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Lehre von der Entſtehung der Arten
Pflanzen- und CThierreich
in ihrer Anwendung auf die
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von
Dr. Friedr. Rolle.
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Frankfurt am Main 1863.
Joh. Chriſt. Hermann ſche Verlagsbuchhandlung.
F. E. Suchsland.
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BEDARF.
Borwort.
Nachdem ich, wie man finden wird, im Laufe des Textes immer
bemüht war, alle rein perſönlichen Beziehungen im Gewebe des Großen
und Ganzen aufgehen zu laſſen, wird man es mir wohl nicht ver—
argen, wenn ich in dieſem Vorwort über meine individuelle Stellung
zur Darwin'ſchen Lehre und über die Art der Entſtehung dieſes Werkes
mich ausführlicher äußere.
Unſere Lehr- und Handbücher find noch faſt durchgehends im
Cu vier'ſchen Sinne geſchrieben und faſt unſere ganze heutige Natur—
forſcher-Generation iſt unter dem mehr oder minder beherrſchenden
Eindrucke dieſer Anſchauungen aufgewachſen. Es iſt nicht gerade
leicht, von ſolchen anerzogenen Anſchauungen ſich wieder frei zu
machen. Bei mir ſelbſt hat der Vorgang — freilich unter jahre—
langen Pauſen — faſt ein Jahrzehend gedauert.
Die Anſicht, daß die ſo ſehr in die Augen fallenden Abgren—
zungen unſerer geologiſchen Formationen nur durch örtliche Einflüſſe
hervorgerufen ſind, hat ſich bei mir zunächſt geltend gemacht.
Ich verweiſe in dieſer Hinſicht namentlich auf zwei frühere
Abhandlungen !), die in den Sitzungsberichten der k. Akademie der
Wiſſenſchaften zu Wien erſchienen.
Eine ſolche geologiſche Anficht erforderte als watrtgehe Er⸗
gänzung auf dem Gebiete der Phyſiologie die Annahme einer Ver—
änderlichkeit der Art. Geologen und Paläontologen pflegen indeſſen
mit Phyſiologie ſich wenig zu befaſſen. Erſt im Jannar 1858 wurde
mir meine Stellung in dieſer Hinſicht klarer. Es geſchah unter
dem Einfluſſe meines alten Studiengenoſſen, Dr. Guſtav Jäger
jetzigem Director des zoologiſchen Gartens zu Wien.
1) F. Rolle. Ueber einige an der Grenze von Keuper und Lias in
Schwaben auftretende Verſteinerungen. Wien 1858. (Sitzungsberichte 1857.
Band 26.)
Ueber die geologiſche Stellung der Sotzka⸗ Schichten it in Steiermark. Wien
1858. (Sitzungsberichte 1858. l 30.)
Unſere damalige Abſicht war ein gemeinſames Werk über den
genealogiſchen Zuſammenhang der älteren und neueren Lebewelt zu
verfaſſen. Manigfache ungünſtige Verhältniſſe ließen dieſe Abſicht
nicht zu Stande kommen.
Doch trugen Jäger's !) und meine ſeitherigen Arbeiten das
ganze Gepräge dieſer Richtung.
Als in der Folge Darwin's Werk erſchien, ward mir von
Seiten des Herrn Verlegers der Auftrag, eine populär-wiſſenſchaft⸗
liche Erläuterung des für jo manigfache Seiten der Cultur-Ent-
wickelung unabſehbar folgenreichen Gegenſtandes zu geben und dabei
vor Allem auf die Beziehung deſſelben zur Schöpfungsgeſchichte ein⸗
zugehen.
Bei dieſer Aufgabe hatte ich mich im geologifch-paläontologifchen
Theile auf langjährig mir geläufigem Gebiete zu bewegen. Mehr
Schwierigkeiten bot mir der phyſiologiſche Theil der Aufgabe. Hier
leiſtete mir aber die manigfache freundliche Theilnahme und Unter⸗
ſtützung der Herren Dr. Weinland und Dr. G. Jäger den we⸗
ſentlichſten Vorſchub, und ich erfülle eine natürliche Pflicht, wenn
ich beiden Freunden und Studiengenoſſen hier meinen aufrichtigen
Dank ausſpreche.
Meine Arbeit hat, ſoweit es nach der Aufnahme der erſten
Lieferungen ſich abnehmen läßt, bei einem Theile meiner Leſer leb⸗
hafte und aufrichtige Zuſtimmung, bei anderen finſteres Stillſchwei⸗
gen gefunden. Es liegt das auch ſehr wohl begründet im Gegenſtand
und in der Zeit.
Nicht das geringſte des bisherigen Lohnes der Arbeit aber war
der briefliche Ausdruck offener Anerkennung des Strebens und Leiſtens
von Herrn Che Darwin ſelbſt.
Bad Hom burg, Weihnachten 1862.
Dr. Friedr. Rolle.
1) Ich verweiſe in dieſer Hinſicht auf
Dr. G. Jäger. Die Darwin'ſche Theorie über die Entſtehung der Arten
(Schriften des Vereins zur Verbreitung naturwiſſenſchaftlicher Kenntniſſe in
Wien. Band I.). Wien 1862; ſowie auf einige ältere phyſiologiſche Abhand⸗
lungen deſſelben Verfaſſers, welche jetzt in Dr. Weinland's Zeitſchrift „der
zoologiſche Garten“ neu geſammelt erſcheinen.
Inhaltsverzeichniß.
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Erſtes Kapitel. Aeltere und neuere Anſichten über Entſtehung der
Erde und der Pflanzen⸗ und Thierwelt.
Moſes. Griechen und Römer. Mittelalter. Linné und ſeine Nachfolger.
Lamarck und Geoffroy-Saint⸗Hilaire. Oken. Neptuniſten und Vulka—
niſten. Cuvier. Lyell. Agaſſiz. Forbes. Darwin 2 5
Zweites Kapitel. Darwin's Lehre von der Erblichkeit und der
Veränderlichkeit.
Beſondere Aeußerungen der Erblichkeit. Culturgewächſe. Mittelbare Ein-
wirkung äußerer Bedingungen auf Culturgewächſe. Wirkung der Aus—
wahl auf Culturgewächſe. Veredlung des Aepfel- und des Bienbaumes.
Acclimatiſirung von Culturgewächſen. Kreuzung der Culturgewächſe.
Verwilderung und Rüdfchlag der Culturgewächſe. Urſprung der Cultur—
gewächſe. Hausthiere. Wirkung der Auswahl auf Hausthiere. Tiefe
der Veränderung von Hausthieren. Acclimatiſirung von Hausthieren.
Kreuzung der Hausthiere. Rütimeyer's Anſichten über Kreuzung von
verſchiedenen Hausthierſtämmen. Verwilderung und Rückſchlag der Haus—
thiere. Geſchichte der Hausthier- Züchtung 57
Drittes Kapitel. Darwin's Lehre vom Kampf um's Daſein und
der natürlichen Ausleſe.
Natürliche Ausleſe. Züchtung neuer Pflanzen und Thierformen auf dem
Wege der natürlichen Ausleſe. Fortſchreitendes Auseinandergehen der
Formen. Einfluß geologiſcher Vorgänge auf die Geſtaltung der orga—
niſchen Form. Weltreiſe der Ratten und Mäuſe. Rütimeyer's Beob—
achtungen über das Gebiß der kleinen Raubthiere „ Be ee
Viertes Kapitel. Stufenweiſe Vervollkommnung der Organismen.
Vervollkommnung im Pflanzenreiche. Vervollkommnung im Thierreiche. Ur—
ſachen der Vervollkommnung .. 2
Fünftes Kapitel. Geologiſche Geſchichte der ene
Organiſche Einſchlüſſe. Reihenfolge der geologiſchen Formationen. Urzeugung.
Primordialfauna. Geologiſche Entwickelung der Meeresbewohner. Ent—
wickelung des Land- und Luftlebens. Nachſchriftt.. 207
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Fach- Regiſter.
Acelimatiſirung 86. 119.
Acephalen 238.
Aegilops 96.
Aepfelbaum 83.
Affen 103. 260.
Agnostus 232.
Amphioxus 194. 234.
Anomodonten 254.
Archegoſauren 251.
Art 26. 54. 116. 165.
Ausleſe, natürliche 51.
155.
Auswahl 80. 110.
Auſtern 239.
Baſtarde 122.
Beutelthiere 198. 258.
259. 260. 271.
Birnbaum 83.
Brachiopoden 237.
Braunvieh 128.
Brücken (geologiſche) 26.
55.
Büffel 143.
Cataſtrophen 23.
Cephalaspiden 245.
Cephalopoden 205. 244.
Chirotherium 258.
Chitonen 242.
Cobaya 106. 118.
Comatln 38. 237.
Crinoiden 38. 236.
Culturgewächſe 69.
Dendrerpeton 253.
Dickhäuter 261.
Didelphen ſ. Beutelthiere.
Diluvinm 41. 218.
Dinotherium 261.
Eidechſen 254.
Eier 40.
Eingeweidewürmer 205.
Einwanderungen 26. 45.
54. 174.
Eiszeit 41. 47.
Elephanten 24. 103. 213.
262.
Embryoniſche Typen 37.
Enten 104.
Entwickelungsgeſchichte
(Embryologie) 183.269.
Erblichkeit 57. 204.
Erdbeere 81.
Erratiſche Blöcke 42.
Fiſche 35. 193.
Fleckvieh 130.
Formationen 53.210. 215.
Fortpflanzung 59. 102.
156.
Foſſilien 210.
Fröſche 199. 204.
Gans 106.
Gans, ägyptiſche 104.
Gaſteropoden 241.
Gebirgsketten 31.
Gemüſepflanzen 82.
Glacialepoche ſ. Eiszeit.
Hausthiere 98.
Hebungen 31. 53. 171.
Hund 123. 136.
Infuſorien 20. 221.
Inzucht 126.
Jura⸗Epoche 173.
Kampf um's Daſein 51.
145. 152.
Kartoffel 95.
Katze 118. 121. 124. 136.
Knochenfiſche 194. 246.
Kohl-Gewächſe 91. 95.
Kreuzung 88 121. 126.
Labyrinthodonten 251.
258.
Landbewohner 25. 47. 54.
247. 269.
Lepidosiren 195. 250.
Lurchen ſ. Reptilien.
Mais 90.
Mastodonsaurus 252.
Maſtodonten 213. 262.
Mäuſe 180.
Meeresbewohner 25. 47.
54. 234. 267.
Meerſchweinchenſ.Cobaya.
Metamorphismus 23.
Mißbildungen 62. 63. 107.
Mittelformen (Mittel⸗
glieder) 27. 164. 263.
Möhre 94.
Mumien (Aegyptiſche) 66.
Myxine 194.
Naturphiloſophie 19. 28.
Neptunismus 21.
Obſtpflanzen 81. 82.
Pachydermen ſiehe Dick—
häuter.
Paradoxides 230.
Perioden (Geologiſche)
35.
Petrefacten ſ. Foſſilien.
Pfahlbauten 126.
Pferde 135. 261.
Pfirſich 87.
Phascolotherium 259.
Placodermen 245.
Plagiaulax 260.
Primordialfauna 227.265.
Progreſſive Typen 38.
Prophetiſche Typen 37.
Protopterus 195.
Pterodactylen 37. 256.
Raſſen 110.
Ratten 176.
Raubthiere 102. 180. 260.
Raubvögel 102.
Reptilien 195. 246. 250.
Rinder (Stiere) 110. 128.
142.
Roſenſteiner Rindvieh⸗
ſtamm 144.
Rückſchlag 90. 132.
Sao 229.
Säugethiere 197. 257.
Schwanz 184. 272.
Schweine 108. 126. 127.
135.
Sexualcharactere 63.
Stammbau der Lebewelt
52. 267 270.
Sympathiſche Charactere
159. 1
Synthetiſche Typen 37.
Tapir 261.
Tarpan 135.
Torfkuh 128.
Torfſchwein 127.
Trilobiten 35. 228. 234.
Trochoceros 129.
Ur 101. 128.
Urſchleim 20. 223.
Urzeugung, generatio
spontanea 16. 219. 266.
Variation (individuelle)
51.
Varietät (Abart) 26. 116.
165.
Veränderlichkeit (Variabi⸗
lität) 27. 64.
Veredlung 141.
Vermehrung der Indivi⸗
duen 146.
Vervollkommnung 183.
268.
Verwilderung 90.132.147.
Vögel 195. 197. 256.
257. 263.
Vulkanismus 21.
Waizen 67. 95. 96.
Wechſelbeziehung der Ent:
wickelung 107.
Widder, krummbeiniger
111.
Wildſchwein 127. 135.
Wunder 39.
Zellen 21. 185. 186. 266.
Ziege, buckelnaſige, 106.
Zierpflanzen 82.
Züchtung 68. 140.
Perſonen-Kegiſter.
Agaſſiz 33. 205.
Ariſtoteles 8.
Buch (L. v.) 31.
Buckland 41.
Cuvier 23. 29. 33. 57.
116.
Darwin 48.
Elie de Beaumont 31.
Forbes (Edw.) 45.
Göthe 12. 13. 28.
Geoffroy-Saint- Hilaire Rütimeyer 101. 126. 139.
18 27. 57. 66.
Jäger (Guſtav) 165. 182.
Lamarck 15.
Lichtenberg 38.
Linné 11. 13.
Lyell 28.
Metzger (J.) 92.
Moſes 7.
Olen 19. 28,
180.
Virgil 141.
Vogt (K.) 44.
Weinland 106. 107. 119.
160.
Werner 22. 216.
Willdenow 69 75. 76. 83.
Einleitung
+
*
Me Frage nach dem Urſprunge der Pflanzen- und Thierarten und
nach dem des menſchlichen Stammes ſelbſt hat von jeher den denken—
den Menſchen beſchäftigt und zu mannigfachen, oft einander ſehr wider—
ſprechenden Antworten Anlaß gegeben. Sind Pflanzen, Thiere
und Menſchen, eine jede Art unmittelbar ihrem gan—
zen Weſen nach, durch das „Werde“ eines allmächtigen
Schöpfers ins Leben gerufen? Oder ſind ſie Ergeb—
niſſe eines viele Millionen Jahre hindurch fortgeſetzten
Entwickelungsvorganges natürlicher Materien unter
dem Einfluſſe allgemein und ewig wirkſamer Geſetze?
Dieſe Fragen haben ſeit den älteſten Zeiten vorgelegen und liegen noch
immer der heutigen Generation vor. Eine jede hat ihre Verfechter
gefunden. Wir hatten daher von jeher und haben heut zu Tage noch
zwei einander mehr oder minder feindlich gegenüberſtehende Feldlager
im Gebiete der Naturforſchung, eine philoſophiſche und eine theo—
logiſirende Schule.
Im Mittelalter galt bei der Beantwortung jener Cardinalfrage
nach dem Urſprung der Lebewelt, ſo gut wie bei allen naturwiſſen—
ſchaftlichen Dingen überhaupt, die Bibel mit der Moſaiſchen Schöp—
fungsurkunde als Hauptrichtſchnur. Kirchenbann und Verfolgung be—
drohten den Andersdenkenden. Selbſt die freieren, ihre Zeit in andern
Dingen weit überragenden Köpfe fühlten ſich nicht ſtark genug in
Bezug auf die Geſchichte der Erde und ihrer Schöpfung die ererbte
Feſſel abzuwerfen und auf Grund von Erfahrung und Rechnung ſelb—
ſtändig vorzugehen.
In unſeren Tagen entwickeln ſich die Anſichten der Forſcher weit
unbeirrter. Jetzt iſt es vor allem die fortſchreitende Entwicklung der
Rolle, Darwin's Lehre— 1
2
ſicheren Erkenntniß der natürlichen Dinge, welche für die Geſtaltung
der Anſichten maßgebend wird und es iſt keinem Forſcher mehr ver—
wehrt, die Feſſeln der theologiſchen Autorität abzuſtreifen. Ja, noch
mehr, aus dem ehedem unterdrückten Theil iſt jetzt der angreifende
geworden und wie ehedem gegen ihre, wenn auch noch ſo beſcheidenen
und ungefährlichen Gegner ruft jetzt die Theologie gegen die immer
mehr anwachſenden Angriffe ihrer zahlreicher und muthiger gewordenen
Feinde den Arm der weltlichen Obrigkeit an.
Wenige naturwiſſenſchaftliche Werke neuerer Zeit, welche auf die
Löſung jener Hauptfragen der Naturwiſſenſchaft und die von ihr
zunächſt abhängenden Folgerungen Bezug nehmen, haben ein ſo all—
gemeines Aufſehen erregt und bei den verſchiedenen Schulen und Par—
teien der Wiſſenſchaft eine ſo ganz entgegengeſetzte Aufnahme gefunden
als des ausgezeichneten engliſcheu Naturforſchers und Weltumſeglers
Charles Darwin's Werk über die Entſtehung der Arten in
der Pflanzen- und Thierwelt. Der Grund davon liegt nicht
in der Neuheit des Gegenſtandes. Darwin bringt nur neue Erklä—
rungen für Vorgänge in der organiſchen Welt, die Lamarck ſchon
zu Anfang unſeres Jahrhunderts darzulegen und zu deuten bemüht
war. Lamarck's Philosophie zoologique hatte vielen Wider-
ſpruch, aber im Laufe der Jahrzehende bei einem bald größeren bald
geringeren Theile der Forſcher auch Beifall und Anerkennung gefun—
den. Wir werden ſehen, daß eine eigentliche endgültige Entſcheidung
immer noch nicht erfolgt war, beide Schulen hielten ſich im Laufe
der letzten Jahrzehende mehr oder minder die Wage, aber das Be—
dürfniß der Löſung rückte ſowohl für den Geologen als auch den
Zoologen und Botaniker um ſo dringender heran. Da erſchien Dar—
win's Werk und gab unter Einführung neuer Momente der Rech—
nung den Anſtoß zu neuerer Aufnahme der alten, ſcheinbar beſeitigten,
ſeit Jahrzehenden unter der Aſche fortglimmenden Streitfragen.
Unter den Beweisgründen, die Darwin zuerſt in entſchiedener
und ausgedehnter Weiſe zur Durchführung der ſchon von Lamarck
begründeten Transmutationslehre ins Feld geführt hat, nimmt
ſeine Darlegung der natürlichen Ausleſe, welche in ähnlicher
Weiſe wie die bei der Gärtnerei und der Viehzucht in Anwendung
ſtehende künſtliche Züchtung zur Heranbildung neuer Pflan-
zen- und Thierformen führt, entſchieden den vorderſten Rang
ein. Darwin begründet dieſen Vorgang einerſeits in der Neigung
3
aller Individuen zu einem geringen, oft nicht näher bemerkbaren Grade
von der elterlichen Form abzuweichen, andererſeits in den innigen
und höchſt verwickelten Beziehungen, in denen die Organismen nicht
nur zu den äußeren Bedingungen, unter denen ſie leben, ſondern auch
untereinander ſtehen. Aus der Wechſelwirkung dieſer beiden Momente
erfolgt dann in allmähliger, meiſt für unſere gewöhnliche Wahrneh—
mungsgabe nicht unmittelbar erſichtlicher Weiſe die Umgeſtaltung der
einzelnen Formen der Pflanzen- und Thierwelt, die Entſtehung neuer
Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w.
Alle Vorgänge, auf die Darwin ſich dabei bezieht, ſind ſolche
des gewöhnlichen Laufes der Natur. Es bedarf dazu keines wieder—
holten unmittelbaren Eingreifens des Schöpfers in den natürlichen
Lauf der Dinge, wie dieſes die alten Religionsurkunden und die
Theologen aller Völker lehren. Während die Annahme der Unver—
änderlichkeit der Arten im Pflanzen- und Thierreich unabänderlich
ſtets wieder auf den alten der Naturwiſſenſchaft weſentlich fremden
Wunderglauben zurückführt, räumt die Lehre Lamarck''s und Dar—
win's vor allen Dingen der Vernunft das Recht ein, auch in Be—
ziehung auf die Entſtehung der Lebeweſen ihre Anſprüche frei und
ungehemmt zur Geltung zu bringen. Aber eben darum iſt ſie auch
ein Gegenſtand des Anſtoßes für manche Perſonen und ſogar einzelne
Naturforſcher, welche vor allen Dingen auf übernatürlichem Wege
natürliche Vorgänge erklärt wiſſen wollen.
Wie bei allen großartigen Verſuchen zu Aenderungen in der
Wiſſenſchaft werden daher auch durch Darwin's Lehre viele wiſſen—
ſchaftlichen und perſönlichen Intereſſen berührt. Alte eingewurzelte
Anſichten und Gewohnheiten werden erſchüttert, mannigfache Vor—
urtheile und Liebhabereien ſehen ſich verletzt.
Indeſſen dürfen ſolche Nebenerſcheinungen auf die Hauptſache
nicht zurückwirken.
Die heutige naturwiſſenſchaftliche Forſchung hat kein anderes
Ziel als die Aufdeckung der Wahrheit und zwar um der Wahrheit
ſelbſt willen. Sie arbeitet auf Grundlage der Beobachtung der mate—
riellen Erſcheinungen und verknüpft deren Ergebniſſe auf dem Wege
der Rechnung. Sie hat kein andres Ziel und darf keine andren Wege
einſchlagen. Sie ſtrebt an und für ſich weder nach dem Schönen noch
nach dem Nützlichen. Sie marktet nicht mit andern menſchlichen Be—
ſtrebungen.
1
Darwin's Verſuch einer neuen Löſung der alten Cardinal⸗
fragen der Naturwiſſenſchaft kann daher alle Anſprüche nicht nur
auf aufmerkſame Prüfung, ſondern auch auf unparteiiſche Würdigung
machen. Wenn von ſeiner Theorie auch noch ſo viele perſönliche An—
ſichten oder Gemüthsſtimmungen und Neigungen berührt werden, ſo
muß dieſen doch jeder Einfluß auf die Entſcheidung benommen bleiben.
Der Gegenſtand hat eine viel zu allgemeine Bedeutung als daß per—
ſönliche Beziehungen, Volksmeinungen oder politiſche Rückſichten dabei
einen Ausſchlag geben dürften.
Von der Entſcheidung der oben an die Spitze geſtellten Grund—
frage wird überhaupt die Art der künftigen Weltanſchauung des Men-
ſchen abhängen. Sie iſt zwar zunächſt nur für die Naturwiſſenſchaft
ſelbſt von weſentlicher Bedeutung, ſie muß aber auch mehr oder minder
auf die Entwicklung der Anthropologie, der Ethnographie und der
Pſychologie ihren Einfluß äußern und wird allen dahin einſchlagenden
Wiſſenſchaften überhaupt ein weites Feld für neue Richtungen der
Forſchung eröffnen.
— — —ꝛ—
Erſtes Kapitel.
Aeltere und neuere Anſichten über Entſtehung der Erde
und der Pflanzen- und Thierwelt.
Es liegt tief in der Natur des Menſchen begründet, allenthalben,
ſoweit ſein Bereich geht, den Zuſammenhang zwiſchen Urſache und
Wirkung ergründen zu wollen. Dieſes angeborne Streben des menſch—
lichen Geiſtes iſt um ſo berechtigter als es grade zu den Haupt—
characterzügen gehört, die einerſeits den Menſchen über das Thier
erheben, andrerſeits in vielfachen Abſtufungen die Culturvölker von
den roheren Jagd- und Nomadenvölkern unterſcheiden, aber auch
letztre in erſtre überführen.
Von jeher hat namentlich der denkende Menſch aller Zeiten und
aller Völker nach dem Urſprung des Großen und Ganzen, des Welt—
alls, der Erde und der belebten Schöpfung geforſcht, die alten Cul—
turvölker haben ſogar auf den in dieſer Hinſicht gewonnenen Fort—
ſchritt der Erkenntniß grade ein beſonderes Gewicht gelegt, dies iſt
der Grund, warum Schöpfungsberichte entweder die Einleitung oder
doch einen weſentlichen Beſtandtheil der alten Religionsurkunden und
Stammesüberlieferungen bilden. Ja man wird ſich erinnern, daß hin
und wieder ſogar Städtechroniken unſres deutſchen Mittelalters auf
jenes alte und wohlberechtigte Fragen nach dem erſten Urſprung aller
Dinge eine unverhältnißmäßige Rückſicht nahmen und ihre ſtädtiſche
Geſchichte mit der Erſchaffung der Welt anfangen ließen.
In unſern Zeiten kommt zu den Beweggründen des Forſchens
noch ein anderes Moment.
Unſre heutige Generation forſcht zur Hebung ihres materiellen
Wohlſtandes und zur Erweiterung ihrer Kenntniſſe.
Die Durchforſchung unſrer Gebirge und der mancherlei fie zu—
ſammenſetzenden Felsmaſſen, das Verfolgen ihrer reichen Kohlen- und
Erzniederlagen, das Studium der endloſen Mannigfaltigkeit der Pflanzen—
und Thierformen und ihrer Lebenserſcheinungen hat zahlreiche wichtige
Beziehungen zum praktiſchen Leben, es führt uns zu einer immer
6
höher geſteigerten Herrſchaft über die Elemente, über die Pflanzen-
und Thierwelt, ja über unſern eigenen Körper. Das Studium der
Gebirge hat ſeinen innigen Zuſammenhang mit dem Berg- und Hütten—
weſen, auch mit der Landwirthſchaft und dem Bauweſen. Botanik
und Zoologie haben vielfache praktiſche Anwendung auf die Kenntniß
und vortheilhafte Ausbeutung der Nutzpflanzen und Nutzthiere gefun-
den, an welche unſre Nahrung und Bequemlichkeit ſo eng gebunden
iſt. Chemie und Phyſik haben uns bis zu einem gewiſſen Grade
zum Herrn über Dampf, Blitz uns Licht gemacht. Die Anatomie
und Phyſiologie endlich führte uns zu einer tieferen Erkenntniß unſres
eignen Menſchenkörpers und ſeiner Lebenserſcheinungen und leitet jetzt
den Arzt im Kampfe gegen unſre Erbfeinde, Krankheit und Tod.
Das alles ſind ſchöne Erfolge der ſeit den älteſten Zeiten be—
gonnenen und von unſerm Jahrhundert mit ſo hoch geſteigerter Energie
fortgeführten Forſchung. Ihr verdanken wir es, daß wir jetzt *
als je Herren der Elemente und der Naturkräfte ſind.
Aber das iſt noch nicht ihr einziger und höchſter Zweck.
Wir durchforſchen nicht allein die Natur, um unſer materielles
Wohlſein zu vermehren, wir wollen auch unſer Wiſſen ausdehnen,
wir ſtreben nach der wahren und ſichern Kenntniß der natürlichen
Dinge, nach Erfaſſung des tauſendfältigen Zuſammenhangs der Er—
ſcheinungen und nach Feſtſtellung der dieſen zu Grunde liegenden
ewigen Naturgeſetze. Und grade dieſes Streben des Geiſtes nach
Ausdehnung ſeiner Herrſchaft, ohne alle Rückſicht auf materielles
Wohlſein iſt wieder einer jener Züge des menſchlichen Weſens, die,
um ein altes und ſehr wahres Bild zu gebrauchen, erſt eigentlich
den Menſchen zum Menſchen machen.
Die erſten Anfänge eines Forſchens nach dem Urſprunge des
Weltgebäudes, der Erde, der Lebeweſen und des Menſchen ſind ſo alt
als die überlieferte Geſchichte unſres Stammes überhaupt zurückreicht.
Anſichten über die Entſtehungsweiſe der belebten Welt waren bei
allen Culturvölkern der älteſten Geſchichte ein Gegenſtand der münd—
lichen oder ſchriftlichen Ueberlieferung und gingen in den Schatz der
nationalen Urkunden über. Aber die alten Denker waren unbekannt
mit dem näheren Weſen der Naturkräfte, ſie machten weder Verſuche
zur Bewahrheitung ihrer Anſichten noch trieben ſie Statiſtik. Sie
nahmen Bilder in ſich auf und gaben ſie wieder von ſich, rechneten
aber nicht. Sie brachten es daher auch nicht weiter als zur Wie—
7
dergabe und Verknüpfung von jenen Bildern, die in ihrem Gemüth
und ihrer Einbildungskraft ſich abgeſpiegelt hatten, und an die Stelle
der Kräfte, welche Urſache und Wirkung in der Natur verknüpfen,
mußten ſie — ſtatt der ihnen unbekannten oder doch dunklen Kräfte
— Perſonen ſetzen. Solche nicht auf ſtrenge Forſchung, ſondern nur
auf mehr oder minder getreue Wiedergabe der Gemüthseindrücke und
auf Perſonificirung der Kräfte gegründete Schöpfungsberichte oder
Cosmogenien bezeichnen den erſten Anfang der Geologie wie der Na—
turwiſſenſchaft überhaupt.
Sie ſind je nach der Bildungsſtufe und den angebornen Geiſtes—
anlagen der verſchiedenen Völker ſehr mannigfacher Art, bald mehr
auf Beobachtung von Naturerſcheinungen gegründet, bald mehr die
Wirkungen von Naturkräften auf Götter und Helden übertragend und
dann gewöhnlich um ſo mehr vom dichtenden Geiſte ausgeſchmückt.
Moſes.
Eine der älteſten der von den frühen Culturvölkern überlieferten
Schöpfungsgeſchichten iſt die Moſaiſche, welche den Eingang der
Religions- und Geſchichtsurkunden des Iſraelitiſchen Volkes bildet. Sie
ſchildert uns die Entſtehung der Erde und ihrer Bevölkerung als das
unmittelbare und perſönliche Werk der Gottheit ſelbſt. Sie unter—
ſcheidet ſich ſehr zu ihrem Vortheile von den durch eine Fülle von
Bildern und mythiſchen Vorſtellungen überladenen Cosmogenien der
Griechen, Römer und anderer Völker des Alterthums, fie ift
in Darſtellung und Entwicklung einfach, ungezwungen und würdig.
Dieſe bibliſche Schöpfungsgeſchichte war, wie bekannt, für Juden
und Chriſten durch Jahrhunderte und Jahrtauſende hindurch unbe—
dingte Richtſchnur und Grenze der Forſchung, ja ſelbſt noch in unſren
Tagen gibt es einzelne Geologen, welche ſich die Mühe geben, die
Uebereinſtimmung ihrer Meinungen mit dem Schöpfungsberichte der
Bibel nachzuweiſen. Indeſſen hat die Naturwiſſenſchaft dieſe Feſſeln
ſchon geſprengt, und die Theologie wagt jetzt nur ſelten noch den
andersgläubigen Forſcher in ſeiner bürgerlichen Sicherheit zu bedrohen.
Heut zu Tage, wo alle Welt weiß, daß die Erde ſich um die Sonne
und nicht, wie die bildliche Sprache der Bibel ſagt, die Sonne ſich
um die Erde bewegt, iſt es in allen der Aufklärung zugänglichen
Schichten der Geſellſchaft ziemlich allgemein anerkannt, daß die Bibel
8
d. h. das alte Teſtament eine Religions-, Geſetzes- und Stammes-
urkunde des Iſraelitiſchen Volkes war und iſt. Auf naturwiſſen⸗
ſchaftliche Berechtigung hat die Bibel keinen Anſpruch, es iſt nament⸗
lich offenbar, daß alle aſtronomiſchen Gegenſtände, die ſie berührt, in
falſchem Gewande, nämlich in dem Bilde, welches ſie auf unſre un—
mittelbare Sinneswahrnehmung machen, dargeſtellt ſind, nicht aber
in der Auffaſſung, welche die Wiſſenſchaft als die allein richtige uns
lehrt. So wenig als die Aſtronomie können aber auch die Geologie
und die übrigen naturwiſſenſchaftlichen Fächer durch die alte Bibel—
Autorität in Schranken gebannt bleiben. Was im beſonderen den
moſaiſchen Schöpfungsbericht anbelangt, ſo iſt er für die heutige Wiſſen—
ſchaft unhaltbar. Viele Geologen haben an ihm gedreht und gedeutelt,
um ihm eine ſolche Auslegung zu geben, die ihm das mindeſte Maß
des Widerſpruchs mit der Wiſſenſchaft verleiht. Doch hat man damit
wenig erreicht, und weder die ſtrenge Naturwiſſenſchaft noch die ſtrenge
Orthodoxie erkennen ein ſolches Machwerk an. „Ein Kaiſerwort ſoll
man nicht drehen noch deuteln,“ ſagte der Kaiſer Konrad vor
Weinsberg, ein ähnliches ließe ſich auch ſehr wohl von der Aus—
legung unſrer Religionsurkunden ſagen. Ueber die Wahrheit marktet
man nicht.
Griechen und Römer.
Den eigentlichen Grund zu einer zuſammenhängenden, auf Be—
obachtung gegründeten, durch Verſuche bewahrheiteten Naturwiſſenſchaft
legten die alten Griechen. Sie waren es zuerſt von allen Völkern,
die überhaupt dahin ſtrebten, die Erkenntniß der Dinge durch deut—
liche Umgrenzung der Begriffe vorzubereiten und zuerſt ihre Erfolge
in Grundſätze faßten.
Ariſtoteles, der Schüler Platon's und Lehrer Alexanders
des Großen ordnete das geſammte wiſſenſchaftliche Gebäude ſeiner
Zeit, er wies der Naturgeſchichte ihr eignes Gebiet an, ſelbſtändig
gegenüber dem der Meinung und des perſönlichen Glaubens, und
wurde durch ſyſtematiſche Zuſammenſtellung der Naturkenntniſſe ſeiner
Zeit und durch eigne Forſchungen der eigentliche Schöpfer der Natur—
geſchichte. Er muß namentlich als erſter Begründer der Zoologie und
Phyſiologie gelten. Er begnügte ſich nämlich nicht mit dem Erfaſſen
der äußeren Charactere der” Lebeweſen, ſondern begann auch ihren
9
inneren Bau zu prüfen und verfolgte ihre Lebenserſcheinungen, nament—
lich aber die Erzeugungs- und Fortpflanzungsweiſe. Manche ſeiner
dahin einſchlagenden Beobachtungen erhielten ſogar erſt in neueren
Zeiten ihre volle Beſtätigung.
Während die Moſaiſche und andere Religionsurkunden die Er—
zeugung der Pflanzen- und Thierformen als unmittelbares Werk
der Gottheit darſtellten, nahm Ariſtoteles eine Urzeugung an.
Neue lebende Weſen entſtehen nach ihm fortwährend aus trocknen
Körpern, welche Nahrung geben können, ſobald ſie mit Feuchtigkeit in
Berührung treten. So entſtehen Flöhe aus der Fäulniß verſchiedener
kleinerer Körper z. B. im Miſte, Milben erzeugen ſich im Holz,
Motten aus Wolle und wollenen Geweben. Eine derartige Ent—
ſtehung kommt bei ſehr vielen blutloſen Thieren vor. Bei den mit
Blut begabten iſt dagegen die Entſtehung aus Eiern Regel, nur der
Aal macht noch eine Ausnahme, er entſteht nach Ariſtoteles in
Sümpfen durch Fäulniß verſchiedener Stoffe.
Den Römern ſagte die geduldige Beobachtung der Natur und
die Erforſchung der Wahrheit aus bloßer Liebe zur Wahrheit ſehr
wenig zu, ihr Geſichtspunkt war der unmittelbare Nutzen und die
Annehmlichkeit. Ackerbau und Gartenwirthſchaft ſtanden bei ihnen in
Blüthe und Anſehn, aber die Naturgeſchichte zu fördern, lag ihnen
ferne. Sie waren ein rauhes, den Künſten des Friedens und den Wiſſen—
ſchaften im Allgemeinen wenig zugängliches Kriegervolk und nur Prunk—
ſucht trieb ſie an, in Künſten und Wiſſenſchaften um die Erbſchaft der
alten Griechen ſich zu bewerben. Großes und Neues haben ſie auch
nie darin geleiſtet.
Mittelalter.
Die Stürme der Völkerwanderung und die trüben rohen Zeiten
des Mittelalters unterbrachen auf ein Jahrtauſend hin den Fortſchritt
der Naturerkenntniß. Die Kirche ſchlug die freie Forſchung in Feſſeln
und wo ein einzelner Denker, wie Keppler oder Galiläi die
Feſſel brach, erdrückte ihn die Gewalt der Widerſacher und verſcholl
ſein Wort wirkungslos an den tauben Ohren ſeiner Zeitgenoſſen.
Man hielt ſich an die Schöpfungsgeſchichte der Bibel und ſchrieb
die Griechiſchen und Römiſchen Autoren, namentlich den Ariſtoteles
ab, ſoweit ihre Lehren mit dem Chriſtenthum des Mittelalters ſich
10
verquicken ließen. Der allgemeine Geiſt der Gelehrſamkeit jener Zeit
war dunkel, trüb, geheimnißvoll. Ueber ſcholaſtiſche Spitzfindigkeiten
vergaß man die großen Hauptſachen. Das Einfache, Klare und Wahre
blieb unbeachtet bei Seite liegen und nur was in das Gewand des
Geheimniſſes gehüllt war, dem Wunder- und Aberglauben ſchmeichelte
und auf übernatürlichem Wege zu einem Siege über die Natur zu
führen verſprach, fand Geltung bei hoch und nieder.
Das war nicht die Zeit zu Fortſchritten in der Erkenntniß der
einfachen und klaren, aber nur auf dem Wege des nüchternen Denkens,
der Beobachtung und des Verſuchs zu ergründenden Naturgeſetze.
Sterndeuterei, Goldmacherei und Geiſterbeſchwörungen blühten um ſo
mehr und ſelbſt der große Keppler mußte um nicht dem Hunger
zu erliegen, am Hofe des deutſchen Kaifers den Aſtrologen abgeben.
Die Reſte urweltlicher Organismen, die dem Volk und den Ge—
lehrten des Mittelalters zu Geſicht kamen, fanden ſeltſame dem Geiſte
der Zeit gemäße Deutungen. Knochen und Zähne urweltlicher Ele—
phanten oder Maſtodonten nahm man — was übrigens auch bei Grie—
chen und Römern ſchon vorkam — für Rieſengebeine. Aber ganz
eigenthümlich dem chriſtlichen Mittelalter war die Deutung der ur—
weltlichen Meeresconchylien und der Pflanzenabdrücke der Kohlenge—
birge. Man nahm ſie als bloſe Naturſpiele, unmittelbar aus Erde
entſtanden durch einen eigenthümlichen die Formen der Pflanzen- und
Thierwelt nachahmenden Bildungstrieb. Jahrhunderte lang zog ſich
der Kampf der geſunderen Anſchauung einzelner Männer gegen jene
mittelalterliche Deutung der Foſſilien fort und ſchloß erſt dicht an
der Schwelle der Neuzeit.
Nach tauſendjährigem Raſten brach endlich der Fortſchritt in der
Erkenntniß der natürlichen Dinge ſich von Neuem Bahn, aber er ver—
ließ jetzt die alte Wiege, den Orient und Griechenland, um in
Mittel- und Nordeuropa zu neuem und energiſcherem Leben zu
erwachen. Die Entdeckung der den Alten unbekannt gebliebenen Erd—
theile und ihrer reichen, in Fülle, Pracht und ungewohnten Formen
prangenden Pflanzen- und Thierwelt brachte eine mächtige Anregung,
vor allem zwang ſie den Gelehrten jener Zeit vom ererbten Nach—
beten der Bibel und des Ariſtoteles abzugehen und ſelbſt zu be—
obachten, zu forſchen, zu beſchreiben und zu ordnen.
Damit kamen dann allmählig auch wie ins geſammte Leben der
germaniſchen und romaniſchen Völker, ſo auch in ihre Naturwiſſen—
11
ſchaft ganz neue und andre Anſchauungen und Methoden, die weiter
fortwirkend und ſich einander ausgleichend wieder dahin führten, wo
ſchon die großen Denker des alten Hellas begonnen hatten, nämlich
zur freien und unbefangnen Erforſchung der Natur und der Wahr—
heit um ihrer ſelbſt willen.
Linné und ſeine Nachfolger.
Was die alten Culturvölker darin geſchaffen und die Generation
der neu belebten Wiſſenſchaften an eignen Beobachtungen hinzugefügt,
wurde namentlich vom großen Schweden Linné zuerſt in ein ge—
ordnetes Gebäude zuſammengefaßt. Seine Thätigkeit richtete ſich zu—
nächſt auf das Ordnen und Beſchreiben der Pflanzen und Thiere, er
war in dieſer Hinſicht der eigentliche Schöpfer einer logiſchen Natur—
geſchichte. Aber dieſe Aufgabe nahm ihn ſo ſehr in Anſpruch, daß
er in der Erforſchung des innern Bau's und der Lebenserſcheinungen
minder thätig blieb. Er nahm ſich faſt nur der einen jener beiden
Richtungen an, die bei Ariſtoteles noch verſchmolzen waren.
Der große Einfluß, den Linné auf die Botanik und Zoologie
ſeiner Zeit gewann und bis auf die heutigen Tage noch ausübt, be—
gründet ſich vor allem in der eben ſo einfachen als vortheilhaften
binären Namengebung, die, indem fie das beſondere unterſchied, zu—
gleich das zunächſt ähnliche noch vereinigt erhält. Linné brachte
mit dieſer Methode einen ſolchen Grad von Klarheit und Ueberſicht—
lichkeit in die ſyſtematiſche Botanik und Zoologie, daß einerſeits ihr
Fortſchritt mächtig dadurch gefördert wurde, andrerſeits auch alle Nach—
folger bis auf den heutigen Tag ſich an ſie als weſentliche Bürg—
ſchaft der Ordnung gebunden haben.
Seit dem Wiedererwachen und der immer wachſenden Ausdeh—
nung der Naturwiſſenſchaft von Linné's Zeiten an bis auf unſre
Tage haben ſich in immer ſchärferem Gegenſatze zwei verſchiedene
Methoden in der Auffaſſung der Naturgegenſtände überhaupt, der
Pflanzen- und Thierwelt im beſonderen geltend gemacht. Sie haben
in einzelnen hervorragenden Männern ihre vorzugsweiſen Vertreter
und Verfechter gefunden, mehr oder minder gebundene Schulen haben
ſich gewöhnlich im Anſchluß an die Coryphäen auf längere und kürzere
Zeit hin gegenübergeftanden und nicht leicht hat ein nur einigermaßen
12
umfaſſender Forſcher dem Einfluß dieſer Schulen und der Partei-
nahme ſich entziehen können.
Die beiden Gegenſätze der Anſchauungsweiſe und Behandlung
der Naturgegenſtände wurzeln, wie Göthe in einer ſeiner naturwiſſen—
ſchaftlichen Abhandlungen hervorhebt, tief in der verſchiedenartigen
Geiſtesanlage der Individuen. Sie ſtehen bald gleich entwickelt ein—
ander im Kampfe gegenüber, bald herrſcht die eine oder die andere
Decennien hindurch mehr oder minder unbeſtritten.
Es gibt eine analytiſche Methode der Anſchauung, die vorzugs—
weiſe auf der Thätigkeit des nüchternen Verſtandes beruht. Sie be—
obachtet genau, merkt auf das beſondere und für ſich allein faßliche
und hält das verſchiedene ſtreng auseinander.
Die dieſer Methode nach natürlicher Geiſtesanlage oder Unter—
richt huldigenden Männer des Wiſſens und Erkennens find wenig ge—
neigt, das was dem Geiſte zwiſchen getrennten Erſcheinungen als ver—
bindendes Mittelglied erſcheint, anzuerkennen, ſie ſuchen nicht nach
dem geiſtigen Faden, der die trockne Materie zuſammenhält, ihre W
erzeugniſſe bleiben Moſalk.
Linné, Werner, Cuvier gehören weſentlich diefer Schule an.
Eine andre Anſchauungsweiſe iſt die des Alles überſehenden
Geiſtes, der nach der Verwandtſchaft der unſren Sinnen getrennt er—
ſcheinenden Gegenſtände forſcht, Urſache und Wirkung ergründen und
darnach den Zuſammenhang der getrennt auftretenden Dinge theoretiſch
herſtellen will. Hier herrſcht die Syntheſe vor.
Die Männer dieſer Anſchauung, die eigentlich die Thätigkeit des
unterſcheidenden und ordnenden Geiſtes ſo weſentlich ergänzt, ſtehen
trotz dem in Wirklichkeit oft den Vertretern der erſten Schule ſchroff
gegenüber und zwar bleiben ſie im Kampfe mit dieſen nur zu leicht
im Nachtheil. Denn es iſt ſchwer mit Argumenten, die man noch
nicht in ſtrenger und faßlicher Weiſe beſitzt, einen Gegner zu bekämpfen,
der nur mit exacten Dingen ſtreitet und jedes nicht exacte Argument
bei Seite ſchiebt.
Lamarck, Geoffroy-Saint-Hilaire, Oken und die
deutſchen Naturphiloſophen, endlich Darwin gehören der Schule an,
die nicht mit dem Aneinanderreihen der Thatſachen ſich befriedigt er—
klärt, ſondern auch die noch nicht erfüllten Lücken im Geiſte ergänzt
und ſo ein nach der Lehre von Urſache und Wirkung zum Abſchluſſe
geführtes Gebäude aufzuführen beſtrebt iſt.
13
Auch Göthe gehörte nach ſeiner innerſten Anſchauung der philo—
ſophiſchen Schule an und hat erfolgreich in ihrem Ringen mitgewirkt.
Die neuere Zeit hat ſogar anerkannt, daß Göthe in dieſer Hinſicht
dem Verſtändniß ſeiner Zeitgenoſſen weit vorausgeeilt war und na—
mentlich Richtungen in der Verallgemeinerung von Einzelheiten des
anatomiſchen Bau's der Pflanzen und Thiere anbahnte, die in einer
ſpäteren Stufe der Wiſſenſchaft maßgebend wurden.
Eine allgemeinere Bedeutung gewinnen jene beiden in der Natur—
forſchung einander mehr oder minder ſchroff gegenüberſtehenden Schulen
aber noch dadurch, daß mit der ſynthetiſchen oder analytiſchen Be—
handlung der Forſchung gewöhnlich auch noch anderweitige Anſchau—
ungen verknüpft ſind, die zwar nicht bei jedem einzelnen Forſcher zu—
treffen, im Großen und Ganzen aber ſich entſchieden geltend machen.
Die ſynthetiſche fällt nämlich in der Regel mit der philoſophiſchen,
die analytiſche mit der theologiſchen Richtung zuſammen und dies gibt
dem Kampfe der beiden großen Schulen eine weit über die Grenzen
der Naturwiſſenſchaft hinausgehende Bedeutung.
Der Schwerpunkt der Entſcheidung in dem großen Ringen über
die Grundanſchauung der belebten Schöpfung liegt in der Feſtſtellung
des Begriffs der Art oder Species. Je nachdem man die Art
für veränderlich oder unveränderlich nimmt, müſſen die weiteren Fol—
gerungen in der Geſchichte der organiſchen Schöpfung weit ausein—
andergehen.
Erſt Linné, der große Neubegründer der Botanik und Zoo—
logie, unterſchied Art oder Species und Gattung oder Genus
ſcharf und zwar faſt durch alle Klaſſen und Ordnungen der organiſchen
Formen hindurch. Er vereinigte unter einer Art die Geſammtheit
aller Individuen, welche eine bedeutende Summe von Aehnlichkeit mit
einander gemein haben und dem entſprechend auch wenig oder gar
nicht merklich von einander abweichen.
Linné ſpricht ſich über die Entſtehung der Art dahin aus, es
gebe ſo viel Arten als überhaupt verſchiedene Formen des Lebens von
Anfang an erſchaffen wurden. (Species tot sunt, quot diversas for-
mas ab initio produxit infinitum ens).
Was die Charactere der Arten aber betrifft, ſo ſind ſie von
Gott gemäß der Oeconomia naturalis oder natürlichen Haushaltung
als ſolche und gleich allen übrigen natürlichen Dingen mit jenen
Eigenthümlichkeiten erſchaffen worden, welche ſie zu ihren gemein—
14
ſamen Zwecken und mechjelfeitigen Verwendungen geeignet machen.
Hier beruht alles auf Vorausbeſtimmung.
Von dieſer Anſicht einer unmittelbaren Erſchaffung der Arten
ging Linné nur bei den baſtardirten Formen ab. Er nahm näm⸗
lich an, daß die Vermehrung der Arten im Pflanzeureiche durch Kreu—
zung in großer Ausdehnung ſtatt gefunden habe, und daß eine Menge
jetziger wirklicher Arten auf ſolchem Wege entſtanden ſei. Dieſe Linns'⸗
ſche Annahme erſcheint aber nichts weniger als ſicher begründet. Viele
ſpäteren Forſcher haben auf Grund ihrer Verſuche die Möglichkeit
einer derartigen Entſtehung wirklicher und bleibender Arten beſtritten,
einige Neuere find ihrerſeits in bejahendem Sinne wieder darauf zu=
rück gekommen. Die ganze Angelegenheit aber ſcheint derzeit noch nicht
vollftändig ausgetragen zu fein.
In ſeiner Rede „de telluris habitabilis ineremento“ nimmt Linné
an, daß wie Moſes berichtet hat, von jedem lebenden Weſen und
vom Menſchen je ein Paar, ein Männlein und ein Weiblein, er⸗
ſchaffen wurden. Er hat dabei nur zu erinnern, daß es auch noch
Weſen gebe, die nur ein einziges Geſchlecht beſitzen und Herma⸗
phroditen heißen, von dieſen, meint er, habe es ſchon genügt, wenn
nur ein einziges Individuum ſei erſchaffen worden. Mit dem übrigen
iſt er ſchon einverſtanden.
Nach der Sündfluth mußte die Zerſtreuung der Weſen von einem
Orte ausgehen, wo alle Pflanzen den ihnen zuſagenden Boden, alle
Thiere ihr eigenthümliches Klima fanden. Dieſe Anforderungen treffen
nur bei hohen Bergen warmer Länder zuſammen, deren Fuß ein warmes,
deren Höhe ein kaltes Klima hat.
Linns dachte ſich alſo als urſprüngliche Heimath der Pflanzen-
und Thierwelt eine Gebirgsgegend des wärmeren Aſiens hoch genug
anſteigend, um vom Fuß zum Gipfel alle klimatiſchen Stufen in ſich
zu begreifen. Von dort aus ſollten ſich dann alle Pflanzen⸗ und
Thierarten über die Erde hin verbreitet haben. Dieſen gemeinſamen
Heerd der Schöpfung ſuchte Linné im Einklang mit der Moſaiſchen
Urkunde an den Abhängen des Ararat in Armenien, an dem
nach der „Sündfluth“ die Arche Noah's landete.
Gegen eine ſolche Annahme ſprechen indeſſen ſo weſentliche
Gründe, daß Linné 's bibelgemäße Hypotheſe von einem gemein—
ſchaftlichen Mittelpunkt der geſammten lebenden Schöpfung bald ge—
nug von den Naturforſchern wieder aufgegeben wurde. Der Ara rat,
15
etwas über 16000 Fuß Meereshöhe erreichend, beherbergt allerdings
mehrere klimatiſche Zonen, aber nicht alle. Die Gegend an ſeinem
Fuße iſt rauh und öde. Von einer tropiſchen Flora und Fauna iſt
hier nichts zu finden, ſelbſt für viele europäiſche Arten iſt das Klima
der Ararat⸗Gegend zu rauh, noch mehr gilt dies für Pflanzen
und Thiere der Tropen. Eine Zerſtreuung der Pflanzen- und Thier⸗
welt von einem einzigen Mittelpunkte aus, wie Linné wollte, iſt
aber auch noch aus andern Gründen ganz unannehmbar. Sowohl
die Unmöglichkeit für zahlloſe Pflanzen- und Thierarten große Wan-
derungen durch verſchiedene Klimaten zu machen, als auch die Tren—
nung der Feſtländer durch gewaltige Meeresſtrecken ſtehen hier im
Wege und nöthigen unaufhaltſam zu ganz andren Erklärungen der
heutigen geographiſchen Verbreitung der Pflanzen- und Thierwelt.
Lamarck und Geoffroy-Saint⸗ Hilaire.
Lamarck, der berühmte Verfaſſer der „Histoire naturelle des
Animaux sans vertcbres“, war durch das gleichzeitige Studium der
lebenden wirbelloſen Thiere und der im Pariſer Tertiärbecken in ſo
reichlicher Fülle und ausgezeichneter Erhaltung auftretenden foſſilen
Conchylien auf die Verwandtſchaft älterer und neuerer Thierformen ge—
führt worden und gelangte einerſeits auf dieſem Wege, andrerſeits auf
rein zoologiſchem zur Annahme, daß die geſammte heutige Thierwelt
nur als Folge jener früheren Lebeweſen beſtehe, deren foſſile Reſte
wir in den verſchiedenen geologiſchen Ablagerungen finden. Er nahm
eine Einheit des Organiſationsplans und der Abſtammung einerſeits
für das Thierreich, andrerſeits für das Pflanzenreich an, beide aber
betrachtete er als vom erſten Anfang an ſtreng geſchieden.
Er legte dieſe Anſichten in ſeinem 1809 veröffentlichten Werke
„Philosophie zoologique“ nieder, einer tiefdurchdachten ideenreichen
Arbeit, die von Zeitgenoſſen und Nachwelt vielfach als unberechtigte
Anhäufung unerweisbarer Hypotheſen verſchrieen worden iſt, in Wirk—
lichkeit aber im prophetiſchen Schwunge des Gedankens weit der Mit—
welt vorausgeeilt war. Es iſt dies überhaupt die erſte vollkommen
durchgebildete und folgerichtige Theorie der Natur und Abſtammung
der organiſchen Weſen. 1815 legte er im erſten Bande der „Ani-
maux sans vertebres‘ ſeine Lehre in neuer Entwicklung dar.
Lamarck geht in ſeiner Theorie namentlich von der in der heu—
16
tigen Schöpfung unverkennbar entwickelten Aufeinanderfolge der Thier-
formen und deren von den Infuſorien an allmählig vor ſich gehenden
Vervollkommnung und Annäherung an die Säugethiere und den Men-
ſchen aus. Er geht dann zurück auf die älteſte Epoche der Schöpfung,
er zeigt ihren Beginn in den niederſten einfachſten Lebeweſen und ver-
folgt ihre ſtufenweiſe Entwicklung zu höher organiſirten Formen. Er
zeigt, wie nach natürlichen Geſetzen aus jenen einfachſten, niederſten
organiſchen Formen im Laufe unermeßlicher Zeiträume und unter dem
wechſelnden Einfluſſe verſchiedener äußerer Lebensverhältniſſe hochorga⸗
niſirte organiſche Weſen entſtehen konnten. Die Natur kann in allen
ihren Werken nur ſtufenweiſe vorgehen, ſie konnte die verſchiedenen
Thierarten nicht alle auf einmal erſchaffen. Zuerſt entſtanden die ein-
fachſten aus einer bloßen belebten Schleimzelle beſtehenden Weſen,
ſpäter erſchienen zuſammengeſetztere, die Organe vervielfältigten ſich,
ihre Energie erhöhte ſich und ſo ſchritt allmählig die Organiſation
von Stufe zu Stufe bis zum höchſtorganiſirten Weſen vor.
Eine urſprüngliche Entſtehung oder generatio spontanea fand
von jeher nur für eine nicht näher feſtzuſtellende, aber wahrſcheinlich
ſehr geringe Zahl von Pflanzen- und Thierformen ſtatt. Urzeugung
nahm Lamarck auch für die niederſten einfachſten Organismen in
Gewäſſern und Sümpfen der heutigen Welt an, beſtritt ihre Mög—
lichkeit aber für alle höher organiſirten Weſen ſowohl in Bezug auf
ehemalige oder noch fortdauernde Entſtehung ſolcher. Die Nachkom—
menſchaft der Urpflanzen und Urthiere verbreitete ſich dann über die
Erdoberfläche hin, änderte im Lauf der Zeit nach den Einflüſſen des
Aufenthaltsortes und der Lebensweiſe allmählig ab, vervielfältigte ſich
in der Typenzahl und erreichte in einem Theile derſelben eine immer
höhere Organiſationsſtufe. So dachte ſich Lamarck die ununter—
brochene Fortpflanzung im Thierreich vom infuſorienähnlichen Urthier
bis zum Menſchen ſelbſt herauf.
Varietäten, Arten, Gattungen und höhere ſyſtematiſche Abthei—
lungen ſind darnach alſo keine unbedingt abgegrenzten und unmittelbar
als ſolche entſtandenen Ausdrücke der organiſchen Form, ſondern ſie
ſind erſt im Laufe der Zeit geworden was ſie ſind, ſie beſitzen nur
eine beſchränkte Dauer und ſind in Zeit und Raum, je nach dem
Wechſel der äußeren Einflüſſe, der Umgeſtaltung fähig.
Die Umwandlung in der Geſtalt der Thiere erklärte Lamarck
aus Uebung und Gewohnheit. Das Bedürfniß des Thiers führt zu
17
Beftrebungen und Bewegungen, durch äußere Einflüffe ändern aber
die Bedürfniſſe ſich ab und dies führt zu neuen Beſtrebungen und
Bewegungen. Alle Körpertheile entwickeln ſich nach Verhältniß ihres
Gebrauches, Veränderungen der auf das Thier einwirkenden äußeren
Einflüſſe verändern daher allmählich die Geſtalt von deſſen Theilen,
ſie heben die Energie gewiſſer Organe und entwickeln Organe an
Körpertheilen, wo bei den Vorfahren noch keine vorhanden waren.
Solche Veränderungen und Vervollkommnungen der Thierform ſind
erblicher Natur, ſie verpflanzen ſich von einem Thier auf die Nach—
kommen, welche alſo ihre höhere Rangesſtufe mit der Geburt erhalten
und ihrerſeits wieder erhöhen können.
So konnte nach Lamarck z. B. ein Mollusk, der fortdauernd
ſtrebte vor ihm liegende Gegenſtände zu befühlen, durch dieſes Be—
ſtreben die Thätigkeit ſeines Nerven- und Gefäßſyſtems vorzugsweiſe
dem vorderen Körpertheile zuwenden und dieſer verlängerte ſich dann
in Fühler.
Fröſche erhielten ihre Schwimmfüße durch das Bedürfniß und
das Beſtreben zu ſchwimmen.
Die Giraffe gelangte zu ihrem langen Halſe durch die Noth—
wendigkeit ihn nach dem Laube hoher Bäume auszurecken, das ſie
abweidet.
Durch veränderte Lebensweiſe, namentlich den aufrechten Gang,
der zur Abplattung der Fußſohle führte, wurde endlich auch der Affe
zum Menſchen.
Alle dieſe Vorgänge geſchahen nach Lamarck nur allmählich
und ſtufenweiſe. Ueberhaupt, ſagt er, gehen alle Operationen der
Natur mit einer im Verhältniß zu unſrer individuellen Dauer ſehr
großen Langſamkeit vor ſich und verſchwinden daher für unſre Wahr—
nehmung. Dieſe Unmöglichkeit mit unſrer Beobachtung einen beträcht—
lichen Zeitraum zu umfaſſen iſt es denn, welche unſeren Sinnen einen
wirklichen Stillſtand der Erſcheinungen vorſpiegelt und zur falſchen
Anſicht führt, als ſeien alle Lebeweſen ſo alt wie die Natur ſelbſt
und von ganz unveränderlicher Verfaſſung.
Lamarck's Annahme einer tiefgehenden Aenderung der Körper—
geſtalt und namentlich einer Entſtehung neuer Organe durch den
Einfluß von Bedürfniß, Beſtrebung, Gebrauch und Gewohnheit
war nicht geeignet ſeiner Anſchauungsweiſe allgemeinen Eingang zu
verſchaffen.
Rolle, Darwin's Lehre. 2
18
Daß aus einem Infuſorium im Verlaufe der Zeit und unter
dem Einfluſſe der äußern Bedingungen ein Fiſch, Reptil, Vogel und
Säugethier werden könne, war der exacten Forſchung allzuſehr vor—
gegriffen, um nicht die meiſten Stimmen der Zeitgenoſſen gegen ſich
zu haben.
In der That war die Darlegung des Weges, auf dem nach
Lamarck die Umgeſtaltung vor ſich gegangen ſein ſollte, zu einem
gewiſſen Grade verfehlt. Lamarck ſchrieb dieſe faſt einzig und allein
auf Rechnung der Thätigkeit und Angewöhnung des Thiers an die
äußeren Umſtände, es iſt außer Zweifel, daß dieſen ein Theil der Ver—
änderungen, welche die organiſche Welt betroffen haben, zuzuſchreiben
iſt, aber in Wirklichkeit iſt der Einfluß der äußeren Umſtände ein
weit mächtigerer. Das organiſche Weſen wird von den äußeren Mo-
menten weit häufiger vernichtet oder abgeändert, als es ſich ihnen
durch eigne Thätigkeit anbequemen kann. Lamarck nahm das Thier
in Bezug auf die phyſiſchen Einflüſſe viel zu ſehr als ſelbſtthätig an,
während es dieſen gegenüber eigentlich vorwiegend leidend iſt.
Die Lamarck' ſche Theorie mußte daher im Laufe der beſſeren
Erkenntniß eine Umgeſtaltung erfahren. So wie er ſie ſelbſt gab,
hat ſie wohl kein andrer Forſcher angenommen. Neu aufgefriſcht
und mit andern Rechnungselementen ausgeſtattet aber haben fie na-
mentlich Geoffroy und in neueſter Zeit Charles Darwin. Ein
Anderes iſt die Aufſtellung einer Anſicht, ein Anderes die Beweisfüh—
rung für ſie.
Geoffroy-Saint-Hilaire theilte im Weſentlichen die An-
ſchauungsweiſe von Lamarck, auch er nahm eine weit gehende Ver—
änderlichkeit der Art und der übrigen organiſchen Formen und eine
unter ſtufenweiſer Veränderung vor ſich gegangene Abſtammung der
heutigen Schöpfung von wenigen Urorganismen anderer und zwar ſehr
einfacher Organiſation an. Aber die Urſachen der Veränderung fand
er in ganz anderen Einflüßen als Lamarck.
Nach Geoffroy hängt die Veränderung der organiſchen Welt
im Laufe der geologiſchen Epochen vorzugsweiſe von Veränderungen
im qualitativen und quantitativen Zuſtand unſrer Atmosphäre ab.
Kein Organismus kann der Athmung entbehren und Veränderungen
in der Natur des eingeathmeten Mittels müſſen daher von mächtigem
Einfluß auf ſeine Geſtaltung einwirken.
So nahm Geoffroy an, daß von einer bloſen Aenderung im
19
Reſpirationsmedium aus einem Reptil ein Vogel mit all feinen körper—
lichen Eigenthümlichkeiten werden konnte. Die nächſte Folge war eine
Veränderung im Lungenſack des Reptils, es erfolgte eine Steigerung
des Athmungsvorgangs, eine Veränderung und höhere Erwärmung
des Bluts, aus den Hautwarzen entwickelten ſich Federn u. ſ. w.
So entſtand durch bloſe Veränderung des atmosphäriſchen Mittels
aus einem Reptil der erſte Typus eines Vogels.
Geoffroy's Lehre iſt jedenfalls nicht ganz zu verwerfen, die
Geologie hat namentlich dahin geführt anzunehmen, daß z. B. der
Kohlenſäure-Gehalt der Luft in den älteren Epochen der Ausbildung
der Erdrinde größer als der heutige war und die Paläontologie zeigt,
daß Vertreter des Land- und Luftlebens ſpäter als die Meeresbe—
wohner auftreten und ſpäter als dieſe an Häufigkeit und Manigfaltig—
keit gewinnen. Aber mit dieſem einen Grundſatz ließ das Ganze
der Erſcheinungen noch nicht ſich erklären.
O ken.
In Deutſchland waren Oken und die übrigen Naturphiloſophen
bemüht, auf ähnlichen Wegen wie in Frankreich Lamarck und Geof—
froy-Saint-Hilaire, nach den verbindenden Fäden der einzelnen
todten Thatſachen zu ſuchen und an die Stelle des bloſen Aneinander—
reihens ſelbſtändiger Einzelheiten ein dem Streben des Geiſtes ange—
meſſenes idealiſtiſches Gebäude zu ſetzen. Aus Mangel an hinreichendem
poſitivem Material und aus einer leicht begreiflichen Geringſchätzung
gegen einzeln ſtehende nicht in ihren Bauplan paſſende Thatſachen
waren indeſſen unſere deutſchen Idealiſten oft genug genöthigt, aus
der Tiefe ihres ahnenden Gemüthes Grundſätze zu entwickeln und
Färbungen ſich hervor zu zaubern, die ſie in ihre Naturſyſteme trugen,
ohne zu ahnen wie weit ſie damit von der poſitiven Wahrheit ſich
entfernten. So konnte ihnen denn mit Recht auch Cuvier vor—
halten, daß ſie mit Metaphern ſtatt mit Beweisgründen kämpften.
O ken, der in feinem Lehrbuch der Naturphiloſophie (1809 — 1811)
und in einer Reihe ſpäterer Werke dieſe deutſch-idealiſtiſche Richtung
vorzugsweiſe vertrat und ausbildete, hat zwar viele klare und tiefe
Gedanken ausgeſprochen, allein ſie liegen gewöhnlich verborgen unter
einer Decke dunkler Bilder und myſtiſcher Gleichniſſe. Oken erinnert
in ſeiner Behandlung der Naturwiſſenſchaft oft an die Prieſter des
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delphiſchen Apoll und an die Alchymiſten des Mittelalters, deren
Hauptſtärke darin beſtand, das Klare in unverſtändliche Myſticismen
gehüllt mitzutheilen. Nicht ſelten tauchen bei dieſer ſeltſamen Dar—
ſtellungsweiſe des deutſchen Naturphiloſophen Bilder auf, die aller
unbefangenen Naturbetrachtung geradezu widerſprechen.
Nimmt man ſich die Mühe, Oken's eigentliche Gedanken aus
dem Wuſte geheimnißvoller Bilder und Zuthaten, unter denen er ſie
verſteckte, herauszuſchälen, ſo trifft man zunächſt über Entſtehung be—
lebter Weſen auf dem Wege der Urzeugung eine Entwicklung von Ge—
danken, die noch heute dem Weſentlichen nach Beiſtimmung finden kann.
Alles Organiſche iſt aus Schleim hervorgegangen und iſt über—
haupt nichts anderes als belebter verſchiedenartig geſtalteter Schleim.
Unter Schleim verſteht Oken eine jede weiche halbflüßige (ſogenannte
organiſche) Subſtanz aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff, und Sauerſtoff be—
ſtehend. Die erſten Organismen entſtanden aus dem Urſchleim. Dieſer
bildete ſich im Verlaufe der Entwicklung des Planeten, er war im
deere von Anfang an weſentlich vorhanden und aus dem Meere
entſtand alles Pflanzen- und Thierleben.
Die erſten Organismen waren Bläschen von Urſchleim, aus einem
feſten Umfang und aus einer flüſſigen Mitte beſtehend. Ihre Be—
lebung beruht auf dem Vorgang der Athmung. Ohne Athmung iſt
kein Organismus denkbar, erſt die Athmung macht den Nahrungsſaft
für die Ernährung brauchbar. Jene älteſten Organismen waren In-
fuſorien, von Oken auch Mile genannt. Die Infuſorien ſind nichts
andres als einfache ſchleimige Urbläschen. Sie entſtanden, nachdem
der Erdkörper als Ganzes ſeine Metamorphoſe beendet hatte, unmittel—
bar aus unorganiſchem Stoffe und entſtehen noch jetzt durch Fäulniß
der verſchiedenen organiſchen Materien.
Weniger naturgemäß iſt Okens Gedankengang in ſeiner Dar—
ſtellung der Entſtehungsweiſe höherer Organismen. f
Während nämlich die Infuſorien als niederſte Formen unmittel—
bar aus unorganiſchem Stoffe entſtehen konnten, entſtehen die höheren
Organismen nur aus ſchon gebildeter organiſcher Materie. Alle höheren
Organismen ſind nicht erſchaffen, ſondern entwickelt, auch der Menſch
iſt gleich ihnen nicht erſchaffen, ſondern entwickelt.
Alle höheren Organismen entſtehen durch Syntheſe von In—
fuſorien. Die ganze organiſche Welt hat nämlich zu ihrer Grundlage
eine Unendlichkeit von Bläschen. Dieſe Bläschen aber ſind Infuſorien.
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Alſo muß die ganze organiſche Welt auch aus Jufuſorien ſich ent—
wickelt haben. Pflanzen und Thiere beſtehen ferner nicht nur aus
zuſammengetretenen Infuſorien, ſondern ſie löſen ſich auch nach ihrem
Tode durch Fäulniß wieder in ſolche auf. Verfaulung iſt nichts
anderes als ein Zerfallen höherer Organismen in Infuſorien, eine Zu—
rückführung des höheren Lebens auf das Urleben.
Nach Oken iſt auch der Menſch nichts anderes als eine innige
Verbindung und Verſchmelzung von Infuſorien und durch eine Syntheſi—
rung ſolcher urſprünglich entſtanden.
Indeſſen hat in Wirklichkeit Niemand eine derartige Vereinigung
von Infuſorien zur Erzeugung höherer Weſen in der Natur beobach—
tet, überhaupt auch Niemand den Verſuch gemacht, die Aphorismen,
welche Oken in feiner gewöhnlichen orakelartigen Sprache aufſtellte,
näher zu bewahrheiten. In Wirklichkeit beruhte Okens Anſicht auf
einer Verwechslung der die Grundlage des Pflanzen- und Thier—
körpers bildenden Zelle mit der als Infuſorium frei und als wahres
Individuum lebenden Zelle. Der eigentliche Sachverhalt iſt, daß alle
höheren Organismen aus einer Syntheſe von Zellen entſtanden, die
niederſten Organismen aber, namentlich ein Theil der Infuſorien, ein—
fache freie Zellen find, welches letztere übrigens auch ſchon von neueren
Mikroskopikern beſtritten wird.
Neptuniſten und Vulkaniſten.
Nur in mittelbarem Bezug zur Entwicklung der Anſichten über
Entſtehung der lebenden Schöpfung ſteht der langjährige Kampf der
Neptuniſten und Vulkaniſten über die Art der erſten Entſtehung
und der nachfolgenden Ausbildung unſeres Erdkörpers. Schon die
alten Griechen ſchrieben theils dem Waſſer theils dem Feuer den
Hauptantheil bei letzterem Vorgange zu. Es ſtanden ſich alſo da—
mals in ähnlicher Weiſe die Anſichten ſchon gegenüber, wie ſpäter
als die beiden geologiſchen Schulen der Neptuniſten und Vulkani—
ſten, die namentlich in den erſten Jahrzehenden unſeres Jahrhunderts
einander auf's lebhafteſte befehdeten, die Grundlagen der geologiſchen
Forſchung erörterten und allmählig feſtſtellten.
Die Neptuniſten ſchrieben vorwiegend oder ausſchließlich dem
Waſſer die urſprüngliche Bildung der Erdmaſſe zu. Dieſe Anſicht
ſtammt aus den älteſten Zeiten, fie herrſchte bei Aegyptern und
22
Griechen. Moſes und die Hebräer waren weſentlich Neptuni-
ſten. Die Griechen betrachteten allgemein den Ocean als den Schooß
aller irdiſchen Erzeugniſſe. Doch gab es auch unter ihnen ſchon Phi—
loſophen, welche den Aetna und die übrigen vulkaniſchen Erſchei—
nungen der Mittelmeerländer ſtudirten und daraufhin dem Feuer den
Hauptantheil an der Entſtehung des Erdkörpers zuerfannten. Die
Neptuniſten der neueren Zeit, an ihrer Spitze der um die poſitive
Begründung der Geologie — oder wie er ſelbſt fie nannte der Geog—
noſie — hochverdiente deutſche Bergmann Abraham Gottlob
Werner, lehrten, das Urgebirge, das den Kern unſerer meiſten Ge—
birgsmaſſen bildet, ſei aus wäſſerigem Lößungsmittel in kryſtalliniſcher
Form niedergeſchlagen worden. Sie leiteten auch die verſchiedenen
Arten von Porphyr und Baſalt von derartigen Niederſchlägen ab und
erkannten den Vulkanen nur einen untergeordneten ſehr örtlichen Ein—
fluß auf die Veränderungen der Erdrinde zu.
Werner gewann durch die klare und maßvolle Entwicklung
ſeines Syſtems und namentlich auf Grund ſeiner Herrſchaft über den
damaligen exacten Theil der Wiſſenſchaft faſt alle Zeitgenoſſen für
ſeine Anſichten. Doch verließen noch zu ſeinen Lebzeiten ein Theil
ſeiner bedeutendſten Schüler das neptuniſtiſche Feldlager und wandten
ſich dem Vulkanismus und den Lehren von Werner's wiſſenſchaft⸗
lichen Gegnern Hutton und Voigt zu. Der Hauptkampf betraf da-
bei die wäſſerige oder feurige Entſtehung der Baſalte. Alexander
von Humboldt und Leopold von Buch gaben in der Folge dem
Streite den Ausſchlag und zwar zu Gunſten von Hutton und Voigt.
Humboldt's von ſo vielſeitigem Erfolg gekrönte Forſchungen
in Südamerika lenkten namentlich die Blicke der Geologen auf die
gewaltigen Vulkanenreihen der Cordilleren und zeigten wie unzureichend
Werner's Deutung des Vulkanismus geweſen war.
Heutzutage, wo die geologiſchen Studien über ſo viele Theile der
Erde ſich verbreitet haben und einzelne volkreiche Länder ſchon ſo
ſorgfältig durchforſcht find, wo Chemie und Phyſik fo fruchtbringend
auf geologiſchem Gebiete gewirkt haben, halten ſich in der Wiſſenſchaft
Neptunismus und Vulkanismus die Wage.
Feuer und Waſſer haben gleich wichtigen Antheil an der Bil—
dung der äußeren Erdrinde. Einerſeits bedingte der feurigflüſſige Weg
ausſchließlich die erſten Stufen der Ausbildung und gab ſeither von
der Tiefe des Erdinnern aus theils ununterbrochen, theils periodiſch
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wechſelnd in Hebungen und Senkungen, Vulkanen und warmen Quellen
ſich kund, anderſeits war der Einfluß des Waſſers und der Atmos—
phäre ſeither fortwährend thätig, die Erzeugniſſe des Vulkanismus
entweder zu zerſtören und neu umzubilden oder wenigſtens langſam um—
zuändern. Laven⸗ und Aſchenauswürfe der Vulkane find vulkaniſche Ge—
bilde. Abſätze von Schlamm, Sand und Geröllen mit Einſchlüſſen von
Pflanzen- und Thierreſten find Erzeugniſſe des neptuniſchen Elements.
Aber der Einfluß des Waſſers, der Atmosphärilien und der
manigfachſten anderen chemiſchen und phyſicaliſchen Agentien wirkt auf
beiderlei Erzeugniſſe wieder ein, verändert ihre chemiſche Zuſammen—
ſetzung und die phyſicaliſche Anordnung ihrer Theile. Je älter ein
Geſtein, um ſo mehr pflegt es umgewandelt zu ſein und um ſo ſchwie—
riger wird es, die Art ſeiner erſten Entſtehung jetzt noch zu ermitteln.
Damit begründet ſich gewiſſermaßen eine dritte Schule, die des
Metamorphis mus oder der Geſteinsumwandlungen. Bous kann
als ihr erſter Begründer gelten, Lyell hat ſie ſpäter folgerichtig
durchgeführt und zur allgemeinſten Anerkennung gebracht.
Die ausgezeichnetſten Erzeugniſſe des Metamorphismus ſind die
ſogenannten kryſtalliniſchen Schiefer, wie Gneis, Glimmerſchiefer u. ſ. w.,
welche die Kryſtallinität und den Mangel organiſcher Einſchlüſſe der
vulkaniſchen mit der regelmäßigen Lagerungsweiſe der neptuniſchen
Gebilde theilen. Sie gelten jetzt allgemein als ehemalige von Ge—
wäſſern ſchichtenweiſe abgelagerte neptuniſche Sedimente, deren urſprüng—
liche Natur aber durch den anhaltenden Einfluß der natürlichen Agen—
tien beträchtliche Umgeſtaltungen erlitten hat.
Gi et.
Georg Cuvier, der große Reformator und Neubegründer
der vergleichenden Anatomie, deſſen umfaſſendes Werk über die ur—
weltlichen Säugethiere ſo mächtig zur Erweiterung der Paläontologie
beitrug, ſtand in ſeinen Grundanſichten über das gegenſeitige Verhal—
ten der Formen des organiſchen Lebens zu einander ſeinen Collegen
Lamarck und Geoffroy ſcharf gegenüber. Wie ſeine erfolgreiche
Thätigkeit im Beſtimmen und Ordnen nur mit der eines Lin ns zu
vergleichen iſt, ſo ſtand er auch in der allgemeinen Naturanſchauung
ihm zunächſt. Cuvier wie Linné waren von Natur aus darauf
angewieſen, ſtreng an der exacten Thatſache feſtzuhalten und auf ſie
24
ihr wiſſenſchaftliches Gebäude zu begründen und hierin lag ihre Stärke
wie ihre Schwäche.
Cuvier's Anſichten über die Entſtehungsweiſe der Schöpfung
gewannen eine um ſo ausgedehntere Geltung, als er ſie dem herr—
ſchenden geologiſchen Syſteme der damaligen Zeit angepaßt hatte.
Wenn man von Lamarck und Geoffroy ſagte, ſie eilten mit ihren
Hypotheſen ihrer Zeit voraus, fo muß man von Cuvier ſagen,
ſeine Lehre entſprach genau dem Stande und dem Bedürfniſſe ſeiner
Zeitgenoſſen. Sein wiſſenſchaftliches Gebäude fand bei ihnen den all—
gemeinſten Eingang und brach erſt lange nach ſeinem Tode, als der
Stand der Wiſſenſchaft ein anderer geworden, dann aber auch unauf—
haltbar zuſammen.
Cuvier ) nahm eine Anzahl großartiger Störungen und Um—
wälzungen der Erdrinde an, mit denen Einbrüche und nachherige
Rückzüge des Meeres verknüpft waren. Sie gingen theilweiſe lang—
ſam, ſtufenweiſe und in örtlicher Ausdehnung vor ſich, meiſtens aber
traten ſie plötzlich ein.
Eine plötzlich eingetretene Cataſtrophe erkannte er 12 in
jenem letzten Einbruch und Wiederzurücktreten des Meeres, welches
„unſre heutigen Continente oder wenigſtens einen großen Theil ihrer
Oberfläche erſt überſchwemmte, dann trocken zurückließ.“ Dieſer letzte
Meereseinbruch lagerte nach ihm in dem hohen Norden Sibiriens
jene Leichen großer Vierfüßer ab, die von Eis eingehüllt ſich faſt
unverſehrt auf unſre Tage mit Haut, Haaren und Fleiſch erhalten
haben. Es gab nach ihm einen und denſelben Augenblick, der jenen
urweltlichen Elephanten und Nashörnern Sibiriens den Tod gab und
das Land, das ſie unter milderem Klima bewohnt hatten, mit Eis
bedeckte. Dies Ereigniß mußte plötzlich und ohne alle Zwiſchenſtufen
eingetreten ſein.
Indem Cuvier eine Reihenfolge großartiger Erdrevolutionen
annahm, beſtritt er die Möglichkeit durch die gegenwärtig auf der
Oberfläche unſeres Planeten wirkſamen Kräfte die Erſcheinungen der
Geologie älterer Epochen erklären zu können. Er ſagte „der Gang
der Natur iſt verändert, der Faden der Wirkſamkeiten zerriſſen.“
Keines der Agentien, deren ſich die Natur heute bedient — weder der
) Cuvier's Umwälzungen der Erdrinde. Deutſch von Noeggerath.
Bonn I. 1880 p. 7. p. 12. p. 25 u. ſ. w.
5
D
Einfluß von Regen, Froſt, Thauwetter, fließenden Gewäſſern und
Meeresbrandung, noch die Thätigkeit der Vulkane, welche die feſten
Schichten des Bodens durchbrochen und hier ihre Auswürfe aufhäu—
fen — würde zureichen, Wirkungen, wie die, welche die Ablagerungen
der verſchiedenen geologiſchen Epochen zeigen, jetzt noch hervorzubringen.
Mit jenen großartigen Umwälzungen, welche die Erdrinde um—
geſtalteten, hingen nun nach Cuvier auch die Veränderungen zuſam—
men, welche im Laufe der geologiſchen Epochen die Thierwelt betrafen.
Die Wirkung der Ereigniſſe war bis zu einem gewiſſen Grade
verſchieden für die Land- und für die Meeresbevölkerung.
Die Landbewohner und namentlich die Säugethiere wurden durch
die Einbrüche des Meeres über das Feſtland, das ſie bewohnten,
vernichtet. Die Meeresbewohner dagegen und namentlich die Mollus—
ken erlagen nach ihm Aenderungen, welche in Folge der großen Ka—
taſtrophen „in der Natur der Flüßigkeit und der darin aufgelöſten
Stoffe“ vor ſich gingen.
Cuvier ſcheint ſich der Ungeheuerlichkeit einer ſolchen Theorie,
die vom gewöhnlichen Laufe der Natur ganz abſieht und zu ihrer
Durchführung Agentien, von deren Art wir uns keine nähere Rechen—
ſchaft geben können, in Anſpruch nehmen muß, bewußt geweſen zu ſein.
Er hat ſeiner Darlegung nebenbei Zugeſtändniſſe beigefügt, welche
folgerichtig zu ganz anderen Ergebniſſen führen.
Er geſteht nämlich fürs erſte in Bezug auf die Meeresbevölke—
rung zu, daß der Einfluß der Kataſtrophen kein allgemeiner und voll—
ſtändiger war, namentlich daß an einigen ruhigen Orten des Meeres
die Arten ungeſtört ſich erhalten und von da aus ſpäter von Neuem
ſich verbreiten konnten. Er gibt zu, daß hie und da gewiſſe Arten
in (chronologiſch) kurzen Entfernungen wiederkehren, daß namentlich
auch in den jüngern lockeren Ablagerungen die Conchylien der Gat—
tung nach mit den Bewohnern unſerer heutigen Meere übereinkommen,
ja ſogar in den jüngſten vorweltlichen Ablagerungen einige Arten auf—
treten, welche auch das geübteſte Auge nicht von den an den benach—
barten Meeresküſten jetzt noch fortlebenden unterſcheiden kann. Es
iſt das aber ein Zugeſtändniß, welches, ſobald ein noch größeres Ge—
wicht in die Wagſchale fällt, die weſentlichen Grundlagen der Cu—
vier'ſchen Theorie ganz aufhebt.
Noch klarer ſpricht ſich Cuvier gegen den allgemeinen und voll—
ſtändigen Untergang der Landbevölkerungen aus. Einbrüche des Meeres
26
in Folge großartiger Störungen des Gleichgewichts der Erde ver-
nichteten die landbewohnenden Säugethiere und die übrige Landbe—
völkerung, aber Cuvier war ſo weit davon entfernt, eine über den
ganzen Erdball hingehende ausnahmsloſe Vernichtung anzunehmen,
daß er ſogar die Wiederbevölkerung eines auf ſolche Weiſe verheerten
Feſtlandes durch die Arten eines andern nicht von Störungen betrof—
fenen Gebiets in Rechnung zog.
Er hat ſich in dieſer Hinſicht ganz beſtimmt für die Möglichkeit
einer verbindenden Brücke, die durch geologiſche Veränderungen zwi—
ſchen zwei vordem getrennten Feſtländern entſteht, ausgeſprochen.!)
Er ſetzt den Fall, daß ein Feſtland durch den Einbruch des Meeres
überfluthet, ſeine Landbevölkerung vernichtet und ſein Boden mit
einer Ablagerung von Sand und Felstrümmern überdeckt wurde. Die
nämliche Umwälzung legte auch eine bis dahin beſtandene Meeresenge
trocken und ſchuf ſo eine verbindende Brücke zwiſchen dem ſo eben
erſt verheerten Lande und einem andern von der Umwälzung unbe⸗—
rührt gebliebenen. Ueber dieſe Brücke konnte dann die Landbevöl—
kerung des ungeſtört gebliebenen Gebietes in das Bereich des über—
flutheten und dann wieder trocken gelegten Landes ihren Einzug halten
und hier über dem Grabe einer älteren erloſchenen, von ihr ab—
weichenden Urbevölkerung eine neue Heimath finden.
Cuvier ſpricht ſich dahin aus, daß derartige Vernichtungen
von Landfaunen und nachherige Einwanderungen anderer wirklich in
Europa, Aſien und Amerika ſtattfanden. Er ſtellt ſogar die Ver—
muthung auf, man werde vielleicht einſt finden, daß überhaupt alle
Feſtländer ſchon ähnliche wechſelſeitige Austauſche ihrer organiſchen
Bevölkerungen erfahren haben.
Cuvier hat dies Thema nicht weiter verfolgt, er hätte dann
auch die Anſchauungen, die den eigentlichen Grund ſeiner Theorie
bildeten, aufgeben müſſen. Es iſt aber in hohem Grade merkwürdig,
ihn damit ſchon auf einem Wege — wenn auch nur in Form nach—
träglicher Zugeſtändniſſe — zu ſehen, der ſeither ein ſo allgemeines
und erfolgreiches Mittel zur Erklärung der Thier- und pflanzen⸗
geographiſchen Erſcheinungen geworden iſt.
Cuvier's Anſichten über Art und Varietät ſchloſſen ſich an
die Linné's an. Er nahm die Art als einen den weſentlichen
) Cuvier. Umwälzungen I. 1830. p. 117.
27
Characteren nach unveränderlich feſtſtehenden Lebensausdruck, er ge—
ſtand den Varietäten einer und derſelben Art nur einen geringen und
beſtimmten Spielraum zu und beſtritt die Annahme, als könne aus
einer Varietät eine eigene Art werden.
Er machte gegen die Lehren Lamarck's und Geoffroy's,
als könne die Veränderlichkeit der thieriſchen Form über den engbe—
grenzten Spielraum der Varietät hinausgehen und ſo eine Art der
Stamm einer oder mehrerer anderer werden, namentlich geltend, daß
wenn im Laufe der geologiſchen Epochen die Arten ſich nach und
nach geändert hätten, man Spuren von derartigen ſtufenweiſen Ver—
wandlungen habe foſſil finden müſſen. Er bemerkt, daß man z. B.
zwiſchen den Paläothieren, die in den Ablagerungen des Pariſer
Beckens und den dieſen gleichzeitigen Gebilden auftreten, und den
ihnen zunächſt verwandten heutigen Thierarten einige Mittelformen
entdecken müßte, daß davon ſich aber noch kein Beiſpiel gezeigt habe.
Er behauptet vielmehr, daß die Arten der früheren Epochen der
Schöpfungsgeſchichte eben ſo beſtändig waren, als es die unſrigen
ſeien, und daß ſie durch Umwälzungen der Erdrinde zum Erlöſchen
gebracht wurden, nicht aber in einer veränderten Nachkommenſchaft
noch fortleben.
Bei dem tiefen Gegenſatze der Methode und Anſchauungsweiſe
zwiſchen Cuvier einerſeits, Lamarck und Geoffroy andrerſeits,
konnte es ſich nicht fehlen, daß es eines Tags zu einem offenen Kampfe
der Coryphäen kam, in dem die Wucht und Schärfe der Argumente
zur Probe gebracht wurde. Es war in der Sitzung der franzöſiſchen
Akademie der Wiſſenſchaften vom 22. Februar 1830, wo zwiſchen
Cuvier und Geoffroy-Sainte-Hilaire ein lebhafter Kampf
ausbrach, der die Berechtigung der beiden Grundanſichten, welche da—
mals die Forſcher in zwei große Feldlager theilten, wenn auch nicht
für immer, doch wenigſtens für die nächſten Jahresfolgen entſcheiden
ſollte.
Cuvier ſtrtt für die Selbſtändigkeit und Unwandelbarkeit der
Art und in weiterer Folge für die alleinige Berechtigung des auf
exacte Merkmale gebauten Syſtems, Geoffroy dagegen verfocht die
Berechtigung des Syſtems der Analogien und die Einheit der orga—
niſchen Bildung im Thierreiche, er lehrte die Veränderlichkeit und die
gemeinſame Abſtammung der lebenden Weſen. Cuvier hatte den
Vortheil der genauen Kenntniß und Unterſcheidung der zur Zeit be—
23
kannt gewordenen Naturgegenſtände, Geoffroy dagegen war auf
die Darlegung der vielverſprechenden Analogien der Geſchöpfe und
ihrer dem ahnenden Geiſte offenbaren, aber auf dem ſtrengen Wege
der Wiſſenſchaft noch nicht ergründeten Verwandtſchaften angewieſen,
er hatte, wie jeder Andere in ähnlichem Falle, den Nachtheil, Alles,
was er ahnte und als nothwendiges Bindeglied zwiſchen vorhandenen
aber getrennten Gegenſtänden beanſpruchte, von ſeinem günſtiger ge—
ſtellten Gegner abgelehnt und als unberechtigte aprioriſtiſche Specu—
lation bezeichnet zu ſehen.
Dieſer Zuſammenſtoß zweier einander ſo ganz entgegengeſetzter
Schulen vertreten durch zwei ſo hoch begabte Männer erregte nicht
nur in Paris, ſondern auch in den wiſſenſchaftlichen Kreiſen von
ganz Europa das lebhafteſte Aufſehen. Göthe, der ſeiner geſamm—
ten Naturanſchauung nach von jeher Geoffroy's Anſichten theilte,
hat ihn in einer eignen Abhandlung, einer ſeiner letzten, dargeſtellt.
Cuvier war mit ſeinen durch die umfaſſende und unbeſtrittene
Herrſchaft über die ſtreng thatſächliche Wiſſenſchaft ſeiner Zeit ge—
ſchärften Argumenten weſentlich im Vortheil und ihm ſchrieb die Mehr—
zahl der Forſcher jener Epoche den Sieg zu. Auf Jahrzehende hin
war die Niederlage der naturphiloſophiſchen Richtung entſchieden, um
ſo mehr als auch in Deutſchland Oken und die Naturphiloſophen
ſich durch ſo manche Ausſchreitungen ihr eignes Gebiet verwüſtet hatten.
Jetzt ſind die Argumente der beiden großen Gegner von 1830
zum größten Theile veraltet und unbrauchbar geworden und der da—
malige Sieg Cuvier's hat die Wiederaufnahme deſſelben Ringens
um Feſtſtellung der alten Streitpunkte in neueren Jahren nicht ver—
hindern können. In dem Grade als die Baſis der exacten Beobach—
tungen im Laufe der Zeit wieder anwuchs, mußte auch das Urtheil
über die Natur der noch unausgefüllt bleibenden Lücken wieder an
Berechtigung gewinnen und in einem ſolchen Falle erfolgt dann immer
über kurz oder lang wieder ein Anprall der entgegengeſetzten Lehren
unter mehr oder minder veränderter Form, mit anderen Argumenten
und anderen Schlagworten.
er
Die nächſte Reaction gegen die Cuvier'ſche Lehre großartiger
Erdrevolutionen und entſprechender über weite Gebiete hin ausgedehnter
Vernichtung alles Lebendigen ging aus der Geologie hervor, ſpäter
23
erſt wandte ſich der Rückſchlag auch gegen feine Lehren von der Art
und von der Entſtehung der Organismen.
Die großen Fortſchritte, welche die Geologie ſeit Cuvier ge—
macht hat, führten zu einer ganz anderen Geſammtanſchauung über
den Ausbau der Erdrinde. Wenn Cuvier noch lehrte, daß der Gang
der Natur ehedem ein anderer war und daß die heute thätigen Agen—
tien zur Erzeugung ſolcher Erſcheinungen, wie ſie die älteren und
jüngeren Schichten der Erdrinde verkünden, nicht ausreichen würden,
ſo fußt die heutige Geologie auf demſelben Axiom, von dem auch
Geſchichtsforſchung, Ethnographie und andere verwandte Fächer der
Forſchung ausgehen, nämlich dem Satze, daß die Kräfte ſich ewig
gleich bleiben und nur die Stärke ihrer Wirkung abändert. In dem
vielfachen zeitlichen Wechſel der Dinge und Erſcheinungen iſt es immer
nur eine Veränderung der Form und nie des Weſens der Kräfte,
welche die Verſchiedenheit der Wirkungen bedingt. Das Spiel der die
Geſtalt der Erdoberfläche umwandelnden Kräfte wich in keinem Zeit—
alter der Erde wirklich und weſentlich von jenen Vorgängen ab, die
heute noch thätig ſind, nur dem Grade nach treten bald in ſtetigem,
bald in periodiſchem Wechſel Aenderungen ein.
Noch jetzt wie von jeher nagt der Einfluß des Waſſers und der
Atmosphärilien die feſten Felsgebilde an und führt zu Ablagerungen
neuer Schichten in Niederungen und auf dem Boden der Seen und
des Meeres. Reſte von Pflanzen und Thieren werden noch fort—
während darin eingeſchloſſen, um hier unter dem Einfluß von Luft,
Waſſer und gelöſten Mineraltheilen zu verkohlen oder zu verſteinern.
Noch jetzt heben ſich, wie in früheren Epochen, unter dem Einfluß
der vulkaniſchen Kräfte des Erdinnern bald hie bald da einzelne
Inſeln oder ganze Länder empor oder ſenken ſich. Oertliche ſtürmiſche
Ausbrüche, welche feurigflüſſige Maſſen aus dem Erdinnern zu Tage
fördern und weite Gebiete mit Auswürflingen und aſchenartigen Theilen
überdecken, finden auch jetzt noch von Zeit zu Zeit ſtatt. Auch Pflan—
zen- und Thierarten ſehen wir hie und da neu auftauchen, verpflanzt
in Gegenden, in denen ſie noch nicht bekannt waren, durch das Spiel
der Elemente oder die Hand des Menſchen.
Alles dies beobachten wir heut zu Tage und erkennen die Spuren
entſprechender Vorgänge im Character der urweltlichen Ablagerungen.
Aber zu einer Annahme von allgemeinen und alles Leben vernichten—
den Umwälzungen ſehen wir uns nicht geführt, wir ſind vielmehr dahin
30
gelangt, eine Menge örtlicher geologiſcher Erſcheinungen, welche die
älteren Geologen und Cuvier durch plötzliche und heftige Vorgänge
erklären zu müſſen glaubten, weit berechtigter auf dem Wege der all-
mählichen und langſamen Bildung erklären zu können.
Es war namentlich Charles Lyell, der in feinem in zahl-
reichen und wiederholt auf's Neue umgearbeiteten Auflagen erſchiene—
nen Werke »Prineiples of geology« (Grundſätze der Geologie) die
bekannten Erſcheinungen im Bau des Erdkörpers und die heutige
Wirkſamkeit geologiſcher Agentien in einer ihm eigenthümlichen Weiſe
mit einander in Einklang geſetzt hat, die von dem früher herrſchen—
den Gange der Auffaſſung ſehr abweicht und namentlich der Cu vier'-
ſchen Geologie ſich ſchroff gegenüber ſtellt. |
Nach Lyell find es allein die heute noch thätigen Urſachen, die
»existing causes«, welche alle geologiſchen Erſcheinungen hervorge—
rufen haben. Sie ſind von den älteſten Epochen der Erdbildung an
thätig geweſen und aus ihnen müſſen ſich alle Verhältniſſe, welche
das Innere der Gebirge uns darbietet, erklären laſſen. Lyell for—
dert um aus ihnen den gegenwärtigen Zuſtand der Erde ableiten
zu können, vor allem nur lange unſere gewöhnlichen Maße überſchrei—
tende Zeiträume. Kräfte andrer Art als die heutigen, wie dies
namentlich Cuvier und ſeine Schule beanſpruchten, ſind zu keiner
Zeit auf Erden thätig geweſen.
Lyell's Annahmen und Beweisführungen haben von mehreren
Seiten aus Einwendungen erfahren. Zugegeben, daß auch nie andre
Urſachen auf Erden wirkten, als die heute zu Tage noch thätigen,
iſt es doch unverkeunbar, daß das Maß und der Umfang der Wir—
kung zu verſchiedenen Zeiten verſchieden ſein konnte. Der Zuſtand
des ganzen Planeten im Laufe ſeiner Entwicklung hat ſich manigfach
verändert und auf dieſer Grundlage hin mußten auch die Wirkungen
derſelben Kräfte entſprechend ſich ändern.
Auch iſt gegen Lyell's Lehre eingewendet worden, daß wir
zwar die auf der Erdoberfläche wirkſamen Kräfte recht wohl kennen,
von den Vorgängen im Erdinnern aber, die weſentlich auf die Ge—
ſtaltung der Erdrinde eingewirkt haben müſſen, nur geringe Kennt—
niſſe haben und dieſe nur durch dunkle Vorſtellungen zu verknüpfen
vermögen.
Die Erklärung der Störungen, welche wir in den von den Ge—
wäſſern urſprünglich ſölig abgelagerten Schichten der Erdrinde wahr—
31
nehmen, muß von jenen verhüllten Kräften des Erdinnern entnommen
werden, welche in Erdbeben, Vulkanen und heißen Quellen ſich kund—
geben. Hier geht die Lyell'ſche Lehre von den durch die hervor—
ragendſten Geologen, namentlich durch Leopold von Buch und
Elie de Beaumont vertretenen Theorien weit ab und die Ent—
ſcheidung ſcheint hier noch nicht gefallen zu ſein.
Das Meer lagerte im Verlaufe der geologiſchen Epochen wieder—
holt horizontale Schichten von mehr oder minder beträchtlicher Mäch—
tigkeit ab, bald nur mit Reſten von Meeresbewohnern erfüllt, bald
auch eingeſchwemmte Landbewohner enthaltend, bald endlich auch in
Wechſellagerung mit ausgezeichneten Abſätzen ſüßer Binnengewäſſer
oder brakiſcher Strandlagunen. Dieſe horizontalen Ablagerungen des
neptuniſchen Elements wurden zu wiederholten Malen durch eine ge—
waltſame Urſache auf manigfache Weiſe gebrochen und aufgerichtet.
Gebirge entſtanden an Stellen die vordem Meerestiefen geweſen. Das
Meer änderte dabei manigfach ſeine Grenzen gegenüber dem Feſtland,
lagerte in ſeinem neuen Bette abermals horizontale Schichten ab und
dieſe wurden dann mehr oder minder wieder von ähnlichen gewalt—
ſamen Störungen betroffen. Kryſtalliniſche Felsmaſſen, frei von or—
ganiſchen Reſten und in Zuſammenſetzung und räumlichem Verhalten
mehr oder minder mit den Erzeugniſſen unſerer heute thätigen Vulkane
übereinkommend, traten dabei aus dem Erdinnern hervor. Sie durch—
brechen die neptuniſchen Gebilde und bilden den Kern vieler Berge
und ganzer Gebirgszüge.
L. v. Buch war der erſte, der darauf hin deutete, wie in ge—
wiſſen Gegenden beſtimmte Richtungen der Gebirgszüge vorherrſchen.
Ihnen entſpricht dann mehr oder minder die Streichungslinie der
Schichten und der Lauf der Thäler, oft auch die Grenze der Ablage—
rungen. Daß die Gebirge aber durch Hebungen aus dem Erdinnern
entſtanden, geht aus der aufgerichteten Stellung der an ihren Ge—
hängen auftretenden Schichten hervor. Jüngere Ablagerungen ſpäterer
Epoche ſtoßen dann mit füliger oder doch ſehr flacher Lage der Schich—
ten an jene gehobenen an.
Elie de Beaumont hat auf Buch's Beobachtungen fußend
und weiter fortbauend, 1830 ſeine berühmte Erhebungstheorie auf—
geſtellt, nach welcher alle Gebirgsketten gleichen geologiſchen Alters
auch gleiche Richtung haben und theils in weit von einander liegen—
den parallelen Linien auftreten, theils nach Unterbrechungen in gleicher
32
Richtung in andern Gegenden wieder hervortauchen. Ihre Entftehung
leitet er von großartigen plötzlichen und über weite Erdtheile erſtreck—
ten Kataſtrophen ab, ohne ihnen indeſſen eine gleichzeitige Ausdehnung
über die Erdoberfläche beizulegen.
