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DAS
FORUM
HERAUSGEBER:
WILHELM HERZOG
4. Jahrgang
II. Band
April September 1920
GUSTAV KIEPENHEUER VERLAG
POTSDAM-BERLIN
KRAUS REPRINT
Nendeln/Liechtenstein
1977
DAS
FORUM
HERAUSGEBER:
WILHELM HERZOG
4. J a h rgang
II. Band
April—September 1920
GUSTAV KIEPENHEUER VERLAG
POTSDAM-BERLIN
KRAUS REPRINT
Nendeln/Liechtenstein
1977
Gedruckt nach einem Original der Bayerischen
Staatsbibliothek München
Printed in Germany
Lessingdruckerei Wiesbaden
INHALTS-VERZEICHNIS
Afril 1920
Seite
Wilhelm Herzog: Von Leipzig nach Moskau / Klarheit
um jeden Preise 481
Die Antwort Moskaus .......: 2222er. 485
Heinrich Vogeler: Über die kommunistische Schule. 504
Romain Rolland: Meinem besten Freunde — Shakespeare 509
Hans Siemsen: Potsdam oder Döberitz? .......... 517
Erich Mühsam: Gustav Landauer. 528
Douglas Goldring: Briefe aus der Verbannung {Schluf) 533
Ludwig Rosenberger: Karl Liebknecht 548
Mai 1920
Romain Rolland zum Bolschewismus ............ 561
Das Anklagematerial der Entente und das Leipziger
Reichsgericht 562
J. P. Marat: Von der Notwendigkeit. den Volksgeist zu
bilden, um die Freiheit zu sichern ......... 567
Hans Paasche: Protest eines Menschen 573
Fidelis: Gustav Landauers Kulturprogramm ........ 577
Hans Kohn: Peter Kropotkin .. .. . 22: 22222 0.. 599
Individualität und Gesellschaft 614
Franz Schulz: Gustav Noske — Heinrich Mann ..... 621
Die revolutionäre Bewegung in Spanien .......... 623
Victor Segalen: Paul Gauguins Todeskampf ........ 627
Eingelaufene Schriften 640
Juni 1920 Seite
Gustave Courbet: An die deutschen Künstler 641
G. Demartial: Patriotismus und Gerechtigkeit 645
Maxim Gorki: Die Internationale der Intellektuellen .. 649
Wahrheit über Sowjetrußland / Das Bibliothekswesen 651
Die Menschewiki . . 2 2 22 ee eurer ern 653
Franz Schulz: Kunst, Bürger, Staat .......... . 655
Heinrich Vogeler: Über die kommunistische Schule. l 660
Fritz Schwarz: Jean Jaurès ss 8 665
Hans Janowitz: Unter Lucifers Funn 701
Juli 1920
Franz Schulz: Abrechnung 711
Lenin: Thesen über die nationale und koloniale Frage.. 718
Lenin und Trotzki: Zwei Reden. 726
Beschlüsse des IX. Kongresses der Kommunistischen Partei
Rußlandsı242,852 ⁵ ]ð]ð 749
Kropotkin: Politische Rechte und ihre Bodenan für die
Arbeiterklasse . . 756
Willy Haas: Der Journali sse 764
Anatole France: Gespräch über die Intelligenz... .... 775
Morbus Berolinensis . . . 22 2 22 s. 779
Der Fall Jacobsohn-Hilferding .....:: 2222220. 782
August 1920
Wilhelm Herzog: Russisches Notizbuch .......... 791
Die Wut des Hilfergedinges .......... . 866
Seßtember 1920
Wilhelm Herzog: Russisches Notizbuch .......... 871
Romain Rolland: Das Leben Tols tos 912
Maxim Gorki: Rußland und die Weltliteratu t 937
ALPHABETISCHES REGISTER
Seite
Courbet. Gust ao 641
ne u. u a as ah 643
Kdl eee da aora Ne a at ee ee er 577
Francos, Anatole. 2 2 Een 773
Goldring. Doutl os. a 533
Gorki. Maxim . . ... o EEE . . . 649, 937
Hass: Wily 4,8 ²˙ů 2.00% Bone en a ee er le 764
Herzog. Wilbelm . . . . . Da ee w a sai 791. 866. 871
Janowitz, Hane . 701
( ĩðV / ¾ ee a en 599
Kropotkin .. i!! ̃²˙ —üUU UU. ² ]ꝝ?it ae a 756
Lasis er a m ˖ͤ·¹.̃⁊ ee er ee e ae la ia 718, 726
Mint P ee ee ee el 567
Mühsem, Erich . n 528
Paasche, Hans . . . . . e . . 575
Nollaad. Romein . nnn 509. 561. KAA 912
Rosenberger. Ludi „ 548
Schulz, Frans 621. 655
Schwars, Frits . 2:22 Core 665
Segalen, Victoe eee w 627
Siemsen, Ha 517
/// ae e R BE 726
DAS FORUM
4. Jahr Abril 1920 Heft 7
(Agen: A. 10 Mai 1920)
VON LEIPZIG NACH MOSKAU
KLARHEIT UM JEDEN PREIS!
VON WILHELM HERZOG
Auf dem Leipziger Kongreß der Unabhängigen Sozialdemokratischen Parteı
Deutschlands fiel eine Entscheidung, deren weltpolitische Bedeutung neben der
parteipolitischen nicht zu verkennen war.
Mit 227 Stimmen gegen 54, die sich für die noch weitergehende Stoeckersche
Resolution — d. h. für den sofortigen Anschluß an Moskau — aussprachen, wurde
die folgende von der Parteileitung vorgelegte Resolution angenommen:
Der Parteitag erklärt als eine der wichtigsten Aufgaben der Unabhängigen
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands die Zusammenfassung des gesamten
revolutionären Proletariats in einer tatkräftigen, revolutionären sozialistischen
Internationale.
Erste Voraussetzung einer aktionsfähigen -Internationale ist u.. c<ksichtslose
Führung des proletarischen Klassenkampfes unter Ablehnung jeder Politik, die
lediglich Reformen innerhalb des kapitalistischen Klassenstaates erstrebt.
Der Parteitag beschließt daher die Absage an die sogenannte zweite Inter-
nationale, womit für die U. S. P. jede Beteiligung an der für Genf geplanten
Konferenz ausgeschlossen wird.
Die U.S.P.D. ist mit der dritten Internationale darin einverstanden, durch
die Diktatur des Proletariats auf. Grund des Rätesystems den Sozialismus zu
verwirklichen. Es muß eine aktionsfähige proletarische Internationale geschaffen
werden durch Zusammenschluß unserer Partei mit der dritten Internationale
und den sozialrevolutionären Parteien der anderen Länder.
Deshalb beauftragt der Parteitag das Zentralkomitee, auf Grund des Aktions-
programms der Partei mit allen diesen Parteien sofort in Verhandlungen zu
treten, um diesen Zusammenschluß herbeizuführen und so mit der dritten
Internationale eine aktionsfähige geschlossene proletarische Internationale zu
482 | | Wilhelm Herzog
ermöglichen, die in dem Befreiungskampfe der Arbeiterklasse aus den Fesseln
des internationalen Kapitals eine entscheidende Waffe für die Weltrevolution
sein wird. |
Sollten die Parteien der anderen Länder nicht gewillt. sein, mit uns in die
Moskauer Internationale einzutreten, so ist der Anschluß von der Deutschen
Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei allein vorzunehmen.
Fünf Monate sind vergangen. Das Zentralkomitee hat, wie es versichert, ent-
sprechend seinem Auftrage „mit den sozialrevolutionären Parteien der anderen
Länder” verhandelt. Der Zusammenschluß unserer Partei mit der dritten Inter-
nationale und den sozialrevolutionären Parteien der anderen Länder ist jedoch bisher
nicht gelungen. Woran liegt das? Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Mos-
kaus angeblich rigorose Bedingungen. Kapp-Putsch. Seine Abwehr. Reichs-
tagswahlen. Vorbereitung dazu. Unmöglichkeit, direkt mit Moskau zu verkehren.
Das sind die. Einwände, die angeführt werden.
Sind sie stichhaltig? Seien wir gerecht. Für die, die auf Grund ihrer Über-
zeugung nur widerstrebend die 3. Internationale bejahen können, muß es Hinder-
nisse über Hindernisse sachlicher und persönlicher Art auf dem Wege nach Moskau
geben. Darum legte Crispien von seinem Standpunkte aus mit Recht den Akzent
auf das Wort Verhandlungen mit der 3. Internationale, die zum Anschluß führen
sollten. Und er fühlte sich durch den Zusatzantrag, der gestellt, angenommen und
als letzter Satz in die Resolution aufgenommen wurde, bedroht, er fühlte, wie sein
Wille durch einen anderen Willen, dem der Parteitag aber zustimmte, durchkreuzt
wurde. Dieser Zusatz, wonach die U.S.P.D. den Anschluß an die dritte Inter-
nationale allein vorzunehmen habe, falls die Parteien der anderen Länder nicht ge-
willt seien, mit uns in die Moskauer Internationale einzutreten, wurde als peinlich,
als störend empfunden. Darum nannte ihn Crispien „vollkommen überflüssig”
und fügte sofort hinzu: „Dieser Antrag ändert nicht das geringde an dem: Sinne
der Resolution der Parteileitung und der Kontrollkommission. Er ändert nichts
daran, daß Verhandlungen mit Moskau unter Zugrundelegung unseres Aktionspro-
gramms vor einem Zusammenschluß vorgenommen werden müssen. Wenn andere
Parteien nicht gleich mit uns gehen, dann schließen wir uns ohne sie mit Moskau
zusammen, wenn wir mit ihnen über Programm und Taktik einig geworden sind“.
Ein Satz mit zwei getrennten. wenns hat genügend Konditionelles. Und niemand
kann dem *geschickt für seine Taktik operierenden Führer vorwerfen, als habe er
etwa seine Absicht verdeckt. Er blieb dabei: Verhandlungen müßten stattfinden.
Auch nach Annahme des Zusatzantrages. Da dieser Auslegung niemand wider-
Von Leipzig nach Moskau 483
sprach, kann Crispien sie als unwidersprochenen Willen des Parteitages auffassen
und danach fordern zu handeln. Obwohl zweifellos eine große Anzahl der Delegierten mit der
Annahme des Zusatzantrages den Anschluß ohne Verhandlungen vollzogen wissen wollte.
Was jedoch ist in den fünf Monaten geschehen? Eine Anfrage ist nach Moskau
gerichtet worden. Auf diese Anfrage ist eine Antwort erfolgt. Vor fünf Wochen
traf sie ein. Bis heute wurde sie nicht veröffentlicht. Wenigstens nicht vom Zentral-
komitee. Inzwischen ließ sie das Westeuropäische Sekretariat der dritten Inter-
inationale als Broschüre erscheinen. Dieses Dokument, von: Sinowjew unterzeichnet,
ist in jeder Hinsicht von großer Tragweite und so wichtig, daß ich es den
Lesern des Forum zu vermitteln für notwendig halte.
Von vornherein ıst zu sagen: Diese klare und eindeutige Spracne der Kussen
tut wohl. Gleichviel, wie wir im Einzelnen zu den Äußerungen des Exekutiv-
Komitees stehen mögen, ob wir ihnen grundsätzlich zustimmen (und jeder
Revolutionir muß das) oder als zu hart ablehnen, — es ist eine Freude, so
hell, so leuchtend, so einfach die Dinge beim Namen genannt zu sehen. Und können
wir der Kritik widersprechen? Können wir sie für ungerecht erklären?
Der Beschluß von Leipzig am 5. Dezember 1919 blieb: Beschluß. Aus
dem Bekenntnis zur 3. Internationale wurde nicht Tat.
Viele kleinbürgerliche Vorurteile hinderten schon in Leipzig den Anschluß ohne
Vorbehalt. Und diese kleinbürgerliche Politik ist es, von der sich die U. S. P. D.
freimachen muß, will sie entsprechend dem von den Massen geäußerten Willen als
gleichberechtigtes und ebenbürtiges Mitglied ın die 3. Internationale aufgenommen
werden. Kein Mensch denkt an Unterwerfung. So wenig wie von einem auf-
rechten Menschen verlangt man von einer selbstbewußten revolutionären
Partei, daß sie sich unter ein fremdes Joch beuge. Darum handelt es sich nicht.
Das Por zur 3. Internationale ist offen. Warum treten wir nicht ein? Warum
die langwierigen Priliminarien? Unser Aktionsprogramm ist klar und eindeutig.
Es deckt sich mit allen Forderungen der 3. Internationale. Wesentlichster Grundsatz:
Diktatur des Proletariats, auf Grund des Rätesystems
Auf dem ersten Kongreß der Kommunistischen Internationale in Moskau (März
1919) waren bereits 36 Parteien vertreten.. Zahlreiche andere haben sich nach März
1919 der 3. Internationale angeschlossen, so die Italienische Sozialistische Partei.
die Norwegische Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die Polnische Kommunistische
Partei, die Amerikanische Sozialistische Partei; die Britische Sozialistische Partei
die Spanische Sozialistische Partei, die Arbeiterpartei Schottlands.
Nur wir hinken hinterher. Warum? Trotz dem Beschluß von Leipzig. Wer er
nicht eindeutig genug? Scheut das vom Parteitag beauftragte Zentralkomitee vor
484 Wilhelm Herzog /Von Leipzig nach Moskau
der Ausführung seines Auftrages zurück, weil fünf oder sechs oder acht anti-
bolschewistische Offiziere in der Partei Sabotage treiben und durch ihre „demo-
kratische“ Tätigkeit den Weg nach Moskau sperren wollen ?
Jeder Einwand fällt angesichts der schönen Schlußworte des Moskauer Mani-
festes. Nichte von Hochmut oder Herrschaftsgelüste einer Partei finden wir in diesem
Dokument. Es spricht nur hart und unsentimental aus, was ist. Und darüber
hinaus, was sein könnte, was werden kann. Die Pioniere der Weltrevolution maßen
sich innerhalb der 3. Internationale keine diktstorischen Befugnisse an. Sie be-
kennen im Gegenteil ausdrücklich: „Wir sind durchaus bereit, die dritte Inter-
nationale zu erweitern, die Erfahrung der proletarischen Bewegung in allen
Ländern in Betracht zu ziehen, das Programm der dritten Internationale auf Grund
der Theorie des Marxismus und der Erfahrung des revolutionären Kampfes in der
ganzen Welt zu korrigieren und zu ergänzen“. |
Man sieht: sie halten sich nicht für unfehlbar. Was sie allerdings nicht wollen,
ist: unwürdige Vermischung. Sie wollen rein bleiben. Nicht um der Personen, sondern
um der Sache willen. Die 3. Internationale liefe Gefahr, verwässert zu werden,
nähme sie kritiklos alle unsicheren Kantonisten und selbst -die Feinde von gestern
ohne weiteres auf. Reinigung tut not. |
Dis 3. Internationale kann nur schlagkräftig bleiben, kann nur die große histo-
rische Aufgabe, die ihr gestellt ist, erfüllen, wenn sie sich ihren weltrevolutionären
Charakter nicht um das Geringste verfälschen läßt, wenn sie von vornherein jede
Nachgiebigkeit als korrumpierend ablehnt, wenn sie -sich ihres Wertes, ihres : Singu-
larität, ihrer Macht, ihres unbeirrbaren Willens, rücksichtslos das Alte zu‘ zer-
stören, das Neue aufzubauen. ` bewußt bleibt.
Es wird ihr bald schwerer sein, Elemente abzustoßen als zu gewinnen. Und
deshalb muß is klug und vorsichtig zugleich sein und handeln, um den Feind,
der sie von außen her berennt nicht in ihrer eigenen Mitte groß werden
zu schen. |
Angesichts des neuaufflammenden Krieges der Weltreaktion gegen Sowjetrußland,
angesichts der verbrecherischen Konspirationen der Mannerheims und aller kontre-
revolutionären Kräfte Europas, muß es doppelte Pflicht jedes revolutionären Sozia-
listen sein, dem Bekenntnis zur 3. Internationale jetzt die Tat folgen zu lassen. Die
aufgeklärten Arbeiter Deutschlands wollen keine Politik, die schwankt, wackelt,
zögert, aufschiebt. Sie wollen eine klare, zielsichere Politik, die entscheidet,
vorgeht, Wort Tat werden laßt, die revolutionär handelt, die revolutionär wırkt.
Die Antwort Moskaus _ 485
DIE ANTWORT MOSKAUS
An alle Arbeiter Deutschlands, an die Reichszentrale der
Kommunistischen Partei Deutschlands und an den Partei-
vorstand der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands
Anläflieh des Beschlusses des Leipziger 88 der Unabhängigen Sozial-
demoßretischen Partei Deutschlands über die Kommunistische Internationale.
Der letzte Kongreß der U.S. P. D. falte den Beschluß,
aich an die Kommunistische Internationale und „andere sozial-
revolutionäre Organisationen”. mit dem Vorschlage zu wenden,
sch zu einer gemeinsamen internationalen Organisation zu
vereinigen. Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Inter-
nationale hält es für seine Pflicht, diese Frage vor das
Forum aller revolutionären Arbeiter zu bringen. Das Exekutiv-
komitee nimmt an, dał nur eine offene Erörterung dieser
Frage vor den breiten Arbeitermassen aller wirklich revolu-
tionãren Elemente der internationalen Armee des Proletariats
möglich ist und nicht eine hinter den Kulissen abgeschlossene
Vereinbarung. Die folgenden Ausführungen sind somit di e
Antwort auf den Brief Cris pie ns vom 15. Dezember 1919,
der dem Exekutivkomitee der Dritten Internationale zugestellt
und in der „Freiheit“ vom 2. Januar 1920 abgedruckt wurde.
L Die der US. N. angshorenden Arbeiter und ihre Führer
| in der Revolution.
Die Kommunistische Internationale ist sich | dessen bewußt,
daß die Arbeiter, die der U.S.P. angehören; ganz anders
gestimmt sind, als der. rechte Flügel ihrer Führer. Dies ist
der Ausgangspunkt unserer Beurteilung der Lage in. der
486 S O Die Antwort Moskaus
U.S.P. Die Kommunistische Internationale betrachtet den
Leipziger Beschluß der U.S.P. als einen Umschwung in
der politischen Richtung der Partei, der sich unter dem
Drucke desjenigen Teiles der Arbeiterschaft Deutschlands
vollzogen hat, der in dieser Partei organisiert ist. Dieser
Teil der Arbeiterklasse stellt sich auf Grund der ganzen
Erfahrung der Revolution immer mehr und mehr auf den
Standpunkt der proletarıschen Diktatur und des Massen-
kampfes um diese Diktatur unter der gemeinsamen Fahne
der Kommunistischen Internationale. Dieses verhindern ın
hohem Grade die opportunistischen rechten Parteielemente, die
geneigt sind, alles Mögliche mit Worten anzuerkennen, die
aber die tatsächliche Entwicklung der Revolution auf jede
Weise hemmen. Diese opportunistischen Zentrumsleute haben
während des imperialistischen Krieges das Proletariat von
allen Massenaktionen zurückgehalten, haben die verräterische
Linie der Verteidigung des bürgerlichen Vaterlandes unter-
stützt, haben die Notwendigkeit einer illegalen Organisation
verneint und schreckten vor dem Gedanken an den Bürger-
krieg zurück. Am Beginn der Revolution sind sie mis den
offenen Verrätern der Arbeiterklasse — den Scheide-
männern — ın eine gemeinsame Regierung eingetreten, haben
die schändliche Ausweisung der Berliner Botschaft des
Proletariats Ruflands sanktioniert und haben die Politik des
Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetmacht
unterstützt. Diese rechten Führer der Unabhängigen haben
seit Beginn der deutschen Revolution die Entente- Orien-
tierung gepredigt und sich mit allen Kräften dem Bunde
Deutschlands mit Sowjetrullland widersetzt. Die rechten
Führer der »Unabhängigene haben unter Deutschlands Pro-
letariern systematisch kleinbürgerliche Illusionen über das
Wesen des »Wilsonismus« gesät. Die rechten Führer der
»Unabhängigens haben Wilson gepriesen und ihn als Ver-
teidiger eines gerechten Friedens, als Vertreter der Demo-
Die Antwort Moskaus — 487
kratiee usw. hingestellt. Dank der Taktik dieser rechten
Führer blieb die Staatsmaschine des Wilhelminischen Kaiser-
reiches. das sich nur mit der republikanischen Flagge ver-
büllte. vollständig unberührt. In entscheidenden Augenblicken
Januar 1919) des Kampfes mit den Henkern der Arbeiter-
klasse — Noske u. Co. — schlugen die rechten Führer
der »Unabhängigen« eine »versöhnende« Richtung unehrlicher
Makler ein. schwächten den revolutionären Willen der
Arbeiter. zerfetzten die Einigkeit des Proletariats im Kampfe
und förderten dadurch seine Niederlage.
Erst verneinten sie die Diktatur der Räte überhaupt
und standen vollständig auf dem Standpunkt der bürger-
lichen Demokratie. Dann fingen sie an, ein Gemisch aus
den Räten und der konstituierenden Versammlung zu
propagieren (der Plan Hilferdings). Bis jetzt schwanken sie
zwischen diesem und jenem, wenn es sich um die Tat
handelt. Ihre literarischen Vertreter (Kautsky), die sıch ın
ein und demselben Verlage mit den bürgerlichen Pazifizisten.
»Demokratene und aufrichtigen Dienern der Börse und der
Bank treffen, finden keine bessere Beschäftigung, als den
schmutzigen Klatsch der russischen und anderen Gegen-
revolutionäre über die russische Revolution zu verbreiten.
Eine derartige, alles übertreffende “sinnlose und unehrliche
Verleumdung. wie die angebliche »Sozialisierung der Frauen-
in Rußland, die von den Generalen ‚und Spionen der
Entente erfunden ist, findet im Buche Kautskys Platz. Das
letzte Werk dieses Schriftstellers, »Terrorismus und Kommu-
nısmuse, erscheint ın demselben Verlag wie das Sammelwerk
gefälschter. in Amerika erfundener Dokumente über die
Bestechung · der Bolschewiki durch den deutschen Generalstab.
Diese Beispiele genügen. um, die wahre Physiognomie
einer Reihe der rechten Führer der U. S. P. zu kenn-
zeichnen. Die zu dieser Partei gehörenden Arbeiter müssen
verstehen, daß die Arbeiterpartei. ohne den vollständigen
488 S Die Antwort Moskau:
Bruch mit solchen rechten Führern zu vollziehen. die
Entwicklung der proletarischen Revolution nieht erleichtern
kann. — Es ist jetzt vollständig klar, daß die Revolution
in Deutschland einen solchen qualvollen Verlauf nimmt.
weil es den Scheidemännern gelungen ist. das Volk zu
entwaffnen. weil der Ausbruch der Revolution nicht zur
Verbindung Deutschlands mit Sowjetrußland führte, weil
der alte Machtapparat in Gang geblieben ist. Ein ungeheurer
Teil der Schuld und der Verantwortung dafür fällt auf
die rechten Führer der U.S.P. — Um die Linie gerade
zu biegen. müssen die Fehler verstanden und korrigiert
werden. Diese Parteilinie gerade zu biegen. wenn auch
über den Kopf einiger Führer hinweg. darın vor allem
besteht die Aufgabe der zur Partei der Unabhängigen
gehörenden Arbeiter.
II. Die Haußtfehler der US. P. und der »Zentrums-
Parteien · überhaupt
Die Ideologie der Führer der U.S. P. ist keine spezifisch
deutsche Erscheinung. Auf demselben Standpunkt stehen die
Longuetisten in Frankreich, die I. L. P. in England. die
A. S. P. in Amerika und andre. Ihre Eigentümlichkeit ist
das beständige Schwanken zwischen dem offenen Sozialverrat
vom Typus Noske und der Linie des revolutionären Pro-
letariats, d. h. dem Kommunismus. Diese Fehler fassen wir
in folgenden Punkten zusammen:
1. Die Diktatur bedeutet den Sturz der Bourgeoisie
durch eine Klasse, das Proletariat, und zwar durch seine
revolutionäre Avantgarde. Es heift in Wirklichkeit. den
Gesichtspunkt der Diktatur des Proletariats zu verlassen und
tatsächlich auf den Standpunkt der bürgerlichen Demokratie
überzugehen. wenn man verlangt: daß die Avantgarde sich
erst die Mehrheit des Volkes durch Wahlen in die
bürgerlichen Parlamente, in bürgerliche Konstituanten usw.
erwerben müsse, d. h. durch Abstimmen bei Vorhanden-
Die Antwort Moskaus 02 __489
sein von Lohnsklaverei, bei Vorhandensein von Aus-
beutern, unter deren Joch, bei Vorhandensein von Privat-
eigentum an Produktionsmitteln.
So S handeln die Führer der rechten Unabhängigen und
der französischen Longuetisten. Diese Parteien wiederholen
die Phrasen der bürgerlichen Demokraten über die Mehrheit
des »Volkes (das von der Bourgeoisie betrogen und vom
Kapital niedergehalten wird) und stehen objektiv noch auf
der Seite der Bourgeoisie.
2. Die Diktatur des Proletariats bedeutet die Erkenntnis
der Notwendigkeit, den Widerstand der Ausbeuter mit
Gewalt zu brechen, bedeutet die Bereitschaft, das Vermögen,
die Entschlossenheit, dıes zu tun. Die Bourgeoisie. sogar
die republikanischste und demokratischste (z. B. in Deutsch-
land. in der Schweiz. in Amerika) greift systematisch zu
Pogromen, zur Lynchjustiz, zu Morden, zu militärischen
Gewalttaten. zum Terror gegen die Kommunisten und ın
Wirklichkeit gegen alle revolutionären Schritte des Prole-
tariats. Unter diesen Bedingungen auf die Anwendung von
Gewalt. auf den Terror zu verzichten, heißt, sich in einen
weinerlichen Kleinbürger verwandeln, heißt, reaktionäre
kleinbürgerliche Illusionen über den sozialen Frieden säen.
heiß. — konkret gesprochen = Angst vor dem Haudegen
der Offiziere haben.
Denn der verbrecherischste und reaktionärste imperiali-
stische Krieg von 1914—1918 hat in allen Ländern, in
allen. sogar in den demokratischsten Republiken, Zehntausende
der reaktionärsten Offiziere erzogen und in den Vordergrund .
der Politik gestellt. die den Terror verbreiten und ihn zum
besten der Bourgeoisie, zum besten des Kapitals gegen das
Proletariat verwirklichen. — Die Reden einiger Führer der
Unabhängigen auf dem Leipziger. Kongreß über die Frage
der „moralischen Unzulässigkeit des Terrors seitens der
Arbeiter ın Bezug auf die weilgardistischen Henker des
490 FE Die Antwort Moskaus
Proletariats beweisen, daß diese Führer durch und durch
mit kleinbürgerlichen Ansichten durchtränkt sind.
Das Verhalten zum Terror. das die rechten Führer der
deutschen Unabhängigen und der französischen Longuetisten
in Parlamentsreden. Zeitungsartikeln. in der Agitation und
Propaganda offenbaren, ist daher ein vollständiges Lossagen
von dem Wesen der Diktatur des Proletariats. ein tatsäch-
licher Ubergang zur Position der kleinbürgerlichen Demo-
kratie, ist die Demoralisierung des revolutionären
Bewußtseins der Arbeiter. |
3. Dasselbe bezieht sich auf den Bürgerkrieg. Nach
dem imperialistischen Kriege. angesichts der reaktionären
Generäle und Offiziere. die den Terror gegen das Proletariat
anwenden. angesichts der Tatsache, daß schon neue impe-
rialistische Kriege dureh die gegenwärtige Politik aller
bürgerlichen Staaten vorbereitet werden, und nicht nur
bewußt vorbereitet werden. sondern mit objektiver Unver-
meidlichkeit aus ıhrer ganzen Politik folgen — unter diesen
Bedingungen. bei dieser Situation den Bürgerkrieg gegen
die Ausbeuter beklagen, ihn verurteilen. ihn fürchten —
heißt in Wirklichkeit, zum Reaktionär werden. — Das heift,
sich vor dem Sieg der Arbeiter, der Zehntausende Opfer
kosten kann, fürchten, und ganz sicher ein neues imperia-
listisches Blutbad zulassen, das gestern Millionen Opfer
kostete und morgen ebensoviel Opfer kosten wird. Das
heißt, den reaktionären und gewaltigen Gepflogenheiten und
Absichten und der Vorbereitung der bürgerlichen Generale
und der bürgerlichen Offiziere tatsächlichen Vorschub leisten.
Derartig reaktionär ist in der Tat die süßliche, klein-
bürgerliche, sentimentale Position der rechten Führer der
deutschen Unabhängigen, wie auch der französischen
Longuetisten in der Frage des Bürgerkrieges. Man schließt
dıe Augen angesichts der weißen Garde, ihrer Vorbereitung
und Schaffung durch die Bourgeoisie und wendet sich
Die Antwort Moskaus 491
— — ——— —
heuchlerisch, parasitisch (oder feige) ab von der Bildung
einer Roten Garde. einer Roten Armee der Proletarier
die fahig wäre, den Widerstand der Ausbeuter zu unter-
drücken.
4. Die Diktatur des Proletarıats and die Rätemacht
bedeuten die klare Erkenntnis der Notwendigkeit, den bür-
gerlichen (wenn auch republikanısch-demokratischen) Staats-
apparat, die Gerichte. die Bürokratie. die zivile wie die
militärische usw. zu zerbrechen, in Stücke zu schlagen.
Die rechten Führer der deutschen Unabhängigen und der
französischen Longuetisten zeigen weder Erkenntnis dieser
Wahrheit, noch alltägliche Agitation in dieser Richtung.
Viel schlimmer: sie führen die ganze Agitation in entgegen-
gesetztem Geiste.
5. Jede Revolution bedeutet, zum Unterschied von der
Reform, eine Krisis und zwar eine an und für sich
überaus tiefe politische und ökonomische, unabhängig von
der durch den Krieg hervorgerufenen Krisi. — Die
Aufgabe der revolutionären Partei des Proletariats ist es,
den Arbeitern und Bauern klar zu legen, daß man den
Mut haben muß, dieser Krisis tapfer zu begegnen und ın
den revolutionären Maßnahmen die Kraftquelle zu
ihrer Überwindung zu finden. Nur durch Überwindung
dieser größten Krisen durch revolutionären Enthusiasmus,
durch revolutionäre Energie, durch revolutionäre Bereitschaft
zu den schwersten Opfern kann das Proletariat die Aus-
beuter besiegen und die Menschheit endgültig vom Kriege.
vom Joch des Kapitals. von der Lohnsklaverei befreien,
Einen andern Ausweg gibt es nicht; denn das
reformistische Verhalten zum Kapitalismus hat gestern das
imperialistische Schlachten von Millionen Menschen und
Krisen ohne Ende erzeugt und wird sie unausbleiblich
morgen erzeugen. Diesen Grundgedanken, ohne den die
Diktatur des Proletariats eine leere Phrase ist. verstehen
2
492 | Die Antwort Moskaus
die Unabhängigen und die Longuetisten nicht. offenbaren
ihn in ihrer Propaganda und Agitation nicht und machen
ihn den Massen nicht klar.
Im Gegenteil sie schüchtern das Proletariat auf
alle mögliche Art und Weise ein durch Hinweis auf
die Schwierigkeiten. die die proletarische Revolution nach
sich zieht. Objektiv ist jedoch die Wiedergeburt der
Wirtschaft nur auf Grund der proletarischen Diktatur
denkbar: denn auf kapitalistischer Basis ist möglich nur
eine beständige und immer tiefer gehende Auflösung.
Durch ihre kleinbürgerliche Feigheit ziehen die Führer der
U.S. P. den ohnehin qualvollen Prozeß nur in die Länge
und vergrößern dadurch die Leiden des Proletariats.
6. Das Sowjetsystem ist die Zerstörung der bürgerlichen
Lüge, der Freiheit, die Presse zu bestechen, die Freiheit
der Reichen und Kapitalisten Zeitungen zu kaufen, Hunderte
von Zeitungen aufzukaufen und dadurch die sogenannte
öffentliche Meinung zu fälschen. — die man Presse-
freiheit“ nennt. a
Diese Wahrheit erkennen die deutschen Unabhängigen
wie ihre ausländischen Kollegen nicht; sie handeln nicht
nach ihr. sie agitieren nicht täglich für die revolutionäre -
Vernichtung jener Uhnterjochung der Presse durch das
Kapital, die die bürgerliche Demokratie fälschlicherweise
Preßfreiheit nennt. Da sie eine solche Agitation unterlassen,
erkennen die Unabhängigen nur durch Lippenbekenntnis die `
Sowjetmacht an; in Wirklichkeit sind sie von dem Vorurteil
der bürgerlichen Demokratie vollständig beherrscht.
Die Expropriation der Druckereien und Papıervorräte —
diese Hauptsache verstehen sie nicht zu erklären; denn
sie begreifen eie selbst nicht. Dasselbe bezieht sich auf
die Versammlungsfreiheit — diese Freiheit ist eine Lüge.
solange die Reichen die besten Gebäude besitzen oder
öffentliche Gebäude kaufen — auf die Bewaffnung des
Die Antwort Moskaus | 493
Volkes, die Gewissensfreihet — die Freiheit des Kapitals,
ganze Kirchenorganisationen zwecks Betäubung der Massen
mit religiösem Opium zu kaufen und zu bestechen —
und auf alle übrigen bürgerlich-demokratischen Freiheiten.
7. Die Diktatur des Proletariats bedeutet das Vermögen,
die Bereitschaft und die Entschlossenheit, die ganze Masse
der Werktätigen und Ausgebeuteten durch revolutionäre
Maßnahmen, durch Expropriation der Ausbeuter auf ıhre
Seite, auf die Seite der revolutionären Avantgarde des
Proletariats, zu ziehen. — Diese sind in der täglichen
Agitation der deutschen Unabhängigen (z. B. in der
Freiheit) nicht zu finden. Auch bei den Longuetisten
snd sie nicht zu finden. — Im besonderen ist diese
Agitation unter den ländlichen Proletariern notwendig.
unter den Kleinbauern (Bauern, die keine Lohnarbeit aus-
beuten. Bauern. die wenig oder gar kein Getreide verkaufen).
Diesen Schichten der Bevölkerung mul täglich. einfach,
populär, auf die konkreteste Weise klar gemacht werden.
daß das Proletariat nach der Eroberung der Staatsmacht
unverzüglich auf Kosten der expropriierten Groß-
grundbesitzer ihre Lage verbessern, sie vom Joch der
Großgrundbesitzer befreien, ihnen als einer Klasse große
Güter geben, eie von den Schulden befreien wird, usw.
Dasselbe mul der städtischen nichtproletarischen oder nicht
ganz proletarischen werktätigen Masse erklärt werden. —
Eine solche Agitation wird von den Unabhängigen nicht
geführt.
8. Die Diktatur des Proletariats bedeutet und setzt die
klare Erkenntnis der Wahrheit voraus, dał das Proletariat
kraft seiner objektiven ökonomischen Lage in jeder kapita-
listischen Gesellschaft die Interessen der ganzen Masse der
Werktätigen und Ausgebeuteten, aller Halbproletarier, (d. h.
der von teilweisem Verkauf ihrer Arbeitskraft Lebenden).
aller Kleinbauern und dergleichen richtig vertritt.
494 Die Antwort Moskaus
Diese Schichten der Bevölkerung folgen den bürgerlichen
und kleinbürgerlichen Parteien (darunter auch den sozialistischen
Parteien der II. Internationale) nicht kraft ihrer freien Willens-
äußerungen, wie die kleinbürgerliche Demokratie annimmt,
sondern kraft des direkten Betruges durch die Bourgeoisie,
kraft ihrer Unterjochung durch das Kapital, kraft des Selbst-
betrugs der kleinbürgerlichen Führer.
Diese Schichten der Bevölkerung (die Halbproletarier
und Kleinbauern) wırd und kann das Proletarıat nur nach
seinem Siege, nur nach der Eroberung der Staatsmacht auf
seine Seite ziehen, d. h. nachdem es dıe Bourgeoisie gestürzt.
dadurch alle diese Werktätigen vom Joch des Kapitals
befreit und ihnen ın der Praxis gezeigt hat, welchen Nutzen
(Befreiung von den Ausbeutern) die proletarische Staats-
macht gewährt.
Diesen Gedanken, der die Grundlage und die wesentliche
Idee der Diktatur des Proletariats ausmacht, verstehen die
deutschen Unabhängigen und die Longuetisten nicht, tragen
ihn nıcht ın die Massen. propagieren ıhn nıcht täglıch.
9. Die Unabhängigen (der rechte Flügel) und die
Longuetisten betreiben keine Agitation im Heere (Eintritt
ins Heer zum Zwecke der Vorbereitung seines Uberganges
auf die Seite der Arbeiter gegen die Bourgeoisie). Sie
schaffen keine Organisationen zu diesem Zwecke.
Sie antworten nicht auf die Gewalttaten der Bourgeoisie
auf deren endlose Ubertretungen der „Gesetzlichkeit” (wie
während des imperialistischen Krieges so auch nach dessen
Beendigung) durch systematische Propaganda illegaler
Organisationen und Schaffung derselben.
Ohne Verbindung von legaler Arbeit mit illegaler, von
legalen Organisationen und illegalen, kann von einer wirklich
revolutionären Partei des Proletariats weder in Deutschland
noch in Schweden, noch in England, noch in Frankreich
noch in Amerika die Rede sein.
Die Antwort Moskaus 41595
10. Die Grundfrage der sozialistischen Revolution. die
Expropriation der Ausbeuter. stellen die rechten Führer
unter die Benennung Sozialisierung? und stellen sie
reformistisch und nicht revolutionär. Das Wort » Sozialisierung »
vertuscht die Notwendigkeit der Konfiskation, die durch
das unerträgliche Joch der imperialistischen Schulden und
der Verarmung der Arbeiter hervorgehoben wird, vertuscht
den Widerstand der Ausbeuter und die Notwendigkeit
revolutionärer Maßnahmen des Proletariats zu seiner Unter-
drũckung. Diese Fragestellung erzeugt notwendigerweise
reformistische Illusionen. die der Diktatur des Proletariats
durchaus nicht entsprechen.
11. Die Kommunistische Internationale hält es nicht nur
für ungerecht. sondern auch prinzipiell für unzulässig. dal
die U.S. P. Deutschlands, die tatsächlich die Grundideen der
deutschen Spartakisten übernimmt. wobei sie sich diese Ideen
zu langsam, zu inkonsequent und unvollständig aneignet. in
den. Beschlüssen ihres Kongresses kein Wort über die
Vereinigung mit der kommunistischen Partei Deutschlands
(mit dem Spartakusbund) sagt. Die Einheit des revolutionären
Proletariats erfordert solche Verbindung. Man kann jedoch
die Diktatur des Proletariats und die Sewjetmacht in Wirk-
lichkeit nicht anerkennen, ohne tatsächliche, ernste, gewissen-
bafte Schritte dazu zu unternehmen, daß die Avantgarde
des Proletarıats des gegebenen Landes, die durch langen
und schweren Kampf (wie gegen die Opportunisten. so
auch gegen die Syndikalisten und die angeblich linken
Halbanarchisten) ihre Fähigkeit, die Arbeiterklasse zu einer
solchen Diktatur zu führen, bewiesen hat, von allen bewußten
Arbeitern unterstützt, ihre Autorität gefestigt, ihre errungene
Tradition sorgfältig behütet und entwickelt werde. Der
Spartakusbund in Deutschland, der von solchen Führern.
wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht,
gegründet worden ist, ist gerade ein solcher, der die inter-
496 9 Die Antwort Moskau
nationale Bedeutung einer Avantgarde erhalten hat, und der
Versuch ihn zu umgehen. wie dies die Unabhängigen in
Deutschland tun, ist unmöglich.
Das hängt zusammen mit der Tatsache, daß die Führer
der U.S.P. Deutschlands wissentlich nicht die Meinung
der Arbeitermassen dieser Partei ausdrücken, da sie viel
mehr rechts stehen als diese. Mit diesem Übel, das dem
Proletariat in der Epoche von 1889—1919 unerhörte
Leiden verursacht hat, kann man sich nicht aussöhnen:
denn dieses Übel wird durch das Auseinandergehen von
Wort und Tat verhüllt.
Auf solche Weise ist die ganze Propaganda. die
ganze Agitation. die ganze Organisation der rechten Un-
"abhängigen und der Longuetisten im großen und ganzen
eıne mehr kleinbürgerlich-demokratische als eine revolutionär-
proletarische. sie ist pazifistisch und nicht sozıalrevolutionär.
Infolgedessen erfolgt die » Anerkennung« der Diktatur
des Proletariats und der Sowjetmacht nur in Worten.
III. Die U.S. P. und die Internationale.
Dieselbe kleinbürgerliche feige Politik betreiben die
rechten Führer der U.S.P auch ın Bezug auf dıe Frage
der internationalen Vereinigung des Proletariats.
1. Die rechten Unabhängigen und die Longuetisten ver-
stehen und entwickeln ın den Massen nıcht das Bewußtsein
der Fäulnis und Verderblichkeit jenes Reformismus, der
tatsächlich in der Zweiten Internationale vorherrschte
und sie zugrunde gerichtet hat, sondern sie verdunkeln
dieses Bewußtsein. verhüllen die Krankheit, anstat sie auf-
zudecken. Die Frage des Zusammenbruches der Zweiten
Internationale, eine Frage von größter welthistorischer Be-
deutung, die Ursachen. dieses Zusammenbruches, die Haupt- |
fehler und die Verbrechen der Zweiten Internationale, ihre
Rolle in der Eigenschaft eines Hilfskontors bei dem
»Völkerbundee — alle diese Fragen wurden von der U.S. P.
Die Antwort Moskaus 497
gar nicht aufgeworfen. Dadurch verhüllt sie diese Ver-
brechen und verdunkelt das Klassenbewußtsein der prole-
tarıschen Massen.
2. Die rechten Unabhängigen und die Longuetisten ver-
stehen nicht und klären die Massen nicht darüber auf,
daß die imperialistischen Mehrgewinne der vorgeschriftenen
Länder diesen- erlaubten (und gegenwärtig R erlauben). die
Oberschichten des Proletariats zu bestechen. ihnen Brocken
der Mehrgewinne (den sie aus den Kolonien und der
finanziellen Ausbeutung der schwachen Länder ziehen) zu-
werfen. eine privilegierte Schicht geschulter Arbeiter zu
schaffen usw.
Ohne Enthüllung dieses Übels, ohne Kampf nicht nur
gegen die Aristokratie der Trade- Unions. sondern auch gegen
alle Äußerungen des Kleinbürgertums der Zünfte der Arbeiter-
arıstokratie, der Privilegien der Oberschicht der Arbeiter. ohne
schonungslose Vertreibung der Vertreter dieses Geistes aus
der revolutionären Partei, ohne Appellation an die Unter-
schichten, an die immer breiteren Massen, an die wirkliche
Mehrheit der Ausgebeuteten. kann von einer Diktatur des
Proletariats keine Rede sein.
3. Die Unlust oder das Unvermögen. mit den vom
Imperialismus angesteckten Oberschichten der Arbeiter zu
brechen, offenbart sich bei den rechten Unabhängigen und
den Longuetisten ebenfalls darin, daß sie nicht für die
direkte und bedingungslose Unterstützung aller Aufstände und
revolutionären Bewegungen der Kolonsalvölker agitieren. —
Unter diesen Bedingungen wird die Verurteilung der
Kolonialpolitik und des Imperialismus zur Heuchelei oder
zum einfachen Seufzer eines stumpfsinnigen Kleinbürgers.
4. Während sie aus der Zweiten Internationale austreten
und sie in Worten verurteilen (z. B. Crispien in seiner Schrift)
strecken die Unabhängigen einem Friedrich Adler, dem Mitglied
der österreichischen Partei der Herren Noske und Scheidemann
498 WDie Antwort Moskaus
die Hand hin. — Die Unabhängigen dulden in ihrer Mitte
Literaten. dıe alle Grundbegriffe der Diktatur des Proletarıats
verneinen (Kautsky u. Cie.).
Die Unabhängigen haben an der Berner und der Damin
gelben Konferenz teilgenommen. Die Unabhängigen haben
auch nach dem Leipziger Kongreß ihr Zentralorgan Freiheit ·
in den Händen des Erz-Rechten Hilferding. eines Anhängers
der gelben Zweiten Internationale gelassen. Dieses Auseinander-
gehen von Wort und Tat charakterisiert die ganze Politik
der Führer der Partei der Unabhängigen in Deutschland. der
Longuetisten in Frankreich. Eben die Führer teilen die Vor-
urteile der kleinbürgerlichen Demokratie und der reformistisch
demoralisierten Oberschichten des Proletariats. entgegen den
revolutionären Sympathien der Arbeitermassen, die zum
Sowjetsystem neigen.
5. Während dıe Führer der U.S.P. unter dem Druck der
Arbeitermassen mit der Kommunistischen Internationale ın
Verhandlungen treten, wenden sie sich gleichzeitig an die
Parteien der Zweiten Internationale (darunter an die weiße
Mannerheimsche Sozialdemokratie Finnlands); diese Parteien
nennen sie sozialrevolutionär, und sie schlagen det. Kom-
munistischen Internationale vor, sich mit diesen Parteien zu
vereinigen.
Dieser hilf lose Versuch. noch eine vierte, eine Bastard-
internationale zu gründen. ohne klares Programm. ohne feste
Taktik. ohne Aussicht auf eine Zukunft. ohne Perspektiven
ist dem Untergange geweiht. Er beweist aber, daß die
rechten Führer der Unabhängigen den Beschluß des Leip-
ziger Kongresses ihrer eigenen Partei sabotieren und
an eine aufrichtige Vereinigung mit der Avantgarde des
ringenden internationalen Proletariats nicht denken.
Im Zusammenhang mit allem Vorhergehenden erklärt
das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale:
a) Die Kommunistische Internationale stellt gegenwärtig
Die Antwort Moskaus 499
— — —ßß.
die größte Kraft vor. die schon die wichtigsten wirklich
revolutionären Elemente der internationalen proletarischen
Bewegung vereint hat.
An dem ersten konstituerenden Kongreß der Kommu-
nistischen Internationale in Moskau (März 1919) nahmen
folgende Parteien und Organisationen teil:
. Kommunistische Partei Deutschlands.
Kommunistische Partei Ruflands.
Kommunistische Partei Deutsch-Oesterreichs.
Kommunistische Partei Ungarns.
Linke der schwedischen Sozialdemokratischen Partei.
Sc zialdemokratische Partei Norwegens.
Sozialdemokratische Partei (Opposition) der Schweız.
Amerikanische I. L. P.
. Revolutionäre Balkanföderation (Bulgarische -Tesen-
jaki.) und Kommunistische Partei Rumäniens.
10. Kommunistische Partei Polens.
11. Kommunistische Partei Finnlands.
12. Kommunistische Partei der Ukraine.
13. Kommunistische Partei Leflands.
14. Kommunistische Partei Litauens und Weißrußlands.
15. Kommunistische Partei Armeniens.
16. Kommunistische Partei Estlands.
17. Kommunistische: Partei der deutschen Kolonien in
Rußland.
18. Kommunistische Parteı Englands.
19. Vereinigte Gruppe der Ostvölker Ruflands.
20. Zimmerwalder französische Linke.
21. Tschechische Kommunistische . Gruppe.
22. Bulgarische Kommunistische Gruppe.
23. Südslavische Kommunistische Gruppe.
24. Englische Kommunistische Gruppe.
25. Französische Kommunistische Gruppe.
26. Amerikanische Liga der sozialistischen Propaganda.
O Ne
500 .__ Die Antwort Moskaus
C Gruppe
28. Sozialdemokratische Partei Hollands.
29. Turkestaner Sektion des Zentralbüros der Ostvölker.
30. Türkische Sektion des Zentralbüros der Ostvölker.
31. Georgische goa 8 = 8
32. Aserbeidja nische. si ii 8
33. Persische a
34. Sozialistische Abaoe ld
35. Zimmerwalder Kommission.
36. Arbeiterverband Koreas.
In den zehn Monaten, die seit dem konstituierenden
Kongreß vergangen sind, sind folgende Berichte über die
Solidarisierung mit der Kommunistischen Internationale ein-
gelaufen. (W ir bemerken, daß unten angeführte Angaben sehr
unvollständig sind: in Wirklichkeit sind der Driſten Inter-
nationale viel mehr Parteien und Organisationen beigetreten.)
Am 19. März 1919 wurde der Beschluß des Komitees
der Italienischen Sozialistischen Partei über den Beitritt zur
Kommunistischen Internationale gefaßt,
Am 8. Aprıl 1919 wurde der Beschluß des Kongresses
der Norwegischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei über
den Beitriſt zur Kommunistischen Internationale gefaßt.
Am 10. Mai 1919 erhielten wir die Mitteilung von dem
Beitritt des Schwedischen Sozialdemokratischen Jugendver-
bandes zur Dritten Internationale.
Am 14 Junı 1919 wurde der Beschluß des
linken Flügels der Schwedischen Sozialdemokratischen
Partei über den Beitritt zur Dri@en Internationale gefaßt.
Am 22. Juni 1919 erhielten wir die Mitteilung
des Beschlusses des Kongresses der Bulgarischen Sozial-
demokratischen Partei der Tessnjaki über ihren Beitritt.
Am 20.Junı 1919 erhielten wir die Miſteilung des
Beschlusses des Zentralkomitees der Polnischen Kommunistischen
Partei über den vollzogenen Beitritt zur Driſten Internatianale.
Die Antwort Moskaus 301
Im Juli 1919 beschloß der Kongreß der Schweize-
rischen Sozialdemokratischen Partei, der Dritten Internationale
beizutreten. Bei dem Referendum sprach sich dafür nur
die Minderheit, aber eine sehr bedeutende, aus.
Im August 1919 faßte der Kongreß der Sozialisten
der Vereinigten Staaten „den Beschluß, der Kommunistigchen
Internationale beizutreten. In Amerika bestehen gegenwärtig
zwei Kommunistische Parteien. — Beide gehören der Driften
Internationale an.
Ebenfalls im August 1919 haben wir die
Mitteilung von dem Beitritt der Kommunistischen Partei
Ostgaliziens zur Dritten Internationale erhalten.
Im September 1919 liefen Nachrichten über die
Vereinigung der Sozialistischen Partei Elsaß-Lothringens
mit der Kommunistischen Internationale ein. Dieselben
Nachrichten erhielten wır ın diesem Monat von der
Ukrainischen Föderation der sozialistischen Parteien ın Amerika
und über eine Reihe finnischer Arbeiterorganisationen.
Im Oktober 1919 bestätigte der Kongreß der
Italienischen Sozialistischen Partei in Bologna mit ungeheurer
Mehrheit den Beitri& zur Kommunistischen Internationale.
Am 23. Oktober 1919 lief der Bericht ein
über den Beschluß der Britischen Sozialistischen Partei.
der Dritten Internationale beizutreten. |
Am 20. November 1919 lief die Nachricht ein über
den Beitriſt der Böhmischen. der Lothringer und der Mexi-
kanischen Sozialistischen Parteien zur Dritten Internationale.
In demselben Monat erhielten wir die Miſteilung. daß in einer der
europäischen Städte eın Internationaler Kongreß der Arbeiter-
jugend staſtfand. an dem die Delegierten von 220000 Mit-
gliedern der Parteı teilgenommen haben, und der einstimmig
beschloß, der Kommunistischen Internationale beizutreten .
Im Dezember 1919 wurden auf dem Kongreß der
Spanischen Sozialisten für die Drifte Internationale 12500
502 Die Antwort Moskaus
Stimmen. gegen dieselbe 14 000 Stimmen abgegeben.
Auf dem Skandinavischen Arbeiterkongreß (D ezem-
ber 1919) waren 268 Delegierte von 300000 Arbeitern
anwesend. Die Kommunistischen Resolutionen wurden ein-
stimmig angenommen.
Im Januar 1920 erhielten wır den Bericht über
den Beitritt der Arbeiterpartei Schottlands zur Kommu-
nistischen Internationale.
Diese Aufzählung genügt. um zu sehen daß in den
Reihen der Kommunistischen Internationale schon jetzt die
ganze Avantgarde des kämpfenden internationalen Proletariats
vereinigt ist. Die Arbeiterparteien, die aufrichtig für die
Diktatur des Proletariats und die Rätemacht kämpfen wollen.
können und müssen eich mit dem Kern vereinigen, den die
Dritte Kommunistische Internationale darstellt.
b) Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Inter-
nationale ist der Meinung, daß es im Interesse des Erfolges
des internationalen proletarischen Kampfes nicht zulässig sei,
unter irgend einem Vorwande, und wo es auch sei, noch
eine neue Zwischen-Vereinigung der Arbeiter zu schaffen, die
in Wirklichkeit keinesfalls revolutionär sein kann. Die Zer-
splitterung der Kräfte des Proletariats würde nur im Interesse des
Kapitals und seiner Diener, der gewesenen Sozialisten, liegen.
e) Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale
hält es für äußerst wünschenswert, mit den Parteien. die sich
zum endgültigen Bruch mit der Zweiten Internationale bereit
erklären. in Verhandlungen zu treten. Zu diesem Zwecke
fordert das Exekutivkomitee die Vertreter dieser Parteien auf.
nach Rußland zu kommen, wo das Vollzugsorgan der
Kommunistischen Internationale seinen Aufenthalt hat. Wie
groß. auch die technischen Schwierigkeiten beim Passieren
der Grenzen sind, so ist doch die Reise der Delegierten der
angeführten Parteien, wie die Erfahrung gezeigt hat, möglich.
Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale ist
Die Antwort Moskaus 303
sich dessen bewußt. daß infolge der Kompliziertheit der Beziehungen
und der spezifischen Eigentümlichkeiten in der Entwicklung der
Revolution mit diesen Eigentümlichkeiten streng gerechnet werden
muß. Wır sınd durchaus bereit, die Dritte Internationale zu er-
weitern. die Erfahrung der proletarischen Bewegung in allen
Ländern ın Betracht zu ziehen, das Programm der Dritten Inter-
nationale auf Grund der Theorie des Marxismus und der Erfahrung
des revolutionären Kampfes ın der ganzen Welt zu korrigieren und
zu ergänzen. Wir lehnen aber entschieden jede Mitarbeiterschaft mit
den rechten Führern der Unabhängigen und der Longuetisten ab. die
dıe Bewegung zurück ın den Sumpf der gelben Zweiten
Internationale ziehen.
Indem das Exekutivkomitee den Beschluß des Leipziger Kon-
gresses ın dem Teile. der von dem Bruch mit der Zweiten Inter-
nationale spricht, begrüßt und die Delegation der U. S. P. zu Verhand-
lungen auffordert. drückt es die feste Ueberzeu gung aus. daſ durch die
revolutionäre Erkenntnisfähigkeit der proletarischen Massen die
Reihen der Führer der U.S. P. gesäubert werden. die Partei zur
Vereinigung mit der Kommunistischen Partei Deutschlands
gebracht wird und schließlich sich ihre besten Elemente unter
dem gemeinsamen Banner der Kommunistischen Internationale
organisieren werden.
Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale
schlagt den aufgeklärten Arbeitern Deutschlands vor, diese
Antwort in öffentlichen proletarischen Versammlungen zu
erörtern und genaue und klare An: worten auf die berührten
Fragen von den Führern der U.S. P. zu verlangen.
Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale sen-
det dem heldenhaften Proletariat Deutschlands brüderliche Grüße!
Moskau, den 5. Februar 1920.
Das Exe kutiv- Komitee
der Kommunistischen Internationale.
Vorsitzender:
G. Sinowjew.
504
Heinrich Vogeler
ÜBER DIE KOMMUNISTISCHE SCHULE
VON HEINRICH VOGELER -WORPSWEDE
I. |
Die Wichtigkeit der Produktivität, die höchste Wertung
der Arbeit erfüllt die sogenannten Geistigen immer noch mit
einem panischen Schrecken. — Schulprobleme über Schul-
probleme entstehen, um mit allen Mitteln den Einfluß der
Wirtschaft auf das Geistige zu verhindern, — Das ıst eine
sehr natürliche Notwehr, hat sıch. doch unser ganzes geistigen
Leben, unsere sogenannte Kultur völlig abhängig gemacht von
der Diktatur des Geldes. Wenn wir an die Wissenschaft
denken, an dıe Technik, so gab es gar keine freie Wissen-
schaft mehr, alles war käuflich. Die Stellung der Mediziner
im Kriege ist ein so dunkles Kapitel. wie wir es für alle
die als Mannschaften im Felde waren, wohl nicht zu be-
leuchten brauchen. Die Abhängigkeit der Irrenärzte von der
kapitalistischen Diktatur, von der Diktatur der Heeresver-
waltung hat so groteske Musterbeispiele gezeitigt. daß unter
den Vertretern dieser Berufe heute die schlimmsten Gegen-
revolutionäre sitzen. die eine ungeheure Angst vor der Ab-
rechnung des Schicksals haben; ebenso die Vertreter der
christlichen Kirchen, die in den Knien vor dem goldenen
Kalbe das Christentum verrieten. — Das Bedürfnis nach der
5 Arbeitsschule ist gerade daraus entstanden. unser geisti ges Leben
frei zu machen von dem Einfluß des knechtenden Mammons,
unser Wirtschaftsleben aber so mit dem Geist des Sozualıs-
mus, mit dem Geist der Menschlichkeit, der gegenseitigen
Hilfe zu durchdringen, daß das Wirtschaftsleben das stärkste
Ausdrucksmittel unseres geistigen Zustandes ist. — Das müs-
sen wir auch ımmer wieder den dreigliedrigen Sozialisten
zurufen: keine Trennung von Geistesleben, Wirtschaftsleben.
Politik und Rechtsleben — sondern Einheit der Gestaltung unseres
Lebens, jede Tat Ausdruck unserer bejahenden Menschlichkeit!
Über die kommunistische Schule 505
In der Arheitsschule müssen wir die Umwelt des Kindes
so gestalten. daß in ihm immer wieder das Schöpferische
geweckt wird, denn dem schöpferischen Menschen geht es
nie um Besitz, ihm ist die Tat. das Werk Lebenszweck,
Erfüllung.
Wir beginnen unsere Schule mit dem Nichts an
materiellen Gütern aber mit den seelischen Erkenntnissen und
Erfahrungen der schwersten Leidenszeit. Die nächsten Sorgen
sind die wirtschaftlichen und so verankern wir die Schule
in den Bedürfnissen unserer Arbeitsgemeinschaft. im Betriebe
der Schule, der Gemeinde, des Dorfes, der Stadt selber.
Die innige Verbindung allen Wissens mit dem. lebendigen
Leben ist die Grundlage der Arbeitsschule.
Die unabhängige Schulgemeinde ist nun ein wiırschaft-
lich arbeitendes Teilstück der Dorf- oder der Stadtkommune.
Ein Beispiel: Die Schule umfaßt neben einer intensiven Ge-
müsewirtschaft (die möglichst das beste an moderner Tecknik
dem Lernenden bietet) alle jenen Handwerksstätten. die für
den Dorf betrieb notwendig sind. Die Gemüsewirtschaft würde
die Ergänzung für den Körner- und Kartoffelbau der um-
gebenen Gemeinde werden, den Bauer von der Kleinwirt-
schaft entlasten und automatisch zu immer zusammengefaßterer
Wirtschaft treiben, Der technische Autbau ist nun wieder
Lehrmittel: die Land- und Höhenvermessungen, die z. B,
für eine sachgemäße Berieselung oder künstliche Beregnung
notwendige Unterlagen gäben, wären die praktischen Mathe-
matıkaufgaben der Lernenden. Keine Maschine würde ein-
gestellt. sie sei denn gleichzeitig in allen ihren Funktionen
und Beziehungen zum produktiven Leben von Schülern und
Lehrenden erkannt. Die Schule sucht also ın allen prak-
tischen und in allen geistigen Dingen einen innigen Zu-
sammenhang mit dem Leben zu gewinnen: sie ist in steter
Wandlung. steter Vertiefung begriffen. — In Dorf- und
Stadtgemeinden. in denen die Gründung einer freien wirt-
schaftlich selbständigen Schulgemeinde schwierig ist. wandert
506 = Heinrich Vogeler
..-- — ane — ¶ — —
die Schule auf die Straße, in den Betrieb. Vielleicht steht
vor dem Hause schon ein Gemüsekarren: die Lerntätigkeit
beginnt: sie führt von hieraus einen Teil der Lernenden
in die Küche, andere hinaus in den Gemüsegarten. wieder
andere bringt sie an die ländlichen oder städtischen Ver-
teilungsstellen. — Die Küche bringt die Lernenden zur Buch-
führung. zum Schreiben. zum Rechnen: die Verteilungs-
stellen bringen die Lernenden vielleicht an die Stellen. wo
sie Not und Elend kennen lernen. Ueberall muß der Lernende
tätig. helfend eingreifen, so findet er bald einen Platz, wo
er seiner individuellen Anlage nach die eigene Ausbildung
verfolgt. — Ein anderer Lernender ergreift vielleicht draußen
den Spaten oder er erkennt die Notwendigkeit der An-
wendung moderner Chemie. moderner Maschinentechnik. Wasser-
versorgung. künstlicher und natürlicher Wärmeleitung für
das Wachstum der Feldfrucht.
Das Gemeinschaftsleben der Arbeitsschule mul in seiner
ganzen Organisation ein Beispiel sein für Alt und Jung.
hier wird die Räteordnung in ihrer reinsten Form bewahrt:
der Rat, der gewählte Richtende. Ratende. Ausrichtende
des Willens, der Sehnsucht der arbeitenden Menschen nach
gestaltender Kraft. nach einem freien individuellen Arbeits-
leben. Immer wieder: Die wirtschaftlichen Notstände unseres
leidenden Volkes werden uns rücksichtslos die notwendigen
Lehrbeispiele sein; sie werden die Lernenden bis ins Innerste
der Dorf- und Stadtbetriebe treiben, aber auch an die
Quellen aller Seelennöte. — Ueberall gilt es ın die Tiefe
zu gehen. das Leid der Menschheit zu erfassen und den
Weg zur freudigen Tat zu finden: das ist die Aufgabe
der neuen Lebensschule der klassenlosen Menschen.
Das Kinowesen, das heute den ganzen Verfall der bürger-
lichen Kultur zeigt, die Aeußerlichkeiten des bürgerlichen Lust-
lebens, das Leben der Parasiten, der Hotel- und Kaffee-
hausgrößen, das Leben der Dirnen und der Verbrecher; die
sentimentalen Schauspielerfilme werden dem Film der Arbeit
Über die kommunistische Schule i 507
Platz machen. Das Kino führt uns dann in das Arbeits-
leben eines norddeutschen Islandfischers, zeigt uns den Kampf
mit der malerischen Meeresnatur, zeigt uns die Technik der
Erhaltung und Zubereitung der Ware, weiter vielleicht
den Bau der Schiffe; oder der Fılm bringt uns auf eine
elektrische Farm der A. E. G. zeigt uns die Bearbeitung
des Landes mit den kleinsten genialsten Maschinen für eine
intensive Bodenbewirtschaftung bis zu den umfassendsten
elektrischen Kraftanlagen. es zeigt uns die Schüler. einer
derartigen Farm bei ihrer Arbeit und die Einreihung eines
derartigen Schulbetriebes in die Versorgung der Kommunen.
Diese Schulfilme reisen weiter in die Kommunen anderer
Völker. in die Ukraine, an die Wolga, um den Boden
zu bereiten für den Austausch der Produkte und der Maschinen:
für die Zuführung von technischen Schülern aus diesen Län-
dern. die unsere Technik für die dortige Landwirtschaft
dienstbar machen. — Ueberall gilt es durch wechselseitige
Hilfe und Aufklärung die Arbeitswelt zu gesteigerter Pro-
duktivität und zum friedlichen kommunistischen Austausch
zu bringen. Das Kino kann somit ein Lehrmittel für die
Erweckung der produktiven Kräfte der Völker werden.
Ganz automatisch würde es zu immer gesteigerterer Organi-
sation der Produktion und Konsumtion führen: es würde
Rußland. das Land der Rohstoffe mit unserer Industrie
verbinden und somit über den gemeinwirtschaftlichen Aus-
tausch von Kräften und Produkten den Zusammenbruch un-
sererer Industrie vermeiden helfen.
In der Schule machen die politischen Landkarten den
geologischen, den klimatischen Platz, wır sehen Bevölkerungs-
karten und ın diesem Zusammenhang Karten für die
Verteilung der Güter: dann für den Konsum und für die
Verkehrsmittel, die verschiedene Art a Waren- Verteilung.
Bearbeitung und Verwertung.
„Alle diese Liehrmiftel der Arbeitsschule neu zu gestalten
508 Heinrich Vogeler / Über die kommunistische Schule |
wird die Aufgabe der Lehrenden sein. Nur. wenn wir
uns immer wieder den Schulbetrieb als eine selber produktive
Werkstätte denken. ist dieser Weg gangbar; erst dann können
wir, wie in Rufland an Stelle eines Lehrers acht setzen.
Das Kräftebedürfnis der kommunistischen Ordnung wird
nun durch das organische Zusammenwachsen mif den Lern-
und Lehrkräften und dem nun entstehenden Unterricht. der
aus diesem Bedürfnis gerichtet wird. ergänzt. — Eine große
Freizügigkeit der Kräfte würde die Folge sein; bis jeder
den besten Boden für die Entwickelung seiner stärksten
individuellen Kraft gefunden hat. Die Unentgeltlichkeit der
Schulen und Hochschulen bedingen die natürliche Nutzung
jeder Veranlagung für die Gemeinschaft der Arbeitenden.
Wanderlehrer. Organisatoren werden von den proletarischen
Hochschulen über das Land wandern, unterstützt von der
proletarischen Gesellschaft mit den besten Verkehrsmitteln
und technisch-optischen Einrichtungen für Kino und anderen
Lehrmitteln. Ä
Die neue Kunst sehen wir auch ganz organisch aus
den handwerklichen Werkstätten entstehen. Sie wird aus
dem Bedürfnis der Masse und dem natürlichen Schaffens-
drang der einzelnen Kräfte wachsen. Ist das so entstehende
Künstlertum nicht völlig aus dem Bedürfnis des Volkes
geboren. so ist auch die Existenz des Künstlers hinfällig.
das Handwerk wird ihn wieder aufnehmen und sehr
bald wird er, falls er eine echte schöpferische Künstler-
natur ist. mit neugestalteten Werken aus ihrem Scholle
hervorgehen. Für den Künstler. der eine Sonderstellung
einnehmen will, für den bürgerlicher Individualisten. ist
kein Platz: unter dem Deckmantel des Anarchismus wird
er versuchen sein Scheinleben zu rechtfertigen: für para-
eitäre Erscheinungen ist jedoch kein Raum und bald
werden die äußeren Verhältnisse ihn selber zum Absterben
bringen.
Romain Rolland / Meinem besten Freunde — Shakespeare 509
MEINEM BESTEN FREUNDE — SHAKESPEARE
VON ROMAIN ROLLAND
Wenig Freunde, wenig Bücher bestehen die Prüfung
der Tage. die wir erleben. Die wir am meisten liebten.
werden zu Verrätern. man erkennt sie nicht mehr. Sie
waren die Genossen köstlicher Stunden. Der Wirbel raubt
sie, wie Pflanzen, die ein Windstoß aus dem Boden fegt.
Es bleibt nur der Geist in den tiefen Wurzeln. Vielen von
niederer Art würde man im gewöhnlichen Leben keine
Beachtung schenken. Und bedeutende Geister ın geringer
Zahl ragen wie Türme aus einer Ebene empor und
erscheinen über soviel Ruinen umso größer. Ihn finde
ich wieder, der alle Träume meines Lebens seit den Tagen
der Kindheit beherrscht. die alte Eiche Shakespeare. Nicht
einer ihrer Äste ist geborsten, kein Zweig verwelkt und
der Sturm, der heute die Welt durchbraust. macht diese
große Leier des Lebens machtvoll erklingen.
Seine Musik läßt die Forderungen der Gegenwart nicht
vergessen. Horcht man ihr, so wird man überrascht durch
die Stimme unserer Zeit, die aus diesem brausenden Meer
immer wieder emporschlägt, durch Gedanken, die der ge-
naue Ausdruck unserer Urteile über die Ereignisse sind.
die uns bestürmen. Über Krieg und Frieden, — über die
politische Handlungsweise des XVI. und des XX. J ahr-
hunderts, — über den Geist der Bestrebungen und Ränke
der Staaten, — über die Verdrängung der edelsten Instinkte,
des Fleldenmutes und des Opfersinns, durch verstellte Selbst-
sucht, — über die gofteslästerliche Verbindung hassender
Leidenschaft mit Worten des Evangeliums, — über die
Teilnahme von Kirchen und Göftern an den Schlächtereien
nun... Romain Rolland
der Völker. — über feierliche Verträge. die nur »Fetzen
Papiere sind, — über das Wesen der Völker und Heere.
die sich miteinander messen, — ıch habe es unternommen,
eine Reihe von Gedanken Shakespeares zusammenzustellen.
die, würden sie ohne Namen veröffentlicht, Gefahr liefen,
die Empfindlichkeit der Zensur unserer freiheitlichen Epoche
zu wecken, unserer Epoche, die noch kitzliger ist. als die
der Königin Elisabeth. So wahr ist es daß. allen Um-
stürzen der Welt zum Trotz alles doch immer gleich
bleibt. und daß des Menschen Seele. wenn er neue Mittel
zu herrschen und zu töten gefunden hat. nicht gewandelt ist.
Allein der besondere Vorteil der Lektüre Shakespeares
ist. daß man hier die seltenste und zur heutigen Stunde
notwendigste Tugend findet: die Gabe universellen Mit-
gefühls. durchdringender Menschlichkeit, die bewirkt. daß
man die Seelen der anderen wie seine eigene sieht. Sicher-
lich, der Glaube, die Größe, die Steigerung des Lebens und
all seiner Eigenschaften, all das fehlt nicht unserer Epoche,
und das ist es was sie der englischen oder italienischen
Renaissance ähnlich macht. — mit dem Unterschied, daß
jene Zeit den Vorzug von Persönlichkeiten ohne Mal im
Guten und Bösen hat. die die Menge beherrschen und die
heute fehlen. Heute ist die Größe verstreut, sie ist sozu-
sagen mehr kollektiv als ındıvıduell: und in dem mensch-
lichen Ozean erhebt sich kaum eine Woge über die anderen.
— Der wesentliche Unterschied allerdings liegt anderswo:
es ist, daß diesem epischen Schauspiele der Zuschauer fehlt.
Kein Auge falt das Durcheinander des Sturms. Kein Herz
begreift die Ängste, die Wut. die Leidenschaften, die den
sich drängenden Wogen. den berstenden Seglern. den Schiff-
brüchen gegenüberstehn, über denen der Schlund des ent-
fesselten Meeres sich wieder schließt. Jeder bleibt in seinen
Mauern und bei den Seinen. Deswegen empfindet man Erleieh-
terung und Befreiung. wenn man einen Band Shakespeare öffnet. Es
Meinem besten Freunde — Shakespeare 511
ist, als würde mifen in dumpfer Nacht. in abgeschlossener
Kammer der Wind das Fenster aufstoßen und den Hauch
der Erde hereinströmen lassen.
Die große brüderliche Seele! Sie trägt alle Freude und
alles Leid der Welt. Nicht nur widmet sie sich mit
Begeisterung der Jugend, der Liebe. der lodernden Süßig-
keit lenzlicher Leidenschaft: Julia und Miranda. Perdita.
Jmogene . .. Nicht nur ist sie nicht wie jene Freunde,
die in Stunden des Jammers sich drücken mit dem Wort
des alten Herrn Lafeu, daß »ein ungewöhnlicher Schmerz
Feind der Lebenden« sei) sie bleibt auch treu und anhänglich
an ihrer Seite, um die Last ihrer Irrtümer, ihres Unglücks
und ihrer Verbrechen zu teilen. Nachdem er Desdemonas
„Tod beweint hat. bleiben ihm Tränen für ihren noch viel
mehr beklagenswerten Mörder. Den Elendesten fühlt sie
sich am nächsten und versag sich auch nicht den Schlechtesten:
sie sind Menschen wie wir: sie haben Augen. Sinne. Gefühle.
Leidenschaften wie wir. sie bluten wie wir. sie lachen und
weinen wie wir. me sterben wie wir.“) Und.“ sagt Bruder
Laurentius, sunter allem. was auf Erden wächst, ist nichts
so schlecht, daß es nicht einen Keim des Guten ent-
hielte: es ist nichts so gut, daß es. dem gewohnten Brauch
entzogen, nicht schlecht werden könnte.)
Shakespeares Geist und Herz vereinen sich in dem
gleichen Bedürfnis. die Seelen zu durchdringen. Sein Ge-
rechtigkeitssinn wird durch die Sinne der Liebe ergänzt.
Im „Kaufmann von Venedig - sprechen Shylok und Antonio
miteinander über die Gründe des Hasses, den der Jude
gegen den christlichen Kaufmann hegt. Mühelos versetzt er
sich in das Herz jedes Menschen; er lebt noch einmal
1) „Eads gut, alles gute I.
2)
. ann von Venedig III.
3) „Romeo und Julia.. II.
512 Romain Rolland
sein Denken, seine Erscheinung und seine kleine Welt:
niemals sieht er ihn von außen. Und wenn er immer wieder
mit Vorliebe den Schatz seiner reichen Sympathie gewissen
seiner Helden schenkt, den Kindern seiner schönsten oder
stärksten Träume, so ist er wie ein guter Vater: in der
Stunde der Prüfung werden ihm die am wenigsten liebens-
werten gleich Feuer. Der ehrgeizige Wolsey, der Heuchler.
der Kriecher, wächst, kaum in Ungnade gefallen, zu antiker,
Größe empor; mit einem Mal sieht er das Unheil seiner
Wünsche und in den Trümmern seines Glanzes »ist er
noch niemals so glücklich gewesen. Seine Augen öffnen
sich, das Unglück hat ihn geheilt: und dieser harte Egoist
tröstet seinen weinenden Freund und läßt ıhm als Testament
seines ränkereichen Lebens dies heiligste der Worte: »Liebe .
die Herzen, die dich hassen) — Der Tyrann Leontes
ım Zusammenbruch seines Glücks, das er durch seine ver-
brecherische und grimmige Tollheit selbst vernichtet hat.
wird im nu heilig, sogar für Pauline, die ihn mit den
blutigsten Wahrheiten peinigt.”) — Der Tod, der vor den
Leichnamen des Brutus und des Cassıus, des Antonius und
Coriolan auch ihre unerbittlichsten Feinde sich neigen macht,
verwandelt Cleopatra ın ıhren letzten Augenblicken und
verleiht sogar dem bösen Edmond in König Leare einen
Adel. Es ist wunderbar zu sehen, wie angesichts des Un-
glücks und des Todes das große Herz des Dichters
Stolz. Rache, Selbstsucht aufgibt. um in seinem un-
geheuren Mitleid alle Leidenden zu umarmen — Feinde,
Nebenbuhler. was tut es? — Brüder im Schmerz. Eines
der ergreifendsten Beispiele dieser Menschlichkeit ist es, wie
Romeo, der gekommen ist, an Juliens Leiche zu trauern,
seinen Rivalen Paris. der ihn reizt. gegen den eigenen
Willen tötet und dann in Julens Gruft an ihre Seite befet:
3) » Heinrich VIII... III.
N) „Wintermärchen. III.
Meinem besten Freunde — Shakespeare 513
»Reich mir deine Hand, du, dessen Name so wie
meiner ins traurige Buch der Feindschaft geschrieben ist!.
Und wie Hamlet mit grausamen Worten seine ver-
brecherische Mutter peinigt, leiht Shakespeare, unfähig die
Eerogaag ecne Helle dorch a Milad 26: bessnftigen:
das Hamlet niemals fühlte. dieses Mitleid dem Geiste des
ermordeten Könige, der mit Worten rührender Güte der
nıedergeschmefterten Frau zu Hilfe kommt:
»Entsetzen liegt auf deiner Mutter: tritt zwischen sie
und ihrer Seel im Kampf. In Schwachen wirkt die
Einbildung am stärksten«, spricht mit ihr Hamlet.)
Dieses weite Mitleid ist eine Brücke über dem Graben.
der Individuen und Klassen trennt. Es nähert einander die Hände
der Reichen und Armen. der Herren und Knechte. Obzwar
Shakespeare in der Politik sich wohl eher zu den Arıstokraten
rechnet. die die Menge verachten, — (es gibt keine blutigere
Satıre auf eine Volkserhebung als den Bauernaufstand in
„Heinrich VL« und Coriolan ist ein Prototyp von Nietzsches
»Übermenschen) — hat sein Herz für die Niedrigen
zartestes Mitgefühl, und dieses Gefühl leiht er ihnen häufig.
Nach so vielen gewandten Reden der großen Männer Roms
auf dem Capitol, wer allein weint an dem Leichnam des
ermordeten Caesar? Ein unbekannter Sklave, ein Diener des
Octavius, der dem Antonius eine Botschaft überbracht hat
und der beim Anblick des getöteten Helden miften in seiner
Rede überwältigt. vom Schmerz ınnehält: »... O! Caesar! ... «
und schluchzend abgeht.?) Wer wagt es, Gloester zu ver-
teidigen, den Regane und Cornwales foltern? Ein Diener des
Cornwales, der das Schwert gegen seinen Herrn zieht und
andere Diener heben den blinden Greis auf und waschen
sein blutiges Antlitz. — Hamlet ist vor dem feigen Haß
des me durch ‚die Liebe des Volks geschützt, dessen
514 Romaın Rolland
Idol er ist). — jenes Volks, das klarer chend als der
schwache Heinrich VI. dem rechtmäßigen Grafen Humphrey
selbst im Unglück treu bleibt und das auf die Kunde
von seiner Ermordung sich erhebt, die Tore des Schlosses
zertrümmert und den Mörder Suffolk zur Flucht zwingt.
Der alte Adam macht sich zum Genossen des Mißgeschicks
seines jungen Herrn Orlando. und der Herr wieder trägt
ihn auf seinen Schultern, sucht ihm Nahrung, weigert sich
vor ihm zu essen.) — Der Proconsul Antonius ruft
am Abend vor der Entscheidungsschlacht seine Diener und
spricht zu ihnen wie ein Bruder, er wünsche, ihnen ebenso-
gut dienen zu können, wie sie ihm gedient haben: und die
Milde seiner Worte entringt ihnen Tränen.) — Soll man
noch Timons gedenken, des Unglücklichen. den seine Freunde
verrieten. seine Diener aber nicht. die. vom Schicksal zer-
streut. in Timon vereint bleiben?.) — Im König Lear
aber hat dieses göttliche Mitgefühl seine tiefsten Klänge.
Der alte Tyrann. rasend von Hochmut und Selbstsucht.
beginnt unter den ersten Schlägen des Schicksals, das Leid
der anderen zu fühlen. In dem Gewitter, das die Einöde
‘durchrast, fühlt er Mitleid mit dem schlo@ernden Narren:
‘und allmählich entdeckt er das große Unglück:
Nr armen Nackten, wo ihr immer seid, die ihr des tück-
schen Wetters Schläge duldet, wie soll eu'r schirmlos Haupt,
hungernder Leib, der Lumpen off ne Blöf euch Schutz verleihen
vor Stürmen so wie der? O, daran dacht ich zu wenig sonst! —
Nimm Arzenei, o Pomp! Gib, freis dich, fühl einmal, was
Armut fühlt, daß du hinschüttst für sie dein Überflüssiges,
und rettest die Gerechtigkeit des Himmels! 5) I
Diese innige Menschlichkeit, die wie eine Welle
Shakespeares Werk durchrollt, ist es vielleicht, was es von
1) Hamlet. IV.
2) „Wie es euch gefillte, IL
) „Antonius und Cleopatrae, IV.
) Timon v. Athene, IV
8) König Leare, III.
Meinem besten Freunde — Shakespeare 515
den übrigen Dramen seiner Zeit unterscheidet. Sie ist sein
Zeichen, sie ist ihm Bedürfnis: er kann sie nicht lassen.
Selbst an den Menschen, denen sie am wenigsten entspricht,
schafft er ihr einen Platz. Am Herzen des harten Coriolan,
dieses eisengepanzerten Mannes, der durch Hochmut und
Blut schreitet, blüht die sanfte Virgilia). Und aus der
stoischen Portia, Tochter Catos, hat er die menschliche, schwache,
weibliche, fiebernde Portia gemacht, die, von Angst verzehrt.
den Ausgang der Verschwörung erwartet.) — Ebenso
wie Montaigne ist auch Shakespeare kein Gläubiger des
Stoizismus, dieser ist ihm eine Rüstung, die das wahre
Herz verbirgt. Und welch rührende Innigkeit. wenn
die Rüstung birst und die Liebe emporsprießt wie in der
wunderbaren Szene des Zusammentreffens der beiden, Brutus
und Cassıus, die der Höhepunkt des Stücks ist. Das Herz
ist so geschwellt von der Innigkeit, die es erfüllt. dal
man die Tränen zum Rollen bereit fühlt, allein eine
Scham hält sie zurück und verleiht der Erregung höchste
Schönheit. Den Helden der Freundschaft, den rätselhaften
Antonio, den reichen Mann, glücklich ın den Augen der
Welt, doch gequält von seltsamer Traurigkeit, der mır ın
der Liebe zu seinem Freunde zu leben scheint, schen wir
das Geheimnis dieses liebenden und leidenden Herzens preis-
geben in der Abschiedsszene. wo er. die Augen voller
Tränen, mit abgewendetem Antlitz die Hand Bassanio ent-
gegenstreckt und ihn schweigend umarmt.) — Das Schwei-
gen ist noch rührender, wenn der kleine Mamillius nicht
mehr ift, nicht mehr schläft, dahinsiecht und stirbt aus Scham
über seine Mutter.)
Auch jenseits der Menschen erstreckt sich dieses Mit-
leid auf die Natur. Der vertriebene Herzog in -Wie es
1) Coriolan I.
2) „Julius Cäsar«, IL
2) „Kaufmann v. Venedig. II.
$) »Ein Wintermärchen«, II.
516 Romain Rolland / Meinem besten Freunde — Shakespeare
euch gefällt, hört die Stimme der Bäume, liest das Buch
der Bäche, erforscht den Sinn der Steine. Und Jacques der
Melancholiker, weint über einen Hirsch, der im Sterben liegt.
« *
*
So schließt das Genie des Dichters die Glieder der
Kette. die alle Wesen miteinander vereinigt. Und nichts
regt sich in einem von ihnen, das sich nicht über alle
verbreitet: denn alles ist uns gemeinsam und uns selbst
finden wir auf jeder Seite dieser Tragikomödie der Welt wieder.
Allein nur wenn wir an aller Freude und allem Leid
teilnehmen. nur wenn wir jeder Seele beistehn. ihr Kreuz
zu tragen, steht man uns bei, das unsere zu tragen. —
sSehn wir den Größern tragen unsern Schmerz, kaum rührt
das eigne Leid noch unser Herz. Wer einsam duldet, fühk
die tiefste Dein, fern jeder Lust trägt er den Schmerz
allein. Doch. kann das Herz viel Leiden überwinden, wenn
sich zur Qual und Not Genossen hnden. .) — Auch dis
Rachsucht erlischt. Das Schauspiel des Unrechts reizt nicht
zu dem Wunsche. es durch ein ähnliches Unrecht zu er-
setzen. Und das letzte Wort, der Gesang, der über den
letzten Akkorden dieser Symphonie schwebt, ıst der des
strahlenden Geistes, Ariels, der Prospero verkündet:
‚Das Verzeihn steht über der Rache. .«?)
Übersetzt von Frans Schule
1) „König Lear«, III.
3) „Sturm. V.
Hans Siemsen / Potsdam oder Döberitz? 517
POTSDAM ODER DÖBERITZ?
VON HANS SIEMSEN
Geschrieben im August 1918
Gewidmet: Sr. Ex. dem General Freiherrn v. Ludendorft.
sowie dem Reichswehrminister a. D. Gustav Noske
Ich glaube es war Bernhard Shaw, der als erster den
Begriff . Potsdam in die Kriegsdebaften warf. Er sagte, dal
man den Geist von Potsdam in Deutschland und in den
Deutschen zerstören müsse und dal man den Geist von
Weimar leben lassen und loben sollte. Er meinte mit »Pots-
dam alles Schlechte des preußischen Geistes und vor allem
den preußischen Militarismus zu treffen.
Shaw ist ein kluger Mann. Aber ich glaube nicht, dal
er jemals in Potsdam gewesen ist. Ich kenne Potsdam. Ich
war ein paarmal dort. Einmal des Nachts, als der Mond
schien, einmal bei Regen, einmal im Winter und einmal
im Sommer, als es so heiß war, daß man nicht wagte, aus
dem Schaften heraus über einen Platz zu gehen. Und einmal
früh am Morgen nach einer in Berlin durchtanzten Nacht.
Da lag um die Brücken ein leichter Nebel, in den leeren
Straßen hallte der Schritt. Die vergoldete Kuppel des Palazzo
Barberina schimmerte stolz und bescheiden im ersten Licht.
Die Wände des kleinen Stadtpalastes, die Treppe, die flachen
Säulen haften die Farben, die am Himmel verloschen: rosa
und gelb. Von dem Turm der Garnisonkirche klang das
ziſterige Glockenspiel über die Häuser hinweg, in denen man
schlief. »Üb immer Treu und Redlichkeit«. Zifterig. etwas
verstimmt und zu langsam.
Das Pflaster ist holperig. wie in Versailles. Ich habe noch
5148 . „Hans Siemen
nie zwei Städte gesehen, deren Pflaster sich so ähnlich ist,
wie das von Versailles und das von Potsdam. Jeder Stein
hat einen Extrabuckel. Und auf den Plätzen. über die kein
Mensch mehr geht. wächst zwischen den Steinen ein wenig
Gras. I
Sanssouci ist nur ein Pavillon. Aber, weil er auf einem
Hügel liegt, weil diesen Hügel hinan eine große Treppe führt.
weil Alleen und Wege zu ihm hinzielen. sieht er königlich
aus, wie ein richtiges Schloß. Durch die Fenster sieht man
in kalte Zimmer, die alle zu ebener Erde liegen. Weißer
Stuck und vergoldeter Stuck, ein paar Bilder und goldene
Rahmen. glänzender Parkettfuſboden. wenig Möbel an den
Wänden, wie solche Schlösser auszuschen pflegen. Über Garten
und Park hinweg sieht man den Wald, den See, ein Segel
darauf und wieder den Wald. Alles ist einfach und ziemlich
bescheiden, wenn man es mit anderen Schlössern vergleicht,
aber doch königlich, ein ländliches Königtum.
Nur auf der steinernen Ballustrade liegt ein alberner
Löwe aus Marmor. Den hat Kaiser Wilhelm II dort hın-
legen lassen. Abscheulich gewöhnlich und dumm liegt er da
mit, der aufdringlichen Würde eines fetten Generals. Ein
feines Denkmal. Für wen? Für den, der es setzte.
Zehn Schrifte davon liegen flach im Rasen, ganz grün
von Moos, ein paar große Steine. Kaum kann man noch die
Inschriften lesen: »Biche« und »Phöbe« und »Adamant«. Unter
diesen Tafeln liegen die Windhunde, mit denen der große König
spielte. Er liebte die Menschen nicht. Er hafte auch wenig
Grund dazu. Und sie haften wenig Grund, ihn zu lieben.
Er hae sich selbst und ihnen das Leben schwer gemacht.
Seit dem Tage. an dem sein Freund, ein junger Offizier.
vor seinen Augen hingerichtet wurde, seit jenem dunkelsten
Tag seines Lebens, hatte er viel Elend und Unrecht erlebt,
erliften und selbst getan. Kriege gesehen und selbst geführt,
alles Unrecht und alle Gemeinheit des Lebens und der
Potsdam oder Döberi t: č 519
Politik selbst erlitten und selbst getan. An jenem Tag
an dem sein Vater. der König. seinen einzigen Freund, den
einzigen Menschen vielleicht, den er in seinem ganzen langen
Leben wirklich liebte, vor seinen Augen hinrichten ließ, als
niemand ihm half, als er so allein und verlassen und viel-
leicht roher und tiefer verwundet war. als Christus in
Gethsemane, da hatte es wohl zwei Möglichkeiten für ihn
gegeben: sich selbst zu töten oder weiter zu leben. Er lebte
weiter. Aber wie? Das Herz voll Hal und Verachtung und
Ekel Und er hat in seinem ganzen langen Leben wenig
gesehen und wenig erlebt und wohl auch selber wenig ge-
tan, was diesen Haß und diesen Ekel hätte mildern und
beruhigen können. Er liebte niemanden und nichts. Er sah
von allen Dingen den dunklen Ursprung und in allen
Menschen die schmutzigen Gründe. Erst als er alt geworden
war und müde, fand er wieder ein paar Dinge, denen. er
freundlicher zusehen mochte, die er vielleicht ein wenig
liebte: Ein paar schlanke Windhunde, ein paar schlanke
Pagen. Ihn, diese Windhunde und diese Pagen. stellt man
sich vor. wenn man von der Terrasse herab die Alleen ent-
lang nach Potsdam sieht.
So ist Potsdam. so ist Sanssouci. Und an der einen Seite
der Stadt fließt zwischen den Häusern und zwischen Alleen
ein kleiner spießbürgerlicher Kanal, als wäre man ın Holland
und nicht in Preußen.
Ich weiß sehr wohl, daß es in Potsdam auch Kasernen
gibt und Exerzierplätze. Aber wo in Deutschland gibt es die
nicht? Potsdam hat hinter seinen Kasernen Alleen, Schlösser,
den See und die Erinnerung. Befehle werden gebrüllt. wie
überall in Deutschland. Aber in Potsdam klingt von Stunde
zu Stunde über das Gebrüll der Kasernenhöfe, verweht
und zifterig, aber doch da, das leise Glockenspiel der alten
Kirche.
Potsdam ist nicht das Symbol des preußischen Militaris-
520 Hans Siemsen
e nn —— un.
mus. So groß so zart, so achtenswert sind dessen Traditionen
nicht. Potsdam hat wıe jede menschliche Sache gute und
schlechte Traditionen. Der preufische Militarismus ist keine
menschliche Angelegenheit. er hat nur schlechte Traditionen.
Er hat vor allem eins: Brutalität und immer wieder vor
allem andern: Brutalität. Er hat Offiziere und Unteroffiziere,
er hat Säbel und Helme und bunte Uniformen, er hat den
Befehl und das Gebrüll, er hat das Exerzierreglement, den
Fahneneid und den Parademarsch. Er hat die schlechte
Löhnung und die Rangordnung, er hat die goldenen Litzen
und die Militärmusik, . mit Gott, für König und Vaterland..
die Kniebeuge, die Soldatenmifhandlungen und die Kanonen
von Krupp. Aber all das, der Befehl, der Gehorsam und
das berühmte Pflichtbewußtsein, all das sind ja nur ver-
schiedene Namen und verschiedene Uniformen für seine eine
und einzige Eigenschaft, für seine unmenschliche. viehische.
völlig geistlose Brutalität. die den Menschen erniedrigt und
erniedrigen will.
Potsdam als Symbol dafür ist viel zu schade, viel zu
menschlich. Es gibt Symbole die. besser passen. Kennen Sie
Döberitz? Das liegt zu gehen ein paar Stunden von Pots-
dam. Es ist ein Truppenübungsplatz, angefüllt mit Rekruten-
depots.
Ich besuche in Döberitz einen Freund. Er ist achtzehn
Jahre alt, von der Schule aus Soldat geworden und jetzt
für acht Wochen in Döberitz. Er heift Henry .
und liebt die Bilder von Henry Rousseau. Er malt selbst
kleine Bilder: Huldigungen an das Leben, Huldigungen an
den guten Menschen. Unter alle seine Bilder könnte man
das Wort von Werfel schreiben: »Mein einziger Wunsch
ist, Dir, o Mensch, verwandt zu sein.«
Er ıst hübsch, mit blonden Locken, achtzehn Jahre ist
er alt und sein Herz ist voll von Liebe, wie die Herzen
Achtzehnjähriger sind. Jetzt steht er stramm und geht in
Potsdam oder Döberitz 521
grader Haltung an seinem Feldwebel vorbei. . Auf! »Hin-
legen!. Und er wirft sich auf die Erde, springt wieder auf.
wirft sich hin. springt auf. Und dann machen zwanzig
junge Leute, die alle ebenso jung und nicht viel anders sind
als er. Kniebeuge, solange der Unteroffizier befiehlt. bis sie
weiß ım Gesicht werden und ihre Augen nichts mehr sehen.
Aber der Unteroffizier befiehlt nicht nur, der brüllt sie an
und geht auf den, der am schwächsten ist, der ziftert,
schwankt und beinahe hinfällt. auf den Jüngsten langsam zu
und lacht ihm ins Gesicht. sagt ganz dicht zwei Zentimeter
vor seinem Gesicht: » Wollen Sie nicht Mama rufen? Was?
Nehmen Sie die Knochen zusammen, wenn ich mit Ihnen
rede!» Der Junge, den er anschreit, zittert und aus seinen
geängsteten Augen rollen langsam große Tränen.
Ist das Döberitz?
Nein. Das ist der preußische Militarismus in jeder Stadt
und auf jedem Kasernenhof. Döberitz ıst noch schlimmer
als das. |
Als ich ankomme mit der Bahn von Berlin, ist Sonn-
tag nachmittag. Kein Dienst. Die Jungens haben frei. Was
heißt frei? Sie dürfen nicht fort. Sie dürfen das Lager
nicht verlassen. Da liegt Berlin — sie dürfen nicht bin.
Da liegen Wälder und Dörfer — sie dürfen nicht hin. Sie
sind eingezäunt,. wie wilde Tiere. Und auf den Straßen
stehen Posten mit geladenen Gewehren. Zwei oder drei
Züge kommen von Berlin, zwei oder drei Züge fahren ab
mit Offizieren, die Urlaub haben, und anderen Menschen.
Da stehen die jungen Rekruten, hunderte, hinter dem Bahn-
hofszaun und sehen den Zügen nach. Wie wilde Tiere, nein
wie verprügelte Tiere hinter den Stangen eines Käfigs.
Da steht mein Freund, der junge Maler, eingesperrt und
verlassen. Ein fremder wilder Vogel mit gebrochenen Flügeln,
tedem Tierquäler ausgeliefert. Er tut mir so leid, daß ich
am liebsten ihn gleich in die Arme nähme und zärtlich
52. „Hans Siemen
gegen ihn wäre, wie man unter Männern nicht sein darf.
Da ich nicht zärtlich sein darf. bin ich nur höflich. Aber
wie kalt ist Höflichkeit. wenn man zärtlich sein möchte.
So bin ich den ganzen Nachmittag über viel kühler als ich
sein will. Am Abend, als ich allein in der Bahn sitze. tut
es mir leid. Aber da ist es zu spät.
Wir gehen durch Döberitz. Wir sprechen nicht vom
Militär. Wir wissen beide genug davon. Wir wissen beide.
was es heilt. stramm zu stehen. Diese Haltung: Die Hände
an der Hosennaht. die Hacken aneinander gepreſt. den
Kopf krampfhaft geradeaus gereckt. das ist die raffinierteste.
brutalste Erfindung des Militarismus. Es gibt keine Haltung.
die unnatürlicher wäre, sie macht zum willenlosen Sklaven. zum
wehrlosen Opfer. sie erniedrigt vor dem Herrn. der vor einem steht.
sich bewegen kann. wie er will. tun kann. was er will. sagen
kann, was er will. und dir, dem Wehrlosen. Regungslosen,
dem Gefesselten ins Gesicht brüllt: »Nehmen Sie die Hacken
zusammen. wenn ich mit Ihnen rede!« Diese Haltung. eines
jeden Menschen unwürdig. ist das Symbol des Militarismus.
In ihr verkörpern sich restlos Brutalität und Sklaverei.
Döberitz liegt ın Brandenburg. Eine schöne Landschaft
ist das nicht. Immerhin gibt es Felder dort, etwas Kiefern-
wald, etwas Wasser. Hecken. Gebüsche und Wege zwischen
den Hecken. Eine arme, rührend armselige Landschaft. Die
Brutalität des Militarısmus aber hat aus dieser Landschaft
die Hölle gemacht. Felder? Nein! Exerzierplätze Ein Wald?
Nein! Schiefstand hinter Schießstand, Ein Weg? Nein! Ein
verbotener Weg. Alle Wege sind verboten. Überall Schilder
und Tafeln: »Verboten, Verboten! »Es ist verboten.. Nicht
für Ma nnechaften!« »Streng untereagt! . Der Lagerkommandant!
„Nur für Offiziere!« Stacheldraht. Zäune, Mauern und Tafeln.
Es ist verboten zu leben. Nur stramm stehen darf man.
Überall stehen Schilderhäuser. Überall stehen Posten mit
ihren Gewebren. Überall gehen Patrouillen. die aufpassen.
Potsdam oder Döberitz_ __ — -523
ob alle stramm stehen, ob alle die Hände vorschriftsmäßig
an die Mütze legen. |
Die ganze Gegend ist eingezäunt und innerhalb dieses
Zauns gibt es nichts, was nicht dem Militär unterstände,
nicht eine Stelle. auf der die geringste Freiheit erlaubt
wäre, nicht eine Stelle. auf der nicht Befehle gebrüllt und
geschrien würden. Diese Landschaft besteht aus Stachel-
draht. Es gibt Baracken, verbotene Wege, Mauern, Kasernen.
Kasernenhöfe, Exerzierplätze, Staub und vertrocknete Kiefern
und an jeder vertrockneten Kiefer ein Schild auf dem irgend
etwas verboten wird. Es gibt ein paar Häuser, ın denen
man Militärmützen, Halsbinden, Knöpfe kaufen kann, Post-
karten, Briefpapier. Schuhputzmittel. Es gibt drei oder vier
Restaurants mit schmutzigen Tischen. Bier und schlechtem
Schnaps. Und alle müssen, wenn ein Unteroffizier eintritt.
aufspringen und stramm stehen. Es gibt ein Karussell und
eine Schieſbude. Es ist Sonntag und die Rekruten dürfen
ihr Leben genießen. Sie stehen um das Karussell herum. Das
ist bunt und mit Fahnen und Spiegeln behangen. Zwei
Mädchen kassieren. alt und geschminkt. mit denselben Farben
gemalt. von denen das Karussell rosa und rot ist. Sie haben
goldene Ringe, schlechte Zähne und verschiedene Krankheiten.
Man sieht das von weitem. Das sind die beiden Frauen.
die die Militärbehörde erlaubt. Die beiden einzigen erlaubten
Frauen in Döberitz. Dreihundert junge Rekruten stehen um
sie herum. Die Drehorgel spielt. Aber erst kommen die
Herren Unteroffiziere. Der Boden um das Karussell ist fest-
getreten. Das Gras geknickt und niedergewalzt. Es wird
dunkel. Das Karussell steht still.
Gibt es noch Tiere in dieser Landschaft? Vögel. die
fliegen können? Gibt es noch etwas unkontrolliertes. was
dem Militär nicht untersteht? Es gibt vor allen Dingen
Stacheldraht. Stacheldraht ist um jeden Baum, neben jedem
et vor jedem Feld. Stacheldraht begleitet vom Morgen
524 Hans Siemsen
bis zum Abend den jungen Rekruten. Stacheldraht führt
ibn auf den rechten Weg. Stacheldraht und Befehle halten
die Ordnung aufrecht. Stacheldraht und Befehle regieren die
Welt.
- Gibt es einen Gott? So ist er Unteroffizier und steht
stramm vor seinem Feldwebel. Der Himmel über
Döberitz stürzt nicht ein.
Hielte die Welt einen Moment den Atem an und horchte
nach den Kasernenhöfen und Exerzierplätzen, deren es ın jeder
Stadt und in jedem Lande gibt, so würde der Lärm der
geschrienen und gebrüllten Befehle, wie der Schrei eines
dummen und blutgierigen Tieres in alle Ohren und Herzen
gellen. Aber sähe die ganze Welt einen Moment nach
Döberitz, so würde sie erstarren. vor Entsetzen. Aus dieser
erstarrten Stacheldrahtwüste, aus dieser Welt des Reglements
steigt kaum noch ein Schrei, unter Befehlen erstickt selbst
der Befehl, die Wüste schweigt. Döberitz das ist die Hölle,
das letzte, das unmenschlichste, was Menschen
aus der Erde und aus sıch selber machen können.
Steht am jüngsten Gericht der Kaiser oder ein General
und Kriegsminister oder ein Kriegs- und Militärphilosoph
vor Goftes Thron und beginnt in seiner Uniform mit seinen
Orden auf der Brust von der Größe Preußens zu reden,
von Arbeit und Kampf. von Pflichtbewußtsein, Pflichter-
füllung. Unterordnung und Gehorsam, sagt er: - Ertüchtigung .
und »Selbstlos dienen - — dann wird einer von den kleinen
Rekruten vortreten und nur das eine Wort: »Döberitz«
sagen, ganz leise, aber ohne Scheu und nicht mehr die
Hände an der Hosennaht.
Und dann wird nicht nur General und Kaiser, nicht
nur der Kriegsphilosoph, dann wird ganz Preußen, dann wird
die ganze Geschichte, mit all ihren Schlachten und Siegen,
dann werden alle großen Männer, die sich des Militärs be-
dienten, dann werden alle Länder, die sich des Militärs be-
Potsdam oder Döberitz ne 525
dienten, dann wird alle Größe und alle Arbeit und aller
Stolz und aller Ruhm, der sich nur irgendwie auf Krieg
und Militär aufbaut, dann wırd das alles zusammenbrechen
und hinunterrasen wie in einen Abgrund. Dann werden alle
großen Helden und Politiker und Generäle taumeln und in
die Knie knicken vor dem kleinen Rekruten und seinen
Brüdern. Dann wird die Erde wanken und der Himmel
zittern und Gott selbst wird schweigen und aufhören, Urteile
zu sprechen.
Denn nicht der Krieg ist das letzte Verbrechen, nicht
der Krieg ist die scheußlichste Sünde, nicht der Krieg ist die
tiefste Erniedrigung des Menschen. — die äußerste Gemein-
heit ist das Militär. Der Krieg ist das Verbrechen, das
alle anderen Verbrechen enthält: Mord, Raub, Mißhandlung,
Lüge, Verrat, jedes Verbrechen, jede Gemeinheit, jede
Bestialität und jedes Laster. Aber der Krieg ist, so grausam,
entsetzlich, gemein er auch ist, irgendwie groß in seinen
Lastern. die aus Leidenschaften stammen. Das Militär
ist niemals groß. Nicht einmal im Laster. Und ohne jede
Leidenschaft. Das Militär ist nichts als die Vorbereitung
des Krieges. Hier wırd nicht gemordet, hier wird der Mord
gelehrt und geübt. Hier wird das Laster schematisiert. Hier
wird die Brutalität zum System. Hier wird der Gemeinheit
eın Reglement gegeben.
Hier wird das Verbrechen auf Flaschen gezogen. Hier
erst erhält die Grausamkeit, hier erhält die Brutalität ıhre
höchst mögliche Vollendung. Hier wird der Krieg der
Leidenschaft entkleidet und über bleibt das reine systematische
Verbrechen, die Verrohung des Menschen, die Vergewaltigung
der Welt nach dem System, nach dem Stundenplan, Mord
und Vergewaltigung gelehrt, geübt und vorgeführt von
diplomierten Mördern und Leichenschändern, von kleinen,
gemeinen, staatlich besoldeten und dekorierten Verbrechern.
Um wieviel ekelhafter als ein Lust- und Raubmörder. der
526 _________________ Hans Siemsen
aus Begierde oder ausH abgier mordet, um wieviel ekelhafter ist
ein Unteroffizier, ein Leutnant, der einen wehrlosen jungen
Rekruten solange Kniebeuge machen läßt, bis er umfällt.
Wieviel grausamer, wieviel gemeiner als Mord und Totschlag
ist die Folter. Wieviel gemeiner als der Mörder ist der
Folterknecht.
Nicht jeder Leutnant quält seine Leute? Schreit nicht jeder
Leutnant jeden Tag: »Nehmen Sie die Knochen zusammen!«
Verlangt nicht jeder Vorgesetzte die stramme Haltung:.
die Hände an der Hosennaht, die Hacken zusammengeprelt,
den Kopf geradeaus gereckt? Das ist die systematische Ent-
würdigung, Erniedrigung. Versklavung des Menschen. Damit
fängt die Folter an. Übergriffe Einzelner? O nein! Schlimmer
als der Folterknecht ist der Richter, der dabei zusieht,
Schlimmer als der Unteroffizier ist der General. Schlimmer
als der schlimmste Menschenschänder unter Generälen und
Unteroffizieren ist das menschenschänderische Sys tem des
Militarismus.
Nicht die Soldatenmifhandlung, nicht der Uberęriff. — das
einfache Exerzierreglement, der einfache, alltägliche Befehl,
das Strammstehen und das »Stillgestanden« — das ist der
Beginn der Unmenschlichkeit, das ist der Beginn der Ver-
gewaltigung und der Versklavung. damit beginnt die Herr-
schaft der Brutalität, damit beginnt die brutale Gewalt. die
Ungerechtigkeit. das Verbrechen. Damit. beginnt der Mord,
der systematische Mord am Menschen und an der Menschlichkeit.
Der Krieg ıst so schrecklich wie ein Verbrechen, wie
ein Laster, ein Schmerz, ein Leiden nur sein kann. Seine
Grausamkeit ist nicht zu überbieten. Aber seine Ge-
meınheit wird überboten. Er ist die Hölle. Aber
Döberitz — das ist mehr als die Hölle.
Ich weil, es gibt viele Truppenübungsplätze. Wir kennen
alle welche. Sie heißen Munster. Warthelager. Sennelager.
Bitsch. Wir kennen sie. Wir wissen Bescheid.
Potsdam oder Döberitz i 6827
Und wenn noch ein Schweiſhund der nationalistischen
Meute, wenn noch ein Kriegsprophet und -prediger, wenn
noch irgend jemand je es wagen sollte, uns den Krieg zu
preisen und das Militär zu loben, den Militarismus in irgend-
einer Weise zu verteidigen — dann wollen wir ihn nicht
niederbrüllen, dann wollen wir keine langen Reden halten,
dann wollen wir ihn nur ganz ruhig ansehen und dies eine
Wort sagen: »Döberitz«.
Und wenn er dann noch weiter stammelt. wenn er dann
noch irgend ein Wort wagt. dann: die Faust ihm in die Fresse!
Sanftmut ist gut. Allen gegenüber wollen wir sanft und
bescheiden und demütig sein. Aber wer einen Säbel trägt
und den Säbel verehrt, wer befiehlt und den Befehl be-
wundert, — dem gegenüber keine Sanftmut und keine Ge-
duld und keine Schonung!
Unsere Zeit kommt. Nehmt euch in Acht! Wir haben
nichts vergessen.
4 «
a
Ich schrieb dies im August 1918. Aber ich habe mich
damals geirrt. Unsere Zeit ist nicht gekommen. Drei Monate
epäter brach zwar die Revolution aus. Wenigstens stand es
in den Zeitungen. Aber geändert hat sich nichts. Sie hatten
nicht nötig sich in Acht zu nehmen. die Herren Offiziere
und Generäle, die Propheten und Prediger des Militarismus.
Sie leben alle noch, von Ludendorff bis Marloh. Es geht
ihnen gut, den Herren Mördern. Karl Liebknecht ist tot.
Aber Ludendorff lebt.
Und der Name Döberitz ist inzwischen bekannt geworden.
Von Döberitz auz zog die Offiziersregierung Kapp und
Lüttwitz in Berlin ein. Döberitz war das Hauptquartier
der brotlos gewordenen Massenmörder, die sich nach Arbeit
umsehen wollten. Der neuen Regierung der jungen Republik
Deutschland aber hat das so gut gefallen, daß sie eine neue
528 Erich Mühsam
Brigade bilden will, in diese Brigade sollen nur »wirklich
republikanisch gesinnte Noskesoldaten aufgenommen werden.
Und welchen Namen soll diese Brigade erhalten? —
Brigade Döberitz. |
Das ist kein Scherz. Das ist Tatsache. Die neue Re-
gierung also kennt ihr Militär. Sie hat ihm den richtigen
Namen jegeben.
GUSTAV LANDAUER
GEDENKBLATT ZU SEINEM 50. GEBURTSTAG: 7. APRIL 1920
VON ERICH MÜHSAM (Gefängnis Ansbach)
Die äußeren Umstände, unter denen diese Zeilen geschrieben werden, lassen
die allein würdige Form, Gustav Landauer zu ehren, nicht zu: die der glutvollen
Werbung für die von ihm erstrebte Neubildung der menschlichen Gesellschaft, für
Sozialismus, anarchische Gerechtigkeit und ihre Bedingung, Revolution. Da mir in
meiner Zelle auch alles literarische Material fehlt, an Hand dessen ich ihr selbst
von reinem Menschentum, von Völkerfreiheit, von innerem und äußerem Aufruhr
sprechen lassen könnte, mag der Leser sich mit den einfachen Gedenkworten zu-
frieden geben, die der Überlebende dem Toten, der Freund dem Freunde, der
Schüler dem Lehrer, der Rebell dem Kampfgenossen aus verehrendem und dank-
erfülltem Herzen zu widmen hat.
Die Daten seiner Entwicklung, seines Werdens und Wirkens, seines Wandels
von der Geburt an bis zu seiner scheußlichen Ermordung im Stadelheimer Bluthof
werden an dem Tage, an dem Gustav Laudauer sein fünfzigstes Lebensjahr abge-
schlossen hätte, in sovielen Artikeln und Nekrologen aufgezählt werden, daß diese
Sätze nicht mit seinem curriculum vitae beschwert zu werden brauchen. Aber er
käme zu kurz, wollte man die Abschätzung seiner Lebensarbeit ganz den Wohl-
meinenden überlassen, die, aus seinen Schriften wissender geworden, oder auch
durch den persönlichen Umgang mit ihm bereichert, die Pflicht fühlen, die hoch-
ragende Bedeutung des Mannes vor geistig bewegten Bürgern oder gar mißtrauischen
Zeitungslesern ins Licht zu stellen, seinen „, Idealismus zu preisen, um aus ihm
seine schroffe Abkehr vom Staatstum, seine kämpferische Haltung gegen Traditionen
und Normen abzuleiten und womöglich zu entschuldigen.
Nur aus der umgekehrten Betrachtung ist Landauers Persönlichkeit RE zu
werden. Sein Grundcharakter war wahrhaftig nicht der eines Schwarmgeistes, eines
Weltfremdlings oder Gottessüchtigen, wie ihn sich der wohlwollend lächelnde
Gustav Landauer 529
— —— — —
Philister vorstellen mag, der sein praktiscnes k. inmaleins gelernt hat und dem überall
zwölf auf ein Dutzend gehen. Nicht nahebringen will ich das Bild des toten
Freundes dem Geschmeiß der satten Gemüter, die sich freie Geister dünken, weil
sie die hungernden, nie gesättigten Seelen, die sehnsüchtigen Herzen, da sie selber
doch ohne Herz sind, interessant finden, die bereit sınd alles zu verzeihen, weil
sie nichts verstehen; sondern entfernen will ich es von ihnen, es ihrem befleckenden
Blick entziehen, die Feindschaft, den untilgbaren Gegensatz aufzeigen, der Landauers
Geist ewig trennt von dem bürgerlichen Idealismus seiner literarischen Begreiner,
die ihre gelockten Häupter über die Glatzen der Geschäftsrealisten erheben möchten,
aber mit den Hintern stets an deren Kontorsesseln kleben bleiben.
Ein Idealist! Natürlich war Landauer das, wie jeder, dem eine sittliche Idee,
Wegweiser des Lebens ist. Aber der Begriff muß gesäubert werden von dem Schleim
in den ihn die Anbiederungssucht ideeloser Jammerkerle gehüllt hat, die mit tonenden
Worten hausieren und den reinen Glockenklang einer schallenden. Menschenstimme
in dem dürftigen Geklingel ihrer humanitären Salbaderei verkommen zu lassen
suchen. Ich habe keinen Satz zur Hand, in dem Gustav Landauer selbst sich gegen
die Gemeinschaft mit idealistischen Phrasenraßlern gewehrt hätte. Aber ich weiß,
daB er mehr als einen geschrieben und in Gesprächen hundertmal bekannt hat.
was der unerbittlichste Rebell aller Zeiten, Michael Bakunin, dem auch. er mit
Leidenschaft anhing, so ausgedrückt hat:. „Doch muß mit jenem Idealismus auf-
geräumt werden, der es verhinderte, daß man nach Gebühr handle: er muß durch
grausame, kalte, rücksichtslose Konsequenz ersetzt werden.“ Wir dürten Landauer
einen Idealisten nennen, wir, die sein Ideal kennen und teilen und als ein Ideal
tstfrohen Zukunftswillens pflegen, nicht die, die selbst- und weltzufriedenen Schön-
teistern mit himmelnden Augen Sympathie für den Außenstehenden anschwätzen
wollen.
Gustav Landauer war Revolutionär: nichts anderes: nichts außerdem. Revolutionär
aber "heißt Umstürzer, Zerstörer und Neuschaffer, Aus seiner revolutionären Natur
erklärt sich alles, was er dachte, wollte und schuf. Sie war ihm Antrieb und Mittel
seines Werks, nur sie. Sie stellte den Gott in seinem Herzen auf, nur sie. Sie
leitete sein Tun und sein Schicksal, nur sie.
Freilich war sein devolutionäres Wirken nicht begrenzt im Kampt gegen staat-
liche Satzungen und gesellschaftliche Systeme.. Es erstreckte sich, auf, alle, Kate-
gorien des Lebens, machte nicht halt vor wissenschaftlichen Methoden, vor künst-
lerischen Konventionen; und moralischen Doktrinen. Sein profundes ‚Wissen er-
laubte es ihm, mit der Kritik seines revolutionären Geistes in viele ‚Gebiete des
menschlichen Denkens hinabzusteigen und sie als Wüsten der Cedankenlosigkeit
und verwilderter Überkommenheiten zu entschleiern. Es ist aber eine Verfälschung
seines Lebenswerkes,..wenn die einzelne Erkenntnis, die aus diesem seinem Ab-
tasten der Weltprobleme der Philosophie oder der Aesthetik, der* Literaturgeschichte
oder der Soziologie. neue Fährten . zeigte, ale Verteidigung seines Wertes vor dem
besitzbangen Bourgeois bemüht wird. Dem kann nicht eindringlich genug gesagt
werden, daß Landsuer kein Bourgeois. war, sondern sein ausgeprägtes Gegenteil:
ein Neuerer, der als Voraussetzung aller kulturellen Umwälzung die soziale erstrebte
530 Erich Mühsam
Ihr, der sozialen Revolution, hatte er sich verschworen von Jugend an, und sein
Walten als Neuerer in den Bezirken der Sittlichkeit und der Kultur klomm aus
dem Willen, den Geist vorzubereiten für die Tat, im Volk Niveau zu schaffen
für die Empfängnis des selbst erkämpiten Sieges.
Noch einmal: wer Gustav Landauer im härenen Gewande zeichnet mit dem
friedseligen Schmachtblick des Versöhners, der fälscht sein Bild. Nur wer ihn als
Kämpfer sieht, als rücksichts- und furchtlosen Kämpfer, gefällig zwar und milde
und von gütiger Heiterkeit im täglichen Umgang, aber unduldsam, hart und eigen-
willig bis zum Hochmut überall, wo es um Entscheidendes ging, de: sieht ihn
wie er war. Es ist nicht wahr, daß er aus lauter Liebe zusammengesetzt war. Wie
irgendeiner hat er den Haß gekannt, den Haß gegen das Unrecht, gegen die Aus-
beutung, gegen den gewalttätigen Staat, gegen die Idee der Brutalität — und gegen
ihre Träger. Jawohl, auch die Personen hat er gehaßt, alle, die sich dem Werk
der Volksbefreiung entgegenstemmten aus Eigennutz oder Gedankenfaulheit, aus
Dummheit oder Eitelkeit. Man vergleicht Landauer oft mit Tolstoi. Mit Recht
— gewiß. Denn was Tolstoi einmal in seinem Tagebuch als das „, einzig Not-
wendige bezeichnet: „die Lösung sittlicher Fragen und ihre Anwendung im Leben“,
das war auch ihm Richtung und Ziel alles Denkens und Schaffens. „Tolstoianer“
in dem Sinne, wie ethische Schmalztropfer die Gattung verstehen, war Landauer
nicht, Tolstoi selber übrigens ebensowenig. Auch der kannte den Haß und die
Inbrunst der Verachtung, und auch ıhm war die Liebe nicht das stets bereite
Handwerkszeug in allen Lebenslagen, sondern der glühende Ursprung und das
leuchtende Ziel des menschlichen Seins.
Landauer war Revolutionär von Natur wegen. Er gehörte nıcht zu den Buch-
stabenschnüfflern, denen die Erwägungen des Hirns langsam und auf Widerruf die
Zweckmäßigkeit des Umsturzes beweisen. Seine ursprüngliche Einstellung zu allen
Dingen und Werten war voraussetzungslos, darum skeptisch, darum zur Ablehnung
geneigt und kämpferisch. Nichts galt ihm die noch so exakte Wissenschaft, also
die Erkenntnis anderer, deren Autorität beweiskräftig sein sollte. Noch nie ist das
Ergebnis einer Forschung ungestürzt geblieben und alle Wahrheit hat nur Bestand
bis sie einer neuen weichen muß. „Wahr ist, daß nichts wirklich ist“ hat Landauer
einmal geschrieben, ich glaube, in „Skepsis und Mystik“, diesem merkwürdigen,
götzenzertrümmernden Buch, in dem „im Anschluß an Mauthners Sprachkritik,
die letzte Autorität, die Vernunft selber, als Produkt der Sprache, des unzuläng-
lichen Verständigungsmittels der Menschen, und mithin die Logik als nichts be-
weisend verworfen und an ihrer Statt die „Mystik“, das Urwissen, das unmittel-
bare, intuitive Erkennen als einzig positiver Wert aufgestellt wird. Das Wissen um
die Wahrheit ist primär, der vernünftige Beweis, das sprachliche Erfassen nach-
träglıch.
Mit dieser Erkenntnis kommt nun Landauer nicht wie Mauthner zur „fröhlichen
Resignation”, sondern zum Extrem, zum entschlossenen Angriff gegen das Be-
stehende, als falsch, schlecht und brüchig Erwiesene, zum Angriff gegen die Autorität
schlechthin. Er entwurzelt die Autorität aller herrschenden Normen, von der Sprache
angefangen — dabei ıst seine Sprache von einer gedrungenen Wucht sondergleichen
— bis zu Artikeln, Gesetzen und Fesseln des sozialen Lebens der Menschen.‘ Aus seinem
Gustav Landauer 531
——— ——— — — ee a a e pa a a
antiautoritären Wesen entspringt sein Wissen um dic Freiheit, daraus sein Wille
zur Befreiung und aus diesem Willen sein innerstes Bündnis mit der geknechteten
Klasse des Volks, mit dem Proletariat, seine revolutionäre Entflammtheit für das
Recht.
Was ist Recht? Das, was das Gewissen verlangt. Die Beobachtung aes Unrechts
leitet das Gewissen zum Recht. Der Name des sozialen Unrechts ıst Kapitalismus,
d. h. Ausbeutung, Zwang, Entrechtung des Volkes zugunsten einer Klasse.
Landauer wußte diese Begriffe identisch mit Zentralismus und Staat. „Der
Staat”, sagt er in seinem herrlichen „Aufruf zum Sozialismus“, „sitzt nie im Innern
der Einzelnen, er ist nie zur Individualeigenschaft geworden, nie Freiwilligkeit ge-
wesen. Er setzt den Zentralismus der Botmäßigkeit und Disziplin an die Stelle
des Zentrums, das die Welt des Geistes regiert“. Gerechtigkeit des sozialen Lebens
kann es nur geben bei Selbständigkeit, Freiwilligkeit und gesellschaftlicher Gleich-
heit, also im Sozialismus. Von ihm sagt Landauer: „Sozialismus ist Umkehr;
Sozialismus ist Neubeginn, Sozialismus ist Wiederanschluß an die Natur, Wieder-
erfüllung mit Geist, Wiedergewinnung der Beziehung“.
Es ist klar, daß bei diesen aus antiautoritärem Drängen gewonnenen Einsichı.
Landauers Sozialismus auf anarchistischem Boden fußte, daß ihm jeder Staatssozialis-
mus genau so zuwider sein mußte, wie der Staat selbst und daß er seinen Plan
zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft nicht an Marxens zentralistisches
Programm, sondern an die Ideen des Anarchisten Proudhon anschloß, ohne sich
in allem mit diesem System zu identifizieren. Um . System war es ja Landauer
überhaupt nirgends und niemals zu tun, und so begnügte er sich auch in der
Werbung nicht mit schulmäßigem Empfehlen einer sozialistischen Doktrin, sondern
verlangte die Tat, den Beginn mit dem Sozialismus selbst. Durch Aufbau soziali -
stischer Pioniersiedlungen wollte er den Staat von innen heraus unterminieren, das
Neue schaffen, um das Alte daran verderben zu lassen. Dies war der Sinn seines
„Sozialistischen Bundes“, den er 1909 begründete, und dem er in seiner Zeitschrift
„Der Sozialist” das eindringliche Organ schuf.
Der Weltkrieg, der ihn nicht schwach fand in seinen Überzeugungen, griff
vernichtend ein in seine friedliche Revolutionsarbeit. Und dann kam die Revolution.
Sie riß den Mann, dessen Element der Kampf war, der als junger Student schon
in ständigem Konflikt mit allen Staatsgewalten und Parteipäpsten gestanden und
viele Monate in Gefängnissen gelebt hatte, mit seiner ganzen Person mitten in die
Bewegung der Massen, machte ihn dank seiner quellenden Beredsamkeit zu einem
ihrer Führer.
Der von Rußland herübergeschnellte Rätegedanke fand in Landauer einen
glühenden .Propagandisten. Er zeigte ihm die Möglichkeit einer freien Formung
des gesellschaftlichen Aufbaues bei der Verwirklichung des Sozialismus. Ich will
bier nicht verschweigen, daß in dieser Zeit, in der wir dauernd miteinander und
nebeneinander am Werk der Befreiung arbeiteten, bei aller Freundschaft, die nicht
einen Augenblick lang getrübt war, eine gewisse Gegensätzlichkeit in der Erfassung
der Situation zwischen ihm und mir bemerkbar wurde. Landauer sah mit dem
Zusammenbruch des alten Staates und der Labilität des neuen Zustandes schon
die Möglichkeit gegeben, sofort mit. dem Aufbau, mit der Verwirklichung vor allem.
532 Erich Mühsam: Gustav Landauer
— — ———
des agrarischen Sozialismus zu beginnen und inzwischen der eben gewordenen
bayerischen Republik unter Eisners Leitung soviel Unterstützung zu leihen, wie
sie zur Förderung dieser proudhonistischen Pläne brauchte. Der ungestüme Drang,
das Gebäude, wie er es sich dachte, hinzustellen, ehe neue Erschütterungen den
Bau verhindern könnten, erklärt seine Nachgiebigkeit gegen Eisners Politik. Mir
lag der destruktive Teil der Revolution, den ich noch zu leisten sah, näher, und
ich kann den Gegensatz zwischen uns nicht besser klar machen, als ich es in einem
der letzten Gespräche mit ihm tat. „Ich erkenne jetzt deutlich die innere Ver-
schiedenheit zwischen Proudhon und Bakunin an uns beiden. Dich führt die Re-
volution immer stärker zu Proudhon hin, mich zu Bakunin. Landauer gab mir
recht.
Der Gedenktag macht alles wieder lebendig ın mir. Denn der 7. April war
nicht nur Landauers Geburtstag. Er war vor einem Jahre auch der Tag. an dem
in München die Räterepublik proklamiert wurde, der Tag. den wir beide in
tragischer Verkennung seiner Bedeutung als den Beginn der neuen Epoche begrüßten
und der doch zum Unheil und für den großen, reinen Kämpfer, dem dieser Gruß
gilt, zum Verderben wurde Der Zeitpunkt war. nicht richtig erfaßt. So konnte
Verrat sich einnisten und unendliches Leid stiften, wo unermeßlicher Segen hätte
entstehen sollen.
Boshafte Verleumdung hat behauptet, Landauer habe die Ausrufung der Räte-
republik eitler Selbstsucht wegen auf seinen Geburtstag „geschoben. Ich will
dieser elenden Legende, die nur glauben kann, wer diesen Mann nie gekannt. und
nie begriffen hat, ein für allemal den Hals abdrehen. Genau das Gegenteil ist
der Fall. Die Ausrufung sollte am Morgen des 5. April erfolgen. In der Nacht-
sitzung vom 4. auf 5. im Kriegsministerium verlangten plötzlich die Mehrheits-
sozialdemokraten durch den Mund desselben ‚Mannes, der dann an der Spitze der
Gegenrevolution stand, einen Aufschub von 48 Stunden, um die Provinz noch im
Sinne der neuen Wendung zu bearbeiten. Landauer und ich waren diejenigen,
die am heftigsten gegen diese Verzögerung geeifert - haben. Sein Geburtstag . wurde
gegen seinen Wunsch und erregt geäußerten Willen zum Tage der Proklamation
bestimmt.
Der weitere Verlauf ist bekannt. Die Empfindungen, uie mich beim Gedanken
an sein Ende erfassen, seien verschwiegen. Ich habe das Meinige getan, wenn
ich die Gestalt dieses Menschen und Kämpfers den Vertraulichkeiten betulicher
Bourgeois-Idealisten entzogen und Gustav Landauer als den gezeigt habe, der er
war und vor der Geschichte bleiben wird: als Mann des Volkes und der soziali-
stischen Revolution.
Douglas Goldring / Briefe aus der Verbannung 533
BRIEFE AUS DER VERBANNUNG
VON DOUGLAS GOLDRING
Aus dem englischen Manuskript übertragen von HERMYNIA ZUR MÜHLEN
S. die vorangehenden Brisfe in Forum IV.-4, 5 und 6
24.
London, im April 1919
Bisweilen ist es eine große Erleichterung, die Sprach-
weise unserer brüllenden altersschwachen. Generäle und
anderer apoplektischer Patrioten nachzuahmen, doch ist es
für Leute meiner Überzeugung nicht sebr klug. sich diese
Erleichterung zu gönnen. Wenn General Prahlhans und
Hauptmann Großmaul schallend verkünden: »Snowden müßte
an die Wand gestellt und erschossen werden«, oder er-
klären, Herr Ramsay Mac Donald sollte im Interesse des
W ohles der Allgemeinheit unbedingt ermordet werden,
so “finden diese Gefühle den universellen Beifall der Mit-
junker, das heißt, jener Klasse. aus der- die Regierung
ihre Beamten bezieht. Wenn 1 eine einfache Pro-
letarierin. wie die arme Frau Wheeldon; . ihre Meinung
über... Lloyd George auszusprechen Wagt. 60 erhält sie
sofort den Besuch »Alec -Gordons (berüchtigter Detektiv
und Agent provocateur). Was die Meinungsäußerungen an-
betrifft, .so gilt ein Gesetz für die Herren und ein -anderes
Mir persönlich miſffällt es. beherrscht zu werden, und
ich will Ihnen gegenüber meine Meinung frei heraussagen.
Mır behagen die Leute nicht. die unsere ausländische
Politik kontrollieren. und ebenso wenig behagen mir unsere
Diplomaten. am allerwenigsten aber deren Agenten und
Vertraute. Mir mißfällt diese diplomatische öffentliche
Diplomatie, bei welcher sich vier miftelmäßige Diplomaten, von
534 Douglas Goldring
denen drei allgemeines Miftrauen genießen, das Recht
anmaßen, über das Leben und Schicksal der ganzen Welt
zu verfügen. Das Proletarıat Europas wırd, dank der
Feigheit. Unmenschlichkeit. dem Mangel der Vision dieser
Herren und dem von ihnen sanktionierten Mißbrauch der
Freiheit der Meere wenigstens noch zehn Jahre lang Not
und Elend erdulden müssen. Es geht nun einmal nicht
anders: wollen die »großen Viere die unbeschränkte
Herrschaft übernehmen und das Publikum von den Be-
ratungen fern halten. so müssen sie auch die volle Ver-
antwortung tragen. Gestatten sie den »hohen Militär- und
Marineautoritäten . Hunderttausende von armen Leuten dem
Hungertod preiszugeben. dann sind letzten Endes sıe die
Schuldigen. Alle anderen. die Cecil Harmswortbs und
Robert Cecils können ihre Verantwortung auf andere ab-
wälzen; die vier >»demokratischene Kaiser vermögen dies
nicht zu tun. Sie sind unselige Menschen, dıe der Gebete
aller Christen bedürfen, denn lange werden sie ihren Bluff
nicht mehr aufrecht zu erhalten vermögen.
Nebenbei bemerkt, ein Satiriker, wenn wir einen häften,
könnte die Welt mit der Darstellung der »Großen Viere
zum Lachen reizen. Als Glanznummer in einem Cabareſt
wären sie prächtig. Während der Professor in Amtstracht
vorträgt, zieht der »schlüpferige Davye — die Hemdärmel
aufgerollt. damit jeder sch, daß kein Betrug
möglich sei. Kaninchen aus dem Raum und Gold-
stücke aus dem eigenen Haar. Signor Orlando hingegen
wirft, unzufrieden mit dem Empfang seiner Claque. die
Noten hin und verläßt eilends die Bühne. Monsieur
Clemenceau läßt sich durch diesen Zwischenfall nicht stören.
Er sitzt gelassen beim Eingang. die Hand in der Kasse
(Die große Friedensvorstellung hat bereits einen beträcht-
lichen Teil der Schulden seines Landes bezahlt. Wenn
es noch lange so weiter geht — —9
Briefe aus der Verbannung 535
Doch bin ich von der britischen Diplomatie ab-
geschweift. Während sich die »Großen Viere damit be-
schäftigen. meinen armen kleinen sieben Monate alten Sohn.
ohne meine oder seine Einwilligung, zu einem Dienst-
pflichtigen der Klasse 1938 zu machen, überbieten sich
ihre Knechte in Schurkereien. Leider fehlt der Diplomatie.
wie allen Gesellschaften mit beschränkter Haftung. ein
Körper. dem man Fufßtrifte versetzen könnte. Sie ist
anonym. Wir kennen weder Namen noch Adressen der
Herren, die sich mit Angelegenheiten, wie es zum Beispiel
die schmutzige Lockhart -Verschwörung ist. befassen; ihre
Photographien kommen nicht in die Zeitung. Und dennoch
müssen wir mit ihnen abrechnen; denn sie sind ganz ge-
meine Schurken, diese Herren, niederträchtige, feige Schurken.
die sıch hinter der Anonymität verkriechen und im Ge-
heimen für die Interessen der Hochfinanz arbeiten. staf
für die Interessen des Volkes, dessen Diener zu sein sie
vorgeben. Sie handeln im Namen unseres Landes, sie zerren
unseren Namen durch den Schmutz, sie überschüften uns
mit Schmach und Schande — und wir wissen
nıcht eınmal, wer sıe sınd!
Wer (außer Herrn Leslie Urquhart) hat bei der
Koltschack-Intrigue die Hand im Spiel? Welcher nieder-
trächtige Schurke trägt Schuld an der Verschwörung
gegen die ungarische Revolution? Freilich die- Bolschewiki.
in Ungarn haben 37 000 arme Kinder mit Badegelegen-
heiten versehen. um Krankheiten abzuwehren. haben die
Spitäler nationalisiert. das Schulsystem neu organisiert, damıt
die neue Generation im Hal gegen den Militarismus
heranwachse! Pfui! Wir wissen. daß die Rumänen ohne
jede Herausforderung oder Entschuldigung. auf Befehl der
Entente. angegriffen haben. Wir wissen, daß ihnen die
britische Regierung dureh Munition und Bargeld wertvolle
Dienstes geleistet hat. Während zwei Millionen Menschen
536 — Douglas Goldring
aus Mangel an Maschinen und Transportgelegenheiten ver-
hungern. werden in Rumänien Maschinen und Transport-
gelegenheiten angehäuft, um diesen gottlosen Krieg zu unter-
stützen. Wir begehen dieses Verbrechen per prokura.
Während die britische Regierung General Smuts in einer
anständigen Mission nach Ungarn schickt. autorisiert sie
zur gleichen Zeit Rumänien. die Arbeit des Generals
zu nichte zu machen. Die Rumänen begannen mit der
Entführung eines unglückseligen alten Ehepaars von einem
Bauernhof (Bela Kuns Eltern) und der einer harmlosen
Dame des Mitelstandes (Bela Kuns unverheiratete Schwester).
Reuter bemerkt hierzu ironisch: -die ungarische Presse
glaubt, diese Vorfälle werden eine allgemeine Empörung
hervorrufen. Arme, naive ungarische Presse!
Unser Verhalten gegenüber Ungarn — wie auch unser
Verhalten Ruſeland. Irland. Ceylon. Persien sowie anderen
Ländern und Völkern gegenüber — ist niederträchtig. un-
vernünftig und ehrlos. Es gab eine Zeit. da der englische
Gentleman ein so feines Ehrgefühl besaß, dal er, um mit
ehrlosen Dingen in keinerlei Verbindung zu stehen, seine
Stelle aufgab. Diese Zeit scheint längst vorüber zu sein.
Sogar ehrbare Mitglieder der Regierung. wie Lord Robert
Cecil und Herr Harmsworth, bleiben auf ihren Posten —
trotz folgender offizieller Erklärung:
»Oberst Cuninghame läßt, nach einer Rücksprache mit
Paris, der ungarischen Regierung kundtun, die Entente sei
bereit einen Waffenstillstand zu schließen und sofort dem
Vordringen ihrer Truppen Einhalt zu gebieten, wenn die
Sowjet-Regierung abdankt. wenn ein aus allen bür-
gerlichen Parteien Ungarns bestehendes
Kabınett gebildet wird und alle Beschlüsse
der Sowjet-Regierung aufgehoben werden.
Unter diesen Bedingungen ist die Entente bereit. mit der
ungarischen Regierung ın Verhandlungen einzutreten.
Briefe aus der Verbannung . 537
Ach, ihr armen, kleinen ungarischen Proletarierkinder !
Ihr sollt keine warmen Bäder mehr haben, ihr müßt ver-
laust, rachitisch und hungrig bleiben. So will es die
Entente! Deine Profitler. ungarisches Volk. sollen sich
wieder schwer auf deinen leeren Bauch setzen. unsere
Profitler haben beschlossen, sie zu reften. Doch verzage
nicht. es wird ihnen nicht gelingen! Ein einfaches Produkt
der Erde wird sie bezwingen — die Kohle.
25.
London, im Aprıl 1919
Nachdem ich in der Nummer des »Hansard- vom
15. April Lord Robert Cecils Reden über die Hungers-
not und über das Chaos in Zentral-Europa — beides
hauptsächlich durch Aufrechterhaltung der Blockade ver-
schuldet — und Herrn Cecil Harmsworths schwache
Verteidigung der Blockade nach dem 11. November als
ein Instrument des Druckes gelesen habe. muß ich zu-
geben. als Psychologe völlig verwirrt zu sein. Lord Robert
Cecils Rede ist voll Menschlichkeit und christlichen Gefühls.
sie beweist, daß er jede Einzelheit des Martyriums von
Europa genau kenne. Als -Blockade- Minister- vor der
Unterzeichnung des Waffenstillstandes weil er selbst-
verständlich, wie weit die britische Marine für eine Lage
verantwortlich ist. die die ganze Welt mit Unheil bedroht.
einem Unheil. daß schier noch entsetzlicher ist. als der
Krieg selbst. Die Blockade hat weit mehr arme Zivilisten.
Frauen. Kinder und alte Leute in Deutschland getötet.
als die britische Armee während des ganzen Krieges ver-
loren hat. Lord Robert gibt offen zu, die Blockade
müsse sofort aufgehoben werden, sobald dies keine - Gefahr.
mehr bedeute. (Herr Hoover jedoch, der wohl wußte, um
was es sich handle, erklärte im November 1918, es sei
gefährlich, die Blockade auch nur einen Tag länger auf-
538 Douglas Goldring
recht zu erhalten!) Aus Lord Roberts Reden geht hervor.
daß er die Blockade eben so verabscheue, wie ich es tue.
Die Schuld an der Aufrechterhaltung wird von ihm, sowie
von Herrn Cecil Harmsworth »hohen Militär- und Marine-
autoritãten · zugeschoben. Weshalb werden die Namen dieser schul-
digen Autoritäten nicht erwähnt? Wie kommt es, daß diese
beiden Herren — wenn sie Ehrenmänner sind — nicht
von ihren Ämtern zurücktraten, als die hohen Militär-
und Marineautoritäten diesen abscheulichen Beschluß gefaßt
haben? Ihr weiteres Verweilen im Amte macht sie zu
Mitschuldigen an einem Verbrechen. das nicht bloß das
halbe Europa foltert. sondern auch den Handel und unseren
internationalen Ruf ruiniert. Patriotismus, Rücksicht auf
persönliche Ehre, gewöhnlichste Menschlichkeit müßten Lord
Robert und Herrn Cecil Harmsworth zum Rücktritt be-
wogen haben. Weshalb zögerten sie? Ich kann es nicht
begreifen! Arme Menschen, welche Qualen der Ver-
zweiflung und Reue müssen sie empfinden! Kein Wunder.
dall sie unruhig werden, wenn im Parlament das schreckliche
Wort »Blockade« ausgesprochen wird. Zweifellos sehen sie
ım Traum die grinsenden Schädel unzähliger gemordeter
Mütter. hören das Stöhnen und Achzen der Sterbenden.
die wilden Racheschreie. die aus Millionen verzweifelter
Kehlen dringen. Ich beneide sie nicht um ihre Hölle,
denn es lag in ihrer Macht. ansta die Schuld auf
anonyme Soldaten und Matrosen abzuwälzen. die korrupte
Luft Westminsters zu verlassen. dem Volke die Wahrheit
zu sagen und das Volk entscheiden zu lassen
Wir verlangen die Namen der »Autoritätene zu er-
fahren! Sind es Foch, Haig. Franchet d’Esperey? Wenn
ja. so wird das einfache Volk ihnen etwas zu sagen
haben. Wer aber auch ımmer es war, der dieses Hunger-
werkzeug anzuwenden beschloß, um Deutschland zu zwingen,
einen lebendigen Leib zerstückeln und seine Eingeweide
Briefe aus der Verbannung 6539
ausreiſen zu lassen, nie darf vergessen werden. daß die
britische Marine diese Arbeit verrichtet
hat. Die fröhlichen »Jack Tarse sind die wahren Mörder.
Wahrscheinlich ahnt von Tausenden nicht einer, wozu er
sıch hergibt: er murrt eın wenig und tut seine Arbeit
weiter! Ich jedoch prophezeie, daß die hohen Militär- und
Marineautoritäten«, wenn endlich das Gewissen der Entente-
Völker erwacht, auf geheimnisvolle Weise verschwunden
sein werden. Man wird uns mitteilen, die »Blockade kam
eben sos, »jemand hat einen Fehler gemachte es war ein
»Mißverständnis.. Und dann werden der ganze Tadel und
dıe ganze Schmach auf die britische Marine fallen. Schon
heute ist die Uniform des britischen Marineoffiziers in den
Augen eines großen Teils der europäischen Völkerfamilie
das Kennzeichen des Mörders. Ist einmal die Wahrheit
überall bekannt. so wird lange Zeit das Tragen dieser
Uniform in allen großen Städten der Welt eine gefähr-
liche Sache sein.
