtiger. Inzucht wird leichter möglich, Kreuzung mit ungünſtiger 
geſtellten Individuen um fo unwahrſcheinlicher. Die bevorzugte Varia— 
tion gelangt allmählig zur Vorherrſchaft und bleibt zuletzt alleiniger 
Herr des Gebiets. 

Alle derartigen Vorgänge können nur äußerſt allmählige ſein, ſie 
ſind für unſere unmittelbare Wahrnehmung ebenſo unmerklich oder 
ſelbſt noch unmerklicher, als die Vorgänge bei der Züchtung ſo vieler 
Sorten von Culturpflanzen und Raſſen von Hausthieren es waren. 
Weun wir unter letzteren bei Vergleichung der Endglieder von Ge— 
nerationsfolgen oft nur nach Verlauf von Jahrhunderten oder Jahr- 
tauſenden einen beſtimmten Grad vorgefallener Veränderung erkennen, 
ſo iſt begreiflich, daß der Nachweis eines durchgreifenden Erfolgs 
natürlicher Ausleſe bei wilden Pflanzen und wilden Thieren eine Ver— 


157 


gleichung noch weiter von einander abſtehender Glieder der Stammes— 
folgen erfordert. Wir wiſſen von manchen Hausthierraſſen, daß ſie 
ſchon in den älteſten uns zugänglichen Epochen der Geſchichte in jener 
Form entwickelt waren, die ſie noch heute zeigen. Man hat dies längſt 
ſchon aus Steinbildern und aus Mumien der ägyptiſchen Grabdenk— 
mäler erſchloſſen. Aber bei wilden Pflanzen und Thieren müſſen wir 
gewöhnlich über die geſchichtliche Epoche hinaus in das Gebiet der 
Geologie zurückgehen. Alpenpflanzen und Alpenthiere erheiſchen eine 
Vergleichung der Flora und Fauna der Glacialepoche mit der des 
heutigen Tages, und Meeresfaunen erfordern gewöhnlich noch ausge— 
dehntere Termine. Mit dieſer Ausdehnung des Feldes der Beobach— 
tung natürlicher Vorgänge über geologiſche Zeiten wächſt aber auch 
die Schwierigkeit der entſcheidenden Feſtſtellung, denn die Geologie 
liefert gewöhnlich nur Einzelheiten, die an ſich ſelbſt Zweifel geſtatten 
und erſt nach Einbeziehung der Statiſtik ſich der Sicherheit mehr oder 
minder nähern und die man alſo nur mit großer Umſicht und nach 
manigfacher Prüfung als Rechnungselemente verwerthen darf. 

In dieſer Hinſicht kommt dann namentlich der Bewahrheitung 
oft genug die Erſcheinung zu Hülfe, daß man gewiſſe Reihenfolgen 
einzelner Thatſachen, welche die Theorie in urſächlichen Zuſammen— 
hang zu bringen Anlaß hat, zur Zeit zwar noch nicht nach ein an— 
der in der von der Theorie geforderten Gliederung nachweiſen kann, 
dieſſelben aber auf anderem Felde ſehr wohl ausgeſprochen neben 
einander geordnet antrifft. 

So wiederholt in zahlreichen Fällen die chronologiſche Aufeinan— 
derfolge der Organismen in den verſchiedenen Schöpfungsepochen ganz 
ähnliche Formenreihen, wie ſie längſt ſchon die vom niederen zum 
höheren anſteigenden Naturſyſteme der Botaniker und Geologen dar— 
geboten hatten. In anderen Fällen hat die Paläontologie nach ihrem 
jetzigen Stande die erforderliche Aufeinanderfolge gewiſſer Einzelformen 
zur Zeit zwar noch nicht zum Vorſchein gebracht, aber die lebende 
Welt zeigt uns einſtweilen ähnliche Folgen neben einander gereiht. 

In noch anderen Fällen wiederholt auch zugleich noch die Ent— 
wicklungsgeſchichte eines Lebeweſens ähnliche Reihenfolgen, wie ſie das 
Syſtem der lebenden und die Chronologie der urweltlichen Formen 
gewahren laſſen. 

Es ſind das Momente, welche in hohem Grade der Transmuta— 
tionslehre entgegenkommen und nicht wohl zu anderen Anſchauungen 


158 


paſſen, aber es ift bei der Abgelegenheit der urweltlichen Vorgänge 
und der Vereinzelung der von ihnen auf uns verbliebenen Spuren oft 
ſchwer, ſie als eigentlich entſcheidende Beweiſe zu verwerthen. Der 
Schwerpunkt muß für die Beweisführung, wenn irgend möglich, auch 
hier wieder innerhalb des Bereichs der lebenden Welt geſucht werden. 

Wenn die Veränderungen, welche der Kampf um's Daſein auf 
Grund der größeren Erhaltungsfähigkeit bevorzugter Variationen her— 
vorruft, in der Pflanzen- und Thierwelt nur ſo groß ſind, daß ihre 
Erfolge gewöhnlich nur nach geologiſchen Zeitabſtänden hervortreten, 
ſo muß es natürlich eine ſchwere Aufgabe ſein, die Wirklichkeit des 
Vorgangs für jo kurze Abſtände, als unſere unmittelbare naturwiſſen— 
ſchaftliche Beobachtung umfaßt, mit entſcheidenden Thatſachen darzu— 
thun. Es wird dies aber noch um ſo ſchwerer, als die bisherige 
Naturwiſſenſchaft, indem die Mehrzahl ihrer Vertreter mehr oder 
minder von Linne' ſchen und Cuvier' ſchen Vorausſetzungen befangen 
war, wenig auf ſolche allmähligen Vorgänge geachtet hat, und nicht 
leicht jemand, wo er wirklich einen derartigen Vorgang beobachtete, ihn 
weiter zu verfolgen oder experimentell zu erläutern Anlaß fand. Eine 
größere Thätigkeit auf dieſem Felde iſt erſt noch zu erwarten. 

Darwin hat indeſſen doch auch dieſer neuen Aufgabe Genüge 
zu leiſten verſucht. Er geht hierbei zunächſt wieder auf Culturpflanzen 
und Hausthiere zurück, da bei dieſen die Bewegungen der organiſchen 
Form nicht nur am raſcheſten zu erfolgen pflegen, ſondern auch im 
Ganzen leichter zu beobachten ſind, jedenfalls aber bisher mehr und 
genauer beobachtet wurden. Darwin ſtellt die Anſicht auf, daß bei 
allen unſern Culturpflanzen und Hausthieren die Varietäten über— 
haupt an Körperverfaſſung, Stärke, Fruchtbarkeit, Gewohnheiten u. ſ. w. 
ſoweit unter einander abweichen, daß ſie an einem und demſelben Orte 
unter gleichen Umſtänden zuſammen aufgezogen ſich nach verſchiedenen 
Zahlenverhältniſſen vermehren würden. Ganz ſo als hätte der Menſch 
zum Behufe irgend eines Zwecks geringere Sorten allmählig ausge— 
leſen und nur bevorzugtere zur Nachzucht erhalten, würden bei einer 
ſolchen Vergeſellſchaftung verſchiedener Varietäten gleicher Arten von 
Culturpflanzen oder von Hausthieren die urſprünglichen Zahlenver— 
hältniſſe nach einer Reihe von Generationen anders werden, die ſtärkeren 
und geeigneteren Sorten würden die minder geeigneten ſchwächeren 
allmählig überholen und zuletzt ganz überwinden. 

Darwin gibt als derartige experimentelle Beweiſe für die Wirk— 


159 


lichkeit eines Kampfes um's Daſein und einer natürlichen Ausleſe bei 
verſchiedenen Varietäten einer und derſelben Art von Culturpflan zen 
folgende zwei Fälle. Sät man verſchiedene Varietäten von Waizen 
durcheinander aus, ſo werden die entweder dem Klima und Boden 
am beſten entſprechenden, oder an ſich kräftigſten und fruchtbarſten 
Varietäten die übrigen im Kampf um Raum und Nahrung über— 
flügeln. Sie werden mehr Samenkörner liefern. Bei mehrmaliger 
Wiederholung der Ausſaat einer jeden erhaltenen Erndte wird auf 
dieſem Wege eine Varietät die andere nach einigen Jahren ſchon ganz 
verdrängt haben. In einem ähnlichen Verhältniſſe von Unverträg— 
lichkeit ſtehen manche ungleiche Varietäten von Zuckererbſen. Sät 
man die Samen zweier ſolcher Varietäten auf einem begrenzten Raume 
mit einander aus, ſo ſtellt ſich ein ebenſolcher ungleicher Verlauf des 
Gedeihens und der Vermehrung heraus. Wiederholt man dies von 
Jahr zu Jahr nach dem ganzen Samenertrag, ſo wird der Abſtand 
immer auffallender. Von Jahr zu Jahr gehen die ſchwächeren Sorten 
unter der Mitbewerbung der ſtärkeren zurück und werden zuletzt ganz 
ausgehen. 

Auch aus der Hausthierwelt bringt Darwin zwei Beiſpiele zur 
Erhärtung ſeiner Annahmen. Gewiſſe Gebirgsvarietäten des Schafes 
können auf einem und demſelben begrenzten Gebiete nicht mit anderen 
zuſammen erhalten werden. Eine Raſſe erhält ſich, die andere ſtirbt 
aus. Verſchiedene Varietäten des mediciniſchen Blutegels können eben— 
falls nicht neben einander gezüchtet werden. 

Ein anderer Beweis für die Wirklichkeit einer natürlichen Ausleſe 
im Thierreiche ſcheint in der unter gewiſſen Umſtänden ausgeſprochenen 
Häufigkeit ſympathiſcher Färbungen zu liegen. Blätterfreſſende 
Inſecten ſind häufig grün, z. B. gewiſſe Schildkäfer (Cassida), 
manche Heuſchrecken und Raupen. Rindenfreſſende Inſecten ſind ge— 
wöhnlich grau oder grau und bräunlich gefleckt. Käfer, die in ſan— 
digem Boden leben ſind häufig grau. Die Thiere, welche Sand— 
wüſten oder Steppen bewohnen, ſind meiſtens gelbbraun oder gelb— 
grau, wie der Schakal, die Gazelle, die Haſen und Springmäuſe 
der Sahara. Die meiſten Polarbewohner ſind entweder immer 
oder doch den Winter über weiß, während ſie theilweiſe Sommers 
oder gegen ihre ſüdlichen Verbreitungsgrenzen hin häufiger dunkel oder 
bunt erſcheinen. So ift der Eisbär immer weiß. Der Polaxrfuchs 
und der Schneehaſe ſind an der ſüdlichen Grenze ihres Verbreitungs— 


160 


gebietes in den Sommermonaten braun und grau gefärbt, Winters 
aber werden ſie vollkommen weiß und im höchſten Norden, wo der 
Winter am meiſten die Oberhand gewinnt, bleiben ſie das ganze Jahr 
über weiß. Auch manche Alpenbewohner, z. B. das Alßpenſchnee⸗ 
huhn, ſind Winters weiß. 

Es iſt nun aber außer Zweifel, daß die mit der herrſchenden 
des Aufenthalts übereinſtimmende Färbung den Thieren nützlich iſt, 
und ſie in merklichem Grade vor der Nachſtellung ihrer Feinde ſchützt. 
Jene auf grünen Blättern lebenden grünen Inſecten und jene auf 
grauen Baumrinden verbreiteten grauen haben längſt ihre andersge— 
färbten Mitbewerber im Kampfe gegen ihre mannigfachen Feinde über— 
lebt. Der Vortheil, den ſie in Bezug auf den geringeren Grad der 
Verfolgung vor ihnen voraus haben, hat ſich von ihren Vorfahren 
auf ſie übertragen und iſt durch andauernde Vererbung zum Art— 
character geworden. So leidet das Schneehuhn unter der Nachſtel— 
lung der großen Raubvögel, welche ihre Beute aus weiter Ferne 
mit dem Auge entdecken. Es iſt aber auf Schneeflächen durch ſeine 
weiße Farbe vor ihnen in hohem Grade geſchützt. Es iſt kein Zweifel, 
daß die natürliche Ausleſe es war, welche beim Schneehuhn die weiße 
Farbe zur herrſchenden werden ließ und ſie fortwährend bei ihm noch 
erhält. Jede durch individuelle Variation jetzt auftauchende dunklere 
Färbung der Art würde die damit zu ihrem Nachtheile ausgeſtatteten 
Individuen der größeren Gefahr der Vernichtung durch Raubvögel 
ausſetzen. Am vortheilhafteſten geſtellt aber ſind Polarthiere, die 
Winters weiß, Sommers dagegen braun oder grau gefärbt find. !“) 
Auch beim Eisbär iſt die weiße Farbe eine Wirkung der Ausleſe. 
Sie begünſtigt ihn beim Erbeuten ſeiner Nahrung. Würde jetzt ein 
Individuum oder eine Familie des Eisbären dunkler werden, ſo hätte 
ſie im Vergleiche mit den weißen Individuen große Ausſicht Hungers 
zu ſterben. 

In gemäßigten und wärmeren Ländern aber iſt die weiße Farbe 
im Ganzen ſelten. Sie wird hier nicht von der Ausleſe begünſtigt, 
ſondern muß ihren Grund bei Bewohnern ſolcher Erdtheile in anderen 


1) Nach Weinland beſteht der Vortheil für das Thier zugleich noch in 
einer Fettaufſaugung, ſowie in der geringeren Wärmeleitungsfähigkeit des 
weißen Kleides. Vergl. Weinland im Journal für Ornithologie. IV. Jahrg. 
No. 20. März 1856. 


161 


Urſachen haben. Sie wirkt hier aber auch offenbar in Bezug auf 
Erhaltungsfähigkeit in vielen Fällen nachtheilig. So ſagt Darwin, 
man hält in manchen Gegenden von Europa nicht gerne weiße Tauben, 
weil dieſe der Entdeckung und Tödtung durch Raubvögel mehr als an— 
ders gefärbte ausgeſetzt ſind. Wenn ſolche Vorgänge bei Hausthieren 
ſtatt haben, muß ihre Möglichkeit doch ganz gewiß auch für wilde 
Thiere zugeſtanden werden. Von dem Vorgange, deſſen erſten Beginn 
wir bei der Taube ſehen, erkennen wir den letzten Erfolg bei zahl- 
reichen anderen wilden Formen. 


Züchtung neuer Pflanzen- und Thierformen auf dem Wege 
der natürlichen Ausleſe. 


Die Ausmuſterung minder widerſtandsfähiger Individuen, welche 
bei dem Kampfe, den Pflanzen und Thiere fortwährend um ihr Da— 
ſein zu beſtehen haben, ſtatthat und die widerſtandsfähigeren vorzugs— 
weiſe am Leben erhält, muß, wie Darwin lehrt, einen ganz ähn— 
lichen Erfolg haben, wie jene abſichtliche Auswahl der Indivi— 
duen, die der Menſch bei der künſtlichen Züchtung von neuen 
Formen von jeher getroffen hat, nämlich eine Ausbildung neuer 
Varietäten und Arten. 

Die durch die beſondere Natur ihrer Abweichung von der elter— 
lichen Form begünſtigten Individuen werden im einen Falle vom 
Menſchen abſichtlich auserwählt und zur ausſchließlichen Nachzucht ver— 
wendet. Im andern Falle bleiben ſie in Folge des früheren Unter— 
gangs minder begünſtigter Individuen in bezugsweiſe größrer Zahl 
übrig und gewinnen dadurch eine entſprechend größere Ausſicht, auf 
dem Wege der Inzucht ihre individuellen Charactere zunächſt vor— 
herrſchend und weiterhin ausſchließlich zu vererben, ſo daß dieſe dann 
zuletzt durch den befeſtigenden Einfluß der Vererbung als Varietäten— 
oder Arten-Charactere erſcheinen. 

Der Erfolg iſt im einen wie im andern Falle in erſter Linie 
ein Auseinandergehen der Art in eine größere oder geringere Anzahl 
von Raſſen. Dieſe können dann, wo die Umſtände dem günſtig ſind, 
unter Vererbung der erlangten Charactere und Steigerung derſelben 
oder Entwicklung anderer Abweichungen, zu beſonderen Arten werden 
oder ſie können auch, wo die Umſtände dem nicht entſprechen, theil— 
weiſe oder alle wieder untergehen. 

Rolle, Darwin's Lehre. al 


162 


Wir gelangen auf dieſem Wege zur Annahme, daß überhaupt 
eine jede Pflanzen- und Thierart im Laufe der Zeit und je nach der 
Natur der auf ſie wirkenden Einflüße ſowohl ſich verändern und ſich 
in eine andere umwandeln als auch neue Formen in verſchiedener 
Zahl aus ſich entwickeln könne. 

Dieſe Annahme wird bis zur Grenze des gewöhnlichen Varietäten— 
Spielraums auch von den Gegnern zugelaſſen, aber nach Darwin 
überſchreitet der Vorgang allmählig dieſe Grenze. Er iſt nach ihm 
unbegrenzt, er kann ſowohl zur Erzeugung neuer Varietäten, als auch 
neuer Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w. führen. Die Entſtehung 
ſo weiter Abſtände, wie in den Begriffen Familie, Ordnung und Klaſſe 
liegt, begründet ſich dabei durch das Erlöſchen der verbindenden Mittel- 
glieder. Wenn kein Erlöſchen von Formen ſtattgefunden hätte, würden 
unſere Syſteme der Pflanzen- und der Thierwelt nur eine einzige 
fortlaufende Formenreihe von der niederſten Alge bis zur höchſten 
Dicotyledone und vom Iufuſorium bis zum höchſten Wirbelthier dar- 
ſtellen. Die Paläontologie arbeitet darauf hin, dieſe zuſammenhängende 
Formenreihe wenigſtens dem allgemeinen Bilde und der größtmöglichen 
Zahl der einzelnen Stufen nach neu wieder ins Leben zu rufen. E8 
kann ihr nie vollſtändig gelingen, aber ſie muß mit jedem Tage und 
jeder Woche ihm näher rücken und ein jeder Blick auf das Anwachſen 
der Foſſilverzeichniſſe thut dar, wie ſehr dies wirklich der Fall iſt. 

Das ſind nun allerdings tief in die naturwiſſenſchaftliche Ge— 
ſammtanſchauung eingreifende Theſen und es iſt nicht zu verwundern, 
wenn ſich von der Schule der rein und ausſchließlich exacten Forſchung 
ein heftiger Widerſpruch dagegen erhoben hat und noch lange auch 
eine Reihe von Einwänden erhoben werden wird. 

Sehen wir nun, wie ſich dieſe Annahmen und Folgerungen wei— 
terhin in ihrer Anwendung auf das Syſtem der heutigen Pflanzen— 
und Thierwelt durchführen laſſen. 


Fortſchreitendes Auseinandergehen der Formen. 


Es iſt von jeher den Forſchern in die Augen gefallen, daß es 
ſowohl im Pflanzen- als im Thierreich manigfache Stufenfolgen 
verwandter Formen gibt, welche von einer nach Bau und Ver— 
richtungen unvollkommenen Stufe zu einer vollkommneren 
führen. So zerfallen die Pflanzen in Zellen- und in Gefäßpflanzen 


163 


und es iſt offenbar, daß erſtere eine niedrigere, letztere eine höhere 
Stufe der Ausbildung behaupten. Die Ordnungen im Pflanzenreich 
bilden ebenfalls wieder Stufenfolgen, den Algen folgen Flechten, Pilze, 
Mooſe, Farnen, Lycopodien, Coniferen, Cycadeen, Monocotyledonen, 
Dicotyledonen. In vielen Ordnungen beobachtet man wieder engere 
Stufenfolgen, ſo z. B. bei den Algen und bei den Pilzen, die von 
einer faſt gleichen, nieder organiſirten Grundform aus nach verſchiede— 
ner Richtung zur höheren Ausbildung anſteigen. 

Im Thierreiche folgen ſich Infuſorien, Schwämme, Polypen, 
Quallen, Echinodermen, Mollusken, Gliederthiere, Wirbelthiere. Manig— 
fache engere Stufenfolgen bieten ſich dabei wieder in den größeren 
Abtheilungen. So bilden Fiſche, Reptilien und Säugethiere eine ſehr 
in die Augen fallende N 

Dieſes häufige und unbeſtreitbare Auftreten ausgezeichneter Stu— 
fenfolgen unter den Formen der Lebewelt hat lange ſchon einzelnen 
Forſchern zur Vermuthung Anlaß gegeben, daß eine ſolche Gliederung 
der Pflanzen- und Thier-Geſtalten keine zufällige und bedeutungs— 
loſe iſt, ſondern daß derſelben ein gemeinſamer innerer Zufan- 
menhang unterliegt, der nun aber nach rein wiſſenſchaftlichem Schluſſe 
kein anderer ſein kann, als der der gemeinſamen Abſtammung. 

Dies lehrt auch Darwin und zwar ſucht er zu erweiſen, daß 
der Entwicklung der manigfachen verwandten, bald mehr einzeln ſtehen— 
den, bald zu Stufenfolgen geordneten Formen der heutigen Lebewelt 
die natürliche Ausleſe zu Grunde liegt. 

Die älteſten Organismen waren darnach in Bau und Verrich— 
tungen von ſehr niederer Entwickelung, ihre Nachkommenſchaft änderte 
aber manigfach ab, ein Theil der Formen vervollkommneten ſich und 
ging zu jenen manigfachen Formen auseinander, welche die lebende 
Schöpfung des heutigen Tages darſtellen. Andere Formen erhielten 
ſich neben ihnen auf nahe gleicher Organiſationshöhe von Anfang an 
bis zur heutigen Zeit. 

Nach Darwin hat das Auseinandergehen der organiſchen For— 
men durch den Einfluß der Vererbung günſtiger individueller Abwei— 
chungen und der natürlichen Ausleſe keine feſten Grenzen, ſondern es 
kann und muß ſich im Laufe einer hinreichend langen Reihe von 
Generationen aus einer Form allmählig eine manigfaltige Reihe der 
verſchiedenſten Formen entwickeln. Der erſte Anfang liegt im Hervor— 
treten einer dem Individuum günſtigen von Anfang an nur individuell 

1 


164 


vorhandenen Abweichung vom elterlichen Typus. Jede im Kampf 
gegen die äußeren Umſtände irgendwie nützliche Abänderung hat aber 
Ausſicht erhalten zu bleiben. Sie vererbt ſich dann und wird der 
Ausgangspunkt zur Heranbildung einer neuen Varietät. Hat ſich eine 
ſolche aber einmal durch eine lange Reihe von Generationen forter— 
halten, ſo kann ſie, wie wir an gewiſſen Hausthierraſſen ſehen, dem 
Character einer Art nahekommen und es iſt der Schluß nahe gelegt, 
daß bei Verlauf noch längerer Zeiträume, als der unſerer geſchicht— 
lichen Zeiten, eine Varietät auch wirklich zu einer Art werden wird. 

Die Nachkommenſchaft eines einzelnen Individuums oder eines 
Paares zerſpaltet ſich alſo im Laufe der Zeit erſt in Varietäten und 
dann in Arten. Nicht alle Varietäten werden zu Arten, viele ver— 
lieren ſich wieder durch Kreuzung mit andern oder erlöſchen in Folge 
der Ausmuſterung. Auch nicht alle Arten erhalten ſich, viele erlöſchen 
wieder ohne neuen Formen das Leben zu geben. Das Erlöſchen einzel— 
ner Formen aber muß das Auseinandergehen der weiteren Nachkom— 
menſchaft zu ſchärferem Ausdruck bringen. Die Mittelglieder ſind 
verſchwunden und es bleiben nun nur noch vereinzelte Formen übrig, 
die den Anſchein ſelbſtändiger Entſtehung darbieten. Die Zahl der 
erlöſchenden und die der fortlebenden Zweige deſſelben Stammes iſt 
nicht immer gleich. Wo erſt wenig Glieder erloſchen ſind, bietet ſich 
uns das Bild einer Gruppe von Formen, die nahe Verwandtſchaft bieten, 
aber doch ganz ſelbſtändig daſtehen. Wir ſehen dann artenreiche Gat— 
tungen und gattungenreiche Familien. Sind aber die Mehrzahl der 
Glieder erloſchen, ſo gewinnt die Lücke in unſeren Augen die Ober— 
hand über den Grad der Verwandtſchaft. Die am Leben gebliebenen 
Formen ſtehen dann weit ab von denen der nächſt verwandten Gruppen. 
In einem ſolchen Falle ſind die Lücken je nach ihrem Betrage der 
Maßſtab für die Unterſcheidung von Gattungen, Familien, Ordnungen, 
Klaſſen. 

Daß aber gerade Mittelglieder am leichteſten vom Schauplatz 
verſchwinden, erklärt Darwin dadurch, daß die Mitbewerbung vor— 
zugsweiſe zwiſchen den am nächſten verwandten Arten am heftigſten 
iſt, weil ſie nahezu die gleiche Stelle im Haushalte der Natur ein— 
nehmen und daher am meiſten Anlaß haben, ſich Raum und Nahrung 
ſtreitig zu machen. Entfernter ſtehende Formen können ſchon viel eher 
neben einander beſtehen, ohne ſich gegenſeitig zu beeinträchtigen. 

Daß aus einer Art mehrere Varietäten und mitunter ſolche von 


165 


weit abweichendem Character hervorgehen können, geſtehen auch Darwin's 
Gegner zu. Ihr Haupteinwand richtet ſich vielmehr gegen die von 
demſelben gelehrte Ausdehnung der Variation bis zur Erzeugung neuer 
Arten, Gattungen u. ſ. w. Darwin's Gegner behaupten, daß die 
von demſelben dargelegten Vorgänge eine gewiſſe Grenze nicht über— 
ſchreiten, daß vielmehr die Art nie in eine andere übergeführt werden 
könne. Die Art iſt für ſie nicht durch natürliche Vorgänge entſtanden, 
ſondern prädeſtinirt oder wie Agaſſiz ſehr hochtrabend geſagt hat, 
ſie iſt „eine durch Zeugung dauernd erhaltene Verkörperung eines 
Schöpfungsgedankens.“ Ein ſolcher verkörperter Gedanke, oder um die 
Sache wieder beim Namen zu nennen, eine Art des Pflanzen- und 
Thierreichs kann allerdings, wie die Supernaturaliſten noch zuge— 
ſtehen, durch Einfluß äußerer Verhältniſſe oder durch künſtliche Züch— 
tung in Varietäten oder Raſſen zertheilt werden, aber ſie behaupten, 
daß die Bewegung nicht weiter gehe und eine Art durch Vermittlung 
der Varietäten-Stufe nie in zwei oder mehr andere Arten zerfallen 
könne. Sie berufen ſich dabei hauptſächlich auf die geringe Aus— 
dehnung der innerhalb des geſchichtlichen Zeitraums vorgekommenen 
Aenderungen organiſcher Formen. 

Wie Dr. Guſtav Jäger 1860 hervorhob, iſt indeſſen Darwin 
jedenfalls ſo lange berechtigt, die Veränderung der organiſchen Formen 
ins Grenzenloſe fortgehend anzunehmen, als nicht von ſeinen Gegnern 
eine natürliche und unzweifelhafte Grenze der Bewegung dargethan 
wird. Von gegneriſcher Seite wird behauptet, daß die Bewegung 
eine Grenze erreiche und diefe Grenze ſei der Spielraum der Art 
oder Species. 

Eine derartige Grenze beſteht nun aber nicht in der Natur, denn 
der Begriff der Art iſt ſelbſt kein naturwiſſenſchaftlich begrenzter; 
die Art kann höchſtens als innerhalb der geſchichtlichen Epoche oder 
innerhalb einer beſtimmten geologiſchen Zeitfolge begrenzt nachgewieſen 
werden. Es kann aber niemand erweiſen, daß ſie es auch über jene 
Grenzen hinaus ſein müſſe. Die Grenzen von Art und Varietät ſind 
noch keineswegs feſt abgeſteckt. Die unmittelbaren Erfahrungen über 
Baſtardirung beſtätigen wohl im Allgemeinen die herrſchenden Anſichten 
über Art und Varietät, ſprechen aber nicht allenthalben für einen 
ſolchen weſentlichen Gegenſatz zwiſchen Art und Varietät, ſondern 
bieten auch Beiſpiele vermittlender Vorgänge, wie z. B. das Verhalten 
der Paraguay-Raſſe der Hauskatze zur europäiſchen, das des Cobaya 


166 


zum Aperea, das des auſtraliſchen Dingo und des ſüdamerikaniſchen 
Run-alleo zu den europäiſchen Hunderaſſen u. ſ. w. Man kann nun 
aber die fortſchreitende Veränderung der Varietät nicht im voraus durch 
den Spielraum der Art abgrenzen wollen, fo lange die Grenze zwi— 
ſchen Art und Varietät noch gar nicht feſtgeſtellt iſt. Dies iſt auch 
in anderer Hinſicht durchaus noch nicht der Fall. Sowohl in der 
praktiſchen Syſtematik, als auch bei der phyſiologiſchen Betrachtung 
flüchtet man bei Widerſtänden immer von einer zur anderen Abgren- 
zung des Artbegriffes und auch die letzte iſt, wie erwieſen, keine 
genaue und ausnahmsloſe mehr. 

Es iſt bekannt, wie groß die Zahl der Formen überhaupt, und 
die bei einer Anzahl von Gattungen im Beſonderen iſt, von denen man 
nicht mit Sicherheit anzugeben vermag, ob man ſie als Varietäten 
oder als Arten bezeichnen ſoll und wie ſchwach gewöhnlich die Gründe 
ſind, von denen der Syſtematiker, der in der zwingenden Nothwendig— 
keit der Bezeichnung iſt, ſich leiten läßt. 

Man hält es ferner Darwin entgegen, daß eine ununterbro— 
chene Aufeinanderfolge der Organismen, wie ſie ſeine Theorie an— 
nimmt, noch nicht thatſächlich erwieſen und überhaupt nicht nach— 
weisbar ſei und daß namentlich die heutige Paläontologie noch nicht 
jene Fülle der Uebergangsformen kenne, welche die Transmutationslehre 
erfordere. Darwin geſteht das Alles zu, gibt aber auch volle Er— 
klärung davon, warum der Sachverhalt ſo iſt und ſo ſein muß. 

Die natürliche Ausleſe, indem fie das allmählige Auseinander- 
gehen der Formen vermittelt, bringt zugleich den Erfolg für eine jede 
gleichzeitig lebende Pflanzen- und Thierbevölkerung einer geologiſchen 
Epoche auch mehr und mehr zum Ausdruck. Sie bringt nämlich 
fortwährend die verbindenden Mittelglieder wieder zum Erlöſchen und 
hebt dadurch den Zuſammenhang der aus gemeinſamem Stamme ent⸗ 
ſproſſenen Formen ſcheinbar wieder auf. 

Das Erlöſchen der Mittelformen aber beruht nach Darwin 
darauf, daß die Begünſtigung einer Variation oder Varietät oder 
Art in einer ſchon ſtark bevölkerten Gegend, in welcher die Wechſel— 
beziehung von Art zu Art bereits eine vorzugsweiſe innige iſt, ſtets 
oder doch faſt ſtets zugleich ein Nachtheil für die Stammform und 
für die übrigen minder begünſtigten Variationen iſt. Dieſe unter- 
liegen dann bei der Bewerbung um Raum und Nahrung, ſie nehmen 
an Zahl ab und erlöſchen. Der Vorgang der Bildung und Vervoll— 


Pr -> 
UST 


167 


kommnung einer Art ift daher gewöhnlich von der Vertilgung von 
Urſtamm und Mittelformen begleitet und meiſt erfolgt nur dann eine 
Erhaltung der letzteren, wenn Veränderungen des Aufenthaltes die 
Wirkung der Mitbewerbung aufheben, alſo z. B. wenn ein Theil 
eines Feſtlandes von dieſem abgetrennt und zur Inſel wird. Stamm- 
formen und Mittelglieder, die auf großen Kontinenten erlöſchen, kön— 
nen auf kleinen Gebieten unter ſonſt günſtigen Umſtänden fortleben. 
Die Vergleichung urweltlicher Organismen mit ihren heutigen nächſten 
Verwandten liefert manigfache Belege dafür. 

Jede Art, die wir beobachten, pflegt daher ganz oder doch für 
ihren Verbreitungsbezirk mehr oder minder vereinzelt dazuſtehen. Ur— 
ſtamm und Mittelformen ſind erloſchen oder leben höchſtens in an— 
deren Gegenden gleichzeitig noch fort, können freilich aber hier auch 
inzwiſchen wieder gewiſſe Veränderungen erlitten haben. 

Was den Einwand betreffs des thatſächlichen Standes der palä— 
ontologiſchen Statiſtik betrifft, ſo kann dieſer wohl für Einzelheiten 
in der Durchführung der Dar win'ſchen Theorie zur Zeit hinderlich 
ſein, aber er widerlegt dieſelbe nicht. Unſre Statiſtik der Vorwelt 
iſt unvollſtändig und kann überhaupt nie ganz vollſtändig werden. Es 
werden uns namentlich eine Menge von Mittelgliedern heute getrennter 
Formen noch lange oder auf immer verborgen bleiben. Wir müſſen 
uns zugleich aber auch ins Gedächtniß zurückrufen, daß jede einzelne 
gleichzeitige Flora und Fauna einer älteren Epoche verhältnißmäßig 
nicht mehr und nicht weniger Mittelglieder getrennter Formen bieten 
wird, als auch die heutige Schöpfung unter gleichen Umſtänden bietet. 
Daß dies wirklich der Fall iſt, beweiſen die Erfahrungen, die man 
unter der paläontologiſchen Ausbeute eines jeden Fundorts macht, ſo— 
bald er eine hinreichend große Menge von Arten und Individuen 
darbietet. Und daſſelbe iſt wieder in anderer aber ähnlicher Weiſe der 
Fall, ſobald man Arten derſelben Gattung in größerer Zahl der Exem— 
plare aus hinreichend zahlreichen Fundſtätten jeder einzelnen Formation 
und einer hinreichend vollſtändigen Folge aller einzelnen Formations— 
glieder zuſammenzunehmen Gelegenheit hat. Dieſe Erfahrung wird 
mehr oder minder jeder Paläontologe ſchon gemacht haben, wenn er 
überhaupt ihr nicht abſichtlich die Augen verſchließen wollte (und nicht, 
wie mir aus einem gewiſſen Falle bekannt iſt, die Mittelglieder un— 
ter den Tiſch warf, um ſeine Species in bequem trennbaren Formen 
dar ſtellen zu können.) 


168 


Die Reihenfolge unferer geologischen Formationen überhaupt ift 
aber noch gar nicht nach ihrem vollkommenen Zuſammenhang bekannt. 
Wir rücken dieſem Ziele nur allmählig näher. So treten z. B. die 
Foſſilien der Oligocän-Bildung erſt ſeit wenig Jahren in reichlicher 
Fülle zu Tage. Die oberſten Schichten der Kreidebildung kennen wir 
erſt ſehr wenig und haben uns von ihnen noch reichliche Aufklärungen zu 
gewärtigen. In andern Fällen kennen wir aus mächtigen Schichten— 
folgen noch nichts als einen Theil der damaligen Meeresbevölkerung 
und müſſen die Natur der gleichzeitigen Landpflanzen und Landthiere 
einſtweilen noch errathen. Es find erſt wenige Jahre, ſeit Stoliczfa 
aus der oberen Kreide die erſten Land- und Süßwaſſermollusken zur 
Kenntniß brachte. 


Einfluß geologiſcher Vorgänge auf die Geſtaltung der 
organiſchen Formen. 


Alle organiſchen Weſen ſtehen, wie durch vielfache Nachweiſe äl— 
terer und neuerer Forſcher dargethan iſt, in einem innigen Verhält— 
niß von Mitbewerbung zu einander und halten ſich in dieſer Hinſicht 
für dieſelbe Gegend und für die Dauer gleicher äußerer Bedingungen 
fortwährend in einem gewiſſen nur wenig ſchwankenden Gleichgewicht. 
Dies Verhältniß iſt ein für den Haushalt der Natur durchaus we— 
ſentliches, ja ſogar ſo ganz und gar durchgreifendes, daß Darwin's 
Gegner zum Theil behaupten, es könne keine einfache Folge des Zu— 
ſammenwirkens von einander unabhängiger Naturvorgänge, ſondern 
müſſe ein unmittelbares Erzeugniß der göttlichen Vorſehung ſein, welche 
alle Lebeweſen nach ihren Lebensbedürfniſſen genau abgegliedert und 
gleich die ganze Schöpfung von Anfang an in Gleichgewicht erſchaffen 
hat und erhält. Von dieſem Gleichgewicht der Lebewelt hängt die Ver— 
theilungsweiſe, die Seltenheit oder Häufigkeit, das Erlöſchen oder das 
Abändern der Pflanzen- und Thierarten in hohem Grade ab. Die 
meiſten Formen ringen mit einander, andere, wie z. B. manche Inſecten 
und gewiſſe Pflanzen, unterſtützen ſich gegenſeitig. 

Während der Kampf ums Daſein in einer beſtimmten Gegend 
bei weſentlich gleichbleibenden Lebens verhältniſſen ſich in— 
nerhalb ziemlich enger Grenzen im Gleichgewicht erhält, muß bei Ein— 
tritt gewiſſer größerer Veränderungen der Lebensverhältniſſe auch eine 
beträchtliche Störung im Verhältniß der Arten zu einander erfolgen 


169 


* 


können, wodurch dann aber dem Aufkommen neuer organiſcher Formen 
Raum eröffnet wird. Solche größere Veränderungen der allgemeinen 
Lebensverhältniſſe können in Verbindungen zweier vordem getrennter 
Länder oder zweier Meere, in Aenderungen des Klima's, endlich auch 
in der Einwanderung neuer Pflanzen- oder Thierarten beſtehen. Eine 
jede ſolche Begebenheit ſtört das vielleicht ſeit langer Zeit beſtandene 
Gleichgewicht unter den Arten des betreffenden Gebiets, führt zur 
Verminderung der einen und der Zunahme der andern und gibt indi— 
viduellen Variationen Gelegenheit, ſich in vorwiegend nützlicher Weiſe 
für eine Anzahl von Individuen geltend zu machen. Eine Variation, 
die bei gegebenen äußeren Umſtänden gleichgültig oder ſchädlich für 
die Individuen wäre, kann nach einer Aenderung der allgemeinen 
Verhältniſſe von Vortheil ſein und wird ſich dann erhalten. Hier— 
durch wird die Entſtehung neuer Arten begünſtigt. 

Nehmen wir vorerſt eine Trennung eines Feſtlandes in mehrere 
Inſeln und eine nach Verfluß langer Zeiträume vor ſich gegangene Wie— 
dervereinigung einer Anzahl von Inſeln zu einem größeren Feſtlande 
an, alſo einen Vorgang, von dem die Geologie zahlreiche Fälle bietet. 

Je größer das Gebiet iſt, über welches eine Art ſich verbreitet, 
deſto größer iſt die Wahrſcheinlichkeit, daß ſie in den verſchiedenen Be— 
zirken deſſelben irgendwie ungleiche Lebensbedingungen antrifft. Das 
Klima kann in den einzelnen Bezirken bis zu einem gewiſſen Grade 
anders ſein, der Boden andere Charactere haben, die Vergeſellſchaf— 
tung mit feindlichen oder anderweitigen Einfluß übenden Organismen 
kann eine andere ſein. 

Der Einfluß aller dieſer Verſchiedenheiten auf eine und dieſſelbe 
Art kann in den beſonderen Bezirken des Verbreitungsgebiets vermöge 
der unmittelbaren Wirkung auf die Individuen und vermöge der un— 
gleichen Ausleſe unter ihren individuellen Variationen zur Erzeugung 
verſchiedener neuer Charactere führen. Aus einer Art können eine Reihe 
geographiſch-ſtellbertretender Varietäten oder ſogenannter Subſpecies 
werden. Iſt der Verbreitungsbezirk zuſammenhängend, ſo werden dieſe 
Verſchiedenheiten durch Uebergänge vermittelt bleiben. An den Grenz— 
ſtrecken findet eine fortwährende Kreuzung ſtatt und erhält die ver— 
ſchiedenen Formen des gleichen Typus ſoweit in unzweifelhaftem Zu— 
ſammenhang, daß der gemeinſame Artcharacter außer Zweifel bleibt. 

In dem Grade aber, als eine Trennung des Verbreitungsbe— 
zirkes ſtatt hat, wird die Kreuzung der auseinander gehenden Formen 


170 


mehr und mehr verhindert. Gebirgszüge oder unbewohnbare Wüſten 
können ſo zur Entſtehung größerer Gegenſätze zwiſchen auseinander— 
gehenden Abkömmlingen derſelben Stammart führen. Darwin ſagt 
daher, Abſchließung iſt wie bei der künſtlichen Züchtung, ſo auch bei 
der natürlichen Züchtung auf dem Wege der Anupaſſung und der Aus— 
leſe ein mächtig fördernder Umſtand, er verhindert die Kreuzung der 
Individuen des einen Zweigs mit denen des andern und führt ſo zum 
Hervortreten allmählig wachſender Gegenſätze. 

Am vollkommenſten aber geſtaltet ſich die Trennung eines Ber- 
breitungsbezirkes in mehrere, ſobald ein größeres Feſtland durch geo— 
logiſche Ereigniſſe in zwei oder mehr Inſeln zertheilt wird. Hierdurch 
erſcheint dann vor allen Dingen die Kreuzung ausgeſchloſſen. Die 
phyſiſchen Verhältniſſe werden alsdann auch wohl nie ganz die glei— 
chen ſein, ſondern in einer oder der andern Hinſicht, namentlich auch 
je nach der Breite der trennenden Meeresſtrecke, unter einander ab— 
weichen. Einer der Inſeln kann zugleich ein gebirgiger, einer anderen 
der flachere Theil eines Feſtlands zufallen. 

Alle dieſe Verſchiedenheiten werden dann auf die Flora und Fauna 
der verſchiedenen Inſeln im Laufe der Zeit nicht nur verändernd, ſon⸗ 
dern auch nach verſchiedenen Richtungen und in verſchiedenen Graden 
verändernd wirken. Der Erfolg aber wird um ſo beträchtlicher aus— 
fallen, als hier nicht mehr der Ausbildung auseinandergehender For— 
men durch die Kreuzung entgegengearbeitet wird. Wenn auf einem 
zuſammenhängenden Feſtlande von einer und derſelben Art eine An⸗ 
zahl durch Uebergangsglieder verbundener, einander geographiſch— 
ftellvertretender Varietäten lebten, ſo werden nach der Trennung des 
Feſtlandes in Inſeln allmählig die Uebergangsglieder erlöſchen oder 
wenigſtens unter der Mehrzahl ausgeprägterer Varietäten ſich ver— 
lieren. 

Das nächſte Ergebniß iſt alſo für jedes ſelbſtſtändig gewordene 
Gebiet die Entſtehung ſchärfer getrennter Local-Varietäten, die von 
einer und derſelben Art abſtammen. Aus dieſen aber werden in wei— 
teren Zeitfolgen durch Wirkung der Vererbung und zähe Einprägung 
der neu erworbenen Charactere eigene Arten, die alsdann geographi— 
ſche Vertreter deſſelben Arttypus darſtellen. Ueberhaupt aber nimmt 
die Aenderung in der Form der organiſchen Weſen eines jeden für 
ſich abgetrennten Gebietes eine gemäß den beſonderen Lebensbedingungen 
deſſelben und gemäß der Zahl und beſonderen Natur der von Anfang 


171 


an auf daſſelbe angewieſenen Arten, ihren für das betreffende Gebiet 
eigenthümlichen und mehr oder weniger ausſchließlichen Verlauf. Oft 
iſt dieſer Verlauf ſogar für ſehr verſchiedene Arten deſſelben Verbrei— 
tungsbezirks ein auffallend gleichartiger, man kann ſagen ſympathi— 
ſcher, wovon uns z. B. die Polarthiere ſchon ein Beiſpiel boten. 