Lyell hat auf Grundlage ſeiner eigenthümlichen Ausgangspunkte
eine andere Erklärung für die Entſtehungsweiſe der Gebirgsketten ver—
ſucht. Er geht von den Hebungen aus, die heut zu Tage noch große
Landſtriche entweder ganz allmählig oder abſatzweiſe um wenige Fuße
erheben. Würden ſolche Emporhebungen viele Jahrtauſende hindurch
in ähnlicher Weiſe fortdauern, ſo könnten ſie zur Bildung hoher Ge—
birgsketten und tiefer Meeresabgründe führen.
Mögen nun auch jene großartigen Veränderungen, welche den
Verlauf der ſedimentären Ablagerungen unterbrachen, auf raſcherem
oder mehr allmähligem Wege vor ſich gegangen ſein, ſo entſpricht
doch das ganze neuere Gebäude der geologiſchen Wiſſenſchaft dem
Grundſatze der ewigen und unveränderlichen Naturkräfte und ſchließt
Annahmen von zeitweiſen Unterbrechungen des geſetzmäßigen Laufs
der Natur und von allgemeinen alles Leben vernichtenden Umwälzungen
vollkommen aus.
Lyell's Lehre, wenn ſie ihren Grundſatz auch in Bezug auf
das Maaß der Kräfte zu weit ausgedehnt hat, brachte doch ohne
Zweifel der geologiſchen Wiſſenſchaft eine neue und kräftige Anregung
und hat in einer Menge von Fällen zur Erkenntniß geführt, daß
wichtige Erſcheinungen, die man vordem durch plötzliche und heftige
Ereigniſſe hervorgerufen wähnte, vom langſamen und andauernden
Einfluß anſcheinend geringer kaum merklicher Kräfte herrühren. Hier—
mit haben ſich manigfache Aenderungen der theoretiſchen Geologie
ergeben und zwar in einer Weiſe, die in dem Grade als ſie von
der Cuvier'ſchen Anſchauung abführte, der Lamarck' ſchen näher
rücken mußte.
Säculare oder andauernd in aller Stille wirkende Vorgänge, ähn—
lich wie die, welche Lamarck für die Thierwelt in langſam aber all—
mählig tief wirkender Weiſe annahm, hat Lyell mit größerem und
theilweiſe unbezweifeltem Erfolg für die Entwicklungsgeſchicht der Erd—
rinde durchgeführt und es liegt, wenn die eine Seite dieſer Forſchungen
als berechtigt und erfolgreich anerkannt wird, auch nahe, die andere
einer erneuten Prüfung zu würdigen.
Agaſſiz.
Zu jener Zeit als Cuvier's Lehre vom Zuſammenhang des
Wechſels der Pflanzen- und Thierformen in den verſchiedenen For—
mationen mit großartigen und plötzlichen Umwälzungen der Erdrinde
durch die fortſchreitende Geologie an Boden verlor und einerſeits
Lyell's ganz abweichende Anſchauung ſich mehr und mehr geltend
machte, andererſeits die geologiſche Geſchichte der Schöpfung aus den
Feſſeln des Cuvier 'ſchen Lehrgebäudes ſich frei zu machen begann,
trat Agaſſiz mit einer neuen und geſteigerten Faſſung der Lehre
des Meiſters auf und entwickelte mit Scharfſinn und großer Phan—
taſie eine Reihe von Anſichten, die, wenn fie auch nur theilweiſe als
begründet gelten können, doch auf die Entwicklung der Wiſſenſchaft
großen Einfluß hatten.
Das neue Moment, das er zur Ueberbrückung der immer klaf—
fender gewordenen Riſſe des alten Gebäudes einführte, war der un—
mittelbare und perſönliche Eingriff des Schöpfers.
Agaſſiz erklärt, die verſchiedenen Formationen und die ihnen
angehörigen Thier- und Pflanzenſchöpfungen ſind durch großartige
und allgemein wirkende Ereigniſſe von einander getrennt, jede ſteht
ſelbſtändig da, jede kann nur für ſich allein erklärt werden und zur
Entſtehung einer jeden muß die unmittelbar eingreifende Hand Gottes
in Anſpruch genommen werden. Es wird dies durch die Behauptung
begründet, daß die organiſchen Einſchlüſſe zweier einander folgenden
Formationen größere Verſchiedenheiten zeigen, als den Veränderungen,
welche jetzt lebende Weſen unter dem Einfluſſe der Zeit, des Klima's
und der Temperatur erleiden, entſprechen können. Agaſſiz hat,
indem er Cuvier's Grundanſichten zu den ſeinigen machte und noch
höher ſteigerte, wohlweislich jene Zugeſtändniſſe, die einſt Cuvier
ſelbſt nebenbei und nachträglich machte, ganz bei Seite gelaſſen, er
brach die Brücke, die Cuvier zu einer etwaigen zukünftigen beſſeren
Erkenntniß der Dinge offen lies, entſchloſſen ab und ſteht damit um
ſo ſchroffer dem Gegner gegenüber.
Agaſſiz fährt weiter fort. Die Schöpfungen, welche in den
großen Schichtengruppen des geologiſchen Syſtems ihre foſſilen Reſte
hinterlaſſen haben, ſind von einander unabhängig, jede geologiſche
Formation hat ihre eigne Schöpfung von Pflanzen und Thieren. Sie
haben „kein genetiſches Band“ mit einander gemeinſam, das heißt,
Rolle, Darwin's Lehre. 3
34
ſie hängen nicht auf dem Wege der allmähligen Fortpflanzung mit
einander zuſammen. Nichts deſtoweniger ſind ſie „Theile eines ge—
meinſamen Zweckes“ und „durch Bande einer höheren Art mit ein—
ander verknüpft.“
Die einzelnen Epochen zeigen nach ihrer chronologiſchen Folge
nach Agaſſiz, wenn auch nicht in der Geſtaltung der wirbellosen
Thiere, doch in der der Wirbelthiere eine fortſchreitende Entwicklung
von der niederen zur höheren Form. Man kann darnach das erſte
Zeitalter als das Reich der Fiſche, das zweite als das der Rep—
tilien, das dritte als das der Säugethiere bezeichnen, dann erſt
folgt der Menſch nach. Auch zeigt ſich, daß die älteſten Organis—
men alle Meeresbewohner waren, erſt in der Steinkohlenepoche zeigen
ſich auch Landpflanzen, das Erſcheinen der Landthiere fällt noch etwas
ſpäter. In dieſer Stufenfolge der Vervollkommnung von der älteſten
Lebewelt an, die nur Meeresbewohner und unter ihnen keine höher
organiſirten Formen als Fiſche zählte, bis zur Schöpfung des heu—
tigen Tages mit ihrer Fülle und Manigfaltigkeit der Formen erkennt
aber Agaſſiz immer noch kein Band, welches im Sinne von La—
marck und Geoffroy die getrennten Erſcheinungen verknüpft, ſon—
dern für ihn iſt die Kluft von einer zur andern Epoche vollkommen
und kein Thier, keine Pflanze einer Schöpfung ſtammt von einem
Weſen einer früheren Formation ab, jede Art iſt unveränderlich, ent—
ſteht und vergeht ſelbſtändig. Die Stufenfolge der Vervollkommnung
iſt vielmehr das unmittelbare Werk Gottes, der in der Reihenfolge
ſeiner Schöpfungen an der Stelle, wo er den Faden des Lebens
zerriß, ſpäter von Neuem wieder anknüpfte, alles nur in der be—
ſtimmten Abſicht, durch allmählige Steigerung der Manigfaltigkeit der
organiſchen Formen und der Lebensbedingungen endlich eine letzte
Schöpfung zu Stande zu bringen, welche dem Menſchen als eigent-
lichem prädeſtinirten Ziele die zur körperlichen und geiſtigen Entwick—
lung geeignetſte Wohnſtätte bieten könne.
Die Agaſſiz' ſche Schöpfungstheorie iſt aus ſehr verſchiedenen
Momenten zuſammengeſetzt.
Was zunächſt die Annahme einer vollkommenen Abſonderung der
verſchiedenen Schöpfungsepochen von einander und die Unterbrechung
des Lebensfadens betrifft, ſo hat ſie ſich, wenn auch bis jetzt noch
nicht in allen, doch jedenfalls in einer Reihe von Fällen als entſchie—
den verfehlt herausgeſtellt.
35
Die großen Perioden der Ausbildung der Erdrinde gründen fich
allerdings auf nachweisbare und oft ſehr auffallende Eigenthümlich—
keiten der Flora und Fauna. Aber erſtlich ſind dieſe faſt nie allge—
mein und gleichförmig für die einzelnen chronologiſchen Glieder einer
Formation, ſondern ſie nehmen mit ihnen zu oder ab. Zweitens ſind
ſie faſt nie einer der großen Perioden für ſich allein eigen.
Die merkwürdige Gruppe der Trilobiten erſcheint allerdings auf
die paläozoiſchen Gebilde allein beſchränkt, aber ſie erſcheint über ſie
nicht gleichmäßig verbreitet und erliſcht nicht plötzlich. Wir ſehen ſie
vielmehr erſcheinen, an Zahl der Gattungen und Arten zunehmen,
dann wieder abnehmen und endlich mit einer Gattung und einigen
wenigen Arten erlöſchen. Das iſt kein Zeichen einer gewaltſamen Ver—
nichtung, ſondern einer nach allmählig wirkenden natürlichen Einflüſſen
vorgegangenen Ausbreitung, Verminderung und Abſterbung.
Von vielen Formationen wiſſen wir beſtimmt, daß ein Theil
ihrer foſſilen Arten nicht ihnen allein eigen iſt, ſondern einzelne der—
ſelben reichen aus älteren Ablagerungen in ſie herein, andere reichen
aus ihnen in die nächſtfolgenden hinüber. Aus der Tertiärformation
ließen ſich viele Belege davon geben. So hat das Tertiärbecken von
Wien nach Dr. Hoernes Unterſuchungen bis jetzt über 500 Arten
von foſſilen Gaſteropoden geliefert, davon leben noch mehr als 100
Arten heute fort, meiſt im Mittelmeer, einige auch zugleich im briti—
ſchen Meer, andere nur am Senegal oder vielleicht im Indiſchen Meer.
Ein anderes Moment iſt die Lehre von der ſtufenweiſen Vervoll—
kommnung der organiſchen Formen von den älteſten Epochen an bis
zur Jetztwelt. Agaſſiz hat um die Darlegung und Durchführung
dieſer Lehre große und unbeſtreitbare Verdienſte; ſeine Erfolge in
dieſer Hinſicht kommen übrigens mehr ſeinen wiſſenſchaftlichen Gegnern
als ihm ſelbſt zu ſtatten.
Er beſchränkte dieſe Lehre auf die Wirbelthiere, er weiſt darauf
hin, wie in den älteſten geologiſchen Schichten, wo Reſte von Wirbel—
thieren zuerſt gefunden werden, die Fiſche auftreten, indeſſen alle
höheren Wirbelthierformen noch fehlen. Zu den Fiſchen treten ſpäter
dann die erſten Reptilien, noch ſpäter die erſten Säugethiere und zu—
letzt erſt der Menſch.
Bei den Fiſchen hat Agaſſiz eine ſolche Stufenfolge auch noch
für die Ordnungen nachgewieſen und gezeigt wie dabei in vielen Fällen
die älteſten Formen ſich zu den ſpäteren oder den heute lebenden ver—
3 *
36
halten, wie Embryonen und Jugendzuſtände zu der reifen Thierform.
Mit andern Worten, ausgewachſenen Thieren älterer Formationen
ſind Charaktere eigenthümlich, die wir bei ſpäteren Formen nur in
der erſteu Jugend finden. Entwicklungszuſtände, welche ein Thier in
alten Epochen erreichte, aber nicht überſchritt, erreichten die ihm ent—
ſprechenden nächſten Verwandten in ſpäteren Epochen ebenfalls, über—
ſchreiten fie nun aber in früher Jugend ſchon und gelangen mit der
Reife zu anderer und höher abgeſtufter Geſtaltung.
Bei den Fiſchen, wie allen Wirbelthieren überhaupt, iſt das Skelett
anfangs knorplig und bleibt mit der Reife des Individuums bald
auf dieſer Stufe ſtehen, bald verknöchert es. Wirbelthiere mit ver—
knöchertem Skelett ſtehen aber im Großen und Ganzen jedenfalls auf
höherer Stufe, als jene, deren Skelett knorplig bleibt. Eine ähnliche
Stufenfolge weiſt nun Agaſſiz auch in geologiſcher Hinſicht für die
Fiſche nach. Er zeigt, daß die älteſten Fiſchformen nur ein knorp—
liges oder erſt ſehr unvollſtändig verknöchertes Skelett beſaßen, in
den mittleren Epochen nahm bei einem Theile der Fiſche die Ver—
knöcherung des Skelettes zu, in der Kreideepoche endlich erſcheinen auch
die erſten Vertreter der Teleoſtier oder ächten Knochenfiſche, welche
in unſern heutigen Gewäſſer die große Mehrzahl der Klaſſe darſtellen.
Formen mit knorpligem Skelett erhalten ſich von den älteſten Zeiten
und ſind noch in unſeren heutigen Meeren namentlich durch Haie und
Rochen vertreten. Auch andere Charaktere, wie namentlich die Ge—
ſtaltung der Schwanzfloſſen führt zur Annahme geologiſcher Stufen—
folgen in der Entwicklung der Fiſchform, Arten der älteren Forma—
tionen haben ungleichlappige Schwanzfloſſen, ſpäter treten zu ihnen
auch gleichlappige und heut zu Tage herrſchen die letzteren vor.
Nach Agaſſiz ſcheinen zwar die wirbelloſen Thiere gleichen
Geſetzen der geologiſchen Entwicklung nicht unterworfen geweſen zu
ſein und es läßt ſich aus ihren Verzweigungen keine allgemeine Stu—
fenleiter bilden; ſie haben ſich von den älteſten Epochen bis zur Jetzt—
welt wohl manigfach verändert, aber nicht immer zugleich zu höheren,
Typen ausgebildet. Indeſſen hat ſeither K. Vogt für die Echino—
dermen und einige Abtheilungen der Cruſtaceen ähnliche Analogien
zwiſchen der embryologiſchen Entwicklung der Individuen und der geo—
logiſchen Stufenfolge der Typen nachgewieſen.
Eine über alle Klaſſen und Ordnungen gehende Anwendung der
Agaſſiz'ſchen Lehre einer geologiſchen Fortentwicklung der Thier—
37
welt im Einklang mit der embryonalen Entwicklung der Individuen
hat ſich allerdings nicht durchführen laſſen, aber auch das, was in
dieſer Nichtung dargethan wurde, ſpricht nicht für, ſondern gegen
A gaſſiz Annahme wiederholter Vernichtungen und Wiederherſtellungen
der Lebewelt.
A gaſſiz unterſcheidet unter den im Laufe der geologiſchen Epo—
chen auf der Erdoberfläche erſchienenen Thierformen prophetiſche,
embryoniſche und progreſſive Typen) je nach dem Verhältniß
in welchem ſie zu Arten, Gattungen oder Familien ſpäterer Epochen ſtehen.
Unter prophetiſchen Typen verſteht Agaſſiz gewiſſe in
früheren Epochen aufgetretene Thierformen, die durch einzelne Charac—
tere ihrer Organiſation gleichſam im voraus Formen anzeigen, die
gleichzeitig mit ihnen noch nicht exiſtirten, ſondern erſt in ſpäteren
Epochen gefunden werden.
Ein ſolcher prophetiſcher Typus ſind die Pterodactylen,
welche nach Agaſſiz die Vögel im voraus anſagen. Es waren flie—
gende Reptilien, im allgemeinen Körperbau, namentlich der Form von
Hals und Kopf, dem Vogeltypus ſehr nahe kommend, ihrer Lebens—
weiſe nach offenbar land- und luftbewohnende Weſen, wie ſie heute
unter den Reptilien nicht mehr vorkommen, welche ſeither unter Vögeln
und Fledermäuſen aber ähnlich gebaute Nachfolger von anderer Klaſſe
gefunden haben.
grenzten Spielraumes ſich bewegen und Charactere verſchiedener Ord—
nungen, die ſpäter nur getrennt vorkommen, noch vereinigt zeigen,
nennt Agaſſiz ſynthetiſche. Dahin gehören z. B. Sauroiden
und Ichthyoſauren. Die Sauroiden find Fiſche, die in den älteren
Epochen beginnen und: heute faſt erloſchen find, fie vereinigen mit dem
Fiſchcharacter noch Charactere von Reptilien, die bei den heutigen typi—
ſchen Fiſchformen oder ſogenannten Teleoſtiern nicht vorkommen.
Die Ichthyoſauren vereinigen in ähnlicher Weiſe mit dem Rep—
tilientypus noch Charactere von Delphinen.
Embryoniſche Typen ſtellen gewiſſermaßen dauernd gewor—
dene Embryonalformen ſpäter erſt hervortretender Thiergruppen, Fa—
milien oder Ordnungen dar. Sie ſind alſo auch prophetiſcher Natur,
aber nur für das Bereich ihres eigenen Typus, nicht auch für ent—
) L. Agassiz. Contributions to Natural history, vol J. part. I. p. 116.
38
fernt abliegende Formen. So entſprechen die älteſten Fiſchformen, wie
oben ſchon dargelegt wurde, den Embryonen der heute lebenden höher
organiſirten Fiſche.
Die in den älteren Epochen ſo reichlich vertretenen Crinoiden
entſprechen dem Jugendzuſtand der heute noch lebenden, ganz ähnlich
den Crinoiden gebauten, aber nicht mehr wie letztere lebenslänglich
ſondern nur in ihrer Jugend feſtſitzenden Comateln.
Endlich unterſcheidet Agaſſiz noch progreſſive Typen oder
ſolche, bei denen eine natürliche Steigerung gewiſſer Charactere ohne
Beziehung zur embryonalen Entwicklung ſtatt hat. So gehören z. B.
dahin die Goniatiten, Ceratiten und Ammoniten, bei denen mit dem
chronologiſchen Verlaufe der Epochen eine höhere Complication der
Loben ſich entwickelt. 8
Allen dieſen Unterſcheidungen und Entwicklungen liegen viele ſehr
wahre und wichtige Beobachtungen zu Grunde, nur paſſen ſie ſich der
Lamarck'ſchen Lehre weit beſſer als der Cuvier 'ſchen an. Agaſſiz
hat, indem er dieſe Unterſcheidungen entwickelte, daher auch nur Be—
lege für ihre Wahrheit aufgeführt, aber keinen Verſuch gemacht, nach—
zuweiſen, warum die Verhältniſſe gerade ſo und nicht anders waren.
Jeder Verſuch hätte in der That zur Transmutationslehre, der
Agaſſiz ſo weit ausweicht, zurückführen müſſen.
In der That beſchränkt ſich die Erſcheinung der embryoniſchen
Typen auf die ganz oder faſt ganz gradlinige Abſtammung von einer
Reihe von Formen. Synthetiſche erſcheinen, wenn ein Typus im Ver:
laufe der Umgeſtaltung ſich in zwei oder mehr Hauptäſte gabelt und die
noch übrig bleibenden rein prophetiſchen Typen dürften auf bloßer Ana⸗
logie entfernter weit auseinander gegangener Zweige gleicher Stamm—
formen beruhen, hervorgerufen durch den Einfluß identer äußerer Ver—
hältniſſe auf deren Nachkommen in verſchiedenen Zeiten.
Ein dritter Grundzug der Agaſſiz'ſchen Lehre von der Ent—
ſtehung der Lebewelt und des Menſchen iſt die Annahme wiederholter
und tief gehender Eingriffe der Gottheit in den natürlichen Gang
der Kräfte.
Hiergegen iſt vielerlei einzuwenden. Schon im vorigen Jahr-
hundert hob Lichtenberg mit der ganzen Klarheit und Schärfe
ſeiner Naturanſchauung hervor, daß der nächſte und ſicherſte Weg des
Forſchers darin beſteht, einen einfachen Zuſtand der Materie in ihrer
jetzigen elementaren Zuſammenſetzung aber in anderen Verbindungen
a u
Mea ng
39
und Formen anzunehmen und auf fie die natürlichen Kräfte nach den
heute gültigen Geſetzen wirken zu laſſen. Von Wundern dürfen wir
aber nicht ausgehen und noch viel weniger eine wiederholte Reihe
von Wundern annehmen. Wunder ſind Argumente der Theologie und
nicht der Naturwiſſenſchaft. Hier liegt unſere Aufgabe. Und ſelbſt
wenn das Ziel für den heutigen Stand der Wiſſenſchaften noch zu
hoch liegen ſollte und wir unſere Aufgabe noch nicht ganz würden
löſen können, jo bliebe uns wenigſtens die Befriedigung nach dem
Wahren auf dem einfachſten und nächſten Wege geſtrebt und der Nach⸗
kommenſchaft die Bahn eröffnet zu haben.
Wunder im Laufe der Natur anzunehmen iſt das bequemſte
Mittel der Erklärung, es überhebt uns jeder weiteren Mühe des
Denkens und Forſchens. Man hat davon gewöhnlich um ſo mehr Ge⸗
brauch gemacht, je weniger man die Natur und ihre Geſetze kannte.
Unter den Geologen des vorigen Jahrhunderts war die Annahme von
Wundern für die Entſtehung der Erde und ihrer belebten Schöpfung
am allgemeinſten, — ſehr begreiflich, denn der Betrag des Wiſſens war
der geringſte. Es gab damals, ſagt Lichtenberg, Geologen, die
ſogar die Erde gerade ſo wie ſie jetzt iſt, mit allen ihren Schichten
und deren n unmittelbar aus den Händen des Schöpfers
hervorgehen ließen. Doch war auch damals ſchon der Verſuch all⸗
gemein, wenigſtens einen Theil des Zuſtandes der Erde und die Be-
grabung der Pflanzen⸗ und Thierreſte nach dem natürlichen Gange
der Kräfte zu deuten. Im Laufe der Zeit haben dieſe Verſuche dann
ſo weit Platz gegriffen und ſo vielfach zur Aufdeckung der Wahrheit
geführt, daß jetzt gewöhnlich nur für den erſten Anfang der Ausbil⸗
dung der Erde und ihrer Lebewelt oder auch für den Eintritt all⸗
gemeiner Kataſtrophen. Wunder in Anſpruch genommen werden. Aber
es bleibt folgerichtig unſere Aufgabe auch für die entlegenſten Vor⸗
gänge der Natur immer noch die Deutung auf natürlichem Wege
zu wagen.
Wenn in unſeren Jahrzehnden aber Agaſſiz ſich herausnahm,
zu wiederholten Malen und zum Behufe vollſtändiger Vernichtungen
und unmittelbar neuer Herſtellungen der belebten Welt die eingreifende
Hand Gottes in Anſpruch zu nehmen, ſo war dies nur ein Beweis
dafür, in welche unlösbaren Widerſprüche er ſich durch die einſeitig
geſteigerte Durchführung der Cuvier ſchen Annahmen geſtürzt hatte.
Dieſe auszufüllen konnten freilich nur noch Wunder helfen.
Was den unmittelbaren Vorgang der Entſtehung der einzelnen
Arten von Lebeweſen betrifft, ſo verhehlte ſich auch allerdings Agaſſiz
die große Schwierigkeit nicht, für ſie irgend eine wiſſenſchaftliche Er—
klärung beizubringen. Aus dieſer Verlegenheit entſtammt ſeine ſeltſame
Hypotheſe, als ſeien alle Lebeweſen in Form von Eiern erſchaffen
worden, mithin alſo das Ei ſei älter als die Henne.
Agaſſiz ſagt in dieſer Hinſicht in feinen Beiträgen zur Natur-
geſchichte von Nordamerika, erſter Theil, S. 12, die Thiere können
nicht durch rein phyſikaliſche Verhältniſſe entſtanden ſein, ſondern jede
Art, welche für die erſte Flora und Fauna erſchaffen wurde, bedurfte
beſonderer Beziehungen und beſonderer Fürſorge. Auf einem und dem—
ſelben engeren Gebiete können ſie nicht entſtanden ſein, denn die äußeren
Umftände eines ſolchen begrenzten Gebietes, die den einen günſtig
waren, ſchloſſen die andern aus. Innerhalb eines weiteren Gebietes
aber ſind die phyſikaliſchen Agentien in ihrer Thätigkeit auch noch
viel zu einförmig um zu ſo vielen weſentlichen Unterſchieden, wie ſie
zwiſchen den erſten Weſen unſerer Erde beſtehen, den Grund legen
zu können.
Konnten die Thiere nicht durch einfache phyſikaliſche Vorgänge
entſtehen und bedurften ſie noch beſonderer Fürſorge, ſo fragt ſich ob
erwachſene Individuen oder Eier erſchaffen wurden. Eine Annahme,
als ſeien die Thiere ſofort ſchon in erwachſenem Zuſtande aufgetreten,
würde großen Schwierigkeiten unterliegen, namentlich mit Hinſicht auf
den zuſammengeſetzten Bau höherer Thiere überhaupt, wie auch ſchon
jener, von denen man weiß, daß ſie unter den erſten Bewohnern der
Erde waren. Agaſſiz nimmt daher ſeine Zuflucht zur Annahme einer
Erſchaffung von Eiern. Er ſagt, es ſei unmöglich, einfachere Umſtände
zu finden, unter denen Pflanzen oder Thiere entſtehen können, als jene
Bedingungen, die zu ihrer Reproduction nöthig erſcheinen, ſobald fie
einmal vorhanden ſind. Er glaubt daher, die Thiere ſeien in Form
von Eiern erſchaffen worden und die äußeren Bedingungen, deren es zu
ihrem Heranwachſen bedarf, ſeien vor ihrem erſten Erſcheinen ſchon her—
geſtellt geweſen. Indeſſen mit dieſer Vereinfachung iſt für die Erklärung
des Vorgangs einer Erſchaffung immer noch nicht viel gewonnen.
Agaſſiz ſelbſt hebt hervor, wie zuſammengeſetzt und wie ört—
lich beſchränkt zu gleicher Zeit die Bedingungen ſind, unter denen die
Thiere ſich fortpflanzen. Das Ei entſteht in einem beſonderen Organ,
dem Eierſtock, es wächſt dort bis zu einer gewiſſen Größe, dann
41
braucht es der Befruchtung, d. h. des Einfluffes eines anderen lebenden
Weſens oder wenigſtens des Erzeugniſſes eines andern Organ's, des
Hoodens, um die fernere Entwickelung des Keim's zu veranlaſſen,
welcher letztere dann unter mannigfachen Einflüſſen alle die Verän—
derungen durchmacht, die ſchließlich zu einem vollkommenen Lebeweſen
führen.
Agaſſiz muß nun annehmen, es ſeien für jene neu und eltern—
los erſchaffenen Eier ähnliche Bedingungen zugleich erzeugt worden,
wie jene unter denen die lebenden Vertreter der Typen ſich jetzt fort—
pflanzen. Welcher Art aber dieſe erſte Erſchaffung und die nach—
herige Beförderung des Fortwachſens der Ur-Eier geweſen ſeien, dar—
über getraut er ſich nicht, weiter Vermuthungen auszuſprechen. Offen—
bar gibt es nach dem natürlichen Wege der Dinge nur einen Ort,
wo das Ei entſtehen kann, nämlich der Eierſtock eines mütterlichen
Weſens und Niemand hat bis jetzt eine andere Möglichkeit irgend—
wie noch dargethan. Eine elternloſe Erzeugung eines Ei's iſt phyſio—
logiſch ebenſo ſehr eine Unmöglichkeit als die eines erwachſenen In—
dividuums einer höheren Pflanzen- oder Thierform.
Ihren Gipfel erreichte die Agaſſiz'ſche Weltanſchauung mit
ſeiner Theorie der Eiszeit.
Man hat ſeit einer Reihe von Jahren jene der geſchichtlichen
Epoche unmittelbar vorausgegangenen und den jüngſten Meeresab—
lagerungen der ſogenannten Tertiärepoche nachgefolgten Ablagerungen
von Geröllen, Sand, Lehm und großen Felsblöcken, welche unſere
Ebenen, den Grund der Thäler und die Abhänge von Hügeln und
Bergen überdecken, unter dem Namen Diluvium oder diluviale
Gebilde zuſammengefaßt. Aeltere Geologen hatten ſie als Zeugen
der Noachiſchen Fluht oder der ſogenannten Sündfluht gedeutet und
hiervon blieb der Name, die Deutung aber iſt längſt eine andere
geworden. Selbſt Buckland, der in ſeinem berühmten Werke
„Reliquize diluvienae“ die jüngſten angeſchwemmten Gebilde noch von
der bibliſchen Sündfluht ableitete, hat ſpäter ſelbſt dieſe Deutung zu—
rückgenommen.
Unter dieſen Diluvialgebilden ſpielt eine Ablagerung von Ge—
birgsſchutt und großen Felsblöcken in der Schweiz und den benach—
barten Alpenländern eine Hauptrolle. Faſt die ganze Hügelgegend
zwiſchen den Schweizer Alpen und dem Jura überdecken mehr oder
minder zuſammenhängend eine reichliche Menge von loſe liegenden
42
theils kleineren theils größeren, in einzelnen Fällen ſogar rieſenhaft
großen Felstrümmern, ſie ſind unter dem Namen Findlinge oder
erratiſche Blöcke bekannt. Was ſie beſonders auffallend macht, iſt
der Umſtand, daß ſie meiſtens in der Gegend, in der man ſie abge—
lagert findet, offenbare Fremdlinge ſind, ihre Geſteinsbeſchaffenheit
iſt eine fremdartige und führt auf Felsmaſſen anderer Gegenden zu—
rück. Eine genaue Unterſuchung dieſer ſogenannten Findlinge des
Schweizer Hügellandes mit Rückſicht auf das Vorkommen ähnlicher
Geſteine an urſprünglicher Heimathsſtätte führte zum Nachweiſe, daß
ſie alle aus der Alpenkette ſtammen. Es ſtellte ſich dabei heraus,
daß im Allgemeinen die Vertheilung der Blöcke dem Laufe der großen
Stromgebiete entſpricht und daß man die in den Niederungen und im
Hügelland zerſtreuten Felsarten gewöhnlich im Quellbezirke einer jeden
Gegend in anftehenden Felsmaſſen wiederfindet. Von bier find fie
alſo ausgegangen und bis zu dem gegenüber gelegenen Abhange des
Jura geführt worden, wo ſie mehrere hundert Fuß Höhe über den
benachbarten Thalſohlen erreichen. In Verbindung damit findet man
an zahlreichen Stellen die Oberfläche des feſten anſtehenden Geſteins
angeſchliffen und zugleich von gröberen und feineren Einfurchungen,
deren Richtung dem Verlaufe der Thäler entſpricht, durchzogen.
Man hat den erratiſchen Blöcken und der Erſcheinung der an—
geſchliffenen und gefurchten Felſenoberflächen der Schweiz mehrere
Deutungen unterlegt, ſchließlich aber iſt durch die Unterſuchungen von
Venetz, Charpentier, Agaſſiz und anderen die Auſicht zu all—
gemeiner Geltung gebracht worden, daß ſie von einer ehemaligen den
heutigen Stand weit überſchreitenden Ausdehnung der Gletſcher des
Hochgebirges herrühren.
Eine ſolche Epoche einer gewaltigen Ausbreitung und Aufſtauung
der heut zu Tage nur die verborgenen Thalurſprünge der Alpenkette
erfüllenden Gletſchermaſſen war nur zur Zeit eines weit kälteren
Klima's möglich und dieſer Annahme kommen dann auch noch eine
Reihe anderer Thatſachen, zu denen die neueren Fortſchritte der Geo—
logie geführt, beſtätigend entgegen. So ſtimmt dazu namentlich das
Vorkommen ähnlicher Findlingsblöcke in den Ebenen Norddeutſchlands,
Polen's u. ſ. w., die von Felſen des ſcandinaviſchen Nordens her-
rühren und offenbar nur von ſchwimmenden Eismaſſen einer nordiſchen
Meeresſtrömung dahin transportirt worden fein können, endlich auch
die Nachweiſung nordiſcher Thierreſte in Schichten jener Formation
45
in Gegenden, die heut zu Tage ein milderes Klima beſitzen, als jene
foſſilen Formen erfordern. N
Für jeden Forſcher, der den Gang der Natur unbefangen ver—
folgt und nur den uns bekannten Naturkräften Wirkungen zuzuſchreiben
ſich gewöhnt hat, konnte ein für die Dauer der Diluvialepoche über
Nord- und Mitteleuropa hereingebrochenes kaltes Klima nur eine
geographiſch begrenzte Erſcheinung und nur eine Folge von Urſachen
ſein, die je nach Veränderungen im Verhältniß von Feſtland und
Meer, auch jetzt noch in unſerm oder andern Theilen der Erde ein—
treten könnten.
Für Agaſſiz Schöpfungslehre aber mußte folgerichtig die Deu—
tung eine andere ſein.
Agaſſiz lehrte, daß nicht allein in der ſogenannten Eiszeit die
Gletſcher das ganze Gebiet des Schweizer Hochgebirgs und die zu—
nächſt angrenzenden Gegenden überdeckten, ſondern daß auch gleichzeitig
eine ſolche Herrſchaft der Kälte und des Eiſes über die ganze Erd—
oberfläche hin erging und weiterhin eine allgemeine Vernichtung alles
organiſchen Lebens zur Folge hatte.
Nach ſeiner Anſicht überdeckten zwei Eiskruſten von großer Mäch—
tigkeit, die rings um den Aequator wahrſcheinlich einen breiteren oder
engeren Gürtel offen ließen, den größten Theil der Erdoberfläche.
Das Polareis, welches heute die öden Gefilde von Nord-Sibirien,
Spitzbergen und Grönland überzieht, erſtreckte ſich damals weit
hinein in die gemäßigte Zone der nördlichen Halbkugel. Ruß land
Schweden und Norwegen, die britiſchen Inſeln, Deutſch—
land und Frankreich über die Alpen hinaus bis zu den Nie—
derungen Italien's zugleich mit dem ganzen Nordaſien waren
damals nach Agaſſizv ein einziges Eisfeld, deſſen ſüdliche Grenze er
indeſſen noch unbeſtimmt ließ. Aehnlich war der Stand der Dinge in
Nordamerika. Dieſe Eisdecke vernichtete, ſoweit ſie vordrang, alles
Lebende und hüllte die Ueberreſte organiſcher Weſen ein, die vor ihrem
Eintritt an Ort und Stelle gelebt hatten. Das ſind jene unmittelbar
der heutigen Schöpfung vorausgegangenen Organismen, die jetzt im
Lehm und Sand unſerer Ebenen oder unter dem Eismantel des nörd—
lichen Sibiriens begraben liegen. Die Eiszeit war eine vollkommen
trennende Epoche zwiſchen der Diluvialzeit (d. h. dem ſogenannten
älteren Diluvium anderer Geologen) und der Jetztwelt. Sie hat gleich
einem ſcharfen Schwerte die Geſammtheit der diluvialen Flora und
Fauna von jener der Jetztwelt abgeſchnitten.
Hin
—
Agaſſiz Hypotheſe von einer die ganze Erdoberfläche bis auf
einen dem Aequator entſprechenden Gürtel überziehenden Vereiſung
hat ſich im Verlaufe weiterer Forſchungen als vollkommen unhaltbar
erwieſen. Wir wiſſen jetzt, daß in der ſogenannten Eisepoche das Sinken
der Temperatur nur auf Nord- und Mitteleuropa, Nordaſien
und Nordamerika ſich erſtreckte. Die Drift-Erſcheinungen ſowohl als
die geſteigerte Vergletſcherung der Hochgebirge bleiben auf beſtimmte
Gegenden beſchränkt. Ebenſo ſind wir im Stande die ſüdliche Grenze
zu beſtimmen, welche die glaciale Fauna des Nordens bei ihrer da—
maligen größeren Ausbreitung erreichte. Damit erhält die ganze Er—
ſcheinung den Character eines, weun auch ſehr ausgedehnten, doch
jedenfalls geographiſch begrenzten Vorganges und gibt dann auch keinen
Stützpunkt für Agaſſiz'ſche Schöpfungstheorien mehr ab. Wir wiſſen
jetzt, daß in allen wärmeren Gegenden der Erde von den Küſten—
ländern des Mittelmeeres an zur Zeit der Diluvialepoche keine Ab—
lagerungen glacialer Gebilde ſtatt hatten und keine Polarthiere lebten.
Es iſt daher nicht anders anzunehmen als daß in allen wärmeren
Himmelsſtrichen, indeſſen in unſeren Gegenden die nordiſche Kälte zur
Herrſchaft gelangt war, eine ungeſtörte Fortentwicklung des organiſchen
Lebens ſtatt hatte.
Dafür treffen wir aber auch wieder, wenn wir die Aequatorial—
gegenden überſchreiten, im äußerſten Theile von Südamerika Erſchei—
nungen, die denen des Nordens ſehr nahe kommen. Patagonien und
das ſüdliche Chili beſitzen eine Ablagerung von Schutt und Blöcken,
die in ihren weſentlichen Characteren ganz denen unſerer nordiſchen
Drift ſich anſchließt, im Maßſtabe aber abweicht. Die Driftbildung
von Chili und Patagonien ſcheint mit keiner nachweisbar größeren
Ausdehnung der Kälteregion des antarktiſchen Kreiſes verbunden ge—
weſen zu ſein, ſie iſt überhaupt auch weit örtlicher als jene der nörd—
lichen Halbkugel ausgeſprochen und kann noch weniger als letztere zur
Hypotheſe einer vollſtändigen Vereiſung der Erdrinde angerufen werden.
K. Vogt hat weſentlich beigetragen, die Aga ſſiz'ſchen Lehren
in weiteren Kreiſen zu verbreiten, hat aber ſeltſamer Weiſe das einzige
bindende Moment des Syſtems, nämlich die Annahme eines perſön—
lichen Eingriffs der Gottheit in den Lauf der Natur aus individuellen
Gründen ausgeſchloſſen und fo dem Agaſſiz'ſchen Syſtem gerade
das genommen, wodurch es allein erſt als Syſtem erſcheinen kann.
K. Vogt lehrt, die Art iſt unveränderlich, aus einer Art kann
45
nie eine andre Art werden, aber fie kann auch nicht erſchaffen fein.
Er lehrt ferner, ein ruhiger Fortſchritt durch geſetzmäßige Entwick—
lung der Formen hat in der Natur nicht ſtattgefunden, wohl aber
ſind gewaltſame Umwälzungen und durchgreifende Vernichtungen der
Lebewelt zu wiederholten Malen eingetreten. Aber eine Wiedererſchaf—
fung der gewaltſam vernichteten Lebewelt hat auch nicht ſtattgefunden.
Indeſſen iſt nicht jede nach perſönlicher Liebhaberei gemachte Aus—
wahl von Annahmen noch ein Syſtem. Die Vogt'ſche Schöpfungs—
geſchichte iſt darum kein Syſtem mehr, ſondern nur noch ein Torſo
eines ſolchen.
Forbes.
Der der Wiſſenſchaft allzufrühe entriſſene geniale engliſche Natur—
forſcher Edward Forbes hat 1846 in ſeiner Abhandlung über
den Zu ſammenhang zwiſchen der gegenwärtigen Fauna und Flora der
britiſchen Inſeln und den geologiſchen Veränderungen, welche deren
Oberfläche zur Zeit der nordiſchen Ueberfluthung erlitten ), die Ver—
hältniſſe der Glacialgebilde und ihrer Fauna mit Rückſicht auf die
unmittelbar vorhergegangenen Epochen und auf die Jetztwelt in einer
wahrhaft überraſchenden Weiſe zur Klarheit gebracht, ja er hat damit
recht eigentlich den Schwerpunkt der Entſcheidung über das Weſen
der geologiſchen Formationen in das Gebiet der Glacialepoche verlegt.
Anſchauungsweiſe wie Ergebniſſe ſtehen in ſchroffem Gegenſatz zu
Agaſſiz Lehren und bezeichnen, ſowie dieſe als letzter und hochge—
ſteigerter Verſuch einer Durchführung alter Theorien daſtehen, ihrer—
ſeits den Fortſchritt einer naturgemäßeren und reicher Entwicklung
fähigen Forſchung im Sinne der neueren Wiſſenſchaft.
Ganz im Gegenſatz zu Agaſſiz knüpft Edward Forbes
zunächſt an den ſchon von Cuvier zugegebenen Satz an, daß eine
Inſel ihre Landbevölkerung durch Einwanderung von einem anderen
Feſtlande erhalten konnte, wenn ſie mit dieſem im Laufe der geolo—
giſchen Ereigniſſe zeitweiſe in unmittelbarem Zuſammenhang ſtand.
Wurde die Verbindung nachfolgend durch andere natürliche Urſachen
wieder abgebrochen, ſo behielt das abermals vereinzelte Gebiet eine
) In den Memoirs of the geological Survey of Great Britain. 1846.
vol. I. p. 336.
46
Flora und Fauna, die aus verſchiedenen Elementen, einem urſprüng—
lich einheimiſchen und einem zur Zeit des Zuſammenhanges von einem
oder mehreren benachbarten Landſtrichen aus eingewanderten fremd—
artigen Elemente beſtehen.
Forbes ſtellt dies aber nicht nur als Möglichkeit hin, ſondern
er weiſt auch einen ſolchen Vorgang im Verlaufe der Glacialepoche
für die britiſchen Inſeln nach. Er zerlegt die britiſche Flora
und Fauna in einheimiſche und in fremde erſt damals eingewanderte
Elemente und zeigt, wie mit dem Eintritte der Kälteepoche und dem
Wiedereintritte des milderen Klima's Veränderungen in der Geſtal—
tung von Feſtland und Meer einhergingen, welche Wanderungen von
Pflanzen und Thieren vermitteln konnten.
Seine Auseinanderſetzung iſt eine ſehr umfaſſende, ſie betrifft
Land- und Meeresbevölkerung, Pflanzen und Thiere, tertiäre, glaciale
und heutige Lebewelt und wo er in einzelnen Punkten auch zunächſt
noch nicht die letzte und entſcheidende Lößung der Fragen getroffen
haben ſollte, hat ſeine Lehre doch anſtatt der weiteren Forſchung den
Weg abzuſchneiden, vielmehr neue Richtungen ihr eröffnet, die ihre
guten Erfolge verbürgen. 8
Forbes zeigt, wie die große Mehrzahl der Pflanzen- und Thier—
Arten der britiſchen Inſeln ſolche ſind, die dem germaniſchen Feſtlande
zugleich noch angehören. Mit dieſen treffen nun aber — und zwar
namentlich im ſüdweſtlichen England und im ſüdöſtlichen Irland
— eine Anzahl von ſonſt dem ſüdlichen Europa angehörigen Arten
zuſammen. Die hohen Gebirge, beſonders von Schottland und
Wales, haben ihrerſeits Arten aufzuweiſen, die vorzugsweiſe mit
dem ſcandinaviſchen Norden, zum Theil auch mit der europäiſchen
Alpenkette gemeinſam ſind. Die Frage iſt alſo ſehr nahe gelegt, ob
vieſe verſchiedenen Beſtandtheile der britiſchen Flora und Fauna auf
dem Wege ehemaligen Bodenzuſammenhanges aus jenen jetzt durch das
Meer davon getrennten Theilen des europäiſchen Feſtlandes wirklich
eingewandert ſein können.
Hierzu kommt noch ein anderes in der Thierwelt der britiſchen
Inſeln ausgeſprochenes Verhältniß. Es iſt eine allgemein bekannte
Thatſache, daß in Irland eine Anzahl von Thierarten fehlen, die
England und dem benachbarten Theile des Feſtlandes eigenthümlich
find, namentlich fällt die große Armuth Irland's an Reptilien
auf. Thomſon hat darüber eine vergleichende Zuſammenſtellung ge—
47
liefert. Von 22 Arten von Reptilien, die noch in Belgien leben,
reichen nur 11 nach England und nur 5 Arten nach Irland. Eigene
Arten von Reptilien, die dem europäiſchen Feſtlande fehlten, haben
die britiſchen Inſeln nicht aufzuweiſen. Die Arten ſelbſt ſind alle
dieſſelben, nur ihre Zahl ändert für jedes dieſer drei Gebiete ab.
Kamen die Thiere der britiſchen Inſeln alſo durch Einwanderung vom
europäiſchen Feſtland erſt auf dieſelben, ſo mußten dabei gewiſſe Hem—
mungen obwalten, welche eine Thierart bei ihrer Wanderung über—
wand, eine andere nicht. Arten, die bis England und Schott—
land gelangten, vermochten dann Irland nicht zu erreichen.
Während der Glacialepoche hatte das britiſche Meer, wie die
conchylienreichen Ablagerungen jener Zeit erweiſen, eine zum größten
Theile andere Bevölkerung als ſie in der Tertiärepoche war und gleicher—
weiſe auch von derjenigen der Jetztwelt verſchieden. Die Umgeſtaltung
aber entſprach dem Einfluſſe eines allmähligen Sinkens und eines
nachherigen Steigens der Temperatur. Nichts deutet dabei auf einge—
tretene allgemeine Vernichtungen alles Lebendigen und auf nachherige
unmittelbare Neuerſchaffung von Pflanzen und Thieren. Forbes
zeigt vielmehr, daß die Glacialfauna im ſüdlichen Irland ihre Grenze
erreichte und hier ſchon mit einer ſüdlicheren Bevölkerung ſich miſchte.
Mollusken-Arten, die heute dem hohen Norden angehören, hatten da—
mals der klimatiſchen Aenderung folgend im britiſchen Meer ſich an—
geſiedelt, mit dem Wiedereintritte milderer Temperaturen erloſchen ſie
theils hier und leben heut zu Tage nur noch an den Küſten der ark—
tiſchen Länder, theils blieben ſie als neues Element im britiſchen
Meere zurück. So beſteht denn nach Forbes klaſſiſchen Forſchungen
die heutige Meeresfauna der britiſchen Inſeln nachweisbar aus einer
Vergeſellſchaftung von drei Faunen, erſtens Arten, die in der Tertiär—
epoche ſchon hier lebten, die Glacialepoche überſtanden und heute
noch als Urbewohner fortbeſtehen, zweitens Arten, die erſt mit der
Glacialepoche aus dem hohen Norden an die britiſchen Inſeln kamen
und hier ausdauerten, endlich drittens ſolchen, die beim Wiederein—
tritte des milderen Klima's aus den benachbarten wärmeren Meeren
hereingelangten.
Aehnlicher aber im Einzelnen anderer Art war die Entſtehung
der heutigen Landbevölkerung von England, Schottland und
Irland.
Während der Glacialepoche ſtanden große Strecken der britiſchen
48
Inſeln unter Meeresbedeckung, die heutigen Gebirge derſelben ragten
nur als niedere Inſeln über den Spiegel des germaniſchen Eismeeres
hervor, aus welchem ſich Schichten mit Seethieren von hochnordiſchem
Typus ablagerten. Mit dem Eintritte des milderen Klima's war
eine Hebung des britiſchen Gebietes verknüpft, ein feſtes Land in Form
einer ungeheuren Ebene verband jetzt die britiſchen Inſeln mit dem
europäiſchen Continent und über dieſe Brücke wanderten in langſamer
Folge Pflanzen- und Thierarten des Oſtens auf die damals gewiß
nur ſparſam bevölkerten britiſchen Länder ein. So erhielten dieſe
die deutſche Flora und Fauna, die jetzt dort vorwiegt.
Eine Einwanderung von Pflanzen und Thieren in ein neues
Gebiet kann indeſſen nicht plötzlich geſchehen, ſie bedarf vielmehr langer
Zeiträume. So mochte es kommen, daß Irland durch Bildung eines
Meeresarmes früher ſchon von England als dieſes vom Continent
wieder getrennt wurde. War dies der Fall, ſo konnten viele der Ein⸗
wanderer Irland nicht erreichen, andere, die jetzt Belgien, Nord—
frankreich und Deutſchland bewohnen, erreichten auch nicht ein—
mal England.
Pflanzen⸗ und Thierarten des hohen Nordens, die mit dem Vor—
rücken der nordiſchen Kälte nach Mitteleuropa gewandert waren, wur—
den hier von dem Wiedereintritt eines milderen Klima's überraſcht,
welches ihnen nicht zuſagte. Sie zogen ſich damals auf die kühleren
Zonen der Gebirge zurück. Die Alpenflora iſt daher ſo nahe ident
mit der Skandinaviſchen.
Du r w I n.
Lyell's und Forbes Erfolge mußten nothwendig auf La—
marck's und Geoffroy's Anſichten über den Zuſammenhang der
Lebewelt wieder zurückführen. Hatte Lyell die Geologen gelehrt, die
alten Erſcheinungen der Geſchichte der Erdrinde nach den heute wir—
kenden Kräften zu erklären und Forbes in ſeiner Arbeit über die
britiſche Flora und Fauna dargelegt, welche eingreifenden Verände—
rungen die allmähligen Hebungen und Senkungen des Feſtlandes auf
deſſen organiſche Bevölkerung haben können, jo lag es nahe, auf La—
marck's Ausgangspunkte wieder zurückzugehen. Ein für die Aus—
bildung der Erdrinde angenommener Vorgang konnte und mußte auch
auf die Deutung der organiſchen Welt eine Rückwirkung äußern,
49
infofern Pflanze wie Thier ja von den großen Phaſen der Geſchichte
unſeres Planeten abhängt. War der eine Vorgang allmählig und gleich-
förmig, ſo konnte es auch der andere ſein. Hatte ja doch Lamarck
in einer an Lyell's Gedankengang in hohem Grade erinnernden
Weiſe es ausgeſprochen, daß der Gang der Natur in der Umge—
ſtaltung der Lebewelt ein im Verhältniß zu unſerer eigenen Lebenszeit
ganz langſamer und allmähliger ſei und daß daher die Wirkung für
unſere unmittelbare Sinneswahrnehmung verſchwinde.
Cuvier's und Agaſſiz entgegenſtehende Lehren gründeten ſich
auf die Annahme gewaltiger und vernichtender Erdrevolutionen. Nahm
man dieſe an, ſo mußten auch allgemeine Vernichtungen und Neuer—
ſchaffungen der Pflanzen- und Thierwelt ſtattgefunden haben. Verwarf
man aber die Lehre von der Allgemeinheit der geologiſchen Revolu—
tionen, ſo mußte man auch die Continuität des Lebensfadens der
Pflanzen⸗ und Thierbevölkerung zugeſtehen.
Lamarck's und Geoffroy's Lehre von der Abſtammung der
geſammten Lebewelt von einigen wenigen einfach organiſirten Urformen
trat damit wieder in den Vordergrund, und verlangte Prüfung auf
Grund der von der Geologie und Paläontologie im Laufe der Jahr—
zehende ſo weſentlich erweiterten Baſis. Auch in der organiſchen Welt
mußten kleine unſcheinbar wirkende Einflüſſe im Laufe ungeheurer Zeit—
räume große Veränderungen erzeugt haben, es fragte ſich nur, ob die
neuere Wiſſenſchaft nähere Aufklärung über die Art jener Einflüſſe
und den Gang der durch ſie erzeugten Veränderungen zu gewähren
vermag.
Ch. Darwin hat dieſen Verſuch gewagt. Er hat die Lehre
Lamarck's und Geoffroy's den weſentlichen Grundzügen nach
neu aufgenommen, den Vorgang der Umbildung aber auf neuen und
ihm eigenthümlichen Weiſen darzuthun verſucht.
Nach Darwin's Theorie ſind, ganz ſo wie Lamarck, Geof—
froy und andere annahmen, alle Organismen, ſowohl alle heute leben—
den als alle in foſſilem Zuſtande gefundenen die Nachkommenſchaft
einiger wenigen oder vielleicht ſelbſt einer einzigen einfach organiſirten
Grundform und der Umbildungsvorgang war vom erſten Anfang des
organiſchen Lebens an bis zum heutigen Tage derſelbe, deſſen lang—
ſame, allmählige und kaum erkennbare Bewegung jetzt noch unter
unſeren Augen vor ſich geht.
Die zur Veränderung und Vervollkommnung der pflanzlichen und
Rolle, Darwin's Lehre. 4
50
der thieriſchen Form führenden Momente und die Art der Umgeftal-
tung ſelbſt ſind in vieler Hinſicht anders als Lamarck und Geof—
froy lehrten.
Darwin geht von der allſeitig anerkannten Thatſache aus, daß
jede Art von Organismen innerhalb gewiſſer Grenzen veränderlich iſt
und bald äußere Einflüſſe, bald innere Vorgänge eine ſolche Abweichung
der Nachkommenſchaft von ihren Eltern hervorrufen. i
Iſt der Character der erſchienenen Abänderung dem Organismus
unnütz oder ſchädlich, ſo verliert ſich die neu erſchienene Form über
kurz oder lang wieder. Iſt ſie aber dem Organismus im Kampfe
gegen die zu ſeiner Vernichtung wirkenden Einflüſſe nützlich und ſei
es auch in einem noch ſo unmerklichen Grade, ſo hat die neue Form
in einem entſprechenden Grade Ausſicht ſich fortzuerhalten und die
gleichzeitigen Individuen von gleichgültiger oder gar ſchädlicher Varia—
tion zu überleben. Sie kann ſich dann je nach den Umſtänden im
Laufe der Generationen mehr und mehr befeſtigen, d. h. ſcheinbar
ſtabil werden, oder auch bei einem Wechſeln der Einflüſſe weiterhin
umgeſtalten.
Von der Nachkommenſchaft eines und deſſelben Stammes können
ſolche Abweichungen in ſehr verſchiedener Richtung ſich entwickeln, ſie
hängen zuſammen mit der Art des Aufenthalts, der klimatiſchen Ver—
hältniſſe, der Nahrung und der feindlichen Mitwelt. Sie treten am
meiſten hervor, wenn durch äußere Einflüſſe der Verbreitungsbezirk
einer Art in mehrere zertheilt wird.
Das Auseinandergehen der Nachkommenſchaft einer und derſelben
Form muß dann im Laufe langer Zeiträume immer weiter und ſchrof—
fer werden, die Natur ſetzt ihm keine Grenze, aus einer Art entſtehen
erſt Varietäten, aus dieſen dann Arten. Die neuen Arten weichen
ihrerſeits, indem die Mittelglieder gemäß ihrer geringeren Mitbewer—
bungs⸗Fähigkeit der Verminderung und dem Untergang zugeführt wer-
den, wiederum weiter auseinander. Die damit entſtehenden Abſtände be—
dingen dann das Hervortreten neuer Gattungen, Familien, Ordnungen,
Klaſſen. Gewöhnlich, doch nicht in allen Fällen, iſt mit der Abände—
rung auch eine phyſiologiſche Vervollkommnung verknüpft. Dies führt
dann zum Hervortreten jener Stufenleiter vom niederen zum höheren
Weſen, welche ſowohl in der Statiſtick als auch in der Geſchichte der
Organismen ſo bedeutend hervortritt, ohne indeſſen vollkommen durch—
zugreifen. Zu allem dieſem bedarf es nach Darwin nur der Wirk—
51
ſamkeit der heute noch thätigen Naturkräfte innerhalb langer Zeit-
räume, wie dies auch Lamarck für die Aenderungen der Thierform,
Lyell für die Aenderungen im Bau der Erdrinde annahmen.
Darwin's Theorie ſtützt ſich darnach auf folgende Grundſätze:
1. die Erblichkeit. Eltern vererben ihre Charactere auf die
Nachkommen. a
2. Die individuelle Variation. Wenn die Erblichkeit
auch allgemeine Regel im Pflanzen- und Thierreich iſt, ſo erleidet
ſie doch dadurch eine Ausnahme, daß durch ſie die Charactere nie
vollkommen von den Eltern auf die Kinder übertragen werden, ſondern
immer kleine individuelle Abweichungen auftreten; es können ſogar
Junge einer und derſelben Geburt von einander merklich abweichen.
3. Vererbung der Variation. Bildet die individuelle
Variation auch eine Ausnahme von dem Grundſatze der Erblichkeit,
ſo kann ſie trotzdem doch ſelbſt wieder vererbt werden und geht dann in
vorwiegend unveränderter Form auf die weitere Nachkommenſchaft über.
4. Kampf um's Daſein. Alle Pflanzen und Thiere haben
Feinde, die nach ihrer Vernichtung ſtreben. Die Pflanze kämpft mehr
oder minder günſtig gegen klimatiſche Einflüſſe, Wechſel der Jahres—
zeiten, Trockenheit und Näſſe u. ſ. w. Das Thier muß ſich feine
Nahrung gewinnen. Pflanzenfreſſer ſtellen den Pflanzen, Raubthiere
den Pflanzenfreſſern nach. Aber auch Individuen gleicher Art, oder
verſchiedener auf ähnliche Weiſe lebenden Arten machen ſich Raum
und Nahrung ſtreitig. In dieſem allgemeinen Kampf ums Daſein
ſind aber nicht alle Individuen gleich günſtig geſtellt.
5. Natürliche Ausleſe, natural selection. Individuen,
welche durch die Art ihrer individuellen Variation günſtiger im Kampf
ums Daſein geſtellt ſind, vermögen eher der Vernichtung zu entgehen
als die übrigen. Sie erlangen daher ein relatives Uebergewicht der
Zahl, pflanzen ſich dem entſprechend um ſo eher unter einander fort
und befeſtigen dabei jenen Grad der Abweichung, der ſie den übrigen
günſtiger gegenüber ſtellt. Auf dieſem Wege entſtehen allmählig neue
Varietäten und neue Arten. Darwin vergleicht dieſe Ausleſe, welche
im Laufe der natürlichen Dinge ſtatt hat, der abſichtlichen Züchtung
neuer Raſſen von Nutzpflanzen und Hausthieren durch den Menſchen.
Der Vorgang iſt zugleich auch ein ähnlicher wie der der natürlichen
Anreicherung bei gewiſſen geologiſchen Vorgängen.
Gerade dieſer Grundſatz der natürlichen Ausleſe oder natürlichen
4 *
52
Züchtung iſt nun der eigentliche Schwerpunkt der Darwin 'ſchen
Lehre, die mit ihm ſtehen und fallen wird. Es iſt anziehend in dieſer
Hinſicht Lamarck und Darwin zu vergleichen. Lamarck hatte
die Veränderung und Vervollkommnung der Thierform von der un—
mittelbaren Thätigkeit des Thieres im Kampfe gegen die äußeren Um—
ſtände gefunden, Darwin dagegen, beide Momente abwägend, er—
kennt den äußeren Einflüſſen, welche das Thier im Daſein bedrohen,
die größere Bedeutung zu und ſieht im Thiere vor allem nur den
leidenden Theil. Nach ſeiner Anſicht trifft die Natur gleichſam eine
Auswahl unter Pflanzen und Thieren, ſie läßt die äußeren feindlichen
Momente auf ſie einwirken, behält nur jene Formen am Leben, die
kräftigen Widerſtand leiſten und züchtet aus dieſen ausgewählten In⸗
dividuen neue Varietäten und neue Arten. So iſt die Darwin'ſche
Theorie gleichſam eine inverſe Wiedergabe der Lamarck'ſchen; ſie
iſt ihr Spiegelbild. Man wird dabei an Stahl und La voiſier
erinnert, deren Lehren in ähnlicher Weiſe Zuſammenhang und Gegen—
ſatz zugleich bieten.
Darwin hat ſeiner Lehre von der heute noch vor ſich gehen—
den Umgeſtaltung der Flora und Fauna auch auf die Reihenfolge der
urweltlichen Organismen Anwendung zu geben verſucht. Wie ſich faſt
von ſelbſt verſteht, hat er dabei zunächſt an Lyell's und Forbes
Ergebniſſe anknüpfen müſſen und ſteht dadurch um jo ſchroffer Ag aſſiz
gegenüber.
Die ganze heutige Lebewelt ſtammt darnach von einigen wenigen
oder auch einer einzigen urſprünglichen Grundform ab. Von dieſem
Anfangspunkt aus müßten wir nun durch eine zahlloſe Reihe von
Uebergängen den Stammbaum divergirend bis zur heutigen Flora und
Fauna führen. Hierzu ſehen wir allerdings auch die Grundzüge durch
den heutigen Stand der Geologie und der Paläontologie vorgezeichnet,
aber die Ausführung ins Einzelne iſt zur Zeit noch nicht thunlich.
Der Grund davon liegt in der Unvollkommenheit unſerer Kenntniß
von den urweltlichen Organismen und ihren Lebensverhältniſſen. In-
deſſen ſchreitet dieſe Kenntniß voran und wir ſind im Stande ſchon
vorauszuſehen, in welcher Weiſe die noch klaffenden Lücken im Laufe
der Jahre ausgefüllt oder überbrückt werden müſſen. Wir ſind mit
einer zahlloſen Menge organiſcher Formen noch unbekannt, welche,
wenn die Lehre von dem Zuſammenhang der Lebewelt aller Zeiten
wahr iſt, nothwendig beſtanden haben müſſen und die foſſil nachge—
53
wieſenen Formen unter einander und mit denen der Jetztwelt ver-
knüpften. Indeſſen ſind unſere paläontologiſchen Muſeen noch zu arm,
um eine genügende Reihe zuſammenhängender Formen liefern zu können
und die Erforſchung der geologiſchen Gebilde iſt noch nicht ſo weit
vorgerückt, um alle äußeren Einflüſſe, welche in den verſchiedenen geo—
logiſchen Epochen die lebenden Formen betrafen und ihre Umgeſtaltung
mehr oder minder zur Folge hatten, in ein klares Licht zu ſtellen.
So ſind namentlich eine große Anzahl von Lebeweſen gar nicht zu
foſſiler Erhaltung fähig, andere können nur unter ſehr ſeltenen und
ungewöhnlich günſtigen Verhältniſſen in entſtehenden Bodenſchichten
einen feſteren Theil ihres Körpers oder einen Abdruck ihrer Geſtalt
hinterlaſſen. Noch andere Lebeweſen werden in Folge der Art ihres
Aufenthaltes nur ſehr ſelten erhalten werden. So kennen wir z. B.
von Landbewohnern im Laufe langer geologiſchen Epochen erſt ſehr
ſpärliche Reſte, allerdings wächſt im Laufe der fortſchreitenden For—
ſchung von Jahr zu Jahr ihre Zahl, aber ſie bleibt immer noch un—
genügend zur Herſtellung einer zuſammenhängenden Reihe. Solche
Lücken können die Durchführung der Theorie erſchweren, aber ſie wider—
legen ſie nicht.
Die ſcharfen Abtrennungen der meiſten geologiſchen Formationen
von einander, die großen Unterſchiede, welche ſo oft ihre Floren und
Faunen an ſolchen Grenzlinien darbieten, ſprechen auf den erſten
Anblick allerdings ſehr gegen die Lehre eines chronologiſchen Zuſam—
menhanges der Lebewelt. Indeſſen iſt dieſer Umſtand nach Darwin
nur ſcheinbar, denn er beruht auf dem Erfolg langſam wirkender geo—
logiſcher Agentien, welche uns in der Reihenfolge der Formationen
ſcharfe Grenzen ſehen laſſen, wo eigentlich nur lange zeitliche Unter—
brechungen vorliegen. Darwin zeigt, daß langſame Hebungen und
Senkungen größerer Theile der Erdoberfläche noch heute ununter—
brochen fortdauern und wahrſcheinlich auch in allen älteren Epochen
der Erdausbildung ſtatt hatten. Solche Vorgänge aber müſſen großen
Einfluß auf die Ablagerung neuer Bodenſchichten haben, je nachdem
ſie Raum dazu bereiten oder Raum entziehen. Allmählige Senkungen
von Meerestheilen begünſtigen die Ablagerung mächtiger Bodenſchich—
ten auf dem Meeresgrunde, Hebungen führen dagegen zu einer Wie—
derzerſtörung neugebildeter Schichten. Wo alſo auf Meeresboden He—
bungen und Senkungen von langer Dauer abwechſelten, führten die
Zeiten der Erhebung zu ſcheinbaren geologiſchen Abgrenzungen, ſie
54
riefen Lücken in den auf uns gekommenen geologischen Urkunden her-
vor. Der Zuſammenhang des organiſchen Lebens auf Erden war
alſo nie vollſtändig unterbrochen und jene Linien, wo für unſere un-
mittelbare geologiſche Beobachtung Unterbrechungen erſcheinen, beruhten
auf der Wirkung örtlicher Ereigniſſe.
Die Geologie liefert uns ungemeſſene, die gewöhnliche Faſſungs—
gabe weit überſchreitende Zeiträume, innerhalb dieſer konnte die Um⸗
geſtaltung der Formen vor ſich gehen. Daß ſolche Umgeſtaltungen vor
ſich gegangen ſind, beweiſen aber z. B. die offenbaren Aufeinander⸗
folgen eng verbundener örtlicher Typen auf beſtimmten örtlich begrenz-
ten Gebieten. So haben im Laufe der tertiären Epochen die Säuge—
thierfaunen auf Neuholland, in Südamerika und im Gebiete der
alten Welt eine von einander unabhängige Entwicklung gefunden. Der
allgemeine Typus der erloſchenen Säugethierfauna von Neu holland
war derſelbe wie er heute iſt, nur die Arten, theilweiſe auch die Gat—
tungen, ſind andere geworden. Eben ſolche Erſcheinungen bietet die
Säugethierwelt von Südamerika und in ſtarkem Gegenſatz zu ihr
ſteht ſowohl die heutige Säugethierfauna der alten Welt, als auch
ihre unmittelbar vorausgegangenen urweltlichen Vorläufer. Ein ſolcher
Gegenſatz der Faunen dreier Gebiete, fortlaufend durch verſchiedene
Epochen, iſt aber mit keiner anderen entgegenſtehenden Theorie natur⸗
gemäß vereinbar, während er mit dem Zuſammenhang des Lebens—
fadens bei ſtets fortgehender Formenumgeſtaltung in vollem Einklange
ſteht und von ihm ganz naturgemäß bedingt wird.
Arten erſcheinen im Laufe der geologiſchen Epochen oft ſo plötz—
lich mit einer gewiſſen Schichte, daß der erſte Eindruck zur Annahme
führt, ſie ſeien zur Zeit der Ablagerung jener Schichte neu erſchaffen
worden. Aber Darwin beruft ſich hier auf die von Forbes dar—
gelegten Ein- und Auswanderungen von Floren und Faunen ſowohl
des Meeres als des Feſtlandes zur Zeit der Diluvialepoche. See—
thiere wanderten im britiſchen Meer mit dem Wechſel von Kälte und
Wärme aus und ein. Sie entſtanden nicht neu zur Zeit der Ablage—
rung jener Schichten, in denen ſie aufzutreten beginnen, ſondern ſie
wanderten zu jener Zeit aus anderen Meerestheilen ein. Kälteliebende
Scandinaviſche Meeres-Mollusken, die in der Tertiärepoche
im britiſchen Meere fehlten, gelangten in der Eiszeit des Diluviums
herein und viele von ihnen leben jetzt noch in dem damals neu be—
tretenen Gebiet. Aber auch Eu ropäiſche Landbewohner machten in
55
der Diluvialepoche Wanderungen in ausgedehntem Maaßſtabe. Jetzt
erſcheinen gewiſſe kälteliebende Pflanzen- und Thierarten von einander
vereinzelt auf den kalten Höhen der Alpen und auf den briti—
ſchen Bergen, ſie ſtimmen theils genau der Art nach mit ſolchen
von Scandinavien und von Grönland überein, theils ſind ſie
ihre nächſten, der Art nach kaum zu unterſcheidenden Verwandten. Sie
hatten ſich mit dem Eindringen des kalten Klima's in Nord- und
Mitteleuropa hier ausgebreitet und zogen ſich ſpäter mit dem
Wiedereintritt des milderen Klima's in die kalte Region der Gebirge
zurück. So durch geologiſche Ereigniſſe in getrennte Bezirke verſprengt,
wurden ſie abweichenden phyſiſchen Verhältniſſen ausgeſetzt, ein Theil
der Arten widerſtand dieſen und behielt ſeine Charactere unverändert
bei, andere zertheilten ſich, nachdem ſie auf verſchiedene Gebiete zer—
theilt worden waren, dem phyſiſchen Einfluſſe nachgebend, auch in ver—
ſchiedene Varietäten oder in mehr oder minder ausgeſprochene Arten.
Arten ſind im Laufe der geologiſchen Epochen verſchwunden, ohne
daß ein anderer Grund, als der einer Vernichtung durch gewaltſame
Kataſtrophen angenommen werden zu können ſcheint. Aber nach Dar—
win hat die Erlöſchung derſelben einen ganz anderen Grund.
Getrennte Feſtländer mit verſchiedenartiger Flora und Fauna
können durch geologiſche Ereigniſſe mit einander verbunden, Inſeln
durch Ueberbrückung an Continente angeſchloſſen werden. Die Folge
davon iſt dann, daß zwei Floren und zwei Faunen einander durch—
dringen und daß die einzelnen Individuen derſelben mit einander
kämpfen und ſich die Exiſtenz ſtreitig machen werden. Es wird dabei
darauf ankommen, bei welchem beider Theile die Organiſation in Be—
zug auf den Kampf ums Daſein am höchſten geſteigert iſt. Iſt von
zwei Gebieten die Flora und Fauna des einen in dieſer Hinſicht hoch—
entwickelt wie z. B. die der alten Welt, die andere aber auf der Stufe
einer der älteren geologiſchen Epochen ſtehen geblieben, ſo iſt kein
Zweifel, daß der erſtere Theil den letzteren überwinden und allmählig
oder ganz vernichten wird. Neuholland und Neuſeeland er—
ſcheinen, der alten Welt verglichen, im Character ihrer Pflanzen- und
Thierwelt wie auf einer der älteren chronologiſchen Epochen ſtehen ge—
blieben. Würde heut zu Tage eine Ueberbrückung zwiſchen dieſen Ge—
bieten und dem Feſtlande von Südaſien ſtattfinden, ſo würde ge—
wiß die hochgeſteigerte Lebewelt von Südaſien die dürftigen Formen
von Neuholland und von Neuſeeland überwinden und mehr oder
56
minder ausrotten. Zu ähnlichen Erfolgen hat die Coloniſation dieſer
Länder durch die Engländer geführt. Engliſche Pflanzen und Thier—
arten dringen heut zu Tage mächtig ein in Neuholland und Neu-
ſeeland, breiten ſich aus und machen den eingeborenen Formen
Boden und Daſein ſtreitig. Aber von einem ausgedehnten Eindringen
neuſeeländiſcher Pflanzen oder Thiere in England als Folge des
lebhaften Seeverkehrs hat man noch nichts gehört.
Solche Verhältniſſe dürfen wir auch für die älteren Epochen und
ihre lebende Welt annehmen. Europa war in der Secundärepoche
durch Säugethiere aus der Klaſſe der Beutelthiere ausgezeichnet. So
viel wir bis jetzt wiſſen, waren fie damals in Europa ziemlich eben-
jo vorwiegend, als jetzt in Neuholland. Heut zu Tage beſitzt
bekanntlich Europa und das Feſtland der alten Welt überhaupt
keine Beutelthiere mehr. Wir brauchen für das Erlöſchen derſelben
auf dem ehemaligen Gebiete aber keine gewaltſamen Eingriffe in die
Natur anzunehmen, es iſt offenbar viel einfacher und ungezwungener
zu ſchließen, daß ſie in Folge der Mitbewerbung kräftigerer Pflanzen—
freſſer, in Folge der Nachſtellungen überlegener Raubthiere und durch
andere natürliche äußere Einflüſſe allmählig an Individuenzahl und
Verbreitung eingeengt und ſchließlich vernichtet worden ſind. In Neu—
holland aber erhielten ſie ſich, denn ſie hatten dort keine ihnen
überlegenen Mitbewerber.
Die Vertreibung und faſt vollſtändige Ausrottung unſerer ehe—
dem ſehr häufigen europäiſchen Haus ratte durch die aus Aſien
erſt in geſchichtlicher Zeit zu uns vorgedrungene größere und muthigere
Wanderratte iſt ein anderer Beleg hierzu.
Aehnliche Vorgänge müſſen aber in zahlloſen Fällen auch in der
Vorwelt vor ſich gegangen ſein und führen in der unmittelbaren geo—
logiſchen Urkunde zum Hervortreten ſcharf ausgeſprochener Gegenſätze,
aus der unſere theologiſirenden Geologen auf eine abſichtliche Ver—
nichtung einer Art durch den allmächtigen Willen des Schöpfers und
die Neuerſchaffung der anderen irrigerweiſe geſchloſſen haben.
57
Zweites Kapitel.
Darwin's Lehre von der Erblichkeit und der Veränderlichkeit.
In der Thier- Morphologie d. h. in der Deutung des Zuſam—
menhanges zwiſchen Weſen und Form des Thieres ſtanden ſich lange
zwei ſehr entgegengeſetzte und ſcheinbar einander ganz ausſchließende
Grundanſichten gegenüber, die namentlich durch Geoffroy-Saint—
Hilaire einer- und Cuvier andrerſeits heftig verfochten wurden.
Darwin hat ſie neuerlich wieder aufgenommen, aber die eine
wie die andere einem tiefer liegenden Grundgeſetze untergeordnet.
Nach Geoffroy liegt allen Thieren ein gemeinſchaftlicher Plan
der Organiſation (unite de composition organique) zu Grunde. Alle
ihre verſchiedenen Formen entſtanden im Verlaufe der Abſtammung
durch ſtufenweiſe Entwicklung eines Körpertheiles oder Organes, mit
der immer — und oft in auffallender Weiſe — eine entſprechende Zu—
rückdrängung oder Unterdrückung eines anderen Theiles verknüpft war.
Sie zeigen daher auch eine von der Lebensweiſe unabhängige Ueber—
einſtimmung im Grundplane des Baues.
Cuvier beſtritt die Nachweisbarkeit eines ſolchen gemeinſamen
Grundplanes der Organiſation aller Thiere, er erklärte das Auftreten
der Analogien, auf die Geoffroy und die deutſchen Naturphiloſo—
phen ſich ſtützten, für etwas untergeordnetes und vertrat dem gegen—
über die Bedeutung der exacten Thatſache. Er lehrte, daß jedes Thier
eine den äußeren Lebensbedingungen angemeſſene Organiſation unab—
hängig für ſich erhalten habe.
Indeſſen genügt jede dieſer beiden Anſchauungen für ſich allein
noch nicht zur Erklärung der Form- und Bau-Eigenthümlichkeiten der
Lebewelt. Darwin ſpricht ſich dahin aus, daß, wie allgemein jetzt
anerkannt wird, die organiſchen Weſen als nach zwei großen Geſetzen
ausgebildet angeſehen werden können:
1. der Einheit des Typus oder der Uebereinſtimmung im Grund—
plane des Baues unabhängig von der Lebensweiſe;
2. der Anpaſſung an die Bedingungen des Daſeins.
5
N
Von dieſen beiden Momenten aber erklärt fid) die Einheit des Typus
einfach aus der Einheit der Abſtammung. Alle Organismen, die von
der gleichen Stammform hergekommen ſind, müſſen auch nach gleichem
Grundplan gebaut fein. Die Anpafjung an die Lebensbedingungen,
die Cuvier einſt ſo bedeutend in den Vordergrund geſtellt hatte, iſt
nach Darwin aber ebenſo maßgebend für die Geſtaltung der Lebewelt.
Sie beruht theilweiſe auf unmittelbarem Einfluß äußerer Lebens⸗
bedingungen, in manchen Fällen auch theilweiſe auf dem Gebrauch oder
Nichtgebrauch der Körpertheile. Am eingreifendſten aber äußert ſie ſich
im Zuſammenwirken der phyſiſchen Daſeinsbedingungen und der beleb—
ten Mitwelt auf jede Art von Organismen, Pflanze wie Thier. Sie
macht ſich hier auf dem Wege einer natürlichen Aus leſe geltend,
welche zwiſchen Lebeweſen, die ſich den Lebensbedingungen mehr und
ſolchen die ſich ihnen minder gut anpaſſen, unterſcheidet. Letztere ſterben
allmählig aus, die bevorzugten, beſſer den Verhältniſſen angepaßten
Individuen aber erhalten ſich am Leben und werden für den Charac-
ter der nächſten Generation maßgebend.
Beiden von Darwin angenommenen Hauptgeſetzen, dem der
Einheit des idealen Bau's und dem der Anpaſſung, liegt aber ein
noch tieferes Moment zu Grunde, das Geſetz der Erblichkeit.
Nach dieſem pflanzten ſich erſtens der Grundplan der Organiſation
und zweitens die von den Stammformen ſchon vollbrachten Anpaſſun⸗
gen an die Lebensbedingungen in vorwiegender Gleichheit durch alle
Generationen von Eltern auf die Nachkommen fort.
Die Natur der Erblichkeit drückt ſich durch den Satz „Gleiches
erzeugt Gleiches“ aus. Charactere von Individuen, ſowohl ſolche
von allgemeiner Art als ſolche, welche in denſelben individuell eigenen
Abweichungen beſtehen, vererben ſich vorwiegend oder vollſtändig
auf die Nachkommen.
Eine ſolche Vererbung iſt im Pflanzen- wie im Thierreich vor—
wiegend, jedoch nicht ganz ausſchließlich ausgeſprochen. Jedes Einzel—
weſen gleicht mehr oder minder und zwar gewöhnlich in weit über—
wiegendem Grade denen, von welchen es herſtammt. Dieſes Verhältniß
iſt jo allgemein gültig, daß wir es als an und für ſich ſelbſtverſtänd⸗
lich zu überſehen pflegen. Alle unſre Eintheilungen und Beſchreibun—
gen von Arten, Varietäten und Raſſen gründen ſich darauf. Aber es
gibt auch Stammesfolgen, wo die Züge der Aehnlichkeit geringer bleiben
und unſre Syſteme Ausnahmen unterliegen. Die Erblichkeit iſt, wie
Darwin ſagt, die allgemeine Regel, aber es gibt Ausnahmen davon.
59
So beobachtet man zahlreiche Fälle, in denen einzelne Merkmale
von Eltern nicht erblich ſind. Aber ſie verſchwinden doch gegenüber
der Geſammtzahl und wichtigeren Bedeutung jener andern Vorgänge,
in denen eine Vererbung ſtatt findet. Man findet ferner andere Fälle,
wo eine Abweichung als Ausnahme von der Erblichkeit auftritt, aber
alsbald ſelbſt vererblich wird, alſo dem Geſetze der Vererbung wieder
ſich unterordnet.
Erblichkeit und Abweichungen von der Erblichkeit ſtehen innig im
Zuſammenhang mit der Mannigfaltigkeit der organiſchen Formen. Voll⸗
kommene Erblichkeit würde eine vollkommen gleichartige Lebewelt er—
zeugen, wie ſie jetzt nicht vorhanden iſt. Allgemeine und grenzenloſe
Abweichung von der Vererbung aber würde zu einer entſprechenden
Verwirrung aller organiſchen Formen führen. Nach Darwin iſt alſo
keins dieſer beiden Momente mit Rückſicht auf den Stand der heutigen
Lebewelt für ſich allein denkbar. |
Die Erblichkeit der Pflanzen- und Thiercharactere begründet ſich durch
den Zuſammenhang der materiellen Theile und der Lebens—
erſcheinungen des elterlichen und des neuerzeugten Lebeweſens.
Die lebende Natur bietet einen ewigen Fortgang des Lebens
durch Selbſttheilung, Knospung, Sporen- und Eierbildung. Dieſe
verſchiedenen Arten der Fortpflanzung laſſen ſich in eine geſchlechtsloſe
und eine geſchlechtliche theilen. Erſtere iſt die einfachere und kommt
vorzugsweiſe den Pflanzen und den niederen thieriſchen Organismen
zu, letztere iſt zuſammengeſetzter, ſie kommt bei höheren Pflanzen und
niederen Thierformen gewöhnlich neben voriger vor, iſt aber bei höheren
Thieren ausſchließlich entwickelt. In allen dieſen Fällen ſtehen erzeu—
gende und erzeugte Lebeweſen in Continuität der materiellen Grund—
lage und vererben daher ihre Eigenthümlichkeiten.
Die Fortpflanzung überhaupt iſt nur eine Fortſetzung von
Ernährung und Wachsthum, welche, nachdem ſie für die Aus—
bildung des Individuums genug gewirkt, zur Erzeugung neuer In—
dividuen wirkſam werden.
Geſchlechtsloſe Fortpflanzung iſt eine einfache Wachsthumserſchei—
nung. Ein lebender Theil trennt ſich vom Ganzen, um, wenn die
Umſtände günſtig ſind, ſeine Entwicklung allein fortzuſetzen.
Der Baum ſproßt Jahrzehende und Jahrhunderte lang fort und
fort Knospen auf Knospen, jede ein mehr oder minder ſelbſtändig
lebensfähiger Zuſtand derſelben Art. Die Knospe iſt ein nur zu theil—
60
weiſe ſelbſtändigem Leben entwickelter Theil des Organismus, fie er-
hält deſſen weſentliche materielle Grundlage und ererbt damit auch
alle weſentlichen Lebenserſcheinungen. Knospen, vom elterlichen Or—
ganismus durch äußere Einflüſſe abgelößt und in entſprechende Lebens-
verhältniſſe gelangt, wachſen in zahlloſen Fällen ſelbſtändig fort und
behalten dabei alle elterlichen Charactere bei. Der Menſch kann dieſen
Vorgang im Pflanzenreiche in zahlreichen Fällen durch Hervorrufung
günſtiger Umſtände weiter ausdehnen. Ein Weidenzweig, in feuchten
Boden gepflanzt, treibt bald unten Wurzel und oben neue Zweige und
wird in kurzem eine neue Pflanze, welche alle elterlichen Charactere
geerbt hat. Alle Trauerweiden und alle italieniſchen Pappeln ſind durch
ſolche Ableger künſtlich fortgepflanzt.
Bei einer Reihe von ſehr nieder ſtehenden Thierformen beſitzt
ähnlich wie bei Pflanzen die organiſche Körpergrundlage die Fähigkeit
durch Theilung, durch Knospung oder Sproſſung ſich zu mehreren —
ſei es nun frei werdenden oder zuſammenhängend bleibenden In
dividuen zu vervielfältigen.
Selbſttheilung kommt vor bei Rhizopoden, Infuſorien, An—
thozoen, Hydroiden, Planarien, Naiden. Sie geſchieht bei einigen For—
men der Länge, bei andern der Quere nach. Regenwürmer zeigen zwar
nicht von ſelbſt aber doch in Folge äußerer Eingriffe eine ſehr aus—
gezeichnete Quertheilung.
Knospen oder Gemmen, Ausläufer oder Stolonen
erſcheinen häufig bei Anthozoen, ſowie auch bei Bryozoen und Tunica—
ten. Der Vorgang iſt ganz ähnlich wie im Pflanzenreih. In man⸗
chen Fällen lößen die Knospen ſich los und werden zu wahren Indi—
viduen, in andern bleiben ſie in Zuſammenhang mit dem Mutterthier.
Die Fortpflanzung auf geſchlechtlichem Wege durch Samen und
Eier iſt ein ähnlicher aber zuſammengeſetzterer Vorgang. Hier ver—
einigen ſich zwei verſchiedengeſtaltete Theile, einerſeits das Ei’ chen
(ovulum), andrerſeits die Zooſpermien oder der Pollenſtaub,
um ein neues Weſen zu bilden. Der Vorgang iſt hier doppelt, aber
ſonſt von gar nicht anderem Weſen. Das Ei'chen einerſeits, die Zoo—
ſpermien und Pollenkörner andererſeits entſtehen auf dieſſelbe Weiſe aus
einem lebenden Weſen, nach welcher die Ernährung zur geſchlechtsloſen
Fortpflanzung führt, d. h. ihre Entſtehung beruht auf einer Abtren—
nung eines belebten Theiles von einem Individuum. Sie geht von
einer Zelle aus, die zur Gewebe-Grundlage des elterlichen Organis—
61
mus gehörte. Geſchieht eine ſolche Entwicklung in zwei getrennten
Theilen eines und deſſelben Individuums, ſo heißt die Art ein Her—
maphrodit. Bilden ſich aber Ei'chen in einem, Zooſpermien oder
Pollenkörner nur in einem andern Individuum, ſo haben wir damit
Weſen von getrenntem Geſchlecht, Männchen und Weibchen.
Das Ei'chen und die Zooſpermie oder das Pollenkorn ſtehen ſowohl
in Hinſicht der Entſtehungsweiſe als auch im Bau den niederſten Or—
ganiſationsformen, die zum Theil nicht mehr als wie freie ſelbſtändig—
lebende Zellen zu ſein ſcheinen, ſehr nahe gleich. Dieſer Vergleich
gilt z. B. jedenfalls für die Hefenzellen und die Pollenkörner. Doch
ſcheinen auch wohl die niederſten Infuſorien wenig mehr als einfache
Zellen zu ſein.
Das befruchtete Ei des Thiers oder das Samenkorn der Pflanze
entſtehen alſo aus der materiellen Grundlage des hermaphroditen
elterlichen Weſens oder des geſchlechtlich verſchiedenen Elternpaares
durch Wachsthumsvorgänge. Die auf ſie übergehenden materiellen
Theile der Stammform bleiben Träger von deren Lebenserſcheinungen
und ſo erbt das neue Weſen von Vater und Mutter.
Daß es gerade die Continuität der materiellen Grundlage zwiſchen
dem elterlichen Organismus und dem Kinde iſt, was die Vererbung
der Charactere bedingt, geht aus einer bekannten Erfahrung der Gärt—
ner hervor. Man vermehrt Pflanzen bald durch Samen, bald durch
Stecklinge oder Propfreiſer. Der Grad der Uebertragung des für die
elterliche Pflanze geltenden Bildungsgeſetzes auf ihre Nachkommen iſt
nun aber ſehr verſchieden, je nach der Art der Vermehrung, er iſt
höher bei Ablegern, geringer bei Samen. Die Uebertragung iſt am
vollſtändigſten bei Theilen, die mit der Mutterpflanze in der innigſten
Verbindung geſtanden haben. Knospen und Stecklinge vermögen dar—
nach am vollſtändigſten die Merkmale der Mutterpflanze zu vererben.
Deßhalb vermehren wir auch unſere Obſtbäume, ferner die Trauer—
eſche, die Blutbuche und viele andere Nutz- oder Zierpflanzen, deren
Hauptwerth in Varietäten-Characteren beſteht, durch Stecklinge und
Propfreiſer. Der ganze Betrag des individuellen Characters bleibt
hier erhalten.
Anders iſt es in vielen Fällen mit der Fortpflanzung mittelſt
Samen. Der Zuſammenhang des Samens mit der Mutterpflanze
wird hier ſchon frühzeitig unterbrochen. Der Samen pflanzt daher
oft nur einen geringeren Betrag von Merkmalen der Mutterpflanze
62
fort. Veredelte Obſtſorten können wegen dieſes Umſtandes gewöhnlich
nicht durch Samen nach ihrem vollen Character fortgepflanzt werden,
ihre Samen liefern nicht mehr Nachkommen vom veredelten Character
ſondern bei weitem der Mehrzahl nach nur Wildlinge von faſt der
Natur der wilden Urform.
Indeſſen liefert die Botanik doch auch merkwürdige Beiſpiele von
Vererbung ganz individueller Eigenthümlichkeiten durch Samen, die
man im Voraus nicht hätte erwarten mögen.
Dahin gehört die Vererbung der ſogenannten Drehſucht bei
Waldbäumen. Es iſt dies eine eigenthümliche Art von Mißbildung,
bei der der ganze Holzkörper in einer ſchlaffen Spirale gewunden iſt.
Man kann dies z. V. bei Eichen äußerlich an der in entſprechender
Spirale aufgeborſtenen Rinde erkennen. Dieſe krankhafte Bildung
pflanzt ſich theilweiſe durch Samen fort und es wird daher dem Forſt—
mann abgerathen von ſolchergeſtalt mißbildeten Stämmen Samen zu
nehmen, vergleiche C. Heyer. Waldbau. Leipzig 1854. p. 80.
Beſondere Aeußerungen der Erblichkeit.
Ein gewiſſermaßen fortlaufender Beweis für die Erblichkeit der
Charactere bei Pflanzen und Thieren iſt einerſeits die Landwirthſchaft
und Gärtnerei, andrerſeits die Viehzucht. Langjährige Erfahrungen
lehren, daß unſere Wagen- und Reitpferde, unſere lang- und kurz⸗
gehörnten Raſſen von Rindvieh, unſere mannigfachen Sorten von
zahmem Geflügel, deßgleichen unſere angebauten Nahrungsgewächſe ſich
unter theils vollkommener, theils weſentlich vorwiegender Beibehaltung
der ſie auszeichnenden Charactere durch eine nicht mehr zu überſehende
Reihe von Generationen fortgepflanzt haben. Auffallendere Abwei—
chungen, die dabei von der Erblichkeit vorkamen, erſchienen nur in
ſeltenen Ausnahmen plötzlich. In der Regel ſind ſie verſchwindend
gering und pflegen nur beim Vergleiche ſehr entfernter Generations-
glieder bemerkbar zu werden. In allen Fällen aber, gleichviel ob ſie
verhältnißmäßig plötzlich oder vielmehr in unmerklichen Abſtufungen
erſchienen, immer bleiben ſie gering gegenüber der zahlloſen Menge
der Charactere, welche ſich durch Fortpflanzung vollſtändig vererben.
In jener die Mehrzahl der Fälle bildenden Form, wo die Erb—
lichkeit allgemein oder doch öfters vorkommende Charactere betrifft,
pflegt man im gewöhnlichen Leben ihre Wirkung ganz zu überſehen,
*
63
weil man ſie als ſelbſtverſtändlich nimmt. Deſto unzweifelhafter aber
tritt die Natur der Erblichkeit in jenen Fällen hervor, wo ein Cha—
racter von ſeltener oder auch ganz neuer Beſchaffenheit an einem
Individuum auftritt und auch bei ſeiner Nachkommenſchaft ſich wieder—
holt, ohne bei der Menge anderer Individuen, welche in ganz der—
ſelben Gegend und unter ganz denſelben Einflüſſen leben, hervorzu—
treten. Hier erſcheint die Erblichkeit als Urſache der Wiederkehr eines
und deſſelben Characters außer Zweifel. So gibt es Fälle von Ver—
erbung angeborener Mißbildungen, z. B. überzähliger Finger bei Men—
ſchen, überzähliger Zehenglieder bei Hühnern u. ſ. w. Auch manche
Krankheiten vererben ſich von Eltern auf Kinder.
Die beſonderen Geſetze, nach welchen die Erblichkeit gewiſſer,
namentlich individuell aufgetretener Charactere ſich regelt, ſind noch
ganz unermittelt. Eine und dieſelbe Eigenthümlichkeit eines Indivi—
duums kann in einem Falle ſich auf die Nachkommen vererben, in
einem anderen iſt es nicht der Fall, ohne daß wir uns über die be—
ſondere Urſache Rechenſchaft geben können. Charactere, die von einem
Individuum auf den unmittelbaren Nachkommen ſich nicht in wahr—
nehmbarer Weiſe vererbten, können deſſenungeachtet beim Enkel oder
ſelbſt beim Urenkel ſich wiederholen. Hierher gehört z. B. der Rück—
ſchlag gezüchteter und veredelter Hausthier-Raſſen oder angebauter
Gewächſe in eine andere der Urform mehr oder minder gleiche Raſſe.
Es gibt endlich Fälle, wo eine Eigenthümlichkeit ſich von den Eltern
auf die Nachkommen beiderlei Geſchlechts vererbt und andere, wo ſie
nur auf die Nachkommen eines derſelben beſchränkt bleibt. So kommen
z. B. bei Hühnern, bei Hirſchen, beim Löwen Eigenthümlichkeiten bei
Männchen vor, die nur auf männliche Nachkommen ſich vererben.
Es ſind dies die ſogenannten ſecundären Sexualcharactere.
Nach Darwin ſcheint es, daß die Erblichkeit ſelbſt da bei Nach—
kommen noch ausgeſprochen iſt, wo ihr Erfolg noch gar nicht äußerlich
wahrnehmbar hervortritt. Der in der materiellen Grundlage des Nach—
kommens liegende Anlaß äußert nicht immer offenbare und auffallende
Wirkungen, er kann auch innerlich und verborgen — oder latent —
vorhanden bleiben und in dieſer verborgenen Form ſich weiter vererben.
Ohne dieſe Annahme dürfte der Rückſchlag gezüchteter Raſſen in
Charactere der Stammart nicht zu erklären ſein. Der Verlauf der Em-
bryonal⸗Entwicklung ſcheint damit zuſammenzuhängen, auch der Ver—
lauf gewiſſer erblicher Krankheiten.
64
Ueberhaupt erkennt Darwin aus einer Reihe von Thatſachen
ein Streben, im Nachkommen das Erſcheinen eines Characters, der
bei beiden Eltern oder auch nur bei einem derſelben ausgedrückt war,
wieder an dem entſprechenden Körpertheile und in dem entſprechenden
Lebensabſchnitte, wo er den Eltern zukam, hervorzurufen. Der Cha—
racter geht nicht auf andere Theile des Körpers über, er tritt oft in
einer beſtimmten Zeit des Lebens hervor und iſt früher und ſpäter
nicht wahrnehmbar. Als Beiſpiel einer Vererbung von Characteren,
die nur in einer der früheren Stufen der Körperentwicklung für unſer
Auge erkennbar find, erwähnt Darwin die Seidenraupe. Man be-
obachtet bei ihrer Züchtung Eigenthümlichkeiten, die nur den Raupen⸗
und Puppenzuſtand betreffen. Andererſeits können ſich beim Rind
Charactere der Hörner erſt im reiferen Alter zeigen, ſie vererben ſich
auf die Nachkommen, der Anlaß zu ihrer Entwicklung aber ſcheint im
Jugendzuſtande latent angenommen werden zu müſſen. Pflanzen, die
nur in Blüthe oder Frucht von einander abweichen, vermögen wir
beim Keimen des Samens noch nicht zu unterſcheiden.
Für die nähere Feſtſtellung und geſetzmäßige Faſſung aller dieſer
Erblichkeitserſcheinungen bleibt noch viel zu thun, unſere ſyſtematiſchen
Botaniker und Zoologen haben ſich gewöhnlich mit ſolchen Aufgaben
gar nicht befaßt.
Abweichungen von der Erblichkeit und Vererbung der
Abweichungen.
Wenn auch die Vererbung der Charactere allgemeine und an—
erkannte Regel bei der Fortpflanzung aller Pflanzen- und Thierformen
iſt, ſo hat ſie doch, wie mehrfach ſchon geſagt wurde, auch mannig—
fache — und zwar meiſtens ſehr geringe, in ſeltenen Fällen auch wohl
auffallendere Ausnahmen, vermöge welcher entweder Merkmale von
Eltern ſich bei den Abkömmlingen nicht wiederholen oder auch wohl
neue Charactere bei Nachkommen allmählig oder plötzlich auftauchen.
Eine ſolche Veränderungsfähigkeit iſt bei ſo zahlreichen Formen,
deren Lebensweiſe und Fortpflanzung wir genauer kennen, nachgewieſen,
daß man fie ohne Bedenken auf alle Organismen, auch die in dieſer Hin-
ſicht noch nicht näher unterſuchten, ausdehnen kann. Aber ihre Abſtu—
fungen ſind je nach den einzelnen Arten und je nach den Verhältniſſen,
65
denen die einzelnen Individuen einer Art ausgeſetzt erſcheinen, ſehr
mannigfach.
Sowie es überhaupt in der körperlichen Welt keine zwei abſolut
gleichen Dinge gibt, ſo gleichen auch ungeachtet der Herrſchaft der Erb—
lichkeit die Nachkommen nie vollkommen ihren Eltern und ſind auch
nie vollkommen unter ſich gleich. Sie zeigen immer einen gewiſſen,
wenn auch geringen Betrag von Abweichung in äußerlichen und ober—
flächlichen Characteren, die man dann als unweſentliche Merkmale
bezeichnet.
Die Veränderlichkeit der Pflanzen- und Thierformen innerhalb
gewiſſer, aber kaum näher feſtzuſtellender Grenzen iſt, ſowohl wenn
wir die Eltern mit den Nachkommen, als wenn wir dieſe unter ſich
vergleichen, eine allgemeine und unzweifelhafte Regel. Sie iſt am auf—
fallendſten bei Culturpflanzen und Hausthieren, aber auch ſicher nach—
weisbar an zahlreichen Pflanzen- und Thierformen im Naturzuſtande
und außerhalb der Einflüſſe des Menſchen. Ihre Wahrnehmbarkeit
hat übrigens zahlreiche Abſtufungen und fällt wohl bei der Mehrzahl
der Individuen jenſeits der Grenzen der gewöhnlichen Wahrnehmungs—
gabe, namentlich für Laien. Bei einer Heerde Schafe, an deren
Stücken wir keine faßbaren individuellen Unterſchiede zu finden ver—
mögen, wird der Hirt gleichwohl doch jedes Stück an ſeinen Eigen—
thümlichkeiten zu erkennen vermögen. Aus einer noch ſo großen An—
zahl von Vögeln, bei denen wir alle Individuen einer Art vollkommen
übereinſtimmend finden, wird doch ein zuſammengehöriges Paar ſich
mit Leichtigkeit immer wieder zuſammenzufinden vermögen. Ebenſo
weiß der Gärtner, daß ſogar nicht einmal die Knospen einer und
derſelben Pflanze einander vollkommen gleich ſind, einige ſind günſtiger
geartet und finden ſeine beſondere Aufmerkſamkeit, andere um ſo weniger.
Wir ſind darnach zur Annahme berechtigt, daß eine jede Gene—
ration von Pflanzen und Thieren von den vorhergehenden um einen
gewiſſen, wenn auch noch ſo geringen Betrag abweicht. Dieſe Ab—
weichung aber findet nicht bei allen Individuen in gleicher Richtung
ſtatt. Richtung und Grad ſind verſchieden. In manchen Fällen er—
ſcheinen die abweichenden Charactere in ſehr wahrnehmbarer Weiſe,
in anderen minder deutlich ausgeſprochen. In noch anderen bleiben
ſie für unſere Sinnesbegabung unmerklich, ſind aber nichts deſto weniger
doch immer thatſächlich vorhanden.
Bei gleichbleibenden äußeren Bedingungen — alſo des Klima's,
Rolle, Darwin's Lehre. 5
66
der Nahrung und der lebenden Mitwelt — bleibt dieſe allen orga⸗
niſchen Weſen unter allen Umſtänden zukommende Veränderlichkeit ent⸗
weder immer oder doch faſt immer innerhalb ſehr enger Grenzen.
Alle Individuen weichen von einander ab. Aber ihre Abweichungen
gleichen ſich dann in Folge der Vermiſchung und Fortpflanzung wieder
ſo weit aus, daß nach langen Generationsfolgen noch kein größerer
Unterſchied zwiſchen den äußerſten Generationsgliedern eingetreten zu
ſein ſcheint. Geſchichtliche Vergleiche liefern dafür manche Belege und
man hat aus ihnen oft, aber allzu voreilig, auf eine vollkommene
und allgemein gültige Beſtändigkeit der Arten geſchloſſen.
Die ägyptiſchen Thiermumien liefern den Beweis, daß eine An⸗
zahl von Thierarten ſeit mehreren, jedenfalls über zwei, vielleicht ſelbſt
drei bis vier Jahrtauſende hindurch beſtändig geblieben ſind. Aegypten
liefert uns aus den entlegenen Zeiten der Pharaonen nicht nur auf
ſeinen Steindenkmälern die Bilder der damals dort lebenden Thiere,
ſondern auch in ſeinen Grabmälern die einbalſamirten Körper von
vielen derſelben. Man hat unter dieſen ägyptiſchen Thiermumien Reſte
von Katzen, Hunden, Affen, Ochſen, Krokodilen und mehreren Arten
von Vögeln, namentlich von dem bei den alten Aegyptern in beſonderer
Heiligkeit gehaltenen Ibis gefunden.
