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Full text of "Das Forum (hrsg. von Wilhelm Herzog) 4.1919-20, Teil 2"

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DAS 
FORUM 


HERAUSGEBER: 
WILHELM HERZOG 


4. Jahrgang 
II. Band 
April September 1920 


GUSTAV KIEPENHEUER VERLAG 
POTSDAM-BERLIN 


KRAUS REPRINT 
Nendeln/Liechtenstein 
1977 


DAS 


FORUM 


HERAUSGEBER: 
WILHELM HERZOG 


4. J a h rgang 
II. Band 
April—September 1920 


GUSTAV KIEPENHEUER VERLAG 
POTSDAM-BERLIN 


KRAUS REPRINT 
Nendeln/Liechtenstein 
1977 


Gedruckt nach einem Original der Bayerischen 
Staatsbibliothek München 


Printed in Germany 
Lessingdruckerei Wiesbaden 


INHALTS-VERZEICHNIS 


Afril 1920 
Seite 

Wilhelm Herzog: Von Leipzig nach Moskau / Klarheit 

um jeden Preise 481 
Die Antwort Moskaus .......: 2222er. 485 
Heinrich Vogeler: Über die kommunistische Schule. 504 
Romain Rolland: Meinem besten Freunde — Shakespeare 509 
Hans Siemsen: Potsdam oder Döberitz? .......... 517 
Erich Mühsam: Gustav Landauer. 528 
Douglas Goldring: Briefe aus der Verbannung {Schluf) 533 
Ludwig Rosenberger: Karl Liebknecht 548 

Mai 1920 

Romain Rolland zum Bolschewismus ............ 561 
Das Anklagematerial der Entente und das Leipziger 

Reichsgericht 562 
J. P. Marat: Von der Notwendigkeit. den Volksgeist zu 

bilden, um die Freiheit zu sichern ......... 567 
Hans Paasche: Protest eines Menschen 573 
Fidelis: Gustav Landauers Kulturprogramm ........ 577 
Hans Kohn: Peter Kropotkin .. .. . 22: 22222 0.. 599 
Individualität und Gesellschaft 614 
Franz Schulz: Gustav Noske — Heinrich Mann ..... 621 
Die revolutionäre Bewegung in Spanien .......... 623 
Victor Segalen: Paul Gauguins Todeskampf ........ 627 


Eingelaufene Schriften 640 


Juni 1920 Seite 


Gustave Courbet: An die deutschen Künstler 641 
G. Demartial: Patriotismus und Gerechtigkeit 645 
Maxim Gorki: Die Internationale der Intellektuellen .. 649 
Wahrheit über Sowjetrußland / Das Bibliothekswesen 651 


Die Menschewiki . . 2 2 22 ee eurer ern 653 
Franz Schulz: Kunst, Bürger, Staat .......... . 655 
Heinrich Vogeler: Über die kommunistische Schule. l 660 
Fritz Schwarz: Jean Jaurès ss 8 665 
Hans Janowitz: Unter Lucifers Funn 701 

Juli 1920 

Franz Schulz: Abrechnung 711 
Lenin: Thesen über die nationale und koloniale Frage.. 718 
Lenin und Trotzki: Zwei Reden. 726 
Beschlüsse des IX. Kongresses der Kommunistischen Partei 

Rußlandsı242,852 ⁵ ]ð]ð 749 
Kropotkin: Politische Rechte und ihre Bodenan für die 

Arbeiterklasse . . 756 
Willy Haas: Der Journali sse 764 
Anatole France: Gespräch über die Intelligenz... .... 775 
Morbus Berolinensis . . . 22 2 22 s. 779 
Der Fall Jacobsohn-Hilferding .....:: 2222220. 782 


August 1920 


Wilhelm Herzog: Russisches Notizbuch .......... 791 
Die Wut des Hilfergedinges .......... . 866 


Seßtember 1920 
Wilhelm Herzog: Russisches Notizbuch .......... 871 
Romain Rolland: Das Leben Tols tos 912 
Maxim Gorki: Rußland und die Weltliteratu t 937 


ALPHABETISCHES REGISTER 


Seite 
Courbet. Gust ao 641 
ne u. u a as ah 643 
Kdl eee da aora Ne a at ee ee er 577 
Francos, Anatole. 2 2 Een 773 
Goldring. Doutl os. a 533 
Gorki. Maxim . . ... o EEE . . . 649, 937 
Hass: Wily 4,8 ²˙ů 2.00% Bone en a ee er le 764 
Herzog. Wilbelm . . . . . Da ee w a sai 791. 866. 871 
Janowitz, Hane . 701 
( ĩðV / ¾ ee a en 599 
Kropotkin .. i!! ̃²˙ —üUU UU. ² ]ꝝ?it ae a 756 
Lasis er a m ˖ͤ·¹.̃⁊ ee er ee e ae la ia 718, 726 
Mint P ee ee ee el 567 
Mühsem, Erich . n 528 
Paasche, Hans . . . . . e . . 575 
Nollaad. Romein . nnn 509. 561. KAA 912 
Rosenberger. Ludi „ 548 
Schulz, Frans 621. 655 
Schwars, Frits . 2:22 Core 665 
Segalen, Victoe eee w 627 
Siemsen, Ha 517 
/// ae e R BE 726 


DAS FORUM 


4. Jahr Abril 1920 Heft 7 
(Agen: A. 10 Mai 1920) 


VON LEIPZIG NACH MOSKAU 
KLARHEIT UM JEDEN PREIS! 


VON WILHELM HERZOG 


Auf dem Leipziger Kongreß der Unabhängigen Sozialdemokratischen Parteı 
Deutschlands fiel eine Entscheidung, deren weltpolitische Bedeutung neben der 
parteipolitischen nicht zu verkennen war. 

Mit 227 Stimmen gegen 54, die sich für die noch weitergehende Stoeckersche 
Resolution — d. h. für den sofortigen Anschluß an Moskau — aussprachen, wurde 
die folgende von der Parteileitung vorgelegte Resolution angenommen: 

Der Parteitag erklärt als eine der wichtigsten Aufgaben der Unabhängigen 
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands die Zusammenfassung des gesamten 
revolutionären Proletariats in einer tatkräftigen, revolutionären sozialistischen 
Internationale. 

Erste Voraussetzung einer aktionsfähigen -Internationale ist u..  c<ksichtslose 
Führung des proletarischen Klassenkampfes unter Ablehnung jeder Politik, die 
lediglich Reformen innerhalb des kapitalistischen Klassenstaates erstrebt. 

Der Parteitag beschließt daher die Absage an die sogenannte zweite Inter- 
nationale, womit für die U. S. P. jede Beteiligung an der für Genf geplanten 
Konferenz ausgeschlossen wird. 

Die U.S.P.D. ist mit der dritten Internationale darin einverstanden, durch 
die Diktatur des Proletariats auf. Grund des Rätesystems den Sozialismus zu 
verwirklichen. Es muß eine aktionsfähige proletarische Internationale geschaffen 
werden durch Zusammenschluß unserer Partei mit der dritten Internationale 
und den sozialrevolutionären Parteien der anderen Länder. 

Deshalb beauftragt der Parteitag das Zentralkomitee, auf Grund des Aktions- 
programms der Partei mit allen diesen Parteien sofort in Verhandlungen zu 
treten, um diesen Zusammenschluß herbeizuführen und so mit der dritten 
Internationale eine aktionsfähige geschlossene proletarische Internationale zu 


482 | | Wilhelm Herzog 


ermöglichen, die in dem Befreiungskampfe der Arbeiterklasse aus den Fesseln 
des internationalen Kapitals eine entscheidende Waffe für die Weltrevolution 
sein wird. | 

Sollten die Parteien der anderen Länder nicht gewillt. sein, mit uns in die 
Moskauer Internationale einzutreten, so ist der Anschluß von der Deutschen 


Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei allein vorzunehmen. 


Fünf Monate sind vergangen. Das Zentralkomitee hat, wie es versichert, ent- 
sprechend seinem Auftrage „mit den sozialrevolutionären Parteien der anderen 
Länder” verhandelt. Der Zusammenschluß unserer Partei mit der dritten Inter- 
nationale und den sozialrevolutionären Parteien der anderen Länder ist jedoch bisher 
nicht gelungen. Woran liegt das? Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Mos- 
kaus angeblich rigorose Bedingungen. Kapp-Putsch. Seine Abwehr. Reichs- 
tagswahlen. Vorbereitung dazu. Unmöglichkeit, direkt mit Moskau zu verkehren. 
Das sind die. Einwände, die angeführt werden. 

Sind sie stichhaltig? Seien wir gerecht. Für die, die auf Grund ihrer Über- 
zeugung nur widerstrebend die 3. Internationale bejahen können, muß es Hinder- 
nisse über Hindernisse sachlicher und persönlicher Art auf dem Wege nach Moskau 
geben. Darum legte Crispien von seinem Standpunkte aus mit Recht den Akzent 
auf das Wort Verhandlungen mit der 3. Internationale, die zum Anschluß führen 
sollten. Und er fühlte sich durch den Zusatzantrag, der gestellt, angenommen und 
als letzter Satz in die Resolution aufgenommen wurde, bedroht, er fühlte, wie sein 
Wille durch einen anderen Willen, dem der Parteitag aber zustimmte, durchkreuzt 
wurde. Dieser Zusatz, wonach die U.S.P.D. den Anschluß an die dritte Inter- 
nationale allein vorzunehmen habe, falls die Parteien der anderen Länder nicht ge- 
willt seien, mit uns in die Moskauer Internationale einzutreten, wurde als peinlich, 
als störend empfunden. Darum nannte ihn Crispien „vollkommen überflüssig” 
und fügte sofort hinzu: „Dieser Antrag ändert nicht das geringde an dem: Sinne 
der Resolution der Parteileitung und der Kontrollkommission. Er ändert nichts 
daran, daß Verhandlungen mit Moskau unter Zugrundelegung unseres Aktionspro- 
gramms vor einem Zusammenschluß vorgenommen werden müssen. Wenn andere 
Parteien nicht gleich mit uns gehen, dann schließen wir uns ohne sie mit Moskau 
zusammen, wenn wir mit ihnen über Programm und Taktik einig geworden sind“. 
Ein Satz mit zwei getrennten. wenns hat genügend Konditionelles. Und niemand 
kann dem *geschickt für seine Taktik operierenden Führer vorwerfen, als habe er 
etwa seine Absicht verdeckt. Er blieb dabei: Verhandlungen müßten stattfinden. 
Auch nach Annahme des Zusatzantrages. Da dieser Auslegung niemand wider- 


Von Leipzig nach Moskau 483 


sprach, kann Crispien sie als unwidersprochenen Willen des Parteitages auffassen 
und danach fordern zu handeln. Obwohl zweifellos eine große Anzahl der Delegierten mit der 
Annahme des Zusatzantrages den Anschluß ohne Verhandlungen vollzogen wissen wollte. 

Was jedoch ist in den fünf Monaten geschehen? Eine Anfrage ist nach Moskau 
gerichtet worden. Auf diese Anfrage ist eine Antwort erfolgt. Vor fünf Wochen 
traf sie ein. Bis heute wurde sie nicht veröffentlicht. Wenigstens nicht vom Zentral- 
komitee. Inzwischen ließ sie das Westeuropäische Sekretariat der dritten Inter- 
inationale als Broschüre erscheinen. Dieses Dokument, von: Sinowjew unterzeichnet, 
ist in jeder Hinsicht von großer Tragweite und so wichtig, daß ich es den 
Lesern des Forum zu vermitteln für notwendig halte. 

Von vornherein ıst zu sagen: Diese klare und eindeutige Spracne der Kussen 
tut wohl. Gleichviel, wie wir im Einzelnen zu den Äußerungen des Exekutiv- 
Komitees stehen mögen, ob wir ihnen grundsätzlich zustimmen (und jeder 
Revolutionir muß das) oder als zu hart ablehnen, — es ist eine Freude, so 
hell, so leuchtend, so einfach die Dinge beim Namen genannt zu sehen. Und können 
wir der Kritik widersprechen? Können wir sie für ungerecht erklären? 

Der Beschluß von Leipzig am 5. Dezember 1919 blieb: Beschluß. Aus 
dem Bekenntnis zur 3. Internationale wurde nicht Tat. 

Viele kleinbürgerliche Vorurteile hinderten schon in Leipzig den Anschluß ohne 
Vorbehalt. Und diese kleinbürgerliche Politik ist es, von der sich die U. S. P. D. 
freimachen muß, will sie entsprechend dem von den Massen geäußerten Willen als 
gleichberechtigtes und ebenbürtiges Mitglied ın die 3. Internationale aufgenommen 
werden. Kein Mensch denkt an Unterwerfung. So wenig wie von einem auf- 
rechten Menschen verlangt man von einer selbstbewußten revolutionären 
Partei, daß sie sich unter ein fremdes Joch beuge. Darum handelt es sich nicht. 

Das Por zur 3. Internationale ist offen. Warum treten wir nicht ein? Warum 
die langwierigen Priliminarien? Unser Aktionsprogramm ist klar und eindeutig. 
Es deckt sich mit allen Forderungen der 3. Internationale. Wesentlichster Grundsatz: 
Diktatur des Proletariats, auf Grund des Rätesystems 

Auf dem ersten Kongreß der Kommunistischen Internationale in Moskau (März 
1919) waren bereits 36 Parteien vertreten.. Zahlreiche andere haben sich nach März 
1919 der 3. Internationale angeschlossen, so die Italienische Sozialistische Partei. 
die Norwegische Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die Polnische Kommunistische 
Partei, die Amerikanische Sozialistische Partei; die Britische Sozialistische Partei 
die Spanische Sozialistische Partei, die Arbeiterpartei Schottlands. 

Nur wir hinken hinterher. Warum? Trotz dem Beschluß von Leipzig. Wer er 
nicht eindeutig genug? Scheut das vom Parteitag beauftragte Zentralkomitee vor 


484 Wilhelm Herzog /Von Leipzig nach Moskau 


der Ausführung seines Auftrages zurück, weil fünf oder sechs oder acht anti- 
bolschewistische Offiziere in der Partei Sabotage treiben und durch ihre „demo- 
kratische“ Tätigkeit den Weg nach Moskau sperren wollen ? 

Jeder Einwand fällt angesichts der schönen Schlußworte des Moskauer Mani- 
festes. Nichte von Hochmut oder Herrschaftsgelüste einer Partei finden wir in diesem 
Dokument. Es spricht nur hart und unsentimental aus, was ist. Und darüber 
hinaus, was sein könnte, was werden kann. Die Pioniere der Weltrevolution maßen 
sich innerhalb der 3. Internationale keine diktstorischen Befugnisse an. Sie be- 
kennen im Gegenteil ausdrücklich: „Wir sind durchaus bereit, die dritte Inter- 
nationale zu erweitern, die Erfahrung der proletarischen Bewegung in allen 
Ländern in Betracht zu ziehen, das Programm der dritten Internationale auf Grund 
der Theorie des Marxismus und der Erfahrung des revolutionären Kampfes in der 
ganzen Welt zu korrigieren und zu ergänzen“. | 

Man sieht: sie halten sich nicht für unfehlbar. Was sie allerdings nicht wollen, 
ist: unwürdige Vermischung. Sie wollen rein bleiben. Nicht um der Personen, sondern 
um der Sache willen. Die 3. Internationale liefe Gefahr, verwässert zu werden, 
nähme sie kritiklos alle unsicheren Kantonisten und selbst -die Feinde von gestern 
ohne weiteres auf. Reinigung tut not. | 
Dis 3. Internationale kann nur schlagkräftig bleiben, kann nur die große histo- 
rische Aufgabe, die ihr gestellt ist, erfüllen, wenn sie sich ihren weltrevolutionären 
Charakter nicht um das Geringste verfälschen läßt, wenn sie von vornherein jede 
Nachgiebigkeit als korrumpierend ablehnt, wenn sie -sich ihres Wertes, ihres : Singu- 
larität, ihrer Macht, ihres unbeirrbaren Willens, rücksichtslos das Alte zu‘ zer- 
stören, das Neue aufzubauen. ` bewußt bleibt. 

Es wird ihr bald schwerer sein, Elemente abzustoßen als zu gewinnen. Und 
deshalb muß is klug und vorsichtig zugleich sein und handeln, um den Feind, 
der sie von außen her berennt nicht in ihrer eigenen Mitte groß werden 
zu schen. | 

Angesichts des neuaufflammenden Krieges der Weltreaktion gegen Sowjetrußland, 
angesichts der verbrecherischen Konspirationen der Mannerheims und aller kontre- 
revolutionären Kräfte Europas, muß es doppelte Pflicht jedes revolutionären Sozia- 
listen sein, dem Bekenntnis zur 3. Internationale jetzt die Tat folgen zu lassen. Die 
aufgeklärten Arbeiter Deutschlands wollen keine Politik, die schwankt, wackelt, 
zögert, aufschiebt. Sie wollen eine klare, zielsichere Politik, die entscheidet, 
vorgeht, Wort Tat werden laßt, die revolutionär handelt, die revolutionär wırkt. 


Die Antwort Moskaus _ 485 


DIE ANTWORT MOSKAUS 


An alle Arbeiter Deutschlands, an die Reichszentrale der 
Kommunistischen Partei Deutschlands und an den Partei- 
vorstand der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei 
Deutschlands 

Anläflieh des Beschlusses des Leipziger 88 der Unabhängigen Sozial- 
demoßretischen Partei Deutschlands über die Kommunistische Internationale. 

Der letzte Kongreß der U.S. P. D. falte den Beschluß, 
aich an die Kommunistische Internationale und „andere sozial- 
revolutionäre Organisationen”. mit dem Vorschlage zu wenden, 
sch zu einer gemeinsamen internationalen Organisation zu 
vereinigen. Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Inter- 
nationale hält es für seine Pflicht, diese Frage vor das 
Forum aller revolutionären Arbeiter zu bringen. Das Exekutiv- 
komitee nimmt an, dał nur eine offene Erörterung dieser 
Frage vor den breiten Arbeitermassen aller wirklich revolu- 
tionãren Elemente der internationalen Armee des Proletariats 
möglich ist und nicht eine hinter den Kulissen abgeschlossene 
Vereinbarung. Die folgenden Ausführungen sind somit di e 
Antwort auf den Brief Cris pie ns vom 15. Dezember 1919, 
der dem Exekutivkomitee der Dritten Internationale zugestellt 
und in der „Freiheit“ vom 2. Januar 1920 abgedruckt wurde. 


L Die der US. N. angshorenden Arbeiter und ihre Führer 
| in der Revolution. 

Die Kommunistische Internationale ist sich | dessen bewußt, 
daß die Arbeiter, die der U.S.P. angehören; ganz anders 
gestimmt sind, als der. rechte Flügel ihrer Führer. Dies ist 
der Ausgangspunkt unserer Beurteilung der Lage in. der 


486 S O Die Antwort Moskaus 
U.S.P. Die Kommunistische Internationale betrachtet den 
Leipziger Beschluß der U.S.P. als einen Umschwung in 
der politischen Richtung der Partei, der sich unter dem 
Drucke desjenigen Teiles der Arbeiterschaft Deutschlands 
vollzogen hat, der in dieser Partei organisiert ist. Dieser 
Teil der Arbeiterklasse stellt sich auf Grund der ganzen 
Erfahrung der Revolution immer mehr und mehr auf den 
Standpunkt der proletarıschen Diktatur und des Massen- 
kampfes um diese Diktatur unter der gemeinsamen Fahne 
der Kommunistischen Internationale. Dieses verhindern ın 
hohem Grade die opportunistischen rechten Parteielemente, die 
geneigt sind, alles Mögliche mit Worten anzuerkennen, die 
aber die tatsächliche Entwicklung der Revolution auf jede 
Weise hemmen. Diese opportunistischen Zentrumsleute haben 
während des imperialistischen Krieges das Proletariat von 
allen Massenaktionen zurückgehalten, haben die verräterische 
Linie der Verteidigung des bürgerlichen Vaterlandes unter- 
stützt, haben die Notwendigkeit einer illegalen Organisation 
verneint und schreckten vor dem Gedanken an den Bürger- 
krieg zurück. Am Beginn der Revolution sind sie mis den 
offenen Verrätern der Arbeiterklasse — den Scheide- 
männern — ın eine gemeinsame Regierung eingetreten, haben 
die schändliche Ausweisung der Berliner Botschaft des 
Proletariats Ruflands sanktioniert und haben die Politik des 
Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetmacht 
unterstützt. Diese rechten Führer der Unabhängigen haben 
seit Beginn der deutschen Revolution die Entente- Orien- 
tierung gepredigt und sich mit allen Kräften dem Bunde 
Deutschlands mit Sowjetrullland widersetzt. Die rechten 
Führer der »Unabhängigene haben unter Deutschlands Pro- 
letariern systematisch kleinbürgerliche Illusionen über das 
Wesen des »Wilsonismus« gesät. Die rechten Führer der 
»Unabhängigens haben Wilson gepriesen und ihn als Ver- 
teidiger eines gerechten Friedens, als Vertreter der Demo- 


Die Antwort Moskaus — 487 
kratiee usw. hingestellt. Dank der Taktik dieser rechten 
Führer blieb die Staatsmaschine des Wilhelminischen Kaiser- 
reiches. das sich nur mit der republikanischen Flagge ver- 
büllte. vollständig unberührt. In entscheidenden Augenblicken 
Januar 1919) des Kampfes mit den Henkern der Arbeiter- 
klasse — Noske u. Co. — schlugen die rechten Führer 
der »Unabhängigen« eine »versöhnende« Richtung unehrlicher 
Makler ein. schwächten den revolutionären Willen der 
Arbeiter. zerfetzten die Einigkeit des Proletariats im Kampfe 
und förderten dadurch seine Niederlage. 

Erst verneinten sie die Diktatur der Räte überhaupt 
und standen vollständig auf dem Standpunkt der bürger- 
lichen Demokratie. Dann fingen sie an, ein Gemisch aus 
den Räten und der konstituierenden Versammlung zu 
propagieren (der Plan Hilferdings). Bis jetzt schwanken sie 
zwischen diesem und jenem, wenn es sich um die Tat 
handelt. Ihre literarischen Vertreter (Kautsky), die sıch ın 
ein und demselben Verlage mit den bürgerlichen Pazifizisten. 
»Demokratene und aufrichtigen Dienern der Börse und der 
Bank treffen, finden keine bessere Beschäftigung, als den 
schmutzigen Klatsch der russischen und anderen Gegen- 
revolutionäre über die russische Revolution zu verbreiten. 
Eine derartige, alles übertreffende “sinnlose und unehrliche 
Verleumdung. wie die angebliche »Sozialisierung der Frauen- 
in Rußland, die von den Generalen ‚und Spionen der 
Entente erfunden ist, findet im Buche Kautskys Platz. Das 
letzte Werk dieses Schriftstellers, »Terrorismus und Kommu- 
nısmuse, erscheint ın demselben Verlag wie das Sammelwerk 
gefälschter. in Amerika erfundener Dokumente über die 
Bestechung · der Bolschewiki durch den deutschen Generalstab. 

Diese Beispiele genügen. um, die wahre Physiognomie 
einer Reihe der rechten Führer der U. S. P. zu kenn- 
zeichnen. Die zu dieser Partei gehörenden Arbeiter müssen 
verstehen, daß die Arbeiterpartei. ohne den vollständigen 


488 S Die Antwort Moskau: 
Bruch mit solchen rechten Führern zu vollziehen. die 
Entwicklung der proletarischen Revolution nieht erleichtern 
kann. — Es ist jetzt vollständig klar, daß die Revolution 
in Deutschland einen solchen qualvollen Verlauf nimmt. 
weil es den Scheidemännern gelungen ist. das Volk zu 
entwaffnen. weil der Ausbruch der Revolution nicht zur 
Verbindung Deutschlands mit Sowjetrußland führte, weil 
der alte Machtapparat in Gang geblieben ist. Ein ungeheurer 
Teil der Schuld und der Verantwortung dafür fällt auf 
die rechten Führer der U.S.P. — Um die Linie gerade 
zu biegen. müssen die Fehler verstanden und korrigiert 
werden. Diese Parteilinie gerade zu biegen. wenn auch 
über den Kopf einiger Führer hinweg. darın vor allem 
besteht die Aufgabe der zur Partei der Unabhängigen 
gehörenden Arbeiter. 

II. Die Haußtfehler der US. P. und der »Zentrums- 

Parteien · überhaupt 

Die Ideologie der Führer der U.S. P. ist keine spezifisch 
deutsche Erscheinung. Auf demselben Standpunkt stehen die 
Longuetisten in Frankreich, die I. L. P. in England. die 
A. S. P. in Amerika und andre. Ihre Eigentümlichkeit ist 
das beständige Schwanken zwischen dem offenen Sozialverrat 
vom Typus Noske und der Linie des revolutionären Pro- 
letariats, d. h. dem Kommunismus. Diese Fehler fassen wir 
in folgenden Punkten zusammen: 

1. Die Diktatur bedeutet den Sturz der Bourgeoisie 
durch eine Klasse, das Proletariat, und zwar durch seine 
revolutionäre Avantgarde. Es heift in Wirklichkeit. den 
Gesichtspunkt der Diktatur des Proletariats zu verlassen und 
tatsächlich auf den Standpunkt der bürgerlichen Demokratie 
überzugehen. wenn man verlangt: daß die Avantgarde sich 
erst die Mehrheit des Volkes durch Wahlen in die 
bürgerlichen Parlamente, in bürgerliche Konstituanten usw. 
erwerben müsse, d. h. durch Abstimmen bei Vorhanden- 


Die Antwort Moskaus 02 __489 


sein von Lohnsklaverei, bei Vorhandensein von Aus- 
beutern, unter deren Joch, bei Vorhandensein von Privat- 
eigentum an Produktionsmitteln. 

So S handeln die Führer der rechten Unabhängigen und 
der französischen Longuetisten. Diese Parteien wiederholen 
die Phrasen der bürgerlichen Demokraten über die Mehrheit 
des »Volkes (das von der Bourgeoisie betrogen und vom 
Kapital niedergehalten wird) und stehen objektiv noch auf 
der Seite der Bourgeoisie. 

2. Die Diktatur des Proletariats bedeutet die Erkenntnis 
der Notwendigkeit, den Widerstand der Ausbeuter mit 
Gewalt zu brechen, bedeutet die Bereitschaft, das Vermögen, 
die Entschlossenheit, dıes zu tun. Die Bourgeoisie. sogar 
die republikanischste und demokratischste (z. B. in Deutsch- 
land. in der Schweiz. in Amerika) greift systematisch zu 
Pogromen, zur Lynchjustiz, zu Morden, zu militärischen 
Gewalttaten. zum Terror gegen die Kommunisten und ın 
Wirklichkeit gegen alle revolutionären Schritte des Prole- 
tariats. Unter diesen Bedingungen auf die Anwendung von 
Gewalt. auf den Terror zu verzichten, heißt, sich in einen 
weinerlichen Kleinbürger verwandeln, heißt, reaktionäre 
kleinbürgerliche Illusionen über den sozialen Frieden säen. 
heiß. — konkret gesprochen = Angst vor dem Haudegen 
der Offiziere haben. 

Denn der verbrecherischste und reaktionärste imperiali- 
stische Krieg von 1914—1918 hat in allen Ländern, in 
allen. sogar in den demokratischsten Republiken, Zehntausende 
der reaktionärsten Offiziere erzogen und in den Vordergrund . 
der Politik gestellt. die den Terror verbreiten und ihn zum 
besten der Bourgeoisie, zum besten des Kapitals gegen das 
Proletariat verwirklichen. — Die Reden einiger Führer der 
Unabhängigen auf dem Leipziger. Kongreß über die Frage 
der „moralischen Unzulässigkeit des Terrors seitens der 
Arbeiter ın Bezug auf die weilgardistischen Henker des 


490 FE Die Antwort Moskaus 
Proletariats beweisen, daß diese Führer durch und durch 
mit kleinbürgerlichen Ansichten durchtränkt sind. 

Das Verhalten zum Terror. das die rechten Führer der 
deutschen Unabhängigen und der französischen Longuetisten 
in Parlamentsreden. Zeitungsartikeln. in der Agitation und 
Propaganda offenbaren, ist daher ein vollständiges Lossagen 
von dem Wesen der Diktatur des Proletariats. ein tatsäch- 
licher Ubergang zur Position der kleinbürgerlichen Demo- 
kratie, ist die Demoralisierung des revolutionären 
Bewußtseins der Arbeiter. | 

3. Dasselbe bezieht sich auf den Bürgerkrieg. Nach 
dem imperialistischen Kriege. angesichts der reaktionären 
Generäle und Offiziere. die den Terror gegen das Proletariat 
anwenden. angesichts der Tatsache, daß schon neue impe- 
rialistische Kriege dureh die gegenwärtige Politik aller 
bürgerlichen Staaten vorbereitet werden, und nicht nur 
bewußt vorbereitet werden. sondern mit objektiver Unver- 
meidlichkeit aus ıhrer ganzen Politik folgen — unter diesen 
Bedingungen. bei dieser Situation den Bürgerkrieg gegen 
die Ausbeuter beklagen, ihn verurteilen. ihn fürchten — 
heißt in Wirklichkeit, zum Reaktionär werden. — Das heift, 
sich vor dem Sieg der Arbeiter, der Zehntausende Opfer 
kosten kann, fürchten, und ganz sicher ein neues imperia- 
listisches Blutbad zulassen, das gestern Millionen Opfer 
kostete und morgen ebensoviel Opfer kosten wird. Das 
heißt, den reaktionären und gewaltigen Gepflogenheiten und 
Absichten und der Vorbereitung der bürgerlichen Generale 
und der bürgerlichen Offiziere tatsächlichen Vorschub leisten. 

Derartig reaktionär ist in der Tat die süßliche, klein- 
bürgerliche, sentimentale Position der rechten Führer der 
deutschen Unabhängigen, wie auch der französischen 
Longuetisten in der Frage des Bürgerkrieges. Man schließt 
dıe Augen angesichts der weißen Garde, ihrer Vorbereitung 
und Schaffung durch die Bourgeoisie und wendet sich 


Die Antwort Moskaus 491 


— — ——— — 


heuchlerisch, parasitisch (oder feige) ab von der Bildung 
einer Roten Garde. einer Roten Armee der Proletarier 
die fahig wäre, den Widerstand der Ausbeuter zu unter- 
drücken. 

4. Die Diktatur des Proletarıats and die Rätemacht 
bedeuten die klare Erkenntnis der Notwendigkeit, den bür- 
gerlichen (wenn auch republikanısch-demokratischen) Staats- 
apparat, die Gerichte. die Bürokratie. die zivile wie die 
militärische usw. zu zerbrechen, in Stücke zu schlagen. 
Die rechten Führer der deutschen Unabhängigen und der 
französischen Longuetisten zeigen weder Erkenntnis dieser 
Wahrheit, noch alltägliche Agitation in dieser Richtung. 
Viel schlimmer: sie führen die ganze Agitation in entgegen- 
gesetztem Geiste. 

5. Jede Revolution bedeutet, zum Unterschied von der 
Reform, eine Krisis und zwar eine an und für sich 
überaus tiefe politische und ökonomische, unabhängig von 
der durch den Krieg hervorgerufenen Krisi. — Die 
Aufgabe der revolutionären Partei des Proletariats ist es, 
den Arbeitern und Bauern klar zu legen, daß man den 
Mut haben muß, dieser Krisis tapfer zu begegnen und ın 
den revolutionären Maßnahmen die Kraftquelle zu 
ihrer Überwindung zu finden. Nur durch Überwindung 
dieser größten Krisen durch revolutionären Enthusiasmus, 
durch revolutionäre Energie, durch revolutionäre Bereitschaft 
zu den schwersten Opfern kann das Proletariat die Aus- 
beuter besiegen und die Menschheit endgültig vom Kriege. 
vom Joch des Kapitals. von der Lohnsklaverei befreien, 

Einen andern Ausweg gibt es nicht; denn das 
reformistische Verhalten zum Kapitalismus hat gestern das 
imperialistische Schlachten von Millionen Menschen und 
Krisen ohne Ende erzeugt und wird sie unausbleiblich 


morgen erzeugen. Diesen Grundgedanken, ohne den die 


Diktatur des Proletariats eine leere Phrase ist. verstehen 
2 


492 | Die Antwort Moskaus 


die Unabhängigen und die Longuetisten nicht. offenbaren 
ihn in ihrer Propaganda und Agitation nicht und machen 
ihn den Massen nicht klar. 

Im Gegenteil sie schüchtern das Proletariat auf 
alle mögliche Art und Weise ein durch Hinweis auf 
die Schwierigkeiten. die die proletarische Revolution nach 
sich zieht. Objektiv ist jedoch die Wiedergeburt der 
Wirtschaft nur auf Grund der proletarischen Diktatur 
denkbar: denn auf kapitalistischer Basis ist möglich nur 
eine beständige und immer tiefer gehende Auflösung. 
Durch ihre kleinbürgerliche Feigheit ziehen die Führer der 
U.S. P. den ohnehin qualvollen Prozeß nur in die Länge 
und vergrößern dadurch die Leiden des Proletariats. 

6. Das Sowjetsystem ist die Zerstörung der bürgerlichen 
Lüge, der Freiheit, die Presse zu bestechen, die Freiheit 
der Reichen und Kapitalisten Zeitungen zu kaufen, Hunderte 
von Zeitungen aufzukaufen und dadurch die sogenannte 
öffentliche Meinung zu fälschen. — die man Presse- 
freiheit“ nennt. a 

Diese Wahrheit erkennen die deutschen Unabhängigen 
wie ihre ausländischen Kollegen nicht; sie handeln nicht 
nach ihr. sie agitieren nicht täglich für die revolutionäre - 
Vernichtung jener Uhnterjochung der Presse durch das 
Kapital, die die bürgerliche Demokratie fälschlicherweise 
Preßfreiheit nennt. Da sie eine solche Agitation unterlassen, 
erkennen die Unabhängigen nur durch Lippenbekenntnis die ` 
Sowjetmacht an; in Wirklichkeit sind sie von dem Vorurteil 
der bürgerlichen Demokratie vollständig beherrscht. 

Die Expropriation der Druckereien und Papıervorräte — 
diese Hauptsache verstehen sie nicht zu erklären; denn 
sie begreifen eie selbst nicht. Dasselbe bezieht sich auf 
die Versammlungsfreiheit — diese Freiheit ist eine Lüge. 
solange die Reichen die besten Gebäude besitzen oder 
öffentliche Gebäude kaufen — auf die Bewaffnung des 


Die Antwort Moskaus | 493 


Volkes, die Gewissensfreihet — die Freiheit des Kapitals, 
ganze Kirchenorganisationen zwecks Betäubung der Massen 
mit religiösem Opium zu kaufen und zu bestechen — 
und auf alle übrigen bürgerlich-demokratischen Freiheiten. 

7. Die Diktatur des Proletariats bedeutet das Vermögen, 
die Bereitschaft und die Entschlossenheit, die ganze Masse 
der Werktätigen und Ausgebeuteten durch revolutionäre 
Maßnahmen, durch Expropriation der Ausbeuter auf ıhre 
Seite, auf die Seite der revolutionären Avantgarde des 
Proletariats, zu ziehen. — Diese sind in der täglichen 
Agitation der deutschen Unabhängigen (z. B. in der 
Freiheit) nicht zu finden. Auch bei den Longuetisten 
snd sie nicht zu finden. — Im besonderen ist diese 
Agitation unter den ländlichen Proletariern notwendig. 
unter den Kleinbauern (Bauern, die keine Lohnarbeit aus- 
beuten. Bauern. die wenig oder gar kein Getreide verkaufen). 
Diesen Schichten der Bevölkerung mul täglich. einfach, 
populär, auf die konkreteste Weise klar gemacht werden. 
daß das Proletariat nach der Eroberung der Staatsmacht 
unverzüglich auf Kosten der expropriierten Groß- 
grundbesitzer ihre Lage verbessern, sie vom Joch der 
Großgrundbesitzer befreien, ihnen als einer Klasse große 
Güter geben, eie von den Schulden befreien wird, usw. 
Dasselbe mul der städtischen nichtproletarischen oder nicht 
ganz proletarischen werktätigen Masse erklärt werden. — 
Eine solche Agitation wird von den Unabhängigen nicht 
geführt. 


8. Die Diktatur des Proletariats bedeutet und setzt die 
klare Erkenntnis der Wahrheit voraus, dał das Proletariat 
kraft seiner objektiven ökonomischen Lage in jeder kapita- 
listischen Gesellschaft die Interessen der ganzen Masse der 
Werktätigen und Ausgebeuteten, aller Halbproletarier, (d. h. 
der von teilweisem Verkauf ihrer Arbeitskraft Lebenden). 
aller Kleinbauern und dergleichen richtig vertritt. 


494 Die Antwort Moskaus 


Diese Schichten der Bevölkerung folgen den bürgerlichen 
und kleinbürgerlichen Parteien (darunter auch den sozialistischen 
Parteien der II. Internationale) nicht kraft ihrer freien Willens- 
äußerungen, wie die kleinbürgerliche Demokratie annimmt, 
sondern kraft des direkten Betruges durch die Bourgeoisie, 
kraft ihrer Unterjochung durch das Kapital, kraft des Selbst- 
betrugs der kleinbürgerlichen Führer. 

Diese Schichten der Bevölkerung (die Halbproletarier 
und Kleinbauern) wırd und kann das Proletarıat nur nach 
seinem Siege, nur nach der Eroberung der Staatsmacht auf 
seine Seite ziehen, d. h. nachdem es dıe Bourgeoisie gestürzt. 
dadurch alle diese Werktätigen vom Joch des Kapitals 
befreit und ihnen ın der Praxis gezeigt hat, welchen Nutzen 
(Befreiung von den Ausbeutern) die proletarische Staats- 
macht gewährt. 

Diesen Gedanken, der die Grundlage und die wesentliche 
Idee der Diktatur des Proletariats ausmacht, verstehen die 
deutschen Unabhängigen und die Longuetisten nicht, tragen 
ihn nıcht ın die Massen. propagieren ıhn nıcht täglıch. 

9. Die Unabhängigen (der rechte Flügel) und die 
Longuetisten betreiben keine Agitation im Heere (Eintritt 
ins Heer zum Zwecke der Vorbereitung seines Uberganges 
auf die Seite der Arbeiter gegen die Bourgeoisie). Sie 
schaffen keine Organisationen zu diesem Zwecke. 

Sie antworten nicht auf die Gewalttaten der Bourgeoisie 
auf deren endlose Ubertretungen der „Gesetzlichkeit” (wie 
während des imperialistischen Krieges so auch nach dessen 
Beendigung) durch systematische Propaganda illegaler 
Organisationen und Schaffung derselben. 

Ohne Verbindung von legaler Arbeit mit illegaler, von 
legalen Organisationen und illegalen, kann von einer wirklich 
revolutionären Partei des Proletariats weder in Deutschland 
noch in Schweden, noch in England, noch in Frankreich 
noch in Amerika die Rede sein. 


Die Antwort Moskaus 41595 

10. Die Grundfrage der sozialistischen Revolution. die 
Expropriation der Ausbeuter. stellen die rechten Führer 
unter die Benennung Sozialisierung? und stellen sie 
reformistisch und nicht revolutionär. Das Wort » Sozialisierung » 
vertuscht die Notwendigkeit der Konfiskation, die durch 
das unerträgliche Joch der imperialistischen Schulden und 
der Verarmung der Arbeiter hervorgehoben wird, vertuscht 
den Widerstand der Ausbeuter und die Notwendigkeit 
revolutionärer Maßnahmen des Proletariats zu seiner Unter- 
drũckung. Diese Fragestellung erzeugt notwendigerweise 
reformistische Illusionen. die der Diktatur des Proletariats 
durchaus nicht entsprechen. 

11. Die Kommunistische Internationale hält es nicht nur 
für ungerecht. sondern auch prinzipiell für unzulässig. dal 
die U.S. P. Deutschlands, die tatsächlich die Grundideen der 
deutschen Spartakisten übernimmt. wobei sie sich diese Ideen 
zu langsam, zu inkonsequent und unvollständig aneignet. in 
den. Beschlüssen ihres Kongresses kein Wort über die 
Vereinigung mit der kommunistischen Partei Deutschlands 
(mit dem Spartakusbund) sagt. Die Einheit des revolutionären 
Proletariats erfordert solche Verbindung. Man kann jedoch 
die Diktatur des Proletariats und die Sewjetmacht in Wirk- 
lichkeit nicht anerkennen, ohne tatsächliche, ernste, gewissen- 
bafte Schritte dazu zu unternehmen, daß die Avantgarde 
des Proletarıats des gegebenen Landes, die durch langen 
und schweren Kampf (wie gegen die Opportunisten. so 
auch gegen die  Syndikalisten und die angeblich linken 
Halbanarchisten) ihre Fähigkeit, die Arbeiterklasse zu einer 
solchen Diktatur zu führen, bewiesen hat, von allen bewußten 
Arbeitern unterstützt, ihre Autorität gefestigt, ihre errungene 
Tradition sorgfältig behütet und entwickelt werde. Der 
Spartakusbund in Deutschland, der von solchen Führern. 
wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, 
gegründet worden ist, ist gerade ein solcher, der die inter- 


496 9 Die Antwort Moskau 
nationale Bedeutung einer Avantgarde erhalten hat, und der 
Versuch ihn zu umgehen. wie dies die Unabhängigen in 
Deutschland tun, ist unmöglich. 

Das hängt zusammen mit der Tatsache, daß die Führer 
der U.S.P. Deutschlands wissentlich nicht die Meinung 
der Arbeitermassen dieser Partei ausdrücken, da sie viel 
mehr rechts stehen als diese. Mit diesem Übel, das dem 
Proletariat in der Epoche von 1889—1919 unerhörte 
Leiden verursacht hat, kann man sich nicht aussöhnen: 
denn dieses Übel wird durch das Auseinandergehen von 
Wort und Tat verhüllt. 

Auf solche Weise ist die ganze Propaganda. die 
ganze Agitation. die ganze Organisation der rechten Un- 
"abhängigen und der Longuetisten im großen und ganzen 
eıne mehr kleinbürgerlich-demokratische als eine revolutionär- 
proletarische. sie ist pazifistisch und nicht sozıalrevolutionär. 

Infolgedessen erfolgt die » Anerkennung« der Diktatur 
des Proletariats und der Sowjetmacht nur in Worten. 


III. Die U.S. P. und die Internationale. 


Dieselbe kleinbürgerliche feige Politik betreiben die 
rechten Führer der U.S.P auch ın Bezug auf dıe Frage 
der internationalen Vereinigung des Proletariats. 

1. Die rechten Unabhängigen und die Longuetisten ver- 
stehen und entwickeln ın den Massen nıcht das Bewußtsein 
der Fäulnis und Verderblichkeit jenes Reformismus, der 
tatsächlich in der Zweiten Internationale vorherrschte 
und sie zugrunde gerichtet hat, sondern sie verdunkeln 
dieses Bewußtsein. verhüllen die Krankheit, anstat sie auf- 
zudecken. Die Frage des Zusammenbruches der Zweiten 
Internationale, eine Frage von größter welthistorischer Be- 
deutung, die Ursachen. dieses Zusammenbruches, die Haupt- | 
fehler und die Verbrechen der Zweiten Internationale, ihre 
Rolle in der Eigenschaft eines Hilfskontors bei dem 
»Völkerbundee — alle diese Fragen wurden von der U.S. P. 


Die Antwort Moskaus 497 


gar nicht aufgeworfen. Dadurch verhüllt sie diese Ver- 
brechen und verdunkelt das Klassenbewußtsein der prole- 
tarıschen Massen. 

2. Die rechten Unabhängigen und die Longuetisten ver- 
stehen nicht und klären die Massen nicht darüber auf, 
daß die imperialistischen Mehrgewinne der vorgeschriftenen 
Länder diesen- erlaubten (und gegenwärtig R erlauben). die 
Oberschichten des Proletariats zu bestechen. ihnen Brocken 
der Mehrgewinne (den sie aus den Kolonien und der 
finanziellen Ausbeutung der schwachen Länder ziehen) zu- 
werfen. eine privilegierte Schicht geschulter Arbeiter zu 
schaffen usw. 

Ohne Enthüllung dieses Übels, ohne Kampf nicht nur 
gegen die Aristokratie der Trade- Unions. sondern auch gegen 
alle Äußerungen des Kleinbürgertums der Zünfte der Arbeiter- 
arıstokratie, der Privilegien der Oberschicht der Arbeiter. ohne 
schonungslose Vertreibung der Vertreter dieses Geistes aus 
der revolutionären Partei, ohne Appellation an die Unter- 
schichten, an die immer breiteren Massen, an die wirkliche 
Mehrheit der Ausgebeuteten. kann von einer Diktatur des 
Proletariats keine Rede sein. 

3. Die Unlust oder das Unvermögen. mit den vom 
Imperialismus angesteckten Oberschichten der Arbeiter zu 
brechen, offenbart sich bei den rechten Unabhängigen und 
den Longuetisten ebenfalls darin, daß sie nicht für die 
direkte und bedingungslose Unterstützung aller Aufstände und 
revolutionären Bewegungen der Kolonsalvölker agitieren. — 

Unter diesen Bedingungen wird die Verurteilung der 
Kolonialpolitik und des Imperialismus zur Heuchelei oder 
zum einfachen Seufzer eines stumpfsinnigen Kleinbürgers. 

4. Während sie aus der Zweiten Internationale austreten 
und sie in Worten verurteilen (z. B. Crispien in seiner Schrift) 
strecken die Unabhängigen einem Friedrich Adler, dem Mitglied 
der österreichischen Partei der Herren Noske und Scheidemann 


498 WDie Antwort Moskaus 
die Hand hin. — Die Unabhängigen dulden in ihrer Mitte 
Literaten. dıe alle Grundbegriffe der Diktatur des Proletarıats 
verneinen (Kautsky u. Cie.). 

Die Unabhängigen haben an der Berner und der Damin 
gelben Konferenz teilgenommen. Die Unabhängigen haben 
auch nach dem Leipziger Kongreß ihr Zentralorgan Freiheit · 
in den Händen des Erz-Rechten Hilferding. eines Anhängers 
der gelben Zweiten Internationale gelassen. Dieses Auseinander- 
gehen von Wort und Tat charakterisiert die ganze Politik 
der Führer der Partei der Unabhängigen in Deutschland. der 
Longuetisten in Frankreich. Eben die Führer teilen die Vor- 
urteile der kleinbürgerlichen Demokratie und der reformistisch 
demoralisierten Oberschichten des Proletariats. entgegen den 
revolutionären Sympathien der Arbeitermassen, die zum 
Sowjetsystem neigen. 

5. Während dıe Führer der U.S.P. unter dem Druck der 
Arbeitermassen mit der Kommunistischen Internationale ın 
Verhandlungen treten, wenden sie sich gleichzeitig an die 
Parteien der Zweiten Internationale (darunter an die weiße 
Mannerheimsche Sozialdemokratie Finnlands); diese Parteien 
nennen sie sozialrevolutionär, und sie schlagen det. Kom- 
munistischen Internationale vor, sich mit diesen Parteien zu 
vereinigen. 

Dieser hilf lose Versuch. noch eine vierte, eine Bastard- 
internationale zu gründen. ohne klares Programm. ohne feste 
Taktik. ohne Aussicht auf eine Zukunft. ohne Perspektiven 
ist dem Untergange geweiht. Er beweist aber, daß die 
rechten Führer der Unabhängigen den Beschluß des Leip- 
ziger Kongresses ihrer eigenen Partei sabotieren und 
an eine aufrichtige Vereinigung mit der Avantgarde des 
ringenden internationalen Proletariats nicht denken. 

Im Zusammenhang mit allem Vorhergehenden erklärt 
das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale: 

a) Die Kommunistische Internationale stellt gegenwärtig 


Die Antwort Moskaus 499 


— — —ßß. 


die größte Kraft vor. die schon die wichtigsten wirklich 
revolutionären Elemente der internationalen proletarischen 
Bewegung vereint hat. 

An dem ersten konstituerenden Kongreß der Kommu- 
nistischen Internationale in Moskau (März 1919) nahmen 
folgende Parteien und Organisationen teil: 

. Kommunistische Partei Deutschlands. 

Kommunistische Partei Ruflands. 

Kommunistische Partei Deutsch-Oesterreichs. 
Kommunistische Partei Ungarns. 

Linke der schwedischen Sozialdemokratischen Partei. 
Sc zialdemokratische Partei Norwegens. 
Sozialdemokratische Partei (Opposition) der Schweız. 
Amerikanische I. L. P. 

. Revolutionäre Balkanföderation (Bulgarische -Tesen- 
jaki.) und Kommunistische Partei Rumäniens. 

10. Kommunistische Partei Polens. 

11. Kommunistische Partei Finnlands. 

12. Kommunistische Partei der Ukraine. 

13. Kommunistische Partei Leflands. 

14. Kommunistische Partei Litauens und Weißrußlands. 
15. Kommunistische Partei Armeniens. 

16. Kommunistische Partei Estlands. 

17. Kommunistische: Partei der deutschen Kolonien in 

Rußland. 

18. Kommunistische Parteı Englands. 

19. Vereinigte Gruppe der Ostvölker Ruflands. 

20. Zimmerwalder französische Linke. 

21. Tschechische Kommunistische . Gruppe. 

22. Bulgarische Kommunistische Gruppe. 

23. Südslavische Kommunistische Gruppe. 

24. Englische Kommunistische Gruppe. 

25. Französische Kommunistische Gruppe. 

26. Amerikanische Liga der sozialistischen Propaganda. 


O Ne 


500  .__ Die Antwort Moskaus 
C Gruppe 
28. Sozialdemokratische Partei Hollands. 
29. Turkestaner Sektion des Zentralbüros der Ostvölker. 
30. Türkische Sektion des Zentralbüros der Ostvölker. 


31. Georgische goa 8 = 8 
32. Aserbeidja nische. si ii 8 
33. Persische a 


34. Sozialistische Abaoe ld 
35. Zimmerwalder Kommission. 


36. Arbeiterverband Koreas. 


In den zehn Monaten, die seit dem konstituierenden 
Kongreß vergangen sind, sind folgende Berichte über die 
Solidarisierung mit der Kommunistischen Internationale ein- 
gelaufen. (W ir bemerken, daß unten angeführte Angaben sehr 
unvollständig sind: in Wirklichkeit sind der Driſten Inter- 
nationale viel mehr Parteien und Organisationen beigetreten.) 

Am 19. März 1919 wurde der Beschluß des Komitees 
der Italienischen Sozialistischen Partei über den Beitritt zur 
Kommunistischen Internationale gefaßt, 

Am 8. Aprıl 1919 wurde der Beschluß des Kongresses 
der Norwegischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei über 
den Beitriſt zur Kommunistischen Internationale gefaßt. 

Am 10. Mai 1919 erhielten wir die Mitteilung von dem 
Beitritt des Schwedischen Sozialdemokratischen Jugendver- 
bandes zur Dritten Internationale. 

Am 14 Junı 1919 wurde der Beschluß des 
linken Flügels der Schwedischen Sozialdemokratischen 
Partei über den Beitritt zur Dri@en Internationale gefaßt. 

Am 22. Juni 1919 erhielten wir die Mitteilung 
des Beschlusses des Kongresses der Bulgarischen Sozial- 
demokratischen Partei der Tessnjaki über ihren Beitritt. 

Am 20.Junı 1919 erhielten wir die Miſteilung des 
Beschlusses des Zentralkomitees der Polnischen Kommunistischen 
Partei über den vollzogenen Beitritt zur Driſten Internatianale. 


Die Antwort Moskaus 301 


Im Juli 1919 beschloß der Kongreß der Schweize- 
rischen Sozialdemokratischen Partei, der Dritten Internationale 
beizutreten. Bei dem Referendum sprach sich dafür nur 
die Minderheit, aber eine sehr bedeutende, aus. 

Im August 1919 faßte der Kongreß der Sozialisten 
der Vereinigten Staaten „den Beschluß, der Kommunistigchen 
Internationale beizutreten. In Amerika bestehen gegenwärtig 
zwei Kommunistische Parteien. — Beide gehören der Driften 
Internationale an. 

Ebenfalls im August 1919 haben wir die 
Mitteilung von dem Beitritt der Kommunistischen Partei 
Ostgaliziens zur Dritten Internationale erhalten. 

Im September 1919 liefen Nachrichten über die 
Vereinigung der Sozialistischen Partei Elsaß-Lothringens 
mit der Kommunistischen Internationale ein. Dieselben 
Nachrichten erhielten wır ın diesem Monat von der 
Ukrainischen Föderation der sozialistischen Parteien ın Amerika 
und über eine Reihe finnischer Arbeiterorganisationen. 

Im Oktober 1919 bestätigte der Kongreß der 
Italienischen Sozialistischen Partei in Bologna mit ungeheurer 
Mehrheit den Beitri& zur Kommunistischen Internationale. 

Am 23. Oktober 1919 lief der Bericht ein 
über den Beschluß der Britischen Sozialistischen Partei. 
der Dritten Internationale beizutreten. | 

Am 20. November 1919 lief die Nachricht ein über 
den Beitriſt der Böhmischen. der Lothringer und der Mexi- 
kanischen Sozialistischen Parteien zur Dritten Internationale. 
In demselben Monat erhielten wir die Miſteilung. daß in einer der 
europäischen Städte eın Internationaler Kongreß der Arbeiter- 
jugend staſtfand. an dem die Delegierten von 220000 Mit- 
gliedern der Parteı teilgenommen haben, und der einstimmig 
beschloß, der Kommunistischen Internationale beizutreten . 


Im Dezember 1919 wurden auf dem Kongreß der 
Spanischen Sozialisten für die Drifte Internationale 12500 


502 Die Antwort Moskaus 


Stimmen. gegen dieselbe 14 000 Stimmen abgegeben. 
Auf dem Skandinavischen Arbeiterkongreß (D ezem- 
ber 1919) waren 268 Delegierte von 300000 Arbeitern 
anwesend. Die Kommunistischen Resolutionen wurden ein- 
stimmig angenommen. 

Im Januar 1920 erhielten wır den Bericht über 
den Beitritt der Arbeiterpartei Schottlands zur Kommu- 
nistischen Internationale. 

Diese Aufzählung genügt. um zu sehen daß in den 
Reihen der Kommunistischen Internationale schon jetzt die 
ganze Avantgarde des kämpfenden internationalen Proletariats 
vereinigt ist. Die Arbeiterparteien, die aufrichtig für die 
Diktatur des Proletariats und die Rätemacht kämpfen wollen. 
können und müssen eich mit dem Kern vereinigen, den die 
Dritte Kommunistische Internationale darstellt. 

b) Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Inter- 
nationale ist der Meinung, daß es im Interesse des Erfolges 
des internationalen proletarischen Kampfes nicht zulässig sei, 
unter irgend einem Vorwande, und wo es auch sei, noch 
eine neue Zwischen-Vereinigung der Arbeiter zu schaffen, die 
in Wirklichkeit keinesfalls revolutionär sein kann. Die Zer- 
splitterung der Kräfte des Proletariats würde nur im Interesse des 
Kapitals und seiner Diener, der gewesenen Sozialisten, liegen. 

e) Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale 
hält es für äußerst wünschenswert, mit den Parteien. die sich 
zum endgültigen Bruch mit der Zweiten Internationale bereit 
erklären. in Verhandlungen zu treten. Zu diesem Zwecke 
fordert das Exekutivkomitee die Vertreter dieser Parteien auf. 
nach Rußland zu kommen, wo das Vollzugsorgan der 
Kommunistischen Internationale seinen Aufenthalt hat. Wie 
groß. auch die technischen Schwierigkeiten beim Passieren 
der Grenzen sind, so ist doch die Reise der Delegierten der 
angeführten Parteien, wie die Erfahrung gezeigt hat, möglich. 

Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale ist 


Die Antwort Moskaus 303 
sich dessen bewußt. daß infolge der Kompliziertheit der Beziehungen 
und der spezifischen Eigentümlichkeiten in der Entwicklung der 
Revolution mit diesen Eigentümlichkeiten streng gerechnet werden 
muß. Wır sınd durchaus bereit, die Dritte Internationale zu er- 
weitern. die Erfahrung der proletarischen Bewegung in allen 
Ländern ın Betracht zu ziehen, das Programm der Dritten Inter- 
nationale auf Grund der Theorie des Marxismus und der Erfahrung 
des revolutionären Kampfes ın der ganzen Welt zu korrigieren und 
zu ergänzen. Wir lehnen aber entschieden jede Mitarbeiterschaft mit 
den rechten Führern der Unabhängigen und der Longuetisten ab. die 
dıe Bewegung zurück ın den Sumpf der gelben Zweiten 
Internationale ziehen. 

Indem das Exekutivkomitee den Beschluß des Leipziger Kon- 
gresses ın dem Teile. der von dem Bruch mit der Zweiten Inter- 
nationale spricht, begrüßt und die Delegation der U. S. P. zu Verhand- 
lungen auffordert. drückt es die feste Ueberzeu gung aus. daſ durch die 
revolutionäre Erkenntnisfähigkeit der proletarischen Massen die 
Reihen der Führer der U.S. P. gesäubert werden. die Partei zur 
Vereinigung mit der Kommunistischen Partei Deutschlands 
gebracht wird und schließlich sich ihre besten Elemente unter 
dem gemeinsamen Banner der Kommunistischen Internationale 
organisieren werden. 

Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale 
schlagt den aufgeklärten Arbeitern Deutschlands vor, diese 
Antwort in öffentlichen proletarischen Versammlungen zu 
erörtern und genaue und klare An: worten auf die berührten 
Fragen von den Führern der U.S. P. zu verlangen. 

Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale sen- 
det dem heldenhaften Proletariat Deutschlands brüderliche Grüße! 

Moskau, den 5. Februar 1920. 


Das Exe kutiv- Komitee 


der Kommunistischen Internationale. 


Vorsitzender: 
G. Sinowjew. 


504 


Heinrich Vogeler 


ÜBER DIE KOMMUNISTISCHE SCHULE 
VON HEINRICH VOGELER -WORPSWEDE 


I. | 

Die Wichtigkeit der Produktivität, die höchste Wertung 
der Arbeit erfüllt die sogenannten Geistigen immer noch mit 
einem panischen Schrecken. — Schulprobleme über Schul- 
probleme entstehen, um mit allen Mitteln den Einfluß der 
Wirtschaft auf das Geistige zu verhindern, — Das ıst eine 
sehr natürliche Notwehr, hat sıch. doch unser ganzes geistigen 
Leben, unsere sogenannte Kultur völlig abhängig gemacht von 
der Diktatur des Geldes. Wenn wir an die Wissenschaft 
denken, an dıe Technik, so gab es gar keine freie Wissen- 
schaft mehr, alles war käuflich. Die Stellung der Mediziner 
im Kriege ist ein so dunkles Kapitel. wie wir es für alle 
die als Mannschaften im Felde waren, wohl nicht zu be- 
leuchten brauchen. Die Abhängigkeit der Irrenärzte von der 
kapitalistischen Diktatur, von der Diktatur der Heeresver- 
waltung hat so groteske Musterbeispiele gezeitigt. daß unter 
den Vertretern dieser Berufe heute die schlimmsten Gegen- 
revolutionäre sitzen. die eine ungeheure Angst vor der Ab- 
rechnung des Schicksals haben; ebenso die Vertreter der 
christlichen Kirchen, die in den Knien vor dem goldenen 
Kalbe das Christentum verrieten. — Das Bedürfnis nach der 
5 Arbeitsschule ist gerade daraus entstanden. unser geisti ges Leben 
frei zu machen von dem Einfluß des knechtenden Mammons, 
unser Wirtschaftsleben aber so mit dem Geist des Sozualıs- 
mus, mit dem Geist der Menschlichkeit, der gegenseitigen 
Hilfe zu durchdringen, daß das Wirtschaftsleben das stärkste 
Ausdrucksmittel unseres geistigen Zustandes ist. — Das müs- 
sen wir auch ımmer wieder den dreigliedrigen Sozialisten 
zurufen: keine Trennung von Geistesleben, Wirtschaftsleben. 
Politik und Rechtsleben — sondern Einheit der Gestaltung unseres 
Lebens, jede Tat Ausdruck unserer bejahenden Menschlichkeit! 


Über die kommunistische Schule 505 


In der Arheitsschule müssen wir die Umwelt des Kindes 
so gestalten. daß in ihm immer wieder das Schöpferische 
geweckt wird, denn dem schöpferischen Menschen geht es 
nie um Besitz, ihm ist die Tat. das Werk Lebenszweck, 
Erfüllung. 

Wir beginnen unsere Schule mit dem Nichts an 
materiellen Gütern aber mit den seelischen Erkenntnissen und 
Erfahrungen der schwersten Leidenszeit. Die nächsten Sorgen 
sind die wirtschaftlichen und so verankern wir die Schule 
in den Bedürfnissen unserer Arbeitsgemeinschaft. im Betriebe 
der Schule, der Gemeinde, des Dorfes, der Stadt selber. 
Die innige Verbindung allen Wissens mit dem. lebendigen 
Leben ist die Grundlage der Arbeitsschule. 

Die unabhängige Schulgemeinde ist nun ein wiırschaft- 
lich arbeitendes Teilstück der Dorf- oder der Stadtkommune. 
Ein Beispiel: Die Schule umfaßt neben einer intensiven Ge- 
müsewirtschaft (die möglichst das beste an moderner Tecknik 
dem Lernenden bietet) alle jenen Handwerksstätten. die für 
den Dorf betrieb notwendig sind. Die Gemüsewirtschaft würde 
die Ergänzung für den Körner- und Kartoffelbau der um- 
gebenen Gemeinde werden, den Bauer von der Kleinwirt- 
schaft entlasten und automatisch zu immer zusammengefaßterer 
Wirtschaft treiben, Der technische Autbau ist nun wieder 
Lehrmittel: die Land- und Höhenvermessungen, die z. B, 
für eine sachgemäße Berieselung oder künstliche Beregnung 
notwendige Unterlagen gäben, wären die praktischen Mathe- 
matıkaufgaben der Lernenden. Keine Maschine würde ein- 
gestellt. sie sei denn gleichzeitig in allen ihren Funktionen 
und Beziehungen zum produktiven Leben von Schülern und 
Lehrenden erkannt. Die Schule sucht also ın allen prak- 
tischen und in allen geistigen Dingen einen innigen Zu- 
sammenhang mit dem Leben zu gewinnen: sie ist in steter 
Wandlung. steter Vertiefung begriffen. — In Dorf- und 
Stadtgemeinden. in denen die Gründung einer freien wirt- 
schaftlich selbständigen Schulgemeinde schwierig ist. wandert 


506 = Heinrich Vogeler 


..-- — ane — ¶ — — 


die Schule auf die Straße, in den Betrieb. Vielleicht steht 
vor dem Hause schon ein Gemüsekarren: die Lerntätigkeit 
beginnt: sie führt von hieraus einen Teil der Lernenden 
in die Küche, andere hinaus in den Gemüsegarten. wieder 
andere bringt sie an die ländlichen oder städtischen Ver- 
teilungsstellen. — Die Küche bringt die Lernenden zur Buch- 
führung. zum Schreiben. zum Rechnen: die Verteilungs- 
stellen bringen die Lernenden vielleicht an die Stellen. wo 
sie Not und Elend kennen lernen. Ueberall muß der Lernende 
tätig. helfend eingreifen, so findet er bald einen Platz, wo 
er seiner individuellen Anlage nach die eigene Ausbildung 
verfolgt. — Ein anderer Lernender ergreift vielleicht draußen 
den Spaten oder er erkennt die Notwendigkeit der An- 
wendung moderner Chemie. moderner Maschinentechnik. Wasser- 
versorgung. künstlicher und natürlicher Wärmeleitung für 
das Wachstum der Feldfrucht. 

Das Gemeinschaftsleben der Arbeitsschule mul in seiner 
ganzen Organisation ein Beispiel sein für Alt und Jung. 
hier wird die Räteordnung in ihrer reinsten Form bewahrt: 
der Rat, der gewählte Richtende. Ratende. Ausrichtende 
des Willens, der Sehnsucht der arbeitenden Menschen nach 
gestaltender Kraft. nach einem freien individuellen Arbeits- 
leben. Immer wieder: Die wirtschaftlichen Notstände unseres 
leidenden Volkes werden uns rücksichtslos die notwendigen 
Lehrbeispiele sein; sie werden die Lernenden bis ins Innerste 
der Dorf- und Stadtbetriebe treiben, aber auch an die 
Quellen aller Seelennöte. — Ueberall gilt es ın die Tiefe 
zu gehen. das Leid der Menschheit zu erfassen und den 
Weg zur freudigen Tat zu finden: das ist die Aufgabe 
der neuen Lebensschule der klassenlosen Menschen. 

Das Kinowesen, das heute den ganzen Verfall der bürger- 
lichen Kultur zeigt, die Aeußerlichkeiten des bürgerlichen Lust- 
lebens, das Leben der Parasiten, der Hotel- und Kaffee- 
hausgrößen, das Leben der Dirnen und der Verbrecher; die 
sentimentalen Schauspielerfilme werden dem Film der Arbeit 


Über die kommunistische Schule i 507 


Platz machen. Das Kino führt uns dann in das Arbeits- 
leben eines norddeutschen Islandfischers, zeigt uns den Kampf 
mit der malerischen Meeresnatur, zeigt uns die Technik der 
Erhaltung und Zubereitung der Ware, weiter vielleicht 
den Bau der Schiffe; oder der Fılm bringt uns auf eine 
elektrische Farm der A. E. G. zeigt uns die Bearbeitung 
des Landes mit den kleinsten genialsten Maschinen für eine 
intensive Bodenbewirtschaftung bis zu den umfassendsten 
elektrischen Kraftanlagen. es zeigt uns die Schüler. einer 
derartigen Farm bei ihrer Arbeit und die Einreihung eines 
derartigen Schulbetriebes in die Versorgung der Kommunen. 
Diese Schulfilme reisen weiter in die Kommunen anderer 
Völker. in die Ukraine, an die Wolga, um den Boden 
zu bereiten für den Austausch der Produkte und der Maschinen: 
für die Zuführung von technischen Schülern aus diesen Län- 
dern. die unsere Technik für die dortige Landwirtschaft 
dienstbar machen. — Ueberall gilt es durch wechselseitige 
Hilfe und Aufklärung die Arbeitswelt zu gesteigerter Pro- 
duktivität und zum friedlichen kommunistischen Austausch 
zu bringen. Das Kino kann somit ein Lehrmittel für die 
Erweckung der produktiven Kräfte der Völker werden. 
Ganz automatisch würde es zu immer gesteigerterer Organi- 
sation der Produktion und Konsumtion führen: es würde 
Rußland. das Land der Rohstoffe mit unserer Industrie 
verbinden und somit über den gemeinwirtschaftlichen Aus- 
tausch von Kräften und Produkten den Zusammenbruch un- 
sererer Industrie vermeiden helfen. 


In der Schule machen die politischen Landkarten den 
geologischen, den klimatischen Platz, wır sehen Bevölkerungs- 
karten und ın diesem Zusammenhang Karten für die 
Verteilung der Güter: dann für den Konsum und für die 
Verkehrsmittel, die verschiedene Art a Waren- Verteilung. 
Bearbeitung und Verwertung. 


„Alle diese Liehrmiftel der Arbeitsschule neu zu gestalten 


508 Heinrich Vogeler / Über die kommunistische Schule | 


wird die Aufgabe der Lehrenden sein. Nur. wenn wir 
uns immer wieder den Schulbetrieb als eine selber produktive 
Werkstätte denken. ist dieser Weg gangbar; erst dann können 
wir, wie in Rufland an Stelle eines Lehrers acht setzen. 
Das Kräftebedürfnis der kommunistischen Ordnung wird 
nun durch das organische Zusammenwachsen mif den Lern- 
und Lehrkräften und dem nun entstehenden Unterricht. der 
aus diesem Bedürfnis gerichtet wird. ergänzt. — Eine große 
Freizügigkeit der Kräfte würde die Folge sein; bis jeder 
den besten Boden für die Entwickelung seiner stärksten 
individuellen Kraft gefunden hat. Die Unentgeltlichkeit der 
Schulen und Hochschulen bedingen die natürliche Nutzung 
jeder Veranlagung für die Gemeinschaft der Arbeitenden. 
Wanderlehrer. Organisatoren werden von den proletarischen 
Hochschulen über das Land wandern, unterstützt von der 
proletarischen Gesellschaft mit den besten Verkehrsmitteln 
und technisch-optischen Einrichtungen für Kino und anderen 
Lehrmitteln. Ä 
Die neue Kunst sehen wir auch ganz organisch aus 
den handwerklichen Werkstätten entstehen. Sie wird aus 
dem Bedürfnis der Masse und dem natürlichen Schaffens- 
drang der einzelnen Kräfte wachsen. Ist das so entstehende 
Künstlertum nicht völlig aus dem Bedürfnis des Volkes 
geboren. so ist auch die Existenz des Künstlers hinfällig. 
das Handwerk wird ihn wieder aufnehmen und sehr 
bald wird er, falls er eine echte schöpferische Künstler- 
natur ist. mit neugestalteten Werken aus ihrem Scholle 
hervorgehen. Für den Künstler. der eine Sonderstellung 
einnehmen will, für den bürgerlicher Individualisten. ist 
kein Platz: unter dem Deckmantel des Anarchismus wird 
er versuchen sein Scheinleben zu rechtfertigen: für para- 
eitäre Erscheinungen ist jedoch kein Raum und bald 
werden die äußeren Verhältnisse ihn selber zum Absterben 


bringen. 


Romain Rolland / Meinem besten Freunde — Shakespeare 509 


MEINEM BESTEN FREUNDE — SHAKESPEARE 
VON ROMAIN ROLLAND 


Wenig Freunde, wenig Bücher bestehen die Prüfung 
der Tage. die wir erleben. Die wir am meisten liebten. 
werden zu Verrätern. man erkennt sie nicht mehr. Sie 
waren die Genossen köstlicher Stunden. Der Wirbel raubt 
sie, wie Pflanzen, die ein Windstoß aus dem Boden fegt. 
Es bleibt nur der Geist in den tiefen Wurzeln. Vielen von 
niederer Art würde man im gewöhnlichen Leben keine 
Beachtung schenken. Und bedeutende Geister ın geringer 
Zahl ragen wie Türme aus einer Ebene empor und 
erscheinen über soviel Ruinen umso größer. Ihn finde 
ich wieder, der alle Träume meines Lebens seit den Tagen 
der Kindheit beherrscht. die alte Eiche Shakespeare. Nicht 
einer ihrer Äste ist geborsten, kein Zweig verwelkt und 
der Sturm, der heute die Welt durchbraust. macht diese 
große Leier des Lebens machtvoll erklingen. 

Seine Musik läßt die Forderungen der Gegenwart nicht 
vergessen. Horcht man ihr, so wird man überrascht durch 
die Stimme unserer Zeit, die aus diesem brausenden Meer 
immer wieder emporschlägt, durch Gedanken, die der ge- 
naue Ausdruck unserer Urteile über die Ereignisse sind. 
die uns bestürmen. Über Krieg und Frieden, — über die 
politische Handlungsweise des XVI. und des XX. J ahr- 
hunderts, — über den Geist der Bestrebungen und Ränke 
der Staaten, — über die Verdrängung der edelsten Instinkte, 
des Fleldenmutes und des Opfersinns, durch verstellte Selbst- 
sucht, — über die gofteslästerliche Verbindung hassender 
Leidenschaft mit Worten des Evangeliums, — über die 
Teilnahme von Kirchen und Göftern an den Schlächtereien 


nun... Romain Rolland 


der Völker. — über feierliche Verträge. die nur »Fetzen 
Papiere sind, — über das Wesen der Völker und Heere. 
die sich miteinander messen, — ıch habe es unternommen, 
eine Reihe von Gedanken Shakespeares zusammenzustellen. 
die, würden sie ohne Namen veröffentlicht, Gefahr liefen, 
die Empfindlichkeit der Zensur unserer freiheitlichen Epoche 
zu wecken, unserer Epoche, die noch kitzliger ist. als die 
der Königin Elisabeth. So wahr ist es daß. allen Um- 
stürzen der Welt zum Trotz alles doch immer gleich 
bleibt. und daß des Menschen Seele. wenn er neue Mittel 
zu herrschen und zu töten gefunden hat. nicht gewandelt ist. 

Allein der besondere Vorteil der Lektüre Shakespeares 
ist. daß man hier die seltenste und zur heutigen Stunde 
notwendigste Tugend findet: die Gabe universellen Mit- 
gefühls. durchdringender Menschlichkeit, die bewirkt. daß 
man die Seelen der anderen wie seine eigene sieht. Sicher- 
lich, der Glaube, die Größe, die Steigerung des Lebens und 
all seiner Eigenschaften, all das fehlt nicht unserer Epoche, 
und das ist es was sie der englischen oder italienischen 
Renaissance ähnlich macht. — mit dem Unterschied, daß 
jene Zeit den Vorzug von Persönlichkeiten ohne Mal im 
Guten und Bösen hat. die die Menge beherrschen und die 
heute fehlen. Heute ist die Größe verstreut, sie ist sozu- 
sagen mehr kollektiv als ındıvıduell: und in dem mensch- 
lichen Ozean erhebt sich kaum eine Woge über die anderen. 
— Der wesentliche Unterschied allerdings liegt anderswo: 
es ist, daß diesem epischen Schauspiele der Zuschauer fehlt. 
Kein Auge falt das Durcheinander des Sturms. Kein Herz 
begreift die Ängste, die Wut. die Leidenschaften, die den 
sich drängenden Wogen. den berstenden Seglern. den Schiff- 
brüchen gegenüberstehn, über denen der Schlund des ent- 
fesselten Meeres sich wieder schließt. Jeder bleibt in seinen 
Mauern und bei den Seinen. Deswegen empfindet man Erleieh- 
terung und Befreiung. wenn man einen Band Shakespeare öffnet. Es 


Meinem besten Freunde — Shakespeare 511 


ist, als würde mifen in dumpfer Nacht. in abgeschlossener 
Kammer der Wind das Fenster aufstoßen und den Hauch 
der Erde hereinströmen lassen. 

Die große brüderliche Seele! Sie trägt alle Freude und 
alles Leid der Welt. Nicht nur widmet sie sich mit 
Begeisterung der Jugend, der Liebe. der lodernden Süßig- 
keit lenzlicher Leidenschaft: Julia und Miranda. Perdita. 
Jmogene . .. Nicht nur ist sie nicht wie jene Freunde, 
die in Stunden des Jammers sich drücken mit dem Wort 
des alten Herrn Lafeu, daß »ein ungewöhnlicher Schmerz 
Feind der Lebenden« sei) sie bleibt auch treu und anhänglich 
an ihrer Seite, um die Last ihrer Irrtümer, ihres Unglücks 
und ihrer Verbrechen zu teilen. Nachdem er Desdemonas 
„Tod beweint hat. bleiben ihm Tränen für ihren noch viel 
mehr beklagenswerten Mörder. Den Elendesten fühlt sie 
sich am nächsten und versag sich auch nicht den Schlechtesten: 
sie sind Menschen wie wir: sie haben Augen. Sinne. Gefühle. 
Leidenschaften wie wir. sie bluten wie wir. sie lachen und 
weinen wie wir. me sterben wie wir.“) Und.“ sagt Bruder 
Laurentius, sunter allem. was auf Erden wächst, ist nichts 
so schlecht, daß es nicht einen Keim des Guten ent- 
hielte: es ist nichts so gut, daß es. dem gewohnten Brauch 
entzogen, nicht schlecht werden könnte.) 

Shakespeares Geist und Herz vereinen sich in dem 
gleichen Bedürfnis. die Seelen zu durchdringen. Sein Ge- 
rechtigkeitssinn wird durch die Sinne der Liebe ergänzt. 
Im „Kaufmann von Venedig - sprechen Shylok und Antonio 
miteinander über die Gründe des Hasses, den der Jude 
gegen den christlichen Kaufmann hegt. Mühelos versetzt er 
sich in das Herz jedes Menschen; er lebt noch einmal 

1) „Eads gut, alles gute I. 

2) 


. ann von Venedig III. 
3) „Romeo und Julia.. II. 


512 Romain Rolland 


sein Denken, seine Erscheinung und seine kleine Welt: 
niemals sieht er ihn von außen. Und wenn er immer wieder 
mit Vorliebe den Schatz seiner reichen Sympathie gewissen 
seiner Helden schenkt, den Kindern seiner schönsten oder 
stärksten Träume, so ist er wie ein guter Vater: in der 
Stunde der Prüfung werden ihm die am wenigsten liebens- 
werten gleich Feuer. Der ehrgeizige Wolsey, der Heuchler. 
der Kriecher, wächst, kaum in Ungnade gefallen, zu antiker, 
Größe empor; mit einem Mal sieht er das Unheil seiner 
Wünsche und in den Trümmern seines Glanzes »ist er 
noch niemals so glücklich gewesen. Seine Augen öffnen 
sich, das Unglück hat ihn geheilt: und dieser harte Egoist 
tröstet seinen weinenden Freund und läßt ıhm als Testament 
seines ränkereichen Lebens dies heiligste der Worte: »Liebe . 
die Herzen, die dich hassen) — Der Tyrann Leontes 
ım Zusammenbruch seines Glücks, das er durch seine ver- 
brecherische und grimmige Tollheit selbst vernichtet hat. 
wird im nu heilig, sogar für Pauline, die ihn mit den 
blutigsten Wahrheiten peinigt.”) — Der Tod, der vor den 
Leichnamen des Brutus und des Cassıus, des Antonius und 
Coriolan auch ihre unerbittlichsten Feinde sich neigen macht, 
verwandelt Cleopatra ın ıhren letzten Augenblicken und 
verleiht sogar dem bösen Edmond in König Leare einen 
Adel. Es ist wunderbar zu sehen, wie angesichts des Un- 
glücks und des Todes das große Herz des Dichters 
Stolz. Rache, Selbstsucht aufgibt. um in seinem un- 
geheuren Mitleid alle Leidenden zu umarmen — Feinde, 
Nebenbuhler. was tut es? — Brüder im Schmerz. Eines 
der ergreifendsten Beispiele dieser Menschlichkeit ist es, wie 
Romeo, der gekommen ist, an Juliens Leiche zu trauern, 
seinen Rivalen Paris. der ihn reizt. gegen den eigenen 
Willen tötet und dann in Julens Gruft an ihre Seite befet: 


3) » Heinrich VIII... III. 
N) „Wintermärchen. III. 


Meinem besten Freunde — Shakespeare 513 


»Reich mir deine Hand, du, dessen Name so wie 
meiner ins traurige Buch der Feindschaft geschrieben ist!. 
Und wie Hamlet mit grausamen Worten seine ver- 
brecherische Mutter peinigt, leiht Shakespeare, unfähig die 
Eerogaag ecne Helle dorch a Milad 26: bessnftigen: 
das Hamlet niemals fühlte. dieses Mitleid dem Geiste des 
ermordeten Könige, der mit Worten rührender Güte der 
nıedergeschmefterten Frau zu Hilfe kommt: 
»Entsetzen liegt auf deiner Mutter: tritt zwischen sie 
und ihrer Seel im Kampf. In Schwachen wirkt die 
Einbildung am stärksten«, spricht mit ihr Hamlet.) 
Dieses weite Mitleid ist eine Brücke über dem Graben. 
der Individuen und Klassen trennt. Es nähert einander die Hände 
der Reichen und Armen. der Herren und Knechte. Obzwar 
Shakespeare in der Politik sich wohl eher zu den Arıstokraten 
rechnet. die die Menge verachten, — (es gibt keine blutigere 
Satıre auf eine Volkserhebung als den Bauernaufstand in 
„Heinrich VL« und Coriolan ist ein Prototyp von Nietzsches 
»Übermenschen) — hat sein Herz für die Niedrigen 
zartestes Mitgefühl, und dieses Gefühl leiht er ihnen häufig. 
Nach so vielen gewandten Reden der großen Männer Roms 
auf dem Capitol, wer allein weint an dem Leichnam des 
ermordeten Caesar? Ein unbekannter Sklave, ein Diener des 
Octavius, der dem Antonius eine Botschaft überbracht hat 
und der beim Anblick des getöteten Helden miften in seiner 
Rede überwältigt. vom Schmerz ınnehält: »... O! Caesar! ... « 
und schluchzend abgeht.?) Wer wagt es, Gloester zu ver- 
teidigen, den Regane und Cornwales foltern? Ein Diener des 
Cornwales, der das Schwert gegen seinen Herrn zieht und 
andere Diener heben den blinden Greis auf und waschen 
sein blutiges Antlitz. — Hamlet ist vor dem feigen Haß 
des me durch ‚die Liebe des Volks geschützt, dessen 


514 Romaın Rolland 


Idol er ist). — jenes Volks, das klarer chend als der 
schwache Heinrich VI. dem rechtmäßigen Grafen Humphrey 
selbst im Unglück treu bleibt und das auf die Kunde 
von seiner Ermordung sich erhebt, die Tore des Schlosses 
zertrümmert und den Mörder Suffolk zur Flucht zwingt. 
Der alte Adam macht sich zum Genossen des Mißgeschicks 
seines jungen Herrn Orlando. und der Herr wieder trägt 
ihn auf seinen Schultern, sucht ihm Nahrung, weigert sich 
vor ihm zu essen.) — Der Proconsul Antonius ruft 
am Abend vor der Entscheidungsschlacht seine Diener und 
spricht zu ihnen wie ein Bruder, er wünsche, ihnen ebenso- 
gut dienen zu können, wie sie ihm gedient haben: und die 
Milde seiner Worte entringt ihnen Tränen.) — Soll man 
noch Timons gedenken, des Unglücklichen. den seine Freunde 
verrieten. seine Diener aber nicht. die. vom Schicksal zer- 
streut. in Timon vereint bleiben?.) — Im König Lear 
aber hat dieses göttliche Mitgefühl seine tiefsten Klänge. 
Der alte Tyrann. rasend von Hochmut und Selbstsucht. 
beginnt unter den ersten Schlägen des Schicksals, das Leid 
der anderen zu fühlen. In dem Gewitter, das die Einöde 
‘durchrast, fühlt er Mitleid mit dem schlo@ernden Narren: 
‘und allmählich entdeckt er das große Unglück: 

Nr armen Nackten, wo ihr immer seid, die ihr des tück- 
schen Wetters Schläge duldet, wie soll eu'r schirmlos Haupt, 
hungernder Leib, der Lumpen off ne Blöf euch Schutz verleihen 
vor Stürmen so wie der? O, daran dacht ich zu wenig sonst! — 
Nimm Arzenei, o Pomp! Gib, freis dich, fühl einmal, was 
Armut fühlt, daß du hinschüttst für sie dein Überflüssiges, 
und rettest die Gerechtigkeit des Himmels! 5) I 

Diese innige Menschlichkeit, die wie eine Welle 
Shakespeares Werk durchrollt, ist es vielleicht, was es von 


1) Hamlet. IV. 

2) „Wie es euch gefillte, IL 

) „Antonius und Cleopatrae, IV. 
) Timon v. Athene, IV 

8) König Leare, III. 


Meinem besten Freunde — Shakespeare 515 


den übrigen Dramen seiner Zeit unterscheidet. Sie ist sein 
Zeichen, sie ist ihm Bedürfnis: er kann sie nicht lassen. 
Selbst an den Menschen, denen sie am wenigsten entspricht, 
schafft er ihr einen Platz. Am Herzen des harten Coriolan, 
dieses eisengepanzerten Mannes, der durch Hochmut und 
Blut schreitet, blüht die sanfte Virgilia). Und aus der 
stoischen Portia, Tochter Catos, hat er die menschliche, schwache, 
weibliche, fiebernde Portia gemacht, die, von Angst verzehrt. 
den Ausgang der Verschwörung erwartet.) — Ebenso 
wie Montaigne ist auch Shakespeare kein Gläubiger des 
Stoizismus, dieser ist ihm eine Rüstung, die das wahre 
Herz verbirgt. Und welch rührende Innigkeit. wenn 
die Rüstung birst und die Liebe emporsprießt wie in der 
wunderbaren Szene des Zusammentreffens der beiden, Brutus 
und Cassıus, die der Höhepunkt des Stücks ist. Das Herz 
ist so geschwellt von der Innigkeit, die es erfüllt. dal 
man die Tränen zum Rollen bereit fühlt, allein eine 
Scham hält sie zurück und verleiht der Erregung höchste 
Schönheit. Den Helden der Freundschaft, den rätselhaften 
Antonio, den reichen Mann, glücklich ın den Augen der 
Welt, doch gequält von seltsamer Traurigkeit, der mır ın 
der Liebe zu seinem Freunde zu leben scheint, schen wir 
das Geheimnis dieses liebenden und leidenden Herzens preis- 
geben in der Abschiedsszene. wo er. die Augen voller 
Tränen, mit abgewendetem Antlitz die Hand Bassanio ent- 
gegenstreckt und ihn schweigend umarmt.) — Das Schwei- 
gen ist noch rührender, wenn der kleine Mamillius nicht 
mehr ift, nicht mehr schläft, dahinsiecht und stirbt aus Scham 
über seine Mutter.) 

Auch jenseits der Menschen erstreckt sich dieses Mit- 
leid auf die Natur. Der vertriebene Herzog in -Wie es 


1) Coriolan I. 

2) „Julius Cäsar«, IL 

2) „Kaufmann v. Venedig. II. 
$) »Ein Wintermärchen«, II. 


516 Romain Rolland / Meinem besten Freunde — Shakespeare 


euch gefällt, hört die Stimme der Bäume, liest das Buch 
der Bäche, erforscht den Sinn der Steine. Und Jacques der 
Melancholiker, weint über einen Hirsch, der im Sterben liegt. 


« * 
* 


So schließt das Genie des Dichters die Glieder der 
Kette. die alle Wesen miteinander vereinigt. Und nichts 
regt sich in einem von ihnen, das sich nicht über alle 
verbreitet: denn alles ist uns gemeinsam und uns selbst 
finden wir auf jeder Seite dieser Tragikomödie der Welt wieder. 

Allein nur wenn wir an aller Freude und allem Leid 
teilnehmen. nur wenn wir jeder Seele beistehn. ihr Kreuz 
zu tragen, steht man uns bei, das unsere zu tragen. — 
sSehn wir den Größern tragen unsern Schmerz, kaum rührt 
das eigne Leid noch unser Herz. Wer einsam duldet, fühk 
die tiefste Dein, fern jeder Lust trägt er den Schmerz 
allein. Doch. kann das Herz viel Leiden überwinden, wenn 
sich zur Qual und Not Genossen hnden. .) — Auch dis 
Rachsucht erlischt. Das Schauspiel des Unrechts reizt nicht 
zu dem Wunsche. es durch ein ähnliches Unrecht zu er- 
setzen. Und das letzte Wort, der Gesang, der über den 
letzten Akkorden dieser Symphonie schwebt, ıst der des 
strahlenden Geistes, Ariels, der Prospero verkündet: 


‚Das Verzeihn steht über der Rache. .«?) 
Übersetzt von Frans Schule 


1) „König Lear«, III. 
3) „Sturm. V. 


Hans Siemsen / Potsdam oder Döberitz? 517 


POTSDAM ODER DÖBERITZ? 
VON HANS SIEMSEN 


Geschrieben im August 1918 


Gewidmet: Sr. Ex. dem General Freiherrn v. Ludendorft. 
sowie dem Reichswehrminister a. D. Gustav Noske 


Ich glaube es war Bernhard Shaw, der als erster den 
Begriff . Potsdam in die Kriegsdebaften warf. Er sagte, dal 
man den Geist von Potsdam in Deutschland und in den 
Deutschen zerstören müsse und dal man den Geist von 
Weimar leben lassen und loben sollte. Er meinte mit »Pots- 
dam alles Schlechte des preußischen Geistes und vor allem 
den preußischen Militarismus zu treffen. 

Shaw ist ein kluger Mann. Aber ich glaube nicht, dal 
er jemals in Potsdam gewesen ist. Ich kenne Potsdam. Ich 
war ein paarmal dort. Einmal des Nachts, als der Mond 
schien, einmal bei Regen, einmal im Winter und einmal 
im Sommer, als es so heiß war, daß man nicht wagte, aus 
dem Schaften heraus über einen Platz zu gehen. Und einmal 
früh am Morgen nach einer in Berlin durchtanzten Nacht. 

Da lag um die Brücken ein leichter Nebel, in den leeren 
Straßen hallte der Schritt. Die vergoldete Kuppel des Palazzo 
Barberina schimmerte stolz und bescheiden im ersten Licht. 
Die Wände des kleinen Stadtpalastes, die Treppe, die flachen 
Säulen haften die Farben, die am Himmel verloschen: rosa 
und gelb. Von dem Turm der Garnisonkirche klang das 
ziſterige Glockenspiel über die Häuser hinweg, in denen man 
schlief. »Üb immer Treu und Redlichkeit«. Zifterig. etwas 
verstimmt und zu langsam. 

Das Pflaster ist holperig. wie in Versailles. Ich habe noch 


5148 . „Hans Siemen 
nie zwei Städte gesehen, deren Pflaster sich so ähnlich ist, 
wie das von Versailles und das von Potsdam. Jeder Stein 
hat einen Extrabuckel. Und auf den Plätzen. über die kein 
Mensch mehr geht. wächst zwischen den Steinen ein wenig 
Gras. I 
Sanssouci ist nur ein Pavillon. Aber, weil er auf einem 
Hügel liegt, weil diesen Hügel hinan eine große Treppe führt. 
weil Alleen und Wege zu ihm hinzielen. sieht er königlich 
aus, wie ein richtiges Schloß. Durch die Fenster sieht man 
in kalte Zimmer, die alle zu ebener Erde liegen. Weißer 
Stuck und vergoldeter Stuck, ein paar Bilder und goldene 
Rahmen. glänzender Parkettfuſboden. wenig Möbel an den 
Wänden, wie solche Schlösser auszuschen pflegen. Über Garten 
und Park hinweg sieht man den Wald, den See, ein Segel 
darauf und wieder den Wald. Alles ist einfach und ziemlich 
bescheiden, wenn man es mit anderen Schlössern vergleicht, 
aber doch königlich, ein ländliches Königtum. 

Nur auf der steinernen Ballustrade liegt ein alberner 
Löwe aus Marmor. Den hat Kaiser Wilhelm II dort hın- 
legen lassen. Abscheulich gewöhnlich und dumm liegt er da 
mit, der aufdringlichen Würde eines fetten Generals. Ein 
feines Denkmal. Für wen? Für den, der es setzte. 

Zehn Schrifte davon liegen flach im Rasen, ganz grün 
von Moos, ein paar große Steine. Kaum kann man noch die 
Inschriften lesen: »Biche« und »Phöbe« und »Adamant«. Unter 
diesen Tafeln liegen die Windhunde, mit denen der große König 
spielte. Er liebte die Menschen nicht. Er hafte auch wenig 
Grund dazu. Und sie haften wenig Grund, ihn zu lieben. 
Er hae sich selbst und ihnen das Leben schwer gemacht. 
Seit dem Tage. an dem sein Freund, ein junger Offizier. 
vor seinen Augen hingerichtet wurde, seit jenem dunkelsten 
Tag seines Lebens, hatte er viel Elend und Unrecht erlebt, 
erliften und selbst getan. Kriege gesehen und selbst geführt, 
alles Unrecht und alle Gemeinheit des Lebens und der 


Potsdam oder Döberi t: č 519 
Politik selbst erlitten und selbst getan. An jenem Tag 
an dem sein Vater. der König. seinen einzigen Freund, den 
einzigen Menschen vielleicht, den er in seinem ganzen langen 
Leben wirklich liebte, vor seinen Augen hinrichten ließ, als 
niemand ihm half, als er so allein und verlassen und viel- 
leicht roher und tiefer verwundet war. als Christus in 
Gethsemane, da hatte es wohl zwei Möglichkeiten für ihn 
gegeben: sich selbst zu töten oder weiter zu leben. Er lebte 
weiter. Aber wie? Das Herz voll Hal und Verachtung und 
Ekel Und er hat in seinem ganzen langen Leben wenig 
gesehen und wenig erlebt und wohl auch selber wenig ge- 
tan, was diesen Haß und diesen Ekel hätte mildern und 
beruhigen können. Er liebte niemanden und nichts. Er sah 
von allen Dingen den dunklen Ursprung und in allen 
Menschen die schmutzigen Gründe. Erst als er alt geworden 
war und müde, fand er wieder ein paar Dinge, denen. er 
freundlicher zusehen mochte, die er vielleicht ein wenig 
liebte: Ein paar schlanke Windhunde, ein paar schlanke 
Pagen. Ihn, diese Windhunde und diese Pagen. stellt man 
sich vor. wenn man von der Terrasse herab die Alleen ent- 
lang nach Potsdam sieht. 

So ist Potsdam. so ist Sanssouci. Und an der einen Seite 
der Stadt fließt zwischen den Häusern und zwischen Alleen 
ein kleiner spießbürgerlicher Kanal, als wäre man ın Holland 
und nicht in Preußen. 

Ich weiß sehr wohl, daß es in Potsdam auch Kasernen 
gibt und Exerzierplätze. Aber wo in Deutschland gibt es die 
nicht? Potsdam hat hinter seinen Kasernen Alleen, Schlösser, 
den See und die Erinnerung. Befehle werden gebrüllt. wie 
überall in Deutschland. Aber in Potsdam klingt von Stunde 
zu Stunde über das Gebrüll der Kasernenhöfe, verweht 
und zifterig, aber doch da, das leise Glockenspiel der alten 
Kirche. 

Potsdam ist nicht das Symbol des preußischen Militaris- 


520 Hans Siemsen 


e nn —— un. 


mus. So groß so zart, so achtenswert sind dessen Traditionen 
nicht. Potsdam hat wıe jede menschliche Sache gute und 
schlechte Traditionen. Der preufische Militarismus ist keine 
menschliche Angelegenheit. er hat nur schlechte Traditionen. 
Er hat vor allem eins: Brutalität und immer wieder vor 
allem andern: Brutalität. Er hat Offiziere und Unteroffiziere, 
er hat Säbel und Helme und bunte Uniformen, er hat den 
Befehl und das Gebrüll, er hat das Exerzierreglement, den 
Fahneneid und den Parademarsch. Er hat die schlechte 
Löhnung und die Rangordnung, er hat die goldenen Litzen 
und die Militärmusik, . mit Gott, für König und Vaterland.. 
die Kniebeuge, die Soldatenmifhandlungen und die Kanonen 
von Krupp. Aber all das, der Befehl, der Gehorsam und 
das berühmte Pflichtbewußtsein, all das sind ja nur ver- 
schiedene Namen und verschiedene Uniformen für seine eine 
und einzige Eigenschaft, für seine unmenschliche. viehische. 
völlig geistlose Brutalität. die den Menschen erniedrigt und 
erniedrigen will. 

Potsdam als Symbol dafür ist viel zu schade, viel zu 
menschlich. Es gibt Symbole die. besser passen. Kennen Sie 
Döberitz? Das liegt zu gehen ein paar Stunden von Pots- 
dam. Es ist ein Truppenübungsplatz, angefüllt mit Rekruten- 
depots. 

Ich besuche in Döberitz einen Freund. Er ist achtzehn 
Jahre alt, von der Schule aus Soldat geworden und jetzt 
für acht Wochen in Döberitz. Er heift Henry . 
und liebt die Bilder von Henry Rousseau. Er malt selbst 
kleine Bilder: Huldigungen an das Leben, Huldigungen an 
den guten Menschen. Unter alle seine Bilder könnte man 
das Wort von Werfel schreiben: »Mein einziger Wunsch 
ist, Dir, o Mensch, verwandt zu sein.« 

Er ıst hübsch, mit blonden Locken, achtzehn Jahre ist 
er alt und sein Herz ist voll von Liebe, wie die Herzen 
Achtzehnjähriger sind. Jetzt steht er stramm und geht in 


Potsdam oder Döberitz 521 


grader Haltung an seinem Feldwebel vorbei. . Auf! »Hin- 
legen!. Und er wirft sich auf die Erde, springt wieder auf. 
wirft sich hin. springt auf. Und dann machen zwanzig 
junge Leute, die alle ebenso jung und nicht viel anders sind 
als er. Kniebeuge, solange der Unteroffizier befiehlt. bis sie 
weiß ım Gesicht werden und ihre Augen nichts mehr sehen. 
Aber der Unteroffizier befiehlt nicht nur, der brüllt sie an 
und geht auf den, der am schwächsten ist, der ziftert, 
schwankt und beinahe hinfällt. auf den Jüngsten langsam zu 
und lacht ihm ins Gesicht. sagt ganz dicht zwei Zentimeter 
vor seinem Gesicht: » Wollen Sie nicht Mama rufen? Was? 
Nehmen Sie die Knochen zusammen, wenn ich mit Ihnen 
rede!» Der Junge, den er anschreit, zittert und aus seinen 
geängsteten Augen rollen langsam große Tränen. 

Ist das Döberitz? 

Nein. Das ist der preußische Militarismus in jeder Stadt 
und auf jedem Kasernenhof. Döberitz ıst noch schlimmer 
als das. | 

Als ich ankomme mit der Bahn von Berlin, ist Sonn- 
tag nachmittag. Kein Dienst. Die Jungens haben frei. Was 
heißt frei? Sie dürfen nicht fort. Sie dürfen das Lager 
nicht verlassen. Da liegt Berlin — sie dürfen nicht bin. 
Da liegen Wälder und Dörfer — sie dürfen nicht hin. Sie 
sind eingezäunt,. wie wilde Tiere. Und auf den Straßen 
stehen Posten mit geladenen Gewehren. Zwei oder drei 
Züge kommen von Berlin, zwei oder drei Züge fahren ab 
mit Offizieren, die Urlaub haben, und anderen Menschen. 
Da stehen die jungen Rekruten, hunderte, hinter dem Bahn- 
hofszaun und sehen den Zügen nach. Wie wilde Tiere, nein 
wie verprügelte Tiere hinter den Stangen eines Käfigs. 

Da steht mein Freund, der junge Maler, eingesperrt und 
verlassen. Ein fremder wilder Vogel mit gebrochenen Flügeln, 
tedem Tierquäler ausgeliefert. Er tut mir so leid, daß ich 
am liebsten ihn gleich in die Arme nähme und zärtlich 


52. „Hans Siemen 
gegen ihn wäre, wie man unter Männern nicht sein darf. 
Da ich nicht zärtlich sein darf. bin ich nur höflich. Aber 
wie kalt ist Höflichkeit. wenn man zärtlich sein möchte. 
So bin ich den ganzen Nachmittag über viel kühler als ich 
sein will. Am Abend, als ich allein in der Bahn sitze. tut 
es mir leid. Aber da ist es zu spät. 

Wir gehen durch Döberitz. Wir sprechen nicht vom 
Militär. Wir wissen beide genug davon. Wir wissen beide. 
was es heilt. stramm zu stehen. Diese Haltung: Die Hände 
an der Hosennaht. die Hacken aneinander gepreſt. den 
Kopf krampfhaft geradeaus gereckt. das ist die raffinierteste. 
brutalste Erfindung des Militarismus. Es gibt keine Haltung. 
die unnatürlicher wäre, sie macht zum willenlosen Sklaven. zum 
wehrlosen Opfer. sie erniedrigt vor dem Herrn. der vor einem steht. 
sich bewegen kann. wie er will. tun kann. was er will. sagen 
kann, was er will. und dir, dem Wehrlosen. Regungslosen, 
dem Gefesselten ins Gesicht brüllt: »Nehmen Sie die Hacken 
zusammen. wenn ich mit Ihnen rede!« Diese Haltung. eines 
jeden Menschen unwürdig. ist das Symbol des Militarismus. 
In ihr verkörpern sich restlos Brutalität und Sklaverei. 

Döberitz liegt ın Brandenburg. Eine schöne Landschaft 
ist das nicht. Immerhin gibt es Felder dort, etwas Kiefern- 
wald, etwas Wasser. Hecken. Gebüsche und Wege zwischen 
den Hecken. Eine arme, rührend armselige Landschaft. Die 
Brutalität des Militarısmus aber hat aus dieser Landschaft 
die Hölle gemacht. Felder? Nein! Exerzierplätze Ein Wald? 
Nein! Schiefstand hinter Schießstand, Ein Weg? Nein! Ein 
verbotener Weg. Alle Wege sind verboten. Überall Schilder 
und Tafeln: »Verboten, Verboten! »Es ist verboten.. Nicht 
für Ma nnechaften!« »Streng untereagt! . Der Lagerkommandant! 
„Nur für Offiziere!« Stacheldraht. Zäune, Mauern und Tafeln. 
Es ist verboten zu leben. Nur stramm stehen darf man. 
Überall stehen Schilderhäuser. Überall stehen Posten mit 
ihren Gewebren. Überall gehen Patrouillen. die aufpassen. 


Potsdam oder Döberitz_ __ — -523 


ob alle stramm stehen, ob alle die Hände vorschriftsmäßig 
an die Mütze legen. | 

Die ganze Gegend ist eingezäunt und innerhalb dieses 
Zauns gibt es nichts, was nicht dem Militär unterstände, 
nicht eine Stelle. auf der die geringste Freiheit erlaubt 
wäre, nicht eine Stelle. auf der nicht Befehle gebrüllt und 
geschrien würden. Diese Landschaft besteht aus Stachel- 
draht. Es gibt Baracken, verbotene Wege, Mauern, Kasernen. 
Kasernenhöfe, Exerzierplätze, Staub und vertrocknete Kiefern 
und an jeder vertrockneten Kiefer ein Schild auf dem irgend 
etwas verboten wird. Es gibt ein paar Häuser, ın denen 
man Militärmützen, Halsbinden, Knöpfe kaufen kann, Post- 
karten, Briefpapier. Schuhputzmittel. Es gibt drei oder vier 
Restaurants mit schmutzigen Tischen. Bier und schlechtem 
Schnaps. Und alle müssen, wenn ein Unteroffizier eintritt. 
aufspringen und stramm stehen. Es gibt ein Karussell und 
eine Schieſbude. Es ist Sonntag und die Rekruten dürfen 
ihr Leben genießen. Sie stehen um das Karussell herum. Das 
ist bunt und mit Fahnen und Spiegeln behangen. Zwei 
Mädchen kassieren. alt und geschminkt. mit denselben Farben 
gemalt. von denen das Karussell rosa und rot ist. Sie haben 
goldene Ringe, schlechte Zähne und verschiedene Krankheiten. 
Man sieht das von weitem. Das sind die beiden Frauen. 
die die Militärbehörde erlaubt. Die beiden einzigen erlaubten 
Frauen in Döberitz. Dreihundert junge Rekruten stehen um 
sie herum. Die Drehorgel spielt. Aber erst kommen die 
Herren Unteroffiziere. Der Boden um das Karussell ist fest- 
getreten. Das Gras geknickt und niedergewalzt. Es wird 
dunkel. Das Karussell steht still. 

Gibt es noch Tiere in dieser Landschaft? Vögel. die 
fliegen können? Gibt es noch etwas unkontrolliertes. was 
dem Militär nicht untersteht? Es gibt vor allen Dingen 
Stacheldraht. Stacheldraht ist um jeden Baum, neben jedem 
et vor jedem Feld. Stacheldraht begleitet vom Morgen 


524 Hans Siemsen 


bis zum Abend den jungen Rekruten. Stacheldraht führt 
ibn auf den rechten Weg. Stacheldraht und Befehle halten 
die Ordnung aufrecht. Stacheldraht und Befehle regieren die 
Welt. 

- Gibt es einen Gott? So ist er Unteroffizier und steht 
stramm vor seinem Feldwebel. Der Himmel über 
Döberitz stürzt nicht ein. 

Hielte die Welt einen Moment den Atem an und horchte 
nach den Kasernenhöfen und Exerzierplätzen, deren es ın jeder 
Stadt und in jedem Lande gibt, so würde der Lärm der 
geschrienen und gebrüllten Befehle, wie der Schrei eines 
dummen und blutgierigen Tieres in alle Ohren und Herzen 
gellen. Aber sähe die ganze Welt einen Moment nach 
Döberitz, so würde sie erstarren. vor Entsetzen. Aus dieser 
erstarrten Stacheldrahtwüste, aus dieser Welt des Reglements 
steigt kaum noch ein Schrei, unter Befehlen erstickt selbst 
der Befehl, die Wüste schweigt. Döberitz das ist die Hölle, 
das letzte, das unmenschlichste, was Menschen 
aus der Erde und aus sıch selber machen können. 

Steht am jüngsten Gericht der Kaiser oder ein General 
und Kriegsminister oder ein Kriegs- und Militärphilosoph 
vor Goftes Thron und beginnt in seiner Uniform mit seinen 
Orden auf der Brust von der Größe Preußens zu reden, 
von Arbeit und Kampf. von Pflichtbewußtsein, Pflichter- 
füllung. Unterordnung und Gehorsam, sagt er: - Ertüchtigung . 
und »Selbstlos dienen - — dann wird einer von den kleinen 
Rekruten vortreten und nur das eine Wort: »Döberitz« 
sagen, ganz leise, aber ohne Scheu und nicht mehr die 
Hände an der Hosennaht. 

Und dann wird nicht nur General und Kaiser, nicht 
nur der Kriegsphilosoph, dann wird ganz Preußen, dann wird 
die ganze Geschichte, mit all ihren Schlachten und Siegen, 
dann werden alle großen Männer, die sich des Militärs be- 
dienten, dann werden alle Länder, die sich des Militärs be- 


Potsdam oder Döberitz ne 525 
dienten, dann wird alle Größe und alle Arbeit und aller 
Stolz und aller Ruhm, der sich nur irgendwie auf Krieg 
und Militär aufbaut, dann wırd das alles zusammenbrechen 
und hinunterrasen wie in einen Abgrund. Dann werden alle 
großen Helden und Politiker und Generäle taumeln und in 
die Knie knicken vor dem kleinen Rekruten und seinen 
Brüdern. Dann wird die Erde wanken und der Himmel 
zittern und Gott selbst wird schweigen und aufhören, Urteile 
zu sprechen. 

Denn nicht der Krieg ist das letzte Verbrechen, nicht 
der Krieg ist die scheußlichste Sünde, nicht der Krieg ist die 
tiefste Erniedrigung des Menschen. — die äußerste Gemein- 
heit ist das Militär. Der Krieg ist das Verbrechen, das 
alle anderen Verbrechen enthält: Mord, Raub, Mißhandlung, 
Lüge, Verrat, jedes Verbrechen, jede Gemeinheit, jede 
Bestialität und jedes Laster. Aber der Krieg ist, so grausam, 
entsetzlich, gemein er auch ist, irgendwie groß in seinen 
Lastern. die aus Leidenschaften stammen. Das Militär 
ist niemals groß. Nicht einmal im Laster. Und ohne jede 
Leidenschaft. Das Militär ist nichts als die Vorbereitung 
des Krieges. Hier wırd nicht gemordet, hier wird der Mord 
gelehrt und geübt. Hier wird das Laster schematisiert. Hier 
wird die Brutalität zum System. Hier wird der Gemeinheit 
eın Reglement gegeben. 

Hier wird das Verbrechen auf Flaschen gezogen. Hier 
erst erhält die Grausamkeit, hier erhält die Brutalität ıhre 
höchst mögliche Vollendung. Hier wird der Krieg der 
Leidenschaft entkleidet und über bleibt das reine systematische 
Verbrechen, die Verrohung des Menschen, die Vergewaltigung 
der Welt nach dem System, nach dem Stundenplan, Mord 
und Vergewaltigung gelehrt, geübt und vorgeführt von 
diplomierten Mördern und Leichenschändern, von kleinen, 
gemeinen, staatlich besoldeten und dekorierten Verbrechern. 
Um wieviel ekelhafter als ein Lust- und Raubmörder. der 


526 _________________ Hans Siemsen 
aus Begierde oder ausH abgier mordet, um wieviel ekelhafter ist 
ein Unteroffizier, ein Leutnant, der einen wehrlosen jungen 
Rekruten solange Kniebeuge machen läßt, bis er umfällt. 
Wieviel grausamer, wieviel gemeiner als Mord und Totschlag 
ist die Folter. Wieviel gemeiner als der Mörder ist der 
Folterknecht. 

Nicht jeder Leutnant quält seine Leute? Schreit nicht jeder 
Leutnant jeden Tag: »Nehmen Sie die Knochen zusammen!« 
Verlangt nicht jeder Vorgesetzte die stramme Haltung:. 
die Hände an der Hosennaht, die Hacken zusammengeprelt, 
den Kopf geradeaus gereckt? Das ist die systematische Ent- 
würdigung, Erniedrigung. Versklavung des Menschen. Damit 
fängt die Folter an. Übergriffe Einzelner? O nein! Schlimmer 
als der Folterknecht ist der Richter, der dabei zusieht, 
Schlimmer als der Unteroffizier ist der General. Schlimmer 
als der schlimmste Menschenschänder unter Generälen und 
Unteroffizieren ist das menschenschänderische Sys tem des 
Militarismus. 

Nicht die Soldatenmifhandlung, nicht der Uberęriff. — das 
einfache Exerzierreglement, der einfache, alltägliche Befehl, 
das Strammstehen und das »Stillgestanden« — das ist der 
Beginn der Unmenschlichkeit, das ist der Beginn der Ver- 
gewaltigung und der Versklavung. damit beginnt die Herr- 
schaft der Brutalität, damit beginnt die brutale Gewalt. die 
Ungerechtigkeit. das Verbrechen. Damit. beginnt der Mord, 
der systematische Mord am Menschen und an der Menschlichkeit. 

Der Krieg ıst so schrecklich wie ein Verbrechen, wie 
ein Laster, ein Schmerz, ein Leiden nur sein kann. Seine 
Grausamkeit ist nicht zu überbieten. Aber seine Ge- 
meınheit wird überboten. Er ist die Hölle. Aber 
Döberitz — das ist mehr als die Hölle. 

Ich weil, es gibt viele Truppenübungsplätze. Wir kennen 
alle welche. Sie heißen Munster. Warthelager. Sennelager. 
Bitsch. Wir kennen sie. Wir wissen Bescheid. 


Potsdam oder Döberitz i 6827 


Und wenn noch ein Schweiſhund der nationalistischen 
Meute, wenn noch ein Kriegsprophet und -prediger, wenn 
noch irgend jemand je es wagen sollte, uns den Krieg zu 
preisen und das Militär zu loben, den Militarismus in irgend- 
einer Weise zu verteidigen — dann wollen wir ihn nicht 
niederbrüllen, dann wollen wir keine langen Reden halten, 
dann wollen wir ihn nur ganz ruhig ansehen und dies eine 
Wort sagen: »Döberitz«. 

Und wenn er dann noch weiter stammelt. wenn er dann 
noch irgend ein Wort wagt. dann: die Faust ihm in die Fresse! 

Sanftmut ist gut. Allen gegenüber wollen wir sanft und 
bescheiden und demütig sein. Aber wer einen Säbel trägt 
und den Säbel verehrt, wer befiehlt und den Befehl be- 
wundert, — dem gegenüber keine Sanftmut und keine Ge- 
duld und keine Schonung! 

Unsere Zeit kommt. Nehmt euch in Acht! Wir haben 
nichts vergessen. 


4 « 
a 


Ich schrieb dies im August 1918. Aber ich habe mich 
damals geirrt. Unsere Zeit ist nicht gekommen. Drei Monate 
epäter brach zwar die Revolution aus. Wenigstens stand es 
in den Zeitungen. Aber geändert hat sich nichts. Sie hatten 
nicht nötig sich in Acht zu nehmen. die Herren Offiziere 
und Generäle, die Propheten und Prediger des Militarismus. 
Sie leben alle noch, von Ludendorff bis Marloh. Es geht 
ihnen gut, den Herren Mördern. Karl Liebknecht ist tot. 
Aber Ludendorff lebt. 

Und der Name Döberitz ist inzwischen bekannt geworden. 
Von Döberitz auz zog die Offiziersregierung Kapp und 
Lüttwitz in Berlin ein. Döberitz war das Hauptquartier 
der brotlos gewordenen Massenmörder, die sich nach Arbeit 
umsehen wollten. Der neuen Regierung der jungen Republik 


Deutschland aber hat das so gut gefallen, daß sie eine neue 


528 Erich Mühsam 


Brigade bilden will, in diese Brigade sollen nur »wirklich 
republikanisch gesinnte Noskesoldaten aufgenommen werden. 
Und welchen Namen soll diese Brigade erhalten? — 
Brigade Döberitz. | 

Das ist kein Scherz. Das ist Tatsache. Die neue Re- 
gierung also kennt ihr Militär. Sie hat ihm den richtigen 


Namen jegeben. 


GUSTAV LANDAUER 


GEDENKBLATT ZU SEINEM 50. GEBURTSTAG: 7. APRIL 1920 
VON ERICH MÜHSAM (Gefängnis Ansbach) 


Die äußeren Umstände, unter denen diese Zeilen geschrieben werden, lassen 
die allein würdige Form, Gustav Landauer zu ehren, nicht zu: die der glutvollen 
Werbung für die von ihm erstrebte Neubildung der menschlichen Gesellschaft, für 
Sozialismus, anarchische Gerechtigkeit und ihre Bedingung, Revolution. Da mir in 
meiner Zelle auch alles literarische Material fehlt, an Hand dessen ich ihr selbst 
von reinem Menschentum, von Völkerfreiheit, von innerem und äußerem Aufruhr 
sprechen lassen könnte, mag der Leser sich mit den einfachen Gedenkworten zu- 
frieden geben, die der Überlebende dem Toten, der Freund dem Freunde, der 
Schüler dem Lehrer, der Rebell dem Kampfgenossen aus verehrendem und dank- 
erfülltem Herzen zu widmen hat. 

Die Daten seiner Entwicklung, seines Werdens und Wirkens, seines Wandels 
von der Geburt an bis zu seiner scheußlichen Ermordung im Stadelheimer Bluthof 
werden an dem Tage, an dem Gustav Laudauer sein fünfzigstes Lebensjahr abge- 
schlossen hätte, in sovielen Artikeln und Nekrologen aufgezählt werden, daß diese 
Sätze nicht mit seinem curriculum vitae beschwert zu werden brauchen. Aber er 
käme zu kurz, wollte man die Abschätzung seiner Lebensarbeit ganz den Wohl- 
meinenden überlassen, die, aus seinen Schriften wissender geworden, oder auch 
durch den persönlichen Umgang mit ihm bereichert, die Pflicht fühlen, die hoch- 
ragende Bedeutung des Mannes vor geistig bewegten Bürgern oder gar mißtrauischen 
Zeitungslesern ins Licht zu stellen, seinen „, Idealismus zu preisen, um aus ihm 
seine schroffe Abkehr vom Staatstum, seine kämpferische Haltung gegen Traditionen 
und Normen abzuleiten und womöglich zu entschuldigen. 

Nur aus der umgekehrten Betrachtung ist Landauers Persönlichkeit RE zu 
werden. Sein Grundcharakter war wahrhaftig nicht der eines Schwarmgeistes, eines 
Weltfremdlings oder Gottessüchtigen, wie ihn sich der wohlwollend lächelnde 


Gustav Landauer 529 


— —— — — 


Philister vorstellen mag, der sein praktiscnes k. inmaleins gelernt hat und dem überall 
zwölf auf ein Dutzend gehen. Nicht nahebringen will ich das Bild des toten 
Freundes dem Geschmeiß der satten Gemüter, die sich freie Geister dünken, weil 
sie die hungernden, nie gesättigten Seelen, die sehnsüchtigen Herzen, da sie selber 
doch ohne Herz sind, interessant finden, die bereit sınd alles zu verzeihen, weil 
sie nichts verstehen; sondern entfernen will ich es von ihnen, es ihrem befleckenden 
Blick entziehen, die Feindschaft, den untilgbaren Gegensatz aufzeigen, der Landauers 
Geist ewig trennt von dem bürgerlichen Idealismus seiner literarischen Begreiner, 
die ihre gelockten Häupter über die Glatzen der Geschäftsrealisten erheben möchten, 
aber mit den Hintern stets an deren Kontorsesseln kleben bleiben. 


Ein Idealist! Natürlich war Landauer das, wie jeder, dem eine sittliche Idee, 
Wegweiser des Lebens ist. Aber der Begriff muß gesäubert werden von dem Schleim 
in den ihn die Anbiederungssucht ideeloser Jammerkerle gehüllt hat, die mit tonenden 
Worten hausieren und den reinen Glockenklang einer schallenden. Menschenstimme 
in dem dürftigen Geklingel ihrer humanitären Salbaderei verkommen zu lassen 
suchen. Ich habe keinen Satz zur Hand, in dem Gustav Landauer selbst sich gegen 
die Gemeinschaft mit idealistischen Phrasenraßlern gewehrt hätte. Aber ich weiß, 
daB er mehr als einen geschrieben und in Gesprächen hundertmal bekannt hat. 
was der unerbittlichste Rebell aller Zeiten, Michael Bakunin, dem auch. er mit 
Leidenschaft anhing, so ausgedrückt hat:. „Doch muß mit jenem Idealismus auf- 
geräumt werden, der es verhinderte, daß man nach Gebühr handle: er muß durch 
grausame, kalte, rücksichtslose Konsequenz ersetzt werden.“ Wir dürten Landauer 
einen Idealisten nennen, wir, die sein Ideal kennen und teilen und als ein Ideal 
tstfrohen Zukunftswillens pflegen, nicht die, die selbst- und weltzufriedenen Schön- 
teistern mit himmelnden Augen Sympathie für den Außenstehenden anschwätzen 
wollen. 

Gustav Landauer war Revolutionär: nichts anderes: nichts außerdem. Revolutionär 
aber "heißt Umstürzer, Zerstörer und Neuschaffer, Aus seiner revolutionären Natur 
erklärt sich alles, was er dachte, wollte und schuf. Sie war ihm Antrieb und Mittel 
seines Werks, nur sie. Sie stellte den Gott in seinem Herzen auf, nur sie. Sie 
leitete sein Tun und sein Schicksal, nur sie. 

Freilich war sein devolutionäres Wirken nicht begrenzt im Kampt gegen staat- 
liche Satzungen und gesellschaftliche Systeme.. Es erstreckte sich, auf, alle, Kate- 
gorien des Lebens, machte nicht halt vor wissenschaftlichen Methoden, vor künst- 
lerischen Konventionen; und moralischen Doktrinen. Sein profundes ‚Wissen er- 
laubte es ihm, mit der Kritik seines revolutionären Geistes in viele ‚Gebiete des 
menschlichen Denkens hinabzusteigen und sie als Wüsten der Cedankenlosigkeit 
und verwilderter Überkommenheiten zu entschleiern. Es ist aber eine Verfälschung 
seines Lebenswerkes,..wenn die einzelne Erkenntnis, die aus diesem seinem Ab- 
tasten der Weltprobleme der Philosophie oder der Aesthetik, der* Literaturgeschichte 
oder der Soziologie. neue Fährten . zeigte, ale Verteidigung seines Wertes vor dem 
besitzbangen Bourgeois bemüht wird. Dem kann nicht eindringlich genug gesagt 
werden, daß Landsuer kein Bourgeois. war, sondern sein ausgeprägtes Gegenteil: 
ein Neuerer, der als Voraussetzung aller kulturellen Umwälzung die soziale erstrebte 


530 Erich Mühsam 


Ihr, der sozialen Revolution, hatte er sich verschworen von Jugend an, und sein 
Walten als Neuerer in den Bezirken der Sittlichkeit und der Kultur klomm aus 
dem Willen, den Geist vorzubereiten für die Tat, im Volk Niveau zu schaffen 
für die Empfängnis des selbst erkämpiten Sieges. 

Noch einmal: wer Gustav Landauer im härenen Gewande zeichnet mit dem 
friedseligen Schmachtblick des Versöhners, der fälscht sein Bild. Nur wer ihn als 
Kämpfer sieht, als rücksichts- und furchtlosen Kämpfer, gefällig zwar und milde 
und von gütiger Heiterkeit im täglichen Umgang, aber unduldsam, hart und eigen- 
willig bis zum Hochmut überall, wo es um Entscheidendes ging, de: sieht ihn 
wie er war. Es ist nicht wahr, daß er aus lauter Liebe zusammengesetzt war. Wie 
irgendeiner hat er den Haß gekannt, den Haß gegen das Unrecht, gegen die Aus- 
beutung, gegen den gewalttätigen Staat, gegen die Idee der Brutalität — und gegen 
ihre Träger. Jawohl, auch die Personen hat er gehaßt, alle, die sich dem Werk 
der Volksbefreiung entgegenstemmten aus Eigennutz oder Gedankenfaulheit, aus 
Dummheit oder Eitelkeit. Man vergleicht Landauer oft mit Tolstoi. Mit Recht 
— gewiß. Denn was Tolstoi einmal in seinem Tagebuch als das „, einzig Not- 
wendige bezeichnet: „die Lösung sittlicher Fragen und ihre Anwendung im Leben“, 
das war auch ihm Richtung und Ziel alles Denkens und Schaffens. „Tolstoianer“ 
in dem Sinne, wie ethische Schmalztropfer die Gattung verstehen, war Landauer 
nicht, Tolstoi selber übrigens ebensowenig. Auch der kannte den Haß und die 
Inbrunst der Verachtung, und auch ıhm war die Liebe nicht das stets bereite 
Handwerkszeug in allen Lebenslagen, sondern der glühende Ursprung und das 
leuchtende Ziel des menschlichen Seins. 

Landauer war Revolutionär von Natur wegen. Er gehörte nıcht zu den Buch- 
stabenschnüfflern, denen die Erwägungen des Hirns langsam und auf Widerruf die 
Zweckmäßigkeit des Umsturzes beweisen. Seine ursprüngliche Einstellung zu allen 
Dingen und Werten war voraussetzungslos, darum skeptisch, darum zur Ablehnung 
geneigt und kämpferisch. Nichts galt ihm die noch so exakte Wissenschaft, also 
die Erkenntnis anderer, deren Autorität beweiskräftig sein sollte. Noch nie ist das 
Ergebnis einer Forschung ungestürzt geblieben und alle Wahrheit hat nur Bestand 
bis sie einer neuen weichen muß. „Wahr ist, daß nichts wirklich ist“ hat Landauer 
einmal geschrieben, ich glaube, in „Skepsis und Mystik“, diesem merkwürdigen, 
götzenzertrümmernden Buch, in dem „im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, 
die letzte Autorität, die Vernunft selber, als Produkt der Sprache, des unzuläng- 
lichen Verständigungsmittels der Menschen, und mithin die Logik als nichts be- 
weisend verworfen und an ihrer Statt die „Mystik“, das Urwissen, das unmittel- 
bare, intuitive Erkennen als einzig positiver Wert aufgestellt wird. Das Wissen um 
die Wahrheit ist primär, der vernünftige Beweis, das sprachliche Erfassen nach- 
träglıch. 

Mit dieser Erkenntnis kommt nun Landauer nicht wie Mauthner zur „fröhlichen 
Resignation”, sondern zum Extrem, zum entschlossenen Angriff gegen das Be- 
stehende, als falsch, schlecht und brüchig Erwiesene, zum Angriff gegen die Autorität 
schlechthin. Er entwurzelt die Autorität aller herrschenden Normen, von der Sprache 
angefangen — dabei ıst seine Sprache von einer gedrungenen Wucht sondergleichen 
— bis zu Artikeln, Gesetzen und Fesseln des sozialen Lebens der Menschen.‘ Aus seinem 


Gustav Landauer 531 


——— ——— — — ee a a e pa a a 


antiautoritären Wesen entspringt sein Wissen um dic Freiheit, daraus sein Wille 
zur Befreiung und aus diesem Willen sein innerstes Bündnis mit der geknechteten 
Klasse des Volks, mit dem Proletariat, seine revolutionäre Entflammtheit für das 

Recht. 

Was ist Recht? Das, was das Gewissen verlangt. Die Beobachtung aes Unrechts 
leitet das Gewissen zum Recht. Der Name des sozialen Unrechts ıst Kapitalismus, 
d. h. Ausbeutung, Zwang, Entrechtung des Volkes zugunsten einer Klasse. 

Landauer wußte diese Begriffe identisch mit Zentralismus und Staat. „Der 
Staat”, sagt er in seinem herrlichen „Aufruf zum Sozialismus“, „sitzt nie im Innern 
der Einzelnen, er ist nie zur Individualeigenschaft geworden, nie Freiwilligkeit ge- 
wesen. Er setzt den Zentralismus der Botmäßigkeit und Disziplin an die Stelle 
des Zentrums, das die Welt des Geistes regiert“. Gerechtigkeit des sozialen Lebens 
kann es nur geben bei Selbständigkeit, Freiwilligkeit und gesellschaftlicher Gleich- 
heit, also im Sozialismus. Von ihm sagt Landauer: „Sozialismus ist Umkehr; 
Sozialismus ist Neubeginn, Sozialismus ist Wiederanschluß an die Natur, Wieder- 
erfüllung mit Geist, Wiedergewinnung der Beziehung“. 

Es ist klar, daß bei diesen aus antiautoritärem Drängen gewonnenen Einsichı. 
Landauers Sozialismus auf anarchistischem Boden fußte, daß ihm jeder Staatssozialis- 
mus genau so zuwider sein mußte, wie der Staat selbst und daß er seinen Plan 
zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft nicht an Marxens zentralistisches 
Programm, sondern an die Ideen des Anarchisten Proudhon anschloß, ohne sich 
in allem mit diesem System zu identifizieren. Um . System war es ja Landauer 
überhaupt nirgends und niemals zu tun, und so begnügte er sich auch in der 
Werbung nicht mit schulmäßigem Empfehlen einer sozialistischen Doktrin, sondern 
verlangte die Tat, den Beginn mit dem Sozialismus selbst. Durch Aufbau soziali - 
stischer Pioniersiedlungen wollte er den Staat von innen heraus unterminieren, das 
Neue schaffen, um das Alte daran verderben zu lassen. Dies war der Sinn seines 
„Sozialistischen Bundes“, den er 1909 begründete, und dem er in seiner Zeitschrift 
„Der Sozialist” das eindringliche Organ schuf. 

Der Weltkrieg, der ihn nicht schwach fand in seinen Überzeugungen, griff 
vernichtend ein in seine friedliche Revolutionsarbeit. Und dann kam die Revolution. 
Sie riß den Mann, dessen Element der Kampf war, der als junger Student schon 
in ständigem Konflikt mit allen Staatsgewalten und Parteipäpsten gestanden und 
viele Monate in Gefängnissen gelebt hatte, mit seiner ganzen Person mitten in die 
Bewegung der Massen, machte ihn dank seiner quellenden Beredsamkeit zu einem 
ihrer Führer. 

Der von Rußland herübergeschnellte Rätegedanke fand in Landauer einen 
glühenden .Propagandisten. Er zeigte ihm die Möglichkeit einer freien Formung 
des gesellschaftlichen Aufbaues bei der Verwirklichung des Sozialismus. Ich will 
bier nicht verschweigen, daß in dieser Zeit, in der wir dauernd miteinander und 
nebeneinander am Werk der Befreiung arbeiteten, bei aller Freundschaft, die nicht 
einen Augenblick lang getrübt war, eine gewisse Gegensätzlichkeit in der Erfassung 
der Situation zwischen ihm und mir bemerkbar wurde. Landauer sah mit dem 
Zusammenbruch des alten Staates und der Labilität des neuen Zustandes schon 
die Möglichkeit gegeben, sofort mit. dem Aufbau, mit der Verwirklichung vor allem. 


532 Erich Mühsam: Gustav Landauer 


— — ——— 


des agrarischen Sozialismus zu beginnen und inzwischen der eben gewordenen 
bayerischen Republik unter Eisners Leitung soviel Unterstützung zu leihen, wie 
sie zur Förderung dieser proudhonistischen Pläne brauchte. Der ungestüme Drang, 
das Gebäude, wie er es sich dachte, hinzustellen, ehe neue Erschütterungen den 
Bau verhindern könnten, erklärt seine Nachgiebigkeit gegen Eisners Politik. Mir 
lag der destruktive Teil der Revolution, den ich noch zu leisten sah, näher, und 
ich kann den Gegensatz zwischen uns nicht besser klar machen, als ich es in einem 
der letzten Gespräche mit ihm tat. „Ich erkenne jetzt deutlich die innere Ver- 
schiedenheit zwischen Proudhon und Bakunin an uns beiden. Dich führt die Re- 
volution immer stärker zu Proudhon hin, mich zu Bakunin. Landauer gab mir 
recht. 

Der Gedenktag macht alles wieder lebendig ın mir. Denn der 7. April war 
nicht nur Landauers Geburtstag. Er war vor einem Jahre auch der Tag. an dem 
in München die Räterepublik proklamiert wurde, der Tag. den wir beide in 
tragischer Verkennung seiner Bedeutung als den Beginn der neuen Epoche begrüßten 
und der doch zum Unheil und für den großen, reinen Kämpfer, dem dieser Gruß 
gilt, zum Verderben wurde Der Zeitpunkt war. nicht richtig erfaßt. So konnte 
Verrat sich einnisten und unendliches Leid stiften, wo unermeßlicher Segen hätte 
entstehen sollen. 

Boshafte Verleumdung hat behauptet, Landauer habe die Ausrufung der Räte- 
republik eitler Selbstsucht wegen auf seinen Geburtstag „geschoben. Ich will 
dieser elenden Legende, die nur glauben kann, wer diesen Mann nie gekannt. und 
nie begriffen hat, ein für allemal den Hals abdrehen. Genau das Gegenteil ist 
der Fall. Die Ausrufung sollte am Morgen des 5. April erfolgen. In der Nacht- 
sitzung vom 4. auf 5. im Kriegsministerium verlangten plötzlich die Mehrheits- 
sozialdemokraten durch den Mund desselben ‚Mannes, der dann an der Spitze der 
Gegenrevolution stand, einen Aufschub von 48 Stunden, um die Provinz noch im 
Sinne der neuen Wendung zu bearbeiten. Landauer und ich waren diejenigen, 
die am heftigsten gegen diese Verzögerung geeifert - haben. Sein Geburtstag . wurde 
gegen seinen Wunsch und erregt geäußerten Willen zum Tage der Proklamation 
bestimmt. 

Der weitere Verlauf ist bekannt. Die Empfindungen, uie mich beim Gedanken 
an sein Ende erfassen, seien verschwiegen. Ich habe das Meinige getan, wenn 
ich die Gestalt dieses Menschen und Kämpfers den Vertraulichkeiten betulicher 
Bourgeois-Idealisten entzogen und Gustav Landauer als den gezeigt habe, der er 
war und vor der Geschichte bleiben wird: als Mann des Volkes und der soziali- 
stischen Revolution. 


Douglas Goldring / Briefe aus der Verbannung 533 


BRIEFE AUS DER VERBANNUNG 


VON DOUGLAS GOLDRING 


Aus dem englischen Manuskript übertragen von HERMYNIA ZUR MÜHLEN 
S. die vorangehenden Brisfe in Forum IV.-4, 5 und 6 


24. 
London, im April 1919 

Bisweilen ist es eine große Erleichterung, die Sprach- 
weise unserer brüllenden altersschwachen. Generäle und 
anderer apoplektischer Patrioten nachzuahmen, doch ist es 
für Leute meiner Überzeugung nicht sebr klug. sich diese 
Erleichterung zu gönnen. Wenn General Prahlhans und 
Hauptmann Großmaul schallend verkünden: »Snowden müßte 
an die Wand gestellt und erschossen werden«, oder er- 
klären, Herr Ramsay Mac Donald sollte im Interesse des 
W ohles der Allgemeinheit unbedingt ermordet werden, 
so “finden diese Gefühle den universellen Beifall der Mit- 
junker, das heißt, jener Klasse. aus der- die Regierung 
ihre Beamten bezieht. Wenn 1 eine einfache Pro- 
letarierin. wie die arme Frau Wheeldon; . ihre Meinung 
über... Lloyd George auszusprechen Wagt. 60 erhält sie 
sofort den Besuch »Alec -Gordons (berüchtigter Detektiv 
und Agent provocateur). Was die Meinungsäußerungen an- 
betrifft, .so gilt ein Gesetz für die Herren und ein -anderes 

Mir persönlich miſffällt es. beherrscht zu werden, und 
ich will Ihnen gegenüber meine Meinung frei heraussagen. 
Mır behagen die Leute nicht. die unsere ausländische 
Politik kontrollieren. und ebenso wenig behagen mir unsere 
Diplomaten. am allerwenigsten aber deren Agenten und 
Vertraute. Mir mißfällt diese diplomatische öffentliche 
Diplomatie, bei welcher sich vier miftelmäßige Diplomaten, von 


534 Douglas Goldring 


denen drei allgemeines Miftrauen genießen, das Recht 
anmaßen, über das Leben und Schicksal der ganzen Welt 
zu verfügen. Das Proletarıat Europas wırd, dank der 
Feigheit. Unmenschlichkeit. dem Mangel der Vision dieser 
Herren und dem von ihnen sanktionierten Mißbrauch der 
Freiheit der Meere wenigstens noch zehn Jahre lang Not 
und Elend erdulden müssen. Es geht nun einmal nicht 
anders: wollen die »großen Viere die unbeschränkte 
Herrschaft übernehmen und das Publikum von den Be- 
ratungen fern halten. so müssen sie auch die volle Ver- 
antwortung tragen. Gestatten sie den »hohen Militär- und 
Marineautoritäten . Hunderttausende von armen Leuten dem 
Hungertod preiszugeben. dann sind letzten Endes sıe die 
Schuldigen. Alle anderen. die Cecil Harmswortbs und 
Robert Cecils können ihre Verantwortung auf andere ab- 
wälzen; die vier >»demokratischene Kaiser vermögen dies 
nicht zu tun. Sie sind unselige Menschen, dıe der Gebete 
aller Christen bedürfen, denn lange werden sie ihren Bluff 
nicht mehr aufrecht zu erhalten vermögen. 

Nebenbei bemerkt, ein Satiriker, wenn wir einen häften, 
könnte die Welt mit der Darstellung der »Großen Viere 
zum Lachen reizen. Als Glanznummer in einem Cabareſt 
wären sie prächtig. Während der Professor in Amtstracht 
vorträgt, zieht der »schlüpferige Davye — die Hemdärmel 
aufgerollt. damit jeder sch, daß kein Betrug 
möglich sei. Kaninchen aus dem Raum und Gold- 
stücke aus dem eigenen Haar. Signor Orlando hingegen 
wirft, unzufrieden mit dem Empfang seiner Claque. die 
Noten hin und verläßt eilends die Bühne. Monsieur 
Clemenceau läßt sich durch diesen Zwischenfall nicht stören. 
Er sitzt gelassen beim Eingang. die Hand in der Kasse 
(Die große Friedensvorstellung hat bereits einen beträcht- 
lichen Teil der Schulden seines Landes bezahlt. Wenn 
es noch lange so weiter geht — —9 


Briefe aus der Verbannung 535 


Doch bin ich von der britischen Diplomatie ab- 
geschweift. Während sich die »Großen Viere damit be- 
schäftigen. meinen armen kleinen sieben Monate alten Sohn. 
ohne meine oder seine Einwilligung, zu einem Dienst- 
pflichtigen der Klasse 1938 zu machen, überbieten sich 
ihre Knechte in Schurkereien. Leider fehlt der Diplomatie. 
wie allen Gesellschaften mit beschränkter Haftung. ein 
Körper. dem man Fufßtrifte versetzen könnte. Sie ist 
anonym. Wir kennen weder Namen noch Adressen der 
Herren, die sich mit Angelegenheiten, wie es zum Beispiel 
die schmutzige Lockhart -Verschwörung ist. befassen; ihre 
Photographien kommen nicht in die Zeitung. Und dennoch 
müssen wir mit ihnen abrechnen; denn sie sind ganz ge- 
meine Schurken, diese Herren, niederträchtige, feige Schurken. 
die sıch hinter der Anonymität verkriechen und im Ge- 
heimen für die Interessen der Hochfinanz arbeiten. staf 
für die Interessen des Volkes, dessen Diener zu sein sie 
vorgeben. Sie handeln im Namen unseres Landes, sie zerren 
unseren Namen durch den Schmutz, sie überschüften uns 
mit Schmach und Schande — und wir wissen 
nıcht eınmal, wer sıe sınd! 

Wer (außer Herrn Leslie Urquhart) hat bei der 
Koltschack-Intrigue die Hand im Spiel? Welcher nieder- 
trächtige Schurke trägt Schuld an der Verschwörung 
gegen die ungarische Revolution? Freilich die- Bolschewiki. 
in Ungarn haben 37 000 arme Kinder mit Badegelegen- 
heiten versehen. um Krankheiten abzuwehren. haben die 
Spitäler nationalisiert. das Schulsystem neu organisiert, damıt 
die neue Generation im Hal gegen den Militarismus 
heranwachse! Pfui! Wir wissen. daß die Rumänen ohne 
jede Herausforderung oder Entschuldigung. auf Befehl der 
Entente. angegriffen haben. Wir wissen, daß ihnen die 
britische Regierung dureh Munition und Bargeld wertvolle 
Dienstes geleistet hat. Während zwei Millionen Menschen 


536 — Douglas Goldring 


aus Mangel an Maschinen und Transportgelegenheiten ver- 
hungern. werden in Rumänien Maschinen und Transport- 
gelegenheiten angehäuft, um diesen gottlosen Krieg zu unter- 
stützen. Wir begehen dieses Verbrechen per prokura. 
Während die britische Regierung General Smuts in einer 
anständigen Mission nach Ungarn schickt. autorisiert sie 
zur gleichen Zeit Rumänien. die Arbeit des Generals 
zu nichte zu machen. Die Rumänen begannen mit der 
Entführung eines unglückseligen alten Ehepaars von einem 
Bauernhof (Bela Kuns Eltern) und der einer harmlosen 
Dame des Mitelstandes (Bela Kuns unverheiratete Schwester). 
Reuter bemerkt hierzu ironisch: -die ungarische Presse 
glaubt, diese Vorfälle werden eine allgemeine Empörung 
hervorrufen. Arme, naive ungarische Presse! 

Unser Verhalten gegenüber Ungarn — wie auch unser 
Verhalten Ruſeland. Irland. Ceylon. Persien sowie anderen 
Ländern und Völkern gegenüber — ist niederträchtig. un- 
vernünftig und ehrlos. Es gab eine Zeit. da der englische 
Gentleman ein so feines Ehrgefühl besaß, dal er, um mit 
ehrlosen Dingen in keinerlei Verbindung zu stehen, seine 
Stelle aufgab. Diese Zeit scheint längst vorüber zu sein. 
Sogar ehrbare Mitglieder der Regierung. wie Lord Robert 
Cecil und Herr Harmsworth, bleiben auf ihren Posten — 
trotz folgender offizieller Erklärung: 

»Oberst Cuninghame läßt, nach einer Rücksprache mit 
Paris, der ungarischen Regierung kundtun, die Entente sei 
bereit einen Waffenstillstand zu schließen und sofort dem 
Vordringen ihrer Truppen Einhalt zu gebieten, wenn die 
Sowjet-Regierung abdankt. wenn ein aus allen bür- 
gerlichen Parteien Ungarns bestehendes 
Kabınett gebildet wird und alle Beschlüsse 
der Sowjet-Regierung aufgehoben werden. 
Unter diesen Bedingungen ist die Entente bereit. mit der 
ungarischen Regierung ın Verhandlungen einzutreten. 


Briefe aus der Verbannung . 537 


Ach, ihr armen, kleinen ungarischen Proletarierkinder ! 
Ihr sollt keine warmen Bäder mehr haben, ihr müßt ver- 
laust, rachitisch und hungrig bleiben. So will es die 
Entente! Deine Profitler. ungarisches Volk. sollen sich 
wieder schwer auf deinen leeren Bauch setzen. unsere 
Profitler haben beschlossen, sie zu reften. Doch verzage 
nicht. es wird ihnen nicht gelingen! Ein einfaches Produkt 


der Erde wird sie bezwingen — die Kohle. 


25. 
London, im Aprıl 1919 


Nachdem ich in der Nummer des »Hansard- vom 
15. April Lord Robert Cecils Reden über die Hungers- 
not und über das Chaos in Zentral-Europa — beides 
hauptsächlich durch Aufrechterhaltung der Blockade ver- 
schuldet — und Herrn Cecil Harmsworths schwache 
Verteidigung der Blockade nach dem 11. November als 
ein Instrument des Druckes gelesen habe. muß ich zu- 
geben. als Psychologe völlig verwirrt zu sein. Lord Robert 
Cecils Rede ist voll Menschlichkeit und christlichen Gefühls. 
sie beweist, daß er jede Einzelheit des Martyriums von 
Europa genau kenne. Als -Blockade- Minister- vor der 
Unterzeichnung des Waffenstillstandes weil er selbst- 
verständlich, wie weit die britische Marine für eine Lage 
verantwortlich ist. die die ganze Welt mit Unheil bedroht. 
einem Unheil. daß schier noch entsetzlicher ist. als der 
Krieg selbst. Die Blockade hat weit mehr arme Zivilisten. 
Frauen. Kinder und alte Leute in Deutschland getötet. 
als die britische Armee während des ganzen Krieges ver- 
loren hat. Lord Robert gibt offen zu, die Blockade 
müsse sofort aufgehoben werden, sobald dies keine - Gefahr. 
mehr bedeute. (Herr Hoover jedoch, der wohl wußte, um 
was es sich handle, erklärte im November 1918, es sei 
gefährlich, die Blockade auch nur einen Tag länger auf- 


538 Douglas Goldring 


recht zu erhalten!) Aus Lord Roberts Reden geht hervor. 
daß er die Blockade eben so verabscheue, wie ich es tue. 
Die Schuld an der Aufrechterhaltung wird von ihm, sowie 
von Herrn Cecil Harmsworth »hohen Militär- und Marine- 
autoritãten · zugeschoben. Weshalb werden die Namen dieser schul- 
digen Autoritäten nicht erwähnt? Wie kommt es, daß diese 
beiden Herren — wenn sie Ehrenmänner sind — nicht 
von ihren Ämtern zurücktraten, als die hohen Militär- 
und Marineautoritäten diesen abscheulichen Beschluß gefaßt 
haben? Ihr weiteres Verweilen im Amte macht sie zu 
Mitschuldigen an einem Verbrechen. das nicht bloß das 
halbe Europa foltert. sondern auch den Handel und unseren 
internationalen Ruf ruiniert. Patriotismus, Rücksicht auf 
persönliche Ehre, gewöhnlichste Menschlichkeit müßten Lord 
Robert und Herrn Cecil Harmsworth zum Rücktritt be- 
wogen haben. Weshalb zögerten sie? Ich kann es nicht 
begreifen! Arme Menschen, welche Qualen der Ver- 
zweiflung und Reue müssen sie empfinden! Kein Wunder. 
dall sie unruhig werden, wenn im Parlament das schreckliche 
Wort »Blockade« ausgesprochen wird. Zweifellos sehen sie 
ım Traum die grinsenden Schädel unzähliger gemordeter 
Mütter. hören das Stöhnen und Achzen der Sterbenden. 
die wilden Racheschreie. die aus Millionen verzweifelter 
Kehlen dringen. Ich beneide sie nicht um ihre Hölle, 
denn es lag in ihrer Macht. ansta die Schuld auf 
anonyme Soldaten und Matrosen abzuwälzen. die korrupte 
Luft Westminsters zu verlassen. dem Volke die Wahrheit 


zu sagen und das Volk entscheiden zu lassen 


Wir verlangen die Namen der »Autoritätene zu er- 
fahren! Sind es Foch, Haig. Franchet d’Esperey? Wenn 
ja. so wird das einfache Volk ihnen etwas zu sagen 
haben. Wer aber auch ımmer es war, der dieses Hunger- 
werkzeug anzuwenden beschloß, um Deutschland zu zwingen, 
einen lebendigen Leib zerstückeln und seine Eingeweide 


Briefe aus der Verbannung 6539 


ausreiſen zu lassen, nie darf vergessen werden. daß die 
britische Marine diese Arbeit verrichtet 
hat. Die fröhlichen »Jack Tarse sind die wahren Mörder. 
Wahrscheinlich ahnt von Tausenden nicht einer, wozu er 
sıch hergibt: er murrt eın wenig und tut seine Arbeit 
weiter! Ich jedoch prophezeie, daß die hohen Militär- und 
Marineautoritäten«, wenn endlich das Gewissen der Entente- 
Völker erwacht, auf geheimnisvolle Weise verschwunden 
sein werden. Man wird uns mitteilen, die »Blockade kam 
eben sos, »jemand hat einen Fehler gemachte es war ein 
»Mißverständnis.. Und dann werden der ganze Tadel und 
dıe ganze Schmach auf die britische Marine fallen. Schon 
heute ist die Uniform des britischen Marineoffiziers in den 
Augen eines großen Teils der europäischen Völkerfamilie 
das Kennzeichen des Mörders. Ist einmal die Wahrheit 
überall bekannt. so wird lange Zeit das Tragen dieser 
Uniform in allen großen Städten der Welt eine gefähr- 
liche Sache sein. 

Es hat keinen Sinn Beschönigungen zu suchen: nach 
der Unterzeichnung des Waffenstillstandes und der Waffen- 
streckung der deutschen Flotte konnte für die Aufrecht- 
erhaltung der Blockade nicht einmal die britische Heuchelei 
eine Entschuldigung finden . . Leute, die noch eine gewisse 
Achtung vor Großbritannien haften. nahmen als gewiß an, 
daß sie nach dem 11. November wenigstens teilweise 
aufgehoben würde. Doch geschah dies nicht; im Gegenteil. 
sie wurde noch verschärft. Heute. nach mehr als fünf 
Monaten, besteht sie noch immer. Als Greueltat ist sie 
jetzt. nach dem Waffenstillstand. noch ärger als während 
des Krieges. Seit Anfang dieses Jahres wurden Hekatomben 
feindlicher · Kinder geopfert. Feindlicher Kinder! Lieber 
Heiland. wie oft bist du in diesen letzten schwarzen 
Monaten gekreuzigt worden — stets mit der Einwilligung 
des . Hauptorganes deiner englischen Kirche, der »Church 


540 Douglas Goldring 
Times.. Die Folgen der Blockade sind derart entsetzlich, 
daß die englischen Tommys in Cöln General Plumer 
zwangen, bei der Friedenskonterenz gegen die Fortsetzung 
des Hungerkrieges zu protestieren. Er sandte den Brief 
ab und wurde — versetzt. Die Leiden in einem einzigen 
Land sind so furchtbar, daß 14 britische Offiziere. die 
vom Kriegs ministerium betraut worden waren, die ökono- 
mischen Bedingungen in Deutschland zu studieren, als 
ehrliche Männer nur einen Rat wuſſten: die Auf hebung 
der Blockade. Weshalb ist dieser Rat nicht befolgt worden? 

Ist es denn gar so ruhmvoll, die Frauen des Feindes. 
wenn sich dieser bereits ergeben und die Waffen ab- 
geliefert hat. auszuhungern? Ich kann dies nicht ruhmvoll 
finden und es freut mich. daß auch Lord Robert Cecil 
meiner Meinung ist. ö 

Ich glaube nicht. daß Herrn Harmsworths Ansichten 
letzten Endes von denen seiner Vorgänger im Amte ver- 
schieden sind. Ich will noch einmal auf seine Rede ım 
Parlament zurückkommen. Nachdem er zugegeben hatte. daß 
er »augenblicklich für das britische Interesse an der Blockade 
verantwortlich sei, bemerkte er, wenn die Zeit käme — 
und sie könne bald kommen — da die hohen Militär- 
und Marineautoritäten die Blockade als Werkzeug des 
Druckes nicht mehr benötigen, so wäre er. dies könne er 
dem Parlament versichern. herzlich froh. der Sache ein 
Ende zu machen. Das will ıch .ıhm gerne glauben! Aber 
bedenken Sie den tieferen Sinn dieser Worte. Hundert- 
tausende von Kindern werden gemordet, Seuchen, Pest, 
Chaos wüten durch ganz Europa — auf das Gehe:il 
shoher Militär- und Marineautoritäten«, die seinen Druck 
ausüben wollene. Weshalb einen Druck ausüben? 
Sollen wır etwa glauben, sie wünschen einen ewigen Kriegs- 
zustand herbeizuführen. damit die Militär- und Marine- 
Mandarine nicht ihre Stellen verlieren und in den Hinter- 


Briefe aus der Verbannung | 541 


grund geschoben werden? Und wer sind denn diese 
Autoritäten? Die Namen bitte! Sie mögen hervortreten. 
und vor ganz Europa die Verantwortung auf sich nehmen, 
Herr Harmsworth hat sie einer Sache beschuldigt, die in 
den Augen von Millionen Männern und Frauen als un- 
geheuerliches Verbrechen gilt. Sie mögen vortreten, den 
empörten Völkern vor die Augen treten und sich nicht 
hinter irgend einen Strohmann von Unterstaatssekretär ver- 
bergen. Der arme Soldat, der, krank und unterernährt. 
auf dem Schlachtfeld Furcht zeigt, wird als Feigling er- 
schossen. Moralische Feigheit darf die schuldigen hohen 
Militär- und Marineautoritäten und die Politiker, die ihnen 
Verbrechen zu begehen halfen, nicht vor der gerechten 
Strafe bewahren! 


26. 
London, im Mai 1919 

Die Zeit rückt näher, da die genauen Friedensbe- 
dingungen — eines Friedens, der so lange Zeit in Ge- 
heimnis und Nacht ausgebrütet ward — einer erschöpften 
Welt. die sie gar nicht mehr zu hören wünscht, mit- 
geteilt werden sollen. Wir wissen heute bereits genug, um 
zu erkennen, dał Wilson — der Phrasenmacher, der 
Erzheuchler, die vierzehn Punkte mit denen er Freund und 
Feind auf gleiche Weise betrogen. über Bord geworfen 
hat. Wir wissen, daß er sich des Vertrauens, das die 
Völker ın ıhrer Verzweiflung auf ıhn gesetzt haben, unwert 
erwiesen hat. 