Zu allem dieſem bedarf es allerdings langer, namentlich den 
Betrag der geſchichtlichen Epoche weit überſchreitender Zeiträume. 

Nehmen wir nun an, daſſelbe Geſammtgebiet erlitt nach Ver— 
lauf einer langen Zeit der Ruhe eine Hebung, zu Folge deren die 
Inſeln wieder zu einem großen Feſtland zuſammenfloſſen. Alsdann 
traten Floren und Faunen, die von einer älteren Bevölkerung eines 
großen Feſtlandes in grader Linie abſtammen, aber in einer Zeit der 
Gebietszertheilung eine verſchiedenartige Umgeſtaltung erlitten haben, 
abermals zu einer großen Feſtlandbevölkerung zuſammen. Sie miſchen 
und durchdringen ſich und treten nunmehr in Mitbewerbung um Raum 
und Nahrung. Jetzt kann ſich aber nicht alsbald und mit Leichtigkeit 
ein Gleichgewicht wieder herausſtellen, wie es ehedem beſtand. Die 
einzelnen Typen, in der Zwiſchenzeit abweichend fortgebildet, paſſen 
jetzt nicht mehr genau zuſammen. Es muß alſo mit ihrem Zuſammen— 
treten eine heftige Mitbewerbung entbrennen, bei der Art mit Art 
ringt und die ſtärkere die ſchwächere aus dem Felde ſchlägt. Die Ver— 
hältnißzahlen ſowohl der Individuen der Arten als auch die Zahl 
der Arten einer Gattung müſſen nunmehr andere werden. Die be— 
günſtigten, zu höheren Leiſtungsgraden fähigen Arten erſcheinen zum 
Kampf mit ihren neuen Nebenbuhlern am geeignetſten. Sie nehmen 
überhand an Zahl der Individuen und an Ausdehnung des Verbrei— 
tungsgebiets. Die ſchwächeren minder zur Behauptung ihrer Stelle im 
Naturhaushalt befähigten Arten aber verlieren an Zahl der Individuen, 
an Ausdehnung der Verbreitung, ſie können entweder nur noch an 
einzelnen geſicherten Plätzen, wo ſie vor der Verfolgung ihrer Neben— 
buhler ſicher ſind, ſich forterhalten oder ſie erlöſchen. 

Je mehr Arten aber erlöſchen, um ſo mehr Stellen werden im 
Naturhaushalte frei, um ſo eher können bei den überlebenden Formen 
neu auftauchende Variationen zu neuen Varietäten und neuen Arten 
ſich ausbilden. 

Das Endergebniß einer Vereinzelung von Gebietstheilen eines 
großen Feſtlandes zu Inſeln und einer ſpäteren Wiedervereinigung der— 
ſelben muß alſo in Bezug auf Flora und Fauna eine geſteigerte Ver— 


172 


änderung der Arten und ein größeres Vorherrſchen der höher 
organiſirten und höher begabten Formen im Gegenſatz zu 
ihren nächſtverwandten ſchwächeren Nebenbuhlern ſein. 

Feſtländer, die durch eine lange Reihe von geologiſchen Epochen 
in Ruhe und Gleichmäßigkeit ſich erhalten, werden eine verhältnißmäßig 
unausgebildete, ſowohl in Bau als in Leiſtungsfähigkeit niedrig ſtehende 
Bevölkerung zeigen. 

Ein ſolcher Gegenſatz beſteht z. B. zwiſchen Neuholland und 
den benachbarten Theilen der alten Welt. Neuholland erſcheint 
im Character ſeiner Pflanzen- und Thierwelt gleichſam auf einer der 
älteren geologiſchen Epochen ſtehen geblieben. Namentlich zeigt die 
Säugethierfauna von Neuholland eine auffallende Analogie mit 
der der alten Welt zur Zeit der Ablagerung der Jura- und der Kreide— 
ſchichten. Beutelthiere herrſchen noch jetzt ähnlich in Neuholland, 
wie fie damals in Europa herrſchten. Aber dort ſcheint eine un— 
gemein langſame Fortentwickelung der Fauna ſtattgehabt zu haben, 
während ſie hier in vielfachen und tief eingreifenden Wechſeln ſeither 
ſich umgeſtaltete. 

Würde jetzt durch eine geologiſche Aenderung eine Ueberbrückung 
zwiſchen Neuholland und dem Feſtlande von Südaſien ftatt- 
finden, ſo würden die dürftigen Formen von Neuholland eine 
höchſt ungünſtige Stellung neben der hochgeſteigerten Lebewelt von 
Südaſien einnehmen und einer raſchen Verminderung oder Aus— 
rottung entgegengehen. 

Die Nachweiſung, daß bei a von Feſtländern in Inſeln 
und einer ſpäteren Wiedervereinigung ſolcher die Vorgänge an Flora 
und Fauna wirklich derart ſind, wie Darwin ſie annimmt, iſt aller⸗ 
dings nicht unmittelbar zu liefern und nicht verſuchsweiſe zu beſtä— 
tigen möglich. Die geſchichtliche Epoche bietet uns keine Gelegenheit 
durch Beobachtung des Vorganges ſelbſt den Beweis für die Wahr— 
heit der Theorie zu liefern. Nichts deſto weniger iſt doch eine ge— 
wiſſe Forſchung auch auf dieſem Felde noch möglich, ſie bewegt ſich 
aber mehr nur auf ſtatiſtiſchem und geologiſch-hiſtoriſchem Felde und 
bleibt inſofern mehr oder minder unvollkommen. 

Die Annahme einer ſehr langſam vor ſich gehenden, oft durch 
lange Zeiträume hindurch faſt unmerklichen, dann aber durch den 
Eintritt von Ereigniſſen lebhaft angefachten und wieder raſcher wir— 
kenden Thätigkeit der natürlichen Ausleſe und einer dadurch bedingten 


173 


und, dem entſprechend, vorzugsweiſe periodiſchen Umgeſtaltung der 
Bevölkerung eines Gebietes, entſpricht ſehr gut den Ergebniſſen der 
Geologie. Sie zeigt uns in der That in manigfachen Fällen ſowohl 
einen Wechſel von Perioden einer ſehr langſamen und ſolcher einer 
raſcheren Umbildung der Feſtländer als auch die entſprechenden, bald 
von Schichte zu Schichte ſehr allmähligen, bald wieder zu beſtimmten 
Epochen in ſtärkerem Gegenſatze vor ſich gegangenen Umgeſtaltungen 
der organiſchen Bevölkerung. 

Man kennt aus den verſchiedenen geologiſchen Epochen, bis jetzt 
wenigſtens für Europa und für Amerika, einen gewiſſen größeren 
oder geringeren Theil der Umriſſe von Land und Meer, allerdings meiſt 
nur nach ihren großen Hauptzügen und ſelten dem ganzen Umfange 
nach. Für die älteſten Epochen iſt unſere Kenntniß dieſer ehemaligen 
Bodengeſtaltung noch ſehr dürftig, für die mittleren, beſonders die 
Jura⸗ und Kreideepoche, ſchon etwas vollſtändiger, am ausgebildetſten 
aber für die einzelnen Glieder der Tertiärbildung. Man hat für 
die einzelnen Epochen geographiſche Karten verzeichnet. Aus dieſen 
aber geht hervor, daß in ſehr zahlreichen Fällen im Laufe der Um— 
bildung der Erdoberfläche größere Inſeln in kleinere zerfielen und 
ſpäter wieder zu ausgedehnten Feſtländern zuſammenfloſſen. 

Der Wechſel der Landbevölkerung auf den einzelnen Feſtlandpar— 
tien der beſonderen Epochen iſt zwar noch nicht in befriedigender Weiſe 
näher ermittelt, aber es liegen Andeutungen vor, welche auf eine künf— 
tige reichlichere Beleuchtung dieſer Vorgänge rechnen laſſen. 

So wiſſen wir, daß in der Jura-Epoche ein Theil des heutigen 
Englands ein Feſtland war, wo im Schatten von Cycadeen und Coni— 
feren Beutelthiere, den heute auf Neuholland lebenden ähnlich, in 
mehreren Gattungen und Arten vorhanden waren. Wir kennen aus der— 
ſelben Epoche andere Feſtlandpartien an der Stelle des heutigen Euro— 
pa's. Aber es ſind noch keine Säugethiere-Reſte gefunden, die von 
Thieren, welche auf dieſen lebten, herrühren könnten. 

Aehnlich iſt es mit der darauf folgenden Kreidepoche. Wir 
kennen die Feſtländer und Inſeln, welche damals an der Stelle 
des heutigen Europa's aus dem Meere hervorragten. Aber von 
den Säugethieren jener Epoche wiſſen wir noch nichts weiter, als 
daß zur Zeit der Ablagerungen der unteren Kreidegebilde (oder des 
Neocomien) auf eben jenem engliſchen Feſtlande Beutelthiere und 
wie es ſcheint auch andere Säugethierformen, vielleicht Hufthiere 


174 


lebten. Von den übrigen Feſtlandpartien des damaligen Europa 
kennen wir die Säugethierfauna immer noch nicht. Vielleicht beher— 
bergten ſie — ähnlich wie z. B. Neuſeeland zur Zeit der Ent⸗ 
deckung durch die Europäer — nur ſehr wenige oder noch gar keine 
Säugethiere, ſondern von Vierfüßern nur Reptilien. Wir können 
aber vermuthen, daß in anderen Theilen der Erde, z. B. auf irgend 
einem Bezirke des heutigen Atlantiſchen Meeres, Inſeln und Feſt— 
länder beſtanden, die eine reichere Säugethierfauna beherbergten und 
ſie ſpäter, z. B. bei einer Vereinigung mit dem engliſchen Feſtlande, 
nach dem europäiſchen Gebiete übertrugen. Ein ſolcher Vorgang 
ſcheint in jener Zeit ſtattgehabt zu haben, als die letzten Schichten 
der Kreidegebilde abgelagert wurden. Damals fand eine ſehr bedeu— 
tende und tief eingreifende Veränderung in der Geſtaltung des euro— 
päiſchen Feſtlandes ſtatt, welches um jene Zeit zum größten Theile 
bereits, ſo wie es noch jetzt iſt und zugleich wohl noch in größerer 
Ausdehnung gegen den Atlantiſchen Weſten aus dem Meeresſpiegel 
ſich emporhob. Damals erſchien plötzlich und in immer wachſender 
Typenzahl eine Säugethierfauna in Europa, von der, wie wir 
geſehen, die älteren Epochen bisher erſt ſchwache Andeutungen boten. 
Gleich die älteſten oder ſogenannten orthrocänen Schichten oder das 
Suessonien des Pariſer Beckens liefern ſchon zwei Gattungen Pachy— 
dermen und ebenſo viel Gattungen von Raubthieren. Mit den näch— 
ſten Schichten wächſt dann raſch die Zahl der Gattungen und die 
Manigfaltigkeit der Haupttypen. Es liegt ſehr nahe anzunehmen, 
daß dieſe mit Beginn der Tertiärepoche auf europäiſchem Boden 
plötzlich erſcheinende Säugethierwelt hier weder durch Urzeugung ent— 
ſtand, noch auch auf übernatürlichem Wege erſchaffen wurde, ſondern 
daß ſie vorher auf einem Anderen und wahrſcheinlich einem atlanti— 
ſchen Feſtlande lebten. Sie gelangten von dieſem erſt nach Europa, 
als die an der Grenze der Kreide- und der Tertiärepoche vor ſich 
gehenden Umgeſtaltungen in der Form der Feſtlandpartien ihnen gleich- 
ſam eine geologiſche Brücke zum raſchen Uebergange in das heutige 
europäiſche Gebiet eröffneten. 

Wir kommen hier wieder auf die Vergleichung der europäiſchen 
Säugethierfauna mit der neuholländiſchen zurück. Wir kennen auf 
Neuholland nur Ablagerungen aus den älteſten und aus ſehr 
jungen geologiſchen Epochen. Es liegt alſo ſehr nahe anzunehmen, 
daß Neuholland ungeheuer lange Zeiträume hindurch von geolo— 


175 


giſchen Störungen nur wenig betroffen wurde und mit dieſer Ein— 
förmigkeit der Lebensbedingungen mag auch die Einförmigkeit und ge— 
ringere Organiſation der Säugethierwelt dieſes Gebietes zuſammen— 
hängen. Die Mitbewerbung von Art mit Art war geringer und die 
Lebewelt blieb daher auf faſt gleicher Stufe der Entwicklung ſtehen. 

Aber Europa war zur Zeit der Ablagerung der Trias-, Jura⸗ 
und Kreideſchichten ein Archipelgebiet, wir kennen die Lage und 
die Umriſſe mancher der damaligen Inſeln ziemlich genau. Erſt die 
allmählige Vereinigung dieſer Inſeln hat zur Bildung der Feſtland— 
maſſen der alten Welt geführt und es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß 
dabei wiederholt Landfaunen von verſchiedener Zuſammenſetzung mit 
einander gemiſcht wurden, daß Fleiſchfreſſer der einen mit Fleiſch— 
freſſern der anderen früheren Fauna und Pflanzenfreſſer mit anderen 
Pflanzenfreſſern ringen mußten und daß dabei nur die am höchſten 
geſteigerten und am beſten ihrer Aufgabe angepaßten Typen die 
Wahlſtatt behaupteten. Das Endergebniß mußte eine Fauna ganz 
anderer Geſtaltung als jene von Neuholland ſein. 

R. Owen hat gezeigt, daß von der erloſchenen Katzengattung 
Machairodus in der mittleren Tertiärepoche eine Art in England 
und ſpäter eine zweite in Südamerika lebte und er deutet an, daß 
die eigentliche Heimath dieſer Gattung vielleicht auf einem damaligen 
atlantiſcheu Feſtlande war und die Thiere von hier aus, ähnlich wie 
jetzt der Tiger in Aſien, ihre Wanderungen machten. Auf ehemaliges 
Feſtland an der Stelle des heutigen atlantiſchen Meeres deuten auch 
noch manche andere Momente, z. B. das Vorkommen von Beutel— 
thieren in Neuholland und Braſilien, das Vorkommen des 
Lepidosiren in Südamerika und des zunächſt verwandten Pro- 
topterus in Weſtafrika u. ſ. w. 

Aehnliche Einwanderungen von Bewohnern des aſiatiſchen und 
des europäiſchen Feſtlandes, die zur Zeit der Diluvialepoche die briti— 
ſchen Inſeln bevölkerten, hat, wie ſchon früher bemerkt wurde, E. 
Forbes dargelegt und dabei wahrſcheinlich gemacht, daß der Ueber— 
zug innerhalb eines langen Zeitraumes vor ſich ging und daß bei 
der eben damals vor ſich gehenden Vereinzelung Irlands ein 
Theil des Einwandererſtromes nur noch nach England und nicht 
mehr nach Irland gelangte. 

Aenderungen des Klima's einer Gegend und plötzliche Einwande— 
rungen einzelner Pflanzen und Thierarten mögen neben den Verän— 


176 


derungen in der Geſtalt von Feſtland und Meer auch vielfach Anlaß 
zu Störungen im Gleichgewicht von Flora und Fauna gegeben haben. 
Welche Aenderungen wenige von europäiſchen Seefahrern auf kleinen 
Inſeln des Oceans ausgeſetzten europäiſche Thierarten in der Be— 
völkerung derſelben in kurzer Zeit hervorrufen können, und welche 
Kämpfe von Art gegen Art daraus erfolgen, haben die früher dar— 
gelegten Beiſpiele von St. Helena und von Juan Fernandez 
gezeigt. a 

Es gibt aber noch mehr ſolcher Fälle, wo der Menſch Zeuge eines 
lebhaften Kampfes von Arten war, die urſprünglich beſonderen Theilen 
der Erde angehörten, ſpäter zuſammengelangten und hier ſich heftig 
ihr Daſein ſtreitig machten. Dieſe Beiſpiele mögen es erläutern, welche 
gewaltigen Störungen in der Vorwelt bei der Vereinigung vordem 
getrennter Gebiete in Flora und Fauna vor ſich gegangen ſein müſſen. 

Das auffallendſte Beiſpiel bilden die Ratten, die, obſchon keine 
Hausthiere, doch allenthalben ſich gleichſam an die Ferſe des Menſchen 
hängen und mit ihm in faſt alle Klimaten mit Ausnahme der Polar- 
gegenden gewandert ſind und allenthalben mit ihrem Erſcheinen auf 
dem von ihnen neu eingenommenen Gebiete eine Veränderung des 
Gleichgewichts hervorgerufen haben. Man darf um ſo mehr Gewicht 
auf dieſe Vorgänge legen, als die Ratten gewiß nicht unter dem züch— 
tenden Einfluſſe des Menſchen ſtehen, ſondern, obſchon ſeine Hauswirth— 
ſchaft beſuchend, doch wahrhaft wilde Thiere ſind und alle an ihnen 
beobachteten Vorgänge ſich unverwandt auf wilde Thiere überhaupt 
verallgemeinern laſſen. 


Die Weltreiſe der Ratten und Mäuſe. 


Drei Rattenarten haben als ungebetene Geſellſchafter des Men— 
ſchen im Laufe der letzten Jahrhunderte, dem allgemeinen Zuge der 
Völkerbewegung und der Seefahrt folgend, von Oſten in Weſten eine 
Reiſe um die Erde angetreten, von der ſie vielleicht einſt noch von 
den Antipoden her zur alten Welt zurück gelangen werden. Sie haben 
ſich dabei ſtellenweiſe einander ereilt. Immer aber muß der Kampf 
ums Daſein zwiſchen zwei Thierarten von derſelben Gattung, die in 
Bau und Anlagen, in Nahrung und Gewohnheit eine vorzugsweiſe 
Aehnlichkeit haben, beſonders heftig werden und kann ſich, je nach Um— 
ſtänden, für beſtimmte geographiſche Bezirke oft in verhältnißmäßig 


177 


kurzen Friſten entſcheiden. Die ſtärkere, befühigtere, muthigere Art raubt 
dann der minder begünſtigten Raum und Nahrung, ſie vertreibt ſie 
aus ihren alten Wohnſitzen und kann ſie je nach Umſtänden ganz aus— 
rotten. 

Die Haus ratte, Mus rattus Linne, ſcheint, wie Blaſius ) 
in ſeinem trefflichen Werke über die deutſchen Säugethiere darlegt, erſt 
in geſchichtlicher Zeit in Europa eingewandert zu fein. Ihre eigentliche 
Heimath iſt nicht ganz ſicher bekannt. Man kann es aber als ſehr 
wahrſcheinlich nehmen, daß ſie aus Aſien nach Europa gelangte. In 
den Schriften der Alten, z. B. des Ariftsteles und des Plinius, 
findet man noch keine Stelle, die auf die Hausratte bezogen werden 
könnte. Es iſt demnach anzunehmen, daß ſie im Alterthum noch nicht 
in Europa lebte und erſt im Mittelalter aus Aſien bei uns einwan— 
derte. Der Zeitpunkt, wann ſie nach Europa kam, läßt ſich nicht 
mehr mit Sicherheit ausmachen. Der deutſche Biſchof Abarth 
Magnus, der im dreizehnten Jahrhundert lebte und einer der größten 
Naturgelehrten ſeiner Zeit war, iſt der erſte Schriftſteller, der ſie un— 
zweifelhaft als in Deutſchland lebend aufführt. Seitdem hat ſie 
in ganz Europa allmählig ſtark überhand genommen, ſie drang bis 
zur Meeresküſte vor und ſchlich ſich hier auf Schiffen ein. So wurde 
ſie ſeither denn auch auf ſolchen nach Amerika übergeführt und 
iſt dort häufig geworden. Ueberhaupt hat ſie ſich in den letzten drei 
Jahrhunderten allmählig über alle bewohnten Theile der Erde mit 
Ausnahme des hohen Nordens verbreitet, wo ihr Klima und Nahrung 
nicht mehr zuſagen. 

In Europa iſt indeſſen die Hausratte nur bis zur erſten Hälfte 
des achtzehnten Jahrhunderts in ihrem Reviere alleinherrſchend ge— 
weſen. Seither iſt ſie von der ihr nachgefolgten Wanderratte im 
Kampf um Raum und Nahrung allmählig und zwar jetzt faſt aus 
allen europäiſchen Standorten verdrängt worden. 

Gegen Eude des achtzehnten Jahrhunderts war die Hausratte 
noch faſt überall in Europa häufig. Seither aber hat ſie Stadt für 
Stadt und Haus für Haus räumen müſſen. Zur Zeit des heftigſten 
Kampfes der beiden zu Nebeubuhlern gewordenen Rattenarten fand 
man oft Morgens die Leichen der im Streit erlegenen Hausratten 


1) J. H. Blaſius. Fauna der Wirbelthiere Deutſchlauds. I. Band. Säuge⸗ 
thiere 1857. p. 317. 


1 F 
Nolle, Barwin's Lehre. 


nt 
DV 


178 


auf den Straßen liegen. So ift ihr Feind, die Wanderratte, ihr durch 
ganz Europa auf der Ferſe gefolgt und hat ſie von Ort zu Ort 
ausgerottet. Jetzt kennt man die Hausratte nur noch an ſehr wenigen 
Punkten von Europa und bald wird ſie ganz ausgerottet ſein. Die 
zoologiſchen Gärten ſind bemüht, für die verfolgte und dem Unter— 
gang nahe gebrachte Art einen Zufluchtsort zu bieten, doch hat bis 
jetzt mancher Garten vergeblich gehofft, auch nur ein einziges Paar 
derſelben noch erhalten zu können. In Amerika ſoll die Art jetzt 
häufiger als in Europa ſein. 

Die Wanderratte, Mus decumana Pall., aſiatiſchen und zwar 
vielleicht perſiſchen oder indiſchen Urſprungs, iſt der Hausratte an 
Größe und an Muth weit überlegen, dabei auch fruchtbarer. Wäh— 
rend bei der Hausratte die Körperlänge, den Schwanz nicht mitge— 
rechnet, 6 Zoll beträgt, erreicht die Wanderratte 8 bis 9 Zoll. Sie 
iſt aber nicht nur ſtärker, ſondern auch muthiger und weniger ſcheu. 


In geſchloſſenem Raume angegriffen, ſetzt ſie ſich ſogar gegen den 


Menſchen zur Wehre. 

Dieſe größere und muthigere Wanderratte iſt erſt zu Anfang des 
18. Jahrhunderts in Europa beobachtet worden. Nach Pallas 
Bericht zog ſie 1727 zuerſt in großen Heerden aus der Kirghi— 
ſen-Steppe — ſchwimmend — über die Wolga und rückte über 
Aſtrachan weiter in Weſten in Europa ein. Sie breitete ſich 
von Jahrzehend zu Jahrzehend daſelbſt immer mehr aus und rückte 
allmählig bis zum Atlautiſchen Meere vor, ſowie auch an die Mittel— 
meerküſten und bis nach Scandinavien hinauf. 1750 kannte man fie 
in Paris noch nicht. 1800 erſchien ſie zum erſten Male in Däne— 
mark. 1809 war ſie in der Schweiz noch unbekannt. Um 1830 be- 
gann ſie in den Rheingegenden nach Ausrottung der Hausratte allein 
herrſchend zu werden. 

So iſt allmählig die Wanderratte als begünſtigtere Art in Eu— 
ropa von Ort zu Ort vorgedrungen. Sie hat dabei allenthalben im 
wachſenden Verlaufe ihrer Ausbreitung die Hausratte verdrängt und 
dabei dieſelbe ſo weit ausgerottet, daß dieſer jetzt nur noch wenige 
Standorte frei bleiben, aus denen ſie wohl in den nächſten Jahrzehen— 
den auch ſchon wird vertrieben ſein. 

Seitdem die Wanderratte in Europa die Weſtküſten erreichte, 
hat ſie ſich auch auf Schiffen in die überſeeiſchen Länder verbreitet 
und findet ſich ſolchergeſtalt hinter der Hausratte her als deren ſteter 


9 


Nachfolger und gefährlichſten Feind auf der Wanderung um die 
Erde herum. 

Die ägyptiſche Ratte, Mus Alexandrinus Geoffroy (M. tec- 
torum Savi, M. leucogaster Pietet) iſt nach der Hausratte und der 
Wanderratte die dritte und bis jetzt letzte Art auf dem erdumwan— 
dernden Zuge von Oſten nach Weſten. 

Ihre urſprüngliche Heimath ſcheint Aegypten und das nordöſt— 
liche Afrika überhaupt, ſowie auch Arabien zu ſein. Sie wurde 
zuerſt während des franzöſiſchen Feldzugs in Aegypten entdeckt und 
damals von Geoffroy beſchrieben. Erſt ſpäter entdeckte man ſie 
auch in Europa und es unterliegt kaum einem Bedenken, daß ſie 
erſt vor kurzer Zeit auf Schiffen dahin kam. Sa vi beobachtete fie 
1825 in Italien und Pictet 1841 zu Genf. Sie iſt jetzt in 
Italien, in der Schweiz, im ſüdlichen Frankreich und im 
ſüdlichen Deutſchland fleckweiſe eingebürgert und ſoll in dieſer 
Beziehung in allmähligem Zunehmen ſein. Sie dürfte, indem ſie dem 
allgemeinen Zuge von Oſten nach Weſten folgt, nach und nach mit 
der Wanderratte ſich in Bezug auf beſtimmte Stellen im Naturhaus— 
halt in die Erdoberfläche theilen. In Nordamerika ſoll ſie bereits 
auch ſchon angelangt ſein. i 

Ein Wettkampf zwiſchen der ägyptiſchen Ratte und der Wander— 
ratte dürfte, ſobald erſtere einmal in einer jeden Gegend zahlreich 
genug geworden, wohl auch noch entbrennen und kann dann vielleicht 
zur Verdrängung der ſchwächeren Art wieder führen. 

In dieſer Beziehung ſcheint noch keine Beobachtung ſtattgefunden 
zu haben, welche zu einem Schluſſe berechtigen könnte. Das Größen— 
verhältniß begünſtigt übrigens die Wanderratte auch hier. Die ägyp— 
tiſche Ratte, die nur die Körpergröße unſerer früheren Hausratte (den 
Schwanz abgerechnet, 6 Zoll) hat und auch in der Lebensweiſe letz— 
terer näher kommt, dürfte jener kaum auf die Dauer gewachſen ſein. 
Vielleicht führt alſo eine Zeit von größerer Individuenzunahme der 
Ratten einmal wieder zur Zurückdrängung des eingewanderten ägyp— 
tiſchen Gaſtes. 

Einwanderungen ähnlicher Art haben ſicher zu allen Zeiten und 
in allen großen Feſtlandgebieten ſtattgehabt. Aber die Nachweiſung 
iſt jetzt, wo Jahrtauſende oder noch umfaſſendere Zeiträume ſeit ihrem 
Vorgang oft ſchon verſtrichen find, nicht mehr leicht darzuthun. Ge— 
ſchichtliche Nachrichten, ſoweit ſie überhaupt vorliegen, ſind darüber 

2 


180 


meift ſehr karg und fo find wir gewöhnlich ganz auf ſolche antiqua- 
riſche und geologiſche Entdeckungen angewieſen, wie fie jetzt in immer 
größerer Ausdehnung und Bedeutung von Jahr zu Jahr auftauchen. 

Entdeckungen dieſer Art ſcheinen nun dahin zu deuten, daß vor 
den Ratten in einer noch älteren Zeit auch die Hausmaus, Mas 
uus ulus Lin,, in Europa einwanderte. Prof. Rütimeyer in Baſel hat 
in ſeiner an überraſchenden Ergebniſſen reichen und hier ſchon mehr— 
fach gedachten Arbeit über die Reſte der Hausthiere, welche in den vor 
Beginn der geſchichtlichen Epoche von einem (vielleicht celtiſchen) Volke 
aufgeführten Pfahlbauten der Schweizer Seen gefunden wurden, unter 
anderm dargethan, daß damals nicht nur die erwähnten Arten von 
Ratten, ſondern auch die Hausmaus noch fehlte. Den alten Schrift— 
ſtellern war von allen unſeren derartigen Hausplagen nur die Maus 
bekannt. Ariſtoteles und Plinius erwähnen fie jchon mit Be: 
ſtimmtheit. Ob ſie in Aſien oder in Südeuropa urſprünglich 
einheimiſch war, mag noch dahingeſtellt bleiben, aber es ſcheint jetzt 
ſicher, daß ſie in den älteſten bekannten Anſiedelungen des Menſchen 
in Mitteleuropa, wie die Unterſuchung der älteren Pfahlbauten 
lehrt, noch fehlte und ſpäter erſt — wahrſcheinlich mit Zunahme 
der Bevölkerung und des Getreidebaues — hier einwanderte und ſich 
einbürgerte. Seither hat ſich die Hausmaus auf dem Wege der See— 
fahrt über faſt alle bewohnten Theile der Erde verbreitet. 


Rütimeyer's Beobachtungen über das Gebiß der kleinen 
Raubthiere. 


Bei dem großen Gewichte, welches die Gegner der Transmuta— 
tionslehre auf die vorwiegende und mit Ausſchluß einiger erloſchenen 
Varietäten des Nil-Krokodils vielleicht vollſtändige Uebereinſtimmung 
der als Mumien in den Grabdenkmalen der alten Aegypter auf unſere 
Tage erhalten gebliebenen Thierreſte jener Zeit mit den heute noch 
lebenden Arten legen zu dürfen glauben, hat eine dahin einſchlagende 
Beobachtung von Dr. Rütimeyer im Darwin'ſchen Sinne einen 
um ſo höheren Werth. Er weiſt beſtimmte Veränderungen nach, 
welche an einer Reihe von wilden Thieren ſeit der Zeit der erſten 
Einwanderung des Menſchen in der Schweiz vor ſich gegangen 
ſind und treffende Belege für die Wahrheit der Transmutationslehre 
abgeben. Er fand nämlich, daß beim Fuchſe und einigen kleineren 


181 


Raubthieren Veränderungen im Gepräge des Gebiſſes eingetreten find. 
Daſſelbe zeigt bei den Reſten aus dem Steinalter eine ſchärfere Aus— 
bildung als bei den heute lebenden Thieren der gleichen Art. Es liegt 
ſehr nahe zu vermuthen, daß ihre weichen Verdauungsorgane dem ent— 
ſprechend auch zu einem gewiſſen Grade abwichen. Ueberhaupt aber 
fällt die Erſcheinung in das Bereich jener ſympathiſchen Gemeinſam— 
keit der Charactere von Thieren eines beſtimmten Gebietes, deren 
früher ſchon gedacht wurde. 

Dr. Rütimeyer fand bei den Reſten des Fuchſes (Canis 
valpes bin.), des Steinmarders (Mustela foina Lin.) und des 
Iltis (Mustela putorius Lin.), die ſich in den Schweizer Pfahlbauten 
erhielten, eine eigenthümliche und ſehr auffallende Schärfe der Zahn— 
ſculptur, eine feinere und ſchärfere Ausprägung aller Einzelheiten des 
Gebiſſes als die Schädel derſelben Arten in unſeren Tagen bieten. 
Die Zähne an den ſubfoſſilen Schädeln ſind merklich kantiger, ſchärfer, 
ſchneidender, das Gebiß überhaupt zierlicher, der ſpecifiſche Typus 
der Art gleichſam ſchärfer ausgeſprochen. 

Artverſchiedenheiten liegen hier nicht vor. Ueberhaupt erſcheinen 
in jener Fauna wilder Thiere in den älteſten bekannten menſchlichen 
Anſiedlungen der Schweiz keine Arten, die nicht entweder jetzt noch 
in der Schweiz oder in Deutſchland fortleben oder die nicht 
wenigſtens Julius Cäſar vor nahe zwei Jahrtauſenden im Her— 
cyner Walde noch lebend traf. 

Wenn alſo der Fuchs, der Steinmarder und der Iltis der heu— 
tigen Schweizer Fauna in grader Linie von jenen Thieren des Stein— 
alters abſtammen, ſo fragt es ſich, was wohl der Grund der Abän— 
derung geweſen ſein mag, die ſeitdem vorgegangen iſt. 

Der zeitliche Abſtand von der Epoche der Schweizer Pfahlbauten 
bis zum heutigen Tage iſt zwar durch die antiquariſche Forſchung noch 
nicht näher feſtgeſtellt worden, man vermuthet, daß die jüngſten etwa 
vor 2000 Jahren noch bewohnt wurden, die älteſten aber, aus denen 
eben die Reſte der genannten kleinen Raubthiere vorzugsweiſe ſtammen, 
mögen vielleicht 3 4 - 5000 Jahre alt oder noch älter fein. In— 
nerhalb dieſer Zeit haben alſo eine Anzahl von Säugethierarten im 
Character des Gebiſſes in gleicher Weiſe merklich ſich verändert und 
es muß dies eine Wirkung derſelben Umſtände geweſen ſein. Es iſt 
nun allerdings ſchwer dieſe Umſtände mit Beſtimmtheit genauer zu 
bezeichnen. Aber es liegt nahe zu vermuthen, daß ſie mit der zu— 


4 


182 


nehmenden Bevölkerung des Gebiets durch den Menſchen zuſammen⸗ 
hängen, der die Waldungen lichtete, Felder und Gärten anlegte, die 
großen Raubthiere an Zahl verringerte oder ganz ausrottete und mehr 
Nahrungsthiere, namentlich zahmes Geflügel, einführte. Es ſcheint, 
daß bei dieſen Aenderungen der allgemeinen Daſeinsbedingungen durch 
den Einfluß des Menſchen eine eigenthümliche individuelle Variation 
bei den kleinen Raubthieren hervorgerufen wurde und ſich dann durch 
Vererbung erhielt Verminderte Ausprägung des Typus im Raub⸗ 
thier-Gebiſſe möchte wohl auf Erleichterung des Kampfes um's Da— 
ſein deuten. Der Menſch hat allerdings auch die kleinen Raubthiere 
von jeher gejagt und an Zahl verringert, aber er hat dafür auch die 
großen Raubthiere, den Bär, den Wolf und den Luchs für das Ge— 
biet der Schweiz ausgerottet und zugleich eine Anzahl von Haus— 
thieren gezogen, welche nicht ſelten die Beute von Fuchs und Marder 
werden. 

Dr. Guſtav Jäger macht mich noch darauf aufmerkſam, daß 
der Fuchs, die Marderarten und der Iltis im Sommer und Herbſt 
vorzugsweiſe auf feines ſüßes Obſt wie namentlich Trauben, Zwet⸗ 
ſchen u. ſ. w. ausgehen und um dieſe Zeit den Hühnern, Tauben 
u. ſ. w. um ſo weniger nachſtellen. Dies würde daraufhin deuten, 
daß der Gartenbau vorzugsweiſe es geweſen ſein könnte, was jene 
Aenderung im Gebiſſe der Füchſe und Marder hervorgerufen hat. 

Jedenfalls zeigt br. Rütimeyer, daß jenſeits der Grenzen der 
unmittelbaren Beobachtung lebender Thiere aber immer noch inner— 
halb der Zeit ſeit Einwanderung des Menſchen in Mitteleuropa Ver— 
änderungen an Säugethieren vor ſich gehen konnten, wie wir ſie 
ſonſt nur nach Verlauf geologiſcher Zeiträume zu finden gewohnt ſind 
und daß dabei die Gleichartigkeit des Verlaufs für mehrere von einan— 
der unabhängige Arten ebenſo deutlich ausgeſprochen ſein kann, als es 
in zahlreichen Fällen längſt ſchon aus der Pflanzen- und Thiergeogra- 
phie bekannt iſt. 


183 


Diertes Capitel. 


Stufenweiſe Vervollkommnung der Organism: 


Se 
_— 


Die ſtufenweiſe Vervollkommnung der Pflanzen- und Thierwelt 
verkündigt ſich auf drei verſchiedeuen Gebieten, dem ſyſtematiſchen, dem 
embryologiſchen und dem geologiſchen. Sie zeigt ſich zunächſt im Sy— 
ſteme der heutigen Lebewelt in der von der niederſten Alge zur höchſten 
Dicotyledone und in der vom Infuſorium zum höchſten Wirbelthier 
führenden Reihenfolge. Zweitens in den Stufen der Entwickelung des 
Individuums vom Ei zum reifen Zuſtand, dann auch in jener For— 
menreihe, welche in ähnlicher Weiſe beim Vergleiche der älteſten be— 
kannten Pflanzen- und Thierreſte mit den ſpäter folgenden und den 
heute noch lebenden Formen ſich herausſtellt. Alle dieſe Erſcheinungen 
in der Geſtaltung der geſammten Lebewelt haben eine tiefere und zwar 
gemeinſame Grundurſache und find eine unabweisbare Aufgabe der 
Erklärung für die Darwin' ſche Lehre jo gut als fie es von jeher 
für jede andere Schöpfungstheorie waren. 

Die einzige ganz ununterbrochene Stufenfolge der Vervollkomm— 
nung zeigt ſich in der Entwickelung vom Ei zum reifen Organismus. 
Die Pflanze wie das Thier durchlaufen theils bei der Entwickelung 
im Ei, theils nach der Befreiung von den umſchließenden Hüllen 
eine Reihe von Umgeſtaltungen, die im Allgemeinen zur Vervollkomm— 
nung führen. Die reife Pflanze, das reife Thier ſind höher orga— 
niſirt als ihr Ei und aͤuch meiſtens, jedoch nicht immer, höher orga— 
niſirt als jede dazwiſchen fallende Bildungsſtufe. 

Die Ausbildung des Ei's zu einem Lebeweſen geſchieht nur ſehr 
allmählig. Beim Ei der Wirbelthiere entſteht von allen Körpertheilen 
zuerſt ein knorplicher Strang, die Chorde dorsalis, welche die Anlage 
zum ſpäteren verknöcherten Rückgrahte der höheren Formen darſtellt. 
Eins ſeiner Enden breitet ſich etwas mehr aus, es iſt der Anfaug zur 
Bildung des Kopfes, ſpäter entwickelt ſich im Eingeweideſacke ein Bläs— 
chen, welches pulſirt, es iſt der erſte Beginn des Herzens, dann erſt 
erſcheint ein ausgebildeter Kreislauf der Nahrungsſäfte in Abhängig— 


184 


keit von der Ausdehnung und Zuſammenziehung des Herzens. U 
ſo dauert die erſte Erſcheinung und weitere beſtimmtere Ausbildu 
der einzelnen Theile und Organe fort, bis der Organismus ſei 
volle Höhenſtufe der Organiſation erlangt hat. Eine ähnliche Stu 
folge der Entwickelung vom niederen zum höheren zeigen ub haupt 
alle höheren Thierformen bis hinab zu jenen, die kaum mehr als 
einfache belebte Zellen ſind und dem Ei der höheren Thiere inſofern 
vergleichbar erſcheinen. Auch bei der Pflanze findet ein ähnlicher 
Stufengang der Entwickelung vom Samenkorne zum ausgebildeten 
pflanzlichen Individuum ſtatt. 

Indeſſen iſt dieſer Stufengang ſchon kein vollkommen durchgrei— 
fender, kein allenthalben zur fortſchreitenden Vervollkommnung füh— 
render. Es gibt vielmehr auch eine Reihe von Lebeweſen, bei denen 
die Höhe der Ausbildung in einer früheren oder ſpäteren Stufe des 
Lebens ſchon erreicht wird und von da an eine Rückbildung eintritt, 
welche dem Begriffe der Vervollkommnung ganz und gar widerſpricht. 
Es iſt dies die ſogenannte rückſchreitende Metamorphoſe, 
die auf einer ungleichmäßigen Ausbildung vegetativer Organe und Ver— 
richtungen — nämlich des Fortpflanzungsſyſtems — auf Koften der 
ee und Sinneswerkzeuge beruht und namentlich bei is 

Cruſtaceen in auffallendem Grade vorkommt. 

Vervollkommnung und rückſchreitende Metamorphoſe ſind ſewohl 
anatomiſcher als phyſiologiſcher Natur, ſie betreffen ſowohl den Bau 
der Organe als deren Verrichtungen. Bei der Vervollkommnung gehen 
gewöhnlich beide Momente ſo innig Hand in Hand, daß man nicht 
wohl mehr ſagen kann, welches das eigentlich primäre iſt. Gewöhnlich 
dürfte es das phyſiologiſche fein, welches auf den Bau des Orgauis⸗ 
mus einwirkt, wie das namentlich bei der rückſchreitenden Metamor— 
phoſe offenbar iſt. In anderen Fällen aber hat ein Organismus von 
anders gearteten Vorfahren Theile ererbt, die er in ſeinem dermali⸗ 
gen Zuſtand nicht mehr bedarf und die dann oft der Sitz von Ver⸗ 
richtungen werden, für welche ſonſt keine eignen Organe vorhanden 
ſein würden, wie dies z. B. meiſt beim Schwanz der Säugethiere, 
namentlich aber beim Wickelſchwanz des Klammeraffen und beim Wedel⸗ 
ſchwanz vieler Wiederkäuer der Fall iſt. D. h. Es iſt anzunehmen, 
daß wenn nicht an ſich ſchon die Säugethiere den Schwanz als Erb 
ſtück von den Fiſchen erhalten hätten, der Klammeraffe kein Organ des 
Kletterns und die Wiederkäuer kein Organ des Wedelns am hintern 


* 


185 


sfeletttheile haben könnten. Hier iſt alſo das anatomiſche Moment 
das primäre. 

Die Vervollkommnung, in ſo fern ſie phyſiologiſcher Natur iſt, 
beſteht in Theilung der Arbeit ), in anatomiſcher Hinſicht 
aber erſcheint ſie vorzugsweiſe als Differenzirung oder Ver— 
unähnlichung der Organe und der Körpertheile überhaupt. Eine 
vollſtändige Theilung der Arbeit aber wird nur möglich, wenn ihr 
eine Differenzirung der Körpertheile in entſprechender Weiſe voraus— 
geht oder nachfolgt und dieſe ſich fo geſtaltet, daß fie den beſonderen 
Verrichtungen am vollkommenſten entſpricht. So iſt die Theilung 
der Arbeit zwiſchen Hände und Füße beim Menſchen vollkommener 
als bei den Vierhändern, wo Vorder- und Hinterfüße noch nicht ſo 
ſehr differenzirt ſind. 

Das einfachſte Organ und zugleich auch die niederſte individuelle 
Lebensform iſt ſowohl in der Pflanzen- als in der Thierwelt die 
Zelle. Die niederſten Pflanzen- und Thierformen, ebenſo das Ei'chen, 
die Zooſpermie und das Pollenkorn der höheren Formen ſind theils 
einfache Zellen, theils nur um weniges mehr zuſammengeſetzte Gebilde. 

Die Zelle iſt ein abgegrenzter Tropfen belebter Materie, eine in 
Stoffwechſel begriffene flüſſige oder weiche Kugel mit einer mehr oder 
minder ausgeſprochenen, abgrenzenden äußeren Hülle. 

Alle Gewebe und alle Organe der Pflanze und des Thiers ent— 
ſtehen aus der Zelle. Ein Theil der Zellen verharrt in ſeiner ur— 
ſprünglichen Einzelheit. Ein anderer tritt gruppenweiſe zuſammen und 
erzeugt unter manigfacher eigner Umgeſtaltung ungleichartige Körper— 
theile. Dazu kommen noch äußere ſich befeſtigende Zellenausſcheidungen 
und vielleicht auch wohl urſprüngliche Ausfüllungen von Zwiſchenräumen 
(Intercellularſubſtanz). Aus dieſen wenigen Elementartheilen erſcheinen 
alle, auch die höchſten Organismen zuſammengeſetzt. In der einfachen 
oder zuſammengeſetzteren, gleichartigeten oder ungleichartigeren Natur 
des Aufbau's aber offenbaren ſich die manigfachſten Stufen der Ver— 
vollkommnung. 