Es hat keinen Sinn Beschönigungen zu suchen: nach
der Unterzeichnung des Waffenstillstandes und der Waffen-
streckung der deutschen Flotte konnte für die Aufrecht-
erhaltung der Blockade nicht einmal die britische Heuchelei
eine Entschuldigung finden . . Leute, die noch eine gewisse
Achtung vor Großbritannien haften. nahmen als gewiß an,
daß sie nach dem 11. November wenigstens teilweise
aufgehoben würde. Doch geschah dies nicht; im Gegenteil.
sie wurde noch verschärft. Heute. nach mehr als fünf
Monaten, besteht sie noch immer. Als Greueltat ist sie
jetzt. nach dem Waffenstillstand. noch ärger als während
des Krieges. Seit Anfang dieses Jahres wurden Hekatomben
feindlicher · Kinder geopfert. Feindlicher Kinder! Lieber
Heiland. wie oft bist du in diesen letzten schwarzen
Monaten gekreuzigt worden — stets mit der Einwilligung
des . Hauptorganes deiner englischen Kirche, der »Church
540 Douglas Goldring
Times.. Die Folgen der Blockade sind derart entsetzlich,
daß die englischen Tommys in Cöln General Plumer
zwangen, bei der Friedenskonterenz gegen die Fortsetzung
des Hungerkrieges zu protestieren. Er sandte den Brief
ab und wurde — versetzt. Die Leiden in einem einzigen
Land sind so furchtbar, daß 14 britische Offiziere. die
vom Kriegs ministerium betraut worden waren, die ökono-
mischen Bedingungen in Deutschland zu studieren, als
ehrliche Männer nur einen Rat wuſſten: die Auf hebung
der Blockade. Weshalb ist dieser Rat nicht befolgt worden?
Ist es denn gar so ruhmvoll, die Frauen des Feindes.
wenn sich dieser bereits ergeben und die Waffen ab-
geliefert hat. auszuhungern? Ich kann dies nicht ruhmvoll
finden und es freut mich. daß auch Lord Robert Cecil
meiner Meinung ist. ö
Ich glaube nicht. daß Herrn Harmsworths Ansichten
letzten Endes von denen seiner Vorgänger im Amte ver-
schieden sind. Ich will noch einmal auf seine Rede ım
Parlament zurückkommen. Nachdem er zugegeben hatte. daß
er »augenblicklich für das britische Interesse an der Blockade
verantwortlich sei, bemerkte er, wenn die Zeit käme —
und sie könne bald kommen — da die hohen Militär-
und Marineautoritäten die Blockade als Werkzeug des
Druckes nicht mehr benötigen, so wäre er. dies könne er
dem Parlament versichern. herzlich froh. der Sache ein
Ende zu machen. Das will ıch .ıhm gerne glauben! Aber
bedenken Sie den tieferen Sinn dieser Worte. Hundert-
tausende von Kindern werden gemordet, Seuchen, Pest,
Chaos wüten durch ganz Europa — auf das Gehe:il
shoher Militär- und Marineautoritäten«, die seinen Druck
ausüben wollene. Weshalb einen Druck ausüben?
Sollen wır etwa glauben, sie wünschen einen ewigen Kriegs-
zustand herbeizuführen. damit die Militär- und Marine-
Mandarine nicht ihre Stellen verlieren und in den Hinter-
Briefe aus der Verbannung | 541
grund geschoben werden? Und wer sind denn diese
Autoritäten? Die Namen bitte! Sie mögen hervortreten.
und vor ganz Europa die Verantwortung auf sich nehmen,
Herr Harmsworth hat sie einer Sache beschuldigt, die in
den Augen von Millionen Männern und Frauen als un-
geheuerliches Verbrechen gilt. Sie mögen vortreten, den
empörten Völkern vor die Augen treten und sich nicht
hinter irgend einen Strohmann von Unterstaatssekretär ver-
bergen. Der arme Soldat, der, krank und unterernährt.
auf dem Schlachtfeld Furcht zeigt, wird als Feigling er-
schossen. Moralische Feigheit darf die schuldigen hohen
Militär- und Marineautoritäten und die Politiker, die ihnen
Verbrechen zu begehen halfen, nicht vor der gerechten
Strafe bewahren!
26.
London, im Mai 1919
Die Zeit rückt näher, da die genauen Friedensbe-
dingungen — eines Friedens, der so lange Zeit in Ge-
heimnis und Nacht ausgebrütet ward — einer erschöpften
Welt. die sie gar nicht mehr zu hören wünscht, mit-
geteilt werden sollen. Wir wissen heute bereits genug, um
zu erkennen, dał Wilson — der Phrasenmacher, der
Erzheuchler, die vierzehn Punkte mit denen er Freund und
Feind auf gleiche Weise betrogen. über Bord geworfen
hat. Wir wissen, daß er sich des Vertrauens, das die
Völker ın ıhrer Verzweiflung auf ıhn gesetzt haben, unwert
erwiesen hat.
Dennoch dürfen wir nicht verzagen. Clemenceau,
Orlando, Pichon, Pertinax u. Co. arbeiten durch ihre
wahnwitzige Bosheit und Habgier uns in die Hände.
Durch ihren gewalttätigen Versuch, das Proletariat nicht
nur in den feindlichen Ländern, sondern auch im eigenen
Lande zu zermalmen — sichern die »großen Viere den
542 Douglas Goldring
Völkern den Endsieg. Große Teile Europas haben sich
bereits dem Bolschewismus zugewandt, und dies ist das
Resultat der reaktionären Entente- Beschlüsse. Der phan-
tastische Feldzug gegen die revolutionäre Regierung Rul-
lands hat — stärker als irgendetwas anderes es zu tun
vermöchte — Sympathien für Lenin und Achtung vor
seinen Leistungen erweckt. Ebenso rächt sich die Ver-
wendung der britischen Marine als Aushungerungs werkzeug
gegen feindliche Frauen und Rinder an ihnen selbst. Der
Hal, den gie geschaffen und an dem sie sich fast fünf
Jahre lang gemästet haben (ein Haß, der die halbe Welt
mit dem Blut ihrer Opfer überschwemmte), wird heute
in einer Flut des Mitgefühls ertränkt. Unsere Herzen
können sich trotz aller Härte nicht mehr verschließen.
Erbarmen und Mitleid sind wieder unter uns erschienen
und durch die Greueltaten Northeliffes und der hohen
Militär- und M/arineautoritäten- zu neuem Leben
erweckt.
Die vier Diktatoren, die auszogen, um den Bolschewismus
zu erdrosseln. haben die Welt mit einer Schnelligkeit und
einem Erfolg bolschewisiert, wie dies nicht einmal die be-
gabtesten russischen Propagandisten zu erträumen wagten.
Trotzkı sprach die lauterste Wahrheit. da er sagte: »unsere
Sache hat keine mächtigeren, beredteren Verfechter als
Clemenceau, Orlando. Wilson und Lloyd George.
Wenn ich recht überlege. so erschüttern mich die
Pläne der französischen Finanziers. das deutsche Proletariat
bis ans Ende dieses Jahrhunderts zu versklaven. gar nicht
besonders. Das Aushungern Deutschlands und Österreichs
— unser einziges Miftel. eine große Nation zu knechten
— kann nur aufrecht erhalten werden, wenn sowohl das
Gewissen als auch die Vernunft der Welt tot sind.
Sogar England beginnt aus dem Siegesrausch zu erwachen.
Amerika wird merklich unruhig. und die Völker der neu-
Briefe aus der Verbannung 543
tralen Länder verurteilen fast einstimmig unsere Bedingungen.
Sogar der geduldige, langmütige Osten ist durch den selbst-
mörderischen Wahnsinn unserer »Geschäftspolitikers auf-
gerüttelt worden und erwartet, während diese Herren
tasten und gestikulieren. stumm die entscheidende Stunde.
Im Sommer 1916 behauptete ich meinen Freunden
gegenüber Deutschland besäße die Quelle der Lebenskraft:
damals vermeinte ich, die Führerschaft der weißen Rasse
müsse endgültig in die Hände des deutschen Volkes über-
gehen. Heute hat sich dieser mein Glaube noch mehr
verstärkt. Durch Leiden geläutert und veredelt wird sıch
das deutsche Volk erheben und die Menschheitsfamilie dem
Morgenrot einer neuen Zeit entgegenführen.
Ja. die Politik der »sgrolen Vier. ist eine zum Tode
verurteilte: endlich ist der Sieg jener Ideen. die die ein-
fachen Völker beherrschen. gesichert. Wir sind bei der
schaurigsten Stunde des langen Weltenmartyriums angelangt.
bald wird sich die Morgenröte in ihrer ganzen Herrlich-
keit zeigen. Wenn dieser gesegnete Augenblick anbricht.
mögen dann wir. das englische Volk, den Mut haben, ihn
mit demütigem Herzen und ungeblendeten Augen zu be-
grüßen! Harrt aus. deutsche Genossen. nur noch eine
Stunde harrt aus!
27.
London, im Mai 1919
Die nunmehr veröffentlichten Friedensbedingungen ent-
halten wenig Überraschungen. Vielleicht sind sie noch etwas
gemeiner und lächerlicher, als man erwartet hafte, und
Wilson hat sich, wenn möglich, noch etwas mehr diskreditiert.
Vielleicht hat dieses unmenschliche Verhalten auch seine
gute Seite — es beweist die Kluft, die ın allen Ländern
die Völker von ihren Herrschern trennt. Die Überlebenden
jener. die sich 1914 freiwillig gemeldet haften, ım guten
544 — Douglas Goldring
Glauben, der Krieg sei ein Krieg für Wahrheit, Gerechtig-
keit, Ideale. ein heiliger Krieg. müssen sich nun eingestehen.
wie grausam sie getäuscht worden sind. Andrerseits finden
in den Friedensbedingungen die Pazifisten der ganzen Welt
ihre Rechtfertigung. |
Häufig sind in unseren Zeitungen die kurzen Spalten
die bedeutsamsten: ich fand heute im »Star« folgende
Nachricht: - Professor Litzmann von der Universität Bonn
wurde vom britischen Kriegsgericht zu zwei Monaten
Gefängnis verurteilt. weil er unterlassen hafte. einen der
britischen Presseabteilung zugeteilten Offizier zu grüfen.«
Auf der einen Seite las ich die Vorbereitungen. durch
die die Alliierten ihre ruinierten. hungernden. hilf losen
Gegner zwingen wollen. ihr eigenes und ihrer Kinder
Todesurteil zu unterschreiben. Selbstverständlich soll unter
der Ägide Lord Robert Cecıls die Blockade verschärft
werden. Diesmal soll Deutschland tatsächlich sverhungern«.
Marschall Foch hafte gestern eine Unterredung mit dem
Dreierrat und erhielt unbegrenzte Vollmacht. Präsident
Wilson soll zu ıhm gesagt haben: „Ergreifen Sie
alle nötigen militärischen Maßnahmen, falls
die Hunnen nicht unterzeichnen wollen.
Ich hoffe, diese Nachricht beruht auf Lüge. Wenn
Wilson zu der Politik Northeliffes und Herrn Botomlyes
auch deren Sprache noch angenommen hat, so ist dies
der letzte Strohhalm. Was aber soll man angesıchts der
von ihm gutgeheißenen Friedensbedingungen denken? Paris!
Parıs! Diese Stadt ıst der Seuchenherd der Welt: sogar
Wilson wurde von seiner verpesteten Atmosphäre angesteckt!
Es ıst keine Übertreibung. wenn man behauptet, daß
Wilsons moralischer Zusammenbruch unzählige Leute in
Verzweiflung versetzt hat. Jene Frauen und Männer, die
sch noch einen Funken Menschlichkeit bewahrt haften,
deuchte in den letzten Monaten Wilson die einzige
Briefe aus der Verbannung 545
Hoffnung. Heute erweist es sich, daß er nur der Phrasen
fähig sei. und selbst seine Phrasen haben an Schwung
eingebüſft. Soll mit seinen guten Vorsätzen Europas Pfad
zur Hölle gepflastert sein?
Der Ausblick nach allen Seiten ist hoffnungslos düster.
Die Vorbereitungen für den schmachvollen Krieg gegen
Rufland werden fortgesetzt, man versteift sich darauf, einen
militärischen Triumph zu erzielen, und will einem niedrigen
Ehrgeiz Tausende von Leben opfern.
Wir senden Regimenter mit Tanks nach Irland, mit
Maschinengewehren, Panzerwagen, aufgesteckten Bajoneſten —
um drei politische Gefangene zu fassen. In Indien, in
Ägypten, ın Ceylon U
Während ich schreibe, scheint hell die Sonne, und
von meinem Fenster aus sehe ich frische, blaßgrüne Bläfer.
auf denen die Sonnenstrahlen zarte Muster zeichnen. Wie
hatte ein derartiger Anblick vor fünf Jahren unser Herz
erfreut! Heute jedoch scheinen wir von all dieser Schönheit
abgeschniften zu sein, an ihr kein Anteil mehr zu haben.
Es ist. als ob uns die Mutter Erde, empört über ihre
Menschenkinder. enterbt hätte.
Wenn ich in früheren Zeiten an Sommertagen einen
ländlichen Pfad entlang geschriſten war, so hafe ich mich
als einen Teil dessen gefühlt, was meine Augen sahen —
der Wolken, Hecken und Wiesen, der Bäume, des Sonnen-
scheins und der frischen Winde. Heute ist alles anders
geworden. Ich fühle mich als Eindringling. weil ich dem
Menschengeschlecht angehöre. Die Natur hat ihrer alte
Freundschaft mit uns gebrochen und hält uns von sich
fern. Die Sonne hat ihre Güte verloren, die Sterne halten
sich abseits und flüstern uns keine Geheimnisse mehr zu,
der zynische Mond verhöhnt uns aus seiner Höhe. Dank
unserem Materialismus will die Welt der Materie von
uns nichts mehr wissen.
340c0%nũ = Douglas Goldring
P —
der Satz klingt abgebraucht und banal Ist es möglich. daß
die menschliche Rasse durch die Abscheulichkeit des Krieges
und des Friedens sein Opfer eitel gemacht hat? Wir
ind seinen Lehren untreu geworden. haben ihn durch
unsere Blindheit und Undankbarkeit zum weiten Mal
gekreuzigt — und was ist das Ergebnis?
Nur wenn Wir ihm von neuem Treue geloben. können
die westlichen Völker aus diesem Unheil Rettung finden.
nur wenn jeder von uns Christus als unsichtbaren König
in einem Herzen trägt. dürfen wır wieder hoffen.
Sie müssen mir diesen Gefühlsausbrurh verzeihen. Ich
bin nicht Christ und war (außer bei meiner ER
scit fünfzehn Jahren in keiner Kirche.
Was ich vorhin sagte. hat die Geistlichkeit seit Jahr-
hunderten tagaus. tagein gepredigt. Wie aber in aller Welt
vermag die anglikanische Geistlichkeit die Treue Christus
gegenüber mit ihrer Unterstützung des Krieges zu ver
einigen, mit ıhrer Bewunderung für Northeliffes Zeitungen,
der völligen Gleichgültigkeit den Leiden ihrer Feinde
gegenüber. ihrer freudigen Zustimmung zu eınem grau-
samen. unchristlichen Frieden? Bedenken Sıe das Verhalten
der anglikanischen Bischöfe und Priester während des
Krieges! Bedenken Sıe ihr Verhalten seit Unterzeichnung
des Waffenstillstandes! Unser Land besitzt viel schöne
Kirchen und Kathedralen, in wie viele derselben ver-
mochte der Geist Christi einzudringen? Wie viele Geist-
Briefe aus der Verbannung 547
— — o uno. — a
liche haben ihre Stimme gegen das Aushungern deutscher
Frauen und Kinder erhoben? Wie viele Bischöfe haben
ihre Gemeinden gelehrt, sie müßten das deutsche Volk
leben, wie ihr eigenes? Wie vielen Geistlichen ist es
klar, daß die Lehren Christi nicht bloß schöne Worte
für den Sonntagsgebrauch sind. sondern daß sie die Quintessenz
politischer Weisheit enthalten? Wollten doch die Poli-
tiker bisweilen die christliche Philosophie in J esu Worten
studieren! Es sind weniger Worte als ın den konfusen
Abhandlungen der großen Vier-, aber die Menschheit
kann trotzdem nur durch das Studium der Lehren Christi
den Weg zum ewigen Heile finden. Zwei Alternativen
stehen vor der Menschheit — dies hat das Grauen der
letzten vier Jahre zur Genüge bewiesen: — wir können
den Weg weiterschreiten, den uns unsere Herrscher weisen
und der zum Selbstmord der weißen Rasse. zur Ver-
dammnis führt, oder aber wir können durch eine gewaltige
geistige Wiedergeburt die Beschlüsse unserer Herren um-
stoßen, ihren Hal durch Liebe, ihren Rache- und Hab-
gier-Frieden durch den Frieden des guten Willens ersetzen.
Die westliche Welt muß wählen zwischen dem Christ
und dem Antichrist, von dieser Wahl hängt die ganze
Zukunft der weilen Rasse ab.
Ende
548 u _ Ludwig Rosenberger
o am ne re men à—— — mern a. =
KARL LIEBKNECHT UND SEINE BRIEFE
VON LUDWIG ROSENBERGER
„Wir sind und bleiben ur,
trotz alledem.“
Karl Liebknecht,
Briefe aus dem Zuchlheus.
I.
Es gibt zwei Arten von politischen Führern.
Der eine ist der Führer des politischen Alltags, der
typische Führer der Lohnbewegung und ihrer Abarten, der
geistlose Trabant der durch die ökonomischen Verhältnisse
bedingten Wechsel und Wandel der materiellen Bewegung.
Es ist der Typ des Alltagsmenschen aus der Masse der
Alltagsmenschen, des Durchschnifts der Volksversammlungs-
schreier, die er überragt in seiner Anpassungsfähigkeit an
die profithaschende Menge, deren Teil er in all ihren
Eigenschaften ist. Er ist nicht Führer, nicht überragende
Persönlichkeit. er ist der Geführte, der gehorsam der Masse
nachlaufende, hündisch der Masse schmeichelnde, effekt-
haschende. beifallshungrige. politisch führerseinwollende
Mensch.
Dieser Führertyp ist Blut und Fleisch vom Fleisch und
Blut der politischen Alltagsmenschen, des politisierenden
Spießbürgers. Er ist ihr Führer. Doch er ist nicht der
Führer, sondern der Leithammel seiner Masse. Denn Führer
sein heißt Träger seiner Idee, des politischen Willens zu
sein.
Politik ist Idee. Idee aber ist Geist. der Geist vom
Werden des Neuen. Der politische Mensch soll der Aktive.
der Kämpfer seiner politischen Idee sein, seiner Idee, die
Karl Liebknecht und seine Briefe | 549
nicht verknüpft sein soll mit seinem traditionellen oder
gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnis. (Denn es gibt
eigentlich keine Idee des Proletariats, sondern nur eine Idee
des Kommunismus).
So sind einerseits Glaube und Ethik, die Maxime poli-
tischen Handelns, ebensowenig zu trennen wie andrerseits
der wirkliche Führer von seinem Leben
und von seiner politischen Tat.
Der Pseudoführer ist geistlos, denn er erlebt keine poli-
tische Idee, er kennt nur den politischen Erfolg und die
damit beifallsklatschende Menge. Seine Politik ist nicht Geist,
sie ist — Geschäft. Ideal und Geschäft sind aber die am
wenigsten zu vereinbarenden Dinge der Welt.
Der wirkliche Führer aber ıst nicht zu trennen von
seiner Idee, er lebt die Idee, die Idee sein Leben: Sein
Geist ist der Geist der Idee, sein Leben
die Prophetie des Geistes.
Der wirkliche Führer sieht in seinem politischen Ideal
das Ideal seines Lebens, ın seinem Leben die politische Tat.
Er sieht in seinem politischen Ideal die alleinige Treibkraft
seines Handelns: er ist seiner politischen Idee allein ver-
antwortlich, dann erst seiner Gefolgschaft, seiner Kampf-
gemeinschaft, denen, die mit ihm Träger und Kämpfer seiner
und ihrer Idee sind.
Der politische Führer ist Diener seines Geistes, Diener
der politischen Idee, aber nicht Diener einer in-
differenten Masse. Er ist verbunden mit ihr, als
ihr Führer, solange die Masse Träger seines Geistes und
damit des Geistes der Idee ist. Aber er hat zu befolgen
allein die Stimme seines Geistes, die Idee, deren oberster
Träger er ist. Verläßt die Masse den mit ihrem Führer
gemeinsamen Geist, so hat der Führer aufgehört. Führer der
Masse im Gegen wärtigen zu sein: er bleibt der führerische
550 Ludwig Rosenberger
Mensch, der oberste und treueste Kämpfer für seine Idee:
auch wenn die Masse die Bahn der Idee treulos verläßt.
In allen übrigen Kampflagen des Lebens aber bleibt
Führer und Masse innig miteinander verbunden. als Geist
seines Geistes, als die Träger seiner Idee; die auf Leben
und Tod verbundene Gemeinschaft der Tat. der Idee.
Des Führers Vorbild soll sein des Größten der Zeiten,
das Symbol des Lebens für die Idee und für die. Tat:
er lebte in seinem Leben der Tat.
Sein Leben wird zum Symbol der Tat
und sein Menschtum zum Symbol der Idee.
So lebt in des echten Führers Leben das Leben der
Idee. Es gilt für ihn und soll für jeden gelten: keine
Zwischenräume zwischen dem Ideal der Wirklichkeit und
Freiheit. Kämpfer der Idee zu sein. halt: die Idee
leben.
II.
Karl Liebknecht ist Armierungssoldat, er. der führerische
Mensch. Er ist der Gegenpol seines — nun auch auf einem
anderen Feld gebliebenen — Reichstagskollegen, des Kriegs-
freiwilligen Ludwig Frank. Der Kriegsfreiwillige Frank war
von der Identität von Persönlichkeit und politischem Handeln
überzeugt, er zog die persönliche Konsequenz daraus. Er
fel — für diese seine Überzeugung. Karl Liebknecht
kämpfte von Anfang gegen diesen Krieg. Die bürgerliche
Gesellschaft lynchte ihn dafür zuerst moralisch (Zuchthaus-
urteil), dann auch körperlich. Den Geist konnte sie nicht
töten.
Der Führer Karl Liebknecht war der große Kämpfer
seiner Idee. der Idee des Kommunismus. Er — der Mensch seiner
Menschen. — war verbunden mit ihr und der Seele der Massen.
mit der er fühlt, innigst liebt und kämpft. Liebknecht war
Feldzugssoldat. ihr Leiden sein Leiden. Von der großen
Schlichtheit der Menschenseele war er ein Stück.
Karl Liebknecht und seine Briefe 551
Da draußen begann sein großes Leiden, sein Golgatha,
da begannen die Kreuzwegstationen bis er auf der Spitze
seines Berges ans Kreuz geschlagen wurde —
Dem: echten Führer ist das Fühlen der Masse niemals
fremd. Er ist verbunden mit ihr: die Seele des Führers
verbindet sich mit der aus Tiefsten nach Erlösung sich
sehnenden Seele der Masse. Er erlebt das große Leid mit.
das große Leid des Krieges.
So sind seine Feldpostbriefe schlichte Erzählungen, ein
Stück der Sozialpsyche der Zeit. Welch enorm geistige
Anstrengung war es für den Menschen Karl Liebknecht.
den Krieg. der ihm als so großes Unrecht erschien, zu
überwinden!
Das simple und doch menschlich so Große. die Seele
des Soldaten — des Menschen spricht zu uns: es ist die
Sozialpsyche dieser Epoche. Das Simpelste der Simplizitäten
des Lebens wird zum Märchen. Die aller selbstverständ-
lichsten Dinge der Welt kommen in diesen Briefen vor:
die Bestätigung der Liebesgaben, der Tube mit dem Gelee
und den mittelstarken Zigarren. ö
In diesen Briefen lernen wir den Menschen Karl
Liebknecht kennen: das Stück seines Wesens. Für ihn ist
seine politische Idee nicht das Kluge-Kaltberechende, sie ist
sein Leben. Er lebt in ihr. er umfalt. er umfaßt alles.
seine „Frau, seine Kinder. seine Natur, die ganze Welt. —
Er ist der politische Führer. der diese Welt so ganz aus
vollem Herzen liebt. den Kosmos und das Kleinste. Der
wahrhaft große Mensch umgeht wohl die Nichtigkeiten des
Lebens. die Bosheiten und Gemeinheiten der Kleinen,
Schmutzigen, aber nicht das Schöne, Intime. Beschauliche.
Er sieht im kleinsten Schönen den Spiegel des Alls — der
allumfassenden Liebe und Güte. — Es ist Liebknecht der
Kinderfreund, der da in seinem ganzen Wesen vor uns
tritt. Er kennt die Psyche seiner Mitmenschen gut, er ver-
552 O Ludwig Rosenberger
steht die Psyche der Kleinen. — Wie wundervoll die
lebendigen Plaudereien mit seinen Kindern. Er plaudert mit
ihnen über alles. Es ist so fein, von ihm diese Intimitäten
zu hören. Er findet die Kraft, trotzdem das Erleben so
schwer auf seiner Seele lastet, über das alles zu reden.
Er. teilt die kleinste Freude mit, er umfaßt das ganze
lebendige Leben mit seinen unzähligen kleinsten Freuden.
Denn so erzählt er — vom Feld: »daf ich Schillerfalken.
Gabelschwanzraupen, Mondvogel, braune Bären u. v. a. sah
und viele Störche. habe ich schon geschrieben —
Er sieht die Natur, er liebt sie, er bewundert sie, die
ihn in ihrer ganzen heiligen Größe erfüllt:. . . die Natur
ist ein schimmerndes Feenschloß — die Worte versagen
vor der Zartheit und Größe. Stets bin ich schwach und
erlebe alles mit ausgebreiteten Armen. Die Sterne, den
weißen Mond. und er wird rot an einer kleinen Stelle.
ein goldner Kranz legt sich um die Blüte: er wird heller,
rosa gelblich, weit am Rand über den Wäldern, wo war
das erste Rot? In den Furchen, an den Abhängen, auf
den schrägen breiten Giebeln und Dächern der schneebe-
deckten Hüften. leuchtets im Widerschein heimlich — opal
— der harte Schnee knirscht unter meinen Füßen. Alles
glitzert auf — der Himmel erhellt sich in seiner ganzen
Wölbung — der Mond will drin vergehen, wie ein lichter
Dampf in der Luft. Es blitzt und strahlt und blendet —
sie hat den Königsthron bestiegen unter großem - Vortritt.
heute und fast alle die Tage. Diese großen Herrlichkeiten:
Warum kannst Du sie, können die Kinder sie nicht ge-
genießen! Wie ich Euch um Euren Regenherbst bedaure..
Es sind Briefe. Briefe geben das Persönlichste
wieder. Sie sind wie die Graphik direkt aus der
Hand des Künstlers selbst. ohne Malstaffelei, ohne Kom-
position, ohne — Intellektualismus. — Briefe sind die besten
Rekonstruktionen des Seelischen.
Karl Liebknecht und seine Briefe on 553
Das stärkste Innenleben spricht aus ihnen.
Der herrliche Brief an seinen Sohn (vom 26. 9. 15.)
muß hier wegen seiner psychologischen Feinheit teilweise
wenigstens wiedergegeben werden: »es streichen mir so viele
Erinnerungen aus meiner Jugend durch den Kopf, Erinnerungen
grad aus Deinem Alter, in dem Geist und die Gefühle
knospen ... Ich bläfterte eben im Ploetz (Geschichte) und
warf einen Blick in die bunte Fülle der Menschheitsge-
schichte, und bei alledem wehten mir aus jeder Seite die
Stimmungen entgegen, in denen ich sie einstens las und
mit einer träumerischen Phantasie in mich einsog. Getrocknete
Blumen mit ihren leicht verwirrenden Duft.
... Hab Vertrauen zu mir und zu Sonja. Nichts vor
uns verheimlichen, nichts tun, was Du zu bekennen scheutest.
Wir verstehen alles — ich habe alle Irrwege des mensch-
lichen Herzens durchwandert, durchtastet — durchkrochen.
Nichts könnte Dir beikommen, was ich nicht verstünde —
und Dir nicht verzeihen könnte und würde, wenn ich Dein
Streben sehe, Dich durchzuarbeiten, hinaufzusteigen auf die
Höhen — zur Sonne, in die unendliche Herrlichkeit der
Welt. Deine Brust soll_hoch aufatmen und ich will Dich
schen, wie Du die Arme weit ausbreitest, ihr, der Welt ent-
gegen. — Das will ich sehen, darauf warte ich. — Öffne
Dein Herz — laſ alles hineinfluten und Dich beseligen.
Und laf Dich leiten vom Vertrauen zu mir, von der Liebe
zu uns allen und zu den Menschen. Dann fällt alle Arbeit
leicht: dann ist sie nicht Mühsal, sondern Glück und Ent-
zücken«.
Politisches enthalten die Briefe wenig: aber diese Stellen
sind voll des Prägnanten. So besonders der Brief vom
21. 9. 15. an seine Kinder: »Es ist heute ein wilder Tag
hier und ein sehr böser Abend. Ein russischer Vorstoß aus
Riga hat uns überrascht. Wir heben jetzt neue Stellungen
554 Ludwig Rosenberger
aus — in vorderster Linie. Es ist kühl. Über mir kracht
es toll — auf uns ist die Hölle losgelassen.
Ich werde nicht schießen —..
III.
Karl Liebknecht rief am Potsdamer Platz: . Nieder mit
dem Krieg l. Er wurde verhaftet. Er selbst schreibt darüber
in seinem ersten Brief aus der militärischen Arrestanstalt:
Festnahme wegen Nichtbefolgung eines Dienstbefehles in Ideal -
konkurrenz mit einigen andern (begangen durch ein paar Rufe) .
Die Briefe aus der Untersuchungshaft und aus dem
Zuchthaus sind Briefe seines Lebens. Briefe eines Menschen.
der von stärksten seelischen Stürmen umwogen aufrecht
bleibt: Der Mann, der Führer. -Was ist denn mit dem
Gifter — was will es bedeuten — was kann es uns an-
haben! So wenig wie die Anstaltskleidung, so wenig wie
die Haarschur .. : Wir sind und bleiben wir,
trotz alledem«. (Brief aus dem Zuchthaus Luckau v.
10. 1. 07). — Er leidet, doch er ist fröhlich dabei und
liebt die Welt so stark und tröstet. er — der Leidende
— die andern. Er. der stets gebende Mensch gibt alles,
sein Wesen, — sein Leben.
In höchster Not aber sucht er Schutz und — findet
ihn — in der Welt des Dichters — Der
Dichter ist Prophet seines Lebens, seiner Idee. Es ist die
Welt seines Ideals. wofür er kämpfte. wofür er starb.
Diese Welt ward ihm zur Verheifung, er lebte sein Leben
in ihr, er löst sich auf im allesumfassenden Reich der
Schönheit und der Liebe. Es war sein Leben, sein Ideal
das in seinen Worten zum Ausdruck kam: »müssen denn
die Menschen so sein, können sie denn nicht in Liebe mit-
einander leben?. — Einmal sah ich ein Bild, das diesen
hohen Ausdruck versinnbildlichte: auf einem Hügel spielen,
Kinder, unten die Fabrikstadt, der breite Himmel: war aus-
gefüllt mit einer geistigen Gestalt. Karl Liebknecht: Können
Karl Liebknecht und seine Briefe 2355
denn die Menschen nicht so sein, wie diese Kinder da? —
Diese Briefe sind der Ausdruck des Wesens des
Menschen, des Dichters Karl Liebknecht. Sie umfassen alles,
jede seiner Handlungen, jede Stelle des Briefes atmet seinen
Geist, seine Idee. Es gibt für ıhn keinen Zwiespalt: der
Mensch erlebt sein Leben. das Leben des Werk- und
Feiertags mit der gleichen Größe und Würde. Er sieht im
Kampf das Ideal, das Ideal in allen Lagen des Lebens. Er
trennt nichts, er verbindet alles: er lebt den Kampf.
indem er lebt! —
Der Welt der Dichtung lebte er und sie in ıhm. So
Homer, Goethe, Shakespeare, die großen Franzosen, und be-
sonders die Russen — Mathäus-Passion, — er ist
erfüllt von ihnen. — Er verbindet und wird
durch sıe verbunden. Er steht so hoch über dem
Zwang seiner Verhältnisse. Ihr Geist schwebt über ihm. —
Der Dichter Liebknecht lebt.
Dieser Geist verleiht das große Gefühl, die erhabene
Ruhe seines Herzens und köstlich ist seine trotzige Fröhlich-
keit. sein nie versagender, ihn in allen Lagen begleitender
Humor. — Sein erster Brief nach. Verkündung des Zucht-
hausurteils an seine Frau: » . . . Sei philosophisch! Was
sind vier Jahre! — Kopf hoch und das Wichtigste wird
zur Bagatelle — sub specie aeternitatis nicht nur des
Gesamt- sondern auch des Einzellebens . — Dann (Brief
vom 6. 12. 16.): »Jetzt sitzt du wohl allein in Steglitz.
wie ich Lehrterstraße 59 III. Aber ich habe Goethe vor
mir — und Du?
»Drum frisch nur aufs Neue — bedenke Dich nicht —
Denn, wer sich die Rosen, die blühenden, bricht
Den kitzeln führwahr nur die Dornen.
So heute wie gestern, es flimmert der Stern —
Nur halte von hängenden Köpfen Dich fern
Und lebe Dir immer von vor nen.
——ů —— mn m nn — — —
556 _ Ludwig Rosenberger
Wenn ich auch keine »charmante« Person bin, das gilt
auch Dir. Trotz allem und allen. Wie kann man mit
Goethe und der Kunst und tausend anderen Bücher-Freunden
nur kopfhängerisch sein?
Die vielen Aussprüche Karl Liebknechts über Dichter
und Denker verdienen größte Beachtung. Sıe legen
Zeugnis davon ab, daß die Welt des wahren
Politikers keine abgeschlossene ist, für ıhn
ist eben die Politik das Leben, die Welt
des Dichters die seine. |
„Das wundervollste Werk auf dem Gebiete des Ora-
toriums. (Die Noten hafte ich im Militärarrest),. Nicht
ganz leicht zu verstehen — Kontrapunkt und Fuge. Gleich
der erste Satz: achtstimmiger Chor nebst Cantus firmus —:
durchblickt man das Zaubergewebe, ist man ganz berauscht
vor Seligkeit. Nichts Süßeres, Zarteres. Rührenderes und in
den Volksszenen — nicht Grofartigeres kennt die Musik.
— So schreibt Karl Liebknecht am 18. 3. 17. aus dem
Zuchthaus zu Luckau über die Mathäus-Passion.
Ähnliche Ausführungen macht er über die deutschen
Minnesänger, die Romantiker. über Homer, über moderne
Literatur, Werke großer Franzosen u. a.
Nochmals von seinem alliebenden Verhältnis zur Natur.
In den dumpfen Kerkermauern, nach seiner Tütenklebarbeit
schreibt er das. Welche Größe und Herrlichkeit mensch-
licher Seele! Stellen über dieses Verhältnis zur Natur, zu
seiner Frau und den Kindern offenbaren das wahrste Wesen
einer Menschenseele. — Wer die Natur so sieht und liebt.
wer zu seinen liebsten Menschen diese Worte findet, ist
nicht nur groß, er ist gut! — Erst daraus ergibt sich
alles, die Synthese seines Wesens. — Welche Offenbarung
innerlichsten Lebens. .. Und was redest Du von »Leiden.?
Woran ich - leide , das weißt Du besser. . Was soll
mir das Geschwätz in einem französischen Roman, was
Karl Liebknecht und seine Briefe 557
überhaupt das Gerede anderer Leute! Das Gurren der
wilden Taube, das zu uns dringt, das ist etwas! Kennst
Du diesen merkwürdigsten aller Waldtöne, dieses klagend-
sehnsüchtige Guuur-gu-gu-guurr: das die Weite unter seinen
Bann zwingt — trotz Pirol und Amsel und Drossel —
und trotz des munteren Laubsängers. der mich im Bund
mit dem Buchfinken aus nächster Nähe beglückt, während
die Kling-Klirr-Schmalzmeisen, die Zizirdä-Goldammern und
die Schwalben sich ferner halten. . Zuweilen kommt
auch ein kleiner Freund durch mein Gesichtsfeld gehuscht
— einen Augenblick — und wenn ich mich ganz dicht
ans Gifter drücke, seh ich ein paar Zweige. . . In den
Isarwäldern und -büschen muł es doch von Vögeln
wımmeln, auch von wilden Tauben. — Liebste, achte auf
sie. ihr Ruf wird ein Erlebnis für Dich werden!!
Du schreibst nichts von der Farbe des Isarwassers, die
mich so berückte. Ist sie Dir nicht nan)
Die geistvolle politische Polemik ist zahlreich. Sie zeugt
von seiner Prophetie. Das politisch Aktuelle bezieht sich
meist auf die russische Revolution:
März 1918: »wie weht so scharf der Märzenwind. Es
riecht nach 1871 — Paris — und 1848/49 allerwärts und
1917 in Rußland, wo es jetzt wörtlich gilt: »Que veut
cette horde d'esclaves, de traitres, de rois conjurés, das mir
heute durch Mark und Bein summt und brennt
Nicht des sub specie aeternitatis bedarfs hier. . . wirf
einen Blick in die Geschichte und Du wirst wunderbar
gestärkt sein. Die Zwischenspiele dieser Tage werden Dich
nicht mehr verwirren, alles Gedröhn nicht betäuben. Wie
klein und erbärmlich. ja scheint mir auch lächerlich, sind
die Menschen, gerade die, die sich am größten dünken.
Zwischenspiele. Zwischenspiele . . (denk an Napoleons
Dutzend-Republiken, seine Staatenfabrk . . Und nichts
ist sicherer Episode, als was den Stempel plumper Oppo-
558 _ Ludwig Rosenberger
sition gegen die Naturgesetze trägt) ... Episode — Episode —
Episode — Kartenhaus — Kartenhaus — Kartenhaus — Eintags-
fliegen — Eintagsfliegen — Eintagsfliegen . . — —
Karl Liebknecht wandelte in der Welt des Lebens, in der Welt
der Dichtung: und er wurde zum Dichter, zum Dichter des Lebens:
Sturm, mein Geselle,
Du rufst mich!
Noch kann ich nicht,
Noch bin ich gekettet !
Ja. auch ich bin Sturm,
Teil von Dir;
Und der Tag kommt wieder,
Da ich Ketten breche.
Da ich wiederum brause,
Brause durch die Weiten,
Stürme um die Erde,
Stürme durch die Länder.
Stürme in die Menschen,
Menschenhirn und -Herzen,
Sturmwind, wie du!« (Frühjahr 1917)
IV.
Die tiefernst-heitere Stimmung einer Menschenseele, das
böchste Lied der Liebe und der Inbrunst, das größte Leid
in der Menschenbrust in strahlende Liebe ausgelöst. der Bann
hellster Sehnsucht nach Erlösung herzzersprengendem Schrei,
das Tragen des Schwersten, das Erleiden des Unerträglichen
und doch andere aufzuheitern versuchend, die Milde und
höchste Stärke, das höchst revolutionäre Gefühl, gebannt in
die enge Kammer, der glühendste Drang nach menschen-
erlösender Tat und doch verurteilt zum Untätigen und —
dennoch fröhlich — das ist die heilige Erlöserstimmung, die
mich beim Durchlesen des Werkes: . Gesammelte Briefe
Karl Liebknechts . (Verlag der »Aktion« Berlin) umgibt.
B.arl Liebknecht und seine Briefe 559
Es sind die Briefe aus dem Felde, aus der Untersuchungs-
haft, aus dem Zuchthaus. Das Lied des Leidens und der
ewigen Sehnsucht: tiefster Innerlichkeit und doch stärkster
Kampfentschlossenheit. Es ist das gelebte Leben seiner
Idee. — Große Menschen ragen über die Erbärmlichkeit
der Alltagswelt hinaus: sie stehen darüber. Die Welt des
Leides wird für sie zur Welt des über die Machthaber
Lichelnden: alles Analytische verschwindet, alles wird zur
Synthese. zum stillen Lächeln des abgeklärten Kämpfers. den
die Gemeinheiten der Geistlosen nicht mehr von seinem
unabänderlichen Entschluß abzubringen vermag. —
Propheten wandeln auf den Höhen der Menschheit. Sie
erschauen die Tiefen der Menschen, sie steigen hinab, so
wıe Indras Tochter selbst. um die Welt dort kennen zu
lernen, im Alltag, im Schmutz:
»Auf Schwingen schwebend über dieser Erde.
Tauchst Du zuweilen in den Staub hernieder
Um ihn.zu streifen, nicht darin zu haften!.«
(Strindberg, Traumspiel),
»Kunst erfordert ein gauzes Leben, größte Kunst erfordert
sogar Verzicht auf das Leben der große Künstler
ist der Märtyrer seiner Kunst... . Unser klassisches Zeit-
alter flüchtete aus dem Reich der unmöglichen Politik in
das Reich des Schönen. Dal Freiheit nur im Reich des
Schönen gedeihen könne und nicht in der Welt, war ein
Dogma, ein Dogma verzweifelter Resignation. In der heutigen
Zeit scheint es mir, als ob diese Flucht in das Reich des
Schönen nicht -mehr notwendig sein sollte, daß die Kunst
nicht mehr ein Asyl für Verzweifelte am Leben sein soll.
sondern daß das Leben selbst ein Kunstwerk sein müßte.
und der Staat das höchste Kunstwerk.« (Kurt Eisner in einer
Rede im provisorischen bayrischen Nationalrat am 3. I. 19.)
Die Realisierung der Dichtung im Leben wäre die Er-
füllung der Dichtung in der Politik.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Hiriog
Derfflisteretr. 4 Berlia W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam-
Berlin / Druck der E. Gundlach A.-G., Bielefeld
DIE GEMEINSCHAFT |
HERAUSGEGEBEN VON
LUDWIG RUBINER
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| |
| Ä
| |
In diesem |
Buch sind Zeugnisse l
von Menschen gesammelt, die |
in der Änderung der Welt ihr Lebensziel |
$| sahen. Hier sind Verzweifelte; gütige Skeptiker;
| Frondeure — die alle in ihrer Gesellschaft allein
| standen, sich gegen ihre Gesellschaflen wandten und
ı schließlich ihre Rebellion in andere Richtungen leiten
| mußten, als es die der direkten Aktion sind; die
Schöpfer unserer kritischen‘ Einstellung. Da sind die
Revolutionäre des Geistes, die den Bewußlseinszustand
der Welt umbrachen; seelische Vorbereiter der Wirk-
lichkeitskrise unserer Tage; die Dichter, Maler,
Musiker; die Schöpfer neuer Gefühlsgebilde. — Endlich
die sozialen Revolutionäre, die Denker der Volks-
bewegung ‚Gestalter und Historiker der Massenaktionen, |
die Sprecher des Proletariats: Die Schöpfer der neuen |
sozialistischen Weltkultur, die aus dem langen
Ablaufe der Weltrevolution hervorgehen wird, und die |
so jenseits der bürgerlichen Welt unserer Tage
steht, wie die heutige bürgerliche Welt
. *
— — —
selbst dureh die Völkerwanderung
von der Antike ge-
schieden ist.
GUT GEBUNDEN 10 MARK
GUSTAV KIEPENHEUER
|
|
|
| KARTONIERT 7 MARK
VERLAG / POTSDAM-BERLIN
DAS FORUM
4. Jahr Mai 1920 Heft 8
(Abgeschlossen am 6. Juni 1920)
ROMAIN ROLLAND ZUM BOLSCHEWISMUS
Politiken . die Stockholmer linkssozialistische Zeitung.
veröffentlicht einen Brief Romain Rollands vom 30. April,
die Berichtigung eines Interviews, das in einem Stock-
holmer bürgerlichen Blaſte mib verständlich wiedergegeben
wurde. Nach einigen Worten über die schwedische
Arbeiterbewegung formuliert Rolland seine Ansicht über
den russischen Bolsche wi. mus und seinen Glauben an ibn.
Ich bewundere die mächtige organisatorische und neu-
schaffende Energie in den Räten Rublands, die um einige
geniale Männer geschart stehen.
In dieser Woche noch schrieb ich ın einer französischen
Zeitung »Das Hirn der Welt der Arbeit hat
seinen Sitz in Moskau.. Ich fügte hinzu, dal, meiner
Meinung nach, allein eine bolschewistische Revolution über-
haupt Aussicht auf Gelingen habe. Sowohl aus ökonomischen
als auch moralischen Ursachen. Ich will hier nur eine
einzige andeuten. Unabhängig von allen marxistischen Ar-
gumenten. die zum Vorschreiten der Revolution führen,
gibt es in Rußland eine moralische Ursache, die die reinen
Marxisten vielleicht wenig beachten, der ich aber einen
unermellichen Wert beimesse. — nämlich den sozusagen
religiösen Charakter, den mystischen Enthusiasmus, der einen
Teil der russischen Arbeiterklasse durchglüht.
Diese Männer glauben.
Wenn sie nicht dächten, daß ihre Aufopferung der
ganzen Welt hülfe und diente, würden sie sich nicht
seit zwei Jahren mit dieser erhabenen Selbstverleugnung
opfern. Dieses mystisch revolutionäre Gefühl, dieser
562 Das Anklagematerıal der Entente
Glaube hat bisher nur allzusehr den westeuropäischen
Völkern gefehlt und insbesondere dem französischen Volke,
dessen Enthusiasmus seit 150 Jahren ın den vielen fehl-
geschlagenen oder verratenen Revolutionen ausgebrannt ist.
Allzu oft wird die revolutionäre Agitation beschränkt auf
eine korporative Bewegung für Lohnerhöhungen: nichts
Großes aber, noch Beständiges kann durchgeführt werden
ohne einen starken Hauch der Liebe für das gemeine
Wohl, — ohne die Leidenschaft des Opfers für die Zukunft
der Menschheit.
Aber es ist durchaus möglich, ja. sogar wahrscheinlich,
daß die Völker sich wandela und sich erheben werden
unter der Einwirkung der mannigfaltıgen Herausforderungen
und der Prüfungen, die die Arbeiterbevölkerung von Seiten
der triumphierenden Reaktion sich jetzt gefallen lassen muß,
DAS ANKLAGEMATERIAL DER ENTENTE
UND DAS LEIPZIGER REICHSGERICHT
Die schnoddrige Gewissenlosigkeit unserer großen Presse zeigt sich deutlicher
denn je in dem , was sie über die Bestrafung der Kriegsverbrecher schreibt und dem,
was sie verschweigt. Die Gänsefüßchen mit denen das „Berliner Tageblatt“ das
Wort „Kriegsverbrecher garniert, sind der wahrste Seelenausdruck dieser
Journalistik. Was Wahrheit! Was Gerechtigkeiti Man grühelt nicht viel und be-
friedigt also mit geringer Kraftanstrengung den Abonnenten, den Inserenten und
den Verleger. Was diese Presse, die gerne und kritiklos den nach bewährter Me-
thode gekürzten Auszug des W. T. B. abdruckte, hier wie immer schon mißachtete,
nämlich Klarheit. Anständigkeit und Klugheit. — all dies macht die Veröflent-
lichung des Materials wenigstens in einer deutschen Revue wünschenswert. Der
Vorwurf, man mache gemeinsame Sache mit dem Feinde, dieser Vorwurf erscheint
übergus lächerlich angesichts der notwendigen Erkenntnis, daß die gefährlichsten
Feinde des deutschen Volkes nicht die anklagenden Imperialisten der Entente,
sondem die angeklagten Mörder, Banditen und Epauletten-Übermenschen sind.
Schon diese ersten Fünfundvierzig bieten dem Leipziger Reichsgericht Gelegenheit
ın Fülle, seinen guten Willen zu beweisen.
und das Leipziger Reichsgericht 563
l. Patzig (Hel mul), Oberleutnant zur See, Kommandant des Untersee-
»ootea U 86. Angriff und Torpedierung folgender Schiffe mit unerhörter
Brutalität und Unmenschlichkeit ohne vorherige Benachrichtigung:
Das norwegische Schiff Eglantine (20. Juni 1819) (20 Minuten langes
Bombardement).
Das englische Lazarettschiff Llandovery Castle (27. Juni 1918).
2. Neumann (Karl), Oberleutnant zur See, Kommandant des Untersce-
bootes UC 67. Angriff und Torpedierung des englischen Lazarettschiffes
Dover Castle (26. Mai 1917) mit unerhorter Brutalität und Unmenschlich-
keit ohne vorherige Benachrichtigung.
3. Werner (Wilhelm), Kapıtänleutnant!, Kommandant des Unterseebootes
U 55. Angriff und Torpedierung folgender Schiffe mit unerhörter Brutalitat
und Unmenschlichkeit ohne vorhenge Benachrichtigung:
Das englische Schiff Clearfield (Oktober 19i6).
Das englische Schilf Artist (27 Januar 1917).
Das englische Fischerboot Trevone (31. Januar 1917).
Das englische Schiff Torrington (8. Apru 1917), (während die Rettungs-
boote eines anderen torpedierten Schiffes zur Hilfe kamen).
Das englische Lazarettschiff Rewa (4. Januar 1918).
Das englische Lazaretischilff Guildford Castle (19. März 1918).
4. Mille, Hauptmann, Landsturm 5/1 Gelsenkirchen, Kommandeur des
Lagers Flavy-le. Martel (Weihnechten 1917 bis November 1918). Er ist
neben anderen Personen verantwortlich dafür, daß die Gefangenen an der
Westfront zurückgehalten und hinter der Front, zuweilen sogar in der
Feuerlinie, zur Arbeit gezwungen wurden. Sie waren den schlimmsten
Crausamkeiten ausgesetzt, an denen einige von ihnen starben.
Die Gefangenen wurden zu Arbeiten gezwungen, die zur militärischen
Unterstützung der Deutschen dienten. Sie mußten bis zur völligen Er-
schöpfung arbeiten. Wohnung. Cesundheitspflege und Nahrung waren un-
genügend und unsauber. Die Gefangenen wurden mit der Faust und mit
dem Bajonett geschlagen und mit Fußtritten traktiert. Wenn zie nicht
mehr imstande waren zu arbeiten, wurden sie in deutsche Lager gebracht
oder sie starben an den Folgen der Mißhandlungen, die sie erlitten hatten
5, Heinze (oder Heimann), Unteroffizier. Er hat die Gefangenen des
Lagers Herne im Jahre 1916 mißhandelt (Zeche Friedrich der Große,
K 3/2 A. K. Distrikt VII). Er ermutigte die Wachposten und Zavilarbeiter
zu Grausamkeiten. Übermäßige Arbeit. bis zu sechzehn Stunden täglich.
Die Kranken, die zu schwach zur Arbeit waren, schlug er oder lied sie
schlagen.
6. Triak, Unteroffizier. Er hat im Jahre 1918 die Gefangenen des Lagers
Pommersdorf mißhandelt (Fabrik chemischer Produkte, A. K. Distrikt II.)
Brutalitäten aller Art; ungenügende Nahrung.
7. Neumann, Soldat. Dasselbe.
8. Stenger, General, Kommandeur der 58. Brigade (112. und 142. Inf.-Reg.)
XIV. A. K. Zwei Befehle vom 26. August 1914, die Gefangenen nieder-
zumachen und die Verwundeten zu töten.
a) „Von heute ab werden keine Gelangenen mehr gemacht. Alle Ge-
fangenen. cb verwundet oder nicht, sind zu erschießen."
b) „Alle Getangenen sind zu töten: ebenso bewaffnete
und unbewaffnete Verwundete und diejenigen, die in großen ge-
schlossenen Einheiten gefangen genommen werden.. Hinter uns darf kein
lebender Feind zurückbleiben.“
9. Lesl, Leutnant, des 112. Inf.-Reg. „Der Kapitän Migat, der verwundet
war und um den Hals einen blutigen Verband trug, wurde in der Gegend `
564 Das Anklagematerial der Entente
des Bahnhofs Hesse von einer Abteilung des 3. Bataillons des 112. Re-
giments, das der Leutnant Laule kommandierte, gefangen genommen.
Man zwang den Kapıtän, an der Spitze des Haufens zu marschieren
und er wurde durch Schüsse ın den Rücken getötet.”
107 Schroeder, Hauptmann des 112. Int.-Reg. „Der Befehl Stengers, keine
Gefangenen zu machen und die Verwundeten mit dem Bajonett uder mit
dem Gewehr zu töten, wurde uns von Hauptmann Schroeder überbracht.”
Il. Miller, Kommandant des 112. Inf.-Reg. und
12. Curia oder Crusiu, Hauptmann des 112. Inf.-Reg. „, Sogleich nach der
Mitteilung, die durch den Kommandanten Müller und durch den Haupt-
mann Curtius — beide vom 112. Inf.-Reg. — gemacht wurde, wurden
mehrere französische Verwundete durch Gewehrschüsse getötet.
13. Mayer aus Badenweiler, Hauptmann des 112. Inf.-Reg. . Ende August
1914 gab uns der Hauptmann Mayer aus Badenweiler eines Morgens den
Befehl, der von der Brigade ausging, keine Gelahgenen mehr zu machen
und die Verwundeten zu töten. Er befahl sogar einem von uns, sich hın-
zulegen, um einen verwundeten Feind darzustellen und zeigte uns, wie
man es machen müsse, um ihn mit dem Bajonett zu töten.“
(Zeugenaussagen von deutschen Kriegsgefangenen).
14. Oven (van), General, ehemaliger Gouverneur von Metz. Verbrechen von
Nomeny, Jarny, Jaulny und von Saint-Julien-de-Metz (Meurthe-et-Moselle)
Hinrichtungen von Zivilisten, Brandstiftungen, Plünderungen.
„Das Dort Jarny wurde mit Fackeln und Petroleum niedergebrannt.
Die Deutschen plünderten die Wohnhäuser und die Kirche. Ungefähr
dreißig Zivilisten wurden erschossen, unter ihnen zahlreiche Italiener, der
Bürgermeister und der Pfarrer.
Die Bewohner, die aus ihren brennenden Häusern flüchteten, wurden
verfolgt und erschossen.
Der kleine füntjährıge Berard wurde in den Armen
seiner Mutter getötet. Die Soldaten entrissen ıhr die Leiche
und warfen sie auf die Straße.
M. Perignon, seine Frau und sein sechszehnjähriger Sohn wurden hin-
gerichtet. Der Forsthüter Plessis wurde an einen Baum gebunden und in
Gegenwart seiner Frau erschossen.
M. Aufiero erlitt dasselbe Schicksal.
Ein deutscher Offizier sagte zu der anwesenden Frau des Unglück-
lichen: ‚Sieh, wie man deinen Mann erschießt!"
-Am 20. August 1914 marschierten die Bayern in Jarny ein. Sie waren
in Hose und Hemd. Sie drangen in die Häuser ein, vergewaltigten die
Frauen und die Mädchen und milshandelten diejenigen die Widerstand
leisteten. Ich sah ein vierzehnjähriges Mädchen, dem die Hände an den
Tisch festgebunden waren. Ein Bayer vergewaltigte sie, indem er sie von
hinten anfıel. Ich sah weiter eine Frau, deren linke Brust vollkommen
abgeschnitten war. Dann sah ich noch eine Frau, der man die Beine
spreizte. Diese Frau war schwanger. Ein Soldat hielt eine brennende
Kerze in der Hand und ließ das geschmolzene Wachs auf den Geschlechts-
teil der Ungluücklichen tropfen.
(Aus der Aussage eines Deutschen.)
„In Saint-Julien- de-Metz drang die deutsche Polizei nach Verhängung
des Belagerungszustandes in das Haus von M. Labrosse ein, dessen fran-
zosenfreundliche Gesinnung man kannte, dem es aber selbst gelungen war,
‚zu enttliehen. Die Deutschen ergriffen die Schwestern von M. Labrosse,
warfen sie ins Gefängnis und drohten ıhnen mit der Erschießung. Zwei
Tage lang plünderten sie das Haus planmäßig aus und zerschlugen mit
der Axt alles, was man nicht mitnehmen konnte. Schließlich kam auf
und das Leipziger Reichsgericht 565
Befehl des Gouverneurs von Metz eine Kompagnie und sprengte das Haus
in die Luft. Es wurde vom Keller bis zum Giebel zerstört.“ (August 1914).
15. Kaysır (vanu), Major des 65. Inf.-Reg. Er soll früher dem 28. Inf.-Reg.
in Koblenz angehört haben. Verbrechen von Pabny-sur-Moselle. Er-
mordung von 18 Personen in Jarny-Conflans, unter ihnen der Pfarrer,
der Bürgermeister, dessen Sohn und ein Lehrer. Ermordung eines Arztes
bei Pont-à-Mousson, nachdem man ihm sein Automobil abgenommen
hatte. August 1914.
16. Micheleohn (Oskar),. Arzt. Direktor des Lazarett der VII. Armee in Effry,
dann in Trelon und in Dizy-le-Gros (Aisne). Er wird beschuldigt, durch
verbrecherische Handlungen den Tod vieler Kranker’ herbeigefuhrt
zu haben. Unterschlagung von 5 Gewalttaten.
Ausführungen des Doktor P. l
Der Doktor Michelsohn, ein offensichtlicher Leuteschinder, hat die
allgemeine ärztliche Ehre und alle Gesetze der Menschlichkeit verlctzt.
Anstatt sich zu bemühen, zu heilen und die Lage der Kranken seines
Lazaretts zu verbessern, hat er wissentlich, absıchtlich und plan-
mäßig den Tod der Kranken herbeigeführt:
J. Indem er sie in unbewohnbaren Häusern unterbrachte.
2. Indem er ihnen nicht die Pflege zukommen ließ, die sie zu
beanspruchen hatten.
3. Indem er mich hinderte, sie zu pflegen.
4. Indem er das notwendige Material zur Pflege verweigerte.
5. Indem er ihnen mangelhafte, ungenügende und sogar für sie
gefährliche Nahrung geben ließ. Von den 700 Toten, die in
Effry zurückgelassen wurden, hätten wenigstens 650
gerettet werden können wenn Doktor Michelsohn es
gewollt hätte
Ich füge hinzu, daß Doktor Michelsohn sich folgender Verbrechen
schuldig gemacht hat:
l. Er hat die Kranken brutalisiertt und sie brutalisieren lassen
2. Er hat sie der Lebensmittel beraubt, einerseits direkt persön-
lich, andererseits durch Befehle und Anweisungen, die er seinen Unter-
gebenen gab.
3. Er hat Fehlgeburten herbeigeführt, die den Tod der Frau zur
ro hatten und zur Tötung des Fötus beitrugen.
Er unterschlug für seinen eigenen Gebrauch die Lebensmittel,
die 55 die Kranken bestimmt waren. (1917.)
17. Kruia, Kommandant des Lagers Kassel und
18. Yack, General-Gouverneur von Kassel. Sie haben Maßnahmen ge
troffen, die zur Ausbreitung einer Typhusepidemie führten.
Während der Typhusepidemie ım Jahre 1915 erklärte General Kruska:
„Ich führe Krieg auf meine Art“. Er traf alle Maßnahmen, die notwendig
waren um die Epidemie so weit als nur möglich auszubreiten.
Mehr als 2000 Gefangene starben.
Alle hygienischen Maßnahmen wurden absichtlich vernachläßigt.
Die infizierten Russen wurden unter die anderen Cetangenen ge-
mischt.
Desinfektion wurde unterlassen.
Die Kranken blieben ohne Pflege in den ungeheizten Baracken ihrer
Kameraden.
Es gab Fälle von Wahnsinn und Selbstmord unter den fürchterlichsten
Verhältnissen. (1915 Lager Kassel.)
19. Arnauld de In Perriere, Leutnant, Kommandant des Unterseebootes U 35.
Grausamkeiten bei der Torpedierung der Schiffe: Siena (4. August 1916),
566 Das Anklagematerial der Entente und das Reichsgericht
20.
21.
22.
23.
24.
24a.
34.
35.
37.
39.
Doris und Lilla (13. Oktober 1917). Torpedierung der Schiffe: Citta die
Messina, Teti, Emilio G., Generale Ameglıo, usw.
Schall, General, Kommandant des Lagers Langensalza. Herrschaft uner-
hörtester Grausamkeit während |% Monaten.
Koch (Joseph), Hauptmann der 8. Kompagnie Langensalza. Verantwort-
lich fur die Ermordung der Kriegsgefangenen in Langensalza (27. No-
vember 1918).
Krause, Unteroffizier, Lager Langensalza. Teilnahme an der Ermordung
der Kriegsgefangenen in Langensalza (27. Noveinber 1913).
Carmer, Kommandant, Etappenkommandantur 107, S. Daniele del Friuli.
Willkürliche Requisitionen, schlechte Behandlung der Zivilisten, syste-
matische Plünderungen.
Bülow fran), Kommandierender General der II. Armee (1914).
Plünderungen und Ermordungen in den Ardennen und in Seilles (August
1914), Räubereien in Jodoigne (August 1914).
Below (von), Kommandierender General der 5. Brigade, 3. Inf.-
Div. der kaiserlichen Garde. Grausamkeiten in den Ardennen und in
Namur (August 1914).
. Langermann (Freiherr ron), Generalmajor, Kommandeur der Brigade
des I. und 2. Int.-Reg. Crausamkeiten in den Ardennen (August 1914).
. Ernst von Sachsen (Prinz), Grausamkeiten in den Ardennen und in Namur
(August 1914).
. Jung, Major. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914).
. Wabnitz, Hauptmann. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914).
Slein metz, Leutnant der 3. Komp. 28. Pionierbat. Grausamkeiten in den
Ardennen (August 1914).
. Bronsart von Srhellendorf, Major des Carde-Schütz-Bat., Garnison in Groß-
lichterfelde. Crausemkeiten in den Ardennen (August 1914).
. Brunon (oder Bunau) Oberlt., 1. Carde-Bat. Lr mor du ng von 30
Zivilisten in den Ardennen (August 1914).
. Ramdohr (Max) Agent der geheimen Polizei in Grammont, Leipzig»
Kleinbahnstr. Mıißhandlung gefangenen Kinder in Grammont (Dezember
1917).
. Zahn (Ernst) Agent der geheimen Polizei in Grammont. Er wohnte Breite
straße oder Kasser-Josephstraße in Leipzig. Schlechte Behandlung der
Gefangenen in Crommont. |
Danzig (oder Denzin oder Dentz:in), Feldwebel oder Leutnant. Komman-
dant des Lagers Sedan (France). Planmäßige schlechte Behandlung der
Gefangenen und Deportierten.
Engel, Leutnant, Kommandınt des Lagers Sedan. Planmäßige Gewalt-
taten und Grausamkeiten gegen die Deportierten.
Holz, Sergeant, Stellvertreter des Lt. oder Feldwebels Dentzin im Gefängnis
des Lagers Sedan. Auch als Sergenant des Strafgefängnisses A. B. n 2.
bekannt. Mißhandlung der Deportierten und der Gefangenen in der
Festung Sedan.
Albrecht, Gefreiter im Lager der Deportierten in Sedan. Mißhandlung
der Deportierten im Lager Sedan.
Bigodsky, Offizier im Lager Sedan. Ermordung eines Gefangenen.
Preutier, Major Kommandant des II. Bat. des 155. Reg. Ermordungen,
Plünderungen, Brandstiftungen (Kalısz 1914).
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566 Das Anklagematerial der Entente und das Reichsgericht
20.
21.
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23.
24.
24a.
34.
35.
37.
39.
Doris und Lilla (13. Oktober 1917). Torpedierung der Schiffe: Citta die
Messina, Teti, Emilio C., Generale Ameglıo, usw.
Scha /s, General, Kommandant des Lagers Langensalza. Herrschaft uner-
hörtester Grausamkeit während 1½ Monaten.
Koch (Joseph), Hauptmann der 8. Kompagnıe e Verantwort-
lich für die Ermordung der Kriegsgefangenen in Langensalza (27. No-
vember 1918).
Krause, Unteroffizier, Lager Langensalza. Teilnahme an der Ermordung
der Kriegsgefangenen in Langensalza (27. November 19139).
Carmer, Kommandant, Etappenkommandantur 107, S. Daniele del Friuli.
Willkürliche Requisitionen, schlechte Behandlung der Zivilisten, syste-
matische Plünderungen.
Bülow (ron), Kommandierender General der II. Armee (1914).
Plünderungen und Ermordungen in den Ardennen und in Seilles (August
1914), Räubereien in Jodoigne (August 1914).
Below (von), Kommandierender General der 5. Brigade, 3. Inf.-
Div. der kaiserlichen Garde. Grausamkeiten in den Ardennen und in
Namur (August 1914). |
Langermann (Freiherr von), Generalmajor, Kommandeur der Brigade
des J. und 2. Inf.-Reg. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914).
Ernst von Sachsen (Prinz), Grausamkeiten in den Ardennen und in Namur
(August 1914).
. Jung, Major. Crausamkeiten in den Ardennen (August 1914).
. Wabnilz, Hauptmann. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914).
. Steinmels, Leutnant der 3. Komp. 28. Pionierbat. Grausamkeiten in den
Ardennen (August 1914).
Bronsart von Schellendorf, Major des Garde-Schütz-Bat.. Garnison in Groß-
lıchterlelde.e. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914).
. Brunns (oder Bunau) Oberlt., l. Carde-Bat. Ermordu ng von 30
Zivilisten in den Ardennen (August 1914).
. Ramdohr (Max) Agent der geheimen Polizei in Grammont, Leipzig»
Kleinbahnstr. Mißhandlung gefangenen Kinder in Grammont (Dezember
1917).
. Zahn (Ernst) Agent der geheimen Polizei in Grammont. Er wohnte Breite-
straße oder Kaiser-Josephstraße in Leipzig. Schlechte Behandlung der
Gefangenen ın Grommont.
Danzig (oder Denzin oder Dentzin), Feldwebel oder Leutnant, Komman-
dant des Lagers Sedan (France). Planmäßige schlechte Behandlung der
Gefangenen und Deportierten.
Engel, Leutnant, Kommandınt des Lagers Sedan. Planmäßige Gewalt-
taten und Grausamkeiten gegen die Deportierten.
Holz, Sergeant, Stellvertreter des Lt. oder Feldwebels Dentzin ım Gefängnis
des Lagers Sedan. Auch als Sergenant des Strafgefängnisses A. B. n 2.
bekannt. Mißhandlung der Deportierten und der Gefangenen in der
Festung Sedan.
Albrecht, Gefreiter im Lager der Deportierten in Sedan. Mißhandlung
der Deportierten im Lager Sedan.
Bigodsky, Offizier im Lager Sedan. Ermordung eines Gefangenen.
Preusker, Major Kommandant des II. Bat. des 155. Reg. Ermordungen,
Plünderungen, Brandstiftungen (Kalısz 1914).
J. P. Marat: Von der Notwendigkeit. den Volksgeist 567
40. Kirchbach (von), General. Ermordungen. Plünderungen. Brandschatzungen
(Kalisz 1914).
41. Seydlitz (von), Oberst. Brandstiftungen, Plünderungen und Freiheitsbe-
raubungen (Gebiet von Kalısz).
42. Hauff. Kommandant der 26. württembergischen kanau Oion, Durch
seine Befehle sind 35 rumänische Gefangene, die man auf dem Friedhof
in Esisheim bei Muhlhausen begrub, an Hunger, Kälte und den Folgen
der schlechten Behandlung gestorben.
Die Anzeige wurde der rumänischen Regierung durch die Bürgermeister
von Esısheem und Mühlhausen gemacht.
43. Limburg, Major, Kommandant des Gefangenenlagers von Breesen (Mecklen-
burg). Schlechte Behandlungen und Mißhandlung der gefangenen rumä-
nischen Otfiziere. Verschiedene Zeugenaussagen.
44. Noering, Leutnant, Adjudant des Kommandanten des Gefangenenlagers
Breesen (Mecklenburg). Schlechte Behandlung der Gefangenen, Mißhand-
lung der rumänischen Offiziere durch Schläge. Verschiedene Aussagen
von Offizieren.
45. Ronder, Chef der deutschen Militärpolizei in Rajanj (Serbien). Er ist schuldig
des Mordes an Milena Lioubissavlievitsch in der Umgegend von Rajanj.
VON DER NOTWENDIGKEIT, DEN
VOLKSGEIST ZU BILDEN, UM DIE
FREIHEIT ZU SICHERN
VON J. P. MARAT
(8. November 1790)
Es gibt einen grundlegenden Satz, von dem jeder Ver-
teidiger der Nation ausgehen mul und der es ihm verwehren
mul. je am Gemeinwesen zu verzweifeln, der lautet: daß
das Volk als Ganzes sich nıemals verkauft, so verderbt auch
die Nation sein mag: denn wer könnte es kaufen oder
auch nur daran gehen wollen? da man sıch nur bemüht,
es an die Kefe zu legen. um es auszuplündern und als
Spielball zu benutzen ? Auf diesen unerschüfterlichen Grund-
satz hat sich der Volksfreund vom Anfang der Revolution
an gestützt, und dieser ewig wahre Grundsatz hat ihn
dazu gebracht, beim Anblick der unbesieglichen Hindernisse,
die sich der Begründung des Reichs der Gerechtigkeit und
568 J. P. Marat: Von der Notwendigkeit
Freiheit entgegenzustellen schienen, beim Anblick der vielen
Laster einer Nation, die eben die Ketten losgeworden.
war, beim Anblick ihrer blöden Achtung vor ihren alten
Herren. beim Anblick ihrer wütenden Erpichtheit auf
die Standesunterschiede, die sie so weit von der glück-
lichen Gleichheit, der Grundlage jeder freien Regierung,
entfernen muĝ, beim Anblick der krassen Unwissenheit.
die ihr nicht gestattet. die plumpsten Schlingen. die man
ihr legt. zu entdecken, beim Anblick dieser Haufen von
Höflingssklaven, dieser wimmelnden Legionen von Königs-
trabanten, dieser Horden von Helfershelfern des alten
Regiments, dieser Spitzbubenbanden, die am Weiter-
bestehen der Milbräuche, von denen sie leben. interessiert
sind, dieser Schwärme verzagter Bürger. die die Freiheit
von sich stoßen, weil sie bange sind. die Erschütterungen.
die mit ihrem Sieg verbunden sein müssen, könnten ihr
Behagen stören, bei all diesem furchtbaren Anblick nicht
zu verzweifeln. Da indessen diese Haufen, diese Horden,
diese Banden, diese Schwärme von Feinden der Revolution
immer nur ein ganz geringer Teil des Volkes sind, reißt
es sıe, sowie es in Massen aufschäumt, wie ein Strom
mit sich fort, oder vielmehr, es fegt wie ein brausender
Sturm über sie dahin und sprengt sie auseinander.
Damit das Volk in den Genul seiner Rechte kommen
wolle. muß es sie kennen: es gilt also, es zu unterrichten:
damit es nicht in den Schlingen, die man ihm legt, ge-
fangen werde, muß es sie bemerken: es gilt also, es
aufzuklären. Es folgt daraus, daß dem Volk kein größeres
Unheil zustoßen könnte, als wenn es sich blind auf
seine Führer verliele und im Arm der Feinde ein-
schliefe, die es in den Abgrund reißen wollen. Es
ımmer ın Bewegung halten, dafür sorgen. daß alle Köpfe
immer in Gärung sind. bis die Regierung auf wahrhaft
gerechte Gesetze gegründet ist, das also ist das große
den Volksgeist zu bilden 569
Ziel, das alle seine Fürsprecher sich vornehmen müssen.“)
So ist die Freiheit der Presse der große Hebel. das
einzige Bollwerk der bürgerlichen und politischen Freiheit.
Dem Licht der Philosophie verdanken wir die Revolution;
der hellen Einsicht der patriotischen Schriftsteller werden
wir ihren Sieg verdanken. Solange die Freiheit der Presse
unangetastet ist, sind wir des Siegs gewil. Sie uns nehmen
zu wollen. wäre der ruchloseste aller Anschläge. Wenn
also die Nationalversammlung sich soweit vergäße, daß sie
den Versuch machte, diese Freiheit anzutasten, dürfte man
keinen Augenblick schwanken, sich gegen sie zu erheben
und sie für ihren Verrat zu züchtigen; aber mit welcher
Stirn könnte sie wagen, die Preſifreiheit einzuschränken. wo
sie täglich zuläft, dał ihre verderbten Mitglieder in ihrem
Schol die Gegenrevolution, die Empörung gegen die Erklärung der
Menschenrechte, und die Wiedereinführung der Sklaverei predigen?
Wenn ein Volk eben seine Keften zerbrochen hat
ist es darum nicht frei; der Despotismus ist wohl ver-
nichtet. aber der Despot ist noch da: es ist aber sehr
selten, um nicht zu sagen unerhört, dal er nicht an
der Spitze des Staates bleibt und daß seine Helfershelfer
nicht große Vorteile behalten. So setzt sich denn das
neue Regiment fast ausschließlich aus den Mitgliedern
des alten zusammen, sodal, wenn die Regierung einen
) Anmerkung Marats: Dies ist, nebenbei gesagt, ein kleiner Wink
für die chrenwerten Schriftsteller. die zu wenig in der Politik bewandert sind,
als daß sie die Fallstricke des Kabinetts entwirren könnten. Die meisten beeifern
sich täppisch. ihm in all seinen Plänen beizustehen. indem sie bald einen Aufstand
und bald die Rückkehr der Ruhe ankündigen. Das größte Unglück, das uns
treffen könnte, wäre, was die Minister die Wiederherstellung der Ruhe in Armee
und Flotte nennen: Frankreich wärs seit langem wahrhaftig ruhig. wenn der
Geist aller Soldaten und Schiffsmannschaften so gesteigert wäre, daß die Offiziere
fürchten müßten. in Stücke gerissen zu werden. wenn sie es unternähmen. sich
auf Machenschaften für die Wiederherstellung des Despotismus einzulassen oder
die Befehle der Willkür auszuführen. Tatsache ist, daß alle Unruhen ın Armee
und Flotte das Werk des Kabinetts waren.
570 J. P. Marat: Von der Notwendigkeit
umfassenden Umsturz erleidet und das Volk Vertreter
bekommt, der Fürst, der auf nichts andres sinnt als
die absolute Macht wieder zu erlangen, bald daran arbeitet
sie zu korrumpieren, worin er nur zu oft Erfolg hat.
Das Volk ist ein schlechter Kenner der Dinge: es
sieht sie selten, wie sie sind, noch seltener umfaßt es sie
in ihrer Gesamtheit und fast nie zieht es die Folgen der
Ereignisse in Betracht: das kommt daher, daß es ihm
an Aufklärung fehlt. Sowie es irgend einen Vorteil er-
langt, irgend einen Sıeg davonträgt, überschätzt es seine
Kräfte, sieht die Hindernisse nicht mehr. besingt seinen
Triumph, wiegt sich ın trügerischen Illusionen; und das
kann nicht anders sein, da der Dünkel das Kind der
Eigenliebe und der Unwissenheit ist. Damit das Volk
nicht wieder unters Joch komme, ist nötig, daß es immer
auf der Hut vor seinen Führern und immer imstande
sei, sie nach ihren Werken zu beurteilen. Aber die
Freiheit ist erst dann völlig gesichert, wenn der öffentliche
` Geist gebildet ist: d. h. wenn das Volk seine Rechte und
seine Pflichten kennt, wenn es seinen Begriff von den
Menschen und den Leidenschaften hat, die sie antreiben
wenn es die rechte Auffassung über die Agenten der
Autorität hat, wenn es ihre Pläne durchschaut und die
Schlingen wahrnimmt, die sie ihm legen: die Nation dahın
zu bringen, muß die Aufgabe der Publizisten sein.
Das Volk lernt nur durch sein Unglück, und immer
bewegt es sich in Extremen. Mißftraut es den Ministern,
so verläßt es sich blind auf seine Vertreter und hebt
sie wie Göfter zu den Wolken: aber gerade diese
knechtische Hingebung ist die ergiebige Quelle ihrer An-
schläge: sie müßten ziftern, wenn das Volk sie mit arg-
wöhnischen Augen überwachen wollte: sie wagen alles gegen
es, wenn sie sehen, wie es ihnen in dumpfer Ergebenheit
Weihrauch streut. Ich habe fürwahr das Unmögliche
den Volksgeist zu bılden 12115771
getan. damit es von Anfang an den richtigen Begriff
von seinen unwürdigen Vertretern in der Nationalver-
sammlung bekäme: und durch das Predigen und das Auf-
decken ihrer schwarzen Pläne, ihrer Perfidieen. ihrer
Verrätereien hat es endlich die Augen geöffnet: die
fromme Verehrung, die es ihnen weihte. hat sich in
Verachtung gewandelt. und es wird nicht an mir liegen.
wenn sie mit Schimpf und Schande bedeckt nach Hause
gehen. Es ist also geboten, dem Volk die großen Wahr-
heiten in den Geist zu prägen: einzig diejenigen Ver-
treter des Volkes, die ihren Ruhm darin suchen, es
glücklich zu machen. können ihm treu sein. und ihre
Zahl ist sehr klein: die andern aber treiben mit seinen
Rechten und Interessen Handel, sowie sie es ungestraft
können: daraus folgt. daß es unausgesetzt die Augen
offen haben und sie wie Schelme beobachten muß, daß
es ihnen nie schmeicheln darf und das Ende ihrer
Tätigkeit abwarten mul. ehe es über sie ein Urteil fällt
und ihnen den rechten Lohn der Achtung oder Gering-
schätzung spendet, den sie verdient haben.
Wenn der öffentliche Geist sich gebildet hat, wird
das Volk merken, daß sein Glück von der Wahl seiner
Vertreter abhängt, und es wird mit Abscheu all die
Gerichts- und Polizeibeamten, all die Sachwalter. Kom-
missäre, Advokaten. Akademiker. Talarträger. Finanzer.
Exadligen und Hoöflinge. mit einem Wort. all die Helfers-
helfer des alten Regiments von den Wahlen ausschlielen
und wird seine Wahl nur auf aufgeklärte und redliche Bürger
fallen lassen: es wird die lasterhaften Gesetze, die die Freiheit
bedrohen. widerrufen und an ihre Stelle weise setzen. die
die Freiheit vor den Anschlägen der Bedienten der Gewalt
sichern, und es wird sich konstitutionelle Miftel verschaffen,
um solche, die ihre Pflichten nicht redlich erfüllen, abzuberufen.
und solche zu strafen, die Untreue begangen haben.
7
0 PRERE REEERE —ũ— . ——— — EEA EE NE ze menge Eee
Nur durch Schlechtigkeiten gelangen die Bedienten
der Gewalt dazu, das Volk zum Aufruhr zu bringen, es
die Notwendigkeit fühlen zu lassen, ihnen die Möglichkeit
zu nehmen, es zu schädigen. Dank dem Geist der Ver-
blendung und des Wahnwitzes, der im Kabine herrscht
neigt eich der Despotismus zu seinem Ende. Man möchte
meinen, die Minister häfen den hirnverbrannten Plan
gefaßt. in eigener Person den Thron zu stürzen: sie
lassen schlechte Dekrete beschließen: sie widersetzen
sich den guten oder verzögern ihre Sanktion: sie ver-
schleudern die öffentlichen Gelder: sie fahren fort, das
Korn und das Geld aufzukaufen, das Volk auszuhungern
und ins Elend zu bringen. Verhaftbriefe zu erlassen
die Provinzen zur Erhebung, die Truppen zur Empörung:
die unterdrückte Menge zum Aufstand zu bringen:
ihre schwarzen Anschläge, ihre Zefelungen, ihre Ver-
schwörungen. ihre Verrätereien nehmen kein Ende: sie
umgehen die Gesetze. setzen sich über die Verfassung
weg und scheinen fürwahr der Nation zu trotzen. Um
so besser. sie setzen ihren Freveln vollends die Spitze
auf: bald wird die Nation die Augen öffnen und wird
in der Gewißfheit, daß es unmöglich ist, di: Lakaien des
Fürsten zu bessern, endlich den weisen Entschluß fassen,
sie zu vernichten. Ah! wozu dient heute der Fürst
anders, als sich der Gesundung des Reiches und dem
Glück seiner Einwohner in den Weg zu stellen? Für
den Vorurteilslosen ist der König der Franzosen weniger
als das fünfte Rad an einem Wagen, weil er nichts
anderes kann, als den Gang der politischen Maschine durch-
einander bringen. Möchten alle patriotischen Schriftsteller
daran gehen, der Nation zum Bewußtsein zu bringen, dal
es das beste Mittel ist. ihre Ruhe, ihre Freiheit und ihr
Glück zu sichern, Wenn sie ohne die Krone fertig wird. —
Werden wir denn nie aufhören, alte Kinder zu sein?
Hans Paasche: Protest eines Menschen 573
PROTEST EINES MENSCHEN
VON HANS PAASCHE
Aufgewachsen in einer Welt, gegen die leidenschaft-
lich zu protestieren er, ein Erkennender. sich verpflichtet
fühlte. wurde er um seines Protestes willen ermordet.
In Hans Paasche hat die Reaktion einen der besten und
ehrlichsten Männer Deutschlands getroffen. Diese Zeilen,
geschrieben eret vor wenigen Monaten. sind ein Aufschrei
des Entsetzens und des Nichtverstehens. Nun ist denselben
Mächten der Mordseligkeit und des indifferenten Oppor-
tunismue, die ihn entsetzten und die er nicht verstehen
konnte, er selbst zum Opf r gefallen. Das ist die tiefe
Tragik dieses Lebens und eines Todes. der — wer
zweifelt auch nur eine Stunde — wiederum keine Ver-
geltung finden wird.
Diese meine Worte des Protestes sollen hinausgehen
aus den Grenzen Deutschlands zu Menschen aller Völker.
Wo immer denkende, fühlende Menschen jetzt leben. sollen
sie aufhorchen und emen Schimmer von Hoffnung in
ihren Herzen spüren, dal die edlen Kräfte der Mensch-
heit doch nicht zuschanden werden. Die Sprache eines
großen Volkes kann nıcht nur der Lüge, dem Haß und
der Unterdrückung dienen, sie kann nicht nur von Feig-
lingen und Bequemen benutzt werden; mit ihr, mit ihren
kostbaren Worten mul protestiert werden gegen die finsteren
Mächte, die das deutsche Volk regieren. Wir sind am
Ende. — Das Leben ist nicht mehr wert. gemeinsam mit
anderen gelebt zu werden wenn Recht das ist, was
seit Monaten in Deutschland als Recht gesprochen wird
und wenn niemand. der irgendwie dazu berufen ist. wagt,
dagegen Einspruch zu erheben. Die deutschen Rechtsge-
lehrten protestieren nicht. Vor aller Welt und für alle
Zeit ist es nun erwiesen, daß Gelehrsamkeit allein den
574 on Hans Paasche
Menschen nichts geben kann, was das Dasein erleichtert,
es muß Mut und Verantwortung hinzukommen. Wenn es
auf deutschen Universitäten Rechtsgelehrte gäbe, die einen
Anspruch darauf machten, den hohen Gedanken des Rechts
zu hüten, sie häfen protestiert gegen die amtliche Ver-
höhnung des Rechts. wie sie von allen Stellen. von
Ministern. Offizieren. Staatsanwälten und Richtern seit
Monaten ungestraft betrieben wird. Man kann sich unter
Mord. Betrug. Fälschung. Meineid. Diebstahl. Bestechlich-
keit nichts Schlechtes mehr vorstellen. seitdem diese
Dinge von amtlichen Personen. von Ministern. Offizieren.
Parteiorganen und Staatsanwälten begangen werden. ohne
daß irgend einer dieser Mächtigen bestraft wird. Wenn
also unter all den Männern und Frauen der Wissenschaft
sich keine Gruppe findet. die die Ehre der deutschen
Wissenschaft wahrt und gegen die Macht im eigenen
Lande protestiert. so übernehme irgend ein Einzelner diesen
Protest. Mit seinem Gefühl für die Heiligkeit vorurteils-
losen und rücksichtslosen Denkens muß er wohl dazu be-
rufen sein, die deutsche Wissenschaft vor der Menschheit
zu vertreten, |
Und er spreche aus, was Millionen heute empfinden:
Wenn die Männer, die den Krieg verantwortet, die ihn
herbeigeführt. geführt. verlängert haben. wenn ferner im
besonderen Fall die Verantwortlichen für die grauen-
haften Verbrechen der Berliner Märztage nicht in Ge-
fängnisse gesperrt werden, dann ist es Zeit. mit der
Institution der Gelängnisse und Zuchthäuser ganz Schluß
zu machen und den Begriff des Staatsrechts ganz abzu-
schaffen. Denn ım Vergleich mit den großen Verbrechern,
die das deutsche Volk verschont. ja. denen es huldigt.
sind die Elenden, die in Gefängnissen festgehalten werden.
unschuldig. Fast alle Häftlinge von heute sind Opfer des
Kriegsverbrechens -und der Rest sind Kranke. Das
Protest eines Menschen 575
Recht zu strafen und zu richten hat auf-
gehört.
Seit mehr als fünf Jahren wird der Mord als eine
gute Tat belohnt, wenn er auf Befehl begangen wird
an Menschen, die für Menschenrecht kämpfen, für den
Frieden und den Gedanken der Liebe. Seit dem November 1918
auch dann, wenn nur die Presse der besitzenden Klasse
auf einen Menschen zeigt: »Spartakist«. Jede feine Differen-
zierung des Urteils hat aufgehört in einem Volke. das
Zu- und Abneigung. lallend, verteilt nur auf zwei Begriffe:
Hindenburg und Spartakus. Für den ersten ist Lohn und
Ehre da. Für den zweiten Strafe und Schande. wie immer
auch die Taten des einen und des anderen beschaffen seien.
So will es das gestörte Rechtsgefühl des großen
deutschen Volkes.
Wo eind die Unbeirrten. die Unbestechlichen. deren
Schild noch blank ist in solcher Zeit und die das Gewissen
des deutschen Volkes sein können vor der Welt? Gibt
es ın Deutschland noch Einzelne, noch viele Einzelne, die
in dem siftlichen Sumpf, den die Kriegsverbrecher ge-
schaffen haben, aufrecht stehen können? Dann ergeht an
sie der Ruf. ebenso einzeln zu protestieren gegen die Schande
der heutigen J ustiz.
Die Prozesse. die vor aller Öffentlichkeit geiührt
werden, können nur den einen Sinn haben: jedem der
denken kann, zu zeigen, daß dort, wo Recht ge-
spro chen werden soll, heute nichts anders als das
größ te Unrecht hervorgebracht wird. Als Abschreckung
kann Strafe keinen Sınn mehr haben. seitdem vorsätzlicher
Mord ganz ungestraft bleibt und vollends Anstiſtung zum
Mord; zum vielfachen. wie im Falle Reinhard. zum viel-
tausendfachen. wie im Falle Helfferich und Gen. Als
Sühne ist Strafe undenkbar. weil die Prozesse zeigen.
daß es nicht möglich ist. ein Gericht zu bilden, das ein
576 Hans Paasche: Protest eines Menschen
gewissenhafter Mensch anerkennen könnte. Die einzig menschen-
mögliche Stellung zum »Verbrecher« hat Kurt Eisner
eingenommen, der, als ein Aftentat auf. ihn gemacht wurde,
in Bezug auf den Täter sagte: »Laft ihn laufen!. So
bin auch ich ja einverstanden, daß man die größten Ver-
brecher laufen läßt, dıe ganze Völker zerschlagen haben,
nur sollen dann nicht die kleinen, ganz kleinen Verbrecher
oder gar die Unschuldigen. die zu tausenden in Gefängnissen
leiden. anders behandelt werden. Solange die vor den Augen
Aller geführten Prozesse und Untersuchungen zeigen, dal
kein Mensch Richter oder Zeuge sein kann gegen einen
anderen, weil keiner frei ist von eigener Schuld, von dem
Vorurteil seiner Klasse, seiner Zeit, solange ist keine
Gewähr, daß in den vielen Gerichtsverhandlungen, ın denen
Menschen um Freiheit und Leben gebracht werden, ohne
daß sich. die Öffentlichkeit darum kümmert, unfehlbare
Richter, einwandfreie Zeugen wirken. Das Unrecht
aber, das im Namen des Gesetzes täglich begangen wird
in all den lebensfeindlichen. freudlosen Gerichtszimmern
Preußens, ıst um vieles gefährlicher als das ın Freiheit
begangene, weil es in völliger Sicherheit an Wehrlosen
geschieht, mit dem Bewußtsein der Selbstgerechtigkeit. der
sittlichen Empörung und des Hasses. ja mit dem Augen-
aufschlag zu Gott. Es verdirbt die Richter schon
durch die Atmosphäre von Feigheit. in der es entsteht
und durch den ständigen Anblick der bezahlten Existenzen.
die sich berufsmäßig an Menschenehre und -Freiheit ver-
greifen müssen.
Aus all dieser Erkenntnis heraus protestiere ich gegen
die Indolenz der Verantwortlichen Deutschlands, der Ge-
lehrten. der wegen ihres Studiums mit Autorität bedachten.
die sich jetzt zu keiner Tat aufraffen. Iæh protestiere
ferner dagegen. dal das Bestreben. Menschen der Strafe
zu entziehen, nur bei den Vertretern der Macht geduldet
Fidelis: Gustav Landauers Kulturprogramm 577
wird und nicht bei den Wehrlosen, Unterdrückten. Armen.
An rechter Stelle nehme ich den Ruf auf, der in
letzter Zeit so oft aus unberufenem Munde gehört wurde:
»Heraus mit den Gefangenen« — ım eigenen Lande!
Weg mit den Strafbegriffen des Mittelalters! Wie sie
auf die Besitzenden und Bevorrechteten nicht mehr an-
gewandt werden, so sollen sie auch das „gemeine Voll.
nicht mehr treffen. Glaubt man aber die Allgemeinheit
schützen zu müssen: Gemeingefährlich können nur
die Mächtigen sein. Die gilt es zu bewachen.
GUSTAV LANDAUERS KULTUR-
PROGRAMM
Herausgegeben von FIDELIS
November 1918. Die deutsche Front bricht zusammen.
Das deutsche Volk erhebt sich. Freiheitskrieg? Geistiges
Zentrum ıst Bayerns Hauptstadt. Kurt Eisner, eben
von den Massen aus dem Gefängnis geholt, leitet hier die
Bewegung, Eisner, der mehr als Politiker ist, der alles
verstehende. nach Schönheit strebende Künstler. Ihm zu
helfen, eilt Gustav Landauer aus Düsseldorf nach
München und schafft hier gemeinsam mit Eisner die
Grundlagen für eine neue Ordnung. Er hafte die Revo-
lution vorausgesehen, aber nicht geglaubt, daß sie so käme.
Wie man in Berlin Rosa Luxemburg und
Karl Liebknecht an der Teilnahme am Rätekongrel
hinderte. so suchte man auch in München dem - land-
fremden Gustav Landauer das Recht auf Mit-
578 - ia,
schaffung neuer Zustände zu wehren. Vergebens. Um
Landauer sammeln sich die, die auf kein Dogma schwören.
Eisners Ermordung ım Februar 1919. Gustav
Landauer sprach dem Freunde schmerzliche Abschieds-
worte. In dem Chaos, das jetzt in Bayern entstand, jetzt,
nachdem der von den Massen geliebte Führer, der Hasser
aller Gewaltmiſtel von der Kugel des Grafen Arco
getötet worden war, war Landauer prädestiniert zu
seinem Nachfolger.
Von Augsburg. hier zuerst klar geformt, drang der
Massenwille, eine Räterepublik zu schaffen, nach München.
Die beiden sozialdemokratischen Parteien traten dafür ein. Auch
Gustav Landauer. Vergebens warnte — ein lichter Prophet —
Leviné. warnten die Kommunisten. Am ersten Aprilmontag
morgens um 6 Uhr rief Landauer im Wiſtelsbacher Palast die
Räterepublik aus. Am letzten Tage derselben Woche noch
wurde sie gestürzt. Am gleichen Abend übernahmen die
Kommunisten auf Wunsch der revolutionären Arbeiterschaft
die Regierung. An der Spitze stand ein Viermänner-
kollegium. Führend war Levin é. Landauer hats
die Herrschaft des Geistes gekündet. J etzt wurde eine
rote Armee aufgestellt.
Gustav Landauer erklärte sich zur Mitarbeit
bereit. In dem Münchener Mitteilungsblatt vom 16. April
(dem amtlichen Organ der neuen Regierung. der einzigen
damals erscheinenden Zeitung) schrieb er:
„Durch das tatkräftıge Eingreifen des Proletariats
in München ist die Räterepublik vor dem frechen
Putschversuch der Gegenrevolution gerettet worden.
Die Umgestaltung. die sich anschloß, erkenne ich an
und begrüße ich. Der alte Zentralrat existiert nicht
mehr; dem Aktionsausschuſ stelle ich meine Kraft,
wo immer man mich brauchen kann, zur Verfügung.
Gustav Landauer.
Gustav Landauers Kulturprogramm 579
Aber zwischen Landauer und Leviné lag Un-
überbrückbares. Jeder verkörperte eine andere Welt:
Landauer. der gütige Weltverbesserer. der Prophet:
nach freiwilliger Hingabe rufend. Gemeinschaft des Geistes
fordernd. der Marx den Antimar x entgegensetzte ;
Levin é. der starre große Dogmatiker, der nach Marx-
schen ehernen, ökonomisch-materialistischen Thesen die For-
derungen der Zeit erfaßte und — wie die Zukunft zeigte
— richtig erkannte. Einig im Ziel. war gemeinsames
Wirken unmöglich. Jeder mußte seinen Weg des
Leidens gehen.
Von Februar an trat ich Landauer persönlich
nahe. Zur Zeit der Lein é schen Räterepublik suchte
ich zu vermitteln. ich, der Kommunist und Verehrer
Landauers. Erst nach heißem Bemühen erlangte ich die
Einwilligung, mit Landauer eın Programm für die Neu-
ordnung des Kulturwesens auszuarbeiten. Täglich berieten
wir zusammen. Über das Prinzipielle waren wir einig, in
den Einzelheiten gaben wir einander nach. Das von uns
aufgestellte Programm (Teil 1) legte ich Leviné vor.
Dazu gab ich Erläuterungen (wenig verändert in Teil 2),
wobei es dahingestellt bleiben muß, ob Landauer immer
mit meiner Auffassung einverstanden gewesen wäre. Leviné
lehnte das Programm ab, da es ihm zu sehr im ‚herge-
brachten, bürgerlichen zu haften schien, und nicht prinzipiell
neue Richtlinien gab. Ich habe in Teil 2 des öfteren auf
Sowjetrußland hingewiesen. um das unberechtigte dieser
Kritik zu zeigen. Mir scheint, die Gegensätzlichkeit der
Naturen Landauer und Leviné erklärt die Ablehnung
des Programmes, nicht sein Inhalt.
Es wurden also keine Schrite zur Realisierung des
Planes unternommen. Auch die politische Konstellation, die
brutale Gewalt von außen, häfte es gehindert. Wenn ich
580 Fidelis
unser Programm doch der Öffentlichkeit unterbreite, so
geschieht es nicht nur weil es Landauers letzte Arbeit
ist, sondern auch weil ihm ein historisches Interesse nicht
abgesprochen werden kann, und weil es auch heute noch
praktischen Wert hat, vielleicht nur zum Vergleich mit
dem, was im sozialistischen Deutschland geschieht.
Die Freunde Landauers werden hier das nötige über
die Presse vermissen, zumal er selbst die Presse als wichtig
ansah. Sie wurde zu jener Zeit vom Propagandabüro ver-
waltet und kam daher zunächst für eine Neuordnung nicht
in Frage. Wie sich im übrigen Landauer die Neugestaltung
der Presse dachte, das zeigen die Nummern der »Münchener
Neusten Nachrichten-, die während der Landauerschen Re-
gierung erschienen. und für die er die Verantwortung
trägt. Selbstverständlich liegt da erst der Beginn einer
Reform vor, nicht die Erfüllung. Seine Absicht, alles was
er in diesen acht Tagen geschrieben hafte. zu sammeln,
wırd vielleicht später von seinen Freunden erfüllt.
Wenn in den Ausführungen nur weniges über die
Akademien steht, so erklärt sich dies ebenfalls daraus, daß
diese Frage als weniger aktuell nıcht gleich besprochen wurde.
Man halte daran fest. daß dies ein Arbeits-
programm ıst, daß sofort die praktische Realı-
sierung einsetzen sollte.
Den Stürmern, den Erneuerern des geistigen Deutsch-
lands wird vieles von dem. was hier steht. banal vor-
kommen, zumal gemessen an Landauers früheren Arbeiten.
Von ıhm erwartet man Grundlegendes, Neues, Metaphysisches.
Darum handelt es sich hier aber gar nicht. Hier wird die
Idee materialisiert. also gleichsam heruntergezogen. Hier soll
gezeigt werden, was ım Aprıl 1919 unter den gegebenen
wirtschaftlich-politischen Zuständen in Bayern hätte ge-
leistet werden können. Der Kulturminister hat eine andere
Gustav Landauers Kulturprogramm 581
Aufgabe als der freie Schriftsteller, als der oppositionelle
Politiker. Je größer sein Gedankenwurf ist, um so größer
erscheinen seine (temporären) Konzessionen bei der praktischen
Durchführung. Dieses tragische Schicksal teilt Landauer mit
allen Führern, die zur Macht gelangen. Engels schreibt
über Thomas Münzer (im deutschen Bauernkrieg): Es ist
das schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei
widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, ın einer Epoche
die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch
nicht reif ıst für die Herrschaft der Klasse, die er ver-
tritt und für die Durchführung der Maßregeln, die die
Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann,
hängt nicht von seinem Willen ab, sondern von der
Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen
getrieben ıst, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen
Existenzbedingungen. der Produktions- und Verkehrsver-
hältnisse. auf dem der jedesmalige Entwicklungsgrad der
Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, -was seine
Partei von ihm verlangt, hängt wieder nicht von ihm ab,
aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassen-
kampfs und seiner Bedingungen: er ist gebunden .an seine
bisherigen Doktrinen und Forderungen. . Er findet sich
so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: was er
tun kann. widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten.
seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner
Partei: und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er
ist mit einem Wort gezwungen. nicht seine Partei. seine
Klasse. sondern die Klasse zu vertreten. für deren Herr-
schaft die Bewegung gerade reif ist.
Dies erklärt unser Programm. Und nur so darf es
betrachtet und gewertet werden.
580 Fidelis
unser Programm doch der Öffentlichkeit unterbreite, so
geschieht es nicht nur weil es Landauers letzte Arbeit
ist. sondern auch weil ihm ein historisches Interesse nicht
abgesprochen werden kann, und weıl es auch heute noch
praktischen Wert hat, vielleicht nur zum Vergleich mit
dem, was ım sozialistischen Deutschland geschieht.
Die Freunde Landauers werden hier das nötige über
die Presse vermissen, zumal er selbst die Presse als wichtig
ansah. Sıe wurde zu jener Zeit vom Propagandabüro ver-
waltet und kam daher zunächst für eine Neuordnung nicht
in Frage. Wie sich im übrigen Landauer die Neugestaltung
der Presse dachte, das zeigen die Nummern der »Münchener
Neusten Nachrichten-, die während der Landauerschen Re-
gierung erschienen, und für die er die Verantwortung
trägt. Selbstverständlich liegt da erst der Beginn einer
Reform vor, nicht die Erfüllung. Seine Absicht, alles was
er in diesen acht Tagen geschrieben hafte, zu sammeln,
wird vielleicht später von seinen Freunden erfüllt.
Wenn in den Ausführungen nur weniges über die
Akademien steht, so erklärt sich dies ebenfalls daraus, daß
diese Frage als weniger aktuell nicht gleich besprochen wurde.
Man halte daran fest, daß dies ein Arbeits-
programm ist, dal sofort die praktische Reali-
sierung einsetzen sollte.
Den Stürmern, den Erneuerern des geistigen Deutsch-
lands wird vieles von dem, was hier steht, banal vor-
kommen, zumal gemessen an Landauers früheren Arbeiten.
Von ihm erwartet man Grundlegendes, Neues, Metaphysisches.
Darum handelt es sich hier aber gar nicht. Hier wird die
Idee materialisiert. also gleichsam heruntergezogen. Hier soll
gezeigt werden, was ım Aprıl 1919 unter den gegebenen
wirtschaftlich-politischen Zuständen in Bayern hätte ge-
leistet werden können. Der Kulturminister hat eine andere
Gustav Landauers Kulturprogramm 581
Aufgabe als der freie Schriftsteller, als der oppositionelle
Politiker. Je größer sein Gedankenwurf ist, um so größer
erscheinen seine (temporären) Konzessionen bei der praktischen
Durchführung. Dieses tragische Schicksal teilt Landauer mit
allen Führern, die zur Macht gelangen. Engels schreibt
über Thomas Münzer (im deutschen Bauernkrieg): »Es ist
das schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei
widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche
die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch
nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er ver-
tritt und für die Durchführung der Maßregeln, die die
Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann.
hängt nicht von seinem Willen ab. sondern von der
Höhe. auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen
getrieben ist. und von dem Entwicklungsgrad der materiellen
Existenzbedingungen, der Produktions- und Verkehrsver-
hältnisse. auf dem der jedesmalige Entwicklungsgrad der
Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, Was seine
Partei von ihm verlangt. hängt wieder nicht von ihm ab.
aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassen-
kampfs und seiner Bedingungen: er ist gebunden an seine
bisherigen Doktrinen und Forderungen. . . Er findet sich
so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma; was er
tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten.
seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner
Partei: und was er tun soll. ist nicht durchzuführen. Er
ist mit einem Wort gezwungen. nicht seine Partei, seine
Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herr-
schaft die Bewegung gerade reif ist.
Dies erklärt unser Programm. Und nur so darf es
betrachtet und gewertet werden.
580 Fidelis
unser Programm doch der Öffentlichkeit unterbreite, so
geschieht es nicht nur weil es Landauers letzte Arbeit
ist, sondern auch weil ihm ein historisches Interesse nicht
abgesprochen werden kann. und weil es auch heute noch
praktischen Wert hat, vielleicht nur zum Vergleich mit
dem, was im sozialistischen Deutschland geschieht.
Die Freunde Landauers werden hier das nötige über
die Presse vermissen. zumal er selbst die Presse als wichtig
ansah. Sie wurde zu jener Zeit vom Propagandabüro ver-
waltet und kam daher zunächst für eine Neuordnung nicht
in Frage. Wie sich im übrigen Landauer die Neugestaltung
der Presse dachte, das zeigen die Nummern der »Münchener
Neusten Nachrichten-. die während der Landauerschen Re-
gierung erschienen, und für die er die Verantwortung
trägt. Selbstverständlich liegt da erst der Beginn emer
Reform vor, nicht die Erfüllung. Seine Absicht, alles was
er ın diesen acht Tagen . geschrieben hafte, zu sammeln,
wird vielleicht spater von seinen Freunden erfüllt.
Wenn ın den Ausführungen nur weniges über die
Akademien steht, so erklärt sich dies ebenfalls daraus, dal
diese Frage als weniger aktuell nıcht gleich besprochen wurde.
Man halte daran fest, daß dies ein Arbeits-
programm ist, daß sofort die praktische Realı-
sierung einsetzen sollte.
Den Stürmern, den Erneuerern des geistigen Deutsch-
lands wird vieles von dem, was hier steht, banal vor-
kommen, zumal gemessen an Landauers früheren Arbeiten.
Von ıhm erwartet man Grundlegendes, Neues, Metaphysisches.
Darum handelt es sich hier aber gar nicht. Hier wird die
Idee materialisiert. also gleichsam heruntergezogen. Hier soll
gezeigt werden, was ım Aprıl 1919 unter den gegebenen
wirtschaftlich-politischen Zuständen in Bayern häfte ge-
leistet werden können. Der Kulturminister hat eine andere
Gustav Landauers Kulturprogramm 581
Aufgabe als der freie Schriftsteller, als der oppositionelle
Politiker. Je größer sein Gedankenwurf ist, um so größer
erscheinen seine (temporären) Konzessionen bei der praktischen
Durchführung. Dieses tragische Schicksal teilt Landauer mit
allen Führern, die zur Macht gelangen. Engels schreibt
über Thomas Münzer (im deutschen Bauernkrieg): Es ist
das schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei
widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche
die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch
nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er ver-
tritt und für die Durchführung der Maßregeln, die die
Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann,
hängt nicht von seinem Willen ab, sondern von der
Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen
getrieben ist, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen
Existenzbedingungen, der Produktions- und Verkehrsver-
hältnısse, auf dem der jedesmalige Entwieklungsgrad der
Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, was seine
Partei von ihm verlangt. hängt wieder nicht von ihm ab,
aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassen-
kampfs und seiner Bedingungen: er ist gebunden an seine
bisherigen Doktrinen und Forderungen. . . Er findet sich
so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: Was er
tun kann. widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten.
seinen Prinzipien und den unmiftelbaren Interessen seiner
Partei: und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er
ist mit einem Wort gezwungen, nicht seine Partei, seine
Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herr-
schaft die Bewegung gerade reif ist.“
Dies erklärt unser Programm. Und nur so darf es
betrachtet und gewertet werden.
580 Fidelis
unser Programm doch der Öffentlichkeit unterbreite, so
geschieht es nicht nur weil es Landauers letzte Arbeit
ist, sondern auch weil ihm ein historisches Interesse nicht
abgesprochen werden kann, und weıl es auch heute noch
praktischen Wert hat, vielleicht nur zum Vergleich mit
dem. was im sozialistischen Deutschland geschieht.
Die Freunde Landauers werden hier das nötige über
die Presse vermissen, zumal er selbst die Presse als wichtig
ansah. Sie wurde zu jener Zeit vom Propagandabüro ver-
waltet und kam daher zunächst für eine Neuordnung nicht
in Frage. Wie sich im übrigen Landauer die Neugestaltung
der Presse dachte, das zeigen die Nummern der »Münchener
Neusten Nachrichten-, die während der Landauerschen Re-
gierung erschienen, und für die er die Verantwortung
trägt. Selbstverständlich liegt da erst der Beginn einer
Reform vor, nıcht die Erfüllung. Seine Absicht, alles was
er in diesen acht Tagen . geschrieben hafte, zu sammeln,
wird vielleicht später von seinen Freunden erfüllt.
Wenn in den Ausführungen nur weniges über die
Akademien steht, so erklärt sich dies ebenfalls daraus, daß
diese Frage als weniger aktuell nicht gleich besprochen wurde.
Man halte daran fest, daß dies ein Arbeits-
programm ist, daß sofort die praktische Realı-
sierung einsetzen sollte.
Den Stürmern, den Erneuerern des geistigen Deutsch-
lands wird vieles von dem, was hier steht, banal vor-
kommen, zumal gemessen an Landauers früheren Arbeiten.
Von ıhm erwartet man Grundlegendes, Neues, Metaphysisches.
Darum handelt es sich hier aber gar nicht. Hier wird die
Idee materialisiert. also gleichsam heruntergezogen. Hier soll
gezeigt werden, was ım Aprıl 1919 unter den gegebenen
wirtschaftlich-politischen Zuständen in Bayern häfte ge-
leistet werden können. Der Kulturminister hat eine andere
Gustav Landauers Kulturprogramm 581
Aufgabe als der freie Schriftsteller, als der oppositionelle
Politiker. Je größer sein Gedankenwurf ist, um so größer
erscheinen seine (temporären) Konzessionen beı der praktischen
Durchführung. Dieses tragische Schicksal teilt Landauer mit
allen Führern, die zur Macht gelangen. En ge ls schreibt
über Thomas Münzer (im deutschen Bauernkrieg): »Es ist
das schlimmste, was dem Führer einer extremen Parteı
widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche
die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch
nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er ver-
tritt und für die Durchführung der Maßregeln, die die
Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann.
hängt nicht von seinem Willen ab. sondern von der
Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen
getrieben ıst, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen
Existenzbedingungen. der Produktions- und Verkehrsver-
hältnisse. auf dem der jedesmalige Entwicklungsgrad der
Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, was seine
Partei von ihm verlangt. hängt wieder nicht von ihm ab.
aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassen-
kampfs und seiner Bedingungen: er ıst gebunden an seine
bisherigen Doktrinen und Forderungen. . . Er findet sich
so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: was er
tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten,
seinen Prinzipien und den unmiftelbaren Interessen seiner
Partei; und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er
ist mit einem Wort gezwungen, nicht seine Partei, seine
Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herr-
schaft die Bewegung gerade reif ist.
Dies erklärt unser Programm. Und nur so darf es
betrachtet und gewertet werden.
O Fidelis
Das Programm
A. Staat und Kirche.
1. Sofortige völlige Trennung.
2. Die Kirche bleibt einstweilen im Besitze ihres
Vermögens.
Die Kirchen sind im Prinzip Eigentum der
politischen Gemeinde. l
Die charitativen Einrichtungen bleiben ihrem
Zweck erhalten.
5. Prozessionen werden wie sonstige Umzüge be-
handelt.
B. Kunst.
1. Architektur: Die neue Ara der Menschheits-
geschichte hat in den Monumenten und öffent-
lichen Gebäuden, die von jetzt ab errichtet
werden. ihren Ausdruck zu finden. (Gustav
Landauer).
Staatsaufträge.
Malerei und Plastik sind in die Architektur
einzugliedern. |
2. Malerei und Plastik. Neugründung von Museen.
Staatsankäufe. Staatsgebäude für Ausstellungen.
Wanderausstellungen.
3. Theater.
ö a) National- Theater. Freier Eintritt. Kontrolle
des Spielplans und der Spielart durch eine
Akademie.
b) Privat- Theater. Korporativer Charakter. Große
Macht des gewählten Leiters.
C. Schule.
1. Einheitsschule. 7.— 13. Lebensjahr. Betonung von
Zeichnen und Turnen. Fakultative Auswahl der
Fächer. Keine Schulbank. Neue Lehrbücher. Privat-
Q
R
Gustav Landauers Kulturprogramm 583
schulen gestaftet, wenn sie dasselbe Minimum geben
wie die Staatsschule. .
2. Nach der Einheitsschule entweder praktische
Betätigung mit Fortbildungsschule, oder
3. Lebensgemeinschaft vom 13.— 15. Jahre (Schüler —
Lehre — Meister). Oder
4. Mittelschule. .
5. Hochschule. Streichung der theologischen und
juristischen Fakultät mit Ausnahme der Geschichte
und Philosophie. Abtrennung einer medizinischen
Hochschule, einer philologischen und einer physikalisch-
chemisch-naturwissenschaftlichen. Höchste Fakultät
ist die philosophische.
Erläuterungen zum Programm
Am klarsten liegen die Forderungen in bezug auf
Trennung von Staat und Kirche. Handelt es sich doch hier
um ein aus der Tradition des liberalen Programmes über-
nommenes Verlangen, das bereits in manchem bürgerlichen
Staat durchgeführt ist. Die geistliche Schulaufsicht. im 2.
Jahr der - Revolution - noch in Preuſen- Deutschland ein
Streitobjekt. war sogar schon in den Schulen des Philantropismus
(in der 2. Halfte des 18. Jahrhunderts) abgeschafft.
Der Kampf gegen die offizielle Kirchenreligion ent-
springt der Erkennung. daß dieser Kult der heutigen Gesell-
schaft nicht mehr entspricht. sowohl in seinen Formen, als
auch in seiner Ethik. Dieser Geist ist ein Ungeist:
hat weder Beziehungen zur Wahrheit noch zum Leben.
Wenn etwas beweisbar falsch ist, so sind es diese Vor-
stellungen allesamt. Man kann sich aber wohl vorstellen.
daſ eine Gemeinde im Landauerschen Sinne nicht nur einen
den Menschen genehmen, sondern ihnen sogar notwendigen
Kult findet, wie es die Mysterien in Griechenland waren
und die christlichen Religionsformen in den ersten J ahrhunderten.
584 Fidelis
Sicher ist es aber, dał aus der heutigen Kirchenreligion
dieser Kult nicht entstehen kann. Der heutige Staat hat
also kein Interesse mehr, die Trennung hintanzuhalten.
Man darf dabei aber nicht übersehen, dal jede scharf vor-
genommene Trennung auch Gefahr für den Staat in sich
birgt. Wird der Religonsunterricht von der Schule ver-
wiesen. 80 werden die Eltern ihren Kindern von der Kirchen-
gemeinde den Unterricht geben lassen. d. h. die Kinder er-
halten einen Unterricht, auf den der Staat dann keinen Einfluß
mehr ausübt. Diese Gefahr ist sicherlich nicht zu unter-
schätzen. Sie kann und mu durch den Moral- und Ge-
schichtsunterricht, sowie durch eine selbständiges Denken er-
zielende Erziehung bekämpft werden. Es schadet gar nıchts,
wenn schon das Kınd Probleme sieht und zu zweifeln lernt.
Ein Verbot des Religionsunterrichtes der heutigen Staats-
kirche kommt wohl praktisch noch nicht in Frage. Wohl
aber muß der Staat bereits die Kirche als schädlich be-
kämpfen. Die heutige Ausübung der kirchlichen Religion
ist Opium. das das Volk vergiftete und vergiftet« (Bucharın).
Die Entziehungskur dieses Narkotikums kann aber nicht
plötzlich geschehen. sondern, nur ansteigend.
Ein Zeichen für das tiefe Niveau der bisher erreichten
Entwicklungsstufe ist, daß das Volk, auch das arbeitende Volk.
noch die heutige Kirche braucht. Die Verfassung jedes
Staates muß neben den großen Zielen, auch die Realität
der soziologischen Struktur betrachten und die Konsequenzen
daraus ziehen, auch wenn sie unbequem sind. Hieraus er-
gibt eich, daß man heute der Kirche noch nicht alle Mittel
nehmen kann, da sich. die Proletarier gegen eine Regierung.
die dies anordnet, erheben würden. Man muß daher die
Kirche einstweilen ım Besitze ıhres Vermögens lassen. Man
kann sie nıcht, wie es ın Rufland geschehen ist, nationalisieren,
weil eben das deutsche Volk anders ist als das russische.
Ein Zuschuß von Staats wegen kommt natürlich in keiner
Gustav Landauers Kulturprogramm 585
Form mehr in Betracht. auch nicht für die armen Gemeinden.
Da der Staat aber die Notwendigkeit der Kirche noch
anerkennt. so wird er dafür sorgen, daß die reichen Ge-
meinden die armen ausreichend unterstützen. Landauer wäre
sogar damit einverstanden, daß der Staat in der Über-
gangszeit hier vermiftelnd und helfend eingriffe. In dem-
selben Maße wie die politische Aufklärung vor sich geht
und wie sich das Proletariat von der Kirche abwendet,
in demselben Maße wird man auch zur Enteignung der
Kirche schreiten. Gerade hier möchte ich die oben zitierte
Ansicht Engels angewendet wissen.
Die Benutzung der Kirche für weltliche Zwecke durch
die Geistlichkeit, die sich bei jedem Wahlkampf zeigt und l
die z2. B. bei der Wahl zur Nationalversammlung von
dem Erzbischof von Breslau ausdrücklich befohlen wurde.
hat die Konsequenz. daß auch die nicht der Kirche Ange-
börigen die Kirchengebäude benutzen dürfen. Vor allem
kommen sie für die Weihefeste neuer Kultgemeinden in
Frage. So hatte Eisner geplant. Erntedankfeste der Bauern
in den großen Kirchen Münchens abhalten zu lassen.
f Wenn auch die Kirchen im Prinzip Eigentum der
politischen Gemeinden . sind. so sind sie doch der kirchlichen
Gemeinde zur Verfügung gestellt. und diese haben daher
für den Unterhalt der Gebäude und Kunstschätze zu sorgen.
Wie nötig es aber ist. ausdrücklich das Prinzip des Eigen-
tums der politischen und nicht der kirchlichen Gemeinden
an den Kirchen zu betonen. zeigten viele unliebsame Vor-
gange in Bayern während der Revolution. Übrigens nımmt
ja auch der bürgerliche Staat heute schon dies Recht für
sch in Anspruch.
Die charıtatıven Einrichtungen sollen ihrem Zeelie er-
halten bleiben. Nur mul die Art der Aufsicht geändert
werden: pädagogisch-ärztliche Richtlinien, nicht kirchliche
müssen leitend sein.
586 Fidelis
Prozessionen werden in Zukunft wie andere öffentliche
Umzüge behandelt.
»Die neue Ära der Menschengeschichte hat in den
Monumenten und öffentlichen Gebäuden, die von jetzt ab
errichtet werden, ihren Ausdruck zu finden« Dieser Satz
Landauers zeigt die neue Einstellung zur Kunst. Nach der
Häckelschen Monistenbündlerei kommt wieder ein religiöses
Zeitalter, beschleunigt durch Krieg und Revolution. Die Menschen
streben wieder nach Verinnerlichung. und die Künstler gehen
voran. Nicht mehr suchen sie die Natur in ihrer jeweiligen
Form festzuhalten. sondern gläubig durchdringen sie das
Einzelne, um dahinter das All zu finden. So erweitert sich
ihr Ich zum All. Ihre Gesinnung braucht noch nicht gläubig
zu sein. Aber diese Erscheinungen setzen »einen gewissen
Transzendentalismus der seelischen Grundverfassung« (Ha rtlaub)
voraus oder wie Franz Marc sagt: »Die Mystık erwachte
in den Seelen (nämlich der Künstler) und mit ihr uralte
Elemente der Kunst. Expressionistisch heift man die neue
Kunst. Raphael nahm eine Geliebte als »Modelle zu einer
Madonna. Der Künstler der Jetztzeit braucht kein Modell
Durch irgend ein Bild in der Natur angeregt, durchdringt
er es verstandesmälig, und sein Bild bringt. ihm selbst
unbewuft, die Madonna in ihrer Allgültigkeit. Ein zweites
Beispiel: das prachtvolle Pferd des Colleoni oder eime Tier-
figur eines sımpressionistischen« Bildhauers wie Gaul. Sie
haften beide am äußerlichen. Man möchte das Pferd des
Colleoni besteigen. man möchte die Tierfigur von Gaul
streicheln. Ganz anders die eines Expressionisten, etwa eine
solche von Marc. In seinen Pferden ist das »Ur-Pferd
enthalten. Das ist nicht mehr ein beliebiges Pferd, sondern
es ist schlechtweg das Pferd.
Diese Beispiele mögen genügen. Sie genügen auch, um
Gustav Landauers Kulturprogramm 587
das Wesentliche klar zu erkennen. Jene haften am
Figürlichen, diese kommen zum »communen«, zum »allgemein-
gültigen . In jedem Punkt, in jeder Linie, in jeder Fläche
und eben so in jeder Farbe drückt sich das Ringen des
neuen Künstlers aus. Das Figürliche kann dabei. wie bei
Kandinsky ganz schwinden. Nach geistig-religiöser Ver-
innerlichung strebt die Künstlerschaft und mit ihr die Masse,
die nıchtsafte, nıcht-bourgeoismäfige Masse.
In der neuen Kunst dürfen wır wohl die ersten
schwachen Versuche sehen, der neuen religiösen Gemüts-
bewegung eine neue Form zu geben. Daß die Kunst immer
die Formulierung der Gemütsbewegung, sei es Einzelner. sei
es von Gruppen, Klassen, Nationen usw. war, ist selbstver-
ständlich. Die neue Kunst wird eine Proletarierkunst sein.
Wie das Proletariat nach Wissen und Schönheit strebt.
so tut es auch seine Kunst. Sıe ist nur zu verstehen aus
der gesamten proletarischen Kultur, von der Lunatschars ki
schreibt: Wie sozialistische Produktion das Ergebnis der
kapitalistischen Produktion ıst, sie jedoch modifiziert und hebt,
so ist auch die ganze sozialistische Kultur ein neuer, noch
in der Blütenpracht der Schwere und der Süße der ver-
heißenden Früchte ein noch nie dagewesener Zweig vom
großen Baume der allgemeinmenschlichen Kultur.« »Die Kultur
des kämpfenden Proletariats ist eine scharf abgesonderte
Klassenkultur, die auf Kampf aufgebaut ist, eine ihrem
Typus nach romantische Kultur, in der der sich intensiv
abzeichnende Inhalt die Form überholt. weil die Zeit fehlt.
um sich genügend um die bestimmende und die vollkommene
Form für diesen stürmischen und tragischen Inhalt zu kümmern.
Doch kehren wir nach dieser Abschweifung zu der
praktischen Ausführung des Programmes zurück. Wenn der
oben stehende Satz Landauers Wahrheit werden soll, so
werden die Rechte des Einzelnen weiter beschränkt. Nicht
mehr hat der einzelne Hausbesitzer, die einzelne Gemeinde
f
588 Fidelis
das Recht, das Stadtbild nach ihrem Gutdünken zu bilden.
Durch Staatsaufträge und Ausschreibungen von Konkurrenzen
wird die Bebauung von jetzt ab nach einheitlichen künstle-
rischen Gesichtspunkten geregelt. Vorbildlich sollen die Staats-
gebäude sein, sowohl in ihren Einrichtungen, als auch in
ihrer Architektonik.
Bei dem Worte »Staatsauftrage überläuft dem Sensitiven
des wilhelminischen Zeitalters ein kalter Schauer. Er denkt
an den Berliner Dom. er denkt an Ihne. So ist es natür-
lich nicht gemeint. Weder ein Einzelner. noch ein Ministerium.
noch gar die Zeitungen sollen das Werturteil fallen. Die
Künstlerschaften bilden ihren Rat, aus dem sich dann eine
höchste Instanz herauskristallisiert. eine Akademie. die ge-
meinsam mit den Vertretern des schaffenden Volkes die
Richtlinien niederlegen.
Malerei und Plastik sind. wenigstens teilweise, der Architektur
einzugliedern. Die Freskomalerei kann ja sinngemäf gar nicht
ein eigenes Dasein führen. Ähnliches gilt auch von der-
Plastik. Man denke an jene gotischen Kirchen, bei denen
die Plastik organisch mit dem Bau verbunden ist und nicht
ein zufälliges Ornament bildet.
Diese Eingliederung der Malerei und Plastik ist nicht
nur in die offiziellen Gebäude möglich, sondern allgemein
durchführbar. Das Museum hat ja immer etwas Fremdes.
Magazinhaftes. Es ıst nıcht Leben. Es ıst wohl denkbar,
daß die Künstler einer neuen Zeit, sich unterordnend, weniger
selbständig, weniger losgelöst von der Architektur schaffen.
Für die anderen Künstler wird der Staat Museen ein-
richten. Er wird ıhnen Gebäude zwecks Ausstellungen zur
Verfügung stellen. Vor allen Dingen sei für Wander-
ausstellungen gesorgt, damit auch das Land die neuen Be-
wegungen kennen lernt. Nicht nur Theater, sondern ‚auch
Bilder und Plastiken lebender Künstler sollen in das kleinste
Städtchen kommen, um zur Verinnerlichung der Bevölkerung
Gustav Landauers Kulturprogramm 589
beizutragen. damit die Kunst wieder wie früher Not-
wendigkeit wird. Stat der Heimatstümelei soll wieder
Volkskunst entstehen.
Die größte Förderung erhalten die Künstler aber durch
Einrichtung von Lehranstalten. Nicht im Sinne der bis-
herigen Kunstakademien soll hier gelehrt und gelernt werden:
sondern es werde den Arbeitern hier Gelegenheit geboten,
nach ihrem Willen sich in ihren Mufßestunden zu be-
schäftigen. Wir glaubten, daß der Künstler nur Nutzen hat, wenn
er auch produktiv zu schaffen hat, daß man ihn aber später,
wenn seine Kunst mehr als Spielerei ist, gewisse Be-
freiungen von der Arbeit zugestehen darf. Also auch der
Künstler wird der allgemeinen Produktionsgenossenschaft
eingegliedert.
Noch ein paar Worte über das Theater. Wir dachten
uns das Nationaltheater als eine Musterbühne sowohl in
bezug auf seine Spielart. als auch in bezug auf seinen
Spielplan. Überwacht wird beides durch eine höchste
Akademie für geistige Angelegenheiten, deren Zusammen-
setzung wır ım einzelnen noch nicht besprachen. Ich
dachte sie mir etwa ähnlıch wıe den oben geschilderten
Künstlerrat. Die Akademie häfe natürlich keine wirt-
schaftlichen Interessen wahrzunehmen.
Die Theater sollen ın künstlerischer Hinsicht korpora-
tiven Charakter tragen, wenn auch ıhr selbstgewählter Leiter
über große Machtbefugnisse verfügt. Daß sie wirtschaftlich
kommunisiert würden, sei nur erwähnt, um Mifverständ-
nisse auszuschließen.
In bezug auf die Literatur kann der Staat durch
Verbreitung guter Schriften, durch Unterdrückung der
Schundliteratur (hierher würde ich alle Kriegsbücher
rechnen) erzieherisch wirken. Bibliotheken können mit ver-
hältnısmäßig kleinen Summen überall eingerichtet werden.
selbst im kleinsten Dörfchen. Gerade hierin ist Sowjet-
Rufland vorbildlich, und man kann die dort geschaffenen
Zustände ohne weiteres nach Deutschland übertragen.
Auch Sowjet-Rufland hat Museen für moderne Kunst
eingerichtet und Künstlerschaften errichtet. Ein Kollegium
junger radıkaler Künstler hat sich gebildet, Kunstgewerbe-
abteilungen sind den Kunstwerkstäften angeschlossen. Eine
Kunst-Aufbau-Abteilung errichtet Museen und hält künst-
lerische Wettbewerbe ab.
So wichtig auch alle Bestrebungen sind, die die jetzige
Generation betreffen. so treten sie doch weit zurück gegen-
über al dem. was der Erziehung der Jugend dient.
Sie in den neuen Ideen aufwachsen zu lassen, sie in einem neuen
Idealismus zu erziehen, sie vom bürgerlichen Materialismus zu
entfernen. wird immer die Hauptaufgabe einer Übergangs-
epoche sein.
„Non scholae. sed vitae discımus.« Daran krankt die
Schule. Die Pädagogen, die nach diesem Prinzip erziehen,
wissen, was das Leben fordert: Anpassungsfähigkeit, Unter-
würfigkeit. Verkümmerung des Ichs. ein in den Dienst der
herrschenden Klasse Treten. Die Schule ist. das bedeutet
jener alte, oft mißverstandene Satz. Klasseninstrument. Das
Kind wird zum Untertan erzogen. gleich ob im wilhelminischen
Alter oder in einer Zeit. in der das Kultusministerium in
Preußen einem Hänisch. in Bayern einem Hoffmann an-
vertraut ist. Daher die Schule, gleich ob Hoch-. Mittel-
oder Volksschule. immer versagt, zumal in jeder großen
Bewegung. etwa in dem »sgroßen« Krieg. Die denkenden
Soldaten sind die schlechtesten, die denkenden Bürger die
unfolgsamsten. Die »nationalee Erziehung bekämpfen wir.
Diesem früheren Ideal (damals gerechtfertigt) setzen wir
ein neues entgegen, die Menschheit. Für die Gesamtheit
soll das Kind erzogen werden. »Die Verfassung mul
Gustav Landauers Kulturprogramm 591
nämlich ferner also eingerichtet sein, daß der Einzelne für
das Ganze nicht bloß unterlassen müssen, sondern dal er
für dasselbe auch tun und handelnd leisten könne. Außer
der geistigen Entwicklung im Lernen finden ın diesem
Gemeinwesen der Zöglinge auch noch körperliche Übungen,
und die mechanischen, aber hier zum Ideal veredelten
Arbeiten des Ackerbaus. und die von mancherlei Hand-
werken sta. Es sei Grundregel der Verfassung. daß jedem.
der in irgend einem dieser Zweige sich hervortut, zugemutet
werde. die anderen darin unterrichten zu helfen und
mancherlei Aufsichten und Verantwortlichkeiten zu über-
nehmen: jedem. der irgendeine Verbesserung findet. oder
die von einem Lehrer vorgeschlagene zuerst und am klarsten
begreift. dieselbe mit eigener Mühe auszuführen. ohne daß
er doch darum von seinen ohne dies sich verstehenden per-
sönlichen . Aufgaben des Lernens und Arbeitens losgesprochen
sei; dal jeder dieser Anmutung freiwillig genüge, und
nicht aus Zwang, in dem es dem Nichtwoilenden auch
frei steht, sie abzulehnen: daß er dafür keine Belohnung
zu erwarten habe, ındes ın dieser Verfassung alle in Be-
ziehung auf Arbeit und Genul ganz gleich gesetzt sind,
nicht einmal Lob, indem es die herrschende Denkart ist.
in der Gemeinde, daß daran jeder eben seine Schuldigkeit
tue, sondern daß er. allein genieße die Freude an seinem
Tun und Wirken für das Ganze und an dem Gelingen
desselben, falls ihm dies zuteil wird. In dieser Verfassung
wird sonach aus erworbener größerer Geschicklichkeit und
aus der hierauf verwendeten Mühe nur neue Mühe
folgen. Diese Sätze sind nicht etwa von einem weltfremden
kommunistischen Idealisten, sondern von dem Verfasser
der »Reden an die deutsche Natione, von Fichte.
Eine solche Erziehung bedeutet in erster Linie Hebung
der Ethik. Alles andere tritt dagegen zurück, auch die
Weckung des Intellekts. Wieder kann man Lunatscharskı
592 Fidelis
nur beistimmen: » . . . daß sogar die beste geistige Bildung
nur in unbedeutender Weise auf den Willen einen Ein-
flub hat. wenn daneben die Organisation des Gefühllebens
nicht vor sich geht.
Wenn also auch die Bildung zurücktritt. so wird man
doch andererseits die Bildungsmöglichkeit als allgemein und
obligatorisch erklären. Man wird also die Schule ebenso
wenig wie die Kirche den Besitzenden oder anderen
Privilegierten ausliefern.
Die Schule ist ein Klasseninstrument. Zwischen der
kapitalistischen und der kommunistischen Wirtschaftsära liegt
nach dem bekannten Wort von Marx die Diktatur des
Proletariats. Aber das Ideal ist die Aufhebung der Klassen.
d. h. die Zertrümmerung des Staates. Die erste Realisierung
wird in den Schulen erfolgen. da naturgemäß nur eine ım
neuen Geist erzogene Generation dieses Ziel erreichen kann.
Man wird also zunächst die verschiedenen Klassen-Schulen
aufheben, die in einem Preußen des Dreiklassenwahlsystems ein
würdiges Dasein führten, heute aber, selbst nach der Nieder-
lage der Revolution, nicht mehr existieren sollten. Die
Arbeitseinheitsschule. übrigens keine Erfindung der Jetztzeit.
ist selbstverständliche Forderung. Man wird niemanden aus-
schließen. auch nicht wenn er aus einer dem Proletariat
feindlichen Klasse kommt. Wohl aber wird man jeden zu
hindern suchen, ein Feind des Proletarıats zu werden.
Dieses Ziel ist nicht durch die Einheitsschule an sıch zu
erreichen, sondern nur durch die Einheitsschule im sozialistischen
Staat.
Uns interessierte damals nicht die Erziehung der kleinsten
Kinder. Wir beschäftigten uns nur mit der der älteren,
vom 7. Lebensjahr an. In diesem Alter sollen die Kinder
auf die Einheitsschule kommen, wo ihre manuelle und
intellektuelle Ausbildung gleichmäßig gefördert werde. Die
Ausbildung im Handwerkmäfigen ist zu betonen. Material-
Gustav Landauers Kulturprogramm 593
kunde ıst eins der wichtigsten Fächer. Eine ıhrer Wichtigkeit
entsprechende Rolle spielt sie allerdings erst später. Der Zeichen-
und Handwerksunterricht wird stärker betont als bisher. Die
reiferen Kinder sollen sich die einfacheren Gebrauchsgegen-
stände selbst herstellen. Hygienische Körperpflege. fremd
allem Militärischen. darf nicht vernachlassigt werden. Aber
darüber hinaus muß von der jungen Generation der Sinn
des Leibes. seine Schönheit, sein Rhythmus wiedergefunden
werden. Dionysos sei das Wahrzeichen der Schule.
Häusliche Schulaufgaben sind eine Prämie für die
Faulheit der Lehrer. Sie sind in jedem Unterrichtsfach zu
entbehren, auch beim Erlernen fremder Sprachen.
Was die Frage anbelangt, in welchen Fächern die
Kinder zu unterrichten sind, so ıst zunächst einmal jeder
festliegende Stundenplan verpönt. Im allgemeinen bleibe die
Auswahl den Kindern selbst überlassen. Abgesehen vom
Grundrechnen. vom Schreiben und Lesen in der Mufter-
sprache, sowie vom Moralunterricht kann die denkbar größte
Fakultas herrschen. Im geeigneten Moment, wenn das Interesse
des Kindes erweckt ist. wenn es selbst den Wunsch
äußert, hat die Belehrung einzusetzen. Und sie hat nur 30
lange zu dauern. wie es das Kind verlangt. Die psychologischen
Erkenntnismethoden der Fähigkeiten des einzelnen, von
Münsterberg, Stern, Liebmann u. a. .ausgearbeitet,
eind beratend dabei heranzuziehen.
Hat sich eine Anzahl Kinder für ein Fach entschieden,
so werden sie durch den Lehrer in drei Gruppen einge-
teilt: Begabte. Durchschniſtsbegabte. Minderbegabte (Mann-
beimer System). Jede Gruppe erhält Unterricht für
sich. Diese Einteilung hat den Vorteil. daß jederzeit ein
Rüberwechseln der Kinder möglich ist, was bei einer Ein-
teilung nach der Gesamtfähigkeit nur schwer oder gar nicht
möglich ist.
Sehr hübsch hat Landauer die Vereinigung von Schul-
594 Fidelis
kind und Schulbank als siamesische Zwillinge gekennzeichnet.
Damit ist unsere Stellung zu diesem antiquierten Möbel
gekennzeichnet. Die Kinder sollen sich auch während des
Unterrichts frei und ungezwungen bewegen. Es schadet gar-
nichts. wenn sie sich einmal eine Zeitlang nicht am Unter-
richt beteiligen. sich anders beschäftigen. Uberflüssig ist es
wohl ausdrücklich zu sagen, daß in unserem System für
den Rohrstock, für den im Jahre 1919 (!) Gothas Lehrer
demonstrierten, kein Platz ist. In Bayerns Verordnungen
ist genau festgelegt, wie lang er sein darf und wie dick.
Herr Hoffmann, selbst Lehrer. hafte bis zu Landauers Ein-
zug in das Kultusministerium ım April 1919 noch keine
Zeit gehabt, diese Verordnung außer Kraft zu setzen.
Schwer zu lösen ist die Frage. welche Bücher man
den Kindern in die Hand geben soll. Ich sehe dabei ab
von den Geschichtsbüchern, die ad usum delphini. ad gloriam
der Hohenzollern. Wittelsbacher. Wettiner usf. geschrieben
sind. In einem sonst garnicht üblen pädagogischen Schrittchen
las ich neulich: Die Kinder sollen erfahren, -wie der alte
deutsche Staat entstand. wie er am Individualismus der
deutschen Stämme zugrunde ging: sie sollen erfahren, wie
Fürst und Volk in Arbeit. Opferwilligkeit und Pflicht-
treue den Organismus schufen, den wir in den Einzel-
staaten. den wir im Reich vor uns schen. Diese Ver-
drehungen von gemeinsamer Arbeit. Opferwilligkeit (vielleicht
denkt der Autor an Wilhelms berühmtes Wort vom
August 1914: große Opfer erwarte ich von euch!) und
Pflichttreue wurden schon bisher gelehrt. In der Schule
wird Kult mit großen Männern und ihren »staatserhaltenden«
Ideen bis heute getrieben, und Marx hat für sie überhaupt
nicht gelebt. Statt des Männerkultes sind die geschichtlichen
Bewegungen ın ıhren allgemeinen soziologischen Zusammen-
hängen darzustellen, wie es Marx, Ferrero. Mehring tun.
Aber in den anderen Fächern liegen die Dinge nicht
Gustav Landauers Kulturprogramm 595
besser. Leonhard Frank machte mich einmal darauf auf-
merksam, daß keines unserer Märchenbücher als Lesebuch
in Frage käme. Ueberall treffen wir auf eine Anschauungs-
und Ideenwelt. die wir bekämpfen. Überall finden wir
Standesunterschiede und Grausamkeiten. Da ist die Rede
vom Bettler und von der reichen Prinzessin, da vom ab-
gehackten Finger.
Eine schwierige Frage betrifft ferner die Privatschulen,
worauf schon oben beim Religionsunterricht hinge wiesen ist.
Es fragt sich, ob man neben den Staatsschulen auch Privat-
institute zulassen soll. nachdem das Prinzip des Unterrichts
nur in Staatsschulen doch schon einmal durchbrochen iet.
Auch wäre dadurch die Regelung der Klosterschule eine
relativ einfache. Gustav Landauer. seinem Föderalismus und
Individualismus entsprechend, trat dafür ein. während ich
mich nicht entschlieſen konnte. ihm diese Konzession zu machen.
da es mir gefährlich erscheint, das Prinzip der Einheitsschule gleich
bei der Gründung zu durchlöchern. Auch scheint mir keine
Notwendigkeit für Privatschulen vorzuliegen, da ja bei An-
nahme unsers Programmes ein jedes Kind selbst die Fächer
des Unterrichts wählt.
Selbstverständlich muß das alte Autoritätsverhältnis in
den Schulen aufhören. Freundschaft trete an die Stelle der
Autorität. indem die Lehrer die älteren, erfahrenen Freunde
der Schüler werden.
Nachdem die Kinder die Einheitsschule durchgemacht
haben. tritt an sie die Frage. welchen Weg sie nun weiter
çehen wollen. Dabei bringt es das System des kommunistischen
Staates mit sich, daß diese Entscheidung nichts Unumstöß-
liches, Endgiltiges ist, daß auch der Erwachsene, leichter als
bisher, die Möglichkeit hat, aus einem praktischen Beruf ın
einen theoretischen überzuwechseln. Lin Teil der Schüler,
diejenigen, die für das praktische Leben veranlagt sind, können
sich gleich einem praktischen Beruf zuwenden, d. h. sie
596 Fidelio
treten in die Lehre und besuchen daneben eine Fort-
bildungsschule.
Die Mehrzahl der Kinder geht in die „Lebensge-
meinschafte über, die sich aus den Schülern vom 13. — 15.
Lebensjahr. aus Lehrern. die den theoretischen Unterricht
erteilen. und aus Meistern zusammensetzen. Diese über-
wachen die handwerkliche Ausbildung. Der theoretische
Unterricht findet im Anschluß an die praktischen Arbeiten
sta, was übrigens auch bisher schon in vielen Arbeits-
schulen der Fall ist. Stoff kunde m weitesten Sinne des
Wortes nimmt einen Hauptteil des Unterrichts ein.
Nach vollendetem 15. Lebensjahr wenden die meisten
Kinder sich einem praktischen Beruf zu. Ein Teil geht
auf die Mittelschule über. die vorwiegend theoretischen
Unterricht bietet und für die Universität vorbereitet. Hier
treffen sie auf die Kinder. die bereits von der Einheitschule
direkt hierher gegangen sind, weil sie vorwiegend geistige
Interessen haften.
Die Hochschulen bedürfen einer EE Reform.
Am leichtesten ist diese in der theologischen und juridischen
Fakultät vorzunehmen. Abgeschen von Religion und Rechts-
geschichte. sowie von der Rechtsphilosophie kann man
nämlich diese beiden Fakultäten einfach aufheben. Die
Heranziehung des geistlichen Nachwuchses ist Aufgabe der
Kirchengemeinde und nicht die des Staates.