Geoffroy-Saint-Hilaire hat ſich mit beſonderem Eifer
der Unterſuchung dieſer ägyptiſchen Thiermumien gewidmet, von denen
manche ein Alter von dreitauſend Jahren oder mehr haben mögen.
Es hat ſich als Ergebniß dieſer Forſchungen im Allgemeinen gezeigt,
daß zwiſchen den als Mumien erhaltenen Exemplaren und den noch
heute in Aegypten lebenden Nachkommen derſelben Art nicht mehr
Unterſchiede beſtehen, als zwiſchen den Mumien des damaligen Men-
ſchen und Skeletten der heutigen Nachkommen der alten Aegypter.
Das heißt, die individuelle Variation iſt in dieſen Fällen wirklich auch
auf die Individuen beſchränkt geblieben.
Nur unter den Krokodilmumien der ägyptiſchen Katakomben fand
Geoffroy Exemplare, die durch erhebliche Charactere vom jetzigen
Krokodile des Nilthales abweichen und die er unter eignen Artnamen
beſchrieben hat. Neuere Zoologen haben ſie als bloſe Varietäten von
Crocodilus vulgaris Cuv. gedeutet, indeſſen ſcheinen doch darunter er—
loſchene Formen zu ſein.
Auch die Unterſuchung der in den vor Jahrtauſenden errichteten
Grabdenkmälern der Aegypter erhaltenen, ſowie der in Pompeji
67
verſchütteten Pflanzenreſte, wie Datteln, Oliven, Waizen u. ſ. w. hat
gezeigt, daß die Arten im Laufe der geſchichtlichen Epoche ſich weſent—
lich gleich geblieben find. Waizenkörner aus den ägyptiſchen Pyra⸗
miden konnten unter gewiſſen Vorſichtsmaßregeln noch ausgeſät wer—
den, keimten und trugen Aehren. Man erhielt aus ihnen eine Waizen-
varietät, die mit einer der heute noch in Anbau ſtehenden vollſtändig
übereinſtimmt. (Es war der Talavera - Waizen, Triticum vulgare,
variet. spica laxa, mutica, alba, glabra. Vergleiche Graf Sternberg
im Amtl. Bericht der deutſch. Naturforſch. Verſamml. 1834 Stutt⸗
gart 1835.)
Wenn nun aber auch in einer Anzahl von Fällen im Laufe der
letzten Jahrtauſende die individuelle Abänderung der Lebeweſen ſich
innerhalb ſo enger Grenzen erhalten hat, daß ihr Betrag ſelbſt beim
Vergleich der äußerſten Endglieder noch nicht merklich oder wenigſtens
nur zweifelhaft hervortritt, ſo iſt damit immer noch nicht die Mög—
lichkeit ausgeſchloſſen, daß in längeren Zeiträumen und unter Einfluß
größerer äußerer Veränderungen auch tiefer gehende Umgeſtaltungen
der Lebewelt vorkommen konnten.
Nach Darwin iſt der Eintritt von größeren individuellen Ab—
weichungen und deren Anhäufung an beſtimmte Umſtände gebunden.
Machen ſich dieſe nicht geltend, ſo treten nicht leicht größere Abwei—
chungen von der Erblichkeit ein oder wo deren auftreten, verlieren ſie
ſich bald wieder. Wenn ſich auch wirklich im Laufe der letzten paar
Jahrtauſende in der Flora und Fauna von Aegypten keine merklichen
Veränderungen der Arten und Varietäten ſollten zugetragen haben, ſo
können im Lanfe der vielen Millionen Jahre der geologiſchen Epochen
doch in hinreichender Zahl und Ausdehnung Umſtände eingetreten ſein,
die einen ſolchen Eintritt größerer Veränderungen und deren Erhal—
tung und Anhäufung bedingten.
Uebrigens braucht man noch nicht auf geologiſche Zeitabſtände
zurückzugehen. Veränderungen, welche an einer Reihe von wilden
Thieren ſeit der Zeit der erſten Einwanderung des Menſchen in Europa
vorgegangen ſind, hat, wie ſpäter noch genauer zu erörtern ſein wird,
Dr. Rütimeyer nachgewieſen. Wie lange Zeit es dazu bedurfte, iſt
noch unermittelt, aber es mag ſehr wohl den ſeit Errichtung der
ägyptiſchen Pyramiden verfloſſenen Zeitraum beträchtlich überſchreiten.
Welcher Art jene die Veränderung der Formen begünſtigenden
Umſtände waren, lehrt beſonders die Beobachtung unſerer Cultur—
5 *
68
pflanzen und Hausthiere. Daß fie aber wirklich wirkſam waren, geht
hinreichend aus der geologiſchen Geſchichte der Schöpfung hervor, welche
fo mannigfache chronologiſche Reihenfolgen von Typen darſtellt.
Culturpflanzen und Hausthiere zeigen, daß im Laufe der geſchicht—
lichen Epoche Arten ſo verändert worden ſind, daß wir ihre Stamm—
form oft nur noch ahnen, aber zur Zeit noch nicht ſicher ausmitteln
können. Die geologiſche Geſchichte aber zeigt, daß während einzelne
Thierarten durch eine Reihe von geologiſchen Epochen ganz oder bei—
nahe ganz unverändert reichen, andere neben ihnen zu gleicher Zeit
manigfache Umgeſtaltungen erlitten, bei denen wir dann gewöhnlich auch
nur die Anfangs- und die Endglieder vergleichen, die Mittelglieder
aber in ähnlicher Weiſe wie bei cultivirten Formen errathen müſſen.
Der Eintritt von individuellen Veränderungen bei Pflanzen und
Thieren, welche das gewöhnliche allgemeine Maß merklich überſchrei—
ten, hängt nach Darwin von mehreren Momenten ab, die in
ſehr ungleichem Grade einwirken und einzeln oder vereinigt wirken
können. Der unmittelbare Wechſel der äußeren Daſeinsbedingungen
kann unmittelbar für ſich allein einiges bewirken, ebenſo der Gebrauch
oder Nichtgebrauch der Körpertheile, am weſentlichſten aber erſcheint
nach Darwin der Einfluß des Wechſels der äußeren Bedingungen
auf das Fortpflanzungsſyſtem der Organismen. Dieſer letztere Weg
iſt es, auf dem auf experimentellem Wege die größten Veränderungen
der organiſchen Form hervorgerufen werden können.
Der Menſch hat ſeit undenklichen Zeiten jene Umſtände, welche
auf die Veränderung der Pflanzen und Thiere befördernd einwirken,
vielfach und in ausgedehnter Weiſe, theils unabſichtlich, theils mit
berechnender Einſicht hervorgerufen und zu ſeinem Vortheile dadurch
mannigfache Umgeſtaltungen in einem Theile der Pflanzen- und Thier-
welt bewirkt. Die heutigen, von den urſprünglichen Stammarten mehr
oder minder abweichenden Formen unſerer Culturgewächſe und Haus—
thiere ſind das Ergebniß dieſes Vorganges. Für die älteſten Zeiten
des Menſchengeſchlechtes und vielleicht für manche heutige, auf ſehr
tiefer Stufe ſtehen gebliebene Völker kann man mit Darwin eine
unabſichtliche Züchtung annehmen. Doch gibt es in dieſer Hin—
ſicht keine feſten Grenzen und die hiſtoriſchen Nachrichten laſſen uns
vielfach im Stich, wenn wir nach der Geſchichte und ehemaligen Be-
handlung der Hausthiere und Culturpflanzen forſchen. In unſeren
Zeiten, wo man Urſache und Wirkung auch bei den von uns gezüch⸗
69
teten Pflanzen und Thieren beſſer zu durchſchauen gelernt hat, betreibt
man auch eine abſichtliche Züchtung nach Plan und Berechnung.
Man erzielt mit ihr in kurzer Zeit noch weit raſchere und zugleich
tiefer gehende Veränderungen, als ſonſt die unabſichtliche Züchtung in
längeren Friſten hervorrief.
Die Erfolge, welche in dieſer Hinſicht der Menſch erzielte, unter—
ſcheiden ſich von den Veränderungen der Lebewelt, welche im Laufe
der geologiſchen Epochen vor ſich gingen, dadurch, daß ſie raſcher er—
folgten, aber auch weniger tief eingreifen und ſich weniger befeſtigt
haben.
Culturgewächſe.
Landwirthſchaft und Gärtnerei beruhen auf der Wechſelbeziehung
zwiſchen Erblichkeit, Veränderlichkeit und Vererbung der Verände—
rungen in der Pflanzenwelt. Der Menſch kann in dies Spiel der
organiſchen Bewegungen bis zu einem gewiſſen Grade eingreifen, es
geſchieht dies in leichtem Grade in der Landwirthſchaft, in höherem
bei der Kunſtgärtnerei, welche letztere auch in Beziehung auf den Grad
der erzeugten Veränderungen und die mehr oder minder willkührliche
Beherrſchung derſelben die größten Erfolge aufzuweiſen hat.
In der Kunſtgärtnerei haben unzählige Verſuche und Erfah—
rungen gelehrt, daß die ſcheinbar ſo unveränderliche Form der Pflanze
unter der Hand des Menſchen einen überraſchenden Grad von Bild—
ſamkeit darbietet. Der Gärtner iſt im Stande durch Wechſel der
Lebensverhältniſſe, durch Kreuzung und durch Benutzung von ſcheinbar
ganz unbeträchtlichen individuellen Abweichungen der von ihm ange—
bauten Pflanzen eine wunderbar manigfaltige Reihe von neuen For—
men und Farben zu erzielen.
Pflanzen im freien Naturzuſtande ſind nur wenig zur Verän—
derlichkeit geneigt, ſie bleiben ſich gewöhnlich von Generation zu Ge—
neration ſehr gleich und Abänderungen treten bei ihnen nur ſelten in
wahrnehmbarem Grade auf. Sobald wir ſie aber in Gärten ziehen,
ändern ſie ab und liefern dann gewöhnlich eine Reihe beſonderer Ab—
änderungen, welche für den Gärtner den Anlaß zu noch weiter n
der Steigerung der beſonderen Eigenthümlichkeiten geben.
So ſagt auch Willdenow, einer der vorzüglichſten älteren
deutſchen Botaniker, Abarten von wilden Gewächſen ſind ſeltener als
70
ſolche von Culturpflanzen und finden ſich in gebirgigem Lande ſowie
in wärmerem Klima häufiger als in ebenen und in kälteren Gegenden.
Sie vergehen aber auch bald wieder, ſo daß keine Spur von ihnen
zurückbleibt, wenn ſie der Menſch nicht in ſeine Gärten verſetzt und
da fie zu erhalten oder weiter zu vervielfachen bemtiht iſt. Auf dieſe
Art haben wir in unſeren Gärten z. B. die Birke mit zerſchlitzten
Blättern (Betula alnus var. laeiniata), die Blutbuche (Fagus sylvatica
Lin. var. foliis atropurpureis) und mehrere andere Gewächſe erhalten,
von denen wir jetzt nichts mehr wiſſen würden, wäre man nicht be—
müht geweſen, dieſe Abänderungen weiter zu vermehren und aus der
Wildniß in unſere Parke zu verſetzen. Auffallender aber wirkt die
Cultur auf alle ihr unterzogenen Pflanzen, jede wilde Art, wenn ſie
einer ſorgfältigeren Pflege gewürdigt wird, liefert neue Abänderungen
und ſetzt dieſen Vorgang ins endloſe fort.
Ein Theil der bei Culturpflanzen hervorgebrachten Eigenthüm—
lichkeiten kommt auf Rechnung der verſchiedenen Lebensbedingungen,
denen man ſie ausſetzt, namentlich der theilweiſe veränderten und meiſt
viel reichlicheren Nahrung, die wir ihnen zuführen. Die Ernährungs-
vorgänge bei der angebauten Pflanze ſind andere als bei der wilden,
dies bedingt dann gewiſſe Verſchiedenheiten in der chemiſchen Miſchung
der Säfte, die dann ihrerſeits wieder auf die Formentwicklung der
Pflanze einwirken. Ein anderer Theil der Eigenthümlichkeiten unſerer
Culturpflanzen beruht auf Angewöhnung; der Einfluß des Menſchen
iſt auf dieſem Felde im Ganzen genommen aber nur gering.
Licht, Wärme, Luft, Waſſer und Beſchaffenheit des Bodens
wirken zunächſt auf die Entwicklung der Pflanzen ein. Dieſe Einwir⸗
kung geſchieht je nach dem Grade der einzelnen Momente in ſehr
verſchiedenen Abſtufungen, ihre Folgen äußern ſich theils unmittelbar
ſchon am pflanzlichen Individuum, theils erſt an deſſen Samen und
Sämlingen. Hierdurch entſtehen unter unſeren Augen und unter unſeren
Händen bald allmählig, bald raſcher neue Varietäten. Die Verände—
rungen betreffen vorzugsweiſe Vermehrung oder Verminderung der
Maſſe einer Pflanze, ſei es des Ganzen oder einzelner Theile der—
ſelben, dann auch die Zuſammenſetzung des Zelleninhaltes und der
Ausſcheidungen, alſo z. B. der Färbung und der aromatiſchen Be—
ſtandtheile, endlich auch wohl bis zu einem gewiſſen Grade die Form
der Pflanze und ihrer Theile, z. B. der Blätter und Blüthen.
Alles, was überhaupt die Lebensthätigkeit der Pflanze anregt, wie
71
Licht und Wärme, alles, was der Pflanze Nahrung zuführt, alſo nament⸗
lich Luft, Waſſer, Humusgehalt des Bodens, Kohlenſäure, Ammoniak und
einige für das Pflanzenleben weſentliche mineraliſche Subſtanzen, wirken
ſchon unmittelbar auf die Vergrößerung der Pflanze und ihrer Theile ein.
Es iſt eine allgemeine Erfahrung, daß ein von Natur aus guter,
und die nöthige mineraliſche Zuſammenſetzung zeigender humusreicher
oder ein künſtlich hinreichend gedüngter Boden Gewächſe aller Art in
ihrem Wachsthum fördert, die Größe und Fruchtbarkeit erhöht, über—
haupt den ökonomiſchen Ertrag vervielfacht. Verminderung jener för—
dernden Einflüſſe verkümmert den Pflanzenwuchs mehr oder minder.
Die einzelnen Pflanzen ſind darin ſehr verſchieden. Die meiſten Pflan—
zen zeigen in einem an vermodernden organiſchen Subſtanzen ſehr
armen Boden auch nur ein ſehr kümmerliches Wachsthum, in einem
von ſolchen Beſtandtheilen freien pflegen ſogar die meiſten ſchnell zu
Grunde zu gehen. Sehr genügſamer Art find die Föhre (Pinus syl-
vestris Lin.) und die verſchiedenen Heidearten (Erica und Calluna),
ſie gedeihen ſchon in einem Boden, der nur Spuren von Humus zeigt.
Unſere Cerealien und Gemüßepflanzen dagegen bedürfen zu einem kräf—
tigen Gedeihen eines hinreichend humusreichen oder gedüngten Bodens.
Manche Sträucher und Baumarten, bei denen im wilden Zu—
ſtand regelmäßig ein Theil der Aeſte durch Verkümmerung der Knos—
pen in Form von Dornen verbleibt, entwickeln, wenn ſie — wie
z. B. der Schlehenſtrauch, Prunus spinosa Linné, die Holzbirne, die
deutſche Miſpel u. ſ. w. behufs der Veredlung zu Obſtbäumen — in
fruchtbaren Gartenboden verſetzt werden, zufolge der geſteigerten Nah—
rungszufuhr auch jene verkümmerten Knospen, ſo daß die Dornen zu
vollkommenen knospentragenden Zweigen werden. Ein wilder dorniger
Baum verliert aber nach De Candolle ſeine Dornen nicht gleich
ſchon im folgenden Jahre, wenn er in einen guten Boden verſetzt
wird, ſondern es bedarf mehrerer Jahre dazu, daß die geänderten
Verhältniſſe zur vollen Geltendmachung ihres Einfluſſes gelangen können
und dann erhält ſich der neue Character fort.
Aenderungen in der Miſchung des Bodens, Düngung mit Moor—
erde, Eiſenocher, Aſche u. dgl. erzeugen bei einer Anzahl von Pflan-
zen manigfache Veränderungen in einem Theile der chemiſchen Be—
ſtandtheile, namentlich des Zellinhaltes, daher auch eine entſprechende
Aenderung von Geſchmack, Geruch und Farbe. Bisweilen erfolgt da—
von zugleich auch eine Vermehrung oder Verminderung des Wuchſes.
12
Manche Pflanzen trockner und ſonniger Standorte zeichnen fich
durch einen behaarten Ueberzug aus; Haare vergrößern die Ober—
fläche und find ein wichtiges Organ' der Pflanze für Aufſaugung von
Feuchtigkeit aus der Luft. Solche behaarte Pflanzen werden aber
kahler, wenn man ſie an einen feuchteren oder ſchattigeren Ort ver—
pflanzt. Waſſerpflanzen bedürfen keiner Behaarung, ſie ſind daher meiſt
glatt. Aber manche derartige Gewächſe von feuchten ſchattigen an
trocknere Standorte verpflanzt, werden behaarter.
Licht und Wärme befördern und beſchleunigen unter ſonſt günſti—
gen Umſtänden, und namentlich wenn nicht zugleich überflüſſige Feuch—
tigkeit hinzukommt, alle Lebenserſcheinungen der Pflanze überhaupt.
Sie rufen früheres Keimen, früheres Blühen, früheres Reifen hervor.
So werden z. B. mehrere bei uns zweijährige Gewächſe in wärmeren
Ländern einjährig.
Viele jener Veränderungen, welche die unmittelbaren Lebensbe—
dingungen in den Pflanzen hervorrufen und der Menſch auch durch
dieſſelben beliebig bei Pflanzen zu Stande bringen kann, beruhen auf
Gegenſatz oder Antitheſe der Entwicklung, indem die geſteigerte Aus—
bildung nur einen Theil der Pflanze betrifft und deren Lebensthätig-
keit ſo weit erhöht, daß dadurch andere Theile zurückbleiben oder gar
nicht zur Entwicklung gelangen. In einen ſolchen Gegenſatz treten
unter gewiſſen Umſtänden namentlich die nutritiven oder vegeta—
tiven Theile der Pflanze, wie Wurzeln, Stengel und Blätter, die
vorzugsweiſe für Aufſaugung, Athmung und Ernährung wirken, zu
den generativen Theilen, den Blüthen und Früchten, welche vor—
zugsweiſe die Fortpflanzung vermitteln.
Manche Aenderungen des Bodens, z. B. Auflockerung, reichliche
Düngung und reichliche Befeuchtung tragen zunächſt zur Vermehrung
der Thätigkeit der Wurzeln und der vegetativen Verrichtungen über—
haupt bei. Sumpfboden, Schatten, Dunkelheit, anhaltender Regen
und Nebel wirken auf dieſſelbe Weiſe. Sie erhöhen vorzugsweiſe die
Thätigkeit und Entwicklung von Wurzeln, Stengeln und Blättern,
vermindern dagegen antithetiſch die Entwicklung von Blüthe und Frucht.
Bei allzu üppicher Entwicklung der Vegetation, alſo der Stengel—
und Blatt-Bildung, erſcheint nämlich entweder keine Blüthe oder die
Blüthe erleidet eine vegetative Rückbildung, welche die Erzeugung der
Frucht verhindert. Die Rückbildung zur vegetativen Form geſchieht
unter kräftigerer Entwicklung der Blüthentheile. So entſtehen unſere
73
gefüllten Garten- und Treibhausblumen wie die gefüllten Nelken,
Roſen, Tulpen u. ſ. w.
Man kann daher auch die einſeitige Vegetation einer Cultur—
pflanze begünſtigen, ſobald man auf die Gewinnung von Früchten
Verzicht leiſtet oder auch der Bildung ſolcher ſelbſt entgegenwirkt. So
kann z. B. der Ertrag der Kartoffelerndte geſteigert werden, wenn
man die Blüthen zeitig abpflückt. Der Ertrag der Zwiebeln wird
vermehrt, wenn man den Blüthenſchaft, ſobald er ſich zeigt, weg—
ſchneidet. Die blätterreichen Varietäten des Weißkohls können nur
durch Unterdrückung der Blüthen gewonnen werden. Hemmt man
Blüthe- und Fruchtbildung einjähriger Pflanzen, ſo können ſie dadurch
ſogar in zweijährige umgewandelt werden. Die einjährige Reseda
odorata kann, wenn man fie am Blühen hindert, bis zu einem ſechs
Fuß hohen Strauche herangezogen werden. Dies Beiſpiel zeigt auch
wie der Menſch durch Benutzung natürlicher Verhältniſſe die eigen—
thümliche Lebensdauer der Pflanzen zu einem gewiſſen Grade ver—
längern oder verkürzen kann.
Feſter und humusarmer Boden, Trockenheit und Licht wirken
mehr auf Entwicklung der generativen Organe, Blüthe und Frucht.
Wer daher die generativen Verrichtungen einer Culturpflanze begün—
ſtigen will, muß entweder jene Verhältniſſe hervorrufen oder auf an—
derweitem Wege die Entwicklung der vegetativen Theile von einer ge—
wiſſen Grenze an hemmen. So beſchneidet man die Spalierbäume,
dies erzeugt eine mäßige Verminderung des vegetativen Lebens und
führt den dabei erſparten Nahrungshaft der Fruchtbildung zu. Bei
den Erdbeeren vermehrt man nach ähnlichem Grundſatz die Frucht—
bildung durch Ablößung der Ausläufer.
Eine natürliche Hemmung der Vegetation zum Vortheil des
generativen Syſtems iſt die Bildung der Knospen bei unſeren Bäumen.
Sie ermöglicht die Fruchtbildung. Hieraus erklärt ſich warum viele
europäiſchen Bäume, wenn man ſie in tropiſche Gegenden verſetzt oder
in Treibhäuſern hält — wo eine unausgeſetzt gleichmäßige Vegetation
bei ihnen hervorgerufen wird — gar nicht zum blühen gelangen und
daher auch keine Früchte tragen.
Viele exotiſche Pflanzen, welche in unſern Treibhäuſern gehalten
werden, ſetzen nie oder nur ſehr ſelten Samen an, weil die Einflüſſe,
unter denen fie hier leben, ihr Fortpflauzungsſyſtem benachtheiligen.
Es gibt aber bei manchen derſelben Mittel dieſe ſtörenden Einflüſſe
74
zu befeitigen, z. B. Veränderungen des Bodens oder der Feuchtigkeits-
menge. Manche Treibhauspflanzen bringen ſeltſamer Weiſe nur dann
ihre Früchte zur Reife, wenn man bei einer gewiſſen Ausbildungsſtufe
den blüthentragenden Stengel abſchneidet. Dies iſt namentlich bei
manchen Lilienarten der Fall.
Mittelbare Einwirkung äußerer Bedingungen auf
Culturgewächſe.
Wenn die unmittelbaren Einwirkungen veränderter Bedingungen,
denen wir die Pflanzen ausſetzen, ſchon ziemlich beträchtlich ſind, ſo
ſind es die mittelbaren Folgen noch mehr. Dieſe binden ſich vorzugs—
weiſe an den Samen der Pflanze, in einzelnen Fällen auch an Knos—
pen und führen zur Vererbung erworbener Eigenſchaften auf die Nach—
kommen.
Darwin hebt hervor, daß der Anbau wilder Gewächſe in vielen
Fällen ſehr weſentlich auf die Verrichtungen ihres Fortpflanzungs—
ſyſtemes einwirkt. Vermehrte Zuführung der Nahrung, ſobald ſie nicht
durch allzugroßes Maaß die Blüthen- oder wenigſtens die Fruchtbil—
dung fehlſchlagen macht, wirkt im Allgemeinen vortheilhaft auf den
Samen ein. Darwin iſt der Anſicht, daß derartige vortheilhafte
Einwirkungen nun aber auch in vielen Fällen die Neigung zur Ver—
änderlichkeit in den Samen vergrößern. Viele ältere und neuere Bo—
taniker ſprechen ſich in der That gelegentlich ebenſo dahin aus.
Es ſtehen uns für die Einwirkung auf die Fruchtbildung der
Pflanze manigfache Grade der Einwirkung zu, wir können ſie theil—
weiſe begünſtigen, und theilweiſe oder ganz hemmen. Wo die Einwir—
kung aber die günſtigſte iſt, führt ſie zu reichlicher Ausbildung der
Samen. Dieſe liefern dann auch entweder in allen oder doch einem
Theile der Individuen günſtiger geartete oder veredelte Sämlinge. In
manchen Fällen iſt dies bei Samen derſelben Pflanze entſchieden in
ungleichem Grade der Fall. Sämlinge von einer und derſelben Frucht
erzogen, weichen bisweilen in beträchtlichem Grade von einander ab,
was beſonders bei der Ausſaat von Samen unſerer obſttragenden
Bäume und Sträuche wiederholt beobachtet wurde. Auf einem ſolchen
Wege wird alſo die individuelle Variation der Pflanze vermehrt und
erhöht.
Dieſe Anſicht hat in der That ſehr viel wahrſcheinliches, denn
75
wenn die verſchiedenen Methoden des Anbaues in ſo vielen Fällen
ſtörend auf die Verrichtungen des Fortpflanzungsſyſtems der Pflanzen
einwirken, ſo iſt es auch ſehr wohl annehmbar, daß ſie in ſolchen
Fällen auch weſentlich verändernd auf die Natur der Pflanzen ein—
wirken, wo die Samenbildung noch nicht durch ſie gehemmt wird.
Dieſe Veränderungen bleiben zunächſt mehr oder minder latent, über—
tragen fi aber auf den Samen und äußern fi dann erſt bei der
Nachkommenſchaft. Darwin iſt geneigt, dieſem mittelbaren, auf dem
Wege der Fortpflanzung zur Aeußerung gelangenden Einfluß der
äußeren Lebensbedingungen einen weſentlichen Antheil an der Erzeu—
gung der großen Menge von Varietäten zuzuſchreiben, durch welche
die meiſten unſerer Culturpflanzen in einem ſo auffallenden Gegenſatz
zu den nächſt verwandten wilden Gewächſe ſtehen.
Wenn alſo die Erzeugung von Culturformen durch Anbau, wie
Darwin annimmt, eng mit phyſiologiſchen Vorgängen, alſo der
Miſchung der Nahrungsſäfte und der Geſtaltung des Samens zu—
ſammenhängt, ſo iſt es auch begreiflich, daß ſie bei niederen Pflanzen,
wie z. B. Cryptogamen und außerdem auch bei Coniferen faſt nie
ausgeführt worden iſt. Bei dieſen iſt ſowohl die Leiſtung in Erzeu—
gung von Nahrungsſtoffen an ſich gering als auch die Samenbildung
wahrſcheinlich zu einfach, um von den Cultureinflüſſen merklich berührt
werden zu können.
Ganz ähnlich ſprach ſich vor Jahrzehenden ſchon der ausgezeich—
nete deutſche Botaniker Willdenow über die individuelle Variation
wilder wie auch angebauter Pflanzen aus.
Er ſagt, es iſt höchſt wahrſcheinlich, das man den Grund wo
nicht aller Abarten doch der meiſten im Samen ſuchen muß. Nach—
dem dieſer durch die beſondere Art der Befruchtung, der Ernährung,
Witterung u. ſ. w. ſich zu entwickeln Gelegenheit hatte, nach dem
Grade wird auch die aus ihm hervorgehende Pflanze mehr oder we—
niger Verſchiedenheiten zeigen. Unter unſeren heimiſchen Waldbäumen
find die Steineiche (Guercus robur) und die Stieleiche (Qu.
peduneulata Ehrh ) in Rückſicht ihrer Blattform gewiß den meiſten Ab—
änderungen unterworfen. Man ſehe eine Baumſchule von Eichen an,
wo ſie aus dem Samen in gleichem Boden und in gleicher Lage ge—
zogen und alle gleicher Behandlung unterworfen wurden, wie verſchie—
den werden ſich die Individuen hier zeigen! Ein Bäumchen wird
raſcher in die Höhe gewachſen ſein als das andere, jenes früher aus—
16
treiben als das neben ſtehende, ein anderes dunkler oder blaſſer ge—
färbt ſein, wieder ein anderes tiefer oder flacher eingeſchnittene Blätter
haben. Bei derartigen Verſchiedenheiten können nicht Klima, Boden,
Lage u. ſ. w. die betreffenden Veränderungen hervorbringen. Es liegt
allein im Samen, es kann eine Menge von Urſachen auf dieſen ge—
wirkt haben.
De Candolle iſt gleicher Anſicht. Er geht davon aus, daß
eine durch äußere Einflüſſe hervorgerufene Veränderung der inneren
oder äußeren Bildung der Organe einer Pflanze von Einfluß wird
auf die Bildungsweiſe der nachfolgend erſt zur Entwicklung gelangen—
den Organe und dieſe ihrerſeits dann wieder auf die nachfolgenden
Knospen, Samen u. ſ. w. einwirken können. Eine Umgeſtaltung im
Stengel kann auf die Früchte einwirken.
Ebenſo ſpricht ſich Schleiden aus (Phyſiologie 1851. S. 383).
Er bemerkt, daß die Einwirkung, welche ein an Nahrungsſtoffen reicher
Boden auf die angebaute Pflanze ausübt, vorzugsweiſe ſich in der
Ausbildung des Samens geltend macht. Ferner, daß ein von über—
mäßig reichem Boden gewonnener Samen keine vorzugsweiſe gleich—
artigen Sämlinge liefert, ſondern vielmehr zur Hervorbringung manig-
facher Spielarten geeignet iſt.
Wie vielſeitig aber auch ſelbſt in den einfachſten Formen des
Anbaues die Aenderungen ſind, die wir beim Erziehen einer wilden
Pflanze in ihrer Lebensweiſe hervorrufen, und wie leicht dieſe dann
auf den Samen ihre Wirkungen übertragen können, hat ebenfalls unſer
trefflicher Willdenow längſt ſchon in klarer Weiſe hervorgehoben
und es läßt ſich in dieſer Hinſicht kein beſſerer Commentar zu einem
Theile von Darwin's Anſichten geben, als eine bloße Wiedergabe
von Willdenow's Darſtellungen ſchon ausdrückt.
Bei der wilden Pflanze, jagt Willdenow, tft der ganze Bo-
den umher mit verſchiedenen anderen Gewächſen beſetzt, die einen Raſen
bilden, der den Sonnenſtrahlen den Zugang verſagt und zugleich den
Boden feuchter erhält. Die Wurzeln können ſich nicht frei ausbreiten,
ſie dehnen ſich nur ſo weit aus, als es bei der dichten Beſetzung
des Bodens der Raum erlaubt. Die Feuchtigkeit, welche ein ſo weſent—
liches Nahrungsmittel der Gewächſe iſt, wird ihr blos durch die Atmos—
phäre unter mancherlei Geſtalt — als Regen, Thau, Waſſergas u. ſ. w.
— mitgetheilt.
Ganz verſchieden hiervon lebt die Culturpflanze. Die Erde um—
77
her wird durch die fleißige Hand des Gärtners von allem Unkraut
befreit, ihre Wurzel kann ſich beſſer ausbreiten und bei großer Dürre
wird ſie nach Bedürfniß mit Waſſer begoſſen. Sie iſt nicht mehr ſich
ſelbſt überlaſſen, ſondern muß manigfachen Antrieben folgen, die ihr
der Menſch ertheilt. Den ihr angemeſſenen Standort, die Lage und
das Erdreich, das ihr bisher am angemeſſenſten war, verliert ſie ganz
und muß auf dem Boden fortkommen, den ihr die Hand des Gärt—
ners zutheilt.
Es iſt natürlich, daß die Pflanze nicht die vorige Geſtält und
die urſprünglichen Eigenſchaften beibehalten kann. Es müſſen bei der
Verſchiedenheit der Nahrungsmittel, bei der veränderten Lage und den
übrigen umgeſtalteten Verhältniſſen auch Veränderungen in der Mi—
ſchung der Säfte hervorgebracht werden, die einen großen Einfluß
auf die Bildung der folgenden Generationen haben müſſen.
Wird nun eine ſolche Behandlung auch bei dieſen fortgeſetzt und außer—
dem noch durch allerhand Kunſtgriffe unterſtützt, ſo iſt es einleuchtend,
daß am Ende eine beinahe ganz neue Form erzeugt werden muß, die
der Stammart nur noch in wenig Eigenthümlichkeiten gleich oder auch
nur noch ähnlich iſt. So finden wir denn zufolge jener veränderten
Lebensverhältniſſe bei allen angebauten Pflanzen mehr oder weniger
tief eingreifende Verſchiedenheiten hervorgerufen, die ſie von der wil—
den Stammform unterſcheiden.
Am auffallendſten iſt die individuelle Variation der Pflanzen in
dem hin und wieder zu beobachtenden Auftreten abweichender
Knospen.
Es gibt eine Anzahl von Pflanzenarten, bei denen einzelne Knos—
pen oder Sproßen plötzlich einen neuen und von dem der übrigen
Pflanze oft ſehr abweichenden Character annehmen und bei ihrer wei—
teren Entwicklung zu einem Zweige oder Aſte kund geben.
Solche Knospen kann man durch Pfropfen oder auch wohl durch
Samen mit Beibehaltung der neu hervorgetretenen Charactere fort—
pflanzen, ſie behalten die engeren Eigenthümlichkeiten des Wachsthums,
der Färbung u. ſ. w. auch nach ihrer Trennung von der Mutter-
pflanze noch bei. In der freien Natur ſcheint der Fall ſehr ſelten
zu ſein, im Culturzuſtande der Pflanzen aber iſt er nichts ungewöhn—
liches. Die Gärtner nennen ſolche plötzlich hervorgetretene Formen
Spielpflanzen, sporting plants.
De Candolle gibt ein Beiſpiel davon. Zeigt ein Zweig Blätter
78
von ringförmig zurückgebogener Geſtalt wie bei der Ringweide, ſo
beeilt ſich der Gärtner davon Pfropfreiſer oder Stecklinge zu nehmen;
dadurch wird die neue Form erhalten und fortgepflanzt.
Schleiden gibt ein anderes Beiſpiel aus dem Bereich der wild
wachſenden Pflanzen. Wenn im dichten Wald eine Eiche gefällt wird,
ſo entwickeln ſich nicht ſelten an dem ſtehengebliebenen Stocke Neben—
knospen, die zu Zweigen auswachſen. Dieſe Zweige unterſcheiden
ſich dann aber von den gewöhnlichen der Eiche durch auffallend große
oft fußlange und drei Zoll breite Blätter.
Was Culturpflanzen betrifft, jo kommt namentlich bei Oſtbäumen
ein großer Theil des jetzigen Standes der Veredlung auf Rechnung
der Auswahl unter den Knospen. Nicht alle Knospen deſſelben Baums
ſind einander vollkommen in Natur und in Culturwerth gleich, einige
ſind beſſer genährt als andere, einige entwickeln ſich früher, andere
ſpäter. Die günſtiger geſtellten erhält der Gärtner, die minder vor—
theilhaften ſchneidet er ab. Sehr ausgezeichnete Knospen geben einen
dankbaren Gegenſtand der Propfung ab und führen zur Erzielung
werthvoller neuer Spielarten, die von da an dem Gartenſchatz erhalten
bleiben.
Darwin ſchließt aus dieſer Bildungsweiſe neuer Pflanzenformen,
daß die Einflüſſe, welche bei der Cultur der Gewächſe dieſe zu größerer
Veränderlichkeit beſtimmen, nicht nothwendig auf dem Wege der Frucht—
bildung ſich geltend machen müſſen, ſondern auch anderweitig ſich
äußern können. Damit ergibt ſich denn auch weiterhin noch der Schluß,
daß jene Einflüſſe auch da, wo fie das Ei'chen und den Pollen be-
treffen, nicht erſt bei deren Bildung auftraten. Sie wirkten vielmehr
vorerſt auf die Mutterpflanze ein und erzeugten eine Reihe theils in
die Augen fallender, theils auch zunächſt latent bleibender Verände—
rungen. Dieſe übertragen ſich dann auf das Ei'chen oder den Pollen
oder auf beide, ferner auch bei der Erzeugung der Spielpflanzen auf
eine einzelne Sproße.
Das heißt mit andern Worten, der Einfluß der äußeren Be⸗
dingungen, denen wir eine Pflanze beim Anbau ausſetzen, äußert ſich
theils unmittelbar an der Pflanze ſelbſt ſchon, theils mittelbar und
zwar alsdann in höherem Grade an ihrer Nachkommenſchaft. Hier⸗
mit ergibt ſich denn auch die Erklärung davon wie Aenderungen, die
beim Verpflanzen einer wilden Art auf Felder oder in Gärten ein⸗
treten und ihr den Character einer Culturpflanze ertheilen, oft weder
79
bei der erſten Generation, noch auch bei der zweiten, ſondern gewöhn—
lich erſt im Laufe von mehr oder minder Saaten allmählig erſcheinen
und ſich ſo weit ſteigern, als der Einfluß der ihnen zugewieſenen
Lebensbedingungen es mit ſich bringen kann.
Es iſt nun aber in Wirklichkeit auch ziemlich allgemein ange—
nommen, daß die meiſten der Veränderungen, welche der Menſch mit
der Cultur bei den Pflanzen hervorruft, in einem größeren und auf—
fallenderen Maaße erſt hervortreten, wenn dieſelben einige Genera—
tionen hindurch neuen Lebensbedingungen ausgeſetzt waren.
So hat z. B. Favre bei ſeinen merkwürdigen Verſuchen zur
Umbildung des wilden Aegilops in eine Waitzenart auf dem Wege
des Anbaues gezeigt, daß der Vorgang mehrere Jahre hindurch fort—
geſetzt werden muß, um die wilde Form in eine Culturform über—
zuführen.
Hat die Organiſation der Pflanzen unter dem Einfluß des Men—
ſchen einmal begonnen abzuändern, ſo erhält ſich die davon erfolgte
Abänderung dann gewöhnlich durch alle folgenden Generationen hin—
durch, ſo lange überhaupt die neuen Lebensbedingungen fortdauern.
Man kennt keinen Fall, daß eine Culturpflanze im weiteren Verlaufe
der Cultur je wieder in die wilde Urform von ſelbſt zurückgeſchlagen
wäre.
Iſt durch den Einfluß des Menſchen einmal eine von der Ur—
form hinwegführende Abänderung hervorgetreten, ſo findet die Ver—
änderlichkeit gewöhnlich keine weiteren Grenzen mehr. Unſere älteſten
Culturpflanzen, deren Anbau in die früheſten Anfänge der Geſittung
zurückreicht, haben noch nicht aufgehört veränderlich zu ſein. Zahl—
reiche Arten zeigen ſich mit Entſchiedenheit immer noch fähig unter
dem Einfluſſe des Menſchen raſch neue Umänderungen und Vered—
lungen einzugehen.
Indeſſen ſind darin nicht alle Culturpflanzen gleich. Wenn es
einerſeits deren gibt, die ſchon zahlloſe Varietäten entwickelt haben, ſo
gibt es wiederum auch andere, welche in hohem Grade dem verän—
dernden Einfluſſe der Cultur zu widerſtreben ſcheinen und im ange—
bauten Znſtande vielleicht kaum mehr und kaum ſtärkere Abänderungen
als im freien Zuſtande entwickelt haben. Oft hat es darin ſeinen
Grund, daß der Menſch keinen Anlaß hatte, eine Vervielfältigung
der Abarten zu begünſtigen, in anderen Fällen mag es in der natür—
lichen Anlage der Pflanzen ſelbſt liegen.
80
Wirkung der Auswahl auf Culturgewä ſe.
Zu jenen theils mittelbaren theils erſt in den ſpäteren Genera—
tionen hervortretenden Veränderungen, welche der Anbau der Pflanzen
mit ſich bringt, kommt nun noch durch die näher eingreifende Hand
des Menſchen ein anderes Moment, welches zwar an ſich keine Ver—
änderungen erzeugt, wohl aber eingetretene erhält und ſteigert. Dieſes
Moment iſt die Auswahl der für beſondere Zwecke des Menſchen,
ſei es nun durch Nutzen oder Schönheit beſonders hervorleuchtenden
Individuen. |
Die einfachſte Art der Auswahl beſteht in der Verwendung ſtarker
Pflanzen oder ſtarker Samen zur Nachzucht, ſie führt zu einer Steige—
rung des ökonomiſchen Ertrags. So läßt ſich der Ertrag aller mittelſt
Samen erzogener Ackergewächſe erhöhen, wenn man durch Sieben,
Werfen oder Ausleſen nur die größten und ſpecifiſch ſchwerſten Samen
zur Ausſaat ausſcheidet.
Eine ſorgfältigere Auswahl findet in der Gärtnerei ſtatt Man
wählt aus den neu gebildeten Variationen, welche die Natur bei Acker—
und Gartengewächſen freiwillig liefert, die nützlichſten oder ſchönſten
heraus und verwendet ſie zur Nachzucht. Der einfachſte Weg dazu iſt,
daß man aus den Beeten die am wenigſten befriedigenden Pflanzen
entfernt, es bleibt dann eine edlere Sorte übrig, welche zur Nachzucht
zugelaſſen, ihre Vorzüge auf die Nachkommen vererbt. Genauer aber
geht auf die Auswahl der Kunſtgärtner aus, der bei werthvollen
Artikeln jedes einzelne Pflanzen-Individuum ſorgſam prüft und dabei
die entweder aus Sämlingen oder aus einzelnen Knospen hervor—
gegangenen ungewöhnlich ſtarken oder frühzeitigen Variationen heraus—
ſucht, um aus ihnen durch ausſchließliche Haltung eine edlere Sorte
heranzuziehen.
Aus dieſen verſchiedenen Graden der Auswahl gehen die ver—
ſchiedenen geſchichtlichen Epochen der Gärtnerei hervor. Anfangs fuchte
man nur gute Individuen ſich zu erhalten, ſpäter ging man mit Ab—
ſicht und berechnendem Plan auf Erziehung neuer und edlerer Sor—
ten aus. Die Grenzen ſind allerdings keine ſcharfen, ſondern nur
ſtufenweiſe verfolgbar, aber in vielen Fällen läßt ſich der geſchichtliche
Vorgang doch bis zu einem gewiſſen Grade noch nachweiſen.
Unſere Culturpflanzen haben durch die Auswahl der ſchönſten,
kräftigſten oder ſonſt vorzugsweiſe nützlichen Individuen allmählig
81
einen Grad der Veredlung erlangt, der urſprünglich nicht in der Ab—
ſicht der älteſten Gärtner und Landwirthe lag. Man erkennt dies
aus der geſchichtlich nachweisbaren Zunahme der Schönheit bei Zier—
pflanzen und der Zartheit und des Wohlgeſchmackes bei Obſtſorten.
Die jetzigen Varietäten unſerer Zierpflanzen ſind zahlreicher und
ſchöner als jene, welche man in früheren Jahren in den Gärten
hatte. Daſſelbe gilt von den verſchiedenen Obſtſorten. So ſcheint
die Birne nach Plinius Nachrichten in der Zeit der römiſchen Kaiſer
noch eine Obſtſorte von geringerer Güte und weniger Manigfaltigkeit
geweſen zu ſein. De Candolle ſagt mit Rückſicht darauf: „heut
zu Tage würde uns der Nachtiſch des Lucull kläglich erſcheinen.“
Das Verfahren bei dieſer allmähligen Veredlung der Obſtſorten
im Laufe der Jahrhunderte war ein ſehr einfaches und Niemand
konnte im erſten Anfange ahnen, zu welchem Ziele es führen würde.
Man ſuchte zu neuen Anpflanzungen die beſte Sorte zu erhalten, die
zu Gebote ſtand, und bemühte ſich, ſie fortzupflanzen. Von der er—
haltenen Nachkommenſchaft behielt man dann nicht alle bei; wenn
man aber zum Ausjäten der Ueberflüſſigen Anlaß hatte, jätete man
gewiß die geringeren Individuen aus. Der Erfolg war, daß man
ſeine Sorte nicht nur erhielt und fortpflanzte, ſondern auch allmählig
noch ſie veredelte.
Es hat ſich in Folge dieſes zu einem gewiſſen Grade unabſicht—
lichen Vorganges eine ſolche Summe von individuellen Verſchiedenhei—
ten angehäuft und durch lang fortgeſetzte Vererbung zu Raſſen-Cha—
racteren befeſtigt, daß wir ſogar in vielen Fällen die heutigen Varie—
täten oder Raſſen nicht mehr wohl mit Sicherheit auf die früheren
und oft noch weniger auf die urſprünglich wilden Arten zurückführen
können. Dies betrifft ſowohl eine Anzahl der von Alters her in
unſeren Blumen- und Küchengärten angebauten Pflanzen als auch
einen Theil der Obſtarten und faſt alle Getraidearten.
Ein Beiſpiel einer Pflanze, die eine Menge von neuen Varie—
täten erſt vor kurzer Zeit geliefert hat und deren wilde nur ſehr
wenig variirende Stammform man ſehr gut kennt, iſt unſere Garten—
erdbeere, eine der wenigen in Nordeuropa einheimiſchen Gar—
tenfrüchte. Man kannte lange von ihr nur wenige Sorten und erſt
ſeit jener Zeit, als die Gärtner ihr eine größere Aufmerkſamkeit zu
widmen begannen, iſt ſie durch ſorgfältige Pflege und Auswahl zu einer
großen Manigfaltigkeit der Formen ausgebildet worden. Es ſcheint klar,
Rolle, Darwin's Lehre. 6
82
daß die Erdbeere abänderte, ſo lange fie überhaupt je angepflanzt
wurde, aber man vernachläßigte früher die bei ihr vorgekommenen in—
dividuellen Abweichungen, ſuchte auch nicht durch berechnete Behand—
lung ihr Hervortreten noch beſonders zu begünſtigen. Später erſt be-
gannen die Gärtner die Pflanzen mit etwas größeren wohlſchmecken⸗
deren oder früher reifenden Früchten herauszuheben und zur Nachzucht
zu verwenden. Durch ſolche Auswahl, wie auch durch Kreuzung gut
gearteter Sorten hat man ſeither in wenigen Jahrzehnden eine große
Reihe bemerkenswerther und werthvoller Sorten der Gartenerdbeere
erzielt, die in Größe, Farbe und ſonſtiger Beſchaffenheit des Frucht⸗
fleiſches ziemlich weit untereinander abweichen.
Der Gegenſtand der Veredlung bei unſeren Culturgewächſen iſt,
wie Darwin hervorhebt, bald dieſer bald jener Theil der Pflanze
in mehr unmittelbarer Weiſe. Die anderen Theile werden dann davon
weniger, oft überhaupt gar nicht in einer merklichen Weiſe verändert.
In dieſer Hinſicht iſt der Grad des Erfolges der menſchlichen Ein—
wirkung auf die Pflanze ein weit größerer als man gewöhnlich an—
nimmt. Der Gärtner veredelt nämlich nur die Theile einer Pflanze, die
ihm Nutzen bringen und läßt die unverändert, die ihm gleichgültig ſind.
So betrifft die Veredlung bei vielen Gemüſepflanzen, na—
mentlich den meiſten Kohlarten zunächſt die Blätter. Dieſe will
der Menſch brauchen und jede an dieſen auftretende, ſeinen Abſichten
entgegenkommende Variation konnte Gegenſtand der Nachzucht werden.
Die Blätter ändern daher bei den verſchiedenen Sorten des Kohls
weit ab, indeſſen in denſelben Fällen die Blüthen u. ſ. w. einander
ſehr ähnlich bleiben.
Bei vielen Zierpflanzen veredelt man nur die Blüthen,
man erzielt in dieſer Hinſicht die manigfachſten Reihen von Formen
und Färbungen, aber die Blätter werden davon faſt gar nicht berührt.
Wir können in vielen Fällen ganze Reihen von Abarten oder Spiel-
arten aufſtellen, deren Blüthen manigfach abändern, indeſſen das Laub⸗
werk faſt ganz das gleiche bleibt und entweder nur wenig abweicht oder
wenigſtens keine ganz offenbaren und auffallenden Unterſchiede zeigt.
Bei den Obſtſorten veredelt man die Frucht, denn dieſe
will man verwenden, die übrigen Theile der Pflanze ſind ſehr gleich—
gültig. Wir haben daher im Laufe der Jahre eine reichliche Menge
von Varietäten der verſchiedenen Obſtarten in Bezug auf die Größe
und Güte der Früchte erhalten. Hier bleiben Blüthen und Blätter
der verſchiedenſten Sorten einander ziemlich ähnlich.
83
Ein großer Theil dieſes Erfolges der Veredlung kommt bei
Obſtbäumen auf Rechnung der Auswahl unter den Knospen. Nicht
alle Knospen deſſelben Baumes ſind einander vollkommen gleich, einige
ſind beſſer genährt als andere, einige entwickeln ſich früher, andere
ſpäter. Die nach den beſtimmten Anforderungen des Nutzens oder
des Geſchmackes beſſer gearteten erhält der Gärtner, die minder vor—
theilhaften Knospen ſchneidet er ab. Eine derartige Pflege und Aus—
wahl Jahrhunderte lang fortgeſetzt, führt aber zu einer weitgehenden
Veränderung und Veredlung des Obſtbaumes und zwar in der Rich—
tung, welche der die Auswahl leitende Nutzen des Menſchen vorzeichnet.
Dieſe Richtung mußte durchaus nicht ſo ſein, wie ſie war. Es
können auch neue jetzt nachträglich noch eingeſchlagen werden. So wäre
es z. B. eine würdige Aufgabe für einen geſchickten Obſtgärtner, die
Züchtung neuer Aepfel- und Birnenſorten zu ſuchen, bei denen man
unter Preisgebung des jetzt cultivirten Fruchtfleiſches nur eine mög—
lichſte Vergrößerung der Samenkörner bezweckte, ſo zwar, daß
dieſe etwa die Stelle der Mandeln vertreten könnten. Dieſe Auf—
gabe hat ſich vielleicht bisher noch nie ein Gärtner geſtellt, und doch
könnte ſich ein wichtiger Nahrungszweig daran knüpfen laſſen.
Veredlung des Aepfel- und des Birnbaumes.
Willdenow's vor jo langer Zeit ſchon über die Entitehung der
verſchiedenen Sorten des Aepfel- und des Birnbaumes ausgeſprochene
Anſichten ergänzen in ſo ausgezeichneter Weiſe Darwin's Vorſtel—
lungen, daß ein darauf bezüglicher Auszug aus Willdenow's Schrif—
ten hier ſehr an ſeinem Platz ſein dürfte.
Die Stammformen der Aepfel und Birnen, ſagt Willdenow,
ſind bei uns in den Waldungen in freiem Zuſtande bis auf den heu—
tigen Tag noch anzutreffen. Wir finden ſie durch ganz Mittel- und
Südeuropa verbreitet, . jedoch in den ſüdlicheren als den
nördlicheren Ländern. In Deutſchland ſind Holzäpfel und Holz—
birnen unſtreitig von Anfang an zu Hauſe, da ſchon vor nahe zwei—
tauſend Jahren unſere Vorfahren nach Tacitus theilweiſe von den
Früchten dieſer Bäume lebten. — Sie nehmen alſo ſehr verſchiedene
Lagen und Klimaten ein. Sie werden ſicherlich im wilden Zuſtande
von jeher manche Abarten erzeugt haben, ſo gut wie dies auch jetzt
noch der Forſtmann bei ſo manchen Waldbäumen beobachtet. Dies
6 *
84
wird aber beſonders in wärmeren Gegenden der Fall geweſen fein.
Wärme macht allenthalben, beſonders, wenn die Pflanzen einen ſolchen
Standort haben, daß ſie deren ganzen Einfluß genießen, alle Früchte
ſüßer, wie man beſonders an vielen Spielarten des Weinſtockes ſieht.
Unſere Vorfahren deutſchen Stammes züchteten im Beginn un—
ſerer beglaubigten Geſchichte noch keine Obſtbäume. Tacitus ſagt,
daß Holzäpfel zur gewöhnlichen Nahrung der Germanen gehörten,
ihr Land aber ſonſt untüchtig zur Obſtcultur ſei. Es iſt nun nach
Willdenow immerhin möglich, daß auch unſere deutſchen Vorfahren
ſchon in ihren Waldungen beſonders gute Varietäten des wilden Obſtes
von minder guten unterſchieden und ſie verpflegten. Indeſſen bietet doch
jedenfalls unſer Klima für die freiwillige Erzeugung milder und ſüßer
Varietäten des wilden Obſtes nicht ſo viel Ausſicht als Südeuropa.
Hier iſt daher die eigentliche Heimath der Aepfel- und Birnen⸗
cultur. In dem wärmeren Klima von Griechenland und von Ita—
lien konnten in den Wäldern einzelne plötzlich und von ſelbſt entſtan—
dene Spielarten der Aepfel und Birnen vorgefunden werden, die von
milderem Gewebe und von ſüßerem angenehmerem Geſchmacke waren.
Man pflanzte dieſe in den Garten, nahm deren Samen, ſäte ihn in gu⸗
tem unausgeſogenem Boden aus und erzog wieder Früchte davon. Man
erhielt dann in einzelnen, wenn auch nur wenigen Bäumen weitere
Spielarten, die wieder beſſere Früchte als der wilde Stamm erzeugten.
Griechen und Römer hatten in den Zeiten der erſten Kaiſer
ſchon ziemlich viele Aepfel-, Biru- und andere Obſtſorten, Dios—
corides, Plinius und andere reden davon, ſie ſagen aber nicht,
woher ihr Volk dieſſelben erhielt. Aus Aegypten und den wär—
meren Gegenden Aſiens erhielten die Griechen und Römer dieſe
Obſtſorten nicht, da ſie dort nicht wild angetroffen werden. Auch die
Juden ſcheinen Aepfel und Birnen in alter Zeit noch nicht gehabt zu
haben. Es iſt aber wohl möglich, daß Griechen und Römer ſchon
von den Urbewohnern ihrer Länder mehrere Obſtſorten erhielten und
deren Urſprung alſo weit über die Grenze der Geſchichte hinausreicht.
Deutſchland erhielt ſeine edleren Aepfel- und Birnenſorten
ſicher von den Römern, die ſchon damals, als die Germanen noch
mit Holzäpfeln ſich begnügten, im Gartenbau ziemlich weit vorgeſchrit—
ten waren. Seitdem hat denn die fortdauernde Pflege im Laufe der
Jahrhunderte noch manchen weiteren veredelnden Einfluß auf die Sor—
ten geäußert.
85
Ueber die Erzeugung neuer Sorten aus Samen äußert ſich Will—
denow in folgender Weiſe. Aepfel und Birnen, wenn ſie aus Samen
gezogen werden, brauchen viele Jahre, ehe man ſich von ihnen Früchte
verſprechen kann. Je nach Verſchiedenheit des Bodens kann es zehn,
fünfzehn, zwanzig Jahre dauern, ehe der Sämling fruchtbare Blüthen
bringt. Man gelangt viel früher und überhaupt vortheilhafter dazu
durch Propfen, Oculiren u. ſ. w. Man iſt dann nicht nur der beab-
ſichtigten edlen Sorte ſicher, man erhält auch von demſelben Bäum—
chen viel früher Früchte.
Dennoch kennt man auch Verſuche von Vermehrung der Obſt—
bäume durch Samen. Das Ergebniß läuft in Bezug auf Aaepfel—
baumzucht dahin aus, daß man unter tauſend Samen einer beſtimm—
ten Sorte von Aepfeln nur wenige Stämme, vielleicht kaum zehn,
erhält, die faſt ganz oder doch ſehr annähernd ſolche Früchte wie der
Mutterſtamm tragen. Noch ſeltener iſt unter dieſer Zahl ein oder
der andere Baum, der beſſere Früchte hervorbringt. Viele werden
geringer an Güte und einige kommen dem wilden Holzapfel ſehr nahe,
ja ſie ſind zuweilen in nichts von dieſem verſchieden. Niemals wird
man von einer gezüchteten edlen Sorte dieſſelbe aus Samen vollſtändig
wieder erhalten, allenfalls neue Sorten, die beſſer oder ſchlechter aus—
fallen, auch wohl Mittelſorten, die mit zwei oder mehr andern Ab—
arten Aehnlichkeit haben.
Beim Aepfelbaum findet ſich, daß alle durch Ausſäen erhaltenen
Spielarten entweder mehr dem Holzapfel (Pyrus malus Lin.) oder
mehr dem Johannisapfel, Paradies apfel (Pyrus praecox s,
paradisiaca) nahe kommen. Daher Willdenow vermuthet, daß aus
letzteren zwei Arten die manigfachen Spielarten entſtanden ſind, welche
jetzt unſere Gärten aufzuweiſen haben. Vom Holzapfel ſcheinen die
meiſten Sorten Aepfel zu kommen, vom Johannisapfel aber jene,
welche kleinere, rundere und ſüßere Früchte tragen.
Bei der Birne hingegen gehen alle aus Samen gezogenen Sorten
in den wilden Birnbaum oder die Holzbirne, den Pyraster der Alten
über. Die Birnen haben daher nur eine einzige Stammart, Pyrus
communis Lin,
(K. L. von Willdenow und A. H. Homayer. Gekrönte Preis⸗
ſchriften über die von der Akademie der nützlichen Wiſſenſchaften zu
Erfurt aufgegebenen pomologiſchen Preisfragen. Erfurt 1801.)
86
Acclimatiſirung von Culturgewächſen.
Eine weitere eigenthümliche Richtung des Einfluſſes des Menſchen
auf die Pflanzen iſt die Acclimatiſation oder klimatiſche Einbür-
gerung. Sie beruht theilweiſe auf Angewöhnung, es kommt aber
in manchen Fällen dabei wohl eine Ausleſe ins Spiel.
Die Gewöhnung hat auf Pflanzen in vielen Fällen einen entſchiede—
nen Einfluß. So ändert ſich bei der Verſetzung einer Pflanzenart in ein
anderes Klima ſehr bald die Blüthezeit, die Zeit des Schlafes u. ſ. w.
Im Allgemeinen iſt jede Art von Pflanzen dem Klima ihrer be—
ſonderen Heimath angepaßt und kann daher nur in andere Erdtheile ver—
pflanzt werden, welche ein ihm ganz oder beinahe gleiches Klima haben.
Arten, welche einer kalten oder gemäßigten Gegend angehören, können
in einer tropiſchen nicht fortkommen. Umgekehrt, Palmen, Cycadeen
und andere Tropenpflanzen kommen bei uns nur in Treibhäuſern fort
und dürfen nur während der wärmeren Zeit unſeres Sommers ins
Freie gebracht werden. Auch können Pflanzen feuchter Standorte oft
nicht an trockene Stellen, Gebirgspflanzen oft nicht in der Ebene an—
gepflanzt werden.
Wenn dies nun auch im Allgemeinen richtig iſt, ſo iſt doch die
Anpaſſung der Pflanzen an ſolche beſonderen klimatiſchen Verhältniſſe
weder eine durch das ganze Pflanzenreich gleichmäßig durchgreifende,
noch eine überhaupt vollkommen bindende. Es gibt vielmehr Aus—
nahmen davon in den manigfachſten Abſtufungen und auch die Kunſt
kann bis zu einem gewiſſen Grade eingreifen. 0
Unmittelbare Beweiſe für die Möglichkeit einer Acclimatiſirung
der Pflanzen liegen einerſeits in der großen Zahl von Pflanzenarten,
welche bereits aus wärmeren Klimaten in unſere Gegenden verpflanzt
wurden und hier, die einen mehr, die andern minder, manche aber ſehr
ausgezeichnet gedeihen, audererſeits in dem ſchwankenden Erfolge der
Verſuche, noch andere Pflanzen wärmeren Klimate bei uns einzubür—
gern, welche darthun, daß die Kunſt in manchen Fällen noch nicht die
richtigen Wege eingeſchlagen haben dürfte.
So ſind mehrere werthvolle Obſtbäume und Sträuche erſt in
geſchichtlicher Zeit bei uns aus wärmeren Gegenden eingeführt worden.
Wallnußbäume, Zwetſchen-, Sauerkirſchen- und Mandelbäume, der
Weinſtock und andere werthvolle Nutzpflanzen zeigen ſich im Beginn
unſerer geſchichtlichen Epoche nur in den wärmeren Gegenden Vorder—
87
aſiens einheimiſch und find von da aus erft über Griechenland
und Italien allmählig weiter nach Weſten verbreitet und bei uns
eingebürgert worden. Die Acclimatiſirung erfolgte noch nicht bei allen
gleichmäßig. Der Wallnußbaum, aus Perſien ſtammend, leidet
3. B. noch jetzt, nachdem er ſchon Jahrhunderte lang bei uns ange—
pflanzt worden, oft ſehr von kalten Wintern oder Nachtfröſten. Es
iſt aber ſehr möglich, daß ſeine Acclimatiſirung noch immer in ſehr
allmähligem Wachſen iſt und er in Zukunft unſer Klima beſſer noch
vertragen wird.
Einen merkwürdigen Grad der Acclimatiſirung hat der Pfirſich,
Amygalus persiea Lin., gewonnen, deſſen urſprüngliche Heimath Oſt—
indien ſein dürfte. Zu Ariſtoteles Zeiten war der Pfirſich noch
eine weit zärtlichere Pflanze als heute. Damals konnten in Griechen—
land noch keine Pfirſiche gezogen werden. Aegypten war damals
ihre nächſte Stätte. Selbſt auf Rhodus, wohin der Pfirſich wahr—
ſcheinlich von Kleinaſien aus zuerſt hinkam, brachte er es damals
nur zur Blüthe und in einzelnen Fällen nur zu Früchten. Seit den
letzten zweitauſend Jahren iſt der Pfirſichbaum ſeither viel weiter
nach Oſten und Norden verpflanzt worden und ſogar bis Mittel—
deutſchland gelangt. Offenbar iſt dieſer Vorgang noch nicht ab—
geſchloſſen und in ſpäteren Jahrhunderten dürfte man wohl noch
weiter nördlich auch Pfirſiche ziehen.
Auf dem Wege der Auswahl, vermuthet Darwin, müßten ſich
in der Acclimatiſation der Pflanzen noch manche Erfolge erzielen
laſſen. Darwin behauptet nämlich, daß die Gewöhnung für ſich
allein nicht immer zur Acclimatiſirung führen werde, daß aber eine
Auswahl beſonders geeigneter Individuen während einer hinreichend
langen Reihe von Generationen den Vorgang weſentlich ſteigern müſſe.
So wird von der Schminkbohne (Phaseolus vulgaris L.) be=
hauptet, daß ſie nur in einem beſtimmten Klima gedeihe und es nicht
möglich ſei, ſie von einer gewiſſen Grenze an in einem andern einzu—
bürgern. Nach Darwin's Vorſchlag müßte man nun in einer Ge—
gend, wo die Schminkbohne noch gut gedeiht, ſie eine Reihe von Ge—
nerationen hindurch ſo frühzeitig ausſäen, daß ein großer Theil der
Pflänzchen noch vom Froſte zerſtört wird. Die davon verſchonten,
dem Ertragen des Froſtes alſo beſſer gewachſenen Individuen aber müßte
man ſorgſam zuſammenhalten und in ähnlicher Weiſe von Jahr zu
Jahr wieder einer Ausmuſterung durch den Froſt unterwerfen. Hätte
88
man die Schminkbohne in einer größeren Reihe von Generationen
einer derartigen Einwirkung der Kälte oft genug ausgeſetzt, ſo dürfte
davon wahrſcheinlich eine kältefähigere Abart entſtehen, welche in ein
nördlicheres Klima, als es unſere heutige Schminkbohne verträgt, ver—
pflanzt werden könnte. Es würde das alſo eine neue aus Angewöh—
nung und Auswahl combinirte Methode der Acclimatiſation ſein.
Hier bleibt mithin noch ein weiter Spielraum der Verſuche für den
rationellen und unternehmenden Gärtner oder Landwirth.
Krenzung der Culturgewächſe.
Wiederum ein anderer Weg zur Erzielung neuer Pflanzenformen
nach künſtlichem Verfahren liegt in der Kreuzung verſchiedener
Arten oder verſchiedener Varietäten von Gewächſen.
Zu einer ſolchen Kreuzung liegt, wie die klaſſiſchen Arbeiten von
Kölreuter und Gärtner dargelegt haben, im Allgemeinen wenig
Neigung zwiſchen verſchiedenen Arten vor, aber es beſteht dazu große
Neigung zwiſchen verſchiedenen, namentlich aber zwiſchen wenig von
einander abweichenden Varietäten derſelben Art. Gelangt der Pollen-
ſtaub einer Pflanze zugleich mit dem einer anderen, wenn auch nahe
verwandten Art auf die Narbe, ſo hat der eigne Pollen einen ſo
überwiegenden Einfluß auf die Bildung der Frucht, daß er jede Folge
des fremden Zeugungsſtoffes gänzlich aufhebt. Man muß daher bei
einer Pflanze, von der man eine gekreuzte Form erzielen will, erſtlich
die Staubfäden wegſchneiden, dann die Narbe mit dem Samenſtaub
einer anderen Art beſtreuen und endlich die ſo behandelte Pflanze ein—
ſchließen, damit nicht Bienen u. ſ. w. den Staub einer anderen Pflanze
ihrer Art noch hinzubringen und ſo den Erfolg der Kreuzung ſtören.
Auf dieſe, in den gewöhnlichen Lauf der Natur gewaltſam ein—
greifende Weiſe laſſen ſich zwiſchen den meiſten Arten der Dicotyle—
donen gleicher Gattung mehr oder minder leicht Baſtarde oder hybride
Formen erzeugen, zuweilen auch wohl zwiſchen Arten beſonderer aber
nur wenig verſchiedener Gattungen. In der Natur kommen ſolche
Baſtardirungen, wie von unſeren neueren Botanikern angenommen
wird, auch auf freiwilligem Wege vor, aber da die Neigung dazu an
ſich gering iſt, auch nur ſelten und ſpärlich. Winde, Inſecten, be—
ſonders Bienen, tragen oft den Pollen von einer Art auf die Narbe
einer anderen und erzeugen ſo Blendlinge zweier Arten oder zweier
89
Varietäten. Dies wird namentlich von Weidenarten, Habichtskräutern
(Hieracium) u. ſ. w. angenommen.
Die aus der Kreuzung verſchiedener Pflanzenarten gewonnenen
Formen halten bald mehr das Mittel zwiſchen den beiden Stamm—
formen, bald ſtehen ſie auch einer von beiden näher. Solche Verſchie—
denheiten werden ſogar bei Baſtarden beobachtet, die aus Samen
einer und derſelben Samenkapſel gezogen ſind.
Gewöhnlich ſind die Baſtardpflanzen im Fortpflanzungsſyſtem ge—
ſchwächt. Manche ſind ganz unfruchtbar, andere tragen weniger beträcht—
liche Mengen von Samen und erlöſchen dann in einer der nächſten Gene—
rationen. Es gibt in dieſer Hinſicht ſehr vielfache Abſtufungen, darunter
wie es ſcheint auch Fälle von ganz unverminderter Fortpflanzungsfähigkeit
der Baſtarde, doch iſt letzterer Fall noch ſtreitig unter den Botanikern.
Wenn auch die ſo gewonnenen hybriden Pflanzenformen wenig
oder in vielen Fällen gar keine Ausſicht zu einer bleibenden Erhal—
tung durch Samen bieten, ſo haben ſie doch eine andere Bedeutung
noch für den Kunſtgärtner, nämlich den, ein dankbarer Stoff für die
Vermehrung durch Stecklinge, Knospen u. ſ. w. zu ſein. Hier erhält
ſich die durch Kreuzung erworbene Form eines beliebigen Individuums
auch bei den durch Ableger erzielten Abkömmlingen noch in ausgezeich—
neter Weiſe.
Die künſtliche Kreuzung von Varietäten einer und derſelben Art
gelingt in der Regel ohne Schwierigkeit und liefert reichlich frucht—
baren Samen. So z. B. zwiſchen den gezüchteten Varietäten der vor
wenig Jahrzehenden aus Japan zu uns gebrachten Camellia und
bei denen vieler anderen Zierpflanzen. Auch bei einigen Obſtarten hat
man dieſen Weg zur Erzielung neuer Formen benutzt. Die Neigung
verſchiedener Varietäten derſelben Art iſt nach Darwin's Verſuchen
in der That ſo groß, daß man gewiſſe Culturpflanzen, z. B. Kohl,
Lauch u. a. nur in einer Anzahl von verſchiedenen Varietäten neben
einander zu pflanzen braucht, um in Folge natürlicher Uebertragung
des Pollens Blendlinge zu erhalten. Die aus Samen ſolcher neben
einander gewachſenen Pflanzen gezogenen Abkömmlinge ſind nach Dar—
win ſogar der Mehrzahl nach von gemiſchter Abſtammung.
Doch gibt es auch Fälle, wo ſehr nahe ſtehende Pflanzenformen,
welche die Botaniker nach ihren naturgeſchichtlichen Characteren ohne
Bedenken als Varietäten einer und derſelben Art anerkennen würden,
der künſtlichen Kreuzung mehr oder minder große Schwierigkeiten ent—
90
gegenſetzen. Es iſt dies ſogar der Fall mit gewiſſen Varietäten des
Maiſes, die noch Niemand für eigne Arten genommen hat.
Gärtner fand nämlich, daß eine Sorte von Zwergmais mit
gelbem Samen (Zea mays Lin. var. nana) durch eine größere Mais—
ſorte (Zea mays Lin. var. major) befruchtet, nur in ſehr wenig Fällen
(1: 13) zur Samenbildung gelangt, es entſtand von dreizehn befruch-
teten Maispflanzen nur ein einziger Kolben und auch dieſer trug nur
fünf Samenkörner, welche letztere dann übrigens vollkommen fruchtbar
waren“
Wenn dieſer Fall nun auch noch nicht beweiſt, daß unter den
verſchiedenen Sorten des angebauten Maiſes bereits mehr als eine
einzige Art vorliegt, ſo läßt er doch vermuthen, daß die Veränderungen,
welche die Cultur bei Gewächſen hervorruft, auch auf die Blüthen—
organe verſchiedener Varietäten ſo weit verſchieden wirken können, daß
dadurch ein Anfang jenes Gegenſatzes hervortritt, der ſonſt allgemein
die Kreuzung verſchiedener Arten erſchwert. Der Fall iſt um ſo be—
deutſamer als ſich Aehnliches bei gewiſſen Hausthieren wiederholt.
Verwilderung und Rückſchlag der Culturgewächſe.
Obſchon die auf den verſchiedenen Wegen, welche zur Verände—
rung der Pflanzen führen, erzielten neuen Formen manigfach von den
Arten abweichen und oft ſelbſt den gewöhnlichen Spielraum der Gat—
tung überſchreiten, ſo können wir doch nach dem jetzigen Stande der
Erfahrungen nicht wohl behaupten, daß der Menſch auf dem Wege
des Anbaues ſchon wirklich neue Arten von ganz unzweifelhaftem Art-
Naturell erzeugt habe. Der Menſch hat wohl vielfach die Natur einer
wilden Pflanze durch die Cultureinflüſſe ſo ſehr erſchüttert, daß ſie
weit über den gewöhnlichen Spielraum der Art hinaus abändert.
Aber es iſt noch nicht gelungen ſolche neu hervorgerufenen Charactere
in dem Grade zu befeſtigen, daß ſie eben ſo zähe der Culturform
anhaften, als es ſonſt mit Characteren wilder Formen zu ſein pflegt.
Es iſt auch wohl erſt in wenig Fällen — vielleicht überhaupt erſt
beim Mais — gelungen, eine Pflanze durch Cultur ſo umzuändern,
daß ſie mit ihrer Stammform oder mit anderen cultivirten Varietäten
nur noch ſchwer oder gar nicht mehr zu kreuzen iſt. Wenn man alſo
der Erzeugung neuer Arten auch ſchon nahe kam, ſo ſcheint dies Ziel
doch noch nicht wirklich erreicht worden zu ſein. Mit anderen Worten,
91
die jeder Pflanze eigenthümliche latente Erblichkeit iſt ſo groß, daß
Charactere der Urform nach langen Generationen unter gewiſſen Um—
ſtänden immer wieder zum Durchbruch kommen können. Der Menſch
hat es in den meiſten, vielleicht allen Fällen, ſelbſt im Laufe aller
geſchichtlichen Zeiten des Anbaues noch nicht fertig bringen können,
dieſe tief im Weſen der Pflanzenarten liegende Vererbung der ur—
ſprünglichen Eigenſchaften vollkommen zu überwinden. Wir müſſen
annehmen, daß es dazu noch längerer Zeiträume bedarf, als der Be—
trag der geſammten geſchichtlichen Epoche beträgt — ein Schluß den
auch gewiſſe geologiſche Erſcheinungen bekräftigen, welche zeigen, daß
zur Ausbilbung einer Art ein längerer Zeitraum gehört. Unſere Cultur—
formen ſind alle mehr oder weniger noch dem Rückſchlage aus—
geſetzt.
Culturpflanzen, welche man eine Reihe von Generationen hin—
durch in einen ganz armen Boden verpflanzt oder geradezu verwil—
dern läßt, verändern ihre Charactere und kehren ganz oder faſt ganz
wieder zu ihrer wilden Urform zurück; ſie ſchlagen zurück. Sie
verlieren namentlich jene für uns ökonomiſch wichtigen Characterzüge,
die ihren eigentlichen Culturwerth darſtellen. Es iſt, als habe der
Menſch durch die Cultur der Pflanze derſelben gewiſſe Charactere
aufgedrungen, deren ſie ſich, ſobald ſie ſeinem Einfluß entzogen wor—
den und wieder unter die ihr urſprünglich angemeſſenen Lebensbe—
dingungen gelaugt iſt, raſch oder allmählig wieder entledigt, um die
ihrer entfernten Voreltern von Neuem anzunehmen.
Eine ſolche Rückkehr ſcheint in zweierlei Momenten ihre Urſache
zu haben, erſtens im unmittelbaren Einfluß der Veränderung des
Bodens und anderer Lebensbedingungen, zweitens aber im Geſetze der
Erblichkeit. Die urſprünglichen Charactere erhalten ſich, in latenter
Form an die materielle Grundlage der Individuen geknüpft, von der
Urform durch die ganze Reihe der Generationen und treten nun, wo
die äußeren Verhältniſſe wieder ſich ändern, auch von neuem wieder
hervor. Eine Aenderung der äußeren Bedingungen gehört aber un—
umgänglich dazu. Wo eine Culturpflauze anhaltend in den Lebens—
verhältniſſen erhalten wird, unter welchen ſie ihre auszeichnenden Cha—
zactere gewann, wird fie auch nie aus eigenem Antrieb in die Urform
zurückſchlagen.
Durch Verwilderung ſollen, wie die meiſten Botaniker als ſicher
annehmen, die verſchiedenen Kohl-Gewächſe unſerer Gärten, wie
92
der Blumenkohl, der Roſenkohl, der Kohlrabi, der Kopf—
kohl u. ſ. w. in die wilde Kohlform, den Strauchkohl, Brassiva
o!eracea Lin. ver. fruticosa, — mit dürrem, holzigem, mehrjährigem
Stengel und unangenehm bitter ſchmeckenden Blättern — zurückge—
führt werden.
Garteninſpector Metzger!) in Heidelberg hat darüber eine
Reihe von Verſuchen angeſtellt und namentlich einzelne Varietäten des
Kohls in andere übergeführt. Er hat z. B. aus Samen von Braun-
kohl (var. acephala) zugleich den Kohlrabi mit knopfartig verkürztem
fleiſchig entwickeltem Strunke (var. caulorapa) und alle Uebergänge
von dieſem bis zum drei Fuß hohen Braunkohl erhalten. Als Er—
gebniß ſeiner Verſuche und Beobachtungen ſpricht er ſich dahin aus,
daß der wilde Strauchkohl, der noch jetzt an der Meeresküſte von
Italien, Frankreich, England und Jütland wild gefunden
wird, die unzweifelhafte Stammform der verſchiedenen cultivirten Kohl—
ſorten iſt. Am nächſten ſteht ihm der Gartenſtrauchkohl, der
beſonders in Frankreich gezogen wird und vom wilden nur ſehr
gering abweicht. Bei ihm ſind durch den Einfluß der Cultur die
Aeſte ſchon etwas vermindert, die Blätter dafür aber kräftiger ent—
wickelt. Von dieſer Stufe iſt nur noch ein kleiner Schritt zum Blatt—
kohl (ver. acephala), bei welchem die Aeſte faſt ganz verkümmert
ſind und nur noch kleine Knospen mit roſenartig geſtellten Blättern
darſtellen. Bei dem Kohlrabi (var. caulorapa) endlich iſt auch der
Strunk bedeutend umgebildet und es ſind von den Aeſten nur noch
ganz unanſehnliche Spuren (Augen) vorhanden, wogegen bei dieſer
Sorte die Blätter, die hier nicht Gegenſtand der Aufmerkſamkeit des
Gärtners ſind, wieder nahe zur Form jener des wilden Strauch—
kohls zurückgekehrt erſcheinen.
Metzger hat unzweifelhaft die Abſtammung der cultivirten Kohl—
ſorten vom wilden Strauchkohl dargethan. Er gibt indeſſen doch kein
Beiſpiel einer vollkommen gelungenen Zurückführung der cultivirten
Formen auf die genaue Form des wilden Strauchkohls.
Auch Darwin ſelbſt iſt geneigt, die Möglichkeit eines vollkom—
menen Rückſchlags der Gartenkohlſorten in den wilden Kohl zuzuge—
ſtehen, es ſcheint ihm aber auch keine die Frage ganz entſcheidend
löſende Thatſache vorzuliegen. 5
1) J. Metzger. Syſtematiſche Beſchreibung der eultivirten Kohlarten.
Heidelberg. 1833.
93
Wenn, wie es ſcheint, nicht alle Hausthiere durch Verwilderung
genau wieder zur Form ihrer Stammart zurückkehren, ſo wäre es auch
ſehr möglich, daß bei gewiſſen Culturpflanzen der Rückſchlag nie voll—
kommen wird. Um dies genau feſtzuſtellen, bedarf es aber noch manig—
facher Verſuche. Die Wiſſenſchaft iſt bis jetzt in dieſer Hinſicht noch
ſehr lückenhaft. i
Ueberhaupt ſcheint man in Bezug auf die Frage, wie tief die Ver—
änderungen, welche der Menſch bei Culturpflanzen hervorruft, gewiſſer—
maßen ins Innere der Natur derſelben eindringen und wie weit ſie
ſich befeſtigen können, noch wenige ſichere Kenntniſſe geſammelt zu
haben. De Candolle unterſcheidet z. B. Spielarten von Pflanzen,
die nur durch Theilung unverändert vermehrt werden können und Ab—
arten, die ſich auch durch Samen unbeſchadet ihres beſonderen Cha—
racters fortpflanzen laſſen. Aber er glaubt, daß Spielarten, die ſich
kräftig und dauernd ausbilden, im Laufe der Zeit zu Abarten ſich be—
feſtigen können; er ſagt, dies iſt eine allgemeine und gleichſam ſelbſt—
verſtändliche Annahme der Landwirthe und Gärtner, für welche nament—
lich auch die Ergebniſſe des Weinbaues und anderer Culturverfahren
ſprechen. Indeſſen finde ich für dieſe Annahme, die eine wichtige
Seite der Trausmutationslehre zu werden verſpricht, keine genaueren
Belege. Leider haben unſere Gärtner von ihren vielen und wichtigen
Naturbeobachtungen immer nur weniges aufgezeichnet und betrachten
Vorgänge als ſelbſtverſtändlich, deren genaue Beobachtung für die
theoretiſche Wiſſenſchaft von förderlichſter Bedeutung werden könnte.
Urſprung der Culturgewächſe.
Die Frage nach dem erſten Urſprunge unſerer Culturgewächſe
wurde von den alten Völkern dahin beantwortet, daß ſie, wie nament—
lich die Getraide-Arten, der Weinſtock, der Oelbaum u. ſ. w., ein un—
mittelbares Geſchenk der Gottheit oder einzelner Nationalgötter ſeien.
Von dem Botaniker wird eine andere Antwort verlangt.
Es fragt ſich, ob die Culturgewächſe von dem Menſchen in der
Natur ſchon ſo, wie ſie ſich jetzt darbieten, urſprünglich vorgefunden
wurden, oder ob fie damals in einer andern Form wild wuchſen, dieſe
Form aber unter der Einwirkung des Menſchen für ſeine Zwecke ver—
ändert wurde.
Offenbar iſt nun der erſtere Fall für manche jetzt angebaute
94
Pflanzen ſehr möglich, der zweite aber für die größere Mehrzahl und
namentlich für alle in zahlreiche Varietäten zertheilten Culturgewächſe
ganz unzweifelhaft. Abſtufungen manigfacher Art gibt es auch hier
wieder und Fälle von ſicherem Verlauf, ſowie ſolche von theilweiſe
räthſelhafter Art.
Der Fall, daß Culturgewächſe irgendwo wild vorkommen, iſt
zwar oft von Reiſenden, namentlich der älteren Zeit, in Bezug auf
unſere Cerealien behauptet worden, er iſt aber immer nur ſchwer mit
Strenge darzuthun. Namentlich bedarf es, um den Zuſtand der ur—
ſprünglichen Wildheit einer im freien Zuſtande beobachteten Nutzpflanze
von dem der bloſen Verwilderung zu unterſcheiden, eines längeren
Verweilens des Beobachters an der Stätte des Vorkommens, als es
gewöhnlich einem Reiſenden geſtattet zu ſein pflegt.
Unſere Getraidearten will man in vielen Fällen in Vorder- und
Inneraſien in wildem Zuſtand beobachtet haben, aber es iſt immer
von anderer Seite eingewendet worden, ſolche angeblich wilde Vor—
kommen ſeien nur verwilderte Pflanzen. =
Gewiß aber ift für eine Reihe von Culturgewächſen dargethan,
daß von ihnen noch eine eigenthümliche wilde Form als mehr oder
minder abweichender Typus vorhanden iſt. Gewöhnlich iſt dann auch
in unſeren Gärten die Nachkommenſchaft dieſer wilden Form durch den
Einfluß der Cultur und der Auswahl ſo ſehr verändert worden, daß
das Erzeugniß nunmehr in gewiſſen, dem Menſchen ökonomiſch wich—
tigen Hinſichten ſtark von der Urform abweicht und mehr oder minder
dauerhafte Varietät-Charaktere erhalten hat oder ſelbſt ſchon der Art-
Selbſtändigkeit nahe gekommen iſt. Die Form des wilden Zuſtands
kann dann — auf anderem Boden oder in anderen Gegenden — un—
verändert noch neben der durch die Cultur erzeugten Form zu leben
fortfahren.
Unſere zweijährige cultivirte Möhre oder Gelbe Rübe (Daueus
carota Linné) mit der wohlbekannten fleiſchigen Wurzel läßt ſich aus
der einjährigen wilden Form, die auf Wieſen und an trocknen Hügeln
nicht ſelten bei uns iſt, ſicher herleiten. Die Wurzel dieſer wilden
Form iſt dünn, zähe und von beißendem Geſchmack, überhaupt un—
genießbar nach heutigem Maßſtab. Sie kann aber durch die Kunſt
des Gärtners, der ſie mehrere Generationen hindurch in geeignetem
Boden anpflanzt, vollkommen in die Form der Cultur übergeführt
werden. Die Römer bauten ſie ſchon an.
95
Aehnlich iſt es mit den verſchiedenen Kohl-Arten, dem Kopf—
kohl, Blumenkohl u. ſ. w. unſerer Gärten. Man leitet ſie all—
gemein von dem in den Küſtenländern des Mittelmeeres noch vor—
kommenden wilden Strauchkohl, Brassica oleracea L. var. fruticosa
ab, der im freien Zuſtande eine oft mehrere Jahre dauernde ſtrauch—
artige Pflanze mit verholzendem Stengel und dürftiger Blätterbildung
darſtellt.
In anderen Fällen iſt die Umgeſtaltung irgend einer wilden
Pflanze durch die Cultur wohl als ſicher anzunehmen, aber der Ueber—
gang der wilden in eine Culturform durch Verſuche noch nicht wirk—
lich wiederholt worden.
Von unſerer aus Amerika eingeführten Kartoffel kennen wir
die Urform noch nicht mit Beſtimmtheit. Zur Zeit der Entdeckung
von Amerika wurde fie ſchon auf den Anden Südamerika's von
Chili bis Neugranada angebaut, war aber in Mexiko noch
unbekannt. Man kennt auf den mittleren Gebirgen von Südamerika
und von Mexiko mehrere anſcheinend wilde Solanum- Arten, welche
von den Botanikern unter eignen Namen als beſondere Arten im
Syſteme aufgeführt werden. Aber es werden von den verſchiedenen
Auctoren bald dieſe bald jene der wilden Arten, bald eine mexikaniſche,
bald eine peruaniſche oder chileſiſche, für die Urformen unſerer cultivir—
ten Form ausgegeben. Es ſcheint daher, daß hier eine Umänderung
der urſprünglichen Form durch die Cultur vor ſich gegangen iſt,
welche durch fortgeſetzte Wiedererzeugung dauerhaft wurde und jetzt
den Zuſammenhang mit der eigentlichen Urform verhüllt. In der
That iſt auch die Kartoffel in gewiſſen auf europäiſchem Boden ge—
züchteten Sorten nachträglich in Mexiko wieder eingeführt worden,
wo ſie jetzt als europäiſches Gewächs erſcheint.
Eine Anzahl von älteren Naturforſchern, wie Olivier und
Andere haben behauptet, daß unſere Getraidearten ihr urſprüngliches
Vaterland in Mittel- und in Vorderaſien haben. Weizen und
Gerſte ſollen aus Syrien, oder der Weizen aus dem Baſchkiren—
land, endlich der Spelz aus den Gebirgen von Perſien herſtam—
men und jetzt dort noch in wildem Zuſtande fortkommen. Wieder
nach anderen Reiſenden ſollen Weizen, Dinkel und Gerſte zuſammen
in den Euphratgegenden wild vorkommen.
Andererſeits aber wird behauptet, daß unſere Getraidearten ver—
edelte Formen von ganz anders gearteten Urtypen ſind und daß die
96
Umgeſtaltung von Gräſern zu Getraidepflanzen experimentell nachweis⸗
bar iſt. So hat namentlich ein ausgezeichneter franzöſiſcher Gärtner
Fabre die Anſicht verfochten und auf dem Wege des Verſuches
glaubwürdig durchgeführt, daß die edelſte unſerer Getraidearten, der
Weizen (Triticum), nichts anderes als eine veredelte Form der in
mehreren Arten in den Küſtenländern des Mittelländiſchen und des
Adriatiſchen Meeres verbreiteten Gräſergattung Aegilops iſt. Fabre
hat während eines Zeitraumes von zwölf Jahren (von 1838 bis 1850)
ſeine darauf bezüglichen Verſuche fortgeſetzt. Er fand, daß die Gat—
tung Aegilops durch die Cultur in die nach weſentlichen Characteren
abweichende Gattung Triticum übergeführt werden könne.
Es gelang ihm Aegilops ovata durch fortgeſetzten Anbau in eine
Weizenform überzuführen. Von dieſer Art in der veredelten Form
gewann Fabre in freiem Felde während vier auf einander folgen-
den Jahren Erndten gleich denen von anderem Getraide dieſer Art.
Im Laufe des Anbau's traten bei Aegilops ovata mehrere Verände⸗
rungen ein. Die Pflanzen bekamen längere Fruchtähren, es ſchlugen
immer weniger von den Blüthen fehl und die Samen wurden dicker.
Zugleich wandelten ſich gewiſſe Charactere der Samenhüllen, welche
ſonſt als generiſche Unterſchiede zwiſchen den Gattungen Aegilops und
Tritieum gelten, in der Weiſe um, daß man zuletzt ſtatt eines Aegilops
ein Triticum hatte. Kurz, Acgilops ovata war in Folge von zwölf⸗
jährigem Anbau in eine Form übergegangen, die jedermann für ein
Triticum anerkennen mußte und behielt dieſe auch im Laufe der Cul—
tur bei, ohne in die frühere zurückzufallen.
Dieſelben Verſuche ſtellte Fabre auch mit Aegilops triaristata
an. Dieſe Art ging eine ähnliche Umgeſtaltung ein, wurde indeß nicht
vollſtändig zur Weizenform gebracht.
Dies führt denn zum Schluſſe, daß gewiſſe Formen des von uns
angebauten Weizens, wo nicht alle, nur bloſe durch Anbau veredelte
Raſſen von gewiſſen Aegilops- Arten oder vielleicht auch nur einer
einzelnen Art dieſer Gattung ſein mögen. Weiterhin wird man dann
allerdings auch zur Vermuthung geführt, daß alle Getraidearten über—
haupt nur Veredlungen wild wachſender und von ihrer urſprünglichen
Form ziemlich weit abweichender Gräſer ſind.
Iſt dies richtig, ſo erklärt es ſich auch wieder, warum die Ge—
traidearten ein auf uns gekommenes Erbſtück der älteſten Culturvölker
ſind und warum Völker auf tiefſter Geſittungsſtufe faſt durchweg keine
97
veredelten Nutzpflanzen beſaßen, welche der Europäer ihnen hätte ent-
lehnen und in ſeiner Heimath einbürgern können.
Der Grund davon, daß man in den von wilden oder ſehr ge—
ring geſitteten Völkern bewohnten Erdtheilen z. B. im Capland, in
Auſtralien und Neuſeeland keine ausgebildeten Culturgewächſe
angetroffen hat, liegt nach Darwin durchaus nicht daran, daß alle
dieſe Theile unſeres Planeten von der Natur im Vergleiche zu andern
Gegenden ſtiefmütterlich behandelt worden wären. Vielmehr iſt jedes
Land von Natur aus mit einer freilich bald größeren bald geringeren
Anzahl von nützlichen Urformen verſehen, manche wie z. B. Neu-
ſeeland, Neuguinea und andere abgelegene Inſeln nur in ſehr
geringem Grade, andere wie z. B. Südafrika in höherem.
In der That ſind faſt alle Hauptgruppen des Pflanzenreichs
ausgeſtattet mit zahlreichen Nahrungspflanzen und mit noch mehr der
Veredlung zu ſolchen fähigen Formen. Am meiſten iſt dies der Fall
mit den Monocotyledonen, mit den Dicotyledonen und den Cycadeen.
Am dürftigſten an Nahrungspflanzen find die Coniferen und die Cryp—
togamen. Im Ganzen gehören die Mehrzahl der Nahrungspflanzen
den höher organiſirten Typen an.
Die Haupturſache des größeren oder geringeren derartigen Reich—
thums eines Landes liegt vor allem im Menſchen und ſeiner Geſittung.
Die Zahl der Culturgewächſe, welche ein Land hervorgebracht hat,
entſpricht nur theilweiſe dem natürlichen Vorkommen, weit mehr aber
der größeren oder geringeren Pflege, die der Menſch auf die von ihm
in jeder Gegend vorgefundenen Nutzpflanzen verwendete. Es hat Jahr—
hunderte und Jahrtauſende ſorgfältiger Pflege und mehr oder minder
berechneter Auswahl bedurft, um unſere heutigen europäiſchen Cultur—
gewächſe bis zum dermaligen Stande zu veredeln und in die manig—
fachſten bald dem Boden und Klima, bald der beabſichtigten Verwen—
dung angepaßten Varietäten und Raſſen zu zertheilen.
Es iſt daher leicht einzuſehen, warum Erdtheile, die von wilden
Völkern bewohnt wurden, keine ausgebildeten Culturgewächſe haben.
Auch dieſe Länder haben ſicher Nutzpflanzen, die einen mehr, die an—
dern weniger. Dieſe einheimiſchen Pflanzenformen hätten ſich jeden—
falls umgeſtalten, veredeln und in Varietäten zertheilen laſſen. Aber es
fehlte an jener unausgeſetzten Pflege und Auswahl, welche ſchon unſere
älteſten Vorfahren in den Culturländern der alten Welt überhaupt,
Rolle, Darwin's Lehre. 7
98
noch mehr aber die neueren Völker Europa's den Nutzpflanzen ihres
Bereiches angedeihen ließen.
Auch dieſe Betrachtung eröffnet wieder einen weiten Spielraum
zu neuen Verſuchen. Wenn nur die alten Culturvölker in Ermang⸗
lung eines beſſeren aus wildem Stamme edle Pflanzenformen gezüch⸗
tet haben, die wilden Volksſtämme aber nicht, muß es dann nicht
noch eine Menge wilder Pflanzen geben, die unter der ſorgſam pflegen-
den und verſtändig berechnenden Hand des Gärtners ausgezeichnete
Obſt⸗ oder Gemüſeſorten geben könnten? Wenn jo viele unſerer euro-
päiſchen Culturpflanzen nachweisbar aus Aſien eingeführt ſind, ſollte
nicht auch bei einem oder dem andern Pflänzchen der deutſchen Flora
unter unanſehnlicher Form noch der Keim zu einer fruchtreichen Ber-
edlung liegen? Die alten Germanen waren keine Pflanzenzüchter, unſere
beſten Nutzpflanzen find von ihnen und andern Völkern des Alter-
thums aus dem Oſten zu uns gebracht worden, auch die Römer haben
gewiß mehr Nutzpflanzen aus Oſten eingeführt als ſelbſt gezüchtet.
Der Gärtner veredelt die Blumen unſerer deutſchen Wieſen zu ge—
füllten Gartenblumen, die neben den ſchönſten exotiſchen ſich zeigen
können, aber an Verſuche zu einer Veredlung einheimiſcher nahrhafter
Wieſenkräuter zu Gemüßepflanzen ſcheint kaum jemand noch zu denken!
Hier iſt aber ſehr vieles noch möglich, wenn der Menſch nur will und
zwar mit Ausdauer will.
Hausthiere.
Wie bei der Cultur gewiſſer Pflanzen hat der Menſch auch bei
der Zähmung und Züchtung gewiſſer Thiere im Laufe lang fortge⸗
ſetzter Behandlung anſehnliche Umgeſtaltungen der urſprünglichen Form
zu Wege gebracht. Ebenſo wie bei den Pflanzen waren es auch bei
den Thieren vorzugsweiſe die höheren Klaſſen, welche Gegenſtände zu
einer ſolchen Umgeſtaltung geliefert haben, es ſind faſt nur Vögel und
Säugethiere, welche der Menſch zu Hausthieren gemacht hat. (Von
Goldfiſchen, Bienen, Seidenraupen u. ſ. w. kann man wohl abſehen.)
Ein Theil der Hausthiere ſind dabei dem Menſchen in hohem
Grade unterwürfig geworden, anderen iſt ein etwas größeres Feld der
Unabhängigkeit erhalten geblieben. Erſtere ſind auch im Allgemeinen
ſtärker, letztere gewöhnlich in geringerem Grade verändert worden.
Der Hund bietet ein Beiſpiel des erſteren, die Katze des letzteren Falles.
99
Die Herrſchaft des Menſchen hat überhaupt aber bei den ver-
ſchiedenen Arten der Hausthiere in manigfacher Weiſe bald mehr nach
Ausdehnung, bald auch mehr nach der Tiefe die angeerbte natürliche
Verfaſſung geändert. Unter ſeiner Hand entwickeln ſich gewöhnlich
aus einer Art eine Menge von Abarten, welche die Art, im freien
Zuſtande lebend und ſich ſelbſt überlaſſen, nie erzeugt haben würde.
Die Lebensweiſe des Thieres im wilden und im zahmen Zuſtande
iſt eine ſehr verſchiedene. Das wilde Thier iſt gewöhnlich genäthigt,
ſich mit einiger Anſtrengung ſeine Nahrung zu ſuchen und oft ſelbſt
aus der Fern: herbei zu holen. Es hat in vieler Hinſicht freie Wahl
unter den ihm zuſagenden Nahrungsmitteln. Es iſt gewöhnlich an—
haltend in freier Luft und oft zugleich in anhaltender und lebhafter
Bewegung. Es muß Feinden entgehen oder ſich gegen ſie wehren
können. Fleiſchfreſſer müſſen dabei oft lange Zeit und in peinlicher
Weiſe die Qualen des Hungers dulden. Pflanzenfreſſer in Steppen-
gegenden ſind oft ſtarkem Waſſermangel ausgeſetzt. Dies alles wird
bei dem eingefangenen und dem gezähmten Thiere anders. Jetzt findet
daſſelbe immer ſeine Nahrung bereit, es wird ſelten Mangel leiden,
es muß aber auch die Nahrungsmittel, die man ihm vorſetzt, anneh—
men und öfters ſind dieſe von jenen, welche ihm die Natur bot, ſehr
verſchieden. Die Bewegung in freier Luft iſt mehr oder minder ein—
geſchränkt. Dafür hält dann auch der Menſch vom gefangenen und
vom gezähmten Thiere alle Feinde ab. Die Umſtände ſind alſo in
ſolcher Ausdehnung und Tiefe verändert, daß es kein Wunder iſt, wenn
davon Aenderungen in der Miſchung der Säfte eintreten und demzu—
folge dann eine veränderte Nachkommenſchaft erſcheint. Es entſtehen
alſo zunächſt individuelle Abweichungen.
Aus dieſen wählt der Menſch aus. Er verſteht durch Auswahl
der Individuen zur Nachzucht große Erfolge mit Sicherheit zu er—
zielen und dabei gleichſam die organiſche Form ſeinen eigenen Be—
dürfniſſen anzupaſſen. Am merkwürdigſten iſt es in dieſer Hinſicht,
daß der Menſch bei der Züchtung von Thieren Charactere und An—
paſſungen erzielt, die ihm ſelbſt, nicht aber eigentlich dem Thiere vor—
theilhaft ſind.
Dieſe Herrſchaft des Menſchen über die Thierwelt iſt nichts we—
niger als gleichmäßig. Die Zahl der Hausthiere aller Völker der
Erde zuſammengenommen iſt eine verhältnißmäßig ſehr geringe. Man
iſt zwar fortwährend mehr oder minder beſtrebt, noch eine Anzahl
3
100
anderer Thierarten zu unterwerfen. Aber hier ſtellen ſich viele Schwie-
rigkeiten in Weg. Manche Thiere, ihrer gewohnten Lebensweiſe ent—
zogen, ſterben ſchon nach wenig Tagen, Wochen oder Monaten. Andere
leben zwar in der Gefangenſchaft fort, bringen dabei aber keine Junge.
Noch andere vermehren ſich auch, widerſtreben aber vermöge einer
vorwiegenden Zähigkeit der Vererbung im hohem Grade der Zähmung
und dem Anlaß zur Veränderlichkeit. Sie zeigen nur geringe Abän-
derungen und vielleicht kaum mehr als im wilden Zuſtande ſolche auch
vorkommen könnten. So iſt denn eine manigfache Reihe von Abſtu⸗
fungen in dieſer Einwirkung des Menſchen auf die Thiere ausgejpro-
chen, und ihr ein bald näheres, bald entfernteres Ziel geſteckt, bald
auch ein bis jetzt noch unbegrenzt gebliebener Spielraum offen gelaſſen.
Man hat wohl behauptet, daß die Wirkung der Zähmung nicht weiter
gehe, als es der Typus einer jeden Art zuläßt, indeſſen iſt dies
eine willkürliche vorgefaßte und verfrühte Behauptung. In Wirklich⸗
keit ſind die Verſuche künſtlicher Züchtung zum Behufe der Löſung rein
wiſſenſchaftlicher Aufgaben erſt in ſo geringer Ausdehnung und ſeit ſo
kurzer Zeit gemacht worden, daß man die Frage als noch nicht gelöſt be—
zeichnen kann. Es hat vielmehr den Anſchein, als ob es der fortſchreitenden
Züchtung noch manigfach gelingen dürfte, heute als unüberwindlich gel—
tende Schwierigkeiten künftig noch, aber auf neuen Wegen zu überwinden.