Pflanzen- und Thierreich ſetzen ſich darnach aus einer großen 
Menge von weiteren und engeren Formengruppen zuſammen, welche, 
ihrer Vervollkommnung nach unter einander verglichen, bald an— 
ſteigende, bald einauder mehr gleichlaufende Reihen darſtellen, dem 


N 1) H. Milne Edwards. Das Verfahren der Natur bei Geſtaltung des 
Thierreichs. Stuttgart 1853. 


E- 


186 


idealen Bilde nach im Allgemeinen aber am meiſten mit den manig- 
fachen Verzweigungen eines Strauches oder Baumes übereinkommen. 

Vollſtändig läßt ſich dieſe Stufenreihe der Vervollkommnung in- 
deſſen in unſeren Syſtemen der Lebewelt nicht darſtellen, man ſtößt 
vielmehr in vielen Fällen auf große Lücken, welche gewiſſe Gruppen 
von Formen von ihren nächſten Verwandten trennen. Häufig reihen 
ſich erloſchene, nur aus den Schichten unſerer Gebirge in foſſilem 
Zuſtande bekannte Weſen unverkennbar in ſolche Lücken des Syſtems 
der heutigen Lebewelt ein und mildern die Gegenſätze. Doch iſt es 
zufolge der Unvollſtändigkeit, an welcher die Ueberlieferung der ur— 
weltlichen Reſte ſelbſt leidet, noch nicht möglich geweſen, auf ſolche 
Weiſe jene Lücken gleichſam ganz auszufüllen, in vielen Fällen wird 
es überhaupt auch nie vollſtändig geſchehen können. 


Vervollkommnung im Pflanzenreiche. 


Die einfachſte Form der Pflanze iſt die Zelle, welche 
bei einer Anzahl der niederſten Formen als ſolche ſelbſtändig lebt, 
d. h. ihren Stoffwechſel vollführt, ſich ernährt, auwächſt und ſich 
dann durch einfache Theilung — oder auch wohl durch Umgeftaltung 
des Inhaltes zu inneren oder Brut-Zellen — vermehrt. Sie iſt 
anatomiſch wie phyſiologiſch in ſich abgeſchloſſen, überhaupt aber die 
eigentliche Urpflanze. 

Nutritive und generative Organe find bei dieſer einfachſten Pflan- 
zenform noch nicht beſonders entwickelt. Ernährung und Fortpflan— 
zung ſind noch innig verſchmolzen. Alle Lebenserſcheinungen über— 
haupt zeigen ſich auch erſt ſchwach und einförmig ausgeſprochen. | 

So iſt es der Fall bei den einfachſten Algen, z. B. beim 
Protocosceus oder der grünen pulverförmigen Vegetation, die ſich in 
ſtehendem Waſſer ſowohl, wenn es Wochen oder Monate lang in 
loſe bedeckten Glasgefäßen erhalten wird, als auch im Frühjahre in 
Waſſergräben entwickelt. So iſt es ferner bei den niederſten Pil z— 
Formen, z. B. bei den Hefenzellen, die ſich in gährenden 
Flüſſigkeiten zeigen. 

Oft reihen ſich auch die einfachen Zellen vermöge der Art ihrer 
Bildung zu Fäden aneinander, wie bei den Conferven oder den 
grünen Fäden unſerer ſtehenden Gewäſſer, von denen dann doch jede 
einzelne noch ſelbſtändig für ſich fortleben kann. 


187 


Alle übrigen Pflanzen beſtehen aus einer mehr oder minder diffe— 
renzirten Anhäufung von Zellen. Es tritt bei ihnen eine verſchieden— 
artige Ausbildung der einzelnen Zellen je nach den beſonderen Körper— 
theilen und zum Behufe beſonderer phyſiologiſcher Verrichtungen ein. 
Die Zellen bilden hier einen Theil eines größeren Ganzen, ihr be— 
ſonderes Individuenleben geht dabei ſtufenweiſe mehr und mehr in 
das eines Geſammtweſens auf, deſſen Einfluß dann auf ihren Bau 
und ihre Verrichtungen wieder zurückwirkt. Einzelne Gruppen von 
Zellen ordnen ſich zuſammen zu verſchieden geſtalteten und verſchiedene 
Verrichtungen vollführenden Theilen des Pflanzenkörpers und ſetzen 
nunmehr beſondere Organe zuſammen, die dann noch vielfacher wei— 
terer anatomiſcher und phyſiologiſcher Steigerung fähig ſind. Ernäh— 
rung und Fortpflanzung treten in ſtärkeren Gegenſatz, nutritive und 
generative Organe entwickeln ſich zu mehr und mehr von einander 
abweichenden Formen. 

Der Pflanzenorganismus wird ſolcher Geſtalt ungleichartiger und 
zuſammengeſetzter, für die beſonderen Verrichtungen finden wir nun 
beſondere Orgaue. Wir ſagen, die Pflanze iſt höher organiſirt. 

Zu den einfachen, der Gefäße noch entbehrenden Zellenpflanzen 
gehören namentlich die Algen, die Flechten und die Pilze. 
Auch unter ihnen ergeben ſich bereits manigfache Stufen der Vervoll— 
kommnung. So zeigt ſich bei den höheren Algen ſchon eine beginnende 
Differenzirung des einfachen Zellgewebes in Stengel und Blätter. 

Eine höhere Stufe ſind die Gefäßpflanzen, zu denen die 
Lebermooſe, die Mooſe, Equiſeten, Farnen und Lycopodiaceen, ſowie 
alle Phanerogamen gehören. Sie beſitzen neben den Zellen noch 
innere Organe zuſammengeſetzterer Bildung. Zellen treten in linien— 
weiſer Aneinanderreihung ſo zuſammen, daß ſie mehr oder minder 
vollkommen in ein Ganzes verſchmelzen. Dies ſind die Gefäße. 

Mit dem Auftreten der Gefäße wird die Differenzirung der 
Körpertheile allmählig vollkommener und der Bau der Organe den 
ihnen obliegenden Verrichtungen angemeſſener. Der Vorgang über— 
haupt aber führt in manigfachen Stufen und nach verſchiedenen Rich— 
tungen zur höheren Organiſation. 

Stengel und Blätter, nutritive und generative Theile, gehen mehr 
und mehr auseinander und die Abſtufungen des Vorganges führen zum 
Hervortreten der manigfachſten, bald mehr neben, bald mehr über 
einander gereihten Ordnungen und Familien.“ 


188 


Die Theilung der phyſiologiſchen Arbeit wird dabei allmählig 
vollſtändiger, die Pflanze erhält mehr und vielſeitigere Fähigkeiten und 
vollführt höhere Leiſtungen. Wir brauchen, um uns an Nahrungs- 
pflanzen zu halten, z. B. von Zellenpflanzen nur auf die Isländiſche 
Flechte und von hochausgebildeten Gefäßpflanzen auf den Apfelbaum 
zu weiſen, um erſichtlich zu machen, wie weit das Ergebniß der 
Leiſtungen der einen die der anderen Stufe überſteigt. Was aber der 
Apfelbaum mehr leiſtet als die Flechte, das leiſtet er vermöge der 
ſelbſtändigeren Ausbildung ſeiner beſonderen Organe und der voll— 
kommneren Vertheilung ſeiner Lebensverrichtungen unter dieſelben. 

Die Stufenfolge, welche die Syſtematik im Anordnen der ein— 
zelnen Pflanzeuformen von der niederſten zu der höheren Pflanzen— 
form zum Vorſchein bringt, findet ihren Nachklang in der Entwicke— 
lung der Formenreihe, welche die höhere Pflanze in ihrer Ausbildung 
vom Samenkorn zur Reife durchläuft. Auch hier zeigt ſich eine Stu— 
fenfolge vom einfachen zum zuſammengeſetzteren Bau, von einfachen 
gering ausgeſprochenen Lebensverrichtungen zu vielfacherer und kräf— 
tigerer Leiſtung. Die niederſte Bildungsſtufe der höheren Pflanze ent— 
ſpricht augenfällig dem Bau und den Verrichtungen niederer einfacherer 
Pflanzenformen. Das Ei'chen und das Samenſtäubchen der Phane— 
rogame weicht nur wenig von der einfachen Zelle ab, in deren Form 
die niederſten Algen und die niederſten Pilze erſcheinen. 

Auch die Reihenfolge des geologiſchen Auftretens der größeren 
Abtheilungen des Pflanzenreihs wiederholt einen ähnlichen Gang vom 
unvollkommenen zum vollkommneren. Die älteſten foſſilführenden Schich— 
ten haben bis jetzt von Pflanzen allein nur Algen geliefert. Aco— 
tyledonen herrſchen in allen zunächſt folgenden Ablagerungen vor. 
Cycadeen und Coniferen bilden die Hauptvegetation der Trias- und 
Juraformation. Dicotyledonen erſcheinen erſt nach ihnen in der Kreide 
und werden in der Foſſilflora der Tertiärbildung über alle niedri— 
geren Abtheilungen ſo vorherrſchend, als es noch jetzt mit ihnen der 
Fall iſt. 

Aus den älteſten Gebirgsſchichten kennt man von Pflanzen allein 
nur Meeresbewohner. Landgewächſe treten erſt ſpäter einzeln auf 
und gewinnen nachträglich erſt jenes Uebergewicht der Formen, das 
ſie noch jetzt auszeichnet. 

Alles dies führt zum Schluſſe, daß die einfache Zelle, die Lebens— 
form der niederſten heutigen Pflanzenarten, nicht nur der Ausgangs- 


18 


punkt der individuellen Metamorphoſe der höheren Pflanzen ift, ſon— 
dern auch die Urform, in der die erſte Pflanze auf Erden erſchien, 
von der alle übrige Vegetation durch gradlinige Abſtammung ſich 
herleitet. 


Vervollkommnung im Thierreich. 


Das Thier iſt höher begabt als die Pflanze, es zeigt alle weſent— 
lichen Lebensverrichtungen dieſer, beſitzt aber zugleich noch weitere 
Fähigkeiten, welche es bevorzugen, nämlich Empfindung und Bewegung. 

Im Thierreich zeigt ſich ähnlich wie im Pflanzenreich, aber in 
noch reicherer Ausprägung eine Stufenfolge der Vervollkommnung 
von der niederſten Infuſorienform zum höchſtentwickelten Wirbelthier. 
Dieſe Stufenfolge iſt im Großen und Ganzen unzweifelhaft ausge— 
ſprochen und inſoweit auch ſeit den älteſten Zeiten der Wiſſenſchaft 
allgemein anerkannt worden. Aber ſie erweiſt ſich zugleich in zahl— 
reichen Fällen im Bereiche einzelner Klaſſen oder Ordnungen des Thier— 
reichs in ſo ganz unverkennbarer Weiſe, daß ſie auch hier als ein 
für die Syſtematik weſentlich maßgebendes Moment erſcheint, welches 
dem Zoologen die Mühe erſpart, ſich behufs der Ueberſicht der Einzel— 
formen nach willkührlich hervorgegriffenen Merkmalen umzuſehen. 

Auch hier iſt wieder die einfache Zelle der erſte Ausgangspunkt. 
Die niederſten Infuſorien, die Rhizopoden, auch die jungen Thiere 
der Schwämme ſcheinen wenig mehr als einfache Zellen zu ſein. 
Das Ei'chen und die Zooſpermien der höheren Thierformen bilden 
auch hier wieder zur frei lebenden Zelle eine ſehr nahe Parallele. 

Ebenſo wie im PFflanzenreich verſchwimmen auch die Lebens— 
verrichtungen noch bei den niederſten Anfangsformen der Thierwelt 
und entwickeln ſich in mehr ſelbſtändiger und eutſprechend vollkomm— 
nerer Weiſe erſt mit den nachfolgenden zuſammengeſetzteren höheren 
Typen. Differenzirung der Körpertheile und Theilung der Arbeit 
gehen wieder Hand in Hand. 

Bei den einfachſten und niederſten Thierformen, wie den Infu— 
ſorien und Rhizopoden verſchwimmen noch mehr oder minder alle 
Verrichtungen in einander und haben noch keine beſonders ausgebil— 
deten Theile zu Trägern erhalten. Der ganze Körper vollführt noch 
zu gleicher Zeit die Verrichtungen der Ernährung, der Athmung, 
der Bewegung, der Empfindung und der Fortpflanzung. 


190 


Mit ſteigender Vervollkommnung der Form aber — alſo bei 
den Polypen und Echinodermen, bei den Mollusken, bei den Glieder— 
thieren und Wirbelthieren — theilen ſich dieſe Verrichtungen mehr 
und mehr, es bilden ſich beſondere Organe für beſondere Verrich— 
tungen, mit anderen Worten, es ſtellt ſich eine höhere Organi— 
ſirung heraus. 

Mit einer gewiſſen höheren Stufe erſcheint auch für die Ver— 
geſellſchaftung von beſtimmten Organen ein gemeinſamer Sammel- 
punkt, es erſcheint ein Kopf, wie er allen höheren Thierformen zu— 
kommt, an dem ſich namentlich die Werkzeuge der Nahrungsaufnahme 
und der Sinneswahrnehmung anſammeln. 

So erſcheint die Fähigkeit der Empfindung bei den nieder— 
ſten Thierformen noch ungetheilt über die ganze oder wenigſtens doch 
über den größten Theil der Körperoberfläche vertheilt. Man unter— 
ſcheidet noch keine vorzugsweiſe die Verrichtungen der Empfindung be— 
ſorgende in eigenen Körpertheilen angeſammelte Materie. Mit den 
höheren Stufen der ſyſtematiſchen Reihe aber ſtellen ſich dann Thier— 
formen ein, bei denen man einzelne Zellen mit Nervenſubſtanz 
deutlich wahrnimmt. Später erſcheinen einfache Nervenfäden, 
dann Fäden mit Knoten oder Ganglien, weiterhin Hauptfäden 
mit Hauptknoten, denen geringere untergeordnet ſind. Endlich aber 
gewinnt bei den Wirbelthieren das Nervenſyſtem einen Sammelpunkt 
im Gehirn, welches vom Schädel eingeſchloſſen wird und von 
welchem ein Hauptnervenſtamm, das Rückenmark, ausläuft. Zu⸗ 
gleich ſammeln ſich dann um dieſen phyſiologiſchen Mittelpunkt herum 
eine Anzahl wichtiger Organe, wie das Auge, das Ohr u. |. w., 
welche bei den niedrigeren Formen noch eine verſchiedene und zum 
Theil ziemlich unbeſtändige Stellung eingenommen hatten. 

Für das Ernährungsſyſtem beſteht bei den niederſten Thier— 
formen noch kein eigenes Organ. Die allgemeine Körperoberfläche 
nimmt Nahrungsſäfte auf und ſcheidet verbrauchte Stoffe aus, ſie 
athmet ein und athmet aus. Erſt im Laufe der weiteren Vervoll— 
kommnung erſcheinen Mund, Magen und Darmcanal für die 
Ernährung, Kiemen oder Lungen als beſondere Organe für die 
Athmung. 

Aehnlich verhält es ſich mit den Organen der Bewegung, 
mit den Organen des Kreislaufes der Nahrungsſäfte und mit 
denen der Fortpflanzung. Auch hier bedingen Theilung der 


191 


phyſiologiſchen Verrichtungen und Differenzirung der Körpertheile ſich 
gegenſeitig. 

Dieſe ſtufenweiſe Vervollkommnung geſchieht nicht nach einer 
einzigen allen Thierformen gemeinſamen Richtung, ſondern theilt ſich 
bald von dieſer, bald von jener Stufe aus in ſehr verſchiedene, dabei 
aber oft dennoch einander ſehr gleichlaufende Wege. 

Indem die Thierform von der einfacheren, nieder organiſirten 
zur zuſammengeſetzteren höheren Stufe anſtrebt, ſtellt ſich alſo vielfach 
eine Ungleichheit in der Entwickelung der einzelnen O r— 
gane oder ganzer Gruppen von Körpertheilen oder phyſiologiſcher 
Organgruppen heraus. Ein Theil derſelben kann bei einer gewiſſen 
Gruppe von Organismen, ein anderer bei einer anderen Gruppe zur 
vorwiegenden Ausbildung gelangen. Durch ſolche Ungleichheiten im 
Hervortreten der Vervollkommnung entſtehen vielfach unter den Thier— 
formen mehr oder minder ausgeſprochene Parallelgruppen, deren be— 
züglicher Organiſationswerth ſich nicht immer mit Beſtimmtheit ab— 
ſchätzen läßt und dann für den Aufbau unſerer natürlichen Syſteme 
zu einem gewiſſen Grade der individuellen Anſicht Raum gibt. So 
ſtehen die zahlreichen und manigfachen Formen der Schmetterlinge, 
der Zweiflügler und der Käfer innerhalb des Bereiches eines ſehr 
eng begrenzten Grundplanes. 

Man hält ſich in ſolchen Fällen gewöhnlich an den Gegenſatz der 
animalen Orgaue und Verrichtungen — alſo jener der Bewegung 
und der Empfindung, welche überhaupt für das Thier als ſolches 
vorzugsweiſe bezeichnend ſind — zu denen vegetativer Natur, 
alſo den Organen der Ernährung, Athmung und Fortpflanzung. Eine 
Vervollkommnung in erſterer Richtung ertheilt dem Thiere im Allge— 
meinen eine höhere Würde, als eine vorzugsweiſe Ausbildung von einer 
mehr vegetativen Natur. Namentlich iſt die Entwickelung des Ner— 
venſyſtemes und der Sinnesorgane ein Maßſtab höherer Ent— 
wickelungsſtufe ſowohl an und für ſich als auch mit Rückſicht auf 
die gleichzeitigen Veränderungen, welche eine Steigerung in dieſer 
Richtung auch für die anderen Körpertheile mit ſich bringt und auf 
die Ausbildung der geiſtigen Fähigkeiten, die in ihm ihre materielle 
Grundlage erhalten. 

Ein anderes Wahrzeichen höherer Vervollkommnung iſt eine 
gleichmäßige Entwickelung aller Organe eines gewiſſen Typus, 
im Gegenſatz zu verwandten Gruppen, bei denen nur einzelne Or— 


192 


gane eder Organgruppen eine verhältnißmäßig hohe Ausbildung er- 
reicht haben, indeſſen andere gegen fie weit zurück geblieben find. 

Endlich entſpricht dem Vorgange der Arbeitstheilung auch die 
Vereinfachung und Feſtſtellung der Zahlenverhältniſſe, die ge- 
wöhnlich zugleich mit der Differenzirung der Körpertheile eintritt. 
Wird das Zahlenverhältniß einfacher und beſtändiger, ſo iſt dies 
immer ein Zeichen höheren Organiſationswerthes. So zeigen die 
Fiſche zahlreiche und ſehr gleichartige Wirbel und deren Zahl ändert 
ſich nach den Gattungen in bedeutendem Maße. Mit den höheren 
Klaſſen der Wirbelthiere aber vermindert ſich die Zahl der Wirbel. 
Es tritt zugleich eine ſtärkere Differenzirung derſelben für beſtimmte 
Verrichtungen ein. Aehnlich iſt es mit den Zähnen. Die zahlreichen 
und unter einander ſehr gleichartigen Zähne der Haie, ſowie auch die 
der Saurier und der Delphine zeigen mehr oder minder unbeſtändige 
Zahlenverhältniſſe. Mit den höheren Ordnungen der Säugethiere 
aber wird das Zahlenverhältniß des Gebiſſes einfacher und ſehr be— 
ſtändig; gleichzeitig werden die Zähne aber auch unter einander weit 
mehr ungleichartig. 

Halten wir uns, um allgemeiner bekaunte Beiſpiele hervorheben 
zu können, an die Wirbelthiere im Gegenſatz zu den wirbelloſen, 
ſo kann es zunächſt keinem Zweifel unterliegen, daß die Wirbelthiere 
im Allgemeinen und in der überwiegenden Mehrzahl der einzelnen 
Fälle die vollkommenere Form ſowohl in anatomiſcher als in phyſiolo— 
giſcher Hinſicht darſtellen. Die Wirbelthiere find höher organiſirt, in- 
dem ihre einzelnen Körpertheile, namentlich die zu weſentlichen Ver— 
richtungen beſtimmten Organe mehr individualiſirt und differenzirt 
ſind, d. h. indem ſich ein jedes derſelben für einen beſtimmten Zweck 
ausgebildet und zwar in der Art von anderen Organen abweichend ge— 
baut zeigt, daß es den ihm zufallenden Verrichtungen um ſo ausſchließ— 
licher und vollkommener entſpricht. Die Theilung der Arbeit, welche 
das Lebeweſen zu vollbringen hat, iſt beim Wirbelthier im Allgemeinen 
vollkommener auf die einzelnen Theile und Organe des Körpers aus— 
geführt. Die Fähigkeiten der Wirbelthiere ſind faſt ohne Ausnahme 
die verſchiedenartigſten, am weiteſten reichenden und überhaupt voll⸗ 
kommenſten, die Organiſationsſtufe daher höher als bei Strahlthieren, 
Gliederthieren, Weichthieren. 

Vor allen wirbelloſen voraus haben die Wirbelthiere ein inneres 
feſtes Gertiſte, welches nur bei wenigen Anfangsformen aus Knorpel, 


193 


bei der großen Mehrzahl und allen höheren Formen aber aus feſter 
Knochenmaſſe beſteht. Dieſes innere Gerüſte ertheilt ihren Bewegungen 
eine Genauigkeit und Kraft, es geſtattet ihnen auch in zahlreichen 
Fällen eine Größe zu erreichen, die bei wirbelloſen nie oder nur aus— 
nahmsweiſe vorkommt. 8 

Das Nervenſyſtem, das einflußreichite aller, iſt bei den Wirbel: 
thieren entwickelter als bei allen wirbelloſen. Sein Hauptſammelpunkt, 
das Gehirn, beginnt mit den niederſten Anfangsformen ſchon und gewinnt 
bald an Größe und überwiegender Entwickelung. Die Sinnesorgane ſind 
ſelbſtändiger und entwickelter, ſammeln ſich enger und mit ausdauern— 
der Beſtändigkeit an dem durch die Entwickeluug des Gehirns vor— 
zugsweiſe zum Träger des Thierlebens veredelten Vordertheil des 
Körpers und gewinnen damit an Leiſtungsfähigkeit. Die Organe der 
Ernährung, der Athmung, des Blutumlaufs, der Fortpflanzung und 
der Bewegung vervollkommnen ſich gleichzeitig in bald mehr gleich— 
mäßigem, bald in manigfach wechſelndem Verlauf und gelangen zu im— 
mer höherer Steigerung der Verrichtungen. 

Die Fiſche ſtellen offenbar den niederſten Anfang der Wirbel— 
thierformen dar, eine Menge von Merkmalen verkündet noch ihre 
niedrigere Stufe. Vor allen Dingen ſind bei ihnen die Wirbel zahl— 
reich, unter einander ſehr gleichartig und je nach den Gattungen von ſehr 
wechſelnder Zahl. Man bemerkt noch keinen ausgeſprochenen Gegenſatz 
zwiſchen Hals- und Rückenwirbeln, wie denn auch der Kopf gewöhn— 
lich noch durch keine dem Halſe der höheren Thiere vergleichbare 
Verengung vom Rumpfe getrennt erſcheint. Man unterſcheidet ge— 
wöhnlich nur zweierlei Wirbel, Rücken- und Schwanzwirbel. Die 
Athemwerkzeuge beſtehen dem faſt ausſchließlichen Aufenthalte im Waſ— 
ſer entſprechend aus Kiemen. Die Gliedmaßen ſind noch ſehr un— 
entwickelt und zur Form von Floſſen geſtaltet, die von den übrigen 
Floſſen des Körpers ſich im Allgemeinen nur wenig unterſcheiden. 
Die Zähne ſind zahlreich, oft z. B. bei den Haien, ſehr gleichförmig 
und im Zahlenverhältniß ſehr unbeſtändeg. Alles dies und viele an— 
dere anatomiſche und phyſiologiſche Momente ſind Züge im Character 
der Fiſche, welche die Anfänge von Reihen darſtellen, die unter manig— 
facher Vervollkommnung bei höheren Wirbelthieren ſich fortſetzen. 

Innerhalb der Klaſſe der Fiſche ſelbſt tritt nicht nur im Allge— 
meinen eine Stufenfolge vom Niederen zum Höheren ein, ſondern es 
zeigt ſich eine ſolche auch noch innerhalb der Formen der drei Haupt— 


Rolle, Darwin's Lehre. 13 


194 


ordnungen, der Knorpelfiſche, der Ganoiden und der Kno— 
chenfiſche, welche nach ſehr abweichendem Plane vom Niederen 
zum Höheren anſteigen und zu ſehr ungleichen Höhenſtufen der Ver— 
vollkommnung gelangen. So beſteht bei den Rochen und Haien 
das Skelett noch aus Knorpel und beide Gruppen erweiſen ſich nach 
dieſem wichtigen Theil ihres Körperbaues als weit hinter den Knochen— 
fiſchen zurück geblieben, aber ſie beſitzen dafür ein viel vollkommneres 
Nervenſyſten und höher ausgebildete Fortpflanzungsorgane, überragen 
in dieſer Hiuſicht daher ihrerſeits wieder die Knochenfiſche. 

Im Großen und Ganzen weit höher als alle Formen der wir— 
belloſen Thiere entwickelt, beginnt die Klaſſe der Fiſche doch mit 
einigen ſo ganz und gar nieder organiſirten Weſen, wie Amphioxus 
und Myxine, daß dieſelben den erſten Entdeckern noch gar nicht als 
Fiſche galten, ſondern Pallas die erſtere Form für eine Nadt- 
ſchnecke, Linne die zweite für einen Wurm anſah. 

Das an den Küſten der Nordſee, wie auch des Mittelmeeres 
lebende Lanzettfiſchchen, Amphioxus lanceolatus Pall., erreicht 
höchſtens zwei Zoll Länge, iſt von geſtreckter beiderſeits zugeſpitzter 
Form und faſt durchſichtig. Es beſitzt noch keinen Schädel, noch kein 
vom Rückenmark abgeſondertes Gehirn, noch kein Herz und noch kein 
gefärbtes Blut. Pallas hatte es noch für eine Nacktſchnecke, 
Limax, gehalten, erſt neuere anatomiſche Unterſuchungen zeigten, daß 
es bereits nach dem Typus der Wirbelthiere gebaut iſt, die niederſte 
bekannte Stufe der Fiſche darſtellt und überhaupt als Prototyp oder 
Urform des ganzen Wirbelthierreichs, als unmittelbarer Nachkomme 
der älteſten Wirbelthiere der Urwelt gelten kann. 

Der einfachſte Vertreter des Fiſchtypus der heutigen Schöpfung 
iſt alſo, obſchon ein unzweifelhaftes Glied der Wirbelthier-Reihe, 
doch ein an Ausbildung des anatomiſchen Baues, an Theilung und 
Steigerung der Verrichtungen den höchſtentwickelten Formen der Mol— 
lusken und der Gliederthiere noch weit weit nachſtehendes Weſen. 

Linne hatte noch Myxine den Würmern, Pallas den Am- 
phioxus den Nacktſchnecken zugetheilt. Aber die Inſecten ſind offenbar 
höher organiſirt als die Würmer, die Sepien höher als die Nackt— 
ſchnecken. ' 

Weichthiere und Gliederthiere, jede Klaſſe unabhängig von der 
anderen, ſtreben einer höheren Organiſatiousſtufe entgegen, gleichſam 
auf verſchiedenen, aber nahe gleichlaufenden Wegen, ſie erreichen mit 


195 


ihren Gipfelpunkten, die Weichthiere mit den Sepien, die Glieder— 
thiere mit den Käfern, auch ſchon einen hohen Grad der Vervoll— 
kommnung ihres ihnen eigenthümlichen Typus und überragen inſo— 
weit offenbar die niederſten Glieder eines anderen im Allgemeinen 
eine höhere Würde behauptenden Typus. Es iſt kein Zweifel, daß 
Sepien und Käfer faſt allen weſentlichen Körpertheilen nach höher 
organiſirt ſind als die niederſten Fiſch-Formeu. 

Die Klaſſe der Lurche oder der Amphibien und Reptilien 
zeigt in ihrer ungemein reichen Formen-Entfaltung viele einzelne An- 
ſchlüſſe an die Entwickelungsreihen der einzelnen Fiſchtypen. So haben 
die Molche noch eine auffallend fiſchartige Geſtaltung, ihnen ſchließen 
ſich einerſeits die Fröſchſe, andererſeits die Eidechſen, Krokodile 
und Schlangen, als mehr oder minder vereinzelte Fortſetzungen in 
verſchiedenen Abſtänden an. Stärker vereinzelt, doch auch nicht ohne ver— 
bindende Züge mit niedrigeren Ordnungen, ſtehen die Schildkröten 
da. Aehnlicher Weiſe iſolirt, doch vielfach auf Lurchen, zumal Schild— 
kröten zurück deutend, reiht ſich die Klaſſe der Vögel an, welche als 
Land⸗ und Luftbewohner und zwar meiſt als Flugthiere eine ihrer 
Lebensweiſe entſprechende hohe aber verhältnißmäßig einſeitige Ver— 
vollkommnung erreichen, die ſie den Säugethieren ſchon nahe gleichſtellt. 

Von den Fiſchen zu den Lurchen anſteigend, vervollkommnet ſich 
der Bau der Thierform ſchon in manigfacher Hinſicht, die Lebens— 
verrichtungen ſteigern ſich. Neben Kiemen treten zum erſten Male 
Lungen auf. Waſſerbewohner, amphibiſche Weſen, welche Kiemen und 
Lungen zugleich beſitzen und Landbewohner, die nur durch Lungen 
athmen, treten in Gegenſatz und, wie bei allen Lebeweſen überhaupt, 
vervollkommnet ſich auch bei ihnen mit dem Land- und Luftleben im 
Allgemeinen die Organiſation. 

Mitten inne zwiſchen Fiſchen und Amphibien ſteht die eigen— 
thümliche Mittelform von Lepidos:ren ſowie von Protopterus, über 
deren ſyſtematiſche Stellung noch jetzt die Zoologen ſtreiten, die in 
Wirklichkeit aber weiter nichts iſt, als ein vereinzelt auf unſere Tage 
erhalten gebliebener Zweig jenes genealogiſchen Stammes, dem Fiſche 
und Lurche jetzt als ziemlich getrennte Aeſte angehören. 

Lepidosiren paradoxa Natt. und Protopterus annectens OW. wur— 
den vor drei Jahrzehenden erſt in Flüſſen heißer Länder entdeckt, 
Lepidosiren in Südamerika, Protopterus in Weſtafrika. Jede 
Gattung hat nur eine einzige Art bisher geliefert. 


13° 


196 


Der Schuppenmolch oder Lepidosiren iſt ein drei Fuß Länge 
erreichendes Thier von fiſch— 
ähnlicher Körperform mit dürf— 
tig ausgebildeten floſſenartigen 
Vorder- u. Hintergliedmaßen 
und einer ganz mit der der 
Knochenfiſche übereinkommen— 
den Schuppenbekleidung. Aber 
dieſes fiſchartige Thier -befitt 
nicht nur Kiemen wie die Fiſche, 
ſondern zugleich ſchon eine paa— 
e 3. eee panadaza Matt, rige Lunge, die ſich durch einen 
Amazonen-Strom. 8 g 
Luftgang in den Schlund öff— 
net, mithin eine Organiſation, wie ſie nie bei Fiſchen, wohl aber bei 
fiſchartigen Lurchen, z. B. bei Proteus, vorkommt. Athmung und 
Kreislauf verweiſen alſo Lepidosiren zur höheren Kaffe, indeſſen die 
übrige Organiſation noch die eines Fiſches iſt. 

Lepidosiren iſt aber kein unmittelbares Verbindungsglied zwiſchen 
den höchſt entwickelten Fiſchen und den Lurchen, ſondern reiht ſich 
vielmehr den niedrigeren Formen beider Klaſſen an. Sein Skelett 
iſt erſt unvollkommen verknöchert, die Wirbelſäule beſteht noch in einem 
ungetheilten knorpelichen Strang, auf dem die verknöcherten Wirbel— 
bogen aufſitzen. Lepidosiren müßte alſo, in welche von beiden Klaſſen 
man ihn auch einreihen wollte, bei jeder in eine der niederen Grup— 
pen eingeſchaltet werden. Dieſe einzeln ſtehende Mittelform zwiſchen 
Fiſchen und Lurchen iſt nach allem dieſem offenbar nur ein durch 
günſtige örtliche Bedingungen dem Erlöſchen entgangener Abkömmling 
von einem minder differenzirten urweltlichen Stamm, der von einem 
niederen Fiſchtypus ausging und in der Ausbildung von Athmung 
und Kreislauf bis zur Höhe eines Fiſchlurchen ſich vervollkommnete, 
im übrigen aber auf der eines der niederen Fiſchtypen ſtehen blieb. 

Ganz ähnlich gebaut wie Lepidosiren iſt der weſtafrikaniſche 
Protopterus. 

Eine Menge derartiger Mittelformen mögen in den älteren geo— 
logiſchen Epochen zwiſchen heute getrennten Klaſſen beſtanden haben. 
Manche weiſt die Paläontologie nach, andere wird fie im Laufe der 
Jahre noch nachweiſen, viele aber werden wohl ſtets unſerer Forſchung 
und ſyſtematiſchen Einſchaltung für immer entrückt bleiben. 


197 


. Mit der Klaſſe der Säugethiere, deren höchſten Gipfel der 
Menſch einnimmt, erreicht die Thierwelt anatomiſch wie phyſiologiſch 
ihren Endabſchluß. Das Gehirn gewinnt die verhältnißmäßig be— 
trächtlichſte Größe; Bau und Verrichtungen der Sinnesorgane wachſen 
an, überhaupt alle Theile des Körpers erhalten größere Mittel zu 
thätiger Leiſtung. 

Die Säugethiere knüpfen mit ihren niederen Formen, gleichwie 
die Vögel zumeiſt an Charactere der Lurche an. Man könnte bild— 
lich die Fiſche Urgroßväter, die Lurche Väter der Vögel und Säuge— 
thiere, Vögel und Säugethiere aber ungleiche Geſchwiſter nennen. 

Die fiſchartigen Seeſäugethiere haben in ihrem allgemeinen Körper— 
bau noch vieles von Fiſchen und fiſchartigen Lurchen an ſich. Die 
ſeltſamen Schnabelthiere verkünden die Gemeinſamkeit ihres Urſprungs 
mit dem der Vögel. Erſt die vierfüßigen Landbewohner entwickeln in 
freierer Bahn die höhere Vervollkommnung des Säugethier - Typus. 

Während bei den Fiſchen und einem Theile der Lurche gewiſſe 
Körpertheile, namentlich Rückgraht-Wirbel und Zähne, noch in großer 
Anzahl, in vorwiegend gleicher Form und zu ſehr gleichen Verrich— 
tungen entwickelt ſind, zeigt ſich in dieſer Hinſicht unter den Säuge— 
thieren ein mauigfacher und wohlausgeſprochener Fortſchritt. Die 
Delphine und Wale bieten zwar noch manigfache Züge, die mit Charac— 
teren gewiſſer Fiſche und fiſchartiger Lurche nahe übereinkommen, mit 
den höher ſtehenden Ordnungen landbewohnender Säugethiere aber 
ſtellen ſich Umgeſtaltungen ein, die einer vollſtändigeren Theilung der 
Arbeit und einer Steigerung der Lebensverrichtungen entſprechen. Die 
Differenzirung der Wirbel nach den einzelnen Körpertheilen in Hals-, 
Rücken⸗ und Schwanzwirbel tritt ſtärker hervor, die Zahl der Hals— 
und der Rückenwirbel erſcheint verringert und zugleich beſtändiger, nur 
die Schwanzwirbel erhalten ſich nach Form und Zahl noch in manig— 
fachem Schwanken. Während die zahlreichen und einförmigen Zähne 
der Delphine ſowohl nach ihrer Geſtaltung als auch im Schwanken 
ihres Auftretens überhaupt noch an die der Saurier erinnern, ſind 
bei den höheren Formen der Säugethiere die Zähne nicht nur zu 
mehr oder minder ungleichartigen Geſtalten und für verſchiedene Ver— 
richtungen ausgebildet, ſondern ihr Zahlenverhältniß iſt auch einfacher 
und feſter geworden. Das Gebiß zerfällt nun in Schneide-, Eck- und 
Backenzähne, deren Zahl geringer, deren Geſtalt verſchiedenartiger und 
deren Verrichtung eine dem entſprechend ungleiche iſt. Form und Zahlen 


198 2 


- 


bleiben nunmehr ſelbſt für typenreiche Ordnungen in hohem Grade 
beſtändig. 

Die Körpergeſtalt überhaupt und die Gliedmaßen im beſondern 
bieten bei einem Vergleich der meerbewohnenden Wale und Delphine 
mit den Landſäugethieren ähnliche Gegenſätze wie die zwiſchen den 
Fiſchen oder Fiſchlurchen und den luftathmenden und landbewohnen⸗ 
den Lurchen. Die Körpergeſtalt der Wale und Delphine iſt fiſchartig 
und endet in eine breite ſölige Floſſe, die Vordergliedmaßen ſind breite 
Ruderfloſſen mit auffallend großer Zahl von Einzelgliedern, die Hin— 
tergliedmaßen noch unentwickelt. Weit vollkommener und reicher abge— 
ſtuft iſt der Körperbau der Landbewohner. 

Einen wichtigen Gegenſatz bilden unter den landbewohnenden 
Säugethieren die Didelphen oder Beutelthiere, welche ihre 
Jungen in einem noch ſehr unentwickelten Zuſtande zur Welt brin— 
gen und ſie in einer eigenen durch einen beſonderen Knochen geſtützten 
Bauchtaſche nachtragen, zu den Monodelphen oder gewöhnlichen 
Säugethieren, deren Junge erſt ſpäter in einem höheren Zuſtande 
der Reife zur Welt gebracht werden. Die Didelphen nehmen eine 
entſchieden niedrigere Stellung ein, ihr Gehirn iſt namentlich unvoll— 
kommen gebaut. 

Didelphen und Monodelphen zerfallen wieder nach Bau und 
Lebensweiſe in engere Gruppen, die mehrfach Parallelen bieten. So 
gibt es namentlich in beiden Ordnungen Pflanzenfreſſer und 
Raubthiere. Aber die Differenzirung nach beiden Richtungen iſt 
bei den Didelphen weit weniger vorgeſchritten, die Gruppen gehen 
bei ihnen weit weniger aus einander als bei den übrigen landbe— 
wohnenden Säugethieren, bei denen die vorzugsweiſe der beſonderen 
Art der Lebensweiſe entſprechenden Typen der Nager, Wiederkäuer, 
Dickhäuter, Raubthiere u. ſ. w. weit ausgeprägter und e 
hervortreten. 

Am vollkommenſten organiſirt unter allen lebenden Weſen iſt 
der Menſch, denn fein körperlicher Bau übertrifft an gleich mäßi— 
ger Vollkommenheit den aller anderen Säugethiere, auch der Affen, 
und feine Gehirnbildung befähigt ihn zur höheren Geiſtesthätigkeit. 
Er beſitzt einen größeren Betrag von phyſiſchen und geiſtigen Fähig— 
keiten als jedes andere Lebeweſen und übt verſchiedenartigere und 
vollkommenere Handlungen aus. Dies Alles zuſammen hat ihn zum 
Herrn der Schöpfung gemacht. 


199 


Weit augenfälliger noch als in der Pflanzenwelt findet die Stufen- 
folge, welche das Thier-Syſtem in der Anordnung der Klaſſen, Ord— 
nungen und engeren Gruppen hervortreten läßt, ihren Nachklang in 
der Aufeinanderfolge der Formen, welche das höhere Thier in der 
Entwickelung vom Ei zur Neife durchläuft. Aus dem einfachen Bau 
wird ein zuſammengeſetzterer. Die einfachen gering ausgeſprochenen 
Lebensverrichtungen des Ei's und des Embryo's ſteigern ſich mit der 
Reife zu vielfacherer und kräftigerer Leiſtung. Beim Embryo ver— 
ſchwimmen noch mehr oder minder alle Organe und alle Verrichtun— 
gen ineinander, er gleicht in dieſer Hinſicht den einfachen, nieder or— 
ganiſirten Anfängen der Thierwelt. Mit dem Fortſchreiten der Meta— 
morphoſe aber tritt eine Theilung der Arbeit ein, für beſondere Ver— 
richtungen erſcheinen mehr oder minder ſelbſtändige Organe und dieſer 
Vorgang wiederholt Erſcheinungen, wie man ſie auch beim Verfolgen 
der ſyſtematiſchen Stufenleiter vom niedrigeren zum höheren Thiere 
kennen lernt. 

Sehr auffallend und wohlbekannt iſt namentlich der Vorgang 
bei den Fröſchen. Die erſte Stufe der freien Froſchlarve oder der 
Kaulquappe iſt die Fiſchform. Der Körper iſt fiſchartig verlän— 
gert und geht in einen Steuerſchwanz aus. Die Larve kann nur im 
Waſſer leben und athmet durch Kiemen. Gliedmaßen ſind noch nicht 
entwickelt. Alle Skeletttheile ſind noch weich und knorpelig. Die 
Kiemen, anfangs noch frei, ziehen ſich in einer ſpäteren Stufe ins 
Innere zurück und gleichen dann in allen weſentlichen Zügen denen 
der Fiſche. Bis dahin beſaß die Froſchlarve noch keine Gliedmaßen. 
In der nächſten Stufe entwickeln ſich die Hintergliedmaßen, in einer 
weiteren treten die Vordergliedmaßen hinzu und nun verkümmert all— 
mählig auch der Schwanz. Die Lurchen-Form iſt ausgebildet. Nun— 
mehr entwickeln ſich auch Lungen und in dem Maße als dieſe mehr 
und mehr zum Träger der Athmung werden, verſchwinden dann die 
Kiemen. Die Stufe des luftathmenden Landbewohners iſt erreicht. 

Der ganze Vorgang aber verkündet die Art und Weiſe der im 
Laufe der geologiſchen Epochen vor ſich gegangenen Ausbildung fiſch— 
artiger Typen zur Froſchform. Ihren thatſächlichen Nachweis wird 
freilich die Paläontologie zufolge der knorpligen zur foſſilen Erhal— 
tung faſt gar nicht geeigneten Beſchaffenheit des Skeletts der Anfangs— 
formen vielleicht nie oder doch nur andeutungsweiſe liefern können. 

Eine dritte Stufenfolge der Vervollkommnung der Thierwelt im 


200 


Allgemeinen, der Klaſſen und Ordnungen im beſondern bietet ſich in 


jener chronologiſchen Aufeinanderfolge der verſchiedenen Thierformen, 
welche Geologie und Paläontologie in den auf die heutigen Tage er— 
halten gebliebenen Ueberreſten der thieriſchen Bevölkerung der einzel— 
nen übereinander gelagerten Gebirgsſchichten uns kennen lernt. 

Die älteſte foſſilführende Schichte der Erdrinde enthält von Thieren 
nur Reſte von Wirbelloſen und zwar ſowohl von Radiaten als auch 
von Mollusken und Gliederthieren. Es ſind aber innerhalb dieſer 
drei Klaſſen vorzugsweiſe Vertreter niederer Ordnungen, die ſo früh 
ſchon hervortreten; höher organiſirte Typen folgen ihnen in den ſpäter 
abgelagerten Formationen der Erdrinde. Reſte von Wirbelthieren 
fehlen in der älteſten foſſilführenden Schichte noch ganz, ſie zeigen ſich 
erſt ſpäter und zwar in einer der Organiſatioushöhe ihrer Klaſſen 


entſprechenden geologiſchen Aufeinanderfolge. Die Fiſche eröffnen die 


Reihe, ſpäter folgen die Lurche und die Vögel, dann die Säugethiere 
und in den jüngſten vorgeſchichtlichen Bodenablagerungen erſt, in dilu— 
vialen und alluvialen Schichten, erſcheinen auch Reſte des Menſchen. 