Ebenso ist die juridische Fakultät entbehrlich. In Bayern
hafte die Eisnersche Regierung seinerzeit Volksgerichte ein-
gesetzt, d. h. Gerichte, deren Richter von den Arbeiter-
und Soldaten-Räten ernannt wurden. Hier konnte ein jeder.
auch Nicht- Jurist. die Verteidigung des Angeklagten führen.
Selbstverständlich setzt die Durchführung dieses Punktes
unseres Programmes voraus, daß die bürgerliche Wirtschafts-
ordnung in die kommunistische übergeführt würde. eine An-
nahme, die seinerzeit erlaubt war. Es sei noch darauf hin-
Gustav Landauers Kulturprogramm 597
gewiesen. daß nicht einzusehen ist, warum in Strafsachen,
wobei es sich evtl. um das Leben des Angeklagten handelt.
Laieurichter befugt sein sollen. Recht zu sprechen, nicht
aber in Zivilklagen. wo es sich nur um materielle Dinge
bandelt.
Von den übrigen Fakultäten i Universität wird man
analog den heutigen technischen Hochschulen die abtrennen,
die nicht der reinen, sondern der angewandten Wissen-
schaft dienen; die medizinische Hochschule, die natur-
wissenschaftliche und die philologische, (zur: Heranbildung
der Lehrer). |
Die Universität wird also in Zukunft nur eine Fakultät
haben, die philosophische, dieses Wort im weitesten Sinne
gebraucht, also unter Inbegriff von Nationalökonomie, Ge-
schichte usw. Dieser Plan knüpft an Forderungen von Fichte |
an, und auch Gedanken Kants werden dadurch verwirklicht.
Dieses Programm kann natürlich nicht von heute auf
morgen realisiert werden. Aber es kann wenigstens die
Richtungen festlegen. Notwendig ist nur, daß die Universität,
“die ein Klasseninstrument ist, in der Übergangsepoche zum
kommunistischen Staat den Interessen des Proletariats dient.
Deshalb müssen in den politisch-nationalökonomischen Fächern
die bisherigen reaktionären Lehrer verabschiedet werden. In
anderen Fächern wird es dagegen nicht gleich möglich sein,
neue Lehrer zu finden, die ın ıhrem Denken und Fühlen
der sozialistischen Zeit mehr entsprechen.
Dal es an den Universitäten keine Rangeinteilung der
Lehrer mehr gibt, sondern nur noch Dozenten mit gleichen
Rechten und Pflichten, sei nur der Vollständigkeit halber
erwähnt. Durch Berufung bisheriger Privatgelehrter (auch
von Autodidakten ohne akademische Bildung) kanu schnell
für eine Erneuerung des Lehrkörpers gesorgt werden. Selbst-
verständlich haben die Studenten ein Mitbestimmungsrecht
über die Zulassung zur Dozentur.
598 Fidelis: Gustav Landauers Kulturprogramm
Die Frage, wer zur Universität zugelassen werden soll,
ist von Sowjet-Rußland dahin beantwortet worden: ein jeder.
Von dem Gedanken ausgehend, daß es dem Ungeeigneten
dort schon zu langweilig sein wird. Dieser Standpunkt
scheint mir nicht richtig zu sein. Die Universität soll eine
gute Vorbildung verlangen, die der Staat jederzeit einem
jeden zu übermiftela bereit sein mul. Unter den heutigen
Studenten wırd man genau so wıe unter den heutigen
Gymnasiasten eine scharfe Auslese zu treffen haben. Ferner
wird man befähigte Proletarier für die Fachhochschulen vor-
bereiten. und erst wenn eine größere Zahl Proletarier die
nötige Vorbildung erlangt hat, sollen die Fachhochschulen
ihre Vorlesungen aufnehmen. Die Kollegs für Kunst.
Nationalökonomie, Geschichte usw. nehmen eine besondere
Stellung ein. da man hier den Vortrag leicht so einrichten
kann, das ein jeder ihm folgen. kann.
Für die Auslese befähigter Proletarier-Schulkinder waren
in München die Kommissionen bereits zusammengesetzt,
ebenso für die Ausmerzung unbelähigter Gymnasiasten.
Auf die Zusammensetzung der Akademien für Kunst,
Musik. Geisteswissenschaften möchte ich nicht näher ein-
gehen, da wir uns darüber nur kurz unterhielten und noch
nicht zur Au stellung eines Programmes gekommen waren,
In Räterußland sind die Kulturfragen wie folgt ge-
regelt: in den kleinsten Dörfern sind Schulen gegründet. An
den Schulen bestehen Erziehungsräte: aus Vertretern von
Lehrern, Schülern und deren Eltern. Die Universität steht
einem jeden offen. Übrigens kennt auch Rußland eine
Akademie, die Sozialistische Hochsch ule, die der
französischen Akademie ähnlich zu sein scheint.
Zum Schluß möchte ich noch einmal auf das in der
Einleitung Gesagte hinweisen: ein praktisch durchführbares
Hans Kohn: Peter Kropotkın 599
Programm wollten wir ausarbeiten. nicht der Organisation
des Geistes neue Wege weisen. In wenigen Tagen mußten
wir uns über die Grundfragen einigen. Wir taten es,
indem ein jeder seine Bedenken auch bei nicht Unwich-
tigem zurückstellte. Mir erscheint es fast als das größte
an Landauer, daß er, der an der Spitze stets marschierte.
hier um die Fragen praktisch vorwärts zu bringen, zu
Kompromissen bereit war, daß aus dem Dränger ein
Mahner geworden war.
PETER KROPOTKIN
VON HANS KOHN (PRAG)
Drei Schwestern lieben einen Mann; die eine von ihnen
ist seine Gattin. die zweite eine reife Schönheit. die drifte
ein halbwüchsiges Mädchen, kaum zum Weibe gereift. Der
Mann, ein kalter, phrasenreicher Held, liebt eigentlich keine,
möchte aber alle drei haben. Aus diesem Stoffe hätte ein
Franzose ein Lustspiel gemacht, halb Ehestands komödie. halb
Gesellschaftssatire; der Russe macht ein Drama daraus, das
Drama des russischen Lebens. Wie ein quälender Traum
liegt es auf uns: Menschen, die leiden und andere leiden
machen, Verbrecher und Narren, ein Leben, das einem
Hause gleicht, in dem es uns wie in einem Grabe dünkt:
und in diesem gespenstischen Hause gehen die Menschen
umher und suchen einen Ausweg, gehen, und wissen nicht
wohin, sehnen sich und wissen nicht wonach, und auf
ihrem einsamen Antlitz liegt die fürchterliche Angst vor
all dem Grauenhaften um sie herum, vor der Gefahr, die
in ihnen selbst lauert. Die süße Ruhe des Todes ist das
einzige, das ihnen als Ziel und Wegweiser leuchtet, aber
598 Fidelis: Gustav Landauers Kulturprogramm
Die Frage, wer zur Universität zugelassen werden soll,
ist von Sowjet-Rufland dahin beantwortet worden: ein jeder.
Von dem Gedanken ausgehend, daß es dem Ungeeigneten
dort schon zu langweilig sein wird. Dieser Standpunkt
scheint mir nicht richtig zu sein. Die Universität soll eine
gute Vorbildung verlangen, die der Staat jederzeit einem
jeden zu übermiſteln bereit sein mul. Unter den heutigen
Studenten wird man genau 80 wie unter den heutigen
Gymnasiasten eine scharfe Auslese zu treffen haben. Ferner
wird man befähigte Proletarier für die Fachhochschulen vor-
bereiten. und erst wenn eine größere Zahl Proletarier die
nötige Vorbildung erlangt hat, sollen die Fachhochschulen
ihre Vorlesungen aufnehmen. Die Kollegs für Kunst,
Nationalökonomie. Geschichte usw. nehmen eine besondere
Stellung ein da man hier den Vortrag leicht so einrichten
kann, das ein jeder ihm folgen. kann.
Für dıe Auslese befähigter Proletanier-Schulkinder waren
in München die Kommissionen bereits zusammengesetzt,
ebenso für die Ausmerzung unbe[ähigter Gymnasiasten.
Auf die Zusammensetzung der Akademien für Kunst,
Musik. Geistes wissenschaften möchte ich nicht näher ein-
gehen. da wir uns darüber nur kurz unterhielten und noch
nicht zur Au stellung eines Programmes gekommen waren.
In Räterußland sind die Kulturfragen wie folgt ge-
regelt: in den kleinstea Dörfern sind Schulen gegründet. An
den Schulen bestehen Erziehungsräte: aus Vertretern von
Lehrern, Schülern uad deren Eltern. Die Universität steht
einem jeden offen. Übrigens kennt auch Rußland eine
Akademie, die Sozialistische Hochschule. die der
französischen Akademie ähnlich zu sein scheint.
Zum Schluß möchte ich noch einmal auf das in der
Einleitung Gesagte hinweisen: ein praktısch durchführbares
Hans Kohn: Peter Kropotkin 599
i Programm wollten wir ausarbeiten, nicht der Organisation
des Geistes neue Wege weisen. In wenigen Tagen mußten
wir uns über die Grundfragen einigen. Wir taten es,
indem ein jeder seine Bedenken auch bei nicht Unwich-
tigem zurückstellte. Mir erscheint es fast als das größte
an Landauer. daß er, der an der Spitze stets marschierte.
hier um die Fragen praktisch vorwärts zu bringen, zu
Kompromissen bereit war, dal aus dem Dränger ein
Mahner geworden War.
PETER KROPOTKIN
VON HANS KOHN (PRAG)
Drei Schwestern lieben einen Mann; die eine von ihnen
ist seine Gattin. die zweite eine reife Schönheit. die drifte
ein halbwüchsiges Mädchen, kaum zum Weibe gereift. Der
Mann, ein kalter, phrasenreicher Held. liebt eigentlich keine,
möchte aber alle drei haben. Aus diesem Stoffe hätte ein
Franzose ein Lustspiel gemacht, halb Ehestandskomödie, halb
Gesellschaftssatire; der Russe macht ein Drama daraus, das
Drama des russischen Lebens. Wie ein quälender Traum
liegt es auf uns: Menschen, die leiden und andere leiden
machen, Verbrecher und Narren, ein Leben, das einem
Hause gleicht, in dem es uns wie in einem Grabe dünkt:
und in diesem gespenstischen Hause gehen die Menschen
umher und suchen einen Ausweg, gehen, und wissen nicht
wohin, sehnen sich und wissen nicht wonach, und auf
ihrem einsamen Antlitz liegt die fürchterliche Angst vor
all dem Grauenhaften um sie herum, vor der Gefahr. die
in ihnen selbst lauert. Die süße Ruhe des Todes ist das
einzige, das ihnen als Ziel und Wegweiser leuchtet, aber
600 Hans Kohn
ihr Mut reicht nicht bis dorthin. Ein Grauen liegt über
allem, das Grauen eines uralten Weıibes, das das Symbol
des Lebens ist, geheimnisvoll und unenträtselbar, voll dunkler
unergründbarer Abgründe, in denen ungeahnte Verbrechen
lautlos lauern mit der Heimtücke einer Spinne, die ihrer
Opfer geduldig wartet, alles wissend und nie helfend. kalt
wie der Tod uad alles ertötend. Und dennoch das Leben.
Ein Leben, das gelebt wird in greller Verzweiflung. am
Rande von Wahnsinn und Verbrechen, das einen zerbricht
oder aus dem uns der Mut zu Übermenschlichem erwächst:
das Leben der russischen Intelligenz. Aber aus diesem
Grauen und Chaos ringt sich von unten her ein Lied
manchmal durch und flaftert wie ein Fetzen über den
dunklen Abgründen. Entsinnt ihr euch des Studenten Onu-
frij, enteinnt ihr euch, wie aus unsäglichem Schmutz, aus
Trunkenheit und Verkommenheit, unter Huren und Ver-
zweifelnden über aller Tragik des schluchzenden Lebens
sich das Lied des russischen Volkes entringt. das Lied von
Liebe und Brüderlichkeit. von Gleichheit und Menschlichkeit.
das Lied von allem Göftlichen, das über dem Drama un-
seres Lebens wie ein versöhnendes Lächeln erglänzt.e O du
unglückliches. in Schmutz und Trunksucht. in Unwissenheit
und Unsiftlichkeir verkommendes, o du göttliches. liebens-
wertes, großes russisches Volk: o du. über das die Klugen
und die feinen Herren lachen, o du, aus dem der Trost
der Menschheit kommt! Und aus dem Dornengestrüpp deines
Lebens. das wie eın Vampyr dich verzehrt, aus deiner
Verworfenheit und deiner Verzweiflung blühen immer wieder
wie ein Wunder Rosen der Hoffnung auf, Meilensteine
der Liebe. Wegweiser der Menschheit: Wladimir Solovjeff,
Leo Tolstoi, Peter Kropotkin.......
Von diesen dreien hat Kropotkin das weiteste Leben
geführt, Solovjeff. der mystische Prediger der russischen
Liebe, führte ein stilles Leben, fernab von den Wogen, die
Peter Kropotkin 601
die Stürme im brandenden Meere des jungen Ruflands
schlugen. Tolstoi siedelte sich nach tollenden Jahren der
Jugend in Jafnaja Polja an, wo er durch fünfzig Jahre der
Welt sein Evangelium predigte. Kropotkin aber trieb sein
revolutionäres Elut in viele Länder und wenn sein Einfluß
sich auch bei weitem nicht mit dem Tolstois messen kann,
ist er, der in den Sprachen Europas sprach und schrieb,
von allen dreien doch der am meisten Europa Zugekehrte.
An die Stelle des weiten, mystischen Gefühlsdunkels, an
die Stelle des feuchten warmen Duftes der russischen
Mufter Erde. die so unverkennbar in Solovjeff und Tolstoi
leben, setzt Kropotkin die verstandeshelle Klarheit der Natur-
wissenschaften und die Gedanken, die im Rauche der Fabrik-
städte entstehen. Aber sein Leben wıe das so mancher west-
wärts gewandter russischer Revolutionäre war von einer
länder- und schicksalumspannenden Weite. Peter Kropotkin
wurde 1842 als Spro eines der ältesten russischen Fürsten-
häuser geboren. Das Herren- und. Erobererblut Ruriks flol
in seinen Adern, seine Kindheit verbrachte er auf den
Gütern der Familie. wo auf den emnfindsamen Knaben die
Schaftenseiten der Leibeigenschaft tiefen Eindruck machten.
Seine Erziehung genoß er ım Pagenkorps am Zarenhofe, von
wo er mit zwanzig Jahren als Offizier zu den Amur-
Kosaken ausgemustert wurde. Als Adjutant des General-
gouverneurs von Transbaikalien bereist er das Amurgebiet
und die Mandschurei: das Studium dieser fernen Länder
weckt in ihm eine Vorliebe für die Geographie und die
vielen eigenartigen. noch wenig durchforschten Verhältnisse
schärfen seine Beobachtungsgabe. Er quiftiert den Dienst und
widmet sich an der Petrograder Universität dem Studium
der Geographie, Geologie. Mathematik, dann durchforscht er
im Auftrag der russischen geographischen Gesellschaft den
geologischen Bau Finnlands und Lapplands, macht wichtige
Entdeckungen für die Geschichte der Eiszeit in Rußland
602 Hans Kohn
—
und schafft sich einen angesehenen Namen im Kreise der
Fachgelehrten. 1872 reist Kropotkin nach Westeuropa. lernt
dort die internationale Arbeiterassoziation kennen und gerät
unter den Einfluß Michael Bakunins, der ebenfalls aus an-
gesehener und reicher russischer Familie stammte und der
Vater des russischen Anarchismus und der romantischste
unter der älteren Generation der russischen Verschwörer
geworden war. Nun beteiligt sich Kropotkin an der Geheim-
organisation Ischaikowskis. die sich die revolutionäre Vor-
bildung der Massen als Vorbedingung der endgültigen Re-
volution zum Ziele setzt: er wird verhaftet und entflieht
aus dem Spital der Peter- und Paul-Festung. Seit 1876 ın
Westeuropa wird er ein tätiges und führendes Mitglied der
anarchistischen Gruppe. Er wird aus der Schweiz aus
gewiesen und wegen seiner Beteiligung am zweiten anar-
chistischen Kongreß zu Genf in Frankreich zu fünf Jahren
Gefängnis verurteilt; 1886 begnadigt. lebte er seither in
England. wo er di? anarchistische Bewegung leitete und
Studien zur Soziologie und Geschichte veröffentlichte. Dieses
bewunderungswürdige Leben eines russischen Arıstokraten
aus jener Zeit, da die schöpferischen Kräfte des russischen
Volkes sich in seinem Adel verkörperten, schloß mit einem
Mifklang. Oder war es der natürliche Kreis, in den dieses
Leben gebannt war? Waren im Greise die Erinnerungen
ferner Jünglingsjahre und die Tradition seines Blutes mächtiger
als all das. was der Mann sich errungen hafte und wodurch
er zu einem der freiesten Geister Europas geworden war?
Der Kriegspsychose waren jüngere erlegen als der Fünfund-
siebzigjährige, aber mit der Greisen eigenen Beharrlichkeit
blieb Kropotkin auch nachdem das. wofür er sein Leben
lang gearbeitet hafte, die russische Revolution. Wirklichkeit
geworden war und ihm nach 4liährigem Exil die Heimkehr
ermöglichte, bei der Losung des »Krieges bis zum siegreichen
Ende». Sah er nicht. daß dieser Krieg. wer immer ihn ge-
Peter Kropotkin 603
winnen möge, nur zu einer Stärkung alles dessen führen
müsse. was er sein Leben bekämpft hafte: der verlogenen
Phrase ale Fundament unserer Handlungen und der Staats-
gewalt mit all ihren Ungerechtigkeiten, ihren Vergewaltigungen .
und ihrem Militarismus? Die Zeit, die in ihrem blutigen
und aller Menschenwürde hohnsprechendem Lärmen so vielen
die Augen öffnete, die vorher nicht haften sehen wollen
oder deren Aufmerksamkeit auf andere Sphären des Lebens
gerichtet war, schloß diesem Greise die Augen. Aber vorher
hate er Worte gesprochen, die gehört zu werden verdienen.
»Kropotkin ist ein sehr sympathischer Mensch, aber kein
starker Denker .. urteilt Masaryk über ihn. und wie mir
scheint mit Recht. Und mich dünkt, als könne man dieses
Urteil auch über Solovjeff und Tolstoi sprechen.
Starke Denker sind unter den Russen noch keine er-
standen, sie alle bedeuten mehr durch den Rhythmus ihres
Lebens, durch ihr Weltgefühl als durch die exakte Einzel-
arbeit ihrer gedanklichen Schlüsse.
Die geistige Entwicklung des modernen Europa, die im
18. Jahrhundert beginnt, steht unter dem Zeichen des
Humanismus. Die philosophische Entwicklung des 18. Jahr-
hunderts gipfelt in Kants Lehre von der unantastbaren
Majestät der Menschenwürde. in seinem Imperativ. den
Mitmenschen immer nur als Selbstzweck. als Eigenwert. nie
als bloßes Mifſtel anzusehen, und in Rousseaus Evangelium
von der ursprünglichen Güte der Menschennatur und ihrem
Rechte auf Freiheit. Diese Lehren schufen eine völlig neue
Lage des Bewußtseinslebens der Menschheit: ein nie ge-
kanntes Gefühl der eigenen Stärke und der persönlichen
Würde begann die Massen zu durchfluten. Doch die
äußeren Verhältnisse entsprachen nicht der innerlich er-
rungenen neuen Freiheit. Staaten, die nicht, wie Rousseau
es meinte und wie Kant es viel richtiger als Endziel auf-
gestellt hatte. aus einem freien Vertrage entstanden waren.
9
604 Hans Kohn
sondern aus der Vergewaltigung friedlicher Bevölkerungen
durch mächtige Räuber, drückten mit ihren, die über-
kommenen Macht- und Besitzverhältnisse schützenden Gesetzen
auf die Persönlichkeiten und Völker, denen die tiefen
Mängel und Uneerechtigkeiten des herrschenden Systeme
klar geworden waren. Daher beginnt mit dem Ende des
18. Jahrhunderts eine ununterbrochene Reihe von Ver-uchen,
diese Fesseln zu sprengen, von Revolutionen. Immer wenn
der soziale Bau der Gesellschaft und die durch äußeren
Zwang aufrechterhaltenen Verhältnisse der geistigen Ent-
wickelung der Intelligenz und den ökonomischen Bedürfnissen
der Masse nicht mehr entsprechen und ihren einst für
frühere Zeiten lebendigen Sinn einbüßen, beginnen sie wie
schwere Fesseln auf den Menschen zu ruhen, die mit ihrem
Körper schon für sie Erstorbenes und Erkaltetes tragen
müssen: während in ihrem Geiste schon ein neues Welten-
bild flammendes Leben gewonnen hat. Je größer aber der
Widerstand veraltet-erstarrter Ordnungen von aulen ist,
zu desto stärkerer Glut entbrennt die innere Flamme. Die
niemals aussetzende, in den gewöhnlichen Zeitläuften aber
langsame und allmähliche Umbildung des Bewufßtseinslebens
der Menschen und damit all ıhrer Vorstellungen von dem,
was sein soll. — welche langsame Umbildung Evolution
genannt wird — macht nun einer fieberhaft schnell vor
sich gehenden und immer weitere Gebiete erfassenden
Änderung des Bewußtseinslebens Platz — welche schnelle
Umbildung Kropotkin Revolution nennt. die in ihrem Wesen
nur durch das Tempo und die Intensität von der Evolution
verschieden ist, wobei beide Teilstrecken des natürlichen
Prozesses der Entwickelung darstellen. Während aber in der
Zeit der allmählichen Evolution. wenn die statisch-starren
Kräfte stärker sind als die dynamisch-treibenden, der Mensch
sich dem äußeren Drucke des Seienden ruhig fügt. das
Bestehende achtet und nur schwach in ihm die Stimme
Peter Kropotkin | 605
des Gewissens ertönt. die ihm sta der seienden Welt
eine moralische Welt weist. wie sie sein sollte. wird in
den revolutionären Zeiten der Imperativ des Seinsollenden,
das moralische Muß, träge Sicherheit und bequeme Ruhe
für die Errichtung einer Welt, die unseren Idealvorstellungen
entspricht, dahinzugeben, ‚ übermächtig. In den statischen
Zeiten beherrscht uns das. was ist. in den dynamischen
das. was sein soll. Das, was in ruhigen Zeiten die
Sturmkünder und Zukunftsahner, die Propheten, Philosophen
und Künstler, die das Gewissen der Menschheit repräsentieren,
gedanklich und im Rhythmus ıhrer Worte und Bilder ge-
schaffen haben, versucht nun im Stürmen der Massen in
das Reich der Wirklichkeit zu treten. Jeder einzelne erhebt
sich nun zu der Majestät und Würde, die Kant dem
Menschen zugeteilt hat: vom moralischen Imperativ getrieben,
gesetzgebendes Mitglied der Gesellschaft freier Menschen zu
sein. Darum sind diese Zeiten der rasenden Entwickelung,
die die Menschen weiterführen als ganze Jahrhunderte vorher,
so bewunderungswürdig und ruhmreich. Die Menschheit ist
niemals so schön wie in diesen Zeiten. Sie opfert alles,
was ihr sonst das Höchste ist: gefahrlosen Wohlstand und
bequeme Miftelmäßigkeite und in unendlichen Qualen und
Leiden, unter Tränen und Wehen gebiert sie eine neue
Menschheit, eine neue Etappe auf unserem langen und
dornenreichen Wege der Entwicklung. Schmerzensreich und
nie in Ruhe ist die Zeit der Revolution, gesegnet und
glücklich sind die, die sie leben dürfen, sie ist uns die Gewähr
des göftlichen Funkens ım Menschen, mag er noch so sehr
verschüttet sein.
Am Beginn dieser Zeit der Revolution, die manche für
die endgiltige und letzte halten, steht die große französische
Revolution. Der verehrungswürdige Greis ın Königsberg. der
in seinem ruhigen, eng beschränkten Leben doch der geistige
Vater der Weite seiner und der kommenden Zeiten geworden
606 1m — Hans Kohn
ist und zu dem die suchende Weisheit immer wieder zurück-
kehren wird, wie zu einem Jungbad, hat sie in Ehrfurcht
begrüßt: »die Revolution eines geistreichen Volkes. die wir
in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen
oder scheitern. sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen
angefüllt sein. daß ein wohldenkender Mensch, wenn er sie
zum zweiten Male unternehmend, glücklich auszuführen
hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu
machen nie beschliefen würde, diese Revolution, sag: ich,
findet in den Gemütern aller Zuschauer eine Teilnehmung
dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt, die
also keine andere als eine moralische Anlage ım Menschen-
geschlecht zur Ursache haben kann Ein solches
Phänomen in der Menschengeschichte vergift sich nicht
mehr, weıl es eine Anlage und ein Vermögen -ın der
menschlichen Natur zum Bessern aufgedeckt hat, desgleichen
kein Politiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge heraus-
geklügelt häfte.«e Das vorläufige Ende dieser Zeit der Revolution
in unseren Tagen bildet die große russische Revolution, die
für so viele der Zeitgenossen ein Prüf- und Scheidestein
und für so viele der Beginn einer Umwandlung ihres
inneren Lebens geworden ist. In der Zwischenzeit in all den
kleinen Versuchen. den Weg der neuen Menschheit zu
bahnen, unter denen vor allem der enthusiastische Auf-
schwung der Pariser Kommune von 1871 zu nennen ist,
lebten immer Revolutionäre. Bewahrer des Geistes, Hüter
der Flamme. Unter ihnen einer der würdigsten war Peter
Kropotkin.
Die Worte, die er gesprochen hat, nannte er »paroles
d'un revolte-, Worte eines zur Empörung Getriebenen. Und
sind nicht alle Worte, die heute ein Mensch in Wahrheit
aus der Tiefe seiner Seele spricht, paroles d'un revolté.?
Wohin wir um uns blicken, sehen wir, wenn wir den
Mut zur Aufrichtigkeit haben, Lüge und Unrecht und Ge-
Peter Kropotkin | 607
walt. Vielleicht ist der Goftesglaube vieler Menschen keine
Lüge, aber die Kirche nimmt diesen frei aus dem Herzen
strömenden Glauben und zwingt ihn in Reden und ver-
gewaltigt ihn in Schematismen und macht ihn zur Lüge.
Vielleicht ist der Organisationstrieb der Menschen in fest-
gefügtere Gruppen keine Lüge, aber der Staat nimmt diese,
vom Geiste getragene Lust der Menschen aneinander und
an ihrem Zusammensein und milbraucht sie zu seinen, den
Menschen fremden Zwecken und vergewaltigt sie, und die
Gemeinschaft, die die Menschen sich geträumt haben als
Vollendung und Höherentwicklung ihres Seins, als Gebilde
ihres Geistes wird zu einer furchtbaren, ungeistigen Maschine,
die die Menschen zermalmt. Vielleicht ist die schaffende
Lust der formenden Hand des Arbeiters keine Lüge, aber
die soziale Ordnung nimmt sie in die Klauen ihrer Gesetze,
mechanisiert sie und zerstört die Lust und der Arbeiter
wird der Sklave seiner Arbeit, deren Gewinn ihm fremde
Hände entreißfen. Freude und Freiheit verschwinden, die
schöpferische Stimme des Herzens schweigt und staft dessen
herrscht Unlust und Gewalt, das träge Herz lebt auf-
schwunglos der Gewohnheit der Konvention. Eigensüchtige
Verbrechen verbinden sich mit heuchlerischen Phrasen, die
s Wächter der Ordnung, d. h. der das hergebrachte Un-
recht schützenden Gesetze, greifen zur letzten Waffe: sie
nehmen die Forderungen der Neuerer als ıhre eigenen auf.
reden von Freiheit und Brüderlichkeit. von Wahrheit und
Gerechtigkeit und meinen ihre Freiheit und ihre Wahr-
heit damit: das Heiligste der Menschheit ist geschändet und
ertrinkt im Phrasengeschwätz der Tagespresse
da stößt Kropotkin seinen Aufschrei aus, den Aufschrei
des zur Empörung Getriebenen.
Kropotkin sieht, was alle Ehrlichen sehen: daß der
Grund alles Übels die Lüge ist. zu der die Menschen
gezwungen. werden. Zu der Lüge zwingen sie Staat und
608 Hans Kohn
Kirche, die von ihnen behütete Gesellschaftsordnung und
alle ihre kleinen Abbilder. Der Mensch wird gezwungen,
wider seine innere Überzeugung zu handeln und am liebsten
möchte man ihm jede Überzeugung rauben (das konsequent
bis zu Ende denken ist noch in allen Staaten der Welt
als Verbrechen angesehen worden) und ıhn zur willenlosen
Maschine machen. Staat heift Zwang. Gewalt, Vergewaltigung,
damit aber Lüge und Unrecht. Da ıst es gleich. ob dieser
Staat sich eine Despotie oder eine parlamentarısche Demo-
kratie nennt, das ist verbrämendes Flifterwerk, immer ist
es eine Herrschaft Weniger über ıhre Mitmenschen. Wo
Herrschaft ist. da ist Gleichheit und Brüderlichkeit eine
Phrase, da stellt sich Zwang und Lüge ein. Das Ziel heißt:
an-archia: Herrschaftslosigkeit.e. Nur das ist wahre Freiheit.
Was Kropotkin fordert, ist die Vernichtung aller »arche«.
Die große, endgiltige Revolution, deren Kommen er all sein
Leben vorhergesagt hat, wırd nicht bloß eine politische sein,
die an die Stelle der einen Staatsform eine andere setzt,
wobei sich nichts Wesentliches ändert, sondern eine soziale,
die den gesamten Aufbau unseres gesellschaftlichen Lebens
von Grund auf umgestaltet. -Die Lust des Zerstörens ist
eine schaffende Luste hat Kropotkins Lehrer Bakunin gesagt.
Und wenn sie weinen über die. Vernichtung alles dessen,
was sie Ordnung nennen: ist denn das Ordnung. ist denn
dies Chaos mit seinen ewigen Kriegen. mit seinen Ver-
brechern und seinen Verhungernden, wo Millionen, für die
der Hunger .gestillt und die Schwindsucht vertilgt werden
konnte, ausgegeben werden, damit ein Mensch den anderen
töte. mehr als eine Ordnung, für die, die ihren Vorteil
daraus ziehen und die furchtbarste Ungerechtigkeit für alle
andern? Und wenn sie schreien. daß bei Aufhebung der
Gewalt und der Gesetze die Verbrechen immer mehr wachsen
werden, wissen sie denn nicht, was jeder Kriminalist weil,
daß trotz aller Gesetze die Zahl der Verbrechen immer
Peter Kropotkin 609
unheimlicher wächst, daß, je mehr Gesetze man ersinnt,
desto weniger man dem Verbrechen beikommen kann, daß
die Zuchthäuser die Menschen nicht bessern. sondern zu
Verbrechern erziehen? Weiß man nicht, daß über fünf
Sechstel aller »Verbrechen« Verbrechen gegen die Staats-
gewalt und gegen die Heiligkeit des Eigentumsbegriffes sind
und mit dem Schwinden von Staat und Eigentum auch alle
jene Verbrechen verschwinden werden, gegen die subtilste
Gesetzestechnik machtlos ist? Der Staat, und alles was er
schützt, mul verschwinden, dann erst kann die neue Menschheit
kommen.
Die Lust des Zerstörens ist eine schaffende Luste. Was
aber soll geschaffen werden? ...... Und Kropotkin
träumt: Er sieht eine neue Menschheit, keine Obrigkeit ist
mehr da, die die Menschheit zur Lüge und zum Unrecht
zwingt. das Eigentum, dieser Diebstahl einzelner Starker an
dem Gute der Allgemeinheit, der durch Gesetze mit fürchter-
lichen Strafandrohungen geschützt wird, besteht nicht mehr.
Die Menschen sind in Wahrheit frei von allen Fesseln des
Staats und der Wirtschaft, um der lauteren Stimme ihres
inneren Gewissens zu folgen. Nach freier Wahl und von
ihrer Sympathie geführt, schließen sie sich zu Bünden zu-
sammen. die auf Verträgen beruhen und die sich wieder
für bestimmte Zwecke zu höheren Einheiten, Föderationen,
zusammenschließen. Die Verbände eint kein Zwang, sondern
die Gemeinsamkeit der Idee. Es gibt keine Herren und
keine Gesetze, alle sind gleich und sind Brüder. Das Gute,
das ın jedem Menschen wohnt, kann sich nun frei ent-
falten; die Menschen sind keine wilden Bestien und das
Leben beherrscht nicht nur der wütende Kampf ums Dasein,
sondern in der ganzen Natur herrscht gegenseitige Hilfs-
bereitschaft und Solidarität. Das. was einst durch Gewalt
und Konvention die Menschheit getrennt hat, wird weichen:
ein Band der Liebe und Güte umfängt alle Menschen, eine
6l0 ? Hans Kohn
neue Sittlichkeit. eine Religion der vernünftigen Ethik beseelt
sie. Sie regeln ihr Leben selbst: jeder arbeitet, und jeder
arbeitet mit Lust und erhöhter Intensität in wenigen Stunden
für die Allgemeinheit nützliche Güter. Die freie Zeit benützt
er zur Pflege des Körpers, zur Bildung des Geistes, widmet
sie Wissenschaft und Kunst. Die Unfreudigkeit und die
atemlose Angst des modernen Lebens verschwinden. Ge-
wohnheit und Konvention zwingen einen nicht mehr zur
Pose, zur inneren Leere und Langweile, denen man nur
durch Narkotika oder durch den Selbstmord entrinnt. Alles
Komplizierte wird einfach, alles Quälende verschwindet.
Freude, wahre Freude, nicht durch Rauschmiftel herbei-
geführte Lust. herrscht unter den Menschen. Der Mensch
ist nicht mehr der Natur entfremdet. ein gemeinsames Band
umschlingt sie alle. Kein Neid herrscht, keine Habsucht,
keine Gier. Alles gehört allen: jeder steuert nach seinen
Kräften und Fähigkeiten durch seine Arbeit bei und jeder
nimmt nach seinen Bedürfnissen. Keiner rechnet und zählt
und wägt: stał der blinden Göftin mit dem Schwert und
den Wagschalen herrscht die Liebe. In einem gemeinsamen
brüderlichen Aufschwung werden die besten menschlichen
Kräfte frei: nicht eine stumpfe Durchschniftlichkeit wird
in dieser Gemeinschaft herrschen, sondern höchste Intensität
der Leistung, freudiges Schaffen, eine Höherentwicklung der
ganzen Gaftung zu dem geistigen Aristokraten Guyaus, zu |
dem ins Humane gewandten Übermenschen Nietzsches. Ist
das nicht das höchste Idealbild des Humanismus, sein wahrer
Erbe in unserer Zeit. das Goftesreich auf Erden: eine Ge-
meinschaft freier, autonomer Persönlichkeiten, brüderlich geeint
in Hilfsbereitschaft und Liebe, ein Leben der Freude und
Arbeit lebend?
Wahrlich. ein Ziel, vor dem uns Ehrfurcht gebührt.
Und der Weg dorthin: Kropotkin nennt als solchen die
Revolution. Revolution ist aber selbst Gewalt, Mord, Un-
Peter Kropotkin 611
recht! Wie kann aus Gewalt und Mord die freie Liebes-
gemeinschaft entstehen? Kropotkin wünscht die Revolution
möglichst unblutig: zu diesem Zwecke muß sie richtig vor-
bereitet“ sein. Diese Vorbereitung kann keine zentralisierte
Partei führen, sondern freie, vorbildlich wirkende Gruppen,
die die Menschen die neue Ethik lehren und sie aus ıhrem
trägen Schlafe rufen: Je weiter und. vollkommener es diesen
Gruppen gelingt, den neuen Geist zu wecken. desto un-
blutiger. schöner, besser wird der Übergang aus der Ge-
sellschaftsordnung der Gewalt ın d.e der Freiheit sein. Wir
sehen, daß die Vorstellungen der von den Marxisten
sutopistisch« genannten Sozialisten wie Proudhon oder Fourrier
hier wieder aufleben. |
Ich glaube, das Wesentliche an Kropotkins Gedanken
richtig wiedergegeben zu haben. Freilich nicht immer mit
seinen Worten. Denn er hält seinen Anarchismus für eine
exakte Wissenschaft. die mit den Methoden der Natur-
wisseaschaft gehandhabt werden kann. Er ist wie die älteren
russischen Revolutionäre ein Schüler Feuerbachs und seines
antimetaphysischen und antireligiösen Positivismus. er hat den
Einfluß Comtes erfahren und hat den größten Teil seines
Lebens im Lande Mills und Benthams gelebt. All das machte
ihn zum Feinde aller Metaphysik und aller Religion; dabei
hat er nicht gesehen, daß sein Anarchismus im Grunde auch
nur Metaphysik und Religion ist, und daß die neue Ethik
nur dann die Menschen mit solcher Gewalt ergreifen wird.
um die ganze Gesellschaftsordnung und Lebensführung um-
zugestalten. wenn sie mit religiöser Glut auftrift. - Nicht
blof, wenn man eine Goftheit verehrt. ist man religiös,
‚sondern auch dann, wenn man alle Kräfte des Geistes.
alle Willensergebung, alle Gluten des Fanatismus dem
Dienste einer Ursache oder eines Wesens weiht, welches
zum Ziel und Führer der Gedanken und Handlungen wirde
sagt Gustav le Bon und noch richtiger Lecky: - Religion ist
612 Hans Kohn
uneigennützige Begeisterung. welche große Gesamtheiten von
Menschen zur Erstrebung eines Ideals vereinte, und sich als
die Quelle heroischer Tugenden erwies. Ohne eine solche
Religion. die als Idealbild der Zukunft die ganzen Massen
in gemeinsamem Aufschwung vereint, wird es nie zu einer
möglichst unblutigen. Revolution kommen. Und es bleibt
eine schwere Frage, auf die Kropotkin nie mit dem ge-
nügenden Ernst eingeht: kann das Reich Goftes auf Erden,
kann die endgiltige, absolute Zeit auf einer Gewalttat sich
aufbauen?
Kropotkins Wissenschaftlichkeit, sein Europäismus, der
aber nie so weit geht, um wirklich wissenschaftlich zu
werden, macht, daß er uns weniger ist als Tolstoi, der sich
auch nicht vor der Autorität wissenschaftlichen Europäismus
beugt. sondern sie als unwesentlich ablehnt. Kropotkin hat
das niemals vermocht. Er hat die Fundierung seines Anarchis-
mus statt auf allmenschlich breiter Grundlage im Klassen-
kampf des Proletariats gesehen, stand dabei aber der wissen-
schaftlichen Tiefe und der — trotz allem Anfechtbaren —
so bewundernswerten Gedankenarbeit Marx verständnislos ge-
genüber. Kropotkins negative Kritik des Staates und aller
Zwangsgenossenschaft ist in ihrer strengen logischen Konse-
quenz unwiderlegbar, aber sie ist nicht neu. Sein Zukunfts-
bild beruht auf einer Voraussetzung: nur wenn die mensch-
liche Natur in ihrem Kerne gut ist, eröffnen sich ihr Mög-
lichkeiten. Aber das ist die Voraussetzung alles Humanismus
daß der Mensch den Goftesfunken in sich trägt in unver-
lierbarer Würde, dal er aus freier Anstrengung das Goftes-
reich auf Erden schaffen könne. Ist der Mensch tatsächlich
nur ein Wolf, dem der Raubtierinstinkt unauslöschbar ein-
haftet, dann sind ihm auch alle Möglichkeiten versperrt
Und wenn der Mensch nicht aus freier Überlegung und
Einsicht handeln kann, sondern nur der Spielball dunkler
unheimlicher Mächte ist, auch dann sind ikm alle Möglich-
Peter Kropotkin 613
keiten versperrt. Das sind die Grundvoraussetzungen des
Kropotkin schen Zukunftsbildes: Humanismus und Rationalis-
mus: im einzelnen aber ist Kropotkins Zukunftsbild primitiv
in seiner Gestalt und naiv in seiner Ausführung. Man
merkt ihm den russischen Aristokraten. der zum narodnik
geworden ist, ebenso an wie Tolstoi: das primitive Leben
des Muschik, das diese Männer in ihrer Jugend umgeben
hat, ist ihnen Vorbild geblieben. Freilich war Tolstoi bier
konsequenter: primitiver Kommunismus ist nur bei einer ge-
wissen Askese denkbar, während Kropotkin selbst den
Luxus beibehalten zu können glaubt.
Trotz alledem: Kropotkins Worte sind ein Trost für
uns: der Trost, dał in dieser Welt der Gemeinheit und
des Wahnsinns. die so viele der Ehrlichsten und Besten
zum Selbstmord getrieben hat, die Sehnsucht nach Reinheit
noch nicht erloschen ist, und daß diese Sehnsucht die Stärke
läuternder Flammen erreichen kann, ın deren flackernder
Glut alte Welten zertrümmert und neue geboren werden.
Trotz alledem: aus Kropotkin stammeln, naiv oft und un-
wirklich, rhetorisch manchmal und phrasenreich, Bruchstücke
des größten und schönsten Traumes, den die Menschheit seit
drei Jahrtausenden träumt, des Traumes eines Reiches der
Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, in den mit brausenden
Akkorden als Verheißung der Freude und als Überwindung
der steten Todesangst der Menschheit in dieser Welt der
Beethoven sche Jubelruf dringt:
Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Ein Reich von Brüdern, in Freiheit und Freude! Ein Traum?
i a Aber ımmer wieder werden Menschen erstehen
und alles für die Verwirklichung dieses Traumes hingeben
EEE Und ist er nicht dessen wert, mehr denn alle
Träume, die die Menschheit geträumt hat? ......
Das russische Volk neigt in seiner Lebensgestaltung zum
614 Individualität und Gesellschaft
primitiven Anachismus. Von auß:n aus aber will maa ihm
fremde Form aufzwängen: sei es die Form normanischer
Wikinger, sei es die tatarıscher Despoten. oder der seit
Peter nie aufhörende des europäischen Staatsabsolutismus
oder der jetzt anscheinend beginnende Prozeß der kapitalis-
tischen Bourgeoisieform. Aber Rutland wehrt sich: seine
Sektierer und Mystiker, seine Verbannten und Emigrierten,
alle. die die fremde Form als für sich gefährlich erkannt
hat. waren Stimmen der Verheilung in dem Mifklang des
russischen Lebens. Die Kleinen und Miftlerea der Intelligenz
kamen oft zur Verzweiflung, aber die großen Leuchten Rul-
lands schürten die Hoffnung auf die eigenen tielen Kräfte
des Volkes. Seit dem Aufschwung der großen Revolution
tappen diese tiefen Kräfte des Volkes nach einem Wege.
Sie werden: ihn finden. Und auch der übrigen Menschheit,
die anders ist als die russische, wird dieser Weg ein neuer
Ansporn sein.
INDIVIDUALITÄT UND GESELLSCHAFT
Dieser Aufsatz ist ein Kapitel aus dem im Inter-
nationalen Verlag. Zürich anonym erscheinenden Werke,
‚Über proletarische Erhike«. Der Verfasser
it ein russischer Revolutionär. der bereits die
Revolution von 1909 mitgemacht hat und nun am Auf-
bau Sowjetrußlands mitarbeitet.
Die Ansichten, die in der heutigen Gesellschaft über
die Individualität herrschen, die zu unserer Zeit noch übliche
Autfassung des Individuums, sind der Ausdruck der bürger-
lichen Denkweise, und sie kommen aus der bürgerlichen
Ideologie, |
Die bürgerlichen Klassen, die am Produktionsprozeß | nıcht
teilnehmen und die den Schaffensprozeß der Waren nicht
Individualität und Gesellschaft D 615
miterleben, sondern alles im fertigen Zustande bekommen,
haben die Tendenz, ihr Augenmerk auf bereits fertige Formen
zu fixieren.. Die »Forme ist für die bürgerliche Ein-
stellung das eigentlich Wesentliche, sie ist ihr Götze.
Diesen Stempel drückt der Mentalität der bürgerlichen
Klassen ihre ökonomische Lage auf, ihre passive Anteil-
nahme am Produktionsprozeß.
Psychologisch vollzieht sich das folgendermaßen: ‚Der
Bourgeois macht in seiner Psyche die Willensmomente im
Produktionsprozeß nicht durch. Die Schaffung der Waren
geht ihn nur rein äußerlich an: er ist allein an den
Resultaten interessiert. Das materialistische eigennützige
Interesse lenkt seine Aufmerksamkeit von allen Qualen der
schöpferischen Tätigkeit der Arbeit ab. Dem Bourgeois
sind die Qualen unverständlich; ihm ist auch der Sinn für
die schöpferische Handlung fremd — er kennt einzig und
allein ihre kristallisierten Formen.
Zugleich äußern sich die Tendenzen der Bourgeoisie
als die einer mit ihrer Lage zufriedenen Klasse in ihrem
Festhalten am Bestehenden. in dem Bestreben, die sozialen
und politischen Verhältnisse beizubehalten. Dies wiederum
ist der Grund der statischen Denkweise der Bourgeoisie.
Der Bourgeois denkt nicht dynamisch sondern statisch.
Die Folge davon war. daß in der bürgerlichen Ideologie
sich eine statische Auffassung des Individualismus. des
Organismus sowohl wie der menschlichen Psyche gebildet
hat. In der Vorstellung der Bourgeoisie ist der Mensch
etwas Abgesondertes, etwas von der Gesellschaft Losgelöstes,
und zwar etwas organısch wie psychisch Abgetrenntes. Der
Mensch sei etwas Starres, sei eine Wesenheit. Diese
kristallisierte, versteinerte Vorstellung vom Menschen wird
von der bürgerlichen Ideologie auch auf die lebendige
Persönlichkeit übertragen. und so verwischt diese ihre
Veränderlichkeit, ihre Beweglichkeit. ihre Elastizität und
616 Individualität und Gesellschaft
ihren Zusammenhang mit der Gemeinschaft. Und diese
Ideologie des Bürgertums wirkt ansteckend auch auf die
anderen Klassen. Im Gegensatz zu einer derartigen Auf-
fassung sagen wir: eine organische oder psychologische
Individualität. so wie sie die bürgerliche Vorstellung fat,
gibt es überhaupt nicht.
Das Individuum ist ein bürgerliches Götzenbild. In
Wirklichkeit vermag unser Bewußtsein den menschlichen
Organismus nicht zu individualisieren und ihn von dem
gesellschaftlichen Organismus zu trennen. Der individuelle
Organismus ist nur ein rein synthetischer Moment im
allgemeinen organischen Prozeß. Die Momente der Zeugung.
der Geburt. des Säugens und Erziehens sind lauter
Momente des gesellschaftlichen Schaffens. Momente eines
allgemeinen ele meatarisch- organischen Prozesses. Uad wenn
wir vom Menschen sagen: Ein Individuum so sagen wir das
im bedingtem Sinne. in dem Sinn, daß ein bestimmtes
Moment in dem allgemein elementar- organischen Prozeß
gekennzeichnet werden soll. Wir können die Psyche
der Persönlichkeit nicht unabhängig von der Psyche der
Gesellschaft. der Klasse oder Gruppe individualisieren. Das
lebendige Band. das die Persönlichkeit unzertreunbar mit
der Gesellschaft verkeftet, wird für uns in diesem Fall
noch begreitlicher, noch anschaulicher, noch einfacher. Nicht
nur unsere Begriffe, sondern auch unsere Ge:ühle und
Wünsche müssen als Begriffe und Wünsche der Klasse
oder Gruppe angeschaut werden. Die Persönlichkeit wird
geboren und entwickelt sich ın einem sozusagen gesattigten.
psychischen Milieu, und da ist keine Möglichkeit zu sagen
wo Mein und wo -Nicht- mein“ ist.
Aber zugleich tragt fast jedes Individuum ein schöpferisches
Prinzip. jene eigentliche psychische Synthese, infolge deren
die Tätigkeit des betreffenden Individuums sich von der
Tätigkeit aller anderen unterscheidet. Dieser schöpferisch-
Individualität und Gesellschaft 617
eigentümliche Kern des Individuums ist bei den einen be-
sonders scharf und voll ausgedrückt. und das sind die
produktiven Persönlichkeiten; bei den anderen, bei der
Majorität. bei dem sogenannten amorphen Typus ist er
dagegen fast nicht wahrzunehmen . . . Es ist die schöpferische
Persönlichkeit, oder das Schöpferische in der Persönlichkeit,
das in das allgemeine soziale Leben jene gewisse individuelle
Eigenheit. die wir eben Individualität nennen. hineinträgt.
Die gewöhnliche Persönlichkeit ist keine Individualität: ihre
Psyche und ihre Tätigkeit zerstreuen sich immer wieder
in der Gesellschaft. im sozialen Organismus: allein das
schöpferische Element in der Psyche der Persönlichkeit er-
scheint als ein individuelles. sich nicht zerstreuendes Element,
als ein Element, das dem sozialen Leben den Stempel auf-
drückt und in das Leben etwas Neues. Eigenstarkes. Un-
zerstõrbares bringt.
Die bürgerliche Vorstellung von der Individualität ist
also unrichtig: die bürgerliche Individualität ist zerstörbar.
Individuell ist in Wahrheit dasjenige. was feststehend. ewig
ist. Und als das erscheint im organischen Sinne das all-
gemeine Leben. das Leben der Menschheit: im psychologischen
Sinne werden individuell die objektivierten produktiven
Momente der psychischen Tätigkeit. Wir schen also, daß
die Individualität geboren wird und nicht stirbt. Sie ist
ewig. In jedem einzelnen Menschen überlebt die psychische
Individualität ihren Organismus.
Schon in der Entwicklungsgeschichte des organischen
Lebens und des Lebens der Menschheit sehen wir, daß
das Leben in einem ununterbrochenen Kampf mit den
anorganischen elementaren Gewalten bestanden hat. Blicken
wir tiefer in die Gesellschaft selber, so schen wir auch
hier einen unerbittlichen angespannten Kampf der Mensch-
heit mit den Elementargewalten, aber nicht mehr in anor-
ganischer Form, sondern in organischer. Gegenwärtig befindet
618 Individualität und Gesellschaft
sich der gesellschaftliche Organismus sowie die Mehrzahl
der einzelnen Persönlichkeiten noch vollkommen in der
Macht der organischen Elementargewalt. Und hier wird
deutlich: der Freiheitsdrang,. das Bestreben,
seines Elementes Herr zu werden, bildet
den inneren Sınn der Gesamtgeschichte der
ganzen gesellschaftlichen und persönlichen
Entwicklung. Das Sterben der einzelnen Organismen
ist nichts anderes, als die Herrschaft der organischen
Elementargewalt über das Bewußtsein der Persönlichkeit, das
Erstreben nach individueller, organischer Unsterblichkeit.
Dem Menschen ist. wie jedem Lebewesen, der Tod
zuwider; gegen ihn wehrt er sich mit all seinen Kräften.
Und je kultivierter. je lebensfähiger die Persönlichkeit ist,
umso heftiger kämpft sie gegen die Elementargewalt an —
umso stärker ist ihr Wunsch nach ewigem Leben. Man
sehe, wie verhältnismäßig gleichmütig der Chinese seinen
Kopf aufs Schafoſt legt und mit welchem krampf haften
l Schluchzen wir unseren Verwandten und Freunden das
letzte Geleit geben. Ist uns denn Greisentum und Schwäche
nicht zuwider: haben wir denn nicht einen Drang nach
ewig jungem und starkem Leben? . . . Das alles ist da:
es ist der heimliche Gedanke alles Lebendigen! Aber erst
dann. wenn die gesellschaitliche Organisation die Elementar-
gewalt meistern wird — erst dann wird es möglich sein,
auch der Unsterblichkeit Herr zu werden. Noch aber
wird die Menge des Lebens von der anorganischen
Elementargewalt zerstreut und absorbiert.
Der Triumph des Lebens, der Triumph des mensch-
lichen Bewußtseins über die organische Gewalt findet sich
in der allerengsten Abhängigkeit von der Gewalt des
Menschen über die anorganische Elementargewalt: und
vielleicht hängt die letztere noch stärker von der ersteren
ab: je höher der gesells:haftliche Organismus. umso größer
Individualität und Gesellschaft _ 619
die Macht des Menschen über die Natur. In dem
Menschen liegt das unbewußte Streben
nach der Entwicklung der gesellschaft-
lichen Organisation; das ist sein mo-
ralischer Trieb, sein Lebensdrang. Der
Mensch ahnt unklar und dunkel, daß die Weiterentwicklung
der gesellschaftlichen Organisation zum schöpferischen Zu-
stand des Bewußtseins und der Erweiterung seiner Macht
führen wird. Der Mensch ahnt ganz instinktiv, daß man
das Leben nur durch die gesellschaftliche Organisation
erhält, die zugleich mit ihrer Vervollkommnung immer
mehr organisch die Elementargewalt beherrschen und mit
der Zeit sie ganz besiegen wird. Die Menschheit wird
in ihrer Entwicklung die einzelnen Organismen unsterblich
machen, sie wird das Mittel finden gegen die zerstörenden
Wirkungen der Elementargewalt.
Gewiß, dieses Auf hören der Lebensenergie wird zu
einem Höchstmaß der Lebensentwicklung führen. Wir
können uns nicht einmal auch nur vorstellen, wie mächtig
der Mensch der Zukunft werden kann, wie groß seine
Gewalt über die Natur sein wird. Er wird
der Herr der Welt werden und sein, Geschlecht im
weiten Weltraume verbreiten. er wird das Planetensystem
beherrschen. Die Menschen werden unsterblich sein. Der
gesellschaftlich Organismus differenziert sich; davon wird
es ım Zusammenhang mit dem einen sgesellschaftlichen
Organismus. viele Individualorganismen geben. Die psychische
Individualität wird von der organischen Individualität un-
trennbar sein. Zugleich wird. aber bei dieser organischen
Differenzierung die organische und psychische Integration
erhalten bleiben und sich noch mehr entwickeln. Das
gesellschaftliche Zusammenarbeiten wird seine äußerste Grenze
erreichen
Alle 17 5 über den Untergang der Erde oder
620 Individualıtät und Gesellschaft
den Untergang des Menschengeschlechts sind nur zu un-
begründete Hypothesen und Utopien des Pessimismus. Sie
sind -deshalb unbegründet. weil sie in ihren Schluſ-
folgerungen die elementarsten Tatsachen außer acht lassen.
Sie betrachten den Untergang des Lebens vom Standpunkt
der heutigen Lebensbedingungen. vom Standpunkt der
jetzigen Lebensanpass ung. Aber das Leben ist doch dehn-
bar. Darin eben besteht gerade das Leben. dadurch ent-
wickelt es sich, daß es alle zerstörenden Elementarkrätte
beherrscht und seine zerstörende Kraft auf seinen Triumph
und seine eigene Entwicklung richtet. Und das, was viel-
leicht, wie es uns scheint, gegenwärtig das Leben bedroht,
wird vom Leben zu seiner Weiterentwieklung genutzt
werden. Der Mensch strebt nach individueller Un-
sterblichkeit. — und er wird unsterblich sein. Jetzt ist
das erst noch eine Hypothese, ein schöner Wahn. Mag
es eine Hypothese sein, antwortea wir dem Skeptiker!
Aber jede Wissenschaft hat ja ihre Hypothese, und treibt,
auf sie gestützt, das Leben vorwärts. Aber wir halten
diesen Gedanken nicht allein für eine
Hypothese der Ethik. Bestand denn das Leben
nicht darin, daß der Mensch selbst das verwirklichen
mußte. wovon er nicht einmal träumte, woran er nicht
einmal dachte? Und umso wahrscheinlicher ist es, daß er
dasjenige erreichen wird, wonach er sich sein langes, müh-
ecliges Leben hindurch sehnt. wonach ihn sein ganzes
Wesen, sein Selbsterhaltungstrieb drängt. Der menschliche
Wille, der menschliche Gedanke hat die Fähigkeit, sich
zu verwirklichen. Die menschliche Schöpferkraft hat keine
Grenzen
Wir, die wir um ein gesellschaftliches
Ideal kämpfen, kämpfen letzten Endes
um die menschliche Individualität, kämpfen
um individuelle Unsterblichkeit. Wir
Franz Schulz: Gustav Noske — Heinrich Mann 621.
Marxisten kämpfen um die Ind vidualität. während wir
für gesellschaftliche, für allgemein menschliche Interessen
kämpfen. Wir wissen wohl, daß man zum Triumph der
Persönlichkeit. zu einem Sieg des Bewußtseins über die
Elementarge walten erst durch die Gemeinschaft und durch
kollektive Arbeit kommen kann. Die Bourgeoisie will
etwas anderes. Sie zerstört die Gemeinschaft. Indem sie
für ihre Individualität - kämpft, kämpft sie gegen die
Gesellschaft. Für das Bewußtsein der Gemein-
schaft ist jene Elementargewalt, die be-
kämft werden muß, die Bourgeoisie.
GUSTAV NOSKE — HEINRICH MANN
VON FRANZ SCHULZ
Zwischen diesen beiden liegt eine Welt: das Deutschtum mit allen moralischen
und ästhetischen Wesenheiten und Möglichkeiten. Wohl ın Folge seiner vielfältigen
und komplizierten Rassenmischung birgt das deutsche Volk — ähnlich dem jüdischen
— alle Gegensätze menschlicher Besinnung und unmenschlichen Widersinns in sich.
Datür sind die zwei Männer, der unkultivierteste aller Minister und der kulti-
vierteste aller deutschen Literaten, Beweis, ihre Namen Symbol. Die Bedeutung
beider Erscheinungen ist nur in Superlativen zu formulieren; (gleichgültig, wie man
literarisch und politisch das Werk Dieses und jenes werten mag).
Ich sagte: Besinnung und Widersinn. Heinrich Mann ist die Besinnung des
Deutschen. In ihm setzt das Bewußtwerden ein, da3 an der Vernunft fürchterlich
gesündigt worden ist. Das Buch „Macht und Mensch““) ist ein glühendes
Manifest der Vernunft. Er, ihr leidenschaftlicher Anwalt, bekämpft die deutsche
(und nur deutsche) Ansicht, Vernunft sei sekundär, primär chaotisch-dionysisches
Weltgefühl oder goethisch-abgeklärte Sauverenität. Er stellt die erste Forderung
der Vernunft: daß der Geist herrsche und daß die Geistigen herrschen wollen.
„Denn der Typus des geistigen Menschen muß der herrschende werden in einem
Volk, das jetzt noch empor will Das Genie muß sich für den Bruder des letzten
Reporters halten, damit Presse und öffentliche Meinung, als populärste Erscheinungen
des Geistes, über Nutzen und Stoff zu stehen kommen, Idee und Höhe erlangen.
) Kurt Wolff Verlag.
622 Franz Schulz: Gustav Noske — Heinrich Mann
Der Fauste und Autoritätsmensch muß der Feind sein. Ein Intellektueller,
der sich an die Herrenkaste heranmacht, begeht Verrat am
Geist. Denn der Geist ist nichts Erhaltendes und gibt kein Vorrecht. Er
zersetzt, er ist gleichmacherisch; und über die Trümmer von hundert Zwingburgen
drängt er den letzten Erfüllungen der Wahrheit und der Gerechtigkeit entgegen,
ihrer Vollendung, und sei es die des Todes.”
„Sie haben es leicht gehabt, die Literaten Frankreichs, von Rousseau bis Zola:
sie alle haben das Glück gekannt, sich nicht stumm und oline Arme zu fühlen,
von einem Volk, dem der Geist nicht nur überirdisches und belangloses Spiel ist,
auf eine Tribüne erhoben zu werden, ihr Wort die Dinge bewegen, den Geist in
Welt und Tat verwandelt zu sehen . . In Deutschland hätten sie es schwerer.
Sie hätten mit einem Volk zu tun, das Leben will, nichts weiter wie. Niemand
hat gesehn. daß hier, wo so viel gedacht ward, die Kraft der Nation je gesammelt
worden wäre. um Erkenntnisse zur Tat zu machen.“ So klagte Heinrich Mann
im Jahre 1910 und pries den Franzosen von 17%, dessen Tat über die Jahr-
hunderte voraus den märchenhaften Schein. warf, der sie nun weniger trostlos
macht . . Daß Heinrich Mann jetzt, da eine deutsche Revolution keine Erkenntnis
zu keiner Tat gemacht, sondern Unkenntnis und Unfähigkeit gegen die Tat ge-
stellt hat, daß er nun weniger verzweifelt als vor zehn Jahren, möchte uns, die
wir nur ein Abseits des Geistes in die Kloake des deutsch-mehrheitlichen Anti-
geistes verwandelt sehn, mehr Hoffnung geben als sonst etwas.
Heinrich Mann erwartet das Heil von Westen, die politische Elementarität des
Ostens ist ihm ein Graus. Er verkennt leider die große russische Revolution und
überschätzt — cbenso wie Förster — die parlamentarische Anständigkeit Englands,
eine schöne Allüre gut erzogener Menschen. Er erwartet schließliche Besinnung
einer deutschen Mehrheit, die weder heut noch murgen einer Besinnung fähig ıst,
weil nur die Besten, die Leidenschaftlichen und Empörten, weil nur eine kleine
Schar von Rebellen gegen das Chaos bürgerlicher Ordnung die Jauche der Lügen
und Frechheiten wırksam zu vermeiden weiß, mit der dieses arme Volk seit eh
und je berieselt und — regiert wird. Doch gerade, daß der Menschen-Ziselator
der „Kleinen Stadt“, der Pamphletist der ., Untertan“, der Kleinstes nicht über-
sieht und Hassenswertes so sehr haßt, daß einer der besten Europäer noch zu hoffen
vermag, diesem Voike werde Besinnung die Gewalt ersparen, — ein solch leiden-
schaftlicher Optimismus muß uns, die wir bedauern ıhn nicht teilen zu können,
freuen und stärken. l
Der besonnene, kulturbesonnene Mensch ruft sein Volk. Er ruft es jetzt noch
und sehnsüchtiger denn je. Trotz allem und trotzdem es einen Noske gibt.
Das ist die Tragik des Deutschen, daß Noske ein existierender Typus, Heinrich
Mann zwar ein polares Symbol, doch ein Einzelner ist. Daß es Tausende, vielleicht
Millionen, daß es Massen gibt, die — wenn auch seine Taten bisweilen verur-
Die revolutionäre Bewegung in Spanien 623
teilend — einen persönlichsten Instinkt für Noske haben und nur Einzelne, der
Masse Fremde, die Heinrich Mann lieben. Daß jede der beschämenden Reden
Noskes, (in deren keiner das Wort „Dreck fehlt), günstigen, verstehenden Wider-
hall findet, während die Essais und Reden Heinrich Manns gerade gefallen. Daß
man den Geist hierzulande als Luxusobiekt, als Schußhündchen, als gangbaren
Exportartikel und günstiges Reklameobjekt bestenfalls ansieht und ihm eine Real-
politik entgegenstellt, vor der jedes kultivierte Volk einen Lachkrampf oder Übel-
heiten bekäme. Daß man einen Literaten zum Pressechef nur macht, wern er
sich neuorientiert und feierlich den Geist abschwört und deß man auf Literaten,
die Geist und Politik, Vernunft und Realpolitik vereinen, die ganze ekle Meute,
der Presse hetzt. solange bis ein patriotischer Cretin sie in den Rücken schießt.
Eisner, Landauer, Liebknecht, Rosa Luxemburg sind die Opfer und Kronzeugen
der furchtbarsten Tragik eines geistfeindlichen Volkes und Noske ist ihr Sach-
beweis. In keinem andern Lande ist der Geistige Paria wie hier, wo Geist nicht
nur stasts-, sondern auch volksfeindlich ist und in keinem andern Lande, in dem
ein Heinrich Mann lebte, würde der Untertan Noske auch nur einen Tag geduldet
werden. So sehr ich Heinrich Mann ais Künstler schätze, — seine wahre Be-
deutung sehe ich nicht in der Literatur, noch viel weniger in seiner Politik der
idealistischen Linie: ich sehe sie darin, daß er, heute einer der ganz wenigen Ein-
zelnen, einst der beste Repräsentant einer Typus sein wird, von dem — wird es
kommen — dem Deutschen. das Heil kommen und der den Typus Noske be-
siegen wird. Und seı es durch Mittel, .die Heinrich Mann verdamnit. Daß
man Noske bis jetzt geduldet hat, zeigt wie weit noch der Weg vom Deutschen
zum Europäer ist und daß cs einen Heinrich Mann gibt, verpflichtet uns, diesen
Weg, so. furchtbar schwer er ist, zu betreten.
DIE REVOLUTIONÄRE BEWEGUNG
IN SPANIEN
VON EINEM SPANISCHEN SOZIALISTEN DER Ill. INTERNATIONALE
ın keinem anderen Lande Europas: macht das Proletariat einen so großen Teil
der Bevölkerung aus, wie in Spanien. Praktisch gesprochen gibt es hier keine Mittel-
klasse. Trotz der industriellen Rückständigkeit des Landes herrscht die schärfste
wirtschaftliche Ausbeutung: sie hat jedoch keine neue privilegierte. Kaste geschaffen.
wie in anderen Ländern die Bourgeoisie. Der spanische Adel ist einfach in den
Besitz neuer Macht gekommen, er hat langsam und auf natürlichem Wege eine
neue Position in der Gesellschaft erlangt: er hat sich seine alte Herrschaft in
neuer Form gesichert und sich vollkommen mit dem Kapitalismus identifiziert.
624 Die revolutionäre Bewegung in Spanien
Der spanische Kapitalismus wird durch den Adel repräsentiert und die übrige
Bevölkerung bildet das Proletariat.
Einer der bedeutendsten Umstände in der Entwicklung des soanischen Kapı-
talısmus ist die Tatsache, daß die Industrie, die Spanien besitzt, fast durchweg
Großindustrie ist. ., Trust“ und Vereinigungen, die vorschnell aus dem Boden
hervorwuchsen, sind in allen Industriezweigen zu finden.
Naturlich hat diese Tatsache ihren Einfluß auf die Arbeiterschaft nicht verfehlt,
sie hat d'e Entwickelung des Klassenkampfes verschärft und beschleunigt. Sie
erklärt die vielen scharfen politischen und wirtschaftlichen Streiks. Sie erklärt,
warum die syndikalistischen Arbeiter Barcelonas, der einzigen großen modernen
Industriestadt Spaniens, immer die Notwendigkeit einer neuen Gesellschaftsordnung
vor Augen gehabt haben, sich niemals mit dem Gedanken der reformistischen Ce-
werkschaften befaßt, sich niemals Täuschungen hingegeben haben über Lohn-
erhöhungen und Verkürzung der Arbeitszeit. Es ist möglich und notwendig, die
Taktik der Sy idikalisten Barcelonas zu bekämpfen, aber es würde ein großer Fehler
sein, wenn man nicht die Hoffnungen anerkennen würde, die ihr revolutionärer
Geist zu erfüllen verspricht. |
Aber Spanien ist in der Hauptsache ein Land des Ackerbaus. Ohne die Wich-
tigkeit des revolutionären Geistes ın Barcelona, Madrid, Valencia, Sevilla, Zaragoza
aus dem Auge zu verlieren, müssen wir erkennen, daß der wirkliche Schlüssel zu
den spanischen Verhältnissen bei der Bauernschaft zu finden ist. Das Ackerbauland
in Spanien ist ausschließlich in große Farmen eingeteilt, die sich in den Händen
von verhältnismäßig wenigen Familien befinden und durch Aufseher der Besitzer
bewirtschaftet werden.. Die Bauern — die die tatsächliche Arbeit auf den Farmen
deisten — haben absolut keinen. Anteil am Lande. Sie sind wandernde Arbeiter,
sie gehen von einer Farm zur anderen, je nach ihrer Arbeitsfähigkeit und wie es
ihnen gelingt, zur Erntezeit Arbeit zu. bekommen. Sie sind arm, furchtbar arm.
Sie besitzen nichts außer den Lumpen, die sie am Leibe tragen. Und sie sind
außerordentlich klassenbewußt — sie müssen es sein.. Neben den Arbeitern von
Barcelona bilden sie die große Mitgliedschaft der „Cunfederacion Nacional del
Trabajo” und die revolutionärsten Elemente der sozialistischen Partei kamen meistens
aus ıhren Reihen.
Der Typ des kleinen unabhängigen Farmers, der das Rückgrat des Konservativis-
mus in Frankreich bildet und der half, der roten ungarischen und bayrischen Re-
publik den Todesstoß zu versetzen, existiert in Spanien nicht. Wenn die Revolution
kommt, werden die Bauern den größten Anteil an ihr haben. Sie werden mit
den Arbeitern aus Barcelona und Madrid die revolutionäre Vorhut bilden.
Obgleich die sozialistische Partei eine große Gefolgschaft unter den Bauern
hat, gehört deren Mehrheit doch der anarcho-syndikalistischen „Confederacion Nacional
del Trabajo“ an. Diese Organisation hat in ihren Reihen die revolutionärsten und
klassenbewußtesten- Arbeiter Spaniens, Ihre günstige Entwickelung begann im Jahre
1917—18, als sie eine Reihe erfolgreicher Streiks unternahm und ihre Mitglieder-
zahl in kurzer Teit bedeutend stieg. Ich glaube sagen zu können, daß sie jetzt
an 400000 Mitglieder hat.
Trotzdem sich die C. N. T. auf ihrem letzten Kongreß offiziell als anarchistisch.
Die revolutionäre Bewegung in Spanien 625
erklärt hat, sind ihre einzelnen Mitglieder nicht anarchistisch und wissen nicht im
geringsten, was Anarchismus ist. Sie sind der klassenbewußteste Teil der spanischen
Arbeiterschaft und gehören der C.N.T. an, weil sie lieber mit den anarchistischen
Terroristen Barcelonas Bomben werfen würden, als Phrasen dreschen mit den „so-
ꝛialistischen Reformisten Madrids. Jedenfalls ist die beste Erklärung für das Wachsen
der syndikalistischen Organisation der hoffnungslose bourgeoise Reformismus der
sozialistischen Partei, der den revolutionären Arbeiten nur noch den Weg zu den
Syndikalisten übrig ließ.
Unter der straffen Führung von Pablo Iglesias entwickelte sich die So-
zialistische Partei zu einem würdigen Mitglied der viel beklagten Zweiten Inter-
nationale. Zehn Jahre lang arbeitete die Partei in engster Fühlung mit der Re-
publikanischen Partei, die Kandidaten zum Parlament wurden auf einer gemeinsamen
Liste aufgestellt. (Diese Zusammenarbeit hat die Sozialistische Partei erst vor
kurzem aufgegeben und zwar nur unter dem starken Druck ihrer Mitglieder).
Die gewählten Vertreter der Sozialistischen Partei in öffentlichen Ämtern verbrachten
ihre Zeit damit, Arbeiterversicherungsgesetze, Minimallöhne, Stufenlöhne usw. zu
beantragen. Die Parteizeitungen beschäftigten sich mit der Verdrehung des Marxis-
mus und dem Kampfe gegen die revolutionären Tendenzen der Massen. Das
offizielle Organ „El Socialista" wird jetzt von Antonio Fabra Rivas ge-
leitet, einem Ignoranten, der einen Ruf wegen internationaler Kenntnisse besitzt,
weil er ein Freund Renaudels ist und früher einmal im „Vorwärts“ gearbeitet hat.
Auf dem letzten Korigreß der Partei (Dezember 1919) war er einer der stand-
haftesten Verteidiger der Zweiten Internationale. |
Beim Ausbruch des Krieges im Jahre 1914 erklärten sich alle Führer der So-
rialistischen Partei — Pablo Iglesias, Tulian, Besteiro, Francisco Largo, Caballero.
Andres Saborit, Antonio Fabra Rivas usw. — bedingungslos für die Entente. Die
Mehrheit unter ihnen forderte sogar Spaniens Teilnahme am Kriege „zum Schutze
der Demokratie“. Über Zimmerwald und Kienthal wurde gelächelt. Es war offen-
bar, daß die Partei jegliche Tendenz verloren hatte, die sie von einem rein bürger-
lichen Unternehmen unterscheiden würde.
Auf ihrem Kongreß im Dezember stimmte die Sozialistische Partei für das
Verbleiben in der zweiten Internationale (14000 gegen 13 000 Stimmen). Von
den 42 000 Mitgliedern der Partei waren jedoch nur 28 000 vertreten und es ist
wahrscheinlich, daß dieser Beschluß nicht dem Willen der Massen in der Partei
entspricht. Er entspricht dem Willen der Führer — mit Ausnahme von ein paar
Scharlatanen wie Mariano Careia, Cortes und Manuel Nunes de Arenas, die für
den Anschluß an die dritte Internationale eintraten und zu gleicher Zeit zu den
schlimmsten politischen Opportunisten gehören. Die Führer haben die Kontrolle
über die Parteipresse und über die ganze Parteiorganisation. Sie werden diese Kon-
trolle auch dann nicht verlieren, wenn ein Referendum der Partei sich für die
dritte Internationale erklären sollte, was wahrscheinlich sehr bald der Fall sein
wird. Sie werden weiter die Führung der Partei in der Hand behalten und weiter
eine bürgerliche contre-revulutionäre Organisation bleiben wollen.
Die revolutionären Massen können innerhalb der Parteibürokratie weder jetzt
noch im Augenblick der Krisis zur Aktion schreiten. Wenn sich ihnen Gelegen-
626 Die revolutionäre Bewegung in Spanien
heit böte, so würden die Führer der sozialistischen Partei genau so handeln, wie
Ebert, Scheidemann und Noske es getan haben. Sie sind die schlimmsten Feinde
des Proletariats und die Parteiorganisation ist nur für Zwecke geschaffen, wie die
deutschen Mehrheitssozialisten sie gehabt haben.
Angesichts der akuten wirtschaftlichen Verhältnisse und des revolutionären Geistes
der Arbeiterschaft einerseits und des Verrats der Sozialistischen Partei anderer-
seits war es nur natürlich, daß eine Kommunistische Partei, eine Partei der Kom-
munistischen Internationale ins Leben gerufen wurde.
Die Spanische Kommunistische Partei (. Partido Comunista Espanol‘)
übergab am 15. April 1920 ihr Manifest der Öffentlichkeit. Es wurde von der
Föderation der Sozialistischen Jugend herausgegeben, die gemeinsam mit der revo-
lutionären Gewerkschaften Asturiens und der Gruppen der Sozialistischen Partei
der Provinzen Taen und Salamanca ihre Organisation zur spanischen Kommu-
nistischen Partcı erklärte. Dies fand sofortigen Widerhall in den Massen, besonders
in Madrid und Andalusien: und heute — einen Monat nach ihrer Gründung”) —
hat die Partei bereits eine Mitgliedschaft von mehr als 15 000 Personen. Sie tritt
für revolutionkren Sozialismus iin Gegensatz zum Reformismus ein. Sie ist eine
Partei des Marxismus in Prinzip und Praxis. Sie erkennt den revolutionären
Charakter unserer Zeit und die Notwendigkeit, den Kapitalismus mit allen Mitteln
zu bekämpfen. Sie lehnt die Teilnahme am Parlament nicht ab, betrachtet es jedoch
nur als eine Tribüne zur revolutionären Propaganda. Sie sieht ım Parlament einen
Teil des bürgerlichen Staates, der nicht reformiert, sondern zerstört werden muß.
Ihre Stellung ist die aller Parteien der Kommunistischen Internationale: Die soziale
Revolution wird kommen als das Ergebnis der Massenaktion, die sich zu einem
offenen revolutionären Kampfe auswachsen wird. Die arbeitende Klasse wird die
Macht erobern und die Diktatur des Proletariats errichten mit Räten als Organen
der Regierung.
Das Organ der Spanischen Kommunistischen Partei „El Comunista“ richtet
scharfe Angrit/e gegen die Sozialistische Partei und bezeichnet sie els reformistisch
und contre-resolutionär. Das Zentralkommitee der Partei ist zusammengesetzt aus
jungen Genossen, wie Roman Merino Gracia, Rito Estrban, Juan An-
drode und Tibureio Pico, die alle lange zu den revolutionärsten Elementen
der spanischen Bewegung gehören.
Das Komite hat vor kurzem einen Brief vom Amsterdamer Bureau der dritten
Internationale erhalten, der ihm zur Gründung der neuen Partei Glück wünscht.
Was die spanische Arbeiterschaft mehr als alles andere nötig hat, ist politische
Schulung. Die Kommunistische Partei gibt spanische Übersetzungen der Werke
von Marx, Engels und Lenin heraus, ebenfalls Broschüren von Sinoview, Trotzky,
Radek, Bucharin usw. Weiter hat die Partei einen Plan in Vorbereitung der Organi-
sation von Sowjets in Spanien. Das Rätesystem und das ganze kommunistische
Programm findet Anwendung auf die besonderen spanischen Verhältnisse. Wenn
die Revolution kommen wird, dann wird die Kommunistische Partei an ihrer Spitze
stehen und der Sieg wird mit ihr sein.
) Der Aufsatz ist noch im Mai geschrieben
Victor Segalen: Paul Gauguins Todeskampf 627
PAUL GAUGUINS TODESKAMPF
VON VICTOR SEGALEN
Gauguins Briefen an seinen Freund Daniel de Monfreid,
die im Verlage Gustav Kiepenheuer erscheinen, geht eine
biographische Einleitung von Victor Segalen voraus, der
die folgenden Seiten entnommen sind.
Paul Gauguins Todeskampf in seiner dreifachen Maori-
zeit. — erster Aufenthalt auf N Tahiti. zweiter Aufenthalt.
erster und letzter Aufenthalt auf den Marquesas-Inseln —
hat das Vollkommene, das ein Menschenleben erhebt: das |
unaufhörlich gefährdete und unaufhörlich wieder hergestellte
Gleichgewicht zwischen zerstörenden und schöpferischen
Kräften; zwischen der Fruchtbarkeit des täglichen Brotes
und der unwägbaren Nahrung: zwischen der Voraussicht
und der Lust: zwischen Handwerk. Arbeit und Werk.
Seit seiner Ankunft auf diesen Iuseln oder zwölf Jahre.
bevor er stirbt. denkt Gauguin an den Tod. nicht an
einen eingebildeten. an seinen eigenen. Sein Leben in diesen
zwölf letzten Jahren ist ein ergreifendes Schauspiel. dessen
Ende schön und unabwendbar ist: der erwartete. bisweilen
ersehnte. bisweilen dringend erbetene. zum Festmahl des
Selbstmordes geladene Tod kommt nicht — dann ist er
plötzlich da. Dieses Schicksalhafte des Todeskampfes gibt
dem ganzen Drama Farben und Wappen.
Agonıe bedeutet Kampf. Gauguin war an Haerz und
Körper ein schöner Athlet. Deswegen wurde das doppelte
Spiel, der begonnene Kampf durchgeführt trotz Umkehr,
Ekel und Erholung. Aus den gut betrachteten Werken
Gauguins muß eine schöne Lehre erstehen, aber auch aus
seinen in allen Silben gewogenen Briefen. Von Anfang an das
628 Victor Segalen
Gespenst des Unglücks und, schlimmer noch, des Pechs.
Kleinliche Schwierigkeiten häufen sich; dann Kombinationen
und Berechnungen, darin die ganze Geschicklichkeit des
ehemaligen Bankbeamten verschwunden zu sein scheint —
denn der dürfte doch nur auf z»gängigee Werte bauen.
Seine Bilder aber, zu seimen Lebzeiten wenigstens — sind
nicht >gängig.. Er plant einen »Liebhaberverein« der ihm
zweihundert Frank pro Monat sichern sollte. Der Plan
mißlingt. Die Liebhaber haben sich seither schon öfter
Vorwürfe machen müssen: das Geschäft wäre gut, seit
zehn Jahren schon! !
Diese Rechnereien, diese Spekulationen. dieses stets mit
Defizit arbeitende und vor dem Ausgleich doch noch
sieghaft saldıerte Kontokorrent, all das geht durch alle
Briefe hindurch wie durch Rımbauds Briefe, — für das
Jahrhundert schreckliche Briefe, die enttäuschen und an-
klagen, ewiger Schimpf für den Zeitgenossen, der den
Seher nicht anhören wollte. Dreihundert Seiten lang klagt
Rımbaud darüber, seinen Lebensunterhalt nicht verdienen
zu können; dann bringt er endlich eın kleines Vermögen
zusammen, vierzigtausend Francs in Gold: da es in der
Somali wüste keine Bank gibt, trägt er es in einem Segel-
tuchgürtel stets um seinen Leib. was ihm schließlich eine
Magenkrankheit zuzieht . Dieselben Finger, dıe das
strunkene Schiff. ins Reine geschrieben haben, schreiben
zehn Jahre später: -Ich habe ein Edelsteingeschäft vor,
womit ich viel Geld zu verdienen hoffe.«
— >»Rimbaud?: sagte 1905 der ehrenwerte Herr
Rhigas, Händler für alles in Djibuti, in dessen Diensten
Rimbaud gestanden hafe, zu mir, »Rımbaud? · ein tüchtiger
Kerl, o. ein erstaunlicher Kerl! Ein guter Rechner, und
dabei dachte er noch nicht genug ans Geschäft. Und
dann konnte er einen plötzlich lachen machen, lachen, sage
ich Ihnen!" Das hat Afrika von Rimbaud behalten.
Paul Gauguins Todeskampf 629
Die Erinnerung an Gauguin ist rein von solchen MiL-
verständnissen. Niemand auf Tahiti oder auf den Marquesas
hat es sich einfallen lassen, Gauguin Mach seinen Eigen-
schaften als »Beamtere. zu beurteilen. Und doch mußte
Gauguin, der eines Tages Plakate an die Gare du Nord
geklebt hate — wie Rimbaud einen Zirkus in Holland
und auf Batavia herumführte — eines schönen Tages eine
Stellung erbitten, einen Platz an einem Tisch vor einem
Papier. als Zeichner bei den ‚Öffentlichen Arbeiten . auf
Tahiti! Diesen Amtsstempel wird man also am Kopf
mancher seiner Briefe lesen: es sind nicht die schlechtesten.
Denn, im Gegensatz zu Rimbaud. verleugnete Gauguin
sich niemals — bis zu seinem Ende beanspruchte er sein
Recht zur. Ehre seines malerischen Könnens leben zu
dürfen, dieser Schimpf blieb ihm' erspart: der Zeichner
Gauguin, der für sechs Francs den Tag zeichnete, ist
niemals ernstlich in Betracht gezogen worden.
Ebensowenig wie seine »künstlerische Sendunge, mit der
Ary Renan, ihn betraut hae in der Meinung, ihm damit
die Ankunft auf den Inseln zu erleichtern. Niemand in
der Kolonie wollte sich zum Narren halten lassen, am
wenigsten der Gouverneur, der nur einen Spion in ihm
sah. Seit seinen ersten Antipodenschriſten stieß Gauguin so
auf dieselben Erfahrungen und auf die gleichen Leute. die
er fliehen wollte. Die Kleinheit des Landes. die den
Beamten einschränkte, führte zur Kleinheit der Gedanken.
So daß Gauguin. kaum in der Hauptstadt des französischen
Ozeaniens angelangt. schleunigst an neuen Auf bruch dachte.
Aber diese ersten Tage gestatteten ihm trotz lächerlicher
Aufmachung ein Ereignis zu sehen, dessen beklagenswerte
Größe vielleicht er allein zu fassen vermochte, denn, kaum
angelangt, war er schon eingeweiht: man feierte das
Leichenbegängnis Pomares V., des letzten wirklichen Königs
von Tahiti. Es gab keine Menschenopfer, um diesen
630 Victor Segalen
mächtigen Tod, und den Heimgang des Geistes eines
Geschlechtsvaters zu den sanften Inseln zu ehren, darauf
den Lebendigen alles unfühlbar bleibt. Man brachte ıhn
in den reformierten Himmel. Mit dem König verschwand
die letzte Beute für unsere Republik, der letzte Raub
an dem, was eme Dynastie über eın Volk w war, — em
Zustand, eine Sitte. Gauguin fühlte das zutiefst.
Er reist in die Gebiete, zur lachenden Krone der
Insel, die keine Ähnlichkeit hat mit Papeete, der Haupt-
stadt, die Hafenplatz und Markt zugleich ist. Er bleibt
in Mataiea. baut dort sein erstes Haus, und zwei Jahre
lang .. . aber diesen ersten Aufenthalt auf Tahiti be-
schreibt der Maler selbst eingehend in gewissen Kapiteln,
»Der Erzähler spricht. des Buches: Noa Noa.
Rückkehr nach Frankreich. Verkaufsausstellung (1893).
Es wurde fürchterlich. Sehr gelegen stirbt ein Onkel
väterlicherseits. und eine kleine Erbschaft macht alles gut.
Gauguin ist für einige Zeit frei und reist wieder ins
Finistère; er wird zum doppelten Verräter an Tahiti.
denn er nimmt als Gefährtin. die auf seinem Lager den
Exotismus darstellen soll. eine javanische Mulaſtin aus
Paris mit. Hier liegt die Schuld, die Sünde, er verleugnet
die sanfte Maorifrau um dieser Kolonialhündın willen!
Er geht mit ihr nach Pont-Aven. wo ihre Hautfarbe
betrunkenen Matrosen mißfällt. Streit: Drohungen; Hand-
gemenge: ein Eingeborener bricht Gauguin das Bein. bis
zum Ende seiner Tage leidet er unter der schlechten
Heilung dieses Beines. Er wird wieder vernünftig vom
langen Nachdenken, und wieder steigt in ihm die Sehn-
sucht auf, fortzureisen. um -für immer in Ozeanien zu
leben.
Und wieder ist er auf diesen Inseln, darauf man nicht
zweimal auflebt. ohne vielleicht im zweiten Leben zu sterben.
Tahiti empfängt ihn als den wiedergefundenen Freund.
Paul Gauguins Todeskampf 631
dem man den ersten Willkommensgruß sagt: »Komm.
komm her, ıß mit uns!. Das war die tägliche Frage.
Gauguin schreibt: »Das Leben wird billiger sein. e,
und zum driften Male bemerkt er, daß seine Rechnung
falsch ist. Sechs Jahre lang bleibt er dort, dann macht er sich
segelfertig für jenes weniger eingeteilte und weniger ver-
waltete Land. wie er glaubte, für den Archipel der
Marquesas-Inseln, vierhundert Meilen nordöstlich von Tahiti:
und er nimmt die größte in Besitz, die »Dominica« der
ersten Entdecker, Hiva-Oa. die »Große Klippe - der Maori.
Eine schöne Begeisterung packt ihn wieder. Dort unten
erweist sich die Frau weniger von Scham berührt: ein wenig
freier, ein wenig schöner, ein wenig nackter. Keine Stadt
auf der »(sroßen Klippe«. Als Gauguin dort landet, ahnt
er, daß er dort sterben würde; er bietet diesem Lande
den vergänglichen Humus seines Körpers, und deswegen
baut er sein Haus stärker als alle andern. Er schmückte.
es als den Zufluchtsort, dessen Linien alle sanft werden,
wenn kein Aufbruch und keine Änderungen mehr zu er-
warten sind. Voller Wohlgefallen beschreibt er dieses
Haus in seinen Briefen, und mit Wollust bewohnt er
es. Er nennt es: Haus des Freuens.
Und als er dann fast zum Gleichgewicht zwischen
diesen hassenswert ungleichen großen Kräften kommt:
zwischen seinen Geldmifteln. der Entfernung. dem Kauf.
der zu liefernden Größe, und dem wunderbaren Schauspiel,
das auf dem Grunde seiner Vision nur er alleın be-
trachtet. — da packt ihn plötzlich die Furcht, dort zu
sterben. Der Ton seiner Briefe ändert sich. Keine prak-
tischen Mafregeln, keine Abrechnungen, kein Vorschuß und
kein Rückstand. Er verschlingt seine Tage, um zu malen:
seine schlaflosen Nächte, um eine Sammlung »fürchterlicher
Dinges zu schreiben. Das Maorı-Schauspiel hat er aufge-
richtet und überliefert. Übersäftigt von dem, was er für
630 Vietor Segalen
mächtigen Tod. und den Heimgang des Geistes eines
Geschlechtsvaters zu den sanften Inseln zu ehren, darauf
den Lebendigen alles unfühlbar bleibt. Man brachte ihn
in den reformierten Himmel. Mit dem König verschwand
die letzte Beute für unsere Republik, der letzte Raub
an dem, was eine Dynastıe über ein Volk war, — en
Zustand, eine Sitte. Gauguin fühlte das zutiefst.
Er reist in die Gebiete, zur lachenden Krone der
Insel, die keine Ähnlichkeit hat mit Papeete, der Haupt-
stadt, dıe Hafenplatz und Markt zugleich ist. Er bleibt
in Mataiea. baut dort sein erstes Haus. und zwei Jahre
lang .. . aber diesen ersten Aufenthalt auf Tahiti be-
schreibt der Maler selbst eingehend in gewissen Kapiteln,
Der Erzähler spricht«, des Buches: Noa-Noa.
Rückkehr nach Frankreich. Verkaufsausstellung (1893).
Es wurde fürchterlich. Sehr gelegen stirbt ein Onkel
väterlicherseits. und eine kleine Erbschaft macht alles gut.
Gauguin ist für einige Zeit frei und reist wieder ins
Finistère; er wird zum doppelten Verräter an Tahiti
denn er nimmt als Gefährtin, die auf seinem Lager den
Exotismus darstellen soll. eine javanische Mulaftın aus
Parıs mit. Hier liegt die Schuld, die Sünde, er verleugnet
die sanfte Maorifrau um dieser Kolonialhündin willen!
Er geht mit ihr nach Pont-Aven. wo ihre Hautfarbe
betrunkenen Matrosen miſ fällt. Streit: Drohungen: Hand-
gemenge: ein Eingeborener bricht Gauguin das Bein, bis
zum Ende seiner Tage leidet er unter der schlechten
Heilung dieses Beines. Er wird wieder vernünftig vom
langen Nachdenken, und wieder steigt in ihm die Sehn-
sucht auf, fortzureisen. um -für immer in Ozeanien zu
leben«.
Und wieder ist er auf diesen Inseln, darauf man nicht
zweimal auflebt, ohne vielleicht im zweiten Leben zu sterben.
Tahiti empfängt ihn als den wiedergefundenen Freund,
Paul Gauguins Todeskampf 631
dem man den ersten Willkommensgruß sagt: »Komm.
komm her, il mit uns!. Das war die tägliche Frage.
Gauguin schreibt: »Das Leben wird billiger sein. e,
und zum driften Male bemerkt er, daß seine Rechnung
falsch ist. Sechs Jahre lang bleibt er dort, dann macht er sich
segelfertig für jenes weniger eingeteilte und weniger ver-
waltete Land, wie er glaubte, für den Archipel der
Marquesas-Inseln, vierhundert Meilen nordöstlich von Tahiti:
und er nimmt die größte in Besitz, die »Dominica« der
ersten Entdecker, Hiva-Oa, die »Große Klippe« der Maorı.
Eine schöne Begeisterung packt ıhn wieder. Dort unten
erweist sich die Frau weniger von Scham berührt: ein wenig
freier, ein wenig schöner, ein wenig nackter. Keine Stadt
auf der - Großen Klippe«. Als Gauguin dort landet, ahnt
er, daß er dort sterben würde; er bietet diesem Lande
den vergänglichen Humus seines Körpers, und deswegen
baut er sein Haus stärker als alle andern. Er schmückte.
es als den Zufluchtsort, dessen Linien alle sanft werden,
wenn kein Auf bruch und keine Änderungen mehr zu er-
warten sind. Voller Wohlgefallen beschreibt er dieses
Haus in seinen Briefen. und mit Wollust bewohnt er
es. Er nennt es: Haus des Freuens.
Und als er dann fast zum Gleichgewicht zwischen
diesen hassenswert ungleichen großen Kräften kommt:
zwischen seinen Geldmitteln. der Entfernung, dem Kauf,
der zu liefernden Größe, und dem wunderbaren Schauspiel.
das auf dem Grunde seiner Vision nur er allein be-
trachtet. — da packt ihn plötzlich die Furcht, dort zu
sterben. Der Ton seiner Briefe ändert sich. Keine prak-
tischen Mafregeln, keine Abrechnungen, kein Vorschuſ und
kein Rückstand. Er verschlingt seine Tage. um zu malen:
seine schlaflosen Nächte, um eine Sammlung »fürchterlicher
Dinge« zu schreiben. Das Maori-Schauspiel hat er aufge-
richtet und überliefert. Ubersättigt von dem. was er für
632 Victor Segalen
endgültig gehalten hafte. rafft Gauguin sich zusammen, und
er bemüht sich in den letzten Monaten, zu entfliehen. Er
will nach Frankreich zurückkehren, im Vorbeigehen nur,
um sich nach Spanien zu flüchten; er kann nicht glauben,
daß man von den Spanierinnen, deren -mit Schweineschmalz
zusammengeklebten Haare- man gemalt hat. »nichts anderes
haben könne . . . Zugleich mit seinem Verzicht auf das
Maori-Land der Verzicht auf seine Kunst: das Einge-
ständnıs, das tiefer geht als Selbstmord: -Ich will nicht
mehr malen. . Die Malerei erhält mich nicht mehr
am Leben . . . Es ist keine menschliche Gotteslästerung.
wenn man diese Worte neben die Schmerzensworte eines
andern Menschen stellt: Mein Vater, laß diesen Kelch
an mir vorübergehen« Es ist kein Zufall, dał Paul
Gauguin schmerzlich sich selbst gemalt hat, von vorn,
müde, ın fallenden Linien wie die Schultern, in einem
schmutzig blauen Gewande. vor einem dunkelerdigen Hinter-
grunde. mit dieser Inschrift: Nahe an Golgatha.
Aber im Augenblick. da er sich selbst verlassen, da
er sich selbst aufgeben wollte. indem er das Maoriland
verlief, um als irgendwer irgendwo zu leben, als er »dort
sterben« sollte. da findet Gauguin in Daniel de Monfreid
den starken Führer, der ihn aufrichtet und auf den
rechten Weg weist. und ihm vor der Nase diese klein-
liche Hoffnung, diese Hintertür schließt: die Rückkehr. —
Zu leicht nimmt man die Freundschaft an als die Leib-
eigenschaft gegenseitiger Wohltaten oder den Kompromiß
gewisser, von vornherein gemeinsamer Gedanken. Eine
weniger vorausgesehene, ungewöhnlichere, schwerere, härtere
Freundespflicht ist es: den Freund um jeden Preis bis
zum Ende seiner Bestimmung entgegenzuführen. sei es zum
Tode. Georges Daniel de Monfreid hat nicht versagt.
In einem scharfsichtigen und prophetischen Brief erklärt
und beweist Monfreid Gauguin, daß er nach Frankreich
Paul Gauguins Todeskampf 633
nicht zurückkehren kann. nicht zurückkehren darf. Diese.
die hingebendste Seite ist von unerbiftlicher Entschlossenheit:
— sEs ist zu befürchten,s schreibt Daniel, »daß Ihre
Rückkehr eine Arbeit, eine Entwicklung stören würde,
die sich in der öffentlichen Meinung mit Ihnen vollzieht:
Sie sind jener legendäre Künstler, der tief in Ozeanien
seine überraschenden. unnachahmlichen Werke entwirft.
Werke, die für einen großen Menschen bestimmend eind.
der sozusagen von der Welt verschwunden ıst. Ihre Feinde,
(und sie haben ziemlich viele, wie alle, die die Migel-
mäßigen hindern), sagen nichts, wagen nicht gegen Sie zu
kämpfen, denken nicht einmal daran: Sie sind ja so weit!
Sie dürfen nicht zurückkommen! Sie dürfen ihnen nicht
den Knochen aus den Zähnen reißen .. . Sie genießen
die Unantastbarkeit der großen Toten. . . In der Kunst-
geschichte sind Sie vorbei
Verge blich widerspricht der sterbende Verbannte hart-
nackig diesem Blick ins J enseits, er verspricht, seine Rück-
kehr nach Paris würde nur vorübergehend sein... Er
würde unverzüglich nach Spanien weiterreisen. (und diese
extrem westliche Halbinsel. die er aus der Ferne seiner
Maori-Insel ersehen, klingt wieder auf als ein neuer
Gegensatz. eine andere Welt. als die alte Welt). Dann
hört sein Widerspruch auf, er verläßt die »Große Klippe«
nicht. Und doch — hälfte er Geld gehabt, um abzu-
reisen — häfte diese Abreise Gauguin alles was folgt
erspart, und das hat ihn sicherer als alle Anfeindungen,
mit denen man ihn überschüftete, getötet: er starb am
8. Mai 1903. | |
* «
Zweifellos war Gauguin krank. Man hat erklärt, er
habe den Aussatz, die Elephantiasis, die Syphilis. Das
letzte stimmt, darf aber nicht dem Lande zugeschrieben
werden: es war eine richtige Pariser Seuche. Zweifellos
634 Victor Segalen
war auch das Herz schwach: das aber hafte flüssigere
Hindernisse als das Blut überwunden: Zweifel und Ver-
lassenheit. Dazu kam noch der schmerzhafte, aber unge-
fährliche Ausschlag an den Beinen; und der alte aus der
Bretagne stammende Beinbruch, der ihm bis zum Schluß
zu schaffen machte. Aber Gauguin starb nicht aus allen
diesen Gründen, sondern, da er dort sterben mußte, wurde
das Opfertier durch eıne unterschlagene Entscheidung auf
Golgatha geopfert. Seine Rechtsstreitigkeiten töteten Gauguin.
Er hafe für die Maori Partei ergriffen. Der Kampf
hörte nie auf und wird sich fortsetzen bis zum Ende
dieses schon toten Klumpen, der Unfruchtbarkeit ist.
Mestizentum oder Zivilisation. Besonders auf den Marquesas-
Inseln war dieser Kampf herbe. verschlagen und listig. der
Kampf zwischen den schönen bekehrten Kannibalen und
den importierten Gendarmen. Keine Festmahle mit Menschen-
oder Göfterfleischh — wohl aber Saufereien mit gegorenem
Fruchtsaft, auf die der Eingeborene ein Recht geltend
machte. So gab es Orgien im Gebirge, dann Ertappung
auf frischer Tat.. Protokoll und Verhandlung! Gauguin
nahm Partei für den Eingeborenen und legte sich auf
die Lauer. ganz wie der Gendarm. der im Gebirge den
Weinbrenner belauschte. Er überraschte die Gefälligkeit
eines Aufsehers der Nachbarinseln. der seine Pflichten als
Zollbeamter vernachlässigte: ein amerikanischer sclipper«
brachte, ohne das französische Gesetz zu achten, konser-
viertes Fleisch an Land und nahm stag dessen frische
Frauen an Bord, verkaufte das eine und das andere und
trieb auf diese Weise ungehindert Freibeuterei.
Die Tatsache steht geschichtlich fest. Aber alles ver-
urteilte den Ankläger. Dieses an das andere Ende der
Welt gebrachte europäische. republikanische Gleichgewicht
hat manchmal diese Kehrseiten wie Geiseln. Die angeklagte
Justiz bedeckte ihre Scham mit Papieren und Beschlüssen.
Paul Gauguins Todeskampf i 635
In großer Unbewufßtheit, aus Gewohnheit oder handwerks-
mäßig. erließ ein Herr . . n Richter von Beruf, das
Urteil, das an seiner Stelle und in seinem Amt jeder,
durch das gleiche Budget bezahlte Beamte hafte fällen
müssen: der (sendarm war unschuldig.
Also mußte Gauguin verurteilt werden. Und er wurde
es: zu tausend Francs Strafe und drei Monaten Gefängnis
wegen »Klageführung gegen einen Soldaten der Gendarmerie.
Die Revision des Prozesses liegt auf der Hand.
erklärte Jean de Rotonchamps in der schon erwähnten
Biographie. Sie wird melancholisch und kalt wie eine
Leichenschau sein. Gauguin hafte sofort Berufung eingelegt.
Zweifellos häfte er (aber weil man das bestimmt), beim
Obergericht sein Recht bekommen. Dazu mußte er seine Reise
nach Papeete und auch einen Anwalt bezahlen. Vor jeder
Justiz. vor jeder noch tiefer sitzenden Rache aber haften
Erschöpfung und Verzweiflung Gauguin getötet, — der an
alledem gestorben ist.
* X «
Ich habe Gauguin zu seinen Lebzeiten nicht gekannt:
und doch waren wır zu gleicher Zeit ın Polynesien. Aber
zwischen Gauguin und mir lagen über vierhundert See-
meilen: keine direkte Verbindung: kein Echo über die
Weiten · auf Tahiti. Einer sagte mir: — „Gauguin? Ein
Narr. Der malt rosa Pferde!“ Ein anderer, ein Kaufmann:
— »Es geht ihm schon besser mit seinen Geschäften. er
beginnt jetzt zu verkaufen. Es gibt immer noch Dumm-
köpfe. Ein Beamter: — »Gauguin macht uns viel Scherereien.«
Eine fromme Person: — -Alle Tage verneigt er sich vor
einem Götzenbilde aus Terrakotta, und man behauptet, daß
er die Sonne anbete.« Wir waren in den ersten Monaten
des Jahres 1903. Im Juni oder Juli erst teilte man mir
mit: — »Ah, Gauguin ist gestorben. Ich mule noch
ti
636 Victor Segalen
warten, bevor ich zu den Marquesas hinüber konnte, und
dann mußte ich unter ihnen die suchen, die er erwählt hafe.
Sein Haus stand aufrecht, das er fast nur mit seinen Händen
erbaut hafte. Es hafte gut stand gehalten unter dem großen
Atem der Zyklone, — aber es war leer durch die amt-
lichen Pfändungen. ausgeleert wie eine Kokosnuß durch
Erdwürmer. Es war ein marquesanisches, etwas besser und
etwas höher gebautes Haus als die andern mit dem großen,
von Pandanusbläftern eingeschnürten Dach. Keine Spur. es
sei denn welche vom Hinaustragen. Dort oben, über der
Oberschwelle der Tür stand der Wahlspruch Haus des
Freuens, so voll in der Substantivform des Verbums, so
hell, daß es sich nicht ziemt, ihn als Wappen einem
anderen Hause zu geben — in sem eig:nes Herz als
Wahlspruch sollte man ihn tun. Und rechts und links
große, geschnitzte. farbenüberriebene Füllungen. Seid ver-
liebt. und ihr werdet glücklich seine und man sah zwei
dumpfe verhüllte Gestalten fernerhin zur Liebe fliehen;
eine andere Gestalt verkrampft in einem Sprung aus
Furcht oder aus Schrecken oder aus Lust. Die zweite
Füllung lehrte: Seid geheimnisvoll. und Ihr werdet glücklich
seins, und an dere Visionen durchdrangen das Holz vie
Larven, strömten auf die andere Seite des Raumes, zu
jenem Lande jenseits alles Schlechten. alles Guten. jenserts
alles sichtbaren Daseins.
Gegenüber, nur wenige Schriſte entfernt, eine andere
Wohnstätte. winzig klein. ein kleiner Kiosk, aber er be-
herbergt einen Gof. Dort stand eine Statuette aus Ton,
sie war trotz des Daches vom täglichen Brennen so rissig.
so zerbrechlich, daß ich es nicht wagte, sie mitzunehmen
und auf dem Meer dem Schlingern auszusetzen: ich wollte
nicht die Entweihung begehen. sie eines Tages zusammen-
kleben oder ihre Brocken auf bewahren zu müssen; des-
wegen erschien es mir als heilige Pflicht. sie an ihrem
Paul Gauguings Todeskampf | 637
Platz verfallen zu lassen unter denselben Gezeiten der
Tage. die ihren Schöpfer haften sterben sehen.
Man zögerte, ihr einen Namen zu geben. Man konnte
sie annähernd, wie ich es damals tat.“) beschreiben: Ein
Buddha, der in Maoriland zur Welt gekommen ist. Das
ist nicht wahr. — Unter dem Mantel, der eine schwere,
fettleibige. schwammige Form hafte. war dieses Gsötzenbild
sehr lehrreich. Es ist die massige Verwirklichung des göft-
lichen Aufstiegs. des Auftauchens des Schöpfers. wie er
vielleicht in Gauguin grollte. Der Schädel ist hoch und
beherrscht das Gesicht, so daß Nasenrücken und Nacken-
fal — besser als beim Griechischen! — ın die Linie
eines Kreises passen. Der ganze Kopf ist eine Spitze. ein
Trieb. ein Höcker. Die Schultern fliehen; der Rücken
ist ganz gerade, die Hände sind ungestalt. unnütz. ruhen
auf den Knien, das verkümmerte Sitzteil sitzt auf flacher
Ebene. Vom Scheitel bis zu den Zehen fällt eine einzige
Bewegung. ein einziger geballter. kaum gestalteter Wille.
als stiege dieses Wesen aus dem Bauche der Materie. —
Nicht der vergangene, gegenwärtige oder erwartete Goft
der andere, der immanente, der Artgenius. der belebend.
Lavakruste emporhebt, Fleisch oder Häutchen, sein Gedanke
über seinen Kopf wie ein Helm, zur Maske geworden
sein Antlitz, darauf noch Ursaft klebt: irgendwie ein
schmutziger und gewaltiger Fötus-Gofe.
Diese Tonstatue, die einen Fuß hoch war, war viel-
leicht der wilde Genius Gauguins. Auf Tahiti sagte man,
er verbeuge sich vor. ihr. Das klingt nicht wahrscheinlich.
Aber wäre die Reise einst zu machen, um sie zu holen
und zu retten. — ich unternähme diese Reise und holte
sie zurück.
Dann versuchte ich im Distrikt von Atuona Bescheid
) Gauguin in seinem Schmuck. (Gauguin dans son dernier decor. Mereure de
France, Juin 1904).
638 Victor Segalen
zu bekommen. Ich mußte mit Leuten über Gauguins Tod
sprechen wie über einen Zwischenfall in der Lokalpolitik.
Drei Zeugen waren da: der Gendarm, der Missionar, der
Eingeborene. `
Der Gendarm. stark in seinem Recht und stolz auf
das gefällte Urteil erklärte Gauguin zu seinen Lebzeiten
für einen Unruhestifter. Aber der tote Gauguin war nicht
zu fürchten. Der Gendarm wurde ihm nachträglich gerecht.
indem er den Eingeborenen sagte, daß die von der Mission
als sobligatorisch« bezeichnete Schule es nicht war. Nach
Gauguins Tode mußte man, da kein Testament vorhanden
war, ein Verzeichnis aufstellen. Der Gendarm machte das
Verzeichnis und eme »Aufstellung der Räume des Hauses
Gauguin. So lernte ich genau die Aufstellung der ver-
schiedenen »Verkaufsnummerne des Mobiliars kennen: Pe-
troleumkocher, Harmonium, Schreiner werkzeug. obszõne und
andere · Schnitzereien. die den Pfaffen von Bischof dar-
stellten.
Der Missionar kam da unten in zwei deutlich unter-
schiedenen Sorten vor. Und man mul wirklich bewundern,
daß die Maori dabei an einen einzigen Gott zu glauben
vermögen! Die eine Sorte nennt sich römısch-katholısch,
trägt lange schwarze Gewänder, nimmt keine Frauen und
vernachlässigt sıch in der Pflege des Körpers (was der
Maori niemals vernachlässigt); sie lehrt »allgemeinee Wahr-
heiten, aber in deplazierter lokaler Anwendung. Die andere,
evangelistische. bringt aus Europa ihre eigene Frau mit.
zieht europäische Kleidung mit getrennten Beinen an und
wäscht sich. Ihre Maorıreden bieten dieselben Wahrheiten
in etwa verschiedenen Worten. Die Reden sind viel
länger und werden deswegen aufmerksamer angehört.
Gauguin war seit seiner Ankunft der Zwangsgast der
katholischen Geistlichkeit. »Alles Lands, schreibt er. sgehört
hier der Mission.“
Paul Gauguins Todeskampf 639
Vielleicht hatte er über den Besitzer zu klagen, oder
er rächte sich im voraus mit der Schärfe seiner Schere
auf einem unschuldigen Baumstumpf. und er machte das
Porträt des Bischofs mit den Zügen Messire Satans. Und
unter den Haupthandlungen dieses Schutzherrn der sieben
Sünden erläuterte er die Wollust. die er auf ein anderes
Holz schnitzte, in der Gestalt Therese Die gleiche
Freiheit hätte sich im Mittelalter der kleinste Maurer-
lehrling herausgenommen. Aber wir haben nicht mehr die
Zeiten der Kathedralen. Das bewies ihm der Bischof
schon wenige Stunden nach seinem Tode
Die andere Sorte von Missionaren war für Gauguin
weniger feindlich, menschlicher. Mit dem Pastor Vernić
tauschte er höfliche Briefe. darin die gute Erziehung
wenigstens Zusammenstöße verhinderte.
—
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog.
Derfflingeretr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam-
Berlin / Druck E.Gundlach A.-G., Bielefeld
Eingelaufene Schriften
EINGELAUFENE SCHRIFTEN
FERDINAND LASSALLE: Gesammelte Reden und Schriften. Herausgegeben
von Eduard Bernstein.
Paul Cassirer Verlag, Berlin 1919.
WEGE ZUM SOZIALISMUS, eine neue Schriftenreihe. Herausgegeben von Otto
Jensen.
Paul Cassirer Verlag, Berlin.
HENRI BARBUSSE: La Lueur dans l Abime, Ce que veut la Groupe Clarté.
Editions Clarté, Paris 192).
AUGUST STRINDBERGS BÜHNENWERKE. Deutsch von Heinrich Goebel.
Oesterheld & Co. Verlag. Berlin.
FRANK WEDEKIND: Nachlaß, Bd. I.
Georg Müller Verlag, München.
FRED. A. DEMMLER: Immortal Youth.
Mc. Grath-Snerill Preß, Boston 1919.
FREIHERR V. ECKARDSTEIN: Lebenserinnerungen und politische Denkwürdig-
keiten.
Verlag Paul List, Leipzig 1919.
GEORG KAISER: Der gerettete Alkibiades. Stück in 3 Teilen.
UPTON SINCLAIR: Jimmie Higgins.
Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam-Berlin.
O. NIPPOLD: Deutschland und das Völkerrecht:
l. Die Grundsätze der deutschen Kriegführung:
2. Die Verletzung der Neutralität Luxemburgs und Belgiens.
Verlag Art. Institut Orell Füßli. Zürich 1920.
FELIX EMMEL: Der Tod des Abendlandes. Gegen Oswald Spengiers skeptische
Philosophie.
Verlag Hans Robert Engelmann, Berlin 1919.
DAS FORUM
4. Jahr Juni 1920 Heft 9
(Abgeschlossen am 6. Juli 1920)
AN DIE DEUTSCHEN KÜNSTLER!
VON GUSTAVE COURBET
Parıs, 1870
Ich habe im Geiste zweiundzwanzig Jahre mit Euch
gelebt, und Ihr habt mir Sympathie und Achtung abgenötigt.
Ich habe Euch als zähe Arbeiter, als umsichtige und
energische Männer kennen gelernt, als Feinde der Zentrali-
sation und der Unterdrückung des Denkens. Als wir uns
in Frankfurt und in München trafen, stellte ich die Ge-
meinsamkeit unserer Bestrebungen fest. Ihr verlangtet ebenso
wie ich nicht nur Freiheit für die Kunst, sondern ebenso
die Freiheit für die Völker. In Eurer Mite fühlte ich
mich wie zu Hause bei meinen Brüdern: wir stießen auf
Frankreich und auf die Einsetzung der europäischen Repu-
blik mit den Gläsern an: noch in München schwurt Ihr
im vorigen Jahre die fürchterlichsten Eide. keine preußischen
Vasallen zu werden.
Heute dient Ihr alle in den Rotten und Regimentern
Bismarcks: vorn an der Mütze tragt Ihr eine Nummer und
Ihr habt gelernt, militärisch zu grüßen.
Ihr, von deren Ehrlichkeit und Redlichkeit man über-
triebene Vorstellungen hatte. Ihr, die Verächter der Phi-
listerinteressen, die Er wählten des Geistes, Ihr
führt Euch heute wie Räuber auf, die scham-
los bei Nacht herankommen. um im 2 ngesicht der Welt
Paris zu plündern. |
Jawohl, entwerfet Symbole der Mensch-
beit auf Eurer Leinwand. bringt täglich
422 Gustave Courbet
Hymnen. auf die Brüderlichkeit zur Welt.
zerfließt in Wasser und Reimen! Bismarck
und Wilhelm sind dabei, die verschimmelte
Kopfbedeckung Karls des Großen mit Fetzen
blutigen Menschenfleisches zu flicken.
Gestern habt Ihr Deutschland verteidigt und gerettet:
heute bleibt Ihr noch in Reih und Glied und dienet in
einem Krieg. der ruchloser ist als die verworfensten Kriege
des Feudalismus und schmiedet Keften für Deutschland.
Ah! Ihr seid nicht einmal mehr die Bastarde der alten
Leibeigenen Frankens; die, Eure Väter. brachten manchmal
ihre Kaiser zum Ziftern: sie hörten auf die Stimmen
Luthers und Johann Huf und richteten sich auf und
warfen die Throne, die auf ihrem Rücken errichtet waren,
zu Boden. Ihr, Euer Wilhelm winkt nur mit dem Finger.
und Ihr liegt vor Eurem preußischen Cäsaren auf dem
Bauch, vor dem Cousin unseres französischen Talmi-Cäsaren.
Bis zum 4. September brauchten sich die Männer des
Fortschritts nicht um die widerlichen Streitigkeiten der
Souveräne zu kümmern. ihre Prätorianer schniften sich
willig zur Genugtuung Europas gegenseitig die Hälse ab:
ja, Ihr habt uns sogar bis zur Schlacht von Sedan einen
Dienst erwiesen, denn alles Üble, das Ihr uns angetan
habt und noch weiter antun könnt, kann nie so groß sein
wie die Summe des Ubels, das uns das Weiterbestehen
des Kaiserreichs gekostet häfte und die Summe der Wohl-
tat. die Ihr uns dadurch erwieset, daß Ihr es umge-
schmissen habt.
Aber, nachdem Eure Rechnung mit dem Bonaparte ge-
regelt ist. was habt Ihr mit der Republik zu schaffen?
Ihr wollt der Revolution in die Zügel fallen? Arme
Narren! Ihr legt Euch selbst die Schlinge um den Hals.
| Hört gut zu, zu Euch spricht ein Mann aus der Franche-
Comté, ein französischer Amerikaner, und ich sage Euch
An die deutschen Künstler! 643
\
gerade heraus: Ihr seid Schlimmeres als Abtrünnige, wenn
Ihr fortfahrt als Eroberer aufzutreten, Ihr seid Toren und
Tröpfe. Häuft Soldaten über Soldaten, Kanonen über Hau-
bitzen, Kartätschen über Mörser, die Revolution hat keine
Furcht vor Euch.
Die Republik, die für solche Schlachten kein Verständ-
nis hat. die keine anderen Hilfskräfte hat als den Willen
ihres Volkes, die Republik wird nicht besiegt werden, mein
Wort darauf. Plündert, brennt, tötet: das höchste, was
Euch gelingt, ist, daß Ihr aus Frankreich ein Märtyrervolk
macht. Dann habt Ihr einen Fetisch an die Stelle eines
anderen Fetischs gesetzt: den Mythus einer vergöfterten Nation
an die Stelle der Fabel eines Goftmenschen: weiter nichts.
Fassen wir zusammen:
Deutsche aller Stämme, Ihr, die Ihr die Geopferten seid,
die Soldaten des Preußen, der sich schont. Ihr Bayern.
Wöürftemberger, Badenser, Sieger über uns bis zum 4. September,
ich will Euch sagen, was jetzt Eure Aufgabe ist.
Man sagt Euch nach, Ihr wäret an harte Arbeit und
bescheidenes Leben gewöhnt: um so besser: in Frankreich
ist die Armut der Bestallungsbrief der Ehre: nur die Reichen
sind in der Lage zu stehlen: wir können uns also mit-
einander verständigen. Ihr habt Eure Reliquien, Eure alten
Heiligtümer mit Euch geführt: ganze Wagen voll Eurer
Ahnen, der Cimbern und Teutonen und den berühmten
Karren der Hermannschlacht. Wie es recht und billig ist,
wollt Ihr sie nicht leer über den Rhein zurückfahren.
Ihr verlangt eine Entschädigung: schön. Ihr, sollt sie
haben. Ladet auf Eure Wagen die Steine der Festungsmauern
von Toul und Straßburg, wir treten sie Euch ab: Ihr könnt
sie in Eurer Heimat als Heldenandenken mit Vorteil ver-
klopfen. Tut noch Besseres: wenn ihr vorüberkommt auf
Eurem Heimzug, macht auch Eure eigenen Festungen dem
Erdboden gleich; wenn Euer Herz Euch danach steht,
644 = Gustave Courbet / An die deutschen Künstler!
werden wir Euch hilfreiche Hand reichen: dann werden
wir zusammen: diese blutigen Marksteine umstürzen, die die
Grenzen bezeichneten und Gruppen von Völkern auseinander-
rissen, die demselben Blute entstammen.
Wenn die Grenzen verschwunden sind, braucht man, um
sie zu schützen, keine Festungen mehr. Keine Festungen mehr,
keine Heere fortan. Keine Heere mehr! Die Mörder allein
werden töten: wır wollen es wenigstens hoffen.
Legt Ihr Wert auf Eure Nationalität? Wenn Ihr erst
frei seid, wird man Euch helfen, wenn Ihr es begehrt.
Und nur in diesem Fall sollt Ihr Elsaß und Lothringen als
Pfänder unseres Bundes als neutrale und freie Länder er-
klären dürfen, in die sich alle flüchten können, denen der
nationale Chauvinismus ein Greuel ist und die sich ein
Leben ohne politische Fesseln wünschen und in diesen ge-
marterten und ans Kreuz geschlagenen Provinzen wollen
wir Euch wieder die Hand schüfteln und mit Euch anstoßen:
auf die Vereinigten Staaten von Europa.
Ich grüße Euch brüderlich.
Da fällt mir was ein.
Hört einmal: Eure Kruppkanonen könnt ihr uns hier-
lassen, wir wollen sie mit unsern zusammen einschmelzen.
Die letzte Kanone wollen wir, mit dem Maul gen Himmel
und mit einer phrygischen Mütze auf dem Kopf. auf einen
Sockel stellen, der auf drei Kanonenkugeln ruhen soll und
dieses Kolossalmonument, das wir zusammen auf dem
Vendömeplatz errichten wollen. soll unsere Denksäule sein,
für Euch und für uns, die Säule der Völker. die Säule
der beiden für immer verbündeten Länder Deutschland und
Frankreich. l
Die Göttin unserer Freiheit wird, wie ehemals Venus
den Kriegsgot Mars gekrönt hat. an den Geschützzapfen,
die sie wie Arme an den Seiten trägt, Gewinde von
Trauben, Ähren und Hopfenblüten aufhängen.
G. Demartial / Patriotismus und Gerechtigkeit 645
PATRIOTISMUS UND GERECHTIGKEIT
VON G. DEMARTIAL
Im Verlage der »Clarte« ist eine mutige Schrift von
Demartial erschienen. Ein Kapitel sei hier wiedergegeben,
das beseelt ist von dem Wabrheitsfimmel , der den
Scheidemännern aller Länder zuwider ist, weil er die
Interessen der Völker höber achtet, als die der krieg-
schuldigen Cliquen und dessen Bestreben sie Vaterlands-
verrat zu nennen wagen, weil er ihre Bequemlichkeit zu
stören droht.
Bei der Jahresversammlung der British Academy am
30. Juni 1915 stellte Lord Bryce fest, daß in allen Staaten
der Entschlu zum Kriege von einer ganz kleinen Zahl von
Personen gefaßt worden ist. Wenn man immer für das
eigene Land eintreten wollte. mülte dementsprechend jedes
Volk diese Personen schützen und bestätigen, dal sie recht
gehabt haben, selbst wenn sie im Unrecht waren. Anderer-
seits hat M. Balfour. Minister des Äußern in England, uns ver-
sichert, daß der Krieg -der Kampf des Himmels gegen die
Hölle gewesen sei. Daraus folgt, daß, wenn die Herren
Sasonow. Grey und auch Viviani, der nicht daran glaubt,
den Himmel vorstellten, die Herren Berchtold und Bethmann
Hollweg für die Hölle standen. So kann es kommen,
daß, wenn jemand mit geschlossenen Augen
sein Vaterland verteidigt, er die Hölle ver-
teidigt. f |
Es ist wohl wahr, daß man während des ganzen Krieges
das deutsche Volk aufforderte, seine Regierung für den
Krieg verantwortlich zu machen; es wurde ihm sogar. der
Friede nur unter dieser Bedingung angeboten. Man hat.
die Deutschen, die sich schuldig bekannten, mit Lob bedeckt:
am 26. September 1919 begrüßte M. Renaudel in der
Kammer den «heldenmütigen Verfasser des J'accuse». Aber
646 u aa — G Demartial
was wird dann aus der Regel, daß man immer für sein
Land eintreten sollte? Diese Regel würde also für den
Gegner nicht gelten: von ihm fordert man, daß er sein
Unrecht erkenne. Und wenn er zu alledem noch der
Besiegte ist. kann er in die Zwangslage kommen, Unrecht
zu bekennen, selbst wenn er Recht hat. während der
Sieger Recht behaupten darf. selbst wenn er Unrecht hat!
Ein anderer Widerspruch: Es kommt immer einmal
ein Augenblick, wo die Wahrheit ihr Recht verlangt. Am
27. Juni 1919 erschien in der «Humanités, unter dem
ironischen Titel: «Recht geht vor Macht», ein Artikel.
der beweisen wollte. welche Narrheit es war, zu glauben,
daß dieser Krieg ein Krieg des Rechts gewesen sei. Aber
dieser Glaube war von der «Humanité» während des
ganzen Krieges gepredigt worden! In diesem Glauben. einzig
in diesem Glauben sind so viele Pazifisten und Sozialisten
zu Schlachtfeldkupplern geworden. Hat man seine Falsch-
heit nicht früher erkennen können? Die Soldaten konnten und
durften nicht sprechen. Sie waren das Bleigewicht an der
Schleuder. die elenden und zugleich erhabenen Gsladiatoren.
Aber wir Nicht-Soldaten, die für ihr Blut verantwortlich
sind. die wir verdammt zu werden verdienen, wenn wir
den Krieg eine Stunde zu lang haben dauern lassen, wir,
die wir behaupten, frei und selbständig zu sein, wie konnten
wir uns den Mund verschließen lassen unter dem Vorwand,
daß man stets für sein Land eintreten müsse! Das Land —
sind wir das nicht selbst, wir zu allernächst? Zu sagen, wie
M. Maurice Barrès, man müsse stets für das eigene Land
sein, wie man stets für die eigene Mufter ist und von
seinen Fehlern absehen. heißt dem erschreckendsten Sophismus
huldigen: das bedeutet, das Vaterland zu einem
Menschenfresser machen, der seine unschuldigen
Kinder frift, um ihnen den schlechten Vater zu erhalten.
Wieviel menschlicher war der Ausruf, den M. Clemenceau
Patriotismus und Gerechtigkeit _ 647
während der Dreyfus-Affaire tat: »Wo kein Recht ist.
da ist kein Vaterland.. Wenn nun die Regierung
einen Krieg führt, dem Recht entgegen. so ist dieses auf
der einen* Seite. und die Regierung auf der andern. Um
aber zu wissen, ob ein Krieg dem Rechte entspricht, hat
das Volk nur ein Miftel, nämlich die Gründe zu prüfen,
die die Regierung dafür anführt. Also gebietet das Vater-
land. der Regierung entgegen zu sein, die solches Prüfen
hindert, wie es deutlich der Fall war bei allen Regierungen,
die seit dem Kriege in Frankreich einander gefolgt sind
die Regierung Clemenceau mit inbegriffen.
Welche ist. da die Dinge so liegen. die gegenwärtige Aufgabe?
Sich bescheiden. werden vielleicht manche sagen. Die
Wahrheit suchen hatte Sinn während des Krieges, solange
sie das Gemetzel häfte aufhalten können — heute ist es
unnütz. Consummatum est. Lassen wir die Vergangenheit ruhen.
Das wäre ein Grundfehler. — Zunächst, wie sollen wir
annehmen, daß wir nicht den Wunsch häften, die Ver-
gangenheit kennen zu lernen. Wie! unsere politische Herr-
schaft trägt den ausdrücklichen Namen » Gouvernement d'opinions.
Ein jeder Bürger, auch der unbedeutendste, hat das Recht
und die Pflicht, die Handlungsweise der Regierung zu be-
aufsichtigen. Wenn wir dieses Recht gelten lassen. haben
wir unserere Pflicht versäumt, sobald wir von der Re-
gierung keine Rechenschaft fordern. Nun wohl: sind wir
wirklich die Eigentümer des Staatswagens? Die Regierung
ist sein Lenker und dürfte fahren nur wohin wır wollen.
Sie hat geglaubt. daß der Krieg ihr das Recht gibt, uns
unter den Sitz zu stoßen und uns mit Fuftriften niederzu-
halten. Nun, da wir wieder ans Tageslicht gekommen sind,
ist es wohl das Nächstliegende, daß wir uns Rechenschaft
darüber geben, wo wir uns befinden und wie wir dahin
gekommen sind.
648 Ee. Demartial / Patriotismus und Gerechtigkeit
Alle Zensur konnte nicht hindern, daß das französische
Volk diesem Kriege einen Namen gab. der ıhm für die
Nachwelt erhalten bleibt: »La guerre des Bourreurs de cränes.:
das heißt, daß der hauptsächliche Antrieb zum Kriege die
mit bis dahin unbekanntem Zynismus und Heuchelei be-
triebene grenzenlose Ausbeutung menschlicher Dummheit
und Bösartigkeit war. Das Problem, worauf diese Be-
mühungen der Täuschung und Stillegung allen kritischen
Geistes sich vor allen anderen stützte, war natürlich die
Frage der Verantwortlichkeit. Und gerade diese möchte man
als für immer erledigt erklären. Ne varietur! Welche Schande!
Lassen Sıe uns, im Gegensatz dazu, die Binde, die man
über unsere richtenden Augen gelegt hat, herunterreißen!
Lassen Sie uns Kapitel für Kapitel. Beweis für Beweis.
alle offiziellen und offhiziösen Darstellungen der so weit
zurückliegenden unmiftelbaren Ursachen des Krieges einer
kritischen aktenmäfigen Prüfung unterziehen: die Erklärungen
der Minister, die Beratungen der Parlamente, die Artikel
der führenden Presse, die Bücher der Professoren. Lassen
wir, einem Rate Descartes folgend, als wahr nur gelten
Was uns notwendig so erscheint .. Erkennen wir als erste
Regel an, daß es für einen Menschen kein größeres Unglück
gibt als seinem Lande unverdient Unrecht geben und wenn
wir uns in der schmerzlichen Notwendigkeit befinden, an
ıhm einen Punkt aussetzen zu müssen, so tun wir das nicht,
ohne vorher alle Beweisstücke hin und hergedreht, alle Ein-
wände erhoben und gestört zu haben. Nehmen wir aber
als zweite Regel an, daß es kein geringes Unglück ist,
jemand zu verurteilen — sei er auch ein Feind — wegen
eines Verbrechens das nicht feststeht, oder das man selbst
begangen hat. Ein Wort für hundert: Suchen wir Ge-
rechtigkeit und reden wir Wahrheit.
Übersetzt von L. S)
Maxim Gorki / Die Internationale der Intellektuellen 649
DIE INTERNATIONALE DER
INTELLEKTUELLEN
Von MAXIM GORKI
Das Folgende ıst die ins Deutsche übertragene Ent-
gegnung Gorkis auf das Manifest Romain Rollands,
Duhamels und Barbusses, das einen Internationalen Kongreß
der Intellektuellen fordert.
Ein Internationaler Kongreß der Intellektuellen soll in Bern tagen. Die Ver-
reter der intellektuellen Mitte in England, Deutschland, Frankreich und den anderen
Ländern werden unter einem Dach zusammentreffen. Feinde von gestern, Sieger
und Besiegte finden sich Aug in Auge.
Auch moralisch Mitschuldige an dem abscheulichsten Verbrechen, dem Kriege
1914—1918, dessen Schrecken durch Offenbarung der tiefen Fäulnis alter Gesell-
schaftsordnung schließlich die nationalistischen Vorurteile erschütterten, die die
höchstkultivierten Völker Europas zur Barbarei zurückgebracht und das große Blutbad
heraufgeführt haben, — auch moralisch Mitschuldige an diesem ungeheuren Ver-
brechen werden dem Kongreß beiwohnen.
Wenn das wirklich geschieht, wenn diese Menschen auf einer internationalen
Konferenz von Vertretern der menschlichen Vernunft erscheinen, so kann das eine
unabsehbare Weite der wertvollsten sozialen Konsequenzen zeitigen. Es soll hier
nicht die Rede sein von später Reue und sterilen Bekenntnissen, die sicherlich
nicht fehlen werden. Der Kongreß wird streng und entschieden die Frage stellen
müssen, die von welthafter, menschenhoher Bedeutung ist: die Frage nach den
geschichtlichen Grundlagen der Kultur.
Erst wenn diese Frage entschieden ist, können die Intellektuellen sich zu einer
entschlossenen Haltung bekennen: an der Spitze der Volksmassen, die die Verwirk-
lichung neuer Formen gesellschaftlichen Lebens erstreben, — oder als Glieder der
Klassen von geringer Intelligenz und großer Habgier, die durch Ausbeutung der
physischen Energie der Völker die freie Entwicklung ihrer Geistes- und Verstandes-
kräfte hemmen.
Wenn die Intellektuellen sich doch endlich Rechenschaft geben würden von der
Rolle, die sie im Dienste des Kapitalismus gespielt haben, mit der ungeheuer
wogenden Energie der Völker verschmolzen, wäre das eine Tat von unermeßlichem
Folgenreichtum. Die verhältnismäßig unbedeutenden Reserven an intellektuellen
Kräften würden dann die prüfenden und ordnenden Fähigkeiten ihrer Vernunft in
Einklang bringen mit einer riesenhaften, noch unorganisierten, aber ganz stark lebens-
hungrigen Willenskraft. Für die Entwicklung der menschlichen Kultur würde das
ein mächtiger Anstoß sein; eine Beschleunigung, deren Ausmaß wir nicht voraus-
sehen können.
650 Maxım Gorkı
— —— — — — — — —— — — . — — —
Kurz und gut: die Intellektuellen der ganzen Welt müssen heute diese ernst-
hafte Frage anschneiden: werden sie auf Seiten der Völker sein, die die radikale
Umformung der gesamten Lebensart fordern oder auf seiten des Kapitals, für das
alte Regime?
Möge die Rolle der russischen Intellektuellen im Laufe der beiden letzten.
ereignisschweren Jahre lehrreich sein für die Intellektuellen Westeuropas. Wenn
der russische Intellektuelle mehr Seelenkraft und mehr
praktischeVoraussichtgehabt hätte, wenn er von den ersten
Tagen der bolschewistischen Revolution an in Verbindung
gestanden wäre mit jener Gruppe von Menschen, die, aus seinem eigenen
Milieu hervorgegangen, kühn genug waren, sich an die Spitze der
Arbeitermassen zu stellen und die politische Macht an sich zu reißen
in einem durch den Zarısmus und den Krieg zugrunde gerichteten Lande, — hätte
der Intellektuelle so gehandelt, dann hätten Industrie, Technik und
Kultur nıcht so heftig gelitten unter dem Einbruch der entfesselten
Leidenschaften; weniger Blut wäre geflossen; nicht so viele Fehler wären begangen
worden; die Vemunft wäre Zügel gewesen.
Ich will niemand verurteilen. Ich stelle nur eine unleugbare Tatsache fest: die
Zurückhaltung gewisser Intellektuellen von dem Lauf der Revolution hatte zur Folge,
daß die Lösung der wichtigsten Lebensfragen gleichgestellt wurde der Bedürfnis-
befriedigung einer noch kulturlosen Masse: das sind meiner Meinung nach die
russischen Bauern.
Die Klasse der russischen Arbeiter, zahlenmäßig die geringste, hat eine unge-
heure Aufgabe vor sich: hundert Millionen Bauern verschiedener Sprache und ver-
schiedenen Ursprungs zu erziehen. Diese Masse kann in ihrem Zerstörungswerk
eine erstaunliche Kraft entwickeln: kann sie aber mehr schaffen als Sitten, die
durchdrungen sind von der Mentalität des kleinen Besitzenden? Die Frage bleibt
unbeantwortet. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint die großkapi-
talistische, rationell organisierte Industrie dem Handwerker und dem Intellek-
tuellen weniger erschreckend als die Sümpfe des kleinen Besitztums, die, fremd
und feindselig meist, höheren Kulturinteressen entgegenstehen.
Den russischen Intellektuellen wird das Tragische ihrer Situation immer deut-
licher bewußt. Obwohl sie schon vor der Revolution zwischen Hammer (Herrschaft)
und Amboß (Volk) gelebt haben, werden die unumgänglichen Mißstände dieser
Lage ihnen erst jetzt nur allzu deutlich und nur allzu schmerzlich. Doch ich
wiederhole: sie beginnen zu begreifen, daß die Macht den intellektuellen Kräften
gehört, denen sie selbst geistig verwandt sind; sie beginnen zu begreifen, daß vor-
aussichtlich schon in nächster Zukunft in Rußland die vernünftige Organisation
und der extatische Wille verschmelzen werden und daß diese beiden Kräfte geeint
Wunder tun können.
Das sind meiner Meinung nach die Gedanken und Fragen, die der Internationale
Kongreß der Intellektuellen nicht übergehen kann.
Aus der tiefen Überzeugung von der Wahrhaftigkeit der Vertreter des Intellek-
tuellen in Westeuropa, aus dem Glauben en ihre Gewissenhaftiekeit kann ich nicht
Wahrheit über Sowjetrufland 651
daran zweifeln, daß die Frage der Blockade Rußlands auf dem Kongreß zur Debatte
stehen wird.
Die Schändlichkeit einer Blockade, die das russische Volk dem Hungertode preis-
gibt, die es abschneidet von der Versorgung mit Arzneimitteln usw. noch zu brand-
marken, ist unnötig. Aber es ist vielleicht nicht unangebracht, den Mitgliedern
des Kongresses in Erinnerung zu rufen, daß in erster Linie die Kinder unter den
Folgen der Blockade zu leiden haben, daß aber auch die Intellektuellen, die Ge-
lehrten, die geistigen Arbeiter in Bibliotheken und Laboratorien, — ungenügend
ausgerüstet zum Kampf ums Leben, unbegabt ıhr Brot zu gewinnen, dann unter
den zumeist Betroffenen sind.
Durch Hunger Kinder töten, die Zukunft eines Volkes auf diesem Wege zer-
stören; durch Hunger seine seit lang angesammelten geistigen Kräfte lähmen — ist
das das Ziel des aufgeklärten, kultivierten Europa?
Diese Frage zu stellen, wird für den Kongreß der Intellektuellen eine notwendige
Aufgabe sein. Und wir warten gespannt darauf, was die Regierungen der Länder
— Frankreich, England usw. — die sich als „Herde der Kultur und Zivilisation”
betrachten, antworten werden. (Uebersetzt von L. S.)
WAHRHEIT ÜBER SOWJETRUSSLAND
DAS BIBLIOTHEKSWESEN
In dem offiziellen Organ der Schwedischen Biblistheks-
Vereinigung, „Bibliotheksbladet“, findet sich von dem
Leiter der „Schwedischen Königlichen Bibliothek“, Arne
Holenberg. der folgende Aufsatz, welcher in seinem
Material zum Teil neu, wertvoll vor allem durch das Lob
ist, das ein Bürgerlicher einer bolschewistischen Methode
widmet.
Daß die Kerenski-Regierung den Bestrebungen zur Entwicklung des
Büchereiwesens wohlwollend gegenüberstand, darf daraus geschlossen werden, daß
ein Kursus darüber vom 26. April bis 24. Mai, 1917 in Moskau abgehalten wurde.
Dieser Kursus wies ein recht mannigfaltiges Programm auf: gab eine Übersicht über
Literatur- und Bibliothekskunde, über technische Fragen betr. Katalogisierung,
Fächereinteilung usw. — Doch ist es kaum glaubhaft, daß die schwache provi-
sorische Regierung sehr durchgreifende Maßregeln zur Reform der Bibliotheks-
angelegenheiten hätte ergreifen können; die Bolschewiki jedoch haben, scheint
es, eine großartige Aktivität in dieser Hinsicht entwickelt. — Bei der
„Abteilung für Volksaufklärung außerhalb der Schule“ des Volksbildungskommissariats
wurde eine besondere „ Bücherei-Abteilung eingerichtet, deren erste Aufgabe es
12
652 Wahrheit über Sowjetrußland
war, eine Zentral-Bibliothek mit Fragekästen bei diesem Kommissariat aufzustellen.
Den Grundstock dazu bildete eine Menge veralteter pädagogischer Literatur, eine
fast komplette Gesetzessammlung und einige Zeitschriften, darunter die „Zeitschrift
des Unterrichtsministeriums”. Diese Bibliothek hatte dem alten Unterrichtamini-
sterium gehört, das jährlich 18000 Rbl. zu ihrer Komplettierung zur Verfügung
hatte. Nach der Märzrevolution 1917 wurden energische Schritte getan, zuerst von
der Kerenskiregierung und später von den Volkskommissaren, um moderne Literatur
anzuschaffen, welche in hohem Grad erforderlich war, da unzweifelhaft der jährliche
Zuschuß unter der alten Regierung zu „unproduktiven” Zwecken diente.
Die Bibliothek-Abteilung der Bolschewiki begann inzwischen eine schnelle und
bedeutend erweiterte Wirksamkeit. Sie wurde überschüttet mit Anfragen und Bitt-
schriften von einer Menge Bibliotheken, die ihre Hilfe nachsuchten aus Anlaß ge-
wisser Revolutionsmaßnahmen. Nach dem Dekret über die Nationalisierung der
Großgüter und die Aufhebung der meisten Standes- und Zunfteinrichtungen waren
nämlich unter anderem Eigentum auch eine Menge Bibliotheken registriert worden,
und diese standen vor der Gefahr, beraubt oder aufgelöst zu werden. — Es wurde
nun angeordnet, daß die Bibliothek-Abteilung die Aufsicht über sämtliche (Staats-)
Bibliotheken aller Gattungen erhalte. — Es wurde ein neues Reglement nach ameri-
kanischen Prinzipien ausgearbeitet, wonach ein Rat geschaffen wurde, gewählt aus
der Mitte der ständigen Bibliotheksbesucher. Gleichzeitig damit
hatte die Bibliothek-Abteilung noch auf andern Gebieten zutun. Um die Plünderung
der zahlreichen wertvollen Bibliotheken auf den nationalisierten Gütern zu verhindern.