Wenigſtens erhalten wir jetzt jedes Jahr aus den zoologiſchen Gärten
Berichte von einzelnen Erfolgen, die man ehedem für nicht möglich
hielt. Erfolg und Erkenntniß aber ſchreiten hier in wechſelſeitiger
Einwirkung voran und erweitern das Gebiet.
Bei der Betrachtung der Veränderungen, welche der Menſch an
den Thieren, denen er ſeinen Einfluß zuwendet, zu erzielen verſteht,
müſſen wir, wie früher bei den Culturpflanzen, wieder unmittelbare
Einwirkungen und mittelbare unterſcheiden und dann den Erfolg der
Auswahl kennen lernen.
Die unmittelbaren Lebensbedingungen, denen wir ein dem wilden
Zuſtande entnommenes Thier ausſetzen, äußern ſtets, je nach dem
Grade ihrer Fremdartigkeit und nach dem Grade der Empfänglichkeit
deſſelben, einen gewiſſen Einfluß, manchmal einen unmerklichen, oft
aber auch einen ſehr ſtörenden und- in vielen Fällen ſelbſt tödlichen.
Fragen wir nun nach der Urſache der großen Varietäten- und
Raſſenzahl unſerer Hausthiere, ſo drängt ſich zunächſt die Annahme
auf, daß fie eine Folge von Abänderung der äußeren Lebensbedin⸗
101
gungen ift. Die wilden Formen unferer gezähmten Thiere leben unter
ſehr beſtimmten Verhältniſſen, denen ihre Verfaſſung ſich erblich an—
gepaßt hat. Indem wir ſie in unſer Haus aufnehmen, entfremden
wir ſie dieſen angeerbten Lebensverhältniſſen. Wir rauben ihnen den
Spielraum der Bewegung, entheben fie des Bedürfniſſes, ihre Speife
ſich ſelbſt zu ſuchen und befreien ſie von der Nachſtellung ihrer Feinde.
Wir ſetzen ſie zugleich aber noch dem Einfluß manigfacher anderer
Umſtände aus, von denen wir uns oft ſelbſt nicht ſo leicht Rechenſchaft
geben können. Alles dies muß unmittelbar ſchon auf ein Thier ſeinen
Einfluß äußern, am meiſten aber ſcheint auf das gefangene Thier,
ſobald es überhanpt einmal in der Gefangenſchaft ſich am Leben zu
erhalten vermag, die überflüſſige Nahrung einzuwirken, welche wir
unſeren Hausthieren gewöhnlich darreichen.
So hat Dr. Rütimeyer gefunden, daß die Knochen von Haus⸗
thieren ſich von denen wilder Thiere, ſowohl im Grade der Feſtig—
keit, als auch in der Art der Oberflächenbildung ſo ſehr auszeichnen,
daß man oft kleine Bruchſtücke darnach ſchon unterſcheiden kann.
Knochen wilder Thiere ſind von dichtem Gefüge, hart, ſpröde, ſehr
fettlos. Namentlich iſt bei den Gliedmaßenknochen das verhältniß—
mäßig ſehr hohe ſpecifiſche Gewicht auffallend. Man vergleiche nur
die Knochen des Hirſches, ihre Oberfläche iſt rauher, alle Eindrücke
von Muskelanſätzen und Gefäßen find ſchärfer ausgeprägt als bei Haus-
thieren. So zeichnen ſich die Knochen des Ur und des Wiſent durch
weit ſchärfere Oberflächenzeichnung, als die des Haus-Stieres aus.
Knochen von Hausthieren aber ſind immer lockerer, leichter und
weicher, dabei im Allgemeinen fetthaltiger als die der wilden Formen.
Man kann darnach Knochen des Hundes leicht von denen des Fuchſes
unterſcheiden. Das ſind offenbar Folgen der veränderten Lebensweiſe
des Hausthieres, namentlich aber ſeiner reichlicheren Ernährung und
ſeiner geringeren Bewegung.
Viele Thiere, namentlich Vögel und Säugethiere, ſeltener Thiere
aus niedrigeren Klaſſen, werden im Laufe der Gefangenſchaft zahm,
d. h. ſie verlernen es, im Menſchen einen Feind zu ſehen, ſie fliehen
ihn nicht mehr, wehren ſich nicht mehr gegen ihn, nehmen Nahrung
von ihm an und äußern in gewiſſen Fällen ſelbſt Dankbarkeit, Freund⸗
ſchaft, Gehorſam. Ein jo hoher Grad von Umgeftaltung in den
Aeußerungen der Seelenverfaſſung zeigt ſich am meiſten bei lang ſchon
gezüchteten Hausthieren, in vieleu Fällen aber ſogar auch bei jung
102 -
eingefangenen Thieren wilder Arten, z. B. beim Elephanten, der in
der Gefangenſchaft ſich nur ſelten fortpflanzt und daher immer wieder
neu eingefangen werden muß.
Der unmittelbare Einfluß des Menſchen auf das in Gefangen—
ſchaft gehaltene Thier zeigt ſich ferner noch in Veränderungen, welche
in den Geſchlechtsverrichtungen eintreten.
Darwin erdweiſt es aus zahlreichen Beobachtungen an gefangen
gehaltenen Thieren, daß das Fortpflanzungsſyſtem derſelben für die
Einflüſſe gewiſſer und zum Theil noch dunkler Veränderungen in den
allgemeinen Lebensbedingungen viel empfänglicher als jeder andere
Theil des Organismus ſein muß.
Dieſer Umſtand macht ſich unter den unmittelbaren Folgen der
Gefangenſchaft ſchon merklich geltend, noch viel mehr aber unter den
mittelbaren. In vielen Fällen äußert die Einſperrung wilder Thiere
ſehr bemerkenswerthe Veränderungen in den Verrichtungen des Ge—
ſchlechtsſyſtems, vermindert ſie oder hebt ſie ganz auf. Iſt es auch
gelungen, eine wilde Thierart in der Gefangenſchaft aufzuziehen, ſo
iſt in vielen Fällen immer noch eine große Schwierigkeit zu über—
winden, ſie zu einer freiwilligen Fortpflanzung zu bringen. Eine
Menge von Thieren wollen ſich in der That nicht fortpflanzen, ob—
ſchon ſie lange Zeit hindurch in einer verhältnißmäßig nicht ſehr engen
Gefangenſchaft in ihrer Heimathgegend und unter den ihrer Lebens—
weiſe, ſoweit es thunlich iſt, am nächſten kommenden Verhältniſſen
gehalten werden.
Raubvögel pflanzen ſich in der Gefangenſchaft entweder nie oder
in nur höchſt feltenen Fällen fort. Selbſt der Edelfalke, der im Mittel-
alter ſo häufig zur Jagd abgerichtet wurde und in hohem Preiſe
ſtand, hat trotz ſeiner Abrichtung nie zum Hausthiere werden können.
Die große Mehrzahl der Papagayen läßt ſich eben ſo wenig in der
Gefangenſchaft züchten, man muß ſie zum Behuf der Zähmung immer
wieder neu einfangen. Stelzvögel eignen ſich ſehr wenig zur Züch—
tung, nur der Storch und der graue Reiher ſind neuerdings in einigen
Fällen zur Fortpflanzung gebracht worden. Genauere Beobachtung
der Thiere und angemeſſenere Pflege dürfte in Zukunft ſolche Fälle
übrigens noch ſehr vermehren.
Die vierfüßigen Raubthiere pflegen ſich in der Gefangenſchaft
ziemlich leicht fortzupflanzen, es iſt dies ſelbſt bei den aus den Tropen
gebrachten Stücken der Fall. Bei einzelnen Arten der Bärenfamilie
103
iſt es allerdings, wie z. B. beim Waſchbär, beim Naſenbär und beim
Dachs, bis jetzt noch nicht gelungen.
Affen pflanzen fich bei uns in der Gefangenſchaft ſelten fort.
Die meiſten Arten müſſen fortwährend neu eingeführt werden. In—
ſectivoren, wie der Igel, und Chiropteren, wie die Fledermaus, wahr—
ſcheinlich nie oder nur ſelten.
Der Elephant iſt in der Gefangenſchaft ebenfalls nur in den ſel—
tenſten Fällen zur Fortpflanzung zu bringen und muß, gleichwie die
Papagayen zum Behuf der Zähmung immer wieder aufs neue im
jungen Zuſtand eingefangen werden. Dies geſchieht um ſo mehr beim
Elephanten, als das Einfangen junger wilder Thiere ökonomiſch immer
wohlfeiler iſt, als das Aufziehen ſolcher von Paaren. Der Elephant
iſt daher auch noch nicht ſeiner Art, ſondern immer nur einzelnen In—
dividuen nach zum Hausthier geworden.
Beträchtlicher als die unmittelbaren ſind die mittelbaren erſt im
Laufe einer Reihe von Generationen hervortretenden Folgen der Ge—
fangenſchaft und Zähmung. Sie beruhen auf Angewöhnung und An—
paſſung, auf Gebrauch oder Nichtgebrauch der Körpertheile und auf
Veränderungen im Fortpflanzungsſyſtem.
Die Gewöhnung hat auf das Thier in einer Reihe von Fällen
einen entſchiedenen Einfluß. Bei den im wilden Zuſtande lebenden
Thieren beobachtet man viele Charactere, die durch Gewöhnung er—
langt zu ſein ſcheinen, aber es iſt ſchwer, den beſtimmten Beweis da—
für zu liefern, daß die betreffenden Charactere wirklich auf dieſe Weiſe
erlangt wurden. Sicher erweisbar aber iſt der Vorgang in vielen
Fällen bei Hausthieren.
Verpflanzt man z. B. unſere Hausthiere in die Tropen, ſo
müſſen fie ſich au ganz andere klimatiſche und anderweitige Lebens—
bedingungen gewöhnen. Mehrere Arten erleiden dabei Aenderungen,
die gewöhnlich zu Eigenthümlichkeiten führen, die mit ſolchen von dort
einheimiſchen Formen analog ſind. Unſere Schaf-Raſſen in die heißen
Ebenen Afrikas oder auf die Antillen verpflanzt, verlieren mehr
oder minder von ihrer warmen Wollbekleidung. Der Hund im heißen
Afrika iſt dünnbehaart oder faſt haarlos. Verpflanzt man dieſe nackte
Hunderaſſe wieder in unſere Klimate, ſo nimmt mit den nächſtfolgen—
den Generationen ihre Behaarung allmählig zu. Die Hunde der
Eskimo's ſind dagegen durch langen und dicken Haarpelz ausge—
zeichnet, was eine weitere Stufe deſſelben Vorgangs ſein mag.
104
Das Haushuhn iſt nah Roulin imtropiſſchen Amerika faft H
nackt geworden, es bringt nur wenigen Flaum zur Welt, verliert
dieſen bald wieder und iſt dann nackt bis auf die Schwungfedern.
Ein merkwürdiges Beiſpiel von Angewöhnung lieferte vor zwei
Jahrzehenden die ägyptiſche Gans, Anser aegyptiacus Br'ss., welche
in Europa vordem nur ſchwer aufzuziehen war, weil ſie hier, wie
im wärmeren Aegypten ihre Eier im December legte und daher
die früheſte Jugend ihrer Jungen in unſere ſtrengſte Jahreszeit fiel.
In den Pariſer Thiergärten begannen erſt im Jahre 1843 dieje⸗
nigen Thiere, welche bis dahin noch im December gelegt hatten, ſo
wie deren in Frankreich aufgezogenen Abkömmlinge, ihre Eier im
Februar, dann 1844 im März und 1845 im April zu legen und
ſeitdem hat ihr Fortkommen im Freien keine Schwierigkeit mehr.
Gebrauch oder Nichtgebrauch eines Organes entſcheidet häufig
bis zu einem gewiſſen Grade über deſſen Ausbildung. Der Gebrauch
ſtärkt und dehnt gewiſſe Körpertheile aus, der Nichtgebrauch ſchwächt
ſie. Solchergeſtalt erzeugte Abänderungen ſind aber vererblich. Es
gehören dahin folgende Erſcheinungen bei Hausthieren.
Bei der Hausente (Anas boschas L.) ſind nach Darwin's
Beobachtung die Flügelknochen leichter und die Beinknochen ſchwerer
im Verhältniß zum ganzen Skelett, als bei ihrer frei lebenden Stamm⸗
form — der Wildente (Stockente) — welche in Nord- und Mittel-
europa heimiſch iſt. Man kann dieſe Umänderung ſehr wohl dem
Umſtande zuſchreiben, daß die zahme Ente weniger fliegt und mehr geht,
als dies bei der im Naturzuſtande lebenden Stammform der Fall iſt.
Bei unſerm zahmen Geflügel überhaupt iſt aus Mangel an Uebung
die Flugkraft geſchwächt und die Schwung⸗ und Steuerfedern ſind kürzer
geworden, als ſie bei den wilden Formen derſelben Arten ſich zeigen.
Bei Ziegen und bei Kühen erſcheint eine vererbliche ſtärkere Ent⸗
wicklung der Euter in ſolchen Gegenden, wo die Thiere regelmäßig
gemolken werden. Vernachläßigt man die Thiere oder läßt man ſie
verwildern, ſo nimmt die Stärke des Euters und damit auch der
Milchertrag ab. Die Thiere geben dann nur Milch, ſo lange ſie
Junge ſäugen.
Es gibt in verſchiedenen Gegenden Raſſen von Hausthieren mit
hängenden Ohren. Unſere meiſten zahmen Hunderaſſen zeigen dieſen
Character, aber die halbwilden Hunde von Java, China u. ſ w.
haben ſpitze aufrechtſtehende Ohren.
105
Ein ähnlicher Fall zeigt ſich beim Kaninchen. Die wilde Form
hat ſpitze aufrecht ſtehende, aber unter den zahmen Raſſen zeigen
ſich Formen mit ſchlaffen herabhängenden Ohren.
Es ſcheint, daß der Character hängender Ohren eine Folge vom
ſeltenen Gebrauch der Ohrmuskeln iſt, indem das Thier unter dem
Schutze des Menſchen ſich nicht mehr ſo durch drohende Gefahren
beunruhigt fühlt, wie dies bei wilden Thieren der Fall iſt. Der
Hühnerhund und der Dachshund verlaſſen ſich auf die Schärfe ihres
Geruchs, ihr Gehör kommt minder ins Spiel, ſie können daher herab⸗
hängende Ohren haben.
Eine andere Folge der Zähmung, die auf Nichtgebrauch von
Theilen beruht, iſt die minder ſtarke Entwicklung der Nacken⸗ und
Kaumusculatur zahmer Thiere im Gegenſatz zum Character ihrer
nächſten wilden Verwandten. Man vergleiche z. B. Hund und Katze
mit Wolf und Wildkatze.
Die wichtigſte mittelbare Folge, welche aus den veränderten Lebens⸗
verhältniſſen hervorgeht, denen der Menſch das eingefangene wilde Thier
ausſetzt, iſt nach Darwin's Lehre die Veränderung, die in der ge⸗
ſchlechtlichen Sphäre eintritt.
Wenn auch bei der Züchtung unſerer Hausthiere ein gewiſſer
Theil des Erfolges unzweifelhaft dem Einfluſſe äußerer Verhältniſſe
und der Gewöhnung an dieſelben zuzuſchreiben iſt, ſo entſcheiden dieſe
Momente doch jedenfalls für ſich allein noch nicht viel. Hiervon allein
würden die manigfachen Raſſen, in welche wir unſere Hausthiere
zerſpalten haben, noch nicht ſich gebildet haben, es bedarf dazu noch
tiefer eingreifende Momente.
Darwin iſt der Anſicht, daß die weſentlichſte und häufigſte
Urſache zur Abänderung der Thierformen in Einflüſſen zu ſuchen iſt,
welche das männliche oder das weibliche Element der Fortpflanzung
ſchon vor der Befruchtung des Eies erfahren hat. Der Einfluß der
veränderten äußeren Lebensbedingungen erzeugt unmittelbar auf die
Thiere gewöhnlich nur unerhebliche Wirkungen. Deſto größer iſt in
einer Reihe von Fällen der Erfolg dieſer Einflüſſe auf die geſchlecht⸗
liche Sphäre und dadurch auch auf den Character der Nachkommen.
Aus der Beobachtung an wild eingefangenen und dann dem Ein⸗
fluß des Menſchen ausgeſetzten Thieren ergeben ſich manigfache Ab⸗
ſtufungen in den Störungen des geſchlechtlichen Syſtems. Die Züch⸗
tung der Thiere wird dadurch in vielen Fällen, wie ſchon erörtert
106
wurde, unmöglich gemacht. Die Thiere fterben in der Gefangenschaft
aus, ohne Nachkommen zu hinterlaſſen. Eine Reihe von anderen
Thieren aber pflanzen ſich in der Gefangenſchaft fort und dieſe können
dann Gegenſtand einer Züchtung zu Hausthieren werden. Nach ſo
vielen Beiſpielen eines weſentlich ſtörenden Einfluſſes der Gefangen—
ſchaft auf die Fortpflanzung von Thieren, erſcheint es leicht begreif-
lich, daß bei Thieren, bei denen eine Fortpflanzung in der Gefangen-
ſchaft ſtatt hat, auch eine Veränderung im Fortpflanzungsſyſtem, aber
von milderer Art, eingetreten iſt. Sie hat dann den Erfolg, daß
daſſelbe nicht vollkommen in der früheren ererbten Weiſe wirkt, ſon—
dern zur Erzeugung einer Nachkommenſchaft führt, welche den Aeltern
weniger ähnlich iſt, als dieſe den Vorältern waren und welche dann
auch zu weiteren Veränderungen geneigt iſt. 5
Darwin legt hierbei auf den Umſtand Gewicht, daß ſchon bei den
Jungen eines und deſſelben Wurfes — namentlich bei Hausthieren —
ein beträchtlicher Grad von individueller Abweichung vorkommen kann.
Solche Fälle find bei Hausthieren nicht felten. Pr. Weinland
(Zoologiſcher Garten III. 1862. p. 101.) beichrieb eine dahin ein-
ſchlagende merkwürdige Zwillingsgeburt bei der aus Aegypten
ſtammenden buckelnaſigen Ziege (Augoceros eapra, var. resima), von
der es eine Raſſe mit langen herabhängenden und eine andere mit
ganz kurzen aufrichtbaren Ohren gibt. Im Frankfurter zoologi—
ſchen Garten erzeugte nun ein Paar von der kurzohrigen Raſſe Zwil—
linge, von denen ein Individuum der Raſſe mit langen hängenden,
das andere der mit kurzen ſtehenden Ohren angehörte. Weinland
hat beide Köpfe abgebildet. Leider kamen dieſe Jungen todt zur Welt.
Daß aber wirklich das Fortpflanzungsſyſtem der Thiere in
vielen Fällen, auch da noch, wo die Verrichtungen nicht gehemmt ſind,
entſchieden von Aenderungen der allgemeinen Lebensbedingungen be—
troffen wird, geht aus einer namhaften Reihe von Thatſachen hervor.
Die aus Europa nach Bogota in Neu-Granada ver⸗
pflanzten Gänſe legten anfangs nur wenige Eier und auch von dieſen
kamen nur wenige Jungen auf. Die zweite Generation gedieh ſchon
beſſer, doch waren die Gänſe noch immer nicht ſo fruchtb ar als in
Europa. Hier hat alſo offenbar die Veränderung der Lebensbedin-
gungen auf das Fortpflanzungsſyſtem ſchwächend eingewirkt.
Eine bedeutende Erhöhung der Fruchtbarkeit ſcheint d agegen bei
den Meerſchweinchen, Cavia cobaya, eingetreten zu fein, fie find bei
107
uns in der Gefangenſchaft weit fruchtbarer als ihre nächſten Ver—
wandten in der Heimath, von denen man ſie abgeſtammt glaubt.
Kaninchen und Frettchen zeigen in der Gefangenſchaft eine ähuliche
Ueppigkeit der Vermehrung.
Eine andere eigenthümliche Wirkung der Gefangenſchaft auf
manche Thiere iſt nach mündlicher Mittheilung von br. Weinland,
die in den zoologiſchen Gärten gemachte (bisher ſpärliche) Erfahrung,
daß von den hier vorgekommenen Geburten von Thieren, z. B. von
Antilopen, eine das gewöhnliche Verhältniß überſchreitende Mehrzahl
dem männlichen Geſchlechte anzugehören ſcheint.
Dieſe Angabe ergänzt ſich ſehr gut durch eine andere, nach
welcher Rinder und Schafe in Neu-Südwales nicht nur gut ge—
diehen, ſondern auch an Fruchtbarkeit zunahmen und dabei verhältniß—
mäßig mehr weibliche als männliche Jungen zur Welt brachten.
Die Variation der Thierform regelt ſich, wie Darwin zeigt, nach
gewiſſen Geſetzen, von denen wir zur Zeit aber erſt wenige nach ein—
zelnen Andeutungen mehr oder minder klar erkennen oder überhaupt
erſt ahnen können. Im Ganzen genommen ſind wir über die Geſetze,
nach denen die Veränderungen vor ſich gehen, noch ſehr im Dunkel
und der Fall iſt ſelten, daß wir, wenn ein Theil eines Organismus
von dem entſprechenden ſeiner Eltern abweicht, den genaueren Grund
davon zu erkennen vermögen.
Darwin hebt eins dieſer Geſetze hervor, welches er das der
Wechſelbeziehung der Entwicklung nennt. Es beſteht darin,
daß eine Veränderung in einem Theile des Thierkörpers gewöhnlich
von ſolchen in einem anderen Theile deſſelben begleitet iſt. Es ſtellen
ſich dabei oft Wechſelbeziehungen ſehr ſonderbarer Art heraus. Die
Erſcheinung überhaupt hat ſowohl bei der Entſtehung von Monſtro—
ſitäten, als bei der von neuen Raſſen eines Hausthieres ſtatt.
Bei Mißbildungen hat Geoffroy mehrfach eine Wechſelbezie—
hung von Körpertheilen nachgewieſen, er zeigte nämlich, daß gewiſſe
Formen der Mißbildung ſehr häufig in demſelben Individuum zu—
ſammen vorkommen. Einer der auffallendſten Fälle dieſer Art iſt,
daß Katzen mit blauen Augen allezeit taub ſind.
Ebenſo ſtellt ſich eine Wechſelwirkung der Entwicklung bei der
Züchtung neuer Raſſen von Hausthieren vielfach heraus. Es ſind
dabei namentlich homologe, das heißt urſprünglich gleichartige,
aber zu verſchiedenen Verrichtungen und in verſchiedener Form aus—
108
gebildete Theile des Thieres, welche inſoweit einen Zuſammenhang
unter einander zeigen, daß ſie gleichzeitig abzuändern pflegen. |
So bemerkt Darwin, daß nach der Anſicht der Viehzüchter
Hausthiere mit verlängerten Beinen gewöhnlich auch durch eine ver—
längerte Form des Kopfes bezeichnet ſeien. Gliedmaßen und Unter—
kiefer ſind aber homologe Theile. So unterſcheidet ſich z. B. das
zahme Schwein von Oſtaſien vom gemeinen europäiſchen Haus—
ſchwein zugleich durch kürzere Schnautze und durch kürzere Beine. In
ähnlichem Zuſammenhang ſtehen bei den Tauben die Länge der Schnäbel
und die der Füße. Tauben mit kurzen Schnäbeln haben kleine Füße
und ſolche mit langen Schnäbeln auch lange Füße.
Behaarung, Bezahnung und Hörner ſind ebenfalls homologe Ge—
bilde. So bemerkt Darwin, daß vermöge der Wechſelbeziehung
beim unbehaarten oder ſogenannten türkiſchen Hunde die Bezah—
nung unvollkommen ſei. Rindvieh-Raſſen mit langem und grobem
Haare ſollen geneigter ſein, lange Hörner zu bekommen, als ſolche
mit feiner kurzer Behaarung.
Ein anderes Geſetz, welches die Aeußerungen der Veränderlich—
keit regelt, beſteht darin, daß, wenn ein Theil des Thierkörpers ſich
ſtark entwickelt, er zufolge der innigen Verkettung aller einzelnen Theile
und Verrichtungen der Organiſation mehr oder minder dahin ſtrebt,
anderen, beſonders benachbarten Theilen, Nahrung zu entziehen und
ſo zu deren Verkümmerung führt.
So hindert die Steigerung der Wollerzeugung beim Schafe eine
reichlichere Fleiſch- und Fettbildung. Das feinwollige Merinoſchaf
hat z. B. als Schlachtthier weniger Werth als unſere gemeine Schaf—
Raſſe. Dafür züchtet man aber in England auch eine beſondere
Kaffe von Fleiſch-Schafen als Schlachtvieh, bei denen man die Woll-
erzeugung nicht mehr im Auge hat.
Gänſe, die regelmäßig gerupft werden, entwickeln weniger Fleiſch
und Fett als andere.
Beim chineſiſchen Maſtſchwein hat man eine ſolche Steige—
rung der Fettablagerung hervorgerufen, daß gewiſſe Körpertheile und
deren Verrichtungen darunter leiden, namentlich die Bewegungswerk—
zeuge gering entwickelt bleiben, wobei allerdings auch deren geringerer
Gebrauch noch mit in Betracht kommt.
Raſſen des Haushuhns mit einer großen Federhaube auf dem
Kopfe pflegen einen um ſo kleineren Kamm zu tragen.
169
Von den Veränderungen, welche die Thiere im Verlaufe der
Züchtung erleiden, ſind manche vererblich, andere bleiben auf das In—
dividuum beſchränkt. ö
Im Allgemeinen iſt die Neigung zur Vererbung der elterlichen
Charactere, ſowohl der anerkannt weſentlichen als auch der erſt durch die
Züchtung hervorgerufenen, bei allen Hausthieren ſehr ausgeſprochen. Sie
vererben dieſelben namentlich ſo lange, als ſie unter den Bedingungen,
die verändernd auf ſie einwirkten, auch nachfolgend noch gehalten
bleiben. Es gibt ſowohl Raſſen von Pferden, Rindern und anderen
Vierfüßern, als auch ſolche von zahmem Geflügel, welche ſich unter
gleichgebliebener Behandlung und Pflege Jahrhunderte und Jahrtau—
ſende hindurch in ſo weſentlich gleicher Form erhielten, daß unmittel—
bare Vergleichung der älteſten bekannten Formen, z. B. aus Grab—
mälern, mit heute lebenden Exemplaren nur geringe oder überhaupt
gar keine Raſſenverſchiedenheit nachzuweiſen vermag Erſt wenn die
Hausthiere entweder durch andere Behandlung oder durch Verwilde—
rung unter Bedingungen gebracht werden, die den Lebensverhältniſſen
ihrer Urformen nahe oder gleichkommen, beginnen ſie die angenom—
menen Eigenthümlichkeiten wieder abzulegen, ſie ſchlagen zurück. In
andern Fällen verändert der Menſch auch abſichtlich ihre Lebensweiſe,
um neue Veränderungen hervorzurufen oder er verpflanzt ſie in an—
dere Gegenden, in der Hoffnung, ſie in dieſen unverändert erhalten
zu können, und wird dann dadurch Urheber neuer Raſſen. In allen
dieſen Fällen iſt aber ein Wechſel der Lebensbedingungen von mehr
oder minder hohem Grade nothwendig, um der Neigung des Thiers,
ſowohl die ererbten allgemeinen als auch die ererbten Cultur-Charactere
weiter fortzupflanzen, entgegenzuwirken und der Veränderlichkeit eine
andere Bahn zu eröffnen.
Es herrſcht in dieſer Hinſicht bei unſeren Hausthieren ein fort—
währendes oft merkliches, oft vorübergehend ruhendes Schwanken, einer—
ſeits zwiſchen der Neigung zur Vererbung aller elterlichen Charactere,
andererſeits der ſelbſtändigen Veränderung nach eigenthümlicher Rich—
tung, endlich drittens der Wirkung einer latenten Vererbung von
Characteren einer weit entlegen wilden Stammform. Dieſe dreierlei
Beſtrebungen liegen im Hausthiere im mehr oder minder offen aus—
geſprochenem Widerſtreit. Je nach den Einflüſſen der äußeren Verhält—
niſſe erlangt bald dieſes, bald jenes die Oberhand. Je manigfacher
aber das Spiel dieſer verſchiedenen Momente ſich geſtaltet, um ſo
110
mehr kann auch der Menſch in den Verlauf der Bewegungen ein-
greifen.
Das weſentlichſte und fruchtbringendſte Mittel dazu iſt die Aus-
wahl, die den eigentlichen Schwerpunkt der Züchtung darſtellt und
auf dem raſcheſten Wege zur Erzeugung neuer Raſſen führen kann.
Wirkung der Auswahl auf Hausthiere.
Durch den Einfluß von Gefangenſchaft, Fütterung und Zäh—
mung allein würden ſich nicht bei Hausthieren ſo zahlreiche Raſſen ge—
bildet haben, namentlich aber nicht ſo manche auffallenden Eigenthüm⸗
lichkeiten, die gar nicht zu des Thieres eigenem Vortheile ſind, ſondern
nur des Menſchen Nutzen und Liebhaberei entſprechen. Die Züchtung
bedarf, um nach Ausdehnung und Tiefe ſo weit eingreifen zu können,
noch ein weiteres weſentliches Moment, der Züchter muß die einge—
tretenen Veränderungen auch nach Belieben feſthalten, d. h. zur Ber-
erbung bringen können. Dies geſchieht vermittelſt der Auswahl
zur Nachzucht.
Der Menſch greift unter den manigfachen Veränderungen, welche
in Folge von Einzelheiten der Lebensweiſe oder von ſexuellen Vor-
gängen bei Hausthieren allmählig oder auch plötzlich entſtanden ſind,
ſolche heraus, welche ihm vorzugsweiſe nützlich oder angenehm er—
ſcheinen, widmet ihnen ſeine beſondere Pflege und zieht Nachkommen
von ihnen. Neu auftretende Variationen, die an ſich leicht individuell
bleiben würden und namentlich bei der Kreuzung mit anderen Formen
der gleichen Art ſogleich oder doch in wenigen Generationen wieder
verſchwinden müßten, bleiben durch einen ſolchen Eingriff des Men—
ſchen erhalten. Der Menſch züchtet aus der individuellen Variation
einen beſonderen Stamm, der, wenn er hinreichend auszeichnende Cha—
ractere beſitzt, den übrigen gegenüber als Raſſe ſich geltend macht.
So müſſen vor alter Zeit viele Raſſen entſtanden ſein und ſo werden
deren oft noch heut zu Tage neu erzeugt.
Ausgezeichnete Beweiſe für die Möglichkeit einer Züchtung neuer
Raſſen von einzelnen abſonderlich gearteten Individuen geben das un—
gehörnte Rind und der krummbeinige Widder.
In Paraguay wurde, wie Azara berichtet, im Jahre 1770
von einem gewöhnlichen Hornvieh-Paare ein Stier erzeugt, der ſich
von ſeinen Eltern durch den vollkommenen Mangel von Hörnern un—
111
terſchied. Dieſer ungehörnte Stier erzeugte mit einer gehörnten Kuh
ungehörnte Junge, alſo einen ganz beſonderen Stamm. Alle Nach—
kommen erbten in der Folge dieſe Eigenthümlichkeit, und da ſie den
Viehzüchtern vortheilhaft ſchien, ſo benützten ſie den hörnerloſen Stier
und ſeine Nachkommenſchaft ausſchließlich zur Nachzucht. Man ließ
gleichzeitig die gehörnte Rindviehraſſe allmählig erlöſchen und jetzt iſt
der ganze dort einheimiſche Viehſtand ungehörnt.
In England wurde in neuerer Zeit ein mißgebildeter Widder
mit krummen kurzen Beinen geworfen. Man erhielt von ihm krumm—
beinige Lämmer und da dieſe beliebt wurden, weil ſie nicht leicht über
Hecken ſpringen können, ſo züchtete man aus ihnen eine beſondere
neue Raſſe krummbeiniger Schafe.
Aehnliche Fälle mögen in früheren Jahrhunderten und Jahrtau—
ſenden oft genug zum plötzlichen Hervortauchen von neuen Hausthier—
Raſſen Anlaß gegeben haben.
Es gibt aber noch eine andere Art der Auswahl, die auf weniger
hervortretende Eigenthümlichkeiten der Individuen Rückſicht nimmt und
erſt im Laufe längerer Friſten zu größeren Gegenſätzen führt. Es
iſt dies, was Darwin unabſichtliche oder unbewußte Züchtung nennt.
Dieſer Vorgang hat gewiß in den älteſten Zeiten vorzugsweiſe ſtatt—
gefunden.
Die Natur liefert vermöge des allgemein herrſchenden Geſetzes
der individuellen Veränderlichkeit bei unſeren Hausthieren bald dieſe,
bald jene neue leichte Abänderung. Nicht alle erſcheinen dem Men—
ſchen gleich nützlich oder gleich ſchön. Er prüft und wählt.
Offenbar iſt jedermann, auch der ungeſittetſte Wilde beſtrebt,
die beſten Thiere zu beſitzen und nachzuziehen. Man will erhalten,
was man hat, aber der Vorgang bleibt nicht dabei ſtehen, es tritt
im Laufe der Generationen dann noch eine Veränderung und zwar
eine ſolche ein, die, inſofern ſie dem Menſchen vortheilhaft erſcheint,
eine Veredlung iſt. Ihr Grund iſt die generationsweiſe Anhäufung
gewiſſer Charactere, auf welche der Menſch ein Augenmerk hat. Meh—
rere andere, durchaus nicht immer bewußte Handlungen des Menſchen
führen zu demſelben Ergebniß. Allenthalben wird der Menſch aus
ſeinen Thierheerden ſchwächliche oder anderweit den übrigen nachſte—
hende Stücke zuerſt wegſchlachten und bei Wanderungen oder zur Zeit
von Hungersnoth die beſten Stücke am längſten ſich erhalten. Da—
mit iſt aber der Weg der Veredlung ſchon betreten.
112
Auf dieſem Wege ſcheint ein großer Theil der heutigen Raſſen
unſerer Hausthiere entſtanden zu ſein, Darwin belegt dies ſogar
mit geſchichtlichen Nachrichten. Er berichtet, daß gewiſſe Schafraſſen
in andere Gegenden verpflanzt und hier in reiner Miſchung erhalten,
doch nach Verlauf von Jahrzehenden ſo von dem Character der
Stammform abgewichen waren, daß damit der Grund zur Erzeugung
einer neuen Raſſe gelegt ſchien. In Wirklichkeit aber hatten die Be—
ſitzer der Heerden nur erhalten, nicht ändern wollen.
Nach Darwin ſcheint es unzweifelhaft, daß die Raſſen unſerer
Jagdhunde im Laufe der letzten zwei oder drei Jahrhunderte ſich ver—
ändert und zwar veredelt d. h. dem Vortheil des Menſchen gemäß
verändert haben. Auch Pferde und Rinder haben ſich in dieſer Zeit
mehrfach verändert.
Dadurch daß der Menſch kleine aber ihm nützliche oder ander—
weitig zuſagende Abweichungen, die ihm durch die Hand der Natur
dargeboten werden, erfaßt und bei ſeinem Thierſtande zu erhalten
ſucht, erzielt er allerdings neue ihm vortheilhafte Raſſen. Aber das
Moment der Erhaltung vortheilhafter Charactere iſt es noch nicht
allein, was jene Erfolge erklärt, welche der Menſch im Laufe der
Jahrtauſende bei den Hausthieren hervorgebracht hat. Wir finden
unter denſelben eine Menge von Raſſen, die gewiß nicht ſo vollkom—
men und mit ſo ſehr für uns vortheilhaften Characteren auf einmal
durch Zufall erſchienen, daß ſie der Menſch nur feſtzuhalten und fort—
zupflanzen brauchte, wie dies z. B. bei der ungehörnten Rinder-Raſſe
von Südamerika der Fall war. ‚
Es bedurfte alſo zur Ergänzung des Grundſatzes der Auswahl
behufs Erhaltung noch ein weiteres Moment. Es beſteht dies im
Vermögen des Menſchen, die Eigenthümlichkeiten der Hausthiere durch
Auswahl nicht nur zu erhalten und zu befeſtigen, ſondern auch
noch zu ſteigern.
Indem wir jene Individuen zur Nachzucht auswählen, welche
die gewünſchten Eigenſchaften im bisherigen höchſten Grade beſitzen,
ſteigern wir deren Betrag bei jeder folgenden Generation noch um
einen, wenn auch ganz unſcheinbaren Grad. Wir glauben zu erhalten,
ſteigern aber zugleich auch. Eine Generation weicht von der nächſt—
folgenden nicht oder kaum merklich ab. Aber wenn wir die End—
glieder der Generationsreihe vergleichen, finden wir das letzte gegen
das erſte Glied veredelt. Dieſer Vorgang iſt phyſiologiſch noch ziemlich
113
räthſelhaft, er ſcheint nur von Characteren zu gelten, die noch nicht
durch langjährige Vererbung ſtabil geworden ſind. Wir können alſo
nur dann Charactere durch entſprechende Inzucht ſteigern, wenn die
Natur der betreffenden Theile überhaupt erſt kurz vorher durch Do—
meſticirung erſchüttert worden iſt.
Die klare Erkenntniß hierüber iſt erſt Sache der neueren Zeit
und begründet eine Epoche bewußter und planmäßiger Thierzüchtung,
deren Erfolge alles übertreffen, was in dieſer Hinſicht unſere Vor—
fahren auf mehr unbewußten Wegen erzielten.
Als Folge einer ſolchen fortdauernd anhäufenden Züchtung er—
ſcheint oft ein monſtröſer Character bei einer oder der anderen
zahmen Raſſe von Hausthieren, d. h. eine Abweichung eines oder
mehrerer Theile des Körpers, die einen ungewöhnlich hohen Grad
erreicht, oft ſelbſt den gewöhnlichen Spielraum der Artform über—
ſchreitet. So namentlich bei manchen Raſſen der Haustaube und des
Haushuhns.
Dieſe Erſcheinung beruht auf einer weit gegangenen Anhäufung
individueller Abweichungen im Laufe größerer Reihen von Generationen.
Der Menſch hat ſie je nach ſeinem Bedürfniſſe und ſeiner Laune durch
Auswahl der ihm vortheilhafteſten Individuen für die Nachzucht her—
vorgerufen und kann ſie in vielen Fällen jetzt noch, wo er es für
gut findet, zu Stande bringen. Es wäre z. B. gewiß ausführbar,
eine ebenſo fettbäuchige Raſſe von Maſthunden zu erzielen, als es
bei Schweinen möglich war. Nur hat der Menſch wenigſtens in
unſeren Gegenden noch nicht Geſchmack daran gefunden. Die Chineſen
mäſten übrigens auch die Hunde um ſie zu verſpeiſen, deßgleichen auch
die Ratten.
Gleichwie bei den Culturpflanzen iſt alſo auch bei Hausthieren
der Menſch im Stande, nicht nur überhaupt neue Raſſen hervorzu—
rufen, ſondern im einzeln auch jene beſonderen Charactere zu ſteigern,
die ihm einen beſtimmten Vortheil bieten oder wenigſtens ſeiner Laune
zuſagen.
So erzeugt der Taubenzüchter je nach ſeiner Liebhaberei oder
auf Beſtellung beſondere Taubenraſſen mit z. B. langen oder kurzen
Schnäbeln und mancherlei Abänderungen des Gefieders. Der Hahnen—
züchter erzeugt Kampfhähne, bei denen nur ſolche Charactere geſteigert
werden, welche vorzugsweiſe beim Hahnenkampf den Ausſchlag geben.
Der engliſche Bulldogge wird zum Kampfhund gezogen, man
Rolle, Darwin's Lehre. 8
114
ſieht bei feiner Züchtung auf Stärke der Kiefern und Kiefermuskeln,
dann auch, damit das Thier ſich vom Gegner nicht werfen läßt, auf
Stärke der Gliedmaßen. Man hält mit ſo gezüchteten Thieren Schau—
kämpfe ab.
Eine gewiſſe Einſchränkung dürfte indeſſen die willkührliche Lei—
tung einer ſolchen Steigerung einzelner Körpertheile wahrſcheinlich durch
das Geſetz der Wechſelbeziehungen der Entwicklung erfahren. Dieſem
eigenthümlichen inneren Zuſammenhang gemäß wird man nach Dar—
win vermuthlich bei der künſtlichen Züchtung und Veredlung von
einer Thierart nicht nur jene Eigenthümlichkeiten ſteigern, die man
in höherem Grade zu erhalten wünſcht, ſondern öfters nebenbei andere
Theile des Körpers auch noch mehr oder minder abändern.
Ein anderes Hinderniß für den Fortgang der Züchtung und
künſtlichen Veränderung iſt oft ein hoher Grad von zäher Vererbung
der eigenthümlichen Charactere. Nicht nur die Thiere überhaupt,
ſondern auch die ſchon gezüchteten Thiere unter ſich find darin ſehr
verſchieden. Es iſt eine ausgemachte Thatſache, daß bei den verſchie—
denen Arten unſerer Hausthiere ein ſehr ungleiches Verhältniß zwiſchen
der Erhaltung der angeerbten und der Entſtehung neuer Eigenthümlich—
keiten ſtattgefunden hat. Ein Theil davon kommt auf Rechnung an—
geborener Verſchiedenheiten in der Zähigkeit der Vererbung, ein anderer
Theil hängt aber von verſchiedener Art der Behandlung ab. Es iſt
unzweifelhaft, daß bei ungleichen aber ſonſt nahe verwandten Arten
derſelben Thiergattung oft ein ungleicher Grad von Zähigkeit im Feſt—
halten der für die Art von jeher eigenthümlichen Charactere ſtatt hat.
Die einen erleiden bei einer Verſetzung unter andere Lebensbedingungen
eine mehr oder minder ausgeſprochene Veränderung ihrer Eigenthüm—
lichkeiten, ſie werden zahm und bilden neue Raſſen. Andere erhalten
ſich, auch nachdem ihnen der Menſch eine andere Lebensweiſe oder zu—
gleich auch noch ein anderes Klima zugewieſen hat, doch nahezu un—
verändert, ſie werden entweder nie recht zahm oder entwickeln doch
keine neuen und zur Züchtung in höherem Grade geeigneten Abarten
unter den neuen Lebensbedingungen. Sehr wenig verändert haben ſich
in der Gefangenſchaft der Büffel, der Indian (Truthahn), der Pfau
und die Faſanen.
In vielen Fällen tritt dabei das Geſetz hervor, daß die Verän—
derungen, welche gewiſſe Hausthiere unter dem Einfluſſe der künſt—
lichen Züchtung erlitten haben, im Allgemeinen im Verhältniß zur
115
Macht ſtehen, welche der Menſch über eine jede Art gewonnen hat,
namentlich aber im beſonderen zu dem Einfluſſe, den er ſich auf ihre
Fortpflanzung gewahrt hat. Hund und Katze geben hierfür gute Bei—
ſpiele ab. Thiere wie die Katze, denen man erlaubt, ſich nach ihrer
eignen Wahl unter einander zu paaren, erhalten ſich vorzugsweiſe
unabhängig vom Einfluſſe der Züchtung und bleiben gewiſſermaßen
auf halber Stufe der Zähmung ſtehen. Die Katze hat zugleich auch
in Folge deſſen nur ſehr wenig neue Raſſen geliefert. — Ganz anders
ſteht der Hund da, er iſt von allen Hausthieren dasjenige, welches
der Menſch unter ſeiner genaueſten Obhut erhält und am allgemein—
ſten zum Begleiter hat. Dem Hunde zeichnet man die Fortpflanzung
vor, ſobald man nur will, verwirft ſtörrige, bösartige oder ſchwäch—
liche Individuen und gibt denen, die man beibehält, ihres gleichen
zur Geſellſchaft. So iſt der Hund durch die vollſtändigere Unterwer—
fung unter die Gewalt des Menſchen, einerſeits mehr gezähmt, an—
dererſeits in mehr Raſſen zerſpalten worden als die Katze.
Beträchtliche Aenderungen hat die künſtliche Züchtung auch bei
den gezähmten Pflanzenfreſſern, namentlich den Wiederkäuern hervor—
gerufen, denen wir einen Theil unſerer Arbeiten zugewieſen haben.
Bei ihnen richtet ſich der Grad der Veredlung, den man im Laufe
der Jahrtauſende erzielte, einerſeits zwar nach dem angeborenen mehr
oder minder zu überwindenden Naturell, andererſeits aber zugleich
auch nach der Art ihrer Haltung in vielen oder in einzelnen Indi—
viduen und nach dem Werth, den ſie für die menſchliche Geſellſchaft
haben. So hat das Pferd als Gegenſtand von Werth und Bedeutung
überhaupt und als vorzugsweiſes Hausthier des Reichen manigfache
Veredlung erlitten und zahlreiche Raſſen geliefert. Der Eſel aber, der
in unſeren Gegenden mehr dem Haushalt des Armen angehört und
auch bei dieſem nur ſehr einförmige Verwendung und nachläſſige Be—
handlung findet, hat ſich in Europa nur in wenig Raſſen, faſt nur
zwei klimatiſche Schläge, zerſpalten und es iſt auch heut zu Tag von
einer Auswahl bei ihm verhältnißmäßig wenig die Rede. Im Orient
iſt er Gegenſtand einer ſorgfältigeren Pflege und Auswahl und hier
hat man auch beſondere und edlere Raſſen deſſelben erzielt, die theuer
bezahlt werden. — Bei Thieren, die man, wie die Schafe, Rinder
u. ſ. w. in Heerden hält, wächſt die Raſſenerzeugung gewöhnlich mit
der Zeit, da man Gelegenheit hat, die Thiere bald in Menge zu
halten, bald, wenn es das Bedürfniß erfordert, wieder auf eine mindeſte
8 *
116
Zahl zu verringern. Ein folder Wechſel ift immer mit einer Aus⸗
wahl verknüpft, die zu Veränderungen der Thierform führt. Es iſt
dies um fo mehr der Fall, wo die polygamiſche Natur eines Haus—
thieres, wie namentlich beim Rind, die Erhaltung eines einzigen Stieres
bei einer größeren Heerde genügend erſcheinen läßt. In Gegenden,
wo die Thiere unter kleine Eigenthümer zerſtreut ſind und nicht in
Heerden zuſammengehalten werden, pflegen meiſt nur geringe Raſſen
vorzukommen, die auch im Laufe längerer Zeit nicht durch unabſicht—
liche Vorgänge, wie das bei der heerdenweiſen Haltung ſehr wohl
möglich iſt, veredelt werden.
Tiefe der Veränderung von Hausthieren.
Es hat unter den Naturforſchern in den letzten Jahrzehenden
viele Verſchiedenheit der Anſichten darüber geherrſcht, bis zu welchem
Grade der Tiefe die Veränderungen ſich erſtrecken können, welche der
Menſch durch ſeinen Einfluß auf die gezähmten Thiere hervorruft.
Die Beantwortung dieſer Frage greift in der That in den inneren
Zwieſpalt über die Feſtſtellung des Begriffes von Varietät, Art und
Gattung mächtig ein und Naturforſcher der ausſchließlichen Schule,
die ſonſt das Studium des gezüchteten Thieres als gleichſam außer—
halb der Naturwiſſenſchaft ſtehend zu nehmen ſchienen, mußten doch
wenigſtens nebenbei jene Frage berühren, um ihre Schulbegriffe nach
dieſer Seite hin zu decken.
Cuvier und ſeine Schule legten ihrem Syſteme getreu den
durch Züchtung erzielten Raſſen nur den mindeſten möglichen Betrag
von Bedeutung bei. Cuvier, der die Art als gegebene und feſte
Form nahm, ſprach ſich dahin aus, die Abarten und Raſſen hätten
keinen weiteren Spielraum als jenen, innerhalb deſſen auch Verſchie—
denheiten zwiſchen Eltern und Abkömmlingen möglich ſind. Gleichwie
die Form der Art nahm er auch den Spielraum der Abart oder
Raſſe als prädeſtinirt an. Von ſtetig fortſchreitenden Veränderungen
konnte bei ihm folgerichtig auch hier nicht die Rede ſein.
Cuvier behauptete, daß ſich bei den durch künſtliche Züchtung
erzielten Raſſen unſerer Hausthiere die Geſtalten der Knochen über—
haupt wenig veränderten, daß aber ihre Verbindungen, ihre Einlen—
kungen und die Geſtalt der großen Backenzähne nie vom urfprüng-
lichen Character abgehen. Das äußerſte Ziel der Raſſenverſchieden⸗
117
heiten, welche der Einfluß des Menſchen bei Hausthieren zu erzeugen
vermag, ſind nach Cuvier die geringe Entwicklung der Hauzähne
beim zahmen Schwein und das Verwachſen der Klauen bei einigen
Raſſen deſſelben, dann die überzählige Zehe gewiſſer Hunderaſſen, die
eine Zehe und dem entſprechend einen Fußwurzelknochen mehr als die
übrigen Raſſen beſitzen.
Cuvier geſteht alſo doch immer einige wenige Fälle von hohem
Grade der Abweichung einer Raſſe vom normalen Typus zu. Dieſer
Fälle gibt es indeſſen noch mehr und es iſt zugleich einzuſehen, warum
ſie nicht noch häufiger ſind. Ihre Urſache liegt nämlich nicht in dem
prädeſtinirten Abſchluſſe der Art, ſondern in anderen Umſtänden, wie
einerſeits Darwin darthu“, andererſeits Rütimeyer wahrſcheinlich
macht.
Wenn Cuvier und die übrigen Vertreter der Lehre von der
unveränderlichen Natur der Arten darauf hinwieſen, daß die Verän—
derungen, welche die Hausthiere eingehen, vorzugsweiſe nur äußere
und ziemlich unweſentliche Theile oder doch nur in ſeltenen Fällen
weſentlichere äußere oder innere Theile betreffen, jo ſpricht ſich Dar—
win dahin aus, daß das in der That ſo der Fall ſei, er gibt aber
auch die Erklärung davon.
Da ein großer Theil der von den Thieren im Laufe der Züch—
tung angenommenen Charactere auf der Auswahl der Individuen zur
Nachzucht beruht, ſo kann es überhaupt nicht anders der Fall ſein.
Denn der Menſch kann bei ſeiner Auswahl nur auf äußerlich bemerk—
bare Abweichungen des Characters Rückſicht nehmen. Er faßt dieſe
ins Auge, hält ſie durch Nachzucht feſt und ſteigert ſie zugleich. Es
iſt daher natürlich, daß auch die Verſchiedenheiten der ſo erzielten
Raſſen vorzugsweiſe nur auf den äußeren zunächſt in die Augen fallen—
den Theilen beruhen. Der innere Bau der Thiere iſt weit weniger
zugänglich. Auf ihn nimmt man bei der Züchtung keine vorzugsweiſe
Rückſicht, was auch bei völliger Abſicht nur ſehr ſchwer auszuführen
wäre. Es iſt daher auch natürlich, daß auf dieſem Wege nur wenig
oder gar keine inneren Verſchiedenheiten zum Vorſchein gebracht werden.
Uebrigens gehen nach Darwin die Verſchiedenheiten der ge—
züchteten Raſſen im Knochenbau doch weiter als man auf die älteren
Behauptungen hin gewöhnlich anzunehmen geneigt iſt. Darwin hat
Skelette der verſchiedenen Tauben-Raſſen unterſucht. Er fand, daß
eine Menge von Einzelheiten des Skelettes in weitem Spielraum ab—
118
weichen. Die Geſichtsknochen ändern außerordentlich ab in Länge,
Breite und Krümmung je nach den einzelnen Raſſen. Ebenſo der
Unterkiefer ſowohl in der Form als auch in den Maßen. Auch die
Zahl der Heiligenbeinwirbel und der Schwanzwirbel, deßgleichen der
Rippen wechſelt. Bruſtbein und Gabelbein zeigen bei den Tauben—
Raſſen ſehr veränderlichen Character. Kurz es bleibt kaum ein Theil
des Skelettes, der nicht von der Veränderlichkeit mehr oder minder
berührt würde.
Wollte man in Zukunft neue Raſſen züchten, bei denen man
Verſchiedenheiten des inneren Baues bezweckte und die äußeren Cha—
ractere bei Seiten laſſen würde, jo müßte man in dieſer Hinſicht
gewiß auch Erfolge erringen. Wo bisher innerliche Aenderungen ein-
traten, beruhten ſie auf zufällig hervorgetretenen individuellen Varia—
tionen, die ohne Abſicht des Züchters fortgepflanzt wurden. Sie können
auch wohl auf einer Wechſelbeziehung der Entwicklung oder auf Nicht—
gebrauch gewiſſer Theile beruhen, aber auch dann erfolgten ſie, in—
ſofern ſie nicht in der Abſicht des Züchters lagen, ſpontaner Weiſe.
Es ſcheint ferner noch feſtzuſtehen, daß die Zähmung von Thieren
auch in den Verrichtungen eines Organes eigenthümliche Umände—
rungen hervorrufen kann.
So gilt allgemein ſeit Azara's Berichten das bei uns in ge—
zähmtem Zuſtande lebende und ohne Zweifel aus Südamerika bei
uns eingeführte Cobaya oder Meerſchweinchen, Cavia cobaya Pall.
als veränderter Nachkomme von dem in den Waldungen von Bra—
ſilien und Paraguay wild lebenden Cavia aperea Erxl. Indeſſen
das Meerſchweinchen wird bei uns in der Gefangenſchaft jährlich mehr—
mals trächtig und wirft gewöhnlich mehrere Junge. Vom wilden
Cavia aperea weiß man dagegen, daß es jährlich nur ein bis zwei
Junge zur Welt bringt.
Das Kaninchen ſoll im freien Zuſtande bis viermal, im ge—
fangenen aber, wo es reichlicher genährt und das ganze Jahr über
in warmen Ställen gehalten wird, bis achtmal jährlich werfen.
Die zahme Katze paart ſich im tropiſchen Amerika zu jeder
Jahreszeit — bei uns gewöhnlich nur im Februar oder März und
dann noch einmal im Sommer. Sehr verhätſchelte Zimmerkatzen ſollen
aber auch gar keine beſtimmte Zeit im Jahre mehr einhalten.
Die in Paris künſtlich erzielte Angewöhnung der Aegyptiſchen
Gans an eine andere Brütezeit wurde ſchon erwähnt.
179
Phyſiologiſche Veränderungen kommen alſo bei einzelnen Haus—
thierformen in ebenſo eingreifender Tiefe als anatomiſche Abweichungen
bei anderen vor und dies alles zuſammen erweiſt wie unberechtigt
und willkührlich die Hypotheſe eines prädeſtinirten Abſchluſſes der
Artcharactere war.
Acclimatiſtrung von Hausthieren.
ja
Ein eigenthümlicher Weg zur Umgeftaltung der Form der Haus—
thiere liegt, wie in einem Theile der früher gegebenen Beiſpiele ſchon
angedeutet iſt, in der Acclimatiſirung. Die verſchiedenen Arten
zeigen in dieſer Hinſicht ſehr weit abweichende Naturanlagen.
Die meiſten von Alters her gezähmten und gezüchteten Haus—
thiere zeigen ein ungewöhnlich großes Vermögen, die verſchiedenen
Klimate, unter welche ſie der Menſch führt, auszuhalten und was
noch mehr bedeutet, auch unter ihnen ſich fruchtbar fortzupflanzen.
So begleiten der Hund, das Pferd, das Rind, das Schaf, das
Schwein, die Ziege den Menſchen faſt durch alle Theile der Erde,
eine Art in höherem, die andere in geringerem Grade, die eine mehr
in kältere, die andere mehr in wärmere Erdtheile. Sein treueſter Ge—
fährte, der Hund, folgt ihm unter den Aequator und ſelbſt noch in
die entlegeuſten Einöden der Polarländer, unter deren eiſigem Klima
die Landbevölkerung auf den mindeſten Betrag herabſinkt und der
Kampf gegen die Elemente offenbar der härteſte iſt.
In den Tropengegenden, inſoweit hier nicht Dürre des Bodens
die Vegetation allzuſehr beſchränkt, kommen die meiſten unſerer mittel—
europäiſchen Hausthiere noch gut fort, liefern aber gewöhnlich neue
klimatiſche Varietäten.
Sehr gut gedeihen in vegetationsreichen Tropengegenden das
Rind, das Pferd, der Eſel, das Schwein, die Ziege und die Katze.
Am meiſten ſcheint ſich von ihnen unter dem Tropenklima das Pferd
und das Schaf zu verändern. Das Pferd wird kleiner und behender.
Stärker noch verändert wird das Schaf, welches namentlich von der
Fülle ſeines Wollkleides einbüßt. Der Hund gedeiht wohl noch, aber
nur in wenig Raſſen. Dr. Wein land traf auf Haiti, den Antillen,
dicht am Wendekreiſe, nur noch eine einzige ſchakalartige Hunderaſſe.
Eingeführte Jagdhunde verkümmern auf Haiti und erliegen bald
dem Klima.
120
Gegen Norden zu erreichen unſere Hausthiere eine raſchere Ab-
nahme. In die äußerſte überhaupt noch zugängliche Polarregion geht
nur der Hund und auch dieſer bei den Eskimo's nur in einer ein—
zigen halbwilden Raſſe, welche ihr ganzes Leben in freier Luft zubringt
und Nachts ſich in den Schnee Höhlen gräbt.
Indeſſen gibt es auch Hausthiere, die nur ſehr geringe Fähigkeit
zur Ertragung klimatiſcher Wechſel beſitzen und daher auf beſchränktere
Zonen der Erdoberfläche angewieſen bleiben. Das Rennthier gehört
den nördlichſten Breiten der alten und der neuen Welt an und wird
im nördlichen Skandinavien und in Sibirien als Hausthier
gehalten, es beſitzt für Wärme nur ein geringes Ausdauerungsvermö⸗
gen, wegen ſeines dichten und doppelten Haarkleides verträgt es die
Sommerwärme nicht gut. Doch verfolgen neuerdings unſere Thier—
gärten mit Erfolg die Aufgabe, auch bei uns das Rennthier einzu—
bürgern. Kameel und Dromedar ſind gegen Kälte empfindlich, ſie
vertragen die Verſetzung in kältere Klimate nur ſchwer oder gar nicht,
am wenigſten das arabiſche Dromedar, mehr ſchon das baktriſche
Kameel. Beide ſcheinen übrigens nicht minder als an das Klima auch
an die Bodenbeſchaffenheit ihrer heutigen Wohnſtätten gebunden zu ſein.
Vielleicht hängt die Unfähigkeit zur Anpaſſung an andere Kli-
maten bei manchen dieſer Thiere mit der geringen Zahl der Raſſen—
veränderungen zuſammen, die ſie in ihrer urſprünglichen Heimath
zeigen. Namentlich das Rennthier, aber vielleicht auch das Kameel und
Dromedar haben bisher durch die Zähmung nur geringe Verände—
rungen erlitten, das Rennthier wenigſtens hat noch keine, die beiden
Kameelarten aber nur wenig neue und wenig unter einander abweichende
Raſſen geliefert. Man hat übrigens auch in Mitteleuropa noch wenig
Anlaß gehabt, von etwa vorgekommenen zur Verpflanzung geeigneten
Raſſen Gebrauch zu machen.
Wenn auch ein großer Theil der Acclimatiſationsfähigkeit zu—
nächſt auf unmittelbare Rechnung der Gewöhnung kommt, ſo ſcheinen
doch auch andere Momente dabei mitzuwirken. Es iſt ſehr möglich,
daß ein anderer Theil mit einer natürlichen Ausleſe zuſammenhängt,
welche individuelle Abänderungen mit beſonders günſtiger Körperver—
faſſung in der neuen klimatiſch abweichenden Heimath herrſchend macht.
Neigt aber eine Thierart entweder an ſich oder in Folge einer noch
nicht lange genug fortgeſetzten Züchtung wenig zur Erzeugung von
Abänderungen, ſo wird dadurch auch die Acclimatiſation erſchwert.
121
Dies mag beim Kameel, beim Dromedar und beim Rennthier der
Fall ſein.
Unſere heutigen mitteleuropäiſchen Hausthiere würden dieſer
Anſicht nach in den erſten Stufen ihrer Züchtung auch erſt wenig
zur Acclimatiſation in Gegenden geeignet geweſen ſein, in denen man
ſie ſpäter eingebürgert hat. So iſt namentlich die Einführung der
Katze und des Eſels in Mittel- und einem Theile von Nord—
europa nur ſehr allmählig vor ſich gegangen und es ſcheint dabei
eine langſame Angewöhnung an das kältere Klima mit im Spiele
geweſen zu ſein.
Für den praktiſchen Verſuch bleibt hier noch ein weites Feld
der Leiſtung offen. Nicht ohne Intereſſe würde es z. B. ſein, die
abyſſiniſche Felis manienlota Rüpp., welche man jetzt ziemlich all—
gemein als wilde Stammart unſerer Hauskatze annimmt, in unſere
Thiergärten zu verpflanzen und ihr Verhalten zu unſerem Klima feſt—
zuſtellen.
Kreuzung der Hausthiere.
Ein weiteres wichtiges Mittel zur Vervielfältigung der Form iſt
die Kreuzung, indeſſen ſcheint doch ihre Wichtigkeit von den älteren
Naturforſchern mitunter ſtark überſchätzt worden zu ſein. Man hat
ehedem oft der Kreuzung verſchiedener Thier-Arten in Bezug auf
Erzeugung von neuen Formen große Erfolge zugeſchrieben, ſowohl
bei Hausthieren als auch bei wild lebenden Thieren.
Indeſſen haben Verſuche gelehrt, daß Thiere verſchiedener Arten
ſich nur ſelten und nur unter ſehr beſchränkten Umſtänden paaren
und daß, wo dieſe Nachkommen überhaupt erzeugen, die letzteren ge—
wöhnlich ſchon gleich oder doch in der nächſten oder einer der folgen—
den Generationen unfruchtbar werden. Am meiſten hat man ſolche
Kreuzungen mit gezähmten oder in ſehr enger Gefangenſchaft gehal—
tenen Thieren angeſtellt, gewöhnlich zwiſchen verſchiedenen Arten von
Hausthieren oder zwiſchen einem Hausthier und einer gefangen ge—
haltenen wilden Form.
Die Zähmung der Thiere begünſtigt allerdings die Kreuzung,
aber die Baſtarde zweier verſchiedenen Arten bleiben auch hier, ſoweit
aus den bisher angeſtellten Verſuchen hervorgeht, entweder ſogleich
unfruchtbar oder ihre Nachkommen werden es doch in einer der nächſten
Generationen.
122
Baſtarde zwiſchen Pferd und Eſel werden ſehr häufig erzeugt,
fie find indeſſen entweder gleich ſchon zur Fortpflanzung untüchtig
oder dieſer Fall tritt doch mit der nächſten Generation ein. Das
mildere Klima Spaniens und Italiens iſt, wie mehrfach an—
gegeben wird, der Fortpflanzungsfähigkeit von Maulthier und Maul-
eſel etwas günſtiger als das unſere. Auch aus Oſtindien wird
Aehnliches berichtet.
Den Hund hat man häufig mit dem Wolf und neuerdings auch
mit dem Schakal gekreuzt. Die Baſtard-Nachfolge erliſcht hier, wenn
ſie weit geht, mit der dritten Generation (Flourens).
Steinbock und Hausziege hat man ehemals und auch neuerdings
öfter gekreuzt und Nachkommen dabei erzielt, die wenigſtens einige
Geſchlechtsfolgen hindurch ſich fortpflanzten. Die Erzielung einer neuen
Mittelraſſe auf dieſem Wege ſcheint aber noch nicht gelungen zu ſein.
Bisweilen ſollen Baſtarde mit einer der elterlichen Stammarten
ſich leichter als unter einander paaren, dann aber auch die Nach—
kommenſchaft in jenen elterlichen Stamm wieder übergehen. So ſollen
ſich Baſtarde von Pferd und Eſel nie unter einander, in einzelnen
Fällen aber mit Individuen der elterlichen Arten paaren, in welchem
Falle dann die Nachkommenſchaft wieder mehr in den Typus der
einen elterlichen Art zurückgehe. Eine neue Raſſe iſt aber auch auf
dieſem Wege noch nicht erzielt worden. g
Die bisherigen hier zum Theil erörterten Verſuche über Kreu—
zung haben allerdings in Folge der ſogleich oder wenigſtens in ſpä—
terer Linie eintretenden Unfruchtbarkeit nur zu ſehr vorübergehenden
Ergebniſſen geführt, doch fragt es ſich, ob Kreuzungen in größerer An—
zahl der Fälle zugleich vorgenommen und Herſtellung ganzer Heerden
von Baſtarden unter Anwendung geeigneter Auswahl zur Nachzucht
vorzugsweiſe tüchtiger Stücke nicht zu bleibenden Erfolgen, nämlich
zur Erzeugung von andauernd fortpflanzungsfähigen Mittelformen
führen würde. Dieſer Verſuch, der allerdings die Kräfte des einzelnen
Züchters allzuſehr überſteigen dürfte, iſt bis jetzt noch nicht angeſtellt
worden, verdiente aber die Aufmerkſamkeit größerer Geſellſchaften.
Nur in Frankreich hat man neuerdings in größerer Ausdehnung
eine Kreuzung des oſtindiſchen YHak-Stieres mit der europäiſchen
Kuh verſucht in der Abſicht eine neue Baſtardraſſe für die Dauer zu
erhalten.
Eine andere Frage, die noch auf dem Wege des Verſuches zu
123
löſen iſt, betrifft den Grad der Begünſtigung, den die Zähmung und
Züchtung auf das Gelingen der Baſtarderzeugung hat. Wenn wir
wilde Thiere mit wilden, oder Hausthiere mit wilden kreuzen, ſo
werden, wie bemerkt wurde, die erzeugten Miſchlingsformen entweder
gleich ſchon oder in der nächſten Folge unfruchtbar. Aber noch Nie
mand hat in neuerer Zeit in ausgedehntem Maßſtabe verſucht, zwei
wilde, einander nahe verwandte und nur geographiſch vicarirende
Formen erſt durch eine längere Generationsreihe zu Hausthieren zu
zähmen und dann in den hinreichend gezähmten Nachkommen einer
Kreuzung zu unterziehen. In einem ſolchen Falle dürfte ſich leichtlich
ein günſtigeres Ergebniß herausſtellen, als man beim Verfolgen der
bisherigen Wege erhielt.
Wahrſcheinlich haben in den älteren Epochen der Geſchichte des
Menſchen ſolche Vorgänge ſtattgehabt, aber kein Geſchichtsſchreiber hat
ſie verzeichnet. Wir müſſen aus gewiſſen Anzeigen darauf zurück—
ſchließen, allerdings ſpricht das Mißlingen ſo mancher in unſeren
Tagen vorgekommenen Baſtardirungsverſuche dagegen, indeſſen bleibt
die Möglichkeit, daß wenigſtens in Zukunft durch abſichtliche Verſuche
die Möglichkeit des Vorganges noch erwieſen werden kann.
Derartige Verſuche, an ſich vielleicht von praktiſcher Bedeutung,
würden aber auch für die Wiſſenſchaft wichtige Ergebniſſe bringen
können. Eine ältere Anſicht, die zuerſt von dem berühmten Zoologen
Pallas ausging, ſchreibt unſeren meiſten namentlich aber den ſchon
ſeit Alters her in viele Raſſen zertheilten Hausthieren eine Abſtam—
mung von verſchiedenen wilden Stammeltern zu. Mau hat verſucht,
für jede, wenn auch nur wenig ausgezeichnete alte Raſſe, welche bei
reiner Inzucht ihre unterſcheidenden Charactere bewahrt, einen eigen—
thümlichen Urſtamm anzunehmen. Nach Darwin's Meinung iſt
dieſe Anſicht von gewiſſen Schriftſtellern willkührlich und weit über
Gebühr ausgedehnt worden, mag aber wohl in einzelnen Fällen be—
rechtigt ſein. Es ſcheint daß gewiſſe Arten, die im wilden Zuſtande
einander meiden, gezähmt nach einer Reihe von Stammesfolgen ſich
fruchtbar begatten und fortpflanzungszähige Nachkommen liefern. So
iſt es nach Darwin ſehr wahrſcheinlich, freilich aber zur Zeit noch
nicht völlig erweisbar, daß der Haushund mit ſeinen ſo weit aus—
einandergehenden Raſſen und ſeinen vielen halbwilden Formen von
verſchiedenen wilden Arten herſtammt, von denen jede durch ein be—
ſonderes Volk gezähmt wurde und erſt viel ſpäter mit einer von
124
einem anderen Volke gezähmten ſich vermiſchen konnte. Dieſe Anficht
hat viel Wahrſcheinlichkeit für ſich und kann namentlich den beveut-
ſamen Umſtand für ſich anführen, daß gewiſſe außereuropäiſche Hunde
Raſſen (z. B. nach Darwin gewiſſe ſüdamerikaniſche Formen) ſich
nur mit den wenigſten von den unſeren fruchtbar begatten.
Bis jetzt iſt dieſe Frage durch das Experiment noch nicht ent—
ſcheidend gelöſt worden, könnte aber durch Zähmung gewiſſer an ſich
nahe verwandten Arten und planmäßig fortgeſetzte Kreuzung ihrer
gezähmten Nachkommen vielleicht auf entſcheidende Weiſe zum Aus-
trag gebracht werden. Uebrigens verſpricht einſtweilen in Ermanglung
ſolcher Verſuche der Weg der antiquariſchen Forſchung, den Dr. Rüti—
meyer mit ſo großem Erfolg im Bereiche der Schweizer Hausthiere
des Steinalters eröffnet hat, demnächſt noch zu wichtigen Ergebniſſen
führen zu wollen, worüber weiter unten noch Näheres.
Eine andere Bedeutung als die Kreuzung verſchiedener Arten
gleicher Thiergattungen hat für uns die von verſchiedenen Varietäten
der gleichen Art.
Alle Varietäten von Hausthieren paaren ſich ſowohl unter ein-
ander als auch mit ihrer wilden Stammart fruchtbar und erzeugen
eine zur Fortpflanzung tüchtige Nachkommenſchaft. Dieſer Satz iſt
im Großen und Ganzen richtig, erleidet indeſſen doch wahrſcheinlich
gewiſſe Ausnahmen.
Nicht alle Hunderaſſen kreuzen ſich fruchtbar mit einander und
wir wiſſen noch nicht, ob dies von einer Abſtammung derſelben von
verſchiedenen Stammeltern oder von einer weit gegangenen, dem Art—
character nahe gekommenen Ausartung gewiſſer Raſſen kommt.
Das Meerſchweinchen, Cavia cobaya, gilt als Abkömmling des
wilden Cavia aperea, paart ſich aber nicht mehr mit dem wilden
Stamme, wiewohl dieſer ſelbſt wieder zähmbar iſt. Ob man hier
wirklich nur eine Art vor ſich hat, von der der gezähmte Zweig ſich
ſo weit verändert hat, daß er mit dem wilden ſich nicht mehr paart,
iſt zwar noch nicht außer Zweifel geſtellt, aber doch ſehr wahrſcheinlich.
Ein anderer Fall eines Anfanges von ſexueller Art-Ausbildung
iſt folgender. Nach Rengger iſt die Katze ſeit 300 Jahren in
Paraguay eingeführt, ſie iſt in dieſer Zeit um ein Viertel kleiner
und viel zartgliedriger geworden. Jetzt vermiſcht ſie ſich nur ſelten
mit neuen Ankömmlingen. Würden dieſe Einwirkungen noch einige
125
hundert oder tauſend Jahre fortdauern, ſo würde fie vermuthlich mit
ihrer Stamm-⸗Raſſe ſich gar nicht mehr paaren.
Es iſt darnach ziemlich wahrſcheinlich, daß man jenem voran—
geſtellten Hauptſatze ſpäter noch die Clauſel anhängen wird, daß
Raſſen, die durch tief eingreifende Lebensänderungen ſich in Bau und
Gewohnheiten weit von anderen Raſſen oder von der Stammform
entfernt haben, unter gewiſſen Umſtänden auch in Bezug auf Fort—
pflanzung den Character einer Art gewinnen, ſie kreuzen ſich nicht
mehr gern mit den Ausgangsformen oder erzeugen wenigſtens nicht
mehr fortpflanzungstüchtige Nachkommen mit denſelben.
Neue Raſſen von Hausthieren können durch Kreuzung aus ſchon
vorhandenen älteren Raſſen gezüchtet werden. Namentlich aber läßt
ſich eine Raſſe durch gelegentliche Kreuzung mit einer anderen bei
ſorgfältiger Auswahl der Blendlinge beträchtlich veredeln.
Indeſſen iſt, wie es ſcheint, die Ausdehnung und willkührliche
Leitung dieſer Raſſen-Erzeugung auf dem Wege der Kreuzung ſchon
öfter übertrieben worden. Man kann z. B. die Entſtehung unſerer
verſchiedenen Hunderaſſen nicht vorwiegend von einer Kreuzung ebenſo
vieler Stammtypen ableiten, denn Kreuzung liefert vorwiegend Nach—
kommen, die entweder das Mittel zwiſchen beiden Eltern einhalten
oder dem einen der beiden vorwiegend folgen, kann alſo keine äußerſten
Endglieder von Reihen hervorbringen. Der Spielraum iſt demnach
ein durch die bereits vorausgegangene anderweitige Bildung von extre—
men Endgliedern jedenfalls ſehr begrenzter.
Aber auch innerhalb dieſes Spielraumes iſt die Kreuzung der
Varietäten nicht von ganz gleichen und ſicheren Erfolgen begleitet.
So ſtellt es namentlich Darwin in Zweifel, ob man überhaupt
im Stande ſei, zwiſchen zwei weit auseinander gegangenen Raſſen
derſelben Art mit Beſtimmtheit eine nahezu das Mittel zwiſchen beiden
elterlichen Formen haltende neue Raſſe zu ziehen. Es ſind zu dieſem
Behufe wirklich ſchon Züchtungsverſuche angeſtellt worden. Dabei hat
ſich gezeigt, daß je weiter auseinander gehende Raſſen bei einem ſolchen
Verſuche zu Grunde gelegt werden, auch die Nachkommenſchaft um
ſo unregelmäßiger abändert. Die individuelle Variation gewinnt über
die beabſichtigte Züchtung die Oberhand und es iſt entweder gar nicht
oder nur durch ſehr ſorgfältige und ſehr lang fortgeſetzte Auswahl
unter den erhaltenen Formen möglich, die weiteren Generationen in
der beabſichtigten Richtung fortzuleiten. Darwin ſagt ſogar, daß
126
ihm kein einziger Fall bekannt ſei, wo man durch Kreuzung weit ab-
ſtehender Raſſen und nachfolgende Auswahl eine bleibende Mittel—
Raſſe erzielt habe.
Anders iſt es mit der Kreuzung wenig von einander abweichen—
der Raſſen. Hier ſind alle Ausſichten günſtig und es gelingt leicht,
aus zwei Raſſen durch Kreuzung eine dritte nahezu das Mittel zwi—
ſchen beiden haltende zum Vorſchein zu bringen.
So gelingt es auch leicht, das Hausſchwein mit ſeiner wilden
Stammform, dem Wildſchwein, zu kreuzen. Die Jungen ſind voll—
kommen fruchtbar. Sauparke können auf dieſem Wege neu bevölkert
werden.
Inzucht iſt eine fortgeſetzte Kreuzung zwiſchen Nachkommen des—
ſelben Paares. In den erſten Generationen wirkt ſie erhaltend und
befeſtigend, aber allzu weit fortgeführt, wirkt ſie nachtheilig. Es iſt
eine allgemein anerkannte Regel, daß eine Verbindung unter allzu
nahen Verwandten ſowohl die körperliche Verfaſſung überhaupt als
auch die Fruchtbarkeit ſchwächt. Dies gilt namentlich für Hausthiere,
ſcheint indeſſen nicht auf alle wild lebenden Thiere Anwendung zu finden.
Im Regents-Park bei London hat man feit 1836 Giraf-⸗
fen gezogen und zwar von einem einzigen Paare aus. Der Stamm
ft nach Weinland's Mittheilungen ſchon etwas klein geworden,
was jedenfalls theilweiſe auf Rechnung der zu engen Inzucht kommen
mag. Ein Zufluß von neuem Blut wird in ſolchen Fällen nöthig,
wenn man den Stamm nicht der Verkümmerung preisgeben will.
Auch das Merino-Schaf in Sachſen wurde durch fortgeſetzte
Inzucht jo feingliedrig und ſchwächlich, daß man zur Auffriſchung
der Raſſe wieder neue Stücke des derberen ſpaniſchen Stammes nach—
kommen laſſen mußte.
Rütimehyer's Anfichten über Kreuzung von verſchiedenen
Hausthier-Stämmen.
Dr. L. Rütimeyer ) iſt bei feinen ausgedehnten Unterſuchungen
der aus den Pfahlbauten der Schweizer Seen erhaltenen Reſte von
Hausthieren des ſogenannten Steinalters zu einer Reihe von Ergeb—
niſſen gelangt, welche im Sinne Darwin's die Anſicht von der
— —
1) L. Rütimeyer. Die Fauna der Pfahlbauten in der Schweiz. Baſel 1861.
127
vollkommenen Unfähigkeit ſelbſtändiger Arten durch Kreuzung eine
fruchtbare Nachkommenſchaft zu erzeugen, mächtig erſchüttern. Seine
Ergebniſſe deuten an, daß auch dieſe Grenze der Art keine völlig
ſcharfe und unüberſchreitbare iſt, vielmehr ſchon in vielen Fällen unter
dem Einfluſſe der Zähmung ganz aufgehoben wurde.
Rütimeyer lernte aus den Pfahlbauten ſowohl die wilden
Thiere kennen, welche während des Steinalters und den ſpäteren Zei—
ten der Bronze und des Eiſens in der Schweiz lebten, als auch die
Hausthiere, die damals gehalten wurden. Bei letzteren ergaben ſich
der Zeit nach manigfache Unterſchiede von Vorkommen, Häufigkeit
und Körperbildung. Manche Hausthiere waren bei dem erſten Beginne
der alten Anſiedelungen ſchon in gezähmtem Zuſtande vorhanden, andere
erſcheinen erſt ſpäter und von dieſen zeigen ſich ein Theil aus der
Zähmung einheimiſcher wilder Thiere gewonnen, ein anderer aus dem
Auslande in bereits gezähmten Stücken nachträglich eingeführt. Zwiſchen
dieſen verſchiedenen Hausthierſtämmen entdeckte aber Rütimeyer
wiederholt Mittelformen, die er von einer ſchon damals eingetretenen
Kreuzung zahmer von verſchiedenen wilden Arten abſtammender Haus—
thiere ableitet.
So lebten zur Zeit der älteſten Anſiedelungen im ſogenannten
Steinalter zwei Formen wilder Schweine in der Schweiz, das heutige
Wildſchwein und das damals in wildem oder doch verwildertem
Zuſtand häufige, ſeither aber (der Urform nach) längſt erloſchene Torf—
ſchwein, welches kleiner als das Wildſchwein war und ſchwächere Eck—
zähne führte. Die alten See-Anſiedler zähmten beide wilden Schweine.
Indeſſen die älteſten Anſiedelungen noch keine Spur eines zahmen
Schweines aufzuweiſen haben, ſtellen ſich etwas ſpäter ſichere Spuren
von einer Zähmung des Torfſchweines, ja vielleicht, wie Rütimeyer
glaubt, vielleicht auch ſchoͤn einer Kreuzung des gezähmten Torfſchweines
mit dem Wildſchwein heraus.
Das gezähmte Torfſchwein wird mit den ſpäteren Pfahlbauten
allmählig häufiger und ſcheint nach Rütimeyer im Bündtner Schwein,
welches in Graubündten, Uri und Wallis verbreitet iſt, noch
fortzuleben. Sein erſter Urſprung iſt räthſelhaft, ſein nächſter Ver—
wandter iſt das im ſüdöſtlichen Aſien verbreitete Siameſiſche Schwein.
Vermuthlich wurde dieſes von wandernden Stämmen des Oſtens nach
Europa gebracht, wo es demnächſt eine Zeitlang verwildert lebte,
aber in dieſem Zuſtande auch frühe ſchon wieder erloſch.
128
Das gewöhnliche Wildſchwein wurde ſicher erſt ſpäter gezähmt,
als das Torfſchwein. Rütimeyer fand erſt in den Pfahlbauten
aus den ſpäteren Zeiten des Steinalters Reſte des gezähmten Wild—
ſchweines, größer als das Torfſchwein und mit ſtärkeren Eckzähnen
als daſſelbe. Dies iſt der älteſte Urſprung des gemeinen Haus—
ſchweines, welches jetzt über ganz Europa vorherrſchend verbreitet
iſt und in vielen Characterzügen ſeine Abſtammung von der heute
noch lebenden Form des Wildſchweines verkündet.
Unſer heutiges Hausſchwein, deſſen Raſſen ſämmtlich und ohne
Beeinträchtigung der Fruchtbarkeit gekreuzt werden können, ſtammt
alſo von zwei — oder wie ſich vielleicht ſpäter noch herausſtellen
kann, von noch mehr — verſchiedenen wilden Formen ab, deren Ab—
kömmlinge jetzt zu einer vielgeſtaltigen Culturform zuſammengehen.
Zu ähnlichen aber noch entſchiedeneren Ergebniſſen gelangte
Rütimeyer für das Rind, welches Owen in England und
Nilſſon in Schweden früher ſchon in ziemlich ähnlicher Weiſe
zum Gegenſtand ihrer Forſchungen gemacht hatten. Im wilden Zu—
ſtande lebte zur Zeit der See-Anſiedler der Ur, Bos primigenius Boj.,
der Urus des Cäſar. Aber in den Reſten von Hausthieren, welche
die Ausbeutung der alten Pfahlbauten lieferte, erkannte Rütimeyer
drei Raſſen von zahmen Rindern, von denen nur eine vom Ur ab—
geleitet werden kann und zwei andere vom Menſchen erſt in gezähm—
tem Zuſtande aus anderen Ländern eingeführt wurden.
In den Pfahlbauten des ganzen Steinalters herrſcht vor allen
anderen eine kleine, zartgebaute, ſchlankgliedrige Raſſe mit kleinen,
kurzen Hörnern weit vor, Rütimeyer nennt ſie Torfkuh oder
Brachyceros-Naffe Sie iſt entſchieden die zahme Form des
im Diluvium und Torf von England, Irland und Scandi—
navien foſſil vorkommenden Bos brachyceros oder B. longifrons Ow.,
von welchem zudem auch R. Owen einen Theil der engliſchen
Gebirgsraſſen des zahmen Rindes und Nilſſon das kleinhörnige
Rind von Finnland ableiten. In der Schweiz lebt die Torfkuh
des Steinalters mit großer Uebereinſtimmung der Charactere im ſo—
genannten Braunvieh oder thierfarbenen (hellgrauen oder ſchwarz—
braunen) Rind von Graubündten, Wallis, Uri u. ſ. w. noch
fort. Wahrſcheinlich wurde die Torfkuh in gezähmtem Zuſtande von
jenem Volksſtamm, der zuerſt die Pfahlbauten der Schweizer Seen an—
legte, aus dem nördlicheren Europa in der Schweiz eingeführt.
129
Neben den Reſten der kleinen Torfkuh erſcheinen in den Pfahl-
bauten noch ſolche zweier großen Rindvieh-Raſſen. Eine derſelben er—
weiſt ſich als gezähmte Form des ehedem in ganz Mitteleuropa
wild lebenden Ur oder Bos primigenius Boj. Schädel- und Hörner—
bildung, Größe und Derbheit des Knochenbaues weiſen entſchieden
auf die wilde Stammform zurück. Rütimeyer nennt dieſe Ab—
kömmlinge des Ur Primigenijus-Raſſe und iſt der Anſicht, daß
die großen Rindviehſchläge von Friesland, Holſtein und Jüt—
land ebenfalls ſolcher Abſtammung ſind.
Eine dritte Raſſe der Schweizer Pfahlbauten iſt der gezähmte
Trochoceros von
großem Wuchs und ein—
fach halbkreisförmig ge—
bogenen Hörnern. Sie
findet ſich nur in den
jüngeren Pfahlbauten
des Neuenburger
See's und ſtammt nach
Rütimeyer wahr-
ſcheinlich aus Italien,
wo in der Diluvial—
epoche ein ganz ähn—
licher und nur durch be— e
deutendere Größe aus— | 000 B
gezeichneter Stier, Bos (
trochoceros Mey, ſchon x
vor der Einwanderung des Menſchen lebte. Wahrſcheinlich wurde
dieſe wilde Art frühe in Südeuropa gezähmt und im zahmen
Zuſtande erſt in der ſpäteren Zeit des Steinalters in der Schweiz
eingeführt. Heut zu Tage iſt der Trochoceros ſowohl in wildem Zu—
ſtande als auch als Hausthier erloſchen. Wenigſtens war es Rüti—
meyer nicht möglich, eine lebende Viehraſſe ausfindig zu machen, die
demſelben angeſchloſſen werden könnte.
Hierzu kommt noch der Umſtand, daß in den Pfahlbauten des
Neuenburger See's Schädelſtücke vorkamen, welche die Merkmale
des zahmen Trochoceros und des zahmen Primigenius in Miſchung
enthielten, ſo daß Rütimeyer eine damals vorgefallene wirkliche
Kreuzung beider Raſſen als unzweifelhaft annimmt. |
Rolle, Darwin's Lehre. 9
130
Von den genannten drei Raſſen, welche die alten See-Anſiedler
der Schweiz vor vielen Tauſend Jahren — weit vor Beginn der
geſchichtlichen Zeit der europäiſchen Völker — beſaßen, iſt eine er—
loſchen, zwei leben noch und zu ihnen kommt in der heutigen euro—
päiſchen Hausthierfaung noch eine vierte, welche Rütimeyer Fron-
tosus-Raſſe nennt. Sie fehlt unter den Hausthieren der Pfahlbau—
Periode in der Schweiz noch gänzlich und iſt erſt ſpäter aus Nord—
europa hier eingeführt worden. Rütimeyer verſteht hierunter das
Simmenthaler Vieh oder ſogenannte Fleckvieh.
Dieſe vierte Raſſe ſtammt von dem in Scandinavien in
Torfmooren foſſil gefundenen Bos krontosus Nils. ab, der an Größe
zwiſchen dem Ur und dem Brachyceros ſtand und ſich durch ſeitlich
und zugleich abwärts gerichtete Hörner auszeichnete.
Aus dieſen manigfachen und ein ganz neues Feld der Forſchung
erſchließenden Unterſuchungen von Owen und Rütimeyer über
unſere älteſten Hausthierformen und ihre zum Theil nur noch den
jüngeren geologiſchen Ablagerungen angehörenden und jetzt erloſchenen
wilden Stammarten ergeben ſich naturgemäß eine Reihe von Schlüſſen
von ſehr eingreifender Art: g
1. Einem Theile unſerer heutigen Hausthiere unterliegt zwar
gewiß nur je eine einzige wilde Stammart, es gibt aber auch andere,
die von mehreren unter einander verſchiedenen aber nahe verwandten
Arten derſelben Gattung abſtammen.
2. Durch die Zähmung verlieren die wilden Arten an Selb
ſtändigkeit des Characters, ſo zwar, daß einander nahe verwandte
Arten gleicher Gattung, z. B. eine Anzahl Arten von Bos nicht mehr
denſelben Gegenſatz zu einander bieten, den ſie als wilde Arten hatten.
Nach der Zähmung miſchen ſie ſich unter einander, erzeugen frucht—
bare Nachkommen, welche dann Bindeglieder früher getrennter For—
men liefern und gehen ſo durch Kreuzung immer vollſtändiger in
einander über. Mit anderen Worten, aus mehreren Arten, die im,
Laufe der geologiſchen Epochen aus gemeinſamer Wurzel entſtanden,
wird durch Zähmung und Kreuzung wieder eine einzige, ſehr viel—
geſtaltige aber durch Mittelglieder zuſammengehaltene Form.
3. Da die Zähmung der wilden Arten zu fruchtbarer Kreuzung
und zu unverminderter Fruchtbarkeit der Blendlinge führt, ſo ſind
die einzelnen Raſſen unſerer Hausthiere, auch wenn für eine jede die
Ableitung von irgend einer wilden Stammart offen darliegt, doch
131
keine Arten mehr in dem Sinne, wie dies für wilde Formen gilt,
denn die eigentlichen abgrenzenden Artcharactere gehen ihnen ab, ſie
können namentlich jetzt in beliebiger Weiſe unter einander gekreuzt
werden, was bekanntlich für wilde Thierarten nicht ſo gilt.
Wir können alſo z. B. bei unſerem zahmen Rind nicht mehr -
drei Arten, einen Bos primigenius, einen Bos brachyceros und einen
Bos frontosus unterſcheiden. Unſer zahmes Rind ſtammt wohl von
dieſen drei oder von noch mehr Arten ab, aber es iſt in Folge der
Verwiſchung der alten Artcharactere und manigfacher Kreuzung der
von jenen Arten abſtammenden zahmen Thiere ein ganz neuer Stamm,
Bos taurus, entſtanden. Er begreift eine Anzahl von Raſſen:
a) aus alten Stammformen hervorgegangene Raſſen oder ſogenannte
reine Raſſen, wie
Braunvieh, brachyceros-Raſſe,
Friesländer Schlag, Primigenius-Raſſe,
Fleckvieh, Simmenthaler Schlag, Frontosus-Raſſe;
b) durch den Einfluß von Züchtung, Kreuzung und Auswahl neu ge—
bildete Raſſen, welche mehr oder minder von den reinen Raſſen
abweichen und den Anfang zur Hervorbringung neuer, nicht im
wilden Zuſtande vorgekommener Arten darſtellen.
Die erſteren Raſſen kann man nicht mehr mit beſonderen Art—
namen belegen, weil es Formen ſind, die ihres beſonderen Artcharacters
verluſtig gegangen ſind. Die neu erzeugten Cultur-Raſſen aber ebenſo
wenig, da ſie noch nicht in Art-Abſtand von den übrigen getreten ſind.
Es gibt alſo überhaupt nur ſtufenweiſe Anzeigen für die Art—
benennung von Hausthieren. Hat eine gezähmte Form ſich bis un—
gefähr zum Art-Abſtand von ihrer wilden Stammform entfernt, ſo
verdient fie einen eigenen Namen, jo z. B. das Cobaya im Gegenſatz
zum Aperea. Wenn Rengger's Bericht von der Paraguay-Raſſe
der Hauskatze richtig iſt, ſo befindet ſich dieſe auf dem Weg einen
ähnlichen Art-Abſtand zu gewinnen. Man wird daher in entfernter
Zukunft Hausthier-Raſſen, die jetzt noch keinen Artnamen beanſpruchen
können, einmal mit Grund als berechtigte Arten anerkennen müſſen.
4. Allgemein laſſen ſich dieſe einzelnen Momente alle in dem
Satze zuſammen faſſen, daß die Natur aus einer und derſelben Thier—
form in freiem Zuſtande mehrere beſondere und von einander ab—
ſtehende Arten entſtehen läßt, daß der Menſch die von der Natur
gezogenen Schranken ſolcher Formen niederreißen und die getrenn—
9 *
132
ten Formen wieder zu einer einzigen vielgeſtaltigen Culturform ver—
ſchmelzen kann und daß der Menſch endlich auch aus den ſo erzeugten
Culturformen einzelne wieder herausgreifen, dauernd vereinzeln und
dadurch in Art-Abſtand von den übrigen verſetzen kann.
Verwilderung und Rückſchlag der Hausthiere.
Wenn auch, wie eine Menge von Fälle beweiſen, der Menſch
im Laufe der Zähmung und Züchtung manigfache und häufig weſent⸗
liche Veränderungen bei einer Anzahl von Thieren hervorgerufen hat,
ſowohl in Bezug auf äußere Merkmale, als auch auf Knochenbau und
phyſiologiſche Verrichtungen, ſo kann man doch, da der Zufammen-
hang zwiſchen den Hunderaſſen, ſowie der zwiſchen Cobaya und Aperea
und eine Reihe von anderen Fällen noch nicht recht feſtgeſtellt ſind,
auch noch nicht mit Sicherheit behaupten, daß der Einfluß des Men—
ſchen auf die Thierwelt ſchon neue Arten hervorgerufen habe.
Jedenfalls iſt man aber dem ſchon nahe gekommen und es iſt un⸗
zweifelhaft, daß wenn unſere Voreltern ſtatt nützlicher Haus—
thiere beabſichtigt hätten, zur beſſeren Belehrung der prädeſtinations—
gläubigen Naturforſcher des neunzehnten Jahrhunderts neue Species
zu züchten, wir auch dieſem Ziele weit näher gerückt wären. So aber
bleibt dies der Zukunft anheimgeſtellt, welcher das bisher bei Züch—
tungen behufs anderer Zwecke gelegentlich hervorgetretene Ergebniß
den weiteren Weg vorzeichnen wird.
Es iſt bis jetzt nur gelegentlich geſchehen, daß eine Hausthier—
form ſich im Laufe der Cultureinflüſſe ſo weit von ihrer Stammform
entfernt hat, daß ſie ungefähr in Art-Abſtand von ihr getreten er—
ſcheint. Gewöhnlich war dabei die Kreuzung mit anderen Formen
ungehindert und der Abſtand wurde dann auch nie ganz unzweifelhaft.
In wenigen oben erwähnten Fällen blieb aber die Kreuzung aus-
geſchloſſeu, alſo namentlich erſt ſeit der Entdeckung von Amerika,
und dann erfolgte ein ſtärkeres Hervortreten des Abſtandes. Zu künf—
tigen planmäßigen Verſuchen der Erzeugung neuer Arten auf dem
Wege der Zähmung und Züchtung wird man dieſe Erfahrungen wohl
ſchon verwerthen können und zu ſolchen Verſuchen wird es jetzt, wo
man über die zu Grunde liegenden Vorgänge mehr und mehr Licht
erhält, gewiß auch kommen.
Die Züchtung unſerer Hausthiere hat erſt in einem gewiſſen, oft
133
fogar erft ſehr geringen Grade vermocht, die Vererbung der primi—
tiven Charactere zu überwinden und wir müſſen ſehen, wie ſie bald
hier bald da wieder hervortauchen. Erblichkeit und Veränderlichkeit
liegen bei der Erzeugung einer organiſchen Form immer im Kampfe
und je nach dem Zwiſchentreten eines oder des anderen äußeren
Momentes gewinnt bald die eine bald die andere Seite die Oberhand.
Je länger die Züchtung gewirkt, je tiefer ſie eingegriffen hat, um ſo
mehr iſt auch die Vererbung der Urcharactere unterdrückt, aber auch
dann noch ſind die neuen Charactere erſt ſo oberflächlich der Form
aufgeprägt worden, daß ſie meiſt durch veränderte Lebensverhältniſſe
leicht wieder weggeſpühlt werden können. Wir haben verſtanden die
ererbte Organiſation der Thierform zu erſchüttern, aber wir haben
noch nicht recht gelernt, ſie dann wieder in Stillſtand zu bringen.
Es iſt dies ſehr begreiflich, denn noch kein Züchter hat es ver—
ſucht. Man hat die Hausthiere für jeden beſonderen Zweck ausgebildet,
für den ſie Fähigkeit verriethen. Aber auf eine möglichſt vollkommene
Unterdrückung der Vererbung von Characteren der Vorfahren, auf
eine möglichſt tiefe und möglichſt ausſchließliche Einprägung der Cul—
turcharactere hat noch Niemand hinzuarbeiten geſucht, es war für das
praktiſche Bedürfniß der Haushaltung und der Landwirthſchaft nicht
nöthig und iſt daher auch nicht geſchehen. Aber es dürfte in längerer
oder kürzerer Friſt eine Zeit kommen, wo auch zur Löſung wiſſen—
ſchaftlicher Fragen das leicht umzugeſtaltende Naturell des Hausthieres
Gegenſtand der Verſuche ſein wird. Unſere zoologiſchen Gärten, die
jetzt bei ihrer Entſtehung zunächſt der bloßen Schauluſt Rechnung
tragen müſſen, werden in Zukunft bei feſterer Begründung ihrer Lage
gewiß jener manigfachen Aufgaben ſich nicht entſchlagen können.
Es iſt bei den Naturforſchern ſeit langer Zeit ziemlich allgemein
angenommen, daß unſere Hausthier-Raſſen, wenn ſie verwildern, all—
mählig aber doch immer mit Sicherheit den Character ihrer wilden
Stammeltern wieder annehmen. Es liegt dieſer Behauptung jedenfalls
viel Wahres zu Grunde, indeſſen laſſen ſich auch einige weſentliche
Einwände dagegen erheben, die zu einer beträchtlichen Einſchränkung
führen dürften.
Veränderungen treten bei der Verwilderung zahmer Raſſen gewiß
ein, aber es fragt ſich nur, ob die dabei ſtattfindende Bewegung immer
und nothwendig jene Richtung einhält, welche zum Character der ur—
ſprünglichen Stammform zurück führt. Und wenn auch die Richtung
134
ganz oder beinahe jene ift, fo fragt ſich immer noch, ob fie noth—
wendig immer denſelben Grad, von dem die Form ausging, rück—
ſchreitend wieder erreichen muß oder ſchon bei einem näheren unab—
änderlich ſtehen bleiben kann.
Daß bei unſeren gezüchteten Raſſen in gewiſſen Fällen Indivi—
duen auftreten, die in einzelnen Merkmalen zur Stammform zurüd-
kehren, iſt ſicher. Dies hat beſonders ſtatt bei Characteren, die mit
der dem Hausthiere ertheilten Lebensweiſe nicht in geradem Wider—
ſpruche ſtehen. Der Fall iſt z. B. ſehr häufig, daß unter den Haus—
thieren z. B. bei Katzen, bei Tauben u. ſ. w. einzelne Individuen
in auffallender Art die Färbung der wilden Stammart wiederholen.
Kreuzung entfernt ſtehender Raſſen ſcheint oft Anlaß zu ſolchem theil—
weiſem Rückſchlage zu werden. Darwin führt Beiſpiele davon auf,
die bei Kreuzung gewiſſer Taubeuraſſen vorkamen.
Wie weit aber der Cinfluß einer völligen Verwilderung auf die
verſchiedenen Arten unſerer Hausthiere geht, ſcheint noch nicht recht
feſtzuſtehen. Die Beobachtung der gelegentlich vorgefallenen derartigen
Veränderungen läßt in vielen Fällen im Verhältniß zur Wichtigkeit
des Gegenſtandes noch ſehr an Genauigkeit vermiſſen. Audererſeits
ſind dahin einſchlagende abſichtliche Verſuche in umſchloſſenen Forſten
wohl bis jetzt noch nicht mit hinreichender planmäßiger Anlage und
in genügender Ausdehnung vorgekommen oder ſie ſind auch wohl noch
nicht lange genug fortgeſetzt worden, um zu feſten Ergebniſſen führen
zu können.
Aus mehreren Anzeigen ſcheint hervorzugehen, daß bei der Ver—
wilderung von Hausthieren die veränderten Lebensverhältniſſe theils
unmittelbar für ſich wirken, theils einen Kampf zwiſchen der Neigung
zum Durchbruch latent gebliebener Eigenthümlichkeiten und der Nei-
gung zur Vererbung der durch die Cultur erlangten Merkmale ver—
anlaſſen. Das Ergebniß zwiſchen dieſen drei Momenten wird natürlich
nicht bei allen Hausthier-Arten gleich ſein. Es wird namentlich darauf
ankommen, wie lange die Züchtung zuvor gedauert und wie weit ſie
die Organiſation vom Character der Stammform hinweggeführt hat.
So läßt ſich z. B. faſt im voraus behaupten, daß das Rennthier
oder das Schwein früher und vollſtändiger bei der Verwilderung zu—
rückſchlagen werden als das Pferd. Die Katze wahrſcheinlich mehr
als der Hund.
Es liegen ziemlich viel ältere und neuere Nachrichten über Ver—
135
wilderung von Hausthieren vor, aber meiſt nur von kurzer und ziem—
lich ungenügender Faſſung.