Dennoch dürfen wir nicht verzagen. Clemenceau, 
Orlando, Pichon, Pertinax u. Co. arbeiten durch ihre 
wahnwitzige Bosheit und Habgier uns in die Hände. 
Durch ihren gewalttätigen Versuch, das Proletariat nicht 
nur in den feindlichen Ländern, sondern auch im eigenen 


Lande zu zermalmen — sichern die »großen Viere den 


542 Douglas Goldring 


Völkern den Endsieg. Große Teile Europas haben sich 
bereits dem Bolschewismus zugewandt, und dies ist das 
Resultat der reaktionären Entente- Beschlüsse. Der phan- 
tastische Feldzug gegen die revolutionäre Regierung Rul- 
lands hat — stärker als irgendetwas anderes es zu tun 
vermöchte — Sympathien für Lenin und Achtung vor 
seinen Leistungen erweckt. Ebenso rächt sich die Ver- 
wendung der britischen Marine als Aushungerungs werkzeug 
gegen feindliche Frauen und Rinder an ihnen selbst. Der 
Hal, den gie geschaffen und an dem sie sich fast fünf 
Jahre lang gemästet haben (ein Haß, der die halbe Welt 
mit dem Blut ihrer Opfer überschwemmte), wird heute 
in einer Flut des Mitgefühls ertränkt. Unsere Herzen 
können sich trotz aller Härte nicht mehr verschließen. 
Erbarmen und Mitleid sind wieder unter uns erschienen 
und durch die Greueltaten Northeliffes und der hohen 
Militär- und M/arineautoritäten- zu neuem Leben 
erweckt. 

Die vier Diktatoren, die auszogen, um den Bolschewismus 
zu erdrosseln. haben die Welt mit einer Schnelligkeit und 
einem Erfolg bolschewisiert, wie dies nicht einmal die be- 
gabtesten russischen Propagandisten zu erträumen wagten. 
Trotzkı sprach die lauterste Wahrheit. da er sagte: »unsere 
Sache hat keine mächtigeren, beredteren Verfechter als 
Clemenceau, Orlando. Wilson und Lloyd George. 

Wenn ich recht überlege. so erschüttern mich die 
Pläne der französischen Finanziers. das deutsche Proletariat 
bis ans Ende dieses Jahrhunderts zu versklaven. gar nicht 
besonders. Das Aushungern Deutschlands und Österreichs 
— unser einziges Miftel. eine große Nation zu knechten 
— kann nur aufrecht erhalten werden, wenn sowohl das 
Gewissen als auch die Vernunft der Welt tot sind. 
Sogar England beginnt aus dem Siegesrausch zu erwachen. 


Amerika wird merklich unruhig. und die Völker der neu- 


Briefe aus der Verbannung 543 


tralen Länder verurteilen fast einstimmig unsere Bedingungen. 
Sogar der geduldige, langmütige Osten ist durch den selbst- 
mörderischen Wahnsinn unserer »Geschäftspolitikers auf- 
gerüttelt worden und erwartet, während diese Herren 
tasten und gestikulieren. stumm die entscheidende Stunde. 

Im Sommer 1916 behauptete ich meinen Freunden 
gegenüber Deutschland besäße die Quelle der Lebenskraft: 
damals vermeinte ich, die Führerschaft der weißen Rasse 
müsse endgültig in die Hände des deutschen Volkes über- 
gehen. Heute hat sich dieser mein Glaube noch mehr 
verstärkt. Durch Leiden geläutert und veredelt wird sıch 
das deutsche Volk erheben und die Menschheitsfamilie dem 
Morgenrot einer neuen Zeit entgegenführen. 

Ja. die Politik der »sgrolen Vier. ist eine zum Tode 
verurteilte: endlich ist der Sieg jener Ideen. die die ein- 
fachen Völker beherrschen. gesichert. Wir sind bei der 
schaurigsten Stunde des langen Weltenmartyriums angelangt. 
bald wird sich die Morgenröte in ihrer ganzen Herrlich- 
keit zeigen. Wenn dieser gesegnete Augenblick anbricht. 
mögen dann wir. das englische Volk, den Mut haben, ihn 
mit demütigem Herzen und ungeblendeten Augen zu be- 
grüßen! Harrt aus. deutsche Genossen. nur noch eine 
Stunde harrt aus! 


27. 
London, im Mai 1919 
Die nunmehr veröffentlichten Friedensbedingungen ent- 
halten wenig Überraschungen. Vielleicht sind sie noch etwas 
gemeiner und lächerlicher, als man erwartet hafte, und 
Wilson hat sich, wenn möglich, noch etwas mehr diskreditiert. 
Vielleicht hat dieses unmenschliche Verhalten auch seine 
gute Seite — es beweist die Kluft, die ın allen Ländern 
die Völker von ihren Herrschern trennt. Die Überlebenden 
jener. die sich 1914 freiwillig gemeldet haften, ım guten 


544 — Douglas Goldring 
Glauben, der Krieg sei ein Krieg für Wahrheit, Gerechtig- 
keit, Ideale. ein heiliger Krieg. müssen sich nun eingestehen. 
wie grausam sie getäuscht worden sind. Andrerseits finden 
in den Friedensbedingungen die Pazifisten der ganzen Welt 
ihre Rechtfertigung. | 

Häufig sind in unseren Zeitungen die kurzen Spalten 
die bedeutsamsten: ich fand heute im »Star« folgende 
Nachricht: - Professor Litzmann von der Universität Bonn 
wurde vom britischen Kriegsgericht zu zwei Monaten 
Gefängnis verurteilt. weil er unterlassen hafte. einen der 
britischen Presseabteilung zugeteilten Offizier zu grüfen.« 
Auf der einen Seite las ich die Vorbereitungen. durch 
die die Alliierten ihre ruinierten. hungernden. hilf losen 
Gegner zwingen wollen. ihr eigenes und ihrer Kinder 
Todesurteil zu unterschreiben. Selbstverständlich soll unter 
der Ägide Lord Robert Cecıls die Blockade verschärft 
werden. Diesmal soll Deutschland tatsächlich sverhungern«. 
Marschall Foch hafte gestern eine Unterredung mit dem 
Dreierrat und erhielt unbegrenzte Vollmacht. Präsident 
Wilson soll zu ıhm gesagt haben: „Ergreifen Sie 
alle nötigen militärischen Maßnahmen, falls 
die Hunnen nicht unterzeichnen wollen. 


Ich hoffe, diese Nachricht beruht auf Lüge. Wenn 
Wilson zu der Politik Northeliffes und Herrn Botomlyes 
auch deren Sprache noch angenommen hat, so ist dies 
der letzte Strohhalm. Was aber soll man angesıchts der 
von ihm gutgeheißenen Friedensbedingungen denken? Paris! 
Parıs! Diese Stadt ıst der Seuchenherd der Welt: sogar 
Wilson wurde von seiner verpesteten Atmosphäre angesteckt! 

Es ıst keine Übertreibung. wenn man behauptet, daß 
Wilsons moralischer Zusammenbruch unzählige Leute in 
Verzweiflung versetzt hat. Jene Frauen und Männer, die 
sch noch einen Funken Menschlichkeit bewahrt haften, 
deuchte in den letzten Monaten Wilson die einzige 


Briefe aus der Verbannung 545 


Hoffnung. Heute erweist es sich, daß er nur der Phrasen 
fähig sei. und selbst seine Phrasen haben an Schwung 
eingebüſft. Soll mit seinen guten Vorsätzen Europas Pfad 
zur Hölle gepflastert sein? 

Der Ausblick nach allen Seiten ist hoffnungslos düster. 
Die Vorbereitungen für den schmachvollen Krieg gegen 
Rufland werden fortgesetzt, man versteift sich darauf, einen 
militärischen Triumph zu erzielen, und will einem niedrigen 
Ehrgeiz Tausende von Leben opfern. 

Wir senden Regimenter mit Tanks nach Irland, mit 
Maschinengewehren, Panzerwagen, aufgesteckten Bajoneſten — 
um drei politische Gefangene zu fassen. In Indien, in 
Ägypten, ın Ceylon U 

Während ich schreibe, scheint hell die Sonne, und 
von meinem Fenster aus sehe ich frische, blaßgrüne Bläfer. 
auf denen die Sonnenstrahlen zarte Muster zeichnen. Wie 
hatte ein derartiger Anblick vor fünf Jahren unser Herz 
erfreut! Heute jedoch scheinen wir von all dieser Schönheit 
abgeschniften zu sein, an ihr kein Anteil mehr zu haben. 
Es ist. als ob uns die Mutter Erde, empört über ihre 
Menschenkinder. enterbt hätte. 

Wenn ich in früheren Zeiten an Sommertagen einen 
ländlichen Pfad entlang geschriſten war, so hafe ich mich 
als einen Teil dessen gefühlt, was meine Augen sahen — 
der Wolken, Hecken und Wiesen, der Bäume, des Sonnen- 
scheins und der frischen Winde. Heute ist alles anders 
geworden. Ich fühle mich als Eindringling. weil ich dem 
Menschengeschlecht angehöre. Die Natur hat ihrer alte 
Freundschaft mit uns gebrochen und hält uns von sich 
fern. Die Sonne hat ihre Güte verloren, die Sterne halten 
sich abseits und flüstern uns keine Geheimnisse mehr zu, 
der zynische Mond verhöhnt uns aus seiner Höhe. Dank 
unserem Materialismus will die Welt der Materie von 


uns nichts mehr wissen. 


340c0%nũ = Douglas Goldring 


P — 
der Satz klingt abgebraucht und banal Ist es möglich. daß 
die menschliche Rasse durch die Abscheulichkeit des Krieges 
und des Friedens sein Opfer eitel gemacht hat? Wir 
ind seinen Lehren untreu geworden. haben ihn durch 
unsere Blindheit und Undankbarkeit zum weiten Mal 
gekreuzigt — und was ist das Ergebnis? 

Nur wenn Wir ihm von neuem Treue geloben. können 

die westlichen Völker aus diesem Unheil Rettung finden. 
nur wenn jeder von uns Christus als unsichtbaren König 
in einem Herzen trägt. dürfen wır wieder hoffen. 

Sie müssen mir diesen Gefühlsausbrurh verzeihen. Ich 
bin nicht Christ und war (außer bei meiner ER 
scit fünfzehn Jahren in keiner Kirche. 

Was ich vorhin sagte. hat die Geistlichkeit seit Jahr- 
hunderten tagaus. tagein gepredigt. Wie aber in aller Welt 
vermag die anglikanische Geistlichkeit die Treue Christus 
gegenüber mit ihrer Unterstützung des Krieges zu ver 
einigen, mit ıhrer Bewunderung für Northeliffes Zeitungen, 
der völligen Gleichgültigkeit den Leiden ihrer Feinde 
gegenüber. ihrer freudigen Zustimmung zu eınem grau- 
samen. unchristlichen Frieden? Bedenken Sıe das Verhalten 
der anglikanischen Bischöfe und Priester während des 
Krieges! Bedenken Sıe ihr Verhalten seit Unterzeichnung 
des Waffenstillstandes! Unser Land besitzt viel schöne 
Kirchen und Kathedralen, in wie viele derselben ver- 
mochte der Geist Christi einzudringen? Wie viele Geist- 


Briefe aus der Verbannung 547 


— — o uno. — a 


liche haben ihre Stimme gegen das Aushungern deutscher 
Frauen und Kinder erhoben? Wie viele Bischöfe haben 
ihre Gemeinden gelehrt, sie müßten das deutsche Volk 
leben, wie ihr eigenes? Wie vielen Geistlichen ist es 
klar, daß die Lehren Christi nicht bloß schöne Worte 
für den Sonntagsgebrauch sind. sondern daß sie die Quintessenz 
politischer Weisheit enthalten? Wollten doch die Poli- 
tiker bisweilen die christliche Philosophie in J esu Worten 
studieren! Es sind weniger Worte als ın den konfusen 
Abhandlungen der großen Vier-, aber die Menschheit 
kann trotzdem nur durch das Studium der Lehren Christi 
den Weg zum ewigen Heile finden. Zwei Alternativen 
stehen vor der Menschheit — dies hat das Grauen der 
letzten vier Jahre zur Genüge bewiesen: — wir können 
den Weg weiterschreiten, den uns unsere Herrscher weisen 
und der zum Selbstmord der weißen Rasse. zur Ver- 
dammnis führt, oder aber wir können durch eine gewaltige 
geistige Wiedergeburt die Beschlüsse unserer Herren um- 
stoßen, ihren Hal durch Liebe, ihren Rache- und Hab- 
gier-Frieden durch den Frieden des guten Willens ersetzen. 
Die westliche Welt muß wählen zwischen dem Christ 
und dem Antichrist, von dieser Wahl hängt die ganze 
Zukunft der weilen Rasse ab. 
Ende 


548 u _ Ludwig Rosenberger 


o am ne re men à—— — mern a. = 


KARL LIEBKNECHT UND SEINE BRIEFE 
VON LUDWIG ROSENBERGER 


„Wir sind und bleiben ur, 


trotz alledem.“ 
Karl Liebknecht, 
Briefe aus dem Zuchlheus. 


I. 


Es gibt zwei Arten von politischen Führern. 

Der eine ist der Führer des politischen Alltags, der 
typische Führer der Lohnbewegung und ihrer Abarten, der 
geistlose Trabant der durch die ökonomischen Verhältnisse 
bedingten Wechsel und Wandel der materiellen Bewegung. 
Es ist der Typ des Alltagsmenschen aus der Masse der 
Alltagsmenschen, des Durchschnifts der Volksversammlungs- 
schreier, die er überragt in seiner Anpassungsfähigkeit an 
die profithaschende Menge, deren Teil er in all ihren 
Eigenschaften ist. Er ist nicht Führer, nicht überragende 
Persönlichkeit. er ist der Geführte, der gehorsam der Masse 
nachlaufende, hündisch der Masse schmeichelnde, effekt- 
haschende. beifallshungrige. politisch führerseinwollende 
Mensch. 

Dieser Führertyp ist Blut und Fleisch vom Fleisch und 
Blut der politischen Alltagsmenschen, des politisierenden 
Spießbürgers. Er ist ihr Führer. Doch er ist nicht der 
Führer, sondern der Leithammel seiner Masse. Denn Führer 
sein heißt Träger seiner Idee, des politischen Willens zu 
sein. 

Politik ist Idee. Idee aber ist Geist. der Geist vom 
Werden des Neuen. Der politische Mensch soll der Aktive. 


der Kämpfer seiner politischen Idee sein, seiner Idee, die 


Karl Liebknecht und seine Briefe | 549 


nicht verknüpft sein soll mit seinem traditionellen oder 
gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnis. (Denn es gibt 
eigentlich keine Idee des Proletariats, sondern nur eine Idee 
des Kommunismus). 


So sind einerseits Glaube und Ethik, die Maxime poli- 
tischen Handelns, ebensowenig zu trennen wie andrerseits 
der wirkliche Führer von seinem Leben 
und von seiner politischen Tat. 


Der Pseudoführer ist geistlos, denn er erlebt keine poli- 
tische Idee, er kennt nur den politischen Erfolg und die 
damit beifallsklatschende Menge. Seine Politik ist nicht Geist, 
sie ist — Geschäft. Ideal und Geschäft sind aber die am 
wenigsten zu vereinbarenden Dinge der Welt. 

Der wirkliche Führer aber ıst nicht zu trennen von 
seiner Idee, er lebt die Idee, die Idee sein Leben: Sein 
Geist ist der Geist der Idee, sein Leben 
die Prophetie des Geistes. 


Der wirkliche Führer sieht in seinem politischen Ideal 
das Ideal seines Lebens, ın seinem Leben die politische Tat. 
Er sieht in seinem politischen Ideal die alleinige Treibkraft 
seines Handelns: er ist seiner politischen Idee allein ver- 
antwortlich, dann erst seiner Gefolgschaft, seiner Kampf- 
gemeinschaft, denen, die mit ihm Träger und Kämpfer seiner 
und ihrer Idee sind. 


Der politische Führer ist Diener seines Geistes, Diener 
der politischen Idee, aber nicht Diener einer in- 
differenten Masse. Er ist verbunden mit ihr, als 
ihr Führer, solange die Masse Träger seines Geistes und 
damit des Geistes der Idee ist. Aber er hat zu befolgen 
allein die Stimme seines Geistes, die Idee, deren oberster 
Träger er ist. Verläßt die Masse den mit ihrem Führer 
gemeinsamen Geist, so hat der Führer aufgehört. Führer der 
Masse im Gegen wärtigen zu sein: er bleibt der führerische 


550 Ludwig Rosenberger 


Mensch, der oberste und treueste Kämpfer für seine Idee: 
auch wenn die Masse die Bahn der Idee treulos verläßt. 

In allen übrigen Kampflagen des Lebens aber bleibt 
Führer und Masse innig miteinander verbunden. als Geist 
seines Geistes, als die Träger seiner Idee; die auf Leben 
und Tod verbundene Gemeinschaft der Tat. der Idee. 

Des Führers Vorbild soll sein des Größten der Zeiten, 
das Symbol des Lebens für die Idee und für die. Tat: 
er lebte in seinem Leben der Tat. 

Sein Leben wird zum Symbol der Tat 
und sein Menschtum zum Symbol der Idee. 

So lebt in des echten Führers Leben das Leben der 
Idee. Es gilt für ihn und soll für jeden gelten: keine 
Zwischenräume zwischen dem Ideal der Wirklichkeit und 
Freiheit. Kämpfer der Idee zu sein. halt: die Idee 
leben. 


II. 
Karl Liebknecht ist Armierungssoldat, er. der führerische 
Mensch. Er ist der Gegenpol seines — nun auch auf einem 


anderen Feld gebliebenen — Reichstagskollegen, des Kriegs- 
freiwilligen Ludwig Frank. Der Kriegsfreiwillige Frank war 
von der Identität von Persönlichkeit und politischem Handeln 
überzeugt, er zog die persönliche Konsequenz daraus. Er 
fel — für diese seine Überzeugung. Karl Liebknecht 
kämpfte von Anfang gegen diesen Krieg. Die bürgerliche 
Gesellschaft lynchte ihn dafür zuerst moralisch (Zuchthaus- 
urteil), dann auch körperlich. Den Geist konnte sie nicht 
töten. 

Der Führer Karl Liebknecht war der große Kämpfer 
seiner Idee. der Idee des Kommunismus. Er — der Mensch seiner 
Menschen. — war verbunden mit ihr und der Seele der Massen. 
mit der er fühlt, innigst liebt und kämpft. Liebknecht war 
Feldzugssoldat. ihr Leiden sein Leiden. Von der großen 
Schlichtheit der Menschenseele war er ein Stück. 


Karl Liebknecht und seine Briefe 551 


Da draußen begann sein großes Leiden, sein Golgatha, 
da begannen die Kreuzwegstationen bis er auf der Spitze 
seines Berges ans Kreuz geschlagen wurde — 

Dem: echten Führer ist das Fühlen der Masse niemals 
fremd. Er ist verbunden mit ihr: die Seele des Führers 
verbindet sich mit der aus Tiefsten nach Erlösung sich 
sehnenden Seele der Masse. Er erlebt das große Leid mit. 
das große Leid des Krieges. 

So sind seine Feldpostbriefe schlichte Erzählungen, ein 
Stück der Sozialpsyche der Zeit. Welch enorm geistige 
Anstrengung war es für den Menschen Karl Liebknecht. 
den Krieg. der ihm als so großes Unrecht erschien, zu 
überwinden! 

Das simple und doch menschlich so Große. die Seele 
des Soldaten — des Menschen spricht zu uns: es ist die 
Sozialpsyche dieser Epoche. Das Simpelste der Simplizitäten 
des Lebens wird zum Märchen. Die aller selbstverständ- 
lichsten Dinge der Welt kommen in diesen Briefen vor: 
die Bestätigung der Liebesgaben, der Tube mit dem Gelee 
und den mittelstarken Zigarren. ö 

In diesen Briefen lernen wir den Menschen Karl 
Liebknecht kennen: das Stück seines Wesens. Für ihn ist 
seine politische Idee nicht das Kluge-Kaltberechende, sie ist 
sein Leben. Er lebt in ihr. er umfalt. er umfaßt alles. 
seine „Frau, seine Kinder. seine Natur, die ganze Welt. — 
Er ist der politische Führer. der diese Welt so ganz aus 
vollem Herzen liebt. den Kosmos und das Kleinste. Der 
wahrhaft große Mensch umgeht wohl die Nichtigkeiten des 
Lebens. die Bosheiten und Gemeinheiten der Kleinen, 
Schmutzigen, aber nicht das Schöne, Intime. Beschauliche. 
Er sieht im kleinsten Schönen den Spiegel des Alls — der 
allumfassenden Liebe und Güte. — Es ist Liebknecht der 
Kinderfreund, der da in seinem ganzen Wesen vor uns 
tritt. Er kennt die Psyche seiner Mitmenschen gut, er ver- 


552 O Ludwig Rosenberger 
steht die Psyche der Kleinen. — Wie wundervoll die 
lebendigen Plaudereien mit seinen Kindern. Er plaudert mit 
ihnen über alles. Es ist so fein, von ihm diese Intimitäten 
zu hören. Er findet die Kraft, trotzdem das Erleben so 
schwer auf seiner Seele lastet, über das alles zu reden. 
Er. teilt die kleinste Freude mit, er umfaßt das ganze 
lebendige Leben mit seinen unzähligen kleinsten Freuden. 
Denn so erzählt er — vom Feld: »daf ich Schillerfalken. 
Gabelschwanzraupen, Mondvogel, braune Bären u. v. a. sah 
und viele Störche. habe ich schon geschrieben — 

Er sieht die Natur, er liebt sie, er bewundert sie, die 
ihn in ihrer ganzen heiligen Größe erfüllt:. . . die Natur 
ist ein schimmerndes Feenschloß — die Worte versagen 
vor der Zartheit und Größe. Stets bin ich schwach und 
erlebe alles mit ausgebreiteten Armen. Die Sterne, den 
weißen Mond. und er wird rot an einer kleinen Stelle. 
ein goldner Kranz legt sich um die Blüte: er wird heller, 
rosa gelblich, weit am Rand über den Wäldern, wo war 
das erste Rot? In den Furchen, an den Abhängen, auf 
den schrägen breiten Giebeln und Dächern der schneebe- 
deckten Hüften. leuchtets im Widerschein heimlich — opal 
— der harte Schnee knirscht unter meinen Füßen. Alles 
glitzert auf — der Himmel erhellt sich in seiner ganzen 
Wölbung — der Mond will drin vergehen, wie ein lichter 
Dampf in der Luft. Es blitzt und strahlt und blendet — 
sie hat den Königsthron bestiegen unter großem - Vortritt. 
heute und fast alle die Tage. Diese großen Herrlichkeiten: 
Warum kannst Du sie, können die Kinder sie nicht ge- 
genießen! Wie ich Euch um Euren Regenherbst bedaure.. 

Es sind Briefe. Briefe geben das Persönlichste 
wieder. Sie sind wie die Graphik direkt aus der 
Hand des Künstlers selbst. ohne Malstaffelei, ohne Kom- 
position, ohne — Intellektualismus. — Briefe sind die besten 
Rekonstruktionen des Seelischen. 


Karl Liebknecht und seine Briefe on 553 


Das stärkste Innenleben spricht aus ihnen. 


Der herrliche Brief an seinen Sohn (vom 26. 9. 15.) 
muß hier wegen seiner psychologischen Feinheit teilweise 
wenigstens wiedergegeben werden: »es streichen mir so viele 
Erinnerungen aus meiner Jugend durch den Kopf, Erinnerungen 
grad aus Deinem Alter, in dem Geist und die Gefühle 
knospen ... Ich bläfterte eben im Ploetz (Geschichte) und 
warf einen Blick in die bunte Fülle der Menschheitsge- 
schichte, und bei alledem wehten mir aus jeder Seite die 
Stimmungen entgegen, in denen ich sie einstens las und 
mit einer träumerischen Phantasie in mich einsog. Getrocknete 
Blumen mit ihren leicht verwirrenden Duft. 


... Hab Vertrauen zu mir und zu Sonja. Nichts vor 
uns verheimlichen, nichts tun, was Du zu bekennen scheutest. 
Wir verstehen alles — ich habe alle Irrwege des mensch- 
lichen Herzens durchwandert, durchtastet — durchkrochen. 
Nichts könnte Dir beikommen, was ich nicht verstünde — 
und Dir nicht verzeihen könnte und würde, wenn ich Dein 
Streben sehe, Dich durchzuarbeiten, hinaufzusteigen auf die 
Höhen — zur Sonne, in die unendliche Herrlichkeit der 
Welt. Deine Brust soll_hoch aufatmen und ich will Dich 
schen, wie Du die Arme weit ausbreitest, ihr, der Welt ent- 
gegen. — Das will ich sehen, darauf warte ich. — Öffne 
Dein Herz — laſ alles hineinfluten und Dich beseligen. 
Und laf Dich leiten vom Vertrauen zu mir, von der Liebe 
zu uns allen und zu den Menschen. Dann fällt alle Arbeit 
leicht: dann ist sie nicht Mühsal, sondern Glück und Ent- 


zücken«. 


Politisches enthalten die Briefe wenig: aber diese Stellen 
sind voll des Prägnanten. So besonders der Brief vom 
21. 9. 15. an seine Kinder: »Es ist heute ein wilder Tag 
hier und ein sehr böser Abend. Ein russischer Vorstoß aus 
Riga hat uns überrascht. Wir heben jetzt neue Stellungen 


554 Ludwig Rosenberger 


aus — in vorderster Linie. Es ist kühl. Über mir kracht 


es toll — auf uns ist die Hölle losgelassen. 
Ich werde nicht schießen —.. 
III. 


Karl Liebknecht rief am Potsdamer Platz: . Nieder mit 
dem Krieg l. Er wurde verhaftet. Er selbst schreibt darüber 
in seinem ersten Brief aus der militärischen Arrestanstalt: 
Festnahme wegen Nichtbefolgung eines Dienstbefehles in Ideal - 
konkurrenz mit einigen andern (begangen durch ein paar Rufe) . 

Die Briefe aus der Untersuchungshaft und aus dem 
Zuchthaus sind Briefe seines Lebens. Briefe eines Menschen. 
der von stärksten seelischen Stürmen umwogen aufrecht 
bleibt: Der Mann, der Führer. -Was ist denn mit dem 
Gifter — was will es bedeuten — was kann es uns an- 
haben! So wenig wie die Anstaltskleidung, so wenig wie 
die Haarschur .. : Wir sind und bleiben wir, 
trotz alledem«. (Brief aus dem Zuchthaus Luckau v. 
10. 1. 07). — Er leidet, doch er ist fröhlich dabei und 
liebt die Welt so stark und tröstet. er — der Leidende 
— die andern. Er. der stets gebende Mensch gibt alles, 
sein Wesen, — sein Leben. 

In höchster Not aber sucht er Schutz und — findet 
ihn — in der Welt des Dichters — Der 
Dichter ist Prophet seines Lebens, seiner Idee. Es ist die 
Welt seines Ideals. wofür er kämpfte. wofür er starb. 
Diese Welt ward ihm zur Verheifung, er lebte sein Leben 
in ihr, er löst sich auf im allesumfassenden Reich der 
Schönheit und der Liebe. Es war sein Leben, sein Ideal 
das in seinen Worten zum Ausdruck kam: »müssen denn 
die Menschen so sein, können sie denn nicht in Liebe mit- 
einander leben?. — Einmal sah ich ein Bild, das diesen 
hohen Ausdruck versinnbildlichte: auf einem Hügel spielen, 
Kinder, unten die Fabrikstadt, der breite Himmel: war aus- 
gefüllt mit einer geistigen Gestalt. Karl Liebknecht: Können 


Karl Liebknecht und seine Briefe 2355 


denn die Menschen nicht so sein, wie diese Kinder da? — 

Diese Briefe sind der Ausdruck des Wesens des 
Menschen, des Dichters Karl Liebknecht. Sie umfassen alles, 
jede seiner Handlungen, jede Stelle des Briefes atmet seinen 
Geist, seine Idee. Es gibt für ıhn keinen Zwiespalt: der 
Mensch erlebt sein Leben. das Leben des Werk- und 
Feiertags mit der gleichen Größe und Würde. Er sieht im 
Kampf das Ideal, das Ideal in allen Lagen des Lebens. Er 
trennt nichts, er verbindet alles: er lebt den Kampf. 
indem er lebt! — 

Der Welt der Dichtung lebte er und sie in ıhm. So 
Homer, Goethe, Shakespeare, die großen Franzosen, und be- 
sonders die Russen — Mathäus-Passion, — er ist 
erfüllt von ihnen. — Er verbindet und wird 
durch sıe verbunden. Er steht so hoch über dem 
Zwang seiner Verhältnisse. Ihr Geist schwebt über ihm. — 
Der Dichter Liebknecht lebt. 

Dieser Geist verleiht das große Gefühl, die erhabene 
Ruhe seines Herzens und köstlich ist seine trotzige Fröhlich- 
keit. sein nie versagender, ihn in allen Lagen begleitender 
Humor. — Sein erster Brief nach. Verkündung des Zucht- 


hausurteils an seine Frau: » . . . Sei philosophisch! Was 
sind vier Jahre! — Kopf hoch und das Wichtigste wird 
zur Bagatelle — sub specie aeternitatis nicht nur des 
Gesamt- sondern auch des Einzellebens . — Dann (Brief 


vom 6. 12. 16.): »Jetzt sitzt du wohl allein in Steglitz. 
wie ich Lehrterstraße 59 III. Aber ich habe Goethe vor 
mir — und Du? 
»Drum frisch nur aufs Neue — bedenke Dich nicht — 
Denn, wer sich die Rosen, die blühenden, bricht 
Den kitzeln führwahr nur die Dornen. 
So heute wie gestern, es flimmert der Stern — 
Nur halte von hängenden Köpfen Dich fern 


Und lebe Dir immer von vor nen. 


——ů —— mn m nn — — — 


556 _ Ludwig Rosenberger 


Wenn ich auch keine »charmante« Person bin, das gilt 
auch Dir. Trotz allem und allen. Wie kann man mit 
Goethe und der Kunst und tausend anderen Bücher-Freunden 
nur kopfhängerisch sein? 

Die vielen Aussprüche Karl Liebknechts über Dichter 
und Denker verdienen größte Beachtung. Sıe legen 
Zeugnis davon ab, daß die Welt des wahren 
Politikers keine abgeschlossene ist, für ıhn 
ist eben die Politik das Leben, die Welt 
des Dichters die seine. | 

„Das wundervollste Werk auf dem Gebiete des Ora- 
toriums. (Die Noten hafte ich im Militärarrest),. Nicht 
ganz leicht zu verstehen — Kontrapunkt und Fuge. Gleich 
der erste Satz: achtstimmiger Chor nebst Cantus firmus —: 
durchblickt man das Zaubergewebe, ist man ganz berauscht 
vor Seligkeit. Nichts Süßeres, Zarteres. Rührenderes und in 
den Volksszenen — nicht Grofartigeres kennt die Musik. 
— So schreibt Karl Liebknecht am 18. 3. 17. aus dem 
Zuchthaus zu Luckau über die Mathäus-Passion. 

Ähnliche Ausführungen macht er über die deutschen 
Minnesänger, die Romantiker. über Homer, über moderne 
Literatur, Werke großer Franzosen u. a. 

Nochmals von seinem alliebenden Verhältnis zur Natur. 
In den dumpfen Kerkermauern, nach seiner Tütenklebarbeit 
schreibt er das. Welche Größe und Herrlichkeit mensch- 
licher Seele! Stellen über dieses Verhältnis zur Natur, zu 
seiner Frau und den Kindern offenbaren das wahrste Wesen 
einer Menschenseele. — Wer die Natur so sieht und liebt. 
wer zu seinen liebsten Menschen diese Worte findet, ist 
nicht nur groß, er ist gut! — Erst daraus ergibt sich 
alles, die Synthese seines Wesens. — Welche Offenbarung 
innerlichsten Lebens. .. Und was redest Du von »Leiden.? 
Woran ich - leide , das weißt Du besser. . Was soll 


mir das Geschwätz in einem französischen Roman, was 


Karl Liebknecht und seine Briefe 557 


überhaupt das Gerede anderer Leute! Das Gurren der 
wilden Taube, das zu uns dringt, das ist etwas! Kennst 
Du diesen merkwürdigsten aller Waldtöne, dieses klagend- 
sehnsüchtige Guuur-gu-gu-guurr: das die Weite unter seinen 
Bann zwingt — trotz Pirol und Amsel und Drossel — 
und trotz des munteren Laubsängers. der mich im Bund 
mit dem Buchfinken aus nächster Nähe beglückt, während 
die Kling-Klirr-Schmalzmeisen, die Zizirdä-Goldammern und 
die Schwalben sich ferner halten. . Zuweilen kommt 
auch ein kleiner Freund durch mein Gesichtsfeld gehuscht 
— einen Augenblick — und wenn ich mich ganz dicht 
ans Gifter drücke, seh ich ein paar Zweige. . . In den 
Isarwäldern und -büschen muł es doch von Vögeln 
wımmeln, auch von wilden Tauben. — Liebste, achte auf 
sie. ihr Ruf wird ein Erlebnis für Dich werden!! 

Du schreibst nichts von der Farbe des Isarwassers, die 
mich so berückte. Ist sie Dir nicht nan) 

Die geistvolle politische Polemik ist zahlreich. Sie zeugt 
von seiner Prophetie. Das politisch Aktuelle bezieht sich 
meist auf die russische Revolution: 

März 1918: »wie weht so scharf der Märzenwind. Es 
riecht nach 1871 — Paris — und 1848/49 allerwärts und 
1917 in Rußland, wo es jetzt wörtlich gilt: »Que veut 
cette horde d'esclaves, de traitres, de rois conjurés, das mir 
heute durch Mark und Bein summt und brennt 

Nicht des sub specie aeternitatis bedarfs hier. . . wirf 
einen Blick in die Geschichte und Du wirst wunderbar 
gestärkt sein. Die Zwischenspiele dieser Tage werden Dich 
nicht mehr verwirren, alles Gedröhn nicht betäuben. Wie 
klein und erbärmlich. ja scheint mir auch lächerlich, sind 
die Menschen, gerade die, die sich am größten dünken. 
Zwischenspiele. Zwischenspiele . . (denk an Napoleons 
Dutzend-Republiken, seine Staatenfabrk . . Und nichts 
ist sicherer Episode, als was den Stempel plumper Oppo- 


558 _ Ludwig Rosenberger 


sition gegen die Naturgesetze trägt) ... Episode — Episode — 
Episode — Kartenhaus — Kartenhaus — Kartenhaus — Eintags- 
fliegen — Eintagsfliegen — Eintagsfliegen . .  — — 

Karl Liebknecht wandelte in der Welt des Lebens, in der Welt 


der Dichtung: und er wurde zum Dichter, zum Dichter des Lebens: 


Sturm, mein Geselle, 

Du rufst mich! 

Noch kann ich nicht, 

Noch bin ich gekettet ! 

Ja. auch ich bin Sturm, 
Teil von Dir; 

Und der Tag kommt wieder, 
Da ich Ketten breche. 

Da ich wiederum brause, 
Brause durch die Weiten, 
Stürme um die Erde, 
Stürme durch die Länder. 
Stürme in die Menschen, 
Menschenhirn und -Herzen, 
Sturmwind, wie du!« (Frühjahr 1917) 


IV. 

Die tiefernst-heitere Stimmung einer Menschenseele, das 
böchste Lied der Liebe und der Inbrunst, das größte Leid 
in der Menschenbrust in strahlende Liebe ausgelöst. der Bann 
hellster Sehnsucht nach Erlösung herzzersprengendem Schrei, 
das Tragen des Schwersten, das Erleiden des Unerträglichen 
und doch andere aufzuheitern versuchend, die Milde und 
höchste Stärke, das höchst revolutionäre Gefühl, gebannt in 
die enge Kammer, der glühendste Drang nach menschen- 
erlösender Tat und doch verurteilt zum Untätigen und — 
dennoch fröhlich — das ist die heilige Erlöserstimmung, die 
mich beim Durchlesen des Werkes: . Gesammelte Briefe 


Karl Liebknechts . (Verlag der »Aktion« Berlin) umgibt. 


B.arl Liebknecht und seine Briefe 559 


Es sind die Briefe aus dem Felde, aus der Untersuchungs- 
haft, aus dem Zuchthaus. Das Lied des Leidens und der 
ewigen Sehnsucht: tiefster Innerlichkeit und doch stärkster 
Kampfentschlossenheit. Es ist das gelebte Leben seiner 
Idee. — Große Menschen ragen über die Erbärmlichkeit 
der Alltagswelt hinaus: sie stehen darüber. Die Welt des 
Leides wird für sie zur Welt des über die Machthaber 
Lichelnden: alles Analytische verschwindet, alles wird zur 
Synthese. zum stillen Lächeln des abgeklärten Kämpfers. den 
die Gemeinheiten der Geistlosen nicht mehr von seinem 
unabänderlichen Entschluß abzubringen vermag. — 

Propheten wandeln auf den Höhen der Menschheit. Sie 
erschauen die Tiefen der Menschen, sie steigen hinab, so 
wıe Indras Tochter selbst. um die Welt dort kennen zu 
lernen, im Alltag, im Schmutz: 

»Auf Schwingen schwebend über dieser Erde. 

Tauchst Du zuweilen in den Staub hernieder 

Um ihn.zu streifen, nicht darin zu haften!.« 
(Strindberg, Traumspiel), 

»Kunst erfordert ein gauzes Leben, größte Kunst erfordert 
sogar Verzicht auf das Leben der große Künstler 
ist der Märtyrer seiner Kunst... . Unser klassisches Zeit- 
alter flüchtete aus dem Reich der unmöglichen Politik in 
das Reich des Schönen. Dal Freiheit nur im Reich des 
Schönen gedeihen könne und nicht in der Welt, war ein 
Dogma, ein Dogma verzweifelter Resignation. In der heutigen 
Zeit scheint es mir, als ob diese Flucht in das Reich des 
Schönen nicht -mehr notwendig sein sollte, daß die Kunst 
nicht mehr ein Asyl für Verzweifelte am Leben sein soll. 
sondern daß das Leben selbst ein Kunstwerk sein müßte. 
und der Staat das höchste Kunstwerk.« (Kurt Eisner in einer 
Rede im provisorischen bayrischen Nationalrat am 3. I. 19.) 

Die Realisierung der Dichtung im Leben wäre die Er- 
füllung der Dichtung in der Politik. 

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Hiriog 


Derfflisteretr. 4 Berlia W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam- 
Berlin / Druck der E. Gundlach A.-G., Bielefeld 


DIE GEMEINSCHAFT | 


HERAUSGEGEBEN VON 
LUDWIG RUBINER 


> 


| | 

| Ä 

| | 

In diesem | 

Buch sind Zeugnisse l 

von Menschen gesammelt, die | 

in der Änderung der Welt ihr Lebensziel | 
$| sahen. Hier sind Verzweifelte; gütige Skeptiker; 
| Frondeure — die alle in ihrer Gesellschaft allein 
| standen, sich gegen ihre Gesellschaflen wandten und 
ı schließlich ihre Rebellion in andere Richtungen leiten 
| mußten, als es die der direkten Aktion sind; die 
Schöpfer unserer kritischen‘ Einstellung. Da sind die 
Revolutionäre des Geistes, die den Bewußlseinszustand 
der Welt umbrachen; seelische Vorbereiter der Wirk- 
lichkeitskrise unserer Tage; die Dichter, Maler, 
Musiker; die Schöpfer neuer Gefühlsgebilde. — Endlich 
die sozialen Revolutionäre, die Denker der Volks- 

bewegung ‚Gestalter und Historiker der Massenaktionen, | 

die Sprecher des Proletariats: Die Schöpfer der neuen | 
sozialistischen Weltkultur, die aus dem langen 

Ablaufe der Weltrevolution hervorgehen wird, und die | 
so jenseits der bürgerlichen Welt unserer Tage 

steht, wie die heutige bürgerliche Welt 


. * 
— — — 


selbst dureh die Völkerwanderung 
von der Antike ge- 
schieden ist. 


GUT GEBUNDEN 10 MARK 


GUSTAV KIEPENHEUER 


| 
| 
| 
| KARTONIERT 7 MARK 
VERLAG / POTSDAM-BERLIN 


DAS FORUM 


4. Jahr Mai 1920 Heft 8 


(Abgeschlossen am 6. Juni 1920) 


ROMAIN ROLLAND ZUM BOLSCHEWISMUS 


Politiken . die Stockholmer linkssozialistische Zeitung. 
veröffentlicht einen Brief Romain Rollands vom 30. April, 
die Berichtigung eines Interviews, das in einem Stock- 
holmer bürgerlichen Blaſte mib verständlich wiedergegeben 
wurde. Nach einigen Worten über die schwedische 
Arbeiterbewegung formuliert Rolland seine Ansicht über 
den russischen Bolsche wi. mus und seinen Glauben an ibn. 

Ich bewundere die mächtige organisatorische und neu- 
schaffende Energie in den Räten Rublands, die um einige 
geniale Männer geschart stehen. 

In dieser Woche noch schrieb ich ın einer französischen 
Zeitung »Das Hirn der Welt der Arbeit hat 
seinen Sitz in Moskau.. Ich fügte hinzu, dal, meiner 
Meinung nach, allein eine bolschewistische Revolution über- 
haupt Aussicht auf Gelingen habe. Sowohl aus ökonomischen 
als auch moralischen Ursachen. Ich will hier nur eine 
einzige andeuten. Unabhängig von allen marxistischen Ar- 
gumenten. die zum Vorschreiten der Revolution führen, 
gibt es in Rußland eine moralische Ursache, die die reinen 
Marxisten vielleicht wenig beachten, der ich aber einen 
unermellichen Wert beimesse. — nämlich den sozusagen 
religiösen Charakter, den mystischen Enthusiasmus, der einen 
Teil der russischen Arbeiterklasse durchglüht. 

Diese Männer glauben. 

Wenn sie nicht dächten, daß ihre Aufopferung der 
ganzen Welt hülfe und diente, würden sie sich nicht 
seit zwei Jahren mit dieser erhabenen Selbstverleugnung 
opfern. Dieses mystisch revolutionäre Gefühl, dieser 


562 Das Anklagematerıal der Entente 


Glaube hat bisher nur allzusehr den westeuropäischen 
Völkern gefehlt und insbesondere dem französischen Volke, 
dessen Enthusiasmus seit 150 Jahren ın den vielen fehl- 
geschlagenen oder verratenen Revolutionen ausgebrannt ist. 
Allzu oft wird die revolutionäre Agitation beschränkt auf 
eine korporative Bewegung für Lohnerhöhungen: nichts 
Großes aber, noch Beständiges kann durchgeführt werden 
ohne einen starken Hauch der Liebe für das gemeine 
Wohl, — ohne die Leidenschaft des Opfers für die Zukunft 
der Menschheit. 

Aber es ist durchaus möglich, ja. sogar wahrscheinlich, 
daß die Völker sich wandela und sich erheben werden 
unter der Einwirkung der mannigfaltıgen Herausforderungen 
und der Prüfungen, die die Arbeiterbevölkerung von Seiten 
der triumphierenden Reaktion sich jetzt gefallen lassen muß, 


DAS ANKLAGEMATERIAL DER ENTENTE 
UND DAS LEIPZIGER REICHSGERICHT 


Die schnoddrige Gewissenlosigkeit unserer großen Presse zeigt sich deutlicher 
denn je in dem , was sie über die Bestrafung der Kriegsverbrecher schreibt und dem, 
was sie verschweigt. Die Gänsefüßchen mit denen das „Berliner Tageblatt“ das 
Wort „Kriegsverbrecher garniert, sind der wahrste Seelenausdruck dieser 
Journalistik. Was Wahrheit! Was Gerechtigkeiti Man grühelt nicht viel und be- 
friedigt also mit geringer Kraftanstrengung den Abonnenten, den Inserenten und 
den Verleger. Was diese Presse, die gerne und kritiklos den nach bewährter Me- 
thode gekürzten Auszug des W. T. B. abdruckte, hier wie immer schon mißachtete, 
nämlich Klarheit. Anständigkeit und Klugheit. — all dies macht die Veröflent- 
lichung des Materials wenigstens in einer deutschen Revue wünschenswert. Der 
Vorwurf, man mache gemeinsame Sache mit dem Feinde, dieser Vorwurf erscheint 
übergus lächerlich angesichts der notwendigen Erkenntnis, daß die gefährlichsten 
Feinde des deutschen Volkes nicht die anklagenden Imperialisten der Entente, 
sondem die angeklagten Mörder, Banditen und Epauletten-Übermenschen sind. 
Schon diese ersten Fünfundvierzig bieten dem Leipziger Reichsgericht Gelegenheit 
ın Fülle, seinen guten Willen zu beweisen. 


und das Leipziger Reichsgericht 563 


l. Patzig (Hel mul), Oberleutnant zur See, Kommandant des Untersee- 
»ootea U 86. Angriff und Torpedierung folgender Schiffe mit unerhörter 
Brutalität und Unmenschlichkeit ohne vorherige Benachrichtigung: 

Das norwegische Schiff Eglantine (20. Juni 1819) (20 Minuten langes 
Bombardement). 
Das englische Lazarettschiff Llandovery Castle (27. Juni 1918). 


2. Neumann (Karl), Oberleutnant zur See, Kommandant des Untersce- 
bootes UC 67. Angriff und Torpedierung des englischen Lazarettschiffes 
Dover Castle (26. Mai 1917) mit unerhorter Brutalität und Unmenschlich- 
keit ohne vorherige Benachrichtigung. 


3. Werner (Wilhelm), Kapıtänleutnant!, Kommandant des Unterseebootes 
U 55. Angriff und Torpedierung folgender Schiffe mit unerhörter Brutalitat 
und Unmenschlichkeit ohne vorhenge Benachrichtigung: 

Das englische Schiff Clearfield (Oktober 19i6). 

Das englische Schilf Artist (27 Januar 1917). 

Das englische Fischerboot Trevone (31. Januar 1917). 

Das englische Schiff Torrington (8. Apru 1917), (während die Rettungs- 
boote eines anderen torpedierten Schiffes zur Hilfe kamen). 

Das englische Lazarettschiff Rewa (4. Januar 1918). 

Das englische Lazaretischilff Guildford Castle (19. März 1918). 

4. Mille, Hauptmann, Landsturm 5/1 Gelsenkirchen, Kommandeur des 
Lagers Flavy-le. Martel (Weihnechten 1917 bis November 1918). Er ist 
neben anderen Personen verantwortlich dafür, daß die Gefangenen an der 
Westfront zurückgehalten und hinter der Front, zuweilen sogar in der 
Feuerlinie, zur Arbeit gezwungen wurden. Sie waren den schlimmsten 
Crausamkeiten ausgesetzt, an denen einige von ihnen starben. 

Die Gefangenen wurden zu Arbeiten gezwungen, die zur militärischen 
Unterstützung der Deutschen dienten. Sie mußten bis zur völligen Er- 
schöpfung arbeiten. Wohnung. Cesundheitspflege und Nahrung waren un- 
genügend und unsauber. Die Gefangenen wurden mit der Faust und mit 
dem Bajonett geschlagen und mit Fußtritten traktiert. Wenn zie nicht 
mehr imstande waren zu arbeiten, wurden sie in deutsche Lager gebracht 
oder sie starben an den Folgen der Mißhandlungen, die sie erlitten hatten 

5, Heinze (oder Heimann), Unteroffizier. Er hat die Gefangenen des 
Lagers Herne im Jahre 1916 mißhandelt (Zeche Friedrich der Große, 
K 3/2 A. K. Distrikt VII). Er ermutigte die Wachposten und Zavilarbeiter 
zu Grausamkeiten. Übermäßige Arbeit. bis zu sechzehn Stunden täglich. 
Die Kranken, die zu schwach zur Arbeit waren, schlug er oder lied sie 
schlagen. 


6. Triak, Unteroffizier. Er hat im Jahre 1918 die Gefangenen des Lagers 
Pommersdorf mißhandelt (Fabrik chemischer Produkte, A. K. Distrikt II.) 
Brutalitäten aller Art; ungenügende Nahrung. 


7. Neumann, Soldat. Dasselbe. 


8. Stenger, General, Kommandeur der 58. Brigade (112. und 142. Inf.-Reg.) 
XIV. A. K. Zwei Befehle vom 26. August 1914, die Gefangenen nieder- 
zumachen und die Verwundeten zu töten. 

a) „Von heute ab werden keine Gelangenen mehr gemacht. Alle Ge- 
fangenen. cb verwundet oder nicht, sind zu erschießen." 

b) „Alle Getangenen sind zu töten: ebenso bewaffnete 
und unbewaffnete Verwundete und diejenigen, die in großen ge- 
schlossenen Einheiten gefangen genommen werden.. Hinter uns darf kein 


lebender Feind zurückbleiben.“ 


9. Lesl, Leutnant, des 112. Inf.-Reg. „Der Kapitän Migat, der verwundet 
war und um den Hals einen blutigen Verband trug, wurde in der Gegend ` 


564 Das Anklagematerial der Entente 


des Bahnhofs Hesse von einer Abteilung des 3. Bataillons des 112. Re- 
giments, das der Leutnant Laule kommandierte, gefangen genommen. 

Man zwang den Kapıtän, an der Spitze des Haufens zu marschieren 
und er wurde durch Schüsse ın den Rücken getötet.” 


107 Schroeder, Hauptmann des 112. Int.-Reg. „Der Befehl Stengers, keine 
Gefangenen zu machen und die Verwundeten mit dem Bajonett uder mit 
dem Gewehr zu töten, wurde uns von Hauptmann Schroeder überbracht.” 


Il. Miller, Kommandant des 112. Inf.-Reg. und 

12. Curia oder Crusiu, Hauptmann des 112. Inf.-Reg. „, Sogleich nach der 
Mitteilung, die durch den Kommandanten Müller und durch den Haupt- 
mann Curtius — beide vom 112. Inf.-Reg. — gemacht wurde, wurden 
mehrere französische Verwundete durch Gewehrschüsse getötet. 


13. Mayer aus Badenweiler, Hauptmann des 112. Inf.-Reg. . Ende August 
1914 gab uns der Hauptmann Mayer aus Badenweiler eines Morgens den 
Befehl, der von der Brigade ausging, keine Gelahgenen mehr zu machen 
und die Verwundeten zu töten. Er befahl sogar einem von uns, sich hın- 
zulegen, um einen verwundeten Feind darzustellen und zeigte uns, wie 
man es machen müsse, um ihn mit dem Bajonett zu töten.“ 

(Zeugenaussagen von deutschen Kriegsgefangenen). 

14. Oven (van), General, ehemaliger Gouverneur von Metz. Verbrechen von 
Nomeny, Jarny, Jaulny und von Saint-Julien-de-Metz (Meurthe-et-Moselle) 
Hinrichtungen von Zivilisten, Brandstiftungen, Plünderungen. 

„Das Dort Jarny wurde mit Fackeln und Petroleum niedergebrannt. 
Die Deutschen plünderten die Wohnhäuser und die Kirche. Ungefähr 
dreißig Zivilisten wurden erschossen, unter ihnen zahlreiche Italiener, der 
Bürgermeister und der Pfarrer. 

Die Bewohner, die aus ihren brennenden Häusern flüchteten, wurden 
verfolgt und erschossen. 

Der kleine füntjährıge Berard wurde in den Armen 
seiner Mutter getötet. Die Soldaten entrissen ıhr die Leiche 
und warfen sie auf die Straße. 

M. Perignon, seine Frau und sein sechszehnjähriger Sohn wurden hin- 
gerichtet. Der Forsthüter Plessis wurde an einen Baum gebunden und in 
Gegenwart seiner Frau erschossen. 

M. Aufiero erlitt dasselbe Schicksal. 

Ein deutscher Offizier sagte zu der anwesenden Frau des Unglück- 
lichen: ‚Sieh, wie man deinen Mann erschießt!" 

-Am 20. August 1914 marschierten die Bayern in Jarny ein. Sie waren 
in Hose und Hemd. Sie drangen in die Häuser ein, vergewaltigten die 
Frauen und die Mädchen und milshandelten diejenigen die Widerstand 
leisteten. Ich sah ein vierzehnjähriges Mädchen, dem die Hände an den 
Tisch festgebunden waren. Ein Bayer vergewaltigte sie, indem er sie von 
hinten anfıel. Ich sah weiter eine Frau, deren linke Brust vollkommen 
abgeschnitten war. Dann sah ich noch eine Frau, der man die Beine 
spreizte. Diese Frau war schwanger. Ein Soldat hielt eine brennende 
Kerze in der Hand und ließ das geschmolzene Wachs auf den Geschlechts- 
teil der Ungluücklichen tropfen. 

(Aus der Aussage eines Deutschen.) 

„In Saint-Julien- de-Metz drang die deutsche Polizei nach Verhängung 
des Belagerungszustandes in das Haus von M. Labrosse ein, dessen fran- 
zosenfreundliche Gesinnung man kannte, dem es aber selbst gelungen war, 
‚zu enttliehen. Die Deutschen ergriffen die Schwestern von M. Labrosse, 
warfen sie ins Gefängnis und drohten ıhnen mit der Erschießung. Zwei 
Tage lang plünderten sie das Haus planmäßig aus und zerschlugen mit 
der Axt alles, was man nicht mitnehmen konnte. Schließlich kam auf 


und das Leipziger Reichsgericht 565 


Befehl des Gouverneurs von Metz eine Kompagnie und sprengte das Haus 
in die Luft. Es wurde vom Keller bis zum Giebel zerstört.“ (August 1914). 


15. Kaysır (vanu), Major des 65. Inf.-Reg. Er soll früher dem 28. Inf.-Reg. 
in Koblenz angehört haben. Verbrechen von Pabny-sur-Moselle. Er- 
mordung von 18 Personen in Jarny-Conflans, unter ihnen der Pfarrer, 
der Bürgermeister, dessen Sohn und ein Lehrer. Ermordung eines Arztes 
bei Pont-à-Mousson, nachdem man ihm sein Automobil abgenommen 
hatte. August 1914. 

16. Micheleohn (Oskar),. Arzt. Direktor des Lazarett der VII. Armee in Effry, 
dann in Trelon und in Dizy-le-Gros (Aisne). Er wird beschuldigt, durch 
verbrecherische Handlungen den Tod vieler Kranker’ herbeigefuhrt 
zu haben. Unterschlagung von 5 Gewalttaten. 
Ausführungen des Doktor P. l 

Der Doktor Michelsohn, ein offensichtlicher Leuteschinder, hat die 
allgemeine ärztliche Ehre und alle Gesetze der Menschlichkeit verlctzt. 
Anstatt sich zu bemühen, zu heilen und die Lage der Kranken seines 
Lazaretts zu verbessern, hat er wissentlich, absıchtlich und plan- 
mäßig den Tod der Kranken herbeigeführt: 

J. Indem er sie in unbewohnbaren Häusern unterbrachte. 

2. Indem er ihnen nicht die Pflege zukommen ließ, die sie zu 
beanspruchen hatten. 

3. Indem er mich hinderte, sie zu pflegen. 

4. Indem er das notwendige Material zur Pflege verweigerte. 

5. Indem er ihnen mangelhafte, ungenügende und sogar für sie 
gefährliche Nahrung geben ließ. Von den 700 Toten, die in 
Effry zurückgelassen wurden, hätten wenigstens 650 
gerettet werden können wenn Doktor Michelsohn es 
gewollt hätte 
Ich füge hinzu, daß Doktor Michelsohn sich folgender Verbrechen 

schuldig gemacht hat: 

l. Er hat die Kranken brutalisiertt und sie brutalisieren lassen 

2. Er hat sie der Lebensmittel beraubt, einerseits direkt persön- 
lich, andererseits durch Befehle und Anweisungen, die er seinen Unter- 
gebenen gab. 

3. Er hat Fehlgeburten herbeigeführt, die den Tod der Frau zur 
ro hatten und zur Tötung des Fötus beitrugen. 

Er unterschlug für seinen eigenen Gebrauch die Lebensmittel, 

die 55 die Kranken bestimmt waren. (1917.) 

17. Kruia, Kommandant des Lagers Kassel und 

18. Yack, General-Gouverneur von Kassel. Sie haben Maßnahmen ge 
troffen, die zur Ausbreitung einer Typhusepidemie führten. 

Während der Typhusepidemie ım Jahre 1915 erklärte General Kruska: 
„Ich führe Krieg auf meine Art“. Er traf alle Maßnahmen, die notwendig 
waren um die Epidemie so weit als nur möglich auszubreiten. 

Mehr als 2000 Gefangene starben. 

Alle hygienischen Maßnahmen wurden absichtlich vernachläßigt. 

Die infizierten Russen wurden unter die anderen Cetangenen ge- 
mischt. 

Desinfektion wurde unterlassen. 

Die Kranken blieben ohne Pflege in den ungeheizten Baracken ihrer 
Kameraden. 

Es gab Fälle von Wahnsinn und Selbstmord unter den fürchterlichsten 

Verhältnissen. (1915 Lager Kassel.) 

19. Arnauld de In Perriere, Leutnant, Kommandant des Unterseebootes U 35. 

Grausamkeiten bei der Torpedierung der Schiffe: Siena (4. August 1916), 


566 Das Anklagematerial der Entente und das Reichsgericht 


20. 


21. 


22. 
23. 


24. 


24a. 


34. 


35. 


37. 


39. 


Doris und Lilla (13. Oktober 1917). Torpedierung der Schiffe: Citta die 
Messina, Teti, Emilio G., Generale Ameglıo, usw. 


Schall, General, Kommandant des Lagers Langensalza. Herrschaft uner- 


hörtester Grausamkeit während |% Monaten. 


Koch (Joseph), Hauptmann der 8. Kompagnie Langensalza. Verantwort- 
lich fur die Ermordung der Kriegsgefangenen in Langensalza (27. No- 
vember 1918). 


Krause, Unteroffizier, Lager Langensalza. Teilnahme an der Ermordung 
der Kriegsgefangenen in Langensalza (27. Noveinber 1913). 


Carmer, Kommandant, Etappenkommandantur 107, S. Daniele del Friuli. 
Willkürliche Requisitionen, schlechte Behandlung der Zivilisten, syste- 
matische Plünderungen. 


Bülow fran), Kommandierender General der II. Armee (1914). 
Plünderungen und Ermordungen in den Ardennen und in Seilles (August 
1914), Räubereien in Jodoigne (August 1914). 

Below (von), Kommandierender General der 5. Brigade, 3. Inf.- 


Div. der kaiserlichen Garde. Grausamkeiten in den Ardennen und in 
Namur (August 1914). 


. Langermann (Freiherr ron), Generalmajor, Kommandeur der Brigade 


des I. und 2. Int.-Reg. Crausamkeiten in den Ardennen (August 1914). 


. Ernst von Sachsen (Prinz), Grausamkeiten in den Ardennen und in Namur 


(August 1914). 


. Jung, Major. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914). 
. Wabnitz, Hauptmann. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914). 


Slein metz, Leutnant der 3. Komp. 28. Pionierbat. Grausamkeiten in den 
Ardennen (August 1914). 


. Bronsart von Srhellendorf, Major des Carde-Schütz-Bat., Garnison in Groß- 


lichterfelde. Crausemkeiten in den Ardennen (August 1914). 


. Brunon (oder Bunau) Oberlt., 1. Carde-Bat. Lr mor du ng von 30 


Zivilisten in den Ardennen (August 1914). 


. Ramdohr (Max) Agent der geheimen Polizei in Grammont, Leipzig» 


Kleinbahnstr. Mıißhandlung gefangenen Kinder in Grammont (Dezember 
1917). 


. Zahn (Ernst) Agent der geheimen Polizei in Grammont. Er wohnte Breite 


straße oder Kasser-Josephstraße in Leipzig. Schlechte Behandlung der 
Gefangenen in Crommont. | 
Danzig (oder Denzin oder Dentz:in), Feldwebel oder Leutnant. Komman- 
dant des Lagers Sedan (France). Planmäßige schlechte Behandlung der 
Gefangenen und Deportierten. 
Engel, Leutnant, Kommandınt des Lagers Sedan. Planmäßige Gewalt- 
taten und Grausamkeiten gegen die Deportierten. 


Holz, Sergeant, Stellvertreter des Lt. oder Feldwebels Dentzin im Gefängnis 
des Lagers Sedan. Auch als Sergenant des Strafgefängnisses A. B. n 2. 
bekannt. Mißhandlung der Deportierten und der Gefangenen in der 
Festung Sedan. 

Albrecht, Gefreiter im Lager der Deportierten in Sedan. Mißhandlung 
der Deportierten im Lager Sedan. 


Bigodsky, Offizier im Lager Sedan. Ermordung eines Gefangenen. 


Preutier, Major Kommandant des II. Bat. des 155. Reg. Ermordungen, 
Plünderungen, Brandstiftungen (Kalısz 1914). 


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566 Das Anklagematerial der Entente und das Reichsgericht 


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22. 
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Doris und Lilla (13. Oktober 1917). Torpedierung der Schiffe: Citta die 
Messina, Teti, Emilio C., Generale Ameglıo, usw. 


Scha /s, General, Kommandant des Lagers Langensalza. Herrschaft uner- 
hörtester Grausamkeit während 1½ Monaten. 


Koch (Joseph), Hauptmann der 8. Kompagnıe e Verantwort- 
lich für die Ermordung der Kriegsgefangenen in Langensalza (27. No- 
vember 1918). 


Krause, Unteroffizier, Lager Langensalza. Teilnahme an der Ermordung 
der Kriegsgefangenen in Langensalza (27. November 19139). 


Carmer, Kommandant, Etappenkommandantur 107, S. Daniele del Friuli. 
Willkürliche Requisitionen, schlechte Behandlung der Zivilisten, syste- 
matische Plünderungen. 


Bülow (ron), Kommandierender General der II. Armee (1914). 
Plünderungen und Ermordungen in den Ardennen und in Seilles (August 
1914), Räubereien in Jodoigne (August 1914). 

Below (von), Kommandierender General der 5. Brigade, 3. Inf.- 
Div. der kaiserlichen Garde. Grausamkeiten in den Ardennen und in 
Namur (August 1914). | 

Langermann (Freiherr von), Generalmajor, Kommandeur der Brigade 
des J. und 2. Inf.-Reg. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914). 


Ernst von Sachsen (Prinz), Grausamkeiten in den Ardennen und in Namur 
(August 1914). 


. Jung, Major. Crausamkeiten in den Ardennen (August 1914). 
. Wabnilz, Hauptmann. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914). 
. Steinmels, Leutnant der 3. Komp. 28. Pionierbat. Grausamkeiten in den 


Ardennen (August 1914). 


Bronsart von Schellendorf, Major des Garde-Schütz-Bat.. Garnison in Groß- 
lıchterlelde.e. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914). 


. Brunns (oder Bunau) Oberlt., l. Carde-Bat. Ermordu ng von 30 


Zivilisten in den Ardennen (August 1914). 


. Ramdohr (Max) Agent der geheimen Polizei in Grammont, Leipzig» 


Kleinbahnstr. Mißhandlung gefangenen Kinder in Grammont (Dezember 
1917). 


. Zahn (Ernst) Agent der geheimen Polizei in Grammont. Er wohnte Breite- 


straße oder Kaiser-Josephstraße in Leipzig. Schlechte Behandlung der 
Gefangenen ın Grommont. 

Danzig (oder Denzin oder Dentzin), Feldwebel oder Leutnant, Komman- 
dant des Lagers Sedan (France). Planmäßige schlechte Behandlung der 
Gefangenen und Deportierten. 

Engel, Leutnant, Kommandınt des Lagers Sedan. Planmäßige Gewalt- 
taten und Grausamkeiten gegen die Deportierten. 


Holz, Sergeant, Stellvertreter des Lt. oder Feldwebels Dentzin ım Gefängnis 
des Lagers Sedan. Auch als Sergenant des Strafgefängnisses A. B. n 2. 
bekannt. Mißhandlung der Deportierten und der Gefangenen in der 
Festung Sedan. 

Albrecht, Gefreiter im Lager der Deportierten in Sedan. Mißhandlung 
der Deportierten im Lager Sedan. 


Bigodsky, Offizier im Lager Sedan. Ermordung eines Gefangenen. 


Preusker, Major Kommandant des II. Bat. des 155. Reg. Ermordungen, 
Plünderungen, Brandstiftungen (Kalısz 1914). 


J. P. Marat: Von der Notwendigkeit. den Volksgeist 567 


40. Kirchbach (von), General. Ermordungen. Plünderungen. Brandschatzungen 
(Kalisz 1914). 

41. Seydlitz (von), Oberst. Brandstiftungen, Plünderungen und Freiheitsbe- 
raubungen (Gebiet von Kalısz). 

42. Hauff. Kommandant der 26. württembergischen kanau Oion, Durch 
seine Befehle sind 35 rumänische Gefangene, die man auf dem Friedhof 
in Esisheim bei Muhlhausen begrub, an Hunger, Kälte und den Folgen 
der schlechten Behandlung gestorben. 

Die Anzeige wurde der rumänischen Regierung durch die Bürgermeister 
von Esısheem und Mühlhausen gemacht. 

43. Limburg, Major, Kommandant des Gefangenenlagers von Breesen (Mecklen- 
burg). Schlechte Behandlungen und Mißhandlung der gefangenen rumä- 
nischen Otfiziere. Verschiedene Zeugenaussagen. 

44. Noering, Leutnant, Adjudant des Kommandanten des Gefangenenlagers 
Breesen (Mecklenburg). Schlechte Behandlung der Gefangenen, Mißhand- 
lung der rumänischen Offiziere durch Schläge. Verschiedene Aussagen 


von Offizieren. 
45. Ronder, Chef der deutschen Militärpolizei in Rajanj (Serbien). Er ist schuldig 
des Mordes an Milena Lioubissavlievitsch in der Umgegend von Rajanj. 


VON DER NOTWENDIGKEIT, DEN 
VOLKSGEIST ZU BILDEN, UM DIE 
FREIHEIT ZU SICHERN 


VON J. P. MARAT 


(8. November 1790) 


Es gibt einen grundlegenden Satz, von dem jeder Ver- 
teidiger der Nation ausgehen mul und der es ihm verwehren 
mul. je am Gemeinwesen zu verzweifeln, der lautet: daß 
das Volk als Ganzes sich nıemals verkauft, so verderbt auch 
die Nation sein mag: denn wer könnte es kaufen oder 
auch nur daran gehen wollen? da man sıch nur bemüht, 
es an die Kefe zu legen. um es auszuplündern und als 
Spielball zu benutzen ? Auf diesen unerschüfterlichen Grund- 
satz hat sich der Volksfreund vom Anfang der Revolution 
an gestützt, und dieser ewig wahre Grundsatz hat ihn 
dazu gebracht, beim Anblick der unbesieglichen Hindernisse, 
die sich der Begründung des Reichs der Gerechtigkeit und 


568 J. P. Marat: Von der Notwendigkeit 
Freiheit entgegenzustellen schienen, beim Anblick der vielen 
Laster einer Nation, die eben die Ketten losgeworden. 
war, beim Anblick ihrer blöden Achtung vor ihren alten 
Herren. beim Anblick ihrer wütenden Erpichtheit auf 
die Standesunterschiede, die sie so weit von der glück- 
lichen Gleichheit, der Grundlage jeder freien Regierung, 
entfernen muĝ, beim Anblick der krassen Unwissenheit. 
die ihr nicht gestattet. die plumpsten Schlingen. die man 
ihr legt. zu entdecken, beim Anblick dieser Haufen von 
Höflingssklaven, dieser wimmelnden Legionen von Königs- 
trabanten, dieser Horden von Helfershelfern des alten 
Regiments, dieser Spitzbubenbanden, die am Weiter- 
bestehen der Milbräuche, von denen sie leben. interessiert 
sind, dieser Schwärme verzagter Bürger. die die Freiheit 
von sich stoßen, weil sie bange sind. die Erschütterungen. 
die mit ihrem Sieg verbunden sein müssen, könnten ihr 
Behagen stören, bei all diesem furchtbaren Anblick nicht 
zu verzweifeln. Da indessen diese Haufen, diese Horden, 
diese Banden, diese Schwärme von Feinden der Revolution 
immer nur ein ganz geringer Teil des Volkes sind, reißt 
es sıe, sowie es in Massen aufschäumt, wie ein Strom 
mit sich fort, oder vielmehr, es fegt wie ein brausender 
Sturm über sie dahin und sprengt sie auseinander. 

Damit das Volk in den Genul seiner Rechte kommen 
wolle. muß es sie kennen: es gilt also, es zu unterrichten: 
damit es nicht in den Schlingen, die man ihm legt, ge- 
fangen werde, muß es sie bemerken: es gilt also, es 
aufzuklären. Es folgt daraus, daß dem Volk kein größeres 
Unheil zustoßen könnte, als wenn es sich blind auf 
seine Führer verliele und im Arm der Feinde ein- 
schliefe, die es in den Abgrund reißen wollen. Es 
ımmer ın Bewegung halten, dafür sorgen. daß alle Köpfe 
immer in Gärung sind. bis die Regierung auf wahrhaft 
gerechte Gesetze gegründet ist, das also ist das große 


den Volksgeist zu bilden 569 


Ziel, das alle seine Fürsprecher sich vornehmen müssen.“) 
So ist die Freiheit der Presse der große Hebel. das 
einzige Bollwerk der bürgerlichen und politischen Freiheit. 
Dem Licht der Philosophie verdanken wir die Revolution; 
der hellen Einsicht der patriotischen Schriftsteller werden 
wir ihren Sieg verdanken. Solange die Freiheit der Presse 
unangetastet ist, sind wir des Siegs gewil. Sie uns nehmen 
zu wollen. wäre der ruchloseste aller Anschläge. Wenn 
also die Nationalversammlung sich soweit vergäße, daß sie 
den Versuch machte, diese Freiheit anzutasten, dürfte man 
keinen Augenblick schwanken, sich gegen sie zu erheben 
und sie für ihren Verrat zu züchtigen; aber mit welcher 
Stirn könnte sie wagen, die Preſifreiheit einzuschränken. wo 
sie täglich zuläft, dał ihre verderbten Mitglieder in ihrem 
Schol die Gegenrevolution, die Empörung gegen die Erklärung der 
Menschenrechte, und die Wiedereinführung der Sklaverei predigen? 


Wenn ein Volk eben seine Keften zerbrochen hat 
ist es darum nicht frei; der Despotismus ist wohl ver- 
nichtet. aber der Despot ist noch da: es ist aber sehr 
selten, um nicht zu sagen unerhört, dal er nicht an 
der Spitze des Staates bleibt und daß seine Helfershelfer 
nicht große Vorteile behalten. So setzt sich denn das 
neue Regiment fast ausschließlich aus den Mitgliedern 
des alten zusammen, sodal, wenn die Regierung einen 


) Anmerkung Marats: Dies ist, nebenbei gesagt, ein kleiner Wink 
für die chrenwerten Schriftsteller. die zu wenig in der Politik bewandert sind, 
als daß sie die Fallstricke des Kabinetts entwirren könnten. Die meisten beeifern 
sich täppisch. ihm in all seinen Plänen beizustehen. indem sie bald einen Aufstand 
und bald die Rückkehr der Ruhe ankündigen. Das größte Unglück, das uns 
treffen könnte, wäre, was die Minister die Wiederherstellung der Ruhe in Armee 
und Flotte nennen: Frankreich wärs seit langem wahrhaftig ruhig. wenn der 
Geist aller Soldaten und Schiffsmannschaften so gesteigert wäre, daß die Offiziere 
fürchten müßten. in Stücke gerissen zu werden. wenn sie es unternähmen. sich 
auf Machenschaften für die Wiederherstellung des Despotismus einzulassen oder 
die Befehle der Willkür auszuführen. Tatsache ist, daß alle Unruhen ın Armee 
und Flotte das Werk des Kabinetts waren. 


570 J. P. Marat: Von der Notwendigkeit 


umfassenden Umsturz erleidet und das Volk Vertreter 
bekommt, der Fürst, der auf nichts andres sinnt als 
die absolute Macht wieder zu erlangen, bald daran arbeitet 
sie zu korrumpieren, worin er nur zu oft Erfolg hat. 

Das Volk ist ein schlechter Kenner der Dinge: es 
sieht sie selten, wie sie sind, noch seltener umfaßt es sie 
in ihrer Gesamtheit und fast nie zieht es die Folgen der 
Ereignisse in Betracht: das kommt daher, daß es ihm 
an Aufklärung fehlt. Sowie es irgend einen Vorteil er- 
langt, irgend einen Sıeg davonträgt, überschätzt es seine 
Kräfte, sieht die Hindernisse nicht mehr. besingt seinen 
Triumph, wiegt sich ın trügerischen Illusionen; und das 
kann nicht anders sein, da der Dünkel das Kind der 
Eigenliebe und der Unwissenheit ist. Damit das Volk 
nicht wieder unters Joch komme, ist nötig, daß es immer 
auf der Hut vor seinen Führern und immer imstande 
sei, sie nach ihren Werken zu beurteilen. Aber die 
Freiheit ist erst dann völlig gesichert, wenn der öffentliche 
` Geist gebildet ist: d. h. wenn das Volk seine Rechte und 
seine Pflichten kennt, wenn es seinen Begriff von den 
Menschen und den Leidenschaften hat, die sie antreiben 
wenn es die rechte Auffassung über die Agenten der 
Autorität hat, wenn es ihre Pläne durchschaut und die 
Schlingen wahrnimmt, die sie ihm legen: die Nation dahın 
zu bringen, muß die Aufgabe der Publizisten sein. 

Das Volk lernt nur durch sein Unglück, und immer 
bewegt es sich in Extremen. Mißftraut es den Ministern, 
so verläßt es sich blind auf seine Vertreter und hebt 
sie wie Göfter zu den Wolken: aber gerade diese 
knechtische Hingebung ist die ergiebige Quelle ihrer An- 
schläge: sie müßten ziftern, wenn das Volk sie mit arg- 
wöhnischen Augen überwachen wollte: sie wagen alles gegen 
es, wenn sie sehen, wie es ihnen in dumpfer Ergebenheit 


Weihrauch streut. Ich habe fürwahr das Unmögliche 


den Volksgeist zu bılden 12115771 
getan. damit es von Anfang an den richtigen Begriff 
von seinen unwürdigen Vertretern in der Nationalver- 
sammlung bekäme: und durch das Predigen und das Auf- 
decken ihrer schwarzen Pläne, ihrer Perfidieen. ihrer 
Verrätereien hat es endlich die Augen geöffnet: die 
fromme Verehrung, die es ihnen weihte. hat sich in 
Verachtung gewandelt. und es wird nicht an mir liegen. 
wenn sie mit Schimpf und Schande bedeckt nach Hause 
gehen. Es ist also geboten, dem Volk die großen Wahr- 
heiten in den Geist zu prägen: einzig diejenigen Ver- 
treter des Volkes, die ihren Ruhm darin suchen, es 
glücklich zu machen. können ihm treu sein. und ihre 
Zahl ist sehr klein: die andern aber treiben mit seinen 
Rechten und Interessen Handel, sowie sie es ungestraft 
können: daraus folgt. daß es unausgesetzt die Augen 
offen haben und sie wie Schelme beobachten muß, daß 
es ihnen nie schmeicheln darf und das Ende ihrer 
Tätigkeit abwarten mul. ehe es über sie ein Urteil fällt 
und ihnen den rechten Lohn der Achtung oder Gering- 
schätzung spendet, den sie verdient haben. 

Wenn der öffentliche Geist sich gebildet hat, wird 
das Volk merken, daß sein Glück von der Wahl seiner 
Vertreter abhängt, und es wird mit Abscheu all die 
Gerichts- und Polizeibeamten, all die Sachwalter. Kom- 
missäre, Advokaten. Akademiker. Talarträger. Finanzer. 
Exadligen und Hoöflinge. mit einem Wort. all die Helfers- 
helfer des alten Regiments von den Wahlen ausschlielen 
und wird seine Wahl nur auf aufgeklärte und redliche Bürger 
fallen lassen: es wird die lasterhaften Gesetze, die die Freiheit 
bedrohen. widerrufen und an ihre Stelle weise setzen. die 
die Freiheit vor den Anschlägen der Bedienten der Gewalt 
sichern, und es wird sich konstitutionelle Miftel verschaffen, 
um solche, die ihre Pflichten nicht redlich erfüllen, abzuberufen. 


und solche zu strafen, die Untreue begangen haben. 
7 


0 PRERE REEERE —ũ— . ——— — EEA EE NE ze menge Eee 


Nur durch Schlechtigkeiten gelangen die Bedienten 
der Gewalt dazu, das Volk zum Aufruhr zu bringen, es 
die Notwendigkeit fühlen zu lassen, ihnen die Möglichkeit 
zu nehmen, es zu schädigen. Dank dem Geist der Ver- 
blendung und des Wahnwitzes, der im Kabine herrscht 
neigt eich der Despotismus zu seinem Ende. Man möchte 
meinen, die Minister häfen den hirnverbrannten Plan 
gefaßt. in eigener Person den Thron zu stürzen: sie 
lassen schlechte Dekrete beschließen: sie widersetzen 
sich den guten oder verzögern ihre Sanktion: sie ver- 
schleudern die öffentlichen Gelder: sie fahren fort, das 
Korn und das Geld aufzukaufen, das Volk auszuhungern 
und ins Elend zu bringen. Verhaftbriefe zu erlassen 
die Provinzen zur Erhebung, die Truppen zur Empörung: 
die unterdrückte Menge zum Aufstand zu bringen: 
ihre schwarzen Anschläge, ihre Zefelungen, ihre Ver- 
schwörungen. ihre Verrätereien nehmen kein Ende: sie 
umgehen die Gesetze. setzen sich über die Verfassung 
weg und scheinen fürwahr der Nation zu trotzen. Um 
so besser. sie setzen ihren Freveln vollends die Spitze 
auf: bald wird die Nation die Augen öffnen und wird 
in der Gewißfheit, daß es unmöglich ist, di: Lakaien des 
Fürsten zu bessern, endlich den weisen Entschluß fassen, 
sie zu vernichten. Ah! wozu dient heute der Fürst 
anders, als sich der Gesundung des Reiches und dem 
Glück seiner Einwohner in den Weg zu stellen? Für 
den Vorurteilslosen ist der König der Franzosen weniger 
als das fünfte Rad an einem Wagen, weil er nichts 
anderes kann, als den Gang der politischen Maschine durch- 
einander bringen. Möchten alle patriotischen Schriftsteller 
daran gehen, der Nation zum Bewußtsein zu bringen, dal 
es das beste Mittel ist. ihre Ruhe, ihre Freiheit und ihr 
Glück zu sichern, Wenn sie ohne die Krone fertig wird. — 
Werden wir denn nie aufhören, alte Kinder zu sein? 


Hans Paasche: Protest eines Menschen 573 


PROTEST EINES MENSCHEN 
VON HANS PAASCHE 


Aufgewachsen in einer Welt, gegen die leidenschaft- 
lich zu protestieren er, ein Erkennender. sich verpflichtet 
fühlte. wurde er um seines Protestes willen ermordet. 
In Hans Paasche hat die Reaktion einen der besten und 
ehrlichsten Männer Deutschlands getroffen. Diese Zeilen, 
geschrieben eret vor wenigen Monaten. sind ein Aufschrei 
des Entsetzens und des Nichtverstehens. Nun ist denselben 
Mächten der Mordseligkeit und des indifferenten Oppor- 
tunismue, die ihn entsetzten und die er nicht verstehen 
konnte, er selbst zum Opf r gefallen. Das ist die tiefe 
Tragik dieses Lebens und eines Todes. der — wer 
zweifelt auch nur eine Stunde — wiederum keine Ver- 


geltung finden wird. 


Diese meine Worte des Protestes sollen hinausgehen 
aus den Grenzen Deutschlands zu Menschen aller Völker. 
Wo immer denkende, fühlende Menschen jetzt leben. sollen 
sie aufhorchen und emen Schimmer von Hoffnung in 
ihren Herzen spüren, dal die edlen Kräfte der Mensch- 
heit doch nicht zuschanden werden. Die Sprache eines 
großen Volkes kann nıcht nur der Lüge, dem Haß und 
der Unterdrückung dienen, sie kann nicht nur von Feig- 
lingen und Bequemen benutzt werden; mit ihr, mit ihren 
kostbaren Worten mul protestiert werden gegen die finsteren 
Mächte, die das deutsche Volk regieren. Wir sind am 
Ende. — Das Leben ist nicht mehr wert. gemeinsam mit 
anderen gelebt zu werden wenn Recht das ist, was 
seit Monaten in Deutschland als Recht gesprochen wird 
und wenn niemand. der irgendwie dazu berufen ist. wagt, 
dagegen Einspruch zu erheben. Die deutschen Rechtsge- 
lehrten protestieren nicht. Vor aller Welt und für alle 
Zeit ist es nun erwiesen, daß Gelehrsamkeit allein den 


574 on Hans Paasche 
Menschen nichts geben kann, was das Dasein erleichtert, 
es muß Mut und Verantwortung hinzukommen. Wenn es 
auf deutschen Universitäten Rechtsgelehrte gäbe, die einen 
Anspruch darauf machten, den hohen Gedanken des Rechts 
zu hüten, sie häfen protestiert gegen die amtliche Ver- 
höhnung des Rechts. wie sie von allen Stellen. von 
Ministern. Offizieren. Staatsanwälten und Richtern seit 
Monaten ungestraft betrieben wird. Man kann sich unter 
Mord. Betrug. Fälschung. Meineid. Diebstahl. Bestechlich- 
keit nichts Schlechtes mehr vorstellen. seitdem diese 
Dinge von amtlichen Personen. von Ministern. Offizieren. 
Parteiorganen und Staatsanwälten begangen werden. ohne 
daß irgend einer dieser Mächtigen bestraft wird. Wenn 
also unter all den Männern und Frauen der Wissenschaft 
sich keine Gruppe findet. die die Ehre der deutschen 
Wissenschaft wahrt und gegen die Macht im eigenen 
Lande protestiert. so übernehme irgend ein Einzelner diesen 
Protest. Mit seinem Gefühl für die Heiligkeit vorurteils- 
losen und rücksichtslosen Denkens muß er wohl dazu be- 
rufen sein, die deutsche Wissenschaft vor der Menschheit 
zu vertreten, | 

Und er spreche aus, was Millionen heute empfinden: 
Wenn die Männer, die den Krieg verantwortet, die ihn 
herbeigeführt. geführt. verlängert haben. wenn ferner im 
besonderen Fall die Verantwortlichen für die grauen- 
haften Verbrechen der Berliner Märztage nicht in Ge- 
fängnisse gesperrt werden, dann ist es Zeit. mit der 
Institution der Gelängnisse und Zuchthäuser ganz Schluß 
zu machen und den Begriff des Staatsrechts ganz abzu- 
schaffen. Denn ım Vergleich mit den großen Verbrechern, 
die das deutsche Volk verschont. ja. denen es huldigt. 
sind die Elenden, die in Gefängnissen festgehalten werden. 
unschuldig. Fast alle Häftlinge von heute sind Opfer des 
Kriegsverbrechens -und der Rest sind Kranke. Das 


Protest eines Menschen 575 


Recht zu strafen und zu richten hat auf- 
gehört. 

Seit mehr als fünf Jahren wird der Mord als eine 
gute Tat belohnt, wenn er auf Befehl begangen wird 
an Menschen, die für Menschenrecht kämpfen, für den 
Frieden und den Gedanken der Liebe. Seit dem November 1918 
auch dann, wenn nur die Presse der besitzenden Klasse 
auf einen Menschen zeigt: »Spartakist«. Jede feine Differen- 
zierung des Urteils hat aufgehört in einem Volke. das 
Zu- und Abneigung. lallend, verteilt nur auf zwei Begriffe: 
Hindenburg und Spartakus. Für den ersten ist Lohn und 
Ehre da. Für den zweiten Strafe und Schande. wie immer 
auch die Taten des einen und des anderen beschaffen seien. 

So will es das gestörte Rechtsgefühl des großen 
deutschen Volkes. 

Wo eind die Unbeirrten. die Unbestechlichen. deren 
Schild noch blank ist in solcher Zeit und die das Gewissen 
des deutschen Volkes sein können vor der Welt? Gibt 
es ın Deutschland noch Einzelne, noch viele Einzelne, die 
in dem siftlichen Sumpf, den die Kriegsverbrecher ge- 
schaffen haben, aufrecht stehen können? Dann ergeht an 
sie der Ruf. ebenso einzeln zu protestieren gegen die Schande 
der heutigen J ustiz. 

Die Prozesse. die vor aller Öffentlichkeit geiührt 
werden, können nur den einen Sinn haben: jedem der 
denken kann, zu zeigen, daß dort, wo Recht ge- 
spro chen werden soll, heute nichts anders als das 
größ te Unrecht hervorgebracht wird. Als Abschreckung 
kann Strafe keinen Sınn mehr haben. seitdem vorsätzlicher 
Mord ganz ungestraft bleibt und vollends Anstiſtung zum 
Mord; zum vielfachen. wie im Falle Reinhard. zum viel- 
tausendfachen. wie im Falle Helfferich und Gen. Als 
Sühne ist Strafe undenkbar. weil die Prozesse zeigen. 
daß es nicht möglich ist. ein Gericht zu bilden, das ein 


576 Hans Paasche: Protest eines Menschen 


gewissenhafter Mensch anerkennen könnte. Die einzig menschen- 
mögliche Stellung zum »Verbrecher« hat Kurt Eisner 
eingenommen, der, als ein Aftentat auf. ihn gemacht wurde, 
in Bezug auf den Täter sagte: »Laft ihn laufen!. So 
bin auch ich ja einverstanden, daß man die größten Ver- 
brecher laufen läßt, dıe ganze Völker zerschlagen haben, 
nur sollen dann nicht die kleinen, ganz kleinen Verbrecher 
oder gar die Unschuldigen. die zu tausenden in Gefängnissen 
leiden. anders behandelt werden. Solange die vor den Augen 
Aller geführten Prozesse und Untersuchungen zeigen, dal 
kein Mensch Richter oder Zeuge sein kann gegen einen 
anderen, weil keiner frei ist von eigener Schuld, von dem 
Vorurteil seiner Klasse, seiner Zeit, solange ist keine 
Gewähr, daß in den vielen Gerichtsverhandlungen, ın denen 
Menschen um Freiheit und Leben gebracht werden, ohne 
daß sich. die Öffentlichkeit darum kümmert, unfehlbare 
Richter, einwandfreie Zeugen wirken. Das Unrecht 
aber, das im Namen des Gesetzes täglich begangen wird 
in all den lebensfeindlichen. freudlosen Gerichtszimmern 
Preußens, ıst um vieles gefährlicher als das ın Freiheit 
begangene, weil es in völliger Sicherheit an Wehrlosen 
geschieht, mit dem Bewußtsein der Selbstgerechtigkeit. der 
sittlichen Empörung und des Hasses. ja mit dem Augen- 
aufschlag zu Gott. Es verdirbt die Richter schon 
durch die Atmosphäre von Feigheit. in der es entsteht 
und durch den ständigen Anblick der bezahlten Existenzen. 
die sich berufsmäßig an Menschenehre und -Freiheit ver- 
greifen müssen. 

Aus all dieser Erkenntnis heraus protestiere ich gegen 
die Indolenz der Verantwortlichen Deutschlands, der Ge- 
lehrten. der wegen ihres Studiums mit Autorität bedachten. 
die sich jetzt zu keiner Tat aufraffen. Iæh protestiere 
ferner dagegen. dal das Bestreben. Menschen der Strafe 
zu entziehen, nur bei den Vertretern der Macht geduldet 


Fidelis: Gustav Landauers Kulturprogramm 577 


wird und nicht bei den Wehrlosen, Unterdrückten. Armen. 
An rechter Stelle nehme ich den Ruf auf, der in 
letzter Zeit so oft aus unberufenem Munde gehört wurde: 
»Heraus mit den Gefangenen« — ım eigenen Lande! 
Weg mit den Strafbegriffen des Mittelalters! Wie sie 
auf die Besitzenden und Bevorrechteten nicht mehr an- 
gewandt werden, so sollen sie auch das „gemeine Voll. 
nicht mehr treffen. Glaubt man aber die Allgemeinheit 
schützen zu müssen: Gemeingefährlich können nur 
die Mächtigen sein. Die gilt es zu bewachen. 


GUSTAV LANDAUERS KULTUR- 
PROGRAMM 


Herausgegeben von FIDELIS 


November 1918. Die deutsche Front bricht zusammen. 
Das deutsche Volk erhebt sich. Freiheitskrieg? Geistiges 
Zentrum ıst Bayerns Hauptstadt. Kurt Eisner, eben 
von den Massen aus dem Gefängnis geholt, leitet hier die 
Bewegung, Eisner, der mehr als Politiker ist, der alles 
verstehende. nach Schönheit strebende Künstler. Ihm zu 
helfen, eilt Gustav Landauer aus Düsseldorf nach 
München und schafft hier gemeinsam mit Eisner die 
Grundlagen für eine neue Ordnung. Er hafte die Revo- 
lution vorausgesehen, aber nicht geglaubt, daß sie so käme. 

Wie man in Berlin Rosa Luxemburg und 
Karl Liebknecht an der Teilnahme am Rätekongrel 
hinderte. so suchte man auch in München dem - land- 
fremden Gustav Landauer das Recht auf Mit- 


578 - ia, 


schaffung neuer Zustände zu wehren. Vergebens. Um 
Landauer sammeln sich die, die auf kein Dogma schwören. 

Eisners Ermordung ım Februar 1919. Gustav 
Landauer sprach dem Freunde schmerzliche Abschieds- 
worte. In dem Chaos, das jetzt in Bayern entstand, jetzt, 
nachdem der von den Massen geliebte Führer, der Hasser 
aller Gewaltmiſtel von der Kugel des Grafen Arco 
getötet worden war, war Landauer prädestiniert zu 
seinem Nachfolger. 

Von Augsburg. hier zuerst klar geformt, drang der 
Massenwille, eine Räterepublik zu schaffen, nach München. 
Die beiden sozialdemokratischen Parteien traten dafür ein. Auch 
Gustav Landauer. Vergebens warnte — ein lichter Prophet — 
Leviné. warnten die Kommunisten. Am ersten Aprilmontag 
morgens um 6 Uhr rief Landauer im Wiſtelsbacher Palast die 
Räterepublik aus. Am letzten Tage derselben Woche noch 
wurde sie gestürzt. Am gleichen Abend übernahmen die 
Kommunisten auf Wunsch der revolutionären Arbeiterschaft 
die Regierung. An der Spitze stand ein Viermänner- 
kollegium. Führend war Levin é. Landauer hats 
die Herrschaft des Geistes gekündet. J etzt wurde eine 
rote Armee aufgestellt. 

Gustav Landauer erklärte sich zur Mitarbeit 
bereit. In dem Münchener Mitteilungsblatt vom 16. April 
(dem amtlichen Organ der neuen Regierung. der einzigen 
damals erscheinenden Zeitung) schrieb er: 

„Durch das tatkräftıge Eingreifen des Proletariats 
in München ist die Räterepublik vor dem frechen 
Putschversuch der Gegenrevolution gerettet worden. 
Die Umgestaltung. die sich anschloß, erkenne ich an 
und begrüße ich. Der alte Zentralrat existiert nicht 
mehr; dem Aktionsausschuſ stelle ich meine Kraft, 
wo immer man mich brauchen kann, zur Verfügung. 


Gustav Landauer. 


Gustav Landauers Kulturprogramm 579 


Aber zwischen Landauer und Leviné lag Un- 
überbrückbares. Jeder verkörperte eine andere Welt: 
Landauer. der gütige Weltverbesserer. der Prophet: 
nach freiwilliger Hingabe rufend. Gemeinschaft des Geistes 
fordernd. der Marx den Antimar x entgegensetzte ; 
Levin é. der starre große Dogmatiker, der nach Marx- 
schen ehernen, ökonomisch-materialistischen Thesen die For- 
derungen der Zeit erfaßte und — wie die Zukunft zeigte 
— richtig erkannte. Einig im Ziel. war gemeinsames 
Wirken unmöglich. Jeder mußte seinen Weg des 
Leidens gehen. 


Von Februar an trat ich Landauer persönlich 
nahe. Zur Zeit der Lein é schen Räterepublik suchte 
ich zu vermitteln. ich, der Kommunist und Verehrer 
Landauers. Erst nach heißem Bemühen erlangte ich die 
Einwilligung, mit Landauer eın Programm für die Neu- 
ordnung des Kulturwesens auszuarbeiten. Täglich berieten 
wir zusammen. Über das Prinzipielle waren wir einig, in 
den Einzelheiten gaben wir einander nach. Das von uns 
aufgestellte Programm (Teil 1) legte ich Leviné vor. 
Dazu gab ich Erläuterungen (wenig verändert in Teil 2), 
wobei es dahingestellt bleiben muß, ob Landauer immer 
mit meiner Auffassung einverstanden gewesen wäre. Leviné 
lehnte das Programm ab, da es ihm zu sehr im ‚herge- 
brachten, bürgerlichen zu haften schien, und nicht prinzipiell 
neue Richtlinien gab. Ich habe in Teil 2 des öfteren auf 
Sowjetrußland hingewiesen. um das unberechtigte dieser 
Kritik zu zeigen. Mir scheint, die Gegensätzlichkeit der 
Naturen Landauer und Leviné erklärt die Ablehnung 
des Programmes, nicht sein Inhalt. 


Es wurden also keine Schrite zur Realisierung des 
Planes unternommen. Auch die politische Konstellation, die 
brutale Gewalt von außen, häfte es gehindert. Wenn ich 


580 Fidelis 


unser Programm doch der Öffentlichkeit unterbreite, so 
geschieht es nicht nur weil es Landauers letzte Arbeit 
ist, sondern auch weil ihm ein historisches Interesse nicht 
abgesprochen werden kann, und weil es auch heute noch 
praktischen Wert hat, vielleicht nur zum Vergleich mit 
dem, was im sozialistischen Deutschland geschieht. 


Die Freunde Landauers werden hier das nötige über 
die Presse vermissen, zumal er selbst die Presse als wichtig 
ansah. Sie wurde zu jener Zeit vom Propagandabüro ver- 
waltet und kam daher zunächst für eine Neuordnung nicht 
in Frage. Wie sich im übrigen Landauer die Neugestaltung 
der Presse dachte, das zeigen die Nummern der »Münchener 
Neusten Nachrichten-, die während der Landauerschen Re- 
gierung erschienen. und für die er die Verantwortung 
trägt. Selbstverständlich liegt da erst der Beginn einer 
Reform vor, nicht die Erfüllung. Seine Absicht, alles was 
er in diesen acht Tagen geschrieben hafte. zu sammeln, 


wırd vielleicht später von seinen Freunden erfüllt. 


Wenn in den Ausführungen nur weniges über die 
Akademien steht, so erklärt sich dies ebenfalls daraus, daß 
diese Frage als weniger aktuell nıcht gleich besprochen wurde. 
Man halte daran fest. daß dies ein Arbeits- 
programm ıst, daß sofort die praktische Realı- 
sierung einsetzen sollte. 


Den Stürmern, den Erneuerern des geistigen Deutsch- 
lands wird vieles von dem. was hier steht. banal vor- 
kommen, zumal gemessen an Landauers früheren Arbeiten. 
Von ıhm erwartet man Grundlegendes, Neues, Metaphysisches. 
Darum handelt es sich hier aber gar nicht. Hier wird die 
Idee materialisiert. also gleichsam heruntergezogen. Hier soll 
gezeigt werden, was ım Aprıl 1919 unter den gegebenen 
wirtschaftlich-politischen Zuständen in Bayern hätte ge- 


leistet werden können. Der Kulturminister hat eine andere 


Gustav Landauers Kulturprogramm 581 


Aufgabe als der freie Schriftsteller, als der oppositionelle 
Politiker. Je größer sein Gedankenwurf ist, um so größer 
erscheinen seine (temporären) Konzessionen bei der praktischen 
Durchführung. Dieses tragische Schicksal teilt Landauer mit 
allen Führern, die zur Macht gelangen. Engels schreibt 
über Thomas Münzer (im deutschen Bauernkrieg): Es ist 
das schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei 
widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, ın einer Epoche 
die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch 
nicht reif ıst für die Herrschaft der Klasse, die er ver- 
tritt und für die Durchführung der Maßregeln, die die 
Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann, 
hängt nicht von seinem Willen ab, sondern von der 
Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen 
getrieben ıst, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen 
Existenzbedingungen. der Produktions- und Verkehrsver- 
hältnisse. auf dem der jedesmalige Entwicklungsgrad der 
Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, -was seine 
Partei von ihm verlangt, hängt wieder nicht von ihm ab, 
aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassen- 
kampfs und seiner Bedingungen: er ist gebunden .an seine 
bisherigen Doktrinen und Forderungen. . Er findet sich 
so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: was er 
tun kann. widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten. 
seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner 
Partei: und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er 
ist mit einem Wort gezwungen. nicht seine Partei. seine 
Klasse. sondern die Klasse zu vertreten. für deren Herr- 
schaft die Bewegung gerade reif ist. 

Dies erklärt unser Programm. Und nur so darf es 
betrachtet und gewertet werden. 


580 Fidelis 


unser Programm doch der Öffentlichkeit unterbreite, so 
geschieht es nicht nur weil es Landauers letzte Arbeit 
ist. sondern auch weil ihm ein historisches Interesse nicht 
abgesprochen werden kann, und weıl es auch heute noch 
praktischen Wert hat, vielleicht nur zum Vergleich mit 
dem, was ım sozialistischen Deutschland geschieht. 


Die Freunde Landauers werden hier das nötige über 
die Presse vermissen, zumal er selbst die Presse als wichtig 
ansah. Sıe wurde zu jener Zeit vom Propagandabüro ver- 
waltet und kam daher zunächst für eine Neuordnung nicht 
in Frage. Wie sich im übrigen Landauer die Neugestaltung 
der Presse dachte, das zeigen die Nummern der »Münchener 
Neusten Nachrichten-, die während der Landauerschen Re- 
gierung erschienen, und für die er die Verantwortung 
trägt. Selbstverständlich liegt da erst der Beginn einer 
Reform vor, nicht die Erfüllung. Seine Absicht, alles was 
er in diesen acht Tagen geschrieben hafte, zu sammeln, 


wird vielleicht später von seinen Freunden erfüllt. 


Wenn in den Ausführungen nur weniges über die 
Akademien steht, so erklärt sich dies ebenfalls daraus, daß 
diese Frage als weniger aktuell nicht gleich besprochen wurde. 
Man halte daran fest, daß dies ein Arbeits- 
programm ist, dal sofort die praktische Reali- 
sierung einsetzen sollte. 


Den Stürmern, den Erneuerern des geistigen Deutsch- 
lands wird vieles von dem, was hier steht, banal vor- 
kommen, zumal gemessen an Landauers früheren Arbeiten. 
Von ihm erwartet man Grundlegendes, Neues, Metaphysisches. 
Darum handelt es sich hier aber gar nicht. Hier wird die 
Idee materialisiert. also gleichsam heruntergezogen. Hier soll 
gezeigt werden, was ım Aprıl 1919 unter den gegebenen 
wirtschaftlich-politischen Zuständen in Bayern hätte ge- 


leistet werden können. Der Kulturminister hat eine andere 


Gustav Landauers Kulturprogramm 581 


Aufgabe als der freie Schriftsteller, als der oppositionelle 
Politiker. Je größer sein Gedankenwurf ist, um so größer 
erscheinen seine (temporären) Konzessionen bei der praktischen 
Durchführung. Dieses tragische Schicksal teilt Landauer mit 
allen Führern, die zur Macht gelangen. Engels schreibt 
über Thomas Münzer (im deutschen Bauernkrieg): »Es ist 
das schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei 
widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche 
die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch 
nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er ver- 
tritt und für die Durchführung der Maßregeln, die die 
Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann. 
hängt nicht von seinem Willen ab. sondern von der 
Höhe. auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen 
getrieben ist. und von dem Entwicklungsgrad der materiellen 
Existenzbedingungen, der Produktions- und Verkehrsver- 
hältnisse. auf dem der jedesmalige Entwicklungsgrad der 
Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, Was seine 
Partei von ihm verlangt. hängt wieder nicht von ihm ab. 
aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassen- 
kampfs und seiner Bedingungen: er ist gebunden an seine 
bisherigen Doktrinen und Forderungen. . . Er findet sich 
so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma; was er 
tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten. 
seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner 
Partei: und was er tun soll. ist nicht durchzuführen. Er 
ist mit einem Wort gezwungen. nicht seine Partei, seine 
Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herr- 
schaft die Bewegung gerade reif ist. 

Dies erklärt unser Programm. Und nur so darf es 
betrachtet und gewertet werden. 


580 Fidelis 


unser Programm doch der Öffentlichkeit unterbreite, so 
geschieht es nicht nur weil es Landauers letzte Arbeit 
ist, sondern auch weil ihm ein historisches Interesse nicht 
abgesprochen werden kann. und weil es auch heute noch 
praktischen Wert hat, vielleicht nur zum Vergleich mit 
dem, was im sozialistischen Deutschland geschieht. 


Die Freunde Landauers werden hier das nötige über 
die Presse vermissen. zumal er selbst die Presse als wichtig 
ansah. Sie wurde zu jener Zeit vom Propagandabüro ver- 
waltet und kam daher zunächst für eine Neuordnung nicht 
in Frage. Wie sich im übrigen Landauer die Neugestaltung 
der Presse dachte, das zeigen die Nummern der »Münchener 
Neusten Nachrichten-. die während der Landauerschen Re- 
gierung erschienen, und für die er die Verantwortung 
trägt. Selbstverständlich liegt da erst der Beginn emer 
Reform vor, nicht die Erfüllung. Seine Absicht, alles was 
er ın diesen acht Tagen . geschrieben hafte, zu sammeln, 


wird vielleicht spater von seinen Freunden erfüllt. 


Wenn ın den Ausführungen nur weniges über die 
Akademien steht, so erklärt sich dies ebenfalls daraus, dal 
diese Frage als weniger aktuell nıcht gleich besprochen wurde. 
Man halte daran fest, daß dies ein Arbeits- 
programm ist, daß sofort die praktische Realı- 
sierung einsetzen sollte. 


Den Stürmern, den Erneuerern des geistigen Deutsch- 
lands wird vieles von dem, was hier steht, banal vor- 
kommen, zumal gemessen an Landauers früheren Arbeiten. 
Von ıhm erwartet man Grundlegendes, Neues, Metaphysisches. 
Darum handelt es sich hier aber gar nicht. Hier wird die 
Idee materialisiert. also gleichsam heruntergezogen. Hier soll 
gezeigt werden, was ım Aprıl 1919 unter den gegebenen 
wirtschaftlich-politischen Zuständen in Bayern häfte ge- 
leistet werden können. Der Kulturminister hat eine andere 


Gustav Landauers Kulturprogramm 581 


Aufgabe als der freie Schriftsteller, als der oppositionelle 
Politiker. Je größer sein Gedankenwurf ist, um so größer 
erscheinen seine (temporären) Konzessionen bei der praktischen 
Durchführung. Dieses tragische Schicksal teilt Landauer mit 
allen Führern, die zur Macht gelangen. Engels schreibt 
über Thomas Münzer (im deutschen Bauernkrieg): Es ist 
das schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei 
widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche 
die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch 
nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er ver- 
tritt und für die Durchführung der Maßregeln, die die 
Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann, 
hängt nicht von seinem Willen ab, sondern von der 
Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen 
getrieben ist, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen 
Existenzbedingungen, der Produktions- und Verkehrsver- 
hältnısse, auf dem der jedesmalige Entwieklungsgrad der 
Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, was seine 
Partei von ihm verlangt. hängt wieder nicht von ihm ab, 
aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassen- 
kampfs und seiner Bedingungen: er ist gebunden an seine 
bisherigen Doktrinen und Forderungen. . . Er findet sich 
so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: Was er 
tun kann. widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten. 
seinen Prinzipien und den unmiftelbaren Interessen seiner 
Partei: und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er 
ist mit einem Wort gezwungen, nicht seine Partei, seine 
Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herr- 
schaft die Bewegung gerade reif ist.“ 

Dies erklärt unser Programm. Und nur so darf es 
betrachtet und gewertet werden. 


580 Fidelis 


unser Programm doch der Öffentlichkeit unterbreite, so 
geschieht es nicht nur weil es Landauers letzte Arbeit 
ist, sondern auch weil ihm ein historisches Interesse nicht 
abgesprochen werden kann, und weıl es auch heute noch 
praktischen Wert hat, vielleicht nur zum Vergleich mit 
dem. was im sozialistischen Deutschland geschieht. 


Die Freunde Landauers werden hier das nötige über 
die Presse vermissen, zumal er selbst die Presse als wichtig 
ansah. Sie wurde zu jener Zeit vom Propagandabüro ver- 
waltet und kam daher zunächst für eine Neuordnung nicht 
in Frage. Wie sich im übrigen Landauer die Neugestaltung 
der Presse dachte, das zeigen die Nummern der »Münchener 
Neusten Nachrichten-, die während der Landauerschen Re- 
gierung erschienen, und für die er die Verantwortung 
trägt. Selbstverständlich liegt da erst der Beginn einer 
Reform vor, nıcht die Erfüllung. Seine Absicht, alles was 
er in diesen acht Tagen . geschrieben hafte, zu sammeln, 


wird vielleicht später von seinen Freunden erfüllt. 


Wenn in den Ausführungen nur weniges über die 
Akademien steht, so erklärt sich dies ebenfalls daraus, daß 
diese Frage als weniger aktuell nicht gleich besprochen wurde. 
Man halte daran fest, daß dies ein Arbeits- 
programm ist, daß sofort die praktische Realı- 
sierung einsetzen sollte. 


Den Stürmern, den Erneuerern des geistigen Deutsch- 
lands wird vieles von dem, was hier steht, banal vor- 
kommen, zumal gemessen an Landauers früheren Arbeiten. 
Von ıhm erwartet man Grundlegendes, Neues, Metaphysisches. 
Darum handelt es sich hier aber gar nicht. Hier wird die 
Idee materialisiert. also gleichsam heruntergezogen. Hier soll 
gezeigt werden, was ım Aprıl 1919 unter den gegebenen 
wirtschaftlich-politischen Zuständen in Bayern häfte ge- 
leistet werden können. Der Kulturminister hat eine andere 


Gustav Landauers Kulturprogramm 581 


Aufgabe als der freie Schriftsteller, als der oppositionelle 
Politiker. Je größer sein Gedankenwurf ist, um so größer 
erscheinen seine (temporären) Konzessionen beı der praktischen 
Durchführung. Dieses tragische Schicksal teilt Landauer mit 
allen Führern, die zur Macht gelangen. En ge ls schreibt 
über Thomas Münzer (im deutschen Bauernkrieg): »Es ist 
das schlimmste, was dem Führer einer extremen Parteı 
widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche 
die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch 
nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er ver- 
tritt und für die Durchführung der Maßregeln, die die 
Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann. 
hängt nicht von seinem Willen ab. sondern von der 
Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen 
getrieben ıst, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen 
Existenzbedingungen. der Produktions- und Verkehrsver- 
hältnisse. auf dem der jedesmalige Entwicklungsgrad der 
Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, was seine 
Partei von ihm verlangt. hängt wieder nicht von ihm ab. 
aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassen- 
kampfs und seiner Bedingungen: er ıst gebunden an seine 
bisherigen Doktrinen und Forderungen. . . Er findet sich 
so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: was er 
tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten, 
seinen Prinzipien und den unmiftelbaren Interessen seiner 
Partei; und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er 
ist mit einem Wort gezwungen, nicht seine Partei, seine 
Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herr- 
schaft die Bewegung gerade reif ist. 

Dies erklärt unser Programm. Und nur so darf es 
betrachtet und gewertet werden. 


O Fidelis 


Das Programm 
A. Staat und Kirche. 


1. Sofortige völlige Trennung. 

2. Die Kirche bleibt einstweilen im Besitze ihres 
Vermögens. 

Die Kirchen sind im Prinzip Eigentum der 
politischen Gemeinde. l 

Die charitativen Einrichtungen bleiben ihrem 
Zweck erhalten. 


5. Prozessionen werden wie sonstige Umzüge be- 


handelt. 
B. Kunst. 
1. Architektur: Die neue Ara der Menschheits- 


geschichte hat in den Monumenten und öffent- 
lichen Gebäuden, die von jetzt ab errichtet 
werden. ihren Ausdruck zu finden. (Gustav 
Landauer). 
Staatsaufträge. 
Malerei und Plastik sind in die Architektur 
einzugliedern. | 

2. Malerei und Plastik. Neugründung von Museen. 
Staatsankäufe. Staatsgebäude für Ausstellungen. 
Wanderausstellungen. 

3. Theater. 

ö a) National- Theater. Freier Eintritt. Kontrolle 
des Spielplans und der Spielart durch eine 
Akademie. 

b) Privat- Theater. Korporativer Charakter. Große 
Macht des gewählten Leiters. 
C. Schule. 


1. Einheitsschule. 7.— 13. Lebensjahr. Betonung von 
Zeichnen und Turnen. Fakultative Auswahl der 
Fächer. Keine Schulbank. Neue Lehrbücher. Privat- 


Q 


R 


Gustav Landauers Kulturprogramm 583 


schulen gestaftet, wenn sie dasselbe Minimum geben 
wie die Staatsschule. . 

2. Nach der Einheitsschule entweder praktische 
Betätigung mit Fortbildungsschule, oder 

3. Lebensgemeinschaft vom 13.— 15. Jahre (Schüler — 
Lehre — Meister). Oder 

4. Mittelschule. . 

5. Hochschule. Streichung der theologischen und 
juristischen Fakultät mit Ausnahme der Geschichte 
und Philosophie. Abtrennung einer medizinischen 
Hochschule, einer philologischen und einer physikalisch- 
chemisch-naturwissenschaftlichen. Höchste Fakultät 
ist die philosophische. 


Erläuterungen zum Programm 

Am klarsten liegen die Forderungen in bezug auf 
Trennung von Staat und Kirche. Handelt es sich doch hier 
um ein aus der Tradition des liberalen Programmes über- 
nommenes Verlangen, das bereits in manchem bürgerlichen 
Staat durchgeführt ist. Die geistliche Schulaufsicht. im 2. 
Jahr der - Revolution - noch in Preuſen- Deutschland ein 
Streitobjekt. war sogar schon in den Schulen des Philantropismus 
(in der 2. Halfte des 18. Jahrhunderts) abgeschafft. 

Der Kampf gegen die offizielle Kirchenreligion ent- 
springt der Erkennung. daß dieser Kult der heutigen Gesell- 
schaft nicht mehr entspricht. sowohl in seinen Formen, als 
auch in seiner Ethik. Dieser Geist ist ein Ungeist: 
hat weder Beziehungen zur Wahrheit noch zum Leben. 
Wenn etwas beweisbar falsch ist, so sind es diese Vor- 
stellungen allesamt. Man kann sich aber wohl vorstellen. 
daſ eine Gemeinde im Landauerschen Sinne nicht nur einen 
den Menschen genehmen, sondern ihnen sogar notwendigen 
Kult findet, wie es die Mysterien in Griechenland waren 


und die christlichen Religionsformen in den ersten J ahrhunderten. 


584 Fidelis 


Sicher ist es aber, dał aus der heutigen Kirchenreligion 
dieser Kult nicht entstehen kann. Der heutige Staat hat 
also kein Interesse mehr, die Trennung hintanzuhalten. 
Man darf dabei aber nicht übersehen, dal jede scharf vor- 
genommene Trennung auch Gefahr für den Staat in sich 
birgt. Wird der Religonsunterricht von der Schule ver- 
wiesen. 80 werden die Eltern ihren Kindern von der Kirchen- 
gemeinde den Unterricht geben lassen. d. h. die Kinder er- 
halten einen Unterricht, auf den der Staat dann keinen Einfluß 
mehr ausübt. Diese Gefahr ist sicherlich nicht zu unter- 
schätzen. Sie kann und mu durch den Moral- und Ge- 
schichtsunterricht, sowie durch eine selbständiges Denken er- 
zielende Erziehung bekämpft werden. Es schadet gar nıchts, 
wenn schon das Kınd Probleme sieht und zu zweifeln lernt. 

Ein Verbot des Religionsunterrichtes der heutigen Staats- 
kirche kommt wohl praktisch noch nicht in Frage. Wohl 
aber muß der Staat bereits die Kirche als schädlich be- 
kämpfen. Die heutige Ausübung der kirchlichen Religion 
ist Opium. das das Volk vergiftete und vergiftet« (Bucharın). 
Die Entziehungskur dieses Narkotikums kann aber nicht 
plötzlich geschehen. sondern, nur ansteigend. 

Ein Zeichen für das tiefe Niveau der bisher erreichten 
Entwicklungsstufe ist, daß das Volk, auch das arbeitende Volk. 
noch die heutige Kirche braucht. Die Verfassung jedes 
Staates muß neben den großen Zielen, auch die Realität 
der soziologischen Struktur betrachten und die Konsequenzen 
daraus ziehen, auch wenn sie unbequem sind. Hieraus er- 
gibt eich, daß man heute der Kirche noch nicht alle Mittel 
nehmen kann, da sich. die Proletarier gegen eine Regierung. 
die dies anordnet, erheben würden. Man muß daher die 
Kirche einstweilen ım Besitze ıhres Vermögens lassen. Man 
kann sie nıcht, wie es ın Rufland geschehen ist, nationalisieren, 
weil eben das deutsche Volk anders ist als das russische. 
Ein Zuschuß von Staats wegen kommt natürlich in keiner 


Gustav Landauers Kulturprogramm 585 


Form mehr in Betracht. auch nicht für die armen Gemeinden. 
Da der Staat aber die Notwendigkeit der Kirche noch 
anerkennt. so wird er dafür sorgen, daß die reichen Ge- 
meinden die armen ausreichend unterstützen. Landauer wäre 
sogar damit einverstanden, daß der Staat in der Über- 
gangszeit hier vermiftelnd und helfend eingriffe. In dem- 
selben Maße wie die politische Aufklärung vor sich geht 
und wie sich das Proletariat von der Kirche abwendet, 
in demselben Maße wird man auch zur Enteignung der 
Kirche schreiten. Gerade hier möchte ich die oben zitierte 
Ansicht Engels angewendet wissen. 

Die Benutzung der Kirche für weltliche Zwecke durch 
die Geistlichkeit, die sich bei jedem Wahlkampf zeigt und l 
die z2. B. bei der Wahl zur Nationalversammlung von 
dem Erzbischof von Breslau ausdrücklich befohlen wurde. 
hat die Konsequenz. daß auch die nicht der Kirche Ange- 
börigen die Kirchengebäude benutzen dürfen. Vor allem 
kommen sie für die Weihefeste neuer Kultgemeinden in 
Frage. So hatte Eisner geplant. Erntedankfeste der Bauern 
in den großen Kirchen Münchens abhalten zu lassen. 
f Wenn auch die Kirchen im Prinzip Eigentum der 
politischen Gemeinden . sind. so sind sie doch der kirchlichen 
Gemeinde zur Verfügung gestellt. und diese haben daher 
für den Unterhalt der Gebäude und Kunstschätze zu sorgen. 
Wie nötig es aber ist. ausdrücklich das Prinzip des Eigen- 
tums der politischen und nicht der kirchlichen Gemeinden 
an den Kirchen zu betonen. zeigten viele unliebsame Vor- 
gange in Bayern während der Revolution. Übrigens nımmt 
ja auch der bürgerliche Staat heute schon dies Recht für 
sch in Anspruch. 

Die charıtatıven Einrichtungen sollen ihrem Zeelie er- 
halten bleiben. Nur mul die Art der Aufsicht geändert 
werden: pädagogisch-ärztliche Richtlinien, nicht kirchliche 


müssen leitend sein. 


586 Fidelis 


Prozessionen werden in Zukunft wie andere öffentliche 


Umzüge behandelt. 


»Die neue Ära der Menschengeschichte hat in den 
Monumenten und öffentlichen Gebäuden, die von jetzt ab 
errichtet werden, ihren Ausdruck zu finden« Dieser Satz 
Landauers zeigt die neue Einstellung zur Kunst. Nach der 
Häckelschen Monistenbündlerei kommt wieder ein religiöses 
Zeitalter, beschleunigt durch Krieg und Revolution. Die Menschen 
streben wieder nach Verinnerlichung. und die Künstler gehen 
voran. Nicht mehr suchen sie die Natur in ihrer jeweiligen 
Form festzuhalten. sondern gläubig durchdringen sie das 
Einzelne, um dahinter das All zu finden. So erweitert sich 
ihr Ich zum All. Ihre Gesinnung braucht noch nicht gläubig 
zu sein. Aber diese Erscheinungen setzen »einen gewissen 
Transzendentalismus der seelischen Grundverfassung« (Ha rtlaub) 
voraus oder wie Franz Marc sagt: »Die Mystık erwachte 
in den Seelen (nämlich der Künstler) und mit ihr uralte 
Elemente der Kunst. Expressionistisch heift man die neue 
Kunst. Raphael nahm eine Geliebte als »Modelle zu einer 
Madonna. Der Künstler der Jetztzeit braucht kein Modell 
Durch irgend ein Bild in der Natur angeregt, durchdringt 
er es verstandesmälig, und sein Bild bringt. ihm selbst 
unbewuft, die Madonna in ihrer Allgültigkeit. Ein zweites 
Beispiel: das prachtvolle Pferd des Colleoni oder eime Tier- 
figur eines sımpressionistischen« Bildhauers wie Gaul. Sie 
haften beide am äußerlichen. Man möchte das Pferd des 
Colleoni besteigen. man möchte die Tierfigur von Gaul 
streicheln. Ganz anders die eines Expressionisten, etwa eine 
solche von Marc. In seinen Pferden ist das »Ur-Pferd 
enthalten. Das ist nicht mehr ein beliebiges Pferd, sondern 
es ist schlechtweg das Pferd. 


Diese Beispiele mögen genügen. Sie genügen auch, um 


Gustav Landauers Kulturprogramm 587 


das Wesentliche klar zu erkennen. Jene haften am 
Figürlichen, diese kommen zum »communen«, zum »allgemein- 
gültigen . In jedem Punkt, in jeder Linie, in jeder Fläche 
und eben so in jeder Farbe drückt sich das Ringen des 
neuen Künstlers aus. Das Figürliche kann dabei. wie bei 
Kandinsky ganz schwinden. Nach geistig-religiöser Ver- 
innerlichung strebt die Künstlerschaft und mit ihr die Masse, 
die nıchtsafte, nıcht-bourgeoismäfige Masse. 

In der neuen Kunst dürfen wır wohl die ersten 
schwachen Versuche sehen, der neuen religiösen Gemüts- 
bewegung eine neue Form zu geben. Daß die Kunst immer 
die Formulierung der Gemütsbewegung, sei es Einzelner. sei 
es von Gruppen, Klassen, Nationen usw. war, ist selbstver- 
ständlich. Die neue Kunst wird eine Proletarierkunst sein. 
Wie das Proletariat nach Wissen und Schönheit strebt. 
so tut es auch seine Kunst. Sıe ist nur zu verstehen aus 
der gesamten proletarischen Kultur, von der Lunatschars ki 
schreibt: Wie sozialistische Produktion das Ergebnis der 
kapitalistischen Produktion ıst, sie jedoch modifiziert und hebt, 
so ist auch die ganze sozialistische Kultur ein neuer, noch 
in der Blütenpracht der Schwere und der Süße der ver- 
heißenden Früchte ein noch nie dagewesener Zweig vom 
großen Baume der allgemeinmenschlichen Kultur.« »Die Kultur 
des kämpfenden Proletariats ist eine scharf abgesonderte 
Klassenkultur, die auf Kampf aufgebaut ist, eine ihrem 
Typus nach romantische Kultur, in der der sich intensiv 
abzeichnende Inhalt die Form überholt. weil die Zeit fehlt. 
um sich genügend um die bestimmende und die vollkommene 
Form für diesen stürmischen und tragischen Inhalt zu kümmern. 

Doch kehren wir nach dieser Abschweifung zu der 
praktischen Ausführung des Programmes zurück. Wenn der 
oben stehende Satz Landauers Wahrheit werden soll, so 
werden die Rechte des Einzelnen weiter beschränkt. Nicht 


mehr hat der einzelne Hausbesitzer, die einzelne Gemeinde 
f 


588 Fidelis 


das Recht, das Stadtbild nach ihrem Gutdünken zu bilden. 
Durch Staatsaufträge und Ausschreibungen von Konkurrenzen 
wird die Bebauung von jetzt ab nach einheitlichen künstle- 
rischen Gesichtspunkten geregelt. Vorbildlich sollen die Staats- 
gebäude sein, sowohl in ihren Einrichtungen, als auch in 
ihrer Architektonik. 

Bei dem Worte »Staatsauftrage überläuft dem Sensitiven 
des wilhelminischen Zeitalters ein kalter Schauer. Er denkt 
an den Berliner Dom. er denkt an Ihne. So ist es natür- 
lich nicht gemeint. Weder ein Einzelner. noch ein Ministerium. 
noch gar die Zeitungen sollen das Werturteil fallen. Die 
Künstlerschaften bilden ihren Rat, aus dem sich dann eine 
höchste Instanz herauskristallisiert. eine Akademie. die ge- 
meinsam mit den Vertretern des schaffenden Volkes die 
Richtlinien niederlegen. 

Malerei und Plastik sind. wenigstens teilweise, der Architektur 
einzugliedern. Die Freskomalerei kann ja sinngemäf gar nicht 
ein eigenes Dasein führen. Ähnliches gilt auch von der- 
Plastik. Man denke an jene gotischen Kirchen, bei denen 
die Plastik organisch mit dem Bau verbunden ist und nicht 
ein zufälliges Ornament bildet. 

Diese Eingliederung der Malerei und Plastik ist nicht 
nur in die offiziellen Gebäude möglich, sondern allgemein 
durchführbar. Das Museum hat ja immer etwas Fremdes. 
Magazinhaftes. Es ıst nıcht Leben. Es ıst wohl denkbar, 
daß die Künstler einer neuen Zeit, sich unterordnend, weniger 
selbständig, weniger losgelöst von der Architektur schaffen. 
Für die anderen Künstler wird der Staat Museen ein- 
richten. Er wird ıhnen Gebäude zwecks Ausstellungen zur 
Verfügung stellen. Vor allen Dingen sei für Wander- 
ausstellungen gesorgt, damit auch das Land die neuen Be- 
wegungen kennen lernt. Nicht nur Theater, sondern ‚auch 
Bilder und Plastiken lebender Künstler sollen in das kleinste 
Städtchen kommen, um zur Verinnerlichung der Bevölkerung 


Gustav Landauers Kulturprogramm 589 


beizutragen. damit die Kunst wieder wie früher Not- 
wendigkeit wird. Stat der Heimatstümelei soll wieder 
Volkskunst entstehen. 

Die größte Förderung erhalten die Künstler aber durch 
Einrichtung von Lehranstalten. Nicht im Sinne der bis- 
herigen Kunstakademien soll hier gelehrt und gelernt werden: 
sondern es werde den Arbeitern hier Gelegenheit geboten, 
nach ihrem Willen sich in ihren Mufßestunden zu be- 
schäftigen. Wir glaubten, daß der Künstler nur Nutzen hat, wenn 
er auch produktiv zu schaffen hat, daß man ihn aber später, 
wenn seine Kunst mehr als Spielerei ist, gewisse Be- 
freiungen von der Arbeit zugestehen darf. Also auch der 
Künstler wird der allgemeinen Produktionsgenossenschaft 
eingegliedert. 

Noch ein paar Worte über das Theater. Wir dachten 
uns das Nationaltheater als eine Musterbühne sowohl in 
bezug auf seine Spielart. als auch in bezug auf seinen 
Spielplan. Überwacht wird beides durch eine höchste 
Akademie für geistige Angelegenheiten, deren Zusammen- 
setzung wır ım einzelnen noch nicht besprachen. Ich 
dachte sie mir etwa ähnlıch wıe den oben geschilderten 
Künstlerrat. Die Akademie häfe natürlich keine wirt- 
schaftlichen Interessen wahrzunehmen. 

Die Theater sollen ın künstlerischer Hinsicht korpora- 
tiven Charakter tragen, wenn auch ıhr selbstgewählter Leiter 
über große Machtbefugnisse verfügt. Daß sie wirtschaftlich 
kommunisiert würden, sei nur erwähnt, um Mifverständ- 
nisse auszuschließen. 

In bezug auf die Literatur kann der Staat durch 
Verbreitung guter Schriften, durch Unterdrückung der 
Schundliteratur (hierher würde ich alle Kriegsbücher 
rechnen) erzieherisch wirken. Bibliotheken können mit ver- 
hältnısmäßig kleinen Summen überall eingerichtet werden. 
selbst im kleinsten Dörfchen. Gerade hierin ist Sowjet- 


Rufland vorbildlich, und man kann die dort geschaffenen 
Zustände ohne weiteres nach Deutschland übertragen. 

Auch Sowjet-Rufland hat Museen für moderne Kunst 
eingerichtet und Künstlerschaften errichtet. Ein Kollegium 
junger radıkaler Künstler hat sich gebildet, Kunstgewerbe- 
abteilungen sind den Kunstwerkstäften angeschlossen. Eine 
Kunst-Aufbau-Abteilung errichtet Museen und hält künst- 
lerische Wettbewerbe ab. 


So wichtig auch alle Bestrebungen sind, die die jetzige 
Generation betreffen. so treten sie doch weit zurück gegen- 
über al dem. was der Erziehung der Jugend dient. 
Sie in den neuen Ideen aufwachsen zu lassen, sie in einem neuen 
Idealismus zu erziehen, sie vom bürgerlichen Materialismus zu 
entfernen. wird immer die Hauptaufgabe einer Übergangs- 
epoche sein. 

„Non scholae. sed vitae discımus.« Daran krankt die 
Schule. Die Pädagogen, die nach diesem Prinzip erziehen, 
wissen, was das Leben fordert: Anpassungsfähigkeit, Unter- 
würfigkeit. Verkümmerung des Ichs. ein in den Dienst der 
herrschenden Klasse Treten. Die Schule ist. das bedeutet 
jener alte, oft mißverstandene Satz. Klasseninstrument. Das 
Kind wird zum Untertan erzogen. gleich ob im wilhelminischen 
Alter oder in einer Zeit. in der das Kultusministerium in 
Preußen einem Hänisch. in Bayern einem Hoffmann an- 
vertraut ist. Daher die Schule, gleich ob Hoch-. Mittel- 
oder Volksschule. immer versagt, zumal in jeder großen 
Bewegung. etwa in dem »sgroßen« Krieg. Die denkenden 
Soldaten sind die schlechtesten, die denkenden Bürger die 
unfolgsamsten. Die »nationalee Erziehung bekämpfen wir. 
Diesem früheren Ideal (damals gerechtfertigt) setzen wir 
ein neues entgegen, die Menschheit. Für die Gesamtheit 
soll das Kind erzogen werden. »Die Verfassung mul 


Gustav Landauers Kulturprogramm 591 


nämlich ferner also eingerichtet sein, daß der Einzelne für 
das Ganze nicht bloß unterlassen müssen, sondern dal er 
für dasselbe auch tun und handelnd leisten könne. Außer 
der geistigen Entwicklung im Lernen finden ın diesem 
Gemeinwesen der Zöglinge auch noch körperliche Übungen, 
und die mechanischen, aber hier zum Ideal veredelten 
Arbeiten des Ackerbaus. und die von mancherlei Hand- 
werken sta. Es sei Grundregel der Verfassung. daß jedem. 
der in irgend einem dieser Zweige sich hervortut, zugemutet 
werde. die anderen darin unterrichten zu helfen und 
mancherlei Aufsichten und Verantwortlichkeiten zu über- 
nehmen: jedem. der irgendeine Verbesserung findet. oder 
die von einem Lehrer vorgeschlagene zuerst und am klarsten 
begreift. dieselbe mit eigener Mühe auszuführen. ohne daß 
er doch darum von seinen ohne dies sich verstehenden per- 
sönlichen . Aufgaben des Lernens und Arbeitens losgesprochen 
sei; dal jeder dieser Anmutung freiwillig genüge, und 
nicht aus Zwang, in dem es dem Nichtwoilenden auch 
frei steht, sie abzulehnen: daß er dafür keine Belohnung 
zu erwarten habe, ındes ın dieser Verfassung alle in Be- 
ziehung auf Arbeit und Genul ganz gleich gesetzt sind, 
nicht einmal Lob, indem es die herrschende Denkart ist. 
in der Gemeinde, daß daran jeder eben seine Schuldigkeit 
tue, sondern daß er. allein genieße die Freude an seinem 
Tun und Wirken für das Ganze und an dem Gelingen 
desselben, falls ihm dies zuteil wird. In dieser Verfassung 
wird sonach aus erworbener größerer Geschicklichkeit und 
aus der hierauf verwendeten Mühe nur neue Mühe 
folgen. Diese Sätze sind nicht etwa von einem weltfremden 
kommunistischen Idealisten, sondern von dem Verfasser 
der »Reden an die deutsche Natione, von Fichte. 

Eine solche Erziehung bedeutet in erster Linie Hebung 
der Ethik. Alles andere tritt dagegen zurück, auch die 
Weckung des Intellekts. Wieder kann man Lunatscharskı 


592 Fidelis 


nur beistimmen: » . . . daß sogar die beste geistige Bildung 
nur in unbedeutender Weise auf den Willen einen Ein- 
flub hat. wenn daneben die Organisation des Gefühllebens 
nicht vor sich geht. 

Wenn also auch die Bildung zurücktritt. so wird man 
doch andererseits die Bildungsmöglichkeit als allgemein und 
obligatorisch erklären. Man wird also die Schule ebenso 
wenig wie die Kirche den Besitzenden oder anderen 
Privilegierten ausliefern. 

Die Schule ist ein Klasseninstrument. Zwischen der 
kapitalistischen und der kommunistischen Wirtschaftsära liegt 
nach dem bekannten Wort von Marx die Diktatur des 
Proletariats. Aber das Ideal ist die Aufhebung der Klassen. 
d. h. die Zertrümmerung des Staates. Die erste Realisierung 
wird in den Schulen erfolgen. da naturgemäß nur eine ım 
neuen Geist erzogene Generation dieses Ziel erreichen kann. 
Man wird also zunächst die verschiedenen Klassen-Schulen 
aufheben, die in einem Preußen des Dreiklassenwahlsystems ein 
würdiges Dasein führten, heute aber, selbst nach der Nieder- 
lage der Revolution, nicht mehr existieren sollten. Die 
Arbeitseinheitsschule. übrigens keine Erfindung der Jetztzeit. 
ist selbstverständliche Forderung. Man wird niemanden aus- 
schließen. auch nicht wenn er aus einer dem Proletariat 
feindlichen Klasse kommt. Wohl aber wird man jeden zu 
hindern suchen, ein Feind des Proletarıats zu werden. 
Dieses Ziel ist nicht durch die Einheitsschule an sıch zu 
erreichen, sondern nur durch die Einheitsschule im sozialistischen 
Staat. 

Uns interessierte damals nicht die Erziehung der kleinsten 
Kinder. Wir beschäftigten uns nur mit der der älteren, 
vom 7. Lebensjahr an. In diesem Alter sollen die Kinder 
auf die Einheitsschule kommen, wo ihre manuelle und 
intellektuelle Ausbildung gleichmäßig gefördert werde. Die 
Ausbildung im Handwerkmäfigen ist zu betonen. Material- 


Gustav Landauers Kulturprogramm 593 


kunde ıst eins der wichtigsten Fächer. Eine ıhrer Wichtigkeit 
entsprechende Rolle spielt sie allerdings erst später. Der Zeichen- 
und Handwerksunterricht wird stärker betont als bisher. Die 
reiferen Kinder sollen sich die einfacheren Gebrauchsgegen- 
stände selbst herstellen. Hygienische Körperpflege. fremd 
allem Militärischen. darf nicht vernachlassigt werden. Aber 
darüber hinaus muß von der jungen Generation der Sinn 
des Leibes. seine Schönheit, sein Rhythmus wiedergefunden 
werden. Dionysos sei das Wahrzeichen der Schule. 

Häusliche Schulaufgaben sind eine Prämie für die 
Faulheit der Lehrer. Sie sind in jedem Unterrichtsfach zu 
entbehren, auch beim Erlernen fremder Sprachen. 

Was die Frage anbelangt, in welchen Fächern die 
Kinder zu unterrichten sind, so ıst zunächst einmal jeder 
festliegende Stundenplan verpönt. Im allgemeinen bleibe die 
Auswahl den Kindern selbst überlassen. Abgesehen vom 
Grundrechnen. vom Schreiben und Lesen in der Mufter- 
sprache, sowie vom Moralunterricht kann die denkbar größte 
Fakultas herrschen. Im geeigneten Moment, wenn das Interesse 
des Kindes erweckt ist. wenn es selbst den Wunsch 
äußert, hat die Belehrung einzusetzen. Und sie hat nur 30 
lange zu dauern. wie es das Kind verlangt. Die psychologischen 
Erkenntnismethoden der Fähigkeiten des einzelnen, von 
Münsterberg, Stern, Liebmann u. a. .ausgearbeitet, 
eind beratend dabei heranzuziehen. 

Hat sich eine Anzahl Kinder für ein Fach entschieden, 
so werden sie durch den Lehrer in drei Gruppen einge- 
teilt: Begabte. Durchschniſtsbegabte. Minderbegabte (Mann- 
beimer System). Jede Gruppe erhält Unterricht für 
sich. Diese Einteilung hat den Vorteil. daß jederzeit ein 
Rüberwechseln der Kinder möglich ist, was bei einer Ein- 
teilung nach der Gesamtfähigkeit nur schwer oder gar nicht 
möglich ist. 

Sehr hübsch hat Landauer die Vereinigung von Schul- 


594 Fidelis 


kind und Schulbank als siamesische Zwillinge gekennzeichnet. 
Damit ist unsere Stellung zu diesem antiquierten Möbel 
gekennzeichnet. Die Kinder sollen sich auch während des 
Unterrichts frei und ungezwungen bewegen. Es schadet gar- 
nichts. wenn sie sich einmal eine Zeitlang nicht am Unter- 
richt beteiligen. sich anders beschäftigen. Uberflüssig ist es 
wohl ausdrücklich zu sagen, daß in unserem System für 
den Rohrstock, für den im Jahre 1919 (!) Gothas Lehrer 
demonstrierten, kein Platz ist. In Bayerns Verordnungen 
ist genau festgelegt, wie lang er sein darf und wie dick. 
Herr Hoffmann, selbst Lehrer. hafte bis zu Landauers Ein- 
zug in das Kultusministerium ım April 1919 noch keine 
Zeit gehabt, diese Verordnung außer Kraft zu setzen. 
Schwer zu lösen ist die Frage. welche Bücher man 
den Kindern in die Hand geben soll. Ich sehe dabei ab 
von den Geschichtsbüchern, die ad usum delphini. ad gloriam 
der Hohenzollern. Wittelsbacher. Wettiner usf. geschrieben 
sind. In einem sonst garnicht üblen pädagogischen Schrittchen 
las ich neulich: Die Kinder sollen erfahren, -wie der alte 
deutsche Staat entstand. wie er am Individualismus der 
deutschen Stämme zugrunde ging: sie sollen erfahren, wie 
Fürst und Volk in Arbeit. Opferwilligkeit und Pflicht- 
treue den Organismus schufen, den wir in den Einzel- 
staaten. den wir im Reich vor uns schen. Diese Ver- 
drehungen von gemeinsamer Arbeit. Opferwilligkeit (vielleicht 
denkt der Autor an Wilhelms berühmtes Wort vom 
August 1914: große Opfer erwarte ich von euch!) und 
Pflichttreue wurden schon bisher gelehrt. In der Schule 
wird Kult mit großen Männern und ihren »staatserhaltenden« 
Ideen bis heute getrieben, und Marx hat für sie überhaupt 
nicht gelebt. Statt des Männerkultes sind die geschichtlichen 
Bewegungen ın ıhren allgemeinen soziologischen Zusammen- 
hängen darzustellen, wie es Marx, Ferrero. Mehring tun. 


Aber in den anderen Fächern liegen die Dinge nicht 


Gustav Landauers Kulturprogramm 595 


besser. Leonhard Frank machte mich einmal darauf auf- 
merksam, daß keines unserer Märchenbücher als Lesebuch 
in Frage käme. Ueberall treffen wir auf eine Anschauungs- 
und Ideenwelt. die wir bekämpfen. Überall finden wir 
Standesunterschiede und Grausamkeiten. Da ist die Rede 
vom Bettler und von der reichen Prinzessin, da vom ab- 
gehackten Finger. 

Eine schwierige Frage betrifft ferner die Privatschulen, 
worauf schon oben beim Religionsunterricht hinge wiesen ist. 
Es fragt sich, ob man neben den Staatsschulen auch Privat- 
institute zulassen soll. nachdem das Prinzip des Unterrichts 
nur in Staatsschulen doch schon einmal durchbrochen iet. 
Auch wäre dadurch die Regelung der Klosterschule eine 
relativ einfache. Gustav Landauer. seinem Föderalismus und 
Individualismus entsprechend, trat dafür ein. während ich 
mich nicht entschlieſen konnte. ihm diese Konzession zu machen. 
da es mir gefährlich erscheint, das Prinzip der Einheitsschule gleich 
bei der Gründung zu durchlöchern. Auch scheint mir keine 
Notwendigkeit für Privatschulen vorzuliegen, da ja bei An- 
nahme unsers Programmes ein jedes Kind selbst die Fächer 
des Unterrichts wählt. 

Selbstverständlich muß das alte Autoritätsverhältnis in 
den Schulen aufhören. Freundschaft trete an die Stelle der 
Autorität. indem die Lehrer die älteren, erfahrenen Freunde 
der Schüler werden. 

Nachdem die Kinder die Einheitsschule durchgemacht 
haben. tritt an sie die Frage. welchen Weg sie nun weiter 
çehen wollen. Dabei bringt es das System des kommunistischen 
Staates mit sich, daß diese Entscheidung nichts Unumstöß- 
liches, Endgiltiges ist, daß auch der Erwachsene, leichter als 
bisher, die Möglichkeit hat, aus einem praktischen Beruf ın 
einen theoretischen überzuwechseln. Lin Teil der Schüler, 
diejenigen, die für das praktische Leben veranlagt sind, können 
sich gleich einem praktischen Beruf zuwenden, d. h. sie 


596 Fidelio 


treten in die Lehre und besuchen daneben eine Fort- 
bildungsschule. 

Die Mehrzahl der Kinder geht in die „Lebensge- 
meinschafte über, die sich aus den Schülern vom 13. — 15. 
Lebensjahr. aus Lehrern. die den theoretischen Unterricht 
erteilen. und aus Meistern zusammensetzen. Diese über- 
wachen die handwerkliche Ausbildung. Der theoretische 
Unterricht findet im Anschluß an die praktischen Arbeiten 
sta, was übrigens auch bisher schon in vielen Arbeits- 
schulen der Fall ist. Stoff kunde m weitesten Sinne des 
Wortes nimmt einen Hauptteil des Unterrichts ein. 

Nach vollendetem 15. Lebensjahr wenden die meisten 
Kinder sich einem praktischen Beruf zu. Ein Teil geht 
auf die Mittelschule über. die vorwiegend theoretischen 
Unterricht bietet und für die Universität vorbereitet. Hier 
treffen sie auf die Kinder. die bereits von der Einheitschule 
direkt hierher gegangen sind, weil sie vorwiegend geistige 
Interessen haften. 

Die Hochschulen bedürfen einer EE Reform. 
Am leichtesten ist diese in der theologischen und juridischen 
Fakultät vorzunehmen. Abgeschen von Religion und Rechts- 
geschichte. sowie von der Rechtsphilosophie kann man 
nämlich diese beiden Fakultäten einfach aufheben. Die 
Heranziehung des geistlichen Nachwuchses ist Aufgabe der 
Kirchengemeinde und nicht die des Staates. 

Ebenso ist die juridische Fakultät entbehrlich. In Bayern 
hafte die Eisnersche Regierung seinerzeit Volksgerichte ein- 
gesetzt, d. h. Gerichte, deren Richter von den Arbeiter- 
und Soldaten-Räten ernannt wurden. Hier konnte ein jeder. 
auch Nicht- Jurist. die Verteidigung des Angeklagten führen. 
Selbstverständlich setzt die Durchführung dieses Punktes 
unseres Programmes voraus, daß die bürgerliche Wirtschafts- 
ordnung in die kommunistische übergeführt würde. eine An- 
nahme, die seinerzeit erlaubt war. Es sei noch darauf hin- 


Gustav Landauers Kulturprogramm 597 


gewiesen. daß nicht einzusehen ist, warum in Strafsachen, 
wobei es sich evtl. um das Leben des Angeklagten handelt. 
Laieurichter befugt sein sollen. Recht zu sprechen, nicht 
aber in Zivilklagen. wo es sich nur um materielle Dinge 
bandelt. 

Von den übrigen Fakultäten i Universität wird man 
analog den heutigen technischen Hochschulen die abtrennen, 
die nicht der reinen, sondern der angewandten Wissen- 
schaft dienen; die medizinische Hochschule, die natur- 
wissenschaftliche und die philologische, (zur: Heranbildung 
der Lehrer). | 

Die Universität wird also in Zukunft nur eine Fakultät 
haben, die philosophische, dieses Wort im weitesten Sinne 
gebraucht, also unter Inbegriff von Nationalökonomie, Ge- 
schichte usw. Dieser Plan knüpft an Forderungen von Fichte | 
an, und auch Gedanken Kants werden dadurch verwirklicht. 

Dieses Programm kann natürlich nicht von heute auf 
morgen realisiert werden. Aber es kann wenigstens die 
Richtungen festlegen. Notwendig ist nur, daß die Universität, 
“die ein Klasseninstrument ist, in der Übergangsepoche zum 
kommunistischen Staat den Interessen des Proletariats dient. 
Deshalb müssen in den politisch-nationalökonomischen Fächern 
die bisherigen reaktionären Lehrer verabschiedet werden. In 
anderen Fächern wird es dagegen nicht gleich möglich sein, 
neue Lehrer zu finden, die ın ıhrem Denken und Fühlen 
der sozialistischen Zeit mehr entsprechen. 

Dal es an den Universitäten keine Rangeinteilung der 
Lehrer mehr gibt, sondern nur noch Dozenten mit gleichen 
Rechten und Pflichten, sei nur der Vollständigkeit halber 
erwähnt. Durch Berufung bisheriger Privatgelehrter (auch 
von Autodidakten ohne akademische Bildung) kanu schnell 
für eine Erneuerung des Lehrkörpers gesorgt werden. Selbst- 
verständlich haben die Studenten ein Mitbestimmungsrecht 
über die Zulassung zur Dozentur. 


598 Fidelis: Gustav Landauers Kulturprogramm 


Die Frage, wer zur Universität zugelassen werden soll, 
ist von Sowjet-Rußland dahin beantwortet worden: ein jeder. 
Von dem Gedanken ausgehend, daß es dem Ungeeigneten 
dort schon zu langweilig sein wird. Dieser Standpunkt 
scheint mir nicht richtig zu sein. Die Universität soll eine 
gute Vorbildung verlangen, die der Staat jederzeit einem 
jeden zu übermiftela bereit sein mul. Unter den heutigen 
Studenten wırd man genau so wıe unter den heutigen 
Gymnasiasten eine scharfe Auslese zu treffen haben. Ferner 
wird man befähigte Proletarier für die Fachhochschulen vor- 
bereiten. und erst wenn eine größere Zahl Proletarier die 
nötige Vorbildung erlangt hat, sollen die Fachhochschulen 
ihre Vorlesungen aufnehmen. Die Kollegs für Kunst. 
Nationalökonomie, Geschichte usw. nehmen eine besondere 
Stellung ein. da man hier den Vortrag leicht so einrichten 
kann, das ein jeder ihm folgen. kann. 

Für die Auslese befähigter Proletarier-Schulkinder waren 
in München die Kommissionen bereits zusammengesetzt, 
ebenso für die Ausmerzung unbelähigter Gymnasiasten. 

Auf die Zusammensetzung der Akademien für Kunst, 
Musik. Geisteswissenschaften möchte ich nicht näher ein- 
gehen, da wir uns darüber nur kurz unterhielten und noch 
nicht zur Au stellung eines Programmes gekommen waren, 

In Räterußland sind die Kulturfragen wie folgt ge- 
regelt: in den kleinsten Dörfern sind Schulen gegründet. An 
den Schulen bestehen Erziehungsräte: aus Vertretern von 
Lehrern, Schülern und deren Eltern. Die Universität steht 
einem jeden offen. Übrigens kennt auch Rußland eine 


Akademie, die Sozialistische Hochsch ule, die der 


französischen Akademie ähnlich zu sein scheint. 


Zum Schluß möchte ich noch einmal auf das in der 
Einleitung Gesagte hinweisen: ein praktisch durchführbares 


Hans Kohn: Peter Kropotkın 599 


Programm wollten wir ausarbeiten. nicht der Organisation 
des Geistes neue Wege weisen. In wenigen Tagen mußten 
wir uns über die Grundfragen einigen. Wir taten es, 
indem ein jeder seine Bedenken auch bei nicht Unwich- 
tigem zurückstellte. Mir erscheint es fast als das größte 
an Landauer, daß er, der an der Spitze stets marschierte. 
hier um die Fragen praktisch vorwärts zu bringen, zu 
Kompromissen bereit war, daß aus dem Dränger ein 


Mahner geworden war. 


PETER KROPOTKIN 
VON HANS KOHN (PRAG) 


Drei Schwestern lieben einen Mann; die eine von ihnen 
ist seine Gattin. die zweite eine reife Schönheit. die drifte 
ein halbwüchsiges Mädchen, kaum zum Weibe gereift. Der 
Mann, ein kalter, phrasenreicher Held, liebt eigentlich keine, 
möchte aber alle drei haben. Aus diesem Stoffe hätte ein 
Franzose ein Lustspiel gemacht, halb Ehestands komödie. halb 
Gesellschaftssatire; der Russe macht ein Drama daraus, das 
Drama des russischen Lebens. Wie ein quälender Traum 
liegt es auf uns: Menschen, die leiden und andere leiden 
machen, Verbrecher und Narren, ein Leben, das einem 
Hause gleicht, in dem es uns wie in einem Grabe dünkt: 
und in diesem gespenstischen Hause gehen die Menschen 
umher und suchen einen Ausweg, gehen, und wissen nicht 
wohin, sehnen sich und wissen nicht wonach, und auf 
ihrem einsamen Antlitz liegt die fürchterliche Angst vor 
all dem Grauenhaften um sie herum, vor der Gefahr, die 
in ihnen selbst lauert. Die süße Ruhe des Todes ist das 
einzige, das ihnen als Ziel und Wegweiser leuchtet, aber 


598 Fidelis: Gustav Landauers Kulturprogramm 


Die Frage, wer zur Universität zugelassen werden soll, 
ist von Sowjet-Rufland dahin beantwortet worden: ein jeder. 
Von dem Gedanken ausgehend, daß es dem Ungeeigneten 
dort schon zu langweilig sein wird. Dieser Standpunkt 
scheint mir nicht richtig zu sein. Die Universität soll eine 
gute Vorbildung verlangen, die der Staat jederzeit einem 
jeden zu übermiſteln bereit sein mul. Unter den heutigen 
Studenten wird man genau 80 wie unter den heutigen 
Gymnasiasten eine scharfe Auslese zu treffen haben. Ferner 
wird man befähigte Proletarier für die Fachhochschulen vor- 
bereiten. und erst wenn eine größere Zahl Proletarier die 
nötige Vorbildung erlangt hat, sollen die Fachhochschulen 
ihre Vorlesungen aufnehmen. Die Kollegs für Kunst, 
Nationalökonomie. Geschichte usw. nehmen eine besondere 
Stellung ein da man hier den Vortrag leicht so einrichten 
kann, das ein jeder ihm folgen. kann. 

Für dıe Auslese befähigter Proletanier-Schulkinder waren 
in München die Kommissionen bereits zusammengesetzt, 
ebenso für die Ausmerzung unbe[ähigter Gymnasiasten. 

Auf die Zusammensetzung der Akademien für Kunst, 
Musik. Geistes wissenschaften möchte ich nicht näher ein- 
gehen. da wir uns darüber nur kurz unterhielten und noch 
nicht zur Au stellung eines Programmes gekommen waren. 

In Räterußland sind die Kulturfragen wie folgt ge- 
regelt: in den kleinstea Dörfern sind Schulen gegründet. An 
den Schulen bestehen Erziehungsräte: aus Vertretern von 
Lehrern, Schülern uad deren Eltern. Die Universität steht 
einem jeden offen. Übrigens kennt auch Rußland eine 
Akademie, die Sozialistische Hochschule. die der 


französischen Akademie ähnlich zu sein scheint. 


Zum Schluß möchte ich noch einmal auf das in der 
Einleitung Gesagte hinweisen: ein praktısch durchführbares 


Hans Kohn: Peter Kropotkin 599 


i Programm wollten wir ausarbeiten, nicht der Organisation 
des Geistes neue Wege weisen. In wenigen Tagen mußten 
wir uns über die Grundfragen einigen. Wir taten es, 
indem ein jeder seine Bedenken auch bei nicht Unwich- 
tigem zurückstellte. Mir erscheint es fast als das größte 
an Landauer. daß er, der an der Spitze stets marschierte. 
hier um die Fragen praktisch vorwärts zu bringen, zu 
Kompromissen bereit war, dal aus dem Dränger ein 


Mahner geworden War. 