Auch innerhalb der Klaſſen entwickeln ſich in der Reihenfolge der 
Formen nach der Zeit ihres Erſcheinens im Verlaufe der Schöpfungs— 
geſchichte wieder manigfache und zum Theil ſehr beſtimmte Steigerun— 
gen vom niederen zum höheren, wie das namentlich bei den Fiſchen 
der Fall iſt. Ihre älteſten Vertreter ſind Knorpelfiſche, die noch 
jedes feſten inneren Gerüſtes entbehren und von feſten Theilen uns 
nur Zähne und Floſſenſtrahlen hinterlaſſen haben. Etwas ſpäter folgen 
auch Ganoiden, anfangs in Formen mit unverknöcherter, ſpäter 
erſt in ſolchen mit verknöcherter Wirbelſäule. Erſt mit der Kreide— 
formation folgen auch die wahren Knochenfiſche oder Teleoſtier, 
welche in unſeren heutigen Flüſſen und Meeren die Hauptmaſſe der 
Bevölkerung zuſammenſetzen und wenigſtens nach der Gleichmäßigkeit 
in der Entwickelung aller Syſteme den Vorrang vor allen den übrigen 
Ordnungen behaupten. 

In der Klaſſe der Säugethiere gehen Didelphen den höher ſtehen— 
den Monodelphen voraus. 

Die Geologie hat endlich auch gezeigt, daß Meeresbewohner den 
luftathmenden Landbewohnern vorausgingen und letztere erſt ſpäter 
als jene an Manigfaltigkeit der Formen gewannen. In Einklang da⸗ 
mit zeigt die Embryologie, daß der Embryo des Landbewohners wie 
der jedes thieriſchen Weſens überhaupt in einer der früheſten Stufen 


SEEN 


201 
ein Waſſerthier ift. In beiden Hinſichten bewährt ſich der alte Satz, 
omne vivum ex aqua, alles lebende kommt vom Waſſer. 

So verkündet ſich auch im Thierreich in zahlreichen und zweifel— 
loſen Fällen mit der zeitlichen Reihenfolge der Formen eine ſteigende 
Vervollkommnung der Organiſation, welche Parallelen zu jener der 


embryologiſchen Formenumgeſtaltung bietet und mit dieſer zuſammen 
nothwendig eine gemeinſame Grundurſache haben muß. 


Urſachen der Vervollkommnung. 


Nachdem, wie erörtert wurde, Geologie und Paläontologie ge— 
zeigt haben, wie ſowohl in der Pflanzen- als auch der Thierwelt 
Meeresbewohner vorausgehen und Landbewohner erſt ſpäter auftreten, 
wie Acotyledonen zuerſt, Dicotyledonen dann ſpäter ſich entwickeln, 
Fiſche früher als Reptilien und zuletzt erſt die Säugethiere auf dem 
Schauplatz erſcheinen, erwächſt der Darwin 'ſchen Lehre die Auf— 
gabe der Erklärung eines ſolchen mehrfachen Vorganges von chro— 
nologiſch ſteigender Vervollkommnung. 

Nach Darwin begründet ſich nun dieſe im Laufe der geolo— 
giſchen Epochen hervorgetretene Vervollkommnung im Pflanzen- und 
Thierreich in der gemeinſamen Abſtammung aller Lebeweſen 
von vorausgegangenen einfacher organiſirten Anfangsformen und in 
der ſtufenweiſen Abänderung der Nachkommenſchaft durch den 
Einfluß der natürlichen Ausleſe. 

Die Vervollkommnung der Lebewelt im Verlaufe der geologiſchen 
Epochen betrifft ſowohl die Pflanzen- und Thierwelt im Großen und 
Ganzen als auch einen Theil der Klaſſen, Ordnungen und engeren 
Gruppen, ſie erſtreckt ſich aber durchaus nicht auf alle beſonderen 
Zweige des Stammbaumes. 

Ein Theil der Aeſte und Zweige dis gemeinſamen Stammes iſt 
von gewiſſen geologiſchen Epochen an auf ganz oder nahe ganz gleicher 
Organiſationshöhe ſtehen geblieben, ein anderer Theil hat ſich in mehr 
oder minder raſchem Wechſel und in mehr oder minder beträchtlicher 
Tiefe verändert und vervollkommnet. 

Dies könnte nicht zuſammen der Fall ſein, wenn die Urſache 
der Vervollkommnung ein primäres allen Lebeweſen an und für ſich 
innewohnendes Moment wäre. Nach Darwin iſt ſie dies auch 


N 


nicht, ſondern die Vervollkommnung iſt eine bloße Folge der natür— 


202 


lichen Ausleſe und tritt nur da ein, wo der Einfluß der äußeren 
Lebensbedingungen auf eine gegebene Organiſation derart iſt, daß eine 
Veränderung in Bau und Verrichtungen das Lebeweſen im Kampf 
ums Daſein unterſtützt. Je nach dieſen beſonderen Verhältniſſen er- 
hält ſich ein Zweig des genealogiſchen Stammes entweder auf gleicher 
Organiſationshöhe oder er verändert und vervollkommnet ſich oder 
endlich er erleidet auch wohl eine rückſchreitende Metamorphoſe. 

Nur ein Theil der Lebeweſen hat ſich, wie aus der geologiſchen 
Statiſtik hervorgeht, in ganz oder vorwiegend ununterbrochenem Ver— 
laufe vervollkommnet. Zahlreiche Typen, auf einfache und ſich gleich— 
förmig forterhaltende Lebensbedingungen angewieſen, haben ihre Or— 
ganiſation auch von einer beſtimmten geologiſchen Epoche an in ein— 
facher, nur wenig veränderter und nicht merklich vervollkommneter 
Form beibehalten. Arten und Gattungen ſind vielfach andere gewor— 
den, aber man kaun entweder nicht oder kaum behaupten, daß dabei 
eine Vervollkommnung hervorgetreten ſei. 

So ſcheinen Rhizopoden, Spongien, Anthozoen und 
Bryozoen von der Epoche ihres erſten foſſilen Erſcheinens an ſich 
in der Höhe der Organiſation ganz oder doch nahe ganz gleich— 
geblieben zu ſein. Die älteſten Brachiopoden dürften den heute 
noch lebenden ſchon in allen weſentlichen Characteren gleich geſtanden 
haben. So weichen z. B. die Lingula-Arten der Siluriſchen Schichten 
nur wenig von den heute noch lebenden Arten derſelben Gattung ab. 

Im Allgemeinen ſcheinen ſolche von einer gewiſſen Stufe an auf 
gleicher Organiſationshöhe durch zahlreiche oder ſelbſt durch alle ur— 
kundlich bezeichneten Epochen ſich forterhaltenden Typen beſonders 
unter den Klaſſen und Ordnungen der Wirbelloſen vorzukommen. 
Seltener iſt der Fall bei Wirbelthieren, er trifft hier z. B. für die 
Beutelthiere ein, die ſchon in der Jura-Epoche beginnen und heute in 
wenig abweichenden Formen noch fortleben. 

Andere Lebeweſen haben ſich im Laufe der Epochen nicht nur 
verändert, ſondern auch vervollkommnet. 

Specialiſirung und Differenzirung der Theile und Organe des 


Körpers iſt von Vortheil für jedes Weſen, die Theilung der phyſio⸗ 


logiſchen Arbeit erhöht ſeine Leiſtungsfähigkeit. Da nun die natürliche 
Ausleſe die Erhaltung einer jeden individuellen Variation, welche ein 
Lebeweſen je nach feiner gegebenen Organifation und je nach ſeiner 
Stellung im Naturhaushalt zu größerer Leiſtung und zu einen glüd- 


e 


203 


licheren Beſtehen des Kampfes ums Daſein befähigt, nachdrücklich 
unterſtützt und ihre Ausbreitung unter der Nachkommenſchaft ver— 
mittelt, muß ſie unter gegebenen Umſtänden auch zu einer anatomi— 
ſchen und phyſiologiſchen Vervollkommnung führen können. 

Eine ſolche raſchere Zunahme der Organiſationshöhe ſcheint be— 
ſonders mit dem Eintritte eines vielſeitigeren Einfluſſes der äußeren 
Bedingungen eingetreten zu ſein. Wir nehmen ſie namentlich mit jener 
Stufe eines Typus wahr, wo der Uebergang vom Waſſerleben in 
das Land- und Luftleben ſtatthatte. Sowie im Verlaufe der geolo— 
giſchen Geſchichte eine Pflanzen- oder Thierform als Landbewohner 
erſcheint, iſt ſie faſt ſtets von höherer Organiſation als die nächſten 
ihr vorausgegangenen waſſerbewohnenden Verwandten. 

Wirbelthiere haben im Allgemeinen eine raſchere Zunahme der 
Organiſationshöhe gewonnen als Wirbelloſe. Landſchnecken, wie Pupa, 
Inſecten, wie z. B. Schaben und Scorpione, ſind die älteſten bekann— 
ten landbewohnenden und luftathmenden Wirbelloſen. Sie gewannen 
frühe und verhältnißmäßig raſch die dem Land- und Luftleben ge— 
mäße Organiſationshöhe und erhielten ſich ganz oder faſt genau auf 
ihr bis auf den heutigen Tag. Die natürliche Ausleſe hat bei ihrer 
ſeitherigen Nachkommenſchaft manigfache, theils größere, theils gerin— 
gere Umänderungen mit ſich gebracht, aber vielleicht kaum noch eine 
weitere Vervollkommnung bewirkt. Reptilien ſind die älteſten luft— 
athmenden Wirbelthiere. Typen von der Organiſationshöhe ihrer 
älteſten bekannten Vertreter hat auch die heutige Schöpfung noch auf— 
zuweiſen, aber zugleich hat eine manigfache Typenausbreitung und 
Vervollkommnung im Bereiche der Wirbelthierklaſſen ſtattgefunden. 
Höher organiſirte Reptilien, Vögel, Säugethiere haben ſich ſeitdem 
aus dieſem Stamme hervorgebildet. 

Es ſcheint dabei, daß ein einmal auf beſtimmter Organiſations— 
höhe eine längere geologiſche Zeit hindurch ſtehen gebliebener Typus 
durch zähere Einprägung der Erblichkeit zugleich auch einen größeren 
Widerſtand gegen den Einfluß der ihm zukommenden Lebensbedingun— 
gen gewinnt, während eine durch eine Reihe von Epochen hin vor 
ſich gehende Vervollkommnung zugleich das Hervortreten neuer Varia- 
tionen und weiterer Vervollkommnung begünſtigt. 

Es ſcheint dies aus der Abzweigung der luftathmenden Landbe— 
wohner hervorzugehen. Sie treten entweder in ſehr frühen geologi— 
ſchen Epochen ſchon hervor, oder wo ſie in ſpäteren erſt erſcheinen, 


204 


zweigen fie ſich aus einem in Zunahme der Organiſation begriffenen 
Typus ab. Ordnungen, wie die Brachiopoden und Cephalopoden, 
die bei ihrem früheſten urkundlichen Auftreten ſchon ganz oder nahe 
ganz die heutige Organiſationshöhe darboten und ſich ziemlich gleich— 
mäßig auf ihr erhielten, liefern dagegen im Verlaufe der Epochen 
auch niemals Land- und Luftbewohner. Andauernde Vererbung ſcheint 
dieſe zu einer weſentlich höheren Vervollkommnung unfähig gemacht 
zu haben, ſie erhalten ſich oder vervollkommnen ſich nur noch in 
engeren Kreiſen oder ſterben allmählig aus. 

Nach dem jetzigen Stande der Wiſſenſchaft müſſen wir mit bloſer 
Andeutung von Erklärungen uns noch zufrieden geben, aber wenn 
die Verfolgung der neuen Richtungen, welche die Darwin'ſche Lehre 
aubahnt, einmal weiter fortgeſchritten iſt, wenn wir namentlich die 
Geſetze der Erblichkeit und Veränderlichkeit einmal beſſer kennen, wird 
man auch mit größerer Beſtimmtheit die Erſcheinungen der geologi— 
ſchen Statiſtik erklären können. 

Die Formenreihe, welche heutzutage, wie die Embryologie lehrt, 
die höheren Organismen in ihrer Entwickelung vom Ei zur Reife 
durchlaufen, erſcheint nach Darwin von der Erblichkeit bedingt. 


Darwin weiſt darauf hin, daß, wenn bei einer Thierform. 


unter unſeren Augen noch eine individuelle Variation an irgend einem 
Körpertheile neu auftritt und dann auf die Nachkommen ſich vererbt, 
fie bei letzteren vorzugsweiſe in derfelben Altersſtufe wieder auftauche, 
in der ſie auch dem elterlichen Thiere zukam. (Seite 64.) 

Die Formenreihe der Entwickelung vom Ei zur Reife iſt dar— 
nach eine Vererbung des ſucceſſiven Eintritts jener Veränderungen, 
welche die Vorfahren eines Lebeweſens nach einander im Laufe der 
geologiſchen Epochen erlitten haben. 

So erſcheint die Formenreihe, welche der Froſch bei ſeiner 
Metamorphoſe durchläuft, gleichſam als ein von der Natur mehr 
oder minder getreu und unverändert aufbewahrtes Abbild jener ſuc— 
ceſſiven Formenreihe, die der genealogiſche Stamm des Froſchtypus 
im Laufe der geologiſchen Epoche durchwanderte. Aus einem fiſch— 
artigen wurde ein molchartiges Thier, dann erſt ein Froſch. 

Ob die Entdeckungen der Paläontologie in nächſter Zeit ſchon 
die ſucceſſiven Glieder einer ſolchen von der Theorie verlangten Ent— 
wickelungsreihe nachweiſen werden, ſteht dahin. Im beſonderen Falle 
der Froſchform ſteht die mehrmals ſchon berührte dürftige Kenntniß 


205 


der Land- und Süßwaſſerfauna der Kreideepoche einer endgültigen 
Löſung entgegen. Die älteſten foſſilen Fröſche gehören nach dem 
heutigen poſitiven Stande der Kenntniß der oligocänen Stufe des 
Tertiärſyſtems an, ihre Vorfahren müſſen wir in Zukunft in den 
Kreide- und Eocän-Schichten noch auffinden. 

Wie Agaſſiz ſchon hervorgehoben hat, gibt es unter den Le— 
bensformen der älteren geologiſchen Epochen auch wirklich eine Anzahl 
von Typen, welche in gewiſſen Beziehungen den Embryonen höherer 
Formen jüngerer oder der heutigen Epoche gleichen. Die geologiſche 
Aufeinanderfolge einer Anzahl von Ausbildungsſtufen eines beſtimm— 
ten Typus bildet dann wirklich eine Parallele zur Entwickelungsreihe 
der ſpäteren Nachkommen in ihrer Ausbildung vom Ei zur Reife. 
(Seite 36.38.) 

Nicht alle Thierformen erleiden eine ſo ausgezeichnete Meta— 
morphoſe als der Froſch. Es gibt andere, wie z. B. die Gephalo- 
poden und die Spinnen, bei denen die Entwickelung vom Ei zur Reife 
in ſehr früher Zeit ſchon ſtattfindet und bei denen keine von dem 
Character des reifen Thieres weit abweichende Stufe vorkommt. 

Es führt dies zur Vermuthung, daß die beſonderen Lebens— 
bedingungen, unter denen der Embryo ſich entwickelt, im Laufe ſehr 
zahlreicher Stammesfolgen auf dieſen ſelbſt wieder zurückwirken, daß 
ſie bei ihm Aenderungen im Sinne des reifen Außtandes erzeugen 
und daß dieſe dann weiterhin vererbt werden. 

Cephalopoden und Spinnen ſind Typen aus weit älteren Epochen 
als der Froſch. Bei erſteren iſt offenbar in Folge von Vererbung 
eingetretener Veränderungen des Embryo's die Eutwickelungsgeſchichte 
einfacher und unmittelbarer geworden. Der Embryo wiederholt bei 
dem geologiſch uralten Cephalopoden- und Spinnentypus die geolo— 
giſche Formenreihe nicht mehr mit ſolcher Treue und Ausführlichkeit 
als bei dem geologiſch jungen Froſchtypus. 

Dieſe und noch manche andere, hier erſt flüchtig hingeworfenen 
Andeutungen, zum Theil nicht ganz in Einklang mit Darwin's 
eigenen Erklärungen, wären noch ſehr weiter Ausführung fähig. 

Es gibt endlich auch noch Lebeweſen, die im Laufe der geologi— 
ſchen Epochen von einer gewiſſen Höhenſtufe an eine rückſchrei— 
tende Umwandlung erlitten zu haben ſcheinen. Von den E in— 
geweidewürmern iſt es wahrſcheinlich, daß ſie von frei lebenden 
Würmern abſtammen, aber gemäß der Lebensweiſe, die ſie annahmen, 


206 


gewiſſe Körpertheile, die fie in ausgebildeter Form ehedem beſaßen, 
durch Verkümmerung mehr oder minder vollſtändig ſeither einbüßten. 

So beſitzen die Acanthocephalen oder Kratzer (Echino- 
rhynchus) im Junern des Körpers einen vom Kopf- zum Hinterende 
verlaufenden ſoliden Strang, der nach der Analogie nichts anderes 
ſein kann als der ererbte, der phyſiologiſchen Verrichtung verluſtig 
gegangene Ueberreſt des Darmcanals, den die ehemaligen, uns ihrer 
näheren Natur nach völlig unbekannten Vorfahren der Acanthocephalen 
einmal beſeſſen haben mögen. Als Eingeweidewürmer bedürfen die 
Nachkommen keinen Darmcanal mehr. Sie ernähren ſich jetzt, analog 
den niederſten einzelligen Organismen, nur noch durch Einſaugung der 
ſie umgebenden Flüſſigkeiten mittelſt der Haut und ſcheiden mittelſt 
dieſer auch die durch den Stoffwechſel überflüſſig gewordenen Materien 
wieder aus. 

Vei ſolchen Rückbildungen kommt namentlich der Einfluß der 

Lebensweiſe und die Anpaſſung an dieſſelbe unter Vermittlung der Aus— 
leſe in Betracht. Die entbehrlich gewordenen Körpertheile verkümmern, 
der Organismus kann ſie ſparen, er verliert keine Nahrungsſäfte mehr 
zu ihrer Forterhaltung. Die neue Geſtaltung iſt dem Thier in Be— 
zug auf ſeine beſondere Lebensweiſe von Vortheil, aber ſie iſt kein 
Fortſchritt, ſondern ein Rückſchritt auf der Stufenleiter der Vervoll— 
kommuung. 
Bei vielen Thierformen, namentlich wirbelloſen, tritt im Laufe 
der Eutwickelung eine rückſchreitende Metamorphoſe mit der Stufe der 
Geſchlechtsreife ein, ſo namentlich bei den Cirrhipediern, zu denen 
die bekannten Meereicheln, Balanus, gehören. Das vegetative Syſtem 
entwickelt ſich in überwiegender Weiſe, das animale aber tritt zurück, 
Sinnesorgane und Bewegungswerkzeuge verkümmern oder gehen ganz 
verloren. Das ausgebildete Thier iſt dann oft auffallend niederer 
organiſirt als einer ſeiner Jugendzuſtände. Das Junge der Cirrhipe— 
dier gleicht in hohem Grade gewiſſen Entomoſtraken (Cyelops) und 
man wird dadurch zur Annahme geleitet, daß auch der geologiſchen 
Eutſtehung nach die Cirrhipedier eine Umbildung der Entomoſtraken⸗ 
Form find, die alſo in dieſem einen Zweige nicht nach ihrer Organi- 
ſationshöhe vorſchritt, ſondern zurückging. 


r 


207 


Fünftes Kapitel. 


Geologiſche Geſchichte der Schöpfung. 


Eine Summe von Erſcheinungen haben der Anſicht eine ziemlich 
allgemeine Geltung verſchafft, daß unſere Erde eine lange Reihe ſehr 
verſchiedener Stufen der Ausbildung durchlaufen hat und 
in einer der früheſten dieſer Stufen eine glühendflüſſige Kugel 
darſtellte, umgeben von einer gewaltigen alle Gewäſſer begreifenden 
Dampfmaſſe. 

Zu dieſer Annahme führen Beobachtungen über die phyſiſche 
Beſchaffenheit der uns zugänglichen tieferen Theile der Erdrinde, geo— 
logiſche und paläoutologiſche Thatſachen, endlich Analogien mit an— 
deren Himmelskörpern. 

Noch heut zu Tage ſcheint das Erdinnere glühend-heiß und 
vielleicht in flüſſigem Zuſtande zu ſein. Hierauf deutet das Empor— 
ſteigen glühend-flüſſiger Maſſen aus den Vulkanen, die heiße Tem— 
peratur ſo vieler Quellen, dann aber auch namentlich die vielfach 
nachgewieſene Zunahme der Wärmegrade mit wachſender Tiefe der 
Erdrinde. 

Endlich iſt auch ohne Annahme eines ehemaligen verſchiebbar— 
weichen Zuſtandes der Erdmaſſe ihre der Axendrehung angepaßte 
Form nicht wohl zu erklären. 

Die Zunahme der Temperatur der Erdrinde mit wachſender 
Tiefe iſt in Bergwerken und Bohrbrunnen vielfach beobachtet worden. 
Sie beträgt im Mittel von einer größeren Reihe von Beobachtungen 
in Bergwerken 1° C. auf 120 Pariſer Fuß Tiefe, in Bohrbrunnen 
dagegen 1° C. auf 92 Fuß. 

In einer Tiefe von 2000 Fuß herrſcht nachweisbar eine Tem— 
peratur von etwa 30° C. Rechnen wir, auf dieſe Grundlage hin, 
nun weiter fort, ſo kommen wir mit der Tiefe von etwa einer hal— 
ben Meile auf eine Schichte der Erdmaſſe in der die Temperatur 
des ſiedenden Waſſers oder 100° C. herrſcht. Noch tiefer, bei etwa 
5—6 Meilen Tiefe, würde man eine Temperatur finden, bei welcher 


208 


unfere meiſten Felsarten, namentlich auch der Granit, vollkommen 
flüſſig werden. 

Nach allem dieſem iſt die Annahme bei den Geologen allgemein 
geworden, daß die Erde ehedem ihrer ganzen Maſſe nach feurig— 
flüſſig war, daß auch jetzt noch das Erdinnere eine hohe Temperatur 
beſitzt und daß überhaupt nur ihre äußere Rinde bis zu einer Tiefe 
von wenigen Meilen zu einem gewiſſen Grade abgekühlt und dadurch 
erſtarrt iſt. 

Der glühend- heiße Zuſtand der ganzen Erdmaſſe muß unge⸗ 
heuere Zeiträume hindurch fortgedauert haben. Allmählig aber ent⸗ 
wich mehr und mehr Wärme in den kalten Weltraum und die äußerſte 
Rinde des Planeten begann zu erſtarren. Mit einer jeden Erſtar⸗ 
rung geſchmolzener Maſſen iſt aber eine Zuſammenziehung verknüpft. 
Die neugebildete Kruſte übte daher einen Druck auf das Erdinnere 
aus, ſie erhielt Riſſe und flüſſige Maſſe trat dazwiſchen wieder hervor. 
So entſtanden die erſten Unebenheiten der Erdrinde. Perioden des 
Erſtarrens mögen vielfach ſeither mit ſolchen theilweiſen Aufreißungen 
abgewechſelt haben. 

Welcher Art die erſten feſten Felsmaſſen der Erdrinde 
waren, iſt jetzt kaum noch zu ermitteln, doch nimmt man allgemein 
an, daß ein Theil der Granite und granitartigen Geſteine jener 
älteſten Epoche feſter Gebilde angehören, ſie mögen aber allerdings 
damals von anderer Beſchaffenheit, als ſie ſich jetzt darbieten, ge⸗ 
weſen ſein. Wahrſcheinlich waren ſie urſprünglich den feldſpathigen 
Laven unſerer heutigen Vulkane ähnlich. 

Allmählig wuchs dann im Laufe der Abkühlung der Erdmaſſe 

e Dicke und Dauerhaftigkeit der feſten Kruſte. In der Folge ſchlug 

3 dann auch ein Theil der dichten Dampfmaſſe, welche bisher die 

Erdkugel umgab, in flüſſiger Form nieder. Die Erdoberfläche ſchied 
ſich in Feſtland und Meer. 

Bei noch weiter vorgeſchrittener Abkühlung der Erdrinde mögen 
dann auch die erſten organiſchen Weſen auf Erden erſchienen 
ſein. Aller Wahrſcheinlichkeit nach waren es mikroskopiſch kleine, ein⸗ 
fache, einzellige Weſen, Mittelformen zwiſchen Pflanze und Thier, 
wie deren auch jetzt noch das Mikroskop kennen lehrt. Urkundlich er⸗ 
halten hat ſich von ihnen allerdings nicht die geringſte Spur, in 
Bezug auf die Ermittelung ihrer Natur ſind wir rein auf Hypo⸗ 
theſen verwieſen. 


= 25 


209 


Mit dem erſten Niederſchlage von Waſſer auf der erſtarrten 
Erdrinde begann die Bildung von Bodenſchichten einer neuen Art, 
den ſogenannten neptuniſchen Gebilden. 

Der Einfluß des an den erhöhten und kühleren Stellen der Erdrinde 
aus der Atmosphäre ſich niederſchlagenden Waſſers wirkte im Verein mit 
dem ſtarken Luftdrucke, der hohen Wärme und der Kohlenſäure mächtig 
zerſtörend auf die Oberfläche der feſten Urfelsmaſſen ein. Ihre Bruch⸗ 
ſtücke und feineren Trümmer wurden vom Waſſer an tiefere Stellen 
herabgeführt und lagerten ſich hier ſchichtenweiſe über einander ab. 
Dieſer Vorgang hat ſich von da an bis auf den heutigen Tag fortgeſetzt. 

Das Waſſer nagt ununterbrochen chemiſch wie mechaniſch die ihm 
ausgeſetzten Oberflächen der feſten Felsmaſſen an und führt ihre 
Trümmer den Niederungen zu, es ſtrebt die Berge zu eruiedern, die 
Tiefen auszufüllen. Dieſe allmählige Zerſtörung alter Felsmaſſen 
und gleichzeitige Ablagerung neuer Schichten dauert daher immer noch 
ununterbrochen fort, und verändert langſam und allmählig die Geſtalt 
der Erdoberfläche. In der Tiefe der Seen und des Meeres entſtehen 
dadurch fortwährend Schichten von Sand, Schlamm und gröberem 
Geſteinsſchutte, wechſelnd in Korn und Zuſammenſetzung je nach der 
Natur der der Annagung ausgeſetzten Felsmaſſen und je nach der Art 
der Bewegung der Gewäſſer, endlich auch je nach Art und Menge der 
darunter gemengten Pflanzen- und Thierreſte. 

Sind ſolche neptuniſche oder geſchichtete Ablagerungen von ſehr 
feinem und zartem Korn, ſo ſind ſie vorzugsweiſe geeignet zur deut⸗ 
licheren Erhaltung der feſten Theile organiſcher Weſen, weit weniger 
iſt dies bei Schichten von gröberem Geſteinsſchutte der Fall, die daher 
oft ganz frei von Reſten ſolcher ſind. 

Hierdurch werden die geſchichteten Gebilde der Erdoberfläche zu 
einer Art von Archiv der Geſchichte der Erde und ihrer Schöpfung. 
Die Schichten des Bodens ſind gleichſam die Blätter, die foſſilen 
Organismen oder Verſteinerungen aber die einzelnen Urkunden dieſes 
Buches der Natur. Aus ihnen entziffern wir die ehemalige Aus⸗ 
dehnung und Beſchaffenheit von Land und Meer und erfahren die 
Natur und die Lebensverhältniſſe ihrer damaligen Pflanzen⸗ und 
Thierbevölkerung. 

Man hat die verſchiedenen geſchichteten Gebilde, welche im Ver⸗ 
laufe der geologiſchen Zeiten durch den Einfluß des Waſſers in den 
Niederungen der Erdrinde abgelagert wurden, nach ihrer Reihenfolge 

Rolle, Darwin's Lehre. 14 


210 


und ihrer Beſchaffenheit, ſowie nach den von ihnen umſchloſſenen or⸗ 
ganiſchen Reſten, in eine Anzahl von Abtheilungen, gewöhnlich For— 
mationen oder auch wohl Etagen (Stufen) genannt, geſondert, die 
dann wieder mehr oder minder in Unterabtheilungen zu zerfallen 
pflegen. Viele dieſer Abtheilungen laſſen ſich mit großer Ueberein— 
ſtimmung der Geſteinsbeſchaffenheit und der organiſchen Einſchlüſſe über 
ausgedehnte Landſtrecken verfolgen, andere ändern mit der geographi— 
ſchen Entfernung manigfach ab und find dann mit gleich alten Gebil- 
den anderer Theile der Erde nur ſchwierig in Beziehung zu bringen. 
So bieten namentlich die meiſten geſchichteten Gebilde der deutſchen 
ſo wie auch der Schweizer Alpen ganz eigenthümliche, von den Abla⸗ 
gerungen der nördlicheren Länder abweichende Charactere und haben 
dadurch der wiſſenſchaftlichen Durchforſchung um Jahrzehende länger 
widerſtanden. 

Jene Schule, welche allgemeine und vernichtende Cataſtrophen 
in der Geſchichte der feſten Erdrinde annahm, dachte ſich auch die 
geologiſchen Formationen über die ganze Erde hin ſcharf von einander 
abgeſondert. Der Grenze zweier Formationen ſollte nach ihr dann 
je die Emporhebung einer Gebirgskette entſprechen, deren Entſtehung 
über die ganze Erdoberfläche hin eine gewaltſame Unterbrechung der 
gewöhnlichen geologiſchen und organiſchen Thätigkeiten zur Folge ges 
habt habe. 

Ihr ſteht aber eine andere Anſicht gegenüber, nach der es keine 
derartigen vollkommen abgeſchloſſenen Epochen gibt, und dieſe zweite 
Anſicht iſt mit der Darwin' ſchen Lehre allein vereinbar. Wo wir 
ſcharfe Grenzen an der Auflagerung zweier Formationen finden, be- 
ruhen fie auf örtlichen Ereigniſſen, deren Wirkung auf die Geſtal⸗ 
tung der Erdoberfläche und das Lebensverhältniß der Pflanzen- und 
Thierwelt eine geographiſch begrenzte war. Vergl. S. 53. 


Organiſche Einſchlüſſe. 
Petrefacten oder Foſſilien. 


Wir finden in der Reihenfolge ſandiger oder ſchlammiger Schich— 
ten, welche im Laufe der geologiſchen Epochen von den Gewäſſern 
abgelagert wurden, manigfache Reſte früherer Pflanzen- und Thier— 
formen in bald mehr bald minder vollſtändiger Erhaltung. Es ſind 
namentlich feſte Schalen oder Gehäuſe von Mollusken, Strahlthieren 


211 


und Kruftenthieren, neben dieſen finden wir Knochen und Zähne, 
auch wohl Schuppen, Hautplatten u. ſ. w. von Wirbelthieren, ſei es 
nun in zerſtreuten Stücken oder in zuſammenhängenden Skeletten, 
endlich manigfache Reſte von Meeres- und Landpflanzen. Meiſtens 
haben dieſe Theile urweltlicher Pflanzen und Thiere ihre urſprüngliche 
chemiſche Zuſammenſetzung verloren, ſie ſind in Kohle, Stein oder 
Erz verwandelt worden. Wir nennen ſie darnach Verſteinerun— 
gen, Petrefacten oder Foſſilien. Nicht minder häufig als 
Verſteinerungen von Thieren ſind Reſte urweltlicher Pflanzen, dieſe 
ſind gewöhnlich in Kohle verwandelt, ſeltener verſteinert oder vererzt. 
Gewaltige Anhäufungen vergrabener Pflanzenreſte ſind unſere Stein— 
kohlen⸗ und Braunkohlenlager, deren Material heut zu Tage bei der 
raſchen Abnahme der Waldungen eine ſo große Bedeutung gewonnen hat. 

Dieſe urweltlichen Pflanzen- und Thierreſte ſind uns in ehe— 
maligen Abſätzen von Gewäſſern erhalten geblieben. Ein Theil der— 
ſelben lebte ebenda, wo wir ſie jetzt finden, im Meere oder in ſüßen 
Binnengewäſſern und wurde hier von den gleichzeitig entſtehenden 
neuen Bodenſchichten eingeſchloſſen. So finden wir an vielen Stellen 
ganze Auſternbänke in ihrer urſprünglichen Lage verſteinert. In an— 
deren Fällen beobachtet man Baumſtämme, noch an urſprünglicher 
Stätte wurzelnd, und unmittelbar von damals neu gebildeten Boden— 
ſchichten eingeſchloſſen. Bohrmuſcheln (Pholaden und Lithodomen) 
findet man häufig in Höhlungen der Felſen des ehemaligen Geſtades 
verſteinert; am Oſt-Abhange der Wiener Alpen kann man Stunden 
weit ſolche alte durch Bohrmuſcheln bezeichnete Strandlinien noch jetzt 
verfolgen. Ein anderer Theil der urweltlichen Reſte wurde durch 
Bäche und Flüſſe in Binnenſeen oder in Meere hereingeführt, wo ſie 
von Schlamm, Sand und Felstrümmern bedeckt, ſich in mehr oder 
minder kenntlicher Geſtalt auf unſere Tage erhielten. 

Nicht leicht iſt eine geſchichtete Ablagerung ganz frei von ſolchen 
organiſchen Einſchlüſſen und oft gewähren Bergabhänge oder Schluchten, 
Steinbrüche oder Bergwerke eine reichliche Ausbeute. Und wo für 
das unbewaffnete Auge auch das Gebiet erſchöpft ſcheint, ſchließt das 
Mikroskop noch neue und unerwartete organiſche Einſchlüſſe auf. Ganze 
Gebirgslager beſtehen aus tauſenden und wieder tauſenden kleiner dem 
bewaffneten Auge erſt ſichtbar werdender Pflanzen- und Thierreſte. 

In dieſem Theile der Wiſſenſchaft hat namentlich der unermüdete 
Berliner Naturforſcher Ehrenberg erfolgreich gewirkt und zuerſt in 

14 * 


212 


zahlreichen Beiſpielen dargethan, wie ſelbſt die kleinſten organiſchen 
Weſen im Laufe langer Zeiträume an der Bildung neuer Bodenſchich— 
ten einen weſentlichen Antheil nehmen konnten und fortwährend auch 
noch an der Bildung ſolcher ſich betheiligen. 

So bedeutende Ergebniſſe die Paläontologie auch in der Unter— 
ſuchung des Vorkommens und der Natur dieſer urweltlichen Reſte ſchon 
für die Geſchichte der Erde und der belebten Welt geliefert hat, dürfen 
wir uns doch nicht verhehlen, daß ſie noch keine vollkommenen ſind 
und wenn auch täglich fortſchreitend, doch nie zur letzten Vollkommen⸗ 
heit geführt werden können. 

Der Grund davon liegt einerſeits in der Unvollkommenheit der 
Erhaltung der meiſten Verſteinerungen und andererſeits in der Unfähig⸗ 
keit zahlreicher Organismen überhaupt in foſſilem Zuſtande auftreten 
zu können. 

Eine große Menge von Pflanzen find jo zarter und leicht ver- 
weslicher Natur, daß ſie entweder gar nicht oder nur unter höchſt 
günſtigen ſeltenen Fällen eine foſſile Erhaltung finden können. Von 
Algen, Flechten, Pilzen und von den zärteren krautartigen Gewächſen 
der höheren Pflanzenfamilien kennen wir daher nur wenig Formen 
in foſſilem Zuſtande und dann oft nur in unvollkommener und unbe 
friedigender Erhaltung. Häufiger ſind Stämme, Zweige, Blätter und 
Früchte der feſter gebauten Holzgewächſe, namentlich der Coniferen. 
Aber auch bei dieſen find Stämme, Blätter und Früchte oft von ein- 
ander getrennt und es wird mitunter unthunlich, die getrennten Theile 
mit einander in Beziehung zu ſetzen. Doch kommen in einzelnen 
Fällen auch Beiſpiele von ſehr vollſtändiger Erhaltung, z. B. von 
Zweigen mit Blättern und Blüthen oder Früchten vor, dies ſind aber 
nur ſeltene Erfunde und es iſt kaum zu erwarten, daß man jemals 
ſämmtliche foſſilen Pflanzenarten nach dem Bau aller ihrer weſent— 
lichen Theile wird vollſtändig und ſicher kennen lernen. 

Das gleiche gilt für die Thierwelt. Thiere ohne feſte kalkige oder 
kieſelige Theile find zur foſſilen Erhaltung nur wenig geeignet, ſchleimig— 
weiche Formen faſt gar nicht, ſolche mit hornigen Theilen nur in ſehr 
geringem Grade. Von weichen Infuſorien, Polypen, Quallen, Einge⸗ 
weidewürmern kennt man entweder noch gar keine oder nur ſehr ver— 
einzelte Vertreter aus den älteren Epochen. So iſt z. B. von Ein⸗ 
geweidewürmern erſt vor kurzem in der Braunkohlenbildung das erſte 
ſichere foſſile Exemplar aufgefunden worden. 


213 


Am häufigſten find die feſten Kalkſchalen der Mollusken, dann 
die feſten Kalkausſcheidungen vieler Polypen (Corallen). Sie bilden oft 
ganze Gebirgsmaſſen für ſich allein oder mit anderen Foſſilien zuſammen. 

Die feſten Skelette von Krebſen und anderen Kruſtenthieren, deß— 
gleichen die von Seeſternen und Seeigeln kommen häufig und oft 
ausgezeichnet gut foſſil erhalten vor. 

Einige Fiſche, welche nur knorpeliges Skelett beſitzen, eignen ſich 
nicht wohl zur foſſilen Erhaltung, von allen anderen Wirbelthieren aber 
können ſich Knochen, Zähne und feſte Hauttheile, z. B. Panzer-Schilder 
foſſil erhalten. Nicht ſelten findet man ganze Skelette zuſammen, wie 
bei vielen Fiſchen und Reptilien. Oder man findet doch die einzelnen 
Knochentheile in ſolcher Häufigkeit und Erhaltung beiſammen, daß man 
es wagen darf, ſelbſt aus Theilen verſchiedener Individuen das Skelett 
auf Grundlage der Analogie mit lebenden Verwandten neu zuſammen— 
zuſetzen. Cuvier hat dies zuerſt in ausgedehnter Weiſe gethan und 
eine ganze Reihe von erloſchenen Säugethier- Arten aus den Gyps— 
lagern von Paris auf dieſe Art gleichſam neu wieder ins Leben 
gerufen. 

Aber auch im günſtigen Falle kennen wir von den urweltlichen 
Thieren gewöhnlich nur die feſten Theile mit den Eindrücken jener 
Weichtheile, die mit ihnen in Verbindung ſtanden. Von Gehirn und 
Nervenſyſtem, Herz und Gefäßſyſtem und anderen weſentlichen Weich— 
theilen wiſſen wir gewöhnlich gar nichts und können dieſe Lücke nur 
dürftig durch die Analogie mit den nächſten Verwandten der heutigen 
Welt ergänzen. 

Im Eisboden Sibiriens hat man wiederholt Leichen des Mammuth 
(Mammont) oder des Elephanten der Diluvialepoche mit Haut und 
Haaren gefunden. Das Fleiſch dieſes jetzt erloſchenen Thieres war 
unter dem Schutze der Kälte noch ſo gut erhalten, daß die Tunguſen 
ihre Hunde damit füttern konnten. Vom ſogenannten nordamerikani— 
ſchen Mammuth, dem Rieſen-Maſtodon, fand man in einem Torf— 
moore Virginien's ein vollſtändiges Skelett, zwiſchen dem noch 
Reſte des Magens mit halb zerkleinerten Pflanzentheilen, der ehema— 
ligen Nahrung des Thiers, zu finden waren. 

Das ſind aber nur ſehr einzeln ſtehende Fälle von ausgezeich— 
neter Erhaltungsweiſe urweltlicher Thierreſte, meiſt muß man ſich 
damit begnügen nur die vollkommen feſten Theile der Thiere in ihrem 
Zuſammenhang nachweiſen zu können. In vielen Fällen iſt auch dies 


214 


nicht einmal möglich. Man kennt z. B. von Fiſchen eine Menge von 
einzelnen Zähnen, Schuppen, Wirbeln u. ſ. w., weiß aber gewöhnlich 
nicht genau, welche zu einem und demſelben Thiere zuſammengehörten. 
Man wartet dann von Jahr zu Jahr bis einmal ein glücklicher Zu⸗ 
fall ein Exemplar auffinden läßt, aus dem der Zuſammenhang der 
ſonſt nur getrennt vorkommenden Theile erſichtlich wird. | 

Auch die Lebensweiſe der Organismen verhindert in vielen Fällen 
die Wahrſcheinlichkeit einer foſſilen Erhaltung. Landbewohner gelangen 
viel ſeltener als Meeresbewohner in entſtehende Geſteinsablagerungen. 
Unſere Kenntniß der Landthiere der älteren Epochen iſt daher weit 
dürftiger als die der gleichzeitigen Meeresthiere. 

Aus allem dieſem geht hervor, daß unſere Kenntniß der urwelt— 
lichen Pflanzen- und Thierformen weder eine vollkommene iſt, noch 
überhaupt je werden kann. Wir müſſen uns begnügen, darin von Tag 
zu Tag und Jahr zu Jahr nach Ausdehnung und Tiefe zuzunehmen, 
aber wir werden in beiden Richtungen nie dieſelben Grade von Sicher— 
heit wie über unſere heute lebenden Pflanzen und Thiere gewinnen. 
Bleibt die Kenntniß der lebenden Welt ſchon hin und wieder unvoll— 
kommen, ſo muß es die ihrer urweltlichen Vorläufer in noch höherem 
Grade bleiben. 

Nichts deſto weniger bleibt uns die Aufgabe nicht erlaſſen, eine 
Geſchichte der Entwickelung des Lebens von den älteſten geologiſchen 
Zeiten bis auf den heutigen Tag zu entwerfen. Dies iſt aber nur 
möglich, wenn wir die Lücken unſerer Forſchung auf Grund der Ana— 
logien überbrücken, d. h. wenn wir Hypotheſen wagen. Wir können 
dies nicht unſeren Nachkommen hinterlaſſen, denn das Allgemeine 
wirkt ſtets auch auf das Beſondere wieder zurück und die Hypotheſe, 
wenn ſie in wiſſenſchaftlichem Sinne geſtellt wird, fördert die For— 
ſchung. Dem Geologen und Paläontologen die Hypotheſe verbieten zu 
wollen, heißt ihm einen großen Theil ſeiner Ausſicht auf fortſchrei— 
tende Erkenntniß rauben. Es iſt hier, wie in anderen Fächern gewiß 
nützlich und verdienſtlich, Thatſachen auf Thatſachen aufzuhäufen. Aber 
das iſt nur die erſte Hälfte der Aufgabe. Das Haufwerk nackter 
Thatſachen muß durch den geiſtigen Faden verbunden und aus dem 
Heer der Einzelheiten das allgemein gültige erſchloſſen werden. 

Wollen wir alſo die Entſtehung der lebenden Welt und die 
Beziehungen der urweltlichen Flora und Fauna zur heute lebenden 
ergründen, ſo müſſen wir allerdings zunächſt die exacte Thatſache 


215 


erfafjen, aber wir dürfen nicht dabei ſtehen bleiben, wir müſſen auch 
die Lücken zwiſchen den Thatſachen ins Auge faſſen und auf Grund 
wiſſenſchaftlicher Anſchauung ſie entweder als abſolut vorhanden an— 
erkennen oder anderen Falles mit ahnendem Geiſte überbrücken. 