übertrug man die Verantwortung für diese dem lokalen Sowjet. Die Güterbiblio-
theken scheinen im allgemeinen ziemlich u n berührt geblieben zu sein, während
mehrere andre nationalisierte Buchsammlungen der Bibliothek: Abteilung zur Ver-
fügung gestellt wurden, um nach Gelegenheit, an Institution, die Literatur anfor-
derten, verteilt zu werden. (Z. B. nach der Einnahme Viborgs in Finnland wurde
die ganze Bücherei die der , Kultur- und Bildungskommission der Viborger Festungs-
artillerie" gehörte, an den Rat in Uka, Ural, übergeben, der außerdem einen Teil
Belletristik von anderwärts bekam.) — Eine große und wertvolle Sammlung, Stuworins,
mit ca. 35 000 Bänden, wurde zwischen dem russischen Museum (Werke über Kunst).
der „Öffentlichen Bibliothek” (ca. 3 aller Bücher) und der „Aufklärungsabteilung‘'
des Unterrichtskommissariats geteilt; diese erhielt Lexika und Handbücher. — Die
Bibl.-Abteilung hatte große Schwierigkeiten, um die Anerkennung ihrer Autorität
von allen Seiten zu erzwingen. — Bei der Nationalisierung des Besitzes forderten
die Behörden in vielen Fällen, daß die Bücher mit dabei bleiben sollten, was zur
Folge gehabt hätte, daß sie ohne die mindeste Kontrolle ausgestreut und in jeder-
manns Eigentum geraten wären. Deshalb mußten die Volkskommissare ein be-
sonderes Dekret zum Schutz der Bücher ausarbeiten. Ob dies den er-
wünschten Zweck erreicht, geht aus der zugänglichen Literatur nicht hervor. —
Man gewinnt eine Vorstellung von der Bedeutung die die führenden Bolschewiki
dem Bibliothekswesen beimessen, wenn man einen Blick auf das Budget wirft, das
die Abteilung des Volkskommissariats für „Volksaufklärung außerhalb der Schule“
aufgestellt hat. Bei einem Etat für 12 Gouvernements mit zusammen 35 Millionen
Die Menschewiki | 653
wird ein Drittel der ganzen Summe für Bibliotheken und Leere-
stuben verwendet und der nächstfolgende Rechnungsposten: „Schulen und Kurse
für Erwachsene betrug nur ca. 8,6 Prozent. l
Der unerhörte Bedarf an neuen Büchern, den die erwähnte Entwicklung
notwendig machte, sollte zum großen Teil durch eigne Verlagstätigkeit des
Staates gedeckt werden. Bereits im Anfang des Jahres 1918 wurde eine Herausgabe
der russischen Klassiker beschlossen; denen auch neuere Autoren wie L. Tolstoi
und Tschechow zugerechnet werden; weiterhin Geschichts-, sozialpolitische
und pädagogische Werke und eine Reihe der bedeutenderen ausländischen schönen
Literatur — alles in billigen Auflagen. — Jedenfalls führte dieser Beschluß im
ersten Halbjahr 1919 zu dem beabsichtigten Resultat, eine große Zahl wertvoller
Werke war herausgekommen und andre wurden als in Vorbereitung oder im Druck
angekündigt. Die angegebenen Preise sind sehr niedrig; aber da man mit Kampf-
(Atitations-) Auflagen rechnete, meint man nicht allein die Ausgaben zu decken,
sondern vielleicht schließlich noch etwas Überschuß zu erhalten. — Hinsichtlich
der Grundsätze über die Anschaffung der Bücher usw. mag man erstaunt sein über
die Duldsamkeit, die die Bolschewikı beweisen: Schriften, die heftiger
Ausfälle gegen die Regierung voll sind, erhalten nicht allein die Möglichkeit gedruckt
zu werden, sondern werden sogar in einem offiziellen Regierungsorgan empfohlen,
allerdings mit gewissen Vorbehalten. Die Regierenden sehen offenbar diese Art
Opposition als ungefährlich an, und legen das Hauptgewicht auf sach!’ he Aufgaben.
— Doch ist ein Bestreben zu spüren, sich von den bürgerlichen Sachverständigen
unabhängig zu machen oder sie unter eine entsprechende Kontrolle zu stellen; dies
tritt namentlich hervor bei dem Ausschuß zur Organisation des Bibliothekswesens
der nach der Julikonferenz (1919) zustande kam.
DIE MENSCHEWIKI
Die nachfolgende Darstellung ist aus dem Kopenhagener
linkssozialistischen Tageblatt , Arbejdet“ entnommen und gibt
den Moskauer Bericht eines norwegischen Sozialisten wieder.
Moskau, im April 1920.
a BE d Ich habe nun vier von den leitenden Männern der Menschewikı
interviewt; alle diese vier waren grunduneinig in den allermeisten Fragen. Das
überraschte mich nicht wenig. Ich hatte nicht geglaubt, daß die Übereinstimmung
zwischen den Menschewiki und unserem eigenen Zuhause in dem Grade schlagend sei.
Der erste der Menschewiki, mit dem ich sprach, war der Sekretär des Buch-
drucker-Verbandes in Moskau, Buksin, einer der 38 Menschewikivertreter auf
dem Gewerksthaftskongreß. Er verbreitete sich in den banalsten Gemeinplätzen
über Demokratie“, Bolschewismus sei Staatskapitalismus, nichts anderes und würde
von den Bauern vernichtet werden. Die soziale Revolution stehe in Rußland vor
654 Die Menschewikı
— — —— ——
der Türe, was bisher geschehen sei, hätte mit Revolution nichts zu tun. Buksin
war Gegner sowohl des Rätesystems wie der Diktatur des Proletariats.
Während ich noch mit Buksin sprach, kam ein anderer von den 38 zu uns,
Stulman. Er war sehr bald uneinig mit Buksin, Stulman war für das Sowjet-
System, solange es der Revolution half, war aber gleichzeitig absolut gegen die
Diktatur. Die könne in andern Ländern richtig sein, Deutschland, England, Amerika,
— meinte er — passe aber nicht für Rußland, dessen Bevölkerungsmehrzahl Bauern
seien. (In Westeuropa sagen die Menschewiki genau das Gegenteil, dachte ich; da
sagen sie, daß die Diktatur wohl für Rußland passen möge, aber in Deutschland
England, Amerika ginge das nicht.)
Am nächsten Tage hatte ich übrigens ein Zusammentreffen mit den Mensche-
wiki in ihrem Hauptquartier. Dort sollte ich autoritativere Aufschlüsse erhalten.
Der Hauptsitz der Menschewiki ist ein Haus an einer der belebtesten Straßen
Moskaus, Mjassnizkaja 31. Das ganze Haus gehört den Menschéwiki. Hier sind
ihre Klubräume, ihre Versammlungssäle, ihre Sekretariats. Ich ging durch die
Stockwerke und sah mich um: alle Türen standen offen. In der dritten Etage
trat ich in ein Entré, wo Speisen von einem Tisch aus verteilt wurden. Durch
die offene Tür sah ich in einen großen Versammlungsraum hinein, 30—40 Menschen
saßen auf Bänken, einer hielt einen Vortrag. Darnach begann eine eifrige Diskussion:
Ich blieb stehn und hörte zu. Niemand fragte mich, was ıch da zu tun habe oder
wünsche. „Die Menschewiki sind augenscheinlich nicht ängstlich vor. Spionen“
dachte ich. „Es kann also nicht gar so schrecklich um die Rede- und N
lungsfreiheit in Sowjet-Rußland stehn.“
Nuw schließlich ergriff ich selber die Initiative und fragte nach dem bekanntesten
Menschewistenführer, Martow. Er wurde hereingerufen. Er ist ein freundlicher
Mann zwischen 50 und 60. Auch die Bolschewikı rühmen ıhn wegen seines vor-
nehmen Charakters: aber er steht der Arbeiterklasse zu fern, um sie ganz verstehen
und irgendwelchen Einfluß auf sie gewinnen zu können. Mein Gespräch mit ihm
war deshalb nur kurz. Er eilte und überließ mich deshalb dem andern führenden
Theoretiker der Menschewiki, Ossip Germanski. l
Zusammen mit Martow und Abramowitsch bildet Germanski die Majorität
im Zentralkomitee der Menschewiki (der „Allruss. Sozialdemokratischen Arbeiter-
partei“), die Minderheit, welche in scharfer Opposition zu ihr steht, sind Kolo-
kolnikow und Jerochowo. Ein dritter führender Oppositionsmann, Po-
tresow, ist kürzlich aus der Partei ausgeschieden. Alle diese Menschewikiführer
sind ‚Intellektuelle, keiner davon gehört zur Arbeiterklasse. Germanski begann zu
sprechen und ich merkte bald, daß er sehr gern sprach. Einige der Anwesenden
wollten auch etwas sagen, aber G. ließ sich nicht unterbrechen. Schließlich
blieb nur ein junger Mann übrig, er kannte G., deshalb wartete er demütig und
bat, mich sprechen zu dürfen, wenn C. fertig sei. — „Wir, als Majonität im Zentral-
komitee“, erklärte C. „haben prinzipiell nichts gegen die proletarische Diktatur ein-
zuwenden. Uneins sind wir mit den Bolschewiki nur in der Auffastung der Dik-
tatur. Es ist im Prinzip kein Gegensatz zwischen Demokratie und Diktatur. Wir
sind aber gegen die jetzige Diktatur, die eine Minderheitsdiktatur ist. Die Oktober-
Franz Schulz / Kunst, Bürger, Staat 655
revolution war nur eine Teil der Diktatur der Arbeiterklasse. Wir erkennen übrigens
die Revolution als eine historische Erscheinung an, wir erkennen deshalb auch
das Sowjet-System an. Bereits vor dem Kriege und der Revolution
war ja in Wirklichkeit der Parlamentarismus erledigt als
Verfassungssystem. Im Verfassungskampf ist im Ganzen kein Unter-
schied zwischen den Menscheviki und Bolschewiki hin-
sichtlich des Ziels. . Auch: die Bolschewiki wollen ja, wenn die Zeit kommt,
zur allgemeinen Wahl übergehen und für uns ist das keine grundsätzliche
Frage, ob diese nach einem geographischen System oder nach dem Produktions-
system sich vollziehen soll.
KUNST. BÜRGER. STAAT
VON FRANZ SCHULZ
L
Es geschah am 23. Mai 1920, mehr als 18 Monate nach
dem ersten Tage deutscher Revolution.
Der Reichspräsident Fritz Ebert, müde die Hand noch
vom Schreiben einer Depesche, welche die Leibesübungen
als wichtig zur Ertüchtigung der Jugend dokumentiert, —
müde noch vom Anlegen tadelloser Bürgerkleidung. wie sie
sich für den Repraesentator Germaniae ziemt, müde noch
von all den Regierungsgeschäften und Erfordernissen, als
da sind: das Bestätigen von Todesurteilen und das Binden
eines solid-eleganten Seidenschlipses. — wie gesagt: müde
noch von alledem und doch elastisch und sichtlich heiteren
Gemüts, eröffnet unser Landesvater die große Kunstausstellung
am Lehrter Bahnhof, die zwar nichts zur Ertüchtigung,
manches aber zur Bildung des deutschen Volkes beitragen
wird. Von sachkundigen Führern empfangen und geleitet
besichtigt der Landesvater den rechten — konservativen —
Flügel und freut sich der sonnigen Landschaften, sauber
temalten Bildnisse und rosigen Frauenpopos. Dieweil im
Ruhrgebiet das bestätigte Todesurteil vollstreckt wird, geht
656 Franz Schulz
der Reichspräsident aus den Händen des Im- in die der
Expressionisten über, der ihn mit ehrerbietigem Lächeln und
freundlichen Bücklingen vor die Parade junger, radikaler.,
revolutionärer Kunst führt. Doch der Vielgeprüfte
verliert die Fassung nicht und dieweil im Ruhrgebiet irgendwo
das Kommando »Feuer« ertönt, sucht er auch der radikalen
revolutionären Kunst gerecht zu werden. Immerhin: ver-
haltenes Lachen erschüftert die elegante Weste des Landes-
vaters und das Gerechtwerden wird ihm offenbar nicht
leicht. Der führende Expressionistenführer expliziert devot,
als häfte er es mit einem mäcenatischen Bierbrauer zu tun,
die Schar der kleinen Expressionisten horcht gespannt
Und dieweil im Ruhrgebiet der Körper eines Arbeiters
dumpf zu Boden stürzt. wird der jovial lächelnde Landes-
vater. um den nun friedlich sowohl Ex- als auch
Impressionisten sich drängen. photographiert.
II.
Solange Kunstwerke nicht imstande sind, vor den Blicken
eines Kaisers oder Reichspräsidenten sich um- und ihm
die ` Hinterseite zuzukehren, solange ist es Pflicht aller
Künstler, dies bedauerliche Unvermögen ihrer Werke durch
krasses Sichtbarmachen eigener Mifachtung zu ersetzen. Und
solange ein Mitglied einer Künstlergruppe vor Fritz Ebert,
dem Bestätiger von Todesurteilen und sozialistischen Barden
der Seeschlacht am Skaggerak, solange auch nur einer aus
der Gruppe vor dieser Personifizierung bourgeoiser Indolenz
katzbuckelt, solange hat die Künstlervereinigung verdammt
wenig Recht, sich radıkal oder gar revolutionär zu nennen,
— solange unterscheidet sie sich in nichts Wesentlichem
von der Gartenlaube- Gilde. —— — — Bis zum 23. Mai
wußte ich nicht, dal dies erst gesagt werden muß, an diesem
Tage wurde mit letzter Klarheit die Schande der deutschen
Kunst offenbar.
Kunst, Bürger, Staat: F 657
IIL
Wem das Kunstproblem nicht mit den Worten »heiligste
Güter. dogmatisiert und also erledigt scheint, der wird das
Wesen staatlicher Kunstfürsorge schwer erklären können.
Der ökonomisch vernünftige Produktionsstaat hat als solcher
sehr wenig Interesse an der Kunst. Sein Ziel ist rationelle
Produktion, rationelle Verteilung, rationeller Verbrauch.
Kunst ist unrationėlle Produktion (Verschwendung von
Arbeit und Material), Verteilung und Verbrauch sind
zufällig und wirtschaftlich sinnlos. Der autokratische Un-
vernunftstaat wiederum ist höchstens an der Kunst der
Siegesalleen interessiert, weil jede andere Kunst den Keim
zur Anarchie in sich trägt: Sie erzeugt Skepsis gegen die
Tradition und bildet Menschen die, außerhalb des büro-
kratischen Betriebes stehend, den Respekt vor dem un-
wirschen Schalterbeamten verlieren, dem Wahrzeichen und
populärsten Repräsentanten des autokratischen Staates. Die
staatliche Kunstpflege, anders nicht erklärbar,. muß demnach
als Atavismus erscheinen. rudimentäres Überbleibsel des
katholischen Staates, der, auf der Kirche und letzten Endes
nur auf ihr basierend, der religiösen Kunst bedurfte. um
seine Symbole zu schaffen. Seitdem aber der katholische
Staat durch die Reformation und ihre Folgen verneint und
zertrümmert, durch den nationalen oder Wirtschaftsstaat
abgelöst wurde, —, vollends, seit die Kunst unkirchlich
geworden ist. hat die staatliche Kunstfürsprge ihren Sinn
verloren. — Und das Wunderbare ist, daß der Atavismus
als Erscheinung nicht etwa allmählich erlischt, sondern
immer stärker wird.
IV.
Dieses seltsame Phänomen scheint mir folgendermaßen
begründet: Wir leben im Kulminationspunkt des bürgerlichen
Zeitalter. Der Bürger, der gestern noch seine Position sich
658 Franz Schulz
erkämpfen mußte, der heute auf dem Gipfel seiner Macht
steht und morgen abstürzen wird, ist kulturbesessen aus
leidenschaftlichem Erhaltungstrieb und kluger Berechnung.
Noch vor seinem Niedergange, den der Schlaue ja fürchtet,
rafft er an Kultur zusammen, wo und wie er sie bekom-
men kann: einerseits, um mit dem Verdienst um die »heiligsten
Güter · seine Existenzberechtigung zu erweisen. — ander-
seits, um durch das Bewußtsein dieses Verdienstes die vor-
laute Stimme der Minderwertigkeit im eigenen machtlüsternen
Hirn schweigen zu machen.
Darum wahrt der Bürger seine »heiligsten Güter., hat
seinen Goethe und seinen Ompteda im — mehr oder minder
entworfenen — Bücherschrank. seine Böcklins und seine
Pechsteins an der Wand und es kränkt ihn die Verfilmung
von Hebbel beinahe ebenso sehr, wie das Steigen der
deutschen Valuta, das die Rentabilität des Exportgeschäfts
bedroht. Dazu kommt noch, daß deutsche Kultur ihn beste
Reklame für deutschen Handel dünkt und Hölderlin geeig-
net zum Schriftmacher für Mannesmann und Salamander:
(die Expensen für diese Kultur kann der Kaufmann im
Regiekonto der Firma buchen).
V.
Je nach dem Grade seines Vermögens und seiner Frei-
giebigkeit kommandiert der Bürger den unbekannten billigen
oder den berühmten teuren Künstler, nach dem Grade seines
Snobismus die akademische oder die radikale Kunst: und
er kommandiert sie, wo die dicke Importe nicht mehr
genügt, um ihm Haltung und Sicherheit, Stafllichkeit und
Ansehn zu geben. Die Staatsmaschine aber, Vasall dieses
Bürgers, wenn sie Monarchie, sein Sklave, wenn sie Repu-
blib ist. wird zur Kunstförderung kommandiert und seinem
Kommando folgend mußte am 23. Mei der Reichspräsident
Fritz Ebert nach sorgfältiger Toileſte den Im- und Ex-
pressionisten freundliche Gesichter machen.
Kunst Bürger, Staat 659
Mit gütigem Vaterblick konzediert der Bürger dem
Künstler, was er sonst keinem verzeiht: sich von ihm zu
unterscheiden durch langes Haar und großen Schlips, mit
einer Frau zu leben, ohne verheiratet zu sein, laut über
Dinge zu sprechen, von denen der Bürger nur flüstert: —
und während der Künstler diese Freiheiten benutzt, um
sich als Genie zu dokumentieren, reibt in einsamer Kammer
der Bürger seine Hände vor Vergnügen darüber, daß der
Dumme des gelben Flecks sich freut und rühmt, der ihn
zum Schwindler, Dupe, Scharlatan des gutsituierten Publi-
kums, bestenfalls zum unverständigen Kinde stempelt.
Das eben ist dıe Schande und Tragödıe un-
serer Kunst: Der Künstler läßt sich vom Bürger über-
tölpeln und glaubt nicht nur, daß er ein Repräsentant des
Geistes, sondern auch, daß er ein Repräsentant jener Ge-
sellschaft ist, mit der der Geist seit eh und je auf Tod
und Leben kämpft.
Der Bürger läßt ihm diesen Glauben, — mit dem Vor-
behalt, daß er selbst nicht mitglauben muß und die Genug-
tuung des gelungenen Gaunerstreichs macht seine Toleranz
nie geahnte Dimensionen erreichen. Er gestaftet dem Künstler
sogar, Revolutionär zu sein, — solange die Revolution auf
Kunst und Innenleben sich beschränkt und mit der Politik
nichts zu tun hat. Für diesen gefährlichen Fall allerdings
sind Rückenschüsse behelmter Lakaien vorgesehn.
Weil aber der Künstler die ihm vom Bürger diktierte
und zugewiesene Ausnahmeposition akzeptiert, darum klingen
seine Empörungsschreie meist so merkwürdig blechern und
sine Worte wie ängstlich bösartiger Dienstbotenklatsch :
darum gelangt jene Kunst, die sich stolz revolutionär nennt,
nicht über die revolutionäre Geste hinaus: darum bleibt sie
esoterisch, Eigentum des gebildeten Bürgers und dringt ın
das Haus des Arbeiters ebenso selten wie an sein Herz:
darum liegt die tiefe Kluft zwischen den Proletariern und
650 Maxim Gorki
— — OTSE — —
Kurz und gut: die Intellektuellen der ganzen Welt müssen heute diese ernst-
hafte Frage anschneiden: werden sie auf Seiten der Völker sein, die die radikale
Umformung der gesamten Lebensart fordern oder auf seiten des Kapitals, für das
alte Regime?
Möge die Rolle der russischen Intellektuellen im Laufe der beiden letzten,
ereignisschweren Jahre lehrreich sein für die Intellektuellen Westeuropas. Wenn
der russische Intellektuelle mehr Seelenkraft und mehr
praktischeVoraussichtgehabt hätte, wenn er von den ersten
Tagen der bolschewistischen Revolution an in Verbindung
gestanden wäre mit jener Gruppe von Menschen, die, aus seinem eigenen
Milieu hervorgegangen, kühn genug waren, sich an die Spitze der
Arbeitermassen zu stellen und die politische Macht an sich zu reißen
in einem durch den Zarısmus und den Krieg zugrunde gerichteten Lande, — hätte
der Intellektuelle so gehandelt, dann hätten Industrie, Technik und
Kultur nıcht so heftig gelitten unter dem Einbruch der entfesselten
Leidenschaften; weniger Blut wäre geflossen; nicht so viele Fehler wären begangen
worden; die Vemunft wäre Zügel gewesen.
Ich will niemand verurteilen. Ich stelle nur eine unleugbare Tatsache fest: die
Zurückhaltung gewisser Intellektuellen von dem Lauf der Revolution hatte zur Folge.
daß die Lösung der wichtigsten Lebensfragen gleichgestellt wurde der Bedürfnis-
befriedigung einer noch kulturlosen Masse: das sind meiner Meinung nach die
russischen Bauern.
Die Klasse der russischen Arbeiter, zahlenmäßig die geringste, hat eine unge-
heure Aufgabe vor sich: hundert Millionen Bauern verschiedener Sprache und ver-
schiedenen Ursprungs zu erziehen. Diese Masse kann in ihrem Zerstörungswerk
eine erstaunliche Kraft entwickeln: kann sie aber mehr schaffen als Sitten, die
durchdrungen sind von der Mentalıtät des kleinen Besitzenden? Die Frage bleibt
unbeantwortet. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint die großkapi-
talistische, rationell organisierte Industrie dem Handwerker und dem Intellek-
tuellen weniger erschreckend als die Sümpfe des kleinen Besitztums, die, fremd
und feindselig meist, höheren Kulturinteressen entgegenstehen.
Den russischen Intellektuellen wird das Tragische ihrer Situation immer deut-
licher bewußt. Obwohl sie schon vor der Revolution zwischen Hammer (Herrschaft)
und Amboß (Volk) gelebt haben, werden die unumgänglichen Mißstände dieser
Lage ihnen erst jetzt nur allzu deutlich und nur allzu schmerzlich. Doch ich
wiederhole: sie beginnen zu begreifen, daß die Macht den intellektuellen Kräften
gehört, denen sie selbst geistig verwandt sind; sie beginnen zu begreifen, daß vor-
aussichtlich schon in nächster Zukunft in Rußland die vernünftige Organisation
und der extatische Wille verschmelzen werden und daß diese beiden Kräfte geeint
Wunder tun können.
Das sind meiner Meinung nach die Gedanken und Fragen, die der Internationale
Kongreß der Intellektuellen nicht übergehen kann.
Aus der tiefen Überzeugung von der Wahrhaftigkeit der Vertreter des Intellek-
tuellen in Westeuropa, aus dem Glauben an ihre Gewissenhaftiekeit kann ich nicht
Wahrheit über Sowjetrufßland 651
daran zweifeln, daß die Frage der Blockade Rußlands auf dem Kongreß zur Debatte
stehen wird.
Die Schändlichkeit einer Blockade, die das russische Volk dem Hungertode preis-
gibt, die es abschneidet von der Versorgung mit Arzneimitteln usw. noch zu brand-
marken, ist unnötig. Aber es ist vielleicht nicht unangebracht, den Mitgliedern
des Kongresses in Erinnerung zu rufen, daß in erster Linie die Kinder unter den
Folgen der Blockade zu leiden haben, daß aber auch die Intellektuellen, die Ge-
lehrten, die geistigen Arbeiter in Bibliotheken und Laboratorien, — ungenügend
ausgerüstet zum Kampf ums Leben, unbegabt ihr Brot zu gewinnen, dann unter
den zumeist Betroffenen sind.
Durch Hunger Kinder töten, die Zukunft eines Volkes auf diesem Wege zer-
stören; durch Hunger seine seit lang angesammelten geistigen Kräfte lähmen — ist
das das Ziel des aufgeklärten, kultivierten Europa?
Diese Frage zu stellen, wird für den Kongreß der Intellektuellen eine notwendige
Aufgabe sein. Und wir warten gespannt darauf, was die Regierungen der Länder
— Frankreich, England usw. — die sich als „Herde der Kultur und Zivilisation“
betrachten, antworten werden. (Uebersetzt von L. S.)
WAHRHEIT ÜBER SOWJETRUSSLAND
DAS BIBLIOTHEKSWESEN
In dem offiziellen Organ der Schwedischen Biblistheks-
Vereinigung, „Bibliotheksbladet”, findet sich von dem
Leiter der „Schwedischen Königlichen Bibliothek“, Arne
Holenberg. der folgende Aufsatz, welcher in seinem
Material zum Teil neu, wertvoll vor allem durch das Lob
ist, das ein Bürgerlicher einer bolschewistischen Methode
widmet.
.. . . Daß die Kerenski-Regierung den Bestrebungen zur Entwicklung des
Büchereiwesens wohlwollend gegenüberstand, darf daraus geschlossen werden, daß
ein Kursus darüber vom 26. April bis 24. Mai, 1917 in Moskau abgehalten wurde.
Dieser Kursus wies ein recht mannigfaltiges Programm auf: gab eine Übersicht über
Literatur- und Bibliothekskunde, über technische Fragen betr. Katalogisierung,
Fächereinteilung usw. — Doch ist es kaum glaubhaft, daß die schwache provi-
sorische Regierung sehr durchgreifende Maßregeln zur Reform der Bibliotheks-
angelegenheiten hätte ergreifen können; die Bolschewiki jedoch haben, scheint
es, eine großartige Aktıvität in dieser Hinsicht entwickelt. — Bei der
„Abteilung für Volksaufklärung außerhalb der Schule” des Volksbildungskommissariats
wurde eine besondere „Bücherei-Abteilung” eingerichtet, deren erste Aufgabe es
12
66 _Meinrich Vogeler
den Künstlern, die ihre Mission versäumen: darum ist das
meiste unserer Kunst — all ihren Qualitäten und revolutio-
nären Manifesten zum Trotz — nur ein Schmücke-dein-
Heim des Snobs: darum wird die große soziale Welle diese
Kunst zerstören und über sie hinweggehn und darum wird
eine gefährliche Leere entstehen nach dem Untergang der
alten Bourgeois- und vor der Geburt einer neuen kommu-
nistischen Kultur, — Schuld der Künstler, denen Kraft und
Mut zu der großen Empörung fehlt.
ÜBER DIE KOMMUNISTISCHE SCHULE
VON HEINRICH VOGELER-WORPSWEDE
II.
Der Mensch als Ausdruck schöpferischer Kraft. der
Mensch als Gestalter, fähig, die Bedrängnisse des Lebens
durch eigene Tat zu erlösen. sich selber zu befreien durch
das Werk: das ist der grundlegende Sinn der Schule, zu
der das jugendliche Werden der Menschheit mit rücksichts-
loser Gewalt treibt. — Bildung und Wissen verwendeten wir,
um Autoritäten aufzurichten und um das Volk zu dis-
ziplinieren. um es im Glauben an andere durch alle Höllen .
führen zu können, um das Volk arbeiten, tanzen und
sterben lassen zu können für den Besitz, für das goldene
Kalb. — Die neue Lebensschule will keine Zielbestimmung,
sie ist Wandlung zur bejabenden Tat. Unser Wissen wird
sterben müssen, so es nur äußere Form, Bildung bedeutet.
gleich jedem Besitz, der nicht nutzbar gemacht wird für
den Aufbau der Welt des produktiv schaffenden Menschen.
— Heute ist in Europa der Besitz sowohl von ethischen
(kulturellen) als auch von wirtschaftlichen Gütern. eine ideale
Über die kommunistische Schule 3 661
bürgerliche Konstruktion, die lediglich auf intellektuellem
Schwindel balanciert. auf Auslandskrediten, die durch jedes
neue Ereignis wieder schwinden. auf Schwindelnachrichten
über Rußland, die täglich durch Tatsachen überwunden
werden, dann auf dem Ausverkauf Deutschlands an Pro-
duktionsmiſteln: mit dem Zusammenbrechen dieser Ideologie
aus schwindendem Besitz, schwindender Autorität, schwin-
dender Disziplin, bricht auch die alte Lernschule zusammen
und die alte Hochschule, die beide ein Kaufhaus für Wissen
und Bildung geworden waren und nur noch mit Geistes-
gütern markteten, die einer vergehenden Welt des Scheins,
des Ungeistes, der Ausbeutung der geistig und wirtschaftlich
unterlegenen Schwächeren und dem Genielertum. dem
Ästhetentum diente.
Die neue Schule dient dem Aufbau der Eınheit: der
klassenlosen Gesellschaft; sie kann nie eine Uniform sein,
wie sie heute in der Einheitsschule zum Erziehen von
willigen Werkzeugen für den Moloch Staat eingerichtet
wird, äußere Formen der Gleichmacherei sollen ein be-
quemes Regieren bewerkstelligen und äußere Bildung jedem
zu tel werden. Für uns ist der stärkste Ausdruck der
Individualität eines Menschen und die menschliche Achtung
und Hebung der individuellen Kräfte die Basis der geistigen
Gemeinschaft unter den Menschen. Nach dem intellektuellen
= Schwindel der letzten Jahrzehnte, der es fertig brachte,
Religion, Wissenschaft, Kunst und Schule mit in den
Strudel, in den Tanz um das goldene Kalb hinabzuzichen.
in das Chaos der Verneinung aller ethischen Werte, be-
dürfen wir einer Lebensschule. in der wir jede Ideologie
in uns vernichten, die wir nicht in lebendige bejahende Tat
umsetzen können. — Es handelt sich hier um befreiende
schöpferische Tat, um Werk, um Aufbau. Die Schule der
vergangenen Zeit bereitete auf das Leben vor, die Arbeits-
schule ist das Leben.
662 Heinrich Vogeler
Die neue Schule dient dem Aufbau der parteilosen
klassenlosen Gesellschaft, der Einheit: Gemeinwirtschaft, der
Einheit: Weltwirtschaft. der Einheit: Kultur — der Einheit:
Mensch |
Die. innige Verbindung allen Wissens mit den Bedürf-
nissen des Lebens ıst die Grundlage unseres Schulwesens.
Der Prüfstein, die Analyse für jeden Lehrenden und jeden
Lernenden der Arbeitsschule ist lediglich die Tat, das Werk.
Die Entscheidung zur Bejahung, zum produktiven Schaffen,
zum Werk, zur Liebestat muß „von Beginn des Lebens ım
Kinde geweckt werden. Diese Entscheidung ist nur zu er-
reichen, wenn man sie immer wieder von den äußeren
Dingen, von der Führerschaft. von der Autorität in die
Seele des Kindes selbst zurücklegt. ihm immer wieder an
Beispielen des Tat-Lebens zeigend, daß nur der Liebende
der Entschiedene ist, der jederzeit bereit steht zur brüder-
lichen Hilfe, zur Bejahung des Mitmenschen. Lehrende und
Lernende seien Beispiel dieser geistigen Erkenntnis. Wie in
jeder geistigen Gemeinschaft die Produktivität zeugend von
einem zum anderen geht, immer aufbauend für die Einheit. .
so müssen wir auch das Verhältnis der Kinder und der
Erwachsenen denken. Es muß ein stetes Gleichgewicht, eine
Erlösung, eine Reinheit durch die Tat wiederhergestellt
werden. Wie häufig wird da das Kind die stärkste Lehr-
kraft sein! — Liebe, die keine Tat zeugt. ist intellektueller
Schwindel. ist jene Krankheitserscheinung, an der unser
ganzes Volksleben und unser Verhältnis zu den übrigen
Menschen des Weltalls im Weltkriege zusammenbrach. —
Wer aber die Wahrheit der Liebe. die Liebestat in ihrer
ganzen gesetzmäligen Kraft erkennt und sein Leben ihr
widmet, gewinnt die größte Erfahrungsmöglichkeit und da-
mit die größte Sicherheit in allem Werden der Welt, nur
ihm steht die größte Glücksmöglichkeit auf. die schöpferische
Go@natur, sich selber ganz zu erfassen, den Weg zum
Über die kommunistische Schule 663
Absoluten zu ahnen. — Das aber ist der Sinn des Lebens,
das Glücksuchen auf dieser Welt und der Weg zur Un-
abhängigkeit. zum Frieden.
Die kommende Zeit wird keine Sentimentalitäten kennen,
jedes brach liegende Kapital an Wissen und Besitz wird
man nehmen, wenn es im Getriebe des lebendigen Werdens
nicht zerbricht, jedes Hamstern von Wissen zu spekulativen
Zwecken (Bildung) wird zugrunde gehen und den Besitzenden,
den Wissenden mit Resignation belasten und zur Untat
treiben.
Es ist die Aufgabe der neuen, der kommenden Schule
an keiner Stelle einen intellektuellen Schwindel aufkommen
zu lassen. — Da ist der erste Weg: Aufhebung jeder
Autorität: an ihrer Stelle steht das Beispiel, die schöpferische
Tat, die jedem dient. Damit beginnt aber auch schon sofort
der Aufbau der neuen Welt der gegenseitigen Hilfe, der
Bejahung meines Mitmenschen. — — Wir verlassen jene
Welt der Verneinung, der vom Machtwillen. Ausbeutesucht,
Autoritätenwahn konstruierten Ideologie: der Mensch ist
schlecht — und wenden uns an seine eigentliche, unver-
bildete, bejahende Natur, an seinen Schöpferwillen — wir
kommen zur höchsten Ordnung: [Intellekt und [Instinkt
decken sich, die schöpferische Tat ist die Erlösung. ist
die Befreiung, die Harmonie mit dem Unendlichen, mit dem
Weltwillen: der Mensch reiht sich ein in die große Ge-
meinschaft: Natur. Sein Werk ist nicht sein Besitz, sondern
die Form, die Auswirkung seines einfachen menschlichen
Triebes.
Die Zeit der kapitalistischen Klassengesellschaft ist die
Zeit der Herrschaft des Intellektes: alles war zu konstruieren.
zu berechnen und zu kaufen: selbst das Verhältnis der
Menschen untereinander, wie der Völker untereinander, war
eine mathematische Aufgabe, die ihre Faktoren in Bündnis-
verträgen, Völkerrechten, bürgerlichen Besitzrechten, Grenz-
664 Heinrich Vogeler / Über die kommunistische Schule
rechten und Handelskontrakten festlegte: ein schwindelhaftes
Gebäude des Intellektes, das den natürlichsten Faktor, die
menschliche Seele außerhalb aller Berechnung liel.
Nun sind sehr schnell alle diese idealen Konstruktionen
zusammengebrochen, doch mit seltsamer Zähigkeit halten die
Intellektuellen an allen den idealen Konstruktionen fest, die
auf diesem schwankenden Boden wachsen: die bürgerliche
Presse sorgt mit ihren Flunkereien für immer neue dem
Tode geweihte Stützen, trotzdem schon die nächsten Welt-
ereignisse den neuen Schwindel zusammenbrechen lassen.
Der heilige Glaube an das Geld ließ selbst die Seelen-
kämpfe unseres Volkes. das Ringen der Geistigen. der
sozialistisch denkenden Feldgrauen als ein Resultat feind-
licher Gelder erscheinen in den Augen jener Gläubiger
des Mammons, deren Geldseelen keine andere bewegende
Kraft der Welt mehr anerkannten. Blind vertrauend auf
alle äußeren Faktoren hielt der deutsche Generalstäbler, jener
ausgeprägte Typ versklavter Abhängigkeit von äußerer Form
und höherer, menschlicher Autorität die russische Revolution
für ein glänzendes Resultat seiner eigenen taktischen Maß-
nahmen. — Die völlige Verneinung alles seelischen, sein
eigener Machtdünkel ließ ihn die Völkerpsyche garnicht
erkennen; dies wurde selbsttätig der Untergang eines Systems,
das sein ganzes Gebäude ımmer nur auf Konstruktionen
des Verstandes errichtete und den Geist vergewaltigte. der
immer um bejahenden Ausgleich mit dem All ringt.
Alles das müssen wir erkennen, um immer wieder zu
wissen, dal die Herrschaft des Verstandes. ohne Mitwirkung
des Herzens den Zusammenbruch aller Menschlichkeit un-
bedingt zufolge hat; denn erst die Einheit Intellekt und
Instinkt, wenn beide sich ın Erkenntnis und Empfängnis
decken und ın bejahender Tat im Werk ausleben, erzeugt
in’ uns das Glücksgefühl der Befreiung, den Gleichklang
mit den Ewigkeitsgesetzen der Natur.
Fritz Schwarz / Jean Jaurès 665
—— m nn UL nn nn nn sn 664 en
JEAN JAURES
VON FRITZ SCHWARZ
Geschichte ist Wechselwirkung von Massen und Ideen.
In der Persönlichkeit konzentriert sich die Bewußtheit der
Zeit, die geistige Ausstrahlung des Menschheitsorganismus.
Der Gedanke formt die Materie. der Schoß der Materie
bringt den Gedanken zum Licht der Welt. Ohne Illusionen
kein Vorwärts!
Und wie im denkenden Individuum Prinzipien, Vor-
urteile. Ideen. Anschauungen. Auffassungen. Vorstellungen.
Meinungen miteinander im Kampf liegen und durch ihr
erge wicht seine Richtung bestimmen. so werden die
führenden Persönlichkeiten wieder zu Komponenten, deren
Resultante die Geschichte der Menschheit ausmacht. Keine
noch so bedeutende Persönlichkeit aber ist losgelöst. unab-
hängig von der Gesellschaft. Im Gegenteil wird sie um
so bedeutender erscheinen, um so weiter und tiefer in den
Gang des Geschehens eingreifen, je inniger sie sich mit
der Materie, der Natur und mit der Gesellschaft ver-
bunden fühle. u
Die großen Einsamen stehen unserm Herzen am näch-
sten. Die ım All den Klang erlauschten, haben auch
unsere heimliche Stimme gehört. Um einzudringen in die
Wesenheit einer Epoche, um den Geist der Zeit in sich
aufzunehmen, wird der Weg über eine starke, umfassende
Persönlichkeit der nächste sein, denn hier offenbart sich
am eindeutigsten Trieb | und Charakter der Massen.
Wie aber im Individuum Entscheidendes und Wesent-
liches getrennt sein kann, eine hartnäckige Einseitigkeit. eine
unselige Leidenschaft zum Ausgang eines Schicksals werden
666 Fritz Schwarz
mag. so kann auch der Einschlag der Persönlichkeit ine
Menschheitsbewußtsein und ihre Triebkraft innerbalb der
Geschichte von hemmender, negierender. jedenfalls einseitiger
Wirkung sein und unvermögend, ein vollkommenes Bild
vom geistigen Gehalt der Zeit zu geben.
Die erdrückende Fülle überraschender Ereignisse. die
unerhörte Verwirrung und Erschütterung der Gegenwart
macht das Verlangen nach Klarheit und Übersicht mit
jedem Tage dringender. Daß unsere großen Heerführer.
daß die Geschäftsträger der einzelnen Staatsregierungen, kurz,
die großen Verantwortlichen des politischen Weltbetriebes
der Zeit ihren Stempel nicht aufzudrücken vermögen, erhellt
auf den ersten Blick. Sıe werden zur Legende, wıe dıe
Träger der Kronen zur Legende geworden sind. Clemenceau,
Hindenburg sind ehrwürdige alte Herren, fast schon
so ehrwürdig wie Metternich und Gneisenau. Gerade darum,
daß man diese historischen Großen mit einem solchen
Aufwand von Energie, aufopfernder Hingabe, unerschüfter-
“ licher Überzeugung. und beseelt von einem tiefen Verant-
wortlichkeitsgefühl ihre übermenschliche Pflicht erfüllen
sieht. gerade darum kann man nicht an sie denken. ohne
aus tiefster Seele eine Traurigkeit. ein bifteres Gefühl
aufsteigen zu fühlen. das grausamer quält als Haß und
Verachtung. Daß guter Wille töten kann, daß heilige
Überzeugung Tausende und Abertausende verbluten und
verhungern läßt, kann man eine packendere Tragık ersinnen ?
Nicht, daß ihnen die Idee fehlte, daß sie blinde Kraft-
äußerungen wären wie Napoleon der Gewaltige. Sıe handeln
im Glauben. sie leben im Pathos. Doch kann dieser
Glaube, kann dieses Pathos wenn man näher zusieht,
nichts anderes bedeuten als einsetzen für die Interessen-
sphäre einer mehr oder weniger umfangreichen und wert-
vollen Gruppe. Das aber ist das Zeichen der Zeit. ist
ein wesentliches Merkmal der kommenden Persönlichkeit.
Jean Jaurès 667
daß sie sich handelnd erhebt und Führer wird der ganzen
leidenden Menschheit. Theoretiker. Philosophen, welche die
Menschheit in den Kreis ihrer Betrachtung zogen, hat es
zu allen Zeiten gegeben. Wir suchen, wir rufen den
Menschen der Tat, wir suchen den Menschen, der uns
lehrt wie wir leben, und nicht wie wir sterben sollen.
Es gab eine Zeitspanne, da die Augen der Welt auf
eınen Mann gerichtet waren, der den Forderungen der
Gegenwart wie kein anderer gerecht zu werden versprach,
der mit der Glut der Idee die Kraft der Tat verband,
der die Mittel in Händen hafe mit einer Weltordnung
aufzurãumen. die für den (Organismus der Menschheit
nıchts anderes bedeuten kann als krampfhafter Selbstmord-
versuch. Wilson enfläuschte. Er hielt nicht. er konnte nicht
halten, was er versprochen hafte. Sein Pathos war nicht
Lüge, aber er war zu schwach, griff zu Kompromissen.
wo ein scharfes Entweder-oder wenn nicht von unmiſtel-
barer reeller. o doch von ungeheurer moralischer Wir-
kung häfte sein können. Hatte er die Verantwortung ab-
gelehnt. ein kurzes Wort hätte genügt. um Millionen An-
hänger um seine Persönlichkeit sich scharen zu lassen, eine
Revolution heraufzubeschwören, die stärker, bedeutender
und höchstwahrscheinlich auch unblutiger gewesen wäre als
alles. was die Geschichte gekannt hat.
Unwiederbringlich ist diese leuchtende Gestalt dahin-
gegangen. welche während der letzten Kriegsmonate und in
den ersten Verhandlungswochen die Hoffnung der Gerechtig-
keit war. Der Erlöser ist tot, der nie gelebt hat. Der
Name Wilson hat keinen Klang mehr.
Und wenn wir Umschau halten unter den hervorragenden
Zeitgenossen, um Ersatz zu suchen, es findet sich niemand,
der in so glücklicher Mischung moralische und reelle Kräfte
zum Wohle der Menschheit entfalten könnte.
Einer war aa, ein zu früh Dahingegangener, der am
13
668 Fritz Schwarz
31. Juli 1914. am Vorabend der Weltkatastrophe. das
Opfer patriotischen Irrsinns wurde, einer war da, der zu
Hoffnungen von ungeheurer Tragweite berechtigte: Jean Jaurès.
Immer wieder taucht ın den letzten Jahren der Ver-
zweiflung die Frage auf: was häfte Jaurès dazu gesagt,
was häfte Jaurès jetzt getan. wenn er am Leben geblieben
wäre. Welch eine einzigartige Mischung wirksamster Gaben
verkörperte diese selten umfassende Persönlichkeit. Man braucht
nicht Sozialist zu sein, um diesen Sozialisten zum Freunde
zu haben, nicht ausgesprochener Pazifist. um seine aufrichtige
Friedensbegeisterung zu teilen. Der zielbewußte Parteipolitiker
wächst über sich selbst hinaus, gewinnt einen Standpunkt,
von dem aus sein kräftiger Aufruf zu Vernunft und Ge-
rechtigkeit in alle Lager dringt. Wer Jaurès nicht liebt.
wer diesen starken und reinen Menschen nicht liebt. ist
der Menschheit verloren. Wenn wir eine bessere Zukunft
zu erhoffen haben. wenn die Welt aufhören soll. ein ekel-
haftes Schauspiel von Trug und Mord zu sein, dann müssen
tausend. hunderttausend aufstehen und handeln wie er. Denn
nicht an schönen Worten liel er sich genügen. Wirken
war sein Wesen. Wirken auf einer Grundlage, die an
wissenschaftlicher Gründlichkeit. an Lebenserfahrung und an
Liebe zu Welt und Menschheit nichts zu wünschen übrig
ließ. Sozialismus ist ihm mehr als Parteiprogramm oder
Wissenschaft, Sozialismus bedeutet im letzten Grunde Ge-
sinnung: Die Herrschaft einer Klasse ist ein Attentat auf
die Menschheit. Der Sozialismus, welcher jede Klassen-
herrschaft und überhaupt jeden Klassenunterschied aufheben
wird, ist also gleichbedeutend mit der Wiederherstellung
der Menschheit. Folglich ist es für jedermann eine Pflicht
der Gerechtigkeit. Sozialist zu sein.
Man glaube nur nicht. gleich einigen Sozialisten und
Positivisten, daß es kindisch und nutzlos sei, sich auf die
Gerechtigkeit zu berufen. daß sie ein ganz metaphysischer
Jean Jaurès | 669
und unendlich dehnbarer Begriff sei, und daß jede Tyrannei
sich den Mantel nach ihrem Belieben aus diesem banalen
Purpur zurechtgeschniften habe. Das ist keineswegs der Fall:
ın der modernen Gesellschaft erhält das Wort Gerechtigkeit
einen immer klareren und umfassenderen Sinn. Es besagt.
daß ın jedem Menschen, ın jedem Individuum die Mensch-
heit respektiert, das volle Menschentum möglichst entwickelt.
werden muß. Es gibt aber nur da wahre Menschenwürde,
wo Unabhängigkeit herrscht, tätiger Wille, freie und freu-
dige Anpassung des Individuums an das Ganze. Überall
da, wo die Menschen von der Gnade anderer abhängig
sind, wo sie nicht aus freiem Willen an den allgemeinen
Aufgaben mithelfen. wo das Individuum durch die Macht
anderer, aus Gewohnheit. und nicht aus freiem Entschluß
den Gesetzen der Gesamtheit unterworfen ist, überall da
kann man nur von minderwertiger. verstümmelter Menschen-
würde sprechen. Folglich wird die Menschheit durch die
Abschaffung des Kapitalismus und die Einführung des
Sozialismus zu ihrem Rechte kommen.
Wie Wilson war Jaurès vom Universitätsprofessor zum
Politiker geworden, vom Idealisten zum Vorkämpfer seiner
eigenen Ideale. Am 3. September 1859 wurde er zu Castres
im Languedoc geboren. einem Landstrich. der manchen be-
rühmten Franzosen hervorgebracht hat. einen Comte. La
Fayefte, Ingres. Gallier. Kelten. Phönizier. Iberer. Ligurier
bilden die ursprünglichen Elemente dieser Bevölkerung und
haben sich zu einer eigenen, reich begabten und aktiven
Rasse entwickelt. Wie, die meisten Volksführer entstammt
Jaurès keiner proletarischen. sondern einer kleinbürgerlichen
Familie. Seine Angehörigen mußten hart um ihre Existenz
ringen. Höhere Schulbildung und Studium ermöglichte dem
auffallend begabten Jüngling ein vermögender Gönner. der
als Schulinspektor Gelegenheit hafte. sich von dem Reich-
tum seiner geistigen Fähigkeiten zu überzeugen. Er hat es
670 Fritz Schwarz
bereut. Die Ironie des Schicksals wollte es, daß der eıfrigste
Reaktionär, der davon träumte, einen Orleans auf dem
Throne Frankreichs zu sehen, dem bedeutendsten französischen
Sozialisten den Weg ebnete. Unermüdliche Arbeitsfreude.
verbunden mit seltenen Anlagen. brachte dem jungen Jaurès
frühen Erfolg in seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Mit
25 Jahren wurde er Professor der Philosophie an der
Universität von Toulouse. mit 26 Jahren Mitglied „der
französischen Kammer. Das Erstaunliche ist. daſ er die Ideen
des Sozialismus lange vertrat. bevor er von der praktischen
sozialistischen Bewegung. von Volksversammlungen, Gewerk-
schaften, Streiks auch nur eine Ahnung hafte. Erst im
Jahre 1893 wurde er Mitglied der sozialdemokratischen
Partei. Er sagt von sich selbst: Ganz für mich hafte ich
in den ersten Jahren meines Studiums den ganzen Sozialismus
von Fichte bis Marx erforscht und ergründet, und ich
wußte dabei nicht, daß es in Frankreich sozialistische Gruppen
gab, eine regelrecht ausgebildete Propaganda. und daß man
von Guesde bis Malon in leidenschaftlichem Parteigeist
einander bekämpfte. Wie sollten derartig gestaltete Geister
nicht viel vom Leben zu lernen haben, wenn sie schlieflich
mit ihm in Berührung kommen? Es gilt nicht allein die
zuerst empfangene Bildung. welche zu papieren und einseitig
war, zu verbessern und zu vervollständigen; es bedarf einer
neuen Anstrengung, um gegenüber den allzu lebhaften un-
gewohnten Eindrücken Stellung zu nehmen und ıns Klare
zu kommen.
Im Jahre 1891 reicht er ın Parıs zwei Dissertationen
ein. eine in französischer, eine in lateinischer Sprache. Die
französische war betitelt: »Die Realität der Sinnenwelte«, die
lateinische handelt »Von den Ursprüngen des deutschen So-
zialismus. Die Idealisten Luther. Kant, Fichte und Hegel
werden als Vorläufer und geistige Urheber des Sozialismus
gewürdigt: Vor allem ergibt sich daraus deutlicher, wie
Jean Jaurès 71
sch die Ereignisse aus den Ideen berleiten. wie die Ge-
schichte abhängig ıst von der Philosophie. Auf den ersten
Blick könnte man glauben, daß der Sozialismus besonders
in England seine Blüte entfaltet habe, da sich dort besonders
: unverschämt die neue ökonomische Ordnung breit gemacht hat.
welche das Geld zu ihrer ausschlieflichen Grundlage macht.
In England war es ın jeder Beziehung leicht, sich eın Bild
von der ökonomischen Entwicklung zu machen. Wer aber
hat sie beobachtet und beschrieben? Es ist kein englischer
Philosoph, es ist ein Deutscher, der sich in England aufhielt.
Karl Marx. Hatte Marx sich nicht in die Hegelsche Dia-
lektik hineinversenkt, er häfte nicht die ganze ökonomische
Bewegung Englands mit dieser sozialistischen Dialektik in
geistigen Zusammenhang bringen können. England lieferte die
Tatsachen, aber die deutsche Philosophie hat diese Tatsachen
gedeutet. Der Sozialismus war im deutschen Geiste lange
vor dem anormalen Anwachsen der Schwerindustrie geboren
und lange bevor die wesentlichen Bedingungen zum ökono-
mischen Sozialismus in Erscheinung traten. — Kurz, um
den deutschen Sozialismus unserer Tage zu begreifen genügt
es nicht, ihn in der besonderen und vorübergehenden Form
falsch auszulegen. welche ihm Bebel und andere gaben. Man
muß seine Ursprünge zu erforschen suchen, d. h. seine
Quellen aus Intellekt und Gewissen. Das ıst der Grund,
weshalb ich den christlichen Sozialismus Luthers studiert
habe, den moralischen Sozialismus.
Jaurès ist ausgesprochener Idealist im wörtlichsten Sinne.
Ausgehend von der Idee gelangt er zur Tat. Seine Welt-
anschauung war geklärt. bevor er in die politische Aktion
trat. Seine Philosophie beherrscht sein Leben. sein Leben
ist Ausfluß seiner Philosophie. Um den Politiker und
Sozialreformator ganz zu verstehen. muß man sich mit dem
Philosophen vertraut gemacht haben. Neu. ursprünglich,
eigenartig sind die Elemente seines Weltempfindens keines-
672 I Fritz Schwarz
—— —— —mͥ—¾ ñö n ——
wegs. Nur darum erhalten sie eine besondere Bedeutung. weil
sie in ihren letzten Konsequenzen einen starken Einfluß auf
die sozialen Forderungen der Gegenwart ausüben.
„Das tiefste und edelste Bedürfnis des
menschlichen Geistes ıst das Bedürfnis nach
Einheit‘, in diesen Worten offenbart sich am deut-
lichsten Ausgang und Ziel seiner Philosophie, wie im letzten
Grunde wohl das Wesen der Philosophie überhaupt. Gei-
stige Kräfte allein vermögen das Beglückende dieser Ein-
heitsemanation nicht voll zu erschöpfen. Es gehört dazu ein
starkes Gefühl. ein intuitives Umfassen der kosmischen
Offenbarungen. Zum Erkennen muß sich Glaube gesellen,
zur Wissenschaft dichterisches Erfahren. Nur das Erlebnis
zeugt Leben. Und Wissen kann vom Erleben geschieden
sein wie Himmel und Erde. l
Ich bins so sagt er, »mit Carlyle überzeugt, daß die
ersten denkenden Menschen, welche in den gewaltigen Natur-
erscheinungen selbstständige Personen erblickten, der Wahr-
heit näher standen, als die mechanische Auffassung, die
überall nur wenig unterschiedliche Variationen eines gleich-
förmigen Themas sehen möchte. Es gibt im All ein dra-
matisches Element, bestimmte Rollen sind in der Welt
verteilt. und wenn wir die metaphysische Funktion zu be-
stimmen suchen, welche die mannigfachen Kräfte im Sein
erfüllen, und welche die Wissenschaft auf eine banale Ein-
heit zurückführt, so haben wir dabei nicht im Sinne mit
der Wissenschaft zu brechen, die im übrigen unserseits
weder etwas zu befürchten noch etwas zu erwarten hat;
wir beabsichtigen lediglich in unserer Vorstellung vom All
den Sinn der Einheit und den Sinn des Lebens in Ein-
klang zu bringen.
Dieselbe Kraft dichterischer Intuition. welche im All
die Einheit erlebt. erfährt sie in gleicher Weise im engen
kosmischen Kreise der Menschheit, des Volkes, der Familie.
Jean Jaurès 673
der Freundschaft. Das Beglückende. im Gefühl unserer Ein-
heit, das Beglückende im Gefühl von Mensch zu Mensch
entspringt dem gleichzeitigen Bewußtsein unseres Losgelöstseins.
der Eigenheit. Die Gefahr. daß der Sozialismus zu ödem
Uniformismus entarten könnte, ist nicht vorhanden, denn
nur einer ausgeprägten Persönlichkeit wird das Bewußtsein
der Einheit in vollem Umfange zuteil werden können. Auf-
gehen im All. Einswerden mit Mensch und Gesellschaft.
bedeutet auf keinen Fall Preisgabe des Persönlichen. Ver-
lieren seiner selbst. Man veräußert sich nicht im Verinnern.
Je stärker man im andern lebt, desto wacher wird das
Gefühl der Eigenheit. desto größer der Reichtum der Welt
unseres Inneren:
»Die Seelen stehen im Kampf mit allen gegebenen
Kräften, mit allen ursprünglichen Gefühlen. Sie erwehren
sich ihrer und überwinden sie, indem sie die noch dunkeln
Elemente sich klären lassen, indem sie die widerspruchsvollen
Elemente in Harmonien aufzulösen suchen. Ich glaube, daß
man sich das All als eine ungeheuere Gesellschaft von
Kräften und Seelen vorstellen könnte. Diese Kräfte, diese
Seelen liegen ı im Kampf zwischen Gut und Böse, streben
aus der Tiefe des Widerspruchs und Elends zur Fülle
und Harmonie des glücklichen Lebens, ziehen Nutzen aus
allen urewigen Elementen der Welt: Wärme. Licht. Elek-
trizität. Schall, sie bringen sie zur Klarheit des Bewult-
seins, sie ordnen sie in der Welt ihres Innern, die immer
reicher wird- und immer mehr: dem All entspricht. So gibt
es im All wie in der Gesellschaft keine Schöpfung neuer
Ideen, keine neuen wesentlichen Beziehungen. —
Die Einheit aber ist nichts Starres. Unbewegliches. Totes.
Sie wird zum lebendigen Ausdruck von Selbstentfaltung und
Freiheit. Sie wandelte sich in sich selbst. ist Schöpfung
aus unmiftelbarster Evolution. Sie bedeutet das Prinzip des
steten, unermüdlichen Aufbaus. im Gegensatz zur zerstö-
674 Pnu Schwarz
renden Macht Jualistischer Scheidung. Man mag Monismus,
Pantheismus, Einheit sagen, im Grunde steckt ein freudiges
bejahendes Gefühl dahinter, das Bewußtsein zu wachsen aus
eigener Kraft, aber aus derselben Erde wie Baum, Tier
und Mitmensch. Isolieren mag sich der Kleinmütige, Schwäch-
liche, der immer nur fürchten muß, sein bißchen Eigenheit
ganz zu verlieren, gewöhnlich zu werden unter den Gleichen,
erdrückt zu werden vom frei sıch entfaltenden Nebeneinander.
Wie im Individuum aus dem Kampf ‚widerstrebender
Kräfte sich schließlich eine fruchtbare Harmonie, eine be-
stimmte geistige Richtung ergibt, so sind auch die Parteien
der Gesellschaft zur Schöpfuug, zur Evolution berufen. Der
Vertreter der Parteien verteidigt seinen Standpunkt, nımmt
dıe Interessen seiner Gruppen wahr. Um aber der Ver-
wirklichung seiner Ideen Dauer zu verleihen, bedarf es noch
einer besonderen Anstrengung. die aus der Enge in die
Weite strebt, sich über den eigenen Standpunkt erhebend,
lavierend, ohne seinen eigentlichen Kurs zu verlieren, nach
einenden Elementen sucht, ım Prinzip der Einheit das letzte
unumgängliche Mittel der Entwicklung erblickt.
Bei Jaurès bedurfte es dieser Anstrengung kaum. Er
war sich von vornherein bewußt, das alles, was aus
Engherzigkeit, Mangel an Verständnis und gutem Willen,
Überhebung und Starrsınn der Möglichkeit einer Einigung
entgegen ist, zu verderblicher Auflösung und Vernichtung
führen muß. Sozialismus bedeutet ihm mehr als
Politik, wie ihm Menschheit mehr als Nation
bedeutet. In bewultem Gegensatz stand er zu Clemenceau.
erkannte mit aufrichtiger Trauer die erschüfternde Tragik.
welche darin liegt, daß eine solche überragende Kraft sich
an überlebten, unfruchtbar gewordenen Zielen in maſloser
Energie verschwendet.
Jaurès ist tot, Clemenceau lebt. Das Volk dee Revo-
lutionen verleugnet im Jahre 1919 den ersten Mai. Der
Jean Jaurös l 675
gewaltige Politiker triumphiert über den großen Sozialisten.
Die Zeit wird entscheiden. ob dieser Triumph von Dauer ist.
Seit seinem Eintritt in die Kammer im Jahre 1885
hat Jaurès eine Politik bekämpft. von deren verhängnisvollem
Irrtum er ım Grunde seines Herzens überzeugt war. Der
Streit. welcher sich damals wegen Tonkin und den kolo-
nialen Fragen erhob. häfte seiner Meinung nach geschlichtet
werden können. »Ich halte es mit für das größte Unglück,
welches die Republik hat treffen können«, sagte er, :»daß
dieses Vorspiel von Zank und Streit beı der Gesetzgebung
von 1885 nicht vermieden worden ıst, und wenn es nıcht
immerhin einigermaßen gewagt wäre von Schuld zu sprechen.
wo es sch um die so schwierige und verwickelte Ent-
scheidung über Wohl und Wehe der Menschen handelt,
so möchte ich sagen. daß es der Hauptfehler im Leben
Clemenceaus war, diesen Streit nicht verhindert zu haben.
Man debaftierte damals im Parlament wegen der Aneignung
kolonialen Gebietes, wie sie ın der Folge bei sämtlichen
Großmächten zur Selbstverständlichkeit wurde. Jaurès warnte
vor Unternehmungen, die einen Zusammenstoß der inter-
essierten Regierungen schließlich unvermeidlich machen mußten,
er verwarf Spekulationen, die oligarchischen Kreisen Vorschub
leisteten und die Kraft und Einheit des Landes gefährdeten.
Das alte Kolonialgebiet wahren, von Neueroberungen absehen,
war sch gemäfhigter Vorschlag. Er drang nıcht durch.
- Über Clemenceaus gegnerischen Standpunkt in dieser Zeit
äußert er: Was die internationalen Fragen, die äußere Politik
seit 1884 und 1885 betraf, so sucht Clemenceau, tappt .
im Dunkel, wagt und wagt nicht. Er verallgemeinerte das
Problem in seiner heftigen Art die Politik koloniale Er-
oberungen zu bekämpfen und setzt sich eifrig, soweit es
yon Frankreich abhängen konnte, für den endgültigen Frieden
= Jede Stunde des Friedens fördert die Freiheit, jede
676 Fritz Schwarz
Stunde des Friedens dient der Gerechtigkeit. Die endgültige
Revanche wird ın dem Sieg der neuen sozialen Ordnung
bestehen.. sagt Clemenceau. Jaurès weil von vornherein, daß
es sich hierbei um nichts anderes handelt als schöne Phrasen.
„Das sinde, so bemerkt er, -wie es scheint entscheidende
Worte. Die immanente Gerechtigkeit. von der Gambeſta
sprach, verliert hier ihren geheimnisvollen Schleier. Das ist
nicht mehr die rätselhafte Nemesis, die stumm und verhüllt
an der Schwelle der Zukunft kauert und auf die vielleicht
blutige Stunde der Sühne und Wiedervergeltung wartet.
Diese immanente Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit der
Demokratie: sie bedeutet Sicherstellung des Völkerrechts
und des Rechtes der Individuen durch die Macht der Recht-
lichkeit eines .dauerhaften Friedens. durch den Sieg der
menschlichen, sozialen und internationalen Solidarität. Das
ist nicht das Gewalt-Recht des Stärkeren. Ganz im Gegen-
teil: es ist die endgültige, absolute Ablehnung der Gewalt
und bewaffneten Rache, es ist die endgültige, absolute Ab-
lehnung der militärischen Revanche, d. h. dessen, was der
Sprachgebrauch schlechtweg unter »Revanche« versteht. Es
ist die Konzentration aller Kräfte und Energien des fran-
zösischen Volkes auf sein inneres Werk politischen und
sozialen Fortschriſts.
Warum aber -hat sich Clemenceau zwanzig Jahre
später über ein Wort von Pressense entrüstet. das eine
fast wörtliche Wiederholung seiner eigenen Formeln war?
Wie kam er vor allem dazu. in der Initiative zur all-
gemeinen gleichzeitigen Abrüstung. welche Frankreich er-
greifen sollte. eine Selbstverleugnung. eine sträfliche Un-
klugheit zu sehen? Behaupten, daß man den Frieden will.
heißt zugeben. daß man bereit ist. notwendigerweise auf
alle kriegerischen Maßnahmen zu verzichten. wenn auch
die andern Völker gleichzeitig zu diesem Verzicht bereit
sind. Behaupten, daß die wahre Revanche im Fortschritt
Jean Jaurès 677
— (on
der Demokratie und ın der Organisation einer neuen
sozialen Ordnung bestehe, heißt erklären. daß alles. was
den demokratischen Fortschritt und die Entfaltung der
sozialen Gerechtigkeit beschleunigt. auch die Stunde der
Revanche schleunig herannahen läßt. Und wer kann in
Abrede stellen, daß die Politik des sicheren Friedens und
der gemeinsam verabredeten Abrüstung zur Entfaltung von
Freiheit und Gerechtigkeit beitragen wird, ındem die
Militärkasten, dieses Instrument der Unterdrückung, in Mi-
kredit gebracht und die Mittel, welche der bewaffnete
Friede verschlingt. für soziale Zwecke nutzbar gemacht
werden? Ist es denn so sträflich. zwanzig Jahre nach
dem Kriege eine Politik zu verfolgen, die Clemenceau
dreizehn Jahre nach dem Zusammenbruch verfocht? Wäre
es wirklich so unbesonnen, nachdem wir dreißig Friedens-
jahre erfahren haben, die Friedenserklärung Clemenceaus
für eine Möglichkeit hinzunehmen, welche er der Welt
verkündete, als Frankreich noch unter dem unmiftelbaren
Eindruck des Schreckensjahres stand? Und wenn es unsrer-
seits eine idyllische Albernheit ist, »Frieden zu blöken«,
wie Clemenceau gesagt hat. wie häften wir mit den
Wölfen heulen können, als er selbst zwanzig Jahre vor
uns das Signal zum Blöken gegeben hafte? Sollte es sich
bewahrheiten. daß aller Wille vergeblich ist. wenn man
nicht fest entschlossen ist. das Werk der Demokratie bis
zum Sozialismus zu vertiefen und mit allen Kräften des
internationalen Proletariats den Friedenswillen zu stützen,
und daß der Glaube an die friedliche Wiederherstellung
der Rechtszustände trügerisch und unsicher ist. wenn er
eich nicht auf die Gewiſcheit der sozialistischen Evolution
stützt ?«
In der Lösung der sozialen Frage gipfelt nach Jaurès
innere und auch äußere Politik. In scharfem Gegensatz
steht diese Auffassung zur Ansicht Clemenceaus. Kämpfer
6798 Fritz Schwarz
— — — — — —
sind beide. Aber während der eine nationale Interessen
und die Interessen seiner Partei vertrift, äußere und innere
Politik treibt, legt es dem andern vornehmlich an einem
Standpunkt, der die gesamte Menschheit nach Möglichkeit
zu berücksichtigen imstande ist. Denn Jaurès ist ganz und
gar nicht einseitiger Geschäftsführer des Proletariats. Vor-
urteile sind ihm fremd. Man beachte, wie redlich er in
allen Kämpfen stets bemüht war, einen versöhnlichen Ton
zu finden. Immer war seine erste Frage: wo liegt das
Gemeinsame, wo bietet sich eine Möglichkeit. ein Einver-
ständnis mit dem Gegner zu erzielen. um auf dieser
Grundlage dann vorsichtig weiterzubauen. Vorbildlich war
sein Wille zur Verständigung. Während Clemenceau
sschreit«, „auf brausend antwortete, in jeder Geste eine ab-
wehrende Haltung verrät. läßt Jaurès auch da. wo er
leidenschaftlich und scharf wird, immer noch jenes Wohl-
wollen erkennen, welches zur sachlichen Diskussion uner-
läßlıch bleibt.
sIch will keine Kasernen und Klöster; wie ihr sie
vorbereitete, schreit Clemenceau. »Kasernen und Klöster.!
spricht Jaurès, »was will er damit sagene? Und dann er-
örtert er die Frage mit philosophischer Gelassenheit. die
sch immer bewußt bleibt, daß Mißverständnisse die Hälfte
alles Menschenzwistes ausmachen. Wer im Kollektivismus
nichts anderes sieht als Zwangsanstalten wie Kasernen und
Klöster, der anerkennt in seinen Augen im Privatbesitz
und Kapitalismus die Bedingungen zur Freiheit. Auf diese
Weise wird die Menschheit vor. eine geradezu grausame
Alternative gestellt. Auf der einen Seite droht die Knecht-
schaft der Proletarier, auf der andern die Knechtschaft
durch Sozialismus. Es heißt entweder selbst Kerkermeister
werden oder die Kerkermeister hinab ins gemeinsame Ge-
fängnis zerren. Der Kampf der Klassen wird zum un-
überbrückbaren Abgrund zweier Weltanschauungen. Nach
Jean Jaurès 679
Clemenceau ist der Bildungsstand der Arbeiter in den
großen Städten und auf dem Lande derart, dał eine
politische Bevormundung seitens einer aufgeklärten, gebildeten
Gruppe erforderlich wird. Diese erlesene Gruppe, welche
jeder Definition entbehrt, wird für die Aufwärtsentwicklung
der Demoktatie verantwortlich gemacht. Mit seinen eigenen
Worten: »Die Kunst der Politik ın einer Demokratie
besteht. darin, die Emanzipation der überlegenen Gruppe in
den Dienst der Emanzipation der anderen, untergeordneten
Gruppe zu stellen. Der Grad der Bildung spricht das
entscheidende Wort. Allerdings, fügt er dann beiläufig
ein. sıch will zugeben. daſ hinter dem politischen Kampf
der Kampf der Interessen steht. Ich gestehe sogar zu.
wenn Sie wollen. daß es recht gesehen überhaupt nur
Interessenkämpfe gibt.. Hier liegt der kapitale Unterschied
zwischen der zeitgemäßen Forderung des großzügigen Sozi-
alisten und der altväterlichen Erhabenheit des selbstgerechten
Politikers. Clemenceau ıst als Erlesener der erlesenen Gruppe
bereit, der ungebildeten Masse Aufklärung zukommen
zu lassen, er fühlt sich sogar verpflichtet dazu, aber er
benimmt sich dabei wie ein herrschsüchtiger Lehrer gegen-
über seinen Schuljungen. Sein . Mißtrauen läßt ihn den
Rohrstock nicht aus der Hand legen. Jaurès trit für die
Bildung des Volkes mit nicht geringerem Eifer ein, lehnt
es aber entschieden ab. sich die siliche Bevormundung
seiner Mitmenschen angelegen sein zu lassen. Bildung ist
Freiheit. und Freiheit verschenkt sich nicht. Den Weg
bahnen. mit gutem Beispiel vorangehen. reformieren und
nieht herrschen ist seine Aufgabe. Denn welches ist im
Grunde die aufgeklärte Gruppe, die sich berufen wähnt.
die Erziehung des Menschengeschlechtes zu übernehmen?
Das ist die Elite der Bürger und Kapitalisten. Die ist
emanzipiert. mehr als das, sie ist souverän. Ihren Händen
soll das Schicksal des Proletariats anvertraut werden, sie
680 Fritz Schwarz
sollen die Unbemittelten lehren: wie mans macht. Jeden-
falls wäre das noch das Beste, was dabei herauskommen
könnte. Nein. Jaurès will nicht gnädig sein und die
armen Teufel lehren. wie se im Kampf ums Dasein
am besten ihre Interessen zu wahren haben, wie. sie es
anzustellen haben, daß sie über kurz oder lang aus ge-
schundenen Schülern zu schindenden Lehrern werden. aus
armseligen Proletariern zu Mitgliedern der - erleuchteten
Gruppe · „Die Klasse der Proletarier«, sagt er. ist nicht
gewillt. die Menschheit -dem Eigentum unterzuordnen. im
Gegenteil, sie unterstellt das Eigentum der Menschheit. Sie
will, daß die Menschheit aufhöre, Instrument des Eigen-
tums zu sein, sie will das Eigentum zum Instrument der
Menschheit machen. Sie bereitet auf diese Weise unbe-
stritten eine soziale Ordnung vor. für die es überhaupt
keine Klassen mehr gibt.. — Jaurès ist weniger entrüstet
als aufrichtig betrübt über die Kurzsichtigkeit Clemenceaus.
Er erblickt eine verhängnisvolle Tragik in der Art. wie
eich die gewaltige Kraft des rastlosen Politikers auf Irr-
wegen vergebens verschleudert: » Wie schade, daß Clemenceau-
selbst nicht alle Folgerungen aus den Prämissen zieht.
welche in seinen Worten dunkel enthalten sind. Diese
Konfusion der Gedanken, diese Unsicherheit einer Idee,
welche dıe Zukunft ım Auge behält, sich aber selbst alle
Türen verschließt, gibt den Ausführungen Clemenceaus.. ıch
weill nicht wie, etwas Beschränktes das fast schmerzhaft
berührt. Und das kommt daher, weil er sich von der
wahren Natur des Klassenkampfs immer noch keine rechte
Vorstellung machen kann, weil er ein blindes Durcheinander
von Miftrauen und Haß darin erblickt, das vom Cäsarentum
entfesselt und entfacht wird.
Die Ablehnung der bürgerlichen Tendenzen vollsieht
sch bei Jaurès mit bewundernswerter Objektivität. Der
Historiker. welcher die erste Geschichte des Sozialismus
Jean Jaurès 681
schrieb, ist weit davon entfernt, sich einseitigen Wider-
spruch zum Grundsatz zu machen. Der Kapitalismus ist
ihm eine entwicklungsgeschichtliche Notwendigkeit, welche
in ihrem Ursprung der Größe durchaus. nicht entbehrt.
Ohne religiösen Geist, ohne sittliche Kräfte wäre die er-
staunliche Entwicklung der Bourgeoisie schlechthin unmöglich
gewesen.
»Die Bourgeoisie wäre nicht so groß geworden, wie
sie ist. sie hatte die weite moderne Welt mit ihren un-
begrenzten Möglichkeiten nicht schaffen können, wenn sie
geglaubt hätte. daß sie lediglich ein elendes Ausbeuter-
gewerbe betreibe. wenn sie nicht zum mindesten edle
Illusionen von hehrer Gesinnung und Begeisterung für den
Fortschritt der Menschheit besessen hätte. Karl Marx
verfuhr in seiner Beurteilung kapitalistischer Zustände zu
einseitig. Er verleugnete die fruchtbaren Kräfte, wollte
nur die Schaftenseiten sehen. Jaurès fährt fort:
„Es wäre ein großes und verlockendes Problem —
weit verwickelter und viel menschlicher als dasjenige, wo-
mit sich Marx beschäftigt hat — zu untersuchen, wie
diese Art moralischer Gewißheit, diese Sicherheit des Ge-
wissens sich bei der Bourgeoisie anbequemen konnte an
all die gewalttätigen und trügerischen Praktiken. an die
Grausamkeiten in den Kolonien. an die Gaunereien im
Handel, an die ganze Mannigfaltigkeit der Ausbeutungs-
formen. welche den ersten Perioden des Kapitalismus =
seinem Erscheinen und seinem Wachstum — das Gepräge
gaben. Dieses Problem geht über meine Kraft: man mülte
die zahllosen Elemente einer moralphilosophischen Unter-
suchung darüber aus den Dokumenten aller Art, dıe das
XVI. XVII. und XVIIL Jahrhundert uns hinterlassen
bat. hervorholen. Und nur eine starke und divinatorische
Begabung könnte bis zum Grunde des Problems vor-
dringen. Aber gewiß ist, daß die Bourgeoisie nicht edie
682 Fritz Schwarz
Kraft gehabt häfte, die wirtschaftliche Umwälzung zu
unternehmen und über alle furchtbaren Schwierigkeiten
hinweg zu vollenden. wenn sie mit einer verkümmerten,
schmutzigen Seele begonnen, wenn sie nicht den Glauben
an den endgültigen Segen ihres Werkes für die ganze
Masse der Menschen gehabt hätte. in denen sie, Christus
und der Vernunft zufolge, ihre Brüder erkennen müßte.
Es wäre kindisch, in der Kühnheit der religiösen Revolution.
in der die Bourgeoisie soweit ging. nur eine macchiavellistische
kaufmännische Berechnung zu erblicken.
Die schöpferische Kraft des Kapitalismus läßt sich nicht
leugnen. Es wäre verkehrt, rücksichtslos zu verdammen und
Elemente des Aufbaus vernichten zu wollen, die für die
Aufwärtsentwicklung der menschlichen Gesellschaft unerläß-
lich sind. Die politische Freiheit ist dem Proletariat gegeben.
Jetzt muß es daran gehen, sıch seine wirtschaftliche Frei-
heit zu sichern. Der mittelalterliche Feudalismus wurde ab-
gelöst vom bürgerlichen System. Durch den Übergang der
Produktionsmiſtel in den Besitz der Gesellschaft vollzieht
sich die Schöpfung des neuen "Systems. das mit Klassen-
vorrechten aufräumt und in sozialer Gerechtigkeit der
menschlichen Gesellschaft dient.
In der Methode. diesem neuen System zum Sieg zu
verhelfen. triſt Jaurès in ausgesprochenen Gegensatz zu
einem anderen Politiker, Jules Guesde. Die Kluft, welche
Guesde von der Bourgeoisie trennt. ist unüberbrückbar
Ja. er legt sogar den größten Wert darauf, daß sie unüberbrückbar.
bliebe. Reformen, welche in friedfertiger Vereinbarung herbei-
geführt werden, gelten ihm nichts sind im Gegenteil
Kompromisse, die im letzten Grunde für das Proletariat
von nur schädigendem Einfluß sein können. Unversöhnlich
steht er der kapitalistischen Staatsordnung gegenüber. Ge-
walt muß Recht schaffen. Grau in grau wird die alte
Ordnung in bewußter Entstellung und Übertreibung dar-
Jean Jaurès 683
gestellt. Legitime Wege. Wirkung im Parlament und in
der Regierung werden verworfen oder sind doch nur von
untergeordneter Bedeutung:
„Um ärztlichen Beistand seitens der Kommunen handelt
es mch? Gehen Sie nur fröhlichen Herzens hin, meine
Herren Verwundeten. Dank dem »Progressiste von Lyon
werden die Steuerpflichtigen die Kosten zahlen. Sie
sind es die Euren Opfern umsonst Ärzte und Medi-
kamente liefern werden .. und wer weiß? vielleicht auch
einen Sarg, wenn es nötig ist. Der Arbeiterdeputierte von
Lyon ist ein Possenreißer.«
Guesde bleibt nicht immer konsequent: Jaurès hat ihm
seine Widersprüche deutlich vor Augen gehalten, aber in
der Theorie und auch ın den Hauptrichtlinien seines
praktischen Verhaltens behandelt er Evolution und Reformen
als Blendwerk und Schwindel, vor dem das Proletariat zu
warnen ist. Nicht durch gerechte Teilnahme der Proletarier
an den politischen Befugnissen. sondern durch ihre unbe-
schränkte Vorherrschaft ist die neue Ordnung denkbar. und
herbeizuführen ist dieses Ubergewicht nur auf gewaltsamem
Wege. Bietet sich für bürgerliche und sozialistische Gruppen
eine Gelegenheit zu gemeinsamem Handeln. zu gemeinsamer
Förderung humaner Interessen. Guesde zieht die Hand zu-
rück, verschließt die Augen, ist vor allem darauf bedacht.
die Gegensätze immer gewaltiger anwachsen zu lassen. um
auf diese Weise schließlich in unvermeidlichem Kampf auf
Leben und Tod die Entscheidung herbeizuführen. Auch Jaurès
schrickt vor gewaltsamen Eingriffen nicht zurück, hält die
Revolution für einen wesentlichen Faktor des Fortschrifts,
aber nur notgedrungen läßt er sich herbei. zu diesem
äußersten Mittel zu greifen. Er will jede Sozialreform
unterstützen soweit es ihm möglich ist, ganz gleich von
welchem Lager sie ausgeht, ruft aber ohne Bedenken den
Proletariern zu:
14
684 Fritz Schwarz
„Die Vergewaltigungen seitens der Machthaber fordern
selbstverständlich die Gewalttaten des Volkes heraus und
rechtfertigen sie... Erwartet den unausbleiblichen Tag
der Revolution!.
Am besten erkennt man aus den folgenden Worten.
wie Jaurès über die sozialistische Kampfmethode dachte:
„Es hat nicht viel zu sagen, daß die einen unter uns
sich mehr von der Wirksamkeit des allgemeinen Wahl-
rechts versprechen, die anderen mehr von der Notwendig-
keit revolutionären Handelns. Es gibt niemand unter
uns Sozialisten, der ım Wahlkampf nicht dabei sein wollte.
Die Ersetzung des kapitalistischen Eigentums durch das
soziale Eigentum ist eine zu einschneidende ökonomische
Revolution, sie. setzt zu entgegengesetzte Leidenschaften,
Hoffnungen und Befürchtungen ın Bewegung, als daß es
jemandem zukäme, im voraus mit Sicherheit den Weg zu
bestimmen, den man zur Lösung der Aufgabe beschreiten muß.«
Immer wieder steht das Prinzip der Einheit bei Jaurès
im Vordergrunde aller Erwägungen. Die Möglichkeiten einer
fruchtbaren und gerechten Evolution sind für ihn nicht
lediglich auf sein Parteiprogramm aufgebaut. Wo Einmütig-
keit im Handeln herbeizuführen ist. müssen die Schranken
einseitiger Gruppenpolitik fallen. Alle Krafte sind frei zu
machen und zu unterstützen. welche für die Entfaltung
sozialer Gerechtigkeit in Frage kommen. Als man ihm
gelegentlich der Dreyfusaffäre den Vorwurf macht, daß er
sich für einen Offzier, für einen Angehörigen der ver-
haften Militärkaste, allzueifrig ins Zeug lege, weist er diesen
Vorwurf entrüstet zurück, erklärt den Fanatikern. daß es
sch um Prinzipien und nıcht um Personen handele. Gerech-
tigkeit ist ein Gut, an dem die gesamte Menschheit teilhaben
mul, wenn der Glaube an den Fortschri® nicht unter-
geben soll.
„Es gibt Stunden · sagt er. da es für das Proletariat
Jean Jaurès 685
ee nt a re
von Interesse ist. eine allzu heftige intellektuelle und
moralische Entartung selbst der Bourgeoisie zu verhindern.
Als sich gelegentlich eines Verbrechens der Militärbehörde
zwischen den verschiedenen bürgerlichen Parteien der Streit
erhoben hafte. welchen Sie kennen. und als eine kleine
bürgerliche Minorität den Versuch machte. gegenüber dem
ganzen Lügengemächte, das gegen sie losgelassen wurde,
nach Gerechtigkeit und Wahrheit zu schreien, damals war
es aus obigen Gründen Pflicht des Proletariates. seine
Neutralität aufzugeben, sich da einzusetzen, wo die Wahr-
heit litt. wo die Menschheit um Hilfe rief.
Der Weg zu einmütigem Handeln ist Verständigung.
Der Weg zur Verständigung Aufklärung. Auf einen wohl-
durchdachten. sorgfältigen Unterricht der Jugend legte Jaurès
ganz besonderen Wert. Man darf sich nicht scheuen. mit
Ernst. Schlichtheit und Größe zu den Kleinen zu sprechen.
Im Kinde schlummert ein unbegrenzter Wissensdurst.
sein Herz begegnet der Idee mit einer wunderbaren Empfäng-
lichkeit. die leider immer noch unterschätzt und mißachtet
wird. Vor allem gilt es. die Freude an selbständıgem
Lesen zu wecken. »Wenn ein Schüler, der wissensdurstig
ist, recht lesen könnte, so würde er schnell nach der
Lektüre von sieben oder acht ausgewählten Büchern eine
zwar sehr allgemeine, aber doch sehr hohe Idee von der
Geschichte des Menschengeschlechts, von dem Aufbau der
Welt. von der Geschichte der. Erde innerhalb des Alls
und von der Geschichte Frankreichs innerhalb der Mensch-
heit gewinnen können.«
Hinsichtlich der Bildungsmöglichkeiten tri& die soziale
Ungeheuerlichkeit unserer Zustände am besten zutage. Welch
ene Roheit läßt sich die Gesellschaft zuschulden kommen,
indem sie dem geborenen Reichen die Tore zu aller Er-
kenntnis und Schönheit weit öffnet. während dem geborenen
Armen gerade in dem Augenblick die Miel zur Ver-
686 Fritz Schwarz
vollkommnung entzogen werden, da er die Früchte seiner
geistigen Anstrengung langsam zu genießen beginnt. Man
behandelt ihn wie einen Klavierschüler, den man vorsätz-
lich über die unvermeidlichen Fingerübungen nicht hin auskommen
lat. Welch ein alberner Widerspruch ergibt sich daraus,
daß die geistig-religösen Elemente, welche der Staat in der
Volksschule zum Prinzip des Unterrichts macht, von der
geistigen Elite ganz Europas mit Recht oder mit Unrecht
verleugnet werden. Wie soll die Menschheit zur Ver-
wirklichung eines gemeinsamen Ideals heranreifen können,
wenn die einzige Bildungsstufe, welche der Masse zu er-
klimmen möglich ist, nicht nur denkbar niedrig bleibt,
sondern überhaupt keine Grundlage, keinen Ansatz zu dem
bildet, was den geistig zu höchst Stehenden am wesent-
lichsten erscheint. Die siliche Diktatur der Kirche hat
der Gesellschaft schweren Schaden gebracht. Das erste
Recht der Masse ist das Recht auf ein eigenes Gewissen,
Die Aufgabe des Unterrichts beschränkt sich auf Auf-
klärung. Gewissenszwang bedeutet Sifllichkeitsverbrechen. Der
Grieche erkannte nur die eigene Kultur an und haßte und
verachtete den Barbaren, der Christ taufte die Heiden mit
Feuer und: Schwert, der Katholik muß von seiner allein-
seligmachenden Anschauung überzeugt sein. Der moderne
Mensch ıst keiner Schablone unterworfen. Der Unterricht
dient dazu, ihn reif zu machen für die Erkenntnis der
Forderungen sozialer Gerechtigkeit und die Gefahren des
Egoismus. Nur da ist sitliche Reife denkbar, o Freiheit
dıe Vorbedingung moralischer Entwicklung war. Unterrichten
heißt, den Weg ebnen und nicht, den Weg bestimmen.
Der Unterricht darf daher keinem nivellierenden Unifor-
mismus unterworfen werden. Die Kommunen haben das
Recht, neben den Staatsschulen eigene Unterrichtsanstalten
ins Leben zu rufen, welche den besonderen Neigungen der
Landschaft und Bevölkerung entsprechen. Die Methode des
Jean Jaurès l 687
Unterrichts bietet unbeschränkte Möglichkeiten, das Ziel
bleibt dasselbe: Erziehung zur Freiheit. Das oberste Prinzip
der Erziehungsfrage aber ergibt sich aus den folgenden
Worten:
»Man diskutiert, man legt seine Gründe dar, als ob
eine große Nation sich fest für dieses oder jenes Unter-
richtseystem entscheiden könnte. Meine Herren, man lehrt
nicht das, was man will. Ich möchte nicht einmal behaupten.
daß man das lehrt, was man weiß oder was man zu
wissen glaubt. Man lehrt nur und man. kann nur lehren,
was man ist.
Die praktischen und moralischen Forderungen, welche
Jaurès an den politischen Menschen stellt, sind evident.
Schwieriger ist es. sich ein deutliches Bild von der end-
gültigen Form zu machen, welche die Gesellschaft nach
seinem Urteil annehmen soll. Die Ansichten Bernsteins.
daß die Bewegung alles, das Endziel garnichts bedeute,
teilt er nicht: .
Aber diejenigen, welche es sich zum Ziel gesetzt haben,
die Demokratie auf breiten und sicheren Wegen zum
Kommunismus zu führen, diejenigen, welche nicht auf den
wang emer Stunde, auf die Illusionen eines erregten
Volkes rechnen können, sind verpflichtet, mit der bestimmtesten
Klarheit auszusprechen, welcher gesellschaftlichen Form sie
die Menschen und Dinge zuführen wollen und durch
welche Einrichtungen und Gesetze sie zur kommunistischen
Ordnung zu gelangen hoffen. — — — Ich weil nicht.
ob Bernstein nicht durch die Notwendigkeit der Polemik
dazu geführt wurde, ın erster Linie die kritische Seite
seines Werkes auszuführen. Es wäre jedenfalls ein schwerer
Irrtum und ein großer Fehler, das Endziel des Sozialismus
im Dunkel der Zukunft verschwimmen zu lassen. Der
Kommunismus muß die leitende und sichtbare Idee der
ganzen Bewegung bleiben.
688 Fritz Schwarz
Die Menschheit krankt am Dualismus von Kapıtal und
Proletariat. Aufgabe des Proletariats ist es, diesen Dualismus
zu beseitigen. doch nicht darum setzt er im Klassenkampf
seine Kräfte ein. um den Kapitalisten zu berauben. um
auf seine Kosten Kapitalist zu werden. Das hieſſe jenen
Dualismus nicht aus der Welt schaffen. sondern ihm ledig-
lich eine neue Form geben, die keineswegs Anspruch auf
soziale Gerechtigkeit machen könnte. - Damit also der
Klassenkampf tatsächlich zum Austrag komme«, sagt Jaurès,
genügt es nicht. daß das ganze organisierte Proletariat gegen
den Kapitalismus vorgeht, es genügt nicht. daß ein Antagonis-
mus der Interessen zwischen Kapitalisten und Angestellten
vorhanden ist. die Angestellten müssen auf Grund der Ge-
setze der geschichtlichen Evolution auf die Errichtung einer
neuen Ordnung hoffen. In dieser neuen Ordnung wird
das Eigentum auf hören Monopol zu sein. Der Besitz wird
nicht gesondert und privat bleiben. sondern sozial werden.
damit alle Produzenten vereinigt sind. und gleichzeitig an
der Arbeit und dem Genuß ihrer Früchte teilhaben.
Das Proletariat ist berufen. eine Rolle von weltge-
schichtlicher Bedeutung zu spielen. die weit über seine
engere Interessensphäre hinauswächst. Gerechtigkeit allen,
heißt seine Forderung. Sozialismus bedeutet Humanität. Die
sozialistische Frage ist eine Frage der f ganzen Menschheit.
Keine Klasse, keine Partei hat ein so weitschauendes um-
fassendes Ziel.
„Das edelste Ideal bedeutet eine Gesellschaft. in der
die Arbeit herrscht. in der es weder Ausbeutung noch
Unterdrückung gibt. in der die Kräfte aller sich in freier
Eintracht vereinen, in der das soziale Eigentum. Grundlage
und Bürgschaft der persönlichen Entfaltung aller bedeuten
wird. Daß alle Menschen aus dem Zustande rücksichts-
loser Konkurrenzkämpfe zur Vereinigung übergehen. dal dıe
Masse sich von der wirtschaftlichen Passivität zur Initiative
Jean Jaurès 6889
und Verantwortlichkeit aufschwingt. daß alle Tatkraft. die
aich in fruchtlosen und wilden Kämpfen verausgabt. sich
einer großen, gemeinsamen Aktion anschließt: das ist das
höchste Ziel. welches sich die Menschen stecken können.
Wenn die Menschen erst weniger darauf versessen sein
werden zu herrschen, wenn sie auch von der Sorge. sich
zu verteidigen weniger im Bann gehalten und ihrer selbst
und der anderen sicherer sein werden, dann werden sie
auch mehr Muße und geistige Unbefangenheit haben, um
Körper und Geist zu bilden.“
Der Sieg des Proletariats im Klassenkampf führt also
ganz und gar nicht zur Diktatur, denn dieser Sieg bedeutet
nichts anderes als Verzicht auf jede Klassenherrschaft.
Gewalt darf nur dort angewandt werden. wo Notwehr
in Frage kommt. Wo Vergewaltigung droht. Im übrigen
vollzieht sich die Umbildung der neuen Gesellschaft in
friedlicher Evolution. die jedes Glied zur Teilnahme auf-
fordert.
Ferner vollzieht sich die Umwandlung innerhalb der
Nation als der gegebenen organischen und historischen Form.
denn der Proletarier hat trotz Marx und Engels ein
Vaterland. In den »Cahiers de la QJuinzaine«*) äußert sich
Jaurès in einem. »das Endziel« betitelten Artikel wie folgt:
All diese Not. alle Ungerechtigkeiten und Unordnung
kommt nur daher, daß eine Klasse die Produktions- und
Lebensmittel im Besitz hat und ihre Gesetze einer anderen
Klasse und der ganzen Gesellschaft vorschreibt. Diese
Oberhoheit einer Klasse muß also gebrochen werden. Die
unterdrückte Klasse und damit zugleich die ganze Gesellschaft
muß befreit werden. Der Klassenunterschied muß auf-
gehoben werden, indem man der Gesamtheit der Volks-
genossen, der organisierten Gemeinschaft. den Besitz der
) Nach einer Übersetzung von Dr. Südekum.
690 Fritz Schwarz
Lebens- und Produktionsmiftel überträgt. die heute in den
Händen einer Klasse Miel zur Ausbeutung und Unter-
drückung sind. Anstelle der anarchischen und mißbräuch-
lichen Herrschaft einer Minderheit muß die allgemeine
Genossenschaft der vereinigten Bürger gesetzt werden mit
dem allgemeinen Besitz der Miel zur Arbeit und zur
Freiheit, das ist der einzige Weg. die Menschen zu
befreien. Und deshalb ist es das Hauptziel des kollektivisti-
schen und kommunistischen Sozialismus. das kapitalistische
Eigentum in ein gesellschaftliches Eigentum zu verwandeln.
In dem gegenwärtigen Zustand der Menschheit, wo es
nur nationale Organismen gibt, wird das soziale Eigentum
die Gestalt des nationalen Eigentums haben. Das Vorgehen
der Proletarier wird mehr und mehr international sein.
Die verschiedenen Nationen werden auf dem Wege der
Entwicklung zum Sozialismus ihre wechselseitigen Beziehungen
mehr und mehr in Frieden und Gerechtigkeit ordnen. Aber
die Nation wird noch auf lange Zeit hinaus den historischen
Rahmen des Sozialismus abgeben, die Form der Einheit
liefern, in die die neue Gerechtigkeit gegossen wird.
Man wundere sich nicht, daß wir, nachdem wir zuerst
die Freiheit der menschlichen Person verlangt haben, die
nationale Gemeinschaft ıntervenieren lassen. Nur die Nation
kann alle einzelnen befreien. Nur die Nation könnte alle
die Mittel zur freien Entwicklung bieten. Die einzelnen.
kleinen. vorübergehenden Organisationen vermögen nur zeit-
weise kleine Gruppen von Individuen zu unterstützen. Aber
es gibt nur eine allgemeine und beständige Organisation,
welche die Rechte aller Individuen ohne Ausnahme, und
nicht nur der lebenden. sondern den noch kommenden
Generationen zu sichern imstande ist.
Und diese allgemeine, unvergängliche Organisation, welche
auf einem bestimmten Teil des Planeten alle Individuen
umfaßt und ihr Werk und ihre Gedanken auf die nach-
Jean Jaurès o 0. 08
folgenden Organisationen erstreckt, das ist die Nation.
Wenn wir uns auf die Nation berufen, so deshalb, um
die Totalität und Universalität des individuellen Rechtes
sicher zu stellen. Kein menschliches Wesen darf in irgend
einem Augenblick außerhalb der Rechtssphäre stehen. Niemand
darf der Gefahr ausgesetzt sein, der Sklave oder das Instrument
eines anderen Menschen zu werden. Niemand darf der
positiven Miel beraubt sein, frei. ohne knechtische Ab-
hängigkeit, von wem auch immer sie ausginge, zu arbeiten.
Bei der Nation findet das Recht aller Individuen ‘heute,
morgen und alle Tage seine Gewährleistung. Und wenn
wir der nationalen Gemeinschaft das übertragen, was das
Eigentum der kapitalistischen Klasse war, so geschieht das
nicht. um aus der Nation ein Idol zu machen, um ihr
die Freiheit der Individuen zu opfern. Im Gegenteil, nur
damit sie die Basıs für alle individuellen Betätigungen wie
für alle individuellen Rechte abgeben sol. Das soziale,
das nationale Recht ist für uns nur die Totalıtät, der
Inbegriff der Rechte aller Individuen. Das soziale Eigentum
ist nur das Miftel, das allen zur Verfügung steht."
Nationen, welche im Innern nach obigen Grundsätzen
organisiert sind, müssen naturgemäß im Verkehr miteinander
neue, menschenwürdige Formen annehmen, von denen bisher
nicht die Rede war. Kein Staat war bisher über seine
- Pflichten und Rechte im Klaren. Die schwachen Ansätze
humaner Verbindlichkeit, wıe sie z. B. ım Haager Abkommen
zum Ausdruck kamen, haben im Kriege ein gründliches
Fiasko erlitten. Das Wort Patriotismus hat einen recht
üblen Beigeschmack bekommen. Dem Staat der alten Form
fehlte und fehlt noch heute: das Gewissen. Dem Staat ist
erlaubt. was dem Individuum bei hoher Strafe untersagt
ist: Diebstahl, Betrug, Raub und Mord. Übertriebene Höflich-
keit und unehrliche Hochachtung bilden den diplomatischen
Deckmantel für infame Intriguen. Diplomat sein heißt be-
6922 Fritz Schwarz
—— e naen omeen ete Sia ER wen
trügen können. Daneben treibt die Militärbehörde schon zu
Friedenszeiten ihr demoralisierendes Werk. Gelegentlich der
Dreyfusafläre bemerkte Jaurès:
Die Nationen, welche offiziell im Frieden sind. rüsten
nicht nur gegeneinander. sondern sie lassen sich auch fort-
während zum niedrigsten Spionageverfahren herbei. Sie sind
bemüht, die ausländischen Offiziere zu korrumpieren, um
se zum Verrat zu bringen, sie versuchen durch Diebstahl
und Betrug einander ihre Geheimnisse zu entwenden. —
Spionage, Gegenspionage, Kauf der Gewissen Raub von
Dokumenten, das ıst das hohe moralische Ziel, wohın das
gegenwärtige System der Nationen führt. — — — Wird
die europäische Gesiftung einmal dieses System abgeschüftelt
haben, so wird sie erstaunt sein, daß sie solche Schande
so lange zu ertragen vermochte.«
Die Nation mul ihre Unabhängigkeit. AER Ein
schlagkräftiges Heer bleibt vorläufı 19 unerläßlich. In seinem
Werk »Die neue Armees hat Jaurès die Frage der nationalen
Verteidigung eingehend erörtert. Mit erstaunlicher Sachkennt-
nis entwickelt er die Probleme, bewegt sıch auf dem ıhm
fremden Gebiet mit solcher Sicherheit, daß Männer vom
Fach ihm einstimmig höchste Anerkennung zollen. Der
wissenschaftliche Charakter der umfassenden Arbeit läßt die
Ausführungen niemals trocken oder gar langweilig erscheinen.
Wie immer. so verbindet Jaurès auch hier strenge Sachlich-
keit mit begeisterter Schwungkraft. Dazu kommt, daß sein
weıftragender philosophischer Blick aus der Enge des Gegen-
ständlichen hinaus die interessantesten und anregendsten Perspek-
tıven gewährleistet und ın fesselnder Weise dıe militärischen
Fragen mit dem sozialen Problem sich verschmelzen läßt.
Von allen Militärsystemen der Welt entspricht seiner
Ansicht nach das schweizerische am ehesten dem Ideal
einer demokratischen. völkischen Armee. Abzuschaffen ist
vor allem der verderbliche Dualismus von aktıvem Heer
Jean Jaurès 693
und Reserve. Die aktive Armee sollte alle verwendbaren
Bürger vom 21. bis zum 35. Lebensjahre ın sıch vereinen.
Achtmal werden die Angehörigen des Volksheeres zu o.
bis 21 tägigen Ubungen einberufen. nachdem sie zuvor
eine halbjährige Ausbildung erledigt haben. Vom 14. Lebens-
jahre an werden die Knaben zu militärischen Übungen
herangezogen. Der gesamte Militärdienst vollzieht "sich nicht
in abgeschlossenen Kasernen, sondern innerhalb des völkischen
Lebens. Auf diese Weise wird unter großen Ersparnissen
von Zeit und Geld eine Volkswehr herangebildet, dıe als
geschlossenes Ganzes gelten und einheitlich Verwendung finden
kann. Die Freude an soldatischer Betätigung wird erhöht.
die störende Unterbrechung ım Berufsleben mit ıhren un-
berechenbaren Folgen fallt fort, der Heeresdienst wird zur
willkommenen Abwechslung innerhalb der alltäglichen Be-
schäftigung. Die Privilegierten mögen sich beruhigen, daß
aus einem permanenten Übungsheer, dessen Angehörige die
Waffe im Hause haben, eine Gefahr für die öffentliche
Sıcherheit erwachse. Als Beispiel wird wieder die Schweiz
herangezogen. Zürich. Winterthur. Basel bilden bedeutende In-
dustriezentren. Der Gegensatz von Kapital und Proletariat
kam dort in Streiks, Demonstrationen und Aufständen häufig
genug zum Ausdruck Militär machte von der Waffe Ge-
brauch, um der Volksmassen Herr zu werden. Der um-
gekehrte Fall ist nie eingetreten. Jaurès hat über seinen
Tod hinaus recht behalten. Die Straßenkrawalle haben
sıch vermehrt und schroffere Formen angenommen, und doch.
besteht zwischen derartigen Zusammenstößen von Polizei und
Masse oder Militär und Masse ein himmelweiter Unterschied.
was etwa Zürich und Berlin anbetrifft. Der Segen eines
aus dem Volke erwachsenen Übungsheeres kann nicht deut-
licher zum Ausdruck kommen. Jaurès hat recht, wenn er sagt:
Die Wahrscheilichkeit blutiger und brutaler Zusammen-
stöße zwischen der Armee und dem arbeitenden Volke
694 Fritz Schwarz
— ———— —
muß sich mit jedem Tag verringern. Sie muß verschwinden.
Sie wird verschwinden..
Abzuschaffen ist ferner die Einrichtung des exklusiven
aktiven Offizierstandes. welcher den Massen verständnislos
gegenübersteht und eine Nluft zwischen Leitung und Heer
entstehen läßt, die dem einfachen Volksgenossen alle Freude
an militärischer Betätigung nimmt. Mit vorbildlichem Ent-
gegenkommen fordert Jaurès die Offiziere selbst zur Ein-
sicht auf. bitet sie eindringlich, den persönlichen Ehrgeiz
dem höheren. nationalen Interesse zu opfern. Denn das
Volk hat nicht nur das Recht. es hat die Pflicht zu
fordern, daß die militärische Organısation ohne jedes Vor-
urteil einer besonderen Klasse und Kaste vor sich geht.
und daß sie von keinem anderen Standpunkte betrachtet
wird als einzig und allein von dem der nationalen Ver-
teidigung. Um Offiziere heranzubilden, die der Aufgabe
der Führer eines Volksheeres gerecht werden, ıst es vor
allem nötig. daß man ihre systematische Isolierung ın
Militärschulen aufgibt. Wie der Soldat durch die Ab-
sperrung in der Kaserne die Fühlung mit dem Volk
verliert, so leitet sich die exklusive Haltung des Offiziers
nicht zum wenigsten aus jener strengen Abgeschlossenheit
her, die ihn sogar vom Verkehr mit Männern derselben
Standes- und Bildungsstufe abschneidet. Das freie Studium
auf der Universität sollte für die Offiziere wie für die
Akademiker, Juristen. Ärzte, Ingenieure gelten. Dort ist
Gelegenheit zur Fühlungnahme mit den verschiedenen Berufs-
interessen gegeben, dort kreuzen sich die Ideen, färben
aufeinander ab, durchdringen sich. Gleichzeitig bricht . man
so mit dem absurden Prinzip, dem angehenden Offizier
im Gegensatz zu allen anderen (sebildeten Vorgesetate au
Lehrern zu geben. : zu kommandieren wo man unterrichten
sollte.
Die Armee ist der Ausdruck der selbständigen Aktivität
Jean Jau ooo — 885
einer ganzen Nation und nicht das Werkzeug einer schuld-
bewußten und darum ängstlichen Ausbeuterklasse. Wenigstens
sollte es so sein. Wie jeder Organisation, so muß auch
der Armee selbständiges Denken zuerkannt werden.
Was die Arbeiter, was die Sozialisten an der Armee
auszusetzen haben, ist die Tatsache, daß sie der Bourgeoisie
als Werkzeug zu innerer Unterdrückung und zu Aben-
teuern außerhalb des Landes dient. Wenn man die
Wahrheit sagen soll, sie ist tatsächlich nur ein Werkzeug.
Sie hat keine eigene Kraft, keinen: autonomen Willen.
keine selbständige Politik. Sie ist, in Frankreich wenigstens,
die Dienerin der Zivilbehörden. Selbst wenn sie sich
häßlıche Ausschreitungen zuschulden kommen läßt, wenn sie
dıe Verfassung verletzt, die Freiheit beengt oder vernichtet,
auf das Volk schießt, so geschieht das ganz und garnıcht
auf Initiative ihrer Führer hin und ganz und garnicht in
ihrem eigenen und direkten Interesse.
Jaurès darf hier nicht mußverstanden werden. Die
Forderung der Selbständigkeit hat ıhre Grenzen und will
selbstverständlich nur insoweit gelten, als der Wille des
gesamten Volkes darın verkörpert wırd. Die Tatsache, daß
die Armee den Interessen der Reaktion einseitig dient,
muß aus der Welt geschaffen werden. Dem Proletariat
werden durch solche Einseitigkeit ın ganz unbilliger Weise
die politischen Rechte geschmälert. Die Armee, namentlich
die französische Armee, muß gegebenenfalls zum wesent-
lieben Faktor der Revolution werden. Der sozialistische
Historiker gibt dieser Lieblingsidee breiten Raum. Zu-
sammenfassend bringt er seine Anschauung ın den Worten
zum Ausdruck:
Ein kräftiges Volksheer. welches den Kasernendienst
in Schulunterricht umwandelt. welches die Kaserne zu
einer Schule macht und aus der gesamten Nation eine
gewaltige und starke Armee bildet. die im Dienst der
696 n Fritz Schwarz
— — — — . — ũ—— = — ra — ———
nationalen Autonomie und des Friedens steht. ein solches
kräftiges Volksheer bedeutet innerhalb der militärischen
Organisation die wahre Befreiung Frankreichs. Nur so
läßt eie sich herbeiführen.
Das begeisterte Eintreten für die Schöpfung eines
nationalen Volksheeres verleitet Jaurès niemals dazu. über
sein Ziel hinauszuschießen. Die Wehrmacht verfolgt ledig-
lich den Zweck nationaler Verteidigung. Keine unlautere
Nebenabsicht dart dieses Ziel trüben. Bis zum letzten
Atemzuge war er bemüht. der friedlichen Verständigung
der Völker nach bestem Gewissen und mit allen Kräften
zu dienen. Die Liebe zur Heimat schließt eine wirksame
Internationale nicht aus: Man könnte fast sagen: Ein
wenig Internationalismus entfremdet dem Vaterland. viel
Internationalismus nähert uns ihm. Ein wenig Patriotismus
entfremdet der Internationale. viel Patriotismus nähert uns
ihr. Die Idee der Einheit muß im Verkehr der Nationen
wie überall zum Ausdruck kommen. Einer der obersten
Grundsätze internationaler Einigung besteht darin. daß man
mit der eigenen Schuld und Unzulänglichkeit nicht Versteck
spielt. daß jeder vor seiner Tür kehrt. ansta sich in
Selbstüberhebung und billiger Anklage des Gegners über
die eigenen Fehler hinwegzutäuschen. Es war ein ver-
hängnisvoller Irrtum. in suggestivem Eigendünkel Patriotismus
üben zu wollen. Selbsterkenntnis ist hier wie überall der
erste Schrift zur Besserung. Wohltuend wirkt die Offen-
heit, mit der Jaurès schlicht und sachlich von der eigenen
Schuld spricht ohne sich von der landläufigen patriotischen
Meinung beirren zu lassen. Er warnt vor Selbstbetrug
und Fahrlässigkeit, er wagt es. seine Landsleute darauf
aufmerksam zu machen, daß die Kriegserklärung auch in
einer Republik durchaus nicht immer den Willen des
Volkes verkörpere. Die Internationale der Arbeiter und
Sozialisten hat die Pflicht. den Frieden über alle nationale
Jean Jure — — 597
Engherzigkeit und V oreingenommenheit hinweg zu erhalten.
„So kommt es, daß auf allen diesen Kongressen die
Internationale der Arbeiter und Sozialisten den Proletariern
aller Länder die doppelte unzertrennbare Pflicht ins Ge-
dächtnis ruft. den Frieden mit allen verfügbaren Mitteln
zu erhalten und gleichzeitig die Unabhängigkeit aller Na-
tionen zu schützen. Ja, den Frieden mit allen Mitteln
proletarischer Aktion aufrecht zu erhalten, selbst durch den
internationalen Generalstreik. selbst durch die Revolution.
Wie viele absichtliche und unfreiwillige Mißverständnisse,
wieviel Rücksichtslosigkeit und Verleumdung haben sich die
Gegner des Sozialismus in dieser Beziehung geleistet. Sie
vergessen, oder sie tun wenigstens so, als ob sie vergaben.
daß selbst in den demokratischen Ländern der Krieg ohne
Zustimmung des Volkes. ohne sein Vorwissen. ja gegen
seinen Willen entfesselt werden kann. Sie vergessen. daß
die äußere Politik in der Geheimniskrämerei, mit welcher
sich noch die Diplomatien umgeben, allzuoft der Kontrolle
der Nation entschlüpft. Sie vergessen. daß eine Torheit.
eine Geckenhaftigkeit. eine einfältige Herausforderung oder
die verbrecherische Begehrlichkeit einiger Finanzgruppen plötz-
liche Konflikte herauf beschwören kann: daß es noch von
einer Minderheit, von einer ganz geringen Sippschaft, von
einem konsequenten, aber einseitigen Manne abhängt, die
Nation ın Verwicklungen zu bringen, Zustände herbei-
zuführen, die nicht wieder gut zu machen sind, und dal
Krieg und Friede noch außerhalb der Gesetzbarkeit einer
Demokratie stehen. Was die Entwicklung ım Innern an-
betrifft, so gibt es auch da Überfälle und Anschläge. Man
kann sie aber in ihrer Wirkung bekämpfen und ein-
schränken. Wenn jedoch Narren oder Verbrecher die
Kriegsfackel entzündet haben, wie soll dann das Volk den
Brand beschränken oder löschen? Die maßlosen persönlichen
Kombinationen des Herrn Hanotaux haben Frankreich fast
698 Fritz Schwarz
zu einem Kriege mit England verleitet. Die maflosen per-
sönlichen Kombinationen des Herrn Delcasse haben Frankreich
fast zu einem Kriege mit Deutschland verleitet. Die dunklen
Machenschaften der Cliquen in der deutschen Reichskanzlei
vermochten die gesamte europäische Politik in Erschüfterung
zu bringen. und je nachdem die Gruppe Holstein oder die
Gruppe Eulenburg obenauf war. vermehrten oder vermin-
derten sich die Aussichten auf einen Krieg. Der marok-
kanische Konflikt hat sich zu gewissen Stunden hinter den
finstern Kulissen der Finanz abgespielt. Der Antagonismus
der französischen und deutschen Geldleute hat den Frieden
Europas gefährdet.»
Die Schuldfrage, welche das weltverheerende Verhängnis
von 1914 ın allen Lagern, ın allen Herzen aufgeworfen
hat ist wohl von niemand mit so rückhaltloser Größe
erörtert worden als vón Jaurès. Der patriotische Taumel
der Mobilisationstage vermochte seine unbestechliche Seele
nicht zu verblenden. Sechs Tage vor seinem Tode, am
25. Juli 1914, eine halbe Stunde nachdem der Abbruch
der diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich und
Serbien bekannt geworden war, sprach er zum letzten Male
zu seinen Landsleuten, sprach mit einer so erschüfternden
Klarheit und Offenheit, mit einer so hellsichtigen Mensch-
lichkeit, daß alle Zeitgenossen beschämt vor ihm die Augen
häften senken müssen.
In einer so schwerwiegenden Stunde. in einer Stunde.
welche für uns alle, für alle Vaterländer 20 voller Gefahr
ist, will ich mich nicht lange damit aufhalten, nach Ver-
antwortlichkeiten zu suchen. Moutet hat sie genannt und
ich bezeuge vor der Geschichte, daß wir sie vorausgesehen
und angegeben haften.
Als wir sagten. daß das gewaltsame Eindringen in
Marokko für Europa eine Ära von Ehrgeiz, Begehrlichkeit
und Streitsucht herauf beschwöre, hat man uns schlechte
Jean Jaurès on 699
Franzosen genannt, uns, denen die Sorge um Frankreich am
Herzen lag. Da steckt unser Anteil an der Verantwort-
lichkeit und er tritt noch deutlicher zutage. wenn ihr
euch vergegenwärtigt. daß Bosnien und die Herzegowina
den Anlaß zum österreichisch-serbischen Konflikt bilden.
Als die Österreicher Bosnien und die Herzegowina annek-
tierten. haften wir Franzosen weder das Recht noch das
Mittel. ihnen den geringsten Widerstand entgegen zusetzen.
da wir in Marokko engagiert waren und gegenüber den
Sünden der andern Nachsicht üben mußten, wenn wir ihrer-
seits gegenüber unserer eigenen Sünde Nachsicht erwarten
wollten.
Damals sagte unser Minister des Äußeren zu Österreich:
„Wir überlassen Euch Bosnien und die Herzegowina
unter der Bedingung. daß ihr uns Marokko überlaßt.« Und
wır ließen solche Kompromisse von Macht zu Macht, von
Nation zu Nation wandern und sagten zu Italien:
Du kannst nach Tripolis gehen, da ich in Marokko
bin Du kannst an einem Ende der Straße stehlen, da ich
am anderen Ende gestohlen habe ·
Jedes Volk erscheint mit seiner eigenen kleinen Brand-
fackel in der Hand ın den Straßen Europas. So haben wır
denn jetzt den Brand. Zugegeben, Mitbürger. wir haben
unsern Anteil an der Verantwortlichkeit. aber die Ver-
antwortlichkeit der andern läßt sich nicht dahinter verbergen.
Wir haben das Recht und die Pflicht, die Hinterlist
und die Gewalttätigkeit der deutschen Diplomatie zu
brandmarken.—
Wo es galt. die Stimmen der Vernunft und Ge-
rechtigkeit geltend zu machen, hat sich Jaurès eingesetzt.
Romain Rolland spricht von dem geheimnisvollen Zufall,
der ein so gutes Genie hat hervorbringen können und wirft
die Frage auf, wann der Welt wohl wieder eine solche
Persönlichkeit werden würde. »Jaurds«, so sagt er, sbietet
15
700 PFeritz Schwarz / Jean Jaurès
in den neueren Zeiten das fast einzigartige Beispiel eines
großen politischen Redners, der gleichzeitig ein Meister des
Gedankens ist, der eine tiefe Bildung mit scharfer eigener
Beobachtung verbindet und die siſtliche Reinheit mit. der
Kraft der Tat.
Von allen Großen der Revolution war Danton derjenige.
welchen Jaurès am meisten geliebt hat. Und wie sein Ideal,
so gewann auch er die Herzen der Menschen im Sturm
seiner großzügigen Offenheit. so warf auch er seme Worte
voll Verstand und Feuer. um die edelsten Kräfte zum
Wohle des Ganzen zu einen, und wie Danton, so starb
auch er den schönsten Tod, den Tod für die Überzeugung.
Hans Janowitz / Unter Lucifers Fuß _ 701
UNTER LUCIFERS FUSS
VON HANS JANOWITZ
Lucifer schwebte zwischen Himmel und Hölle. von
Goftestrotz strotzend, in aufrührerischer Schönheit.
In sanftem Fluge wandte er sich abwärts. wo hinter
geballten Finsternissen seine Sterne rollten. getaucht in die
Weltnacht. Erzene Strahlen seiner Blicke teilten das
Athergewöll. dröhnend schlugen die lichtdurchschwemmten
Klumpen über ihm zusammen, wie sein Weg ihn tiefer
führte. Sein Auge ‘wies ihm das Ziel. Über die Erde
hin hieb sein Blick in magischem Zorne. Lucifer suchte.
Ungeheuerliche Striemen hafte der Blick des Engels in
die Erde gebrannt. Die Kruste des Gestirnes schwärte
schon in langen Strichen. und immer neue Linien grub
das ewige Auge in die verdammten Strecken ein. Europa
brannte. Da beftete Lucifer den Blick auf einen Ort:
die Erdmassen kochten auf, ein Wirbel entstand, und in
ungemessener Tiefe bleckte ein Krater auf, glükte und
erkaltete allmählich.
Unten war man sich über die Ursache der Krater-
bildung. die als eine Katastrophe kosmischer Kräfte
empfunden wurde, nicht einig. Als häfe eine 10000-cm-
Granate eingeschlagen. sagten die heimgekehrten Soldaten,
so sähe der Trichter aus. in dessen Schu einige ver-
brannte Dörfer begraben lagen. Man erwog. ob ähnliche
Ereignisse nicht auch an anderen Orten zu fürchten wären:
aber zu Unrecht. Ein neues Ereignis, fremdartiger noch
als dieses und ebenso aufschreckend und unerklärlich,
702 B Hans Janowitz
rü@elte plötzlich an den Nerven der Stadt, rüftelte wirk-
lich und wahrhaftig an den diehtgelegten Telephon- und
Lichtdrähten und den Leitungen der elektrischen Bahnen
am Kurfürstendamm, rüftelte so kurz und so heftig. dal
sie entzwei gingen, bevor noch die Zeit um war. dıe
nötig gewesen wäre zur Besinnung.
Um 7 Uhr abends — das Dunkel hafe sich eben
erst zu Nacht und Nebel verdichtet — um 7 Uhr abends
hae es begonnen. Ein tiefer Schaften, schrecklich anzusehn
am herbstlichen Himmel, senkte sich in schwerem Falle
nieder. ein Schafen, dem eine furchtbare Stofflichkeit. un-
durchdringlich- drohend. inne zu wohnen schien. Wenige
Sekunden später war es schon zu spät, über das Phänomen
nachzudenken. Das schwebte erst über dem Tiergarten, ein
formloses, unübersichtliches Ungeheuer. Droschkengäule wieher-
ten angstvoll auf, die Singvögel zwitscherten unsinnig und
fla@erten durcheinander: viele schlugen sich an Bäumen
und Kandelabern tot. Wuchtig steigerte eich der Luftdruck
zu tödlichem Andrang. Das niegehörte Brausen. Schwirren
und Pfeifen eines unnatürlichen Sturmes ertönte: das Un-
geheuer raste seitlich hernieder — Dächer flogen wie
Strohhüte umher. in weitem Umkreis erbebte die Millionen-
stadt — und plötzlich lag das Ding fest. ausgedehnt in
der Länge des Kurfürstendamms, von der Kaiser- Wilhelm-
Gedächtniskirche bis fast nach Halensee. eingeklemmt in
die innen eingeknickten und zum großen Teile in formlose
Haufen eingepurzelten Häuserfronten der eben noch mit
ihren Prachtbauten prunkenden Straßenzeile.
Ein Schrei barst, als wäre in dem Kessel eines
Herzens, das sich Luft macht durch das Ventil einer
Kehle. die Todesangst einer Armee zusammengeprefßt, die
sich zum Sturme anschickt. Unter der Ferse Lucifers,
seitlich unter der Sohle und zwischen seinen Zehen, spritzte
und pritschelte die jammervolle Sauce von tausend zer-
Unter Lucifers Ful 703
quetschten Menschen- und Tierleibern hervor. Arme und
Beine hingen in der Blutlache. Huren- und Schieberbeine,
Knaben- und Mädchen-, Kutscher- und Grafenbeine, die
Extremitäten von Juden und Holländern, Deutschen und
Franzosen, Negern und Matrosen, — Pelze, Autobestand-
teile. Lenkstangen der Straßenbahnwagen, Spazierstöcke. Boas.
Pleureusen, Droschkenräder, Zylinder, Handtäschchen, Pferde-
köpfe mit dem Ausdruck ırrsinniger Angst, — ein Anblick
unsagbaren Jammers. Reporter schluchzten.
Da lüftete Lucifer leicht die Sohle, als er sich auf
der Erde zurechtstellte, und ein Auto, das noch lebendig
pustete, schlüpfte mit einem gewaltsamen Ruck in eine
jener Rinnen, die, wie jede menschliche Sohle, so auch
die Sohle des gestürzten Engels eingezeichnet trug. und es
krabbelte mit gekrümmten Rädern, mit letzter Anstrengung,
rechts und links immer wieder an die Hautwände stoßend,
vorwärts, dem Ausgange zu. Durch einen glücklichen Zu-
fall war es samt seinen Insassen vor dem Zerquetscht-
werden verschont geblieben. Es taumelte dahın ın der Haut-
furche, über zuckende Gliedmaßen und Blutlachen hinweg.
und schon sah der Chauffeur vor sich den Abend blinken
— ein von wilder Gestaltenjagd zerrissenes Bild. Noch
sperrte ein Toter den Weg. Der Chauffeur rıß sich und
den Wagen zusammen — in letzten Zügen rollte und
fauchte der Motor — 'in einem Sprunge schwang sich der
Wagen hinkend über den Toten hinweg und ins Freie.
Der Chauffeur blieb in Todesstarre liegen. Dem ver-
stümmelten Fahrzeug entstieg ein prustender Herr. der sich
schüttelte und putzte. Sein. hastıg-schweifender Blick fand
den zerstörten Taxameter. „Wieviel? Drei Mark fünfzig.
sechsunddreißigfache Taxe, macht einhundertsechsundzwanzig
Mark. Können Sie wechseln? Hier. Mensch, so nehmen
Sie doch!. Keine Antwort. Eine schüftere Menschenmenge
hatte sich scheu genähert und drängte jetzt heran. glotzte
744 ꝗ—•Tꝛ o Hans Janowitz
den Überlebenden an, der eben drei Fünfzigmarkscheine in
die eiskalte Hand des Chauffeurs preſte und ihn nochmals
rüftelte. Dann klopfte der Herr sich hastig ab. zugleich
orientierte er sich an den Trümmern der Gedächtniskirche
über die Ortslage. Jetzt blickte er sich nach der nächsten
Stadtverbindung um. löste vom Vorderrad seines Fahrzeuges
ein Stück hängengebliebene, abgeschundene Fußhaut Lucifers
und steckte sie zu sich, raste dann mit dem gellenden
Schrei: Auto: — Haalt! Auto! um die Kirche herum
davon. In der Tauentzienstraße, mitten in dem der Un-
glücksstäte entgegenbrandenden, jagenden Menschenstrom.
erraffte er eines. »Fahren Sie Potsdamer. Platz! Los!« Und
er setzte sich neben den Chauffeur, schuf brüllend und
gestikulierend Platz, raste. davon. Vor dem Hause der
deutschen Lederaktiengesellschaft gebot er halt. Zwei Minuten
später stieg er in Begleitung zweier zigarrenrauchender
Herren wieder ein. Denselben Weg ging es zurück. »Nu
aber legen Sie man loses, begann der eine seiner Begleiter.
Meine Herren, — das größte Geschäft Ihres Lebens!
Wir gründen eine Rohmaterial G. m. b. H. für Im-
und Export, kaufen heute nacht noch die Ruinen zu
beiden Seiten des Kurfürstendamms auf bis zur Joachims-
talerstraße. Wir beginnen als alleinige Inhaber der Leder-
gruben sofort mit dem Schürfen. . »Was meinen Sie?
Schürfen? Ich verstand doch Leder engros? »Engros?«
ereiterte sich der Herr, ich sag Ihnen. ein Gebirge von
Leder! Mien im Westen — am Kurfürstendamm — ein
Gebirge von Leder ist angekommen! Direkt Kolonieersatz,
— Afrika am Kurfürstendamm! — Mit meinen Augen
hab ichs gesehen, meine Herren, mit eigenen Händen das
Muster hier mitgenommen. Immense Höhe, nicht abzusehen
— der Turm von der Gedächtniskirche war dagegen wie
ein Zeigefinger gegen den eisernen Hindenburg
ie Herren kamen vor dem Trümmerhaufen der
Unter Lucifers Ful 705
Gedächtniskirche an und waren sich einig. ein Milliarden-
geschäft in Aussicht zu haben. Aber einige flinke Kon-
kurrenten haften die gleiche Geistesgegenwart bewiesen,
waren jedoch früher zur Stelle gewesen: sie haften bereits
mit den Besitzern einiger Häuserruinen Kaufverträge ab-
geschlossen. Im Romanischen Cafe, das intakt geblieben war,
haften Kellner, Polizeibeamte und Journalisten eine Art
Nachrichtenzentrale für das neue Ereignis improvisiert; dort
wurden die Verträge unterschrieben. Das Postamt ın der
Marburgerstraße war in einer Weise überlaufen, die jeder
Beschreibung spottet. Der Preis für Vorderplätze in der
Händlerkete am Telegraphenschalter wurde von 100 Mark
auf 1000 und ım Laufe einer weiteren halben Stunde
auf 3000 Mark hinauflizitiert. Berichterstatter und Agenten
telegraphierten das Ereignis in die Welt, wobei die Be-
zeichnungen, die man dem Gegenstande der allgemeinen
Erregung gab, weit auseinander gingen. Während die einen
das Schlagwort vom »Gebirge von Ledere weitergaben,
nahmen andere eine mehr skeptische Haltung ein; denn
wiewohl die berühmtesten Chemiker Berlins sich seit einer
geraumen Weile um die Analyse des fremden Stoffes
mühten, konnte man zu einem definitiven Ausspruch nicht
gelangen. »Naturledere schrieen die einen, »Schwindel!«
antworteten die anderen. -Ein Trick der Ententekonkurrenz
gegen die deutsche Lederindustrie« hieß es. »Kunstleder
bestenfalls" Der Streit aber wurde nicht ausgetragen, er
löste sich in sprachloses Staunen, als ein kleiner, bloß-
füßiger Junge, der sonst vor dem Café des Westens
die letzten schwedischen Streichhölzer«e ausbot, an die er-
regten Gruppen herantrat und gleichmütig verkündete: In
Halensee wären die 5 Zehen des Ungeheuers entdeckt —
breiter wie der Kurfürstendamm. Um die Nägel — prima,
primissima Horn. — wäre eine Schlacht entbrannt
und zwar hife: ein Schuhmacher aus der Wilmersdorfer-
706 Hans Janowitz
straße Nr. 812 ein kleines Freikorps aufgeboten. das mit
scharfer Waffe jede Annäherung neuer Interressenten abwies.
während er selbst. 812, mit seiner Frau und 17 Gehilfen. fieber-
haft an der Arbeit wäre, den Nagel der großen Zehe
zu lösen und partienweise abzutragen. Ein besseres Horn
gäbe es in ganz Deutschland nicht. häfe der Schuhmacher
gesagt. und die fünf Nägel auf den gewaltigen Zehen
repräsentierten einen Wert von 180 Millionen Mark und darüber.
Sein Nachbar, der Schuster aus dem Hause Nr. 814.
schlich inzwischen neidzerfressen zur- Kommandantur. Er
hae die Transaktion mit 812 zusammen unternehmen
wollen, war aber brüsk abgewiesen worden. Nun wollte
er gegen die 812 er ein stärkeres Freikorps aufbieten. um
sich in den Besitz der fünf Hornfelder zu setzen. und
es gelang ihm. einen kampffreudigen Soldatenvater. einen
geborenen Führer übrigens. Anführer in jedem Sinne. zu
seriösen Verhandlungen zu bewegen. — Der Maler Lampion
wurde an diesem Abend unausgesetzt ans Telefon gerufen. Sechs
Plakate für die Leder-Schurf Akt.-Ges. waren fertiggestellt.
drei für die Naturleder G. m. b. H. eines für »Deutsche
Hornfelder Kurfürstendamm, das einzig echte Naturhorn-.
neue Aufträge neugegründeter Firmen liefen ein. Seitenlange
Annoncen flogen in die Nachtredaktionen. Das tollkühne
Freikorps 812 bestand heldenmütig einen schneidigen Hand-
granatenangriff der Lüftwitzer Jäger, die Schuhmacher 814 endlich
im Interesse der Republik für seine Ziele gewonnen hafte.
Noske selbst hafe von dem Zusammenbruch des Jägeran-
griffs erfahren: er dirigierte neue Freikorps gegen die Haus-
macht des 812 ers. denn man hae ihm die Sache als
einen versuchten Spart akusputsch gegen die republikanische
Regierung geschildert. Eine regelrechte Belagerung der
Zehen Lueifers wurde eingeleitet. Mörser fuhren vor.
Scheinwerfer belichteten das Kampffeld. Der verteidigende
Schuhmacher brach sich bei einem Sturz von der großen
Unter Lucifers Fug 707
a —c— [—ĩä„Üͤ a e a a ů — e +
Zehe am Asphalt das Genick. Die Besatzung revoltierte.
Man wollte die opfervolle Verteidigung nur gegen das
Versprechen der Sozialisierung der Hornfelder weiterführen.
Der Oberkellner Naucke vom Olivaer Platz rı endlich die
Leitung an sich: Jedoch konnte er die Sozialisierung beim
besten Willen nicht zugestehen. weil „dieser Zweig unserer
Volkswirtschaft für solche Experimente noch nicht reif seie,
Man begriff ihn nicht ganz, aber seine hochgeschwungene
Rede hae die Gemüter beruhigt. Die Angriffaschlacht
unter persönlicher Führung Noskes ging an. Die 814er
Jäger liefen Sturm gegen die Bollwerke auf der. großen
und kleinen Zehe. Immer ran. an die Flanken! hafte ein
befreundeter Herr. beliebter Monokelträger vom alten
Generalstab. Noske eingeflüstert. »daa Zentrum fillt dann
von selbst. Die Frau des auf dem Hornfelde der Ehre
gebliebenen 812ers, an der Spitze ihrer 17 Gesellen, schlug
sich mit ebensoviel Kisten Naturhorns in der Richtung
der Wilmersdorfer Felder durch, bevor noch die Besatzung
im Noskeschen Eisenhagel zermürbt war. Auf den Trümmern
der erstürmten Bollwerke hißte der 814 er selbst, der
heldenmütige Schuhmacher, unter den blıtzenden Augen des
Triumphators Noske — die Fahne seiner Firma. . .
Einige Fliegerstaffeln haften Auftrag bekommen. mit
Scheinwerfern hochzustegen, um Aufschluß über die
Dimensionen des rätselhaften Riesenklumpens zu verschaffen.
Sie waren unverrichteter Dinge zurückgekehrt, die unförmige
Säule stiege endlos an, berichteten sie, ihre Höhe ließe
sach überhaupt nicht ermitteln.
Miels Feuerwehrleitern.. die an der Ferse angelegt
waren, drangen einige Männer durch die Hautlinien höher
und gelangten sogar bis zum. Rif des Fußes wo aber
der weitere Aufstieg des steilen Objektes und dicht-
gelagerter Wolken wegen auf unüberwindliche Schwierigkeiten
708 g Hans Janowitz
stiel. -Am hellen Tage wollte man, mit allen technischen
Hilfsmiſteln ausgerüstet, die Sache weiter verfolgen.
Sebastian, der lyrische Strichjunge von der Tauentzien-
straße, hafte in extatischer Raserei den Trümmerhaufen
erstiegen, an dessen Stelle einst das filmglückstrahlende
Marmorhaus gestanden hae und hielt von hier aus in
Fisteltönen, die sich überschlugen. eine Predigt miften in
plündernde Horden hinein, die sich in kleinen Schwärmen
überall am Orte der Katastrophe herumtrieben und an
Mobiliar zusammenrafften. was unter den Trümmerbergen
erhalten geblieben war. »Goft hat demissionierte — so klang
der Tenor seiner Rede — »es lebe der Rientopp. Wir
stehen an der Wende der himmlischen Hurerei, von nun
ab ist die kriegerische Stinkbombe, Erde geheißen, Sprung-
bret für die kinematographischen Lüste Satans . « so
tobte der Irre in die immer bedrohlicher alles Herkommen
verlassenden und immer blutiger aufschwellenden Exzesse
der Nachtschrecken. |
Militär brach von allen Seiten der Stadt auf, um den
tobsüchtigen Stadtteil zu zernieren. Im Geknafter einiger
hundert Maschinengewehre. im Krachen und Heulen des
wüstesten Durcheinanders von Schlacht und Zertrümmern.
Plündern und Hetzen. miften in dem Hexensabbat von
Pulverdampf und Schiebertum, Mord und Verkauf. Schul-
befehl und Schnoddrigkeit — hob sich Lucifer auf und
entstieg dem irdischen Wirrwarr.
Alles. was da noch auf seinem Fuße kreuchte und
fleuchte, rutschte ab und zerschlug am aufgerissenen Boden.
Die Menschenwelle go sich in das nun freie Beſt des
Kurfürstendamms, der fast durchgehend eingedrückt war,
Sprünge und Spalten trug. Wo die Untergrundbahn unter
ihm lief, war sie verschüftet. In der Finsternis, die das
Grauen einhüllte. stürzten bei der Uhlandstraße ganze
Menschenknäuel in die aufgebrochene Tiefe, um nie wieder
Unter Lucifers Fuß 709
emporzukommen. Die fiebrige Rasereı der Menschen dauerte
bis zum Morgengrauen. Als man ım. ersten Tageslicht den
Umfang der Katastrophe übersah, begann eine unsagbare
Erschlaffung aller Herzen Herr zu werden. Die Reichs-
regierung, von einem Kranz von Männern mit Kurbel-
kästen gefolgt. besichtigte die Stäĝe der Zerstörung und
ordnete Trauermessen an. Noske selbst war im Wirbel
der Schreckensnacht untergetaucht und kam nie mehr an
die Oberfläche empor. Sollte Lucifer ihn in hohe Regionen
entführt haben, um ihm im Dienste der Goftesgegnerschaft
den ewigen Odem einzublasen? Oder hafte auch ihm
der Asphalt das Genick gebrochen —?
Im erstea Morgenwinde des Weltentags flogen farbig
blühende Ätherwolken daher und sammelten sich zu kind-
lichen Reigen um Lucifers Kniee. Engelsknaben entstiegen
dem Gewölk und ließen sich in endlosen Reihen auf den
Füßen Lucifers nieder. Mit dem urscharfen Atem der
Gestirne scheuerten sie allen Erdenrest fort, der noch die
Haut des Strahlenden verunglimpfte. Ball- und Konzert-
plakate, die {flinke Berliner Austräger in bunter Reihe
angepappt haften, schmolzen da zu Schmutzklümpchen zu-
sammen und zergingen im Lichtäther. Blühend in ewiger
Jugend schwebte der Morgendliche zwischen Himmel
und Hölle. Verraucht war sein Zorn. Freude verströmte
sein taumelnder Blick durch den Raum, und wo der
gütige Blitz seines Auges in fernster Ferne einen Himmels-
körper ereilte. da blühte noch nach Jahrtausenden milder
Rasen ‚aus dem Stein. Und duftende (Quellen entsprangen
dort dem vom Tode zum Leben erwachten Boden.
Aus einer Pore der Haut brachten die Engelsknaben, die
Lucifers linkes Bein blankgescheuert haften, Sebastian heran-
geschleppt. den lyrischen Strichjungen von der Tauentzien-
strasse. Nach seiner Predigt hae er sich in die Lüfte
710 Hans Janowitz / Unter Lucifers Fuß
geschwungen, am Schwanzende eines Aeroplans festgekrallt.
der in Spiralen aufstieg. und als der Flieger — nach
Uberholung des Höhenweltrekords — zum Abstieg ansetzte.
hate Sebastian noch so viel Besinnung gehabt. um sch
in einem Satze auf Lucifers Bein hinüberzuschwingen und
in der nächstgelegenen Pore zu verstecken, wo er. geschützt
wie in einer Höhle. in Todesohnmacht liegen blieb.
Als die Engel ihn nun hervorzogen und herangeschleppt
brachten und mit ıhm lachend emporstiegen, um ıhn dem
Strahlenden zu zeigen. da fiel das göttliche Auge auf den
armseligen Menschenleib — und. vom Allwind und
von diesem Blick gespeist. gedieh Sebastian und wuchs
gewaltig auf zur Herrlichkeit der Engel. Da wachte er
nun, der lyrische Strichjunge, zum großen Tode auf und
hing jubelnd am Halse Lucifers, mit den Augen des
Neugeborenen die wahre Welt um sıch erfassend. Un-
geheuer schallte da das Lachen des jungen Engels durch
den Morgen — der erste Laut der Unsterblichen. Und
als Lucifer, der morgenumglänzte Jüngling. mit seiner Stimme
einfiel — da orgelte und posaunte dröhnende Harmonie
durch die unendlichen Räume, daß die Bollwerke Zions
erbebten und er selbst. der alte Jehova. auf seinem blutigen
Marmorthrone zu wackeln anhub und gefährlich ins Wanken
kam. Ä
In dieser Stunde barsten die Mauern Jerichos in
allen Herzen
»Paul Gauguins Todeskampf« von Victor Segalen im 8. Heft des
Forum . ist von H. Jacob aus dem Französischen übersetzt.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog
Derfflisterstr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam-
Berlia / Druck der B. Gundlach A.-G., Bielefeld
DAS FORUM
4. Jahr Juh 1920 | | Heft 10
(Abgeschlossen am 6. August 1920)
ABRECHNUNG
VON FRANZ SCHULZ
Ein Zettel aus dem Nachlaß des deutschen Philosophen
Immanuel Kant:
Widerruf und Verleugnung seiner inneren Überzeugung
ist niederträchtig: aber Schweigen in einem Fall wie dem
gegenwärtigen ist Untertanspflicht.«
Hundertfältig ineinander verschachtelt und verkrampft in
nie gehörter Korruption. Lüge und Heuchelei, in Kehlen
verbissen und doch kumpanen-solidarisch, Feftbauch an Fett-
bauch gepreßt,. schiebend und üble Dämpfe verbreitend,
himmelhoch gröhlend und bis zum Tode betrügend, — das
ist das offizielle Deutschland. Wem nicht übel wird
angesichts der schaudervollen Kloake, der versuche, einen
Korruptions-Almanach der deutschen Revolution zu schreiben,
beginnend mit der Drohung des kaiserlichen Ministers
Scheidemann an die revoltierenden Matrosen in den ersten
Novembertagen 1918, — schließend mit dem Freispruch der
leichenhungrigen Arbeitermörder von Thal. (Bis hierher: es
genügt und mehr erträgt in kollektiver Betrachtung das
Nervensystem keines Sennhirten).
Der Prozeß gegen den unschuldigen Dreifus, den man
mit Hilfe gefälschter Papiere und meineidiger Zeugen ver-
urteilte. erschüfterte die Welt. Der Fall wurde in allen
Sprachen diskutiert. Anständige Menschen aller Länder er-
hoben sich und riefen über die Erde, daß in Paris ein
Unrecht geschehen sei und wer also rief, überlegte nicht
712 Franz Schulz
erst seine und des Unglücklichen Parteizugehörigkeit und daß
jener Jude sei und er selbst etwa nicht. Diese Unbedingtheit
gerechter Hilfeleistung, prinzipiell selbstverständlichh muß
gerade in unserer Zeit des relativen. des parteilichen Rechts-
empfindens betont werden. Zola schrieb damals: »In meinen
Nächten würde das Gespenst des Unschuldigen umgehn.
der dort drüben in grausamster Marter büft für ein Ver-
brechen, das er nicht begangen hat.« Unsere Herren aber
haben einen guten Schlaf und in Eberts, Geſlers und
Theodor Wolffs Träumen gehen keine unerquicklichen
Gespenster um. Höchstens vielleicht Nachtgestalten der
Demokratie, die das Krähen des Hahnes zu üblen Phrasen
verdichtet. Gibt es etwas Widerlicheres, als Gellers Aus-
spruch, es sei »traurig«. was in Thal geschehen ist und die
ja recht sanften Bemerkungen der Presse, die Schlachtung
Landauers sei denn doch nicht ganz korrekt geschehen, die
Freisprechung der Schlächter und all jener Mörder mit
Epauleften und Couleurkappe allerdings recht betrüblich.
Die simple Forderung persönlicher Anständigkeit ist illu-
sorisch geworden bei Menschen, die ein Popanz ganz und
gar beherrscht: so sehr, daß er sie eigene Lächerlichkeit
ebenso ignorieren läßt, wie dieser Lächerlichkeit grausige
Folgen: der Popanz »Diplomatie« Eine falsch souveräne
Geste ersetzt ihnen das Reinlichkeitsgefühl und falsche
Worte den Blick der Klugheit. Sie werden im Auslande
gelesen und gehört, man beurteilt dort die Ereignisse nach
ihren Worten und das deutsche Volk ist nervös genug.
allzu nervös, als dal man es mit Dingen, die nun einmal
geschehen und »leider«e nicht mehr zu ändern sind, noch
unnötig erregen sollte. So denken diese »Diplomaten«, sie
fühlen sich als Träger der Verantwortung und werden zu
moralisch Mitschuldigen jeder Schurkerei. Sıe sind verant-
wortlich für eben alles, gegen das sie verantwortlich sein
sollten.