PETER KROPOTKIN 
VON HANS KOHN (PRAG) 


Drei Schwestern lieben einen Mann; die eine von ihnen 
ist seine Gattin. die zweite eine reife Schönheit. die drifte 
ein halbwüchsiges Mädchen, kaum zum Weibe gereift. Der 
Mann, ein kalter, phrasenreicher Held. liebt eigentlich keine, 
möchte aber alle drei haben. Aus diesem Stoffe hätte ein 
Franzose ein Lustspiel gemacht, halb Ehestandskomödie, halb 
Gesellschaftssatire; der Russe macht ein Drama daraus, das 
Drama des russischen Lebens. Wie ein quälender Traum 
liegt es auf uns: Menschen, die leiden und andere leiden 
machen, Verbrecher und Narren, ein Leben, das einem 
Hause gleicht, in dem es uns wie in einem Grabe dünkt: 
und in diesem gespenstischen Hause gehen die Menschen 
umher und suchen einen Ausweg, gehen, und wissen nicht 
wohin, sehnen sich und wissen nicht wonach, und auf 
ihrem einsamen Antlitz liegt die fürchterliche Angst vor 
all dem Grauenhaften um sie herum, vor der Gefahr. die 
in ihnen selbst lauert. Die süße Ruhe des Todes ist das 
einzige, das ihnen als Ziel und Wegweiser leuchtet, aber 


600 Hans Kohn 


ihr Mut reicht nicht bis dorthin. Ein Grauen liegt über 
allem, das Grauen eines uralten Weıibes, das das Symbol 
des Lebens ist, geheimnisvoll und unenträtselbar, voll dunkler 
unergründbarer Abgründe, in denen ungeahnte Verbrechen 
lautlos lauern mit der Heimtücke einer Spinne, die ihrer 
Opfer geduldig wartet, alles wissend und nie helfend. kalt 
wie der Tod uad alles ertötend. Und dennoch das Leben. 
Ein Leben, das gelebt wird in greller Verzweiflung. am 
Rande von Wahnsinn und Verbrechen, das einen zerbricht 
oder aus dem uns der Mut zu Übermenschlichem erwächst: 
das Leben der russischen Intelligenz. Aber aus diesem 
Grauen und Chaos ringt sich von unten her ein Lied 
manchmal durch und flaftert wie ein Fetzen über den 
dunklen Abgründen. Entsinnt ihr euch des Studenten Onu- 
frij, enteinnt ihr euch, wie aus unsäglichem Schmutz, aus 
Trunkenheit und Verkommenheit, unter Huren und Ver- 
zweifelnden über aller Tragik des schluchzenden Lebens 
sich das Lied des russischen Volkes entringt. das Lied von 
Liebe und Brüderlichkeit. von Gleichheit und Menschlichkeit. 
das Lied von allem Göftlichen, das über dem Drama un- 
seres Lebens wie ein versöhnendes Lächeln erglänzt.e O du 
unglückliches. in Schmutz und Trunksucht. in Unwissenheit 
und Unsiftlichkeir verkommendes, o du göttliches. liebens- 
wertes, großes russisches Volk: o du. über das die Klugen 
und die feinen Herren lachen, o du, aus dem der Trost 
der Menschheit kommt! Und aus dem Dornengestrüpp deines 
Lebens. das wie eın Vampyr dich verzehrt, aus deiner 
Verworfenheit und deiner Verzweiflung blühen immer wieder 
wie ein Wunder Rosen der Hoffnung auf, Meilensteine 
der Liebe. Wegweiser der Menschheit: Wladimir Solovjeff, 
Leo Tolstoi, Peter Kropotkin....... 

Von diesen dreien hat Kropotkin das weiteste Leben 
geführt, Solovjeff. der mystische Prediger der russischen 
Liebe, führte ein stilles Leben, fernab von den Wogen, die 


Peter Kropotkin 601 


die Stürme im brandenden Meere des jungen Ruflands 
schlugen. Tolstoi siedelte sich nach tollenden Jahren der 
Jugend in Jafnaja Polja an, wo er durch fünfzig Jahre der 
Welt sein Evangelium predigte. Kropotkin aber trieb sein 
revolutionäres Elut in viele Länder und wenn sein Einfluß 
sich auch bei weitem nicht mit dem Tolstois messen kann, 
ist er, der in den Sprachen Europas sprach und schrieb, 
von allen dreien doch der am meisten Europa Zugekehrte. 
An die Stelle des weiten, mystischen Gefühlsdunkels, an 
die Stelle des feuchten warmen Duftes der russischen 
Mufter Erde. die so unverkennbar in Solovjeff und Tolstoi 
leben, setzt Kropotkin die verstandeshelle Klarheit der Natur- 
wissenschaften und die Gedanken, die im Rauche der Fabrik- 
städte entstehen. Aber sein Leben wıe das so mancher west- 
wärts gewandter russischer Revolutionäre war von einer 
länder- und schicksalumspannenden Weite. Peter Kropotkin 
wurde 1842 als Spro eines der ältesten russischen Fürsten- 
häuser geboren. Das Herren- und. Erobererblut Ruriks flol 
in seinen Adern, seine Kindheit verbrachte er auf den 
Gütern der Familie. wo auf den emnfindsamen Knaben die 
Schaftenseiten der Leibeigenschaft tiefen Eindruck machten. 
Seine Erziehung genoß er ım Pagenkorps am Zarenhofe, von 
wo er mit zwanzig Jahren als Offizier zu den Amur- 
Kosaken ausgemustert wurde. Als Adjutant des General- 
gouverneurs von Transbaikalien bereist er das Amurgebiet 
und die Mandschurei: das Studium dieser fernen Länder 
weckt in ihm eine Vorliebe für die Geographie und die 
vielen eigenartigen. noch wenig durchforschten Verhältnisse 
schärfen seine Beobachtungsgabe. Er quiftiert den Dienst und 
widmet sich an der Petrograder Universität dem Studium 
der Geographie, Geologie. Mathematik, dann durchforscht er 
im Auftrag der russischen geographischen Gesellschaft den 
geologischen Bau Finnlands und Lapplands, macht wichtige 
Entdeckungen für die Geschichte der Eiszeit in Rußland 


602 Hans Kohn 


— 


und schafft sich einen angesehenen Namen im Kreise der 
Fachgelehrten. 1872 reist Kropotkin nach Westeuropa. lernt 
dort die internationale Arbeiterassoziation kennen und gerät 
unter den Einfluß Michael Bakunins, der ebenfalls aus an- 
gesehener und reicher russischer Familie stammte und der 
Vater des russischen Anarchismus und der romantischste 
unter der älteren Generation der russischen Verschwörer 
geworden war. Nun beteiligt sich Kropotkin an der Geheim- 
organisation Ischaikowskis. die sich die revolutionäre Vor- 
bildung der Massen als Vorbedingung der endgültigen Re- 
volution zum Ziele setzt: er wird verhaftet und entflieht 
aus dem Spital der Peter- und Paul-Festung. Seit 1876 ın 
Westeuropa wird er ein tätiges und führendes Mitglied der 
anarchistischen Gruppe. Er wird aus der Schweiz aus 
gewiesen und wegen seiner Beteiligung am zweiten anar- 
chistischen Kongreß zu Genf in Frankreich zu fünf Jahren 
Gefängnis verurteilt; 1886 begnadigt. lebte er seither in 
England. wo er di? anarchistische Bewegung leitete und 
Studien zur Soziologie und Geschichte veröffentlichte. Dieses 
bewunderungswürdige Leben eines russischen Arıstokraten 
aus jener Zeit, da die schöpferischen Kräfte des russischen 
Volkes sich in seinem Adel verkörperten, schloß mit einem 
Mifklang. Oder war es der natürliche Kreis, in den dieses 
Leben gebannt war? Waren im Greise die Erinnerungen 
ferner Jünglingsjahre und die Tradition seines Blutes mächtiger 
als all das. was der Mann sich errungen hafte und wodurch 
er zu einem der freiesten Geister Europas geworden war? 
Der Kriegspsychose waren jüngere erlegen als der Fünfund- 
siebzigjährige, aber mit der Greisen eigenen Beharrlichkeit 
blieb Kropotkin auch nachdem das. wofür er sein Leben 
lang gearbeitet hafte, die russische Revolution. Wirklichkeit 
geworden war und ihm nach 4liährigem Exil die Heimkehr 
ermöglichte, bei der Losung des »Krieges bis zum siegreichen 
Ende». Sah er nicht. daß dieser Krieg. wer immer ihn ge- 


Peter Kropotkin 603 


winnen möge, nur zu einer Stärkung alles dessen führen 
müsse. was er sein Leben bekämpft hafte: der verlogenen 
Phrase ale Fundament unserer Handlungen und der Staats- 
gewalt mit all ihren Ungerechtigkeiten, ihren Vergewaltigungen . 
und ihrem Militarismus? Die Zeit, die in ihrem blutigen 
und aller Menschenwürde hohnsprechendem Lärmen so vielen 
die Augen öffnete, die vorher nicht haften sehen wollen 
oder deren Aufmerksamkeit auf andere Sphären des Lebens 
gerichtet war, schloß diesem Greise die Augen. Aber vorher 
hate er Worte gesprochen, die gehört zu werden verdienen. 
»Kropotkin ist ein sehr sympathischer Mensch, aber kein 
starker Denker .. urteilt Masaryk über ihn. und wie mir 
scheint mit Recht. Und mich dünkt, als könne man dieses 
Urteil auch über Solovjeff und Tolstoi sprechen. 

Starke Denker sind unter den Russen noch keine er- 
standen, sie alle bedeuten mehr durch den Rhythmus ihres 
Lebens, durch ihr Weltgefühl als durch die exakte Einzel- 
arbeit ihrer gedanklichen Schlüsse. 

Die geistige Entwicklung des modernen Europa, die im 
18. Jahrhundert beginnt, steht unter dem Zeichen des 
Humanismus. Die philosophische Entwicklung des 18. Jahr- 
hunderts gipfelt in Kants Lehre von der unantastbaren 
Majestät der Menschenwürde. in seinem Imperativ. den 
Mitmenschen immer nur als Selbstzweck. als Eigenwert. nie 
als bloßes Mifſtel anzusehen, und in Rousseaus Evangelium 
von der ursprünglichen Güte der Menschennatur und ihrem 
Rechte auf Freiheit. Diese Lehren schufen eine völlig neue 
Lage des Bewußtseinslebens der Menschheit: ein nie ge- 
kanntes Gefühl der eigenen Stärke und der persönlichen 
Würde begann die Massen zu durchfluten. Doch die 
äußeren Verhältnisse entsprachen nicht der innerlich er- 
rungenen neuen Freiheit. Staaten, die nicht, wie Rousseau 
es meinte und wie Kant es viel richtiger als Endziel auf- 
gestellt hatte. aus einem freien Vertrage entstanden waren. 

9 


604 Hans Kohn 


sondern aus der Vergewaltigung friedlicher Bevölkerungen 
durch mächtige Räuber, drückten mit ihren, die über- 
kommenen Macht- und Besitzverhältnisse schützenden Gesetzen 
auf die Persönlichkeiten und Völker, denen die tiefen 
Mängel und Uneerechtigkeiten des herrschenden Systeme 
klar geworden waren. Daher beginnt mit dem Ende des 
18. Jahrhunderts eine ununterbrochene Reihe von Ver-uchen, 
diese Fesseln zu sprengen, von Revolutionen. Immer wenn 
der soziale Bau der Gesellschaft und die durch äußeren 
Zwang aufrechterhaltenen Verhältnisse der geistigen Ent- 
wickelung der Intelligenz und den ökonomischen Bedürfnissen 
der Masse nicht mehr entsprechen und ihren einst für 
frühere Zeiten lebendigen Sinn einbüßen, beginnen sie wie 
schwere Fesseln auf den Menschen zu ruhen, die mit ihrem 
Körper schon für sie Erstorbenes und Erkaltetes tragen 
müssen: während in ihrem Geiste schon ein neues Welten- 
bild flammendes Leben gewonnen hat. Je größer aber der 
Widerstand veraltet-erstarrter Ordnungen von aulen ist, 
zu desto stärkerer Glut entbrennt die innere Flamme. Die 
niemals aussetzende, in den gewöhnlichen Zeitläuften aber 
langsame und allmähliche Umbildung des Bewufßtseinslebens 
der Menschen und damit all ıhrer Vorstellungen von dem, 
was sein soll. — welche langsame Umbildung Evolution 
genannt wird — macht nun einer fieberhaft schnell vor 
sich gehenden und immer weitere Gebiete erfassenden 
Änderung des Bewußtseinslebens Platz — welche schnelle 
Umbildung Kropotkin Revolution nennt. die in ihrem Wesen 
nur durch das Tempo und die Intensität von der Evolution 
verschieden ist, wobei beide Teilstrecken des natürlichen 
Prozesses der Entwickelung darstellen. Während aber in der 
Zeit der allmählichen Evolution. wenn die statisch-starren 
Kräfte stärker sind als die dynamisch-treibenden, der Mensch 
sich dem äußeren Drucke des Seienden ruhig fügt. das 
Bestehende achtet und nur schwach in ihm die Stimme 


Peter Kropotkin | 605 


des Gewissens ertönt. die ihm sta der seienden Welt 
eine moralische Welt weist. wie sie sein sollte. wird in 
den revolutionären Zeiten der Imperativ des Seinsollenden, 
das moralische Muß, träge Sicherheit und bequeme Ruhe 
für die Errichtung einer Welt, die unseren Idealvorstellungen 
entspricht, dahinzugeben, ‚ übermächtig. In den statischen 
Zeiten beherrscht uns das. was ist. in den dynamischen 
das. was sein soll. Das, was in ruhigen Zeiten die 
Sturmkünder und Zukunftsahner, die Propheten, Philosophen 
und Künstler, die das Gewissen der Menschheit repräsentieren, 
gedanklich und im Rhythmus ıhrer Worte und Bilder ge- 
schaffen haben, versucht nun im Stürmen der Massen in 
das Reich der Wirklichkeit zu treten. Jeder einzelne erhebt 
sich nun zu der Majestät und Würde, die Kant dem 
Menschen zugeteilt hat: vom moralischen Imperativ getrieben, 
gesetzgebendes Mitglied der Gesellschaft freier Menschen zu 
sein. Darum sind diese Zeiten der rasenden Entwickelung, 
die die Menschen weiterführen als ganze Jahrhunderte vorher, 
so bewunderungswürdig und ruhmreich. Die Menschheit ist 
niemals so schön wie in diesen Zeiten. Sie opfert alles, 
was ihr sonst das Höchste ist: gefahrlosen Wohlstand und 
bequeme Miftelmäßigkeite und in unendlichen Qualen und 
Leiden, unter Tränen und Wehen gebiert sie eine neue 
Menschheit, eine neue Etappe auf unserem langen und 
dornenreichen Wege der Entwicklung. Schmerzensreich und 
nie in Ruhe ist die Zeit der Revolution, gesegnet und 
glücklich sind die, die sie leben dürfen, sie ist uns die Gewähr 
des göftlichen Funkens ım Menschen, mag er noch so sehr 
verschüttet sein. 

Am Beginn dieser Zeit der Revolution, die manche für 
die endgiltige und letzte halten, steht die große französische 
Revolution. Der verehrungswürdige Greis ın Königsberg. der 
in seinem ruhigen, eng beschränkten Leben doch der geistige 
Vater der Weite seiner und der kommenden Zeiten geworden 


606 1m — Hans Kohn 
ist und zu dem die suchende Weisheit immer wieder zurück- 
kehren wird, wie zu einem Jungbad, hat sie in Ehrfurcht 
begrüßt: »die Revolution eines geistreichen Volkes. die wir 
in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen 
oder scheitern. sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen 
angefüllt sein. daß ein wohldenkender Mensch, wenn er sie 
zum zweiten Male unternehmend, glücklich auszuführen 
hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu 
machen nie beschliefen würde, diese Revolution, sag: ich, 
findet in den Gemütern aller Zuschauer eine Teilnehmung 
dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt, die 
also keine andere als eine moralische Anlage ım Menschen- 
geschlecht zur Ursache haben kann Ein solches 
Phänomen in der Menschengeschichte vergift sich nicht 
mehr, weıl es eine Anlage und ein Vermögen -ın der 
menschlichen Natur zum Bessern aufgedeckt hat, desgleichen 
kein Politiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge heraus- 
geklügelt häfte.«e Das vorläufige Ende dieser Zeit der Revolution 
in unseren Tagen bildet die große russische Revolution, die 
für so viele der Zeitgenossen ein Prüf- und Scheidestein 
und für so viele der Beginn einer Umwandlung ihres 
inneren Lebens geworden ist. In der Zwischenzeit in all den 
kleinen Versuchen. den Weg der neuen Menschheit zu 
bahnen, unter denen vor allem der enthusiastische Auf- 
schwung der Pariser Kommune von 1871 zu nennen ist, 
lebten immer Revolutionäre. Bewahrer des Geistes, Hüter 
der Flamme. Unter ihnen einer der würdigsten war Peter 
Kropotkin. 

Die Worte, die er gesprochen hat, nannte er »paroles 
d'un revolte-, Worte eines zur Empörung Getriebenen. Und 
sind nicht alle Worte, die heute ein Mensch in Wahrheit 
aus der Tiefe seiner Seele spricht, paroles d'un revolté.? 
Wohin wir um uns blicken, sehen wir, wenn wir den 


Mut zur Aufrichtigkeit haben, Lüge und Unrecht und Ge- 


Peter Kropotkin | 607 


walt. Vielleicht ist der Goftesglaube vieler Menschen keine 
Lüge, aber die Kirche nimmt diesen frei aus dem Herzen 
strömenden Glauben und zwingt ihn in Reden und ver- 
gewaltigt ihn in Schematismen und macht ihn zur Lüge. 
Vielleicht ist der Organisationstrieb der Menschen in fest- 
gefügtere Gruppen keine Lüge, aber der Staat nimmt diese, 
vom Geiste getragene Lust der Menschen aneinander und 
an ihrem Zusammensein und milbraucht sie zu seinen, den 
Menschen fremden Zwecken und vergewaltigt sie, und die 
Gemeinschaft, die die Menschen sich geträumt haben als 
Vollendung und Höherentwicklung ihres Seins, als Gebilde 
ihres Geistes wird zu einer furchtbaren, ungeistigen Maschine, 
die die Menschen zermalmt. Vielleicht ist die schaffende 
Lust der formenden Hand des Arbeiters keine Lüge, aber 
die soziale Ordnung nimmt sie in die Klauen ihrer Gesetze, 
mechanisiert sie und zerstört die Lust und der Arbeiter 
wird der Sklave seiner Arbeit, deren Gewinn ihm fremde 
Hände entreißfen. Freude und Freiheit verschwinden, die 
schöpferische Stimme des Herzens schweigt und staft dessen 
herrscht Unlust und Gewalt, das träge Herz lebt auf- 
schwunglos der Gewohnheit der Konvention. Eigensüchtige 
Verbrechen verbinden sich mit heuchlerischen Phrasen, die 
s Wächter der Ordnung, d. h. der das hergebrachte Un- 
recht schützenden Gesetze, greifen zur letzten Waffe: sie 
nehmen die Forderungen der Neuerer als ıhre eigenen auf. 
reden von Freiheit und Brüderlichkeit. von Wahrheit und 
Gerechtigkeit und meinen ihre Freiheit und ihre Wahr- 
heit damit: das Heiligste der Menschheit ist geschändet und 
ertrinkt im Phrasengeschwätz der Tagespresse 
da stößt Kropotkin seinen Aufschrei aus, den Aufschrei 
des zur Empörung Getriebenen. 

Kropotkin sieht, was alle Ehrlichen sehen: daß der 
Grund alles Übels die Lüge ist. zu der die Menschen 


gezwungen. werden. Zu der Lüge zwingen sie Staat und 


608 Hans Kohn 


Kirche, die von ihnen behütete Gesellschaftsordnung und 
alle ihre kleinen Abbilder. Der Mensch wird gezwungen, 
wider seine innere Überzeugung zu handeln und am liebsten 
möchte man ihm jede Überzeugung rauben (das konsequent 
bis zu Ende denken ist noch in allen Staaten der Welt 
als Verbrechen angesehen worden) und ıhn zur willenlosen 
Maschine machen. Staat heift Zwang. Gewalt, Vergewaltigung, 
damit aber Lüge und Unrecht. Da ıst es gleich. ob dieser 
Staat sich eine Despotie oder eine parlamentarısche Demo- 
kratie nennt, das ist verbrämendes Flifterwerk, immer ist 
es eine Herrschaft Weniger über ıhre Mitmenschen. Wo 
Herrschaft ist. da ist Gleichheit und Brüderlichkeit eine 
Phrase, da stellt sich Zwang und Lüge ein. Das Ziel heißt: 
an-archia: Herrschaftslosigkeit.e. Nur das ist wahre Freiheit. 

Was Kropotkin fordert, ist die Vernichtung aller »arche«. 
Die große, endgiltige Revolution, deren Kommen er all sein 
Leben vorhergesagt hat, wırd nicht bloß eine politische sein, 
die an die Stelle der einen Staatsform eine andere setzt, 
wobei sich nichts Wesentliches ändert, sondern eine soziale, 
die den gesamten Aufbau unseres gesellschaftlichen Lebens 
von Grund auf umgestaltet. -Die Lust des Zerstörens ist 
eine schaffende Luste hat Kropotkins Lehrer Bakunin gesagt. 
Und wenn sie weinen über die. Vernichtung alles dessen, 
was sie Ordnung nennen: ist denn das Ordnung. ist denn 
dies Chaos mit seinen ewigen Kriegen. mit seinen Ver- 
brechern und seinen Verhungernden, wo Millionen, für die 
der Hunger .gestillt und die Schwindsucht vertilgt werden 
konnte, ausgegeben werden, damit ein Mensch den anderen 
töte. mehr als eine Ordnung, für die, die ihren Vorteil 
daraus ziehen und die furchtbarste Ungerechtigkeit für alle 
andern? Und wenn sie schreien. daß bei Aufhebung der 
Gewalt und der Gesetze die Verbrechen immer mehr wachsen 
werden, wissen sie denn nicht, was jeder Kriminalist weil, 
daß trotz aller Gesetze die Zahl der Verbrechen immer 


Peter Kropotkin 609 


unheimlicher wächst, daß, je mehr Gesetze man ersinnt, 
desto weniger man dem Verbrechen beikommen kann, daß 
die Zuchthäuser die Menschen nicht bessern. sondern zu 
Verbrechern erziehen? Weiß man nicht, daß über fünf 
Sechstel aller »Verbrechen« Verbrechen gegen die Staats- 
gewalt und gegen die Heiligkeit des Eigentumsbegriffes sind 
und mit dem Schwinden von Staat und Eigentum auch alle 
jene Verbrechen verschwinden werden, gegen die subtilste 
Gesetzestechnik machtlos ist? Der Staat, und alles was er 
schützt, mul verschwinden, dann erst kann die neue Menschheit 


kommen. 
Die Lust des Zerstörens ist eine schaffende Luste. Was 
aber soll geschaffen werden? ...... Und Kropotkin 


träumt: Er sieht eine neue Menschheit, keine Obrigkeit ist 
mehr da, die die Menschheit zur Lüge und zum Unrecht 
zwingt. das Eigentum, dieser Diebstahl einzelner Starker an 
dem Gute der Allgemeinheit, der durch Gesetze mit fürchter- 
lichen Strafandrohungen geschützt wird, besteht nicht mehr. 
Die Menschen sind in Wahrheit frei von allen Fesseln des 
Staats und der Wirtschaft, um der lauteren Stimme ihres 
inneren Gewissens zu folgen. Nach freier Wahl und von 
ihrer Sympathie geführt, schließen sie sich zu Bünden zu- 
sammen. die auf Verträgen beruhen und die sich wieder 
für bestimmte Zwecke zu höheren Einheiten, Föderationen, 
zusammenschließen. Die Verbände eint kein Zwang, sondern 
die Gemeinsamkeit der Idee. Es gibt keine Herren und 
keine Gesetze, alle sind gleich und sind Brüder. Das Gute, 
das ın jedem Menschen wohnt, kann sich nun frei ent- 
falten; die Menschen sind keine wilden Bestien und das 
Leben beherrscht nicht nur der wütende Kampf ums Dasein, 
sondern in der ganzen Natur herrscht gegenseitige Hilfs- 
bereitschaft und Solidarität. Das. was einst durch Gewalt 
und Konvention die Menschheit getrennt hat, wird weichen: 
ein Band der Liebe und Güte umfängt alle Menschen, eine 


6l0 ? Hans Kohn 
neue Sittlichkeit. eine Religion der vernünftigen Ethik beseelt 
sie. Sie regeln ihr Leben selbst: jeder arbeitet, und jeder 
arbeitet mit Lust und erhöhter Intensität in wenigen Stunden 
für die Allgemeinheit nützliche Güter. Die freie Zeit benützt 
er zur Pflege des Körpers, zur Bildung des Geistes, widmet 
sie Wissenschaft und Kunst. Die Unfreudigkeit und die 
atemlose Angst des modernen Lebens verschwinden. Ge- 
wohnheit und Konvention zwingen einen nicht mehr zur 
Pose, zur inneren Leere und Langweile, denen man nur 
durch Narkotika oder durch den Selbstmord entrinnt. Alles 
Komplizierte wird einfach, alles Quälende verschwindet. 
Freude, wahre Freude, nicht durch Rauschmiftel herbei- 
geführte Lust. herrscht unter den Menschen. Der Mensch 
ist nicht mehr der Natur entfremdet. ein gemeinsames Band 
umschlingt sie alle. Kein Neid herrscht, keine Habsucht, 
keine Gier. Alles gehört allen: jeder steuert nach seinen 
Kräften und Fähigkeiten durch seine Arbeit bei und jeder 
nimmt nach seinen Bedürfnissen. Keiner rechnet und zählt 
und wägt: stał der blinden Göftin mit dem Schwert und 
den Wagschalen herrscht die Liebe. In einem gemeinsamen 
brüderlichen Aufschwung werden die besten menschlichen 
Kräfte frei: nicht eine stumpfe Durchschniftlichkeit wird 
in dieser Gemeinschaft herrschen, sondern höchste Intensität 
der Leistung, freudiges Schaffen, eine Höherentwicklung der 
ganzen Gaftung zu dem geistigen Aristokraten Guyaus, zu | 
dem ins Humane gewandten Übermenschen Nietzsches. Ist 
das nicht das höchste Idealbild des Humanismus, sein wahrer 
Erbe in unserer Zeit. das Goftesreich auf Erden: eine Ge- 
meinschaft freier, autonomer Persönlichkeiten, brüderlich geeint 
in Hilfsbereitschaft und Liebe, ein Leben der Freude und 
Arbeit lebend? 

Wahrlich. ein Ziel, vor dem uns Ehrfurcht gebührt. 

Und der Weg dorthin: Kropotkin nennt als solchen die 
Revolution. Revolution ist aber selbst Gewalt, Mord, Un- 


Peter Kropotkin 611 


recht! Wie kann aus Gewalt und Mord die freie Liebes- 
gemeinschaft entstehen? Kropotkin wünscht die Revolution 
möglichst unblutig: zu diesem Zwecke muß sie richtig vor- 
bereitet“ sein. Diese Vorbereitung kann keine zentralisierte 
Partei führen, sondern freie, vorbildlich wirkende Gruppen, 
die die Menschen die neue Ethik lehren und sie aus ıhrem 
trägen Schlafe rufen: Je weiter und. vollkommener es diesen 
Gruppen gelingt, den neuen Geist zu wecken. desto un- 
blutiger. schöner, besser wird der Übergang aus der Ge- 
sellschaftsordnung der Gewalt ın d.e der Freiheit sein. Wir 
sehen, daß die Vorstellungen der von den Marxisten 
sutopistisch« genannten Sozialisten wie Proudhon oder Fourrier 
hier wieder aufleben. | 

Ich glaube, das Wesentliche an Kropotkins Gedanken 
richtig wiedergegeben zu haben. Freilich nicht immer mit 
seinen Worten. Denn er hält seinen Anarchismus für eine 
exakte Wissenschaft. die mit den Methoden der Natur- 
wisseaschaft gehandhabt werden kann. Er ist wie die älteren 
russischen Revolutionäre ein Schüler Feuerbachs und seines 
antimetaphysischen und antireligiösen Positivismus. er hat den 
Einfluß Comtes erfahren und hat den größten Teil seines 
Lebens im Lande Mills und Benthams gelebt. All das machte 
ihn zum Feinde aller Metaphysik und aller Religion; dabei 
hat er nicht gesehen, daß sein Anarchismus im Grunde auch 
nur Metaphysik und Religion ist, und daß die neue Ethik 
nur dann die Menschen mit solcher Gewalt ergreifen wird. 
um die ganze Gesellschaftsordnung und Lebensführung um- 
zugestalten. wenn sie mit religiöser Glut auftrift. - Nicht 
blof, wenn man eine Goftheit verehrt. ist man religiös, 
‚sondern auch dann, wenn man alle Kräfte des Geistes. 
alle Willensergebung, alle Gluten des Fanatismus dem 
Dienste einer Ursache oder eines Wesens weiht, welches 
zum Ziel und Führer der Gedanken und Handlungen wirde 
sagt Gustav le Bon und noch richtiger Lecky: - Religion ist 


612 Hans Kohn 


uneigennützige Begeisterung. welche große Gesamtheiten von 
Menschen zur Erstrebung eines Ideals vereinte, und sich als 
die Quelle heroischer Tugenden erwies. Ohne eine solche 
Religion. die als Idealbild der Zukunft die ganzen Massen 
in gemeinsamem Aufschwung vereint, wird es nie zu einer 
möglichst unblutigen. Revolution kommen. Und es bleibt 
eine schwere Frage, auf die Kropotkin nie mit dem ge- 
nügenden Ernst eingeht: kann das Reich Goftes auf Erden, 
kann die endgiltige, absolute Zeit auf einer Gewalttat sich 
aufbauen? 

Kropotkins Wissenschaftlichkeit, sein Europäismus, der 
aber nie so weit geht, um wirklich wissenschaftlich zu 
werden, macht, daß er uns weniger ist als Tolstoi, der sich 
auch nicht vor der Autorität wissenschaftlichen Europäismus 
beugt. sondern sie als unwesentlich ablehnt. Kropotkin hat 
das niemals vermocht. Er hat die Fundierung seines Anarchis- 
mus statt auf allmenschlich breiter Grundlage im Klassen- 
kampf des Proletariats gesehen, stand dabei aber der wissen- 
schaftlichen Tiefe und der — trotz allem Anfechtbaren — 
so bewundernswerten Gedankenarbeit Marx verständnislos ge- 
genüber. Kropotkins negative Kritik des Staates und aller 
Zwangsgenossenschaft ist in ihrer strengen logischen Konse- 
quenz unwiderlegbar, aber sie ist nicht neu. Sein Zukunfts- 
bild beruht auf einer Voraussetzung: nur wenn die mensch- 
liche Natur in ihrem Kerne gut ist, eröffnen sich ihr Mög- 
lichkeiten. Aber das ist die Voraussetzung alles Humanismus 
daß der Mensch den Goftesfunken in sich trägt in unver- 
lierbarer Würde, dal er aus freier Anstrengung das Goftes- 
reich auf Erden schaffen könne. Ist der Mensch tatsächlich 
nur ein Wolf, dem der Raubtierinstinkt unauslöschbar ein- 
haftet, dann sind ihm auch alle Möglichkeiten versperrt 
Und wenn der Mensch nicht aus freier Überlegung und 
Einsicht handeln kann, sondern nur der Spielball dunkler 
unheimlicher Mächte ist, auch dann sind ikm alle Möglich- 


Peter Kropotkin 613 


keiten versperrt. Das sind die Grundvoraussetzungen des 
Kropotkin schen Zukunftsbildes: Humanismus und Rationalis- 
mus: im einzelnen aber ist Kropotkins Zukunftsbild primitiv 
in seiner Gestalt und naiv in seiner Ausführung. Man 
merkt ihm den russischen Aristokraten. der zum narodnik 
geworden ist, ebenso an wie Tolstoi: das primitive Leben 
des Muschik, das diese Männer in ihrer Jugend umgeben 
hat, ist ihnen Vorbild geblieben. Freilich war Tolstoi bier 
konsequenter: primitiver Kommunismus ist nur bei einer ge- 
wissen Askese denkbar, während Kropotkin selbst den 
Luxus beibehalten zu können glaubt. 

Trotz alledem: Kropotkins Worte sind ein Trost für 
uns: der Trost, dał in dieser Welt der Gemeinheit und 
des Wahnsinns. die so viele der Ehrlichsten und Besten 
zum Selbstmord getrieben hat, die Sehnsucht nach Reinheit 
noch nicht erloschen ist, und daß diese Sehnsucht die Stärke 
läuternder Flammen erreichen kann, ın deren flackernder 
Glut alte Welten zertrümmert und neue geboren werden. 
Trotz alledem: aus Kropotkin stammeln, naiv oft und un- 
wirklich, rhetorisch manchmal und phrasenreich, Bruchstücke 
des größten und schönsten Traumes, den die Menschheit seit 
drei Jahrtausenden träumt, des Traumes eines Reiches der 
Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, in den mit brausenden 
Akkorden als Verheißung der Freude und als Überwindung 
der steten Todesangst der Menschheit in dieser Welt der 
Beethoven sche Jubelruf dringt: 

Seid umschlungen, Millionen! 
Diesen Kuß der ganzen Welt! 
Ein Reich von Brüdern, in Freiheit und Freude! Ein Traum? 


i a Aber ımmer wieder werden Menschen erstehen 
und alles für die Verwirklichung dieses Traumes hingeben 
EEE Und ist er nicht dessen wert, mehr denn alle 

Träume, die die Menschheit geträumt hat? ...... 


Das russische Volk neigt in seiner Lebensgestaltung zum 


614 Individualität und Gesellschaft 


primitiven Anachismus. Von auß:n aus aber will maa ihm 
fremde Form aufzwängen: sei es die Form normanischer 
Wikinger, sei es die tatarıscher Despoten. oder der seit 
Peter nie aufhörende des europäischen Staatsabsolutismus 
oder der jetzt anscheinend beginnende Prozeß der kapitalis- 
tischen Bourgeoisieform. Aber Rutland wehrt sich: seine 
Sektierer und Mystiker, seine Verbannten und Emigrierten, 
alle. die die fremde Form als für sich gefährlich erkannt 
hat. waren Stimmen der Verheilung in dem Mifklang des 
russischen Lebens. Die Kleinen und Miftlerea der Intelligenz 
kamen oft zur Verzweiflung, aber die großen Leuchten Rul- 
lands schürten die Hoffnung auf die eigenen tielen Kräfte 
des Volkes. Seit dem Aufschwung der großen Revolution 
tappen diese tiefen Kräfte des Volkes nach einem Wege. 
Sie werden: ihn finden. Und auch der übrigen Menschheit, 
die anders ist als die russische, wird dieser Weg ein neuer 
Ansporn sein. 


INDIVIDUALITÄT UND GESELLSCHAFT 


Dieser Aufsatz ist ein Kapitel aus dem im Inter- 
nationalen Verlag. Zürich anonym erscheinenden Werke, 


‚Über proletarische Erhike«. Der Verfasser 


it ein russischer Revolutionär. der bereits die 


Revolution von 1909 mitgemacht hat und nun am Auf- 
bau Sowjetrußlands mitarbeitet. 


Die Ansichten, die in der heutigen Gesellschaft über 
die Individualität herrschen, die zu unserer Zeit noch übliche 
Autfassung des Individuums, sind der Ausdruck der bürger- 
lichen Denkweise, und sie kommen aus der bürgerlichen 
Ideologie, | 


Die bürgerlichen Klassen, die am Produktionsprozeß | nıcht 
teilnehmen und die den Schaffensprozeß der Waren nicht 


Individualität und Gesellschaft D 615 


miterleben, sondern alles im fertigen Zustande bekommen, 
haben die Tendenz, ihr Augenmerk auf bereits fertige Formen 
zu fixieren.. Die »Forme ist für die bürgerliche Ein- 
stellung das eigentlich Wesentliche, sie ist ihr Götze. 
Diesen Stempel drückt der Mentalität der bürgerlichen 
Klassen ihre ökonomische Lage auf, ihre passive Anteil- 
nahme am Produktionsprozeß. 

Psychologisch vollzieht sich das folgendermaßen: ‚Der 
Bourgeois macht in seiner Psyche die Willensmomente im 
Produktionsprozeß nicht durch. Die Schaffung der Waren 
geht ihn nur rein äußerlich an: er ist allein an den 
Resultaten interessiert. Das materialistische eigennützige 
Interesse lenkt seine Aufmerksamkeit von allen Qualen der 
schöpferischen Tätigkeit der Arbeit ab. Dem Bourgeois 
sind die Qualen unverständlich; ihm ist auch der Sinn für 
die schöpferische Handlung fremd — er kennt einzig und 
allein ihre kristallisierten Formen. 

Zugleich äußern sich die Tendenzen der Bourgeoisie 
als die einer mit ihrer Lage zufriedenen Klasse in ihrem 
Festhalten am Bestehenden. in dem Bestreben, die sozialen 
und politischen Verhältnisse beizubehalten. Dies wiederum 
ist der Grund der statischen Denkweise der Bourgeoisie. 
Der Bourgeois denkt nicht dynamisch sondern statisch. 

Die Folge davon war. daß in der bürgerlichen Ideologie 
sich eine statische Auffassung des Individualismus. des 
Organismus sowohl wie der menschlichen Psyche gebildet 
hat. In der Vorstellung der Bourgeoisie ist der Mensch 
etwas Abgesondertes, etwas von der Gesellschaft Losgelöstes, 
und zwar etwas organısch wie psychisch Abgetrenntes. Der 
Mensch sei etwas Starres, sei eine Wesenheit. Diese 
kristallisierte, versteinerte Vorstellung vom Menschen wird 
von der bürgerlichen Ideologie auch auf die lebendige 
Persönlichkeit übertragen. und so verwischt diese ihre 


Veränderlichkeit, ihre Beweglichkeit. ihre Elastizität und 


616 Individualität und Gesellschaft 


ihren Zusammenhang mit der Gemeinschaft. Und diese 
Ideologie des Bürgertums wirkt ansteckend auch auf die 
anderen Klassen. Im Gegensatz zu einer derartigen Auf- 
fassung sagen wir: eine organische oder psychologische 
Individualität. so wie sie die bürgerliche Vorstellung fat, 
gibt es überhaupt nicht. 

Das Individuum ist ein bürgerliches Götzenbild. In 
Wirklichkeit vermag unser Bewußtsein den menschlichen 
Organismus nicht zu individualisieren und ihn von dem 
gesellschaftlichen Organismus zu trennen. Der individuelle 
Organismus ist nur ein rein synthetischer Moment im 
allgemeinen organischen Prozeß. Die Momente der Zeugung. 
der Geburt. des Säugens und Erziehens sind lauter 
Momente des gesellschaftlichen Schaffens. Momente eines 
allgemeinen ele meatarisch- organischen Prozesses. Uad wenn 
wir vom Menschen sagen: Ein Individuum so sagen wir das 
im bedingtem Sinne. in dem Sinn, daß ein bestimmtes 
Moment in dem allgemein elementar- organischen Prozeß 
gekennzeichnet werden soll. Wir können die Psyche 
der Persönlichkeit nicht unabhängig von der Psyche der 
Gesellschaft. der Klasse oder Gruppe individualisieren. Das 
lebendige Band. das die Persönlichkeit unzertreunbar mit 
der Gesellschaft verkeftet, wird für uns in diesem Fall 
noch begreitlicher, noch anschaulicher, noch einfacher. Nicht 
nur unsere Begriffe, sondern auch unsere Ge:ühle und 
Wünsche müssen als Begriffe und Wünsche der Klasse 
oder Gruppe angeschaut werden. Die Persönlichkeit wird 
geboren und entwickelt sich ın einem sozusagen gesattigten. 
psychischen Milieu, und da ist keine Möglichkeit zu sagen 
wo Mein und wo -Nicht- mein“ ist. 

Aber zugleich tragt fast jedes Individuum ein schöpferisches 
Prinzip. jene eigentliche psychische Synthese, infolge deren 
die Tätigkeit des betreffenden Individuums sich von der 
Tätigkeit aller anderen unterscheidet. Dieser schöpferisch- 


Individualität und Gesellschaft 617 


eigentümliche Kern des Individuums ist bei den einen be- 
sonders scharf und voll ausgedrückt. und das sind die 
produktiven Persönlichkeiten; bei den anderen, bei der 
Majorität. bei dem sogenannten amorphen Typus ist er 
dagegen fast nicht wahrzunehmen . . . Es ist die schöpferische 
Persönlichkeit, oder das Schöpferische in der Persönlichkeit, 
das in das allgemeine soziale Leben jene gewisse individuelle 
Eigenheit. die wir eben Individualität nennen. hineinträgt. 
Die gewöhnliche Persönlichkeit ist keine Individualität: ihre 
Psyche und ihre Tätigkeit zerstreuen sich immer wieder 
in der Gesellschaft. im sozialen Organismus: allein das 
schöpferische Element in der Psyche der Persönlichkeit er- 
scheint als ein individuelles. sich nicht zerstreuendes Element, 
als ein Element, das dem sozialen Leben den Stempel auf- 
drückt und in das Leben etwas Neues. Eigenstarkes. Un- 
zerstõrbares bringt. 

Die bürgerliche Vorstellung von der Individualität ist 
also unrichtig: die bürgerliche Individualität ist zerstörbar. 
Individuell ist in Wahrheit dasjenige. was feststehend. ewig 
ist. Und als das erscheint im organischen Sinne das all- 
gemeine Leben. das Leben der Menschheit: im psychologischen 
Sinne werden individuell die objektivierten produktiven 
Momente der psychischen Tätigkeit. Wir schen also, daß 
die Individualität geboren wird und nicht stirbt. Sie ist 
ewig. In jedem einzelnen Menschen überlebt die psychische 
Individualität ihren Organismus. 

Schon in der Entwicklungsgeschichte des organischen 
Lebens und des Lebens der Menschheit sehen wir, daß 
das Leben in einem ununterbrochenen Kampf mit den 
anorganischen elementaren Gewalten bestanden hat. Blicken 
wir tiefer in die Gesellschaft selber, so schen wir auch 
hier einen unerbittlichen angespannten Kampf der Mensch- 
heit mit den Elementargewalten, aber nicht mehr in anor- 
ganischer Form, sondern in organischer. Gegenwärtig befindet 


618 Individualität und Gesellschaft 
sich der gesellschaftliche Organismus sowie die Mehrzahl 
der einzelnen Persönlichkeiten noch vollkommen in der 
Macht der organischen Elementargewalt. Und hier wird 
deutlich: der Freiheitsdrang,. das Bestreben, 
seines Elementes Herr zu werden, bildet 
den inneren Sınn der Gesamtgeschichte der 
ganzen gesellschaftlichen und persönlichen 
Entwicklung. Das Sterben der einzelnen Organismen 
ist nichts anderes, als die Herrschaft der organischen 
Elementargewalt über das Bewußtsein der Persönlichkeit, das 
Erstreben nach individueller, organischer Unsterblichkeit. 

Dem Menschen ist. wie jedem Lebewesen, der Tod 
zuwider; gegen ihn wehrt er sich mit all seinen Kräften. 
Und je kultivierter. je lebensfähiger die Persönlichkeit ist, 
umso heftiger kämpft sie gegen die Elementargewalt an — 
umso stärker ist ihr Wunsch nach ewigem Leben. Man 
sehe, wie verhältnismäßig gleichmütig der Chinese seinen 
Kopf aufs Schafoſt legt und mit welchem krampf haften 
l Schluchzen wir unseren Verwandten und Freunden das 
letzte Geleit geben. Ist uns denn Greisentum und Schwäche 
nicht zuwider: haben wir denn nicht einen Drang nach 
ewig jungem und starkem Leben? . . . Das alles ist da: 
es ist der heimliche Gedanke alles Lebendigen! Aber erst 
dann. wenn die gesellschaitliche Organisation die Elementar- 
gewalt meistern wird — erst dann wird es möglich sein, 
auch der Unsterblichkeit Herr zu werden. Noch aber 
wird die Menge des Lebens von der anorganischen 
Elementargewalt zerstreut und absorbiert. 

Der Triumph des Lebens, der Triumph des mensch- 
lichen Bewußtseins über die organische Gewalt findet sich 
in der allerengsten Abhängigkeit von der Gewalt des 
Menschen über die anorganische Elementargewalt: und 
vielleicht hängt die letztere noch stärker von der ersteren 
ab: je höher der gesells:haftliche Organismus. umso größer 


Individualität und Gesellschaft _ 619 


die Macht des Menschen über die Natur. In dem 
Menschen liegt das unbewußte Streben 
nach der Entwicklung der gesellschaft- 
lichen Organisation; das ist sein mo- 
ralischer Trieb, sein Lebensdrang. Der 
Mensch ahnt unklar und dunkel, daß die Weiterentwicklung 
der gesellschaftlichen Organisation zum schöpferischen Zu- 
stand des Bewußtseins und der Erweiterung seiner Macht 
führen wird. Der Mensch ahnt ganz instinktiv, daß man 
das Leben nur durch die gesellschaftliche Organisation 
erhält, die zugleich mit ihrer Vervollkommnung immer 
mehr organisch die Elementargewalt beherrschen und mit 
der Zeit sie ganz besiegen wird. Die Menschheit wird 
in ihrer Entwicklung die einzelnen Organismen unsterblich 
machen, sie wird das Mittel finden gegen die zerstörenden 
Wirkungen der Elementargewalt. 

Gewiß, dieses Auf hören der Lebensenergie wird zu 
einem Höchstmaß der Lebensentwicklung führen. Wir 
können uns nicht einmal auch nur vorstellen, wie mächtig 
der Mensch der Zukunft werden kann, wie groß seine 
Gewalt über die Natur sein wird. Er wird 
der Herr der Welt werden und sein, Geschlecht im 
weiten Weltraume verbreiten. er wird das Planetensystem 
beherrschen. Die Menschen werden unsterblich sein. Der 
gesellschaftlich Organismus differenziert sich; davon wird 
es ım Zusammenhang mit dem einen sgesellschaftlichen 
Organismus. viele Individualorganismen geben. Die psychische 
Individualität wird von der organischen Individualität un- 
trennbar sein. Zugleich wird. aber bei dieser organischen 
Differenzierung die organische und psychische Integration 
erhalten bleiben und sich noch mehr entwickeln. Das 
gesellschaftliche Zusammenarbeiten wird seine äußerste Grenze 
erreichen 


Alle 17 5 über den Untergang der Erde oder 


620 Individualıtät und Gesellschaft 


den Untergang des Menschengeschlechts sind nur zu un- 
begründete Hypothesen und Utopien des Pessimismus. Sie 
sind -deshalb unbegründet. weil sie in ihren Schluſ- 
folgerungen die elementarsten Tatsachen außer acht lassen. 
Sie betrachten den Untergang des Lebens vom Standpunkt 
der heutigen Lebensbedingungen. vom Standpunkt der 
jetzigen Lebensanpass ung. Aber das Leben ist doch dehn- 
bar. Darin eben besteht gerade das Leben. dadurch ent- 
wickelt es sich, daß es alle zerstörenden Elementarkrätte 
beherrscht und seine zerstörende Kraft auf seinen Triumph 
und seine eigene Entwicklung richtet. Und das, was viel- 
leicht, wie es uns scheint, gegenwärtig das Leben bedroht, 
wird vom Leben zu seiner Weiterentwieklung genutzt 
werden. Der Mensch strebt nach individueller Un- 
sterblichkeit. — und er wird unsterblich sein. Jetzt ist 
das erst noch eine Hypothese, ein schöner Wahn. Mag 
es eine Hypothese sein, antwortea wir dem Skeptiker! 
Aber jede Wissenschaft hat ja ihre Hypothese, und treibt, 
auf sie gestützt, das Leben vorwärts. Aber wir halten 
diesen Gedanken nicht allein für eine 
Hypothese der Ethik. Bestand denn das Leben 
nicht darin, daß der Mensch selbst das verwirklichen 
mußte. wovon er nicht einmal träumte, woran er nicht 
einmal dachte? Und umso wahrscheinlicher ist es, daß er 
dasjenige erreichen wird, wonach er sich sein langes, müh- 
ecliges Leben hindurch sehnt. wonach ihn sein ganzes 
Wesen, sein Selbsterhaltungstrieb drängt. Der menschliche 
Wille, der menschliche Gedanke hat die Fähigkeit, sich 
zu verwirklichen. Die menschliche Schöpferkraft hat keine 
Grenzen 

Wir, die wir um ein gesellschaftliches 
Ideal kämpfen, kämpfen letzten Endes 
um die menschliche Individualität, kämpfen 


um individuelle Unsterblichkeit. Wir 


Franz Schulz: Gustav Noske — Heinrich Mann 621. 


Marxisten kämpfen um die Ind vidualität. während wir 
für gesellschaftliche, für allgemein menschliche Interessen 
kämpfen. Wir wissen wohl, daß man zum Triumph der 
Persönlichkeit. zu einem Sieg des Bewußtseins über die 
Elementarge walten erst durch die Gemeinschaft und durch 
kollektive Arbeit kommen kann. Die Bourgeoisie will 
etwas anderes. Sie zerstört die Gemeinschaft. Indem sie 
für ihre Individualität - kämpft, kämpft sie gegen die 
Gesellschaft. Für das Bewußtsein der Gemein- 
schaft ist jene Elementargewalt, die be- 
kämft werden muß, die Bourgeoisie. 


GUSTAV NOSKE — HEINRICH MANN 
VON FRANZ SCHULZ 


Zwischen diesen beiden liegt eine Welt: das Deutschtum mit allen moralischen 
und ästhetischen Wesenheiten und Möglichkeiten. Wohl ın Folge seiner vielfältigen 
und komplizierten Rassenmischung birgt das deutsche Volk — ähnlich dem jüdischen 
— alle Gegensätze menschlicher Besinnung und unmenschlichen Widersinns in sich. 
Datür sind die zwei Männer, der unkultivierteste aller Minister und der kulti- 
vierteste aller deutschen Literaten, Beweis, ihre Namen Symbol. Die Bedeutung 
beider Erscheinungen ist nur in Superlativen zu formulieren; (gleichgültig, wie man 
literarisch und politisch das Werk Dieses und jenes werten mag). 

Ich sagte: Besinnung und Widersinn. Heinrich Mann ist die Besinnung des 
Deutschen. In ihm setzt das Bewußtwerden ein, da3 an der Vernunft fürchterlich 
gesündigt worden ist. Das Buch „Macht und Mensch““) ist ein glühendes 
Manifest der Vernunft. Er, ihr leidenschaftlicher Anwalt, bekämpft die deutsche 
(und nur deutsche) Ansicht, Vernunft sei sekundär, primär chaotisch-dionysisches 
Weltgefühl oder goethisch-abgeklärte Sauverenität. Er stellt die erste Forderung 
der Vernunft: daß der Geist herrsche und daß die Geistigen herrschen wollen. 

„Denn der Typus des geistigen Menschen muß der herrschende werden in einem 
Volk, das jetzt noch empor will Das Genie muß sich für den Bruder des letzten 
Reporters halten, damit Presse und öffentliche Meinung, als populärste Erscheinungen 
des Geistes, über Nutzen und Stoff zu stehen kommen, Idee und Höhe erlangen. 


) Kurt Wolff Verlag. 


622 Franz Schulz: Gustav Noske — Heinrich Mann 


Der Fauste und Autoritätsmensch muß der Feind sein. Ein Intellektueller, 
der sich an die Herrenkaste heranmacht, begeht Verrat am 
Geist. Denn der Geist ist nichts Erhaltendes und gibt kein Vorrecht. Er 
zersetzt, er ist gleichmacherisch; und über die Trümmer von hundert Zwingburgen 
drängt er den letzten Erfüllungen der Wahrheit und der Gerechtigkeit entgegen, 
ihrer Vollendung, und sei es die des Todes.” 

„Sie haben es leicht gehabt, die Literaten Frankreichs, von Rousseau bis Zola: 
sie alle haben das Glück gekannt, sich nicht stumm und oline Arme zu fühlen, 
von einem Volk, dem der Geist nicht nur überirdisches und belangloses Spiel ist, 
auf eine Tribüne erhoben zu werden, ihr Wort die Dinge bewegen, den Geist in 
Welt und Tat verwandelt zu sehen . . In Deutschland hätten sie es schwerer. 
Sie hätten mit einem Volk zu tun, das Leben will, nichts weiter wie. Niemand 
hat gesehn. daß hier, wo so viel gedacht ward, die Kraft der Nation je gesammelt 
worden wäre. um Erkenntnisse zur Tat zu machen.“ So klagte Heinrich Mann 
im Jahre 1910 und pries den Franzosen von 17%, dessen Tat über die Jahr- 
hunderte voraus den märchenhaften Schein. warf, der sie nun weniger trostlos 
macht . . Daß Heinrich Mann jetzt, da eine deutsche Revolution keine Erkenntnis 
zu keiner Tat gemacht, sondern Unkenntnis und Unfähigkeit gegen die Tat ge- 
stellt hat, daß er nun weniger verzweifelt als vor zehn Jahren, möchte uns, die 
wir nur ein Abseits des Geistes in die Kloake des deutsch-mehrheitlichen Anti- 
geistes verwandelt sehn, mehr Hoffnung geben als sonst etwas. 

Heinrich Mann erwartet das Heil von Westen, die politische Elementarität des 
Ostens ist ihm ein Graus. Er verkennt leider die große russische Revolution und 
überschätzt — cbenso wie Förster — die parlamentarische Anständigkeit Englands, 
eine schöne Allüre gut erzogener Menschen. Er erwartet schließliche Besinnung 
einer deutschen Mehrheit, die weder heut noch murgen einer Besinnung fähig ıst, 
weil nur die Besten, die Leidenschaftlichen und Empörten, weil nur eine kleine 
Schar von Rebellen gegen das Chaos bürgerlicher Ordnung die Jauche der Lügen 
und Frechheiten wırksam zu vermeiden weiß, mit der dieses arme Volk seit eh 
und je berieselt und — regiert wird. Doch gerade, daß der Menschen-Ziselator 
der „Kleinen Stadt“, der Pamphletist der ., Untertan“, der Kleinstes nicht über- 
sieht und Hassenswertes so sehr haßt, daß einer der besten Europäer noch zu hoffen 
vermag, diesem Voike werde Besinnung die Gewalt ersparen, — ein solch leiden- 
schaftlicher Optimismus muß uns, die wir bedauern ıhn nicht teilen zu können, 
freuen und stärken. l 

Der besonnene, kulturbesonnene Mensch ruft sein Volk. Er ruft es jetzt noch 
und sehnsüchtiger denn je. Trotz allem und trotzdem es einen Noske gibt. 
Das ist die Tragik des Deutschen, daß Noske ein existierender Typus, Heinrich 
Mann zwar ein polares Symbol, doch ein Einzelner ist. Daß es Tausende, vielleicht 
Millionen, daß es Massen gibt, die — wenn auch seine Taten bisweilen verur- 


Die revolutionäre Bewegung in Spanien 623 


teilend — einen persönlichsten Instinkt für Noske haben und nur Einzelne, der 
Masse Fremde, die Heinrich Mann lieben. Daß jede der beschämenden Reden 
Noskes, (in deren keiner das Wort „Dreck fehlt), günstigen, verstehenden Wider- 
hall findet, während die Essais und Reden Heinrich Manns gerade gefallen. Daß 
man den Geist hierzulande als Luxusobiekt, als Schußhündchen, als gangbaren 
Exportartikel und günstiges Reklameobjekt bestenfalls ansieht und ihm eine Real- 
politik entgegenstellt, vor der jedes kultivierte Volk einen Lachkrampf oder Übel- 
heiten bekäme. Daß man einen Literaten zum Pressechef nur macht, wern er 
sich neuorientiert und feierlich den Geist abschwört und deß man auf Literaten, 
die Geist und Politik, Vernunft und Realpolitik vereinen, die ganze ekle Meute, 
der Presse hetzt. solange bis ein patriotischer Cretin sie in den Rücken schießt. 
Eisner, Landauer, Liebknecht, Rosa Luxemburg sind die Opfer und Kronzeugen 
der furchtbarsten Tragik eines geistfeindlichen Volkes und Noske ist ihr Sach- 
beweis. In keinem andern Lande ist der Geistige Paria wie hier, wo Geist nicht 
nur stasts-, sondern auch volksfeindlich ist und in keinem andern Lande, in dem 
ein Heinrich Mann lebte, würde der Untertan Noske auch nur einen Tag geduldet 
werden. So sehr ich Heinrich Mann ais Künstler schätze, — seine wahre Be- 
deutung sehe ich nicht in der Literatur, noch viel weniger in seiner Politik der 
idealistischen Linie: ich sehe sie darin, daß er, heute einer der ganz wenigen Ein- 
zelnen, einst der beste Repräsentant einer Typus sein wird, von dem — wird es 
kommen — dem Deutschen. das Heil kommen und der den Typus Noske be- 
siegen wird. Und seı es durch Mittel, .die Heinrich Mann verdamnit. Daß 
man Noske bis jetzt geduldet hat, zeigt wie weit noch der Weg vom Deutschen 
zum Europäer ist und daß cs einen Heinrich Mann gibt, verpflichtet uns, diesen 
Weg, so. furchtbar schwer er ist, zu betreten. 


DIE REVOLUTIONÄRE BEWEGUNG 
IN SPANIEN 
VON EINEM SPANISCHEN SOZIALISTEN DER Ill. INTERNATIONALE 


ın keinem anderen Lande Europas: macht das Proletariat einen so großen Teil 
der Bevölkerung aus, wie in Spanien. Praktisch gesprochen gibt es hier keine Mittel- 
klasse. Trotz der industriellen Rückständigkeit des Landes herrscht die schärfste 
wirtschaftliche Ausbeutung: sie hat jedoch keine neue privilegierte. Kaste geschaffen. 
wie in anderen Ländern die Bourgeoisie. Der spanische Adel ist einfach in den 
Besitz neuer Macht gekommen, er hat langsam und auf natürlichem Wege eine 
neue Position in der Gesellschaft erlangt: er hat sich seine alte Herrschaft in 
neuer Form gesichert und sich vollkommen mit dem Kapitalismus identifiziert. 


624 Die revolutionäre Bewegung in Spanien 


Der spanische Kapitalismus wird durch den Adel repräsentiert und die übrige 
Bevölkerung bildet das Proletariat. 

Einer der bedeutendsten Umstände in der Entwicklung des soanischen Kapı- 

talısmus ist die Tatsache, daß die Industrie, die Spanien besitzt, fast durchweg 
Großindustrie ist. ., Trust“ und Vereinigungen, die vorschnell aus dem Boden 
hervorwuchsen, sind in allen Industriezweigen zu finden. 
Naturlich hat diese Tatsache ihren Einfluß auf die Arbeiterschaft nicht verfehlt, 
sie hat d'e Entwickelung des Klassenkampfes verschärft und beschleunigt. Sie 
erklärt die vielen scharfen politischen und wirtschaftlichen Streiks. Sie erklärt, 
warum die syndikalistischen Arbeiter Barcelonas, der einzigen großen modernen 
Industriestadt Spaniens, immer die Notwendigkeit einer neuen Gesellschaftsordnung 
vor Augen gehabt haben, sich niemals mit dem Gedanken der reformistischen Ce- 
werkschaften befaßt, sich niemals Täuschungen hingegeben haben über Lohn- 
erhöhungen und Verkürzung der Arbeitszeit. Es ist möglich und notwendig, die 
Taktik der Sy idikalisten Barcelonas zu bekämpfen, aber es würde ein großer Fehler 
sein, wenn man nicht die Hoffnungen anerkennen würde, die ihr revolutionärer 
Geist zu erfüllen verspricht. | 

Aber Spanien ist in der Hauptsache ein Land des Ackerbaus. Ohne die Wich- 
tigkeit des revolutionären Geistes ın Barcelona, Madrid, Valencia, Sevilla, Zaragoza 
aus dem Auge zu verlieren, müssen wir erkennen, daß der wirkliche Schlüssel zu 
den spanischen Verhältnissen bei der Bauernschaft zu finden ist. Das Ackerbauland 
in Spanien ist ausschließlich in große Farmen eingeteilt, die sich in den Händen 
von verhältnismäßig wenigen Familien befinden und durch Aufseher der Besitzer 
bewirtschaftet werden.. Die Bauern — die die tatsächliche Arbeit auf den Farmen 
deisten — haben absolut keinen. Anteil am Lande. Sie sind wandernde Arbeiter, 
sie gehen von einer Farm zur anderen, je nach ihrer Arbeitsfähigkeit und wie es 
ihnen gelingt, zur Erntezeit Arbeit zu. bekommen. Sie sind arm, furchtbar arm. 
Sie besitzen nichts außer den Lumpen, die sie am Leibe tragen. Und sie sind 
außerordentlich klassenbewußt — sie müssen es sein.. Neben den Arbeitern von 
Barcelona bilden sie die große Mitgliedschaft der „Cunfederacion Nacional del 
Trabajo” und die revolutionärsten Elemente der sozialistischen Partei kamen meistens 
aus ıhren Reihen. 

Der Typ des kleinen unabhängigen Farmers, der das Rückgrat des Konservativis- 
mus in Frankreich bildet und der half, der roten ungarischen und bayrischen Re- 
publik den Todesstoß zu versetzen, existiert in Spanien nicht. Wenn die Revolution 
kommt, werden die Bauern den größten Anteil an ihr haben. Sie werden mit 
den Arbeitern aus Barcelona und Madrid die revolutionäre Vorhut bilden. 

Obgleich die sozialistische Partei eine große Gefolgschaft unter den Bauern 
hat, gehört deren Mehrheit doch der anarcho-syndikalistischen „Confederacion Nacional 
del Trabajo“ an. Diese Organisation hat in ihren Reihen die revolutionärsten und 
klassenbewußtesten- Arbeiter Spaniens, Ihre günstige Entwickelung begann im Jahre 
1917—18, als sie eine Reihe erfolgreicher Streiks unternahm und ihre Mitglieder- 
zahl in kurzer Teit bedeutend stieg. Ich glaube sagen zu können, daß sie jetzt 
an 400000 Mitglieder hat. 

Trotzdem sich die C. N. T. auf ihrem letzten Kongreß offiziell als anarchistisch. 


Die revolutionäre Bewegung in Spanien 625 


erklärt hat, sind ihre einzelnen Mitglieder nicht anarchistisch und wissen nicht im 
geringsten, was Anarchismus ist. Sie sind der klassenbewußteste Teil der spanischen 
Arbeiterschaft und gehören der C.N.T. an, weil sie lieber mit den anarchistischen 
Terroristen Barcelonas Bomben werfen würden, als Phrasen dreschen mit den „so- 
ꝛialistischen Reformisten Madrids. Jedenfalls ist die beste Erklärung für das Wachsen 
der syndikalistischen Organisation der hoffnungslose bourgeoise Reformismus der 
sozialistischen Partei, der den revolutionären Arbeiten nur noch den Weg zu den 
Syndikalisten übrig ließ. 

Unter der straffen Führung von Pablo Iglesias entwickelte sich die So- 
zialistische Partei zu einem würdigen Mitglied der viel beklagten Zweiten Inter- 
nationale. Zehn Jahre lang arbeitete die Partei in engster Fühlung mit der Re- 
publikanischen Partei, die Kandidaten zum Parlament wurden auf einer gemeinsamen 
Liste aufgestellt. (Diese Zusammenarbeit hat die Sozialistische Partei erst vor 
kurzem aufgegeben und zwar nur unter dem starken Druck ihrer Mitglieder). 
Die gewählten Vertreter der Sozialistischen Partei in öffentlichen Ämtern verbrachten 
ihre Zeit damit, Arbeiterversicherungsgesetze, Minimallöhne, Stufenlöhne usw. zu 
beantragen. Die Parteizeitungen beschäftigten sich mit der Verdrehung des Marxis- 
mus und dem Kampfe gegen die revolutionären Tendenzen der Massen. Das 
offizielle Organ „El Socialista" wird jetzt von Antonio Fabra Rivas ge- 
leitet, einem Ignoranten, der einen Ruf wegen internationaler Kenntnisse besitzt, 
weil er ein Freund Renaudels ist und früher einmal im „Vorwärts“ gearbeitet hat. 
Auf dem letzten Korigreß der Partei (Dezember 1919) war er einer der stand- 
haftesten Verteidiger der Zweiten Internationale. | 

Beim Ausbruch des Krieges im Jahre 1914 erklärten sich alle Führer der So- 
rialistischen Partei — Pablo Iglesias, Tulian, Besteiro, Francisco Largo, Caballero. 
Andres Saborit, Antonio Fabra Rivas usw. — bedingungslos für die Entente. Die 
Mehrheit unter ihnen forderte sogar Spaniens Teilnahme am Kriege „zum Schutze 
der Demokratie“. Über Zimmerwald und Kienthal wurde gelächelt. Es war offen- 
bar, daß die Partei jegliche Tendenz verloren hatte, die sie von einem rein bürger- 
lichen Unternehmen unterscheiden würde. 

Auf ihrem Kongreß im Dezember stimmte die Sozialistische Partei für das 
Verbleiben in der zweiten Internationale (14000 gegen 13 000 Stimmen). Von 
den 42 000 Mitgliedern der Partei waren jedoch nur 28 000 vertreten und es ist 
wahrscheinlich, daß dieser Beschluß nicht dem Willen der Massen in der Partei 
entspricht. Er entspricht dem Willen der Führer — mit Ausnahme von ein paar 
Scharlatanen wie Mariano Careia, Cortes und Manuel Nunes de Arenas, die für 
den Anschluß an die dritte Internationale eintraten und zu gleicher Zeit zu den 
schlimmsten politischen Opportunisten gehören. Die Führer haben die Kontrolle 
über die Parteipresse und über die ganze Parteiorganisation. Sie werden diese Kon- 
trolle auch dann nicht verlieren, wenn ein Referendum der Partei sich für die 
dritte Internationale erklären sollte, was wahrscheinlich sehr bald der Fall sein 
wird. Sie werden weiter die Führung der Partei in der Hand behalten und weiter 
eine bürgerliche contre-revulutionäre Organisation bleiben wollen. 

Die revolutionären Massen können innerhalb der Parteibürokratie weder jetzt 
noch im Augenblick der Krisis zur Aktion schreiten. Wenn sich ihnen Gelegen- 


626 Die revolutionäre Bewegung in Spanien 


heit böte, so würden die Führer der sozialistischen Partei genau so handeln, wie 
Ebert, Scheidemann und Noske es getan haben. Sie sind die schlimmsten Feinde 
des Proletariats und die Parteiorganisation ist nur für Zwecke geschaffen, wie die 
deutschen Mehrheitssozialisten sie gehabt haben. 

Angesichts der akuten wirtschaftlichen Verhältnisse und des revolutionären Geistes 
der Arbeiterschaft einerseits und des Verrats der Sozialistischen Partei anderer- 
seits war es nur natürlich, daß eine Kommunistische Partei, eine Partei der Kom- 
munistischen Internationale ins Leben gerufen wurde. 

Die Spanische Kommunistische Partei (. Partido Comunista Espanol‘) 
übergab am 15. April 1920 ihr Manifest der Öffentlichkeit. Es wurde von der 
Föderation der Sozialistischen Jugend herausgegeben, die gemeinsam mit der revo- 
lutionären Gewerkschaften Asturiens und der Gruppen der Sozialistischen Partei 
der Provinzen Taen und Salamanca ihre Organisation zur spanischen Kommu- 
nistischen Partcı erklärte. Dies fand sofortigen Widerhall in den Massen, besonders 
in Madrid und Andalusien: und heute — einen Monat nach ihrer Gründung”) — 
hat die Partei bereits eine Mitgliedschaft von mehr als 15 000 Personen. Sie tritt 
für revolutionkren Sozialismus iin Gegensatz zum Reformismus ein. Sie ist eine 
Partei des Marxismus in Prinzip und Praxis. Sie erkennt den revolutionären 
Charakter unserer Zeit und die Notwendigkeit, den Kapitalismus mit allen Mitteln 
zu bekämpfen. Sie lehnt die Teilnahme am Parlament nicht ab, betrachtet es jedoch 
nur als eine Tribüne zur revolutionären Propaganda. Sie sieht ım Parlament einen 
Teil des bürgerlichen Staates, der nicht reformiert, sondern zerstört werden muß. 
Ihre Stellung ist die aller Parteien der Kommunistischen Internationale: Die soziale 
Revolution wird kommen als das Ergebnis der Massenaktion, die sich zu einem 
offenen revolutionären Kampfe auswachsen wird. Die arbeitende Klasse wird die 
Macht erobern und die Diktatur des Proletariats errichten mit Räten als Organen 
der Regierung. 

Das Organ der Spanischen Kommunistischen Partei „El Comunista“ richtet 
scharfe Angrit/e gegen die Sozialistische Partei und bezeichnet sie els reformistisch 
und contre-resolutionär. Das Zentralkommitee der Partei ist zusammengesetzt aus 
jungen Genossen, wie Roman Merino Gracia, Rito Estrban, Juan An- 
drode und Tibureio Pico, die alle lange zu den revolutionärsten Elementen 
der spanischen Bewegung gehören. 

Das Komite hat vor kurzem einen Brief vom Amsterdamer Bureau der dritten 
Internationale erhalten, der ihm zur Gründung der neuen Partei Glück wünscht. 

Was die spanische Arbeiterschaft mehr als alles andere nötig hat, ist politische 
Schulung. Die Kommunistische Partei gibt spanische Übersetzungen der Werke 
von Marx, Engels und Lenin heraus, ebenfalls Broschüren von Sinoview, Trotzky, 
Radek, Bucharin usw. Weiter hat die Partei einen Plan in Vorbereitung der Organi- 
sation von Sowjets in Spanien. Das Rätesystem und das ganze kommunistische 
Programm findet Anwendung auf die besonderen spanischen Verhältnisse. Wenn 
die Revolution kommen wird, dann wird die Kommunistische Partei an ihrer Spitze 
stehen und der Sieg wird mit ihr sein. 


) Der Aufsatz ist noch im Mai geschrieben 


Victor Segalen: Paul Gauguins Todeskampf 627 


PAUL GAUGUINS TODESKAMPF 
VON VICTOR SEGALEN 


Gauguins Briefen an seinen Freund Daniel de Monfreid, 
die im Verlage Gustav Kiepenheuer erscheinen, geht eine 
biographische Einleitung von Victor Segalen voraus, der 


die folgenden Seiten entnommen sind. 


Paul Gauguins Todeskampf in seiner dreifachen Maori- 
zeit. — erster Aufenthalt auf N Tahiti. zweiter Aufenthalt. 
erster und letzter Aufenthalt auf den Marquesas-Inseln — 
hat das Vollkommene, das ein Menschenleben erhebt: das | 
unaufhörlich gefährdete und unaufhörlich wieder hergestellte 
Gleichgewicht zwischen zerstörenden und schöpferischen 
Kräften; zwischen der Fruchtbarkeit des täglichen Brotes 
und der unwägbaren Nahrung: zwischen der Voraussicht 
und der Lust: zwischen Handwerk. Arbeit und Werk. 
Seit seiner Ankunft auf diesen Iuseln oder zwölf Jahre. 
bevor er stirbt. denkt Gauguin an den Tod. nicht an 
einen eingebildeten. an seinen eigenen. Sein Leben in diesen 
zwölf letzten Jahren ist ein ergreifendes Schauspiel. dessen 
Ende schön und unabwendbar ist: der erwartete. bisweilen 
ersehnte. bisweilen dringend erbetene. zum Festmahl des 
Selbstmordes geladene Tod kommt nicht — dann ist er 
plötzlich da. Dieses Schicksalhafte des Todeskampfes gibt 
dem ganzen Drama Farben und Wappen. 

Agonıe bedeutet Kampf. Gauguin war an Haerz und 
Körper ein schöner Athlet. Deswegen wurde das doppelte 
Spiel, der begonnene Kampf durchgeführt trotz Umkehr, 
Ekel und Erholung. Aus den gut betrachteten Werken 


Gauguins muß eine schöne Lehre erstehen, aber auch aus 


seinen in allen Silben gewogenen Briefen. Von Anfang an das 


628 Victor Segalen 


Gespenst des Unglücks und, schlimmer noch, des Pechs. 
Kleinliche Schwierigkeiten häufen sich; dann Kombinationen 
und Berechnungen, darin die ganze Geschicklichkeit des 
ehemaligen Bankbeamten verschwunden zu sein scheint — 
denn der dürfte doch nur auf z»gängigee Werte bauen. 
Seine Bilder aber, zu seimen Lebzeiten wenigstens — sind 
nicht >gängig.. Er plant einen »Liebhaberverein« der ihm 
zweihundert Frank pro Monat sichern sollte. Der Plan 
mißlingt. Die Liebhaber haben sich seither schon öfter 
Vorwürfe machen müssen: das Geschäft wäre gut, seit 
zehn Jahren schon! ! 

Diese Rechnereien, diese Spekulationen. dieses stets mit 
Defizit arbeitende und vor dem Ausgleich doch noch 
sieghaft saldıerte Kontokorrent, all das geht durch alle 
Briefe hindurch wie durch Rımbauds Briefe, — für das 
Jahrhundert schreckliche Briefe, die enttäuschen und an- 
klagen, ewiger Schimpf für den Zeitgenossen, der den 
Seher nicht anhören wollte. Dreihundert Seiten lang klagt 
Rımbaud darüber, seinen Lebensunterhalt nicht verdienen 
zu können; dann bringt er endlich eın kleines Vermögen 
zusammen, vierzigtausend Francs in Gold: da es in der 
Somali wüste keine Bank gibt, trägt er es in einem Segel- 
tuchgürtel stets um seinen Leib. was ihm schließlich eine 
Magenkrankheit zuzieht . Dieselben Finger, dıe das 
strunkene Schiff. ins Reine geschrieben haben, schreiben 
zehn Jahre später: -Ich habe ein Edelsteingeschäft vor, 
womit ich viel Geld zu verdienen hoffe.« 

— >»Rimbaud?: sagte 1905 der ehrenwerte Herr 
Rhigas, Händler für alles in Djibuti, in dessen Diensten 
Rimbaud gestanden hafe, zu mir, »Rımbaud? · ein tüchtiger 
Kerl, o. ein erstaunlicher Kerl! Ein guter Rechner, und 
dabei dachte er noch nicht genug ans Geschäft. Und 
dann konnte er einen plötzlich lachen machen, lachen, sage 


ich Ihnen!" Das hat Afrika von Rimbaud behalten. 


Paul Gauguins Todeskampf 629 


Die Erinnerung an Gauguin ist rein von solchen MiL- 
verständnissen. Niemand auf Tahiti oder auf den Marquesas 
hat es sich einfallen lassen, Gauguin Mach seinen Eigen- 
schaften als »Beamtere. zu beurteilen. Und doch mußte 
Gauguin, der eines Tages Plakate an die Gare du Nord 
geklebt hate — wie Rimbaud einen Zirkus in Holland 
und auf Batavia herumführte — eines schönen Tages eine 
Stellung erbitten, einen Platz an einem Tisch vor einem 
Papier. als Zeichner bei den ‚Öffentlichen Arbeiten . auf 
Tahiti! Diesen Amtsstempel wird man also am Kopf 
mancher seiner Briefe lesen: es sind nicht die schlechtesten. 
Denn, im Gegensatz zu Rimbaud. verleugnete Gauguin 
sich niemals — bis zu seinem Ende beanspruchte er sein 
Recht zur. Ehre seines malerischen Könnens leben zu 
dürfen, dieser Schimpf blieb ihm' erspart: der Zeichner 
Gauguin, der für sechs Francs den Tag zeichnete, ist 
niemals ernstlich in Betracht gezogen worden. 

Ebensowenig wie seine »künstlerische Sendunge, mit der 
Ary Renan, ihn betraut hae in der Meinung, ihm damit 
die Ankunft auf den Inseln zu erleichtern. Niemand in 
der Kolonie wollte sich zum Narren halten lassen, am 
wenigsten der Gouverneur, der nur einen Spion in ihm 
sah. Seit seinen ersten Antipodenschriſten stieß Gauguin so 
auf dieselben Erfahrungen und auf die gleichen Leute. die 
er fliehen wollte. Die Kleinheit des Landes. die den 
Beamten einschränkte, führte zur Kleinheit der Gedanken. 
So daß Gauguin. kaum in der Hauptstadt des französischen 
Ozeaniens angelangt. schleunigst an neuen Auf bruch dachte. 
Aber diese ersten Tage gestatteten ihm trotz lächerlicher 
Aufmachung ein Ereignis zu sehen, dessen beklagenswerte 
Größe vielleicht er allein zu fassen vermochte, denn, kaum 
angelangt, war er schon eingeweiht: man feierte das 
Leichenbegängnis Pomares V., des letzten wirklichen Königs 
von Tahiti. Es gab keine Menschenopfer, um diesen 


630 Victor Segalen 


mächtigen Tod, und den Heimgang des Geistes eines 
Geschlechtsvaters zu den sanften Inseln zu ehren, darauf 
den Lebendigen alles unfühlbar bleibt. Man brachte ıhn 
in den reformierten Himmel. Mit dem König verschwand 
die letzte Beute für unsere Republik, der letzte Raub 
an dem, was eme Dynastie über eın Volk w war, — em 
Zustand, eine Sitte. Gauguin fühlte das zutiefst. 

Er reist in die Gebiete, zur lachenden Krone der 
Insel, die keine Ähnlichkeit hat mit Papeete, der Haupt- 
stadt, die Hafenplatz und Markt zugleich ist. Er bleibt 
in Mataiea. baut dort sein erstes Haus, und zwei Jahre 
lang .. . aber diesen ersten Aufenthalt auf Tahiti be- 
schreibt der Maler selbst eingehend in gewissen Kapiteln, 
»Der Erzähler spricht. des Buches: Noa Noa. 

Rückkehr nach Frankreich. Verkaufsausstellung (1893). 
Es wurde fürchterlich. Sehr gelegen stirbt ein Onkel 
väterlicherseits. und eine kleine Erbschaft macht alles gut. 
Gauguin ist für einige Zeit frei und reist wieder ins 
Finistère; er wird zum doppelten Verräter an Tahiti. 
denn er nimmt als Gefährtin. die auf seinem Lager den 
Exotismus darstellen soll. eine javanische Mulaſtin aus 
Paris mit. Hier liegt die Schuld, die Sünde, er verleugnet 
die sanfte Maorifrau um dieser Kolonialhündın willen! 
Er geht mit ihr nach Pont-Aven. wo ihre Hautfarbe 
betrunkenen Matrosen mißfällt. Streit: Drohungen; Hand- 
gemenge: ein Eingeborener bricht Gauguin das Bein. bis 
zum Ende seiner Tage leidet er unter der schlechten 
Heilung dieses Beines. Er wird wieder vernünftig vom 
langen Nachdenken, und wieder steigt in ihm die Sehn- 
sucht auf, fortzureisen. um -für immer in Ozeanien zu 
leben. 

Und wieder ist er auf diesen Inseln, darauf man nicht 
zweimal auflebt. ohne vielleicht im zweiten Leben zu sterben. 


Tahiti empfängt ihn als den wiedergefundenen Freund. 


Paul Gauguins Todeskampf 631 


dem man den ersten Willkommensgruß sagt: »Komm. 
komm her, ıß mit uns!. Das war die tägliche Frage. 
Gauguin schreibt: »Das Leben wird billiger sein. e, 
und zum driften Male bemerkt er, daß seine Rechnung 
falsch ist. Sechs Jahre lang bleibt er dort, dann macht er sich 
segelfertig für jenes weniger eingeteilte und weniger ver- 
waltete Land. wie er glaubte, für den Archipel der 
Marquesas-Inseln, vierhundert Meilen nordöstlich von Tahiti: 
und er nimmt die größte in Besitz, die »Dominica« der 
ersten Entdecker, Hiva-Oa. die »Große Klippe - der Maori. 

Eine schöne Begeisterung packt ihn wieder. Dort unten 
erweist sich die Frau weniger von Scham berührt: ein wenig 
freier, ein wenig schöner, ein wenig nackter. Keine Stadt 
auf der »(sroßen Klippe«. Als Gauguin dort landet, ahnt 
er, daß er dort sterben würde; er bietet diesem Lande 
den vergänglichen Humus seines Körpers, und deswegen 
baut er sein Haus stärker als alle andern. Er schmückte. 
es als den Zufluchtsort, dessen Linien alle sanft werden, 
wenn kein Aufbruch und keine Änderungen mehr zu er- 
warten sind. Voller Wohlgefallen beschreibt er dieses 
Haus in seinen Briefen, und mit Wollust bewohnt er 
es. Er nennt es: Haus des Freuens. 

Und als er dann fast zum Gleichgewicht zwischen 
diesen hassenswert ungleichen großen Kräften kommt: 
zwischen seinen Geldmifteln. der Entfernung. dem Kauf. 
der zu liefernden Größe, und dem wunderbaren Schauspiel, 
das auf dem Grunde seiner Vision nur er alleın be- 
trachtet. — da packt ihn plötzlich die Furcht, dort zu 
sterben. Der Ton seiner Briefe ändert sich. Keine prak- 
tischen Mafregeln, keine Abrechnungen, kein Vorschuß und 
kein Rückstand. Er verschlingt seine Tage, um zu malen: 
seine schlaflosen Nächte, um eine Sammlung »fürchterlicher 
Dinges zu schreiben. Das Maorı-Schauspiel hat er aufge- 
richtet und überliefert. Übersäftigt von dem, was er für 


630 Vietor Segalen 


mächtigen Tod. und den Heimgang des Geistes eines 
Geschlechtsvaters zu den sanften Inseln zu ehren, darauf 
den Lebendigen alles unfühlbar bleibt. Man brachte ihn 
in den reformierten Himmel. Mit dem König verschwand 
die letzte Beute für unsere Republik, der letzte Raub 
an dem, was eine Dynastıe über ein Volk war, — en 
Zustand, eine Sitte. Gauguin fühlte das zutiefst. 

Er reist in die Gebiete, zur lachenden Krone der 
Insel, die keine Ähnlichkeit hat mit Papeete, der Haupt- 
stadt, dıe Hafenplatz und Markt zugleich ist. Er bleibt 
in Mataiea. baut dort sein erstes Haus. und zwei Jahre 
lang .. . aber diesen ersten Aufenthalt auf Tahiti be- 
schreibt der Maler selbst eingehend in gewissen Kapiteln, 
Der Erzähler spricht«, des Buches: Noa-Noa. 

Rückkehr nach Frankreich. Verkaufsausstellung (1893). 
Es wurde fürchterlich. Sehr gelegen stirbt ein Onkel 
väterlicherseits. und eine kleine Erbschaft macht alles gut. 
Gauguin ist für einige Zeit frei und reist wieder ins 
Finistère; er wird zum doppelten Verräter an Tahiti 
denn er nimmt als Gefährtin, die auf seinem Lager den 
Exotismus darstellen soll. eine javanische Mulaftın aus 
Parıs mit. Hier liegt die Schuld, die Sünde, er verleugnet 
die sanfte Maorifrau um dieser Kolonialhündin willen! 
Er geht mit ihr nach Pont-Aven. wo ihre Hautfarbe 
betrunkenen Matrosen miſ fällt. Streit: Drohungen: Hand- 
gemenge: ein Eingeborener bricht Gauguin das Bein, bis 
zum Ende seiner Tage leidet er unter der schlechten 
Heilung dieses Beines. Er wird wieder vernünftig vom 
langen Nachdenken, und wieder steigt in ihm die Sehn- 
sucht auf, fortzureisen. um -für immer in Ozeanien zu 
leben«. 

Und wieder ist er auf diesen Inseln, darauf man nicht 
zweimal auflebt, ohne vielleicht im zweiten Leben zu sterben. 


Tahiti empfängt ihn als den wiedergefundenen Freund, 


Paul Gauguins Todeskampf 631 


dem man den ersten Willkommensgruß sagt: »Komm. 
komm her, il mit uns!. Das war die tägliche Frage. 
Gauguin schreibt: »Das Leben wird billiger sein. e, 
und zum driften Male bemerkt er, daß seine Rechnung 
falsch ist. Sechs Jahre lang bleibt er dort, dann macht er sich 
segelfertig für jenes weniger eingeteilte und weniger ver- 
waltete Land, wie er glaubte, für den Archipel der 
Marquesas-Inseln, vierhundert Meilen nordöstlich von Tahiti: 
und er nimmt die größte in Besitz, die »Dominica« der 
ersten Entdecker, Hiva-Oa, die »Große Klippe« der Maorı. 

Eine schöne Begeisterung packt ıhn wieder. Dort unten 
erweist sich die Frau weniger von Scham berührt: ein wenig 
freier, ein wenig schöner, ein wenig nackter. Keine Stadt 
auf der - Großen Klippe«. Als Gauguin dort landet, ahnt 
er, daß er dort sterben würde; er bietet diesem Lande 
den vergänglichen Humus seines Körpers, und deswegen 
baut er sein Haus stärker als alle andern. Er schmückte. 
es als den Zufluchtsort, dessen Linien alle sanft werden, 
wenn kein Auf bruch und keine Änderungen mehr zu er- 
warten sind. Voller Wohlgefallen beschreibt er dieses 
Haus in seinen Briefen. und mit Wollust bewohnt er 
es. Er nennt es: Haus des Freuens. 

Und als er dann fast zum Gleichgewicht zwischen 
diesen hassenswert ungleichen großen Kräften kommt: 
zwischen seinen Geldmitteln. der Entfernung, dem Kauf, 
der zu liefernden Größe, und dem wunderbaren Schauspiel. 
das auf dem Grunde seiner Vision nur er allein be- 
trachtet. — da packt ihn plötzlich die Furcht, dort zu 
sterben. Der Ton seiner Briefe ändert sich. Keine prak- 
tischen Mafregeln, keine Abrechnungen, kein Vorschuſ und 
kein Rückstand. Er verschlingt seine Tage. um zu malen: 
seine schlaflosen Nächte, um eine Sammlung »fürchterlicher 
Dinge« zu schreiben. Das Maori-Schauspiel hat er aufge- 
richtet und überliefert. Ubersättigt von dem. was er für 


632 Victor Segalen 


endgültig gehalten hafte. rafft Gauguin sich zusammen, und 
er bemüht sich in den letzten Monaten, zu entfliehen. Er 
will nach Frankreich zurückkehren, im Vorbeigehen nur, 
um sich nach Spanien zu flüchten; er kann nicht glauben, 
daß man von den Spanierinnen, deren -mit Schweineschmalz 
zusammengeklebten Haare- man gemalt hat. »nichts anderes 
haben könne . . . Zugleich mit seinem Verzicht auf das 
Maori-Land der Verzicht auf seine Kunst: das Einge- 
ständnıs, das tiefer geht als Selbstmord: -Ich will nicht 
mehr malen. . Die Malerei erhält mich nicht mehr 
am Leben . . . Es ist keine menschliche Gotteslästerung. 
wenn man diese Worte neben die Schmerzensworte eines 
andern Menschen stellt: Mein Vater, laß diesen Kelch 
an mir vorübergehen« Es ist kein Zufall, dał Paul 
Gauguin schmerzlich sich selbst gemalt hat, von vorn, 
müde, ın fallenden Linien wie die Schultern, in einem 
schmutzig blauen Gewande. vor einem dunkelerdigen Hinter- 
grunde. mit dieser Inschrift: Nahe an Golgatha. 

Aber im Augenblick. da er sich selbst verlassen, da 
er sich selbst aufgeben wollte. indem er das Maoriland 
verlief, um als irgendwer irgendwo zu leben, als er »dort 
sterben« sollte. da findet Gauguin in Daniel de Monfreid 
den starken Führer, der ihn aufrichtet und auf den 
rechten Weg weist. und ihm vor der Nase diese klein- 
liche Hoffnung, diese Hintertür schließt: die Rückkehr. — 
Zu leicht nimmt man die Freundschaft an als die Leib- 
eigenschaft gegenseitiger Wohltaten oder den Kompromiß 
gewisser, von vornherein gemeinsamer Gedanken. Eine 
weniger vorausgesehene, ungewöhnlichere, schwerere, härtere 
Freundespflicht ist es: den Freund um jeden Preis bis 
zum Ende seiner Bestimmung entgegenzuführen. sei es zum 
Tode. Georges Daniel de Monfreid hat nicht versagt. 

In einem scharfsichtigen und prophetischen Brief erklärt 
und beweist Monfreid Gauguin, daß er nach Frankreich 


Paul Gauguins Todeskampf 633 


nicht zurückkehren kann. nicht zurückkehren darf. Diese. 
die hingebendste Seite ist von unerbiftlicher Entschlossenheit: 

— sEs ist zu befürchten,s schreibt Daniel, »daß Ihre 
Rückkehr eine Arbeit, eine Entwicklung stören würde, 
die sich in der öffentlichen Meinung mit Ihnen vollzieht: 
Sie sind jener legendäre Künstler, der tief in Ozeanien 
seine überraschenden. unnachahmlichen Werke entwirft. 
Werke, die für einen großen Menschen bestimmend eind. 
der sozusagen von der Welt verschwunden ıst. Ihre Feinde, 
(und sie haben ziemlich viele, wie alle, die die Migel- 
mäßigen hindern), sagen nichts, wagen nicht gegen Sie zu 
kämpfen, denken nicht einmal daran: Sie sind ja so weit! 
Sie dürfen nicht zurückkommen! Sie dürfen ihnen nicht 
den Knochen aus den Zähnen reißen .. . Sie genießen 
die Unantastbarkeit der großen Toten. . . In der Kunst- 
geschichte sind Sie vorbei 

Verge blich widerspricht der sterbende Verbannte hart- 
nackig diesem Blick ins J enseits, er verspricht, seine Rück- 
kehr nach Paris würde nur vorübergehend sein... Er 
würde unverzüglich nach Spanien weiterreisen. (und diese 
extrem westliche Halbinsel. die er aus der Ferne seiner 
Maori-Insel ersehen, klingt wieder auf als ein neuer 
Gegensatz. eine andere Welt. als die alte Welt). Dann 
hört sein Widerspruch auf, er verläßt die »Große Klippe« 
nicht. Und doch — hälfte er Geld gehabt, um abzu- 
reisen — häfte diese Abreise Gauguin alles was folgt 
erspart, und das hat ihn sicherer als alle Anfeindungen, 
mit denen man ihn überschüftete, getötet: er starb am 
8. Mai 1903. | | 

* « 

Zweifellos war Gauguin krank. Man hat erklärt, er 
habe den Aussatz, die Elephantiasis, die Syphilis. Das 
letzte stimmt, darf aber nicht dem Lande zugeschrieben 
werden: es war eine richtige Pariser Seuche. Zweifellos 


634 Victor Segalen 


war auch das Herz schwach: das aber hafte flüssigere 
Hindernisse als das Blut überwunden: Zweifel und Ver- 
lassenheit. Dazu kam noch der schmerzhafte, aber unge- 
fährliche Ausschlag an den Beinen; und der alte aus der 
Bretagne stammende Beinbruch, der ihm bis zum Schluß 
zu schaffen machte. Aber Gauguin starb nicht aus allen 
diesen Gründen, sondern, da er dort sterben mußte, wurde 
das Opfertier durch eıne unterschlagene Entscheidung auf 
Golgatha geopfert. Seine Rechtsstreitigkeiten töteten Gauguin. 

Er hafe für die Maori Partei ergriffen. Der Kampf 
hörte nie auf und wird sich fortsetzen bis zum Ende 
dieses schon toten Klumpen, der Unfruchtbarkeit ist. 
Mestizentum oder Zivilisation. Besonders auf den Marquesas- 
Inseln war dieser Kampf herbe. verschlagen und listig. der 
Kampf zwischen den schönen bekehrten Kannibalen und 
den importierten Gendarmen. Keine Festmahle mit Menschen- 
oder Göfterfleischh — wohl aber Saufereien mit gegorenem 
Fruchtsaft, auf die der Eingeborene ein Recht geltend 
machte. So gab es Orgien im Gebirge, dann Ertappung 
auf frischer Tat.. Protokoll und Verhandlung! Gauguin 
nahm Partei für den Eingeborenen und legte sich auf 
die Lauer. ganz wie der Gendarm. der im Gebirge den 
Weinbrenner belauschte. Er überraschte die Gefälligkeit 
eines Aufsehers der Nachbarinseln. der seine Pflichten als 
Zollbeamter vernachlässigte: ein amerikanischer sclipper« 
brachte, ohne das französische Gesetz zu achten, konser- 
viertes Fleisch an Land und nahm stag dessen frische 
Frauen an Bord, verkaufte das eine und das andere und 
trieb auf diese Weise ungehindert Freibeuterei. 

Die Tatsache steht geschichtlich fest. Aber alles ver- 
urteilte den Ankläger. Dieses an das andere Ende der 
Welt gebrachte europäische. republikanische Gleichgewicht 
hat manchmal diese Kehrseiten wie Geiseln. Die angeklagte 
Justiz bedeckte ihre Scham mit Papieren und Beschlüssen. 


Paul Gauguins Todeskampf i 635 


In großer Unbewufßtheit, aus Gewohnheit oder handwerks- 
mäßig. erließ ein Herr . . n Richter von Beruf, das 
Urteil, das an seiner Stelle und in seinem Amt jeder, 
durch das gleiche Budget bezahlte Beamte hafte fällen 
müssen: der (sendarm war unschuldig. 

Also mußte Gauguin verurteilt werden. Und er wurde 
es: zu tausend Francs Strafe und drei Monaten Gefängnis 
wegen »Klageführung gegen einen Soldaten der Gendarmerie. 

Die Revision des Prozesses liegt auf der Hand. 
erklärte Jean de Rotonchamps in der schon erwähnten 
Biographie. Sie wird melancholisch und kalt wie eine 
Leichenschau sein. Gauguin hafte sofort Berufung eingelegt. 
Zweifellos häfte er (aber weil man das bestimmt), beim 
Obergericht sein Recht bekommen. Dazu mußte er seine Reise 
nach Papeete und auch einen Anwalt bezahlen. Vor jeder 
Justiz. vor jeder noch tiefer sitzenden Rache aber haften 
Erschöpfung und Verzweiflung Gauguin getötet, — der an 
alledem gestorben ist. 


* X « 

Ich habe Gauguin zu seinen Lebzeiten nicht gekannt: 
und doch waren wır zu gleicher Zeit ın Polynesien. Aber 
zwischen Gauguin und mir lagen über vierhundert See- 
meilen: keine direkte Verbindung: kein Echo über die 
Weiten · auf Tahiti. Einer sagte mir: — „Gauguin? Ein 
Narr. Der malt rosa Pferde!“ Ein anderer, ein Kaufmann: 
— »Es geht ihm schon besser mit seinen Geschäften. er 
beginnt jetzt zu verkaufen. Es gibt immer noch Dumm- 


köpfe. Ein Beamter: — »Gauguin macht uns viel Scherereien.« 
Eine fromme Person: — -Alle Tage verneigt er sich vor 


einem Götzenbilde aus Terrakotta, und man behauptet, daß 
er die Sonne anbete.« Wir waren in den ersten Monaten 
des Jahres 1903. Im Juni oder Juli erst teilte man mir 


mit: — »Ah, Gauguin ist gestorben. Ich mule noch 
ti 


636 Victor Segalen 


warten, bevor ich zu den Marquesas hinüber konnte, und 
dann mußte ich unter ihnen die suchen, die er erwählt hafe. 
Sein Haus stand aufrecht, das er fast nur mit seinen Händen 
erbaut hafte. Es hafte gut stand gehalten unter dem großen 
Atem der Zyklone, — aber es war leer durch die amt- 
lichen Pfändungen. ausgeleert wie eine Kokosnuß durch 
Erdwürmer. Es war ein marquesanisches, etwas besser und 
etwas höher gebautes Haus als die andern mit dem großen, 
von Pandanusbläftern eingeschnürten Dach. Keine Spur. es 
sei denn welche vom Hinaustragen. Dort oben, über der 
Oberschwelle der Tür stand der Wahlspruch Haus des 
Freuens, so voll in der Substantivform des Verbums, so 
hell, daß es sich nicht ziemt, ihn als Wappen einem 
anderen Hause zu geben — in sem eig:nes Herz als 
Wahlspruch sollte man ihn tun. Und rechts und links 
große, geschnitzte. farbenüberriebene Füllungen. Seid ver- 
liebt. und ihr werdet glücklich seine und man sah zwei 
dumpfe verhüllte Gestalten fernerhin zur Liebe fliehen; 
eine andere Gestalt verkrampft in einem Sprung aus 
Furcht oder aus Schrecken oder aus Lust. Die zweite 
Füllung lehrte: Seid geheimnisvoll. und Ihr werdet glücklich 
seins, und an dere Visionen durchdrangen das Holz vie 
Larven, strömten auf die andere Seite des Raumes, zu 
jenem Lande jenseits alles Schlechten. alles Guten. jenserts 
alles sichtbaren Daseins. 

Gegenüber, nur wenige Schriſte entfernt, eine andere 
Wohnstätte. winzig klein. ein kleiner Kiosk, aber er be- 
herbergt einen Gof. Dort stand eine Statuette aus Ton, 
sie war trotz des Daches vom täglichen Brennen so rissig. 
so zerbrechlich, daß ich es nicht wagte, sie mitzunehmen 
und auf dem Meer dem Schlingern auszusetzen: ich wollte 
nicht die Entweihung begehen. sie eines Tages zusammen- 
kleben oder ihre Brocken auf bewahren zu müssen; des- 


wegen erschien es mir als heilige Pflicht. sie an ihrem 


Paul Gauguings Todeskampf | 637 


Platz verfallen zu lassen unter denselben Gezeiten der 
Tage. die ihren Schöpfer haften sterben sehen. 

Man zögerte, ihr einen Namen zu geben. Man konnte 
sie annähernd, wie ich es damals tat.“) beschreiben: Ein 
Buddha, der in Maoriland zur Welt gekommen ist. Das 
ist nicht wahr. — Unter dem Mantel, der eine schwere, 
fettleibige. schwammige Form hafte. war dieses Gsötzenbild 
sehr lehrreich. Es ist die massige Verwirklichung des göft- 
lichen Aufstiegs. des Auftauchens des Schöpfers. wie er 
vielleicht in Gauguin grollte. Der Schädel ist hoch und 
beherrscht das Gesicht, so daß Nasenrücken und Nacken- 
fal — besser als beim Griechischen! — ın die Linie 
eines Kreises passen. Der ganze Kopf ist eine Spitze. ein 
Trieb. ein Höcker. Die Schultern fliehen; der Rücken 
ist ganz gerade, die Hände sind ungestalt. unnütz. ruhen 
auf den Knien, das verkümmerte Sitzteil sitzt auf flacher 
Ebene. Vom Scheitel bis zu den Zehen fällt eine einzige 
Bewegung. ein einziger geballter. kaum gestalteter Wille. 
als stiege dieses Wesen aus dem Bauche der Materie. — 
Nicht der vergangene, gegenwärtige oder erwartete Goft 
der andere, der immanente, der Artgenius. der belebend. 
Lavakruste emporhebt, Fleisch oder Häutchen, sein Gedanke 
über seinen Kopf wie ein Helm, zur Maske geworden 
sein Antlitz, darauf noch Ursaft klebt: irgendwie ein 
schmutziger und gewaltiger Fötus-Gofe. 

Diese Tonstatue, die einen Fuß hoch war, war viel- 
leicht der wilde Genius Gauguins. Auf Tahiti sagte man, 
er verbeuge sich vor. ihr. Das klingt nicht wahrscheinlich. 
Aber wäre die Reise einst zu machen, um sie zu holen 
und zu retten. — ich unternähme diese Reise und holte 


sie zurück. 


Dann versuchte ich im Distrikt von Atuona Bescheid 


) Gauguin in seinem Schmuck. (Gauguin dans son dernier decor. Mereure de 
France, Juin 1904). 


638 Victor Segalen 


zu bekommen. Ich mußte mit Leuten über Gauguins Tod 
sprechen wie über einen Zwischenfall in der Lokalpolitik. 
Drei Zeugen waren da: der Gendarm, der Missionar, der 
Eingeborene. ` 

Der Gendarm. stark in seinem Recht und stolz auf 
das gefällte Urteil erklärte Gauguin zu seinen Lebzeiten 
für einen Unruhestifter. Aber der tote Gauguin war nicht 
zu fürchten. Der Gendarm wurde ihm nachträglich gerecht. 
indem er den Eingeborenen sagte, daß die von der Mission 
als sobligatorisch« bezeichnete Schule es nicht war. Nach 
Gauguins Tode mußte man, da kein Testament vorhanden 
war, ein Verzeichnis aufstellen. Der Gendarm machte das 
Verzeichnis und eme »Aufstellung der Räume des Hauses 
Gauguin. So lernte ich genau die Aufstellung der ver- 
schiedenen »Verkaufsnummerne des Mobiliars kennen: Pe- 
troleumkocher, Harmonium, Schreiner werkzeug. obszõne und 
andere · Schnitzereien. die den Pfaffen von Bischof dar- 
stellten. 

Der Missionar kam da unten in zwei deutlich unter- 
schiedenen Sorten vor. Und man mul wirklich bewundern, 
daß die Maori dabei an einen einzigen Gott zu glauben 
vermögen! Die eine Sorte nennt sich römısch-katholısch, 
trägt lange schwarze Gewänder, nimmt keine Frauen und 
vernachlässigt sıch in der Pflege des Körpers (was der 
Maori niemals vernachlässigt); sie lehrt »allgemeinee Wahr- 
heiten, aber in deplazierter lokaler Anwendung. Die andere, 
evangelistische. bringt aus Europa ihre eigene Frau mit. 
zieht europäische Kleidung mit getrennten Beinen an und 
wäscht sich. Ihre Maorıreden bieten dieselben Wahrheiten 
in etwa verschiedenen Worten. Die Reden sind viel 
länger und werden deswegen aufmerksamer angehört. 

Gauguin war seit seiner Ankunft der Zwangsgast der 
katholischen Geistlichkeit. »Alles Lands, schreibt er. sgehört 
hier der Mission.“ 


Paul Gauguins Todeskampf 639 


Vielleicht hatte er über den Besitzer zu klagen, oder 
er rächte sich im voraus mit der Schärfe seiner Schere 
auf einem unschuldigen Baumstumpf. und er machte das 
Porträt des Bischofs mit den Zügen Messire Satans. Und 
unter den Haupthandlungen dieses Schutzherrn der sieben 
Sünden erläuterte er die Wollust. die er auf ein anderes 
Holz schnitzte, in der Gestalt Therese Die gleiche 
Freiheit hätte sich im Mittelalter der kleinste Maurer- 
lehrling herausgenommen. Aber wir haben nicht mehr die 
Zeiten der Kathedralen. Das bewies ihm der Bischof 
schon wenige Stunden nach seinem Tode 

Die andere Sorte von Missionaren war für Gauguin 
weniger feindlich, menschlicher. Mit dem Pastor Vernić 
tauschte er höfliche Briefe. darin die gute Erziehung 


wenigstens Zusammenstöße verhinderte. 


— 

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog. 

Derfflingeretr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam- 
Berlin / Druck E.Gundlach A.-G., Bielefeld 


Eingelaufene Schriften 


EINGELAUFENE SCHRIFTEN 


FERDINAND LASSALLE: Gesammelte Reden und Schriften. Herausgegeben 
von Eduard Bernstein. 


Paul Cassirer Verlag, Berlin 1919. 
WEGE ZUM SOZIALISMUS, eine neue Schriftenreihe. Herausgegeben von Otto 


Jensen. 


Paul Cassirer Verlag, Berlin. 


HENRI BARBUSSE: La Lueur dans l Abime, Ce que veut la Groupe Clarté. 
Editions Clarté, Paris 192). 


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Verlag Paul List, Leipzig 1919. 
GEORG KAISER: Der gerettete Alkibiades. Stück in 3 Teilen. 


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Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam-Berlin. 


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l. Die Grundsätze der deutschen Kriegführung: 
2. Die Verletzung der Neutralität Luxemburgs und Belgiens. 
Verlag Art. Institut Orell Füßli. Zürich 1920. 


FELIX EMMEL: Der Tod des Abendlandes. Gegen Oswald Spengiers skeptische 
Philosophie. 
Verlag Hans Robert Engelmann, Berlin 1919. 


DAS FORUM 


4. Jahr Juni 1920 Heft 9 


(Abgeschlossen am 6. Juli 1920) 


AN DIE DEUTSCHEN KÜNSTLER! 
VON GUSTAVE COURBET 


Parıs, 1870 

Ich habe im Geiste zweiundzwanzig Jahre mit Euch 
gelebt, und Ihr habt mir Sympathie und Achtung abgenötigt. 
Ich habe Euch als zähe Arbeiter, als umsichtige und 
energische Männer kennen gelernt, als Feinde der Zentrali- 
sation und der Unterdrückung des Denkens. Als wir uns 
in Frankfurt und in München trafen, stellte ich die Ge- 
meinsamkeit unserer Bestrebungen fest. Ihr verlangtet ebenso 
wie ich nicht nur Freiheit für die Kunst, sondern ebenso 
die Freiheit für die Völker. In Eurer Mite fühlte ich 
mich wie zu Hause bei meinen Brüdern: wir stießen auf 
Frankreich und auf die Einsetzung der europäischen Repu- 
blik mit den Gläsern an: noch in München schwurt Ihr 
im vorigen Jahre die fürchterlichsten Eide. keine preußischen 
Vasallen zu werden. 

Heute dient Ihr alle in den Rotten und Regimentern 
Bismarcks: vorn an der Mütze tragt Ihr eine Nummer und 
Ihr habt gelernt, militärisch zu grüßen. 

Ihr, von deren Ehrlichkeit und Redlichkeit man über- 
triebene Vorstellungen hatte. Ihr, die Verächter der Phi- 
listerinteressen, die Er wählten des Geistes, Ihr 
führt Euch heute wie Räuber auf, die scham- 
los bei Nacht herankommen. um im 2 ngesicht der Welt 
Paris zu plündern. | 

Jawohl, entwerfet Symbole der Mensch- 
beit auf Eurer Leinwand. bringt täglich 


422 Gustave Courbet 
Hymnen. auf die Brüderlichkeit zur Welt. 
zerfließt in Wasser und Reimen! Bismarck 
und Wilhelm sind dabei, die verschimmelte 
Kopfbedeckung Karls des Großen mit Fetzen 
blutigen Menschenfleisches zu flicken. 

Gestern habt Ihr Deutschland verteidigt und gerettet: 
heute bleibt Ihr noch in Reih und Glied und dienet in 
einem Krieg. der ruchloser ist als die verworfensten Kriege 
des Feudalismus und schmiedet Keften für Deutschland. 

Ah! Ihr seid nicht einmal mehr die Bastarde der alten 
Leibeigenen Frankens; die, Eure Väter. brachten manchmal 
ihre Kaiser zum Ziftern: sie hörten auf die Stimmen 
Luthers und Johann Huf und richteten sich auf und 
warfen die Throne, die auf ihrem Rücken errichtet waren, 
zu Boden. Ihr, Euer Wilhelm winkt nur mit dem Finger. 
und Ihr liegt vor Eurem preußischen Cäsaren auf dem 
Bauch, vor dem Cousin unseres französischen Talmi-Cäsaren. 

Bis zum 4. September brauchten sich die Männer des 
Fortschritts nicht um die widerlichen Streitigkeiten der 
Souveräne zu kümmern. ihre Prätorianer schniften sich 
willig zur Genugtuung Europas gegenseitig die Hälse ab: 
ja, Ihr habt uns sogar bis zur Schlacht von Sedan einen 
Dienst erwiesen, denn alles Üble, das Ihr uns angetan 
habt und noch weiter antun könnt, kann nie so groß sein 
wie die Summe des Ubels, das uns das Weiterbestehen 
des Kaiserreichs gekostet häfte und die Summe der Wohl- 
tat. die Ihr uns dadurch erwieset, daß Ihr es umge- 
schmissen habt. 

Aber, nachdem Eure Rechnung mit dem Bonaparte ge- 
regelt ist. was habt Ihr mit der Republik zu schaffen? 
Ihr wollt der Revolution in die Zügel fallen? Arme 

Narren! Ihr legt Euch selbst die Schlinge um den Hals. 
| Hört gut zu, zu Euch spricht ein Mann aus der Franche- 
Comté, ein französischer Amerikaner, und ich sage Euch 


An die deutschen Künstler! 643 


\ 


gerade heraus: Ihr seid Schlimmeres als Abtrünnige, wenn 
Ihr fortfahrt als Eroberer aufzutreten, Ihr seid Toren und 
Tröpfe. Häuft Soldaten über Soldaten, Kanonen über Hau- 
bitzen, Kartätschen über Mörser, die Revolution hat keine 
Furcht vor Euch. 

Die Republik, die für solche Schlachten kein Verständ- 
nis hat. die keine anderen Hilfskräfte hat als den Willen 
ihres Volkes, die Republik wird nicht besiegt werden, mein 
Wort darauf. Plündert, brennt, tötet: das höchste, was 
Euch gelingt, ist, daß Ihr aus Frankreich ein Märtyrervolk 
macht. Dann habt Ihr einen Fetisch an die Stelle eines 
anderen Fetischs gesetzt: den Mythus einer vergöfterten Nation 
an die Stelle der Fabel eines Goftmenschen: weiter nichts. 

Fassen wir zusammen: 

Deutsche aller Stämme, Ihr, die Ihr die Geopferten seid, 
die Soldaten des Preußen, der sich schont. Ihr Bayern. 
Wöürftemberger, Badenser, Sieger über uns bis zum 4. September, 
ich will Euch sagen, was jetzt Eure Aufgabe ist. 

Man sagt Euch nach, Ihr wäret an harte Arbeit und 
bescheidenes Leben gewöhnt: um so besser: in Frankreich 
ist die Armut der Bestallungsbrief der Ehre: nur die Reichen 
sind in der Lage zu stehlen: wir können uns also mit- 
einander verständigen. Ihr habt Eure Reliquien, Eure alten 
Heiligtümer mit Euch geführt: ganze Wagen voll Eurer 
Ahnen, der Cimbern und Teutonen und den berühmten 
Karren der Hermannschlacht. Wie es recht und billig ist, 
wollt Ihr sie nicht leer über den Rhein zurückfahren. 

Ihr verlangt eine Entschädigung: schön. Ihr, sollt sie 
haben. Ladet auf Eure Wagen die Steine der Festungsmauern 
von Toul und Straßburg, wir treten sie Euch ab: Ihr könnt 
sie in Eurer Heimat als Heldenandenken mit Vorteil ver- 
klopfen. Tut noch Besseres: wenn ihr vorüberkommt auf 
Eurem Heimzug, macht auch Eure eigenen Festungen dem 
Erdboden gleich; wenn Euer Herz Euch danach steht, 


644 = Gustave Courbet / An die deutschen Künstler! 


werden wir Euch hilfreiche Hand reichen: dann werden 
wir zusammen: diese blutigen Marksteine umstürzen, die die 
Grenzen bezeichneten und Gruppen von Völkern auseinander- 
rissen, die demselben Blute entstammen. 

Wenn die Grenzen verschwunden sind, braucht man, um 
sie zu schützen, keine Festungen mehr. Keine Festungen mehr, 
keine Heere fortan. Keine Heere mehr! Die Mörder allein 
werden töten: wır wollen es wenigstens hoffen. 

Legt Ihr Wert auf Eure Nationalität? Wenn Ihr erst 
frei seid, wird man Euch helfen, wenn Ihr es begehrt. 
Und nur in diesem Fall sollt Ihr Elsaß und Lothringen als 
Pfänder unseres Bundes als neutrale und freie Länder er- 
klären dürfen, in die sich alle flüchten können, denen der 
nationale Chauvinismus ein Greuel ist und die sich ein 
Leben ohne politische Fesseln wünschen und in diesen ge- 
marterten und ans Kreuz geschlagenen Provinzen wollen 
wir Euch wieder die Hand schüfteln und mit Euch anstoßen: 
auf die Vereinigten Staaten von Europa. 

Ich grüße Euch brüderlich. 

Da fällt mir was ein. 

Hört einmal: Eure Kruppkanonen könnt ihr uns hier- 
lassen, wir wollen sie mit unsern zusammen einschmelzen. 
Die letzte Kanone wollen wir, mit dem Maul gen Himmel 
und mit einer phrygischen Mütze auf dem Kopf. auf einen 
Sockel stellen, der auf drei Kanonenkugeln ruhen soll und 
dieses Kolossalmonument, das wir zusammen auf dem 
Vendömeplatz errichten wollen. soll unsere Denksäule sein, 
für Euch und für uns, die Säule der Völker. die Säule 
der beiden für immer verbündeten Länder Deutschland und 
Frankreich. l 

Die Göttin unserer Freiheit wird, wie ehemals Venus 
den Kriegsgot Mars gekrönt hat. an den Geschützzapfen, 
die sie wie Arme an den Seiten trägt, Gewinde von 
Trauben, Ähren und Hopfenblüten aufhängen. 


G. Demartial / Patriotismus und Gerechtigkeit 645 


PATRIOTISMUS UND GERECHTIGKEIT 
VON G. DEMARTIAL 


Im Verlage der »Clarte« ist eine mutige Schrift von 
Demartial erschienen. Ein Kapitel sei hier wiedergegeben, 
das beseelt ist von dem Wabrheitsfimmel , der den 
Scheidemännern aller Länder zuwider ist, weil er die 
Interessen der Völker höber achtet, als die der krieg- 
schuldigen Cliquen und dessen Bestreben sie Vaterlands- 
verrat zu nennen wagen, weil er ihre Bequemlichkeit zu 
stören droht. 

Bei der Jahresversammlung der British Academy am 
30. Juni 1915 stellte Lord Bryce fest, daß in allen Staaten 
der Entschlu zum Kriege von einer ganz kleinen Zahl von 
Personen gefaßt worden ist. Wenn man immer für das 
eigene Land eintreten wollte. mülte dementsprechend jedes 
Volk diese Personen schützen und bestätigen, dal sie recht 
gehabt haben, selbst wenn sie im Unrecht waren. Anderer- 
seits hat M. Balfour. Minister des Äußern in England, uns ver- 
sichert, daß der Krieg -der Kampf des Himmels gegen die 
Hölle gewesen sei. Daraus folgt, daß, wenn die Herren 
Sasonow. Grey und auch Viviani, der nicht daran glaubt, 
den Himmel vorstellten, die Herren Berchtold und Bethmann 
Hollweg für die Hölle standen. So kann es kommen, 
daß, wenn jemand mit geschlossenen Augen 
sein Vaterland verteidigt, er die Hölle ver- 
teidigt. f | 

Es ist wohl wahr, daß man während des ganzen Krieges 
das deutsche Volk aufforderte, seine Regierung für den 
Krieg verantwortlich zu machen; es wurde ihm sogar. der 
Friede nur unter dieser Bedingung angeboten. Man hat. 
die Deutschen, die sich schuldig bekannten, mit Lob bedeckt: 
am 26. September 1919 begrüßte M. Renaudel in der 
Kammer den «heldenmütigen Verfasser des J'accuse». Aber 


646 u aa — G Demartial 
was wird dann aus der Regel, daß man immer für sein 
Land eintreten sollte? Diese Regel würde also für den 
Gegner nicht gelten: von ihm fordert man, daß er sein 
Unrecht erkenne. Und wenn er zu alledem noch der 
Besiegte ist. kann er in die Zwangslage kommen, Unrecht 
zu bekennen, selbst wenn er Recht hat. während der 
Sieger Recht behaupten darf. selbst wenn er Unrecht hat! 

Ein anderer Widerspruch: Es kommt immer einmal 
ein Augenblick, wo die Wahrheit ihr Recht verlangt. Am 
27. Juni 1919 erschien in der «Humanités, unter dem 
ironischen Titel: «Recht geht vor Macht», ein Artikel. 
der beweisen wollte. welche Narrheit es war, zu glauben, 
daß dieser Krieg ein Krieg des Rechts gewesen sei. Aber 
dieser Glaube war von der «Humanité» während des 
ganzen Krieges gepredigt worden! In diesem Glauben. einzig 
in diesem Glauben sind so viele Pazifisten und Sozialisten 
zu Schlachtfeldkupplern geworden. Hat man seine Falsch- 
heit nicht früher erkennen können? Die Soldaten konnten und 
durften nicht sprechen. Sie waren das Bleigewicht an der 
Schleuder. die elenden und zugleich erhabenen Gsladiatoren. 
Aber wir Nicht-Soldaten, die für ihr Blut verantwortlich 
sind. die wir verdammt zu werden verdienen, wenn wir 
den Krieg eine Stunde zu lang haben dauern lassen, wir, 
die wir behaupten, frei und selbständig zu sein, wie konnten 
wir uns den Mund verschließen lassen unter dem Vorwand, 
daß man stets für sein Land eintreten müsse! Das Land — 
sind wir das nicht selbst, wir zu allernächst? Zu sagen, wie 
M. Maurice Barrès, man müsse stets für das eigene Land 
sein, wie man stets für die eigene Mufter ist und von 
seinen Fehlern absehen. heißt dem erschreckendsten Sophismus 
huldigen: das bedeutet, das Vaterland zu einem 
Menschenfresser machen, der seine unschuldigen 
Kinder frift, um ihnen den schlechten Vater zu erhalten. 

Wieviel menschlicher war der Ausruf, den M. Clemenceau 


Patriotismus und Gerechtigkeit _ 647 
während der Dreyfus-Affaire tat: »Wo kein Recht ist. 
da ist kein Vaterland.. Wenn nun die Regierung 
einen Krieg führt, dem Recht entgegen. so ist dieses auf 
der einen* Seite. und die Regierung auf der andern. Um 
aber zu wissen, ob ein Krieg dem Rechte entspricht, hat 
das Volk nur ein Miftel, nämlich die Gründe zu prüfen, 
die die Regierung dafür anführt. Also gebietet das Vater- 
land. der Regierung entgegen zu sein, die solches Prüfen 
hindert, wie es deutlich der Fall war bei allen Regierungen, 
die seit dem Kriege in Frankreich einander gefolgt sind 
die Regierung Clemenceau mit inbegriffen. 

Welche ist. da die Dinge so liegen. die gegenwärtige Aufgabe? 

Sich bescheiden. werden vielleicht manche sagen. Die 
Wahrheit suchen hatte Sinn während des Krieges, solange 
sie das Gemetzel häfte aufhalten können — heute ist es 
unnütz. Consummatum est. Lassen wir die Vergangenheit ruhen. 

Das wäre ein Grundfehler. — Zunächst, wie sollen wir 
annehmen, daß wir nicht den Wunsch häften, die Ver- 
gangenheit kennen zu lernen. Wie! unsere politische Herr- 
schaft trägt den ausdrücklichen Namen » Gouvernement d'opinions. 
Ein jeder Bürger, auch der unbedeutendste, hat das Recht 
und die Pflicht, die Handlungsweise der Regierung zu be- 
aufsichtigen. Wenn wir dieses Recht gelten lassen. haben 
wir unserere Pflicht versäumt, sobald wir von der Re- 
gierung keine Rechenschaft fordern. Nun wohl: sind wir 
wirklich die Eigentümer des Staatswagens? Die Regierung 
ist sein Lenker und dürfte fahren nur wohin wır wollen. 
Sie hat geglaubt. daß der Krieg ihr das Recht gibt, uns 
unter den Sitz zu stoßen und uns mit Fuftriften niederzu- 
halten. Nun, da wir wieder ans Tageslicht gekommen sind, 
ist es wohl das Nächstliegende, daß wir uns Rechenschaft 
darüber geben, wo wir uns befinden und wie wir dahin 
gekommen sind. 


648 Ee. Demartial / Patriotismus und Gerechtigkeit 


Alle Zensur konnte nicht hindern, daß das französische 
Volk diesem Kriege einen Namen gab. der ıhm für die 
Nachwelt erhalten bleibt: »La guerre des Bourreurs de cränes.: 
das heißt, daß der hauptsächliche Antrieb zum Kriege die 
mit bis dahin unbekanntem Zynismus und Heuchelei be- 
triebene grenzenlose Ausbeutung menschlicher Dummheit 
und Bösartigkeit war. Das Problem, worauf diese Be- 
mühungen der Täuschung und Stillegung allen kritischen 
Geistes sich vor allen anderen stützte, war natürlich die 
Frage der Verantwortlichkeit. Und gerade diese möchte man 
als für immer erledigt erklären. Ne varietur! Welche Schande! 
Lassen Sıe uns, im Gegensatz dazu, die Binde, die man 
über unsere richtenden Augen gelegt hat, herunterreißen! 
Lassen Sie uns Kapitel für Kapitel. Beweis für Beweis. 
alle offiziellen und offhiziösen Darstellungen der so weit 
zurückliegenden unmiftelbaren Ursachen des Krieges einer 
kritischen aktenmäfigen Prüfung unterziehen: die Erklärungen 
der Minister, die Beratungen der Parlamente, die Artikel 
der führenden Presse, die Bücher der Professoren. Lassen 
wir, einem Rate Descartes folgend, als wahr nur gelten 
Was uns notwendig so erscheint .. Erkennen wir als erste 
Regel an, daß es für einen Menschen kein größeres Unglück 
gibt als seinem Lande unverdient Unrecht geben und wenn 
wir uns in der schmerzlichen Notwendigkeit befinden, an 
ıhm einen Punkt aussetzen zu müssen, so tun wir das nicht, 
ohne vorher alle Beweisstücke hin und hergedreht, alle Ein- 
wände erhoben und gestört zu haben. Nehmen wir aber 
als zweite Regel an, daß es kein geringes Unglück ist, 
jemand zu verurteilen — sei er auch ein Feind — wegen 
eines Verbrechens das nicht feststeht, oder das man selbst 
begangen hat. Ein Wort für hundert: Suchen wir Ge- 


rechtigkeit und reden wir Wahrheit. 
Übersetzt von L. S) 


Maxim Gorki / Die Internationale der Intellektuellen 649 


DIE INTERNATIONALE DER 
INTELLEKTUELLEN 


Von MAXIM GORKI 


Das Folgende ıst die ins Deutsche übertragene Ent- 
gegnung Gorkis auf das Manifest Romain Rollands, 
Duhamels und Barbusses, das einen Internationalen Kongreß 
der Intellektuellen fordert. 


Ein Internationaler Kongreß der Intellektuellen soll in Bern tagen. Die Ver- 
reter der intellektuellen Mitte in England, Deutschland, Frankreich und den anderen 
Ländern werden unter einem Dach zusammentreffen. Feinde von gestern, Sieger 
und Besiegte finden sich Aug in Auge. 

Auch moralisch Mitschuldige an dem abscheulichsten Verbrechen, dem Kriege 
1914—1918, dessen Schrecken durch Offenbarung der tiefen Fäulnis alter Gesell- 
schaftsordnung schließlich die nationalistischen Vorurteile erschütterten, die die 
höchstkultivierten Völker Europas zur Barbarei zurückgebracht und das große Blutbad 
heraufgeführt haben, — auch moralisch Mitschuldige an diesem ungeheuren Ver- 
brechen werden dem Kongreß beiwohnen. 

Wenn das wirklich geschieht, wenn diese Menschen auf einer internationalen 
Konferenz von Vertretern der menschlichen Vernunft erscheinen, so kann das eine 
unabsehbare Weite der wertvollsten sozialen Konsequenzen zeitigen. Es soll hier 
nicht die Rede sein von später Reue und sterilen Bekenntnissen, die sicherlich 
nicht fehlen werden. Der Kongreß wird streng und entschieden die Frage stellen 
müssen, die von welthafter, menschenhoher Bedeutung ist: die Frage nach den 
geschichtlichen Grundlagen der Kultur. 

Erst wenn diese Frage entschieden ist, können die Intellektuellen sich zu einer 
entschlossenen Haltung bekennen: an der Spitze der Volksmassen, die die Verwirk- 
lichung neuer Formen gesellschaftlichen Lebens erstreben, — oder als Glieder der 
Klassen von geringer Intelligenz und großer Habgier, die durch Ausbeutung der 
physischen Energie der Völker die freie Entwicklung ihrer Geistes- und Verstandes- 
kräfte hemmen. 

Wenn die Intellektuellen sich doch endlich Rechenschaft geben würden von der 
Rolle, die sie im Dienste des Kapitalismus gespielt haben, mit der ungeheuer 
wogenden Energie der Völker verschmolzen, wäre das eine Tat von unermeßlichem 
Folgenreichtum. Die verhältnismäßig unbedeutenden Reserven an intellektuellen 
Kräften würden dann die prüfenden und ordnenden Fähigkeiten ihrer Vernunft in 
Einklang bringen mit einer riesenhaften, noch unorganisierten, aber ganz stark lebens- 
hungrigen Willenskraft. Für die Entwicklung der menschlichen Kultur würde das 
ein mächtiger Anstoß sein; eine Beschleunigung, deren Ausmaß wir nicht voraus- 
sehen können. 


650 Maxım Gorkı 


— —— — — — — — —— — — . — — — 


Kurz und gut: die Intellektuellen der ganzen Welt müssen heute diese ernst- 
hafte Frage anschneiden: werden sie auf Seiten der Völker sein, die die radikale 
Umformung der gesamten Lebensart fordern oder auf seiten des Kapitals, für das 
alte Regime? 

Möge die Rolle der russischen Intellektuellen im Laufe der beiden letzten. 
ereignisschweren Jahre lehrreich sein für die Intellektuellen Westeuropas. Wenn 
der russische Intellektuelle mehr Seelenkraft und mehr 
praktischeVoraussichtgehabt hätte, wenn er von den ersten 
Tagen der bolschewistischen Revolution an in Verbindung 
gestanden wäre mit jener Gruppe von Menschen, die, aus seinem eigenen 
Milieu hervorgegangen, kühn genug waren, sich an die Spitze der 
Arbeitermassen zu stellen und die politische Macht an sich zu reißen 
in einem durch den Zarısmus und den Krieg zugrunde gerichteten Lande, — hätte 
der Intellektuelle so gehandelt, dann hätten Industrie, Technik und 
Kultur nıcht so heftig gelitten unter dem Einbruch der entfesselten 
Leidenschaften; weniger Blut wäre geflossen; nicht so viele Fehler wären begangen 
worden; die Vemunft wäre Zügel gewesen. 


Ich will niemand verurteilen. Ich stelle nur eine unleugbare Tatsache fest: die 
Zurückhaltung gewisser Intellektuellen von dem Lauf der Revolution hatte zur Folge, 
daß die Lösung der wichtigsten Lebensfragen gleichgestellt wurde der Bedürfnis- 
befriedigung einer noch kulturlosen Masse: das sind meiner Meinung nach die 
russischen Bauern. 

Die Klasse der russischen Arbeiter, zahlenmäßig die geringste, hat eine unge- 
heure Aufgabe vor sich: hundert Millionen Bauern verschiedener Sprache und ver- 
schiedenen Ursprungs zu erziehen. Diese Masse kann in ihrem Zerstörungswerk 
eine erstaunliche Kraft entwickeln: kann sie aber mehr schaffen als Sitten, die 
durchdrungen sind von der Mentalität des kleinen Besitzenden? Die Frage bleibt 
unbeantwortet. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint die großkapi- 
talistische, rationell organisierte Industrie dem Handwerker und dem Intellek- 
tuellen weniger erschreckend als die Sümpfe des kleinen Besitztums, die, fremd 
und feindselig meist, höheren Kulturinteressen entgegenstehen. 

Den russischen Intellektuellen wird das Tragische ihrer Situation immer deut- 
licher bewußt. Obwohl sie schon vor der Revolution zwischen Hammer (Herrschaft) 
und Amboß (Volk) gelebt haben, werden die unumgänglichen Mißstände dieser 
Lage ihnen erst jetzt nur allzu deutlich und nur allzu schmerzlich. Doch ich 
wiederhole: sie beginnen zu begreifen, daß die Macht den intellektuellen Kräften 
gehört, denen sie selbst geistig verwandt sind; sie beginnen zu begreifen, daß vor- 
aussichtlich schon in nächster Zukunft in Rußland die vernünftige Organisation 
und der extatische Wille verschmelzen werden und daß diese beiden Kräfte geeint 
Wunder tun können. 

Das sind meiner Meinung nach die Gedanken und Fragen, die der Internationale 
Kongreß der Intellektuellen nicht übergehen kann. 

Aus der tiefen Überzeugung von der Wahrhaftigkeit der Vertreter des Intellek- 
tuellen in Westeuropa, aus dem Glauben en ihre Gewissenhaftiekeit kann ich nicht 


Wahrheit über Sowjetrufland 651 


daran zweifeln, daß die Frage der Blockade Rußlands auf dem Kongreß zur Debatte 
stehen wird. 

Die Schändlichkeit einer Blockade, die das russische Volk dem Hungertode preis- 
gibt, die es abschneidet von der Versorgung mit Arzneimitteln usw. noch zu brand- 
marken, ist unnötig. Aber es ist vielleicht nicht unangebracht, den Mitgliedern 
des Kongresses in Erinnerung zu rufen, daß in erster Linie die Kinder unter den 
Folgen der Blockade zu leiden haben, daß aber auch die Intellektuellen, die Ge- 
lehrten, die geistigen Arbeiter in Bibliotheken und Laboratorien, — ungenügend 
ausgerüstet zum Kampf ums Leben, unbegabt ıhr Brot zu gewinnen, dann unter 
den zumeist Betroffenen sind. 

Durch Hunger Kinder töten, die Zukunft eines Volkes auf diesem Wege zer- 
stören; durch Hunger seine seit lang angesammelten geistigen Kräfte lähmen — ist 
das das Ziel des aufgeklärten, kultivierten Europa? 

Diese Frage zu stellen, wird für den Kongreß der Intellektuellen eine notwendige 
Aufgabe sein. Und wir warten gespannt darauf, was die Regierungen der Länder 
— Frankreich, England usw. — die sich als „Herde der Kultur und Zivilisation” 
betrachten, antworten werden. (Uebersetzt von L. S.) 


WAHRHEIT ÜBER SOWJETRUSSLAND 


DAS BIBLIOTHEKSWESEN 


In dem offiziellen Organ der Schwedischen Biblistheks- 
Vereinigung, „Bibliotheksbladet“, findet sich von dem 
Leiter der „Schwedischen Königlichen Bibliothek“, Arne 
Holenberg. der folgende Aufsatz, welcher in seinem 
Material zum Teil neu, wertvoll vor allem durch das Lob 
ist, das ein Bürgerlicher einer bolschewistischen Methode 
widmet. 

Daß die Kerenski-Regierung den Bestrebungen zur Entwicklung des 
Büchereiwesens wohlwollend gegenüberstand, darf daraus geschlossen werden, daß 
ein Kursus darüber vom 26. April bis 24. Mai, 1917 in Moskau abgehalten wurde. 
Dieser Kursus wies ein recht mannigfaltiges Programm auf: gab eine Übersicht über 
Literatur- und Bibliothekskunde, über technische Fragen betr. Katalogisierung, 
Fächereinteilung usw. — Doch ist es kaum glaubhaft, daß die schwache provi- 
sorische Regierung sehr durchgreifende Maßregeln zur Reform der Bibliotheks- 
angelegenheiten hätte ergreifen können; die Bolschewiki jedoch haben, scheint 
es, eine großartige Aktivität in dieser Hinsicht entwickelt. — Bei der 
„Abteilung für Volksaufklärung außerhalb der Schule“ des Volksbildungskommissariats 
wurde eine besondere „ Bücherei-Abteilung eingerichtet, deren erste Aufgabe es 

12 


652 Wahrheit über Sowjetrußland 


war, eine Zentral-Bibliothek mit Fragekästen bei diesem Kommissariat aufzustellen. 
Den Grundstock dazu bildete eine Menge veralteter pädagogischer Literatur, eine 
fast komplette Gesetzessammlung und einige Zeitschriften, darunter die „Zeitschrift 
des Unterrichtsministeriums”. Diese Bibliothek hatte dem alten Unterrichtamini- 
sterium gehört, das jährlich 18000 Rbl. zu ihrer Komplettierung zur Verfügung 
hatte. Nach der Märzrevolution 1917 wurden energische Schritte getan, zuerst von 
der Kerenskiregierung und später von den Volkskommissaren, um moderne Literatur 
anzuschaffen, welche in hohem Grad erforderlich war, da unzweifelhaft der jährliche 
Zuschuß unter der alten Regierung zu „unproduktiven” Zwecken diente. 


Die Bibliothek-Abteilung der Bolschewiki begann inzwischen eine schnelle und 
bedeutend erweiterte Wirksamkeit. Sie wurde überschüttet mit Anfragen und Bitt- 
schriften von einer Menge Bibliotheken, die ihre Hilfe nachsuchten aus Anlaß ge- 
wisser Revolutionsmaßnahmen. Nach dem Dekret über die Nationalisierung der 
Großgüter und die Aufhebung der meisten Standes- und Zunfteinrichtungen waren 
nämlich unter anderem Eigentum auch eine Menge Bibliotheken registriert worden, 
und diese standen vor der Gefahr, beraubt oder aufgelöst zu werden. — Es wurde 
nun angeordnet, daß die Bibliothek-Abteilung die Aufsicht über sämtliche (Staats-) 
Bibliotheken aller Gattungen erhalte. — Es wurde ein neues Reglement nach ameri- 
kanischen Prinzipien ausgearbeitet, wonach ein Rat geschaffen wurde, gewählt aus 
der Mitte der ständigen Bibliotheksbesucher. Gleichzeitig damit 
hatte die Bibliothek-Abteilung noch auf andern Gebieten zutun. Um die Plünderung 
der zahlreichen wertvollen Bibliotheken auf den nationalisierten Gütern zu verhindern. 
übertrug man die Verantwortung für diese dem lokalen Sowjet. Die Güterbiblio- 
theken scheinen im allgemeinen ziemlich u n berührt geblieben zu sein, während 
mehrere andre nationalisierte Buchsammlungen der Bibliothek: Abteilung zur Ver- 
fügung gestellt wurden, um nach Gelegenheit, an Institution, die Literatur anfor- 
derten, verteilt zu werden. (Z. B. nach der Einnahme Viborgs in Finnland wurde 
die ganze Bücherei die der , Kultur- und Bildungskommission der Viborger Festungs- 
artillerie" gehörte, an den Rat in Uka, Ural, übergeben, der außerdem einen Teil 
Belletristik von anderwärts bekam.) — Eine große und wertvolle Sammlung, Stuworins, 
mit ca. 35 000 Bänden, wurde zwischen dem russischen Museum (Werke über Kunst). 
der „Öffentlichen Bibliothek” (ca. 3 aller Bücher) und der „Aufklärungsabteilung‘' 
des Unterrichtskommissariats geteilt; diese erhielt Lexika und Handbücher. — Die 
Bibl.-Abteilung hatte große Schwierigkeiten, um die Anerkennung ihrer Autorität 
von allen Seiten zu erzwingen. — Bei der Nationalisierung des Besitzes forderten 
die Behörden in vielen Fällen, daß die Bücher mit dabei bleiben sollten, was zur 
Folge gehabt hätte, daß sie ohne die mindeste Kontrolle ausgestreut und in jeder- 
manns Eigentum geraten wären. Deshalb mußten die Volkskommissare ein be- 
sonderes Dekret zum Schutz der Bücher ausarbeiten. Ob dies den er- 
wünschten Zweck erreicht, geht aus der zugänglichen Literatur nicht hervor. — 
Man gewinnt eine Vorstellung von der Bedeutung die die führenden Bolschewiki 
dem Bibliothekswesen beimessen, wenn man einen Blick auf das Budget wirft, das 
die Abteilung des Volkskommissariats für „Volksaufklärung außerhalb der Schule“ 
aufgestellt hat. Bei einem Etat für 12 Gouvernements mit zusammen 35 Millionen 


Die Menschewiki | 653 


wird ein Drittel der ganzen Summe für Bibliotheken und Leere- 
stuben verwendet und der nächstfolgende Rechnungsposten: „Schulen und Kurse 
für Erwachsene betrug nur ca. 8,6 Prozent. l 

Der unerhörte Bedarf an neuen Büchern, den die erwähnte Entwicklung 
notwendig machte, sollte zum großen Teil durch eigne Verlagstätigkeit des 
Staates gedeckt werden. Bereits im Anfang des Jahres 1918 wurde eine Herausgabe 
der russischen Klassiker beschlossen; denen auch neuere Autoren wie L. Tolstoi 
und Tschechow zugerechnet werden; weiterhin Geschichts-, sozialpolitische 
und pädagogische Werke und eine Reihe der bedeutenderen ausländischen schönen 
Literatur — alles in billigen Auflagen. — Jedenfalls führte dieser Beschluß im 
ersten Halbjahr 1919 zu dem beabsichtigten Resultat, eine große Zahl wertvoller 
Werke war herausgekommen und andre wurden als in Vorbereitung oder im Druck 
angekündigt. Die angegebenen Preise sind sehr niedrig; aber da man mit Kampf- 
(Atitations-) Auflagen rechnete, meint man nicht allein die Ausgaben zu decken, 
sondern vielleicht schließlich noch etwas Überschuß zu erhalten. — Hinsichtlich 
der Grundsätze über die Anschaffung der Bücher usw. mag man erstaunt sein über 
die Duldsamkeit, die die Bolschewikı beweisen: Schriften, die heftiger 
Ausfälle gegen die Regierung voll sind, erhalten nicht allein die Möglichkeit gedruckt 
zu werden, sondern werden sogar in einem offiziellen Regierungsorgan empfohlen, 
allerdings mit gewissen Vorbehalten. Die Regierenden sehen offenbar diese Art 
Opposition als ungefährlich an, und legen das Hauptgewicht auf sach!’ he Aufgaben. 
— Doch ist ein Bestreben zu spüren, sich von den bürgerlichen Sachverständigen 
unabhängig zu machen oder sie unter eine entsprechende Kontrolle zu stellen; dies 
tritt namentlich hervor bei dem Ausschuß zur Organisation des Bibliothekswesens 
der nach der Julikonferenz (1919) zustande kam. 


DIE MENSCHEWIKI 


Die nachfolgende Darstellung ist aus dem Kopenhagener 
linkssozialistischen Tageblatt , Arbejdet“ entnommen und gibt 
den Moskauer Bericht eines norwegischen Sozialisten wieder. 


Moskau, im April 1920. 

a BE d Ich habe nun vier von den leitenden Männern der Menschewikı 
interviewt; alle diese vier waren grunduneinig in den allermeisten Fragen. Das 
überraschte mich nicht wenig. Ich hatte nicht geglaubt, daß die Übereinstimmung 
zwischen den Menschewiki und unserem eigenen Zuhause in dem Grade schlagend sei. 

Der erste der Menschewiki, mit dem ich sprach, war der Sekretär des Buch- 
drucker-Verbandes in Moskau, Buksin, einer der 38 Menschewikivertreter auf 
dem Gewerksthaftskongreß. Er verbreitete sich in den banalsten Gemeinplätzen 
über Demokratie“, Bolschewismus sei Staatskapitalismus, nichts anderes und würde 
von den Bauern vernichtet werden. Die soziale Revolution stehe in Rußland vor 


654 Die Menschewikı 


— — —— —— 


der Türe, was bisher geschehen sei, hätte mit Revolution nichts zu tun. Buksin 
war Gegner sowohl des Rätesystems wie der Diktatur des Proletariats. 

Während ich noch mit Buksin sprach, kam ein anderer von den 38 zu uns, 
Stulman. Er war sehr bald uneinig mit Buksin, Stulman war für das Sowjet- 
System, solange es der Revolution half, war aber gleichzeitig absolut gegen die 
Diktatur. Die könne in andern Ländern richtig sein, Deutschland, England, Amerika, 
— meinte er — passe aber nicht für Rußland, dessen Bevölkerungsmehrzahl Bauern 
seien. (In Westeuropa sagen die Menschewiki genau das Gegenteil, dachte ich; da 
sagen sie, daß die Diktatur wohl für Rußland passen möge, aber in Deutschland 
England, Amerika ginge das nicht.) 

Am nächsten Tage hatte ich übrigens ein Zusammentreffen mit den Mensche- 
wiki in ihrem Hauptquartier. Dort sollte ich autoritativere Aufschlüsse erhalten. 

Der Hauptsitz der Menschewiki ist ein Haus an einer der belebtesten Straßen 
Moskaus, Mjassnizkaja 31. Das ganze Haus gehört den Menschéwiki. Hier sind 
ihre Klubräume, ihre Versammlungssäle, ihre Sekretariats. Ich ging durch die 
Stockwerke und sah mich um: alle Türen standen offen. In der dritten Etage 
trat ich in ein Entré, wo Speisen von einem Tisch aus verteilt wurden. Durch 
die offene Tür sah ich in einen großen Versammlungsraum hinein, 30—40 Menschen 
saßen auf Bänken, einer hielt einen Vortrag. Darnach begann eine eifrige Diskussion: 
Ich blieb stehn und hörte zu. Niemand fragte mich, was ıch da zu tun habe oder 
wünsche. „Die Menschewiki sind augenscheinlich nicht ängstlich vor. Spionen“ 
dachte ich. „Es kann also nicht gar so schrecklich um die Rede- und N 
lungsfreiheit in Sowjet-Rußland stehn.“ 

Nuw schließlich ergriff ich selber die Initiative und fragte nach dem bekanntesten 
Menschewistenführer, Martow. Er wurde hereingerufen. Er ist ein freundlicher 
Mann zwischen 50 und 60. Auch die Bolschewikı rühmen ıhn wegen seines vor- 
nehmen Charakters: aber er steht der Arbeiterklasse zu fern, um sie ganz verstehen 
und irgendwelchen Einfluß auf sie gewinnen zu können. Mein Gespräch mit ihm 
war deshalb nur kurz. Er eilte und überließ mich deshalb dem andern führenden 
Theoretiker der Menschewiki, Ossip Germanski. l 

Zusammen mit Martow und Abramowitsch bildet Germanski die Majorität 
im Zentralkomitee der Menschewiki (der „Allruss. Sozialdemokratischen Arbeiter- 
partei“), die Minderheit, welche in scharfer Opposition zu ihr steht, sind Kolo- 
kolnikow und Jerochowo. Ein dritter führender Oppositionsmann, Po- 
tresow, ist kürzlich aus der Partei ausgeschieden. Alle diese Menschewikiführer 
sind ‚Intellektuelle, keiner davon gehört zur Arbeiterklasse. Germanski begann zu 
sprechen und ich merkte bald, daß er sehr gern sprach. Einige der Anwesenden 
wollten auch etwas sagen, aber G. ließ sich nicht unterbrechen. Schließlich 
blieb nur ein junger Mann übrig, er kannte G., deshalb wartete er demütig und 
bat, mich sprechen zu dürfen, wenn C. fertig sei. — „Wir, als Majonität im Zentral- 
komitee“, erklärte C. „haben prinzipiell nichts gegen die proletarische Diktatur ein- 
zuwenden. Uneins sind wir mit den Bolschewiki nur in der Auffastung der Dik- 
tatur. Es ist im Prinzip kein Gegensatz zwischen Demokratie und Diktatur. Wir 
sind aber gegen die jetzige Diktatur, die eine Minderheitsdiktatur ist. Die Oktober- 


Franz Schulz / Kunst, Bürger, Staat 655 


revolution war nur eine Teil der Diktatur der Arbeiterklasse. Wir erkennen übrigens 
die Revolution als eine historische Erscheinung an, wir erkennen deshalb auch 
das Sowjet-System an. Bereits vor dem Kriege und der Revolution 
war ja in Wirklichkeit der Parlamentarismus erledigt als 
Verfassungssystem. Im Verfassungskampf ist im Ganzen kein Unter- 
schied zwischen den Menscheviki und Bolschewiki hin- 
sichtlich des Ziels. . Auch: die Bolschewiki wollen ja, wenn die Zeit kommt, 
zur allgemeinen Wahl übergehen und für uns ist das keine grundsätzliche 
Frage, ob diese nach einem geographischen System oder nach dem Produktions- 
system sich vollziehen soll. 


KUNST. BÜRGER. STAAT 
VON FRANZ SCHULZ 


L 

Es geschah am 23. Mai 1920, mehr als 18 Monate nach 
dem ersten Tage deutscher Revolution. 

Der Reichspräsident Fritz Ebert, müde die Hand noch 
vom Schreiben einer Depesche, welche die Leibesübungen 
als wichtig zur Ertüchtigung der Jugend dokumentiert, — 
müde noch vom Anlegen tadelloser Bürgerkleidung. wie sie 
sich für den Repraesentator Germaniae ziemt, müde noch 
von all den Regierungsgeschäften und Erfordernissen, als 
da sind: das Bestätigen von Todesurteilen und das Binden 
eines solid-eleganten Seidenschlipses. — wie gesagt: müde 
noch von alledem und doch elastisch und sichtlich heiteren 
Gemüts, eröffnet unser Landesvater die große Kunstausstellung 
am Lehrter Bahnhof, die zwar nichts zur Ertüchtigung, 
manches aber zur Bildung des deutschen Volkes beitragen 
wird. Von sachkundigen Führern empfangen und geleitet 
besichtigt der Landesvater den rechten — konservativen — 
Flügel und freut sich der sonnigen Landschaften, sauber 
temalten Bildnisse und rosigen Frauenpopos. Dieweil im 
Ruhrgebiet das bestätigte Todesurteil vollstreckt wird, geht 


656 Franz Schulz 


der Reichspräsident aus den Händen des Im- in die der 
Expressionisten über, der ihn mit ehrerbietigem Lächeln und 
freundlichen Bücklingen vor die Parade junger, radikaler., 
revolutionärer Kunst führt. Doch der Vielgeprüfte 
verliert die Fassung nicht und dieweil im Ruhrgebiet irgendwo 
das Kommando »Feuer« ertönt, sucht er auch der radikalen 
revolutionären Kunst gerecht zu werden. Immerhin: ver- 
haltenes Lachen erschüftert die elegante Weste des Landes- 
vaters und das Gerechtwerden wird ihm offenbar nicht 
leicht. Der führende Expressionistenführer expliziert devot, 
als häfte er es mit einem mäcenatischen Bierbrauer zu tun, 
die Schar der kleinen Expressionisten horcht gespannt 
Und dieweil im Ruhrgebiet der Körper eines Arbeiters 
dumpf zu Boden stürzt. wird der jovial lächelnde Landes- 
vater. um den nun friedlich sowohl Ex- als auch 
Impressionisten sich drängen. photographiert. 
II. 

Solange Kunstwerke nicht imstande sind, vor den Blicken 
eines Kaisers oder Reichspräsidenten sich um- und ihm 
die ` Hinterseite zuzukehren, solange ist es Pflicht aller 
Künstler, dies bedauerliche Unvermögen ihrer Werke durch 
krasses Sichtbarmachen eigener Mifachtung zu ersetzen. Und 
solange ein Mitglied einer Künstlergruppe vor Fritz Ebert, 
dem Bestätiger von Todesurteilen und sozialistischen Barden 
der Seeschlacht am Skaggerak, solange auch nur einer aus 
der Gruppe vor dieser Personifizierung bourgeoiser Indolenz 
katzbuckelt, solange hat die Künstlervereinigung verdammt 
wenig Recht, sich radıkal oder gar revolutionär zu nennen, 
— solange unterscheidet sie sich in nichts Wesentlichem 
von der Gartenlaube- Gilde. —— — — Bis zum 23. Mai 
wußte ich nicht, dal dies erst gesagt werden muß, an diesem 
Tage wurde mit letzter Klarheit die Schande der deutschen 
Kunst offenbar. 


Kunst, Bürger, Staat: F 657 


IIL 


Wem das Kunstproblem nicht mit den Worten »heiligste 
Güter. dogmatisiert und also erledigt scheint, der wird das 
Wesen staatlicher Kunstfürsorge schwer erklären können. 
Der ökonomisch vernünftige Produktionsstaat hat als solcher 
sehr wenig Interesse an der Kunst. Sein Ziel ist rationelle 
Produktion, rationelle Verteilung, rationeller Verbrauch. 
Kunst ist unrationėlle Produktion (Verschwendung von 
Arbeit und Material), Verteilung und Verbrauch sind 
zufällig und wirtschaftlich sinnlos. Der autokratische Un- 
vernunftstaat wiederum ist höchstens an der Kunst der 
Siegesalleen interessiert, weil jede andere Kunst den Keim 
zur Anarchie in sich trägt: Sie erzeugt Skepsis gegen die 
Tradition und bildet Menschen die, außerhalb des büro- 
kratischen Betriebes stehend, den Respekt vor dem un- 
wirschen Schalterbeamten verlieren, dem Wahrzeichen und 
populärsten Repräsentanten des autokratischen Staates. Die 
staatliche Kunstpflege, anders nicht erklärbar,. muß demnach 
als Atavismus erscheinen. rudimentäres Überbleibsel des 
katholischen Staates, der, auf der Kirche und letzten Endes 
nur auf ihr basierend, der religiösen Kunst bedurfte. um 
seine Symbole zu schaffen. Seitdem aber der katholische 
Staat durch die Reformation und ihre Folgen verneint und 
zertrümmert, durch den nationalen oder Wirtschaftsstaat 
abgelöst wurde, —, vollends, seit die Kunst unkirchlich 
geworden ist. hat die staatliche Kunstfürsprge ihren Sinn 
verloren. — Und das Wunderbare ist, daß der Atavismus 
als Erscheinung nicht etwa allmählich erlischt, sondern 
immer stärker wird. 

IV. 
Dieses seltsame Phänomen scheint mir folgendermaßen 


begründet: Wir leben im Kulminationspunkt des bürgerlichen 
Zeitalter. Der Bürger, der gestern noch seine Position sich 


658 Franz Schulz 


erkämpfen mußte, der heute auf dem Gipfel seiner Macht 
steht und morgen abstürzen wird, ist kulturbesessen aus 
leidenschaftlichem Erhaltungstrieb und kluger Berechnung. 
Noch vor seinem Niedergange, den der Schlaue ja fürchtet, 
rafft er an Kultur zusammen, wo und wie er sie bekom- 
men kann: einerseits, um mit dem Verdienst um die »heiligsten 
Güter · seine Existenzberechtigung zu erweisen. — ander- 
seits, um durch das Bewußtsein dieses Verdienstes die vor- 
laute Stimme der Minderwertigkeit im eigenen machtlüsternen 
Hirn schweigen zu machen. 

Darum wahrt der Bürger seine »heiligsten Güter., hat 
seinen Goethe und seinen Ompteda im — mehr oder minder 
entworfenen — Bücherschrank. seine Böcklins und seine 
Pechsteins an der Wand und es kränkt ihn die Verfilmung 
von Hebbel beinahe ebenso sehr, wie das Steigen der 
deutschen Valuta, das die Rentabilität des Exportgeschäfts 
bedroht. Dazu kommt noch, daß deutsche Kultur ihn beste 
Reklame für deutschen Handel dünkt und Hölderlin geeig- 
net zum Schriftmacher für Mannesmann und Salamander: 
(die Expensen für diese Kultur kann der Kaufmann im 
Regiekonto der Firma buchen). 