Vom zahmen Schwein wird allgemein behauptet, daß es bei der
Verwilderung in die Form des Wildſchweines zurückſchlage. Das in
den Wäldern von Südamerika ſtellenweiſe verwilderte Schwein
hat nach dem Berichte von Roulin wieder die ſchwarze Farbe, die
Borſten, die Hauer, den großen Kopf des Ebers angenommen. Wein—
land traf das Schwein in ähnlicher Weiſe verwildert und mit un—
gewöhnlicher Körpergröße auf den Gebirgen von Haiti.
Das zahme Kaninchen von der verſchiedenſten Färbung ſoll ins
Freie ausgeſetzt, ſchon im Verlaufe weniger Jahre Junge von ein—
farbig grauer Behaarung zur Welt bringen, die von der wilden
Stammform gar nicht zu unterſcheiden ſind.
Während indeſſen von einer Anzahl von Thieren behauptet wird,
daß ſie aus dem zahmen Zuſtande in den wilden zurückverſetzt, in
allen Characteren wieder zur Stammform zurückkehren, gibt es auch
andere Fälle, wo nach Jahrhunderten eine verwilderte Hausthierart
noch nicht den beſonderen Raſſencharacter einbüßte, den ſie im Cultur—
zuſtande beſeſſen hatte.
Amerika beſaß, als die Spanier vor nahe vierhundert Jahren
ihren Einzug hielten, weder Pferde noch Rinder und von Hunden
nur wenige, ſehr dürftige Raſſen. Seither ſind Pferd, Rind und
Hund europäiſcher Abſtammung in mehreren Theilen von Amerika,
namentlich aber in den Pampas oder Grasebenen der Laplata—
Gegend verwildert.
Die Pampas, ehedem nur der Tummelplatz des Guanako, des
Steppenhirſches und des Straußes, wimmeln jetzt von Heerden ver—
wilderter Pferde und Rinder, von welchen Azara, Humboldt
und Darwin Nachrichten gegeben haben. Das Pferd hat aber noch
keineswegs den Character der Andaluſiſchen Raſſe, von dem es ur—
ſprünglich abſtammt, im Laufe der Jahrhunderte eingebüßt. Azara
ſagt nur, daß es an Schönheit der Form, Stärke und Schnelligkeit
etwas abgenommen habe und nur noch einfarbig hellbraune Farbe zeige.
Das ſind aber nur geringe Aenderungen, die von einem Rückſchlag
in die Form des Tarpan oder wilden Pferdes, wie es die Step—
pen von Mittelaſien bevölkert, noch weit entfernt ſind. Die be—
zeichnende Stärke der Mähne und des Schweifes iſt noch ganz dem
Pampas⸗Pferde geblieben. Noch auffallender aber iſt, daß ſelbſt von
136
der zahmen Natur des europäiſchen Pferdes ein guter Theil ſich beim
verwilderten amerikaniſchen Pferde fortgeerbt hat. Ein geſchickter Reiter
bändigt ein von den Pampas wild eingefangenes junges Pferd in einigen
Stunden ſo vollkommen, als ein Thier aus der ununterbrochen ge—
zähmten Raſſe. Die Cultur hat alſo nicht nur auf den Körper,
ſondern auch auf die Seele des Pferdes eine vererbliche Nachwirkung
hinterlaſſen. Aehnliches beobachtet man in den Steppen von Dft-
europa und Vorderaſien am verwilderten Pferde oder dem ſo—
genannten Muzin der Koſaken, aber der eigentliche wilde Stamm
der großen Tartarei, nämlich der Tarpan, iſt faſt ganz unzähmbar.
Eingefangen wehrt er ſich mit Heftigkeit und Bosheit gegen den
Menſchen und ſtirbt eingeſperrt ſehr bald. Seine phyſiſchen Cha—
ractere ſind eigenthümlich abweichend, Mähne und Schweif kurzhaarig.
Auch das verwilderte Rind der Pampas iſt außer der Farbe,
die einen ſehr beſtändigen Character angenommen hat, nur wänig von
der ſpaniſchen Stammraſſe abgewichen. |
In den Pampas von Buenos Ayres gibt es nad Azara
eine große Menge von wilden Hunden die unzweifelhaft Nachkommen
jener ſind, welche die Spanier vor etwas mehr als dreihundert
Jahren hier einführten. Sie graben Höhlen und leben als ächte Raub—
thiere. Aber ſie ſind in dieſen drei Jahrhunderten weder zu Wölfen,
noch zu Schakalen geworden, noch in irgend eine andere wilde Form
zurückgeſchlagen. Azara vergleicht die verwilderte Form vielmehr der
großen däniſchen Raſſe. — Die Verwilderung hat alſo auch hier nicht
auf eine Artform zurückgeführt, ſondern iſt bei der Stufe der Varietät
ſtehen geblieben.
Auch die Hauskatze iſt nach Darwin in den Steppen der
Laplata-Gegend verwildert, fie bewohnt hier felſige Hügel und
hat ſich durch die Verwilderung in ein großes wildes Thier verwandelt.
Wie ſehr aber auch die Katze im zahmen Zuſtande noch ihre
wilden Neigungen vererbt, iſt aus manchen Characterzügen erſichtlich.
Unter anderem macht Ober-Medicinalrath Jäger in den württemb.
naturwiſſ. Jahresheften, Jahrgang IV. 1848. S. 65, darauf auf-
merkſam, wie die junge Katze, von angeerbter Neigung getrieben, ſich
nicht ſelten im Erklettern von Bäumen übt, auf welchen ehedem ihre
wilden Stammes-Vorfahren im Naturzuſtande ſich theilweiſe ihre Nah—
rung ſuchen mußten. Die Mutterkatze aber, welche den Jungen be—
kanntlich einen ſo merkwürdigen methodiſchen Unterricht ertheilt, übt
137
ihr Junges heutzutage im Erflettern der Bäume nicht weiter ein. Wo
eine Verwilderung eintritt, wird ſie es aber gewiß wieder thun, ſo
gut als es bei der wilden Stammform vorgekommen ſein mag.
Aus allem dieſem geht hervor, daß es allerdings wahrſcheinlich
bei allen Hausthieren eine latente Neigung zur Entwicklung von Charac—
teren der Stammart gibt, die oft vielleicht in langen Reihen von
Generationen nur in der inneren Anlage ausgeſprochen bleibt, ohne
als individuelle Variation hervorzutreten. Unter gewiſſen Einflüſſen
aber gelangt ſie zum Ausdruck. Sie tritt bald zufällig bei zahmen
Thieren und dann gewöhnlich nur in geringem Grade, z. B. nur in
der Haarfarbe, auf, gewinnt aber bei völliger Verwilderung mehr oder
minder die Oberhand. Bei wenig von der Cultur betroffenen Thieren
dürfte ſie am eheſten einen vollſtändigen Rückſchlag hervorrufen. Es
gibt aber auch eine Neigung zur Vererbung der durch die Cultur
erworbenen Charactere und ſie macht ſich ſelbſt in der Verwilderung
noch geltend, ſobald eine Thierart von der Cultur hinreichend nach
Dauer und Tiefe verändert worden iſt. Das zweite Moment wirkt
aber dem Rückſchlage in die Urform kräftig entgegen. So iſt es beim
Pferd, beim Rind, beim Hund.
Geſchichte der Hausthier-Züchtung.
Der Menſch hat ſeit den älteſten Zeiten in allen ſeinen Wohn—
ſitzen theils zu ſeiner Wohlfahrt, theils aus Willkühr die Verbrei—
tungsgrenzen jener Thiere, mit denen er in nähere Berührung kam,
abzuändern begonnen und theilweiſe in ſehr hohem Grade auch ver—
ändert. Der Menſch hat ſchädliche Thiere allenthalben verfolgt und
zum Theil, wie die Bären und Wölfe, auch auf weite Strecken hin
ausgerottet. Er hat andere, theils aus Gewinnſucht, theils aus Will—
kühr und Laune, wie z. B. den Vogel Dudu und die Steller'ſche
Seekuh, ganz von der Erde vertilgt. Er hat dafür auch gleichzeitig
die ihm nützlichen oder ſeinem Auge und Gemüth angenehmen Thier—
arten in vielen Fällen gepflegt und zu vermehren geſucht. Auf dieſe
hat er verändernd eingewirkt und aus wilden Arten Hausthiere ge—
macht. Die kaukaſiſche Raſſe hat von jeher in allen dieſen Umgeſtal—
tungen des Thierreichs die größten Erfolge erzielt und iſt ſeit Ent—
deckung von Amerika und Auſtralien in erhöhtem Grad beſchäftigt,
dieſe Erfolge weiter über alle Theile der Erde auszudehnen. Wilde
Völker haben gewöhnlich nur unbedeutendes in dieſer Hinſicht vermocht.
138
Der Urſprung der meiſten Hausthiere iſt dunkel, theils in ge—
ſchichtlicher Hinſicht, theils ſelbſt für das Bereich der wiſſenſchaftlichen
Prüfung. Man hat beſonders in alten Zeiten unſere werthvollen
Hausthiere als Geſchenke der Götter bezeichnet, wie dies namentlich
in der Mythologie der alten Griechen und Römer ausgeſprochen iſt.
Neuere Theologen und theologiſirende Naturforſcher haben ſie wenigſtens
als prädeſtinirte Ausſtattungen des Menſchengeſchlechtes gedeutet.
Indeſſen Darwin nimmt an, daß der Menſch ſchon auf der
niederſten Stufe der Geſittung begann, Thiere einzufangen und zu
zähmen und daß ein Theil unſerer heutigen Hausthiere urſprünglich
aus jenen älteſten Zeiten des menſchlichen Geſchlechtes ſich herleitet.
Die Teleologen haben auch geglaubt, der Menſch ſei in Folge
ehemaliger providentieller Bevorzugung im Stande geweſen, vorzugs—
weiſe ſich ſolche Thierarten zur Zähmung auszuwählen, welche eine
beſondere Bildſamkeit des Naturells und namentlich auch ein unge—
wöhnlich großes Vermögen beſeſſen hätten, abzuändern und unter ver-
ſchiedenen Klimaten auszudauern. Indeſſen Darwin zeigt, daß alle
dieſe Fähigkeiten der Hausthiere, welche ſoviel zum Werthe derſelben
beitragen, vom Einfluſſe der Züchtung im Widerſtreite mit einer mehr
oder minder zähen Vererbung von Stammart-Characteren herrühren.
Der Menſch auf der erſten Stufe der Geſittung, der das erſte
Paar einer Thierart zähmte, konnte nicht wiſſen, ob deren Nachkom—
men viel oder wenig ſeinem Einfluſſe nachgeben und viel oder wenig
abändern würden, geſchweige denn, ob ſie auch in anderen Klimaten
im Stande ſein würden auszudauern. Der primitive Menſch fing
wilde Thiere ein oder zog ihre Jungen aus Neſtern auf, weil ſie
ihm nützlich oder angenehm waren. Er verſuchte ſie zu zähmen und
an ſein Hausweſen zu gewöhnen, er ſetzte dies um ſo ausdauernder
fort, ſobald ſie in der Gefangenſchaft leicht fortzupflanzen waren und
dabei ſeinen Bemühungen merklich nachkamen.
Es gibt noch jetzt Thiere, von denen jedes im jungen Zuſtande
der Wildheit entnommene Einzelweſen gezähmt werden kann. Manche,
wie z. B. der Elephant und die meiſten Papageyen pflanzen ſich wenig
oder nicht in der Gefangenſchaft fort. Dieſe konnten nie recht eigent—
liche Hausthiere werden. Andere, die nicht uur zur Zähmung, ſondern
auch zur Fortpflanzung zu bringen waren, konnten wirkliche Hausthiere
werden. Es blieb alſo nur ein kleiner Betrag aus einer größeren
Zahl von Arten eines jeden Gebietes für die Züchtung übrig und
139
auf dieſe ift die Bemühung des Menſchen gewöhnlich dann auch be—
grenzt geblieben.
Nicht alle Völker des Alterthums und nicht alle wilden Stämme
neuerer Zeit haben in gleicher Weiſe zur Erzielung von Hausthieren
beigetragen. Darwin erkennt darin keine göttliche Bevorzugung ein—
zelner Stämme des Menſchengeſchlechts vor andern, er ſtellt vielmehr
die Behauptung auf, daß, wenn der Menſch in anderen Theilen der
Erde auch in gleichem Grade, wie die alten Culturvölker von Mit—
telaſien und Nordafrika, bemüht geweſen ſei, Arten von wilden
Thieren einzufangen, zu pflegen und zu zähmen, dieſe anderen Arten
in einer gleich langen Reihe von Generationen ebenfalls zu Hausthieren
umgewandelt worden wären. Nur ſehr wenige Theile der Erde, wie
z. B. Neuſeeland, machen davon eine Ausnahme. Es liegt alſo
nicht ſo ſehr an der Natur der Thiere ſelbſt, als vielmehr an den
verſchiedenen Anlagen und Neigungen der beſonderen Volksſtämme,
wenn ein Gebiet wohl ausgebildete Hausthiere und dabei zugleich viele
beſonders abgeſtufte und zu beſonderen Verwendungen geeignete Raſſen
beſitzt, ein anderes aber in dieſer Hinſicht weit zurückſteht. Aehnlich
wie auf die Pflanzenwelt war in dieſer Hinſicht der Einfluß des
Menſchen auf die Thierwelt ſeiner beſonderen Wohnſitze.
Zahl und Ausbildung der Hausthiere, Reinheit und Steigerung
der vorzugsweiſe nützlichen Raſſen ſind, wie Weinland 1859 aus—
einander geſetzt hat, nicht nur bei den verſchiedenen Volksſtämmen ver—
ſchieden, ſondern ſie geben auch einen Maßſtab für die geiſtige Aus—
bildung der Völker ſelbſt ab.
Wilde Völker begnügen ſich immer mit wenigen Hausthieren,
verpflegen ſie gewöhnlich ſchlecht und geben ſie allen Unbilden der
Witterung preis. Sie beſitzen nur ſelten Raſſen, die eine Verpflan—
zung in andere Gegenden verlohnen würden. Je höher aber die mate—
rielle Cultur bei einer Nation vorangeſchritten iſt, um ſo größer pflegt
die Zahl der Arten der Hausthiere und deren Raſſen zu ſein und um
ſo mehr Gewicht wird auf ihre Pflege und Veredlung gelegt.
So fand Dr Rütimeyer, daß die älteſten Pfahlbauten der
Schweiz, in denen nur Steingeräthe und noch keine Spur von Bronze
vorkommt, erſt ſechs Arten von Säugethieren in zuſammen ſieben
Raſſen enthalten, nämlich die Torfkuh, den zahmen Ur, die Ziege,
das Schaf, das Torfſchwein und den Hund, wovon nur das Schaf
in zwei Raſſen auftritt. In den ſpäteren Pfahlbauten, in denen neben
140
Steingeräthe auch Bronze-Arbeiten vorkommen, deuten die gefundenen
Knochenreſte ſchon auf eine etwas größere Zahl von Hausthier-Formen.
Die meiſten unſerer Hausthierraſſen verdanken offenbar ihre Ent—
ſtehung einer Reihe von Vorgängen, welche, ſo weit der Menſch dabei
betheiligt war, wohl den Zweck hatten, eine gut geeignete Thierform
zu erhalten und zu vermehren, inſofern aber als unabſichtlich erſchei—
nen, als ſie zugleich zu einer Veredlung der Art, nämlich einer An—
häufung und Steigerung ihrer nutzbaren Eigenthümlichkeiten führten.
Die einfachſte Form der Züchtung, wie ſie die älteſten Stämme
der Menſchheit betrieben haben mögen und wie ſie vielfach bei uns,
dann aber auch bei wilden Völkern noch betrieben wird, beſteht darin,
daß der Züchter die kräftigſten oder gewandteſten oder ſonſt geeignetſten
Thiere zu beſitzen ſtrebt oder auch plötzlich hervorgetretene ſehr auf—
fallende Abweichungen herausgreift, ſie verpflegt und fortpflanzt. Er
beabſichtigt dabei eigentlich keine Veredlung, aber ſie tritt im Laufe
der Zeit durch fortgeſetzte Pflege und Auswahl von ſelbſt ein. Unſere
meiſten alten Raſſen, inſofern ſie nicht Abkömmlinge beſonderer Stamm—
arten ſind, ſcheinen auf ſolche Art gezüchtet worden zu ſein, der Vor—
gang war ein ſo allmähliger, durch Jahrhunderte oder ſelbſt Jahr—
tauſende fortgeſetzter, daß wir in vielen Fällen denſelben nicht mehr
genau verfolgen können, ſondern uns begnügen müſſen die End—
glieder der Generationsreihen zu vergleichen. Die Unterſchiede bei
ſolchen unabſichtlichen Veredlungen der Hausthiere ſind an ſich ſo
geringer und unmerklicher Art, daß ſie bei Vergleichung zweier unmit—
telbar einander gefolgten Glieder gar nicht ins Auge fallen würden.
Es nimmt alſo auch nicht leicht Jemand Anlaß, Einzelheiten eines ſo
unmerklichen Vorganges aufzuzeichnen.
Daß aber der Vorgang von dieſer Art geweſen ſein muß, geht
unter anderem aus jenen Fällen hervor, wo die Züchtung Anpaſſun—
gen und Charactere erzielt hat, die dem Menſchen, nicht aber dem
Thiere ſelbſt, vortheilhaft ſind. Solche Raſſen können nicht ſo freiwil—
lig wie z. B. Varietäten wilder Thiere entſtanden ſein, ſondern er—
klären ſich nur von einer fortdauernden Anhäufung, die der Menſch
unabſichtlich oder abſichtlich hervorgerufen hat.
Es bedurfte einer länger fortgeſetzten Züchtung, bis man zur
Erfahrung gelangte, daß Fortpflanzung von beſonders gutgearteten
Thieren mit Ihresgleichen und ſorgfältige Auswahl aus der von
ihnen gefallenen Nachkommenſchaft im Laufe der Generationen allmäh—
141
lich zu einer Veredlung der Form führe — das heißt zu einer
Steigerung jener Characterzüge, auf die der Meuſch Werth legt. Mit
einer ſolchen Erkenntniß trat die Züchtung in ihre erſte wiſſenſchaft—
liche Stufe. Der Zeitpunkt war ein ſehr verſchiedener für die einzel—
nen Völker und iſt jetzt nachträglich nur in wenigen Fällen noch
genauer feſtzuſtellen. Für die hauptſächlichſten Urvölker und die älteſten
Hausthiere aber bleiben wir am meiſten im Dunkeln.
Virgil, ein Zeitgenoſſe des Kaiſers Auguſtus, bringt im drit—
ten Buche ſeines für die Culturgeſchichte des Römiſchen Volkes ſo
werthvollen Gedichtes von der Landwirthſchaft ſchon ſehr beſtimmte
Anſichten über Pflege der Thiere und Auswahl zur Nachzucht zum
Behufe der Erhaltung werthvoller edler Raſſen, doch ſieht man wohl,
daß zu ſeiner Zeit eine ſteigernde Wirkung der Auswahl noch nicht
erkannt worden war und man damals noch nicht planmäßig neue
Raſſen heranzuziehen verſtand.
Virgil ſagt:
Seu quis, Olympiacae miratus praemia palmae,
Pascit equos, seu quis fortes ad aratra juvencos;
Corpora praecipue matrum legat.
(Virgilii Georgicon lib. III. vers. 49)
Wer vom Preiſe der Olympiſchen Palme begeiſtert, Roſſe nährt
oder für den Pflug ſtarke Stiere aufzieht, der wähle ſorgſam die
Leiber der Mutterthiere aus. Trotzigen und finſteren Ausdruckes ſei
die Kuh, grob und breitgeſtirnt ihr Haupt, ſtark und mächtig ihr
Nacken, vom Kinn zu den Beinen herab hänge ihr die Kehlhaut
(Wamme), langgeſtreckt ſei die Seite, alles gewaltig, auch der Fuß
ſtark, die Ohren rauh und die Hörner eingekrümmt.
In ähnlicher Weiſe gibt Virgil auch beſtimmte Regeln der
Auswahl (dilectus) für die Zucht der edleren Pferde-Raſſen:
Nee non et pecori est idem dilectus equino,
„Nicht minder als das Rind bedarf auch das Roß der Aus—
wahl.“ — Auch wie man aus den Heerden fortwährend die geringe—
ren Stücke ausſcheiden und durch beſſere erſetzen ſolle, lehrt Virgil:
Semper erunt, quarum mutari corpora malis,
Semper enim refice; ac ne post amissa requiras
Anteveni et subolem armento sortire quotannis,
Georgicon lib. III. vers. 69.
Immer werden Stücke in der Heerde ſein, deren Leiber du
gern umgetauſcht ſehen möchteſt. Dieſe erſetze immer durch andere.
142
Und daß du Verluſt nicht bereueſt, komme zuvor und verjünge die
Heerde mit alljährlichem Anwachs.
Virgil und ſeine Zeitgenoſſen erkannten alſo ſicher ſchon, daß
Vorzüge der Hausthier-Raſſen bei ſorgfältiger Pflege und Auswahl
ſich forterben. Doch läßt ſich noch keine Andeutung über eine im
voraus bedachte Veredlung einer geringeren Raſſe zu einer werthvol—
leren erkennen. Die erſte Andeutung einer ſolchen planmäßigen Züch—
tung ſcheint aus einer Stelle im achten Buche der Naturgeſchichte des
Plinius hervorzugehen. In unſerem Erdtheile, berichtet Plinius,
haben die Epirotiſchen Stiere, wie man meint, ſeit ihrer ſorgfältigen
Züchtung durch den König Pyrrhus den Vorzug. Sie wurden dadurch
ſo außerordentlich groß, daß man ſie erſt im vierten Jahre zur Be—
gattung zulies, und noch bis jetzt haben ſich einige von dieſem Stamm
erhalten. Jetzt läßt man ſie im erſten, höchſtens im zweiten Jahre
ſich vereinigen.
Hier liegt alſo eine abſichtliche Steigerung einer Raſſe behufs
kräftigerer Ausbildung der Nachkommenſchaft vor, doch ſcheinen ſolche
Vorgänge im Alterthum ſehr zerſtreut geblieben zu ſein.
Heut zu Tage erzielt man neue Raſſen von Hausthieren mit
beſtimmter Abſicht und nach einem vorgeſteckten Ziele. Was man in
früheren Jahrtauſenden ohne tiefere Kenntniß des Vorgangs und ohne
förmliche Abſicht allmählig und unmerklich zum Vorſchein brachte, das
ſucht man jetzt mit bewußter Abſicht und mit Benutzung aller älteren
Erfahrungen in kürzeren Friſten zu erreichen.
Pflege und Auswahl reicht dazu nicht aus, allzuenge Inzucht
kann ſogar nachtheilig wirken, mit großem Erfolg und beträchtlicher
Zeiterſparniß aber bedient man ſich jetzt dabei der Raſſenkreuzung
und bezieht zu dieſem Behufe geeignete Schläge aus entfernten Erd—
theilen. Mit Anwendung dieſer verſchiedenen Momente läßt ſich jetzt
nach vorbedachtem Plan vielfach und oft weit eingreifend auf die
Thierform einwirken.
Die Auswahl geeigneter Individuen zur Nachzucht iſt dabei nichts
weniger als leicht und erfordert Erfahrung und Urtheil. Die Kreuzung
darf auch nur mit Umſicht angewendet werden. Kreuzung von einander
weit abſtehender Raſſen eignet ſich nicht zur Erzielung einer beſtimmt
im voraus entworfenen Form, ſie führt zu Unregelmäßigkeiten, die vom
gefaßten Ziele weit wieder abſeits führen. Um ſo vortheilhafter iſt die
Kreuzung von wohl gearteten, einander nahe verwandten Raſſen.
143
Man hat viele Beiſpiele, daß ausgezeichnete Viehzüchter inner—
halb eines Menſchenalters von wichtigen Nutzthieren, z. B. vom Rind
und vom Schaf, zu beſtimmten Verwendungen und für beſtimmte
Gegenden auf dem Wege der Züchtung vorhandene Raſſen ſo ſehr
umgeſtaltet und veredelt haben, daß die hervorgebrachten Formen als
neue und werthvolle Raſſen daſtehen, die dann oft zu hohen Preiſen
abgeſetzt und weithin in andere Länder ausgeführt werden.
Jedes neue Jahr bringt in dieſer Hinſicht ein oder das andere,
ſei es nun ein zufällig gewonnenes und feſtgehaltenes oder mit Vor—
bedacht willkührlich herbeigeführtes Ergebniß und man muß ſagen, daß
das Auscinandergehen der Raſſen unter dem Einfluß des Menſchen
noch ununterbrochen bald bei der einen, bald bei der anderen Art
ſich kund gibt. Manche wenig bildſame Hausthiere dürften bald auch
in lebhafteren Angriff genommen und ihr ſtarres Naturell in eine
unſerem Haushalt vortheilhafte Bewegung geſetzt werden. So hat ſich
der aus Hindoſtan ſtammende, im öſtlichen und ſüdlichen Europa
ſchon im frühen Mittelalter eingeführte Büffel erſt ſehr wenig vom
wilden Zuſtande entfernt und noch keine eigenen Raſſen geliefert. In
anderen Fällen gilt es, aus einer Anzahl älterer Raſſen zu ganz be—
ſtimmten Zwecken eine neue zu Stande zu bringen. Aufgaben liegen
genug vor, dahin gehört z. B., um nur ein Beiſpiel zu nennen, die
Anforderung an die Stelle der in den letzten Jahrzehnten erloſchenen
Bernharder Hunderaſſe, welche in verſchneiten Gebirgen Verirrte ret—
ten hilft, eine neue zu züchten, die deren Verluſt zu erſetzen vermag.
Noch viel ausgedehnter iſt man bemüht, ausländiſche Thiere, z. B.
den jo ſehr werthvollen oſtindiſchen Yak oder Grunzochſen, das indiſche
Zebu oder den Buckelochſen u. ſ. w. bei uns einzubürgern, ein Vor—
gang, der nicht anders möglich iſt, als dadurch, daß das Naturell des
Thieres in eine Bewegung verſetzt wird, die zu Veränderungen führt.
Dieſe Aufgabe aber wird gelöſt werden, entweder durch einfache An—
paſſung oder, was noch tiefer eingreift, durch Auswahl neu erzeugter,
vorzugsweiſe den neuen Bedingungen angepaßter Variationen. Gelun—
gen ſind ſolche Acclimatiſirungen beim Büffel, den man im Laufe der
Jahrhunderte aus Oſtindien bis nach Italien und Ungarn
verflanzt hat und beim ſpaniſchen Merinoſchaf, welches nach Deutſch—
land verpflanzt, hier unter Kreuzung mit einheimiſchen Formen, eine
neue und noch edlere Raſſe geliefert hat.
Von den vielen Fällen gelungener Durchführung einer im voraus
144
bedachten Züchtung einer neuen, für feſtſtehende Lebensverhältniſſe
und abgegrenzte Leiſtungen beſtimmten Hausthierraſſe bleiben auf
Grund des perſönlichen Gewinnes die meiſten den Einzelheiten nach
für größere Kreiſe verborgen. Man erfährt nur das Ergebniß, die
beſonderen Mittel und Wege aber bewahrt der Züchter ſich ſelbſt.
In dieſer Hinſicht gewinnt die rückhaltloſe Mittheilung über die
ſyſtematiſche Heranbildung einer neuen Rinderraſſe von beſtimmt beab—
ſichtigten Eigenſchaften auf der Württembergiſchen Meierei Roſen—
ſtein, unweit Stuttgart, eine beſondere Wichtigkeit.
J. von Hügel und G. F. Schmidt berichten in ihrem
Werke „Die Geſtüte und Meiereien Sr. Maj. des Königs von Würt—
temberg“. (Stuttgart 1861) darüber folgendes. Die neue Raſſe oder
der weiße Roſenſteiner Rindvieh-Stamm wurde durch
Kreuzung mehrerer Stämme, namentlich des Holländer und des
Schwyzer Stammes, in ſechs bis ſieben Generationen und in einer
Zeit von fünfundzwanzig Jahren hervorgebracht. Dieſe Zeit genügte
bei ſorgfältiger Pflege und Auswahl, um den Stamm ſo heranzubil—
den, daß auf deſſen Fähigkeit ſeine werthvollen Eigenſchaften auf die
Nachkommen zu vererben, ſchon mit genügender Sicherheit zu rech—
nen war.
Man erhielt dadurch eine ſehr große, kräftige und zugleich an—
dauernd milchergiebige Raſſe von weißer Farbe, welche namentlich
die werthvollen Eigenſchaften des holländer Stammes, dabei aber
gefälligere Formen darbietet und größere Arbeitskraft beſitzt.
Nach der von Dr. Rütimeyer verſuchten Deutung der urſprüng—
lichen Abſtammung der Rinderraſſen würde das weiße Roſenſteiner
Rind wohl als Abkömmling von B. primigenius und B. brachyceros
zu nehmen ſein.
145
Drittes Kapitel.
Darwin's Lehre vom Kampf um's Daſein und der natür⸗
lichen Ausleſe.
Wenn ſchon Culturpflanzen und Hausthiere, deren beſondere Natur
wir gewiß am beſten kennen und deren Veränderungen unter dem Ein—
fluſſe beſtimmter Verhältniſſe wir am genaueſten zu verfolgen vermögen,
in vielen Fällen dunklen Urſprungs find und wir oft nur hypothetiſch
die dermalige Culturform auf Grund mehr oder minder vereinzelter
Zwiſchenſtufen mit ihrer weit abſtehenden Stammart in Verbindung
ſetzen können, ſo iſt es nicht auffallend, dieſelben Schwierigkeiten
bei der Beurtheilung des genealogiſchen Zuſammenhangs der wilden
Flora und Fauna und deren urweltlicher Vorläufer wieder und zwar
in noch weit höherem Grade anzutreffen.
Die wilde Pflanze und das wilde Thier liegen unſerer Beobach—
tung ferner. Wir wiſſen im Allgemeinen weniger von ihrer Lebens—
weiſe und verfolgen gewöhnlich ihre genauere Genealogie nicht, ſo daß
nur in ſeltneren Fällen einmal ein Beiſpiel einer auffallenden indivi—
duellen Variation oder einer ungewöhnlichen Vererbung zur Kennt—
niß gelangt.
Zugleich deuten geſchichtliche wie geologiſche Erfahrungen darauf
hin, daß wo Veränderungen an Arten der wilden Flora und Fauna
vorgekommen, ſie im Allgemeinen ſpärlicher und unbedeutender bleiben,
als die ſind, welche wir an unſeren Culturformen hervorrufen. Wir
ſind nach allem dieſem weit mehr auf Vergleichung ſehr entfernt liegen—
der Glieder der Stammesfolgen angewieſen und müſſen dabei faſt
immer das Bereich der geſchichtlichen Epoche überſchreiten. Ueberhaupt
wird das Feld nach Raum und Zeit größer und führt immer mehr
und mehr über die Grenzen einer unmittelbaren und genaueren wiſ—
ſenſchaftlichen Beobachtung hinaus. Wenn uns ſchou bei den Cultur—
formen die Verfolgung beſonderer Raſſen oder Arten durch verſchiedene
Länder und verſchiedene Jahrhunderte oder Jahrtauſende ſo manche
Schwierigkeit bot, ſo muß die bequeme Sicherheit der Straße noch
Rolle, Darwin's Lehre. 10
146
um jo mehr uns im Stiche laſſen, wenn wir die entlegenen Epochen
der urweltlichen Schöpfung, deren Ausdehnung nach Millionen von
Jahren ſich mißt, in das Bereich unſerer Forſchung zu ziehen genö—
thigt ſind. g
Aber auch hier pflanzt die Theorie mit ahnendem Blick ihr Panier
auf, vereinigt im Geiſte die getrennt vorliegenden Stufen der Genea—
logie der verſchiedenen Pflanzen- und Thierformen und forſcht nach
dem möglichen Zuſammenhang zwiſchen denſelben.
Darwin's Wege auf dieſem beſonderen Gebiete der Forſchung
ſind ihm ausſchließlich eigenthümlich. Er lehrt, daß die geometriſche
Zunahme der Individuenzahl bei Pflanzen und Thieren, ihr Kampf
um's Daſein und die daraus erfolgende natürliche Ausleſe es iſt, was
auf Grundlage der allen Organismen weſentlich zukommenden Erb—
lichkeit und Veränderlichkeit im Laufe der geologiſchen Epochen zum
Hervortreten neuer Varietäten, Arten, Gattungen, Familien, Ordnun⸗
gen und Klaſſen Anlaß gegeben hat.
Gehen wir nun auf dieſen weſentlichen Theil der Darwin'ſchen
Lehre näher ein.
Allen Pflanzen- und Thierarten wohnt das Beſtreben inne, ſich
in einer mehr oder minder raſchen geometriſchen Progreſſion zu ver—
mehren. Sie ſind fähig, unter ſonſt gleichen Umſtänden jede zu ihrem
Fortkommen geeignete Gegend in kürzerer oder längerer Zeit zu bevöl—
kern und vollkommen einzunehmen. Sie weichen darin nur dem Grade
nach von einander ab. Bei einer Art iſt die Uebervölkerung einer be—
ſtimmten Gegend raſcher möglich, bei anderen bedürfte es dazu einer
längeren Friſt; unter günſtigen Umſtänden aber könnte der Fall für
die einen wie für die andern Arten eintreten.
Die Verſchiedenheiten in dieſer Fähigkeit der Vermehrung ſind alſo
nur ſtufenweiſe und beſchränken ſich darauf, ob eine Pflanze oder ein
Thier jährlich nur wenige oder vielleicht hunderte und tauſende von
Samen und Eiern hervorbringt. Der Erfolg wird darnach nur je
nach der Zeitdauer des Vorganges etwas verſchieden ſein, von der dann
freilich auch die Wahrſcheinlichkeit eines Eintrittes bis zu einem ge—
wiſſen Grade abhängig ſein wird.
Bei vielen niederen Thieren, auch noch bei Fiſchen, iſt der
Fall häufig, daß ein einziger Wurf tauſende, ja hunderttauſende von
Eiern liefert.
Sehr groß iſt die Fruchtbarkeit bei vielen Nagethieren, nament—
147
lich den Mäuſen und Hatten, bei denen das Weibchen gewöhnlich
drei bis ſechsmal im Jahre und zwar mindeſtens je vier bis ſechs
Junge auf einmal wirft. Berechnet man die geometriſche Vermehrung
eines einzigen Mäuſepaares unter der Vorausſetzung, daß nichts der
fortſchreitenden Zunahme entgegenwirkt, ſo gelangt man zum Ergeb—
niß, daß ſchon nach wenig Jahren für die Nachkommenſchaft jenes
erſten Paares der 32 Raum der Erdoberfläche nicht mehr
ausreichen würde.
Zu den Thierarten, die ſich am langſamſten fortpflanzen, gehört
der Elephant. Er wird erſt im dreißigſten Jahre fruchtbar und bringt
von da an bis zum neunzigſten Lebensjahre nur drei Paar Junge
zur Welt. Legt man mit Darwin dies Verhältniß der Vermehrung zu
Grunde und nimmt an, daß nicht nur alle Jungen am Leben erhal—
ten bleiben, ſondern dieſelben ſich auch in gleicher Weiſe fortpflanzen,
ſo gelangt man zum Schluſſe, daß die Nachkommenſchaft eines einzi—
gen Elephantenpaares ſchon nach fünfhundert Jahren die gewaltige
Summe von fünfzehn Millionen Individuen betragen würde.
Vorübergehende Fälle von ähnlicher raſcher Individuenzunahme
einer oder der anderen Thierart werden in der That in der Natur
häufig beobachtet. Sie führen bisweilen zu Uebervölkerung, Hungers—
noth und großartigen Auswanderungen.
Die Verwilderung einiger Arten unſerer Hausthiere in verſchie—
denen ausgedehnten, wenig bevölkerten Theilen der Erde liefert merk—
würdige Beweiſe raſcher Vermehrung der Individuenzahl bei günſtigen
äußeren Umſtänden. Das Rind und das Pferd, beides Thiere, die ſich
verhältnißmäßig langſam vermehren, haben doch im Laufe dreier
Jahrhunderte in Südamerika ſo an Zahl zugenommen, daß die
Summen ſchon über die gewöhnlichen Zahlenbegriffe zu gehen beginnen.
So leben nach Humboldts Schätzung in den Pampas der
Laplata⸗Länder an drei Millionen Pferde, die alle von wenigen vor
etwa dreihundert Jahren eingeführten Thieren ſpaniſcher Raſſe her—
ſtammen. Das Rind hat ſich in derſelben Gegend in der gleichen Zeit
ſo vermehrt, daß davon eine Reihe von Jahren hindurch jährlich an
30,000 Felle in den Handel gebracht wurden, bis endlich in Folge der
ſtarken Nachſtellungen eine merkliche Abnahme der Zahl eintrat.
Dem Streben der Pflanzen und Thiere fortwährend an Zahl
überhand zu nehmen, wird nun aber durch eine ebenfalls fortwährend
10°
148
dauernde Vernichtung von Einzelweſen eine unüberwindliche Schranke
geſetzt. Ohne dies würde eine jede Pflanzen- und Thierart in kurzer
Friſt ſo überhand nehmen, daß bald kein Raum der Erde für ihren
Aufenthalt und ihre Nahrung noch ausreichen würde.
Die vernichtenden Einflüſſe betreffen zum Theil die ganze Lebens-
dauer der Individuen, zum Theil vorzugsweiſe den Jugendzuſtand
und die Eier oder den Samen. Andere Vernichtungen, z. B. durch
Seuchen oder durch geologiſche Begebenheiten, treten in beſtimmten
Gebieten ſeltener auf, ſie betreffen im Ganzen genommen nur eins
von vielen Gliedern einer Reihe von Generationen, bedrohen dann
aber gleichzeitig und nahe gleichmäßig alle Individuen einer Gene—
ration von einer oder mehrerer Arten und können ſo eine ganze Be—
völkerung zu gleicher Zeit an den Rand des Unterganges bringen.
Erſcheint durch irgend einen Anlaß eins dieſer Hinderniſſe der
Vermehrung theilweiſe oder ganz beſeitigt, ſo folgt eine raſche Ver—
mehrung der Individuen und dauert ſo lange fort, bis ſie am aber—
maligen Eintritt deſſelben oder eines anderweitigen Hinderniſſes wieder
eine Schranke findet, die zum früheren normalen Zuſtande wieder
zurückführt. Solche Vorgänge beobachten wir häufig, freilich oft ohne
nähere Einſicht in ihre Urſachen gewinnen zu können.
Zunahme wie Verminderung der Individuen einer Art hängen
oft von ſehr zuſammengeſetzten Verhältniſſen des Naturhaushaltes ab.
Es iſt oft ſchwer dieſen Zuſammenhang zu ermitteln oder auch nur
dauernd vor Augen zu behalten. In andern Fällen liegt die Art des
Vorgangs dagegen ziemlich offen vor.
Eine große Menge von Beiſpielen aus der Pflanzen- und der
Thierwelt thun dar, wie die Thiere theils von Pflanzen, theils von
anderen Thieren und andererſeits gewiſſe Pflanzen wieder von Thieren
abhängig ſind. Raubthiere ſind nach ihrer Ernährungsweiſe abhängig von
Pflanzenfreſſern, letztere aber ihrerſeits von der Vegetation. Aus dieſer
Wechſelwirkung ſtellt ſich dann allenthalben ein allgemeines Gleichge—
wicht der numeriſchen Verhältniſſe her, welches zwar mannigfach ge—
ſtört werden kann, aber in den nächſten Generationen ſich immer wieder
in derſelben oder je nach der Art des eingetretenen Zwiſchenfalls,
in einer etwas veränderten Weiſe herſtellt. Vermehren ſich Pflanzen—
freſſer in ungewöhnlichem Grade, ſo vermindern ſie die Vegetation der
Gegend in dem Maße, daß ſie dann ſelbſt Nahrungsnoth erleiden
und dadurch an Zahl wieder abnehmen. Oder wo die Vegetation ſo—
149
bald noch nicht erſchöpft ift, führt die Zunahme der Pflanzenfreſſer
auch zu einem allmähligen Anwachſen der Zahl der Raubthiere, die
dann wieder die allzu große Vermehrung der Pflanzenfreſſer be—
ſchränken.
Am auffallendſten ſind ſolche Vorgänge auf kleinen abgegrenzten
Gebieten, namentlich Inſeln, auf welche der Menſch neue Thierarten
verpflanzt.
Ein Beiſpiel davon gibt St. Helena. Die Inſel war im
ſechzehnten Jahrhundert noch mit Wald bedeckt. Die Europäer führ—
ten aber Ziege und Schwein dort ein, dieſe vermehrten ſich dann
bald in übermäßiger Weiſe, ſie weideten allmählig mehr und mehr
den jungen Nachwuchs der Bäume ab und nach zwei Jahrhunderten
war in Folge deſſen die Inſel ganz von Wald entblößt. Dieſe Ver—
heerung der Vegetation hatte dann natürlich wieder ihre Rückwirkung
auf die Thierwelt. Eine Anzahl von Thierarten nahmen raſch an
Individuenzahl ab, andere mögen auch ganz dadurch vertilgt worden
ſein. So findet man namentlich Reſte einer Anzahl von Landmollusken—
Arten in geringer Tiefe des Bodens der Inſel eingelagert, es ſind
die einzigen Ueberreſte von beſonderen nur hier beobachteten, heutzu
Tage erloſchenen Arten. Aller Wahrſcheinlichkeit nach iſt ihr Erlöſchen
eine Folge der Verheerung und Vernichtung der ehemaligen Waldun—
gen. Vergl. Ch. Darwin, naturwiſſenſchaftliche Reiſen. 2. Theil
(1844). S. 274.
Auf der Inſel Juan Fernandez im Chileſiſchen Meere
(34° S. Br.) waren von Seefahrern Ziegen ausgeſetzt worden und
hatten ſich raſch vermehrt. Die Spanier, um Flibuſtier und andere
Seefahrer zu hindern, hier zu jagen, ſetzten indeſſen ihrerſeits
Hunde zur Vertilgung der Ziegen aus. Der Erfolg war, daß die
Hunde die Ziegen jagten, raſch an Zahl zunahmen und die Ziegen
bald gänzlich vertilgten, nunmehr aber auch ſelbſt wieder an Zahl
raſch abnahmen.
Einen ähnlichen Vorgang beobachtet man häufig in unſeren Kiefern—
Waldungen beim Auftreten der fogenannten Nonne, Liparis monacha L.,
deren gefräßige Raupe dem Nadelholz ſehr ſchädlich wird. Hat dieſe
in einem Jahre einmal ungewöhnlich überhand genommen, ſo vermeh—
ren ſich auch die Schlupfwespen oder Ichneumonen, welche in die
Leiber der Raupen ihre Eier legen und deren Untergang dadurch be—
wirken. Allmählig hat ſich dann im Laufe einiger Jahre die Kiefern—
150
raupe durch ihre Gefräßigkeit ihr Nahrungsfeld verwüſtet; Nahrungs-
mangel, und Krankheiten ſowie Nachſtellung ihrer Feinde führen nun zu
ihrer faſt völligen Ausrottung. Alsdann kommt nachträglich die Reihe
an die Ichneumonen. Sie finden keine Raupen mehr zur Ablagerung
ihrer Eier und erleiden nun ihrerſeits auch wieder eine Verminderung
auf den gewöhnlichen Stand der Individuenzahl. Das normale Gleich—
gewicht tritt alſo ſchließlich immer wieder ein.
In Folge derartiger Wechſelwirkungen zwiſchen den Organismen,
die eine und dieſelbe Gegend bewohnen, findet allenthalben ein gewiſ—
ſes Gleichgewicht ſtatt oder ſtellt ſich doch nach eingetretenen Schwan—
kungen bald wieder her. Es zeigt ſich durchweg in der Natur, daß
trotz der Fähigkeit aller Arten ſich auf eine ungeheuere Anzahl von
Individuen zu vermehren und für ſich allein ihr Verbreitungsgebiet
zu übervölkern, doch die Individuenzahl einer Art innerhalb längerer
Zeiträume nur um kleine Beträge ſchwankt.
Die an ſich ſo ſehr ungleiche Vermehrungsfähigkeit der verſchie—
denen Arten wird in vielen Fällen durch eine dem entſprechende größere
oder geringere Sicherheit des Aufkommens der Nachkommenſchaft wieder
ziemlich ausgeglichen. Thiere, welche Eier oder Junge in großer Anzahl
zur Welt bringen, ſchützen ſie entweder gar nicht oder doch nur in
weit geringerem Grade, als ſolche, die nur ſpärliche Nachkommenſchaft
haben. Es kommen nur wenige von der großen Individuenzahl der
Eier oder der Jungen auf, ſie genügen aber zur Erhaltung der Art.
Thiere, welche wenige Eier oder Junge zur Welt bringen, ſchützen ſie
gewöhnlich längere Zeit und überlaſſen ſie erſt dann ſich ſelbſt, wenn
die Nachkommenſchaft im Stande iſt, ſelbſt ihre Nahrung zu finden
und ſich ſelbſt der Nachſtellungen von Feinden zu erwehren. Die
Schildkröte kann ohne Schutz ihrer Eier ſich forterhalten, denn es
bleiben, wenn auch die Mehrzahl derſelben ſchutzlos der Vernichtung
anheimfallen, doch immer einige übrig, welche die Art fortpflanzen.
Aber Pferde, Rinder, Elephanten u. ſ. w. welche die Jungen gleich
nach der Geburt ſich ſelbſt überließen, würden in kurzer Zeit aus der
Reihe der Lebendigen verſchwinden. — Die meiſten Säugethiere und
Vögel pflegen demgemäß ihre Jungen noch eine gewiſſe Zeit hindurch,
ſchützen ſie gegen ihre Feinde und bringen dadurch wieder ein, was
ſie durch Spärlichkeit der Fortpflanzung verſäumen. |
Bei dieſem Gleichgewicht der Vermehrungfähigkeit der Arten und
der Erhaltungsfähigkeit der Eier und Jungen iſt es möglich, daß ver—
151
ſchiedene Arten, von denen die einen ſehr wenig Eier oder Junge her—
vorbringen, die anderen aber deren viel mehr liefern, doch auf beſtimm—
tem Gebiete in der Menge der Individuen ſich nahe gleich bleiben
oder ſich in irgend einem anderen beſtimmten Zahlenverhältniß an—
dauernd die Wage halten.
Indem in dieſer Weiſe die zur Vermehrung und die zur Ver—
minderung einer jeden Pflanzen- und Thierart führenden Einflüſſe
ſich im Großen und auf längere Zeitdauer bei ſonſt gleich bleibenden
Bedingungen im Gleichgewichte erhalten und der geſammte Stand
innerhalb längerer Friſten immer weſentlich der gleiche bleibt, ſtellt
ſich ein innerhalb gewiſſer Grenzen feſter Naturhaushalt für
jedes einzelne Gebiet der Erdoberfläche heraus, in welchem jeder Art
von Pflanze und Thier eine Stelle zukommt, die ſie innerhalb engerer
oder weiterer Grenzen einhält oder einzuhalten genöthigt iſt.
In dieſer beſtimmten Stellung muß jedes Einzelweſen um Raum
und Nahrung, überhaupt um's Daſein kämpfen.
Das Leben der Pflanze iſt ein mehr oder minder augenfälliges
ununterbrochenes Ringen einestheils gegen die äußeren Verhältniſſe,
Klima, Näſſe, Trockenheit u. ſ. w., dann aber auch gegen andere
Pflanzen, welche den Raum beſetzt halten und ſich auszudehnen ſtreben
und gegen Thiere, die von Pflanzennahrung leben. Ein großer Theil
des erzeugten Samens fällt der Vernichtung anheim. Es gibt Pflan—
zen, die alljährlich hunderte und tauſende von Samen erzeugen, von
denen aber im Durchſchnitt vielleicht nur einer zur Entwickelung ge—
langt, und die Art fortpflanzt. Eine Menge von Thierarten ſtreben
zufolge ihrer Lebensweiſe nach Vernichtung gewiſſer Pflanzenarten.
Zahlloſe Vögel leben von Pflanzenſamen und tragen dadurch zur
Verminderung der Individuenzahl derſelben mächtig bei. Periodiſche
Eintritte ſehr geſteigerter klimatiſcher Erſcheinungen, z. B. von ſehr
kalter oder ſehr trockener Witterung wirken oft auf weite Strecken hin
der Vermehrung der Pflanzen vernichtend entgegen.
Ebenſo iſt das Leben des Thieres ein faſt ununterbrochener Kampf
gegen Klima, gegen mitbewerbende Individuen der gleichen Art und
gegen überlegene Feinde, ſeien es nun Raubthiere oder Paraſiten.
Pflanzenfreſſer leben gewöhnlich nur zu beſtimmten Zeiten in einem
Ueberfluſſe von Nahrung. Sobald die kalte Jahreszeit beginnt und
die Thätigkeit der Pflanze einſchlummert, tritt für ſie eine mehr
oder minder harte Zeit des Futtermangels ein. Ein ungewöhnlich
152
kalter Winter kann unter der Vogelbevölkerung und dem Wildſtande
eines beſtimmten Reviers eine weitgehende Verminderung hervorrufen.
Pflanzenfreſſer können auch durch eine gelegentliche Ueberhandnahme
ihrer Zahl ſo ſehr ihre Nahrungspflanzen vermindern, daß ſie als—
bald in Folge deſſen Mangel leiden. Fleiſchfreſſer ſtellen den Pflanzen⸗
freſſern nach. Ein großer Theil der munteren Sänger unſerer Wälder
und Fluren leben vorwiegend von Inſekten. Den Singvögeln und ihren
Eiern aber ſtellen wieder Raubvögel und andere Raubthiere, z. B. Katzen
und Marder nach. Dem Haſen und dem Reh drohen Füchſe und
Wölfe. Individuen derſelben Art ſind dabei gleichzeitig allenthalben
Mitbewerber, der Untergang des einen erleichtert mehr oder minder
das Fortkommen des andern.
Dieſes Verhältniß von Mitbewerbung jedes Lebeweſens mit
ſeinesgleichen und mit Individuen anderer Art, bei ſteter Vernich—
tung eines Theiles der Arten durch beſtimmte andere Organismen
oder durch phyſiſche Einflüſſe bezeichnet Darwin als Kampf um's
Daſein.
Die Wirklichkeit dieſes Vorganges iſt nicht zu beſtreiten. Es
iſt allzuaugenfällig, wie eine Menge von Arten dadurch, daß ſie mit
ihrer Ernährung auf andere angewieſen ſind, und noch andere Arten
durch ihr bisweilen raſches Zunehmen mehr oder minder die übrigen
Bewohner deſſelben Gebietes zu vermindern ſtreben. Indeſſen ſtellt
ſich dabei immer ſo raſch wieder ein gewiſſes Gleichgewicht heraus,
daß wir bei dem Vorgange der individuellen Vernichtungen in der
Regel keine weiteren Erfolge wahrnehmen und den Vorgang ſelbſt
ſogar im gewöhnlichen Leben ganz überſehen. Augenfälliger aber
wird der Vorgang, wo elementare Ereigniſſe das gewohnte Verhältniß
des Daſeins für ganze Floren und Faunen erſchütterten, alſo z. B.
nach großen Ueberſchwemmungen, harten Wintern, Waldbränden, ver-
heerenden Seuchen u. ſ. w. Am meiſten aber entbrennt der Kampf
unter unſeren Augen, wo der Menſch auf die Geſtaltung begrenzter
Verbreitungsgebiete ſeinen Einfluß ausdehnt, z. B. wo Mäuſe und
Ratten durch Schiffe ausgeſetzt werden und ſpäter der Seefahrer als
Erſatz des Schadens, den er unfreiwillig dem neuen Gebiete zugefügt,
auch die Katze noch nachführen muß. Hier hat man Veränderungen,
welche die allgemeinen Daſeinsbedingungen mächtig ſtören, ein heftiger
Kampf iſt die Folge des geſtörten Gleichgewichtes, und erſt nach einer
Reihe von Generationen hält Art der Art wieder die Wage.
153
In zahlreichen Fällen iſt aber der maßgebende Zuſammenhang
ein ſo zuſammengeſetzter und verſteckter, daß wir ihn zur Zeit erſt
unvollſtändig zu durchſchauen vermögen und über die Urſache zahl—
reicher Vorgänge daher mehr oder minder noch im Dunkeln bleiben.
Eine ſolche Kette von Erſcheinungen iſt nach Darwin folgende.
Hummeln begünſtigen durch den Beſuch der Blüthen die Fortpflan⸗
zung des rothen Klees, Feldmäuſe ſtellen den Neſtern der Hummeln
nach, Katzen und andere kleine Raubthiere aber verfolgen ihrerſeits
wieder die Mäuſe.
Nach Darwin iſt die fortwährende Vernichtung zahlloſer In—
dividuen von Pflanzen und Thieren keine regelloſe und allerwegs gleich—
mäßige, ſondern ſie bedroht die Individuen je nach ihrem individuellen
Character entweder mehr oder weniger nahe. Im Kampfe Aller gegen
Alle verdrängt auch bei einer und derſelben Art der ſtärkere oder der
gewandere den ſchwächeren und trägeren und zwar um ſo unvermeid—
licher, als nicht alle Samen und Eier, nicht alle Pflanzen und Thiere
die zum Leben gelangen, auch am Leben ſich zu erhalten vermögen.
Offenbar ſind nicht alle Individuen einer Art einander ganz gleich,
es gibt bei Pflanzen wie bei Thieren ſtärkere und ſchwächere Indivi—
duen, bei Thieren auch behendere und trägere. Endlich gibt es auch
plötzlich auftretende individuelle Variationen, welche vererbt werden
können und unter gewiſſen Verhältniſſen nothwendig zur Erzeugung
neuer Varietäten-Stämme einer Art führen müſſen, die günſtiger ge—
ſtellt ſind.
Alles dies kommt beim Kampf ums Daſein in Betracht und be—
wirkt, daß die fortwährende Vernichtung der Individuen nicht alle
gleichmäßig bedroht. Das eine überlebt die Gefahr leichter als das
andere. 6
Darwin unterſcheidet demnach in Bezug auf die Wirkung, welche
die fortwährende maſſenhafte Vernichtung auf die Individuen einer
und derſelben Art ausübt, drei verſchiedene Fähigkeitsabſtufungen von
individueller Variation, eine für die Erhaltung der Art nützliche, eine
gleichgültige und eine ſchädliche.
Von weſentlichem Einfluß auf das Beſtehen des Kampfes und
in zweiter Linie auf die fortlaufende Umgeſtaltung der organiſchen
Form ſind davon die nützlichen Variationen, denn die ſchädlichen wer—
den raſch wieder ſich verlieren, die gleichgültigen aber ohne Einfluß
auf die organiſche Formenbewegung bleiben.
154
Eine jede individuelle Abänderung, ſobald fie nur einigermaßen
für die Individuen der Art von Vortheil iſt, muß im allgemeinen
Wettkampfe um Raum, Nahrung und Forterhaltung entſprechend günſtig
mitwirken. Sie muß dieſelben in den manigfachen Beziehungen zur
äußeren Natur und zu anderen Organismen ſchützend und erhaltend
begünſtigen.
Indem alſo nicht alle Individuen einer Art beim Kampf ums
Daſein gleich günſtig geſtellt ſind, ſondern die einen leichter erliegen,
die andern mehr Ausſicht zur Erhaltung haben, findet unter den In—
dividuen eine beſtändige Ausleſe oder Ausmuſterung ſtatt. Die
günſtiger geſtellten überleben die minder bevorzugten.
Der Lauf der natürlichen Dinge führt alſo zu einer ähnlichen
Sichtung, wie die, welche der Menſch ſeit Jahrtauſenden an den
Culturpflanzen und Hausthieren theils unbewußt, theils mit klarer
Abſicht ausgeführt hat. Wir ſind darum auch zum Verſuche berechtigt,
die bei der Beobachtung der letzteren gewonnenen Erfahrungen über all—
mählige Aenderungen der Form auch auf die in freiem Zuſtande leben—
den Pflanzen und Thiere anzuwenden. Es iſt zwar von verſchiedenen
Naturforſchern behauptet worden, daß man von Beobachtungen an
cultivirten Pflanzen und an eingeſperrten und gezüchteten Thieren nicht
auf die wildlebenden Arten zurückſchließen dürfe. Bei richtiger Abwä—
gung des Betrags der Einflüſſe, welche der Meuſch auf Culturpflanzen
und Hausthiere ausübt, iſt ein ſolches Vorgehen aber durchaus berechtigt.
Der Menſch kann auf Pflanzen und Thiere keine Einflüſſe ausüben,
welche nicht auch im Laufe der natürlichen Dinge unabhängig vom
Menſchen denſelben Erfolg äußern würden. Der Unterſchied liegt nicht
im Weſen, ſondern nur im Grade der zur Anwendung gebrachten Ein—
flüſſe und in der mehr oder minder vollkommenen Abhaltung anderer,
welche beim freien Vorgange nicht abgehalten worden wären. Der
Verlauf der Natur kann daher zu ähnlichen Veränderungen der orga—
niſchen Form führen, wie die, welche der Menſch erzielt hat und
noch fortwährend erzielt. Nur werden die Ergebniſſe, weil der Grad
und die Dauer der Einflüſſe verſchieden ſind, auch mehr oder
minder von anderem Grade und anderer Richtung ſein. Der Menſch
züchtet Pflanze und Thier zu ſeinem Vortheil, nicht um der Pflanze
und des Thiers ſelbſt willen. Die Vorgänge der freien Natur führen
allerdings in einzelnen Fällen zu Veränderungen, die der Pflanze und
dem Thier theils nützlich, theils gleichgültig, theils ſchädlich ſind, aber
155
nur jene können zu einer allgemeinen Umgeſtaltung der ſpäteren Ge—
nerationen führen, die für die Pflanze und das Thier ſelbſt nütz—
lich ſind.
Wenn demnach in einem beſtimmten Gebiete eine Vergeſellſchaf—
tung von Pflanzen- und Thierarten eine ſehr lange Reihe von Ge—
nerationen hindurch beſtanden hat, ſo werden zufolge der Veränder—
lichkeit der organiſchen Form und des Ringens um die Exiſtenz Aen—
derungen mehr oder minder auffallender Art in dem Sinne einge—
treten ſein, welche dem Vortheile der Individuen der betreffenden Flora
und Fauna des gegebenen Gebiets entſpricht.
In der Dauer, der Ausdehnung und Tiefe des Vorgangs aber
wird es dabei je nach der Natur von Flora und Fauna, ſowie nach
der Beſchaffenheit des Verbreitungsgebiets und der Gleichförmigkeit oder
Abwechslung der äußeren Einflüſſe die manigfachſten Abſtufungen geben.
Natürliche Ausleſe.
Natürliche Ausleſe, natural selection, nennt Darwin
die im Verlaufe des die Pflanzen- und Thierwelt ſtetig betreffenden
Vernichtungsvorganges ſtattfindende Bevorzugung der am beſten für das
Beſtehen des Kampfes geeigneten individuellen Abänderungen einer
jeden Pflanzen- und Thierart.
Bei dem innigen und oft für unſere Wahrnehmungsgabe kaum
zu erfaſſenden Wechſelverhältniß der Organismen zu einander, muß
jede die Fähigkeit einer Lebensform vortheilhaft erhöhende Abweichung
vom elterlichen Typus einen günſtigen Ausſchlag geben und für die
betreffende Form erhaltend wirken.
Eine Variation, welche an Fähigkeit hinter den übrigen Indivi—
duen zurückſteht, wird von der Vernichtung mehr betroffen, als die
andere. Sie geht entweder gleich ſchon mit dem erſten Individuum
unter oder breitet ſich doch nur gering aus und wird ſchließlich wieder
zum Erlöſchen gebracht.
Iſt dagegen eine Variation vor den übrigen Individuen durch
einen oder den anderen vortheilhaften Characterzug ausgezeichnet, iſt
ſie mit größerer Widerſtandsfähigkeit gegen Klima, Mitbewerber und
Feinde ausgerüſtet, oder zur Gewinnung ihrer Nahrung beſſer geeig—
net, ſo hat ſie um ſo größere Ausſicht, ſich gegenüber den Gefahren,
die ihr mannigfach drohen, am Leben zu erhalten und weiter fortzu—
156
pflanzen. Viele Samen werden von der Pflanze, viele Eier oder
Junge vom Thiere hervorgebracht, aber nur wenige von den Samen
und Eiern gelangen zur Entwickelung und gewöhnlich kommen auch
von den heranreifenden Individuen wieder nur wenige zur vollen
Reife und dem natürlichen Lebensende. Diejenigen aber, welche über—
leben, werden vorzugsweiſe ſolche ſein, welche vermöge günſtiger Ge—
ſtaltung ihrer individuellen Charactere am beſten den Anforderungen
entſprechen, welche die ihrer Art im Naturhaushalte zukommende Stel—
lung bedingt. Je mehr die Pflanze, deren Laub und Zweige oder deren
Rinde das Schaf oder Rind oder Wild abweidet, den Verluſt zu erſetzen
vermag, je mehr ſie nach einem Uebermaß von Froſt oder Trocken—
heit ſich wieder zu erholen vermag, je behender der Grasfreſſer dem
Raubthier entfliehen oder je beſſer er ſeine Ruheſtätte zu ſichern ver—
mag, um ſo mehr hat ein jedes in ſolcher Hinſicht günſtiger geartetes
Individuum Ausſicht, die zahlloſe Menge der gleichzeitigen Individuen
ſeiner Art zu überleben.
Es iſt nun aber eine naheliegende Folgerung, daß wenn einmal
eine in ſolcher Weiſe bevorzugte Variation einer Pflanzen- oder Thier-
form hervorgetreten und zur Fortpflanzung gelangt iſt, ſie auch mit
jeder nächſten Geſchlechtsfolge in ihren Vertretern mehr und mehr die
übrigen Individuen überleben wird. Die für ſie auszeichnenden Züge
vererben ſich und befeſtigen ſich, ſie ſteigern ſich wohl auch noch, ſo—
bald einmal eine Paarung gleich begünſtigter Individuen eingetreten
iſt. Mit der Zeit wird dann die Ausſicht zur Fortdauer der zuerſt
bei einem oder wenigen Individuen eingetretenen Bevorzugung immer
günſtiger. Inzucht wird leichter möglich, Kreuzung mit ungünſtiger
geſtellten Individuen um fo unwahrſcheinlicher. Die bevorzugte Varia—
tion gelangt allmählig zur Vorherrſchaft und bleibt zuletzt alleiniger
Herr des Gebiets.
Alle derartigen Vorgänge können nur äußerſt allmählige ſein, ſie
ſind für unſere unmittelbare Wahrnehmung ebenſo unmerklich oder
ſelbſt noch unmerklicher, als die Vorgänge bei der Züchtung ſo vieler
Sorten von Culturpflanzen und Raſſen von Hausthieren es waren.
Weun wir unter letzteren bei Vergleichung der Endglieder von Ge—
nerationsfolgen oft nur nach Verlauf von Jahrhunderten oder Jahr-
tauſenden einen beſtimmten Grad vorgefallener Veränderung erkennen,
ſo iſt begreiflich, daß der Nachweis eines durchgreifenden Erfolgs
natürlicher Ausleſe bei wilden Pflanzen und wilden Thieren eine Ver—
157
gleichung noch weiter von einander abſtehender Glieder der Stammes—
folgen erfordert. Wir wiſſen von manchen Hausthierraſſen, daß ſie
ſchon in den älteſten uns zugänglichen Epochen der Geſchichte in jener
Form entwickelt waren, die ſie noch heute zeigen. Man hat dies längſt
ſchon aus Steinbildern und aus Mumien der ägyptiſchen Grabdenk—
mäler erſchloſſen. Aber bei wilden Pflanzen und Thieren müſſen wir
gewöhnlich über die geſchichtliche Epoche hinaus in das Gebiet der
Geologie zurückgehen. Alpenpflanzen und Alpenthiere erheiſchen eine
Vergleichung der Flora und Fauna der Glacialepoche mit der des
heutigen Tages, und Meeresfaunen erfordern gewöhnlich noch ausge—
dehntere Termine. Mit dieſer Ausdehnung des Feldes der Beobach—
tung natürlicher Vorgänge über geologiſche Zeiten wächſt aber auch
die Schwierigkeit der entſcheidenden Feſtſtellung, denn die Geologie
liefert gewöhnlich nur Einzelheiten, die an ſich ſelbſt Zweifel geſtatten
und erſt nach Einbeziehung der Statiſtik ſich der Sicherheit mehr oder
minder nähern und die man alſo nur mit großer Umſicht und nach
manigfacher Prüfung als Rechnungselemente verwerthen darf.
In dieſer Hinſicht kommt dann namentlich der Bewahrheitung
oft genug die Erſcheinung zu Hülfe, daß man gewiſſe Reihenfolgen
einzelner Thatſachen, welche die Theorie in urſächlichen Zuſammen—
hang zu bringen Anlaß hat, zur Zeit zwar noch nicht nach ein an—
der in der von der Theorie geforderten Gliederung nachweiſen kann,
dieſſelben aber auf anderem Felde ſehr wohl ausgeſprochen neben
einander geordnet antrifft.
So wiederholt in zahlreichen Fällen die chronologiſche Aufeinan—
derfolge der Organismen in den verſchiedenen Schöpfungsepochen ganz
ähnliche Formenreihen, wie ſie längſt ſchon die vom niederen zum
höheren anſteigenden Naturſyſteme der Botaniker und Geologen dar—
geboten hatten. In anderen Fällen hat die Paläontologie nach ihrem
jetzigen Stande die erforderliche Aufeinanderfolge gewiſſer Einzelformen
zur Zeit zwar noch nicht zum Vorſchein gebracht, aber die lebende
Welt zeigt uns einſtweilen ähnliche Folgen neben einander gereiht.
In noch anderen Fällen wiederholt auch zugleich noch die Ent—
wicklungsgeſchichte eines Lebeweſens ähnliche Reihenfolgen, wie ſie das
Syſtem der lebenden und die Chronologie der urweltlichen Formen
gewahren laſſen.
Es ſind das Momente, welche in hohem Grade der Transmuta—
tionslehre entgegenkommen und nicht wohl zu anderen Anſchauungen
158
paſſen, aber es ift bei der Abgelegenheit der urweltlichen Vorgänge
und der Vereinzelung der von ihnen auf uns verbliebenen Spuren oft
ſchwer, ſie als eigentlich entſcheidende Beweiſe zu verwerthen. Der
Schwerpunkt muß für die Beweisführung, wenn irgend möglich, auch
hier wieder innerhalb des Bereichs der lebenden Welt geſucht werden.
Wenn die Veränderungen, welche der Kampf um's Daſein auf
Grund der größeren Erhaltungsfähigkeit bevorzugter Variationen her—
vorruft, in der Pflanzen- und Thierwelt nur ſo groß ſind, daß ihre
Erfolge gewöhnlich nur nach geologiſchen Zeitabſtänden hervortreten,
ſo muß es natürlich eine ſchwere Aufgabe ſein, die Wirklichkeit des
Vorgangs für jo kurze Abſtände, als unſere unmittelbare naturwiſſen—
ſchaftliche Beobachtung umfaßt, mit entſcheidenden Thatſachen darzu—
thun. Es wird dies aber noch um ſo ſchwerer, als die bisherige
Naturwiſſenſchaft, indem die Mehrzahl ihrer Vertreter mehr oder
minder von Linne' ſchen und Cuvier' ſchen Vorausſetzungen befangen
war, wenig auf ſolche allmähligen Vorgänge geachtet hat, und nicht
leicht jemand, wo er wirklich einen derartigen Vorgang beobachtete, ihn
weiter zu verfolgen oder experimentell zu erläutern Anlaß fand. Eine
größere Thätigkeit auf dieſem Felde iſt erſt noch zu erwarten.
Darwin hat indeſſen doch auch dieſer neuen Aufgabe Genüge
zu leiſten verſucht. Er geht hierbei zunächſt wieder auf Culturpflanzen
und Hausthiere zurück, da bei dieſen die Bewegungen der organiſchen
Form nicht nur am raſcheſten zu erfolgen pflegen, ſondern auch im
Ganzen leichter zu beobachten ſind, jedenfalls aber bisher mehr und
genauer beobachtet wurden. Darwin ſtellt die Anſicht auf, daß bei
allen unſern Culturpflanzen und Hausthieren die Varietäten über—
haupt an Körperverfaſſung, Stärke, Fruchtbarkeit, Gewohnheiten u. ſ. w.
ſoweit unter einander abweichen, daß ſie an einem und demſelben Orte
unter gleichen Umſtänden zuſammen aufgezogen ſich nach verſchiedenen
Zahlenverhältniſſen vermehren würden. Ganz ſo als hätte der Menſch
zum Behufe irgend eines Zwecks geringere Sorten allmählig ausge—
leſen und nur bevorzugtere zur Nachzucht erhalten, würden bei einer
ſolchen Vergeſellſchaftung verſchiedener Varietäten gleicher Arten von
Culturpflanzen oder von Hausthieren die urſprünglichen Zahlenver—
hältniſſe nach einer Reihe von Generationen anders werden, die ſtärkeren
und geeigneteren Sorten würden die minder geeigneten ſchwächeren
allmählig überholen und zuletzt ganz überwinden.
Darwin gibt als derartige experimentelle Beweiſe für die Wirk—
159
lichkeit eines Kampfes um's Daſein und einer natürlichen Ausleſe bei
verſchiedenen Varietäten einer und derſelben Art von Culturpflan zen
folgende zwei Fälle. Sät man verſchiedene Varietäten von Waizen
durcheinander aus, ſo werden die entweder dem Klima und Boden
am beſten entſprechenden, oder an ſich kräftigſten und fruchtbarſten
Varietäten die übrigen im Kampf um Raum und Nahrung über—
flügeln. Sie werden mehr Samenkörner liefern. Bei mehrmaliger
Wiederholung der Ausſaat einer jeden erhaltenen Erndte wird auf
dieſem Wege eine Varietät die andere nach einigen Jahren ſchon ganz
verdrängt haben. In einem ähnlichen Verhältniſſe von Unverträg—
lichkeit ſtehen manche ungleiche Varietäten von Zuckererbſen. Sät
man die Samen zweier ſolcher Varietäten auf einem begrenzten Raume
mit einander aus, ſo ſtellt ſich ein ebenſolcher ungleicher Verlauf des
Gedeihens und der Vermehrung heraus. Wiederholt man dies von
Jahr zu Jahr nach dem ganzen Samenertrag, ſo wird der Abſtand
immer auffallender. Von Jahr zu Jahr gehen die ſchwächeren Sorten
unter der Mitbewerbung der ſtärkeren zurück und werden zuletzt ganz
ausgehen.
Auch aus der Hausthierwelt bringt Darwin zwei Beiſpiele zur
Erhärtung ſeiner Annahmen. Gewiſſe Gebirgsvarietäten des Schafes
können auf einem und demſelben begrenzten Gebiete nicht mit anderen
zuſammen erhalten werden. Eine Raſſe erhält ſich, die andere ſtirbt
aus. Verſchiedene Varietäten des mediciniſchen Blutegels können eben—
falls nicht neben einander gezüchtet werden.
Ein anderer Beweis für die Wirklichkeit einer natürlichen Ausleſe
im Thierreiche ſcheint in der unter gewiſſen Umſtänden ausgeſprochenen
Häufigkeit ſympathiſcher Färbungen zu liegen. Blätterfreſſende
Inſecten ſind häufig grün, z. B. gewiſſe Schildkäfer (Cassida),
manche Heuſchrecken und Raupen. Rindenfreſſende Inſecten ſind ge—
wöhnlich grau oder grau und bräunlich gefleckt. Käfer, die in ſan—
digem Boden leben ſind häufig grau. Die Thiere, welche Sand—
wüſten oder Steppen bewohnen, ſind meiſtens gelbbraun oder gelb—
grau, wie der Schakal, die Gazelle, die Haſen und Springmäuſe
der Sahara. Die meiſten Polarbewohner ſind entweder immer
oder doch den Winter über weiß, während ſie theilweiſe Sommers
oder gegen ihre ſüdlichen Verbreitungsgrenzen hin häufiger dunkel oder
bunt erſcheinen. So ift der Eisbär immer weiß. Der Polaxrfuchs
und der Schneehaſe ſind an der ſüdlichen Grenze ihres Verbreitungs—
160
gebietes in den Sommermonaten braun und grau gefärbt, Winters
aber werden ſie vollkommen weiß und im höchſten Norden, wo der
Winter am meiſten die Oberhand gewinnt, bleiben ſie das ganze Jahr
über weiß. Auch manche Alpenbewohner, z. B. das Alßpenſchnee⸗
huhn, ſind Winters weiß.
Es iſt nun aber außer Zweifel, daß die mit der herrſchenden
des Aufenthalts übereinſtimmende Färbung den Thieren nützlich iſt,
und ſie in merklichem Grade vor der Nachſtellung ihrer Feinde ſchützt.
Jene auf grünen Blättern lebenden grünen Inſecten und jene auf
grauen Baumrinden verbreiteten grauen haben längſt ihre andersge—
färbten Mitbewerber im Kampfe gegen ihre mannigfachen Feinde über—
lebt. Der Vortheil, den ſie in Bezug auf den geringeren Grad der
Verfolgung vor ihnen voraus haben, hat ſich von ihren Vorfahren
auf ſie übertragen und iſt durch andauernde Vererbung zum Art—
character geworden. So leidet das Schneehuhn unter der Nachſtel—
lung der großen Raubvögel, welche ihre Beute aus weiter Ferne
mit dem Auge entdecken. Es iſt aber auf Schneeflächen durch ſeine
weiße Farbe vor ihnen in hohem Grade geſchützt. Es iſt kein Zweifel,
daß die natürliche Ausleſe es war, welche beim Schneehuhn die weiße
Farbe zur herrſchenden werden ließ und ſie fortwährend bei ihm noch
erhält. Jede durch individuelle Variation jetzt auftauchende dunklere
Färbung der Art würde die damit zu ihrem Nachtheile ausgeſtatteten
Individuen der größeren Gefahr der Vernichtung durch Raubvögel
ausſetzen. Am vortheilhafteſten geſtellt aber ſind Polarthiere, die
Winters weiß, Sommers dagegen braun oder grau gefärbt find. !“)
Auch beim Eisbär iſt die weiße Farbe eine Wirkung der Ausleſe.
Sie begünſtigt ihn beim Erbeuten ſeiner Nahrung. Würde jetzt ein
Individuum oder eine Familie des Eisbären dunkler werden, ſo hätte
ſie im Vergleiche mit den weißen Individuen große Ausſicht Hungers
zu ſterben.
In gemäßigten und wärmeren Ländern aber iſt die weiße Farbe
im Ganzen ſelten. Sie wird hier nicht von der Ausleſe begünſtigt,
ſondern muß ihren Grund bei Bewohnern ſolcher Erdtheile in anderen
1) Nach Weinland beſteht der Vortheil für das Thier zugleich noch in
einer Fettaufſaugung, ſowie in der geringeren Wärmeleitungsfähigkeit des
weißen Kleides. Vergl. Weinland im Journal für Ornithologie. IV. Jahrg.
No. 20. März 1856.
161
Urſachen haben. Sie wirkt hier aber auch offenbar in Bezug auf
Erhaltungsfähigkeit in vielen Fällen nachtheilig. So ſagt Darwin,
man hält in manchen Gegenden von Europa nicht gerne weiße Tauben,
weil dieſe der Entdeckung und Tödtung durch Raubvögel mehr als an—
ders gefärbte ausgeſetzt ſind. Wenn ſolche Vorgänge bei Hausthieren
ſtatt haben, muß ihre Möglichkeit doch ganz gewiß auch für wilde
Thiere zugeſtanden werden. Von dem Vorgange, deſſen erſten Beginn
wir bei der Taube ſehen, erkennen wir den letzten Erfolg bei zahl-
reichen anderen wilden Formen.
Züchtung neuer Pflanzen- und Thierformen auf dem Wege
der natürlichen Ausleſe.
Die Ausmuſterung minder widerſtandsfähiger Individuen, welche
bei dem Kampfe, den Pflanzen und Thiere fortwährend um ihr Da—
ſein zu beſtehen haben, ſtatthat und die widerſtandsfähigeren vorzugs—
weiſe am Leben erhält, muß, wie Darwin lehrt, einen ganz ähn—
lichen Erfolg haben, wie jene abſichtliche Auswahl der Indivi—
duen, die der Menſch bei der künſtlichen Züchtung von neuen
Formen von jeher getroffen hat, nämlich eine Ausbildung neuer
Varietäten und Arten.
Die durch die beſondere Natur ihrer Abweichung von der elter—
lichen Form begünſtigten Individuen werden im einen Falle vom
Menſchen abſichtlich auserwählt und zur ausſchließlichen Nachzucht ver—
wendet. Im andern Falle bleiben ſie in Folge des früheren Unter—
gangs minder begünſtigter Individuen in bezugsweiſe größrer Zahl
übrig und gewinnen dadurch eine entſprechend größere Ausſicht, auf
dem Wege der Inzucht ihre individuellen Charactere zunächſt vor—
herrſchend und weiterhin ausſchließlich zu vererben, ſo daß dieſe dann
zuletzt durch den befeſtigenden Einfluß der Vererbung als Varietäten—
oder Arten-Charactere erſcheinen.
Der Erfolg iſt im einen wie im andern Falle in erſter Linie
ein Auseinandergehen der Art in eine größere oder geringere Anzahl
von Raſſen. Dieſe können dann, wo die Umſtände dem günſtig ſind,
unter Vererbung der erlangten Charactere und Steigerung derſelben
oder Entwicklung anderer Abweichungen, zu beſonderen Arten werden
oder ſie können auch, wo die Umſtände dem nicht entſprechen, theil—
weiſe oder alle wieder untergehen.
Rolle, Darwin's Lehre. al
162
Wir gelangen auf dieſem Wege zur Annahme, daß überhaupt
eine jede Pflanzen- und Thierart im Laufe der Zeit und je nach der
Natur der auf ſie wirkenden Einflüße ſowohl ſich verändern und ſich
in eine andere umwandeln als auch neue Formen in verſchiedener
Zahl aus ſich entwickeln könne.
Dieſe Annahme wird bis zur Grenze des gewöhnlichen Varietäten—
Spielraums auch von den Gegnern zugelaſſen, aber nach Darwin
überſchreitet der Vorgang allmählig dieſe Grenze. Er iſt nach ihm
unbegrenzt, er kann ſowohl zur Erzeugung neuer Varietäten, als auch
neuer Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w. führen. Die Entſtehung
ſo weiter Abſtände, wie in den Begriffen Familie, Ordnung und Klaſſe
liegt, begründet ſich dabei durch das Erlöſchen der verbindenden Mittel-
glieder. Wenn kein Erlöſchen von Formen ſtattgefunden hätte, würden
unſere Syſteme der Pflanzen- und der Thierwelt nur eine einzige
fortlaufende Formenreihe von der niederſten Alge bis zur höchſten
Dicotyledone und vom Iufuſorium bis zum höchſten Wirbelthier dar-
ſtellen. Die Paläontologie arbeitet darauf hin, dieſe zuſammenhängende
Formenreihe wenigſtens dem allgemeinen Bilde und der größtmöglichen
Zahl der einzelnen Stufen nach neu wieder ins Leben zu rufen. E8
kann ihr nie vollſtändig gelingen, aber ſie muß mit jedem Tage und
jeder Woche ihm näher rücken und ein jeder Blick auf das Anwachſen
der Foſſilverzeichniſſe thut dar, wie ſehr dies wirklich der Fall iſt.
Das ſind nun allerdings tief in die naturwiſſenſchaftliche Ge—
ſammtanſchauung eingreifende Theſen und es iſt nicht zu verwundern,
wenn ſich von der Schule der rein und ausſchließlich exacten Forſchung
ein heftiger Widerſpruch dagegen erhoben hat und noch lange auch
eine Reihe von Einwänden erhoben werden wird.
Sehen wir nun, wie ſich dieſe Annahmen und Folgerungen wei—
terhin in ihrer Anwendung auf das Syſtem der heutigen Pflanzen—
und Thierwelt durchführen laſſen.
Fortſchreitendes Auseinandergehen der Formen.
Es iſt von jeher den Forſchern in die Augen gefallen, daß es
ſowohl im Pflanzen- als im Thierreich manigfache Stufenfolgen
verwandter Formen gibt, welche von einer nach Bau und Ver—
richtungen unvollkommenen Stufe zu einer vollkommneren
führen. So zerfallen die Pflanzen in Zellen- und in Gefäßpflanzen
163
und es iſt offenbar, daß erſtere eine niedrigere, letztere eine höhere
Stufe der Ausbildung behaupten. Die Ordnungen im Pflanzenreich
bilden ebenfalls wieder Stufenfolgen, den Algen folgen Flechten, Pilze,
Mooſe, Farnen, Lycopodien, Coniferen, Cycadeen, Monocotyledonen,
Dicotyledonen. In vielen Ordnungen beobachtet man wieder engere
Stufenfolgen, ſo z. B. bei den Algen und bei den Pilzen, die von
einer faſt gleichen, nieder organiſirten Grundform aus nach verſchiede—
ner Richtung zur höheren Ausbildung anſteigen.
Im Thierreiche folgen ſich Infuſorien, Schwämme, Polypen,
Quallen, Echinodermen, Mollusken, Gliederthiere, Wirbelthiere. Manig—
fache engere Stufenfolgen bieten ſich dabei wieder in den größeren
Abtheilungen. So bilden Fiſche, Reptilien und Säugethiere eine ſehr
in die Augen fallende N
Dieſes häufige und unbeſtreitbare Auftreten ausgezeichneter Stu—
fenfolgen unter den Formen der Lebewelt hat lange ſchon einzelnen
Forſchern zur Vermuthung Anlaß gegeben, daß eine ſolche Gliederung
der Pflanzen- und Thier-Geſtalten keine zufällige und bedeutungs—
loſe iſt, ſondern daß derſelben ein gemeinſamer innerer Zufan-
menhang unterliegt, der nun aber nach rein wiſſenſchaftlichem Schluſſe
kein anderer ſein kann, als der der gemeinſamen Abſtammung.
Dies lehrt auch Darwin und zwar ſucht er zu erweiſen, daß
der Entwicklung der manigfachen verwandten, bald mehr einzeln ſtehen—
den, bald zu Stufenfolgen geordneten Formen der heutigen Lebewelt
die natürliche Ausleſe zu Grunde liegt.
Die älteſten Organismen waren darnach in Bau und Verrich—
tungen von ſehr niederer Entwickelung, ihre Nachkommenſchaft änderte
aber manigfach ab, ein Theil der Formen vervollkommneten ſich und
ging zu jenen manigfachen Formen auseinander, welche die lebende
Schöpfung des heutigen Tages darſtellen. Andere Formen erhielten
ſich neben ihnen auf nahe gleicher Organiſationshöhe von Anfang an
bis zur heutigen Zeit.
Nach Darwin hat das Auseinandergehen der organiſchen For—
men durch den Einfluß der Vererbung günſtiger individueller Abwei—
chungen und der natürlichen Ausleſe keine feſten Grenzen, ſondern es
kann und muß ſich im Laufe einer hinreichend langen Reihe von
Generationen aus einer Form allmählig eine manigfaltige Reihe der
verſchiedenſten Formen entwickeln. Der erſte Anfang liegt im Hervor—
treten einer dem Individuum günſtigen von Anfang an nur individuell
1
164
vorhandenen Abweichung vom elterlichen Typus. Jede im Kampf
gegen die äußeren Umſtände irgendwie nützliche Abänderung hat aber
Ausſicht erhalten zu bleiben. Sie vererbt ſich dann und wird der
Ausgangspunkt zur Heranbildung einer neuen Varietät. Hat ſich eine
ſolche aber einmal durch eine lange Reihe von Generationen forter—
halten, ſo kann ſie, wie wir an gewiſſen Hausthierraſſen ſehen, dem
Character einer Art nahekommen und es iſt der Schluß nahe gelegt,
daß bei Verlauf noch längerer Zeiträume, als der unſerer geſchicht—
lichen Zeiten, eine Varietät auch wirklich zu einer Art werden wird.
Die Nachkommenſchaft eines einzelnen Individuums oder eines
Paares zerſpaltet ſich alſo im Laufe der Zeit erſt in Varietäten und
dann in Arten. Nicht alle Varietäten werden zu Arten, viele ver—
lieren ſich wieder durch Kreuzung mit andern oder erlöſchen in Folge
der Ausmuſterung. Auch nicht alle Arten erhalten ſich, viele erlöſchen
wieder ohne neuen Formen das Leben zu geben. Das Erlöſchen einzel—
ner Formen aber muß das Auseinandergehen der weiteren Nachkom—
menſchaft zu ſchärferem Ausdruck bringen. Die Mittelglieder ſind
verſchwunden und es bleiben nun nur noch vereinzelte Formen übrig,
die den Anſchein ſelbſtändiger Entſtehung darbieten. Die Zahl der
erlöſchenden und die der fortlebenden Zweige deſſelben Stammes iſt
nicht immer gleich. Wo erſt wenig Glieder erloſchen ſind, bietet ſich
uns das Bild einer Gruppe von Formen, die nahe Verwandtſchaft bieten,
aber doch ganz ſelbſtändig daſtehen. Wir ſehen dann artenreiche Gat—
tungen und gattungenreiche Familien. Sind aber die Mehrzahl der
Glieder erloſchen, ſo gewinnt die Lücke in unſeren Augen die Ober—
hand über den Grad der Verwandtſchaft. Die am Leben gebliebenen
Formen ſtehen dann weit ab von denen der nächſt verwandten Gruppen.
In einem ſolchen Falle ſind die Lücken je nach ihrem Betrage der
Maßſtab für die Unterſcheidung von Gattungen, Familien, Ordnungen,
Klaſſen.
Daß aber gerade Mittelglieder am leichteſten vom Schauplatz
verſchwinden, erklärt Darwin dadurch, daß die Mitbewerbung vor—
zugsweiſe zwiſchen den am nächſten verwandten Arten am heftigſten
iſt, weil ſie nahezu die gleiche Stelle im Haushalte der Natur ein—
nehmen und daher am meiſten Anlaß haben, ſich Raum und Nahrung
ſtreitig zu machen. Entfernter ſtehende Formen können ſchon viel eher
neben einander beſtehen, ohne ſich gegenſeitig zu beeinträchtigen.
Daß aus einer Art mehrere Varietäten und mitunter ſolche von
165
weit abweichendem Character hervorgehen können, geſtehen auch Darwin's
Gegner zu. Ihr Haupteinwand richtet ſich vielmehr gegen die von
demſelben gelehrte Ausdehnung der Variation bis zur Erzeugung neuer
Arten, Gattungen u. ſ. w. Darwin's Gegner behaupten, daß die
von demſelben dargelegten Vorgänge eine gewiſſe Grenze nicht über—
ſchreiten, daß vielmehr die Art nie in eine andere übergeführt werden
könne. Die Art iſt für ſie nicht durch natürliche Vorgänge entſtanden,
ſondern prädeſtinirt oder wie Agaſſiz ſehr hochtrabend geſagt hat,
ſie iſt „eine durch Zeugung dauernd erhaltene Verkörperung eines
Schöpfungsgedankens.“ Ein ſolcher verkörperter Gedanke, oder um die
Sache wieder beim Namen zu nennen, eine Art des Pflanzen- und
Thierreichs kann allerdings, wie die Supernaturaliſten noch zuge—
ſtehen, durch Einfluß äußerer Verhältniſſe oder durch künſtliche Züch—
tung in Varietäten oder Raſſen zertheilt werden, aber ſie behaupten,
daß die Bewegung nicht weiter gehe und eine Art durch Vermittlung
der Varietäten-Stufe nie in zwei oder mehr andere Arten zerfallen
könne. Sie berufen ſich dabei hauptſächlich auf die geringe Aus—
dehnung der innerhalb des geſchichtlichen Zeitraums vorgekommenen
Aenderungen organiſcher Formen.
Wie Dr. Guſtav Jäger 1860 hervorhob, iſt indeſſen Darwin
jedenfalls ſo lange berechtigt, die Veränderung der organiſchen Formen
ins Grenzenloſe fortgehend anzunehmen, als nicht von ſeinen Gegnern
eine natürliche und unzweifelhafte Grenze der Bewegung dargethan
wird. Von gegneriſcher Seite wird behauptet, daß die Bewegung
eine Grenze erreiche und diefe Grenze ſei der Spielraum der Art
oder Species.
Eine derartige Grenze beſteht nun aber nicht in der Natur, denn
der Begriff der Art iſt ſelbſt kein naturwiſſenſchaftlich begrenzter;
die Art kann höchſtens als innerhalb der geſchichtlichen Epoche oder
innerhalb einer beſtimmten geologiſchen Zeitfolge begrenzt nachgewieſen
werden. Es kann aber niemand erweiſen, daß ſie es auch über jene
Grenzen hinaus ſein müſſe. Die Grenzen von Art und Varietät ſind
noch keineswegs feſt abgeſteckt. Die unmittelbaren Erfahrungen über
Baſtardirung beſtätigen wohl im Allgemeinen die herrſchenden Anſichten
über Art und Varietät, ſprechen aber nicht allenthalben für einen
ſolchen weſentlichen Gegenſatz zwiſchen Art und Varietät, ſondern
bieten auch Beiſpiele vermittlender Vorgänge, wie z. B. das Verhalten
der Paraguay-Raſſe der Hauskatze zur europäiſchen, das des Cobaya
166
zum Aperea, das des auſtraliſchen Dingo und des ſüdamerikaniſchen
Run-alleo zu den europäiſchen Hunderaſſen u. ſ. w. Man kann nun
aber die fortſchreitende Veränderung der Varietät nicht im voraus durch
den Spielraum der Art abgrenzen wollen, fo lange die Grenze zwi—
ſchen Art und Varietät noch gar nicht feſtgeſtellt iſt. Dies iſt auch
in anderer Hinſicht durchaus noch nicht der Fall. Sowohl in der
praktiſchen Syſtematik, als auch bei der phyſiologiſchen Betrachtung
flüchtet man bei Widerſtänden immer von einer zur anderen Abgren-
zung des Artbegriffes und auch die letzte iſt, wie erwieſen, keine
genaue und ausnahmsloſe mehr.
Es iſt bekannt, wie groß die Zahl der Formen überhaupt, und
die bei einer Anzahl von Gattungen im Beſonderen iſt, von denen man
nicht mit Sicherheit anzugeben vermag, ob man ſie als Varietäten
oder als Arten bezeichnen ſoll und wie ſchwach gewöhnlich die Gründe
ſind, von denen der Syſtematiker, der in der zwingenden Nothwendig—
keit der Bezeichnung iſt, ſich leiten läßt.
Man hält es ferner Darwin entgegen, daß eine ununterbro—
chene Aufeinanderfolge der Organismen, wie ſie ſeine Theorie an—
nimmt, noch nicht thatſächlich erwieſen und überhaupt nicht nach—
weisbar ſei und daß namentlich die heutige Paläontologie noch nicht
jene Fülle der Uebergangsformen kenne, welche die Transmutationslehre
erfordere. Darwin geſteht das Alles zu, gibt aber auch volle Er—
klärung davon, warum der Sachverhalt ſo iſt und ſo ſein muß.
Die natürliche Ausleſe, indem fie das allmählige Auseinander-
gehen der Formen vermittelt, bringt zugleich den Erfolg für eine jede
gleichzeitig lebende Pflanzen- und Thierbevölkerung einer geologiſchen
Epoche auch mehr und mehr zum Ausdruck. Sie bringt nämlich
fortwährend die verbindenden Mittelglieder wieder zum Erlöſchen und
hebt dadurch den Zuſammenhang der aus gemeinſamem Stamme ent⸗
ſproſſenen Formen ſcheinbar wieder auf.
Das Erlöſchen der Mittelformen aber beruht nach Darwin
darauf, daß die Begünſtigung einer Variation oder Varietät oder
Art in einer ſchon ſtark bevölkerten Gegend, in welcher die Wechſel—
beziehung von Art zu Art bereits eine vorzugsweiſe innige iſt, ſtets
oder doch faſt ſtets zugleich ein Nachtheil für die Stammform und
für die übrigen minder begünſtigten Variationen iſt. Dieſe unter-
liegen dann bei der Bewerbung um Raum und Nahrung, ſie nehmen
an Zahl ab und erlöſchen. Der Vorgang der Bildung und Vervoll—
Pr ->
UST
167
kommnung einer Art ift daher gewöhnlich von der Vertilgung von
Urſtamm und Mittelformen begleitet und meiſt erfolgt nur dann eine
Erhaltung der letzteren, wenn Veränderungen des Aufenthaltes die
Wirkung der Mitbewerbung aufheben, alſo z. B. wenn ein Theil
eines Feſtlandes von dieſem abgetrennt und zur Inſel wird. Stamm-
formen und Mittelglieder, die auf großen Kontinenten erlöſchen, kön—
nen auf kleinen Gebieten unter ſonſt günſtigen Umſtänden fortleben.
Die Vergleichung urweltlicher Organismen mit ihren heutigen nächſten
Verwandten liefert manigfache Belege dafür.
Jede Art, die wir beobachten, pflegt daher ganz oder doch für
ihren Verbreitungsbezirk mehr oder minder vereinzelt dazuſtehen. Ur—
ſtamm und Mittelformen ſind erloſchen oder leben höchſtens in an—
deren Gegenden gleichzeitig noch fort, können freilich aber hier auch
inzwiſchen wieder gewiſſe Veränderungen erlitten haben.
Was den Einwand betreffs des thatſächlichen Standes der palä—
ontologiſchen Statiſtik betrifft, ſo kann dieſer wohl für Einzelheiten
in der Durchführung der Dar win'ſchen Theorie zur Zeit hinderlich
ſein, aber er widerlegt dieſelbe nicht. Unſre Statiſtik der Vorwelt
iſt unvollſtändig und kann überhaupt nie ganz vollſtändig werden. Es
werden uns namentlich eine Menge von Mittelgliedern heute getrennter
Formen noch lange oder auf immer verborgen bleiben. Wir müſſen
uns zugleich aber auch ins Gedächtniß zurückrufen, daß jede einzelne
gleichzeitige Flora und Fauna einer älteren Epoche verhältnißmäßig
nicht mehr und nicht weniger Mittelglieder getrennter Formen bieten
wird, als auch die heutige Schöpfung unter gleichen Umſtänden bietet.
Daß dies wirklich der Fall iſt, beweiſen die Erfahrungen, die man
unter der paläontologiſchen Ausbeute eines jeden Fundorts macht, ſo—
bald er eine hinreichend große Menge von Arten und Individuen
darbietet. Und daſſelbe iſt wieder in anderer aber ähnlicher Weiſe der
Fall, ſobald man Arten derſelben Gattung in größerer Zahl der Exem—
plare aus hinreichend zahlreichen Fundſtätten jeder einzelnen Formation
und einer hinreichend vollſtändigen Folge aller einzelnen Formations—
glieder zuſammenzunehmen Gelegenheit hat. Dieſe Erfahrung wird
mehr oder minder jeder Paläontologe ſchon gemacht haben, wenn er
überhaupt ihr nicht abſichtlich die Augen verſchließen wollte (und nicht,
wie mir aus einem gewiſſen Falle bekannt iſt, die Mittelglieder un—
ter den Tiſch warf, um ſeine Species in bequem trennbaren Formen
dar ſtellen zu können.)
168
Die Reihenfolge unferer geologischen Formationen überhaupt ift
aber noch gar nicht nach ihrem vollkommenen Zuſammenhang bekannt.
Wir rücken dieſem Ziele nur allmählig näher. So treten z. B. die
Foſſilien der Oligocän-Bildung erſt ſeit wenig Jahren in reichlicher
Fülle zu Tage. Die oberſten Schichten der Kreidebildung kennen wir
erſt ſehr wenig und haben uns von ihnen noch reichliche Aufklärungen zu
gewärtigen. In andern Fällen kennen wir aus mächtigen Schichten—
folgen noch nichts als einen Theil der damaligen Meeresbevölkerung
und müſſen die Natur der gleichzeitigen Landpflanzen und Landthiere
einſtweilen noch errathen. Es find erſt wenige Jahre, ſeit Stoliczfa
aus der oberen Kreide die erſten Land- und Süßwaſſermollusken zur
Kenntniß brachte.
Einfluß geologiſcher Vorgänge auf die Geſtaltung der
organiſchen Formen.
Alle organiſchen Weſen ſtehen, wie durch vielfache Nachweiſe äl—
terer und neuerer Forſcher dargethan iſt, in einem innigen Verhält—
niß von Mitbewerbung zu einander und halten ſich in dieſer Hinſicht
für dieſelbe Gegend und für die Dauer gleicher äußerer Bedingungen
fortwährend in einem gewiſſen nur wenig ſchwankenden Gleichgewicht.
Dies Verhältniß iſt ein für den Haushalt der Natur durchaus we—
ſentliches, ja ſogar ſo ganz und gar durchgreifendes, daß Darwin's
Gegner zum Theil behaupten, es könne keine einfache Folge des Zu—
ſammenwirkens von einander unabhängiger Naturvorgänge, ſondern
müſſe ein unmittelbares Erzeugniß der göttlichen Vorſehung ſein, welche
alle Lebeweſen nach ihren Lebensbedürfniſſen genau abgegliedert und
gleich die ganze Schöpfung von Anfang an in Gleichgewicht erſchaffen
hat und erhält. Von dieſem Gleichgewicht der Lebewelt hängt die Ver—
theilungsweiſe, die Seltenheit oder Häufigkeit, das Erlöſchen oder das
Abändern der Pflanzen- und Thierarten in hohem Grade ab. Die
meiſten Formen ringen mit einander, andere, wie z. B. manche Inſecten
und gewiſſe Pflanzen, unterſtützen ſich gegenſeitig.
Während der Kampf ums Daſein in einer beſtimmten Gegend
bei weſentlich gleichbleibenden Lebens verhältniſſen ſich in—
nerhalb ziemlich enger Grenzen im Gleichgewicht erhält, muß bei Ein—
tritt gewiſſer größerer Veränderungen der Lebensverhältniſſe auch eine
beträchtliche Störung im Verhältniß der Arten zu einander erfolgen
169
*
können, wodurch dann aber dem Aufkommen neuer organiſcher Formen
Raum eröffnet wird. Solche größere Veränderungen der allgemeinen
Lebensverhältniſſe können in Verbindungen zweier vordem getrennter
Länder oder zweier Meere, in Aenderungen des Klima's, endlich auch
in der Einwanderung neuer Pflanzen- oder Thierarten beſtehen. Eine
jede ſolche Begebenheit ſtört das vielleicht ſeit langer Zeit beſtandene
Gleichgewicht unter den Arten des betreffenden Gebiets, führt zur
Verminderung der einen und der Zunahme der andern und gibt indi—
viduellen Variationen Gelegenheit, ſich in vorwiegend nützlicher Weiſe
für eine Anzahl von Individuen geltend zu machen. Eine Variation,
die bei gegebenen äußeren Umſtänden gleichgültig oder ſchädlich für
die Individuen wäre, kann nach einer Aenderung der allgemeinen
Verhältniſſe von Vortheil ſein und wird ſich dann erhalten. Hier—
durch wird die Entſtehung neuer Arten begünſtigt.
Nehmen wir vorerſt eine Trennung eines Feſtlandes in mehrere
Inſeln und eine nach Verfluß langer Zeiträume vor ſich gegangene Wie—
dervereinigung einer Anzahl von Inſeln zu einem größeren Feſtlande
an, alſo einen Vorgang, von dem die Geologie zahlreiche Fälle bietet.