Abrechnung 713
Immer gibt es einen Grund, klug. »diplomatisch« zu sein,
immer stehen wir vor einer Schicksalswende: sei es der
Friede von Versailles oder St. Germain, die Eröffnung der
Nationalversammlung,. des Reichstags, der Landesversammlung
oder die Konferenz von Spaa, — lauter Entscheidungen, die
ruhig Blut. erfordern. Inzwischen aber kocht das Blut
der Arbeiter immer heißer und das Ausland, nach dem zu
schielen die verantwortlichen Diplomaten keinen Augenblick
unterlassen, hat Tag für Tag Gelegenheit, die Theorie vom
»Boches neu zu beweisen. Durch die Klugheit dieser
Menschen ist Deutschland ın einen moralischen Düngerhaufen
verwandelt worden, wie kein Land und keine Zeit je ibn
gesehen hat. Die Greuel des Zarismus, Abscheu einer noch
unerfahrenen Welt, sind in Ungarn weit übertroffen, in
Deutschland erreicht: hier wie dort arbeitet eine ver-
brecherische Ochrana — siehe Blau-Prozeß —, hier wie
dort werden Gefangene ermordet und die Morde bleiben
ungesühnt. weil ihre Aufdeckung allzu große Wellen schlüge.
Noch nie war die Gefahr des fürchterlichsten Pessimismus
und der Resignation aller Anständigen so nahe wie heute
angesichts der deutschen Zustände. — Zola konnte noch vor
kaum zwanzig Jahren schreiben: »Wenn man die
Wahrheit eıngräbt, ballt sie sich zusammen
unter der Erde und ıhre Sprungkraft wird so
groß, daß an dem Tage. da sie ausbricht, alles
mit ihr auffliegt- ... Wer von uns hat heute die
Kraft zu solcher Zuversicht!?
* «
1*
Der Eintri in die Gemeinschaft der Offiziellen Deutsch-
lands kostet einen teuren Preis: Den Verzicht auf An-
ständigkeit und Gerechtigkeit. Obzwar zur rechts- sozialistischen
Partei reuig zurückgekehrt und obzwar zweifellos einer
ihrer Fähigsten, gelangte Eduard Bernstein nicht in die
Regierung, weil er, vom »Wahrheitsfimmel« besessen, die:
714 Franz Schulz
Kriegsschuld der kaiserlichen Bande betont. Ein anderes
Beispiel solch teuren Preises: Professor Walter Schücking,.
mutig und wahrheitsliebend ım Kriege, hat den Mut ın jene
fatale »Diplomatie« verwandelt, seit er Emissär der Re-
dierung geworden ist und wie er jedes mutige Wort von
da ab vermied. unterließ er es, auch nur mit einem Worte
seines Kollegen und früheren Kommilitonen, des Professor
Nikolai, öffentlich sich anzunehmen, den gemeine Fäl-
schungen des Rektors Meier — der Herr klage
endlich! — von der Berliner Universität vertrieben haben.
(Und die anderen, sonst anständig gesinnten Hochschullehrer’?
Als Professor Albert Einstein jüngst ein Zirkular ver-
sandte, das sie auffordert, gegen die blödsinnigen Anpobe-
lungen Nokolais solidarisch Stellung zu nehmen, antworteten
die Braven: Die Affäre sei ja sehr empörend, doch könnten
sie nicht riskieren, selbst von den nationalistischen Studenten
aftakiert zu werden). Der Fall Nikolai ist ein charakteristischer
Ausschnift aus der deutschen Republik: Gemeinheit erzeugt
Feigheit. Feigheit Dummheit und Dummheit Ungerechtigkeit.
Die Professoren sind bei der demokratischen Presse in die
Schule gegangen. — die giftige Atmosphäre jener »Diplomatie«
betäubt auch die früher wahrhaft Wachen.
Kurz vor: seiner Ermordung schrieb Hans Paasche
einen Aufruf an die deutschen Nechtsgelehrten“): es war
ein Schrei des Entsetzens über eine Justiz, die Mörder schützt
und selbst mordet, des Entsetzens darüber, daß jene, die
zum Protest berufen wären, das Furchtbare schweigend
sanktionieren und also sich mitschuldig machen. Und als
man auch Hans Paasche ermordet hafte und als es offenbar
wurde, daß auch dieser Mord ungesühnt bleibt. — da
rührte sich gerade diese oder jene übel knirschende Jour-
nalistenfeder, um wiederum — diplomatisch — zu - konsta-
tieren, daß hier immerhin und allerdings etwas augenscheinlich
Forume, Heft 8 dieses Jahrgangs.
Abrechnung | 715
sozusagen mit Verlaub nicht ganz in Ordnung aei. Nach
demselben Cliché waren schon die Proteste gegen zwanzig
und mehr gleich blutige, gleich ungesühnte Verbrechen
fabriziert worden. Nichts hate sich geändert seit dem ersten
Mord, dem Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxem-
burg und nach wie vor gilt, was Paasche in jenem Appell
an die Tauben und Blinden schrieb: »... Das Unrecht
aber, das im Namen des Gesetzes täglich begangen wird
in all den freudlosen Gerichtszimmern Preußens, ist um
vieles gefährlicher, als das ın Freiheit begangene, weil es
in völliger Sicherheit an Wehrlosen geschieht, mit dem
Bewußtsein der Selbstgerechtigkeit, der siftlichen Empörung
und des Hasses, ja, mit dem Augenaufschlag zu Gott..
Der Aufruf endet mit dem Satz: »Gemeingefährlich
können nur die Mächtigen sein, sie gilt es zu
bewachen!: |
Ist je in Deutschland etwas Wahreres geschriebenen
worden, als dieses Wort des angeblich Pathologischen?!
* *
r
So traurig steht es um die deutsche Republik. Und es
gibt ein Land, von dem gerade jene deutschen Diplomaten.
nur in Tönen des Hasses oder professoraler Verurteilung
sprechen: Ruf land. Jeden Tag mul der bedauernswerte
Abonnent lesen, daß die Bolschewiki Wasser in ihren
Wein. gössen. dal sie einen versteckten Despotismus
aufrecht erhielten, daß sie im Kremel praften, während die
Arbeiter hungern. daß Trotzki der typische Sadist sei mit
Minderwertigkeitskomplexen die Menge und Lenin ein
mongolischer Schuft trotz seiner Rednerbegabung. Ein deutscher
Minister, der ein paar Sätze richtiger Feststellungen über
Sowjet-Rufland spricht, muß am nächsten Tage in den
lieblichen Ghor einstimmen, will er sein Amt behalten, und
von der brennenden Flamme. Bolschewismus deklamieren.
Mit einem Wort den Sinn dieser Blödsinnigkeiten zu-
16
Gun un ni, Frans, Sehuls
sammengefalt: Bei allen bedauerlichen Vorfällen in Deutsch-
land gähnt doch ein tiefer Abgrund zwischen unserer
Demokratie und dem russischen Bolschewismus.
Ja hier gähnt ein Abgrund und er ist wohl tiefer, als die
Herren es zu denken vermögen. Gäbe es kein anderes
Symptom, es genügte, die beste aller Reden. die von
Offiziellen und Offiziösen seit dem 9. November in Deutsch-
land gehalten wurde, mit irgendeiner Rede Lenins, Trotzkis
oder Tschitscherins zu vergleichen. Gäbe es kein andere:
Symptom, als diese Illustration der Klugheit hier und dort.
Doch es gibt unzählige Symptome des tiefen Abgrunds und
was vor allem die Wahl zwischen diesen beiden Welten
nicht schwer macht, ıst die Erkenntnis, um welchen Preis
die bolschewistischen, um welchen die deutsch-demokratischen
Kompromisse erkauft werden. Wer wollte leugnen, daß
die Bolschewiki Wasser in ihren Wein gießen, wie der
Schmock sich ausdrückt? Doch der Aspekt welch großen
Zieles und welche eiserne Notwendigkeiten entringen den
Lenkern eines hungernden, von Seuchen und seit sechs
Jahren vom Kriege geplagten. von der ganzen Welt
boykottierten und bekämpften. dabei seit jeher industriearmen,
von Gruppen eigenen Volkes sabotierten Landes ihre harten
Mabregeln! Und wie sieht die diplomatische Klugheit aus,
die in Deutschland Morde halboffiziell sanktioniert. Rom-
promil gegen den Rechtsstaat an die ominöse Ruhe-
bedürftigkeit eines in Wahrheit empörungsbedürftigen Volkes?
Geßlers Ausspruch von den allerdings »traurigen« Gescheh-
nissen in Thal neben Trotzkis Rede auf dem Kongreß
der Kommunistischen Partei Ruflands*) gestellt, die die
bittere Forderung provisorischer Miltarisierung darlegt, die
Worte dieses bolschewistischen »Sadisten«e neben denen des
militärfrommen Feldwebel-Sohnes müßten Jedem zeigen, auf
‚welcher Seite Gerechtigkeit und zugleich Klugheit und nicht
JJ Seite 737 dieses Heftes.
Abrechnung | 717
zuletzt diplomatische Geschicklichkeit steht. Ein Dokument
heldenhaften Kampfes und ein Dokument kläglichster Dumm-
heit. Solcher Antithesen gäbe es tausend.
Dem deutschen Bürger aber sagt nichts, was alles sagt.
Er ist das Paradox der Weltgeschichte: Dem ersten Blick
grotesk, dem zweiten, philosophisch befangenen, immerbin wahr,
weil er eben so geschaffen ist, enthüllt er sich dem driften
und letzten als eine unsägliche Plattitüde, die zu hassen
falsch, die zu bekämpfen und über die hinwegzuschreiten
notwendig ıst. Daß der Bolschewismus keine Erscheinung ist,
über die irgendeinmal hinwegzuschreiten wäre, das sehen
heute alle. Lloyd George inbegriffen. Nur der deutsche
Bürger und seine redenden, schreibenden und regierenden
Musterexemplare sehen es nicht, weil dieser Bürger nichts
sieht als sich selbst, nichts will als sein Wohlergehen und
weil ihn die Dinge nichtmehr interessieren, sobald seine
Wortführer im -B. T.. und in der -N. V.. ein Wort
gefunden haben. unter dem er das Ding registrieren und
also aus der Welt schaffen zu können glaubt.
Denn das ist es, was die Deutschen von allen Völkern
unterscheidet: Die Worte sind nicht mit den
Dingen, sondern gegen sie. — Der Reichswehrminister
will die Tatsache des grauenvollsten Massenmordes mit dem
Worte »straurig« aus der Welt schaffen. Dieselbe Methode
versucht der deutsche Bürger von Beginn an gegen den
Bolschewismus: Seit drei Jahren erzählt man an der Börse,
im Spielklub, in der Presse, am Turf und am Stammtisch,
der Bolschewismus sei »reif zum Untergang« und noch un-
gezählte Male werden wir es hören, — solange bis der zum
Untergange wahrlich längst schon reife Bürger noch 'unter-
gehend kreischen wird: -Der Bolschewismus ist reif. . !«
Allerdings wird ihm wohl dann durch einige überaus
malgebende Faktoren die Rede abgeschniften, ja, vielleicht
ins Gegenteil umgekehrt werden.
1 Lenin / Thesen über die
THESEN ÜBER DIE NATIONALE UND
KOLONIALE FRAGE
VON LENIN
Vorläufiger, den Delegierten des 2. Kongresses der
Kommunistischen Internationale vorgeschlagener Entwurf.
1. Nach ihrer Natur ist der bürgerlichen Demokratie
das abstrakte und formale Verhalten zur Frage der
Gleichheit überhaupt, darunter zur nationalen Gleichheit
eigen, Unter dem Scheine der Gleichheit der mensch-
lichen Persönlichkeit proklamiert die bürgerliche Demokratie
die formale oder juridische Gleichheit des Eigentümers
und des Proletariers, des Ausbeuters und des Aus-
gebeuteten. wodurch sie die unterdrückten Klassen im
höchsten Grade betrügt. Die Gleichheitsidee, die eine
Abspiegelung der Warenproduktionsbeziehungen ist, wird
von -der Bourgeoisie in ein Kampfmittel gegen die Ab-
schaffung der Klassen verwandelt, unter dem Vorwande
von angeblich unbeschränkter Gleichheit der menschlichen
Persönlichkeiten. Der wirkliche Sinn der Gleichheits-
forderung besteht nur in der Forderung nach Ab-
schaffung der Klassen.
2. Gemäß ihrer Hauptaufgabe. des Kampfes gegen
die bürgerliche Demokratie und der Enthüllung ihrer Lage
und Heuchelei. muß die Kommunistische Partei als bewußte
Vermiſtlerin des Kampfes der Proletarier zum Sturze des
bürgerlichen Joches auch in der nationalen Frage nicht
abstrakte und nicht formale Grundsätze an die erste Stelle
setzen, sondern, erstens, die genaue Darlegung der genauen
geschichtlichen und vor allem der wirtschaftlichen Ver-
hältnisse: zweitens die klare Absonderung der Interessen
nationale und koloniale Frage 719
der unterdrückten Klassen, der Werktätigen. der Aus-
gebeuteten. von dem allgemeinen Begriffe der Volksinteressen,
die die Interessen der herrschenden Klasse bedeuten: drittens
eine eben so klare Absonderung der unterdrückten. ab-
hängigen. nicht gleichberechtigten Nationen von den unter-
drückenden. ausbeutenden. vollberechtigten Nationen, als Gegen-
gewicht zur bürgerlich-demokratischen Lüge, welche die der
Epoche des Finanzkapıtals und des Imperialismus eigene
koloniale und finanzielle Unterjochung der ungeheuren Mehr-
heit der Bevölkerung und der Länder durch eine geringe
Minderheit der reichsten. vorgeschriftenen kapitalistischen
Länder vertuscht.
3. Der imperialistische Krieg 1914—18 hat mit be-
sonderer Deutlichkeit vor allen Nationen und vor den
unterdrückten Klassen der ganzen Welt die Lügenhaftigkeit
der bürgerlich-demokratischen Redensarten aufgedeckt und
gezeigt, daß der Versailler Vertrag der berühmten »West-
lichen Demokraten: eine noch grausamere und schändlichere
Vergewaltigung der schwachen Nationen ist, als der
Brest-Litowsker Vertrag der deutschen Junker und des
Kaisers. Der Völkerbund und die ganze Politik der
Entente nach dem Kriege deckt noch deutlicher und
schärfer diese Wahrheit auf. Dadurch wird überall der
Kampf der vorgeschriſtenen Länder wie auch aller werk-
tätigen Massen der kolonialen und abhängigen Länder ver-
schärft und der Zusammenbruch der kleinbürgerlich-nationalen
Vorstellungen -in Bezug auf die Möglichkeit des friedlichen
Zusammenlebens und der Gleichheit der "Nationen unter
der Herrschaft des Kapitalismus beschleunigt.
4. Aus den oben angeführten grundlegenden Leitsätzen
folgt, daß die nähere Verbindung der Proletarier und der
werktätigen Massen aller Nationen und Länder zum ge-
meinsamen revolutionären Kampfe zwecks des Sturzes der
Grundbesitzer und der Bourgeoisie in den Vordergrund
720 Lenin / Thesen über die
der ganzen Politik der Kommunistischen Internationale ın
der nationalen und kolonialen Frage treten muß. Nur
eine solche Verbindung sichert den Sieg über den Kapı-
talismus: ohne diesen Sieg ist die Abschaffung des nationalen
Joches und der Nichtgleichberechtigung unmöglich.
5. Die politische Lage der Welt hat jetzt die Dik-
tatur des Proletariats auf die Tagesordnung gesetzt und
alle Ereignisse der Weltpolitik konzentrieren sich unver-
meidlich um einen Mittelpunkt. nämlich um den Kampf
der Weltbourgeoisie gegen die russische Räterepublik, die
um sich folgerichtig einerseits die Rätebewegungen der
vorgeschriftenen Arbeiter aller Länder, anderseits alle natio-
nalen Befreiungsbewegungen der Kolonien und der unter-
drückten Nationen gruppiert, welche sich durch schwere Er-
fahrung davon überzeugen, daß ıhre Reftung nur ım Siege
der Rätemacht über den Weltimperialismus liegt.
6. Also kann man sich gegenwärtig nicht auf die
nackte Anerkennung und Proklamierung der Verbindung
der Werktätigen der verschiedenen Nationen beschränken,
sondern muß die Politik der Verwirklichung des innigsten
Bundes aller nationalen und kolonialen Befreiunge- Bewegungen
mit Sowjetruſlland betreiben und die Formen dieses Bundes
der Entwicklungsstufe der kommunistischen Bewegung unter
dem Proletariat eines jeden Landes oder der bürgerlich-
demokratischen Befreiungsbewegung der Arbeiter und Bauern
in den rückständigen Ländern oder unter den rückständigen
Nationalitäten anpassen.
7. Das Bündnis ist eine Übergangsform zur vollen
Vereinigung der Werktätigen aller Nationen. Das Bündnis
hat schon in der Praxis seine Zweckmäfigkeit offenbart:
so z. B. in den Beziehungen der Russischen Sozialistischen
Föderativen Sowjetrepublik zu den übrigen Sowjetrepubliken (der
ungarischen, finnischen, leſtländischen in der Vergangenheit, der
aserbeidschanischen, der ukrainischen in der Gegenwart), wie auch
nationale und koloniale Frage 721
innerhalb der russischen Sowjetrepublik in bezug auf die
Nationalitäten. die weder eine staatliche Existenz noch
Selbstverwaltung besaßen (z. B. die autonomen Republiken
der Baschkiren und Tataren innerhalb der Russischen
Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, die 1919 . und
1920 geschaffen worden sind).
8. Die Aufgabe der Kommunistischen Internationale
besteht in dieser Hinsicht nicht nur in der weiteren
Entwicklung, sondern auch ım Studium, ın der Prüfung
der Erfahrungen dieser Bündnisse, die auf der Basıs der
Räteordnung und der Rätebewegung entstehen. In An-
erkennung der Bündnisse als Übergangsform zur vollen
Vereinigung muß eine immer engere Verbindung angestrebt
werden. wobei in Erwägung zu ziehen ist: erstens die Un-
möglichkeit des Bestehens der Sowjetrepubliken, die
von den militäriseh bedeutend mächtigeren imperia-
listischen Mächten der ganzen Welt umgeben sind. ohne
engere Verbindung mit den anderen Räterepubliken zu
haben: zweitens die Notwendigkeit des engen wirtschaftlichen
Bundes der Räterepubliken, ohne den die Wiederherstellung
der durch den Imperialismus vernichteten Produktivkräfte
und die Sicherstellung des Wohlstandes der Werk-
tätigen nicht möglich ist; drittens das Bestreben. zur
Schaffung einer einheitlichen Weltwirtschaft nach einem
gemeinsamen Plane, der vom Proletariat aller Nationen
geregelt wird. Diese Bestrebung ist schon beim Kapitalismus
ganz offen zutage getreten und sieht ihrer fernen Ent-
wicklung und Vollen dung durch den Sozialismus unbedingt entgegen.
9. Auf dem Gebiet der Beziehungen innerhalb des
Staates kann die nationale Politik der Kommunistischen
Internationale sich nicht mit der nackten, formalen, nur
in Worten erklärten und praktisch zu nichts verpflichtenden
Anerkennung der Gleichberechtigung der Nationen be-
gnügen, auf die sich die bürgerlichen Demokraten be-
22 Lenin / Thesen über die
schränken — einerlei. ob sie sich aufrichtig zu diesen
bekennen oder sich unberechtigt die Bezeichnung Sozialisten
beilegen, wie die Sozialisten der II. Internationale.
Nicht nur ın der ganzen Propaganda und Agitation
der kommunistischen Parteien — von der Parlamentstribüne
und außerhalb derselben — müssen unentwegt dıe bestän-
digen Verletzungen der Gleichberechtigung der Nationen
und der Garantien der Rechte der nationalen Minderheiten
enthüllt werden, dıe ın allen kapitalistischen Staaten” trotz
den sdemokratischene Konstitutionen geschehen, sondern not-
wendig ist auch: erstens, die beständige Erläuterung, daß
nur die Röäteordnung imstande ist. den Nationen in
Wirklichkeit dadurch Gleichberechtigung zu sichern,
daß sie erst die Proletarıer. darauf die ganze Masse der
Werktätigen im Kampfe mit der Bourgeoisie vereinigt:
zweitens die direkte Unterstützung der revolutionären Be-
wegungen bei den abhängigen und nicht gleichberechtigten
Nationen (z. B. in Irland, unter den Negern Amerikas usw.)
. und in den Kolonien durch alle kommunistischen Parteien.
Ohne diese letztere. besondere wichtige Bedingung bleibt
der Kampf gegen die Unterdrückung der abhängigen Nationen
und Kolonien. wie auch die Anerkennung ihres Rechtes auf
staatliche Absonderung. ein lügnerisches Aushängeschild, wie
wir dies bei den Parteien der II. Internationale schen.
10. Die Anerkennung des Internationalismus in Worten.
seine Verwässerung in der Tat in der ganzen Propaganda,
Agitation und praktischen Arbeit durch kleinbürgerlichen
Nationalismus und Pazifismus bildet die üblichste Er-
scheinung nicht nur bei den Zentrumsparteien der IL Inter-
nationale, sondern auch bei denen, die aus dieser Inter-
nationale ausgetreten sind. Ja, diese Erscheinung findet man
sogar nicht selten inmitten solcher Parteien, die sich jetzt
kommunistisch nennen. Der Kampf mit diesem Übel, mit
den am tiefsten eingewurzelten kleinbürgerlich-nationalen
nationale und koloniale Frage 723
Vorurteilen muß umsomehr in den Vordergrund gerückt
werden, je brennender die Frage der Umwandlung der
Diktatur des Proletariats wird: nämlich die Umwandlung
aus einer nationalen Diktatur (d. h. der in einem Land
existierenden, zur Führung einer Weltpolitik unfähigen) in
eine internationale Diktatur (d. h. in eime Diktatur des
Proletariats wenigstens in einigen vorgeschriftenen Ländern,
die fahig zu einem entscheidenden Einfluß auf die ganze
Weltpolitik ist). Der kleinbürgerliche Nationalismus erklärt
als Internationalismus die Anerkennung der Gleich-
berechtigung der Nationen und — ganz abgesehen davon,
dał eine derartige Anerkennung nur ın Worten ge-
schieht — hält den nationalen Egoismus für unantastbar.
Der proletarische Internationalismus dagegen fordert: Erstens:
Die Unterordnung der Interessen des
proletarischen Kampfes des Landes unter die
Interessen dieses Kampfes im Weltmaßstab:
zweitens: Die Fähigkeit und Bereitschaft von
Seiten einer Nation, die über die Bourgeoisie
gesiegt hat, die größten nationalen Opfer zu
bringen, um den internationalen Kapitalismus
zu stürzen. Daher ist in den kapitalistischen Staaten,
die Arbeiterparteien besitzen, welche tatsächlich einen Vortrupp
des Proletarıats darstellen, der Kampf mit der opportu-
nistischen und kleinbürgerlich-pazifistischen Verdrehung der
Begriffe und der Politik des bürgerlichen Internationalismus
die eu und wichtigste Auf gabe.
. Im Verhältnis zu den Staaten und Nationen. die
3 ge zurückgebliebenen, vorherrschend feudalistischen
oder patriarchalisch-bäuerlichen Charakter tragen, mul man
besonders folgende Punkte ım Auge behalten.
a) Alle kommunistischen Parteien müssen der bürgerlich-
demokratischen freiheitlichen Bewegung in diesen
Ländern zu Hilfe kommen In erster Linie trifft diese Ver-
pflichtung zur tatkrüftigen Hilfe die Arbeiter des betreffenden Landes, von
724
Lenin / Thesen über die
dem die zurückgebliebene Nation in kolonialer oder finanzieller Beziehung
abhängt.
b.) Notwendig ist ein Kampf gegen die Geistlichkeit und andere
reaktionäre mittelalterliche Elemente. die Einfluß in rückständigen
Organen haben.
c.) Notwendig ist der Kampf gegen den Pan-Islamismus und ähnliche
Richtungen, die den Versuch machen, den Freiheitskampf gegen den
europäischen und amerikanischen Imperialismus mit der Stärkung der Macht
des Adels der Großgrundbesitzer und Geistlichen zu verbinden.
d.) Ferner ist besonders die Unterstützung .der bäuerlichen Bewegung
in den zurückgebliebenen Ländern gegen die Grundbesitzer. und alle
Formen und Überreste des Feudalismus notwendig: man muß vor allem
danach streben, der bäuerlichen Bewegung einen möglichst revolutionären
Charakter zu geben und eine möglichst enge Verbindung zwischen dem
westeuropäischen kommunistischen Proletariat und der revolutionären Be-
wegung der Bauern im Osten, in den Kolonien und den rückständigen
Ländern herzustellen.
e.) Gegen den Versuch, der bürgerlich-demokratischen Freibeitsbewegung
in den zurückgebliebenen Ländern ein kommunistisches Mäntelchen um-
zuhängen, muß ein entschlossener Kampf geführt werden. Die Kommu-
nistische Internationale hat die Pflicht, die bürgerlich-demokratische nationale
Bewegung in den Kolonien und rückständigen Ländern nur zu dem Zweck
zu unterstützen. um die Bestandteile der künftigen proletarischen Parteien —
der wirklich und nicht nur dem Namen nach kommunistischen — in allen
rückständigen Ländern zu sammeln, sie zum Bewußtsein ihrer besonderen
Aufgaben zu erziehen und zwar zu den Aufgaben des Kampfes mit der
bürgerlich-demokratischen Richtung im Schoße ihrer engeren Nation. Die
kommunistische Internationale muß ein zeitweiliges Bündnis mit der demo-
kratischen Bourgeoisie der Kolonien und rückständigen Ländern eingehen,
darf sich aber nicht mit ihr vermischen, sondern muß bedingungslos den
selbständigen Charakter der proletarischen Bewegung — such in ihrer un-
entwickeltesten Form — aufrecht erhalten.
f.) Notwendig ist es, unter den breitesten Massen der Werktätigen
aller und insbesondere der rückständigen Länder fortgesetzt den Betrug
aufzudecken und aufzuklären. den die imperialistischen Mächte systematisch
dadurch begehen, daß sie unter der Schaffung politisch unabhängiger Staaten
Staatsgebilde ins Leben rufen, die wirtschaftlich, finanziell und militärisch
vollständig von ihnen abhängig sind. In den derzeitigen internationalen
Verhältnissen gibt es für die abhängigen und schwachen
Nationen keine andere Rettung mehr, als ein Bünd-
nie von Räterepubliken.
12. Jede Knechtung der kolonialen und schwachen
Völkerschaften durch die imperialistischen Großmächte
hinterließ in den werktätigen Massen der geknechteten
nationale und koloniale Frage 725
Länder nicht nur Gefühle der Erbiſterung. sondern auch
Gefühle des Miftrauens gegen die knechtenden Nationen
im allgemeinen, und dauert auch gegen das Proletariat
dieser Nationen. Der niederträchtige Verrat am Sozialismus
durch die Mehrheit der offiziellen Führer dieses Proletariats
von 1914—19, als die Sozialpatrioten unter der »Ver-
teidigung des Vaterlandes. die Verteidigung des Rechts ·
ihrer Bourgeoisie auf Knechtung der Kolonien und Aus-
plünderung der finanziell abhängigen Länder verbargen —
dieser Verrat konnte dieses vollstandig gerechtfertigte Mig-
trauen nicht entkräften. Anderseits ist, je rückständiger das
Land, desto stärker die kleinbäuerliche Produktionsweise.
der Patriarchalismus und der Lokalpatriotismus in ihm.
und dies führt unvermeidlich dazu, daß die tiefsten der
kleinbürgerlichen Vorurteile. nämlich die des nationalen
Egoismus und der nationalen Beschränktheit, besonders stark
und beharrlich auftreten. Da diese Vorurteile erst nach
der Ausrottung des Imperialismus und Kapitalismus in den
vorgeschriftenen Ländern und nach der radikalen Umformung
der ganzen Grundlagen des wirtschaftlichen‘ Lebens der
rückständigen Länder ausgeroſtet werden können, so kann
die Beseitigung dieser Vorurteile nur sehr langsam vor
eich gehn. Daraus ergibt sich für das klassenbewußte
kommunistische Proletariat aller Länder die Verpflichtung
zu besonderer Vorsicht und besonderer Aufmerksamkeit
gegenüber den an sich überlebten nationalen Gefühlen ın
den lange. Zeit geknechteten Ländern und Völkerschaften
und zugleich die Verpflichtung, Zugeständnisse zu machen,
um desto rascher dieses Miftrauen und diese Vorurteile
zu beseitigen. Ohne freiwilligen Zusammenschlul des Pro-
letariats und damit aller werktätigen Massen aller Länder
und der Nationen der ganzen Welt zu einem Bunde
und einer Einheit kann der Sieg über den Kapitalismus
nicht mit vollem Erfolg zu Ende geführt werden.
126 Lenin und Trotzki
ZWEI REDEN
VON LENIN UND TROTZKI
auf dem IX. Kongreß der Kommugistischen Partei Ruflands
LENINS BERICHT.
Genossen! Bevor ich mit meinem Bericht beginne, muß ich sagen, daß er,
wie dies auf dem letzten Kongresse der Fall war, in zwei Teile eingeteilt ist, den
politischen und den .organisatorischen. Diese Einstellung führt uns vor allem auf
den Gedanken darüber, wie sich die Arbeit des Zentralkomitees in politischer und
organisatorischer Beziehung entwickelt hat.
Unsere Partei hat das erste Jahr ohne Gen. Swerdlow durchlebt; dieser Verlust
mußte die ganze Organisation des Zentralkomitees beeinflussen. So harmonisch in
sich die organisatorische und politische Arbeit vereinigen, wie dies Gen.
Swerdlow verstanden hatte, konnte niemand und wir mußten versuchen, seine Ar-
beit durch die Arbeit eines Kollegiums zu ersetzen. — Die Arbeit des Zentral-
komitees im Berichtsjahr wurde von zwei auf der Plenarsitzung des Zentralkomitees
gewählte Kollegien durchgeführt; der Örganisationsbureaux des Zentralkomitees.
wobei zwecks strenger einheitlicher Ausführung und Konsequenz der Beschlüsse
der einen oder anderen Institution, der Sekretär des Zentralkomitees beiden Bureaus
angehörte. Die Sache gestaltete sich so, daß die Hauptaufgabe der Organisations-
bureaus die Verteilung der Parteikräfte war und das politische Bureau die poli-
tischen Aufgaben durchzuführen hatte.
Über die politische Arbeit des Zentralkomitees Bericht erstatten, das ist eine
sehr schwere Arbeit, wenn man sie im buchstäblichen Sinne des Wortes auffaßt.
In diesem Jahre lief ein erheblicher Teil der Arbeit des politischen Bureaus auf
die laufende Lösung jeder entstehenden Frage hinaus, die zur Politik in bezug
stand, so daß das politische Bureau die Tätigkeit aller Sowjet- und Parteiinstitu- .
tionen, aller Organisationen der Arbeiterklasse vereinigte und bestrebt war, die
ganze Arbeit der Sowjetrepublik, alle Fragen der internationalen, der inneren und
der auswärtigen Politik zu leiten. Es versteht sich, daß es unmöglich wäre, auch
nur annähernd alle diese Fragen aufzuzählen. Jeder von uns, der in dieser oder
jener Sowjet- oder Parteiorganisation tätig ist, hat täglich den ungewöhnlichen
Wechsel der politischen Fragen, der auswärtigen wie der inneren, verfolgt. Die
Lösung dieser Fragen selbst ist, wie sie in den Dekreten der Sowjetmacht und
in der Tätigkeit der Parteiorganisation zum Ausdruck kam, die Bewertung des
Zentralkomitees der Partei. Es muß gesagt werden, daß die Zahl der Fragen so
groß war, daß sie oft überaus eilig entschieden werden mußten und nur dank der
vollen Bekanntschaft der Glieder des Kollegiums untereinander, dank der Kenntnis
der Meinungschattierungen, dank dem gegenseitigen Vertrauen konnte die Arbeit
Zwei Reden 727
durchgeführt werden. Sonst würde das die Kräfte eines dreimal größeren Kolle-
giums überstiegen haben. Oft mußten weniger verwickelte Fragen auf diese Weise
entschieden werden, daß die Versammlung durch ein Telephongespräch ersetzt
wurde. Das wurde ın der Gewißheit getan, daß einige wissentlich komplizierte
Fragen nicht umgangen werden würden. Solch eine Vereinfachung der Arbeit
half sehr.
Anstatt einen chronologischen Überblick und eine Gruppierung der Gegen-
stände zu geben, will ich mich in meinem Bericht bei den wichtigsten, den wesent-
lichsten Momenten aufhalten und zwar bei denen, die die Erfahrung des gestrigen
Tages, richtiger des durchlebten Jahres, mit den Aufgaben verbinden, die vor uns
stehen. Für die Geschichte der Sowjetmacht ist die Zeit nicht gekommen. Wenn
sie gekommen wäre, so würde ich für meine Person und, ich glaube, auch im
Namen des Zentralkomitees sagen, daß wir nicht die Absicht haben, Historiker zu
sein. Uns interessiert die Gegenwart und die Zukunft, hauptsächlich die Zukunft.
Das vergangene Berichtsjahr nehmen wir als Material, als Lehre, als Trittbrett,
von dem aus wir weiterschreiten. Geht man an die Sache von dieser Seite heran,
so teilt sich die Arbeit des Zentralkomitees in zwei große Zweige; in die Arbeit,
die mit den militärischen Aufgaben und denjenigen verbunden war, die die inter-
nationale Lage der Republik bestimmten und die Arbeit des inneren friedlichen .
wirtschaftlichen Aufbaues, die vielleicht erst seit Ende des vergangenen oder seit
Beginn des laufenden Jahres in den Vordergrund trat, als es klar wurde, daß der
entscheidende Sieg an den Fronten des Bürgerkrieges unser ist.
Im Frühjahr des vergangenen Jahres war unsere militärische Lage ım höchsten
Grade schwierig. Wir mußten, wie ıhr euch erinnern werdet, nicht wenig Nieder-
lagen, nicht wenig neue, riesige, unerwartete Angriffe der Vertreter der Gegen-
revolution und der Vertreter der Entente aushalten. Daher ist es vollkommen
natürlich, daß der größte Teil dieser Periode mit Arbeiten angefüllt war, die die
Durchführung der militärischen Lage bezweckten, der Aufgabe des Bürgerkrieges,
die allen Kleinmütigen unlösbar schien und die sie veranlaßte, vollständig auf-
richtig zu sagen, daß das rückständige und geschwächte Rußland nicht im Stande
sei, das kapitalistische Regime der ganzen Welt zu besiegen, wenn die Revolution
sich im Westen in die Länge zieht. Und wir mußten daher, unsere Position bei-
behaltend, mit voller Sicherheit und absoluter Gewißheit sagen, daB wir siegen
werden. Die Losungen „Alle für den Sieg” und „Alle für den Krieg“ mußten
durchgeführt werden. Im Namen dieser Losungen mußten wir oft bewußt und offen
eine ganze Reihe der wesentlichen Bedürfnisse unbefriedigt lassen, mußten auf
Schritt und Tritt viele ohne Hilfe lassen, in der Gewißheit, daß dies so richtig
sei, da dies Opfer gebracht wurde, um unsere ganze Kraft auf den Krieg und
- auf den Sieg in diesem Kriege, den uns die Entente aufgezwungen hatte, konzen-
trieren zu können.
Und nur dank dem Umstande, daß die Partei auf der Wacht stand, daß die
Partei streng diszipliniert war, und die Autorität der Partei alle Ressorts, alle In-
stitutionen in der Losung vereinigte, die vom Zentralkomitee aufgestellt war, gingen
Hunderte, Tausende und im Endresultat Millionen, wie ein Mann. Und nur
728 Lenin und Trotzkı
weil unerhörte Opfer gebracht wurden, konnte das Wunder
geschehen, daß wir ungeachtet des zweimaligen, drei-
maligen und vıermaligen Angriffes der Imperialisten der
Entente und der Imperialisten der ganzen Welt imstande
waren zu siegen. Daraus, daß wir ohne Disziplin und ohne Zentralisation
diese Aufgabe niemals überwältigt haben würden, müssen wir eine Lehre ziehen.
Die von uns gebrachten unerhörten Opfer zur Rettung des. Landes vor der
Gegenrevolution, zum Siege der Revolution über Judenitsch, Koltschak und Denikin
sind eine Lehre für die soziale Weltrevolution. Um unsere Aufgabe zu verwirk-
lichen, hatten wir Disziplin in der Partei, strenge Zentralisation und absolute Ge-
wißheit dessen nötig, daB die unerhört schweren Opfer zehn- und hundert-
tausender Menschen helfen werden, diese Aufgabe zu verwirklichen, daß diese
Aufgabe wirklich durchgeführt werden könne. Dazu war nötig, daß unsere Partei
und die Klasse, die die Diktatur der Arbeiterklasse verwirktlicht, Elemente seien,
die Millionen und Millionen Werktätiger ın Rußland und ın der ganzen Welt ver-
einigen. Zentralisation, Disziplin und unerhörte Selbstaufopferung haben unsere
Aufgabe gelöst.
Wie konnten Millionen Werktätiger in einem Lande, das am wenigsten zur
Organisation erzogen war, dahin kommen, daß diese Disziplin und Zentralisation
verwirklicht wurden? Nur dank dem Umstande, daß der Besitz,
der kapitalistische Besitz isoliert, wir aber vereinigen,
eine immer größere Anzahl von Millionen Werktätiger ın der ganzen Welt ver-
einigen. Jetzt sehen dies sogar die Blinden, sogar diejenigen, die das nicht sehen
wollten. Unsere Feinde aber trennten sich je weiter, desto mehr. Sie isolierte
der kapitalistische. Besitz, der Privatbesitz bei der Warenproduktion, ob dies kleine
Besitzer waren, die auf den Verkauf des Cetreideüberſlusses auf Kosten der hun-
gerigen Arbeiter spekulierten, oder Kapitalisten der verschiedenen Länder, die mili-
tärische Macht besaßen, sogar wenn sie eine Liga der Nationen, eine große, ein-
heitliche Liga aller vorgeschrittenen Nationen geschaffen haben würden. Diese
Einigkeit ist von Anfang bis zu Ende Fiktion, Betrug, Lüge. O, wir haben das
größte Beispiel gesehen; die berühmte Liga der Nationen, die da versuchte,
Rechte auf Verwaltung von Staaten zu geben, die Welt aufzuteilen, — diese be-
rühmte Liga hat sich als Seifenblase erwiesen, die sofort zer-
platzte, weil sie auf kapitalistischem Besitz basierte. Wir
haben dies im größten historischen Maßstabe gesehen.
Das bestätigt jene grundlegende Wahrheit, auf deren Anerkennung wir unser
Recht bauten, unsere feste Zuversicht auf den Sieg in der Oktoberrevolution, darauf,
daß wir eine Sache beginnen, der sich trotz allen Schwierigkeiten und Hinder-
nissen Millionen und Millionen Werktätiger in allen Ländern anschließen werden.
Wir wußten, daß wir einen Verbündeten haben, daß das eine Land, dem die Ge-
schichte diese ehrenvolle und schwierigste Aufgabe auferlegt hat, nur verstehen
müsse Selbstaufopferung zu offenbaren. Diese unerhörten Opfer werden sich
hundertfältig bezahlt machen, da jeder übrige Monat, den wir in unserem Lande
verleben, uns Millionen und Millionen Verbündeter in allen Ländern gibt.
Zwei Reden 729
Wir mußten siegen. weil unsere Feinde, die formal durch eine Liga der stärksten
Regierungen der Welt und der Vertreter des Kapıtals verbunden waren, keinen
innerlichen Zusammenhang hatten; weil der kapitalistische Besitz sie trennte, sie
gegeneinander warf, sie zersetzte, die Verbündeten in wilde Tiere verwandelte,
so daß sie nicht sahen, wie Sowjetrußiand seine Anhänger vermehrte, wie unter
den englischen Soldaten, die in Archangelsk geiandet waren, so auch unter den
französischen in Sewastopel und unter den Arbeitern alier Länder, wo die Sozial-
kompromißler für das Kapital Partei ergreifen mußten. — Diese fundamentale
und tiefste Ursache hat uns ìn ihrem Endresultat zum sichersten Siege verholfen.
Sie fährt fort, die wichtigste, unbezwingbare, unversiegbare Quelle unserer Kraft
zu sein, die uns erlaubt zu sagen, daß wir, wenn wir erst in unserem
Lande den Kommunismus vermittels der Diktatur des Pro-
letarıats, vermittels der größten Vereinigung seiner Kräfte
durch seine Avantgarde, durch seine vorgeschrittenePartei,
verwirklicht haben werden, die Weltrevolution erwarten
können. Und das ist in Wirklichkeit der Ausdruck des Willens des Proletariats,
der Ausdruck der proletarischen Entschlossenheit zum Kampfe, der proletarischen
Entschlossenheit zum Bunde von Millionen und Millionen von Arbeitern in allen
Ländern.
Dies wurde bis jetzt von den Herren Bourgeois und den angeblichen Sozialisten
der 2. Internationale für eine Agitationsphrase erklärt. Nein, das ist die historische
Wirklichkeit, die durch die blutige und schwere Erfahrung des Bürgerkrieges in
Rußland bestätigt worden ist, denn dieser Bürgerkrieg war eın Krieg gegen das
Weltkapital, dieses Weltkapital aber ist im Streite von selbst zusammengestürzt, es
verzehrt sich selbst, damit wir gestählt und gestärkt aus diesem Kampfe hervor-
gehen im Lande des vor Hunger und am Flecktyphus sterbenden Proletariats. —
Das, was früher für eine Agitationsphrase galt, worüber zu lachen die Bourgeoisie
gewöhnt war, dieses Jahr unserer Revolution, vor allem das Berichtsjahr, hat sich
in eine endgültige, unbestreitbare historische Tatsache verwandelt, die die Mög-
lichkeit gibt, mit Gewißheit zu sagen, daß wir eine Weltbasis haben, die unendlich
viel breiter ist, als sie es in irgendwelchen anderen Revolutionen war. Wir haben
einen internationalen Verband, der nirgends eingetragen, nirgends formuliert ist,
der vom Standpunkt der Staatenbildung nichts bedeutet, der aber in Wirklichkeit
die kapitalistische Welt zersetzt und alles ist. Jeder Monat, in dem wir uns Posi-
tionen errangen oder sie einfach gegen den unerhört mächtigen Feind behaupteten.
bewies der ganzen Welt, daß wir recht haben und gab uns neue Millionen
Menschen.
Dieser Prozeß schien schwer, war von gigantischen Niederlagen begleitet. Auf
den unerhörten weißen Terror Finnlands folgte, gerade im Berichtsjahr, die
Niederlage der ungarischen Revolution, die die Vertreter der
Entente einem heimlichen Abkommen mit Rumänien gemäß erstickten, wobei sie
ihre Parlamente und Vertretungen betrogen. Noch niemals hat jemand darüber
auch nur den hundersten Teil der Wahrheit gesagt, die wir wissen. Das war der
gemeinste Verrat, eine Verschwörung zwischen der Entente und Rumänien, um
730 Lenin und Trotzki
durch den weißen Terror die ungarische Revolution zu ersticken. Sie gingen auf
Verständigung mit den deutschen Kompromißlern ein, um die deutsche Revolution
zu ersticken. Diese Leute, die Liebknecht für einen ehrlichen Deutschen er-
klärt hatten, stürzten sich ım Verein mit den deutschen Imperialisten wie tolle
Hunde auf diesen ehrlichen Deutschen. Sie übertrafen hier alles, was möglich war
und jede Äußerung dieser Art ihrerseits befestigte und stärkte uns und untergrub
den Boden unter ihnen.
An unserer Revolution hat sich mehr als an irgendeiner anderen das Gesetz be-
stätigt, daß die Kraft der Revolution, die Wucht des Andranges, die Energie, Ent-
schlossenheit und der Triumph des Sieges den Widerstand der Bourgeoisie ver-
stärken. Je mehr wir Proletarier siegen, desto mehr entwickeln. wir die kapitali-
stische Exploitation, desto mehr lernen die kapitalistischen Ausbeuter sich zu ver-
einigen und zum entschlosseneren Angriff überzugehen. Ihr erinnert euch alle sehr
gut — es ist vom Standpunkt der Zeit aus nicht lange, vom Standpunkt der
laufenden Ereignisse aus aber sehr lange her — daß der Bolschewismus zu Beginn
der Oktoberrevolution für eın Kuriosum gehalten wurde und mußte man ın Ruß-
land bald diese Ansicht aufgeben, so hielt sie sich ın Europa sehr lange. Doch
in diesem Jahre haben wir gesehen, daß diese Ansicht, die der Ausdruck der Nicht-
entwicklung und Schwäche der proletarischen Revolution war, auch in Europa
aufgegeben ist. Der Bolschewismus ist zur Welterscheinung geworden, die Ar-
beiterrevolution hat den Kopf erhoben. Das Sowjetsystem, das wir den Geboten
des Jahres 1905 und unserer eigenen Erfahrung folgend geschaffen haben, hat sich
als historische Welterscheinung erwiesen und jetzt stehen sich, man kann ohne
Übertreibung sagen, im Weltmaßstabe zwei Lager in vollem Bewußtsein gegen-
über. Es muß bemerkt werden, nur in diesem Jahre haben sie sich zu entschlossenem
Endkampfe einander gegenübergestellt und vielleicht durchleben wir gerade jetzt
während der Tagung unseres Kongresses einen Augenblick des größten, schroffsten
Umschwunges vom Kriege zum Frieden.
Ihr wißt alle, daß die Führer der imperialistischen Ententestasten der ganzen
Welt verkündeten: „Wir werden den Krieg mit den Usurpatoren, den Macht-
räubern, den Gegnern der Demokratie, den Bolschewiki nicht aufgeben.“ — Ihr
wißt, daß sie die Blockade aufgehoben haben, daß ihr Versuch, die kleinen Staaten
zu vereinigen, mißlungen ist, weil wir es verstanden haben, nicht nur die Arbeiter
der ganzen Welt, sondern auch die Bourgeoisie der kleinen Länder auf unsere
Seite zu ziehen, weil die Imperialisten nicht nur Bedrücker der Arbeiter ihrer
Länder sondern auch der Bourgeoisie der kleinen Staaten sind. Ihr wißt, daß
wir das schwankende Kleinbürgertum innerhalb der vorgeschrittenen Linder auf
unsere Seite gezogen haben. Und jetzt ıst der Augenblick eingetreten. wo diese
Entente ihre Versprechungen, ihre Verträge bricht, die sie, nebenbei bemerkt, in
großer Menge mit verschiedenen russischen Weißgardisten abgeschlossen hat. Für
diese Verträge hat die Entente Hunderte von Millionen hinausgeworfen und die
Sache nicht zu Ende geführt. Jetzt, nach Aufhebung der Blockade, ist sie tat-
sächlich mit der Sowjetrepublik in Verhandlungen getreten, die sie übrigens nicht
zu Ende führt, weil sie den Glauben an ihre kleinen Staaten verloren hat.
Zwei Reden 731
Wir sehen, daß die Lage der Entente vom Standpunkt der gewöhnlichen Auf-
fassung der Jurisprudenz nicht bestimmt werden kann. Die befindet sich mit
den Bolschewiki weder im Frieden noch im Krieg. — Sie erkennt uns an und
sie erkennt uns nicht an. Und dieser volle Zerfall unserer Gegner, die überzeugt
waren, daß sie etwas vorstellen, beweist, daß sie nichts vorstellen als ein Häuflein
kapitalistischer wilder Tiere, die sich in den Haaren liegen und vollständig machtlos
sind, uns etwas anzuhaben. Und jetzt ist die Lage derart, daß uns Lettland offi-
zielle Friedensvorschläge gemacht hat; Finnland hat ein Telegramm geschickt, in
dem es offiziell von der Demarkationslinie spricht; und endlich Polen, dessen Ver-
treter besonders stark mit dem Säbel gerasselt haben und rasseln, Polen, das am
meisten bekommen hat und noch ganze Züge mit Artillerie bekommt, dem Hilfe
in allem versprochen ist, wenn es nur den Krieg mit Rußland fortsetzt, dieses
Polen, dessen Regierung sich in so schwankender Lage befindet, daß sie gezwungen
ist, sich auf jedes Kriegsabenteuer einzulassen, dieses Polen fordert uns auf, in
Friedensverhandlungen einzutreten.
Man muß im höchsten Grade vorsichtig sein. Unsere Politik verlangt jetzt mehr
als je aufmerksame Behandlung. Hier ıst es am schwersten, die richtige Linie zu
finden, da niemand das Geleise kennt, auf dem der Zug steht. Der Feind selbst
weiß nicht, was er weiter tun wird. Die polnischen Arbeiter entflammen immer
mehr und mehr. Im Bewußtsein der Vertreter des gutsherrlich-bürgerlichen Polen
entsteht der Gedanke: ist es nicht zu spät? wird es ın Polen nicht früher zur
Sowjetrepublik kommen als der Staatsakt, der den Frieden oder den Krieg fest-
setzt, zustande kommen wird? Sie wissen nicht, was sie tun sollen.
Sie wissen nicht, was ihnen der morgige Tag bringt. Wir
aber wissen, daß Jeder Monat uns eine gigantische Ver-
stärkung unserer Kräfte gibt und weıterhin geben wird.
Daher stehen wir jetzt in internationaler Beziehung besonders sicher da, sicherer
als irgend jemals. Aber der internationalen Krise gegenüber müssen wir uns
mit außerordentlicher Aufmerksamkeit verhalten und müssen bereit sein, jeder
Überraschung zu begegnen.
Es ist unmöglich ihr ferneres Verhalten vorherzusehn. Wir kennen diese Leute,
wir kennen diese Kerensky, Menschewiki und Sozialrevolutionäre. In diesen Jahren
haben wir gesehen, wie sie es heute mit Koltschak hielten, morgen fast mit den
Bolschewiki, darauf mit Denikin, wie dies alles durch Phrasen über Freiheit und
Demokratie verhüllt wurde. Wir kennen diese Gesellschaft. Daher ergreifen
wir mit beiden Händen den Friedensvorschlag und sind
zu maximalen Zugeständnissen bereit, da wir überzeugt sind,
daß der Frieden mit den kleinen Staaten unsere Sache unendlich besser vorwärts
bringen wird, als der Krieg mit ihnen. Durch den Krieg haben die Imperialisten
die werktätigen Massen betrogen, sie haben die Wahrheit über Sowjetrußland ver-
he imlicht, jeder Frieden aber eröffnet unserem Einfluß einen hundertmal größeren
und breiteren Weg. Dieser Einfluß war in diesen Jahren ohnehin groß. Die Kommu-
nistische Internationale hat nie dagewesene Siege errungen. Wir aber wissen zu-
tleich, daß man uns jeden Tag den Krieg aufzwingen kann.
17
732 Lenin und Trotzki
Daß Kriegsvorbereitungen im Gange sind, darüber herrscht gar kein Zweifel.
Daher müssen wir in unserer internationalen Politik besonders manövrieren, fest
den Kurs einhalten und zu allem bereit sein. — Den Kampf um den Frieden
haben wir mit außerordentlicher Energie durchgeführt. Dieser Kampf zeitigt präch-
tige Resultate. Auf diesem Kampfplatz haben wir uns am leichtesten offenbart
und auf jeden Fall nicht schlechter als auf dem Tätigkeitsfeld der Roten Armee
an der blutigen Front. Aber nicht vom Willen der kleinen Staaten hängt es ab,
Frieden mit uns zu schließen, selbst wenn sie Frieden schließen wollten. Sie stecken
bei den Ententeländern bis über die Ohren in Schulden, dort aber herrscht arges
Gezänk und verzweifelter Wetteifer miteinander. Daher müssen wir im Auge be-
halten, daß vom Standpunkt des historischen Weltmaßstabes aus, der durch den
Bürgerkrieg und den Krieg gegen die Entente begründet ist, der Frieden natürlich
möglich ist. Daher müssen wir alle Schritte zur Erlangung
des Friedens tun, müssen aber zugleich unsere ganze Kriegs-
bereitschaft anspannen und auf keinen Fall unsere Armee entwaffnen.
Wichtige prinzipielle Erwägungen haben uns veranlaßt, in entschlossener Weise
die Werktätigen zur Ausnutzung der Armee für die grundlegenden und laufenden
Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaues zu bewegen. Gehen wir zu diesen prinzi-
piellen Erwägungen über, die von ungeheurer Bedeutung sind. Die alte Quelle
der Disziplin, das Kapital, ist geschwächt; die alte Quelle der Vereinigung ist ver-
schwunden. Wir müssen eine neue Quelle der Disziplin und ‚der Vereinigung
schaffen. Das, was der Zwang bildet, ruft die Empörung und das Geschrei der
bürgerlichen Demokratie hervor, die mit Worten über „, Freiheit“ und „, Cleich-
heit“ um sich werfen, ohne zu verstehen, daß Freiheit für das Kapital ein Ver-
brechen gegen die Arbeiter ist, daß Gleichheit des Satten und Hungrigen ein Ver-
brechen gegen die Werktätigen ist. Im Namen des Kampfes gegen die
Lüge verwirklichen wir die Arbeitspflicht und die Ver-
einigung der Werktätigen, ohne im geringsten den Zwang
zu fürchten, denn nirgends ist die Revolution ohne Zwang
durchgeführt worden und nichts ist gesetzlicher als der
Zwang, wenn die Revolution die Fähigkeit bewiesen hat,
diese Klasse zu Opfern zu bewegen. Sie hat das Recht, den
Zwang zu verwirklichen, um für jeden Preis das ihre zu be-
haupten.
Wenn über den historischen Faktor der Herrschaft der Bourgeoisie gestritten
wurde, vergaßen die Herren Kompromißler wie die Herren deutschen Unab-
hängigen und die französischen Longuetisten einen solchen Faktor wie die
revolutionäre Entschlossenheit. Festigkeit und Unbeugsamkeit des Proletariats. Und
diese Unbeugsamkeit und Stählung unseres Proletariats, das sich und anderen ge-
sagt und in Wirklichkeit bewiesen hat, daß wir eher zugrunde gehen, als das Terri-
torıum unseres Landes, unsere Disziplin, die Prinzipien der Disziplin und der
festen Politik, aufgeben würden, für die wir alles opfern müssen, ist Tatsache.
Das ist die historische Tatsache, im Augenblicke des Zerfalles der kapitalistischen
Länder, der kapitalistischen Klassen, im Augenblick der Verzweiflung und Krisen,
Zweı Reden | 733
das ist die entscheidende historische Tatsache, angesichts welcher die Phrasen über
Minderheit und Mehrheit, über Demokratie und Freiheit nichts entscheiden, wie
sehr die Helden der vergangenen historischen Epoche auch auf sie hinweisen. Hier
entscheiden Bewußtsein und Festigkeit der Arbeiterklasse. Wenn die Arbeiterklasse
zur Selbstaufopferung bereit ıst, wenn sie bewiesen hat, daß sie alle ihre Kräfte
anzustrengen versteht, so entscheidet das die Aufgabe. Alles muß zur Lösung
dieser Aufgabe geopfert werden. Die Entschlossenheit der Arbeiterklaase, ihr un-
beugsamer Wille zur Verwirklichung der Losung: „eher untergehen als sich er-
geben — diese Entschlossenheit ist nicht nur ein historischer Faktor, sondern auch
der entscheidende, der siegende, Faktor. Und von diesem Siege, von dieser Gewißheit
gehen wir über und sind wir schon übergegangen zu den Aufgaben des friedlichen
wirtschaftlichen ‚Aufbaues, deren Lösung die Hauptfunktion unseres Kongresses bildet.
Jetzt besteht die Aufgabe darin, die Fragen des wirtschaftlichen Aufbaues, die
Wiederherstellung der zerstörten Produktion zu lösen und zu diesem Zwecke alles,
was das Proletariat konzentrieren kann, seine Einigkeit zu beweisen. Hier ist eiserne
Disziplin nötig, ein eisernes Regime, ohne das wır uns nicht nur über zwei Jahre
sondern auch nicht einmal zwei Monate hätten halten können. Wir müssen es
verstehen, unseren Sieg anzuwenden. Anderseits muß man begreifen, daß dieser
Übergang viele Opfer erfordert, deren das Land ohnehin schon viele gebracht hat.
Der prinzipielle Standpunkt des Zentralkomitees ın dieser Sache war klar. Unsere
ganze Tätigkeit war dieser Politik unterworfen, wurde in diesem Geiste geleitet.
Eine solche Frage z. B. wie die Frage der kollegialen oder der persönlichen Ver-
waltung, die ihr entscheiden werdet, die an und für sich, aus dem Zusammenhang
gerissen, eine Einzelheit scheint und nicht auf radıkale prinzipielle Bedeutung
Anspruch erheben kann, muß unter dem Gesichtswinkel der grundlegenden Errungen-
schaften unseres Wissens, unserer Erfahrung, unserer revolutionären Praxis der
zurückgelegten Etappen behandelt werden.
Man sagt z. B. „die kollegiale Verwaltung ist eine der Formen der Teilnahme
breiter Massen an der Verwaltung. Wir im Zentralkomitee haben auch über diese
Frage gesprochen und müssen vor euch Rechenschaft ablegen. Genossen, mit einer
solchen theoretischen Konfusion kann man sich nicht zufrieden geben. Wenn wir
in der grundlegenden Frage unserer militärischen Tätigkeit, unseres Bürgerkrieges
auch nur den zehnten Teil einer solchen theoretischen Konfusion zugelassen hätten,
so wären wir geschlagen worden und es wäre uns recht geschehen. Wie kann man
die Beteiligung einer neuen Klasse an der Verwaltung mit der kollegialen oder per-
sönlichen Form der Verwaltung in Zusammenhang bringen? — Genossen, gestattet
mir, ein wenig Theorie in die Frage zu bringen, wie eine Klasse verwaltet, wodurch
sich die Herrschaft der Klasse ausdrückt. Sind wir doch in dieser Beziehung keine
Neulinge; unsere Revolution unterscheidet sich von den früheren dadurch, daß
in ihr kein Utopismus ist. Wenn die alte Klasse von einer neuen abgelöst wird,
kann diese sich nur in wildem Kampfe mit den Klassen halten. Und nur wenn
sie es versteht, die alte Klasse zu vernichten, wird sie bis zu Ende siegen. Der
gigantische komplizierte Prozeß des Klassenkampfes stellt die Sache so hin, anders
würdet ıhr in einen Sumpf von Konfusion versinken.
734 Lenin und Trotzki
Worin besteht die Herrschaft der Klasse? Worin bestand die Herrschaft der
Bourgeoisie? In der Konstitution stand geschrieben: „In der Freiheit und Gleich-
heit“. — Das ist eine Lüge. Solange es Werktätige gibt, sind die Eigentümer
fähig und als solche sogar gezwungen zu spekulieren. Wir sagen, daß es hier keine
Gleichheit gebe, daß der Satte dem Hungrigen, der Spekulant. dem Werktätigen
nicht gleich sei. Worin drückt sich die Herrschaft der Klasse aus? Die Herrschaft
des Proletariats drückt sich ın der Aufhebung des gutsherrlichen und kapitalistischen
Eigentums aus. Sogar der grundlegende Inhalt aller früheren Konstitutionen —
bis zur republikanischen — lief auf das Eigentum hinaus. Unsere Konstitution
hat sich das Recht auf historische Existenz erworben, wir haben nicht nur auf
dem Papier niedergeschrieben, daß wır das Eigentum aufheben. Das siegende
Proletariat hat das Eigentum aufgehoben und bis zu Ende
abgeschaft,—darınbestehtdieHerrschaft der Klasse. Vorallem
in der Frage des Eigentums. Als die Eigentumsfrage praktisch entschieden war,
war. dadurch die Herrschaft der Klasse gesichert; die Konstitution schrieb darauf
auf dem Papier das nieder, was das Leben entschieden hatte; „es gibt kein kapi-
talistisches und gutsherrliches Eigentum.“ und fügte hinzu: „die Arbeiterklasse
hat mehr Rechte als die Bauernschaft, die Ausbeuter aber haben gar keine Rechte.
— Damit war das niedergeschrieben, wodurch wir die Herrschaft unserer Klasse
verwirklicht hatten, wodurch wir die Werktätigen aller Schichten, aller kleinen
Gruppen verbunden hatten. Die kleinbürgerlichen Eigentümer waren zersplittert.
Unter ihnen sind diejenigen, die ein größeres Eigentum haben, die Feinde der-
jenigen, die weniger haben und das Proletariat erklärt ihnen offen den Krieg, wenn
es das Eigentum aufhebt. i
Es gibt noch viele unbewußte und unwissende Elemente, die jedem freien Handel
folgen; und wenn sie Disziplin und Selbstaufopferung im Kampfe und im Siege
über die Ausbeuter sehen, können sie nicht kämpfen; sie sind nicht auf unserer
Seite, sind aber machtlos, gegen uns aufzutreten. Die Herrschaft der Klasse wird
nur durch das Verhältnis zum Eigentum bestimmt. Eben dadurch wird die Kon-
stitution bestimmt. Und unsere Konstitution hat unser Verhältnis zum Eigentum
und unser Verhältnis zur Frage, welche Klasse an der Spitze stehen muß, richtig
nıedergeschrieben. Wer in der Frage, wodurch die Herrschaft der Klasse ausge-
drückt wird, in Fragen des demokratischen Zentralismus verfällt, wie wir dies oft
beobachten, der bringt soviel Verwirrung ın die Sache, daß eine erfolgreiche Arbeit
auf diesem Boden nicht möglich ist. Klarheit der Propaganda und Agitation ist
die Grundbedingung der Arbeit.
Wenn unsere Gegner auch anerkennen, daß wir ın der Entwicklung der Agitation
und Propaganda Wunder vollbracht haben, so muß man es nicht äußerlich auf-
fassen, daß wir viel Papier und Agitation verwendet haben, sondern innerlich, daß
alle die Wahrheit begriffen haben, die diese Agitation enthielt. Und von dieser
Wahrheit können wir nicht abweichen. Wenn die Klassen einander ablösen, so ändern
sie ıhr Verhältnis zum Eigentum. Die Bourgeoisie hat das Feudalsystem abgelöst,
se hat das Verhältnis zum Eigentum geändert. Die Konstitution der Bourgeoisie
sagt: „Wer Eigentum besitzt, der ist dem Bettler nicht gleich“. Und das war die
Zwei Reden 735
Freiheit der Bourgeoisie. Diese „Freiheit übergab die Herrschaft im Staate der
kapitalistischen Klasse.
Und was denkt Ihr wohl? Als die Bourgeoisie das Feudalsystem ablöste, ver-
wechselte sie da die Herrschaft mit der Verwaltung? Nein, so dumm waren die
Bourgeois nicht. Sie sagten, daß man, um zu verwalten, Leute brauche, die . zu
verwalten verstehen; dazu müsse man die Lehnsherrn nehmen und sie ändern.
So taten sie auch. Nun, war dies ein Fehler? Nein, Genossen. Die Fähigkeit
zu verwalten fällt nicht vom Hrmmel und wird nicht vom heiligen Geist geboren.
Deshalb, weil die Arbeiterklasse eine vorgeschrittene Klasse ist, ist sie noch nicht
von vornherein zur Verwaltung fähig. Das sehen wir an einem Beispiel. Als die
Bourgeoisie siegte, nahm sie die Verwalter aus der Feudalklasse. Ja, woher solite
sie sie sonst nehmen? Man muß nüchtern die Sache sehen. Die Bourgeoisie
nahm die vorhergehende Klasse, und vor uns steht gegenwärtig dieselbe Aufgabe,
die Kenntnisse, die technische Erfahrung der vorhergehenden Klasse zu nehmen,
sie uns zu unterwerfen, sie zum Siege der Arbeiterklasse auszunutzen. Wir sagen,
daß die Klasse, die gesiegt hat, reif sein müsse, die Reife
aber wird nicht durch Vorschrift oder eine Bescheinigung
bewiesen, sie wird durch Erfahrung, durch die Praxis be-
scheinigt. Die Bourgeois siegten, ohne zur Verwaltung reif zu sein und sie
stellten ıhren Sieg dadurch sicher, daß sie eine neue Konstitution proklamierten.
Sie nahmen die Rekruten der Verwaltung aus ihrer Klasse und begannen ihre
eigenen neuen zur Verwaltung vorzubereiten, zu welchem Zwecke sie den ganzen
Staatsapparat in Bewegung setzten, die Feudalinstitutionen sequestrierten und nur
diejenigen in die Schule ließen, die reich waren. Auf diese Weise bereiteten sie
im Laufe vieler Jahre und Jahrzehnte Administratoren aus ıhrer eigenen Klasse
vor. Und gegenwärtig muß es in einem Staate, der nach dem Ebenbild der herr-
schenden Klasse eingerichtet ist, ebenso gemacht werden, wie dies in allen Staaten
gemacht wurde. Wenn wir uns nicht auf die Position des reinsten Utopismus der
leeren Phrasen stellen wollen, so müssen wir sagen, daß die Erfahrungen früherer
Jahre in Erwägung gezogen werden müssen; daß wir die durch die Revolution
eroberte Konstitution sicherstellen müssen; für die Verwaltung aber, für die staatliche
Organisation brauchen wir Leute, die die Technik der Verwaltung beherrschen, die
staatliche und wirtschaftliche Erfahrung besitzen. Solche Leute aber sind nirgends
zu finden als ın der vorhergehenden Klasse.
Auf Schritt und Tritt sind die Urteile über die Kollegialität in der Verwaltung
vom Geiste einer unzulässigen Unwissenheit, vom Geiste der Feindseligkeit gegen-
über dem Spezialistentum. Mit einem solchen Geiste kann man nicht siegen. Um
zu siegen, muß man das ganze tiefe historische Verhältnis verstehen, muß man
daran denken, daß wir den Kommunismus aus den Trümmern der alten bürger-
lichen Welt bauen, und um diesen Kommunismus zu bauen, muß man die Wissen-
schaft und die Technik nehmen und sie für breitere Kreise anwenden. Das ist
aber nirgends zu finden als bei der Bourgeoisie. Diese Grundfrage muß hervor-
gehoben und zu den Grundaufgaben des wirtschaftlichen Aufbaues gestellt werden.
Wir müssen ım Staat und beim Aufbau mit Hilfe derjenigen verwalten, die
736 Lenin und Trotzkı
der von uns gestürzten Klasse angehören, diejeuigen unter ihnen, die von den
Vorurteilen ihrer Klasse durchtränkt sind, müssen wir umündern. Darauf
müssen wir Verwalter aus unserer Klasse werben. Wir müssen den ganzen Staats-
apparat anwenden, damit die Lehranstalten, die Fortbildung, die praktische Vor-
bereitung für das Proletariat, für die werktätigen Bauern unter Leitung der Kommu-
nisten ausgenutzt werden. — Nach unserer zweijährigen Erfahrung dürfen wir
nicht so sprechen, als ob wir zum erstenmal an den sozialistischen Aufbau gehen.
Das ist glücklicherweise falsch. Wir haben genug Dummheiten gemacht in der
Periode, als wir im Smolny-Institut saßen. Dessen brauchen wir uns nicht zu
schämen. Woher sollten wir Verstand nehmen, wenn wir zum
erstenmal eine neue Sache in Angriff nahmen? Wir versuchten
es so und versuchten es anders. Wir schwammen mit dem Strom, weil das falsche
Element von dem richtigen nicht zu trennen war — dazu gehört Zeit. Jetzt ist
die jüngste Vergangenheit, aus der wir heraus sind, die Vergangenheit, in der
Chaos und Enthusiasmus herrschten, vorüber. Darüber besitzen wir Dokumente.
Der Brest-Litowsker Friede war ein historisches Dokument; mehr als das, er war
eine historische Periode. Der Brester Frieden wurde uns deshalb aufgedrungen,
weil wir auf allen Gebieten machtlos waren. Was stellte diese Periode dar?? Das
war die Periode der Schwäche, aus der wir als Sieger hervorgegangen sind. Das
war die Periode der Kollegialität der Verwaltung. Diese historische Tatsache müssen
wir anerkennen.
Wir müssen mit Energie, mit Einheit des Willens ın die Höhe steigen. Den
Gewerkschaftsverbänden stehen gigantische Schwierigkeiten bevor. Man muß zu
erreichen suchen, daß sie ihre Aufgabe im Geiste der Partei, im Geiste des Kampfes
gegen die Überbleibsel des berühmten Demokratismus, gegen das Geschrei über
die Ernennung auffassen. Dieses ganze schädliche alte Gerümpel, das nur in Re-
solutionen und Gesprächen zu dulden ist, muß hinweggefegt werden. Anders können
wir nıcht siegen. Wenn wir uns diese Lehre ın zweı Jahren nicht zu eigen gemacht
baben, sind wir rückständig, die Rückständigen aber werden geschlagen werden.
Die Aufgabe ist im höchsten Grade schwer. Unsere Gewerkschaften haben bei
dem Aufbau des proletarischen Staates gigantische Hilfe erwiesen. Sie waren das
Bindeglied, das die Partei mit der unwissenden Millionenmasse verband. Die Ge-
werkschaftsverbäande haben im Kampf mit der Zerrüttung die schwerste Arbeit
geleistet. Als dem Staat auf dem Verpflegungsgebiet geholfen werden mußte, war
das nicht die größte Aufgabe? — Das Proletariat fuhr fort Opfer zu bringen. Man
schreit über Zwang, das Proletariat aber hat diesen Zwang für gesetzlich erklärt
und seine Richtigkeit dadurch bewiesen, daß es die größten Opfer gebracht hat.
Die Mehrheit der Bauernbevölkerung der erzeugenden Gouvernements aß zum
erstenmal besser als seit hunderten von Jahren im zaristischen kapitalistischen
Rußland. Die Avantgarde der Arbeiterklasse mußte dieses Opfer bringen. Das war eine
Schule des Kampfes. Nach Verlassen dieser Schule muß sie weitergehen. Jetzt muß
ein Schritt vorwärts getan werden, koste es, was es wolle.
Wie alle Gewerkschaften haben die alten Gewerkschaftsverbände ihre Geschichte
und ihre Vergangenheit. In dieser Vergangenheit waren sie Organe der Abwehr
Zwei Reden 737
gegen diejenigen, die die Arbeit knechteten, gegen den Kapitalismus. Jetzt, wo die
Klasse zur Staatsklasse geworden ist, und wo sie mehr Opfer bringen und mehr
zugrunde gehen muß, mehr hungern muß als früher, — hat sich die Lage ver-
ändert. Nicht alle verstehen diese Veränderung und nicht alle haben ihren Sinn
erfaßt. Hier helfen uns die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, die unbemußt
den Ersatz der persönlichen Verwaltung durch die kollegiale Verwaltung fordern.
Entschuldigt, Genossen, das wird nicht durchgehen. Das haben wir uns abgewöhnt.
Vor uns steht eine sehr komplizierte Aufgabe; nach dem Siege an der blutigen
Front, — an der unblutigen Front zu siegen. Dieser Krieg ist der schwerere. Diese
Front ist die schwerste. Das sagen wir allen bewußten Arbeitern offen. Die Lage
gestaltet sich folgendermaßen; je mehr wir gesiegt haben, desto mehr haben wir
solche Gebiete wie Sibirien, die Ukraine, das Kubangebiet. Dort sind reiche Bauern.
Wir wissen, daß dort jeder, der ein Stückchen Land hat, sagt: „Was geht mich
die Regierung an? ich reiße vom Hungrigen so viel ich kann, um das übrige be-
kümmere ıch mich nicht”. Verwalten müssen wır mit Hilfe der Klasse, die ihre
Kräfte verausgabt hat, die ihre Kräfte anspannen muß. Jenen Bauern, — dem
Spekulanten — der sich unter Denikin auf unsere Seite neigte, wird jetzt die En-
tente helfen. Der Krieg hat die Front und die Formen geändert. Jetzt wird mit
Handel, mit Schleichhandel gekämpft. Die prinzipielle Grundlage dafür ist voll-
kommen in den Thesen des Gen. Kamenew ausgedrückt, die in den „, Iswestija des
Zentralkommitees veröffentlicht waren. Sie wollen den Schleichhandel international
gestalten. Sie wollen den friedlichen wirtschaftlichen Aufbau in die friedliche Zer-
setzung der Sowjetmacht verwandeln. Entschuldigt, ihr Herren Imperialisten, wir
sınd auf der Hut. Wir sagen: wir haben gekämpft und unsere grundlegende Losung
ist es noch immer, die Prinzipien der Festigkeit und die Einheit des proletarischen
Willens voll und ganz aufrechtzuerhalten und- auf das Arbeitsgebiet zu übertragen;
mit den alten Vorurteilen, den alten Gewohnheiten muß aufgeräumt werden.“
Wir können mit Hilfe der Spezialisten unseren grundlegenden Wirtschaftsplan
noch ausführlicher ausarbeiten. Wir müssen sagen, daß dieser Plan auf viele Jahre
berechnet ist. Wir versprechen nicht, das Land mit einem Mal vom Hunger zu
befreien. Wir sagen, daß der Kampf schwerer sein werde als an der Kampffront,
er interessiert uns aber mehr, er bildet eine Stufe, die den wirklichen fundamentalen
Aufgaben nähersteht. Er erfordert dıe maximale Anspannung unserer Kräfte, jene
Willenseinheit, die wir früher gezeigt haben und die wir jetzt zeigen müssen. Wenn
wir diese Aufgabe lösen, so werden wir an der unblutigen
Front einen ebenso großen Sieg erringen wie an der Front
des Bürgerkrieges.
TROTZKI ÜBER DIE NÄCHSTEN AUFGABEN DES WIRTSCHAFT-
LICHEN AUFBAUES.
Die Geschichte hat uns vor die Aufgabe der Organisation der Arbeit gestellt
Die Organisation der Arbeit ist wesentlich die Organisation der neuen Gesellschaft
denn jede historische Gesellschaft ist Organisation der Arbeit. Wir organisieren
738 Lenin und Trotzki
die Arbeit oder beginnen die Organisation der- Arbeit nach neuen sozialen Grund-
sätzen. Wandte unsere frühere Gesellschaft bei der Organisation der Arbeit zugunsten
der Minderheit Zwangsmethoden an, wobei die Minderheit diesen Zwang auf die
erdrückende Mehrheit der Werktätigen ausdehnte, so unternehmen wir zum ersten-
mal in der Weltgeschichte den Versuch, die Arbeit der Werktätigen im Interesse
dieser werktätigen Mehrheit zu organisieren. Das aber bedeutet selbstverständlich
nicht die Beseitigung des Zwangselements. Nein, der Zwang spielt und wird noch
im Laufe einer bedeutenden historischen Periode eine große Rolle spielen. Der
allgemeinen Regel nach ist der Mensch bestrebt, sich der Arbeit zu entziehen.
Man kann sagen, daß der Mensch ein ziemlich faules Tier ist, und auf .dieser
Eigenschaft basiert eigentlich der menschliche Fortschritt, denn würde der Mensch
nicht danach streben, mit seiner Kraft sparsam umzugehen würde er nicht
danach streben, für eine kleine Menge Energie soviel Produkte wie möglich
zu bekommen, so würde es keine Entwicklung der Technik und der sozialen Kultur
geben. Von diesem Gesichtspunkt aus ist also die Trägheit eine progressive Kraft.
Hieraus darf natürlich nicht der Schluß gezogen werden, daß die Partei in ihrer
Agitation diese Eigenschaft als moralische Pflicht zu empfehlen habe. Wir haben
sowieso Überfluß an ihr und die Aufgabe der gesellschaftlichen Organisation besteht
darin, die Trägheit in einen bestimmten Rahmen zu bringen, sie zu disziplinieren
und mit Hilfe der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit anzutreiben.
Bei der Inangriffnahme des Aufbaues der Gemeinwirtschaft nach neuen soli-
darisch sozialen Grundsätzen, d. h. nach den Grundsätzen des im Bau begriffenen
Kommunismus, sind wir von Anfang an auf die Frage der Militarisierung
gestoßen. Eine ganze Reihe von Artikeln, Versammlungen, Reden und Diskussionen
verlaufen bei uns unter der Losung der Militarisierung. Einige Genossen, darunter
an erster Stelle einige hervorragende Leiter der Gewerkschaftsverbände, äußern
sich in dem Sinne, daß sie nicht gegen die Militarisierung seien, daß sie aber 2i
jetzt nicht begriffen haben, was das eigentlich bedeutet.
Aus diesem Anlasse brachte die „Prawda” unlängst einen nicht uninteressanten,
aber prinzipiell falschen Artikel des Gen. W. Smirnow über die Militarisierung
der Arbeit. Sein grundlegender Gedanke ıst folgender: soweit wır jetzt auf breiter
Grundlage der Mobilisation der Bauernmassen im Namen der Aufgaben überge-
gangen sind, die die Massenanwendung der Arbeitskraft erfordern, ist die Mili-
tarısierung unbedingt notwendig. Wir mobilisieren die Bauernkraft und wir bilden
aus dieser moLilisierten Arbeitskraft Arbeitsteile, die sich dem Typus der Truppen-
teile nähern. Wir. geben den Kommando- und Instruktorenbestand, wir müssen
kommunistische Zellen geben, damit diese Teile nicht seelenlos, sondern von dem
Bestreben zu arbeiten beseelt sind. Folglich ist dies die volle Annäherung an die
militärische Form der Organisation. Hier ist das Wort „Militarisierung” am Platze.
Aber, sagt Gen. Smirnow, wenn wir auf das Industriegebiet, auf das Gebiet der
qualifizierten Arbeit übergehen, wo wir gewerkschaftlich gegliederte Produktions-
organisationen der Arbeiterklasse haben, so besteht hier keinerlei Notwendigkeit,
den militärischen Apparat zur Bildung von Arbeitsteiien zu verwenden, hier kann
keine Rede von Militarisierung im erwähnten Sinne des Wortes sein. Hier gibt
Zwei Reden 739
es Gewerkschaftsverbände und diese erfüllen die Aufgabe der Organisation der
Arbeit. i
Genossen, wenn man auf diese Weise an die Frage herangeht, so zeugt das
von völliger Unkenntnis des Wesens jenes wirtschaftlichen Umschwunges, der sich
gegenwärtig vollzieht. Es versteht sich, daß der Unterschied zwischen den prole-
tarıschen, in Gewerkschaftsverbänden organisierten Arbeitskraft und der bäuer-
lichen, vom militärischen Apparat mobilisierten Arbeitskraft ungeheuer ist. Die
Militarisierung wird in dem einen Falle auf anderen Wegen durchgeführt werden
als im anderen Falle. Jedoch die Frage der Mobilisierung der qualifizierten Arbeits-
kraft durch die Tatsache des Bestehens der Gewerkschaftsverbände lösen, annehmen,
daß die Verbände, so wie wir sie von der Vergangenheit übernommen haben, durch
die Tatsache ihrer Existenz die Arbeitsaufgaben in bezug auf die gelernten quali-
fizierten Arbeiter lösen, — das heißt das Wesen der Frage nicht verstehen.
Die qualifizierte proletarische Arbeitskraft wurde unter der Herrschaft des Kapi-
talismus auf dem Markte gekauft und gemäß Nachfrage und Angebot zu festen
Preisen von einem Ort an den andern verschoben. Sie hieß freiwillige oder , freie
Arbeit. Die Gewerkschaftsverbände sind aus der Vereinigung dieser „, freien Arbeit
entstanden, aus dem Bestreben, durch Kampf, Ausstände usw. die günstigsten
wirtschaftlichen Bedingungen für diese Arbeit zu erkämpfen. — Wer aber verteilt
gegenwärtig die Arbeitskraft und wer schickt sie dorthin, wo sie gemäß den wirt-
schaftlichen Aufgaben der im Bau begriffenen sozialistischen Wirtschaft nötig ist?
Die Gewerkschaftsverbände laut Forderung der Organe der Gemeinwirtschaft. Welche
Menschen müssen aber verwendet werden, damit der Arbeiter, der nach dem
Orte T. geschickt ist, sich wirklich an den Ort T. begibt?.... Mit anderen Worten,
gegenwärtig begibt sich der Arbeiter aus dieser Fabrik in die andere nicht frei-
willig, wie dies beim Kapitalismus hieß, d. h. nicht unter den Schlägen des wirt-
schaftlichen Zwanges, des Zwanges durch Hunger, wie dies unter der Herrschaft
des Kapitals war, sondern er begibt sich und muß sich dorthin begeben in Uber-
einstimmung mit dem einheitlichen Wirtschaftsplan, laut Bestimmung der zentralen
Wirtschaftsorgane. f
Folglich sind die Arbeiter jetzt an die Fabriken und Werke gebunden. Es ver-
steht sich, daß der eine Arbeiter dies Band als Dienst empfindet, als Pflicht, die
er aus innerer Überzeugung, im Interesse der Hebung der Volkswirtschaft erfüllt;
der andere macht sich keine klare Vorstellung von seiner Lage; der dritte, der
rückständigste, empfindet seine Lage heute noch als direkten Zwang, dem er sich
widersetzt. Solche Arbeiter gibt es, davon zeugt die Statistik der Gewerkschafts-
bewegung. In den wichtigsten Industriezweigen sind bei uns 1 150 000 Arbeiter
verzeichnet, in Wirklichkeit aber arbeiten nur 850 000. So war es vor |%—2 Mo-
naten. Wo sind die 300 000 geblieben? Sie sind fortgegangen. Wohin? Ins Dorf,
vielleicht in andere Industriezweige, vielleicht beschäftigen sie sich mit Spekulation.
Also auf 800000 Arbeitende kommen 300 000, militärisch ausgedrückt, Deserteure.
Auf militärischem Gebiet haben wir einen entsprechenden Apparat, der in Aktion
gesetzt wird, um die Soldaten zur Erfüllung ihrer Pflichten zu zwingen. Dies
muß in der einen oder anderen Form auch auf dem Arbeitsgebiet geschehen. Wenn
740 Lenin und Trotzki
wir ernsthaft von einer planmäßigen Wirtschaft sprechen wollen, wenn die Arbeits-
kraft in Übereinstimmung mit dem Wirtschaftsplan im gegebenen Entwicklungs-
stadium verteilt werden soll, darf die Arbeiterklasse kein Nomadenleben führen.
Sie muß ebenso wie die Soldaten verschoben, verteilt, abkommandiert werden. Das
ist die Grundlage der Militarisierung der Arbeit und ohne diese Grundlage können
wir nicht ernsthaft von einer Industrie auf neuer Basis sprechen.
Die wichtigste Aufgabe ist augenblicklich die Hebung
des Transportzustandes, die Vermeidung seines weiteren Nieder-
ganges und die Beschaffung der elementarsten Vorräte an Lebensmitteln, Rohstoffen
und Heizmaterial. Während der ganzen nächsten ersten Periode muß die ganze
Arbeitskraft auf die Lösung dieser Aufgabe konzentriert werden, die eine Vor-
aussetzung der ferneren ist. Die zweite Periode (ob sie Monate oder Jahre dauern
wird, das ist jetzt schwer vorher zu sagen, das hängt von vielen Ursachen ab, von
der internationalen Lage und nicht zuletzt von der Eintracht unserer Partei) bildet
der Maschinenbau ım Interesse des Transports, der Gewinnung von Rohstoffen
und Lebensmitteln. Die dritte Periode muß vom Maschinenbau im Interesse der
Produktion der wichtigsten Gebrauchsartikel eingenommen werden und endlich
die vierte Periode von der Produktion der wichtigsten Gebrauchsartikel.
Diese Abstufung ist für die Klarlegung unseres Wirtschaftsplanes vor den Ar-
beitermassen von großer Bedeutung. Wir sind verpflichtet zu sagen, daß wir eine
Arbeitsmobilisstion auf breiter Grundlage nicht durchführen können, wenn wir
nicht alles, was an Ehrlichkeit und Begeisterung in der Arbeiter- und Bauernmasse
vorhanden ist, erfassen, wenn wir dieser Masse nicht unseren Plan erklären. Wir
müssen offen und deutlich sagen, daß unser Wirtschaftsplan bei maximaler An-
spannung der Werktätigen nicht Milch und Honig fließen machen könne, sondern
daß wir bei höchster Anstrengung in der nächsten Periode unsere Arbeit darauf
richten werden, die Bedingungen für die Produktion der Produktionsmittel vorzu-
bereiten. Und nur nachdem wir die Möglichkeit haben werden,
Produktionsmittel zu. produzieren, werden wir zur Pro-
duktion der Konsumtionsmittel unmittelbar für die Massen
übergehen. Die für alle greifbare Frucht unserer Arbeit, die Gegenstände des
persönlichen Gebrauchs, werden ersetzt im Stadium des letzten Gliedes dieser
wirtschaftlichen Kette erreicht werden. Die Massen, die für Arbeitsziele mobilisiert
werden, müssen diesen Wirtsschaftsplan in seinem ganzen Umfange verstehen, um
fähig zu sein, ihn auf ihre Schultern zu nehmen und nicht bei der Durchführung
dieses Planes zehnmal die Geduld zu verlieren. Das ist die schwierigste Aufgabe,
die vor der Partei steht.
Es versteht sich, wir würden kurzsichtige Skeptiker vom Typus der Kleinbürger
sein, wenn wir uns vorstellen würden, daß das Wiederaufleben der Wirtschaft ein
allmählicher Übergang vom völligen wirtschaftlichen Verfall der bis jetzt in den
wichtigsten Wirtschaftszweigen fortbesteht, zur Blüte sei, daß wir uns auf den-
selben Stufen erheben werden, die wir hinunter gegangen sind, d. h. daß wir erst
nach langer Zeit unsere Wirtschaft auf die Stufe erheben werden, auf der sie sich
vor dem imperialistischen Kriege befand. Eine solche Vorstellung ist unbedingt
Zwei Reden 741
falsch. Der Vorfall, der auf seinem Wege alles vernichtet und zerschlagen hat,
hat gleichzeitig den Weg für den neuen Aufbau gereinigt und in Übereinstimmung
mit den technischen Mitteln, über die die Wirtschaft verfügt und über die wir ver-
fügen, wird unsere Wirtschaft sich ebenso entwickeln, wie
sich die russische kapitalistische Wirtschaft entwickelt
hat, die nıcht von Stufe zu Stufe übergegangen, sondern
über eine ganze Reihe von Stufen hinweggesprungen ist.
Es ist ganz klar, daß wir, wenn wir erst die ärgste Armut überwunden haben
werden, eine ganze Reihe der folgenden Stufen überspringen werden. Wir werden
z. B. zur Anwendung der Elektrizität in den wichtigsten Zweigen der Industrie
und des persönlichen Konsums übergehen können, ohne das Stadium des Dampfes
durchgemacht zu haben. Folglich eröffnen sich uns große Perspektiven, die natür-
lich von der Entwicklung der Energie, der Fähigkeiten, d. h. vom subjektiven
Faktor und vom zweiten Faktor, von der Entwicklung der uns vom Kapital hinter-
lassenen Technik, abhängen. Diese Perspektiven haben wir vor uns, wir müssen
um jeden Preis aus dem Schmutz, aus dem Dünger heraus, ın dem wir bis zum
Halse versunken sind. Wir polemisieren sehr viel über kollegiale und persönliche
Verwaltung, vorläufig aber haben wir unseren Wirtschaftskarren noch nicht von
der Stelle gerückt; wir dürfen uns nicht vom Schwung der Polemik betrügen lassen,
da bis jetzt noch auf keinem der wichtigsten Gebiete eine Besserung zu merken
ist. Der Druck der besten Kommunisten hat eine Verbesserung des Trans-
ports ergeben, doch auch diese ıst geringfügig.
Also, ein einheitlicher Wirtschaftsplan als Grundlage der Verwendung der Ar-
beiterkraft und der Bauernmassen, qualifizierter und unqualifizierter, — das ist
die erste grundlegende Aufgabe. Der zweite Punkt wird große Bedeutung haben
und die Formulierung, die Gen. Gussew in seiner Broschüre „Über Anwendung
der Elektrizität im ganzen Lande“ gibt, wird in Übereinstimmung mit der geplanten
Etappen des Wirtschaftsplanes ins Leben umgesetzt werden. Um sie nicht als teil-
weise Aufgabe, als minimales Programm, sondern in größerem Maßstabe durch-
zuführen, wüssen wir wiederum den Maschinenbau heben, dazu aber müssen wır
die erste Aufgabe lösen, — die Hebung des Transports und der Beschaffung der
Lebensmittel und der Rohstoffe. — — Je breiter die Grundlage sein wird, auf.
der die Arbeitskraft angewandt werden wird, desto intensiver wird die Versorgung
mit Maschinen vonstatten gehen. Folglich spitzt sich auch die Frage der Ar-
beitsarmee in bedeutendem Maße zu.
Diese Frage begegnete anfangs einer scharfen Opposition. Man wies vor allem
darauf hin, daß die Produktivität in den Arbeitsarmeen nicht groß sein werde.
Man wies darauf hin, daß der Soldat, der sich aus einem Rotarmisten in einen
Arbeitsarmisten verwandelt, seinen Posten verlassen und nach Hause gehen werde,
weil er annehmen werde, daß seine Aufgabe erfüllt sei. Das waren die beiden ersten
Beweisgründe, die gegen die Arbeitsarmeen angeführt wurden. Aber beide. haben
sich als vollständig falsch erwiesen,
Die Behauptung, daß die freie, die freiwillige Arbeit produktiver sei als die er-
zwungene, war richtig in bezug auf das Feudalsystem, das bürgerliche Regime.
742 | Lenin und Trotzkı
Die Arbeit der Arbeiter in der Fabrik aber war unbedingt produktiver als die Arbeit
des Handwerkers. Diese Arbeit basierte auf besonderen Zwangsmethoden und
Zwangsfornen — auf der Exploitation der Arbeitskraft, dies alles aber geschah
unter der Flagge der „freien Arbeit“. Die Bourgeoisie hat gelernt, durch verschiedene
Methoden aus den Arbeitern viel mehr Arbeit herauszupressen, als in der Epoche
des Feudalismus und der Leibeigenschaft aus den Leibeigenen herausgepreßt wurde.
Diese Entwicklung der Produktivität der Arbeit aber hat die Ablösung der kapi-
talistischen Wirtschaft durch die neue, kommunistische vorbereitet und ın bezug
auf diese neue kolossale historische Veränderung das behaupten, was ın bezug auf
die alte Lage richtig war, heißt ım Rahmen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen
Vorurteile bleiben. Wir sagen: es ist nicht wahr, daß dieerzwungene
Arbeit unterallen Umständen und unter allen Bedingungen
unproduktiv ist. Hier besteht die ganze Aufgabe darin, den Arbeiter psycho-
logisch, innerlich und nicht durch äußeren Zwang in den Arbeitsprozeß hinein-
zuziehen. Das hat auf seine Art jedes Regime getan; das Feudalsystem hat zu
diesem Zwecke Lüge, Betrug und die Hierarchie der Pfaffen ın Anwendung ge-
bracht. Die Bourgeoisie hatte ihre eigenen Methoden. Sie hatte das nötig, denn
sie war eine Minderheit, die die Mehrheit unterdrückte; sie mußte betrügen. Hierher
gehörten eine besondere Arbeitslöhnung, der Stücklohn, der Akkordlohn und ge-
wisse Prämien, eine gewisse Karriere, die einige Glückliche zu machen suchten.
Alles dies beeinflußte die Arbeiterklasse. Die Presse wie die Schule waren Mittel
zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit. Die Monarchie wie die Republik,
alles dies war ein komplizierter Apparat, um die Organisation der Werktätigen in
der Hand zu behalten und aus ihnen das Maximum des Mehrwerts herauszupressen.
Folglich ist das bürgerliche Regime durchaus nicht auf einmal mit hoher Produk-
tivität der Arbeit entstanden. Nein, die Erhöhung der Produktivität der Arbeit
war nicht nur das Resultat der unpersönlichen historischen Entwicklung, sondern
bildete auch die bewußte Aufgabe der herrschenden Ausbeuter, die sie durch An-
wendung einer ganzen Reihe von Mitteln, durch Mobilisation der Engel, Erzengel,
Gefängniswärter und Henker erreichten, das war ein ganzes System der Beein-
flussung.
Wir dürfen nicht vor die Notwendigkeit gestellt werden, den Massen etwas zu
verheimlichen, geschweige denn sie zu betrügen. Gleichzeitig aber stehen wir vor
der Notwendigkeit, das komplizierte System von Mitteln und Methoden geistigen
und organisatorischen Charakters durch Prämienverleihung und Bestrafung in An-
wendung zu bringen, um die Produktivität der Arbeit nach den Grundsätzen des
Zwanges zu erhöhen, auf denen unsere ganze Wirtschaft basiert. Wir müssen nicht
über allgemeine Unergiebigkeit der Arbeit schwatzen, sondern lernen, die Pröduk-
tivität mit allen Mitteln zu erhöhen, die einem ehrlichen und gut organisierten
Arbeiterstaat zu Gebote stehen, darunter mit ideellen Mitteln, durch Agitation und
geistiges Hineinziehen in die Interessen der Wirtschaft. Das Verständnis eines
jeden Arbeiters, eines jeden Bauern, jeder Bäuerin für den Zusammenhang zwischen
dem Schicksal ihrer Existenz und dem wirtschaftlichen Schicksal des ganzen Landes
hat bei dem neuen System der sozialen Beziehungen und der Arbeitsorganisation
Zwei Reden 743
eine ungeheure geistige. organisierende Bedeutung. Wenn unser Apparat nichts
taugt, so kann der mobilisierte und unwissende Bauer, wenn man ihn auf die Eisen-
bahn bringt und keine Schaufeln für die Arbeit vorbereitet, natürlich nicht von
Begeisterung für diese auf Zwang beruhende soziale Organisation der Arbeit er-
griffen werden. Damit er immer weniger den drückenden Charakter dieses Zwanges
fühle, dazu gehört vor allem, daß der Apparat gut funktioniert, daß die Anzahl
der Arbeitshände den Aufgaben entspricht und dahin befördert wird, wo diese
Aufgabe vorhanden ist, wo Lebensmittel, Instrumente und Instruktoren, die einen
Kopf auf den Schultern haben, vorhanden sind. Das ist die elementarste Bedingung;
ohne richtige Organisation der Arbeit können wir ihre Produktivität nicht erhöhen.
Endlich ist die persönliche Interessiertheit jedes einzelnen Arbeiters, jedes einzelnen
Bauern an den unmittelbaren Resultaten der Verwendung seiner Arbeitskraft. nötig.
Ich spreche von dem Prämiensystem, das notwendig ist, solange Knappheit an
Lebensmitteln besteht, solange wir das System der Verteilung der notwendigsten
Gebrauchsartikel nicht dezentralisieren konnen, damit jeder das erhalte, was er
braucht (das wird als Resultat des 4. Stadiums unseres allgemeinen Wirtschafts-
planes der Fall sein, wenn wir erst die drei vorhergehenden Stadien überwunden
haben werden). Vorläufig muß die Verteilung zentralisiert sein, d. h. wir müssen
sie den Produktionsaufgaben unterordnen; vor allen denjenigen versorgen, die zur
Produktion in den wichtigsten Zweigen nötig sind, und die Unternehmen mit Lebens-
mitteln versehen, die besser, ehrlicher ihre Arbeitspflicht erfüllen. Das ist auch
ein Weg zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit. Endlich die Strafmaßnahmen,
die wir nicht aufgeben können, in bezug auf die Deserteure der Arbeit. — Mit
einem Wort, das ganze komplizierte System geistiger Maßnahmen, organisatorisch
materieller, repressiver, das Prämiensystem und die Anwendung von Strafmaßnahmen,
kann, in Einklang gebracht und systematisch angewandt, das Kulturniveau
der Produktivität der Arbeit auf eine Höhe bringen, auf
der sie noch bei keinem Regime gestanden hat. Das Verständnis
für diese Aufgabe, die nicht fix und fertig von oben herabfällt, ıst der wichtigste
Bestandteil bei der Lösung unserer praktischen Aufgaben.
Es besteht kein Zweifel, daß die Produktivität der Arbeit gegenwärtig in unsern
Arbeitsarmeen noch niedrig genug ist und in der ersten Preiode noch niedriger
war. Das ist eine sehr wichtige Tatsache, daß sie ın der ersten Periode niedriger
war als augenblicklich. Wenn wir die Berichte der ersten Woche und Tage über
die Verwendung der früheren 3. Armee an der Arbeitsfront lesen, so sehen wir,
daß 13—15, manchmal 20—30 Rotarmisten nötig waren, um einen Faden Holz
zu beschaffen. 3—4 Mann waren, so viel ich weiß, vor dem Kriege die Norm.
Man sagt, daß ein Bewohner der Nordgouvernements genügt habe, um einen Faden
Holz zu beschaffen und hier sind plötzlich 30 nötig. Aber nach der Prüfung stellte
sich heraus, daß die Truppen in der ersten Periode 8—10 und mehr Werst von
ihrem Arbeitsbezirk entfernt untergebracht waren, und daß ein erheblicher Teil
des Arbeitstages für den Gang verwendet wurde. Es stellte sich heraus, daß ein
bedeutender Teil der Rotarmisten nicht wußte, wie ein Baum zu fällen und zu
zerhacken ist, daß keine Instruktoren, keine Instrumente vorhanden waren, daß
744 Lenin und Trotzkı
das Wirtschaftsorgan nicht in Gang gebracht war. Diese Ursachen genügen, um
die niedrige Produktivität der Arbeit zu erklären.
In der ersten Periode des Bestehens der Sowjetwirtschaft trugen unsere Haupt-
verwaltungen und Zentren einen in bedeutendem Grade syndikalistischen Charakter.
Sie verteilten nicht die Produktion, die sie erzeugten, — denn in der ersten Periode
wurde fast nichts erzeugt, — sondern das, was von der Vergangenheit nachgeblieben
war. Je weiter desto mehr nahmen sie oder waren sie bestrebt den Charakter von
Trusten anzunehmen und organisierten, normierten, versuchten sich die Produktion
unterzuordnen. Diese 50 Hauptverwaltungen, die gegenwärtig alle grundlegenden
Zweige unserer Wirtschaft umfassen, vereinigen sich in ihren Gipfel auf dem Trust
der Truste — dem Präsidium des Obersten Volkswirtschaftsrates.
Eine derartige Organisation unserer Wirtschaft ıst dem Plane nach, wenn man
sie als groben Entwurf nimmt, eine richtige sozialistische Wirtschaft, eine plan-
mäßige Wirtschaft; sie wird nach grundlegenden Betrieben organisiert, sie vereint
die Produktion von oben bis unten. Sie setzt aber voraus, daß der zentrale Ver-
waltungsapparat ein idealer Registrierungs- und Verteilungsapparat ist, der mit dem
Wirtschaftsplan in Einklang steht. Sie setzt voraus, daß unter der Leitung des
Obersten Volkswirtschaftsrates eine ideale Klaviatur vorhanden ist, so daß man nur
eine bestimmte Taste anzuschlagen braucht, um eine entsprechende Menge Kohle,
Holz, Arbeitskraft dorthin zu verschieben, wo sie dem Plane nach gebraucht werden.
Natürlich haben wir noch in keinem Ressort und vor allem nicht im Obersten
Volkswirtschaftsrat, dem kompliziertesten und schwerfälligsten Ressort, eine solche
ideale sozialistische Klaviatur. Was geschieht, wenn im kapitalistischen Trust die
örtlichen Unternehmen einen Teil der Produkte unmittelbar aus den Händen der
Hauptverwaltung ım Engroshandel bekommen, den anderen Teil aber auf dem ört-
lichen Markt kaufen? Die Waren bewegen sich gemäß der Kalkulation des freien
Handels. Bei uns ist dies nicht der Fall. Und das ist unsere größte Errungen-
schaft. Wir haben den freien Handel, die Ausbeutung, die Konkurrenz, die Spekula-
tion getötet. Aber wir haben noch jenen einheitlichen Wirtschaftsplan nicht, der
die elementare Arbeit der Gesetze der Konkurrenz ersetzen muß. Hieraus ent-
stehen dem Obersten Volkswirtschaftsrat Schwierigkeiten. Er gibt einen bestimmten
Wirtschaftsplan. Dieser Plan ist von zentralistischen Ansichten über die Wirtschafts-
aufgaben diktiert. Der Plan aber wird in Wirklichkeit an Ort und Stelle nur im
Umfange von 10—5 Prozent verwirklicht. Gegenwärtig ist jeder Wirtschaftsplan
eine Gleichung mit mehreren unbekannten Größen.
Das ist keine Verurteilung des Obersten Volkswirtschaftsrates, das ist eine
Charakteristik, fast eine Photographie dessen, was in Wirklichkeit vorhanden ist.
Ich wiederhole — jeder Wirtschaftsplan ist eine Gleichung mit vielen unbekannten
Größen. Sie hat im Uralgebiet ihren bestimmten Ausdruck gefunden. Hier gibt
es Holz, Hafer, Weizen, Arbeitskraft, Fabriken, Einrichtungen, alles dies ist aber
auseinandergerissen. Während meines Aufenthaltes im Uralgebiet wies man mich
2. B. auf die Tatsache hin, daß in einem Gouvernement die Menschen Hafer
essen, im andern, benachbarten, die Pferde mit Weizen gefüttert werden, das Gou-
vernements-Verpflegungskomitee aber nicht das Recht habe, den Weizen aus einem
Zwei Reden 745
Gouvernement ins andere zu befördern, ihn gegen Hafer auszutauschen, obgleich
dadurch den Plänen des Verpflegungskommissariat durchaus kein Schaden erwachsen
würde, da die Gesamtsumme die gleiche bleiben würde und nur die Pferde Hafer,
die Menschen aber Weizen essen würden, was dem Geschmack mehr entspricht.
Die Anektote drückt unsere allgemeinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten aus; ein
bestimmter Plan ist vorhanden, aber das Material zu seiner Verwirklichung fehlt
oder ist nur zu einem Zehntel oder ein Fünftel vorhanden.
So, wie das bis jetzt war, kann das nicht weitergehen, besonders in den Be-
zirken, die vom Zentrum weit entfernt sind. Wir haben auf dem letzten Rätekongreß
den ersten Schritt vorwärts getan und die Selbständigkeit der örtlichen Institutionen
erweitert. Dieser Schritt muß jetzt bestimmten Inhalt erhalten. — Wir wenden
das System der speziell Bevollmächtigten an. Und über diese Kategorien bin ich
mir nach meinem Aufenthalt im Uralgebiet klar geworden. Ich bin der Meinung,
daß dies System unverzüglich dem Museum zu übergeben sei. Im Uralgebiet
waren Fälle, wo ein Bevollmächtigter des Obersten Volkswirtschaftsrates nicht nur
auf einen zweiten Bevollmächtigten des Obersten Volkswirtschaftsrates stieß, sondern
sogar auf einen Bevollmächtigten einer Abteilung, einer Hauptverwaltung usw.
Wenn aber der erste Bevollmächtigte den Bevollmächtigten des Verpflegungs-
kommissariates zu finden wünscht, ohne den er nichts tun kann, da er ohne Lebens-
mittel nicht eine Fabrik in Gang setzen kann, so kann er diesen Bevollmächtigten
nicht finden und wenn er einem begegnet, so nur einem solchen, der den Rückweg
anzutreten im Begriff ist. Diese Lage ist fernerhin absolut unmöglich.
So lange wir unseren Apparat nicht biegsamer und beweglicher gestalten, o-
lange wir ihn nicht dem anpassen, was sich an Ort und Stelle ereignet, können
wir im Kampfe mit dem Bureaukratismus absolut keinen Erfolg haben. — Die
zweite Methode, um unsere Hauptverwaltungen elastischer zu gestalten, ist die Er-
richtung von Gebietswirtschaftsorganen, die tatsächlich an Ort und
Stelle. entstehen. Wir haben die Arbeitsarmeen geschaffen. Die Arbeitsarmeen
sind Organisationen zur Verwendung der Militärkräfte an Ort und Stelle nach dem
Order der Wirtschaftsorgane. In der Praxis hat sich gezeigt, daß überall wo Ar-
beitsarmeen geschaffen werden, sofort neben ihnen ein Gebietswirtschafts-Zentrum
entsteht. Jekaterinburg haben wir in einigen Tagen in solch ein Zentrum ver-
wandelt, ohne es zu merken. Diese Arbeit aber ist sozusagen illegal. Sie muß
legalisiert werden, d. h. es muß anerkannt werden, daß in entfernten Gebieten mit-
scharf ausgedrückter wirtschaftlicher Physiognomie Gebietsorgane notwendig sind,
nicht auf Grund der Wiederherstellung des Gebietswesens, sondern auf Grund von
Vertretung der Hauptwirtschaftszehtren. Der Vertreter des Obersten Volkswirt-
schaftsrates muß mit dem Vertreter des Verpflegungskommissariats und dem Ver-
treter des Landwirtschaftskommissarıats usw. eng verbunden sein.
Ich erlaube mir, mich bei der Frage der Industrieverwaltung aufzu-
halten. Diese Frage hat Gen. Lenin berührt und die ihm opponiert haben. Ich werde
an diese Frage nicht von der theoretischen sondern von der empirischen, prak-
tischen Seite herangehen. Ich spreche von der kollegialen und der per-
sönlichen Verwaltung. — Ich muß eine Beschuldigung abwehren, die
746 Lenin und Trotzkı
gegen die persönliche Verwaltung erhoben worden ist. Einige Genossen sagen,
unsere unlängst geborenen militärischen Spezialisten versuchen, ihre unreife Er-
fahrung vom militärischen Gebiet auf das wirtschaftliche Gebiet zu übertragen;
vielleicht sei diese Erfahrung auf militärischem Gebiet gut, tauge aber auf wirtschaft-
lichem gar nicht. Diese Erwägung ist falsch in jeder Beziehung. Es ist vollständig
falsch, daB wir in der Armee mit der persönlichen Verwaltung begonnen haben
und gegenwärtig vollständig zu ihr übergegangen sind. Falsch ist auch, daß wir
diese Erfahrung der Armee entlehnt haben.
Wir haben darüber vor 2 Jahren, am 8. März 1918, auf der Moskauer Konferenz
gesprochen und es ist von den Vertretern der Moskauer Arbeiterklasse gebilligt
worden. Daher jetzt davon sprechen, daß dies militärische Vorurteile grüner mili-
tärıscher Spezialisten seien, ıst Unsinn. Die Notwendigkeit der Heranziehung
von Spezialisten war anerkannt worden, ihre Ausnutzung war unbedingt
notwendig. — Betrachtet man den Verwaltungsapparat als Schule, obgleich es sich
um den Apparat der Wirtschaftsverwaltung handelt, so erfordert unsere Resolution,
daß, wer lernen will, in die Schule gehen, besondere Instruktionskurse besuchen
muß; wer aber verwalten muß, der geht nicht in die Schule, sondern geht um zu
verwalten. — Geht man auch bei dieser Frage vom beschränkten Gesichtspunkt
der Schule aus, so muß ich sagen, daß bei persönlicher Verwaltung die Schule
zehnmal besser ıst, da ein guter Arbeiter nicht durch drei unreife ersetzt wird;
stellt man aber drei Unreife auf den verantwortlichen Verwaltungsposten, so beraubt
man sie der Möglichkeit, sich davon Rechenschaft abzulegen, was ihnen fehlt:
Das ist keine prinzipielle Frage. Daß dem so ist, das beweisen am besten die
Leiter der Gewerkschaften, die für Werkstätten, Bergwerke und Zechen keine kolle-
giale Verwaltung fordern. Nur Verrückte, sagen sie, können verlangen, daß dort
eine aus drei oder fünf bestehende Verwaltung wirke. Dort muß ein Leiter der
Zeche sein. Warum? Wenn die Verwaltung eine Schule ist, warum ist dann eine
Schule niederen Typus nicht nötig? Ist doch die Fabrikverwaltung schon die zweite
Stufe. Warum fordert niemand die kollegiale Verwaltung der Zechen und Werk-
stätten? Weil dies zu absurd sein würde. Das würde das Kollegialsystem auf den
Gebieten der Betriebsverwaltung in eine Absurdität verwandeln.
Aber wenn die kollegiale Verwaltung für die Werkstätten kein heiliges Gebot
ist, warum muß sie ein solches für die Fabrik sein? Als Gen. Rykow zum Diktator
der militärischen Versorgung in dem Augenblick ernannt wurde, da uns der voll-
ständige Untergang drohte, als unsere Patronen gezählt waren, ist Gen. Rykow
vortrefflich mit seiner Aufgabe fertig geworden, er hat aber zur ersten Bedingung
die Durchführung der persönlichen Verwaltung gemacht. Er schickte Bevollmächtigte
in die einzelnen Bezirke, stellte sie über die militärischen Beschaffungsorgane und
die Gouvernementswirtschaftsräte, und an Ort und Stelle waren viele damit unzu-
frieden, doch dies war notwendig. Diese speziell Bevollmächtigten schickten, z. B.
im Uralgebiet, ihre speziell Bevollmächtigten in die Werke und Fabriken, und diese
Bevollmächtigten des speziell Bevollmächtigten des von Gen. Rykow außerordentlich
Bevollmächtigten führten in den Fabriken und Werken, wo sie wankende Kollegien
vorfanden, die persönliche Verwaltung ein.
Zwei Reden 747
Es ist nicht wahr, daß die Arbeiterklasse sich der Einführung der persönlichen
Verwaltung widersetzt. Es ist nie vorgekommen, daß protestiert worden ist, weil
auf den Eisenbahnen eine Person, ein Kommissar, ein Chef verwaltet; nie haben
die Arbeiter gesagt: „Entsetzt diesen Chef, Kommissar oder Leiter, obgleich er
ein kluger und vorsichtiger Mensch ist“. Wenn die Arbeiter unzufrieden waren,
so sagten sie: „Setzt ihn ab, denn er ist ein Taugenichts“. Das aber bezieht sich
auf die Kollegien ebenso wie auf einzelne Personen. Die Arbeiter, die breiten
Massen sind daran interessiert, sie auszubilden, das aber wird dadurch erreicht,
daß die Verwaltung der Fabrik periodisch vor der ganzen Fabrik Rechenschaft
über ıhre Tätigkeit ablegt, und alle Arbeiter, die Interesse offenbaren, werden auf
entsprechende Kurse geschickt oder von einem weniger verantwortungsvollen Posten
auf einen verantwortungsvolleren gestellt. Die Frage aber, ob in der Verwaltung
einer oder drei sitzen, interessiert nicht die Arbeitermassen, sondern
den rückständigeren. schwächeren. weniger tauglichen Teil der Arbeiter-
arıstokratie.
Der vorgeschrittene bewußte, sichere Arbeiter strebt immer danach, die Fabrik
ganz ın seine Hände zu nehmen, zu zeigen, daß er verwalten kann; ist aber er
schwach, schwankt er, so möchte er sich an einen anderen lehnen, damit seine
Schwäche nicht bemerkt werde. Wenn der Arbeiter schwach ist, so muß er erst
Gehilfe sein; lernt er zu, so macht ihn zum Leiter oder Direktor einer kleinen
Fabrik; erweist er sich noch als schwach, so erniedrigt ihn. Er wird vorwärts
kommen. In einem Kollegium aber, wo die Verantwortlichkeit nicht klar ist, er-
lischt das Verantwortlichkeitsgefühl. Daher spricht unsere Resolution von einer
systematischen Annäherung an die persönliche Verwaltung, selbstverständlich nicht
durch einen Federstrich. Wo der Arbeiter fertig wird, muß er der
Leiter der Fabrik sein und einen Spezialisten zum Gehilfen
haben; wo aber der Spezialist am Platze ist, muß dieser zum
Leiter gemacht und ihm ein Ärbeiter als Gehilfe beigegeben
werden. Das ist die einzige ernste Auffassung von der Sache und nur auf diesem
Wege werden wir zum Ideal, der organisierten Produktion, gelangen.
Es besteht noch eine Frage, die auf diesem Kongresse klar und unzweideutig
entschieden werden muß, wenn wir bei der Lösung der dringendsten Aufgaben
des Wirtschaftsplanes ernsthaft vorwärtskommen wollen. Ich spreche von der
politischen Hauptverwaltung der Eisenbahnen. Einige Genossen sagen,
dies sei ein Schlag, der der Gewerkschaftsbewegung beigebracht werde, andere be-
haupten, dies sei die Zerstörung der Parteiorganisation.
Genossen, das ist eine Frage von außerordentlicher Schärfe und ungeheurer
praktischer Wichtigkeit. Man muß geschickt an diese Frage herangehen. Von
ihrer Lösung hängt es ab, ob wir auf dem Gebiet des Transports einen Schritt
vorwärts tun werden oder nicht. Es ıst für jeden von uns offensichtlich, daß hier
von einem Ersatz der Gewerkschaften oder, um so mehr, der Parteiorganisation
keine Rede sein kann. Wenn ihr sagen würdet, daß alle Gewerkschaftsverbände
durch politische Abteilungen ersetzt werden müssen, so würde das praktisch heißen,
daß wir eine Massenorganisation der Arbeiterklasse zu Grabe tragen.
18
748 Lenin und Trotzki / Zwei Reden
Wir müssen im gegebenen Wirtschaftszweig energische organisatorische Anstren-
gungen machen. Ein Genosse sagt, daß er die politischen Abteilungen ın der Armee
anerkenne: die Armee bewegt sich von Ort zu Ort und könne deshalb nicht von
den Parteikomitees besorgt werden; dieser Genosse aber erkennt die politischen
Abteilungen in bezug auf die Eisenbahnen nicht an. Er ist offenbar der Meinung,
daß, da die Armee sich bewegt, hier politische Abteilungen nötig seien, und da
die Eisenbahn sich nicht bewege, hier politische Abteilungen nicht nötig seien.
Ich aber denke, daß, da sich bei uns die Eisenbahnen dadurch auszeichnen, daß
sie schwer, wie vorwärts, zo auch zurück, in Bewegung zu bringen sind, wir ge-
zwungen sind, außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen. Natürlich, würde der
Verband der Eisenbahner auf dem Niveau des Verbandes der Metallarbeiter stehen,
der lange noch nicht ıdeal, aber der vorgeschrittenste ıst, so könnten wir die polı-
tischen Abteilungen entbehren. Aber ihr wißt, daß dies nicht der Fall ist. Die
Arbeitermassen auf den Eisenbahnen enthalten noch eine große Menge Elemente, die
aus der Ruchlowschen Epoche stammen. Der Verband der Eisenbahner ist einer
der schwächsten und rückständigsten. Kann jemand sagen, daß wir die Wieder-
belebung des Transports davon in Abhängigkeit bringen dürfen, wie die Entwicklung
des Eisenbahnerverbandes verlaufen wird? Wer das sagt, der versteht nichts von
dieser Sache. Der Verband der Eisenbahner muß umgearbeitet werden, er muß
die erforderlichen Arbeiter erhalten, die böswilligen italienischen Saboteure müssen
bestraft werden. Dazu gehört eine Reihe von Meetings, zu großem Erfolge aber
gehören zwei Jahre. Die nächsten Wochen jedoch bringen den entscheidenden
Augenblick im Leben unseres Transports. Hier sind außerordentlich Maß-
nahmen nötig. die das Tempo der Entwicklung des Eisenbahnerverbandes und der
Hebung seiner Existenz überholen. Wer kann diese Maßnahmen ergreifen? Die
organisierte Arbeiterklasse in der Person ihrer entwickelsten Elemente. Diese
besten Elemente wenden Zwangsmaßnahmen ın bezug auf
den rückständigen Teil der Arbeitsarmee an. Darin liegt die
Hauptsache. So steht die Frage der politischen Hauptverwaltung der Eisenbahnen
ın bezug auf den Gewerkschaftsverband.
Genossen! Die Parteiautorität der Kommunistischen Partei ist in allen Fragen
nötig, vor denen wir gegenwärtig stehen. Die Mobilisation der breiten Arbeiter-
und Bauernmassen, den Arbeitszwang können wir nicht durchführen, wenn wir
bei dieser Sache nicht das Gewissen und das Bewußtsein zu Hilfe nehmen, wenn
wir nicht die gewerkschaftliche Ehre nach neuen sozialistischen Grundsätzen, wenn
wir nicht das Pflichtgefühl usw. wecken. Diese Aufgabe erfordert eine gewisse
Anspannung der Kräfte während einer langen Periode, erfordert Agitation und
Propaganda. Unsere Fraktion wird sich je weiter desto mehr verändern, den Fragen
entsprechend, die das Leben stellen wird, sie wird sich immer mehr mit den Fragen
der Wirtschaft, der Naturwissenschaft und Technologie beschäftigen. Jeder Arbeiter
muß die natürliche, körperliche Welt kennen, die uns umgibt und die Kräfte,
die nicht immer günstig sind. Unsere Entwicklung vollzieht sich im Kampfe mit
diesen Kräften und durch ihre Unterwerfung. Das ist in der nächsten Epoche,
je weiter umso mehr, notwendig. Wir werden den Buchdruck auf eine höhere
Beschlüsse d. IX. Kongresses d. Kommunist. Partei Ruflands 749
Stufe als gegenwärtig bringen, wır werden eine ungeheure Propaganda entfalten
müssen, um die Weltanschauung von den übernatürlichen Kräften, von Gott und
den Engeln, zu reinigen. Den breiten Massen muß aber der Wirtschaftsplan ge-
zeigt werden, auf Grund dessen wir unseren Partei- und Sowjetapparat erbauen,
die Mobilisation der breiten und werktätigen Massen vorzunehmen. Wir können
nicht warten, bis jeder Bauer und jede Bäuerin verstehen werden, wır müssen
jeden zwingen, den Platz einzunehmen, auf den er hingehört. Hier ist neben unserer
Agitation und Propaganda, die historische Bedeutung haben, die Einheit des Willens
m unserer Partei von ungeheurer moralischer Bedeutung. Wenn wir nach diesem
Kongresse, angesichts unserer kolossalen Aufgaben wankend und stolpernd auftreten
werden, wenn wir den Streit fortsetzen werden, ob der Arbeitszwang anzuwenden
sei oder nicht, ob die Zwangsmobilisation und die Verwendung der Truppenteile
zur Arbeit durchzuführen seien oder nicht, so würde dies den Zusammenbruch
unseres Wirtschaftssystems ın seinem Fundament bedeuten, denn wenn das mittlere
Element der Bauernschaft und das rückständige Element der Arbeiterklasse nicht
alles ın unserer Arbeit deutlich versteht und begreift, so ıst die Einigkeit unseres
Bewußtseins und Willens etwas, das es begreift. Auf dem historischen Schauplatz
sind an ihm verschiedene Staatsformen, verschiedene Kräfte und Parteien vorüber-
gezogen. Die Massen haben eine Partei gesehen, die genau weiß, was sie will;
die das was sie will, mit lauter Stimme sagt und die einen eisernen Willen anwendet,
um das, was sie will, zu verwirklichen. Sie müssen von der Einigkeit des Partei-
willens durchdrungen und durchtränkt sein. Wenn ihr diese Einigkeit des Partei-
bewußtseins und des Parteiwillens geben werden, werdet ihr die größte Aufgabe in
der Weltgeschichte vollführen.
BESCHLÜSSE DES IX KONGRESSES
DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI
RUSSLANDS
NACH DEM BERICHT DES ZENTRALKOMITEES
Nach Anhören des Berichts des Zentralkomitees erkennt der IX. Kongreß der
Kommunistischen Partei (der Bolschewiki) Rußlands an, daß das Zentralkomitee
unter den Bedingungen des erbittertesten Bürgerkrieges, des intensiven Aufbaues
der Räte und des ungewöhnlichen Wachstums der Parteı hat arbeiten müssen. Der
Kongreß findet, daß das Zentralkomitee, ungeachtet aller Schwierigkeiten im Gange
‘der Arbeit, die politische Linie und die organisatorische Ar-
beit der Partei richtig und sıcher'durchgeführt habe. Der
Kongreß drückt dem Zentralkomitee seine Billigung aus
und geht zur Tagesordnung über.
750 Beschlüsse des IX. Kongresses der
Die Mobilisation der gelernten Arbeiter.
In den Thesen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Rußlands über
die Mobilisation des industriellen Proletariats, die Arbeitspflicht, die Militarisierung
der Wirtschaft und der Verwendung von Truppenteilen für wirtschaftliche Bedürfnisse
billigend, verfügt der Kongreß:
Die Parteiorganisationen müssen auf jede Art und Weise den Gewerkschaften
und den Arbeitsabteilungen bei der Registrierung der gelernten Arbeiter helfen,
um diese mit derselben Konsequenz und Strenge zu produktiver Arbeit heran-
zuziehen, wie dies in bezug auf die Personen des Kommandobestandes zu Armee-
zwecken durchgeführt wurde und durchgeführt wird. — Jeder gelernte Arbeiter
muß zu seiner Spezialität zurückkehren. Ausnahmen, d. h. Belassung von gelernten
Arbeitern auf anderen Sowjetposten, können nur mit Einwilligung der entsprechenden
bevollmächtigten Zentral-Organe zugelassen werden.
jedes soziale Regime (das Sklaventum, die Epoche der Leibeigenschaft, das
kapitalistische Regime) hat seine Methoden des Arbeitszwanges und der Arbeits-
erziehung gehabt, die den Interessen der ausbeutenden Oberschichten dienten.
Vor dem Sowjetregime steht in ihrem vollen Umfange die Aufgabe, seine eigenen
Methoden der Beeinflussung zu entwickeln, um die Intensität und die Zweckmäßig-
keit der Arbeit auf der Grundlage der vergesellschaftlichten Wirtschaft im Interesse
des ganzen Volkes zu erhöhen. — Neben den agitatorisch- ideellen Beeinflussungen
der werktätigen Massen und der Repressalien in bezug auf die bewußten Müfßig-
gänger, Parasiten und Desorganisatoren ist der W etteifer ein machtvolles Mittel
zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit. — In der kapitalistischen Gesellschaft
trug der Wetteifer den Charakter der Konkurrenz und führte zur Ausbeutung des
Menschen durch den Menschen. In einer Gesellschaft, wo die Produktionsmittel
nationalisiert sind. kann der Wetteifer bei der Arbeit nur die Gesamtsumme der
Arbeitsprodukte erhöhen, ohne die Solidarität zu stören.
Vom Zentralısmus der Trusts zum sozialistischen Zen-
tralis mus.
Die jetzige Organisationsform der Industrie ist eine Übergangsform. Der Ar-
beiter hat die kapitalistischen Trusts nationalısiert, sie durch einzelne Unternehmen
desselben Industriezweiges ergänzt und nach dem Typus dieser Trusts auch die
Unternehmungen vereinigt, die beim Kapitalismus nicht in Trusts vereinigt waren.
Das hat die Industrie in eine Reihe machtvoller vertikaler Vereinigungen ver-
wandelt, die wirtschaftlich voneinander getrennt und nur auf ıhrem Gipfel durch
den Obersten Wirtschaftsrat verbunden sind.
Während beim Kapitalismus die Unternehmen, die einem Trust angehörten,
viele Rohstoffe, Arbeitskraft und anderes, auf dem nächsten Markte erwerben konnten,
müssen dieselben Unternehmen unter don gegenwärtigen Verhältnissen alles nötige
laut Order der Zentralorgane der vereinigten Wirtschaft bekommen. Indessen haben,
bei der ungeheuren Ausdehnung des Landes, bei der äußersten Unbestimmtheit
und Veränderlichkeit der Grundfaktoren der Produktion, bei der Zerrüttung des
Transports, den äußerst schwachen Verkehrsmitteln, bei der außerordentlichen Unge-
Kommunistischen Partei Ruflands 751
nauigkeit der Methoden und Resultate der wirtschaftlichen Registrierung die Me-
thoden des Zentralismus, die das Resultat der ersten Epoche der Enteignung der
bürgerlichen Industrie waren und unvermeidlich zur Isoliertheit der Unternehmen
an Ort und Stelle (in den Städten, Gouvernements, Bezirken, Gebieten) geführt
haben, jene ungeheuerlichen Formen der Verschleppung zur Folge gehabt, die
unserer Wirtschaft unersetzlichen Schaden zufügen. — Die organisatorische Aufgabe
besteht darin, bei Erhaltung und Entwicklung des vertikalen Zentralismus auf der
Linie der Hauptverwaltungen ihn mit der horizontalen Unterordnung der Unter-
nehmen auf der Linie der wirtschaftlichen Bezirke zu kombinieren, wo die Unter-
nehmen verschiedener Industriezweige und verschiedener Bedeutung gezwungen
sind, sich von ein und denselben Quellen des örtlichen Rohstoffes, der Transport-
mittel, der Arbeitskraft und dergl. zu nähren.
Organisation der Industrieverwaltung.
Die wichtigste Aufgabe bei der Organisation der Verwaltung ist die Schaffung
einer kompetenten, festen, energischen Leitung, — einerlei, ob es sich um ein ein-
zelnen Industrieunternehmen oder um einen ganzen Industriezweig handelt. —
Zwecks vereinfachter und genauer Organisation der Produktionsverwaltung. sowie
zwecks Ökonomie der organisatorischen Kräfte hält der Kongreß es für notwendig,
die Industrieverwaltung der „Verwaltung durch eine Person“ zu nähern, und zwar
„Verwaltung durch eine Person“ voll und unbedingt in Werkstätten und Abteilungen
herzustellen, zu diesem System in Fabrikverwaltungen und zu beschränkten Kollegien
in den mittleren und höheren Gliedern des administrativen Produktionsapparates
überzugehen.
Die äußerst wichtige Frage der Heranziehung von immer größeren Kreisen der
Arbeiterklasse zur Verwaltung der Wirtschaft muß durch eine ganze Reihe Maß-
nahmen gelöst werden, von denen die wichtigsten unten angeführt sind, was jedoch
durchaus nicht auf Kosten der Widerstandfähigkeit, Kompetenz und Einfachheit
des Verwaltungsapparates in jedem gegebenen Augenblick geschehen darf. — In
Anbetracht dessen, daß der unbestreitbare Typus der Verwaltung einzelner Sowjet-
unternehmen wie ganzer Zweige noch nicht festgestellt ist, wobei die Bildung der
notwendigen Stämme von Administratoren, Direktoren usw. sich noch im Anfangs-
stadium befindet, hält der Kongreß es für möglich und zulässig, auf dem Wege der
Alleinverwaltung verschiedene Kombinationen anzuwenden, wie:
a) ein Verwaltungsdirektor aus der Zahl der Arbeiter Professionisten).
der festen Willen, Selbstbeherrschung und im besonderen die Fähigkeit offen-
bart, Spezialisten, Techniker, Ingenieure zur Arbeit heranzuziehen; neben
ihm, als Gehilfefürdentechnischen Teil, ein Ingenieur;
b) ein Ingenieur (Spezialist), der über die erforderlichen Eigenschaften
verfügt, als tatsächlicher Leiter des Unternehmens und
neben ihm ein Kommissar aus der Zahl der Arbeiter
(Professionisten), mit weitgehenden Rechten und der Verpflichtung,
sich um alle Seiten des Unternehmens zu kümmern.
752 Beschlüsse des IX. Kongresses der
c) Arbeiter (Professionisten), einer oder zwei, in der Eigenschaft von Ge-
hilfen des Direktors (Spezialisten), mit dem Rechte und der Ver-
pflichtung der Gehilfen, sich um alle Zweige der Fabrikverwaltung zu kümmern,
aber ohne das Recht, die Anordnungen des Direktors aufzuheben;
d) ın Fällen, wo kleine, eng verbundene Kollegien vorhanden sind, deren Glieder
einander ergänzen und in der Praxis schon ihre Arbeitsfähigkeit bewiesen
haben, sind diese Kollegien beizubehalten, wobei die Rechte des
Vorsitzenden zu erweitern und seine Verantwortung für das ganze Kollegium
zu erhöhen ist. Die Kollegien in den mittleren und höheren Organen der
Wirtschaftsverwaltung (Gouvernementswirtschaftsräte und Bezirksverwaltungen,
Hauptverwaltungen und Abteilungen) müssen auf die minimale Zahl der Glieder,
beschränkt werden, wobei der Vorsitzende für die ganze Arbeit
der Verwaltung die Verantwortung zu tragen hat.
Auf jeden Fall ist die tatsächliche Verwirklichung, von oben bis unten, des
oftmals proklamierten Prinzips der genauen Verantwortlichkeit einer bestimmten
‚Person für eine bestimmte Arbeit die unerläßliche Bedingung der Verbesserung der
wirtschaftlichen: Organisation und des Wachstums der Produktion.
Die Kollegialverwaltung, soweit sie im Prozesse der Beratung und
Entscheidung angewandt wird, muß im Prozeß der Ausführung unbedingt der
Alleinverwaltung den Platz räumen. Der Grad der Tauglichkeit einer
jeden Organisation muß davon gemessen werden, wie streng in ihr die Pflichten,
Funktionen und Verantwortlichkeiten verurteilt sind.
Die Heranziehung der Massen zur We der Industrie.
Der Kongreß hält es für notwendig, tatsächliche Maßnahmen zu ergreifen, um
breite Arbeiterkreise zur Organisation der Produktion zu erziehen und aus der Mitte
der Arbeiterklasse beständig frische Elemente heranzuziehen, die fähig sind, organı-
satorische Arbeit auf dem Gebiete der Produktion zu leisten. Zu diesem Zwecke
ist es notwendig:
a) durch Vermittlung der Gewerkschaftsverbände und de Obersten Volkswirt-
schaftsrates die Propaganda auf dem Gebiete der Produktion auf die nötige Höhe
zu bringen, ohne sich auf allgemeine Aufrufe zur Erhöhung der Produktivität
der Arbeit zu beschränken, sondern durch Konkretisierung und Spezialisierung
der Frage nach den Industriezweigen und den einzelnen Unternehmen’ es sich
zur Aufgabe zu machen, daß jeder Fabrikarbeiter die Rolle und den Platz des
Unternehmens im allgemeinen System der sozialistischen Wirtschaft kenne; perio-
dische (2. B. allmonatliche) Erörterungen auf der Generalversammlung der Fabrik-
arbeiter, Berichte der Verwaltung über die ım verflossenen Monat geleistete
Arbeit und über den Produktionsplan für den neuen Monat zum System
zu machen;
b) bei den einzelnen großen Unternehmen oder bei den Kleinbetrieben Kurse
für Industrieverwaltung zu organisieren, die die fähigsten Ar-
beiter, ohne sie der Produktionsarbeit zu entziehen, an der Praxis des gegebenen
Unternehmens mit den notwendigen Elementen der Verwaltung bekannt machen sollen;
Kommunistischen Partei Ruflands 753
c) die auf diese Weise geschulten Arbeiter zu Gehilfen der Verwalter der ein-
zelnen Abteilungen oder des Fabrikdirektors zu ernennen;
d) Arbeiter mit derartiger vorheriger praktischer Erfahrung auf selbständige Ver-
waltungsämter, anfangs in. kleinere, darauf in größere Unternehmen zu berufen.
Die Spezialisten in die Industrie.
Von dem Standpunkte ausgehend, daß ohne wissenschaftliche Organisation der
Produktion die breiteste Anwendung der Arbeitspflicht und der größte Heroismus
der Arbeiterklasse den Aufbau einer machtvollen sozialistischen Wirtschaft nicht
nur nicht sichern, sondern dem Lande auch nicht die Möglichkeit geben können,
zich aus den Krallen der Armut zu befreien, hält der Kongreß es für unbedingt
notwendig, alle arbeitsfähigen Spezialisten der verschiedenen Wirtschaftszweige zu
registrieren und sie zur Organisation der Produktion auf jede Art und Weise auszunutzen.
Die Notwendigkeit der Kontrolle und der strengen Bestrafung aller. gegen-
revolutionären Elemente in Kraft lassend, die ihre Ämter zu Zwecken des Wider-
standes gegen das sozialistische Wirtschaftsregime auszunutzen bestrebt sind, er-
innert der Kongreß gleichzeitig in der kategorischesten Form alle Parteimitglieder
an die Aufgabe der ideellen Hineinziehung der Spezialisten in die Sphäre der
Produktionsinteressen der Sowjetrepublik und macht in strenger Übereinstimmung
mit dem Geist und dem Buchstaben unseres Programmes allen Parteimitgliedern
zur Pflich, die Herstellung der Atmosphäre kameradschaft-
licher Mitarbeiter zwischen den Arbeitern und den
technischen Spezialisten anzustreben, die das proletarische Regime vom
bürgerlichen geerbt hat.
Für eine der Agitationsaufgaben auf gesamtpolitischem Gebiete und auf dem
Gebiet der Produktion hält der Kongreß die Bekanntmachung der breiten Arbeiter-
massen mit dem grandiosen Charakter der wirtschaftlichen Aufgaben, vor denen
das Land steht, mit der Wichtigkeit der technischen Bildung, der administrativen
und wissenschaftlich-technischen Erfahrung und macht es allen Parteimitgliedern
zur Pflicht, unerbittlich gegen den von Unbildung zeugenden Dünkel anzukämpfen,
als habe die Arbeiterklasse ihre Aufgaben lösen könne, ohne die Spezialisten der
bürgerlichen Schule auf den verantwortlichen Posten auszunutzen. Für jene
demagogischen Elemente, die derartige Vorurteile des rückständigen Teiles der
Arbeiter ausnutzen, kann in den Reihen der Partei des wissenschaftlichen Sozialismus
kein Platz sein. — Die individuelle Registrierung der Produktivität der Arbeit und
die individuelle Prämiierung müssen in entsprechender Form auf das administrativ-
technische Personal angewendet werden. Die besten Administratoren, Ingenieure,
Techniker müssen in günstigere Bedingungen gestellt werden, damit sie ihre Kräfte
ım Interesse der sozialistischen Wirtschaft verwenden können.
Im besonderen müssen jene Spezialisten hoch prämiiert werden, unter deren
Leitung sich die Arbeiter mit bedeutenden Erfolge jene notwendige Erfahrung an-
eignen, die ihnen die Möglichkeit sichert, späterhin selbständige administrative
Ämter zu bekleiden. — Das Vorurteil gegen den Eintritt des höheren technischen
Personals der Unternehmen und Institutionen muß endgültig aufgegeben werden.
754 Beschlüsse des IX. Kongresses der
Durch Aufnahme von Ingenieuren, Ärzten, Agronomen usw. in ihre Verbände
werden die Gewerkschaften diesen Elementen helfen, auf Grund von kameradschaft-
licher Zusammenarbeit mit dem organisierten Proletariat an der aktiven Arbeit
des Sowjetaufbaues teilzunehmen und werden die notwendigen Arbeiter er-
werben, die über wissenschaftliche Kenntnis und Erfahrung verfügen.
Die Arbeitsarmeen.
Die Ausnutzung der Truppenteile für Arbeitszwecke hat in gleichem Maße ein
praktisch-wirtschaftliche, wie sozialistisch-erzieherische Bedeutung. Bedingungen der
zweckmäßigen Verwendung der Truppenteile in großem Maßstabe sind:
a) der einfache Charakter der Arbeit, der allen Rotarmisten in gleicher Weise
zugänglich ist.
b) die Anwendung des Systems der Erteilung von Aufgaben, deren Nichterfüllung
die Verminderung der Nation nach sich zieht;
c) die Anwendung des Prämiensystems;
d) Die Beteiligung an den Arbeiten in ein und demselben Bezirk einer bedeutenden
Anzahl von Kommunisten, die fähig sind, die rotarmistischen Teile durch ıhr
Beispiel zu beeinflussen.
Die Heranziehung von großen Gruppenvereinigungen zur Arbeit ergibt unver-
meidlich einen höheren Prozentsatz von Rotarmisten, die nicht unmittelbar in der
Produktion beschäftigt waren. Daher ist die Verwendung von ganzen Ärbeitsarmeen,
mit Aufrechterhaltung des Armeeapparates nur insofern zu rechtfertigen, wie die
Erhaltung der Armee in ihrem Ganzen zu Kriegszwecken notwendig ist. Sobald
diese Notwendigkeit fortfällt, müssen die schwerfälligen Stäbe und Verwaltungen
aufgelöst und die besten Elemente der gelernten Arbeiter als kleine Arbeitsschlag-
bataillone in den wichtigsten Industrieunternehmen ausgenutzt werden.
Musterunternehmen. .
Neben allgemeinen Maßnahmen zur Hebung der Wirtschaft des Landes und zur
Erhöhung der Produktivität der Arbeit in der Industrie, hält der Kongreß die
Schaffung von einzelnen Unternehmen der wichtigsten Industriezweige in den ent-
sprechenden Bezirken für notwendig. Diese Unternehmen, die dem allgemeinen
Wirtschaftsplan entsprechend auf Grund von technischen-geographischen und anderen
Erwägungen gesondert behandelt werden müssen, sind eiligst mit ergänzender Ein-
richtung, notwendiger Arbeitskraft, Technikern. Lebensmitteln, Heizmaterial und
Rohstoffen zu versorgen. An der Spitze solcher Unternehmen müssen die besten
Administratoren und Techniker gestellt werden. Politisch müssen diese Muster-
unternehmen unter der unmittelbaren Aufsicht des Zentralkomitees der Kommuni-
stischen Partei Rußlands stehen. Die Berichte über den Gang der Arbeiten in den
Musterunternehmen müssen periodisch in der Presse veröffentlicht werden. Bei
den Unternehmen müssen, sobald dies möglich ist, technische und administrative
Kurse, Arbeitsschulen und dergl. eröffnet werden, damit jedes Musterunternehmen
zur Schule der industriellen Erziehung und zum Herde der virtschaftlich-technischen
Schöpferkraft für einen umfangreichen Bezirk, für einen gamen Industriezweig.
wenn nicht für das ganze Land werde.
Kommunistischen Partei Ruflands 755
Der Übergang zum Milizsystem.
Das nahende Ende des Bürgerkrieges und die ungünstigen Veränderungen in
der internationalen Lage Sowjetrußland setzten radıkale Veränderungen im Militär-
wesen, in Übereinstimmung mit den dringenden wirtschaftlichen und kulturellen
Bedürfnissen des Landes auf die Tagesordnung.
Anderseits ist es notwendig festzustellen, daß sich die sozialistische Republik,
solange in den wichtigsten Weltstaaten die imperialistische Bourgeoisie an der Macht
bleibt, auf keinen Fall für außer Gefahr betrachten kann. — Der weitere Gang
der Ereignisse kann in einen gewissen Augenblick die Imperialisten, die den Boden
unter den Füßen verlieren, von neuem auf den Weg blutiger, gegen Sowjetrußland
gerichteter Abenteuer führen. — Hieraus folgt die Notwendigkeit, die militärische
Verteidigung der Revolution auf der nötigen Höhe zu erhalten.
Der gegenwärtigen Übergangsperiode, die einen dauernden Charakter annehmen
kann, muß eine derartige Organisation der Kräfte entsprechen, bei der die Werk-
tätigen die erforderliche militärische Vorbereitung erhalten und möglichst wenig
der produktiven Arbeit entzogen werden. Einem solchen System kann nur die sich
auf das Territorialprinzip stützende Arbeiter- und Bauernmiliz entsprechen.
Das Wesen des Sowjetmilizsystems muß in der möglichsten An-
näherung der Armeen an den Produktionsprozeß bestehen, so daß die lebendige
menschliche Kraft bestimmter wirtschaftlicher Bezirke zugleich die lebendige mensch-
liche Kraft bestimmter Truppenteile bildet.