V. 

Je nach dem Grade seines Vermögens und seiner Frei- 
giebigkeit kommandiert der Bürger den unbekannten billigen 
oder den berühmten teuren Künstler, nach dem Grade seines 
Snobismus die akademische oder die radikale Kunst: und 
er kommandiert sie, wo die dicke Importe nicht mehr 
genügt, um ihm Haltung und Sicherheit, Stafllichkeit und 
Ansehn zu geben. Die Staatsmaschine aber, Vasall dieses 
Bürgers, wenn sie Monarchie, sein Sklave, wenn sie Repu- 
blib ist. wird zur Kunstförderung kommandiert und seinem 
Kommando folgend mußte am 23. Mei der Reichspräsident 
Fritz Ebert nach sorgfältiger Toileſte den Im- und Ex- 
pressionisten freundliche Gesichter machen. 


Kunst Bürger, Staat 659 


Mit gütigem Vaterblick konzediert der Bürger dem 
Künstler, was er sonst keinem verzeiht: sich von ihm zu 
unterscheiden durch langes Haar und großen Schlips, mit 
einer Frau zu leben, ohne verheiratet zu sein, laut über 
Dinge zu sprechen, von denen der Bürger nur flüstert: — 
und während der Künstler diese Freiheiten benutzt, um 
sich als Genie zu dokumentieren, reibt in einsamer Kammer 
der Bürger seine Hände vor Vergnügen darüber, daß der 
Dumme des gelben Flecks sich freut und rühmt, der ihn 
zum Schwindler, Dupe, Scharlatan des gutsituierten Publi- 
kums, bestenfalls zum unverständigen Kinde stempelt. 

Das eben ist dıe Schande und Tragödıe un- 
serer Kunst: Der Künstler läßt sich vom Bürger über- 
tölpeln und glaubt nicht nur, daß er ein Repräsentant des 
Geistes, sondern auch, daß er ein Repräsentant jener Ge- 
sellschaft ist, mit der der Geist seit eh und je auf Tod 
und Leben kämpft. 

Der Bürger läßt ihm diesen Glauben, — mit dem Vor- 
behalt, daß er selbst nicht mitglauben muß und die Genug- 
tuung des gelungenen Gaunerstreichs macht seine Toleranz 
nie geahnte Dimensionen erreichen. Er gestaftet dem Künstler 
sogar, Revolutionär zu sein, — solange die Revolution auf 
Kunst und Innenleben sich beschränkt und mit der Politik 
nichts zu tun hat. Für diesen gefährlichen Fall allerdings 
sind Rückenschüsse behelmter Lakaien vorgesehn. 

Weil aber der Künstler die ihm vom Bürger diktierte 
und zugewiesene Ausnahmeposition akzeptiert, darum klingen 
seine Empörungsschreie meist so merkwürdig blechern und 
sine Worte wie ängstlich bösartiger Dienstbotenklatsch : 
darum gelangt jene Kunst, die sich stolz revolutionär nennt, 
nicht über die revolutionäre Geste hinaus: darum bleibt sie 
esoterisch, Eigentum des gebildeten Bürgers und dringt ın 
das Haus des Arbeiters ebenso selten wie an sein Herz: 
darum liegt die tiefe Kluft zwischen den Proletariern und 


650 Maxim Gorki 


— — OTSE — — 


Kurz und gut: die Intellektuellen der ganzen Welt müssen heute diese ernst- 
hafte Frage anschneiden: werden sie auf Seiten der Völker sein, die die radikale 
Umformung der gesamten Lebensart fordern oder auf seiten des Kapitals, für das 
alte Regime? 

Möge die Rolle der russischen Intellektuellen im Laufe der beiden letzten, 
ereignisschweren Jahre lehrreich sein für die Intellektuellen Westeuropas. Wenn 
der russische Intellektuelle mehr Seelenkraft und mehr 
praktischeVoraussichtgehabt hätte, wenn er von den ersten 
Tagen der bolschewistischen Revolution an in Verbindung 
gestanden wäre mit jener Gruppe von Menschen, die, aus seinem eigenen 
Milieu hervorgegangen, kühn genug waren, sich an die Spitze der 
Arbeitermassen zu stellen und die politische Macht an sich zu reißen 
in einem durch den Zarısmus und den Krieg zugrunde gerichteten Lande, — hätte 
der Intellektuelle so gehandelt, dann hätten Industrie, Technik und 
Kultur nıcht so heftig gelitten unter dem Einbruch der entfesselten 
Leidenschaften; weniger Blut wäre geflossen; nicht so viele Fehler wären begangen 
worden; die Vemunft wäre Zügel gewesen. 


Ich will niemand verurteilen. Ich stelle nur eine unleugbare Tatsache fest: die 
Zurückhaltung gewisser Intellektuellen von dem Lauf der Revolution hatte zur Folge. 
daß die Lösung der wichtigsten Lebensfragen gleichgestellt wurde der Bedürfnis- 
befriedigung einer noch kulturlosen Masse: das sind meiner Meinung nach die 
russischen Bauern. 

Die Klasse der russischen Arbeiter, zahlenmäßig die geringste, hat eine unge- 
heure Aufgabe vor sich: hundert Millionen Bauern verschiedener Sprache und ver- 
schiedenen Ursprungs zu erziehen. Diese Masse kann in ihrem Zerstörungswerk 
eine erstaunliche Kraft entwickeln: kann sie aber mehr schaffen als Sitten, die 
durchdrungen sind von der Mentalıtät des kleinen Besitzenden? Die Frage bleibt 
unbeantwortet. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint die großkapi- 
talistische, rationell organisierte Industrie dem Handwerker und dem Intellek- 
tuellen weniger erschreckend als die Sümpfe des kleinen Besitztums, die, fremd 
und feindselig meist, höheren Kulturinteressen entgegenstehen. 

Den russischen Intellektuellen wird das Tragische ihrer Situation immer deut- 
licher bewußt. Obwohl sie schon vor der Revolution zwischen Hammer (Herrschaft) 
und Amboß (Volk) gelebt haben, werden die unumgänglichen Mißstände dieser 
Lage ihnen erst jetzt nur allzu deutlich und nur allzu schmerzlich. Doch ich 
wiederhole: sie beginnen zu begreifen, daß die Macht den intellektuellen Kräften 
gehört, denen sie selbst geistig verwandt sind; sie beginnen zu begreifen, daß vor- 
aussichtlich schon in nächster Zukunft in Rußland die vernünftige Organisation 
und der extatische Wille verschmelzen werden und daß diese beiden Kräfte geeint 
Wunder tun können. 


Das sind meiner Meinung nach die Gedanken und Fragen, die der Internationale 
Kongreß der Intellektuellen nicht übergehen kann. 

Aus der tiefen Überzeugung von der Wahrhaftigkeit der Vertreter des Intellek- 
tuellen in Westeuropa, aus dem Glauben an ihre Gewissenhaftiekeit kann ich nicht 


Wahrheit über Sowjetrufßland 651 


daran zweifeln, daß die Frage der Blockade Rußlands auf dem Kongreß zur Debatte 
stehen wird. 

Die Schändlichkeit einer Blockade, die das russische Volk dem Hungertode preis- 
gibt, die es abschneidet von der Versorgung mit Arzneimitteln usw. noch zu brand- 
marken, ist unnötig. Aber es ist vielleicht nicht unangebracht, den Mitgliedern 
des Kongresses in Erinnerung zu rufen, daß in erster Linie die Kinder unter den 
Folgen der Blockade zu leiden haben, daß aber auch die Intellektuellen, die Ge- 
lehrten, die geistigen Arbeiter in Bibliotheken und Laboratorien, — ungenügend 
ausgerüstet zum Kampf ums Leben, unbegabt ihr Brot zu gewinnen, dann unter 
den zumeist Betroffenen sind. 

Durch Hunger Kinder töten, die Zukunft eines Volkes auf diesem Wege zer- 
stören; durch Hunger seine seit lang angesammelten geistigen Kräfte lähmen — ist 
das das Ziel des aufgeklärten, kultivierten Europa? 

Diese Frage zu stellen, wird für den Kongreß der Intellektuellen eine notwendige 
Aufgabe sein. Und wir warten gespannt darauf, was die Regierungen der Länder 
— Frankreich, England usw. — die sich als „Herde der Kultur und Zivilisation“ 
betrachten, antworten werden. (Uebersetzt von L. S.) 


WAHRHEIT ÜBER SOWJETRUSSLAND 


DAS BIBLIOTHEKSWESEN 


In dem offiziellen Organ der Schwedischen Biblistheks- 
Vereinigung, „Bibliotheksbladet”, findet sich von dem 
Leiter der „Schwedischen Königlichen Bibliothek“, Arne 
Holenberg. der folgende Aufsatz, welcher in seinem 
Material zum Teil neu, wertvoll vor allem durch das Lob 
ist, das ein Bürgerlicher einer bolschewistischen Methode 
widmet. 

.. . . Daß die Kerenski-Regierung den Bestrebungen zur Entwicklung des 
Büchereiwesens wohlwollend gegenüberstand, darf daraus geschlossen werden, daß 
ein Kursus darüber vom 26. April bis 24. Mai, 1917 in Moskau abgehalten wurde. 
Dieser Kursus wies ein recht mannigfaltiges Programm auf: gab eine Übersicht über 
Literatur- und Bibliothekskunde, über technische Fragen betr. Katalogisierung, 
Fächereinteilung usw. — Doch ist es kaum glaubhaft, daß die schwache provi- 
sorische Regierung sehr durchgreifende Maßregeln zur Reform der Bibliotheks- 
angelegenheiten hätte ergreifen können; die Bolschewiki jedoch haben, scheint 
es, eine großartige Aktıvität in dieser Hinsicht entwickelt. — Bei der 
„Abteilung für Volksaufklärung außerhalb der Schule” des Volksbildungskommissariats 
wurde eine besondere „Bücherei-Abteilung” eingerichtet, deren erste Aufgabe es 

12 


66 _Meinrich Vogeler 
den Künstlern, die ihre Mission versäumen: darum ist das 
meiste unserer Kunst — all ihren Qualitäten und revolutio- 
nären Manifesten zum Trotz — nur ein Schmücke-dein- 
Heim des Snobs: darum wird die große soziale Welle diese 
Kunst zerstören und über sie hinweggehn und darum wird 
eine gefährliche Leere entstehen nach dem Untergang der 
alten Bourgeois- und vor der Geburt einer neuen kommu- 
nistischen Kultur, — Schuld der Künstler, denen Kraft und 
Mut zu der großen Empörung fehlt. 


ÜBER DIE KOMMUNISTISCHE SCHULE 
VON HEINRICH VOGELER-WORPSWEDE 


II. 

Der Mensch als Ausdruck schöpferischer Kraft. der 
Mensch als Gestalter, fähig, die Bedrängnisse des Lebens 
durch eigene Tat zu erlösen. sich selber zu befreien durch 
das Werk: das ist der grundlegende Sinn der Schule, zu 
der das jugendliche Werden der Menschheit mit rücksichts- 
loser Gewalt treibt. — Bildung und Wissen verwendeten wir, 
um Autoritäten aufzurichten und um das Volk zu dis- 
ziplinieren. um es im Glauben an andere durch alle Höllen . 
führen zu können, um das Volk arbeiten, tanzen und 
sterben lassen zu können für den Besitz, für das goldene 
Kalb. — Die neue Lebensschule will keine Zielbestimmung, 
sie ist Wandlung zur bejabenden Tat. Unser Wissen wird 
sterben müssen, so es nur äußere Form, Bildung bedeutet. 
gleich jedem Besitz, der nicht nutzbar gemacht wird für 
den Aufbau der Welt des produktiv schaffenden Menschen. 
— Heute ist in Europa der Besitz sowohl von ethischen 
(kulturellen) als auch von wirtschaftlichen Gütern. eine ideale 


Über die kommunistische Schule 3 661 


bürgerliche Konstruktion, die lediglich auf intellektuellem 
Schwindel balanciert. auf Auslandskrediten, die durch jedes 
neue Ereignis wieder schwinden. auf Schwindelnachrichten 
über Rußland, die täglich durch Tatsachen überwunden 
werden, dann auf dem Ausverkauf Deutschlands an Pro- 
duktionsmiſteln: mit dem Zusammenbrechen dieser Ideologie 
aus schwindendem Besitz, schwindender Autorität, schwin- 
dender Disziplin, bricht auch die alte Lernschule zusammen 
und die alte Hochschule, die beide ein Kaufhaus für Wissen 
und Bildung geworden waren und nur noch mit Geistes- 
gütern markteten, die einer vergehenden Welt des Scheins, 
des Ungeistes, der Ausbeutung der geistig und wirtschaftlich 
unterlegenen Schwächeren und dem Genielertum. dem 
Ästhetentum diente. 

Die neue Schule dient dem Aufbau der Eınheit: der 
klassenlosen Gesellschaft; sie kann nie eine Uniform sein, 
wie sie heute in der Einheitsschule zum Erziehen von 
willigen Werkzeugen für den Moloch Staat eingerichtet 
wird, äußere Formen der Gleichmacherei sollen ein be- 
quemes Regieren bewerkstelligen und äußere Bildung jedem 
zu tel werden. Für uns ist der stärkste Ausdruck der 
Individualität eines Menschen und die menschliche Achtung 
und Hebung der individuellen Kräfte die Basis der geistigen 
Gemeinschaft unter den Menschen. Nach dem intellektuellen 
= Schwindel der letzten Jahrzehnte, der es fertig brachte, 

Religion, Wissenschaft, Kunst und Schule mit in den 
Strudel, in den Tanz um das goldene Kalb hinabzuzichen. 
in das Chaos der Verneinung aller ethischen Werte, be- 
dürfen wir einer Lebensschule. in der wir jede Ideologie 
in uns vernichten, die wir nicht in lebendige bejahende Tat 
umsetzen können. — Es handelt sich hier um befreiende 
schöpferische Tat, um Werk, um Aufbau. Die Schule der 
vergangenen Zeit bereitete auf das Leben vor, die Arbeits- 
schule ist das Leben. 


662 Heinrich Vogeler 


Die neue Schule dient dem Aufbau der parteilosen 
klassenlosen Gesellschaft, der Einheit: Gemeinwirtschaft, der 
Einheit: Weltwirtschaft. der Einheit: Kultur — der Einheit: 
Mensch | 

Die. innige Verbindung allen Wissens mit den Bedürf- 
nissen des Lebens ıst die Grundlage unseres Schulwesens. 
Der Prüfstein, die Analyse für jeden Lehrenden und jeden 
Lernenden der Arbeitsschule ist lediglich die Tat, das Werk. 
Die Entscheidung zur Bejahung, zum produktiven Schaffen, 
zum Werk, zur Liebestat muß „von Beginn des Lebens ım 
Kinde geweckt werden. Diese Entscheidung ist nur zu er- 
reichen, wenn man sie immer wieder von den äußeren 
Dingen, von der Führerschaft. von der Autorität in die 
Seele des Kindes selbst zurücklegt. ihm immer wieder an 
Beispielen des Tat-Lebens zeigend, daß nur der Liebende 
der Entschiedene ist, der jederzeit bereit steht zur brüder- 
lichen Hilfe, zur Bejahung des Mitmenschen. Lehrende und 
Lernende seien Beispiel dieser geistigen Erkenntnis. Wie in 
jeder geistigen Gemeinschaft die Produktivität zeugend von 
einem zum anderen geht, immer aufbauend für die Einheit. . 
so müssen wir auch das Verhältnis der Kinder und der 
Erwachsenen denken. Es muß ein stetes Gleichgewicht, eine 
Erlösung, eine Reinheit durch die Tat wiederhergestellt 
werden. Wie häufig wird da das Kind die stärkste Lehr- 
kraft sein! — Liebe, die keine Tat zeugt. ist intellektueller 
Schwindel. ist jene Krankheitserscheinung, an der unser 
ganzes Volksleben und unser Verhältnis zu den übrigen 
Menschen des Weltalls im Weltkriege zusammenbrach. — 
Wer aber die Wahrheit der Liebe. die Liebestat in ihrer 
ganzen gesetzmäligen Kraft erkennt und sein Leben ihr 
widmet, gewinnt die größte Erfahrungsmöglichkeit und da- 
mit die größte Sicherheit in allem Werden der Welt, nur 
ihm steht die größte Glücksmöglichkeit auf. die schöpferische 
Go@natur, sich selber ganz zu erfassen, den Weg zum 


Über die kommunistische Schule 663 


Absoluten zu ahnen. — Das aber ist der Sinn des Lebens, 
das Glücksuchen auf dieser Welt und der Weg zur Un- 
abhängigkeit. zum Frieden. 

Die kommende Zeit wird keine Sentimentalitäten kennen, 
jedes brach liegende Kapital an Wissen und Besitz wird 
man nehmen, wenn es im Getriebe des lebendigen Werdens 
nicht zerbricht, jedes Hamstern von Wissen zu spekulativen 
Zwecken (Bildung) wird zugrunde gehen und den Besitzenden, 
den Wissenden mit Resignation belasten und zur Untat 
treiben. 

Es ist die Aufgabe der neuen, der kommenden Schule 
an keiner Stelle einen intellektuellen Schwindel aufkommen 
zu lassen. — Da ist der erste Weg: Aufhebung jeder 
Autorität: an ihrer Stelle steht das Beispiel, die schöpferische 
Tat, die jedem dient. Damit beginnt aber auch schon sofort 
der Aufbau der neuen Welt der gegenseitigen Hilfe, der 
Bejahung meines Mitmenschen. — — Wir verlassen jene 
Welt der Verneinung, der vom Machtwillen. Ausbeutesucht, 
Autoritätenwahn konstruierten Ideologie: der Mensch ist 
schlecht — und wenden uns an seine eigentliche, unver- 
bildete, bejahende Natur, an seinen Schöpferwillen — wir 
kommen zur höchsten Ordnung: [Intellekt und [Instinkt 
decken sich, die schöpferische Tat ist die Erlösung. ist 
die Befreiung, die Harmonie mit dem Unendlichen, mit dem 
Weltwillen: der Mensch reiht sich ein in die große Ge- 
meinschaft: Natur. Sein Werk ist nicht sein Besitz, sondern 
die Form, die Auswirkung seines einfachen menschlichen 
Triebes. 

Die Zeit der kapitalistischen Klassengesellschaft ist die 
Zeit der Herrschaft des Intellektes: alles war zu konstruieren. 
zu berechnen und zu kaufen: selbst das Verhältnis der 
Menschen untereinander, wie der Völker untereinander, war 
eine mathematische Aufgabe, die ihre Faktoren in Bündnis- 
verträgen, Völkerrechten, bürgerlichen Besitzrechten, Grenz- 


664 Heinrich Vogeler / Über die kommunistische Schule 


rechten und Handelskontrakten festlegte: ein schwindelhaftes 
Gebäude des Intellektes, das den natürlichsten Faktor, die 
menschliche Seele außerhalb aller Berechnung liel. 

Nun sind sehr schnell alle diese idealen Konstruktionen 
zusammengebrochen, doch mit seltsamer Zähigkeit halten die 
Intellektuellen an allen den idealen Konstruktionen fest, die 
auf diesem schwankenden Boden wachsen: die bürgerliche 
Presse sorgt mit ihren Flunkereien für immer neue dem 
Tode geweihte Stützen, trotzdem schon die nächsten Welt- 
ereignisse den neuen Schwindel zusammenbrechen lassen. 
Der heilige Glaube an das Geld ließ selbst die Seelen- 
kämpfe unseres Volkes. das Ringen der Geistigen. der 
sozialistisch denkenden Feldgrauen als ein Resultat feind- 
licher Gelder erscheinen in den Augen jener Gläubiger 
des Mammons, deren Geldseelen keine andere bewegende 
Kraft der Welt mehr anerkannten. Blind vertrauend auf 
alle äußeren Faktoren hielt der deutsche Generalstäbler, jener 
ausgeprägte Typ versklavter Abhängigkeit von äußerer Form 
und höherer, menschlicher Autorität die russische Revolution 
für ein glänzendes Resultat seiner eigenen taktischen Maß- 
nahmen. — Die völlige Verneinung alles seelischen, sein 
eigener Machtdünkel ließ ihn die Völkerpsyche garnicht 
erkennen; dies wurde selbsttätig der Untergang eines Systems, 
das sein ganzes Gebäude ımmer nur auf Konstruktionen 
des Verstandes errichtete und den Geist vergewaltigte. der 
immer um bejahenden Ausgleich mit dem All ringt. 

Alles das müssen wir erkennen, um immer wieder zu 
wissen, dal die Herrschaft des Verstandes. ohne Mitwirkung 
des Herzens den Zusammenbruch aller Menschlichkeit un- 
bedingt zufolge hat; denn erst die Einheit Intellekt und 
Instinkt, wenn beide sich ın Erkenntnis und Empfängnis 
decken und ın bejahender Tat im Werk ausleben, erzeugt 
in’ uns das Glücksgefühl der Befreiung, den Gleichklang 
mit den Ewigkeitsgesetzen der Natur. 


Fritz Schwarz / Jean Jaurès 665 


—— m nn UL nn nn nn sn 664 en 


JEAN JAURES 
VON FRITZ SCHWARZ 


Geschichte ist Wechselwirkung von Massen und Ideen. 
In der Persönlichkeit konzentriert sich die Bewußtheit der 
Zeit, die geistige Ausstrahlung des Menschheitsorganismus. 
Der Gedanke formt die Materie. der Schoß der Materie 
bringt den Gedanken zum Licht der Welt. Ohne Illusionen 
kein Vorwärts! 

Und wie im denkenden Individuum Prinzipien, Vor- 
urteile. Ideen. Anschauungen. Auffassungen. Vorstellungen. 
Meinungen miteinander im Kampf liegen und durch ihr 

erge wicht seine Richtung bestimmen. so werden die 
führenden Persönlichkeiten wieder zu Komponenten, deren 
Resultante die Geschichte der Menschheit ausmacht. Keine 
noch so bedeutende Persönlichkeit aber ist losgelöst. unab- 
hängig von der Gesellschaft. Im Gegenteil wird sie um 
so bedeutender erscheinen, um so weiter und tiefer in den 
Gang des Geschehens eingreifen, je inniger sie sich mit 
der Materie, der Natur und mit der Gesellschaft ver- 
bunden fühle. u 

Die großen Einsamen stehen unserm Herzen am näch- 
sten. Die ım All den Klang erlauschten, haben auch 
unsere heimliche Stimme gehört. Um einzudringen in die 
Wesenheit einer Epoche, um den Geist der Zeit in sich 
aufzunehmen, wird der Weg über eine starke, umfassende 
Persönlichkeit der nächste sein, denn hier offenbart sich 
am eindeutigsten Trieb | und Charakter der Massen. 

Wie aber im Individuum Entscheidendes und Wesent- 
liches getrennt sein kann, eine hartnäckige Einseitigkeit. eine 
unselige Leidenschaft zum Ausgang eines Schicksals werden 


666 Fritz Schwarz 


mag. so kann auch der Einschlag der Persönlichkeit ine 
Menschheitsbewußtsein und ihre Triebkraft innerbalb der 
Geschichte von hemmender, negierender. jedenfalls einseitiger 
Wirkung sein und unvermögend, ein vollkommenes Bild 
vom geistigen Gehalt der Zeit zu geben. 

Die erdrückende Fülle überraschender Ereignisse. die 
unerhörte Verwirrung und Erschütterung der Gegenwart 
macht das Verlangen nach Klarheit und Übersicht mit 
jedem Tage dringender. Daß unsere großen Heerführer. 
daß die Geschäftsträger der einzelnen Staatsregierungen, kurz, 
die großen Verantwortlichen des politischen Weltbetriebes 
der Zeit ihren Stempel nicht aufzudrücken vermögen, erhellt 
auf den ersten Blick. Sıe werden zur Legende, wıe dıe 
Träger der Kronen zur Legende geworden sind. Clemenceau, 
Hindenburg sind ehrwürdige alte Herren, fast schon 
so ehrwürdig wie Metternich und Gneisenau. Gerade darum, 
daß man diese historischen Großen mit einem solchen 
Aufwand von Energie, aufopfernder Hingabe, unerschüfter- 
“ licher Überzeugung. und beseelt von einem tiefen Verant- 
wortlichkeitsgefühl ihre übermenschliche Pflicht erfüllen 
sieht. gerade darum kann man nicht an sie denken. ohne 
aus tiefster Seele eine Traurigkeit. ein bifteres Gefühl 
aufsteigen zu fühlen. das grausamer quält als Haß und 
Verachtung. Daß guter Wille töten kann, daß heilige 
Überzeugung Tausende und Abertausende verbluten und 
verhungern läßt, kann man eine packendere Tragık ersinnen ? 
Nicht, daß ihnen die Idee fehlte, daß sie blinde Kraft- 
äußerungen wären wie Napoleon der Gewaltige. Sıe handeln 
im Glauben. sie leben im Pathos. Doch kann dieser 
Glaube, kann dieses Pathos wenn man näher zusieht, 
nichts anderes bedeuten als einsetzen für die Interessen- 
sphäre einer mehr oder weniger umfangreichen und wert- 
vollen Gruppe. Das aber ist das Zeichen der Zeit. ist 
ein wesentliches Merkmal der kommenden Persönlichkeit. 


Jean Jaurès 667 


daß sie sich handelnd erhebt und Führer wird der ganzen 
leidenden Menschheit. Theoretiker. Philosophen, welche die 
Menschheit in den Kreis ihrer Betrachtung zogen, hat es 
zu allen Zeiten gegeben. Wir suchen, wir rufen den 
Menschen der Tat, wir suchen den Menschen, der uns 
lehrt wie wir leben, und nicht wie wir sterben sollen. 

Es gab eine Zeitspanne, da die Augen der Welt auf 
eınen Mann gerichtet waren, der den Forderungen der 
Gegenwart wie kein anderer gerecht zu werden versprach, 
der mit der Glut der Idee die Kraft der Tat verband, 
der die Mittel in Händen hafe mit einer Weltordnung 
aufzurãumen. die für den (Organismus der Menschheit 
nıchts anderes bedeuten kann als krampfhafter Selbstmord- 
versuch. Wilson enfläuschte. Er hielt nicht. er konnte nicht 
halten, was er versprochen hafte. Sein Pathos war nicht 
Lüge, aber er war zu schwach, griff zu Kompromissen. 
wo ein scharfes Entweder-oder wenn nicht von unmiſtel- 
barer reeller. o doch von ungeheurer moralischer Wir- 
kung häfte sein können. Hatte er die Verantwortung ab- 
gelehnt. ein kurzes Wort hätte genügt. um Millionen An- 
hänger um seine Persönlichkeit sich scharen zu lassen, eine 
Revolution heraufzubeschwören, die stärker, bedeutender 
und höchstwahrscheinlich auch unblutiger gewesen wäre als 
alles. was die Geschichte gekannt hat. 

Unwiederbringlich ist diese leuchtende Gestalt dahin- 
gegangen. welche während der letzten Kriegsmonate und in 
den ersten Verhandlungswochen die Hoffnung der Gerechtig- 
keit war. Der Erlöser ist tot, der nie gelebt hat. Der 
Name Wilson hat keinen Klang mehr. 

Und wenn wir Umschau halten unter den hervorragenden 
Zeitgenossen, um Ersatz zu suchen, es findet sich niemand, 
der in so glücklicher Mischung moralische und reelle Kräfte 
zum Wohle der Menschheit entfalten könnte. 


Einer war aa, ein zu früh Dahingegangener, der am 
13 


668 Fritz Schwarz 


31. Juli 1914. am Vorabend der Weltkatastrophe. das 
Opfer patriotischen Irrsinns wurde, einer war da, der zu 
Hoffnungen von ungeheurer Tragweite berechtigte: Jean Jaurès. 

Immer wieder taucht ın den letzten Jahren der Ver- 
zweiflung die Frage auf: was häfte Jaurès dazu gesagt, 
was häfte Jaurès jetzt getan. wenn er am Leben geblieben 
wäre. Welch eine einzigartige Mischung wirksamster Gaben 
verkörperte diese selten umfassende Persönlichkeit. Man braucht 
nicht Sozialist zu sein, um diesen Sozialisten zum Freunde 
zu haben, nicht ausgesprochener Pazifist. um seine aufrichtige 
Friedensbegeisterung zu teilen. Der zielbewußte Parteipolitiker 
wächst über sich selbst hinaus, gewinnt einen Standpunkt, 
von dem aus sein kräftiger Aufruf zu Vernunft und Ge- 
rechtigkeit in alle Lager dringt. Wer Jaurès nicht liebt. 
wer diesen starken und reinen Menschen nicht liebt. ist 
der Menschheit verloren. Wenn wir eine bessere Zukunft 
zu erhoffen haben. wenn die Welt aufhören soll. ein ekel- 
haftes Schauspiel von Trug und Mord zu sein, dann müssen 
tausend. hunderttausend aufstehen und handeln wie er. Denn 
nicht an schönen Worten liel er sich genügen. Wirken 
war sein Wesen. Wirken auf einer Grundlage, die an 
wissenschaftlicher Gründlichkeit. an Lebenserfahrung und an 
Liebe zu Welt und Menschheit nichts zu wünschen übrig 
ließ. Sozialismus ist ihm mehr als Parteiprogramm oder 
Wissenschaft, Sozialismus bedeutet im letzten Grunde Ge- 
sinnung: Die Herrschaft einer Klasse ist ein Attentat auf 
die Menschheit. Der Sozialismus, welcher jede Klassen- 
herrschaft und überhaupt jeden Klassenunterschied aufheben 
wird, ist also gleichbedeutend mit der Wiederherstellung 
der Menschheit. Folglich ist es für jedermann eine Pflicht 
der Gerechtigkeit. Sozialist zu sein. 

Man glaube nur nicht. gleich einigen Sozialisten und 
Positivisten, daß es kindisch und nutzlos sei, sich auf die 
Gerechtigkeit zu berufen. daß sie ein ganz metaphysischer 


Jean Jaurès | 669 


und unendlich dehnbarer Begriff sei, und daß jede Tyrannei 
sich den Mantel nach ihrem Belieben aus diesem banalen 
Purpur zurechtgeschniften habe. Das ist keineswegs der Fall: 
ın der modernen Gesellschaft erhält das Wort Gerechtigkeit 
einen immer klareren und umfassenderen Sinn. Es besagt. 
daß ın jedem Menschen, ın jedem Individuum die Mensch- 
heit respektiert, das volle Menschentum möglichst entwickelt. 
werden muß. Es gibt aber nur da wahre Menschenwürde, 
wo Unabhängigkeit herrscht, tätiger Wille, freie und freu- 
dige Anpassung des Individuums an das Ganze. Überall 
da, wo die Menschen von der Gnade anderer abhängig 
sind, wo sie nicht aus freiem Willen an den allgemeinen 
Aufgaben mithelfen. wo das Individuum durch die Macht 
anderer, aus Gewohnheit. und nicht aus freiem Entschluß 
den Gesetzen der Gesamtheit unterworfen ist, überall da 
kann man nur von minderwertiger. verstümmelter Menschen- 
würde sprechen. Folglich wird die Menschheit durch die 
Abschaffung des Kapitalismus und die Einführung des 
Sozialismus zu ihrem Rechte kommen. 

Wie Wilson war Jaurès vom Universitätsprofessor zum 
Politiker geworden, vom Idealisten zum Vorkämpfer seiner 
eigenen Ideale. Am 3. September 1859 wurde er zu Castres 
im Languedoc geboren. einem Landstrich. der manchen be- 
rühmten Franzosen hervorgebracht hat. einen Comte. La 
Fayefte, Ingres. Gallier. Kelten. Phönizier. Iberer. Ligurier 
bilden die ursprünglichen Elemente dieser Bevölkerung und 
haben sich zu einer eigenen, reich begabten und aktiven 
Rasse entwickelt. Wie, die meisten Volksführer entstammt 
Jaurès keiner proletarischen. sondern einer kleinbürgerlichen 
Familie. Seine Angehörigen mußten hart um ihre Existenz 
ringen. Höhere Schulbildung und Studium ermöglichte dem 
auffallend begabten Jüngling ein vermögender Gönner. der 
als Schulinspektor Gelegenheit hafte. sich von dem Reich- 
tum seiner geistigen Fähigkeiten zu überzeugen. Er hat es 


670 Fritz Schwarz 


bereut. Die Ironie des Schicksals wollte es, daß der eıfrigste 
Reaktionär, der davon träumte, einen Orleans auf dem 
Throne Frankreichs zu sehen, dem bedeutendsten französischen 
Sozialisten den Weg ebnete. Unermüdliche Arbeitsfreude. 
verbunden mit seltenen Anlagen. brachte dem jungen Jaurès 
frühen Erfolg in seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Mit 
25 Jahren wurde er Professor der Philosophie an der 
Universität von Toulouse. mit 26 Jahren Mitglied „der 
französischen Kammer. Das Erstaunliche ist. daſ er die Ideen 
des Sozialismus lange vertrat. bevor er von der praktischen 
sozialistischen Bewegung. von Volksversammlungen, Gewerk- 
schaften, Streiks auch nur eine Ahnung hafte. Erst im 
Jahre 1893 wurde er Mitglied der sozialdemokratischen 
Partei. Er sagt von sich selbst: Ganz für mich hafte ich 
in den ersten Jahren meines Studiums den ganzen Sozialismus 
von Fichte bis Marx erforscht und ergründet, und ich 
wußte dabei nicht, daß es in Frankreich sozialistische Gruppen 
gab, eine regelrecht ausgebildete Propaganda. und daß man 
von Guesde bis Malon in leidenschaftlichem Parteigeist 
einander bekämpfte. Wie sollten derartig gestaltete Geister 
nicht viel vom Leben zu lernen haben, wenn sie schlieflich 
mit ihm in Berührung kommen? Es gilt nicht allein die 
zuerst empfangene Bildung. welche zu papieren und einseitig 
war, zu verbessern und zu vervollständigen; es bedarf einer 
neuen Anstrengung, um gegenüber den allzu lebhaften un- 
gewohnten Eindrücken Stellung zu nehmen und ıns Klare 
zu kommen. 

Im Jahre 1891 reicht er ın Parıs zwei Dissertationen 
ein. eine in französischer, eine in lateinischer Sprache. Die 
französische war betitelt: »Die Realität der Sinnenwelte«, die 
lateinische handelt »Von den Ursprüngen des deutschen So- 
zialismus. Die Idealisten Luther. Kant, Fichte und Hegel 
werden als Vorläufer und geistige Urheber des Sozialismus 
gewürdigt: Vor allem ergibt sich daraus deutlicher, wie 


Jean Jaurès 71 
sch die Ereignisse aus den Ideen berleiten. wie die Ge- 
schichte abhängig ıst von der Philosophie. Auf den ersten 
Blick könnte man glauben, daß der Sozialismus besonders 
in England seine Blüte entfaltet habe, da sich dort besonders 
: unverschämt die neue ökonomische Ordnung breit gemacht hat. 
welche das Geld zu ihrer ausschlieflichen Grundlage macht. 
In England war es ın jeder Beziehung leicht, sich eın Bild 
von der ökonomischen Entwicklung zu machen. Wer aber 
hat sie beobachtet und beschrieben? Es ist kein englischer 
Philosoph, es ist ein Deutscher, der sich in England aufhielt. 
Karl Marx. Hatte Marx sich nicht in die Hegelsche Dia- 
lektik hineinversenkt, er häfte nicht die ganze ökonomische 
Bewegung Englands mit dieser sozialistischen Dialektik in 
geistigen Zusammenhang bringen können. England lieferte die 
Tatsachen, aber die deutsche Philosophie hat diese Tatsachen 
gedeutet. Der Sozialismus war im deutschen Geiste lange 
vor dem anormalen Anwachsen der Schwerindustrie geboren 
und lange bevor die wesentlichen Bedingungen zum ökono- 
mischen Sozialismus in Erscheinung traten. — Kurz, um 
den deutschen Sozialismus unserer Tage zu begreifen genügt 
es nicht, ihn in der besonderen und vorübergehenden Form 
falsch auszulegen. welche ihm Bebel und andere gaben. Man 
muß seine Ursprünge zu erforschen suchen, d. h. seine 
Quellen aus Intellekt und Gewissen. Das ıst der Grund, 
weshalb ich den christlichen Sozialismus Luthers studiert 
habe, den moralischen Sozialismus. 

Jaurès ist ausgesprochener Idealist im wörtlichsten Sinne. 
Ausgehend von der Idee gelangt er zur Tat. Seine Welt- 
anschauung war geklärt. bevor er in die politische Aktion 
trat. Seine Philosophie beherrscht sein Leben. sein Leben 
ist Ausfluß seiner Philosophie. Um den Politiker und 
Sozialreformator ganz zu verstehen. muß man sich mit dem 
Philosophen vertraut gemacht haben. Neu. ursprünglich, 
eigenartig sind die Elemente seines Weltempfindens keines- 


672 I Fritz Schwarz 


—— —— —mͥ—¾ ñö n —— 


wegs. Nur darum erhalten sie eine besondere Bedeutung. weil 
sie in ihren letzten Konsequenzen einen starken Einfluß auf 
die sozialen Forderungen der Gegenwart ausüben. 

„Das tiefste und edelste Bedürfnis des 
menschlichen Geistes ıst das Bedürfnis nach 
Einheit‘, in diesen Worten offenbart sich am deut- 
lichsten Ausgang und Ziel seiner Philosophie, wie im letzten 
Grunde wohl das Wesen der Philosophie überhaupt. Gei- 
stige Kräfte allein vermögen das Beglückende dieser Ein- 
heitsemanation nicht voll zu erschöpfen. Es gehört dazu ein 
starkes Gefühl. ein intuitives Umfassen der kosmischen 
Offenbarungen. Zum Erkennen muß sich Glaube gesellen, 
zur Wissenschaft dichterisches Erfahren. Nur das Erlebnis 
zeugt Leben. Und Wissen kann vom Erleben geschieden 
sein wie Himmel und Erde. l 

Ich bins so sagt er, »mit Carlyle überzeugt, daß die 
ersten denkenden Menschen, welche in den gewaltigen Natur- 
erscheinungen selbstständige Personen erblickten, der Wahr- 
heit näher standen, als die mechanische Auffassung, die 
überall nur wenig unterschiedliche Variationen eines gleich- 
förmigen Themas sehen möchte. Es gibt im All ein dra- 
matisches Element, bestimmte Rollen sind in der Welt 
verteilt. und wenn wir die metaphysische Funktion zu be- 
stimmen suchen, welche die mannigfachen Kräfte im Sein 
erfüllen, und welche die Wissenschaft auf eine banale Ein- 
heit zurückführt, so haben wir dabei nicht im Sinne mit 
der Wissenschaft zu brechen, die im übrigen unserseits 
weder etwas zu befürchten noch etwas zu erwarten hat; 
wir beabsichtigen lediglich in unserer Vorstellung vom All 
den Sinn der Einheit und den Sinn des Lebens in Ein- 
klang zu bringen. 

Dieselbe Kraft dichterischer Intuition. welche im All 
die Einheit erlebt. erfährt sie in gleicher Weise im engen 
kosmischen Kreise der Menschheit, des Volkes, der Familie. 


Jean Jaurès 673 


der Freundschaft. Das Beglückende. im Gefühl unserer Ein- 
heit, das Beglückende im Gefühl von Mensch zu Mensch 
entspringt dem gleichzeitigen Bewußtsein unseres Losgelöstseins. 
der Eigenheit. Die Gefahr. daß der Sozialismus zu ödem 
Uniformismus entarten könnte, ist nicht vorhanden, denn 
nur einer ausgeprägten Persönlichkeit wird das Bewußtsein 
der Einheit in vollem Umfange zuteil werden können. Auf- 
gehen im All. Einswerden mit Mensch und Gesellschaft. 
bedeutet auf keinen Fall Preisgabe des Persönlichen. Ver- 
lieren seiner selbst. Man veräußert sich nicht im Verinnern. 
Je stärker man im andern lebt, desto wacher wird das 
Gefühl der Eigenheit. desto größer der Reichtum der Welt 
unseres Inneren: 

»Die Seelen stehen im Kampf mit allen gegebenen 
Kräften, mit allen ursprünglichen Gefühlen. Sie erwehren 
sich ihrer und überwinden sie, indem sie die noch dunkeln 
Elemente sich klären lassen, indem sie die widerspruchsvollen 
Elemente in Harmonien aufzulösen suchen. Ich glaube, daß 
man sich das All als eine ungeheuere Gesellschaft von 
Kräften und Seelen vorstellen könnte. Diese Kräfte, diese 
Seelen liegen ı im Kampf zwischen Gut und Böse, streben 
aus der Tiefe des Widerspruchs und Elends zur Fülle 
und Harmonie des glücklichen Lebens, ziehen Nutzen aus 
allen urewigen Elementen der Welt: Wärme. Licht. Elek- 
trizität. Schall, sie bringen sie zur Klarheit des Bewult- 
seins, sie ordnen sie in der Welt ihres Innern, die immer 
reicher wird- und immer mehr: dem All entspricht. So gibt 
es im All wie in der Gesellschaft keine Schöpfung neuer 
Ideen, keine neuen wesentlichen Beziehungen. — 

Die Einheit aber ist nichts Starres. Unbewegliches. Totes. 
Sie wird zum lebendigen Ausdruck von Selbstentfaltung und 
Freiheit. Sie wandelte sich in sich selbst. ist Schöpfung 
aus unmiftelbarster Evolution. Sie bedeutet das Prinzip des 
steten, unermüdlichen Aufbaus. im Gegensatz zur zerstö- 


674 Pnu Schwarz 


renden Macht Jualistischer Scheidung. Man mag Monismus, 
Pantheismus, Einheit sagen, im Grunde steckt ein freudiges 
bejahendes Gefühl dahinter, das Bewußtsein zu wachsen aus 
eigener Kraft, aber aus derselben Erde wie Baum, Tier 
und Mitmensch. Isolieren mag sich der Kleinmütige, Schwäch- 
liche, der immer nur fürchten muß, sein bißchen Eigenheit 
ganz zu verlieren, gewöhnlich zu werden unter den Gleichen, 
erdrückt zu werden vom frei sıch entfaltenden Nebeneinander. 

Wie im Individuum aus dem Kampf ‚widerstrebender 
Kräfte sich schließlich eine fruchtbare Harmonie, eine be- 
stimmte geistige Richtung ergibt, so sind auch die Parteien 
der Gesellschaft zur Schöpfuug, zur Evolution berufen. Der 
Vertreter der Parteien verteidigt seinen Standpunkt, nımmt 
dıe Interessen seiner Gruppen wahr. Um aber der Ver- 
wirklichung seiner Ideen Dauer zu verleihen, bedarf es noch 
einer besonderen Anstrengung. die aus der Enge in die 
Weite strebt, sich über den eigenen Standpunkt erhebend, 
lavierend, ohne seinen eigentlichen Kurs zu verlieren, nach 
einenden Elementen sucht, ım Prinzip der Einheit das letzte 
unumgängliche Mittel der Entwicklung erblickt. 

Bei Jaurès bedurfte es dieser Anstrengung kaum. Er 
war sich von vornherein bewußt, das alles, was aus 
Engherzigkeit, Mangel an Verständnis und gutem Willen, 
Überhebung und Starrsınn der Möglichkeit einer Einigung 
entgegen ist, zu verderblicher Auflösung und Vernichtung 
führen muß. Sozialismus bedeutet ihm mehr als 
Politik, wie ihm Menschheit mehr als Nation 


bedeutet. In bewultem Gegensatz stand er zu Clemenceau. 


erkannte mit aufrichtiger Trauer die erschüfternde Tragik. 
welche darin liegt, daß eine solche überragende Kraft sich 
an überlebten, unfruchtbar gewordenen Zielen in maſloser 
Energie verschwendet. 

Jaurès ist tot, Clemenceau lebt. Das Volk dee Revo- 
lutionen verleugnet im Jahre 1919 den ersten Mai. Der 


Jean Jaurös l 675 


gewaltige Politiker triumphiert über den großen Sozialisten. 
Die Zeit wird entscheiden. ob dieser Triumph von Dauer ist. 

Seit seinem Eintritt in die Kammer im Jahre 1885 
hat Jaurès eine Politik bekämpft. von deren verhängnisvollem 
Irrtum er ım Grunde seines Herzens überzeugt war. Der 
Streit. welcher sich damals wegen Tonkin und den kolo- 
nialen Fragen erhob. häfte seiner Meinung nach geschlichtet 
werden können. »Ich halte es mit für das größte Unglück, 
welches die Republik hat treffen können«, sagte er, :»daß 
dieses Vorspiel von Zank und Streit beı der Gesetzgebung 
von 1885 nicht vermieden worden ıst, und wenn es nıcht 
immerhin einigermaßen gewagt wäre von Schuld zu sprechen. 
wo es sch um die so schwierige und verwickelte Ent- 
scheidung über Wohl und Wehe der Menschen handelt, 
so möchte ich sagen. daß es der Hauptfehler im Leben 
Clemenceaus war, diesen Streit nicht verhindert zu haben. 
Man debaftierte damals im Parlament wegen der Aneignung 
kolonialen Gebietes, wie sie ın der Folge bei sämtlichen 
Großmächten zur Selbstverständlichkeit wurde. Jaurès warnte 
vor Unternehmungen, die einen Zusammenstoß der inter- 
essierten Regierungen schließlich unvermeidlich machen mußten, 
er verwarf Spekulationen, die oligarchischen Kreisen Vorschub 
leisteten und die Kraft und Einheit des Landes gefährdeten. 
Das alte Kolonialgebiet wahren, von Neueroberungen absehen, 
war sch gemäfhigter Vorschlag. Er drang nıcht durch. 
- Über Clemenceaus gegnerischen Standpunkt in dieser Zeit 
äußert er: Was die internationalen Fragen, die äußere Politik 
seit 1884 und 1885 betraf, so sucht Clemenceau, tappt . 
im Dunkel, wagt und wagt nicht. Er verallgemeinerte das 
Problem in seiner heftigen Art die Politik koloniale Er- 
oberungen zu bekämpfen und setzt sich eifrig, soweit es 
yon Frankreich abhängen konnte, für den endgültigen Frieden 


= Jede Stunde des Friedens fördert die Freiheit, jede 


676 Fritz Schwarz 


Stunde des Friedens dient der Gerechtigkeit. Die endgültige 
Revanche wird ın dem Sieg der neuen sozialen Ordnung 
bestehen.. sagt Clemenceau. Jaurès weil von vornherein, daß 
es sich hierbei um nichts anderes handelt als schöne Phrasen. 
„Das sinde, so bemerkt er, -wie es scheint entscheidende 
Worte. Die immanente Gerechtigkeit. von der Gambeſta 
sprach, verliert hier ihren geheimnisvollen Schleier. Das ist 
nicht mehr die rätselhafte Nemesis, die stumm und verhüllt 
an der Schwelle der Zukunft kauert und auf die vielleicht 
blutige Stunde der Sühne und Wiedervergeltung wartet. 
Diese immanente Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit der 
Demokratie: sie bedeutet Sicherstellung des Völkerrechts 
und des Rechtes der Individuen durch die Macht der Recht- 
lichkeit eines .dauerhaften Friedens. durch den Sieg der 
menschlichen, sozialen und internationalen Solidarität. Das 
ist nicht das Gewalt-Recht des Stärkeren. Ganz im Gegen- 
teil: es ist die endgültige, absolute Ablehnung der Gewalt 
und bewaffneten Rache, es ist die endgültige, absolute Ab- 
lehnung der militärischen Revanche, d. h. dessen, was der 
Sprachgebrauch schlechtweg unter »Revanche« versteht. Es 
ist die Konzentration aller Kräfte und Energien des fran- 
zösischen Volkes auf sein inneres Werk politischen und 
sozialen Fortschriſts. 

Warum aber -hat sich Clemenceau zwanzig Jahre 
später über ein Wort von Pressense entrüstet. das eine 
fast wörtliche Wiederholung seiner eigenen Formeln war? 
Wie kam er vor allem dazu. in der Initiative zur all- 
gemeinen gleichzeitigen Abrüstung. welche Frankreich er- 
greifen sollte. eine Selbstverleugnung. eine sträfliche Un- 
klugheit zu sehen? Behaupten, daß man den Frieden will. 
heißt zugeben. daß man bereit ist. notwendigerweise auf 
alle kriegerischen Maßnahmen zu verzichten. wenn auch 
die andern Völker gleichzeitig zu diesem Verzicht bereit 
sind. Behaupten, daß die wahre Revanche im Fortschritt 


Jean Jaurès 677 


— (on 


der Demokratie und ın der Organisation einer neuen 
sozialen Ordnung bestehe, heißt erklären. daß alles. was 
den demokratischen Fortschritt und die Entfaltung der 
sozialen Gerechtigkeit beschleunigt. auch die Stunde der 
Revanche schleunig herannahen läßt. Und wer kann in 
Abrede stellen, daß die Politik des sicheren Friedens und 
der gemeinsam verabredeten Abrüstung zur Entfaltung von 
Freiheit und Gerechtigkeit beitragen wird, ındem die 
Militärkasten, dieses Instrument der Unterdrückung, in Mi- 
kredit gebracht und die Mittel, welche der bewaffnete 
Friede verschlingt. für soziale Zwecke nutzbar gemacht 
werden? Ist es denn so sträflich. zwanzig Jahre nach 
dem Kriege eine Politik zu verfolgen, die Clemenceau 
dreizehn Jahre nach dem Zusammenbruch verfocht? Wäre 
es wirklich so unbesonnen, nachdem wir dreißig Friedens- 
jahre erfahren haben, die Friedenserklärung Clemenceaus 
für eine Möglichkeit hinzunehmen, welche er der Welt 
verkündete, als Frankreich noch unter dem unmiftelbaren 
Eindruck des Schreckensjahres stand? Und wenn es unsrer- 
seits eine idyllische Albernheit ist, »Frieden zu blöken«, 
wie Clemenceau gesagt hat. wie häften wir mit den 
Wölfen heulen können, als er selbst zwanzig Jahre vor 
uns das Signal zum Blöken gegeben hafte? Sollte es sich 
bewahrheiten. daß aller Wille vergeblich ist. wenn man 
nicht fest entschlossen ist. das Werk der Demokratie bis 
zum Sozialismus zu vertiefen und mit allen Kräften des 
internationalen Proletariats den Friedenswillen zu stützen, 
und daß der Glaube an die friedliche Wiederherstellung 
der Rechtszustände trügerisch und unsicher ist. wenn er 
eich nicht auf die Gewiſcheit der sozialistischen Evolution 
stützt ?« 

In der Lösung der sozialen Frage gipfelt nach Jaurès 
innere und auch äußere Politik. In scharfem Gegensatz 
steht diese Auffassung zur Ansicht Clemenceaus. Kämpfer 


6798 Fritz Schwarz 


— — — — — — 


sind beide. Aber während der eine nationale Interessen 
und die Interessen seiner Partei vertrift, äußere und innere 
Politik treibt, legt es dem andern vornehmlich an einem 
Standpunkt, der die gesamte Menschheit nach Möglichkeit 
zu berücksichtigen imstande ist. Denn Jaurès ist ganz und 
gar nicht einseitiger Geschäftsführer des Proletariats. Vor- 
urteile sind ihm fremd. Man beachte, wie redlich er in 
allen Kämpfen stets bemüht war, einen versöhnlichen Ton 
zu finden. Immer war seine erste Frage: wo liegt das 
Gemeinsame, wo bietet sich eine Möglichkeit. ein Einver- 
ständnis mit dem Gegner zu erzielen. um auf dieser 
Grundlage dann vorsichtig weiterzubauen. Vorbildlich war 
sein Wille zur Verständigung. Während Clemenceau 
sschreit«, „auf brausend antwortete, in jeder Geste eine ab- 
wehrende Haltung verrät. läßt Jaurès auch da. wo er 
leidenschaftlich und scharf wird, immer noch jenes Wohl- 
wollen erkennen, welches zur sachlichen Diskussion uner- 
läßlıch bleibt. 

sIch will keine Kasernen und Klöster; wie ihr sie 
vorbereitete, schreit Clemenceau. »Kasernen und Klöster.! 
spricht Jaurès, »was will er damit sagene? Und dann er- 
örtert er die Frage mit philosophischer Gelassenheit. die 
sch immer bewußt bleibt, daß Mißverständnisse die Hälfte 
alles Menschenzwistes ausmachen. Wer im Kollektivismus 
nichts anderes sieht als Zwangsanstalten wie Kasernen und 
Klöster, der anerkennt in seinen Augen im Privatbesitz 
und Kapitalismus die Bedingungen zur Freiheit. Auf diese 
Weise wird die Menschheit vor. eine geradezu grausame 
Alternative gestellt. Auf der einen Seite droht die Knecht- 
schaft der Proletarier, auf der andern die Knechtschaft 
durch Sozialismus. Es heißt entweder selbst Kerkermeister 
werden oder die Kerkermeister hinab ins gemeinsame Ge- 
fängnis zerren. Der Kampf der Klassen wird zum un- 
überbrückbaren Abgrund zweier Weltanschauungen. Nach 


Jean Jaurès 679 


Clemenceau ist der Bildungsstand der Arbeiter in den 
großen Städten und auf dem Lande derart, dał eine 
politische Bevormundung seitens einer aufgeklärten, gebildeten 
Gruppe erforderlich wird. Diese erlesene Gruppe, welche 
jeder Definition entbehrt, wird für die Aufwärtsentwicklung 
der Demoktatie verantwortlich gemacht. Mit seinen eigenen 
Worten: »Die Kunst der Politik ın einer Demokratie 
besteht. darin, die Emanzipation der überlegenen Gruppe in 
den Dienst der Emanzipation der anderen, untergeordneten 
Gruppe zu stellen. Der Grad der Bildung spricht das 
entscheidende Wort. Allerdings, fügt er dann beiläufig 
ein. sıch will zugeben. daſ hinter dem politischen Kampf 
der Kampf der Interessen steht. Ich gestehe sogar zu. 
wenn Sie wollen. daß es recht gesehen überhaupt nur 
Interessenkämpfe gibt.. Hier liegt der kapitale Unterschied 
zwischen der zeitgemäßen Forderung des großzügigen Sozi- 
alisten und der altväterlichen Erhabenheit des selbstgerechten 
Politikers. Clemenceau ıst als Erlesener der erlesenen Gruppe 
bereit, der ungebildeten Masse Aufklärung zukommen 
zu lassen, er fühlt sich sogar verpflichtet dazu, aber er 
benimmt sich dabei wie ein herrschsüchtiger Lehrer gegen- 
über seinen Schuljungen. Sein . Mißtrauen läßt ihn den 
Rohrstock nicht aus der Hand legen. Jaurès trit für die 
Bildung des Volkes mit nicht geringerem Eifer ein, lehnt 
es aber entschieden ab. sich die siliche Bevormundung 
seiner Mitmenschen angelegen sein zu lassen. Bildung ist 
Freiheit. und Freiheit verschenkt sich nicht. Den Weg 
bahnen. mit gutem Beispiel vorangehen. reformieren und 
nieht herrschen ist seine Aufgabe. Denn welches ist im 
Grunde die aufgeklärte Gruppe, die sich berufen wähnt. 
die Erziehung des Menschengeschlechtes zu übernehmen? 
Das ist die Elite der Bürger und Kapitalisten. Die ist 
emanzipiert. mehr als das, sie ist souverän. Ihren Händen 
soll das Schicksal des Proletariats anvertraut werden, sie 


680 Fritz Schwarz 


sollen die Unbemittelten lehren: wie mans macht. Jeden- 
falls wäre das noch das Beste, was dabei herauskommen 
könnte. Nein. Jaurès will nicht gnädig sein und die 
armen Teufel lehren. wie se im Kampf ums Dasein 
am besten ihre Interessen zu wahren haben, wie. sie es 
anzustellen haben, daß sie über kurz oder lang aus ge- 
schundenen Schülern zu schindenden Lehrern werden. aus 
armseligen Proletariern zu Mitgliedern der - erleuchteten 
Gruppe · „Die Klasse der Proletarier«, sagt er. ist nicht 
gewillt. die Menschheit -dem Eigentum unterzuordnen. im 
Gegenteil, sie unterstellt das Eigentum der Menschheit. Sie 
will, daß die Menschheit aufhöre, Instrument des Eigen- 
tums zu sein, sie will das Eigentum zum Instrument der 
Menschheit machen. Sie bereitet auf diese Weise unbe- 
stritten eine soziale Ordnung vor. für die es überhaupt 
keine Klassen mehr gibt.. — Jaurès ist weniger entrüstet 
als aufrichtig betrübt über die Kurzsichtigkeit Clemenceaus. 
Er erblickt eine verhängnisvolle Tragik in der Art. wie 
eich die gewaltige Kraft des rastlosen Politikers auf Irr- 
wegen vergebens verschleudert: » Wie schade, daß Clemenceau- 
selbst nicht alle Folgerungen aus den Prämissen zieht. 
welche in seinen Worten dunkel enthalten sind. Diese 
Konfusion der Gedanken, diese Unsicherheit einer Idee, 
welche dıe Zukunft ım Auge behält, sich aber selbst alle 
Türen verschließt, gibt den Ausführungen Clemenceaus.. ıch 
weill nicht wie, etwas Beschränktes das fast schmerzhaft 
berührt. Und das kommt daher, weil er sich von der 
wahren Natur des Klassenkampfs immer noch keine rechte 
Vorstellung machen kann, weil er ein blindes Durcheinander 
von Miftrauen und Haß darin erblickt, das vom Cäsarentum 
entfesselt und entfacht wird. 

Die Ablehnung der bürgerlichen Tendenzen vollsieht 
sch bei Jaurès mit bewundernswerter Objektivität. Der 


Historiker. welcher die erste Geschichte des Sozialismus 


Jean Jaurès 681 


schrieb, ist weit davon entfernt, sich einseitigen Wider- 
spruch zum Grundsatz zu machen. Der Kapitalismus ist 
ihm eine entwicklungsgeschichtliche Notwendigkeit, welche 
in ihrem Ursprung der Größe durchaus. nicht entbehrt. 
Ohne religiösen Geist, ohne sittliche Kräfte wäre die er- 
staunliche Entwicklung der Bourgeoisie schlechthin unmöglich 
gewesen. 

»Die Bourgeoisie wäre nicht so groß geworden, wie 
sie ist. sie hatte die weite moderne Welt mit ihren un- 
begrenzten Möglichkeiten nicht schaffen können, wenn sie 
geglaubt hätte. daß sie lediglich ein elendes Ausbeuter- 
gewerbe betreibe. wenn sie nicht zum mindesten edle 
Illusionen von hehrer Gesinnung und Begeisterung für den 
Fortschritt der Menschheit besessen hätte. Karl Marx 
verfuhr in seiner Beurteilung kapitalistischer Zustände zu 
einseitig. Er verleugnete die fruchtbaren Kräfte, wollte 
nur die Schaftenseiten sehen. Jaurès fährt fort: 

„Es wäre ein großes und verlockendes Problem — 
weit verwickelter und viel menschlicher als dasjenige, wo- 
mit sich Marx beschäftigt hat — zu untersuchen, wie 
diese Art moralischer Gewißheit, diese Sicherheit des Ge- 
wissens sich bei der Bourgeoisie anbequemen konnte an 
all die gewalttätigen und trügerischen Praktiken. an die 
Grausamkeiten in den Kolonien. an die Gaunereien im 
Handel, an die ganze Mannigfaltigkeit der Ausbeutungs- 
formen. welche den ersten Perioden des Kapitalismus = 
seinem Erscheinen und seinem Wachstum — das Gepräge 
gaben. Dieses Problem geht über meine Kraft: man mülte 
die zahllosen Elemente einer moralphilosophischen Unter- 
suchung darüber aus den Dokumenten aller Art, dıe das 
XVI. XVII. und XVIIL Jahrhundert uns hinterlassen 
bat. hervorholen. Und nur eine starke und divinatorische 
Begabung könnte bis zum Grunde des Problems vor- 
dringen. Aber gewiß ist, daß die Bourgeoisie nicht edie 


682 Fritz Schwarz 


Kraft gehabt häfte, die wirtschaftliche Umwälzung zu 
unternehmen und über alle furchtbaren Schwierigkeiten 
hinweg zu vollenden. wenn sie mit einer verkümmerten, 
schmutzigen Seele begonnen, wenn sie nicht den Glauben 
an den endgültigen Segen ihres Werkes für die ganze 
Masse der Menschen gehabt hätte. in denen sie, Christus 
und der Vernunft zufolge, ihre Brüder erkennen müßte. 
Es wäre kindisch, in der Kühnheit der religiösen Revolution. 
in der die Bourgeoisie soweit ging. nur eine macchiavellistische 
kaufmännische Berechnung zu erblicken. 

Die schöpferische Kraft des Kapitalismus läßt sich nicht 
leugnen. Es wäre verkehrt, rücksichtslos zu verdammen und 
Elemente des Aufbaus vernichten zu wollen, die für die 
Aufwärtsentwicklung der menschlichen Gesellschaft unerläß- 
lich sind. Die politische Freiheit ist dem Proletariat gegeben. 
Jetzt muß es daran gehen, sıch seine wirtschaftliche Frei- 
heit zu sichern. Der mittelalterliche Feudalismus wurde ab- 
gelöst vom bürgerlichen System. Durch den Übergang der 
Produktionsmiſtel in den Besitz der Gesellschaft vollzieht 
sich die Schöpfung des neuen "Systems. das mit Klassen- 
vorrechten aufräumt und in sozialer Gerechtigkeit der 
menschlichen Gesellschaft dient. 

In der Methode. diesem neuen System zum Sieg zu 
verhelfen. triſt Jaurès in ausgesprochenen Gegensatz zu 
einem anderen Politiker, Jules Guesde. Die Kluft, welche 
Guesde von der Bourgeoisie trennt. ist unüberbrückbar 
Ja. er legt sogar den größten Wert darauf, daß sie unüberbrückbar. 
bliebe. Reformen, welche in friedfertiger Vereinbarung herbei- 
geführt werden, gelten ihm nichts sind im Gegenteil 
Kompromisse, die im letzten Grunde für das Proletariat 
von nur schädigendem Einfluß sein können. Unversöhnlich 
steht er der kapitalistischen Staatsordnung gegenüber. Ge- 
walt muß Recht schaffen. Grau in grau wird die alte 
Ordnung in bewußter Entstellung und Übertreibung dar- 


Jean Jaurès 683 


gestellt. Legitime Wege. Wirkung im Parlament und in 
der Regierung werden verworfen oder sind doch nur von 
untergeordneter Bedeutung: 

„Um ärztlichen Beistand seitens der Kommunen handelt 
es mch? Gehen Sie nur fröhlichen Herzens hin, meine 
Herren Verwundeten. Dank dem »Progressiste von Lyon 
werden die Steuerpflichtigen die Kosten zahlen. Sie 
sind es die Euren Opfern umsonst Ärzte und Medi- 
kamente liefern werden .. und wer weiß? vielleicht auch 
einen Sarg, wenn es nötig ist. Der Arbeiterdeputierte von 
Lyon ist ein Possenreißer.« 

Guesde bleibt nicht immer konsequent: Jaurès hat ihm 
seine Widersprüche deutlich vor Augen gehalten, aber in 
der Theorie und auch ın den Hauptrichtlinien seines 
praktischen Verhaltens behandelt er Evolution und Reformen 
als Blendwerk und Schwindel, vor dem das Proletariat zu 
warnen ist. Nicht durch gerechte Teilnahme der Proletarier 
an den politischen Befugnissen. sondern durch ihre unbe- 
schränkte Vorherrschaft ist die neue Ordnung denkbar. und 
herbeizuführen ist dieses Ubergewicht nur auf gewaltsamem 
Wege. Bietet sich für bürgerliche und sozialistische Gruppen 
eine Gelegenheit zu gemeinsamem Handeln. zu gemeinsamer 
Förderung humaner Interessen. Guesde zieht die Hand zu- 
rück, verschließt die Augen, ist vor allem darauf bedacht. 
die Gegensätze immer gewaltiger anwachsen zu lassen. um 
auf diese Weise schließlich in unvermeidlichem Kampf auf 
Leben und Tod die Entscheidung herbeizuführen. Auch Jaurès 
schrickt vor gewaltsamen Eingriffen nicht zurück, hält die 
Revolution für einen wesentlichen Faktor des Fortschrifts, 
aber nur notgedrungen läßt er sich herbei. zu diesem 
äußersten Mittel zu greifen. Er will jede Sozialreform 
unterstützen soweit es ihm möglich ist, ganz gleich von 
welchem Lager sie ausgeht, ruft aber ohne Bedenken den 


Proletariern zu: 
14 


684 Fritz Schwarz 


„Die Vergewaltigungen seitens der Machthaber fordern 
selbstverständlich die Gewalttaten des Volkes heraus und 
rechtfertigen sie... Erwartet den unausbleiblichen Tag 
der Revolution!. 

Am besten erkennt man aus den folgenden Worten. 
wie Jaurès über die sozialistische Kampfmethode dachte: 

„Es hat nicht viel zu sagen, daß die einen unter uns 
sich mehr von der Wirksamkeit des allgemeinen Wahl- 
rechts versprechen, die anderen mehr von der Notwendig- 
keit revolutionären Handelns. Es gibt niemand unter 
uns Sozialisten, der ım Wahlkampf nicht dabei sein wollte. 
Die Ersetzung des kapitalistischen Eigentums durch das 
soziale Eigentum ist eine zu einschneidende ökonomische 
Revolution, sie. setzt zu entgegengesetzte Leidenschaften, 
Hoffnungen und Befürchtungen ın Bewegung, als daß es 
jemandem zukäme, im voraus mit Sicherheit den Weg zu 
bestimmen, den man zur Lösung der Aufgabe beschreiten muß.« 

Immer wieder steht das Prinzip der Einheit bei Jaurès 
im Vordergrunde aller Erwägungen. Die Möglichkeiten einer 
fruchtbaren und gerechten Evolution sind für ihn nicht 
lediglich auf sein Parteiprogramm aufgebaut. Wo Einmütig- 
keit im Handeln herbeizuführen ist. müssen die Schranken 
einseitiger Gruppenpolitik fallen. Alle Krafte sind frei zu 
machen und zu unterstützen. welche für die Entfaltung 
sozialer Gerechtigkeit in Frage kommen. Als man ihm 
gelegentlich der Dreyfusaffäre den Vorwurf macht, daß er 
sich für einen Offzier, für einen Angehörigen der ver- 
haften Militärkaste, allzueifrig ins Zeug lege, weist er diesen 
Vorwurf entrüstet zurück, erklärt den Fanatikern. daß es 
sch um Prinzipien und nıcht um Personen handele. Gerech- 
tigkeit ist ein Gut, an dem die gesamte Menschheit teilhaben 
mul, wenn der Glaube an den Fortschri® nicht unter- 
geben soll. 

„Es gibt Stunden · sagt er. da es für das Proletariat 


Jean Jaurès 685 


ee nt a re 


von Interesse ist. eine allzu heftige intellektuelle und 
moralische Entartung selbst der Bourgeoisie zu verhindern. 
Als sich gelegentlich eines Verbrechens der Militärbehörde 
zwischen den verschiedenen bürgerlichen Parteien der Streit 
erhoben hafte. welchen Sie kennen. und als eine kleine 
bürgerliche Minorität den Versuch machte. gegenüber dem 
ganzen Lügengemächte, das gegen sie losgelassen wurde, 
nach Gerechtigkeit und Wahrheit zu schreien, damals war 
es aus obigen Gründen Pflicht des Proletariates. seine 
Neutralität aufzugeben, sich da einzusetzen, wo die Wahr- 
heit litt. wo die Menschheit um Hilfe rief. 

Der Weg zu einmütigem Handeln ist Verständigung. 
Der Weg zur Verständigung Aufklärung. Auf einen wohl- 
durchdachten. sorgfältigen Unterricht der Jugend legte Jaurès 
ganz besonderen Wert. Man darf sich nicht scheuen. mit 
Ernst. Schlichtheit und Größe zu den Kleinen zu sprechen. 
Im Kinde schlummert ein unbegrenzter Wissensdurst. 
sein Herz begegnet der Idee mit einer wunderbaren Empfäng- 
lichkeit. die leider immer noch unterschätzt und mißachtet 
wird. Vor allem gilt es. die Freude an selbständıgem 
Lesen zu wecken. »Wenn ein Schüler, der wissensdurstig 
ist, recht lesen könnte, so würde er schnell nach der 
Lektüre von sieben oder acht ausgewählten Büchern eine 
zwar sehr allgemeine, aber doch sehr hohe Idee von der 
Geschichte des Menschengeschlechts, von dem Aufbau der 
Welt. von der Geschichte der. Erde innerhalb des Alls 
und von der Geschichte Frankreichs innerhalb der Mensch- 
heit gewinnen können.« 

Hinsichtlich der Bildungsmöglichkeiten tri& die soziale 
Ungeheuerlichkeit unserer Zustände am besten zutage. Welch 
ene Roheit läßt sich die Gesellschaft zuschulden kommen, 
indem sie dem geborenen Reichen die Tore zu aller Er- 
kenntnis und Schönheit weit öffnet. während dem geborenen 
Armen gerade in dem Augenblick die Miel zur Ver- 


686 Fritz Schwarz 


vollkommnung entzogen werden, da er die Früchte seiner 
geistigen Anstrengung langsam zu genießen beginnt. Man 
behandelt ihn wie einen Klavierschüler, den man vorsätz- 
lich über die unvermeidlichen Fingerübungen nicht hin auskommen 
lat. Welch ein alberner Widerspruch ergibt sich daraus, 
daß die geistig-religösen Elemente, welche der Staat in der 
Volksschule zum Prinzip des Unterrichts macht, von der 
geistigen Elite ganz Europas mit Recht oder mit Unrecht 
verleugnet werden. Wie soll die Menschheit zur Ver- 
wirklichung eines gemeinsamen Ideals heranreifen können, 
wenn die einzige Bildungsstufe, welche der Masse zu er- 
klimmen möglich ist, nicht nur denkbar niedrig bleibt, 
sondern überhaupt keine Grundlage, keinen Ansatz zu dem 
bildet, was den geistig zu höchst Stehenden am wesent- 
lichsten erscheint. Die siliche Diktatur der Kirche hat 
der Gesellschaft schweren Schaden gebracht. Das erste 
Recht der Masse ist das Recht auf ein eigenes Gewissen, 
Die Aufgabe des Unterrichts beschränkt sich auf Auf- 
klärung. Gewissenszwang bedeutet Sifllichkeitsverbrechen. Der 
Grieche erkannte nur die eigene Kultur an und haßte und 
verachtete den Barbaren, der Christ taufte die Heiden mit 
Feuer und: Schwert, der Katholik muß von seiner allein- 
seligmachenden Anschauung überzeugt sein. Der moderne 
Mensch ıst keiner Schablone unterworfen. Der Unterricht 
dient dazu, ihn reif zu machen für die Erkenntnis der 
Forderungen sozialer Gerechtigkeit und die Gefahren des 
Egoismus. Nur da ist sitliche Reife denkbar, o Freiheit 
dıe Vorbedingung moralischer Entwicklung war. Unterrichten 
heißt, den Weg ebnen und nicht, den Weg bestimmen. 
Der Unterricht darf daher keinem nivellierenden Unifor- 
mismus unterworfen werden. Die Kommunen haben das 
Recht, neben den Staatsschulen eigene Unterrichtsanstalten 
ins Leben zu rufen, welche den besonderen Neigungen der 
Landschaft und Bevölkerung entsprechen. Die Methode des 


Jean Jaurès l 687 


Unterrichts bietet unbeschränkte Möglichkeiten, das Ziel 
bleibt dasselbe: Erziehung zur Freiheit. Das oberste Prinzip 
der Erziehungsfrage aber ergibt sich aus den folgenden 
Worten: 

»Man diskutiert, man legt seine Gründe dar, als ob 
eine große Nation sich fest für dieses oder jenes Unter- 
richtseystem entscheiden könnte. Meine Herren, man lehrt 
nicht das, was man will. Ich möchte nicht einmal behaupten. 
daß man das lehrt, was man weiß oder was man zu 
wissen glaubt. Man lehrt nur und man. kann nur lehren, 
was man ist. 

Die praktischen und moralischen Forderungen, welche 
Jaurès an den politischen Menschen stellt, sind evident. 
Schwieriger ist es. sich ein deutliches Bild von der end- 
gültigen Form zu machen, welche die Gesellschaft nach 
seinem Urteil annehmen soll. Die Ansichten Bernsteins. 
daß die Bewegung alles, das Endziel garnichts bedeute, 
teilt er nicht: . 

Aber diejenigen, welche es sich zum Ziel gesetzt haben, 
die Demokratie auf breiten und sicheren Wegen zum 
Kommunismus zu führen, diejenigen, welche nicht auf den 

wang emer Stunde, auf die Illusionen eines erregten 
Volkes rechnen können, sind verpflichtet, mit der bestimmtesten 
Klarheit auszusprechen, welcher gesellschaftlichen Form sie 
die Menschen und Dinge zuführen wollen und durch 
welche Einrichtungen und Gesetze sie zur kommunistischen 
Ordnung zu gelangen hoffen. — — — Ich weil nicht. 
ob Bernstein nicht durch die Notwendigkeit der Polemik 
dazu geführt wurde, ın erster Linie die kritische Seite 
seines Werkes auszuführen. Es wäre jedenfalls ein schwerer 
Irrtum und ein großer Fehler, das Endziel des Sozialismus 
im Dunkel der Zukunft verschwimmen zu lassen. Der 
Kommunismus muß die leitende und sichtbare Idee der 
ganzen Bewegung bleiben. 


688 Fritz Schwarz 


Die Menschheit krankt am Dualismus von Kapıtal und 
Proletariat. Aufgabe des Proletariats ist es, diesen Dualismus 
zu beseitigen. doch nicht darum setzt er im Klassenkampf 
seine Kräfte ein. um den Kapitalisten zu berauben. um 
auf seine Kosten Kapitalist zu werden. Das hieſſe jenen 
Dualismus nicht aus der Welt schaffen. sondern ihm ledig- 
lich eine neue Form geben, die keineswegs Anspruch auf 
soziale Gerechtigkeit machen könnte. - Damit also der 
Klassenkampf tatsächlich zum Austrag komme«, sagt Jaurès, 
genügt es nicht. daß das ganze organisierte Proletariat gegen 
den Kapitalismus vorgeht, es genügt nicht. daß ein Antagonis- 
mus der Interessen zwischen Kapitalisten und Angestellten 
vorhanden ist. die Angestellten müssen auf Grund der Ge- 
setze der geschichtlichen Evolution auf die Errichtung einer 
neuen Ordnung hoffen. In dieser neuen Ordnung wird 
das Eigentum auf hören Monopol zu sein. Der Besitz wird 
nicht gesondert und privat bleiben. sondern sozial werden. 
damit alle Produzenten vereinigt sind. und gleichzeitig an 
der Arbeit und dem Genuß ihrer Früchte teilhaben. 

Das Proletariat ist berufen. eine Rolle von weltge- 
schichtlicher Bedeutung zu spielen. die weit über seine 
engere Interessensphäre hinauswächst. Gerechtigkeit allen, 
heißt seine Forderung. Sozialismus bedeutet Humanität. Die 
sozialistische Frage ist eine Frage der f ganzen Menschheit. 
Keine Klasse, keine Partei hat ein so weitschauendes um- 
fassendes Ziel. 

„Das edelste Ideal bedeutet eine Gesellschaft. in der 
die Arbeit herrscht. in der es weder Ausbeutung noch 
Unterdrückung gibt. in der die Kräfte aller sich in freier 
Eintracht vereinen, in der das soziale Eigentum. Grundlage 
und Bürgschaft der persönlichen Entfaltung aller bedeuten 
wird. Daß alle Menschen aus dem Zustande rücksichts- 
loser Konkurrenzkämpfe zur Vereinigung übergehen. dal dıe 
Masse sich von der wirtschaftlichen Passivität zur Initiative 


Jean Jaurès 6889 


und Verantwortlichkeit aufschwingt. daß alle Tatkraft. die 
aich in fruchtlosen und wilden Kämpfen verausgabt. sich 
einer großen, gemeinsamen Aktion anschließt: das ist das 
höchste Ziel. welches sich die Menschen stecken können. 
Wenn die Menschen erst weniger darauf versessen sein 
werden zu herrschen, wenn sie auch von der Sorge. sich 
zu verteidigen weniger im Bann gehalten und ihrer selbst 
und der anderen sicherer sein werden, dann werden sie 
auch mehr Muße und geistige Unbefangenheit haben, um 
Körper und Geist zu bilden.“ 


Der Sieg des Proletariats im Klassenkampf führt also 
ganz und gar nicht zur Diktatur, denn dieser Sieg bedeutet 
nichts anderes als Verzicht auf jede Klassenherrschaft. 
Gewalt darf nur dort angewandt werden. wo Notwehr 
in Frage kommt. Wo Vergewaltigung droht. Im übrigen 
vollzieht sich die Umbildung der neuen Gesellschaft in 
friedlicher Evolution. die jedes Glied zur Teilnahme auf- 
fordert. 

Ferner vollzieht sich die Umwandlung innerhalb der 
Nation als der gegebenen organischen und historischen Form. 
denn der Proletarier hat trotz Marx und Engels ein 
Vaterland. In den »Cahiers de la QJuinzaine«*) äußert sich 
Jaurès in einem. »das Endziel« betitelten Artikel wie folgt: 

All diese Not. alle Ungerechtigkeiten und Unordnung 
kommt nur daher, daß eine Klasse die Produktions- und 
Lebensmittel im Besitz hat und ihre Gesetze einer anderen 
Klasse und der ganzen Gesellschaft vorschreibt. Diese 
Oberhoheit einer Klasse muß also gebrochen werden. Die 
unterdrückte Klasse und damit zugleich die ganze Gesellschaft 
muß befreit werden. Der Klassenunterschied muß auf- 
gehoben werden, indem man der Gesamtheit der Volks- 
genossen, der organisierten Gemeinschaft. den Besitz der 


) Nach einer Übersetzung von Dr. Südekum. 


690 Fritz Schwarz 


Lebens- und Produktionsmiftel überträgt. die heute in den 
Händen einer Klasse Miel zur Ausbeutung und Unter- 
drückung sind. Anstelle der anarchischen und mißbräuch- 
lichen Herrschaft einer Minderheit muß die allgemeine 
Genossenschaft der vereinigten Bürger gesetzt werden mit 
dem allgemeinen Besitz der Miel zur Arbeit und zur 
Freiheit, das ist der einzige Weg. die Menschen zu 
befreien. Und deshalb ist es das Hauptziel des kollektivisti- 
schen und kommunistischen Sozialismus. das kapitalistische 
Eigentum in ein gesellschaftliches Eigentum zu verwandeln. 

In dem gegenwärtigen Zustand der Menschheit, wo es 
nur nationale Organismen gibt, wird das soziale Eigentum 
die Gestalt des nationalen Eigentums haben. Das Vorgehen 
der Proletarier wird mehr und mehr international sein. 
Die verschiedenen Nationen werden auf dem Wege der 
Entwicklung zum Sozialismus ihre wechselseitigen Beziehungen 
mehr und mehr in Frieden und Gerechtigkeit ordnen. Aber 
die Nation wird noch auf lange Zeit hinaus den historischen 
Rahmen des Sozialismus abgeben, die Form der Einheit 
liefern, in die die neue Gerechtigkeit gegossen wird. 

Man wundere sich nicht, daß wir, nachdem wir zuerst 
die Freiheit der menschlichen Person verlangt haben, die 
nationale Gemeinschaft ıntervenieren lassen. Nur die Nation 
kann alle einzelnen befreien. Nur die Nation könnte alle 
die Mittel zur freien Entwicklung bieten. Die einzelnen. 
kleinen. vorübergehenden Organisationen vermögen nur zeit- 
weise kleine Gruppen von Individuen zu unterstützen. Aber 
es gibt nur eine allgemeine und beständige Organisation, 
welche die Rechte aller Individuen ohne Ausnahme, und 
nicht nur der lebenden. sondern den noch kommenden 
Generationen zu sichern imstande ist. 

Und diese allgemeine, unvergängliche Organisation, welche 
auf einem bestimmten Teil des Planeten alle Individuen 
umfaßt und ihr Werk und ihre Gedanken auf die nach- 


Jean Jaurès o 0. 08 
folgenden Organisationen erstreckt, das ist die Nation. 
Wenn wir uns auf die Nation berufen, so deshalb, um 
die Totalität und Universalität des individuellen Rechtes 
sicher zu stellen. Kein menschliches Wesen darf in irgend 
einem Augenblick außerhalb der Rechtssphäre stehen. Niemand 
darf der Gefahr ausgesetzt sein, der Sklave oder das Instrument 
eines anderen Menschen zu werden. Niemand darf der 
positiven Miel beraubt sein, frei. ohne knechtische Ab- 
hängigkeit, von wem auch immer sie ausginge, zu arbeiten. 
Bei der Nation findet das Recht aller Individuen ‘heute, 
morgen und alle Tage seine Gewährleistung. Und wenn 
wir der nationalen Gemeinschaft das übertragen, was das 
Eigentum der kapitalistischen Klasse war, so geschieht das 
nicht. um aus der Nation ein Idol zu machen, um ihr 
die Freiheit der Individuen zu opfern. Im Gegenteil, nur 
damit sie die Basıs für alle individuellen Betätigungen wie 
für alle individuellen Rechte abgeben sol. Das soziale, 
das nationale Recht ist für uns nur die Totalıtät, der 
Inbegriff der Rechte aller Individuen. Das soziale Eigentum 
ist nur das Miftel, das allen zur Verfügung steht." 
Nationen, welche im Innern nach obigen Grundsätzen 
organisiert sind, müssen naturgemäß im Verkehr miteinander 
neue, menschenwürdige Formen annehmen, von denen bisher 
nicht die Rede war. Kein Staat war bisher über seine 
- Pflichten und Rechte im Klaren. Die schwachen Ansätze 
humaner Verbindlichkeit, wıe sie z. B. ım Haager Abkommen 
zum Ausdruck kamen, haben im Kriege ein gründliches 
Fiasko erlitten. Das Wort Patriotismus hat einen recht 
üblen Beigeschmack bekommen. Dem Staat der alten Form 
fehlte und fehlt noch heute: das Gewissen. Dem Staat ist 
erlaubt. was dem Individuum bei hoher Strafe untersagt 
ist: Diebstahl, Betrug, Raub und Mord. Übertriebene Höflich- 
keit und unehrliche Hochachtung bilden den diplomatischen 
Deckmantel für infame Intriguen. Diplomat sein heißt be- 


6922 Fritz Schwarz 


—— e naen omeen ete Sia ER wen 


trügen können. Daneben treibt die Militärbehörde schon zu 
Friedenszeiten ihr demoralisierendes Werk. Gelegentlich der 
Dreyfusafläre bemerkte Jaurès: 

Die Nationen, welche offiziell im Frieden sind. rüsten 
nicht nur gegeneinander. sondern sie lassen sich auch fort- 
während zum niedrigsten Spionageverfahren herbei. Sie sind 
bemüht, die ausländischen Offiziere zu korrumpieren, um 
se zum Verrat zu bringen, sie versuchen durch Diebstahl 
und Betrug einander ihre Geheimnisse zu entwenden. — 
Spionage, Gegenspionage, Kauf der Gewissen Raub von 
Dokumenten, das ıst das hohe moralische Ziel, wohın das 
gegenwärtige System der Nationen führt. — — — Wird 
die europäische Gesiftung einmal dieses System abgeschüftelt 
haben, so wird sie erstaunt sein, daß sie solche Schande 
so lange zu ertragen vermochte.« 

Die Nation mul ihre Unabhängigkeit. AER Ein 
schlagkräftiges Heer bleibt vorläufı 19 unerläßlich. In seinem 
Werk »Die neue Armees hat Jaurès die Frage der nationalen 
Verteidigung eingehend erörtert. Mit erstaunlicher Sachkennt- 
nis entwickelt er die Probleme, bewegt sıch auf dem ıhm 
fremden Gebiet mit solcher Sicherheit, daß Männer vom 
Fach ihm einstimmig höchste Anerkennung zollen. Der 
wissenschaftliche Charakter der umfassenden Arbeit läßt die 
Ausführungen niemals trocken oder gar langweilig erscheinen. 
Wie immer. so verbindet Jaurès auch hier strenge Sachlich- 
keit mit begeisterter Schwungkraft. Dazu kommt, daß sein 
weıftragender philosophischer Blick aus der Enge des Gegen- 
ständlichen hinaus die interessantesten und anregendsten Perspek- 
tıven gewährleistet und ın fesselnder Weise dıe militärischen 
Fragen mit dem sozialen Problem sich verschmelzen läßt. 

Von allen Militärsystemen der Welt entspricht seiner 
Ansicht nach das schweizerische am ehesten dem Ideal 
einer demokratischen. völkischen Armee. Abzuschaffen ist 
vor allem der verderbliche Dualismus von aktıvem Heer 


Jean Jaurès 693 


und Reserve. Die aktive Armee sollte alle verwendbaren 
Bürger vom 21. bis zum 35. Lebensjahre ın sıch vereinen. 
Achtmal werden die Angehörigen des Volksheeres zu o. 
bis 21 tägigen Ubungen einberufen. nachdem sie zuvor 
eine halbjährige Ausbildung erledigt haben. Vom 14. Lebens- 
jahre an werden die Knaben zu militärischen Übungen 
herangezogen. Der gesamte Militärdienst vollzieht "sich nicht 
in abgeschlossenen Kasernen, sondern innerhalb des völkischen 
Lebens. Auf diese Weise wird unter großen Ersparnissen 
von Zeit und Geld eine Volkswehr herangebildet, dıe als 
geschlossenes Ganzes gelten und einheitlich Verwendung finden 
kann. Die Freude an soldatischer Betätigung wird erhöht. 
die störende Unterbrechung ım Berufsleben mit ıhren un- 
berechenbaren Folgen fallt fort, der Heeresdienst wird zur 
willkommenen Abwechslung innerhalb der alltäglichen Be- 
schäftigung. Die Privilegierten mögen sich beruhigen, daß 
aus einem permanenten Übungsheer, dessen Angehörige die 
Waffe im Hause haben, eine Gefahr für die öffentliche 
Sıcherheit erwachse. Als Beispiel wird wieder die Schweiz 
herangezogen. Zürich. Winterthur. Basel bilden bedeutende In- 
dustriezentren. Der Gegensatz von Kapital und Proletariat 
kam dort in Streiks, Demonstrationen und Aufständen häufig 
genug zum Ausdruck Militär machte von der Waffe Ge- 
brauch, um der Volksmassen Herr zu werden. Der um- 
gekehrte Fall ist nie eingetreten. Jaurès hat über seinen 
Tod hinaus recht behalten. Die Straßenkrawalle haben 
sıch vermehrt und schroffere Formen angenommen, und doch. 
besteht zwischen derartigen Zusammenstößen von Polizei und 
Masse oder Militär und Masse ein himmelweiter Unterschied. 
was etwa Zürich und Berlin anbetrifft. Der Segen eines 
aus dem Volke erwachsenen Übungsheeres kann nicht deut- 
licher zum Ausdruck kommen. Jaurès hat recht, wenn er sagt: 

Die Wahrscheilichkeit blutiger und brutaler Zusammen- 
stöße zwischen der Armee und dem arbeitenden Volke 


694 Fritz Schwarz 


— ———— — 


muß sich mit jedem Tag verringern. Sie muß verschwinden. 
Sie wird verschwinden.. 

Abzuschaffen ist ferner die Einrichtung des exklusiven 
aktiven Offizierstandes. welcher den Massen verständnislos 
gegenübersteht und eine Nluft zwischen Leitung und Heer 
entstehen läßt, die dem einfachen Volksgenossen alle Freude 
an militärischer Betätigung nimmt. Mit vorbildlichem Ent- 
gegenkommen fordert Jaurès die Offiziere selbst zur Ein- 
sicht auf. bitet sie eindringlich, den persönlichen Ehrgeiz 
dem höheren. nationalen Interesse zu opfern. Denn das 
Volk hat nicht nur das Recht. es hat die Pflicht zu 
fordern, daß die militärische Organısation ohne jedes Vor- 
urteil einer besonderen Klasse und Kaste vor sich geht. 
und daß sie von keinem anderen Standpunkte betrachtet 
wird als einzig und allein von dem der nationalen Ver- 
teidigung. Um Offiziere heranzubilden, die der Aufgabe 
der Führer eines Volksheeres gerecht werden, ıst es vor 
allem nötig. daß man ihre systematische Isolierung ın 
Militärschulen aufgibt. Wie der Soldat durch die Ab- 
sperrung in der Kaserne die Fühlung mit dem Volk 
verliert, so leitet sich die exklusive Haltung des Offiziers 
nicht zum wenigsten aus jener strengen Abgeschlossenheit 
her, die ihn sogar vom Verkehr mit Männern derselben 
Standes- und Bildungsstufe abschneidet. Das freie Studium 
auf der Universität sollte für die Offiziere wie für die 
Akademiker, Juristen. Ärzte, Ingenieure gelten. Dort ist 
Gelegenheit zur Fühlungnahme mit den verschiedenen Berufs- 
interessen gegeben, dort kreuzen sich die Ideen, färben 
aufeinander ab, durchdringen sich. Gleichzeitig bricht . man 
so mit dem absurden Prinzip, dem angehenden Offizier 
im Gegensatz zu allen anderen (sebildeten Vorgesetate au 
Lehrern zu geben. : zu kommandieren wo man unterrichten 
sollte. 


Die Armee ist der Ausdruck der selbständigen Aktivität 


Jean Jau ooo — 885 
einer ganzen Nation und nicht das Werkzeug einer schuld- 
bewußten und darum ängstlichen Ausbeuterklasse. Wenigstens 
sollte es so sein. Wie jeder Organisation, so muß auch 
der Armee selbständiges Denken zuerkannt werden. 

Was die Arbeiter, was die Sozialisten an der Armee 
auszusetzen haben, ist die Tatsache, daß sie der Bourgeoisie 
als Werkzeug zu innerer Unterdrückung und zu Aben- 
teuern außerhalb des Landes dient. Wenn man die 
Wahrheit sagen soll, sie ist tatsächlich nur ein Werkzeug. 
Sie hat keine eigene Kraft, keinen: autonomen Willen. 
keine selbständige Politik. Sie ist, in Frankreich wenigstens, 
die Dienerin der Zivilbehörden. Selbst wenn sie sich 
häßlıche Ausschreitungen zuschulden kommen läßt, wenn sie 
dıe Verfassung verletzt, die Freiheit beengt oder vernichtet, 
auf das Volk schießt, so geschieht das ganz und garnıcht 
auf Initiative ihrer Führer hin und ganz und garnicht in 
ihrem eigenen und direkten Interesse. 

Jaurès darf hier nicht mußverstanden werden. Die 
Forderung der Selbständigkeit hat ıhre Grenzen und will 
selbstverständlich nur insoweit gelten, als der Wille des 
gesamten Volkes darın verkörpert wırd. Die Tatsache, daß 
die Armee den Interessen der Reaktion einseitig dient, 
muß aus der Welt geschaffen werden. Dem Proletariat 
werden durch solche Einseitigkeit ın ganz unbilliger Weise 
die politischen Rechte geschmälert. Die Armee, namentlich 
die französische Armee, muß gegebenenfalls zum wesent- 
lieben Faktor der Revolution werden. Der sozialistische 
Historiker gibt dieser Lieblingsidee breiten Raum. Zu- 
sammenfassend bringt er seine Anschauung ın den Worten 
zum Ausdruck: 

Ein kräftiges Volksheer. welches den Kasernendienst 
in Schulunterricht umwandelt. welches die Kaserne zu 
einer Schule macht und aus der gesamten Nation eine 


gewaltige und starke Armee bildet. die im Dienst der 


696 n Fritz Schwarz 


— — — — . — ũ—— = — ra — ——— 


nationalen Autonomie und des Friedens steht. ein solches 
kräftiges Volksheer bedeutet innerhalb der militärischen 
Organisation die wahre Befreiung Frankreichs. Nur so 
läßt eie sich herbeiführen. 

Das begeisterte Eintreten für die Schöpfung eines 
nationalen Volksheeres verleitet Jaurès niemals dazu. über 
sein Ziel hinauszuschießen. Die Wehrmacht verfolgt ledig- 
lich den Zweck nationaler Verteidigung. Keine unlautere 
Nebenabsicht dart dieses Ziel trüben. Bis zum letzten 
Atemzuge war er bemüht. der friedlichen Verständigung 
der Völker nach bestem Gewissen und mit allen Kräften 
zu dienen. Die Liebe zur Heimat schließt eine wirksame 
Internationale nicht aus: Man könnte fast sagen: Ein 
wenig Internationalismus entfremdet dem Vaterland. viel 
Internationalismus nähert uns ihm. Ein wenig Patriotismus 
entfremdet der Internationale. viel Patriotismus nähert uns 
ihr. Die Idee der Einheit muß im Verkehr der Nationen 
wie überall zum Ausdruck kommen. Einer der obersten 
Grundsätze internationaler Einigung besteht darin. daß man 
mit der eigenen Schuld und Unzulänglichkeit nicht Versteck 
spielt. daß jeder vor seiner Tür kehrt. ansta sich in 
Selbstüberhebung und billiger Anklage des Gegners über 
die eigenen Fehler hinwegzutäuschen. Es war ein ver- 
hängnisvoller Irrtum. in suggestivem Eigendünkel Patriotismus 
üben zu wollen. Selbsterkenntnis ist hier wie überall der 
erste Schrift zur Besserung. Wohltuend wirkt die Offen- 
heit, mit der Jaurès schlicht und sachlich von der eigenen 
Schuld spricht ohne sich von der landläufigen patriotischen 
Meinung beirren zu lassen. Er warnt vor Selbstbetrug 
und Fahrlässigkeit, er wagt es. seine Landsleute darauf 
aufmerksam zu machen, daß die Kriegserklärung auch in 
einer Republik durchaus nicht immer den Willen des 
Volkes verkörpere. Die Internationale der Arbeiter und 
Sozialisten hat die Pflicht. den Frieden über alle nationale 


Jean Jure — — 597 


Engherzigkeit und V oreingenommenheit hinweg zu erhalten. 

„So kommt es, daß auf allen diesen Kongressen die 
Internationale der Arbeiter und Sozialisten den Proletariern 
aller Länder die doppelte unzertrennbare Pflicht ins Ge- 
dächtnis ruft. den Frieden mit allen verfügbaren Mitteln 
zu erhalten und gleichzeitig die Unabhängigkeit aller Na- 
tionen zu schützen. Ja, den Frieden mit allen Mitteln 
proletarischer Aktion aufrecht zu erhalten, selbst durch den 
internationalen Generalstreik. selbst durch die Revolution. 
Wie viele absichtliche und unfreiwillige Mißverständnisse, 
wieviel Rücksichtslosigkeit und Verleumdung haben sich die 
Gegner des Sozialismus in dieser Beziehung geleistet. Sie 
vergessen, oder sie tun wenigstens so, als ob sie vergaben. 
daß selbst in den demokratischen Ländern der Krieg ohne 
Zustimmung des Volkes. ohne sein Vorwissen. ja gegen 
seinen Willen entfesselt werden kann. Sie vergessen. daß 
die äußere Politik in der Geheimniskrämerei, mit welcher 
sich noch die Diplomatien umgeben, allzuoft der Kontrolle 
der Nation entschlüpft. Sie vergessen. daß eine Torheit. 
eine Geckenhaftigkeit. eine einfältige Herausforderung oder 
die verbrecherische Begehrlichkeit einiger Finanzgruppen plötz- 
liche Konflikte herauf beschwören kann: daß es noch von 
einer Minderheit, von einer ganz geringen Sippschaft, von 
einem konsequenten, aber einseitigen Manne abhängt, die 
Nation ın Verwicklungen zu bringen, Zustände herbei- 
zuführen, die nicht wieder gut zu machen sind, und dal 
Krieg und Friede noch außerhalb der Gesetzbarkeit einer 
Demokratie stehen. Was die Entwicklung ım Innern an- 
betrifft, so gibt es auch da Überfälle und Anschläge. Man 
kann sie aber in ihrer Wirkung bekämpfen und ein- 
schränken. Wenn jedoch Narren oder Verbrecher die 
Kriegsfackel entzündet haben, wie soll dann das Volk den 
Brand beschränken oder löschen? Die maßlosen persönlichen 
Kombinationen des Herrn Hanotaux haben Frankreich fast 


698 Fritz Schwarz 


zu einem Kriege mit England verleitet. Die maflosen per- 
sönlichen Kombinationen des Herrn Delcasse haben Frankreich 
fast zu einem Kriege mit Deutschland verleitet. Die dunklen 
Machenschaften der Cliquen in der deutschen Reichskanzlei 
vermochten die gesamte europäische Politik in Erschüfterung 
zu bringen. und je nachdem die Gruppe Holstein oder die 
Gruppe Eulenburg obenauf war. vermehrten oder vermin- 
derten sich die Aussichten auf einen Krieg. Der marok- 
kanische Konflikt hat sich zu gewissen Stunden hinter den 
finstern Kulissen der Finanz abgespielt. Der Antagonismus 
der französischen und deutschen Geldleute hat den Frieden 
Europas gefährdet.» 

Die Schuldfrage, welche das weltverheerende Verhängnis 
von 1914 ın allen Lagern, ın allen Herzen aufgeworfen 
hat ist wohl von niemand mit so rückhaltloser Größe 
erörtert worden als vón Jaurès. Der patriotische Taumel 
der Mobilisationstage vermochte seine unbestechliche Seele 
nicht zu verblenden. Sechs Tage vor seinem Tode, am 
25. Juli 1914, eine halbe Stunde nachdem der Abbruch 
der diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich und 
Serbien bekannt geworden war, sprach er zum letzten Male 
zu seinen Landsleuten, sprach mit einer so erschüfternden 
Klarheit und Offenheit, mit einer so hellsichtigen Mensch- 
lichkeit, daß alle Zeitgenossen beschämt vor ihm die Augen 
häften senken müssen. 

In einer so schwerwiegenden Stunde. in einer Stunde. 
welche für uns alle, für alle Vaterländer 20 voller Gefahr 
ist, will ich mich nicht lange damit aufhalten, nach Ver- 
antwortlichkeiten zu suchen. Moutet hat sie genannt und 
ich bezeuge vor der Geschichte, daß wir sie vorausgesehen 
und angegeben haften. 

Als wir sagten. daß das gewaltsame Eindringen in 
Marokko für Europa eine Ära von Ehrgeiz, Begehrlichkeit 


und Streitsucht herauf beschwöre, hat man uns schlechte 


Jean Jaurès on 699 


Franzosen genannt, uns, denen die Sorge um Frankreich am 
Herzen lag. Da steckt unser Anteil an der Verantwort- 
lichkeit und er tritt noch deutlicher zutage. wenn ihr 
euch vergegenwärtigt. daß Bosnien und die Herzegowina 
den Anlaß zum österreichisch-serbischen Konflikt bilden. 
Als die Österreicher Bosnien und die Herzegowina annek- 
tierten. haften wir Franzosen weder das Recht noch das 
Mittel. ihnen den geringsten Widerstand entgegen zusetzen. 
da wir in Marokko engagiert waren und gegenüber den 
Sünden der andern Nachsicht üben mußten, wenn wir ihrer- 
seits gegenüber unserer eigenen Sünde Nachsicht erwarten 
wollten. 

Damals sagte unser Minister des Äußeren zu Österreich: 

„Wir überlassen Euch Bosnien und die Herzegowina 
unter der Bedingung. daß ihr uns Marokko überlaßt.« Und 
wır ließen solche Kompromisse von Macht zu Macht, von 
Nation zu Nation wandern und sagten zu Italien: 

Du kannst nach Tripolis gehen, da ich in Marokko 
bin Du kannst an einem Ende der Straße stehlen, da ich 
am anderen Ende gestohlen habe · 

Jedes Volk erscheint mit seiner eigenen kleinen Brand- 
fackel in der Hand ın den Straßen Europas. So haben wır 
denn jetzt den Brand. Zugegeben, Mitbürger. wir haben 
unsern Anteil an der Verantwortlichkeit. aber die Ver- 
antwortlichkeit der andern läßt sich nicht dahinter verbergen. 
Wir haben das Recht und die Pflicht, die Hinterlist 
und die Gewalttätigkeit der deutschen Diplomatie zu 
brandmarken.— 

Wo es galt. die Stimmen der Vernunft und Ge- 
rechtigkeit geltend zu machen, hat sich Jaurès eingesetzt. 
Romain Rolland spricht von dem geheimnisvollen Zufall, 
der ein so gutes Genie hat hervorbringen können und wirft 
die Frage auf, wann der Welt wohl wieder eine solche 


Persönlichkeit werden würde. »Jaurds«, so sagt er, sbietet 
15 


700 PFeritz Schwarz / Jean Jaurès 


in den neueren Zeiten das fast einzigartige Beispiel eines 
großen politischen Redners, der gleichzeitig ein Meister des 
Gedankens ist, der eine tiefe Bildung mit scharfer eigener 
Beobachtung verbindet und die siſtliche Reinheit mit. der 
Kraft der Tat. 

Von allen Großen der Revolution war Danton derjenige. 
welchen Jaurès am meisten geliebt hat. Und wie sein Ideal, 
so gewann auch er die Herzen der Menschen im Sturm 
seiner großzügigen Offenheit. so warf auch er seme Worte 
voll Verstand und Feuer. um die edelsten Kräfte zum 
Wohle des Ganzen zu einen, und wie Danton, so starb 
auch er den schönsten Tod, den Tod für die Überzeugung. 


Hans Janowitz / Unter Lucifers Fuß _ 701 


UNTER LUCIFERS FUSS 
VON HANS JANOWITZ 


Lucifer schwebte zwischen Himmel und Hölle. von 
Goftestrotz strotzend, in aufrührerischer Schönheit. 

In sanftem Fluge wandte er sich abwärts. wo hinter 
geballten Finsternissen seine Sterne rollten. getaucht in die 
Weltnacht. Erzene Strahlen seiner Blicke teilten das 
Athergewöll. dröhnend schlugen die lichtdurchschwemmten 
Klumpen über ihm zusammen, wie sein Weg ihn tiefer 
führte. Sein Auge ‘wies ihm das Ziel. Über die Erde 
hin hieb sein Blick in magischem Zorne. Lucifer suchte. 
Ungeheuerliche Striemen hafte der Blick des Engels in 
die Erde gebrannt. Die Kruste des Gestirnes schwärte 
schon in langen Strichen. und immer neue Linien grub 
das ewige Auge in die verdammten Strecken ein. Europa 
brannte. Da beftete Lucifer den Blick auf einen Ort: 
die Erdmassen kochten auf, ein Wirbel entstand, und in 
ungemessener Tiefe bleckte ein Krater auf, glükte und 
erkaltete allmählich. 

Unten war man sich über die Ursache der Krater- 
bildung. die als eine Katastrophe kosmischer Kräfte 
empfunden wurde, nicht einig. Als häfe eine 10000-cm- 
Granate eingeschlagen. sagten die heimgekehrten Soldaten, 
so sähe der Trichter aus. in dessen Schu einige ver- 
brannte Dörfer begraben lagen. Man erwog. ob ähnliche 
Ereignisse nicht auch an anderen Orten zu fürchten wären: 
aber zu Unrecht. Ein neues Ereignis, fremdartiger noch 
als dieses und ebenso aufschreckend und unerklärlich, 


702 B Hans Janowitz 
rü@elte plötzlich an den Nerven der Stadt, rüftelte wirk- 
lich und wahrhaftig an den diehtgelegten Telephon- und 
Lichtdrähten und den Leitungen der elektrischen Bahnen 
am Kurfürstendamm, rüftelte so kurz und so heftig. dal 
sie entzwei gingen, bevor noch die Zeit um war. dıe 
nötig gewesen wäre zur Besinnung. 

Um 7 Uhr abends — das Dunkel hafe sich eben 
erst zu Nacht und Nebel verdichtet — um 7 Uhr abends 
hae es begonnen. Ein tiefer Schaften, schrecklich anzusehn 
am herbstlichen Himmel, senkte sich in schwerem Falle 
nieder. ein Schafen, dem eine furchtbare Stofflichkeit. un- 
durchdringlich- drohend. inne zu wohnen schien. Wenige 
Sekunden später war es schon zu spät, über das Phänomen 
nachzudenken. Das schwebte erst über dem Tiergarten, ein 
formloses, unübersichtliches Ungeheuer. Droschkengäule wieher- 
ten angstvoll auf, die Singvögel zwitscherten unsinnig und 
fla@erten durcheinander: viele schlugen sich an Bäumen 
und Kandelabern tot. Wuchtig steigerte eich der Luftdruck 
zu tödlichem Andrang. Das niegehörte Brausen. Schwirren 
und Pfeifen eines unnatürlichen Sturmes ertönte: das Un- 
geheuer raste seitlich hernieder — Dächer flogen wie 
Strohhüte umher. in weitem Umkreis erbebte die Millionen- 
stadt — und plötzlich lag das Ding fest. ausgedehnt in 
der Länge des Kurfürstendamms, von der Kaiser- Wilhelm- 
Gedächtniskirche bis fast nach Halensee. eingeklemmt in 
die innen eingeknickten und zum großen Teile in formlose 
Haufen eingepurzelten Häuserfronten der eben noch mit 
ihren Prachtbauten prunkenden Straßenzeile. 

Ein Schrei barst, als wäre in dem Kessel eines 
Herzens, das sich Luft macht durch das Ventil einer 
Kehle. die Todesangst einer Armee zusammengeprefßt, die 
sich zum Sturme anschickt. Unter der Ferse Lucifers, 
seitlich unter der Sohle und zwischen seinen Zehen, spritzte 
und pritschelte die jammervolle Sauce von tausend zer- 


Unter Lucifers Ful 703 


quetschten Menschen- und Tierleibern hervor. Arme und 
Beine hingen in der Blutlache. Huren- und Schieberbeine, 
Knaben- und Mädchen-, Kutscher- und Grafenbeine, die 
Extremitäten von Juden und Holländern, Deutschen und 
Franzosen, Negern und Matrosen, — Pelze, Autobestand- 
teile. Lenkstangen der Straßenbahnwagen, Spazierstöcke. Boas. 
Pleureusen, Droschkenräder, Zylinder, Handtäschchen, Pferde- 
köpfe mit dem Ausdruck ırrsinniger Angst, — ein Anblick 
unsagbaren Jammers. Reporter schluchzten. 

Da lüftete Lucifer leicht die Sohle, als er sich auf 
der Erde zurechtstellte, und ein Auto, das noch lebendig 
pustete, schlüpfte mit einem gewaltsamen Ruck in eine 
jener Rinnen, die, wie jede menschliche Sohle, so auch 
die Sohle des gestürzten Engels eingezeichnet trug. und es 
krabbelte mit gekrümmten Rädern, mit letzter Anstrengung, 
rechts und links immer wieder an die Hautwände stoßend, 
vorwärts, dem Ausgange zu. Durch einen glücklichen Zu- 
fall war es samt seinen Insassen vor dem Zerquetscht- 
werden verschont geblieben. Es taumelte dahın ın der Haut- 
furche, über zuckende Gliedmaßen und Blutlachen hinweg. 
und schon sah der Chauffeur vor sich den Abend blinken 
— ein von wilder Gestaltenjagd zerrissenes Bild. Noch 
sperrte ein Toter den Weg. Der Chauffeur rıß sich und 
den Wagen zusammen — in letzten Zügen rollte und 
fauchte der Motor — 'in einem Sprunge schwang sich der 
Wagen hinkend über den Toten hinweg und ins Freie. 
Der Chauffeur blieb in Todesstarre liegen. Dem ver- 
stümmelten Fahrzeug entstieg ein prustender Herr. der sich 
schüttelte und putzte. Sein. hastıg-schweifender Blick fand 
den zerstörten Taxameter. „Wieviel? Drei Mark fünfzig. 
sechsunddreißigfache Taxe, macht einhundertsechsundzwanzig 
Mark. Können Sie wechseln? Hier. Mensch, so nehmen 
Sie doch!. Keine Antwort. Eine schüftere Menschenmenge 
hatte sich scheu genähert und drängte jetzt heran. glotzte 


744 ꝗ—•Tꝛ o Hans Janowitz 
den Überlebenden an, der eben drei Fünfzigmarkscheine in 
die eiskalte Hand des Chauffeurs preſte und ihn nochmals 
rüftelte. Dann klopfte der Herr sich hastig ab. zugleich 
orientierte er sich an den Trümmern der Gedächtniskirche 
über die Ortslage. Jetzt blickte er sich nach der nächsten 
Stadtverbindung um. löste vom Vorderrad seines Fahrzeuges 
ein Stück hängengebliebene, abgeschundene Fußhaut Lucifers 
und steckte sie zu sich, raste dann mit dem gellenden 
Schrei: Auto: — Haalt! Auto! um die Kirche herum 
davon. In der Tauentzienstraße, mitten in dem der Un- 
glücksstäte entgegenbrandenden, jagenden Menschenstrom. 
erraffte er eines. »Fahren Sie Potsdamer. Platz! Los!« Und 
er setzte sich neben den Chauffeur, schuf brüllend und 
gestikulierend Platz, raste. davon. Vor dem Hause der 
deutschen Lederaktiengesellschaft gebot er halt. Zwei Minuten 
später stieg er in Begleitung zweier zigarrenrauchender 
Herren wieder ein. Denselben Weg ging es zurück. »Nu 
aber legen Sie man loses, begann der eine seiner Begleiter. 
Meine Herren, — das größte Geschäft Ihres Lebens! 
Wir gründen eine Rohmaterial G. m. b. H. für Im- 
und Export, kaufen heute nacht noch die Ruinen zu 
beiden Seiten des Kurfürstendamms auf bis zur Joachims- 
talerstraße. Wir beginnen als alleinige Inhaber der Leder- 
gruben sofort mit dem Schürfen. . »Was meinen Sie? 
Schürfen? Ich verstand doch Leder engros? »Engros?« 
ereiterte sich der Herr, ich sag Ihnen. ein Gebirge von 
Leder! Mien im Westen — am Kurfürstendamm — ein 
Gebirge von Leder ist angekommen! Direkt Kolonieersatz, 
— Afrika am Kurfürstendamm! — Mit meinen Augen 
hab ichs gesehen, meine Herren, mit eigenen Händen das 
Muster hier mitgenommen. Immense Höhe, nicht abzusehen 
— der Turm von der Gedächtniskirche war dagegen wie 
ein Zeigefinger gegen den eisernen Hindenburg 


ie Herren kamen vor dem Trümmerhaufen der 


Unter Lucifers Ful 705 


Gedächtniskirche an und waren sich einig. ein Milliarden- 
geschäft in Aussicht zu haben. Aber einige flinke Kon- 
kurrenten haften die gleiche Geistesgegenwart bewiesen, 
waren jedoch früher zur Stelle gewesen: sie haften bereits 
mit den Besitzern einiger Häuserruinen Kaufverträge ab- 
geschlossen. Im Romanischen Cafe, das intakt geblieben war, 
haften Kellner, Polizeibeamte und Journalisten eine Art 
Nachrichtenzentrale für das neue Ereignis improvisiert; dort 
wurden die Verträge unterschrieben. Das Postamt ın der 
Marburgerstraße war in einer Weise überlaufen, die jeder 
Beschreibung spottet. Der Preis für Vorderplätze in der 
Händlerkete am Telegraphenschalter wurde von 100 Mark 
auf 1000 und ım Laufe einer weiteren halben Stunde 
auf 3000 Mark hinauflizitiert. Berichterstatter und Agenten 
telegraphierten das Ereignis in die Welt, wobei die Be- 
zeichnungen, die man dem Gegenstande der allgemeinen 
Erregung gab, weit auseinander gingen. Während die einen 
das Schlagwort vom »Gebirge von Ledere weitergaben, 
nahmen andere eine mehr skeptische Haltung ein; denn 
wiewohl die berühmtesten Chemiker Berlins sich seit einer 
geraumen Weile um die Analyse des fremden Stoffes 
mühten, konnte man zu einem definitiven Ausspruch nicht 
gelangen. »Naturledere schrieen die einen, »Schwindel!« 
antworteten die anderen. -Ein Trick der Ententekonkurrenz 
gegen die deutsche Lederindustrie« hieß es. »Kunstleder 
bestenfalls" Der Streit aber wurde nicht ausgetragen, er 
löste sich in sprachloses Staunen, als ein kleiner, bloß- 
füßiger Junge, der sonst vor dem Café des Westens 
die letzten schwedischen Streichhölzer«e ausbot, an die er- 
regten Gruppen herantrat und gleichmütig verkündete: In 
Halensee wären die 5 Zehen des Ungeheuers entdeckt — 
breiter wie der Kurfürstendamm. Um die Nägel — prima, 
primissima Horn. — wäre eine Schlacht entbrannt 


und zwar hife: ein Schuhmacher aus der Wilmersdorfer- 


706 Hans Janowitz 


straße Nr. 812 ein kleines Freikorps aufgeboten. das mit 
scharfer Waffe jede Annäherung neuer Interressenten abwies. 
während er selbst. 812, mit seiner Frau und 17 Gehilfen. fieber- 
haft an der Arbeit wäre, den Nagel der großen Zehe 
zu lösen und partienweise abzutragen. Ein besseres Horn 
gäbe es in ganz Deutschland nicht. häfe der Schuhmacher 
gesagt. und die fünf Nägel auf den gewaltigen Zehen 
repräsentierten einen Wert von 180 Millionen Mark und darüber. 
Sein Nachbar, der Schuster aus dem Hause Nr. 814. 
schlich inzwischen neidzerfressen zur- Kommandantur. Er 
hae die Transaktion mit 812 zusammen unternehmen 
wollen, war aber brüsk abgewiesen worden. Nun wollte 
er gegen die 812 er ein stärkeres Freikorps aufbieten. um 
sich in den Besitz der fünf Hornfelder zu setzen. und 
es gelang ihm. einen kampffreudigen Soldatenvater. einen 
geborenen Führer übrigens. Anführer in jedem Sinne. zu 
seriösen Verhandlungen zu bewegen. — Der Maler Lampion 
wurde an diesem Abend unausgesetzt ans Telefon gerufen. Sechs 
Plakate für die Leder-Schurf Akt.-Ges. waren fertiggestellt. 
drei für die Naturleder G. m. b. H. eines für »Deutsche 
Hornfelder Kurfürstendamm, das einzig echte Naturhorn-. 
neue Aufträge neugegründeter Firmen liefen ein. Seitenlange 
Annoncen flogen in die Nachtredaktionen. Das tollkühne 
Freikorps 812 bestand heldenmütig einen schneidigen Hand- 
granatenangriff der Lüftwitzer Jäger, die Schuhmacher 814 endlich 
im Interesse der Republik für seine Ziele gewonnen hafte. 
Noske selbst hafe von dem Zusammenbruch des Jägeran- 
griffs erfahren: er dirigierte neue Freikorps gegen die Haus- 
macht des 812 ers. denn man hae ihm die Sache als 
einen versuchten Spart akusputsch gegen die republikanische 
Regierung geschildert. Eine regelrechte Belagerung der 
Zehen Lueifers wurde eingeleitet. Mörser fuhren vor. 
Scheinwerfer belichteten das Kampffeld. Der verteidigende 
Schuhmacher brach sich bei einem Sturz von der großen 


Unter Lucifers Fug 707 


a —c— [—ĩä„Üͤ a e a a ů — e + 


Zehe am Asphalt das Genick. Die Besatzung revoltierte. 
Man wollte die opfervolle Verteidigung nur gegen das 
Versprechen der Sozialisierung der Hornfelder weiterführen. 
Der Oberkellner Naucke vom Olivaer Platz rı endlich die 
Leitung an sich: Jedoch konnte er die Sozialisierung beim 
besten Willen nicht zugestehen. weil „dieser Zweig unserer 
Volkswirtschaft für solche Experimente noch nicht reif seie, 
Man begriff ihn nicht ganz, aber seine hochgeschwungene 
Rede hae die Gemüter beruhigt. Die Angriffaschlacht 
unter persönlicher Führung Noskes ging an. Die 814er 
Jäger liefen Sturm gegen die Bollwerke auf der. großen 
und kleinen Zehe. Immer ran. an die Flanken! hafte ein 
befreundeter Herr. beliebter Monokelträger vom alten 
Generalstab. Noske eingeflüstert. »daa Zentrum fillt dann 
von selbst. Die Frau des auf dem Hornfelde der Ehre 
gebliebenen 812ers, an der Spitze ihrer 17 Gesellen, schlug 
sich mit ebensoviel Kisten Naturhorns in der Richtung 
der Wilmersdorfer Felder durch, bevor noch die Besatzung 
im Noskeschen Eisenhagel zermürbt war. Auf den Trümmern 
der erstürmten Bollwerke hißte der 814 er selbst, der 
heldenmütige Schuhmacher, unter den blıtzenden Augen des 
Triumphators Noske — die Fahne seiner Firma. . . 


Einige Fliegerstaffeln haften Auftrag bekommen. mit 
Scheinwerfern hochzustegen, um Aufschluß über die 
Dimensionen des rätselhaften Riesenklumpens zu verschaffen. 
Sie waren unverrichteter Dinge zurückgekehrt, die unförmige 
Säule stiege endlos an, berichteten sie, ihre Höhe ließe 
sach überhaupt nicht ermitteln. 


Miels Feuerwehrleitern.. die an der Ferse angelegt 
waren, drangen einige Männer durch die Hautlinien höher 
und gelangten sogar bis zum. Rif des Fußes wo aber 
der weitere Aufstieg des steilen Objektes und dicht- 
gelagerter Wolken wegen auf unüberwindliche Schwierigkeiten 


708 g Hans Janowitz 


stiel. -Am hellen Tage wollte man, mit allen technischen 
Hilfsmiſteln ausgerüstet, die Sache weiter verfolgen. 

Sebastian, der lyrische Strichjunge von der Tauentzien- 
straße, hafte in extatischer Raserei den Trümmerhaufen 
erstiegen, an dessen Stelle einst das filmglückstrahlende 
Marmorhaus gestanden hae und hielt von hier aus in 
Fisteltönen, die sich überschlugen. eine Predigt miften in 
plündernde Horden hinein, die sich in kleinen Schwärmen 
überall am Orte der Katastrophe herumtrieben und an 
Mobiliar zusammenrafften. was unter den Trümmerbergen 
erhalten geblieben war. »Goft hat demissionierte — so klang 
der Tenor seiner Rede — »es lebe der Rientopp. Wir 
stehen an der Wende der himmlischen Hurerei, von nun 
ab ist die kriegerische Stinkbombe, Erde geheißen, Sprung- 
bret für die kinematographischen Lüste Satans . « so 
tobte der Irre in die immer bedrohlicher alles Herkommen 
verlassenden und immer blutiger aufschwellenden Exzesse 
der Nachtschrecken. | 

Militär brach von allen Seiten der Stadt auf, um den 
tobsüchtigen Stadtteil zu zernieren. Im Geknafter einiger 
hundert Maschinengewehre. im Krachen und Heulen des 
wüstesten Durcheinanders von Schlacht und Zertrümmern. 
Plündern und Hetzen. miften in dem Hexensabbat von 
Pulverdampf und Schiebertum, Mord und Verkauf. Schul- 
befehl und Schnoddrigkeit — hob sich Lucifer auf und 
entstieg dem irdischen Wirrwarr. 

Alles. was da noch auf seinem Fuße kreuchte und 
fleuchte, rutschte ab und zerschlug am aufgerissenen Boden. 
Die Menschenwelle go sich in das nun freie Beſt des 
Kurfürstendamms, der fast durchgehend eingedrückt war, 
Sprünge und Spalten trug. Wo die Untergrundbahn unter 
ihm lief, war sie verschüftet. In der Finsternis, die das 
Grauen einhüllte. stürzten bei der Uhlandstraße ganze 
Menschenknäuel in die aufgebrochene Tiefe, um nie wieder 


Unter Lucifers Fuß 709 


emporzukommen. Die fiebrige Rasereı der Menschen dauerte 
bis zum Morgengrauen. Als man ım. ersten Tageslicht den 
Umfang der Katastrophe übersah, begann eine unsagbare 
Erschlaffung aller Herzen Herr zu werden. Die Reichs- 
regierung, von einem Kranz von Männern mit Kurbel- 
kästen gefolgt. besichtigte die Stäĝe der Zerstörung und 
ordnete Trauermessen an. Noske selbst war im Wirbel 
der Schreckensnacht untergetaucht und kam nie mehr an 
die Oberfläche empor. Sollte Lucifer ihn in hohe Regionen 
entführt haben, um ihm im Dienste der Goftesgegnerschaft 
den ewigen Odem einzublasen? Oder hafte auch ihm 
der Asphalt das Genick gebrochen —? 

Im erstea Morgenwinde des Weltentags flogen farbig 
blühende Ätherwolken daher und sammelten sich zu kind- 
lichen Reigen um Lucifers Kniee. Engelsknaben entstiegen 
dem Gewölk und ließen sich in endlosen Reihen auf den 
Füßen Lucifers nieder. Mit dem urscharfen Atem der 
Gestirne scheuerten sie allen Erdenrest fort, der noch die 
Haut des Strahlenden verunglimpfte. Ball- und Konzert- 
plakate, die {flinke Berliner Austräger in bunter Reihe 
angepappt haften, schmolzen da zu Schmutzklümpchen zu- 
sammen und zergingen im Lichtäther. Blühend in ewiger 
Jugend schwebte der Morgendliche zwischen Himmel 
und Hölle. Verraucht war sein Zorn. Freude verströmte 
sein taumelnder Blick durch den Raum, und wo der 
gütige Blitz seines Auges in fernster Ferne einen Himmels- 
körper ereilte. da blühte noch nach Jahrtausenden milder 
Rasen ‚aus dem Stein. Und duftende (Quellen entsprangen 
dort dem vom Tode zum Leben erwachten Boden. 

Aus einer Pore der Haut brachten die Engelsknaben, die 
Lucifers linkes Bein blankgescheuert haften, Sebastian heran- 
geschleppt. den lyrischen Strichjungen von der Tauentzien- 
strasse. Nach seiner Predigt hae er sich in die Lüfte 


710 Hans Janowitz / Unter Lucifers Fuß 


geschwungen, am Schwanzende eines Aeroplans festgekrallt. 
der in Spiralen aufstieg. und als der Flieger — nach 
Uberholung des Höhenweltrekords — zum Abstieg ansetzte. 
hate Sebastian noch so viel Besinnung gehabt. um sch 
in einem Satze auf Lucifers Bein hinüberzuschwingen und 
in der nächstgelegenen Pore zu verstecken, wo er. geschützt 
wie in einer Höhle. in Todesohnmacht liegen blieb. 

Als die Engel ihn nun hervorzogen und herangeschleppt 
brachten und mit ıhm lachend emporstiegen, um ıhn dem 
Strahlenden zu zeigen. da fiel das göttliche Auge auf den 
armseligen Menschenleib — und. vom Allwind und 
von diesem Blick gespeist. gedieh Sebastian und wuchs 
gewaltig auf zur Herrlichkeit der Engel. Da wachte er 
nun, der lyrische Strichjunge, zum großen Tode auf und 
hing jubelnd am Halse Lucifers, mit den Augen des 
Neugeborenen die wahre Welt um sıch erfassend. Un- 
geheuer schallte da das Lachen des jungen Engels durch 
den Morgen — der erste Laut der Unsterblichen. Und 
als Lucifer, der morgenumglänzte Jüngling. mit seiner Stimme 
einfiel — da orgelte und posaunte dröhnende Harmonie 
durch die unendlichen Räume, daß die Bollwerke Zions 
erbebten und er selbst. der alte Jehova. auf seinem blutigen 
Marmorthrone zu wackeln anhub und gefährlich ins Wanken 
kam. Ä 

In dieser Stunde barsten die Mauern Jerichos in 
allen Herzen 


»Paul Gauguins Todeskampf« von Victor Segalen im 8. Heft des 
Forum . ist von H. Jacob aus dem Französischen übersetzt. 


Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog 
Derfflisterstr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam- 
Berlia / Druck der B. Gundlach A.-G., Bielefeld 


DAS FORUM 


4. Jahr Juh 1920 | | Heft 10 


(Abgeschlossen am 6. August 1920) 


ABRECHNUNG 
VON FRANZ SCHULZ 


Ein Zettel aus dem Nachlaß des deutschen Philosophen 
Immanuel Kant: 

Widerruf und Verleugnung seiner inneren Überzeugung 
ist niederträchtig: aber Schweigen in einem Fall wie dem 
gegenwärtigen ist Untertanspflicht.« 


Hundertfältig ineinander verschachtelt und verkrampft in 
nie gehörter Korruption. Lüge und Heuchelei, in Kehlen 
verbissen und doch kumpanen-solidarisch, Feftbauch an Fett- 
bauch gepreßt,. schiebend und üble Dämpfe verbreitend, 
himmelhoch gröhlend und bis zum Tode betrügend, — das 
ist das offizielle Deutschland. Wem nicht übel wird 
angesichts der schaudervollen Kloake, der versuche, einen 
Korruptions-Almanach der deutschen Revolution zu schreiben, 
beginnend mit der Drohung des kaiserlichen Ministers 
Scheidemann an die revoltierenden Matrosen in den ersten 
Novembertagen 1918, — schließend mit dem Freispruch der 
leichenhungrigen Arbeitermörder von Thal. (Bis hierher: es 
genügt und mehr erträgt in kollektiver Betrachtung das 
Nervensystem keines Sennhirten). 

Der Prozeß gegen den unschuldigen Dreifus, den man 
mit Hilfe gefälschter Papiere und meineidiger Zeugen ver- 
urteilte. erschüfterte die Welt. Der Fall wurde in allen 
Sprachen diskutiert. Anständige Menschen aller Länder er- 
hoben sich und riefen über die Erde, daß in Paris ein 
Unrecht geschehen sei und wer also rief, überlegte nicht 


712 Franz Schulz 


erst seine und des Unglücklichen Parteizugehörigkeit und daß 
jener Jude sei und er selbst etwa nicht. Diese Unbedingtheit 
gerechter Hilfeleistung, prinzipiell selbstverständlichh muß 
gerade in unserer Zeit des relativen. des parteilichen Rechts- 
empfindens betont werden. Zola schrieb damals: »In meinen 
Nächten würde das Gespenst des Unschuldigen umgehn. 
der dort drüben in grausamster Marter büft für ein Ver- 
brechen, das er nicht begangen hat.« Unsere Herren aber 
haben einen guten Schlaf und in Eberts, Geſlers und 
Theodor Wolffs Träumen gehen keine unerquicklichen 
Gespenster um. Höchstens vielleicht Nachtgestalten der 
Demokratie, die das Krähen des Hahnes zu üblen Phrasen 
verdichtet. Gibt es etwas Widerlicheres, als Gellers Aus- 
spruch, es sei »traurig«. was in Thal geschehen ist und die 
ja recht sanften Bemerkungen der Presse, die Schlachtung 
Landauers sei denn doch nicht ganz korrekt geschehen, die 
Freisprechung der Schlächter und all jener Mörder mit 
Epauleften und Couleurkappe allerdings recht betrüblich. 

Die simple Forderung persönlicher Anständigkeit ist illu- 
sorisch geworden bei Menschen, die ein Popanz ganz und 
gar beherrscht: so sehr, daß er sie eigene Lächerlichkeit 
ebenso ignorieren läßt, wie dieser Lächerlichkeit grausige 
Folgen: der Popanz »Diplomatie« Eine falsch souveräne 
Geste ersetzt ihnen das Reinlichkeitsgefühl und falsche 
Worte den Blick der Klugheit. Sie werden im Auslande 
gelesen und gehört, man beurteilt dort die Ereignisse nach 
ihren Worten und das deutsche Volk ist nervös genug. 
allzu nervös, als dal man es mit Dingen, die nun einmal 
geschehen und »leider«e nicht mehr zu ändern sind, noch 
unnötig erregen sollte. So denken diese »Diplomaten«, sie 
fühlen sich als Träger der Verantwortung und werden zu 
moralisch Mitschuldigen jeder Schurkerei. Sıe sind verant- 
wortlich für eben alles, gegen das sie verantwortlich sein 
sollten. 


Abrechnung 713 


Immer gibt es einen Grund, klug. »diplomatisch« zu sein, 
immer stehen wir vor einer Schicksalswende: sei es der 
Friede von Versailles oder St. Germain, die Eröffnung der 
Nationalversammlung,. des Reichstags, der Landesversammlung 
oder die Konferenz von Spaa, — lauter Entscheidungen, die 
ruhig Blut. erfordern. Inzwischen aber kocht das Blut 
der Arbeiter immer heißer und das Ausland, nach dem zu 
schielen die verantwortlichen Diplomaten keinen Augenblick 
unterlassen, hat Tag für Tag Gelegenheit, die Theorie vom 
»Boches neu zu beweisen. Durch die Klugheit dieser 
Menschen ist Deutschland ın einen moralischen Düngerhaufen 
verwandelt worden, wie kein Land und keine Zeit je ibn 
gesehen hat. Die Greuel des Zarismus, Abscheu einer noch 
unerfahrenen Welt, sind in Ungarn weit übertroffen, in 
Deutschland erreicht: hier wie dort arbeitet eine ver- 
brecherische Ochrana — siehe Blau-Prozeß —, hier wie 
dort werden Gefangene ermordet und die Morde bleiben 
ungesühnt. weil ihre Aufdeckung allzu große Wellen schlüge. 
Noch nie war die Gefahr des fürchterlichsten Pessimismus 
und der Resignation aller Anständigen so nahe wie heute 
angesichts der deutschen Zustände. — Zola konnte noch vor 
kaum zwanzig Jahren schreiben: »Wenn man die 
Wahrheit eıngräbt, ballt sie sich zusammen 
unter der Erde und ıhre Sprungkraft wird so 
groß, daß an dem Tage. da sie ausbricht, alles 
mit ihr auffliegt- ... Wer von uns hat heute die 
Kraft zu solcher Zuversicht!? 


* « 
1* 


Der Eintri in die Gemeinschaft der Offiziellen Deutsch- 
lands kostet einen teuren Preis: Den Verzicht auf An- 
ständigkeit und Gerechtigkeit. Obzwar zur rechts- sozialistischen 
Partei reuig zurückgekehrt und obzwar zweifellos einer 
ihrer Fähigsten, gelangte Eduard Bernstein nicht in die 


Regierung, weil er, vom »Wahrheitsfimmel« besessen, die: 


714 Franz Schulz 


Kriegsschuld der kaiserlichen Bande betont. Ein anderes 
Beispiel solch teuren Preises: Professor Walter Schücking,. 
mutig und wahrheitsliebend ım Kriege, hat den Mut ın jene 
fatale »Diplomatie« verwandelt, seit er Emissär der Re- 
dierung geworden ist und wie er jedes mutige Wort von 
da ab vermied. unterließ er es, auch nur mit einem Worte 
seines Kollegen und früheren Kommilitonen, des Professor 
Nikolai, öffentlich sich anzunehmen, den gemeine Fäl- 
schungen des Rektors Meier — der Herr klage 
endlich! — von der Berliner Universität vertrieben haben. 
(Und die anderen, sonst anständig gesinnten Hochschullehrer’? 
Als Professor Albert Einstein jüngst ein Zirkular ver- 
sandte, das sie auffordert, gegen die blödsinnigen Anpobe- 
lungen Nokolais solidarisch Stellung zu nehmen, antworteten 
die Braven: Die Affäre sei ja sehr empörend, doch könnten 
sie nicht riskieren, selbst von den nationalistischen Studenten 
aftakiert zu werden). Der Fall Nikolai ist ein charakteristischer 
Ausschnift aus der deutschen Republik: Gemeinheit erzeugt 
Feigheit. Feigheit Dummheit und Dummheit Ungerechtigkeit. 
Die Professoren sind bei der demokratischen Presse in die 
Schule gegangen. — die giftige Atmosphäre jener »Diplomatie« 
betäubt auch die früher wahrhaft Wachen. 

Kurz vor: seiner Ermordung schrieb Hans Paasche 
einen Aufruf an die deutschen Nechtsgelehrten“): es war 
ein Schrei des Entsetzens über eine Justiz, die Mörder schützt 
und selbst mordet, des Entsetzens darüber, daß jene, die 
zum Protest berufen wären, das Furchtbare schweigend 
sanktionieren und also sich mitschuldig machen. Und als 
man auch Hans Paasche ermordet hafte und als es offenbar 
wurde, daß auch dieser Mord ungesühnt bleibt. — da 
rührte sich gerade diese oder jene übel knirschende Jour- 
nalistenfeder, um wiederum — diplomatisch — zu - konsta- 
tieren, daß hier immerhin und allerdings etwas augenscheinlich 
Forume, Heft 8 dieses Jahrgangs. 


Abrechnung | 715 


sozusagen mit Verlaub nicht ganz in Ordnung aei. Nach 
demselben Cliché waren schon die Proteste gegen zwanzig 
und mehr gleich blutige, gleich ungesühnte Verbrechen 
fabriziert worden. Nichts hate sich geändert seit dem ersten 
Mord, dem Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxem- 
burg und nach wie vor gilt, was Paasche in jenem Appell 
an die Tauben und Blinden schrieb: »... Das Unrecht 
aber, das im Namen des Gesetzes täglich begangen wird 
in all den freudlosen Gerichtszimmern Preußens, ist um 
vieles gefährlicher, als das ın Freiheit begangene, weil es 
in völliger Sicherheit an Wehrlosen geschieht, mit dem 
Bewußtsein der Selbstgerechtigkeit, der siftlichen Empörung 
und des Hasses, ja, mit dem Augenaufschlag zu Gott.. 
Der Aufruf endet mit dem Satz: »Gemeingefährlich 
können nur die Mächtigen sein, sie gilt es zu 
bewachen!: | 

Ist je in Deutschland etwas Wahreres geschriebenen 
worden, als dieses Wort des angeblich Pathologischen?! 


* * 
r 


So traurig steht es um die deutsche Republik. Und es 
gibt ein Land, von dem gerade jene deutschen Diplomaten. 
nur in Tönen des Hasses oder professoraler Verurteilung 
sprechen: Ruf land. Jeden Tag mul der bedauernswerte 
Abonnent lesen, daß die Bolschewiki Wasser in ihren 
Wein. gössen. dal sie einen versteckten Despotismus 
aufrecht erhielten, daß sie im Kremel praften, während die 
Arbeiter hungern. daß Trotzki der typische Sadist sei mit 
Minderwertigkeitskomplexen die Menge und Lenin ein 
mongolischer Schuft trotz seiner Rednerbegabung. Ein deutscher 
Minister, der ein paar Sätze richtiger Feststellungen über 
Sowjet-Rufland spricht, muß am nächsten Tage in den 
lieblichen Ghor einstimmen, will er sein Amt behalten, und 
von der brennenden Flamme. Bolschewismus deklamieren. 


Mit einem Wort den Sinn dieser Blödsinnigkeiten zu- 
16 


Gun un ni, Frans, Sehuls 
sammengefalt: Bei allen bedauerlichen Vorfällen in Deutsch- 
land gähnt doch ein tiefer Abgrund zwischen unserer 
Demokratie und dem russischen Bolschewismus. 

Ja hier gähnt ein Abgrund und er ist wohl tiefer, als die 
Herren es zu denken vermögen. Gäbe es kein anderes 
Symptom, es genügte, die beste aller Reden. die von 
Offiziellen und Offiziösen seit dem 9. November in Deutsch- 
land gehalten wurde, mit irgendeiner Rede Lenins, Trotzkis 
oder Tschitscherins zu vergleichen. Gäbe es kein andere: 
Symptom, als diese Illustration der Klugheit hier und dort. 
Doch es gibt unzählige Symptome des tiefen Abgrunds und 
was vor allem die Wahl zwischen diesen beiden Welten 
nicht schwer macht, ıst die Erkenntnis, um welchen Preis 
die bolschewistischen, um welchen die deutsch-demokratischen 
Kompromisse erkauft werden. Wer wollte leugnen, daß 
die Bolschewiki Wasser in ihren Wein gießen, wie der 
Schmock sich ausdrückt? Doch der Aspekt welch großen 
Zieles und welche eiserne Notwendigkeiten entringen den 
Lenkern eines hungernden, von Seuchen und seit sechs 
Jahren vom Kriege geplagten. von der ganzen Welt 
boykottierten und bekämpften. dabei seit jeher industriearmen, 
von Gruppen eigenen Volkes sabotierten Landes ihre harten 
Mabregeln! Und wie sieht die diplomatische Klugheit aus, 
die in Deutschland Morde halboffiziell sanktioniert. Rom- 
promil gegen den Rechtsstaat an die ominöse Ruhe- 
bedürftigkeit eines in Wahrheit empörungsbedürftigen Volkes? 
Geßlers Ausspruch von den allerdings »traurigen« Gescheh- 
nissen in Thal neben Trotzkis Rede auf dem Kongreß 
der Kommunistischen Partei Ruflands*) gestellt, die die 
bittere Forderung provisorischer Miltarisierung darlegt, die 
Worte dieses bolschewistischen »Sadisten«e neben denen des 
militärfrommen Feldwebel-Sohnes müßten Jedem zeigen, auf 
‚welcher Seite Gerechtigkeit und zugleich Klugheit und nicht 
JJ Seite 737 dieses Heftes. 


Abrechnung | 717 


zuletzt diplomatische Geschicklichkeit steht. Ein Dokument 
heldenhaften Kampfes und ein Dokument kläglichster Dumm- 
heit. Solcher Antithesen gäbe es tausend. 

Dem deutschen Bürger aber sagt nichts, was alles sagt. 
Er ist das Paradox der Weltgeschichte: Dem ersten Blick 
grotesk, dem zweiten, philosophisch befangenen, immerbin wahr, 
weil er eben so geschaffen ist, enthüllt er sich dem driften 
und letzten als eine unsägliche Plattitüde, die zu hassen 
falsch, die zu bekämpfen und über die hinwegzuschreiten 
notwendig ıst. Daß der Bolschewismus keine Erscheinung ist, 
über die irgendeinmal hinwegzuschreiten wäre, das sehen 
heute alle. Lloyd George inbegriffen. Nur der deutsche 
Bürger und seine redenden, schreibenden und regierenden 
Musterexemplare sehen es nicht, weil dieser Bürger nichts 
sieht als sich selbst, nichts will als sein Wohlergehen und 
weil ihn die Dinge nichtmehr interessieren, sobald seine 
Wortführer im -B. T.. und in der -N. V.. ein Wort 
gefunden haben. unter dem er das Ding registrieren und 
also aus der Welt schaffen zu können glaubt. 

Denn das ist es, was die Deutschen von allen Völkern 
unterscheidet: Die Worte sind nicht mit den 
Dingen, sondern gegen sie. — Der Reichswehrminister 
will die Tatsache des grauenvollsten Massenmordes mit dem 
Worte »straurig« aus der Welt schaffen. Dieselbe Methode 
versucht der deutsche Bürger von Beginn an gegen den 
Bolschewismus: Seit drei Jahren erzählt man an der Börse, 
im Spielklub, in der Presse, am Turf und am Stammtisch, 
der Bolschewismus sei »reif zum Untergang« und noch un- 
gezählte Male werden wir es hören, — solange bis der zum 
Untergange wahrlich längst schon reife Bürger noch 'unter- 
gehend kreischen wird: -Der Bolschewismus ist reif. . !« 

Allerdings wird ihm wohl dann durch einige überaus 
malgebende Faktoren die Rede abgeschniften, ja, vielleicht 
ins Gegenteil umgekehrt werden. 


1 Lenin / Thesen über die 


THESEN ÜBER DIE NATIONALE UND 
KOLONIALE FRAGE 


VON LENIN 


Vorläufiger, den Delegierten des 2. Kongresses der 
Kommunistischen Internationale vorgeschlagener Entwurf. 


1. Nach ihrer Natur ist der bürgerlichen Demokratie 
das abstrakte und formale Verhalten zur Frage der 
Gleichheit überhaupt, darunter zur nationalen Gleichheit 
eigen, Unter dem Scheine der Gleichheit der mensch- 
lichen Persönlichkeit proklamiert die bürgerliche Demokratie 
die formale oder juridische Gleichheit des Eigentümers 
und des Proletariers, des Ausbeuters und des Aus- 
gebeuteten. wodurch sie die unterdrückten Klassen im 
höchsten Grade betrügt. Die Gleichheitsidee, die eine 
Abspiegelung der Warenproduktionsbeziehungen ist, wird 
von -der Bourgeoisie in ein Kampfmittel gegen die Ab- 
schaffung der Klassen verwandelt, unter dem Vorwande 
von angeblich unbeschränkter Gleichheit der menschlichen 
Persönlichkeiten. Der wirkliche Sinn der Gleichheits- 
forderung besteht nur in der Forderung nach Ab- 
schaffung der Klassen. 

2. Gemäß ihrer Hauptaufgabe. des Kampfes gegen 
die bürgerliche Demokratie und der Enthüllung ihrer Lage 
und Heuchelei. muß die Kommunistische Partei als bewußte 
Vermiſtlerin des Kampfes der Proletarier zum Sturze des 
bürgerlichen Joches auch in der nationalen Frage nicht 
abstrakte und nicht formale Grundsätze an die erste Stelle 
setzen, sondern, erstens, die genaue Darlegung der genauen 
geschichtlichen und vor allem der wirtschaftlichen Ver- 
hältnisse: zweitens die klare Absonderung der Interessen 


nationale und koloniale Frage 719 


der unterdrückten Klassen, der Werktätigen. der Aus- 
gebeuteten. von dem allgemeinen Begriffe der Volksinteressen, 
die die Interessen der herrschenden Klasse bedeuten: drittens 
eine eben so klare Absonderung der unterdrückten. ab- 
hängigen. nicht gleichberechtigten Nationen von den unter- 
drückenden. ausbeutenden. vollberechtigten Nationen, als Gegen- 
gewicht zur bürgerlich-demokratischen Lüge, welche die der 
Epoche des Finanzkapıtals und des Imperialismus eigene 
koloniale und finanzielle Unterjochung der ungeheuren Mehr- 
heit der Bevölkerung und der Länder durch eine geringe 
Minderheit der reichsten. vorgeschriftenen kapitalistischen 
Länder vertuscht. 

3. Der imperialistische Krieg 1914—18 hat mit be- 
sonderer Deutlichkeit vor allen Nationen und vor den 
unterdrückten Klassen der ganzen Welt die Lügenhaftigkeit 
der bürgerlich-demokratischen Redensarten aufgedeckt und 
gezeigt, daß der Versailler Vertrag der berühmten »West- 
lichen Demokraten: eine noch grausamere und schändlichere 
Vergewaltigung der schwachen Nationen ist, als der 
Brest-Litowsker Vertrag der deutschen Junker und des 
Kaisers. Der Völkerbund und die ganze Politik der 
Entente nach dem Kriege deckt noch deutlicher und 
schärfer diese Wahrheit auf. Dadurch wird überall der 
Kampf der vorgeschriſtenen Länder wie auch aller werk- 
tätigen Massen der kolonialen und abhängigen Länder ver- 
schärft und der Zusammenbruch der kleinbürgerlich-nationalen 
Vorstellungen -in Bezug auf die Möglichkeit des friedlichen 
Zusammenlebens und der Gleichheit der "Nationen unter 
der Herrschaft des Kapitalismus beschleunigt. 

4. Aus den oben angeführten grundlegenden Leitsätzen 
folgt, daß die nähere Verbindung der Proletarier und der 
werktätigen Massen aller Nationen und Länder zum ge- 
meinsamen revolutionären Kampfe zwecks des Sturzes der 


Grundbesitzer und der Bourgeoisie in den Vordergrund 


720 Lenin / Thesen über die 
der ganzen Politik der Kommunistischen Internationale ın 
der nationalen und kolonialen Frage treten muß. Nur 
eine solche Verbindung sichert den Sieg über den Kapı- 
talismus: ohne diesen Sieg ist die Abschaffung des nationalen 
Joches und der Nichtgleichberechtigung unmöglich. 

5. Die politische Lage der Welt hat jetzt die Dik- 
tatur des Proletariats auf die Tagesordnung gesetzt und 
alle Ereignisse der Weltpolitik konzentrieren sich unver- 
meidlich um einen Mittelpunkt. nämlich um den Kampf 
der Weltbourgeoisie gegen die russische Räterepublik, die 
um sich folgerichtig einerseits die Rätebewegungen der 
vorgeschriftenen Arbeiter aller Länder, anderseits alle natio- 
nalen Befreiungsbewegungen der Kolonien und der unter- 
drückten Nationen gruppiert, welche sich durch schwere Er- 
fahrung davon überzeugen, daß ıhre Reftung nur ım Siege 
der Rätemacht über den Weltimperialismus liegt. 

6. Also kann man sich gegenwärtig nicht auf die 
nackte Anerkennung und Proklamierung der Verbindung 
der Werktätigen der verschiedenen Nationen beschränken, 
sondern muß die Politik der Verwirklichung des innigsten 
Bundes aller nationalen und kolonialen Befreiunge- Bewegungen 
mit Sowjetruſlland betreiben und die Formen dieses Bundes 
der Entwicklungsstufe der kommunistischen Bewegung unter 
dem Proletariat eines jeden Landes oder der bürgerlich- 
demokratischen Befreiungsbewegung der Arbeiter und Bauern 
in den rückständigen Ländern oder unter den rückständigen 
Nationalitäten anpassen. 

7. Das Bündnis ist eine Übergangsform zur vollen 
Vereinigung der Werktätigen aller Nationen. Das Bündnis 
hat schon in der Praxis seine Zweckmäfigkeit offenbart: 
so z. B. in den Beziehungen der Russischen Sozialistischen 
Föderativen Sowjetrepublik zu den übrigen Sowjetrepubliken (der 
ungarischen, finnischen, leſtländischen in der Vergangenheit, der 


aserbeidschanischen, der ukrainischen in der Gegenwart), wie auch 


nationale und koloniale Frage 721 


innerhalb der russischen Sowjetrepublik in bezug auf die 
Nationalitäten. die weder eine staatliche Existenz noch 
Selbstverwaltung besaßen (z. B. die autonomen Republiken 
der Baschkiren und Tataren innerhalb der Russischen 
Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, die 1919 . und 
1920 geschaffen worden sind). 

8. Die Aufgabe der Kommunistischen Internationale 
besteht in dieser Hinsicht nicht nur in der weiteren 
Entwicklung, sondern auch ım Studium, ın der Prüfung 
der Erfahrungen dieser Bündnisse, die auf der Basıs der 
Räteordnung und der Rätebewegung entstehen. In An- 
erkennung der Bündnisse als Übergangsform zur vollen 
Vereinigung muß eine immer engere Verbindung angestrebt 
werden. wobei in Erwägung zu ziehen ist: erstens die Un- 
möglichkeit des Bestehens der Sowjetrepubliken, die 
von den militäriseh bedeutend mächtigeren imperia- 
listischen Mächten der ganzen Welt umgeben sind. ohne 
engere Verbindung mit den anderen Räterepubliken zu 
haben: zweitens die Notwendigkeit des engen wirtschaftlichen 
Bundes der Räterepubliken, ohne den die Wiederherstellung 
der durch den Imperialismus vernichteten Produktivkräfte 
und die Sicherstellung des Wohlstandes der Werk- 
tätigen nicht möglich ist; drittens das Bestreben. zur 
Schaffung einer einheitlichen Weltwirtschaft nach einem 
gemeinsamen Plane, der vom Proletariat aller Nationen 
geregelt wird. Diese Bestrebung ist schon beim Kapitalismus 
ganz offen zutage getreten und sieht ihrer fernen Ent- 
wicklung und Vollen dung durch den Sozialismus unbedingt entgegen. 