Ein bloſes Stehenbleiben bei der exacten Thatſache verwehrt 
den freien Ueberblick des Ganzen und verdeckt den Weg zu den der 
Aufklärung zunächſt bereit liegenden Räthſeln. Ein Herbeiziehen über— 
natürlicher Eingriffe zur Verknüpfung der iſolirten Thatſachen aber 
ſchneidet der Wiſſenſchaft den Lebensnerv ab und führt uns zu den 
Wegen zurück, auf denen ſie in den dunklen Zeiten des Mittelalters 
ſo viele Jahrhunderte hindurch ſtille ſtand. 


Reihenfolge der geologiſchen Formationen. 


Schon die älteren Geologen des vorigen Jahrhunderts, wie na— 
mentlich die deutſchen Bergleute Lehmann und Füchſel unterſchie— 
den die kryſtalliniſchen Maſſen der Gebirge, den Granit und die kry— 
ſtalliniſchen Schiefer, namentlich den Gneis und Glimmerſchiefer, von 
den übrigen Gebilden der Erdoberfläche unter dem Namen Urge— 
birg oder uranfängliches Gebirg. Sie betrachteten den Granit und 
die kryſtalliniſchen Schiefer als die älteſten Geſteine und alle übrigen 
denſelben aufgelagerten als bloſe ſecundäre Bildungen, hervorge— 
gangen aus der Zerſtörung der älteren und der Wiederablagerung 
von deren Bruchſtücken und Trümmern. 

Hiernach beſteht die Erdrinde zu unterſt und in dem inneren 
Kerne der Gebirge aus kryſtalliniſchen Geſteinen, deren Bil— 
dung der älteſten Epoche angehört, namentlich aber aus Granit, 
Gneis und Glimmerſchiefer. Dieſes Ur gebirge enthält keine or— 
ganiſchen Reſte und führt auch keine Gerölle anderer Gebilde. 

Darauf ruht das Flötzgebirge oder die Secundär-Forma— 
tion, zuſammengeſetzt aus einer manigfachen Reihe von verſchiedenen 
Lagen, beſonders von Sandſtein, Kalkſtein, Thon und Mergel. Dieſes 
Flötzgebirge entſtand nach Bildung des Urgebirges aus deſſen zerklei— 
nerten Trümmern, die vom Waſſer in Geſtalt von Sand, Schlamm 
und Geröllen abgelagert wurden. Damals beſtanden Pflanzen und 
Thiere manigfacher Art, ihre Reſte wurden in den Ablagerungen der 
Gewäſſer eingeſchloſſen, auch Kohlenflötze wurden damals gebildet. 


216 


Zu oberſt aber lagerte ſich noch eine Lage von meiſtens lockeren 
oder ganz loſen Gebilden, namentlich von Lehm, Sand und Geröllen, 
ab, die man als aufgeſchwemmtes Land bezeichnete und denen 
man lange keine beſondere Aufmerkſamkeit zuwandte. 

Aus dieſer einfachen Reihe weniger Glieder wurde aber allmählig 
ein mehr und mehr in Haupt- und Unterabtheilungen gegliedertes 
Syſtem und zwar traten nun auch für ihre Beurtheilung bald die 
organiſchen Einſchlüſſe oder ſogenannten Verſteinerungen mehr und 
mehr maßgebend hinzu. 

Werner ſchaltete in der Folge zwiſchen Urgebirge und Flötz— 
gebirge eine mittlere Gruppe ein, in der er der mineraliſchen Be- 
ſchaffenheit nach einen Uebergang vom einen in das andere erkannte. 
Sie begreift Thonſchiefer, Grauwacke und einen ihnen untergeordneten 
Kalkſtein. Werner bezeichnete ſie als Uebergangsgebirge. 

In der Folge erkannten Cuvier und Al. Brogniart in 
den Umgebungen von Paris eine Reihenfolge von Schichten, die 
ſie von den oberſten Secundär-Ablagerungen einerſeits, den oberfläch— 
lichen Anſchwemmungen oder Alluvionen andererſeits zu unterſcheiden 
veranlaßt wurden. Sie erkannten deren Aequivalente auch in Ita⸗ 
lien, am Rhein u. ſ. w. wieder und vereinigten ſie unter dem 
Namen der Tertiär⸗-Formation, der alsbald auch allgemeinen 
Eingang fand. 

Hiernach beſteht die Reihenfolge der Formationen den großen 
Hauptzügen nach aus folgenden Gliedern. Zu unterſt lagert der 
Granit und die kryſtalliniſchen Schiefer oder das ſogenannte Urge⸗ 
birge, darüber das Uebergangsgebirge, dann das Flötzgebirge oder die 
Secundär-Formation, darüber die Tertiär-Formation und zu oberſt 
das ſogenannte aufgeſchwemmte Land oder Diluvium und Alluvium. 

Auch dieſe Eintheilung, obſchon ihren Grundzügen nach weſentlich 
der Wahrheit entſprechend, hat ſeither wieder manigfache Umgeftal- 
tungen erlitten. Von vielen Geſteinen, die die älteren Geologen dem 
Urgebirge zuzählten, weiß man jetzt, daß ſie verhältnißmäßig junger 
Bildung ſind und erſt in ziemlich ſpäten Epochen aus der Tiefe der 
Erdrinde emporgehoben wurden. Uebergangsgebirge, Flötzgebirge und 
Tertiär⸗Formation aber find ſeitdem in eine Menge von Unterabthei⸗ 
lungen getheilt worden, denen man dann ſogar eine ſelbſtändige 
Bedeutung hat zuerkennen wollen. 

So theilte d'Oörbigny (1848) die Reihenfolge der geſchichteten 


217 


Gebilde in nicht weniger als 26 Etagen, die nach ihm alle ihre 
eigenthümliche und ausſchließliche Bevölkerung haben ſollten. 

Einen allgemeinen Ueberblick über die heute angenommenen Ab— 
theilungen der Schichteufolge, von den engeren Formationsgliedern 
abgeſehen, mag die folgende Aufzählung geben. 


I. Kryſtalliniſches Schiefergebirge. 

Urgebirge oder Grundgebirge, Azoiſches Syſtem. Gneis und 
Glimmerſchiefer mit Hornblendeſchiefer, körnigem Kalk u. ſ. w. Es ſind ge— 
ſchichtete kryſtalliniſche Geſteine von meiſt granitartiger Zuſammenſetzung, ohne 
alle organiſchen Einſchlüſſe und ohne Gerölle anderer Geſteine. Mit ihnen 
iſt ein Theil des Granits eng verknüpft. 

II. Uebergangsgebirge. Kohlengebirge. Paläozoiſches Syſtem (Paläolithiſches 
Syſtem). 

1. Siluriſches Syſtem oder Siluriſches Gebirge, die älteſten Schichten 
des Uebergangsgebirges begreifend und die älteſten organiſchen Reſte, nament— 
lich die ſog. Primordial-Fauna einſchließend. 

2. Devoniſches Syſtem, die oberen Schichten des Uebergangsgebirges 
von Werner begreifend. Hierher gehört namentlich das Rheiniſche Grauwacken— 
und Thonſchiefergebirge und der Eifeler Kalk, ferner der ſogenannte alte rothe 
Sandſtein der Engländer. 

3. Steinkohlenſyſtem oder Hauptſteinkohlengebirge, aus dem Bergkalk 
und den oberen an Kchlenflögen reichen Sandſtein- und Schieferthon-Ablage— 
rungen beſtehend. 

4. Permiſches Syſtem, das Rothliegende oder Todtliegende, 
den Kupferſchiefer und den Zechſtein begreifend. Die älteren Geologen 
rechneten das Steinkohlen- und das Kupferſchiefer-Gebirge den Flötzgebirgen 
zu, die neueren haben es indeſſen auf Grund der paläontologiſchen Charactere 
davon abgetrennt und den paläozoiſchen Gebilden noch angeſchloſſen. 

III. Flötzgebirge oder Secundär-Formation. Meſozoiſches (oder meſolithiſches) 
Syſtem. 
5. Trias, in Nord- und Mitteldeutſchland den Buntſandſtein, den 
tujchelfalf und den Keuper begreifend, in den öſterreichiſchen Alpen 
durch den Werfener Sandſtein und Schiefer, den Guttenſteiner Kalk 
und den Hallſtätter oder Caſſianer Kalk vertreten. 

6. Jura, in Nord- und Mitteleuropa durch den Lias, den Dogger, 
die Kelloway- und Oxford-Schichten, den weißen Jurakalk, die 
Portland-Schichten u. ſ. w. vertreten; in den Alpen ſtatt ihrer der Dach— 
ſteinkalk mit den Köſſener und Greſtener Schichten, die Hierlatz— 
Schichten, Adnether Schichten u. ſ. w. 

7. Kreide, aus dem Neocomien, dem Gault, dem Grünſand und 
der oberen oder eigentlichen Kreide beſtehend und im einzelnen nach den Erd— 
theilen manigfach abändernd; Hilsthon, Quaderſandſtein und Pläner 
in Norddeutſchland; Roßfeldſchichten und Goſau-Gebilde in den 
Oeſterreicher Alpen; Schrattenkalk, Seewer Kalk u. ſ. w. in der Schweiz 


218 


IV. Tertiärſyſtem. Neozoifhes (neolithiſches) Syſtem. 

8. Eocän-⸗Syſtem. Hierher der untere (orthroeäne) und mittlere Theil 
der Ablagerungen des Pariſer und des Londoner Beckens, dann ein großer 
Theil der Nummulitenformation der Alpen, die Schichten des Monte Bolca u ſ. w. 

9. Oligocän-Syſtem. Hierher der obere Theil der Tertiärablagerungen 
von Paris und London, die bernſteinführende Braunkohlenformation und andre 
Schichten von Norddeutſchland, die untere Abtheilung der Schichten des Main⸗ 
zer Beckens, die Sotzka-Schichten von Steiermark u. ſ. w. Hier beginnt die 
fortſchreitende Abkühlung der Erde von den Polen aus nach ihrem Einfluſſe 
auf die lebende Welt ſich allmählig mehr und mehr kund zu geben. 

10. Miocän-⸗Syſtem. Hierher die Ablagerungen am nördlichen Fuß 
der Alpen von der Schweiz an durch Bayern und Oeſterreich bis nach Ungarn 
und Siebenbürgen, darunter namentlich die des Wiener Beckens, ferner die 
oberen Schichten des Mainzer Beckens, der untere Theil der ſogenannten Crag- 
Gebilde von England und Belgien u. ſ. w. 

11. Pliocän⸗Syſtem. Dahin namentlich die Subapenninen-Gebilde 
von Italien und Südfrankreich, die oberen Schichten des Crag's von England 
und Belgien, dann manche iſolirte Süßwaſſerablagerungen von Europa, na⸗ 
mentlich die oberen Schichten des Wiener und des Ungariſchen Beckens. Kli⸗ 
matiſche Verhältniſſe in Europa faſt vollkommen ſchon wie in der Jetztwelt. 


V. Das aufgeſchwemmte Gebirge der älteren Geologen, welches aber ſeit 
der beſſeren Erforſchung der oberen Tertiärgebilde nicht mehr wohl von 


dieſen abzutrennen iſt, zugleich aber auch unmerklich in die Bildungen 


des heutigen Tages verfließt. 

12. Das Diluvium, von den der Theologie zuneigenden Geologen der 
älteren Zeit bis auf Buckland für ein Erzeugniß der ſogenannten „Sünt- 
fluht“ erklärt, jetzt in verſchiedene Glieder von ſehr abweichender Entſtehungs— 
weiſe abgetheilt. Vorübergehende Eiszeit in Nord- und Mitteleuropa und in 
Nordamerika. Einwanderung eines Theiles der heutigen Flora und Fauna 
Europa's aus milderen Erdtheilen. 

Vom Diluvium hat man lange Zeit hindurch die noch jüngeren und in 
Fortbildung begriffenen Ablagerungen geſondert und unter dem Namen Al- 
luvium unterſchieden. Das Auftreten des Menſchen ſollte die Grenzſcheide 
zwiſchen Diluvium und Alluvium bilden, aber dieſer Unterſchied iſt in den 
letzten Jahren mit der wachſenden Kenntniß über das geologiſche Vorkommen 
des Menſchen in ſich zuſammengebrochen. 

Ueberhaupt wird die ſyſtemgemäße Unterſcheidung von Formationen und 
Epochen um ſo ſchwerer, je näher wir im Verfolge der geologiſchen Geſchichte 
der Jetztwelt uns nähern. In den jüngeren Ablagerungen iſt im Laufe der 
letzten Jahrzehende die Einiheilung jo ſehr ins Einzelne und Oertliche durch— 
geführt worden, daß die Gegenſätze, die man ehedem zufolge der allgemeineren 
Zuſammenfaſſung in ihnen fand, darüber ganz verſchwunden ſind. 


219 


Urzeugung. 


Die Abkühlung der Erdrinde mußte ſchon ziemlich weit vor— 
angeſchritten ſein, als die erſten organiſchen Weſen auf Erden 
erſchienen .). 

Welcher Art in Wirklichkeit dieſe älteſten Pflanzen- und Thier⸗ 
formen waren, vermögen wir freilich nicht mehr erfahrungsweiſe dar— 
zuthun, die Theorie aber weiſt uns klar genug auf einfache Zellen— 
formen von geringen Lebeusverrichtungen, wie ſie heute die niederſten 
Algen und die einfachſten Infuſorien und Rhizopoden zeigen. 

Die nachweisbar älteſten, d. h. wirklich auf unſere Zeiten als 
Foſſilien erhalten gebliebenen Lebeweſen ſind Arten von Algen, von 
Strahlthieren, Weichthieren und Kruſtenthieren, unter welchen die zu 
den letzteren gehörigen Trilobiten gewöhnlich bei weitem vorherr— 
ſchen. Dieſe nachweisbar älteſten Organismen ſind aber Formen von 
bereits ſo zuſammengeſetzter und vervollkommneter Stufe, daß wir von 
ihnen durchaus nicht mehr annehmen können, ſie ſeien in Wirklichkeit 
der erſte Ausgangspunkt der Lebewelt geweſen, d. h. ſie ſeien auf 
elternloſem Wege auf Erden erſchienen. 

Es müſſen alſo vor dieſer älteſten auf uns erhalten gebliebenen 
Flora und Fauna noch andere und zwar einfacher organiſirte Pflanzen 
und Thiere auf Erden geweſen ſein, deren Formen entweder der foſſilen 
Erhaltung überhaupt nicht fähig waren oder die auch wohl in Boden— 
ſchichten begraben, aber durch nachfolgende Vorgänge doch wieder ganz 
aufgelöſt wurden. 

Die älteſten Urpflanzen und Urthiere aber mögen wohl einzellige 
Organismen geweſen ſein, ähnlich wie uns deren jetzt noch das Mi— 
kroskop in ſtehenden Gewäſſern und Aufgüſſen ſo viele zeigt und ähn— 
lich den Ei'chen und Pollenkörnern der höheren Pflanzen und Thiere. 


1) Die meiſten der heute lebenden Pflanzen- und Thierarten werden ſchon 
durch eine bei weitem noch nicht bis zum Kochpunkte des Waſſers geſteigerte Hitze 
getödet, nur wenige vermögen eine nahe bis zu dieſem Punkte gehende Temperatur 
zu ertragen. In Thermen leben heut zu Tage eine Anzahl von Pflanzen 
und Thieren, namentlich ſolche der niederen Klaſſen. Conferven und andere 
nieder organiſirte Pflanzenformen, Sufuforien u. ſ. w. leben noch in warmen 
Gewäſſern von 70—80° C. Mollusken, Kruſter und Fiſche finden ſich dagegen 
nicht leicht mehr in ſo hoch temperirten Quellen. So lebt die oft genannte 
Thermalſchnecke von Abano bei Padua, Hydrobia Aponensis Mart. (thermalis 
auct.) nach G. v. Martens in Waſſer von 44 C, ſtirbt aber ſchon bei 52°. 


220 


Für dieſe einfachſten Urpflanzen und Urthiere liegt nun die An- 
nahme einer Urzeugung oder generatio aequivoca, wie fie ſchon 
Lamarck und Oken aufſtellten, nahe genug. 

Es iſt wahr, daß die Annahme einer ſolchen elternloſen Ent- 
ſtehung organiſcher Weſen aus unbelebter Materie mit großen Schwie- 
rigkeiten zu kämpfen hat. Die fortſchreitende Beobachtung der Lebe⸗ 
welt, namentlich aber die Anwendung des Mikroskops haben der alten 
Anſicht von einer heut zu Tage noch vor ſich gehenden Urzeugung, 
wie ſie Ariſtoteles und ſo viele andere älteren und neueren 
Naturgelehrten ausſprachen, von Jahr zu Jahr mehr an Boden ge— 
raubt. Es ſcheint ſogar faſt ſicher zu ſein, daß heut zu Tage die Ent— 
ſtehung von Pflanzen und Thieren nur noch auf elterlichem Wege 
vor ſich geht. Aber für den erſten Anfang der Lebewelt wird man 
immer wieder, ſo ſehr man ſich auch andererſeits dagegen ſträuben 
möge, auf die Annahme der Urzeugung zurückkommen müſſen. Gewiß 
wird kein Naturforſcher bei dem heutigen Stande der Anatomie und 
der Phyſiologie im Ernſte noch behaupten wollen, daß eine höhere 
Thierform mit den wunderſam feinen Einzelheiten ihrer Organiſation, 
unmittelbar wie ſie iſt, habe entſtehen oder erſchaffen werden können. 

Wollen wir nicht mit Agaſſiz und Anderen zu einer Entſtehung 
der Thier- und Pflanzenarten auf übernatürlichem Wege unſere Zu— 
flucht nehmen, ſo müſſen wir mit Lamarck, mit Oken und mit 
Darwin vermuthen, daß die früheſten Formen durch Urzeugung ent- 
ſtanden, elternlos, aus unbelebtem Stoffe und daß es Formen der 
einfachſten und niederſten Organiſation, belebte Schleimkügelchen oder 
von lockerer Membran umſchloſſene Zellen waren, ähnlich jenen, welche 
in der heutigen Schöpfung noch den erſten Anfang in der Reihe der 
Pflanzen- und Thierwelt darſtellen. Vermöge ihrer weichen und leicht— 
auflöslichen Materie waren ſie zu keiner foſſilen Erhaltung fähig und 
ihre Formen müſſen daher unſerer unmittelbaren Beobachtung für 
immer entrückt bleiben. 

Die ſtreng wiſſenſchaftliche Theorie verlangt mehr und mehr 
dieſe Hypotheſe, aber das Experiment hat ſie bis jetzt noch nicht zu 
bewahrheiten vermocht. Im Gegentheil hat die ſtrenge Forſchung in 
allen den Fällen, wo man eine Entſtehung neuer organiſcher Weſen 
aus faulenden pflanzlichen oder thieriſchen Stoffen angenommen hatte, 
dargethan, daß die Beobachtung falſch oder ungenau war und zum 
Schluſſe geführt, daß alle organiſchen Weſen, die heute leben, nur durch 


221 


Theilung elterlicher Weſen oder aus Eier oder Samen, dagegen nirgends 
mehr auf elternloſem Wege entſtehen. 

Prof. Ehrenberg, deſſen umfangreiche mikroskopiſche Unter— 
ſuchungen ein ſo ausgedehntes Gebiet des organiſchen Lebens im klein— 
ſten Raume und in reichſter Fülle der Formen erſchließen, hat ſich 
von 1834 an bis auf die neueſte Zeit mit Entſchiedenheit gegen die 
alte Ariſtoteliſche Lehre von der Urzeugung ausgeſprochen. Er wies 
namentlich nach, daß eine Menge nieder organiſirter Formen, von 
denen man es bis dahin noch nicht wußte, Eier und Samen erzeu— 
gen, die Eier und Keime aber ſehr leicht in die Atmosphäre gelangen. 

Nieder organiſirte mikroskopiſche Pflanzen- und Thierformen ent— 
ſtehen zwar ſchon nach Verlauf weniger Tage in Aufgüſſen organiſcher 
Stoffe bei Zutritt der Luft. Es ſtellt ſich aber bei genauerer Prüfung 
heraus, das alle dieſe mikroskopiſchen Organismen nur den aus der 
Luft hereingelangten Keimen und Eiern ihr Daſein verdanken. Es iſt 
nach Ehrenberg anzunehmen, daß eine unendliche Menge Eier von 
Infuſionspflänzchen und Infuſionsthierchen als Staub in der Luft 
umhergetragen werden und jeden Augenblick an alle Stellen gelangen 
können, wo zu ihrer Entwickelung günſtige Verhältniſſe ſind. Die In— 
fuſorieneier ſind kleiner als die feinſten Sonnenſtäubchen und können 
daher in trockenem Zuſtaͤnde durch die leichteſte Luftbewegung fortge— 
führt werden. 

F. Schulze fand, daß pflanzliche und thieriſche Stoffe in einem 
Glaskolben mit deſtillirtem Waſſer übergoſſen und der Kochhitze aus— 
geſetzt, ſelbſt nach längerer Zeit noch keine Bildung von Algen und 
Infuſorien zeigten, ſobald man die Luft nicht in der gewöhnlichen 
Form, ſondern durch Schwefelſäure geleitet und ſomit gereinigt hinzu— 
treten ließ. Die feinen in der Luft umhertreibenden Stäubchen alſo 
ſind es erſt, welche in faulenden Aufgüſſen organiſcher Stoffe zur 
Eutſtehung von ſcheinbar elternlos auftauchenden mikroskopiſchen Or— 
ganismen führen. 

Prof. Unger iſt für die niederſten Pflanzenformen zu ähnlichen 
Ergebniſſen gelangt. Er fand, daß ſelbſt im reinſten deſtillirten Waſſer, 
ſobald die atmosphäriſche Luft Zutritt hat, einfache einzellige Algen, 
wie Protococcus minor entſtehen. Wird aber die Luft zuvor durch 
künſtliche Reinigung auf chemiſchem Wege von ihrem Gehalte an keim— 
fähigen Stäubchen befreit, ſo zeigt ſich ſelbſt nach Jahren noch nicht 

eine Spur von neu entſtehenden organiſchen Weſen. 


222 


Dann aber genügt auch ſchon ein nur auf wenige Secunden 
ausgedehntes Oeffnen des Korkes, um in der wieder verſchloſſenen 
Flüſſigkeit eines Glasgefäßes bereits nach kurzer Zeit kleine mikrosko— 
piſche Algen zur Entwickelung zu bringen, die den in der kurzen Zeit 
des Oeffnens hereingetretenen lebenbergenden Stäubchen entſtammen. 

Auch die Hefenzellen oder Gährungspilze, welche in 
gährenden Pflanzenaufgüſſen auftauchen und lange als wirkliches Er- 
zeugniß der Gährung galten, ſind keine elternlos entſtehenden Weſen, 
ſondern verdanken den in der Luft allenthalben in mikroskopiſcher Form 
verbreiteten Pilzſporen ihr Daſein und vom Keimen und Wachſen ſol— 
cher iſt überhaupt jede Gährung abhängig. Ein gährungsfähiger Stoff 
geht darum ſchon, ſobald man nur das Gefäß mit einem Pfropf von 
Baumwolle verſchließt, nicht mehr in Gährung über. Die Baum⸗ 
wolle genügt nämlich bereits den Zutritt der die Gährung einleitenden 
Pilzſporen abzuhalten. | 

So iſt denn unter der ausgedehnten Anwendung des Mikroskops 
der alte Harvey'ſche Satz, daß alles Lebende vom Ei ausgeht, omne 
vivum ex ovo, in neuerer Zeit wieder mehr zu allgemeiner Geltung 
gelangt, als je vordem. Man nimmt allgemein an, daß, abgeſehen von 
den ſchon gedachten Fällen von Selbſttheilung, kein organiſches Weſen 
mehr anders als aus Keimen, Samen oder Eiern entſtehen könne. 

Wenn es nun auch durch einfache und erſchöpfende Verſuche dar— 
gethan iſt, daß heut zu Tage Pflanzen und Thiere, ſelbſt ſolche von der 
einfachſten Organiſation, auf keinem anderen Wege mehr, als dem 
der Zeugung oder der Theilung elterlicher Weſen entſtehen, ſo läßt 
ſich doch behaupten, daß dieſes Geſetz kein abſolutes fein muß, ſon— 
dern ſehr wohl ein auf den dermaligen Stand der Dinge einge— 
ſchränktes ſein kann. N 

Unſere Verſuche entſcheiden zunächſt nur für die heutige Zeit 
und die heutigen Verhältniſſe und haben auch nur mit Bezug auf 
dieſe verneinend geantwortet. Es iſt vor allem darauf hinzuweiſen, 
daß unſere Experimente nicht unter dem Einfluſſe jener äußeren Ver⸗ 
hältniſſe ausgeführt wurden, die zu Anfang des organiſchen Lebens 
auf Erden herrſchten. Die Zuſammenſetzung der Atmosphäre und 
die Natur der in den Gewäſſern gelöſten Stoffe müſſen damals in 
mancher Hinſicht ganz anderer Art geweſen ſein. Auch Luftdruck und 
Wärme können maßgebende Unterſchiede bedingt haben. Es läßt ſich 
behaupten, daß, ſo ſehr auch alle dahin einſchläglichen Verſuche die 


223 


heutigen Exiſtenzverhältniſſe wiederholt haben mögen, fie doch jene 
noch nicht in ihr Gebiet zogen, die zur Zeit der erſten Entſtehung 
der organiſchen Weſen vorlagen. 

Zur Annahme einer Urzeugung von Pflanzen und Thieren als 
erſten Anfangsformen der heutigen Lebewelt gehört der Nachweis einer 
unbelebten aber lebensfähigen Materie oder wie Oken dafür in ſeiner 
urſprünglichen Weiſe jagt, eines Urſchleims. 

Eine ähnliche Materie kennen wir bis jetzt nicht. Die phyſiolo— 
giſche Chemie hat, wie es ſcheint, überhaupt noch nichts ähnliches 
dargeſtellt, aber ſie hat auch die Möglichkeit der Darſtellung einer 
ſolchen bis jetzt noch nicht entſcheidend abgeſchnitten. 

Unſere Unbekanntſchaft mit einer ſolchen unbelebten aber lebens— 
fähigen Materie iſt übrigens auch wohl begreiflich. Sie kann, wenn 
ſie in der Natur auch wirklich in größerer oder geringerer Menge 
fortdauernd noch auf anorganiſchem Wege erzeugt wird, unſerer Wahr— 
nehmung gar nicht deutlich werden, denn ſie muß dem alle Räume 
des Waſſers und des Dunſtkreiſes erfüllenden Leben unſerer Zeit 
alsbald zum Raub werden. Das Mikroskop hat uns gelehrt, wie 
alle Gewäſſer von zahlloſen Pflanzen und Thieren der geringſten 
Größe und einfachſten Organiſation belebt werden. Auch der Dunſt— 
kreis iſt von ihnen erfüllt. Die Winde heben große Mengen von 
Infuſorien und niederen Algenformen aus den Gewäſſern empor und 
wimmeln von ihren Eiern und Samen, die allenthalben hin, wo Be— 
dingungen zum Leben ſind, den Keim eines neueinziehenden Lebens 
verbreiten. Die Mitbewerbung der auf elterlichem Wege entſtandenen 
Organismen kann ſo der Urzeugung, wo für ſie ſonſt die Bedingungen 
günſtig wären, fortwährend das Material wegnehmen. 

Anders konnte es in einer früheren Epoche der Erdbildung ſein, 
als noch keine Lebeweſen vorhanden waren. Damals war das Vor— 
handenſein einer unbelebten und doch lebensfähigen Materie möglich 
und ihre Annahme hat ſogar eine große Wahrſcheinlichkeit für ſich. 
Sie konnte damals entſtehen und ſich anhäufen. 

Die organiſche Chemie iſt allerdings noch nicht ſo weit vorge— 
ſchritten, um die Möglichkeit einer Entſtehung lebensfähiger, der 
Grundlage von Pflanzen und Thieren der chemiſchen Zuſammen— 
ſetzung nach entſprechender Materie beſtimmt nachweiſen zu können. 
Sie deutet uns aber entfernt ſchon den Weg an. 

Wir wiſſen, daß heut zu Tage in Gläſern und Retorten, ſelbſt 


224 


in Hohöfen aus Stoffen rein mineraliſcher Abſtammung andere zu- 
ſammengeſetzte Stoffe erzeugt werden können, die mit einem Theile 
der in der organiſchen Welt vorkommenden theils genau übereinſtim⸗ 
men, theils wenigſtens ſolchen genau analog ſind. 

Zu den wichtigſten Ergebniſſen der Chemie in Bezug auf die 
derartige künſtliche Syntheſe ſolcher ſonſt nur aus den Lebensvorgängen 
von Pflanzen und Thieren ſtammenden oder aus der Zerſetzung von 
Pflanzen- und Thierſtoffen hervorgehenden Verbindungen gehört nament⸗ 
lich die Darſtellung von Blauſäure, von Oxalſäure und von Harnſtoff. 
Wir ſehen hier allerdings nur künſtliche Darſtellungen von pflanzlichen 
und thieriſchen Ausſcheidungs- und Zerſetzungsprodukten. Weſentliche 
Gewebegrundlagen wie Holzßfaſerſtoff (Celluloſe) und Eiweiß- oder 
Proteinſtoffe hat die chemiſche Syntheſe bis jetzt noch nicht fertig zu 
bringen vermocht. Aber es iſt auch offenbar, daß Verbindungen der 
letzteren Art nur aus weit zuſammengeſetzteren Vorgängen hervorgehen 
können, unſere chemiſche Kunſt hat offenbar die zur künſtlichen Wieder⸗ 
holung ſolcher Subſtanzen nöthige Vervollkommnung noch nicht erreicht. 

Aehnliche aber wohl zuſammengeſetztere Vorgänge wie die in 
unſern chemiſchen Laboratorien konnten vor Entſtehung der erſten Or— 
ganismen aus der Thätigkeit rein mineraliſcher Materien erfolgen. 
Wir ſehen z. B. wie Cyankalium in Retorten und in Hohöfen aus 
der wechſelſeitigen Einwirkung von rein mineraliſchen Subſtanzen ent⸗ 
ſteht. Wir können daraus eine ganze Reihe von Kohlenſtickſtoffver— 
bindungen darſtellen, die mit Verbindungen organiſchen Urſprungs 
theils ſehr nahe, theils vollſtändig übereinkommen. Es iſt aber durch— 
aus keine den Grundſätzen der Wiſſenſchaft widerſtreitende Annahme, 
daß ſolche und ähnliche Verbindungen von Kohlenſtoff, Stickſtoff, 
Waſſerſtoff und Sauerſtoff auf rein mineraliſchem Wege auch in den 
älteſten Epochen der Erdgeſchichte vor Anfang des organiſchen Lebens 
ſchon gebildet werden konnten. Zuſammengeſetztere Vorgänge, als die 
in unſern Laboratorien ausgeführten, können dabei auch zuſammen⸗ 
geſetztere und indifferentere Verbindungen als z. B. Blauſäure, Oxal⸗ 
ſäure u. ſ. w. hervorgerufen haben. Statt der raſch und kräftig wir- 
kenden Agentien mögen in der Natur ſchwächer und allmähliger wir: 
kende Stoffe und Kräfte thätig geweſen ſein. 

Solchergeſtalt hervorgegangene Materien wurden dann nicht als⸗ 
bald von Lebeweſen aufgeſaugt, wie es heute mit jeder lebensfähigen 
Materie der Fall iſt, ſondern ſie häuften ſich in den Gewäſſern und 


225 


dem Dunſtkreiſe an und konnten unter geeigneten Umſtänden die Grund— 
lage neu entſtehender Organismen werden. 

Wenn wir in unſeren Laboratorien bis jetzt nur verhältnißmäßig 
einfache, meiſt ausgezeichnet baſiſche oder ſaure, flüchtige oder leicht 
kryſtalliſirbare Verbindungen organiſchen Characters darſtellen konnten, 
ſo liegt das nur an der Methode unſerer heutigen praktiſchen Chemie. 
Indifferente, nicht flüchtige, nicht kryſtalliſirbare Materien, wie die, 
welche die Gewebegrundlagen der Lebeweſen darſtellen, vermögen die 
Chemiker, ſelbſt wo deren in der Natur bereits gebildet vorkommen, 
gewöhnlich nur mühſam und unſicher zu vereinzeln. Noch entfernter 
liegt uns ihre ſynthetiſche Darſtellung und es iſt offenbar, wie viel 
von dieſer Schwierigkeit auf Rechnung des üblichen chemiſchen Ver— 
fahrens kommt. Wo Baſen und Säuren, Deſtillation und Kryſtalli— 
ſation außer Anwendung bleiben müſſen, ſieht ſich der Chemiker der 
erfolgreichſten Wege beraubt, aber dieſer Mangel unſerer Methoden 
kann der ſtreng wiſſenſchaftlichen Hypotheſe noch nicht den Weg ſperren. 

Sind wir alſo in der Gegenwart noch außer Stand die Mög— 
lichkeit einer Urzeugung durch den Verſuch darzuthun, ſo folgt daraus 
immer noch nicht die Unmöglichkeit des Vorganges, ſondern es bleibt 
dann immer noch der Zukunft die Aufgabe, mit ihren höher geſteiger— 
ten Mitteln die Löſung zu erzielen, die wir heute noch vergeblich 
anſtreben. 

Es iſt ſchwer darzulegen, wie aus einem Kügelchen oder Bläschen 
einer auf primitivem Wege entſtandenen ſchleimartigen Materie von 
ternärer oder quaternärer Zuſammenſetzung ein belebtes Weſen werden 
konnte. Indeſſen ſind, wie wir wiſſen, jedenfalls die Lebenserſchei— 
nungen der einzelligen Organismen noch ſehr einfacher und eng ab— 
gegrenzter Natur. Sie äußern ſich zunächſt in einem Stoffwechſel. 
Die äußeren Medien wirken auf die Umfangstheile des Kügelchens 
ein. Gelöste Stoffe dringen fortwährend ins Junere deſſelben und 
wirken verändernd auf dieſes. Ein Theil derſelben wird als Nahrung 
zurückbehalten und bedingt das Wachsthum, ein anderer wird wieder 
ausgeſtoßen. Wärme und Electricität wird dadurch hervorgerufen. 

Dieſer Stoffwechſel iſt der erſte Beginn des organiſchen Lebens 
und führt zunächſt zu einem Gegenſatz zwiſchen Umfangstheilen und 
Kern vermöge des verſchiedenen Grades der Einwirkung der äußeren 
Medien auf äußere und innere Theile. 

Das Leben der Urzelle beginnt alſo urſprünglich mit dem durch 

Rolle, Darwin's Lehre. 18 


226 


den fortwährenden Stoffwechſel unterhaltenen Widerſtand ihrer Materie 
gegen den auf ihre Umgeſtaltung hinwirkenden Einfluß der äußeren 
lebloſen Natur. Jedes organiſche Weſen bedarf innerhalb gewiſſer 
Grenzen einer beſtimmten chemiſchen Zuſammenſetzung und einer ge— 
wiſſen Wärmemenge, die es im Kampfe gegen die äußeren Einflüſſe 
ſich erhalten muß, wenn es nicht untergehen und ſelbſt wieder der 
lebloſen Natur anheim fallen ſoll. Der hierzu nöthige Aufwand an 
Stoffen und Kräften iſt nicht in feſter Summe ausdrückbar, da der 
Einfluß der äußeren Momente ein immerfort in verſchiedenen Graden 
wechſelnder iſt. Der Organismus muß daher fortwährend einen Vor— 
rath von Widerſtandskraft für den Mehraufwand gegen die andringen— 
den äußeren Einflüſſe ſich erzeugen und erhalten. Ohne dies wächſt 
die Gefahr des Unterganges. Im gewöhnlichen Falle wird ein ſolcher 
Ueberſchuß in mehr oder minder ausgeſprochenem Grade vorhanden 
ſein. Dieſer Ueberſchuß aber wird auf das Leben, auf die Ernährung, 
das Wachsthum und die mehrfache Ausbildung des Organismus ſelbſt 
wieder ſich geltend machen und zwar vorwiegend in einer deſſen Wider— 
ſtandskraft gegen die äußeren Einflüſſe fortwährend erhöhenden Weiſe. 

Die Urorganismen hatten alſo zur Erhaltung ihrer Selbſtän⸗ 
digkeit gegen die äußeren vernichtenden Einflüſſe zu ringen. Viele 
mögen dabei erlegen ſein, die geeigneteren aber erhielten ſich und 
behaupteten einen Ueberſchuß an dem zur organiſchen Thätigkeit ver— 
wendbaren Stoff. Dieſer das Uebergewicht des organiſchen Weſens 
im Kampfe gegen die äußeren Medien bedingende Ueberſchuß aber 
wurde dann eine Quelle zu einer fortdauernden allmähligen Erhöhung 
und geeigneteren Ausbildung der den Widerſtand vollführenden mate— 
riellen Theile des Organismus. Er führte zu individueller Variation 
und weiterhin auf dem Wege der Ausleſe zu manigfachen Richtungen 
zunehmender Vervollkommnung. 

Solche Vorgänge können unter verſchiedenen äußeren Umſtänden, 
z. B. im Meere, in Tiefen und am Strande, dann auch wohl in 
Geſteinsklüften, ſpäter auch in Binnengewäſſern vor ſich gegangen 
ſein. Die Urorganismen mögen darnach in verſchiedenen Richtungen 
ſich entwickelt, ſpäter von einem Aufenthalt nach einem anderen ſich 
verbreitet und dem gemäß wieder neu umgeändert haben. 

Pflanzen- und Thieruatur mag anfangs nod) vereinigt, ſpäter, 
je nach Art der Nahrungszufuhr und anderen Einflüſſen, mit den 
Nachkommen auseinandergegangen ſein. 


227 


Organismen, die ſich durch einfache Theilung, ſolche die ſich 
durch Sporen oder Keimkörner und ſolche, die ſich auf geſchlechtlichem 
Wege durch Samen und Eier vermehren, mögen einander ſtufenweiſe 
gefolgt ſein. 

Wenn uns hierbei ſo manche weſentliche Einzelheit der Vorgänge 
noch dunkel erſcheint oder überhaupt noch ganz unerklärt bleibt, ſo 
müſſen wir nur bedenken, wie wenig man bis jetzt noch verſucht hat 
die Ergebniſſe der exacten Wiſſenſchaft für die Erklärung der Ent— 
ſtehungsweiſe der älteſten organiſchen Gebilde zu verwerthen. 

Die Frage nach der erſten Entſtehung der Pflanzen- und Thier- 
formen hat ſeit den älteſten Zeiten die Forſcher in Bewegung geſetzt. 
Sowohl die Philoſophen der alten Zeit als die Naturgelehrten der 
neueren haben ſich vielfach und auf verſchiedenen Wegen bemüht, dar— 
über zu einer feſten Löſung zu gelangen. Eine Anſicht hat im Laufe 
der Zeit die andere verdrängt und auch der hier dargelegte Verſuch 
über den Vorgang der Urzeugung wird im Laufe der Zeit und mit 
der Entdeckung von mehr und entſcheidenderen Thatſachen wieder um— 
geſtaltet oder ganz verdrängt werden. 

Die Hypotheſe einer uranfänglichen Eutſtehung von Lebeweſen 
aus unbelebtem Stoff aber kann ſich jedenfalls des Vorzuges rühmen, 
natürliche Dinge auch auf natürlichem Wege zu erklären und die 
Herbeiziehung von Wundern, als an und für ſich den Grundlagen 
der Wiſſenſchaft widerſprechend, vollſtändig zu vermeiden. 

Die allgemeinen Gründe für Annahme einer früheſten Urzeugung 
ſind überhanpt von ſo dringender Art, daß man kaum daran zweifeln 
darf, es werde früher oder ſpäter noch gelingen, auf wiſſenſchaftlichem 
Wege ihre Möglichkeit noch beſtimmter und ausgedehnter darzuthun 
oder auch durch den Verſuch geradezu ihren Vorgang zu wiederholen. 


Primordial⸗-Fauna. 


Im Uebergangsgebirge und zwar in den unteren Schichten des 
Siluriſchen Syſtemes von Böhmen, Scandinavien, England, Nord— 
amerika u. ſ. w. finden wir die Reſte der älteſten zu foſſiler Erhal— 
tung gelangten Lebeweſen. 

Es ſind Reſte von Pflanzen und von Thieren, alle Meeres— 
bewohner, noch keine Spur eines luftathmenden Landbewohners. Das 
Meer war alſo der früheſte Heerd der Lebewelt. 

1 


228 


Von Pflanzen zeigen ſich nur Reſte einiger Meeresalgen, 
von allen übrigen Typen des Pflanzenreiches iſt noch keine Spur zu 
bemerken. 

Von Thieren aber finden wir bereits Vertreter der drei Haupt— 
typen wirbelloſer Organismen, wir finden Strahlthiere, Weich— 
thiere, Gliederthiere. Dagegen iſt der höhere Typus der 
Wirbelthiere hier noch nicht vertreten. | 

Gehen wir nun auf die Betrachtung dieſer älteſten, urkundlich 
nachgewieſenen Vergeſellſchaftung von Thierformen näher ein. Herr 
von Barrande, deſſen gediegene und langjährig fortgeſetzten Unter— 
ſuchungen des ſiluriſchen Syſtemes von Böhmen alles in dieſem 
Gebiete zuvor geleiſtete ſo weit überragen, hat für ſie die Bezeichnung 
Primordialfauna aufgeſtellt, die ſeither auch, obſchon nicht genau 
zutreffend, allgemeine Verbreitung gefunden hat. 

Böhmen iſt das klaſſiſche Land der Primordialfauna. Auf 
Gneis und anderen kryſtalliniſchen Schiefern lagern im mittleren Lan⸗ 
destheile Thonſchiefer und grobkörnige Sandſteine oder ſogenannte 
Grauwacken, die bis jetzt noch keine Spur von organiſchen Ein— 
ſchlüſſen geliefert haben. Barrande nennt dieſe daher Azoiſche 
Bildungen. 

Hierauf folgt als nächſt jüngere Schichte die Protozoiſche 
Bildung, welche die Primordialfaung umſchließt. Es find 
graue oder dunkel graugrüne feinkörnige Thonſchiefer, die zu Ginetz 
und zu Skrey reich an Foſſilien aufgeſchloſſen ſind. 

Nach Barrande's bisherigen Ergebniſſen beherbergt dieſe Ab— 
lagerung drei Arten von Strahlthieren, die zu den Cyſtideen 
gezählt werden, von Mollusken eine Art von Brachiopoden 
(Orthis Romingeri Barr.) und eine Art von Pteropoden (Pugiun- 
culus primus Barr.) endlich noch von Gliederthieren eine reiche 
Zahl von Trilobiten. 

An Zahl der Individuen, Arten und Gattungen herrſchen von 
allen dieſen primordialen Thierformen in auffallender Weiſe die Tri— 
lobiten vor, eine den heute noch lebenden Phyllopoden wahr— 
ſcheinlich zunächſt verwandte Gruppe der Cruſtaceen, die bereits 
im Bergkalk (Steinkohlenformation) wieder aus der Reihe der Lebe— 
weſen verſchwindet. 