Bei der territorialen Verteilung müssen die Milizteile (Regimenter,Brigaden,Divisionen)der-
artig der Verteilung der Industrie angepaßt werden, daß die Industrieherde mit der sie umge-
benden und zu ihnen neigenden landwirtschaftl. Peripherie die Basis für die Milizteileabgeben.
Organisatorisch muß sich die Arbeiter- und Bauernmiliz auf Stämme stützen,
die in militärischer, technischer und politischer Hinsicht gut vorbereitet sind, denen
beständig von ihnen ausgebildete Arbeiter und Bauern. zur Verfügung stehen, die
sie in jedem beliebigen Augenblick ihrem Milizbezirke entziehen, mit ihrem Apparat
umfassen, unter das Gewehr stellen und ın den Kampf führen können.
Der Übergang zum Milizsystem muß notwendigerweise allmählich vor
sich gehen, in Übereinstimmung mit der militärischen und international-diplo-
matischen Lage der Sowjetrepublik, unter der Bedingung, daß die Verteidigungs-
fähigkeit der letzteren ın jedem Augenblick auf der nötigen Höhe bleibe.
Bei der allmählichen Demobilisierung der Roten Armee müssen ihre besten
Stämme am zweckmäßigsten, d. h. den Bedingungen der örtlichen Produktion- und
Lebensweise am meisten angepaßt, auf dem Territorium des Landes verteilt werden,
wodurch der fertige Verwaltungsapparat der Milizteile gesichert werden muß.
Die zur militärischen Verteidigung des Landes bestimmte Organisation
der Milizstämme muß ın dem Maße, wie dies notwendig, der Arbeits-
pflicht angepaßt sein, d. h., sie muß fähig sein, Arbeitsteile zu bilden,
und sie mit dem notwendigen Instruktionsapparat zu versehen.
Sich in der Richtung der Verwaltung in ein bewaffnetes kummuni-
stisches Volk entwickelnd, muß die Miliz in der gegenwärtigen Periode
in ihrer Organisation alle Merkmale der Diktatur der Arbeiterklaase beibehalten.
756 Kropotkin / Politische Rechte und
POLITISCHE RECHTE UND IHRE BE-
DEUTUNG FÜR DIE ARBEITERKLASSE
VON PETER KROPOTKIN
Beste, klarste Formulierung der Ansicht, daß vom
bürgerlichen Parlamentarismus alles, nur kein Heil zu er-
warten ist, — unwiderlegbare Begründung der Not-
wendigkäit revolutionärer Tat, — wer so klug und
glühend schon vor Jahren aussprach. was wir heute fühlen,
der ist unser Lehrer und Bruder auch wenn er Anarchist
ist, Schreckgespenst aller redegewandten Parteisekretäre.
Kein Tag vergeht, ohne daß die bürgerliche Presse in
allen Tonarten den Wert und die Bedeutung der politischen
Rechte besingt: Allgemeines Wahlrecht. Wahlfreiheit. Prel-
freiheit, Versammlungsrecht usw. | |
»Wenn Ihr solche Rechte habt, zum Teufel, weshalb
revoltieren ?? — so fragt man uns — »verbürgen sie nicht
die Möglichkeit aller nur denkbaren Verbesserungen, ohne
die Notwendigkeit, zu den Waffen greifen zu müssen?.
Untersuchen wır einmal den Wert dieser Freiheiten von
unserm Standpunkte. dem Standpunkt einer Klasse, die
wenig Rechte aber sehr viele Pflichten hat!
Wir behaupten nicht, wie man es so oft uns nachsagt.
dal die politischen Rechte durchaus keinen Wert für uns
haben. Wir wissen sehr gut, daß seit den Zeiten der Leib-
eigenschaft, ja, selbst seit dem vorigen Jahrhundert mancher
Fortschritt sich verwirklichte. Der Mann aus dem Volke
ist nichtmehr das von allen Rechten entblößte Wesen.
das er früher war. Unser Bauer vird nichtmehr durch
die Straßen gepeitscht wie sein Standesgenosse in Rußland.
Der Arbeiter, besonders der großen Städte, schätzt sich
nicht geringer wie jeder andere, wenn er seine Arbeits-
stäfte verläßt. Der Arbeiter ist nichtmehr, wie früher, das
ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 757
aller Menschenrechte bare Geschöpf, das von Adel und
Bourgeoisie als Lasttier angesehen wurde. Dank den Revo-
lutionen, dank dem vom Volke vergossenen Blut ist er
jetzt ım Besitze gewisser persönlicher Rechte, deren Wert
wir ganz und gar nicht geringschätzen.
Doch wir lernten unterscheiden. Wir wissen, dal ein
Unterschied besteht zwischen Rechten und Rechten. Es gibt
Rechte, die einen gewissen Wert besitzen, aber auch solche
die so gut wie keinen Wert haben. Diejenigen aber, welche
beide zu vermengen trachten, sind Heuchler und Voiksbe-
trüger. Es gibt Rechte, wie z. B. die Gleichheit der Bauern
und Adeligen im persönlichen Verkehr, die Unverletzlich-
keit der Person und noch viele andere, welche durch einen
zähen Kampf erobert wurden und welche dem Volke ge-
nügend wertvoll sind, um es . revoltieren zu lassen. wenn
man sie ıhm nehmen würde. |
Doch es gibt auch Rechte, wie das allgemeine Wahl-
recht, Preßfreiheit usw., welche das Volk nie und nimmer
in Gärung versetzen würden, weil es eben sehr gut heraus-
fühlt, daß diese Rechte, die so außerordentlich geeignet sind,
die herrschende Klasse, die Bourgeoisie, gegen die Gewalt
von Regierung und Adel zu schützen — im Grunde eben
nichts sind als Werkzeuge der herrschenden Klasse. um
ihre Herrschaft über das Volk zu handhaben. Diese Rechte
haben nichts gemein mit den auf Taten beruhenden Rechten,
von denen wir oben sprachen: sie gleichen ihnen nicht,
weil sie in Wirklichkeit den Massen des Volkes keinen
Schutz bieten. Wenn man gegenwärtig den ganzen Zierat
noch mit dem pompösen Titel »politische Rechte« bezeichnet,
so geschieht dies darum, weil unsere politische Sprache
nichts anderes ist, als ein unverstehbares, sinnloses Geschwätz,
erfunden von der Bourgeoisie zu ihrem Nutzen und
Interesse. |
** «
*
758 Kropotkin / Politische Rechte und
In der Tat. wie kann man von politischen Rechten
sprechen, wenn es nicht das Mittel ist, die Unabhängigkeit.
die Würde und die Freiheit derer zu sichern, die die
Macht, ihr Recht selbst zu beschirmen, noch nicht besitzen?
Welchen Nutzen hat solch ein Recht, wenn es kein Werk-
zeug zur Befreiung derer ist, die die Freiheit erstreben?
Die Gambetta. Bismarck. Gladstone haften gewil keine Prel-
und Versammlungsfreiheit nötig, sie schrieben was sie wollten.
vereinigten sich mit ıhren Getreuen und sprachen was ıhnen
beliebte. Sie brauchten einfach deshalb keine Freiheiten, weil
sie frei waren. Wenn es nötig ist, jemandem die Freiheit
der Presse und des Wortes zu garantieren, dann doch wohl
nur denen, die nicht mächtig genug sind, ihrem Willen
Geltung zu verschaffen. Dies war denn auch der natürliche
Ursprung aller politischen Rechte.
Von diesem Standpunkt stellen wir nun. die Frage: Sind
die politischen Rechte wirklich für die eingeführt, welche
sie einzig nötig haben.
Gewiß nicht! Das allgemeine Stimmrecht kann manchmal
bis zu einem gewissen Grade die Bourgeoisie schützen gegen
die zentralisierte Macht der Regierung, ohne daß jene ge-
nötigt wäre, ihre Zuflucht zu regelrechter Gewalt zu nehmen.
Es kann ferner dazu dienen, das Gleichgewicht herzustellen
zwischen zwei Parteien, welche um den größten Einfluß
kämpfen, ohne daß auch sie, wie es früher geschah, zur
Gewalt greifen müßten. Doch dies Recht ist vollkommen
wertlos, wenn es darauf ankommt, die Regierung umzu-
stürzen oder auch nur ihre Macht zu beschränken, die
Herrschaft aufzuheben.
Das allgemeine Wahlrecht ist ein ausgezeichnetes Werk-
zeug zur friedlichen Schlichtung von Streitigkeiten zwischen
den Beherrschten und Herrschern. Doch kann das be-
herrschte Volk irgendwelchen Vorteil davon haben? Die
Geschichte kann uns hierüber Aufklärung geben. Solange
ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 759
die Bourgeoisie fürchtete. das Stimmrecht würde in den
Händen des Volkes zu einer Waffe werden, welche sich
gegen ihre Vorrechte wenden könnte, hat sie es erbiftert
bekämpft. Doch als sie sich im Jahre 1848 überzeugen
konnte, daß das allgemeine Wahlrecht in Wirklichkeit nicht
zu fürchten. sondern im Gegenteil wie ein Zauber-
miftel geeignet war, das Volk einzuschläfern, da nahm sie
es mit Begeisterung an. Und jetzt ist die Bourgeoisie selbst
der eifrigste Verteidiger dieses Rechtes. Weshalb? Weil
sie erkannte, dal es eine großartige Waffe ist, die Macht
in ihren Händen zu behalten, obne fürchten zu brauchen.
ihren Interessen zu schaden.
* *
*
Dasselbe gilt von der Preſfreiheit. Welches war in den
Augen der Bourgeoisie das schlagendste Argument, die Frei-
heit der Presse zuzugestehen? Ihre Ohnmacht! Jawohl, ihre
Ohnmacht! De Giradin schrieb ein ganzes Buch über
die Ungefährlichkeit der Presse. . Ehemals. so sagt er in
diesem Buch, verbrannte man Hexen und Zauberer, weil
man dumm genug war, an ihre Allmacht zu glauben:
heute geschehen dieselben Dummbeiten gegen die Presse, die
man allmächtig wähnt. Doch diese Allmacht gibt es nicht.
Die Presse ist genau so harmlos und ungefährlich, wie die
Zauberer des Mittelalters. Warum sie also verfolgen? Es
ıst lange her. daß dies Urteil ausgesprochen wurde. Und
wenn jetzt Bürgerliche sich über Preßfreiheit streiten, welche
Gründe sind es, die sie zugunsten dieses Rechtes geltend
machen? »Seht nach England, der Schweiz und Amerika. da
ist die Presse frei, und doch ist dort die kapitalistische
Ausbeutung besser entwickelt als anderswo. Laßt nur ge-
fährliche Theorien entstehen! Wir haben Miftel genug, ihre
Stimmen zu ersticken. ohne dal wir gezwungen sind, unsere
Zuflucht zu regelrechter Gewalt zu nehmen. Und wenn ın
erregten Zeiten die revolutionäre Presse eine Waffe wird,
760 Kropotkin / Politische Rechte und
nun dann ist es noch Zeit genug, sie unter dem einen oder
dem andern Vorwand zu vernichten..
Mit dem Recht der freien Vereinigung ist es nicht
besser bestellt.
»Bewilligen wir ruhig die Freiheit der Vereinigung..
sagt die Bourgeoisie, »sie wird unsere Privilegien nicht
schädigen. Wir haben uns nur vor geheimen Gesell-
schaften zu fürchten, die öffentlichen sind just das beste
Mittel, die geheimen zu unterdrücken. Werden in einem
Augenblick der Überreizung die öffentlichen Vereinigungen
zu gefährlich für uns, dann haben wir immer noch die
Mittel in der Hand, sie zu unterdrücken, dann besitzen wir
die Staatsmacht noch.«
„Die. Unverletzlichkeit des Hausrechts — die mögt ihr
meinetwegen in die Gesetzbücher niederschreiben und über-
all verkünden. sagen die Schlauen unter der Bourgeoisie.
„Wir wünschen es nicht, daß die Agenten der Polizei uns
in unserm Hause überraschen, doch wir richten ein Cabinet
noir ein, um Verdächtige zu beobachten, wir bevölkern das
Land mit Spitzeln, wir halten ein Verzeichnis der Personen,
die uns gefährlich erscheinen, und bewachen sie überall.
Sehen wir etwa einmal, daß diese Unverletzlichkeit des
Hausrechtes uns schädlich ist, — dann zum Teufel mit der
Unverletzlichkeit, dann verhaften wir die Menschen in den
Betten und nehmen Haussuchungen vor, um alles durch-
zustöbern. Handeln wir dann nur ganz brutal: wer etwa
zu laut schreien und protestieren sollte. den sperren wir
ein und zu den andern sprechen wır dann: »Was wollen
Sie, meine Herren, Krieg ist Krieg!« Ohne Zweifel wird
man beistimmen.«
Und das Briefgeheimnis? — sagt es, schreibt es und
verkündigt es überall, daß der Brief unverletzlich ist. Wenn
der Postmeister eines Dorfes aus Neugierde einen Brief
öffnet. — enthebt ihn augenblicklich seines Amtes und
ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 761
nennt ihn einen ungehobelten Patron und Übeltäter! Sorgen
wir dafür, daß unsere gegenseitigen Geheimnisse, die wir
in unsern Briefen uns mitteilen, nicht bekannt werden. Be-
kommen wir aber davon Wind, daß eine Verschwörung
gegen unsere Vorrechte im Entstehen ist, dann öffne man
die Briefe und stelle, wenn es nottut, dazu tausende von
Beamten an. Sollte es aber jemand einfallen, dagegen zu
protestieren. dann antworten wir unbekümmert, wie jüngst
ein englischer Minister unter den Beifallsbezeugungen des
Parlaments: »Ja, meine Herren, schweren Herzens und mit
Widerstreben beschlossen wir, die Briefe zu öffnen, es blieb
uns eben kein anderes Mittel übrig. Das Vaterland (das
heißt Adel und Bourgeoisie) war in Gefahr!
* «
*
So sehen die sogenannten politischen Rechte aus.
Die Freiheit der Presse und Vereinigung, die
Unverletzlichkeit des Hausrechts, wie die
andern alle heilen mögen, sie werden nur so
lange respektiert, als das Volk sie nicht gegen
die privilegierten Klassen anwendet. Sobald
man aber diese Rechte anwenden will. um die
Privilegien zu beseitigen, wird man sie samt und
sonders über Bord werfen.
Und das ist sehr natürlich: der Mensch besitzt
nur die Rechte, die er sich durch ernsten Kampf
erworben hat, für die er jeden Tag bereit ist,
mit ganzer Person einzutreten. Daß man in den
Straßen unserer Städte nichtmehr Männer und Frauen die
Peitsche fühlen läßt, wie es jetzt noch in Odessa geschicht,
kommt daher, weil das Volk die Schergen in Stücke reifen
würde, wenn es den Herrschenden einfallen würde. Dal
sich kein Adeliger auf der Straße den Weg bahnt, indem
seine Diener links und rechts Stockbiebe austeilen. kommt
daher, weil man den Diener, der dies täte, auf der Stelle
762 Kropotkin / Politische Rechte und
totprügeln würde. Daß ferner gegenwärtig auf der Straße
und in öffentlichen Gebäuden eine gewisse äußerliche Gleich-
heit herrscht zwischen Arbeitern und Unternehmern, ist
darin begründet, dal dank den geschehenen Umwälzungen
ein Gefühl persönlicher Würde bei dem Arbeiter sich ent-
wickelte, das ıhm nicht erlaubt, Beleidigungen seines Herrn
zu dulden — doch nie deshalb, weil ihm etwa ein Gesetz
dieses Recht verbürgte.
« *
>
Es ist klar. daß in der gegenwärtigen Gesellschaft, die
ja nur aus Herren und Knechten besteht, eine wahre Frei-
heit nicht existieren kann, sie kann nicht existieren. so
lange es noch Ausbeuter und Lohnsklaven, Herrscher und
Beherrschte gibt. Daraus folgt allerdings nicht, daß wir bis
zu dem Tage, da die anarchistische Gesellschaft die bisherige
ablöst, die Presse geknebelt wünschen wie in Oesterreich.
das Recht der Vereinigung unterdrückt wie in Rußland,
die Unverletzlichkeit des Hausrechts eingeschränkt wie in
der Türkei. Gerade weil wir Sklaven des Kapitals sind. ver-
langen wir das Recht. zu schreiben und zu drucken was
uns gefällt, das Recht uns zu versammeln, uns zu organisieren
wie es uns gut dünkt, einzig und allein um das Joch des
Kapitals zu zerbrechen.
Doch es ist hohe Zeit, daf wir verstehen
lernen, daß keine gesetzliche Verordnung uns in
den Besitz dieser Rechte einsetzen kann. Sie
werden uns nicht verbürgt durch einen Wisch Papier, der
durch die geringste Laune unserer Herren zerrissen werden
kann: die Wahrung und Bürgschaft für die Erhaltung dieser
Rechte liegt einzig und allein bei uns selbst. Wenn wir
eine Macht sind, fähig. Achtung vor unserm Willen zu er-
wecken, dann wird es auch möglich sein, Respekt vor
unsern Rechten zu erreichen.
ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 763
Wollen wir das Recht haben, zu sprechen und zu
schreiben, was uns beliebt, das Recht, uns zu versammeln
und uns zu organisieren. Wohlan! Dann werden wir nicht
im Parlament um Erlaubnis fragen, die Freiheit nicht durch
ein Gesetz von der Regierung erbefteln. Organisieren wir
uns zu einer Macht, die imstande ist, den Unterdrückern
die Zähne zu zeigen wenn sie unverschämt genug sind,
unser Recht auf Schrift-. Rede- und Koalitionsfreiheit zu
beschränken. Seien wir stark, und wir können versichert
sein, daß niemand es wagen wird. uns das Recht, zu
sprechen, zu schreiben, zu drucken und uns zu vereinigen,
zu nehmen. Wenn es uns gelingt, so viel Bewußtsein in
der Masse zu erwecken, daß sie unter Umständen mit Ein-
setzung der ganzen Persönlichkeit bereit ist, für ihre Rechte
einzutreten und sie sich zu erkämpfen, dann wird man es
nichtmehr wagen, ihre Rechte anzutasten oder viele andere
zu verweigern, die sie zurückverlangen wird. Dann, und
nur dann, werden wir diese Rechte wirklich erringen,
während wir um sie sonst noch jahrzehntelang in den
Parlamenten befteln würden. Dann werden uns diese Rechte
sicherer verbürgt sein, als wenn sie von Zeit zu Zeit von
neuem auf einen Fetzen Papier geschrieben werden. |
Die Rechte kommen nicht von selbt. man muß
sie sich erkämpfen.
762 Kropotkin / Politische Rechte und
totprügeln würde. Daß ferner gegenwärtig auf der Straße
und in öffentlichen Gebäuden eine gewisse äußerliche Gleich-
heit herrscht zwischen Arbeitern und Unternehmern, ist
darin begründet, daß dank den geschehenen Umwälzungen
ein Gefühl persönlicher Würde bei dem Arbeiter sich ent-
wickelte, das ihm nicht erlaubt, Beleidigungen seines Herrn
zu dulden — doch nie deshalb, weil ihm etwa ein Gesetz
dieses Recht verbürgte.
* *
$
Es ist klar, dal in der gegenwärtigen Gesellschaft. die
ja nur aus Herren und Knechten besteht, eine wahre Frei-
heit nicht existieren kann, sie kann nicht existieren, so
lange es noch Ausbeuter und Lohnsklaven, Herrscher und
Beherrschte gibt. Daraus folgt allerdings nicht. daß wir bis
zu dem Tage, da die anarchistische Gesellschaft die bisherige
ablöst, die Presse geknebelt wünschen wie in Oesterreich.
das Recht der Vereinigung unterdrückt wie in Rußland.
die Unverletzlichkeit des Hausrechts eingeschränkt wie in
der Türkei. Gerade weil wir Sklaven des Kapitals sind. ver-
langen wir das Recht. zu schreiben und zu drucken was
uns gefällt. das Recht uns zu versammeln, uns zu organisieren
wie es uns gut dünkt, einzig und allein um das Joch des
Kapitals zu zerbrechen.
Doch es ist hohe Zeit, daf wir verstehen
lernen, daß keine gesetzliche Verordnung uns in
den Besitz dieser Rechte einsetzen kann. Sie
werden uns nicht verbürgt durch einen Wisch Papier, der
durch die geringste Laune unserer Herren zerrissen werden
kann: die Wahrung und Bürgschaft für die Erhaltung dieser
Rechte liegt einzig und allein bei uns selbst. Wenn wir
eine Macht sind, fähig. Achtung vor unserm Willen zu er-
wecken, dann wird es auch möglich sein, Respekt vor
unsern Rechten zu erreichen.
ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 763
Wollen wir das Recht haben, zu sprechen und zu
schreiben, was uns beliebt, das Recht, uns zu versammeln
und uns zu organisieren. Wohlan! Dann werden wir nicht
im Parlament um Erlaubnis fragen, die Freiheit nicht durch
ein Gesetz von der Regierung erbefteln. Organisieren wir
uns zu einer Macht, dıe ımstande ist, den Unterdrückern
die Zähne zu zeigen wenn sie unverschämt genug sind,
unser Recht auf Schrift-. Rede- und Koahtionsfreiheit zu
beschränken. Seien wir stark, und wir können versichert
sein, daß niemand es wagen wird, uns das Recht, zu
sprechen, zu schreiben, zu drucken und uns zu vereinigen,
zu nehmen. Wenn es uns gelingt, so viel Bewußtsein in
der Masse zu erwecken, dal sie unter Umständen mit Ein-
setzung der ganzen Persönlichkeit bereit ist, für ihre Rechte
einzutreten und sie sich zu erkämpfen, dann wird man es
nichtmehr wagen, ihre Rechte anzutasten oder viele andere
zu verweigern, die sie zurückverlangen wird. Dann, und
nur dann, werden wir diese Rechte wirklich erringen,
während wir um sie sonst noch jahrzehntelang ın den
Parlamenten befteln würden. Dann werden uns diese Rechte
sicherer verbürgt sein, als wenn sie von Zeit zu Zeit von
neuem auf einen Fetzen Papier geschrieben werden. |
Die Rechte kommen nicht von selbt. man muß
sıe sich erkämpfen.
764 Willy Haas
DER JOURNALIST
Versuche einer psychologisch-historischen Ortsbestimmung der intellektuellen Gruppe
VON WILLY HAAS.
I.
Aus einer mythischen Urzeit, in der der Begriff der
Bourgeoisie noch so etwas wie bewegenden und bewegten
Gehalt hafte. ragen etliche ehemals - ethische. Uberbleibsel.
undeutlich genug. als kaum mehr formal beachtete Anstands-
regeln. zuletzt nur noch als bloße petrefakte Zeremonien
in unsere großkapitalistische Luft hinein — völlig sinnlos
geworden, unverständlich, in der Luft hängend, scheinbar
ohne Wurzel und Nährstoff; dennoch vorhanden: sogar
irgendwie gespenstisch- beweglich. merkwürdig genug: wie
galvanisierte Leichenmuskeln .
Galvanısiert aber: durch walke Naturkräfte?
Darüber eben einige beiläufige Notizen, die eich später
in ein geschlossenes System, »Vom Geistigen und vom Staates,
einfügen sollen
Man betrachte den Betrieb einer durchschniſtlichen
Tagesredaktıon von heute und morgen. Paradox ist:
eine völlıg sinnlose, gleichwohl sentimental-höflich konservierte
Distanz zwischen Administration und Redaktion, Geldgeber
und geistigem Leiter dieses journalistischen Institutes. Petrifi-
zıert: denn diese Distanz ıst doch natürlich auf der Basıs
der gegenwärtigen materiellen Ordnung nıcht mehr lebendig.
Dennoch irgendwie gespenstisch vorhanden; zu einem ge-
spenstigen Leben galvanieiert. von Tag zu Tag. Wieso?
Interime Reformen. wie: materielle Sıcherstellung der
redaktionellen Unabhängigkeit durch Betriebsrat und lang-
fristige Kündigungsfristen vernebeln höchstens. Und doch:
es wırd vernebelt. Warum?
Der Journalist | 765
II.
Was ist denn primäre Pflicht des Geistes? Doch
wohl: einen materiell und also auch peychisch gegebenen
Zustand sichtbar auf seine klaren, organıschen, durch eben-
jenes materielle Skele bedingten Formen und Umrisse
zurückzuführen. |
Ist der Geistige »Revolutionäre? Dann muß er vorerst
— — nicht so sehr sagen. was iste; vielmehr: er muß durch
Tat jene Situation unzweideutig realisieren helfen. die im
Augenblick einzig und allein realisierbar. weil einzig und
allein materiell gegeben ist.
Aufbauend: um das Haltbare haltbar zu machen: de-
struktiv- produktiv: um das Abbruchsreife als ein faktisch
Ausgebautes ad absurdum zu führen. Immer aber: pour
Être sec, wie Stendhal sagt. Denn Nüchternheit ist die
einzig mögliche Form des revolutionären Rausches.
III.
Den seelisch hypertrophen Arabeskenheiligen aber be-
herrscht eben die Ideologie stärker als die Tatsache.
Und das gerade ıst der Kernpunkt des Problems: jeder
soziale Körper scheidet aus bestimmten wunden Stellen
seines Organismus solche körperphantastische Jenseits-Im-
ponderabilien aus, die seinem spezifischen sozialen Wundfieber als
spezifisches Antitoxin entgegenwirken. Um sıch zu erhalten,
als Organismus: Gesetz der Trägheit in der 1
Natur: Und wäre der Organismus noch so wertlos
Da eind Pfaffen. Mönche, Prediger. Offiziere eines
längst unwirklich gewordenen Jenseits, das einem staats-
feudalen Diesseits korrespondiert bat
Aber da sınd, primär gezeugt durch dieselbe physische
und psychische Unterernährung, die phantom - besessenen
ideologisch- liberalen Flagellanten. Säulenheiligen, J enseits- Heroen
der bourgeoisen Epoche: Die Bourgeoie- Geistigen: und ihre
766 Willy Haas
sekundären Proselytenmönche, die ernährt, was jene wenigstens
verzehrt hat: die Journalisten der bourgeoisen Periode.
Und da ist auch unser Redakteur . . .
Die klare, faktische Manifestierung des faktisch gegebenen
Zustandes würde heißen: vollkommene, offizielle. anonyme
Unterstellung des Chefredakteurs unter den kapitalistischen
Besitzer: als bloßen Schreiber. Das wäre subjektiv gewissen-
haft und objektiv von einer unermeßlichen ethischen Wirkung.
Aber nein: ihm, dem Redakteur. bedeutet eine Luft-
spiegelung von Gedanken- und Gewissensfreiheit« etwas. Flöchstes
Paradox: in einem gesellschaftlichen Organismus, in dem die Idee
gar nicht existieren kann (sollte man denken), weil sie
in diesem Organismus der kapitalistischen Welt doch weder
notwendig ist, noch Platz findet: weder als ein Nährendes
noch als ein Ernährtes Existenzfähigkeit besitzt: existiert sie
dennoch. Warum?
IV.
Wir sagten: Die klare, anonyme Unterstellung des
Chefredakteurs unter den kapitalistischen Besitzer wäre subjektiv
anständig und objektiv von einer unermellichen ethischen
Wirkung. Darüber wäre zu sprechen.
Subjektiv anständıg: Denn die Arbeit der Hände nährt
ihren Mann immer redlich; mag er sie nun an der Dy-
namomaschine oder an der Schreibmaschine ihre Kraft und
Geschicklichkeit aufwenden lassen.
Und wirklich: Die Schreibmaschine müßte, in dieser
kapitalistischen Zeit, das einzige erlaubte Produktionsmittel
des Journalisten sein.
Sie allein. ein Mechanisches. mechanisch durchaus, auch
mit dem Kopfe noch, zu Bedienendes. gewährleistet un-
zweideutig einen rein fabrıkmäfßigen, außergeistigen Journal-
betrieb. Sie stellt den Journalisten dorthin. wohin er gehört.
Wenn er sauber bleiben will: neben den ebenso vollkom-
Der Journalist 767
men, bis ins Psychische hinein, mechanisierten Lohnarbeiter
des kapitalistischen Taylor-Systems. Ein Unglücklicher neben
dem andern
Die Manipulation mit Schreibtedern, als welche aller-
band gefährlichen Miſſbrauch des Hausbrandes: »Geiste be-
fürchten läßt, müßte den journalistischen Kindern bei Strafe
des schwarzen Mannes verboten werden.
V.
Aber auch objektiv von einer unermeßlichen ethischen
Wirkung, wie wir schrieben:
Man überlege doch: Das bischen reale Stoſkraft. daß
der Intellektuelle noch hat, verpufft er gegen sich selbst.
Was seine Intention betrifft. so müßte die bourgeoise
Tagespresse ewig jene dämonisch-gefährliche Autorität be-
halten, die sie, als Instrument angeblich unabhängiger Männer
mit unabhängiger Meinung heute zum Teil noch hat.
Diese Macht würde durch die offizielle Unterstellung
sofort abgebaut werden: Herr X. wäre nur faktisch und
offenkundig das, was er ja doch ist: der angestellte Büro-
schreiber des Herrn Stinnes, der Beamte eines unerhört
erweiterten Reklamebüros der Stinnes-Konzerne, das eben
seine Reklame jetzt mit geänderten ideologischen Reklame-
waffen fortzusetzen beschließt... . . .
| Der große Irrtum des intellektuellen J ournalisten ist
bier die Annahme, daß einem J eden diese Situation ebenso
durchsichtig ist wie ihm selbst.
Verhängnisvoller Irrtum! Die völlige Unzweideutigkeit
dieser Situation: Fortsetzung der Reklame als politische
Weltanschaung ist. in ihrer ganzen schamlosen Nacktheit.
durchaus nicht allen Klar.
Und wäre sie es selbst: sie würde den Intellektuellen
der Pflicht nicht entheben, das innerlich unzweideutig Wahre
zur äußeren unzweideutigen Manifestation zu führen.
768 Willy Haas
VI. |
Und die Ortsbestimmung des Intellektes in dem gegen-
wärtigen sozialen Weltkomplex?
Ein praeservatıves oder antitoxitisches Sekret des wunden.
bourgeoisen Organismus. Kein aktıves Element. nicht
einmal ein passives: sondern ein bloßes Mittel: in der
ganzen, weitesten Bedeutung des Begriffes.
Der Begriff des «Miftelse aber enthält als wesentlichstes
Merkmal: daß das »Miĝele das primitivste Niveau des
Ich-Bewußtseins: Klarheit über die eigene dynamische Be-
stimmung; über Richtung und Intensität des Stoles, den
dieses spezifische organische Faktum durch seine bloße
organische Existenz führt (denn jedes orga-
nische Faktum hat, vermöge seiner Expansionsmöglichkeit,
als bloß Existierendes schon seine spezifische Stoß-
richtung und Stoßkraft): daß das »Miftele dieses hier bezeichnete
p rımıtivste Niveau des reflektiven Ich-Bewußtseins noch
nıcht erreicht hat e.
Und eine soziale Gruppe, im Stadium des Mittels
bedeutet: daß eben jene soziale Gruppe als Organismus
noch nicht das übertierische Niveau des Individuums er-
reicht hat, das Niveau des verfeinerten Organismus, als
welches Reflexion . . . . Reflexion und Selbstbestimmung
eventuell voraussetzt. |
Die soziale Gruppe des Proletariats hat jene reflexive
Möglichkeit durch Marx und Sorel bekommen. Die
intellektuelle Gruppe · steht also entwicklungsgeschichtlich.
unter dem Proletariat und ist als gleichstehender Mit-
kämpfer einstweilen noch kaum akzeptabel.
Naturgeschichtliche Notwendigkeit führt natürlich, wie
den Einzelorganismus. so auch den sozialen Organismus aus
dem Stadium des Unbewußtseins allmählich in jenes der
Reflexionsfähigkeit. Mit diesem Momente aber scheidet er
als »Miftele aus. Die Heiligen des früheren, die Asketen
Der Journalist 769
und Mönche des späteren Mittelalters waren noch antı-
toxitische Mittel des feudalen Systems. Der Entwicklungs-
zustand eines dämmernden Ich-Bewußtseins: die große
katholische Kirche, der Klerikalismus, ließ ganz automatisch
den Christen als »Mittele zurücktreten; seine Stelle nahm
das Militär ein, dessen primitive ideologische Gläubig-
keit denn auch bis zum heutigen Tag glücklich vor-
gehalten hat .
Beginnende N scheidet nämlıch eine
jede Gruppe ausnahmslos automatisch in zwei Hälften: in
die beharrende nihilistisch- konservative. der jede, auch die
dogmatische Realıtät um welchen Preis ımmer Lebensnot-
wendigkeit ist: als stützender Stab. Diese Hälfte -Klerikalisiert ·
sich. Die andere geht, wohin immer, ihren Weg weiter
In diesem sich spaltenden und teilweise klerikalisierenden
Stadium steht der J ournalismus eben heute.
Klerikalismus ist nämlich: Vorwegnahme der Realität
` als Dogma. Realität hat als primäres Merkmal: intellegible
Wahrheit. Daher ist Realität unmöglich; Menschen-
problem: ohne Wirklichkeit zu leben. Ein Menschenproblem,
dessen Theoretiker (und nichts mehr) der Metaphysiker
amt
Der Klerikale umgeht dieses Problem, weıl er es aut
keine Weise bewältigen kaun. Er konstruiert sich eine
imaginäre »Wirklichkeite, die jenes integrierende Merkmal:
intellegible Wahrheit. nicht besitzt: das Glaubensdogma.
Ihm fliegen die Herzen Aller jener zu, die das Erkenntnis-
problem zerreiſen und vernichten würde. Dies der ver-
führerische Glanz der klerikalen Seelenkonstellation.
In zehn, zwanzig Jahren wird der Begriff des in-
tellektuellen Journalismus dasselbe leicht-perverse Verführungs-
schillern für die unmöglichen Menschen haben, das seit
rund hundert Jahren. seit der Romantik. auf der sicht-
baren Außenfläche des Begriffs Katholizismus · irisiert. Ihm
770 Willy Haas
werden verfallen sein die Kinder jener Realitätsüchtigen
à tout prix von Friedrich Schlegel (über Nietzsche’) bis
zu Paul Claudel. Der Typus des Intellektuellen als erotische
Fata Morgana ist im Erscheinen
VII.
An ihren aktiven Tendenzen ist eine Gruppe psycho-
logisch zu fixieren. |
Eine solche Tendenz ist hier bereits erörtert worden:
die Tendenz der unmittelbaren Autorität »Besitzere gegenüber.
Wie nun ist ihre Tendenz der Autorität gegenüber
überhaupt, präziser ausgedrückt: dem Inbegriff der heutigen
Autorität, dem ephemeren Staatsgebilde, gegenüber?
Noch der geistigste Journalismus strebt schlechtweg eine
Sozialisierung des gesamten geistigen Betriebes, vom
Theater bis zur Tageszeitung und zum Kino hinab, an.
Hier erst dokumentiert sich jene tiefe Selbst-Unsicherheit,
die dem Begriff des sunbewulßten Mittelss charakteristisch
anhängen muß.
Was hat eine ihrer 88 bewufte
soziale Gruppe der Menschheit als Höchstes anzubieten?
Sich selbst. Die eigene, immanente, unterirdische, höchst-
individuelle, noch nicht verwirklichte Struktur ıhrer selbst: als
einer angenommenen und tiefst-geglaubten sozialen
Höchstform.
Das tut das revolutionäre Proletariat von heute ım
Kommunismus Tut es die intellektuelle Gruppe? Kann
sie es tun? Und welche Struktur wäre es denn, die sie
anzubieten häfte?
Welches ist überhaupt ihre höchsteigene soziale Struktur
dynamei »der Möglichkeit nache, um aristotelisch zu
sprechen? Diese Möglichkeit obendrein aufdasOptimistischeste
geschen?
Der Journalist 771
Abbau der zufälligen Autorität: mil Darüber hinaus
aber: freies Spiel der gegebenen seelischen Kräfte; körper-
liche Herstellung der natürlichen Beziehung aus den
seelischen Imponderabilien der Über- und Unterlegenheit.
des Hasses, der Bewunderung. des Neides, aller dieser
Elemente zusammen: also, historisch gesprochen: das vor-
sozialistische Ideal des Smith schen Liberalismus mit
seinem chaotischen: »Laisez faire, laissez passer le: ein
durchaus frühes und gröberes Stadium des sozialen Gewissens.
Und: Besitzen wir etwa nicht diese Gruppen. ehrlich
realisiert. in effigie, wenigstens als Miniatüre. in unzähligen
literarischen Klüngeln? Zum Beispiel in der Stefan-George-
Gruppe mit ihren Anrainern und unmittelbar innerlich
beteiligten Gegnern? Und ein Buch, wie Friedrich Wolters
„Herrschaft und Dienste: gıbt es nicht die Theorie
dieses sozialen Gebäudes wenigstens ehrlich? So ehrlich,
daß es von der erdrückenden Majorıtät der heutigen
Intellektuellen als magna charta einfach unterschrieben
werden müßte, hätten sie die Nüchternheit, die Selbstkontrolle,
die psychisch-historische Situation ihres Soꝛzial-Sinnes auch
wirklich zu überblicken ?
Was charakterisiert diese Situation? Zweierlei: eine
reale Lebendigkeit der Praedestinations-Idee. Und eine
reale Lebendigkeit des Autoritäts-Gedankens, aufgebaut auf
dieser imponderablen. Praedestination.
Ganz weit gefaßt: Die Antithese »Oben-unten« als
ein Sozial-Seiendes und Wirksames ... . .
Kann diese ephemere Wirklichkeit irgendeinmal den
Charakter einer » historischen Fiktione bekommen? Und
auf welehem Wege? Durch welche Kräfte? Ä
Vorerst scheint es: nicht. Denn jene graduellen
Beziehungen von Herrschaft und Dienst sind doch schein-
bar praedestiniert-geistige Beziehungen der Natur selbst:
Grad des Geistes, Talentes, der Genialität: wie sollte
772 Willy Haas
ihre Wirklichkeit ın der intellektuellen Sphäre jemals
unwirklich werden?
Aus sich selbst wird sie es niemals werden: denn der
Intellekt in sich selbst wird, ist er konsequent und
selbstgläubig. auch an die geistige Notwendigkeit einer
sozialen Verwirklichung jener prädestinierten Stufenhaftigkeit
glauben müssen.
Nein! es müßte ein völlig disparater Sozialismus hinzu-
und eintreten, den die intellektuelle Gruppe niemals aus
sich‘ selbst heraus wird zeugen können. Erst dieses Disparate
könnte die soziale Relevanz jener immanenten prädestinierten
Grad-Struktur ad absurdum führen. Erst dieses Disparate
könnte den Grundstein legen zu jener primären »Sozialı-
sıerung des Talentes«, die die psychologische
Voraussetzung ist für jede wirkliche Sozialisierung
einer jeden geistigen, geist-nahen oder vorgeblich-geistigen
Institution. | |
Der hier umrissene Vorgang ist, und zwar genau in
der psychologisch abgeleiteten Ar., als wirkliche Experiment
vorhanden; in jenem großen anonymen Werk über
»Proletarische Ethike, dessen anonymer Autor, wie Ludwig
Rubiner sagt, zum erstenmal sozialistische Ethik an seiner
eigenen Anonymität verwirklichte: den »Einzelnen als Zelle:
als Mitmenschen: als ungenanntes Wesen, dessen wertvollstes
Schicksal das Opfer seiner eigenen Sonderperson für die
Gemeinschaft iste uns vorführt.
VIII.
Und dennoch wollen sie sozialisieren; und zwar sofort:
auf der Stelle; und Alles: Theater. Kino. Redaktionen,
Buchverlage: alles, alles wollen sie dem Staate von heute
anvertrauen. So vertrauenswürdig ist ihnen dieser Staat
von heute. |
Der Journalist 773
Wir wollen von dem Meritorischen schweigen: ob
man durch solchen unerhörten Machtzuwachs auf ideellem
Gebiete den Staat von heute nicht bis ins Unangreifbare
stärkt: die Revolution für ungewisseste Zeit aufschiebt. .... .
Uns interessiert hier nur das historisch-topische Moment:
eine irgendwo anderwärts vorhandene, irgendwo anderwärts
seelisch fundierte Wahrheit wird einfach präokkupiert:
eine Wahrheit, die nicht ihre Wahrheit ist; eine Realität,
die nicht ihre Realität ist; eine imaginäre Realität; ein
Dogma: Die Sozialisierung als totes Dogma.
Wir kommen auf früher Angedeutetes zurück: der
intellektuelle Journalismus ist auf jenem Wege dämmernder
Reflexions möglichkeiten, die den Klerıkalismus in irgend-
einer Form als notwendige Begleiterscheinung absplittert.
Diese Hypothese: an neuer, erweiterter Perspektive
wiederum erwiesen
IX.
Die revolutionären Schichten Frankreichs verdanken
einer ihnen. wie keinem anderen Volke die wirkliche
geistige Gruppierung klarstellenden politischen Geschichte
ihre bestimmte und historisch gegebene Flaltung gegen den
Intellektualismus. |
Die große Revolution als Tatsache ist ihnen unver-
lierbar-höchstes, immer wieder produktive Gut. Die große
Revolution als reale Errun genschaf t ist geschichtlich
gegebenes Faktum, über das hinausgebaut werden muß. Die
Revolution als of fiz isse Tradition ist ihnen der
Inbegriff des zu Bekämpfenden e.o
Denn wirklich: um sie klarzustellen, müssen diese
Dinge auf dem Kopf stehen. Liberté. égalité, fraternité
muſ immer wieder zur akademischen Phrase geworden
sein. um diese großen Revolutionsideen immer wieder
regenerierbar zu machen
774 Willy Haas / Der Journalist
Aber auch den französischen Intellektuellen wie der
Geschichte Frankreichs muß nachgesagt werden, daß sie zu-
mindest ehrlicher sind als die Unsrigen. Ihre Thomas
Manns waren natürlich bis 1914 streng parallel: Voltärianer
und Revolutionaristen. Und dre geistige Fronde war zum
großen Teil nationalistisch, ıintegral-kirchlich, sogar royalıstisch :
Claudel, Gide, Péguy.
Nun aber: die größere Ehrlichkeit: republikanisch und
revolutionär-traditionalistisch war nicht nur dieser oder
jener Thomas Mann. sondern die ganze Intellektuaille
insgesamt. der ganze J ournalismus. das ganze Konversations-
theater, die ganze Wissenschaft, die ganze Unterhaltungs-
literatur: kurz gesagt: die Sphäre der intellektgebornen
Talent-Mittelmäfigkeit durchaus,
Nur aus solchen Aspekten heraus ist die streng
antuntellektuelle Haltung des einzigen wirklich revolutionären
Vorkriegsfrankreich, das der Name Sorel und das Programm
des Syndikalismus fast restlos bezeichnet, zu ver-
stehen...
Inwiefern der Krieg diese Situation verändert bat.
dies darzustellen, kann nicht Aufgabe dieser Studie sein.
Es sollte nur gezeigt werden, wie eine etwas charakteristischere
politisch-historische Konstellation (und auch diese ist, was
Frankreich betrifft. gewiß kein Zufall) sofort die einzig
wahre, einzig mögliche Distanz zwischen Revolution und
Intellektualismus aufrichtet.
Anatole France Gespräche über die Intelligenz 775
GESPRÄCH ÜBER DIE INTELLIGENZ
RANDBEMERKUNGEN, DIE PIERRE NOZIÈRE® IN SEINEN
GROSSEN PLUTARCH ZEICHNETE
VON ANATOLE FRANCE
Arist, Polyphil und Dryas
Polyßhil
Arist, wie kannst Du sagen, daß die Intelligenz das
Wesentliche im Menschen sei? Sie ist es nicht. Die Intelligenz
auf der überlegenen Stufe ıhrer wirklichen Entwickelung,
das heißt die Eigenschaft einige ewig übereinstimmende
Momente in der Verschiedenheit der Erscheinungen. zu er-
fassen, ist selten und unsicher bei den Tieren unserer Art.
Nicht von ihr lebt der Mensch. Sie regelt nicht die
Funktionen des organischen Lebens: sie befriedigt weder
Hunger noch Liebe: sie wirkt nicht mit im Blutkreislauf.
Der Natur fremd. ist sie der Moral. wenn auch nicht ge-
rade feindlich, so doch gleichgültig. Sie hat nicht die tiefen
Instinkte der Wesen, die übereinstimmenden Gefühle der
Völker, die Sien und Bräuche festgesetzt. Sie hat weder
die heilige Religion noch die mächtigen Gesetze eingeführt,
die sich in einer feierlichen Vorzeit auf der gemeinsamen
Entfaltung der Kräfte des elementaren Lebens aufbauten.
Was ich hier sage, soll nicht die Majestät göftlicher und
menschlicher Einrichtungen herabsetzen: Ihr versteht mich
doch. Der rührende Glanz der religiösen Bräuche setzt sich
aus dem formlosen Trümmerhaufen der primitiven Apotheken
zusammen: die Theologien haben die verehrungswürdige
Unintelligenz und die heilige Bestürzung unserer wilden
®) In seinen Memoiren identifiziert sich Anatole France mit Pierre Noziöre.
(Asmerk. der Übers).
776 | l Anatole France
Vorfahren angesichts des Schauspiels vom Universum zum
Ursprung. Die Gesetze sind nur die Verwaltung der Instinkte.
Sie sind den Gewohnheiten unterworfen. die sie zu unterwerfen
behaupten: das eben macht sie der Gemeinsamkeit erträglich. Früher
nannte man sie Bräuche. Die Grundlage dazu ist außerordentlich
alt. Die Intelligenz hat begonnen in den Geistern zu keimen,
als der Mensch bereits seinen Glauben, seine Siten, seine
Liebe und seinen Haß, seine gebieterische Idee von Gut und
Böse aufgebaut hafte. Sie ist von gestern. Sie stammt von
den Griechen, den Ägyptern, oder, wenn Ihr wollt, von
Akadiern oder Atlanten. Sie kam nach der Moral, was
sage ich, nach der Flöte und dem KRosenol. Sie ist in
diesem alten Tier eine reizende und verächtliche Neuheit.
Sie hat hier und da hinlänglich helle Strahlen hingeworfen,
das gebe ich zu. Sie strahlt angenehm in einem Empedokles
und in einem Galilei, die ein glücklicheres Leben geführt
häften, wären sie weniger begabt gewesen für die Erfassung
von einigen ewig übereinstimmenden Momente in der un-
endlichen Verschiedenheit der Phänomene. Die Intelligenz
hat eine gewisse Grazie, einen Zauber, das gebe ich zu.
Bei einigen Personen gefällt sie. Da sie heute selten ist
und, nur auf eine geringe Anzahl verachteter Menschen
beschränkt, lebt, bleibt sie unschuldig. Aber man darf sich
darüber nicht täuschen: sie steht im Widerspruch zum
Geist unserer Art. Wenn sie durch einen Unglücksfall, der
nicht zu befürchten ist, plötzlich die Menschenmasse durch-
strömte. würde sie wie eine Ammoniaklösung auf einen Ameisen-
haufen wirken. Das Leben stünde plötzlich still. Die
Menschen können nur unter der Bedingung bestehen, daß
sie das wenige das sie begreifen, schlecht begreifen. Un-
wissenheit und Irrtum sind dem Leben so notwendig wie
Wasser und Brot. Die Intelligenz muſ in der Gesellschaft
außerordentlich selten und schwach sein, um ungefährlich
zu bleiben.
Gespräche über die Intelligenz 777
So spielt es sich tatsächlich ab. Nein. es wird nicht alles in der
Welt zur Erhaltung der Wesen geregelt, sondern die Wesen
erhalten sich nur unter günstigen Umständen. Man mul er-
kennen, daß die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit instinktiven
Haß gegen die Intelligenz empfindet. Das tiefe dunkle Ge-
fühl ıhres Interesses treibt sie dazu.
Arist
Die Intelligenz, wie Du sie erklärt hast, ıst offenbar
die spekulative Intelligenz, die Fähigkeit zur Philosophie der
Wissenschaften. Und es scheint doch, daß diese Eigenschaft
nicht so neu ist wie Du sagst: es scheint im Gegenteil,
daß sie so alt ist wie die Menschheit. Der Mensch, der
als erster in seiner Höhle über dem Herdstein einen Bären-
schenkel röstete. war nicht nur ein Koch; er war ein
Chemiker, und die Philosophie der Wissenschaften war
ihm ganz und gar nicht fremd. Wahr ist, daß die Menschen
aus den richtigsten Grundsätzen die falschesten Schlüsse
ziehen. Nicht die Intelligenz ist der Menschheit gefährlich,
sondern die Irrtümer der Intelligenz. Die Eigenschaft, das
Weltall auf eine gewisse Art zu verstehen, ıst gerade an
die Organe des Tieres gebunden, das wir verkörpern, und
der Mensch ist weise geboren. Ich schmeichele mir, voll
und ganz in der Natur zu bleiben, wenn ich meine Arbeiten
über landwirtschaftliche Chemie und Archäologie betreibe.
Kurz, Polyphil, ich will. Dir zugeben, daß die Anlage zur
Abschweifung bei unsersgleichen groß ist, und daß der
Mensch gerade die Eigenschaft sich zu irren mit der größten
Macht ausübt.
Dryas
Das liegt daran, daß wir nur auf die positive Periode
eingehen.
Polyßhil
Ganz und gar nicht, Ihr erkennt mit mir an, dal die
Glaubenslehren, die Moral und die Gesetze nicht einer ver-
778 Anatole France / Gespräche über die Intelligenz
nunftgemäßen Auslegung der Naturphänomene entstammen,
daß eine freie Intelligenz dieser Phänomene die notwendigen
Vorurteile schwächt, und daß die Gabe viel zu wissen ein
verhängnisvoller Auswuchs ist.
Dryas
Das ist nicht ganz wahr.
Polyfhil
Das ist so wahr, daß die Theologen, die Goft als ein
äußerst intelligentes Wesen auffassen, nicht zulassen können,
daß er moralisch ist. Ohnehin ist die Idee eines moralischen
Goftes lächerlich.
Dryas
Die Moral ist bis heute auf den theologischen Ideen
aufgebaut worden. Wir haben eine fetischistische, eine
polytheistische und eine monotheistische Moral gehabt. Die
letzte war hart. Die Zeit ist gekommen, wo die Moral
auf der Wissenschaft aufgebaut wird
Poly$hil
Ich will Dir nicht vorwerfen, dał Du die Wissen-
schaften den Religionen gegenüberstellst. Aber, wenn man
die Dinge in der Nähe betrachten muß, Dryas, was sind
die Religionen, ich bie Dich, was sind sie, wenn nicht
sehr alte Wissenschaften, Astrologien, Arithmetiken, Meteoro-
logieen: abgestandene, zersetzte, trübe gewordene Arzneien:
Verordnungen einer sehr alten und fernen Polizeigewalt.
durcheinandergemengte Rezepte von Küche und Hygiene.
Grundsätze primitiven Ackerbaus und ungeselliger Lebensart?
Die positiven Aufschlüsse und die vernünftigen Anwendungen
werden mit dem Alter. das sie sonderbar und geheimnisvoll
macht, zu Dogmen des Glaubens und Zeremonien des
Kirchendienstes.
Auch unsere Wissenschaft wird Auswüchse des Aber-
glaubens zeugen. Darüber kommt man nicht hinaus. Intelligenz
ist der menschlichen Natur ein Abscheu. Religionen entstehen
Morbus Berolinensis 1229
unter unseren Augen. Der Spiritismus verarbeitet in diesem
Augenblick seine Dogmen und seine Moral. Er hat seine Andachts-
übungen und seine Konzile, seine Väter und seine Millionen
von Anhängern. Die Spiritisten gründen ihren Glauben auf
die Chemie,. so wie sie von Lavoisier geschaffen worden ist:
sie rühmen sich, die neuesten Ideen über die Beschaffenheit
der Materie zu haben. Sie behaupten eine gute, eine aus-
gezeichnete Physik zu besitzen.. Wir sind die Gelehrten!
rufen sie. Wie Arist sagte: »Man zieht die falschesten
Schlüsse aus den richtigsten Grundsätzen.
Arist
Ich merke. Polyphil, daß Du Dich mit der Intelligenz
herumstreitest, wie es verliebte Leute miteinander tun. Du
überhäufst sie mit Vorwürfen, weil sie nicht die Königin
der Welt ist. Ihre Herrschaft ist nicht absolut. Aber sie
ist eine vermögende Dame, nicht ohne Kredit in mehreren
ehrbaren Häusern und ihre mächtige Milde wirkt sogar in
in dieser großen Stadt, die an einem breiten Fluß in einem
fruchtbaren Tal gelegen ist.
- (Autorisierte Uebersetzung von Beatrice Sacks).
MORBUS BEROLINENSIS
Es gibt in Deutschland eine weit verbreitete Seuche, die — namentlich in Berlin
grassierend — fürchterliche Verheerungen anrichtet. Wer dieser Seuche einmal
verfallen ist, dessen Geisteskräfte bleiben Zeit seines Lebens geschwächt. In den
Vierteln der Armen sind die Folgen ebenso zu merken, wie am Kurfürstendamm,
während der Hungertyphus seltsamerweise nur die Straßen der Minderbemittelten
heimsucht. Diese Seuche, „Morbus Berolinensis“, heißt zu deutsch „B. Z. am
Mittag” (,, B. Z.“ ist vermutlich eine Abkürzung von „Berliner Zulukaffer“). Was
diese Seuche ferner von allen Epidemien unterscheidet, ist, daß sie nicht ihre Be-
kämpfer, die Ärzte, sondern im Gegenteil die Krankheitserreger, die Ullsteins,
reich macht.
Wo man das seltsame Ding anfaßt, das sich „Öffentliches Leben“ nennt
kommt man auf groteske Erscheinungen. Die Symptome der deutsch-bürgerlichen
25
780 Morbus Berolinensis
Tragikomödie liegen zu Haufen. Es bedarf nicht Karl Kraus scher Gewissenhaftig-
keit. die alles kontrolliert und das Beste auswählt, — jeder Blick, jeder Griff vermag
zu demonstrieren. Um diese Behauptung zu beweisen, kaufte ich eines Tages
ein Exemplar des Dummheits-Erregers „B. Z. am Mittag” und fand bei sorgfältiger
Lektüre hundert wertvolle Symptome in den Rubriken „, Feuilleton“, „Variété und
Kino“, „Kleines Feuilletton“, „Kleine Chronik (Wie niedlich das alles ist!).
„Sport“ und „Allerlei“, beinahe ebensoviele im politischen Teil, deren amüsanteste
hier kundgegeben seien.
*
An der Spitze des Blattes fett gedruckt eine „Eigene Drahtung aus Marien-
werder: f
. . . . Heute sprach ich einen Soldaten der roten Armee, der der
sogenannten baltischen Landwehr, die auch u. a. von baltischen Baronen
geführt wird, angehörte. Er sagte mir, daß schon vor längerer Zeit ein Kom-
pagniebefehl ausgegeben war, daß die Russen den polnischen Korridor auflösen
wollen.
*
Gleich daneben wieder eine „Eigene Drahtung” (Ja, wir haben's) über den
Streik ın Zittau. Da leider keines der Zittauer Bürgerkinder sich in diesen Tagen
an einem Prellstein das Knie geritzt hat, konnte über „blutige Ausschreitungen”
der Arbeiter nichts gemeldet werden; hingegen:
.. . . Der Oberbürgermeister von Zittau ist heute früh von Dresden weg-
gefahren und wird jeden Augenblick in Zittau zurückerwartet. Man rechnet
damit, daß er mit den
Vortruppen der Reichswehr
in die Stadt kommen soll. Die Reichswehr wird von der Bürger-
schaft mit großer Sehnsucht erwartet. Der Belagerungszustand
ist bereits über Zittau verhängt. Man glaubt nicht, daß auf andere
Weise als durch das Erscheinen der Reichswehr diè nor-
male Lage hergestellt werden kann.
Der Fünfzehner-Ausschuß,
der sich die Polizeigewalt angemaßt hat, herrscht immer noch.
Die Stimmung der einsichtigen Arbeiterschaft ist unbedingt gegen
den Terror und gegen den Streik
Dann eine Hofnachricht:
Der Reichspräsident besucht die technische Messe.
Reichspräsident Ebert sagte einer Einladung des Meßamts folgend, seinen
Besuch zur bevorstehenden technischen Messe in Leipzig zu.
*
Morbus Berolinensis | 781
Ferner:
Rede des Rektors Prof. Eduard Meyer.
Die Berliner Universität beging heute mittag den Geburtstag ihres königlichen
Stifters Friedrich Wilhelm III. in gewohnter Form mit einem Festakt in ihrer
neuen Aula. Die Feier erhielt ihr Gepräge durch die Rede des
jetzigen Rektors der Universität, Prof. Eduard Meyer, den seine Eigenschaft
als Geschichtsschreiber des Altertums nicht hindert, ein sehr lebhafter Gegen-
wartspolitiker zu sein, und der auch in einzelnen Stellen seiner heutigen Aus-
führungen seine parteipolitische Stellung erkennen ließ.
Prof. Meyer spricht einleitend von der unendlichen Ferne, in die die Zeit
des Stifters der Universität uns heute schon gerückt scheint. Muten uns doch
die stolzen Denkmäler und Bauten Berlins heute kaum anders
an als die Ruinen von Athen, von Theben und Ninive. . Die Vorgänge der
letzten Wochen, sagte der Rektor, müssen auch dem verblendetsten
Schwärmer für Völkerversöhnung und Millenium (?) der Ge-
rechtigkeit fühlbar gemacht haben, welches Schicksal uns unsere Feinde bereiten
wollen.
Aus einem Briefe, den ein beim Beginn des Krieges nach Amerika über-
gesiedelter Schotte am 6. Dezember 1918 einem Gesinnungsgenossen schrieb,
teilt Prof. Meyer einige Worte mit: die deutsche Niederlage und Unter-
werfung sei durch moralischen Zusammenbruch, durch Verrat
hervorgerufen. Aber die deutschen Taten seien wahrlich groß,
ein dauernder Besitz. Noch stehen wir — so fährt der Rektor fort —
in dem Fieberparoxysmus, in der Gedankenöde, die uns überall anstarrt. An
schöpferischen Ideen, in denen die Seele unseres Volkes sich offenbaren würde,
fehlt es in dem Getriebe der Weltverbesserer vollkommen. Soweit
es sich nicht um Fieberträume einer pathologisch gärenden
Zeit handelt, wirtschaften wir mit überkommenem Gut, mit seit langem eifrig
erörterten Lehrsätzen und Postulaten, die ein ganz anderes Gesicht bekommen,
sobald der Versuch gemacht wird, sie aus der Theorie in die harte Wirklichkeit
zu überführen.
Aus ihnen sucht man jetzt in aller Hast einen Neubau mit glänzender, aber
rasch abbröckender Stuckfassade zusammenzuflicken. Vergebens geht der
sehnsüchtige Blick nach einer willensstarken, schöpferischen Persön-
lichkeit aus wie sie vor 100 Jahren in Überfülle zu Gebote standen. Wo
eine solche fehlt, da haben die untergeordneten Kräfte freien Spielraum, da waltet
der anarchische Zufall des blinden Ungefährs.
Prof. Meyer schilderte dann ausführlich die große Aufgabe, die der Wissen-
schaft, insbesondere der historischen, im Leben der Nation gestellt sei, und ver-
teidigte die Universitäten gegen die Angriffe, die neuerdings gegen ihre Organi-
sation und ihre Vertreter gerichtet werden.
Das Groteske an diesem Bericht ist nicht so sehr die Tatsache, daß der monar-
chistische Fälscher Meyer Rektor an der Universität ın der Hauptstadt einer
Republik ist, — weit grotesker noch ist: daß die Mitglieder einer Zeitungsredaktion
782 Der Fall Jacobsohn-Hilferding
die davon leben, daß „wir (ominöses Wort!) zu allem ‚Stellung nehmen müssen,
daß die Scribenten diese Annonceninstitutes mit angeblich demokratisch-republika-
nischer Unterhaltungsbeilage hier keine „Stellung nehmen, — weil, nun weil sie
einerseits Respekt vor einen Wissen haben, das sie zu besitzen vorgeben und
denn . . Meyer ist ja kein Nikolai!
*
Weil aber alles Heitere auch eine Pointe haben muß, äußert der ., Wir“ des
Verdummungs-Erregers sich zu den an sich schon grotesken Verhandlungen über
die Kriegsschuld aut dem Kongreß der Zweiten Internationale:
Die neue Fassung der Verantwortlichkeitsformel mutet den Sozialdemokraten
zu, für ganz Deutschland die elsaß-lothringische Frage als nicht mehr bestehend
zu erklären. Dazu haben sie natürlich nicht das Recht. Ebensogut könnte man
aber auch von der sozialdemokratischen Partei die Wiedergutmachung der Kriegs-
schaden verlangen, wofür selbst die gefülltesten Gewerkschaftskassen nicht aus-
reichen würden. Die ganze Verantwortlichkeitsfrage ist auf ein falsches Gleise
geraten. Schon Lenin hat den Entente-Arbeitern den Rat gegeben,
einmal auf die Öffnung der Londoner und Pariser Archive zu dringen. Wenn
berechnet wird, daß die deutschen Sozialdemokraten um fünf Jahre zu spät Re-
volution machten, so könnte die Resolution ja für Franzosen und Engländer heute
einen genaueren Termin zum Revolutionsbeginn festsetzen.
Die „B. Z. am Mittag“ beruft sich auf Lenin! Nun, vielleicht kommt einst
der Tag, da diese schnoddrige Notiz den Kern eines Briefes bildet, der in Berufung
auf die schon am 3. August 1920 bekundete bolschewistische Gesinnung Sowjet-
Inserate erbittet. F. S.
DER FALL JACOBSOHN-HILFERDING
Im Heft 27/28 der „F Aktion“, erschienen am 10. Juli
1920, schreibt Franz Pfemfert einen Aufsatz, der mit
geringen Kürzungen hier abgedruckt sei.
Gemeinheit plus Feigheit, nur auf diese Formel ist die Art zu bringen, in der
die Hilferdinge gegen jeden Genossen vorgehen. der, dem Willen der revolutionären
Arbeiter gemäß, die Sumpfpolitik der USP-Bonzen bekämpft. Gemeinheit plus
Feigheit. Denn die Schandblätter „Freiheit“ und „Leipziger Volkszeitung“ wissen
mit ihrer gemeinen Gesinnung nichts anzufangen, solange der Gegner vor ihnen
steht. Wendet er aber für einen Augenblick den Rücken, dann fühlt die Feigheit
sich obenauf und sowohl in der . Freiheit“ wie in der „Leipziger Volkszeitung“
wird „mannhaft” gekämpft. —
Wilhelm Herzog ist, das wissen die Leser der , Aktion“, leitender Redakteur der
‚Hamburger Volkszeitung. Er hat in diesem Blatt, an das ihn das Vertrauen
Der Fall Jacobsohn-Hilferding 783
der Hamburger USP-Arbeiter gegen den Willen und trotz allen Schiebungs-
versuchen der Crispien-Zentrale gerufen hat, immer wieder die Praktiken der „, Frei-
heit“-Redaktion bekämpft. Die Hilferdingsippe schwieg (natürlich) und versuchte
nur auf Umwegen (über den unsäglichen Jacobsohn) Wilhelm Herzog mit Dreck
zu bewerfen. Gestellt, kniff das Gesindel. Niemand vom „Zentralkomitee wollte
etwas gesagt haben. |
Wilhelm Herzog ist nun, mit Zustimmung der USP-Genossen Hamburgs, auf
ein paar Wochen nach Moskau gereist — Curt Geyer vertritt ihn ın Hamburg
bis zur Rückkehr. Von Moskau aus kann Wilhelm Herzog nicht gut Lügen ab-
wehren. Und wenn Herzogs Moskaureise an die große Glocke gehängt wird, dann
ist es vielleicht sogar denkbar, daß der unbequeme Störer unserer Stampferpoiitik
nicht so schnell zurückkehren könnte.. also kalkulierten die Hilferdinge, und in
der ., Freiheit“ (28. Juni 1920) und in der „Leipziger Volkszeitung fanden Polizei-
gehirne diese unglaubliche Denunziation:
„Kein Unabhängiger in Moskau.
Die „Frankfurter Zeitung bringt die Meldung, daß bei der vorbereitenden
Konferenz des geschäftsführenden Ausschusses der Kommunistischen Internationale
in Moskau neben Vertretern anderer Länder Cachin und Frossard als Vertreter
Frankreichs anwesend seien, außerdem ein Vertreter des linken Flügels der deut-
schen Unabhängigen.
Bekanntlich waren Cachin und Frossard zwecks Unterhandlungen über den
Anschluß ihrer Partei an die dritte Internationale in Moskau, dagegen sind Ver-
treter der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands noch nicht in Rußland.
Es gibt infolgedessen auch keinen Vertreter des, linken Flügels, der an den Sitzungen
hätte teilnehmen können. l
Die Meldung könnte sich höchstens darauf beziehen, daß Wilhelm Her-
zog jetzt in Moskau sein Domizil aufgeschlagen hat. Sollte
er sich wirklich als Vertreter des linken Flügels der Unabhängigen Sozialdemo-
- kratie Deutschlands bezeichnet haben, so hätte er das ohne jede Berechti-
gung getan. Denn wir haben Grund zu der Annahme, daß das kurze Gastspiel,
das Herzog in unserer Partei gegeben hat, ein für allemal zu Ende ist. Herzog
ist kein Vertreter unserer Partei, denn es ist bekannt, daß das Zentralkomitee
die Hamburger Parteiorganisation aufgefordert hat, Herzog von der Reichtags-
kandidatenliste zu streichen, und daß Herzog nach Eintreffen dieses Briefes in
Hamburg schleunigst verduftet ıst, um weiteren für ıhn unangenehmen
Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen.“
Daß die Hilferdinge die Stirn haben, namens des „linken Flügels“ den Schnabel
aufzutun, ist eine Frechheit, gegen die sich der „linke Flügel“, d. h. die auf dem
Leipziger Parteitag siegreich — also in der Mehrheit gewesenen USP. Arbeiter zu
wenden haben werden. Daß ich mein „Domizil“ in Leipzig aufschlage, wenn ich
dorthin zu einem Kongreß fahre, wird nur sagen können, wer der Polizei einen
Wink geben will. Daß Wilhelm Herzog nicht „verduftet‘ ist, daß Wilhelm Herzog
keinerlei „Auseinandersetzungen zu scheuen hatte oder hat, dafür bürge ich! Und
das famose „Zentralkomitees weiß so gut wie ich, daß der augenblicklich Wehrlose
784 Der Fall Jacobsohn-Hilf erding
wiederholt mit aller Schroffheit darauf bestanden hat, daß das , Zentralkomitee
nicht unterirdisch, sondern offen gegen ihn auftreten mögel Das „ Zentralkomitee
drückte sich. Herr Hilferding, eine feine Quelle, schien versiegt — so lange
Wilhelm Herzog zur Stelle war. Vor seiner Abreise empfing
der Verleumdete die offizielle Erklärung, man habe sich über-
zeugt, er sei zu Unrecht verdächtigt, er sei verleumdet worden. Nun, da er
weg ist, nun, da er in Moskau den für die II. Internationale geborenen USP- Bonzen
lästig werden könnte, jetzt kommt das Pack mit „unangenehmen Auseinander-
setzungen ? Pfui Teufel, ist das ein Schuft, der die , Freiheit“-Notiz verfertigt
hat! Gegen solche Kreatur würde ich nur mit Ohrfeigen vorgehen können!
... Aber was hat man denn gegen Wilhelm Herzog überhaupt gehabt, als er
noch hier war? — Wer hat denn gegen ihn „gezeugt? Herr Siegfried Jacobsohn,
der durch literarische Diebstähle bekannt gewordene Herausgeber der „Schaubühne
Diese Begleiterscheinung des deutschen Pressebetriebs hat allerdings das Zeug, den
USP-Bonzen zu gefallen; in dem Blatte tummeln sich der Lyriker Heinrich Ströbel
und der Renegat Karl Kautsky. Es ist ein Papier, das heute USP-Führern zum
Munde redet, wie es im Kriege den Alldeutschen und den Politikern von der Art
des Herrn Robert Breuer zu gefallen wußte.
w
Hier ein paar Gesinnungsproben aus der Dreckschrift.:
Die Schaubühne vom 8. Februar 1917:
„Es liegt nahe, nachdem der uneingeschränkte Unterseebootkrieg eingesetzt hat,
daß nun gewisse Leute sich rühmen, ihn erzwungen zu haben.... Es wäre traurig
um das Deutsche Reich bestellt, wenn seine verantwortlichen Stellen sich durch
den Lärm der Straße, die Erregung der Versammlungen oder die Anmaßung von
Zeitungsartikeln zu ihren Maßnahmen drängen ließen. Glücklicherweise
hat sich das monarchische Prinzip, dessen Wert wir gerade
darum schätzen lernten, als ein unverrückbares Bollwerk
gegen die Willkür und den Vorwitz der Demagogie erwiesen.
Es war beinahe unnötig, war aber zur Belehrung der ungefragten Hitzköpfe ge-
boten, daß der Kanzler in seinen Auslassungen, die den Beginn des uneingeschränkten
U-Bootkrieges ankündigten, ausdrücklich betonte: alle berufenen Stellen hätten
sich in diesem Entschluß zusammengefunden, alle wären einig. An solcher Selbst-
verständlichkeit kann die Taktik einiger Boulevardblätter, bei dem Dank für den
neuesten Kriegsentschluſ geflissentlich die Reichsregierung anzunehmen, nichts
ändern.”
Die Schaubühne vom 22. Februar 1917:
.. . Insofern ist der Krieg, den wir durchleben, ein sittlicher Fort-
schritt; denn alle Beteiligten geben offen zu, daß es sich um irdische Werte
handelt, um Absatzgebiete, um Bergwerke, um Schiffahrt, um Siedlungsland für
Zeugungskraft. |
Die Schaubühne vom I. März 1917:
Die Unterseeboote sind bei ihrer Arbeit; die verantwortlichen Stellen
haben, unbekümmert um das Geschrei der Gasse, den Zeitpunkt für gekommen
Der-Fall Jacobsohn- Hilferding 785
gehalten, die Kriegsmaßnahmen gegen England bis zum denkbar höchsten Grade
zu steigern. . Von hier aus fordern sie jetzt die Formulierung der Kriegsziele.
Solcher Torheit gegenüber ıst auf die politisch sehr klugen Ausführungen des Frei-
herrn von Zedlitz zu verweisen; dieser Konservative hat das kurzsichtige Begehren
der Friedensdillettanten folgendermaßen abgefertigt: „Daß diese Forderung mit dem
Wortlaut und Sinne der Reichsverfassung unvereinbar ist, vielmehr einen schweren
Eingriff ın das verfassungsmäßige Recht des Kaisers bedeutet, wird ernstlich nicht
zu bestreiten sein. . . Es kommt hinzu, daß auch nur der Kaiser, bei dem: alle
Fäden der Kriegslage zusammenlaufen, die volle Kenntnis aller Tatsachen besitzt,
die für die Beurteilung der Frage, wann und zu welchen Bedingungen der Friede
zu schießen ist, entscheidend sind.“ ... Wir fordern aber, daß keine
verantwortliche Stelle falsche Nachgiebigkeit zeıgt und
auch nur andeutungsweise sagt, was zu verschweigen Pflicht ist.
Die Schaubühne vom 8. März 1917:
Es ist das eingetroffen, was wir erhofft haben und was notwendig war: Der Kanzler
hat die Erörterung von einzelnen Kriegszielen abgelehnt. Und auch sonst ist die
Deklamation von Minimalforderungen, ohne deren Verwirklichung Deutschland
angeblich verloren sein soll, einigermaßen belanglos gewesen. Alle Verständigen
begnügten sich mit der Formulierung des Kanzlers: „Dem Kriege ein Ende machen
durch einen dauerhaften Frieden, der uns Entschädigung gewährt für alle erlittene
Unbill, und der einem starken Deutschland ein gesichertes Dasein und eine ge-
sicherte Zukunft bietet. Alle Verständigen bekannten sich zu dem Grafen Tisza:
„Wir führen diesen Krieg, weil wir ihn zur Rettung unseres angegriffenen Lebens
führen müssen. Niemand (von den Narren abgesehen) zweifelt mehr daran,
daß der kommende Friede ein Ausgleichsfriede sein wird, kein Diktat, sondern
eine Verhandlung. Kein Verständiger zweifelt andererseits daran, daß bis zu diesem
Tage der Einsicht die Waffen ihre harte, ihre ungehemmte, ihre rücksichtslose
Sprache sprechen müssen. Selbstverständlichkeiten. Scheidemann bestätigte nur,
was der Kanzler gesagt hatte: „Wir vertrauen unserer bis an die Zähne gewapp-
neten Volkskraft . . ."
Die Schaubühne vom 12. April 1917:
Die Botschaft des Präsidenten, mit der er den Kongreß zu gewinnen wußte,
trieft von Ethik. Wir haben nie geleugnet, daß Heuchelei und. andere Kriminalität
zum Apparat der Politik gehören. Aber alles hat seine Grenze an der Lächerlich-
keit. Wilsons Kreuzpredigt gegen das barbarische Deutsch-
land ist eine Exzentrik-Nummer..
In solchem Zusammenhang wollte das Bekenntnis der Sozialdemokratie zum
monarchischen System, wie es der „Vorwärts in seiner wahrhaft historischen
Nummer vom 3. Aprıl 1917 abgegeben hat, verstanden sein. Klar und eindeutig
hat die deutsche Arbeiterschaft vor aller Welt festgelegt, daß niemand einen Keil
zwischen Volk und Krone zu treiben vermag.
Die Schaubühne vom 19. April 1917:
.. . wir müssen England, dessen imperialistischer Aktionsradius während des
Krieges zweifellos gewachsen ist, so weit gefügig machen, daß es unsern berech-
786 Der Fall Jacobsohn-Hilferdinę
tigten Lebensinteressen freien Raum gibt. Wir brauchen das Weltmeer; wir brauchen
offene Türen. Wir werden England nicht eher aus der Gewalt
unserer U-Boote freigeben, als bis es dıs Dasein eines starken, auf
Wachstum und Erfolg eingestellten Deutschlands anerkannt hat. . Daß dieser
Kampf von Deutschland gewonnen werden wird, ist genau so gewiß, wie die
Tatssche, daß das englische Imperium durch diesen Krieg nicht beseitigt werden
kann.
Die Schaubühne vom 26. April 1917:
Als der „Vorwärts“ sich zur Monarchie bekannte, war er
tapfer; es war dies immerhin ein Entschluß, der- einen Bruch mit langjähriger
Vergangenheit bedeutete. Er war eine Fortsetzung der tapferen Poli-
tik vom 4 August 1914.
Die deutsche Sozialdemokratie hat auch im Verhältnis zu ihren Wählermassen
keine leichte Stellung; die Führer mußten, je länger der von ihnen mitverant-
wortete Krieg dauerte, desto mehr damit rechnen, ihre Volkstümlichkeit ein bißchen
zu gefährden. Da nun aber die Unterstützung, die die Sozialdemokratie der Krieg-
führung zuteil werden läßt, nur dann eine wirkliche Förderung bedeuten kann,
wenn wirklich die breiten Massen hinter ihren Führern stehen, so müssen diese
notwendig den Stimmungswellen, die durch die Massen laufen, bis zu einem ge-
wissen Grade nachgeben. k
Über die Arbeitseinstellungen hat Hindenburg das rechte Wort
gesagt; niemand kann billigen, daß die Arbeiter ihre Wünsche, ob diese nun
auskömmliche Ernährung, neue politische Rechte oder den Beginn der Friedens-
verhandlungen suchen, mit Mitteln zu erreichen streben, die nur geeignet sind,
genau das Gegenteil von dem Erstrebten herbeizuführen.
Die Schaubühne vom 3. Mai 1917:
.. . Es will verstanden sein, wenn der Kommentar zum deutschen Heeres-
bericht, der niemals große Worte gebraucht hat, von diesen tagelangen Kämpfen
Nachricht gibt, wie sie nur gegeben werden kann, wenn dort im Feuer unserer
Geschütze wirklich Englands beste Truppenmacht zusammengebrochen ist. „In
der neuentbrannten Schlacht bei Arras am 23. April haben die Engländer die
blutigste Niederlage und die schwersten Verluste des ganzen Krieges erlitten.
Auf den photographischen Aufnahmen unserer Flieger aus etwa über 2000 Meter
Höhe sind deutlich die Leichenhauſen der in schweren Schlachttagen gefallenen
englischen Sturmtruppen zu erkennen.“ Empfindsame Gemüter werden beim Lesen
solcher Sätze aufschaudern. Wir wollen sie deshalb wahrhaftig nicht tadeln; aber
wir müssen sie daran erinnern: Es ist Krieg. Die Banalität solcher Er-
innerung kann uns nicht davon abhalten, die englischen
Leichenhaufen, ehrerbietig, mit tiefem menschlichem
Respekt und dennoch mit Genugtuung zu bewillkommnen.
Die Leichenhaufen bedeuten den Weg zum Frieden. Da sie aber nur sein können,
wo Stürme von Granaten die Luft eisern machen, so hat Gröner, so haben Hinden-
burg, Bethmann Hollweg, die Gewerkschaften und alle einsichtigen Männer recht,
Der Fall Jacobsohn-Hilferding 787
wenn sie darauf bestehen, daß keine Sekunde verpaßt wird, um unsere Rüstung
furchtbar und unwiderstehlich zu machen. Es wäre selbstmörderische
Phantasterei, wollte man von irgendeiner anderen Maßnahme, von
Erklärungen und Beteuerungen, von Friedensdemonstrationen und international
gerichteten Bekenntnissen eine stärkere Förderung des
Friedens erwarten als von der Verblutung der gegen uns
gerichteten Militärmacht. Nur im Zeichen dieser Ströme
von Blut, nur im Zeichen des zermalmenden Eisens, das
diese Ströme hervorbrechen macht, können wir davon
sprechen, daß das Ziel nahe ist.... Wir müssen den Kriegs-
willen der Gegner durch Blut ersticken.
Bei Beginn der letzten deulschen Offensive.
Die Schaubühne vom 21. März 1918:
Sollte Deutschland, was wir nicht wissen, was wir aber immerhin für möglich
halten, das Jahr 1914 und die serbische Untat für günstig befunden haben, so
könnte man doch nur festhalten, daß der Verlauf der Ereignisse ihm und seinen
Verantwortlichen recht gegeben hat. . . Einige Tage lang haben wir hier und da
ganz ehrlich an den „letzten Krieg geglaubt. Auch dieser Glaube ist dahinge-
fahren; wir wissen heute, daß unsere Sehnsucht noch von unsern Kindeskindern
geliebt werden wird, und daß die Politik langsam arbeitet. Dieser Krieg wird nicht
der letzte gewesen sein; aber er wird vielleicht der erste einer neuen Reihe sein.
Er ist auch nicht vom Zaun gebrochen worden, und es ist darum an ihm im Sinne
der bürgerlichen Moral auch niemand schuldig. ... Was nun auch immer die Archive
von sich geben mögen: an dem Grundsätzlichen solcher Auffassung wird das nichts
ändern. Dies gilt auch für die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky, mit der die
feindliche Propaganda, aber auch der inländische Pazifismus hausiert, und die im
übrigen schon wegen der sie befleckenden Eitelkeit, mit der sie geschrieben wurde,
ziemlich belanglos ıst. Was Lichnowsky enthüllt, ist bestenfalls die Unfähigkeit
Einzelner; aber selbst, wenn es daran gefehlt hätte, und wenn all das geglückt
wäre, was den Zusammenstoß im letzten Augenblick verhüten sollte: es hätte sich
nur um eine Vertagung handeln können.
Nun steht das Ende vor den Toren: eine neue Absteckung imperialistischer
Wege. Durch den Gemütsschleier des Selbstbestimmungsrechts der Völker hin-
durch können wir deutlich erkennen, wie Deutschlands Ausdehnungs-
bedürfnis sich im Osten befriedigt. Wozu hier Phrasen
machen? Das Notwendige geschieht. Finnland, die Aalands-
Inseln, Riga mit der nach Berlin in Verwahrung gebrachten
Herzogskrone und davon abhängig Livland, Estland und
Litauen bis hinunter nach Odessa: die Lage dürfte klar sein
und dürfte nicht einmal durch die polnische Schwierigkeit gestört werden... Kein
ewiger Frieden senkt sich hernieder. Aber eine neue Plattform für neue Entwick-
lungen ist gezimmert worden.. Schuld und Sühne sind nur sentimentale Vokabeln
für Schwäche und Kraft. . . 1914 wurde das deutsche Volk in seiner
788 Der Fall Jacobsohn-Hilferding
Ganzheit aufgerufen. Der Frieden darf diesem Heerbann
keine Entlassung bringen.
„Wir un d die Alldeulschen“
Schaubühne, 25. April 1918:
„Unsere letzten Wochenübersichten haben wieder einmal eine Anzahl Brief-
schreiber in Bewegung gesetzt. Insgesamt richten sie an uns die entrüstete Frage,
wodurch wir uns eigentlich noch von den Alldeutschen unterscheiden. Wir hätten
den Ostfrieden zwar kritisch betrachtet, aber ihn schließlich mit heimlichem
Schmunzeln entgegengenommen. Wir wären sichtlich dabei, die Juli-Resolution
abzubauen, und sagten deutlich genug, daß wir vor der Versetzung etlicher Grenz-
pfähle auch im Westen nicht zurückscheuen würden.. Wir sind beinahe zer-
knirscht und geben all die Schandtaten, die man uns da vorwirft, nicht ohne leise
Selbstironie, aber auch nicht ganz ohne Befriedigung zu.... Ob wir jemals an den
ewigen Frieden unerschütterlich geglaubt haben, können wir heut kaum noch sagen.
Aber wir möchten nicht grundsätzlich abstreiten, daß der Krieg, vielleicht sogar
die Serie der Kriege, die mit dem jetzt zu Ende gehenden möglicherweise anfängt,
die Voraussetzung” zu internationalen Verständigungen zwischen möglichst großen
Interessenkomplexen ist. . . Die Alldeutschen sind ungebändigter Instinkt; wir
möchten solcher Animalität ideesuchende Kritik sein. Wir hätten gegen die
Alldeutschen kaum etwas einzuwenden, wenn sie nicht, was aller-
dings zu der Lebensart solcher Erscheinungen gehört und darum kein Vorwurf,
sondern eine Feststellung ist, mit Unfehlbarkeit gegürtet wären. Begriffen sie die
Relativität ihrer Berechtigung und ihrer Einflußmöglichkeit, so könnten wir sie
als einen nützlichen Faktor im politischen Kalkül uns gefallen
lassen. Die Alldeutschen aber sind in dem Wahn befangen, daß jeder, der nicht
so will, wie sie gern wollen, mehr als ein Narr, nämlich ein Verräter ist. Und das
allerdings macht sich nicht nur unbequem, sondern oft genug und jedenfalls über-
wiegend zu Schädlingen. Über ihr Programm ließe sich diskutieren:
ihre Methode ist töricht und selbstzersetzend. Absolut betrachtet dürfte das Zu-
sammenspiel, wie es die Alldeutschen betreiben, nicht gar so viel minderwertiger
sein als das unsrige: die Monomanie aber, die von jeder intellektuellen Hemmung
entblößte Perversität, mit der sie sich ihren Zwangsvorstellungen hingeben, macht
sie für die Durchführung einer Wirklichkeitspolitik unbrauchbar. Sie sind mehr
Verräter als irgendein noch so gewitzter feindlicher Nachrichtenagent, denn sie
entblößen bis zur Schamlosigkeit ihre Pläne. Sie schwelgen in einem rauschartigen
Wiederkauen und Vorwegfressen dessen, was man unter gegebenen Umständen
wohl tun kann, jedoch nur dann mitteilt, wenn solche Mitteilung einen die Hand-
lung erleichternden Zweck ausübt, nicht aber das genaue Gegenteil hervorrufen
muß."
0
.. . Genug! Die Proben wirken, einfach hintereinandergestellt; Kommentare
scheinen nur die USP-Führer nötig zu haben, denn den Kautsky, Ströbel, Hilfer-
ding usw. sind die Leistungen der vielgeprüften Schaubühnenfigur sehr genau
bekannt. Das „Zentralkomitee weiß, daß der Herr Jacobsohn nur aus ohnmäch-
Der Fall Jacobsohn-Hilferding 789
tiger Wut gegen Wilhelm Herzog kläffte: Wilhelm Herzog hat den sauberen Herrn
gründlich erledigt und — Wilhelm Herzog hat außerdem das Verbrechen begangen.
eine sehr wichtige Tageszeitung zu schaffen, die „Republik“. Die sachliche Ent-
larvung seines politischen Schiebertums hätte der Jacobsohn schließlich noch er-
tragen. Aber diese Zeitung! Herr Jacobsohn, der immer mit größenwahnsinnigem
Neid nach Maximilian Harden hinschielt, hatte sich's schon so hübsch ausgemalt:
ER würde DAS große: deutsche Tageblatt starten.
Herr Siegfried Jacobsohn in der „, Schaubühne“ vom 18. März 1915:
Nach diesem Kriege wird ebenfalls unentbehrlich sein eine Zeitung, deren
Haltung irgendwie von der Tradition der alten Frankfurter Zeitung bestimmt ist;
die politisch die Linie von Bethmann Hollweg zu Wolfgang Heine zieht. Vor
vıerundvierzig Jahren hat Rudolf Mosse den Blick gehabt, ein Bedürfnis der jungen
Reichshauptstadt zu erspähen, und den Mut und die Kraft, es zu befriedigen.
Schafft mir zehn Millionen, und ich mache mit euch und dreißig Männern unserer
Generation diese Zeitung — eine Zeitung, wie Deutschland sie noch nie gesehen hat.
Er suchte nun einen „Genialen Millionär“:
Die Schaubü!.ne vom 8. April 1915:
Sie haben (20 läßt er sich apostrophieren), lieber S. J., in Ihrer „Antwort“
an die Herren S. G. und U. R. — „Gebt mir zehn Millionen, und icb mache
eueh die beste deutsche Zeitung — die Richtung gewiesen, in der die dringlichste
Aufgabe der nächsten Zukunft liegt.. . Bei solchen Gelegenheiten erkennt man
erst, wie wenig Lebenslust und Lebensleidenschaft in unsern jungen Millionären
steckte. Es gibt weit und breit keine Position, die machtvoller, seelenfüllender,
verführerischer wäre, als eine große, freie, führende Zeitung zu besitzen und zu
lenken. Kein Ministerposten, kein Fürstenthron gibt Gelegenheit, so systematisch
am Wesen der Nation zu bilden, zu formen, das deutsche Volk mit eignen Händen
fühlend zu gestalten wie diese tägliche Bearbeitung des Volksgeistes. . . .
Auf der Linie von Bethmann Hollweg bis zu Scheidemann und Haenisch müßte
für diese befreiende Zeitung von heute an gesammelt werden!.
Ach, wenn wir einen genialen Millionär hätten, der den Anfang machen wollte.
Hier liegt eine historische Mission auf der Straße.
Die Schaubühne vom 27. Mai 1915:
Es wird sich darum handeln, die Politik der Linie Bethmann Hollweg zu Scheide-
mann gegen Alldeutsche, Konservative, Nationalliberale und gegen Sozialdemo-
kraten zu propagieren.. Das Gesetz der geistigen Trägheit wird dafür sorgen,
daß unsere Bassermänner — ich meine den Politiker — Bassermänner, unsere
Haasen Haasen und unsere Oldenburger Januschauer bleiben. Die neue Zeitung
wird die Zeitung der Umlernenden, das Organ der Kriegsdemokraten, das Blatt
der regierungswilligen und regierungsberechtigten Linken sein! Das ist mit dem
„Vorwärts, der eines der konservativsten, lernunwilligsten, geistesträgsten Zentren
Deutschlands ist, nicht zu machen. ... Hat er nie bemerkt, daß der „Vorwärts“
so ziemlich das schwerstverständliche Blatt in Deutschland ist? . . .
790 Der Fall Jacobsohn-Hilferding
Ich glaube nicht, daß die Scheidemann, Lensch, Haenisch ihre Richtung durch-
setzen werden. Und die Haupthemmung hat ihnen der versteinerte „Vorwärts
errichtet!... Die unechte, nur auf Organisationszwang, nicht auf Leserlust beruhende
Herrschaft des „Vorwärts wäre kinderleicht zu brechen! Berlin darf nicht Karl
Liebknechts uneinnehmbare Phrasenresidenz werden.
Für eine solche Mission sollten sich nicht drei Redakteure finden? Ich nenne
dir zwanzig. die mit flammenden Herzen bei einer solchen Zeitung mitwirkten:
Friedrich Naumann, Paul Rohrbach, Karl Leuthner, der bedeutendste Kopf der
Revisionisten, Paul Lensch (so ziemlich der beste deutsche Leitartikler), A. Haenisch,
Ulrich Rauscher, Friedrich Stampfer, Hermann Wendel, Stefan Großmann, Adolf
Köster. Und was für ein Gewimmel der besten Köpfe, die auf dieses Zentralorgan
des neuen Geistes nur warten: Arthur Holitscher, Robert Hessen, Hermann Fried-
mann, Kurt Eisner, S. Saenger, Martin Buber, Gustav Landauer, Ernst Jäckh,
René Schickele, der Mannheimer Ernst Wichert (eine strahlende Energie), Alfred
Polgar, Paul Schlesinger, Hans Delbrück, Arnold Zweig, Legationsrat Riezler, Staats-
sekretär Solf und . . . Ihr ahnt ja nicht, wie viele aus der höchsten und besten
preußischen Bureaukratiel .
e
Der „geniale Millionär” ließ die „historische Mission“ des nur in diesem
Deutschland möglichen Konjunkturkerls Jacobsohn auf der Straße verkommen. Die
Drucksache der für das „‚monarchische Prinzip“ und gegen die Gasse „ Umlernen-
den“ (von Rohrbach bis Stampfer und Haenisch—Parvus) konnte nicht geschaffen
werden; Berlin blieb Karl Liebknecht ausgeliefert. Dagegen gab ein „genialer
Millionär“ Geld für Wilhelm Herzogs „Republik“ her, worüber der Recke Jacob-
sohn vor Wut beinahe erstickt sein soll — vie- die Umgebung des Kriegsdilettanten
überall erzählte.
Ist es noch unverständlich, daß Herr Jacobsohn allen Unterirdischen, die gegen
Wilhelm Herzog Persönliches auszukramen wünschten, die richtige Nummer wurde?
Was in der Schaubühne gegen Herzog gesagt worden ist — es sind so blöde, böe-
willige Verleumdungen, daß ich die Quelle — im Zentralkomitee der USP-Bonzen
zu suchen empfehle! Jedenfalls, USP-Arbeiter in Hamburg (und überall), solltest
du aus der Affäre ., Freiheit“, Leipziger Volkszeitung erkennen, daß die Besiegten
von Leipzig munter ihr Gewerbe fortsetzen. Und du hast zu schweigen, wenn
Gemeinheit plus Feigheit dich verhöhnen. So will es die „Parteidisziplin I...
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog
Derttlingerstr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdame-
Berlin / Druck der E. Gundlach A.-G., Bielefeld
DAS FORUM
4. Jahr August 1920 Heft 11
(Abgeschlossen am 6. September 1920)
RUS SISCHES NOTIZ BUCH
MAI— AUGUST 1920
VON WILHELM HERZOG
VORWORT
Die meisten Fremden, die nach Sowjet-Rußland kommen,
ähneln ein wenig jenem englischen Reisenden, von dem der
witzigste Kopf unter den Deutschen, Georg Christoph Lichten-
berg, erzählt, er war zum ersten Male nach Deutschland gekommen
und in Göttingen in einem Hotel abgestiegen. wo ihn ein rot-
haariger und stofternder Kellner bediente, worauf er flugs nach
England berichtete: die Menschen in Deutschland sind rothaarig
und stottern. |
Die Vokabeln des westeuropäischen Bürgers für Sowjet-
Rußland lauten: die Menschen hungern, das wirtschaftliche
Leben ist tot, Terror herrscht! Die Eindrücke und Erlebnisse,
die ich während der drei Monate meines Aufenthaltes in
Moskau, Petrograd, an der Wolga von Nishnij-Nowgorod
bis Saratoff. an der Front — in Smolensk und vor Borissow —
hate, waren so gewaltiger Natur, waren in ihrem Reichtum
so mannigfaltig. so wıdersprechend, so sich durchkreuzend, daß,
sie treffend wiederzugeben, die gleichwertige Form ım Ausdruck
für sie zu finden, mir nur selten gelingen wird. Aber was ich
versuchte, in den allzu flüchtig hingeworfenen Notizen, die ich
täglich niederschrieb, war: ohne günstige oder ungünstige Vor-
urteile. jedenfalls ohne Scheuklappen festzustellen. was ist.
D. b. — und schon wieder ist äußerste Zurückhaltung geboten —
192 Wilhelm Herzog / Vorwort
was für einen nicht russisch sprechenden Europäer ist, der
sich bemüht, diese neue Welt in sich aufzunehmen.
Und da ist zu sagen: aus dem Chaos der bisherigen Welt-
ordnung hat sich ein gewaltiger Staat gelöst, der über hundert
Millionen Menschen zwingt. auf Grund des revolutionären
Marxismus nach neuen Gesetzen, in neuen Formen zu leben.
Dieser kühne Versuch hat alle Merkmale des Unzulänglichen
nicht nur im Aufbau, sondern auch in dem, was er bisher
zerstörte, zerstören konnte. Sowjet-Rulland von heute ist noch
keine Kommunitas, wie sie sich die Führer der Kommunisten
denken. Vieles blieb stehen, mußte stehen bleiben, was dem
kapitalistischen Staat entwuchs. Nicht alle Formen und
Institutionen konnten restlos zerstört werden, wollte man die
Geburt des Neuen nicht gefährden.
Und dennoch, welche ungeheure Arbeit, welche ungeheure
Leistung ist vollbracht! In heroischer Anspannung der Kräfte
des russischen Proletariats ist eine der bisherigen Gesellschafts-
ordnung diametral entgegengesetzte sozialistische Ordnung ent-
standen: richtiger: im Entstehen begriffen. Dumm und plump
lügt, wer westeuropäischen Arbeitern das gegenwärtige Sowjet-
Rufland als Paradies vorgaukelt. Rlüger und raffinierter lügt
schon, wer es als Hölle malt. Aber: weder Paradies noch
Hölle. Sondern russische Erde, willkürlich. unökonomisch, bar-
barisch behandelt und verschlampt: Jahrhunderte hindurch
unter der Zarenherrschaft. Die Bewohner zu geregelter Arbeit
nur schwer zu disziplinieren. Neigung zum Nichtstun.
Geschehen lassen. Hinnehmen. was kommt. Einfluß des
Orients überall sichtbar: in den Sitten. in den Gebräuchen. im
Faulenzen wie im Schmutz der Häuser und Höfe, im Bau, im
Schmuck der Kirchen und Paläste. Und sind vielleicht — trotz allem
Schmutz und Ordnungsmangel — glücklicher als wir, diese Men-
schen! Jedenfalls sind sie unbeschwerter, heiterer, ungebundener.
Sie verachten die Pedanterie, ja selbst die Sauberkeit der Ord-
nungsdeutschen. Und Pünktlichkeit ist ihnen ein westlicher, auf
zum russischen Notizbuch 793
jeden Fall allzu bürgerlicher Begriff. »Nitschewo« — das ist
ein Hauptwort der russischen Sprache. Man hört es am Tage
wohl hundertmal. Im Theater, auf der Straße, in den Ämtern,
auf der Eisenbahn. Unübersetzbar. Und was bedeutet es
doch? Es kommt alles zu seiner Zeit. Macht nichts. Nur
nichts so gewichtig nehmen. Ins Preußisch-Kleistische übersetzt:
Gleichviel. Es kommt schon alles ins Reine. Ob ein
bißchen früher oder später, was liegt daran? Wir haben
ja soviel Zeit! — Der Russe hat nicht den europäischen Maf-
stab, nicht einmal das Gefühl für Zeit und Raum. Die Weis-
heit Buddhas grinst oder leuchtet überall hervor. Und wir.
hastige Europäer, sind oft geneigt, zornig zu werden über soviel
Zeitverlust, oder hochmütig zu lächeln über den Mangel an
Organisation und "könnten selbst von dieser »revolutionären«
Geduld ein wenig lernen.
Die kapitalistische Unordnung der Bourgeoisie wurde zu-
nächst abgelöst von dem Versuch einer sozialistischen Ordnung.
Richtiger: von einer antıkapitalistischen, antibürgerlichen. zum
Kommunismus strebenden Unordnung. Bürgerliche Anarchie
wurde — in dieser Periode des Überganges, des Bürgerkrieges,
des Mangels an Menschen und Kräften aller Art — ersetzt
durch sozialistische Anarchie. Immer bei höchstem, intensivstem
Bemühen, den jungen Staatsapparat zu vervollkommnen, die
Sowjet-Verwaltungen und Institutionen in allen ihren Gliedern
zu verbessern, zu steigern, um sich endlich einer kommunistischen
Ordnung zu nähern. Unreife. Dummheit, Atavismen aus der
alten Gesellschaft stehen hindernd im Weg. Bewußte und
und unbewufte Sabotage hemmen die Entwicklung. Der Auf-
bau kam nicht über die Grundmauern hinaus. So ist das
Ganze noch unwohnlich, kalt, leer und wenig komfortabel.
Denn über allem schwebt die ungeheure wirtschaftliche Not.
Und trotz alledem: Wie reich ist dieses arme Land! Un-
erschöpflich seine Wälder, seine Äcker! Aber seine Bewohner,
die des Notwendigsten zum Leben entbehren müssen, leiden
794 RS Wilhelm Herzog / Vorwort
Hunger. frieren. sterben dahin. Weshalb? Weil christliche
Mordstaaten ıhre Profitgier realer als ihren heuchlerischen
Pazifismus betätigen, weil sie die Grenzen dieses hungrigen
Landes überwachen und es vom Weltverkehr absperren. weil
das von ihnen mit äußerstem Naffinement erfundene und durch-
geführte System des Imperialismus immer neue Kriege ver-
ursachen muß, um dem revolutionären Rußland keine Ruhe
zur Erholung und zum Aufbau zu gönnen. Und deshalb
halten sie die eiserne Mauer. die sie durch ihre Trabanten
legen ließen, noch immer aufrecht.
Seit fast drei Jahren kämpfen die Russen einen in der
Geschichte beispiellosen Kampf gegen ihre Bedränger. Während
drei Millionen der besten und wertvollsten Männer draußen
an der Front kämpfen und der inneren Aufbauarbeit entzogen
werden müssen, beweist das russische Proletariat durch seine
heroische Entsagungskraft und durch seinen Fanatismus für die
Idee Tag für Tag, wie unerschüfterlich sein Wille zur Ver-
teidigung der von ihm begonnenen Weltrevolution ist. Aber
trotz Anspannung aller Kräfte und bereits erzielten erstaunlichen
Leistungen sind die Schwierigkeiten des Eisenbahn- und Trans-
portwesens — des Problems aller Probleme in Rußland —
kaum überwindbar. Den Mangel an Produkten und Kleidung
kann keine kommunistische Organisation oder Verteilung, kann
weder Lenin noch Trotzki beseitigen, so lange nicht Lokomotiven,
landwirtschaftliche Maschinen, Instrumente, Ersatzteile, Roh-
stoffe in das von sechsjährigem Kriege ausgesogene Land gebracht
werden können.
Schon aber birst die Mauer. Die Erkenntnis, der Trotzki
am Ende seiner Schrift »Von der Oktober-Revolution bis zum
Brester Friedensvertrag: Ausdruck gab, wird zur Gewiſheit:
der Krieg hat den Boden der ganzen kapitalistischen Welt
unterminiert. »Darin besteht., schrieb Trotzki. . unsere unbe-
siegbare Kraft. Der imperialistische Ring, der uns zusammen-
preßt, wird von der proletarischen Revolution gesprengt werden.«
zum russischen Notizbuch 795
Diese Zukunftsworte, nicht nur von den Repräsentanten der
Bourgeoisie sondern auch von den Lauen, den Schwankenden,
Halben. Zaghaften unter uns als agitatorische Phrasen gewertet
und belächelt, oft gehöhnt, sind heute handgreifliche Wirklich-
keit geworden. Aufgabe der europäischen und amerikanischen
Arbeiter wird es sein, diese Sprengung — von den russischen
Pionieren erfolgreich begonnen — zu vollziehen. indem sie
Sowjet-Rufland in seinem Kampf auf Leben und Tod mit
allen Mifteln unterstützen und sein Werk in ihren eigenen
Ländern fortsetzen. |
Schon leuchten die Signale unseres Sieges. Die stolzen
Sieger von Versailles verhandeln mit den Schnorrern und
Verschwörern von Brest-Litowsk. Sie tuns — beim englischen
Gof — ungern. Aber sie müssen. Gezwungen von ihren
weltwirtschaftlichen Kalkulationen und nicht zuletzt von den
immer stärker werdenden Forderungen der trotz dem Oppor-
tunismus ihrer Führer erwachenden Arbeiterschaft. Diese
hochmütigen Herrscher des Weltkapitals, die in London thronen,
können sich artig und nicht ohne Entgegenkommen mit den
rötesten Kommunisten-Führern, ihren Todfeinden, unterhalten,
wenn es Geschäfte zu machen gilt und wenn sie ver-
sprechen, wie Radek höhnte, mit ihnen nur »von Kohle und
Holz, Hanf, Leinen, Baumwolle, Eisenbahnen und anderen
Dingen zu reden, die ihre zehn Prozent wert sinde.
Die objektiven Voraussetzungen für den Entscheidungskampf
reifen in allen Ländern heran. Umheult von der übermächtigen
Weltpresse, verdächtigt, verleumdet und besudelt von ihr, muĝ
der ungleiche Kampf geführt werden. der ums Ganze geht und
dessen Endresultat — auf Grund historischer Erkenntnis —
nur unser Sieg sein kann. Das weiß, das fühlt die Bourgeoisie
aller Länder. Auch die Parolen haben sich vereinfacht.
Der dialektische Prozeß in der Geschichte zwingt die Halben
und die Lauen, dadurch auch alle Kleinbürger unter den Sozi-
alisten, sich zu demaskieren. Die sogenannten rechten Führer
2 1
796 Wilhelm Herzog / Vorwort zum russischen Notizbuch
der Unabhängigen konnten ihr antibolschewistisches Herz
nicht länger verleugnen. Trotz allen Solidaritätsbekenntnissen
und Versammlungsphrasen. Mit einem Ruck haben sie sich
ehrlich und loyale zu den Scheidemännern, ja weit darüber
hinaus in die Bekämpfungsphalanx gegen die Bolschewikı
gestellt. Ja sie haben — immer - loyal und ehrliche — dem demo-
kratischen Bürgertum und allen Feinden Sowjet-Ruflands für
Monate, für Jahre hinaus Waffen und Munition geliefert.
Auch dies klärt das Kampffeld, hellt es auf. Wir sehen:
der Feind steht ın unseren eigenen Reihen. Es ist der deutsche
Spießbürger, der Revolutions-Philister, der ungeistige, bornierte
Parteiboche. Und ihn gilt es zu bekämpfen, wollen wir den
Sieg nicht gefährden. Mögen sie uns wegen der durch unsere
Moskauer Erlebnisse nur noch gesteigerten Liebe und Freund-
schaft für das ringende Sowjet-Rufland in den Rücken fallen.
mögen sie uns weiter zu beschmutzen und zu verleumden
trachten, wır bringen so viel Heiterkeit und frohen Mut von
Moskau mit. daß wir hoffen, nicht nur mit der Bourgoisie
fertig zu werden, die ihrem Untergang entgegentaumelt. sondern
wir werden auch diese Zwischenstufen, diese Kompromil-
Gestalten. alle nicht Warmen und nicht Kalten innerhalb
der proletarischen Revolution zwingen müssen, sich selbst dort-
hin zu stellen. wohin sie gehören. Die ungeheure Bewegung,
in welcher die Welt sich gegenwärtig befindet, duldet kein
Halbdunkel der Überzeugung. des Entschlusses, des Willens.
Unpolitische mögen abseits stehn.
Die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse haben
sich heute so zugespitzt, daß in diesem mörderischen Kampf,
dem das deutsche Proletariat, und mit ihm das Weltproletariat
bereits die kühnsten Führer geopfert hat, jeder Verantwortliche,
der schwankt, dıe eigene Kampffront verwirrt und den Prozeß
der Revolution hemmt. Es gibt jetzt — in dieser gefährlichen
Situation für Sowjet-Rufland. d. i. für die Welt-Revolution-
kein Hin und Her mehr. Hier entscheidet sichs! Die kommu-
Wilhelm Herzog / Russisches Notizbuch 797
nistische dritte Moskauer Internationale ist das Zeichen. Das weit-
hin sichtbare Symbol! Unsere rote Fahne! Wer nicht für sie
ist, der ist gegen sie. Wer nicht für sie kämpft, der kämpft gegen sie.
Das bedeutet nicht — wie Sudermännische Helden als
politische Führer verkleidet mit hohlstem Theaterpathos ver-
künden — för uns Unterwerfung. Lecken des russischen Stiefels.
Buße in Sack und Asche, oder auch nur Verzicht auf Kritik.
sondern das gerade Gegenteil: intensivste Mitarbeit. gesteigerte
Selbstkritik innerhalb unserer Welt. Anspornen aller
revolutionären Kräfte für den Endkampf. Sammlung der Avant-
garden aller Länder, denen es nur gelingen wird, in dem ge-
fährlichen Ringen der gewaltigen, schwerbewaffneten, glänzend
organisierten, übermächtigen Bourgoisie Herr zu werden, wenn
sie sich Kopf und Herz nicht ım geringsten von der klein-
bürgerlichen Skepsis, der schlechten Luft der deutschen Spießer
anstecken lassen, sondern unbeirrbar das Vorbild der großen
russischen Revolution vor Augen demselben Ziele zumarschieren
werden. Durch die drite Internationale zum Siege der Welt-
revolution.
Berlin, 5. September 1920.
« «
>
15. Mai 1920.
Auf dem Schiff einer finnischen Gesellschaft, der „Torneo.
von Steftin nach Reval. Schiffsgäste: meist Finnen. Esten und
baltische Barone. Ihr Ziel: Helsingfors oder Reval.
Unterhaltung mit einem Passagier, der sich später als ein
in Deutschland sehr bekannter philosophischer Schriftsteller zu
erkennen gab. Die Bauern ın Estland, erzählt er, seien gegen
das sozialistische Regime. Die Gutsbesitzer seien enteignet gegen
eine imaginäre Entschädigung. Umwandlung bereite sich vor.
Man treibe. so klagt er, trotz dem starken Einfluſ der Entente
bolschewistische Politik in Estland. |
798 Wilhelm Herzog
Am Montag früh, nach zweieinhalbtägiger Fahrt, Ankunft
im Hafen von Reval. Hotels überfüllt. Schließlich in einem
kleinen sehr verschmutzten Gasthof gelandet. Die Wagenfahrt:
150 estnische Mark. Immerhin erlebt man zum erstenmal seit
sechs Jahren die freudige Überraschung. daß die deutsche Mark
irgendwo mehr gilt. und zwar das dreifache als in Deutsch-
land. Für 300 deutsche Mark erhält man 900 estnische Mark !
Am nächsten Tag ins Ministerim des Auswärtigen dieser
noch sehr jungen Republik. Ein niedriger Bau mit großen
schönen Räumen und alten Möbeln ım Inneren. Um die Er-
laubnis zu erhalten. die Grenze nach Rußland zu passieren,
ist ein Telegramm erforderlich, das 35 Mark kostet.
18. Mai 1920.
Besprechung mit einem der Führer der estnischen Sozial-
demokraten. Martna, der seine antıbolschewistische Gesinnung nur
schlecht verbergen kann. In einer Sitzung des estnischen Parlaments.
Darnach ins Gewerkschaftshaus mit dem Vorsitzenden der Un-
abhängigen Sozialisten, Genossen Kruus. Kruus ist ein noch
junger Maon von 29 Jahren, Historiker, klar und ehrlich.
Der Volksstaat Eesti ist eine ebertinische Republik en miniature.
Das Koalitionsministerium, das sich hier gebildet hat, besteht
aus zwei Mitgliedern der sozialdemokratischen Partei, drei
Mitgliedern der Arbeitsgruppe (liberal-sozial-demokratisch), drei
Volkeparteilern. drei Fachministern. Das Innen- und das Arbeits-
ministerium verwalten Sozialdemokraten.
Das Parlament Estlands besteht aus 120 Mitgliedern. Die
Wahlen ergaben folgendes Resultat: 41 Sozialdemokraten
sieben Linkssozialisten (darunter Kruus, Semper, ein estnischer
Dichter), 30 Mitglieder ‚der Arbeitsgruppe (Trudowikı), 24
"Mitglieder der Volkspartei (nationalliberal). 8 Agrarier (feudal).
6 HNerikale. 3 Mitglieder der deutschen Partei in Estland
(baltische Barone). 1 Russe.
Russisches Notizbuch nn 799
Die estnischen Sozialdemokraten sınd gekränkt, wenn
man sie mit den deutschen Sozialdemokraten auf eine Stufe
stellt. Sie lehnen die Gemeinschaft mit Scheidemann, Ebert
und David entschieden ab, ja sie äußern scharte Worte gegen
die verbrecherische Politik der Noske-Sozualisten. Aber sie
bleiben Anhänger der II. Internationale. also Kameraden der
von ihnen angeblich so bekämpften Scheidemänner.
Auffallend. — angesichts der Verhältnisse in anderen
Ländern — ist der Radıkalismus der Gewerkschaften Estlands.
In Reval selbst gehört die große Mehrzahl aller Mitglieder
zur radikalen U. S. P. oder ‚zur kommunistischen Parteı.
Im Zentralrat der Gewerkschaften, der aus 61 Mitgliedern
besteht. sitzen nur 3 Sozialdemokraten |
Vor dem Kriege beschäftigte Reval 25000 Arbeiter.
Werft-, Hafenarbeiter und Arbeiter der Textil-Industrie und
Waggonfabriken: jetzt nur 17 000 Arbeiter. Im September
1919 fand ein Kongreß aller estnischen Gewerkschaften statt.
Von den 434 Delegierten wurden 102 verhaftet. am selben
Tage an die Front geschickt. 26 der besten und energischsten
Führer wurden erschossen (darunter ein ehemaliger Minister
der sozialdemokratischen Partei).
In Reval erhielt der Arbeiter vom 1. Dezember 1919
an 30 Mark Tagelohn. Davon brauchte er täglich für
Lebensmiſtel 15 Mark. Er erhielt dafür: 1⁄2 Pfund Schweine-
fett oder 1 Pfund Rindfleisch. / Pfund Brot. 2 Pfund
Kartoffeln. z Pfund Grütze oder Erbsen täglich; z Pfund
Butter wöchentlich.
Ab 1. März 1920 wurde der Tagelohn um 30% erhöht
= 39 Mark.
Ab 1. Juni 1920 wurde der Tagelohn um weitere 30%
erhöht = 48 Mark. |
Vom 1. März 1920 an sind die Lebensmittelpreise um
800 Wilhelm Herzog
Alle Güter sind enteignet. Bisher nur 40%, parzelliert.
Gegen Entschädigung. die allerdings nur auf dem Papier steht.
Sie ist noch nicht gezahlt, und es gibt auch noch kein
Gesetz dafür. u
Vom 1. Juli 1919 bis zum 31. Dezember 1919 ver-
ursachte der Republik Eesti, die 1200000 Einwohner zählt,
die Militärmacht, die sie unterhielt. 1 Milliarde 300 Millionen
Kosten. Also 2000 Mark pro Kopf jährlich!
Am 25. Aprıl 1920 Gründung der U. S. P. Estlands
(früher Sozialisten-Revolutionäre).
21. Mai 1920.
In einem deutschen Buchladen einen Bädeker für Rußland,
einen Dante und einen Tolstoi erstanden. Der Bädeker (von
19121), künftig eine unerschöpfliche Quelle reinen Humors.
kostete 69 estnische Mark. Tolstoi s Krieg und Frieden; (in der
schönen Insel- Ausgabe) 65 Mark.
Polens Offensive, nach Zeitungsmeldungen, steht schon still.
Gegenoffensive der Bolschewiki hat bereits begonnen.
Mit den Genossen Kruus und Semper ins Lindencafé.
Das ist die Sehenswürdigkeit der -Residenz.. Die Mehrzahl
der Besucher in Uniform. Englische. italienische. amerikanische.
französische. estnische Offiziere und Soldaten. Für einen Nicht-
militaristen schwer unterscheidbar. Oft phantastisch gekleidet.
Alle stolz, selbstbewußt in ihrer Manneswürde und die Zeichen
ihres Ruhmes auf der Brust. — Spaziergang mit Kruus und
Semper nach dem Katharinental. Sehr schöner Blick aufs
offene Meer.
Am Abend 11 Uhr Abfahrt von Reval nach Moskau.
Auf dem Bahnhof eine estnische Kommission, die zu Ver-
handlungen nach Moskau fährt. Im Sowjetwaggon ein Kurier
Tichitscherins, eine verspätet eingetroffene englische Delegierte
Mil Bonfield. ein Mister Fisher aus Chikago vom amerikanischen
Hilfskomitee. Am nächsten Morgen in Narva, der letzten
Russisches Notizbuch 801
estnischen Station. Mit der Engländerın und dem Amerikaner
Fahrt durch die Stadt. Alte Festung. Der Fluß wild und
romantisch. In einer griechisch- katholischen Kirche Gottesdienst.
Ein Ersatz für dieses Opium ist noch nicht gefunden. Zurück
zum Zug. Einige Stunden wird rangiert. hin und zurückgefahren.
bis 3 Uhr mittag. Dann endlich nach fünfstündigem Auf-
enthalt in sehr langsamem Tempo weiter.
Vor Jamburg. der ersten russischen Stadt. von neuem
Kontrolle durch Soldaten der Republik Eesti. Dann
russische Kontrolle, gut aussehende kräftige Matrosen prüfen
streng und entschieden die Pässe der Reisenden. Obwohl alle
Formalitäten erledigt scheinen. dürfen wir noch nicht weiter.
Der Apparat funktioniert auf beiden Seiten noch nicht richtig.
Jamburg hat noch keine Anweisung zur Weiterfahrt gegeben.
Aber immerhin: russische Luft weht. Wir sind auf Sowjet-
gebiet. Wir fühlen uns freier und heiterer. Und wir üben
revolutionäre Geduld.. Ordnung und Disziplin werden die
Sowjetrepublik reften. Trotzkıs Wort, der Titel einer seiner
wichtigsten Schriften, verläßt einen von dieser Minute nicht
mehr. Nach J amburg, auf einer kleinen Station, treffen wır
einige hundert auf Abtransport wartende deutsche Kriegs-
gefangene. Die meisten sehr radikalisiert. Gute Revolutionäre.
Ein hochgewachsener junger Mann trit an mich heran, stellt
sich vor als Leutnant Bertram und mischt sich in die Unter-
haltung. die wir mit den Soldaten führen. Es ist der Offizier.
der bei Helfferich in Moskau tatig gewesen war und als Geisel für
Axelrod zurückbehalten wurde. Er klagt heftig über die estnische
Regierung. die ihn nicht über die Grenze lasse. während die
russische Sowjetregierung alles getan habe, um ihn zurückzu-
betördern. Er hat viel geliften, und der hübsche junge Mann
sieht in unrasiertem Zustande und ohne Kragen ın der Tat
etwas heruntergekommen aus. |
Abends weiter nach Petrograd. Wir kommen Pfinget-
sonntag früh 10 Uhr vor Petrograd an. Einfahrt nicht möglich.
822 Wilhelm Herzog
Erst 12 ½ Uhr miftags auf dem Nikolaibahnhof. Der Zug
nach Moskau fährt gerade fort. Wir müssen bleiben.
Erster Eindruck: Die ungewöhnliche Sauberkeit der Straßen.
Man sıeht keine Bürger. Die Geschäfte geschlossen. Die goldenen
Kuppeln der Kirchen. Durch den Newsky-Prospekt nach dem
Winterpalais. Die Newa. Drüben die Peter-Pauls-Festung.
An der Newa die verlassenen Paläste der Großfürsten, des
Adels und der Groß-Bourgeoisie. Jetzt überall Sowjet-
institutionen. Kinderheime und Büros. Ä
Der Vorsitzende der kommunistischen IIL Internationale
Sınowjew, der im ersten Sowjethaus, dem früheren Astoria- Hotel
wohnt; ist für einige Tage nach Charkoff gereist. Wir besuchen
die Isaakskırche und werden Zuschauer einer nach altem Rhytus
durchgeführten Hochzeit. Abends 9 Uhr 30 nach Moskau. Mit
der sehr reformistisch gesinnten englischen Genossin Bonfield
Gespräch über Henderson. Sie will es nicht glauben, daß er der
englische Scheidemann ist, und ist sehr böse wegen dieser
Charakteristik. Nachts Lenins »Notizen eines Publizisten« in
Heft 9 der »Kommunistischen Internationale gelesen. Klar, einfach
und unwiderlegbar. Darauf als Kontrast eine in Reval gekaufte
Kriegs-Broschüre eines deutschen Junkers: Mit der Eisernen
Division im Baltenland.« Dumm, brutal und ahnungslos. Verfasser
Korvettenkapitän Freiherr von Steinacker. Die Schrift ist
charakteristisch für die Möglichkeiten in der deutschen Re-
volution. 1920 in einem Hamburger Verlag erschienen. der
sich nach eigener Angabe die Aufgabe stellt. nationale Politik
mit liberaler Wirtschaftsordnung und sozialem Ausgleich zu
verbinden. Alldeutsche und Demokraten in trautem Verein.
Ein Kaiserlicher Seeofhzier. ein Baltıkumer par exellence als
Truppenführer republikanisch sein sollender Soldaten.
24. Mai 1920.
Endlich 9 ½ Uhr abends in Moskau. Vom Bahnhof im
Auto in eins der Sowjethäuser, das frühere Savoy-Hotel.
Russisches Notizbuch 803
Erster Eindruck auf der Fahrt: Leere, Hunger, Schmutz undElend.
Jedes Hotel hat an Stelle des Hotelleiters einen Kommandanten.
Wir trafen es unglücklich. Der Kommandant war zufällig
nicht anwesend. Und sein Stellvertreter auch nicht. Wir
mußten eine kleine Stunde warten, und ich wurde dann in
ein noch nicht aufgeräumtes Zimmer geführt. Es sah toll aus.
Das Bett war offenbar vor einigen Stunden von einem anderen
Gast verlassen worden, der das Zimmer seit mehreren Wochen
inne gehabt hate. Frische Wäsche war nicht zu beschaffen.
Alles machte einen sebr verwahrlosten Eindruck Das Hotel,
früher sicherlich. eins der besteingerichteten und modernsten
Hauser Moskaus — durch 2%, Jahre dauernden Bürgerkrieg.
durch Leerstehen, Mangel an Reinigungsmitteln, an Personal,
durch Diebstähle. durch Barbarei eines Teiles seiner neuen
Bewohner, die den kapitalistischen Komfort noch micht zu.
würdigen wußten, und Werte, die sie aus Selbsterhaltung
hatten bewahren müssen, nicht achteten und zerstörten, völlig
heruntergekommen — dieses Hotel hate der Bürgerkrieg wie
die meisten anderen Häuser gezeichnet. Man sah ıhm seine
Erlebnisse an. Es war verwandelt und es bot einen jimmer-
lichen und elenden Anblick durch seine Verunreinigung.
Sehr deprimiert wanderte ıch des Nachts ın das nahe
gelegene Volkskommissarıat für Auswärtige Angelegenheiten.
das im früheren Hotel Metropol untergebracht ist. Man
hae mir gesagt, daß infolge der eigentümlichen Arbeitsweise
Tschitscherins dieses Kommissariat in der Nacht geöffnet sei
Tschitscherin pflegt nämlich die ganze Nacht durchzuarbeiten,
von abends 7 bis morgens 8 oder 9 Uhr. Nach dieser
Arbeitsmethode muß sich ein Teil seiner Beamten natürlich
richten. Und so fand ıch denn ın der Tat einen seiner
Sekretäre -nachts um 2 Uhr in seinem Büro. Auf seine
Frage, ob ich eine gute Unterkunft gefunden hätte. schien es
mir richtig. ihm aufrichtig zu erwidern. Er sandte sogleich
einen seiner Untergebenen mit mir, um für ein sauberes Logis
804 Wilhelm Herzog
zu sorgen. Aber für diese Nacht war alle Liebesmüh ver-
gebens. Ich mußte also wohl oder übel in diesem wenig an-
heimelndem Raum übernachten. Da ıch aber lieber auf der
Erde schlafe als in ein schmutziges Bett zu gehen, so legte
ich mich in Kleidern zunächst auf das arg ramponıerte und
verwanzt ausschauende Sofa. Schlaf konnte ıch nıcht finden.
Bald hörte ich ein leises, nach und nach stärker werdendes
Geräusch. An der Wand raschelte es. Ich stand auf, knipste
das elektrische Licht an und bemerkte unterhalb des Fensters
an der Dampfheizung eın sehr liebes und neugierig drein-
schauendes Mäuschen. Es hafte offenbar heftigen Hunger. Ich
legte ihm ein Stück Brot und ein Stück Käse zum Nacht-
mahl hın und spielte mit ihm, da es ganz zutraulich wurde,
die Nacht durch. Als es dämmerte, ging ich hinunter und
‚machte einen Spaziergang durch die Straßen. Die Sonne
söhnte mich mit vielem aus. Die Fremdartigkeit der Stadt, die
goldenen Kuppeln der zahllosen Kirchen, an denen man vorüber-
kommt, das Gemisch von Orient und Okzident fesselt den
Blick des Beschauers. Die Straßen fingen an belebt zu werden:
im Gegensatz zu Petrograd herrscht ein buntes, mannigfaltiges.
oft absonderliches Treiben auf den Moskauer Straßen. Autos
rasen mit übergroßer Geschwindigkeit durch die flutende
Menge. Vier- und fünffach überfüllte Straßenbahnen werden
an den Haltestellen umlagert und an ihnen hängen Männer,
Frauen und Kinder vorne, hinten, auf den Trıftbreftern, auf
der Abschlußstange in selbstmörderischer Weise. Man mul
es aufgeben mit einer Straßenbahn mitzukommen, ohne
diplomierter Akrobat zu seın.
Ich ging ins Nationalhotel zur Genossin Balabanowa.
Auch in diesem Hotel wohnen nur Angestellte und Beamte
der Sowjetregierung. Das Nationalhotel war früher das vor-
nehmste Hotel Moskaus. Es ist auch jetzt gut gehalten, die
Treppen sind sauber. die Zimmer und die Möbel unversebrt
und rein gehalten. Im Zimmer der Genossin Balabauowa sind
Russisches Notizbuch 805
die Möbel mit Schutzdecken überzogen. Und die kleine Frau,
deren Berühmtheit fälschlich darın allein besteht, daß sie acht
oder neun Sprachen ausgezeichnet beherrscht. ist ein kluger.
tief gebildeter und gütiger Mensch. Sie steht seit J ahrzehnten
in der Bewegung. ist eine radikale Marxistin und sie steht
mit ihrer Liebe als sozialistische Kämpferin zwischen zwei
sehr entgegengesetzten und dennoch verwandten Nassen:
Italienern und Russen. Sie fühlt sich Italien wahlverwandt:
se hat viele Jahre dort gelebt. Italien ist ihr zur zweiten
Heimat geworden und sie spricht italienisch nicht wie die
anderen Sprachen, die sie beherrscht: englisch, französisch.
deutsch, schwedisch, spanisch, sondere wie ihre Muftersprache.
25. Maı 1920.
Am Nachmittag in das Haus der III. Internationale: zu
Radek.
Der sehr geschmacklose Bau ist das Palais, in dem der
deutsche Gesandte. Grat Mirbach. ermordet wurde. Der
frühere Besitzer dieser typischen Parvenüvilla war ein Herr
Berg. ein reicher Moskauer Fabrikant. Nach Mirbachs Tode
zog Herr Helfferich. der betriebsamste. unter den wilhelminischen
Ministern. für einige Wochen in dieses Haus ein, das ganz
dem Stile Wilhelms II. entspricht.
Es ist schade, daß infolge des Mangels an geeigneten
Gebäuden die III. Internationale gezwungen war, hier ihr Heim
aufzuschlagen. Karl Radek, der vor einigen Monaten aus dem
Berliner Kerker. aus der Moabiter Bastille der Lehrter
Straße nach Rußland zurückgekehrt ist. wurde zum Sekretär
der III. Kommunistischen Internationale gewählt. Und sein
lebendiger, ewig fluktuierender Geist arbeitet fieberhaft. Sein
an die deutschen Romantiker (mit einem Schuß polnischen
Judentums) erinnernder Kopf ist geladen mit Witz und
Energie. Er schreibt täglich zwei Leitartikel. einen für die
»Prawda« und einen für die -Iswestija- und oft noch einen
806 Wilhelm Herzog
dritten. der durch Radio nach Christiania gefunkt wird. Er
empfängt täglich Besuche von mehr als einem Dutzend Dele-
gierter aus allen Ländern der Welt. Er erteilt Rat und gibt
Auskunft. Er präsidiert Sitzungen der IIL Internationale und
nimmt teil an den Konferenzen des Executiv-Komitees der
Zentralkomitees der Parteı und zahlloser anderer Körper-
schaften. Er hält Vorlesungen ın der Arbeiteruniversität und
vor den Offizieren der Roten Armee. Er spricht in Ver-
sammlungen, auf Kongressen der zentralen und lokalen Sowjets.
Und alles dies ohne Oberflächlichkeit, nicht leichtfertig. sondern
nach gründlicher Vorbereitung. sachkundig. äußerst ernsthaft
(wenn auch nıe ohne Witz). Das Problem beherrschend, das
er scharf anpackt, darstellt und zergliedert. Es ist eine Lust
ihm zuzuhören. Er ist außerordentlich reich an Einfällen: er
hat eine ungewöhnliche Personal- und Sachkenntnis. Ihm ist
aus der Bewegung des Proletariats aller Länder jedes Datum,
jedes Geschehnis. jeder Führer, ja jede einigermaßen wichtigere
Person bekannt. Dazu kommt eine große historische Bildung
und eine sehr klare Erkenntnis der weltpolitischen Zusammen-
hänge.
Er ist ein glänzender Stilist. Und obschon er die russische
Sprache keineswegs wie ein geborener Russe beherrscht, be-
wundert man seine Aufsätze wegen ihrer Klarheit und der
Leuchtkraft ihrer Bilder. Sein quecksilbriger Geist reagiert auf
alle Eindrücke des menschlichen, politischen und geistigen Lebens.
Kurz: eın hochbegabtes Individuum, der geborene Propagandist.
der Agitator ohne Rücksichten und ohne Hemmungen. Er kennt
keine Kompromisse, sobald es gilt, die feindliche oder noch gleich-
gültige Welt zu infizieren. sie zu vergiften, sie mit der Idee der
Weltrevolution zu durchdringen. Er gehört mit Bucharin,
Ossinsky und anderen zu der jüngeren Generation der Bolsche-
wıkı (d.h. der revolutionären Marxisten.) Dieser extreme Stratege
des : Klassenkampfes, dieser gefürchtete Terrorist liebt die
deutsche Literatur, kennt Goethe, Heine, Kleist, Friedrich von
Russisches Notizbuch | 807
Gentz und die Romantıker, Büchner, Grabbe, liebt Conrad
Ferdinand Meyer und zitiert Verse von Stephan George und
Hugo v. Hofmansthal.
Mit jungen Jahren war er nach Deutschland gekommen und
hafe an der Leipziger Universität Nantionalökonomie und Ge-
schichte studiert. Sein immer reger Geist nahm die Kultur
der deutschen Humanitätsperiode ebenso lebhaft auf, wie die
weltrevolutionären theoretischen Untersuchungen und Ana-
lysen der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Karl
Marx und Friedrich Engels. Radek begann als Neunzehnjähriger
in der Redaktion der »Leipziger Volkszeitung«, arbeitete dann
ın Bremen und Göppingen als Redakteur an den Partei-
organen, bis seine zahlreichen Feinde — eine sehr gemischte
Vereinigung von raffinierten Parteitaktikern, subalternen Büro-
kraten und deutschen Spießern — auf Grund lächerlichster
„Tatsachen einen Fall Radek konstruierten. Die idiotischsten
Vorwürfe, die jämmerlichsten Verdächtigungen kläglicher
Philister. die sich für Sozialdemokraten hielten. genügten.
um einen freien ungebundenen Geist zu Fall zu bringen.
dersen einziges Verbrechen war, nıcht das korrekte Leben
eines Normalbürgers. sondern ein etwas boh&mehaftes Dasein
zu führen. Die deutsche Sozialdemokratie, deren Schicksal
es war, sich am 2. August 1914 selbst zu schänden, gab ein
Jahr vorher 1913 auf ihrem Parteitag in Jena ein kleines,
schüchternes Vorspiel hierzu durch die Art der Behandlung dieses
„Falles Radek... Sie befleckte, sie entehrte sich selbst. indem sie
einen ihrer besten jugendlichen Kämpfer, einen der saubersten
inmitten von fragwürdigen Opportunisten und streberischen
Parteisekretären aus der Partei ausschloß. Es war ein Ton im
Auftakt zu der weltgeschichtlichen Tragödie des imperialistischen
Krieges und der Haltung der deutschen Sozialdemokraten
zu ihm. Es war das erste Anzeichen der Bankroſterklärung
dieser verbürgerlichten, nur in Worten revolutionären Gesell-
schaft. Und Radek kann seinem „Falle. dankbar sein. daß
08794. Wilhelm Herzog
er ihn schon ein Jahr vorher aus einer Partei löste, die
J ahrzehnte hindurch Klassenkampf heuchelte, um, als es ihn
zu erproben galt, plötzlich Burgfrieden zu erklären und ın ıhm
5 Jahre zu verharren: in innigster Gemeinschaft mit ihrem bis-
herigen Todfeinde, der bürgerlichen Gesellschaft.
Karl Radek sah früher als die meisten anderen uner-
bi@lichen Kritiker der deutschen Sozialdemokratie, welche
Richtung sie mit Notwendigkeit einschlagen müßte, wenn
irgendwelche Krisen oder Katastrophen hereinbrächen. Sıe
krankte am Revisionismus und am Maulheldentum. Und die
Verbürgerlichung hafe schon ihre Knochen erweicht.
Aber Radeks persönlicher Fall war durch die seltsame
Gegnerschaft Rosa Luxemburgs und Leo Jogisches (Tyskas)
noch komplizierter geworden. Man wollte einen unbequemen
Kämpfer beseitigen. Jedes Mitel war dazu recht. Er wurde
mit Kot bespritzt. als ein schmutziges Subjekt hingestellt. mit
dem eine anständige und honeſte Partei nichts gemein haben
könne. Die korrupte Wohlbürgerlichkeit hat die Ebert- Scheide
mann-Partei ja dann auch in allen darauf folgenden immer
größer werdenden Fällen, die sie tiefer und tiefer sinken ließen,
bewiesen. Radek, der unter diesen Beschmutzungen trotz aller
Freiheit des Geistes und innerer Heiterkeit sehr gelitten haben
muß, hafte kaum einen Freund. der zu ihm hielt. Er blieb allein.
Er rang eich durch und er weil heute, daß auch dieser ihn
persönlich treffende Prozeß notwendig war, um an einer kleinen
Stelle das Symptom der geheimen Krankheit des damals schon
zerüfteten Parteikörpers zu verraten.
Heute ıst er freier und ungebundener denn je. Er lacht
über die kleinen Schmutzfinke und die größeren Intriguanten,
die ihn vor sieben Jahren abwürgen wollten. Es war gut für
ihn, dies alles durchgemacht zu haben. Denn er durchschaut
wie nur wenige all die Regiekünste und Machenschaften
führender Bürokraten und bedrohter Parteihäuptlinge gegen
unbequeme rigoristische Kämpfer, die weder durch gute noch
Russisches Notizbuch 809
durch schlechte Behandlung unterzukriegen oder mundtot zu
machen sind. Und die man deshalb nicht ungern moralisch
gemeuchelt sieht: entweder durch den Parteiklatsch, durch
unkontrollierbare Verdächtigungen oder durch die gern auf-
genommenen Infamien der bürgerlichen Journaille.
Radek erzählt mır einiges von seinen damalıgen Erlebnissen,
von der Maulwurfstätigkeit der dabei mitwirkenden Genossen.
. Wir fahren von der III. Internationale am Abend spät — nach einer
Sitzung mit den Delegierten der Deutschen Kommunistischen
Arbeiterpartei (K. A. P.). dem Genossen Appelt. Hamburg
und Jung. Berlin — in den Kreml. in seine Wohnung.
In dem ehemaligen sogenannten Kavaliershaus. das früher
zaristische Beamte bewohnten, sind je zwei Zimmer für die
verantwortlichen Kommissare und Funktionäre eingerichtet.
Wir bleiben bis morgens früh im Gespräch zusammen. Mit
großer Lebendigkeit malt er die Siege der Bolschewiki in
Persien und das Vordringen der Roten Armee in Polen.
Teheran sei morgen zu nehmen. Armenien wird von den
Roten besetzt werden. Die Polen sind bereits zurückgeschlagen
und weichen. Ein Donkosakenführer Genosse Butjenoff hat,
sich große Verdienste erworben. Radek erzählt interessante
Details von ihm. Von seiner Herkunft, seinem Vater, einem
alten Grofbauern, seinem Erwachen für die Revolution, seinem
Sammeln der roten Kosaken. Er verfügt jetzt über eine gut aus-
gerüstete Kavallerie von 20000 Mann. In dem Kriege gegen
Polen wird er bald eingreifen und vermutlich eine ent-
scheidende Rolle spielen.
Vor einigen Tagen hat Radek einen sehr merkwürdigen
Abend bei ihm im Zuge verbracht. Zusammen mit Schaljapın
dem berühmten Sänger, der behauptet, Kommunist geworden
zu sein, und mit dem Bauerndichter Demjan, der seit
Ausbruch der Revolution durch seine Dichtungen eme
außerordentliche Popularität errungen hat. Drei Kosaken
machten Musik, ein seltsamer Mensch, den man Schaljapins
810 Wilhelm Herzog
Narren nennt. tanzte auf dem Koffer. Eine sehr piſtoreske
Gesellschaft, der Butjenoff von seinen Erlebnissen erzählte.
In der Unterhaltung gibt Radek unendlich viel. Er kenn-
zeichnet mit ein paar Strichen hervorragende Führer: er
spricht von Tchitscherin. der aus einer aristokratischen
Familie stammt, 1900 Botschaftsrat in Berlin war, und mit
dem ermordeten Graf Mirbach verwandt war. Der nächste
und beste Freund Radeks ist Nikolai Bucharın. Der klügste
und klarste Kopf unter den Theoretikern der jungen Generation
und einer der entzückendsten Menschen. Er studierte in
Wien, der junge radikale Markist wurde Schüler Machs. des
Philosophen und Physikers. Später lebte und arbeitete er ın
Schweden, Frankreich und Amerika. Er ist heute 31 Jahre alt.
Ich blieb mit Radek die ganze Nacht zusammen. Er kennt
l die Verhältnisse in Deutschland wie kaum ein zweiter unter
den Führern der Bolschewiki. Erst gegen fünf Uhr morgens
legten wir uns schlafen.
Einige Stunden später, am nächsten Vormittag, fuhren
' wir aus dem Kreml zusammen in die Dritte Internationale.
Radios aus Lyon waren gerade eingetroffen. Sie meldeten Siege
der roten Armee an der polnischen Front.
26. Mai 1920.
Nachmittags in unserm Hotel Delovoi Dvore Gespräch
mit den englischen Delegierten, darunter: Williams, Turner,
Frau Snowden, Wallhaed. Sie wünschen, über die gegenwärtige
Situation in Deutschland und über die Parteiverhältnisse unter-
richtet zu werden. Sie machen nicht den Eindruck von Re-
volutionären, sondern vielmehr den gepflegter Bürger. die
Beamte der Arbeiterbewegung geworden sind, und deren Funk-
tionen nach besten Kräften ausüben. Es ist ihnen offenbar
zu gut gegangen und es geht ihnen noch zu gut. Sie empfinden
bei aller Bemühung, Verständnis für Sowjetrußland aufzu-
bringen, den ungeheurem Gegensatz zwischen ıhrer gesicherten
Russisches Notizbuch l 811
Ruhe und dem Fanatismus der Russen. Einer unter ihnen,
der Jüngste, Clifford Allen. Redaktionssekretär deo Daily
Herald, ist ein überzeugter Kommunist.
In der Unterhaltung betonten sie die mir schon bekannte
eigenartige Tatsache, daß England eigentlich keine sozialistische
Tagespresse habe. Nur der »Daily Heralde, der zwar auch
nicht offizielles Parteiorgan sei, erscheint täglich in einer Aut-
lage von 350 000 Exemplaren.
Am Abend zusammen mit Bertrand Russel, der sich der
englischen Delegation angeschlossen hat, und Clifford Allen.
| 27. Maı 1920
In den Dom Sojusow., den früheren Adelsklub, nahe
dem großen Theater. Dort veranstaltet das politische Auf-
klärungskomitee des Moskauer Kriegskommissarıats ein Konzert-
Meeting. Das Programm trägt an der Spitze eın Wort von
Dostojewski: Schönheit wird die Welt erreften« und ein
Wort von Goethe: »Kunst ıst der Weg zum Sozialısmuss,
ein Satz, den man leider vergeblich in den Werken Goethes
suchen wird .. Das Theater ist angefüllt mit Arbeitern,
jungen Mädchen, Angestellten der Sowjets und Kriegsverletzten.
Ein sehr aufmerksames Publikum. Die allzuoft mifbrauchte
Phrase »Kunst für das Volke scheint hier ihre Verwirklichung
gefunden zu haben. Zuerst spricht ein politischer Redner,
dann kommt eın Chor, aus Männern und Frauen bestehend,
der die Internationale, die Marseillaise und andere revolutionäre
Lieder singt. Eine Kapelle von Balalaika spielenen Soldaten
unter der Leitung eines Offiziers erregt durch die rührende
Einfachheit und den diskreten Vortrag ihrer Kunst den nicht
enden wollenden Beifall der Zuhörer.
Abends elf Uhr kommt Bucharin zu mir ins Hotel. Bis
nachts halb drei debattiert. Über Moral und Sozialismus;
über die bürgerlichen Nationalökonomen; über seine Studen-
tenzeit in Moskau und Wien, wo er Mathematik studierte.
22
810 l | Wilhelm Herzog
Narren nennt. tanzte auf dem Koffer. Eine sehr piftoreske
Gesellschaft. der Butjenoff von seinen Erlebnissen erzählte.
In der Unterhaltung gibt Radek unendlich viel. Er kenn-
zeichnet mit ein paar Strichen hervorragende Führer: er
spricht von TIschitscherın, der aus einer aristokratischen
Familie stammt, 1900 Botschaftsrat in Berlin war, und mit
dem ermordeten Graf Mirbach verwandt war. Der nächste
und beste Freund Radeks ist Nikolai Bucharin. Der klügste
und klarste Kopf unter den Theoretikern der jungen Generation
und einer der entzückendsten Menschen. Er studierte in
Wien. der junge radikale Markist wurde Schüler Machs. des
Philosophen und Physikers. Später lebte und arbeitete er in
Schweden, Frankreich und Amerika. Er ist heute 31 Jahre alt.