9. Auf dem Gebiet der Beziehungen innerhalb des 
Staates kann die nationale Politik der Kommunistischen 
Internationale sich nicht mit der nackten, formalen, nur 
in Worten erklärten und praktisch zu nichts verpflichtenden 
Anerkennung der Gleichberechtigung der Nationen be- 
gnügen, auf die sich die bürgerlichen Demokraten be- 


22 Lenin / Thesen über die 


schränken — einerlei. ob sie sich aufrichtig zu diesen 
bekennen oder sich unberechtigt die Bezeichnung Sozialisten 
beilegen, wie die Sozialisten der II. Internationale. 
Nicht nur ın der ganzen Propaganda und Agitation 
der kommunistischen Parteien — von der Parlamentstribüne 
und außerhalb derselben — müssen unentwegt dıe bestän- 
digen Verletzungen der Gleichberechtigung der Nationen 
und der Garantien der Rechte der nationalen Minderheiten 
enthüllt werden, dıe ın allen kapitalistischen Staaten” trotz 
den sdemokratischene Konstitutionen geschehen, sondern not- 
wendig ist auch: erstens, die beständige Erläuterung, daß 
nur die Röäteordnung imstande ist. den Nationen in 
Wirklichkeit dadurch Gleichberechtigung zu sichern, 
daß sie erst die Proletarıer. darauf die ganze Masse der 
Werktätigen im Kampfe mit der Bourgeoisie vereinigt: 
zweitens die direkte Unterstützung der revolutionären Be- 
wegungen bei den abhängigen und nicht gleichberechtigten 
Nationen (z. B. in Irland, unter den Negern Amerikas usw.) 
. und in den Kolonien durch alle kommunistischen Parteien. 
Ohne diese letztere. besondere wichtige Bedingung bleibt 
der Kampf gegen die Unterdrückung der abhängigen Nationen 
und Kolonien. wie auch die Anerkennung ihres Rechtes auf 
staatliche Absonderung. ein lügnerisches Aushängeschild, wie 
wir dies bei den Parteien der II. Internationale schen. 
10. Die Anerkennung des Internationalismus in Worten. 
seine Verwässerung in der Tat in der ganzen Propaganda, 
Agitation und praktischen Arbeit durch kleinbürgerlichen 
Nationalismus und Pazifismus bildet die üblichste Er- 
scheinung nicht nur bei den Zentrumsparteien der IL Inter- 
nationale, sondern auch bei denen, die aus dieser Inter- 
nationale ausgetreten sind. Ja, diese Erscheinung findet man 
sogar nicht selten inmitten solcher Parteien, die sich jetzt 
kommunistisch nennen. Der Kampf mit diesem Übel, mit 
den am tiefsten eingewurzelten kleinbürgerlich-nationalen 


nationale und koloniale Frage 723 


Vorurteilen muß umsomehr in den Vordergrund gerückt 
werden, je brennender die Frage der Umwandlung der 
Diktatur des Proletariats wird: nämlich die Umwandlung 
aus einer nationalen Diktatur (d. h. der in einem Land 
existierenden, zur Führung einer Weltpolitik unfähigen) in 
eine internationale Diktatur (d. h. in eime Diktatur des 
Proletariats wenigstens in einigen vorgeschriftenen Ländern, 
die fahig zu einem entscheidenden Einfluß auf die ganze 
Weltpolitik ist). Der kleinbürgerliche Nationalismus erklärt 
als Internationalismus die Anerkennung der Gleich- 
berechtigung der Nationen und — ganz abgesehen davon, 
dał eine derartige Anerkennung nur ın Worten ge- 
schieht — hält den nationalen Egoismus für unantastbar. 
Der proletarische Internationalismus dagegen fordert: Erstens: 
Die Unterordnung der Interessen des 
proletarischen Kampfes des Landes unter die 
Interessen dieses Kampfes im Weltmaßstab: 
zweitens: Die Fähigkeit und Bereitschaft von 
Seiten einer Nation, die über die Bourgeoisie 
gesiegt hat, die größten nationalen Opfer zu 
bringen, um den internationalen Kapitalismus 
zu stürzen. Daher ist in den kapitalistischen Staaten, 
die Arbeiterparteien besitzen, welche tatsächlich einen Vortrupp 
des Proletarıats darstellen, der Kampf mit der opportu- 
nistischen und kleinbürgerlich-pazifistischen Verdrehung der 
Begriffe und der Politik des bürgerlichen Internationalismus 
die eu und wichtigste Auf gabe. 
. Im Verhältnis zu den Staaten und Nationen. die 
3 ge zurückgebliebenen, vorherrschend feudalistischen 
oder patriarchalisch-bäuerlichen Charakter tragen, mul man 
besonders folgende Punkte ım Auge behalten. 
a) Alle kommunistischen Parteien müssen der bürgerlich- 
demokratischen freiheitlichen Bewegung in diesen 


Ländern zu Hilfe kommen In erster Linie trifft diese Ver- 
pflichtung zur tatkrüftigen Hilfe die Arbeiter des betreffenden Landes, von 


724 


Lenin / Thesen über die 
dem die zurückgebliebene Nation in kolonialer oder finanzieller Beziehung 
abhängt. 

b.) Notwendig ist ein Kampf gegen die Geistlichkeit und andere 
reaktionäre mittelalterliche Elemente. die Einfluß in rückständigen 
Organen haben. 

c.) Notwendig ist der Kampf gegen den Pan-Islamismus und ähnliche 
Richtungen, die den Versuch machen, den Freiheitskampf gegen den 
europäischen und amerikanischen Imperialismus mit der Stärkung der Macht 
des Adels der Großgrundbesitzer und Geistlichen zu verbinden. 

d.) Ferner ist besonders die Unterstützung .der bäuerlichen Bewegung 
in den zurückgebliebenen Ländern gegen die Grundbesitzer. und alle 
Formen und Überreste des Feudalismus notwendig: man muß vor allem 
danach streben, der bäuerlichen Bewegung einen möglichst revolutionären 
Charakter zu geben und eine möglichst enge Verbindung zwischen dem 
westeuropäischen kommunistischen Proletariat und der revolutionären Be- 
wegung der Bauern im Osten, in den Kolonien und den rückständigen 
Ländern herzustellen. 

e.) Gegen den Versuch, der bürgerlich-demokratischen Freibeitsbewegung 
in den zurückgebliebenen Ländern ein kommunistisches Mäntelchen um- 
zuhängen, muß ein entschlossener Kampf geführt werden. Die Kommu- 
nistische Internationale hat die Pflicht, die bürgerlich-demokratische nationale 
Bewegung in den Kolonien und rückständigen Ländern nur zu dem Zweck 
zu unterstützen. um die Bestandteile der künftigen proletarischen Parteien — 
der wirklich und nicht nur dem Namen nach kommunistischen — in allen 
rückständigen Ländern zu sammeln, sie zum Bewußtsein ihrer besonderen 
Aufgaben zu erziehen und zwar zu den Aufgaben des Kampfes mit der 
bürgerlich-demokratischen Richtung im Schoße ihrer engeren Nation. Die 
kommunistische Internationale muß ein zeitweiliges Bündnis mit der demo- 
kratischen Bourgeoisie der Kolonien und rückständigen Ländern eingehen, 
darf sich aber nicht mit ihr vermischen, sondern muß bedingungslos den 
selbständigen Charakter der proletarischen Bewegung — such in ihrer un- 
entwickeltesten Form — aufrecht erhalten. 

f.) Notwendig ist es, unter den breitesten Massen der Werktätigen 
aller und insbesondere der rückständigen Länder fortgesetzt den Betrug 
aufzudecken und aufzuklären. den die imperialistischen Mächte systematisch 
dadurch begehen, daß sie unter der Schaffung politisch unabhängiger Staaten 
Staatsgebilde ins Leben rufen, die wirtschaftlich, finanziell und militärisch 
vollständig von ihnen abhängig sind. In den derzeitigen internationalen 
Verhältnissen gibt es für die abhängigen und schwachen 
Nationen keine andere Rettung mehr, als ein Bünd- 
nie von Räterepubliken. 


12. Jede Knechtung der kolonialen und schwachen 


Völkerschaften durch die imperialistischen Großmächte 
hinterließ in den werktätigen Massen der geknechteten 


nationale und koloniale Frage 725 


Länder nicht nur Gefühle der Erbiſterung. sondern auch 
Gefühle des Miftrauens gegen die knechtenden Nationen 
im allgemeinen, und dauert auch gegen das Proletariat 
dieser Nationen. Der niederträchtige Verrat am Sozialismus 
durch die Mehrheit der offiziellen Führer dieses Proletariats 
von 1914—19, als die Sozialpatrioten unter der »Ver- 
teidigung des Vaterlandes. die Verteidigung des Rechts · 
ihrer Bourgeoisie auf Knechtung der Kolonien und Aus- 
plünderung der finanziell abhängigen Länder verbargen — 
dieser Verrat konnte dieses vollstandig gerechtfertigte Mig- 
trauen nicht entkräften. Anderseits ist, je rückständiger das 
Land, desto stärker die kleinbäuerliche Produktionsweise. 
der Patriarchalismus und der Lokalpatriotismus in ihm. 
und dies führt unvermeidlich dazu, daß die tiefsten der 
kleinbürgerlichen Vorurteile. nämlich die des nationalen 
Egoismus und der nationalen Beschränktheit, besonders stark 
und beharrlich auftreten. Da diese Vorurteile erst nach 
der Ausrottung des Imperialismus und Kapitalismus in den 
vorgeschriftenen Ländern und nach der radikalen Umformung 
der ganzen Grundlagen des wirtschaftlichen‘ Lebens der 
rückständigen Länder ausgeroſtet werden können, so kann 
die Beseitigung dieser Vorurteile nur sehr langsam vor 
eich gehn. Daraus ergibt sich für das klassenbewußte 
kommunistische Proletariat aller Länder die Verpflichtung 
zu besonderer Vorsicht und besonderer Aufmerksamkeit 
gegenüber den an sich überlebten nationalen Gefühlen ın 
den lange. Zeit geknechteten Ländern und Völkerschaften 
und zugleich die Verpflichtung, Zugeständnisse zu machen, 
um desto rascher dieses Miftrauen und diese Vorurteile 
zu beseitigen. Ohne freiwilligen Zusammenschlul des Pro- 
letariats und damit aller werktätigen Massen aller Länder 
und der Nationen der ganzen Welt zu einem Bunde 
und einer Einheit kann der Sieg über den Kapitalismus 
nicht mit vollem Erfolg zu Ende geführt werden. 


126 Lenin und Trotzki 


ZWEI REDEN 
VON LENIN UND TROTZKI 
auf dem IX. Kongreß der Kommugistischen Partei Ruflands 


LENINS BERICHT. 


Genossen! Bevor ich mit meinem Bericht beginne, muß ich sagen, daß er, 
wie dies auf dem letzten Kongresse der Fall war, in zwei Teile eingeteilt ist, den 
politischen und den .organisatorischen. Diese Einstellung führt uns vor allem auf 
den Gedanken darüber, wie sich die Arbeit des Zentralkomitees in politischer und 
organisatorischer Beziehung entwickelt hat. 

Unsere Partei hat das erste Jahr ohne Gen. Swerdlow durchlebt; dieser Verlust 
mußte die ganze Organisation des Zentralkomitees beeinflussen. So harmonisch in 
sich die organisatorische und politische Arbeit vereinigen, wie dies Gen. 
Swerdlow verstanden hatte, konnte niemand und wir mußten versuchen, seine Ar- 
beit durch die Arbeit eines Kollegiums zu ersetzen. — Die Arbeit des Zentral- 
komitees im Berichtsjahr wurde von zwei auf der Plenarsitzung des Zentralkomitees 
gewählte Kollegien durchgeführt; der Örganisationsbureaux des Zentralkomitees. 
wobei zwecks strenger einheitlicher Ausführung und Konsequenz der Beschlüsse 
der einen oder anderen Institution, der Sekretär des Zentralkomitees beiden Bureaus 
angehörte. Die Sache gestaltete sich so, daß die Hauptaufgabe der Organisations- 
bureaus die Verteilung der Parteikräfte war und das politische Bureau die poli- 
tischen Aufgaben durchzuführen hatte. 

Über die politische Arbeit des Zentralkomitees Bericht erstatten, das ist eine 
sehr schwere Arbeit, wenn man sie im buchstäblichen Sinne des Wortes auffaßt. 
In diesem Jahre lief ein erheblicher Teil der Arbeit des politischen Bureaus auf 
die laufende Lösung jeder entstehenden Frage hinaus, die zur Politik in bezug 
stand, so daß das politische Bureau die Tätigkeit aller Sowjet- und Parteiinstitu- . 
tionen, aller Organisationen der Arbeiterklasse vereinigte und bestrebt war, die 
ganze Arbeit der Sowjetrepublik, alle Fragen der internationalen, der inneren und 
der auswärtigen Politik zu leiten. Es versteht sich, daß es unmöglich wäre, auch 
nur annähernd alle diese Fragen aufzuzählen. Jeder von uns, der in dieser oder 
jener Sowjet- oder Parteiorganisation tätig ist, hat täglich den ungewöhnlichen 
Wechsel der politischen Fragen, der auswärtigen wie der inneren, verfolgt. Die 
Lösung dieser Fragen selbst ist, wie sie in den Dekreten der Sowjetmacht und 
in der Tätigkeit der Parteiorganisation zum Ausdruck kam, die Bewertung des 
Zentralkomitees der Partei. Es muß gesagt werden, daß die Zahl der Fragen so 
groß war, daß sie oft überaus eilig entschieden werden mußten und nur dank der 
vollen Bekanntschaft der Glieder des Kollegiums untereinander, dank der Kenntnis 
der Meinungschattierungen, dank dem gegenseitigen Vertrauen konnte die Arbeit 


Zwei Reden 727 


durchgeführt werden. Sonst würde das die Kräfte eines dreimal größeren Kolle- 
giums überstiegen haben. Oft mußten weniger verwickelte Fragen auf diese Weise 
entschieden werden, daß die Versammlung durch ein Telephongespräch ersetzt 
wurde. Das wurde ın der Gewißheit getan, daß einige wissentlich komplizierte 
Fragen nicht umgangen werden würden. Solch eine Vereinfachung der Arbeit 
half sehr. 

Anstatt einen chronologischen Überblick und eine Gruppierung der Gegen- 
stände zu geben, will ich mich in meinem Bericht bei den wichtigsten, den wesent- 
lichsten Momenten aufhalten und zwar bei denen, die die Erfahrung des gestrigen 
Tages, richtiger des durchlebten Jahres, mit den Aufgaben verbinden, die vor uns 
stehen. Für die Geschichte der Sowjetmacht ist die Zeit nicht gekommen. Wenn 
sie gekommen wäre, so würde ich für meine Person und, ich glaube, auch im 
Namen des Zentralkomitees sagen, daß wir nicht die Absicht haben, Historiker zu 
sein. Uns interessiert die Gegenwart und die Zukunft, hauptsächlich die Zukunft. 
Das vergangene Berichtsjahr nehmen wir als Material, als Lehre, als Trittbrett, 
von dem aus wir weiterschreiten. Geht man an die Sache von dieser Seite heran, 
so teilt sich die Arbeit des Zentralkomitees in zwei große Zweige; in die Arbeit, 
die mit den militärischen Aufgaben und denjenigen verbunden war, die die inter- 
nationale Lage der Republik bestimmten und die Arbeit des inneren friedlichen . 
wirtschaftlichen Aufbaues, die vielleicht erst seit Ende des vergangenen oder seit 
Beginn des laufenden Jahres in den Vordergrund trat, als es klar wurde, daß der 
entscheidende Sieg an den Fronten des Bürgerkrieges unser ist. 

Im Frühjahr des vergangenen Jahres war unsere militärische Lage ım höchsten 
Grade schwierig. Wir mußten, wie ıhr euch erinnern werdet, nicht wenig Nieder- 
lagen, nicht wenig neue, riesige, unerwartete Angriffe der Vertreter der Gegen- 
revolution und der Vertreter der Entente aushalten. Daher ist es vollkommen 
natürlich, daß der größte Teil dieser Periode mit Arbeiten angefüllt war, die die 
Durchführung der militärischen Lage bezweckten, der Aufgabe des Bürgerkrieges, 
die allen Kleinmütigen unlösbar schien und die sie veranlaßte, vollständig auf- 
richtig zu sagen, daß das rückständige und geschwächte Rußland nicht im Stande 
sei, das kapitalistische Regime der ganzen Welt zu besiegen, wenn die Revolution 
sich im Westen in die Länge zieht. Und wir mußten daher, unsere Position bei- 
behaltend, mit voller Sicherheit und absoluter Gewißheit sagen, daB wir siegen 
werden. Die Losungen „Alle für den Sieg” und „Alle für den Krieg“ mußten 
durchgeführt werden. Im Namen dieser Losungen mußten wir oft bewußt und offen 
eine ganze Reihe der wesentlichen Bedürfnisse unbefriedigt lassen, mußten auf 
Schritt und Tritt viele ohne Hilfe lassen, in der Gewißheit, daß dies so richtig 
sei, da dies Opfer gebracht wurde, um unsere ganze Kraft auf den Krieg und 
- auf den Sieg in diesem Kriege, den uns die Entente aufgezwungen hatte, konzen- 
trieren zu können. 

Und nur dank dem Umstande, daß die Partei auf der Wacht stand, daß die 
Partei streng diszipliniert war, und die Autorität der Partei alle Ressorts, alle In- 
stitutionen in der Losung vereinigte, die vom Zentralkomitee aufgestellt war, gingen 
Hunderte, Tausende und im Endresultat Millionen, wie ein Mann. Und nur 


728 Lenin und Trotzkı 


weil unerhörte Opfer gebracht wurden, konnte das Wunder 
geschehen, daß wir ungeachtet des zweimaligen, drei- 
maligen und vıermaligen Angriffes der Imperialisten der 
Entente und der Imperialisten der ganzen Welt imstande 
waren zu siegen. Daraus, daß wir ohne Disziplin und ohne Zentralisation 
diese Aufgabe niemals überwältigt haben würden, müssen wir eine Lehre ziehen. 

Die von uns gebrachten unerhörten Opfer zur Rettung des. Landes vor der 
Gegenrevolution, zum Siege der Revolution über Judenitsch, Koltschak und Denikin 
sind eine Lehre für die soziale Weltrevolution. Um unsere Aufgabe zu verwirk- 
lichen, hatten wir Disziplin in der Partei, strenge Zentralisation und absolute Ge- 
wißheit dessen nötig, daB die unerhört schweren Opfer zehn- und hundert- 
tausender Menschen helfen werden, diese Aufgabe zu verwirklichen, daß diese 
Aufgabe wirklich durchgeführt werden könne. Dazu war nötig, daß unsere Partei 
und die Klasse, die die Diktatur der Arbeiterklasse verwirktlicht, Elemente seien, 
die Millionen und Millionen Werktätiger ın Rußland und ın der ganzen Welt ver- 
einigen. Zentralisation, Disziplin und unerhörte Selbstaufopferung haben unsere 
Aufgabe gelöst. 

Wie konnten Millionen Werktätiger in einem Lande, das am wenigsten zur 
Organisation erzogen war, dahin kommen, daß diese Disziplin und Zentralisation 
verwirklicht wurden? Nur dank dem Umstande, daß der Besitz, 
der kapitalistische Besitz isoliert, wir aber vereinigen, 
eine immer größere Anzahl von Millionen Werktätiger ın der ganzen Welt ver- 
einigen. Jetzt sehen dies sogar die Blinden, sogar diejenigen, die das nicht sehen 
wollten. Unsere Feinde aber trennten sich je weiter, desto mehr. Sie isolierte 
der kapitalistische. Besitz, der Privatbesitz bei der Warenproduktion, ob dies kleine 
Besitzer waren, die auf den Verkauf des Cetreideüberſlusses auf Kosten der hun- 
gerigen Arbeiter spekulierten, oder Kapitalisten der verschiedenen Länder, die mili- 
tärische Macht besaßen, sogar wenn sie eine Liga der Nationen, eine große, ein- 
heitliche Liga aller vorgeschrittenen Nationen geschaffen haben würden. Diese 
Einigkeit ist von Anfang bis zu Ende Fiktion, Betrug, Lüge. O, wir haben das 
größte Beispiel gesehen; die berühmte Liga der Nationen, die da versuchte, 
Rechte auf Verwaltung von Staaten zu geben, die Welt aufzuteilen, — diese be- 
rühmte Liga hat sich als Seifenblase erwiesen, die sofort zer- 
platzte, weil sie auf kapitalistischem Besitz basierte. Wir 
haben dies im größten historischen Maßstabe gesehen. 

Das bestätigt jene grundlegende Wahrheit, auf deren Anerkennung wir unser 
Recht bauten, unsere feste Zuversicht auf den Sieg in der Oktoberrevolution, darauf, 
daß wir eine Sache beginnen, der sich trotz allen Schwierigkeiten und Hinder- 
nissen Millionen und Millionen Werktätiger in allen Ländern anschließen werden. 
Wir wußten, daß wir einen Verbündeten haben, daß das eine Land, dem die Ge- 
schichte diese ehrenvolle und schwierigste Aufgabe auferlegt hat, nur verstehen 
müsse Selbstaufopferung zu offenbaren. Diese unerhörten Opfer werden sich 
hundertfältig bezahlt machen, da jeder übrige Monat, den wir in unserem Lande 
verleben, uns Millionen und Millionen Verbündeter in allen Ländern gibt. 


Zwei Reden 729 


Wir mußten siegen. weil unsere Feinde, die formal durch eine Liga der stärksten 
Regierungen der Welt und der Vertreter des Kapıtals verbunden waren, keinen 
innerlichen Zusammenhang hatten; weil der kapitalistische Besitz sie trennte, sie 
gegeneinander warf, sie zersetzte, die Verbündeten in wilde Tiere verwandelte, 
so daß sie nicht sahen, wie Sowjetrußiand seine Anhänger vermehrte, wie unter 
den englischen Soldaten, die in Archangelsk geiandet waren, so auch unter den 
französischen in Sewastopel und unter den Arbeitern alier Länder, wo die Sozial- 
kompromißler für das Kapital Partei ergreifen mußten. — Diese fundamentale 
und tiefste Ursache hat uns ìn ihrem Endresultat zum sichersten Siege verholfen. 
Sie fährt fort, die wichtigste, unbezwingbare, unversiegbare Quelle unserer Kraft 
zu sein, die uns erlaubt zu sagen, daß wir, wenn wir erst in unserem 
Lande den Kommunismus vermittels der Diktatur des Pro- 
letarıats, vermittels der größten Vereinigung seiner Kräfte 
durch seine Avantgarde, durch seine vorgeschrittenePartei, 
verwirklicht haben werden, die Weltrevolution erwarten 
können. Und das ist in Wirklichkeit der Ausdruck des Willens des Proletariats, 
der Ausdruck der proletarischen Entschlossenheit zum Kampfe, der proletarischen 
Entschlossenheit zum Bunde von Millionen und Millionen von Arbeitern in allen 
Ländern. 

Dies wurde bis jetzt von den Herren Bourgeois und den angeblichen Sozialisten 
der 2. Internationale für eine Agitationsphrase erklärt. Nein, das ist die historische 
Wirklichkeit, die durch die blutige und schwere Erfahrung des Bürgerkrieges in 
Rußland bestätigt worden ist, denn dieser Bürgerkrieg war eın Krieg gegen das 
Weltkapital, dieses Weltkapital aber ist im Streite von selbst zusammengestürzt, es 
verzehrt sich selbst, damit wir gestählt und gestärkt aus diesem Kampfe hervor- 
gehen im Lande des vor Hunger und am Flecktyphus sterbenden Proletariats. — 
Das, was früher für eine Agitationsphrase galt, worüber zu lachen die Bourgeoisie 
gewöhnt war, dieses Jahr unserer Revolution, vor allem das Berichtsjahr, hat sich 
in eine endgültige, unbestreitbare historische Tatsache verwandelt, die die Mög- 
lichkeit gibt, mit Gewißheit zu sagen, daß wir eine Weltbasis haben, die unendlich 
viel breiter ist, als sie es in irgendwelchen anderen Revolutionen war. Wir haben 
einen internationalen Verband, der nirgends eingetragen, nirgends formuliert ist, 
der vom Standpunkt der Staatenbildung nichts bedeutet, der aber in Wirklichkeit 
die kapitalistische Welt zersetzt und alles ist. Jeder Monat, in dem wir uns Posi- 
tionen errangen oder sie einfach gegen den unerhört mächtigen Feind behaupteten. 
bewies der ganzen Welt, daß wir recht haben und gab uns neue Millionen 
Menschen. 

Dieser Prozeß schien schwer, war von gigantischen Niederlagen begleitet. Auf 
den unerhörten weißen Terror Finnlands folgte, gerade im Berichtsjahr, die 
Niederlage der ungarischen Revolution, die die Vertreter der 
Entente einem heimlichen Abkommen mit Rumänien gemäß erstickten, wobei sie 
ihre Parlamente und Vertretungen betrogen. Noch niemals hat jemand darüber 
auch nur den hundersten Teil der Wahrheit gesagt, die wir wissen. Das war der 
gemeinste Verrat, eine Verschwörung zwischen der Entente und Rumänien, um 


730 Lenin und Trotzki 


durch den weißen Terror die ungarische Revolution zu ersticken. Sie gingen auf 
Verständigung mit den deutschen Kompromißlern ein, um die deutsche Revolution 
zu ersticken. Diese Leute, die Liebknecht für einen ehrlichen Deutschen er- 
klärt hatten, stürzten sich ım Verein mit den deutschen Imperialisten wie tolle 
Hunde auf diesen ehrlichen Deutschen. Sie übertrafen hier alles, was möglich war 
und jede Äußerung dieser Art ihrerseits befestigte und stärkte uns und untergrub 
den Boden unter ihnen. 

An unserer Revolution hat sich mehr als an irgendeiner anderen das Gesetz be- 
stätigt, daß die Kraft der Revolution, die Wucht des Andranges, die Energie, Ent- 
schlossenheit und der Triumph des Sieges den Widerstand der Bourgeoisie ver- 
stärken. Je mehr wir Proletarier siegen, desto mehr entwickeln. wir die kapitali- 
stische Exploitation, desto mehr lernen die kapitalistischen Ausbeuter sich zu ver- 
einigen und zum entschlosseneren Angriff überzugehen. Ihr erinnert euch alle sehr 
gut — es ist vom Standpunkt der Zeit aus nicht lange, vom Standpunkt der 
laufenden Ereignisse aus aber sehr lange her — daß der Bolschewismus zu Beginn 
der Oktoberrevolution für eın Kuriosum gehalten wurde und mußte man ın Ruß- 
land bald diese Ansicht aufgeben, so hielt sie sich ın Europa sehr lange. Doch 
in diesem Jahre haben wir gesehen, daß diese Ansicht, die der Ausdruck der Nicht- 
entwicklung und Schwäche der proletarischen Revolution war, auch in Europa 
aufgegeben ist. Der Bolschewismus ist zur Welterscheinung geworden, die Ar- 
beiterrevolution hat den Kopf erhoben. Das Sowjetsystem, das wir den Geboten 
des Jahres 1905 und unserer eigenen Erfahrung folgend geschaffen haben, hat sich 
als historische Welterscheinung erwiesen und jetzt stehen sich, man kann ohne 
Übertreibung sagen, im Weltmaßstabe zwei Lager in vollem Bewußtsein gegen- 
über. Es muß bemerkt werden, nur in diesem Jahre haben sie sich zu entschlossenem 
Endkampfe einander gegenübergestellt und vielleicht durchleben wir gerade jetzt 
während der Tagung unseres Kongresses einen Augenblick des größten, schroffsten 
Umschwunges vom Kriege zum Frieden. 

Ihr wißt alle, daß die Führer der imperialistischen Ententestasten der ganzen 
Welt verkündeten: „Wir werden den Krieg mit den Usurpatoren, den Macht- 
räubern, den Gegnern der Demokratie, den Bolschewiki nicht aufgeben.“ — Ihr 
wißt, daß sie die Blockade aufgehoben haben, daß ihr Versuch, die kleinen Staaten 
zu vereinigen, mißlungen ist, weil wir es verstanden haben, nicht nur die Arbeiter 
der ganzen Welt, sondern auch die Bourgeoisie der kleinen Länder auf unsere 
Seite zu ziehen, weil die Imperialisten nicht nur Bedrücker der Arbeiter ihrer 
Länder sondern auch der Bourgeoisie der kleinen Staaten sind. Ihr wißt, daß 
wir das schwankende Kleinbürgertum innerhalb der vorgeschrittenen Linder auf 
unsere Seite gezogen haben. Und jetzt ıst der Augenblick eingetreten. wo diese 
Entente ihre Versprechungen, ihre Verträge bricht, die sie, nebenbei bemerkt, in 
großer Menge mit verschiedenen russischen Weißgardisten abgeschlossen hat. Für 
diese Verträge hat die Entente Hunderte von Millionen hinausgeworfen und die 
Sache nicht zu Ende geführt. Jetzt, nach Aufhebung der Blockade, ist sie tat- 
sächlich mit der Sowjetrepublik in Verhandlungen getreten, die sie übrigens nicht 
zu Ende führt, weil sie den Glauben an ihre kleinen Staaten verloren hat. 


Zwei Reden 731 


Wir sehen, daß die Lage der Entente vom Standpunkt der gewöhnlichen Auf- 
fassung der Jurisprudenz nicht bestimmt werden kann. Die befindet sich mit 
den Bolschewiki weder im Frieden noch im Krieg. — Sie erkennt uns an und 
sie erkennt uns nicht an. Und dieser volle Zerfall unserer Gegner, die überzeugt 
waren, daß sie etwas vorstellen, beweist, daß sie nichts vorstellen als ein Häuflein 
kapitalistischer wilder Tiere, die sich in den Haaren liegen und vollständig machtlos 
sind, uns etwas anzuhaben. Und jetzt ist die Lage derart, daß uns Lettland offi- 
zielle Friedensvorschläge gemacht hat; Finnland hat ein Telegramm geschickt, in 
dem es offiziell von der Demarkationslinie spricht; und endlich Polen, dessen Ver- 
treter besonders stark mit dem Säbel gerasselt haben und rasseln, Polen, das am 
meisten bekommen hat und noch ganze Züge mit Artillerie bekommt, dem Hilfe 
in allem versprochen ist, wenn es nur den Krieg mit Rußland fortsetzt, dieses 
Polen, dessen Regierung sich in so schwankender Lage befindet, daß sie gezwungen 
ist, sich auf jedes Kriegsabenteuer einzulassen, dieses Polen fordert uns auf, in 
Friedensverhandlungen einzutreten. 

Man muß im höchsten Grade vorsichtig sein. Unsere Politik verlangt jetzt mehr 
als je aufmerksame Behandlung. Hier ıst es am schwersten, die richtige Linie zu 
finden, da niemand das Geleise kennt, auf dem der Zug steht. Der Feind selbst 
weiß nicht, was er weiter tun wird. Die polnischen Arbeiter entflammen immer 
mehr und mehr. Im Bewußtsein der Vertreter des gutsherrlich-bürgerlichen Polen 
entsteht der Gedanke: ist es nicht zu spät? wird es ın Polen nicht früher zur 
Sowjetrepublik kommen als der Staatsakt, der den Frieden oder den Krieg fest- 
setzt, zustande kommen wird? Sie wissen nicht, was sie tun sollen. 
Sie wissen nicht, was ihnen der morgige Tag bringt. Wir 
aber wissen, daß Jeder Monat uns eine gigantische Ver- 
stärkung unserer Kräfte gibt und weıterhin geben wird. 
Daher stehen wir jetzt in internationaler Beziehung besonders sicher da, sicherer 
als irgend jemals. Aber der internationalen Krise gegenüber müssen wir uns 
mit außerordentlicher Aufmerksamkeit verhalten und müssen bereit sein, jeder 
Überraschung zu begegnen. 

Es ist unmöglich ihr ferneres Verhalten vorherzusehn. Wir kennen diese Leute, 
wir kennen diese Kerensky, Menschewiki und Sozialrevolutionäre. In diesen Jahren 
haben wir gesehen, wie sie es heute mit Koltschak hielten, morgen fast mit den 
Bolschewiki, darauf mit Denikin, wie dies alles durch Phrasen über Freiheit und 
Demokratie verhüllt wurde. Wir kennen diese Gesellschaft. Daher ergreifen 
wir mit beiden Händen den Friedensvorschlag und sind 
zu maximalen Zugeständnissen bereit, da wir überzeugt sind, 
daß der Frieden mit den kleinen Staaten unsere Sache unendlich besser vorwärts 
bringen wird, als der Krieg mit ihnen. Durch den Krieg haben die Imperialisten 
die werktätigen Massen betrogen, sie haben die Wahrheit über Sowjetrußland ver- 
he imlicht, jeder Frieden aber eröffnet unserem Einfluß einen hundertmal größeren 
und breiteren Weg. Dieser Einfluß war in diesen Jahren ohnehin groß. Die Kommu- 
nistische Internationale hat nie dagewesene Siege errungen. Wir aber wissen zu- 
tleich, daß man uns jeden Tag den Krieg aufzwingen kann. 

17 


732 Lenin und Trotzki 


Daß Kriegsvorbereitungen im Gange sind, darüber herrscht gar kein Zweifel. 
Daher müssen wir in unserer internationalen Politik besonders manövrieren, fest 
den Kurs einhalten und zu allem bereit sein. — Den Kampf um den Frieden 
haben wir mit außerordentlicher Energie durchgeführt. Dieser Kampf zeitigt präch- 
tige Resultate. Auf diesem Kampfplatz haben wir uns am leichtesten offenbart 
und auf jeden Fall nicht schlechter als auf dem Tätigkeitsfeld der Roten Armee 
an der blutigen Front. Aber nicht vom Willen der kleinen Staaten hängt es ab, 
Frieden mit uns zu schließen, selbst wenn sie Frieden schließen wollten. Sie stecken 
bei den Ententeländern bis über die Ohren in Schulden, dort aber herrscht arges 
Gezänk und verzweifelter Wetteifer miteinander. Daher müssen wir im Auge be- 
halten, daß vom Standpunkt des historischen Weltmaßstabes aus, der durch den 
Bürgerkrieg und den Krieg gegen die Entente begründet ist, der Frieden natürlich 
möglich ist. Daher müssen wir alle Schritte zur Erlangung 
des Friedens tun, müssen aber zugleich unsere ganze Kriegs- 
bereitschaft anspannen und auf keinen Fall unsere Armee entwaffnen. 

Wichtige prinzipielle Erwägungen haben uns veranlaßt, in entschlossener Weise 
die Werktätigen zur Ausnutzung der Armee für die grundlegenden und laufenden 
Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaues zu bewegen. Gehen wir zu diesen prinzi- 
piellen Erwägungen über, die von ungeheurer Bedeutung sind. Die alte Quelle 
der Disziplin, das Kapital, ist geschwächt; die alte Quelle der Vereinigung ist ver- 
schwunden. Wir müssen eine neue Quelle der Disziplin und ‚der Vereinigung 
schaffen. Das, was der Zwang bildet, ruft die Empörung und das Geschrei der 
bürgerlichen Demokratie hervor, die mit Worten über „, Freiheit“ und „, Cleich- 
heit“ um sich werfen, ohne zu verstehen, daß Freiheit für das Kapital ein Ver- 
brechen gegen die Arbeiter ist, daß Gleichheit des Satten und Hungrigen ein Ver- 
brechen gegen die Werktätigen ist. Im Namen des Kampfes gegen die 
Lüge verwirklichen wir die Arbeitspflicht und die Ver- 
einigung der Werktätigen, ohne im geringsten den Zwang 
zu fürchten, denn nirgends ist die Revolution ohne Zwang 
durchgeführt worden und nichts ist gesetzlicher als der 
Zwang, wenn die Revolution die Fähigkeit bewiesen hat, 
diese Klasse zu Opfern zu bewegen. Sie hat das Recht, den 
Zwang zu verwirklichen, um für jeden Preis das ihre zu be- 
haupten. 

Wenn über den historischen Faktor der Herrschaft der Bourgeoisie gestritten 
wurde, vergaßen die Herren Kompromißler wie die Herren deutschen Unab- 
hängigen und die französischen Longuetisten einen solchen Faktor wie die 
revolutionäre Entschlossenheit. Festigkeit und Unbeugsamkeit des Proletariats. Und 
diese Unbeugsamkeit und Stählung unseres Proletariats, das sich und anderen ge- 
sagt und in Wirklichkeit bewiesen hat, daß wir eher zugrunde gehen, als das Terri- 
torıum unseres Landes, unsere Disziplin, die Prinzipien der Disziplin und der 
festen Politik, aufgeben würden, für die wir alles opfern müssen, ist Tatsache. 
Das ist die historische Tatsache, im Augenblicke des Zerfalles der kapitalistischen 
Länder, der kapitalistischen Klassen, im Augenblick der Verzweiflung und Krisen, 


Zweı Reden | 733 


das ist die entscheidende historische Tatsache, angesichts welcher die Phrasen über 
Minderheit und Mehrheit, über Demokratie und Freiheit nichts entscheiden, wie 
sehr die Helden der vergangenen historischen Epoche auch auf sie hinweisen. Hier 
entscheiden Bewußtsein und Festigkeit der Arbeiterklasse. Wenn die Arbeiterklasse 
zur Selbstaufopferung bereit ıst, wenn sie bewiesen hat, daß sie alle ihre Kräfte 
anzustrengen versteht, so entscheidet das die Aufgabe. Alles muß zur Lösung 
dieser Aufgabe geopfert werden. Die Entschlossenheit der Arbeiterklaase, ihr un- 
beugsamer Wille zur Verwirklichung der Losung: „eher untergehen als sich er- 
geben — diese Entschlossenheit ist nicht nur ein historischer Faktor, sondern auch 
der entscheidende, der siegende, Faktor. Und von diesem Siege, von dieser Gewißheit 
gehen wir über und sind wir schon übergegangen zu den Aufgaben des friedlichen 
wirtschaftlichen ‚Aufbaues, deren Lösung die Hauptfunktion unseres Kongresses bildet. 

Jetzt besteht die Aufgabe darin, die Fragen des wirtschaftlichen Aufbaues, die 
Wiederherstellung der zerstörten Produktion zu lösen und zu diesem Zwecke alles, 
was das Proletariat konzentrieren kann, seine Einigkeit zu beweisen. Hier ist eiserne 
Disziplin nötig, ein eisernes Regime, ohne das wır uns nicht nur über zwei Jahre 
sondern auch nicht einmal zwei Monate hätten halten können. Wir müssen es 
verstehen, unseren Sieg anzuwenden. Anderseits muß man begreifen, daß dieser 
Übergang viele Opfer erfordert, deren das Land ohnehin schon viele gebracht hat. 
Der prinzipielle Standpunkt des Zentralkomitees ın dieser Sache war klar. Unsere 
ganze Tätigkeit war dieser Politik unterworfen, wurde in diesem Geiste geleitet. 
Eine solche Frage z. B. wie die Frage der kollegialen oder der persönlichen Ver- 
waltung, die ihr entscheiden werdet, die an und für sich, aus dem Zusammenhang 
gerissen, eine Einzelheit scheint und nicht auf radıkale prinzipielle Bedeutung 
Anspruch erheben kann, muß unter dem Gesichtswinkel der grundlegenden Errungen- 
schaften unseres Wissens, unserer Erfahrung, unserer revolutionären Praxis der 
zurückgelegten Etappen behandelt werden. 

Man sagt z. B. „die kollegiale Verwaltung ist eine der Formen der Teilnahme 
breiter Massen an der Verwaltung. Wir im Zentralkomitee haben auch über diese 
Frage gesprochen und müssen vor euch Rechenschaft ablegen. Genossen, mit einer 
solchen theoretischen Konfusion kann man sich nicht zufrieden geben. Wenn wir 
in der grundlegenden Frage unserer militärischen Tätigkeit, unseres Bürgerkrieges 
auch nur den zehnten Teil einer solchen theoretischen Konfusion zugelassen hätten, 
so wären wir geschlagen worden und es wäre uns recht geschehen. Wie kann man 
die Beteiligung einer neuen Klasse an der Verwaltung mit der kollegialen oder per- 
sönlichen Form der Verwaltung in Zusammenhang bringen? — Genossen, gestattet 
mir, ein wenig Theorie in die Frage zu bringen, wie eine Klasse verwaltet, wodurch 
sich die Herrschaft der Klasse ausdrückt. Sind wir doch in dieser Beziehung keine 
Neulinge; unsere Revolution unterscheidet sich von den früheren dadurch, daß 
in ihr kein Utopismus ist. Wenn die alte Klasse von einer neuen abgelöst wird, 
kann diese sich nur in wildem Kampfe mit den Klassen halten. Und nur wenn 
sie es versteht, die alte Klasse zu vernichten, wird sie bis zu Ende siegen. Der 
gigantische komplizierte Prozeß des Klassenkampfes stellt die Sache so hin, anders 
würdet ıhr in einen Sumpf von Konfusion versinken. 


734 Lenin und Trotzki 


Worin besteht die Herrschaft der Klasse? Worin bestand die Herrschaft der 
Bourgeoisie? In der Konstitution stand geschrieben: „In der Freiheit und Gleich- 
heit“. — Das ist eine Lüge. Solange es Werktätige gibt, sind die Eigentümer 
fähig und als solche sogar gezwungen zu spekulieren. Wir sagen, daß es hier keine 
Gleichheit gebe, daß der Satte dem Hungrigen, der Spekulant. dem Werktätigen 
nicht gleich sei. Worin drückt sich die Herrschaft der Klasse aus? Die Herrschaft 
des Proletariats drückt sich ın der Aufhebung des gutsherrlichen und kapitalistischen 
Eigentums aus. Sogar der grundlegende Inhalt aller früheren Konstitutionen — 
bis zur republikanischen — lief auf das Eigentum hinaus. Unsere Konstitution 
hat sich das Recht auf historische Existenz erworben, wir haben nicht nur auf 
dem Papier niedergeschrieben, daß wır das Eigentum aufheben. Das siegende 
Proletariat hat das Eigentum aufgehoben und bis zu Ende 
abgeschaft,—darınbestehtdieHerrschaft der Klasse. Vorallem 
in der Frage des Eigentums. Als die Eigentumsfrage praktisch entschieden war, 
war. dadurch die Herrschaft der Klasse gesichert; die Konstitution schrieb darauf 
auf dem Papier das nieder, was das Leben entschieden hatte; „es gibt kein kapi- 
talistisches und gutsherrliches Eigentum.“ und fügte hinzu: „die Arbeiterklasse 
hat mehr Rechte als die Bauernschaft, die Ausbeuter aber haben gar keine Rechte. 
— Damit war das niedergeschrieben, wodurch wir die Herrschaft unserer Klasse 
verwirklicht hatten, wodurch wir die Werktätigen aller Schichten, aller kleinen 
Gruppen verbunden hatten. Die kleinbürgerlichen Eigentümer waren zersplittert. 
Unter ihnen sind diejenigen, die ein größeres Eigentum haben, die Feinde der- 
jenigen, die weniger haben und das Proletariat erklärt ihnen offen den Krieg, wenn 
es das Eigentum aufhebt. i 

Es gibt noch viele unbewußte und unwissende Elemente, die jedem freien Handel 
folgen; und wenn sie Disziplin und Selbstaufopferung im Kampfe und im Siege 
über die Ausbeuter sehen, können sie nicht kämpfen; sie sind nicht auf unserer 
Seite, sind aber machtlos, gegen uns aufzutreten. Die Herrschaft der Klasse wird 
nur durch das Verhältnis zum Eigentum bestimmt. Eben dadurch wird die Kon- 
stitution bestimmt. Und unsere Konstitution hat unser Verhältnis zum Eigentum 
und unser Verhältnis zur Frage, welche Klasse an der Spitze stehen muß, richtig 
nıedergeschrieben. Wer in der Frage, wodurch die Herrschaft der Klasse ausge- 
drückt wird, in Fragen des demokratischen Zentralismus verfällt, wie wir dies oft 
beobachten, der bringt soviel Verwirrung ın die Sache, daß eine erfolgreiche Arbeit 
auf diesem Boden nicht möglich ist. Klarheit der Propaganda und Agitation ist 
die Grundbedingung der Arbeit. 

Wenn unsere Gegner auch anerkennen, daß wir ın der Entwicklung der Agitation 
und Propaganda Wunder vollbracht haben, so muß man es nicht äußerlich auf- 
fassen, daß wir viel Papier und Agitation verwendet haben, sondern innerlich, daß 
alle die Wahrheit begriffen haben, die diese Agitation enthielt. Und von dieser 
Wahrheit können wir nicht abweichen. Wenn die Klassen einander ablösen, so ändern 
sie ıhr Verhältnis zum Eigentum. Die Bourgeoisie hat das Feudalsystem abgelöst, 
se hat das Verhältnis zum Eigentum geändert. Die Konstitution der Bourgeoisie 
sagt: „Wer Eigentum besitzt, der ist dem Bettler nicht gleich“. Und das war die 


Zwei Reden 735 


Freiheit der Bourgeoisie. Diese „Freiheit übergab die Herrschaft im Staate der 
kapitalistischen Klasse. 

Und was denkt Ihr wohl? Als die Bourgeoisie das Feudalsystem ablöste, ver- 
wechselte sie da die Herrschaft mit der Verwaltung? Nein, so dumm waren die 
Bourgeois nicht. Sie sagten, daß man, um zu verwalten, Leute brauche, die . zu 
verwalten verstehen; dazu müsse man die Lehnsherrn nehmen und sie ändern. 
So taten sie auch. Nun, war dies ein Fehler? Nein, Genossen. Die Fähigkeit 
zu verwalten fällt nicht vom Hrmmel und wird nicht vom heiligen Geist geboren. 
Deshalb, weil die Arbeiterklasse eine vorgeschrittene Klasse ist, ist sie noch nicht 
von vornherein zur Verwaltung fähig. Das sehen wir an einem Beispiel. Als die 
Bourgeoisie siegte, nahm sie die Verwalter aus der Feudalklasse. Ja, woher solite 
sie sie sonst nehmen? Man muß nüchtern die Sache sehen. Die Bourgeoisie 
nahm die vorhergehende Klasse, und vor uns steht gegenwärtig dieselbe Aufgabe, 
die Kenntnisse, die technische Erfahrung der vorhergehenden Klasse zu nehmen, 
sie uns zu unterwerfen, sie zum Siege der Arbeiterklasse auszunutzen. Wir sagen, 
daß die Klasse, die gesiegt hat, reif sein müsse, die Reife 
aber wird nicht durch Vorschrift oder eine Bescheinigung 
bewiesen, sie wird durch Erfahrung, durch die Praxis be- 
scheinigt. Die Bourgeois siegten, ohne zur Verwaltung reif zu sein und sie 
stellten ıhren Sieg dadurch sicher, daß sie eine neue Konstitution proklamierten. 
Sie nahmen die Rekruten der Verwaltung aus ihrer Klasse und begannen ihre 
eigenen neuen zur Verwaltung vorzubereiten, zu welchem Zwecke sie den ganzen 
Staatsapparat in Bewegung setzten, die Feudalinstitutionen sequestrierten und nur 
diejenigen in die Schule ließen, die reich waren. Auf diese Weise bereiteten sie 
im Laufe vieler Jahre und Jahrzehnte Administratoren aus ıhrer eigenen Klasse 
vor. Und gegenwärtig muß es in einem Staate, der nach dem Ebenbild der herr- 
schenden Klasse eingerichtet ist, ebenso gemacht werden, wie dies in allen Staaten 
gemacht wurde. Wenn wir uns nicht auf die Position des reinsten Utopismus der 
leeren Phrasen stellen wollen, so müssen wir sagen, daß die Erfahrungen früherer 
Jahre in Erwägung gezogen werden müssen; daß wir die durch die Revolution 
eroberte Konstitution sicherstellen müssen; für die Verwaltung aber, für die staatliche 
Organisation brauchen wir Leute, die die Technik der Verwaltung beherrschen, die 
staatliche und wirtschaftliche Erfahrung besitzen. Solche Leute aber sind nirgends 
zu finden als ın der vorhergehenden Klasse. 

Auf Schritt und Tritt sind die Urteile über die Kollegialität in der Verwaltung 
vom Geiste einer unzulässigen Unwissenheit, vom Geiste der Feindseligkeit gegen- 
über dem Spezialistentum. Mit einem solchen Geiste kann man nicht siegen. Um 
zu siegen, muß man das ganze tiefe historische Verhältnis verstehen, muß man 
daran denken, daß wir den Kommunismus aus den Trümmern der alten bürger- 
lichen Welt bauen, und um diesen Kommunismus zu bauen, muß man die Wissen- 
schaft und die Technik nehmen und sie für breitere Kreise anwenden. Das ist 
aber nirgends zu finden als bei der Bourgeoisie. Diese Grundfrage muß hervor- 
gehoben und zu den Grundaufgaben des wirtschaftlichen Aufbaues gestellt werden. 

Wir müssen ım Staat und beim Aufbau mit Hilfe derjenigen verwalten, die 


736 Lenin und Trotzkı 


der von uns gestürzten Klasse angehören, diejeuigen unter ihnen, die von den 
Vorurteilen ihrer Klasse durchtränkt sind, müssen wir umündern. Darauf 
müssen wir Verwalter aus unserer Klasse werben. Wir müssen den ganzen Staats- 
apparat anwenden, damit die Lehranstalten, die Fortbildung, die praktische Vor- 
bereitung für das Proletariat, für die werktätigen Bauern unter Leitung der Kommu- 
nisten ausgenutzt werden. — Nach unserer zweijährigen Erfahrung dürfen wir 
nicht so sprechen, als ob wir zum erstenmal an den sozialistischen Aufbau gehen. 
Das ist glücklicherweise falsch. Wir haben genug Dummheiten gemacht in der 
Periode, als wir im Smolny-Institut saßen. Dessen brauchen wir uns nicht zu 
schämen. Woher sollten wir Verstand nehmen, wenn wir zum 
erstenmal eine neue Sache in Angriff nahmen? Wir versuchten 
es so und versuchten es anders. Wir schwammen mit dem Strom, weil das falsche 
Element von dem richtigen nicht zu trennen war — dazu gehört Zeit. Jetzt ist 
die jüngste Vergangenheit, aus der wir heraus sind, die Vergangenheit, in der 
Chaos und Enthusiasmus herrschten, vorüber. Darüber besitzen wir Dokumente. 
Der Brest-Litowsker Friede war ein historisches Dokument; mehr als das, er war 
eine historische Periode. Der Brester Frieden wurde uns deshalb aufgedrungen, 
weil wir auf allen Gebieten machtlos waren. Was stellte diese Periode dar?? Das 
war die Periode der Schwäche, aus der wir als Sieger hervorgegangen sind. Das 
war die Periode der Kollegialität der Verwaltung. Diese historische Tatsache müssen 
wir anerkennen. 

Wir müssen mit Energie, mit Einheit des Willens ın die Höhe steigen. Den 
Gewerkschaftsverbänden stehen gigantische Schwierigkeiten bevor. Man muß zu 
erreichen suchen, daß sie ihre Aufgabe im Geiste der Partei, im Geiste des Kampfes 
gegen die Überbleibsel des berühmten Demokratismus, gegen das Geschrei über 
die Ernennung auffassen. Dieses ganze schädliche alte Gerümpel, das nur in Re- 
solutionen und Gesprächen zu dulden ist, muß hinweggefegt werden. Anders können 
wir nıcht siegen. Wenn wir uns diese Lehre ın zweı Jahren nicht zu eigen gemacht 
baben, sind wir rückständig, die Rückständigen aber werden geschlagen werden. 

Die Aufgabe ist im höchsten Grade schwer. Unsere Gewerkschaften haben bei 
dem Aufbau des proletarischen Staates gigantische Hilfe erwiesen. Sie waren das 
Bindeglied, das die Partei mit der unwissenden Millionenmasse verband. Die Ge- 
werkschaftsverbäande haben im Kampf mit der Zerrüttung die schwerste Arbeit 
geleistet. Als dem Staat auf dem Verpflegungsgebiet geholfen werden mußte, war 
das nicht die größte Aufgabe? — Das Proletariat fuhr fort Opfer zu bringen. Man 
schreit über Zwang, das Proletariat aber hat diesen Zwang für gesetzlich erklärt 
und seine Richtigkeit dadurch bewiesen, daß es die größten Opfer gebracht hat. 
Die Mehrheit der Bauernbevölkerung der erzeugenden Gouvernements aß zum 
erstenmal besser als seit hunderten von Jahren im zaristischen kapitalistischen 
Rußland. Die Avantgarde der Arbeiterklasse mußte dieses Opfer bringen. Das war eine 
Schule des Kampfes. Nach Verlassen dieser Schule muß sie weitergehen. Jetzt muß 
ein Schritt vorwärts getan werden, koste es, was es wolle. 

Wie alle Gewerkschaften haben die alten Gewerkschaftsverbände ihre Geschichte 
und ihre Vergangenheit. In dieser Vergangenheit waren sie Organe der Abwehr 


Zwei Reden 737 


gegen diejenigen, die die Arbeit knechteten, gegen den Kapitalismus. Jetzt, wo die 
Klasse zur Staatsklasse geworden ist, und wo sie mehr Opfer bringen und mehr 
zugrunde gehen muß, mehr hungern muß als früher, — hat sich die Lage ver- 
ändert. Nicht alle verstehen diese Veränderung und nicht alle haben ihren Sinn 
erfaßt. Hier helfen uns die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, die unbemußt 
den Ersatz der persönlichen Verwaltung durch die kollegiale Verwaltung fordern. 
Entschuldigt, Genossen, das wird nicht durchgehen. Das haben wir uns abgewöhnt. 

Vor uns steht eine sehr komplizierte Aufgabe; nach dem Siege an der blutigen 
Front, — an der unblutigen Front zu siegen. Dieser Krieg ist der schwerere. Diese 
Front ist die schwerste. Das sagen wir allen bewußten Arbeitern offen. Die Lage 
gestaltet sich folgendermaßen; je mehr wir gesiegt haben, desto mehr haben wir 
solche Gebiete wie Sibirien, die Ukraine, das Kubangebiet. Dort sind reiche Bauern. 
Wir wissen, daß dort jeder, der ein Stückchen Land hat, sagt: „Was geht mich 
die Regierung an? ich reiße vom Hungrigen so viel ich kann, um das übrige be- 
kümmere ıch mich nicht”. Verwalten müssen wır mit Hilfe der Klasse, die ihre 
Kräfte verausgabt hat, die ihre Kräfte anspannen muß. Jenen Bauern, — dem 
Spekulanten — der sich unter Denikin auf unsere Seite neigte, wird jetzt die En- 
tente helfen. Der Krieg hat die Front und die Formen geändert. Jetzt wird mit 
Handel, mit Schleichhandel gekämpft. Die prinzipielle Grundlage dafür ist voll- 
kommen in den Thesen des Gen. Kamenew ausgedrückt, die in den „, Iswestija des 
Zentralkommitees veröffentlicht waren. Sie wollen den Schleichhandel international 
gestalten. Sie wollen den friedlichen wirtschaftlichen Aufbau in die friedliche Zer- 
setzung der Sowjetmacht verwandeln. Entschuldigt, ihr Herren Imperialisten, wir 
sınd auf der Hut. Wir sagen: wir haben gekämpft und unsere grundlegende Losung 
ist es noch immer, die Prinzipien der Festigkeit und die Einheit des proletarischen 
Willens voll und ganz aufrechtzuerhalten und- auf das Arbeitsgebiet zu übertragen; 
mit den alten Vorurteilen, den alten Gewohnheiten muß aufgeräumt werden.“ 

Wir können mit Hilfe der Spezialisten unseren grundlegenden Wirtschaftsplan 
noch ausführlicher ausarbeiten. Wir müssen sagen, daß dieser Plan auf viele Jahre 
berechnet ist. Wir versprechen nicht, das Land mit einem Mal vom Hunger zu 
befreien. Wir sagen, daß der Kampf schwerer sein werde als an der Kampffront, 
er interessiert uns aber mehr, er bildet eine Stufe, die den wirklichen fundamentalen 
Aufgaben nähersteht. Er erfordert dıe maximale Anspannung unserer Kräfte, jene 
Willenseinheit, die wir früher gezeigt haben und die wir jetzt zeigen müssen. Wenn 
wir diese Aufgabe lösen, so werden wir an der unblutigen 
Front einen ebenso großen Sieg erringen wie an der Front 
des Bürgerkrieges. 


TROTZKI ÜBER DIE NÄCHSTEN AUFGABEN DES WIRTSCHAFT- 
LICHEN AUFBAUES. 


Die Geschichte hat uns vor die Aufgabe der Organisation der Arbeit gestellt 
Die Organisation der Arbeit ist wesentlich die Organisation der neuen Gesellschaft 
denn jede historische Gesellschaft ist Organisation der Arbeit. Wir organisieren 


738 Lenin und Trotzki 


die Arbeit oder beginnen die Organisation der- Arbeit nach neuen sozialen Grund- 
sätzen. Wandte unsere frühere Gesellschaft bei der Organisation der Arbeit zugunsten 
der Minderheit Zwangsmethoden an, wobei die Minderheit diesen Zwang auf die 
erdrückende Mehrheit der Werktätigen ausdehnte, so unternehmen wir zum ersten- 
mal in der Weltgeschichte den Versuch, die Arbeit der Werktätigen im Interesse 
dieser werktätigen Mehrheit zu organisieren. Das aber bedeutet selbstverständlich 
nicht die Beseitigung des Zwangselements. Nein, der Zwang spielt und wird noch 
im Laufe einer bedeutenden historischen Periode eine große Rolle spielen. Der 
allgemeinen Regel nach ist der Mensch bestrebt, sich der Arbeit zu entziehen. 
Man kann sagen, daß der Mensch ein ziemlich faules Tier ist, und auf .dieser 
Eigenschaft basiert eigentlich der menschliche Fortschritt, denn würde der Mensch 
nicht danach streben, mit seiner Kraft sparsam umzugehen würde er nicht 
danach streben, für eine kleine Menge Energie soviel Produkte wie möglich 
zu bekommen, so würde es keine Entwicklung der Technik und der sozialen Kultur 
geben. Von diesem Gesichtspunkt aus ist also die Trägheit eine progressive Kraft. 
Hieraus darf natürlich nicht der Schluß gezogen werden, daß die Partei in ihrer 
Agitation diese Eigenschaft als moralische Pflicht zu empfehlen habe. Wir haben 
sowieso Überfluß an ihr und die Aufgabe der gesellschaftlichen Organisation besteht 
darin, die Trägheit in einen bestimmten Rahmen zu bringen, sie zu disziplinieren 
und mit Hilfe der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit anzutreiben. 

Bei der Inangriffnahme des Aufbaues der Gemeinwirtschaft nach neuen soli- 
darisch sozialen Grundsätzen, d. h. nach den Grundsätzen des im Bau begriffenen 
Kommunismus, sind wir von Anfang an auf die Frage der Militarisierung 
gestoßen. Eine ganze Reihe von Artikeln, Versammlungen, Reden und Diskussionen 
verlaufen bei uns unter der Losung der Militarisierung. Einige Genossen, darunter 
an erster Stelle einige hervorragende Leiter der Gewerkschaftsverbände, äußern 
sich in dem Sinne, daß sie nicht gegen die Militarisierung seien, daß sie aber 2i 
jetzt nicht begriffen haben, was das eigentlich bedeutet. 

Aus diesem Anlasse brachte die „Prawda” unlängst einen nicht uninteressanten, 
aber prinzipiell falschen Artikel des Gen. W. Smirnow über die Militarisierung 
der Arbeit. Sein grundlegender Gedanke ıst folgender: soweit wır jetzt auf breiter 
Grundlage der Mobilisation der Bauernmassen im Namen der Aufgaben überge- 
gangen sind, die die Massenanwendung der Arbeitskraft erfordern, ist die Mili- 
tarısierung unbedingt notwendig. Wir mobilisieren die Bauernkraft und wir bilden 
aus dieser moLilisierten Arbeitskraft Arbeitsteile, die sich dem Typus der Truppen- 
teile nähern. Wir. geben den Kommando- und Instruktorenbestand, wir müssen 
kommunistische Zellen geben, damit diese Teile nicht seelenlos, sondern von dem 
Bestreben zu arbeiten beseelt sind. Folglich ist dies die volle Annäherung an die 
militärische Form der Organisation. Hier ist das Wort „Militarisierung” am Platze. 
Aber, sagt Gen. Smirnow, wenn wir auf das Industriegebiet, auf das Gebiet der 
qualifizierten Arbeit übergehen, wo wir gewerkschaftlich gegliederte Produktions- 
organisationen der Arbeiterklasse haben, so besteht hier keinerlei Notwendigkeit, 
den militärischen Apparat zur Bildung von Arbeitsteiien zu verwenden, hier kann 
keine Rede von Militarisierung im erwähnten Sinne des Wortes sein. Hier gibt 


Zwei Reden 739 


es Gewerkschaftsverbände und diese erfüllen die Aufgabe der Organisation der 
Arbeit. i 

Genossen, wenn man auf diese Weise an die Frage herangeht, so zeugt das 
von völliger Unkenntnis des Wesens jenes wirtschaftlichen Umschwunges, der sich 
gegenwärtig vollzieht. Es versteht sich, daß der Unterschied zwischen den prole- 
tarıschen, in Gewerkschaftsverbänden organisierten Arbeitskraft und der bäuer- 
lichen, vom militärischen Apparat mobilisierten Arbeitskraft ungeheuer ist. Die 
Militarisierung wird in dem einen Falle auf anderen Wegen durchgeführt werden 
als im anderen Falle. Jedoch die Frage der Mobilisierung der qualifizierten Arbeits- 
kraft durch die Tatsache des Bestehens der Gewerkschaftsverbände lösen, annehmen, 
daß die Verbände, so wie wir sie von der Vergangenheit übernommen haben, durch 
die Tatsache ihrer Existenz die Arbeitsaufgaben in bezug auf die gelernten quali- 
fizierten Arbeiter lösen, — das heißt das Wesen der Frage nicht verstehen. 

Die qualifizierte proletarische Arbeitskraft wurde unter der Herrschaft des Kapi- 
talismus auf dem Markte gekauft und gemäß Nachfrage und Angebot zu festen 
Preisen von einem Ort an den andern verschoben. Sie hieß freiwillige oder , freie 
Arbeit. Die Gewerkschaftsverbände sind aus der Vereinigung dieser „, freien Arbeit 
entstanden, aus dem Bestreben, durch Kampf, Ausstände usw. die günstigsten 
wirtschaftlichen Bedingungen für diese Arbeit zu erkämpfen. — Wer aber verteilt 
gegenwärtig die Arbeitskraft und wer schickt sie dorthin, wo sie gemäß den wirt- 
schaftlichen Aufgaben der im Bau begriffenen sozialistischen Wirtschaft nötig ist? 
Die Gewerkschaftsverbände laut Forderung der Organe der Gemeinwirtschaft. Welche 
Menschen müssen aber verwendet werden, damit der Arbeiter, der nach dem 
Orte T. geschickt ist, sich wirklich an den Ort T. begibt?.... Mit anderen Worten, 
gegenwärtig begibt sich der Arbeiter aus dieser Fabrik in die andere nicht frei- 
willig, wie dies beim Kapitalismus hieß, d. h. nicht unter den Schlägen des wirt- 
schaftlichen Zwanges, des Zwanges durch Hunger, wie dies unter der Herrschaft 
des Kapitals war, sondern er begibt sich und muß sich dorthin begeben in Uber- 
einstimmung mit dem einheitlichen Wirtschaftsplan, laut Bestimmung der zentralen 
Wirtschaftsorgane. f 

Folglich sind die Arbeiter jetzt an die Fabriken und Werke gebunden. Es ver- 
steht sich, daß der eine Arbeiter dies Band als Dienst empfindet, als Pflicht, die 
er aus innerer Überzeugung, im Interesse der Hebung der Volkswirtschaft erfüllt; 
der andere macht sich keine klare Vorstellung von seiner Lage; der dritte, der 
rückständigste, empfindet seine Lage heute noch als direkten Zwang, dem er sich 
widersetzt. Solche Arbeiter gibt es, davon zeugt die Statistik der Gewerkschafts- 
bewegung. In den wichtigsten Industriezweigen sind bei uns 1 150 000 Arbeiter 
verzeichnet, in Wirklichkeit aber arbeiten nur 850 000. So war es vor |%—2 Mo- 
naten. Wo sind die 300 000 geblieben? Sie sind fortgegangen. Wohin? Ins Dorf, 
vielleicht in andere Industriezweige, vielleicht beschäftigen sie sich mit Spekulation. 
Also auf 800000 Arbeitende kommen 300 000, militärisch ausgedrückt, Deserteure. 
Auf militärischem Gebiet haben wir einen entsprechenden Apparat, der in Aktion 
gesetzt wird, um die Soldaten zur Erfüllung ihrer Pflichten zu zwingen. Dies 
muß in der einen oder anderen Form auch auf dem Arbeitsgebiet geschehen. Wenn 


740 Lenin und Trotzki 


wir ernsthaft von einer planmäßigen Wirtschaft sprechen wollen, wenn die Arbeits- 
kraft in Übereinstimmung mit dem Wirtschaftsplan im gegebenen Entwicklungs- 
stadium verteilt werden soll, darf die Arbeiterklasse kein Nomadenleben führen. 
Sie muß ebenso wie die Soldaten verschoben, verteilt, abkommandiert werden. Das 
ist die Grundlage der Militarisierung der Arbeit und ohne diese Grundlage können 
wir nicht ernsthaft von einer Industrie auf neuer Basis sprechen. 

Die wichtigste Aufgabe ist augenblicklich die Hebung 
des Transportzustandes, die Vermeidung seines weiteren Nieder- 
ganges und die Beschaffung der elementarsten Vorräte an Lebensmitteln, Rohstoffen 
und Heizmaterial. Während der ganzen nächsten ersten Periode muß die ganze 
Arbeitskraft auf die Lösung dieser Aufgabe konzentriert werden, die eine Vor- 
aussetzung der ferneren ist. Die zweite Periode (ob sie Monate oder Jahre dauern 
wird, das ist jetzt schwer vorher zu sagen, das hängt von vielen Ursachen ab, von 
der internationalen Lage und nicht zuletzt von der Eintracht unserer Partei) bildet 
der Maschinenbau ım Interesse des Transports, der Gewinnung von Rohstoffen 
und Lebensmitteln. Die dritte Periode muß vom Maschinenbau im Interesse der 
Produktion der wichtigsten Gebrauchsartikel eingenommen werden und endlich 
die vierte Periode von der Produktion der wichtigsten Gebrauchsartikel. 

Diese Abstufung ist für die Klarlegung unseres Wirtschaftsplanes vor den Ar- 
beitermassen von großer Bedeutung. Wir sind verpflichtet zu sagen, daß wir eine 
Arbeitsmobilisstion auf breiter Grundlage nicht durchführen können, wenn wir 
nicht alles, was an Ehrlichkeit und Begeisterung in der Arbeiter- und Bauernmasse 
vorhanden ist, erfassen, wenn wir dieser Masse nicht unseren Plan erklären. Wir 
müssen offen und deutlich sagen, daß unser Wirtschaftsplan bei maximaler An- 
spannung der Werktätigen nicht Milch und Honig fließen machen könne, sondern 
daß wir bei höchster Anstrengung in der nächsten Periode unsere Arbeit darauf 
richten werden, die Bedingungen für die Produktion der Produktionsmittel vorzu- 
bereiten. Und nur nachdem wir die Möglichkeit haben werden, 
Produktionsmittel zu. produzieren, werden wir zur Pro- 
duktion der Konsumtionsmittel unmittelbar für die Massen 
übergehen. Die für alle greifbare Frucht unserer Arbeit, die Gegenstände des 
persönlichen Gebrauchs, werden ersetzt im Stadium des letzten Gliedes dieser 
wirtschaftlichen Kette erreicht werden. Die Massen, die für Arbeitsziele mobilisiert 
werden, müssen diesen Wirtsschaftsplan in seinem ganzen Umfange verstehen, um 
fähig zu sein, ihn auf ihre Schultern zu nehmen und nicht bei der Durchführung 
dieses Planes zehnmal die Geduld zu verlieren. Das ist die schwierigste Aufgabe, 
die vor der Partei steht. 

Es versteht sich, wir würden kurzsichtige Skeptiker vom Typus der Kleinbürger 
sein, wenn wir uns vorstellen würden, daß das Wiederaufleben der Wirtschaft ein 
allmählicher Übergang vom völligen wirtschaftlichen Verfall der bis jetzt in den 
wichtigsten Wirtschaftszweigen fortbesteht, zur Blüte sei, daß wir uns auf den- 
selben Stufen erheben werden, die wir hinunter gegangen sind, d. h. daß wir erst 
nach langer Zeit unsere Wirtschaft auf die Stufe erheben werden, auf der sie sich 
vor dem imperialistischen Kriege befand. Eine solche Vorstellung ist unbedingt 


Zwei Reden 741 


falsch. Der Vorfall, der auf seinem Wege alles vernichtet und zerschlagen hat, 
hat gleichzeitig den Weg für den neuen Aufbau gereinigt und in Übereinstimmung 
mit den technischen Mitteln, über die die Wirtschaft verfügt und über die wir ver- 
fügen, wird unsere Wirtschaft sich ebenso entwickeln, wie 
sich die russische kapitalistische Wirtschaft entwickelt 
hat, die nıcht von Stufe zu Stufe übergegangen, sondern 
über eine ganze Reihe von Stufen hinweggesprungen ist. 

Es ist ganz klar, daß wir, wenn wir erst die ärgste Armut überwunden haben 
werden, eine ganze Reihe der folgenden Stufen überspringen werden. Wir werden 
z. B. zur Anwendung der Elektrizität in den wichtigsten Zweigen der Industrie 
und des persönlichen Konsums übergehen können, ohne das Stadium des Dampfes 
durchgemacht zu haben. Folglich eröffnen sich uns große Perspektiven, die natür- 
lich von der Entwicklung der Energie, der Fähigkeiten, d. h. vom subjektiven 
Faktor und vom zweiten Faktor, von der Entwicklung der uns vom Kapital hinter- 
lassenen Technik, abhängen. Diese Perspektiven haben wir vor uns, wir müssen 
um jeden Preis aus dem Schmutz, aus dem Dünger heraus, ın dem wir bis zum 
Halse versunken sind. Wir polemisieren sehr viel über kollegiale und persönliche 
Verwaltung, vorläufig aber haben wir unseren Wirtschaftskarren noch nicht von 
der Stelle gerückt; wir dürfen uns nicht vom Schwung der Polemik betrügen lassen, 
da bis jetzt noch auf keinem der wichtigsten Gebiete eine Besserung zu merken 
ist. Der Druck der besten Kommunisten hat eine Verbesserung des Trans- 
ports ergeben, doch auch diese ıst geringfügig. 

Also, ein einheitlicher Wirtschaftsplan als Grundlage der Verwendung der Ar- 
beiterkraft und der Bauernmassen, qualifizierter und unqualifizierter, — das ist 
die erste grundlegende Aufgabe. Der zweite Punkt wird große Bedeutung haben 
und die Formulierung, die Gen. Gussew in seiner Broschüre „Über Anwendung 
der Elektrizität im ganzen Lande“ gibt, wird in Übereinstimmung mit der geplanten 
Etappen des Wirtschaftsplanes ins Leben umgesetzt werden. Um sie nicht als teil- 
weise Aufgabe, als minimales Programm, sondern in größerem Maßstabe durch- 
zuführen, wüssen wir wiederum den Maschinenbau heben, dazu aber müssen wır 
die erste Aufgabe lösen, — die Hebung des Transports und der Beschaffung der 
Lebensmittel und der Rohstoffe. — — Je breiter die Grundlage sein wird, auf. 
der die Arbeitskraft angewandt werden wird, desto intensiver wird die Versorgung 
mit Maschinen vonstatten gehen. Folglich spitzt sich auch die Frage der Ar- 
beitsarmee in bedeutendem Maße zu. 

Diese Frage begegnete anfangs einer scharfen Opposition. Man wies vor allem 
darauf hin, daß die Produktivität in den Arbeitsarmeen nicht groß sein werde. 
Man wies darauf hin, daß der Soldat, der sich aus einem Rotarmisten in einen 
Arbeitsarmisten verwandelt, seinen Posten verlassen und nach Hause gehen werde, 
weil er annehmen werde, daß seine Aufgabe erfüllt sei. Das waren die beiden ersten 
Beweisgründe, die gegen die Arbeitsarmeen angeführt wurden. Aber beide. haben 
sich als vollständig falsch erwiesen, 

Die Behauptung, daß die freie, die freiwillige Arbeit produktiver sei als die er- 
zwungene, war richtig in bezug auf das Feudalsystem, das bürgerliche Regime. 


742 | Lenin und Trotzkı 


Die Arbeit der Arbeiter in der Fabrik aber war unbedingt produktiver als die Arbeit 
des Handwerkers. Diese Arbeit basierte auf besonderen Zwangsmethoden und 
Zwangsfornen — auf der Exploitation der Arbeitskraft, dies alles aber geschah 
unter der Flagge der „freien Arbeit“. Die Bourgeoisie hat gelernt, durch verschiedene 
Methoden aus den Arbeitern viel mehr Arbeit herauszupressen, als in der Epoche 
des Feudalismus und der Leibeigenschaft aus den Leibeigenen herausgepreßt wurde. 

Diese Entwicklung der Produktivität der Arbeit aber hat die Ablösung der kapi- 
talistischen Wirtschaft durch die neue, kommunistische vorbereitet und ın bezug 
auf diese neue kolossale historische Veränderung das behaupten, was ın bezug auf 
die alte Lage richtig war, heißt ım Rahmen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen 
Vorurteile bleiben. Wir sagen: es ist nicht wahr, daß dieerzwungene 
Arbeit unterallen Umständen und unter allen Bedingungen 
unproduktiv ist. Hier besteht die ganze Aufgabe darin, den Arbeiter psycho- 
logisch, innerlich und nicht durch äußeren Zwang in den Arbeitsprozeß hinein- 
zuziehen. Das hat auf seine Art jedes Regime getan; das Feudalsystem hat zu 
diesem Zwecke Lüge, Betrug und die Hierarchie der Pfaffen ın Anwendung ge- 
bracht. Die Bourgeoisie hatte ihre eigenen Methoden. Sie hatte das nötig, denn 
sie war eine Minderheit, die die Mehrheit unterdrückte; sie mußte betrügen. Hierher 
gehörten eine besondere Arbeitslöhnung, der Stücklohn, der Akkordlohn und ge- 
wisse Prämien, eine gewisse Karriere, die einige Glückliche zu machen suchten. 
Alles dies beeinflußte die Arbeiterklasse. Die Presse wie die Schule waren Mittel 
zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit. Die Monarchie wie die Republik, 
alles dies war ein komplizierter Apparat, um die Organisation der Werktätigen in 
der Hand zu behalten und aus ihnen das Maximum des Mehrwerts herauszupressen. 
Folglich ist das bürgerliche Regime durchaus nicht auf einmal mit hoher Produk- 
tivität der Arbeit entstanden. Nein, die Erhöhung der Produktivität der Arbeit 
war nicht nur das Resultat der unpersönlichen historischen Entwicklung, sondern 
bildete auch die bewußte Aufgabe der herrschenden Ausbeuter, die sie durch An- 
wendung einer ganzen Reihe von Mitteln, durch Mobilisation der Engel, Erzengel, 
Gefängniswärter und Henker erreichten, das war ein ganzes System der Beein- 
flussung. 

Wir dürfen nicht vor die Notwendigkeit gestellt werden, den Massen etwas zu 
verheimlichen, geschweige denn sie zu betrügen. Gleichzeitig aber stehen wir vor 
der Notwendigkeit, das komplizierte System von Mitteln und Methoden geistigen 
und organisatorischen Charakters durch Prämienverleihung und Bestrafung in An- 
wendung zu bringen, um die Produktivität der Arbeit nach den Grundsätzen des 
Zwanges zu erhöhen, auf denen unsere ganze Wirtschaft basiert. Wir müssen nicht 
über allgemeine Unergiebigkeit der Arbeit schwatzen, sondern lernen, die Pröduk- 
tivität mit allen Mitteln zu erhöhen, die einem ehrlichen und gut organisierten 
Arbeiterstaat zu Gebote stehen, darunter mit ideellen Mitteln, durch Agitation und 
geistiges Hineinziehen in die Interessen der Wirtschaft. Das Verständnis eines 
jeden Arbeiters, eines jeden Bauern, jeder Bäuerin für den Zusammenhang zwischen 
dem Schicksal ihrer Existenz und dem wirtschaftlichen Schicksal des ganzen Landes 
hat bei dem neuen System der sozialen Beziehungen und der Arbeitsorganisation 


Zwei Reden 743 


eine ungeheure geistige. organisierende Bedeutung. Wenn unser Apparat nichts 
taugt, so kann der mobilisierte und unwissende Bauer, wenn man ihn auf die Eisen- 
bahn bringt und keine Schaufeln für die Arbeit vorbereitet, natürlich nicht von 
Begeisterung für diese auf Zwang beruhende soziale Organisation der Arbeit er- 
griffen werden. Damit er immer weniger den drückenden Charakter dieses Zwanges 
fühle, dazu gehört vor allem, daß der Apparat gut funktioniert, daß die Anzahl 
der Arbeitshände den Aufgaben entspricht und dahin befördert wird, wo diese 
Aufgabe vorhanden ist, wo Lebensmittel, Instrumente und Instruktoren, die einen 
Kopf auf den Schultern haben, vorhanden sind. Das ist die elementarste Bedingung; 
ohne richtige Organisation der Arbeit können wir ihre Produktivität nicht erhöhen. 
Endlich ist die persönliche Interessiertheit jedes einzelnen Arbeiters, jedes einzelnen 
Bauern an den unmittelbaren Resultaten der Verwendung seiner Arbeitskraft. nötig. 
Ich spreche von dem Prämiensystem, das notwendig ist, solange Knappheit an 
Lebensmitteln besteht, solange wir das System der Verteilung der notwendigsten 
Gebrauchsartikel nicht dezentralisieren konnen, damit jeder das erhalte, was er 
braucht (das wird als Resultat des 4. Stadiums unseres allgemeinen Wirtschafts- 
planes der Fall sein, wenn wir erst die drei vorhergehenden Stadien überwunden 
haben werden). Vorläufig muß die Verteilung zentralisiert sein, d. h. wir müssen 
sie den Produktionsaufgaben unterordnen; vor allen denjenigen versorgen, die zur 
Produktion in den wichtigsten Zweigen nötig sind, und die Unternehmen mit Lebens- 
mitteln versehen, die besser, ehrlicher ihre Arbeitspflicht erfüllen. Das ist auch 
ein Weg zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit. Endlich die Strafmaßnahmen, 
die wir nicht aufgeben können, in bezug auf die Deserteure der Arbeit. — Mit 
einem Wort, das ganze komplizierte System geistiger Maßnahmen, organisatorisch 
materieller, repressiver, das Prämiensystem und die Anwendung von Strafmaßnahmen, 
kann, in Einklang gebracht und systematisch angewandt, das Kulturniveau 
der Produktivität der Arbeit auf eine Höhe bringen, auf 
der sie noch bei keinem Regime gestanden hat. Das Verständnis 
für diese Aufgabe, die nicht fix und fertig von oben herabfällt, ıst der wichtigste 
Bestandteil bei der Lösung unserer praktischen Aufgaben. 

Es besteht kein Zweifel, daß die Produktivität der Arbeit gegenwärtig in unsern 
Arbeitsarmeen noch niedrig genug ist und in der ersten Preiode noch niedriger 
war. Das ist eine sehr wichtige Tatsache, daß sie ın der ersten Periode niedriger 
war als augenblicklich. Wenn wir die Berichte der ersten Woche und Tage über 
die Verwendung der früheren 3. Armee an der Arbeitsfront lesen, so sehen wir, 
daß 13—15, manchmal 20—30 Rotarmisten nötig waren, um einen Faden Holz 
zu beschaffen. 3—4 Mann waren, so viel ich weiß, vor dem Kriege die Norm. 
Man sagt, daß ein Bewohner der Nordgouvernements genügt habe, um einen Faden 
Holz zu beschaffen und hier sind plötzlich 30 nötig. Aber nach der Prüfung stellte 
sich heraus, daß die Truppen in der ersten Periode 8—10 und mehr Werst von 
ihrem Arbeitsbezirk entfernt untergebracht waren, und daß ein erheblicher Teil 
des Arbeitstages für den Gang verwendet wurde. Es stellte sich heraus, daß ein 
bedeutender Teil der Rotarmisten nicht wußte, wie ein Baum zu fällen und zu 
zerhacken ist, daß keine Instruktoren, keine Instrumente vorhanden waren, daß 


744 Lenin und Trotzkı 


das Wirtschaftsorgan nicht in Gang gebracht war. Diese Ursachen genügen, um 
die niedrige Produktivität der Arbeit zu erklären. 

In der ersten Periode des Bestehens der Sowjetwirtschaft trugen unsere Haupt- 
verwaltungen und Zentren einen in bedeutendem Grade syndikalistischen Charakter. 
Sie verteilten nicht die Produktion, die sie erzeugten, — denn in der ersten Periode 
wurde fast nichts erzeugt, — sondern das, was von der Vergangenheit nachgeblieben 
war. Je weiter desto mehr nahmen sie oder waren sie bestrebt den Charakter von 
Trusten anzunehmen und organisierten, normierten, versuchten sich die Produktion 
unterzuordnen. Diese 50 Hauptverwaltungen, die gegenwärtig alle grundlegenden 
Zweige unserer Wirtschaft umfassen, vereinigen sich in ihren Gipfel auf dem Trust 
der Truste — dem Präsidium des Obersten Volkswirtschaftsrates. 

Eine derartige Organisation unserer Wirtschaft ıst dem Plane nach, wenn man 
sie als groben Entwurf nimmt, eine richtige sozialistische Wirtschaft, eine plan- 
mäßige Wirtschaft; sie wird nach grundlegenden Betrieben organisiert, sie vereint 
die Produktion von oben bis unten. Sie setzt aber voraus, daß der zentrale Ver- 
waltungsapparat ein idealer Registrierungs- und Verteilungsapparat ist, der mit dem 
Wirtschaftsplan in Einklang steht. Sie setzt voraus, daß unter der Leitung des 
Obersten Volkswirtschaftsrates eine ideale Klaviatur vorhanden ist, so daß man nur 
eine bestimmte Taste anzuschlagen braucht, um eine entsprechende Menge Kohle, 
Holz, Arbeitskraft dorthin zu verschieben, wo sie dem Plane nach gebraucht werden. 
Natürlich haben wir noch in keinem Ressort und vor allem nicht im Obersten 
Volkswirtschaftsrat, dem kompliziertesten und schwerfälligsten Ressort, eine solche 
ideale sozialistische Klaviatur. Was geschieht, wenn im kapitalistischen Trust die 
örtlichen Unternehmen einen Teil der Produkte unmittelbar aus den Händen der 
Hauptverwaltung ım Engroshandel bekommen, den anderen Teil aber auf dem ört- 
lichen Markt kaufen? Die Waren bewegen sich gemäß der Kalkulation des freien 
Handels. Bei uns ist dies nicht der Fall. Und das ist unsere größte Errungen- 
schaft. Wir haben den freien Handel, die Ausbeutung, die Konkurrenz, die Spekula- 
tion getötet. Aber wir haben noch jenen einheitlichen Wirtschaftsplan nicht, der 
die elementare Arbeit der Gesetze der Konkurrenz ersetzen muß. Hieraus ent- 
stehen dem Obersten Volkswirtschaftsrat Schwierigkeiten. Er gibt einen bestimmten 
Wirtschaftsplan. Dieser Plan ist von zentralistischen Ansichten über die Wirtschafts- 
aufgaben diktiert. Der Plan aber wird in Wirklichkeit an Ort und Stelle nur im 
Umfange von 10—5 Prozent verwirklicht. Gegenwärtig ist jeder Wirtschaftsplan 
eine Gleichung mit mehreren unbekannten Größen. 

Das ist keine Verurteilung des Obersten Volkswirtschaftsrates, das ist eine 
Charakteristik, fast eine Photographie dessen, was in Wirklichkeit vorhanden ist. 
Ich wiederhole — jeder Wirtschaftsplan ist eine Gleichung mit vielen unbekannten 
Größen. Sie hat im Uralgebiet ihren bestimmten Ausdruck gefunden. Hier gibt 
es Holz, Hafer, Weizen, Arbeitskraft, Fabriken, Einrichtungen, alles dies ist aber 
auseinandergerissen. Während meines Aufenthaltes im Uralgebiet wies man mich 
2. B. auf die Tatsache hin, daß in einem Gouvernement die Menschen Hafer 
essen, im andern, benachbarten, die Pferde mit Weizen gefüttert werden, das Gou- 
vernements-Verpflegungskomitee aber nicht das Recht habe, den Weizen aus einem 


Zwei Reden 745 


Gouvernement ins andere zu befördern, ihn gegen Hafer auszutauschen, obgleich 
dadurch den Plänen des Verpflegungskommissariat durchaus kein Schaden erwachsen 
würde, da die Gesamtsumme die gleiche bleiben würde und nur die Pferde Hafer, 
die Menschen aber Weizen essen würden, was dem Geschmack mehr entspricht. 
Die Anektote drückt unsere allgemeinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten aus; ein 
bestimmter Plan ist vorhanden, aber das Material zu seiner Verwirklichung fehlt 
oder ist nur zu einem Zehntel oder ein Fünftel vorhanden. 

So, wie das bis jetzt war, kann das nicht weitergehen, besonders in den Be- 
zirken, die vom Zentrum weit entfernt sind. Wir haben auf dem letzten Rätekongreß 
den ersten Schritt vorwärts getan und die Selbständigkeit der örtlichen Institutionen 
erweitert. Dieser Schritt muß jetzt bestimmten Inhalt erhalten. — Wir wenden 
das System der speziell Bevollmächtigten an. Und über diese Kategorien bin ich 
mir nach meinem Aufenthalt im Uralgebiet klar geworden. Ich bin der Meinung, 
daß dies System unverzüglich dem Museum zu übergeben sei. Im Uralgebiet 
waren Fälle, wo ein Bevollmächtigter des Obersten Volkswirtschaftsrates nicht nur 
auf einen zweiten Bevollmächtigten des Obersten Volkswirtschaftsrates stieß, sondern 
sogar auf einen Bevollmächtigten einer Abteilung, einer Hauptverwaltung usw. 
Wenn aber der erste Bevollmächtigte den Bevollmächtigten des Verpflegungs- 
kommissariates zu finden wünscht, ohne den er nichts tun kann, da er ohne Lebens- 
mittel nicht eine Fabrik in Gang setzen kann, so kann er diesen Bevollmächtigten 
nicht finden und wenn er einem begegnet, so nur einem solchen, der den Rückweg 
anzutreten im Begriff ist. Diese Lage ist fernerhin absolut unmöglich. 

So lange wir unseren Apparat nicht biegsamer und beweglicher gestalten, o- 
lange wir ihn nicht dem anpassen, was sich an Ort und Stelle ereignet, können 
wir im Kampfe mit dem Bureaukratismus absolut keinen Erfolg haben. — Die 
zweite Methode, um unsere Hauptverwaltungen elastischer zu gestalten, ist die Er- 
richtung von Gebietswirtschaftsorganen, die tatsächlich an Ort und 
Stelle. entstehen. Wir haben die Arbeitsarmeen geschaffen. Die Arbeitsarmeen 
sind Organisationen zur Verwendung der Militärkräfte an Ort und Stelle nach dem 
Order der Wirtschaftsorgane. In der Praxis hat sich gezeigt, daß überall wo Ar- 
beitsarmeen geschaffen werden, sofort neben ihnen ein Gebietswirtschafts-Zentrum 
entsteht. Jekaterinburg haben wir in einigen Tagen in solch ein Zentrum ver- 
wandelt, ohne es zu merken. Diese Arbeit aber ist sozusagen illegal. Sie muß 
legalisiert werden, d. h. es muß anerkannt werden, daß in entfernten Gebieten mit- 
scharf ausgedrückter wirtschaftlicher Physiognomie Gebietsorgane notwendig sind, 
nicht auf Grund der Wiederherstellung des Gebietswesens, sondern auf Grund von 
Vertretung der Hauptwirtschaftszehtren. Der Vertreter des Obersten Volkswirt- 
schaftsrates muß mit dem Vertreter des Verpflegungskommissariats und dem Ver- 
treter des Landwirtschaftskommissarıats usw. eng verbunden sein. 

Ich erlaube mir, mich bei der Frage der Industrieverwaltung aufzu- 
halten. Diese Frage hat Gen. Lenin berührt und die ihm opponiert haben. Ich werde 
an diese Frage nicht von der theoretischen sondern von der empirischen, prak- 
tischen Seite herangehen. Ich spreche von der kollegialen und der per- 
sönlichen Verwaltung. — Ich muß eine Beschuldigung abwehren, die 


746 Lenin und Trotzkı 


gegen die persönliche Verwaltung erhoben worden ist. Einige Genossen sagen, 
unsere unlängst geborenen militärischen Spezialisten versuchen, ihre unreife Er- 
fahrung vom militärischen Gebiet auf das wirtschaftliche Gebiet zu übertragen; 
vielleicht sei diese Erfahrung auf militärischem Gebiet gut, tauge aber auf wirtschaft- 
lichem gar nicht. Diese Erwägung ist falsch in jeder Beziehung. Es ist vollständig 
falsch, daB wir in der Armee mit der persönlichen Verwaltung begonnen haben 
und gegenwärtig vollständig zu ihr übergegangen sind. Falsch ist auch, daß wir 
diese Erfahrung der Armee entlehnt haben. 

Wir haben darüber vor 2 Jahren, am 8. März 1918, auf der Moskauer Konferenz 
gesprochen und es ist von den Vertretern der Moskauer Arbeiterklasse gebilligt 
worden. Daher jetzt davon sprechen, daß dies militärische Vorurteile grüner mili- 
tärıscher Spezialisten seien, ıst Unsinn. Die Notwendigkeit der Heranziehung 
von Spezialisten war anerkannt worden, ihre Ausnutzung war unbedingt 
notwendig. — Betrachtet man den Verwaltungsapparat als Schule, obgleich es sich 
um den Apparat der Wirtschaftsverwaltung handelt, so erfordert unsere Resolution, 
daß, wer lernen will, in die Schule gehen, besondere Instruktionskurse besuchen 
muß; wer aber verwalten muß, der geht nicht in die Schule, sondern geht um zu 
verwalten. — Geht man auch bei dieser Frage vom beschränkten Gesichtspunkt 
der Schule aus, so muß ich sagen, daß bei persönlicher Verwaltung die Schule 
zehnmal besser ıst, da ein guter Arbeiter nicht durch drei unreife ersetzt wird; 
stellt man aber drei Unreife auf den verantwortlichen Verwaltungsposten, so beraubt 
man sie der Möglichkeit, sich davon Rechenschaft abzulegen, was ihnen fehlt: 

Das ist keine prinzipielle Frage. Daß dem so ist, das beweisen am besten die 
Leiter der Gewerkschaften, die für Werkstätten, Bergwerke und Zechen keine kolle- 
giale Verwaltung fordern. Nur Verrückte, sagen sie, können verlangen, daß dort 
eine aus drei oder fünf bestehende Verwaltung wirke. Dort muß ein Leiter der 
Zeche sein. Warum? Wenn die Verwaltung eine Schule ist, warum ist dann eine 
Schule niederen Typus nicht nötig? Ist doch die Fabrikverwaltung schon die zweite 
Stufe. Warum fordert niemand die kollegiale Verwaltung der Zechen und Werk- 
stätten? Weil dies zu absurd sein würde. Das würde das Kollegialsystem auf den 
Gebieten der Betriebsverwaltung in eine Absurdität verwandeln. 

Aber wenn die kollegiale Verwaltung für die Werkstätten kein heiliges Gebot 
ist, warum muß sie ein solches für die Fabrik sein? Als Gen. Rykow zum Diktator 
der militärischen Versorgung in dem Augenblick ernannt wurde, da uns der voll- 
ständige Untergang drohte, als unsere Patronen gezählt waren, ist Gen. Rykow 
vortrefflich mit seiner Aufgabe fertig geworden, er hat aber zur ersten Bedingung 
die Durchführung der persönlichen Verwaltung gemacht. Er schickte Bevollmächtigte 
in die einzelnen Bezirke, stellte sie über die militärischen Beschaffungsorgane und 
die Gouvernementswirtschaftsräte, und an Ort und Stelle waren viele damit unzu- 
frieden, doch dies war notwendig. Diese speziell Bevollmächtigten schickten, z. B. 
im Uralgebiet, ihre speziell Bevollmächtigten in die Werke und Fabriken, und diese 
Bevollmächtigten des speziell Bevollmächtigten des von Gen. Rykow außerordentlich 
Bevollmächtigten führten in den Fabriken und Werken, wo sie wankende Kollegien 
vorfanden, die persönliche Verwaltung ein. 


Zwei Reden 747 


Es ist nicht wahr, daß die Arbeiterklasse sich der Einführung der persönlichen 
Verwaltung widersetzt. Es ist nie vorgekommen, daß protestiert worden ist, weil 
auf den Eisenbahnen eine Person, ein Kommissar, ein Chef verwaltet; nie haben 
die Arbeiter gesagt: „Entsetzt diesen Chef, Kommissar oder Leiter, obgleich er 
ein kluger und vorsichtiger Mensch ist“. Wenn die Arbeiter unzufrieden waren, 
so sagten sie: „Setzt ihn ab, denn er ist ein Taugenichts“. Das aber bezieht sich 
auf die Kollegien ebenso wie auf einzelne Personen. Die Arbeiter, die breiten 
Massen sind daran interessiert, sie auszubilden, das aber wird dadurch erreicht, 
daß die Verwaltung der Fabrik periodisch vor der ganzen Fabrik Rechenschaft 
über ıhre Tätigkeit ablegt, und alle Arbeiter, die Interesse offenbaren, werden auf 
entsprechende Kurse geschickt oder von einem weniger verantwortungsvollen Posten 
auf einen verantwortungsvolleren gestellt. Die Frage aber, ob in der Verwaltung 
einer oder drei sitzen, interessiert nicht die Arbeitermassen, sondern 
den rückständigeren. schwächeren. weniger tauglichen Teil der Arbeiter- 
arıstokratie. 

Der vorgeschrittene bewußte, sichere Arbeiter strebt immer danach, die Fabrik 
ganz ın seine Hände zu nehmen, zu zeigen, daß er verwalten kann; ist aber er 
schwach, schwankt er, so möchte er sich an einen anderen lehnen, damit seine 
Schwäche nicht bemerkt werde. Wenn der Arbeiter schwach ist, so muß er erst 
Gehilfe sein; lernt er zu, so macht ihn zum Leiter oder Direktor einer kleinen 
Fabrik; erweist er sich noch als schwach, so erniedrigt ihn. Er wird vorwärts 
kommen. In einem Kollegium aber, wo die Verantwortlichkeit nicht klar ist, er- 
lischt das Verantwortlichkeitsgefühl. Daher spricht unsere Resolution von einer 
systematischen Annäherung an die persönliche Verwaltung, selbstverständlich nicht 
durch einen Federstrich. Wo der Arbeiter fertig wird, muß er der 
Leiter der Fabrik sein und einen Spezialisten zum Gehilfen 
haben; wo aber der Spezialist am Platze ist, muß dieser zum 
Leiter gemacht und ihm ein Ärbeiter als Gehilfe beigegeben 
werden. Das ist die einzige ernste Auffassung von der Sache und nur auf diesem 
Wege werden wir zum Ideal, der organisierten Produktion, gelangen. 

Es besteht noch eine Frage, die auf diesem Kongresse klar und unzweideutig 
entschieden werden muß, wenn wir bei der Lösung der dringendsten Aufgaben 
des Wirtschaftsplanes ernsthaft vorwärtskommen wollen. Ich spreche von der 
politischen Hauptverwaltung der Eisenbahnen. Einige Genossen sagen, 
dies sei ein Schlag, der der Gewerkschaftsbewegung beigebracht werde, andere be- 
haupten, dies sei die Zerstörung der Parteiorganisation. 

Genossen, das ist eine Frage von außerordentlicher Schärfe und ungeheurer 
praktischer Wichtigkeit. Man muß geschickt an diese Frage herangehen. Von 
ihrer Lösung hängt es ab, ob wir auf dem Gebiet des Transports einen Schritt 
vorwärts tun werden oder nicht. Es ıst für jeden von uns offensichtlich, daß hier 
von einem Ersatz der Gewerkschaften oder, um so mehr, der Parteiorganisation 
keine Rede sein kann. Wenn ihr sagen würdet, daß alle Gewerkschaftsverbände 
durch politische Abteilungen ersetzt werden müssen, so würde das praktisch heißen, 
daß wir eine Massenorganisation der Arbeiterklasse zu Grabe tragen. 


18 


748 Lenin und Trotzki / Zwei Reden 


Wir müssen im gegebenen Wirtschaftszweig energische organisatorische Anstren- 
gungen machen. Ein Genosse sagt, daß er die politischen Abteilungen ın der Armee 
anerkenne: die Armee bewegt sich von Ort zu Ort und könne deshalb nicht von 
den Parteikomitees besorgt werden; dieser Genosse aber erkennt die politischen 
Abteilungen in bezug auf die Eisenbahnen nicht an. Er ist offenbar der Meinung, 
daß, da die Armee sich bewegt, hier politische Abteilungen nötig seien, und da 
die Eisenbahn sich nicht bewege, hier politische Abteilungen nicht nötig seien. 
Ich aber denke, daß, da sich bei uns die Eisenbahnen dadurch auszeichnen, daß 
sie schwer, wie vorwärts, zo auch zurück, in Bewegung zu bringen sind, wir ge- 
zwungen sind, außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen. Natürlich, würde der 
Verband der Eisenbahner auf dem Niveau des Verbandes der Metallarbeiter stehen, 
der lange noch nicht ıdeal, aber der vorgeschrittenste ıst, so könnten wir die polı- 
tischen Abteilungen entbehren. Aber ihr wißt, daß dies nicht der Fall ist. Die 
Arbeitermassen auf den Eisenbahnen enthalten noch eine große Menge Elemente, die 
aus der Ruchlowschen Epoche stammen. Der Verband der Eisenbahner ist einer 
der schwächsten und rückständigsten. Kann jemand sagen, daß wir die Wieder- 
belebung des Transports davon in Abhängigkeit bringen dürfen, wie die Entwicklung 
des Eisenbahnerverbandes verlaufen wird? Wer das sagt, der versteht nichts von 
dieser Sache. Der Verband der Eisenbahner muß umgearbeitet werden, er muß 
die erforderlichen Arbeiter erhalten, die böswilligen italienischen Saboteure müssen 
bestraft werden. Dazu gehört eine Reihe von Meetings, zu großem Erfolge aber 
gehören zwei Jahre. Die nächsten Wochen jedoch bringen den entscheidenden 
Augenblick im Leben unseres Transports. Hier sind außerordentlich Maß- 
nahmen nötig. die das Tempo der Entwicklung des Eisenbahnerverbandes und der 
Hebung seiner Existenz überholen. Wer kann diese Maßnahmen ergreifen? Die 
organisierte Arbeiterklasse in der Person ihrer entwickelsten Elemente. Diese 
besten Elemente wenden Zwangsmaßnahmen ın bezug auf 
den rückständigen Teil der Arbeitsarmee an. Darin liegt die 
Hauptsache. So steht die Frage der politischen Hauptverwaltung der Eisenbahnen 
ın bezug auf den Gewerkschaftsverband. 

Genossen! Die Parteiautorität der Kommunistischen Partei ist in allen Fragen 
nötig, vor denen wir gegenwärtig stehen. Die Mobilisation der breiten Arbeiter- 
und Bauernmassen, den Arbeitszwang können wir nicht durchführen, wenn wir 
bei dieser Sache nicht das Gewissen und das Bewußtsein zu Hilfe nehmen, wenn 
wir nicht die gewerkschaftliche Ehre nach neuen sozialistischen Grundsätzen, wenn 
wir nicht das Pflichtgefühl usw. wecken. Diese Aufgabe erfordert eine gewisse 
Anspannung der Kräfte während einer langen Periode, erfordert Agitation und 
Propaganda. Unsere Fraktion wird sich je weiter desto mehr verändern, den Fragen 
entsprechend, die das Leben stellen wird, sie wird sich immer mehr mit den Fragen 
der Wirtschaft, der Naturwissenschaft und Technologie beschäftigen. Jeder Arbeiter 
muß die natürliche, körperliche Welt kennen, die uns umgibt und die Kräfte, 
die nicht immer günstig sind. Unsere Entwicklung vollzieht sich im Kampfe mit 
diesen Kräften und durch ihre Unterwerfung. Das ist in der nächsten Epoche, 
je weiter umso mehr, notwendig. Wir werden den Buchdruck auf eine höhere 


Beschlüsse d. IX. Kongresses d. Kommunist. Partei Ruflands 749 


Stufe als gegenwärtig bringen, wır werden eine ungeheure Propaganda entfalten 
müssen, um die Weltanschauung von den übernatürlichen Kräften, von Gott und 
den Engeln, zu reinigen. Den breiten Massen muß aber der Wirtschaftsplan ge- 
zeigt werden, auf Grund dessen wir unseren Partei- und Sowjetapparat erbauen, 
die Mobilisation der breiten und werktätigen Massen vorzunehmen. Wir können 
nicht warten, bis jeder Bauer und jede Bäuerin verstehen werden, wır müssen 
jeden zwingen, den Platz einzunehmen, auf den er hingehört. Hier ist neben unserer 
Agitation und Propaganda, die historische Bedeutung haben, die Einheit des Willens 
m unserer Partei von ungeheurer moralischer Bedeutung. Wenn wir nach diesem 
Kongresse, angesichts unserer kolossalen Aufgaben wankend und stolpernd auftreten 
werden, wenn wir den Streit fortsetzen werden, ob der Arbeitszwang anzuwenden 
sei oder nicht, ob die Zwangsmobilisation und die Verwendung der Truppenteile 
zur Arbeit durchzuführen seien oder nicht, so würde dies den Zusammenbruch 
unseres Wirtschaftssystems ın seinem Fundament bedeuten, denn wenn das mittlere 
Element der Bauernschaft und das rückständige Element der Arbeiterklasse nicht 
alles ın unserer Arbeit deutlich versteht und begreift, so ıst die Einigkeit unseres 
Bewußtseins und Willens etwas, das es begreift. Auf dem historischen Schauplatz 
sind an ihm verschiedene Staatsformen, verschiedene Kräfte und Parteien vorüber- 
gezogen. Die Massen haben eine Partei gesehen, die genau weiß, was sie will; 
die das was sie will, mit lauter Stimme sagt und die einen eisernen Willen anwendet, 
um das, was sie will, zu verwirklichen. Sie müssen von der Einigkeit des Partei- 
willens durchdrungen und durchtränkt sein. Wenn ihr diese Einigkeit des Partei- 
bewußtseins und des Parteiwillens geben werden, werdet ihr die größte Aufgabe in 
der Weltgeschichte vollführen. 


BESCHLÜSSE DES IX KONGRESSES 
DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI 
RUSSLANDS 


NACH DEM BERICHT DES ZENTRALKOMITEES 


Nach Anhören des Berichts des Zentralkomitees erkennt der IX. Kongreß der 
Kommunistischen Partei (der Bolschewiki) Rußlands an, daß das Zentralkomitee 
unter den Bedingungen des erbittertesten Bürgerkrieges, des intensiven Aufbaues 
der Räte und des ungewöhnlichen Wachstums der Parteı hat arbeiten müssen. Der 
Kongreß findet, daß das Zentralkomitee, ungeachtet aller Schwierigkeiten im Gange 
‘der Arbeit, die politische Linie und die organisatorische Ar- 
beit der Partei richtig und sıcher'durchgeführt habe. Der 
Kongreß drückt dem Zentralkomitee seine Billigung aus 
und geht zur Tagesordnung über. 


750 Beschlüsse des IX. Kongresses der 


Die Mobilisation der gelernten Arbeiter. 


In den Thesen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Rußlands über 
die Mobilisation des industriellen Proletariats, die Arbeitspflicht, die Militarisierung 
der Wirtschaft und der Verwendung von Truppenteilen für wirtschaftliche Bedürfnisse 
billigend, verfügt der Kongreß: 

Die Parteiorganisationen müssen auf jede Art und Weise den Gewerkschaften 
und den Arbeitsabteilungen bei der Registrierung der gelernten Arbeiter helfen, 
um diese mit derselben Konsequenz und Strenge zu produktiver Arbeit heran- 
zuziehen, wie dies in bezug auf die Personen des Kommandobestandes zu Armee- 
zwecken durchgeführt wurde und durchgeführt wird. — Jeder gelernte Arbeiter 
muß zu seiner Spezialität zurückkehren. Ausnahmen, d. h. Belassung von gelernten 
Arbeitern auf anderen Sowjetposten, können nur mit Einwilligung der entsprechenden 
bevollmächtigten Zentral-Organe zugelassen werden. 

jedes soziale Regime (das Sklaventum, die Epoche der Leibeigenschaft, das 
kapitalistische Regime) hat seine Methoden des Arbeitszwanges und der Arbeits- 
erziehung gehabt, die den Interessen der ausbeutenden Oberschichten dienten. 

Vor dem Sowjetregime steht in ihrem vollen Umfange die Aufgabe, seine eigenen 
Methoden der Beeinflussung zu entwickeln, um die Intensität und die Zweckmäßig- 
keit der Arbeit auf der Grundlage der vergesellschaftlichten Wirtschaft im Interesse 
des ganzen Volkes zu erhöhen. — Neben den agitatorisch- ideellen Beeinflussungen 
der werktätigen Massen und der Repressalien in bezug auf die bewußten Müfßig- 
gänger, Parasiten und Desorganisatoren ist der W etteifer ein machtvolles Mittel 
zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit. — In der kapitalistischen Gesellschaft 
trug der Wetteifer den Charakter der Konkurrenz und führte zur Ausbeutung des 
Menschen durch den Menschen. In einer Gesellschaft, wo die Produktionsmittel 
nationalisiert sind. kann der Wetteifer bei der Arbeit nur die Gesamtsumme der 
Arbeitsprodukte erhöhen, ohne die Solidarität zu stören. 


Vom Zentralısmus der Trusts zum sozialistischen Zen- 
tralis mus. 


Die jetzige Organisationsform der Industrie ist eine Übergangsform. Der Ar- 
beiter hat die kapitalistischen Trusts nationalısiert, sie durch einzelne Unternehmen 
desselben Industriezweiges ergänzt und nach dem Typus dieser Trusts auch die 
Unternehmungen vereinigt, die beim Kapitalismus nicht in Trusts vereinigt waren. 
Das hat die Industrie in eine Reihe machtvoller vertikaler Vereinigungen ver- 
wandelt, die wirtschaftlich voneinander getrennt und nur auf ıhrem Gipfel durch 
den Obersten Wirtschaftsrat verbunden sind. 

Während beim Kapitalismus die Unternehmen, die einem Trust angehörten, 
viele Rohstoffe, Arbeitskraft und anderes, auf dem nächsten Markte erwerben konnten, 
müssen dieselben Unternehmen unter don gegenwärtigen Verhältnissen alles nötige 
laut Order der Zentralorgane der vereinigten Wirtschaft bekommen. Indessen haben, 
bei der ungeheuren Ausdehnung des Landes, bei der äußersten Unbestimmtheit 
und Veränderlichkeit der Grundfaktoren der Produktion, bei der Zerrüttung des 
Transports, den äußerst schwachen Verkehrsmitteln, bei der außerordentlichen Unge- 


Kommunistischen Partei Ruflands 751 


nauigkeit der Methoden und Resultate der wirtschaftlichen Registrierung die Me- 
thoden des Zentralismus, die das Resultat der ersten Epoche der Enteignung der 
bürgerlichen Industrie waren und unvermeidlich zur Isoliertheit der Unternehmen 
an Ort und Stelle (in den Städten, Gouvernements, Bezirken, Gebieten) geführt 
haben, jene ungeheuerlichen Formen der Verschleppung zur Folge gehabt, die 
unserer Wirtschaft unersetzlichen Schaden zufügen. — Die organisatorische Aufgabe 
besteht darin, bei Erhaltung und Entwicklung des vertikalen Zentralismus auf der 
Linie der Hauptverwaltungen ihn mit der horizontalen Unterordnung der Unter- 
nehmen auf der Linie der wirtschaftlichen Bezirke zu kombinieren, wo die Unter- 
nehmen verschiedener Industriezweige und verschiedener Bedeutung gezwungen 
sind, sich von ein und denselben Quellen des örtlichen Rohstoffes, der Transport- 
mittel, der Arbeitskraft und dergl. zu nähren. 


Organisation der Industrieverwaltung. 


Die wichtigste Aufgabe bei der Organisation der Verwaltung ist die Schaffung 
einer kompetenten, festen, energischen Leitung, — einerlei, ob es sich um ein ein- 
zelnen Industrieunternehmen oder um einen ganzen Industriezweig handelt. — 
Zwecks vereinfachter und genauer Organisation der Produktionsverwaltung. sowie 
zwecks Ökonomie der organisatorischen Kräfte hält der Kongreß es für notwendig, 
die Industrieverwaltung der „Verwaltung durch eine Person“ zu nähern, und zwar 
„Verwaltung durch eine Person“ voll und unbedingt in Werkstätten und Abteilungen 
herzustellen, zu diesem System in Fabrikverwaltungen und zu beschränkten Kollegien 
in den mittleren und höheren Gliedern des administrativen Produktionsapparates 
überzugehen. 

Die äußerst wichtige Frage der Heranziehung von immer größeren Kreisen der 
Arbeiterklasse zur Verwaltung der Wirtschaft muß durch eine ganze Reihe Maß- 
nahmen gelöst werden, von denen die wichtigsten unten angeführt sind, was jedoch 
durchaus nicht auf Kosten der Widerstandfähigkeit, Kompetenz und Einfachheit 
des Verwaltungsapparates in jedem gegebenen Augenblick geschehen darf. — In 
Anbetracht dessen, daß der unbestreitbare Typus der Verwaltung einzelner Sowjet- 
unternehmen wie ganzer Zweige noch nicht festgestellt ist, wobei die Bildung der 
notwendigen Stämme von Administratoren, Direktoren usw. sich noch im Anfangs- 
stadium befindet, hält der Kongreß es für möglich und zulässig, auf dem Wege der 
Alleinverwaltung verschiedene Kombinationen anzuwenden, wie: 

a) ein Verwaltungsdirektor aus der Zahl der Arbeiter Professionisten). 
der festen Willen, Selbstbeherrschung und im besonderen die Fähigkeit offen- 
bart, Spezialisten, Techniker, Ingenieure zur Arbeit heranzuziehen; neben 
ihm, als Gehilfefürdentechnischen Teil, ein Ingenieur; 


b) ein Ingenieur (Spezialist), der über die erforderlichen Eigenschaften 
verfügt, als tatsächlicher Leiter des Unternehmens und 
neben ihm ein Kommissar aus der Zahl der Arbeiter 
(Professionisten), mit weitgehenden Rechten und der Verpflichtung, 
sich um alle Seiten des Unternehmens zu kümmern. 


752 Beschlüsse des IX. Kongresses der 


c) Arbeiter (Professionisten), einer oder zwei, in der Eigenschaft von Ge- 
hilfen des Direktors (Spezialisten), mit dem Rechte und der Ver- 
pflichtung der Gehilfen, sich um alle Zweige der Fabrikverwaltung zu kümmern, 
aber ohne das Recht, die Anordnungen des Direktors aufzuheben; 

d) ın Fällen, wo kleine, eng verbundene Kollegien vorhanden sind, deren Glieder 
einander ergänzen und in der Praxis schon ihre Arbeitsfähigkeit bewiesen 
haben, sind diese Kollegien beizubehalten, wobei die Rechte des 
Vorsitzenden zu erweitern und seine Verantwortung für das ganze Kollegium 
zu erhöhen ist. Die Kollegien in den mittleren und höheren Organen der 
Wirtschaftsverwaltung (Gouvernementswirtschaftsräte und Bezirksverwaltungen, 
Hauptverwaltungen und Abteilungen) müssen auf die minimale Zahl der Glieder, 
beschränkt werden, wobei der Vorsitzende für die ganze Arbeit 
der Verwaltung die Verantwortung zu tragen hat. 

Auf jeden Fall ist die tatsächliche Verwirklichung, von oben bis unten, des 
oftmals proklamierten Prinzips der genauen Verantwortlichkeit einer bestimmten 
‚Person für eine bestimmte Arbeit die unerläßliche Bedingung der Verbesserung der 
wirtschaftlichen: Organisation und des Wachstums der Produktion. 

Die Kollegialverwaltung, soweit sie im Prozesse der Beratung und 
Entscheidung angewandt wird, muß im Prozeß der Ausführung unbedingt der 
Alleinverwaltung den Platz räumen. Der Grad der Tauglichkeit einer 
jeden Organisation muß davon gemessen werden, wie streng in ihr die Pflichten, 
Funktionen und Verantwortlichkeiten verurteilt sind. 


Die Heranziehung der Massen zur We der Industrie. 


Der Kongreß hält es für notwendig, tatsächliche Maßnahmen zu ergreifen, um 
breite Arbeiterkreise zur Organisation der Produktion zu erziehen und aus der Mitte 
der Arbeiterklasse beständig frische Elemente heranzuziehen, die fähig sind, organı- 
satorische Arbeit auf dem Gebiete der Produktion zu leisten. Zu diesem Zwecke 
ist es notwendig: 

a) durch Vermittlung der Gewerkschaftsverbände und de Obersten Volkswirt- 
schaftsrates die Propaganda auf dem Gebiete der Produktion auf die nötige Höhe 
zu bringen, ohne sich auf allgemeine Aufrufe zur Erhöhung der Produktivität 
der Arbeit zu beschränken, sondern durch Konkretisierung und Spezialisierung 
der Frage nach den Industriezweigen und den einzelnen Unternehmen’ es sich 
zur Aufgabe zu machen, daß jeder Fabrikarbeiter die Rolle und den Platz des 
Unternehmens im allgemeinen System der sozialistischen Wirtschaft kenne; perio- 
dische (2. B. allmonatliche) Erörterungen auf der Generalversammlung der Fabrik- 
arbeiter, Berichte der Verwaltung über die ım verflossenen Monat geleistete 
Arbeit und über den Produktionsplan für den neuen Monat zum System 
zu machen; 

b) bei den einzelnen großen Unternehmen oder bei den Kleinbetrieben Kurse 
für Industrieverwaltung zu organisieren, die die fähigsten Ar- 
beiter, ohne sie der Produktionsarbeit zu entziehen, an der Praxis des gegebenen 
Unternehmens mit den notwendigen Elementen der Verwaltung bekannt machen sollen; 


Kommunistischen Partei Ruflands 753 


c) die auf diese Weise geschulten Arbeiter zu Gehilfen der Verwalter der ein- 
zelnen Abteilungen oder des Fabrikdirektors zu ernennen; 

d) Arbeiter mit derartiger vorheriger praktischer Erfahrung auf selbständige Ver- 
waltungsämter, anfangs in. kleinere, darauf in größere Unternehmen zu berufen. 


Die Spezialisten in die Industrie. 


Von dem Standpunkte ausgehend, daß ohne wissenschaftliche Organisation der 
Produktion die breiteste Anwendung der Arbeitspflicht und der größte Heroismus 
der Arbeiterklasse den Aufbau einer machtvollen sozialistischen Wirtschaft nicht 
nur nicht sichern, sondern dem Lande auch nicht die Möglichkeit geben können, 
zich aus den Krallen der Armut zu befreien, hält der Kongreß es für unbedingt 
notwendig, alle arbeitsfähigen Spezialisten der verschiedenen Wirtschaftszweige zu 
registrieren und sie zur Organisation der Produktion auf jede Art und Weise auszunutzen. 

Die Notwendigkeit der Kontrolle und der strengen Bestrafung aller. gegen- 
revolutionären Elemente in Kraft lassend, die ihre Ämter zu Zwecken des Wider- 
standes gegen das sozialistische Wirtschaftsregime auszunutzen bestrebt sind, er- 
innert der Kongreß gleichzeitig in der kategorischesten Form alle Parteimitglieder 
an die Aufgabe der ideellen Hineinziehung der Spezialisten in die Sphäre der 
Produktionsinteressen der Sowjetrepublik und macht in strenger Übereinstimmung 
mit dem Geist und dem Buchstaben unseres Programmes allen Parteimitgliedern 
zur Pflich, die Herstellung der Atmosphäre kameradschaft- 
licher Mitarbeiter zwischen den Arbeitern und den 
technischen Spezialisten anzustreben, die das proletarische Regime vom 
bürgerlichen geerbt hat. 

Für eine der Agitationsaufgaben auf gesamtpolitischem Gebiete und auf dem 
Gebiet der Produktion hält der Kongreß die Bekanntmachung der breiten Arbeiter- 
massen mit dem grandiosen Charakter der wirtschaftlichen Aufgaben, vor denen 
das Land steht, mit der Wichtigkeit der technischen Bildung, der administrativen 
und wissenschaftlich-technischen Erfahrung und macht es allen Parteimitgliedern 
zur Pflicht, unerbittlich gegen den von Unbildung zeugenden Dünkel anzukämpfen, 
als habe die Arbeiterklasse ihre Aufgaben lösen könne, ohne die Spezialisten der 
bürgerlichen Schule auf den verantwortlichen Posten auszunutzen. Für jene 
demagogischen Elemente, die derartige Vorurteile des rückständigen Teiles der 
Arbeiter ausnutzen, kann in den Reihen der Partei des wissenschaftlichen Sozialismus 
kein Platz sein. — Die individuelle Registrierung der Produktivität der Arbeit und 
die individuelle Prämiierung müssen in entsprechender Form auf das administrativ- 
technische Personal angewendet werden. Die besten Administratoren, Ingenieure, 
Techniker müssen in günstigere Bedingungen gestellt werden, damit sie ihre Kräfte 
ım Interesse der sozialistischen Wirtschaft verwenden können. 

Im besonderen müssen jene Spezialisten hoch prämiiert werden, unter deren 
Leitung sich die Arbeiter mit bedeutenden Erfolge jene notwendige Erfahrung an- 
eignen, die ihnen die Möglichkeit sichert, späterhin selbständige administrative 
Ämter zu bekleiden. — Das Vorurteil gegen den Eintritt des höheren technischen 
Personals der Unternehmen und Institutionen muß endgültig aufgegeben werden. 


754 Beschlüsse des IX. Kongresses der 


Durch Aufnahme von Ingenieuren, Ärzten, Agronomen usw. in ihre Verbände 
werden die Gewerkschaften diesen Elementen helfen, auf Grund von kameradschaft- 
licher Zusammenarbeit mit dem organisierten Proletariat an der aktiven Arbeit 
des Sowjetaufbaues teilzunehmen und werden die notwendigen Arbeiter er- 
werben, die über wissenschaftliche Kenntnis und Erfahrung verfügen. 


Die Arbeitsarmeen. 

Die Ausnutzung der Truppenteile für Arbeitszwecke hat in gleichem Maße ein 
praktisch-wirtschaftliche, wie sozialistisch-erzieherische Bedeutung. Bedingungen der 
zweckmäßigen Verwendung der Truppenteile in großem Maßstabe sind: 

a) der einfache Charakter der Arbeit, der allen Rotarmisten in gleicher Weise 

zugänglich ist. 

b) die Anwendung des Systems der Erteilung von Aufgaben, deren Nichterfüllung 
die Verminderung der Nation nach sich zieht; 

c) die Anwendung des Prämiensystems; 

d) Die Beteiligung an den Arbeiten in ein und demselben Bezirk einer bedeutenden 
Anzahl von Kommunisten, die fähig sind, die rotarmistischen Teile durch ıhr 
Beispiel zu beeinflussen. 

Die Heranziehung von großen Gruppenvereinigungen zur Arbeit ergibt unver- 
meidlich einen höheren Prozentsatz von Rotarmisten, die nicht unmittelbar in der 
Produktion beschäftigt waren. Daher ist die Verwendung von ganzen Ärbeitsarmeen, 
mit Aufrechterhaltung des Armeeapparates nur insofern zu rechtfertigen, wie die 
Erhaltung der Armee in ihrem Ganzen zu Kriegszwecken notwendig ist. Sobald 
diese Notwendigkeit fortfällt, müssen die schwerfälligen Stäbe und Verwaltungen 
aufgelöst und die besten Elemente der gelernten Arbeiter als kleine Arbeitsschlag- 


bataillone in den wichtigsten Industrieunternehmen ausgenutzt werden. 


Musterunternehmen. . 

Neben allgemeinen Maßnahmen zur Hebung der Wirtschaft des Landes und zur 
Erhöhung der Produktivität der Arbeit in der Industrie, hält der Kongreß die 
Schaffung von einzelnen Unternehmen der wichtigsten Industriezweige in den ent- 
sprechenden Bezirken für notwendig. Diese Unternehmen, die dem allgemeinen 
Wirtschaftsplan entsprechend auf Grund von technischen-geographischen und anderen 
Erwägungen gesondert behandelt werden müssen, sind eiligst mit ergänzender Ein- 
richtung, notwendiger Arbeitskraft, Technikern. Lebensmitteln, Heizmaterial und 
Rohstoffen zu versorgen. An der Spitze solcher Unternehmen müssen die besten 
Administratoren und Techniker gestellt werden. Politisch müssen diese Muster- 
unternehmen unter der unmittelbaren Aufsicht des Zentralkomitees der Kommuni- 
stischen Partei Rußlands stehen. Die Berichte über den Gang der Arbeiten in den 
Musterunternehmen müssen periodisch in der Presse veröffentlicht werden. Bei 
den Unternehmen müssen, sobald dies möglich ist, technische und administrative 
Kurse, Arbeitsschulen und dergl. eröffnet werden, damit jedes Musterunternehmen 
zur Schule der industriellen Erziehung und zum Herde der virtschaftlich-technischen 
Schöpferkraft für einen umfangreichen Bezirk, für einen gamen Industriezweig. 
wenn nicht für das ganze Land werde. 


Kommunistischen Partei Ruflands 755 


Der Übergang zum Milizsystem. 


Das nahende Ende des Bürgerkrieges und die ungünstigen Veränderungen in 
der internationalen Lage Sowjetrußland setzten radıkale Veränderungen im Militär- 
wesen, in Übereinstimmung mit den dringenden wirtschaftlichen und kulturellen 
Bedürfnissen des Landes auf die Tagesordnung. 

Anderseits ist es notwendig festzustellen, daß sich die sozialistische Republik, 
solange in den wichtigsten Weltstaaten die imperialistische Bourgeoisie an der Macht 
bleibt, auf keinen Fall für außer Gefahr betrachten kann. — Der weitere Gang 
der Ereignisse kann in einen gewissen Augenblick die Imperialisten, die den Boden 
unter den Füßen verlieren, von neuem auf den Weg blutiger, gegen Sowjetrußland 
gerichteter Abenteuer führen. — Hieraus folgt die Notwendigkeit, die militärische 
Verteidigung der Revolution auf der nötigen Höhe zu erhalten. 

Der gegenwärtigen Übergangsperiode, die einen dauernden Charakter annehmen 
kann, muß eine derartige Organisation der Kräfte entsprechen, bei der die Werk- 
tätigen die erforderliche militärische Vorbereitung erhalten und möglichst wenig 
der produktiven Arbeit entzogen werden. Einem solchen System kann nur die sich 
auf das Territorialprinzip stützende Arbeiter- und Bauernmiliz entsprechen. 

Das Wesen des Sowjetmilizsystems muß in der möglichsten An- 
näherung der Armeen an den Produktionsprozeß bestehen, so daß die lebendige 
menschliche Kraft bestimmter wirtschaftlicher Bezirke zugleich die lebendige mensch- 
liche Kraft bestimmter Truppenteile bildet. 

Bei der territorialen Verteilung müssen die Milizteile (Regimenter,Brigaden,Divisionen)der- 
artig der Verteilung der Industrie angepaßt werden, daß die Industrieherde mit der sie umge- 
benden und zu ihnen neigenden landwirtschaftl. Peripherie die Basis für die Milizteileabgeben. 

Organisatorisch muß sich die Arbeiter- und Bauernmiliz auf Stämme stützen, 
die in militärischer, technischer und politischer Hinsicht gut vorbereitet sind, denen 
beständig von ihnen ausgebildete Arbeiter und Bauern. zur Verfügung stehen, die 
sie in jedem beliebigen Augenblick ihrem Milizbezirke entziehen, mit ihrem Apparat 
umfassen, unter das Gewehr stellen und ın den Kampf führen können. 

Der Übergang zum Milizsystem muß notwendigerweise allmählich vor 
sich gehen, in Übereinstimmung mit der militärischen und international-diplo- 
matischen Lage der Sowjetrepublik, unter der Bedingung, daß die Verteidigungs- 
fähigkeit der letzteren ın jedem Augenblick auf der nötigen Höhe bleibe. 

Bei der allmählichen Demobilisierung der Roten Armee müssen ihre besten 
Stämme am zweckmäßigsten, d. h. den Bedingungen der örtlichen Produktion- und 
Lebensweise am meisten angepaßt, auf dem Territorium des Landes verteilt werden, 
wodurch der fertige Verwaltungsapparat der Milizteile gesichert werden muß. 

Die zur militärischen Verteidigung des Landes bestimmte Organisation 
der Milizstämme muß ın dem Maße, wie dies notwendig, der Arbeits- 
pflicht angepaßt sein, d. h., sie muß fähig sein, Arbeitsteile zu bilden, 
und sie mit dem notwendigen Instruktionsapparat zu versehen. 

Sich in der Richtung der Verwaltung in ein bewaffnetes kummuni- 
stisches Volk entwickelnd, muß die Miliz in der gegenwärtigen Periode 
in ihrer Organisation alle Merkmale der Diktatur der Arbeiterklaase beibehalten. 


756 Kropotkin / Politische Rechte und 


POLITISCHE RECHTE UND IHRE BE- 
DEUTUNG FÜR DIE ARBEITERKLASSE 
VON PETER KROPOTKIN 


Beste, klarste Formulierung der Ansicht, daß vom 
bürgerlichen Parlamentarismus alles, nur kein Heil zu er- 
warten ist, — unwiderlegbare Begründung der Not- 
wendigkäit revolutionärer Tat, — wer so klug und 
glühend schon vor Jahren aussprach. was wir heute fühlen, 
der ist unser Lehrer und Bruder auch wenn er Anarchist 
ist, Schreckgespenst aller redegewandten Parteisekretäre. 

Kein Tag vergeht, ohne daß die bürgerliche Presse in 
allen Tonarten den Wert und die Bedeutung der politischen 
Rechte besingt: Allgemeines Wahlrecht. Wahlfreiheit. Prel- 
freiheit, Versammlungsrecht usw. | | 

»Wenn Ihr solche Rechte habt, zum Teufel, weshalb 
revoltieren ?? — so fragt man uns — »verbürgen sie nicht 
die Möglichkeit aller nur denkbaren Verbesserungen, ohne 
die Notwendigkeit, zu den Waffen greifen zu müssen?. 
Untersuchen wır einmal den Wert dieser Freiheiten von 
unserm Standpunkte. dem Standpunkt einer Klasse, die 
wenig Rechte aber sehr viele Pflichten hat! 

Wir behaupten nicht, wie man es so oft uns nachsagt. 
dal die politischen Rechte durchaus keinen Wert für uns 
haben. Wir wissen sehr gut, daß seit den Zeiten der Leib- 
eigenschaft, ja, selbst seit dem vorigen Jahrhundert mancher 
Fortschritt sich verwirklichte. Der Mann aus dem Volke 
ist nichtmehr das von allen Rechten entblößte Wesen. 
das er früher war. Unser Bauer vird nichtmehr durch 
die Straßen gepeitscht wie sein Standesgenosse in Rußland. 
Der Arbeiter, besonders der großen Städte, schätzt sich 
nicht geringer wie jeder andere, wenn er seine Arbeits- 
stäfte verläßt. Der Arbeiter ist nichtmehr, wie früher, das 


ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 757 


aller Menschenrechte bare Geschöpf, das von Adel und 
Bourgeoisie als Lasttier angesehen wurde. Dank den Revo- 
lutionen, dank dem vom Volke vergossenen Blut ist er 
jetzt ım Besitze gewisser persönlicher Rechte, deren Wert 
wir ganz und gar nicht geringschätzen. 

Doch wir lernten unterscheiden. Wir wissen, dal ein 
Unterschied besteht zwischen Rechten und Rechten. Es gibt 
Rechte, die einen gewissen Wert besitzen, aber auch solche 
die so gut wie keinen Wert haben. Diejenigen aber, welche 
beide zu vermengen trachten, sind Heuchler und Voiksbe- 
trüger. Es gibt Rechte, wie z. B. die Gleichheit der Bauern 
und Adeligen im persönlichen Verkehr, die Unverletzlich- 
keit der Person und noch viele andere, welche durch einen 
zähen Kampf erobert wurden und welche dem Volke ge- 
nügend wertvoll sind, um es . revoltieren zu lassen. wenn 
man sie ıhm nehmen würde. | 

Doch es gibt auch Rechte, wie das allgemeine Wahl- 
recht, Preßfreiheit usw., welche das Volk nie und nimmer 
in Gärung versetzen würden, weil es eben sehr gut heraus- 
fühlt, daß diese Rechte, die so außerordentlich geeignet sind, 
die herrschende Klasse, die Bourgeoisie, gegen die Gewalt 
von Regierung und Adel zu schützen — im Grunde eben 
nichts sind als Werkzeuge der herrschenden Klasse. um 
ihre Herrschaft über das Volk zu handhaben. Diese Rechte 
haben nichts gemein mit den auf Taten beruhenden Rechten, 
von denen wir oben sprachen: sie gleichen ihnen nicht, 
weil sie in Wirklichkeit den Massen des Volkes keinen 
Schutz bieten. Wenn man gegenwärtig den ganzen Zierat 
noch mit dem pompösen Titel »politische Rechte« bezeichnet, 
so geschieht dies darum, weil unsere politische Sprache 
nichts anderes ist, als ein unverstehbares, sinnloses Geschwätz, 
erfunden von der Bourgeoisie zu ihrem Nutzen und 
Interesse. | 


** « 
* 


758 Kropotkin / Politische Rechte und 


In der Tat. wie kann man von politischen Rechten 
sprechen, wenn es nicht das Mittel ist, die Unabhängigkeit. 
die Würde und die Freiheit derer zu sichern, die die 
Macht, ihr Recht selbst zu beschirmen, noch nicht besitzen? 
Welchen Nutzen hat solch ein Recht, wenn es kein Werk- 
zeug zur Befreiung derer ist, die die Freiheit erstreben? 
Die Gambetta. Bismarck. Gladstone haften gewil keine Prel- 
und Versammlungsfreiheit nötig, sie schrieben was sie wollten. 
vereinigten sich mit ıhren Getreuen und sprachen was ıhnen 
beliebte. Sie brauchten einfach deshalb keine Freiheiten, weil 
sie frei waren. Wenn es nötig ist, jemandem die Freiheit 
der Presse und des Wortes zu garantieren, dann doch wohl 
nur denen, die nicht mächtig genug sind, ihrem Willen 
Geltung zu verschaffen. Dies war denn auch der natürliche 
Ursprung aller politischen Rechte. 

Von diesem Standpunkt stellen wir nun. die Frage: Sind 
die politischen Rechte wirklich für die eingeführt, welche 
sie einzig nötig haben. 

Gewiß nicht! Das allgemeine Stimmrecht kann manchmal 
bis zu einem gewissen Grade die Bourgeoisie schützen gegen 
die zentralisierte Macht der Regierung, ohne daß jene ge- 
nötigt wäre, ihre Zuflucht zu regelrechter Gewalt zu nehmen. 
Es kann ferner dazu dienen, das Gleichgewicht herzustellen 
zwischen zwei Parteien, welche um den größten Einfluß 
kämpfen, ohne daß auch sie, wie es früher geschah, zur 
Gewalt greifen müßten. Doch dies Recht ist vollkommen 
wertlos, wenn es darauf ankommt, die Regierung umzu- 
stürzen oder auch nur ihre Macht zu beschränken, die 
Herrschaft aufzuheben. 

Das allgemeine Wahlrecht ist ein ausgezeichnetes Werk- 
zeug zur friedlichen Schlichtung von Streitigkeiten zwischen 
den Beherrschten und Herrschern. Doch kann das be- 
herrschte Volk irgendwelchen Vorteil davon haben? Die 
Geschichte kann uns hierüber Aufklärung geben. Solange 


ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 759 


die Bourgeoisie fürchtete. das Stimmrecht würde in den 
Händen des Volkes zu einer Waffe werden, welche sich 
gegen ihre Vorrechte wenden könnte, hat sie es erbiftert 
bekämpft. Doch als sie sich im Jahre 1848 überzeugen 
konnte, daß das allgemeine Wahlrecht in Wirklichkeit nicht 
zu fürchten. sondern im Gegenteil wie ein Zauber- 
miftel geeignet war, das Volk einzuschläfern, da nahm sie 
es mit Begeisterung an. Und jetzt ist die Bourgeoisie selbst 
der eifrigste Verteidiger dieses Rechtes. Weshalb? Weil 
sie erkannte, dal es eine großartige Waffe ist, die Macht 
in ihren Händen zu behalten, obne fürchten zu brauchen. 
ihren Interessen zu schaden. 


* * 
* 


Dasselbe gilt von der Preſfreiheit. Welches war in den 
Augen der Bourgeoisie das schlagendste Argument, die Frei- 
heit der Presse zuzugestehen? Ihre Ohnmacht! Jawohl, ihre 
Ohnmacht! De Giradin schrieb ein ganzes Buch über 
die Ungefährlichkeit der Presse. . Ehemals. so sagt er in 
diesem Buch, verbrannte man Hexen und Zauberer, weil 
man dumm genug war, an ihre Allmacht zu glauben: 
heute geschehen dieselben Dummbeiten gegen die Presse, die 
man allmächtig wähnt. Doch diese Allmacht gibt es nicht. 
Die Presse ist genau so harmlos und ungefährlich, wie die 
Zauberer des Mittelalters. Warum sie also verfolgen? Es 
ıst lange her. daß dies Urteil ausgesprochen wurde. Und 
wenn jetzt Bürgerliche sich über Preßfreiheit streiten, welche 
Gründe sind es, die sie zugunsten dieses Rechtes geltend 
machen? »Seht nach England, der Schweiz und Amerika. da 
ist die Presse frei, und doch ist dort die kapitalistische 
Ausbeutung besser entwickelt als anderswo. Laßt nur ge- 
fährliche Theorien entstehen! Wir haben Miftel genug, ihre 
Stimmen zu ersticken. ohne dal wir gezwungen sind, unsere 
Zuflucht zu regelrechter Gewalt zu nehmen. Und wenn ın 
erregten Zeiten die revolutionäre Presse eine Waffe wird, 


760 Kropotkin / Politische Rechte und 


nun dann ist es noch Zeit genug, sie unter dem einen oder 
dem andern Vorwand zu vernichten.. 

Mit dem Recht der freien Vereinigung ist es nicht 
besser bestellt. 

»Bewilligen wir ruhig die Freiheit der Vereinigung.. 
sagt die Bourgeoisie, »sie wird unsere Privilegien nicht 
schädigen. Wir haben uns nur vor geheimen Gesell- 
schaften zu fürchten, die öffentlichen sind just das beste 
Mittel, die geheimen zu unterdrücken. Werden in einem 
Augenblick der Überreizung die öffentlichen Vereinigungen 
zu gefährlich für uns, dann haben wir immer noch die 
Mittel in der Hand, sie zu unterdrücken, dann besitzen wir 
die Staatsmacht noch.« 

„Die. Unverletzlichkeit des Hausrechts — die mögt ihr 
meinetwegen in die Gesetzbücher niederschreiben und über- 
all verkünden. sagen die Schlauen unter der Bourgeoisie. 
„Wir wünschen es nicht, daß die Agenten der Polizei uns 
in unserm Hause überraschen, doch wir richten ein Cabinet 
noir ein, um Verdächtige zu beobachten, wir bevölkern das 
Land mit Spitzeln, wir halten ein Verzeichnis der Personen, 
die uns gefährlich erscheinen, und bewachen sie überall. 
Sehen wir etwa einmal, daß diese Unverletzlichkeit des 
Hausrechtes uns schädlich ist, — dann zum Teufel mit der 
Unverletzlichkeit, dann verhaften wir die Menschen in den 
Betten und nehmen Haussuchungen vor, um alles durch- 
zustöbern. Handeln wir dann nur ganz brutal: wer etwa 
zu laut schreien und protestieren sollte. den sperren wir 
ein und zu den andern sprechen wır dann: »Was wollen 
Sie, meine Herren, Krieg ist Krieg!« Ohne Zweifel wird 
man beistimmen.« 

Und das Briefgeheimnis? — sagt es, schreibt es und 
verkündigt es überall, daß der Brief unverletzlich ist. Wenn 
der Postmeister eines Dorfes aus Neugierde einen Brief 


öffnet. — enthebt ihn augenblicklich seines Amtes und 


ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 761 


nennt ihn einen ungehobelten Patron und Übeltäter! Sorgen 
wir dafür, daß unsere gegenseitigen Geheimnisse, die wir 
in unsern Briefen uns mitteilen, nicht bekannt werden. Be- 
kommen wir aber davon Wind, daß eine Verschwörung 
gegen unsere Vorrechte im Entstehen ist, dann öffne man 
die Briefe und stelle, wenn es nottut, dazu tausende von 
Beamten an. Sollte es aber jemand einfallen, dagegen zu 
protestieren. dann antworten wir unbekümmert, wie jüngst 
ein englischer Minister unter den Beifallsbezeugungen des 
Parlaments: »Ja, meine Herren, schweren Herzens und mit 
Widerstreben beschlossen wir, die Briefe zu öffnen, es blieb 
uns eben kein anderes Mittel übrig. Das Vaterland (das 
heißt Adel und Bourgeoisie) war in Gefahr! 


* « 
* 


So sehen die sogenannten politischen Rechte aus. 

Die Freiheit der Presse und Vereinigung, die 
Unverletzlichkeit des Hausrechts, wie die 
andern alle heilen mögen, sie werden nur so 
lange respektiert, als das Volk sie nicht gegen 
die privilegierten Klassen anwendet. Sobald 
man aber diese Rechte anwenden will. um die 
Privilegien zu beseitigen, wird man sie samt und 
sonders über Bord werfen. 

Und das ist sehr natürlich: der Mensch besitzt 
nur die Rechte, die er sich durch ernsten Kampf 
erworben hat, für die er jeden Tag bereit ist, 
mit ganzer Person einzutreten. Daß man in den 
Straßen unserer Städte nichtmehr Männer und Frauen die 
Peitsche fühlen läßt, wie es jetzt noch in Odessa geschicht, 
kommt daher, weil das Volk die Schergen in Stücke reifen 
würde, wenn es den Herrschenden einfallen würde. Dal 
sich kein Adeliger auf der Straße den Weg bahnt, indem 
seine Diener links und rechts Stockbiebe austeilen. kommt 
daher, weil man den Diener, der dies täte, auf der Stelle 


762 Kropotkin / Politische Rechte und 


totprügeln würde. Daß ferner gegenwärtig auf der Straße 
und in öffentlichen Gebäuden eine gewisse äußerliche Gleich- 
heit herrscht zwischen Arbeitern und Unternehmern, ist 
darin begründet, dal dank den geschehenen Umwälzungen 
ein Gefühl persönlicher Würde bei dem Arbeiter sich ent- 
wickelte, das ıhm nicht erlaubt, Beleidigungen seines Herrn 
zu dulden — doch nie deshalb, weil ihm etwa ein Gesetz 
dieses Recht verbürgte. 


« * 
> 


Es ist klar. daß in der gegenwärtigen Gesellschaft, die 
ja nur aus Herren und Knechten besteht, eine wahre Frei- 
heit nicht existieren kann, sie kann nicht existieren. so 
lange es noch Ausbeuter und Lohnsklaven, Herrscher und 
Beherrschte gibt. Daraus folgt allerdings nicht, daß wir bis 
zu dem Tage, da die anarchistische Gesellschaft die bisherige 
ablöst, die Presse geknebelt wünschen wie in Oesterreich. 
das Recht der Vereinigung unterdrückt wie in Rußland, 
die Unverletzlichkeit des Hausrechts eingeschränkt wie in 
der Türkei. Gerade weil wir Sklaven des Kapitals sind. ver- 
langen wir das Recht. zu schreiben und zu drucken was 
uns gefällt, das Recht uns zu versammeln, uns zu organisieren 
wie es uns gut dünkt, einzig und allein um das Joch des 
Kapitals zu zerbrechen. 

Doch es ist hohe Zeit, daf wir verstehen 
lernen, daß keine gesetzliche Verordnung uns in 
den Besitz dieser Rechte einsetzen kann. Sie 
werden uns nicht verbürgt durch einen Wisch Papier, der 
durch die geringste Laune unserer Herren zerrissen werden 
kann: die Wahrung und Bürgschaft für die Erhaltung dieser 
Rechte liegt einzig und allein bei uns selbst. Wenn wir 
eine Macht sind, fähig. Achtung vor unserm Willen zu er- 
wecken, dann wird es auch möglich sein, Respekt vor 
unsern Rechten zu erreichen. 


ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 763 


Wollen wir das Recht haben, zu sprechen und zu 
schreiben, was uns beliebt, das Recht, uns zu versammeln 
und uns zu organisieren. Wohlan! Dann werden wir nicht 
im Parlament um Erlaubnis fragen, die Freiheit nicht durch 
ein Gesetz von der Regierung erbefteln. Organisieren wir 
uns zu einer Macht, die imstande ist, den Unterdrückern 
die Zähne zu zeigen wenn sie unverschämt genug sind, 
unser Recht auf Schrift-. Rede- und Koalitionsfreiheit zu 
beschränken. Seien wir stark, und wir können versichert 
sein, daß niemand es wagen wird. uns das Recht, zu 
sprechen, zu schreiben, zu drucken und uns zu vereinigen, 
zu nehmen. Wenn es uns gelingt, so viel Bewußtsein in 
der Masse zu erwecken, daß sie unter Umständen mit Ein- 
setzung der ganzen Persönlichkeit bereit ist, für ihre Rechte 
einzutreten und sie sich zu erkämpfen, dann wird man es 
nichtmehr wagen, ihre Rechte anzutasten oder viele andere 
zu verweigern, die sie zurückverlangen wird. Dann, und 
nur dann, werden wir diese Rechte wirklich erringen, 
während wir um sie sonst noch jahrzehntelang in den 
Parlamenten befteln würden. Dann werden uns diese Rechte 
sicherer verbürgt sein, als wenn sie von Zeit zu Zeit von 
neuem auf einen Fetzen Papier geschrieben werden. | 

Die Rechte kommen nicht von selbt. man muß 
sie sich erkämpfen. 


762 Kropotkin / Politische Rechte und 


totprügeln würde. Daß ferner gegenwärtig auf der Straße 
und in öffentlichen Gebäuden eine gewisse äußerliche Gleich- 
heit herrscht zwischen Arbeitern und Unternehmern, ist 
darin begründet, daß dank den geschehenen Umwälzungen 
ein Gefühl persönlicher Würde bei dem Arbeiter sich ent- 
wickelte, das ihm nicht erlaubt, Beleidigungen seines Herrn 
zu dulden — doch nie deshalb, weil ihm etwa ein Gesetz 
dieses Recht verbürgte. 


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Es ist klar, dal in der gegenwärtigen Gesellschaft. die 
ja nur aus Herren und Knechten besteht, eine wahre Frei- 
heit nicht existieren kann, sie kann nicht existieren, so 
lange es noch Ausbeuter und Lohnsklaven, Herrscher und 
Beherrschte gibt. Daraus folgt allerdings nicht. daß wir bis 
zu dem Tage, da die anarchistische Gesellschaft die bisherige 
ablöst, die Presse geknebelt wünschen wie in Oesterreich. 
das Recht der Vereinigung unterdrückt wie in Rußland. 
die Unverletzlichkeit des Hausrechts eingeschränkt wie in 
der Türkei. Gerade weil wir Sklaven des Kapitals sind. ver- 
langen wir das Recht. zu schreiben und zu drucken was 
uns gefällt. das Recht uns zu versammeln, uns zu organisieren 
wie es uns gut dünkt, einzig und allein um das Joch des 
Kapitals zu zerbrechen. 

Doch es ist hohe Zeit, daf wir verstehen 
lernen, daß keine gesetzliche Verordnung uns in 
den Besitz dieser Rechte einsetzen kann. Sie 
werden uns nicht verbürgt durch einen Wisch Papier, der 
durch die geringste Laune unserer Herren zerrissen werden 
kann: die Wahrung und Bürgschaft für die Erhaltung dieser 
Rechte liegt einzig und allein bei uns selbst. Wenn wir 
eine Macht sind, fähig. Achtung vor unserm Willen zu er- 
wecken, dann wird es auch möglich sein, Respekt vor 
unsern Rechten zu erreichen. 


ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 763 


Wollen wir das Recht haben, zu sprechen und zu 
schreiben, was uns beliebt, das Recht, uns zu versammeln 
und uns zu organisieren. Wohlan! Dann werden wir nicht 
im Parlament um Erlaubnis fragen, die Freiheit nicht durch 
ein Gesetz von der Regierung erbefteln. Organisieren wir 
uns zu einer Macht, dıe ımstande ist, den Unterdrückern 
die Zähne zu zeigen wenn sie unverschämt genug sind, 
unser Recht auf Schrift-. Rede- und Koahtionsfreiheit zu 
beschränken. Seien wir stark, und wir können versichert 
sein, daß niemand es wagen wird, uns das Recht, zu 
sprechen, zu schreiben, zu drucken und uns zu vereinigen, 
zu nehmen. Wenn es uns gelingt, so viel Bewußtsein in 
der Masse zu erwecken, dal sie unter Umständen mit Ein- 
setzung der ganzen Persönlichkeit bereit ist, für ihre Rechte 
einzutreten und sie sich zu erkämpfen, dann wird man es 
nichtmehr wagen, ihre Rechte anzutasten oder viele andere 
zu verweigern, die sie zurückverlangen wird. Dann, und 
nur dann, werden wir diese Rechte wirklich erringen, 
während wir um sie sonst noch jahrzehntelang ın den 
Parlamenten befteln würden. Dann werden uns diese Rechte 
sicherer verbürgt sein, als wenn sie von Zeit zu Zeit von 
neuem auf einen Fetzen Papier geschrieben werden. | 

Die Rechte kommen nicht von selbt. man muß 
sıe sich erkämpfen. 


764 Willy Haas 


DER JOURNALIST 
Versuche einer psychologisch-historischen Ortsbestimmung der intellektuellen Gruppe 
VON WILLY HAAS. 


I. 

Aus einer mythischen Urzeit, in der der Begriff der 
Bourgeoisie noch so etwas wie bewegenden und bewegten 
Gehalt hafte. ragen etliche ehemals - ethische. Uberbleibsel. 
undeutlich genug. als kaum mehr formal beachtete Anstands- 
regeln. zuletzt nur noch als bloße petrefakte Zeremonien 
in unsere großkapitalistische Luft hinein — völlig sinnlos 
geworden, unverständlich, in der Luft hängend, scheinbar 
ohne Wurzel und Nährstoff; dennoch vorhanden: sogar 
irgendwie gespenstisch- beweglich. merkwürdig genug: wie 
galvanisierte Leichenmuskeln . 

Galvanısiert aber: durch walke Naturkräfte? 

Darüber eben einige beiläufige Notizen, die eich später 
in ein geschlossenes System, »Vom Geistigen und vom Staates, 
einfügen sollen 

Man betrachte den Betrieb einer durchschniſtlichen 
Tagesredaktıon von heute und morgen. Paradox ist: 
eine völlıg sinnlose, gleichwohl sentimental-höflich konservierte 
Distanz zwischen Administration und Redaktion, Geldgeber 
und geistigem Leiter dieses journalistischen Institutes. Petrifi- 
zıert: denn diese Distanz ıst doch natürlich auf der Basıs 
der gegenwärtigen materiellen Ordnung nıcht mehr lebendig. 
Dennoch irgendwie gespenstisch vorhanden; zu einem ge- 
spenstigen Leben galvanieiert. von Tag zu Tag. Wieso? 

Interime Reformen. wie: materielle Sıcherstellung der 
redaktionellen Unabhängigkeit durch Betriebsrat und lang- 
fristige Kündigungsfristen vernebeln höchstens. Und doch: 


es wırd vernebelt. Warum? 


Der Journalist | 765 


II. 


Was ist denn primäre Pflicht des Geistes? Doch 
wohl: einen materiell und also auch peychisch gegebenen 
Zustand sichtbar auf seine klaren, organıschen, durch eben- 
jenes materielle Skele bedingten Formen und Umrisse 
zurückzuführen. | 

Ist der Geistige »Revolutionäre? Dann muß er vorerst 
— — nicht so sehr sagen. was iste; vielmehr: er muß durch 
Tat jene Situation unzweideutig realisieren helfen. die im 
Augenblick einzig und allein realisierbar. weil einzig und 
allein materiell gegeben ist. 

Aufbauend: um das Haltbare haltbar zu machen: de- 
struktiv- produktiv: um das Abbruchsreife als ein faktisch 
Ausgebautes ad absurdum zu führen. Immer aber: pour 
Être sec, wie Stendhal sagt. Denn Nüchternheit ist die 
einzig mögliche Form des revolutionären Rausches. 


III. 

Den seelisch hypertrophen Arabeskenheiligen aber be- 
herrscht eben die Ideologie stärker als die Tatsache. 

Und das gerade ıst der Kernpunkt des Problems: jeder 
soziale Körper scheidet aus bestimmten wunden Stellen 
seines Organismus solche körperphantastische Jenseits-Im- 
ponderabilien aus, die seinem spezifischen sozialen Wundfieber als 
spezifisches Antitoxin entgegenwirken. Um sıch zu erhalten, 
als Organismus: Gesetz der Trägheit in der 1 
Natur: Und wäre der Organismus noch so wertlos 

Da eind Pfaffen. Mönche, Prediger. Offiziere eines 
längst unwirklich gewordenen Jenseits, das einem staats- 
feudalen Diesseits korrespondiert bat 

Aber da sınd, primär gezeugt durch dieselbe physische 
und psychische Unterernährung, die phantom - besessenen 
ideologisch- liberalen Flagellanten. Säulenheiligen, J enseits- Heroen 
der bourgeoisen Epoche: Die Bourgeoie- Geistigen: und ihre 


766 Willy Haas 


sekundären Proselytenmönche, die ernährt, was jene wenigstens 
verzehrt hat: die Journalisten der bourgeoisen Periode. 

Und da ist auch unser Redakteur . . . 

Die klare, faktische Manifestierung des faktisch gegebenen 
Zustandes würde heißen: vollkommene, offizielle. anonyme 
Unterstellung des Chefredakteurs unter den kapitalistischen 
Besitzer: als bloßen Schreiber. Das wäre subjektiv gewissen- 
haft und objektiv von einer unermeßlichen ethischen Wirkung. 

Aber nein: ihm, dem Redakteur. bedeutet eine Luft- 
spiegelung von Gedanken- und Gewissensfreiheit« etwas. Flöchstes 
Paradox: in einem gesellschaftlichen Organismus, in dem die Idee 
gar nicht existieren kann (sollte man denken), weil sie 
in diesem Organismus der kapitalistischen Welt doch weder 
notwendig ist, noch Platz findet: weder als ein Nährendes 
noch als ein Ernährtes Existenzfähigkeit besitzt: existiert sie 
dennoch. Warum? 


IV. 

Wir sagten: Die klare, anonyme Unterstellung des 
Chefredakteurs unter den kapitalistischen Besitzer wäre subjektiv 
anständig und objektiv von einer unermellichen ethischen 
Wirkung. Darüber wäre zu sprechen. 

Subjektiv anständıg: Denn die Arbeit der Hände nährt 
ihren Mann immer redlich; mag er sie nun an der Dy- 
namomaschine oder an der Schreibmaschine ihre Kraft und 
Geschicklichkeit aufwenden lassen. 

Und wirklich: Die Schreibmaschine müßte, in dieser 
kapitalistischen Zeit, das einzige erlaubte Produktionsmittel 
des Journalisten sein. 

Sie allein. ein Mechanisches. mechanisch durchaus, auch 
mit dem Kopfe noch, zu Bedienendes. gewährleistet un- 
zweideutig einen rein fabrıkmäfßigen, außergeistigen Journal- 
betrieb. Sie stellt den Journalisten dorthin. wohin er gehört. 