Es ſind Cruſtaceen mit einem deutlich in drei Stücke, nämlich 
Kopf, Rumpf und Schwanz geſonderten Körper, der gewöhnlich auch 


229 


noch der Länge nach eine deutliche Dreitheilung zeigt. Zwei große 


halbmondförmige, — bei vielen Formen in ähnlicher Art wie bei 
lebenden Phyllopoden und anderen Cruſtaceen zuſammengeſetzte und 
mit einer facettirten Hornhaut verſehene — Augen liegen meiſt auf 


den ſeitlichen Lappen des Kopfes. Wenige entbehren noch ganz der 
Augen. Von Gliedmaßen hat man bis jetzt noch nichts foſſil gefun— 
den und es iſt darnach ſehr wahrſcheinlich, daß die Trilobiten, gleich 
dem heute in Sümpfen und Gräben Deutſchlands noch lebenden Apus 
eancriformis und anderen Blattfüßern, an der Unterſeite des Körpers 
zwei Reihen weicher häutiger Schwimmlappen trugen, die zu gleicher 
Zeit die Stelle von Bewegungs- und von Athmungsorganen verſahen. 

Zu Ginetz und Skrey zeigen ſich im Ganzen ſieben Gat— 
tungen von Trilobiten vertreten. Barrande zählt davon 27 Arten 
auf, von denen 12 auf die merkwürdige Gattung Paradoxides kommen. 
Von den Arten iſt in der nächſt höheren Foſſil-Schichte des Siluri— 
ſchen Syſtemes von Böhmen bis jetzt noch keine einzige wiedergefun— 
den worden, von den Gattungen wiederholt ſich nur Aguostus noch 
einmal in einer höheren Schichte deſſelben Syſtems. 

Sao hirsuta Barr., eine zu Skrey nicht ſelten vorkommende 
Trilobitenart, iſt durch ihre Vielgeſtaltigkeit 
und als erſter Beweis einer den Trilobiten 
zukommenden Metamorphoſe zu großer Be— 
rühmtheit gelangt. Sie iſt im Laufe von zwei 
Jahren (1846 und 1847) unter nicht weniger 
als 12 Gattungs- und 23 Artnamen durch 
Barrande und Corda beſchrieben worden. 
In der Folge aber erkannte Barrande, daß 
alle die zahlreichen Formen, die anfänglich 

als Vertreter eigener Gattungen und Arten 
[ ) angeſehen worden waren, nur Entwickelungs— 
zuſtände einer und derſelben Art ſind, für die 
er den Namen Sao hirsuta beibehielt. 
Bae . 1320, een Haze, Man kennt dieſe Art jetzt vom gering 

Skrey in Böhmen. Ber } N 2 

ausgebildeten Embryonalzuſtande an, wo fie 
noch eine flache Scheibe, 2) Millimeter lang, darſtellt. Die Ober— 
fläche iſt dann noch glatt, Kopf und Rumpf ſind noch nicht von 
einander geſchieden, der Hintertheil des Körperſchildes zeigt erſt An— 
deutungen von Segmenten. Eine vielgeſtaltige Reihe von Mittel— 


230 


formen führt, wie Barrande mit muſterhafter Genauigkeit darlegt, 
von jener frühen Larvenform zum Zuſtand der Reife. Das aus⸗ 
gewachſene Thier zeigt bis zu 26 Millimeter (ein Zoll) Länge, 
es beſitzt 17 Rumpfringe und eine mit feinen Dornen dicht beſetzte 
Oberfläche. 

Arionellus ceticephalus Barr. von Skrey ſteht Sao 
in generiſchen Merkmalen ſehr nahe, iſt aber als Art an der glatten 
Oberfläche leicht zu unterſcheiden. Auch von dieſer Form kennt man 
mehrere Entwickelungszuſtände. Das ausgewachſene Thier hat 16 
Rumpfringe. 

Conocoryphe Sulzeri Schloth. und Ellipsocephalus 
Hoffi Schloth., beide zu Ginetz ſehr häufig, ſtellen andere 
Gattungs- und Artformen deſſelben Typus dar. 

Am fremdartigſten aber geſtalten ſich die großen, durch die ſtach— 
ligen Verlängerungen an den hinteren Ecken des Kopfſchildes, an den 
Rumpfringen und dem Schwanzſchilde vor vielen anderen ausgezeich⸗ 
neten Paradoxiden, von denen Barrande zu Ginetz und 
Skrey im Ganzen 12 Arten unterſchied. 


Paradoxides bietet auch Andeutungen von Veränderungen der 
Form im Laufe des Wachsthums, doch haben auch die kleinſten be— 
obachteten Exemplare ſchon die 20 Rumpfringe des ausgewachſenen 
Zuſtandes. Die eigentliche Embryonalentwickelung kennt man hier 
alſo zur Zeit noch nicht. 

Paradoxides Bohemicus Boeck, häufig im Thonſchiefer von Ginetz, 
iſt ein nur wenig abweichender Localvertreter des ſchwediſchen P. Tessini 
Brogn. oder auch wohl nur eine beſondere Varietät. Die Größe geht 
bis gegen einen halben Fuß. 

Aehnlich, aber im einzelnen anders, iſt das Auftreten der älteſten 
foſſil erhaltenen Organismen in Scandinavien, wo neuerdings 
Herr Angelin über dieſen Gegenſtand eine Reihe von gründlichen 
Unterſuchungen angeſtellt hat. 

Die unterſten, ihrerſeits auf kryſtalliniſchen Bildungen abgela⸗ 
gerten foſſilführenden Schichten von Schweden bildet ein Sandſtein, 
der mit Schiefer wechſelt. Man findet darin von Foſſilien durchaus 
nur Reſte von Algen, und noch keine Spur von thieriſchen Or— 
ganismen. 


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Fig. 5. 


(in ½ d. nat. Gr.) Weſtgothland. 


Fig. 6. Parabolina spinuldsa Wahl. 


Weſtgothland, Schonen. 


Fig. 7. Peltura scarabaeoides Wahl. 


Weſtgothland, Schonen. 


Paradoxides Tessini Brogn. 


231 


Darüber folgt eine Ablagerung von 
Alaunſchiefer und bitumenhaltigem 
ſchwarzem Kalkſtein, die zu Andra— 
rum (Schonen) und anderen Orten 
eine reiche Trilobitenfauna umſchließt. 
Dieſe letztere ſtimmt im allgemeinen 
Character in hohem Grade mit der 
von Gin etz und Skrey in Böhmen 
überein, zeigt aber andere, oft nur 
wenig abweichende Arten. 

Para doxides Tessini Brogn. 
iſt eine ſchon ſeit Linné bekannte Art 
aus dem Alaunſchiefer von Weſtgoth— 
land, die 4—5 Zoll Länge erreicht. 
Die ſeitlichen Spitzen der Rumpfſeg⸗ 
mente und der Kopfrand ſind bei ihr 
breiter als bei der ſonſt ganz ähnlichen 
obenerwähnten böhmiſchen Art. 

Parabolina spinulosa Wahl. 
(Angelin) aus denſelben Schichten 
von Weſtgothland und Schonen, 
gehört einer den Paradoxiden im All— 
gemeinen noch ſehr verwandten Gat— 
tung an. Die Zahl der Rumpfringe 
beträgt aber bei ihr 12 und die Augen 
zeigen eine deutliche Netzhaut. 

Peltura scarabaeoides Wahl. 
(Angelin), welche die vorige Art 
an den gleichen Orten begleitet, gehört 
wieder einer anderen, im Allgemeinen 
auch noch ſehr ähnlich gebauten Gat— 
tung an. Die Zahl der Rumpfringe 
beträgt 12, die Augen ſind netzförmig 
wie bei Parabolina, aber die ſtacheligen 
Ausläufer, welche bei Paradoxiden und 
Parabolinen an den hinteren Kopf— 
ecken, an den Rumpfringen und dem 
Schwanzſchilde auftreten, ſind bei den 


Pelturen theils ſehr verkürzt, theils ganz verſchwunden. 


232 


Dieſer allgemeine Typus, wie ihn Paradoxides, Sao, Paraholina 
und Peitura darbieten, wiederholt ſich noch aufs manigfachſte in ver— 
ſchiedenen generiſchen und ſpecifiſchen Umgeſtaltungen. 

Ein anderer weit mehr abweichender Typus der Trilobitenform 
iſt der der Agnoſten oder Battoiden. Sie haben nur zwei 
Rumpfringe. Kopfſchild und Schwanzſchild ſind in Größe und Form 
einander ſo ähnlich, daß man ſie leicht verwechſeln kann und ehedem 
auch wirklich oft ſie verwechſelte. 

Dies iſt offenbar ein ſehr geringer Grad von Differenzirung, der 
den Agnoſten die niederſte Stelle in der Reihenfolge der Trilobiten— 
Formen zuweiſt. Auch fehlt ihnen noch jede Spur von Augen. Man 
kennt von dieſem Typus nur eine einzige artenreiche Gattung. 

Agnostus pisiformis Linn. iſt eine von Linns bereits 
aus dem Alaunſchiefer von Schweden befchriebene 
Art, die einen halben Zoll lang wird. Die Kruſte 
iſt bei ihr ganz glatt, das Schwamfe mit zwei 
ſeitlichen Dornen ausgeſtattet. 

Dieſe Agnoſten weichen ſo ſehr von allen an— 
deren Trilobiten ab, daß man, zumal durch ihre 
meiſt geringe Größe und die geringe Zahl ihrer 
Rumpfglieder verleitet, ehedem ſie für Larven— 

Fig. 8. Agnostus zuſtände anderer Trilobiten, namentlich der Olenen 

e und Pelturen, mit denen ſie in Schweden zuſammen 

vorkommen, anſah. Indeſſen haben die ſeitherigen 

Unterſuchungen dieſe Vermuthung nicht beſtätigt und man betrachtet 

die Agnoſten jetzt nach Barrande am richtigſten als Vertreter eines 

beſonderen Typus der Trilobiten-Gruppe, der etwas abweichend und 
zwar niederer organiſirt geweſen ſein dürfte. 

Die Primordialfauna von Schweden und Norwegen überhaupt 
zählt 71 Arten von Trilobiten. Hierzu kommen noch einige wenige 
andere Thierformen, ein Polyp (Phytlograpka), einige wenige Brachi⸗ 
opoden und von Gliederthieren neben den Trilobiten noch einige 
Oſtracoden oder Muſchelkrebschen. 

In England hat man erſt 1853 die Primordialfauna mit 
Sicherheit nachgewieſen. Herr Salter fand damals Reſte von Cono- 
cephalites, Ellipsocephalus und Aguostus in den Lingula-Schichten von 
Wales. In Irland fand man in derſelben Zone ein räthſelhaftes, 
vorläufig den Bryozoen zugezähltes Foſſil, welches Forbes unter 


233 


dem Namen Oldhamia beſchrieb, und in Geſellſchaft davon Röhren 
von Anneliden herrührend, wie man ſie auch in Wales beobachtete. 
Aehnlich ergab ſich die Primordialfauna auch in Nordamerika; neben 
Meeresalgen fanden ſich Brachiopoden (Liugula), Trilobiten u. ſ. w. 

Die ganze bisher aus Böhmen, Schweden, Norwegen, 
England, Nordamerika u. ſ. w. bekannt gewordene Primor— 
dialfauna iſt nach Barrande's Zuſammenſtellung vom Jahr 1859 
vorläufig auf 174 Arten angewachſen, von denen mehr als dreiviertel 
auf die Abtheilung der Trilobiten kommen. Die übrigen Klaſſen des 
Thierreichs find theils nur in ſehr wenig Arten oder in noch ſehr 
unſicheren Andeutungen, theils noch gar nicht vertreten. Sehr wenig 
Arten haben die Echinodermen, Anneliden, Bryozoen, Acephalen, 
Pteropoden geliefert, unſicher iſt das Auftreten von Cephalopoden. 
Ziemlich viel Arten bieten die Brachiopoden, eine überwiegend große 
Zahl die Trilobiten. Gar noch nicht nachgewieſen ſind Gaſtropoden 
und Wirbelthiere. 

Alle jene Glieder der Primordialfaung deuten Meeresbewohner 
an, es ſcheint damals noch keine landbewohnenden und luftathmenden 
Organismen gegeben zu haben. 

Ein Theil der Typen zeigt eine Organiſationshöhe, die von der 
der heute noch lebenden Vertreter deſſelben Typus nicht oder doch nicht 
ſehr merklich abweicht. Bei anderen iſt die geringe Organiſationshöhe 
offenbar, ſo bei den Echinodermen, die hier noch weiter nichts als 
die gering ausgebildeten armloſen Cyſtideen darbieten, dann bei den 
Trilobiten, die nach dem Mangel von Füßen und Fühlern und nach 
der häutigen Beſchaffenheit ihrer Bewegungswerkzeuge offenbar einer 
der niedriger orgauiſirten Ordnungen der Cruſtaceen angehören. 

Ueberhaupt aber macht die Primordialfauna nach der geringen 
Zahl der in ihr vertretenen Typen und gemäß dem Mangel aller 
höheren Abtheilungen von Pflanzen und Thieren ganz den Geſammt— 
eindruck eines der früheſten Stufen in der Entwickelung der Lebewelt. 
geweſen ſein. Alle ihre foſſil erhaltenen Glieder ſind ſchon viel zu 
hoch organiſirt, um eine ſolche Aunahme zulaſſen zu können. Wenn 
die Trilobiten auch eine niedere, in der Jetztwelt nur noch in wenig 
Vertretern fortlebende Stufe des Cruſtaceen-Typus darſtellen, ſo ſind 
fie doch ſchon viel zu weit in der Organiſation vorgeſchritten, als 
daß ſie die uranfängliche Form deſſelben ſein könnten. Zu allem dem 


234 


wiſſen wir, daß fie eine Metamorphoſe, ganz ähnlich wie manche an- 
dere Cruſtaceen des heutigen Tages, durchliefen und deren Anfangs- 
ſtufen laſſen uns dann wiederum auf die minder differenzirte Form 
noch älterer, in foſſilem Zuſtande noch nicht nachgewieſener Vertreter 
des Cruſtaceentypus zurückſchließen. Ein Organismus, der irgendwie 
eine Metamoryhoſe beſteht, kann nicht wohl eine Urform fein. 

Die vollſtändige Primordialfauna der älteren Siluriſchen Epoche 
mag weit formenreicher geweſen ſein, als die wenigen mit feſten Theilen 
ausgeſtatteten und auf unſere Tage erhalten gebliebenen Arten uns 
ſie abſchlagsweiſe verkünden. Weiche und leicht verwesliche Infuforien, 
Rhizopoden, Spongien, Polvpen, Quallen, Ascidien, Nacktſchnecken 
u. ſ. w. mögen neben den Trilobiten zahlreich ſchon die damaligen 
Meere bevölkert haben. Ausgedehnte Algen⸗Wälder des Meeresitran- 
des ſcheinen ihr Hauptnahrungsfeld geweſen zu jein. 

Reſte von Wirbelthieren ſind bis jetzt in den protozoiſchen Ge⸗ 
bilden noch nicht vorgekommen. Aber es liegt uns ſehr nahe anzu⸗ 
nehmen, daß manigfach gebildete, der feſten Theile noch entbehrende 
Knorpelfiſche, theilweiſe vielleicht ähnlich dem heute noch lebenden, oben 
ſchon gedachten Amphioxus, der kaum höher als eine Nacktſchnecke 
erganifirt ift, damals ſchon gelebt haben mögen. Ihre verweſenden 
Körper aber hinterließen noch keine feſten Theile, die uns ihr ehema⸗ 
liges Daſein noch verkünden könnten. Auch die heutigen Abſätze des 
Meeres werden keine deutlichen Ueberreſte des Amphioxus oder der 
Myxinen auf ſpätere Epochen übertragen. 


Geologiſche Entwickelung der Meeresbewohner. 


Die Pflanzen⸗ und Thierreſte der Paradoxiden⸗ Schichten von 
Ginetz und Skrey in Böhmen, von Weſtgothland und Scho⸗ 
nen, von Wales u. ſ. w. ſind, wie ſoeben erörtert wurde, der 
äliefte urkundlich erhaltene Ausgangspunkt für die Entwickelung der 
fpiteren Floren und Faunen und mithin auch der heutigen Lebewelt. 
An fie muß jede weitere poſitive Deutung des Lebensvorganges an⸗ 


us ken. 


Mit den höheren ſiluriſchen und mit den devoniſchen Schichten 


erhalten ſich unter ſpecifiſcher oder generiſcher Umgeſtaltung die Haupt⸗ 
topen der Primordialfauna. Manche reichen wenig verändert ſogar 
bis in die heutige Schöpfung herein, z. B. von Brachiopoden die 


en 


235 


Lingula-Arten. Diejenigen die man aus der Primordialfauna 
von England und von Nordamerika kennt, weichen wenigſtens 
der Gehäuſeform nach nicht ſehr von jenen ab, die noch jetzt im In⸗ 
diſchen und im Stillen Meere leben. 

Weiterhin aber waͤchſt ven Epoche zu Epoche die Manigfaltigkeit 
der engeren Typen. Mehr und mehr treten auch neue hinzu. Die 
Höhe der Organiſation ſteigt. Die erſten Reſte von Fiſchen treten auf. 
Landpflanzen tauchen einzeln herror und verkünden den erſten Beginn 
des Land⸗ und Luftlebens. 

Die Trilobiten, die in ſo überwiegender Zahl die Meere der 
älteren ſiluriſchen Epoche bevölkerten, nehmen mit der Ablagerung des 
oberen Siluriſchen Syſtems noch ſtark an Zahl und Manigfaltigkeit 
der Gattungen und Arten zu. 


Fig. 3. Trinueleus ornatus Sternd. Fig 10. Acidaspis (Odontopleurs) 
Böhmen. bispinosa. Eur. 


Die Trilobiten⸗ Gattungen der Primordialfauna find, wie es 
ſcheint, bis auf Agnostus bereits ſchon erloſchen 

Dafür treten eine größere Anzahl anderer, wie Trinucleus, 
Acidaspis, Calymene, Phacops u. ſ. w. auf, welche manigfache Um⸗ 
geſtaltungen des gleichen Grundtypus verkünden. Im devoniſchen 
Syſteme find von ihnen Trinucleus, Calymene, Agnostus u. ſ. w. 
auch ſchon erloſchen. Acidaspis und Phacops leben in wenigen Arten 
noch fort. Die Trilobitenform überhaupt iſt jetzt in langſamer Ab⸗ 
nahme begriffen. Im Bergkalk des Steinfohlen- Syftems finden wir 
als letzten Vertreter derſelben nur noch die Gattung Phillipsia mit 
wenigen Arten. Mit ihr verſchwindet die ganze Gruppe der Trilo⸗ 
biten für immer aus der Reihe der Lebeweſen. Andere höher orga⸗ 
niſirte Cruſtaceenformen, wie Limuliden und Decapoden, rücken in 
ihre Stelle im Naturhaushalte ein. 

Strahlthiere, Weichthiere und Gliedertbiere ent⸗ 


236 


wickeln nunmehr im Verlaufe der Epochen eine immer reichere Manig— 
faltigkeit der Formen und einzelne ihrer Zweige erreichen eine ftufen- 
weiſe wachſende Vervollkommnung, während andere von einer gewiſſen 
Stufe an gleichſam ſtehen bleiben und ſich auf ihr theils für die 
Dauer forterhalten, theils in der Folge wieder nahe oder ein 
zum Erlöſchen kommen. 

Eine fortſchreitende Vervollkommnung zeigen von Strahlthieren 
die Crinoiden, eine Form der Echinodermen. 

In den unteren ſiluriſchen Schichten findet man von Schino— 
dermen überhaupt nur Cyſtideen oder armloſe Crinoiden, kuglige 
oder eiförmige aus vieleckigen Kalktäfelchen zuſammengeſetzte Körper, 
die mittelſt eines kurzen biegſamen Stieles am Boden befeſtigt waren. 
Sie erlöſchen ſchon bald wieder, ſie fehlen in den oberen Silurſchichten 
bereits ſchon und wiederholen ſich in keiner ſpäteren Epoche mehr. 

In den oberen ſiluriſchen Schichten folgen auf fie die eigent- 
lichen Crinoiden oder Seelilien, die aus einem becherförmigen, 
ebenfalls mittelſt eines Stieles feſtſitzenden Körper beſtehen, zugleich 
aber auch mit verſchiedentlich geſtalteten 
oft ſehr vielgliederigen Greiforganen oder 
Armen verſehen ſind. 

In den oberen ſiluriſchen und in den 
devoniſchen Schichten zeigen ſich eine große 
Menge von Gattungen und Arten dieſer 
Seelilien. Eine der bezeichnendſten Gat— 
tungen des devoniſchen Syſtems iſt Cu- 
pressocrinus. 

Der becherförmige Körper des Thieres trägt 
bei ihr fünf große einfache und unveräſtelte 
Arme und ſitzt auf einem langen vielgliederigen 
ſtumpfvierkantigen Stiel, der theils von einem 
vierlappigen, theils von fünf beſonderen Ca⸗ 
nälen der Länge nach durchzogen wird. Man 
Fig. 11. Cupressoerinus crassus. kennt mehrere Arten dieſer Gattung aus dem 
nn Goldt. devoniſchen Kalke der Eifel. 

Auch in den verſchiedenen Ablagerungen der ſecundären Periode 
ſind die Crinoiden noch ziemlich zahlreich vertreten, ſo namentlich 
im Muſchelkalk durch die Encriniten, im Lias und Jura durch die 
Pentacriniten u. ſ. w. Mit der Tertiärformation nimmt ihre Zahl 
raſch ab und heut zu Tage leben als letzte, dem Erlöſchen nahe Ab— 


237 


kömmlinge nur noch zwei Gattungen Pentaerinus und Holopus, von 
denen nur je eine Art an Weſtindien vorgekommen iſt. 

Eine dritte Familie der Crinoiden ſind die Comateln oder 
Haarſterne, welche den vorigen ganz ähnlich ſehen, aber im aus— 
gewachſenen Zuſtand frei im Meere umherkriechen. Sie gehören als 
höhere Stufe des Typus den ſpäteren Epochen au. Während die 
Cyſtideen in der Primordialfauna ſchon, die mit Armen verſehenen 
Crinoiden etwas ſpäter auftreten, folgen die Comateln erſt in einer 
viel jpäteren Epoche nach. Sie beginnen erſt in den juraſſiſchen Ab— 
lagerungen und reichen von dieſen bis in die Meere der heutigen Zeit, 
wo ſie nunmehr reich an Arten die ganz erloſchenen Cyſtideen und 
die dem Erlöſchen wenigſtens nahe gelangten Crinoiden erſetzen. 

Die Entwickelungsgeſchichte der Comateln zeigt eine der geologi— 
ſchen Verbreitung der drei Familien ziemlich gleichlaufende Formen— 
reihe. In einer gewiſſen Stufe der Entwickelung ſind nämlich die 
jungen Comateln auch noch mittelſt eines biegſamen gegliederten Stiels 
am Boden feſtgeheftet und gleichen dann ſehr der ausgebildeten Form 
der ächten Crinoiden. Sie lößen ſich bald aber vom Stiele ab und 
leben von da an als frei umherkriechende Thiere. Was in den früheren 
Perioden der Schöpfung die herrſchende bleibende Form war, kommt 
alſo heut zu Tage faſt nur noch als vorübergehende jugendliche Lebens— 
form vor. Agaſſiz neunt daher die Crinoiden in Bezug auf die 
Comateln embryoniſche Typen. Vergl. S. 37. 38. Ein ſolches 
embryoniſches Verwandtſchaftsverhältniß iſt aber nicht wohl anders 
erklärbar als durch eine gemeinſame Abſtammung. 

Die meiſten Ordnungen der Mollusken oder Weichthiere 
erhalten ſich von der Primordialfaung oder wenigſtens von den nächſt 
höheren Schichten des Uebergangsgebirges an bis zur Jetztwelt auf 
nahe gleicher Höhe der Organiſation. Doch fehlt es auch nicht an Bei— 
ſpielen von wohlausgeſprochener Vervollkommnung einzelner Zweige. Die 
meiſten verlaſſen das Meer nicht, nur die Acephalen rücken auch in die 
ſüßen Binnengewäſſer, die Gaſteropoden ſowohl in dieſe als auch auf 
das Feſtland ein. Eine Luftathmung erlangt nur ein Theil der letzteren. 

Die Brachiopoden, kopfloſe Weichthiere mit ſpiralförmig auf— 
gerollten Lippenfortſätzen, Arme genannt, verſehen, mit einem zwei— 
klappigen Kalkgehäuſe bekleidet und meiſt mit einem ſehnigen Stiele, 
der aus einem Loche des einen Schalenwirbels hervortritt, an Steinen 
des Meeresgrundes feſtſitzend, ſtellen eine ſehr eigenthümlich organi— 


238 


firte und ſehr ſelbſtändige Ordnung dar, die, wie auch Owen be- 
ſtätigt, eine entſchieden niedrigere Stufe als die der Acephalen ein- 
nimmt. Die Brachiopoden erhalten ſich von der Primordialfauna an 
in ſehr gleichmäßiger Organiſationshöhe bis zur heutigen Schöpfung. 
In den älteren und mittleren Epochen iſt ihr Reichthum an Arten 
ein ſehr beträchtlicher, jetzt leben verhältnißmäßig nur noch wenige Arten. 
In der Primordialfauna, in der ſiluriſchen und in der devoniſchen 
Fauna bildeten ſie etwa die Hälfte aller Molluskenformen. Heute 
leben etwa 11000 — 12000 Arten von Mollusken, darunter find 
nur noch höchſtens 80 Brachiopoden oder ungefähr ¼ Procent, von 
denen ein Theil ganz vereinzelte, gleichſam dem Ausſterben nahe ge— 
kommene Formen darſtellt. | 

Vier Gattungen Brachiopoden, Lingula, Diseina, Crania und 
Rhynchonella reichen von der Siluriſchen Epoche an durch alle folgen— 
den bis in die Meere der Jetztwelt. Keine andere Abtheilung der 
Weichthiere bietet ſo auffallende und ſichere Beiſpiele einer Beſtändig⸗ 
keit der generiſchen Form durch alle urkundlich bezeichneten Epochen 
der Lebewelt. | 

Bei dieſer Langlebigkeit und Beſtändigkeit des Brachiopodentypus 
iſt es nicht auffallend bei ihm keine Süßwaſſer- und Landbewohner 
auzutreffen. Der Typus hat ſich hier ſo frühe in einer den Lebens— 
bedingungen angemeſſenen Form feſtgeſtellt, daß die Vererbung der 
Veränderlichkeit engere Grenzen ſetzte. 

Die Brachiopoden dürften von Bryozoen herſtammen. Ihre fo- 
genannten Arme ſind jedenfalls den Fühlern der letzteren homolog. 
Eine gewiſſe Aehnlichkeit mit der Brachiopodenform haben auch die 
Vogelkopf⸗Individuen oder ſogenannten Avicularien der Bryozoen⸗ 
Stöcke. | | 

Die Acephalen (Lamellibranchier) oder eigentlichen Muſcheln 
ſind gleich den Brachiopoden kopfloſe Mollusken und ebenfalls mit 
einem zweiklappigen kalkigen Gehäuſe verſehen, aber nach anderem 
Plane gebaut und meiſt mit einem fleiſchigen Fuße zum Behufe freier 
Ortsbewegung verſehen. 

Sie ſtellen eine von den Brachiopoden ganz ſelbſtändige Ordnung 
der Klaſſe der Weichthiere dar. Am meiſten Beziehungen zu den Bra⸗ 
chiopoden zeigen noch die niedrigſten Formen der Acephalen, die Ano⸗ 
mien und Auſtern, von denen namentlich erſtere eine Durchbohrung 
am Wirbel der einen Klappe zeigen, die entfernt an die Brachiopoden⸗ 


239 


form erinnert. Jedenfalls ftellen beide Ordnungen ſelbſtändige Stämme 
dar. Während die Brachiopoden von Bryozoen abſtammen dürften, 
ſcheinen die Acephalen eher von Tunicaten (Aseidien u. ſ. w.) ſich 
herleiten zu laſſen. Aber bereits aus der Primordialfauna wird das 
foſſile Vorkommen eines Acephalen erwähnt und der Urſtamm der 
Acephalenform fällt alſo wie der der Brachiopoden noch über jene 
Zone hinaus. 

Ju den älteſten foſſilführenden Schichten erſt ſehr ſpärlich ver— 
treten, werden die Acephalen in den nächſt folgenden Schichten bald 
ſehr formenreich und leben noch jetzt in großer Menge der Gattungen 
und Arten im Meere, einige Gattungen auch in ſüßen Gewäſſern. 
Ihr Typus iſt in Bezug auf die geologiſche Fortentwickelung bei wei— 
tem nicht ſo ſtarr, als der der Brachiopoden. Es ſcheint auch für 
einen Theil der jüngeren Acephalen-Formen eine höhere Organiſation 
ſich nachweiſen zu laſſen, als für die älteſten bekannten Foſſilformen. 

Zweimuskelige Acephalen mit ganzem Mantelrand herrſchen in 
den älteſten Ablagerungen faſt ganz vor; Formen mit Mantelbucht, 
ſowie Monomyarier ſcheinen erſt in etwas ſpäteren Epochen hervor— 
zutreten. 


Aus der Ordnung der Aeephalen mögen ſich hier einige Beiſpiele vom 
geologiſchen Auftreten der Arten anreihen. 

Ostrea edulis Linn., unſere gemeine eßbare oder britiſche Auſter, 
iſt eine heut zu Tage von Dänemark und den britiſchen Inſeln an 
bis Südſpanien (Malaga) verbreitete und ſehr veränderliche Art, die ſich 
bis in die mittlere Tertiärbildung zurückverfolgen läßt und ſich dabei als 
nordiſcher Herkunft erweiſt. 

Man unterſcheidet im britiſchen Meere namentlich zwei Abänderungen der 
Auſter, welche ſowohl in der Beſchaffenheit der Schale als im Geſchmacke des 
Thieres etwas von einander abweichen. Die bekannteſte Varietät iſt die na- 
tive oyster, die im Handel vielverbreitete engliſche Auſter, welche in großen 
Maſſen auf den Markt kommt, und namentlich von den Engländern auf künſt— 
lichen Lagern erhalten und aufgezogen wird. Ihr Umriß iſt oval, die Größe 
im Allgemeinen gering, ihre Oberklappe flach, die Unterklappe gewölbt, die 
Oberfläche mit angedrückten Lamellen bedeckt, die auf der Unterklappe, oft auch 
zugleich auf der Oberklappe eine deutlich ausgeprägte Radialfaltung zeigen. 
Dies iſt die Form, welche Goldfuß einſt als vermeintliches Foſſil aus der 
an römiſchen Niederlaſſungen ſo reichen Gegend von Mainz beſchrieb. Es 
iſt aber wohlbekannt, daß die alten Römer ſchon ihren Hauptbedarf an Auſtern 
aus dem britiſchen Meere bezogen. Foſſil erſcheint ſie in den Ablagerungen 
der Glacial-(Diluvial- Epoche von Scandinavien und Schottland, auch 
in den pliocänen (Crag-) Schichten von England ſoll ſie ſchon vorkom— 
men, fehlt aber in den gleichzeitigen Ablagerungen der Mittelmeer-Gegenden 


240 


wahrſcheinlich ganz, nur zur Diluvialepoche ſoll fie nach Pilippi verüber- 
gehend auch bis Sieilien ſich erſtreckt haben, ſeither aber hier wieder er— 
loſchen ſein. 

Die Engländer unterſcheiden noch eine zweite Varietät, die Felſen auſter, 
rock-oyster, fie lebt vereinzelt, wird nur ſelten aufgefunden und nicht küuſtlich 
aufgefüttert. Dieſe iſt größer als die vorige, von gerundeterem Umriſſe, reicher 
verziert und reicher gefärbt, die Lamellen der Oberfläche ſind bei ihr etwas 
aufgerichtet und gewöhnlich etwas radialfaltig. Dieſe ſcheint jedenfalls im 
Crag von England und von Belgien ſchon foſſil aufgetreten zu ſein. 
Wie weit fie nach Süden ropa heut zu Tage reicht und ob fie hier etwa 
auch foſſil vorkommt, iſt noch nicht recht feſtgeſtellt. Nach Jeffreys kommt 
die rock-oyster im öſtlichen Theile des Mittelmeeres ebenſowenig mehr vor 
als die native-oyster. 

Ostrea lamellosa Bro c. [O. edulis var. foliosa Goldf.] iſt eine an⸗ 
dere, aber doch der vorigen ſo nahe verwandte Art, daß man nicht immer 
und überall fie von ihr abgrenzen kann. Das Hauptmoment der Unterſchei— 
dung iſt ihre ſüdeuropäiſche Heimath. 

O. lamellosa lebte in der Mioeänepoche zahlreich im Wiener Becken, 
ſowie in Bayern, Ungarn u. ſ. w., dann in der Pliocän-Epoche im Mit⸗ 
telmeere (Italien, Sieilien, More a). Sie iſt von der engliſchen native 
oyster mit Leichtigkeit zu unterſcheiden, näher ſteht ihr die Felſenauſter und die 
naturgeſchichtlichen Unterſchiede zwiſchen ihr und der letzteren dürften ſich nicht 
leicht in Worten faſſen laſſen; die Oberklappe iſt bei O. lamellosa im Allgemei⸗ 
nen aber gewölbter als bei 0. edulis. i 

Im Mittelmeer und im Adriatiſchen, ſowie im Schwarzen Meer lebt heute 
auch noch eine eßbare Auſter, die aber größer, unregelmäßiger geſtaltet und 
außen blätteriger als die engliſche native oyster iſt, der fie an Geſchmack und 
an Handelswerth beſtimmt nachſteht. Gmelin nannte fie 0. exalbida, La⸗ 
marck und Philippi bezeichnen fie als O0. Adriatica [Korr. Fig. 5. 

Sie iſt der offenbare Abkömmling der mioeän und pliocän in Mittel- 
und Südeuropa viel verbreiteten O. lamellosa Broc. Miocäne Exemplare aus 
Mitteleuropa, pliocäne von Morea, Rhodus u. ſ. w. find von der in Handel 
kommenden eßbaren Auſter von Trieſt nicht zu unterſcheiden; die einen wie 
die andern zeigen eine ſchwache Wölbung der Oberklappe, die foſſilen Exem— 
plare ſind nur in der Regel dickwandiger als die lebenden. 

Im Ganzen geht hieraus hervor, daß unſere ſo ſchwer zu beſchreibenden 
und zu ordnenden Formen der eßbaren Auſtern überhaupt von zwei Stäm⸗ 
men, einem nordeuropäiſchen und einem ſüdeuropäiſchen ausgehen und daß 
das Alter der heutigen Formen weit über die heutige Lebewelt hinausgeht und 
ſich bis zur Pliocän- und Miocänepoche zurückverfolgen läßt. Ihr gemein— 
ſamer Urſtamm iſt noch nicht erſichtlich, wird aber in ähnlichen Auſternformen 
noch älterer Epochen zu ſuchen ſein. i 

Das allgemeine geologiſche und geographiſche A jener erörterten 
Formen aber paßt ganz wohl zur Lehre von einer gemeinſamen Abſtammung 
und einem allmähligen Auseinandergehen der Formen. 

Pecten pusio Linn. sp. [Lamarck] P. multistriatus Poli sp. eine auf 


241 


europäiſchem Gebiete mioeän, pliocän und lebend häufig vorkommende Muſchel 
gibt zu ähnlichen aber noch weiter tragenden Schlüſſen Anlaß. Es iſt eine 
kleine, höchſtens 1-2 Zoll erreichende Muſchel, ſaſt gleichklappig, außen be⸗ 
deckt mit zahlreichen ungleichen, feingedornten Strahlrippen, übrigens in Größe, 
Rippen⸗ und Dornenbildung ziemlich veränderlich. So findet ſie ſich miocän 
im Wiener Becken, in Ungarn, Polen u. ſ. w., ferner im Crag von Eng⸗ 
land und Belgien, in den Subapenninnen-Gebilden von Italien, auf 
Sieilien, Rhodus u. ſ. w., endlich heute noch lebend im Mittelmeer. Aber 
ſie findet ſich nicht mehr in der eben beſchriebenen Form im Britiſchen Meer, 
ſondern hier hat ſich vielmehr ſeit der Ablagerung der Crag-Schichten unter 
dem Einfluſſe nicht näher bekannter Umſtände (vielleicht der klimatiſchen Ab— 
kühlung) eine andere ſehr merkwürdige Form aus ihr abgezweigt. 

Hinnites sinuosus Gmel. sp. [Deshayes] iſt dieſer umgeſtaltete Neben» 
zweig von Pecten pusio. Das junge Thier beſitzt noch ganz daſſelbe Gehäuſe wie 
Pecten pusio in gleicher Altersſtufe, aber bald, zum Theil ſchon von ½ Zoll 
Länge an, gibt das Thier ſeine freie Ortsbewegung auf, es ſetzt ſich mit der einen 
Klappe, der rechten, an Felſen, Conchylien oder Algen feſt an und das Ge— 
häuſe verliert damit feine frühere Regelmäßigkeit; die von da an ſich ablagern- 
den Schichten erſcheinen manigfach verbogen und verzerrt. 

Dieſer Nebenzweig von P. pusio iſt durchaus uur lebend im Britiſchen 
Meer bekannt. In den Crag-Schichten von England wurde noch die gewöhn— 
liche mittelmeeriſche Form des P. pusio abgelagert und es iſt nicht wohl daran 
zu zweifeln, daß Hinnites sinuosus von nordeuropäiſchen vielleicht borealen 
Exemplaren des P. pusio in grader Linie abſtammt. 

Forbes und Hanley betrachten die lebende britiſche Form als eine 
bloſe Varietät des normalen P. pusio, die in der Jugend in nichts von dieſem 
abweiche. Des hayes dagegen ſieht in ihr nicht nur eine eigene Art, ſondern 
ſtellt dieſe auch zu einer anderen Gattung. Beiden Anſichten liegt offenbar etwas 
wahres zu Grunde. Hinnites sinuosus iſt ſicherlich eine in unmittelbarer Folge 
von Pecten pusio abgeſtammte Form, die in einem Character von dem Art— 
typus abweicht, der die Gattungsgrenze ſchon überſchreitet. Sie iſt im Begriff 
die Stammform einer neuen Gattung zu werden. Je früher fortan die An— 
wachſung eintritt, je mehr ſie umbildend auf andere Artcharactere einwirkt, 
um ſo weiter rückt der Vorgang. Dies wird er, ſofern er dem Thiere ſelbſt 
von Vortheil iſt. So entſtehen Gattungen. — 


Die Gaſteropoden oder Schnecken, mit einem Kopf und 
einem fleiſchigen Fuße verſehene Weichthiere, meiſt mit einem feſten, 
kalkigen und in der Regel ſpiralförmig aufgerollten Gehäuſe verſehen, 
beginnen neben den Acephalen in den älteſten foſſilführenden Schich— 
ten in anfangs noch ſehr ſpärlicher Vertretung, werden aber gleich 
jenen bald formenreich und leben in großer Fülle der Arten, Gat— 
tungen und Familien noch jetzt im Meere, in Flüſſen und Sümpfen, 
ſowie auf dem Feſtlande. 

Eine Vervollkommnung im Laufe der geologiſchen Epochen iſt 

Rolle, Darwin's Lehre. 16 


242 


bei vielen ihrer Gruppen deutlich ausgeſprochen. Schnecken aus der 
Abtheilung der ganzrandigen Proſobranchiaten wie Turbo, Pleuroto- 
maria, Littorina u. ſ. w. herrſchen in allen älteren Epochen und leben 
auch jetzt noch in großer Anzahl der Gattungen und Arten fort. 
Aber die höher differenzirten Canaliferen, meiſt ausgezeichnet räube— 
riſche Fleiſchfreſſer, treten erſt mit dem Lias wohlausgeſprochen auf 
und werden von da an immer zahlreicher. Buccinen, Voluten 
u. ſ. w. fehlen noch in den älteren und mittleren Epochen und tauchen 
erſt mit der Kreide- oder mit der Eocän-Bildung hervor. 

Eine der merkwürdigſten Gruppen der Gaſteropoden ſind die 
Chitonen oder Käferſchnecken, welche mit der allgemeinen Or⸗ 
ganiſation der Patellen Charactere verbinden, die ſie in ſehr auffal⸗ 
lender Weiſe den Gliederthieren nähern. Ihr Rücken iſt nämlich ſeg⸗ 
mentirt und führt eine aus acht hintereinander folgenden Stücken 
beſtehende Kalkſchale, die dem Thiere, vom Rücken aus geſehen, mehr 
das Anſehen einer Aſſel oder eines anderen Gliederthieres als das 
einer Schnecke verleiht. Das Thier kann ſich auch zuſammenkugeln, 
ähnlich wie die Aſſeln und die Trilobiten. Die übrige Organiſation 
iſt, wiewohl mit einigen Abweichungen, im Allgemeinen die der Pla⸗ 
tellen und anderer Cyclobranchier, die keine Spur von Segmentirung 
zeigen. Die Entwickelungsgeſchichte weicht wieder mehrfach von der 
der übrigen Schnecken ab. 

Dieſe Chitonen find geologiſch ein ſehr alter und ſehr beftän- 
diger Typus. Schon im devoniſchen Syſtem und im Kohlenkalk findet 
man eine Anzahl von Arten, die nur in Arten-Characteren, höchſtens 
als Gattungen von den heute noch zahlreich in unſeren Meeren leben⸗ 
den Formen abweichen. Man hat fie neuerdings in zahlreiche Gat⸗ 
tungen abgetheilt, die aber nur in geringen Merkmalen von einander zu 
unterſcheiden ſind. Von einer Vervollkommnung im 
Laufe der geologiſchen Entwickelung kann bei ihnen 
ſo wenig wie z. B. bei den Brachiopoden die Rede ſein. 


Chitou Siculus Gray, zur Untergattung Lo - 
phyrus gehörig, iſt eine der bekannteſten europäiſchen 
Arten, die dem weſtindiſchen Ch. squamosus Lin. ſehr 
ähnlich aber kleiner iſt. Man findet ſie foſſil im Wiener 
Becken, auf Sicilien, Cypern u. ſ. w., endlich lebend 
im Mittelmeer und im Adriatiſchen Meer. Beim leben⸗ 


Fig. 12. f f . ar 2 ä 
Chiton Sieulus Gray. den Thiere umgibt den achtgliederigen Rückenpanzer eine 


Mittelmeer. mit feinen dachziegelartig ſich einander deckenden Kalk⸗ 


243 
ſchuppen beſetzte Haut; im jefflen Zußande findet ſich dieſe Art, Bleichwie bie 
Cbitonen überhaupt, nicht anders als in vereinzelten Xückenſchildern erhalten 
Nur wenig weichen von dieſer heute noch lebenden Thierform 
die älteſten foſſil bekannten Chiton- Arten ab, die ſchen in der paläc- 
zoiſchen Periode hervortreten. Der Chitonen⸗Tyupus reicht alſo jeden⸗ 
falls in die früheſten Epochen der Schöpfung zurück und dies macht 
ſeine merkwürdige Hinneigung zum Gliederthiertypus um jo beven- 
tungsvoller. Es ſcheint, daß er von einem noch älteren nicht näher 
bekannten Stamm ſich herleitet, der dem gemeinſamen Ausgangspunkte 
des Weichthier⸗ und des Gliederthierpus angehörte. Sein altes 
Gepräge ſtarr fortvererbend, verkündet er jetzt noch in jeiner ganz 
vereinzelten Stellung uralte verwandtſchaftliche Beziehungen zwiſchen 
Klaſſentypen, die ſeitdem weit aus einander gegangen find. 

Von den Gattungen, in welche man in neuerer Zeit die Chitonen einge⸗ 
theilt hat, iſt Chitonellus die am beiten bezeichnete. Der Körper des Tieres if 
bei ihr ſehr langgezegen und gleichſam raupenfõrmig, die Nũckenſchilder nd unter 
einander ſehr ungleich und ſtoßen nicht alle io eng zuſammen wie die der Cbitenen. 
Man kennt lebend mehrere Arten im indiſchen und im auſtraſiſchen Meer. 