Je größer das Gebiet iſt, über welches eine Art ſich verbreitet,
deſto größer iſt die Wahrſcheinlichkeit, daß ſie in den verſchiedenen Be—
zirken deſſelben irgendwie ungleiche Lebensbedingungen antrifft. Das
Klima kann in den einzelnen Bezirken bis zu einem gewiſſen Grade
anders ſein, der Boden andere Charactere haben, die Vergeſellſchaf—
tung mit feindlichen oder anderweitigen Einfluß übenden Organismen
kann eine andere ſein.
Der Einfluß aller dieſer Verſchiedenheiten auf eine und dieſſelbe
Art kann in den beſonderen Bezirken des Verbreitungsgebiets vermöge
der unmittelbaren Wirkung auf die Individuen und vermöge der un—
gleichen Ausleſe unter ihren individuellen Variationen zur Erzeugung
verſchiedener neuer Charactere führen. Aus einer Art können eine Reihe
geographiſch-ſtellbertretender Varietäten oder ſogenannter Subſpecies
werden. Iſt der Verbreitungsbezirk zuſammenhängend, ſo werden dieſe
Verſchiedenheiten durch Uebergänge vermittelt bleiben. An den Grenz—
ſtrecken findet eine fortwährende Kreuzung ſtatt und erhält die ver—
ſchiedenen Formen des gleichen Typus ſoweit in unzweifelhaftem Zu—
ſammenhang, daß der gemeinſame Artcharacter außer Zweifel bleibt.
In dem Grade aber, als eine Trennung des Verbreitungsbe—
zirkes ſtatt hat, wird die Kreuzung der auseinander gehenden Formen
170
mehr und mehr verhindert. Gebirgszüge oder unbewohnbare Wüſten
können ſo zur Entſtehung größerer Gegenſätze zwiſchen auseinander—
gehenden Abkömmlingen derſelben Stammart führen. Darwin ſagt
daher, Abſchließung iſt wie bei der künſtlichen Züchtung, ſo auch bei
der natürlichen Züchtung auf dem Wege der Anupaſſung und der Aus—
leſe ein mächtig fördernder Umſtand, er verhindert die Kreuzung der
Individuen des einen Zweigs mit denen des andern und führt ſo zum
Hervortreten allmählig wachſender Gegenſätze.
Am vollkommenſten aber geſtaltet ſich die Trennung eines Ber-
breitungsbezirkes in mehrere, ſobald ein größeres Feſtland durch geo—
logiſche Ereigniſſe in zwei oder mehr Inſeln zertheilt wird. Hierdurch
erſcheint dann vor allen Dingen die Kreuzung ausgeſchloſſen. Die
phyſiſchen Verhältniſſe werden alsdann auch wohl nie ganz die glei—
chen ſein, ſondern in einer oder der andern Hinſicht, namentlich auch
je nach der Breite der trennenden Meeresſtrecke, unter einander ab—
weichen. Einer der Inſeln kann zugleich ein gebirgiger, einer anderen
der flachere Theil eines Feſtlands zufallen.
Alle dieſe Verſchiedenheiten werden dann auf die Flora und Fauna
der verſchiedenen Inſeln im Laufe der Zeit nicht nur verändernd, ſon⸗
dern auch nach verſchiedenen Richtungen und in verſchiedenen Graden
verändernd wirken. Der Erfolg aber wird um ſo beträchtlicher aus—
fallen, als hier nicht mehr der Ausbildung auseinandergehender For—
men durch die Kreuzung entgegengearbeitet wird. Wenn auf einem
zuſammenhängenden Feſtlande von einer und derſelben Art eine An⸗
zahl durch Uebergangsglieder verbundener, einander geographiſch—
ftellvertretender Varietäten lebten, ſo werden nach der Trennung des
Feſtlandes in Inſeln allmählig die Uebergangsglieder erlöſchen oder
wenigſtens unter der Mehrzahl ausgeprägterer Varietäten ſich ver—
lieren.
Das nächſte Ergebniß iſt alſo für jedes ſelbſtſtändig gewordene
Gebiet die Entſtehung ſchärfer getrennter Local-Varietäten, die von
einer und derſelben Art abſtammen. Aus dieſen aber werden in wei—
teren Zeitfolgen durch Wirkung der Vererbung und zähe Einprägung
der neu erworbenen Charactere eigene Arten, die alsdann geographi—
ſche Vertreter deſſelben Arttypus darſtellen. Ueberhaupt aber nimmt
die Aenderung in der Form der organiſchen Weſen eines jeden für
ſich abgetrennten Gebietes eine gemäß den beſonderen Lebensbedingungen
deſſelben und gemäß der Zahl und beſonderen Natur der von Anfang
171
an auf daſſelbe angewieſenen Arten, ihren für das betreffende Gebiet
eigenthümlichen und mehr oder weniger ausſchließlichen Verlauf. Oft
iſt dieſer Verlauf ſogar für ſehr verſchiedene Arten deſſelben Verbrei—
tungsbezirks ein auffallend gleichartiger, man kann ſagen ſympathi—
ſcher, wovon uns z. B. die Polarthiere ſchon ein Beiſpiel boten.
Zu allem dieſem bedarf es allerdings langer, namentlich den
Betrag der geſchichtlichen Epoche weit überſchreitender Zeiträume.
Nehmen wir nun an, daſſelbe Geſammtgebiet erlitt nach Ver—
lauf einer langen Zeit der Ruhe eine Hebung, zu Folge deren die
Inſeln wieder zu einem großen Feſtland zuſammenfloſſen. Alsdann
traten Floren und Faunen, die von einer älteren Bevölkerung eines
großen Feſtlandes in grader Linie abſtammen, aber in einer Zeit der
Gebietszertheilung eine verſchiedenartige Umgeſtaltung erlitten haben,
abermals zu einer großen Feſtlandbevölkerung zuſammen. Sie miſchen
und durchdringen ſich und treten nunmehr in Mitbewerbung um Raum
und Nahrung. Jetzt kann ſich aber nicht alsbald und mit Leichtigkeit
ein Gleichgewicht wieder herausſtellen, wie es ehedem beſtand. Die
einzelnen Typen, in der Zwiſchenzeit abweichend fortgebildet, paſſen
jetzt nicht mehr genau zuſammen. Es muß alſo mit ihrem Zuſammen—
treten eine heftige Mitbewerbung entbrennen, bei der Art mit Art
ringt und die ſtärkere die ſchwächere aus dem Felde ſchlägt. Die Ver—
hältnißzahlen ſowohl der Individuen der Arten als auch die Zahl
der Arten einer Gattung müſſen nunmehr andere werden. Die be—
günſtigten, zu höheren Leiſtungsgraden fähigen Arten erſcheinen zum
Kampf mit ihren neuen Nebenbuhlern am geeignetſten. Sie nehmen
überhand an Zahl der Individuen und an Ausdehnung des Verbrei—
tungsgebiets. Die ſchwächeren minder zur Behauptung ihrer Stelle im
Naturhaushalt befähigten Arten aber verlieren an Zahl der Individuen,
an Ausdehnung der Verbreitung, ſie können entweder nur noch an
einzelnen geſicherten Plätzen, wo ſie vor der Verfolgung ihrer Neben—
buhler ſicher ſind, ſich forterhalten oder ſie erlöſchen.
Je mehr Arten aber erlöſchen, um ſo mehr Stellen werden im
Naturhaushalte frei, um ſo eher können bei den überlebenden Formen
neu auftauchende Variationen zu neuen Varietäten und neuen Arten
ſich ausbilden.
Das Endergebniß einer Vereinzelung von Gebietstheilen eines
großen Feſtlandes zu Inſeln und einer ſpäteren Wiedervereinigung der—
ſelben muß alſo in Bezug auf Flora und Fauna eine geſteigerte Ver—
172
änderung der Arten und ein größeres Vorherrſchen der höher
organiſirten und höher begabten Formen im Gegenſatz zu
ihren nächſtverwandten ſchwächeren Nebenbuhlern ſein.
Feſtländer, die durch eine lange Reihe von geologiſchen Epochen
in Ruhe und Gleichmäßigkeit ſich erhalten, werden eine verhältnißmäßig
unausgebildete, ſowohl in Bau als in Leiſtungsfähigkeit niedrig ſtehende
Bevölkerung zeigen.
Ein ſolcher Gegenſatz beſteht z. B. zwiſchen Neuholland und
den benachbarten Theilen der alten Welt. Neuholland erſcheint
im Character ſeiner Pflanzen- und Thierwelt gleichſam auf einer der
älteren geologiſchen Epochen ſtehen geblieben. Namentlich zeigt die
Säugethierfauna von Neuholland eine auffallende Analogie mit
der der alten Welt zur Zeit der Ablagerung der Jura- und der Kreide—
ſchichten. Beutelthiere herrſchen noch jetzt ähnlich in Neuholland,
wie fie damals in Europa herrſchten. Aber dort ſcheint eine un—
gemein langſame Fortentwickelung der Fauna ſtattgehabt zu haben,
während ſie hier in vielfachen und tief eingreifenden Wechſeln ſeither
ſich umgeſtaltete.
Würde jetzt durch eine geologiſche Aenderung eine Ueberbrückung
zwiſchen Neuholland und dem Feſtlande von Südaſien ftatt-
finden, ſo würden die dürftigen Formen von Neuholland eine
höchſt ungünſtige Stellung neben der hochgeſteigerten Lebewelt von
Südaſien einnehmen und einer raſchen Verminderung oder Aus—
rottung entgegengehen.
Die Nachweiſung, daß bei a von Feſtländern in Inſeln
und einer ſpäteren Wiedervereinigung ſolcher die Vorgänge an Flora
und Fauna wirklich derart ſind, wie Darwin ſie annimmt, iſt aller⸗
dings nicht unmittelbar zu liefern und nicht verſuchsweiſe zu beſtä—
tigen möglich. Die geſchichtliche Epoche bietet uns keine Gelegenheit
durch Beobachtung des Vorganges ſelbſt den Beweis für die Wahr—
heit der Theorie zu liefern. Nichts deſto weniger iſt doch eine ge—
wiſſe Forſchung auch auf dieſem Felde noch möglich, ſie bewegt ſich
aber mehr nur auf ſtatiſtiſchem und geologiſch-hiſtoriſchem Felde und
bleibt inſofern mehr oder minder unvollkommen.
Die Annahme einer ſehr langſam vor ſich gehenden, oft durch
lange Zeiträume hindurch faſt unmerklichen, dann aber durch den
Eintritt von Ereigniſſen lebhaft angefachten und wieder raſcher wir—
kenden Thätigkeit der natürlichen Ausleſe und einer dadurch bedingten
173
und, dem entſprechend, vorzugsweiſe periodiſchen Umgeſtaltung der
Bevölkerung eines Gebietes, entſpricht ſehr gut den Ergebniſſen der
Geologie. Sie zeigt uns in der That in manigfachen Fällen ſowohl
einen Wechſel von Perioden einer ſehr langſamen und ſolcher einer
raſcheren Umbildung der Feſtländer als auch die entſprechenden, bald
von Schichte zu Schichte ſehr allmähligen, bald wieder zu beſtimmten
Epochen in ſtärkerem Gegenſatze vor ſich gegangenen Umgeſtaltungen
der organiſchen Bevölkerung.
Man kennt aus den verſchiedenen geologiſchen Epochen, bis jetzt
wenigſtens für Europa und für Amerika, einen gewiſſen größeren
oder geringeren Theil der Umriſſe von Land und Meer, allerdings meiſt
nur nach ihren großen Hauptzügen und ſelten dem ganzen Umfange
nach. Für die älteſten Epochen iſt unſere Kenntniß dieſer ehemaligen
Bodengeſtaltung noch ſehr dürftig, für die mittleren, beſonders die
Jura⸗ und Kreideepoche, ſchon etwas vollſtändiger, am ausgebildetſten
aber für die einzelnen Glieder der Tertiärbildung. Man hat für
die einzelnen Epochen geographiſche Karten verzeichnet. Aus dieſen
aber geht hervor, daß in ſehr zahlreichen Fällen im Laufe der Um—
bildung der Erdoberfläche größere Inſeln in kleinere zerfielen und
ſpäter wieder zu ausgedehnten Feſtländern zuſammenfloſſen.
Der Wechſel der Landbevölkerung auf den einzelnen Feſtlandpar—
tien der beſonderen Epochen iſt zwar noch nicht in befriedigender Weiſe
näher ermittelt, aber es liegen Andeutungen vor, welche auf eine künf—
tige reichlichere Beleuchtung dieſer Vorgänge rechnen laſſen.
So wiſſen wir, daß in der Jura-Epoche ein Theil des heutigen
Englands ein Feſtland war, wo im Schatten von Cycadeen und Coni—
feren Beutelthiere, den heute auf Neuholland lebenden ähnlich, in
mehreren Gattungen und Arten vorhanden waren. Wir kennen aus der—
ſelben Epoche andere Feſtlandpartien an der Stelle des heutigen Euro—
pa's. Aber es ſind noch keine Säugethiere-Reſte gefunden, die von
Thieren, welche auf dieſen lebten, herrühren könnten.
Aehnlich iſt es mit der darauf folgenden Kreidepoche. Wir
kennen die Feſtländer und Inſeln, welche damals an der Stelle
des heutigen Europa's aus dem Meere hervorragten. Aber von
den Säugethieren jener Epoche wiſſen wir noch nichts weiter, als
daß zur Zeit der Ablagerungen der unteren Kreidegebilde (oder des
Neocomien) auf eben jenem engliſchen Feſtlande Beutelthiere und
wie es ſcheint auch andere Säugethierformen, vielleicht Hufthiere
174
lebten. Von den übrigen Feſtlandpartien des damaligen Europa
kennen wir die Säugethierfauna immer noch nicht. Vielleicht beher—
bergten ſie — ähnlich wie z. B. Neuſeeland zur Zeit der Ent⸗
deckung durch die Europäer — nur ſehr wenige oder noch gar keine
Säugethiere, ſondern von Vierfüßern nur Reptilien. Wir können
aber vermuthen, daß in anderen Theilen der Erde, z. B. auf irgend
einem Bezirke des heutigen Atlantiſchen Meeres, Inſeln und Feſt—
länder beſtanden, die eine reichere Säugethierfauna beherbergten und
ſie ſpäter, z. B. bei einer Vereinigung mit dem engliſchen Feſtlande,
nach dem europäiſchen Gebiete übertrugen. Ein ſolcher Vorgang
ſcheint in jener Zeit ſtattgehabt zu haben, als die letzten Schichten
der Kreidegebilde abgelagert wurden. Damals fand eine ſehr bedeu—
tende und tief eingreifende Veränderung in der Geſtaltung des euro—
päiſchen Feſtlandes ſtatt, welches um jene Zeit zum größten Theile
bereits, ſo wie es noch jetzt iſt und zugleich wohl noch in größerer
Ausdehnung gegen den Atlantiſchen Weſten aus dem Meeresſpiegel
ſich emporhob. Damals erſchien plötzlich und in immer wachſender
Typenzahl eine Säugethierfauna in Europa, von der, wie wir
geſehen, die älteren Epochen bisher erſt ſchwache Andeutungen boten.
Gleich die älteſten oder ſogenannten orthrocänen Schichten oder das
Suessonien des Pariſer Beckens liefern ſchon zwei Gattungen Pachy—
dermen und ebenſo viel Gattungen von Raubthieren. Mit den näch—
ſten Schichten wächſt dann raſch die Zahl der Gattungen und die
Manigfaltigkeit der Haupttypen. Es liegt ſehr nahe anzunehmen,
daß dieſe mit Beginn der Tertiärepoche auf europäiſchem Boden
plötzlich erſcheinende Säugethierwelt hier weder durch Urzeugung ent—
ſtand, noch auch auf übernatürlichem Wege erſchaffen wurde, ſondern
daß ſie vorher auf einem Anderen und wahrſcheinlich einem atlanti—
ſchen Feſtlande lebten. Sie gelangten von dieſem erſt nach Europa,
als die an der Grenze der Kreide- und der Tertiärepoche vor ſich
gehenden Umgeſtaltungen in der Form der Feſtlandpartien ihnen gleich-
ſam eine geologiſche Brücke zum raſchen Uebergange in das heutige
europäiſche Gebiet eröffneten.
Wir kommen hier wieder auf die Vergleichung der europäiſchen
Säugethierfauna mit der neuholländiſchen zurück. Wir kennen auf
Neuholland nur Ablagerungen aus den älteſten und aus ſehr
jungen geologiſchen Epochen. Es liegt alſo ſehr nahe anzunehmen,
daß Neuholland ungeheuer lange Zeiträume hindurch von geolo—
175
giſchen Störungen nur wenig betroffen wurde und mit dieſer Ein—
förmigkeit der Lebensbedingungen mag auch die Einförmigkeit und ge—
ringere Organiſation der Säugethierwelt dieſes Gebietes zuſammen—
hängen. Die Mitbewerbung von Art mit Art war geringer und die
Lebewelt blieb daher auf faſt gleicher Stufe der Entwicklung ſtehen.
Aber Europa war zur Zeit der Ablagerung der Trias-, Jura⸗
und Kreideſchichten ein Archipelgebiet, wir kennen die Lage und
die Umriſſe mancher der damaligen Inſeln ziemlich genau. Erſt die
allmählige Vereinigung dieſer Inſeln hat zur Bildung der Feſtland—
maſſen der alten Welt geführt und es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß
dabei wiederholt Landfaunen von verſchiedener Zuſammenſetzung mit
einander gemiſcht wurden, daß Fleiſchfreſſer der einen mit Fleiſch—
freſſern der anderen früheren Fauna und Pflanzenfreſſer mit anderen
Pflanzenfreſſern ringen mußten und daß dabei nur die am höchſten
geſteigerten und am beſten ihrer Aufgabe angepaßten Typen die
Wahlſtatt behaupteten. Das Endergebniß mußte eine Fauna ganz
anderer Geſtaltung als jene von Neuholland ſein.
R. Owen hat gezeigt, daß von der erloſchenen Katzengattung
Machairodus in der mittleren Tertiärepoche eine Art in England
und ſpäter eine zweite in Südamerika lebte und er deutet an, daß
die eigentliche Heimath dieſer Gattung vielleicht auf einem damaligen
atlantiſcheu Feſtlande war und die Thiere von hier aus, ähnlich wie
jetzt der Tiger in Aſien, ihre Wanderungen machten. Auf ehemaliges
Feſtland an der Stelle des heutigen atlantiſchen Meeres deuten auch
noch manche andere Momente, z. B. das Vorkommen von Beutel—
thieren in Neuholland und Braſilien, das Vorkommen des
Lepidosiren in Südamerika und des zunächſt verwandten Pro-
topterus in Weſtafrika u. ſ. w.
Aehnliche Einwanderungen von Bewohnern des aſiatiſchen und
des europäiſchen Feſtlandes, die zur Zeit der Diluvialepoche die briti—
ſchen Inſeln bevölkerten, hat, wie ſchon früher bemerkt wurde, E.
Forbes dargelegt und dabei wahrſcheinlich gemacht, daß der Ueber—
zug innerhalb eines langen Zeitraumes vor ſich ging und daß bei
der eben damals vor ſich gehenden Vereinzelung Irlands ein
Theil des Einwandererſtromes nur noch nach England und nicht
mehr nach Irland gelangte.
Aenderungen des Klima's einer Gegend und plötzliche Einwande—
rungen einzelner Pflanzen und Thierarten mögen neben den Verän—
176
derungen in der Geſtalt von Feſtland und Meer auch vielfach Anlaß
zu Störungen im Gleichgewicht von Flora und Fauna gegeben haben.
Welche Aenderungen wenige von europäiſchen Seefahrern auf kleinen
Inſeln des Oceans ausgeſetzten europäiſche Thierarten in der Be—
völkerung derſelben in kurzer Zeit hervorrufen können, und welche
Kämpfe von Art gegen Art daraus erfolgen, haben die früher dar—
gelegten Beiſpiele von St. Helena und von Juan Fernandez
gezeigt. a
Es gibt aber noch mehr ſolcher Fälle, wo der Menſch Zeuge eines
lebhaften Kampfes von Arten war, die urſprünglich beſonderen Theilen
der Erde angehörten, ſpäter zuſammengelangten und hier ſich heftig
ihr Daſein ſtreitig machten. Dieſe Beiſpiele mögen es erläutern, welche
gewaltigen Störungen in der Vorwelt bei der Vereinigung vordem
getrennter Gebiete in Flora und Fauna vor ſich gegangen ſein müſſen.
Das auffallendſte Beiſpiel bilden die Ratten, die, obſchon keine
Hausthiere, doch allenthalben ſich gleichſam an die Ferſe des Menſchen
hängen und mit ihm in faſt alle Klimaten mit Ausnahme der Polar-
gegenden gewandert ſind und allenthalben mit ihrem Erſcheinen auf
dem von ihnen neu eingenommenen Gebiete eine Veränderung des
Gleichgewichts hervorgerufen haben. Man darf um ſo mehr Gewicht
auf dieſe Vorgänge legen, als die Ratten gewiß nicht unter dem züch—
tenden Einfluſſe des Menſchen ſtehen, ſondern, obſchon ſeine Hauswirth—
ſchaft beſuchend, doch wahrhaft wilde Thiere ſind und alle an ihnen
beobachteten Vorgänge ſich unverwandt auf wilde Thiere überhaupt
verallgemeinern laſſen.
Die Weltreiſe der Ratten und Mäuſe.
Drei Rattenarten haben als ungebetene Geſellſchafter des Men—
ſchen im Laufe der letzten Jahrhunderte, dem allgemeinen Zuge der
Völkerbewegung und der Seefahrt folgend, von Oſten in Weſten eine
Reiſe um die Erde angetreten, von der ſie vielleicht einſt noch von
den Antipoden her zur alten Welt zurück gelangen werden. Sie haben
ſich dabei ſtellenweiſe einander ereilt. Immer aber muß der Kampf
ums Daſein zwiſchen zwei Thierarten von derſelben Gattung, die in
Bau und Anlagen, in Nahrung und Gewohnheit eine vorzugsweiſe
Aehnlichkeit haben, beſonders heftig werden und kann ſich, je nach Um—
ſtänden, für beſtimmte geographiſche Bezirke oft in verhältnißmäßig
177
kurzen Friſten entſcheiden. Die ſtärkere, befühigtere, muthigere Art raubt
dann der minder begünſtigten Raum und Nahrung, ſie vertreibt ſie
aus ihren alten Wohnſitzen und kann ſie je nach Umſtänden ganz aus—
rotten.
Die Haus ratte, Mus rattus Linne, ſcheint, wie Blaſius )
in ſeinem trefflichen Werke über die deutſchen Säugethiere darlegt, erſt
in geſchichtlicher Zeit in Europa eingewandert zu fein. Ihre eigentliche
Heimath iſt nicht ganz ſicher bekannt. Man kann es aber als ſehr
wahrſcheinlich nehmen, daß ſie aus Aſien nach Europa gelangte. In
den Schriften der Alten, z. B. des Ariftsteles und des Plinius,
findet man noch keine Stelle, die auf die Hausratte bezogen werden
könnte. Es iſt demnach anzunehmen, daß ſie im Alterthum noch nicht
in Europa lebte und erſt im Mittelalter aus Aſien bei uns einwan—
derte. Der Zeitpunkt, wann ſie nach Europa kam, läßt ſich nicht
mehr mit Sicherheit ausmachen. Der deutſche Biſchof Abarth
Magnus, der im dreizehnten Jahrhundert lebte und einer der größten
Naturgelehrten ſeiner Zeit war, iſt der erſte Schriftſteller, der ſie un—
zweifelhaft als in Deutſchland lebend aufführt. Seitdem hat ſie
in ganz Europa allmählig ſtark überhand genommen, ſie drang bis
zur Meeresküſte vor und ſchlich ſich hier auf Schiffen ein. So wurde
ſie ſeither denn auch auf ſolchen nach Amerika übergeführt und
iſt dort häufig geworden. Ueberhaupt hat ſie ſich in den letzten drei
Jahrhunderten allmählig über alle bewohnten Theile der Erde mit
Ausnahme des hohen Nordens verbreitet, wo ihr Klima und Nahrung
nicht mehr zuſagen.
In Europa iſt indeſſen die Hausratte nur bis zur erſten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts in ihrem Reviere alleinherrſchend ge—
weſen. Seither iſt ſie von der ihr nachgefolgten Wanderratte im
Kampf um Raum und Nahrung allmählig und zwar jetzt faſt aus
allen europäiſchen Standorten verdrängt worden.
Gegen Eude des achtzehnten Jahrhunderts war die Hausratte
noch faſt überall in Europa häufig. Seither aber hat ſie Stadt für
Stadt und Haus für Haus räumen müſſen. Zur Zeit des heftigſten
Kampfes der beiden zu Nebeubuhlern gewordenen Rattenarten fand
man oft Morgens die Leichen der im Streit erlegenen Hausratten
1) J. H. Blaſius. Fauna der Wirbelthiere Deutſchlauds. I. Band. Säuge⸗
thiere 1857. p. 317.
1 F
Nolle, Barwin's Lehre.
nt
DV
178
auf den Straßen liegen. So ift ihr Feind, die Wanderratte, ihr durch
ganz Europa auf der Ferſe gefolgt und hat ſie von Ort zu Ort
ausgerottet. Jetzt kennt man die Hausratte nur noch an ſehr wenigen
Punkten von Europa und bald wird ſie ganz ausgerottet ſein. Die
zoologiſchen Gärten ſind bemüht, für die verfolgte und dem Unter—
gang nahe gebrachte Art einen Zufluchtsort zu bieten, doch hat bis
jetzt mancher Garten vergeblich gehofft, auch nur ein einziges Paar
derſelben noch erhalten zu können. In Amerika ſoll die Art jetzt
häufiger als in Europa ſein.
Die Wanderratte, Mus decumana Pall., aſiatiſchen und zwar
vielleicht perſiſchen oder indiſchen Urſprungs, iſt der Hausratte an
Größe und an Muth weit überlegen, dabei auch fruchtbarer. Wäh—
rend bei der Hausratte die Körperlänge, den Schwanz nicht mitge—
rechnet, 6 Zoll beträgt, erreicht die Wanderratte 8 bis 9 Zoll. Sie
iſt aber nicht nur ſtärker, ſondern auch muthiger und weniger ſcheu.
In geſchloſſenem Raume angegriffen, ſetzt ſie ſich ſogar gegen den
Menſchen zur Wehre.
Dieſe größere und muthigere Wanderratte iſt erſt zu Anfang des
18. Jahrhunderts in Europa beobachtet worden. Nach Pallas
Bericht zog ſie 1727 zuerſt in großen Heerden aus der Kirghi—
ſen-Steppe — ſchwimmend — über die Wolga und rückte über
Aſtrachan weiter in Weſten in Europa ein. Sie breitete ſich
von Jahrzehend zu Jahrzehend daſelbſt immer mehr aus und rückte
allmählig bis zum Atlautiſchen Meere vor, ſowie auch an die Mittel—
meerküſten und bis nach Scandinavien hinauf. 1750 kannte man fie
in Paris noch nicht. 1800 erſchien ſie zum erſten Male in Däne—
mark. 1809 war ſie in der Schweiz noch unbekannt. Um 1830 be-
gann ſie in den Rheingegenden nach Ausrottung der Hausratte allein
herrſchend zu werden.
So iſt allmählig die Wanderratte als begünſtigtere Art in Eu—
ropa von Ort zu Ort vorgedrungen. Sie hat dabei allenthalben im
wachſenden Verlaufe ihrer Ausbreitung die Hausratte verdrängt und
dabei dieſelbe ſo weit ausgerottet, daß dieſer jetzt nur noch wenige
Standorte frei bleiben, aus denen ſie wohl in den nächſten Jahrzehen—
den auch ſchon wird vertrieben ſein.
Seitdem die Wanderratte in Europa die Weſtküſten erreichte,
hat ſie ſich auch auf Schiffen in die überſeeiſchen Länder verbreitet
und findet ſich ſolchergeſtalt hinter der Hausratte her als deren ſteter
9
Nachfolger und gefährlichſten Feind auf der Wanderung um die
Erde herum.
Die ägyptiſche Ratte, Mus Alexandrinus Geoffroy (M. tec-
torum Savi, M. leucogaster Pietet) iſt nach der Hausratte und der
Wanderratte die dritte und bis jetzt letzte Art auf dem erdumwan—
dernden Zuge von Oſten nach Weſten.
Ihre urſprüngliche Heimath ſcheint Aegypten und das nordöſt—
liche Afrika überhaupt, ſowie auch Arabien zu ſein. Sie wurde
zuerſt während des franzöſiſchen Feldzugs in Aegypten entdeckt und
damals von Geoffroy beſchrieben. Erſt ſpäter entdeckte man ſie
auch in Europa und es unterliegt kaum einem Bedenken, daß ſie
erſt vor kurzer Zeit auf Schiffen dahin kam. Sa vi beobachtete fie
1825 in Italien und Pictet 1841 zu Genf. Sie iſt jetzt in
Italien, in der Schweiz, im ſüdlichen Frankreich und im
ſüdlichen Deutſchland fleckweiſe eingebürgert und ſoll in dieſer
Beziehung in allmähligem Zunehmen ſein. Sie dürfte, indem ſie dem
allgemeinen Zuge von Oſten nach Weſten folgt, nach und nach mit
der Wanderratte ſich in Bezug auf beſtimmte Stellen im Naturhaus—
halt in die Erdoberfläche theilen. In Nordamerika ſoll ſie bereits
auch ſchon angelangt ſein. i
Ein Wettkampf zwiſchen der ägyptiſchen Ratte und der Wander—
ratte dürfte, ſobald erſtere einmal in einer jeden Gegend zahlreich
genug geworden, wohl auch noch entbrennen und kann dann vielleicht
zur Verdrängung der ſchwächeren Art wieder führen.
In dieſer Beziehung ſcheint noch keine Beobachtung ſtattgefunden
zu haben, welche zu einem Schluſſe berechtigen könnte. Das Größen—
verhältniß begünſtigt übrigens die Wanderratte auch hier. Die ägyp—
tiſche Ratte, die nur die Körpergröße unſerer früheren Hausratte (den
Schwanz abgerechnet, 6 Zoll) hat und auch in der Lebensweiſe letz—
terer näher kommt, dürfte jener kaum auf die Dauer gewachſen ſein.
Vielleicht führt alſo eine Zeit von größerer Individuenzunahme der
Ratten einmal wieder zur Zurückdrängung des eingewanderten ägyp—
tiſchen Gaſtes.
Einwanderungen ähnlicher Art haben ſicher zu allen Zeiten und
in allen großen Feſtlandgebieten ſtattgehabt. Aber die Nachweiſung
iſt jetzt, wo Jahrtauſende oder noch umfaſſendere Zeiträume ſeit ihrem
Vorgang oft ſchon verſtrichen find, nicht mehr leicht darzuthun. Ge—
ſchichtliche Nachrichten, ſoweit ſie überhaupt vorliegen, ſind darüber
2
180
meift ſehr karg und fo find wir gewöhnlich ganz auf ſolche antiqua-
riſche und geologiſche Entdeckungen angewieſen, wie fie jetzt in immer
größerer Ausdehnung und Bedeutung von Jahr zu Jahr auftauchen.
Entdeckungen dieſer Art ſcheinen nun dahin zu deuten, daß vor
den Ratten in einer noch älteren Zeit auch die Hausmaus, Mas
uus ulus Lin,, in Europa einwanderte. Prof. Rütimeyer in Baſel hat
in ſeiner an überraſchenden Ergebniſſen reichen und hier ſchon mehr—
fach gedachten Arbeit über die Reſte der Hausthiere, welche in den vor
Beginn der geſchichtlichen Epoche von einem (vielleicht celtiſchen) Volke
aufgeführten Pfahlbauten der Schweizer Seen gefunden wurden, unter
anderm dargethan, daß damals nicht nur die erwähnten Arten von
Ratten, ſondern auch die Hausmaus noch fehlte. Den alten Schrift—
ſtellern war von allen unſeren derartigen Hausplagen nur die Maus
bekannt. Ariſtoteles und Plinius erwähnen fie jchon mit Be:
ſtimmtheit. Ob ſie in Aſien oder in Südeuropa urſprünglich
einheimiſch war, mag noch dahingeſtellt bleiben, aber es ſcheint jetzt
ſicher, daß ſie in den älteſten bekannten Anſiedelungen des Menſchen
in Mitteleuropa, wie die Unterſuchung der älteren Pfahlbauten
lehrt, noch fehlte und ſpäter erſt — wahrſcheinlich mit Zunahme
der Bevölkerung und des Getreidebaues — hier einwanderte und ſich
einbürgerte. Seither hat ſich die Hausmaus auf dem Wege der See—
fahrt über faſt alle bewohnten Theile der Erde verbreitet.
Rütimeyer's Beobachtungen über das Gebiß der kleinen
Raubthiere.
Bei dem großen Gewichte, welches die Gegner der Transmuta—
tionslehre auf die vorwiegende und mit Ausſchluß einiger erloſchenen
Varietäten des Nil-Krokodils vielleicht vollſtändige Uebereinſtimmung
der als Mumien in den Grabdenkmalen der alten Aegypter auf unſere
Tage erhalten gebliebenen Thierreſte jener Zeit mit den heute noch
lebenden Arten legen zu dürfen glauben, hat eine dahin einſchlagende
Beobachtung von Dr. Rütimeyer im Darwin'ſchen Sinne einen
um ſo höheren Werth. Er weiſt beſtimmte Veränderungen nach,
welche an einer Reihe von wilden Thieren ſeit der Zeit der erſten
Einwanderung des Menſchen in der Schweiz vor ſich gegangen
ſind und treffende Belege für die Wahrheit der Transmutationslehre
abgeben. Er fand nämlich, daß beim Fuchſe und einigen kleineren
181
Raubthieren Veränderungen im Gepräge des Gebiſſes eingetreten find.
Daſſelbe zeigt bei den Reſten aus dem Steinalter eine ſchärfere Aus—
bildung als bei den heute lebenden Thieren der gleichen Art. Es liegt
ſehr nahe zu vermuthen, daß ihre weichen Verdauungsorgane dem ent—
ſprechend auch zu einem gewiſſen Grade abwichen. Ueberhaupt aber
fällt die Erſcheinung in das Bereich jener ſympathiſchen Gemeinſam—
keit der Charactere von Thieren eines beſtimmten Gebietes, deren
früher ſchon gedacht wurde.
Dr. Rütimeyer fand bei den Reſten des Fuchſes (Canis
valpes bin.), des Steinmarders (Mustela foina Lin.) und des
Iltis (Mustela putorius Lin.), die ſich in den Schweizer Pfahlbauten
erhielten, eine eigenthümliche und ſehr auffallende Schärfe der Zahn—
ſculptur, eine feinere und ſchärfere Ausprägung aller Einzelheiten des
Gebiſſes als die Schädel derſelben Arten in unſeren Tagen bieten.
Die Zähne an den ſubfoſſilen Schädeln ſind merklich kantiger, ſchärfer,
ſchneidender, das Gebiß überhaupt zierlicher, der ſpecifiſche Typus
der Art gleichſam ſchärfer ausgeſprochen.
Artverſchiedenheiten liegen hier nicht vor. Ueberhaupt erſcheinen
in jener Fauna wilder Thiere in den älteſten bekannten menſchlichen
Anſiedlungen der Schweiz keine Arten, die nicht entweder jetzt noch
in der Schweiz oder in Deutſchland fortleben oder die nicht
wenigſtens Julius Cäſar vor nahe zwei Jahrtauſenden im Her—
cyner Walde noch lebend traf.
Wenn alſo der Fuchs, der Steinmarder und der Iltis der heu—
tigen Schweizer Fauna in grader Linie von jenen Thieren des Stein—
alters abſtammen, ſo fragt es ſich, was wohl der Grund der Abän—
derung geweſen ſein mag, die ſeitdem vorgegangen iſt.
Der zeitliche Abſtand von der Epoche der Schweizer Pfahlbauten
bis zum heutigen Tage iſt zwar durch die antiquariſche Forſchung noch
nicht näher feſtgeſtellt worden, man vermuthet, daß die jüngſten etwa
vor 2000 Jahren noch bewohnt wurden, die älteſten aber, aus denen
eben die Reſte der genannten kleinen Raubthiere vorzugsweiſe ſtammen,
mögen vielleicht 3 4 - 5000 Jahre alt oder noch älter fein. In—
nerhalb dieſer Zeit haben alſo eine Anzahl von Säugethierarten im
Character des Gebiſſes in gleicher Weiſe merklich ſich verändert und
es muß dies eine Wirkung derſelben Umſtände geweſen ſein. Es iſt
nun allerdings ſchwer dieſe Umſtände mit Beſtimmtheit genauer zu
bezeichnen. Aber es liegt nahe zu vermuthen, daß ſie mit der zu—
4
182
nehmenden Bevölkerung des Gebiets durch den Menſchen zuſammen⸗
hängen, der die Waldungen lichtete, Felder und Gärten anlegte, die
großen Raubthiere an Zahl verringerte oder ganz ausrottete und mehr
Nahrungsthiere, namentlich zahmes Geflügel, einführte. Es ſcheint,
daß bei dieſen Aenderungen der allgemeinen Daſeinsbedingungen durch
den Einfluß des Menſchen eine eigenthümliche individuelle Variation
bei den kleinen Raubthieren hervorgerufen wurde und ſich dann durch
Vererbung erhielt Verminderte Ausprägung des Typus im Raub⸗
thier-Gebiſſe möchte wohl auf Erleichterung des Kampfes um's Da—
ſein deuten. Der Menſch hat allerdings auch die kleinen Raubthiere
von jeher gejagt und an Zahl verringert, aber er hat dafür auch die
großen Raubthiere, den Bär, den Wolf und den Luchs für das Ge—
biet der Schweiz ausgerottet und zugleich eine Anzahl von Haus—
thieren gezogen, welche nicht ſelten die Beute von Fuchs und Marder
werden.
Dr. Guſtav Jäger macht mich noch darauf aufmerkſam, daß
der Fuchs, die Marderarten und der Iltis im Sommer und Herbſt
vorzugsweiſe auf feines ſüßes Obſt wie namentlich Trauben, Zwet⸗
ſchen u. ſ. w. ausgehen und um dieſe Zeit den Hühnern, Tauben
u. ſ. w. um ſo weniger nachſtellen. Dies würde daraufhin deuten,
daß der Gartenbau vorzugsweiſe es geweſen ſein könnte, was jene
Aenderung im Gebiſſe der Füchſe und Marder hervorgerufen hat.
Jedenfalls zeigt br. Rütimeyer, daß jenſeits der Grenzen der
unmittelbaren Beobachtung lebender Thiere aber immer noch inner—
halb der Zeit ſeit Einwanderung des Menſchen in Mitteleuropa Ver—
änderungen an Säugethieren vor ſich gehen konnten, wie wir ſie
ſonſt nur nach Verlauf geologiſcher Zeiträume zu finden gewohnt ſind
und daß dabei die Gleichartigkeit des Verlaufs für mehrere von einan—
der unabhängige Arten ebenſo deutlich ausgeſprochen ſein kann, als es
in zahlreichen Fällen längſt ſchon aus der Pflanzen- und Thiergeogra-
phie bekannt iſt.
183
Diertes Capitel.
Stufenweiſe Vervollkommnung der Organism:
Se
_—
Die ſtufenweiſe Vervollkommnung der Pflanzen- und Thierwelt
verkündigt ſich auf drei verſchiedeuen Gebieten, dem ſyſtematiſchen, dem
embryologiſchen und dem geologiſchen. Sie zeigt ſich zunächſt im Sy—
ſteme der heutigen Lebewelt in der von der niederſten Alge zur höchſten
Dicotyledone und in der vom Infuſorium zum höchſten Wirbelthier
führenden Reihenfolge. Zweitens in den Stufen der Entwickelung des
Individuums vom Ei zum reifen Zuſtand, dann auch in jener For—
menreihe, welche in ähnlicher Weiſe beim Vergleiche der älteſten be—
kannten Pflanzen- und Thierreſte mit den ſpäter folgenden und den
heute noch lebenden Formen ſich herausſtellt. Alle dieſe Erſcheinungen
in der Geſtaltung der geſammten Lebewelt haben eine tiefere und zwar
gemeinſame Grundurſache und find eine unabweisbare Aufgabe der
Erklärung für die Darwin' ſche Lehre jo gut als fie es von jeher
für jede andere Schöpfungstheorie waren.
Die einzige ganz ununterbrochene Stufenfolge der Vervollkomm—
nung zeigt ſich in der Entwickelung vom Ei zum reifen Organismus.
Die Pflanze wie das Thier durchlaufen theils bei der Entwickelung
im Ei, theils nach der Befreiung von den umſchließenden Hüllen
eine Reihe von Umgeſtaltungen, die im Allgemeinen zur Vervollkomm—
nung führen. Die reife Pflanze, das reife Thier ſind höher orga—
niſirt als ihr Ei und aͤuch meiſtens, jedoch nicht immer, höher orga—
niſirt als jede dazwiſchen fallende Bildungsſtufe.
Die Ausbildung des Ei's zu einem Lebeweſen geſchieht nur ſehr
allmählig. Beim Ei der Wirbelthiere entſteht von allen Körpertheilen
zuerſt ein knorplicher Strang, die Chorde dorsalis, welche die Anlage
zum ſpäteren verknöcherten Rückgrahte der höheren Formen darſtellt.
Eins ſeiner Enden breitet ſich etwas mehr aus, es iſt der Anfaug zur
Bildung des Kopfes, ſpäter entwickelt ſich im Eingeweideſacke ein Bläs—
chen, welches pulſirt, es iſt der erſte Beginn des Herzens, dann erſt
erſcheint ein ausgebildeter Kreislauf der Nahrungsſäfte in Abhängig—
184
keit von der Ausdehnung und Zuſammenziehung des Herzens. U
ſo dauert die erſte Erſcheinung und weitere beſtimmtere Ausbildu
der einzelnen Theile und Organe fort, bis der Organismus ſei
volle Höhenſtufe der Organiſation erlangt hat. Eine ähnliche Stu
folge der Entwickelung vom niederen zum höheren zeigen ub haupt
alle höheren Thierformen bis hinab zu jenen, die kaum mehr als
einfache belebte Zellen ſind und dem Ei der höheren Thiere inſofern
vergleichbar erſcheinen. Auch bei der Pflanze findet ein ähnlicher
Stufengang der Entwickelung vom Samenkorne zum ausgebildeten
pflanzlichen Individuum ſtatt.
Indeſſen iſt dieſer Stufengang ſchon kein vollkommen durchgrei—
fender, kein allenthalben zur fortſchreitenden Vervollkommnung füh—
render. Es gibt vielmehr auch eine Reihe von Lebeweſen, bei denen
die Höhe der Ausbildung in einer früheren oder ſpäteren Stufe des
Lebens ſchon erreicht wird und von da an eine Rückbildung eintritt,
welche dem Begriffe der Vervollkommnung ganz und gar widerſpricht.
Es iſt dies die ſogenannte rückſchreitende Metamorphoſe,
die auf einer ungleichmäßigen Ausbildung vegetativer Organe und Ver—
richtungen — nämlich des Fortpflanzungsſyſtems — auf Koften der
ee und Sinneswerkzeuge beruht und namentlich bei is
Cruſtaceen in auffallendem Grade vorkommt.
Vervollkommnung und rückſchreitende Metamorphoſe ſind ſewohl
anatomiſcher als phyſiologiſcher Natur, ſie betreffen ſowohl den Bau
der Organe als deren Verrichtungen. Bei der Vervollkommnung gehen
gewöhnlich beide Momente ſo innig Hand in Hand, daß man nicht
wohl mehr ſagen kann, welches das eigentlich primäre iſt. Gewöhnlich
dürfte es das phyſiologiſche fein, welches auf den Bau des Orgauis⸗
mus einwirkt, wie das namentlich bei der rückſchreitenden Metamor—
phoſe offenbar iſt. In anderen Fällen aber hat ein Organismus von
anders gearteten Vorfahren Theile ererbt, die er in ſeinem dermali⸗
gen Zuſtand nicht mehr bedarf und die dann oft der Sitz von Ver⸗
richtungen werden, für welche ſonſt keine eignen Organe vorhanden
ſein würden, wie dies z. B. meiſt beim Schwanz der Säugethiere,
namentlich aber beim Wickelſchwanz des Klammeraffen und beim Wedel⸗
ſchwanz vieler Wiederkäuer der Fall iſt. D. h. Es iſt anzunehmen,
daß wenn nicht an ſich ſchon die Säugethiere den Schwanz als Erb
ſtück von den Fiſchen erhalten hätten, der Klammeraffe kein Organ des
Kletterns und die Wiederkäuer kein Organ des Wedelns am hintern
*
185
sfeletttheile haben könnten. Hier iſt alſo das anatomiſche Moment
das primäre.
Die Vervollkommnung, in ſo fern ſie phyſiologiſcher Natur iſt,
beſteht in Theilung der Arbeit ), in anatomiſcher Hinſicht
aber erſcheint ſie vorzugsweiſe als Differenzirung oder Ver—
unähnlichung der Organe und der Körpertheile überhaupt. Eine
vollſtändige Theilung der Arbeit aber wird nur möglich, wenn ihr
eine Differenzirung der Körpertheile in entſprechender Weiſe voraus—
geht oder nachfolgt und dieſe ſich fo geſtaltet, daß fie den beſonderen
Verrichtungen am vollkommenſten entſpricht. So iſt die Theilung
der Arbeit zwiſchen Hände und Füße beim Menſchen vollkommener
als bei den Vierhändern, wo Vorder- und Hinterfüße noch nicht ſo
ſehr differenzirt ſind.
Das einfachſte Organ und zugleich auch die niederſte individuelle
Lebensform iſt ſowohl in der Pflanzen- als in der Thierwelt die
Zelle. Die niederſten Pflanzen- und Thierformen, ebenſo das Ei'chen,
die Zooſpermie und das Pollenkorn der höheren Formen ſind theils
einfache Zellen, theils nur um weniges mehr zuſammengeſetzte Gebilde.
Die Zelle iſt ein abgegrenzter Tropfen belebter Materie, eine in
Stoffwechſel begriffene flüſſige oder weiche Kugel mit einer mehr oder
minder ausgeſprochenen, abgrenzenden äußeren Hülle.
Alle Gewebe und alle Organe der Pflanze und des Thiers ent—
ſtehen aus der Zelle. Ein Theil der Zellen verharrt in ſeiner ur—
ſprünglichen Einzelheit. Ein anderer tritt gruppenweiſe zuſammen und
erzeugt unter manigfacher eigner Umgeſtaltung ungleichartige Körper—
theile. Dazu kommen noch äußere ſich befeſtigende Zellenausſcheidungen
und vielleicht auch wohl urſprüngliche Ausfüllungen von Zwiſchenräumen
(Intercellularſubſtanz). Aus dieſen wenigen Elementartheilen erſcheinen
alle, auch die höchſten Organismen zuſammengeſetzt. In der einfachen
oder zuſammengeſetzteren, gleichartigeten oder ungleichartigeren Natur
des Aufbau's aber offenbaren ſich die manigfachſten Stufen der Ver—
vollkommnung.
Pflanzen- und Thierreich ſetzen ſich darnach aus einer großen
Menge von weiteren und engeren Formengruppen zuſammen, welche,
ihrer Vervollkommnung nach unter einander verglichen, bald an—
ſteigende, bald einauder mehr gleichlaufende Reihen darſtellen, dem
N 1) H. Milne Edwards. Das Verfahren der Natur bei Geſtaltung des
Thierreichs. Stuttgart 1853.
E-
186
idealen Bilde nach im Allgemeinen aber am meiſten mit den manig-
fachen Verzweigungen eines Strauches oder Baumes übereinkommen.
Vollſtändig läßt ſich dieſe Stufenreihe der Vervollkommnung in-
deſſen in unſeren Syſtemen der Lebewelt nicht darſtellen, man ſtößt
vielmehr in vielen Fällen auf große Lücken, welche gewiſſe Gruppen
von Formen von ihren nächſten Verwandten trennen. Häufig reihen
ſich erloſchene, nur aus den Schichten unſerer Gebirge in foſſilem
Zuſtande bekannte Weſen unverkennbar in ſolche Lücken des Syſtems
der heutigen Lebewelt ein und mildern die Gegenſätze. Doch iſt es
zufolge der Unvollſtändigkeit, an welcher die Ueberlieferung der ur—
weltlichen Reſte ſelbſt leidet, noch nicht möglich geweſen, auf ſolche
Weiſe jene Lücken gleichſam ganz auszufüllen, in vielen Fällen wird
es überhaupt auch nie vollſtändig geſchehen können.
Vervollkommnung im Pflanzenreiche.
Die einfachſte Form der Pflanze iſt die Zelle, welche
bei einer Anzahl der niederſten Formen als ſolche ſelbſtändig lebt,
d. h. ihren Stoffwechſel vollführt, ſich ernährt, auwächſt und ſich
dann durch einfache Theilung — oder auch wohl durch Umgeftaltung
des Inhaltes zu inneren oder Brut-Zellen — vermehrt. Sie iſt
anatomiſch wie phyſiologiſch in ſich abgeſchloſſen, überhaupt aber die
eigentliche Urpflanze.
Nutritive und generative Organe find bei dieſer einfachſten Pflan-
zenform noch nicht beſonders entwickelt. Ernährung und Fortpflan—
zung ſind noch innig verſchmolzen. Alle Lebenserſcheinungen über—
haupt zeigen ſich auch erſt ſchwach und einförmig ausgeſprochen. |
So iſt es der Fall bei den einfachſten Algen, z. B. beim
Protocosceus oder der grünen pulverförmigen Vegetation, die ſich in
ſtehendem Waſſer ſowohl, wenn es Wochen oder Monate lang in
loſe bedeckten Glasgefäßen erhalten wird, als auch im Frühjahre in
Waſſergräben entwickelt. So iſt es ferner bei den niederſten Pil z—
Formen, z. B. bei den Hefenzellen, die ſich in gährenden
Flüſſigkeiten zeigen.
Oft reihen ſich auch die einfachen Zellen vermöge der Art ihrer
Bildung zu Fäden aneinander, wie bei den Conferven oder den
grünen Fäden unſerer ſtehenden Gewäſſer, von denen dann doch jede
einzelne noch ſelbſtändig für ſich fortleben kann.
187
Alle übrigen Pflanzen beſtehen aus einer mehr oder minder diffe—
renzirten Anhäufung von Zellen. Es tritt bei ihnen eine verſchieden—
artige Ausbildung der einzelnen Zellen je nach den beſonderen Körper—
theilen und zum Behufe beſonderer phyſiologiſcher Verrichtungen ein.
Die Zellen bilden hier einen Theil eines größeren Ganzen, ihr be—
ſonderes Individuenleben geht dabei ſtufenweiſe mehr und mehr in
das eines Geſammtweſens auf, deſſen Einfluß dann auf ihren Bau
und ihre Verrichtungen wieder zurückwirkt. Einzelne Gruppen von
Zellen ordnen ſich zuſammen zu verſchieden geſtalteten und verſchiedene
Verrichtungen vollführenden Theilen des Pflanzenkörpers und ſetzen
nunmehr beſondere Organe zuſammen, die dann noch vielfacher wei—
terer anatomiſcher und phyſiologiſcher Steigerung fähig ſind. Ernäh—
rung und Fortpflanzung treten in ſtärkeren Gegenſatz, nutritive und
generative Organe entwickeln ſich zu mehr und mehr von einander
abweichenden Formen.
Der Pflanzenorganismus wird ſolcher Geſtalt ungleichartiger und
zuſammengeſetzter, für die beſonderen Verrichtungen finden wir nun
beſondere Orgaue. Wir ſagen, die Pflanze iſt höher organiſirt.
Zu den einfachen, der Gefäße noch entbehrenden Zellenpflanzen
gehören namentlich die Algen, die Flechten und die Pilze.
Auch unter ihnen ergeben ſich bereits manigfache Stufen der Vervoll—
kommnung. So zeigt ſich bei den höheren Algen ſchon eine beginnende
Differenzirung des einfachen Zellgewebes in Stengel und Blätter.
Eine höhere Stufe ſind die Gefäßpflanzen, zu denen die
Lebermooſe, die Mooſe, Equiſeten, Farnen und Lycopodiaceen, ſowie
alle Phanerogamen gehören. Sie beſitzen neben den Zellen noch
innere Organe zuſammengeſetzterer Bildung. Zellen treten in linien—
weiſer Aneinanderreihung ſo zuſammen, daß ſie mehr oder minder
vollkommen in ein Ganzes verſchmelzen. Dies ſind die Gefäße.
Mit dem Auftreten der Gefäße wird die Differenzirung der
Körpertheile allmählig vollkommener und der Bau der Organe den
ihnen obliegenden Verrichtungen angemeſſener. Der Vorgang über—
haupt aber führt in manigfachen Stufen und nach verſchiedenen Rich—
tungen zur höheren Organiſation.
Stengel und Blätter, nutritive und generative Theile, gehen mehr
und mehr auseinander und die Abſtufungen des Vorganges führen zum
Hervortreten der manigfachſten, bald mehr neben, bald mehr über
einander gereihten Ordnungen und Familien.“
188
Die Theilung der phyſiologiſchen Arbeit wird dabei allmählig
vollſtändiger, die Pflanze erhält mehr und vielſeitigere Fähigkeiten und
vollführt höhere Leiſtungen. Wir brauchen, um uns an Nahrungs-
pflanzen zu halten, z. B. von Zellenpflanzen nur auf die Isländiſche
Flechte und von hochausgebildeten Gefäßpflanzen auf den Apfelbaum
zu weiſen, um erſichtlich zu machen, wie weit das Ergebniß der
Leiſtungen der einen die der anderen Stufe überſteigt. Was aber der
Apfelbaum mehr leiſtet als die Flechte, das leiſtet er vermöge der
ſelbſtändigeren Ausbildung ſeiner beſonderen Organe und der voll—
kommneren Vertheilung ſeiner Lebensverrichtungen unter dieſelben.
Die Stufenfolge, welche die Syſtematik im Anordnen der ein—
zelnen Pflanzeuformen von der niederſten zu der höheren Pflanzen—
form zum Vorſchein bringt, findet ihren Nachklang in der Entwicke—
lung der Formenreihe, welche die höhere Pflanze in ihrer Ausbildung
vom Samenkorn zur Reife durchläuft. Auch hier zeigt ſich eine Stu—
fenfolge vom einfachen zum zuſammengeſetzteren Bau, von einfachen
gering ausgeſprochenen Lebensverrichtungen zu vielfacherer und kräf—
tigerer Leiſtung. Die niederſte Bildungsſtufe der höheren Pflanze ent—
ſpricht augenfällig dem Bau und den Verrichtungen niederer einfacherer
Pflanzenformen. Das Ei'chen und das Samenſtäubchen der Phane—
rogame weicht nur wenig von der einfachen Zelle ab, in deren Form
die niederſten Algen und die niederſten Pilze erſcheinen.
Auch die Reihenfolge des geologiſchen Auftretens der größeren
Abtheilungen des Pflanzenreihs wiederholt einen ähnlichen Gang vom
unvollkommenen zum vollkommneren. Die älteſten foſſilführenden Schich—
ten haben bis jetzt von Pflanzen allein nur Algen geliefert. Aco—
tyledonen herrſchen in allen zunächſt folgenden Ablagerungen vor.
Cycadeen und Coniferen bilden die Hauptvegetation der Trias- und
Juraformation. Dicotyledonen erſcheinen erſt nach ihnen in der Kreide
und werden in der Foſſilflora der Tertiärbildung über alle niedri—
geren Abtheilungen ſo vorherrſchend, als es noch jetzt mit ihnen der
Fall iſt.
Aus den älteſten Gebirgsſchichten kennt man von Pflanzen allein
nur Meeresbewohner. Landgewächſe treten erſt ſpäter einzeln auf
und gewinnen nachträglich erſt jenes Uebergewicht der Formen, das
ſie noch jetzt auszeichnet.
Alles dies führt zum Schluſſe, daß die einfache Zelle, die Lebens—
form der niederſten heutigen Pflanzenarten, nicht nur der Ausgangs-
18
punkt der individuellen Metamorphoſe der höheren Pflanzen ift, ſon—
dern auch die Urform, in der die erſte Pflanze auf Erden erſchien,
von der alle übrige Vegetation durch gradlinige Abſtammung ſich
herleitet.
Vervollkommnung im Thierreich.
Das Thier iſt höher begabt als die Pflanze, es zeigt alle weſent—
lichen Lebensverrichtungen dieſer, beſitzt aber zugleich noch weitere
Fähigkeiten, welche es bevorzugen, nämlich Empfindung und Bewegung.
Im Thierreich zeigt ſich ähnlich wie im Pflanzenreich, aber in
noch reicherer Ausprägung eine Stufenfolge der Vervollkommnung
von der niederſten Infuſorienform zum höchſtentwickelten Wirbelthier.
Dieſe Stufenfolge iſt im Großen und Ganzen unzweifelhaft ausge—
ſprochen und inſoweit auch ſeit den älteſten Zeiten der Wiſſenſchaft
allgemein anerkannt worden. Aber ſie erweiſt ſich zugleich in zahl—
reichen Fällen im Bereiche einzelner Klaſſen oder Ordnungen des Thier—
reichs in ſo ganz unverkennbarer Weiſe, daß ſie auch hier als ein
für die Syſtematik weſentlich maßgebendes Moment erſcheint, welches
dem Zoologen die Mühe erſpart, ſich behufs der Ueberſicht der Einzel—
formen nach willkührlich hervorgegriffenen Merkmalen umzuſehen.
Auch hier iſt wieder die einfache Zelle der erſte Ausgangspunkt.
Die niederſten Infuſorien, die Rhizopoden, auch die jungen Thiere
der Schwämme ſcheinen wenig mehr als einfache Zellen zu ſein.
Das Ei'chen und die Zooſpermien der höheren Thierformen bilden
auch hier wieder zur frei lebenden Zelle eine ſehr nahe Parallele.
Ebenſo wie im PFflanzenreich verſchwimmen auch die Lebens—
verrichtungen noch bei den niederſten Anfangsformen der Thierwelt
und entwickeln ſich in mehr ſelbſtändiger und eutſprechend vollkomm—
nerer Weiſe erſt mit den nachfolgenden zuſammengeſetzteren höheren
Typen. Differenzirung der Körpertheile und Theilung der Arbeit
gehen wieder Hand in Hand.
Bei den einfachſten und niederſten Thierformen, wie den Infu—
ſorien und Rhizopoden verſchwimmen noch mehr oder minder alle
Verrichtungen in einander und haben noch keine beſonders ausgebil—
deten Theile zu Trägern erhalten. Der ganze Körper vollführt noch
zu gleicher Zeit die Verrichtungen der Ernährung, der Athmung,
der Bewegung, der Empfindung und der Fortpflanzung.
190
Mit ſteigender Vervollkommnung der Form aber — alſo bei
den Polypen und Echinodermen, bei den Mollusken, bei den Glieder—
thieren und Wirbelthieren — theilen ſich dieſe Verrichtungen mehr
und mehr, es bilden ſich beſondere Organe für beſondere Verrich—
tungen, mit anderen Worten, es ſtellt ſich eine höhere Organi—
ſirung heraus.
Mit einer gewiſſen höheren Stufe erſcheint auch für die Ver—
geſellſchaftung von beſtimmten Organen ein gemeinſamer Sammel-
punkt, es erſcheint ein Kopf, wie er allen höheren Thierformen zu—
kommt, an dem ſich namentlich die Werkzeuge der Nahrungsaufnahme
und der Sinneswahrnehmung anſammeln.
So erſcheint die Fähigkeit der Empfindung bei den nieder—
ſten Thierformen noch ungetheilt über die ganze oder wenigſtens doch
über den größten Theil der Körperoberfläche vertheilt. Man unter—
ſcheidet noch keine vorzugsweiſe die Verrichtungen der Empfindung be—
ſorgende in eigenen Körpertheilen angeſammelte Materie. Mit den
höheren Stufen der ſyſtematiſchen Reihe aber ſtellen ſich dann Thier—
formen ein, bei denen man einzelne Zellen mit Nervenſubſtanz
deutlich wahrnimmt. Später erſcheinen einfache Nervenfäden,
dann Fäden mit Knoten oder Ganglien, weiterhin Hauptfäden
mit Hauptknoten, denen geringere untergeordnet ſind. Endlich aber
gewinnt bei den Wirbelthieren das Nervenſyſtem einen Sammelpunkt
im Gehirn, welches vom Schädel eingeſchloſſen wird und von
welchem ein Hauptnervenſtamm, das Rückenmark, ausläuft. Zu⸗
gleich ſammeln ſich dann um dieſen phyſiologiſchen Mittelpunkt herum
eine Anzahl wichtiger Organe, wie das Auge, das Ohr u. |. w.,
welche bei den niedrigeren Formen noch eine verſchiedene und zum
Theil ziemlich unbeſtändige Stellung eingenommen hatten.
Für das Ernährungsſyſtem beſteht bei den niederſten Thier—
formen noch kein eigenes Organ. Die allgemeine Körperoberfläche
nimmt Nahrungsſäfte auf und ſcheidet verbrauchte Stoffe aus, ſie
athmet ein und athmet aus. Erſt im Laufe der weiteren Vervoll—
kommnung erſcheinen Mund, Magen und Darmcanal für die
Ernährung, Kiemen oder Lungen als beſondere Organe für die
Athmung.
Aehnlich verhält es ſich mit den Organen der Bewegung,
mit den Organen des Kreislaufes der Nahrungsſäfte und mit
denen der Fortpflanzung. Auch hier bedingen Theilung der
191
phyſiologiſchen Verrichtungen und Differenzirung der Körpertheile ſich
gegenſeitig.
Dieſe ſtufenweiſe Vervollkommnung geſchieht nicht nach einer
einzigen allen Thierformen gemeinſamen Richtung, ſondern theilt ſich
bald von dieſer, bald von jener Stufe aus in ſehr verſchiedene, dabei
aber oft dennoch einander ſehr gleichlaufende Wege.
Indem die Thierform von der einfacheren, nieder organiſirten
zur zuſammengeſetzteren höheren Stufe anſtrebt, ſtellt ſich alſo vielfach
eine Ungleichheit in der Entwickelung der einzelnen O r—
gane oder ganzer Gruppen von Körpertheilen oder phyſiologiſcher
Organgruppen heraus. Ein Theil derſelben kann bei einer gewiſſen
Gruppe von Organismen, ein anderer bei einer anderen Gruppe zur
vorwiegenden Ausbildung gelangen. Durch ſolche Ungleichheiten im
Hervortreten der Vervollkommnung entſtehen vielfach unter den Thier—
formen mehr oder minder ausgeſprochene Parallelgruppen, deren be—
züglicher Organiſationswerth ſich nicht immer mit Beſtimmtheit ab—
ſchätzen läßt und dann für den Aufbau unſerer natürlichen Syſteme
zu einem gewiſſen Grade der individuellen Anſicht Raum gibt. So
ſtehen die zahlreichen und manigfachen Formen der Schmetterlinge,
der Zweiflügler und der Käfer innerhalb des Bereiches eines ſehr
eng begrenzten Grundplanes.
Man hält ſich in ſolchen Fällen gewöhnlich an den Gegenſatz der
animalen Orgaue und Verrichtungen — alſo jener der Bewegung
und der Empfindung, welche überhaupt für das Thier als ſolches
vorzugsweiſe bezeichnend ſind — zu denen vegetativer Natur,
alſo den Organen der Ernährung, Athmung und Fortpflanzung. Eine
Vervollkommnung in erſterer Richtung ertheilt dem Thiere im Allge—
meinen eine höhere Würde, als eine vorzugsweiſe Ausbildung von einer
mehr vegetativen Natur. Namentlich iſt die Entwickelung des Ner—
venſyſtemes und der Sinnesorgane ein Maßſtab höherer Ent—
wickelungsſtufe ſowohl an und für ſich als auch mit Rückſicht auf
die gleichzeitigen Veränderungen, welche eine Steigerung in dieſer
Richtung auch für die anderen Körpertheile mit ſich bringt und auf
die Ausbildung der geiſtigen Fähigkeiten, die in ihm ihre materielle
Grundlage erhalten.
Ein anderes Wahrzeichen höherer Vervollkommnung iſt eine
gleichmäßige Entwickelung aller Organe eines gewiſſen Typus,
im Gegenſatz zu verwandten Gruppen, bei denen nur einzelne Or—
192
gane eder Organgruppen eine verhältnißmäßig hohe Ausbildung er-
reicht haben, indeſſen andere gegen fie weit zurück geblieben find.
Endlich entſpricht dem Vorgange der Arbeitstheilung auch die
Vereinfachung und Feſtſtellung der Zahlenverhältniſſe, die ge-
wöhnlich zugleich mit der Differenzirung der Körpertheile eintritt.
Wird das Zahlenverhältniß einfacher und beſtändiger, ſo iſt dies
immer ein Zeichen höheren Organiſationswerthes. So zeigen die
Fiſche zahlreiche und ſehr gleichartige Wirbel und deren Zahl ändert
ſich nach den Gattungen in bedeutendem Maße. Mit den höheren
Klaſſen der Wirbelthiere aber vermindert ſich die Zahl der Wirbel.
Es tritt zugleich eine ſtärkere Differenzirung derſelben für beſtimmte
Verrichtungen ein. Aehnlich iſt es mit den Zähnen. Die zahlreichen
und unter einander ſehr gleichartigen Zähne der Haie, ſowie auch die
der Saurier und der Delphine zeigen mehr oder minder unbeſtändige
Zahlenverhältniſſe. Mit den höheren Ordnungen der Säugethiere
aber wird das Zahlenverhältniß des Gebiſſes einfacher und ſehr be—
ſtändig; gleichzeitig werden die Zähne aber auch unter einander weit
mehr ungleichartig.
Halten wir uns, um allgemeiner bekaunte Beiſpiele hervorheben
zu können, an die Wirbelthiere im Gegenſatz zu den wirbelloſen,
ſo kann es zunächſt keinem Zweifel unterliegen, daß die Wirbelthiere
im Allgemeinen und in der überwiegenden Mehrzahl der einzelnen
Fälle die vollkommenere Form ſowohl in anatomiſcher als in phyſiolo—
giſcher Hinſicht darſtellen. Die Wirbelthiere find höher organiſirt, in-
dem ihre einzelnen Körpertheile, namentlich die zu weſentlichen Ver—
richtungen beſtimmten Organe mehr individualiſirt und differenzirt
ſind, d. h. indem ſich ein jedes derſelben für einen beſtimmten Zweck
ausgebildet und zwar in der Art von anderen Organen abweichend ge—
baut zeigt, daß es den ihm zufallenden Verrichtungen um ſo ausſchließ—
licher und vollkommener entſpricht. Die Theilung der Arbeit, welche
das Lebeweſen zu vollbringen hat, iſt beim Wirbelthier im Allgemeinen
vollkommener auf die einzelnen Theile und Organe des Körpers aus—
geführt. Die Fähigkeiten der Wirbelthiere ſind faſt ohne Ausnahme
die verſchiedenartigſten, am weiteſten reichenden und überhaupt voll⸗
kommenſten, die Organiſationsſtufe daher höher als bei Strahlthieren,
Gliederthieren, Weichthieren.
Vor allen wirbelloſen voraus haben die Wirbelthiere ein inneres
feſtes Gertiſte, welches nur bei wenigen Anfangsformen aus Knorpel,
193
bei der großen Mehrzahl und allen höheren Formen aber aus feſter
Knochenmaſſe beſteht. Dieſes innere Gerüſte ertheilt ihren Bewegungen
eine Genauigkeit und Kraft, es geſtattet ihnen auch in zahlreichen
Fällen eine Größe zu erreichen, die bei wirbelloſen nie oder nur aus—
nahmsweiſe vorkommt. 8
Das Nervenſyſtem, das einflußreichite aller, iſt bei den Wirbel:
thieren entwickelter als bei allen wirbelloſen. Sein Hauptſammelpunkt,
das Gehirn, beginnt mit den niederſten Anfangsformen ſchon und gewinnt
bald an Größe und überwiegender Entwickelung. Die Sinnesorgane ſind
ſelbſtändiger und entwickelter, ſammeln ſich enger und mit ausdauern—
der Beſtändigkeit an dem durch die Entwickeluug des Gehirns vor—
zugsweiſe zum Träger des Thierlebens veredelten Vordertheil des
Körpers und gewinnen damit an Leiſtungsfähigkeit. Die Organe der
Ernährung, der Athmung, des Blutumlaufs, der Fortpflanzung und
der Bewegung vervollkommnen ſich gleichzeitig in bald mehr gleich—
mäßigem, bald in manigfach wechſelndem Verlauf und gelangen zu im—
mer höherer Steigerung der Verrichtungen.
Die Fiſche ſtellen offenbar den niederſten Anfang der Wirbel—
thierformen dar, eine Menge von Merkmalen verkündet noch ihre
niedrigere Stufe. Vor allen Dingen ſind bei ihnen die Wirbel zahl—
reich, unter einander ſehr gleichartig und je nach den Gattungen von ſehr
wechſelnder Zahl. Man bemerkt noch keinen ausgeſprochenen Gegenſatz
zwiſchen Hals- und Rückenwirbeln, wie denn auch der Kopf gewöhn—
lich noch durch keine dem Halſe der höheren Thiere vergleichbare
Verengung vom Rumpfe getrennt erſcheint. Man unterſcheidet ge—
wöhnlich nur zweierlei Wirbel, Rücken- und Schwanzwirbel. Die
Athemwerkzeuge beſtehen dem faſt ausſchließlichen Aufenthalte im Waſ—
ſer entſprechend aus Kiemen. Die Gliedmaßen ſind noch ſehr un—
entwickelt und zur Form von Floſſen geſtaltet, die von den übrigen
Floſſen des Körpers ſich im Allgemeinen nur wenig unterſcheiden.
Die Zähne ſind zahlreich, oft z. B. bei den Haien, ſehr gleichförmig
und im Zahlenverhältniß ſehr unbeſtändeg. Alles dies und viele an—
dere anatomiſche und phyſiologiſche Momente ſind Züge im Character
der Fiſche, welche die Anfänge von Reihen darſtellen, die unter manig—
facher Vervollkommnung bei höheren Wirbelthieren ſich fortſetzen.
Innerhalb der Klaſſe der Fiſche ſelbſt tritt nicht nur im Allge—
meinen eine Stufenfolge vom Niederen zum Höheren ein, ſondern es
zeigt ſich eine ſolche auch noch innerhalb der Formen der drei Haupt—
Rolle, Darwin's Lehre. 13
194
ordnungen, der Knorpelfiſche, der Ganoiden und der Kno—
chenfiſche, welche nach ſehr abweichendem Plane vom Niederen
zum Höheren anſteigen und zu ſehr ungleichen Höhenſtufen der Ver—
vollkommnung gelangen. So beſteht bei den Rochen und Haien
das Skelett noch aus Knorpel und beide Gruppen erweiſen ſich nach
dieſem wichtigen Theil ihres Körperbaues als weit hinter den Knochen—
fiſchen zurück geblieben, aber ſie beſitzen dafür ein viel vollkommneres
Nervenſyſten und höher ausgebildete Fortpflanzungsorgane, überragen
in dieſer Hiuſicht daher ihrerſeits wieder die Knochenfiſche.
Im Großen und Ganzen weit höher als alle Formen der wir—
belloſen Thiere entwickelt, beginnt die Klaſſe der Fiſche doch mit
einigen ſo ganz und gar nieder organiſirten Weſen, wie Amphioxus
und Myxine, daß dieſelben den erſten Entdeckern noch gar nicht als
Fiſche galten, ſondern Pallas die erſtere Form für eine Nadt-
ſchnecke, Linne die zweite für einen Wurm anſah.
Das an den Küſten der Nordſee, wie auch des Mittelmeeres
lebende Lanzettfiſchchen, Amphioxus lanceolatus Pall., erreicht
höchſtens zwei Zoll Länge, iſt von geſtreckter beiderſeits zugeſpitzter
Form und faſt durchſichtig. Es beſitzt noch keinen Schädel, noch kein
vom Rückenmark abgeſondertes Gehirn, noch kein Herz und noch kein
gefärbtes Blut. Pallas hatte es noch für eine Nacktſchnecke,
Limax, gehalten, erſt neuere anatomiſche Unterſuchungen zeigten, daß
es bereits nach dem Typus der Wirbelthiere gebaut iſt, die niederſte
bekannte Stufe der Fiſche darſtellt und überhaupt als Prototyp oder
Urform des ganzen Wirbelthierreichs, als unmittelbarer Nachkomme
der älteſten Wirbelthiere der Urwelt gelten kann.
Der einfachſte Vertreter des Fiſchtypus der heutigen Schöpfung
iſt alſo, obſchon ein unzweifelhaftes Glied der Wirbelthier-Reihe,
doch ein an Ausbildung des anatomiſchen Baues, an Theilung und
Steigerung der Verrichtungen den höchſtentwickelten Formen der Mol—
lusken und der Gliederthiere noch weit weit nachſtehendes Weſen.
Linne hatte noch Myxine den Würmern, Pallas den Am-
phioxus den Nacktſchnecken zugetheilt. Aber die Inſecten ſind offenbar
höher organiſirt als die Würmer, die Sepien höher als die Nackt—
ſchnecken. '
Weichthiere und Gliederthiere, jede Klaſſe unabhängig von der
anderen, ſtreben einer höheren Organiſatiousſtufe entgegen, gleichſam
auf verſchiedenen, aber nahe gleichlaufenden Wegen, ſie erreichen mit
195
ihren Gipfelpunkten, die Weichthiere mit den Sepien, die Glieder—
thiere mit den Käfern, auch ſchon einen hohen Grad der Vervoll—
kommnung ihres ihnen eigenthümlichen Typus und überragen inſo—
weit offenbar die niederſten Glieder eines anderen im Allgemeinen
eine höhere Würde behauptenden Typus. Es iſt kein Zweifel, daß
Sepien und Käfer faſt allen weſentlichen Körpertheilen nach höher
organiſirt ſind als die niederſten Fiſch-Formeu.
Die Klaſſe der Lurche oder der Amphibien und Reptilien
zeigt in ihrer ungemein reichen Formen-Entfaltung viele einzelne An-
ſchlüſſe an die Entwickelungsreihen der einzelnen Fiſchtypen. So haben
die Molche noch eine auffallend fiſchartige Geſtaltung, ihnen ſchließen
ſich einerſeits die Fröſchſe, andererſeits die Eidechſen, Krokodile
und Schlangen, als mehr oder minder vereinzelte Fortſetzungen in
verſchiedenen Abſtänden an. Stärker vereinzelt, doch auch nicht ohne ver—
bindende Züge mit niedrigeren Ordnungen, ſtehen die Schildkröten
da. Aehnlicher Weiſe iſolirt, doch vielfach auf Lurchen, zumal Schild—
kröten zurück deutend, reiht ſich die Klaſſe der Vögel an, welche als
Land⸗ und Luftbewohner und zwar meiſt als Flugthiere eine ihrer
Lebensweiſe entſprechende hohe aber verhältnißmäßig einſeitige Ver—
vollkommnung erreichen, die ſie den Säugethieren ſchon nahe gleichſtellt.
Von den Fiſchen zu den Lurchen anſteigend, vervollkommnet ſich
der Bau der Thierform ſchon in manigfacher Hinſicht, die Lebens—
verrichtungen ſteigern ſich. Neben Kiemen treten zum erſten Male
Lungen auf. Waſſerbewohner, amphibiſche Weſen, welche Kiemen und
Lungen zugleich beſitzen und Landbewohner, die nur durch Lungen
athmen, treten in Gegenſatz und, wie bei allen Lebeweſen überhaupt,
vervollkommnet ſich auch bei ihnen mit dem Land- und Luftleben im
Allgemeinen die Organiſation.
Mitten inne zwiſchen Fiſchen und Amphibien ſteht die eigen—
thümliche Mittelform von Lepidos:ren ſowie von Protopterus, über
deren ſyſtematiſche Stellung noch jetzt die Zoologen ſtreiten, die in
Wirklichkeit aber weiter nichts iſt, als ein vereinzelt auf unſere Tage
erhalten gebliebener Zweig jenes genealogiſchen Stammes, dem Fiſche
und Lurche jetzt als ziemlich getrennte Aeſte angehören.
Lepidosiren paradoxa Natt. und Protopterus annectens OW. wur—
den vor drei Jahrzehenden erſt in Flüſſen heißer Länder entdeckt,
Lepidosiren in Südamerika, Protopterus in Weſtafrika. Jede
Gattung hat nur eine einzige Art bisher geliefert.
13°
196
Der Schuppenmolch oder Lepidosiren iſt ein drei Fuß Länge
erreichendes Thier von fiſch—
ähnlicher Körperform mit dürf—
tig ausgebildeten floſſenartigen
Vorder- u. Hintergliedmaßen
und einer ganz mit der der
Knochenfiſche übereinkommen—
den Schuppenbekleidung. Aber
dieſes fiſchartige Thier -befitt
nicht nur Kiemen wie die Fiſche,
ſondern zugleich ſchon eine paa—
e 3. eee panadaza Matt, rige Lunge, die ſich durch einen
Amazonen-Strom. 8 g
Luftgang in den Schlund öff—
net, mithin eine Organiſation, wie ſie nie bei Fiſchen, wohl aber bei
fiſchartigen Lurchen, z. B. bei Proteus, vorkommt. Athmung und
Kreislauf verweiſen alſo Lepidosiren zur höheren Kaffe, indeſſen die
übrige Organiſation noch die eines Fiſches iſt.
Lepidosiren iſt aber kein unmittelbares Verbindungsglied zwiſchen
den höchſt entwickelten Fiſchen und den Lurchen, ſondern reiht ſich
vielmehr den niedrigeren Formen beider Klaſſen an. Sein Skelett
iſt erſt unvollkommen verknöchert, die Wirbelſäule beſteht noch in einem
ungetheilten knorpelichen Strang, auf dem die verknöcherten Wirbel—
bogen aufſitzen. Lepidosiren müßte alſo, in welche von beiden Klaſſen
man ihn auch einreihen wollte, bei jeder in eine der niederen Grup—
pen eingeſchaltet werden. Dieſe einzeln ſtehende Mittelform zwiſchen
Fiſchen und Lurchen iſt nach allem dieſem offenbar nur ein durch
günſtige örtliche Bedingungen dem Erlöſchen entgangener Abkömmling
von einem minder differenzirten urweltlichen Stamm, der von einem
niederen Fiſchtypus ausging und in der Ausbildung von Athmung
und Kreislauf bis zur Höhe eines Fiſchlurchen ſich vervollkommnete,
im übrigen aber auf der eines der niederen Fiſchtypen ſtehen blieb.
Ganz ähnlich gebaut wie Lepidosiren iſt der weſtafrikaniſche
Protopterus.
Eine Menge derartiger Mittelformen mögen in den älteren geo—
logiſchen Epochen zwiſchen heute getrennten Klaſſen beſtanden haben.
Manche weiſt die Paläontologie nach, andere wird fie im Laufe der
Jahre noch nachweiſen, viele aber werden wohl ſtets unſerer Forſchung
und ſyſtematiſchen Einſchaltung für immer entrückt bleiben.
197
. Mit der Klaſſe der Säugethiere, deren höchſten Gipfel der
Menſch einnimmt, erreicht die Thierwelt anatomiſch wie phyſiologiſch
ihren Endabſchluß. Das Gehirn gewinnt die verhältnißmäßig be—
trächtlichſte Größe; Bau und Verrichtungen der Sinnesorgane wachſen
an, überhaupt alle Theile des Körpers erhalten größere Mittel zu
thätiger Leiſtung.
Die Säugethiere knüpfen mit ihren niederen Formen, gleichwie
die Vögel zumeiſt an Charactere der Lurche an. Man könnte bild—
lich die Fiſche Urgroßväter, die Lurche Väter der Vögel und Säuge—
thiere, Vögel und Säugethiere aber ungleiche Geſchwiſter nennen.
Die fiſchartigen Seeſäugethiere haben in ihrem allgemeinen Körper—
bau noch vieles von Fiſchen und fiſchartigen Lurchen an ſich. Die
ſeltſamen Schnabelthiere verkünden die Gemeinſamkeit ihres Urſprungs
mit dem der Vögel. Erſt die vierfüßigen Landbewohner entwickeln in
freierer Bahn die höhere Vervollkommnung des Säugethier - Typus.
Während bei den Fiſchen und einem Theile der Lurche gewiſſe
Körpertheile, namentlich Rückgraht-Wirbel und Zähne, noch in großer
Anzahl, in vorwiegend gleicher Form und zu ſehr gleichen Verrich—
tungen entwickelt ſind, zeigt ſich in dieſer Hinſicht unter den Säuge—
thieren ein mauigfacher und wohlausgeſprochener Fortſchritt. Die
Delphine und Wale bieten zwar noch manigfache Züge, die mit Charac—
teren gewiſſer Fiſche und fiſchartiger Lurche nahe übereinkommen, mit
den höher ſtehenden Ordnungen landbewohnender Säugethiere aber
ſtellen ſich Umgeſtaltungen ein, die einer vollſtändigeren Theilung der
Arbeit und einer Steigerung der Lebensverrichtungen entſprechen. Die
Differenzirung der Wirbel nach den einzelnen Körpertheilen in Hals-,
Rücken⸗ und Schwanzwirbel tritt ſtärker hervor, die Zahl der Hals—
und der Rückenwirbel erſcheint verringert und zugleich beſtändiger, nur
die Schwanzwirbel erhalten ſich nach Form und Zahl noch in manig—
fachem Schwanken. Während die zahlreichen und einförmigen Zähne
der Delphine ſowohl nach ihrer Geſtaltung als auch im Schwanken
ihres Auftretens überhaupt noch an die der Saurier erinnern, ſind
bei den höheren Formen der Säugethiere die Zähne nicht nur zu
mehr oder minder ungleichartigen Geſtalten und für verſchiedene Ver—
richtungen ausgebildet, ſondern ihr Zahlenverhältniß iſt auch einfacher
und feſter geworden. Das Gebiß zerfällt nun in Schneide-, Eck- und
Backenzähne, deren Zahl geringer, deren Geſtalt verſchiedenartiger und
deren Verrichtung eine dem entſprechend ungleiche iſt. Form und Zahlen
198 2
-
bleiben nunmehr ſelbſt für typenreiche Ordnungen in hohem Grade
beſtändig.
Die Körpergeſtalt überhaupt und die Gliedmaßen im beſondern
bieten bei einem Vergleich der meerbewohnenden Wale und Delphine
mit den Landſäugethieren ähnliche Gegenſätze wie die zwiſchen den
Fiſchen oder Fiſchlurchen und den luftathmenden und landbewohnen⸗
den Lurchen. Die Körpergeſtalt der Wale und Delphine iſt fiſchartig
und endet in eine breite ſölige Floſſe, die Vordergliedmaßen ſind breite
Ruderfloſſen mit auffallend großer Zahl von Einzelgliedern, die Hin—
tergliedmaßen noch unentwickelt. Weit vollkommener und reicher abge—
ſtuft iſt der Körperbau der Landbewohner.
Einen wichtigen Gegenſatz bilden unter den landbewohnenden
Säugethieren die Didelphen oder Beutelthiere, welche ihre
Jungen in einem noch ſehr unentwickelten Zuſtande zur Welt brin—
gen und ſie in einer eigenen durch einen beſonderen Knochen geſtützten
Bauchtaſche nachtragen, zu den Monodelphen oder gewöhnlichen
Säugethieren, deren Junge erſt ſpäter in einem höheren Zuſtande
der Reife zur Welt gebracht werden. Die Didelphen nehmen eine
entſchieden niedrigere Stellung ein, ihr Gehirn iſt namentlich unvoll—
kommen gebaut.
Didelphen und Monodelphen zerfallen wieder nach Bau und
Lebensweiſe in engere Gruppen, die mehrfach Parallelen bieten. So
gibt es namentlich in beiden Ordnungen Pflanzenfreſſer und
Raubthiere. Aber die Differenzirung nach beiden Richtungen iſt
bei den Didelphen weit weniger vorgeſchritten, die Gruppen gehen
bei ihnen weit weniger aus einander als bei den übrigen landbe—
wohnenden Säugethieren, bei denen die vorzugsweiſe der beſonderen
Art der Lebensweiſe entſprechenden Typen der Nager, Wiederkäuer,
Dickhäuter, Raubthiere u. ſ. w. weit ausgeprägter und e
hervortreten.
Am vollkommenſten organiſirt unter allen lebenden Weſen iſt
der Menſch, denn fein körperlicher Bau übertrifft an gleich mäßi—
ger Vollkommenheit den aller anderen Säugethiere, auch der Affen,
und feine Gehirnbildung befähigt ihn zur höheren Geiſtesthätigkeit.
Er beſitzt einen größeren Betrag von phyſiſchen und geiſtigen Fähig—
keiten als jedes andere Lebeweſen und übt verſchiedenartigere und
vollkommenere Handlungen aus. Dies Alles zuſammen hat ihn zum
Herrn der Schöpfung gemacht.
199
Weit augenfälliger noch als in der Pflanzenwelt findet die Stufen-
folge, welche das Thier-Syſtem in der Anordnung der Klaſſen, Ord—
nungen und engeren Gruppen hervortreten läßt, ihren Nachklang in
der Aufeinanderfolge der Formen, welche das höhere Thier in der
Entwickelung vom Ei zur Neife durchläuft. Aus dem einfachen Bau
wird ein zuſammengeſetzterer. Die einfachen gering ausgeſprochenen
Lebensverrichtungen des Ei's und des Embryo's ſteigern ſich mit der
Reife zu vielfacherer und kräftigerer Leiſtung. Beim Embryo ver—
ſchwimmen noch mehr oder minder alle Organe und alle Verrichtun—
gen ineinander, er gleicht in dieſer Hinſicht den einfachen, nieder or—
ganiſirten Anfängen der Thierwelt. Mit dem Fortſchreiten der Meta—
morphoſe aber tritt eine Theilung der Arbeit ein, für beſondere Ver—
richtungen erſcheinen mehr oder minder ſelbſtändige Organe und dieſer
Vorgang wiederholt Erſcheinungen, wie man ſie auch beim Verfolgen
der ſyſtematiſchen Stufenleiter vom niedrigeren zum höheren Thiere
kennen lernt.
Sehr auffallend und wohlbekannt iſt namentlich der Vorgang
bei den Fröſchen. Die erſte Stufe der freien Froſchlarve oder der
Kaulquappe iſt die Fiſchform. Der Körper iſt fiſchartig verlän—
gert und geht in einen Steuerſchwanz aus. Die Larve kann nur im
Waſſer leben und athmet durch Kiemen. Gliedmaßen ſind noch nicht
entwickelt. Alle Skeletttheile ſind noch weich und knorpelig. Die
Kiemen, anfangs noch frei, ziehen ſich in einer ſpäteren Stufe ins
Innere zurück und gleichen dann in allen weſentlichen Zügen denen
der Fiſche. Bis dahin beſaß die Froſchlarve noch keine Gliedmaßen.
In der nächſten Stufe entwickeln ſich die Hintergliedmaßen, in einer
weiteren treten die Vordergliedmaßen hinzu und nun verkümmert all—
mählig auch der Schwanz. Die Lurchen-Form iſt ausgebildet. Nun—
mehr entwickeln ſich auch Lungen und in dem Maße als dieſe mehr
und mehr zum Träger der Athmung werden, verſchwinden dann die
Kiemen. Die Stufe des luftathmenden Landbewohners iſt erreicht.
Der ganze Vorgang aber verkündet die Art und Weiſe der im
Laufe der geologiſchen Epochen vor ſich gegangenen Ausbildung fiſch—
artiger Typen zur Froſchform. Ihren thatſächlichen Nachweis wird
freilich die Paläontologie zufolge der knorpligen zur foſſilen Erhal—
tung faſt gar nicht geeigneten Beſchaffenheit des Skeletts der Anfangs—
formen vielleicht nie oder doch nur andeutungsweiſe liefern können.
Eine dritte Stufenfolge der Vervollkommnung der Thierwelt im
200
Allgemeinen, der Klaſſen und Ordnungen im beſondern bietet ſich in
jener chronologiſchen Aufeinanderfolge der verſchiedenen Thierformen,
welche Geologie und Paläontologie in den auf die heutigen Tage er—
halten gebliebenen Ueberreſten der thieriſchen Bevölkerung der einzel—
nen übereinander gelagerten Gebirgsſchichten uns kennen lernt.
Die älteſte foſſilführende Schichte der Erdrinde enthält von Thieren
nur Reſte von Wirbelloſen und zwar ſowohl von Radiaten als auch
von Mollusken und Gliederthieren. Es ſind aber innerhalb dieſer
drei Klaſſen vorzugsweiſe Vertreter niederer Ordnungen, die ſo früh
ſchon hervortreten; höher organiſirte Typen folgen ihnen in den ſpäter
abgelagerten Formationen der Erdrinde. Reſte von Wirbelthieren
fehlen in der älteſten foſſilführenden Schichte noch ganz, ſie zeigen ſich
erſt ſpäter und zwar in einer der Organiſatioushöhe ihrer Klaſſen
entſprechenden geologiſchen Aufeinanderfolge. Die Fiſche eröffnen die
Reihe, ſpäter folgen die Lurche und die Vögel, dann die Säugethiere
und in den jüngſten vorgeſchichtlichen Bodenablagerungen erſt, in dilu—
vialen und alluvialen Schichten, erſcheinen auch Reſte des Menſchen.
Auch innerhalb der Klaſſen entwickeln ſich in der Reihenfolge der
Formen nach der Zeit ihres Erſcheinens im Verlaufe der Schöpfungs—
geſchichte wieder manigfache und zum Theil ſehr beſtimmte Steigerun—
gen vom niederen zum höheren, wie das namentlich bei den Fiſchen
der Fall iſt. Ihre älteſten Vertreter ſind Knorpelfiſche, die noch
jedes feſten inneren Gerüſtes entbehren und von feſten Theilen uns
nur Zähne und Floſſenſtrahlen hinterlaſſen haben. Etwas ſpäter folgen
auch Ganoiden, anfangs in Formen mit unverknöcherter, ſpäter
erſt in ſolchen mit verknöcherter Wirbelſäule. Erſt mit der Kreide—
formation folgen auch die wahren Knochenfiſche oder Teleoſtier,
welche in unſeren heutigen Flüſſen und Meeren die Hauptmaſſe der
Bevölkerung zuſammenſetzen und wenigſtens nach der Gleichmäßigkeit
in der Entwickelung aller Syſteme den Vorrang vor allen den übrigen
Ordnungen behaupten.
In der Klaſſe der Säugethiere gehen Didelphen den höher ſtehen—
den Monodelphen voraus.
Die Geologie hat endlich auch gezeigt, daß Meeresbewohner den
luftathmenden Landbewohnern vorausgingen und letztere erſt ſpäter
als jene an Manigfaltigkeit der Formen gewannen. In Einklang da⸗
mit zeigt die Embryologie, daß der Embryo des Landbewohners wie
der jedes thieriſchen Weſens überhaupt in einer der früheſten Stufen
SEEN
201
ein Waſſerthier ift. In beiden Hinſichten bewährt ſich der alte Satz,
omne vivum ex aqua, alles lebende kommt vom Waſſer.
So verkündet ſich auch im Thierreich in zahlreichen und zweifel—
loſen Fällen mit der zeitlichen Reihenfolge der Formen eine ſteigende
Vervollkommnung der Organiſation, welche Parallelen zu jener der
embryologiſchen Formenumgeſtaltung bietet und mit dieſer zuſammen
nothwendig eine gemeinſame Grundurſache haben muß.
Urſachen der Vervollkommnung.
Nachdem, wie erörtert wurde, Geologie und Paläontologie ge—
zeigt haben, wie ſowohl in der Pflanzen- als auch der Thierwelt
Meeresbewohner vorausgehen und Landbewohner erſt ſpäter auftreten,
wie Acotyledonen zuerſt, Dicotyledonen dann ſpäter ſich entwickeln,
Fiſche früher als Reptilien und zuletzt erſt die Säugethiere auf dem
Schauplatz erſcheinen, erwächſt der Darwin 'ſchen Lehre die Auf—
gabe der Erklärung eines ſolchen mehrfachen Vorganges von chro—
nologiſch ſteigender Vervollkommnung.
Nach Darwin begründet ſich nun dieſe im Laufe der geolo—
giſchen Epochen hervorgetretene Vervollkommnung im Pflanzen- und
Thierreich in der gemeinſamen Abſtammung aller Lebeweſen
von vorausgegangenen einfacher organiſirten Anfangsformen und in
der ſtufenweiſen Abänderung der Nachkommenſchaft durch den
Einfluß der natürlichen Ausleſe.
Die Vervollkommnung der Lebewelt im Verlaufe der geologiſchen
Epochen betrifft ſowohl die Pflanzen- und Thierwelt im Großen und
Ganzen als auch einen Theil der Klaſſen, Ordnungen und engeren
Gruppen, ſie erſtreckt ſich aber durchaus nicht auf alle beſonderen
Zweige des Stammbaumes.
Ein Theil der Aeſte und Zweige dis gemeinſamen Stammes iſt
von gewiſſen geologiſchen Epochen an auf ganz oder nahe ganz gleicher
Organiſationshöhe ſtehen geblieben, ein anderer Theil hat ſich in mehr
oder minder raſchem Wechſel und in mehr oder minder beträchtlicher
Tiefe verändert und vervollkommnet.
Dies könnte nicht zuſammen der Fall ſein, wenn die Urſache
der Vervollkommnung ein primäres allen Lebeweſen an und für ſich
innewohnendes Moment wäre. Nach Darwin iſt ſie dies auch
N
nicht, ſondern die Vervollkommnung iſt eine bloße Folge der natür—
202
lichen Ausleſe und tritt nur da ein, wo der Einfluß der äußeren
Lebensbedingungen auf eine gegebene Organiſation derart iſt, daß eine
Veränderung in Bau und Verrichtungen das Lebeweſen im Kampf
ums Daſein unterſtützt. Je nach dieſen beſonderen Verhältniſſen er-
hält ſich ein Zweig des genealogiſchen Stammes entweder auf gleicher
Organiſationshöhe oder er verändert und vervollkommnet ſich oder
endlich er erleidet auch wohl eine rückſchreitende Metamorphoſe.
Nur ein Theil der Lebeweſen hat ſich, wie aus der geologiſchen
Statiſtik hervorgeht, in ganz oder vorwiegend ununterbrochenem Ver—
laufe vervollkommnet. Zahlreiche Typen, auf einfache und ſich gleich—
förmig forterhaltende Lebensbedingungen angewieſen, haben ihre Or—
ganiſation auch von einer beſtimmten geologiſchen Epoche an in ein—
facher, nur wenig veränderter und nicht merklich vervollkommneter
Form beibehalten. Arten und Gattungen ſind vielfach andere gewor—
den, aber man kaun entweder nicht oder kaum behaupten, daß dabei
eine Vervollkommnung hervorgetreten ſei.
So ſcheinen Rhizopoden, Spongien, Anthozoen und
Bryozoen von der Epoche ihres erſten foſſilen Erſcheinens an ſich
in der Höhe der Organiſation ganz oder doch nahe ganz gleich—
geblieben zu ſein. Die älteſten Brachiopoden dürften den heute
noch lebenden ſchon in allen weſentlichen Characteren gleich geſtanden
haben. So weichen z. B. die Lingula-Arten der Siluriſchen Schichten
nur wenig von den heute noch lebenden Arten derſelben Gattung ab.
Im Allgemeinen ſcheinen ſolche von einer gewiſſen Stufe an auf
gleicher Organiſationshöhe durch zahlreiche oder ſelbſt durch alle ur—
kundlich bezeichneten Epochen ſich forterhaltenden Typen beſonders
unter den Klaſſen und Ordnungen der Wirbelloſen vorzukommen.
Seltener iſt der Fall bei Wirbelthieren, er trifft hier z. B. für die
Beutelthiere ein, die ſchon in der Jura-Epoche beginnen und heute in
wenig abweichenden Formen noch fortleben.
Andere Lebeweſen haben ſich im Laufe der Epochen nicht nur
verändert, ſondern auch vervollkommnet.
Specialiſirung und Differenzirung der Theile und Organe des
Körpers iſt von Vortheil für jedes Weſen, die Theilung der phyſio⸗
logiſchen Arbeit erhöht ſeine Leiſtungsfähigkeit. Da nun die natürliche
Ausleſe die Erhaltung einer jeden individuellen Variation, welche ein
Lebeweſen je nach feiner gegebenen Organifation und je nach ſeiner
Stellung im Naturhaushalt zu größerer Leiſtung und zu einen glüd-
e
203
licheren Beſtehen des Kampfes ums Daſein befähigt, nachdrücklich
unterſtützt und ihre Ausbreitung unter der Nachkommenſchaft ver—
mittelt, muß ſie unter gegebenen Umſtänden auch zu einer anatomi—
ſchen und phyſiologiſchen Vervollkommnung führen können.
Eine ſolche raſchere Zunahme der Organiſationshöhe ſcheint be—
ſonders mit dem Eintritte eines vielſeitigeren Einfluſſes der äußeren
Bedingungen eingetreten zu ſein. Wir nehmen ſie namentlich mit jener
Stufe eines Typus wahr, wo der Uebergang vom Waſſerleben in
das Land- und Luftleben ſtatthatte. Sowie im Verlaufe der geolo—
giſchen Geſchichte eine Pflanzen- oder Thierform als Landbewohner
erſcheint, iſt ſie faſt ſtets von höherer Organiſation als die nächſten
ihr vorausgegangenen waſſerbewohnenden Verwandten.
Wirbelthiere haben im Allgemeinen eine raſchere Zunahme der
Organiſationshöhe gewonnen als Wirbelloſe. Landſchnecken, wie Pupa,
Inſecten, wie z. B. Schaben und Scorpione, ſind die älteſten bekann—
ten landbewohnenden und luftathmenden Wirbelloſen. Sie gewannen
frühe und verhältnißmäßig raſch die dem Land- und Luftleben ge—
mäße Organiſationshöhe und erhielten ſich ganz oder faſt genau auf
ihr bis auf den heutigen Tag. Die natürliche Ausleſe hat bei ihrer
ſeitherigen Nachkommenſchaft manigfache, theils größere, theils gerin—
gere Umänderungen mit ſich gebracht, aber vielleicht kaum noch eine
weitere Vervollkommnung bewirkt. Reptilien ſind die älteſten luft—
athmenden Wirbelthiere. Typen von der Organiſationshöhe ihrer
älteſten bekannten Vertreter hat auch die heutige Schöpfung noch auf—
zuweiſen, aber zugleich hat eine manigfache Typenausbreitung und
Vervollkommnung im Bereiche der Wirbelthierklaſſen ſtattgefunden.
Höher organiſirte Reptilien, Vögel, Säugethiere haben ſich ſeitdem
aus dieſem Stamme hervorgebildet.
Es ſcheint dabei, daß ein einmal auf beſtimmter Organiſations—
höhe eine längere geologiſche Zeit hindurch ſtehen gebliebener Typus
durch zähere Einprägung der Erblichkeit zugleich auch einen größeren
Widerſtand gegen den Einfluß der ihm zukommenden Lebensbedingun—
gen gewinnt, während eine durch eine Reihe von Epochen hin vor
ſich gehende Vervollkommnung zugleich das Hervortreten neuer Varia-
tionen und weiterer Vervollkommnung begünſtigt.
Es ſcheint dies aus der Abzweigung der luftathmenden Landbe—
wohner hervorzugehen. Sie treten entweder in ſehr frühen geologi—
ſchen Epochen ſchon hervor, oder wo ſie in ſpäteren erſt erſcheinen,
204
zweigen fie ſich aus einem in Zunahme der Organiſation begriffenen
Typus ab. Ordnungen, wie die Brachiopoden und Cephalopoden,
die bei ihrem früheſten urkundlichen Auftreten ſchon ganz oder nahe
ganz die heutige Organiſationshöhe darboten und ſich ziemlich gleich—
mäßig auf ihr erhielten, liefern dagegen im Verlaufe der Epochen
auch niemals Land- und Luftbewohner. Andauernde Vererbung ſcheint
dieſe zu einer weſentlich höheren Vervollkommnung unfähig gemacht
zu haben, ſie erhalten ſich oder vervollkommnen ſich nur noch in
engeren Kreiſen oder ſterben allmählig aus.