Wenn er sauber bleiben will: neben den ebenso vollkom- 


Der Journalist 767 


men, bis ins Psychische hinein, mechanisierten Lohnarbeiter 
des kapitalistischen Taylor-Systems. Ein Unglücklicher neben 
dem andern 

Die Manipulation mit Schreibtedern, als welche aller- 
band gefährlichen Miſſbrauch des Hausbrandes: »Geiste be- 
fürchten läßt, müßte den journalistischen Kindern bei Strafe 


des schwarzen Mannes verboten werden. 


V. 


Aber auch objektiv von einer unermeßlichen ethischen 
Wirkung, wie wir schrieben: 

Man überlege doch: Das bischen reale Stoſkraft. daß 
der Intellektuelle noch hat, verpufft er gegen sich selbst. 

Was seine Intention betrifft. so müßte die bourgeoise 
Tagespresse ewig jene dämonisch-gefährliche Autorität be- 
halten, die sie, als Instrument angeblich unabhängiger Männer 
mit unabhängiger Meinung heute zum Teil noch hat. 

Diese Macht würde durch die offizielle Unterstellung 
sofort abgebaut werden: Herr X. wäre nur faktisch und 
offenkundig das, was er ja doch ist: der angestellte Büro- 
schreiber des Herrn Stinnes, der Beamte eines unerhört 
erweiterten Reklamebüros der Stinnes-Konzerne, das eben 
seine Reklame jetzt mit geänderten ideologischen Reklame- 
waffen fortzusetzen beschließt... . . . 
| Der große Irrtum des intellektuellen J ournalisten ist 
bier die Annahme, daß einem J eden diese Situation ebenso 
durchsichtig ist wie ihm selbst. 

Verhängnisvoller Irrtum! Die völlige Unzweideutigkeit 
dieser Situation: Fortsetzung der Reklame als politische 
Weltanschaung ist. in ihrer ganzen schamlosen Nacktheit. 
durchaus nicht allen Klar. 

Und wäre sie es selbst: sie würde den Intellektuellen 
der Pflicht nicht entheben, das innerlich unzweideutig Wahre 


zur äußeren unzweideutigen Manifestation zu führen. 


768 Willy Haas 


VI. | 

Und die Ortsbestimmung des Intellektes in dem gegen- 
wärtigen sozialen Weltkomplex? 

Ein praeservatıves oder antitoxitisches Sekret des wunden. 
bourgeoisen Organismus. Kein aktıves Element. nicht 
einmal ein passives: sondern ein bloßes Mittel: in der 
ganzen, weitesten Bedeutung des Begriffes. 

Der Begriff des «Miftelse aber enthält als wesentlichstes 
Merkmal: daß das »Miĝele das primitivste Niveau des 
Ich-Bewußtseins: Klarheit über die eigene dynamische Be- 
stimmung; über Richtung und Intensität des Stoles, den 
dieses spezifische organische Faktum durch seine bloße 
organische Existenz führt (denn jedes orga- 
nische Faktum hat, vermöge seiner Expansionsmöglichkeit, 
als bloß Existierendes schon seine spezifische Stoß- 
richtung und Stoßkraft): daß das »Miftele dieses hier bezeichnete 
p rımıtivste Niveau des reflektiven Ich-Bewußtseins noch 
nıcht erreicht hat e. 

Und eine soziale Gruppe, im Stadium des Mittels 
bedeutet: daß eben jene soziale Gruppe als Organismus 
noch nicht das übertierische Niveau des Individuums er- 
reicht hat, das Niveau des verfeinerten Organismus, als 
welches Reflexion . . . . Reflexion und Selbstbestimmung 
eventuell voraussetzt. | 

Die soziale Gruppe des Proletariats hat jene reflexive 
Möglichkeit durch Marx und Sorel bekommen. Die 
intellektuelle Gruppe · steht also entwicklungsgeschichtlich. 
unter dem Proletariat und ist als gleichstehender Mit- 
kämpfer einstweilen noch kaum akzeptabel. 

Naturgeschichtliche Notwendigkeit führt natürlich, wie 
den Einzelorganismus. so auch den sozialen Organismus aus 
dem Stadium des Unbewußtseins allmählich in jenes der 
Reflexionsfähigkeit. Mit diesem Momente aber scheidet er 
als »Miftele aus. Die Heiligen des früheren, die Asketen 


Der Journalist 769 


und Mönche des späteren Mittelalters waren noch antı- 
toxitische Mittel des feudalen Systems. Der Entwicklungs- 
zustand eines dämmernden Ich-Bewußtseins: die große 
katholische Kirche, der Klerikalismus, ließ ganz automatisch 
den Christen als »Mittele zurücktreten; seine Stelle nahm 
das Militär ein, dessen primitive ideologische Gläubig- 
keit denn auch bis zum heutigen Tag glücklich vor- 
gehalten hat . 

Beginnende N scheidet nämlıch eine 
jede Gruppe ausnahmslos automatisch in zwei Hälften: in 
die beharrende nihilistisch- konservative. der jede, auch die 
dogmatische Realıtät um welchen Preis ımmer Lebensnot- 
wendigkeit ist: als stützender Stab. Diese Hälfte -Klerikalisiert · 
sich. Die andere geht, wohin immer, ihren Weg weiter 

In diesem sich spaltenden und teilweise klerikalisierenden 
Stadium steht der J ournalismus eben heute. 

Klerikalismus ist nämlich: Vorwegnahme der Realität 
` als Dogma. Realität hat als primäres Merkmal: intellegible 
Wahrheit. Daher ist Realität unmöglich; Menschen- 
problem: ohne Wirklichkeit zu leben. Ein Menschenproblem, 
dessen Theoretiker (und nichts mehr) der Metaphysiker 


amt 

Der Klerikale umgeht dieses Problem, weıl er es aut 
keine Weise bewältigen kaun. Er konstruiert sich eine 
imaginäre »Wirklichkeite, die jenes integrierende Merkmal: 
intellegible Wahrheit. nicht besitzt: das Glaubensdogma. 
Ihm fliegen die Herzen Aller jener zu, die das Erkenntnis- 
problem zerreiſen und vernichten würde. Dies der ver- 
führerische Glanz der klerikalen Seelenkonstellation. 

In zehn, zwanzig Jahren wird der Begriff des in- 
tellektuellen Journalismus dasselbe leicht-perverse Verführungs- 
schillern für die unmöglichen Menschen haben, das seit 
rund hundert Jahren. seit der Romantik. auf der sicht- 
baren Außenfläche des Begriffs Katholizismus · irisiert. Ihm 


770 Willy Haas 


werden verfallen sein die Kinder jener Realitätsüchtigen 
à tout prix von Friedrich Schlegel (über Nietzsche’) bis 
zu Paul Claudel. Der Typus des Intellektuellen als erotische 
Fata Morgana ist im Erscheinen 


VII. 


An ihren aktiven Tendenzen ist eine Gruppe psycho- 
logisch zu fixieren. | 

Eine solche Tendenz ist hier bereits erörtert worden: 
die Tendenz der unmittelbaren Autorität »Besitzere gegenüber. 

Wie nun ist ihre Tendenz der Autorität gegenüber 
überhaupt, präziser ausgedrückt: dem Inbegriff der heutigen 
Autorität, dem ephemeren Staatsgebilde, gegenüber? 

Noch der geistigste Journalismus strebt schlechtweg eine 
Sozialisierung des gesamten geistigen Betriebes, vom 
Theater bis zur Tageszeitung und zum Kino hinab, an. 

Hier erst dokumentiert sich jene tiefe Selbst-Unsicherheit, 
die dem Begriff des sunbewulßten Mittelss charakteristisch 
anhängen muß. 

Was hat eine ihrer 88 bewufte 
soziale Gruppe der Menschheit als Höchstes anzubieten? 
Sich selbst. Die eigene, immanente, unterirdische, höchst- 
individuelle, noch nicht verwirklichte Struktur ıhrer selbst: als 
einer angenommenen und tiefst-geglaubten sozialen 
Höchstform. 

Das tut das revolutionäre Proletariat von heute ım 
Kommunismus Tut es die intellektuelle Gruppe? Kann 
sie es tun? Und welche Struktur wäre es denn, die sie 
anzubieten häfte? 

Welches ist überhaupt ihre höchsteigene soziale Struktur 
dynamei »der Möglichkeit nache, um aristotelisch zu 
sprechen? Diese Möglichkeit obendrein aufdasOptimistischeste 
geschen? 


Der Journalist 771 


Abbau der zufälligen Autorität: mil Darüber hinaus 
aber: freies Spiel der gegebenen seelischen Kräfte; körper- 
liche Herstellung der natürlichen Beziehung aus den 
seelischen Imponderabilien der Über- und Unterlegenheit. 
des Hasses, der Bewunderung. des Neides, aller dieser 
Elemente zusammen: also, historisch gesprochen: das vor- 
sozialistische Ideal des Smith schen Liberalismus mit 
seinem chaotischen: »Laisez faire, laissez passer le: ein 
durchaus frühes und gröberes Stadium des sozialen Gewissens. 
Und: Besitzen wir etwa nicht diese Gruppen. ehrlich 
realisiert. in effigie, wenigstens als Miniatüre. in unzähligen 
literarischen Klüngeln? Zum Beispiel in der Stefan-George- 
Gruppe mit ihren Anrainern und unmittelbar innerlich 
beteiligten Gegnern? Und ein Buch, wie Friedrich Wolters 
„Herrschaft und Dienste: gıbt es nicht die Theorie 
dieses sozialen Gebäudes wenigstens ehrlich? So ehrlich, 
daß es von der erdrückenden Majorıtät der heutigen 
Intellektuellen als magna charta einfach unterschrieben 
werden müßte, hätten sie die Nüchternheit, die Selbstkontrolle, 
die psychisch-historische Situation ihres Soꝛzial-Sinnes auch 
wirklich zu überblicken ? 

Was charakterisiert diese Situation? Zweierlei: eine 
reale Lebendigkeit der Praedestinations-Idee. Und eine 
reale Lebendigkeit des Autoritäts-Gedankens, aufgebaut auf 
dieser imponderablen. Praedestination. 

Ganz weit gefaßt: Die Antithese »Oben-unten« als 
ein Sozial-Seiendes und Wirksames ... . . 

Kann diese ephemere Wirklichkeit irgendeinmal den 
Charakter einer » historischen Fiktione bekommen? Und 
auf welehem Wege? Durch welche Kräfte? Ä 

Vorerst scheint es: nicht. Denn jene graduellen 
Beziehungen von Herrschaft und Dienst sind doch schein- 
bar praedestiniert-geistige Beziehungen der Natur selbst: 
Grad des Geistes, Talentes, der Genialität: wie sollte 


772 Willy Haas 


ihre Wirklichkeit ın der intellektuellen Sphäre jemals 
unwirklich werden? 

Aus sich selbst wird sie es niemals werden: denn der 
Intellekt in sich selbst wird, ist er konsequent und 
selbstgläubig. auch an die geistige Notwendigkeit einer 
sozialen Verwirklichung jener prädestinierten Stufenhaftigkeit 
glauben müssen. 

Nein! es müßte ein völlig disparater Sozialismus hinzu- 
und eintreten, den die intellektuelle Gruppe niemals aus 
sich‘ selbst heraus wird zeugen können. Erst dieses Disparate 
könnte die soziale Relevanz jener immanenten prädestinierten 
Grad-Struktur ad absurdum führen. Erst dieses Disparate 
könnte den Grundstein legen zu jener primären »Sozialı- 
sıerung des Talentes«, die die psychologische 
Voraussetzung ist für jede wirkliche Sozialisierung 
einer jeden geistigen, geist-nahen oder vorgeblich-geistigen 
Institution. | | 

Der hier umrissene Vorgang ist, und zwar genau in 
der psychologisch abgeleiteten Ar., als wirkliche Experiment 
vorhanden; in jenem großen anonymen Werk über 
»Proletarische Ethike, dessen anonymer Autor, wie Ludwig 
Rubiner sagt, zum erstenmal sozialistische Ethik an seiner 
eigenen Anonymität verwirklichte: den »Einzelnen als Zelle: 
als Mitmenschen: als ungenanntes Wesen, dessen wertvollstes 
Schicksal das Opfer seiner eigenen Sonderperson für die 
Gemeinschaft iste uns vorführt. 


VIII. 


Und dennoch wollen sie sozialisieren; und zwar sofort: 
auf der Stelle; und Alles: Theater. Kino. Redaktionen, 
Buchverlage: alles, alles wollen sie dem Staate von heute 
anvertrauen. So vertrauenswürdig ist ihnen dieser Staat 
von heute. | 


Der Journalist 773 


Wir wollen von dem Meritorischen schweigen: ob 
man durch solchen unerhörten Machtzuwachs auf ideellem 
Gebiete den Staat von heute nicht bis ins Unangreifbare 
stärkt: die Revolution für ungewisseste Zeit aufschiebt. .... . 

Uns interessiert hier nur das historisch-topische Moment: 
eine irgendwo anderwärts vorhandene, irgendwo anderwärts 
seelisch fundierte Wahrheit wird einfach präokkupiert: 
eine Wahrheit, die nicht ihre Wahrheit ist; eine Realität, 
die nicht ihre Realität ist; eine imaginäre Realität; ein 
Dogma: Die Sozialisierung als totes Dogma. 

Wir kommen auf früher Angedeutetes zurück: der 
intellektuelle Journalismus ist auf jenem Wege dämmernder 
Reflexions möglichkeiten, die den Klerıkalismus in irgend- 
einer Form als notwendige Begleiterscheinung absplittert. 

Diese Hypothese: an neuer, erweiterter Perspektive 
wiederum erwiesen 

IX. 

Die revolutionären Schichten Frankreichs verdanken 
einer ihnen. wie keinem anderen Volke die wirkliche 
geistige Gruppierung klarstellenden politischen Geschichte 
ihre bestimmte und historisch gegebene Flaltung gegen den 
Intellektualismus. | 

Die große Revolution als Tatsache ist ihnen unver- 
lierbar-höchstes, immer wieder produktive Gut. Die große 
Revolution als reale Errun genschaf t ist geschichtlich 
gegebenes Faktum, über das hinausgebaut werden muß. Die 
Revolution als of fiz isse Tradition ist ihnen der 
Inbegriff des zu Bekämpfenden e.o 

Denn wirklich: um sie klarzustellen, müssen diese 
Dinge auf dem Kopf stehen. Liberté. égalité, fraternité 
muſ immer wieder zur akademischen Phrase geworden 
sein. um diese großen Revolutionsideen immer wieder 
regenerierbar zu machen 


774 Willy Haas / Der Journalist 


Aber auch den französischen Intellektuellen wie der 
Geschichte Frankreichs muß nachgesagt werden, daß sie zu- 
mindest ehrlicher sind als die Unsrigen. Ihre Thomas 
Manns waren natürlich bis 1914 streng parallel: Voltärianer 
und Revolutionaristen. Und dre geistige Fronde war zum 
großen Teil nationalistisch, ıintegral-kirchlich, sogar royalıstisch : 
Claudel, Gide, Péguy. 

Nun aber: die größere Ehrlichkeit: republikanisch und 
revolutionär-traditionalistisch war nicht nur dieser oder 
jener Thomas Mann. sondern die ganze Intellektuaille 
insgesamt. der ganze J ournalismus. das ganze Konversations- 
theater, die ganze Wissenschaft, die ganze Unterhaltungs- 
literatur: kurz gesagt: die Sphäre der intellektgebornen 
Talent-Mittelmäfigkeit durchaus, 

Nur aus solchen Aspekten heraus ist die streng 
antuntellektuelle Haltung des einzigen wirklich revolutionären 
Vorkriegsfrankreich, das der Name Sorel und das Programm 
des Syndikalismus fast restlos bezeichnet, zu ver- 
stehen... 

Inwiefern der Krieg diese Situation verändert bat. 
dies darzustellen, kann nicht Aufgabe dieser Studie sein. 
Es sollte nur gezeigt werden, wie eine etwas charakteristischere 
politisch-historische Konstellation (und auch diese ist, was 
Frankreich betrifft. gewiß kein Zufall) sofort die einzig 
wahre, einzig mögliche Distanz zwischen Revolution und 
Intellektualismus aufrichtet. 


Anatole France Gespräche über die Intelligenz 775 


GESPRÄCH ÜBER DIE INTELLIGENZ 


RANDBEMERKUNGEN, DIE PIERRE NOZIÈRE® IN SEINEN 
GROSSEN PLUTARCH ZEICHNETE 


VON ANATOLE FRANCE 


Arist, Polyphil und Dryas 
Polyßhil 

Arist, wie kannst Du sagen, daß die Intelligenz das 
Wesentliche im Menschen sei? Sie ist es nicht. Die Intelligenz 
auf der überlegenen Stufe ıhrer wirklichen Entwickelung, 
das heißt die Eigenschaft einige ewig übereinstimmende 
Momente in der Verschiedenheit der Erscheinungen. zu er- 
fassen, ist selten und unsicher bei den Tieren unserer Art. 
Nicht von ihr lebt der Mensch. Sie regelt nicht die 
Funktionen des organischen Lebens: sie befriedigt weder 
Hunger noch Liebe: sie wirkt nicht mit im Blutkreislauf. 
Der Natur fremd. ist sie der Moral. wenn auch nicht ge- 
rade feindlich, so doch gleichgültig. Sie hat nicht die tiefen 
Instinkte der Wesen, die übereinstimmenden Gefühle der 
Völker, die Sien und Bräuche festgesetzt. Sie hat weder 
die heilige Religion noch die mächtigen Gesetze eingeführt, 
die sich in einer feierlichen Vorzeit auf der gemeinsamen 
Entfaltung der Kräfte des elementaren Lebens aufbauten. 
Was ich hier sage, soll nicht die Majestät göftlicher und 
menschlicher Einrichtungen herabsetzen: Ihr versteht mich 
doch. Der rührende Glanz der religiösen Bräuche setzt sich 
aus dem formlosen Trümmerhaufen der primitiven Apotheken 
zusammen: die Theologien haben die verehrungswürdige 
Unintelligenz und die heilige Bestürzung unserer wilden 


®) In seinen Memoiren identifiziert sich Anatole France mit Pierre Noziöre. 


(Asmerk. der Übers). 


776 | l Anatole France 


Vorfahren angesichts des Schauspiels vom Universum zum 
Ursprung. Die Gesetze sind nur die Verwaltung der Instinkte. 
Sie sind den Gewohnheiten unterworfen. die sie zu unterwerfen 
behaupten: das eben macht sie der Gemeinsamkeit erträglich. Früher 
nannte man sie Bräuche. Die Grundlage dazu ist außerordentlich 
alt. Die Intelligenz hat begonnen in den Geistern zu keimen, 
als der Mensch bereits seinen Glauben, seine Siten, seine 
Liebe und seinen Haß, seine gebieterische Idee von Gut und 
Böse aufgebaut hafte. Sie ist von gestern. Sie stammt von 
den Griechen, den Ägyptern, oder, wenn Ihr wollt, von 
Akadiern oder Atlanten. Sie kam nach der Moral, was 
sage ich, nach der Flöte und dem KRosenol. Sie ist in 
diesem alten Tier eine reizende und verächtliche Neuheit. 
Sie hat hier und da hinlänglich helle Strahlen hingeworfen, 
das gebe ich zu. Sie strahlt angenehm in einem Empedokles 
und in einem Galilei, die ein glücklicheres Leben geführt 
häften, wären sie weniger begabt gewesen für die Erfassung 
von einigen ewig übereinstimmenden Momente in der un- 
endlichen Verschiedenheit der Phänomene. Die Intelligenz 
hat eine gewisse Grazie, einen Zauber, das gebe ich zu. 
Bei einigen Personen gefällt sie. Da sie heute selten ist 
und, nur auf eine geringe Anzahl verachteter Menschen 
beschränkt, lebt, bleibt sie unschuldig. Aber man darf sich 
darüber nicht täuschen: sie steht im Widerspruch zum 
Geist unserer Art. Wenn sie durch einen Unglücksfall, der 
nicht zu befürchten ist, plötzlich die Menschenmasse durch- 
strömte. würde sie wie eine Ammoniaklösung auf einen Ameisen- 
haufen wirken. Das Leben stünde plötzlich still. Die 
Menschen können nur unter der Bedingung bestehen, daß 
sie das wenige das sie begreifen, schlecht begreifen. Un- 
wissenheit und Irrtum sind dem Leben so notwendig wie 
Wasser und Brot. Die Intelligenz muſ in der Gesellschaft 
außerordentlich selten und schwach sein, um ungefährlich 
zu bleiben. 


Gespräche über die Intelligenz 777 


So spielt es sich tatsächlich ab. Nein. es wird nicht alles in der 
Welt zur Erhaltung der Wesen geregelt, sondern die Wesen 
erhalten sich nur unter günstigen Umständen. Man mul er- 
kennen, daß die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit instinktiven 
Haß gegen die Intelligenz empfindet. Das tiefe dunkle Ge- 
fühl ıhres Interesses treibt sie dazu. 

Arist 

Die Intelligenz, wie Du sie erklärt hast, ıst offenbar 
die spekulative Intelligenz, die Fähigkeit zur Philosophie der 
Wissenschaften. Und es scheint doch, daß diese Eigenschaft 
nicht so neu ist wie Du sagst: es scheint im Gegenteil, 
daß sie so alt ist wie die Menschheit. Der Mensch, der 
als erster in seiner Höhle über dem Herdstein einen Bären- 
schenkel röstete. war nicht nur ein Koch; er war ein 
Chemiker, und die Philosophie der Wissenschaften war 
ihm ganz und gar nicht fremd. Wahr ist, daß die Menschen 
aus den richtigsten Grundsätzen die falschesten Schlüsse 
ziehen. Nicht die Intelligenz ist der Menschheit gefährlich, 
sondern die Irrtümer der Intelligenz. Die Eigenschaft, das 
Weltall auf eine gewisse Art zu verstehen, ıst gerade an 
die Organe des Tieres gebunden, das wir verkörpern, und 
der Mensch ist weise geboren. Ich schmeichele mir, voll 
und ganz in der Natur zu bleiben, wenn ich meine Arbeiten 
über landwirtschaftliche Chemie und Archäologie betreibe. 
Kurz, Polyphil, ich will. Dir zugeben, daß die Anlage zur 
Abschweifung bei unsersgleichen groß ist, und daß der 
Mensch gerade die Eigenschaft sich zu irren mit der größten 
Macht ausübt. 

Dryas 

Das liegt daran, daß wir nur auf die positive Periode 
eingehen. 

Polyßhil 

Ganz und gar nicht, Ihr erkennt mit mir an, dal die 
Glaubenslehren, die Moral und die Gesetze nicht einer ver- 


778 Anatole France / Gespräche über die Intelligenz 


nunftgemäßen Auslegung der Naturphänomene entstammen, 
daß eine freie Intelligenz dieser Phänomene die notwendigen 
Vorurteile schwächt, und daß die Gabe viel zu wissen ein 
verhängnisvoller Auswuchs ist. 
Dryas 
Das ist nicht ganz wahr. 
Polyfhil 

Das ist so wahr, daß die Theologen, die Goft als ein 
äußerst intelligentes Wesen auffassen, nicht zulassen können, 
daß er moralisch ist. Ohnehin ist die Idee eines moralischen 
Goftes lächerlich. 

Dryas 

Die Moral ist bis heute auf den theologischen Ideen 
aufgebaut worden. Wir haben eine fetischistische, eine 
polytheistische und eine monotheistische Moral gehabt. Die 
letzte war hart. Die Zeit ist gekommen, wo die Moral 
auf der Wissenschaft aufgebaut wird 

Poly$hil 

Ich will Dir nicht vorwerfen, dał Du die Wissen- 
schaften den Religionen gegenüberstellst. Aber, wenn man 
die Dinge in der Nähe betrachten muß, Dryas, was sind 
die Religionen, ich bie Dich, was sind sie, wenn nicht 
sehr alte Wissenschaften, Astrologien, Arithmetiken, Meteoro- 
logieen: abgestandene, zersetzte, trübe gewordene Arzneien: 
Verordnungen einer sehr alten und fernen Polizeigewalt. 
durcheinandergemengte Rezepte von Küche und Hygiene. 
Grundsätze primitiven Ackerbaus und ungeselliger Lebensart? 
Die positiven Aufschlüsse und die vernünftigen Anwendungen 
werden mit dem Alter. das sie sonderbar und geheimnisvoll 
macht, zu Dogmen des Glaubens und Zeremonien des 
Kirchendienstes. 

Auch unsere Wissenschaft wird Auswüchse des Aber- 
glaubens zeugen. Darüber kommt man nicht hinaus. Intelligenz 
ist der menschlichen Natur ein Abscheu. Religionen entstehen 


Morbus Berolinensis 1229 


unter unseren Augen. Der Spiritismus verarbeitet in diesem 
Augenblick seine Dogmen und seine Moral. Er hat seine Andachts- 
übungen und seine Konzile, seine Väter und seine Millionen 
von Anhängern. Die Spiritisten gründen ihren Glauben auf 
die Chemie,. so wie sie von Lavoisier geschaffen worden ist: 
sie rühmen sich, die neuesten Ideen über die Beschaffenheit 
der Materie zu haben. Sie behaupten eine gute, eine aus- 
gezeichnete Physik zu besitzen.. Wir sind die Gelehrten! 
rufen sie. Wie Arist sagte: »Man zieht die falschesten 
Schlüsse aus den richtigsten Grundsätzen. 


Arist 

Ich merke. Polyphil, daß Du Dich mit der Intelligenz 
herumstreitest, wie es verliebte Leute miteinander tun. Du 
überhäufst sie mit Vorwürfen, weil sie nicht die Königin 
der Welt ist. Ihre Herrschaft ist nicht absolut. Aber sie 
ist eine vermögende Dame, nicht ohne Kredit in mehreren 
ehrbaren Häusern und ihre mächtige Milde wirkt sogar in 
in dieser großen Stadt, die an einem breiten Fluß in einem 
fruchtbaren Tal gelegen ist. 

- (Autorisierte Uebersetzung von Beatrice Sacks). 


MORBUS BEROLINENSIS 


Es gibt in Deutschland eine weit verbreitete Seuche, die — namentlich in Berlin 
grassierend — fürchterliche Verheerungen anrichtet. Wer dieser Seuche einmal 
verfallen ist, dessen Geisteskräfte bleiben Zeit seines Lebens geschwächt. In den 
Vierteln der Armen sind die Folgen ebenso zu merken, wie am Kurfürstendamm, 
während der Hungertyphus seltsamerweise nur die Straßen der Minderbemittelten 
heimsucht. Diese Seuche, „Morbus Berolinensis“, heißt zu deutsch „B. Z. am 
Mittag” (,, B. Z.“ ist vermutlich eine Abkürzung von „Berliner Zulukaffer“). Was 
diese Seuche ferner von allen Epidemien unterscheidet, ist, daß sie nicht ihre Be- 
kämpfer, die Ärzte, sondern im Gegenteil die Krankheitserreger, die Ullsteins, 
reich macht. 

Wo man das seltsame Ding anfaßt, das sich „Öffentliches Leben“ nennt 
kommt man auf groteske Erscheinungen. Die Symptome der deutsch-bürgerlichen 

25 


780 Morbus Berolinensis 


Tragikomödie liegen zu Haufen. Es bedarf nicht Karl Kraus scher Gewissenhaftig- 
keit. die alles kontrolliert und das Beste auswählt, — jeder Blick, jeder Griff vermag 
zu demonstrieren. Um diese Behauptung zu beweisen, kaufte ich eines Tages 
ein Exemplar des Dummheits-Erregers „B. Z. am Mittag” und fand bei sorgfältiger 
Lektüre hundert wertvolle Symptome in den Rubriken „, Feuilleton“, „Variété und 
Kino“, „Kleines Feuilletton“, „Kleine Chronik (Wie niedlich das alles ist!). 
„Sport“ und „Allerlei“, beinahe ebensoviele im politischen Teil, deren amüsanteste 


hier kundgegeben seien. 
* 


An der Spitze des Blattes fett gedruckt eine „Eigene Drahtung aus Marien- 
werder: f 
. . . . Heute sprach ich einen Soldaten der roten Armee, der der 
sogenannten baltischen Landwehr, die auch u. a. von baltischen Baronen 
geführt wird, angehörte. Er sagte mir, daß schon vor längerer Zeit ein Kom- 
pagniebefehl ausgegeben war, daß die Russen den polnischen Korridor auflösen 


wollen. 
* 


Gleich daneben wieder eine „Eigene Drahtung” (Ja, wir haben's) über den 
Streik ın Zittau. Da leider keines der Zittauer Bürgerkinder sich in diesen Tagen 
an einem Prellstein das Knie geritzt hat, konnte über „blutige Ausschreitungen” 
der Arbeiter nichts gemeldet werden; hingegen: 

.. . . Der Oberbürgermeister von Zittau ist heute früh von Dresden weg- 
gefahren und wird jeden Augenblick in Zittau zurückerwartet. Man rechnet 
damit, daß er mit den 

Vortruppen der Reichswehr 
in die Stadt kommen soll. Die Reichswehr wird von der Bürger- 
schaft mit großer Sehnsucht erwartet. Der Belagerungszustand 
ist bereits über Zittau verhängt. Man glaubt nicht, daß auf andere 


Weise als durch das Erscheinen der Reichswehr diè nor- 
male Lage hergestellt werden kann. 


Der Fünfzehner-Ausschuß, 


der sich die Polizeigewalt angemaßt hat, herrscht immer noch. 
Die Stimmung der einsichtigen Arbeiterschaft ist unbedingt gegen 
den Terror und gegen den Streik 


Dann eine Hofnachricht: 
Der Reichspräsident besucht die technische Messe. 


Reichspräsident Ebert sagte einer Einladung des Meßamts folgend, seinen 
Besuch zur bevorstehenden technischen Messe in Leipzig zu. 


* 


Morbus Berolinensis | 781 


Ferner: 


Rede des Rektors Prof. Eduard Meyer. 


Die Berliner Universität beging heute mittag den Geburtstag ihres königlichen 
Stifters Friedrich Wilhelm III. in gewohnter Form mit einem Festakt in ihrer 
neuen Aula. Die Feier erhielt ihr Gepräge durch die Rede des 
jetzigen Rektors der Universität, Prof. Eduard Meyer, den seine Eigenschaft 
als Geschichtsschreiber des Altertums nicht hindert, ein sehr lebhafter Gegen- 
wartspolitiker zu sein, und der auch in einzelnen Stellen seiner heutigen Aus- 
führungen seine parteipolitische Stellung erkennen ließ. 

Prof. Meyer spricht einleitend von der unendlichen Ferne, in die die Zeit 
des Stifters der Universität uns heute schon gerückt scheint. Muten uns doch 
die stolzen Denkmäler und Bauten Berlins heute kaum anders 
an als die Ruinen von Athen, von Theben und Ninive. . Die Vorgänge der 
letzten Wochen, sagte der Rektor, müssen auch dem verblendetsten 
Schwärmer für Völkerversöhnung und Millenium (?) der Ge- 
rechtigkeit fühlbar gemacht haben, welches Schicksal uns unsere Feinde bereiten 
wollen. 

Aus einem Briefe, den ein beim Beginn des Krieges nach Amerika über- 
gesiedelter Schotte am 6. Dezember 1918 einem Gesinnungsgenossen schrieb, 
teilt Prof. Meyer einige Worte mit: die deutsche Niederlage und Unter- 
werfung sei durch moralischen Zusammenbruch, durch Verrat 
hervorgerufen. Aber die deutschen Taten seien wahrlich groß, 
ein dauernder Besitz. Noch stehen wir — so fährt der Rektor fort — 
in dem Fieberparoxysmus, in der Gedankenöde, die uns überall anstarrt. An 
schöpferischen Ideen, in denen die Seele unseres Volkes sich offenbaren würde, 
fehlt es in dem Getriebe der Weltverbesserer vollkommen. Soweit 
es sich nicht um Fieberträume einer pathologisch gärenden 
Zeit handelt, wirtschaften wir mit überkommenem Gut, mit seit langem eifrig 
erörterten Lehrsätzen und Postulaten, die ein ganz anderes Gesicht bekommen, 
sobald der Versuch gemacht wird, sie aus der Theorie in die harte Wirklichkeit 
zu überführen. 

Aus ihnen sucht man jetzt in aller Hast einen Neubau mit glänzender, aber 
rasch abbröckender Stuckfassade zusammenzuflicken. Vergebens geht der 
sehnsüchtige Blick nach einer willensstarken, schöpferischen Persön- 
lichkeit aus wie sie vor 100 Jahren in Überfülle zu Gebote standen. Wo 
eine solche fehlt, da haben die untergeordneten Kräfte freien Spielraum, da waltet 
der anarchische Zufall des blinden Ungefährs. 

Prof. Meyer schilderte dann ausführlich die große Aufgabe, die der Wissen- 
schaft, insbesondere der historischen, im Leben der Nation gestellt sei, und ver- 
teidigte die Universitäten gegen die Angriffe, die neuerdings gegen ihre Organi- 
sation und ihre Vertreter gerichtet werden. 

Das Groteske an diesem Bericht ist nicht so sehr die Tatsache, daß der monar- 
chistische Fälscher Meyer Rektor an der Universität ın der Hauptstadt einer 
Republik ist, — weit grotesker noch ist: daß die Mitglieder einer Zeitungsredaktion 


782 Der Fall Jacobsohn-Hilferding 


die davon leben, daß „wir (ominöses Wort!) zu allem ‚Stellung nehmen müssen, 
daß die Scribenten diese Annonceninstitutes mit angeblich demokratisch-republika- 
nischer Unterhaltungsbeilage hier keine „Stellung nehmen, — weil, nun weil sie 
einerseits Respekt vor einen Wissen haben, das sie zu besitzen vorgeben und 
denn . . Meyer ist ja kein Nikolai! 


* 


Weil aber alles Heitere auch eine Pointe haben muß, äußert der ., Wir“ des 
Verdummungs-Erregers sich zu den an sich schon grotesken Verhandlungen über 
die Kriegsschuld aut dem Kongreß der Zweiten Internationale: 

Die neue Fassung der Verantwortlichkeitsformel mutet den Sozialdemokraten 
zu, für ganz Deutschland die elsaß-lothringische Frage als nicht mehr bestehend 
zu erklären. Dazu haben sie natürlich nicht das Recht. Ebensogut könnte man 
aber auch von der sozialdemokratischen Partei die Wiedergutmachung der Kriegs- 
schaden verlangen, wofür selbst die gefülltesten Gewerkschaftskassen nicht aus- 
reichen würden. Die ganze Verantwortlichkeitsfrage ist auf ein falsches Gleise 
geraten. Schon Lenin hat den Entente-Arbeitern den Rat gegeben, 
einmal auf die Öffnung der Londoner und Pariser Archive zu dringen. Wenn 
berechnet wird, daß die deutschen Sozialdemokraten um fünf Jahre zu spät Re- 
volution machten, so könnte die Resolution ja für Franzosen und Engländer heute 
einen genaueren Termin zum Revolutionsbeginn festsetzen. 

Die „B. Z. am Mittag“ beruft sich auf Lenin! Nun, vielleicht kommt einst 
der Tag, da diese schnoddrige Notiz den Kern eines Briefes bildet, der in Berufung 
auf die schon am 3. August 1920 bekundete bolschewistische Gesinnung Sowjet- 
Inserate erbittet. F. S. 


DER FALL JACOBSOHN-HILFERDING 


Im Heft 27/28 der „F Aktion“, erschienen am 10. Juli 
1920, schreibt Franz Pfemfert einen Aufsatz, der mit 
geringen Kürzungen hier abgedruckt sei. 


Gemeinheit plus Feigheit, nur auf diese Formel ist die Art zu bringen, in der 
die Hilferdinge gegen jeden Genossen vorgehen. der, dem Willen der revolutionären 
Arbeiter gemäß, die Sumpfpolitik der USP-Bonzen bekämpft. Gemeinheit plus 
Feigheit. Denn die Schandblätter „Freiheit“ und „Leipziger Volkszeitung“ wissen 
mit ihrer gemeinen Gesinnung nichts anzufangen, solange der Gegner vor ihnen 
steht. Wendet er aber für einen Augenblick den Rücken, dann fühlt die Feigheit 
sich obenauf und sowohl in der . Freiheit“ wie in der „Leipziger Volkszeitung“ 
wird „mannhaft” gekämpft. — 

Wilhelm Herzog ist, das wissen die Leser der , Aktion“, leitender Redakteur der 
‚Hamburger Volkszeitung. Er hat in diesem Blatt, an das ihn das Vertrauen 


Der Fall Jacobsohn-Hilferding 783 


der Hamburger USP-Arbeiter gegen den Willen und trotz allen Schiebungs- 
versuchen der Crispien-Zentrale gerufen hat, immer wieder die Praktiken der „, Frei- 
heit“-Redaktion bekämpft. Die Hilferdingsippe schwieg (natürlich) und versuchte 
nur auf Umwegen (über den unsäglichen Jacobsohn) Wilhelm Herzog mit Dreck 
zu bewerfen. Gestellt, kniff das Gesindel. Niemand vom „Zentralkomitee wollte 
etwas gesagt haben. | 

Wilhelm Herzog ist nun, mit Zustimmung der USP-Genossen Hamburgs, auf 
ein paar Wochen nach Moskau gereist — Curt Geyer vertritt ihn ın Hamburg 
bis zur Rückkehr. Von Moskau aus kann Wilhelm Herzog nicht gut Lügen ab- 
wehren. Und wenn Herzogs Moskaureise an die große Glocke gehängt wird, dann 
ist es vielleicht sogar denkbar, daß der unbequeme Störer unserer Stampferpoiitik 
nicht so schnell zurückkehren könnte.. also kalkulierten die Hilferdinge, und in 
der ., Freiheit“ (28. Juni 1920) und in der „Leipziger Volkszeitung fanden Polizei- 
gehirne diese unglaubliche Denunziation: 

„Kein Unabhängiger in Moskau. 


Die „Frankfurter Zeitung bringt die Meldung, daß bei der vorbereitenden 
Konferenz des geschäftsführenden Ausschusses der Kommunistischen Internationale 
in Moskau neben Vertretern anderer Länder Cachin und Frossard als Vertreter 
Frankreichs anwesend seien, außerdem ein Vertreter des linken Flügels der deut- 
schen Unabhängigen. 

Bekanntlich waren Cachin und Frossard zwecks Unterhandlungen über den 
Anschluß ihrer Partei an die dritte Internationale in Moskau, dagegen sind Ver- 
treter der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands noch nicht in Rußland. 
Es gibt infolgedessen auch keinen Vertreter des, linken Flügels, der an den Sitzungen 
hätte teilnehmen können. l 

Die Meldung könnte sich höchstens darauf beziehen, daß Wilhelm Her- 
zog jetzt in Moskau sein Domizil aufgeschlagen hat. Sollte 
er sich wirklich als Vertreter des linken Flügels der Unabhängigen Sozialdemo- 

- kratie Deutschlands bezeichnet haben, so hätte er das ohne jede Berechti- 
gung getan. Denn wir haben Grund zu der Annahme, daß das kurze Gastspiel, 
das Herzog in unserer Partei gegeben hat, ein für allemal zu Ende ist. Herzog 
ist kein Vertreter unserer Partei, denn es ist bekannt, daß das Zentralkomitee 
die Hamburger Parteiorganisation aufgefordert hat, Herzog von der Reichtags- 
kandidatenliste zu streichen, und daß Herzog nach Eintreffen dieses Briefes in 
Hamburg schleunigst verduftet ıst, um weiteren für ıhn unangenehmen 
Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen.“ 


Daß die Hilferdinge die Stirn haben, namens des „linken Flügels“ den Schnabel 
aufzutun, ist eine Frechheit, gegen die sich der „linke Flügel“, d. h. die auf dem 
Leipziger Parteitag siegreich — also in der Mehrheit gewesenen USP. Arbeiter zu 
wenden haben werden. Daß ich mein „Domizil“ in Leipzig aufschlage, wenn ich 
dorthin zu einem Kongreß fahre, wird nur sagen können, wer der Polizei einen 
Wink geben will. Daß Wilhelm Herzog nicht „verduftet‘ ist, daß Wilhelm Herzog 
keinerlei „Auseinandersetzungen zu scheuen hatte oder hat, dafür bürge ich! Und 
das famose „Zentralkomitees weiß so gut wie ich, daß der augenblicklich Wehrlose 


784 Der Fall Jacobsohn-Hilf erding 


wiederholt mit aller Schroffheit darauf bestanden hat, daß das , Zentralkomitee 
nicht unterirdisch, sondern offen gegen ihn auftreten mögel Das „ Zentralkomitee 
drückte sich. Herr Hilferding, eine feine Quelle, schien versiegt — so lange 
Wilhelm Herzog zur Stelle war. Vor seiner Abreise empfing 
der Verleumdete die offizielle Erklärung, man habe sich über- 
zeugt, er sei zu Unrecht verdächtigt, er sei verleumdet worden. Nun, da er 
weg ist, nun, da er in Moskau den für die II. Internationale geborenen USP- Bonzen 
lästig werden könnte, jetzt kommt das Pack mit „unangenehmen Auseinander- 
setzungen ? Pfui Teufel, ist das ein Schuft, der die , Freiheit“-Notiz verfertigt 
hat! Gegen solche Kreatur würde ich nur mit Ohrfeigen vorgehen können! 

... Aber was hat man denn gegen Wilhelm Herzog überhaupt gehabt, als er 
noch hier war? — Wer hat denn gegen ihn „gezeugt? Herr Siegfried Jacobsohn, 
der durch literarische Diebstähle bekannt gewordene Herausgeber der „Schaubühne 
Diese Begleiterscheinung des deutschen Pressebetriebs hat allerdings das Zeug, den 
USP-Bonzen zu gefallen; in dem Blatte tummeln sich der Lyriker Heinrich Ströbel 
und der Renegat Karl Kautsky. Es ist ein Papier, das heute USP-Führern zum 
Munde redet, wie es im Kriege den Alldeutschen und den Politikern von der Art 
des Herrn Robert Breuer zu gefallen wußte. 

w 


Hier ein paar Gesinnungsproben aus der Dreckschrift.: 

Die Schaubühne vom 8. Februar 1917: 

„Es liegt nahe, nachdem der uneingeschränkte Unterseebootkrieg eingesetzt hat, 
daß nun gewisse Leute sich rühmen, ihn erzwungen zu haben.... Es wäre traurig 
um das Deutsche Reich bestellt, wenn seine verantwortlichen Stellen sich durch 
den Lärm der Straße, die Erregung der Versammlungen oder die Anmaßung von 
Zeitungsartikeln zu ihren Maßnahmen drängen ließen. Glücklicherweise 
hat sich das monarchische Prinzip, dessen Wert wir gerade 
darum schätzen lernten, als ein unverrückbares Bollwerk 
gegen die Willkür und den Vorwitz der Demagogie erwiesen. 
Es war beinahe unnötig, war aber zur Belehrung der ungefragten Hitzköpfe ge- 
boten, daß der Kanzler in seinen Auslassungen, die den Beginn des uneingeschränkten 
U-Bootkrieges ankündigten, ausdrücklich betonte: alle berufenen Stellen hätten 
sich in diesem Entschluß zusammengefunden, alle wären einig. An solcher Selbst- 
verständlichkeit kann die Taktik einiger Boulevardblätter, bei dem Dank für den 
neuesten Kriegsentschluſ geflissentlich die Reichsregierung anzunehmen, nichts 
ändern.” 

Die Schaubühne vom 22. Februar 1917: 

.. . Insofern ist der Krieg, den wir durchleben, ein sittlicher Fort- 
schritt; denn alle Beteiligten geben offen zu, daß es sich um irdische Werte 
handelt, um Absatzgebiete, um Bergwerke, um Schiffahrt, um Siedlungsland für 
Zeugungskraft. | 

Die Schaubühne vom I. März 1917: 

Die Unterseeboote sind bei ihrer Arbeit; die verantwortlichen Stellen 
haben, unbekümmert um das Geschrei der Gasse, den Zeitpunkt für gekommen 


Der-Fall Jacobsohn- Hilferding 785 


gehalten, die Kriegsmaßnahmen gegen England bis zum denkbar höchsten Grade 
zu steigern. . Von hier aus fordern sie jetzt die Formulierung der Kriegsziele. 
Solcher Torheit gegenüber ıst auf die politisch sehr klugen Ausführungen des Frei- 
herrn von Zedlitz zu verweisen; dieser Konservative hat das kurzsichtige Begehren 
der Friedensdillettanten folgendermaßen abgefertigt: „Daß diese Forderung mit dem 
Wortlaut und Sinne der Reichsverfassung unvereinbar ist, vielmehr einen schweren 
Eingriff ın das verfassungsmäßige Recht des Kaisers bedeutet, wird ernstlich nicht 
zu bestreiten sein. . . Es kommt hinzu, daß auch nur der Kaiser, bei dem: alle 
Fäden der Kriegslage zusammenlaufen, die volle Kenntnis aller Tatsachen besitzt, 
die für die Beurteilung der Frage, wann und zu welchen Bedingungen der Friede 
zu schießen ist, entscheidend sind.“ ... Wir fordern aber, daß keine 
verantwortliche Stelle falsche Nachgiebigkeit zeıgt und 
auch nur andeutungsweise sagt, was zu verschweigen Pflicht ist. 

Die Schaubühne vom 8. März 1917: 

Es ist das eingetroffen, was wir erhofft haben und was notwendig war: Der Kanzler 
hat die Erörterung von einzelnen Kriegszielen abgelehnt. Und auch sonst ist die 
Deklamation von Minimalforderungen, ohne deren Verwirklichung Deutschland 
angeblich verloren sein soll, einigermaßen belanglos gewesen. Alle Verständigen 
begnügten sich mit der Formulierung des Kanzlers: „Dem Kriege ein Ende machen 
durch einen dauerhaften Frieden, der uns Entschädigung gewährt für alle erlittene 
Unbill, und der einem starken Deutschland ein gesichertes Dasein und eine ge- 
sicherte Zukunft bietet. Alle Verständigen bekannten sich zu dem Grafen Tisza: 
„Wir führen diesen Krieg, weil wir ihn zur Rettung unseres angegriffenen Lebens 
führen müssen. Niemand (von den Narren abgesehen) zweifelt mehr daran, 
daß der kommende Friede ein Ausgleichsfriede sein wird, kein Diktat, sondern 
eine Verhandlung. Kein Verständiger zweifelt andererseits daran, daß bis zu diesem 
Tage der Einsicht die Waffen ihre harte, ihre ungehemmte, ihre rücksichtslose 
Sprache sprechen müssen. Selbstverständlichkeiten. Scheidemann bestätigte nur, 
was der Kanzler gesagt hatte: „Wir vertrauen unserer bis an die Zähne gewapp- 
neten Volkskraft . . ." 

Die Schaubühne vom 12. April 1917: 

Die Botschaft des Präsidenten, mit der er den Kongreß zu gewinnen wußte, 
trieft von Ethik. Wir haben nie geleugnet, daß Heuchelei und. andere Kriminalität 
zum Apparat der Politik gehören. Aber alles hat seine Grenze an der Lächerlich- 
keit. Wilsons Kreuzpredigt gegen das barbarische Deutsch- 
land ist eine Exzentrik-Nummer.. 

In solchem Zusammenhang wollte das Bekenntnis der Sozialdemokratie zum 
monarchischen System, wie es der „Vorwärts in seiner wahrhaft historischen 
Nummer vom 3. Aprıl 1917 abgegeben hat, verstanden sein. Klar und eindeutig 
hat die deutsche Arbeiterschaft vor aller Welt festgelegt, daß niemand einen Keil 
zwischen Volk und Krone zu treiben vermag. 

Die Schaubühne vom 19. April 1917: 

.. . wir müssen England, dessen imperialistischer Aktionsradius während des 
Krieges zweifellos gewachsen ist, so weit gefügig machen, daß es unsern berech- 


786 Der Fall Jacobsohn-Hilferdinę 


tigten Lebensinteressen freien Raum gibt. Wir brauchen das Weltmeer; wir brauchen 
offene Türen. Wir werden England nicht eher aus der Gewalt 
unserer U-Boote freigeben, als bis es dıs Dasein eines starken, auf 
Wachstum und Erfolg eingestellten Deutschlands anerkannt hat. . Daß dieser 
Kampf von Deutschland gewonnen werden wird, ist genau so gewiß, wie die 


Tatssche, daß das englische Imperium durch diesen Krieg nicht beseitigt werden 


kann. 
Die Schaubühne vom 26. April 1917: 


Als der „Vorwärts“ sich zur Monarchie bekannte, war er 
tapfer; es war dies immerhin ein Entschluß, der- einen Bruch mit langjähriger 


Vergangenheit bedeutete. Er war eine Fortsetzung der tapferen Poli- 
tik vom 4 August 1914. 


Die deutsche Sozialdemokratie hat auch im Verhältnis zu ihren Wählermassen 
keine leichte Stellung; die Führer mußten, je länger der von ihnen mitverant- 
wortete Krieg dauerte, desto mehr damit rechnen, ihre Volkstümlichkeit ein bißchen 
zu gefährden. Da nun aber die Unterstützung, die die Sozialdemokratie der Krieg- 
führung zuteil werden läßt, nur dann eine wirkliche Förderung bedeuten kann, 
wenn wirklich die breiten Massen hinter ihren Führern stehen, so müssen diese 
notwendig den Stimmungswellen, die durch die Massen laufen, bis zu einem ge- 
wissen Grade nachgeben. k 


Über die Arbeitseinstellungen hat Hindenburg das rechte Wort 
gesagt; niemand kann billigen, daß die Arbeiter ihre Wünsche, ob diese nun 
auskömmliche Ernährung, neue politische Rechte oder den Beginn der Friedens- 
verhandlungen suchen, mit Mitteln zu erreichen streben, die nur geeignet sind, 
genau das Gegenteil von dem Erstrebten herbeizuführen. 


Die Schaubühne vom 3. Mai 1917: 


.. . Es will verstanden sein, wenn der Kommentar zum deutschen Heeres- 
bericht, der niemals große Worte gebraucht hat, von diesen tagelangen Kämpfen 
Nachricht gibt, wie sie nur gegeben werden kann, wenn dort im Feuer unserer 
Geschütze wirklich Englands beste Truppenmacht zusammengebrochen ist. „In 
der neuentbrannten Schlacht bei Arras am 23. April haben die Engländer die 
blutigste Niederlage und die schwersten Verluste des ganzen Krieges erlitten. 
Auf den photographischen Aufnahmen unserer Flieger aus etwa über 2000 Meter 
Höhe sind deutlich die Leichenhauſen der in schweren Schlachttagen gefallenen 
englischen Sturmtruppen zu erkennen.“ Empfindsame Gemüter werden beim Lesen 
solcher Sätze aufschaudern. Wir wollen sie deshalb wahrhaftig nicht tadeln; aber 
wir müssen sie daran erinnern: Es ist Krieg. Die Banalität solcher Er- 
innerung kann uns nicht davon abhalten, die englischen 
Leichenhaufen, ehrerbietig, mit tiefem menschlichem 
Respekt und dennoch mit Genugtuung zu bewillkommnen. 
Die Leichenhaufen bedeuten den Weg zum Frieden. Da sie aber nur sein können, 
wo Stürme von Granaten die Luft eisern machen, so hat Gröner, so haben Hinden- 
burg, Bethmann Hollweg, die Gewerkschaften und alle einsichtigen Männer recht, 


Der Fall Jacobsohn-Hilferding 787 


wenn sie darauf bestehen, daß keine Sekunde verpaßt wird, um unsere Rüstung 
furchtbar und unwiderstehlich zu machen. Es wäre selbstmörderische 
Phantasterei, wollte man von irgendeiner anderen Maßnahme, von 
Erklärungen und Beteuerungen, von Friedensdemonstrationen und international 
gerichteten Bekenntnissen eine stärkere Förderung des 
Friedens erwarten als von der Verblutung der gegen uns 
gerichteten Militärmacht. Nur im Zeichen dieser Ströme 
von Blut, nur im Zeichen des zermalmenden Eisens, das 
diese Ströme hervorbrechen macht, können wir davon 
sprechen, daß das Ziel nahe ist.... Wir müssen den Kriegs- 
willen der Gegner durch Blut ersticken. 


Bei Beginn der letzten deulschen Offensive. 


Die Schaubühne vom 21. März 1918: 


Sollte Deutschland, was wir nicht wissen, was wir aber immerhin für möglich 
halten, das Jahr 1914 und die serbische Untat für günstig befunden haben, so 
könnte man doch nur festhalten, daß der Verlauf der Ereignisse ihm und seinen 
Verantwortlichen recht gegeben hat. . . Einige Tage lang haben wir hier und da 
ganz ehrlich an den „letzten Krieg geglaubt. Auch dieser Glaube ist dahinge- 
fahren; wir wissen heute, daß unsere Sehnsucht noch von unsern Kindeskindern 
geliebt werden wird, und daß die Politik langsam arbeitet. Dieser Krieg wird nicht 
der letzte gewesen sein; aber er wird vielleicht der erste einer neuen Reihe sein. 
Er ist auch nicht vom Zaun gebrochen worden, und es ist darum an ihm im Sinne 
der bürgerlichen Moral auch niemand schuldig. ... Was nun auch immer die Archive 
von sich geben mögen: an dem Grundsätzlichen solcher Auffassung wird das nichts 
ändern. Dies gilt auch für die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky, mit der die 
feindliche Propaganda, aber auch der inländische Pazifismus hausiert, und die im 

übrigen schon wegen der sie befleckenden Eitelkeit, mit der sie geschrieben wurde, 

ziemlich belanglos ıst. Was Lichnowsky enthüllt, ist bestenfalls die Unfähigkeit 
Einzelner; aber selbst, wenn es daran gefehlt hätte, und wenn all das geglückt 
wäre, was den Zusammenstoß im letzten Augenblick verhüten sollte: es hätte sich 
nur um eine Vertagung handeln können. 


Nun steht das Ende vor den Toren: eine neue Absteckung imperialistischer 
Wege. Durch den Gemütsschleier des Selbstbestimmungsrechts der Völker hin- 
durch können wir deutlich erkennen, wie Deutschlands Ausdehnungs- 
bedürfnis sich im Osten befriedigt. Wozu hier Phrasen 
machen? Das Notwendige geschieht. Finnland, die Aalands- 
Inseln, Riga mit der nach Berlin in Verwahrung gebrachten 
Herzogskrone und davon abhängig Livland, Estland und 
Litauen bis hinunter nach Odessa: die Lage dürfte klar sein 
und dürfte nicht einmal durch die polnische Schwierigkeit gestört werden... Kein 
ewiger Frieden senkt sich hernieder. Aber eine neue Plattform für neue Entwick- 
lungen ist gezimmert worden.. Schuld und Sühne sind nur sentimentale Vokabeln 
für Schwäche und Kraft. . . 1914 wurde das deutsche Volk in seiner 


788 Der Fall Jacobsohn-Hilferding 


Ganzheit aufgerufen. Der Frieden darf diesem Heerbann 
keine Entlassung bringen. 

„Wir un d die Alldeulschen“ 

Schaubühne, 25. April 1918: 

„Unsere letzten Wochenübersichten haben wieder einmal eine Anzahl Brief- 
schreiber in Bewegung gesetzt. Insgesamt richten sie an uns die entrüstete Frage, 
wodurch wir uns eigentlich noch von den Alldeutschen unterscheiden. Wir hätten 
den Ostfrieden zwar kritisch betrachtet, aber ihn schließlich mit heimlichem 
Schmunzeln entgegengenommen. Wir wären sichtlich dabei, die Juli-Resolution 
abzubauen, und sagten deutlich genug, daß wir vor der Versetzung etlicher Grenz- 
pfähle auch im Westen nicht zurückscheuen würden.. Wir sind beinahe zer- 
knirscht und geben all die Schandtaten, die man uns da vorwirft, nicht ohne leise 
Selbstironie, aber auch nicht ganz ohne Befriedigung zu.... Ob wir jemals an den 
ewigen Frieden unerschütterlich geglaubt haben, können wir heut kaum noch sagen. 
Aber wir möchten nicht grundsätzlich abstreiten, daß der Krieg, vielleicht sogar 
die Serie der Kriege, die mit dem jetzt zu Ende gehenden möglicherweise anfängt, 
die Voraussetzung” zu internationalen Verständigungen zwischen möglichst großen 
Interessenkomplexen ist. . . Die Alldeutschen sind ungebändigter Instinkt; wir 
möchten solcher Animalität ideesuchende Kritik sein. Wir hätten gegen die 
Alldeutschen kaum etwas einzuwenden, wenn sie nicht, was aller- 
dings zu der Lebensart solcher Erscheinungen gehört und darum kein Vorwurf, 
sondern eine Feststellung ist, mit Unfehlbarkeit gegürtet wären. Begriffen sie die 
Relativität ihrer Berechtigung und ihrer Einflußmöglichkeit, so könnten wir sie 
als einen nützlichen Faktor im politischen Kalkül uns gefallen 
lassen. Die Alldeutschen aber sind in dem Wahn befangen, daß jeder, der nicht 
so will, wie sie gern wollen, mehr als ein Narr, nämlich ein Verräter ist. Und das 
allerdings macht sich nicht nur unbequem, sondern oft genug und jedenfalls über- 
wiegend zu Schädlingen. Über ihr Programm ließe sich diskutieren: 
ihre Methode ist töricht und selbstzersetzend. Absolut betrachtet dürfte das Zu- 
sammenspiel, wie es die Alldeutschen betreiben, nicht gar so viel minderwertiger 
sein als das unsrige: die Monomanie aber, die von jeder intellektuellen Hemmung 
entblößte Perversität, mit der sie sich ihren Zwangsvorstellungen hingeben, macht 
sie für die Durchführung einer Wirklichkeitspolitik unbrauchbar. Sie sind mehr 
Verräter als irgendein noch so gewitzter feindlicher Nachrichtenagent, denn sie 
entblößen bis zur Schamlosigkeit ihre Pläne. Sie schwelgen in einem rauschartigen 
Wiederkauen und Vorwegfressen dessen, was man unter gegebenen Umständen 
wohl tun kann, jedoch nur dann mitteilt, wenn solche Mitteilung einen die Hand- 
lung erleichternden Zweck ausübt, nicht aber das genaue Gegenteil hervorrufen 
muß." 

0 

.. . Genug! Die Proben wirken, einfach hintereinandergestellt; Kommentare 
scheinen nur die USP-Führer nötig zu haben, denn den Kautsky, Ströbel, Hilfer- 
ding usw. sind die Leistungen der vielgeprüften Schaubühnenfigur sehr genau 
bekannt. Das „Zentralkomitee weiß, daß der Herr Jacobsohn nur aus ohnmäch- 


Der Fall Jacobsohn-Hilferding 789 


tiger Wut gegen Wilhelm Herzog kläffte: Wilhelm Herzog hat den sauberen Herrn 
gründlich erledigt und — Wilhelm Herzog hat außerdem das Verbrechen begangen. 
eine sehr wichtige Tageszeitung zu schaffen, die „Republik“. Die sachliche Ent- 
larvung seines politischen Schiebertums hätte der Jacobsohn schließlich noch er- 
tragen. Aber diese Zeitung! Herr Jacobsohn, der immer mit größenwahnsinnigem 
Neid nach Maximilian Harden hinschielt, hatte sich's schon so hübsch ausgemalt: 
ER würde DAS große: deutsche Tageblatt starten. 


Herr Siegfried Jacobsohn in der „, Schaubühne“ vom 18. März 1915: 


Nach diesem Kriege wird ebenfalls unentbehrlich sein eine Zeitung, deren 
Haltung irgendwie von der Tradition der alten Frankfurter Zeitung bestimmt ist; 
die politisch die Linie von Bethmann Hollweg zu Wolfgang Heine zieht. Vor 
vıerundvierzig Jahren hat Rudolf Mosse den Blick gehabt, ein Bedürfnis der jungen 
Reichshauptstadt zu erspähen, und den Mut und die Kraft, es zu befriedigen. 
Schafft mir zehn Millionen, und ich mache mit euch und dreißig Männern unserer 
Generation diese Zeitung — eine Zeitung, wie Deutschland sie noch nie gesehen hat. 


Er suchte nun einen „Genialen Millionär“: 
Die Schaubü!.ne vom 8. April 1915: 


Sie haben (20 läßt er sich apostrophieren), lieber S. J., in Ihrer „Antwort“ 
an die Herren S. G. und U. R. — „Gebt mir zehn Millionen, und icb mache 
eueh die beste deutsche Zeitung — die Richtung gewiesen, in der die dringlichste 
Aufgabe der nächsten Zukunft liegt.. . Bei solchen Gelegenheiten erkennt man 
erst, wie wenig Lebenslust und Lebensleidenschaft in unsern jungen Millionären 
steckte. Es gibt weit und breit keine Position, die machtvoller, seelenfüllender, 
verführerischer wäre, als eine große, freie, führende Zeitung zu besitzen und zu 
lenken. Kein Ministerposten, kein Fürstenthron gibt Gelegenheit, so systematisch 
am Wesen der Nation zu bilden, zu formen, das deutsche Volk mit eignen Händen 
fühlend zu gestalten wie diese tägliche Bearbeitung des Volksgeistes. . . . 

Auf der Linie von Bethmann Hollweg bis zu Scheidemann und Haenisch müßte 
für diese befreiende Zeitung von heute an gesammelt werden!. 

Ach, wenn wir einen genialen Millionär hätten, der den Anfang machen wollte. 
Hier liegt eine historische Mission auf der Straße. 


Die Schaubühne vom 27. Mai 1915: 


Es wird sich darum handeln, die Politik der Linie Bethmann Hollweg zu Scheide- 
mann gegen Alldeutsche, Konservative, Nationalliberale und gegen Sozialdemo- 
kraten zu propagieren.. Das Gesetz der geistigen Trägheit wird dafür sorgen, 
daß unsere Bassermänner — ich meine den Politiker — Bassermänner, unsere 
Haasen Haasen und unsere Oldenburger Januschauer bleiben. Die neue Zeitung 
wird die Zeitung der Umlernenden, das Organ der Kriegsdemokraten, das Blatt 
der regierungswilligen und regierungsberechtigten Linken sein! Das ist mit dem 
„Vorwärts, der eines der konservativsten, lernunwilligsten, geistesträgsten Zentren 
Deutschlands ist, nicht zu machen. ... Hat er nie bemerkt, daß der „Vorwärts“ 
so ziemlich das schwerstverständliche Blatt in Deutschland ist? . . . 


790 Der Fall Jacobsohn-Hilferding 


Ich glaube nicht, daß die Scheidemann, Lensch, Haenisch ihre Richtung durch- 
setzen werden. Und die Haupthemmung hat ihnen der versteinerte „Vorwärts 
errichtet!... Die unechte, nur auf Organisationszwang, nicht auf Leserlust beruhende 
Herrschaft des „Vorwärts wäre kinderleicht zu brechen! Berlin darf nicht Karl 
Liebknechts uneinnehmbare Phrasenresidenz werden. 

Für eine solche Mission sollten sich nicht drei Redakteure finden? Ich nenne 
dir zwanzig. die mit flammenden Herzen bei einer solchen Zeitung mitwirkten: 
Friedrich Naumann, Paul Rohrbach, Karl Leuthner, der bedeutendste Kopf der 
Revisionisten, Paul Lensch (so ziemlich der beste deutsche Leitartikler), A. Haenisch, 
Ulrich Rauscher, Friedrich Stampfer, Hermann Wendel, Stefan Großmann, Adolf 
Köster. Und was für ein Gewimmel der besten Köpfe, die auf dieses Zentralorgan 
des neuen Geistes nur warten: Arthur Holitscher, Robert Hessen, Hermann Fried- 
mann, Kurt Eisner, S. Saenger, Martin Buber, Gustav Landauer, Ernst Jäckh, 
René Schickele, der Mannheimer Ernst Wichert (eine strahlende Energie), Alfred 
Polgar, Paul Schlesinger, Hans Delbrück, Arnold Zweig, Legationsrat Riezler, Staats- 
sekretär Solf und . . . Ihr ahnt ja nicht, wie viele aus der höchsten und besten 
preußischen Bureaukratiel . 

e 


Der „geniale Millionär” ließ die „historische Mission“ des nur in diesem 
Deutschland möglichen Konjunkturkerls Jacobsohn auf der Straße verkommen. Die 
Drucksache der für das „‚monarchische Prinzip“ und gegen die Gasse „ Umlernen- 
den“ (von Rohrbach bis Stampfer und Haenisch—Parvus) konnte nicht geschaffen 
werden; Berlin blieb Karl Liebknecht ausgeliefert. Dagegen gab ein „genialer 
Millionär“ Geld für Wilhelm Herzogs „Republik“ her, worüber der Recke Jacob- 
sohn vor Wut beinahe erstickt sein soll — vie- die Umgebung des Kriegsdilettanten 
überall erzählte. 

Ist es noch unverständlich, daß Herr Jacobsohn allen Unterirdischen, die gegen 
Wilhelm Herzog Persönliches auszukramen wünschten, die richtige Nummer wurde? 
Was in der Schaubühne gegen Herzog gesagt worden ist — es sind so blöde, böe- 
willige Verleumdungen, daß ich die Quelle — im Zentralkomitee der USP-Bonzen 
zu suchen empfehle! Jedenfalls, USP-Arbeiter in Hamburg (und überall), solltest 
du aus der Affäre ., Freiheit“, Leipziger Volkszeitung erkennen, daß die Besiegten 
von Leipzig munter ihr Gewerbe fortsetzen. Und du hast zu schweigen, wenn 
Gemeinheit plus Feigheit dich verhöhnen. So will es die „Parteidisziplin I... 


Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog 
Derttlingerstr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdame- 
Berlin / Druck der E. Gundlach A.-G., Bielefeld 


DAS FORUM 


4. Jahr August 1920 Heft 11 


(Abgeschlossen am 6. September 1920) 


RUS SISCHES NOTIZ BUCH 
MAI— AUGUST 1920 


VON WILHELM HERZOG 


VORWORT 


Die meisten Fremden, die nach Sowjet-Rußland kommen, 
ähneln ein wenig jenem englischen Reisenden, von dem der 
witzigste Kopf unter den Deutschen, Georg Christoph Lichten- 
berg, erzählt, er war zum ersten Male nach Deutschland gekommen 
und in Göttingen in einem Hotel abgestiegen. wo ihn ein rot- 
haariger und stofternder Kellner bediente, worauf er flugs nach 
England berichtete: die Menschen in Deutschland sind rothaarig 
und stottern. | 

Die Vokabeln des westeuropäischen Bürgers für Sowjet- 
Rußland lauten: die Menschen hungern, das wirtschaftliche 
Leben ist tot, Terror herrscht! Die Eindrücke und Erlebnisse, 
die ich während der drei Monate meines Aufenthaltes in 
Moskau, Petrograd, an der Wolga von Nishnij-Nowgorod 
bis Saratoff. an der Front — in Smolensk und vor Borissow — 
hate, waren so gewaltiger Natur, waren in ihrem Reichtum 
so mannigfaltig. so wıdersprechend, so sich durchkreuzend, daß, 
sie treffend wiederzugeben, die gleichwertige Form ım Ausdruck 
für sie zu finden, mir nur selten gelingen wird. Aber was ich 
versuchte, in den allzu flüchtig hingeworfenen Notizen, die ich 
täglich niederschrieb, war: ohne günstige oder ungünstige Vor- 
urteile. jedenfalls ohne Scheuklappen festzustellen. was ist. 
D. b. — und schon wieder ist äußerste Zurückhaltung geboten — 


192 Wilhelm Herzog / Vorwort 


was für einen nicht russisch sprechenden Europäer ist, der 
sich bemüht, diese neue Welt in sich aufzunehmen. 

Und da ist zu sagen: aus dem Chaos der bisherigen Welt- 
ordnung hat sich ein gewaltiger Staat gelöst, der über hundert 
Millionen Menschen zwingt. auf Grund des revolutionären 
Marxismus nach neuen Gesetzen, in neuen Formen zu leben. 
Dieser kühne Versuch hat alle Merkmale des Unzulänglichen 
nicht nur im Aufbau, sondern auch in dem, was er bisher 
zerstörte, zerstören konnte. Sowjet-Rulland von heute ist noch 
keine Kommunitas, wie sie sich die Führer der Kommunisten 
denken. Vieles blieb stehen, mußte stehen bleiben, was dem 
kapitalistischen Staat entwuchs. Nicht alle Formen und 
Institutionen konnten restlos zerstört werden, wollte man die 
Geburt des Neuen nicht gefährden. 

Und dennoch, welche ungeheure Arbeit, welche ungeheure 
Leistung ist vollbracht! In heroischer Anspannung der Kräfte 
des russischen Proletariats ist eine der bisherigen Gesellschafts- 
ordnung diametral entgegengesetzte sozialistische Ordnung ent- 
standen: richtiger: im Entstehen begriffen. Dumm und plump 
lügt, wer westeuropäischen Arbeitern das gegenwärtige Sowjet- 
Rufland als Paradies vorgaukelt. Rlüger und raffinierter lügt 
schon, wer es als Hölle malt. Aber: weder Paradies noch 
Hölle. Sondern russische Erde, willkürlich. unökonomisch, bar- 
barisch behandelt und verschlampt: Jahrhunderte hindurch 
unter der Zarenherrschaft. Die Bewohner zu geregelter Arbeit 
nur schwer zu disziplinieren. Neigung zum Nichtstun. 
Geschehen lassen. Hinnehmen. was kommt. Einfluß des 
Orients überall sichtbar: in den Sitten. in den Gebräuchen. im 
Faulenzen wie im Schmutz der Häuser und Höfe, im Bau, im 
Schmuck der Kirchen und Paläste. Und sind vielleicht — trotz allem 
Schmutz und Ordnungsmangel — glücklicher als wir, diese Men- 
schen! Jedenfalls sind sie unbeschwerter, heiterer, ungebundener. 
Sie verachten die Pedanterie, ja selbst die Sauberkeit der Ord- 
nungsdeutschen. Und Pünktlichkeit ist ihnen ein westlicher, auf 


zum russischen Notizbuch 793 


jeden Fall allzu bürgerlicher Begriff. »Nitschewo« — das ist 
ein Hauptwort der russischen Sprache. Man hört es am Tage 
wohl hundertmal. Im Theater, auf der Straße, in den Ämtern, 
auf der Eisenbahn. Unübersetzbar. Und was bedeutet es 
doch? Es kommt alles zu seiner Zeit. Macht nichts. Nur 
nichts so gewichtig nehmen. Ins Preußisch-Kleistische übersetzt: 
Gleichviel. Es kommt schon alles ins Reine. Ob ein 
bißchen früher oder später, was liegt daran? Wir haben 
ja soviel Zeit! — Der Russe hat nicht den europäischen Maf- 
stab, nicht einmal das Gefühl für Zeit und Raum. Die Weis- 
heit Buddhas grinst oder leuchtet überall hervor. Und wir. 
hastige Europäer, sind oft geneigt, zornig zu werden über soviel 
Zeitverlust, oder hochmütig zu lächeln über den Mangel an 
Organisation und "könnten selbst von dieser »revolutionären« 
Geduld ein wenig lernen. 

Die kapitalistische Unordnung der Bourgeoisie wurde zu- 
nächst abgelöst von dem Versuch einer sozialistischen Ordnung. 
Richtiger: von einer antıkapitalistischen, antibürgerlichen. zum 
Kommunismus strebenden Unordnung. Bürgerliche Anarchie 
wurde — in dieser Periode des Überganges, des Bürgerkrieges, 
des Mangels an Menschen und Kräften aller Art — ersetzt 
durch sozialistische Anarchie. Immer bei höchstem, intensivstem 
Bemühen, den jungen Staatsapparat zu vervollkommnen, die 
Sowjet-Verwaltungen und Institutionen in allen ihren Gliedern 
zu verbessern, zu steigern, um sich endlich einer kommunistischen 
Ordnung zu nähern. Unreife. Dummheit, Atavismen aus der 
alten Gesellschaft stehen hindernd im Weg. Bewußte und 
und unbewufte Sabotage hemmen die Entwicklung. Der Auf- 
bau kam nicht über die Grundmauern hinaus. So ist das 
Ganze noch unwohnlich, kalt, leer und wenig komfortabel. 
Denn über allem schwebt die ungeheure wirtschaftliche Not. 

Und trotz alledem: Wie reich ist dieses arme Land! Un- 
erschöpflich seine Wälder, seine Äcker! Aber seine Bewohner, 
die des Notwendigsten zum Leben entbehren müssen, leiden 


794 RS Wilhelm Herzog / Vorwort 
Hunger. frieren. sterben dahin. Weshalb? Weil christliche 
Mordstaaten ıhre Profitgier realer als ihren heuchlerischen 
Pazifismus betätigen, weil sie die Grenzen dieses hungrigen 
Landes überwachen und es vom Weltverkehr absperren. weil 
das von ihnen mit äußerstem Naffinement erfundene und durch- 
geführte System des Imperialismus immer neue Kriege ver- 
ursachen muß, um dem revolutionären Rußland keine Ruhe 
zur Erholung und zum Aufbau zu gönnen. Und deshalb 
halten sie die eiserne Mauer. die sie durch ihre Trabanten 
legen ließen, noch immer aufrecht. 

Seit fast drei Jahren kämpfen die Russen einen in der 
Geschichte beispiellosen Kampf gegen ihre Bedränger. Während 
drei Millionen der besten und wertvollsten Männer draußen 
an der Front kämpfen und der inneren Aufbauarbeit entzogen 
werden müssen, beweist das russische Proletariat durch seine 
heroische Entsagungskraft und durch seinen Fanatismus für die 
Idee Tag für Tag, wie unerschüfterlich sein Wille zur Ver- 
teidigung der von ihm begonnenen Weltrevolution ist. Aber 
trotz Anspannung aller Kräfte und bereits erzielten erstaunlichen 
Leistungen sind die Schwierigkeiten des Eisenbahn- und Trans- 
portwesens — des Problems aller Probleme in Rußland — 
kaum überwindbar. Den Mangel an Produkten und Kleidung 
kann keine kommunistische Organisation oder Verteilung, kann 
weder Lenin noch Trotzki beseitigen, so lange nicht Lokomotiven, 
landwirtschaftliche Maschinen, Instrumente, Ersatzteile, Roh- 
stoffe in das von sechsjährigem Kriege ausgesogene Land gebracht 
werden können. 

Schon aber birst die Mauer. Die Erkenntnis, der Trotzki 
am Ende seiner Schrift »Von der Oktober-Revolution bis zum 
Brester Friedensvertrag: Ausdruck gab, wird zur Gewiſheit: 
der Krieg hat den Boden der ganzen kapitalistischen Welt 
unterminiert. »Darin besteht., schrieb Trotzki. . unsere unbe- 
siegbare Kraft. Der imperialistische Ring, der uns zusammen- 
preßt, wird von der proletarischen Revolution gesprengt werden.« 


zum russischen Notizbuch 795 
Diese Zukunftsworte, nicht nur von den Repräsentanten der 
Bourgeoisie sondern auch von den Lauen, den Schwankenden, 
Halben. Zaghaften unter uns als agitatorische Phrasen gewertet 
und belächelt, oft gehöhnt, sind heute handgreifliche Wirklich- 
keit geworden. Aufgabe der europäischen und amerikanischen 
Arbeiter wird es sein, diese Sprengung — von den russischen 
Pionieren erfolgreich begonnen — zu vollziehen. indem sie 
Sowjet-Rufland in seinem Kampf auf Leben und Tod mit 
allen Mifteln unterstützen und sein Werk in ihren eigenen 
Ländern fortsetzen. | 

Schon leuchten die Signale unseres Sieges. Die stolzen 
Sieger von Versailles verhandeln mit den Schnorrern und 
Verschwörern von Brest-Litowsk. Sie tuns — beim englischen 
Gof — ungern. Aber sie müssen. Gezwungen von ihren 
weltwirtschaftlichen Kalkulationen und nicht zuletzt von den 
immer stärker werdenden Forderungen der trotz dem Oppor- 
tunismus ihrer Führer erwachenden Arbeiterschaft. Diese 
hochmütigen Herrscher des Weltkapitals, die in London thronen, 
können sich artig und nicht ohne Entgegenkommen mit den 
rötesten Kommunisten-Führern, ihren Todfeinden, unterhalten, 
wenn es Geschäfte zu machen gilt und wenn sie ver- 
sprechen, wie Radek höhnte, mit ihnen nur »von Kohle und 
Holz, Hanf, Leinen, Baumwolle, Eisenbahnen und anderen 
Dingen zu reden, die ihre zehn Prozent wert sinde. 

Die objektiven Voraussetzungen für den Entscheidungskampf 
reifen in allen Ländern heran. Umheult von der übermächtigen 
Weltpresse, verdächtigt, verleumdet und besudelt von ihr, muĝ 
der ungleiche Kampf geführt werden. der ums Ganze geht und 
dessen Endresultat — auf Grund historischer Erkenntnis — 
nur unser Sieg sein kann. Das weiß, das fühlt die Bourgeoisie 
aller Länder. Auch die Parolen haben sich vereinfacht. 

Der dialektische Prozeß in der Geschichte zwingt die Halben 
und die Lauen, dadurch auch alle Kleinbürger unter den Sozi- 


alisten, sich zu demaskieren. Die sogenannten rechten Führer 
2 1 


796 Wilhelm Herzog / Vorwort zum russischen Notizbuch 


der Unabhängigen konnten ihr antibolschewistisches Herz 
nicht länger verleugnen. Trotz allen Solidaritätsbekenntnissen 
und Versammlungsphrasen. Mit einem Ruck haben sie sich 
ehrlich und loyale zu den Scheidemännern, ja weit darüber 


hinaus in die Bekämpfungsphalanx gegen die Bolschewikı 
gestellt. Ja sie haben — immer - loyal und ehrliche — dem demo- 


kratischen Bürgertum und allen Feinden Sowjet-Ruflands für 
Monate, für Jahre hinaus Waffen und Munition geliefert. 
Auch dies klärt das Kampffeld, hellt es auf. Wir sehen: 
der Feind steht ın unseren eigenen Reihen. Es ist der deutsche 
Spießbürger, der Revolutions-Philister, der ungeistige, bornierte 
Parteiboche. Und ihn gilt es zu bekämpfen, wollen wir den 
Sieg nicht gefährden. Mögen sie uns wegen der durch unsere 
Moskauer Erlebnisse nur noch gesteigerten Liebe und Freund- 
schaft für das ringende Sowjet-Rufland in den Rücken fallen. 
mögen sie uns weiter zu beschmutzen und zu verleumden 
trachten, wır bringen so viel Heiterkeit und frohen Mut von 
Moskau mit. daß wir hoffen, nicht nur mit der Bourgoisie 
fertig zu werden, die ihrem Untergang entgegentaumelt. sondern 
wir werden auch diese Zwischenstufen, diese Kompromil- 
Gestalten. alle nicht Warmen und nicht Kalten innerhalb 
der proletarischen Revolution zwingen müssen, sich selbst dort- 
hin zu stellen. wohin sie gehören. Die ungeheure Bewegung, 
in welcher die Welt sich gegenwärtig befindet, duldet kein 
Halbdunkel der Überzeugung. des Entschlusses, des Willens. 
Unpolitische mögen abseits stehn. 

Die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse haben 
sich heute so zugespitzt, daß in diesem mörderischen Kampf, 
dem das deutsche Proletariat, und mit ihm das Weltproletariat 
bereits die kühnsten Führer geopfert hat, jeder Verantwortliche, 
der schwankt, dıe eigene Kampffront verwirrt und den Prozeß 
der Revolution hemmt. Es gibt jetzt — in dieser gefährlichen 
Situation für Sowjet-Rufland. d. i. für die Welt-Revolution- 
kein Hin und Her mehr. Hier entscheidet sichs! Die kommu- 


Wilhelm Herzog / Russisches Notizbuch 797 


nistische dritte Moskauer Internationale ist das Zeichen. Das weit- 
hin sichtbare Symbol! Unsere rote Fahne! Wer nicht für sie 
ist, der ist gegen sie. Wer nicht für sie kämpft, der kämpft gegen sie. 

Das bedeutet nicht — wie Sudermännische Helden als 
politische Führer verkleidet mit hohlstem Theaterpathos ver- 
künden — för uns Unterwerfung. Lecken des russischen Stiefels. 
Buße in Sack und Asche, oder auch nur Verzicht auf Kritik. 
sondern das gerade Gegenteil: intensivste Mitarbeit. gesteigerte 
Selbstkritik innerhalb unserer Welt. Anspornen aller 
revolutionären Kräfte für den Endkampf. Sammlung der Avant- 
garden aller Länder, denen es nur gelingen wird, in dem ge- 
fährlichen Ringen der gewaltigen, schwerbewaffneten, glänzend 
organisierten, übermächtigen Bourgoisie Herr zu werden, wenn 
sie sich Kopf und Herz nicht ım geringsten von der klein- 
bürgerlichen Skepsis, der schlechten Luft der deutschen Spießer 
anstecken lassen, sondern unbeirrbar das Vorbild der großen 
russischen Revolution vor Augen demselben Ziele zumarschieren 
werden. Durch die drite Internationale zum Siege der Welt- 
revolution. 


Berlin, 5. September 1920. 


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15. Mai 1920. 
Auf dem Schiff einer finnischen Gesellschaft, der „Torneo. 
von Steftin nach Reval. Schiffsgäste: meist Finnen. Esten und 
baltische Barone. Ihr Ziel: Helsingfors oder Reval. 
Unterhaltung mit einem Passagier, der sich später als ein 
in Deutschland sehr bekannter philosophischer Schriftsteller zu 
erkennen gab. Die Bauern ın Estland, erzählt er, seien gegen 
das sozialistische Regime. Die Gutsbesitzer seien enteignet gegen 
eine imaginäre Entschädigung. Umwandlung bereite sich vor. 
Man treibe. so klagt er, trotz dem starken Einfluſ der Entente 
bolschewistische Politik in Estland. | 


798 Wilhelm Herzog 

Am Montag früh, nach zweieinhalbtägiger Fahrt, Ankunft 
im Hafen von Reval. Hotels überfüllt. Schließlich in einem 
kleinen sehr verschmutzten Gasthof gelandet. Die Wagenfahrt: 
150 estnische Mark. Immerhin erlebt man zum erstenmal seit 
sechs Jahren die freudige Überraschung. daß die deutsche Mark 
irgendwo mehr gilt. und zwar das dreifache als in Deutsch- 
land. Für 300 deutsche Mark erhält man 900 estnische Mark ! 

Am nächsten Tag ins Ministerim des Auswärtigen dieser 
noch sehr jungen Republik. Ein niedriger Bau mit großen 
schönen Räumen und alten Möbeln ım Inneren. Um die Er- 
laubnis zu erhalten. die Grenze nach Rußland zu passieren, 


ist ein Telegramm erforderlich, das 35 Mark kostet. 


18. Mai 1920. 

Besprechung mit einem der Führer der estnischen Sozial- 
demokraten. Martna, der seine antıbolschewistische Gesinnung nur 
schlecht verbergen kann. In einer Sitzung des estnischen Parlaments. 
Darnach ins Gewerkschaftshaus mit dem Vorsitzenden der Un- 
abhängigen Sozialisten, Genossen Kruus. Kruus ist ein noch 
junger Maon von 29 Jahren, Historiker, klar und ehrlich. 
Der Volksstaat Eesti ist eine ebertinische Republik en miniature. 
Das Koalitionsministerium, das sich hier gebildet hat, besteht 
aus zwei Mitgliedern der sozialdemokratischen Partei, drei 
Mitgliedern der Arbeitsgruppe (liberal-sozial-demokratisch), drei 
Volkeparteilern. drei Fachministern. Das Innen- und das Arbeits- 
ministerium verwalten Sozialdemokraten. 

Das Parlament Estlands besteht aus 120 Mitgliedern. Die 
Wahlen ergaben folgendes Resultat: 41 Sozialdemokraten 
sieben Linkssozialisten (darunter Kruus, Semper, ein estnischer 
Dichter), 30 Mitglieder ‚der Arbeitsgruppe (Trudowikı), 24 
"Mitglieder der Volkspartei (nationalliberal). 8 Agrarier (feudal). 
6 HNerikale. 3 Mitglieder der deutschen Partei in Estland 
(baltische Barone). 1 Russe. 


Russisches Notizbuch nn 799 

Die estnischen Sozialdemokraten sınd gekränkt, wenn 
man sie mit den deutschen Sozialdemokraten auf eine Stufe 
stellt. Sie lehnen die Gemeinschaft mit Scheidemann, Ebert 
und David entschieden ab, ja sie äußern scharte Worte gegen 
die verbrecherische Politik der Noske-Sozualisten. Aber sie 
bleiben Anhänger der II. Internationale. also Kameraden der 
von ihnen angeblich so bekämpften Scheidemänner. 

Auffallend. — angesichts der Verhältnisse in anderen 
Ländern — ist der Radıkalismus der Gewerkschaften Estlands. 
In Reval selbst gehört die große Mehrzahl aller Mitglieder 
zur radikalen U. S. P. oder ‚zur kommunistischen Parteı. 
Im Zentralrat der Gewerkschaften, der aus 61 Mitgliedern 
besteht. sitzen nur 3 Sozialdemokraten | 

Vor dem Kriege beschäftigte Reval 25000 Arbeiter. 
Werft-, Hafenarbeiter und Arbeiter der Textil-Industrie und 
Waggonfabriken: jetzt nur 17 000 Arbeiter. Im September 
1919 fand ein Kongreß aller estnischen Gewerkschaften statt. 
Von den 434 Delegierten wurden 102 verhaftet. am selben 
Tage an die Front geschickt. 26 der besten und energischsten 
Führer wurden erschossen (darunter ein ehemaliger Minister 
der sozialdemokratischen Partei). 

In Reval erhielt der Arbeiter vom 1. Dezember 1919 
an 30 Mark Tagelohn. Davon brauchte er täglich für 
Lebensmiſtel 15 Mark. Er erhielt dafür: 1⁄2 Pfund Schweine- 
fett oder 1 Pfund Rindfleisch. / Pfund Brot. 2 Pfund 
Kartoffeln. z Pfund Grütze oder Erbsen täglich; z Pfund 
Butter wöchentlich. 

Ab 1. März 1920 wurde der Tagelohn um 30% erhöht 
= 39 Mark. 

Ab 1. Juni 1920 wurde der Tagelohn um weitere 30% 
erhöht = 48 Mark. | 

Vom 1. März 1920 an sind die Lebensmittelpreise um 


800 Wilhelm Herzog 


Alle Güter sind enteignet. Bisher nur 40%, parzelliert. 
Gegen Entschädigung. die allerdings nur auf dem Papier steht. 
Sie ist noch nicht gezahlt, und es gibt auch noch kein 
Gesetz dafür. u 

Vom 1. Juli 1919 bis zum 31. Dezember 1919 ver- 
ursachte der Republik Eesti, die 1200000 Einwohner zählt, 
die Militärmacht, die sie unterhielt. 1 Milliarde 300 Millionen 
Kosten. Also 2000 Mark pro Kopf jährlich! 

Am 25. Aprıl 1920 Gründung der U. S. P. Estlands 
(früher Sozialisten-Revolutionäre). 


21. Mai 1920. 

In einem deutschen Buchladen einen Bädeker für Rußland, 
einen Dante und einen Tolstoi erstanden. Der Bädeker (von 
19121), künftig eine unerschöpfliche Quelle reinen Humors. 
kostete 69 estnische Mark. Tolstoi s Krieg und Frieden; (in der 
schönen Insel- Ausgabe) 65 Mark. 

Polens Offensive, nach Zeitungsmeldungen, steht schon still. 
Gegenoffensive der Bolschewiki hat bereits begonnen. 

Mit den Genossen Kruus und Semper ins Lindencafé. 
Das ist die Sehenswürdigkeit der -Residenz.. Die Mehrzahl 
der Besucher in Uniform. Englische. italienische. amerikanische. 
französische. estnische Offiziere und Soldaten. Für einen Nicht- 
militaristen schwer unterscheidbar. Oft phantastisch gekleidet. 
Alle stolz, selbstbewußt in ihrer Manneswürde und die Zeichen 
ihres Ruhmes auf der Brust. — Spaziergang mit Kruus und 
Semper nach dem Katharinental. Sehr schöner Blick aufs 
offene Meer. 

Am Abend 11 Uhr Abfahrt von Reval nach Moskau. 
Auf dem Bahnhof eine estnische Kommission, die zu Ver- 
handlungen nach Moskau fährt. Im Sowjetwaggon ein Kurier 
Tichitscherins, eine verspätet eingetroffene englische Delegierte 
Mil Bonfield. ein Mister Fisher aus Chikago vom amerikanischen 
Hilfskomitee. Am nächsten Morgen in Narva, der letzten 


Russisches Notizbuch 801 


estnischen Station. Mit der Engländerın und dem Amerikaner 
Fahrt durch die Stadt. Alte Festung. Der Fluß wild und 
romantisch. In einer griechisch- katholischen Kirche Gottesdienst. 
Ein Ersatz für dieses Opium ist noch nicht gefunden. Zurück 
zum Zug. Einige Stunden wird rangiert. hin und zurückgefahren. 
bis 3 Uhr mittag. Dann endlich nach fünfstündigem Auf- 
enthalt in sehr langsamem Tempo weiter. 

Vor Jamburg. der ersten russischen Stadt. von neuem 
Kontrolle durch Soldaten der Republik Eesti. Dann 
russische Kontrolle, gut aussehende kräftige Matrosen prüfen 
streng und entschieden die Pässe der Reisenden. Obwohl alle 
Formalitäten erledigt scheinen. dürfen wir noch nicht weiter. 
Der Apparat funktioniert auf beiden Seiten noch nicht richtig. 
Jamburg hat noch keine Anweisung zur Weiterfahrt gegeben. 

Aber immerhin: russische Luft weht. Wir sind auf Sowjet- 
gebiet. Wir fühlen uns freier und heiterer. Und wir üben 
revolutionäre Geduld.. Ordnung und Disziplin werden die 
Sowjetrepublik reften. Trotzkıs Wort, der Titel einer seiner 
wichtigsten Schriften, verläßt einen von dieser Minute nicht 
mehr. Nach J amburg, auf einer kleinen Station, treffen wır 
einige hundert auf Abtransport wartende deutsche Kriegs- 
gefangene. Die meisten sehr radikalisiert. Gute Revolutionäre. 
Ein hochgewachsener junger Mann trit an mich heran, stellt 
sich vor als Leutnant Bertram und mischt sich in die Unter- 
haltung. die wir mit den Soldaten führen. Es ist der Offizier. 
der bei Helfferich in Moskau tatig gewesen war und als Geisel für 
Axelrod zurückbehalten wurde. Er klagt heftig über die estnische 
Regierung. die ihn nicht über die Grenze lasse. während die 
russische Sowjetregierung alles getan habe, um ihn zurückzu- 
betördern. Er hat viel geliften, und der hübsche junge Mann 
sieht in unrasiertem Zustande und ohne Kragen ın der Tat 
etwas heruntergekommen aus. | 

Abends weiter nach Petrograd. Wir kommen Pfinget- 
sonntag früh 10 Uhr vor Petrograd an. Einfahrt nicht möglich. 


822 Wilhelm Herzog 


Erst 12 ½ Uhr miftags auf dem Nikolaibahnhof. Der Zug 
nach Moskau fährt gerade fort. Wir müssen bleiben. 

Erster Eindruck: Die ungewöhnliche Sauberkeit der Straßen. 
Man sıeht keine Bürger. Die Geschäfte geschlossen. Die goldenen 
Kuppeln der Kirchen. Durch den Newsky-Prospekt nach dem 
Winterpalais. Die Newa. Drüben die Peter-Pauls-Festung. 
An der Newa die verlassenen Paläste der Großfürsten, des 
Adels und der Groß-Bourgeoisie. Jetzt überall Sowjet- 
institutionen. Kinderheime und Büros. Ä 

Der Vorsitzende der kommunistischen IIL Internationale 
Sınowjew, der im ersten Sowjethaus, dem früheren Astoria- Hotel 
wohnt; ist für einige Tage nach Charkoff gereist. Wir besuchen 
die Isaakskırche und werden Zuschauer einer nach altem Rhytus 
durchgeführten Hochzeit. Abends 9 Uhr 30 nach Moskau. Mit 
der sehr reformistisch gesinnten englischen Genossin Bonfield 
Gespräch über Henderson. Sie will es nicht glauben, daß er der 
englische Scheidemann ist, und ist sehr böse wegen dieser 
Charakteristik. Nachts Lenins »Notizen eines Publizisten« in 
Heft 9 der »Kommunistischen Internationale gelesen. Klar, einfach 
und unwiderlegbar. Darauf als Kontrast eine in Reval gekaufte 
Kriegs-Broschüre eines deutschen Junkers: Mit der Eisernen 
Division im Baltenland.« Dumm, brutal und ahnungslos. Verfasser 
Korvettenkapitän Freiherr von Steinacker. Die Schrift ist 
charakteristisch für die Möglichkeiten in der deutschen Re- 
volution. 1920 in einem Hamburger Verlag erschienen. der 
sich nach eigener Angabe die Aufgabe stellt. nationale Politik 
mit liberaler Wirtschaftsordnung und sozialem Ausgleich zu 
verbinden. Alldeutsche und Demokraten in trautem Verein. 
Ein Kaiserlicher Seeofhzier. ein Baltıkumer par exellence als 
Truppenführer republikanisch sein sollender Soldaten. 


24. Mai 1920. 
Endlich 9 ½ Uhr abends in Moskau. Vom Bahnhof im 
Auto in eins der Sowjethäuser, das frühere Savoy-Hotel. 


Russisches Notizbuch 803 


Erster Eindruck auf der Fahrt: Leere, Hunger, Schmutz undElend. 
Jedes Hotel hat an Stelle des Hotelleiters einen Kommandanten. 
Wir trafen es unglücklich. Der Kommandant war zufällig 
nicht anwesend. Und sein Stellvertreter auch nicht. Wir 
mußten eine kleine Stunde warten, und ich wurde dann in 
ein noch nicht aufgeräumtes Zimmer geführt. Es sah toll aus. 
Das Bett war offenbar vor einigen Stunden von einem anderen 
Gast verlassen worden, der das Zimmer seit mehreren Wochen 
inne gehabt hate. Frische Wäsche war nicht zu beschaffen. 
Alles machte einen sebr verwahrlosten Eindruck Das Hotel, 
früher sicherlich. eins der besteingerichteten und modernsten 
Hauser Moskaus — durch 2%, Jahre dauernden Bürgerkrieg. 
durch Leerstehen, Mangel an Reinigungsmitteln, an Personal, 
durch Diebstähle. durch Barbarei eines Teiles seiner neuen 
Bewohner, die den kapitalistischen Komfort noch micht zu. 
würdigen wußten, und Werte, die sie aus Selbsterhaltung 
hatten bewahren müssen, nicht achteten und zerstörten, völlig 
heruntergekommen — dieses Hotel hate der Bürgerkrieg wie 
die meisten anderen Häuser gezeichnet. Man sah ıhm seine 
Erlebnisse an. Es war verwandelt und es bot einen jimmer- 
lichen und elenden Anblick durch seine Verunreinigung. 

Sehr deprimiert wanderte ıch des Nachts ın das nahe 
gelegene Volkskommissarıat für Auswärtige Angelegenheiten. 
das im früheren Hotel Metropol untergebracht ist. Man 
hae mir gesagt, daß infolge der eigentümlichen Arbeitsweise 
Tschitscherins dieses Kommissariat in der Nacht geöffnet sei 
Tschitscherin pflegt nämlich die ganze Nacht durchzuarbeiten, 
von abends 7 bis morgens 8 oder 9 Uhr. Nach dieser 
Arbeitsmethode muß sich ein Teil seiner Beamten natürlich 
richten. Und so fand ıch denn ın der Tat einen seiner 
Sekretäre -nachts um 2 Uhr in seinem Büro. Auf seine 
Frage, ob ich eine gute Unterkunft gefunden hätte. schien es 
mir richtig. ihm aufrichtig zu erwidern. Er sandte sogleich 
einen seiner Untergebenen mit mir, um für ein sauberes Logis 


804 Wilhelm Herzog 


zu sorgen. Aber für diese Nacht war alle Liebesmüh ver- 
gebens. Ich mußte also wohl oder übel in diesem wenig an- 
heimelndem Raum übernachten. Da ıch aber lieber auf der 
Erde schlafe als in ein schmutziges Bett zu gehen, so legte 
ich mich in Kleidern zunächst auf das arg ramponıerte und 
verwanzt ausschauende Sofa. Schlaf konnte ıch nıcht finden. 
Bald hörte ich ein leises, nach und nach stärker werdendes 
Geräusch. An der Wand raschelte es. Ich stand auf, knipste 
das elektrische Licht an und bemerkte unterhalb des Fensters 
an der Dampfheizung eın sehr liebes und neugierig drein- 
schauendes Mäuschen. Es hafte offenbar heftigen Hunger. Ich 
legte ihm ein Stück Brot und ein Stück Käse zum Nacht- 
mahl hın und spielte mit ihm, da es ganz zutraulich wurde, 
die Nacht durch. Als es dämmerte, ging ich hinunter und 
‚machte einen Spaziergang durch die Straßen. Die Sonne 
söhnte mich mit vielem aus. Die Fremdartigkeit der Stadt, die 
goldenen Kuppeln der zahllosen Kirchen, an denen man vorüber- 
kommt, das Gemisch von Orient und Okzident fesselt den 
Blick des Beschauers. Die Straßen fingen an belebt zu werden: 
im Gegensatz zu Petrograd herrscht ein buntes, mannigfaltiges. 
oft absonderliches Treiben auf den Moskauer Straßen. Autos 
rasen mit übergroßer Geschwindigkeit durch die flutende 
Menge. Vier- und fünffach überfüllte Straßenbahnen werden 
an den Haltestellen umlagert und an ihnen hängen Männer, 
Frauen und Kinder vorne, hinten, auf den Trıftbreftern, auf 
der Abschlußstange in selbstmörderischer Weise. Man mul 
es aufgeben mit einer Straßenbahn mitzukommen, ohne 
diplomierter Akrobat zu seın. 

Ich ging ins Nationalhotel zur Genossin Balabanowa. 
Auch in diesem Hotel wohnen nur Angestellte und Beamte 
der Sowjetregierung. Das Nationalhotel war früher das vor- 
nehmste Hotel Moskaus. Es ist auch jetzt gut gehalten, die 
Treppen sind sauber. die Zimmer und die Möbel unversebrt 
und rein gehalten. Im Zimmer der Genossin Balabauowa sind 


Russisches Notizbuch 805 


die Möbel mit Schutzdecken überzogen. Und die kleine Frau, 
deren Berühmtheit fälschlich darın allein besteht, daß sie acht 
oder neun Sprachen ausgezeichnet beherrscht. ist ein kluger. 
tief gebildeter und gütiger Mensch. Sie steht seit J ahrzehnten 
in der Bewegung. ist eine radikale Marxistin und sie steht 
mit ihrer Liebe als sozialistische Kämpferin zwischen zwei 
sehr entgegengesetzten und dennoch verwandten Nassen: 
Italienern und Russen. Sie fühlt sich Italien wahlverwandt: 
se hat viele Jahre dort gelebt. Italien ist ihr zur zweiten 
Heimat geworden und sie spricht italienisch nicht wie die 
anderen Sprachen, die sie beherrscht: englisch, französisch. 
deutsch, schwedisch, spanisch, sondere wie ihre Muftersprache. 


25. Maı 1920. 

Am Nachmittag in das Haus der III. Internationale: zu 
Radek. 

Der sehr geschmacklose Bau ist das Palais, in dem der 
deutsche Gesandte. Grat Mirbach. ermordet wurde. Der 
frühere Besitzer dieser typischen Parvenüvilla war ein Herr 
Berg. ein reicher Moskauer Fabrikant. Nach Mirbachs Tode 
zog Herr Helfferich. der betriebsamste. unter den wilhelminischen 
Ministern. für einige Wochen in dieses Haus ein, das ganz 
dem Stile Wilhelms II. entspricht. 

Es ist schade, daß infolge des Mangels an geeigneten 
Gebäuden die III. Internationale gezwungen war, hier ihr Heim 
aufzuschlagen. Karl Radek, der vor einigen Monaten aus dem 
Berliner Kerker. aus der Moabiter Bastille der Lehrter 
Straße nach Rußland zurückgekehrt ist. wurde zum Sekretär 
der III. Kommunistischen Internationale gewählt. Und sein 
lebendiger, ewig fluktuierender Geist arbeitet fieberhaft. Sein 
an die deutschen Romantiker (mit einem Schuß polnischen 
Judentums) erinnernder Kopf ist geladen mit Witz und 
Energie. Er schreibt täglich zwei Leitartikel. einen für die 


»Prawda« und einen für die -Iswestija- und oft noch einen 


806 Wilhelm Herzog 


dritten. der durch Radio nach Christiania gefunkt wird. Er 
empfängt täglich Besuche von mehr als einem Dutzend Dele- 
gierter aus allen Ländern der Welt. Er erteilt Rat und gibt 
Auskunft. Er präsidiert Sitzungen der IIL Internationale und 
nimmt teil an den Konferenzen des Executiv-Komitees der 
Zentralkomitees der Parteı und zahlloser anderer Körper- 
schaften. Er hält Vorlesungen ın der Arbeiteruniversität und 
vor den Offizieren der Roten Armee. Er spricht in Ver- 
sammlungen, auf Kongressen der zentralen und lokalen Sowjets. 
Und alles dies ohne Oberflächlichkeit, nicht leichtfertig. sondern 
nach gründlicher Vorbereitung. sachkundig. äußerst ernsthaft 
(wenn auch nıe ohne Witz). Das Problem beherrschend, das 
er scharf anpackt, darstellt und zergliedert. Es ist eine Lust 
ihm zuzuhören. Er ist außerordentlich reich an Einfällen: er 
hat eine ungewöhnliche Personal- und Sachkenntnis. Ihm ist 
aus der Bewegung des Proletariats aller Länder jedes Datum, 
jedes Geschehnis. jeder Führer, ja jede einigermaßen wichtigere 
Person bekannt. Dazu kommt eine große historische Bildung 
und eine sehr klare Erkenntnis der weltpolitischen Zusammen- 
hänge. 

Er ist ein glänzender Stilist. Und obschon er die russische 
Sprache keineswegs wie ein geborener Russe beherrscht, be- 
wundert man seine Aufsätze wegen ihrer Klarheit und der 
Leuchtkraft ihrer Bilder. Sein quecksilbriger Geist reagiert auf 
alle Eindrücke des menschlichen, politischen und geistigen Lebens. 
Kurz: eın hochbegabtes Individuum, der geborene Propagandist. 
der Agitator ohne Rücksichten und ohne Hemmungen. Er kennt 
keine Kompromisse, sobald es gilt, die feindliche oder noch gleich- 
gültige Welt zu infizieren. sie zu vergiften, sie mit der Idee der 
Weltrevolution zu durchdringen. Er gehört mit Bucharin, 
Ossinsky und anderen zu der jüngeren Generation der Bolsche- 
wıkı (d.h. der revolutionären Marxisten.) Dieser extreme Stratege 
des : Klassenkampfes, dieser gefürchtete Terrorist liebt die 
deutsche Literatur, kennt Goethe, Heine, Kleist, Friedrich von 


Russisches Notizbuch | 807 


Gentz und die Romantıker, Büchner, Grabbe, liebt Conrad 
Ferdinand Meyer und zitiert Verse von Stephan George und 
Hugo v. Hofmansthal. 

Mit jungen Jahren war er nach Deutschland gekommen und 
hafe an der Leipziger Universität Nantionalökonomie und Ge- 
schichte studiert. Sein immer reger Geist nahm die Kultur 
der deutschen Humanitätsperiode ebenso lebhaft auf, wie die 
weltrevolutionären theoretischen Untersuchungen und Ana- 
lysen der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Karl 
Marx und Friedrich Engels. Radek begann als Neunzehnjähriger 
in der Redaktion der »Leipziger Volkszeitung«, arbeitete dann 
ın Bremen und Göppingen als Redakteur an den Partei- 
organen, bis seine zahlreichen Feinde — eine sehr gemischte 
Vereinigung von raffinierten Parteitaktikern, subalternen Büro- 
kraten und deutschen Spießern — auf Grund lächerlichster 
„Tatsachen einen Fall Radek konstruierten. Die idiotischsten 
Vorwürfe, die jämmerlichsten Verdächtigungen kläglicher 
Philister. die sich für Sozialdemokraten hielten. genügten. 
um einen freien ungebundenen Geist zu Fall zu bringen. 
dersen einziges Verbrechen war, nıcht das korrekte Leben 
eines Normalbürgers. sondern ein etwas boh&mehaftes Dasein 
zu führen. Die deutsche Sozialdemokratie, deren Schicksal 
es war, sich am 2. August 1914 selbst zu schänden, gab ein 
Jahr vorher 1913 auf ihrem Parteitag in Jena ein kleines, 
schüchternes Vorspiel hierzu durch die Art der Behandlung dieses 
„Falles Radek... Sie befleckte, sie entehrte sich selbst. indem sie 
einen ihrer besten jugendlichen Kämpfer, einen der saubersten 
inmitten von fragwürdigen Opportunisten und streberischen 
Parteisekretären aus der Partei ausschloß. Es war ein Ton im 
Auftakt zu der weltgeschichtlichen Tragödie des imperialistischen 
Krieges und der Haltung der deutschen Sozialdemokraten 
zu ihm. Es war das erste Anzeichen der Bankroſterklärung 
dieser verbürgerlichten, nur in Worten revolutionären Gesell- 


schaft. Und Radek kann seinem „Falle. dankbar sein. daß 


08794. Wilhelm Herzog 
er ihn schon ein Jahr vorher aus einer Partei löste, die 
J ahrzehnte hindurch Klassenkampf heuchelte, um, als es ihn 
zu erproben galt, plötzlich Burgfrieden zu erklären und ın ıhm 
5 Jahre zu verharren: in innigster Gemeinschaft mit ihrem bis- 
herigen Todfeinde, der bürgerlichen Gesellschaft. 

Karl Radek sah früher als die meisten anderen uner- 
bi@lichen Kritiker der deutschen Sozialdemokratie, welche 
Richtung sie mit Notwendigkeit einschlagen müßte, wenn 
irgendwelche Krisen oder Katastrophen hereinbrächen. Sıe 
krankte am Revisionismus und am Maulheldentum. Und die 
Verbürgerlichung hafe schon ihre Knochen erweicht. 

Aber Radeks persönlicher Fall war durch die seltsame 
Gegnerschaft Rosa Luxemburgs und Leo Jogisches (Tyskas) 
noch komplizierter geworden. Man wollte einen unbequemen 
Kämpfer beseitigen. Jedes Mitel war dazu recht. Er wurde 
mit Kot bespritzt. als ein schmutziges Subjekt hingestellt. mit 
dem eine anständige und honeſte Partei nichts gemein haben 
könne. Die korrupte Wohlbürgerlichkeit hat die Ebert- Scheide 
mann-Partei ja dann auch in allen darauf folgenden immer 
größer werdenden Fällen, die sie tiefer und tiefer sinken ließen, 
bewiesen. Radek, der unter diesen Beschmutzungen trotz aller 
Freiheit des Geistes und innerer Heiterkeit sehr gelitten haben 
muß, hafte kaum einen Freund. der zu ihm hielt. Er blieb allein. 
Er rang eich durch und er weil heute, daß auch dieser ihn 
persönlich treffende Prozeß notwendig war, um an einer kleinen 
Stelle das Symptom der geheimen Krankheit des damals schon 
zerüfteten Parteikörpers zu verraten. 

Heute ıst er freier und ungebundener denn je. Er lacht 
über die kleinen Schmutzfinke und die größeren Intriguanten, 
die ihn vor sieben Jahren abwürgen wollten. Es war gut für 
ihn, dies alles durchgemacht zu haben. Denn er durchschaut 
wie nur wenige all die Regiekünste und Machenschaften 
führender Bürokraten und bedrohter Parteihäuptlinge gegen 


unbequeme rigoristische Kämpfer, die weder durch gute noch 


Russisches Notizbuch 809 


durch schlechte Behandlung unterzukriegen oder mundtot zu 
machen sind. Und die man deshalb nicht ungern moralisch 
gemeuchelt sieht: entweder durch den Parteiklatsch, durch 
unkontrollierbare Verdächtigungen oder durch die gern auf- 
genommenen Infamien der bürgerlichen Journaille. 

Radek erzählt mır einiges von seinen damalıgen Erlebnissen, 
von der Maulwurfstätigkeit der dabei mitwirkenden Genossen. 
. Wir fahren von der III. Internationale am Abend spät — nach einer 
Sitzung mit den Delegierten der Deutschen Kommunistischen 
Arbeiterpartei (K. A. P.). dem Genossen Appelt. Hamburg 
und Jung. Berlin — in den Kreml. in seine Wohnung. 
In dem ehemaligen sogenannten Kavaliershaus. das früher 
zaristische Beamte bewohnten, sind je zwei Zimmer für die 
verantwortlichen Kommissare und Funktionäre eingerichtet. 
Wir bleiben bis morgens früh im Gespräch zusammen. Mit 
großer Lebendigkeit malt er die Siege der Bolschewiki in 
Persien und das Vordringen der Roten Armee in Polen. 
Teheran sei morgen zu nehmen. Armenien wird von den 
Roten besetzt werden. Die Polen sind bereits zurückgeschlagen 
und weichen. Ein Donkosakenführer Genosse Butjenoff hat, 
sich große Verdienste erworben. Radek erzählt interessante 
Details von ihm. Von seiner Herkunft, seinem Vater, einem 
alten Grofbauern, seinem Erwachen für die Revolution, seinem 
Sammeln der roten Kosaken. Er verfügt jetzt über eine gut aus- 
gerüstete Kavallerie von 20000 Mann. In dem Kriege gegen 
Polen wird er bald eingreifen und vermutlich eine ent- 
scheidende Rolle spielen. 

Vor einigen Tagen hat Radek einen sehr merkwürdigen 
Abend bei ihm im Zuge verbracht. Zusammen mit Schaljapın 
dem berühmten Sänger, der behauptet, Kommunist geworden 
zu sein, und mit dem Bauerndichter Demjan, der seit 
Ausbruch der Revolution durch seine Dichtungen eme 
außerordentliche Popularität errungen hat. Drei Kosaken 
machten Musik, ein seltsamer Mensch, den man Schaljapins 


810 Wilhelm Herzog 


Narren nennt. tanzte auf dem Koffer. Eine sehr piſtoreske 
Gesellschaft, der Butjenoff von seinen Erlebnissen erzählte. 
In der Unterhaltung gibt Radek unendlich viel. Er kenn- 
zeichnet mit ein paar Strichen hervorragende Führer: er 
spricht von Tchitscherin. der aus einer aristokratischen 
Familie stammt, 1900 Botschaftsrat in Berlin war, und mit 
dem ermordeten Graf Mirbach verwandt war. Der nächste 
und beste Freund Radeks ist Nikolai Bucharın. Der klügste 
und klarste Kopf unter den Theoretikern der jungen Generation 
und einer der entzückendsten Menschen. Er studierte in 
Wien, der junge radikale Markist wurde Schüler Machs. des 
Philosophen und Physikers. Später lebte und arbeitete er ın 
Schweden, Frankreich und Amerika. Er ist heute 31 Jahre alt. 
Ich blieb mit Radek die ganze Nacht zusammen. Er kennt 
l die Verhältnisse in Deutschland wie kaum ein zweiter unter 
den Führern der Bolschewiki. Erst gegen fünf Uhr morgens 
legten wir uns schlafen. 
Einige Stunden später, am nächsten Vormittag, fuhren 
' wir aus dem Kreml zusammen in die Dritte Internationale. 
Radios aus Lyon waren gerade eingetroffen. Sie meldeten Siege 
der roten Armee an der polnischen Front. 


26. Mai 1920. 

Nachmittags in unserm Hotel Delovoi Dvore Gespräch 
mit den englischen Delegierten, darunter: Williams, Turner, 
Frau Snowden, Wallhaed. Sie wünschen, über die gegenwärtige 
Situation in Deutschland und über die Parteiverhältnisse unter- 
richtet zu werden. Sie machen nicht den Eindruck von Re- 
volutionären, sondern vielmehr den gepflegter Bürger. die 
Beamte der Arbeiterbewegung geworden sind, und deren Funk- 
tionen nach besten Kräften ausüben. Es ist ihnen offenbar 
zu gut gegangen und es geht ihnen noch zu gut. Sie empfinden 
bei aller Bemühung, Verständnis für Sowjetrußland aufzu- 


bringen, den ungeheurem Gegensatz zwischen ıhrer gesicherten 


Russisches Notizbuch l 811 


Ruhe und dem Fanatismus der Russen. Einer unter ihnen, 
der Jüngste, Clifford Allen. Redaktionssekretär deo Daily 
Herald, ist ein überzeugter Kommunist. 

In der Unterhaltung betonten sie die mir schon bekannte 
eigenartige Tatsache, daß England eigentlich keine sozialistische 
Tagespresse habe. Nur der »Daily Heralde, der zwar auch 
nicht offizielles Parteiorgan sei, erscheint täglich in einer Aut- 
lage von 350 000 Exemplaren. 

Am Abend zusammen mit Bertrand Russel, der sich der 
englischen Delegation angeschlossen hat, und Clifford Allen. 


| 27. Maı 1920 

In den Dom Sojusow., den früheren Adelsklub, nahe 
dem großen Theater. Dort veranstaltet das politische Auf- 
klärungskomitee des Moskauer Kriegskommissarıats ein Konzert- 
Meeting. Das Programm trägt an der Spitze eın Wort von 
Dostojewski: Schönheit wird die Welt erreften« und ein 
Wort von Goethe: »Kunst ıst der Weg zum Sozialısmuss, 
ein Satz, den man leider vergeblich in den Werken Goethes 
suchen wird .. Das Theater ist angefüllt mit Arbeitern, 
jungen Mädchen, Angestellten der Sowjets und Kriegsverletzten. 
Ein sehr aufmerksames Publikum. Die allzuoft mifbrauchte 
Phrase »Kunst für das Volke scheint hier ihre Verwirklichung 
gefunden zu haben. Zuerst spricht ein politischer Redner, 
dann kommt eın Chor, aus Männern und Frauen bestehend, 
der die Internationale, die Marseillaise und andere revolutionäre 
Lieder singt. Eine Kapelle von Balalaika spielenen Soldaten 
unter der Leitung eines Offiziers erregt durch die rührende 
Einfachheit und den diskreten Vortrag ihrer Kunst den nicht 
enden wollenden Beifall der Zuhörer. 

Abends elf Uhr kommt Bucharin zu mir ins Hotel. Bis 
nachts halb drei debattiert. Über Moral und Sozialismus; 
über die bürgerlichen Nationalökonomen; über seine Studen- 


tenzeit in Moskau und Wien, wo er Mathematik studierte. 
22 


810 l | Wilhelm Herzog 


Narren nennt. tanzte auf dem Koffer. Eine sehr piftoreske 
Gesellschaft. der Butjenoff von seinen Erlebnissen erzählte. 
In der Unterhaltung gibt Radek unendlich viel. Er kenn- 
zeichnet mit ein paar Strichen hervorragende Führer: er 
spricht von TIschitscherın, der aus einer aristokratischen 
Familie stammt, 1900 Botschaftsrat in Berlin war, und mit 
dem ermordeten Graf Mirbach verwandt war. Der nächste 
und beste Freund Radeks ist Nikolai Bucharin. Der klügste 
und klarste Kopf unter den Theoretikern der jungen Generation 
und einer der entzückendsten Menschen. Er studierte in 
Wien. der junge radikale Markist wurde Schüler Machs. des 
Philosophen und Physikers. Später lebte und arbeitete er in 
Schweden, Frankreich und Amerika. Er ist heute 31 Jahre alt. 
Ich blieb mit Radek die ganze Nacht zusammen. Er kennt 
l die Verhältnisse in Deutschland wie kaum ein zweiter unter 
den Führern der Bolschewiki. Erst gegen fünf Uhr morgens 
legten wir uns schlafen. 
Einige Stunden später. am nächsten Vormittag, fuhren 
' wir aus dem Kreml zusammen in die Dritte Internationale. 
Radios aus Lyon waren gerade eingetroffen. Sie meldeten Siege 
der roten Armee an der polnischen Front. 


26. Mai 1920. 

Nachmittags in unserm Hotel -Delovoi Dvore Gespräch 
mit den englischen Delegierten. darunter: Williams. Turner. 
Frau Snowden, Wallhaed. Sie wünschen, über die gegenwärtige 
Situation in Deutschland und über die Parteiverhältnisse unter- 
richtet zu werden. Sie machen nicht den Eindruck von Re- 
volutionären, sondern vielmehr den gepflegter Bürger. die 
Beamte der Arbeiterbewegung geworden sınd, und deren Funk- 
tionen nach besten Kräften ausüben. Es ist ihnen offenbar 
zu gut gegangen und es geht ihnen noch zu gut. Sıe empfinden 
bei aller Bemühung, Verständnis für Sowjetrußland aufzu- 


bringen, den ungeheurem Gegensatz zwischen ıhrer gesicherten 


Russisches Notizbuch | 811 


Ruhe und dem Fanatismus der Russen. Einer unter ihnen, 
der Jüngste. Clifford Allen. Redaktionssekretär des Daily 
Herald, ıst eın überzeugter Kommunist. 

In der Unterhaltung betonten sie die mir schon bekannte 
eigenartige Tatsache, daß England eigentlich keine sozialistische 
Tagespresse habe. Nur der »Daily Heralde, der zwar auch 
nicht offizielles Parteiorgan sei, erscheint täglich in einer Aut- 
lage von 350 000 Exemplaren. 

Am Abend zusammen mit Bertrand Russel, der sich der 
englischen Delegation angeschlossen hat, und Clifford Allen. 


| 27. Maı 1920 

In den »Dom Sojusowe, den früheren Adelsklub, nahe 
dem großen Theater. Dort veranstaltet das politische Auf- 
klärungskomitee des Moskauer Kriegskommissarıats ein Konzert- 
Meeting. Das Programm trägt an der Spitze eın Wort von 
Dostojewski: »Schönheit wird die Welt erreften« und ein 
Wort von Goethe: Kunst ist der Weg zum Sozialısmus, 
ein Satz, den man leider vergeblich in den Werken Goethes 
suchen wird .. Das Theater ist angefüllt mit Arbeitern. 
jungen Mädchen, Angestellten der Sowjets und Kriegsverletzten. 
Ein sehr aufmerksames Publikum. Die allzuoft mifbrauchte 
Phrase »Kunst für das Volke scheint hier ihre Verwirklichung 
gefunden zu haben. Zuerst spricht ein politischer Redner. 
dann kommt ein Chor, aus Männern und Frauen bestehend, 
der die Internationale, die Marseillaise und andere revolutionäre 
Lieder singt. Eine Kapelle von Balalaika spielenen Soldaten 
unter der Leitung eines Offiziers erregt durch die rührende 
Einfachheit und den diskreten Vortrag ihrer Kunst den nicht 
enden wollenden Beifall der Zuhörer. 

Abends elf Uhr kommt Bucharin zu mir ins Hotel Bis 
nachts halb drei debaſtiert. Über Moral und Sozialismus: 
über die bürgerlichen Nationalökonomen; über seine Studen- 


tenzeit in Moskau und Wien, wo er Mathematik studierte. 
22 


812 =. Wilhelm Herzog 
In Bucharin ist Gegenwart und Zukunft der Weltrevolution 
verkörpert. Er gehört zur Jugend der weltrevolutionären 
Bewegung. Er ıst der extremste kritischste Kopf ım Executiv- 
Komitee der Kommunistischen Partei und zugleich der zu- 
kunftsfroheste und kühnste Optimist. Er betrachtet die Entwick- 
lung der Weltrevolution mit all ihrem Grausamkeiten, Aus- 
schweifungen etwa wie ein Biologe die Tier- und Pflanzenwelt 
betrachtet. Denn die Notwendigkeit des Prozesses gilt ihm 
alles. Wir sind dazu da, ihn zu beschleunigen. Alles andere 
ist romantische Ideologie, Sentimentalität. moralischer. pazifisti- 
scher, intellektueller Fetischismus. Fetischismus ist sein Lieb- 
lingswort. 

Die alte kapitalistische bürgerliche Kultur, die Ungeheueres 
und AuLßerordentliches geleistet hat, ist im Absterben. Eine 
neue Welt beginnen wir zu: bauen. Widerstände und 
Schwierigkeiten. die kaum überwindbar scheinen, werden wir 
schließlich überwinden. Was haben die westlichen Kultur- 
staaten — so rief er aus — diesem neuen frühlinghaften 
Blühen entgegenzustellen? 


29. Mai 1920. 

Nachts zwölf Uhr auf den Kursker Bahnhof, um gemein- 
sam mit der englischen Delegation nach Nishnij- Nowgorod zu 
fahren und von dort auf der Wolga zu Schiff einige Dörfer 
und Städte zu besuchen. 

Auf dem Bahnhof begrüßt mich Guilbeaux, der bereits 
seit zwei Jahren in Rußland lebt. Wir beziehen zusammen ein 
Coupe. Von den Engländern reisen mit: Bertrand Russel, 
Mrs. Snowden. Williams. Wallhead. Dr. Geest. der Arzt der 
Delegation und Clifford Allen. Am nächsten Morgen zehn 
Uhr in Nishnij- Nowgorod. Empfang am Bahnhof durch 
Arbeiter und Soldaten der Roten Armee. Mit breiten roten 
Fahnen, mit vielen roten Bannern. die in sehr reicher goldener 


Schrift Parolen der proletarischen Revolution tragen. Alles 


Russisches Notizbuch | 813 
sehr festlich bei strahlender Sonne. Musik der Rotarmisten- 
kapelle. Begrüßung. Ansprachen, Williams, der wenigstens ın 
Worten Revolutionärste unter den Engländern. antwortet. 
Dann spricht Wallhead. der Führer der I. L. P. einige kurze 
Sätze. Er hat ein geistigeres Gesicht. 

Wir müssen an der ansehnlichen Truppenschau vorüber- 
marschieren. Lange Reihen roter Soldaten. Stramm diszipliniert. 
Nicht ohne Drill. Vom Bahnhof. den eine große der 
englischen Delegation zujubelnde Menschenmasse umsäumt, in 
Autos zur Landungsstelle an der Wolga. Aufs Schiff. einen sehr 
schönen komfortablen Dampfer. den sich kurz vor dem Kriege 
der Zar bauen ließ. Die Breite und das pittoreske Ufer des 
Flusses ist der erste Eindruck, der haften bleibt. Mit Bertrand 
Russel zusammen gefrühstückt. Über die Nichtigkeit solcher 
Empfänge gesprochen. Für die Propaganda dennoch notwendig? 

Auf dem Schiff: der jetzige Leiter der Fabrik in Sormowa. 
Er gıbt ın großen Zügen eine Darstellung ihrer Tätigkeit. Sie 
war eine der größten Fabriken Rußlands. 1917 hafe 
eie noch fünfundzwanzigtausend Arbeiter. jetzt: elf- 
tausend. Von den elftausend Arbeitern können wieder- 
um nur sechstausend richtig arbeiten, etwa fünftausend sind 
durch den Mangel an Nahrungsmittel so entkräftet. dal sie 
entweder nur vier Stunden täglıch, oder gar nicht arbeiten 
können. Außerdem fehlt es ıhnen an der notwendigsten 
Kleidung, an Schuhwerk usw. Die anderen sind an der Front. 
Bis zum Krieg : Waggonfabrik, dann umgestellt in eine Munitions- 
fabrık. Es wurden früher dort fünt Millionen Pud 
Stahl verarbeitet. Die Arbeiter dieser Fabrik, wie überhaupt 
die von Nishnij- Nowgorod und Kasan, sind immer die besten 
revolutionären Kämpfer gewesen. 

Der Sprecher (Ingenieur) ist der Vorsitzende des Arbeiter- 
rates von Sormowa. 

Einige Zechen arbeiten nicht, weil kein Naphta vorhanden 
ist und sie mit Holz nicht heizbar sind. Jetzt werden alle 


811 WV .ilhelm Herzog 


Anstrengungen gemacht, um sie mit Torf (in Verbindung mit 
Spiritus) zu heizen. Diese Zechen stellten früher die Räder 
der Eisenbahnwagen her. Als Koltschak kam. nahm er alles. 
was nicht niet- und nagelfest war. mit sich fort oder zerstörte. 
was er zerstören konnte. 

In der Gegend von Nishnij viel Hausindustrie. Die Ar- 
beiter stellen aus Holz Löffel, Schüsseln und ähnliches für 
den Bedarf der Bauern her. 

Viele Lederfabriken sind in Betrieb geblieben und arbeiten 
jetzt hauptsächlich für die rote Armee. 

Am Abend lädt uns der lokale Sowjet zu einem Bankett 
ins Sowjethaus. Wiederum Begrüßung. Ansprachen. Reden aut 
russisch und englisch, und am Schluß singen alle ernst und 
feierlich die Internationale. Es ist sehr spät nachts ge- 
worden, als wir mit dem Schiff von Nishnij-Nowgorod ab- 
fahren. . . die Wolga hinauf nach Kasan. 

Mit Losowsky. dem Mitglied des Zentralrates der All- 
russischen Gewerkschaften, aufschlußreiche Unterhaltung über 
die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in Rufland. 

In der Kabine mit Guilbeaux die ganze Nacht sehr gefroren. 


30. Mai 1920. 

Das Schiff hält am Ufer. Wir gehen in ein kleines 
Dorf. Es heißt Iljenzkaja Pustynj. In ein Bauernhaus. Die 
Bäuerin, die uns etwas verwundert empfängt, erzählt, daß sie und 
ihr Mann acht Hektar zu kultivieren haben. Der Mann ist 
Sowjetbeamter und Waldhüter. Im Häuschen überall, ın allen 
Zimmern, Heiligenbilder. Im Wohnzimmer gesellt sich dazu 
ein Grammophon und eine Nähmaschine. Die Bäuerin hat 
einen kleinen Buben auf dem Arm. Er ist 4 Jahre alt und 
wohlgenährt. Sie hat ihn, da sie keine Kinder hafe, 
adoptiert. Im übrigen scheint sich das Leben der russischen 
Bäuerin nicht wesentlich von dem der deutschen Kleinbäuerin 


zu unterscheiden. 


Russisches Notizbuch 815 


Die Bauern wollen wenig von den Verordnungen der 
Behörden wissen. So wenig, wie früher. An einer kleinen 
Kirche, die sehr schmuck, weill. unmittelbar am Wolga-Ufer 
steht, sammeln sie sich an diesem Sonntagmorgen wie eine 
Herde braver Tiere, die sich zu ihrem Hirten flüchten in 
begreiflicher Scheu vor den fremden Eindringlingen. Die 
Buntheit dieses Bildes schrie nach Flaubert. 

Mittags zurück aufs Schiff. Gespräch mit Russel und 
Mrs. Harrison. Mrs. Harrison erkundigt sich nach Berliner 
Persönlichkeiten. Sie ist eine sehr gewandte Korrespondentin. 
Ihre Beziehungen sind sehr mannigfaltig. Sie kennt zwischen 
dem Mississippi und der Wolga alle sogenannten führenden 
Persönlichkeiten. Sie spricht über Walter Rathenau. Theodor 
Wolff. von Gerlach, natürlich auch über die Gräfin Treuberg. 
Für einige Minuten Berliner Atmosphäre an den Ufern 
der Wolga. 

Russel macht zwischendurch skeptische Bemerkungen. 
Obschon immer Ironıker, der gern Gottes und der Welt- 
revolution spottet, ist er doch leidenschaftlich der Idee der 
Revolution ergeben. In erster Linie ist er Pazifist. Anti- 
militarist, ein guter Europäer. Aber er sieht. daß alle unsere 
letzten Ziele erst erreicht werden können, wenn wir den 
Übergang — das ist die Diktatur des Proletariats — mit all 
ihren Konsequenzen durchgemacht haben werden. Wir können 
ihn nicht überspringen. Und so grauenvoll, so bitter, so dunkel, 
so blutig, so unmenschlich dieser Korridor durch den Wider- 
stand der konterrevolutionären Klasse werden kann. — 
es bleibt uns keine Wahl, es gibt keinen anderen Weg. Diese 
Erkenntnis sich selbst und anderen einzuhämmern, ist gebiete- 
rische Pflicht. Russel anerkennt den Willen und die große 
Kraft der bolschewistischen Führer, vor allem. Lenins. Aber 
er ist ein zu anarchistischer. Parteidisziplin verachtender Geist. 
als daß er verzichten könnte, allzu sichtbare Auswüchse der 
neuen Herrschaft — und sei sie auch die des geheiligten Prole- 


816 Wilhelm Herzog 


tariats — zu kritisieren. Er tut es nie aus einer bürgerlich- 
kapitalistischen Gesinnung heraus, vielmehr stets als revolu- 
tionärer Aphoristiker. dem diese ganze Welt fragwürdig 
vorkommt, der ihre große Gemeinheit und ihre kleinen Er- 
bärmlichkeiten zur Genüge kennt, und der, wie er von sich 
selbst sagt, lieber einige Monate ins Gefängnis ginge, als auf 
einen guten Witz zu verzichten. Er bat etwas von einem 
alten liebenswürdigen Faun. Und dieser wegen seines Anti- 
militarismus in England zu Gefängnis verurteilte Ketzer, dieser 
Sozialist aus Ethik. aus vornehmer Gesinnung. dieser radikale 
Feind des Militarismus stammt, wie man weil, aus einer der 
ältesten Adelsfamilien Englands und hat zum Bruder einen 
riehtiggehenden Lord. Er ist eine Kreuzung zwischen Whistler 
und Wilde. Anarchistischer Künstler und sozialistischer Geist. 
Kein Bolschewik. Rein revolutionärer Marxist. 

Gegen Abend kommen wir nach Kasan. Meeting an der 
Landungsstelle. auch Guilbeaux spricht. Außer ihm Williams 
und Frau Snowden. Russel mokiert sich. 

Der junge Clifford Allens ist — wahrscheinlich infolge 
der Kälte der letzten Nacht — erkrankt. Liegt in der 
Kabine. Beide Lungen angegriffen. Er hat sich die Tuber- 
kulose während des Krieges im englischen Gefängnis geholt, 
wozu man ihn für mehrere Jahre, da er den Militärdienst 


verweigerte, verurteilt hatte. Er ist Russels bester Freund. 


31. Mai 1920. 

Vormittags 11 Uhr landen wir in Simbirsk. Mit Los- 
sowsky, Guilbeaux und einer jungen Russin in die sehr 
schmutzige Stadt. 

Als wir nach einigen Stunden aufs Schiff zurückkehren, finden 
wir eine Deputation der Arbeiter von Simbirsk an Bord vor, die 
gekommen ist, um die englischen Delegierten zu begrüßen. 

Nachmittags luden uns die Matrosen zu einem Konzert 


aufs Oberdeck. Ihr Führer hielt zunächst eine kurze Ansprache 


Russisches Notizbuch 817 


und dann sangen die-Matrosen mit großer Wärme einige revo- 
lutionäre Lieder, das Lied von der roten Fahne und zum 
Schluß das Wolgalied: »W niz po Matuschke, po W olge«. 

Abends gegen 9 Uhr hält das Schiff in Novodevitschie. 
einem kleinen, inmiften von Kreidefelsen gelegenen Dörfchen. 
Etwa 5000 Einwohner. Zementfabriken. 

Schnell wird auf dem Balkon eines kleinen Häuschens eine 
Rednertribüne errichtet und auf dem Platz davor eın Meeting 
arrangiert. Von der englischen Delegation spricht Dr. Geest. 
Das Auditorium, daß sich vor dem Holzhäuschen angesammelt 
hat, besteht aus alten russischen Bauern, Bäuerinnen, jungen 
Arbeitern und Kindern. Alle jucken sich. Die Moskitos stechen 
heftig. Gegen ihre Zudringlichkeit hilft keın Schlagen, kein 
Abstreifen. Die fremden Sprachen berühren die Dorfbewohner 
offenbar komisch. Nicht nur die Kinder, sondern auch die 
Erwachsenen, beginnen zunächst bei den ersten Worten der 
Sprecher zu lachen. Sowohl bei Geest wie bei Gilbeaux. 
der eın paar schöne revolutionäre Phrasen an dıe trotz alle- 
dem neugierig - unruhige Menge richtet. Losowskı übersetzt. 
Die Moskitos stechen weiter, und man kämpft so kontinuierlich 
und unermüdlich wie erfolglos gegen ihre Plage. 

Die Männer lauschen, wenn sie sich nicht kratzen. Ihre 
Haare fallen ihnen tief ins Gesicht, ihre Gesichter sind ver- 
wiftert, sie tragen meist große, schwarze, braune oder rötliche 
Bärte und Mützen auf dem Kopf. Alles dies berührt sie fremd- 
artig. Die Frauen, junge und alte, sind ziemlich sauber gekleidet 
und haben um den Kopf weile, gelbe, grüne oder rote Tücher. 
Sie sind noch uninteressierter als die Männer, aber noch neu- 
gieriger. Die Kinder, die sich offensichtlich Mühe geben. still 
zu bleiben, kratzen sich oder stecken sich Zweige ın den Mund. 
Sie sind garnicht schmutzig und tragen ım Gegenteil weile 
russische Hemden. 

Dieses sehr farbige Publikum der Dorfbewohner kann 
noch nicht wie die städtischen Arbeiter die Internationale 


818 Wilhelm Herzog 


singen. Ein wenig erstaunt beim Anstimmen und sicher etwas 
verlegen. befreunden sich die Bauern nur langsam mit den 
Tönen der Revolution. 

Die Masse begleitet uns vom Versammlungeplatz herunter 
zum Schiff. Wieder mußte ich an den Dichter der »Madame 
Buvary« denken. Ein schönes Bild: der Zug der Bauern und 
Bäuerinnen, singend, belustigt. aufgerührt von dem seltsamen 
Erlebnis, das plötzlich ihren Ort überfiel. 

1. Juni 1920. 

Wir fahren auf Samara zu. Ein Schiff mit Musik 
kommt uns entgegen. 

Vormittags 10% Uhr mit Russel und Mrs. Harrison 
in die Stadt gefahren. Die anderen in Autos zum Sowjet- 
haus, wo ein Meeting stattfindet. Wir bummeln durch die 
Straßen der sehr häßlichen Stadt. Schmutzig und ohne eigenes 
Gepräge. Auf der Hauptstraße vor der deutschen Kirche 
begegnen wir einer kleinen, schmächtigen Frau, die in beiden 
Händen drei große runde Brote trägt. Mrs. Harrison beginnt 
ein Gespräch mit ihr auf russisch, ein Mann gesellt sich zu 
uns. Er ist, wie er behauptet, ein jüdischer Arbeiter. Er 
und die Frau sprechen gebrochen deutsch. Beide jammern. 
Nie wars so schlimm. Nichts zu essen, klagt die Frau mit 
den drei Broten. Keine Freiheit, stöhnt der angebliche Ar- 
beiter. Es sei wahr, fügte er hinzu, — als ich ihm vorhalte, 
ob die Juden es unter dem Zaren etwa besser gehabt häften, — 
es sei wahr. die Juden häften als Juden nichts mehr zu leiden, 
eie seien gleichberechtigt mit den anderen; — aber das Leben 
sei entsetzlich teuer. Grammophonartig hört man diese Welt- 
klage, deren Berechtigung durch ihre unaufhörliche Wieder- 
holung nicht getötet werden kann. 

Die Frau lädt uns ein, zu ihr zu kommen. Wir fe: ihr, 
um zu sehen, wie diese klagenden Kleinbürger ı in Wirklich- 
keit leben. Sie hafe, soweit wirs überblicken konnten, eine 
mit dem üblichen Bourgeois-Hausrat eingerichtete Wohnung 


Russisches Notizbuch 819 


von drei oder vier Zimmern. Ihr. Mann. den sie uns 
vorstellte. war früher Schneidermeister gewesen. Vereint 
jammerten sie über zwei erwachsene Söhne, die in 
Amerika wären — der eine Ingenieur, der andere Arzt — 
und der ganze bürgerliche Familienstolz konnte beim Zeigen der 
schmucken Photographien dieser guten Söhne eine stille Orgie 
feiern. Die Frau wımmerte weiter über alles und nichts. 
zeterte gegen den Terror, erzählte Greuelgeschichten. und 
jede Miene. jedes Wort flehte Mitleid. Wie bedauernswert 
sie in Wirklichkeit war, sollten wir bald merken. Wir 
bekamen sogleich die Probe aufs Exempel für dié 
Berechtigung ihrer Klagen. Sie lud uns ein zum Tee, beschwor 
uns, zu bleiben, wır seien ıhr von Gof geschickt, endlich 
könne sie all ihr Leid hinausschreien über die Not und das 
Elend, daß jetzt über Rußland gekommen sei. . . Und da 
wir ablehnten, ging sie hinaus und brachte, vermutlich um uns 
noch mehr zu reizen und zum Bleiben zu verlocken. ein Laib 
des schönsten Weılbrots herein, wie ich es seit sechs Jahren 
nicht mehr geschen hafte. Sıe versicherte, sie wisse, was sie 
deutschen Gästen schuldig sei, es würde nicht an echtem Tee 
und Zucker fehlen. Als ich ihr ganz zart andeutete, dal es 
ihnen doch nicht gar so schlimm gehen könne, da sie noch 
so herrliches weıßes Mehl zu verbacken habe, lächelte sie schlau 
und ihre winzigen Augen wurden Stecknadelköpfe: » Ja. dies Mehl 
habe ich schon seit zwei Jahren liegen]. Und den Zucker. den 
echten Tee, die Bufer wahrscheinlich ebenso lange. Wir 
‚forschten jedoch nicht länger, denn der anfängliche Verdacht 
wurde zur Gewiſcheit. daß ihr Jammern über die Not und 
die Grausamkeit der Sowjetbehörden von der Angst stammte, 
als Spekulantin gefaßt zu werden. Herzlich dankten wir ihr 
für den Einblick, den sie uns in ihr Haus gewährt hatte. 
und verließen diese gastfreundliche kleine Wucherin. die allzu 
begreiflich keine Freundin der ihrem Denken und Fühlen ent- 

gegengesetzten neuen Ordnung sein konnte. | 


820 Wilhelm Herzog 


Aber es ist wichtig zu wissen, daß neben den Gegenrevolu- 
tionären aus den adligen und großkapitalistischen Kreisen den 
Bolschewiki nichts so gefährlich ist, als diese Schicht offener 
und heimlicher Feinde der Sowjets, der kleinen Schieber und 
Spekulanten. 


« « 
* 


Beim deutschen Pastor, namens Lintius. Er ist verreist. 
Seine Frau, eine hagere Dame mit goldener Brille. empfängt 
uns in seinem Bibliothekzimmer. Sie gibt uns bereitwillig 
Auskunft auf alle unsere Fragen. Von äußerster Sachlichkeit. 
einfach und bestimmt. zeichnet sie. die ihrer Weltanschauung 
und ihrem ganzen Wesen nach keine Freundin der Bolsche- 
wiki sein kann, ein sehr anschauliches und ungeschminktes 
Bild der wirklichen Verhältnisse, der Schwierigkeiten, und der 
Bemühungen der Kommunisten, den Aufbau vorzubereiten, 
um die Lage des Volkes zu bessern. 

In schlichtester Weise illustrierte eie das tägliche Leben 
durch einige Daten: 

Die Arbeiter (die zur ersten Kategorie gehören) erhalten 
täglich 1 Pfund nicht schlechten Brotes. Reines: Roggenbrot. 
Die zweite Kategorie erhält % Pfund Brot täglich. Außer- 
dem gibt es nur noch ½ Pfund Salz im Monat und zwei 
Schachteln Zündhölzer. Man soll bekommen: Fleisch, Fisch, 
Oel. Aber nichts davon erhalte man. Das Ei kostet 40 Rosel 
1 Pfund Butter 1000 bis 1500 Rubel. 

Die Kinderspeiseanstalten bekommen die Vorräte der Speku- 
lanten. Die Kinder haben es am besten. Sie erhalten miftags 
eine gute Suppe mit einem Stück Fleisch und eine schmackhafte 
Grütze. Es gibt in Samara allein 16 Kinderhäuser: alle Kinder 
dieser Instituten sehen gut gefüftert und gut gekleidet aus. 

Mit den Schulen selbst steht es sehr schlimm. Ungeheizt. 
Kein Schuhzeug für die Kinder, Lehrer sind vorhanden. 

1917 war die öffentliche Sicherheit in Samara sehr 
schlecht. Viele Banditen, Straßenräuber. 


Russisches. Notizbuch 821 


Auffallend in den Schulen seit der Revolution die Un- 
eittlichkeit. Besonders die Aggressivität der Mädchen gegen 
die Buben. Junge Mütter von vierzehn Jahren. 

Die Lehrer bekommen 2170 Rubel monatlichen Gehalt. 

Ein Pfund Fleisch aber kostet 450 Rubel. Ein Pfund 
Kohlen 45 Rubel, ein Faden Holz 15000 Rubel. | 

Sofort nach der Revolution wurden Kurse für Analpha- 
bethen eingerichtet. Besonders am Abend. Sie erhalten un- 
entgeltlich Hefte und Bücher. Alles vorzüglich eingerichtet. 

Seifen- und Sodafabriken arbeiten, sonst steht alles still. 

Eine Wäscherin bekam früher 1 Rubel pro Tag (mit 
Verpflegung). Jetzt verlangt sie 300 bis 400 Rubel und man 
gibt es ihr. 

Man zählt etwa 2000 Deutsche in Samara. Jeder Sowjet- 
beamte hat 2000 bis 3000 Rubel monatlichen Gehalt. 

Eine Wohnung von 2 bis 3 Zimmern kostet monatlich 
600 Rubel. 

Das Volk, zuerst froh, den Druck des Zarismus los zu 
sein, ist jetzt wieder unzufrieden. Die Kirchen sind überfüllt. 
Die Priester leben jetzt besser, als unter dem Zaren. Die 
Gemeinde versorgt sie reichlich. Mit-Naturalien und mit Geld. 
Freiwillig. Ein Bürger gab kürzlich 8000 Rubel für den Pfarrer. 

Auch ihre Familie. klagte sie mit leiser Stimme, wurde 
vom Bürgerkrieg nicht verschont. Einer ihrer Söhne, ein Arzt 
im Heere wurde erschossen. Weil er, wie sie sagt, während 
der Besetzung Samaras durch die Tehecho-Slovaken dreimal 
im tschechischen Büro gewesen war, nur um durchfahrenden 
Reichsdeutschen, die der russischen Sprache nicht mächtig 
waren, zu helfen. 

Im Oktober 1918 rückten die Tschechen ab. Gegenseitige 
Repressalien fürchterlichster Art. Die Tochecho-Slovaken. 
geführt von französischen Offizieren. massakrierten die Arbeiter. 
Die Roten — zurückgekehrt — töteten viele Kapitalisten und 
Intellektuelle. | 


822 | Wilhelm Herzog 


Es gab in Samara Millionäre (zwanzig- bis dreißigfache 
Millionäre) die nicht lesen und nicht schreiben konnten. Sıe lebten 
im geschmacklosesten Luxus; ihre Söhne und Töchter ver- 
praßten parvenühaft das leicht und schnell erworbene Geld. 
Jetzt sind viele dieser Söhne und Töchter zu schwerer Arbeit 
herangezogen worden. Die Mehrzahl allerdings hat sıch durch 
rechtzeitige Flucht ın Sicherheit gebracht. 

Die Theater geben sehr häufig Kindervorstellungen. Die 
Schauspieler erhalten Gagen bis 6000 Rubel. Mindestgehalt: 
3000 Rubel. Man spielt Gorki, Tolstoi; in der Oper heute: 


Carmen. 
* « 


Kurz nach unserer Rückkehr aufs Schiff erhalten wir 
den Besuch des Kommandanten der militärischen Abteilung 
der W olga, Baltıskı. Dieser ehemals zaristische Offizier aus 
dem großen Generalstab steht bereits seit 1917 im Dienste 
der Revolution. Auf einige ıhm gestellte Fragen gab er mır 
in liebenswürdiger Weise Auskunft. Der Rotarmist erhält 
monatlich 1000 Rubel, der Unteroffizier 2000 Rubel, der 
Offizier 3000 Rubel. Die höheren Offiziere bis zum Armee- 
Kommandeur 6000 Rubel. 

Im vorigen Jahre wurde der Jahrgang 1901 mobilisiert. 
Es wird möglichst alles genommen. Stimmung in der Armee: 
die der Sieger. 


* * 
* 


Abends sieben Uhr auf ein Meeting des Sowjets von 
Samara. In ein großes Theater. Die Bilder von Karl Marx. 
Liebknecht. Lenin. Trotzki im Vorraum, auf der Bühne, 
im Zuschauerraum. Rote Fahnen. Standarten. Banner mit 
revolutionären Parolen sind vor den Kulissen aufgestellt. 
Eine große Musikkapelle der Rotarmisten intoniert die Inter- 
nationale. Sehr stark und imposant wirkt die enthusiastische 
Volksmasse durch ihre Einheitlichkeit. dureh die fühlbare 
Sehnsucht, die sich den fremden Delegierten entgegenstreckt 


Russisches Notizbuch 823 


und ın dem kaum ausgesprochenen und doch überall hörbaren 
Ruf gipfelt: »Setzet unser Werk fort, das wir begonnen! — 
Helft uns endlich! Indem ıhr Euch befreit, befreit ıhr uns! 
Unsere Not ist riesengroß, nicht lange mehr können wir sie 
alleın tragen! 

Festgestellt muß werden: die englischen Delegierten 
erwecken in dem russischen Proletariat Illusionen, Hoffnungen. 
Werden sie sie erfüllen? Die Masten werden durch die 
Repräsentanten eines Volkes aufgewühlt, dessen Regierung 
Sowjetruſlland durch Polen und den Baron Wrangel bekriegen 
laßt. Diese Repräsentanten der englischen Arbeiterschaft 
werden von den russischen Volksmassen mit rührender Be- 
geisterung aufgenommen. Sie werden umjubelt. Das russische 
Proletariat aller Parteirichtungen erwartet von den Engländern 
tatkräftige Hilfe. Bald. Werden sie sich‘ irren? Werden sie 
wieder enttäuscht werden? Die Engländer, deren Worte oft 
revolutionär klingen, scheinen brave Bürger. reformistisch- 
opportunistische Sozialisten. Arriviert. saturiert. in gehobenen 
Stellungen sich wohlfühlend. Keine revolutionären Klassen- 
kämpfer. | 

Russel, ein geistiger Radikaler. ist im Grunde trotz seinem 
Pazifismus revolutionärer, als alle zusammen, jedenfalls anti- 
bürgerlicher, zıelbewußter, freier und ohne die Hemmungen 
eines Gewerkschafts- Bürokraten. dessen Macht sich jedesmal 
vor der Last der Verantwortung fürchtet und verkriecht. 
Unter den englischen Delegierten war mehr als ein Legien. 
nur waren es Legiene zweiten. dritten oder vierten Ranges. 


2. Juni 1920. 
Vormittags auf dem Schiff Gespräch mit Russel über die 
politische Situation in Deutschland, über, die Herrschaft des 
Proletariats in Rußland und die Überbleibsel der bürgerlich- 
kapitalistischen Gesellschaft, die überall sichtbar und schwer 
zu beseitigen sind. Korruption, Protektionswirtschaft, lächerlicher 


824 Wilhelm Herzog 


Eigennutz, Unhöflichkeit des Herzens, Vorurteile (früher mit 
einem + Vorzeichen, jetzt mit einem — Vorzeichen), die 
Anwendung abgegriffener Phrasen. kurz: die Gefahr der 
Discrepanz zwischen Wort und Tat. 

Mittags 2 Uhr gingen wir in ein kleines Dorf. Es hiel 
Wofkressenskoje, und liegt schon nahe der Kolonie der 
W olgadeutschen, In einem Bauernhaus nahe der Wolga. oben 
auf dem Heuboden: ein elfjähriger deutscher Junge. Kräftige, 
rote Backen, starke Muskeln. 

Eine Dorfschullehrerin, die etwas deutsch spricht, führt uns 
durchs Dorf. Die Einwohner. erzählt sie. leben nicht schlecht. 
Nur die Schleichhandelspreise gäben überall Ursache zu klagen. 
10 Eier 300 bis 400 Rubel. 1 Pfund Bufer 1000 Rubel. 
Aber gar keine Seife, wenig Kleidung. keine Schuhe. 

Die reinliche, etwas deutsch sprechende Volksschullehrerin 
lädt uns zum Tee ein. Nach einigem Sträuben müssen wir 
annehmen. Als wir in ihr Häuschen hineinkommen. steht der 
Tisch bereits voll schönsten Weillbrots. Eiern. Speck. Fleisch 
und Kaviar. 

Nachmittags 5 Uhr fahren wir mit dem Schiff weiter 
die Wolga hinauf. Immer vom gleichen sonnigen Wetter be- 
gleitet. .. Und abends 9 Uhr landen wir in Marxstadt, so nach 
Karl Marx von den deutschen Kolonisten umgetauft. Bis zur 
Revolution hieß dieser Hauptort der Wolga-Deutschen 
Catherinenstadt. Die auf dem linken Ufer von Catherina der 
Zweiten gegründete deutsche Kolonie besteht seit 162 Jahren. 
Marxstadt hat jetzt etwa 30 000 Einwohner. Im ganzen 
Gebiet, das durch die Bolschewiki zu einem eigenen Gouver- 
nement — Trudowaia Kommuna oblasti njemzew »Powolshja« 
(der »Arbeitskommune des Gebiets der Wolga-Deutschen.) — 
zusammengeschlossen worden ist. leben etwa 600 000 Deutsche. 