Chitonellus Weislandi Rolle bistet 
das erſte Beiſpiel einer aus geologiſchen Ab- 
lagerungen auftauchenden Chitenellen-Art. Nan 
findet in den Niocãn⸗Schichten von Yapıgy 

Siebenbürgen; und ven Föorchten an (Ür 
garn) die vereinzelten Kalkſchilder, fie ſind je 
nach der Lage, die ie am Körper des Thieres 
einnahmen, von etwas ungleicher Geſtalt, 1-2 
Linien lang und auf der Oberfläche beiderſeits 
langs limiirt. Einige im anſtraliſchen Meere 
lebenden kommen diejer miecänen Art ſehr nahe. 

In den Tertiärablagerungen des indiſch⸗ 
anſtraliſchen Gebiets wird man jedenfalls ſolche 
foſſile Chitonellen in Zukunft anch nech anf- 
finden. 

Wie der bier zum erſten Male beſchriebene 
Chitonellus Weinlandi vermag auch eine andere 

Fig. 13. 14 bier folgende neue Art einen Beleg dafür ab⸗ 
— . — eben, deß Gattungen und Arten der heutigen 
— — die man — noch nicht im feſſilen 
Zuſtande kannte, im Laufe der Jahre auch aus urweltlichen Ablagerungen all⸗ 
mäblig bervortauchen. 

Leptoconchus Jaegeri Rolle if eine in den Niocän- Schichten den 
Lapug (Siebenbürgen) vorkommende Art aus der Serwandtſchaft der Magilen 
und der Purpurſchnecken. Das Gehänſe iſt etwa / Zoll boch, kurzſpindelformig 
mit ranhblätterigem Ueberzug, der die Nähte der Umgänge verdeckt. Nan 

16 * 


244 


kennt zwei Arten derſelben Gattung, von denen die hier 
beſchriebene dritte durch etwas ſchlankere Gehäuſeform 
abweicht, aus dem Indiſchen und dem Rothen Meer. 
Die Thiere ſcheinen alle ähnlich wie Magilus in Corallen- 
riffen verſteckt zu leben. 

Die beiden hier beſchriebenen neuen Conchylien-For⸗ 
men erweiſen das ehemalige und zwar mioeäne Vorkom— 
men von Gattungen im mitteleuropäiſchen Gebiete, welche 
beide bisher nur durch lebende Arten des Indiſchen Meeres- 
gebietes bekannt waren. 

Fig. 15. Leptoconchus So haben wir überhaupt anzunehmen, daß die über— 
Jaegeri Rolle (in 2maliger . 8 1 
Vergrößerung). Miocän, wiegende Mehrzahl aller Arten und Gattungen der heu— 

Siebenbürgen. tigen Lebewelt nicht ihr allein angehört, ſondern aus 
früheren Epochen der Erdgeſchichte abſtammt. Wir können bis jetzt allerdings 
erſt einen kleinen Theil der heutigen Lebensformen auch in foſſilem Vor— 
kommen nachweiſen, aber die Zahl der Fälle iſt in ſtetem Zunehmen und es 
wird eine Zeit kommen, wo man keine heutige Pflanzen- oder Thierart, die 
überhaupt nur der foſſilen Erhaltung fähige Theile beſitzt, nicht auch in vor— 
geſchichtlichen Ablagerungen nachgewieſen haben wird oder man fie, wie Hinnites 
sinuosus, mit Beſtimmtheit auf eine andere vorausgegangene Stammart zurück 
führen kann. Die künſtlich gezogenen Schranken zwiſchen Jetztwelt und Vor: 
welt brechen damit von Schritt zu Schritt mehr zuſammen. 

Die Cephalopoden, die höchſt organiſirten Weichthiere, zu 
denen namentlich die Orthoceren, Nautilen und Ammoniten, die Be— 
lemniten und Sepien gehören, beginnen ſchon mit einzelnen Vertretern 
und zwar Orthoceren in den unteren ſiluriſchen Schichten und ihr 
Urſtamm iſt daher nicht urkundlich näher bekannt. Mehrere Momente 
deuten aber auf einen mit dem der Pteropoden oder Floſſenflüſſer 
gemeinſamen Urſprung. 

Orthoceren, Lituiten, Goniatiten u. ſ. w. herrſchen in den älteren, 
Ceratiten und Ammoniten, ſowie Belemniten in den mittleren Ab— 
lagerungen; keine dieſer Formen erreicht die jüngeren Schichten und 
keine findet ſich noch in den heutigen Meeren. 

Nautilen erſcheinen ſchon im Uebergangsgebirge und reichen von 
da durch die mittleren Epochen bis in die heutige Fauna; eine oder 
vielleicht mehrere Arten leben noch im Indiſchen Meer als letzte Nach— 
kommen einer ehedem formenreichen Abtheilung. a 

Eine Vervollkommnung im Laufe der geologiſchen Epochen zeigen 
die Cephalopoden nur inſoweit, als die Ordnung der Tetrabrauchia— 
ten oder Vierkiemer, denen die Nautilen angehören und zu denen 
man auch die Orthoceren, Ammoniten und andere erloſchene Formen 
zu zählen Grund hat, ſich in den älteren und mittleren Epochen reichlich 


245 


vertreten, heute aber bis auf wenige Nautilus - Arten erlofchen zeigt, 
indeſſen die Dibranchiaten oder Zweikiemer heut zu Tage noch 
reichlich vertreten ſind. Dieſe zweite Ordnung, zu denen die in der 
Lias⸗, Jura- und Kreide-Epoche zahlreichen, ſeither aber erloſchenen 
Belemniten und die heute noch lebenden Sepien gehören, iſt aber in 
mehrerer Hinſicht höher organiſirt. Ueber die Entwicklungsgeſchichte 
dieſer Formen vergl. S. 205. 

Während die Primordialfauna noch gar keine Reſte von Wirbel— 
thieren aufzuweiſen hatte, treten ſchon in den oberen ſiluriſchen 
Schichten die erſten Spuren von Fiſchen auf, mit den devoniſchen 
Schichten wächſt die Zahl ihrer Arten, Gattungen und Familien noch 
weiter an. 

Es find Ganoiden und Knorpelfiſche (Vergl. S. 36. 
und 200), erſtere theils mit knöchernen Hautſchildern gepanzert, theils 
mit Schmelzſchuppen bekleidet, letztere durch Zähne und Floſſenſtacheln 
von Selachiern, den Haien und Rochen zunächſt verwandt, 
manigfach vertreten. 

Von den ſiluriſchen und devoniſchen Fiſchtypen iſt eine der 
auffallendſten die der Cephalaspiden, einer Familie der gepan- 
zerten Ganoi— 
den, bei denen 
der Kopf mit 
großen anein— 
ander ſtoßen⸗ 
den Knochen⸗ 
platten bedeckt 
Fig. 16. Cephalaspis Lyelli Ag. war, die zu 


N 


einem einzigen breiten Kopfſchilde zuſammenfloſſen. Den übrigen 
Körper bedecken theils zahlreiche kleinere Platten, theils Schmelz— 
ſchuppen. Das innere Skelett dieſer Thiere war noch ſehr unvoll— 
kommen, der Rückenſtrang erhielt ſich bei ihnen noch für die ganze 
Lebensdauer in knorpeliger Beſchaffenheit und nur die peripheriſchen 
Theile verknöcherten ſich. 

Dem äußeren Anſehen nach den Panzerwelſen der heutigen 
Flüſſe wärmerer Länder nicht unähnlich, ſtehen ſie doch ihrem Skelettbau 
nach den Stören näher, als deren Urſtamm man ſie betrachten kann. 

Noch ſeltſamer und von allen heutigen Lebeweſen abweichender 
waren die Placodermen, zu denen namentlich die Gattung bie- 


246 


richthys (Asterolepis) gehört. Bei ihnen war der ganze Körper mit 
aneinanderſtoßenden dicken Knochenplatten gepanzert, das ganze innere 
Skelett knorpelig. Ganz ſeltſam aber iſt ihre Beziehung zu Cruſtaceen, 
ihr Kopf zeigt eine bewegliche Einlenkung in den Rumpf, wie ſie 
ſonſt bei Fiſchen nie vorkommt, an den vorderen Seiten gehen ge— 
gliederte Bruſtfloſſen aus, die mehr an Vordergliedmaßen von Cru⸗ 
ſtaceen als an Floſſen von Fiſchen erinnern. Es iſt, als ſtammten 
Fiſche und Cruſtaceen aus gemeinſamer Wurzel. Wir müſſen mit 
entfernten Andeutungen bei einer ſolchen Enträthſelung des Stamm- 
baumes vorläufig noch vorlieb nehmen; ſpätere paläontologiſche Eut— 
deckungen können wohl allein nur, was wir erſtreben, uns mehr oder 
minder noch nahe legen. 

Aechte Knochenfiſche oder Teleoſtier fehlen noch in jener 
frühen Epoche der Schöpfungsgeſchichte. Mehr und mehr entwickelt 
ſich das Innenſkelett der Ganoiden im Laufe der ſecundären Abla- 
gerungen, im Jura findet man eine Anzahl von Ganoiden, die faſt 
ganz ſchon den heutigen Knochenfiſchen ſich anreihen, mit der Kreide 
treten die erſten Teleoſtier ſicher hervor. 

Die Ganoiden, in der ganzen paläozoiſchen und epo 
Periode in reicher Fülle der Formen die Meere bewohnend, ſind ſeit 
der Kreide-Epoche auffallend zurückgegangen. Heut zu Tage bewohnt 
kein Ganoide das Meer noch. Nur wenige Arten find noch am Leben 
und dieſe ſind Bewohner von Flüſſen wärmerer Länder. 

Reptilien und Säugethiere fehlen noch in den älteren 
Epochen. Die Steinkohlenformation beherbergt die erſten bekannten Reſte 
von Reptilien, Säugethiere aber zeigen ſich erſt vom Lias und Jura an. 

Bis gegen Ende der Kreide-Epoche erſcheinen unter der Meeres— 
bevölkerung eine große Reihe manigfach geſtalteter, zum Theil rieſen— 
haft herangewachſener Reptilienformen. 

Ueberhaupt erweiſt ſich die Jura- und Kreide-Epoche als die 
Zeit der reichſten Entfaltung der Reptilienwelt. Im Meer, auf dem 
Feſtland und im Luftkreis herrſchten Reptilien. 

Ichthyoſauren, welche mit der allgemeinen Organiſation der 
Reptilien Charactere der Cetaceen verbinden und mit Floſſenfüßen 
ausgeſtattet waren, Pleſioſauren mit langem Vogelhals und eben— 
falls mit Floſſenfüßen verſehen und ga vialartige Krokodilier 
bevölkerten das Meer, Eidechſen verſchiedener Form das Feſtland, 
Pterodactylen oder Flugeidechſen die Luft. 


247 


Mit dem Ende der Kreideformation, welches, wie ſchon Seite 174 
berührt wurde, durch beſonders große Veränderungen in der Geſtalt 
von Feſtland und Meer bezeichnet iſt, erleidet jene überwiegende Herr— 
ſchaft der Reptilien ein ziemlich raſches Ende. Namentlich erlöſchen 
hier alle jene gewaltigen Meeresreptilien und an ihre Stelle treten 
dann ſpäter die Cetaceen. 

Nexipoden oder Saurier mit floſſenartigen Gliedmaßen, wie 
ſie von der Trias bis zur Kreide auftraten, fehlen den ſpäteren 
Epochen und der heutigen Fauna vollſtändig. Ueberhaupt bewohnt in 
der heutigen Welt kein Saurier das Meer noch. 

Die Teleoſaurier des Lias und Jura, gavialartige Reptilien 
mit biconcaven Wirbeln, waren noch Meeresbewohner. Aber heute 
leben Nachkommen ihres Stammes nur in Flüſſen. Gaviale haben 
im Ganges, Krokodile und Kaiman's im Nil und in Flüſſen 
Amerika's eine Zufluchtsſtätte vor jenen uns noch dunklen Einflüſſen 
gefunden, die zu Ende der Secundärperiode ihren meeriſchen Urſtamm 
zum Erlöſchen brachten. So ſind auch in ähnlicher Weiſe in der 
Klaſſe der Fiſche die wenigen heute noch lebenden Ganoiden- Arten 
Flußbewohner. Das ſind Züge aus der geologiſchen Geſchichte ſehr 
verſchiedener Typen, deren Gleichmäßigkeit überraſchen muß. 

Wale, Delphine und andere Cetaceen, in Bezug auf ihre Größe 
und allgemeine Form, ſowie auf ihre Stellung im Naturhaushalte, 
die heutigen Nachfolger der erloſchenen Meeresſaurier und auch in 
anatomiſcher Hiuſicht (Seite 197) manche Anklänge au die Reptilien— 
form darbietend, kennt man in foſſilen Reſten erſt aus oligocänen 
und miocänen Ablagerungen. Es iſt aber kaum daran zu zweifeln, 
daß man auch in Eocän- und Kreideſchichten über kurz oder lang 
noch Reſte auffinden wird, welche die Kluft, die zwiſchen dem Typus 
von floſſenfüßigen Meeresſauriern und von Walen in unſerem zoolo— 
giſchen Syſteme noch beſteht, mehr oder minder entſcheidend auszu— 
füllen vermögen. 


Entwickelung des Land- und Luftlebens. 


In der Primordialfauna und im ſiluriſchen Syſteme überhaupt 
zeigen ſich nur Reſte von Meeresbewohnern. Land- und Luft— 
bewohner entwickeln ſich aus ihnen erſt ſehr allmählig. Anfangs 
zeigen ſich erſt wenige Formen von Landpflanzen und Landthieren, 


248 


ſpäter aber folgen ſie in immer weiter anwachſender Manigfaltigkeit. Am 
reichlichſten find ihre foſſilen Reſte in den tertiären Gebilden niedergelegt. 

Die erſten Landpflanzen tauchen einzeln im devoniſchen Sy⸗ 
ſteme hervor. Farnen herrſchen unter ihnen vor, ſpärliche Reſte von 
Cycadeen und Coniferen ſind die am höchſten organiſirten Formen 
der damaligen Zeit. Zahlreicher an Typen und in üppiger Menge 
der Individuen erſcheinen die Landpflanzen in der Steinkohlen⸗Epoche, 
es ſind hier Equiſetaceen, Lycopodiaceen, Farnen und andere Acoty⸗ 
ledonen, ferner Coniferen und Cycadeen; auch von Palmen treten 
ſchon einzelne Arten auf. Dieſe im Ganzen noch ſehr einförmige 
Flora entwickelte in der Steinkohlen-Epoche bereits eine mächtige 
Fülle von Wachsthum und Maſſe. 

Die erſten Dicotyledonen tauchen in der Kreide hervor 
und in den Tertiärgebilden zeigen ſie ſchon jene Fülle der Typen, 
die ſie heute auszeichnet. Die Feſtlandflora hat ſich darnach im Laufe 
der geologiſchen Epochen entſchieden vervollkommnet. 

Die erſten luftathmenden Land- und Süßwaſſerthiere 
zeigt die Steinkohlenbildung. Man kennt aus ihr Landſchnecken (Pupa), 
mancherlei Landinſecten, z. B. Schaben (Blattina) und Heuſchrecken 
(Acridites), ferner Skorpione (Cxelophthalmus) und Myriapoden oder 
Tauſendfüße (Xylobius), endlich lani- und ſüßwaſſerbewohnende Rep⸗ 
tilien, wie Archegosaurus und Dendrerpeton. 

Das erſte Auftreten der Wögel iſt unſicher, aus der Trias 
kennt man wohl ſchon Fußſpuren (Fährten) von muthmaßlichen Vögeln; 
ſichere Skeletttheile liefert indeſſen erſt die Kreide-Formation. 

Die Säugethiere beginnen mit landbewohnenden Formen 
und zwar vielleicht ſchon im unteren Lias, ſicher aber mit dem Jura. 

Faſſen wir dieſe Darſtellung von der Art des Auftretens der 
Land⸗ und Luftbewohner nochmals in ein Geſammtbild, ſo erkennen 
wir, daß in der Zeit, die zwiſchen dem Auftreten der Primordialfauna 
und der Ablagerung der Steinkohlen verfloß, die erſten Landpflanzen 
und Landthiere hervortraten. Ihre nähere Genealogie vermögen wir 
noch nicht zu entwerfen, die Summe der dazu geeigneten geologiſchen 
Thatſachen iſt bis jetzt noch zu gering. 

Aber unverkennbar iſt es, daß ſie nur von Meeresbewohnern 
abſtammen können und daß bei ihrer Bildung eine organiſche Ver⸗ 
vollkommnung eingetreten iſt, welche jenem Stufengange ſchon ent⸗ 
ſpricht, den auch die ſpäteren Epochen verkünden. 


249 


Von den Algen des Meeres, welche in der Primordialepoche 
noch die einzigen zur foſſilen Erhaltung gelangten Pflanzenformen 
waren, ſehen wir in der Steinkohlenepoche die Flora ſchon auf Equi⸗ 
ſeten, Farnen und Lycopodiaceen herangebildet, wir ſehen ſelbſt ſchon 
die erſten Vertreter der Palmen, Cycadeen und Coniferen. Aber die 
höchſt entwickelten Blüthenpflanzen, die eigentlichen Dicotyledonen 
fehlen noch. 

Von den meeresbewohnenden wirbelloſen Thieren der Primor— 
dialfauna hat ſich die Lebewelt mit der Steinkohlenepoche ſchon bis 
zur Höhe von luftathmenden Landſchnecken, Inſecten und Reptilien 
geſteigert. Wir können allerdings die Mittelglieder noch nicht nach⸗ 
weiſen, welche die wenigen Thierformen der Primordialfauna un⸗ 
mittelbar mit den luftathmenden Landthieren verknüpfen; wir müſſen 
uns in dieſer Hinſicht zur Zeit noch mit hypothetiſchen Andeutungen 
begnügen. Die Pupa der Steinkohlenepoche mag von Littorinen, die 
Myriapoden der Steinkohle werden von Meeresanneliden abſtammen. 
Die luftathmenden Reptilien der Steinkohlenepoche mögen durch Mittel— 
formen, ähnlich wie fie Lepidosiren und Hyxpocbthon (Proteus) in der 
heutigen Welt noch darſtellen, mit den Ganoiden oder den Selachiern 
der oberſiluriſchen und der devoniſchen Epoche in genealogiſchem Zu— 
ſammenhange geſtanden haben. Wir vermögen dieſe verbindenden 
Glieder allerdings derzeit noch nicht nachzuweiſen. Sie können theil— 
weiſe noch foſſil gefunden werden, von einem anderen Theile kann 
man es indeſſen als ſicher annehmen, daß ſie überhaupt nie im foſ— 
ſilen Zuſtande dürften gefunden werden. 

Aber ſicher iſt es jedenfalls, daß eine Vervollkommnung der 
Thierwelt im Laufe der Zeit von der Primordialfaung bis zur Stein- 
kohle ſtattgefunden hat, daß dieſe nur bis zu einer gewiſſen Grenze 
ging und in den ſpäteren Epochen auch über die damalige Grenze hinaus 
vorſchritt. 

Dicotyledonen, Vögel und Säugethiere fehlten damals noch. 
Dieſe höchſten Formen der Lebewelt fehlten überhaupt der ganzen 
paläozoiſchen Periode noch, fie traten in einzelnen ſparſamen Ber- 
tretern in der meſozoiſchen Periode hervor und ihre Reſte liegen in 
den tertiären Schichten ſchon in jener vorwaltenden Häufigkeit und 
Manigfaltigkeit niedergelegt, die jene höchſt entwickelten Lebensformen 
heut zu Tage auszeichnen. 

Gehen wir nun auf die geologiſche Geſchichte der luftath— 


250 


menden Wirbelthiere näher ein, fo ift es zuerſt die Umbil- 
dung von Fiſchen zu Reptilien und die Ablöſung der Kie— 
men durch Lungen, was uns als Hauptmoment entgegentritt. Hier 
kommen uns die Kenntniß der heute noch lebenden Mittelformen zwiſchen 
Fiſchen und Reptilien und die Beobachtungen über das Verſchwinden 
von Kiemen und das gleichzeitige Auftreten von Lungen in der Ent— 
wicklungsgeſchichte der Landbewohner trefflich zu ſtatten und helfen 
uns die Lücken in der Reihenfolge der Foſſilien, welche in dieſer Hin- 
ſicht die geologiſche Statiſtik nach offen läßt, nach Analogien mit heute 
lebenden Formen und heute noch zu beobachtenden Vorgängen aus⸗ 
zufüllen. d 

Die Umbildung von Fiſchen zu Reptilien muß im Laufe der geo- 
logiſchen Epochen, welche der Primordialbildung folgten, der Stein- 
kohlenbildung aber noch vorausgingen, ſtattgehabt haben. Wir kennen 
die verbindenden Mittelglieder nicht. Sie ſind noch nicht foſſil ge— 
funden worden. Es mögen auch wohl meiſt knorpelige Formen ge— 
weſen ſein, welche zu einer foſſilen Erhaltung wenig oder gar nicht 
geeignet waren. 

Aber jene Umbildung findet ihren Nachklang in der Metamor⸗ 
phoſe, welche heut zu Tage noch die Fröſche und die meiſten anderen 
Batrachier durchlaufen. Vergl. S. 199. 

Die Lunge der Reptilien, Vögel und Säugethiere iſt homolog 
der Schwimmblaſe der Fiſche, d. h. beide ſind aus gleichwerthen 
Elementen aufgebaut, ihre Verrichtungen ſind nur andere. Es bedarf 
nun weiter nichts, als des Durchbruchs einer verbindenden Röhre 
zwiſchen Schwimmblaſe und Speiſeröhre und der Ausbildung eines 
reichlicheren Gefäßnetzes auf der freien Innenfläche der Blaſe, um 
aus ihr eine zur Luftathmung geeignete Lunge hervorzubilden. 

Der heute noch lebende Lepidosiren (S. 196, Fig. 2) und der 
Molch der Krainer Höhlen, welche ihrer ganzen Lebensdauer nach 
Kiemen und Lungen zugleich beſitzen, mögen wenig veränderte Ab— 
kömmlinge jener älteſten luftathmenden Wirbelthiere ſein, die ſchon vor 
der Steinkohlenepoche aus einer Umbildung von Fiſchen hervorgingen, 
deren Reſte aber noch aufzufinden bleiben. 

Betrachten wir die wirklich foſſil erhaltenen Reptilienformen der 
älteren Epochen, ſo treffen wir auf eine ſehr merkwürdige Familie, 
abweichend von allen heute noch lebenden Verwandten, aber in vielen 
Zügen den Batrachiern nahe verwandt, und daher für die Deutung 


251 


des Stammbaums der höheren Wirbelthiere von beſonderer Wichtigkeit. 
Es iſt dies die erloſchene Familie der Labyrinthodonten, ſo be— 
nannt nach den in das Innere eindringenden mehr oder minder laby— 
rinthiſchen Windungen, welche die Rindenſchichte ihrer Zähne zeigt und 
die man beſonders an Querſchnitten derſelben erkennt. 

Zu ihnen gehören zunächſt die Archegoſauren, die in der 
Steinkohlenbildung auftreten, dann die Maſtodonſauren und ihre 
Verwandten, die in der Trias nachfolgen. Es ſind überhaupt Rep— 
tilien, welche Charactere der Saurier mit ſolchen der Batrachier und 
Fiſche vereinigen und von den meiſten Paläontologen den Batrachiern 
zunächſt geſtellt werden, mit den heute noch lebenden Batrachiern übri— 
gens doch nicht vollſtändig übereinkommen. Leider weiß man nur wenig 
über die Natur ihrer Gliedmaßen. 

Die Archegoſauren, von denen man zwei Arten aus der 
Steinkohlenbildung der Saar-Gegend, Archegosaurus Decheni Goldf, 
und A. latirostris Jord. kennt, waren Reptilien vom allgemeinen Kör— 
perumriß der Molche und der Saurier, dabei breiter als hoch und 
mit einem Schädel verſehen, der bei jungen Thieren mehr dem der 
Fröſche, im Alter eher dem der Gaviale ähnlich ſah. Man kennt 
Schädel von nahe ein Fuß Länge, was auf Thiere von etwa vier— 
facher Geſammtlänge ſchließen läßt. 

Der hintere Schädeltheil war bei ihnen, wie H. v. Meyer 
kürzlich gezeigt hat, noch nicht verknöchert. Statt einer Wirbelſäule be— 
ſaßen ſie noch eine knorpelige Rückenſaite, ähnlich wie die Störe und 
wie die Fiſche der paläozoiſchen Periode. Nur die Umfangstheile des 
Wirbelſkeletts waren verknöchert, bei den jüngſten beobachteten Exem— 
plaren erſt wenig, bei den ausgewachſenen vollſtändiger. Die Rippen 
ſind kurz. Von ihren Gliedmaßen weiß man erſt wenig genaueres. 
Die Arm- und Schenkelknochen waren kurz, die Gelenkknöpfe find nicht 
erhalten und waren wohl knorpelig. Die Beſchaffenheit der Füße kennt 
man noch nicht. 

Bekleidet waren ſie an Bruſt und Bauch mit kleinen länglichen 
knöchernen Schuppen. 

Was aber für ihre ſyſtematiſche Stellung von beſonderer Wichtigkeit 
erſcheint, iſt der Umſtand, daß ſie ähnlich wie die heute lebenden Fiſch— 
lurchen eine bleibende Kiemenvorrichtung beſaßen. Prof. Gold fuß fand 
nämlich an einem Exemplar des Archegosaurus Decheni an den Seiten 
des Nackens ein paar feine gleichlaufende Knochenbögen, die aus kleinen 


252 


an der inneren Seite kammförmigen Blättchen beſtehen. Dieſe Knochen— 
bögen können nur Kiemen getragen haben. Neben den Kiemen mögen 
die Thiere aber gleich den Fiſchlurchen auch ſchon Lungen beſeſſen haben. 

Was die Lebensweiſe der Archegoſauren betrifft, ſo ſcheinen ſie 
amphibiſche Weſen, den Molchen und Fröſchen vergleichbar, geweſen 
zu ſein, welche ſüße Gewäſſer und Strandſümpfe bewohnten und wohl 
nur wenig das Feſtland betraten. Sie waren entſchiedene Raubthiere, 
die namentlich Fiſchen nachſtellten. 

In der Trias folgen an der Stelle der Archegoſauren die eigent— 
lichen Labyrinthodonten mit ausgezeichnet labyrinthiſcher Zahn— 
bildung. Man kennt von ihnen mehrere Gattungen, von denen Masto- 
donsaurus die am beſten bekannte iſt. 

Mastodonsaurus Jaegeri Mey. iſt namentlich nach einem 
vollſtändigen Schädel von 
drei Fuß Länge aus der 
die unterſten Schichten des 
Keupers darſtellenden Let— 
tenkohlenbildung von Wür⸗ 
temberg bekannt. Dieſer 
Schädel iſt breit und nie— 
der, der Rachen mit ſehr 
ſtarkem Gebiß bewaffnet. 
Die Oberfläche der Schä— 
delknochen zeigt bei dieſer 
Art, wie auch bei den 
anderen Labyrinthodonten 
eine ſehr in die Augen 
fallende grubige Sculptur, 
ähnlich der der Krokodile. 

Fig. 17. Mastodonsaurus Jaegeri Mey. Der hintere Schädel⸗ 

aus dem unteren Keuper von Würtemberg. ie 2 a 

theil war verknöchert und 

zeigt einen doppelten Gelenkhöcker, was ſonſt nur bei Batrachiern und 

bei Säugethieren vorkommt und die Labyrinthodonten von den Sauriern 
deutlich genug ausſchließt. 

Der Rumpf war mit großen, grubig ſculpirten Knochenplatten 
bepanzert, ähnlich denen der Krokodile und meiſtens wie die der letzteren 
frei in der Haut eingebettet. 

Vom übrigen Gerippe der Maſtodonſauren weiß man nur ſehr 
wenig. Ihre Wirbelſäule war vollſtändig verknöchert und beſtand aus 


253 


biconcaven Wirbeln, wie die der Knochenfiſche und die der Fiſchlurche. 
Sie ſtanden in dieſer Hinſicht höher als die ihnen vorausgegangenen 
Archegoſauren, bei denen die Ausbildung der Wirbelſäule auf einer 
früheren Stufe ſchon ſtehen blieb. 

Von der Natur ihrer Gliedmaßen iſt nichts vollſtändig ſicheres 
bekannt. R. Owen glaubt, daß ihr Rumpf und ihre Gliedmaßen 
denen der Fröſche ähnlich geweſen ſeien, doch ſcheint dieß noch nicht 
ganz erwieſen und es iſt faſt wahrſcheinlicher, daß ſie gleich den 
Archegoſauren langgeſtreckte, geſchwänzte Thiere vom Auſehen der Sa— 
lamander waren. 

Jedenfalls waren die Maſtodonſauren rieſenhafte, gewiß 10—12 
oder mehr Fuß lange Sumpfbewohner von räuberiſcher Lebensweiſe, 
die nächſten Nachfolger der Archegoſauren und in mehrfacher Hinſicht 
höher organiſirt als dieſe, wahrſcheinlich auch bereits mehr Lungen— 
als Kiemenathmer. 0 

Mit dem Keuper erlöſchen die Labyrinthodonten plötzlich und 
durch eine lange Reihe von Formationen hindurch vermiſſen wir alle 
und jede Mittelformen, die ſie mit den erſt in der Miocän-Bildung 
foſſil auftretenden ächten Batrachiern irgendwie zu verknüpfen geeignet 
wären. Es iſt aber nicht unwahrſcheinlich, daß man deren noch auf— 
finden wird. Vergl. S. 204, 205. 

Ausgezeichnete Land-Saurier traten ſchon als Zeitgenoſſen 
der Archegoſauren hervor. 

Man fand nämlich ganz vor kurzem in der Steinkohlenbildung 
von Neuſchottland (Canada) in der Höhlung eines noch aufrecht 
ſtehenden Baumſtammes Reſte eines Landſauriers, der nach der Art 
ſeines Vorkommens den Namen Dendrerpeton (Baumlurche) erhielt 
und zwar traf man ihn zum Beweiſe ſeines Landbewohner-Characters 
in Geſellſchaft von einer Landſchnecke, einem Tauſendfuß u. ſ. w. 
Man hat von allen dieſen offenbar landbewohnenden Formen ſeither 
in jenen Schichten noch mehr Exemplare und dabei mehr Arten ge— 
funden und unſere Kenntniß der Landbevölkerung zur Zeit der Stein— 
kohlenbildung iſt damit wieder um ein beträchtliches gewachſen. 

Dendrerpeton iſt ein landbewohnendes Reptil, welches gleich den 
Archegoſauren der Labyrinthodonten-Gruppe ſich anreiht. Es mag etwa 
die Geſtalt eines Salamanders gehabt haben und gegen ein halb Fuß 
lang geweſen ſein. Die Wirbelkörper ſind biconcav und ſchon voll— 
ſtändig verknöchert. Die Beſchaffenheit der Füße kennt man noch 


254 


nicht. Wahrſcheinlich war es ſchon ein ächter ee und 
Lungenathmer. 

Nach neueren Nachrichten kennt man jetzt ſchon 4 oder 5 be⸗ 
ſondere Arten ſolcher landbewohnender Saurier aus jenen Schichten 
von Canada. 

Im Permiſchen Syſteme, in der Trias und im Jura hat man 
noch manigfache Gattungen von Eidechſen mit deutlich ausgebil⸗ 
deten Füßen und Zehen, von denen gewiß ein Theil Landbewohner 
waren. Aber ſie haben alle noch biconcave Wirbelkörper und ihr 
anatomiſcher Bau iſt noch manigfach mit Anklängen an Krocodile, 
Schlangen und andere jetzt von den Eidechſen wohlabgeſonderten 
Thiergruppen ausgeſtattet. Sie mögen wohl Abkömmlinge älterer 
Labyrinthodonten fein. 

Eidechſen den heute noch lebenden Formen ſo ähnlich, daß 
man ſie auf den erſten Eindruck hin leicht für gleicher Art oder doch 
gleicher Gattung nehmen möchte und namentlich in der Fuß⸗ und 
Zehenbildung ihnen ſchon ganz oder faſt ganz gleich, treten im Jura 
in mehreren Vertretern auf, namentlich im Kalkſchiefer von Solen⸗ 
hofen. So die Geoſauren, Homboſauren u. ſ. w. Ihre 
Wirbel ſind noch biconcav und unterſcheiden ſich in ſo fern ſehr von 
denen der heute noch lebenden Eidechſen, deren unmittelbare Stamm⸗ 
väter ſie indeſſen ſein mögen. 

In der Zeit der größten Typenentfaltung der Reptilien⸗Klaſſe 
entwickelten ſich aus den erörterten Formen in theils mehr, theils 
minder noch erſichtlicher Weiſe Flugeidechſen, Schildkröten, Vögel, 
Säugethiere. 

So hat man in der Permiſchen und in der Trias⸗ Epoche Saurier, 
deren Charactere zwiſchen denen von Eidechſen, Krokodilen, Schild⸗ 
kröten u. ſ. w. manigfach ſchwanken, in der Form der Kiefern aber 
ungemein an Schildkröten und Vögel erinnern. Es ſind dies die 
ſogenannten Anomodonten. 

So kennt man aus dem new red sandstone von Schottland 
(wahrſcheinlich unſerem deutſchen Buntſandſteine entſprechend) den 
Schädel einer beſonderen Gattung von Schnabellurchen, Rhyn- 
chosaurus. Dicſer Schädel iſt nach ſeinen anatomiſchen Elementen 
dem der Eidechſen am meiſten verwandt, aber ſein äußeres Anſehen 
kommt mehr auf das des Schädels von Schildkröten und Vögeln 
heraus. Das Gebiß dieſer Thiere war zahnlos. Wahrſcheinlich waren 


255 


die freien Ränder der Kiefern mit einer hornigen Scheide, wie die 
der Schildkröten, bekleidet. 

Die Gattung Dicynodon aus einem älteren Sandſteine des Ca p— 
landes war ähnlich gebaut, aber der Oberkiefer beſaß zwei lange 
herabhängende Eckzähne. Das Ausſehen war das des Schädels einer 
Schildkröte, nur daß er noch ein paar vorragender Zähne, ähnlich 
wie ſie heut zu Tage beim Wallroſſe vorkommen, beſaß. Man kennt 
vier Arten ſolcher Dicynodonten oder Hundszahnlurchen. 

Rhopalodon aus dem Permiſchen Sandſteine von Orenburg 
war auch ein ähnliches Reptil, nur war der Rachen reichlicher mit 
Zähnen bewaffnet und ſowohl der Ober- als auch der Unterkiefer 
beſaßen mächtige hervorragende Eckzähne. 

Man kennt von dieſen Anomodonten der permiſchen und triaſiſchen 
Zeit bis jetzt noch weiter nichts, als den Schädel und die biconcav 
gebildeten Wirbel, man weiß daher noch nicht ſicher, ob ſie Waſſer— 
oder Landthiere waren. Aber alle Umſtände deuten darauf hin, daß 
fie die Stammvater der Schildkröten waren und daß auch die Vögel 
von nahe ſtehenden, vielleicht noch nicht näher bekannten Formen her— 
vorgegangen ſein mögen. 

So lange Anomodonten lebten, gab es noch keine Schildkröten 
und noch keine Vögel. In den Schichten, wo die erſten ausgebildeten 
Schildkröten und die erſten ſicheren Vögel foſſil auftreten, ſind die 
Anomodonten längſt verſchwunden. Aber wir haben alle Ausſicht, 
von Jahr zu Jahr noch mehr oder minder Glieder der Stammbaumes 
aufzufinden. 

Ein den Ab⸗ 
lagerungen 
vom Lias zur 
Kreide eigner, 
der heutigen 
Lebewelt ganz 
fremder Rep⸗ 
tilientypus iſt 
der der Pte— 
rodactylen 
oder Ptero— 
ſaurier, von 


Fig. 18. Pierodactylus longirostris Cuv. 


Solenhoſener Schiefer, Eichſtedt. denen man 


256 


bereits drei Gattungen, Pterodactylus, Rhamphorhynchus und Ornithop- 
terus kennt. Dieſe Thiere waren theils von der Größe einer Lerche, 
theils der eines Raben, neuerdings hat man ſelbſt Reſte noch größerer 
Formen gefunden. 

Die Pterodactylen waren, wie ihre Skelett-Ueberreſte unzweideutig 
verkünden, fliegende Reptilien. Ihr Bau iſt der eines ächten Reptils, 
aber der Schädel hat entſchieden die Form eines Vogelkopfes. 
Die Kiefern tragen ſpitze Zähne, denen anderer Reptilien gleich. Das 
Kreuzbein iſt ähnlich wie bei den Vögeln zuſammengeſetzt, endlich der 
äußere Finger der Vordergliedmaßen ungemein ſtark in die Länge ge— 
zogen und ſo zum Träger einer Flughaut ausgebildet. Ihrer Lebens— 
weiſe entſprach die leichte und löcherige Beſchaffenheit der Knochen, 
ein Zug, der auch bei Vögeln ſich wiederholt. 

Die Pterodactylen waren alſo Flugthiere, aber ihre Flugwerk— 
zeuge waren weder denen der Vögel ganz gleich, noch auch denen der 
Fledermäuſe. 

Dieſe geflügelten Saurier, die ſeltſamſte, fremdartigſte Form aller 
bisher aufgefundenen urweltlichen Reptilien, dürften von den früher 
erwähnten landbewohnenden Eidechſen und in entfernterer Linie viel— 
leicht von den landbewohnenden Labyrinthodonten der Steinkohlen— 
Epoche ſich herleiten laſſen. Mittelglieder kennen wir bis jetzt noch 
nicht in foſſilem Zuſtande. 

Sie mögen aus gleichem Stamme wie die Vögel und die Beutel— 
thiere hervorgegangen ſein. Es iſt wenigſtens ein bedeutſamer Um— 
ſtand, daß man Spuren des für die Beutelthiere bezeichnenden Mar- 
ſupialknochens auch bei Pterodactylen und bei Vögeln findet. 

Spätere Entdeckungen von neuen Wirbelthierformen aus den 
Ablagerungen der Trias mögen wohl die Erkenntniß von dieſem Zu— 
ſammenhang noch um einen weiteren Schritt fördern. Die Nachwei— 
jung befiederter Thiere im oberen Jura von Solenhofen iſt eine Ent- 
deckung der jüngſten Zeit und die phyſiologiſche Tragweite dieſes neuen 
Fundes bis jetzt noch nicht in die Oeffentlichkeit gelangt. 

Mit der oberen Kreide erlöſchen die Pterodactylen, und zwar 
mit gewaltigen Formen. Aus der oberen Kreide von England er— 
wähnt man Pterodactylen, deren Knochenreſte auf Thiere ſchließen 
laſſen, deren Flugweite ſelbſt die des Lämmergeiers und die des Con— 
dors noch übertraf. 

Die Vögel haben in den Schichten der oberen Kreide ſchon 


257 


ſichere Reſte hinterlaſſen. Sie löſen hier die Pterodactylen ab, mit 
denen ſie überhaupt auch wohl aus einer und derſelben entlegenen 
Wurzel abſtammen. 

Die Säugethie re, die ungleichen, in mancher Hinſicht dürf— 
tiger, im Ganzen und in den höheren Formen entſchieden reicher aus— 
geſtatteten Geſchwiſter der Vögel, können mit ihnen zuſammen nur 
von einer Umbildung irgend eines Zweiges der Reptilien ſich herleiten. 

Von einem nieder organiſirten Fiſche der Primordialepoche, den 
Amphioxen und Myrinen der heutigen Meere ähnlich, mögen die älteſten 
foſſil erhaltenen Formen der Fiſche, die Ganoiden und Selachier, her— 
ſtammen. Aus irgend einem ihrer Zweige, vermuthlich einer Ganoiden— 
form, mögen die Labyrinthodonten ſich entwickelt haben. 

Dendrerpeton war in der Steinkohlenepoche ein landbewohnender 
Labyrinthodonte und vermuthlich ſchon ein ausgebildeter Lungenathmer. 
Von ſolchen, die Meeresküſten oder das feſte Land oder das ſüße 
Waſſer bewohnenden Reptilien mögen in der Permiſchen und in der 
Triasepoche, aus der wir ſchon fo ſeltſame Reptilienformen mit zahn— 
loſen Schildkröten- oder Vogelköpfen kennen, die Urſtämme der Vögel 
und der Säugethiere ſich abgezweigt haben. 

Wir kennen die eigentlichen Mittelformen noch nicht. Aber deut— 
liche Fußſpuren auf einigen an Meeresküſten der damaligen Zeit ab— 
gelagerten Sandſteinen werfen ſchon ſeltſame Schlaglichter auf die 
Thierformen, deren Knochenreſte wir noch nicht gefunden haben, aber 
noch zu finden erwarten dürfen. 

Man kennt im Connecticut-Thale (Nordamerika) manig— 
fache Fährten vogelartiger Thiere, dreihzehig und mehrgliederig, von 
Individuen verſchiedener Größe, mitunter Fährten, deren Zehenlänge 
und Schrittweiſe ſelbſt die des Straußes übertrifft. Sie zeigen ſich auf 
der Oberfläche von Sandſteinſchichten ausgedrückt, die zu einer Zeit 
abgelagert wurden, welche dem erſten foſſilen Auftreten wirklicher Vögel 
weit vorausgeht. (Wahrſcheinlich ſind es Schichten vom Alter unſeres 
bunten Sandſteines.) Was haben wir hier zu erwarten? Allem 
Anſchein nach den ſpäteren Fund von Knochenreſten vogelähnlicher 
Reptilien, welche Labyrinthodonten oder Saurier mit den Vögeln ver— 
knüpfen, vielleicht Reptilien, die aufrecht auf den Hinterfüßen gingen 
und deren Vordergliedmaßen — etwa den erſten Beginn einer Flughaut 
verrathend, — ähnlich wie die Flügelſtummel der unſere Meeresküſten 
bewohnenden Fettgänſe den Boden nicht berührten. 


Rolle, Darwin's Lehre. 7 


258 


Seit Jahren keunt man auf den Schichtungsflächen des Bunt⸗ 
ſandſteines von Hildburghauſen die Fährten eines vierfüßigen 
Thieres, das zu manigfachen Deutungen Anlaß gegeben hat. Man 
kennt von ihm, ſowie von den oben gedachten Vögeln oder vogelarti- 
gen Thieren zur Zeit noch nichts weiter als die Abgüſſe der Füße, 
aber keine Spur von Knochen des Skelettes oder von Zähnen iſt bis 
jetzt in demſelben Lager vorgekommen. Das Thier hatte jenen Fähr⸗ 
ten nach vierzehige Vorder- und Hintergliedmaßen, die der letzteren 
waren größer, der Daumen an beiden deutlich von der übrigen Hand 
abgeſetzt. Man nennt darnach das an ſich eigentlich noch unbekannte 
Thier, das jene Fußtapfen hinterließ, Chirotherium oder Händethier. 

Viele Geologen haben ein Beutelthier erkennen wollen, R. Owen 
hat die Fährten dagegen neuerdings einem Labyrinthodonten zugeſprochen. 

Indeſſen Beutelthiere und Säugethiere überhaupt kennt man 
aus ſo alten Schichten, wie der Buntſandſtein von Deutſchland, bis⸗ 
her noch nicht in wirklichen Foſſilreſten und die Labyrinthodonten 
ſcheinen wohl, gleichwie die Archegoſauren, die Körperform von Molchen 
und Salamandern und nicht die von Fröſchen oder landbewohnenden 
Säugethieren gehabt zu haben. 