Ich blieb mit Radek die ganze Nacht zusammen. Er kennt
l die Verhältnisse in Deutschland wie kaum ein zweiter unter
den Führern der Bolschewiki. Erst gegen fünf Uhr morgens
legten wir uns schlafen.
Einige Stunden später. am nächsten Vormittag, fuhren
' wir aus dem Kreml zusammen in die Dritte Internationale.
Radios aus Lyon waren gerade eingetroffen. Sie meldeten Siege
der roten Armee an der polnischen Front.
26. Mai 1920.
Nachmittags in unserm Hotel -Delovoi Dvore Gespräch
mit den englischen Delegierten. darunter: Williams. Turner.
Frau Snowden, Wallhaed. Sie wünschen, über die gegenwärtige
Situation in Deutschland und über die Parteiverhältnisse unter-
richtet zu werden. Sie machen nicht den Eindruck von Re-
volutionären, sondern vielmehr den gepflegter Bürger. die
Beamte der Arbeiterbewegung geworden sınd, und deren Funk-
tionen nach besten Kräften ausüben. Es ist ihnen offenbar
zu gut gegangen und es geht ihnen noch zu gut. Sıe empfinden
bei aller Bemühung, Verständnis für Sowjetrußland aufzu-
bringen, den ungeheurem Gegensatz zwischen ıhrer gesicherten
Russisches Notizbuch | 811
Ruhe und dem Fanatismus der Russen. Einer unter ihnen,
der Jüngste. Clifford Allen. Redaktionssekretär des Daily
Herald, ıst eın überzeugter Kommunist.
In der Unterhaltung betonten sie die mir schon bekannte
eigenartige Tatsache, daß England eigentlich keine sozialistische
Tagespresse habe. Nur der »Daily Heralde, der zwar auch
nicht offizielles Parteiorgan sei, erscheint täglich in einer Aut-
lage von 350 000 Exemplaren.
Am Abend zusammen mit Bertrand Russel, der sich der
englischen Delegation angeschlossen hat, und Clifford Allen.
| 27. Maı 1920
In den »Dom Sojusowe, den früheren Adelsklub, nahe
dem großen Theater. Dort veranstaltet das politische Auf-
klärungskomitee des Moskauer Kriegskommissarıats ein Konzert-
Meeting. Das Programm trägt an der Spitze eın Wort von
Dostojewski: »Schönheit wird die Welt erreften« und ein
Wort von Goethe: Kunst ist der Weg zum Sozialısmus,
ein Satz, den man leider vergeblich in den Werken Goethes
suchen wird .. Das Theater ist angefüllt mit Arbeitern.
jungen Mädchen, Angestellten der Sowjets und Kriegsverletzten.
Ein sehr aufmerksames Publikum. Die allzuoft mifbrauchte
Phrase »Kunst für das Volke scheint hier ihre Verwirklichung
gefunden zu haben. Zuerst spricht ein politischer Redner.
dann kommt ein Chor, aus Männern und Frauen bestehend,
der die Internationale, die Marseillaise und andere revolutionäre
Lieder singt. Eine Kapelle von Balalaika spielenen Soldaten
unter der Leitung eines Offiziers erregt durch die rührende
Einfachheit und den diskreten Vortrag ihrer Kunst den nicht
enden wollenden Beifall der Zuhörer.
Abends elf Uhr kommt Bucharin zu mir ins Hotel Bis
nachts halb drei debaſtiert. Über Moral und Sozialismus:
über die bürgerlichen Nationalökonomen; über seine Studen-
tenzeit in Moskau und Wien, wo er Mathematik studierte.
22
812 =. Wilhelm Herzog
In Bucharin ist Gegenwart und Zukunft der Weltrevolution
verkörpert. Er gehört zur Jugend der weltrevolutionären
Bewegung. Er ıst der extremste kritischste Kopf ım Executiv-
Komitee der Kommunistischen Partei und zugleich der zu-
kunftsfroheste und kühnste Optimist. Er betrachtet die Entwick-
lung der Weltrevolution mit all ihrem Grausamkeiten, Aus-
schweifungen etwa wie ein Biologe die Tier- und Pflanzenwelt
betrachtet. Denn die Notwendigkeit des Prozesses gilt ihm
alles. Wir sind dazu da, ihn zu beschleunigen. Alles andere
ist romantische Ideologie, Sentimentalität. moralischer. pazifisti-
scher, intellektueller Fetischismus. Fetischismus ist sein Lieb-
lingswort.
Die alte kapitalistische bürgerliche Kultur, die Ungeheueres
und AuLßerordentliches geleistet hat, ist im Absterben. Eine
neue Welt beginnen wir zu: bauen. Widerstände und
Schwierigkeiten. die kaum überwindbar scheinen, werden wir
schließlich überwinden. Was haben die westlichen Kultur-
staaten — so rief er aus — diesem neuen frühlinghaften
Blühen entgegenzustellen?
29. Mai 1920.
Nachts zwölf Uhr auf den Kursker Bahnhof, um gemein-
sam mit der englischen Delegation nach Nishnij- Nowgorod zu
fahren und von dort auf der Wolga zu Schiff einige Dörfer
und Städte zu besuchen.
Auf dem Bahnhof begrüßt mich Guilbeaux, der bereits
seit zwei Jahren in Rußland lebt. Wir beziehen zusammen ein
Coupe. Von den Engländern reisen mit: Bertrand Russel,
Mrs. Snowden. Williams. Wallhead. Dr. Geest. der Arzt der
Delegation und Clifford Allen. Am nächsten Morgen zehn
Uhr in Nishnij- Nowgorod. Empfang am Bahnhof durch
Arbeiter und Soldaten der Roten Armee. Mit breiten roten
Fahnen, mit vielen roten Bannern. die in sehr reicher goldener
Schrift Parolen der proletarischen Revolution tragen. Alles
Russisches Notizbuch | 813
sehr festlich bei strahlender Sonne. Musik der Rotarmisten-
kapelle. Begrüßung. Ansprachen, Williams, der wenigstens ın
Worten Revolutionärste unter den Engländern. antwortet.
Dann spricht Wallhead. der Führer der I. L. P. einige kurze
Sätze. Er hat ein geistigeres Gesicht.
Wir müssen an der ansehnlichen Truppenschau vorüber-
marschieren. Lange Reihen roter Soldaten. Stramm diszipliniert.
Nicht ohne Drill. Vom Bahnhof. den eine große der
englischen Delegation zujubelnde Menschenmasse umsäumt, in
Autos zur Landungsstelle an der Wolga. Aufs Schiff. einen sehr
schönen komfortablen Dampfer. den sich kurz vor dem Kriege
der Zar bauen ließ. Die Breite und das pittoreske Ufer des
Flusses ist der erste Eindruck, der haften bleibt. Mit Bertrand
Russel zusammen gefrühstückt. Über die Nichtigkeit solcher
Empfänge gesprochen. Für die Propaganda dennoch notwendig?
Auf dem Schiff: der jetzige Leiter der Fabrik in Sormowa.
Er gıbt ın großen Zügen eine Darstellung ihrer Tätigkeit. Sie
war eine der größten Fabriken Rußlands. 1917 hafe
eie noch fünfundzwanzigtausend Arbeiter. jetzt: elf-
tausend. Von den elftausend Arbeitern können wieder-
um nur sechstausend richtig arbeiten, etwa fünftausend sind
durch den Mangel an Nahrungsmittel so entkräftet. dal sie
entweder nur vier Stunden täglıch, oder gar nicht arbeiten
können. Außerdem fehlt es ıhnen an der notwendigsten
Kleidung, an Schuhwerk usw. Die anderen sind an der Front.
Bis zum Krieg : Waggonfabrik, dann umgestellt in eine Munitions-
fabrık. Es wurden früher dort fünt Millionen Pud
Stahl verarbeitet. Die Arbeiter dieser Fabrik, wie überhaupt
die von Nishnij- Nowgorod und Kasan, sind immer die besten
revolutionären Kämpfer gewesen.
Der Sprecher (Ingenieur) ist der Vorsitzende des Arbeiter-
rates von Sormowa.
Einige Zechen arbeiten nicht, weil kein Naphta vorhanden
ist und sie mit Holz nicht heizbar sind. Jetzt werden alle
811 WV .ilhelm Herzog
Anstrengungen gemacht, um sie mit Torf (in Verbindung mit
Spiritus) zu heizen. Diese Zechen stellten früher die Räder
der Eisenbahnwagen her. Als Koltschak kam. nahm er alles.
was nicht niet- und nagelfest war. mit sich fort oder zerstörte.
was er zerstören konnte.
In der Gegend von Nishnij viel Hausindustrie. Die Ar-
beiter stellen aus Holz Löffel, Schüsseln und ähnliches für
den Bedarf der Bauern her.
Viele Lederfabriken sind in Betrieb geblieben und arbeiten
jetzt hauptsächlich für die rote Armee.
Am Abend lädt uns der lokale Sowjet zu einem Bankett
ins Sowjethaus. Wiederum Begrüßung. Ansprachen. Reden aut
russisch und englisch, und am Schluß singen alle ernst und
feierlich die Internationale. Es ist sehr spät nachts ge-
worden, als wir mit dem Schiff von Nishnij-Nowgorod ab-
fahren. . . die Wolga hinauf nach Kasan.
Mit Losowsky. dem Mitglied des Zentralrates der All-
russischen Gewerkschaften, aufschlußreiche Unterhaltung über
die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in Rufland.
In der Kabine mit Guilbeaux die ganze Nacht sehr gefroren.
30. Mai 1920.
Das Schiff hält am Ufer. Wir gehen in ein kleines
Dorf. Es heißt Iljenzkaja Pustynj. In ein Bauernhaus. Die
Bäuerin, die uns etwas verwundert empfängt, erzählt, daß sie und
ihr Mann acht Hektar zu kultivieren haben. Der Mann ist
Sowjetbeamter und Waldhüter. Im Häuschen überall, ın allen
Zimmern, Heiligenbilder. Im Wohnzimmer gesellt sich dazu
ein Grammophon und eine Nähmaschine. Die Bäuerin hat
einen kleinen Buben auf dem Arm. Er ist 4 Jahre alt und
wohlgenährt. Sie hat ihn, da sie keine Kinder hafe,
adoptiert. Im übrigen scheint sich das Leben der russischen
Bäuerin nicht wesentlich von dem der deutschen Kleinbäuerin
zu unterscheiden.
Russisches Notizbuch 815
Die Bauern wollen wenig von den Verordnungen der
Behörden wissen. So wenig, wie früher. An einer kleinen
Kirche, die sehr schmuck, weill. unmittelbar am Wolga-Ufer
steht, sammeln sie sich an diesem Sonntagmorgen wie eine
Herde braver Tiere, die sich zu ihrem Hirten flüchten in
begreiflicher Scheu vor den fremden Eindringlingen. Die
Buntheit dieses Bildes schrie nach Flaubert.
Mittags zurück aufs Schiff. Gespräch mit Russel und
Mrs. Harrison. Mrs. Harrison erkundigt sich nach Berliner
Persönlichkeiten. Sie ist eine sehr gewandte Korrespondentin.
Ihre Beziehungen sind sehr mannigfaltig. Sie kennt zwischen
dem Mississippi und der Wolga alle sogenannten führenden
Persönlichkeiten. Sie spricht über Walter Rathenau. Theodor
Wolff. von Gerlach, natürlich auch über die Gräfin Treuberg.
Für einige Minuten Berliner Atmosphäre an den Ufern
der Wolga.
Russel macht zwischendurch skeptische Bemerkungen.
Obschon immer Ironıker, der gern Gottes und der Welt-
revolution spottet, ist er doch leidenschaftlich der Idee der
Revolution ergeben. In erster Linie ist er Pazifist. Anti-
militarist, ein guter Europäer. Aber er sieht. daß alle unsere
letzten Ziele erst erreicht werden können, wenn wir den
Übergang — das ist die Diktatur des Proletariats — mit all
ihren Konsequenzen durchgemacht haben werden. Wir können
ihn nicht überspringen. Und so grauenvoll, so bitter, so dunkel,
so blutig, so unmenschlich dieser Korridor durch den Wider-
stand der konterrevolutionären Klasse werden kann. —
es bleibt uns keine Wahl, es gibt keinen anderen Weg. Diese
Erkenntnis sich selbst und anderen einzuhämmern, ist gebiete-
rische Pflicht. Russel anerkennt den Willen und die große
Kraft der bolschewistischen Führer, vor allem. Lenins. Aber
er ist ein zu anarchistischer. Parteidisziplin verachtender Geist.
als daß er verzichten könnte, allzu sichtbare Auswüchse der
neuen Herrschaft — und sei sie auch die des geheiligten Prole-
816 Wilhelm Herzog
tariats — zu kritisieren. Er tut es nie aus einer bürgerlich-
kapitalistischen Gesinnung heraus, vielmehr stets als revolu-
tionärer Aphoristiker. dem diese ganze Welt fragwürdig
vorkommt, der ihre große Gemeinheit und ihre kleinen Er-
bärmlichkeiten zur Genüge kennt, und der, wie er von sich
selbst sagt, lieber einige Monate ins Gefängnis ginge, als auf
einen guten Witz zu verzichten. Er bat etwas von einem
alten liebenswürdigen Faun. Und dieser wegen seines Anti-
militarismus in England zu Gefängnis verurteilte Ketzer, dieser
Sozialist aus Ethik. aus vornehmer Gesinnung. dieser radikale
Feind des Militarismus stammt, wie man weil, aus einer der
ältesten Adelsfamilien Englands und hat zum Bruder einen
riehtiggehenden Lord. Er ist eine Kreuzung zwischen Whistler
und Wilde. Anarchistischer Künstler und sozialistischer Geist.
Kein Bolschewik. Rein revolutionärer Marxist.
Gegen Abend kommen wir nach Kasan. Meeting an der
Landungsstelle. auch Guilbeaux spricht. Außer ihm Williams
und Frau Snowden. Russel mokiert sich.
Der junge Clifford Allens ist — wahrscheinlich infolge
der Kälte der letzten Nacht — erkrankt. Liegt in der
Kabine. Beide Lungen angegriffen. Er hat sich die Tuber-
kulose während des Krieges im englischen Gefängnis geholt,
wozu man ihn für mehrere Jahre, da er den Militärdienst
verweigerte, verurteilt hatte. Er ist Russels bester Freund.
31. Mai 1920.
Vormittags 11 Uhr landen wir in Simbirsk. Mit Los-
sowsky, Guilbeaux und einer jungen Russin in die sehr
schmutzige Stadt.
Als wir nach einigen Stunden aufs Schiff zurückkehren, finden
wir eine Deputation der Arbeiter von Simbirsk an Bord vor, die
gekommen ist, um die englischen Delegierten zu begrüßen.
Nachmittags luden uns die Matrosen zu einem Konzert
aufs Oberdeck. Ihr Führer hielt zunächst eine kurze Ansprache
Russisches Notizbuch 817
und dann sangen die-Matrosen mit großer Wärme einige revo-
lutionäre Lieder, das Lied von der roten Fahne und zum
Schluß das Wolgalied: »W niz po Matuschke, po W olge«.
Abends gegen 9 Uhr hält das Schiff in Novodevitschie.
einem kleinen, inmiften von Kreidefelsen gelegenen Dörfchen.
Etwa 5000 Einwohner. Zementfabriken.
Schnell wird auf dem Balkon eines kleinen Häuschens eine
Rednertribüne errichtet und auf dem Platz davor eın Meeting
arrangiert. Von der englischen Delegation spricht Dr. Geest.
Das Auditorium, daß sich vor dem Holzhäuschen angesammelt
hat, besteht aus alten russischen Bauern, Bäuerinnen, jungen
Arbeitern und Kindern. Alle jucken sich. Die Moskitos stechen
heftig. Gegen ihre Zudringlichkeit hilft keın Schlagen, kein
Abstreifen. Die fremden Sprachen berühren die Dorfbewohner
offenbar komisch. Nicht nur die Kinder, sondern auch die
Erwachsenen, beginnen zunächst bei den ersten Worten der
Sprecher zu lachen. Sowohl bei Geest wie bei Gilbeaux.
der eın paar schöne revolutionäre Phrasen an dıe trotz alle-
dem neugierig - unruhige Menge richtet. Losowskı übersetzt.
Die Moskitos stechen weiter, und man kämpft so kontinuierlich
und unermüdlich wie erfolglos gegen ihre Plage.
Die Männer lauschen, wenn sie sich nicht kratzen. Ihre
Haare fallen ihnen tief ins Gesicht, ihre Gesichter sind ver-
wiftert, sie tragen meist große, schwarze, braune oder rötliche
Bärte und Mützen auf dem Kopf. Alles dies berührt sie fremd-
artig. Die Frauen, junge und alte, sind ziemlich sauber gekleidet
und haben um den Kopf weile, gelbe, grüne oder rote Tücher.
Sie sind noch uninteressierter als die Männer, aber noch neu-
gieriger. Die Kinder, die sich offensichtlich Mühe geben. still
zu bleiben, kratzen sich oder stecken sich Zweige ın den Mund.
Sie sind garnicht schmutzig und tragen ım Gegenteil weile
russische Hemden.
Dieses sehr farbige Publikum der Dorfbewohner kann
noch nicht wie die städtischen Arbeiter die Internationale
818 Wilhelm Herzog
singen. Ein wenig erstaunt beim Anstimmen und sicher etwas
verlegen. befreunden sich die Bauern nur langsam mit den
Tönen der Revolution.
Die Masse begleitet uns vom Versammlungeplatz herunter
zum Schiff. Wieder mußte ich an den Dichter der »Madame
Buvary« denken. Ein schönes Bild: der Zug der Bauern und
Bäuerinnen, singend, belustigt. aufgerührt von dem seltsamen
Erlebnis, das plötzlich ihren Ort überfiel.
1. Juni 1920.
Wir fahren auf Samara zu. Ein Schiff mit Musik
kommt uns entgegen.
Vormittags 10% Uhr mit Russel und Mrs. Harrison
in die Stadt gefahren. Die anderen in Autos zum Sowjet-
haus, wo ein Meeting stattfindet. Wir bummeln durch die
Straßen der sehr häßlichen Stadt. Schmutzig und ohne eigenes
Gepräge. Auf der Hauptstraße vor der deutschen Kirche
begegnen wir einer kleinen, schmächtigen Frau, die in beiden
Händen drei große runde Brote trägt. Mrs. Harrison beginnt
ein Gespräch mit ihr auf russisch, ein Mann gesellt sich zu
uns. Er ist, wie er behauptet, ein jüdischer Arbeiter. Er
und die Frau sprechen gebrochen deutsch. Beide jammern.
Nie wars so schlimm. Nichts zu essen, klagt die Frau mit
den drei Broten. Keine Freiheit, stöhnt der angebliche Ar-
beiter. Es sei wahr, fügte er hinzu, — als ich ihm vorhalte,
ob die Juden es unter dem Zaren etwa besser gehabt häften, —
es sei wahr. die Juden häften als Juden nichts mehr zu leiden,
eie seien gleichberechtigt mit den anderen; — aber das Leben
sei entsetzlich teuer. Grammophonartig hört man diese Welt-
klage, deren Berechtigung durch ihre unaufhörliche Wieder-
holung nicht getötet werden kann.
Die Frau lädt uns ein, zu ihr zu kommen. Wir fe: ihr,
um zu sehen, wie diese klagenden Kleinbürger ı in Wirklich-
keit leben. Sie hafe, soweit wirs überblicken konnten, eine
mit dem üblichen Bourgeois-Hausrat eingerichtete Wohnung
Russisches Notizbuch 819
von drei oder vier Zimmern. Ihr. Mann. den sie uns
vorstellte. war früher Schneidermeister gewesen. Vereint
jammerten sie über zwei erwachsene Söhne, die in
Amerika wären — der eine Ingenieur, der andere Arzt —
und der ganze bürgerliche Familienstolz konnte beim Zeigen der
schmucken Photographien dieser guten Söhne eine stille Orgie
feiern. Die Frau wımmerte weiter über alles und nichts.
zeterte gegen den Terror, erzählte Greuelgeschichten. und
jede Miene. jedes Wort flehte Mitleid. Wie bedauernswert
sie in Wirklichkeit war, sollten wir bald merken. Wir
bekamen sogleich die Probe aufs Exempel für dié
Berechtigung ihrer Klagen. Sie lud uns ein zum Tee, beschwor
uns, zu bleiben, wır seien ıhr von Gof geschickt, endlich
könne sie all ihr Leid hinausschreien über die Not und das
Elend, daß jetzt über Rußland gekommen sei. . . Und da
wir ablehnten, ging sie hinaus und brachte, vermutlich um uns
noch mehr zu reizen und zum Bleiben zu verlocken. ein Laib
des schönsten Weılbrots herein, wie ich es seit sechs Jahren
nicht mehr geschen hafte. Sıe versicherte, sie wisse, was sie
deutschen Gästen schuldig sei, es würde nicht an echtem Tee
und Zucker fehlen. Als ich ihr ganz zart andeutete, dal es
ihnen doch nicht gar so schlimm gehen könne, da sie noch
so herrliches weıßes Mehl zu verbacken habe, lächelte sie schlau
und ihre winzigen Augen wurden Stecknadelköpfe: » Ja. dies Mehl
habe ich schon seit zwei Jahren liegen]. Und den Zucker. den
echten Tee, die Bufer wahrscheinlich ebenso lange. Wir
‚forschten jedoch nicht länger, denn der anfängliche Verdacht
wurde zur Gewiſcheit. daß ihr Jammern über die Not und
die Grausamkeit der Sowjetbehörden von der Angst stammte,
als Spekulantin gefaßt zu werden. Herzlich dankten wir ihr
für den Einblick, den sie uns in ihr Haus gewährt hatte.
und verließen diese gastfreundliche kleine Wucherin. die allzu
begreiflich keine Freundin der ihrem Denken und Fühlen ent-
gegengesetzten neuen Ordnung sein konnte. |
820 Wilhelm Herzog
Aber es ist wichtig zu wissen, daß neben den Gegenrevolu-
tionären aus den adligen und großkapitalistischen Kreisen den
Bolschewiki nichts so gefährlich ist, als diese Schicht offener
und heimlicher Feinde der Sowjets, der kleinen Schieber und
Spekulanten.
« «
*
Beim deutschen Pastor, namens Lintius. Er ist verreist.
Seine Frau, eine hagere Dame mit goldener Brille. empfängt
uns in seinem Bibliothekzimmer. Sie gibt uns bereitwillig
Auskunft auf alle unsere Fragen. Von äußerster Sachlichkeit.
einfach und bestimmt. zeichnet sie. die ihrer Weltanschauung
und ihrem ganzen Wesen nach keine Freundin der Bolsche-
wiki sein kann, ein sehr anschauliches und ungeschminktes
Bild der wirklichen Verhältnisse, der Schwierigkeiten, und der
Bemühungen der Kommunisten, den Aufbau vorzubereiten,
um die Lage des Volkes zu bessern.
In schlichtester Weise illustrierte eie das tägliche Leben
durch einige Daten:
Die Arbeiter (die zur ersten Kategorie gehören) erhalten
täglich 1 Pfund nicht schlechten Brotes. Reines: Roggenbrot.
Die zweite Kategorie erhält % Pfund Brot täglich. Außer-
dem gibt es nur noch ½ Pfund Salz im Monat und zwei
Schachteln Zündhölzer. Man soll bekommen: Fleisch, Fisch,
Oel. Aber nichts davon erhalte man. Das Ei kostet 40 Rosel
1 Pfund Butter 1000 bis 1500 Rubel.
Die Kinderspeiseanstalten bekommen die Vorräte der Speku-
lanten. Die Kinder haben es am besten. Sie erhalten miftags
eine gute Suppe mit einem Stück Fleisch und eine schmackhafte
Grütze. Es gibt in Samara allein 16 Kinderhäuser: alle Kinder
dieser Instituten sehen gut gefüftert und gut gekleidet aus.
Mit den Schulen selbst steht es sehr schlimm. Ungeheizt.
Kein Schuhzeug für die Kinder, Lehrer sind vorhanden.
1917 war die öffentliche Sicherheit in Samara sehr
schlecht. Viele Banditen, Straßenräuber.
Russisches. Notizbuch 821
Auffallend in den Schulen seit der Revolution die Un-
eittlichkeit. Besonders die Aggressivität der Mädchen gegen
die Buben. Junge Mütter von vierzehn Jahren.
Die Lehrer bekommen 2170 Rubel monatlichen Gehalt.
Ein Pfund Fleisch aber kostet 450 Rubel. Ein Pfund
Kohlen 45 Rubel, ein Faden Holz 15000 Rubel. |
Sofort nach der Revolution wurden Kurse für Analpha-
bethen eingerichtet. Besonders am Abend. Sie erhalten un-
entgeltlich Hefte und Bücher. Alles vorzüglich eingerichtet.
Seifen- und Sodafabriken arbeiten, sonst steht alles still.
Eine Wäscherin bekam früher 1 Rubel pro Tag (mit
Verpflegung). Jetzt verlangt sie 300 bis 400 Rubel und man
gibt es ihr.
Man zählt etwa 2000 Deutsche in Samara. Jeder Sowjet-
beamte hat 2000 bis 3000 Rubel monatlichen Gehalt.
Eine Wohnung von 2 bis 3 Zimmern kostet monatlich
600 Rubel.
Das Volk, zuerst froh, den Druck des Zarismus los zu
sein, ist jetzt wieder unzufrieden. Die Kirchen sind überfüllt.
Die Priester leben jetzt besser, als unter dem Zaren. Die
Gemeinde versorgt sie reichlich. Mit-Naturalien und mit Geld.
Freiwillig. Ein Bürger gab kürzlich 8000 Rubel für den Pfarrer.
Auch ihre Familie. klagte sie mit leiser Stimme, wurde
vom Bürgerkrieg nicht verschont. Einer ihrer Söhne, ein Arzt
im Heere wurde erschossen. Weil er, wie sie sagt, während
der Besetzung Samaras durch die Tehecho-Slovaken dreimal
im tschechischen Büro gewesen war, nur um durchfahrenden
Reichsdeutschen, die der russischen Sprache nicht mächtig
waren, zu helfen.
Im Oktober 1918 rückten die Tschechen ab. Gegenseitige
Repressalien fürchterlichster Art. Die Tochecho-Slovaken.
geführt von französischen Offizieren. massakrierten die Arbeiter.
Die Roten — zurückgekehrt — töteten viele Kapitalisten und
Intellektuelle. |
822 | Wilhelm Herzog
Es gab in Samara Millionäre (zwanzig- bis dreißigfache
Millionäre) die nicht lesen und nicht schreiben konnten. Sıe lebten
im geschmacklosesten Luxus; ihre Söhne und Töchter ver-
praßten parvenühaft das leicht und schnell erworbene Geld.
Jetzt sind viele dieser Söhne und Töchter zu schwerer Arbeit
herangezogen worden. Die Mehrzahl allerdings hat sıch durch
rechtzeitige Flucht ın Sicherheit gebracht.
Die Theater geben sehr häufig Kindervorstellungen. Die
Schauspieler erhalten Gagen bis 6000 Rubel. Mindestgehalt:
3000 Rubel. Man spielt Gorki, Tolstoi; in der Oper heute:
Carmen.
* «
Kurz nach unserer Rückkehr aufs Schiff erhalten wir
den Besuch des Kommandanten der militärischen Abteilung
der W olga, Baltıskı. Dieser ehemals zaristische Offizier aus
dem großen Generalstab steht bereits seit 1917 im Dienste
der Revolution. Auf einige ıhm gestellte Fragen gab er mır
in liebenswürdiger Weise Auskunft. Der Rotarmist erhält
monatlich 1000 Rubel, der Unteroffizier 2000 Rubel, der
Offizier 3000 Rubel. Die höheren Offiziere bis zum Armee-
Kommandeur 6000 Rubel.
Im vorigen Jahre wurde der Jahrgang 1901 mobilisiert.
Es wird möglichst alles genommen. Stimmung in der Armee:
die der Sieger.
* *
*
Abends sieben Uhr auf ein Meeting des Sowjets von
Samara. In ein großes Theater. Die Bilder von Karl Marx.
Liebknecht. Lenin. Trotzki im Vorraum, auf der Bühne,
im Zuschauerraum. Rote Fahnen. Standarten. Banner mit
revolutionären Parolen sind vor den Kulissen aufgestellt.
Eine große Musikkapelle der Rotarmisten intoniert die Inter-
nationale. Sehr stark und imposant wirkt die enthusiastische
Volksmasse durch ihre Einheitlichkeit. dureh die fühlbare
Sehnsucht, die sich den fremden Delegierten entgegenstreckt
Russisches Notizbuch 823
und ın dem kaum ausgesprochenen und doch überall hörbaren
Ruf gipfelt: »Setzet unser Werk fort, das wir begonnen! —
Helft uns endlich! Indem ıhr Euch befreit, befreit ıhr uns!
Unsere Not ist riesengroß, nicht lange mehr können wir sie
alleın tragen!
Festgestellt muß werden: die englischen Delegierten
erwecken in dem russischen Proletariat Illusionen, Hoffnungen.
Werden sie sie erfüllen? Die Masten werden durch die
Repräsentanten eines Volkes aufgewühlt, dessen Regierung
Sowjetruſlland durch Polen und den Baron Wrangel bekriegen
laßt. Diese Repräsentanten der englischen Arbeiterschaft
werden von den russischen Volksmassen mit rührender Be-
geisterung aufgenommen. Sie werden umjubelt. Das russische
Proletariat aller Parteirichtungen erwartet von den Engländern
tatkräftige Hilfe. Bald. Werden sie sich‘ irren? Werden sie
wieder enttäuscht werden? Die Engländer, deren Worte oft
revolutionär klingen, scheinen brave Bürger. reformistisch-
opportunistische Sozialisten. Arriviert. saturiert. in gehobenen
Stellungen sich wohlfühlend. Keine revolutionären Klassen-
kämpfer. |
Russel, ein geistiger Radikaler. ist im Grunde trotz seinem
Pazifismus revolutionärer, als alle zusammen, jedenfalls anti-
bürgerlicher, zıelbewußter, freier und ohne die Hemmungen
eines Gewerkschafts- Bürokraten. dessen Macht sich jedesmal
vor der Last der Verantwortung fürchtet und verkriecht.
Unter den englischen Delegierten war mehr als ein Legien.
nur waren es Legiene zweiten. dritten oder vierten Ranges.
2. Juni 1920.
Vormittags auf dem Schiff Gespräch mit Russel über die
politische Situation in Deutschland, über, die Herrschaft des
Proletariats in Rußland und die Überbleibsel der bürgerlich-
kapitalistischen Gesellschaft, die überall sichtbar und schwer
zu beseitigen sind. Korruption, Protektionswirtschaft, lächerlicher
824 Wilhelm Herzog
Eigennutz, Unhöflichkeit des Herzens, Vorurteile (früher mit
einem + Vorzeichen, jetzt mit einem — Vorzeichen), die
Anwendung abgegriffener Phrasen. kurz: die Gefahr der
Discrepanz zwischen Wort und Tat.
Mittags 2 Uhr gingen wir in ein kleines Dorf. Es hiel
Wofkressenskoje, und liegt schon nahe der Kolonie der
W olgadeutschen, In einem Bauernhaus nahe der Wolga. oben
auf dem Heuboden: ein elfjähriger deutscher Junge. Kräftige,
rote Backen, starke Muskeln.
Eine Dorfschullehrerin, die etwas deutsch spricht, führt uns
durchs Dorf. Die Einwohner. erzählt sie. leben nicht schlecht.
Nur die Schleichhandelspreise gäben überall Ursache zu klagen.
10 Eier 300 bis 400 Rubel. 1 Pfund Bufer 1000 Rubel.
Aber gar keine Seife, wenig Kleidung. keine Schuhe.
Die reinliche, etwas deutsch sprechende Volksschullehrerin
lädt uns zum Tee ein. Nach einigem Sträuben müssen wir
annehmen. Als wir in ihr Häuschen hineinkommen. steht der
Tisch bereits voll schönsten Weillbrots. Eiern. Speck. Fleisch
und Kaviar.
Nachmittags 5 Uhr fahren wir mit dem Schiff weiter
die Wolga hinauf. Immer vom gleichen sonnigen Wetter be-
gleitet. .. Und abends 9 Uhr landen wir in Marxstadt, so nach
Karl Marx von den deutschen Kolonisten umgetauft. Bis zur
Revolution hieß dieser Hauptort der Wolga-Deutschen
Catherinenstadt. Die auf dem linken Ufer von Catherina der
Zweiten gegründete deutsche Kolonie besteht seit 162 Jahren.
Marxstadt hat jetzt etwa 30 000 Einwohner. Im ganzen
Gebiet, das durch die Bolschewiki zu einem eigenen Gouver-
nement — Trudowaia Kommuna oblasti njemzew »Powolshja«
(der »Arbeitskommune des Gebiets der Wolga-Deutschen.) —
zusammengeschlossen worden ist. leben etwa 600 000 Deutsche.
Sie haben in diesem Steppengebiet der Wolga mit Bienen-
fleiß Heimstäften geschaffen, die sich durch ihre Sauberkeit
auffallend von den russischen Nachbarorten unterscheiden. Das
Russisches Notizbuch 825
ist nicht etwa ein deutscher Chauvinismus. der mich diese Fest-
stellung machen läßt: ich hörte vielmehr diese Tatsache von
den Bewohnern der umliegenden russischen Dörfer selbst betont.
die mit einem Gemisch aus Bewunderung und Neid von den
ungleich besseren Lebensbedingungen in der deutschen Arbeits-
kommune erzählen. Etwas herablassend und doch mit stiller
Anerkennung pflegt der Russe diese ihm fremdartige Tätigkeit
und Liebe zur Ordnung in die Worte zusammenzufassen:
sordnungsliebend und akkurat, wie ein Deutscher.
Einige Namen der von deutschen (und wohl auch schweizer)
Kolonisten gegründeten Dörfer und Städtchen: Schaffhausen,
Glarus. Basel, Zürich. Soloturn. Zug. Luzern. Obermönch,
Uhrbach, Mannheim. Strallburg. Oberdorf. Erlenbach.
Vor dem Sowjethaus empfing uns der zweite Vorsitzende
des Sowjets. Friedrich Lederer. Ihm danke ıch die folgenden
Mitteilungen. Wieder gebe ich sie so flüchtig, so zusammen-
hanglos, wie ich sie bekommen habe, nur als Andeutungspunkte.
die vielleicht ein ganz klein wenig über die wirklichen Ver-
hältnisse zu orientieren vermögen. Kaufleute wurden enteignet.
Privateigentum ist noch nicht abgeschafft. In Marxstadt: eine
Garnison mit zweı Regimentern (eins — reguläre Truppen,
das andere — ein Arbeitsregiment). Nur Deutsche. 4000 Mann
bilden eın Regiment.
Die Bauern haben den Grolgrundbesitz, ohne das betreffende
Dekret der Sowjetregierung abzuwarten, enteignet.
Viele Großgrundbesitzer und ihre Söhne arbeiten jetzt
in landwirtschaftlichen Abteilungen oder im Heere mit.
In Marxstadt: eine. Fabrik für Herstellung landwirtschaft-
licher Maschinen beschäftigt bis zu 380 Arbeitern. Es herrscht
Arbeitermangel. Die Fabrik ist sequestriert und wird voraus-
sichtlich der »Arbeitskommune des Gebietes der Wolga-
Deutschen« unterstellt werden.
Rationierung der Lebensmittel wie folgt: pro Monat
30 Pfund Mehl. Schwerarbeiter. erste Kategorie. 45
826 er Wilhelm Herzog
Pfund Mehl (sehr schönes Weıißmehl), 1⁄4 Pfund Fleisch
pro Tag.
Alle Arbeiter haben meist ihr eigenes Vieh (Schweine,
Hühner. sogar Pferde).
Es gibt 10 professionelle Verbände (Gewerkschaften),
darunter: Metallarbeiter: Sowjetsbeamte und - angestellte: Bau-
arbeiter; —Mühlenarbeiter: Lederarbeiter und Schuhmacher.
Schneider. | |
Jeder Bürger erhält 10 Arschın pro Kopf auf 1⁄2 Jahr.
darunter Tuch und Wäsche. Schuhversorgung sehr schlecht.
Lebensmittelpreise:
ın Marxstadt ın Moskau
Fleisch. 1 Pfund.. 20 Rubel 1000 - 1400 Rubel
Eier, 10 Stück .... 800 1500—1600 „
Bufer, 1 Pfund .. 1000 2700
Milch (10 Teegläser) 180 „ (2 Teegläser) 250
Marxstadt hat 8 Schulen und 3200 schulpflichtige Kinder.
Darunter eine Schule zweiter Stufe für Russen und eme
Schule zweiter Stufe für Deutsche. Mit den Schulen ist es
schlecht bestellt, denn die Lehrer sind zum größten Teil
mobilisiert.
Die Grofbauern haben noch 100 Dessjatin (1 Dess. =
weniger als ein Hektar) bis 60 Pferde, 10 Kühe, eine Menge
Rinder und Schweine. Die Großbauern sind meistens Meno-
niten. Der Bauer hat durch Sowjetverordnung 4 Dessjatin
pro Kopf bekommen. |
Etwa 50 der größten Grundbesitzer wurden völlig
enteignet. Sie wurden von Haus und Hof vertrieben. Die
meisten sind geflüchtet.
J etzt liefert die Arbeitskommune des Gebietes der Wolga-
Deutschen 12 Millionen Pud Frucht, Korn, Hafer ab.
Denikin und Koltschak waren in bedrohlicher Nähe, sind
aber nicht ins Gebiet hineingekommen. Jetzt hat die Arbeits-
kommune 6000 bis 7000 Mann Truppen, wovon zwei Kom-
Russisches Notizbuch 827
pagnıen, 1000 Mann, kürzlich an die polnische Front geschickt
wurden.
Alle Mähmaschinen sind sequestriert und werden von der
Landabteilung der Sowjets der Arbeitskommune verteilt.
Die kommunistische Partei hat in Marxstadt etwa 250,
im ganzen Gebiet 900 Mitglieder. Jede Woche findet ein
Meeting statt.
Gegen Abend veranstaltete der Sowjet von Marxstadt
eine große Versammlung unter freiem Himmel. Arbeiter,
Arbeiterinnen und alle Rotarmisten. die in Marxstadt in
Garnison liegen. nahmen daran teil. Von einer großen Tribüne
herunter sprachen ein englischer Genosse, ein Delegierter der
Shop Stewards. dann ein Vertreter der deutschen Syndikalisten,
Genosse Sturm und ıch.
In kurzen Zügen versuchten wır den ın dıese Wolga-
steppen verpflanzten Deutschen die gegenwärtige politische
Situation zu veranschaulichen. Man konnte ihnen nichts Gutes
berichten. Die Ermordung Karl Liebknechts. Rosa Luxem-
burgs. Kurt Eisners, Gustav Landauers, Eugen Levinds, an die
ich erinnerte, und die Nachrichten über den Sieg der Gegen-
revolution, lösten Rufe des Abscheus und der Empörung aus.
Begeistert sangen alle am Schluß der Versammlung die
Verse der Internationale, zu denen die Kapelle der Rotarmisten
die Musik machte.
Darauf eine große Parade aller Truppen auf den großen
freien Felde. Sie machte einen außerordentlich disziplinierten
Eindruck. Nachts um ein Uhr fahren wır auf einem Tender
zurück zum Schiff.
3. Juni 1920.
Früh 9 Uhr in Saratoff. Es. ist sehr heiß während aller
dieser Wolga-Fahrten. Gegen Mittag allein vom Schiff in
die Stadt. Ich treffe einen Balten, der seit 1917 in Saratoff
lebt. War vorher in England. Er führt mich durch
verhältnismäßig saubere Straßen dieser an Tanger erinnernden
23
828 E Wilhelm Herzog
Stadt. Er erzählt, dał unter anderen viele deutsche Groß-
kaufleute (Schmidt, Bender u. a.) enteignet und ihre Häuser
beschlagnahmt wurden. Er führt mich in einen solchen
»Bourjuiss-Palast wie er sagt, »den nur ein einziger bewohnt
habe«. Jetzt spielen dort Kinder von acht bis vierzehn Jahren.
Alle diese Paläste der Kapitalisten sind in Kinderheime
umgewandelt. Eine sehr freundliche Lehrerin führt uns durch
die Unterrichts- und Schlafzimmer. Ganz sauber. Kinder
sehen wohlgenährt aus.
Nebenan in das Haus des Volksgerichts. Keine Sıtzung.
Vorm Eintri@ in einen sehr schönen Park treffe ich Russel
und Mrs. Harrison. Mit ihnen auf den Markt. Der asiatisch-
tatarısche Einfluß überall stark fühlbar. Saratoff, eine äußerst
lebendige, dem Orient schon ganz nahe Stadt.
Im Bolschewismus mischt sich Fanatismus der Idee.
rücksichtsloser Wille. Wort Tat werden zu lassen, mit
gläubiger Inbrunst. mit jüdischem Geist und kühnster Unter-
nehmungslust. Kluger Wirklichkeitssinn mit asiatischer. ta-
tarischer Feindschaft gegen das Europaertum. Feindschaft selbst
gegen seine Vorzüge. seine Reinlichkeit. gegen seinen Ordnungs-
sinn. gegen seinen Komfort, kurz gegen die westliche Zivilisation.
Zum Teil wurzelt auch hier der Hal gegen das Bürgertum
an sich. Er wurde Tausenden zum Evangelium. |
Der Markt von Saratoff bietet ein sehr buntes Bild.
Eine ganz phantastısche Welt tut sich auf: ein verwirrender
Wechsel von Farben, zudringlicher, penetranter Gerüche, reiz-
voller und abstoßender Figuren. Wir kauften uns zwei Gläser
mit Kompof für je 250 Rubel. Es sah nicht übel aus und
schmeckte irgendwie nach Ananas. Wir setzten uns auf die
Bordschwelle eines Troſtoirs auf dem Markt und löffelten die
Gläser leer. Mehrfach wurden wir unterbrochen von Händlern,
die uns die Gläser mit oder ohne abzukaufen wünschten. Es
muß ein köstlicher Anblick gewesen sein, uns so sitzen zu sehen:
in der grellen Sonne, umgeben von schachernden Schleich-
Russisches Notizbuch | 829
händlern, zerlumpten Männern, mit falschen Edelsteinen heraus-
geputzten Frauen und Mädchen und entsetzlich schmutzigen
Kindern. Sie boten alles feil, was man sich nur wünschen
konnte. Stoffe. Schuhe. Blusen. Kleider. Silberzeug. Schmuck-
stücke. Kopftücher, Shawls, Spitzen, Bänder, Blumen, Bücher.
Bilder. Noten, Nippes. Schnickschnack und allen Kitsch der
letzten Jahrzebnte. Darunter zuweilen ein wertvolles ‘Stück.
An Lebensmitteln kann man kaufen: Milch, Bufer, Hühner,
Fische, Käse, Brot, vom blondesten, das wır ın Deutschland nie
zu sehen bekommen, und ganz helles Weizenmehl. Selbst Seife
ist vorhanden. Halbwüchsige Buben bieten irgendwo gestohlene
Zigareſten feil und legen dadurch ihren Grundstock zu einem
Millionenvermögen ın Sowjet-Rubelscheinen. Gegen dieses Speku-
lantentum ist selbst die Außerordentliche Kommission machtlos.
Abends 8 Uhr zu einem Meeting ins Sowjethaus. Großes
vierrangiges Theater. Nicht ohne verblichenen Glanz. Auf
der Bühne eine große Kapelle, die die Internationale into-
niert. Dann die üblichen Begrüßungsreden. Als erster von
den englischen Delegierten spricht Skinner, ein alter Gewerk-
schaftsbonze. der sicherlich mehr vom Whisky, als vom
Kommunismus versteht; ein Legien drien Ranges. Das gute,
abnungslose Proletariat von Saratoff — keine Idee mit diesem
Manne verbindend — begrüßt ihn mit einem zehnminutigen
Beifallsjubel. Begeisterung ist fast immer ein Miſcverständnis.
Illusionen werden wachgerufen. Die Enttäuschung der
revolutionären Arbeiter über diese Trade Unions Beamten kann
furchtbar sein. Aber warum klärt niemand die russische Ar-
beiterschaft auf. Es erscheint mir falsch, eie im Glauben zu
lassen. diese Engländer seien Kommunisten oder Revolutionäre.
Später wırd man über Verrat der englischen Arbeiterklasse
jammern, wo heute bereits erkennbar ist, welch opportunistisch-
reformistisch-scheidemännischen Geistes diese Führer sind, die
sich in Sowjetrußland als revolutionäre Helden vorkommen,
während sie in London wohlgeachtete Bürger sind.
830 Wilhelm Herzog
— ——— ³ —— m m
4. Juni 1920.
Nachts 12 Uhr von Saratoff mit der Bahn zurück nach
Moskau.
Vorurteile eines Europäers in Sowjetrufland. Bertrand
Russell empfindet sie sehr stark. Seine Abneigung gegen jeden
Militarismus steigert sich noch. Den Mangel an Organisation
des täglichen Lebens. die geringe Fähigkeit disponieren zu
können, das Ungezügelte, Zeit- und Maflose, das Extreme sieht
er als asıatısch-tatarısch an im Gegensatz zur Zivilisation des
Westens. Wir werden diese bürgerliche Zivilisation aber
vielleicht von Grund aus zerstören müssen, wollen wir alle
ihre Entartungen beseitigen. Mir scheint, auch er geht ı in seinem
Urteil von Beobachtungen aus, die er an einzelnen Dingen
und Personen machte, deren unangenehme und widerwärtige
Eigenschaften noch in der bürgerlichen Gesellschaft wurzeln.
Es ist der Abfall des Zersetzungsprozesses, in dem sich die
Gesellschaft von heute befindet. Die alte »Kulture stirbt; eine
neue hat sich noch nicht bilden können. Nur ganz schüchterne
Ansätze sind vorhanden. Und viele der Neuerer haben sich
von der Erbschaft der alten Kultur noch nicht frei machen
können. Zu wenige sind noch mit dem wahren Geist des
Kommunismus erfüllt! Kommunismus, Errichtung einer neuen
Gemeinschaft. die Erneuerung der Welt ist nicht möglich
ohne vorherige Reinigung, Läuterung der einzelnen Menschen.
So denken die ethischen Kommunisten, ohne die aus der
materialistischen Geschichtsauffassung dagegen sprechenden Argu-
mente zu berücksichtigen.
Der allzugroße Beamtenstaat der städtischen, ländlichen
und Gouvernementssowjets erzeugt eine neue Bürokratie, die
nıcht weniger schwerfällig. nicht weniger pedantısch, nıcht
weniger egoistisch, nicht weniger engherzig. nicht weniger an-
maßend arbeitet. wie die alte. Nichts Verwunderliches. Denn
wie sollten sich die Menschen in dieser kurzen Übergangs-
periode verändert haben? Nur bei Einzelnen hat sich zweifellos
Russisches Notizbuch 831
eine innere Umwandlung vollzogen. Die wirkliche Erneuerung
des kleinen, alltäglichen Lebens wırd jedoch erst von der
jungen Generation kommen ım Kampf gegen die alte, die
auf allen Gebieten belastet ist mit der Erbschaft der bürger-
lichen Gesellschaft: mit allen Übeln ihrer Korruption, der
Trägheit und Unhöflichkeit ihrer Herzen, mit ihren Gesinnungen,
ihrer Klatschsucht, ja mit ihren Vorurteilen auf moralischem,
erotischem. sexuellem Gebiet. Die jetzt heranwachsende. empor-
kommende Generation von Jungen und Mädchen, befreit von
den Fesseln der bürgerlichen Schule, nıcht mehr unter dem
Einfluß der Kirche und den konventionellen Lügen der Ge-
sellschaft, wird sich selbst erst befähigen müssen, die neue
Welt aufzubauen und ın allen ıhren Teilen mit dem Geiste
des Kommunismus, der befreiten Menschheit, zu erfüllen. Von
der jetzt herrschenden Generation ist diese völlige Umwälzung
nicht zu erwarten, soviel einzelne Tausende revolutionärer
"Kämpfer die alte Gesellschaft abgestoßen, ihre Tafeln zerbrochen
haben. Sie sind es in Wahrheit allein, die der J ugend als Pioniere
vorangehen, ihr als symbolische un der neuen Welt
voranleuchten. 2. 8
Ich lese wieder Lenins »Staat und R Ein großes
Werk wire zu schreiben: Von Marx bis Lenin. Aber wer
könnte das? Vielleicht allein Bucharin.
| Lenin zitiert in seiner Schrift den grundlegenden Satz von
Engels: -Der Staat ist weder die Wirklichkeit der sittlichen
Idee. noch das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft. Wie
Hegel behauptet, er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft
auf bestimmter Entwickelungsstufe.«
Ferner Engels: »In einer demokratischen Republik übt der
Reichtum seine Macht indirekt. aber um so sicherer aus.
(Wie auf die deutsche Stinnes-Republik gemünzt, aber vor
sechzig J ahren schon geschrieben).
Lenin über den - freien Volksstaat«, die landläufige
Losung der deutschen Sozialdemokraten der siebziger J ahre:
832 o Wilhelm Herzog
Sie birgt, sagt er, keinerlei politischen Inhalt, abgeschen
von der kleinbürgerlichen schwülstigen Umschreibung des
Wesens der Demokratie, in sich. Engels ließ die Losung
aus agitatorischen Gründen »zeitweilige gelten . Diese
Losung. schreibt Lenin weiter. war aber opportunistisch, denn
sie bedeutete nicht nur eine Schönfärbung der bürgerlichen
Demokratie, sondern brachte auch eın mangelndes Verständnis
für die sozialistische Kritik jedweden Staates zum Ausdruck.
Wir treten unter dem Kapitalismus für die demokratische
Republik als die für das Proletariat beste Staatsform ein. aber
wir dürfen nicht vergessen, daß auch in der demokratischen
bürgerlichen Republik Lohnsklaverei das Los des Volkes ist.
Ferner: Jeder Staat ist - eine besondere Repressionsgewalt«
gegen die unterdrückte Klasse. Es ist also jeder Staat unfrei
und kein Volksstaat. Marx und Engels haben dies wiederholt
ihren Parteigenossen in den siebziger Jahren auseinandergesetzt.
Engels Ausführungen über das Absterben des Staates sind,
wie Lenin von neuem feststellt, nicht nur gegen die Anarchisten,
sondern ebenso gegen die Opportunisten gerichtet. »So wird
die große revolutionäre Lehre unmerklich dem herrschenden
Pfahlbürgertum angepaßt. Die Folgerungen gegen die Anarchisten
wurden tausendmal wiederholt, verflacht, in die Köpfe in einer
recht vereinfachten Form eingehämmert und erreichten eine
Festigung des Vorurteils. Die Schlußfolgerungen gegen dıe
Opportunisten wurden dagegen vertuscht und vergessen“.
Engels will die ganze Staatsmaschine in ein Museum von
Altertümern. neben das Spinnrad und die bronzene Axt.
versetzen. Und Lenin zitiert jene großartigen Sätze von Engels,
die wegen ihrer unumstößlichen Wahrheit und der Schärfe ihrer
Erkenntnis ein unvergängliches Vermächtnis bleiben werden.
Das Vermächtnis eines Propheten der Weltrevolution! Ich
kann mich nicht enthalten, diese Worte Engels hierher-
zusetzen. So oft man sie liest, immer wieder erscheinen sie
einem als die Quintessenz aller revolutionären Theorie:
Russisches Notizbuch 833
„Der Staat ist also nicht von Ewigkeit her. Es hat Gesell-
schaften gegeben, die ohne ihn fertig wurden, die von Staat
und Staatsgewalt keine Ahnung haften. Auf einer bestimmten
Stufe der ökonomischen Entwicklung, die mit Spaltung der
Gesellschaft ın Klassen notwendig verbunden war, wurde
durch diese Spaltung der Staat eine Notwendigkeit. Wir
nähern uns jetzt mit raschen Schriften einer Entwicklungsstufe
der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur
aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives
Hindernis der Produktion wird. Sie werden fallen. ebenso
unvermeidlich, wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen fällt
unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion
auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten
neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin
sie dann gehören wird: ins. Museum der Altertümer. neben
das Spinnrad und dıe bronzene Axt.
5. Juni 1920.
Wir fahren durch Tambow, Koslow und sollen früh
8 Uhr in Moskau sein. Also von Saratoff bis Moskau in
32 Stunden. Bädeker nennt 1912 als Reisezeit für diese Strecke
21 Stunden. Nach sechsjährigem Krieg und völliger Verwüstung
der Wirtschaft des Landes — eine sehr beachtenswerte Leistung.
Der Fahrpreis betrug 1912 nach Bädeker 19 Rubel.
Keine Uhr auf den Bahnhöfen, die wir passieren, geht.
Oberflächliche Europäer un] mit ıhrem Urteil Leichtfertige
bekommen Veranlassung. Kritik an einer solchen Schlamperei.
wie überhaupt an dem Fehlen jeder „Ordnung“. zu üben. Die
kurzsichtigen Toren sollten wissen, daß alle Materialien, auch
die kleinsten Instrumente, fehlen, die zur Reparatur notwendig
wären.
In der Nacht Gespräch mit Losowsky, der mitwirkt, den
englischen Delegierten Williams. den Vertreter der Transport-
arbeiter, ein wenig zu »interviewen«. Eine englische Revolution,
834 Wilhelm Herzog
äußert Williams, ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Sie sei
abhängig von der europäischen Entwicklung und den ökonomischen
Krisen ın England. Ich fragte: sind die Arbeitermassen radikaler
als die Führer der Delegation? Antwort: die Führer werden
nur von einer kleinen Schicht von Funktionären gewählt. Die
große Mehrzahl, die Masse sei indifferent. lange nicht so radikal
als die Führer (?). Einen Metallarbeiterverband gibt es in England
nicht. Er zerfällt in 70 bis 80 Einzelgewerkschaften. (Gießer,
Messing-. Kupfer- Schmiede- Arbeiter usw.)
Über die Gewinnung und Beförderung von Naphtha
aus Astrachan und Nishnij-Nowgorod empfingen wir auf
Grund einer Unterredung mit Swerdlow, dem Stellvertreter
Krassıns, des Kommissars für Verkehrsmittel, folgende Angaben:
In diesem Jahre wurden bereits 400 000 Pud abgeliefert.
Man erwartet, daß monatlich 30 Millionen Pud Naphtha für
ganz Rußland geliefert werden können, auf marıtımem Wege.
Von Benzin während der ganzen Saison (fünf Monate):
8%, Millionen Pud.
Von Naphtha für die Saison (Mie April bis September)
120 Millionen Pud. 1907 (die letzte Statistik) warde an
Naphtha in dem gleichen Zeitraum (Mitte April bis September)
253 Millionen Pud abgeliefert.
Wir haben zur Verfügung, erklärt Swerdlow, für die
Wolga 104 Millionen Pud Tonnage. Spezial-Dampfschiffe
für Naphtha haben 50. Millionen Pud Tonnage. Das übrige
an Tonnage wird verwendet für Ladungen von Baumwolle
(aus Turkestan), Holz und Getreide aus den W olgaländern.
20% von den jetzt nicht brauchbaren Schiffen werden
in kurzer Zeit repariert und verwendbar sein.
Die Tonnage der einzelnen Wolgaschiffe schwankt zwischen
10000 bıs 650 000 Pud.
Losowsky rät mır, wenn. wir nach Moskau zurückgekehrt
sind, mich mit dem Zentralbüro für Statistik (Zentralnoje
Russisches Notizbuch 835
Statistischeskoje Upravlenie) mit dem Kameraden Popow in
Verbindung zu setzen. Dort würde ich die genauen Daten für
die Gewinnung der wichtigsten Produkte auf Grund der
Statistiken 1913 und 1919 erhalten. |
Ich will mich bemühen, diese Ziffern noch zu erhalten.
Im Gespräch mit Losowsky ın seinem Coupe: er erzählt,
daß der Menschewik Zeretelli, früheres Mitglied des Kabınefts
Kerenski, jetzt Minister in Grusien (Georgien) ist. Er war
in Paris mit Clemenceau zusammen.
Vor kurzem wurde in Baku die Sowjetrepublik ausgerufen !
Pünktlich um 8 Uhr morgens treffen wir in Moskau ein.
Müssen aber bis 11 Uhr im Zuge warten. Keine Autos.
Unterdessen Gespräch mit dem deutschen Genossen Sturm
und dem englischen Genossen Tanner über die syndikalistische
Bewegung in England. Die Shop Stewards sind für »direkte
industrielle Aktion. Antiparlamentarier. Sie sind eine große
Macht geworden. Etwa 500000 Arbeiter wählen Shop
Stewards.
« «
k
Mittags 722 Uhr schickt mir Radek sein Auto, das mich
in die III. Internationale fährt. Er räumt, ordnet Briefe.
Manuskripte. sortiert Bücher. Zeitschriften und. Zeitungen
schimpft auf die Hilfskräfte. Bibliothek der III. Internationale
soll. endlich eingerichtet werden. Spät nachmittag mit Radek
zusammen ins Delovoi Dvor. Mit dem amerikanischen Genossen
Bilan Gespräch über den Kommunismus in Amerika. Die
Kommunisten sind — nach den neuesten Meldungen aus
Amerika — wieder für legal erklärt.
Abends um 7 Uhr mit Radek, seiner Frau und ihrer
Freundin in seine Sommer wohnung nach Tarassowka gefahren.
Das ist ein kleines Dorf mit einer Reihe bürgerlicher Landhäuser,
schön gelegen inmiſten großer Gärten. Sehr verschieden
eingerichtet, manche äußerst einfach, wie bei uns auf dem Lande,
gute Bauernhäuser, andere wieder nach westeuropäischem
834 Wilhelm Herzog
äußert Williams, ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Sie sei
abhängig von der europäischen Entwicklung und den ökonomischen
Krisen ın England. Ich fragte: sind die Arbeitermassen radikaler
als die Führer der Delegation? Antwort: die Führer werden
nur von einer kleinen Schicht von Funktionären gewählt. Die
große Mehrzahl, die Masse sei indifferent, lange nicht so radıkal
als die Führer (?). Einen Metallarbeiterverband gibt es in England
nicht. Er zerfällt in 70 bis 80 Einzelgewerkschaften. (Gießer,
Messing-. Kupfer-. Schmiede- Arbeiter usw.)
Uber die Gewinnung und Beförderung von Naphtha
aus Astrachan und Nishnij- Nowgorod empfingen wir auf
Grund einer Unterredung mit Swerdlow. dem Stellvertreter
Krassins, des Kommissars für Verkehrsmittel, folgende Angaben:
In diesem Jahre wurden bereits 400 000 Pud abgeliefert.
Man erwartet, daß monatlich 30 Millionen Pud Naphtha für
ganz Rußland geliefert werden können, auf maritimem Wege.
Von Benzin während der ganzen Saison (fünf Monate):
81% Millionen Pud.
Von Naphtha für dıe Saison (Mitte Aprıl bis September)
120 Millionen Pud. 1907 (die letzte Statistik) wurde an
Naphtha in dem gleichen Zeitraum (Mifte April bis September)
253 Millionen Pud abgeliefert. l
Wir haben zur Verfügung., erklärt Swerdlow, für die
Wolga 104 Millionen Pud Tonnage. Spezial- Dampfschiffe
für Naphtha haben 50. Millionen Pud Tonnage. Das übrige
an Tonnage wird verwendet für Ladungen von Baumwolle
(aus Turkestan), Holz und Getreide aus den W olgaländern.
20% von den jetzt nıcht brauchbaren Schiffen werden
in kurzer Zeit repariert und verwendbar sein.
Die Tonnage der einzelnen Wolgaschiffe schwankt zwischen
10000 bıs 650 000 Pud.
Losowsky rät mir, wenn. wir nach Moskau zurückgekehrt
sind, mich mit dem Zentralbüro für Statıstik (Zentralnoje
Russisches Notizbuch 835
Statistischeskoje Upravlenie) mit dem Kameraden Popow in
Verbindung zu setzen. Dort würde ich die genauen Daten für
die Gewinnung der wichtigsten Produkte auf Grund der
Statistiken 1913 und 1919 erhalten.
Ich will mich bemühen, diese Ziffern noch zu erhalten.
Im Gespräch mit Losowsky in seinem Coupé: er erzählt,
daß der Menschewik Zeretelli, früheres Mitglied des Kabinetts
Kerenski, jetzt Minister in Grusien (Georgien) ist. Er war
in Paris mit Clemenceau zusammen.
Vor kurzem wurde in Baku die Sowjetrepublik ausgerufen
Pünktlich um 8 Uhr morgens treffen wir in Moskau ein.
Müssen aber bis 11 Uhr im Zuge warten. Keine Autos.
Unterdessen Gespräch mit dem deutschen Genossen Sturm
und dem englischen Genossen Tanner über die syndikalistische
Bewegung in England. Die Shop Stewards sind für - direkte
industrielle Aktion«, Antiparlamentarier. Sie sind eine große
Macht geworden. Etwa 500000 Arbeiter wählen Shop
Stewards.
+ *
*
Mittags 132 Uhr schickt mir Radek sein Auto, das mich
in die III. Internationale fahrt. Er räumt, ordnet Briefe.
Manuskripte, sortiert Bücher. Zeitschriften und. Zeitungen
schimpft auf die Hilfskräfte. Bibliothek der IIL Internationale
soll endlich eingerichtet werden. Spät nachmittag mit Radek
zusammen ins Delovoi Dvor. Mit dem amerikanischen Genossen
Bilan Gespräch über den Kommunismus in Amerika. Die
Kommunisten sind — nach den neuesten Meldungen aus
Amerika — wieder für legal erklärt.
Abends um 7 Uhr mit Radek, seiner Frau und ihrer
Freundin in seine Sommerwohnung nach Tarassowka gefahren.
Das ıst ein kleines Dorf mit einer Reihe bürgerlicher Landhäuser.
schön gelegen inmiften großer Gärten. Sehr verschieden
eingerichtet, manche äußerst einfach, wie bei uns auf dem Lande,
gute Bauernhäuser, andere wieder nach westeuropäischem
834 Wilhelm Herzog
äußert Williams, ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Sie sei
abhängig von der europäischen Entwicklung und den ökonomischen
Krisen in England. Ich fragte: sind die Arbeitermassen radikaler
als dıe Führer der Delegation? Antwort: die Führer werden
nur von einer kleinen Schicht von Funktionären gewählt. Die
große Mehrzahl, die Masse sei indifferent., lange nicht so radikal
als die Führer (?). Einen Metallarbeiterverband gibt es in England
nicht. Er zerfällt in 70 bis 80 Einzelgewerkschaften. (Gießer,
Messing-, Kupfer-. Schmiede-Arbeiter usw.)
Über die Gewinnung und Beförderung von Naphtha
aus Astrachan und Nishnij- Nowgorod empfingen wir auf
Grund einer Unterredung mit Swerdlow, dem Stellvertreter
Krassıns, des Kommissars für Verkehrsmittel, folgende Angaben:
In diesem Jahre wurden bereits 400 000 Pud abgeliefert.
Man erwartet, daß monatlich 30 Millionen Pud Naphtha für
ganz Rußland geliefert werden können, auf maritimem Wege.
Von Benzin während der ganzen Saison (fünf Monate):
81, Millionen Pud.
Von Naphtha für die Saison (Mitte April bis September)
120 Millionen Pud. 1907 (die letzte Statistik) wurde an
Naphtha in dem gleichen Zeitraum (Mitte April bis September)
253 Millionen Pud abgeliefert. |
Wir haben zur Verfügung. erklärt Swerdlow. für die
Wolga 104 Millionen Pud Tonnage. Spezial-Dampfschiffe
für Naphtha haben 50. Millionen Pud Tonnage. Das übrige
an Tonnage wird verwendet für Ladungen von Baumwolle
(aus Turkestan), Holz und Getreide aus den W olgaländern.
20% von den jetzt nicht brauchbaren Schiffen werden
in kurzer Zeit repariert und verwendbar sein.
Die Tonnage der einzelnen Wolgaschiffe schwankt zwischen
10000 bis 650 000 Pud.
Losowsky rät mır, wenn. wir nach Moskau zurückgekehrt
sind, mich mit dem Zentralbüro für Statistik (Zentralnoje
Russisches Notizbuch 835
Statistischeskoje Upravlenie) mit dem Kameraden Popow in
Verbindung zu setzen. Dort würde ıch dıe genauen Daten für
die Gewinnung der wichtigsten Produkte auf Grund der
Statistiken 1913 und 1919 erhalten. |
Ich will mich bemühen, diese Ziffern noch zu erhalten.
Im Gespräch mit Losowsky in seinem Coupé: er erzählt,
daß der Menschewik Zeretelli, früheres Mitglied des Kabinefts
Kerenski, jetzt Minister in Grusien (Georgien) ist. Er war
in Paris mit Clemenceau zusammen.
Vor kurzem wurde in Baku die Sowjetrepublik ausgerufen !
Pünktlich um 8 Uhr morgens treffen wir in Moskau ein.
Müssen aber bis 11 Uhr im Zuge warten. Keine Autos.
Unterdessen Gespräch mit dem deutschen Genossen Sturm
und dem englischen Genossen Tanner über die syndikalistische
Bewegung in England. Die Shop Stewards sind für, direkte
industrielle Aktıon«, Antiparlamentarier. Sie sind eine große
Macht geworden. Etwa 500000 Arbeiter wählen Shop
Stewards.
* *
*
Mittags 7722 Uhr schickt mir Radek sein Auto, das mich
in die III. Internationale fährt. Er räumt, ordnet Briefe.
Manuskripte, sortiert Bücher, Zeitschriften und. Zeitungen
schimpft auf die Hilfskräfte. Bibliothek der IIL Internationale
soll endlich eingerichtet werden. Spät nachmittag mit Radek
zusammen ins Delovoi Dvor. Mit dem amerikanischen Genossen
Bilan Gespräch über den Kommunismus in Amerika. Die
Kommunisten sind — nach den neuesten Meldungen aus
Amerika — wieder für legal erklärt.
Abends um 7 Uhr mit Radek, seiner Frau und ihrer
Freundin in seine Sommerwohnung nach Tarassowka gefahren.
Das ıst ein kleines Dorf mit einer Reihe bürgerlicher Landhäuser,
schön gelegen inmiſten großer Gärten. Sehr verschieden
eingerichtet, manche äußerst einfach, wie bei uns auf dem Lande,
gute Bauernhäuser, andere wieder nach westeuropäischem
836 Wilhelm Herzog
Geschmack oder westeuropäischer Geschmacklosigkeit, in eınem
Gemisch von alten wertvollen Möbeln, sehr schönem alten
Porzellan und weniger schönen Gegenständen aus dem 19. und
20. J ahrhundert.
Am Samstagabend lange mit Radek unterhalten. Über
Lenin, Trotzki. Bucharin, Rykow. Altvater. einem zaristischen
Admiral, der sich der kommunistischen Partei zur Verfügung
gestellt hate. — Uber die gegenwärtigen und künftigen Auf-
gaben der III. Internationale. Sie kann, sie muß das auswärtige
Amt der Welt werden. Vertreter in allen Ländern, Radek
sprüht vor Einfällen. Sein Wesentlichstes ist jedoch: sein
reicher innerer Humor. Er sieht das Ernste und Tragischste
noch von der heiteren Seite. Ein genialer Pampheletist im
Gespräch, wie im Schreiben. Er ist nicht nur witzig. sondern
vor allem teuflisch klug. praktisch. Tatsachen liebend. Feind
dem unfruchtbar Geistigen. Utopischen. Intellektuellen. Welt-
politiker. jesuitisch begabt. Und bei allen Ausschweifungen
des Geistes, ein Mensch von selbstverständlicher, oft rührender
Güte. Als Politiker ist Macchiavell sein Liebling und Vorbild.
Wir kommen im Laufe der Gespräche immer wieder
auf die Persönlichkeit Lenins zurück. Und sein Wesen setzt
sich mir — von ganz verschiedenen Temperamenten gesehen
und dargestellt — so zusammen:
Ein ganz in sich geschlossener Mensch; Bauer, in seiner Kühle,
in seiner nüchternen Überlegung, was der Augenblick erfordert,
in seiner Schlauheit. Ein unermüdlicher Arbeiter. Und als
solcher erforschte er alle ihm nur irgendwie zugänglichen Ge-
biete des ökonomischen, sozialen und politischen Lebens. Un-
beirrbar; Lob und Tadel beeinflussen ihn kaum. Er ist gegen
alles Komplizierte, Verstiegene im Denken und im Ausdruck.
Klarheit des Gedankens und Allgemeinverständlichkeit der
Sprache sind ıhm die ersten Gebote für den revolutionären
Agitator in Wort und Schrift. Er sieht die Dinge rund.
Und er geht bei allen Streitfragen sofort auf den Kern des
Russisches Notizbuch 837
Problems los. Er greift, er packt es an und löst seinen Kern
wie aus einer Nufschale heraus. |
Es gibt zweifellos eine ganze Reihe von Menschen, die
ebenso klug. ebenso gebildet, ebenso begabt, ebenso scharfsinnig.
ebenso sachlich, ebenso kritisch, ebenso ehrlich, ebenso fleißig.
ebenso revolutionär, ebenso konsequent sind wie Lenin. Aber
was seine (sröße ausmacht, das ıst gerade die Zusammenfassung
aller dieser ungewöhnlichen Eigenschaften, die Harmonie der
Stimmen in ihm. Daraus, scheint mir, ergibt sich seine
Universalität. seine innere Sicherheit. seine Hilarıtas, seine
Sophrosyne. wie die griechischen Philosophen die heitere
Ruhe des Weisen nannten.
* *
*
Am Sonntag nachmiftag fahren wir zusammen mit einem
Freunde Radeks auf einem Boote über den spiegelglaften,
tiefen Bach ans andere Ufer. Dort. i In einem Kleinen. geschmack- l
vollen Landhaus treffen wir Sadoul. den in Paris unter
der Clemenceau-Regierung zum Tode verurteilten französischen
Kameraden, mit seiner vor zwei Tagen aus Frankreich eim-
troffenen Frau. Der ehemalige Pariser Anwalt und spätere
Offizier der französischen Militärmission in Moskau Jacques
Sadoul ist ein schön gewachsener. ernster Mann von etwa 35—40
Jahren. Man spricht englisch, russisch, französich, polnisch, deutsch.
Und in allen Sprachen wird immer die gleiche Frage nach den
deutschen Verhältnissen, nach der Entwicklung der deutschen
Revolution gestellt. Alle — so verschieden an Ursprung. Kennt-
nissen, Erfahrungen — fragen zunächst: Woran liegt das langsame
Tempo der deutschen revolutionären Bewegung und wie lange
wird sich die bürgerliche Gesellschaft noch halten? Man ist
trotz allen Zeitungsnachrichten und Artikeln schlecht oder wenig
unterrichtet über die objektiven Voraussetzungen der deutschen
Verhältnisse. Einige wenige ausgenommen, kennen die Meisten
selbst die Parteiverhältnisse in Deutschland nur im groben
Umriß,
888 Vilhelm Herzog
7. Juni 1920.
Montag früh — es ist 11 Uhr nach Moskauer Zeit —
also 8 Uhr in Berlin, fahren wir vom Dorf Tarassowka
zurück nach Moskau: Radek. seine Frau und ihre Freundin.
die Frau eines Genossen, der Kommandant an der Front
ist. Zuerst in den Kreml, da Radek noch die angekommenen
englischen, französischen und deutschen Zeitungen von seiner
W obnung in die III. Internationale mitnehmen will.
Im Delovoi. Dvor den englischen Korrespondenten des
Daily Herald, Young, getroffen. Guter, feingeschniſtener Kopf,
war früher in der englischen Diplomatie. Seit einigen Jahren
Sozialist. Etwas skeptischer Sonderling.
Abends Borodin bei mir. Er geht wahrscheinlich nach
dem Osten, nach Turkestan und Afghanistan, die sich immer
erfreulicher — röter werdend — entwickeln. N
Mit ihm spazieren gegangen. dann zu ihm in seine
Wohnung in der Sophijskaia Nabereschnaja. In das ehemalige
Haus eines Zuckerkönigs, namens Charitonenko. Ein mächtiger,
dunkler Bau, mit schönen Räumen im Innern, sehr kostbar
und nicht immer geschmacklos eingerichtet, in dem sich
jetzt Arbeitsräume einer Abteilung des Auswärtigen Amtes
befinden.
Der Besitzer dieses Palastes war augenscheinlich ein
typischer Vertreter der russischen Großbourgeoisie. Seine
Bibliothek, die unangetastet blieb, und die ich mir ein wenig
genauer ansah, ist die Bibliothek eines reichen Mannes in
Europa um die Jahrhundertwende. Wenig wissenschaftliche
Werke, kaum ein philosophisches Buch. Dafür aber alle
Prachtwerke des 19. Jahrhunderts, russische, deutsche, fran-
zösische, englische Ausgaben. Sehr kostbar gebunden: die
Schriften der Enzyklopädisten. Daneben Balzac. Stendhal,
Victor Hugo, Flaubert, George Sand, Gauthier, Beaudelaire,
Maupassant, France, Zola. Auch .die deutschen Klassiker
‚sind vorhanden und die populärsten Kunstbücher der letzten
Russisches Notizbuch 839
dreiPig J ahre, von Muthers ‚Geschichte der Malereis bis
zu. Meier-Gräfe.
8. J uni 1920.
Vormiſtag Spaziergang allein durch die Stadt. Durch
die Warwarka dem Kreml zu. Vor dem Kreml der »Krass-
naja plostschad« (der Rote Platz) mit einer phantastischen Kirche.
der berühmten Wassilij Blashennije (Basilius - Kathedrale),
deren wulstige Zwiebelkuppeln jede in einer anderen Farbe er-
strahlt. In den Kreml, durch das Sspaſlkija- Tor. Den russischen
Adler. der auf der sehr hohen Turmspitze thront, hat man noch
nicht herunterholen können. Zu schwierig. er dem Eingang:
das von dem Zaren Alexei Michailovitsch gestiftete Bild des
Erlösers. — das einstige Palladium des Kreml. Baedeker
äußert 1912: -Alexeis Gebot, dal kein Mann bedeckten Hauptes
durch das Tor gehen soll, wird heute noch streng befolgt«.
Das hat sich geändert. Jetzt rasen die Autos der im Kreml
wohnenden Volkskommissare durch das heilige Tor und die
früheren »Schnorrer und Verschwörere und jetzigen Reprä-
sentanten des russischen Volkes ziehen ihre Mützen höchstens
vor.den am Tore stehenden Rotarmisten, die strenge Wache
halten. Niemand darf ohne Ausweis, der nur sehr schwer
zu bekommen ist, dieses Tor passieren. Vom Kreml herunter
hat man eine zauberhafte Aussicht auf Moskau: am Denkmal
eines Heruntergeschlagenen. Es stand hier — wenn ich nicht
irre — ein mächtiges Bronzestandbild Alexanders des Zweiten.
Die Revolution hat ihn nachträglich geköpft. Es ist nur der
Sockel übriggeblieben. Am Großen Palais vorbei, einem sehr
festlichen, schönen Gebäude aus den vierziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts.
Nachmittags ging ich zu dem Maler Kandinsky, den ich
einmal in München flüchtig kennen gelernt hate. Er ist seit
1914 wieder in Moskau und jetzt Vorsteher einer Sektion
im Kommissariat für Volksbildung: der Museumsleitung. Er
840 Wilhelm Herzog
ıst ın der Entwicklung seiner Kunst immer weiter vorge-
sehriften. Er malt immer neue und immer schönere Symphonien.
deren Fremdartigkeit nicht nur die Bürger verblüfft. Und
doch liegt grade diesem Künstler sicherlich nıchts ferner als
der Bluff.
Er ging und sähe nur A seinen Weg. den er
als visıonärer Künstler einmal erschaut hat. Ich habe mich
in den letzten Jahren zu wenig mit den Werken der jüngsten
Malerei beschäftigt und ich spüre mein fernes Verhältnis zu
ihnen mit großem Bedauern. Aber nıcht zu verkennen bleibt
der Ernst und die Leidenschaft eines Künstlers wie Kandinsky
für den, der ohne Voreingenommenheit an seine Bilder herantriſt
und als stiller Beschauer ohne traditionelle Vorstellungen seine
Farbenharmonien auf sich wirken läßt.
Er klagte mir sehr über die Not des Lebens. Sein Ge-
halt betrage monatlich 4800 Rubel. Davon könne man nicht
leben. Es reiche etwa für zwei bis drei Tage. Seine Schüler
häften vorigen Winter buchstäblich gehungert und gefroren.
Auch jetzt seı das Leben, obwohl eın wenig besser geworden,
noch sehr schwer. Verkauf von Kleidungsstücken helfe‘ über
das Schlimmste hinweg. Jedoch streng verboten. Wird be-
straft. Die Mutter seiner Frau, keine Kapitalistin. arbeite
jetzt auch in einem Amt. Sie bekommt monatlich 3000
Rubel Es ist natürlich unmöglich für sie, davon zu existieren.
Hauptursachen — der Krieg. ö
Für ein Bild bekommt er 20 000 Rubel. Das ist an-
gesichts der Lebensmiſtelpreise — 1 Pfund Brot kostet 550
Rubel. 1 Pfund Salz 1300 Rubel. 1 Pfund Kartoffeln 200
Rubel — so gut wie nichts.
Chagall arbeitet in Witebsk. Auch er ist Leiter einer
Schule. Er kommt in den nächsten Tagen nach Moskau zu-
rück. Kandinsky empfiehlt mir vor allem ein Museum an-
zusehen, das die herrlichsten russischen Heiligenbilder enthalten
soll. Und das expressionistische Museum!
Russisches Notizbuch 841
9. Juni 1920.
Lenin hat eine neue Arbeit geschrieben: Der Radıkalıs-
mus, — die Kinderkrankheit des Kommunismuse. Ich erhielt
das Manuskript in Schreibmaschinenabschrift vor einigen Tagen
und las es vergangene Nacht zu Ende. Lenins Auseinander-
setzung mit den sogenannten slinkene Kommunisten entbehrt
nicht der Schärfe. Sie ist wieder wie alle seine Arbeiten
äußerst klar und anschaulich geschrieben. Die Argumente sind
nicht neu, aber geschickt und übersichtlich zusammengestellt.
Zweifellos wird diese Schrift Lenins großes Aufsehen erregen.
Und sie wird zum erstenmal eine heftige Polemik innerhalb
der kommunistischen Parteien selbst hervorrufen. Trotz ein-
zelnen Einwänden. die dagegen zu machen wären, scheint mir
Lenin ın seiner Grundauffassung vom Parlamentarismus und
Antiparlamentarısmus, von den Gewerkschaften und von dem
notwendigen Zentralismus in Partei und Verwaltung durchaus
im Recht für die nächste Zukunft. Und nur in diesem
Sinne d. h. im Hinblick auf die vorrevolutionäre Periode,
auf die Zeit vor dem Übergang zur Diktatur, will er ver-
standen sein.
Mittags 12 Uhr zu Radek in die III. Internationale. Er
teilt mir die ersten Ergebnisse der Reichstagswahlen mit. Sie
brachten den Scheidemännern und Demokraten eine schwere
Niederlage und der U. S. P. den zu erwartenden Gewinn.
« *
*
Eine traurige Kunde, die mich tagelang niederdrückte:
Hans Paasche — auch er — von Neichswehr- Offizieren
erschossen. Auf seinem Gut. Ich dachte der Stunden, die er
bei mir war. Dieser sonderbare, knabenhafte Schwärmer, dieser
tapfere Kämpfer, der unbeirrbar blieb. War er nicht ge-
zeichnet? Und mußte er nicht dem Schicksal die von ihm so
geliebten und bewunderten größeren Pionieren, Rosa Luxem-
burg, Karl Liebknecht, folgen? Sein Feld war kleiner als das
ihre. Und er selbst war von viel kleinerem Format. Aber
842 Wilhelm Herzog
in der Ehrlichkeit seiner Überzeugung, in der Leidenschaft
seines Willens war dieser edle -Sohn eines jämmerlichen
Vaters, war dieser aus einer Bourgeoisfamilie entartete Rebell
ihnen ebenbürtig.
Nachmittags 5 Uhr fuhr ich — nach einer Verabredung
mit Trotzkis Stellvertreter, Sklianski — in den „Revwoen-
sowjet. Das ist die Abkürzung für Revoluzionnij Woennij
Sowjet = Revolutionärer Kriegsrat. Das Trotzkische
Kommissariat unterscheidet eich wesentlich von allen anderen
Kommissariaten. Schon dem ersten flüchtigen Blick fällt die
überraschende Ordnung, Disziplin und Ruhe auf. Und
nicht zuletzt die Präzision, mit der überall, in allen Ab-
teilungen gearbeitet wird. Nichts von altrussischer Schlam-
perei, nichts von revolutionärer - Bohème, kein laisser faire.
laisser aller, kein »nıtschewo« sondern ein zielbewußtes Ar-
beiten, das den Wert von Zeit und die Ausnutzbarkeit der
zur Verfügung stehenden Kräfte und Mittel richtig einzu-
schätzen weil. Ein sehr wohltuender Eindruck. Hier klappt
alles:; hier herrscht eine straffe revolutionäre Disziplin. die
der rein militärischen äußerlich verdammt ähnlich sieht, deren
Geist jedoch — ihr schärfster Antipode — Menschen, und
nieht uniformierte Puppen oder Sklaven, belebt. Hier. in
Trotzkis Reich. wird eine im geheimen schüchtern gemachte
Feststellung plötzlich strahlende Wirklichkeit: Pünktlichkeit.
Widerwille gegen Schmutz und Bummelei. Ordnungeliebe
sind nichts Gegenrevolutionäires. Und man wünscht nur. daß
es diesem energischen Organisator gelingen möge. den von mir
schlampigen Revolutionären gegenüber oft zitierten Titel
seiner Schrift: Ordnung und Disziplin werden die Sowjet-
republik rettene! auch auf anderen Gebieten in die Tat um-
zusetzen. Nur der neu entflammte Krieg hat ihn bisher
daran gehindert. Seine Tatkraft beschränkte sich nicht auf
das Militärwesen. Und da er erkannte, welcher Teil des
staatlichen Lebens zunächst am dringlichsten reorganisiert und
Russisches Ne 843
erneuert werden mußte, so konzentrierte er alle ıhm noch
übrigbleibenden Kräfte auf die Neugestaltung des Eisenbahn-
und Transportwesen... Er vereinigt jetzt in seiner Hand.
richtiger in seinem Kopf, die Leitung des Kriegskommissariats
mit dem des Kommissarıats für Eisenbahnen. Dieses letztere
übernahm er. als Krassin von der Sowjetrepublik nach London
geschickt wurde. Wie erfolgreich seine Tätigkeit ist. sobald
er an einer Stelle einsetzt, verrate ein Beispiel unter hunderten:
früher fuhr man die Strecke Moskau — Saratoff. in 39 Stunden.
Seit kurzem braucht man nur 22 Stunden.
Meine Unterredung mit Skliansky Trotzky ist an der
Front — hafte das Resultat, daß ein früherer Generalstabs-
ofhizier, jetzt Kommandeur eines Frontabschniftes beauftragt
wurde, uns alles Wissenswerte über die Organisation des
Kriegskommissariats mitzuteilen und zu zeigen. Ich hoffe,
darüber an anderer Stelle ausführlicher berichten zu können.
* *
*
Abends gingen wir in ein Kinderkonzert. In einem der
Berliner Philharmonie ähnlichen Saal Moskaus. Etwa 2000
Kinder im Alter von 4 bis 12 Jahren lauschten als auf-
merksamstes Publikum den sehr lustigen Darbietungen auf der
Bühne. In sehnsüchtiger Naivität hingen ihre Blicke an den
bunten Bildern, die ihre verwunderten Augen erschauten und
entzückten. Als Schauspieler wirkten nur Kinder mit. Man
spielte Märchen, so dıe Fabel von der Heuschrecke und der
Ameise nach Lafontaine. In reizenden Kostümen, sehr grotesk
mit der typischen Begabung der Russen für alles Spielerische.
mit ihrer natürlichen Leidenschaft zur Musik, zum Gesang und
zum Tanz. Ein sechs- oder siebenjähriges Mädchen, eine süße
kleine Ballerina. tanzte leicht und grazıös alleın als Goldfischehen
unter dem großen Jubel der tausendköpfigen Kinderschar. Man
spielte dann eine Art von Melodrama lein sehr rührendes und
moralisches) von einer Hasenfamilie, in die durch den Wolf.
durch den Fuchs, durch den Bär arge Beunruhigung kommt,
4
844 Wilhelm Herzog
bis seich alles schließlich zum guten Ende löst, indem sie sich
für gegenseitige Hilfe — die moralisch- revolutionäre Nutz-
anwendung — entscheiden. Jedes Kınd bekommt an einem
solchen Abend in der stundenlangen Pause ein Bufterbrot
mit Käse oder Wurst, ein Glas Milch und zwei Bonbons.
Donnerstag, den 10. Junı 1920.
Mi@woch nachts, noch nach dem Kinderkonzert. das erst
um 12 Uhr endete, mit dem Korrespondenten des »Daily
Heralds Young ins Kommissariat des Auswärtigen. Die letzten
Radios melden Siege von der polnischen Front.
Rosenberg. einer der Sekretäre Techitscherins, gibt mir eine
Nummer des »Petit Parisien«, in der ein Reporter. den man
nach Rufland zugelassen hafte. nicht ohne Ungeziefernosheit
seine Erlebnisse berichtet, bei denen man eich juckt.
Wir erfahren die letzten Resultate der deutschen Reichs-
tagswahlen: 110 Noske- Sozialisten: 45 Demokraten: 80 U. S. P.;
67 Zentrum: 65 Deutschnationale: 61 Stresemänner: 5 Welfen:
2 Kommunisten. Nichts Uberraschendes. Es entspricht ungefähr
dem. was man erwarten konnte.
Mittags 12 Uhr in die Ausstellung des revolutionären
Kriegsrates. Ein Adjutant Sklianskıs, ein sehr sympathischer
junger Otfizier. begleitet uns. Er und der Kommandeur. den
wir gestern schon sprachen, erklären sehr anschaulich an der
Hand von Karten und Diagrammen den Aufbau der Roten
Armee. Es gibt neben der Roten Armee jetzt zwei Arbeits-
armeen (im Ural und im Kaukasus), eine driſte wird in
Archangelsk gegenwärtig gebildet, vorzüglich für Transport-
zwecke. Getreideablieferung. Abholzung der Walder.
Nachmiftage 4 Uhr in das Kommissariat für Volksbildung.
Wir geraten in die Theaterabteilung. Es findet gerade eine
Sitzung stat. Im Vorzimmer. an dessen Wänden sehr wenig
revolutionäre Bilder. aber viel bürgerlicher Kitsch hängt.
Russisches Notizbuch | 845
sıtzen einige Schauspieler. An einem anderen Tisch: Arbeiter
mit Mappen unterm Arm, Frauen mit intelligenten, ver-
witterten Gesichtern und Sowjetangestellte. Lunatscharsky ist
verreist, in Charkow. Wird übermorgen zurückerwartet. Sein
Sekretär. Wengrow. stellt sich uns zur Verfügung. Er will
uns in den nächsten Tagen alle nur gewünschten Aufklärungen
über die Arbeit und die Gliederung des Kommissarıats geben.
Freitag, den 11. Juni.
Um 2 Uhr nachts, gemeinsam mit den englischen Dele-
gierten Wallhead. Bonfield. Purcell, Skinner und den Dol-
metschern Petrow und Feinberg, von Moskau an die polnische
Front. Mit uns ım Zuge fährt der Oberbefehlshaber der Roten
Armee, Kamenew.
Wir fahren in einem sehr bequemen Waggon des früheren
Eisenbahnpräsidenten dieser Linie. Nach sehr langsamer Fahrt
um 6 Uhr nachmiftags Ankunft in Smolensk. Begrüßung auf
dem Bahnhof durch Rote Truppen. Parade. Wir werden
wıeder einmal photographiert und gefilmt. Es ist peinlich und
es widerstrebt einem sehr. als Sehenswürdigkeit behandelt zu
werden. Aber — es muß sein. sagt man uns.
Nach überstandener Prozedur. kommt zu uns in den
Wagen ein Mitglied der politischen Abteilung des revolutionären
Kriegsrats. Später erfahre ich: er heißt Smilga, ist ein Freund
Trotzkis und einer der tüchtigsten Propagandisten in der Roten
Armee. Es entspinnt eich eine interessante Unterhaltung zwischen
ihm und den englischen Delegierten. die von seiner Seite nicht
ohne Spitzen gegen England geführt wird. In einem kurzen
Vortrag. der der Unterhaltung vorausging. führte er ungefähr
folgendes über die militärische und politische Situation Sowjet-
rufßlands aus: -Der Kampf gegen die Polen ist schwieriger.
als gegen Denikin. Koltschak. Judenitsch. Sie haben einen
französischen Generalstab. englische Artillerie und amerikanische
Patronen. Die englische Delegierte. Bonfield. fragt. ob die
846 Wilhelm Herzog
Rote Armee weiter vordringen werde, wenn dıe Polen an
ihre Grenzen zurückgeschlagen sind. — Wallhead wirft
dazwischen: hoffentlich bis Warschau! Der junge Offizier
mit dem hellblonden Spitzbart und den zusammengekniffenen
Augen. lächelt: Das ist nicht allein eine politische, sondern
auch eine militärische Frage.
Die Rote Armee hat gegen Polen viele einst zaristische
Offiziere eingestellt, die sich als geeignet erwiesen. Aber sie
hat Tausende nnd Abertausende Proletarier zu Offizieren
gemacht. so daß in der Tat eine Armee der Arbeiterklasse
gegenwärtig gegen die polnischen Truppen kämpft. Die über-
große Mehrzahl: Bauern. Arbeiter, junge Offiziere. Wie
in der großen französischen Revolution.
So ist z. B. Kommandeur der Westfront ein junger
Offizier von 27 Jahren, der Koltschak besiegt hat. Er heißt
Tuchatschewsky, Sohn eines Adligen. Kommunist seit zwei
Jahren. |
« «
*
Mit Rotarmisten auf dem Bahnhof von Smolensk unter-
halten. Fragen nach der politischen Situation in Deutschland
und England. Einer trägt auf seiner Brust das Bild Rosa
Luxemburgs, umgeben von einer roten Schleife. Ich frage ihn,
ob er etwa dem Regiment Rosa Luxemburg, von dessen
Existenz man mir erzählte, angehört, Er antwortete: »Nein,
ich liebe eie: deshalb trage ich ihr Bild.
Mit Autos vom Bahnhof in die Stadt gefahren. Die
Disposition klappt wieder einmal nicht. Wir kommen in einen
sehr wenig einladenden Raum, einen fast leeren Laden eines
recht wenig sauberen Hauses. Man darf nie vergessen, daß
der Widerwille gegen Schmutz nur sehr gering bei den
meisten Russen entwickelt ist. Anzustecken fürchtet man sich
33 Mal am Tage und in der Nacht. Die meisten waschen
sich wenig und ungern. Wenn eie es vermeiden können, so
tun sie es.
Russisches Notizbuch 847
Immer wieder stellt man etwa folgende wehmütige
Betrachtungen an:
Den Russen fehlt: Dissen ökonomische Verwendung
von Zeit und Kraft, Sınn für Sauberkeit und Ordnung.
Die Russen haben: Fanatismus, Liebe zur Idee, Willen
zur Tat, Musik.
Sonnabend, den 12. Juni 1920
Am Nachmittag in ein nahe bei Smolensk gelegenes Kriegs-
gefangenen- Lager zu den Polen. Nach einer Minute unseres
Eintritts sind wir von Hunderten armer, zerlumpter Soldaten
umringt. Viele polnische J uden. Alle Gefangenen berichten das
Vorhandensein französischer Offiziere im polnischen Heere.
Man habe deutsche Mausergewehre und französische Munition.
Einige der Gefangenen sind schon seit mehreren Monaten in dem
Lager. Sie klagen sehr. Sie seien ohne Arbeit. Sie wollen
arbeiten, dann bekämen sie auch mehr zu essen. Jetzt den
ganzen Tag nur: 1 Pfund Brot und eine Wassersuppe.
Revolution in Polen? Bald wahrscheinlich? Solange der
Krieg dauere. meinen sie, kaum; nach Niederlage vor dem
Friedensschluß, sehr wahrscheinlich, manche sagen: sicher. Die
Juden wurden von den Polen schlecht behandelt. Viele Progrome.
Aber auch hier schlage man sie. Zurückzuführen auf irgend-
einen untergeordneten Burschen. Das darf nicht sein. Oder
wir geben uns selbst auf. Wir versprechen ihnen, es zu melden
und für die Beseitigung dieses Rohlings zu sorgen. Unver-
ständlich bleibt, warum unter ihnen keine Propaganda für den
Eintritt in die große Armee getrieben wird.
Smolensk. Mittags. Auf dem Bahnhof. Schmutz, Schmutz,
Schmutz. Angst vor Ansteckung dominiert. Überall |
Läuse, Wanzen, Ungeziefer aller Art. Auf dem Bahnhof
liegen, an die Wand gelehnt. oder auch mifen. auf dem
Bahnsteig. Männer, Frauen, Kinder. In Lumpen. zerfetzt. stafi
Schuhe Lappen um die Beine und Füße. Meist schlafen sie.
848 Wilhelm Herzog
Oder sie ‚essen oder trınken irgendeine undefinierbare Flüssig-
keit. Es gibt an großen Verkaufsständen Brot. Butter. Eier.
Wurst. Gurken, Kirschen. Himbeeren zu kaufen. Uberall
Fliegen. Insekten. Man juckt sich immerfort und der Reiz
hygienischer Sauberkeit konnte hier noch nicht entdeckt und
empfunden werden. Weil alles dazu Notwendige fehlt.
Einige Lebensmittelpreise:
1 Pfund Bufer . . 1200—1500 Rubel
DE so y aos 0
1 Pfund Brt . . . 150—170 —
(Auf Karten zu festem Preise kostet ein Pfund Brot
1.50 oder 2 Rubel.)
Jeder Rotarmist und jeder Kriegsbeamte bekommt täglich
1½ Pfund Brot. monatlich 4 ½ Pfund Zucker, 15 Pfund
Fleisch oder Fisch und 7 ½ Pfund Grütze. Alles dies zu-
sammen kostet zu festen Preisen 200 Rubel.
Eine Schachtel Zündhölzer kostet in Smolensk 85 Rubel.
Den nächsten Tag müssen wir bis 2 Uhr miſtags im Wagen
verbringen. Infolge der elenden Disposition. Nutzlose Zeit-
vergeudung. Wir sehen uns inzwischen die- Front- des Bahn-
hofs von Smolensk an. Nachmittags findet eine große Parade
der Smolensker Truppen statt: auf einem sehr großen, freien
Felde vor der Stadt. Oberbefehlshaber: der junge Tucha-
tschewsky. Sofort wird ein Meeting veranstaltet. Wir — auf
einem Lastwagen, rings um uns eine gewaltige, enthusiastische
Menge, umsäumt von den dichten Reihen der Roten Truppen.
Wallhead und Purcell sprechen. Sehr revolutionär. Und die
Übersetzung ihrer Reden löst oft stürmische Jubelrufe aus, be-
sonders als sie die eben eingetroffene Nachricht verkünden —
Kiew genommen. Die Polen vollständig geschlagen, — will das
Klatschen der begeisterten Masse kein Ende nehmen. Nach
dem Meeting marschieren alle Truppen, dıe roten Arbeiter und.
Arbeiterinnen der verschiedenen Gewerkschaften mit ihren roten
Fahnen an uns vorüber. Die Truppen — Intanterie, Artillerie
Russisches Notizbuch 849
und Kavallerie — in strammer Haltung. gut diszipliniert. machen
einen vorzüglichen Eindruck. Während des langdauernden
Vorbeimarsches spielt die Rote Kapelle mit großer Verve die
Internationale.
Tuchatschewsky — ein sehr in sich geschlossen scheinender
junger Mann mit einem feinen Kopf und weichen, mädchen-
haften Gesichtszügen — sehr selbstbewußt und entschieden.
Er trägt einen, ihm vom Z. I. K. (Zentralnij Ispolnitelnij
Komitet d. h. Zentral-Exekutiv- Komitee). geschenkten Säbel
mit dem Bilde Karl Marx. Der Sieg von Kiew, erklärt er.
ist durch die Kavallerie Budyonoffs errungen worden.
Von der Parade in den Sowjet. Ein großes Meeting in
einem sehr schönen weilen Saal, an dessen Wänden Marmor-
tafeln mit Inschriften von Karl Marx, Friedrich Engels und
anderen revolutionären Sozialisten. Sonne strahlt herein und
erhellt den Saal, die Menschen. Meist junge Intellektuelle,
Arbeiter und Arbeiterinnen. auch Menschewiki. Zunächst
übliche Begrüßung der englischen Delegierten. Der erste
russische Redner läßt am Schlusse seiner Ansprache neben
der Sowjet-Republik Polen zu voreilig und optimistisch für
die Ohren der englischen Delegierten — die Sowjet-Reputlik
England, leben. Von den Engländern sprechen Bonfield und
Skinner. Die Versammlung ist sehr beifallsfreudig. Der alte
Skinner spricht witzig von den englischen Bolschewikı, wofür sie
drüben gehalten werden. Purcell hält eine sehr radikale, mit großem
Enthusiasmus aufgenommene Rede. Dann — auf Aufforderung
Petrows — spreche ich. Der Ankündigung des Vorsitzenden, daß
ich als nicht offizieller Delegierter der revolutionären deutschen
Arbeiter sprechen werde, folgt minutenlanges Klatschen. Als
später die Rede übersetzt wırd, erheben sich alle beı Erwähnung
der Namen Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs, Kurt Eisners,
Gustav Landauers, Eugen Levinds, und die Kapelle spielt den
Trauermarsch. Eine unvergelliche, sehr ergreifende Szene. Es
sprechen noch ein Vertreter der Rotarmisten, ein Vertreter
850 Wilhelm Herzog
der Jugend-Organisation der Kommunistischen Partei und ein
sehr intelligenter Repräsentant der Menschew¾iki. Der letzte
fühlt sich durch eine Äußerung von mir ein wenig gekränkt.
Ich hafe gesagt, auch wir in Deutschland haben unsere
Menschewiki; bei uns heißen sie nur anders. Der mensche-
wistische Redner erhob Einspruch dagegen. daß ich seine
Partei mit der der Scheidemann, David, Noske auf eine Stufe
stellte. Der Vergleich träfe nicht zu. Ich ließ ihm am Schluß
der Versammlung durch den russischen Dolmetscher kurz er-
widern: er sei im Irrtum, ich würde unter den deutschen
Menschewikı nicht nur die Scheidemänner verstehen. Und
wenn es ıhm lieber wäre, mit Kautsky und Hilferding ver-
glichen zu werden, und er diesen Vergleich für treffender
hielte. so wäre es mir auch recht.
Beim Verlassen des Saales und des Sowjethauses: großer
Jubel der Massen.
Vom Sowjethaus in den Generalstab, in das Hauptquartier
der Westfront. Während die englischen Delegierten sich über
ein soeben eingetroffenes Telegramm Radeks unterhalten, suche
ich Tuchatschewsky auf. Er sitzt in einem miftelgroßen Raum,
an dessen Winden riesengroße Gseneralstabskarten hängen, an
einem Schreibtisch über eine Karte gebeugt. Er spricht einfach
und klar über die Aussichten des Krieges gegen Polen. Er hatte
kürzlich eine Niederlage zu verzeichnen. Er erklärt sie dadurch,
dal infolge der frühzeitigen Bildung der Arbeitsarmee, dıe
Rote Armee geschwächt wurde. Keine Reserven standen ihm
zur Verfügung. Jetzt aber geht es wieder vorwärts. Man
würde es bald merken. Der gute Anfang sei gemacht: durch
die heute gemeldete Eroberung von Kiew.
Um 12 Uhr nachts ins Sowjethaus. Bankett. Ansprachen.
Dann werden revolutionäre Lieder gesungen von einem kleinen
Chor junger Arbeiter.
Zurück zum Bahnhof von Smolensk um 3 Uhr morgens!
Dort in der Bahnhofshalle — der Russe kennt kein Mal
Russisches Notizbuch 851
an Zeit — Vorführung eines Films aus dem Kaukasus, von
den dortigen Kämpfen mit den weilen Garden: die Führer
der Roten, seltsame Gestalten darunter, die Verwüstung durch
Denikin; Smilga als Leiter = revolutionär-militärıschen
Propaganda.
13. Juni 1920.
Um 15,5 Uhr morgens Weiterfahrt nach Borissow.
Einige Stunden geschlafen. Um 10 Uhr vormittags — im
Eisenbahn waggon — erklart uns der Vorsitzende des politisch-
militärischen Rates, Mjassnikow, die Arbeit der Propaganda in
der Front-Armee und beim Feinde.
Neuerdings werden Granaten, mit Literatur gefüllt, abge-
schossen. Sie enthalten 60 bis 80 Flugblätter. die sich beim
Niederfallen der Granate herauslösen und selbst zerstreuen.
Sonntag vormittags. den 13. Juni 1920.
Mjasenıkow, der Leiter der politischen Abteilung, und zu-
gleich Mitglied des Revolutionär- Militärischen Rats, gibt uns
eine ausführliche Darstellung über die Organistion der
Politischen Abteilung dee Revolutionären
Militärischen Rates der Westfront.
Zwei Hauptaufgaben:
L Kontrolle der Kommandeure. soweit sie nicht Kom-
munisten sind. Kein Kommandeur kann einen Befehl
geben. der nicht vom politischen Kommissar gegen-
gezeichnet ist.
Bildung von revolutionären Komitees in den er-
oberten Gebieten, die später die Wahlen für den
Rat vorzubereiten haben. Bis dahin haben sie allein
die Gewalt.
II. Kulturelle und politische Auf klärungsarbeit. Propa-
ganda in der Roten Armee, im Kriegsgebiet und
beim Feind.
852 Wilhelm Herzog
a) das Kulturelle: Schulen, Klubs, Sport, Kurse
für Analphabeten und Mittelschüler, Universi-
taten für die Front. Musik. Theater.
b) Politisch- marxistische Arbeit durch Parteischulen
(erste, zweite, dritte Stufe), Kurse für politische
Agitatoren und Vorbildung für Kommissare.
Propaganda.
Im Monat Mai 1920 wurden hergestellt an Flugblättern.
Zeitungen. Broschüren, Plakaten usw., 4 388 390 Exemplare.
Im Monat Juni täglich: 500 000 Exemplare.
Im Monat Mai 1920 wurden hergestellt:
Flugblätter. 70 verschiedene. 3745600 Exemplare
Plakate. 3 8 112000 -
Broschüren, 24 Br 1192150 x
Zeitschriften, 5 a 110000 s
Postkarten, 3 = 75000 *
Zeitungen. 27 5 153640
Die politische Abteilung der Westfront hat Bewer
800 Mitarbeiter an der Spitze (in Smolensk, dem Haupt-
quartier und den einzelnen Frontabschniften).
J ede Kompagnie, jedes Regiment, jedes Bataillon, jede Brigade,
jede Armee hat besondere Abteilungen für kulturelle Arbeit.
Die Kompagnie und das Regiment wählen sich selbst ihre
Komitees.
Für politisch-kommunistische Arbeit in diesen militärischen
Formationen ist allein der Kommissar verantwortlich. Er ar-
beitet jedoch mit den Komitees der Kompagnien und Re-
gimenter zusammen.
Diese Komitees gründen Klubs. Theater und veranstalten
musikalische Aufführungen. Die Mitwirkenden sind Rot-
armisten aus den einzelnen Sektionen der Armee. Außerdem
aber organısıert die politische Abteilung der gesamten West-
front besondere Künstlertruppen für Theater. Musik, Kino
usw. dıe für die ganze Front spielen.
Russisches Notizbuch 853
Professoren der Universitäten. Lehrer, politische Agita-
toren und Organisatoren von Klubs, Sportveranstaltungen usw.
sendet die Politische Abteilung von Smolensk an die Front
und in das Kriegsgebiet: zwecks Abhaltung von Vorlesungen
und Kursen. ,
Die politische Arbeit in der Armee und in dem Kriegs-
gebiet wird durch Mitglieder der R. K. P. durchgeführt.
Alle Kommissare in der Armee sınd Kommunisten.
Unter den Kommandeuren gibt es viele Nichtkommunisten.
So ıst S. Kamenew, der Oberbefehlshaber der gesamten
Roten Armee, keın Kommunist. Er war ein alter zaristischer
Regimentskommandeur. Ihm zur Seite als Kommissar steht
Kurski, einer der Führer der R. K. P. früherer Volks-
kommissar für Justız. `
Tuchatschewski, Kommandeur der Westfront, ist Kommu-
nist. Er hat keinen Kommissar neben sich, wird aber von dem
Revolutionären-Militärischen Rat, der nur aus Kommunisten
besteht, kontrolliert.
Die Disziplin in der Armee.
Eine äuferliche Disziplin existiert nicht. Grußpflicht be-
steht nicht. Nur im Dienst. Aber die innerliche Disziplin ist
viel stärker als in der früheren zarıstischen Armee.
Genosse Mjassnıkow erzählt, daß er auch ın der alten
Armee gedient habe. Er kennt also die Disziplin von beiden.
In der zaristischen Armee, äußert er, wurden gegen Offiziere
nur selten Todesurteile vollstreckt. In der Roten Armee (haupt-
sächlich an der Front) sehr viele. Kommandeure und Kommissare,
die bei Durchführung ihrer militärischen Aufgaben Verbrechen
begehen, werden schwer bestraft und auch oft zam Tode verurteilt.
Mjassnıkow, in seiner Darstellung fortfahrend, bemerkt:
die Deutschen haben vergiftete Gase erfunden. Die Rote
Armee versendet vergiftete · Propaganda- Granaten. Es ist eine
ganz gewöhnliche Granate, die bei der Explosion Flugblätter
in polnischer Sprache verbreitet.
854 Wilhelm Herzog
Die Zentralleitung. deren offizieller Titel lautet »Revo-
lutionärer Militärischer Rat der Republike besteht aus sechs
Mitgliedern. Ihr Präsident: Trotzki. Mitglieder: Rykow,
Smilga, Stalin, Kurski, Kamenew.
Der Chef des politischen Departements bei dem Revo-
lutionär-Miliärischen Rate der Republik ist Smilga.
Jeder Revolutionär-Militärische Rat hat seine politische
Abteilung. Das Schema ist etwa folgendes:
Zentrale . P. A.
Front . P. A.
Armee P. A.
Division P. A.
Bataillon P. A.
Regiment | P. A.
* «
*
Mittags um 2 Uhr halten wir 17 Werst vor Borrissow.
Weiterfahren dürfen wir nicht. Schon Kriegsgebiet. Wir
verlassen den Zug und fahren mit Autos weiter bis kurz vor
Borissow. Zum Regimentsstab. Junge Offiziere als Führer.
Einige davon ehemals zaristische Offiziere. Jetzt schon Kom-
munisten. Mehrfach durch polnische Kugeln verwundet. Zur
Batterie. Truppen im Wald. Flüchtlinge, Frauen und Kinder.
abgerissen, bepackt mit ihrem bißchen Habe. Wir fragen sie
nach ihren Erlebnissen. Meist jüdische Polen. Immer wieder
trifft man sie, wo Elend und Qual ist. Mit ihren verhärmten
Gesichtern, altklug. leidensvoll, mit sehnsüchtigen Augen. Ver-
wundet und geduckt und von rührender Hilflosigkeit.
Wir gehen zu Ful zur Batteriestellung. Einige Schüsse
werden abgefeuert. Ich bleibe Antimilitarist im Innern. Ob-
schon ıch die Notwendigkeit deutlich erkenne, in dieser frühen
Periode der zum Kommunismus treibenden Entwicklung auf
kein Gewaltmiftel verzichten zu können, das uns zur ersten
Stufe einer wirklichen Kultur., des verwirklichten Sozialismus
mitzuverhelfen vermag. Ist der Sieg erreichbar ohne diese
Russisches Notizbuch 855
Gewaltmiftel, diese von uns verabscheuten Mordinstrumente?
Die alte Klasse hat sie erfunden. Sie gebraucht sie, ihre
Macht zu erhalten. Die neue Klasse hat keine Wahl. Sie mul
— neben all ihren anderen Waffen — auch diese der alten
Klasse benutzen, will sie. nicht auf die Eroberung ihres Zieles
verzichten oder sie immer weiter auf Jahrzehnte hinausschieben.
Wundervoller Tag. Sonne. Die Polen stehen jenseits der
Beresina. In Neu-Borissow. Das alte Borissow fast völlig
zerstört. Von 14000 Einwohnern sind nur 6000 zurück-
geblieben. Wie es unter den Menschen Pechvögel gibt, so
offenbar auch unter den Städten und Dörfern. Borissow ist
gezeichnet vom Schicksal. Hier verlor 1812 Napoleon beim
Übergang über die Beresina 30000 Mann.
Einer von den jungen Offizieren. die uns begleiteten. ist
ein Leĝe. Er stammt aus Riga und war Student an der
Moskauer Universität. Ein anderer aus bürgerlicher Familie,
Sohn eines Professors, stammt aus Odessa, war schon während
des Krieges Leutnant. Beide sprechen ein wenig deutsch.
Zurück mit den Autos zum Zug. Fortsetzung der Unter-
haltung mit Mjassnıkow, dem Leiter der Politischen Abteilung
dieses Frontabschnittes.
Nachts 2 Uhr schlafen gelegt. N
Montag. den 14. Juni 1920.
Vormittag, 11 Uhr, Ankunft in Smolensk. Müssen
warten — kein direkter Zug nach Moskau.
Mittags. 3 Uhr. können wir weiterfahren. Genosse
Smilga kommt an die Bahn vor Abfahrt des Zuges und
erzählt lächelnd gute Nachrichten: Kiew ganz erobert. West-
front stehe ausgezeichnet.
Unterwegs Tolstois Krieg und Friede n. weitergelesen.
Eine andere Welt. —
Dienstag vormiftags 11 Uhr in Moskau. Vom Bahn-
hof in unser Hotel »Delovo Dvore. Die italienischen Dele-
gierten werden erwartet.
856 Wilhelm Herzog
Die Tochter Kropotkins — eine junge Frau in hellem
Sommerkleid. kennen gelernt. Besuch ihres Vaters in Dmitriew
besprochen und für nächste Zeit ın Aussicht genommen.
Es geht ihm schlecht, äußert me. Wenig zu essen. Keine
Bufer, keine Milch. Und 78 Jahre alt. Die drei Pfund
Bufer, die ich aus Reval mitgenommen hatte. will ich ihm
bringen.
Mittags, 3 Uhr, mit Frau Kropotkin-Lebedew zu Radek
in die III. Internationale.
Abends Banket im Hause des früheren deutschen Klubs,
das jetzt von der Moskauer Gewerkschaftszentrale bewohnt
wird. Von der Bühne des großen Saals herab sprechen etwa
15 Redner, darunter Serrati. Lunatscharski. Sadoul, Wallhead.
Nach den Reden theatralische und musikalische Vorführungen:
äußerst witzige Karikaturen und Satiren gegen die Entente und
die von ihr ausgehaltenen Generäle. Gegen Judenitsch, Kolt-
schak, Denikin. Dann ein sehr übermütiges Pamphlet gegen
Pilsudski, der — mit Koltschak und Denikin zusammen ein
Terzett bildend —, jämmerliche Tänze aufführt und groteske
Sprünge machen aul
16. Juni 1920.
Mittags Bucharin bei mir. Ihm Aufsatz über die Front-
reise der englischen Delegation diktiert, den er gleich {für die
»Prawda« russisch schreibt. Er hafte ungefähr folgenden Wortlaut:
Vier Mitglieder der englischen Delegation — Wallhead.
Purcell, Skinner, Bonfield —, reisten letzten Donnerstag an die
polnische Front. Sie kamen Freitag vormittag nach Smolensk,
wo sie am Bahnhof von einer grossen Menge von Arbeitern.
Rotarmisten und vom Revolutionskomitee für die Westfront
begrüßt wurden.
Am nächsten Tage fand bei Smolensk eine große Parade
aller dort in Garnison befindlichen Truppen und aller Arbeiter-
organisationen stat. Die Delegierten richteten Ansprachen an die
gewaltigen Massen und forderten sie auf, für die Errungen-
Russisches Notizbuch 857
schaften der Revolution gegen die polnischen Barone und
ihre Helfershelfer — die englischen und französischen Kapi-
talisten — mit äußerster Energie zu kämpfen. Die englischen
Arbeiter werden nach ihrer Rückkehr die Wahrheit über
Rußland und Polen erfahren. Sie werden den Kampf auf-
nehmen gegen die englische Regierung, um die weitere Unter-
stützung Polens durch die Entente unmöglich zu machen.
Der englische Genosse Purcell erklärte, daß sie nicht nur
die englischen Arbeiter gegen die Unterstützung Polens und
für den Frieden mit Rußland aufrufen werden, sondern für
den schärfsten Klassenkampf gegen das Kapital und für die
Diktatur des Proletariats. Der Genosse Wallhead äußerte
sch ähnlich. Er wünschte der Roten Armee schnellen
und entscheidenden Sieg über Polen. Der Sieg bei Kiew sei
glückverheißend, aber noch nicht genügend. Die Polen müssen
so geschlagen werden, daß die polnischen Kommunisten im-
stande sind, ıhr Regime ın Warschau zu errichten.
Enthusiastisch jubelten die Massen den englischen Delegierten
zu und begleiteten sie mit revolutionären Gesängen bis zum
Sowjethaus.. Hier wurde die Delegation begrüßt: von dem
Vorsitzenden des Exekutivkomitees der Räte des Smolensker
Gouvernements, vom Stadtsowjet, von dem Rat der Gewerk-
schaften von Smolensk, von der Parteı der kommunistischen
Jugendorganisation ‘und von einem Vertreter der Menscheviki.
Letzterer erklärte, daß die russische Arbeiterschaft ein Recht
habe. die energische Unterstützung der englischen Arbeiterschaft
in ihrem Kampfe gegen die Konterrevolution zu fordern und
daß es nicht bei Worten bleiben dürfe. Die Entente habe die
Absıcht, aus Rufland eine Kolonie zu machen. Die schmutzig-
sten Seiten der Weltgeschichte sind die barbarısche und
furchtbare Unterdrückung und Plünderung der englischen
Kolonien durch die englische Burgeoisie und andere Völker.
Von den englischen Delegierten sprachen: Bonfield. Skinner
und Purcell, Skinner erklärte: die englische Arbeiterschaft habe
858 n Wilhelm Herzog
die Mauern der Blockade durchlöchert. Dadurch sei es ihnen
gelungen. nach Rufland zu kommen. Er glaube. daß diese
Bresche hoch bewertet werden mul und dal durch sie auch
die russische Delegation nach England kommen könnte,
um dort die Erfahrungen der russischen Revolution den eng-
lischen Arbeitern zu vermitteln. Die englische Regierung wird
der Einreise der russischen Delegation ohne Zweifel Schwierig-
keiten entgegenstellen und sie unmöglich zu machen suchen.
Aber die englische Arbeiterschaft muß und wird alles tun, um
der russischen Delegation alle Freiheiten ın England zu schaffen.
Purcell stellte fest, daß eine englische Delegatıon noch nıe
so viel Gelegenheit und Freiheit gehabt habe, alles kennen zu
lernen, wie in Rußland. Er hoffe, die Zeit sei nicht fern,
wo auch die englischen Arbeiter ıhren russischen Brüdern die
Reste des Feudalismus, die Paläste der Könige, die Burgen
und Villen der Magnaten werden zeigen können —: umgewandelt
in Häuser der Arbeit oder der Erholung fürs Volk.
Sonntagmorgen fuhr die Delegation von Smolensk weiter
an die Front. Der Zug hielt 17 Werst vor Borıissow.
Mit Autos ganz nahe an die Stadt herangefahren. Besprechungen
mit Rotarmisten und Flüchtlingen aus Borissow. Ein Drittel
der Stadt, erzählten sie, sei völlig zerstört. Die Polen haben
Borissow und die umliegenden Dörfer zum großen Teil aus-
geplündert. Betrunkene Offiziere und Soldaten haben viele
Mädchen und Frauen vergewaltigt und geschlagen. Die Dele-
gierten begrüſten die Rotarmisten. wünschten ihnen baldigen
Sieg und sicherten ihnen Unterstützung der organisierten
englischen Arbeiterschaft zu.
Von großem Interesse war für die englische Delegation
die neue Art der Propaganda beim Feind. Die Rotarmisten
schießen pazifistische Granaten ab. Sie enthalten revolutionierende
Literatur. Flugblätter und Zeitungen zur Aufklärung der
polnischen Truppen.
«
*
Russisches Notizbuch 859
Abends 7 Uhr ins Große Theater zu einer Sitzung des
Allrussischen Zentral-Exekutivkomitees (W. I. C. K. Wserossij-
skaja Zentralnaja Ispolnitelnaja Kommissja). Dieses früher
kaiserliche Theater ist ein sehr schönes Gebäude aus
den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Sehr reich,
sehr vornehm, sehr festlich. — Der Zuschauerraum in
Weil, Rot und Gold, mit fünf Rängen, falt etwa fünf-
tausend Zuschauer. Wo einst die Moskauer Großbourgeoisie
auf teuer erkauften Plätzen saß, ın den Logen, ım Parkett,
in den Rängen, sitzen heute Arbeiter und Arbeiterinnen,
Vertreter der Sowjets von Moskau und den anderen russischen
Gouvernements. Und auf der Bühne. an einem mit rotem
Tuch bezogenen Tisch. sitzen die Mitglieder des W. I. C. K.
(des Allrussischen Zentral- Exekutivkomitees). In der Mitte,
als Vorsitzender: der Bauer Kalının, ein Mann zwischen 45
und 50 Jahren, der große Verehrung, vor allem wegen seiner
strengen Redlichkeit. genießt. Ein alter Kämpfer der Parteı.
Links und rechts von ihm: Kamenew, der Vorsitzende des
Moskauer Rats. Bucharin, Radek. Tschitscherin. der diesen
Abend eın großes Referat über die auswärtige Politik halten
soll. Auf der Bühne, im Hintergrunde und an den Seiten:
rote Fahnen und Standarten. Hinter dem Tisch des Präsidiums
sitzen auf Bänken oder Stühlen die ansländischen Delegierten,
Italiener (Serratı, Graziadei. Bombaccı, Taragona, Paravani),
Franzosen (Sadoul, Cachin und Frossart), Amerikaner, Eng-
länder, Inder, Perser. Koreaner. der Stellvertreter Tschitscherins,
Karachan, Losowsky vom russischen Zentralrat der Gewerk-
schaften, und eine große Anzahl von Vertretern der verschiedenen
Volkskommissariate.
Die Szene ähnelt auf den ersten Blick eher einem Volks-
tribunal. als der Sitzung eines Kongresses, aber bereits nach
wenigen Minuten wird dieser primäre Eindruck aufgehoben.
Schon durch die Ungezwungenheit, das oft Formlose, ganz und
gar Unparlamentarische der ganzen Geschäftsführung. Obschon
25
860 Wilhelm Herzog
eine gewisse revolutionäre Ordnung, ein propagandıstisches
Arrangement nicht zu verkennen ist. Wieder muß man auf
den Beginn der Sitzung mit revolutionärer Geduld warten.
Stat um 7 beginnt sie kurz vor 1⁄2 9 Uhr. Kalinin eröffnet sie.
Er begrüßt zunächst die ausländischen Delegierten. Seinen
Worten folgt minutenlanger J ubel des ganzen Hauses. Alle
erheben sich von ihren Sitzen. Man spielt die Internationale. ;
Alle singen mit. Nach Kalinin spricht ein Genosse aus der
Ukraine über die dortige Lage und den polnischen Krieg.
Ihm folgt Graziadei, der Sprecher der italienischen Delegation.
Der nächste Redner ist der Franzose Cachin, der mit großem
rednerischem Talent, nicht ohne gallisch-theatralisches Pathos, die
Sünden seiner Partei beichtet und Besserung gelobt. Nach
Cachin sprechen drei exotische Genossen, die das neugierige
Interesse des ganzen Hauses auf sich ziehen: der Inder Roy,
ein Genosse aus Persien und einer aus Korea, Nach jeder
Rede, die englisch, französisch, italienisch oder russisch gehalten
wird, ist die unverwüstliche Balabanowa bemüht, sie zu über-
tragen. Nach den ausländischen Delegierten sprechen:
Kamenew und Bucharin. Beide wenden sich scharf gegen die
opportunistische Politik der französischen Partei und der
Parteien der anderen westlichen Länder. Spät nachts — gegen
drei Uhr — wird die Sitzung vertagt auf morgen abend.
Donnerstag. den 17. Junı 1920.
Vormittags elf Uhr in den Vserossijski Zentralni Sowjet
Professionalnich Soiusow (Zentralrat der Gewerkschaften Rul-
lands) zu Losowskı, der mich eingeladen hatte, ıhn zu besuchen,
damit er mir genauere Aufklärung über die Organisation
der russischen Gewerkschaften geben könnte.
Der Zentralrat der Gewerkschaften befindet sich im früheren
Elite-Hotel, gegenüber der ehemaligen Reichsbank. Losowski
berichtet als Neuestes, was aber für die nächsten Tage noch
geheim gehalten werden müsse: die Gründung einer
Russisches Notizbuch | 861
Gewerkschaftsinternationale (zimmerwaldienne). Gestern mit
Engländern (W illiams, 5 Purcell), mit Italienern und Russen
vorbereitet. Es werde eine Konferenz einberufen werden.
die die Aufgabe haben soll, die Vorarbeiten zu leisten
für einen provisorischen Kongreß aller auf dem Boden
der driſten Internationale stehenden Gewerkschaften der Welt.
Ein provisorisches internationales Bureau wurde bereits
gegründet mit dem Ziel. diese internationale Konferenz der
revolutionären Gewerkschaften vorzubereiten. N
Der Allrussische Zentralrat der Gewerkschaften entspricht
ungefähr. was seine Aufgaben und sein Arbeitsfeld betrifft.
unserer Zentralkommission der Gewerkschaften. Sein Präsidium
bilden dreizehn Mitglieder. Seine Hauptorgane sind: eine täglich
erscheinende Zeitung Professionalnoie D vischenie . (Gewerk-
schaftsbe wegung · ihr verantwortlicher Redakteur: Losowskı:
eine Monatsschrift -Meschdunarodnoie Rabotscheje Dvischenie«
„Internationale Arbeiterbewegung ·).
Unter den größten russischen Gewerkschaften stehen die
Eisenbahner an der Spitze. Ihr Verband zählt 700000 Mitglieder.
Textilarbeiter- Verband 600000 Mitglieder
Metallarbeiter- Verband 500000 8
Angestellten- Verband 450000 2
Die Verwaltung aller dieser Gewerkschaften ıst ın den
Händen der Kommunisten. Mit Ausnahme der Gewerkschaft
der Angestellten der Banken und Kreditanstalten. Dort ist das
Verhältnis 1: 2. ein Kommunist und zwei angeblich Parteilose.
Bei dem Zentralkomitee war die Zusammensetzung das
letzte Mal wie folgt: von den dreißig Mitgliedern waren siebzehn
Kommunisten, fünf Internationalisten, acht gehörten anderen
Parteien an oder waren parteilos.
Kommunisten und Ignternationalisten haben sich am
20. Dezember 1919 vereinigt. Losowski selbst war früher
Internationalit
* «
*.
862 Wilhelm Herzog
Am Abend gegen sieben Uhr wieder ins Große
Theater: Fortsetzung der gestrigen Sıtzung des W. I. C. K
Der Zuschauerraum ist wieder von vielen Tausenden angefüllt.
Tschitscherin spricht. Mein freundlicher Übersetzer, ein junger
jiddischer Dichter, der Hamlet ins Jıddische übertragen hat, teilt
mir die wesentlichsten Äußerungen Techitscherins mit, während
er.spricht. Die großangelegte Rede Techitscherins dauert fast
drei Stunden. Man hat den Eindruck eines ungewöhnlich
sachlichen, sachtreuen Menschen, der selbst die Monotonie
nicht scheut, da es nüchterne Tatsachen zu berichten gilt.
Nach ihm sprechen Redner der Opposition, der äußersten
Linken ın der Parteı, unter anderen Ossinsky.
Während der folgenden Reden in einem der Bühne
benachbarten Seitenraum. begegne ich Bucharin. der mich
mit Gorki und Zinowiew bekannt macht. Gorki hatte
ich mir nicht so groß vorgestellt. Er überragt alle und geht
meist mit ein wenig nach vorn geneigtem Oberkörper. einen
grollen Schlapphut auf den borstigen Haaren. Wir sprachen über
den Verlag der Weltliteratur, dem er jetzt — wie er sagt fast
alle seine Kräfte widme. Er kommt kaum zum Schreiben. Gorki
lebt in Petrograd. Er bat mich. ihn auf der Rückreise zu
besuchen. Mit Sınowiew über die politische Situation in
Deutschland und die elenden deutschen Parteiverhältnisse
gesprochen. Er hat einen sehr ausdrucksvollen Kopf. den Kopf
eines sehr geistigen Künstlers, er spricht klar und fließend
deutsch. obwohl er behauptet, es nur mit Mühe sprechen zu
können. Sehr einfach, sehr schlicht, alle Machenschaften der
Staatsmänner und der Parteihäuptlinge durchschauend, durchaus
vertraut mit ıhren Intrigen. guter Kenner ihrer Strategie,
Skeptiker aus Erfahrung, verwundert er sich über nıchts mehr.
Er fragte sehr interessiert, wie sich die unabhängige: sozialistische
Arbeiterschaft in ihrer großen Mehrzahl zu der dritten Inter-
nationale stelle. ob sie den Anschluß wirklich wolle und wenn
ja. Was sie jetzt noch hindere. Ich bemühte mich, ihm äußerst
Russisches Notizbuch 863
sachlich die Aufklärung zu geben, die ich ihm geben konnte.
Ich erzählte ıhm u. a. von den Hamburger Genossen. deren
große Majorität für den sofortigen Anschluß an die Moskauer
drie Internationale sei. Er bat mich, morgen abend in die
drifte Internationale zu kommen, wo eine Sitzung des Exekutiv-
komitees staftfinden werde.
Über die denkwürdige Versammlung dieses und des voran-
gegangenen Abends funkte ich im Kommissariat des Aus-
wärtigen nachts nach Deutschland einen Bericht. der natürlich
von den offiziellen deutschen Stellen nicht weitergegeben
wurde und so nirgends veröffentlicht werden konnte. Dieses
Radio vom 17. Juni 1920 lautete folgendermaßen:
Den sıebzehnten Juni. Die vom Allrussischen Zentral-
Exekutivkomitee einberufene Session wurde am 16. Junı 1920
abends ım Großen Theater von Moskau durch ıhren Vor-
sitzenden Kalinin eröffnet. Vor Eintrit in die Tagesordnung,
die unter anderen Referate über die auswärtige Politik, die
militärische Lage und die Situation in Mittelasien vorsieht.
begrüßte die Versammlung mit großer Begeisterung die aus
Italien gestern eingetroffene sozialistische Delegation. darunter
Serrati. Bombacei und Graziadei. Nach Kalinin sprach der
ukrainische Kommunist Petrowsky, der die Proletarier aller
Länder zum Schutze und zu Hilfe Sowjet-Rußlands aufrief.
Der nächste Redner, Graziadei. Mitglied des italienischen
Parlaments. betonte die beständige Solidarität des italienischen
Proletariats mit der revolutionären russischen Arbeiterschaft.
Jetzt habe es sie von neuem durch die Tat erwiesen: durch
seine Weigerung. Waffen von Italien nach Polen transportieren
zu lassen. Dies jedoch sei zu wenig. In nächster Zukunft
werde sich die Solidarität ausdrücken durch aktiven Kampf
des italienischen Proletariats gegen das bürgerlich- kapitalistische
Regime. Es wird vordringen bis zur sozialen Revolution. Dem
Italiener folgte der französische Sozialist Marcel Cachin, der
864 Wilhelm Herzog
die Fehler der französischen sozialistischen Partei eingestand
und Verzeihung dafür erbat. Die neuen Überzeugungen, die er
Sowjetrußland gewonnen habe, zwingen ıhn, künftig dafür zu
wirken, daß die französischen Sozialisten sich nıcht nur mit
dem Ausdruck der Sympathie begnügen, sondern das Beispiel
Ruflands imitieren werden. Er sang eine Hymne auf Sowjet-
Rußland als auf den ersten heroischen Versuch einer rein
sozialistischen Republik ohne alle Kompromisse. Die nächsten
beiden Redner — Kamenew, der Vorsitzende des Moskauer
Arbeiter-. Bauern- und Soldatenrates und Bucharin, Mitglied
des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei — übten
schärfste Kritik an der Haltung Cachins und seiner Gesinnungs-
genossen ın Frankreich, Deutschland und England.
Die Sıtzung wurde gestern spät nachts abgebrochen und
heute abend fortgesetzt. In einer großen zweistündigen Rede
stellte T'schitscherin die auswärtige Politik Rußlands den all-
gemeinen politischen W eltzusammenhängen gegenüber. Er unter-
strich die vielmals. bewiesenen Friedensbemühungen Sowjet-
Ruflands. Eine auswärtige Politik Deutschlands gebe es nicht.
Die deutsche Republik bilde gegenwärtig weltpolitisch ein
Vacuum. Obwohl sie das größte Interesse häfte, mit Sowjet-
Rußland in Verhandlungen zu treten, geschehe von ihrer Seite
augenscheinlich aus Furcht vor der Entente und ihrer Ziel-
losigkeit heraus nichts. Im Zusammenhang mit der englischen
Politik gab Tschitscherın aus dem Inhalt der Verhandlungen
zwischen Lloyd George und Krassin die interessante Tatsache
bekannt, daß Lloyd George um alle Störungen für den Beginn von
Handelsbeziehungen auszuschalten. folgende Bedingungen stelle:
1. keine Intrigen in Persien, Afghanistan und Vorderindien
zu führen.
2. Keinerlei Propanda zu treiben, weil jede Sowjet-
Propaganda einer Kriegsführung gleichwertig sei.
3. Falls Baron Wrangel Krieg aufgebe. müsse er am-
| nestiert werden.
Russisches Notizbuch 865
4. Kein Angriff gegen die Nachbarstaaten.
5. Batum soll unangetastet bleiben. England gestehe dasselbe
für sich. Selbstbestimmung.
Die folgenden Sprecher, Mitglieder des Exekutivkomitees
aus den Gouvernements, wandten sich gegen Tichitscherin und
seine allzu milde Friedenspolitik. Sie forderten Kampf gegen
die kapitalistischen Welträuber. der zu siegreichem Ende geführt
werden müsse. Karl Radek, der nach den bolschewistischen
Jusqu auboutisten sprach, verteidigte Tschitscherins Politik, indem
er ıhr gegenüberstellte: die Kampfbereitschaft der Roten Armee.
Der russische Generalissımus Kamenew gab darauf eine genaue
sachliche Darstellung der militärischen Lage. Die Sitzung
endete mit der Annahme eines Aufrufs an die polnischen
Soldaten, den unsinnigen Kampf aufzugeben und sich den
russischen Arbeitern und Bauern zu verbrüdern: auf Grund
ihrer gemeinsamen proletarischen, Interessen.
866 Wilhelm Herzog
DIE WUT DES HILFERGEDINGES
Ich bin Mitte Mai 1920 nach Moskau gereist. Ohne die Crispiene und Ditt-
männer zu fragen. Nur ım Einverständnis mit meinen Hamburger Parteigenossen
und auf Einladung in Berlin weilender russischer Kameraden, Vertretern der dritten
Internationale. Und mit Wissen von Braß, Geyer, Stoecker, Koenen, Rosenfeld.
Darob Ärger, Neid, Wut am Schiffbauerdamm. Und als ein bürgerlicher Korrespondent
der „Frankfurter Zeitung” etwas Falsches meldet, stürzt sich das Hilfergedinge
darauf und nagt an dem Knochen herum, den man ihm hingeworfen hat. Was
dabei herauskommt an Cekei f, an Geifer, an brüderlicher Liebe und Solidarität,
sieht dann in dem Organ der Berliner revolutionären Arbeiter, in der „Freiheit“
die damit unter die Stufe großstädtischer Revolverblätter gesunken ist, so aus:
Kein Unabhängiger in Moskau.
Die „Frankfurter Zeitung“ bringt die Meldung, daß bei der vorbereiten-
den Konferenz des geschäftsführenden Ausschusses der Kommunistischen
Internationale in Moskau neben Vertretern anderer Länder Cachin und
Frossar als Vertreter Frankreichs anwesend gewesen seien, außerdem ein
Vertreter des linken Flügels der deutschen Unabhängigen.
Bekanntlich waren Cachın und Frossard zwecks Unterhandlungen über
den Anschluß ihrer Partei an die dritte Internationale in Moskau, dagegen
sınd Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands noch
nicht in Rußland. Es gibt infolgedessen auch keinen Vertreter des „linken
Flügels, der an den Sitzungen hätte teilnehmen können.
Die Meldung könnte sich höchstens darauf beziehen, dad Wilhelm
Herzog jetzt in Moskau‘ sein Domizil aufgeschlagen hat. Sollte er sich
wirklich als Vertreter des linken Flügels der Unabhängigen Sozialdemokratie
Deutschlands bezeichnet haben, so hätte er das ohne jede Berechtigung
getan. Denn wir haben Grund zu der Annahme, daß das kurze Gastspiel,
das Herzog in unserer Partei gegeben hat, ein für allemal zu Ende ist.
Herzog ist kein Vertreter unserer Partei, denn es ist bekannt, daß das
Zentralkomitee die Hamburger Parteiorganisation aufgefordert hat, Herzog
von der Reichstagskandidatenliste zu streichen, und daß Herzog nach Ein-
treffen dieses Briefes in Hamburg schleunigst verduftet ist, um weiteren
für ıhn unangenehmen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen.
Dies stand in der Hilferding-Cassirerschen „, Freiheit“ am 28. Juni 1920. Ich
werde chronologisch vorgehen. Am 30. Juni erwiderte die „Hamburger Volkszeitung“
der „Freiheit, indem sie ihre Darstellung Verleumdung betitelte. Sie fügte dem
lügenreichen Freiheit-Zitat diese Worte an:
Die Wut des Hilfergedinges 867
Wir
Demgegenüber wiederholen wir unsere Feststellung, daß Cenosse Herzog
im vollsten Einverständnis mit den in Frage kommenden Instanzen der
Hamburger Parteiorganisation vorübergehend nach Rußland gefahren ist.
Der in der „Freiheit erwähnte Brief traf erst geraume Zeit später ein.
Deshalb ist die Schlußfolgerung, die von der Redaktion der „Freiheit“
daran geknüpft wurde, unzutreffend. Herzog konnte nicht „verduften,
um unangenehmen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen“, wegen
eines Briefes, der erst nach seiner Abreise beschlossen wurde. Wır bedauern,
daß die Leichtfertigkeit der „Freiheit“ dem „Echo“ bereits gestern Gelegen-
heit gab, an Stelle notwendiger sachlicher Auseinandersetzungen sich auf
das Gebiet persönlicher Stänkereien zu begeben.
bekamen in Moskau erst am 10. Juli das Ferien Geschreibsel
der „Freiheit“ zu sehen.
Am
selben Tage telegraphierte Genosse Radek, der Sekretär der III. Inter-
nationale, der „, Freiheit“:
„Freiheit“, Berlin.
„Freiheit“ vom 28. Juni befaßt sich mit Aufenthalt Cenossen Herzog
in Moskau. Halte für meine Pflicht festzustellen, daß Herzog in keiner
Weise als Vertreter des linken Flügels der Unabhängigen aufgetreten ist.
Zu den Sitzungen des Exekutivkomitees wurde er als Mitglied der Unab-
hängigen Sozialdemokratie als Cast eingeladen. Dies erfolgte. weil vir
Herzog als einen Cenossen kennen, der eine sichere bürgerliche Stellung
als Schriftsteller aufs Spiel gesetzt hat, um der Sache der Arbeiterschaft
zu dienen und ihr ehrlich gedient hat. Das Urteil darüber, ob wir richtig
dem Genossen Herzog gegenüber gehandelt haben, überlasse ich getrost
den deutschen Genossen. Radek.
Mir selbst übergab Genosse Radek zur Veröffentlichung in Deutschland das
folgende
Schreiben:
Moskau, 10. Juli 1920.
Werter Genosse Herzog! i
Es hat mich sehr gefreut, daß Sie auf die Anregung einiger russischer
Genossen nach Moskau kamen, um sich hier an Ort und Stelle über die
Lage in Rußland und die III. Internationale zu orientieren, denn ich hoffe,
daß Ihr Aufenthalt der gemeinsamen Sache des russischen und deutschen
Proletariats nur dienen kann. Derselben Meinung scheint die Clique zu
sein, die nichts mehr als die Wahrheit über Sowjet-Rußland und die Kom-
munistische Internationale fürchtet. Ich wurde von Berlin aus vor Ihnen
‘gewarnt durch mündliche Andeutungen und Behauptungen, denen ich so
wenig Beachtung schenkte, daß ich sie gar nicht dem Exekutivkomitee
mitteilte: ich war überzeugt, daß, wenn Ihre „Freunde“ in der U. S. P.
irgend welch greifbares Material gegen Ihren moralischen Wert hätten,
so würden sie nicht nur uns, sondern der deutschen Öffentlichkeit dies
mitteilen. Nun bringt die Hilferdingsche „Freiheit“ vom 28. Juni eine
Notiz, die ich dreimal gelesen habe, ohne aus ihr mehr zu erfahren, als
daß das Z.K. der U. S. P. D. Ihre Streichung von der Liste der Kandidaten
gefordert hat. Ich bin jetzt genötigt, davon das Exekutivkomitee in Kenntnis
zu setzen, hoffe aber bestimmt, daß solange das Z.K. der U.S.P.D.
es nicht für nötig halten wird, seinen Schritt so zu motivieren, daß es
868
Wilhelm Herzog
— — —
klar sein wird, es handle sich nicht um einen Meuchelmordversuch
an einem revolutionären Kämpfer, solange werden wir Sie als unseren Gast
behandeln.
Mit kommunistischem Gruß
Karl Radek.
Weder Brief noch Telegramm Radeks hat die ., Freiheit“ der Herren Hilfer-
ding. Cassirer & Co., bis heute gedruckt.
Einer der russischen Kameraden, die mich zur Reise nach Moskau aufgefordert
hatten, Genosse Borodin, schrieb der ., Freiheit“ unter dem 12. Juli 1920 den folgen-
den Brief, der in der „Roten Fahne” vom 30. Juli und in der „Hamburger Valk«-
Zeitung” vom 29. juli unter dem Titel: „Zur Verleumdungspraxis der „Freie“
veröffentlicht wurde. Die ., Freiheit“ hat Borodins Brief ebenso wie Radeks Zuschriften
unterschlagen.
Moskau. 12. Juli 1920.
Redaktion der „Freiheit“, Berlin.
In der „Freiheit“ vom 28. Juni 1920 las ich eine Notiz darüber, daß
Genosse Wilhelm Herzog nach Moskau gekommen sei, dort sein neues
Domizil aufgeschlagen habe und daß er sich offiziell als Vertreter des
linken Fiügels der U.S.P.D. bezeichnet habe.