Sie haben in diesem Steppengebiet der Wolga mit Bienen- 
fleiß Heimstäften geschaffen, die sich durch ihre Sauberkeit 


auffallend von den russischen Nachbarorten unterscheiden. Das 


Russisches Notizbuch 825 


ist nicht etwa ein deutscher Chauvinismus. der mich diese Fest- 
stellung machen läßt: ich hörte vielmehr diese Tatsache von 
den Bewohnern der umliegenden russischen Dörfer selbst betont. 
die mit einem Gemisch aus Bewunderung und Neid von den 
ungleich besseren Lebensbedingungen in der deutschen Arbeits- 
kommune erzählen. Etwas herablassend und doch mit stiller 
Anerkennung pflegt der Russe diese ihm fremdartige Tätigkeit 
und Liebe zur Ordnung in die Worte zusammenzufassen: 
sordnungsliebend und akkurat, wie ein Deutscher. 

Einige Namen der von deutschen (und wohl auch schweizer) 
Kolonisten gegründeten Dörfer und Städtchen: Schaffhausen, 
Glarus. Basel, Zürich. Soloturn. Zug. Luzern. Obermönch, 
Uhrbach, Mannheim. Strallburg. Oberdorf. Erlenbach. 

Vor dem Sowjethaus empfing uns der zweite Vorsitzende 
des Sowjets. Friedrich Lederer. Ihm danke ıch die folgenden 
Mitteilungen. Wieder gebe ich sie so flüchtig, so zusammen- 
hanglos, wie ich sie bekommen habe, nur als Andeutungspunkte. 
die vielleicht ein ganz klein wenig über die wirklichen Ver- 
hältnisse zu orientieren vermögen. Kaufleute wurden enteignet. 
Privateigentum ist noch nicht abgeschafft. In Marxstadt: eine 
Garnison mit zweı Regimentern (eins — reguläre Truppen, 
das andere — ein Arbeitsregiment). Nur Deutsche. 4000 Mann 
bilden eın Regiment. 

Die Bauern haben den Grolgrundbesitz, ohne das betreffende 
Dekret der Sowjetregierung abzuwarten, enteignet. 

Viele Großgrundbesitzer und ihre Söhne arbeiten jetzt 
in landwirtschaftlichen Abteilungen oder im Heere mit. 

In Marxstadt: eine. Fabrik für Herstellung landwirtschaft- 
licher Maschinen beschäftigt bis zu 380 Arbeitern. Es herrscht 
Arbeitermangel. Die Fabrik ist sequestriert und wird voraus- 
sichtlich der »Arbeitskommune des Gebietes der Wolga- 
Deutschen« unterstellt werden. 

Rationierung der Lebensmittel wie folgt: pro Monat 
30 Pfund Mehl. Schwerarbeiter. erste Kategorie. 45 


826 er Wilhelm Herzog 


Pfund Mehl (sehr schönes Weıißmehl), 1⁄4 Pfund Fleisch 
pro Tag. 

Alle Arbeiter haben meist ihr eigenes Vieh (Schweine, 
Hühner. sogar Pferde). 

Es gibt 10 professionelle Verbände (Gewerkschaften), 
darunter: Metallarbeiter: Sowjetsbeamte und - angestellte: Bau- 
arbeiter; —Mühlenarbeiter: Lederarbeiter und Schuhmacher. 
Schneider. | | 

Jeder Bürger erhält 10 Arschın pro Kopf auf 1⁄2 Jahr. 
darunter Tuch und Wäsche. Schuhversorgung sehr schlecht. 


Lebensmittelpreise: 


ın Marxstadt ın Moskau 
Fleisch. 1 Pfund.. 20 Rubel 1000 - 1400 Rubel 
Eier, 10 Stück .... 800 1500—1600 „ 
Bufer, 1 Pfund .. 1000 2700 


Milch (10 Teegläser) 180 „ (2 Teegläser) 250 

Marxstadt hat 8 Schulen und 3200 schulpflichtige Kinder. 
Darunter eine Schule zweiter Stufe für Russen und eme 
Schule zweiter Stufe für Deutsche. Mit den Schulen ist es 
schlecht bestellt, denn die Lehrer sind zum größten Teil 
mobilisiert. 

Die Grofbauern haben noch 100 Dessjatin (1 Dess. = 
weniger als ein Hektar) bis 60 Pferde, 10 Kühe, eine Menge 
Rinder und Schweine. Die Großbauern sind meistens Meno- 
niten. Der Bauer hat durch Sowjetverordnung 4 Dessjatin 
pro Kopf bekommen. | 

Etwa 50 der größten Grundbesitzer wurden völlig 
enteignet. Sie wurden von Haus und Hof vertrieben. Die 
meisten sind geflüchtet. 

J etzt liefert die Arbeitskommune des Gebietes der Wolga- 
Deutschen 12 Millionen Pud Frucht, Korn, Hafer ab. 

Denikin und Koltschak waren in bedrohlicher Nähe, sind 
aber nicht ins Gebiet hineingekommen. Jetzt hat die Arbeits- 
kommune 6000 bis 7000 Mann Truppen, wovon zwei Kom- 


Russisches Notizbuch 827 


pagnıen, 1000 Mann, kürzlich an die polnische Front geschickt 
wurden. 

Alle Mähmaschinen sind sequestriert und werden von der 
Landabteilung der Sowjets der Arbeitskommune verteilt. 

Die kommunistische Partei hat in Marxstadt etwa 250, 
im ganzen Gebiet 900 Mitglieder. Jede Woche findet ein 
Meeting statt. 

Gegen Abend veranstaltete der Sowjet von Marxstadt 
eine große Versammlung unter freiem Himmel. Arbeiter, 
Arbeiterinnen und alle Rotarmisten. die in Marxstadt in 
Garnison liegen. nahmen daran teil. Von einer großen Tribüne 
herunter sprachen ein englischer Genosse, ein Delegierter der 
Shop Stewards. dann ein Vertreter der deutschen Syndikalisten, 
Genosse Sturm und ıch. 

In kurzen Zügen versuchten wır den ın dıese Wolga- 
steppen verpflanzten Deutschen die gegenwärtige politische 
Situation zu veranschaulichen. Man konnte ihnen nichts Gutes 
berichten. Die Ermordung Karl Liebknechts. Rosa Luxem- 
burgs. Kurt Eisners, Gustav Landauers, Eugen Levinds, an die 
ich erinnerte, und die Nachrichten über den Sieg der Gegen- 
revolution, lösten Rufe des Abscheus und der Empörung aus. 

Begeistert sangen alle am Schluß der Versammlung die 
Verse der Internationale, zu denen die Kapelle der Rotarmisten 
die Musik machte. 

Darauf eine große Parade aller Truppen auf den großen 
freien Felde. Sie machte einen außerordentlich disziplinierten 
Eindruck. Nachts um ein Uhr fahren wır auf einem Tender 
zurück zum Schiff. 


3. Juni 1920. 
Früh 9 Uhr in Saratoff. Es. ist sehr heiß während aller 
dieser Wolga-Fahrten. Gegen Mittag allein vom Schiff in 
die Stadt. Ich treffe einen Balten, der seit 1917 in Saratoff 
lebt. War vorher in England. Er führt mich durch 


verhältnismäßig saubere Straßen dieser an Tanger erinnernden 
23 


828 E Wilhelm Herzog 


Stadt. Er erzählt, dał unter anderen viele deutsche Groß- 
kaufleute (Schmidt, Bender u. a.) enteignet und ihre Häuser 
beschlagnahmt wurden. Er führt mich in einen solchen 
»Bourjuiss-Palast wie er sagt, »den nur ein einziger bewohnt 
habe«. Jetzt spielen dort Kinder von acht bis vierzehn Jahren. 
Alle diese Paläste der Kapitalisten sind in Kinderheime 
umgewandelt. Eine sehr freundliche Lehrerin führt uns durch 
die Unterrichts- und Schlafzimmer. Ganz sauber. Kinder 
sehen wohlgenährt aus. 

Nebenan in das Haus des Volksgerichts. Keine Sıtzung. 
Vorm Eintri@ in einen sehr schönen Park treffe ich Russel 
und Mrs. Harrison. Mit ihnen auf den Markt. Der asiatisch- 
tatarısche Einfluß überall stark fühlbar. Saratoff, eine äußerst 
lebendige, dem Orient schon ganz nahe Stadt. 

Im Bolschewismus mischt sich Fanatismus der Idee. 
rücksichtsloser Wille. Wort Tat werden zu lassen, mit 
gläubiger Inbrunst. mit jüdischem Geist und kühnster Unter- 
nehmungslust. Kluger Wirklichkeitssinn mit asiatischer. ta- 
tarischer Feindschaft gegen das Europaertum. Feindschaft selbst 
gegen seine Vorzüge. seine Reinlichkeit. gegen seinen Ordnungs- 
sinn. gegen seinen Komfort, kurz gegen die westliche Zivilisation. 
Zum Teil wurzelt auch hier der Hal gegen das Bürgertum 
an sich. Er wurde Tausenden zum Evangelium. | 

Der Markt von Saratoff bietet ein sehr buntes Bild. 
Eine ganz phantastısche Welt tut sich auf: ein verwirrender 
Wechsel von Farben, zudringlicher, penetranter Gerüche, reiz- 
voller und abstoßender Figuren. Wir kauften uns zwei Gläser 
mit Kompof für je 250 Rubel. Es sah nicht übel aus und 
schmeckte irgendwie nach Ananas. Wir setzten uns auf die 
Bordschwelle eines Troſtoirs auf dem Markt und löffelten die 
Gläser leer. Mehrfach wurden wir unterbrochen von Händlern, 
die uns die Gläser mit oder ohne abzukaufen wünschten. Es 
muß ein köstlicher Anblick gewesen sein, uns so sitzen zu sehen: 
in der grellen Sonne, umgeben von schachernden Schleich- 


Russisches Notizbuch | 829 


händlern, zerlumpten Männern, mit falschen Edelsteinen heraus- 
geputzten Frauen und Mädchen und entsetzlich schmutzigen 
Kindern. Sie boten alles feil, was man sich nur wünschen 
konnte. Stoffe. Schuhe. Blusen. Kleider. Silberzeug. Schmuck- 
stücke. Kopftücher, Shawls, Spitzen, Bänder, Blumen, Bücher. 
Bilder. Noten, Nippes. Schnickschnack und allen Kitsch der 
letzten Jahrzebnte. Darunter zuweilen ein wertvolles ‘Stück. 
An Lebensmitteln kann man kaufen: Milch, Bufer, Hühner, 
Fische, Käse, Brot, vom blondesten, das wır ın Deutschland nie 
zu sehen bekommen, und ganz helles Weizenmehl. Selbst Seife 
ist vorhanden. Halbwüchsige Buben bieten irgendwo gestohlene 
Zigareſten feil und legen dadurch ihren Grundstock zu einem 
Millionenvermögen ın Sowjet-Rubelscheinen. Gegen dieses Speku- 
lantentum ist selbst die Außerordentliche Kommission machtlos. 

Abends 8 Uhr zu einem Meeting ins Sowjethaus. Großes 
vierrangiges Theater. Nicht ohne verblichenen Glanz. Auf 
der Bühne eine große Kapelle, die die Internationale into- 
niert. Dann die üblichen Begrüßungsreden. Als erster von 
den englischen Delegierten spricht Skinner, ein alter Gewerk- 
schaftsbonze. der sicherlich mehr vom Whisky, als vom 
Kommunismus versteht; ein Legien drien Ranges. Das gute, 
abnungslose Proletariat von Saratoff — keine Idee mit diesem 
Manne verbindend — begrüßt ihn mit einem zehnminutigen 
Beifallsjubel. Begeisterung ist fast immer ein Miſcverständnis. 

Illusionen werden wachgerufen. Die Enttäuschung der 
revolutionären Arbeiter über diese Trade Unions Beamten kann 
furchtbar sein. Aber warum klärt niemand die russische Ar- 
beiterschaft auf. Es erscheint mir falsch, eie im Glauben zu 
lassen. diese Engländer seien Kommunisten oder Revolutionäre. 
Später wırd man über Verrat der englischen Arbeiterklasse 
jammern, wo heute bereits erkennbar ist, welch opportunistisch- 
reformistisch-scheidemännischen Geistes diese Führer sind, die 
sich in Sowjetrußland als revolutionäre Helden vorkommen, 
während sie in London wohlgeachtete Bürger sind. 


830 Wilhelm Herzog 


— ——— ³ —— m m 


4. Juni 1920. 


Nachts 12 Uhr von Saratoff mit der Bahn zurück nach 
Moskau. 

Vorurteile eines Europäers in Sowjetrufland. Bertrand 
Russell empfindet sie sehr stark. Seine Abneigung gegen jeden 
Militarismus steigert sich noch. Den Mangel an Organisation 
des täglichen Lebens. die geringe Fähigkeit disponieren zu 
können, das Ungezügelte, Zeit- und Maflose, das Extreme sieht 
er als asıatısch-tatarısch an im Gegensatz zur Zivilisation des 
Westens. Wir werden diese bürgerliche Zivilisation aber 
vielleicht von Grund aus zerstören müssen, wollen wir alle 
ihre Entartungen beseitigen. Mir scheint, auch er geht ı in seinem 
Urteil von Beobachtungen aus, die er an einzelnen Dingen 
und Personen machte, deren unangenehme und widerwärtige 
Eigenschaften noch in der bürgerlichen Gesellschaft wurzeln. 
Es ist der Abfall des Zersetzungsprozesses, in dem sich die 
Gesellschaft von heute befindet. Die alte »Kulture stirbt; eine 
neue hat sich noch nicht bilden können. Nur ganz schüchterne 
Ansätze sind vorhanden. Und viele der Neuerer haben sich 
von der Erbschaft der alten Kultur noch nicht frei machen 
können. Zu wenige sind noch mit dem wahren Geist des 
Kommunismus erfüllt! Kommunismus, Errichtung einer neuen 
Gemeinschaft. die Erneuerung der Welt ist nicht möglich 
ohne vorherige Reinigung, Läuterung der einzelnen Menschen. 
So denken die ethischen Kommunisten, ohne die aus der 
materialistischen Geschichtsauffassung dagegen sprechenden Argu- 
mente zu berücksichtigen. 

Der allzugroße Beamtenstaat der städtischen, ländlichen 
und Gouvernementssowjets erzeugt eine neue Bürokratie, die 
nıcht weniger schwerfällig. nicht weniger pedantısch, nıcht 
weniger egoistisch, nicht weniger engherzig. nicht weniger an- 
maßend arbeitet. wie die alte. Nichts Verwunderliches. Denn 
wie sollten sich die Menschen in dieser kurzen Übergangs- 
periode verändert haben? Nur bei Einzelnen hat sich zweifellos 


Russisches Notizbuch 831 


eine innere Umwandlung vollzogen. Die wirkliche Erneuerung 
des kleinen, alltäglichen Lebens wırd jedoch erst von der 
jungen Generation kommen ım Kampf gegen die alte, die 
auf allen Gebieten belastet ist mit der Erbschaft der bürger- 
lichen Gesellschaft: mit allen Übeln ihrer Korruption, der 
Trägheit und Unhöflichkeit ihrer Herzen, mit ihren Gesinnungen, 
ihrer Klatschsucht, ja mit ihren Vorurteilen auf moralischem, 
erotischem. sexuellem Gebiet. Die jetzt heranwachsende. empor- 
kommende Generation von Jungen und Mädchen, befreit von 
den Fesseln der bürgerlichen Schule, nıcht mehr unter dem 
Einfluß der Kirche und den konventionellen Lügen der Ge- 
sellschaft, wird sich selbst erst befähigen müssen, die neue 
Welt aufzubauen und ın allen ıhren Teilen mit dem Geiste 
des Kommunismus, der befreiten Menschheit, zu erfüllen. Von 
der jetzt herrschenden Generation ist diese völlige Umwälzung 
nicht zu erwarten, soviel einzelne Tausende revolutionärer 
"Kämpfer die alte Gesellschaft abgestoßen, ihre Tafeln zerbrochen 
haben. Sie sind es in Wahrheit allein, die der J ugend als Pioniere 
vorangehen, ihr als symbolische un der neuen Welt 
voranleuchten. 2. 8 

Ich lese wieder Lenins »Staat und R Ein großes 

Werk wire zu schreiben: Von Marx bis Lenin. Aber wer 
könnte das? Vielleicht allein Bucharin. 

| Lenin zitiert in seiner Schrift den grundlegenden Satz von 

Engels: -Der Staat ist weder die Wirklichkeit der sittlichen 

Idee. noch das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft. Wie 

Hegel behauptet, er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft 

auf bestimmter Entwickelungsstufe.« 

Ferner Engels: »In einer demokratischen Republik übt der 
Reichtum seine Macht indirekt. aber um so sicherer aus. 
(Wie auf die deutsche Stinnes-Republik gemünzt, aber vor 

sechzig J ahren schon geschrieben). 

Lenin über den - freien Volksstaat«, die landläufige 
Losung der deutschen Sozialdemokraten der siebziger J ahre: 


832 o Wilhelm Herzog 


Sie birgt, sagt er, keinerlei politischen Inhalt, abgeschen 
von der kleinbürgerlichen schwülstigen Umschreibung des 
Wesens der Demokratie, in sich. Engels ließ die Losung 
aus agitatorischen Gründen »zeitweilige gelten . Diese 
Losung. schreibt Lenin weiter. war aber opportunistisch, denn 
sie bedeutete nicht nur eine Schönfärbung der bürgerlichen 
Demokratie, sondern brachte auch eın mangelndes Verständnis 
für die sozialistische Kritik jedweden Staates zum Ausdruck. 
Wir treten unter dem Kapitalismus für die demokratische 
Republik als die für das Proletariat beste Staatsform ein. aber 
wir dürfen nicht vergessen, daß auch in der demokratischen 
bürgerlichen Republik Lohnsklaverei das Los des Volkes ist. 
Ferner: Jeder Staat ist - eine besondere Repressionsgewalt« 
gegen die unterdrückte Klasse. Es ist also jeder Staat unfrei 
und kein Volksstaat. Marx und Engels haben dies wiederholt 
ihren Parteigenossen in den siebziger Jahren auseinandergesetzt. 
Engels Ausführungen über das Absterben des Staates sind, 
wie Lenin von neuem feststellt, nicht nur gegen die Anarchisten, 
sondern ebenso gegen die Opportunisten gerichtet. »So wird 
die große revolutionäre Lehre unmerklich dem herrschenden 
Pfahlbürgertum angepaßt. Die Folgerungen gegen die Anarchisten 
wurden tausendmal wiederholt, verflacht, in die Köpfe in einer 
recht vereinfachten Form eingehämmert und erreichten eine 
Festigung des Vorurteils. Die Schlußfolgerungen gegen dıe 
Opportunisten wurden dagegen vertuscht und vergessen“. 
Engels will die ganze Staatsmaschine in ein Museum von 
Altertümern. neben das Spinnrad und die bronzene Axt. 
versetzen. Und Lenin zitiert jene großartigen Sätze von Engels, 
die wegen ihrer unumstößlichen Wahrheit und der Schärfe ihrer 
Erkenntnis ein unvergängliches Vermächtnis bleiben werden. 
Das Vermächtnis eines Propheten der Weltrevolution! Ich 
kann mich nicht enthalten, diese Worte Engels hierher- 
zusetzen. So oft man sie liest, immer wieder erscheinen sie 
einem als die Quintessenz aller revolutionären Theorie: 


Russisches Notizbuch 833 


„Der Staat ist also nicht von Ewigkeit her. Es hat Gesell- 
schaften gegeben, die ohne ihn fertig wurden, die von Staat 
und Staatsgewalt keine Ahnung haften. Auf einer bestimmten 
Stufe der ökonomischen Entwicklung, die mit Spaltung der 
Gesellschaft ın Klassen notwendig verbunden war, wurde 
durch diese Spaltung der Staat eine Notwendigkeit. Wir 
nähern uns jetzt mit raschen Schriften einer Entwicklungsstufe 
der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur 
aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives 
Hindernis der Produktion wird. Sie werden fallen. ebenso 
unvermeidlich, wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen fällt 
unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion 
auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten 
neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin 
sie dann gehören wird: ins. Museum der Altertümer. neben 
das Spinnrad und dıe bronzene Axt. 


5. Juni 1920. 

Wir fahren durch Tambow, Koslow und sollen früh 
8 Uhr in Moskau sein. Also von Saratoff bis Moskau in 
32 Stunden. Bädeker nennt 1912 als Reisezeit für diese Strecke 
21 Stunden. Nach sechsjährigem Krieg und völliger Verwüstung 
der Wirtschaft des Landes — eine sehr beachtenswerte Leistung. 
Der Fahrpreis betrug 1912 nach Bädeker 19 Rubel. 

Keine Uhr auf den Bahnhöfen, die wir passieren, geht. 
Oberflächliche Europäer un] mit ıhrem Urteil Leichtfertige 
bekommen Veranlassung. Kritik an einer solchen Schlamperei. 
wie überhaupt an dem Fehlen jeder „Ordnung“. zu üben. Die 
kurzsichtigen Toren sollten wissen, daß alle Materialien, auch 
die kleinsten Instrumente, fehlen, die zur Reparatur notwendig 
wären. 

In der Nacht Gespräch mit Losowsky, der mitwirkt, den 
englischen Delegierten Williams. den Vertreter der Transport- 


arbeiter, ein wenig zu »interviewen«. Eine englische Revolution, 


834 Wilhelm Herzog 


äußert Williams, ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Sie sei 
abhängig von der europäischen Entwicklung und den ökonomischen 
Krisen ın England. Ich fragte: sind die Arbeitermassen radikaler 
als die Führer der Delegation? Antwort: die Führer werden 
nur von einer kleinen Schicht von Funktionären gewählt. Die 
große Mehrzahl, die Masse sei indifferent. lange nicht so radikal 
als die Führer (?). Einen Metallarbeiterverband gibt es in England 
nicht. Er zerfällt in 70 bis 80 Einzelgewerkschaften. (Gießer, 
Messing-. Kupfer- Schmiede- Arbeiter usw.) 


Über die Gewinnung und Beförderung von Naphtha 
aus Astrachan und Nishnij-Nowgorod empfingen wir auf 
Grund einer Unterredung mit Swerdlow, dem Stellvertreter 
Krassıns, des Kommissars für Verkehrsmittel, folgende Angaben: 

In diesem Jahre wurden bereits 400 000 Pud abgeliefert. 
Man erwartet, daß monatlich 30 Millionen Pud Naphtha für 
ganz Rußland geliefert werden können, auf marıtımem Wege. 

Von Benzin während der ganzen Saison (fünf Monate): 
8%, Millionen Pud. 

Von Naphtha für die Saison (Mie April bis September) 
120 Millionen Pud. 1907 (die letzte Statistik) warde an 
Naphtha in dem gleichen Zeitraum (Mitte April bis September) 
253 Millionen Pud abgeliefert. 

Wir haben zur Verfügung, erklärt Swerdlow, für die 
Wolga 104 Millionen Pud Tonnage. Spezial-Dampfschiffe 
für Naphtha haben 50. Millionen Pud Tonnage. Das übrige 
an Tonnage wird verwendet für Ladungen von Baumwolle 
(aus Turkestan), Holz und Getreide aus den W olgaländern. 

20% von den jetzt nicht brauchbaren Schiffen werden 
in kurzer Zeit repariert und verwendbar sein. 

Die Tonnage der einzelnen Wolgaschiffe schwankt zwischen 
10000 bıs 650 000 Pud. 

Losowsky rät mır, wenn. wir nach Moskau zurückgekehrt 
sind, mich mit dem Zentralbüro für Statistik (Zentralnoje 


Russisches Notizbuch 835 


Statistischeskoje Upravlenie) mit dem Kameraden Popow in 
Verbindung zu setzen. Dort würde ich die genauen Daten für 
die Gewinnung der wichtigsten Produkte auf Grund der 
Statistiken 1913 und 1919 erhalten. | 
Ich will mich bemühen, diese Ziffern noch zu erhalten. 
Im Gespräch mit Losowsky ın seinem Coupe: er erzählt, 
daß der Menschewik Zeretelli, früheres Mitglied des Kabınefts 
Kerenski, jetzt Minister in Grusien (Georgien) ist. Er war 
in Paris mit Clemenceau zusammen. 
Vor kurzem wurde in Baku die Sowjetrepublik ausgerufen ! 
Pünktlich um 8 Uhr morgens treffen wir in Moskau ein. 
Müssen aber bis 11 Uhr im Zuge warten. Keine Autos. 
Unterdessen Gespräch mit dem deutschen Genossen Sturm 
und dem englischen Genossen Tanner über die syndikalistische 
Bewegung in England. Die Shop Stewards sind für »direkte 
industrielle Aktion. Antiparlamentarier. Sie sind eine große 
Macht geworden. Etwa 500000 Arbeiter wählen Shop 
Stewards. 


« « 
k 


Mittags 722 Uhr schickt mir Radek sein Auto, das mich 
in die III. Internationale fährt. Er räumt, ordnet Briefe. 
Manuskripte. sortiert Bücher. Zeitschriften und. Zeitungen 
schimpft auf die Hilfskräfte. Bibliothek der III. Internationale 
soll. endlich eingerichtet werden. Spät nachmittag mit Radek 
zusammen ins Delovoi Dvor. Mit dem amerikanischen Genossen 
Bilan Gespräch über den Kommunismus in Amerika. Die 
Kommunisten sind — nach den neuesten Meldungen aus 
Amerika — wieder für legal erklärt. 

Abends um 7 Uhr mit Radek, seiner Frau und ihrer 
Freundin in seine Sommer wohnung nach Tarassowka gefahren. 
Das ist ein kleines Dorf mit einer Reihe bürgerlicher Landhäuser, 
schön gelegen inmiſten großer Gärten. Sehr verschieden 
eingerichtet, manche äußerst einfach, wie bei uns auf dem Lande, 
gute Bauernhäuser, andere wieder nach westeuropäischem 


834 Wilhelm Herzog 


äußert Williams, ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Sie sei 
abhängig von der europäischen Entwicklung und den ökonomischen 
Krisen ın England. Ich fragte: sind die Arbeitermassen radikaler 
als die Führer der Delegation? Antwort: die Führer werden 
nur von einer kleinen Schicht von Funktionären gewählt. Die 
große Mehrzahl, die Masse sei indifferent, lange nicht so radıkal 
als die Führer (?). Einen Metallarbeiterverband gibt es in England 
nicht. Er zerfällt in 70 bis 80 Einzelgewerkschaften. (Gießer, 
Messing-. Kupfer-. Schmiede- Arbeiter usw.) 


Uber die Gewinnung und Beförderung von Naphtha 
aus Astrachan und Nishnij- Nowgorod empfingen wir auf 
Grund einer Unterredung mit Swerdlow. dem Stellvertreter 
Krassins, des Kommissars für Verkehrsmittel, folgende Angaben: 

In diesem Jahre wurden bereits 400 000 Pud abgeliefert. 
Man erwartet, daß monatlich 30 Millionen Pud Naphtha für 
ganz Rußland geliefert werden können, auf maritimem Wege. 

Von Benzin während der ganzen Saison (fünf Monate): 
81% Millionen Pud. 

Von Naphtha für dıe Saison (Mitte Aprıl bis September) 
120 Millionen Pud. 1907 (die letzte Statistik) wurde an 
Naphtha in dem gleichen Zeitraum (Mifte April bis September) 
253 Millionen Pud abgeliefert. l 

Wir haben zur Verfügung., erklärt Swerdlow, für die 
Wolga 104 Millionen Pud Tonnage. Spezial- Dampfschiffe 
für Naphtha haben 50. Millionen Pud Tonnage. Das übrige 
an Tonnage wird verwendet für Ladungen von Baumwolle 
(aus Turkestan), Holz und Getreide aus den W olgaländern. 

20% von den jetzt nıcht brauchbaren Schiffen werden 
in kurzer Zeit repariert und verwendbar sein. 

Die Tonnage der einzelnen Wolgaschiffe schwankt zwischen 
10000 bıs 650 000 Pud. 

Losowsky rät mir, wenn. wir nach Moskau zurückgekehrt 
sind, mich mit dem Zentralbüro für Statıstik (Zentralnoje 


Russisches Notizbuch 835 


Statistischeskoje Upravlenie) mit dem Kameraden Popow in 
Verbindung zu setzen. Dort würde ich die genauen Daten für 
die Gewinnung der wichtigsten Produkte auf Grund der 
Statistiken 1913 und 1919 erhalten. 

Ich will mich bemühen, diese Ziffern noch zu erhalten. 

Im Gespräch mit Losowsky in seinem Coupé: er erzählt, 
daß der Menschewik Zeretelli, früheres Mitglied des Kabinetts 
Kerenski, jetzt Minister in Grusien (Georgien) ist. Er war 
in Paris mit Clemenceau zusammen. 

Vor kurzem wurde in Baku die Sowjetrepublik ausgerufen 

Pünktlich um 8 Uhr morgens treffen wir in Moskau ein. 
Müssen aber bis 11 Uhr im Zuge warten. Keine Autos. 
Unterdessen Gespräch mit dem deutschen Genossen Sturm 
und dem englischen Genossen Tanner über die syndikalistische 
Bewegung in England. Die Shop Stewards sind für - direkte 
industrielle Aktion«, Antiparlamentarier. Sie sind eine große 
Macht geworden. Etwa 500000 Arbeiter wählen Shop 
Stewards. 


+ * 
* 


Mittags 132 Uhr schickt mir Radek sein Auto, das mich 
in die III. Internationale fahrt. Er räumt, ordnet Briefe. 
Manuskripte, sortiert Bücher. Zeitschriften und. Zeitungen 
schimpft auf die Hilfskräfte. Bibliothek der IIL Internationale 
soll endlich eingerichtet werden. Spät nachmittag mit Radek 
zusammen ins Delovoi Dvor. Mit dem amerikanischen Genossen 
Bilan Gespräch über den Kommunismus in Amerika. Die 
Kommunisten sind — nach den neuesten Meldungen aus 
Amerika — wieder für legal erklärt. 

Abends um 7 Uhr mit Radek, seiner Frau und ihrer 
Freundin in seine Sommerwohnung nach Tarassowka gefahren. 
Das ıst ein kleines Dorf mit einer Reihe bürgerlicher Landhäuser. 
schön gelegen inmiften großer Gärten. Sehr verschieden 
eingerichtet, manche äußerst einfach, wie bei uns auf dem Lande, 
gute Bauernhäuser, andere wieder nach westeuropäischem 


834 Wilhelm Herzog 


äußert Williams, ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Sie sei 
abhängig von der europäischen Entwicklung und den ökonomischen 
Krisen in England. Ich fragte: sind die Arbeitermassen radikaler 
als dıe Führer der Delegation? Antwort: die Führer werden 
nur von einer kleinen Schicht von Funktionären gewählt. Die 
große Mehrzahl, die Masse sei indifferent., lange nicht so radikal 
als die Führer (?). Einen Metallarbeiterverband gibt es in England 
nicht. Er zerfällt in 70 bis 80 Einzelgewerkschaften. (Gießer, 
Messing-, Kupfer-. Schmiede-Arbeiter usw.) 


Über die Gewinnung und Beförderung von Naphtha 
aus Astrachan und Nishnij- Nowgorod empfingen wir auf 
Grund einer Unterredung mit Swerdlow, dem Stellvertreter 
Krassıns, des Kommissars für Verkehrsmittel, folgende Angaben: 

In diesem Jahre wurden bereits 400 000 Pud abgeliefert. 
Man erwartet, daß monatlich 30 Millionen Pud Naphtha für 
ganz Rußland geliefert werden können, auf maritimem Wege. 

Von Benzin während der ganzen Saison (fünf Monate): 
81, Millionen Pud. 

Von Naphtha für die Saison (Mitte April bis September) 
120 Millionen Pud. 1907 (die letzte Statistik) wurde an 
Naphtha in dem gleichen Zeitraum (Mitte April bis September) 
253 Millionen Pud abgeliefert. | 

Wir haben zur Verfügung. erklärt Swerdlow. für die 
Wolga 104 Millionen Pud Tonnage. Spezial-Dampfschiffe 
für Naphtha haben 50. Millionen Pud Tonnage. Das übrige 
an Tonnage wird verwendet für Ladungen von Baumwolle 
(aus Turkestan), Holz und Getreide aus den W olgaländern. 

20% von den jetzt nicht brauchbaren Schiffen werden 
in kurzer Zeit repariert und verwendbar sein. 

Die Tonnage der einzelnen Wolgaschiffe schwankt zwischen 
10000 bis 650 000 Pud. 

Losowsky rät mır, wenn. wir nach Moskau zurückgekehrt 
sind, mich mit dem Zentralbüro für Statistik (Zentralnoje 


Russisches Notizbuch 835 


Statistischeskoje Upravlenie) mit dem Kameraden Popow in 
Verbindung zu setzen. Dort würde ıch dıe genauen Daten für 
die Gewinnung der wichtigsten Produkte auf Grund der 
Statistiken 1913 und 1919 erhalten. | 
Ich will mich bemühen, diese Ziffern noch zu erhalten. 
Im Gespräch mit Losowsky in seinem Coupé: er erzählt, 
daß der Menschewik Zeretelli, früheres Mitglied des Kabinefts 
Kerenski, jetzt Minister in Grusien (Georgien) ist. Er war 
in Paris mit Clemenceau zusammen. 
Vor kurzem wurde in Baku die Sowjetrepublik ausgerufen ! 
Pünktlich um 8 Uhr morgens treffen wir in Moskau ein. 
Müssen aber bis 11 Uhr im Zuge warten. Keine Autos. 
Unterdessen Gespräch mit dem deutschen Genossen Sturm 
und dem englischen Genossen Tanner über die syndikalistische 
Bewegung in England. Die Shop Stewards sind für, direkte 
industrielle Aktıon«, Antiparlamentarier. Sie sind eine große 
Macht geworden. Etwa 500000 Arbeiter wählen Shop 
Stewards. 


* * 
* 


Mittags 7722 Uhr schickt mir Radek sein Auto, das mich 
in die III. Internationale fährt. Er räumt, ordnet Briefe. 
Manuskripte, sortiert Bücher, Zeitschriften und. Zeitungen 
schimpft auf die Hilfskräfte. Bibliothek der IIL Internationale 
soll endlich eingerichtet werden. Spät nachmittag mit Radek 
zusammen ins Delovoi Dvor. Mit dem amerikanischen Genossen 
Bilan Gespräch über den Kommunismus in Amerika. Die 
Kommunisten sind — nach den neuesten Meldungen aus 
Amerika — wieder für legal erklärt. 

Abends um 7 Uhr mit Radek, seiner Frau und ihrer 
Freundin in seine Sommerwohnung nach Tarassowka gefahren. 
Das ıst ein kleines Dorf mit einer Reihe bürgerlicher Landhäuser, 
schön gelegen inmiſten großer Gärten. Sehr verschieden 
eingerichtet, manche äußerst einfach, wie bei uns auf dem Lande, 
gute Bauernhäuser, andere wieder nach westeuropäischem 


836 Wilhelm Herzog 


Geschmack oder westeuropäischer Geschmacklosigkeit, in eınem 
Gemisch von alten wertvollen Möbeln, sehr schönem alten 
Porzellan und weniger schönen Gegenständen aus dem 19. und 
20. J ahrhundert. 

Am Samstagabend lange mit Radek unterhalten. Über 
Lenin, Trotzki. Bucharin, Rykow. Altvater. einem zaristischen 
Admiral, der sich der kommunistischen Partei zur Verfügung 
gestellt hate. — Uber die gegenwärtigen und künftigen Auf- 
gaben der III. Internationale. Sie kann, sie muß das auswärtige 
Amt der Welt werden. Vertreter in allen Ländern, Radek 
sprüht vor Einfällen. Sein Wesentlichstes ist jedoch: sein 
reicher innerer Humor. Er sieht das Ernste und Tragischste 
noch von der heiteren Seite. Ein genialer Pampheletist im 
Gespräch, wie im Schreiben. Er ist nicht nur witzig. sondern 
vor allem teuflisch klug. praktisch. Tatsachen liebend. Feind 
dem unfruchtbar Geistigen. Utopischen. Intellektuellen. Welt- 
politiker. jesuitisch begabt. Und bei allen Ausschweifungen 
des Geistes, ein Mensch von selbstverständlicher, oft rührender 
Güte. Als Politiker ist Macchiavell sein Liebling und Vorbild. 

Wir kommen im Laufe der Gespräche immer wieder 
auf die Persönlichkeit Lenins zurück. Und sein Wesen setzt 
sich mir — von ganz verschiedenen Temperamenten gesehen 
und dargestellt — so zusammen: 

Ein ganz in sich geschlossener Mensch; Bauer, in seiner Kühle, 
in seiner nüchternen Überlegung, was der Augenblick erfordert, 
in seiner Schlauheit. Ein unermüdlicher Arbeiter. Und als 
solcher erforschte er alle ihm nur irgendwie zugänglichen Ge- 
biete des ökonomischen, sozialen und politischen Lebens. Un- 
beirrbar; Lob und Tadel beeinflussen ihn kaum. Er ist gegen 
alles Komplizierte, Verstiegene im Denken und im Ausdruck. 
Klarheit des Gedankens und Allgemeinverständlichkeit der 
Sprache sind ıhm die ersten Gebote für den revolutionären 
Agitator in Wort und Schrift. Er sieht die Dinge rund. 
Und er geht bei allen Streitfragen sofort auf den Kern des 


Russisches Notizbuch 837 


Problems los. Er greift, er packt es an und löst seinen Kern 
wie aus einer Nufschale heraus. | 

Es gibt zweifellos eine ganze Reihe von Menschen, die 
ebenso klug. ebenso gebildet, ebenso begabt, ebenso scharfsinnig. 
ebenso sachlich, ebenso kritisch, ebenso ehrlich, ebenso fleißig. 
ebenso revolutionär, ebenso konsequent sind wie Lenin. Aber 
was seine (sröße ausmacht, das ıst gerade die Zusammenfassung 
aller dieser ungewöhnlichen Eigenschaften, die Harmonie der 
Stimmen in ihm. Daraus, scheint mir, ergibt sich seine 
Universalität. seine innere Sicherheit. seine Hilarıtas, seine 
Sophrosyne. wie die griechischen Philosophen die heitere 
Ruhe des Weisen nannten. 


* * 
* 


Am Sonntag nachmiftag fahren wir zusammen mit einem 
Freunde Radeks auf einem Boote über den spiegelglaften, 
tiefen Bach ans andere Ufer. Dort. i In einem Kleinen. geschmack- l 
vollen Landhaus treffen wir Sadoul. den in Paris unter 
der Clemenceau-Regierung zum Tode verurteilten französischen 
Kameraden, mit seiner vor zwei Tagen aus Frankreich eim- 
troffenen Frau. Der ehemalige Pariser Anwalt und spätere 
Offizier der französischen Militärmission in Moskau Jacques 
Sadoul ist ein schön gewachsener. ernster Mann von etwa 35—40 
Jahren. Man spricht englisch, russisch, französich, polnisch, deutsch. 
Und in allen Sprachen wird immer die gleiche Frage nach den 
deutschen Verhältnissen, nach der Entwicklung der deutschen 
Revolution gestellt. Alle — so verschieden an Ursprung. Kennt- 
nissen, Erfahrungen — fragen zunächst: Woran liegt das langsame 
Tempo der deutschen revolutionären Bewegung und wie lange 
wird sich die bürgerliche Gesellschaft noch halten? Man ist 
trotz allen Zeitungsnachrichten und Artikeln schlecht oder wenig 
unterrichtet über die objektiven Voraussetzungen der deutschen 
Verhältnisse. Einige wenige ausgenommen, kennen die Meisten 
selbst die Parteiverhältnisse in Deutschland nur im groben 
Umriß, 


888 Vilhelm Herzog 


7. Juni 1920. 

Montag früh — es ist 11 Uhr nach Moskauer Zeit — 
also 8 Uhr in Berlin, fahren wir vom Dorf Tarassowka 
zurück nach Moskau: Radek. seine Frau und ihre Freundin. 
die Frau eines Genossen, der Kommandant an der Front 
ist. Zuerst in den Kreml, da Radek noch die angekommenen 
englischen, französischen und deutschen Zeitungen von seiner 
W obnung in die III. Internationale mitnehmen will. 

Im Delovoi. Dvor den englischen Korrespondenten des 
Daily Herald, Young, getroffen. Guter, feingeschniſtener Kopf, 
war früher in der englischen Diplomatie. Seit einigen Jahren 
Sozialist. Etwas skeptischer Sonderling. 

Abends Borodin bei mir. Er geht wahrscheinlich nach 
dem Osten, nach Turkestan und Afghanistan, die sich immer 
erfreulicher — röter werdend — entwickeln. N 

Mit ihm spazieren gegangen. dann zu ihm in seine 
Wohnung in der Sophijskaia Nabereschnaja. In das ehemalige 
Haus eines Zuckerkönigs, namens Charitonenko. Ein mächtiger, 
dunkler Bau, mit schönen Räumen im Innern, sehr kostbar 
und nicht immer geschmacklos eingerichtet, in dem sich 
jetzt Arbeitsräume einer Abteilung des Auswärtigen Amtes 
befinden. 

Der Besitzer dieses Palastes war augenscheinlich ein 
typischer Vertreter der russischen Großbourgeoisie. Seine 
Bibliothek, die unangetastet blieb, und die ich mir ein wenig 
genauer ansah, ist die Bibliothek eines reichen Mannes in 
Europa um die Jahrhundertwende. Wenig wissenschaftliche 
Werke, kaum ein philosophisches Buch. Dafür aber alle 
Prachtwerke des 19. Jahrhunderts, russische, deutsche, fran- 
zösische, englische Ausgaben. Sehr kostbar gebunden: die 
Schriften der Enzyklopädisten. Daneben Balzac. Stendhal, 
Victor Hugo, Flaubert, George Sand, Gauthier, Beaudelaire, 
Maupassant, France, Zola. Auch .die deutschen Klassiker 
‚sind vorhanden und die populärsten Kunstbücher der letzten 


Russisches Notizbuch 839 


dreiPig J ahre, von Muthers ‚Geschichte der Malereis bis 
zu. Meier-Gräfe. 


8. J uni 1920. 

Vormiſtag Spaziergang allein durch die Stadt. Durch 
die Warwarka dem Kreml zu. Vor dem Kreml der »Krass- 
naja plostschad« (der Rote Platz) mit einer phantastischen Kirche. 
der berühmten Wassilij Blashennije (Basilius - Kathedrale), 
deren wulstige Zwiebelkuppeln jede in einer anderen Farbe er- 
strahlt. In den Kreml, durch das Sspaſlkija- Tor. Den russischen 
Adler. der auf der sehr hohen Turmspitze thront, hat man noch 
nicht herunterholen können. Zu schwierig. er dem Eingang: 
das von dem Zaren Alexei Michailovitsch gestiftete Bild des 
Erlösers. — das einstige Palladium des Kreml. Baedeker 
äußert 1912: -Alexeis Gebot, dal kein Mann bedeckten Hauptes 
durch das Tor gehen soll, wird heute noch streng befolgt«. 
Das hat sich geändert. Jetzt rasen die Autos der im Kreml 
wohnenden Volkskommissare durch das heilige Tor und die 
früheren »Schnorrer und Verschwörere und jetzigen Reprä- 
sentanten des russischen Volkes ziehen ihre Mützen höchstens 
vor.den am Tore stehenden Rotarmisten, die strenge Wache 
halten. Niemand darf ohne Ausweis, der nur sehr schwer 
zu bekommen ist, dieses Tor passieren. Vom Kreml herunter 
hat man eine zauberhafte Aussicht auf Moskau: am Denkmal 
eines Heruntergeschlagenen. Es stand hier — wenn ich nicht 
irre — ein mächtiges Bronzestandbild Alexanders des Zweiten. 
Die Revolution hat ihn nachträglich geköpft. Es ist nur der 
Sockel übriggeblieben. Am Großen Palais vorbei, einem sehr 
festlichen, schönen Gebäude aus den vierziger Jahren des vorigen 
Jahrhunderts. 

Nachmittags ging ich zu dem Maler Kandinsky, den ich 
einmal in München flüchtig kennen gelernt hate. Er ist seit 
1914 wieder in Moskau und jetzt Vorsteher einer Sektion 
im Kommissariat für Volksbildung: der Museumsleitung. Er 


840 Wilhelm Herzog 


ıst ın der Entwicklung seiner Kunst immer weiter vorge- 
sehriften. Er malt immer neue und immer schönere Symphonien. 
deren Fremdartigkeit nicht nur die Bürger verblüfft. Und 
doch liegt grade diesem Künstler sicherlich nıchts ferner als 
der Bluff. 

Er ging und sähe nur A seinen Weg. den er 
als visıonärer Künstler einmal erschaut hat. Ich habe mich 
in den letzten Jahren zu wenig mit den Werken der jüngsten 
Malerei beschäftigt und ich spüre mein fernes Verhältnis zu 
ihnen mit großem Bedauern. Aber nıcht zu verkennen bleibt 
der Ernst und die Leidenschaft eines Künstlers wie Kandinsky 
für den, der ohne Voreingenommenheit an seine Bilder herantriſt 
und als stiller Beschauer ohne traditionelle Vorstellungen seine 
Farbenharmonien auf sich wirken läßt. 

Er klagte mir sehr über die Not des Lebens. Sein Ge- 
halt betrage monatlich 4800 Rubel. Davon könne man nicht 
leben. Es reiche etwa für zwei bis drei Tage. Seine Schüler 
häften vorigen Winter buchstäblich gehungert und gefroren. 
Auch jetzt seı das Leben, obwohl eın wenig besser geworden, 
noch sehr schwer. Verkauf von Kleidungsstücken helfe‘ über 
das Schlimmste hinweg. Jedoch streng verboten. Wird be- 
straft. Die Mutter seiner Frau, keine Kapitalistin. arbeite 
jetzt auch in einem Amt. Sie bekommt monatlich 3000 
Rubel Es ist natürlich unmöglich für sie, davon zu existieren. 

Hauptursachen — der Krieg. ö 

Für ein Bild bekommt er 20 000 Rubel. Das ist an- 
gesichts der Lebensmiſtelpreise — 1 Pfund Brot kostet 550 
Rubel. 1 Pfund Salz 1300 Rubel. 1 Pfund Kartoffeln 200 
Rubel — so gut wie nichts. 

Chagall arbeitet in Witebsk. Auch er ist Leiter einer 
Schule. Er kommt in den nächsten Tagen nach Moskau zu- 
rück. Kandinsky empfiehlt mir vor allem ein Museum an- 
zusehen, das die herrlichsten russischen Heiligenbilder enthalten 
soll. Und das expressionistische Museum! 


Russisches Notizbuch 841 


9. Juni 1920. 

Lenin hat eine neue Arbeit geschrieben: Der Radıkalıs- 
mus, — die Kinderkrankheit des Kommunismuse. Ich erhielt 
das Manuskript in Schreibmaschinenabschrift vor einigen Tagen 
und las es vergangene Nacht zu Ende. Lenins Auseinander- 
setzung mit den sogenannten slinkene Kommunisten entbehrt 
nicht der Schärfe. Sie ist wieder wie alle seine Arbeiten 
äußerst klar und anschaulich geschrieben. Die Argumente sind 
nicht neu, aber geschickt und übersichtlich zusammengestellt. 
Zweifellos wird diese Schrift Lenins großes Aufsehen erregen. 
Und sie wird zum erstenmal eine heftige Polemik innerhalb 
der kommunistischen Parteien selbst hervorrufen. Trotz ein- 
zelnen Einwänden. die dagegen zu machen wären, scheint mir 
Lenin ın seiner Grundauffassung vom Parlamentarismus und 
Antiparlamentarısmus, von den Gewerkschaften und von dem 
notwendigen Zentralismus in Partei und Verwaltung durchaus 
im Recht für die nächste Zukunft. Und nur in diesem 
Sinne d. h. im Hinblick auf die vorrevolutionäre Periode, 
auf die Zeit vor dem Übergang zur Diktatur, will er ver- 
standen sein. 

Mittags 12 Uhr zu Radek in die III. Internationale. Er 
teilt mir die ersten Ergebnisse der Reichstagswahlen mit. Sie 
brachten den Scheidemännern und Demokraten eine schwere 
Niederlage und der U. S. P. den zu erwartenden Gewinn. 


« * 
* 


Eine traurige Kunde, die mich tagelang niederdrückte: 
Hans Paasche — auch er — von Neichswehr- Offizieren 
erschossen. Auf seinem Gut. Ich dachte der Stunden, die er 
bei mir war. Dieser sonderbare, knabenhafte Schwärmer, dieser 
tapfere Kämpfer, der unbeirrbar blieb. War er nicht ge- 
zeichnet? Und mußte er nicht dem Schicksal die von ihm so 
geliebten und bewunderten größeren Pionieren, Rosa Luxem- 
burg, Karl Liebknecht, folgen? Sein Feld war kleiner als das 
ihre. Und er selbst war von viel kleinerem Format. Aber 


842 Wilhelm Herzog 


in der Ehrlichkeit seiner Überzeugung, in der Leidenschaft 
seines Willens war dieser edle -Sohn eines jämmerlichen 
Vaters, war dieser aus einer Bourgeoisfamilie entartete Rebell 
ihnen ebenbürtig. 

Nachmittags 5 Uhr fuhr ich — nach einer Verabredung 
mit Trotzkis Stellvertreter, Sklianski — in den „Revwoen- 
sowjet. Das ist die Abkürzung für Revoluzionnij Woennij 
Sowjet = Revolutionärer Kriegsrat. Das Trotzkische 
Kommissariat unterscheidet eich wesentlich von allen anderen 
Kommissariaten. Schon dem ersten flüchtigen Blick fällt die 
überraschende Ordnung, Disziplin und Ruhe auf. Und 
nicht zuletzt die Präzision, mit der überall, in allen Ab- 
teilungen gearbeitet wird. Nichts von altrussischer Schlam- 
perei, nichts von revolutionärer - Bohème, kein laisser faire. 
laisser aller, kein »nıtschewo« sondern ein zielbewußtes Ar- 
beiten, das den Wert von Zeit und die Ausnutzbarkeit der 
zur Verfügung stehenden Kräfte und Mittel richtig einzu- 
schätzen weil. Ein sehr wohltuender Eindruck. Hier klappt 
alles:; hier herrscht eine straffe revolutionäre Disziplin. die 
der rein militärischen äußerlich verdammt ähnlich sieht, deren 
Geist jedoch — ihr schärfster Antipode — Menschen, und 
nieht uniformierte Puppen oder Sklaven, belebt. Hier. in 
Trotzkis Reich. wird eine im geheimen schüchtern gemachte 
Feststellung plötzlich strahlende Wirklichkeit: Pünktlichkeit. 
Widerwille gegen Schmutz und Bummelei. Ordnungeliebe 
sind nichts Gegenrevolutionäires. Und man wünscht nur. daß 
es diesem energischen Organisator gelingen möge. den von mir 
schlampigen Revolutionären gegenüber oft zitierten Titel 
seiner Schrift: Ordnung und Disziplin werden die Sowjet- 
republik rettene! auch auf anderen Gebieten in die Tat um- 
zusetzen. Nur der neu entflammte Krieg hat ihn bisher 
daran gehindert. Seine Tatkraft beschränkte sich nicht auf 
das Militärwesen. Und da er erkannte, welcher Teil des 
staatlichen Lebens zunächst am dringlichsten reorganisiert und 


Russisches Ne 843 


erneuert werden mußte, so konzentrierte er alle ıhm noch 
übrigbleibenden Kräfte auf die Neugestaltung des Eisenbahn- 
und Transportwesen... Er vereinigt jetzt in seiner Hand. 
richtiger in seinem Kopf, die Leitung des Kriegskommissariats 
mit dem des Kommissarıats für Eisenbahnen. Dieses letztere 
übernahm er. als Krassin von der Sowjetrepublik nach London 
geschickt wurde. Wie erfolgreich seine Tätigkeit ist. sobald 
er an einer Stelle einsetzt, verrate ein Beispiel unter hunderten: 
früher fuhr man die Strecke Moskau — Saratoff. in 39 Stunden. 
Seit kurzem braucht man nur 22 Stunden. 

Meine Unterredung mit Skliansky Trotzky ist an der 
Front — hafte das Resultat, daß ein früherer Generalstabs- 
ofhizier, jetzt Kommandeur eines Frontabschniftes beauftragt 
wurde, uns alles Wissenswerte über die Organisation des 
Kriegskommissariats mitzuteilen und zu zeigen. Ich hoffe, 
darüber an anderer Stelle ausführlicher berichten zu können. 


* * 
* 


Abends gingen wir in ein Kinderkonzert. In einem der 
Berliner Philharmonie ähnlichen Saal Moskaus. Etwa 2000 
Kinder im Alter von 4 bis 12 Jahren lauschten als auf- 
merksamstes Publikum den sehr lustigen Darbietungen auf der 
Bühne. In sehnsüchtiger Naivität hingen ihre Blicke an den 
bunten Bildern, die ihre verwunderten Augen erschauten und 
entzückten. Als Schauspieler wirkten nur Kinder mit. Man 
spielte Märchen, so dıe Fabel von der Heuschrecke und der 
Ameise nach Lafontaine. In reizenden Kostümen, sehr grotesk 
mit der typischen Begabung der Russen für alles Spielerische. 
mit ihrer natürlichen Leidenschaft zur Musik, zum Gesang und 
zum Tanz. Ein sechs- oder siebenjähriges Mädchen, eine süße 
kleine Ballerina. tanzte leicht und grazıös alleın als Goldfischehen 
unter dem großen Jubel der tausendköpfigen Kinderschar. Man 
spielte dann eine Art von Melodrama lein sehr rührendes und 
moralisches) von einer Hasenfamilie, in die durch den Wolf. 


durch den Fuchs, durch den Bär arge Beunruhigung kommt, 
4 


844 Wilhelm Herzog 


bis seich alles schließlich zum guten Ende löst, indem sie sich 
für gegenseitige Hilfe — die moralisch- revolutionäre Nutz- 
anwendung — entscheiden. Jedes Kınd bekommt an einem 
solchen Abend in der stundenlangen Pause ein Bufterbrot 
mit Käse oder Wurst, ein Glas Milch und zwei Bonbons. 


Donnerstag, den 10. Junı 1920. 

Mi@woch nachts, noch nach dem Kinderkonzert. das erst 
um 12 Uhr endete, mit dem Korrespondenten des »Daily 
Heralds Young ins Kommissariat des Auswärtigen. Die letzten 
Radios melden Siege von der polnischen Front. 

Rosenberg. einer der Sekretäre Techitscherins, gibt mir eine 
Nummer des »Petit Parisien«, in der ein Reporter. den man 
nach Rufland zugelassen hafte. nicht ohne Ungeziefernosheit 
seine Erlebnisse berichtet, bei denen man eich juckt. 

Wir erfahren die letzten Resultate der deutschen Reichs- 
tagswahlen: 110 Noske- Sozialisten: 45 Demokraten: 80 U. S. P.; 
67 Zentrum: 65 Deutschnationale: 61 Stresemänner: 5 Welfen: 
2 Kommunisten. Nichts Uberraschendes. Es entspricht ungefähr 
dem. was man erwarten konnte. 

Mittags 12 Uhr in die Ausstellung des revolutionären 
Kriegsrates. Ein Adjutant Sklianskıs, ein sehr sympathischer 
junger Otfizier. begleitet uns. Er und der Kommandeur. den 
wir gestern schon sprachen, erklären sehr anschaulich an der 
Hand von Karten und Diagrammen den Aufbau der Roten 
Armee. Es gibt neben der Roten Armee jetzt zwei Arbeits- 
armeen (im Ural und im Kaukasus), eine driſte wird in 
Archangelsk gegenwärtig gebildet, vorzüglich für Transport- 
zwecke. Getreideablieferung. Abholzung der Walder. 

Nachmiftage 4 Uhr in das Kommissariat für Volksbildung. 
Wir geraten in die Theaterabteilung. Es findet gerade eine 
Sitzung stat. Im Vorzimmer. an dessen Wänden sehr wenig 


revolutionäre Bilder. aber viel bürgerlicher Kitsch hängt. 


Russisches Notizbuch | 845 


sıtzen einige Schauspieler. An einem anderen Tisch: Arbeiter 
mit Mappen unterm Arm, Frauen mit intelligenten, ver- 
witterten Gesichtern und Sowjetangestellte. Lunatscharsky ist 
verreist, in Charkow. Wird übermorgen zurückerwartet. Sein 
Sekretär. Wengrow. stellt sich uns zur Verfügung. Er will 
uns in den nächsten Tagen alle nur gewünschten Aufklärungen 
über die Arbeit und die Gliederung des Kommissarıats geben. 


Freitag, den 11. Juni. 

Um 2 Uhr nachts, gemeinsam mit den englischen Dele- 
gierten Wallhead. Bonfield. Purcell, Skinner und den Dol- 
metschern Petrow und Feinberg, von Moskau an die polnische 
Front. Mit uns ım Zuge fährt der Oberbefehlshaber der Roten 
Armee, Kamenew. 

Wir fahren in einem sehr bequemen Waggon des früheren 
Eisenbahnpräsidenten dieser Linie. Nach sehr langsamer Fahrt 
um 6 Uhr nachmiftags Ankunft in Smolensk. Begrüßung auf 
dem Bahnhof durch Rote Truppen. Parade. Wir werden 
wıeder einmal photographiert und gefilmt. Es ist peinlich und 
es widerstrebt einem sehr. als Sehenswürdigkeit behandelt zu 
werden. Aber — es muß sein. sagt man uns. 

Nach überstandener Prozedur. kommt zu uns in den 
Wagen ein Mitglied der politischen Abteilung des revolutionären 
Kriegsrats. Später erfahre ich: er heißt Smilga, ist ein Freund 
Trotzkis und einer der tüchtigsten Propagandisten in der Roten 
Armee. Es entspinnt eich eine interessante Unterhaltung zwischen 
ihm und den englischen Delegierten. die von seiner Seite nicht 
ohne Spitzen gegen England geführt wird. In einem kurzen 
Vortrag. der der Unterhaltung vorausging. führte er ungefähr 
folgendes über die militärische und politische Situation Sowjet- 
rufßlands aus: -Der Kampf gegen die Polen ist schwieriger. 
als gegen Denikin. Koltschak. Judenitsch. Sie haben einen 
französischen Generalstab. englische Artillerie und amerikanische 
Patronen. Die englische Delegierte. Bonfield. fragt. ob die 


846 Wilhelm Herzog 


Rote Armee weiter vordringen werde, wenn dıe Polen an 
ihre Grenzen zurückgeschlagen sind. — Wallhead wirft 
dazwischen: hoffentlich bis Warschau! Der junge Offizier 
mit dem hellblonden Spitzbart und den zusammengekniffenen 
Augen. lächelt: Das ist nicht allein eine politische, sondern 
auch eine militärische Frage. 

Die Rote Armee hat gegen Polen viele einst zaristische 
Offiziere eingestellt, die sich als geeignet erwiesen. Aber sie 
hat Tausende nnd Abertausende Proletarier zu Offizieren 
gemacht. so daß in der Tat eine Armee der Arbeiterklasse 
gegenwärtig gegen die polnischen Truppen kämpft. Die über- 
große Mehrzahl: Bauern. Arbeiter, junge Offiziere. Wie 
in der großen französischen Revolution. 

So ist z. B. Kommandeur der Westfront ein junger 
Offizier von 27 Jahren, der Koltschak besiegt hat. Er heißt 
Tuchatschewsky, Sohn eines Adligen. Kommunist seit zwei 
Jahren. | 


« « 
* 


Mit Rotarmisten auf dem Bahnhof von Smolensk unter- 
halten. Fragen nach der politischen Situation in Deutschland 
und England. Einer trägt auf seiner Brust das Bild Rosa 
Luxemburgs, umgeben von einer roten Schleife. Ich frage ihn, 
ob er etwa dem Regiment Rosa Luxemburg, von dessen 
Existenz man mir erzählte, angehört, Er antwortete: »Nein, 
ich liebe eie: deshalb trage ich ihr Bild. 

Mit Autos vom Bahnhof in die Stadt gefahren. Die 
Disposition klappt wieder einmal nicht. Wir kommen in einen 
sehr wenig einladenden Raum, einen fast leeren Laden eines 
recht wenig sauberen Hauses. Man darf nie vergessen, daß 
der Widerwille gegen Schmutz nur sehr gering bei den 
meisten Russen entwickelt ist. Anzustecken fürchtet man sich 
33 Mal am Tage und in der Nacht. Die meisten waschen 
sich wenig und ungern. Wenn eie es vermeiden können, so 
tun sie es. 


Russisches Notizbuch 847 


Immer wieder stellt man etwa folgende wehmütige 
Betrachtungen an: 

Den Russen fehlt: Dissen ökonomische Verwendung 
von Zeit und Kraft, Sınn für Sauberkeit und Ordnung. 

Die Russen haben: Fanatismus, Liebe zur Idee, Willen 
zur Tat, Musik. 


Sonnabend, den 12. Juni 1920 

Am Nachmittag in ein nahe bei Smolensk gelegenes Kriegs- 
gefangenen- Lager zu den Polen. Nach einer Minute unseres 
Eintritts sind wir von Hunderten armer, zerlumpter Soldaten 
umringt. Viele polnische J uden. Alle Gefangenen berichten das 
Vorhandensein französischer Offiziere im polnischen Heere. 
Man habe deutsche Mausergewehre und französische Munition. 
Einige der Gefangenen sind schon seit mehreren Monaten in dem 
Lager. Sie klagen sehr. Sie seien ohne Arbeit. Sie wollen 
arbeiten, dann bekämen sie auch mehr zu essen. Jetzt den 
ganzen Tag nur: 1 Pfund Brot und eine Wassersuppe. 

Revolution in Polen? Bald wahrscheinlich? Solange der 
Krieg dauere. meinen sie, kaum; nach Niederlage vor dem 
Friedensschluß, sehr wahrscheinlich, manche sagen: sicher. Die 
Juden wurden von den Polen schlecht behandelt. Viele Progrome. 
Aber auch hier schlage man sie. Zurückzuführen auf irgend- 
einen untergeordneten Burschen. Das darf nicht sein. Oder 
wir geben uns selbst auf. Wir versprechen ihnen, es zu melden 
und für die Beseitigung dieses Rohlings zu sorgen. Unver- 
ständlich bleibt, warum unter ihnen keine Propaganda für den 
Eintritt in die große Armee getrieben wird. 

Smolensk. Mittags. Auf dem Bahnhof. Schmutz, Schmutz, 
Schmutz. Angst vor Ansteckung dominiert. Überall | 
Läuse, Wanzen, Ungeziefer aller Art. Auf dem Bahnhof 
liegen, an die Wand gelehnt. oder auch mifen. auf dem 
Bahnsteig. Männer, Frauen, Kinder. In Lumpen. zerfetzt. stafi 
Schuhe Lappen um die Beine und Füße. Meist schlafen sie. 


848 Wilhelm Herzog 


Oder sie ‚essen oder trınken irgendeine undefinierbare Flüssig- 
keit. Es gibt an großen Verkaufsständen Brot. Butter. Eier. 
Wurst. Gurken, Kirschen. Himbeeren zu kaufen. Uberall 
Fliegen. Insekten. Man juckt sich immerfort und der Reiz 
hygienischer Sauberkeit konnte hier noch nicht entdeckt und 
empfunden werden. Weil alles dazu Notwendige fehlt. 

Einige Lebensmittelpreise: 

1 Pfund Bufer . . 1200—1500 Rubel 
DE so y aos 0 
1 Pfund Brt . . . 150—170 — 

(Auf Karten zu festem Preise kostet ein Pfund Brot 
1.50 oder 2 Rubel.) 

Jeder Rotarmist und jeder Kriegsbeamte bekommt täglich 
1½ Pfund Brot. monatlich 4 ½ Pfund Zucker, 15 Pfund 
Fleisch oder Fisch und 7 ½ Pfund Grütze. Alles dies zu- 
sammen kostet zu festen Preisen 200 Rubel. 

Eine Schachtel Zündhölzer kostet in Smolensk 85 Rubel. 

Den nächsten Tag müssen wir bis 2 Uhr miſtags im Wagen 
verbringen. Infolge der elenden Disposition. Nutzlose Zeit- 
vergeudung. Wir sehen uns inzwischen die- Front- des Bahn- 
hofs von Smolensk an. Nachmittags findet eine große Parade 
der Smolensker Truppen statt: auf einem sehr großen, freien 
Felde vor der Stadt. Oberbefehlshaber: der junge Tucha- 
tschewsky. Sofort wird ein Meeting veranstaltet. Wir — auf 
einem Lastwagen, rings um uns eine gewaltige, enthusiastische 
Menge, umsäumt von den dichten Reihen der Roten Truppen. 
Wallhead und Purcell sprechen. Sehr revolutionär. Und die 
Übersetzung ihrer Reden löst oft stürmische Jubelrufe aus, be- 
sonders als sie die eben eingetroffene Nachricht verkünden — 
Kiew genommen. Die Polen vollständig geschlagen, — will das 
Klatschen der begeisterten Masse kein Ende nehmen. Nach 
dem Meeting marschieren alle Truppen, dıe roten Arbeiter und. 
Arbeiterinnen der verschiedenen Gewerkschaften mit ihren roten 
Fahnen an uns vorüber. Die Truppen — Intanterie, Artillerie 


Russisches Notizbuch 849 


und Kavallerie — in strammer Haltung. gut diszipliniert. machen 
einen vorzüglichen Eindruck. Während des langdauernden 
Vorbeimarsches spielt die Rote Kapelle mit großer Verve die 
Internationale. 

Tuchatschewsky — ein sehr in sich geschlossen scheinender 
junger Mann mit einem feinen Kopf und weichen, mädchen- 
haften Gesichtszügen — sehr selbstbewußt und entschieden. 
Er trägt einen, ihm vom Z. I. K. (Zentralnij Ispolnitelnij 
Komitet d. h. Zentral-Exekutiv- Komitee). geschenkten Säbel 
mit dem Bilde Karl Marx. Der Sieg von Kiew, erklärt er. 
ist durch die Kavallerie Budyonoffs errungen worden. 

Von der Parade in den Sowjet. Ein großes Meeting in 
einem sehr schönen weilen Saal, an dessen Wänden Marmor- 
tafeln mit Inschriften von Karl Marx, Friedrich Engels und 
anderen revolutionären Sozialisten. Sonne strahlt herein und 
erhellt den Saal, die Menschen. Meist junge Intellektuelle, 
Arbeiter und Arbeiterinnen. auch Menschewiki. Zunächst 
übliche Begrüßung der englischen Delegierten. Der erste 
russische Redner läßt am Schlusse seiner Ansprache neben 
der Sowjet-Republik Polen zu voreilig und optimistisch für 
die Ohren der englischen Delegierten — die Sowjet-Reputlik 
England, leben. Von den Engländern sprechen Bonfield und 
Skinner. Die Versammlung ist sehr beifallsfreudig. Der alte 
Skinner spricht witzig von den englischen Bolschewikı, wofür sie 
drüben gehalten werden. Purcell hält eine sehr radikale, mit großem 
Enthusiasmus aufgenommene Rede. Dann — auf Aufforderung 
Petrows — spreche ich. Der Ankündigung des Vorsitzenden, daß 
ich als nicht offizieller Delegierter der revolutionären deutschen 
Arbeiter sprechen werde, folgt minutenlanges Klatschen. Als 
später die Rede übersetzt wırd, erheben sich alle beı Erwähnung 
der Namen Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs, Kurt Eisners, 
Gustav Landauers, Eugen Levinds, und die Kapelle spielt den 
Trauermarsch. Eine unvergelliche, sehr ergreifende Szene. Es 
sprechen noch ein Vertreter der Rotarmisten, ein Vertreter 


850 Wilhelm Herzog 


der Jugend-Organisation der Kommunistischen Partei und ein 
sehr intelligenter Repräsentant der Menschew¾iki. Der letzte 
fühlt sich durch eine Äußerung von mir ein wenig gekränkt. 
Ich hafe gesagt, auch wir in Deutschland haben unsere 
Menschewiki; bei uns heißen sie nur anders. Der mensche- 
wistische Redner erhob Einspruch dagegen. daß ich seine 
Partei mit der der Scheidemann, David, Noske auf eine Stufe 
stellte. Der Vergleich träfe nicht zu. Ich ließ ihm am Schluß 
der Versammlung durch den russischen Dolmetscher kurz er- 
widern: er sei im Irrtum, ich würde unter den deutschen 
Menschewikı nicht nur die Scheidemänner verstehen. Und 
wenn es ıhm lieber wäre, mit Kautsky und Hilferding ver- 
glichen zu werden, und er diesen Vergleich für treffender 
hielte. so wäre es mir auch recht. 

Beim Verlassen des Saales und des Sowjethauses: großer 
Jubel der Massen. 

Vom Sowjethaus in den Generalstab, in das Hauptquartier 
der Westfront. Während die englischen Delegierten sich über 
ein soeben eingetroffenes Telegramm Radeks unterhalten, suche 
ich Tuchatschewsky auf. Er sitzt in einem miftelgroßen Raum, 
an dessen Winden riesengroße Gseneralstabskarten hängen, an 
einem Schreibtisch über eine Karte gebeugt. Er spricht einfach 
und klar über die Aussichten des Krieges gegen Polen. Er hatte 
kürzlich eine Niederlage zu verzeichnen. Er erklärt sie dadurch, 
dal infolge der frühzeitigen Bildung der Arbeitsarmee, dıe 
Rote Armee geschwächt wurde. Keine Reserven standen ihm 
zur Verfügung. Jetzt aber geht es wieder vorwärts. Man 
würde es bald merken. Der gute Anfang sei gemacht: durch 
die heute gemeldete Eroberung von Kiew. 

Um 12 Uhr nachts ins Sowjethaus. Bankett. Ansprachen. 
Dann werden revolutionäre Lieder gesungen von einem kleinen 
Chor junger Arbeiter. 

Zurück zum Bahnhof von Smolensk um 3 Uhr morgens! 
Dort in der Bahnhofshalle — der Russe kennt kein Mal 


Russisches Notizbuch 851 


an Zeit — Vorführung eines Films aus dem Kaukasus, von 
den dortigen Kämpfen mit den weilen Garden: die Führer 
der Roten, seltsame Gestalten darunter, die Verwüstung durch 
Denikin; Smilga als Leiter = revolutionär-militärıschen 
Propaganda. 


13. Juni 1920. 

Um 15,5 Uhr morgens Weiterfahrt nach Borissow. 
Einige Stunden geschlafen. Um 10 Uhr vormittags — im 
Eisenbahn waggon — erklart uns der Vorsitzende des politisch- 
militärischen Rates, Mjassnikow, die Arbeit der Propaganda in 
der Front-Armee und beim Feinde. 

Neuerdings werden Granaten, mit Literatur gefüllt, abge- 
schossen. Sie enthalten 60 bis 80 Flugblätter. die sich beim 
Niederfallen der Granate herauslösen und selbst zerstreuen. 


Sonntag vormittags. den 13. Juni 1920. 
Mjasenıkow, der Leiter der politischen Abteilung, und zu- 
gleich Mitglied des Revolutionär- Militärischen Rats, gibt uns 
eine ausführliche Darstellung über die Organistion der 
Politischen Abteilung dee Revolutionären 
Militärischen Rates der Westfront. 
Zwei Hauptaufgaben: 

L Kontrolle der Kommandeure. soweit sie nicht Kom- 
munisten sind. Kein Kommandeur kann einen Befehl 
geben. der nicht vom politischen Kommissar gegen- 
gezeichnet ist. 

Bildung von revolutionären Komitees in den er- 
oberten Gebieten, die später die Wahlen für den 
Rat vorzubereiten haben. Bis dahin haben sie allein 
die Gewalt. 

II. Kulturelle und politische Auf klärungsarbeit. Propa- 
ganda in der Roten Armee, im Kriegsgebiet und 
beim Feind. 


852 Wilhelm Herzog 


a) das Kulturelle: Schulen, Klubs, Sport, Kurse 
für Analphabeten und Mittelschüler, Universi- 
taten für die Front. Musik. Theater. 

b) Politisch- marxistische Arbeit durch Parteischulen 
(erste, zweite, dritte Stufe), Kurse für politische 
Agitatoren und Vorbildung für Kommissare. 

Propaganda. 
Im Monat Mai 1920 wurden hergestellt an Flugblättern. 
Zeitungen. Broschüren, Plakaten usw., 4 388 390 Exemplare. 
Im Monat Juni täglich: 500 000 Exemplare. 
Im Monat Mai 1920 wurden hergestellt: 
Flugblätter. 70 verschiedene. 3745600 Exemplare 


Plakate. 3 8 112000 - 
Broschüren, 24 Br 1192150 x 
Zeitschriften, 5 a 110000 s 
Postkarten, 3 = 75000 * 
Zeitungen. 27 5 153640 


Die politische Abteilung der Westfront hat Bewer 
800 Mitarbeiter an der Spitze (in Smolensk, dem Haupt- 
quartier und den einzelnen Frontabschniften). 

J ede Kompagnie, jedes Regiment, jedes Bataillon, jede Brigade, 
jede Armee hat besondere Abteilungen für kulturelle Arbeit. 

Die Kompagnie und das Regiment wählen sich selbst ihre 
Komitees. 

Für politisch-kommunistische Arbeit in diesen militärischen 
Formationen ist allein der Kommissar verantwortlich. Er ar- 
beitet jedoch mit den Komitees der Kompagnien und Re- 
gimenter zusammen. 

Diese Komitees gründen Klubs. Theater und veranstalten 
musikalische Aufführungen. Die Mitwirkenden sind Rot- 
armisten aus den einzelnen Sektionen der Armee. Außerdem 
aber organısıert die politische Abteilung der gesamten West- 
front besondere Künstlertruppen für Theater. Musik, Kino 


usw. dıe für die ganze Front spielen. 


Russisches Notizbuch 853 


Professoren der Universitäten. Lehrer, politische Agita- 
toren und Organisatoren von Klubs, Sportveranstaltungen usw. 
sendet die Politische Abteilung von Smolensk an die Front 
und in das Kriegsgebiet: zwecks Abhaltung von Vorlesungen 
und Kursen. , 

Die politische Arbeit in der Armee und in dem Kriegs- 
gebiet wird durch Mitglieder der R. K. P. durchgeführt. 

Alle Kommissare in der Armee sınd Kommunisten. 

Unter den Kommandeuren gibt es viele Nichtkommunisten. 

So ıst S. Kamenew, der Oberbefehlshaber der gesamten 
Roten Armee, keın Kommunist. Er war ein alter zaristischer 
Regimentskommandeur. Ihm zur Seite als Kommissar steht 
Kurski, einer der Führer der R. K. P. früherer Volks- 
kommissar für Justız. ` 

Tuchatschewski, Kommandeur der Westfront, ist Kommu- 
nist. Er hat keinen Kommissar neben sich, wird aber von dem 
Revolutionären-Militärischen Rat, der nur aus Kommunisten 
besteht, kontrolliert. 

Die Disziplin in der Armee. 

Eine äuferliche Disziplin existiert nicht. Grußpflicht be- 
steht nicht. Nur im Dienst. Aber die innerliche Disziplin ist 
viel stärker als in der früheren zarıstischen Armee. 

Genosse Mjassnıkow erzählt, daß er auch ın der alten 
Armee gedient habe. Er kennt also die Disziplin von beiden. 
In der zaristischen Armee, äußert er, wurden gegen Offiziere 
nur selten Todesurteile vollstreckt. In der Roten Armee (haupt- 
sächlich an der Front) sehr viele. Kommandeure und Kommissare, 
die bei Durchführung ihrer militärischen Aufgaben Verbrechen 
begehen, werden schwer bestraft und auch oft zam Tode verurteilt. 

Mjassnıkow, in seiner Darstellung fortfahrend, bemerkt: 
die Deutschen haben vergiftete Gase erfunden. Die Rote 
Armee versendet vergiftete · Propaganda- Granaten. Es ist eine 
ganz gewöhnliche Granate, die bei der Explosion Flugblätter 
in polnischer Sprache verbreitet. 


854 Wilhelm Herzog 


Die Zentralleitung. deren offizieller Titel lautet »Revo- 
lutionärer Militärischer Rat der Republike besteht aus sechs 
Mitgliedern. Ihr Präsident: Trotzki. Mitglieder: Rykow, 
Smilga, Stalin, Kurski, Kamenew. 

Der Chef des politischen Departements bei dem Revo- 
lutionär-Miliärischen Rate der Republik ist Smilga. 

Jeder Revolutionär-Militärische Rat hat seine politische 
Abteilung. Das Schema ist etwa folgendes: 


Zentrale . P. A. 
Front . P. A. 
Armee P. A. 
Division P. A. 
Bataillon P. A. 
Regiment | P. A. 


* « 
* 


Mittags um 2 Uhr halten wir 17 Werst vor Borrissow. 
Weiterfahren dürfen wir nicht. Schon Kriegsgebiet. Wir 
verlassen den Zug und fahren mit Autos weiter bis kurz vor 
Borissow. Zum Regimentsstab. Junge Offiziere als Führer. 
Einige davon ehemals zaristische Offiziere. Jetzt schon Kom- 
munisten. Mehrfach durch polnische Kugeln verwundet. Zur 
Batterie. Truppen im Wald. Flüchtlinge, Frauen und Kinder. 
abgerissen, bepackt mit ihrem bißchen Habe. Wir fragen sie 
nach ihren Erlebnissen. Meist jüdische Polen. Immer wieder 
trifft man sie, wo Elend und Qual ist. Mit ihren verhärmten 
Gesichtern, altklug. leidensvoll, mit sehnsüchtigen Augen. Ver- 
wundet und geduckt und von rührender Hilflosigkeit. 

Wir gehen zu Ful zur Batteriestellung. Einige Schüsse 
werden abgefeuert. Ich bleibe Antimilitarist im Innern. Ob- 
schon ıch die Notwendigkeit deutlich erkenne, in dieser frühen 
Periode der zum Kommunismus treibenden Entwicklung auf 
kein Gewaltmiftel verzichten zu können, das uns zur ersten 
Stufe einer wirklichen Kultur., des verwirklichten Sozialismus 
mitzuverhelfen vermag. Ist der Sieg erreichbar ohne diese 


Russisches Notizbuch 855 


Gewaltmiftel, diese von uns verabscheuten Mordinstrumente? 
Die alte Klasse hat sie erfunden. Sie gebraucht sie, ihre 
Macht zu erhalten. Die neue Klasse hat keine Wahl. Sie mul 
— neben all ihren anderen Waffen — auch diese der alten 
Klasse benutzen, will sie. nicht auf die Eroberung ihres Zieles 
verzichten oder sie immer weiter auf Jahrzehnte hinausschieben. 

Wundervoller Tag. Sonne. Die Polen stehen jenseits der 
Beresina. In Neu-Borissow. Das alte Borissow fast völlig 
zerstört. Von 14000 Einwohnern sind nur 6000 zurück- 
geblieben. Wie es unter den Menschen Pechvögel gibt, so 
offenbar auch unter den Städten und Dörfern. Borissow ist 
gezeichnet vom Schicksal. Hier verlor 1812 Napoleon beim 
Übergang über die Beresina 30000 Mann. 

Einer von den jungen Offizieren. die uns begleiteten. ist 
ein Leĝe. Er stammt aus Riga und war Student an der 
Moskauer Universität. Ein anderer aus bürgerlicher Familie, 
Sohn eines Professors, stammt aus Odessa, war schon während 
des Krieges Leutnant. Beide sprechen ein wenig deutsch. 

Zurück mit den Autos zum Zug. Fortsetzung der Unter- 
haltung mit Mjassnıkow, dem Leiter der Politischen Abteilung 
dieses Frontabschnittes. 

Nachts 2 Uhr schlafen gelegt. N 
Montag. den 14. Juni 1920. 

Vormittag, 11 Uhr, Ankunft in Smolensk. Müssen 
warten — kein direkter Zug nach Moskau. 

Mittags. 3 Uhr. können wir weiterfahren. Genosse 
Smilga kommt an die Bahn vor Abfahrt des Zuges und 
erzählt lächelnd gute Nachrichten: Kiew ganz erobert. West- 
front stehe ausgezeichnet. 

Unterwegs Tolstois Krieg und Friede n. weitergelesen. 
Eine andere Welt. — 

Dienstag vormiftags 11 Uhr in Moskau. Vom Bahn- 
hof in unser Hotel »Delovo Dvore. Die italienischen Dele- 


gierten werden erwartet. 


856 Wilhelm Herzog 


Die Tochter Kropotkins — eine junge Frau in hellem 
Sommerkleid. kennen gelernt. Besuch ihres Vaters in Dmitriew 
besprochen und für nächste Zeit ın Aussicht genommen. 
Es geht ihm schlecht, äußert me. Wenig zu essen. Keine 
Bufer, keine Milch. Und 78 Jahre alt. Die drei Pfund 
Bufer, die ich aus Reval mitgenommen hatte. will ich ihm 
bringen. 

Mittags, 3 Uhr, mit Frau Kropotkin-Lebedew zu Radek 
in die III. Internationale. 

Abends Banket im Hause des früheren deutschen Klubs, 
das jetzt von der Moskauer Gewerkschaftszentrale bewohnt 
wird. Von der Bühne des großen Saals herab sprechen etwa 
15 Redner, darunter Serrati. Lunatscharski. Sadoul, Wallhead. 
Nach den Reden theatralische und musikalische Vorführungen: 
äußerst witzige Karikaturen und Satiren gegen die Entente und 
die von ihr ausgehaltenen Generäle. Gegen Judenitsch, Kolt- 
schak, Denikin. Dann ein sehr übermütiges Pamphlet gegen 
Pilsudski, der — mit Koltschak und Denikin zusammen ein 
Terzett bildend —, jämmerliche Tänze aufführt und groteske 
Sprünge machen aul 

16. Juni 1920. 

Mittags Bucharin bei mir. Ihm Aufsatz über die Front- 
reise der englischen Delegation diktiert, den er gleich {für die 
»Prawda« russisch schreibt. Er hafte ungefähr folgenden Wortlaut: 

Vier Mitglieder der englischen Delegation — Wallhead. 
Purcell, Skinner, Bonfield —, reisten letzten Donnerstag an die 
polnische Front. Sie kamen Freitag vormittag nach Smolensk, 
wo sie am Bahnhof von einer grossen Menge von Arbeitern. 
Rotarmisten und vom Revolutionskomitee für die Westfront 
begrüßt wurden. 

Am nächsten Tage fand bei Smolensk eine große Parade 
aller dort in Garnison befindlichen Truppen und aller Arbeiter- 
organisationen stat. Die Delegierten richteten Ansprachen an die 
gewaltigen Massen und forderten sie auf, für die Errungen- 


Russisches Notizbuch 857 


schaften der Revolution gegen die polnischen Barone und 
ihre Helfershelfer — die englischen und französischen Kapi- 
talisten — mit äußerster Energie zu kämpfen. Die englischen 
Arbeiter werden nach ihrer Rückkehr die Wahrheit über 
Rußland und Polen erfahren. Sie werden den Kampf auf- 
nehmen gegen die englische Regierung, um die weitere Unter- 
stützung Polens durch die Entente unmöglich zu machen. 
Der englische Genosse Purcell erklärte, daß sie nicht nur 
die englischen Arbeiter gegen die Unterstützung Polens und 
für den Frieden mit Rußland aufrufen werden, sondern für 
den schärfsten Klassenkampf gegen das Kapital und für die 
Diktatur des Proletariats. Der Genosse Wallhead äußerte 
sch ähnlich. Er wünschte der Roten Armee schnellen 
und entscheidenden Sieg über Polen. Der Sieg bei Kiew sei 
glückverheißend, aber noch nicht genügend. Die Polen müssen 
so geschlagen werden, daß die polnischen Kommunisten im- 
stande sind, ıhr Regime ın Warschau zu errichten. 
Enthusiastisch jubelten die Massen den englischen Delegierten 
zu und begleiteten sie mit revolutionären Gesängen bis zum 
Sowjethaus.. Hier wurde die Delegation begrüßt: von dem 
Vorsitzenden des Exekutivkomitees der Räte des Smolensker 
Gouvernements, vom Stadtsowjet, von dem Rat der Gewerk- 
schaften von Smolensk, von der Parteı der kommunistischen 
Jugendorganisation ‘und von einem Vertreter der Menscheviki. 
Letzterer erklärte, daß die russische Arbeiterschaft ein Recht 
habe. die energische Unterstützung der englischen Arbeiterschaft 
in ihrem Kampfe gegen die Konterrevolution zu fordern und 
daß es nicht bei Worten bleiben dürfe. Die Entente habe die 
Absıcht, aus Rufland eine Kolonie zu machen. Die schmutzig- 
sten Seiten der Weltgeschichte sind die barbarısche und 
furchtbare Unterdrückung und Plünderung der englischen 
Kolonien durch die englische Burgeoisie und andere Völker. 
Von den englischen Delegierten sprachen: Bonfield. Skinner 
und Purcell, Skinner erklärte: die englische Arbeiterschaft habe 


858 n Wilhelm Herzog 
die Mauern der Blockade durchlöchert. Dadurch sei es ihnen 
gelungen. nach Rufland zu kommen. Er glaube. daß diese 
Bresche hoch bewertet werden mul und dal durch sie auch 
die russische Delegation nach England kommen könnte, 
um dort die Erfahrungen der russischen Revolution den eng- 
lischen Arbeitern zu vermitteln. Die englische Regierung wird 
der Einreise der russischen Delegation ohne Zweifel Schwierig- 
keiten entgegenstellen und sie unmöglich zu machen suchen. 
Aber die englische Arbeiterschaft muß und wird alles tun, um 
der russischen Delegation alle Freiheiten ın England zu schaffen. 

Purcell stellte fest, daß eine englische Delegatıon noch nıe 
so viel Gelegenheit und Freiheit gehabt habe, alles kennen zu 
lernen, wie in Rußland. Er hoffe, die Zeit sei nicht fern, 
wo auch die englischen Arbeiter ıhren russischen Brüdern die 
Reste des Feudalismus, die Paläste der Könige, die Burgen 
und Villen der Magnaten werden zeigen können —: umgewandelt 
in Häuser der Arbeit oder der Erholung fürs Volk. 

Sonntagmorgen fuhr die Delegation von Smolensk weiter 
an die Front. Der Zug hielt 17 Werst vor Borıissow. 
Mit Autos ganz nahe an die Stadt herangefahren. Besprechungen 
mit Rotarmisten und Flüchtlingen aus Borissow. Ein Drittel 
der Stadt, erzählten sie, sei völlig zerstört. Die Polen haben 
Borissow und die umliegenden Dörfer zum großen Teil aus- 
geplündert. Betrunkene Offiziere und Soldaten haben viele 
Mädchen und Frauen vergewaltigt und geschlagen. Die Dele- 
gierten begrüſten die Rotarmisten. wünschten ihnen baldigen 
Sieg und sicherten ihnen Unterstützung der organisierten 
englischen Arbeiterschaft zu. 

Von großem Interesse war für die englische Delegation 
die neue Art der Propaganda beim Feind. Die Rotarmisten 
schießen pazifistische Granaten ab. Sie enthalten revolutionierende 
Literatur. Flugblätter und Zeitungen zur Aufklärung der 
polnischen Truppen. 


« 
* 


Russisches Notizbuch 859 


Abends 7 Uhr ins Große Theater zu einer Sitzung des 
Allrussischen Zentral-Exekutivkomitees (W. I. C. K. Wserossij- 
skaja Zentralnaja Ispolnitelnaja Kommissja). Dieses früher 
kaiserliche Theater ist ein sehr schönes Gebäude aus 
den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Sehr reich, 
sehr vornehm, sehr festlich. — Der Zuschauerraum in 
Weil, Rot und Gold, mit fünf Rängen, falt etwa fünf- 
tausend Zuschauer. Wo einst die Moskauer Großbourgeoisie 
auf teuer erkauften Plätzen saß, ın den Logen, ım Parkett, 
in den Rängen, sitzen heute Arbeiter und Arbeiterinnen, 
Vertreter der Sowjets von Moskau und den anderen russischen 
Gouvernements. Und auf der Bühne. an einem mit rotem 
Tuch bezogenen Tisch. sitzen die Mitglieder des W. I. C. K. 
(des Allrussischen Zentral- Exekutivkomitees). In der Mitte, 
als Vorsitzender: der Bauer Kalının, ein Mann zwischen 45 
und 50 Jahren, der große Verehrung, vor allem wegen seiner 
strengen Redlichkeit. genießt. Ein alter Kämpfer der Parteı. 
Links und rechts von ihm: Kamenew, der Vorsitzende des 
Moskauer Rats. Bucharin, Radek. Tschitscherin. der diesen 
Abend eın großes Referat über die auswärtige Politik halten 
soll. Auf der Bühne, im Hintergrunde und an den Seiten: 
rote Fahnen und Standarten. Hinter dem Tisch des Präsidiums 
sitzen auf Bänken oder Stühlen die ansländischen Delegierten, 
Italiener (Serratı, Graziadei. Bombaccı, Taragona, Paravani), 
Franzosen (Sadoul, Cachin und Frossart), Amerikaner, Eng- 
länder, Inder, Perser. Koreaner. der Stellvertreter Tschitscherins, 
Karachan, Losowsky vom russischen Zentralrat der Gewerk- 
schaften, und eine große Anzahl von Vertretern der verschiedenen 
Volkskommissariate. 

Die Szene ähnelt auf den ersten Blick eher einem Volks- 
tribunal. als der Sitzung eines Kongresses, aber bereits nach 
wenigen Minuten wird dieser primäre Eindruck aufgehoben. 
Schon durch die Ungezwungenheit, das oft Formlose, ganz und 
gar Unparlamentarische der ganzen Geschäftsführung. Obschon 
25 


860 Wilhelm Herzog 


eine gewisse revolutionäre Ordnung, ein propagandıstisches 
Arrangement nicht zu verkennen ist. Wieder muß man auf 
den Beginn der Sitzung mit revolutionärer Geduld warten. 
Stat um 7 beginnt sie kurz vor 1⁄2 9 Uhr. Kalinin eröffnet sie. 

Er begrüßt zunächst die ausländischen Delegierten. Seinen 
Worten folgt minutenlanger J ubel des ganzen Hauses. Alle 
erheben sich von ihren Sitzen. Man spielt die Internationale. ; 
Alle singen mit. Nach Kalinin spricht ein Genosse aus der 
Ukraine über die dortige Lage und den polnischen Krieg. 
Ihm folgt Graziadei, der Sprecher der italienischen Delegation. 
Der nächste Redner ist der Franzose Cachin, der mit großem 
rednerischem Talent, nicht ohne gallisch-theatralisches Pathos, die 
Sünden seiner Partei beichtet und Besserung gelobt. Nach 
Cachin sprechen drei exotische Genossen, die das neugierige 
Interesse des ganzen Hauses auf sich ziehen: der Inder Roy, 
ein Genosse aus Persien und einer aus Korea, Nach jeder 
Rede, die englisch, französisch, italienisch oder russisch gehalten 
wird, ist die unverwüstliche Balabanowa bemüht, sie zu über- 
tragen. Nach den ausländischen Delegierten sprechen: 
Kamenew und Bucharin. Beide wenden sich scharf gegen die 
opportunistische Politik der französischen Partei und der 
Parteien der anderen westlichen Länder. Spät nachts — gegen 
drei Uhr — wird die Sitzung vertagt auf morgen abend. 


Donnerstag. den 17. Junı 1920. 

Vormittags elf Uhr in den Vserossijski Zentralni Sowjet 
Professionalnich Soiusow (Zentralrat der Gewerkschaften Rul- 
lands) zu Losowskı, der mich eingeladen hatte, ıhn zu besuchen, 
damit er mir genauere Aufklärung über die Organisation 
der russischen Gewerkschaften geben könnte. 

Der Zentralrat der Gewerkschaften befindet sich im früheren 
Elite-Hotel, gegenüber der ehemaligen Reichsbank. Losowski 
berichtet als Neuestes, was aber für die nächsten Tage noch 
geheim gehalten werden müsse: die Gründung einer 


Russisches Notizbuch | 861 


Gewerkschaftsinternationale (zimmerwaldienne). Gestern mit 
Engländern (W illiams, 5 Purcell), mit Italienern und Russen 
vorbereitet. Es werde eine Konferenz einberufen werden. 
die die Aufgabe haben soll, die Vorarbeiten zu leisten 
für einen provisorischen Kongreß aller auf dem Boden 
der driſten Internationale stehenden Gewerkschaften der Welt. 
Ein provisorisches internationales Bureau wurde bereits 
gegründet mit dem Ziel. diese internationale Konferenz der 
revolutionären Gewerkschaften vorzubereiten. N 

Der Allrussische Zentralrat der Gewerkschaften entspricht 
ungefähr. was seine Aufgaben und sein Arbeitsfeld betrifft. 
unserer Zentralkommission der Gewerkschaften. Sein Präsidium 
bilden dreizehn Mitglieder. Seine Hauptorgane sind: eine täglich 
erscheinende Zeitung Professionalnoie D vischenie . (Gewerk- 
schaftsbe wegung · ihr verantwortlicher Redakteur: Losowskı: 
eine Monatsschrift -Meschdunarodnoie Rabotscheje Dvischenie« 
„Internationale Arbeiterbewegung ·). 

Unter den größten russischen Gewerkschaften stehen die 
Eisenbahner an der Spitze. Ihr Verband zählt 700000 Mitglieder. 
Textilarbeiter- Verband 600000 Mitglieder 

Metallarbeiter- Verband 500000 8 
Angestellten- Verband 450000 2 
Die Verwaltung aller dieser Gewerkschaften ıst ın den 
Händen der Kommunisten. Mit Ausnahme der Gewerkschaft 
der Angestellten der Banken und Kreditanstalten. Dort ist das 
Verhältnis 1: 2. ein Kommunist und zwei angeblich Parteilose. 
Bei dem Zentralkomitee war die Zusammensetzung das 
letzte Mal wie folgt: von den dreißig Mitgliedern waren siebzehn 
Kommunisten, fünf Internationalisten, acht gehörten anderen 
Parteien an oder waren parteilos. 
Kommunisten und Ignternationalisten haben sich am 
20. Dezember 1919 vereinigt. Losowski selbst war früher 
Internationalit 


* « 
*. 


862 Wilhelm Herzog 


Am Abend gegen sieben Uhr wieder ins Große 
Theater: Fortsetzung der gestrigen Sıtzung des W. I. C. K 
Der Zuschauerraum ist wieder von vielen Tausenden angefüllt. 
Tschitscherin spricht. Mein freundlicher Übersetzer, ein junger 
jiddischer Dichter, der Hamlet ins Jıddische übertragen hat, teilt 
mir die wesentlichsten Äußerungen Techitscherins mit, während 
er.spricht. Die großangelegte Rede Techitscherins dauert fast 
drei Stunden. Man hat den Eindruck eines ungewöhnlich 
sachlichen, sachtreuen Menschen, der selbst die Monotonie 
nicht scheut, da es nüchterne Tatsachen zu berichten gilt. 
Nach ihm sprechen Redner der Opposition, der äußersten 
Linken ın der Parteı, unter anderen Ossinsky. 

Während der folgenden Reden in einem der Bühne 
benachbarten Seitenraum. begegne ich Bucharin. der mich 
mit Gorki und Zinowiew bekannt macht. Gorki hatte 
ich mir nicht so groß vorgestellt. Er überragt alle und geht 
meist mit ein wenig nach vorn geneigtem Oberkörper. einen 
grollen Schlapphut auf den borstigen Haaren. Wir sprachen über 
den Verlag der Weltliteratur, dem er jetzt — wie er sagt fast 
alle seine Kräfte widme. Er kommt kaum zum Schreiben. Gorki 
lebt in Petrograd. Er bat mich. ihn auf der Rückreise zu 
besuchen. Mit Sınowiew über die politische Situation in 
Deutschland und die elenden deutschen Parteiverhältnisse 
gesprochen. Er hat einen sehr ausdrucksvollen Kopf. den Kopf 
eines sehr geistigen Künstlers, er spricht klar und fließend 
deutsch. obwohl er behauptet, es nur mit Mühe sprechen zu 
können. Sehr einfach, sehr schlicht, alle Machenschaften der 
Staatsmänner und der Parteihäuptlinge durchschauend, durchaus 
vertraut mit ıhren Intrigen. guter Kenner ihrer Strategie, 
Skeptiker aus Erfahrung, verwundert er sich über nıchts mehr. 
Er fragte sehr interessiert, wie sich die unabhängige: sozialistische 
Arbeiterschaft in ihrer großen Mehrzahl zu der dritten Inter- 
nationale stelle. ob sie den Anschluß wirklich wolle und wenn 
ja. Was sie jetzt noch hindere. Ich bemühte mich, ihm äußerst 


Russisches Notizbuch 863 


sachlich die Aufklärung zu geben, die ich ihm geben konnte. 
Ich erzählte ıhm u. a. von den Hamburger Genossen. deren 
große Majorität für den sofortigen Anschluß an die Moskauer 
drie Internationale sei. Er bat mich, morgen abend in die 
drifte Internationale zu kommen, wo eine Sitzung des Exekutiv- 
komitees staftfinden werde. 

Über die denkwürdige Versammlung dieses und des voran- 
gegangenen Abends funkte ich im Kommissariat des Aus- 
wärtigen nachts nach Deutschland einen Bericht. der natürlich 
von den offiziellen deutschen Stellen nicht weitergegeben 
wurde und so nirgends veröffentlicht werden konnte. Dieses 
Radio vom 17. Juni 1920 lautete folgendermaßen: 

Den sıebzehnten Juni. Die vom Allrussischen Zentral- 
Exekutivkomitee einberufene Session wurde am 16. Junı 1920 
abends ım Großen Theater von Moskau durch ıhren Vor- 
sitzenden Kalinin eröffnet. Vor Eintrit in die Tagesordnung, 
die unter anderen Referate über die auswärtige Politik, die 
militärische Lage und die Situation in Mittelasien vorsieht. 
begrüßte die Versammlung mit großer Begeisterung die aus 
Italien gestern eingetroffene sozialistische Delegation. darunter 
Serrati. Bombacei und Graziadei. Nach Kalinin sprach der 
ukrainische Kommunist Petrowsky, der die Proletarier aller 
Länder zum Schutze und zu Hilfe Sowjet-Rußlands aufrief. 
Der nächste Redner, Graziadei. Mitglied des italienischen 
Parlaments. betonte die beständige Solidarität des italienischen 
Proletariats mit der revolutionären russischen Arbeiterschaft. 
Jetzt habe es sie von neuem durch die Tat erwiesen: durch 
seine Weigerung. Waffen von Italien nach Polen transportieren 
zu lassen. Dies jedoch sei zu wenig. In nächster Zukunft 
werde sich die Solidarität ausdrücken durch aktiven Kampf 
des italienischen Proletariats gegen das bürgerlich- kapitalistische 
Regime. Es wird vordringen bis zur sozialen Revolution. Dem 


Italiener folgte der französische Sozialist Marcel Cachin, der 


864 Wilhelm Herzog 


die Fehler der französischen sozialistischen Partei eingestand 
und Verzeihung dafür erbat. Die neuen Überzeugungen, die er 
Sowjetrußland gewonnen habe, zwingen ıhn, künftig dafür zu 
wirken, daß die französischen Sozialisten sich nıcht nur mit 
dem Ausdruck der Sympathie begnügen, sondern das Beispiel 
Ruflands imitieren werden. Er sang eine Hymne auf Sowjet- 
Rußland als auf den ersten heroischen Versuch einer rein 
sozialistischen Republik ohne alle Kompromisse. Die nächsten 
beiden Redner — Kamenew, der Vorsitzende des Moskauer 
Arbeiter-. Bauern- und Soldatenrates und Bucharin, Mitglied 
des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei — übten 
schärfste Kritik an der Haltung Cachins und seiner Gesinnungs- 
genossen ın Frankreich, Deutschland und England. 

Die Sıtzung wurde gestern spät nachts abgebrochen und 
heute abend fortgesetzt. In einer großen zweistündigen Rede 
stellte T'schitscherin die auswärtige Politik Rußlands den all- 
gemeinen politischen W eltzusammenhängen gegenüber. Er unter- 
strich die vielmals. bewiesenen Friedensbemühungen Sowjet- 
Ruflands. Eine auswärtige Politik Deutschlands gebe es nicht. 
Die deutsche Republik bilde gegenwärtig weltpolitisch ein 
Vacuum. Obwohl sie das größte Interesse häfte, mit Sowjet- 
Rußland in Verhandlungen zu treten, geschehe von ihrer Seite 
augenscheinlich aus Furcht vor der Entente und ihrer Ziel- 
losigkeit heraus nichts. Im Zusammenhang mit der englischen 
Politik gab Tschitscherın aus dem Inhalt der Verhandlungen 
zwischen Lloyd George und Krassin die interessante Tatsache 
bekannt, daß Lloyd George um alle Störungen für den Beginn von 
Handelsbeziehungen auszuschalten. folgende Bedingungen stelle: 

1. keine Intrigen in Persien, Afghanistan und Vorderindien 

zu führen. 

2. Keinerlei Propanda zu treiben, weil jede Sowjet- 

Propaganda einer Kriegsführung gleichwertig sei. 
3. Falls Baron Wrangel Krieg aufgebe. müsse er am- 


| nestiert werden. 


Russisches Notizbuch 865 


4. Kein Angriff gegen die Nachbarstaaten. 

5. Batum soll unangetastet bleiben. England gestehe dasselbe 

für sich. Selbstbestimmung. 

Die folgenden Sprecher, Mitglieder des Exekutivkomitees 
aus den Gouvernements, wandten sich gegen Tichitscherin und 
seine allzu milde Friedenspolitik. Sie forderten Kampf gegen 
die kapitalistischen Welträuber. der zu siegreichem Ende geführt 
werden müsse. Karl Radek, der nach den bolschewistischen 
Jusqu auboutisten sprach, verteidigte Tschitscherins Politik, indem 
er ıhr gegenüberstellte: die Kampfbereitschaft der Roten Armee. 
Der russische Generalissımus Kamenew gab darauf eine genaue 
sachliche Darstellung der militärischen Lage. Die Sitzung 
endete mit der Annahme eines Aufrufs an die polnischen 
Soldaten, den unsinnigen Kampf aufzugeben und sich den 
russischen Arbeitern und Bauern zu verbrüdern: auf Grund 
ihrer gemeinsamen proletarischen, Interessen. 


866 Wilhelm Herzog 


DIE WUT DES HILFERGEDINGES 


Ich bin Mitte Mai 1920 nach Moskau gereist. Ohne die Crispiene und Ditt- 
männer zu fragen. Nur ım Einverständnis mit meinen Hamburger Parteigenossen 
und auf Einladung in Berlin weilender russischer Kameraden, Vertretern der dritten 
Internationale. Und mit Wissen von Braß, Geyer, Stoecker, Koenen, Rosenfeld. 

Darob Ärger, Neid, Wut am Schiffbauerdamm. Und als ein bürgerlicher Korrespondent 
der „Frankfurter Zeitung” etwas Falsches meldet, stürzt sich das Hilfergedinge 
darauf und nagt an dem Knochen herum, den man ihm hingeworfen hat. Was 
dabei herauskommt an Cekei f, an Geifer, an brüderlicher Liebe und Solidarität, 
sieht dann in dem Organ der Berliner revolutionären Arbeiter, in der „Freiheit“ 
die damit unter die Stufe großstädtischer Revolverblätter gesunken ist, so aus: 


Kein Unabhängiger in Moskau. 


Die „Frankfurter Zeitung“ bringt die Meldung, daß bei der vorbereiten- 
den Konferenz des geschäftsführenden Ausschusses der Kommunistischen 
Internationale in Moskau neben Vertretern anderer Länder Cachin und 
Frossar als Vertreter Frankreichs anwesend gewesen seien, außerdem ein 
Vertreter des linken Flügels der deutschen Unabhängigen. 

Bekanntlich waren Cachın und Frossard zwecks Unterhandlungen über 
den Anschluß ihrer Partei an die dritte Internationale in Moskau, dagegen 
sınd Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands noch 
nicht in Rußland. Es gibt infolgedessen auch keinen Vertreter des „linken 
Flügels, der an den Sitzungen hätte teilnehmen können. 

Die Meldung könnte sich höchstens darauf beziehen, dad Wilhelm 
Herzog jetzt in Moskau‘ sein Domizil aufgeschlagen hat. Sollte er sich 
wirklich als Vertreter des linken Flügels der Unabhängigen Sozialdemokratie 
Deutschlands bezeichnet haben, so hätte er das ohne jede Berechtigung 
getan. Denn wir haben Grund zu der Annahme, daß das kurze Gastspiel, 
das Herzog in unserer Partei gegeben hat, ein für allemal zu Ende ist. 
Herzog ist kein Vertreter unserer Partei, denn es ist bekannt, daß das 
Zentralkomitee die Hamburger Parteiorganisation aufgefordert hat, Herzog 
von der Reichstagskandidatenliste zu streichen, und daß Herzog nach Ein- 
treffen dieses Briefes in Hamburg schleunigst verduftet ist, um weiteren 
für ıhn unangenehmen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen. 


Dies stand in der Hilferding-Cassirerschen „, Freiheit“ am 28. Juni 1920. Ich 
werde chronologisch vorgehen. Am 30. Juni erwiderte die „Hamburger Volkszeitung“ 
der „Freiheit, indem sie ihre Darstellung Verleumdung betitelte. Sie fügte dem 
lügenreichen Freiheit-Zitat diese Worte an: 


Die Wut des Hilfergedinges 867 


Wir 


Demgegenüber wiederholen wir unsere Feststellung, daß Cenosse Herzog 
im vollsten Einverständnis mit den in Frage kommenden Instanzen der 
Hamburger Parteiorganisation vorübergehend nach Rußland gefahren ist. 
Der in der „Freiheit erwähnte Brief traf erst geraume Zeit später ein. 
Deshalb ist die Schlußfolgerung, die von der Redaktion der „Freiheit“ 
daran geknüpft wurde, unzutreffend. Herzog konnte nicht „verduften, 
um unangenehmen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen“, wegen 
eines Briefes, der erst nach seiner Abreise beschlossen wurde. Wır bedauern, 
daß die Leichtfertigkeit der „Freiheit“ dem „Echo“ bereits gestern Gelegen- 
heit gab, an Stelle notwendiger sachlicher Auseinandersetzungen sich auf 
das Gebiet persönlicher Stänkereien zu begeben. 


bekamen in Moskau erst am 10. Juli das Ferien Geschreibsel 


der „Freiheit“ zu sehen. 


Am 


selben Tage telegraphierte Genosse Radek, der Sekretär der III. Inter- 


nationale, der „, Freiheit“: 


„Freiheit“, Berlin. 


„Freiheit“ vom 28. Juni befaßt sich mit Aufenthalt Cenossen Herzog 
in Moskau. Halte für meine Pflicht festzustellen, daß Herzog in keiner 
Weise als Vertreter des linken Flügels der Unabhängigen aufgetreten ist. 
Zu den Sitzungen des Exekutivkomitees wurde er als Mitglied der Unab- 
hängigen Sozialdemokratie als Cast eingeladen. Dies erfolgte. weil vir 
Herzog als einen Cenossen kennen, der eine sichere bürgerliche Stellung 
als Schriftsteller aufs Spiel gesetzt hat, um der Sache der Arbeiterschaft 
zu dienen und ihr ehrlich gedient hat. Das Urteil darüber, ob wir richtig 
dem Genossen Herzog gegenüber gehandelt haben, überlasse ich getrost 
den deutschen Genossen. Radek. 


Mir selbst übergab Genosse Radek zur Veröffentlichung in Deutschland das 


folgende 


Schreiben: 


Moskau, 10. Juli 1920. 
Werter Genosse Herzog! i 


Es hat mich sehr gefreut, daß Sie auf die Anregung einiger russischer 
Genossen nach Moskau kamen, um sich hier an Ort und Stelle über die 
Lage in Rußland und die III. Internationale zu orientieren, denn ich hoffe, 
daß Ihr Aufenthalt der gemeinsamen Sache des russischen und deutschen 
Proletariats nur dienen kann. Derselben Meinung scheint die Clique zu 
sein, die nichts mehr als die Wahrheit über Sowjet-Rußland und die Kom- 


munistische Internationale fürchtet. Ich wurde von Berlin aus vor Ihnen 


‘gewarnt durch mündliche Andeutungen und Behauptungen, denen ich so 


wenig Beachtung schenkte, daß ich sie gar nicht dem Exekutivkomitee 
mitteilte: ich war überzeugt, daß, wenn Ihre „Freunde“ in der U. S. P. 
irgend welch greifbares Material gegen Ihren moralischen Wert hätten, 
so würden sie nicht nur uns, sondern der deutschen Öffentlichkeit dies 
mitteilen. Nun bringt die Hilferdingsche „Freiheit“ vom 28. Juni eine 
Notiz, die ich dreimal gelesen habe, ohne aus ihr mehr zu erfahren, als 
daß das Z.K. der U. S. P. D. Ihre Streichung von der Liste der Kandidaten 
gefordert hat. Ich bin jetzt genötigt, davon das Exekutivkomitee in Kenntnis 
zu setzen, hoffe aber bestimmt, daß solange das Z.K. der U.S.P.D. 
es nicht für nötig halten wird, seinen Schritt so zu motivieren, daß es 


868 


Wilhelm Herzog 


— — — 


klar sein wird, es handle sich nicht um einen Meuchelmordversuch 
an einem revolutionären Kämpfer, solange werden wir Sie als unseren Gast 
behandeln. 


Mit kommunistischem Gruß 
Karl Radek. 


Weder Brief noch Telegramm Radeks hat die ., Freiheit“ der Herren Hilfer- 
ding. Cassirer & Co., bis heute gedruckt. 

Einer der russischen Kameraden, die mich zur Reise nach Moskau aufgefordert 
hatten, Genosse Borodin, schrieb der ., Freiheit“ unter dem 12. Juli 1920 den folgen- 
den Brief, der in der „Roten Fahne” vom 30. Juli und in der „Hamburger Valk«- 
Zeitung” vom 29. juli unter dem Titel: „Zur Verleumdungspraxis der „Freie“ 
veröffentlicht wurde. Die ., Freiheit“ hat Borodins Brief ebenso wie Radeks Zuschriften 
unterschlagen. 


Moskau. 12. Juli 1920. 
Redaktion der „Freiheit“, Berlin. 


In der „Freiheit“ vom 28. Juni 1920 las ich eine Notiz darüber, daß 
Genosse Wilhelm Herzog nach Moskau gekommen sei, dort sein neues 
Domizil aufgeschlagen habe und daß er sich offiziell als Vertreter des 
linken Fiügels der U.S.P.D. bezeichnet habe. 

Mich hat diese Erklärung um so mehr erstaunt, als ich in erster Linie 
die Reise des Genossen Herzog nach Rußland verursacht habe. Ich halte 


- mich deshalb für verpflichtet, durch dieses Schreiben entsprechend dem 


wahren Sachverhalt die Geschichte der Reise des Genossen Herzog 
Rußland darzustellen. 

Im März dieses Jahres bin ich in Begleitung einiger Genossen aus 
England und den Vereinigten Staaten durch Deutschland nach Rußland 
gereist. Wir hielten uns einige Zeit in Berlin auf, um uns mit der deut- 
schen revolutionären Bewegung näher bekannt zu machen. Während unseres 
Berliner Aufenthaltes kamen wir mit den Vertretern der verschiedenen 


Strömungen der deutschen Arbeiterbewegung zusammen. Unter anderen 


trafen wir auch die unabhängigen Sozialisten Braß, Stoecker, Koenen, 
Rosenfeld. In ihrer Gesellschaft schlossen wir Bekanntschaft mit dem 
Genossen Herzog. 

Aus häufigen Gesprächen mit ihm und schon vorher aus seinen Artikeln 
konnten wir schließen, daß er uns näher stand als die meisten anderen 
Unabhängigen und daß er in wichtigen Fragen der Taktik, besonders aber 
in der aktiven Betätigung seiner Partei sich im Gegensatz zur Führung 
befand. Außerdem haben wir in unseren Gesprächen über die kommu- 
nistische Ill. Internationale und über den Aufbau Sowjetrußlands uns die 
Meinung gebildet, daß für Genossen Herzog die beste Orientierung in 
diesen Fragen an Ort und Stelle in Rußland selbst erfolgen könnte. Und 
wir schlugen ıhm deshalb vor, auf eigene Faust als Publizist, als Heraus- 
geber des „Forums“, sich unserer Gruppe anzuschließen und gemeinsam 
mit uns nach Rußland zu reisen. Ich erinnere mich noch sehr gut der 
Einwände, die Genosse Herzog gegen die Möglichkeit seiner Reise machte: 
l. daß er den Hamburger Parteigenossen versprochen habe, die Redaktion 
ihres Organs zu übernehmen, daß er deshalb nach Hamburg fahren müsse; 
2. daß die Paß- und Visumschwierigkeiten nicht leicht überwindbar sein werden. 

‚Wider unser Erwarten ließ sich der zweite Einwand in relativ kurzer 
Zeit erledigen. Und später erfuhr ich, daß es dem Genossen 


Die Wut des Hilfergedinges 869 


gelungen war, nach Rücksprache mit den Hamburger Parteigenossen ihr 
Einverständnis für seine Reise nach Rußland zu erzielen und ihm einen 
Urlaub von einigen Wochen zu gewähren. Er konnte jedoch leider noch 
nicht mit uns zusammen reisen. Wir gaben der Erwartung Ausdruck, daß 
er uns so schnell als möglich folgen werde. Dies geschah Mitte Mai. 
Jede andere Darstellung, die durch Tatsachen nicht erwiesen werden kann. 


muß als Klatsch oder Verleumdung bezeichnet werden. 
M. Borodin. 


Am selben Tage, am 12. Juli 1920, sandte ich von Moskau aus der „Freiheit“ 
dieses Schreiben: 


Moskau, den 12. Juli 1920. 
Redaktion der „Freiheit“, Berlin. 


Sie werden hierdurch auf Grund des J Il des Preßgesetzes aufgefordert, 
die folgende Richtigstellung in der nächsten Nummer Ihrer Zeitung an 
derselben Stelle, wo Ihre falschen Behauptungen standen, zu veröffentlichen: 


J. In der Nummer vom 28. Juni 1920 schreibt die ,F Freiheit“ nach 
Zitierung einer Nachricht aus der „Frankfurter Zeitung“, daß ein Vertreter 
des linken Flügels der deutschen Unabhängigen an der vorbereitenden 
Konferenz des geschäftsführenden Ausschusses der Dritten Internationale 
teilgenommen habe: „Diese Meldung könne sich höchstens darauf beziehen, 
daß Wilhelm Herzog jetzt in Moskau sein Domizil aufgeschlagen hat“. 

Diese Behauptung ist unwahr. Wahr vielmehr ist, daß ich dem Wunsch 
einiger russischer Genossen und meinem eigenen Willen gefolgt bin, einige 
Wochen in Sowjet-Rußland zu leben, um die wirtschaftlichen, politischen 
und kulturellen Verhältnisse unter der verleumdeten Bolschewistenherrschaft 
kennen zu lernen. 


2. Die „Freiheit schreibt weiter: „Sollte er sich wirklich als Vertreter 
des linken Flügels der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands be- 
zeichnet haben, so hätte er es ohne jegliche Berechtigung getan.“ 

Diese Behauptung, in Form eines Verdachtes gekleidet, ist unwahr. 
Wahr vielmehr ist, daß ich mich niemals in Moskau als Vertreter des 
linken Flügels der U. S. P. D. bezeichnet habe. An der Sitzung des Exe- 
kutivkomitees der Dritten Internationale nahm ich auf Einladung seines 
Vorsitzenden Sınowiew und seines Sekretärs Radek als Gast teil, 

3. Die „Freiheit“ schreibt ferner, es sei „bekannt, daß das Zentral- 
komitee unserer Partei die Hamburger Parteiorganisation aufgefordert hat, 
Herzog von der Reichstagskandidatenliste zu streichen und daß Herzog 
nach Eintreffen dieses Briefes in Hamburg schleunigst verduftet ist, um 
weiteren für ihn unangenehmen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu 
gehen‘. 

Die ın diesem Satze enthaltenen drei Behauptungen sind unwahr. Wahr 
vielmehr ist: 

a) Es war mir unbekannt (und da die „Freiheit“ vorher nichts bekannt 
machte, wohl auch der Allgemeinheit), daß das Zentralkomitee irgendeine 
derartige Aufforderung an die Hamburger Organisation gerichtet hat. 

b) Bis zum letzten Tage meines Hamburger Aufenthalts war dort kein 
Brief des Zentralkomitees eingetroffen, jedenfalls mir kein Sterbenswort 
davon bekannt. 

c) Ich bin den unangenehmen Auseinandersetzungen nicht aus dem 
Wege gegangen, sondern habe sie zu wiederholten Malen brieflich und 


870 Wilhelm Herzog / Die Wut des Hilfergedinges 


mündlich immer wieder gefordert. Eine Tatsache, die die Genossen Rosen- 
feld, Braß, Stoecker, Koenen, Geyer, Däumig werden bestätigen können. 


Wilhelm Herzog. 


Die „Hamburger Volks-Zeitung vom 29. Juli 1920 schloß den Abdruck meiner 
Zuschrift, der Zuschriften Radeks und Borodins mit diesen Worten: 


„Die Angriffe der „Freiheit“ gegen Genossen Herzog sind erfolgt 
während seiner Abwesenheit. Sie waren diktiert von der Hoffnung. daß 
der Moment, wo sich Genosse Herzog nicht zur Wehr setzen kann, der 
geeignetste ist zur Austragung von Differenzen zwischen Genossen. Dann 
braucht der Angriff nicht der Wahrheit zu entsprechen. Es bleibt doch 
etwas hängen. 


Solche Kampfmethoden richten sich selbst.“ 


Ich selbst habe den in der „Freiheit“ sitzenden traurigen Kreaturen, die dieses, 
Bubenstück verübten, nur diese Notiz gewidmet, die ich noch aus Moskau dem 
Forum - zur Veröffentlichung sandte: í 

Den Jacobsöhnen gesellt sich endlich offen die Hilferdingsche ., Freiheit“. Heim- 
lich bestanden diese Beziehungen zwischen dem Abschaum der Menschheit, jener 
verleumderischen Konjunktur-Journaille, und dem Zentralorgan der U.S.P.D, 
schon längere Zeit. Der wegen seines schändlichen Handwerks oft geohrfeigte Wicht 
dessen ordinärer Klatsch .alleın auf Originalität Anspruch macht, wurde zum will- 
kommenen Bundesgenossen des bedrängten Hilferding, des Chefredakteurs der von 
den Berliner radikalen Arbeitern herausgegebenen ,d Freiheit“. 

Dieser Rudolf Hilferding, von Karl Radek bereits im vorigen Jahre als ‚der 
Mann der halben Wahrheiten und der. ganzen Lügen“ erkannt und gekennzeichnet, 
ist — um es kurz und ein für allemal zu sagen — ein bösartiger Verleumder, ein 
Ehrabschneider, ein kleiner, hinterhältiger Feigling. Will er] noch mehr? Wollen 
die Berliner unabhängigen Arbeiter, die sich von diesem Elenden ihr Organ ver- 
sauen lassen, noch mehr? Will das Zentralkomitee, das mich ohne Widerspruch 
verleumden ließ, noch mehr treffende Kennzeichnungen seines Kopfes, seines Lieb- 
lings? Gut. Sie sollen ihm werden. Ich werde nicht länger schweigen. 


Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog 
Derfflingerstr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Pots dar 
Berlin / Druck der E. Gundlach A.-G. Bielefeld 


DAS FORUM 


4. Jahr September 1920 Heft 12 


(Abgeschlossen am 24. September 1920) 


RUSSISCHES NOTIZBUCH 
MAI AUGUST 1920 


VON WILHELM HERZOG 
(Siehe Forum 4. Jahrg.. Heft 11.) 


Freitag, den 18. Juni 1920. 

Nachmittags. 6 Uhr. in die III. Internationale. Sitzung 
des Exekutivkomitees. Sinowiew leitet sie. Neben ihm: Radek., 
Bucharin, Balabanowa. Ferner: Serrat, Bombacci. Sadoul. 
Cachin, Frossard, Graziadei, John Read, Mac Lean, Quelch, 
Karachan, Marchlewski und mehrere andere ausländische Ge- 
nossen. 

Besprochen wird die Prüfung der Mandate und eine 
dafür einzusetzende Kommission, ferner. ob zwei Parteien in 
einem Lande gleichzeitig der III. Internationale angehören 
können. Es sprechen: Radek, Bucharin, Serrati, Sınowiew. 

Sernati verlangt — besonders im Hinblick auf die U. S. P. 
D. — Ausschließung aller, die für die Bewilligung der Kriegs- 
kredite gestimmt haben. 

Radek teilt mit, daß das kleine Bureau des Exekutiv- 
komitees beschlossen habe. da die Zentrale der U. S. P. D. sich 
noch ımmer nicht endgültig geäußert und auch keine Dele- 
gierten geschickt habe, sich mit einem Appell an die örtlichen 
und Landesorganisationen der U. S. P. D. zu wenden, um sie 
aufzufordern, selbst Delegierte zu wählen und nach Moskau 


zu entsenden. 


77... Wilhelm Herzog 
Dieses nach Deutschland gefunkte und telegraphıerte Manifest, 

das erstaunlicherweise dem revolutionären deutschen Proletariat 

so gut wie unbekannt geblieben ist, lautete folgendermaßen: 


Vom Exekutivkomitee der Kommunistischen 
Internationale. | 


An alle Orts- und Landes organisationen 
der Unabhängigen Sozialistischen Partei Deutsch- 
lands, an alle Arbeiter, die Mitglieder der 
U. S. P. D. sind. 


Werte Genossen 

Am 15. J uli 1920 wird, wie Euch bekannt ist, in Moskau 
der zweite Weltkongrel der- Kommunistischen Internationale 
eröffnet (die erste feierliche Versammlung findet ın Petersburg 
staft). Die klassenbewullten Arbeiter der ganzen Welt sind 
begeistert unserm Rufe gefolut. den Kongreß mit ıhren Ver- 
tretern zu beschicken. Die Mehrzahl der Delegierten — aus 
England, Frankreich, Österreich, Ungarn, Italien. Amerika. 
Schweden. Bulgarien. Holland und anderen Ländern — ist 
bereits in Rußland eingetroffen. Andere befinden sich auf 
dem Wege nach Moskau. Schon jetzt ist es klar. dał unser 
zweiter Kongreß in Wirklichkeit zum Weltkongresse der vor- 
geschrittenen Arbeiter werden wird. Der Kongreß wird den 
‚Erfahrungen unseres Kampfes die Bilanz zıehen. Der Kon- 
grel wird uns, den Arbeitern der ganzen Welt, den weiteren 
We des Kampfes weisen, der Stimme des Kongresses werden 
die Werktätigen der ganzen Welt lauschen. 

Genossen! Werdet Ihr wirklich abseits von einem solchen 
Kongresse stehen? 

Wir sagen es Euch aufrichtig: das Exekutivkomitee und 
die zur kommunistischen Partei gehörenden Abeiter aller 
Länder werden äußerst betrübt sein, wenn Ihr, Arbeiter aus 
der U. S. P. D. nicht mit uns auf unserm Kongresse sein 


werdet. 


Russisches Notiz buen 8273 


Wir wissen, daß Ihr, proletarische Mitglieder der U. S. P. D. 
mit allen Euren Gedanken bei uns seid. Wir wissen, dal 
Ihr in die Reihen unserer internationalen Arbeitergenossenschaft. 
in die III. Internationale strebt. Um so unzulässiger ist es. 
daß die rechten Führer Eures Zentralkomitees Euren und 
unsren Wunsch vereiteln. 

Unter Eurem Drucke, unter dem Drucke der Arbeiter 
hat der Leipziger Kongreß der U. S. P. D. beschlossen, aus 
der II. Internationale auszutreten und in Beziehungen zur 
III. Internationale zu treten. Aber die rechten Führer Eures 
Zentralkomitees haben diesen Beschluß tatsächlich sabotiert und 
sabotieren ihn noch. Sie planen eine Konferenz der Zwischen- 
parteien. d. h. der Parteien, die aus der II. Internationale aus- 
getreten. der III. Internationale aber noch nicht beigetreten 
sind. einzuberufen. Diesen hoffnungslosen Versuch haben jetzt 
sogar die gemäßigten Führer der Französischen Sozialistischen 
Partei aufgegeben. Zwei Delegierte dieser Partei. Cachin und 
Frossard, sind schon in Moskau eingetroffen, und wir werden 
ihnen offen sagen, unter welchen Bedingungen die französische 
Partei in die Ill. Internationale aufgenommen werden kann. 
Die französischen Arbeiter zwingen ihre gemäßigten Führer. 
eine Annäherung an die III. Internationale zu suchen. Nur 
Eure Vertreter sehen wir bis jetzt nieht in Moskau. 

Wir haben uns mit einem offenen Brief an die U. S. P. D. 
gewandt. in dem wir ‚genau und ausführlich die Bedingungen 
nannten, unter denen wir Eure Partei, wie auch die anderen 
Parteien, die bis jetzt der Strömung des Zentrums gefolgt sind, 
aufnehmen möchten. Euer Zentralkomitee hat diesen Brief 
des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale nicht 
einmal veröffentlicht. Es hat ihn geheim gehalten. Es verheimlicht 
ihn vor Euch noch jetzt. Das Z. K. der U. S. P. D. benach- 
richtigt uns durch sein Schreiben vom 6. Juni. unterzeichnet 
von Däumig, daß das offene Schreiben des Exekutivkomitees 
der Kommunistischen Internationale von den Unabhängigen bis 


871141 Wilhelm Herzog 


jetzt nicht abgedruckt worden ist wegen „Mangel an Papier. 
Einen unwürdigeren Grund konnten Eure rechten Führer 
nicht ausdenken. Dieses Verhalten beweist. daß wir recht 
hatten, als wir sagten, daß Euer Beitritt zur III. Internationale 
nur über den Kopt der rechten Führer hinweg vollzogen 
werden könne. 

In Anbetracht des Gesagten schlagen wir Euch, Genossen. 
folgendes vor: mögen die einzelnen Orts- und Landesorganı- 
sationen der U. S. P. D. die unverzüglich der III. Internationale 
beizutreten wünschen. sofort ihre Delegierten wählen und zu 
unserem Kongreß schicken, der für den 15. Juli anberaumt 
ist. Wartet auf niemand mehr. Erlaubt nicht Euren Willen 
zu vergewaltigen. Organisiert Euch schnell und erfüllt Eure 
Pflicht. Die revolutionären Arbeiter,. die Mitglieder der 
U. S. P. D., müssen auf dem Weltkongresse der Kommu- 
nistischen Internationale sein. Wir erwarten Euch! Genossen. 
Beeilt Euch! Erörtert unsern Vorschlag auf allen Euren 
Arbeiterversammlungen. Druckt ıhn ın Euren Zeitungen ab. 
Entlarvt diejenigen. die Euren Willen hintertreiben. Handelt! 

| Mit kommunistischen Grüßen 

Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale 

Vorsitzender: G. Sınowjew. 

Sekretär: Karl Radek. 

Mitglieder des Exekutivkomitees der Kommunistischen Inter- 
nationale: 
Bombaccı 


Serrati | 


. Sozialistische Partei Italiens. 
Vacırca 


Graziadeı 

W. Uljanof-(Lenin) | 

N. Bucharin | 

Karachan | Kommunistische Partei Ruflands. 
J 


Balabanoff 
Klinger 


Russisches Notizbuch _ ___ 875 


Marchlewsky (Karsky), Kommunistische Arbeiterparteı Polens, 
Schatzkin. Executive der Kommunistischen Jugendinternationale. 


a u Britische Sozialistische Partei. 

a | Komitee der III. Internationale in Frankreich, 
o ! Kommunistische Partei Ungarns. 

Reisler, Kommunistische Partei Deutsch-Österreichs, 

0 Kommunistische Arbeiterpartei Amerikas. 


Stoklitzky. Kommunistische Partei Amerikas. 

Schabline. Kommunistische Partei und Föderation der Ge- 
werkschaften Bulgariens. 

Stutschka. Kommunistische Partei Lettlands. 

Außerdem haben das vorliegende Schreiben unterschrieben: 
Gen. Losowsky, Vertreter des Allrussischen Zentralrats der 
Gewerkschaften. I. Armaud, Vertreterin der Kommunistischen 
Frauenorganisationen Ruflands. 


* 


Radeks Vorschlag wird einstimmig gebilligt. Auf semen 
Wunsch erteilt mir Sinowiew das Wort. Ich führe aus, dal 
Serratis Forderung nicht zu verwirklichen sei. Selbst Liebknecht 
habe das erste Mal nicht gegen die Kriegskredite gestimmt. — 
Der Appell scheine mir gut und er könne wirken. aber man 
müßte ihn an einzelnen Stellen noch etwas genauer formulieren. 


Die Sitzung dauerte bis 10 Uhr. Dann mit Radek und 
den italienischen Delegierten in den »Delovoi Dwor«. Um 
11 Uhr in den Kreml zu Radek. Deutsche Zeitungen bis 
zum 11. Juni, französische und englische Blätter durchgestöbert. 
Der »Vorwärtse bringt eine idiotische Notiz über mich: -Der 
verschwundene Reichstagskandıidat«. Was für armselige Krea- 
turen sind diese Verleumder. Was für lächerliche Dummköpfe! 
2 6 


876 nn 00, Wilhelm Herzog 
Samstag. den 19. Junı. 

Vormittags, 11 Uhr. in den Kreml zu Lunatscharski. Im 
Auto zusammen mit Balabanowa, Serrati. Graziadei. Während 
sie zur Sitzung des Exekutivkomitees der III. Internationale 
gehen. versuche ich. meine mit Lunatscharskı getroffene Ver- 
abredung innezuhalten und ihn um 11 Uhr zu treffen. Ich gehe 
hinauf. Lunatscharskı schickt mir eme Genossin, die mir mit- 
teilt, ein Engländer, der ihn dringend zu sprechen gewünscht 
habe und in einer Stunde abreise, sei bei ihm. Er bäte 
mich deshalb, ein wenig zu warten. Die Genossin: Frau Gorki, 
Radek. den ich vorher traf, ging in Lenins Haus, wo die 
heutige Sitzung des Exekutivkomitees der III. Internationale 
staſtfinden sollte. Er lud mich ein, nachzukommen. Ich wollte 
vor Beginn der Sıtzung nicht viel versäumen, wartete deshalb 
nıcht länger bei Lunatscharskı. sondern verabschiedete mich von 
Frau Gorki. die mir einen Propusk (einen Ausweis) ausstellte, 
damit ich in das Haus. wo die Sitzung stattfindet. hineinkommen 
könnte. 

Die Sitzung hafte gerade begonnen, als ich eintrat. Die- 
selben Teilnehmer. wie gestern. In einem miftelgrossen Saal. 
geschmackvoll. und einfach eingerichtet. Durch seine Fenster 
blickt man auf das ın der Sonne liegende Moskau. Die zahl- 
losen goldenen Kuppeln strahlen und blinken im Sonnenlicht. 
Ein heiterer und sehr erfrischender Anblick. Es ist glühend heiß. 

Aufer den gestrigen Teilnehmern, sitzt an einem kleinen 
Tisch Kamenew und neben ihm ein kleiner, untersetzter Mann 
mit einer großen Glatze. Ernst. beherrscht. zuweilen nachdenklich. 
Er hat einen kleinen braunen Spitzbart. Er bekommt Akten 
und Briefe zum Unterschreiben gebracht: er erledigt sıe, steht 
dann auf und setzt sich mit dem Rücken gegen das Fenster 
auf einen bequemen Sessel in die Sonne. Später erfahre ich, 
das ist Lenin. Nach den Bildern häfe ich ihn nicht erkannt. 
Alle Bilder, die ich bisher von ihm sah, geben eine ganz 
falsche Vorstellung von ihm. 


Russisches Notizbuch De ke | 877 

Rakowski spricht über Ungarn. Marcel Cachin über den 
Kampf des Proletariats gegen das Bürgertum in Frankreich. 
Serrati über die Arbeiterbewegung ın Italien, über den Kon- 
grel von Bologna, über die jetzige parlamentarısche Fraktion: 
ein seltsames Gemisch von Reformisten. Opportunisten (T urati. 
Lazzarı) und Maximalisten. über die Opposition der von 
Bordigha geführten Gruppe der Antiparlamentarier. die zugleich 
für den Ausschluß der Reformisten kämpfen. Das Ministerium 
Gioliti — äußert Serrati — werde der letzte Versuch der 
Bourgeoisie sein, seine Macht zu behaupten. Zwischenruf 
Radeks: sund Turati? — Serrati: »Wır werden sehen!“ — 

Frossard. Sadoul, Delignieres von den Franzosen äußern sıch 
über Thomas. Renaudels und Cachins Politik während des 
Krieges und nach dem Kriege. 

Dann spricht Lenin in französischer Sprache. Schr zu- 
gespitzt, sehr klar, die Gegensätze scharf gegenüberstellend, oft 
mit scharfer Ironie und sehr witzig. Dann lacht er und mit 
ihm seine Zuhörer und dieses Lachen löst, wirkt befreiend, 
führt heraus aus breiten Sackgassen, in die sich die Polemik 
verlaufen hat. Lenin prüft die Phraseologie der Cachin und 
Frossard. Er wendet sich gegen sie. nicht ohne satirische 
Wendungen. Er kritisiert sie unerbifllich, jedoch sachlich. »Hu- 
manıtee und auch der »Populaıre«,: äussert er, seien keine revo- 
lutionären Organe. Er versäumt flicht. diese Feststellung durch Zi- 
tate und Anführung von Mitarbeitern fragwürdiger Art zu 
belegen. Dann wendet er sich den deutschen Cachins und Frossards 
zu und teilt mit: das Zentralkomitee der U. S. P. D. habe soeben 
einen von Däumig unterzeichneten Brief geschickt, der u. a. 
besage: »Papierknappheit« häfte bisher Abdruck der Moskauer 
Antwort verhindert. Das sei lächerlich und kindisch! Lenin wendet 
sich auch gegen Serrati. in dessen Partei sich noch immer ein 
Turatı aufhalten könne. Nach dieser. Polemik stellt er die 
alte Frage von neuem: was ist Diktatur des Proletariats? Er 
beantwortet sie unzweideutig: das sei nicht nur die Fähigkeit. 


878 Wilhelm Herzog 
die Macht zu erobern und sie zu halten, sondern es sei die 
Fähigkeit, Härte zu zeigen, um den Sieg des Proletariats 
durch nichts gefährden zu lassen, wenn es sein muß, füsilieren 
zu lassen. Nach Lenins etwa eineinhalbstündiger Rede wird 
die Sitzung abgebrochen. Bucharin stellt mich Lenin vor. Sein 
erstes Wort: Nun, was sagen Sie zu Ihrem Däumig? Ich 
antworte: es sei mir unverständlich, wie er einen so törıchten 
Brief unterschreiben könnte. — »Ja, so sind die Unabhängigen: 
Sie haben kein Papiers, äußert Lenin. Ich mache ihn darauf 
aufmerksam, daß dies zum Glück nicht ganz stimme. Einige 
unabhängige Organe, wie die »Hamburger Volkszeitung · und 
das »Gothaer Volksblatt. hätten genug Papier dafür gehabt: 
sie haben die Moskauer Antwort bereits abgedruckt. 

Lenin bittet. ihn durch Klinger, den Geschäftsführer der 
III. Internationale. anrufen zu lassen. um eine Zeit zu 
bestimmen. wann er meinen Besuch erwarten wird. Er erkundigt 
sich mit sehr natürlicher Liebenswürdigkeit. ob es einem an 
nichts fehle. ob ich einen Dolmetscher habe und fügt sogleich. 
seine Fragen sich selbst beantwortend. hinzu: Das ist bei uns 
alles noch nicht gut organisiert. aber auch das wird noch werden. 

Die ersten Exemplare seiner neuen Broschüre »Der Radıkalıs- 
mus, die Kinderkrankheit des Kommunismus«, die soeben in rus- 
eischer Sprache erschienen ist. verteilt Lenin unter einigen Genossen. 


Sonntag. den 20. Juni 1920. 

Vormittags zehn Uhr mit mehreren Kameraden in ein 
Institut für Körperkultur. das einst ein Stift für adlige Waisen 
und junge Mädchen war. Sehr helle. sonnige Räume in einem 
alten Palast. Aufnahme finden Kinder von acht bis vierzehn 
Jahren und Studenten. Es wird unterrichtet: in Gymnastik. 
Tanz, Handwerk. Weben. Tischler- und Flechtarbeit, Malen. 
Modellieren. Musik. Plastik usw. Viele Lehrer. Ein Maler. 
ein Turnlehrer, ein Arzt wohnen im Hause. In diesem Institut 
für Körperkultur sind gegenwärtig 160 Kinder.. Alle sehen 


Russisches Notizbuch 87 
recht gut genährt aus. Knaben und Mädchen kurz geschoren. 
wie überall in Rußland. In hellen sauberen Kleidern, alle mit 
nackten Beinen. 

Wir bekommen eine Aufführung zu sehen, Übungen der 
einzelnen Gruppen. Unter Leitung einer Schülerin, einem schr 
hübschen, gut gewachsenen Mädchen von 12 oder 13 Jahren, 
singt die ganze Kindergesellschaft die Internationale. Das junge 
ehemals adlige Fräulein dirigiert. Dann folgen, nach der Methode 
Dalcrozes, gymnastische und rhythmische Ubungen. Zuerst von 
den Kleinsten sehr lustig und akkurat ausgeführt. Dann kommen 
die älteren von 12 bis 14 Jahren. darunter noch viele früher 
adlige junge Mädchen, die man als Waisen nicht entfernt hat. 
Sie üben rhythmisches Schreiten, sie tanzen nach dem Kommando 
einer Schülerin. Die Kinder komponieren die Musik. die 
Tänze, auch die Webmuster selbst. Alles in der Erziehung 
ist darauf eingestellt. in dem Kinde Selbständigkeit zu entfalten. 

Wir sahen uns die Schlaf- und Eßräume an. Alle peinlich 
sauber, hell und freundlich. 

Von diesem Institut für Körperkultur, das uns einen aus- 
gezeichneten Eindruck machte. nach Sokolniki. in eine Wald- 
schule. Das Schönste und Hellste. was ich bisher sah. Die 
Kinder laufen als Nacktfrösche herum, nur mit einem kleinen 
Schurz bekleidet. Knaben und Mädchen. In einem geräumigen 
Holzhaus wohnen etwa 100 bis 120 nur leicht tuberkulöse 
oder schwächliche, zurückgebliebene Kinder. Darunter ein 
Mozart, so von seinen Kameraden und der Leiterin genannt, 
ein achtjähriger fürchterlich skrophulöser Knabe von unge- 
wöhrlicher musikalischer Begabung. Er spielt uns etwas vor. 
er improvisiert. am Schluß mul er natürlich die Internationale 
spielen, ın die alle mit einstimmen. 

. Die Leiterin der Anstalt ist eine energische. junge 
Ärztin, die ın Zürich studierte und promovierte. Ein außer- 
ordentlich gewyandter. praktisch erfahrener und harmonischer 
Mensch. Wir wurden eingeladen, eın Frühstück ım Freien 


880 E BER Wilhelm Herzog 
einzunehmen. Und was man uns hier in der Mite der Kinder 
in der freien Natur, in der Sonne bot, gehört zum köstlichsten 
und einfachsten. was ich bisher erlebte. Wären wir erst so 
weit, allen Menschen ein solches Leben bieten zu können: 
zurückgekehrt zur Natur, entspannt, schlicht, befreit von allen 
Lügen der »Kulture. Hier ist schon Zukunftsland. Und dieses 
Kinderland soll unsere Zukunft sein. Diese kleine Einöde. mit 
den spielenden. singenden und tanzenden Kindern inmiſten des 
Elends der Moskauer Bevölkerung. war nicht nur ein Labsal. 
war nicht nur die engbegrenzte Verwirklichung eines Ideals. 
sondern mehr: es war ein Versprechen an die Zukunft. ein 
vorweggenommener Versuch der kommenden Generation. Sie 
wird eich gesund gebadet haben: durch Sonnenbäder, durch 
lichte und heitere Stunden, dıe nach Überwindung der wirt- 
schaftlichen Not und Qual des vom Krieg und von den Kriegs- 
folgen verwüsteten Landes die heute Lebenden kaum noch 
werden mitgenießen können, die aber die jetzt heranwachsenden 
Kinder kräftigen und steigern werden im Kampfe ums Daseın 
und in ihrem Daseinsgenuß. 


Montag. den 21. Juni 1920. 

Vormittags 11 Uhr erhalte ich den Besuch des alten 
Freundes und Jüngers Tolstois. Paul Birukoffs. Etwas sehr 
Wobltuendes geht von dieser ganz im Geiste Tolstoi lebenden 
Persönlichkeit aus. Seine Erscheinung hat etwas ungemein 
Würdiges und Alttestamentarisches. Er ist ein Mann von 
ungefähr 60 Jahren mit sehr schönem Kopf. von ganz slavischem 
Typus mit weißem Bart und sehr schönen Händen. Seine Tracht: 
die weile, russische Bluse mit dem Gurt. wie uns Tolstoi in 
Jasnaja Poljana auf eınem berühmt gewordenen Bild entgegen- 
tri. Er erzählt mir von seiner großen, auf vier Bände 
berechneten Biographie Tolstois. wovon bisher zwei Bände — 
auch im Deutschen — erschienen sind. Der erste 1906, der 
zweite 1909, bei Moritz Perles in Wien. Der drite Band 


Russisches Notizbuch u 881 
ist im Manuskript fertig. Am vierten arbeite er noch und er 
hoffe, ihn Ende 1920 zu vollenden. Für Romain Rollands 
»Tolstois, der in deutscher Übersetzung noch im Laufe dieses 
Jahres erscheinen wird, hafte Birukoff die Liebenswürdigkeit. 
mir einen großen Teil seiner Sammlung von Tolstoi- Bildern 
— die schönste und reichhaltigste, die es gibt — zur Ver- 
fügung zu stellen. 

Birukoff wohnt in Moskau bei dem nächsten Freunde 
Tolstois. Tschertkoff; er arbeitet innerhalb des Kommissarıats 
für Volksbildung mit: an einer eigenen Schöpfung. einer 
kommunistischen Siedlung. Er selbst bezeichnet sich als 
pazifistischer Kommunist. \ 

Mittags 2 Uhr in die III. Internationale zu Radek. Er 
erzählt mir von der irrsinnigen Hetze gegen mich. Mit mir 
habe die antibolschewistische Liga verhandelt. um mich zu 
gewinnen. Die Verhandlungen seien nur gescheitert an der 
Höhe des Kaufpreises. den ich gefordert häfte. Ferner: ich habe 
40 000 Mark unterschlagen bei der- Republik.. Die Phantasie 
dieser Subjekte kann sich in keiner anderen Richtung bewegen. 
Es ist immer wieder dieselbe Methode. Zur Gründung der 
Republik haften mir — so erzählte der Hauptverleumder Ernst 
Heilemann, der rothaarıge Mehrheitssozialist. Noskes intimster 
Freund unter freiem Himmel im Januar 1919 — also zur Grün- 
dung der Republik haften mir die Bolschewiki durch das Haus 
Bleichröder 2 Millionen Mark überwiesen. Leider stimmte es 
nicht, sonst würde die Republik vermutlich noch existieren. 
Dann floh ıch — nach der Verleumdung des »Vorwärts« 
(Chefredakteur Friedrich Stampfer; Urheber der Verleumdung: 
Herr Erwin Barth) — mit mehreren Hunderttausenden 
von deutschen Reichsmark in die Schweiz und legte sie 
dort ın Schweizer Papieren an. Der anonyme Schurke 
hat bis heute seine Schamlosigkeit nicht zurückgezogen. 
Ja nicht einmal eingestanden, daß er sie begangen hat. Was 
soll man mit solch einem Gesindel anfangen? Vor dem bürger- 


882 Wilhelm Herzog 


— — — e ie 


lichen Richter schleppen? Jeder Fuſtritt wäre zu schade, 
wäre Kraftverschwendung für ein so armseliges. sich selbst 
erniedrigendes Subjekt. Nicht genug damit, die Kee der 
Verleumdungen ordinärster Art bricht nicht ab. Um einen 
sehr unbequemen Gegner. der wie kaum ein zweiter die 
schmutzigen Kanäle dieser Burschen kennt, zu beseitigen. ihn 
möglichst geräuschlos zu meucheln, werden Gerüchte, An- 
deutungen, faustdicke Lügen als wahr kolportiert. so daß ; jene 
Atmosphäre entsteht, vor der man sich ekelt, in der man 
sich schämt, Mensch zu sein und mit solchen Lebewesen eine 
Luft zu atmen. , 

Radek rät, die Dinge nicht tragisch zu nehmen. Das muß 
so sein. Festzustellen wird sein, wie weit das Zentralkomitee 
der U. S. P. D. sich absichtlich oder unabsichtlich anstecken 
liel. ob es wirklich in meiner Abwesenheit gegen mich ein 
Urteil fallte und ob sich gar die sogenannten Linken an dem 
Meuchelmordversuch beteiligt haben. Wir müssen ne 
bis wir Bestimmteres erfahren. 


22. Juni 1920. 

Narodny Kommissariat Prosweschenja. 

Das Kommissiarıat für Volksbildung. 

In den Kreml zn Lunatscharsky. Zusammen mit Genossen 
Bombaccı und den drei holländischen Delegierten Wynkop, 
van Leuven- und Kruyt. In großen Zügen deutet Lunatscharsky 
an, welche Aufgaben sich das Kommissariat gestellt habe. 
Besonders auf dem Gebiet der Schule, der Arbeiterbildung. 
der Universität. Die Vereinigung von theoretischem Wissen 
und praktischer Anwendung sei überall oberstes Prinzip der 
neuen Erziehung. Aber allzugroße Schwierigkeiten ständen den 
Bemühungen des Kommissarıats entgegen. Die besten kom- 
munistischen Arbeiter, die bereits Schüler der Arbeiter- 
universität waren, haben sich freiwillig zur Front gemeldet. 
Die meisten Pläne zur Errichtung neuer Lehranstalten für 


!!!!! ß 8 
Kinder und Erwachsene müssen liegen bleiben oder zum 
mindesten zurückgestellt werden. Denn es fehlt — infolge 
des neuaufgeflammten Krieges — überall am Nötigsten. An 
Heizmaterial. Nahrungsmitteln, Lehrbüchern. Papier. Schreib- 
federn und an hundert anderen kleinen, aber unentbehrlichen 
Dingen. 

Fällt die Blockade der Entente, ist der Krieg mit den 
Polen und gegen den Baron Wrangel beendet, könnte man 
endlich aufatmen, so würde man sich ganz dem Aufbau und 
der schöpferischen Arbeit auf dem Gebiete der Volksbildung 
und Volkserziehung hingeben können. l 

Mit Bombaccı, den eeine italienischen Freunde scherzhaft den 
italienischen Lunatscharsky tauften. vom Kreml ins Kommissariat 
selbst. Lunatscharskys Sekretär, Genosse Wengroff. gibt uns 
eine ausführliche Darstellung des Arbeitsplanes und erläutert 
mit großer Sachkunde die mannigfachen Aufgaben der einzelnen 
Abteilungen des Kommissariats. 

J. 

1916 war das Schulwesen fast völlig zerstört. Durch die 
Einberufung der Lehrer, die Wirkungen des Krieges usw. 

1917 — zur Zeit Kerenskis — hafte Rußland nur 
Pläne. Ausgeführt wurde nichts. 

Die Oktoberrevolution 1917 hat ungeheure Probleme 
hervorgerufen. Die Beseitigung der Klassenschulen war die vor- 
nehmste Aufgabe der Bolschewiki. Eine einzige Schule für alle. 

Dieses Problem ist auch heute noch nicht gelöst. Man ist 
sich nur klar über. die Ausführung der wesentlichen Punkte 
und ist der Verwirklichung nahe. 

« Unter Volksbildung versteht das Kommissariat ein weiteres 
Gebiet als man es gewöhnlich in Europa umfaßt. 
Vorschule. Schule. Hochschule, Theater. 

1. Die Sorge des Kommissariats für das Kind beginnt 

vom driten Jahre an. 


884 Wilhelm Herzog 


2. Bis zum dritten Jahre des Kindes hat die Sorge das 
Kommissarıat für Gesundheitswesen. 

3. Von drei bis acht Jahren sind die Kinder — ohne 
Unterschied der Klassen — ın Institutionen untergebracht. 
Hier sollen alle Kinder aufgenommen werden, da dies infolge 
des Mangels an Kleidung. Schuhwerk usw. jetzt nur ın 
begrenztem Umfange möglich ist, so werden drei Kategorien 
von Kindern bei der Aufnahme bevorzugt: 

1. Die Kinder der Rotarmisten. 

2. Die Waisen der Revolution. 

3. Die ärmsten Kinder. 


Die Institutionen. 

1. Kindergärten (zirka drei Stunden täglich). 

2. Kinderheime (von morgens bis abends, 10—6 Uhr), 

3. Kinderhäuser. 

In allen diesen Institutionen bekommen Jie Kinder eine 
Erziehung nach einer kombinierten Methode von Fröbel- 
Montessori im Sinne der N S. F. S. R (Russischen 
Sozialistischen Föderativen Sowijet- Republik). 

Vor 1917 hae Rußland fast gar keine 88 
Und die wenigen waren nur für wohlhabende Eltern. Jetzt 
werden alle diese Kinder durch Staatsmiftel verpflegt und 
gekleidet. 

Anfang 1920 hafte Sowjetrußland 3623 Kinderinstitutionen 
mit 205000 Kindern. Diese Zahlen beziehen sich nur auf 
die 40 Gouvernements Zentralrußlands, also nicht auf Ukraine, 
Sibirien. Kaukasus, Taschkent- und Donrepublik. 

In Moskau sind etwa 200 Kinderanstalten. Im Sommer 
1920 wurden etwa 50000 Kinder aus Moskau aufs Land 
gebracht und in früheren Bourgeoisie-Häàusern in Sommer- 
wohnungen einquartiert. Das charakteristische an der Aktivität 
der Sowjetregierung auf diesem Gebiete ist: das erste. was 
sie beginnen, sie eröffnen Vorschulinstitutionen und sie kämpfen 


Russisches Not izbu eb 885 
gegen das Analphabetentum. In den 40 Gouvernements be- 
finden sich 7 Millionen Kinder. Rußland hafte vor 1917 
kaum Pädagogen. Drei Ursachen. weshalb bisher nur ein 
geringer Teil aller Kinder aufgenommen werden konnte. 
1. zu wenig Pädagogen, 2. Mangel an Nahrung und Kleidung. 
3. keine Häuser. 