Nach dem jetzigen Stande der Wiſſenſchaft müſſen wir mit bloſer
Andeutung von Erklärungen uns noch zufrieden geben, aber wenn
die Verfolgung der neuen Richtungen, welche die Darwin'ſche Lehre
aubahnt, einmal weiter fortgeſchritten iſt, wenn wir namentlich die
Geſetze der Erblichkeit und Veränderlichkeit einmal beſſer kennen, wird
man auch mit größerer Beſtimmtheit die Erſcheinungen der geologi—
ſchen Statiſtik erklären können.
Die Formenreihe, welche heutzutage, wie die Embryologie lehrt,
die höheren Organismen in ihrer Entwickelung vom Ei zur Reife
durchlaufen, erſcheint nach Darwin von der Erblichkeit bedingt.
Darwin weiſt darauf hin, daß, wenn bei einer Thierform.
unter unſeren Augen noch eine individuelle Variation an irgend einem
Körpertheile neu auftritt und dann auf die Nachkommen ſich vererbt,
fie bei letzteren vorzugsweiſe in derfelben Altersſtufe wieder auftauche,
in der ſie auch dem elterlichen Thiere zukam. (Seite 64.)
Die Formenreihe der Entwickelung vom Ei zur Reife iſt dar—
nach eine Vererbung des ſucceſſiven Eintritts jener Veränderungen,
welche die Vorfahren eines Lebeweſens nach einander im Laufe der
geologiſchen Epochen erlitten haben.
So erſcheint die Formenreihe, welche der Froſch bei ſeiner
Metamorphoſe durchläuft, gleichſam als ein von der Natur mehr
oder minder getreu und unverändert aufbewahrtes Abbild jener ſuc—
ceſſiven Formenreihe, die der genealogiſche Stamm des Froſchtypus
im Laufe der geologiſchen Epoche durchwanderte. Aus einem fiſch—
artigen wurde ein molchartiges Thier, dann erſt ein Froſch.
Ob die Entdeckungen der Paläontologie in nächſter Zeit ſchon
die ſucceſſiven Glieder einer ſolchen von der Theorie verlangten Ent—
wickelungsreihe nachweiſen werden, ſteht dahin. Im beſonderen Falle
der Froſchform ſteht die mehrmals ſchon berührte dürftige Kenntniß
205
der Land- und Süßwaſſerfauna der Kreideepoche einer endgültigen
Löſung entgegen. Die älteſten foſſilen Fröſche gehören nach dem
heutigen poſitiven Stande der Kenntniß der oligocänen Stufe des
Tertiärſyſtems an, ihre Vorfahren müſſen wir in Zukunft in den
Kreide- und Eocän-Schichten noch auffinden.
Wie Agaſſiz ſchon hervorgehoben hat, gibt es unter den Le—
bensformen der älteren geologiſchen Epochen auch wirklich eine Anzahl
von Typen, welche in gewiſſen Beziehungen den Embryonen höherer
Formen jüngerer oder der heutigen Epoche gleichen. Die geologiſche
Aufeinanderfolge einer Anzahl von Ausbildungsſtufen eines beſtimm—
ten Typus bildet dann wirklich eine Parallele zur Entwickelungsreihe
der ſpäteren Nachkommen in ihrer Ausbildung vom Ei zur Reife.
(Seite 36.38.)
Nicht alle Thierformen erleiden eine ſo ausgezeichnete Meta—
morphoſe als der Froſch. Es gibt andere, wie z. B. die Gephalo-
poden und die Spinnen, bei denen die Entwickelung vom Ei zur Reife
in ſehr früher Zeit ſchon ſtattfindet und bei denen keine von dem
Character des reifen Thieres weit abweichende Stufe vorkommt.
Es führt dies zur Vermuthung, daß die beſonderen Lebens—
bedingungen, unter denen der Embryo ſich entwickelt, im Laufe ſehr
zahlreicher Stammesfolgen auf dieſen ſelbſt wieder zurückwirken, daß
ſie bei ihm Aenderungen im Sinne des reifen Außtandes erzeugen
und daß dieſe dann weiterhin vererbt werden.
Cephalopoden und Spinnen ſind Typen aus weit älteren Epochen
als der Froſch. Bei erſteren iſt offenbar in Folge von Vererbung
eingetretener Veränderungen des Embryo's die Eutwickelungsgeſchichte
einfacher und unmittelbarer geworden. Der Embryo wiederholt bei
dem geologiſch uralten Cephalopoden- und Spinnentypus die geolo—
giſche Formenreihe nicht mehr mit ſolcher Treue und Ausführlichkeit
als bei dem geologiſch jungen Froſchtypus.
Dieſe und noch manche andere, hier erſt flüchtig hingeworfenen
Andeutungen, zum Theil nicht ganz in Einklang mit Darwin's
eigenen Erklärungen, wären noch ſehr weiter Ausführung fähig.
Es gibt endlich auch noch Lebeweſen, die im Laufe der geologi—
ſchen Epochen von einer gewiſſen Höhenſtufe an eine rückſchrei—
tende Umwandlung erlitten zu haben ſcheinen. Von den E in—
geweidewürmern iſt es wahrſcheinlich, daß ſie von frei lebenden
Würmern abſtammen, aber gemäß der Lebensweiſe, die ſie annahmen,
206
gewiſſe Körpertheile, die fie in ausgebildeter Form ehedem beſaßen,
durch Verkümmerung mehr oder minder vollſtändig ſeither einbüßten.
So beſitzen die Acanthocephalen oder Kratzer (Echino-
rhynchus) im Junern des Körpers einen vom Kopf- zum Hinterende
verlaufenden ſoliden Strang, der nach der Analogie nichts anderes
ſein kann als der ererbte, der phyſiologiſchen Verrichtung verluſtig
gegangene Ueberreſt des Darmcanals, den die ehemaligen, uns ihrer
näheren Natur nach völlig unbekannten Vorfahren der Acanthocephalen
einmal beſeſſen haben mögen. Als Eingeweidewürmer bedürfen die
Nachkommen keinen Darmcanal mehr. Sie ernähren ſich jetzt, analog
den niederſten einzelligen Organismen, nur noch durch Einſaugung der
ſie umgebenden Flüſſigkeiten mittelſt der Haut und ſcheiden mittelſt
dieſer auch die durch den Stoffwechſel überflüſſig gewordenen Materien
wieder aus.
Vei ſolchen Rückbildungen kommt namentlich der Einfluß der
Lebensweiſe und die Anpaſſung an dieſſelbe unter Vermittlung der Aus—
leſe in Betracht. Die entbehrlich gewordenen Körpertheile verkümmern,
der Organismus kann ſie ſparen, er verliert keine Nahrungsſäfte mehr
zu ihrer Forterhaltung. Die neue Geſtaltung iſt dem Thier in Be—
zug auf ſeine beſondere Lebensweiſe von Vortheil, aber ſie iſt kein
Fortſchritt, ſondern ein Rückſchritt auf der Stufenleiter der Vervoll—
kommuung.
Bei vielen Thierformen, namentlich wirbelloſen, tritt im Laufe
der Eutwickelung eine rückſchreitende Metamorphoſe mit der Stufe der
Geſchlechtsreife ein, ſo namentlich bei den Cirrhipediern, zu denen
die bekannten Meereicheln, Balanus, gehören. Das vegetative Syſtem
entwickelt ſich in überwiegender Weiſe, das animale aber tritt zurück,
Sinnesorgane und Bewegungswerkzeuge verkümmern oder gehen ganz
verloren. Das ausgebildete Thier iſt dann oft auffallend niederer
organiſirt als einer ſeiner Jugendzuſtände. Das Junge der Cirrhipe—
dier gleicht in hohem Grade gewiſſen Entomoſtraken (Cyelops) und
man wird dadurch zur Annahme geleitet, daß auch der geologiſchen
Eutſtehung nach die Cirrhipedier eine Umbildung der Entomoſtraken⸗
Form find, die alſo in dieſem einen Zweige nicht nach ihrer Organi-
ſationshöhe vorſchritt, ſondern zurückging.
r
207
Fünftes Kapitel.
Geologiſche Geſchichte der Schöpfung.
Eine Summe von Erſcheinungen haben der Anſicht eine ziemlich
allgemeine Geltung verſchafft, daß unſere Erde eine lange Reihe ſehr
verſchiedener Stufen der Ausbildung durchlaufen hat und
in einer der früheſten dieſer Stufen eine glühendflüſſige Kugel
darſtellte, umgeben von einer gewaltigen alle Gewäſſer begreifenden
Dampfmaſſe.
Zu dieſer Annahme führen Beobachtungen über die phyſiſche
Beſchaffenheit der uns zugänglichen tieferen Theile der Erdrinde, geo—
logiſche und paläoutologiſche Thatſachen, endlich Analogien mit an—
deren Himmelskörpern.
Noch heut zu Tage ſcheint das Erdinnere glühend-heiß und
vielleicht in flüſſigem Zuſtande zu ſein. Hierauf deutet das Empor—
ſteigen glühend-flüſſiger Maſſen aus den Vulkanen, die heiße Tem—
peratur ſo vieler Quellen, dann aber auch namentlich die vielfach
nachgewieſene Zunahme der Wärmegrade mit wachſender Tiefe der
Erdrinde.
Endlich iſt auch ohne Annahme eines ehemaligen verſchiebbar—
weichen Zuſtandes der Erdmaſſe ihre der Axendrehung angepaßte
Form nicht wohl zu erklären.
Die Zunahme der Temperatur der Erdrinde mit wachſender
Tiefe iſt in Bergwerken und Bohrbrunnen vielfach beobachtet worden.
Sie beträgt im Mittel von einer größeren Reihe von Beobachtungen
in Bergwerken 1° C. auf 120 Pariſer Fuß Tiefe, in Bohrbrunnen
dagegen 1° C. auf 92 Fuß.
In einer Tiefe von 2000 Fuß herrſcht nachweisbar eine Tem—
peratur von etwa 30° C. Rechnen wir, auf dieſe Grundlage hin,
nun weiter fort, ſo kommen wir mit der Tiefe von etwa einer hal—
ben Meile auf eine Schichte der Erdmaſſe in der die Temperatur
des ſiedenden Waſſers oder 100° C. herrſcht. Noch tiefer, bei etwa
5—6 Meilen Tiefe, würde man eine Temperatur finden, bei welcher
208
unfere meiſten Felsarten, namentlich auch der Granit, vollkommen
flüſſig werden.
Nach allem dieſem iſt die Annahme bei den Geologen allgemein
geworden, daß die Erde ehedem ihrer ganzen Maſſe nach feurig—
flüſſig war, daß auch jetzt noch das Erdinnere eine hohe Temperatur
beſitzt und daß überhaupt nur ihre äußere Rinde bis zu einer Tiefe
von wenigen Meilen zu einem gewiſſen Grade abgekühlt und dadurch
erſtarrt iſt.
Der glühend- heiße Zuſtand der ganzen Erdmaſſe muß unge⸗
heuere Zeiträume hindurch fortgedauert haben. Allmählig aber ent⸗
wich mehr und mehr Wärme in den kalten Weltraum und die äußerſte
Rinde des Planeten begann zu erſtarren. Mit einer jeden Erſtar⸗
rung geſchmolzener Maſſen iſt aber eine Zuſammenziehung verknüpft.
Die neugebildete Kruſte übte daher einen Druck auf das Erdinnere
aus, ſie erhielt Riſſe und flüſſige Maſſe trat dazwiſchen wieder hervor.
So entſtanden die erſten Unebenheiten der Erdrinde. Perioden des
Erſtarrens mögen vielfach ſeither mit ſolchen theilweiſen Aufreißungen
abgewechſelt haben.
Welcher Art die erſten feſten Felsmaſſen der Erdrinde
waren, iſt jetzt kaum noch zu ermitteln, doch nimmt man allgemein
an, daß ein Theil der Granite und granitartigen Geſteine jener
älteſten Epoche feſter Gebilde angehören, ſie mögen aber allerdings
damals von anderer Beſchaffenheit, als ſie ſich jetzt darbieten, ge⸗
weſen ſein. Wahrſcheinlich waren ſie urſprünglich den feldſpathigen
Laven unſerer heutigen Vulkane ähnlich.
Allmählig wuchs dann im Laufe der Abkühlung der Erdmaſſe
e Dicke und Dauerhaftigkeit der feſten Kruſte. In der Folge ſchlug
3 dann auch ein Theil der dichten Dampfmaſſe, welche bisher die
Erdkugel umgab, in flüſſiger Form nieder. Die Erdoberfläche ſchied
ſich in Feſtland und Meer.
Bei noch weiter vorgeſchrittener Abkühlung der Erdrinde mögen
dann auch die erſten organiſchen Weſen auf Erden erſchienen
ſein. Aller Wahrſcheinlichkeit nach waren es mikroskopiſch kleine, ein⸗
fache, einzellige Weſen, Mittelformen zwiſchen Pflanze und Thier,
wie deren auch jetzt noch das Mikroskop kennen lehrt. Urkundlich er⸗
halten hat ſich von ihnen allerdings nicht die geringſte Spur, in
Bezug auf die Ermittelung ihrer Natur ſind wir rein auf Hypo⸗
theſen verwieſen.
= 25
209
Mit dem erſten Niederſchlage von Waſſer auf der erſtarrten
Erdrinde begann die Bildung von Bodenſchichten einer neuen Art,
den ſogenannten neptuniſchen Gebilden.
Der Einfluß des an den erhöhten und kühleren Stellen der Erdrinde
aus der Atmosphäre ſich niederſchlagenden Waſſers wirkte im Verein mit
dem ſtarken Luftdrucke, der hohen Wärme und der Kohlenſäure mächtig
zerſtörend auf die Oberfläche der feſten Urfelsmaſſen ein. Ihre Bruch⸗
ſtücke und feineren Trümmer wurden vom Waſſer an tiefere Stellen
herabgeführt und lagerten ſich hier ſchichtenweiſe über einander ab.
Dieſer Vorgang hat ſich von da an bis auf den heutigen Tag fortgeſetzt.
Das Waſſer nagt ununterbrochen chemiſch wie mechaniſch die ihm
ausgeſetzten Oberflächen der feſten Felsmaſſen an und führt ihre
Trümmer den Niederungen zu, es ſtrebt die Berge zu eruiedern, die
Tiefen auszufüllen. Dieſe allmählige Zerſtörung alter Felsmaſſen
und gleichzeitige Ablagerung neuer Schichten dauert daher immer noch
ununterbrochen fort, und verändert langſam und allmählig die Geſtalt
der Erdoberfläche. In der Tiefe der Seen und des Meeres entſtehen
dadurch fortwährend Schichten von Sand, Schlamm und gröberem
Geſteinsſchutte, wechſelnd in Korn und Zuſammenſetzung je nach der
Natur der der Annagung ausgeſetzten Felsmaſſen und je nach der Art
der Bewegung der Gewäſſer, endlich auch je nach Art und Menge der
darunter gemengten Pflanzen- und Thierreſte.
Sind ſolche neptuniſche oder geſchichtete Ablagerungen von ſehr
feinem und zartem Korn, ſo ſind ſie vorzugsweiſe geeignet zur deut⸗
licheren Erhaltung der feſten Theile organiſcher Weſen, weit weniger
iſt dies bei Schichten von gröberem Geſteinsſchutte der Fall, die daher
oft ganz frei von Reſten ſolcher ſind.
Hierdurch werden die geſchichteten Gebilde der Erdoberfläche zu
einer Art von Archiv der Geſchichte der Erde und ihrer Schöpfung.
Die Schichten des Bodens ſind gleichſam die Blätter, die foſſilen
Organismen oder Verſteinerungen aber die einzelnen Urkunden dieſes
Buches der Natur. Aus ihnen entziffern wir die ehemalige Aus⸗
dehnung und Beſchaffenheit von Land und Meer und erfahren die
Natur und die Lebensverhältniſſe ihrer damaligen Pflanzen⸗ und
Thierbevölkerung.
Man hat die verſchiedenen geſchichteten Gebilde, welche im Ver⸗
laufe der geologiſchen Zeiten durch den Einfluß des Waſſers in den
Niederungen der Erdrinde abgelagert wurden, nach ihrer Reihenfolge
Rolle, Darwin's Lehre. 14
210
und ihrer Beſchaffenheit, ſowie nach den von ihnen umſchloſſenen or⸗
ganiſchen Reſten, in eine Anzahl von Abtheilungen, gewöhnlich For—
mationen oder auch wohl Etagen (Stufen) genannt, geſondert, die
dann wieder mehr oder minder in Unterabtheilungen zu zerfallen
pflegen. Viele dieſer Abtheilungen laſſen ſich mit großer Ueberein—
ſtimmung der Geſteinsbeſchaffenheit und der organiſchen Einſchlüſſe über
ausgedehnte Landſtrecken verfolgen, andere ändern mit der geographi—
ſchen Entfernung manigfach ab und find dann mit gleich alten Gebil-
den anderer Theile der Erde nur ſchwierig in Beziehung zu bringen.
So bieten namentlich die meiſten geſchichteten Gebilde der deutſchen
ſo wie auch der Schweizer Alpen ganz eigenthümliche, von den Abla⸗
gerungen der nördlicheren Länder abweichende Charactere und haben
dadurch der wiſſenſchaftlichen Durchforſchung um Jahrzehende länger
widerſtanden.
Jene Schule, welche allgemeine und vernichtende Cataſtrophen
in der Geſchichte der feſten Erdrinde annahm, dachte ſich auch die
geologiſchen Formationen über die ganze Erde hin ſcharf von einander
abgeſondert. Der Grenze zweier Formationen ſollte nach ihr dann
je die Emporhebung einer Gebirgskette entſprechen, deren Entſtehung
über die ganze Erdoberfläche hin eine gewaltſame Unterbrechung der
gewöhnlichen geologiſchen und organiſchen Thätigkeiten zur Folge ges
habt habe.
Ihr ſteht aber eine andere Anſicht gegenüber, nach der es keine
derartigen vollkommen abgeſchloſſenen Epochen gibt, und dieſe zweite
Anſicht iſt mit der Darwin' ſchen Lehre allein vereinbar. Wo wir
ſcharfe Grenzen an der Auflagerung zweier Formationen finden, be-
ruhen fie auf örtlichen Ereigniſſen, deren Wirkung auf die Geſtal⸗
tung der Erdoberfläche und das Lebensverhältniß der Pflanzen- und
Thierwelt eine geographiſch begrenzte war. Vergl. S. 53.
Organiſche Einſchlüſſe.
Petrefacten oder Foſſilien.
Wir finden in der Reihenfolge ſandiger oder ſchlammiger Schich—
ten, welche im Laufe der geologiſchen Epochen von den Gewäſſern
abgelagert wurden, manigfache Reſte früherer Pflanzen- und Thier—
formen in bald mehr bald minder vollſtändiger Erhaltung. Es ſind
namentlich feſte Schalen oder Gehäuſe von Mollusken, Strahlthieren
211
und Kruftenthieren, neben dieſen finden wir Knochen und Zähne,
auch wohl Schuppen, Hautplatten u. ſ. w. von Wirbelthieren, ſei es
nun in zerſtreuten Stücken oder in zuſammenhängenden Skeletten,
endlich manigfache Reſte von Meeres- und Landpflanzen. Meiſtens
haben dieſe Theile urweltlicher Pflanzen und Thiere ihre urſprüngliche
chemiſche Zuſammenſetzung verloren, ſie ſind in Kohle, Stein oder
Erz verwandelt worden. Wir nennen ſie darnach Verſteinerun—
gen, Petrefacten oder Foſſilien. Nicht minder häufig als
Verſteinerungen von Thieren ſind Reſte urweltlicher Pflanzen, dieſe
ſind gewöhnlich in Kohle verwandelt, ſeltener verſteinert oder vererzt.
Gewaltige Anhäufungen vergrabener Pflanzenreſte ſind unſere Stein—
kohlen⸗ und Braunkohlenlager, deren Material heut zu Tage bei der
raſchen Abnahme der Waldungen eine ſo große Bedeutung gewonnen hat.
Dieſe urweltlichen Pflanzen- und Thierreſte ſind uns in ehe—
maligen Abſätzen von Gewäſſern erhalten geblieben. Ein Theil der—
ſelben lebte ebenda, wo wir ſie jetzt finden, im Meere oder in ſüßen
Binnengewäſſern und wurde hier von den gleichzeitig entſtehenden
neuen Bodenſchichten eingeſchloſſen. So finden wir an vielen Stellen
ganze Auſternbänke in ihrer urſprünglichen Lage verſteinert. In an—
deren Fällen beobachtet man Baumſtämme, noch an urſprünglicher
Stätte wurzelnd, und unmittelbar von damals neu gebildeten Boden—
ſchichten eingeſchloſſen. Bohrmuſcheln (Pholaden und Lithodomen)
findet man häufig in Höhlungen der Felſen des ehemaligen Geſtades
verſteinert; am Oſt-Abhange der Wiener Alpen kann man Stunden
weit ſolche alte durch Bohrmuſcheln bezeichnete Strandlinien noch jetzt
verfolgen. Ein anderer Theil der urweltlichen Reſte wurde durch
Bäche und Flüſſe in Binnenſeen oder in Meere hereingeführt, wo ſie
von Schlamm, Sand und Felstrümmern bedeckt, ſich in mehr oder
minder kenntlicher Geſtalt auf unſere Tage erhielten.
Nicht leicht iſt eine geſchichtete Ablagerung ganz frei von ſolchen
organiſchen Einſchlüſſen und oft gewähren Bergabhänge oder Schluchten,
Steinbrüche oder Bergwerke eine reichliche Ausbeute. Und wo für
das unbewaffnete Auge auch das Gebiet erſchöpft ſcheint, ſchließt das
Mikroskop noch neue und unerwartete organiſche Einſchlüſſe auf. Ganze
Gebirgslager beſtehen aus tauſenden und wieder tauſenden kleiner dem
bewaffneten Auge erſt ſichtbar werdender Pflanzen- und Thierreſte.
In dieſem Theile der Wiſſenſchaft hat namentlich der unermüdete
Berliner Naturforſcher Ehrenberg erfolgreich gewirkt und zuerſt in
14 *
212
zahlreichen Beiſpielen dargethan, wie ſelbſt die kleinſten organiſchen
Weſen im Laufe langer Zeiträume an der Bildung neuer Bodenſchich—
ten einen weſentlichen Antheil nehmen konnten und fortwährend auch
noch an der Bildung ſolcher ſich betheiligen.
So bedeutende Ergebniſſe die Paläontologie auch in der Unter—
ſuchung des Vorkommens und der Natur dieſer urweltlichen Reſte ſchon
für die Geſchichte der Erde und der belebten Welt geliefert hat, dürfen
wir uns doch nicht verhehlen, daß ſie noch keine vollkommenen ſind
und wenn auch täglich fortſchreitend, doch nie zur letzten Vollkommen⸗
heit geführt werden können.
Der Grund davon liegt einerſeits in der Unvollkommenheit der
Erhaltung der meiſten Verſteinerungen und andererſeits in der Unfähig⸗
keit zahlreicher Organismen überhaupt in foſſilem Zuſtande auftreten
zu können.
Eine große Menge von Pflanzen find jo zarter und leicht ver-
weslicher Natur, daß ſie entweder gar nicht oder nur unter höchſt
günſtigen ſeltenen Fällen eine foſſile Erhaltung finden können. Von
Algen, Flechten, Pilzen und von den zärteren krautartigen Gewächſen
der höheren Pflanzenfamilien kennen wir daher nur wenig Formen
in foſſilem Zuſtande und dann oft nur in unvollkommener und unbe
friedigender Erhaltung. Häufiger ſind Stämme, Zweige, Blätter und
Früchte der feſter gebauten Holzgewächſe, namentlich der Coniferen.
Aber auch bei dieſen find Stämme, Blätter und Früchte oft von ein-
ander getrennt und es wird mitunter unthunlich, die getrennten Theile
mit einander in Beziehung zu ſetzen. Doch kommen in einzelnen
Fällen auch Beiſpiele von ſehr vollſtändiger Erhaltung, z. B. von
Zweigen mit Blättern und Blüthen oder Früchten vor, dies ſind aber
nur ſeltene Erfunde und es iſt kaum zu erwarten, daß man jemals
ſämmtliche foſſilen Pflanzenarten nach dem Bau aller ihrer weſent—
lichen Theile wird vollſtändig und ſicher kennen lernen.
Das gleiche gilt für die Thierwelt. Thiere ohne feſte kalkige oder
kieſelige Theile find zur foſſilen Erhaltung nur wenig geeignet, ſchleimig—
weiche Formen faſt gar nicht, ſolche mit hornigen Theilen nur in ſehr
geringem Grade. Von weichen Infuſorien, Polypen, Quallen, Einge⸗
weidewürmern kennt man entweder noch gar keine oder nur ſehr ver—
einzelte Vertreter aus den älteren Epochen. So iſt z. B. von Ein⸗
geweidewürmern erſt vor kurzem in der Braunkohlenbildung das erſte
ſichere foſſile Exemplar aufgefunden worden.
213
Am häufigſten find die feſten Kalkſchalen der Mollusken, dann
die feſten Kalkausſcheidungen vieler Polypen (Corallen). Sie bilden oft
ganze Gebirgsmaſſen für ſich allein oder mit anderen Foſſilien zuſammen.
Die feſten Skelette von Krebſen und anderen Kruſtenthieren, deß—
gleichen die von Seeſternen und Seeigeln kommen häufig und oft
ausgezeichnet gut foſſil erhalten vor.
Einige Fiſche, welche nur knorpeliges Skelett beſitzen, eignen ſich
nicht wohl zur foſſilen Erhaltung, von allen anderen Wirbelthieren aber
können ſich Knochen, Zähne und feſte Hauttheile, z. B. Panzer-Schilder
foſſil erhalten. Nicht ſelten findet man ganze Skelette zuſammen, wie
bei vielen Fiſchen und Reptilien. Oder man findet doch die einzelnen
Knochentheile in ſolcher Häufigkeit und Erhaltung beiſammen, daß man
es wagen darf, ſelbſt aus Theilen verſchiedener Individuen das Skelett
auf Grundlage der Analogie mit lebenden Verwandten neu zuſammen—
zuſetzen. Cuvier hat dies zuerſt in ausgedehnter Weiſe gethan und
eine ganze Reihe von erloſchenen Säugethier- Arten aus den Gyps—
lagern von Paris auf dieſe Art gleichſam neu wieder ins Leben
gerufen.
Aber auch im günſtigen Falle kennen wir von den urweltlichen
Thieren gewöhnlich nur die feſten Theile mit den Eindrücken jener
Weichtheile, die mit ihnen in Verbindung ſtanden. Von Gehirn und
Nervenſyſtem, Herz und Gefäßſyſtem und anderen weſentlichen Weich—
theilen wiſſen wir gewöhnlich gar nichts und können dieſe Lücke nur
dürftig durch die Analogie mit den nächſten Verwandten der heutigen
Welt ergänzen.
Im Eisboden Sibiriens hat man wiederholt Leichen des Mammuth
(Mammont) oder des Elephanten der Diluvialepoche mit Haut und
Haaren gefunden. Das Fleiſch dieſes jetzt erloſchenen Thieres war
unter dem Schutze der Kälte noch ſo gut erhalten, daß die Tunguſen
ihre Hunde damit füttern konnten. Vom ſogenannten nordamerikani—
ſchen Mammuth, dem Rieſen-Maſtodon, fand man in einem Torf—
moore Virginien's ein vollſtändiges Skelett, zwiſchen dem noch
Reſte des Magens mit halb zerkleinerten Pflanzentheilen, der ehema—
ligen Nahrung des Thiers, zu finden waren.
Das ſind aber nur ſehr einzeln ſtehende Fälle von ausgezeich—
neter Erhaltungsweiſe urweltlicher Thierreſte, meiſt muß man ſich
damit begnügen nur die vollkommen feſten Theile der Thiere in ihrem
Zuſammenhang nachweiſen zu können. In vielen Fällen iſt auch dies
214
nicht einmal möglich. Man kennt z. B. von Fiſchen eine Menge von
einzelnen Zähnen, Schuppen, Wirbeln u. ſ. w., weiß aber gewöhnlich
nicht genau, welche zu einem und demſelben Thiere zuſammengehörten.
Man wartet dann von Jahr zu Jahr bis einmal ein glücklicher Zu⸗
fall ein Exemplar auffinden läßt, aus dem der Zuſammenhang der
ſonſt nur getrennt vorkommenden Theile erſichtlich wird. |
Auch die Lebensweiſe der Organismen verhindert in vielen Fällen
die Wahrſcheinlichkeit einer foſſilen Erhaltung. Landbewohner gelangen
viel ſeltener als Meeresbewohner in entſtehende Geſteinsablagerungen.
Unſere Kenntniß der Landthiere der älteren Epochen iſt daher weit
dürftiger als die der gleichzeitigen Meeresthiere.
Aus allem dieſem geht hervor, daß unſere Kenntniß der urwelt—
lichen Pflanzen- und Thierformen weder eine vollkommene iſt, noch
überhaupt je werden kann. Wir müſſen uns begnügen, darin von Tag
zu Tag und Jahr zu Jahr nach Ausdehnung und Tiefe zuzunehmen,
aber wir werden in beiden Richtungen nie dieſelben Grade von Sicher—
heit wie über unſere heute lebenden Pflanzen und Thiere gewinnen.
Bleibt die Kenntniß der lebenden Welt ſchon hin und wieder unvoll—
kommen, ſo muß es die ihrer urweltlichen Vorläufer in noch höherem
Grade bleiben.
Nichts deſto weniger bleibt uns die Aufgabe nicht erlaſſen, eine
Geſchichte der Entwickelung des Lebens von den älteſten geologiſchen
Zeiten bis auf den heutigen Tag zu entwerfen. Dies iſt aber nur
möglich, wenn wir die Lücken unſerer Forſchung auf Grund der Ana—
logien überbrücken, d. h. wenn wir Hypotheſen wagen. Wir können
dies nicht unſeren Nachkommen hinterlaſſen, denn das Allgemeine
wirkt ſtets auch auf das Beſondere wieder zurück und die Hypotheſe,
wenn ſie in wiſſenſchaftlichem Sinne geſtellt wird, fördert die For—
ſchung. Dem Geologen und Paläontologen die Hypotheſe verbieten zu
wollen, heißt ihm einen großen Theil ſeiner Ausſicht auf fortſchrei—
tende Erkenntniß rauben. Es iſt hier, wie in anderen Fächern gewiß
nützlich und verdienſtlich, Thatſachen auf Thatſachen aufzuhäufen. Aber
das iſt nur die erſte Hälfte der Aufgabe. Das Haufwerk nackter
Thatſachen muß durch den geiſtigen Faden verbunden und aus dem
Heer der Einzelheiten das allgemein gültige erſchloſſen werden.
Wollen wir alſo die Entſtehung der lebenden Welt und die
Beziehungen der urweltlichen Flora und Fauna zur heute lebenden
ergründen, ſo müſſen wir allerdings zunächſt die exacte Thatſache
215
erfafjen, aber wir dürfen nicht dabei ſtehen bleiben, wir müſſen auch
die Lücken zwiſchen den Thatſachen ins Auge faſſen und auf Grund
wiſſenſchaftlicher Anſchauung ſie entweder als abſolut vorhanden an—
erkennen oder anderen Falles mit ahnendem Geiſte überbrücken.
Ein bloſes Stehenbleiben bei der exacten Thatſache verwehrt
den freien Ueberblick des Ganzen und verdeckt den Weg zu den der
Aufklärung zunächſt bereit liegenden Räthſeln. Ein Herbeiziehen über—
natürlicher Eingriffe zur Verknüpfung der iſolirten Thatſachen aber
ſchneidet der Wiſſenſchaft den Lebensnerv ab und führt uns zu den
Wegen zurück, auf denen ſie in den dunklen Zeiten des Mittelalters
ſo viele Jahrhunderte hindurch ſtille ſtand.
Reihenfolge der geologiſchen Formationen.
Schon die älteren Geologen des vorigen Jahrhunderts, wie na—
mentlich die deutſchen Bergleute Lehmann und Füchſel unterſchie—
den die kryſtalliniſchen Maſſen der Gebirge, den Granit und die kry—
ſtalliniſchen Schiefer, namentlich den Gneis und Glimmerſchiefer, von
den übrigen Gebilden der Erdoberfläche unter dem Namen Urge—
birg oder uranfängliches Gebirg. Sie betrachteten den Granit und
die kryſtalliniſchen Schiefer als die älteſten Geſteine und alle übrigen
denſelben aufgelagerten als bloſe ſecundäre Bildungen, hervorge—
gangen aus der Zerſtörung der älteren und der Wiederablagerung
von deren Bruchſtücken und Trümmern.
Hiernach beſteht die Erdrinde zu unterſt und in dem inneren
Kerne der Gebirge aus kryſtalliniſchen Geſteinen, deren Bil—
dung der älteſten Epoche angehört, namentlich aber aus Granit,
Gneis und Glimmerſchiefer. Dieſes Ur gebirge enthält keine or—
ganiſchen Reſte und führt auch keine Gerölle anderer Gebilde.
Darauf ruht das Flötzgebirge oder die Secundär-Forma—
tion, zuſammengeſetzt aus einer manigfachen Reihe von verſchiedenen
Lagen, beſonders von Sandſtein, Kalkſtein, Thon und Mergel. Dieſes
Flötzgebirge entſtand nach Bildung des Urgebirges aus deſſen zerklei—
nerten Trümmern, die vom Waſſer in Geſtalt von Sand, Schlamm
und Geröllen abgelagert wurden. Damals beſtanden Pflanzen und
Thiere manigfacher Art, ihre Reſte wurden in den Ablagerungen der
Gewäſſer eingeſchloſſen, auch Kohlenflötze wurden damals gebildet.
216
Zu oberſt aber lagerte ſich noch eine Lage von meiſtens lockeren
oder ganz loſen Gebilden, namentlich von Lehm, Sand und Geröllen,
ab, die man als aufgeſchwemmtes Land bezeichnete und denen
man lange keine beſondere Aufmerkſamkeit zuwandte.
Aus dieſer einfachen Reihe weniger Glieder wurde aber allmählig
ein mehr und mehr in Haupt- und Unterabtheilungen gegliedertes
Syſtem und zwar traten nun auch für ihre Beurtheilung bald die
organiſchen Einſchlüſſe oder ſogenannten Verſteinerungen mehr und
mehr maßgebend hinzu.
Werner ſchaltete in der Folge zwiſchen Urgebirge und Flötz—
gebirge eine mittlere Gruppe ein, in der er der mineraliſchen Be-
ſchaffenheit nach einen Uebergang vom einen in das andere erkannte.
Sie begreift Thonſchiefer, Grauwacke und einen ihnen untergeordneten
Kalkſtein. Werner bezeichnete ſie als Uebergangsgebirge.
In der Folge erkannten Cuvier und Al. Brogniart in
den Umgebungen von Paris eine Reihenfolge von Schichten, die
ſie von den oberſten Secundär-Ablagerungen einerſeits, den oberfläch—
lichen Anſchwemmungen oder Alluvionen andererſeits zu unterſcheiden
veranlaßt wurden. Sie erkannten deren Aequivalente auch in Ita⸗
lien, am Rhein u. ſ. w. wieder und vereinigten ſie unter dem
Namen der Tertiär⸗-Formation, der alsbald auch allgemeinen
Eingang fand.
Hiernach beſteht die Reihenfolge der Formationen den großen
Hauptzügen nach aus folgenden Gliedern. Zu unterſt lagert der
Granit und die kryſtalliniſchen Schiefer oder das ſogenannte Urge⸗
birge, darüber das Uebergangsgebirge, dann das Flötzgebirge oder die
Secundär-Formation, darüber die Tertiär-Formation und zu oberſt
das ſogenannte aufgeſchwemmte Land oder Diluvium und Alluvium.
Auch dieſe Eintheilung, obſchon ihren Grundzügen nach weſentlich
der Wahrheit entſprechend, hat ſeither wieder manigfache Umgeftal-
tungen erlitten. Von vielen Geſteinen, die die älteren Geologen dem
Urgebirge zuzählten, weiß man jetzt, daß ſie verhältnißmäßig junger
Bildung ſind und erſt in ziemlich ſpäten Epochen aus der Tiefe der
Erdrinde emporgehoben wurden. Uebergangsgebirge, Flötzgebirge und
Tertiär⸗Formation aber find ſeitdem in eine Menge von Unterabthei⸗
lungen getheilt worden, denen man dann ſogar eine ſelbſtändige
Bedeutung hat zuerkennen wollen.
So theilte d'Oörbigny (1848) die Reihenfolge der geſchichteten
217
Gebilde in nicht weniger als 26 Etagen, die nach ihm alle ihre
eigenthümliche und ausſchließliche Bevölkerung haben ſollten.
Einen allgemeinen Ueberblick über die heute angenommenen Ab—
theilungen der Schichteufolge, von den engeren Formationsgliedern
abgeſehen, mag die folgende Aufzählung geben.
I. Kryſtalliniſches Schiefergebirge.
Urgebirge oder Grundgebirge, Azoiſches Syſtem. Gneis und
Glimmerſchiefer mit Hornblendeſchiefer, körnigem Kalk u. ſ. w. Es ſind ge—
ſchichtete kryſtalliniſche Geſteine von meiſt granitartiger Zuſammenſetzung, ohne
alle organiſchen Einſchlüſſe und ohne Gerölle anderer Geſteine. Mit ihnen
iſt ein Theil des Granits eng verknüpft.
II. Uebergangsgebirge. Kohlengebirge. Paläozoiſches Syſtem (Paläolithiſches
Syſtem).
1. Siluriſches Syſtem oder Siluriſches Gebirge, die älteſten Schichten
des Uebergangsgebirges begreifend und die älteſten organiſchen Reſte, nament—
lich die ſog. Primordial-Fauna einſchließend.
2. Devoniſches Syſtem, die oberen Schichten des Uebergangsgebirges
von Werner begreifend. Hierher gehört namentlich das Rheiniſche Grauwacken—
und Thonſchiefergebirge und der Eifeler Kalk, ferner der ſogenannte alte rothe
Sandſtein der Engländer.
3. Steinkohlenſyſtem oder Hauptſteinkohlengebirge, aus dem Bergkalk
und den oberen an Kchlenflögen reichen Sandſtein- und Schieferthon-Ablage—
rungen beſtehend.
4. Permiſches Syſtem, das Rothliegende oder Todtliegende,
den Kupferſchiefer und den Zechſtein begreifend. Die älteren Geologen
rechneten das Steinkohlen- und das Kupferſchiefer-Gebirge den Flötzgebirgen
zu, die neueren haben es indeſſen auf Grund der paläontologiſchen Charactere
davon abgetrennt und den paläozoiſchen Gebilden noch angeſchloſſen.
III. Flötzgebirge oder Secundär-Formation. Meſozoiſches (oder meſolithiſches)
Syſtem.
5. Trias, in Nord- und Mitteldeutſchland den Buntſandſtein, den
tujchelfalf und den Keuper begreifend, in den öſterreichiſchen Alpen
durch den Werfener Sandſtein und Schiefer, den Guttenſteiner Kalk
und den Hallſtätter oder Caſſianer Kalk vertreten.
6. Jura, in Nord- und Mitteleuropa durch den Lias, den Dogger,
die Kelloway- und Oxford-Schichten, den weißen Jurakalk, die
Portland-Schichten u. ſ. w. vertreten; in den Alpen ſtatt ihrer der Dach—
ſteinkalk mit den Köſſener und Greſtener Schichten, die Hierlatz—
Schichten, Adnether Schichten u. ſ. w.
7. Kreide, aus dem Neocomien, dem Gault, dem Grünſand und
der oberen oder eigentlichen Kreide beſtehend und im einzelnen nach den Erd—
theilen manigfach abändernd; Hilsthon, Quaderſandſtein und Pläner
in Norddeutſchland; Roßfeldſchichten und Goſau-Gebilde in den
Oeſterreicher Alpen; Schrattenkalk, Seewer Kalk u. ſ. w. in der Schweiz
218
IV. Tertiärſyſtem. Neozoifhes (neolithiſches) Syſtem.
8. Eocän-⸗Syſtem. Hierher der untere (orthroeäne) und mittlere Theil
der Ablagerungen des Pariſer und des Londoner Beckens, dann ein großer
Theil der Nummulitenformation der Alpen, die Schichten des Monte Bolca u ſ. w.
9. Oligocän-Syſtem. Hierher der obere Theil der Tertiärablagerungen
von Paris und London, die bernſteinführende Braunkohlenformation und andre
Schichten von Norddeutſchland, die untere Abtheilung der Schichten des Main⸗
zer Beckens, die Sotzka-Schichten von Steiermark u. ſ. w. Hier beginnt die
fortſchreitende Abkühlung der Erde von den Polen aus nach ihrem Einfluſſe
auf die lebende Welt ſich allmählig mehr und mehr kund zu geben.
10. Miocän-⸗Syſtem. Hierher die Ablagerungen am nördlichen Fuß
der Alpen von der Schweiz an durch Bayern und Oeſterreich bis nach Ungarn
und Siebenbürgen, darunter namentlich die des Wiener Beckens, ferner die
oberen Schichten des Mainzer Beckens, der untere Theil der ſogenannten Crag-
Gebilde von England und Belgien u. ſ. w.
11. Pliocän⸗Syſtem. Dahin namentlich die Subapenninen-Gebilde
von Italien und Südfrankreich, die oberen Schichten des Crag's von England
und Belgien, dann manche iſolirte Süßwaſſerablagerungen von Europa, na⸗
mentlich die oberen Schichten des Wiener und des Ungariſchen Beckens. Kli⸗
matiſche Verhältniſſe in Europa faſt vollkommen ſchon wie in der Jetztwelt.
V. Das aufgeſchwemmte Gebirge der älteren Geologen, welches aber ſeit
der beſſeren Erforſchung der oberen Tertiärgebilde nicht mehr wohl von
dieſen abzutrennen iſt, zugleich aber auch unmerklich in die Bildungen
des heutigen Tages verfließt.
12. Das Diluvium, von den der Theologie zuneigenden Geologen der
älteren Zeit bis auf Buckland für ein Erzeugniß der ſogenannten „Sünt-
fluht“ erklärt, jetzt in verſchiedene Glieder von ſehr abweichender Entſtehungs—
weiſe abgetheilt. Vorübergehende Eiszeit in Nord- und Mitteleuropa und in
Nordamerika. Einwanderung eines Theiles der heutigen Flora und Fauna
Europa's aus milderen Erdtheilen.
Vom Diluvium hat man lange Zeit hindurch die noch jüngeren und in
Fortbildung begriffenen Ablagerungen geſondert und unter dem Namen Al-
luvium unterſchieden. Das Auftreten des Menſchen ſollte die Grenzſcheide
zwiſchen Diluvium und Alluvium bilden, aber dieſer Unterſchied iſt in den
letzten Jahren mit der wachſenden Kenntniß über das geologiſche Vorkommen
des Menſchen in ſich zuſammengebrochen.
Ueberhaupt wird die ſyſtemgemäße Unterſcheidung von Formationen und
Epochen um ſo ſchwerer, je näher wir im Verfolge der geologiſchen Geſchichte
der Jetztwelt uns nähern. In den jüngeren Ablagerungen iſt im Laufe der
letzten Jahrzehende die Einiheilung jo ſehr ins Einzelne und Oertliche durch—
geführt worden, daß die Gegenſätze, die man ehedem zufolge der allgemeineren
Zuſammenfaſſung in ihnen fand, darüber ganz verſchwunden ſind.
219
Urzeugung.
Die Abkühlung der Erdrinde mußte ſchon ziemlich weit vor—
angeſchritten ſein, als die erſten organiſchen Weſen auf Erden
erſchienen .).
Welcher Art in Wirklichkeit dieſe älteſten Pflanzen- und Thier⸗
formen waren, vermögen wir freilich nicht mehr erfahrungsweiſe dar—
zuthun, die Theorie aber weiſt uns klar genug auf einfache Zellen—
formen von geringen Lebeusverrichtungen, wie ſie heute die niederſten
Algen und die einfachſten Infuſorien und Rhizopoden zeigen.
Die nachweisbar älteſten, d. h. wirklich auf unſere Zeiten als
Foſſilien erhalten gebliebenen Lebeweſen ſind Arten von Algen, von
Strahlthieren, Weichthieren und Kruſtenthieren, unter welchen die zu
den letzteren gehörigen Trilobiten gewöhnlich bei weitem vorherr—
ſchen. Dieſe nachweisbar älteſten Organismen ſind aber Formen von
bereits ſo zuſammengeſetzter und vervollkommneter Stufe, daß wir von
ihnen durchaus nicht mehr annehmen können, ſie ſeien in Wirklichkeit
der erſte Ausgangspunkt der Lebewelt geweſen, d. h. ſie ſeien auf
elternloſem Wege auf Erden erſchienen.
Es müſſen alſo vor dieſer älteſten auf uns erhalten gebliebenen
Flora und Fauna noch andere und zwar einfacher organiſirte Pflanzen
und Thiere auf Erden geweſen ſein, deren Formen entweder der foſſilen
Erhaltung überhaupt nicht fähig waren oder die auch wohl in Boden—
ſchichten begraben, aber durch nachfolgende Vorgänge doch wieder ganz
aufgelöſt wurden.
Die älteſten Urpflanzen und Urthiere aber mögen wohl einzellige
Organismen geweſen ſein, ähnlich wie uns deren jetzt noch das Mi—
kroskop in ſtehenden Gewäſſern und Aufgüſſen ſo viele zeigt und ähn—
lich den Ei'chen und Pollenkörnern der höheren Pflanzen und Thiere.
1) Die meiſten der heute lebenden Pflanzen- und Thierarten werden ſchon
durch eine bei weitem noch nicht bis zum Kochpunkte des Waſſers geſteigerte Hitze
getödet, nur wenige vermögen eine nahe bis zu dieſem Punkte gehende Temperatur
zu ertragen. In Thermen leben heut zu Tage eine Anzahl von Pflanzen
und Thieren, namentlich ſolche der niederen Klaſſen. Conferven und andere
nieder organiſirte Pflanzenformen, Sufuforien u. ſ. w. leben noch in warmen
Gewäſſern von 70—80° C. Mollusken, Kruſter und Fiſche finden ſich dagegen
nicht leicht mehr in ſo hoch temperirten Quellen. So lebt die oft genannte
Thermalſchnecke von Abano bei Padua, Hydrobia Aponensis Mart. (thermalis
auct.) nach G. v. Martens in Waſſer von 44 C, ſtirbt aber ſchon bei 52°.
220
Für dieſe einfachſten Urpflanzen und Urthiere liegt nun die An-
nahme einer Urzeugung oder generatio aequivoca, wie fie ſchon
Lamarck und Oken aufſtellten, nahe genug.
Es iſt wahr, daß die Annahme einer ſolchen elternloſen Ent-
ſtehung organiſcher Weſen aus unbelebter Materie mit großen Schwie-
rigkeiten zu kämpfen hat. Die fortſchreitende Beobachtung der Lebe⸗
welt, namentlich aber die Anwendung des Mikroskops haben der alten
Anſicht von einer heut zu Tage noch vor ſich gehenden Urzeugung,
wie ſie Ariſtoteles und ſo viele andere älteren und neueren
Naturgelehrten ausſprachen, von Jahr zu Jahr mehr an Boden ge—
raubt. Es ſcheint ſogar faſt ſicher zu ſein, daß heut zu Tage die Ent—
ſtehung von Pflanzen und Thieren nur noch auf elterlichem Wege
vor ſich geht. Aber für den erſten Anfang der Lebewelt wird man
immer wieder, ſo ſehr man ſich auch andererſeits dagegen ſträuben
möge, auf die Annahme der Urzeugung zurückkommen müſſen. Gewiß
wird kein Naturforſcher bei dem heutigen Stande der Anatomie und
der Phyſiologie im Ernſte noch behaupten wollen, daß eine höhere
Thierform mit den wunderſam feinen Einzelheiten ihrer Organiſation,
unmittelbar wie ſie iſt, habe entſtehen oder erſchaffen werden können.
Wollen wir nicht mit Agaſſiz und Anderen zu einer Entſtehung
der Thier- und Pflanzenarten auf übernatürlichem Wege unſere Zu—
flucht nehmen, ſo müſſen wir mit Lamarck, mit Oken und mit
Darwin vermuthen, daß die früheſten Formen durch Urzeugung ent-
ſtanden, elternlos, aus unbelebtem Stoffe und daß es Formen der
einfachſten und niederſten Organiſation, belebte Schleimkügelchen oder
von lockerer Membran umſchloſſene Zellen waren, ähnlich jenen, welche
in der heutigen Schöpfung noch den erſten Anfang in der Reihe der
Pflanzen- und Thierwelt darſtellen. Vermöge ihrer weichen und leicht—
auflöslichen Materie waren ſie zu keiner foſſilen Erhaltung fähig und
ihre Formen müſſen daher unſerer unmittelbaren Beobachtung für
immer entrückt bleiben.
Die ſtreng wiſſenſchaftliche Theorie verlangt mehr und mehr
dieſe Hypotheſe, aber das Experiment hat ſie bis jetzt noch nicht zu
bewahrheiten vermocht. Im Gegentheil hat die ſtrenge Forſchung in
allen den Fällen, wo man eine Entſtehung neuer organiſcher Weſen
aus faulenden pflanzlichen oder thieriſchen Stoffen angenommen hatte,
dargethan, daß die Beobachtung falſch oder ungenau war und zum
Schluſſe geführt, daß alle organiſchen Weſen, die heute leben, nur durch
221
Theilung elterlicher Weſen oder aus Eier oder Samen, dagegen nirgends
mehr auf elternloſem Wege entſtehen.
Prof. Ehrenberg, deſſen umfangreiche mikroskopiſche Unter—
ſuchungen ein ſo ausgedehntes Gebiet des organiſchen Lebens im klein—
ſten Raume und in reichſter Fülle der Formen erſchließen, hat ſich
von 1834 an bis auf die neueſte Zeit mit Entſchiedenheit gegen die
alte Ariſtoteliſche Lehre von der Urzeugung ausgeſprochen. Er wies
namentlich nach, daß eine Menge nieder organiſirter Formen, von
denen man es bis dahin noch nicht wußte, Eier und Samen erzeu—
gen, die Eier und Keime aber ſehr leicht in die Atmosphäre gelangen.
Nieder organiſirte mikroskopiſche Pflanzen- und Thierformen ent—
ſtehen zwar ſchon nach Verlauf weniger Tage in Aufgüſſen organiſcher
Stoffe bei Zutritt der Luft. Es ſtellt ſich aber bei genauerer Prüfung
heraus, das alle dieſe mikroskopiſchen Organismen nur den aus der
Luft hereingelangten Keimen und Eiern ihr Daſein verdanken. Es iſt
nach Ehrenberg anzunehmen, daß eine unendliche Menge Eier von
Infuſionspflänzchen und Infuſionsthierchen als Staub in der Luft
umhergetragen werden und jeden Augenblick an alle Stellen gelangen
können, wo zu ihrer Entwickelung günſtige Verhältniſſe ſind. Die In—
fuſorieneier ſind kleiner als die feinſten Sonnenſtäubchen und können
daher in trockenem Zuſtaͤnde durch die leichteſte Luftbewegung fortge—
führt werden.
F. Schulze fand, daß pflanzliche und thieriſche Stoffe in einem
Glaskolben mit deſtillirtem Waſſer übergoſſen und der Kochhitze aus—
geſetzt, ſelbſt nach längerer Zeit noch keine Bildung von Algen und
Infuſorien zeigten, ſobald man die Luft nicht in der gewöhnlichen
Form, ſondern durch Schwefelſäure geleitet und ſomit gereinigt hinzu—
treten ließ. Die feinen in der Luft umhertreibenden Stäubchen alſo
ſind es erſt, welche in faulenden Aufgüſſen organiſcher Stoffe zur
Eutſtehung von ſcheinbar elternlos auftauchenden mikroskopiſchen Or—
ganismen führen.
Prof. Unger iſt für die niederſten Pflanzenformen zu ähnlichen
Ergebniſſen gelangt. Er fand, daß ſelbſt im reinſten deſtillirten Waſſer,
ſobald die atmosphäriſche Luft Zutritt hat, einfache einzellige Algen,
wie Protococcus minor entſtehen. Wird aber die Luft zuvor durch
künſtliche Reinigung auf chemiſchem Wege von ihrem Gehalte an keim—
fähigen Stäubchen befreit, ſo zeigt ſich ſelbſt nach Jahren noch nicht
eine Spur von neu entſtehenden organiſchen Weſen.
222
Dann aber genügt auch ſchon ein nur auf wenige Secunden
ausgedehntes Oeffnen des Korkes, um in der wieder verſchloſſenen
Flüſſigkeit eines Glasgefäßes bereits nach kurzer Zeit kleine mikrosko—
piſche Algen zur Entwickelung zu bringen, die den in der kurzen Zeit
des Oeffnens hereingetretenen lebenbergenden Stäubchen entſtammen.
Auch die Hefenzellen oder Gährungspilze, welche in
gährenden Pflanzenaufgüſſen auftauchen und lange als wirkliches Er-
zeugniß der Gährung galten, ſind keine elternlos entſtehenden Weſen,
ſondern verdanken den in der Luft allenthalben in mikroskopiſcher Form
verbreiteten Pilzſporen ihr Daſein und vom Keimen und Wachſen ſol—
cher iſt überhaupt jede Gährung abhängig. Ein gährungsfähiger Stoff
geht darum ſchon, ſobald man nur das Gefäß mit einem Pfropf von
Baumwolle verſchließt, nicht mehr in Gährung über. Die Baum⸗
wolle genügt nämlich bereits den Zutritt der die Gährung einleitenden
Pilzſporen abzuhalten. |
So iſt denn unter der ausgedehnten Anwendung des Mikroskops
der alte Harvey'ſche Satz, daß alles Lebende vom Ei ausgeht, omne
vivum ex ovo, in neuerer Zeit wieder mehr zu allgemeiner Geltung
gelangt, als je vordem. Man nimmt allgemein an, daß, abgeſehen von
den ſchon gedachten Fällen von Selbſttheilung, kein organiſches Weſen
mehr anders als aus Keimen, Samen oder Eiern entſtehen könne.
Wenn es nun auch durch einfache und erſchöpfende Verſuche dar—
gethan iſt, daß heut zu Tage Pflanzen und Thiere, ſelbſt ſolche von der
einfachſten Organiſation, auf keinem anderen Wege mehr, als dem
der Zeugung oder der Theilung elterlicher Weſen entſtehen, ſo läßt
ſich doch behaupten, daß dieſes Geſetz kein abſolutes fein muß, ſon—
dern ſehr wohl ein auf den dermaligen Stand der Dinge einge—
ſchränktes ſein kann. N
Unſere Verſuche entſcheiden zunächſt nur für die heutige Zeit
und die heutigen Verhältniſſe und haben auch nur mit Bezug auf
dieſe verneinend geantwortet. Es iſt vor allem darauf hinzuweiſen,
daß unſere Experimente nicht unter dem Einfluſſe jener äußeren Ver⸗
hältniſſe ausgeführt wurden, die zu Anfang des organiſchen Lebens
auf Erden herrſchten. Die Zuſammenſetzung der Atmosphäre und
die Natur der in den Gewäſſern gelöſten Stoffe müſſen damals in
mancher Hinſicht ganz anderer Art geweſen ſein. Auch Luftdruck und
Wärme können maßgebende Unterſchiede bedingt haben. Es läßt ſich
behaupten, daß, ſo ſehr auch alle dahin einſchläglichen Verſuche die
223
heutigen Exiſtenzverhältniſſe wiederholt haben mögen, fie doch jene
noch nicht in ihr Gebiet zogen, die zur Zeit der erſten Entſtehung
der organiſchen Weſen vorlagen.
Zur Annahme einer Urzeugung von Pflanzen und Thieren als
erſten Anfangsformen der heutigen Lebewelt gehört der Nachweis einer
unbelebten aber lebensfähigen Materie oder wie Oken dafür in ſeiner
urſprünglichen Weiſe jagt, eines Urſchleims.
Eine ähnliche Materie kennen wir bis jetzt nicht. Die phyſiolo—
giſche Chemie hat, wie es ſcheint, überhaupt noch nichts ähnliches
dargeſtellt, aber ſie hat auch die Möglichkeit der Darſtellung einer
ſolchen bis jetzt noch nicht entſcheidend abgeſchnitten.
Unſere Unbekanntſchaft mit einer ſolchen unbelebten aber lebens—
fähigen Materie iſt übrigens auch wohl begreiflich. Sie kann, wenn
ſie in der Natur auch wirklich in größerer oder geringerer Menge
fortdauernd noch auf anorganiſchem Wege erzeugt wird, unſerer Wahr—
nehmung gar nicht deutlich werden, denn ſie muß dem alle Räume
des Waſſers und des Dunſtkreiſes erfüllenden Leben unſerer Zeit
alsbald zum Raub werden. Das Mikroskop hat uns gelehrt, wie
alle Gewäſſer von zahlloſen Pflanzen und Thieren der geringſten
Größe und einfachſten Organiſation belebt werden. Auch der Dunſt—
kreis iſt von ihnen erfüllt. Die Winde heben große Mengen von
Infuſorien und niederen Algenformen aus den Gewäſſern empor und
wimmeln von ihren Eiern und Samen, die allenthalben hin, wo Be—
dingungen zum Leben ſind, den Keim eines neueinziehenden Lebens
verbreiten. Die Mitbewerbung der auf elterlichem Wege entſtandenen
Organismen kann ſo der Urzeugung, wo für ſie ſonſt die Bedingungen
günſtig wären, fortwährend das Material wegnehmen.
Anders konnte es in einer früheren Epoche der Erdbildung ſein,
als noch keine Lebeweſen vorhanden waren. Damals war das Vor—
handenſein einer unbelebten und doch lebensfähigen Materie möglich
und ihre Annahme hat ſogar eine große Wahrſcheinlichkeit für ſich.
Sie konnte damals entſtehen und ſich anhäufen.
Die organiſche Chemie iſt allerdings noch nicht ſo weit vorge—
ſchritten, um die Möglichkeit einer Entſtehung lebensfähiger, der
Grundlage von Pflanzen und Thieren der chemiſchen Zuſammen—
ſetzung nach entſprechender Materie beſtimmt nachweiſen zu können.
Sie deutet uns aber entfernt ſchon den Weg an.
Wir wiſſen, daß heut zu Tage in Gläſern und Retorten, ſelbſt
224
in Hohöfen aus Stoffen rein mineraliſcher Abſtammung andere zu-
ſammengeſetzte Stoffe erzeugt werden können, die mit einem Theile
der in der organiſchen Welt vorkommenden theils genau übereinſtim⸗
men, theils wenigſtens ſolchen genau analog ſind.
Zu den wichtigſten Ergebniſſen der Chemie in Bezug auf die
derartige künſtliche Syntheſe ſolcher ſonſt nur aus den Lebensvorgängen
von Pflanzen und Thieren ſtammenden oder aus der Zerſetzung von
Pflanzen- und Thierſtoffen hervorgehenden Verbindungen gehört nament⸗
lich die Darſtellung von Blauſäure, von Oxalſäure und von Harnſtoff.
Wir ſehen hier allerdings nur künſtliche Darſtellungen von pflanzlichen
und thieriſchen Ausſcheidungs- und Zerſetzungsprodukten. Weſentliche
Gewebegrundlagen wie Holzßfaſerſtoff (Celluloſe) und Eiweiß- oder
Proteinſtoffe hat die chemiſche Syntheſe bis jetzt noch nicht fertig zu
bringen vermocht. Aber es iſt auch offenbar, daß Verbindungen der
letzteren Art nur aus weit zuſammengeſetzteren Vorgängen hervorgehen
können, unſere chemiſche Kunſt hat offenbar die zur künſtlichen Wieder⸗
holung ſolcher Subſtanzen nöthige Vervollkommnung noch nicht erreicht.
Aehnliche aber wohl zuſammengeſetztere Vorgänge wie die in
unſern chemiſchen Laboratorien konnten vor Entſtehung der erſten Or—
ganismen aus der Thätigkeit rein mineraliſcher Materien erfolgen.
Wir ſehen z. B. wie Cyankalium in Retorten und in Hohöfen aus
der wechſelſeitigen Einwirkung von rein mineraliſchen Subſtanzen ent⸗
ſteht. Wir können daraus eine ganze Reihe von Kohlenſtickſtoffver—
bindungen darſtellen, die mit Verbindungen organiſchen Urſprungs
theils ſehr nahe, theils vollſtändig übereinkommen. Es iſt aber durch—
aus keine den Grundſätzen der Wiſſenſchaft widerſtreitende Annahme,
daß ſolche und ähnliche Verbindungen von Kohlenſtoff, Stickſtoff,
Waſſerſtoff und Sauerſtoff auf rein mineraliſchem Wege auch in den
älteſten Epochen der Erdgeſchichte vor Anfang des organiſchen Lebens
ſchon gebildet werden konnten. Zuſammengeſetztere Vorgänge, als die
in unſern Laboratorien ausgeführten, können dabei auch zuſammen⸗
geſetztere und indifferentere Verbindungen als z. B. Blauſäure, Oxal⸗
ſäure u. ſ. w. hervorgerufen haben. Statt der raſch und kräftig wir-
kenden Agentien mögen in der Natur ſchwächer und allmähliger wir:
kende Stoffe und Kräfte thätig geweſen ſein.
Solchergeſtalt hervorgegangene Materien wurden dann nicht als⸗
bald von Lebeweſen aufgeſaugt, wie es heute mit jeder lebensfähigen
Materie der Fall iſt, ſondern ſie häuften ſich in den Gewäſſern und
225
dem Dunſtkreiſe an und konnten unter geeigneten Umſtänden die Grund—
lage neu entſtehender Organismen werden.
Wenn wir in unſeren Laboratorien bis jetzt nur verhältnißmäßig
einfache, meiſt ausgezeichnet baſiſche oder ſaure, flüchtige oder leicht
kryſtalliſirbare Verbindungen organiſchen Characters darſtellen konnten,
ſo liegt das nur an der Methode unſerer heutigen praktiſchen Chemie.
Indifferente, nicht flüchtige, nicht kryſtalliſirbare Materien, wie die,
welche die Gewebegrundlagen der Lebeweſen darſtellen, vermögen die
Chemiker, ſelbſt wo deren in der Natur bereits gebildet vorkommen,
gewöhnlich nur mühſam und unſicher zu vereinzeln. Noch entfernter
liegt uns ihre ſynthetiſche Darſtellung und es iſt offenbar, wie viel
von dieſer Schwierigkeit auf Rechnung des üblichen chemiſchen Ver—
fahrens kommt. Wo Baſen und Säuren, Deſtillation und Kryſtalli—
ſation außer Anwendung bleiben müſſen, ſieht ſich der Chemiker der
erfolgreichſten Wege beraubt, aber dieſer Mangel unſerer Methoden
kann der ſtreng wiſſenſchaftlichen Hypotheſe noch nicht den Weg ſperren.
Sind wir alſo in der Gegenwart noch außer Stand die Mög—
lichkeit einer Urzeugung durch den Verſuch darzuthun, ſo folgt daraus
immer noch nicht die Unmöglichkeit des Vorganges, ſondern es bleibt
dann immer noch der Zukunft die Aufgabe, mit ihren höher geſteiger—
ten Mitteln die Löſung zu erzielen, die wir heute noch vergeblich
anſtreben.
Es iſt ſchwer darzulegen, wie aus einem Kügelchen oder Bläschen
einer auf primitivem Wege entſtandenen ſchleimartigen Materie von
ternärer oder quaternärer Zuſammenſetzung ein belebtes Weſen werden
konnte. Indeſſen ſind, wie wir wiſſen, jedenfalls die Lebenserſchei—
nungen der einzelligen Organismen noch ſehr einfacher und eng ab—
gegrenzter Natur. Sie äußern ſich zunächſt in einem Stoffwechſel.
Die äußeren Medien wirken auf die Umfangstheile des Kügelchens
ein. Gelöste Stoffe dringen fortwährend ins Junere deſſelben und
wirken verändernd auf dieſes. Ein Theil derſelben wird als Nahrung
zurückbehalten und bedingt das Wachsthum, ein anderer wird wieder
ausgeſtoßen. Wärme und Electricität wird dadurch hervorgerufen.
Dieſer Stoffwechſel iſt der erſte Beginn des organiſchen Lebens
und führt zunächſt zu einem Gegenſatz zwiſchen Umfangstheilen und
Kern vermöge des verſchiedenen Grades der Einwirkung der äußeren
Medien auf äußere und innere Theile.
Das Leben der Urzelle beginnt alſo urſprünglich mit dem durch
Rolle, Darwin's Lehre. 18
226
den fortwährenden Stoffwechſel unterhaltenen Widerſtand ihrer Materie
gegen den auf ihre Umgeſtaltung hinwirkenden Einfluß der äußeren
lebloſen Natur. Jedes organiſche Weſen bedarf innerhalb gewiſſer
Grenzen einer beſtimmten chemiſchen Zuſammenſetzung und einer ge—
wiſſen Wärmemenge, die es im Kampfe gegen die äußeren Einflüſſe
ſich erhalten muß, wenn es nicht untergehen und ſelbſt wieder der
lebloſen Natur anheim fallen ſoll. Der hierzu nöthige Aufwand an
Stoffen und Kräften iſt nicht in feſter Summe ausdrückbar, da der
Einfluß der äußeren Momente ein immerfort in verſchiedenen Graden
wechſelnder iſt. Der Organismus muß daher fortwährend einen Vor—
rath von Widerſtandskraft für den Mehraufwand gegen die andringen—
den äußeren Einflüſſe ſich erzeugen und erhalten. Ohne dies wächſt
die Gefahr des Unterganges. Im gewöhnlichen Falle wird ein ſolcher
Ueberſchuß in mehr oder minder ausgeſprochenem Grade vorhanden
ſein. Dieſer Ueberſchuß aber wird auf das Leben, auf die Ernährung,
das Wachsthum und die mehrfache Ausbildung des Organismus ſelbſt
wieder ſich geltend machen und zwar vorwiegend in einer deſſen Wider—
ſtandskraft gegen die äußeren Einflüſſe fortwährend erhöhenden Weiſe.
Die Urorganismen hatten alſo zur Erhaltung ihrer Selbſtän⸗
digkeit gegen die äußeren vernichtenden Einflüſſe zu ringen. Viele
mögen dabei erlegen ſein, die geeigneteren aber erhielten ſich und
behaupteten einen Ueberſchuß an dem zur organiſchen Thätigkeit ver—
wendbaren Stoff. Dieſer das Uebergewicht des organiſchen Weſens
im Kampfe gegen die äußeren Medien bedingende Ueberſchuß aber
wurde dann eine Quelle zu einer fortdauernden allmähligen Erhöhung
und geeigneteren Ausbildung der den Widerſtand vollführenden mate—
riellen Theile des Organismus. Er führte zu individueller Variation
und weiterhin auf dem Wege der Ausleſe zu manigfachen Richtungen
zunehmender Vervollkommnung.
Solche Vorgänge können unter verſchiedenen äußeren Umſtänden,
z. B. im Meere, in Tiefen und am Strande, dann auch wohl in
Geſteinsklüften, ſpäter auch in Binnengewäſſern vor ſich gegangen
ſein. Die Urorganismen mögen darnach in verſchiedenen Richtungen
ſich entwickelt, ſpäter von einem Aufenthalt nach einem anderen ſich
verbreitet und dem gemäß wieder neu umgeändert haben.
Pflanzen- und Thieruatur mag anfangs nod) vereinigt, ſpäter,
je nach Art der Nahrungszufuhr und anderen Einflüſſen, mit den
Nachkommen auseinandergegangen ſein.
227
Organismen, die ſich durch einfache Theilung, ſolche die ſich
durch Sporen oder Keimkörner und ſolche, die ſich auf geſchlechtlichem
Wege durch Samen und Eier vermehren, mögen einander ſtufenweiſe
gefolgt ſein.
Wenn uns hierbei ſo manche weſentliche Einzelheit der Vorgänge
noch dunkel erſcheint oder überhaupt noch ganz unerklärt bleibt, ſo
müſſen wir nur bedenken, wie wenig man bis jetzt noch verſucht hat
die Ergebniſſe der exacten Wiſſenſchaft für die Erklärung der Ent—
ſtehungsweiſe der älteſten organiſchen Gebilde zu verwerthen.
Die Frage nach der erſten Entſtehung der Pflanzen- und Thier-
formen hat ſeit den älteſten Zeiten die Forſcher in Bewegung geſetzt.
Sowohl die Philoſophen der alten Zeit als die Naturgelehrten der
neueren haben ſich vielfach und auf verſchiedenen Wegen bemüht, dar—
über zu einer feſten Löſung zu gelangen. Eine Anſicht hat im Laufe
der Zeit die andere verdrängt und auch der hier dargelegte Verſuch
über den Vorgang der Urzeugung wird im Laufe der Zeit und mit
der Entdeckung von mehr und entſcheidenderen Thatſachen wieder um—
geſtaltet oder ganz verdrängt werden.
Die Hypotheſe einer uranfänglichen Eutſtehung von Lebeweſen
aus unbelebtem Stoff aber kann ſich jedenfalls des Vorzuges rühmen,
natürliche Dinge auch auf natürlichem Wege zu erklären und die
Herbeiziehung von Wundern, als an und für ſich den Grundlagen
der Wiſſenſchaft widerſprechend, vollſtändig zu vermeiden.
Die allgemeinen Gründe für Annahme einer früheſten Urzeugung
ſind überhanpt von ſo dringender Art, daß man kaum daran zweifeln
darf, es werde früher oder ſpäter noch gelingen, auf wiſſenſchaftlichem
Wege ihre Möglichkeit noch beſtimmter und ausgedehnter darzuthun
oder auch durch den Verſuch geradezu ihren Vorgang zu wiederholen.
Primordial⸗-Fauna.
Im Uebergangsgebirge und zwar in den unteren Schichten des
Siluriſchen Syſtemes von Böhmen, Scandinavien, England, Nord—
amerika u. ſ. w. finden wir die Reſte der älteſten zu foſſiler Erhal—
tung gelangten Lebeweſen.
Es ſind Reſte von Pflanzen und von Thieren, alle Meeres—
bewohner, noch keine Spur eines luftathmenden Landbewohners. Das
Meer war alſo der früheſte Heerd der Lebewelt.
1
228
Von Pflanzen zeigen ſich nur Reſte einiger Meeresalgen,
von allen übrigen Typen des Pflanzenreiches iſt noch keine Spur zu
bemerken.
Von Thieren aber finden wir bereits Vertreter der drei Haupt—
typen wirbelloſer Organismen, wir finden Strahlthiere, Weich—
thiere, Gliederthiere. Dagegen iſt der höhere Typus der
Wirbelthiere hier noch nicht vertreten. |
Gehen wir nun auf die Betrachtung dieſer älteſten, urkundlich
nachgewieſenen Vergeſellſchaftung von Thierformen näher ein. Herr
von Barrande, deſſen gediegene und langjährig fortgeſetzten Unter—
ſuchungen des ſiluriſchen Syſtemes von Böhmen alles in dieſem
Gebiete zuvor geleiſtete ſo weit überragen, hat für ſie die Bezeichnung
Primordialfauna aufgeſtellt, die ſeither auch, obſchon nicht genau
zutreffend, allgemeine Verbreitung gefunden hat.
Böhmen iſt das klaſſiſche Land der Primordialfauna. Auf
Gneis und anderen kryſtalliniſchen Schiefern lagern im mittleren Lan⸗
destheile Thonſchiefer und grobkörnige Sandſteine oder ſogenannte
Grauwacken, die bis jetzt noch keine Spur von organiſchen Ein—
ſchlüſſen geliefert haben. Barrande nennt dieſe daher Azoiſche
Bildungen.
Hierauf folgt als nächſt jüngere Schichte die Protozoiſche
Bildung, welche die Primordialfaung umſchließt. Es find
graue oder dunkel graugrüne feinkörnige Thonſchiefer, die zu Ginetz
und zu Skrey reich an Foſſilien aufgeſchloſſen ſind.
Nach Barrande's bisherigen Ergebniſſen beherbergt dieſe Ab—
lagerung drei Arten von Strahlthieren, die zu den Cyſtideen
gezählt werden, von Mollusken eine Art von Brachiopoden
(Orthis Romingeri Barr.) und eine Art von Pteropoden (Pugiun-
culus primus Barr.) endlich noch von Gliederthieren eine reiche
Zahl von Trilobiten.
An Zahl der Individuen, Arten und Gattungen herrſchen von
allen dieſen primordialen Thierformen in auffallender Weiſe die Tri—
lobiten vor, eine den heute noch lebenden Phyllopoden wahr—
ſcheinlich zunächſt verwandte Gruppe der Cruſtaceen, die bereits
im Bergkalk (Steinkohlenformation) wieder aus der Reihe der Lebe—
weſen verſchwindet.
Es ſind Cruſtaceen mit einem deutlich in drei Stücke, nämlich
Kopf, Rumpf und Schwanz geſonderten Körper, der gewöhnlich auch
229
noch der Länge nach eine deutliche Dreitheilung zeigt. Zwei große
halbmondförmige, — bei vielen Formen in ähnlicher Art wie bei
lebenden Phyllopoden und anderen Cruſtaceen zuſammengeſetzte und
mit einer facettirten Hornhaut verſehene — Augen liegen meiſt auf
den ſeitlichen Lappen des Kopfes. Wenige entbehren noch ganz der
Augen. Von Gliedmaßen hat man bis jetzt noch nichts foſſil gefun—
den und es iſt darnach ſehr wahrſcheinlich, daß die Trilobiten, gleich
dem heute in Sümpfen und Gräben Deutſchlands noch lebenden Apus
eancriformis und anderen Blattfüßern, an der Unterſeite des Körpers
zwei Reihen weicher häutiger Schwimmlappen trugen, die zu gleicher
Zeit die Stelle von Bewegungs- und von Athmungsorganen verſahen.
Zu Ginetz und Skrey zeigen ſich im Ganzen ſieben Gat—
tungen von Trilobiten vertreten. Barrande zählt davon 27 Arten
auf, von denen 12 auf die merkwürdige Gattung Paradoxides kommen.
Von den Arten iſt in der nächſt höheren Foſſil-Schichte des Siluri—
ſchen Syſtemes von Böhmen bis jetzt noch keine einzige wiedergefun—
den worden, von den Gattungen wiederholt ſich nur Aguostus noch
einmal in einer höheren Schichte deſſelben Syſtems.
Sao hirsuta Barr., eine zu Skrey nicht ſelten vorkommende
Trilobitenart, iſt durch ihre Vielgeſtaltigkeit
und als erſter Beweis einer den Trilobiten
zukommenden Metamorphoſe zu großer Be—
rühmtheit gelangt. Sie iſt im Laufe von zwei
Jahren (1846 und 1847) unter nicht weniger
als 12 Gattungs- und 23 Artnamen durch
Barrande und Corda beſchrieben worden.
In der Folge aber erkannte Barrande, daß
alle die zahlreichen Formen, die anfänglich
als Vertreter eigener Gattungen und Arten
[ ) angeſehen worden waren, nur Entwickelungs—
zuſtände einer und derſelben Art ſind, für die
er den Namen Sao hirsuta beibehielt.
Bae . 1320, een Haze, Man kennt dieſe Art jetzt vom gering
Skrey in Böhmen. Ber } N 2
ausgebildeten Embryonalzuſtande an, wo fie
noch eine flache Scheibe, 2) Millimeter lang, darſtellt. Die Ober—
fläche iſt dann noch glatt, Kopf und Rumpf ſind noch nicht von
einander geſchieden, der Hintertheil des Körperſchildes zeigt erſt An—
deutungen von Segmenten. Eine vielgeſtaltige Reihe von Mittel—
230
formen führt, wie Barrande mit muſterhafter Genauigkeit darlegt,
von jener frühen Larvenform zum Zuſtand der Reife. Das aus⸗
gewachſene Thier zeigt bis zu 26 Millimeter (ein Zoll) Länge,
es beſitzt 17 Rumpfringe und eine mit feinen Dornen dicht beſetzte
Oberfläche.
Arionellus ceticephalus Barr. von Skrey ſteht Sao
in generiſchen Merkmalen ſehr nahe, iſt aber als Art an der glatten
Oberfläche leicht zu unterſcheiden. Auch von dieſer Form kennt man
mehrere Entwickelungszuſtände. Das ausgewachſene Thier hat 16
Rumpfringe.
Conocoryphe Sulzeri Schloth. und Ellipsocephalus
Hoffi Schloth., beide zu Ginetz ſehr häufig, ſtellen andere
Gattungs- und Artformen deſſelben Typus dar.
Am fremdartigſten aber geſtalten ſich die großen, durch die ſtach—
ligen Verlängerungen an den hinteren Ecken des Kopfſchildes, an den
Rumpfringen und dem Schwanzſchilde vor vielen anderen ausgezeich⸗
neten Paradoxiden, von denen Barrande zu Ginetz und
Skrey im Ganzen 12 Arten unterſchied.
Paradoxides bietet auch Andeutungen von Veränderungen der
Form im Laufe des Wachsthums, doch haben auch die kleinſten be—
obachteten Exemplare ſchon die 20 Rumpfringe des ausgewachſenen
Zuſtandes. Die eigentliche Embryonalentwickelung kennt man hier
alſo zur Zeit noch nicht.
Paradoxides Bohemicus Boeck, häufig im Thonſchiefer von Ginetz,
iſt ein nur wenig abweichender Localvertreter des ſchwediſchen P. Tessini
Brogn. oder auch wohl nur eine beſondere Varietät. Die Größe geht
bis gegen einen halben Fuß.
Aehnlich, aber im einzelnen anders, iſt das Auftreten der älteſten
foſſil erhaltenen Organismen in Scandinavien, wo neuerdings
Herr Angelin über dieſen Gegenſtand eine Reihe von gründlichen
Unterſuchungen angeſtellt hat.
Die unterſten, ihrerſeits auf kryſtalliniſchen Bildungen abgela⸗
gerten foſſilführenden Schichten von Schweden bildet ein Sandſtein,
der mit Schiefer wechſelt. Man findet darin von Foſſilien durchaus
nur Reſte von Algen, und noch keine Spur von thieriſchen Or—
ganismen.
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Fig. 5.
(in ½ d. nat. Gr.) Weſtgothland.
Fig. 6. Parabolina spinuldsa Wahl.
Weſtgothland, Schonen.
Fig. 7. Peltura scarabaeoides Wahl.
Weſtgothland, Schonen.
Paradoxides Tessini Brogn.
231
Darüber folgt eine Ablagerung von
Alaunſchiefer und bitumenhaltigem
ſchwarzem Kalkſtein, die zu Andra—
rum (Schonen) und anderen Orten
eine reiche Trilobitenfauna umſchließt.
Dieſe letztere ſtimmt im allgemeinen
Character in hohem Grade mit der
von Gin etz und Skrey in Böhmen
überein, zeigt aber andere, oft nur
wenig abweichende Arten.
Para doxides Tessini Brogn.
iſt eine ſchon ſeit Linné bekannte Art
aus dem Alaunſchiefer von Weſtgoth—
land, die 4—5 Zoll Länge erreicht.
Die ſeitlichen Spitzen der Rumpfſeg⸗
mente und der Kopfrand ſind bei ihr
breiter als bei der ſonſt ganz ähnlichen
obenerwähnten böhmiſchen Art.
Parabolina spinulosa Wahl.
(Angelin) aus denſelben Schichten
von Weſtgothland und Schonen,
gehört einer den Paradoxiden im All—
gemeinen noch ſehr verwandten Gat—
tung an. Die Zahl der Rumpfringe
beträgt aber bei ihr 12 und die Augen
zeigen eine deutliche Netzhaut.
Peltura scarabaeoides Wahl.
(Angelin), welche die vorige Art
an den gleichen Orten begleitet, gehört
wieder einer anderen, im Allgemeinen
auch noch ſehr ähnlich gebauten Gat—
tung an. Die Zahl der Rumpfringe
beträgt 12, die Augen ſind netzförmig
wie bei Parabolina, aber die ſtacheligen
Ausläufer, welche bei Paradoxiden und
Parabolinen an den hinteren Kopf—
ecken, an den Rumpfringen und dem
Schwanzſchilde auftreten, ſind bei den
Pelturen theils ſehr verkürzt, theils ganz verſchwunden.
232
Dieſer allgemeine Typus, wie ihn Paradoxides, Sao, Paraholina
und Peitura darbieten, wiederholt ſich noch aufs manigfachſte in ver—
ſchiedenen generiſchen und ſpecifiſchen Umgeſtaltungen.
Ein anderer weit mehr abweichender Typus der Trilobitenform
iſt der der Agnoſten oder Battoiden. Sie haben nur zwei
Rumpfringe. Kopfſchild und Schwanzſchild ſind in Größe und Form
einander ſo ähnlich, daß man ſie leicht verwechſeln kann und ehedem
auch wirklich oft ſie verwechſelte.
Dies iſt offenbar ein ſehr geringer Grad von Differenzirung, der
den Agnoſten die niederſte Stelle in der Reihenfolge der Trilobiten—
Formen zuweiſt. Auch fehlt ihnen noch jede Spur von Augen. Man
kennt von dieſem Typus nur eine einzige artenreiche Gattung.
Agnostus pisiformis Linn. iſt eine von Linns bereits
aus dem Alaunſchiefer von Schweden befchriebene
Art, die einen halben Zoll lang wird. Die Kruſte
iſt bei ihr ganz glatt, das Schwamfe mit zwei
ſeitlichen Dornen ausgeſtattet.
Dieſe Agnoſten weichen ſo ſehr von allen an—
deren Trilobiten ab, daß man, zumal durch ihre
meiſt geringe Größe und die geringe Zahl ihrer
Rumpfglieder verleitet, ehedem ſie für Larven—
Fig. 8. Agnostus zuſtände anderer Trilobiten, namentlich der Olenen
e und Pelturen, mit denen ſie in Schweden zuſammen
vorkommen, anſah. Indeſſen haben die ſeitherigen
Unterſuchungen dieſe Vermuthung nicht beſtätigt und man betrachtet
die Agnoſten jetzt nach Barrande am richtigſten als Vertreter eines
beſonderen Typus der Trilobiten-Gruppe, der etwas abweichend und
zwar niederer organiſirt geweſen ſein dürfte.
Die Primordialfauna von Schweden und Norwegen überhaupt
zählt 71 Arten von Trilobiten. Hierzu kommen noch einige wenige
andere Thierformen, ein Polyp (Phytlograpka), einige wenige Brachi⸗
opoden und von Gliederthieren neben den Trilobiten noch einige
Oſtracoden oder Muſchelkrebschen.
In England hat man erſt 1853 die Primordialfauna mit
Sicherheit nachgewieſen. Herr Salter fand damals Reſte von Cono-
cephalites, Ellipsocephalus und Aguostus in den Lingula-Schichten von
Wales. In Irland fand man in derſelben Zone ein räthſelhaftes,
vorläufig den Bryozoen zugezähltes Foſſil, welches Forbes unter
233
dem Namen Oldhamia beſchrieb, und in Geſellſchaft davon Röhren
von Anneliden herrührend, wie man ſie auch in Wales beobachtete.
Aehnlich ergab ſich die Primordialfauna auch in Nordamerika; neben
Meeresalgen fanden ſich Brachiopoden (Liugula), Trilobiten u. ſ. w.
Die ganze bisher aus Böhmen, Schweden, Norwegen,
England, Nordamerika u. ſ. w. bekannt gewordene Primor—
dialfauna iſt nach Barrande's Zuſammenſtellung vom Jahr 1859
vorläufig auf 174 Arten angewachſen, von denen mehr als dreiviertel
auf die Abtheilung der Trilobiten kommen. Die übrigen Klaſſen des
Thierreichs find theils nur in ſehr wenig Arten oder in noch ſehr
unſicheren Andeutungen, theils noch gar nicht vertreten. Sehr wenig
Arten haben die Echinodermen, Anneliden, Bryozoen, Acephalen,
Pteropoden geliefert, unſicher iſt das Auftreten von Cephalopoden.
Ziemlich viel Arten bieten die Brachiopoden, eine überwiegend große
Zahl die Trilobiten. Gar noch nicht nachgewieſen ſind Gaſtropoden
und Wirbelthiere.
Alle jene Glieder der Primordialfaung deuten Meeresbewohner
an, es ſcheint damals noch keine landbewohnenden und luftathmenden
Organismen gegeben zu haben.
Ein Theil der Typen zeigt eine Organiſationshöhe, die von der
der heute noch lebenden Vertreter deſſelben Typus nicht oder doch nicht
ſehr merklich abweicht. Bei anderen iſt die geringe Organiſationshöhe
offenbar, ſo bei den Echinodermen, die hier noch weiter nichts als
die gering ausgebildeten armloſen Cyſtideen darbieten, dann bei den
Trilobiten, die nach dem Mangel von Füßen und Fühlern und nach
der häutigen Beſchaffenheit ihrer Bewegungswerkzeuge offenbar einer
der niedriger orgauiſirten Ordnungen der Cruſtaceen angehören.
Ueberhaupt aber macht die Primordialfauna nach der geringen
Zahl der in ihr vertretenen Typen und gemäß dem Mangel aller
höheren Abtheilungen von Pflanzen und Thieren ganz den Geſammt—
eindruck eines der früheſten Stufen in der Entwickelung der Lebewelt.
geweſen ſein. Alle ihre foſſil erhaltenen Glieder ſind ſchon viel zu
hoch organiſirt, um eine ſolche Aunahme zulaſſen zu können. Wenn
die Trilobiten auch eine niedere, in der Jetztwelt nur noch in wenig
Vertretern fortlebende Stufe des Cruſtaceen-Typus darſtellen, ſo ſind
fie doch ſchon viel zu weit in der Organiſation vorgeſchritten, als
daß ſie die uranfängliche Form deſſelben ſein könnten. Zu allem dem
234
wiſſen wir, daß fie eine Metamorphoſe, ganz ähnlich wie manche an-
dere Cruſtaceen des heutigen Tages, durchliefen und deren Anfangs-
ſtufen laſſen uns dann wiederum auf die minder differenzirte Form
noch älterer, in foſſilem Zuſtande noch nicht nachgewieſener Vertreter
des Cruſtaceentypus zurückſchließen. Ein Organismus, der irgendwie
eine Metamoryhoſe beſteht, kann nicht wohl eine Urform fein.
Die vollſtändige Primordialfauna der älteren Siluriſchen Epoche
mag weit formenreicher geweſen ſein, als die wenigen mit feſten Theilen
ausgeſtatteten und auf unſere Tage erhalten gebliebenen Arten uns
ſie abſchlagsweiſe verkünden. Weiche und leicht verwesliche Infuforien,
Rhizopoden, Spongien, Polvpen, Quallen, Ascidien, Nacktſchnecken
u. ſ. w. mögen neben den Trilobiten zahlreich ſchon die damaligen
Meere bevölkert haben. Ausgedehnte Algen⸗Wälder des Meeresitran-
des ſcheinen ihr Hauptnahrungsfeld geweſen zu jein.
Reſte von Wirbelthieren ſind bis jetzt in den protozoiſchen Ge⸗
bilden noch nicht vorgekommen. Aber es liegt uns ſehr nahe anzu⸗
nehmen, daß manigfach gebildete, der feſten Theile noch entbehrende
Knorpelfiſche, theilweiſe vielleicht ähnlich dem heute noch lebenden, oben
ſchon gedachten Amphioxus, der kaum höher als eine Nacktſchnecke
erganifirt ift, damals ſchon gelebt haben mögen. Ihre verweſenden
Körper aber hinterließen noch keine feſten Theile, die uns ihr ehema⸗
liges Daſein noch verkünden könnten. Auch die heutigen Abſätze des
Meeres werden keine deutlichen Ueberreſte des Amphioxus oder der
Myxinen auf ſpätere Epochen übertragen.
Geologiſche Entwickelung der Meeresbewohner.
Die Pflanzen⸗ und Thierreſte der Paradoxiden⸗ Schichten von
Ginetz und Skrey in Böhmen, von Weſtgothland und Scho⸗
nen, von Wales u. ſ. w. ſind, wie ſoeben erörtert wurde, der
äliefte urkundlich erhaltene Ausgangspunkt für die Entwickelung der
fpiteren Floren und Faunen und mithin auch der heutigen Lebewelt.
An fie muß jede weitere poſitive Deutung des Lebensvorganges an⸗
us ken.
Mit den höheren ſiluriſchen und mit den devoniſchen Schichten
erhalten ſich unter ſpecifiſcher oder generiſcher Umgeſtaltung die Haupt⸗
topen der Primordialfauna. Manche reichen wenig verändert ſogar
bis in die heutige Schöpfung herein, z. B. von Brachiopoden die
en
235
Lingula-Arten. Diejenigen die man aus der Primordialfauna
von England und von Nordamerika kennt, weichen wenigſtens
der Gehäuſeform nach nicht ſehr von jenen ab, die noch jetzt im In⸗
diſchen und im Stillen Meere leben.
Weiterhin aber waͤchſt ven Epoche zu Epoche die Manigfaltigkeit
der engeren Typen. Mehr und mehr treten auch neue hinzu. Die
Höhe der Organiſation ſteigt. Die erſten Reſte von Fiſchen treten auf.
Landpflanzen tauchen einzeln herror und verkünden den erſten Beginn
des Land⸗ und Luftlebens.
Die Trilobiten, die in ſo überwiegender Zahl die Meere der
älteren ſiluriſchen Epoche bevölkerten, nehmen mit der Ablagerung des
oberen Siluriſchen Syſtems noch ſtark an Zahl und Manigfaltigkeit
der Gattungen und Arten zu.
Fig. 3. Trinueleus ornatus Sternd. Fig 10. Acidaspis (Odontopleurs)
Böhmen. bispinosa. Eur.
Die Trilobiten⸗ Gattungen der Primordialfauna find, wie es
ſcheint, bis auf Agnostus bereits ſchon erloſchen
Dafür treten eine größere Anzahl anderer, wie Trinucleus,
Acidaspis, Calymene, Phacops u. ſ. w. auf, welche manigfache Um⸗
geſtaltungen des gleichen Grundtypus verkünden. Im devoniſchen
Syſteme find von ihnen Trinucleus, Calymene, Agnostus u. ſ. w.
auch ſchon erloſchen. Acidaspis und Phacops leben in wenigen Arten
noch fort. Die Trilobitenform überhaupt iſt jetzt in langſamer Ab⸗
nahme begriffen. Im Bergkalk des Steinfohlen- Syftems finden wir
als letzten Vertreter derſelben nur noch die Gattung Phillipsia mit
wenigen Arten. Mit ihr verſchwindet die ganze Gruppe der Trilo⸗
biten für immer aus der Reihe der Lebeweſen. Andere höher orga⸗
niſirte Cruſtaceenformen, wie Limuliden und Decapoden, rücken in
ihre Stelle im Naturhaushalte ein.
Strahlthiere, Weichthiere und Gliedertbiere ent⸗
236
wickeln nunmehr im Verlaufe der Epochen eine immer reichere Manig—
faltigkeit der Formen und einzelne ihrer Zweige erreichen eine ftufen-
weiſe wachſende Vervollkommnung, während andere von einer gewiſſen
Stufe an gleichſam ſtehen bleiben und ſich auf ihr theils für die
Dauer forterhalten, theils in der Folge wieder nahe oder ein
zum Erlöſchen kommen.
Eine fortſchreitende Vervollkommnung zeigen von Strahlthieren
die Crinoiden, eine Form der Echinodermen.
In den unteren ſiluriſchen Schichten findet man von Schino—
dermen überhaupt nur Cyſtideen oder armloſe Crinoiden, kuglige
oder eiförmige aus vieleckigen Kalktäfelchen zuſammengeſetzte Körper,
die mittelſt eines kurzen biegſamen Stieles am Boden befeſtigt waren.
Sie erlöſchen ſchon bald wieder, ſie fehlen in den oberen Silurſchichten
bereits ſchon und wiederholen ſich in keiner ſpäteren Epoche mehr.
In den oberen ſiluriſchen Schichten folgen auf fie die eigent-
lichen Crinoiden oder Seelilien, die aus einem becherförmigen,
ebenfalls mittelſt eines Stieles feſtſitzenden Körper beſtehen, zugleich
aber auch mit verſchiedentlich geſtalteten
oft ſehr vielgliederigen Greiforganen oder
Armen verſehen ſind.
In den oberen ſiluriſchen und in den
devoniſchen Schichten zeigen ſich eine große
Menge von Gattungen und Arten dieſer
Seelilien. Eine der bezeichnendſten Gat—
tungen des devoniſchen Syſtems iſt Cu-
pressocrinus.
Der becherförmige Körper des Thieres trägt
bei ihr fünf große einfache und unveräſtelte
Arme und ſitzt auf einem langen vielgliederigen
ſtumpfvierkantigen Stiel, der theils von einem
vierlappigen, theils von fünf beſonderen Ca⸗
nälen der Länge nach durchzogen wird. Man
Fig. 11. Cupressoerinus crassus. kennt mehrere Arten dieſer Gattung aus dem
nn Goldt. devoniſchen Kalke der Eifel.
Auch in den verſchiedenen Ablagerungen der ſecundären Periode
ſind die Crinoiden noch ziemlich zahlreich vertreten, ſo namentlich
im Muſchelkalk durch die Encriniten, im Lias und Jura durch die
Pentacriniten u. ſ. w. Mit der Tertiärformation nimmt ihre Zahl
raſch ab und heut zu Tage leben als letzte, dem Erlöſchen nahe Ab—
237
kömmlinge nur noch zwei Gattungen Pentaerinus und Holopus, von
denen nur je eine Art an Weſtindien vorgekommen iſt.
Eine dritte Familie der Crinoiden ſind die Comateln oder
Haarſterne, welche den vorigen ganz ähnlich ſehen, aber im aus—
gewachſenen Zuſtand frei im Meere umherkriechen. Sie gehören als
höhere Stufe des Typus den ſpäteren Epochen au. Während die
Cyſtideen in der Primordialfauna ſchon, die mit Armen verſehenen
Crinoiden etwas ſpäter auftreten, folgen die Comateln erſt in einer
viel jpäteren Epoche nach. Sie beginnen erſt in den juraſſiſchen Ab—
lagerungen und reichen von dieſen bis in die Meere der heutigen Zeit,
wo ſie nunmehr reich an Arten die ganz erloſchenen Cyſtideen und
die dem Erlöſchen wenigſtens nahe gelangten Crinoiden erſetzen.
Die Entwickelungsgeſchichte der Comateln zeigt eine der geologi—
ſchen Verbreitung der drei Familien ziemlich gleichlaufende Formen—
reihe. In einer gewiſſen Stufe der Entwickelung ſind nämlich die
jungen Comateln auch noch mittelſt eines biegſamen gegliederten Stiels
am Boden feſtgeheftet und gleichen dann ſehr der ausgebildeten Form
der ächten Crinoiden. Sie lößen ſich bald aber vom Stiele ab und
leben von da an als frei umherkriechende Thiere. Was in den früheren
Perioden der Schöpfung die herrſchende bleibende Form war, kommt
alſo heut zu Tage faſt nur noch als vorübergehende jugendliche Lebens—
form vor. Agaſſiz neunt daher die Crinoiden in Bezug auf die
Comateln embryoniſche Typen. Vergl. S. 37. 38. Ein ſolches
embryoniſches Verwandtſchaftsverhältniß iſt aber nicht wohl anders
erklärbar als durch eine gemeinſame Abſtammung.
Die meiſten Ordnungen der Mollusken oder Weichthiere
erhalten ſich von der Primordialfaung oder wenigſtens von den nächſt
höheren Schichten des Uebergangsgebirges an bis zur Jetztwelt auf
nahe gleicher Höhe der Organiſation. Doch fehlt es auch nicht an Bei—
ſpielen von wohlausgeſprochener Vervollkommnung einzelner Zweige. Die
meiſten verlaſſen das Meer nicht, nur die Acephalen rücken auch in die
ſüßen Binnengewäſſer, die Gaſteropoden ſowohl in dieſe als auch auf
das Feſtland ein. Eine Luftathmung erlangt nur ein Theil der letzteren.
Die Brachiopoden, kopfloſe Weichthiere mit ſpiralförmig auf—
gerollten Lippenfortſätzen, Arme genannt, verſehen, mit einem zwei—
klappigen Kalkgehäuſe bekleidet und meiſt mit einem ſehnigen Stiele,
der aus einem Loche des einen Schalenwirbels hervortritt, an Steinen
des Meeresgrundes feſtſitzend, ſtellen eine ſehr eigenthümlich organi—
238
firte und ſehr ſelbſtändige Ordnung dar, die, wie auch Owen be-
ſtätigt, eine entſchieden niedrigere Stufe als die der Acephalen ein-
nimmt. Die Brachiopoden erhalten ſich von der Primordialfauna an
in ſehr gleichmäßiger Organiſationshöhe bis zur heutigen Schöpfung.
In den älteren und mittleren Epochen iſt ihr Reichthum an Arten
ein ſehr beträchtlicher, jetzt leben verhältnißmäßig nur noch wenige Arten.
In der Primordialfauna, in der ſiluriſchen und in der devoniſchen
Fauna bildeten ſie etwa die Hälfte aller Molluskenformen. Heute
leben etwa 11000 — 12000 Arten von Mollusken, darunter find
nur noch höchſtens 80 Brachiopoden oder ungefähr ¼ Procent, von
denen ein Theil ganz vereinzelte, gleichſam dem Ausſterben nahe ge—
kommene Formen darſtellt. |
Vier Gattungen Brachiopoden, Lingula, Diseina, Crania und
Rhynchonella reichen von der Siluriſchen Epoche an durch alle folgen—
den bis in die Meere der Jetztwelt. Keine andere Abtheilung der
Weichthiere bietet ſo auffallende und ſichere Beiſpiele einer Beſtändig⸗
keit der generiſchen Form durch alle urkundlich bezeichneten Epochen
der Lebewelt. |
Bei dieſer Langlebigkeit und Beſtändigkeit des Brachiopodentypus
iſt es nicht auffallend bei ihm keine Süßwaſſer- und Landbewohner
auzutreffen. Der Typus hat ſich hier ſo frühe in einer den Lebens—
bedingungen angemeſſenen Form feſtgeſtellt, daß die Vererbung der
Veränderlichkeit engere Grenzen ſetzte.
Die Brachiopoden dürften von Bryozoen herſtammen. Ihre fo-
genannten Arme ſind jedenfalls den Fühlern der letzteren homolog.
Eine gewiſſe Aehnlichkeit mit der Brachiopodenform haben auch die
Vogelkopf⸗Individuen oder ſogenannten Avicularien der Bryozoen⸗
Stöcke. | |
Die Acephalen (Lamellibranchier) oder eigentlichen Muſcheln
ſind gleich den Brachiopoden kopfloſe Mollusken und ebenfalls mit
einem zweiklappigen kalkigen Gehäuſe verſehen, aber nach anderem
Plane gebaut und meiſt mit einem fleiſchigen Fuße zum Behufe freier
Ortsbewegung verſehen.