Eher dürften die Chirotherien-Fußtapfen auf eine der Ueber⸗ 
gaugsſtufen deuten, die von Labyrinthodonten zu Beutelthieren führten; 
Thiere, welche gleich den Fröſchen und den Känguruh's lange Hinter⸗ 
gliedmaßen und kurze armartige Vordergliedmaßen beſaßen und im 
übrigen Körperbau nicht mehr ächte Reptilien und noch nicht wirt 
liche Didelphen waren. 

Jedenfalls iſt die thieriſche Abſtammung der Hildburghauſer 
Fährten heut zu Tage wohl unbezweifelt, kein heute noch lebendes 
Thier hat ähnliche Fußbildung als etwa die Didelphen und keine aus 
jenen Epochen wirklich ſchon foſſil beobachtete urweltliche Form iſt fo 
nahe verwandt als die Labyrinthodonten, denen R. Owen die Chiro⸗ 
therienfährten auch geradezu beilegt. 

Wenden wir uns indeſſen den wirklich foſſil aufgefundenen älteren 
Säugethierreſten zu. 

Abgeſehen von ein paar einzelnen Zähnchen eines kleinen Säuge⸗ 
thieres, vielleicht eines Inſectenfreſſers, die ſich in den unterſten Schich⸗ 
ten des ſchwäbiſchen Lias gezeigt haben, beginnen die Säugethiere 
urkundlich erſt im mittleren Jura von England, wo man mehrere 


259 


Beutelthier-Arten, alle bisher nur durch Unterkiefern und Zähne 
vertreten, aufgefunden hat. 

Die Gattung Phascolotherium Ow. gründet ſich auf eine zu 
Stonesfield ge⸗ 
fundene, ziemlich 
vollſtändige Unter⸗ 
kieferhälfte mit drei 
oder vier Schneide⸗ 
zähnen, einem Reiß⸗ 
zahn und ſieben 
Backenzähnen. Die 
Form der Unter⸗ 
kiefer und die Zahnbildung deuten nach Owen's Unterſuchungen 
mit Sicherheit auf ein fleiſchfreſſendes Beutelthier, ähnlich den heute 
lebenden Gattungen Thylacinus und Didelphys. 

Die Gattung Amphitherium oder Thylacotherium, von der man 
zwei Arten aus dem Kalkſchiefer von Stonesfield kennt, beſaß 
ähnliche Kiefern und Zähne, aber die Zahl der letzteren war größer 
als bei irgend einer anderen ſonſt bekannten lebenden oder foſſilen 
Säugethierform. Der Unterkiefer zeigt jederſeits zwölf Backenzähne. 
Dieſe zweite Gattung gehörte nach Owen entweder einem inſecten— 
freſſenden Beutelthier, ähnlich der lebenden Gattung Myrmecobius 
oder auch wohl einem monodelphiſchen Inſectivoren an. 

Alle dieſe Stonesfielder Säugethiere waren kleine landbewohnende 
Raubthiere oder Inſectenfreſſer von der Größe einer Ratte oder wenig 
darüber. Ihr Säugethier-⸗Character iſt außer allem Zweifel und na⸗ 
mentlich durch die doppelten Wurzeln der Zähne dargethan. Anklänge 
an die Reptilien laſſen ſich aber noch in der auffallend großen Zahl 
und ungewöhnlichen Gleichförmigkeit der Backenzähne von Amphitterium 
erkennen. 

Die Beutelthierreſte aus den Juraſchichten von Stonesfield 
waren drei Jahrzehnde hindurch die einzigen ſicheren Spuren von 
Säugethieren von dieſer Zone an bis zum Beginn der Tertiär— 
epoche. Neuerdings hat eine Reihe von glücklichen Erfunden aber auch 
zur Kenntniß der Säugethierformen geführt, welche zur Zeit des Be— 
ginns der Kreide-Epoche lebten. 

Man fand nämlich in einer, ſeit längerer Zeit ſchon bekannten 
und durch das Vorkommen an Ort und Stelle mit feſtſitzenden Wurzeln 

17 


Fig. 19. Phascolotherium Buklandi Brod. 
(in 2/1 d. nat. Gr.) Stonesfield. 


260 


verfteinertev Cycadeen- und Coniferenſtämme ausgezeichneten Schichte 
des Purbeck-Kalks von England eine Anzahl von Unterkiefern 
und Zähnen anderer Gattungen und Arten von Säugethieren. 

Wiederum ſind es meiſt Beutelthiere, denen der heutigen 
Fauna Neuhollands ähnlich. Es haben ſich bis jetzt drei ver— 
ſchiedene Gattungen herausgeſtellt. 

Die ausgezeichnetſte Form dieſer Purbecker Säugethiere iſt die 
Gattung Plagiaulax. Man keunt von ihr den an der Unterſeite ſtark 
gewölbten Unterkiefer mit einigen großen Backenzähnen und einem 
großen weit vorſtehenden Eckzahn. Nach Owen waren dieſe Thiere 
fleiſchfreſſende Beutelthiere, ihre Größe war nicht beträchtlicher, als 
die der Beutelthiere von Stonesfield. 

Während die Ablagerungen der Secundär-Periode von Säuge— 
thieren faſt nur Beutelthiere darboten, tauchen darnach in den ſeit 
Beginn der Tertiär-Periode abgelagerten Schichten in auffallend plötz— 
licher Weiſe eine reiche Anzahl von Säugethierformen ſehr verſchiede— 
ner Ordnungen hervor. Dickhäuter und Raubthiere kennt man 
ſchon aus den tiefſten Eocän-Schichten. Mit den nächſt folgenden 
wächſt dann mehr und mehr die Zahl der Arten und Gattungen und 
bald ſind faſt alle Ordnungen vertreten. Die muthmaßliche Herkunft 
dieſer auf dem europäiſchen Feſtlande der Eocän-Epoche jo raſch her— 
vortretenden Säugethierfaung wurde ſchon Seite 174 erörtert. 

Reihenfolgen von verwandten, ſich in chronologiſchen Folgen ein— 
ander ablöſenden Formen laſſen ſich wohl auch vom Beginne der 
Tertiär-Periode au bis zur Fauna des heutigen Tages verfolgen, doch 
muß die eigentliche Ausbildung der Haupttypen der Säugethierklaſſe 
ſchon in einer früheren Zeit und vermuthlich wohl auf einem andern 
Boden als dem heutigen europäiſchen vor ſich gegangen ſein. 

So iſt es namentlich auffallend, die Affen, die höchſte, an den 
Menſchen am nächſten heranreichende Säugethierform bereits durch 
foſſile Reſte in den Eocän-Ablagerungen vertreten zu ſehen. 

Wir haben uns daher, wenn es einmal durch einen glücklichen 
Zufall gelingen ſollte, in irgend einem Theile der Erde, im Gebiete 
der mittleren und der oberen Kreide-Formation Säugethierreſte auf— 
zufinden, noch manigfacher und entſcheidender Aufklärung über die 
Genealogie unſerer heutigen Säugethierfauna zu gewärtigen. Das 
dritte Jahrzehnd unſeres Jahrhunderts brachte uns die Kenntniß der 
erſten Säugethierzone des Jura's, das ſechſte die der erſten Säuge— 


261 


thierzone der unteren Kreidegebilde und die folgenden werden uns ge- 
wiß noch irgend eine oder mehrere ſolcher Zonen weiter vorführen. 

Unter den Säugethierformen, deren Reſte die Tertiärgebilde ge— 
liefert haben, ſpielen namentlich die Dickhäuter oder Pachydermen 
durch die Zahl ihrer Arten und Gattungen, oft auch durch die fremd— 
artige Form und die anſehnliche Körpergröße eine hervorragende Rolle. 

Tapirartige Thiere wie Palaeotherium, Lophiodon u. ſ. w., 
treten in Eocän- und Miocän Schichten nach Gattungen und Arten 
in reichlicher Vertretung auf, um dann vom europäiſchen Boden wie— 
der zu verſchwinden. Heut zu Tage leben nur in Südaſien und 
Südamerika noch Tapire. 

Die Anoplotherien, eine erloſchene Familie der Dickhäuter, 
deren Reſte beſonders aus den Schichten des Pariſer Beckens bekannt 
ſind, vereinigen Charactere der ächten Dickhäuter mit denen der heut 
zu Tage ſehr vereinzelt daſtehenden Pferde und zugleich mit denen der 
Wiederkäuer. Sie dürften deren Stammform darſtellen. Anoplotherien 
verſchwinden bald wieder vom Schauplatz, Pferde und Wiederkäuer 
löſen ſie ab. 

Von den Tapiren ſcheinen die Dinotherien, die Maſtodonten und 
die Elephanten ſich herzuleiten. 

Eine der bezeichnendſten Formen der mittleren Tertiärgebilde ſind 
die erloſchenen und von den Formen der heutigen Säugethierfauna 
überhaupt ſehr abweichenden Dinotherien. 

Dinotherium giganteum Kaup iſt nach einem vollſtändigen Schädel 

aus der Miocänbildung 
N von Eppelsheim 
NR (Rheinheſſen) und nach 
den übrigen Skelett— 
theilen aus gleich alten 
Schichten von Trie- 
bitz (Böhmen) bekannt. 
„ Es war die größte aller 
= — bekannten Formen von 
e eee Kaup. Landſäugethieren, den 
sr Maſtodonten und Ele— 
phanten zunächſt verwandt, aber mit Backenzähnen, denen des Tapir 
gleich und mit gewaltigen nach unten gewendeten Stoßzähnen, welche 
den beim Wallroß im Oberkiefer ſitzenden ähnlich ſehen. 


, 


Zah Im 


262 


Der Bau des Vorderſchädels läßt ſchließen, daß das Thier 
einen Elephantenrüſſel beſaß. Man ſchätzt ſeine Geſammtlänge auf 
etwa 20 Fuß, wahrſcheinlich war es ein pflanzenfreſſender Fluß- und 
Sumpfbewohner. 

Die Maſtodonten, große elephantenartige Dickhäuter mit 
Backenzähnen vom Bau derjenigen der Schweine und mit mächtigen 
Stoßzähnen, ähnlich denen der Elephanten, waren in der Miocän— 
epoche in Europa Zeitgenoſſen der Dinotherien. Sie erloſchen in 
Nordamerika, wo ſie am längſten ſich erhielten, erſt in einer der 
heutigen Epoche kurz vorhergegangenen Zeit. (Vergl. Seite 213). 

Die Elephanten, auf europäiſchem Gebiet ſpäter als die Ma— 
ſtodonten hervortretend, haben dieſe überlebt. Eine oder zwei Arten 
waren in der Diluvialepoche in Europa und Nordaſien (S. 213) 
noch zahlreich; ſeither ſind ſie auf dieſem Gebiete erloſchen und die 
letzten Abkömmlinge ihres Stamms erſcheinen nunmehr auf Süd— 
aſien und Afrika begrenzt. 


263 


Mach ſchrift. 


Die Darwin 'ſche Lehre ſowohl an und für ſich als in ihrer 
Anwendung auf die urkundliche Schöpfungsgeſchichte iſt, wie es bei 
der Unvollſtändigkeit der Ueberlieferung unſerer geologiſchen Urkunden 
nicht wohl anders fein kann, mindeſtens ebenſoſehr Ahnung der Zu— 
kunft als Verwerthung von Vergangenheit und Gegenwart. 

Eine neue Entdeckung drängt die andere und erfüllt Lücken, deren 
Ueberbrückung die Darwin'ſche Lehre im voraus ſchon anſagte. 

So geht jetzt die Nachricht durch die Tagesblätter von der Ent— 
deckung einer neuen ſeltſamen Mittelform zwiſchen Reptil 
und Vogel, die kürzlich im Solenhofener Schiefer, der oberſten 
Schichte des Juras von Bayern, aufgefunden und zum Preiſe von 
750 Pfund Sterling (gegen 9000 Gulden) Eigenthum des britiſchen 
Muſeums zu London wurde. 

Während des Druckes des Textes war mir noch nichts näheres 
über jenen Fund bekannt geworden, ich deutete denſelben Seite 256 
daher nur kurz an. Inzwiſchen ſind darüber genauere Nachrichten in 
die Oeffentlichkeit gedrungen. 

Nach den jüngſten Zeitungsberichten (Mitte December 1862) ſoll 
das neu entdeckte befiederte Weſen aus dem oberen Jura eine 
neue und unzweifelhafte Uebergangsform von den Reptilien zu den 
Vögeln ſein. Die Federn deſſelben ſind in allen Einzelnheiten des 
Baues von denen heute lebender Vögel nicht zu unterſcheiden, die Art 
ihrer Befeſtigung aber ſoll eine andere ſein. Der Fuß iſt genau wie 
der eines Vogels gebaut und die Vorderglieder an ihrem äußerſten 
Theile befiedert. Der Schwanz gleicht dem einer Eidechſe und beſteht 
aus etwa zwanzig dünnen länglichen Wirbeln, an deren beiden Seiten 
je eine Feder befeſtigt iſt. Kopf, Hals und Schulter ſind noch nicht 
bekannt. Der genaueren Beſchreibung dieſes merkwürdigen neuen Fun— 
des durch Profeſſor Owen ſieht man mit Spannung entgegen. 


264 


n ü ck bi ck. 

Die Fülle des Stoffes der Schöpfungsgeſchichte, wie ſie nicht 
nur in der endloſen Zahl der Einzelheiten und der Manigfaltigkeit 
der Gruppen, ſondern auch in deren verſchiedenem Verhalten im Laufe 
der geologiſchen Epochen ſich verkündet, hat uns mehrfach in beſon— 
dere und entlegene Felder der naturwiſſenſchaftlichen Forſchung geführt, 
deren weſentlicher Zuſammenhang mit der Haupt- und Grundfrage 
unſerer Abhandlung: „Wie find die Arten der Pflanzen— 
und Thierwelt entſtanden?“ ſich leicht verkennen läßt. 

Verſuchen wir es daher die Hauptergebniſſe der Geſchichte der 
Schöpfung in ihrer Beziehung zur Frage nach der Entſtehung der 
Arten uns wieder ins Gedächtniß zu rufen. Wir können ſie zur 
Erleichterung der Ueberſicht in eine naturgemäße Reihe von Theſen 
ordnen. 


IJ. Die heute lebende Pflanzen- und Thierwelt mit Ein⸗ 
ſchluß des Menſchen iſt keine beſondere Welt für 
ſich, kein für ſich allein und von vorher vorhan— 
denen Dingen unabhängig entſtandenes Erzeug— 
niß, ſondern ſie iſt eine geſetzmäßige Folge von 
älteren in weit entlegene Ferne zurück zu ver- 
folgenden Vorgängen. 


Alles, was heute lebt und webt, iſt nur der letzte bisherige Aus— 
gangspunkt von gewiſſen Reihen, deren Zuſammenhang wir nach dem 
jetzigen Stande der Forſchung theils ſchon mit ziemlicher Beſtimmt— 
heit enträthſeln, theils wenigſtens auf einzelne Andeutungen hin un— 
gefähr ahnen können. Die dabei zu Grunde liegenden Vor— 
gänge ſind ſo ganz allmälige und für unſere unmittelbare Wahr— 
nehmung unmerkliche, daß daraus ein ſcheinbarer Still- 
ſtand der Erſcheinungen hervorgeht. Es gibt aber nichts deſto we— 
niger vereinzelte Momente, welche erweiſen, daß jene ſeit urdenklichen 
Zeiten in allmähligem Verlaufe thätigen Vorgänge auch jetzt noch 
nicht ruhen und daß die Reihen von Formen, welche aus der 


265 


Vorwelt zur heutigen Pflanzen- und Thierbevölkerung der Erde füh— 
ren, im Laufe der fernen Zukunft auch noch weitere Fortſetzungen 
erhalten werden. 


1. Die Lebewelt hat von der älteften Zone jener Ge— 
birgsſchichten an, aus welchen man Reſte von ehe— 
maligen Pflanzen und Thieren kennt, bis zum 
heutigen Tage an Zahl der Formen und in vie— 
len Fällen auch an Vollkommenheit zugenommen. 


Die Reſte der ehemaligen Pflanzen und Thiere der verſchiedenen 
Epochen der Ausbildung des Erdkörpers waren mit Ausnahme jener 
der letzten vorgeſchichtlichen — namentlich vieler Arten der miocänen, 
pliocänen und diluvialen — Ablagerungen nicht Formen der heu— 
tigen Lebewelt, ſondern nur ähnliche mehr oder weniger verwandte 
Arten. Ihr Stamm iſt theils vollkommen erloſchen, theils lebt er 
in mehr oder minder umgeſtalteten Abkömmlingen heute noch fort. 

Es geht aus der Unterſuchung der im Verlaufe der Ausbildung 
unſeres Planeten über einander gelagerten Bodenſchichten und der in 
ihnen vergrabenen Pflanzen- und Thierreſte mit Beſtimmtheit hervor, 
daß die Lebewelt von der älteſten bis jetzt bekannt gewordenen foſſil— 
führenden Zone an (Primordialfauna, Schiefer von Ginetz, Skrey 
u. ſ. w.) bis zur heutigen Zeit 

1) an Zahl der Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen und 
Klaſſen zugenommen hat, 

2) daß die Pflanzen und Thiere der älteſten foſſilführenden Ge— 
bilde im Allgemeinen und zwar in einer Reihe von Fällen in ſehr 
ausgeſprochener Weiſe von niederer Organiſationsſtufe ſind, daß aber 

3) mit den folgenden Epochen in unzweifelhafter Weiſe und in 
zahlreichen Fällen noch mancherlei Formen von höherer Organiſation 
und reicheren Lebenserſcheinungen allmählig hinzu getreten ſind. 

So iſt es offenbar, daß die älteſte bekannte foſſilführende Zone 
weit weniger Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w. als die ſpäteren 
Ablagerungen, z. B. die der Jura-Epoche beſitzt und zugleich die letz— 
teren eine große Zahl von höher orgauiſirten Lebensformen aufzu— 
weiſen haben, welche der erſteren noch abgehen. 

In ähnlicher Beziehung überragt aber auch wieder die heutige 
Lebewelt jene, die in der Jura-Epoche lebte. 

Ueberhaupt aber gewährt die Geſammtheit der geologiſchen Ent— 


266 


wickelungsgeſchichte der Pflanzen- und Thierwelt entſchieden das Bild 
einer allmählig anwachſenden und ſich in einzelnen Zweigen vervoll— 
kommnenden Geſellſchaft. Viele Typen von niederer Organiſation 
und einfachen Lebenserſcheinungen, die aus den älteſten Epochen der 
Erdausbildungsgeſchichte ſich herleiten, leben heute noch in wenig ver— 
änderter Form fort. Wir erkennen aber, wie von Epoche zu Epoche 
höher organiſirte, zu höheren vielfacheren Lebenserſcheinungen und aus— 
gedehnteren Leiſtungen befähigte Formen allmählig zu jenen neu hin- 
zugetreten ſind, ſo daß alſo die heutige Schöpfung eine reichere und 
tiefer gehende Abſtufung vom Niederen zum Höheren aufzuweiſen hat, 
als die Lebewelt jeder älteren Epoche. 


III. Der erſte Urſprung aller lebenden Weſen kaun nur 
die einfache Zelle geweſen ſein. 


Die Organismen, deren einer foſſilen Erhaltung fähigen Reſte 
die Schiefer von Ginetz, Skrey u. ſ. w. uns geliefert haben, obſchon 
ihrer Geſammtheit nach eine erſt zu geringer Organiſationshöhe ge— 
langte Lebewelt jener Zeit verkündend, ſind doch noch nicht ſo ein— 
facher Zuſammenſetzung, daß wir ihnen eine urſprüngliche Ent— 
ſtehung aus unbelebtem Stoffe zuſchreiben könnten. Sie ſind 
ſchon weit höher organiſirt, als Samen und Eier heutiger Orga— 
nismen und als die einfachſten und niederſten heute noch lebenden 
Pflanzen⸗ und Thierformen. 

Faſſen wir den manigfach anwachſenden Entwickelungsgang von 
der älteſten foſſilführenden Gebirgsſchichte an bis zur heutigen Pflan- 
zen⸗ und Thierwelt ins Auge, ſo finden wir uns zum Schluſſe ge— 
führt, daß die Vorgänge auch in noch älteren Zeiten der Erdbildungs— 
geſchichte ſchon von derſelben Art waren, d. h. daß ſie auch ſchon vom 
einfachen und niederen zum zuſammengeſetzteren und höheren führten. 

Die älteſte bekannte foſſilführende Zone kann alſo noch nicht den 
erſten und älteſten Anfang des organiſchen Lebens umſchließen, ſon— 
dern die Reſte noch älterer Organismen als jener von Ginetz, Skrey 
u. ſ. w. werden entweder künftig noch irgendwo in einer bisher für 
foſſilfrei gehaltenen Schichte der Gebirge gefunden werden oder ſie 
wurden vielleicht auch ehedem in entſtehenden Gebirgsſchichten einge— 
ſchloſſen, aber durch die ununterbrochen vor ſich gehende Umbildung 
der Gebirgsmaſſen wieder aufgelößt. 

Eine Urzeugung iſt gemäß der wohlausgeſprochenen Weiſe, 


267 


in welcher heut zu Tage Pflanzen und Thiere aus Samen und Eiern 
entſtehen, durchaus nur für ganz einfache nieder organiſirte mikros— 
kopiſche Lebensformen denkbar, welche dem Ei'chen höherer Pflanzen 
und höherer Thiere analog und überhaupt wenig mehr als einfache 
Zellen ſind. 

Niedere Organismen dieſer Art ſind aber bekanntlich ſo leicht 
verweslicher Natur, daß ihre Reſte ſich nicht in erkennbarer Form 
in Gebirgsſchichten erhalten können. Den erſten durch Urzeugung 
aus unbelebter Materie entſtandenen Anfang der Lebewelt werden 
wir daher auch nie in fofſilem Zuſtande nachweiſen können. 


— 


IV. Die einzelnen Verzweigungen des allgemeinen 
Stammes der belebten Formen, wie er ſich in 
den Foſſilreſten der geologiſchen Formationen 
verkündet, haben in der Art ihrer Entwicklung 
einen verſchiedenen, in manigfacher Weiſe un- 
gleichartigen Verlauf genommen. 


Einzelne dieſer Verzweigungen ſind in auffallender Weiſe von 
einer gewiſſen Epoche an ſtille ſtehen geblieben, andere ſind früher 
oder ſpäter wieder erloſchen oder doch dem Erlöſchen nahe gekommen, 
noch andere haben ſich mehr und mehr an Artenzahl und Formen— 
manigfaltigkeit ausgebreitet. Der Stammbaum bietet daher ſtarre und 
ſtille ſtehende, ſowie veränderliche und raſch aufblühende Zweige in 
manigfachem Wechſel. 

Vergleichen wir den geologiſchen Entwicklungsgang der einzelnen 
Pflanzen- und Thierformen nach Gattungen, Familien und Ordnungen 
im Verlaufe der ſucceſſiven Epochen, ſo finden wir, daß einzelne Ab— 
theilungen ſich durch ungeheuere Zeiträume hindurch in faſt unver— 
änderter Organiſationshöhe erhalten haben. So z. B. die Brachio— 
poden: Gattungen Lingula und Rhyuchonella von der ſogenannten 
Primordialzone an bis auf den heutigen Tag, ſo die Chitonen von 
der devoniſchen Epoche an. Eine ſolche Beſtändigkeit der generiſchen 
Form kommt vorzugsweiſe bei Meeresbewohnern vor. Verzwei— 
gungen des genealogiſchen Stammes, die einmal durch eine Reihe von 
Epochen hindurch ein derartiges ſtarres Verhalten gezeigt haben, pflegen 
auch in den ſpäteren nie mehr Landbewohner zu liefern. 

Ein anderer Theil der Zweige des Stammbaumes erreicht im 
Verlaufe der geologiſchen Epochen eine bald mehr bald minder aus— 


268 


geſprochene Vervollkommnung. Es iſt dies beſonders bei jenen Ver— 
zweigungen der Fall, bei denen zu einer oder der anderen geologiſchen 
Epoche Landbewohner hervortreten. Der Uebergang aus dem 
Waſſer auf das Feſtland iſt faſt immer mit einer Vervollkommnung 
der Organiſation verknüpft, die Geſammtheit der Landbevölkerung einer 
jeden Epoche iſt daher auch ſtets von einem höheren Organiſations— 
werthe als die gleichzeitige Meeresbevölkerung. 

Eine Vervollkommnung iſt indeſſen in vielen Fällen auch bei 
ausſchließlichen Waſſerbewohnern eingetreten, z. B. bei Gaſteropoden, 
bei Cephalopoden und bei Fiſchen. 

Reihenfolgen einer im Laufe der Epochen eingetretenen Vervoll— 
kommnung zeigen ſich ſowohl im ſucceſſiven Hervortreten gewiſſer 
Klaſſen, als in anderen Fällen auch in der geologiſchen Geſchichte 
von manchen Ordnungen einer und derſelben Klaſſe oder von Fami— 
lien einer und derſelben Ordnung. 

So treten im Pflanzenreiche als Beiſpiel des erſteren Falles 
Vertreter der am höchſten organiſirten Klaſſe, der eigentlichen Dico— 
tyledonen, erſt in der Kreide-Epoche auf. Alle übrigen minder hoch 
organiſirten Klaſſen waren ſchon in der Steinkohlen-Epoche vertreten. 

Von den Wirbelthieren treten die Fiſche zuerſt (in den oberen 
ſiluriſchen Schichten), die Reptilien ſpäter (in der Steinkohlen-Epoche), 
die Säugethiere zuletzt (im Lias und Jura) hervor. 

Beiſpiele von Reihenfolgen engerer Gruppen wurden mehrfach 
ſchon erwähnt. So werden bei den Säugethieren die niedriger ſtehen— 
den Didelphen, welche anfänglich allein oder doch vorherrſchend ver— 
treten waren, ſpäter von den höher ausgebildeten Monodolphen ab— 
gelößt und faſt allenthalben aus dem Felde verdrängt. 

Bei den Seelilien werden, wie wir geſehen, die Cyſtideen von den 
eigentlichen Crinoiden und dieſe ſpäter noch von den Comateln abgelöſt. 


V. Das Meer iſt die Wiege der Schöpfung, das Feſtland 
aber das günſtigſte Feld ihrer Vervollkommnung. 


Vergleichen wir den geologiſchen Entwicklungsgang der Lebens— 
formen in Bezug auf ihren Aufenthalt im Meere, im ſüßen Waſſer 
und auf dem Feſtlande, ſo finden wir, daß die Primordialzone nur 
Meeresbewohner umſchließt, daß ſpäter in der devoniſchen Epoche Reſte 
einiger weniger Landpflanzen hervortauchen und daß darnach erſt, näm— 
lich in der Steinkohlen-Epoche, die erſten Landthiere hinzukommen. 


269 


Das Meer iſt alſo, wie die Alten ſchon lehrten, die älteſte 
Wiege der Schöpfung. Meerespflanzen und Meeresthiere ſind, ſoweit 
unſere jetzige Kenntniß reicht, die älteſten foſſil erhaltenen Organis- 
men und noch kein Fund deutet irgendwie auf ein gegentheiliges Ver— 
halten. Bewohner des Landes und des ſüßen Waſſers, namentlich 
lungenathmende Thiere erſcheinen erſt in unzweifelhaft ſpäteren Epochen. 
Sie beginnen hier anfänglich nur mit wenig Formen und nehmen 
ſowohl an Zahl der Arten und Gattungen, als auch an tieferer Ver— 
ſchiedenheit der Typen allmählig zu. 

Mehrere der aus dem Meere auf das Feſtland übergegangenen 
Zweige des Stammbaumes gewinnen im Laufe der Epochen in augen— 
fälliger Weiſe an Organiſationshöhe. Wenn die Lebewelt der heutigen 
Zeit ihrer Geſammtheit nach an Bau und Leiſtungsfähigkeit die der 
älteren geologiſchen Epochen und namentlich die der ſogenannten Pri— 
mordialzone überragt, jo iſt dies allerdings auch ſchon der Fall, wenn 
wir von der heutigen Lebewelt allein nur die Meeresbevölkerung in 
Betracht ziehen. Aber das Hauptgewicht des der heutigen Lebewelt 
eigenen höheren Betrages kommt auf Rechnung der ſeither im Laufe 
der Epochen hinzugetretenen Landpflanzen und Landthiere, bei denen 
Organiſationshöhen auftreten, die alle Formen der Meeresbevölkerung 
überragen. 


Vl. Die heutige Entwickelungsgeſchichte der höheren 
Lebensformen entſpricht in mehr oder minder 
naher Parallele ihrer geologiſchen Abſtammung. 


Es iſt unverkennbar, daß im Großen und Ganzen die indivi— 
duelle Ausbildung der heutigen Pflanzen und Thiere eine gewiſſe Pa— 
rallele zur geologiſchen Geſchichte der Schöpfung bildet. In einzelnen 
beſonderen Fällen iſt dies mehr ausgeſprochen als in anderen. 

Die Betrachtung des Fortſchreitens der Pflanze vom Samenkorn 
zur Reife und des Thiers vom Ei zur ausgebildeten Form zeigt, daß 
Pflanze und Thier eine Reihe von Umgeſtaltungen erleiden, die im 
Allgemeinen vom Einfachen zum Zuſammengeſetzten, vom niederen 
zum höheren führen. Aus ſchwach angedeuteten werden höher geſtei— 
gerte, lebhaftere und vielſeitigere Lebenserſcheinungen. Pflanze und 
Thier vervollkommnen ſich im Verlauf der Ausreifung in anatomi— 
ſcher wie in phyſiologiſcher Hinſicht, im Bau wie in Verrichtungen. 


270 


Sie bieten in dieſer Hinſicht eine Parallele zur geologiſchen Entwick- 


lungsgeſchichte der geſammten Lebewelt. 
In einzelnen Fällen ſtellt ſich zugleich aber auch noch ein beſon— 
deres Abbild der Umgeſtaltungen heraus, welche der beſondere genea— 


logiſche Zweig einer beſtimmten Lebensform im Laufe der Epochen 


erlitten hat. So geht bei der Ausreifung der Froſchlarve die Fiſch— 
form voraus, die ausgebildete Reptilienform aber tritt ſpäter ein. 
So gehen auch in der geologiſchen Reihenfolge Fiſche den Reptilien 
voraus. 


VII. Sämmtliche organiſche Weſen, welche heut zu Tage 
leben, ſtammen von einer oder mehreren ſehr ein— 
fach und nieder organiſirten Urformen ab. 


Sie ſtehen daher — nicht blos im figürlichen Sinne, ſondern der 
vollen Wirklichkeit nach — in einem verwandtſchaftlichen Verhältniſſe 
zu einander. Es gibt Stammformen und Abkömmlinge, eng ver— 
ſchwiſterte und weit von einander gehende Verwandte unter ihnen. 

Der Hund ſtammt mit dem Wolf zuſammen von näher liegen- 
den Vorfahren ab, als mit der Katze. Schwein und Elephant ſtehen 
vom Stamme des Hundes und des Wolfes noch weiter ab, die that— 
ſächliche Wurzel ihres gemeinſamen Stammes reicht in noch entlege— 
nere Epochen zurück. 

Knorpelfiſche, den Amphioxen und Myxinen unſerer heutigen Meere 
ähnlich, mögen die gemeinſamen Ur-Vorfahren aller Wirbelthiere über— 
haupt ſein. 

Die geologiſche Entwickelung der Lebewelt mit ihren vielen Zügen 
von wachſender Ausbreitung und Vervollkommnung der einen, von 
zäher Beſtändigkeit der anderen Zweige, kann nur durch die Annahme 
einer wirklichen und ununterbrochenen Abſtammung der Lebensfor— 
men einer Epoche von denen der vorausgegangenen Epochen erklärt 
werden. 

Die vollſtändige Ausführung des Stammbaums der Schöpfung 
iſt in Betracht der thatſächlichen Beſchränkung unſerer Hülfsmittel un— 
möglich. Wir haben geſehen, wie einerſeits zahlreiche Organismen 
gar nicht foſſil erhalten werden können, andererſeits iſt es unverkenn— 
bar, daß unſere dermalige Kenntniß der Ablagerungen vieler Epochen 
noch allzu dürftig iſt. Wir kennen in der That von manchen Zonen 
bis jetzt noch weiter nichts als einen Theil der Meeresbewohner und 


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271 


müſſen uns die Natur der gleichzeitigen Landbevölkerung aus einem 
Vergleiche der aus älteren und der aus jüngeren Epochen bekannten 
Landbewohner im Geiſte aufbauen. Die ſichere genauere, mehr in 
das Einzelne eingehende Ausführung der Aufgabe ſchreitet übrigens 
von Jahr zu Jahr vor und wir nähern uns wenigſtens in merklicher 
Weiſe dem angeſtrebten Ziele. 

Außer den großen Zügen der Schöpfungsgeſchichte gibt es noch 
manigfache einzelne Momente, welche Beweiſe für eine wirkliche 
Abſtammung organiſcher Weſen von abweichenden Arten älterer 
Epochen liefern. 

Es gehört dahin namentlich die Gleichheit des Geſammt— 
characters, den in manchen Fällen die Fauna eines und deſſel— 
ben Gebietes durch verſchiedene Epochen hin beibehält. 

So war die Säugethierfaung des europäiſchen Gebietes ſowohl 
in der Jura- als in der Kreide-Epoche vorwiegend didelphiſch. Erſt 
nach der Eocän-Epoche erloſchen die letzten Nachkommen dieſer Didel— 
phen in Europa. Seit Beginn der Eocän-Epoche war die Säuge— 
thierfauna Europa's erſt vorwiegend, dann ausſchließlich mono— 
delphiſch. 

Neuholland hatte ſchon in der Diluvial-Epoche eine ebenſo 
vorwiegend didelphiſche Säugethierfauna, wie heut zu Tage noch. Nur 
die Arten und ein Theil der Gattungen ſind andere geworden. Der 
eigentliche Stamm iſt der gleiche geblieben. 

Amerika beſaß in der Diluvial-Epoche ſchon Vertreter der Eden— 
taten und jener Familie der Affen, die für dieſen Erdtheil heute noch 
bezeichnend ſind. 

Eine ſolche Gleichförmigkeit des Hauptſtammes bei gleichzeitigem 
Wechſel von Arten und Gattungen iſt auf reinwiſſenſchaftlichem Wege 
nicht anders als durch eine Abſtammung heutiger Arten von anderen 
Arten und anderen Gattungen deſſelben Stammes erklärbar. Bis jetzt 
hat auch noch kein einziger Gegner der Transmutationslehre irgend— 
wie eine andere Deutung des Sachverhalts zu geben gewagt. 

Ein anderer Beweis für die wirkliche Abſtammung der heutigen 
Lebewelt von anderen, anders gearteten Formen liegt in den rudi— 
mentären und verrichtungsloſen Organen, die ſo häufig 
bei Thieren, wie bei Pflanzen auftreten und die ſtets mit Sicherheit 
als Erbſtücke von älteren, anders gearteten, auf andere Lebensweiſe 
angewieſenen Pflanzen- und Thierformen ſich geltend machen. 


212 


Ein ſolches offenbares Erbſtück ift z. B. der Schwanz der Säuge— 
thiere, der bei den verſchiedenen Familien derſelben, bald dieſe, bald 
jene, bald gar keine Verrichtungen beſorgt und ſo recht eigentlich ein 
bald brauchbares, bald überflüſſiges Anhängſel darſtellt. 

Der Schwanz der Reptilien, der Vögel und der Säugethiere iſt 
ein Erbſtück, welches ihre Abſtammung von den Fiſchen verkündet, 
bei denen der Schwanz noch als ein ganz weſentlicher Köpertheil er— 
ſcheint, der zur Bewegung um ſo unentbehrlicher iſt, als ihnen aus— 
gebildete Gliedmaßen abgehen. 

Da nun die Fiſche als Prototype und Urahnen aller höheren 
Klaſſen ſchon einmal ausgebildete Schwänze beſaßen, ſo konnten ſich 
dieſe auch auf die höher ausgebildeten Klaſſen vererben. Bei manchen 
Reptilien und bei den Walen iſt Bau und Verrichtung des Schwan- 
zes auch noch ſehr ähnlich wie bei den Fiſchen, bei den übrigen hö— 
heren Wirbelthierformen iſt dies gelegentliche Erbſtück zu manigfachen 
anderen Zwecken umgebildet worden oder auch wohl bis auf einen 
unnützen Stummel verkümmert. (Siehe auch S. 184.) 


VII. Die Beobachtung der heute noch lebenden Pflan- 
zen- und Thierwelt, namentlich aber der Cultur— 
pflanzen und Hausthiere, endlich die Verglei— 
chung der Reſte wilder und zahmer Thiere aus 
den älteſten menſchlichen Anſiedelungen mit den 
entſprechenden Theilen der heutelebenden Arten, 
liefern den Schlüſſel zur Erläuterung der Vor- 
gänge, durch welche die geologiſche Lebewelt von 
Epoche zu Epoche ſich umgeſtaltet und zur heu— 
tigen Geſtaltung entwickelt hat. 


Darwin's Lehre vom Kampf ums Daſein und von 
der natürlichen Ausleſe hat dieſe Aufklärung längſt vorher 
ſchon eröffneter Fragen mächtig gefördert. Aber wir dürfen nicht 
gleich zu viel verlangen. Wir müſſen bedenken, daß dieſe Lehre 
noch neu und die Wege der Forſchung, die fie einſchlägt, noch wenig 
angebaut, vielmehr meiſt — wie ſelbſt Gegner geſtehen müſſen — 
recht verwahrloft !) find. 


—— 


1) Man leſe was darüber Bronn 1843 ſagte. (Handbuch einer Geſchichte 
der Natur II. 2. S. 64.) 


273 


Für die Erklärung des Vorganges, nach welchem aus einer Art 
der einen eine andere Art einer ſpäteren geologiſchen Epoche hervor— 
gehen konnte, ſind wir faſt ganz auf das im Verhältniſſe zur Dauer 
von geologiſchen Epochen verſchwindend kleine Bereich unmittelbarer 
wiſſenſchaftlicher Beobachtung angewieſen. Geſchichtliche Aufzeichnun— 
gen findet man nur ſehr ſpärlich. Antiquariſche Forſchungen in die— 
ſem Gebiete ſind erſt ein Kind der allerneueſten Zeit. Das Experi— 
ment iſt faſt ganz ausgeſchloſſen. Es erfordert ſelbſt in den wenigen 
Fällen, wo es überhaupt an lebenden Pflanzen und Thieren in An— 
wendung kommen kann, meiſt Jahrzehende, wenn es nur irgendwie 
eine feſte Entſcheidung gewähren ſoll. 

Nichts deſto weniger ſind wir auch in dieſer ungünſtigen Stellung 
ſchon im Stande darauf hin weiſen zu können, daß die Veränderungen, 
welche der Einfluß des Menſchen auf Pflanzen und Thiere hervor— 
ruft, auch auf das Fortpflanzungsſyſtem ihren Einfluß aus— 
dehnen und in einzelnen Fällen dem zu Folge zu Abſtänden ſexueller 
Natur führen, welche den erſten entſcheidenden Schritt zur Ausbildung 
neuer Arten darſtellen. 

Es ſind das nur wenige Fälle und unſere bisherige Naturwiſſen— 
ſchaft, mehr oder minder vom Gängelband Cuvier'ſcher Erziehung 
noch befangen, hat ſich auch erſt wenig oder vielleicht noch gar nicht 
mit ihrer ſtrengeren Bewahrheitung oder Widerlegung befaßt. 

Was überhaupt aber die theoretiſche Deutung jenes Vorganges 
einer fortwährenden Umgeſtaltung der Lebewelt, wie ſie aus den Er— 
gebniſſen der Geologie und der Paläontologie ſich uns darſtellt, au- 
belangt, ſo iſt nach dem heutigen Stande der Dinge nur noch eine 
Wahl zwiſchen der Darwin'ſchen Lehre und der rein ſkeptiſchen 
unfruchtbareu Verneinung möglich. Es iſt aber außer Zweifel und 
ſelbſt von einem Theile der Gegner anerkannt, daß Darwin's Lehre 
von einer natürlichen Aus leſe, — welche von den manigfachen 
Erzeugniſſen der allen Lebensformen in mehr oder minder ausgeſpro— 
chenen Weiſe innewohnenden Veränderlichkeit nur jene Formen, die 
im Kampf um's Daſein vor anderen begünſtigt erſcheinen, am Leben 
zu erhalten geeignet iſt, — jo nahe Ausſicht auf allgemeine Anerkennung 
ſich gewonnen hat, als irgend je vorher ein anderer Verſuch, der auf 
die Löſung des großen Problems hinzielte 


Rolle, Darwin's Lehre. 18 


Nach Allem dieſem und unter der ſelbſtverſtändlichen Voraus⸗ 
ſetzung, daß man natürliche Dinge nur auf natürlichen 
Wegen erklären ſolle, entſcheiden wir uns endlich noch zu fol⸗ 
gender Schluß⸗Theſe. 


Die organiſche Welt des heutigen Tages, Pflanzen, 
Thiere und Menſchen, ſind kein Erzeugniß einer 
unmittelbar aus lebloſem Stoffe ſchaffenden 
Kraft, ſondern ſie ſind das Ergebniß eines viele 
Millionen Jahre hindurch fortgeſetzten Entwick- 
lungsvorganges von natürlichen Materien unter 
dem Einfluſſe allgemeiner und ewiger Natur⸗ 
geſetze. Dieſer Entwicklungsgang hat mit ein⸗ 
fachen Formen von niederen Lebenserſcheinungen 
begonnen und unter ſteter Umgeſtaltung zur Er⸗ 
zeugung der heutigen nach Bau und Verrichtungen 
mannigfach abgeſtuften Lebewelt geführt. 

Geologie und Paläontologie liefern zahlreiche mehr oder minder 
noch vereinzelte Stufen jenes Entwicklungsganges, eine große Zahl 
dieſer Stufen, vielleicht die meiſten, fehlen uns wohl zur Zeit noch, 
aber wir ſehen von Jahr zu Jahr ihre Feſtſtellung fortſchreiten und 
das wiſſenſchaftliche Gebäude an Ausdehnung und Sicherheit zunehmen. 

Theologiſirende Behandlungen der Naturwiſſenſchaft, welche nur 
Transactionen der poſitiven Wiſſenſchaft mit der zeitweilig herrſchenden 
Staatsreligion bezwecken, haben bisher immer ſchlechten Erfolg gehabt. 
Der Theologie haben ſie höchſtens vorübergehende Vortheile gebracht. 
Auf die Entwickelung der exacten Forſchung ſind ſie wohl vorüber⸗ 
gehend von Nachtheil geweſen, haben indeſſen im Ganzen ihren Auf⸗ 
ſchwung nicht aufhalten können. 

Jedenfalls aber zeigt uns die Betrachtung der Wege, auf denen 
die Wiſſenſchaft vorangeſchritten iſt und auf denen fie jo viel Großes 
und unumſtößliches Sicheres erzielt hat, daß eine jede Annahme über⸗ 
natürlicher Eingriffe in den regelmäßigen Lauf der Natur in der 
Abſicht, naturgemäßer Wege der Erklärung ſich entſchlagen zu können, 
nicht nur unnütz iſt, ſondern auch ſchädlich wirkt, indem ſie den Pfad 
zu den der Aufklärung zunächſt bereitliegenden Räthſeln ſperrt. 

Die Lehre von Lamarck, Geoffroy, Darwin iſt in dieſer 
Hinſicht unabhängig. Sie erſtrebt die Wahrheit nicht um anderer menſch⸗ 
licher Neigungen und Beſtrebungen, ſondern um der Wahrheit ſelbſt willen. 


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