In den neuerrichteten Kinderhäusern arbeiten jetzt 
11234 Pädagogen, Lehrer und Lehrerinnen. Die größte 
Anstrengung konzentriert das Kommissariat auf die Vor- 
bereitung dieser Pädagogen. Das ist das Problem, äußert 
Genosse Wengroff. an dessen Lösung wir mit äußerster 
Energie arbeiten. Während der letzten 2 ½ Jahre haben wir 
— nur ın Moskau — 400 Pädagogen ausgebildet und 104 
Instruktoren. Unter Pädagogen verstehen wir die Lehrer, die 
Praktiker; unter Instruktoren die Organisatoren der Heime, | 
der Kurse, der Schulen. Die Instruktore kommen in ein 
Gouvernement und organisieren die Heime und Schulen im 
ganzen Gouvernement oder in einem Teil des Gouvernements. 
Genosse Wengroff selbst war Instruktor im Lenin-Zug. der 
nach Sibirien ging. 

Für die Instruktoren wurden 40 Kosei in ganz Rußland 
abgehalten. An einem Kurse nahmen 100 Schüler teil. 
Besonders wird unter den Arbeiterinnen agıtıert, damit sie 
an diesen Kursen für Instruktoren teilnehmen. Es gıbt keine 
Diplome und keine Examen. Dauer der Kurse: vier, sechs 
oder acht Monate. Je nach der Reife des Schülers. Die 
Grundidee der Erziehung ist dıe Arbeit und Selbstbedienung 
des Kindes. Das Kind soll lernen, vom Augenblick an, wo es 
aufsteht bis zum Abend, wenn es zu Bett geht, alle seine 
Wünsche selbständig zu erfüllen. Wenn das Kınd morgens 
aufsteht. so macht es selbst das Bett. bereitet sich sein Früh- 
stück, wäscht das Geschirr ab nnd erledigt alle Verrichtungen 
selbst, die bisher Dienstboten und Erwachsene erledigen 
mußten. 


886 Wilhelm Herzog 


Das Budget für diese Kinderinstitutionen stellte sich 1919 
auf 518000000 Rubel. Das sind die Selbstgestehungspreise 
der Sowjetregierung für Lebensmittel. Lehrmittel usw. und 
die Ausgaben für dıe Gehälter der Lehrer und Lehrerinnen. 

II. Kinderschutz. 

Die Institutionen für Kinder von 8—15 Jahren. Diese 
Institutionen haben den Charakter von Kindertamilien. Unter 
dem Zarismus gab es in ganz Rußland 583 Ninderasyle. die 
durch Wohltätigkeit von Privatleuten entstanden waren und 
erhalten wurden. 

1919 gab es 2394 Kinderasyle und 70 Hauser für 
physisch schwache und geistig minderwertige Kinder. 

Jugendliche Verbrecher werden durch einen »Kinder- 
sammler« zum Teil von der Straße aufgelesen, ihr Charakter 
beobachtet und dann auf die Kinderinstitutionen verteilt. Sie 
bleiben 1—3 Monate im Kollektor, wo sie psychisch und 
physisch untersucht werden. 

In 583 Asylen waren (unter dem Zarısmus) 29 650 Kinder. 

In 2493 Asylen sind (jetzt) 180 000 Kinder. 

Die Kosten für diese Kinderasyle stellten sich 1919 auf 
859 000000 Rubel. 

Unter dem Zarismus: militärische Disziplin und Protektions- 
wirtschaft. 

J etzt: Kinder der Ärmsten und freie Erziehung. Die 
Hauptleiterin dieser Institutionen äußerte kürzlich: Wir würden 
alle Kinder am liebsten in unsere Anstalten aufnehmen und 
dort erziehen. Wir könnten es auch, wenn wir nur genügend 
Nahrungsmiſtel hätten. Keine Zigaretten verkaufende Knaben 
und andere spekulierende Kinder gäbe es mehr auf den Straßen! 

Unter dem Zarismus gab es in den Dörfern meist nur 
kirchliche Schulen mit zweijährigem Schulunterricht. 

Außer diesen Kırchenschulen existierten noch Gemeinde- 
schulen. aber sie konnten nur eine geringe Anzahl von Kindern 
aufnehmen. Die Regierung des Zaren warf nur wenig Geld 


Russisches Notizbuch _ 887 


für diese Schulen aus. So wartete ein Dorf vierzehn Jahre 
lang, um eine Schule eröffnen zu können. 

Unter dem Zaren gab es ın den Städten: 

1. Elementarschulen (Volksschulen). 
2. Realschulen und Gymnasien. 

In die Gymnasien wurden nur Kinder der privilegierten 
Klassen aufgenommen. 

Noch um das Jahr 1900 äußerte ein Minister Zweifel, 
ob man Kinder von Köchinnen in die Gymnasien aufnehmen 
könne. Das Schulgeld war so teuer, daß Kınder weniger 
bemiftelter Eltern nicht imstande waren, ihre Kinder auf diese 
Schulen zu schicken. 

Die Disziplin in der Schule war gestützt auf: Karzer, 
schlechte Noten, Schulaufseher. 

Die Aufgabe, die der neuen Erziehung in erster Linie 
erwuchs, war: alle Klassengegensätze in der Schule zu beseitigen. 

Die letzte Schulstatistik stammt aus dem Jahre 1911. 
Dort waren in 40 Gouvernements 55000 Elementarschulen. 
Von 1911 an wurden jährlich 2500 Schulen eröffnet. 
1917 gab es bereits. . . . . 67000 Elementarschulen 
1919 am 1. Juli . 75 000 
Im Jahre 1911 gab es in Rußland 85 000° Lehrer 
Im Jahre 19119 Rutland 170000 8 
1911 wurden in den Schulen 3 500 000 Kinder unterrichtet 
1919 wurden „n n s 6 000 000 

Im ganzen gibt es in Rußland 8 Millionen Kidi ın 
schulpflichtigem Alter. 

Schule des U. Grades 
für Kinder von 12—17 Jahren. 

1914: 1622 Schulen ın ganz Rufland*). 

1919: 3600 Schulen mit 470 000 Kindern und 29 000 
Lehrern. Im ganzen aber hat Rußland 6 Millionen Kinder 
in diesem Alter! 


) Nur in den Städten. Genauere Statistiken fehlen. 


888 Wilhelm Herzog 


Im Jahre 1919 betrugen die Kosten hierfür (für dıe 
Schulen I. und II. Grades) 9 900 000 Rubel. In diese Zahl 
sind einbegriffen: Verpflegung. Kleidung der Kinder und die 
Gehälter für dıe Lehrer. 

Für die Kinder aller dieser Schulen wurden 1919 
37000000 Arschin Stoff (für Kleidung, Wäsche) ausgegeben. 
„Und wir brauchtene — klagte Genosse Wengrof — 
140 000 000 Arschin. Wir müßten, um die Kinder mit Schuh- 
werk versehen zu können, 9000000 Paar Schuhe haben. 
Aber wir haben sie nicht, weil das Leder für die Armee 
verwendet werden mull. Nur noch ein Beispiel für den 
ungeheuren Mangel am Allernotwendigsten, die der Krieg und 
die Blockade’ verursachten: Der Mangel an Schreibfedern ist 
so groß, daß eine Feder auf 500 Kinder kommt. Deshalb 


mußte man wieder zum Gänsekiel zurückkehren! 


Ä 23. Juni 1920. 

Am nächsten Tage setzte Genosse Wengroff seine Dar- 
stellung fort. Er erklärte Bombaccı und mir die mannigfachen 
Bemühungen des Kommissariats, allen Schwierigkeiten zum 
Trotz den Aufbau des Schulwesens nıcht zu unterbrechen, 
‘sondern vielmehr zu vervollkommnen. zu erweitern und neu 
zu organisieren. Er betonte immer wieder. daß das Grund- 
prinzip aller ihrer Kulturbestrebungen die Arbeit sei: die 
Arbeit des Kindes über die Vorschule zum Studentenarbeiter 
durch das Leben. 

Die Einrichtung der Schule. 
Der Schulrat. 

Er leitet die Schule. Er besteht aus allen Pädagogen de: 
Schule, einem Teil der Kinder (vom 12. Jahre an), der 
Eltern und der Einwohner der Stadt oder des Stadtviertels. 
Kinder, Eltern, Einwohner stellen jedoch nicht mehr als die 
Hälfte der Mitglieder des Schulrats. 


Russisches Notizbuch  _ __.__ — 389 

Die Funktionen des Schulrats: Aufstellung des 
Schulprogramms, der Wirtschaftseinrichtung. der administrativen 
Verwaltung. 

Die Sowjetregierung hat kein stabiles Programm. Sıe hat 
eine Reihe von Musterschulen — in jedem Gouvernement zwei 
bis drei — eın gerichtet. Nach vorangegangenen experimentellen 
Versuchen. Bisher ist noch keine Schule so eingerichtet, wie 
das Kommissariat sich das Ideal denkt. 

„Wir machen jetzte — erklärte Genosse Wengroff = 
sdie größten Anstrengungen, aus dem Proletariat Kräfte für 
den Lehrberuf heranzubilden.« 

Es existierte in Rußland ein Lehrerbund. 1917 haben die 
Mitglieder dieses Bundes alle Anordnungen der Regierung 
sabotiert. Jetzt — seit Anfang 1918 — gibt es einen Bund 
aller Arbeiter für Volksbildung und sozialistische 
Kultur.“ In ihm sind vertreten nicht nur Lehrer, sondern 
auch Lektoren, Bibliothekare. Schulangestellte usw. Dieser 
Bund gehört dem Allrussischen Gewerkschaftsverband an. 

Vorbereitung der Lehrer. 
I. Grad. 
1. Die höheren Lehranstalten: Früher 2 Institutionen (1916) 
Jetzt 51 a (1919) 
Die Kurse dieser Anstalten dauern 4—5 Jahre. 
II. Grad. 
2. Die mittleren Lehranstalten: Früher (1916) : 19 Anstalten 
Jetzt (1919) : 156 „ 
Die Kurse dauern 3 Jahre. 
III. Grad. 
3. Die niederen Lehranstalten: Früher (1916) 150 Anstalten. 
Jetzt (1919) 100 m 

Die Kurse dauern 1 Jahr. 

Die geringe Zahl der Anstalten des III. Grades erklärt 
sich daraus, daß die Lehrer des III. Grades in die Anstalten 
des IL Grades aufgestiegen sind. 


888 Wilhelm Herzog 


Im Jahre 1919 betrugen die Kosten hierfür (für die 
Schulen I. und II. Grades) 9 900 000 Rubel In diese Zahl 
sınd einbegriffen: Verpflegung. Kleidung der Kinder und die 
Gehälter für die Lehrer. 

Für die Kinder aller dieser Schulen wurden 1919 
37 000 000 Arschin Stoff (für Kleidung. Wäsche) ausgegeben. 
„Und wir brauchtene — klagte Genosse Wengroff — 
140 000 000 Arschin. Wir müßten, um die Kinder mit Schuh- 
werk versehen zu können, 9 000 000 Paar Schuhe haben. 
Aber wir haben sie nicht, weil das Leder für die Armee 
verwendet werden mul. Nur noch ein Beispiel für den 
ungeheuren Mangel am Allernotwendigsten, die der Krieg und 
die Blockade’ verursachten: Der Mangel an Schreibfedern ist 
so groß, daß eine Feder auf 500 Kinder kommt. Deshalb 


multe man wieder zum Gänsekiel zurückkehren! 


23. Juni 1920. 

Am nächsten Tage setzte Genosse Wengroff seine Dar- 
stellung fort. Er erklärte Bombaccı und mir die mannigfachen 
Bemühungen des -Kommissarıats, allen Schwierigkeiten zum 
Trotz den Aufbau des Schulwesens nıcht zu unterbrechen, 
sondern vielmehr zu vervollkommnen. zu erweitern und neu 
zu organisieren. Er betonte immer wieder, daß das Grund- 
prinzip aller ıhrer Kulturbestrebungen die Arbeit sei: die 
Arbeit des Kindes über die Vorschule zum Studentenarbeiter 
durch das Leben. 

Die Einrichtung der Schule. 
Der Schulrat. 

Er leitet die Schule. Er besteht aus allen Pädagogen der 
Schule, einem Teil der Kinder (vom 12. Jahre an), der 
Eltern und der Einwohner der Stadt oder des Stadtviertels. 
Kinder, Eltern. Einwohner stellen jedoch nıcht mehr als die 
Hälfte der Mitglieder des Schulrats. 


Russisches Notizbuch _____________889 

Die Funktionen des Schulrats: Aufstellung des 
Schulprogramms, der Wirtschaftseinrichtung, der administrativen 
Verwaltung. 

Die Sowjetregierung hat kein stabiles Programm. Sie hat 
eine Reihe von Musterschulen — in jedem Gouvernement zwei 
bis drei — eingerichtet. Nach vorangegangenen experimentellen 
Versuchen. Bisher ist noch keine Schule so eingerichtet, wie 
das Kommissariat sich das Ideal denkt. 

„Wir machen jetzte — erklärte Genosse Wengroff == 
sdie größten Anstrengungen, aus dem Proletariat Kräfte für 
den Lehrberuf heranzubilden. 

Es existierte in Rußland ein Lehrerbund. 1917 haben die 
Mitglieder dieses Bundes alle Anordnungen der Regierung 
sabotiert. Jetzt — seit Anfang 1918 — gibt es einen Bund 
aller Arbeiter für Volksbildung und sozialistische 
Kultur.“ In ihm sind vertreten nicht nur Lehrer, sondern 
auch Lektoren. Bibliothekare. Schulangestellte usw. Dieser 
Bund gehört dem Allrussischen Gewerkschaftsverband an. 

Vorbereitung der Lehrer. 
I. Grad. 
1. Die höheren Lehranstalten: Früher 2 Institutionen (1916) 
Jetzt 51 a (1919) 
Die Kurse dieser Anstalten dauern 4—5 Jahre. 
II. Grad. 
2. Die mittleren Lehranstalten: Früher (1916): 19 Anstalten 
Jetzt (1919) : 156 = 
Die Kurse dauern 3 Jahre. 
III. Grad. 
3. Die niederen Lehranstalten: Früher (1916) 150 Anstalten. 
Jetzt (1919) 100 . 

Die Kurse dauern 1 Jahr. 

Die geringe Zahl der Anstalten des III. Grades erklärt 
sich daraus, daß die Lehrer des III. Grades i in die Anstalten 
des II. Grades aufgestiegen sind. 


890 | Wilhelm Herzog 


Eine neue Einrichtung: Schnellkurse für Lehrer.. 
Ihre Dauer: Von sechs Wochen bis zu einem Jahr. 

An diesen Kursen nehmen teil vornehmlich Arbeiter aus 
der Textil-. Eisenindustrie (Schlosser. Dreher usw..). aus den 
land wirtschaftlichen und volks wirtschaftlichen Betrieben. wie 
überhaupt aus allen Zweigen der Industrie und Landwirtschaft. 

300 solcher Kurse finden jährlich ın den 40 Gouverne- 
ments statt. 

Die höheren Schulen. 

Universitäten. Höhere technische Schulen. Polytechnikum. 

Die zarıstische Regierung hafte diese Anstalten nur im 
Zentrum Ruflands errichtet. In Moskan, Petersburg. Kasan 
Saratoff. Perm. Fünf waren genug. In Sibirien: Tomek. In der 
Ukraine: Charkow. Kiew. Eine Bergakademie in J ekaterınoslaw. 

Seit 1918/19 wurden Universitäten errichtet in folgenden 
Städten: In Smolensk. Nis bnij- Nowgorod. Jaroslaw. Kostroma. 
Tambow, Woronesh. Samara. Astrachan, Taschkent. Sowjet- 
rußland hat jetzt im ganzen 15 Universitäten. Sie haben 
keinen typisch kommunistischen Charakter. Als Muster wurden 
die besten bürgerlichen Universitäten. besonders die amerika- 
nischen genommen. Früher gab es in allen Fakultäten. außer 
der medizinischen. theoretischen Unterricht. Die meisten der 
Universitäten sind gebildet nach dem Typus der Universität 
von Toronto (Canada). Ganz durchgeführt nach diesem System 
nur die Universität von Nishnij- Nowgorod. 

In allen Universitäten wurde die gröſte Aufmerksamkeit 
auf die land wirtschaftliche Fakultät gelegt. In den folgenden 
fünf Universitäten konnte die land wirtschaftliche Fakultät 
schon eingerichtet werden: Tambow. Saratoff, Astrachan, 
Samara, Perm. In Kasan wurde eine Forstakademie gegründet. 

Es gibt zwei Typen von hohen Schulen: 

1. Medizinische und sozialwissenschaftliche Schulen. 
2. Professionelle Schulen (technische, landwirtschaft- 
liche, handwerkliche Schulen). 


Russisches Notizbuch 8989991 


Oberstes Prinzip ist überall: die praktische Anwendung. 

»Da unser nächstes Ziel jetzt iste — so schloß Genosse 
Wengroff an diesem Tage seine sachlichen Ausführungen =s 
die professionelle Bildung zu größter Entwieklung zu bringen. 
und da wir bis zum Herbst 1920 gezwungen smd, 4000 
Ingenieure auszubilden, so sind die Studenten der technischen 
professionellen Schulen militarisiert worden. Sie müssen 8 Stunden 
täglıch arbeiten, bekommen »Pajok« (eine erhöhte Ratıon) und 
werden von allen anderen Arbeiten befreit.« 

Ich weil nicht, ob ich schon folgendes notiert habe: ein 
Dekret bestimmt. daß jeder nach dem 16. Lebensjahre das 
Recht zum Universitätsbesuch hat. Während die Universitäts- 
kurse, an denen bürgerliche und halbbürgerliche Studenten teil- 
nehmen, jetzt fast leer sind, nehmen 5000 Studenten an der 
Arbeiterfakultät teil. Vorschulen waren früher nicht vorhanden. 
Jetzt sind in Kindergärten 200 000 Kinder untergebracht. In 
Internaten: Waıisen- und Proletarierkinder, im ganzen etwa 
700000. Von drei bis acht Jahren. Man nennt sie »Re- 
gierungs-« oder »Staatskinder«. 


« x 
* 


Abends gegen 7 Uhr mit Axelrod in das Künstlerische 
Theater, die berühmte Bühne Stanıslawskis. Es ist offenbar 
Sommer- Spielplan. Man gibt eine Operette -Die Tochter der 
Madame Angot«, sehr reizend, mit guten Kräften, geschmackvoll, 
aber ganz in bürgerlicher, konventioneiler Manier, und eins der 
Berliner Opereftentheater am Schiffbauerdamm oder in der 
Friedrichstraße spielte den Kitsch mit nicht schlechteren und 
nıcht geringeren künstlerischen Mitteln. Von einem revolutionären 
Repertoire, auch in diesem Theater, noch keine Spur. Woher 
sollte es auch kommen? Wie der Krieg, so hat auch die 
Revolution ın den Dichtern und Künstlern nur ganz wenige. 
ganz vereinzelte Werke losgelöst von ırgend welchem Wert, 
von irgend einem mit dem Weltgeschehen, mit der Welt- 
27 


892 Wilhelm Herzog 


revolution verbundenen Geist. Die wichtig genommenen 
Nichtigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft beherrschen auch 
die Theater der Übergangsperiode. Selbst nach der Diktatur 
des Proletariats bleiben die Schaubühnen die Tummelplätze 
miſtelmaſiger oder revolutionsfeindlicher Skribenten, die früher 
die beliebtesten Lieferanten der Bourgeoisie waren. 

Die westeuropäischen. vom (sroßkapıtal ausgehaltenen 
Zeitungen, behaupteten allerdings — neben den tausendfachen 
täglichen Lügen, die sie sonst ihren armen Lesern vorsetzen 
müssen —. daß in Sowjetrußland alle Theater geschlossen sind. 
Es lohnt nicht. jeder Lüge den Hals umzudrehen. Es hilft 
auch nichts. Es ist die berühmte Hydra. Schlägt man ihr einen 
Kopf ab, so wachsen ıhm hundert nach. 

Deshalb nur ganz kurz sachliche Feststellungen auf Grund 
des mır vorliegenden Programms der Moskauer Theater: 

»Alexeew«e-Volkshaus: Mücterlicher Segen. Die Kinder 
des Waniuschin. Der König amüsiert sich. Tage unseres 
Lebens. 

»Fledermaus«: Lew Ouritsch Sinitehin. Die Vize- 
Uniform. Das Goldene Kalb. Abend arrangiert von B. Borissow. 

Nikitski- Theater: Gasparone, der Seeräuber. 

Eremitage: Geschlossenes Theater: Lakaien. Treubruch. 
Florentiner Tragödie. Der Strohhut. Treubruch. Lakaien. 

Spiegeltheater: Carmen. Rigoletto. Boris Godunow. Carmen. 
Die Russalka. Traviata. 

Sommertheater: Anschauungsunterricht. Chamäleon usw. 

Neuer Park: Symphonische Konzerte. 

Aquarium: Geschlossenes Theater: Zwei Schwätzer. Der 
Dieb. Sonnenuntergang. Mil Hobbs. Der Dieb. 

Offene Bühne: Abend des Humors und der Scherze. 

Das sind alles nur Vorstellungen der Sommerbühnen. Die 
guten Theater haben ihre Schauspieler in die Ferien geschickt. 
Sie sind in der Zeit vom 1. Juni bis zum 1. September 
geschlossen. In dem am meisten besuchten Theater der Eremitage, 


Russisches Notizbuch | 893 


im Spiegeltheater. gastiert Schaljapin drei- oder viermal in 
der Woche. Ähnlich wie bei uns in Berlin im Deutschen 
Theater oder in den Kammerspielen Pallenberg in der Familie 
Schimeck die Sommerfreuden der Berliner erhöht, so ent-. 
zücken sich die Moskauer an ihrem Schaljapin. Nur mit 
dem Unterschied. daß Pallenberg ein großer, trotz allen 
Seitensprüngen ernster Künstler ist und Schaljapın ein welt- 
berühmter Primadonnerich. eine schon ausgesungene Lerche, eine 
eitle Rıesenkanone, ein Komödıant ganz großen Stils und begabt 
mit einer Routine, die schon wieder etwas Künstlerisches hat. 
Er gehört in die Reihe der Sandrock, Sarah Bernhard, 
Sonnenthal, de Max, d. h. also in die Internationale der etwas 
von der Zeit mitgenommenen ‚Schauspielermajestäten. 

Jetzt ist er natürlich Kommunist und man erzählt sich 
die ergötzlichsten Geschichten von seiner nicht ganz gelungenen 
Umwandlung: vom zaristischen Hofschauspieler bis zum Freund 
der Volkskommissare. Man wirft ihm vor, für sein Auftreten 
pro Abend eine Gage von 300000 Rubel zu verlangen, die 
er auch bekommen soll. Andere, die ihn entschuldigen, erklären, 
wohl orientiert, er müsse seche Familien und 22 Kinder 
ernähren. 

‚Die Schauspielergagen ın Sowjetrußland sınd eın besonderes 
Kapitel, und ich hoffe darüber mich noch genauer orientieren 
und bestimmteres feststellen zu können. So viel wie ich bisher 
hörte, erhalten die Schauspieler und Schauspielerinnen relativ 
schr hohe Gagen, mit denen sie selbst angesichts der grotesken 
Lebensmiftel- und Kleidungspreise gut auskommen können. Die 
Mindestgage beträgt zirka 20000 Rubel monatlich mit reich- 
lichem Pajok: mittlere Schauspieler verdienen monatlich 100 000 
bis 150 000 Rubel (mıt Gastspielen). Eine junge, nicht bedeutende 
Schauspielerin, erhält für einen Abend, den sie gastiert, 20 
bis 30000 Rubel. Ich will mich aber noch genauer erkundigen, 
um über diese wenig kommunistische Organisation des Theater- 


betriebes wahrheitsgetreue Angaben zu erhalten. 


894 | BER Wilhelm Herzog 
23. Junı 1920. 

Vormiftags im Kommissariat für Volksbildung. wo 
Wengroff. Lunatscharskys Sekretär. unterstützt von seiner 
Gehilfin. einer früheren Nunstmalerin. die ausführliche 
Darstellung der Aufgaben des Volkskommissarıats fortsetzt. 
dıe er gestern begonnen hatte. Während unseres Gesprächs 
erhalte ich die Mitteilung, daß Lenin telephoniert hat. er 
erwarte mich. Da kein Auto vorhanden. wird eine Droschke 
geholt: ein Fräulein. das mich begleitet. zahlt dem Kutscher 
im voraus den verlangten Fahrpreis: dreitausend Rubel. 

In den Kreml. in das frühere Gerichts- oder Senatsgebäude. 
Ich komme ins Vorzimmer. Alles sehr einfach, beinahe karg 
eingerichtet. Lenins Sekretärin. eine rührende. Kleine. bueklige 
Genossin, sagt mir, dal Lenin mich sogleich empfangen werde. 
Nach zwei bis drei Minuten trete ich in sein Arbeitszimmer. 
Alle Bilder von ihm lügen. Er ist ein kleiner. untersetzter 
Mann mit einem keineswegs besonders auffallenden Kopf. Er 
hat einen sehr durchgearbeiteten Schädel, kleine, äußerst kluge, oft 
listig blickende Augen, ein mit vielen Sommersprossen bedecktes 
Gesicht. das nach unten in einen kleinen, bräunlichen 
Spitzbart verläuft. Was sofort auffällt, ıst: er lacht gerne und 
herzlich. Er hat das schlichte Wesen, das nur ganz große 
oder ganz einfache Menschen haben. Nichts Gekünsteltes, 
nicht die geringste staatsmännische Geste, kein Feuerwerk des 
Geistes, sondern eine selbstverständliche, allen Fragen des Lebens 
offene Menschlichkeit. eine völlig unbetonte Natürlichkeit 
offenbart sıch und nımmt gefangen. Er ist kein Popanz, er 
fühlt sich nicht als Gott. sondern als einer. der durch gründliche 
Arbeit von Jahrzehnten eine Sammlung von Kenntnissen und 
Erfahrungen erworben hat, die ihn — zusammen mit seiner 
Klugheit und seiner strategischen Begabung — mehr als andere 
befähigt hat. vor dem ungeheuerlichen Entscheidungskampf der 
entschlossenste und zugleich kühnste Führer des Ordens der 


Bolechewiki zu werden. Diese am meisten verfolgte und 


Russisches Notizbuch 89985 
von allen revolutionären Parteien am giftigsten verleumdete 
Organisation zeigt in der Tat eine auffallende Ahnlichkeit 
mit dem rücksichtslosesten und kühnsten miftelalterlichen Orden 
der katholischen Kirche. dem Orden der Jesuiten. Das Absolute 
ihrer Weltanschauung. die strenge Disziplin. der Fanatismus 
für ihre Idee, das Großartige, das Naffinement ihrer Propaganda. 
der leidenschaftliche Wille zum Sieg. der sie unsentimental 
und hart macht und sie selbst vor Brutalitäten und Grausam- 
keiten nicht zurückschrecken läßt, und über all diesem der 
religiöse Glaube, daß durch ıhr Weltsystem und ihre Methoden 
die menschliche Gesellschaft dem Chaos entrissen und erlöst 
werden wird, die unbeirrbare und unermüdliche Arbeit für 
dieses Ziel. — kurz alle diese außerordentlichen Werte, 
Eigenschaften und Kräfte sind den Mitgliedern des Ordens 
Jesu und der Partei der Bolschewiki gemeinsam. Der geniale 
Organisator des Jesuitenordens Ignatıus von Loyola, gereinigt 
von dem Schmutz, den Legenden, den Lügen, die der Unver- 
stand oder die Feindschaft über ihn erzeugt haben, diese 
Gestalt muſ heute revolutionären Marxisten in ihrer historischen 
Bedingtheit und Notwendigkeit anders erscheinen, als liberalen 
Sonntagspredigern, banalen »Freidenkerne oder gottlosen Klein- 
bürgern. Und dieser Ignatius von Loyola hat sich in seinen extremsten 
Antipoden verwandelt. in Lenin, dessen Jünger hängen an seiner 
Lehre mit derselben Inbrunst. wie vor fünf Jahrhunderten die 
radikalsten. fanatischsten Mönche an ihrem Ignatius. Der eine 
wurzelt in dem revolutionären Erdreich des Nazareners. der 
andere in der weltumwälzenden Lehre Karl Marxs. dessen 
unbeirrbarer und konsequentester Jünger. dessen Testaments- 
vollstrecker er wurde. Die Metamorphose auf dem Wege von 
fünfhundert Jahren von Loyola bis Lenin offenbart die 
Befreiung des menschlichen Geistes aus dem Kerker kirchlicher 
Traditionen und Dogmen. Ein Antijesuit erster Ordnung. der 
Antichrist des 20. Jahrhunderts. personifiziert in Lenin. be- 
tinnt den Kampf mit seiner kleinen Sekte, erobert die Macht. 


896 Wilhelm Herzog 
weil sie zu halten und streut den Samen der Weltrevolution 
in alle Länder aus. Er — wie Loyola zu seiner Zeit — 
nur einer der leidenschaftlichsten Träger einer notwendigen 
Idee. die gebietersch und unabweisbar Verwirklichung 
fordert. 

Das Gespräch mit Lenin dauerte etwa eineinhalb 
Stunden. Wir sprachen über seine letzte Arbeit: -Der 
„Radıkalismus“, die Kinderkrankheit des Kommunismus. Er 
fragte sehr interessiert nach den gegenwärtigen deutschen 
Parteiverhältnissen, obschon er selbst sie sehr genau kennt. — bis 
auf Einzelheiten, die ihm zur Ergänzung willkommen sind. 
Lenin hat im Laufe seines politischen Lebens alle Formen des 
Kampfes am eigenen Leibe erfahren. Lachend erzählt er. wie 
die Mensche wiki ihn und seine Freunde verdächtigten: »Keine 
schmutzige Waffe war ihnen schmutzig genug, um, wenn 
möglich, den gefährlichen Gegner zu beseitigen. Er hafte 
gestohlen, Unterschlagungen begangen, er war gekauft, eın 
deutscher Spion, ın Verbindung mit dem deutschen Generalstab. 
Zum Beweise derartiger Behauptungen wurden Dokumente nıcht 
ohne Raffinement gefälscht. Und mit Wonne übernahm die 
Bourgeoisie und ihre Presse dieses Material ihrer Helfershelfer.« 

Als er sıch unter der Regierung Kerenskis versteckt hielt. 
schalt man ihn einen Feigling. Und selbst nahestehende Freunde 
rümpften über sein »unrevolutionärese Verhalten die Nase, 
mifbilligten es scharf und laut. Er jedoch tat. was 
Klugheit ıhm gebot. ; 

Lenin fuhr fort: »Der verleumderische Klatsch ist die letzte, 
nicht zu unterschätzende Waffe der Bourgeoisie und ihrer 
Lakaien, der konterrevolutionären Opportunisten aller Schat- 
tierungen. Jetzt. wo wir an der Macht sind, wo wir allein 
die Presse und alle Organe der öffentlichen Meinung in der 
Hand haben, richtet dieser Klatsch, dieses Übermiteln 
tendenziöser Gerüchte von Mund zu Mund über Verfolgungen. 
Erschießungen, besonders aber über Niederlagen an der Front 


Russisches Notizbuch 897 
— eine Tätigkeit, die die Bourgeoisie äußerst geschickt betreibt — 
unsäglichen Schaden an. Als Koltschak, Denikin, Judenitsch 
uns gefährlich bedrohten, blühte dieser gegen uns gerichtete 
Klatsch am kräftigsten. Aber auch jetzt noch. sobald eine uns 
ungünstige Meldung von der Front eintrifft, ist sie 24 Stunden 
früher bereits verunstaltet. vergröbert und gesteigert von den 
bourgeoisen Schichten ın Umlauf gesetzt worden. In kritischen 
Situationen ist das besonders gefährlich. Wir haben es erlebt. 
daß in solchen Stunden nicht ganz Gefestigte. die schon glaubten. 
zu uns zu gehören, schwankend wurden. Und das ist es. worauf 
es jene Verleumdungsstrategen Immer abgesehen haben. 

Im Grunde jedoch sind alle diese infamen, persönlichen 
Mittel Lappalien im revolutionären Kampf. Mögen eie von 
sogenannten Sozialisten, heimlichen Konterrevolutionären oder 
von den aufrichtigen Repräsentanten der Gegenrevolution kommen. 
Fünfzehn Jahre lang haben wir Bolschewisten das durchgemacht. 
Manch einer von uns, der zu sensibel war, ertrug es nicht 
und kehrte angeekelt der Politik den Rücken. Manch einer 
brach zusammen. Aber man muß lernen, hart und unempfindlich 
gegen so etwas zu werden. Schwerer wiegend wurde für uns 
die Tatsache, daß Intellektuelle, die mit uns sympathisierten — 
durch die Greuelgeschichten beeinflußt — erklärten, von uns nichts 
wissen zu wollen. Jetzt, seit einigen Monaten erst, nachdem 
sie erkannt haben, daß sie belogen und irregeführt worden 
sind, kehren sie langsam zurück. 

Lenin erkundigte sıch dann über das Verhältnis der 
K A. P. D.-Arbeiter zur K. P. D. Er bafe sich mit dem 
Delegierten der K. A. P. D., dem Genossen Appelt aus Hamburg. 
zweimal längere Zeit unterhalten und von diesem Arbeiter. 
wie er sagte, einen guten Eindruck bekommen. Trotz aller 
Konfusion, die aus seiner an sich sehr sympathischen und 
begreiflichen Feindschaft gegen den Parlamentarismus und gegen 
die alten Gewerkschaften in ihm entstanden sei. Lenin habe 
sich aber gefreut. von ihm zu hören. daß er im Wesentlichen mit 


898 __ Wilhelm Herzog 
seinen Ausführungen in seiner letzten Schrift (Der Radikalismus. 
die Kinderkrankheit des Kommunismus«) übereinstimme. 

Was die Politik der Unabhängigen, oder vielmehr ihres 
Zentralkomitees anginge. so befremde ihn die schwankende 
Haltung. das Hinauszögern, die Ausreden nur in sofern, als 
er nicht ganz begreife. weshalb sich die großen Arbeitermassen. 
die doch anscheinend den Anschluß an die III. Internationale 
wollen. diese Politik gefallen ließen. Er fragte mich zum zweiten 
Male, wie ich das doch von einem linken Unabhängigen, von 
Däumig, unterzeichnete letzte Antwortschreiben verstehe, das den 
Nichtabdruck des Manifests des Moskauers Exekutivkomitees 
unter anderen mit Mangel an Papier entschuldige. Lenin lachte: 
Ist das nicht lächerlich? Ich konnte es leider nicht verneinen. 
Und ich schämte mich, ein Unabhängiger zu sein. Er fragte nach 
dem Kräfteverhältnis des rechten und des linken Flügels. Und 
warum die mächtigsten Zeitungen der U. S. P. — trotz den Leip- 
ziger Beschlüssen — noch immer von Vertretern der Rechten 
geleitet werden können? Ich sagte ihm, daß jetzt — sieben Monate 
nach dem Leipziger Kongreß — das Kräfteverhältnis nicht 
ganz sicher zu bestimmen wäre, daß die Macht der Partei- 
bureaukratie nicht unterschätzt werden dürfte, daß allerdings 
mindestens fünf Achtel der Parteimitglieder für den Anschluß 
an die Ill. Internationale sein dürften. Und es sei anzunehmen, 
daß für jeden Fall Delegierte der U. S. P. D. zum Kongreß 
kommen werden. Entsprechend dem letzten Satz der Leipziger 
Resolution zur III. Internationale häften sie den Auftrag. den 
Anschluß zu vollziehen. 


* « 
* 


Vom Kreml zurück in den Delovoi Dvor. Gespräch mit 
Bombaccı und den anderen. sehr lebenslustigen Italienern. Ein 
sebr heiteres Völkchen. Ein ganz anderer Menschenschlag, als 


etwa unsere Proletarierführer. Weltmännisch, mit viel Humor. 


mit offenen Sinnen, sehr realistisch denkend, ohne deshalb 


Russisches Notizbuch —č— 899 
spießbürgerlich oder pedantisch zu werden. Zur Tag- und 
Nachtzeit singend, haben sie eine merkwürdige Verwandtschaft 
ın vielen Beziehungen mit den Russen. 

Abends sieben Ubr in die Eremitage gefahren: Ballett. 
Man spielt »Coppelia« II. Akt, »Don Quichofte«, den »Korsar«, 
einen amerikanischen Tanz und -Die Beftlere von Saint-Saens. 
Alles künstlerisch nicht sehr reizvoll. Junge, talentierte Tänze- 
rinnen unter miftelmäßiger Regie und vor elenden Dekorationen. 
Das halb proletarische, halb bürgerliche Publikum jedoch ist 
entzückt. Die Kritiklosigkeit des Publikums. sein ahnungsloser 
Enthusiasmus ıst ein schwerer Schaden für dıe Entwicklung der 


Schauspieler. Die ernsteren unter ıhnen gestchen es selbst. 


24. Junı 1920. 

Vormittags Rühle bei mir. Erzählt mir von seiner Unter- 
redung mit Radek. Er kenne ihn schon von der Leipziger 
Volkszeitung her. Von 1904. 

Abends wieder in die Eremitage mit einigen ausländischen 
Kameraden. Man spielt den - Barbier von Sevilla - mit Schal- 
japin als Don Basilio. Nichts Uberwältigendes. Nur einige 
possenhafte Effekte. Typisches Sommertheater. Das Publikum 
sehr bunt. Promeniert im Garten. Trinkt schlechten Tee und 
ift Erdbeeren in einer Art von Schlagsahne sein sollendem 
Schnee. Das Tellerchen fünfhundert Rubel. Die Pausen sind 
länger als die Akte. Man sieht: Arbeiter, Bürger und Spekulanten. 
Junge Mädchen in weißen Kleidern, welen Strümpfen und 
oft mit sehr schönen Stiefeln, die bis zum Knie reichen. 
Blitzblanke Kostüme, sehr kostbare, durchbrochene Blusen, 
Pelze. Daneben abgerissene, verschmutzte Kleider und Schuhe. 
Damen ohne Strümpfe. mit geschminkten Gesichtern. allzu 
roten Lippen, neben Arbeiterinnen und Sowjetangestellten. 
einfach und ärmlıch gekleidet. 

Im ganzen: ein sehr gemischtes, immer begeistertes Publikum. 


voll junger (unerfahrener) Liebe zur Kunst. 


900 Wilhelm Herzog 


— — — — —e—— —- — 


25. Juni 1920. 

Vormiftags werde ich abgeholt von Doktor Kananofl, einem 
früheren Studiengenossen. mit dem ich zusammen an der 
Berliner Universität Simmels Kolleg über Soziologie gehört 
habe und der mich jüngst bei einer zu Ehren der italienischen 
Delegation gegebenen Veranstaltung getroffen und erkannt hafe. 
Er ist nicht Bolschewik, war vielmehr früher Menschewik: 
arbeitet j edoch mit, denn er eympathisiert mit dem Kommunismus. 
Auf meine Frage erklärte er mir. Intellektuelle und Bourgeoisie 
seien völlig passiv. Keiner denke an die Unterstützung irgend 
welcher konterrevolutionären Bestrebungen. 

Kananof ist Bibliothekar am Rumjanzeff-Museum. Er schlug 
mir vor, das Museum gemeinsam mit ihm zu besichtigen. Wir neh- 
men ein Auto und fahren hin. Ein auf einer Anhöhe sich erheben- 
der schöner und breiter Barockbau aus dem Ende des 18. Jahr- 
hunderts. Der Leiter des Museums ist ein Fürst Golizin geblieben. 
Die Bibliothek ist sehr groß. Der Lesesaal, ein heller, sehr 
freundlicher. zum Arbeiten einladender Raum, wird gegenwärtig 
wenig benutzt. Immer wieder bekommt man die nur allzu 
berechtigte Antwort: die besten Leute sind an der Front. 
Niemand von ıhnen hat Zeit zu lesen und zu studieren. 
Dringenderes steht auf dem Spiel: der Krieg gegen die Entente 
und die Konterrevolution. 

Vom Rumjanzeff-Museum in das »Museum der Neuen 
Westlichen Malerei., die früher: Stschukın-Sammlung. Es ist 
ein sehr schöner, alter Palast. Innen: helle. weiße Räume von 
einem sehr vornehmen Geschmack eingerichtet. Mathisses Tanz. 
und »Musike — zwei große Bilder in Rot — im Treppen- 
aufgang. In der ganzen Sammlung kein überflüssiges Bild. 
Und nur Werke höchsten Ranges von Monet, Pissaro. 
Cézanne (sein Selbstbildnis), van Gogh. Viele Gauguins, 
Mathisses — ein ganzer Saal —. Picassos. Zu kurz, zu 
flüchtig waren die zwei Stunden, um den Reichtum, der 
hier von einem edlen Bürger mit Geschmack vereint wurde, 


Russisches Notizbuch 901 


zu genießen. Es gibt zweifellos keine zweite Sammlung moderner 
Bilder, vor allem der Impressionisten, die soviel Meisterwerke 
höchsten Ranges enthält, die eine so vornehme Auslese des 
Adels der malerischen Genies aus dem Ende des neunzehnten 
Jahrhunderts und vom Beginn des zwanzigsten bietet. — Ich 
werde sehr bald wiederkommen. sobald > mehrere Stunden 
darauf verwenden kann. 

Eine sehr mondäne Konservatorsgaftın N uns, obwohl 
keine Besuchszeit war, schließlich geöffnet, eine Griechin, 
dıe zur Russın geworden war, mit dem guten deutschen Namen 
Keller. Sie führte uns durch die schönen Säle, die sehr sauber 
gehalten sind. Die kostbaren Möbel sind durch Schutzhüllen 
gedeckt. Frau Keller klagte ein wenig: eie bekomme keinen 
Pajok. Der Mann in der W. C. K. (d. i. im Gefängnis der 
Auberordentlichen Kommission) seit sechs Wochen. „Wegen 
nichts. behauptete sie. 

Mittags in die III. Internationale. Zu Radek. Will 
Däumig sofort schreiben und mir Kopie schicken. Er rät mir. 
vorläufig nichts zu tun. Erzählt seinen Fall in der polnischen 
und deutschen Partei. Alle = Jogisches. Rosa Luxemburg. 
Marchlewsky — gegen ihn. Ebert, von Jogisches bearbeitet. Sein 
Ausschluß aus der Partei. Seine Tätigkeit in Göppingen und 
Bremen. Seine Broschüre Meine Abrechnung. Gegen fünf 
Uhr mit Radek in den Delovoi Dvor. 

Abends mit Rühle und Knüfgen, dem blonden Matrosen, 
ın den Proletkult von Moskau. Leider ın einer schr üblen 
Protzenvilla, die dem Multimillionär Morossow gehörte. Stillos. 
ohne Geschmack; eine barbarısche Vermischung chinesischer, 
münchnerischer, französischer. schweizerischer. italienischer. 
russischer Kultur. Diese Villa mit ihrem ganzen Inventar könnte. 
so wie sie ist. am besten von dem in Stuttgart oder Mannheim 
gegründeten Museum für Geschmacklosigkeiten übernommen 


werden. 


902 Wilhelm Herzog 


Später Spaziergang mit Rühle. Ins zweite Sowjethaus zu 
Bucharin. Bei ihm finden wir deutsche Zeitungen vom 10. bis 
12. Juni. Wenn man eie liest. bekommt man von Moskau 
aus immer mehr den Eindruck, als ob Deutschland etwa 
ein Balkanstaat wäre. Rene Marchand, der französische Ingenieur, 
der sich den Bolschewiki angeschlossen hat, holt Bucharin ab. 
Marchand ist im Kommissariat für auswärtige Angelegenheiten 
bei Tschitscherin tätig. Fragt nach den deutschen Verhältnissen. 
Er ist der Überzeugung., die Entente wolle aus Furcht vor 
der Weltrevolution womöglich ein militärisches Regime in 


Deutschland : lieber Reaktion, als Revolution. 


26. Juni 1920. 

Vormittags mit den holländischen Delegierten Van Leuven 
und Kruyt in den Kreml. Die roten Häuser, die Kirchen 
mit ıhren goldenen Kuppeln zeigen überall die Mischung von 
Orient und Okzident und vor allem den maurischen Einfluß, 
wie alle charakteristischen Gebäude Moskaus. In den Höfen 
maurische Treppen, sehr ähnlich denen von Verona. Alles sehr 
heiter, sehr sommerlich. 

Vergebens ins Künstlertheater gefahren. Organisation klappte 
wieder einmal nicht. Eine Gesellschaft von fünfzehn bis zwanzig 
ausländischen Kameraden kann keinen Eintriſt erhalten. Kräfte- 
und Zeitverschwendung. Nitschewo! Ursache: keine Billets 
bestellt oder irgend eine Konfusion, um nicht zu sagen Schlam- 
perei, jener typischen Art, über die sich niemand mehr aufregt. 

Im Grunde tut es auch wirklich nichts. Wir machen statt 
dessen einen Spaziergang durch die Stralen. Mit Rühle und 
Knüfgen auf eine Bank in den Anlagen vor dem Großen 
Theater gesetzt. Elegant gekleidete Damen mit wenig eleganten 
Säcken, die irgend einen Pajok enthalten. promenieren oder 
sitzen auf den Bänken, plaudern, kokeftieren. 


Wir kaufen uns Erdbeeren. Das Pfund kostet 600 Rubel. 
Also etwa 6 Mark. 


Russisches Notizbuch 2303 


27. Juni 1920. 

Nachmiſtags mit Angelika Balabanowa, den italienischen 
Delegierten. Rühle. Knüfgen, dem jungen Schweden Egede 
Nissen zum Brianski-Bahnhof. um uns die Propagandazüge 
anzusehen. Die Züge heillen: Kalininzug (nach dem Vorsitzenden 
des Allrussischen Zentral- Exekutivkomitees). Leninzug. Swerdlow- 
zug, Trotzkizug. Zug der Oktoberrevolution. Es gibt im ganzen 
fünf. Jeder umfaßt etwa zehn oder zwölf Waggons. Jeder 
führt mit sich eine Druckerei. eine Radiostation. ein Kino. 
eine Buchhandlung. eine hygienisch-medizinische Ausstellung. 
Die beiden Längsseiten jedes Wagens sind mit bunten 
volkstümlichen Bildern bemalt. die meist den Gegensatz von 
früher. jetzt und künftig sehr anschaulich darstellen. Die Maler 
mußten zu Karrikaturisten werden. In sehr breiter. sehr saftiger 
Manier entwarfen sie Bilder aus dem schwelgerischen und 
unnützen Dasein der Bourgeoisie und stellten ihm das schwere 
und mühselige Leben der Bauern und Arbeiter gegenüber. 
In ebenso grellen Farben. oft mit großartiger Bosheit gemalt, 
erscheinen die Repräsentanten des Weltkapitalismus, die Staats- 
männer der Entente. Einige dieser modernen Fresken auf 
Eisenbahnwaggons erzählen die Geschichte der mannigfachen 
Versuche, Sowjetrußland abzuwürgen. Durch gemietete Hunde, 
wıe Koltschak, Denikin, Judenitsch, Pilsudski. Alles dies ist 
mit sehr viel Witz. sehr viel Talent. äußerst einfach und klar., 
noch für den simpelsten Verstand einer Bauernmagd verständlich, 
dargestellt. Ein solcher Propagandazug ist meistens zwei bis 
drei Monate unterwegs. Er bringt ın entlegene Provinzen, in 
kleine Städte und Dörfer Aufklärung. Belehrung und Bildung 
durch ’revolutionäre Plakate, Broschüren, Zeitschriften und 
Bücher: durch Kinovorstellungen, Demonstrationen auf wissen- 
schaftlichem Gebiet. Vorträgen von Spezialisten über technische 
Erfindungen und Einrichtungen, über Hygiene. Und eın Stab 
von Vertretern aller Volkskommissariate reist mit ıhm, um ım 
Auftrag der Sowjetregierung den örtlichen Sowjets bei ihrer 


904 Wilhelm Herzog 


Organisierung. Vervollkommnung ihrer Einrichtungen zu helfen 
und die bestehenden Institutionen und Behörden zu 
kontrollieren. 

Nachmittags Unterhaltung mıt dem norwegischen Kameraden. 
Genossen Langseth, Ingenieur von Beruf. Man habe begonnen. 
einen lange gehegten Plan auszuführen. norwegische und 
schwedische Arbeiter nach Rußland zu bringen. aber die 
Verwirklichung des Planes erweise sich als ungemein schwierig. 
Langseth klagt sehr über dıe Langsamkeit und Schwerfälligkeit 
der Verhandlungen mit dem Kommissariat und über die falsche 
Behandlung der eingetroffenen Arbeiter. Ich drücke ihm umso 
mehr mein Erstaunen darüber aus, da man mit allen Mifeln 
bestrebt war und bestrebt ist. qualifizierte Arbeiter aus dem 
Auslande für den Aufbau, für die Neuorganisierung der 
Fabriken und Betriebe zu bekommen. Und ich könnte mir 
nur erklären. daß die Schwierigkeiten und der Mangel an 
Interesse, von denen er spreche, auf untergeordnete Organe 
zurückzuführen oder durch Überlastung der zuständigen 
Persönlichkeiten verursacht sel. Ich riet ihm, sich direkt mit 
Radek in Verbindung zu setzen, von dem ich annehme, dal 
er in kurzer Zeit einen Weg zur Lösung dieser Frage (falls 


eie ihm wichtig genug erscheine) zeigen würde. 


Montag. den 28. Juni 1920. 

Vormittags 11 ½ Uhr in die III. Internationale: Sitzung 
des Exekutivkomitees beginnt mit eineinhalb Stunden Verspätung. 
Winkop. -der fliegende Hollander -, protestiert gegen die An- 
wesenheit von Vertretern der französischen Sozialpatrioten. 
gegen Cachin und Frossard. Sinowjew ist für Verhandlungen 
mit allen, die sich der III. Internationale anschließen wollen. 
An der Sitzung nehmen teil: Sinowjew. Bucharin, Radek. 
Karski (Marchlewski), Serrati. Bombaccı, Graziadei. Von den 
englischen Shop-Stewards Tanner: Cachin und Frossard, Sadoul, 
Reisner., Balabanowa, Klinger. 


Russisches Notizbuch 905 


Es sprachen: Serrati (scharf gegen die anarchistischen Syndi- 
kalisten). Radek für Zulassung bezw. Einladung der rechts 
und links von der III. Internationale stehenden ehrlichen 
Revolutionäre. Später sprach Losowskı über die Gewerkschafts- 
frage. Die Sitzung dauerte bis sechs Uhr abends. Kurz vor 
dem Ende erhalten wir die Radiomeldung: Kabinett Fehrenbach 
habe sich gebildet mit dem Deutschnationalen Heinze und dem 
Demokraten Koch. Reichstagspräsidium: Löbe. Präsident: 
Dittmann. erster Vizepräsident. 


Dienstag. den 29. Juni 1920. 

Vormittags. nach langen Vorbereitungen eine Schreibmaschine 
erkämpft. Eroberung war sehr schwierig. Eine Belagerung von 
fast vier Wochen führte schließlich beim österreichischen 
Soldatenrat zum Sieg. Zubehör fehlte: Farbband wie Maschinen- 
schreiberin. Das erstere erhielt ich von der III. Internationale. 
und der deutsche Arbeiter- und Soldatenrat stellte mir in 
dauernder Hilfsbereits: haft eine seiner deutschschreibenden Damen 
für einige Stunden des Tages zur Verfügung. Endlich konnte 
ich meine Eindrücke ein wenig ordnen, durcharbeiten und 
zu dıktieren beginnen. 

Von eıner bürgerlichen Dame, die jedoch mit den Sozialisten 
sympathisiert und ungefahr auf den Standpunkt der Mensche- 
wiki steht. höre ich für diese Kreise charakteristische 
Äußerungen. Sie stehen in scharfer Opposition zu den 
Bolschewiki und glauben noch immer nicht. daß ihre Herrschaft 
lange dauern wird. Die bürgerliche Dame ist die Frau eines 
früheren Leiters einer gröberen Bank. Sie ist Mutter eines 
sechsjährigen Kindes, sehr gut und elegant gekleidet und klagt 
unaufhörlich. Sıe erzählt sehr Trauriges. Und ihre Äußerungen, 
so subjektiv sie gefärbt sind, interessierten mich, nıcht nur 
wegen ihrer Tendenz. deren antıbolschewistischer Charakter 
unverkennbar war. sondern nıcht weniger wegen der Auffassung, 
die eine bürgerliche Frau von dem gegenwärtigen proletarischen 


906 Wilhelm Herzog 


—— :. — — — — 


Leben Sowjetrußlands hat und als ihre ehrlich eroberte Über- 
zeugung ausspricht. Sıe äußert: alle spekulieren. Die Arbeiter 
nicht weniger als die übriggebliebenen Bürger. Unmöglich sei es. das 
Leben zu fristen. ohne zu verkaufen. Kleider. Hausrat. Wäsche. 
irgend welchen Schmuck oder überhaupt irgend etwas. das auf 
der Sucharewka (dem Moskauer Markt der Händler) einen 
Wert repräsentiert. Von den Rationen und dem Gehalt könne 
niemand leben. Alle diese Äußerungen will sie durch zahlreiche 
Beispiele belegen. Ein Paar Schuhe kosten 40000 Rubel. Ein 
Paar Sohlen 5000 Rubel. Ein Kostüm koste 200000 bis 
250000 Rubel. Und das Grundgehalt einer Sowjetangestellten 
oder Bureauarbeiterin beträgt etwa zwischen 3000 und 7000 
Rubel. Sıe vergaß jedoch das Wichtigste : den regelmäßigen 
Pajok. d. h. die freie Lieferung von Brot. Mehl. Zucker und 
anderen Lebensmitteln an die Sowjetangestellten. Dieser Pajock 
— das gab sie auf meine Frage zu — betrage ungefähr das 
zehnfache des Gehalts. 
30. Junı 1920. 

Mittags ein Uhr mit Graziadei und Serxati - in die 
Sozialistische Akademie. die von dem alten sozialistischen 
Theoretiker Rjasanoff geleitet wird. Er empfängt uns und gibt 
uns einige Aufschlüsse über die Gründung und die Organisation 
der Sozialistischen Akademie. Sie umfaßt gegenwärtig 22 Mit- 
glieder. Als Mitglieder werden nur Personen aufgenommen. 
die sich als Theoretiker verdient gemacht und solche, die sich 
um die Verbreitung des Marxismus verdient gemacht haben. 
Aber nur Marxisten können Mitglieder sein. Auch Mensche wiki. 
So sind Martoff. Suchanoff. Germanski Mitglieder geworden. 
Der Philosoph und Ökonom Bogdanoff ist der einzige Nicht- 
kommunist in der Akademie. 

Jetzt habe — äußert Rjasanoff mit großem Bedauern — 
die Akademie gar keine Studenten. Folge des Krieges. In der 
Swerdlow-Universität waren 700 und 800 Studenten. Kürzlich 
wurden 120 an die Front geschickt. und das sind die besten. 


Russisches Notizbuk 207 


Zweck der Akademie: Studien über Geschichte und Praxis 
der Arbeiterbewegung. 

Rjasanoff gibt eine ganz kurze, aber. gut orientierende 
Skizze über die Entwicklung der russischen Sozialisten: 

Erste Generation: Plechanoff. Axelrod, Deutsch. 
Zweite Generation: Lenin. Rjasanoff. Trotzki. 
Dritte Generation: Bucharin, Ossinski. Miljutin. 

Es fehlt an jungen Theoretikern. Nachwuchs überhaupt 
nicht vorhanden. wie bei uns. Als ich noch Radek hinzugefügt 
wissen will und ihn als einen der besten Köpfe der jungen 
Generation bezeichne. widerspricht Rjasanoff nicht ohne malitiöse 
Spitze. Radek sei nicht russisch. sondern vielmehr: polnisch- 
österreichisch-deutsch. 

1. Juli 1920. 

Vormittags zum Volkskommissar für Arbeit, W. Schmidt. 
Das frühere Stift für adlıge junge Mädchen, das jetzt das 
Arbeitskommissariat beherbergt. liegt ganz nahe dem Delowoi 
Dwor, inmiſten schöner Gärten. Ein klosterähnlich eingerichtetes 
‚Gebäude von großer Weitläufigkeit. Genosse Schmidt gibt mir 
eine ausführliche Darstellung der Aufgaben und Ziele des 
Arbeiterkommissariats. Sein Mitarbeiter Anıkst bespricht das 
Problem der Einwanderung deutscher Arbeiter nach Rußland. 
Bexor. irgend etwas in dieser Richtung unternommen würde 
wird eine russische Delegation nach Deutschland reisen. um 
die Verhältnisse an Ort und Stelle zu prüten. 

Das Kommissariat für Arbeit stellt sich die folgenden 
Aufgaben: 

1. Registrierung aller Arbeitskräfte in Rußland. 

2: Verteilung der Arbeitskräfte zwischen den verschiedenen 

wirtschaftlichen Ämtern. 

Es gibt keinen freien Arbeitsmarkt. Alle Amter. alle 
Organisationen können nur durch das Arbeitskommissariat Arbeiter 
beziehen. Zu den Obliegenheiten des Kommissariats gehören: 
Arbeiterschutz. Regelung der Arbeitszeit. der Frauenarbeit. 

28 


908 . Wilhelm Herzog 
Beschaffung von Arbeiter wohnungen. Schutz der Arbeiter- 
gesundheit und der Arbeiterjugend. Die Arbeiterinspektionen 
werden von den Gewerkschaften gewählt. 

3. Festsetzung der Arbeitstarife und der Arbeitsnorm. 

Minimallohn für die. minimale Arbeitsnorm. Alles darüber 
Geleistete wird prämiert dureh Geld oder Naturalprämie. 
Die Tarife werden mit den einzelnen Gewerkschaften dureh- 
gearbeitet. Festgesetzt werden sie vom Kommissariat. 

Das Kommissariat arbeitet stets in engster Verbindung mit 
den Gewerkschaften. Im Kommissariat selbst sitzen Vertreter 
der einzelnen Gewerkschaften: der Metall-. Textil-. Transport- 
arbeiter usw. usw. 

Maximalarbeitstag überall: acht Stunden. In verschiedenen 
schwierigen Betrieben: sechs oder sieben Stunden. Bergarbeiter 
haben de facto ebenfalls sechsstündige Arbeitszeit und ihre 
Maximalarbeitszeit im Monat beträgt achtzehn Tage. 

Für die Jugendarbeit ist durch Gesetz festgestellt, daß 
Jugendliche nur vom sechzehnten Lebensjahre arbeiten können. 
Alle Jugendlichen unter sechzehn Jahren, welche noch beschäftigt: 
werden, befiehlt das Gesetz zu entlassen. Noch nıcht allgemein 
durchgeführt. Weil noch nicht genügend Internate und 
professionelle Schulen errichtet werden konnten. Durchgeführt 
jedoch sei, daß Jugendliche zwischen vierzehn und sechzehn 
Jahren nur vier Stunden arbeiten dürfen. Unter vierzehn Jahren 
jedoch sind bereits alle entlassen. Das ist überall in den 
Großbetrieben geschehen. In den Privatbetrieben (die bis fünf- 
zehn Arbeiter beschäftigen) konnten alle jugendlichen Arbeiter 
— auch die bis vierzehn Jahren — noch nicht entfernt werden. 
Weil sie nicht registriert sind. 

Jetzt. vom 15. Juli 1920 an. wird ein neues Mifel 
angewendet werden, um auch diese Betriebe zu erfassen. 
Arbeiter werden künftig nur Lebensmitftelkarten erhalten, wenn 
der Betrieb. wo sie arbeiten, sich diesen Vorschriften des 
Arbeitskommissariats ganz unterwirft. 


Russisches Notizbuch 5 909 


Schon 1918 war die Arbeitspflicht für alle Bürger von 
16 bis 50 Jahren durchgeführt. Frauenarbeitspflicht ebenfalls 
(keine Nachtarbeit). Und nur von 16 bis 40 Jahren. Acht 
Wochen vor und acht Wochen nach einer Schwangerschaft 
ist der Frau jede Arbeit verboten. Sie bekommt während 
dieser Zeit ıhren vollen Lohn und Unterstützung durch ver- 
schiedene Nahrungsmittel. Sie erhält nach der Geburt des 
Kindes 40 Arschin Weiſwäsche (etwa 30: Meter). Wenn 
sie selbst das Kind nährt, hat sie während der Arbeit nach 
je drei Stunden eine halbe Stunde frei, um das Kind zu stillen. 
Nährt sie nicht selbst, so bekommt sie Kindermilch frei geliefert. 

Minimum des Tarif lohns 1200 Rubel 

Mittlerer Tarif long. 1800 Rubel 

Maximum des Tarif lohns 4800 Rubel 


Nachmittags Borodin bei mir im Hotel. Er wird voraus- 
sichtlich nach dem Osten gehen. Als Leiter einer Mission 
nach Turkestan und Afghanistan. 
| Abends 8 Uhr zu T'schitscherin. Das Kommissariat für 
Auswärtige Angelegenheiten ıst von allen bureaukratischen 
Institutionen Sowjetrußlands offenbar das antıbürokratischste, 
um nicht zu sagen das bohemehafteste. Deutsche Ordnungs- 
pedanten wären entsetzt. Aber auch weniger korrekte sind 
zunächst, nicht mit Unrecht, über dieses Durcheinander, über 
diesen Wirrwarr. über die Abwesenheit jeglichen Organisations- 
vermogens erstaunt. 

Techitscherin selbst ist ein Sonderling. Ein unermüdlicher 
Arbeiter, der tagsüber einige Stunden schläft, um von abends 
6 Uhr die ganze Nacht hindurch bis morgens gegen 9 Uhr 
zu arbeiten. Er macht alles selbst. da er fürchtet, sich auf seine 
Mitarbeiter nicht verlassen zu können. Er ist nicht fähig. sich 
zu entlasten und geeignete Personen als Hilfskräfte zur Er- 
ledigung der minder wichtigen Arbeiten und des Kleinkrams 


zu gewinnen. So sieht man ihn oft mit einem Brief oder 


910 ___ Wilhelm Herzog 
Aktenstück aus seinem Arbeitszimmer zu einem seiner jungen 
Sekretäre behutsam schleichen. meist einen dicken wollenen 
Schal um den Hals. Und es macht ihm garnichts. den Weg 
vom vierten zum zweiten Stock durch viele Zimmer und 
Gänge mehrmals des Nachts zurückzulegen. Er geht auf diesem 
Wege an schnarchenden Schildwachen vorbei, ganz in seine 
Gedanken versponnen. 

Es gibt wohl heute in den auswärtigen Ämtern der Welt 
keinen antidiplomatischeren Diplomaten als diesen ehemaligen 
Aristokraten. der sich allerdings schon frühzeitig zur Partei 
der Bolschewiki bekannte. Er ist ein hochgewachsener Mann 
von etwa 50 Jahren mit meist vornübergebeugtem Oberkörper. 
Seine Haltung ist lässig. fast schlapp. Sofort verändert sie sich. 
wenn er spricht. Alle seine Worte sind wohlüberlegt. klar. 
nüchtern, sich stets konzentrierend auf die reale Situation. Man 
empfängt den Eindruck eines ungewöhnlich sachtreuen und zugleich 
kenntnisreichen Kopfes. der unermüdlich und unbeirrbar die 
großen und kleinen Verbindungsstraßen der Weltpolitik studiert. 
ihre noch geheimen Zusammenhänge durchschaut, künftige 
Entwicklungsmöglichkeiten voraussieht und wenn möglich vor- 
bereitet. Tschitscherin ist als Politiker das. was Theodor Fontane 
einmal mit Selbstironie von sich als Erzähler äußerte: ein 
Puler. Einer. der es liebt, sich mit den kleinen Dingen so 
intensiv zu befassen oder intensiver gar, als mit den so- 
genannten großen. Dazu gehört großer Fleiß und Liebe zur Sache. 
Es ıst eine etwas nüchterne Liebe, aber sıe belohnt sıch selbst. 

Tschitscherin führt auf einige Fragen, die ich an ihn stellte, wie 
er die weltpolitische Situation gegenwärtig und im besonderen das 
Verhältnis Rußlands zu England beurteile, etwa folgendes aus: 

„Deutschland bildet gegenwärtig in der Weltpolitik — 
wie ich schon jüngst auf der Sitzung des Kongresses der 
Allrussischen Sowjets äußerte — ein Vakuum. Vielleicht wird 
jetzt. nach der Bildung des neuen Kabinets, eine Änderung 


eintreten. Wir geben uns jedoch keinen Illussionen hin. Drei Hem- 


Russisches Notiz buen 2911 
mungen der bisher mehrheitssozialistischen Regierung gegenüber 
Sowjetrußlands: 1. Angst vor der Entente. 2. Die Sabotage 
der Geheimräte im Ministerium des Auswärtigen (spürte man 
etwas von einer Leitung des Herrn Müller ?). 3. persönliche 
Gekränktheit der scheidemännischen Sozialisten durch die 
Angriffe Lenins. Alle drei Momente fallen jetzt fort. Simons, 
selbst ein Geheimrat. wird sich von seinen Geheimräten nichts 
verbieten und nichts durchkreuzen lassen. Er ist zudem — wie 
man sagt — »östlich-orientiert«. Vor allem aber ist er zweifellos 
klüger als sein Vorgänger, Herr Müller. Wirtschaftlich 
braucht Deutschland dringender denn je Verbindung mit 
Rußland. Die Notwendigkeit naher Beziehungen wird bei 
dem bürgerlich-nationalen Kabinett vielleicht selbst die Angst 
vor der bolschewistischen Propaganda besiegen. Wir stellen 
uns, da die Weltrevolution alle Länder noch nicht ergriffen hat, 
darauf ein, mehr oder weniger gute Beziehungen zu allen 
Ländern zu eröffnen und zu pflegen, deren Regime ein 
bürgerlich-kapitalistisches oder ein pseudo-sozialistisch-demo- 
kratisches noch ist. Wir sind durchaus bereit. mit den 
Ententestaaten in Frieden zu leben, ja ihnen selbst oder 
Bürgern dieser Staaten gewisse Konzessionen in Rußiand ein- 
zuräumen, wenn sie unseren Versuchen dem Chaos Herr zu 
werden und aufzubauen, nützen. Wir waren bereit. schon vor 
einem Jahre den Bau einer sehr großen Eisenbahn vom Innern 
Rußlands nach Sibirien an einen zum amerikanischen Milliardär 
gewordenen schwedischen Großunternehmer zu verpachten. Es 
wurden sehr weitgehende Verhandlungen gepflogen. Ein Stab 
von Sachverständigen und Vertrauensleuten, die der Amerikaner 
herübergeschickt hafte, arbeitete bereits mit uns. Dann zerschlug 
sıch plötzlich der Plan. Der Auftraggeber verlor zu seinen 
Abgesandten das Vertrauen und entzog ihnen das Mandat, in 
seinem Namen zu verhandeln. Sie sehen, wie entgegenkommend 
wir bösen Kommunisten sein können, wenn wir uns für 
unser Land davon Nutzen versprechen. 


912 Romain Rolland 


DAS LEBEN TOLSTOIS 
VON ROMAIN ROLLAND 


Der Dichter des Johann Christof, dem wir die drei 
großen Biographien über Michel Angelo, Tolstoi und Beet- 
boven verdanken, hat vielleicht am innigeten das Leben des 
Mannes von Jasnaja Poljana beschrieben, dessen Geist und 
Welt er sich am nächsten fühlte. Die deutsche Ausgabe 
seiner vor neun Jahren erschienenen Schrift »Vie de 
Tolstoi wird Ende November im Verlage der Literarischen 
Anstalt Rüſten u. Loening. Frankfurt a. Main erscheinen. 

Hier die Anfangskapitel des Buches: 


Das Licht, das mıt Tolstoı erlosch, war für unsere Generation 
das klarste, das unsere Jugend erhellte. In der schwerumschafteten 
Dämmerung am Ende des 19. Jahrhunderts war er der trost- 
bringende Stern, dessen Anblick unsere Seelen anzog und ihnen 
Frieden gab. Aus dem Kreis derer, für die Tolstoi weit mehr 
war als ein verehrter Dichter, für die er der beste und für 
viele der einzige wirkliche Freund ın der ganzen europäischen 
Kunstwelt war, möchte ich diesem geheiligten Andenken meinen 
Zoll der Dankbarkeit und Liebe entrichten. 

Die Tage. da ich seine Werke kennen lernte. werden 
nie aus meinem Gedächtnis schwinden. Es war 1886. Nach 
einigen Jahren stillen Keimens brachen die wunderbaren Blüten 
russischer Kunst aus dem Boden Frankreichs hervor. Die 
Übersetzungen von Tolstoi und Dostojewski erschienen auf 
einmal mit fieberhafter Hast in allen Verlagshäusern. Von 
1885 - 1887 wurden in Paris »Krieg und Frieden Anna 
Karenina. Kindheit und Knabenalter -. »Polikuschka« -Der 
Tod des Iwan Iljitsch. Novellen vom Kaukasus und die 
»Volkserzählungen« veröffentlicht, Innerhalb einiger Monate, 
einiger Wochen breitete sich vor unseren Augen das Werk 
eines ganzen großen Lebens aus, in dem sich eın Volk, eine 
neue Welt spiegelte. 


Das Leben Tolstois 913 


Ich war damals gerade in die »Ecole Normale« eingetreten. 
Wir Kameraden waren schr verschieden voneinander. In unserer 
kleinen Gruppe, die realistische und ironische Geister wie den 
Philosophen George Dumas, Dichter, die in Liebe zur italienischen 
Renaissance glühten wie Suarès. Anhänger der klassischen 
Tradition, Stendhalianer und Wagnerianer. Atheisten und 
Mystiker umfaßte, in dieser Gruppe gab es häufig Wortgefechte. 
kamen häufig Mißstimmungen auf; aber während ein paar 
Monaten einte uns die Liebe zu Tolstoi fast alle. Jeder liebte 
ihn zweifellos aus einem anderen Grund: denn jeder fand sich 
selbst in ihm wieder. und für alle war er die Pfarte, die ins 
unermeßliche All führte, die Offenbarung des Lebens. Um 
uns her. in unseren Familien. in unseren Provinzen erweckte 
die gewaltige Stimme, die von den äußersten Grenzen Europas 
her ertönte. zuweilen ganz unerwartet. dieselben Sympathien. 
Ich entsinne mich, daf ich einmal zu meinem größten Erstaunen 
Leute aus meiner Niverner Heimat, die sich keineswegs für 
Kunst interessierten und die fast nichts lasen, mit verhaltener 


Rührung über den- Tod des Iwan Iljitsche reden hörte. 
Ich habe bei hervorragenden Kritikern die Behauptung 


gelesen, Tolstoi verdanke seine besten Eingebungen unseren 
romantischen Schriftstellern: George Sand und Victor Hugo. 
Ohne darüber zu streiten. dał man wohl kaum von einem 
Einfluß der George Sand auf Tolstoı sprechen kann — zumal 
da er sie nıcht ausstehen konnte —. und ohne den viel tat- 
sächlicheren Einfluß, den Rousseau und Stendhal auf ihn 
ausübten, zu leugnen, wäre es doch falsch, die Größe Tolstois 
und seine Macht uns zu fesseln, seinen Ideen zuschreiben zu 
wollen. Der Ideenkreis, in dem sich der Künstler bewegt. ist 
eng begrenzt. Seine Stärke beruht nıcht ın den Ideen, sondern 
im Ausdruck, den er ihnen gibt, in dem persönlichen Ton, in 
der Prägung des Künstlers, ın der Atmosphäre, ın der er lebt. 

Ob die Ideen Tolstois entlehnt waren oder nicht — wir 
werden später noch darauf zurückkommen —, so ist doch 


94 22.2000... Romain Rolland 


niemals in Europa eine Stimme erklungen. die seiner gleich 
gekommen wäre. Wie anders sollte man den Schauer der 
Erregung erklären, der uns damals behel, als wir diese Seelen- 
musik hörten, auf die wir solange gewartet haften und die 
uns nottat. Die Mode sprach bei unserem Gefühl nicht mit. 
Die meisten von uns, auch ich, lernten das Buch von Eugen 
Melchior de Vogüé über den russischen Roman erst kennen, 
nachdem sie Tolstoi gelesen haften: und seine Bewunderung 
erschien uns ma im Vergleich zu unserer. De Vogüé ur- 
teilte hauptsächlich als großer Literaturkenner. Aber für uns 
genügte es. nicht. das Werk zu bewundern. wir lebten es, es 
war unser. Unser, durch seinen brennenden Lebenshunger. 
durch sein jugendliches Fühlen. Unser, durch seine Ironie, die 
uns die Binde von den Augen nahm, durch seinen schonungs- 
losen Scharfblick, sein Wissen um den Tod. Unser. durch 
seine Träume von brüderlicher Liebe und von Frieden unter 
den Menschen. Unser, durch seine furchtbare Anklage gegen 
die Lügen der Zivilisation. Durch seinen Realismus und durch 
seinen Mystizismus. Durch seinen Erdgeruch, durch seinen 
Sinn für die unsichtbaren Mächte und durch sein Erschauern 


vor dem Unendlichen. 


Diese Bücher sınd vielen von uns das gewesen, was der 
Werther. seiner Generation war: der wundervolle Spiegel 
unserer Liebeskräfte und unserer Schwächen. unserer Hoff- 
nungen, unserer Schrecken und unserer Entmutigungen. Es 
machte uns weder Sorge. alle diese Widersprüche in Einklang 
miteinander zu bringen. noch diese vielgestaltige Seele. in der 
das Weltall widerhallte. in enge religiöse oder politische 
Kategorien zu zwängen. wie es die meisten. die in letzter 
Zeit über Tolstoi gesprochen haben, tun. weil sie sich nicht 
von dem Streit der Parteien freimachen konnten und ihn nach 
der Stärke ihrer eigenen Leidenschaften, nach dem Maßstab 
ihrer sozialistischen oder klerikalen Cliquen beurteilten. Als 
ob unsere Cliquen den Gradmesser für ein Genie abgeben 


Das Leben Tolstois 915 


—— 2 ——— 


könnten! ... Und was gilt es mir. ob Tolstoi meiner Partei 
angehört oder nicht! Kümmert es mich. zu welcher Partei 
Dante und Shakespeare gehörten, wenn ich einen Hauch ihres 
Geistes spüre und ihr Licht in mich aufnehme? 

Wir sagten uns keineswegs wie diese Kritiker von heute: 
„Es gibt zwei Tolstoi. den vor dem Wendepunkt und den 
nach dem Wendepunkt: der eine ist der gute, und der andere 
ist es nichte Für uns gab es nur einen, und wir liebten ihn 
restlos. Denn wir fühlten instinktiv, daß in solchen Herzen 
alles übereinstimmt, alles ın Verbindung miteinander steht. 

Was wir mit dem Instinkt fühlten. ohne es uns erklären 
zu können, das soll unser Verstand heute beweisen. Heute 
können wir es nachholen, da dieses lange Leben sein Ende 
erreicht hat und sich den Augen aller unverschleiert mit 
beispielloser Offenheit und Aufrichtigkeit darbietet. Was uns 
sofort auffällt, ist, wie sehr sein Leben sich von Anfang bis 
zu Ende gleich blieb, trotz der Schranken. dıe man von Strecke 
zu Strecke hat errichten wollen. — trotz Tolstoi selbst. der. 
wenn er liebte, wenn er glaubte, wie alle leidenschaftlichen 
Menschen geneigt war zu glauben, daß er zum erstenmal 
liebe, zum erstenmal glaube, und jedesmal von da an den 
Anfang seines Lebens datierte. Den Anfang und immer 
wieder den Anfang. Wie oft hat sich dieselbe Umwälzung, 
derselbe Kampf ın ıhm abgespielt! Man kann nicht von der 
Einheit seines Denkens sprechen — es war nie eine solche 
vorhanden —, wohl aber von dem Vorhandensein der ver- 
schiedenen Elemente in ihm, die bald miteinander verbündet 
bald einander feindlich, öfter aber feindlich waren. Die 
Einheit beruht weder im Geist noch im Herzen eines Tolstoi, 
se beruht im Kampf der Leidenschaften in ihm, in der 
Tragödie seiner Kunst und seines Lebens. 

Kunst und Leben sınd vereinigt. Nie waren Werk und 
Leben inniger vermählt: das Werk hat beinahe durchgängig 


916 Romain Rolland 


autobiographischen Charakter: von seinem 25. Lebensjahr an 
läßt es uns Tolstoi Schritt für Schritt in den widerspruchs- 
vollen Erfahrungen seiner abenteuerlichen Laufbahn verfolgen. 
Sein Tagebuch. das er vor seinem 20. Jahre begann und bis 
zu seinem Tode fortgeführt hat, die Angaben, die er 
Birukow zu dessen bedeutender Tolstoibiographie machte, 
vervollständigen diese Kenntnis und geben uns nıcht nur Ge- 
legenheit. beinahe Tag für Tag in Tolstois Innerem zu lesen, 
sie lassen uns auch die Welt. in der sein Genie wurzelte, 
und die Seelen, von denen seine Seele zehrte, wiedererstehen. 


Ein reiches Erbe. Von beiden Seiten ein sebr vornehmes 
und sehr altes Geschlecht — die Tolstoi und die Volkonski —. 
die sich rühmten bis auf Rurik zurückzureichen und ihren 
Stammbaum auf Genossen Peters des Großen, auf Generäle 
des Siebenjährigen Krieges. Helden aus den napoleonischen 
Kämpfen, Dezembristen und politische Verbannte zurückführten. 
Familienerinnerungen, denen Tolstoi einige seiner eigenartigsten 
Gestalten aus Krieg und Frieden · verdankt: der alte Prinz 
Bolkonski, sein Großvater mütterlicherseits. ein später Re- 
präsentant jener von Voltaireschem Geist durchsetzten. selbst- 
herrlichen Aristokratie zur Zeit Katharinas II.; der Prinz 
Nikolaus Gregorewitsch Volkonski, ein Vetter seiner Mutter. 
der bei Austerlitz verwundet und vor den Augen Napoleons 
vom Schlachtfeld aufgelesen wurde wie der Prinz Andre: 
sein Vater, der einige Züge von Nikolaus Rostow hatte: 
seine Mutter. die Prinzessin Merie. die sanfte Hallliche mit 
den schönen Augen, deren Güte - Krieg und Frieden: durch- 
leuchtet. 

Er kannte seine Eltern kaum. Die reizenden Schilderungen 
in Kindheit und Jugend. enthalten, wie man weill. 
wenig Tatsächliches. Seine Mutter starb. als er noch nicht 
zwei Jahre alt war. Er konnte sich demnach nicht des ge- 
liebten Angesichts erinnern. das sich der kleine Nikolaus 
Irteniew durch einen Schleier von Tränen hindurch herauf- 


Das Leben Tolstoıs 917 


beschwört, jenes Angesichts mit dem strahlenden Lächeln, das 
Freude um sich verbreitete | 

„Ach wenn ich dies Lächeln in schwierigen Augenblicken 
sehen könnte, dann wüßte ich nicht, was Kummer ist. .«. 

Aber sie vererbte ihm zweifellos ihren vollkommenen 
Freimut, ıhre Gleichgültigkeit gegen die öffentliche Meinung 
und, wie man uns versichert, ihre wundervolle Begabung, 
selbsterfundene Geschichten zu erzählen. 

An seinen Vater hafte er immerhin einige Erinnerungen, 
Der war ein liebenswürdiger Spöfter mit traurigen Augen. 
der in unabhängiger Stellung und bar jeden Ehrgeizes auf 
seinen Gütern lebte. Tolstoi war neun Jahre alt, als er ihn 
verlor. Dieser Todesfall »brachte ihm zum erstenmal die rauhe 
Wirklichkeit zum Bewußtsein und erfüllte sein Herz mit 
Verzweif lunge. Es war das erste Zusammentreffen des Kindes 
mit dem Schreckgespenst, dessen Bekämpfung ein Teil seines 
Lebens und dessen Verklärung und Verherrlichung der andere 
gewidmet sein sollte.. Spuren dieser Angst kommen in 
einigen unvergeßlichen Zügen der letzten Kapitel von »Kındheit« 
zum Ausdruck, wo die Erinnerungen auf die Erzählung vom 
Tode und vom Begräbnis der Muſter übertragen sind. 
| In dem alten Hause in Jasnaja Poljana blieben fünf 
Kinder zurück, in dem Hause, in dem Leo Nikolajewitsch 
am 28. August 1828 geboren wurde, und das er. nur um 
zu sterben, erst zweiundachtzig J ahre später verlassen sollte. 
Die Jüngste, ein Mädchen namens Marie, die später Nonne 
wurde (bei ihr. suchte der sterbende Tolstoi ein Obdach. als 
er seinem Haus und den Seinen entfloh). — Vier Söhne: 
Sergius, ein liebenswürdiger Egoist. , aufrichtig bis zu einem 
Grade. wie ich es niemals gesehen habes. Dmitri. ein ver- 
schlossener Mensch voller Leidenschaft, der sich später als 
Student mit Ungestüm religiösen Ubungen hingab. unbekümmert 
um die öffentliche Meinung. fastete. den Armen half, den 
Sıechen Zuflucht gewährte, der sich aber plötzlich mit der- 


918 Romaın Rolland 


selben Heftigkeit der Ausschweifung i in die Arme warf, und 
der dann, von Reue zernagt. ein junges Madchen. das er aus 
einem öffentlichen Hause her kannte, loskaufte und bei sich 
aufnahm und mit neunundzwanzig J ahren an der Schwindsucht 
starb. — Nikolaus, der Älteste, der Lieblingsbruder der von 
der Mutter die Begabung. Geschichten zu erzählen, geerbt 
hafte. ironisch. schüchtern und feinfühlig veranlagt. später 
Offizier im Kaukasus. wo er sich das Trinken angewöhnte. 
Auch er war voll christlicher Nächstenliebe. lebte in den 
bescheidensten Verhältnissen und teilte mit den Armen alles. 
was er hafte. Turgenıew sagte von ihm, daß er sjene Demut 
dem Leben gegenüber in die Praxis übertrug. die sein Bruder 
Leo in der Theorie zu entwickeln sich begnügte«. 

Im Hause dieser Waisen waren zwei hochherzige Frauen: 
die Tante Tatiana, die. wie Tolstoi sagt, zwei Tugenden 
besaß: Ruhe des Gemüts und Liebes. Ihr ganzes Leben war 
nichts als Liebe. Sie opterte sich unaufhörlich. 

„Durch eie habe ich die siftliche Befriedigung. die Liebe 
gibt. kennengelernt. 

Die andere war die Tante Als die allen half und 
nie Hilfe wollte, die ohne Dienstboten auskam, und deren 
Lieblingsbeschäftigung darın bestand, Lebensbeschreibungen von 
Heiligen zu lesen und sıch mit Pilgern und »Einfältigen« zu 
unterhalten. Von diesen sEinfältigene lebten mehrere im 
Haus. Eine von ihnen, eine alte Wallfahrerin. die Psalmen 
leierte. war die Patin von Tolstois Schwester. Ein 
anderer. der s»Einfältige« Grischa konnte nichts als beten und 


Welnen 


„O. guter Christ Grischa! Dein Glaube war so stark. 
daß du die Nähe Goftes fühltest, deine Liebe war so heil, 
daß deine Worte den Lippen entschlüpften, ohne daß dein 
Verstand sich Rechenschaft darüber gab. Und da du Goſtes 
Herrlichkeit verehrtest und nicht Worte dafür fandest. warfst 


du dich tränenüberströmt zu Boden!. 


Das Leben Tolstois 919 


— — —— 


Wer sähe nicht den Anteil, den alle diese bescheidenen 
Seelen an der Entwicklung Tolstois haften? Es ist. als ob 
eine von ihnen das Vorbild zum Tolstoi der letzten J ahre 
abgegeben habe. Ihre Gebete, ıhre Liebe legten dıe Saatkörner 
des Glaubens in den Geist des Kindes, deren Ernte der Greis 
reifen sehen sollte. Außer dem »Einfältigen« Grischa spricht 
Tolstoi von seinen Erzählungen aus der »Kindheite nicht von 
diesen bescheidenen Mitarbeitern, die seine Seele aufbauen 
halfen. Aber wie leuchtet hingegen durch das ganze Buch 
diese Kindesseele. . dieses reine und liebevolle Herz, gleich 
einem hellen Strahl, das immer bei den anderen die besten 
Eigenschaften herausfand«, diese außergewöhnliche Empfindsam- 
keit! Ist er glücklich, dann denkt er an den einzigen Menschen, 
den er unglücklich weill. er weint und möchte sich für ihn 
aufopfern. Er umarmt ein altes Pferd und biftet es um Ver- 
zeihung. daß er ihm Leid zugefügt hat. Er ist glücklich zu 
lieben, selbst wenn er nicht geliebt wird. Schon bemerkt man 
den Keim seines späteren Genies, seine lebhafte Einbildungs- 
kraft, die ıhn bei seinen eigenen Geschichten zum Weinen 
bringt, sein ımmer arbeıtendes Flirn, das stets zu ergründen 
sucht, an was die Leute denken, seine frühreife Beobachtungs- 
gabe und sein weıt zurückreichendes Gedächtnis, den auf- 
merksamen Blick, der mitten in seiner eigenen Trauer die 
Gesichter auf die Echtheit ihres Schmerzes prüft. Mit 
fünf Jahren fühlte er, wie er sagt, zum erstenmal, daß -das 
Leben kein Vergnügen, sondern ein ernstes Geschäft iste. 


Glücklicherweise vergaß er es wieder. Zu jener Zeit ver- 
tiefte er sich in volkstümliche Erzählungen, in russische Bylinen. 
jene mythen- und sagenhaften Träume, in biblische Geschichten 
— vor allem die erhabene Josephslegende, dıe er als alter 
Mann noch als das Muster aller Kunst ‚bezeichnet, — und 
in Geschichten aus »Tausendundeine Nachts, die jeden Abend 
im Hause seiner Großmufter ein blinder Erzähler, auf dem 


Fenstersims sitzend, vortrug. 


920 Romain Rolland 


— — —— a a N 


Er studierte in Kasan mit mäßıgem Erfolg. Man sagte 
von den drei Brüdern: »Sergius will und kann, Dmitri will 
und kann nicht, Leo will nicht und kann nichte. 

Er machte die Zeit durch, die er sdie Wüste der Jugend: 
nennt, eine Sandwüste, über die stoßweise sengende Winde 
wehen. Über diese Zeit sind die Geschichten aus den ersten 
und späteren Jünglingsjahren reich an Bekenntnissen aller- 
persönlichster Art. Er ist allein. Sein Hirn ist in einem 
Zustand ununterbrochenen Fiebers. Während eines Jahres 
entdeckt er von sich aus alle Systeme und versucht sich darın. 
Als Stoiker unterwirft er sich körperlichen Qualen. Als Epikureer 
gibt er sich der Ausschweifung bin. Dann glaubt er an Seelen- 
wanderung. um schließlich in einen sinnlosen Nihilismus zu 
verfallen: es scheint ihm. daß er dem Nichts ins Auge schauen 
kann, wenn er eich nur schnell genug danach umdreht. Er 
analysiert sich und analysiert sich. 

Ich dachte nicht mehr an irgend eine Sache. ich dachte. 
daſ ich an irgend eine Sache dachte. 

Diese fortgesetzte Selbstzergliederung, diese Denkmaschine, 
die sich im leeren Raum dreht, bleibt ihm wie eine gefährliche 
Gewohnheit, die, wie er sagt, ihm oft ım Leben schadete, aber 
aus der seiner Kunst unerhörte Hilfsquellen flossen. 

Bei diesem Beginnen hafte er seine ganzen Überzeugungen 
eingebüllt: so glaubte er wenigstens. Mit sechzehn Jahren hörte 
er auf zu beten und in die Kirche zu gehen. Aber sein 
Glaube war nicht tot. er glimmte nur im Verborgenen weiter: 

„Trotzdem glaubte ich an etwas. An was? Das könnte 
ich nicht sagen. Ich glaubte noch an Goft, oder vielmehr. ıch 
leugnete ihn nicht. Aber was für einen Got? Das wußte ich 
nicht. Ich leugnete auch Christus und seine Lehre nicht. aber 
worin diese Lehre bestand. häfte ich nicht sagen können. 

Für Augenblicke träumte er davon, Gutes zu tun. Er 
wollte seinen Wagen verkaufen, den Erlös den Armen geben. 
ihnen den Zehnten seines Vermögens opfern. sich ohne Dienst- 


Das Leben Tolstois 921 


boten behelfen... »denn es sınd Menschen wie iche. Er schrieb 
während seiner Krankheit Lebensregeln. nieder. Darin weist 
er naiv auf die Pflicht hin. -alles zu studieren und alles zu 
ergründen: Rechtslehre. Medizin. Sprachen. Landwirtschaft, 
Geschichte, Geographie. Mathematik, den höchsten Grad der 
Vollendung in der Musik und in der Malerei zu erreichen« 
usw. Er hafte »dıe Überzeugung. daß das Schicksal des Menschen 
ın seiner unablässıgen Vervollkommnung liege.. 

Aber von seinen Jünglingsleidenschaften, von ungestümer 
Sinnlichkeit und grenzenloser Eigenliebe getrieben. irrte dieser 
Glaube an die Vollkommenheit unvermerkt ab. verlor seinen 
selbstlosen Charakter und wurde praktisch und materiell. Wenn 
er seinen Willen. seinen Körper und seinen Geist vervoll- 
kommnen wollte, so geschah es nur, um die Welt zu besiegen 
und Liebe einzuflößen. Er wollte gefallen. 

Das war nicht leicht. Er war damals von affenartiger 
Häflichkeit: ein rohes, langes und derbes Gesicht, kurze, tief 
in die Stirn gewachsene Haare, kleine Augen, die einen aus 
dunklen Höhlen hart anblitzten. eine breite Nase, aufgeworfene 
Lippen und riesige Ohren. Da er sich über diese Häflıchkeit. 
die ihn schon als Kind beinahe zur Verzweiflung gebracht 
batte. nicht täuschen konnte, gedachte er das Ideal eines 
erstklassigen Menschen- zu verwirklichen. Um es wie die 
anderen erstklassigen Menschen. zu machen, ließ er sich durch 
dieses Ideal zum Spiel. zum unsinnigen Schuldenmachen, zur 
vollkommnen Ausschweifung verführen. 

Etwas rettete ihn immer wieder: seine unbedingte Aufrichtigkeit. 

Weißt du. warum ich dich lieber habe als all die 
andern ?« sagte Nekludow zu seinem Freund. »Du hast 
eine erstaunliche und seltene Eigenschaft: die Offenheit. 

„Ja. ich sage immer Dinge. die ich mir vor Scham kaum 
selbst eingestehe.« 

Bei seinen schlimmsten Verirrungen urteilt er über sich 


mit schonungslosem Scharfblick. 


Romain Rolland 


»Ich lebe geradezu tierische, schreibt er in sein Tagebuch. 
ieh bin völlig nıedergedrückt.« 

Und bei seiner Sucht zu analysieren. zeichnet er bis aufs 
kleinste die Ursachen seiner Irrungen auf: 

1. Unentschlossenheit oder Mangel an Tatkraft. 

. Selbstbetrug. 

. Unbesonnenheit. 

. Falsche Scham. 
Schlechte Laune. 
. Unordnung. 

. Nachahmungssucht. 
Wankelmut. 

9, Unüberlegtheit. 

Mit derselben Freiheit des Urteils bekriſtelt er noch als 
Student die gesellschaftlichen Sitten und die Verbohrtheiten 
der Intellektuellen. Er macht sich über die Universitäts- 
wissenschaft lustig. weist ganz ernsthaft die historischen Studien 
` zurück und läßt sich für die Kühnheit seiner Anschauungen 
in Haft nehmen. In dieser Zeit entdeckt er Rousseau, - die 
Bekenntnisse. den »Emil«.. Das trifft ihn wie ein Donnerschlag. 

sIch trieb Kultus mit ihm. Ich trug sein Konterfei im 
Medaillon um den Hals wie ein Heiligenbild. 

Seine ersten philosophischen Versuche eind Erläuterungen 
zu Rousseau (1846 — 1847). 

Aber er wird der Universität und der - erstklassigen 
Menschen, so überdrüssig, daß er nach Jasnaja Poljana zurück- 
kehrt und sich in seine Felder vergräbt (1847 bis 1851): 
er nimmt wieder Fühlung mit dem Volk und will ihm helfen. 
will sein Wohltäter und Erzieher sein. Seine Erfahrungen 
aus jener Zeit verwertet er in einem seiner ersten Werke. 
im Morgen des Gutsherrne (1852), einer bemerkenswerten 
Novelle. deren Held der Prinz Nekludow ist. hinter welchem 
Decknamen sich Tolstoi mit Vorliebe verbirgt. 


O K BD N 


Das Leben Tolstois 923 


— ie e a —— N DI no 


Nekludow ist 20 Jahre alt. Er hat das Universitäts- 
studium aufgegeben, um sich seinen Bauern zu widmen. Ein 
Jahr lang arbeitet er daran, ıhnen Gutes zu tun, und wir 
sehen ihn, wie er sich bei einem Besuch im Dorf von der 
spöttischen Gleichgültigkeit. dem einge wurzelten Miftrauen, der 
Gerissenheit, dem Leichtsinn, dem Laster und der Undank- 
barkeit zurückgestoßen fühlt. Alle seine Bemühungen sind 
vergeblich. Er kehrt entmutigt zurück und sinnt über seine 
Träume nach, die er vor einem Jahr hatte. über seine edel- 
mütige Begeisterung. ⸗seine damalige Überzeugung, daß die 
Liebe und das Gutsein Glück und Wahrheit bedeuteten, das 
einzig mögliche Glück und die einzig mögliche Wahrheit auf 
dieser Welt.. Er kommt sich besiegt vor, ist voll Scham 


und Überdruf. 


»Als er am Klavier saß. berührten seine Finger unbewufßt 
die Tasten. Ein Akkord stieg auf. dann ein zweiter. ein 
dritter .. er begann zu spielen. Die Akkorde waren nicht 
ganz gleichmäßig: oft waren sie gwöhnlich bis zur Banalität 
und verrieten keinerlei musikalische Begabung. Aber er fand 
dabei ein unerklärbares, trauriges Vergnügen. Bei jedem Har- 
monie wechsel erwartete er mit Herzklopfen den nächsten 
Akkord. und was diesem fehlte, ergänzte er ungefähr mit 
seiner Phantasie. Er hörte den Chor, das Orchester.. Und 
das größte Vergnügen bereitete ihm seine lebhafte Phantasie, 
die ıhn ohne Schranken, aber mıt bewundernswerter Klarheit 
die verschiedenartigsten Bilder und Begebenheiten aus Ver- 
gangenheit und Zukunft vorspiegelte — 2 


Er sieht die liederlichen, mißtrauischen, lügenhaften, faulen 
und dickfälligen Muschiks wieder. mit denen er kurz vorher 
gesprochen hafte. Aber diesmal sieht er sie mit all ihren guten 
Eigenschaften, nicht mehr mit ihren Lastern; er führt sich mit 
Liebe in ihre Herzen ein: er entdeckt in ihnen Geduld und 
Ergebung in ihr er drückendes Sckicksal, Versöhnlichkeit gegen 


erliſtenen Schimpf. Liebe zu ihren Anverwandten, und er 
29 


924 Romain Rolland 


sieht ein, warum sie aus Gewohnheit und Frömmigkeit am 
Vergangenen hängen. Er sieht ihre Tage, die nutzbringender. 
gesunder und ermüdender Arbeit gewidmet sind, mit anderen 
Augen an... 

Wie schön.« murmelt er. »W arum bin ich nicht einer der ihren ?« 

Der ganze Tolstoi steckt schon in dem Helden dieser ersten 
Novelle. mit seinem klaren Schauen einerseits und seinen nie 
schwindenden Illusionen auf der anderen Seite. Er beobachtet 
die Menschen mit unbeirrbarem Wirklichkeitssinn, doch schließt 
er nur. die Augen, so schlagen ihn seine Träume und seine 
Liebe zu den Menschen wieder ın Bann. 

Aber der Tolstoi von 1850 ist weniger geduldig als 
Nekludow. Jasnaja hat ihn enttäuscht, er ist des Volkes so 
müde wie der Vornehmen; seine Rolle bedrückt ihn: es liegt 
ihm nichts mehr an ihr. Außerdem drängen ıhn seine Gläubiger. 
1851 flieht er in den Kaukasus zur Armee, bei der sein 
Bruder Nikolaus Offizier ist. 

Kaum ist er dort, so findet er in der heiteren Gebirge- 
landschaft seine Fassung und seinen Goſt wieder: 

„Vergangene Nacht habe ich wenig geschlafen .. Ich habe 
zu Gott gebetet. Es ist mir unmöglich. die Süßigkeit des Ge- 
fühls zu beschreiben, die ich beim Beten empfand. Ich habe 
die üblichen Gebete gesprochen und dann noch lange weiter 
gebetet. Ich wünschte etwas sehr Gewaltiges. etwas sehr 
Schönes... Was? Das kann ich nicht sagen. Ich wollte auf- 
gehen ın dem Ewigen, ich bat ihn, mir meine Fehler zu ver- 
zeihen.... Aber nein, ich bat nicht. ich fühlte, daß er 
mır schon vergab, da er mich diesen glückseligen Augenblick 
erleben liel. Ich betete. und gleichzeitig fühlte ich, daß ich 
nichts zu sagen hafte, dab ich nicht beten konnte, daß ich 
nicht zu beten wagte... Ich habe ihm nicht in Worten ge- 
dankt. ich dankte ihm im Fühlen. . Kaum eine Stunde war 
vorüber, da hörte ich schon wieder die Stimme des Lasters. 


Ich War eingeschlafen und träumte von Ruhm und von Frauen: 


— — — ——— —— BES: 


Das Leben Tolstois _ | 925 


das war also stärker als ich. — Was lag daran! Ich danke 
Gott für diesen Augenblick der Glückseligkeit, und daß er 
mir meine Kleinheit und meine Größe gezeigt hat. Ich will 
beten, aber ich kann nicht; ich will begreifen. aber ich wage 
es nicht. Ich beuge mich deinem Willen! 


Das Fleisch war nicht besiegt (das wurde es nie): der 
Kampf zwischen den Leidenschaften und Gott vollzog eich 
im geheimsten Herzen. Tolstoi vermerkt in seinem Tagebuch 
die drei Teufel, die ihn martern: 1. Spiel wut: ein aussichts- 
reicher Kampf. 2. Sinnlichkeit: ein sehr schwieriger Kampf. 
3. Eitelkeit: der schrecklichste von den dreien. 


Im selben Augenblick, in dem er davon träumte. für die 
andern zu leben und sich zu opfern. übermannten ihn wol- 
lüstige oder leichtfertige Vorstellungen: das Bild irgendeiner 
Kosakenfrau oder die Verzweiflung, die ihn ergriffe, wenn 
die linke Schnurrbartspitze mehr in die Höhe stände als die 
rechte. — Was lag daran!]. Gott war da und verließ ihn 
nicht mehr. Die Hitze des Kampfes selbst wirkte befruchtend, 
alle Kräfte des Lebens wurden dadurch gesteigert. 

Ich denke, daß die leichtfertige Uberlegung. die mich zur 
Reise in den Kaukasus veranlaßte. mir von oben eingegeben 
wurde. Die Hand Gottes hat mich geleitet. Ich werde ihm 
stets dankbar dafür sein. Ich fühle, daß ich hier besser ge- 
worden bin, und bin fest überzeugt, daß alles. was mir auch 
zustoſlen mag. nur zu meinem Besten ausschlagen wird. da ja 
Gott selbst es gewollt hat 

Das ist die Dankeshymne der Erde im Frühling. Sie be- 
deckt sich mit Blumen. Alles ist gut. alles ist schön. Im 
Jahre 1852 treibt der Genius Tolstoi seine ersten Blüten: 
»Die Kindheit. -Der Morgen des Gutsherrn«, -Ein Überfall«. 
«Die Knabenjahree: und er dankt dem Lebensgeist. der ihn 
befruchtet hat. 

Die Geschichte meiner Kindheit. wurde im Herbst 1851 
m Tiflis begonnen und am 2. Juli 1852 in Piatigorsk im 


926 Romain Rolland 


ͤ— ——ẽꝗ—jää nn en — — 


Kaukasus beendet. Es ist seltsam. daß Tolstoi im Rahmen 
dieser Natur. die ihn berauschte, inmiſten dieses neuen Lebens 
und der aufregenden Kriegsgefahr, während er eine Welt von 
ihm bis dahin unbekannten Charakteren und Leidenschaften 
entdeckte. in jenem ersten Werk auf die Erinnerungen an sein 
verflossenes Leben zurückgreift. Aber als er die Kindheit. 
schrieb, war er krank, seine militärische Tätigkeit war jäh 
unterbrochen worden: und während der langen Genesungszeit 
befand er sich, da er allein war und Schmerzen hatte. in 
rührseliger Stimmung, ın der sıch die Vergangenheit vor seinen 
Augen abrollte. Nach der erschöpfenden Anspannung der mil- 
lichen letzten Jahre war es ıhm angenehm. die Wunderbare. 
unschuldsvolle, poetische und fröhliche Zeite des Kindesalters 
wieder zu erleben und wieder -ein gutes. weiches und liebe- 
fähıges Kinderherz zu bekommen. Bei dem Ungestüm seiner 
Jugend. der Fülle von Plänen, seiner dichterischen Erfindungs- 
gabe, die zu epischer Breite neigte und sıch daher selten mıt 
einem einzelnen Vorwurf befaßte, für die die großen Romane 
vielmehr nur Glieder einer langen historischen Kette waren, 
Bruchstücke eines unermeßlichen Ganzen, das nie zu Ende 
geführt werden konnte, sah Tolstoi im übrigen zu diesem 
Zeitpunkt in den Geschichten aus der Kindheit nur 
die ersten Kapitel einer »Geschichte von vier Epochen« die 
auch sein Leben im Kaukasus einbegreifen und zweifellos mit 
der Offenbarung Gottes durch die Natur ihren Abschluß 
finden sollte. 

Tolstoi ist später mit seinen Geschichten aus der - Kindheit. 
denen er einen großen Teil seiner Volkstümlichkeit verdankt, 
sehr streng ins Gericht gegangen. 


Sie sind so schlecht. sagte er zu Birukow. »sie sind mit 
so geringer literarischer Ehrlichkeit geschrieben ... Es ist nicht 
aus ihnen herauszuholen.. 

Er stand mit dieser Ansicht allein. Das Werk, das er 
als anonymes Manuskript an die große russische Zeitschrift 


Das Leben Tolstois u 927 


»Sowremennik«e (Der Zeitgenosse) geschickt hafte. wurde sofort 
veröffentlicht (am 6. September 1852) und hafte einen Riesen- 
erfolg, der von allen europäischen Lesern bestätigt wurde. 
Indessen versteht man, daß es trotz seines dichterischen Reizes. 
seines vornehmen Stiles und seines Feingefühls dem späteren 
Tolstoi mißfallen hat. 

Es hat ihm aus denselben Gründen mißfallen, aus denen 
es den anderen gefiel. Man muß zugeben: abgesehen von der 
Erwähnung gewisser lokaler Typen und einigen wenigen Seiten, 
die durch das religiöse Empfinden oder durch die Echtheit 
des Gefühls auffallen. ıst noch herzlich wenig von der 
Persönlichkeit Tolstois darin zu merken. Eine sanfte, weiche 
Empfindsamkeit. die ibm später immer unsympathisch war, und 
die er aus seinen anderen Romanen verbannte, herrscht vor. 
Wir kennen sie, diese Mischung von Humor und Rührseligkeit; 
sie stammt von Dickens her. Bei der Aufzählung seiner 
Lieblingsbücher zwischen 14 und 21 Jahren tragt Tolstoi in 
sein Tagebuch ein: »Dickens: David Copperheld. Bedeutender 
Einfluſ. Im Kaukasus liest er den Band noch einmal. 

Zwei weitere Einflüsse verzeichnet er selbst: Sterne und 
Toepffer. Ich war damals von ihnen begeistert · sagte er. 

Wer sollte glauben, daß die Genfer Novellene für den 
Dichter von Krieg und Friedens das erste Vorbild waren? 
Und doch braucht man es nur zu wissen. so findet man schon 
in den Geschichten aus der »Kindheite ihre gutmütige und 
spo@lustige Biederkeit wieder, die hier nur in eine vornehmere 
Natur verpflanzt ist. So war Tolstoi schon durch seine ersten 
Werke eine bekannte Persönlichkeit geworden. Aber seine 
Eigenart mußte sich noch befestigen. Das dauerte nicht lange. 
Die Jugend. (1853). die weniger rein und weniger abgerundet 
ist als die Kindheit, deutet auf selbständigere psychologische 
Beobachtung. auf ein sehr lebendiges Naturgefühl und ein so 
zerquältes Herz hin. wie sie Dickens und Toepffer wohl kaum 
batten. In dem »Morgen des Gutsherrn« (Oktober 1852) 


928 Romain Rolland 


erscheint der Charakter Tolstois fertig entwickelt mit seiner 
unerschrockenen Beobachtungstreue und seinem Glauben an 
Liebe. Unter den bemerkenswerten Bauernporträts, die er in 
dieser Novelle zeichnet, findet sich schon die Skizze zu einer 
seiner schönsten Figuren aus seinen »Volkserzählungene: Der 
Alte mit dem Bienenstock. der kleine Alte unter der Birke. 
wie er die Hände ausbreitet und die Augen in die. Höhe 
richtet: rings um ihn ein Schwarm golden schimmernder Bienen. 
die ihn umschwirren. ohne ihn zu stechen, und einen Kranz 
um seinen in der Sonne leuchtenden kahlen Schädel bilden. 

Aber die typischen Werke jener Zeit sind die, die seine 
augenblicklichen Gefühle unmittelbar wiedergeben: Die 
Geschichten aus dem Kaukasus. Die erste, »Der Überfall. (am 
24. Dezember. 1852 beendet) erweckt durch die Pracht der 
Landschaftsbilder Bewunderung: Ein Sonnenaufgang in den 
Bergen am Ufer eines Flusses: ein merkwürdiges Gemälde, 
das die Schaften und die Geräusche der Nacht mit packender 
Eindringlichkeit wiedergibt; und die Heimkehr am Abend, da 
in der Ferne die schneebedeckten Gipfel im blauen Nebel 
verschwinden und die schönen Stimmen der singenden Soldaten 
aufsteigen und in der dünnen Luft verwehen. Mehrere Ge- 
stalten aus Krieg und Frieden · erproben hier schon ihre 
Lebens fähigkeit: der Hauptmann Khlopow, der wahre Held, 
der sich nicht zum Vergnügen schlägt. sondern weil es seine 
Pflicht ist. seines jener einfachen, ruhigen russischen Ge- 
seichter. denen man froh und gerne gerade in die Augen 
schaute Schwerfällig. linkisch. ein bißchen lächerlich. un- 
empfindlich gegen seine Umgebung ist er der einzige. der sich 
in der Schlacht gleichbleibt. während alle anderen sich ändern : 
ser ist genau 80 wie immer: dieselben ruhigen Bewegungen. 
dieselbe gleichmäßige Stimme, derselbe einfache Ausdruck in 
seinem naiven derben Gesicht.. Neben ihm der Leutnant, der 
die Rolle eines Lermontowschen Helden spielt und der, obwohl 
er ın Wirklichkeit der gutmütigste Kerl ist. tut, als ob die 


Das Leben Tolstois 929 


wildesten Gefühle ihn beherrschten. Und dann der arme, 
kleine Unterleutnant. ganz begeistert in der Aussicht auf sein 
erstes Gefecht,- überströomend von Zärtlichkeit, bereit. jedem 
um den Hals zu fallen. bewundernswert und lächerlich zu- 
gleich, der aich wie Petia Rostow stumpfsinnig töten läßt. In 
der Mitte des Bildes die Gestalt Tolstois, der beobachtet. 
ohne sich in die Gedanken seiner Gefährten einzumengen und 
der schon hier seinen Protestschrei gegen den Krieg erklingen läße: 

»Können die Menschen denn ın dieser so schönen Welt, 
unter dem unermeßlichen Sternenhimmel nicht zufrieden leben? 
Wie können sie hier ihre Zerstörungswut, ihre Gefühle der 
Bosheit und der Rache gegen ıhren Nächsten aufrecht er- 
halten? In der Berührung mit der Natur, in der das Schöne 
und Gute am unmiftelbarsten zum Ausdruck kommt. sollte 
alles Schlechte aus dem Menschenberzen verschwinden. 


Andere aus jener Zeit stammende Geschichten aus dem 
Kaukasus sind erst später zu Papier gebracht worden: 
1854—1855 »Der Holzschlags, von peinlichster Naturtreue, 
ein wenig kalt, aber voll merkwürdiger Aufschlüsse über die 
Seele des russischen Soldaten, — Aufzeichnungen für die Zu- 
kunft; — 1856, eine »Begegnung im Feldee mit einem Mos- 
kauer Bekannten, einem verkommenen Lebemann und degra- 
dierten Unteroffizier. einem feigen. versoffenen Lügner. der 
es nicht vermag, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dal er 
ebensogut getötet werden könne wie einer seiner Soldaten. die 
er verachtet und von denen der geringste hundertmal mehr 
wert ıst als er. 

Über all diese Werke erhebt sich als höchster Gipfel 
dieser ersten Gebirgskette einer der schönsten lyrischen Ro- 
mane, die Tolstoi geschrieben hat, der Sang seiner Jugend, das 
Gedicht vom Kaukasus, Die Kosaken Die Pracht der 
schneebedeckten Berge, deren edle Linien sich von dem strah- 
lenden Himmel abheben, erfüllt das ganze Buch mit ıhrer 
Musik. Und das Werk ist einzig durch das höchste, was 


930 Romain Rolland 


nn m 


dem Genie gegeben ist, »den allmächtigen Gof der Jugend, 
wie Tolstoi sagt, jenen Schwung. der nie wiederkehrt . Ein 
Bergstrom im Frühling! Eine Fülle von Liebe! 

„Ich liebe. ich liebe so innig! .... Ihr Tapfern! Ihr 
Guten! .. wiederholte er und wollte weinen. Warum? 
Wer war tapfer? Wen liebte er? Er wußte es nicht recht. 


Dieser Rausch des Herzens dauert ungebändigt fort. Der 
Held Oleninn ist wie Tolstoi in den Kaukasus gekommen. 
um dort aus dem Abenteurerleben frische Kräfte zu schöpfen: 
er verliebt sich in eine junge Kosakin und verliert aich in 
dem Chaos seiner widersprechenden Hoffnungen. Bald glaubt 
er, daß »für andere leben, sich aufopfern. Glück bedeutete, 
bald, daß sich opfern nur Dummheit iste: dann möchte er 
fast mit dem alten Kosaken Eroschka glauben: Alles hat 
seine Berechtigung. Goft hat alles zur Freude des Menschen 
erschaffen. Nichts ist Sünde. Sich mit einem hübschen Mädel 
belustigen. ist keine Sünde, ist ewige Seligkeit« Aber was 
braucht er denn nachzudenken? Es genügt zu leben. Das Leben 
ist lauter Güte, lauter Glück, das allmächtige Leben, das all- 
umfassende Leben: das Leben ist Gof. Ein glühender Natu- 
ralismus bäumt sich auf und zerreißt ihm das Herz. Allein 
im Wald, »smiften unter wildwachsenden Pflanzen, einer Menge 
von Tieren. Vögeln und Mückenschwärmen, in dem schaſtigen 
Grün. der dufterfüllten, heißen Luft. zwischen kleinen, trüben 
Rinnsalen, die allenthalben unter dem Laub dahınplätschern.« 
wenige Schritte von den Fallstricken des Feindes entfernt wird 
Oleninn plötzlich von einem solchen grundlosen Glücksgefühl 
erfaßt, daß er. wie er es als Kind gewöhnt war, das Kreuz 
schlägt und irgend jemand danken möchte. Wie ein indischer 
Fakir findet er Genuß darin. sich zu sagen, daß er alleın und 
verlassen in diesem Strudel des Lebens ist, das ihn aufsaugt. 
daß Myriaden unsichtbarer Wesen. die überall versteckt sind, 
in diesem Augenblick seinen Tod bedauern, dal jene Tausende 


von ihn umschwirrenden Insekten, einander zurufen: 


Das Leben Tolstoie 931 


nn —ä—FàH 


„Hierher. hierher, Kameraden! Hier ist einer zu stechen! - 

Und es war ihm klar, daß er hier kein russischer Herr 
aus der Moskauer Gesellschaft. der Freund und Verwandte 
von dem und jenem war. sondern einfach ein Wesen wie die 
Mücke, der Fasan, der Hirsch, wie alle Lebewesen. die ihn 
jetzt umschlichen. 

„Wie sie werde ich leben und sterben. Und Gras wird 
darüber wachsen 

Und sein Herz ist voll Freude. 

Tolstoi lebt in jener Zeit in einem Rausch von Kraft und 
Liebe zum Leben. Er umfaßt die Natur und geht in ihr auf. 
Ihr vertraut er seine Schmerzen. seine Freude und seine Liebes- 
gefühle an. Aber dieser romantische Rausch tut niemals der 
Klarheit seines Blickes Abbruch. Nirgends mehr sind die 
Landschaften mit einem solchen Können und die Gestalten 
mit mehr Wahrhaftigkeit gezeichnet als in dieser glühenden 
Dichtung. Der Widerspruch zwischen Natur und Welt. der 
den Kern des Buches ausmacht und der Tolstois ganzes Leben 
lang ein Lieblingsgegenstand seiner Gedanken sein sollte, eın 
Artikel seines Glaubensbekenntnisses, läßt ihn schon hier, um 
das Komödienhafte der Welt zu geißeln, einige der herben 
Töne der »Kreuzersonatee anschlagen. Aber er ist nicht 
weniger schonungslos gegen die, die er liebt; und die Natur- 
wesen, die schöne Kosakin und ihre Freunde sind in grellstem 
Licht gesehen mit ıhrer Selbstsucht, ihrer Habgier. ihrer 
Schurkerei und allen ihren Lastern. 

Eine außergewöhnliche Gelegenheit sollte eich ihm bieten, 
diese heldenhafte Wahrheitsliebe auf die Probe zu stellen. 

Im November 1853 war der Türkei der Krieg erklärt 
worden. Tolstoi ließ sich der rumänischen Armee zuteilen, 
ging dann zur Krimarmee über und traf am 7. November 
1854 in Sewastopol ein. Er glühte vor Begeisterung und 
Vaterlandsliebe. Er tat wacker seine Pflicht und war oft ın 
Gefahr, besonders von April bs Mai 1855. wo er einen 


932 Romain Rolland 


über den anderen Tag Dienst bei der Batterie der 4. Bastei hafe. 
— Da er monatelang ein Leben in beständiger Aufregung und 
Angst, Aug in Aug mit dem Tode führte, belebte sich sein 
religiöser Mystizismus wieder von neuem. Er führt Gespräche 
mit Gott. Im April 1855 verzeichnet er in seinem Tagebuch 
ein Gebet zu Gott. in dem er ihm für seinen Schutz in der 
Gefahr dankt und ihn anfleht, ihn weiter zu beschützen, um 
das ewige glorreiche Ziel des Seins, das ich noch nicht kenne. 
aber schon ahne. zu erreichen. Dieses Ziel seines Lebens war 
keineswegs die Kunst, es war schon jetzt die Religion. Am 
5. März 1855 schrieb er: 

„Ich war einer großen Idee nähergekommen, deren Ver- 
wirklichung ıch meın ganzes Leben opfern wollte. Diese Idee 
ist dıe Gründung einer neuen Religion, der Religion Christi, 
aber von Glaubenssätzen und Wundern befreit... In klarem 
Bewußtsein handeln, um die Menschen durch dıe Religion zu 
einen. 

Das sollte das Programm seines Alters sein. 

Um sich indessen von den ihn umgebenden Eindrücken 
abzulenken. machte er sich wieder ans Schreiben. aber wie 
hätte er die nötige geistige Freiheit finden sollen, um im 
Schrapnellhagel den dritten Teil seiner Erinnerungen aus der 
„Jugend zu verfassen?, Das Buch ist verworren und man kann 
sein Durcheinander und an manchen Stellen eine gewisse ab- 
strakte analysierende Trockenheit mit Abteilungen und Unter- 
abteilungen in der Manier Stendhals den Bedingungen. unter 
denen es entstand, zuschreiben. Aber man muß die ruhige 
Durchdringung der zahllosen wirren Gedanken und Träume 
bewundern, die sich in dem jungen Hirn zusammendrängen. 
Tolstoi ist in diesem Werk von seltener Aufrichtigkeit gegen 
sıch selbst. Und von welcher poetischen Frische ist er zuweilen, 
z. B. in dem reizenden Bild vom Frühling ın der Stadt, in 
der Erzählung von der Beichte und vom eiligen Gang ins Kloster 


wegen der vergessenen Sünde. 


Das Leben Tolstois 933 


Ein leidenschaftlicher Pantheismus gibt gewissen Seiten des 
Buches eine lyrische Schönheit, deren Ton an die »Erzählungen aus 
dem Kaukasus erinnerte. So die Beschreibung jener Sommernacht: 

»Der ruhige Glanz des leuchtenden Halbmonds. Der 
schillernde Teich. Die alten Birken, deren langsträhnige Zweige 
auf der einen Seite im Mondlicht silbern schimmerten und auf 
der andern Seite Busch und Weg mit schwarzen Schaften 
zudeckten. Hinter dem Teich der Ruf der Wachtel. Das 
kaum hörbare Geräusch zweier alter Bäume, die sich aneın- 
anderscheuern. Das Summen der Mücken und das Herabfallen 
eines Apfels auf trockene Blätter. Frösche, die bis an die 
Stufen der Terrasse hüpfen und deren grünliche Rücken ım 
Mondstrahl schillern .. . Der Mond steigt höher, schwebt 
im klaren Himmel und erfüllt den Raum: der wunderbare 
Glanz des Teiches wird noch strahlender, die Schaften noch 
schwärzer, das Licht noch heller... Doch ich armseliger 
Erdenwurm, der ıch schon von allen menschlichen Leiden- 
schaften beschmutzt, aber erfüllt von der ganzen unendlichen 
Macht der Liebe war, ıch hafte ın diesem Augenblick das 
Gefühl, als ob die Natur. der Mond und ich eines seien.“ 

Aber die Wirklichkeit der Gegenwart sprach lauter als 
die Träume der Vergangenheit: sie verschaffte sich gebieterisch 
Gehör. Die - Jugend- blieb unvollendet und der Stabshauptmann 
Graf Leo Tolstoi beobachtete in der Panzerung seiner Bastei 
im Kanonendonner, inmitten seiner Kompagnie. die Lebenden 
und die Sterbenden und zeichnete ihre Ängste und seine 
eigenen in seinen unvergeßlichen Erzählungen Sewastopol auf. 

Diese drei Erzählungen — Sewastopol im September 1854, 
Sewastopol i im Mai 1855 und Sewastopol i im August 1855. 
— werden gewöhnlich i in einen Topf geworfen. Sie sind in- 
dessen sehr verschieden voneinander. Besonders die zweite Er- 
zahlung unterscheidet sich in der Empfindung und im Stil von 
den beiden anderen. Diese sind vom Patriotismus beherrscht: 


über der zweiten schwebt unerbiftliche Wahrheit. 


934 Romain Rolland 


Man erzählt, daß dıe Zarın nach der Lektüre der ersten 
Geschichte weinte und daß der Zar in seiner Bewunderung 
befahl, man solle diese Seiten ins Französische übersetzen und 
den Verfasser an einen ungefährlichen Platz stellen. Man ver- 
steht das leicht. Alles verherrlicht hier das Vaterland und den 
Krieg. Tolstoi ist gerade erst hingekommen, seine Begeisterung 
ist vollkommen; er schwimmt im Heroismus. Er bemerkt bei 
den Verteidigern von Sewastopol weder Ehrgeiz noch Eigen- 
liebe noch sonst irgend ein niedriges Gefühl. Für ihn ist das 
Ganze ein Heldengedicht, dessen Heroen »Griechenlands würdıg« 
sind. Andererseits legen diese Aufzeichnungen keinerlei Zeugnis 
ab von einem Streben nach Erfindung oder von dem Versuch, 
objektiv zu schildern: der Verfasser spaziert durch die Stadt: 
er sieht sehr klar, erzählt aber alles in unfreier Form: Man 
sieht... man tri ein, man bemerkt... .« Es ist eine bessere 
Berichterstaftung mit schönen Natureindrücken. 

Ganz anders ist die zweite Szene: Sewastopol im Mai 
1855. Schon in den ersten Zeilen liest man: Tausende mensch- 
licher Eitelkeiten sind hier aufeinander gestoßen oder haben 
im Tod Ruhe gefunden 

Und dann: 

. und da es viel Menschen gab, gab es viel Faelle 
Eitelkeit Eitelkeit, überall Eitelkeit, selbst an der Pforte des 
Grabes. Es ist die unserm Jahrhundert eigentümliche Krankheit... 
Warum sprechen Homer und Shakespeare von Liebe, Ruhm 
und Leid und warum ist die Literatur unseres Jahrhunderts 
nichts als die endlose Geschichte der Eitlen und der Snobs?. 

Die Erzählung, die nicht mehr ein einfacher Bericht des 
Autors ist, sondern die die Menschen und ihre Leidenschaften 
unmittelbar auftreten läßt. zeigt, was sich hinter dem Heldentum 
verbirgt. Der klare, unbeirrbare Blick Tolstois dringt bis in 
die Tiefen der Herzen seiner Waffenbrüder: in ihnen liest 
er, wie in sich selbst, Hochmut und Furcht, das Narrenspiel 
der Welt, das noch drei Schritt vorm Tode weitergespielt 


Das Leben Tolstois | 935 
wird. Besonders die Furcht wird eingestanden, ihrer Schleier 
beraubt und ganz nackt gezeigt. Diese unaufhörlichen Angst- 
zustände, dieser quälende Gedanke an den Tod werden ohne 
Scham und Mitleid mit fürchterlicher Offenheit aufgedeckt. 
In Sewastopol hat Tolstoi alle Sentimentalität verlernt. jenes 
unklare. weibische. weinerliche Mitleid.. wie er mit Gering- 
schätzung sagt. Und niemals hat sein Talent zur Analysierung. 
das man sich ‚schon während seiner Jünglingsjahre triebhaft 
entwickeln sah und das manchmal einen geradezu krankhaften 
Charakter annehmen sollte. eine bis zur Halluzination verschärfte 
Intensität erlangt. wie bei der Erzählung vom Tode Praslchulchins. 
Dort sind zwei volle Seiten der Beschreibung dessen gewidmet. 
was sich in der Seele des Unglücklichen abspielt. während der 
Sekunde. da die Bombe eingeschlagen ist und zischt. ehe sie 
explodiert. — und eine Seite schildert, was sich in ihm abspielt. 
nachdem sie explodiert ist und -er auf der Stelle durch einen 
Treffer in die Brust getötet worden iste Wie Zwischen- 
aktmusık miea im Drama öffnen sich in diese Schlachten- 
bilder weite Liehtungen, Sonnenstrahlen. die Symphonie des 
Tages, der über dem wundervollen Gelände anbricht und wo 
Tausende von Männern mit dem Tode ringen. Und der Christ 
Tolstoi vergibt den Patriotismus seiner ersten Erzählung und 
flucht dem ruchlosen Krieg: 


„Und diese Menschen. Christen. die alle dasselbe ri 
Gesetz der Liebe ‚und des Opferns bekennen. fallen beim 
Anblick ihrer Tat nicht reuig auf die Knie vor dem. der. 
da er ihnen das Leben gab. in die Seele eines jeden neben 
die Furcht vor dem Tode die Liebe zum Guten und Schönen 
pflanztel Sie umarmen einander nicht wie Brüder mit Tränen 


der Freude und des Glückes. 


Im Augenblick, als Tolstoi diese Novelle beendet hat, die 
herb ım Ton wie noch keines seiner Werke ist, fühlt er sich 
von Zweifeln ergriffen. Hafte er unrecht, so zu reden! 


936 __Romain Rolland / Das Leben Tolstois 


Ein peinigender Zweifel ergriff mich. Vielleicht sollte 
man das garnicht aussprechen. Vielleicht ist das. Was ich aus- 
spreche, eine jener schlimmen Wahrheiten. wie sie unbewußt 
in eines jeden Seele schlummern und die nicht zutage gefördert 
werden dürfen, weil sie sonst schaden anrichten. wie man die 
Hefe nicht bewegen soll. um den Wein nicht zu verderben. 
Wo ist das Schlechte, das man vermeiden soll. wo das Schöne. 
das man nachahmen soll? Wer ist der Bösewicht und wer 
ist der Held? Alle sind gut und alle sind schlecht. 

Aber er findet sich stolz wieder: 

Der Held meiner Novelle. den ich mit der ganzen Kraft 
meines Herzens liebe. den ich in seiner ganzen Schönheit zu 
zeigen versuche, der immer war, ist und sein wird, ist die 
Wahrheit. 

Nachdem der Direktor des Sowremennik. Nekrasow. diese 
Seiten gelesen hatte. schrieb er an Tolstoi: 

Gerade das braucht die russische Gesellschaft von heute: 
die Wahrheit, die Wahrheit. von der seit Gogols Tod 
so wenig in der russischen Literatur übriggeblieben ist... 
Jene Wahrheit. die Sie in unsere Kunst tragen, ist für uns 
etwas ganz Neues. Ich fürchte nur eines: daß die Zeit und 
die Niedertracht des Lebens. die Taubheit und Stummheit der 
uns Umgebenden aus Ihnen macht, was sie aus den meisten 
von uns gemacht haben. — daß sie in Ihnen die Energie 
töten.« 

Nichts derartiges war zu befürchten. Die Zeit. die die 
Energie der Durchschniftsmenschen verbraucht. hat die Tolstois 
nur gehärtet. Aber ım Augenblick weckten die schweren 
Prüfungen des Vaterlandes, die Einnahme von Sewastopol. mit 
einem Gefühl schmerzvoller Frömmigkeit aufs neue das Bedauern 
über seine allzu erbarmungslose Offenheit. 


Maxim Gorki / Rußland und die Weltliteratur 937 


RUSSLAND UND DIE WELTLITERATUR 
VON MAXIM GORKI 


Maxim Gorki schrieb das folgende Vorwort zu dem 
ersten Katalog des Verlages. der Weltliteratur, den er mit 
Hilfe der bolschewistischen Regierung gegründet bat. 
Alle seine Kräfte widmet Gorki — wie er mir in Perro- 
grad sagte — gegenwärtig dem Aufbau dieses Verlages. 


Ist es wirklich nötig, ein Wort über die Notwendigkeit 
einer ernsthaften Beschäftigung mit der Literatur oder zum 
mindesten ihrer genauen Kenntnis zu verlieren? Literatur 
ist das Herz der Welt, beflügelt von allen Freuden und 
Sorgen. Hoffnungen und Träumen der Menschen, ihrer 
Verzweiflung und Wut. ihrer Ehrfurcht vor der Schönheit 
der Natur, ihrem Schauder im Angesicht ihrer Mysterien. 
Dieses Herz sehnt sıch heftig und in Ewigkeit nach Selbst- 
erkenntnis, als ob in ihm all die Substanzen und Kräfte 
der Natur, die den Menschen als höchsten Ausdruck ihrer 
Vielfältigkeit und Weisheit geschaffen haben, danach strebten, 
Sinn und Zweck des Lebens zu deuten. 

Literatur kann außerdem das alles-schauende Auge der 
Welt genannt werden, dessen Blick in die tiefsten Geheim- 
nisse des menschlichen Geistes dringt. Das Buch — ein 
so einfaches und uns allen bekanntes Ding —, ist tatsächlich 
eins der größten und geheimnisvollsten Wunder der Welt. 
Da hat jemand, den wir nicht kennen, der vielleicht in 
einer uns unbegreiflichen Sprache redet. hunderte von Meilen 
von uns entfernt, auf Papier verschiedenartige Zeichen- 
Verbindungen hingemalt, die wir Buchstaben nennen und 
wenn wir sie ansehen, wie Fremde, weit entfernt von dem 
Schöpfer des Buches, so erfassen wir in geheimnisvollen 


938 Maxim Gorki / Rußland 
Weise den Sinn all dieser Worte. Gedanken. Gefühle. 
Bilder: wir bewundern die Beschreibung der Natur. ent- 
zücken uns an dem Rhythmus der Sprache, der Musik der 
Worte. Indem wır gerührt, erregt, träumend, zuweilen auch 
lachend diese bunt bedruckten Blätter lesen. erfassen wir 
das Leben eines Geistes. der uns fremd oder verwandt 
ist. Das Buch ist vielleicht das komplizierteste und er- 
staunlichste all der Wunder. die der Mensch geschaffen 
hat auf seinem Weg zur Glückseligkeit und Bezwingung 
der Zukunft. 

Es gibt noch keine Universal-Literatur, denn wir haben 
noch keine gemeinsame Sprache, aber jede literarische 
Schöptung in Vers und Prosa ist durchtränkt von der 
Einheit der Gefühle, Gedanken, Ideale. die allen Menschen 
gemeinsam sind, von der Einheit des heiligen Strebens des 
Menschen nach dem Glück geistiger Unabhängigkeit. von 
der Einheit des menschlichen Widerwillens gegenüber den 
Niederträchtigkeiten des Lebens, von der Einheit seiner Hoff- 
nungen auf Verwirklichung besserer Lebensbedingungen und 
von dem universellen Durst nach etwas. das in Worten 
oder Gedanken kaum zu umschreiben ist. kium darch das 
Gefühl begriffen werden kann, dies geheimnisvolle Etwas. 
dem wir die mafte Bezeichnung »Schönheite verleihen und 
das sich zu immer hellerer, immer prächtigerer Blüte in 
der Welt. in unseren eigenen Herzen entfaltet. 

Was auch immer die inneren Verschiedenheiten der 
Nationen. Rassen. Einzelnen sein mögen. wie sehr auch 
die äußeren Formen der Staaten. der religiösen Auffassungen 
und der Sitten voneinander abweichen. wie unüberbrückbar 
der Klassenunterschied ist — über all diesen Abgründen. 
die wir selbst in jahrhundertelanger Arbeit geschaffen haben. 
dunkelt das schwarze und drohende Gespenst von der all- 
gemeinen Erkenntnis aller Lebens- Tragik und das biftere 
Wissen um die Einsamkeit des Menschen in der Welt. 


ee — 


und die Weltliteratur 5 339 


Wir erheben uns aus dem Geheimnis der Geburt und 
wir finden zurück in das Geheimnis des Todes. Gemein- 
sam mit unserem Planeten wurden wir in den unendlichen 
Raum geschleudert. Wir nennen ihn das Universum. aber 
wir haben keine genaue Vorstellung davon und unsere 
Einsamkeit darin ist von solch unvergleichbar ironischer 
Vollkommenbeit. 

Die Einsamkeit des Menschen im Universum und auf 
der Erde, die für viele - eine leider nicht einsame Wüste. 
ist — auf Erden inmitten des quälendsten Widerspruches 
von Hoffnungen und Wünschen — wird nur von wenigen 
wirklich begriffen. Aber die schwache Ahnung davon ist 
instinktmäßig wie ein schädliches Unkraut in jedem Menschen 
eingepflanzt und sie vergiftet oft das Leben von Menschen. 
die dem Anschein nach vollkommen immun sind gegen 
dieses verzehrende Heimweh, daß in allen Zeiten und bei 
allen Völkern gleich war. und das in derselben Weise 
Byron, den Engländer, Leopardi, den Italiener, den Verfasser 
des »Predigers Salomos und Lao-Te, den großen Weisen 
Asiens gequält hat. 

Diese Qual, von einem dumpfen Gefühl der Unsicher- 
heit und Schicksalhaftigkeit des Lebens erzeugt. ist Hohen 
und Niedrigen gemeinsam und gilt für jeden. der den 
Mut hat. mit offenen Augen das Leben anzusehen. Und 
sollte je eine Zeit kommen, da die Menschen diese Qual 
überwunden und ın sich das Gefühl der Schicksalhaftigkeit 
und Einsamkeit erstickt haben, dann werden sie diesen Sieg 
nur auf geistigem Wege erreichen, nur durch die gemein- 
samen Bestrebungen von Wissenschaft und Literatur. 

Die Erde ist außer ihrer Hülle von Licht und Luft 
umgeben, von einer Sphäre geistiger Schöpferkraft. von der 
mannigfaltigen regenbogenfarbigen Ausströmung unserer Energie, 
aus der alles, was ın Ewigkeit schön ıst, gewebt, gehämmert 
oder geknetet ist: aus ihr sind geschaffen die mächtigen 

30 


940 i Maxim Gorki / Rußland 
Ideen und die hinrelende Vielfältigkeit unserer Maschinen, 
die überwältigenden Tempel und Tunnels, die die Felsen 
großer Gebirge durchstoßen, die Bücher, Gemälde, Gedichte, 
die Millionen Tonnen Eisen, die als Brücken über breite 
Flüsse geschleudert sind und mit so wunderbarer Leichtigkeit 
in der Luft schweben — all die ernste und zierliche. 
all die erhabene und zärtliche Poesie unseres Lebens. 
Durch den Sieg des Geistes und des Willens über 
die Elemente der Natur und das Tier. im Menschen, 
wodurch ımmer strahlende Funken der Hoffnung aus der 
eisernen Mauer des Unbekannten geschlagen werden, können wır 
Menschen mit berechtigtem Stolz von der planetarischen 
Bedeutung der großartigen Anstrengung unseres Geistes 
reden, dıe am strahlendsten und schönsten ın der literarischen 
und wissenschaftlichen Schöpfung ausgeprägt ist. Die große 
Bedeutung der Literatur besteht darin. daß sie unsere 
Bewußtheit vertieft. unsere Erkenntnis des Lebens erweitert, 
unserem Gefühl Form verleiht und uns eindringlich sagt: 
Alle Ideale und alles Geschehen, die ganze geistige Welt 
ist geschaffen durch Blut und Nerven der Menschen. Sıe 
sagt uns, daß Hen- Toy. der Chinese. ebenso tödlich un- 
befriedigt von Frauenliebe ist wie Don Juan, der Spanier; 
daß der Abbessinier dieselben Lieder der Klage und der 
Liebesfreude singt, wie der Franzose: daß das gleiche 
Pathos herrscht ın der Liebe einer japanıschen Geisha und 
Manon Lescauts: daß die Sehnsucht des Menschen, in der 
Frau die andere Hälfte seiner Seele zu finden, mit gleicher 
Flamme die Menschen aller Länder, aller Zeiten verzehrt 
und verzehrt hat. | 
Ein Mörder ist in Asien ebenso verwerflich wie in 
Europa; der russische Geizkragen Plushkin ist ebenso er- 
bärmlich. wie der französische Grandet, die Tantüffs aller 
Länder ähneln einander, die Misanthropen sind überall 
gleich elend, und jedermann ist stets entzückt von der er- 


und die Weltliteratur — 941 
greifenden Gestalt Don Quijotes. des Nitters vom Geist. 
Und schließlich reden alle Menschen in allen Sprachen 
immer von denselben Dingen, von sich und ihrem Schicksal. 
Menschen mit niedrigen Instinkten sind überall gleich. die 
Welt des Geistes allein ist unendlich vielfältig. 

Mit unwiderstehlich überzeugender Klarheit gibt uns 
die schöne Literatur diese ganze unendliche Gleichheit und 
dauernde Vielfältigkeit wieder — Literatur. dieser lebendige 
Spiegel des Lebens, der ın ruhiger Trauer oder ım Zorn 
mit dem gütigen Lachen eines Dickens oder der fürchter- 
lichen Miene eines Dostojewski all die Verwieldungen 
unseres geistigen Lebens reflektiert; die ganze Welt unserer 
Wünsche, die stehenden Sümpfe der Banalität und des 
Wahnsinns. unserem Heroismus und unsere Feigheit gegen- 
über dem Schicksal den Mut der Liebe und die Stärke 
des Hasses. die Niedrigkeit unserer Heuchelei und die 
Schändlichkeit unserer Lügen. unsere wıderwärtige Ver- 
dummung und unseren endlosen Todeskampf. unsere er- 
greifenden Hoffnungen und heiligen Bräuche — alles. wo- 
durch die Welt lebt, alles, das an die Herzen der 
Menschen stürmt. Indem die Literatur den Menschen mit 
den Augen eines mitempfindenden Freundes, mit dem strengen 
Blick eines Richters betrachtet, mit ıhm fühlt, mit ıhm 
lacht, seinen Mut bewundert, seine Schwachheit verflucht — 
erhebt sie sich über das Leben und erhellt gemeinsam mit 
der Wissenschaft den Menschen den Pfad zur Erreichung 
ihres Zieles. zur Entwicklung alles dessen. Was gut in 
ihnen ist. — l 

Es ist klar, daß die Literatur nicht völlig frei sein 
kann von dem, was Turgenieff den Druek der Zeite 
nannte. Es ist dies nur natürlich. denn -das Ubel besteht. 
daß man dem Tag seinen Tribut zahlen muĝe und es 
mag sein, daß das Übel des Tages öfter als es sollte. 
den beiligen Geist der Schönheit und unser Suchen nach 


942 Maxim Gorki / Rußland 


ihren »Eingebungen und Gebeten« vergiftet. Diese Eingebungen 
und Gebete sind vergiftet durch den häfßlichen Staub des 
Tages, aber »das Schöne ist das Seltene, wie Edmund 
Goncourt richtig sagte, und meistens sehen wir nur das 
Fehlen der Schönheit und unbedeutende Gewöhnlichkeit — 
diese Gewöhnlichkeit, die, sobald sie in die Vergangenheit 
zurücksinkt, für unsere Nachkommen alle Zeichen und 
Eigenschaften wahrer, unverwelkbarer Schönheit trägt. Er- 
scheint uns nicht heute das strenge Leben der alten 
Griechen schön? Begeistert uns nicht die blutige, stürmische 
und schöpferische Zeit der Renaissance mit all ihrer »ge- 
wöhnlichen«e Grausamkeit? Es ist mehr als wahrscheinlich. 
daß die großen Tage der sozialen Umwälzung. die wir 
jetzt durchmachen, die Begeisterung, Ehrfurcht und Schöpfer- 
kraft der Generationen erregen werden, die nach uns kommen. 

Wir wollen auch nicht vergessen, dal, obwohl Balzacs 
Arme Verwandtes, Golols »Tote Seelen« und die »Pickwick 
Paperse ausgesprochen Bücher sınd, die die Bedingungen 
des täglichen Lebens schildern, in ihnen doch eine große 
und unvergängliche Lehre enthalten ist. die die beste Uni- 
versität nicht verschaffen kann und die der Durchschnifs- 
mensch so stark und so klar nach einem Leben von 50 
Jahren harter Arbeit sonst kaum lernt. 

Das Gewöhnliche ist nicht immer banal, denn es ist 
das gewöhnliche Schicksal des Menschen, daß er verbrannt 
werde in dem Höllenfeuer seiner Bestimmung und diese 
Selbstverbrennung ist immer schön und notwendig und 
dabei auch lehrreich für diejenigen, die ihr ganzes Leben 
lang zaghaft dahinschwelen. ohne jemals aufzuleuchten in 
der strahlenden Flamme, die den Menschen vernichtet und 
die Geheimnisse des Geistes offenbart. 

Menschliche Irrtümer sınd nıcht so charakteristisch für 
die- Kunst des Wortes oder des Bildes; charakteristischer 
ist die Sehnsucht, den Menschen über die äußeren Be- 


und die Weltliteratur 943 


— nn L— nn — 


dingungen seiner Existenz zu erheben. ihn zu befreien von 
den Fesseln des herabwürdigenden Alltags. ihn sich selbst 
zu zeigen nicht als den Sklaven, sondern als den Herrn 
der Umstände, den freien Schöpfer des Lebens. und in 
diesem Sinne ist Literatur immer revolutionär. 

Durch den mächtigen Schwung des Geistes, der über 
alle kleinlichen Alltäglichkeiten sich erhebt, der gesättigt ist 
mit dem Geist der Menschlichkeit, der den Haß: entzündet 
im Übermal leidenschaftlicher Liebe, ist die schöne Literatur 
unsere große Rechtfertigung und nicht unsere Verdammunng: 
sie weil, daß es keinen Schuldigen gibt — wenn auch 
alles im Menschen ist. vom Menschen kommt. Die grau- 
samen Widersprüche des Lebens, die Feindschaft und Haf 
zwischen Nationen. Klassen. Individuen erregen. sind für 
die Literatur nur ein veralteter Irrtum und sie glaubt. 
daß der adlige Wille des Menschen all diese Irrtümer 
zerstören kann und muß, dal dagegen alles. was die freie 
Entwicklung des Geistes hemmt, den Menschen der Macht 
tierischer Instinkte überliefert. 

Wenn man den mächtigen Strom schöpferischer Kraft 
genau betrachtet, wie er in Wort und Bild verkörpert 
ist. dann fühlt und glaubt man, daß der große Zweck 
dieses Stromes darın besteht. für immer alle Streitigkeiten 
zwischen Rasse. Natioh und Klassen wegzuwaschen und 
indem er die Menschen von der harten Last des gegen- 
seitigen Kampfes befreit. all ihre Kräfte frei macht für 
den Kampf mit den geheimnisvollen Kräften der Natur. 
Und es scheint, daß dann die Kunst des Wortes und 
des Bildes die Religion der Menschheit ist und sein wird, 
eine Religion, die alles in sich vereinigt. was geschrieben 
wurde ın den heiligen Schriften des alten Indien, ım 
Zend-Awesta, ın den Evangelien und ım Koran. 

Dies ist ın einem rohen und äußerlichen Schema die 
Stellung zur Literatur ohne individuelle Abweichungen nach 


44 Maxin Gorki / Rußland 
verschiedenen Seiten festzulegen zu der die Gruppe von 
Mitarbeitern der »Weltliterature sich bekennen, die unter 
dem Volkskommissariat für Unterricht sich gebildet hat 
mit dem Ziel, die Werke der bedeutendsten Schriftsteller 
Englands, Amerikas. Frankreichs. Deutschlands. Italiens. 
Spaniens. Portugals. Skandinaviens. Ungarns usw. zu 
veröffentlichen. 

Wie aus der beiliegenden Liste zu ersehen ist, hat 
die Verlagsgesellschaft »Weltliteratur«e jetzt zu. Beginn ihrer 
Tätigkeit eine Auswahl getroffen aus den ın verschiedenen 
Ländern veröffentlichten Werken seit dem Ende des 18. Jahr- 
hunderts bıs zur Gegenwart, vom Beginn der großen fran- 
zösischen Revolution bis zur großen russischen Revolution. 
Auf diese Weise wird der -russische Bürger alle Schätze 
der Poesie und künstlerischen Prosa zur Verfügung haben, 
die während anderthalb Jahrhunderten von der gesamten 
geistigen Schöpferkraft Europas hervorgebracht worden sind. 

In ihrer Gesamtheit werden diese Bücher eine um- 
fangreiche historisch- literarische Anthologie ‚bilden. die dem 
Leser die Möglichkeit gibt, sich von Grund auf mit dem 
Entstehen, der Leistung und dem Verfall literarischer 
Schulen bekannt zu machen. mit der Entwicklung der 
Technik in Vers und Prosa, mit dem gegenseitigen Einfluß 
der Literaturen verschiedener Völker und ganz allgemein, 
mit literarischer Entwicklung in ihrer historischen Kontinuität 
— von Voltaire zu Anatole France, von Richardson zu 
Wells, von Goethe zu Hauptmann usw. Diese Bücher- 
reihe ist für die Volksbildung bestimmt und gedacht für 
Leser, die die Geschichte der literarischen Produktion in 
den Zeitraum zwischen den beiden Revolutionen studieren 
wollen. Die Bücher werden außerdem noch Einleitungen, 
Biographien der Verfasser enthalten, Skizzen der Epoche, 
in der die Schule, Gruppe oder das Werk entstanden ist, 
einen historisch-Literarischen Kommentar und bibliographische 


und die Weltliteratur . 
Anmerkungen. Es ist beabsichtigt. mehr als 1500 solcher 
Bücher zu veröffentlichen. jedes von ungefähr 320 Seiten. 

Später beabsichtigt die Weltliteratur ;, das russische Volk 
mit der Literatur des russischen Mittelalters und anderer 
slavischer Länder bekannt zu machen und auch mit der 
Wortkunst des Ostens. mit der schönen Literatur Indiens. 
Persiens, Chinas, Japans und der Araber. 

Gleichzeitig damit wird eine Broschürenreihe veröffentlicht. 
die für die weiteste Verbreitung unter den Massen bestimmt 
ist. Diese Broschüren werden die bedeutendsten Werke 
der Literatur Europas und Amerikas enthalten und von 
Biographien. Anmerkungen. soziologischen Skizzen begleitet sein. 

Da das russische Volk zielbewult die Straße geistiger 
Vereinigung mit den Völkern Europas und Asiens betritt. 
muſ es in seiner ganzen Masse die Besonderheiten in 
Geschichte. sozialem Leben und Psychologie der Nationen 
und Rassen kennen lernen. mit denen in Gemeinschaft es 
strebt, die neuen Formen der Wirtschaft aufzubauen. 

Literatur. die lebendige und gleichnishafte Geschichte 
der Heldentaten und Irrtümer, der Erfolge und des Ver- 
sagens unserer Vorfahren, die die größte Fähigkeit besitzt. 
die Gedankenwelt zu beeinflussen. die Roheit der Instinkte 
zu verfeinern. den Willen zu erziehen. muß endlich ihre 
Weltrolle spielen — die Rolle der Macht. dıe am stärksten 
und innigsten die Völker verbindet durch die Erkenntnis 
ihres Leids und ihrer Sehnsucht, durch die Erkenntnis ihrer 
gemeinsamen Wünsche nach einem glückseligen Dasein. das 
schön und frei ist. 

Das Ziel der Broschüren ıst, den Leser aus den Massen 
so gut wie möglich, mit den Lebensgewohnheiten der 
europäischen und amerikanischen Völker bekannt zu machen. 
die Gemeinsamkeit und Verschiedenheit ihrer Ideen, Ziele 
und Sitten zu zeigen — den russischen Leser vorzubereiten. 


daß er die Welt und die Menschen kennen lernt. die so 


946 Maxim Gorki / Rußland 


reich und lebendig durch die künstlerische Literatur 
dargestellt werden und wodurch die gegenseitige Verständigung 
verschiedensprachiger Völker so leicht erreicht wird. Das 
Gebiet literarischer Produktion ist. die Internationale des 
Geistes, und in unseren Tagen, da der Gedanke der 
Bruderschaft der Völker. der sozialistischen Internationale, 
notwendig in die Wirklichkeit übergeführt wird, sind wir 
verpflichtet. jede Anstrengung zu machen, damit die Auf- 
nahme des gesunden Gedankens der universellen Brüderlich- 
keit mit größter Eile sich vollzieht und in die Tiefen 
des Geistes und des Willens der Massen dringt. 

Je mehr der Mensch kennt, umso vollkommener ist 
er: je mehr der Mensch sich um seinen Mitbruder 
kümmert, umso schneller wird der Prozeß der Vereinigung 
aller guten schöpferischen Elemente zu einer gemeinsamen 
Kraft erreicht sein. umso schneller werden wir unseren 
Leidensweg überwinden, um zu der allgemeinen Freude des 
gegenseitigen Verstehens. der Ehrfurcht. der Brüderlichkeit 
zu gelangen — zu unserem eigenen Heil. 

Um das Lesen dem ungebildeten Volke anziehend zu 
machen. wird die Broschürenreihe Bücher von äufßerem 
Interesse enthalten. Geschichten mit verwiekelter Handlung. 
unterhaltende und humoristische Sachen, historische Novellen. 
abenteuerliche Erzählungen usw. 

Die Broschüren werden in chronologischer Reihenfolge 
veröffentlicht. so daß selbst die Leser aus dem ‚Volke 
imstande sein werden. klar dem Gang der geistigen Ent- 
wicklung Europas zu folgen — von der großen Revolution 
bis auf unsere tragischen Tage. Man beabsichtigt 3 — 5000 
Broschüren, jede 32—64 Seiten stark, zu veröffentlichen. 

In seinem Ausmaf ‚wird dieser große Verlegerplan 
einzigartig in Europa sein. E 

Die Ehre, dieses Unternehmen verwirklicht zu haben, 
gebührt den schöpferischen Kräften der russischen Revolution, 


und dıe Weltliteratur | 947 


der Revolution. die von ihren Feinden als »der Aufstand 
der Barbarene bezeichnet wırd. Indem das russische Volk 
ein so verantwortungsvolles und groß angelegtes Kultur- 
unternehmen in dem ersten Jahre seiner Tätigkeit unter 
beispiellos schwierigen Verhältnissen unternimmt. hat es ein 
Recht zu sagen. daß es sich ein Monument errichtet. das 
seiner würdig ist. 

Nach dem verbrecherischen und verfluchten Schlachten. 
das schändlicherweise von Menschen hervorgerufen wurde. 
die durch ihre leidenschaftliche Verehrung des feſten Götzen 
Gold. vergiftet waren, nach dem blutigen Sturm von 
Bosheit und Hal gibt es nichts Wirksameres, als das 
umfassende Bild geistiger Produktion überall sichtbar hin- 
zustellen. Während Roheit und Brutalität noch ihre Feste 
feiern. laßt uns alle dessen eingedenk sein. was wahrhaft 
menschlich ist. was die Vergangenheit uns gelehrt hat. was 


Genius und Talent die Welt gelehrt haben. 


Diesem Heft liegt ein Prospekt der Verlags- 
buchhandlung Walter Rothschild. Berlin. bei! 


——— — — — ——— 


| Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog 
Derfflingerstr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam- 
Berlin / Druck der E. Gundlach A.-G., Bielefeld 


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