Sie ſtellen eine von den Brachiopoden ganz ſelbſtändige Ordnung
der Klaſſe der Weichthiere dar. Am meiſten Beziehungen zu den Bra⸗
chiopoden zeigen noch die niedrigſten Formen der Acephalen, die Ano⸗
mien und Auſtern, von denen namentlich erſtere eine Durchbohrung
am Wirbel der einen Klappe zeigen, die entfernt an die Brachiopoden⸗
239
form erinnert. Jedenfalls ftellen beide Ordnungen ſelbſtändige Stämme
dar. Während die Brachiopoden von Bryozoen abſtammen dürften,
ſcheinen die Acephalen eher von Tunicaten (Aseidien u. ſ. w.) ſich
herleiten zu laſſen. Aber bereits aus der Primordialfauna wird das
foſſile Vorkommen eines Acephalen erwähnt und der Urſtamm der
Acephalenform fällt alſo wie der der Brachiopoden noch über jene
Zone hinaus.
Ju den älteſten foſſilführenden Schichten erſt ſehr ſpärlich ver—
treten, werden die Acephalen in den nächſt folgenden Schichten bald
ſehr formenreich und leben noch jetzt in großer Menge der Gattungen
und Arten im Meere, einige Gattungen auch in ſüßen Gewäſſern.
Ihr Typus iſt in Bezug auf die geologiſche Fortentwickelung bei wei—
tem nicht ſo ſtarr, als der der Brachiopoden. Es ſcheint auch für
einen Theil der jüngeren Acephalen-Formen eine höhere Organiſation
ſich nachweiſen zu laſſen, als für die älteſten bekannten Foſſilformen.
Zweimuskelige Acephalen mit ganzem Mantelrand herrſchen in
den älteſten Ablagerungen faſt ganz vor; Formen mit Mantelbucht,
ſowie Monomyarier ſcheinen erſt in etwas ſpäteren Epochen hervor—
zutreten.
Aus der Ordnung der Aeephalen mögen ſich hier einige Beiſpiele vom
geologiſchen Auftreten der Arten anreihen.
Ostrea edulis Linn., unſere gemeine eßbare oder britiſche Auſter,
iſt eine heut zu Tage von Dänemark und den britiſchen Inſeln an
bis Südſpanien (Malaga) verbreitete und ſehr veränderliche Art, die ſich
bis in die mittlere Tertiärbildung zurückverfolgen läßt und ſich dabei als
nordiſcher Herkunft erweiſt.
Man unterſcheidet im britiſchen Meere namentlich zwei Abänderungen der
Auſter, welche ſowohl in der Beſchaffenheit der Schale als im Geſchmacke des
Thieres etwas von einander abweichen. Die bekannteſte Varietät iſt die na-
tive oyster, die im Handel vielverbreitete engliſche Auſter, welche in großen
Maſſen auf den Markt kommt, und namentlich von den Engländern auf künſt—
lichen Lagern erhalten und aufgezogen wird. Ihr Umriß iſt oval, die Größe
im Allgemeinen gering, ihre Oberklappe flach, die Unterklappe gewölbt, die
Oberfläche mit angedrückten Lamellen bedeckt, die auf der Unterklappe, oft auch
zugleich auf der Oberklappe eine deutlich ausgeprägte Radialfaltung zeigen.
Dies iſt die Form, welche Goldfuß einſt als vermeintliches Foſſil aus der
an römiſchen Niederlaſſungen ſo reichen Gegend von Mainz beſchrieb. Es
iſt aber wohlbekannt, daß die alten Römer ſchon ihren Hauptbedarf an Auſtern
aus dem britiſchen Meere bezogen. Foſſil erſcheint ſie in den Ablagerungen
der Glacial-(Diluvial- Epoche von Scandinavien und Schottland, auch
in den pliocänen (Crag-) Schichten von England ſoll ſie ſchon vorkom—
men, fehlt aber in den gleichzeitigen Ablagerungen der Mittelmeer-Gegenden
240
wahrſcheinlich ganz, nur zur Diluvialepoche ſoll fie nach Pilippi verüber-
gehend auch bis Sieilien ſich erſtreckt haben, ſeither aber hier wieder er—
loſchen ſein.
Die Engländer unterſcheiden noch eine zweite Varietät, die Felſen auſter,
rock-oyster, fie lebt vereinzelt, wird nur ſelten aufgefunden und nicht küuſtlich
aufgefüttert. Dieſe iſt größer als die vorige, von gerundeterem Umriſſe, reicher
verziert und reicher gefärbt, die Lamellen der Oberfläche ſind bei ihr etwas
aufgerichtet und gewöhnlich etwas radialfaltig. Dieſe ſcheint jedenfalls im
Crag von England und von Belgien ſchon foſſil aufgetreten zu ſein.
Wie weit fie nach Süden ropa heut zu Tage reicht und ob fie hier etwa
auch foſſil vorkommt, iſt noch nicht recht feſtgeſtellt. Nach Jeffreys kommt
die rock-oyster im öſtlichen Theile des Mittelmeeres ebenſowenig mehr vor
als die native-oyster.
Ostrea lamellosa Bro c. [O. edulis var. foliosa Goldf.] iſt eine an⸗
dere, aber doch der vorigen ſo nahe verwandte Art, daß man nicht immer
und überall fie von ihr abgrenzen kann. Das Hauptmoment der Unterſchei—
dung iſt ihre ſüdeuropäiſche Heimath.
O. lamellosa lebte in der Mioeänepoche zahlreich im Wiener Becken,
ſowie in Bayern, Ungarn u. ſ. w., dann in der Pliocän-Epoche im Mit⸗
telmeere (Italien, Sieilien, More a). Sie iſt von der engliſchen native
oyster mit Leichtigkeit zu unterſcheiden, näher ſteht ihr die Felſenauſter und die
naturgeſchichtlichen Unterſchiede zwiſchen ihr und der letzteren dürften ſich nicht
leicht in Worten faſſen laſſen; die Oberklappe iſt bei O. lamellosa im Allgemei⸗
nen aber gewölbter als bei 0. edulis. i
Im Mittelmeer und im Adriatiſchen, ſowie im Schwarzen Meer lebt heute
auch noch eine eßbare Auſter, die aber größer, unregelmäßiger geſtaltet und
außen blätteriger als die engliſche native oyster iſt, der fie an Geſchmack und
an Handelswerth beſtimmt nachſteht. Gmelin nannte fie 0. exalbida, La⸗
marck und Philippi bezeichnen fie als O0. Adriatica [Korr. Fig. 5.
Sie iſt der offenbare Abkömmling der mioeän und pliocän in Mittel-
und Südeuropa viel verbreiteten O. lamellosa Broc. Miocäne Exemplare aus
Mitteleuropa, pliocäne von Morea, Rhodus u. ſ. w. find von der in Handel
kommenden eßbaren Auſter von Trieſt nicht zu unterſcheiden; die einen wie
die andern zeigen eine ſchwache Wölbung der Oberklappe, die foſſilen Exem—
plare ſind nur in der Regel dickwandiger als die lebenden.
Im Ganzen geht hieraus hervor, daß unſere ſo ſchwer zu beſchreibenden
und zu ordnenden Formen der eßbaren Auſtern überhaupt von zwei Stäm⸗
men, einem nordeuropäiſchen und einem ſüdeuropäiſchen ausgehen und daß
das Alter der heutigen Formen weit über die heutige Lebewelt hinausgeht und
ſich bis zur Pliocän- und Miocänepoche zurückverfolgen läßt. Ihr gemein—
ſamer Urſtamm iſt noch nicht erſichtlich, wird aber in ähnlichen Auſternformen
noch älterer Epochen zu ſuchen ſein. i
Das allgemeine geologiſche und geographiſche A jener erörterten
Formen aber paßt ganz wohl zur Lehre von einer gemeinſamen Abſtammung
und einem allmähligen Auseinandergehen der Formen.
Pecten pusio Linn. sp. [Lamarck] P. multistriatus Poli sp. eine auf
241
europäiſchem Gebiete mioeän, pliocän und lebend häufig vorkommende Muſchel
gibt zu ähnlichen aber noch weiter tragenden Schlüſſen Anlaß. Es iſt eine
kleine, höchſtens 1-2 Zoll erreichende Muſchel, ſaſt gleichklappig, außen be⸗
deckt mit zahlreichen ungleichen, feingedornten Strahlrippen, übrigens in Größe,
Rippen⸗ und Dornenbildung ziemlich veränderlich. So findet ſie ſich miocän
im Wiener Becken, in Ungarn, Polen u. ſ. w., ferner im Crag von Eng⸗
land und Belgien, in den Subapenninnen-Gebilden von Italien, auf
Sieilien, Rhodus u. ſ. w., endlich heute noch lebend im Mittelmeer. Aber
ſie findet ſich nicht mehr in der eben beſchriebenen Form im Britiſchen Meer,
ſondern hier hat ſich vielmehr ſeit der Ablagerung der Crag-Schichten unter
dem Einfluſſe nicht näher bekannter Umſtände (vielleicht der klimatiſchen Ab—
kühlung) eine andere ſehr merkwürdige Form aus ihr abgezweigt.
Hinnites sinuosus Gmel. sp. [Deshayes] iſt dieſer umgeſtaltete Neben»
zweig von Pecten pusio. Das junge Thier beſitzt noch ganz daſſelbe Gehäuſe wie
Pecten pusio in gleicher Altersſtufe, aber bald, zum Theil ſchon von ½ Zoll
Länge an, gibt das Thier ſeine freie Ortsbewegung auf, es ſetzt ſich mit der einen
Klappe, der rechten, an Felſen, Conchylien oder Algen feſt an und das Ge—
häuſe verliert damit feine frühere Regelmäßigkeit; die von da an ſich ablagern-
den Schichten erſcheinen manigfach verbogen und verzerrt.
Dieſer Nebenzweig von P. pusio iſt durchaus uur lebend im Britiſchen
Meer bekannt. In den Crag-Schichten von England wurde noch die gewöhn—
liche mittelmeeriſche Form des P. pusio abgelagert und es iſt nicht wohl daran
zu zweifeln, daß Hinnites sinuosus von nordeuropäiſchen vielleicht borealen
Exemplaren des P. pusio in grader Linie abſtammt.
Forbes und Hanley betrachten die lebende britiſche Form als eine
bloſe Varietät des normalen P. pusio, die in der Jugend in nichts von dieſem
abweiche. Des hayes dagegen ſieht in ihr nicht nur eine eigene Art, ſondern
ſtellt dieſe auch zu einer anderen Gattung. Beiden Anſichten liegt offenbar etwas
wahres zu Grunde. Hinnites sinuosus iſt ſicherlich eine in unmittelbarer Folge
von Pecten pusio abgeſtammte Form, die in einem Character von dem Art—
typus abweicht, der die Gattungsgrenze ſchon überſchreitet. Sie iſt im Begriff
die Stammform einer neuen Gattung zu werden. Je früher fortan die An—
wachſung eintritt, je mehr ſie umbildend auf andere Artcharactere einwirkt,
um ſo weiter rückt der Vorgang. Dies wird er, ſofern er dem Thiere ſelbſt
von Vortheil iſt. So entſtehen Gattungen. —
Die Gaſteropoden oder Schnecken, mit einem Kopf und
einem fleiſchigen Fuße verſehene Weichthiere, meiſt mit einem feſten,
kalkigen und in der Regel ſpiralförmig aufgerollten Gehäuſe verſehen,
beginnen neben den Acephalen in den älteſten foſſilführenden Schich—
ten in anfangs noch ſehr ſpärlicher Vertretung, werden aber gleich
jenen bald formenreich und leben in großer Fülle der Arten, Gat—
tungen und Familien noch jetzt im Meere, in Flüſſen und Sümpfen,
ſowie auf dem Feſtlande.
Eine Vervollkommnung im Laufe der geologiſchen Epochen iſt
Rolle, Darwin's Lehre. 16
242
bei vielen ihrer Gruppen deutlich ausgeſprochen. Schnecken aus der
Abtheilung der ganzrandigen Proſobranchiaten wie Turbo, Pleuroto-
maria, Littorina u. ſ. w. herrſchen in allen älteren Epochen und leben
auch jetzt noch in großer Anzahl der Gattungen und Arten fort.
Aber die höher differenzirten Canaliferen, meiſt ausgezeichnet räube—
riſche Fleiſchfreſſer, treten erſt mit dem Lias wohlausgeſprochen auf
und werden von da an immer zahlreicher. Buccinen, Voluten
u. ſ. w. fehlen noch in den älteren und mittleren Epochen und tauchen
erſt mit der Kreide- oder mit der Eocän-Bildung hervor.
Eine der merkwürdigſten Gruppen der Gaſteropoden ſind die
Chitonen oder Käferſchnecken, welche mit der allgemeinen Or⸗
ganiſation der Patellen Charactere verbinden, die ſie in ſehr auffal⸗
lender Weiſe den Gliederthieren nähern. Ihr Rücken iſt nämlich ſeg⸗
mentirt und führt eine aus acht hintereinander folgenden Stücken
beſtehende Kalkſchale, die dem Thiere, vom Rücken aus geſehen, mehr
das Anſehen einer Aſſel oder eines anderen Gliederthieres als das
einer Schnecke verleiht. Das Thier kann ſich auch zuſammenkugeln,
ähnlich wie die Aſſeln und die Trilobiten. Die übrige Organiſation
iſt, wiewohl mit einigen Abweichungen, im Allgemeinen die der Pla⸗
tellen und anderer Cyclobranchier, die keine Spur von Segmentirung
zeigen. Die Entwickelungsgeſchichte weicht wieder mehrfach von der
der übrigen Schnecken ab.
Dieſe Chitonen find geologiſch ein ſehr alter und ſehr beftän-
diger Typus. Schon im devoniſchen Syſtem und im Kohlenkalk findet
man eine Anzahl von Arten, die nur in Arten-Characteren, höchſtens
als Gattungen von den heute noch zahlreich in unſeren Meeren leben⸗
den Formen abweichen. Man hat fie neuerdings in zahlreiche Gat⸗
tungen abgetheilt, die aber nur in geringen Merkmalen von einander zu
unterſcheiden ſind. Von einer Vervollkommnung im
Laufe der geologiſchen Entwickelung kann bei ihnen
ſo wenig wie z. B. bei den Brachiopoden die Rede ſein.
Chitou Siculus Gray, zur Untergattung Lo -
phyrus gehörig, iſt eine der bekannteſten europäiſchen
Arten, die dem weſtindiſchen Ch. squamosus Lin. ſehr
ähnlich aber kleiner iſt. Man findet ſie foſſil im Wiener
Becken, auf Sicilien, Cypern u. ſ. w., endlich lebend
im Mittelmeer und im Adriatiſchen Meer. Beim leben⸗
Fig. 12. f f . ar 2 ä
Chiton Sieulus Gray. den Thiere umgibt den achtgliederigen Rückenpanzer eine
Mittelmeer. mit feinen dachziegelartig ſich einander deckenden Kalk⸗
243
ſchuppen beſetzte Haut; im jefflen Zußande findet ſich dieſe Art, Bleichwie bie
Cbitonen überhaupt, nicht anders als in vereinzelten Xückenſchildern erhalten
Nur wenig weichen von dieſer heute noch lebenden Thierform
die älteſten foſſil bekannten Chiton- Arten ab, die ſchen in der paläc-
zoiſchen Periode hervortreten. Der Chitonen⸗Tyupus reicht alſo jeden⸗
falls in die früheſten Epochen der Schöpfung zurück und dies macht
ſeine merkwürdige Hinneigung zum Gliederthiertypus um jo beven-
tungsvoller. Es ſcheint, daß er von einem noch älteren nicht näher
bekannten Stamm ſich herleitet, der dem gemeinſamen Ausgangspunkte
des Weichthier⸗ und des Gliederthierpus angehörte. Sein altes
Gepräge ſtarr fortvererbend, verkündet er jetzt noch in jeiner ganz
vereinzelten Stellung uralte verwandtſchaftliche Beziehungen zwiſchen
Klaſſentypen, die ſeitdem weit aus einander gegangen find.
Von den Gattungen, in welche man in neuerer Zeit die Chitonen einge⸗
theilt hat, iſt Chitonellus die am beiten bezeichnete. Der Körper des Tieres if
bei ihr ſehr langgezegen und gleichſam raupenfõrmig, die Nũckenſchilder nd unter
einander ſehr ungleich und ſtoßen nicht alle io eng zuſammen wie die der Cbitenen.
Man kennt lebend mehrere Arten im indiſchen und im auſtraſiſchen Meer.
Chitonellus Weislandi Rolle bistet
das erſte Beiſpiel einer aus geologiſchen Ab-
lagerungen auftauchenden Chitenellen-Art. Nan
findet in den Niocãn⸗Schichten von Yapıgy
Siebenbürgen; und ven Föorchten an (Ür
garn) die vereinzelten Kalkſchilder, fie ſind je
nach der Lage, die ie am Körper des Thieres
einnahmen, von etwas ungleicher Geſtalt, 1-2
Linien lang und auf der Oberfläche beiderſeits
langs limiirt. Einige im anſtraliſchen Meere
lebenden kommen diejer miecänen Art ſehr nahe.
In den Tertiärablagerungen des indiſch⸗
anſtraliſchen Gebiets wird man jedenfalls ſolche
foſſile Chitonellen in Zukunft anch nech anf-
finden.
Wie der bier zum erſten Male beſchriebene
Chitonellus Weinlandi vermag auch eine andere
Fig. 13. 14 bier folgende neue Art einen Beleg dafür ab⸗
— . — eben, deß Gattungen und Arten der heutigen
— — die man — noch nicht im feſſilen
Zuſtande kannte, im Laufe der Jahre auch aus urweltlichen Ablagerungen all⸗
mäblig bervortauchen.
Leptoconchus Jaegeri Rolle if eine in den Niocän- Schichten den
Lapug (Siebenbürgen) vorkommende Art aus der Serwandtſchaft der Magilen
und der Purpurſchnecken. Das Gehänſe iſt etwa / Zoll boch, kurzſpindelformig
mit ranhblätterigem Ueberzug, der die Nähte der Umgänge verdeckt. Nan
16 *
244
kennt zwei Arten derſelben Gattung, von denen die hier
beſchriebene dritte durch etwas ſchlankere Gehäuſeform
abweicht, aus dem Indiſchen und dem Rothen Meer.
Die Thiere ſcheinen alle ähnlich wie Magilus in Corallen-
riffen verſteckt zu leben.
Die beiden hier beſchriebenen neuen Conchylien-For⸗
men erweiſen das ehemalige und zwar mioeäne Vorkom—
men von Gattungen im mitteleuropäiſchen Gebiete, welche
beide bisher nur durch lebende Arten des Indiſchen Meeres-
gebietes bekannt waren.
Fig. 15. Leptoconchus So haben wir überhaupt anzunehmen, daß die über—
Jaegeri Rolle (in 2maliger . 8 1
Vergrößerung). Miocän, wiegende Mehrzahl aller Arten und Gattungen der heu—
Siebenbürgen. tigen Lebewelt nicht ihr allein angehört, ſondern aus
früheren Epochen der Erdgeſchichte abſtammt. Wir können bis jetzt allerdings
erſt einen kleinen Theil der heutigen Lebensformen auch in foſſilem Vor—
kommen nachweiſen, aber die Zahl der Fälle iſt in ſtetem Zunehmen und es
wird eine Zeit kommen, wo man keine heutige Pflanzen- oder Thierart, die
überhaupt nur der foſſilen Erhaltung fähige Theile beſitzt, nicht auch in vor—
geſchichtlichen Ablagerungen nachgewieſen haben wird oder man fie, wie Hinnites
sinuosus, mit Beſtimmtheit auf eine andere vorausgegangene Stammart zurück
führen kann. Die künſtlich gezogenen Schranken zwiſchen Jetztwelt und Vor:
welt brechen damit von Schritt zu Schritt mehr zuſammen.
Die Cephalopoden, die höchſt organiſirten Weichthiere, zu
denen namentlich die Orthoceren, Nautilen und Ammoniten, die Be—
lemniten und Sepien gehören, beginnen ſchon mit einzelnen Vertretern
und zwar Orthoceren in den unteren ſiluriſchen Schichten und ihr
Urſtamm iſt daher nicht urkundlich näher bekannt. Mehrere Momente
deuten aber auf einen mit dem der Pteropoden oder Floſſenflüſſer
gemeinſamen Urſprung.
Orthoceren, Lituiten, Goniatiten u. ſ. w. herrſchen in den älteren,
Ceratiten und Ammoniten, ſowie Belemniten in den mittleren Ab—
lagerungen; keine dieſer Formen erreicht die jüngeren Schichten und
keine findet ſich noch in den heutigen Meeren.
Nautilen erſcheinen ſchon im Uebergangsgebirge und reichen von
da durch die mittleren Epochen bis in die heutige Fauna; eine oder
vielleicht mehrere Arten leben noch im Indiſchen Meer als letzte Nach—
kommen einer ehedem formenreichen Abtheilung. a
Eine Vervollkommnung im Laufe der geologiſchen Epochen zeigen
die Cephalopoden nur inſoweit, als die Ordnung der Tetrabrauchia—
ten oder Vierkiemer, denen die Nautilen angehören und zu denen
man auch die Orthoceren, Ammoniten und andere erloſchene Formen
zu zählen Grund hat, ſich in den älteren und mittleren Epochen reichlich
245
vertreten, heute aber bis auf wenige Nautilus - Arten erlofchen zeigt,
indeſſen die Dibranchiaten oder Zweikiemer heut zu Tage noch
reichlich vertreten ſind. Dieſe zweite Ordnung, zu denen die in der
Lias⸗, Jura- und Kreide-Epoche zahlreichen, ſeither aber erloſchenen
Belemniten und die heute noch lebenden Sepien gehören, iſt aber in
mehrerer Hinſicht höher organiſirt. Ueber die Entwicklungsgeſchichte
dieſer Formen vergl. S. 205.
Während die Primordialfauna noch gar keine Reſte von Wirbel—
thieren aufzuweiſen hatte, treten ſchon in den oberen ſiluriſchen
Schichten die erſten Spuren von Fiſchen auf, mit den devoniſchen
Schichten wächſt die Zahl ihrer Arten, Gattungen und Familien noch
weiter an.
Es find Ganoiden und Knorpelfiſche (Vergl. S. 36.
und 200), erſtere theils mit knöchernen Hautſchildern gepanzert, theils
mit Schmelzſchuppen bekleidet, letztere durch Zähne und Floſſenſtacheln
von Selachiern, den Haien und Rochen zunächſt verwandt,
manigfach vertreten.
Von den ſiluriſchen und devoniſchen Fiſchtypen iſt eine der
auffallendſten die der Cephalaspiden, einer Familie der gepan-
zerten Ganoi—
den, bei denen
der Kopf mit
großen anein—
ander ſtoßen⸗
den Knochen⸗
platten bedeckt
Fig. 16. Cephalaspis Lyelli Ag. war, die zu
N
einem einzigen breiten Kopfſchilde zuſammenfloſſen. Den übrigen
Körper bedecken theils zahlreiche kleinere Platten, theils Schmelz—
ſchuppen. Das innere Skelett dieſer Thiere war noch ſehr unvoll—
kommen, der Rückenſtrang erhielt ſich bei ihnen noch für die ganze
Lebensdauer in knorpeliger Beſchaffenheit und nur die peripheriſchen
Theile verknöcherten ſich.
Dem äußeren Anſehen nach den Panzerwelſen der heutigen
Flüſſe wärmerer Länder nicht unähnlich, ſtehen ſie doch ihrem Skelettbau
nach den Stören näher, als deren Urſtamm man ſie betrachten kann.
Noch ſeltſamer und von allen heutigen Lebeweſen abweichender
waren die Placodermen, zu denen namentlich die Gattung bie-
246
richthys (Asterolepis) gehört. Bei ihnen war der ganze Körper mit
aneinanderſtoßenden dicken Knochenplatten gepanzert, das ganze innere
Skelett knorpelig. Ganz ſeltſam aber iſt ihre Beziehung zu Cruſtaceen,
ihr Kopf zeigt eine bewegliche Einlenkung in den Rumpf, wie ſie
ſonſt bei Fiſchen nie vorkommt, an den vorderen Seiten gehen ge—
gliederte Bruſtfloſſen aus, die mehr an Vordergliedmaßen von Cru⸗
ſtaceen als an Floſſen von Fiſchen erinnern. Es iſt, als ſtammten
Fiſche und Cruſtaceen aus gemeinſamer Wurzel. Wir müſſen mit
entfernten Andeutungen bei einer ſolchen Enträthſelung des Stamm-
baumes vorläufig noch vorlieb nehmen; ſpätere paläontologiſche Eut—
deckungen können wohl allein nur, was wir erſtreben, uns mehr oder
minder noch nahe legen.
Aechte Knochenfiſche oder Teleoſtier fehlen noch in jener
frühen Epoche der Schöpfungsgeſchichte. Mehr und mehr entwickelt
ſich das Innenſkelett der Ganoiden im Laufe der ſecundären Abla-
gerungen, im Jura findet man eine Anzahl von Ganoiden, die faſt
ganz ſchon den heutigen Knochenfiſchen ſich anreihen, mit der Kreide
treten die erſten Teleoſtier ſicher hervor.
Die Ganoiden, in der ganzen paläozoiſchen und epo
Periode in reicher Fülle der Formen die Meere bewohnend, ſind ſeit
der Kreide-Epoche auffallend zurückgegangen. Heut zu Tage bewohnt
kein Ganoide das Meer noch. Nur wenige Arten find noch am Leben
und dieſe ſind Bewohner von Flüſſen wärmerer Länder.
Reptilien und Säugethiere fehlen noch in den älteren
Epochen. Die Steinkohlenformation beherbergt die erſten bekannten Reſte
von Reptilien, Säugethiere aber zeigen ſich erſt vom Lias und Jura an.
Bis gegen Ende der Kreide-Epoche erſcheinen unter der Meeres—
bevölkerung eine große Reihe manigfach geſtalteter, zum Theil rieſen—
haft herangewachſener Reptilienformen.
Ueberhaupt erweiſt ſich die Jura- und Kreide-Epoche als die
Zeit der reichſten Entfaltung der Reptilienwelt. Im Meer, auf dem
Feſtland und im Luftkreis herrſchten Reptilien.
Ichthyoſauren, welche mit der allgemeinen Organiſation der
Reptilien Charactere der Cetaceen verbinden und mit Floſſenfüßen
ausgeſtattet waren, Pleſioſauren mit langem Vogelhals und eben—
falls mit Floſſenfüßen verſehen und ga vialartige Krokodilier
bevölkerten das Meer, Eidechſen verſchiedener Form das Feſtland,
Pterodactylen oder Flugeidechſen die Luft.
247
Mit dem Ende der Kreideformation, welches, wie ſchon Seite 174
berührt wurde, durch beſonders große Veränderungen in der Geſtalt
von Feſtland und Meer bezeichnet iſt, erleidet jene überwiegende Herr—
ſchaft der Reptilien ein ziemlich raſches Ende. Namentlich erlöſchen
hier alle jene gewaltigen Meeresreptilien und an ihre Stelle treten
dann ſpäter die Cetaceen.
Nexipoden oder Saurier mit floſſenartigen Gliedmaßen, wie
ſie von der Trias bis zur Kreide auftraten, fehlen den ſpäteren
Epochen und der heutigen Fauna vollſtändig. Ueberhaupt bewohnt in
der heutigen Welt kein Saurier das Meer noch.
Die Teleoſaurier des Lias und Jura, gavialartige Reptilien
mit biconcaven Wirbeln, waren noch Meeresbewohner. Aber heute
leben Nachkommen ihres Stammes nur in Flüſſen. Gaviale haben
im Ganges, Krokodile und Kaiman's im Nil und in Flüſſen
Amerika's eine Zufluchtsſtätte vor jenen uns noch dunklen Einflüſſen
gefunden, die zu Ende der Secundärperiode ihren meeriſchen Urſtamm
zum Erlöſchen brachten. So ſind auch in ähnlicher Weiſe in der
Klaſſe der Fiſche die wenigen heute noch lebenden Ganoiden- Arten
Flußbewohner. Das ſind Züge aus der geologiſchen Geſchichte ſehr
verſchiedener Typen, deren Gleichmäßigkeit überraſchen muß.
Wale, Delphine und andere Cetaceen, in Bezug auf ihre Größe
und allgemeine Form, ſowie auf ihre Stellung im Naturhaushalte,
die heutigen Nachfolger der erloſchenen Meeresſaurier und auch in
anatomiſcher Hiuſicht (Seite 197) manche Anklänge au die Reptilien—
form darbietend, kennt man in foſſilen Reſten erſt aus oligocänen
und miocänen Ablagerungen. Es iſt aber kaum daran zu zweifeln,
daß man auch in Eocän- und Kreideſchichten über kurz oder lang
noch Reſte auffinden wird, welche die Kluft, die zwiſchen dem Typus
von floſſenfüßigen Meeresſauriern und von Walen in unſerem zoolo—
giſchen Syſteme noch beſteht, mehr oder minder entſcheidend auszu—
füllen vermögen.
Entwickelung des Land- und Luftlebens.
In der Primordialfauna und im ſiluriſchen Syſteme überhaupt
zeigen ſich nur Reſte von Meeresbewohnern. Land- und Luft—
bewohner entwickeln ſich aus ihnen erſt ſehr allmählig. Anfangs
zeigen ſich erſt wenige Formen von Landpflanzen und Landthieren,
248
ſpäter aber folgen ſie in immer weiter anwachſender Manigfaltigkeit. Am
reichlichſten find ihre foſſilen Reſte in den tertiären Gebilden niedergelegt.
Die erſten Landpflanzen tauchen einzeln im devoniſchen Sy⸗
ſteme hervor. Farnen herrſchen unter ihnen vor, ſpärliche Reſte von
Cycadeen und Coniferen ſind die am höchſten organiſirten Formen
der damaligen Zeit. Zahlreicher an Typen und in üppiger Menge
der Individuen erſcheinen die Landpflanzen in der Steinkohlen⸗Epoche,
es ſind hier Equiſetaceen, Lycopodiaceen, Farnen und andere Acoty⸗
ledonen, ferner Coniferen und Cycadeen; auch von Palmen treten
ſchon einzelne Arten auf. Dieſe im Ganzen noch ſehr einförmige
Flora entwickelte in der Steinkohlen-Epoche bereits eine mächtige
Fülle von Wachsthum und Maſſe.
Die erſten Dicotyledonen tauchen in der Kreide hervor
und in den Tertiärgebilden zeigen ſie ſchon jene Fülle der Typen,
die ſie heute auszeichnet. Die Feſtlandflora hat ſich darnach im Laufe
der geologiſchen Epochen entſchieden vervollkommnet.
Die erſten luftathmenden Land- und Süßwaſſerthiere
zeigt die Steinkohlenbildung. Man kennt aus ihr Landſchnecken (Pupa),
mancherlei Landinſecten, z. B. Schaben (Blattina) und Heuſchrecken
(Acridites), ferner Skorpione (Cxelophthalmus) und Myriapoden oder
Tauſendfüße (Xylobius), endlich lani- und ſüßwaſſerbewohnende Rep⸗
tilien, wie Archegosaurus und Dendrerpeton.
Das erſte Auftreten der Wögel iſt unſicher, aus der Trias
kennt man wohl ſchon Fußſpuren (Fährten) von muthmaßlichen Vögeln;
ſichere Skeletttheile liefert indeſſen erſt die Kreide-Formation.
Die Säugethiere beginnen mit landbewohnenden Formen
und zwar vielleicht ſchon im unteren Lias, ſicher aber mit dem Jura.
Faſſen wir dieſe Darſtellung von der Art des Auftretens der
Land⸗ und Luftbewohner nochmals in ein Geſammtbild, ſo erkennen
wir, daß in der Zeit, die zwiſchen dem Auftreten der Primordialfauna
und der Ablagerung der Steinkohlen verfloß, die erſten Landpflanzen
und Landthiere hervortraten. Ihre nähere Genealogie vermögen wir
noch nicht zu entwerfen, die Summe der dazu geeigneten geologiſchen
Thatſachen iſt bis jetzt noch zu gering.
Aber unverkennbar iſt es, daß ſie nur von Meeresbewohnern
abſtammen können und daß bei ihrer Bildung eine organiſche Ver⸗
vollkommnung eingetreten iſt, welche jenem Stufengange ſchon ent⸗
ſpricht, den auch die ſpäteren Epochen verkünden.
249
Von den Algen des Meeres, welche in der Primordialepoche
noch die einzigen zur foſſilen Erhaltung gelangten Pflanzenformen
waren, ſehen wir in der Steinkohlenepoche die Flora ſchon auf Equi⸗
ſeten, Farnen und Lycopodiaceen herangebildet, wir ſehen ſelbſt ſchon
die erſten Vertreter der Palmen, Cycadeen und Coniferen. Aber die
höchſt entwickelten Blüthenpflanzen, die eigentlichen Dicotyledonen
fehlen noch.
Von den meeresbewohnenden wirbelloſen Thieren der Primor—
dialfauna hat ſich die Lebewelt mit der Steinkohlenepoche ſchon bis
zur Höhe von luftathmenden Landſchnecken, Inſecten und Reptilien
geſteigert. Wir können allerdings die Mittelglieder noch nicht nach⸗
weiſen, welche die wenigen Thierformen der Primordialfauna un⸗
mittelbar mit den luftathmenden Landthieren verknüpfen; wir müſſen
uns in dieſer Hinſicht zur Zeit noch mit hypothetiſchen Andeutungen
begnügen. Die Pupa der Steinkohlenepoche mag von Littorinen, die
Myriapoden der Steinkohle werden von Meeresanneliden abſtammen.
Die luftathmenden Reptilien der Steinkohlenepoche mögen durch Mittel—
formen, ähnlich wie fie Lepidosiren und Hyxpocbthon (Proteus) in der
heutigen Welt noch darſtellen, mit den Ganoiden oder den Selachiern
der oberſiluriſchen und der devoniſchen Epoche in genealogiſchem Zu—
ſammenhange geſtanden haben. Wir vermögen dieſe verbindenden
Glieder allerdings derzeit noch nicht nachzuweiſen. Sie können theil—
weiſe noch foſſil gefunden werden, von einem anderen Theile kann
man es indeſſen als ſicher annehmen, daß ſie überhaupt nie im foſ—
ſilen Zuſtande dürften gefunden werden.
Aber ſicher iſt es jedenfalls, daß eine Vervollkommnung der
Thierwelt im Laufe der Zeit von der Primordialfaung bis zur Stein-
kohle ſtattgefunden hat, daß dieſe nur bis zu einer gewiſſen Grenze
ging und in den ſpäteren Epochen auch über die damalige Grenze hinaus
vorſchritt.
Dicotyledonen, Vögel und Säugethiere fehlten damals noch.
Dieſe höchſten Formen der Lebewelt fehlten überhaupt der ganzen
paläozoiſchen Periode noch, fie traten in einzelnen ſparſamen Ber-
tretern in der meſozoiſchen Periode hervor und ihre Reſte liegen in
den tertiären Schichten ſchon in jener vorwaltenden Häufigkeit und
Manigfaltigkeit niedergelegt, die jene höchſt entwickelten Lebensformen
heut zu Tage auszeichnen.
Gehen wir nun auf die geologiſche Geſchichte der luftath—
250
menden Wirbelthiere näher ein, fo ift es zuerſt die Umbil-
dung von Fiſchen zu Reptilien und die Ablöſung der Kie—
men durch Lungen, was uns als Hauptmoment entgegentritt. Hier
kommen uns die Kenntniß der heute noch lebenden Mittelformen zwiſchen
Fiſchen und Reptilien und die Beobachtungen über das Verſchwinden
von Kiemen und das gleichzeitige Auftreten von Lungen in der Ent—
wicklungsgeſchichte der Landbewohner trefflich zu ſtatten und helfen
uns die Lücken in der Reihenfolge der Foſſilien, welche in dieſer Hin-
ſicht die geologiſche Statiſtik nach offen läßt, nach Analogien mit heute
lebenden Formen und heute noch zu beobachtenden Vorgängen aus⸗
zufüllen. d
Die Umbildung von Fiſchen zu Reptilien muß im Laufe der geo-
logiſchen Epochen, welche der Primordialbildung folgten, der Stein-
kohlenbildung aber noch vorausgingen, ſtattgehabt haben. Wir kennen
die verbindenden Mittelglieder nicht. Sie ſind noch nicht foſſil ge—
funden worden. Es mögen auch wohl meiſt knorpelige Formen ge—
weſen ſein, welche zu einer foſſilen Erhaltung wenig oder gar nicht
geeignet waren.
Aber jene Umbildung findet ihren Nachklang in der Metamor⸗
phoſe, welche heut zu Tage noch die Fröſche und die meiſten anderen
Batrachier durchlaufen. Vergl. S. 199.
Die Lunge der Reptilien, Vögel und Säugethiere iſt homolog
der Schwimmblaſe der Fiſche, d. h. beide ſind aus gleichwerthen
Elementen aufgebaut, ihre Verrichtungen ſind nur andere. Es bedarf
nun weiter nichts, als des Durchbruchs einer verbindenden Röhre
zwiſchen Schwimmblaſe und Speiſeröhre und der Ausbildung eines
reichlicheren Gefäßnetzes auf der freien Innenfläche der Blaſe, um
aus ihr eine zur Luftathmung geeignete Lunge hervorzubilden.
Der heute noch lebende Lepidosiren (S. 196, Fig. 2) und der
Molch der Krainer Höhlen, welche ihrer ganzen Lebensdauer nach
Kiemen und Lungen zugleich beſitzen, mögen wenig veränderte Ab—
kömmlinge jener älteſten luftathmenden Wirbelthiere ſein, die ſchon vor
der Steinkohlenepoche aus einer Umbildung von Fiſchen hervorgingen,
deren Reſte aber noch aufzufinden bleiben.
Betrachten wir die wirklich foſſil erhaltenen Reptilienformen der
älteren Epochen, ſo treffen wir auf eine ſehr merkwürdige Familie,
abweichend von allen heute noch lebenden Verwandten, aber in vielen
Zügen den Batrachiern nahe verwandt, und daher für die Deutung
251
des Stammbaums der höheren Wirbelthiere von beſonderer Wichtigkeit.
Es iſt dies die erloſchene Familie der Labyrinthodonten, ſo be—
nannt nach den in das Innere eindringenden mehr oder minder laby—
rinthiſchen Windungen, welche die Rindenſchichte ihrer Zähne zeigt und
die man beſonders an Querſchnitten derſelben erkennt.
Zu ihnen gehören zunächſt die Archegoſauren, die in der
Steinkohlenbildung auftreten, dann die Maſtodonſauren und ihre
Verwandten, die in der Trias nachfolgen. Es ſind überhaupt Rep—
tilien, welche Charactere der Saurier mit ſolchen der Batrachier und
Fiſche vereinigen und von den meiſten Paläontologen den Batrachiern
zunächſt geſtellt werden, mit den heute noch lebenden Batrachiern übri—
gens doch nicht vollſtändig übereinkommen. Leider weiß man nur wenig
über die Natur ihrer Gliedmaßen.
Die Archegoſauren, von denen man zwei Arten aus der
Steinkohlenbildung der Saar-Gegend, Archegosaurus Decheni Goldf,
und A. latirostris Jord. kennt, waren Reptilien vom allgemeinen Kör—
perumriß der Molche und der Saurier, dabei breiter als hoch und
mit einem Schädel verſehen, der bei jungen Thieren mehr dem der
Fröſche, im Alter eher dem der Gaviale ähnlich ſah. Man kennt
Schädel von nahe ein Fuß Länge, was auf Thiere von etwa vier—
facher Geſammtlänge ſchließen läßt.
Der hintere Schädeltheil war bei ihnen, wie H. v. Meyer
kürzlich gezeigt hat, noch nicht verknöchert. Statt einer Wirbelſäule be—
ſaßen ſie noch eine knorpelige Rückenſaite, ähnlich wie die Störe und
wie die Fiſche der paläozoiſchen Periode. Nur die Umfangstheile des
Wirbelſkeletts waren verknöchert, bei den jüngſten beobachteten Exem—
plaren erſt wenig, bei den ausgewachſenen vollſtändiger. Die Rippen
ſind kurz. Von ihren Gliedmaßen weiß man erſt wenig genaueres.
Die Arm- und Schenkelknochen waren kurz, die Gelenkknöpfe find nicht
erhalten und waren wohl knorpelig. Die Beſchaffenheit der Füße kennt
man noch nicht.
Bekleidet waren ſie an Bruſt und Bauch mit kleinen länglichen
knöchernen Schuppen.
Was aber für ihre ſyſtematiſche Stellung von beſonderer Wichtigkeit
erſcheint, iſt der Umſtand, daß ſie ähnlich wie die heute lebenden Fiſch—
lurchen eine bleibende Kiemenvorrichtung beſaßen. Prof. Gold fuß fand
nämlich an einem Exemplar des Archegosaurus Decheni an den Seiten
des Nackens ein paar feine gleichlaufende Knochenbögen, die aus kleinen
252
an der inneren Seite kammförmigen Blättchen beſtehen. Dieſe Knochen—
bögen können nur Kiemen getragen haben. Neben den Kiemen mögen
die Thiere aber gleich den Fiſchlurchen auch ſchon Lungen beſeſſen haben.
Was die Lebensweiſe der Archegoſauren betrifft, ſo ſcheinen ſie
amphibiſche Weſen, den Molchen und Fröſchen vergleichbar, geweſen
zu ſein, welche ſüße Gewäſſer und Strandſümpfe bewohnten und wohl
nur wenig das Feſtland betraten. Sie waren entſchiedene Raubthiere,
die namentlich Fiſchen nachſtellten.
In der Trias folgen an der Stelle der Archegoſauren die eigent—
lichen Labyrinthodonten mit ausgezeichnet labyrinthiſcher Zahn—
bildung. Man kennt von ihnen mehrere Gattungen, von denen Masto-
donsaurus die am beſten bekannte iſt.
Mastodonsaurus Jaegeri Mey. iſt namentlich nach einem
vollſtändigen Schädel von
drei Fuß Länge aus der
die unterſten Schichten des
Keupers darſtellenden Let—
tenkohlenbildung von Wür⸗
temberg bekannt. Dieſer
Schädel iſt breit und nie—
der, der Rachen mit ſehr
ſtarkem Gebiß bewaffnet.
Die Oberfläche der Schä—
delknochen zeigt bei dieſer
Art, wie auch bei den
anderen Labyrinthodonten
eine ſehr in die Augen
fallende grubige Sculptur,
ähnlich der der Krokodile.
Fig. 17. Mastodonsaurus Jaegeri Mey. Der hintere Schädel⸗
aus dem unteren Keuper von Würtemberg. ie 2 a
theil war verknöchert und
zeigt einen doppelten Gelenkhöcker, was ſonſt nur bei Batrachiern und
bei Säugethieren vorkommt und die Labyrinthodonten von den Sauriern
deutlich genug ausſchließt.
Der Rumpf war mit großen, grubig ſculpirten Knochenplatten
bepanzert, ähnlich denen der Krokodile und meiſtens wie die der letzteren
frei in der Haut eingebettet.
Vom übrigen Gerippe der Maſtodonſauren weiß man nur ſehr
wenig. Ihre Wirbelſäule war vollſtändig verknöchert und beſtand aus
253
biconcaven Wirbeln, wie die der Knochenfiſche und die der Fiſchlurche.
Sie ſtanden in dieſer Hinſicht höher als die ihnen vorausgegangenen
Archegoſauren, bei denen die Ausbildung der Wirbelſäule auf einer
früheren Stufe ſchon ſtehen blieb.
Von der Natur ihrer Gliedmaßen iſt nichts vollſtändig ſicheres
bekannt. R. Owen glaubt, daß ihr Rumpf und ihre Gliedmaßen
denen der Fröſche ähnlich geweſen ſeien, doch ſcheint dieß noch nicht
ganz erwieſen und es iſt faſt wahrſcheinlicher, daß ſie gleich den
Archegoſauren langgeſtreckte, geſchwänzte Thiere vom Auſehen der Sa—
lamander waren.
Jedenfalls waren die Maſtodonſauren rieſenhafte, gewiß 10—12
oder mehr Fuß lange Sumpfbewohner von räuberiſcher Lebensweiſe,
die nächſten Nachfolger der Archegoſauren und in mehrfacher Hinſicht
höher organiſirt als dieſe, wahrſcheinlich auch bereits mehr Lungen—
als Kiemenathmer. 0
Mit dem Keuper erlöſchen die Labyrinthodonten plötzlich und
durch eine lange Reihe von Formationen hindurch vermiſſen wir alle
und jede Mittelformen, die ſie mit den erſt in der Miocän-Bildung
foſſil auftretenden ächten Batrachiern irgendwie zu verknüpfen geeignet
wären. Es iſt aber nicht unwahrſcheinlich, daß man deren noch auf—
finden wird. Vergl. S. 204, 205.
Ausgezeichnete Land-Saurier traten ſchon als Zeitgenoſſen
der Archegoſauren hervor.
Man fand nämlich ganz vor kurzem in der Steinkohlenbildung
von Neuſchottland (Canada) in der Höhlung eines noch aufrecht
ſtehenden Baumſtammes Reſte eines Landſauriers, der nach der Art
ſeines Vorkommens den Namen Dendrerpeton (Baumlurche) erhielt
und zwar traf man ihn zum Beweiſe ſeines Landbewohner-Characters
in Geſellſchaft von einer Landſchnecke, einem Tauſendfuß u. ſ. w.
Man hat von allen dieſen offenbar landbewohnenden Formen ſeither
in jenen Schichten noch mehr Exemplare und dabei mehr Arten ge—
funden und unſere Kenntniß der Landbevölkerung zur Zeit der Stein—
kohlenbildung iſt damit wieder um ein beträchtliches gewachſen.
Dendrerpeton iſt ein landbewohnendes Reptil, welches gleich den
Archegoſauren der Labyrinthodonten-Gruppe ſich anreiht. Es mag etwa
die Geſtalt eines Salamanders gehabt haben und gegen ein halb Fuß
lang geweſen ſein. Die Wirbelkörper ſind biconcav und ſchon voll—
ſtändig verknöchert. Die Beſchaffenheit der Füße kennt man noch
254
nicht. Wahrſcheinlich war es ſchon ein ächter ee und
Lungenathmer.
Nach neueren Nachrichten kennt man jetzt ſchon 4 oder 5 be⸗
ſondere Arten ſolcher landbewohnender Saurier aus jenen Schichten
von Canada.
Im Permiſchen Syſteme, in der Trias und im Jura hat man
noch manigfache Gattungen von Eidechſen mit deutlich ausgebil⸗
deten Füßen und Zehen, von denen gewiß ein Theil Landbewohner
waren. Aber ſie haben alle noch biconcave Wirbelkörper und ihr
anatomiſcher Bau iſt noch manigfach mit Anklängen an Krocodile,
Schlangen und andere jetzt von den Eidechſen wohlabgeſonderten
Thiergruppen ausgeſtattet. Sie mögen wohl Abkömmlinge älterer
Labyrinthodonten fein.
Eidechſen den heute noch lebenden Formen ſo ähnlich, daß
man ſie auf den erſten Eindruck hin leicht für gleicher Art oder doch
gleicher Gattung nehmen möchte und namentlich in der Fuß⸗ und
Zehenbildung ihnen ſchon ganz oder faſt ganz gleich, treten im Jura
in mehreren Vertretern auf, namentlich im Kalkſchiefer von Solen⸗
hofen. So die Geoſauren, Homboſauren u. ſ. w. Ihre
Wirbel ſind noch biconcav und unterſcheiden ſich in ſo fern ſehr von
denen der heute noch lebenden Eidechſen, deren unmittelbare Stamm⸗
väter ſie indeſſen ſein mögen.
In der Zeit der größten Typenentfaltung der Reptilien⸗Klaſſe
entwickelten ſich aus den erörterten Formen in theils mehr, theils
minder noch erſichtlicher Weiſe Flugeidechſen, Schildkröten, Vögel,
Säugethiere.
So hat man in der Permiſchen und in der Trias⸗ Epoche Saurier,
deren Charactere zwiſchen denen von Eidechſen, Krokodilen, Schild⸗
kröten u. ſ. w. manigfach ſchwanken, in der Form der Kiefern aber
ungemein an Schildkröten und Vögel erinnern. Es ſind dies die
ſogenannten Anomodonten.
So kennt man aus dem new red sandstone von Schottland
(wahrſcheinlich unſerem deutſchen Buntſandſteine entſprechend) den
Schädel einer beſonderen Gattung von Schnabellurchen, Rhyn-
chosaurus. Dicſer Schädel iſt nach ſeinen anatomiſchen Elementen
dem der Eidechſen am meiſten verwandt, aber ſein äußeres Anſehen
kommt mehr auf das des Schädels von Schildkröten und Vögeln
heraus. Das Gebiß dieſer Thiere war zahnlos. Wahrſcheinlich waren
255
die freien Ränder der Kiefern mit einer hornigen Scheide, wie die
der Schildkröten, bekleidet.
Die Gattung Dicynodon aus einem älteren Sandſteine des Ca p—
landes war ähnlich gebaut, aber der Oberkiefer beſaß zwei lange
herabhängende Eckzähne. Das Ausſehen war das des Schädels einer
Schildkröte, nur daß er noch ein paar vorragender Zähne, ähnlich
wie ſie heut zu Tage beim Wallroſſe vorkommen, beſaß. Man kennt
vier Arten ſolcher Dicynodonten oder Hundszahnlurchen.
Rhopalodon aus dem Permiſchen Sandſteine von Orenburg
war auch ein ähnliches Reptil, nur war der Rachen reichlicher mit
Zähnen bewaffnet und ſowohl der Ober- als auch der Unterkiefer
beſaßen mächtige hervorragende Eckzähne.
Man kennt von dieſen Anomodonten der permiſchen und triaſiſchen
Zeit bis jetzt noch weiter nichts, als den Schädel und die biconcav
gebildeten Wirbel, man weiß daher noch nicht ſicher, ob ſie Waſſer—
oder Landthiere waren. Aber alle Umſtände deuten darauf hin, daß
fie die Stammvater der Schildkröten waren und daß auch die Vögel
von nahe ſtehenden, vielleicht noch nicht näher bekannten Formen her—
vorgegangen ſein mögen.
So lange Anomodonten lebten, gab es noch keine Schildkröten
und noch keine Vögel. In den Schichten, wo die erſten ausgebildeten
Schildkröten und die erſten ſicheren Vögel foſſil auftreten, ſind die
Anomodonten längſt verſchwunden. Aber wir haben alle Ausſicht,
von Jahr zu Jahr noch mehr oder minder Glieder der Stammbaumes
aufzufinden.
Ein den Ab⸗
lagerungen
vom Lias zur
Kreide eigner,
der heutigen
Lebewelt ganz
fremder Rep⸗
tilientypus iſt
der der Pte—
rodactylen
oder Ptero—
ſaurier, von
Fig. 18. Pierodactylus longirostris Cuv.
Solenhoſener Schiefer, Eichſtedt. denen man
256
bereits drei Gattungen, Pterodactylus, Rhamphorhynchus und Ornithop-
terus kennt. Dieſe Thiere waren theils von der Größe einer Lerche,
theils der eines Raben, neuerdings hat man ſelbſt Reſte noch größerer
Formen gefunden.
Die Pterodactylen waren, wie ihre Skelett-Ueberreſte unzweideutig
verkünden, fliegende Reptilien. Ihr Bau iſt der eines ächten Reptils,
aber der Schädel hat entſchieden die Form eines Vogelkopfes.
Die Kiefern tragen ſpitze Zähne, denen anderer Reptilien gleich. Das
Kreuzbein iſt ähnlich wie bei den Vögeln zuſammengeſetzt, endlich der
äußere Finger der Vordergliedmaßen ungemein ſtark in die Länge ge—
zogen und ſo zum Träger einer Flughaut ausgebildet. Ihrer Lebens—
weiſe entſprach die leichte und löcherige Beſchaffenheit der Knochen,
ein Zug, der auch bei Vögeln ſich wiederholt.
Die Pterodactylen waren alſo Flugthiere, aber ihre Flugwerk—
zeuge waren weder denen der Vögel ganz gleich, noch auch denen der
Fledermäuſe.
Dieſe geflügelten Saurier, die ſeltſamſte, fremdartigſte Form aller
bisher aufgefundenen urweltlichen Reptilien, dürften von den früher
erwähnten landbewohnenden Eidechſen und in entfernterer Linie viel—
leicht von den landbewohnenden Labyrinthodonten der Steinkohlen—
Epoche ſich herleiten laſſen. Mittelglieder kennen wir bis jetzt noch
nicht in foſſilem Zuſtande.
Sie mögen aus gleichem Stamme wie die Vögel und die Beutel—
thiere hervorgegangen ſein. Es iſt wenigſtens ein bedeutſamer Um—
ſtand, daß man Spuren des für die Beutelthiere bezeichnenden Mar-
ſupialknochens auch bei Pterodactylen und bei Vögeln findet.
Spätere Entdeckungen von neuen Wirbelthierformen aus den
Ablagerungen der Trias mögen wohl die Erkenntniß von dieſem Zu—
ſammenhang noch um einen weiteren Schritt fördern. Die Nachwei—
jung befiederter Thiere im oberen Jura von Solenhofen iſt eine Ent-
deckung der jüngſten Zeit und die phyſiologiſche Tragweite dieſes neuen
Fundes bis jetzt noch nicht in die Oeffentlichkeit gelangt.
Mit der oberen Kreide erlöſchen die Pterodactylen, und zwar
mit gewaltigen Formen. Aus der oberen Kreide von England er—
wähnt man Pterodactylen, deren Knochenreſte auf Thiere ſchließen
laſſen, deren Flugweite ſelbſt die des Lämmergeiers und die des Con—
dors noch übertraf.
Die Vögel haben in den Schichten der oberen Kreide ſchon
257
ſichere Reſte hinterlaſſen. Sie löſen hier die Pterodactylen ab, mit
denen ſie überhaupt auch wohl aus einer und derſelben entlegenen
Wurzel abſtammen.
Die Säugethie re, die ungleichen, in mancher Hinſicht dürf—
tiger, im Ganzen und in den höheren Formen entſchieden reicher aus—
geſtatteten Geſchwiſter der Vögel, können mit ihnen zuſammen nur
von einer Umbildung irgend eines Zweiges der Reptilien ſich herleiten.
Von einem nieder organiſirten Fiſche der Primordialepoche, den
Amphioxen und Myrinen der heutigen Meere ähnlich, mögen die älteſten
foſſil erhaltenen Formen der Fiſche, die Ganoiden und Selachier, her—
ſtammen. Aus irgend einem ihrer Zweige, vermuthlich einer Ganoiden—
form, mögen die Labyrinthodonten ſich entwickelt haben.
Dendrerpeton war in der Steinkohlenepoche ein landbewohnender
Labyrinthodonte und vermuthlich ſchon ein ausgebildeter Lungenathmer.
Von ſolchen, die Meeresküſten oder das feſte Land oder das ſüße
Waſſer bewohnenden Reptilien mögen in der Permiſchen und in der
Triasepoche, aus der wir ſchon fo ſeltſame Reptilienformen mit zahn—
loſen Schildkröten- oder Vogelköpfen kennen, die Urſtämme der Vögel
und der Säugethiere ſich abgezweigt haben.
Wir kennen die eigentlichen Mittelformen noch nicht. Aber deut—
liche Fußſpuren auf einigen an Meeresküſten der damaligen Zeit ab—
gelagerten Sandſteinen werfen ſchon ſeltſame Schlaglichter auf die
Thierformen, deren Knochenreſte wir noch nicht gefunden haben, aber
noch zu finden erwarten dürfen.
Man kennt im Connecticut-Thale (Nordamerika) manig—
fache Fährten vogelartiger Thiere, dreihzehig und mehrgliederig, von
Individuen verſchiedener Größe, mitunter Fährten, deren Zehenlänge
und Schrittweiſe ſelbſt die des Straußes übertrifft. Sie zeigen ſich auf
der Oberfläche von Sandſteinſchichten ausgedrückt, die zu einer Zeit
abgelagert wurden, welche dem erſten foſſilen Auftreten wirklicher Vögel
weit vorausgeht. (Wahrſcheinlich ſind es Schichten vom Alter unſeres
bunten Sandſteines.) Was haben wir hier zu erwarten? Allem
Anſchein nach den ſpäteren Fund von Knochenreſten vogelähnlicher
Reptilien, welche Labyrinthodonten oder Saurier mit den Vögeln ver—
knüpfen, vielleicht Reptilien, die aufrecht auf den Hinterfüßen gingen
und deren Vordergliedmaßen — etwa den erſten Beginn einer Flughaut
verrathend, — ähnlich wie die Flügelſtummel der unſere Meeresküſten
bewohnenden Fettgänſe den Boden nicht berührten.
Rolle, Darwin's Lehre. 7
258
Seit Jahren keunt man auf den Schichtungsflächen des Bunt⸗
ſandſteines von Hildburghauſen die Fährten eines vierfüßigen
Thieres, das zu manigfachen Deutungen Anlaß gegeben hat. Man
kennt von ihm, ſowie von den oben gedachten Vögeln oder vogelarti-
gen Thieren zur Zeit noch nichts weiter als die Abgüſſe der Füße,
aber keine Spur von Knochen des Skelettes oder von Zähnen iſt bis
jetzt in demſelben Lager vorgekommen. Das Thier hatte jenen Fähr⸗
ten nach vierzehige Vorder- und Hintergliedmaßen, die der letzteren
waren größer, der Daumen an beiden deutlich von der übrigen Hand
abgeſetzt. Man nennt darnach das an ſich eigentlich noch unbekannte
Thier, das jene Fußtapfen hinterließ, Chirotherium oder Händethier.
Viele Geologen haben ein Beutelthier erkennen wollen, R. Owen
hat die Fährten dagegen neuerdings einem Labyrinthodonten zugeſprochen.
Indeſſen Beutelthiere und Säugethiere überhaupt kennt man
aus ſo alten Schichten, wie der Buntſandſtein von Deutſchland, bis⸗
her noch nicht in wirklichen Foſſilreſten und die Labyrinthodonten
ſcheinen wohl, gleichwie die Archegoſauren, die Körperform von Molchen
und Salamandern und nicht die von Fröſchen oder landbewohnenden
Säugethieren gehabt zu haben.
Eher dürften die Chirotherien-Fußtapfen auf eine der Ueber⸗
gaugsſtufen deuten, die von Labyrinthodonten zu Beutelthieren führten;
Thiere, welche gleich den Fröſchen und den Känguruh's lange Hinter⸗
gliedmaßen und kurze armartige Vordergliedmaßen beſaßen und im
übrigen Körperbau nicht mehr ächte Reptilien und noch nicht wirt
liche Didelphen waren.
Jedenfalls iſt die thieriſche Abſtammung der Hildburghauſer
Fährten heut zu Tage wohl unbezweifelt, kein heute noch lebendes
Thier hat ähnliche Fußbildung als etwa die Didelphen und keine aus
jenen Epochen wirklich ſchon foſſil beobachtete urweltliche Form iſt fo
nahe verwandt als die Labyrinthodonten, denen R. Owen die Chiro⸗
therienfährten auch geradezu beilegt.
Wenden wir uns indeſſen den wirklich foſſil aufgefundenen älteren
Säugethierreſten zu.
Abgeſehen von ein paar einzelnen Zähnchen eines kleinen Säuge⸗
thieres, vielleicht eines Inſectenfreſſers, die ſich in den unterſten Schich⸗
ten des ſchwäbiſchen Lias gezeigt haben, beginnen die Säugethiere
urkundlich erſt im mittleren Jura von England, wo man mehrere
259
Beutelthier-Arten, alle bisher nur durch Unterkiefern und Zähne
vertreten, aufgefunden hat.
Die Gattung Phascolotherium Ow. gründet ſich auf eine zu
Stonesfield ge⸗
fundene, ziemlich
vollſtändige Unter⸗
kieferhälfte mit drei
oder vier Schneide⸗
zähnen, einem Reiß⸗
zahn und ſieben
Backenzähnen. Die
Form der Unter⸗
kiefer und die Zahnbildung deuten nach Owen's Unterſuchungen
mit Sicherheit auf ein fleiſchfreſſendes Beutelthier, ähnlich den heute
lebenden Gattungen Thylacinus und Didelphys.
Die Gattung Amphitherium oder Thylacotherium, von der man
zwei Arten aus dem Kalkſchiefer von Stonesfield kennt, beſaß
ähnliche Kiefern und Zähne, aber die Zahl der letzteren war größer
als bei irgend einer anderen ſonſt bekannten lebenden oder foſſilen
Säugethierform. Der Unterkiefer zeigt jederſeits zwölf Backenzähne.
Dieſe zweite Gattung gehörte nach Owen entweder einem inſecten—
freſſenden Beutelthier, ähnlich der lebenden Gattung Myrmecobius
oder auch wohl einem monodelphiſchen Inſectivoren an.
Alle dieſe Stonesfielder Säugethiere waren kleine landbewohnende
Raubthiere oder Inſectenfreſſer von der Größe einer Ratte oder wenig
darüber. Ihr Säugethier-⸗Character iſt außer allem Zweifel und na⸗
mentlich durch die doppelten Wurzeln der Zähne dargethan. Anklänge
an die Reptilien laſſen ſich aber noch in der auffallend großen Zahl
und ungewöhnlichen Gleichförmigkeit der Backenzähne von Amphitterium
erkennen.
Die Beutelthierreſte aus den Juraſchichten von Stonesfield
waren drei Jahrzehnde hindurch die einzigen ſicheren Spuren von
Säugethieren von dieſer Zone an bis zum Beginn der Tertiär—
epoche. Neuerdings hat eine Reihe von glücklichen Erfunden aber auch
zur Kenntniß der Säugethierformen geführt, welche zur Zeit des Be—
ginns der Kreide-Epoche lebten.
Man fand nämlich in einer, ſeit längerer Zeit ſchon bekannten
und durch das Vorkommen an Ort und Stelle mit feſtſitzenden Wurzeln
17
Fig. 19. Phascolotherium Buklandi Brod.
(in 2/1 d. nat. Gr.) Stonesfield.
260
verfteinertev Cycadeen- und Coniferenſtämme ausgezeichneten Schichte
des Purbeck-Kalks von England eine Anzahl von Unterkiefern
und Zähnen anderer Gattungen und Arten von Säugethieren.
Wiederum ſind es meiſt Beutelthiere, denen der heutigen
Fauna Neuhollands ähnlich. Es haben ſich bis jetzt drei ver—
ſchiedene Gattungen herausgeſtellt.
Die ausgezeichnetſte Form dieſer Purbecker Säugethiere iſt die
Gattung Plagiaulax. Man keunt von ihr den an der Unterſeite ſtark
gewölbten Unterkiefer mit einigen großen Backenzähnen und einem
großen weit vorſtehenden Eckzahn. Nach Owen waren dieſe Thiere
fleiſchfreſſende Beutelthiere, ihre Größe war nicht beträchtlicher, als
die der Beutelthiere von Stonesfield.
Während die Ablagerungen der Secundär-Periode von Säuge—
thieren faſt nur Beutelthiere darboten, tauchen darnach in den ſeit
Beginn der Tertiär-Periode abgelagerten Schichten in auffallend plötz—
licher Weiſe eine reiche Anzahl von Säugethierformen ſehr verſchiede—
ner Ordnungen hervor. Dickhäuter und Raubthiere kennt man
ſchon aus den tiefſten Eocän-Schichten. Mit den nächſt folgenden
wächſt dann mehr und mehr die Zahl der Arten und Gattungen und
bald ſind faſt alle Ordnungen vertreten. Die muthmaßliche Herkunft
dieſer auf dem europäiſchen Feſtlande der Eocän-Epoche jo raſch her—
vortretenden Säugethierfaung wurde ſchon Seite 174 erörtert.
Reihenfolgen von verwandten, ſich in chronologiſchen Folgen ein—
ander ablöſenden Formen laſſen ſich wohl auch vom Beginne der
Tertiär-Periode au bis zur Fauna des heutigen Tages verfolgen, doch
muß die eigentliche Ausbildung der Haupttypen der Säugethierklaſſe
ſchon in einer früheren Zeit und vermuthlich wohl auf einem andern
Boden als dem heutigen europäiſchen vor ſich gegangen ſein.
So iſt es namentlich auffallend, die Affen, die höchſte, an den
Menſchen am nächſten heranreichende Säugethierform bereits durch
foſſile Reſte in den Eocän-Ablagerungen vertreten zu ſehen.
Wir haben uns daher, wenn es einmal durch einen glücklichen
Zufall gelingen ſollte, in irgend einem Theile der Erde, im Gebiete
der mittleren und der oberen Kreide-Formation Säugethierreſte auf—
zufinden, noch manigfacher und entſcheidender Aufklärung über die
Genealogie unſerer heutigen Säugethierfauna zu gewärtigen. Das
dritte Jahrzehnd unſeres Jahrhunderts brachte uns die Kenntniß der
erſten Säugethierzone des Jura's, das ſechſte die der erſten Säuge—
261
thierzone der unteren Kreidegebilde und die folgenden werden uns ge-
wiß noch irgend eine oder mehrere ſolcher Zonen weiter vorführen.
Unter den Säugethierformen, deren Reſte die Tertiärgebilde ge—
liefert haben, ſpielen namentlich die Dickhäuter oder Pachydermen
durch die Zahl ihrer Arten und Gattungen, oft auch durch die fremd—
artige Form und die anſehnliche Körpergröße eine hervorragende Rolle.
Tapirartige Thiere wie Palaeotherium, Lophiodon u. ſ. w.,
treten in Eocän- und Miocän Schichten nach Gattungen und Arten
in reichlicher Vertretung auf, um dann vom europäiſchen Boden wie—
der zu verſchwinden. Heut zu Tage leben nur in Südaſien und
Südamerika noch Tapire.
Die Anoplotherien, eine erloſchene Familie der Dickhäuter,
deren Reſte beſonders aus den Schichten des Pariſer Beckens bekannt
ſind, vereinigen Charactere der ächten Dickhäuter mit denen der heut
zu Tage ſehr vereinzelt daſtehenden Pferde und zugleich mit denen der
Wiederkäuer. Sie dürften deren Stammform darſtellen. Anoplotherien
verſchwinden bald wieder vom Schauplatz, Pferde und Wiederkäuer
löſen ſie ab.
Von den Tapiren ſcheinen die Dinotherien, die Maſtodonten und
die Elephanten ſich herzuleiten.
Eine der bezeichnendſten Formen der mittleren Tertiärgebilde ſind
die erloſchenen und von den Formen der heutigen Säugethierfauna
überhaupt ſehr abweichenden Dinotherien.
Dinotherium giganteum Kaup iſt nach einem vollſtändigen Schädel
aus der Miocänbildung
N von Eppelsheim
NR (Rheinheſſen) und nach
den übrigen Skelett—
theilen aus gleich alten
Schichten von Trie-
bitz (Böhmen) bekannt.
„ Es war die größte aller
= — bekannten Formen von
e eee Kaup. Landſäugethieren, den
sr Maſtodonten und Ele—
phanten zunächſt verwandt, aber mit Backenzähnen, denen des Tapir
gleich und mit gewaltigen nach unten gewendeten Stoßzähnen, welche
den beim Wallroß im Oberkiefer ſitzenden ähnlich ſehen.
,
Zah Im
262
Der Bau des Vorderſchädels läßt ſchließen, daß das Thier
einen Elephantenrüſſel beſaß. Man ſchätzt ſeine Geſammtlänge auf
etwa 20 Fuß, wahrſcheinlich war es ein pflanzenfreſſender Fluß- und
Sumpfbewohner.
Die Maſtodonten, große elephantenartige Dickhäuter mit
Backenzähnen vom Bau derjenigen der Schweine und mit mächtigen
Stoßzähnen, ähnlich denen der Elephanten, waren in der Miocän—
epoche in Europa Zeitgenoſſen der Dinotherien. Sie erloſchen in
Nordamerika, wo ſie am längſten ſich erhielten, erſt in einer der
heutigen Epoche kurz vorhergegangenen Zeit. (Vergl. Seite 213).
Die Elephanten, auf europäiſchem Gebiet ſpäter als die Ma—
ſtodonten hervortretend, haben dieſe überlebt. Eine oder zwei Arten
waren in der Diluvialepoche in Europa und Nordaſien (S. 213)
noch zahlreich; ſeither ſind ſie auf dieſem Gebiete erloſchen und die
letzten Abkömmlinge ihres Stamms erſcheinen nunmehr auf Süd—
aſien und Afrika begrenzt.
263
Mach ſchrift.
Die Darwin 'ſche Lehre ſowohl an und für ſich als in ihrer
Anwendung auf die urkundliche Schöpfungsgeſchichte iſt, wie es bei
der Unvollſtändigkeit der Ueberlieferung unſerer geologiſchen Urkunden
nicht wohl anders fein kann, mindeſtens ebenſoſehr Ahnung der Zu—
kunft als Verwerthung von Vergangenheit und Gegenwart.
Eine neue Entdeckung drängt die andere und erfüllt Lücken, deren
Ueberbrückung die Darwin'ſche Lehre im voraus ſchon anſagte.
So geht jetzt die Nachricht durch die Tagesblätter von der Ent—
deckung einer neuen ſeltſamen Mittelform zwiſchen Reptil
und Vogel, die kürzlich im Solenhofener Schiefer, der oberſten
Schichte des Juras von Bayern, aufgefunden und zum Preiſe von
750 Pfund Sterling (gegen 9000 Gulden) Eigenthum des britiſchen
Muſeums zu London wurde.
Während des Druckes des Textes war mir noch nichts näheres
über jenen Fund bekannt geworden, ich deutete denſelben Seite 256
daher nur kurz an. Inzwiſchen ſind darüber genauere Nachrichten in
die Oeffentlichkeit gedrungen.
Nach den jüngſten Zeitungsberichten (Mitte December 1862) ſoll
das neu entdeckte befiederte Weſen aus dem oberen Jura eine
neue und unzweifelhafte Uebergangsform von den Reptilien zu den
Vögeln ſein. Die Federn deſſelben ſind in allen Einzelnheiten des
Baues von denen heute lebender Vögel nicht zu unterſcheiden, die Art
ihrer Befeſtigung aber ſoll eine andere ſein. Der Fuß iſt genau wie
der eines Vogels gebaut und die Vorderglieder an ihrem äußerſten
Theile befiedert. Der Schwanz gleicht dem einer Eidechſe und beſteht
aus etwa zwanzig dünnen länglichen Wirbeln, an deren beiden Seiten
je eine Feder befeſtigt iſt. Kopf, Hals und Schulter ſind noch nicht
bekannt. Der genaueren Beſchreibung dieſes merkwürdigen neuen Fun—
des durch Profeſſor Owen ſieht man mit Spannung entgegen.
264
n ü ck bi ck.
Die Fülle des Stoffes der Schöpfungsgeſchichte, wie ſie nicht
nur in der endloſen Zahl der Einzelheiten und der Manigfaltigkeit
der Gruppen, ſondern auch in deren verſchiedenem Verhalten im Laufe
der geologiſchen Epochen ſich verkündet, hat uns mehrfach in beſon—
dere und entlegene Felder der naturwiſſenſchaftlichen Forſchung geführt,
deren weſentlicher Zuſammenhang mit der Haupt- und Grundfrage
unſerer Abhandlung: „Wie find die Arten der Pflanzen—
und Thierwelt entſtanden?“ ſich leicht verkennen läßt.
Verſuchen wir es daher die Hauptergebniſſe der Geſchichte der
Schöpfung in ihrer Beziehung zur Frage nach der Entſtehung der
Arten uns wieder ins Gedächtniß zu rufen. Wir können ſie zur
Erleichterung der Ueberſicht in eine naturgemäße Reihe von Theſen
ordnen.
IJ. Die heute lebende Pflanzen- und Thierwelt mit Ein⸗
ſchluß des Menſchen iſt keine beſondere Welt für
ſich, kein für ſich allein und von vorher vorhan—
denen Dingen unabhängig entſtandenes Erzeug—
niß, ſondern ſie iſt eine geſetzmäßige Folge von
älteren in weit entlegene Ferne zurück zu ver-
folgenden Vorgängen.
Alles, was heute lebt und webt, iſt nur der letzte bisherige Aus—
gangspunkt von gewiſſen Reihen, deren Zuſammenhang wir nach dem
jetzigen Stande der Forſchung theils ſchon mit ziemlicher Beſtimmt—
heit enträthſeln, theils wenigſtens auf einzelne Andeutungen hin un—
gefähr ahnen können. Die dabei zu Grunde liegenden Vor—
gänge ſind ſo ganz allmälige und für unſere unmittelbare Wahr—
nehmung unmerkliche, daß daraus ein ſcheinbarer Still-
ſtand der Erſcheinungen hervorgeht. Es gibt aber nichts deſto we—
niger vereinzelte Momente, welche erweiſen, daß jene ſeit urdenklichen
Zeiten in allmähligem Verlaufe thätigen Vorgänge auch jetzt noch
nicht ruhen und daß die Reihen von Formen, welche aus der
265
Vorwelt zur heutigen Pflanzen- und Thierbevölkerung der Erde füh—
ren, im Laufe der fernen Zukunft auch noch weitere Fortſetzungen
erhalten werden.
1. Die Lebewelt hat von der älteften Zone jener Ge—
birgsſchichten an, aus welchen man Reſte von ehe—
maligen Pflanzen und Thieren kennt, bis zum
heutigen Tage an Zahl der Formen und in vie—
len Fällen auch an Vollkommenheit zugenommen.
Die Reſte der ehemaligen Pflanzen und Thiere der verſchiedenen
Epochen der Ausbildung des Erdkörpers waren mit Ausnahme jener
der letzten vorgeſchichtlichen — namentlich vieler Arten der miocänen,
pliocänen und diluvialen — Ablagerungen nicht Formen der heu—
tigen Lebewelt, ſondern nur ähnliche mehr oder weniger verwandte
Arten. Ihr Stamm iſt theils vollkommen erloſchen, theils lebt er
in mehr oder minder umgeſtalteten Abkömmlingen heute noch fort.
Es geht aus der Unterſuchung der im Verlaufe der Ausbildung
unſeres Planeten über einander gelagerten Bodenſchichten und der in
ihnen vergrabenen Pflanzen- und Thierreſte mit Beſtimmtheit hervor,
daß die Lebewelt von der älteſten bis jetzt bekannt gewordenen foſſil—
führenden Zone an (Primordialfauna, Schiefer von Ginetz, Skrey
u. ſ. w.) bis zur heutigen Zeit
1) an Zahl der Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen und
Klaſſen zugenommen hat,
2) daß die Pflanzen und Thiere der älteſten foſſilführenden Ge—
bilde im Allgemeinen und zwar in einer Reihe von Fällen in ſehr
ausgeſprochener Weiſe von niederer Organiſationsſtufe ſind, daß aber
3) mit den folgenden Epochen in unzweifelhafter Weiſe und in
zahlreichen Fällen noch mancherlei Formen von höherer Organiſation
und reicheren Lebenserſcheinungen allmählig hinzu getreten ſind.
So iſt es offenbar, daß die älteſte bekannte foſſilführende Zone
weit weniger Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w. als die ſpäteren
Ablagerungen, z. B. die der Jura-Epoche beſitzt und zugleich die letz—
teren eine große Zahl von höher orgauiſirten Lebensformen aufzu—
weiſen haben, welche der erſteren noch abgehen.
In ähnlicher Beziehung überragt aber auch wieder die heutige
Lebewelt jene, die in der Jura-Epoche lebte.
Ueberhaupt aber gewährt die Geſammtheit der geologiſchen Ent—
266
wickelungsgeſchichte der Pflanzen- und Thierwelt entſchieden das Bild
einer allmählig anwachſenden und ſich in einzelnen Zweigen vervoll—
kommnenden Geſellſchaft. Viele Typen von niederer Organiſation
und einfachen Lebenserſcheinungen, die aus den älteſten Epochen der
Erdausbildungsgeſchichte ſich herleiten, leben heute noch in wenig ver—
änderter Form fort. Wir erkennen aber, wie von Epoche zu Epoche
höher organiſirte, zu höheren vielfacheren Lebenserſcheinungen und aus—
gedehnteren Leiſtungen befähigte Formen allmählig zu jenen neu hin-
zugetreten ſind, ſo daß alſo die heutige Schöpfung eine reichere und
tiefer gehende Abſtufung vom Niederen zum Höheren aufzuweiſen hat,
als die Lebewelt jeder älteren Epoche.
III. Der erſte Urſprung aller lebenden Weſen kaun nur
die einfache Zelle geweſen ſein.
Die Organismen, deren einer foſſilen Erhaltung fähigen Reſte
die Schiefer von Ginetz, Skrey u. ſ. w. uns geliefert haben, obſchon
ihrer Geſammtheit nach eine erſt zu geringer Organiſationshöhe ge—
langte Lebewelt jener Zeit verkündend, ſind doch noch nicht ſo ein—
facher Zuſammenſetzung, daß wir ihnen eine urſprüngliche Ent—
ſtehung aus unbelebtem Stoffe zuſchreiben könnten. Sie ſind
ſchon weit höher organiſirt, als Samen und Eier heutiger Orga—
nismen und als die einfachſten und niederſten heute noch lebenden
Pflanzen⸗ und Thierformen.
Faſſen wir den manigfach anwachſenden Entwickelungsgang von
der älteſten foſſilführenden Gebirgsſchichte an bis zur heutigen Pflan-
zen⸗ und Thierwelt ins Auge, ſo finden wir uns zum Schluſſe ge—
führt, daß die Vorgänge auch in noch älteren Zeiten der Erdbildungs—
geſchichte ſchon von derſelben Art waren, d. h. daß ſie auch ſchon vom
einfachen und niederen zum zuſammengeſetzteren und höheren führten.
Die älteſte bekannte foſſilführende Zone kann alſo noch nicht den
erſten und älteſten Anfang des organiſchen Lebens umſchließen, ſon—
dern die Reſte noch älterer Organismen als jener von Ginetz, Skrey
u. ſ. w. werden entweder künftig noch irgendwo in einer bisher für
foſſilfrei gehaltenen Schichte der Gebirge gefunden werden oder ſie
wurden vielleicht auch ehedem in entſtehenden Gebirgsſchichten einge—
ſchloſſen, aber durch die ununterbrochen vor ſich gehende Umbildung
der Gebirgsmaſſen wieder aufgelößt.
Eine Urzeugung iſt gemäß der wohlausgeſprochenen Weiſe,
267
in welcher heut zu Tage Pflanzen und Thiere aus Samen und Eiern
entſtehen, durchaus nur für ganz einfache nieder organiſirte mikros—
kopiſche Lebensformen denkbar, welche dem Ei'chen höherer Pflanzen
und höherer Thiere analog und überhaupt wenig mehr als einfache
Zellen ſind.
Niedere Organismen dieſer Art ſind aber bekanntlich ſo leicht
verweslicher Natur, daß ihre Reſte ſich nicht in erkennbarer Form
in Gebirgsſchichten erhalten können. Den erſten durch Urzeugung
aus unbelebter Materie entſtandenen Anfang der Lebewelt werden
wir daher auch nie in fofſilem Zuſtande nachweiſen können.
—
IV. Die einzelnen Verzweigungen des allgemeinen
Stammes der belebten Formen, wie er ſich in
den Foſſilreſten der geologiſchen Formationen
verkündet, haben in der Art ihrer Entwicklung
einen verſchiedenen, in manigfacher Weiſe un-
gleichartigen Verlauf genommen.
Einzelne dieſer Verzweigungen ſind in auffallender Weiſe von
einer gewiſſen Epoche an ſtille ſtehen geblieben, andere ſind früher
oder ſpäter wieder erloſchen oder doch dem Erlöſchen nahe gekommen,
noch andere haben ſich mehr und mehr an Artenzahl und Formen—
manigfaltigkeit ausgebreitet. Der Stammbaum bietet daher ſtarre und
ſtille ſtehende, ſowie veränderliche und raſch aufblühende Zweige in
manigfachem Wechſel.
Vergleichen wir den geologiſchen Entwicklungsgang der einzelnen
Pflanzen- und Thierformen nach Gattungen, Familien und Ordnungen
im Verlaufe der ſucceſſiven Epochen, ſo finden wir, daß einzelne Ab—
theilungen ſich durch ungeheuere Zeiträume hindurch in faſt unver—
änderter Organiſationshöhe erhalten haben. So z. B. die Brachio—
poden: Gattungen Lingula und Rhyuchonella von der ſogenannten
Primordialzone an bis auf den heutigen Tag, ſo die Chitonen von
der devoniſchen Epoche an. Eine ſolche Beſtändigkeit der generiſchen
Form kommt vorzugsweiſe bei Meeresbewohnern vor. Verzwei—
gungen des genealogiſchen Stammes, die einmal durch eine Reihe von
Epochen hindurch ein derartiges ſtarres Verhalten gezeigt haben, pflegen
auch in den ſpäteren nie mehr Landbewohner zu liefern.
Ein anderer Theil der Zweige des Stammbaumes erreicht im
Verlaufe der geologiſchen Epochen eine bald mehr bald minder aus—
268
geſprochene Vervollkommnung. Es iſt dies beſonders bei jenen Ver—
zweigungen der Fall, bei denen zu einer oder der anderen geologiſchen
Epoche Landbewohner hervortreten. Der Uebergang aus dem
Waſſer auf das Feſtland iſt faſt immer mit einer Vervollkommnung
der Organiſation verknüpft, die Geſammtheit der Landbevölkerung einer
jeden Epoche iſt daher auch ſtets von einem höheren Organiſations—
werthe als die gleichzeitige Meeresbevölkerung.
Eine Vervollkommnung iſt indeſſen in vielen Fällen auch bei
ausſchließlichen Waſſerbewohnern eingetreten, z. B. bei Gaſteropoden,
bei Cephalopoden und bei Fiſchen.
Reihenfolgen einer im Laufe der Epochen eingetretenen Vervoll—
kommnung zeigen ſich ſowohl im ſucceſſiven Hervortreten gewiſſer
Klaſſen, als in anderen Fällen auch in der geologiſchen Geſchichte
von manchen Ordnungen einer und derſelben Klaſſe oder von Fami—
lien einer und derſelben Ordnung.
So treten im Pflanzenreiche als Beiſpiel des erſteren Falles
Vertreter der am höchſten organiſirten Klaſſe, der eigentlichen Dico—
tyledonen, erſt in der Kreide-Epoche auf. Alle übrigen minder hoch
organiſirten Klaſſen waren ſchon in der Steinkohlen-Epoche vertreten.
Von den Wirbelthieren treten die Fiſche zuerſt (in den oberen
ſiluriſchen Schichten), die Reptilien ſpäter (in der Steinkohlen-Epoche),
die Säugethiere zuletzt (im Lias und Jura) hervor.
Beiſpiele von Reihenfolgen engerer Gruppen wurden mehrfach
ſchon erwähnt. So werden bei den Säugethieren die niedriger ſtehen—
den Didelphen, welche anfänglich allein oder doch vorherrſchend ver—
treten waren, ſpäter von den höher ausgebildeten Monodolphen ab—
gelößt und faſt allenthalben aus dem Felde verdrängt.
Bei den Seelilien werden, wie wir geſehen, die Cyſtideen von den
eigentlichen Crinoiden und dieſe ſpäter noch von den Comateln abgelöſt.
V. Das Meer iſt die Wiege der Schöpfung, das Feſtland
aber das günſtigſte Feld ihrer Vervollkommnung.
Vergleichen wir den geologiſchen Entwicklungsgang der Lebens—
formen in Bezug auf ihren Aufenthalt im Meere, im ſüßen Waſſer
und auf dem Feſtlande, ſo finden wir, daß die Primordialzone nur
Meeresbewohner umſchließt, daß ſpäter in der devoniſchen Epoche Reſte
einiger weniger Landpflanzen hervortauchen und daß darnach erſt, näm—
lich in der Steinkohlen-Epoche, die erſten Landthiere hinzukommen.
269
Das Meer iſt alſo, wie die Alten ſchon lehrten, die älteſte
Wiege der Schöpfung. Meerespflanzen und Meeresthiere ſind, ſoweit
unſere jetzige Kenntniß reicht, die älteſten foſſil erhaltenen Organis-
men und noch kein Fund deutet irgendwie auf ein gegentheiliges Ver—
halten. Bewohner des Landes und des ſüßen Waſſers, namentlich
lungenathmende Thiere erſcheinen erſt in unzweifelhaft ſpäteren Epochen.
Sie beginnen hier anfänglich nur mit wenig Formen und nehmen
ſowohl an Zahl der Arten und Gattungen, als auch an tieferer Ver—
ſchiedenheit der Typen allmählig zu.
Mehrere der aus dem Meere auf das Feſtland übergegangenen
Zweige des Stammbaumes gewinnen im Laufe der Epochen in augen—
fälliger Weiſe an Organiſationshöhe. Wenn die Lebewelt der heutigen
Zeit ihrer Geſammtheit nach an Bau und Leiſtungsfähigkeit die der
älteren geologiſchen Epochen und namentlich die der ſogenannten Pri—
mordialzone überragt, jo iſt dies allerdings auch ſchon der Fall, wenn
wir von der heutigen Lebewelt allein nur die Meeresbevölkerung in
Betracht ziehen. Aber das Hauptgewicht des der heutigen Lebewelt
eigenen höheren Betrages kommt auf Rechnung der ſeither im Laufe
der Epochen hinzugetretenen Landpflanzen und Landthiere, bei denen
Organiſationshöhen auftreten, die alle Formen der Meeresbevölkerung
überragen.
Vl. Die heutige Entwickelungsgeſchichte der höheren
Lebensformen entſpricht in mehr oder minder
naher Parallele ihrer geologiſchen Abſtammung.
Es iſt unverkennbar, daß im Großen und Ganzen die indivi—
duelle Ausbildung der heutigen Pflanzen und Thiere eine gewiſſe Pa—
rallele zur geologiſchen Geſchichte der Schöpfung bildet. In einzelnen
beſonderen Fällen iſt dies mehr ausgeſprochen als in anderen.
Die Betrachtung des Fortſchreitens der Pflanze vom Samenkorn
zur Reife und des Thiers vom Ei zur ausgebildeten Form zeigt, daß
Pflanze und Thier eine Reihe von Umgeſtaltungen erleiden, die im
Allgemeinen vom Einfachen zum Zuſammengeſetzten, vom niederen
zum höheren führen. Aus ſchwach angedeuteten werden höher geſtei—
gerte, lebhaftere und vielſeitigere Lebenserſcheinungen. Pflanze und
Thier vervollkommnen ſich im Verlauf der Ausreifung in anatomi—
ſcher wie in phyſiologiſcher Hinſicht, im Bau wie in Verrichtungen.
270
Sie bieten in dieſer Hinſicht eine Parallele zur geologiſchen Entwick-
lungsgeſchichte der geſammten Lebewelt.
In einzelnen Fällen ſtellt ſich zugleich aber auch noch ein beſon—
deres Abbild der Umgeſtaltungen heraus, welche der beſondere genea—
logiſche Zweig einer beſtimmten Lebensform im Laufe der Epochen
erlitten hat. So geht bei der Ausreifung der Froſchlarve die Fiſch—
form voraus, die ausgebildete Reptilienform aber tritt ſpäter ein.
So gehen auch in der geologiſchen Reihenfolge Fiſche den Reptilien
voraus.
VII. Sämmtliche organiſche Weſen, welche heut zu Tage
leben, ſtammen von einer oder mehreren ſehr ein—
fach und nieder organiſirten Urformen ab.
Sie ſtehen daher — nicht blos im figürlichen Sinne, ſondern der
vollen Wirklichkeit nach — in einem verwandtſchaftlichen Verhältniſſe
zu einander. Es gibt Stammformen und Abkömmlinge, eng ver—
ſchwiſterte und weit von einander gehende Verwandte unter ihnen.
Der Hund ſtammt mit dem Wolf zuſammen von näher liegen-
den Vorfahren ab, als mit der Katze. Schwein und Elephant ſtehen
vom Stamme des Hundes und des Wolfes noch weiter ab, die that—
ſächliche Wurzel ihres gemeinſamen Stammes reicht in noch entlege—
nere Epochen zurück.
Knorpelfiſche, den Amphioxen und Myxinen unſerer heutigen Meere
ähnlich, mögen die gemeinſamen Ur-Vorfahren aller Wirbelthiere über—
haupt ſein.
Die geologiſche Entwickelung der Lebewelt mit ihren vielen Zügen
von wachſender Ausbreitung und Vervollkommnung der einen, von
zäher Beſtändigkeit der anderen Zweige, kann nur durch die Annahme
einer wirklichen und ununterbrochenen Abſtammung der Lebensfor—
men einer Epoche von denen der vorausgegangenen Epochen erklärt
werden.
Die vollſtändige Ausführung des Stammbaums der Schöpfung
iſt in Betracht der thatſächlichen Beſchränkung unſerer Hülfsmittel un—
möglich. Wir haben geſehen, wie einerſeits zahlreiche Organismen
gar nicht foſſil erhalten werden können, andererſeits iſt es unverkenn—
bar, daß unſere dermalige Kenntniß der Ablagerungen vieler Epochen
noch allzu dürftig iſt. Wir kennen in der That von manchen Zonen
bis jetzt noch weiter nichts als einen Theil der Meeresbewohner und
r
271
müſſen uns die Natur der gleichzeitigen Landbevölkerung aus einem
Vergleiche der aus älteren und der aus jüngeren Epochen bekannten
Landbewohner im Geiſte aufbauen. Die ſichere genauere, mehr in
das Einzelne eingehende Ausführung der Aufgabe ſchreitet übrigens
von Jahr zu Jahr vor und wir nähern uns wenigſtens in merklicher
Weiſe dem angeſtrebten Ziele.
Außer den großen Zügen der Schöpfungsgeſchichte gibt es noch
manigfache einzelne Momente, welche Beweiſe für eine wirkliche
Abſtammung organiſcher Weſen von abweichenden Arten älterer
Epochen liefern.
Es gehört dahin namentlich die Gleichheit des Geſammt—
characters, den in manchen Fällen die Fauna eines und deſſel—
ben Gebietes durch verſchiedene Epochen hin beibehält.
So war die Säugethierfaung des europäiſchen Gebietes ſowohl
in der Jura- als in der Kreide-Epoche vorwiegend didelphiſch. Erſt
nach der Eocän-Epoche erloſchen die letzten Nachkommen dieſer Didel—
phen in Europa. Seit Beginn der Eocän-Epoche war die Säuge—
thierfauna Europa's erſt vorwiegend, dann ausſchließlich mono—
delphiſch.
Neuholland hatte ſchon in der Diluvial-Epoche eine ebenſo
vorwiegend didelphiſche Säugethierfauna, wie heut zu Tage noch. Nur
die Arten und ein Theil der Gattungen ſind andere geworden. Der
eigentliche Stamm iſt der gleiche geblieben.
Amerika beſaß in der Diluvial-Epoche ſchon Vertreter der Eden—
taten und jener Familie der Affen, die für dieſen Erdtheil heute noch
bezeichnend ſind.
Eine ſolche Gleichförmigkeit des Hauptſtammes bei gleichzeitigem
Wechſel von Arten und Gattungen iſt auf reinwiſſenſchaftlichem Wege
nicht anders als durch eine Abſtammung heutiger Arten von anderen
Arten und anderen Gattungen deſſelben Stammes erklärbar. Bis jetzt
hat auch noch kein einziger Gegner der Transmutationslehre irgend—
wie eine andere Deutung des Sachverhalts zu geben gewagt.
Ein anderer Beweis für die wirkliche Abſtammung der heutigen
Lebewelt von anderen, anders gearteten Formen liegt in den rudi—
mentären und verrichtungsloſen Organen, die ſo häufig
bei Thieren, wie bei Pflanzen auftreten und die ſtets mit Sicherheit
als Erbſtücke von älteren, anders gearteten, auf andere Lebensweiſe
angewieſenen Pflanzen- und Thierformen ſich geltend machen.
212
Ein ſolches offenbares Erbſtück ift z. B. der Schwanz der Säuge—
thiere, der bei den verſchiedenen Familien derſelben, bald dieſe, bald
jene, bald gar keine Verrichtungen beſorgt und ſo recht eigentlich ein
bald brauchbares, bald überflüſſiges Anhängſel darſtellt.
Der Schwanz der Reptilien, der Vögel und der Säugethiere iſt
ein Erbſtück, welches ihre Abſtammung von den Fiſchen verkündet,
bei denen der Schwanz noch als ein ganz weſentlicher Köpertheil er—
ſcheint, der zur Bewegung um ſo unentbehrlicher iſt, als ihnen aus—
gebildete Gliedmaßen abgehen.
Da nun die Fiſche als Prototype und Urahnen aller höheren
Klaſſen ſchon einmal ausgebildete Schwänze beſaßen, ſo konnten ſich
dieſe auch auf die höher ausgebildeten Klaſſen vererben. Bei manchen
Reptilien und bei den Walen iſt Bau und Verrichtung des Schwan-
zes auch noch ſehr ähnlich wie bei den Fiſchen, bei den übrigen hö—
heren Wirbelthierformen iſt dies gelegentliche Erbſtück zu manigfachen
anderen Zwecken umgebildet worden oder auch wohl bis auf einen
unnützen Stummel verkümmert. (Siehe auch S. 184.)
VII. Die Beobachtung der heute noch lebenden Pflan-
zen- und Thierwelt, namentlich aber der Cultur—
pflanzen und Hausthiere, endlich die Verglei—
chung der Reſte wilder und zahmer Thiere aus
den älteſten menſchlichen Anſiedelungen mit den
entſprechenden Theilen der heutelebenden Arten,
liefern den Schlüſſel zur Erläuterung der Vor-
gänge, durch welche die geologiſche Lebewelt von
Epoche zu Epoche ſich umgeſtaltet und zur heu—
tigen Geſtaltung entwickelt hat.
Darwin's Lehre vom Kampf ums Daſein und von
der natürlichen Ausleſe hat dieſe Aufklärung längſt vorher
ſchon eröffneter Fragen mächtig gefördert. Aber wir dürfen nicht
gleich zu viel verlangen. Wir müſſen bedenken, daß dieſe Lehre
noch neu und die Wege der Forſchung, die fie einſchlägt, noch wenig
angebaut, vielmehr meiſt — wie ſelbſt Gegner geſtehen müſſen —
recht verwahrloft !) find.
——
1) Man leſe was darüber Bronn 1843 ſagte. (Handbuch einer Geſchichte
der Natur II. 2. S. 64.)
273
Für die Erklärung des Vorganges, nach welchem aus einer Art
der einen eine andere Art einer ſpäteren geologiſchen Epoche hervor—
gehen konnte, ſind wir faſt ganz auf das im Verhältniſſe zur Dauer
von geologiſchen Epochen verſchwindend kleine Bereich unmittelbarer
wiſſenſchaftlicher Beobachtung angewieſen. Geſchichtliche Aufzeichnun—
gen findet man nur ſehr ſpärlich. Antiquariſche Forſchungen in die—
ſem Gebiete ſind erſt ein Kind der allerneueſten Zeit. Das Experi—
ment iſt faſt ganz ausgeſchloſſen. Es erfordert ſelbſt in den wenigen
Fällen, wo es überhaupt an lebenden Pflanzen und Thieren in An—
wendung kommen kann, meiſt Jahrzehende, wenn es nur irgendwie
eine feſte Entſcheidung gewähren ſoll.
Nichts deſto weniger ſind wir auch in dieſer ungünſtigen Stellung
ſchon im Stande darauf hin weiſen zu können, daß die Veränderungen,
welche der Einfluß des Menſchen auf Pflanzen und Thiere hervor—
ruft, auch auf das Fortpflanzungsſyſtem ihren Einfluß aus—
dehnen und in einzelnen Fällen dem zu Folge zu Abſtänden ſexueller
Natur führen, welche den erſten entſcheidenden Schritt zur Ausbildung
neuer Arten darſtellen.
Es ſind das nur wenige Fälle und unſere bisherige Naturwiſſen—
ſchaft, mehr oder minder vom Gängelband Cuvier'ſcher Erziehung
noch befangen, hat ſich auch erſt wenig oder vielleicht noch gar nicht
mit ihrer ſtrengeren Bewahrheitung oder Widerlegung befaßt.
Was überhaupt aber die theoretiſche Deutung jenes Vorganges
einer fortwährenden Umgeſtaltung der Lebewelt, wie ſie aus den Er—
gebniſſen der Geologie und der Paläontologie ſich uns darſtellt, au-
belangt, ſo iſt nach dem heutigen Stande der Dinge nur noch eine
Wahl zwiſchen der Darwin'ſchen Lehre und der rein ſkeptiſchen
unfruchtbareu Verneinung möglich. Es iſt aber außer Zweifel und
ſelbſt von einem Theile der Gegner anerkannt, daß Darwin's Lehre
von einer natürlichen Aus leſe, — welche von den manigfachen
Erzeugniſſen der allen Lebensformen in mehr oder minder ausgeſpro—
chenen Weiſe innewohnenden Veränderlichkeit nur jene Formen, die
im Kampf um's Daſein vor anderen begünſtigt erſcheinen, am Leben
zu erhalten geeignet iſt, — jo nahe Ausſicht auf allgemeine Anerkennung
ſich gewonnen hat, als irgend je vorher ein anderer Verſuch, der auf
die Löſung des großen Problems hinzielte
Rolle, Darwin's Lehre. 18
Nach Allem dieſem und unter der ſelbſtverſtändlichen Voraus⸗
ſetzung, daß man natürliche Dinge nur auf natürlichen
Wegen erklären ſolle, entſcheiden wir uns endlich noch zu fol⸗
gender Schluß⸗Theſe.
Die organiſche Welt des heutigen Tages, Pflanzen,
Thiere und Menſchen, ſind kein Erzeugniß einer
unmittelbar aus lebloſem Stoffe ſchaffenden
Kraft, ſondern ſie ſind das Ergebniß eines viele
Millionen Jahre hindurch fortgeſetzten Entwick-
lungsvorganges von natürlichen Materien unter
dem Einfluſſe allgemeiner und ewiger Natur⸗
geſetze. Dieſer Entwicklungsgang hat mit ein⸗
fachen Formen von niederen Lebenserſcheinungen
begonnen und unter ſteter Umgeſtaltung zur Er⸗
zeugung der heutigen nach Bau und Verrichtungen
mannigfach abgeſtuften Lebewelt geführt.
Geologie und Paläontologie liefern zahlreiche mehr oder minder
noch vereinzelte Stufen jenes Entwicklungsganges, eine große Zahl
dieſer Stufen, vielleicht die meiſten, fehlen uns wohl zur Zeit noch,
aber wir ſehen von Jahr zu Jahr ihre Feſtſtellung fortſchreiten und
das wiſſenſchaftliche Gebäude an Ausdehnung und Sicherheit zunehmen.
Theologiſirende Behandlungen der Naturwiſſenſchaft, welche nur
Transactionen der poſitiven Wiſſenſchaft mit der zeitweilig herrſchenden
Staatsreligion bezwecken, haben bisher immer ſchlechten Erfolg gehabt.
Der Theologie haben ſie höchſtens vorübergehende Vortheile gebracht.
Auf die Entwickelung der exacten Forſchung ſind ſie wohl vorüber⸗
gehend von Nachtheil geweſen, haben indeſſen im Ganzen ihren Auf⸗
ſchwung nicht aufhalten können.
Jedenfalls aber zeigt uns die Betrachtung der Wege, auf denen
die Wiſſenſchaft vorangeſchritten iſt und auf denen fie jo viel Großes
und unumſtößliches Sicheres erzielt hat, daß eine jede Annahme über⸗
natürlicher Eingriffe in den regelmäßigen Lauf der Natur in der
Abſicht, naturgemäßer Wege der Erklärung ſich entſchlagen zu können,
nicht nur unnütz iſt, ſondern auch ſchädlich wirkt, indem ſie den Pfad
zu den der Aufklärung zunächſt bereitliegenden Räthſeln ſperrt.
Die Lehre von Lamarck, Geoffroy, Darwin iſt in dieſer
Hinſicht unabhängig. Sie erſtrebt die Wahrheit nicht um anderer menſch⸗
licher Neigungen und Beſtrebungen, ſondern um der Wahrheit ſelbſt willen.
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