Mich hat diese Erklärung um so mehr erstaunt, als ich in erster Linie
die Reise des Genossen Herzog nach Rußland verursacht habe. Ich halte
- mich deshalb für verpflichtet, durch dieses Schreiben entsprechend dem
wahren Sachverhalt die Geschichte der Reise des Genossen Herzog
Rußland darzustellen.
Im März dieses Jahres bin ich in Begleitung einiger Genossen aus
England und den Vereinigten Staaten durch Deutschland nach Rußland
gereist. Wir hielten uns einige Zeit in Berlin auf, um uns mit der deut-
schen revolutionären Bewegung näher bekannt zu machen. Während unseres
Berliner Aufenthaltes kamen wir mit den Vertretern der verschiedenen
Strömungen der deutschen Arbeiterbewegung zusammen. Unter anderen
trafen wir auch die unabhängigen Sozialisten Braß, Stoecker, Koenen,
Rosenfeld. In ihrer Gesellschaft schlossen wir Bekanntschaft mit dem
Genossen Herzog.
Aus häufigen Gesprächen mit ihm und schon vorher aus seinen Artikeln
konnten wir schließen, daß er uns näher stand als die meisten anderen
Unabhängigen und daß er in wichtigen Fragen der Taktik, besonders aber
in der aktiven Betätigung seiner Partei sich im Gegensatz zur Führung
befand. Außerdem haben wir in unseren Gesprächen über die kommu-
nistische Ill. Internationale und über den Aufbau Sowjetrußlands uns die
Meinung gebildet, daß für Genossen Herzog die beste Orientierung in
diesen Fragen an Ort und Stelle in Rußland selbst erfolgen könnte. Und
wir schlugen ıhm deshalb vor, auf eigene Faust als Publizist, als Heraus-
geber des „Forums“, sich unserer Gruppe anzuschließen und gemeinsam
mit uns nach Rußland zu reisen. Ich erinnere mich noch sehr gut der
Einwände, die Genosse Herzog gegen die Möglichkeit seiner Reise machte:
l. daß er den Hamburger Parteigenossen versprochen habe, die Redaktion
ihres Organs zu übernehmen, daß er deshalb nach Hamburg fahren müsse;
2. daß die Paß- und Visumschwierigkeiten nicht leicht überwindbar sein werden.
‚Wider unser Erwarten ließ sich der zweite Einwand in relativ kurzer
Zeit erledigen. Und später erfuhr ich, daß es dem Genossen
Die Wut des Hilfergedinges 869
gelungen war, nach Rücksprache mit den Hamburger Parteigenossen ihr
Einverständnis für seine Reise nach Rußland zu erzielen und ihm einen
Urlaub von einigen Wochen zu gewähren. Er konnte jedoch leider noch
nicht mit uns zusammen reisen. Wir gaben der Erwartung Ausdruck, daß
er uns so schnell als möglich folgen werde. Dies geschah Mitte Mai.
Jede andere Darstellung, die durch Tatsachen nicht erwiesen werden kann.
muß als Klatsch oder Verleumdung bezeichnet werden.
M. Borodin.
Am selben Tage, am 12. Juli 1920, sandte ich von Moskau aus der „Freiheit“
dieses Schreiben:
Moskau, den 12. Juli 1920.
Redaktion der „Freiheit“, Berlin.
Sie werden hierdurch auf Grund des J Il des Preßgesetzes aufgefordert,
die folgende Richtigstellung in der nächsten Nummer Ihrer Zeitung an
derselben Stelle, wo Ihre falschen Behauptungen standen, zu veröffentlichen:
J. In der Nummer vom 28. Juni 1920 schreibt die ,F Freiheit“ nach
Zitierung einer Nachricht aus der „Frankfurter Zeitung“, daß ein Vertreter
des linken Flügels der deutschen Unabhängigen an der vorbereitenden
Konferenz des geschäftsführenden Ausschusses der Dritten Internationale
teilgenommen habe: „Diese Meldung könne sich höchstens darauf beziehen,
daß Wilhelm Herzog jetzt in Moskau sein Domizil aufgeschlagen hat“.
Diese Behauptung ist unwahr. Wahr vielmehr ist, daß ich dem Wunsch
einiger russischer Genossen und meinem eigenen Willen gefolgt bin, einige
Wochen in Sowjet-Rußland zu leben, um die wirtschaftlichen, politischen
und kulturellen Verhältnisse unter der verleumdeten Bolschewistenherrschaft
kennen zu lernen.
2. Die „Freiheit schreibt weiter: „Sollte er sich wirklich als Vertreter
des linken Flügels der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands be-
zeichnet haben, so hätte er es ohne jegliche Berechtigung getan.“
Diese Behauptung, in Form eines Verdachtes gekleidet, ist unwahr.
Wahr vielmehr ist, daß ich mich niemals in Moskau als Vertreter des
linken Flügels der U. S. P. D. bezeichnet habe. An der Sitzung des Exe-
kutivkomitees der Dritten Internationale nahm ich auf Einladung seines
Vorsitzenden Sınowiew und seines Sekretärs Radek als Gast teil,
3. Die „Freiheit“ schreibt ferner, es sei „bekannt, daß das Zentral-
komitee unserer Partei die Hamburger Parteiorganisation aufgefordert hat,
Herzog von der Reichstagskandidatenliste zu streichen und daß Herzog
nach Eintreffen dieses Briefes in Hamburg schleunigst verduftet ist, um
weiteren für ihn unangenehmen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu
gehen‘.
Die ın diesem Satze enthaltenen drei Behauptungen sind unwahr. Wahr
vielmehr ist:
a) Es war mir unbekannt (und da die „Freiheit“ vorher nichts bekannt
machte, wohl auch der Allgemeinheit), daß das Zentralkomitee irgendeine
derartige Aufforderung an die Hamburger Organisation gerichtet hat.
b) Bis zum letzten Tage meines Hamburger Aufenthalts war dort kein
Brief des Zentralkomitees eingetroffen, jedenfalls mir kein Sterbenswort
davon bekannt.
c) Ich bin den unangenehmen Auseinandersetzungen nicht aus dem
Wege gegangen, sondern habe sie zu wiederholten Malen brieflich und
870 Wilhelm Herzog / Die Wut des Hilfergedinges
mündlich immer wieder gefordert. Eine Tatsache, die die Genossen Rosen-
feld, Braß, Stoecker, Koenen, Geyer, Däumig werden bestätigen können.
Wilhelm Herzog.
Die „Hamburger Volks-Zeitung vom 29. Juli 1920 schloß den Abdruck meiner
Zuschrift, der Zuschriften Radeks und Borodins mit diesen Worten:
„Die Angriffe der „Freiheit“ gegen Genossen Herzog sind erfolgt
während seiner Abwesenheit. Sie waren diktiert von der Hoffnung. daß
der Moment, wo sich Genosse Herzog nicht zur Wehr setzen kann, der
geeignetste ist zur Austragung von Differenzen zwischen Genossen. Dann
braucht der Angriff nicht der Wahrheit zu entsprechen. Es bleibt doch
etwas hängen.
Solche Kampfmethoden richten sich selbst.“
Ich selbst habe den in der „Freiheit“ sitzenden traurigen Kreaturen, die dieses,
Bubenstück verübten, nur diese Notiz gewidmet, die ich noch aus Moskau dem
Forum - zur Veröffentlichung sandte: í
Den Jacobsöhnen gesellt sich endlich offen die Hilferdingsche ., Freiheit“. Heim-
lich bestanden diese Beziehungen zwischen dem Abschaum der Menschheit, jener
verleumderischen Konjunktur-Journaille, und dem Zentralorgan der U.S.P.D,
schon längere Zeit. Der wegen seines schändlichen Handwerks oft geohrfeigte Wicht
dessen ordinärer Klatsch .alleın auf Originalität Anspruch macht, wurde zum will-
kommenen Bundesgenossen des bedrängten Hilferding, des Chefredakteurs der von
den Berliner radikalen Arbeitern herausgegebenen ,d Freiheit“.
Dieser Rudolf Hilferding, von Karl Radek bereits im vorigen Jahre als ‚der
Mann der halben Wahrheiten und der. ganzen Lügen“ erkannt und gekennzeichnet,
ist — um es kurz und ein für allemal zu sagen — ein bösartiger Verleumder, ein
Ehrabschneider, ein kleiner, hinterhältiger Feigling. Will er] noch mehr? Wollen
die Berliner unabhängigen Arbeiter, die sich von diesem Elenden ihr Organ ver-
sauen lassen, noch mehr? Will das Zentralkomitee, das mich ohne Widerspruch
verleumden ließ, noch mehr treffende Kennzeichnungen seines Kopfes, seines Lieb-
lings? Gut. Sie sollen ihm werden. Ich werde nicht länger schweigen.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog
Derfflingerstr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Pots dar
Berlin / Druck der E. Gundlach A.-G. Bielefeld
DAS FORUM
4. Jahr September 1920 Heft 12
(Abgeschlossen am 24. September 1920)
RUSSISCHES NOTIZBUCH
MAI AUGUST 1920
VON WILHELM HERZOG
(Siehe Forum 4. Jahrg.. Heft 11.)
Freitag, den 18. Juni 1920.
Nachmittags. 6 Uhr. in die III. Internationale. Sitzung
des Exekutivkomitees. Sinowiew leitet sie. Neben ihm: Radek.,
Bucharin, Balabanowa. Ferner: Serrat, Bombacci. Sadoul.
Cachin, Frossard, Graziadei, John Read, Mac Lean, Quelch,
Karachan, Marchlewski und mehrere andere ausländische Ge-
nossen.
Besprochen wird die Prüfung der Mandate und eine
dafür einzusetzende Kommission, ferner. ob zwei Parteien in
einem Lande gleichzeitig der III. Internationale angehören
können. Es sprechen: Radek, Bucharin, Serrati, Sınowiew.
Sernati verlangt — besonders im Hinblick auf die U. S. P.
D. — Ausschließung aller, die für die Bewilligung der Kriegs-
kredite gestimmt haben.
Radek teilt mit, daß das kleine Bureau des Exekutiv-
komitees beschlossen habe. da die Zentrale der U. S. P. D. sich
noch ımmer nicht endgültig geäußert und auch keine Dele-
gierten geschickt habe, sich mit einem Appell an die örtlichen
und Landesorganisationen der U. S. P. D. zu wenden, um sie
aufzufordern, selbst Delegierte zu wählen und nach Moskau
zu entsenden.
77... Wilhelm Herzog
Dieses nach Deutschland gefunkte und telegraphıerte Manifest,
das erstaunlicherweise dem revolutionären deutschen Proletariat
so gut wie unbekannt geblieben ist, lautete folgendermaßen:
Vom Exekutivkomitee der Kommunistischen
Internationale. |
An alle Orts- und Landes organisationen
der Unabhängigen Sozialistischen Partei Deutsch-
lands, an alle Arbeiter, die Mitglieder der
U. S. P. D. sind.
Werte Genossen
Am 15. J uli 1920 wird, wie Euch bekannt ist, in Moskau
der zweite Weltkongrel der- Kommunistischen Internationale
eröffnet (die erste feierliche Versammlung findet ın Petersburg
staft). Die klassenbewullten Arbeiter der ganzen Welt sind
begeistert unserm Rufe gefolut. den Kongreß mit ıhren Ver-
tretern zu beschicken. Die Mehrzahl der Delegierten — aus
England, Frankreich, Österreich, Ungarn, Italien. Amerika.
Schweden. Bulgarien. Holland und anderen Ländern — ist
bereits in Rußland eingetroffen. Andere befinden sich auf
dem Wege nach Moskau. Schon jetzt ist es klar. dał unser
zweiter Kongreß in Wirklichkeit zum Weltkongresse der vor-
geschrittenen Arbeiter werden wird. Der Kongreß wird den
‚Erfahrungen unseres Kampfes die Bilanz zıehen. Der Kon-
grel wird uns, den Arbeitern der ganzen Welt, den weiteren
We des Kampfes weisen, der Stimme des Kongresses werden
die Werktätigen der ganzen Welt lauschen.
Genossen! Werdet Ihr wirklich abseits von einem solchen
Kongresse stehen?
Wir sagen es Euch aufrichtig: das Exekutivkomitee und
die zur kommunistischen Partei gehörenden Abeiter aller
Länder werden äußerst betrübt sein, wenn Ihr, Arbeiter aus
der U. S. P. D. nicht mit uns auf unserm Kongresse sein
werdet.
Russisches Notiz buen 8273
Wir wissen, daß Ihr, proletarische Mitglieder der U. S. P. D.
mit allen Euren Gedanken bei uns seid. Wir wissen, dal
Ihr in die Reihen unserer internationalen Arbeitergenossenschaft.
in die III. Internationale strebt. Um so unzulässiger ist es.
daß die rechten Führer Eures Zentralkomitees Euren und
unsren Wunsch vereiteln.
Unter Eurem Drucke, unter dem Drucke der Arbeiter
hat der Leipziger Kongreß der U. S. P. D. beschlossen, aus
der II. Internationale auszutreten und in Beziehungen zur
III. Internationale zu treten. Aber die rechten Führer Eures
Zentralkomitees haben diesen Beschluß tatsächlich sabotiert und
sabotieren ihn noch. Sie planen eine Konferenz der Zwischen-
parteien. d. h. der Parteien, die aus der II. Internationale aus-
getreten. der III. Internationale aber noch nicht beigetreten
sind. einzuberufen. Diesen hoffnungslosen Versuch haben jetzt
sogar die gemäßigten Führer der Französischen Sozialistischen
Partei aufgegeben. Zwei Delegierte dieser Partei. Cachin und
Frossard, sind schon in Moskau eingetroffen, und wir werden
ihnen offen sagen, unter welchen Bedingungen die französische
Partei in die Ill. Internationale aufgenommen werden kann.
Die französischen Arbeiter zwingen ihre gemäßigten Führer.
eine Annäherung an die III. Internationale zu suchen. Nur
Eure Vertreter sehen wir bis jetzt nieht in Moskau.
Wir haben uns mit einem offenen Brief an die U. S. P. D.
gewandt. in dem wir ‚genau und ausführlich die Bedingungen
nannten, unter denen wir Eure Partei, wie auch die anderen
Parteien, die bis jetzt der Strömung des Zentrums gefolgt sind,
aufnehmen möchten. Euer Zentralkomitee hat diesen Brief
des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale nicht
einmal veröffentlicht. Es hat ihn geheim gehalten. Es verheimlicht
ihn vor Euch noch jetzt. Das Z. K. der U. S. P. D. benach-
richtigt uns durch sein Schreiben vom 6. Juni. unterzeichnet
von Däumig, daß das offene Schreiben des Exekutivkomitees
der Kommunistischen Internationale von den Unabhängigen bis
871141 Wilhelm Herzog
jetzt nicht abgedruckt worden ist wegen „Mangel an Papier.
Einen unwürdigeren Grund konnten Eure rechten Führer
nicht ausdenken. Dieses Verhalten beweist. daß wir recht
hatten, als wir sagten, daß Euer Beitritt zur III. Internationale
nur über den Kopt der rechten Führer hinweg vollzogen
werden könne.
In Anbetracht des Gesagten schlagen wir Euch, Genossen.
folgendes vor: mögen die einzelnen Orts- und Landesorganı-
sationen der U. S. P. D. die unverzüglich der III. Internationale
beizutreten wünschen. sofort ihre Delegierten wählen und zu
unserem Kongreß schicken, der für den 15. Juli anberaumt
ist. Wartet auf niemand mehr. Erlaubt nicht Euren Willen
zu vergewaltigen. Organisiert Euch schnell und erfüllt Eure
Pflicht. Die revolutionären Arbeiter,. die Mitglieder der
U. S. P. D., müssen auf dem Weltkongresse der Kommu-
nistischen Internationale sein. Wir erwarten Euch! Genossen.
Beeilt Euch! Erörtert unsern Vorschlag auf allen Euren
Arbeiterversammlungen. Druckt ıhn ın Euren Zeitungen ab.
Entlarvt diejenigen. die Euren Willen hintertreiben. Handelt!
| Mit kommunistischen Grüßen
Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale
Vorsitzender: G. Sınowjew.
Sekretär: Karl Radek.
Mitglieder des Exekutivkomitees der Kommunistischen Inter-
nationale:
Bombaccı
Serrati |
. Sozialistische Partei Italiens.
Vacırca
Graziadeı
W. Uljanof-(Lenin) |
N. Bucharin |
Karachan | Kommunistische Partei Ruflands.
J
Balabanoff
Klinger
Russisches Notizbuch _ ___ 875
Marchlewsky (Karsky), Kommunistische Arbeiterparteı Polens,
Schatzkin. Executive der Kommunistischen Jugendinternationale.
a u Britische Sozialistische Partei.
a | Komitee der III. Internationale in Frankreich,
o ! Kommunistische Partei Ungarns.
Reisler, Kommunistische Partei Deutsch-Österreichs,
0 Kommunistische Arbeiterpartei Amerikas.
Stoklitzky. Kommunistische Partei Amerikas.
Schabline. Kommunistische Partei und Föderation der Ge-
werkschaften Bulgariens.
Stutschka. Kommunistische Partei Lettlands.
Außerdem haben das vorliegende Schreiben unterschrieben:
Gen. Losowsky, Vertreter des Allrussischen Zentralrats der
Gewerkschaften. I. Armaud, Vertreterin der Kommunistischen
Frauenorganisationen Ruflands.
*
Radeks Vorschlag wird einstimmig gebilligt. Auf semen
Wunsch erteilt mir Sinowiew das Wort. Ich führe aus, dal
Serratis Forderung nicht zu verwirklichen sei. Selbst Liebknecht
habe das erste Mal nicht gegen die Kriegskredite gestimmt. —
Der Appell scheine mir gut und er könne wirken. aber man
müßte ihn an einzelnen Stellen noch etwas genauer formulieren.
Die Sitzung dauerte bis 10 Uhr. Dann mit Radek und
den italienischen Delegierten in den »Delovoi Dwor«. Um
11 Uhr in den Kreml zu Radek. Deutsche Zeitungen bis
zum 11. Juni, französische und englische Blätter durchgestöbert.
Der »Vorwärtse bringt eine idiotische Notiz über mich: -Der
verschwundene Reichstagskandıidat«. Was für armselige Krea-
turen sind diese Verleumder. Was für lächerliche Dummköpfe!
2 6
876 nn 00, Wilhelm Herzog
Samstag. den 19. Junı.
Vormittags, 11 Uhr. in den Kreml zu Lunatscharski. Im
Auto zusammen mit Balabanowa, Serrati. Graziadei. Während
sie zur Sitzung des Exekutivkomitees der III. Internationale
gehen. versuche ich. meine mit Lunatscharskı getroffene Ver-
abredung innezuhalten und ihn um 11 Uhr zu treffen. Ich gehe
hinauf. Lunatscharskı schickt mir eme Genossin, die mir mit-
teilt, ein Engländer, der ihn dringend zu sprechen gewünscht
habe und in einer Stunde abreise, sei bei ihm. Er bäte
mich deshalb, ein wenig zu warten. Die Genossin: Frau Gorki,
Radek. den ich vorher traf, ging in Lenins Haus, wo die
heutige Sitzung des Exekutivkomitees der III. Internationale
staſtfinden sollte. Er lud mich ein, nachzukommen. Ich wollte
vor Beginn der Sıtzung nicht viel versäumen, wartete deshalb
nıcht länger bei Lunatscharskı. sondern verabschiedete mich von
Frau Gorki. die mir einen Propusk (einen Ausweis) ausstellte,
damit ich in das Haus. wo die Sitzung stattfindet. hineinkommen
könnte.
Die Sitzung hafte gerade begonnen, als ich eintrat. Die-
selben Teilnehmer. wie gestern. In einem miftelgrossen Saal.
geschmackvoll. und einfach eingerichtet. Durch seine Fenster
blickt man auf das ın der Sonne liegende Moskau. Die zahl-
losen goldenen Kuppeln strahlen und blinken im Sonnenlicht.
Ein heiterer und sehr erfrischender Anblick. Es ist glühend heiß.
Aufer den gestrigen Teilnehmern, sitzt an einem kleinen
Tisch Kamenew und neben ihm ein kleiner, untersetzter Mann
mit einer großen Glatze. Ernst. beherrscht. zuweilen nachdenklich.
Er hat einen kleinen braunen Spitzbart. Er bekommt Akten
und Briefe zum Unterschreiben gebracht: er erledigt sıe, steht
dann auf und setzt sich mit dem Rücken gegen das Fenster
auf einen bequemen Sessel in die Sonne. Später erfahre ich,
das ist Lenin. Nach den Bildern häfe ich ihn nicht erkannt.
Alle Bilder, die ich bisher von ihm sah, geben eine ganz
falsche Vorstellung von ihm.
Russisches Notizbuch De ke | 877
Rakowski spricht über Ungarn. Marcel Cachin über den
Kampf des Proletariats gegen das Bürgertum in Frankreich.
Serrati über die Arbeiterbewegung ın Italien, über den Kon-
grel von Bologna, über die jetzige parlamentarısche Fraktion:
ein seltsames Gemisch von Reformisten. Opportunisten (T urati.
Lazzarı) und Maximalisten. über die Opposition der von
Bordigha geführten Gruppe der Antiparlamentarier. die zugleich
für den Ausschluß der Reformisten kämpfen. Das Ministerium
Gioliti — äußert Serrati — werde der letzte Versuch der
Bourgeoisie sein, seine Macht zu behaupten. Zwischenruf
Radeks: sund Turati? — Serrati: »Wır werden sehen!“ —
Frossard. Sadoul, Delignieres von den Franzosen äußern sıch
über Thomas. Renaudels und Cachins Politik während des
Krieges und nach dem Kriege.
Dann spricht Lenin in französischer Sprache. Schr zu-
gespitzt, sehr klar, die Gegensätze scharf gegenüberstellend, oft
mit scharfer Ironie und sehr witzig. Dann lacht er und mit
ihm seine Zuhörer und dieses Lachen löst, wirkt befreiend,
führt heraus aus breiten Sackgassen, in die sich die Polemik
verlaufen hat. Lenin prüft die Phraseologie der Cachin und
Frossard. Er wendet sich gegen sie. nicht ohne satirische
Wendungen. Er kritisiert sie unerbifllich, jedoch sachlich. »Hu-
manıtee und auch der »Populaıre«,: äussert er, seien keine revo-
lutionären Organe. Er versäumt flicht. diese Feststellung durch Zi-
tate und Anführung von Mitarbeitern fragwürdiger Art zu
belegen. Dann wendet er sich den deutschen Cachins und Frossards
zu und teilt mit: das Zentralkomitee der U. S. P. D. habe soeben
einen von Däumig unterzeichneten Brief geschickt, der u. a.
besage: »Papierknappheit« häfte bisher Abdruck der Moskauer
Antwort verhindert. Das sei lächerlich und kindisch! Lenin wendet
sich auch gegen Serrati. in dessen Partei sich noch immer ein
Turatı aufhalten könne. Nach dieser. Polemik stellt er die
alte Frage von neuem: was ist Diktatur des Proletariats? Er
beantwortet sie unzweideutig: das sei nicht nur die Fähigkeit.
878 Wilhelm Herzog
die Macht zu erobern und sie zu halten, sondern es sei die
Fähigkeit, Härte zu zeigen, um den Sieg des Proletariats
durch nichts gefährden zu lassen, wenn es sein muß, füsilieren
zu lassen. Nach Lenins etwa eineinhalbstündiger Rede wird
die Sitzung abgebrochen. Bucharin stellt mich Lenin vor. Sein
erstes Wort: Nun, was sagen Sie zu Ihrem Däumig? Ich
antworte: es sei mir unverständlich, wie er einen so törıchten
Brief unterschreiben könnte. — »Ja, so sind die Unabhängigen:
Sie haben kein Papiers, äußert Lenin. Ich mache ihn darauf
aufmerksam, daß dies zum Glück nicht ganz stimme. Einige
unabhängige Organe, wie die »Hamburger Volkszeitung · und
das »Gothaer Volksblatt. hätten genug Papier dafür gehabt:
sie haben die Moskauer Antwort bereits abgedruckt.
Lenin bittet. ihn durch Klinger, den Geschäftsführer der
III. Internationale. anrufen zu lassen. um eine Zeit zu
bestimmen. wann er meinen Besuch erwarten wird. Er erkundigt
sich mit sehr natürlicher Liebenswürdigkeit. ob es einem an
nichts fehle. ob ich einen Dolmetscher habe und fügt sogleich.
seine Fragen sich selbst beantwortend. hinzu: Das ist bei uns
alles noch nicht gut organisiert. aber auch das wird noch werden.
Die ersten Exemplare seiner neuen Broschüre »Der Radıkalıs-
mus, die Kinderkrankheit des Kommunismus«, die soeben in rus-
eischer Sprache erschienen ist. verteilt Lenin unter einigen Genossen.
Sonntag. den 20. Juni 1920.
Vormittags zehn Uhr mit mehreren Kameraden in ein
Institut für Körperkultur. das einst ein Stift für adlige Waisen
und junge Mädchen war. Sehr helle. sonnige Räume in einem
alten Palast. Aufnahme finden Kinder von acht bis vierzehn
Jahren und Studenten. Es wird unterrichtet: in Gymnastik.
Tanz, Handwerk. Weben. Tischler- und Flechtarbeit, Malen.
Modellieren. Musik. Plastik usw. Viele Lehrer. Ein Maler.
ein Turnlehrer, ein Arzt wohnen im Hause. In diesem Institut
für Körperkultur sind gegenwärtig 160 Kinder.. Alle sehen
Russisches Notizbuch 87
recht gut genährt aus. Knaben und Mädchen kurz geschoren.
wie überall in Rußland. In hellen sauberen Kleidern, alle mit
nackten Beinen.
Wir bekommen eine Aufführung zu sehen, Übungen der
einzelnen Gruppen. Unter Leitung einer Schülerin, einem schr
hübschen, gut gewachsenen Mädchen von 12 oder 13 Jahren,
singt die ganze Kindergesellschaft die Internationale. Das junge
ehemals adlige Fräulein dirigiert. Dann folgen, nach der Methode
Dalcrozes, gymnastische und rhythmische Ubungen. Zuerst von
den Kleinsten sehr lustig und akkurat ausgeführt. Dann kommen
die älteren von 12 bis 14 Jahren. darunter noch viele früher
adlige junge Mädchen, die man als Waisen nicht entfernt hat.
Sie üben rhythmisches Schreiten, sie tanzen nach dem Kommando
einer Schülerin. Die Kinder komponieren die Musik. die
Tänze, auch die Webmuster selbst. Alles in der Erziehung
ist darauf eingestellt. in dem Kinde Selbständigkeit zu entfalten.
Wir sahen uns die Schlaf- und Eßräume an. Alle peinlich
sauber, hell und freundlich.
Von diesem Institut für Körperkultur, das uns einen aus-
gezeichneten Eindruck machte. nach Sokolniki. in eine Wald-
schule. Das Schönste und Hellste. was ich bisher sah. Die
Kinder laufen als Nacktfrösche herum, nur mit einem kleinen
Schurz bekleidet. Knaben und Mädchen. In einem geräumigen
Holzhaus wohnen etwa 100 bis 120 nur leicht tuberkulöse
oder schwächliche, zurückgebliebene Kinder. Darunter ein
Mozart, so von seinen Kameraden und der Leiterin genannt,
ein achtjähriger fürchterlich skrophulöser Knabe von unge-
wöhrlicher musikalischer Begabung. Er spielt uns etwas vor.
er improvisiert. am Schluß mul er natürlich die Internationale
spielen, ın die alle mit einstimmen.
. Die Leiterin der Anstalt ist eine energische. junge
Ärztin, die ın Zürich studierte und promovierte. Ein außer-
ordentlich gewyandter. praktisch erfahrener und harmonischer
Mensch. Wir wurden eingeladen, eın Frühstück ım Freien
880 E BER Wilhelm Herzog
einzunehmen. Und was man uns hier in der Mite der Kinder
in der freien Natur, in der Sonne bot, gehört zum köstlichsten
und einfachsten. was ich bisher erlebte. Wären wir erst so
weit, allen Menschen ein solches Leben bieten zu können:
zurückgekehrt zur Natur, entspannt, schlicht, befreit von allen
Lügen der »Kulture. Hier ist schon Zukunftsland. Und dieses
Kinderland soll unsere Zukunft sein. Diese kleine Einöde. mit
den spielenden. singenden und tanzenden Kindern inmiſten des
Elends der Moskauer Bevölkerung. war nicht nur ein Labsal.
war nicht nur die engbegrenzte Verwirklichung eines Ideals.
sondern mehr: es war ein Versprechen an die Zukunft. ein
vorweggenommener Versuch der kommenden Generation. Sie
wird eich gesund gebadet haben: durch Sonnenbäder, durch
lichte und heitere Stunden, dıe nach Überwindung der wirt-
schaftlichen Not und Qual des vom Krieg und von den Kriegs-
folgen verwüsteten Landes die heute Lebenden kaum noch
werden mitgenießen können, die aber die jetzt heranwachsenden
Kinder kräftigen und steigern werden im Kampfe ums Daseın
und in ihrem Daseinsgenuß.
Montag. den 21. Juni 1920.
Vormittags 11 Uhr erhalte ich den Besuch des alten
Freundes und Jüngers Tolstois. Paul Birukoffs. Etwas sehr
Wobltuendes geht von dieser ganz im Geiste Tolstoi lebenden
Persönlichkeit aus. Seine Erscheinung hat etwas ungemein
Würdiges und Alttestamentarisches. Er ist ein Mann von
ungefähr 60 Jahren mit sehr schönem Kopf. von ganz slavischem
Typus mit weißem Bart und sehr schönen Händen. Seine Tracht:
die weile, russische Bluse mit dem Gurt. wie uns Tolstoi in
Jasnaja Poljana auf eınem berühmt gewordenen Bild entgegen-
tri. Er erzählt mir von seiner großen, auf vier Bände
berechneten Biographie Tolstois. wovon bisher zwei Bände —
auch im Deutschen — erschienen sind. Der erste 1906, der
zweite 1909, bei Moritz Perles in Wien. Der drite Band
Russisches Notizbuch u 881
ist im Manuskript fertig. Am vierten arbeite er noch und er
hoffe, ihn Ende 1920 zu vollenden. Für Romain Rollands
»Tolstois, der in deutscher Übersetzung noch im Laufe dieses
Jahres erscheinen wird, hafte Birukoff die Liebenswürdigkeit.
mir einen großen Teil seiner Sammlung von Tolstoi- Bildern
— die schönste und reichhaltigste, die es gibt — zur Ver-
fügung zu stellen.
Birukoff wohnt in Moskau bei dem nächsten Freunde
Tolstois. Tschertkoff; er arbeitet innerhalb des Kommissarıats
für Volksbildung mit: an einer eigenen Schöpfung. einer
kommunistischen Siedlung. Er selbst bezeichnet sich als
pazifistischer Kommunist. \
Mittags 2 Uhr in die III. Internationale zu Radek. Er
erzählt mir von der irrsinnigen Hetze gegen mich. Mit mir
habe die antibolschewistische Liga verhandelt. um mich zu
gewinnen. Die Verhandlungen seien nur gescheitert an der
Höhe des Kaufpreises. den ich gefordert häfte. Ferner: ich habe
40 000 Mark unterschlagen bei der- Republik.. Die Phantasie
dieser Subjekte kann sich in keiner anderen Richtung bewegen.
Es ist immer wieder dieselbe Methode. Zur Gründung der
Republik haften mir — so erzählte der Hauptverleumder Ernst
Heilemann, der rothaarıge Mehrheitssozialist. Noskes intimster
Freund unter freiem Himmel im Januar 1919 — also zur Grün-
dung der Republik haften mir die Bolschewiki durch das Haus
Bleichröder 2 Millionen Mark überwiesen. Leider stimmte es
nicht, sonst würde die Republik vermutlich noch existieren.
Dann floh ıch — nach der Verleumdung des »Vorwärts«
(Chefredakteur Friedrich Stampfer; Urheber der Verleumdung:
Herr Erwin Barth) — mit mehreren Hunderttausenden
von deutschen Reichsmark in die Schweiz und legte sie
dort ın Schweizer Papieren an. Der anonyme Schurke
hat bis heute seine Schamlosigkeit nicht zurückgezogen.
Ja nicht einmal eingestanden, daß er sie begangen hat. Was
soll man mit solch einem Gesindel anfangen? Vor dem bürger-
882 Wilhelm Herzog
— — — e ie
lichen Richter schleppen? Jeder Fuſtritt wäre zu schade,
wäre Kraftverschwendung für ein so armseliges. sich selbst
erniedrigendes Subjekt. Nicht genug damit, die Kee der
Verleumdungen ordinärster Art bricht nicht ab. Um einen
sehr unbequemen Gegner. der wie kaum ein zweiter die
schmutzigen Kanäle dieser Burschen kennt, zu beseitigen. ihn
möglichst geräuschlos zu meucheln, werden Gerüchte, An-
deutungen, faustdicke Lügen als wahr kolportiert. so daß ; jene
Atmosphäre entsteht, vor der man sich ekelt, in der man
sich schämt, Mensch zu sein und mit solchen Lebewesen eine
Luft zu atmen. ,
Radek rät, die Dinge nicht tragisch zu nehmen. Das muß
so sein. Festzustellen wird sein, wie weit das Zentralkomitee
der U. S. P. D. sich absichtlich oder unabsichtlich anstecken
liel. ob es wirklich in meiner Abwesenheit gegen mich ein
Urteil fallte und ob sich gar die sogenannten Linken an dem
Meuchelmordversuch beteiligt haben. Wir müssen ne
bis wir Bestimmteres erfahren.
22. Juni 1920.
Narodny Kommissariat Prosweschenja.
Das Kommissiarıat für Volksbildung.
In den Kreml zn Lunatscharsky. Zusammen mit Genossen
Bombaccı und den drei holländischen Delegierten Wynkop,
van Leuven- und Kruyt. In großen Zügen deutet Lunatscharsky
an, welche Aufgaben sich das Kommissariat gestellt habe.
Besonders auf dem Gebiet der Schule, der Arbeiterbildung.
der Universität. Die Vereinigung von theoretischem Wissen
und praktischer Anwendung sei überall oberstes Prinzip der
neuen Erziehung. Aber allzugroße Schwierigkeiten ständen den
Bemühungen des Kommissarıats entgegen. Die besten kom-
munistischen Arbeiter, die bereits Schüler der Arbeiter-
universität waren, haben sich freiwillig zur Front gemeldet.
Die meisten Pläne zur Errichtung neuer Lehranstalten für
!!!!! ß 8
Kinder und Erwachsene müssen liegen bleiben oder zum
mindesten zurückgestellt werden. Denn es fehlt — infolge
des neuaufgeflammten Krieges — überall am Nötigsten. An
Heizmaterial. Nahrungsmitteln, Lehrbüchern. Papier. Schreib-
federn und an hundert anderen kleinen, aber unentbehrlichen
Dingen.
Fällt die Blockade der Entente, ist der Krieg mit den
Polen und gegen den Baron Wrangel beendet, könnte man
endlich aufatmen, so würde man sich ganz dem Aufbau und
der schöpferischen Arbeit auf dem Gebiete der Volksbildung
und Volkserziehung hingeben können. l
Mit Bombaccı, den eeine italienischen Freunde scherzhaft den
italienischen Lunatscharsky tauften. vom Kreml ins Kommissariat
selbst. Lunatscharskys Sekretär, Genosse Wengroff. gibt uns
eine ausführliche Darstellung des Arbeitsplanes und erläutert
mit großer Sachkunde die mannigfachen Aufgaben der einzelnen
Abteilungen des Kommissariats.
J.
1916 war das Schulwesen fast völlig zerstört. Durch die
Einberufung der Lehrer, die Wirkungen des Krieges usw.
1917 — zur Zeit Kerenskis — hafte Rußland nur
Pläne. Ausgeführt wurde nichts.
Die Oktoberrevolution 1917 hat ungeheure Probleme
hervorgerufen. Die Beseitigung der Klassenschulen war die vor-
nehmste Aufgabe der Bolschewiki. Eine einzige Schule für alle.
Dieses Problem ist auch heute noch nicht gelöst. Man ist
sich nur klar über. die Ausführung der wesentlichen Punkte
und ist der Verwirklichung nahe.
« Unter Volksbildung versteht das Kommissariat ein weiteres
Gebiet als man es gewöhnlich in Europa umfaßt.
Vorschule. Schule. Hochschule, Theater.
1. Die Sorge des Kommissariats für das Kind beginnt
vom driten Jahre an.
884 Wilhelm Herzog
2. Bis zum dritten Jahre des Kindes hat die Sorge das
Kommissarıat für Gesundheitswesen.
3. Von drei bis acht Jahren sind die Kinder — ohne
Unterschied der Klassen — ın Institutionen untergebracht.
Hier sollen alle Kinder aufgenommen werden, da dies infolge
des Mangels an Kleidung. Schuhwerk usw. jetzt nur ın
begrenztem Umfange möglich ist, so werden drei Kategorien
von Kindern bei der Aufnahme bevorzugt:
1. Die Kinder der Rotarmisten.
2. Die Waisen der Revolution.
3. Die ärmsten Kinder.
Die Institutionen.
1. Kindergärten (zirka drei Stunden täglich).
2. Kinderheime (von morgens bis abends, 10—6 Uhr),
3. Kinderhäuser.
In allen diesen Institutionen bekommen Jie Kinder eine
Erziehung nach einer kombinierten Methode von Fröbel-
Montessori im Sinne der N S. F. S. R (Russischen
Sozialistischen Föderativen Sowijet- Republik).
Vor 1917 hae Rußland fast gar keine 88
Und die wenigen waren nur für wohlhabende Eltern. Jetzt
werden alle diese Kinder durch Staatsmiftel verpflegt und
gekleidet.
Anfang 1920 hafte Sowjetrußland 3623 Kinderinstitutionen
mit 205000 Kindern. Diese Zahlen beziehen sich nur auf
die 40 Gouvernements Zentralrußlands, also nicht auf Ukraine,
Sibirien. Kaukasus, Taschkent- und Donrepublik.
In Moskau sind etwa 200 Kinderanstalten. Im Sommer
1920 wurden etwa 50000 Kinder aus Moskau aufs Land
gebracht und in früheren Bourgeoisie-Häàusern in Sommer-
wohnungen einquartiert. Das charakteristische an der Aktivität
der Sowjetregierung auf diesem Gebiete ist: das erste. was
sie beginnen, sie eröffnen Vorschulinstitutionen und sie kämpfen
Russisches Not izbu eb 885
gegen das Analphabetentum. In den 40 Gouvernements be-
finden sich 7 Millionen Kinder. Rußland hafte vor 1917
kaum Pädagogen. Drei Ursachen. weshalb bisher nur ein
geringer Teil aller Kinder aufgenommen werden konnte.
1. zu wenig Pädagogen, 2. Mangel an Nahrung und Kleidung.
3. keine Häuser.
In den neuerrichteten Kinderhäusern arbeiten jetzt
11234 Pädagogen, Lehrer und Lehrerinnen. Die größte
Anstrengung konzentriert das Kommissariat auf die Vor-
bereitung dieser Pädagogen. Das ist das Problem, äußert
Genosse Wengroff. an dessen Lösung wir mit äußerster
Energie arbeiten. Während der letzten 2 ½ Jahre haben wir
— nur ın Moskau — 400 Pädagogen ausgebildet und 104
Instruktoren. Unter Pädagogen verstehen wir die Lehrer, die
Praktiker; unter Instruktoren die Organisatoren der Heime, |
der Kurse, der Schulen. Die Instruktore kommen in ein
Gouvernement und organisieren die Heime und Schulen im
ganzen Gouvernement oder in einem Teil des Gouvernements.
Genosse Wengroff selbst war Instruktor im Lenin-Zug. der
nach Sibirien ging.
Für die Instruktoren wurden 40 Kosei in ganz Rußland
abgehalten. An einem Kurse nahmen 100 Schüler teil.
Besonders wird unter den Arbeiterinnen agıtıert, damit sie
an diesen Kursen für Instruktoren teilnehmen. Es gıbt keine
Diplome und keine Examen. Dauer der Kurse: vier, sechs
oder acht Monate. Je nach der Reife des Schülers. Die
Grundidee der Erziehung ist dıe Arbeit und Selbstbedienung
des Kindes. Das Kind soll lernen, vom Augenblick an, wo es
aufsteht bis zum Abend, wenn es zu Bett geht, alle seine
Wünsche selbständig zu erfüllen. Wenn das Kınd morgens
aufsteht. so macht es selbst das Bett. bereitet sich sein Früh-
stück, wäscht das Geschirr ab nnd erledigt alle Verrichtungen
selbst, die bisher Dienstboten und Erwachsene erledigen
mußten.
886 Wilhelm Herzog
Das Budget für diese Kinderinstitutionen stellte sich 1919
auf 518000000 Rubel. Das sind die Selbstgestehungspreise
der Sowjetregierung für Lebensmittel. Lehrmittel usw. und
die Ausgaben für dıe Gehälter der Lehrer und Lehrerinnen.
II. Kinderschutz.
Die Institutionen für Kinder von 8—15 Jahren. Diese
Institutionen haben den Charakter von Kindertamilien. Unter
dem Zarismus gab es in ganz Rußland 583 Ninderasyle. die
durch Wohltätigkeit von Privatleuten entstanden waren und
erhalten wurden.
1919 gab es 2394 Kinderasyle und 70 Hauser für
physisch schwache und geistig minderwertige Kinder.
Jugendliche Verbrecher werden durch einen »Kinder-
sammler« zum Teil von der Straße aufgelesen, ihr Charakter
beobachtet und dann auf die Kinderinstitutionen verteilt. Sie
bleiben 1—3 Monate im Kollektor, wo sie psychisch und
physisch untersucht werden.
In 583 Asylen waren (unter dem Zarısmus) 29 650 Kinder.
In 2493 Asylen sind (jetzt) 180 000 Kinder.
Die Kosten für diese Kinderasyle stellten sich 1919 auf
859 000000 Rubel.
Unter dem Zarismus: militärische Disziplin und Protektions-
wirtschaft.
J etzt: Kinder der Ärmsten und freie Erziehung. Die
Hauptleiterin dieser Institutionen äußerte kürzlich: Wir würden
alle Kinder am liebsten in unsere Anstalten aufnehmen und
dort erziehen. Wir könnten es auch, wenn wir nur genügend
Nahrungsmiſtel hätten. Keine Zigaretten verkaufende Knaben
und andere spekulierende Kinder gäbe es mehr auf den Straßen!
Unter dem Zarismus gab es in den Dörfern meist nur
kirchliche Schulen mit zweijährigem Schulunterricht.
Außer diesen Kırchenschulen existierten noch Gemeinde-
schulen. aber sie konnten nur eine geringe Anzahl von Kindern
aufnehmen. Die Regierung des Zaren warf nur wenig Geld
Russisches Notizbuch _ 887
für diese Schulen aus. So wartete ein Dorf vierzehn Jahre
lang, um eine Schule eröffnen zu können.
Unter dem Zaren gab es ın den Städten:
1. Elementarschulen (Volksschulen).
2. Realschulen und Gymnasien.
In die Gymnasien wurden nur Kinder der privilegierten
Klassen aufgenommen.
Noch um das Jahr 1900 äußerte ein Minister Zweifel,
ob man Kinder von Köchinnen in die Gymnasien aufnehmen
könne. Das Schulgeld war so teuer, daß Kınder weniger
bemiftelter Eltern nicht imstande waren, ihre Kinder auf diese
Schulen zu schicken.
Die Disziplin in der Schule war gestützt auf: Karzer,
schlechte Noten, Schulaufseher.
Die Aufgabe, die der neuen Erziehung in erster Linie
erwuchs, war: alle Klassengegensätze in der Schule zu beseitigen.
Die letzte Schulstatistik stammt aus dem Jahre 1911.
Dort waren in 40 Gouvernements 55000 Elementarschulen.
Von 1911 an wurden jährlich 2500 Schulen eröffnet.
1917 gab es bereits. . . . . 67000 Elementarschulen
1919 am 1. Juli . 75 000
Im Jahre 1911 gab es in Rußland 85 000° Lehrer
Im Jahre 19119 Rutland 170000 8
1911 wurden in den Schulen 3 500 000 Kinder unterrichtet
1919 wurden „n n s 6 000 000
Im ganzen gibt es in Rußland 8 Millionen Kidi ın
schulpflichtigem Alter.
Schule des U. Grades
für Kinder von 12—17 Jahren.
1914: 1622 Schulen ın ganz Rufland*).
1919: 3600 Schulen mit 470 000 Kindern und 29 000
Lehrern. Im ganzen aber hat Rußland 6 Millionen Kinder
in diesem Alter!
) Nur in den Städten. Genauere Statistiken fehlen.
888 Wilhelm Herzog
Im Jahre 1919 betrugen die Kosten hierfür (für dıe
Schulen I. und II. Grades) 9 900 000 Rubel. In diese Zahl
sind einbegriffen: Verpflegung. Kleidung der Kinder und die
Gehälter für dıe Lehrer.
Für die Kinder aller dieser Schulen wurden 1919
37000000 Arschin Stoff (für Kleidung, Wäsche) ausgegeben.
„Und wir brauchtene — klagte Genosse Wengrof —
140 000 000 Arschin. Wir müßten, um die Kinder mit Schuh-
werk versehen zu können, 9000000 Paar Schuhe haben.
Aber wir haben sie nicht, weil das Leder für die Armee
verwendet werden mull. Nur noch ein Beispiel für den
ungeheuren Mangel am Allernotwendigsten, die der Krieg und
die Blockade’ verursachten: Der Mangel an Schreibfedern ist
so groß, daß eine Feder auf 500 Kinder kommt. Deshalb
mußte man wieder zum Gänsekiel zurückkehren!
Ä 23. Juni 1920.
Am nächsten Tage setzte Genosse Wengroff seine Dar-
stellung fort. Er erklärte Bombaccı und mir die mannigfachen
Bemühungen des Kommissariats, allen Schwierigkeiten zum
Trotz den Aufbau des Schulwesens nıcht zu unterbrechen,
‘sondern vielmehr zu vervollkommnen. zu erweitern und neu
zu organisieren. Er betonte immer wieder. daß das Grund-
prinzip aller ihrer Kulturbestrebungen die Arbeit sei: die
Arbeit des Kindes über die Vorschule zum Studentenarbeiter
durch das Leben.
Die Einrichtung der Schule.
Der Schulrat.
Er leitet die Schule. Er besteht aus allen Pädagogen de:
Schule, einem Teil der Kinder (vom 12. Jahre an), der
Eltern und der Einwohner der Stadt oder des Stadtviertels.
Kinder, Eltern, Einwohner stellen jedoch nicht mehr als die
Hälfte der Mitglieder des Schulrats.
Russisches Notizbuch _ __.__ — 389
Die Funktionen des Schulrats: Aufstellung des
Schulprogramms, der Wirtschaftseinrichtung. der administrativen
Verwaltung.
Die Sowjetregierung hat kein stabiles Programm. Sıe hat
eine Reihe von Musterschulen — in jedem Gouvernement zwei
bis drei — eın gerichtet. Nach vorangegangenen experimentellen
Versuchen. Bisher ist noch keine Schule so eingerichtet, wie
das Kommissariat sich das Ideal denkt.
„Wir machen jetzte — erklärte Genosse Wengroff =
sdie größten Anstrengungen, aus dem Proletariat Kräfte für
den Lehrberuf heranzubilden.«
Es existierte in Rußland ein Lehrerbund. 1917 haben die
Mitglieder dieses Bundes alle Anordnungen der Regierung
sabotiert. Jetzt — seit Anfang 1918 — gibt es einen Bund
aller Arbeiter für Volksbildung und sozialistische
Kultur.“ In ihm sind vertreten nicht nur Lehrer, sondern
auch Lektoren, Bibliothekare. Schulangestellte usw. Dieser
Bund gehört dem Allrussischen Gewerkschaftsverband an.
Vorbereitung der Lehrer.
I. Grad.
1. Die höheren Lehranstalten: Früher 2 Institutionen (1916)
Jetzt 51 a (1919)
Die Kurse dieser Anstalten dauern 4—5 Jahre.
II. Grad.
2. Die mittleren Lehranstalten: Früher (1916) : 19 Anstalten
Jetzt (1919) : 156 „
Die Kurse dauern 3 Jahre.
III. Grad.
3. Die niederen Lehranstalten: Früher (1916) 150 Anstalten.
Jetzt (1919) 100 m
Die Kurse dauern 1 Jahr.
Die geringe Zahl der Anstalten des III. Grades erklärt
sich daraus, daß die Lehrer des III. Grades in die Anstalten
des IL Grades aufgestiegen sind.
888 Wilhelm Herzog
Im Jahre 1919 betrugen die Kosten hierfür (für die
Schulen I. und II. Grades) 9 900 000 Rubel In diese Zahl
sınd einbegriffen: Verpflegung. Kleidung der Kinder und die
Gehälter für die Lehrer.
Für die Kinder aller dieser Schulen wurden 1919
37 000 000 Arschin Stoff (für Kleidung. Wäsche) ausgegeben.
„Und wir brauchtene — klagte Genosse Wengroff —
140 000 000 Arschin. Wir müßten, um die Kinder mit Schuh-
werk versehen zu können, 9 000 000 Paar Schuhe haben.
Aber wir haben sie nicht, weil das Leder für die Armee
verwendet werden mul. Nur noch ein Beispiel für den
ungeheuren Mangel am Allernotwendigsten, die der Krieg und
die Blockade’ verursachten: Der Mangel an Schreibfedern ist
so groß, daß eine Feder auf 500 Kinder kommt. Deshalb
multe man wieder zum Gänsekiel zurückkehren!
23. Juni 1920.
Am nächsten Tage setzte Genosse Wengroff seine Dar-
stellung fort. Er erklärte Bombaccı und mir die mannigfachen
Bemühungen des -Kommissarıats, allen Schwierigkeiten zum
Trotz den Aufbau des Schulwesens nıcht zu unterbrechen,
sondern vielmehr zu vervollkommnen. zu erweitern und neu
zu organisieren. Er betonte immer wieder, daß das Grund-
prinzip aller ıhrer Kulturbestrebungen die Arbeit sei: die
Arbeit des Kindes über die Vorschule zum Studentenarbeiter
durch das Leben.
Die Einrichtung der Schule.
Der Schulrat.
Er leitet die Schule. Er besteht aus allen Pädagogen der
Schule, einem Teil der Kinder (vom 12. Jahre an), der
Eltern und der Einwohner der Stadt oder des Stadtviertels.
Kinder, Eltern. Einwohner stellen jedoch nıcht mehr als die
Hälfte der Mitglieder des Schulrats.
Russisches Notizbuch _____________889
Die Funktionen des Schulrats: Aufstellung des
Schulprogramms, der Wirtschaftseinrichtung, der administrativen
Verwaltung.
Die Sowjetregierung hat kein stabiles Programm. Sie hat
eine Reihe von Musterschulen — in jedem Gouvernement zwei
bis drei — eingerichtet. Nach vorangegangenen experimentellen
Versuchen. Bisher ist noch keine Schule so eingerichtet, wie
das Kommissariat sich das Ideal denkt.
„Wir machen jetzte — erklärte Genosse Wengroff ==
sdie größten Anstrengungen, aus dem Proletariat Kräfte für
den Lehrberuf heranzubilden.
Es existierte in Rußland ein Lehrerbund. 1917 haben die
Mitglieder dieses Bundes alle Anordnungen der Regierung
sabotiert. Jetzt — seit Anfang 1918 — gibt es einen Bund
aller Arbeiter für Volksbildung und sozialistische
Kultur.“ In ihm sind vertreten nicht nur Lehrer, sondern
auch Lektoren. Bibliothekare. Schulangestellte usw. Dieser
Bund gehört dem Allrussischen Gewerkschaftsverband an.
Vorbereitung der Lehrer.
I. Grad.
1. Die höheren Lehranstalten: Früher 2 Institutionen (1916)
Jetzt 51 a (1919)
Die Kurse dieser Anstalten dauern 4—5 Jahre.
II. Grad.
2. Die mittleren Lehranstalten: Früher (1916): 19 Anstalten
Jetzt (1919) : 156 =
Die Kurse dauern 3 Jahre.
III. Grad.
3. Die niederen Lehranstalten: Früher (1916) 150 Anstalten.
Jetzt (1919) 100 .
Die Kurse dauern 1 Jahr.
Die geringe Zahl der Anstalten des III. Grades erklärt
sich daraus, daß die Lehrer des III. Grades i in die Anstalten
des II. Grades aufgestiegen sind.
890 | Wilhelm Herzog
Eine neue Einrichtung: Schnellkurse für Lehrer..
Ihre Dauer: Von sechs Wochen bis zu einem Jahr.
An diesen Kursen nehmen teil vornehmlich Arbeiter aus
der Textil-. Eisenindustrie (Schlosser. Dreher usw..). aus den
land wirtschaftlichen und volks wirtschaftlichen Betrieben. wie
überhaupt aus allen Zweigen der Industrie und Landwirtschaft.
300 solcher Kurse finden jährlich ın den 40 Gouverne-
ments statt.
Die höheren Schulen.
Universitäten. Höhere technische Schulen. Polytechnikum.
Die zarıstische Regierung hafte diese Anstalten nur im
Zentrum Ruflands errichtet. In Moskan, Petersburg. Kasan
Saratoff. Perm. Fünf waren genug. In Sibirien: Tomek. In der
Ukraine: Charkow. Kiew. Eine Bergakademie in J ekaterınoslaw.
Seit 1918/19 wurden Universitäten errichtet in folgenden
Städten: In Smolensk. Nis bnij- Nowgorod. Jaroslaw. Kostroma.
Tambow, Woronesh. Samara. Astrachan, Taschkent. Sowjet-
rußland hat jetzt im ganzen 15 Universitäten. Sie haben
keinen typisch kommunistischen Charakter. Als Muster wurden
die besten bürgerlichen Universitäten. besonders die amerika-
nischen genommen. Früher gab es in allen Fakultäten. außer
der medizinischen. theoretischen Unterricht. Die meisten der
Universitäten sind gebildet nach dem Typus der Universität
von Toronto (Canada). Ganz durchgeführt nach diesem System
nur die Universität von Nishnij- Nowgorod.
In allen Universitäten wurde die gröſte Aufmerksamkeit
auf die land wirtschaftliche Fakultät gelegt. In den folgenden
fünf Universitäten konnte die land wirtschaftliche Fakultät
schon eingerichtet werden: Tambow. Saratoff, Astrachan,
Samara, Perm. In Kasan wurde eine Forstakademie gegründet.
Es gibt zwei Typen von hohen Schulen:
1. Medizinische und sozialwissenschaftliche Schulen.
2. Professionelle Schulen (technische, landwirtschaft-
liche, handwerkliche Schulen).
Russisches Notizbuch 8989991
Oberstes Prinzip ist überall: die praktische Anwendung.
»Da unser nächstes Ziel jetzt iste — so schloß Genosse
Wengroff an diesem Tage seine sachlichen Ausführungen =s
die professionelle Bildung zu größter Entwieklung zu bringen.
und da wir bis zum Herbst 1920 gezwungen smd, 4000
Ingenieure auszubilden, so sind die Studenten der technischen
professionellen Schulen militarisiert worden. Sie müssen 8 Stunden
täglıch arbeiten, bekommen »Pajok« (eine erhöhte Ratıon) und
werden von allen anderen Arbeiten befreit.«
Ich weil nicht, ob ich schon folgendes notiert habe: ein
Dekret bestimmt. daß jeder nach dem 16. Lebensjahre das
Recht zum Universitätsbesuch hat. Während die Universitäts-
kurse, an denen bürgerliche und halbbürgerliche Studenten teil-
nehmen, jetzt fast leer sind, nehmen 5000 Studenten an der
Arbeiterfakultät teil. Vorschulen waren früher nicht vorhanden.
Jetzt sind in Kindergärten 200 000 Kinder untergebracht. In
Internaten: Waıisen- und Proletarierkinder, im ganzen etwa
700000. Von drei bis acht Jahren. Man nennt sie »Re-
gierungs-« oder »Staatskinder«.
« x
*
Abends gegen 7 Uhr mit Axelrod in das Künstlerische
Theater, die berühmte Bühne Stanıslawskis. Es ist offenbar
Sommer- Spielplan. Man gibt eine Operette -Die Tochter der
Madame Angot«, sehr reizend, mit guten Kräften, geschmackvoll,
aber ganz in bürgerlicher, konventioneiler Manier, und eins der
Berliner Opereftentheater am Schiffbauerdamm oder in der
Friedrichstraße spielte den Kitsch mit nicht schlechteren und
nıcht geringeren künstlerischen Mitteln. Von einem revolutionären
Repertoire, auch in diesem Theater, noch keine Spur. Woher
sollte es auch kommen? Wie der Krieg, so hat auch die
Revolution ın den Dichtern und Künstlern nur ganz wenige.
ganz vereinzelte Werke losgelöst von ırgend welchem Wert,
von irgend einem mit dem Weltgeschehen, mit der Welt-
27
892 Wilhelm Herzog
revolution verbundenen Geist. Die wichtig genommenen
Nichtigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft beherrschen auch
die Theater der Übergangsperiode. Selbst nach der Diktatur
des Proletariats bleiben die Schaubühnen die Tummelplätze
miſtelmaſiger oder revolutionsfeindlicher Skribenten, die früher
die beliebtesten Lieferanten der Bourgeoisie waren.
Die westeuropäischen. vom (sroßkapıtal ausgehaltenen
Zeitungen, behaupteten allerdings — neben den tausendfachen
täglichen Lügen, die sie sonst ihren armen Lesern vorsetzen
müssen —. daß in Sowjetrußland alle Theater geschlossen sind.
Es lohnt nicht. jeder Lüge den Hals umzudrehen. Es hilft
auch nichts. Es ist die berühmte Hydra. Schlägt man ihr einen
Kopf ab, so wachsen ıhm hundert nach.
Deshalb nur ganz kurz sachliche Feststellungen auf Grund
des mır vorliegenden Programms der Moskauer Theater:
»Alexeew«e-Volkshaus: Mücterlicher Segen. Die Kinder
des Waniuschin. Der König amüsiert sich. Tage unseres
Lebens.
»Fledermaus«: Lew Ouritsch Sinitehin. Die Vize-
Uniform. Das Goldene Kalb. Abend arrangiert von B. Borissow.
Nikitski- Theater: Gasparone, der Seeräuber.
Eremitage: Geschlossenes Theater: Lakaien. Treubruch.
Florentiner Tragödie. Der Strohhut. Treubruch. Lakaien.
Spiegeltheater: Carmen. Rigoletto. Boris Godunow. Carmen.
Die Russalka. Traviata.
Sommertheater: Anschauungsunterricht. Chamäleon usw.
Neuer Park: Symphonische Konzerte.
Aquarium: Geschlossenes Theater: Zwei Schwätzer. Der
Dieb. Sonnenuntergang. Mil Hobbs. Der Dieb.
Offene Bühne: Abend des Humors und der Scherze.
Das sind alles nur Vorstellungen der Sommerbühnen. Die
guten Theater haben ihre Schauspieler in die Ferien geschickt.
Sie sind in der Zeit vom 1. Juni bis zum 1. September
geschlossen. In dem am meisten besuchten Theater der Eremitage,
Russisches Notizbuch | 893
im Spiegeltheater. gastiert Schaljapin drei- oder viermal in
der Woche. Ähnlich wie bei uns in Berlin im Deutschen
Theater oder in den Kammerspielen Pallenberg in der Familie
Schimeck die Sommerfreuden der Berliner erhöht, so ent-.
zücken sich die Moskauer an ihrem Schaljapin. Nur mit
dem Unterschied. daß Pallenberg ein großer, trotz allen
Seitensprüngen ernster Künstler ist und Schaljapın ein welt-
berühmter Primadonnerich. eine schon ausgesungene Lerche, eine
eitle Rıesenkanone, ein Komödıant ganz großen Stils und begabt
mit einer Routine, die schon wieder etwas Künstlerisches hat.
Er gehört in die Reihe der Sandrock, Sarah Bernhard,
Sonnenthal, de Max, d. h. also in die Internationale der etwas
von der Zeit mitgenommenen ‚Schauspielermajestäten.
Jetzt ist er natürlich Kommunist und man erzählt sich
die ergötzlichsten Geschichten von seiner nicht ganz gelungenen
Umwandlung: vom zaristischen Hofschauspieler bis zum Freund
der Volkskommissare. Man wirft ihm vor, für sein Auftreten
pro Abend eine Gage von 300000 Rubel zu verlangen, die
er auch bekommen soll. Andere, die ihn entschuldigen, erklären,
wohl orientiert, er müsse seche Familien und 22 Kinder
ernähren.
‚Die Schauspielergagen ın Sowjetrußland sınd eın besonderes
Kapitel, und ich hoffe darüber mich noch genauer orientieren
und bestimmteres feststellen zu können. So viel wie ich bisher
hörte, erhalten die Schauspieler und Schauspielerinnen relativ
schr hohe Gagen, mit denen sie selbst angesichts der grotesken
Lebensmiftel- und Kleidungspreise gut auskommen können. Die
Mindestgage beträgt zirka 20000 Rubel monatlich mit reich-
lichem Pajok: mittlere Schauspieler verdienen monatlich 100 000
bis 150 000 Rubel (mıt Gastspielen). Eine junge, nicht bedeutende
Schauspielerin, erhält für einen Abend, den sie gastiert, 20
bis 30000 Rubel. Ich will mich aber noch genauer erkundigen,
um über diese wenig kommunistische Organisation des Theater-
betriebes wahrheitsgetreue Angaben zu erhalten.
894 | BER Wilhelm Herzog
23. Junı 1920.
Vormiftags im Kommissariat für Volksbildung. wo
Wengroff. Lunatscharskys Sekretär. unterstützt von seiner
Gehilfin. einer früheren Nunstmalerin. die ausführliche
Darstellung der Aufgaben des Volkskommissarıats fortsetzt.
dıe er gestern begonnen hatte. Während unseres Gesprächs
erhalte ich die Mitteilung, daß Lenin telephoniert hat. er
erwarte mich. Da kein Auto vorhanden. wird eine Droschke
geholt: ein Fräulein. das mich begleitet. zahlt dem Kutscher
im voraus den verlangten Fahrpreis: dreitausend Rubel.
In den Kreml. in das frühere Gerichts- oder Senatsgebäude.
Ich komme ins Vorzimmer. Alles sehr einfach, beinahe karg
eingerichtet. Lenins Sekretärin. eine rührende. Kleine. bueklige
Genossin, sagt mir, dal Lenin mich sogleich empfangen werde.
Nach zwei bis drei Minuten trete ich in sein Arbeitszimmer.
Alle Bilder von ihm lügen. Er ist ein kleiner. untersetzter
Mann mit einem keineswegs besonders auffallenden Kopf. Er
hat einen sehr durchgearbeiteten Schädel, kleine, äußerst kluge, oft
listig blickende Augen, ein mit vielen Sommersprossen bedecktes
Gesicht. das nach unten in einen kleinen, bräunlichen
Spitzbart verläuft. Was sofort auffällt, ıst: er lacht gerne und
herzlich. Er hat das schlichte Wesen, das nur ganz große
oder ganz einfache Menschen haben. Nichts Gekünsteltes,
nicht die geringste staatsmännische Geste, kein Feuerwerk des
Geistes, sondern eine selbstverständliche, allen Fragen des Lebens
offene Menschlichkeit. eine völlig unbetonte Natürlichkeit
offenbart sıch und nımmt gefangen. Er ist kein Popanz, er
fühlt sich nicht als Gott. sondern als einer. der durch gründliche
Arbeit von Jahrzehnten eine Sammlung von Kenntnissen und
Erfahrungen erworben hat, die ihn — zusammen mit seiner
Klugheit und seiner strategischen Begabung — mehr als andere
befähigt hat. vor dem ungeheuerlichen Entscheidungskampf der
entschlossenste und zugleich kühnste Führer des Ordens der
Bolechewiki zu werden. Diese am meisten verfolgte und
Russisches Notizbuch 89985
von allen revolutionären Parteien am giftigsten verleumdete
Organisation zeigt in der Tat eine auffallende Ahnlichkeit
mit dem rücksichtslosesten und kühnsten miftelalterlichen Orden
der katholischen Kirche. dem Orden der Jesuiten. Das Absolute
ihrer Weltanschauung. die strenge Disziplin. der Fanatismus
für ihre Idee, das Großartige, das Naffinement ihrer Propaganda.
der leidenschaftliche Wille zum Sieg. der sie unsentimental
und hart macht und sie selbst vor Brutalitäten und Grausam-
keiten nicht zurückschrecken läßt, und über all diesem der
religiöse Glaube, daß durch ıhr Weltsystem und ihre Methoden
die menschliche Gesellschaft dem Chaos entrissen und erlöst
werden wird, die unbeirrbare und unermüdliche Arbeit für
dieses Ziel. — kurz alle diese außerordentlichen Werte,
Eigenschaften und Kräfte sind den Mitgliedern des Ordens
Jesu und der Partei der Bolschewiki gemeinsam. Der geniale
Organisator des Jesuitenordens Ignatıus von Loyola, gereinigt
von dem Schmutz, den Legenden, den Lügen, die der Unver-
stand oder die Feindschaft über ihn erzeugt haben, diese
Gestalt muſ heute revolutionären Marxisten in ihrer historischen
Bedingtheit und Notwendigkeit anders erscheinen, als liberalen
Sonntagspredigern, banalen »Freidenkerne oder gottlosen Klein-
bürgern. Und dieser Ignatius von Loyola hat sich in seinen extremsten
Antipoden verwandelt. in Lenin, dessen Jünger hängen an seiner
Lehre mit derselben Inbrunst. wie vor fünf Jahrhunderten die
radikalsten. fanatischsten Mönche an ihrem Ignatius. Der eine
wurzelt in dem revolutionären Erdreich des Nazareners. der
andere in der weltumwälzenden Lehre Karl Marxs. dessen
unbeirrbarer und konsequentester Jünger. dessen Testaments-
vollstrecker er wurde. Die Metamorphose auf dem Wege von
fünfhundert Jahren von Loyola bis Lenin offenbart die
Befreiung des menschlichen Geistes aus dem Kerker kirchlicher
Traditionen und Dogmen. Ein Antijesuit erster Ordnung. der
Antichrist des 20. Jahrhunderts. personifiziert in Lenin. be-
tinnt den Kampf mit seiner kleinen Sekte, erobert die Macht.
896 Wilhelm Herzog
weil sie zu halten und streut den Samen der Weltrevolution
in alle Länder aus. Er — wie Loyola zu seiner Zeit —
nur einer der leidenschaftlichsten Träger einer notwendigen
Idee. die gebietersch und unabweisbar Verwirklichung
fordert.
Das Gespräch mit Lenin dauerte etwa eineinhalb
Stunden. Wir sprachen über seine letzte Arbeit: -Der
„Radıkalismus“, die Kinderkrankheit des Kommunismus. Er
fragte sehr interessiert nach den gegenwärtigen deutschen
Parteiverhältnissen, obschon er selbst sie sehr genau kennt. — bis
auf Einzelheiten, die ihm zur Ergänzung willkommen sind.
Lenin hat im Laufe seines politischen Lebens alle Formen des
Kampfes am eigenen Leibe erfahren. Lachend erzählt er. wie
die Mensche wiki ihn und seine Freunde verdächtigten: »Keine
schmutzige Waffe war ihnen schmutzig genug, um, wenn
möglich, den gefährlichen Gegner zu beseitigen. Er hafte
gestohlen, Unterschlagungen begangen, er war gekauft, eın
deutscher Spion, ın Verbindung mit dem deutschen Generalstab.
Zum Beweise derartiger Behauptungen wurden Dokumente nıcht
ohne Raffinement gefälscht. Und mit Wonne übernahm die
Bourgeoisie und ihre Presse dieses Material ihrer Helfershelfer.«
Als er sıch unter der Regierung Kerenskis versteckt hielt.
schalt man ihn einen Feigling. Und selbst nahestehende Freunde
rümpften über sein »unrevolutionärese Verhalten die Nase,
mifbilligten es scharf und laut. Er jedoch tat. was
Klugheit ıhm gebot. ;
Lenin fuhr fort: »Der verleumderische Klatsch ist die letzte,
nicht zu unterschätzende Waffe der Bourgeoisie und ihrer
Lakaien, der konterrevolutionären Opportunisten aller Schat-
tierungen. Jetzt. wo wir an der Macht sind, wo wir allein
die Presse und alle Organe der öffentlichen Meinung in der
Hand haben, richtet dieser Klatsch, dieses Übermiteln
tendenziöser Gerüchte von Mund zu Mund über Verfolgungen.
Erschießungen, besonders aber über Niederlagen an der Front
Russisches Notizbuch 897
— eine Tätigkeit, die die Bourgeoisie äußerst geschickt betreibt —
unsäglichen Schaden an. Als Koltschak, Denikin, Judenitsch
uns gefährlich bedrohten, blühte dieser gegen uns gerichtete
Klatsch am kräftigsten. Aber auch jetzt noch. sobald eine uns
ungünstige Meldung von der Front eintrifft, ist sie 24 Stunden
früher bereits verunstaltet. vergröbert und gesteigert von den
bourgeoisen Schichten ın Umlauf gesetzt worden. In kritischen
Situationen ist das besonders gefährlich. Wir haben es erlebt.
daß in solchen Stunden nicht ganz Gefestigte. die schon glaubten.
zu uns zu gehören, schwankend wurden. Und das ist es. worauf
es jene Verleumdungsstrategen Immer abgesehen haben.
Im Grunde jedoch sind alle diese infamen, persönlichen
Mittel Lappalien im revolutionären Kampf. Mögen eie von
sogenannten Sozialisten, heimlichen Konterrevolutionären oder
von den aufrichtigen Repräsentanten der Gegenrevolution kommen.
Fünfzehn Jahre lang haben wir Bolschewisten das durchgemacht.
Manch einer von uns, der zu sensibel war, ertrug es nicht
und kehrte angeekelt der Politik den Rücken. Manch einer
brach zusammen. Aber man muß lernen, hart und unempfindlich
gegen so etwas zu werden. Schwerer wiegend wurde für uns
die Tatsache, daß Intellektuelle, die mit uns sympathisierten —
durch die Greuelgeschichten beeinflußt — erklärten, von uns nichts
wissen zu wollen. Jetzt, seit einigen Monaten erst, nachdem
sie erkannt haben, daß sie belogen und irregeführt worden
sind, kehren sie langsam zurück.
Lenin erkundigte sıch dann über das Verhältnis der
K A. P. D.-Arbeiter zur K. P. D. Er bafe sich mit dem
Delegierten der K. A. P. D., dem Genossen Appelt aus Hamburg.
zweimal längere Zeit unterhalten und von diesem Arbeiter.
wie er sagte, einen guten Eindruck bekommen. Trotz aller
Konfusion, die aus seiner an sich sehr sympathischen und
begreiflichen Feindschaft gegen den Parlamentarismus und gegen
die alten Gewerkschaften in ihm entstanden sei. Lenin habe
sich aber gefreut. von ihm zu hören. daß er im Wesentlichen mit
898 __ Wilhelm Herzog
seinen Ausführungen in seiner letzten Schrift (Der Radikalismus.
die Kinderkrankheit des Kommunismus«) übereinstimme.
Was die Politik der Unabhängigen, oder vielmehr ihres
Zentralkomitees anginge. so befremde ihn die schwankende
Haltung. das Hinauszögern, die Ausreden nur in sofern, als
er nicht ganz begreife. weshalb sich die großen Arbeitermassen.
die doch anscheinend den Anschluß an die III. Internationale
wollen. diese Politik gefallen ließen. Er fragte mich zum zweiten
Male, wie ich das doch von einem linken Unabhängigen, von
Däumig, unterzeichnete letzte Antwortschreiben verstehe, das den
Nichtabdruck des Manifests des Moskauers Exekutivkomitees
unter anderen mit Mangel an Papier entschuldige. Lenin lachte:
Ist das nicht lächerlich? Ich konnte es leider nicht verneinen.
Und ich schämte mich, ein Unabhängiger zu sein. Er fragte nach
dem Kräfteverhältnis des rechten und des linken Flügels. Und
warum die mächtigsten Zeitungen der U. S. P. — trotz den Leip-
ziger Beschlüssen — noch immer von Vertretern der Rechten
geleitet werden können? Ich sagte ihm, daß jetzt — sieben Monate
nach dem Leipziger Kongreß — das Kräfteverhältnis nicht
ganz sicher zu bestimmen wäre, daß die Macht der Partei-
bureaukratie nicht unterschätzt werden dürfte, daß allerdings
mindestens fünf Achtel der Parteimitglieder für den Anschluß
an die Ill. Internationale sein dürften. Und es sei anzunehmen,
daß für jeden Fall Delegierte der U. S. P. D. zum Kongreß
kommen werden. Entsprechend dem letzten Satz der Leipziger
Resolution zur III. Internationale häften sie den Auftrag. den
Anschluß zu vollziehen.
* «
*
Vom Kreml zurück in den Delovoi Dvor. Gespräch mit
Bombaccı und den anderen. sehr lebenslustigen Italienern. Ein
sebr heiteres Völkchen. Ein ganz anderer Menschenschlag, als
etwa unsere Proletarierführer. Weltmännisch, mit viel Humor.
mit offenen Sinnen, sehr realistisch denkend, ohne deshalb
Russisches Notizbuch —č— 899
spießbürgerlich oder pedantisch zu werden. Zur Tag- und
Nachtzeit singend, haben sie eine merkwürdige Verwandtschaft
ın vielen Beziehungen mit den Russen.
Abends sieben Ubr in die Eremitage gefahren: Ballett.
Man spielt »Coppelia« II. Akt, »Don Quichofte«, den »Korsar«,
einen amerikanischen Tanz und -Die Beftlere von Saint-Saens.
Alles künstlerisch nicht sehr reizvoll. Junge, talentierte Tänze-
rinnen unter miftelmäßiger Regie und vor elenden Dekorationen.
Das halb proletarische, halb bürgerliche Publikum jedoch ist
entzückt. Die Kritiklosigkeit des Publikums. sein ahnungsloser
Enthusiasmus ıst ein schwerer Schaden für dıe Entwicklung der
Schauspieler. Die ernsteren unter ıhnen gestchen es selbst.
24. Junı 1920.
Vormittags Rühle bei mir. Erzählt mir von seiner Unter-
redung mit Radek. Er kenne ihn schon von der Leipziger
Volkszeitung her. Von 1904.
Abends wieder in die Eremitage mit einigen ausländischen
Kameraden. Man spielt den - Barbier von Sevilla - mit Schal-
japin als Don Basilio. Nichts Uberwältigendes. Nur einige
possenhafte Effekte. Typisches Sommertheater. Das Publikum
sehr bunt. Promeniert im Garten. Trinkt schlechten Tee und
ift Erdbeeren in einer Art von Schlagsahne sein sollendem
Schnee. Das Tellerchen fünfhundert Rubel. Die Pausen sind
länger als die Akte. Man sieht: Arbeiter, Bürger und Spekulanten.
Junge Mädchen in weißen Kleidern, welen Strümpfen und
oft mit sehr schönen Stiefeln, die bis zum Knie reichen.
Blitzblanke Kostüme, sehr kostbare, durchbrochene Blusen,
Pelze. Daneben abgerissene, verschmutzte Kleider und Schuhe.
Damen ohne Strümpfe. mit geschminkten Gesichtern. allzu
roten Lippen, neben Arbeiterinnen und Sowjetangestellten.
einfach und ärmlıch gekleidet.
Im ganzen: ein sehr gemischtes, immer begeistertes Publikum.
voll junger (unerfahrener) Liebe zur Kunst.
900 Wilhelm Herzog
— — — — —e—— —- —
25. Juni 1920.
Vormiftags werde ich abgeholt von Doktor Kananofl, einem
früheren Studiengenossen. mit dem ich zusammen an der
Berliner Universität Simmels Kolleg über Soziologie gehört
habe und der mich jüngst bei einer zu Ehren der italienischen
Delegation gegebenen Veranstaltung getroffen und erkannt hafe.
Er ist nicht Bolschewik, war vielmehr früher Menschewik:
arbeitet j edoch mit, denn er eympathisiert mit dem Kommunismus.
Auf meine Frage erklärte er mir. Intellektuelle und Bourgeoisie
seien völlig passiv. Keiner denke an die Unterstützung irgend
welcher konterrevolutionären Bestrebungen.
Kananof ist Bibliothekar am Rumjanzeff-Museum. Er schlug
mir vor, das Museum gemeinsam mit ihm zu besichtigen. Wir neh-
men ein Auto und fahren hin. Ein auf einer Anhöhe sich erheben-
der schöner und breiter Barockbau aus dem Ende des 18. Jahr-
hunderts. Der Leiter des Museums ist ein Fürst Golizin geblieben.
Die Bibliothek ist sehr groß. Der Lesesaal, ein heller, sehr
freundlicher. zum Arbeiten einladender Raum, wird gegenwärtig
wenig benutzt. Immer wieder bekommt man die nur allzu
berechtigte Antwort: die besten Leute sind an der Front.
Niemand von ıhnen hat Zeit zu lesen und zu studieren.
Dringenderes steht auf dem Spiel: der Krieg gegen die Entente
und die Konterrevolution.
Vom Rumjanzeff-Museum in das »Museum der Neuen
Westlichen Malerei., die früher: Stschukın-Sammlung. Es ist
ein sehr schöner, alter Palast. Innen: helle. weiße Räume von
einem sehr vornehmen Geschmack eingerichtet. Mathisses Tanz.
und »Musike — zwei große Bilder in Rot — im Treppen-
aufgang. In der ganzen Sammlung kein überflüssiges Bild.
Und nur Werke höchsten Ranges von Monet, Pissaro.
Cézanne (sein Selbstbildnis), van Gogh. Viele Gauguins,
Mathisses — ein ganzer Saal —. Picassos. Zu kurz, zu
flüchtig waren die zwei Stunden, um den Reichtum, der
hier von einem edlen Bürger mit Geschmack vereint wurde,
Russisches Notizbuch 901
zu genießen. Es gibt zweifellos keine zweite Sammlung moderner
Bilder, vor allem der Impressionisten, die soviel Meisterwerke
höchsten Ranges enthält, die eine so vornehme Auslese des
Adels der malerischen Genies aus dem Ende des neunzehnten
Jahrhunderts und vom Beginn des zwanzigsten bietet. — Ich
werde sehr bald wiederkommen. sobald > mehrere Stunden
darauf verwenden kann.
Eine sehr mondäne Konservatorsgaftın N uns, obwohl
keine Besuchszeit war, schließlich geöffnet, eine Griechin,
dıe zur Russın geworden war, mit dem guten deutschen Namen
Keller. Sie führte uns durch die schönen Säle, die sehr sauber
gehalten sind. Die kostbaren Möbel sind durch Schutzhüllen
gedeckt. Frau Keller klagte ein wenig: eie bekomme keinen
Pajok. Der Mann in der W. C. K. (d. i. im Gefängnis der
Auberordentlichen Kommission) seit sechs Wochen. „Wegen
nichts. behauptete sie.
Mittags in die III. Internationale. Zu Radek. Will
Däumig sofort schreiben und mir Kopie schicken. Er rät mir.
vorläufig nichts zu tun. Erzählt seinen Fall in der polnischen
und deutschen Partei. Alle = Jogisches. Rosa Luxemburg.
Marchlewsky — gegen ihn. Ebert, von Jogisches bearbeitet. Sein
Ausschluß aus der Partei. Seine Tätigkeit in Göppingen und
Bremen. Seine Broschüre Meine Abrechnung. Gegen fünf
Uhr mit Radek in den Delovoi Dvor.
Abends mit Rühle und Knüfgen, dem blonden Matrosen,
ın den Proletkult von Moskau. Leider ın einer schr üblen
Protzenvilla, die dem Multimillionär Morossow gehörte. Stillos.
ohne Geschmack; eine barbarısche Vermischung chinesischer,
münchnerischer, französischer. schweizerischer. italienischer.
russischer Kultur. Diese Villa mit ihrem ganzen Inventar könnte.
so wie sie ist. am besten von dem in Stuttgart oder Mannheim
gegründeten Museum für Geschmacklosigkeiten übernommen
werden.
902 Wilhelm Herzog
Später Spaziergang mit Rühle. Ins zweite Sowjethaus zu
Bucharin. Bei ihm finden wir deutsche Zeitungen vom 10. bis
12. Juni. Wenn man eie liest. bekommt man von Moskau
aus immer mehr den Eindruck, als ob Deutschland etwa
ein Balkanstaat wäre. Rene Marchand, der französische Ingenieur,
der sich den Bolschewiki angeschlossen hat, holt Bucharin ab.
Marchand ist im Kommissariat für auswärtige Angelegenheiten
bei Tschitscherin tätig. Fragt nach den deutschen Verhältnissen.
Er ist der Überzeugung., die Entente wolle aus Furcht vor
der Weltrevolution womöglich ein militärisches Regime in
Deutschland : lieber Reaktion, als Revolution.
26. Juni 1920.
Vormittags mit den holländischen Delegierten Van Leuven
und Kruyt in den Kreml. Die roten Häuser, die Kirchen
mit ıhren goldenen Kuppeln zeigen überall die Mischung von
Orient und Okzident und vor allem den maurischen Einfluß,
wie alle charakteristischen Gebäude Moskaus. In den Höfen
maurische Treppen, sehr ähnlich denen von Verona. Alles sehr
heiter, sehr sommerlich.
Vergebens ins Künstlertheater gefahren. Organisation klappte
wieder einmal nicht. Eine Gesellschaft von fünfzehn bis zwanzig
ausländischen Kameraden kann keinen Eintriſt erhalten. Kräfte-
und Zeitverschwendung. Nitschewo! Ursache: keine Billets
bestellt oder irgend eine Konfusion, um nicht zu sagen Schlam-
perei, jener typischen Art, über die sich niemand mehr aufregt.
Im Grunde tut es auch wirklich nichts. Wir machen statt
dessen einen Spaziergang durch die Stralen. Mit Rühle und
Knüfgen auf eine Bank in den Anlagen vor dem Großen
Theater gesetzt. Elegant gekleidete Damen mit wenig eleganten
Säcken, die irgend einen Pajok enthalten. promenieren oder
sitzen auf den Bänken, plaudern, kokeftieren.
Wir kaufen uns Erdbeeren. Das Pfund kostet 600 Rubel.
Also etwa 6 Mark.
Russisches Notizbuch 2303
27. Juni 1920.
Nachmiſtags mit Angelika Balabanowa, den italienischen
Delegierten. Rühle. Knüfgen, dem jungen Schweden Egede
Nissen zum Brianski-Bahnhof. um uns die Propagandazüge
anzusehen. Die Züge heillen: Kalininzug (nach dem Vorsitzenden
des Allrussischen Zentral- Exekutivkomitees). Leninzug. Swerdlow-
zug, Trotzkizug. Zug der Oktoberrevolution. Es gibt im ganzen
fünf. Jeder umfaßt etwa zehn oder zwölf Waggons. Jeder
führt mit sich eine Druckerei. eine Radiostation. ein Kino.
eine Buchhandlung. eine hygienisch-medizinische Ausstellung.
Die beiden Längsseiten jedes Wagens sind mit bunten
volkstümlichen Bildern bemalt. die meist den Gegensatz von
früher. jetzt und künftig sehr anschaulich darstellen. Die Maler
mußten zu Karrikaturisten werden. In sehr breiter. sehr saftiger
Manier entwarfen sie Bilder aus dem schwelgerischen und
unnützen Dasein der Bourgeoisie und stellten ihm das schwere
und mühselige Leben der Bauern und Arbeiter gegenüber.
In ebenso grellen Farben. oft mit großartiger Bosheit gemalt,
erscheinen die Repräsentanten des Weltkapitalismus, die Staats-
männer der Entente. Einige dieser modernen Fresken auf
Eisenbahnwaggons erzählen die Geschichte der mannigfachen
Versuche, Sowjetrußland abzuwürgen. Durch gemietete Hunde,
wıe Koltschak, Denikin, Judenitsch, Pilsudski. Alles dies ist
mit sehr viel Witz. sehr viel Talent. äußerst einfach und klar.,
noch für den simpelsten Verstand einer Bauernmagd verständlich,
dargestellt. Ein solcher Propagandazug ist meistens zwei bis
drei Monate unterwegs. Er bringt ın entlegene Provinzen, in
kleine Städte und Dörfer Aufklärung. Belehrung und Bildung
durch ’revolutionäre Plakate, Broschüren, Zeitschriften und
Bücher: durch Kinovorstellungen, Demonstrationen auf wissen-
schaftlichem Gebiet. Vorträgen von Spezialisten über technische
Erfindungen und Einrichtungen, über Hygiene. Und eın Stab
von Vertretern aller Volkskommissariate reist mit ıhm, um ım
Auftrag der Sowjetregierung den örtlichen Sowjets bei ihrer
904 Wilhelm Herzog
Organisierung. Vervollkommnung ihrer Einrichtungen zu helfen
und die bestehenden Institutionen und Behörden zu
kontrollieren.
Nachmittags Unterhaltung mıt dem norwegischen Kameraden.
Genossen Langseth, Ingenieur von Beruf. Man habe begonnen.
einen lange gehegten Plan auszuführen. norwegische und
schwedische Arbeiter nach Rußland zu bringen. aber die
Verwirklichung des Planes erweise sich als ungemein schwierig.
Langseth klagt sehr über dıe Langsamkeit und Schwerfälligkeit
der Verhandlungen mit dem Kommissariat und über die falsche
Behandlung der eingetroffenen Arbeiter. Ich drücke ihm umso
mehr mein Erstaunen darüber aus, da man mit allen Mifeln
bestrebt war und bestrebt ist. qualifizierte Arbeiter aus dem
Auslande für den Aufbau, für die Neuorganisierung der
Fabriken und Betriebe zu bekommen. Und ich könnte mir
nur erklären. daß die Schwierigkeiten und der Mangel an
Interesse, von denen er spreche, auf untergeordnete Organe
zurückzuführen oder durch Überlastung der zuständigen
Persönlichkeiten verursacht sel. Ich riet ihm, sich direkt mit
Radek in Verbindung zu setzen, von dem ich annehme, dal
er in kurzer Zeit einen Weg zur Lösung dieser Frage (falls
eie ihm wichtig genug erscheine) zeigen würde.
Montag. den 28. Juni 1920.
Vormittags 11 ½ Uhr in die III. Internationale: Sitzung
des Exekutivkomitees beginnt mit eineinhalb Stunden Verspätung.
Winkop. -der fliegende Hollander -, protestiert gegen die An-
wesenheit von Vertretern der französischen Sozialpatrioten.
gegen Cachin und Frossard. Sinowjew ist für Verhandlungen
mit allen, die sich der III. Internationale anschließen wollen.
An der Sitzung nehmen teil: Sinowjew. Bucharin, Radek.
Karski (Marchlewski), Serrati. Bombaccı, Graziadei. Von den
englischen Shop-Stewards Tanner: Cachin und Frossard, Sadoul,
Reisner., Balabanowa, Klinger.
Russisches Notizbuch 905
Es sprachen: Serrati (scharf gegen die anarchistischen Syndi-
kalisten). Radek für Zulassung bezw. Einladung der rechts
und links von der III. Internationale stehenden ehrlichen
Revolutionäre. Später sprach Losowskı über die Gewerkschafts-
frage. Die Sitzung dauerte bis sechs Uhr abends. Kurz vor
dem Ende erhalten wir die Radiomeldung: Kabinett Fehrenbach
habe sich gebildet mit dem Deutschnationalen Heinze und dem
Demokraten Koch. Reichstagspräsidium: Löbe. Präsident:
Dittmann. erster Vizepräsident.
Dienstag. den 29. Juni 1920.
Vormittags. nach langen Vorbereitungen eine Schreibmaschine
erkämpft. Eroberung war sehr schwierig. Eine Belagerung von
fast vier Wochen führte schließlich beim österreichischen
Soldatenrat zum Sieg. Zubehör fehlte: Farbband wie Maschinen-
schreiberin. Das erstere erhielt ich von der III. Internationale.
und der deutsche Arbeiter- und Soldatenrat stellte mir in
dauernder Hilfsbereits: haft eine seiner deutschschreibenden Damen
für einige Stunden des Tages zur Verfügung. Endlich konnte
ich meine Eindrücke ein wenig ordnen, durcharbeiten und
zu dıktieren beginnen.
Von eıner bürgerlichen Dame, die jedoch mit den Sozialisten
sympathisiert und ungefahr auf den Standpunkt der Mensche-
wiki steht. höre ich für diese Kreise charakteristische
Äußerungen. Sie stehen in scharfer Opposition zu den
Bolschewiki und glauben noch immer nicht. daß ihre Herrschaft
lange dauern wird. Die bürgerliche Dame ist die Frau eines
früheren Leiters einer gröberen Bank. Sie ist Mutter eines
sechsjährigen Kindes, sehr gut und elegant gekleidet und klagt
unaufhörlich. Sıe erzählt sehr Trauriges. Und ihre Äußerungen,
so subjektiv sie gefärbt sind, interessierten mich, nıcht nur
wegen ihrer Tendenz. deren antıbolschewistischer Charakter
unverkennbar war. sondern nıcht weniger wegen der Auffassung,
die eine bürgerliche Frau von dem gegenwärtigen proletarischen
906 Wilhelm Herzog
—— :. — — — —
Leben Sowjetrußlands hat und als ihre ehrlich eroberte Über-
zeugung ausspricht. Sıe äußert: alle spekulieren. Die Arbeiter
nicht weniger als die übriggebliebenen Bürger. Unmöglich sei es. das
Leben zu fristen. ohne zu verkaufen. Kleider. Hausrat. Wäsche.
irgend welchen Schmuck oder überhaupt irgend etwas. das auf
der Sucharewka (dem Moskauer Markt der Händler) einen
Wert repräsentiert. Von den Rationen und dem Gehalt könne
niemand leben. Alle diese Äußerungen will sie durch zahlreiche
Beispiele belegen. Ein Paar Schuhe kosten 40000 Rubel. Ein
Paar Sohlen 5000 Rubel. Ein Kostüm koste 200000 bis
250000 Rubel. Und das Grundgehalt einer Sowjetangestellten
oder Bureauarbeiterin beträgt etwa zwischen 3000 und 7000
Rubel. Sıe vergaß jedoch das Wichtigste : den regelmäßigen
Pajok. d. h. die freie Lieferung von Brot. Mehl. Zucker und
anderen Lebensmitteln an die Sowjetangestellten. Dieser Pajock
— das gab sie auf meine Frage zu — betrage ungefähr das
zehnfache des Gehalts.
30. Junı 1920.
Mittags ein Uhr mit Graziadei und Serxati - in die
Sozialistische Akademie. die von dem alten sozialistischen
Theoretiker Rjasanoff geleitet wird. Er empfängt uns und gibt
uns einige Aufschlüsse über die Gründung und die Organisation
der Sozialistischen Akademie. Sie umfaßt gegenwärtig 22 Mit-
glieder. Als Mitglieder werden nur Personen aufgenommen.
die sich als Theoretiker verdient gemacht und solche, die sich
um die Verbreitung des Marxismus verdient gemacht haben.
Aber nur Marxisten können Mitglieder sein. Auch Mensche wiki.
So sind Martoff. Suchanoff. Germanski Mitglieder geworden.
Der Philosoph und Ökonom Bogdanoff ist der einzige Nicht-
kommunist in der Akademie.
Jetzt habe — äußert Rjasanoff mit großem Bedauern —
die Akademie gar keine Studenten. Folge des Krieges. In der
Swerdlow-Universität waren 700 und 800 Studenten. Kürzlich
wurden 120 an die Front geschickt. und das sind die besten.
Russisches Notizbuk 207
Zweck der Akademie: Studien über Geschichte und Praxis
der Arbeiterbewegung.
Rjasanoff gibt eine ganz kurze, aber. gut orientierende
Skizze über die Entwicklung der russischen Sozialisten:
Erste Generation: Plechanoff. Axelrod, Deutsch.
Zweite Generation: Lenin. Rjasanoff. Trotzki.
Dritte Generation: Bucharin, Ossinski. Miljutin.
Es fehlt an jungen Theoretikern. Nachwuchs überhaupt
nicht vorhanden. wie bei uns. Als ich noch Radek hinzugefügt
wissen will und ihn als einen der besten Köpfe der jungen
Generation bezeichne. widerspricht Rjasanoff nicht ohne malitiöse
Spitze. Radek sei nicht russisch. sondern vielmehr: polnisch-
österreichisch-deutsch.
1. Juli 1920.
Vormittags zum Volkskommissar für Arbeit, W. Schmidt.
Das frühere Stift für adlıge junge Mädchen, das jetzt das
Arbeitskommissariat beherbergt. liegt ganz nahe dem Delowoi
Dwor, inmiſten schöner Gärten. Ein klosterähnlich eingerichtetes
‚Gebäude von großer Weitläufigkeit. Genosse Schmidt gibt mir
eine ausführliche Darstellung der Aufgaben und Ziele des
Arbeiterkommissariats. Sein Mitarbeiter Anıkst bespricht das
Problem der Einwanderung deutscher Arbeiter nach Rußland.
Bexor. irgend etwas in dieser Richtung unternommen würde
wird eine russische Delegation nach Deutschland reisen. um
die Verhältnisse an Ort und Stelle zu prüten.
Das Kommissariat für Arbeit stellt sich die folgenden
Aufgaben:
1. Registrierung aller Arbeitskräfte in Rußland.
2: Verteilung der Arbeitskräfte zwischen den verschiedenen
wirtschaftlichen Ämtern.
Es gibt keinen freien Arbeitsmarkt. Alle Amter. alle
Organisationen können nur durch das Arbeitskommissariat Arbeiter
beziehen. Zu den Obliegenheiten des Kommissariats gehören:
Arbeiterschutz. Regelung der Arbeitszeit. der Frauenarbeit.
28
908 . Wilhelm Herzog
Beschaffung von Arbeiter wohnungen. Schutz der Arbeiter-
gesundheit und der Arbeiterjugend. Die Arbeiterinspektionen
werden von den Gewerkschaften gewählt.
3. Festsetzung der Arbeitstarife und der Arbeitsnorm.
Minimallohn für die. minimale Arbeitsnorm. Alles darüber
Geleistete wird prämiert dureh Geld oder Naturalprämie.
Die Tarife werden mit den einzelnen Gewerkschaften dureh-
gearbeitet. Festgesetzt werden sie vom Kommissariat.
Das Kommissariat arbeitet stets in engster Verbindung mit
den Gewerkschaften. Im Kommissariat selbst sitzen Vertreter
der einzelnen Gewerkschaften: der Metall-. Textil-. Transport-
arbeiter usw. usw.
Maximalarbeitstag überall: acht Stunden. In verschiedenen
schwierigen Betrieben: sechs oder sieben Stunden. Bergarbeiter
haben de facto ebenfalls sechsstündige Arbeitszeit und ihre
Maximalarbeitszeit im Monat beträgt achtzehn Tage.
Für die Jugendarbeit ist durch Gesetz festgestellt, daß
Jugendliche nur vom sechzehnten Lebensjahre arbeiten können.
Alle Jugendlichen unter sechzehn Jahren, welche noch beschäftigt:
werden, befiehlt das Gesetz zu entlassen. Noch nıcht allgemein
durchgeführt. Weil noch nicht genügend Internate und
professionelle Schulen errichtet werden konnten. Durchgeführt
jedoch sei, daß Jugendliche zwischen vierzehn und sechzehn
Jahren nur vier Stunden arbeiten dürfen. Unter vierzehn Jahren
jedoch sind bereits alle entlassen. Das ist überall in den
Großbetrieben geschehen. In den Privatbetrieben (die bis fünf-
zehn Arbeiter beschäftigen) konnten alle jugendlichen Arbeiter
— auch die bis vierzehn Jahren — noch nicht entfernt werden.
Weil sie nicht registriert sind.
Jetzt. vom 15. Juli 1920 an. wird ein neues Mifel
angewendet werden, um auch diese Betriebe zu erfassen.
Arbeiter werden künftig nur Lebensmitftelkarten erhalten, wenn
der Betrieb. wo sie arbeiten, sich diesen Vorschriften des
Arbeitskommissariats ganz unterwirft.
Russisches Notizbuch 5 909
Schon 1918 war die Arbeitspflicht für alle Bürger von
16 bis 50 Jahren durchgeführt. Frauenarbeitspflicht ebenfalls
(keine Nachtarbeit). Und nur von 16 bis 40 Jahren. Acht
Wochen vor und acht Wochen nach einer Schwangerschaft
ist der Frau jede Arbeit verboten. Sie bekommt während
dieser Zeit ıhren vollen Lohn und Unterstützung durch ver-
schiedene Nahrungsmittel. Sie erhält nach der Geburt des
Kindes 40 Arschin Weiſwäsche (etwa 30: Meter). Wenn
sie selbst das Kind nährt, hat sie während der Arbeit nach
je drei Stunden eine halbe Stunde frei, um das Kind zu stillen.
Nährt sie nicht selbst, so bekommt sie Kindermilch frei geliefert.
Minimum des Tarif lohns 1200 Rubel
Mittlerer Tarif long. 1800 Rubel
Maximum des Tarif lohns 4800 Rubel
Nachmittags Borodin bei mir im Hotel. Er wird voraus-
sichtlich nach dem Osten gehen. Als Leiter einer Mission
nach Turkestan und Afghanistan.
| Abends 8 Uhr zu T'schitscherin. Das Kommissariat für
Auswärtige Angelegenheiten ıst von allen bureaukratischen
Institutionen Sowjetrußlands offenbar das antıbürokratischste,
um nicht zu sagen das bohemehafteste. Deutsche Ordnungs-
pedanten wären entsetzt. Aber auch weniger korrekte sind
zunächst, nicht mit Unrecht, über dieses Durcheinander, über
diesen Wirrwarr. über die Abwesenheit jeglichen Organisations-
vermogens erstaunt.
Techitscherin selbst ist ein Sonderling. Ein unermüdlicher
Arbeiter, der tagsüber einige Stunden schläft, um von abends
6 Uhr die ganze Nacht hindurch bis morgens gegen 9 Uhr
zu arbeiten. Er macht alles selbst. da er fürchtet, sich auf seine
Mitarbeiter nicht verlassen zu können. Er ist nicht fähig. sich
zu entlasten und geeignete Personen als Hilfskräfte zur Er-
ledigung der minder wichtigen Arbeiten und des Kleinkrams
zu gewinnen. So sieht man ihn oft mit einem Brief oder
910 ___ Wilhelm Herzog
Aktenstück aus seinem Arbeitszimmer zu einem seiner jungen
Sekretäre behutsam schleichen. meist einen dicken wollenen
Schal um den Hals. Und es macht ihm garnichts. den Weg
vom vierten zum zweiten Stock durch viele Zimmer und
Gänge mehrmals des Nachts zurückzulegen. Er geht auf diesem
Wege an schnarchenden Schildwachen vorbei, ganz in seine
Gedanken versponnen.
Es gibt wohl heute in den auswärtigen Ämtern der Welt
keinen antidiplomatischeren Diplomaten als diesen ehemaligen
Aristokraten. der sich allerdings schon frühzeitig zur Partei
der Bolschewiki bekannte. Er ist ein hochgewachsener Mann
von etwa 50 Jahren mit meist vornübergebeugtem Oberkörper.
Seine Haltung ist lässig. fast schlapp. Sofort verändert sie sich.
wenn er spricht. Alle seine Worte sind wohlüberlegt. klar.
nüchtern, sich stets konzentrierend auf die reale Situation. Man
empfängt den Eindruck eines ungewöhnlich sachtreuen und zugleich
kenntnisreichen Kopfes. der unermüdlich und unbeirrbar die
großen und kleinen Verbindungsstraßen der Weltpolitik studiert.
ihre noch geheimen Zusammenhänge durchschaut, künftige
Entwicklungsmöglichkeiten voraussieht und wenn möglich vor-
bereitet. Tschitscherin ist als Politiker das. was Theodor Fontane
einmal mit Selbstironie von sich als Erzähler äußerte: ein
Puler. Einer. der es liebt, sich mit den kleinen Dingen so
intensiv zu befassen oder intensiver gar, als mit den so-
genannten großen. Dazu gehört großer Fleiß und Liebe zur Sache.
Es ıst eine etwas nüchterne Liebe, aber sıe belohnt sıch selbst.
Tschitscherin führt auf einige Fragen, die ich an ihn stellte, wie
er die weltpolitische Situation gegenwärtig und im besonderen das
Verhältnis Rußlands zu England beurteile, etwa folgendes aus:
„Deutschland bildet gegenwärtig in der Weltpolitik —
wie ich schon jüngst auf der Sitzung des Kongresses der
Allrussischen Sowjets äußerte — ein Vakuum. Vielleicht wird
jetzt. nach der Bildung des neuen Kabinets, eine Änderung
eintreten. Wir geben uns jedoch keinen Illussionen hin. Drei Hem-
Russisches Notiz buen 2911
mungen der bisher mehrheitssozialistischen Regierung gegenüber
Sowjetrußlands: 1. Angst vor der Entente. 2. Die Sabotage
der Geheimräte im Ministerium des Auswärtigen (spürte man
etwas von einer Leitung des Herrn Müller ?). 3. persönliche
Gekränktheit der scheidemännischen Sozialisten durch die
Angriffe Lenins. Alle drei Momente fallen jetzt fort. Simons,
selbst ein Geheimrat. wird sich von seinen Geheimräten nichts
verbieten und nichts durchkreuzen lassen. Er ist zudem — wie
man sagt — »östlich-orientiert«. Vor allem aber ist er zweifellos
klüger als sein Vorgänger, Herr Müller. Wirtschaftlich
braucht Deutschland dringender denn je Verbindung mit
Rußland. Die Notwendigkeit naher Beziehungen wird bei
dem bürgerlich-nationalen Kabinett vielleicht selbst die Angst
vor der bolschewistischen Propaganda besiegen. Wir stellen
uns, da die Weltrevolution alle Länder noch nicht ergriffen hat,
darauf ein, mehr oder weniger gute Beziehungen zu allen
Ländern zu eröffnen und zu pflegen, deren Regime ein
bürgerlich-kapitalistisches oder ein pseudo-sozialistisch-demo-
kratisches noch ist. Wir sind durchaus bereit. mit den
Ententestaaten in Frieden zu leben, ja ihnen selbst oder
Bürgern dieser Staaten gewisse Konzessionen in Rußiand ein-
zuräumen, wenn sie unseren Versuchen dem Chaos Herr zu
werden und aufzubauen, nützen. Wir waren bereit. schon vor
einem Jahre den Bau einer sehr großen Eisenbahn vom Innern
Rußlands nach Sibirien an einen zum amerikanischen Milliardär
gewordenen schwedischen Großunternehmer zu verpachten. Es
wurden sehr weitgehende Verhandlungen gepflogen. Ein Stab
von Sachverständigen und Vertrauensleuten, die der Amerikaner
herübergeschickt hafte, arbeitete bereits mit uns. Dann zerschlug
sıch plötzlich der Plan. Der Auftraggeber verlor zu seinen
Abgesandten das Vertrauen und entzog ihnen das Mandat, in
seinem Namen zu verhandeln. Sie sehen, wie entgegenkommend
wir bösen Kommunisten sein können, wenn wir uns für
unser Land davon Nutzen versprechen.
912 Romain Rolland
DAS LEBEN TOLSTOIS
VON ROMAIN ROLLAND
Der Dichter des Johann Christof, dem wir die drei
großen Biographien über Michel Angelo, Tolstoi und Beet-
boven verdanken, hat vielleicht am innigeten das Leben des
Mannes von Jasnaja Poljana beschrieben, dessen Geist und
Welt er sich am nächsten fühlte. Die deutsche Ausgabe
seiner vor neun Jahren erschienenen Schrift »Vie de
Tolstoi wird Ende November im Verlage der Literarischen
Anstalt Rüſten u. Loening. Frankfurt a. Main erscheinen.
Hier die Anfangskapitel des Buches:
Das Licht, das mıt Tolstoı erlosch, war für unsere Generation
das klarste, das unsere Jugend erhellte. In der schwerumschafteten
Dämmerung am Ende des 19. Jahrhunderts war er der trost-
bringende Stern, dessen Anblick unsere Seelen anzog und ihnen
Frieden gab. Aus dem Kreis derer, für die Tolstoi weit mehr
war als ein verehrter Dichter, für die er der beste und für
viele der einzige wirkliche Freund ın der ganzen europäischen
Kunstwelt war, möchte ich diesem geheiligten Andenken meinen
Zoll der Dankbarkeit und Liebe entrichten.
Die Tage. da ich seine Werke kennen lernte. werden
nie aus meinem Gedächtnis schwinden. Es war 1886. Nach
einigen Jahren stillen Keimens brachen die wunderbaren Blüten
russischer Kunst aus dem Boden Frankreichs hervor. Die
Übersetzungen von Tolstoi und Dostojewski erschienen auf
einmal mit fieberhafter Hast in allen Verlagshäusern. Von
1885 - 1887 wurden in Paris »Krieg und Frieden Anna
Karenina. Kindheit und Knabenalter -. »Polikuschka« -Der
Tod des Iwan Iljitsch. Novellen vom Kaukasus und die
»Volkserzählungen« veröffentlicht, Innerhalb einiger Monate,
einiger Wochen breitete sich vor unseren Augen das Werk
eines ganzen großen Lebens aus, in dem sich eın Volk, eine
neue Welt spiegelte.
Das Leben Tolstois 913
Ich war damals gerade in die »Ecole Normale« eingetreten.
Wir Kameraden waren schr verschieden voneinander. In unserer
kleinen Gruppe, die realistische und ironische Geister wie den
Philosophen George Dumas, Dichter, die in Liebe zur italienischen
Renaissance glühten wie Suarès. Anhänger der klassischen
Tradition, Stendhalianer und Wagnerianer. Atheisten und
Mystiker umfaßte, in dieser Gruppe gab es häufig Wortgefechte.
kamen häufig Mißstimmungen auf; aber während ein paar
Monaten einte uns die Liebe zu Tolstoi fast alle. Jeder liebte
ihn zweifellos aus einem anderen Grund: denn jeder fand sich
selbst in ihm wieder. und für alle war er die Pfarte, die ins
unermeßliche All führte, die Offenbarung des Lebens. Um
uns her. in unseren Familien. in unseren Provinzen erweckte
die gewaltige Stimme, die von den äußersten Grenzen Europas
her ertönte. zuweilen ganz unerwartet. dieselben Sympathien.
Ich entsinne mich, daf ich einmal zu meinem größten Erstaunen
Leute aus meiner Niverner Heimat, die sich keineswegs für
Kunst interessierten und die fast nichts lasen, mit verhaltener
Rührung über den- Tod des Iwan Iljitsche reden hörte.
Ich habe bei hervorragenden Kritikern die Behauptung
gelesen, Tolstoi verdanke seine besten Eingebungen unseren
romantischen Schriftstellern: George Sand und Victor Hugo.
Ohne darüber zu streiten. dał man wohl kaum von einem
Einfluß der George Sand auf Tolstoı sprechen kann — zumal
da er sie nıcht ausstehen konnte —. und ohne den viel tat-
sächlicheren Einfluß, den Rousseau und Stendhal auf ihn
ausübten, zu leugnen, wäre es doch falsch, die Größe Tolstois
und seine Macht uns zu fesseln, seinen Ideen zuschreiben zu
wollen. Der Ideenkreis, in dem sich der Künstler bewegt. ist
eng begrenzt. Seine Stärke beruht nıcht ın den Ideen, sondern
im Ausdruck, den er ihnen gibt, in dem persönlichen Ton, in
der Prägung des Künstlers, ın der Atmosphäre, ın der er lebt.
Ob die Ideen Tolstois entlehnt waren oder nicht — wir
werden später noch darauf zurückkommen —, so ist doch
94 22.2000... Romain Rolland
niemals in Europa eine Stimme erklungen. die seiner gleich
gekommen wäre. Wie anders sollte man den Schauer der
Erregung erklären, der uns damals behel, als wir diese Seelen-
musik hörten, auf die wir solange gewartet haften und die
uns nottat. Die Mode sprach bei unserem Gefühl nicht mit.
Die meisten von uns, auch ich, lernten das Buch von Eugen
Melchior de Vogüé über den russischen Roman erst kennen,
nachdem sie Tolstoi gelesen haften: und seine Bewunderung
erschien uns ma im Vergleich zu unserer. De Vogüé ur-
teilte hauptsächlich als großer Literaturkenner. Aber für uns
genügte es. nicht. das Werk zu bewundern. wir lebten es, es
war unser. Unser, durch seinen brennenden Lebenshunger.
durch sein jugendliches Fühlen. Unser, durch seine Ironie, die
uns die Binde von den Augen nahm, durch seinen schonungs-
losen Scharfblick, sein Wissen um den Tod. Unser. durch
seine Träume von brüderlicher Liebe und von Frieden unter
den Menschen. Unser, durch seine furchtbare Anklage gegen
die Lügen der Zivilisation. Durch seinen Realismus und durch
seinen Mystizismus. Durch seinen Erdgeruch, durch seinen
Sinn für die unsichtbaren Mächte und durch sein Erschauern
vor dem Unendlichen.
Diese Bücher sınd vielen von uns das gewesen, was der
Werther. seiner Generation war: der wundervolle Spiegel
unserer Liebeskräfte und unserer Schwächen. unserer Hoff-
nungen, unserer Schrecken und unserer Entmutigungen. Es
machte uns weder Sorge. alle diese Widersprüche in Einklang
miteinander zu bringen. noch diese vielgestaltige Seele. in der
das Weltall widerhallte. in enge religiöse oder politische
Kategorien zu zwängen. wie es die meisten. die in letzter
Zeit über Tolstoi gesprochen haben, tun. weil sie sich nicht
von dem Streit der Parteien freimachen konnten und ihn nach
der Stärke ihrer eigenen Leidenschaften, nach dem Maßstab
ihrer sozialistischen oder klerikalen Cliquen beurteilten. Als
ob unsere Cliquen den Gradmesser für ein Genie abgeben
Das Leben Tolstois 915
—— 2 ———
könnten! ... Und was gilt es mir. ob Tolstoi meiner Partei
angehört oder nicht! Kümmert es mich. zu welcher Partei
Dante und Shakespeare gehörten, wenn ich einen Hauch ihres
Geistes spüre und ihr Licht in mich aufnehme?
Wir sagten uns keineswegs wie diese Kritiker von heute:
„Es gibt zwei Tolstoi. den vor dem Wendepunkt und den
nach dem Wendepunkt: der eine ist der gute, und der andere
ist es nichte Für uns gab es nur einen, und wir liebten ihn
restlos. Denn wir fühlten instinktiv, daß in solchen Herzen
alles übereinstimmt, alles ın Verbindung miteinander steht.
Was wir mit dem Instinkt fühlten. ohne es uns erklären
zu können, das soll unser Verstand heute beweisen. Heute
können wir es nachholen, da dieses lange Leben sein Ende
erreicht hat und sich den Augen aller unverschleiert mit
beispielloser Offenheit und Aufrichtigkeit darbietet. Was uns
sofort auffällt, ist, wie sehr sein Leben sich von Anfang bis
zu Ende gleich blieb, trotz der Schranken. dıe man von Strecke
zu Strecke hat errichten wollen. — trotz Tolstoi selbst. der.
wenn er liebte, wenn er glaubte, wie alle leidenschaftlichen
Menschen geneigt war zu glauben, daß er zum erstenmal
liebe, zum erstenmal glaube, und jedesmal von da an den
Anfang seines Lebens datierte. Den Anfang und immer
wieder den Anfang. Wie oft hat sich dieselbe Umwälzung,
derselbe Kampf ın ıhm abgespielt! Man kann nicht von der
Einheit seines Denkens sprechen — es war nie eine solche
vorhanden —, wohl aber von dem Vorhandensein der ver-
schiedenen Elemente in ihm, die bald miteinander verbündet
bald einander feindlich, öfter aber feindlich waren. Die
Einheit beruht weder im Geist noch im Herzen eines Tolstoi,
se beruht im Kampf der Leidenschaften in ihm, in der
Tragödie seiner Kunst und seines Lebens.
Kunst und Leben sınd vereinigt. Nie waren Werk und
Leben inniger vermählt: das Werk hat beinahe durchgängig
916 Romain Rolland
autobiographischen Charakter: von seinem 25. Lebensjahr an
läßt es uns Tolstoi Schritt für Schritt in den widerspruchs-
vollen Erfahrungen seiner abenteuerlichen Laufbahn verfolgen.
Sein Tagebuch. das er vor seinem 20. Jahre begann und bis
zu seinem Tode fortgeführt hat, die Angaben, die er
Birukow zu dessen bedeutender Tolstoibiographie machte,
vervollständigen diese Kenntnis und geben uns nıcht nur Ge-
legenheit. beinahe Tag für Tag in Tolstois Innerem zu lesen,
sie lassen uns auch die Welt. in der sein Genie wurzelte,
und die Seelen, von denen seine Seele zehrte, wiedererstehen.
Ein reiches Erbe. Von beiden Seiten ein sebr vornehmes
und sehr altes Geschlecht — die Tolstoi und die Volkonski —.
die sich rühmten bis auf Rurik zurückzureichen und ihren
Stammbaum auf Genossen Peters des Großen, auf Generäle
des Siebenjährigen Krieges. Helden aus den napoleonischen
Kämpfen, Dezembristen und politische Verbannte zurückführten.
Familienerinnerungen, denen Tolstoi einige seiner eigenartigsten
Gestalten aus Krieg und Frieden · verdankt: der alte Prinz
Bolkonski, sein Großvater mütterlicherseits. ein später Re-
präsentant jener von Voltaireschem Geist durchsetzten. selbst-
herrlichen Aristokratie zur Zeit Katharinas II.; der Prinz
Nikolaus Gregorewitsch Volkonski, ein Vetter seiner Mutter.
der bei Austerlitz verwundet und vor den Augen Napoleons
vom Schlachtfeld aufgelesen wurde wie der Prinz Andre:
sein Vater, der einige Züge von Nikolaus Rostow hatte:
seine Mutter. die Prinzessin Merie. die sanfte Hallliche mit
den schönen Augen, deren Güte - Krieg und Frieden: durch-
leuchtet.
Er kannte seine Eltern kaum. Die reizenden Schilderungen
in Kindheit und Jugend. enthalten, wie man weill.
wenig Tatsächliches. Seine Mutter starb. als er noch nicht
zwei Jahre alt war. Er konnte sich demnach nicht des ge-
liebten Angesichts erinnern. das sich der kleine Nikolaus
Irteniew durch einen Schleier von Tränen hindurch herauf-
Das Leben Tolstoıs 917
beschwört, jenes Angesichts mit dem strahlenden Lächeln, das
Freude um sich verbreitete |
„Ach wenn ich dies Lächeln in schwierigen Augenblicken
sehen könnte, dann wüßte ich nicht, was Kummer ist. .«.
Aber sie vererbte ihm zweifellos ihren vollkommenen
Freimut, ıhre Gleichgültigkeit gegen die öffentliche Meinung
und, wie man uns versichert, ihre wundervolle Begabung,
selbsterfundene Geschichten zu erzählen.
An seinen Vater hafte er immerhin einige Erinnerungen,
Der war ein liebenswürdiger Spöfter mit traurigen Augen.
der in unabhängiger Stellung und bar jeden Ehrgeizes auf
seinen Gütern lebte. Tolstoi war neun Jahre alt, als er ihn
verlor. Dieser Todesfall »brachte ihm zum erstenmal die rauhe
Wirklichkeit zum Bewußtsein und erfüllte sein Herz mit
Verzweif lunge. Es war das erste Zusammentreffen des Kindes
mit dem Schreckgespenst, dessen Bekämpfung ein Teil seines
Lebens und dessen Verklärung und Verherrlichung der andere
gewidmet sein sollte.. Spuren dieser Angst kommen in
einigen unvergeßlichen Zügen der letzten Kapitel von »Kındheit«
zum Ausdruck, wo die Erinnerungen auf die Erzählung vom
Tode und vom Begräbnis der Muſter übertragen sind.
| In dem alten Hause in Jasnaja Poljana blieben fünf
Kinder zurück, in dem Hause, in dem Leo Nikolajewitsch
am 28. August 1828 geboren wurde, und das er. nur um
zu sterben, erst zweiundachtzig J ahre später verlassen sollte.
Die Jüngste, ein Mädchen namens Marie, die später Nonne
wurde (bei ihr. suchte der sterbende Tolstoi ein Obdach. als
er seinem Haus und den Seinen entfloh). — Vier Söhne:
Sergius, ein liebenswürdiger Egoist. , aufrichtig bis zu einem
Grade. wie ich es niemals gesehen habes. Dmitri. ein ver-
schlossener Mensch voller Leidenschaft, der sich später als
Student mit Ungestüm religiösen Ubungen hingab. unbekümmert
um die öffentliche Meinung. fastete. den Armen half, den
Sıechen Zuflucht gewährte, der sich aber plötzlich mit der-
918 Romaın Rolland
selben Heftigkeit der Ausschweifung i in die Arme warf, und
der dann, von Reue zernagt. ein junges Madchen. das er aus
einem öffentlichen Hause her kannte, loskaufte und bei sich
aufnahm und mit neunundzwanzig J ahren an der Schwindsucht
starb. — Nikolaus, der Älteste, der Lieblingsbruder der von
der Mutter die Begabung. Geschichten zu erzählen, geerbt
hafte. ironisch. schüchtern und feinfühlig veranlagt. später
Offizier im Kaukasus. wo er sich das Trinken angewöhnte.
Auch er war voll christlicher Nächstenliebe. lebte in den
bescheidensten Verhältnissen und teilte mit den Armen alles.
was er hafte. Turgenıew sagte von ihm, daß er sjene Demut
dem Leben gegenüber in die Praxis übertrug. die sein Bruder
Leo in der Theorie zu entwickeln sich begnügte«.
Im Hause dieser Waisen waren zwei hochherzige Frauen:
die Tante Tatiana, die. wie Tolstoi sagt, zwei Tugenden
besaß: Ruhe des Gemüts und Liebes. Ihr ganzes Leben war
nichts als Liebe. Sie opterte sich unaufhörlich.
„Durch eie habe ich die siftliche Befriedigung. die Liebe
gibt. kennengelernt.
Die andere war die Tante Als die allen half und
nie Hilfe wollte, die ohne Dienstboten auskam, und deren
Lieblingsbeschäftigung darın bestand, Lebensbeschreibungen von
Heiligen zu lesen und sıch mit Pilgern und »Einfältigen« zu
unterhalten. Von diesen sEinfältigene lebten mehrere im
Haus. Eine von ihnen, eine alte Wallfahrerin. die Psalmen
leierte. war die Patin von Tolstois Schwester. Ein
anderer. der s»Einfältige« Grischa konnte nichts als beten und
Welnen
„O. guter Christ Grischa! Dein Glaube war so stark.
daß du die Nähe Goftes fühltest, deine Liebe war so heil,
daß deine Worte den Lippen entschlüpften, ohne daß dein
Verstand sich Rechenschaft darüber gab. Und da du Goſtes
Herrlichkeit verehrtest und nicht Worte dafür fandest. warfst
du dich tränenüberströmt zu Boden!.
Das Leben Tolstois 919
— — ——
Wer sähe nicht den Anteil, den alle diese bescheidenen
Seelen an der Entwicklung Tolstois haften? Es ist. als ob
eine von ihnen das Vorbild zum Tolstoi der letzten J ahre
abgegeben habe. Ihre Gebete, ıhre Liebe legten dıe Saatkörner
des Glaubens in den Geist des Kindes, deren Ernte der Greis
reifen sehen sollte. Außer dem »Einfältigen« Grischa spricht
Tolstoi von seinen Erzählungen aus der »Kindheite nicht von
diesen bescheidenen Mitarbeitern, die seine Seele aufbauen
halfen. Aber wie leuchtet hingegen durch das ganze Buch
diese Kindesseele. . dieses reine und liebevolle Herz, gleich
einem hellen Strahl, das immer bei den anderen die besten
Eigenschaften herausfand«, diese außergewöhnliche Empfindsam-
keit! Ist er glücklich, dann denkt er an den einzigen Menschen,
den er unglücklich weill. er weint und möchte sich für ihn
aufopfern. Er umarmt ein altes Pferd und biftet es um Ver-
zeihung. daß er ihm Leid zugefügt hat. Er ist glücklich zu
lieben, selbst wenn er nicht geliebt wird. Schon bemerkt man
den Keim seines späteren Genies, seine lebhafte Einbildungs-
kraft, die ıhn bei seinen eigenen Geschichten zum Weinen
bringt, sein ımmer arbeıtendes Flirn, das stets zu ergründen
sucht, an was die Leute denken, seine frühreife Beobachtungs-
gabe und sein weıt zurückreichendes Gedächtnis, den auf-
merksamen Blick, der mitten in seiner eigenen Trauer die
Gesichter auf die Echtheit ihres Schmerzes prüft. Mit
fünf Jahren fühlte er, wie er sagt, zum erstenmal, daß -das
Leben kein Vergnügen, sondern ein ernstes Geschäft iste.
Glücklicherweise vergaß er es wieder. Zu jener Zeit ver-
tiefte er sich in volkstümliche Erzählungen, in russische Bylinen.
jene mythen- und sagenhaften Träume, in biblische Geschichten
— vor allem die erhabene Josephslegende, dıe er als alter
Mann noch als das Muster aller Kunst ‚bezeichnet, — und
in Geschichten aus »Tausendundeine Nachts, die jeden Abend
im Hause seiner Großmufter ein blinder Erzähler, auf dem
Fenstersims sitzend, vortrug.
920 Romain Rolland
— — —— a a N
Er studierte in Kasan mit mäßıgem Erfolg. Man sagte
von den drei Brüdern: »Sergius will und kann, Dmitri will
und kann nicht, Leo will nicht und kann nichte.
Er machte die Zeit durch, die er sdie Wüste der Jugend:
nennt, eine Sandwüste, über die stoßweise sengende Winde
wehen. Über diese Zeit sind die Geschichten aus den ersten
und späteren Jünglingsjahren reich an Bekenntnissen aller-
persönlichster Art. Er ist allein. Sein Hirn ist in einem
Zustand ununterbrochenen Fiebers. Während eines Jahres
entdeckt er von sich aus alle Systeme und versucht sich darın.
Als Stoiker unterwirft er sich körperlichen Qualen. Als Epikureer
gibt er sich der Ausschweifung bin. Dann glaubt er an Seelen-
wanderung. um schließlich in einen sinnlosen Nihilismus zu
verfallen: es scheint ihm. daß er dem Nichts ins Auge schauen
kann, wenn er eich nur schnell genug danach umdreht. Er
analysiert sich und analysiert sich.
Ich dachte nicht mehr an irgend eine Sache. ich dachte.
daſ ich an irgend eine Sache dachte.
Diese fortgesetzte Selbstzergliederung, diese Denkmaschine,
die sich im leeren Raum dreht, bleibt ihm wie eine gefährliche
Gewohnheit, die, wie er sagt, ihm oft ım Leben schadete, aber
aus der seiner Kunst unerhörte Hilfsquellen flossen.
Bei diesem Beginnen hafte er seine ganzen Überzeugungen
eingebüllt: so glaubte er wenigstens. Mit sechzehn Jahren hörte
er auf zu beten und in die Kirche zu gehen. Aber sein
Glaube war nicht tot. er glimmte nur im Verborgenen weiter:
„Trotzdem glaubte ich an etwas. An was? Das könnte
ich nicht sagen. Ich glaubte noch an Goft, oder vielmehr. ıch
leugnete ihn nicht. Aber was für einen Got? Das wußte ich
nicht. Ich leugnete auch Christus und seine Lehre nicht. aber
worin diese Lehre bestand. häfte ich nicht sagen können.
Für Augenblicke träumte er davon, Gutes zu tun. Er
wollte seinen Wagen verkaufen, den Erlös den Armen geben.
ihnen den Zehnten seines Vermögens opfern. sich ohne Dienst-
Das Leben Tolstois 921
boten behelfen... »denn es sınd Menschen wie iche. Er schrieb
während seiner Krankheit Lebensregeln. nieder. Darin weist
er naiv auf die Pflicht hin. -alles zu studieren und alles zu
ergründen: Rechtslehre. Medizin. Sprachen. Landwirtschaft,
Geschichte, Geographie. Mathematik, den höchsten Grad der
Vollendung in der Musik und in der Malerei zu erreichen«
usw. Er hafte »dıe Überzeugung. daß das Schicksal des Menschen
ın seiner unablässıgen Vervollkommnung liege..
Aber von seinen Jünglingsleidenschaften, von ungestümer
Sinnlichkeit und grenzenloser Eigenliebe getrieben. irrte dieser
Glaube an die Vollkommenheit unvermerkt ab. verlor seinen
selbstlosen Charakter und wurde praktisch und materiell. Wenn
er seinen Willen. seinen Körper und seinen Geist vervoll-
kommnen wollte, so geschah es nur, um die Welt zu besiegen
und Liebe einzuflößen. Er wollte gefallen.
Das war nicht leicht. Er war damals von affenartiger
Häflichkeit: ein rohes, langes und derbes Gesicht, kurze, tief
in die Stirn gewachsene Haare, kleine Augen, die einen aus
dunklen Höhlen hart anblitzten. eine breite Nase, aufgeworfene
Lippen und riesige Ohren. Da er sich über diese Häflıchkeit.
die ihn schon als Kind beinahe zur Verzweiflung gebracht
batte. nicht täuschen konnte, gedachte er das Ideal eines
erstklassigen Menschen- zu verwirklichen. Um es wie die
anderen erstklassigen Menschen. zu machen, ließ er sich durch
dieses Ideal zum Spiel. zum unsinnigen Schuldenmachen, zur
vollkommnen Ausschweifung verführen.
Etwas rettete ihn immer wieder: seine unbedingte Aufrichtigkeit.
Weißt du. warum ich dich lieber habe als all die
andern ?« sagte Nekludow zu seinem Freund. »Du hast
eine erstaunliche und seltene Eigenschaft: die Offenheit.
„Ja. ich sage immer Dinge. die ich mir vor Scham kaum
selbst eingestehe.«
Bei seinen schlimmsten Verirrungen urteilt er über sich
mit schonungslosem Scharfblick.
Romain Rolland
»Ich lebe geradezu tierische, schreibt er in sein Tagebuch.
ieh bin völlig nıedergedrückt.«
Und bei seiner Sucht zu analysieren. zeichnet er bis aufs
kleinste die Ursachen seiner Irrungen auf:
1. Unentschlossenheit oder Mangel an Tatkraft.
. Selbstbetrug.
. Unbesonnenheit.
. Falsche Scham.
Schlechte Laune.
. Unordnung.
. Nachahmungssucht.
Wankelmut.
9, Unüberlegtheit.
Mit derselben Freiheit des Urteils bekriſtelt er noch als
Student die gesellschaftlichen Sitten und die Verbohrtheiten
der Intellektuellen. Er macht sich über die Universitäts-
wissenschaft lustig. weist ganz ernsthaft die historischen Studien
` zurück und läßt sich für die Kühnheit seiner Anschauungen
in Haft nehmen. In dieser Zeit entdeckt er Rousseau, - die
Bekenntnisse. den »Emil«.. Das trifft ihn wie ein Donnerschlag.
sIch trieb Kultus mit ihm. Ich trug sein Konterfei im
Medaillon um den Hals wie ein Heiligenbild.
Seine ersten philosophischen Versuche eind Erläuterungen
zu Rousseau (1846 — 1847).
Aber er wird der Universität und der - erstklassigen
Menschen, so überdrüssig, daß er nach Jasnaja Poljana zurück-
kehrt und sich in seine Felder vergräbt (1847 bis 1851):
er nimmt wieder Fühlung mit dem Volk und will ihm helfen.
will sein Wohltäter und Erzieher sein. Seine Erfahrungen
aus jener Zeit verwertet er in einem seiner ersten Werke.
im Morgen des Gutsherrne (1852), einer bemerkenswerten
Novelle. deren Held der Prinz Nekludow ist. hinter welchem
Decknamen sich Tolstoi mit Vorliebe verbirgt.
O K BD N
Das Leben Tolstois 923
— ie e a —— N DI no
Nekludow ist 20 Jahre alt. Er hat das Universitäts-
studium aufgegeben, um sich seinen Bauern zu widmen. Ein
Jahr lang arbeitet er daran, ıhnen Gutes zu tun, und wir
sehen ihn, wie er sich bei einem Besuch im Dorf von der
spöttischen Gleichgültigkeit. dem einge wurzelten Miftrauen, der
Gerissenheit, dem Leichtsinn, dem Laster und der Undank-
barkeit zurückgestoßen fühlt. Alle seine Bemühungen sind
vergeblich. Er kehrt entmutigt zurück und sinnt über seine
Träume nach, die er vor einem Jahr hatte. über seine edel-
mütige Begeisterung. ⸗seine damalige Überzeugung, daß die
Liebe und das Gutsein Glück und Wahrheit bedeuteten, das
einzig mögliche Glück und die einzig mögliche Wahrheit auf
dieser Welt.. Er kommt sich besiegt vor, ist voll Scham
und Überdruf.
»Als er am Klavier saß. berührten seine Finger unbewufßt
die Tasten. Ein Akkord stieg auf. dann ein zweiter. ein
dritter .. er begann zu spielen. Die Akkorde waren nicht
ganz gleichmäßig: oft waren sie gwöhnlich bis zur Banalität
und verrieten keinerlei musikalische Begabung. Aber er fand
dabei ein unerklärbares, trauriges Vergnügen. Bei jedem Har-
monie wechsel erwartete er mit Herzklopfen den nächsten
Akkord. und was diesem fehlte, ergänzte er ungefähr mit
seiner Phantasie. Er hörte den Chor, das Orchester.. Und
das größte Vergnügen bereitete ihm seine lebhafte Phantasie,
die ıhn ohne Schranken, aber mıt bewundernswerter Klarheit
die verschiedenartigsten Bilder und Begebenheiten aus Ver-
gangenheit und Zukunft vorspiegelte — 2
Er sieht die liederlichen, mißtrauischen, lügenhaften, faulen
und dickfälligen Muschiks wieder. mit denen er kurz vorher
gesprochen hafte. Aber diesmal sieht er sie mit all ihren guten
Eigenschaften, nicht mehr mit ihren Lastern; er führt sich mit
Liebe in ihre Herzen ein: er entdeckt in ihnen Geduld und
Ergebung in ihr er drückendes Sckicksal, Versöhnlichkeit gegen
erliſtenen Schimpf. Liebe zu ihren Anverwandten, und er
29
924 Romain Rolland
sieht ein, warum sie aus Gewohnheit und Frömmigkeit am
Vergangenen hängen. Er sieht ihre Tage, die nutzbringender.
gesunder und ermüdender Arbeit gewidmet sind, mit anderen
Augen an...
Wie schön.« murmelt er. »W arum bin ich nicht einer der ihren ?«
Der ganze Tolstoi steckt schon in dem Helden dieser ersten
Novelle. mit seinem klaren Schauen einerseits und seinen nie
schwindenden Illusionen auf der anderen Seite. Er beobachtet
die Menschen mit unbeirrbarem Wirklichkeitssinn, doch schließt
er nur. die Augen, so schlagen ihn seine Träume und seine
Liebe zu den Menschen wieder ın Bann.
Aber der Tolstoi von 1850 ist weniger geduldig als
Nekludow. Jasnaja hat ihn enttäuscht, er ist des Volkes so
müde wie der Vornehmen; seine Rolle bedrückt ihn: es liegt
ihm nichts mehr an ihr. Außerdem drängen ıhn seine Gläubiger.
1851 flieht er in den Kaukasus zur Armee, bei der sein
Bruder Nikolaus Offizier ist.
Kaum ist er dort, so findet er in der heiteren Gebirge-
landschaft seine Fassung und seinen Goſt wieder:
„Vergangene Nacht habe ich wenig geschlafen .. Ich habe
zu Gott gebetet. Es ist mir unmöglich. die Süßigkeit des Ge-
fühls zu beschreiben, die ich beim Beten empfand. Ich habe
die üblichen Gebete gesprochen und dann noch lange weiter
gebetet. Ich wünschte etwas sehr Gewaltiges. etwas sehr
Schönes... Was? Das kann ich nicht sagen. Ich wollte auf-
gehen ın dem Ewigen, ich bat ihn, mir meine Fehler zu ver-
zeihen.... Aber nein, ich bat nicht. ich fühlte, daß er
mır schon vergab, da er mich diesen glückseligen Augenblick
erleben liel. Ich betete. und gleichzeitig fühlte ich, daß ich
nichts zu sagen hafte, dab ich nicht beten konnte, daß ich
nicht zu beten wagte... Ich habe ihm nicht in Worten ge-
dankt. ich dankte ihm im Fühlen. . Kaum eine Stunde war
vorüber, da hörte ich schon wieder die Stimme des Lasters.
Ich War eingeschlafen und träumte von Ruhm und von Frauen:
— — — ——— —— BES:
Das Leben Tolstois _ | 925
das war also stärker als ich. — Was lag daran! Ich danke
Gott für diesen Augenblick der Glückseligkeit, und daß er
mir meine Kleinheit und meine Größe gezeigt hat. Ich will
beten, aber ich kann nicht; ich will begreifen. aber ich wage
es nicht. Ich beuge mich deinem Willen!
Das Fleisch war nicht besiegt (das wurde es nie): der
Kampf zwischen den Leidenschaften und Gott vollzog eich
im geheimsten Herzen. Tolstoi vermerkt in seinem Tagebuch
die drei Teufel, die ihn martern: 1. Spiel wut: ein aussichts-
reicher Kampf. 2. Sinnlichkeit: ein sehr schwieriger Kampf.
3. Eitelkeit: der schrecklichste von den dreien.
Im selben Augenblick, in dem er davon träumte. für die
andern zu leben und sich zu opfern. übermannten ihn wol-
lüstige oder leichtfertige Vorstellungen: das Bild irgendeiner
Kosakenfrau oder die Verzweiflung, die ihn ergriffe, wenn
die linke Schnurrbartspitze mehr in die Höhe stände als die
rechte. — Was lag daran!]. Gott war da und verließ ihn
nicht mehr. Die Hitze des Kampfes selbst wirkte befruchtend,
alle Kräfte des Lebens wurden dadurch gesteigert.
Ich denke, daß die leichtfertige Uberlegung. die mich zur
Reise in den Kaukasus veranlaßte. mir von oben eingegeben
wurde. Die Hand Gottes hat mich geleitet. Ich werde ihm
stets dankbar dafür sein. Ich fühle, daß ich hier besser ge-
worden bin, und bin fest überzeugt, daß alles. was mir auch
zustoſlen mag. nur zu meinem Besten ausschlagen wird. da ja
Gott selbst es gewollt hat
Das ist die Dankeshymne der Erde im Frühling. Sie be-
deckt sich mit Blumen. Alles ist gut. alles ist schön. Im
Jahre 1852 treibt der Genius Tolstoi seine ersten Blüten:
»Die Kindheit. -Der Morgen des Gutsherrn«, -Ein Überfall«.
«Die Knabenjahree: und er dankt dem Lebensgeist. der ihn
befruchtet hat.
Die Geschichte meiner Kindheit. wurde im Herbst 1851
m Tiflis begonnen und am 2. Juli 1852 in Piatigorsk im
926 Romain Rolland
ͤ— ——ẽꝗ—jää nn en — —
Kaukasus beendet. Es ist seltsam. daß Tolstoi im Rahmen
dieser Natur. die ihn berauschte, inmiſten dieses neuen Lebens
und der aufregenden Kriegsgefahr, während er eine Welt von
ihm bis dahin unbekannten Charakteren und Leidenschaften
entdeckte. in jenem ersten Werk auf die Erinnerungen an sein
verflossenes Leben zurückgreift. Aber als er die Kindheit.
schrieb, war er krank, seine militärische Tätigkeit war jäh
unterbrochen worden: und während der langen Genesungszeit
befand er sich, da er allein war und Schmerzen hatte. in
rührseliger Stimmung, ın der sıch die Vergangenheit vor seinen
Augen abrollte. Nach der erschöpfenden Anspannung der mil-
lichen letzten Jahre war es ıhm angenehm. die Wunderbare.
unschuldsvolle, poetische und fröhliche Zeite des Kindesalters
wieder zu erleben und wieder -ein gutes. weiches und liebe-
fähıges Kinderherz zu bekommen. Bei dem Ungestüm seiner
Jugend. der Fülle von Plänen, seiner dichterischen Erfindungs-
gabe, die zu epischer Breite neigte und sıch daher selten mıt
einem einzelnen Vorwurf befaßte, für die die großen Romane
vielmehr nur Glieder einer langen historischen Kette waren,
Bruchstücke eines unermeßlichen Ganzen, das nie zu Ende
geführt werden konnte, sah Tolstoi im übrigen zu diesem
Zeitpunkt in den Geschichten aus der Kindheit nur
die ersten Kapitel einer »Geschichte von vier Epochen« die
auch sein Leben im Kaukasus einbegreifen und zweifellos mit
der Offenbarung Gottes durch die Natur ihren Abschluß
finden sollte.
Tolstoi ist später mit seinen Geschichten aus der - Kindheit.
denen er einen großen Teil seiner Volkstümlichkeit verdankt,
sehr streng ins Gericht gegangen.
Sie sind so schlecht. sagte er zu Birukow. »sie sind mit
so geringer literarischer Ehrlichkeit geschrieben ... Es ist nicht
aus ihnen herauszuholen..
Er stand mit dieser Ansicht allein. Das Werk, das er
als anonymes Manuskript an die große russische Zeitschrift
Das Leben Tolstois u 927
»Sowremennik«e (Der Zeitgenosse) geschickt hafte. wurde sofort
veröffentlicht (am 6. September 1852) und hafte einen Riesen-
erfolg, der von allen europäischen Lesern bestätigt wurde.
Indessen versteht man, daß es trotz seines dichterischen Reizes.
seines vornehmen Stiles und seines Feingefühls dem späteren
Tolstoi mißfallen hat.
Es hat ihm aus denselben Gründen mißfallen, aus denen
es den anderen gefiel. Man muß zugeben: abgesehen von der
Erwähnung gewisser lokaler Typen und einigen wenigen Seiten,
die durch das religiöse Empfinden oder durch die Echtheit
des Gefühls auffallen. ıst noch herzlich wenig von der
Persönlichkeit Tolstois darin zu merken. Eine sanfte, weiche
Empfindsamkeit. die ibm später immer unsympathisch war, und
die er aus seinen anderen Romanen verbannte, herrscht vor.
Wir kennen sie, diese Mischung von Humor und Rührseligkeit;
sie stammt von Dickens her. Bei der Aufzählung seiner
Lieblingsbücher zwischen 14 und 21 Jahren tragt Tolstoi in
sein Tagebuch ein: »Dickens: David Copperheld. Bedeutender
Einfluſ. Im Kaukasus liest er den Band noch einmal.
Zwei weitere Einflüsse verzeichnet er selbst: Sterne und
Toepffer. Ich war damals von ihnen begeistert · sagte er.
Wer sollte glauben, daß die Genfer Novellene für den
Dichter von Krieg und Friedens das erste Vorbild waren?
Und doch braucht man es nur zu wissen. so findet man schon
in den Geschichten aus der »Kindheite ihre gutmütige und
spo@lustige Biederkeit wieder, die hier nur in eine vornehmere
Natur verpflanzt ist. So war Tolstoi schon durch seine ersten
Werke eine bekannte Persönlichkeit geworden. Aber seine
Eigenart mußte sich noch befestigen. Das dauerte nicht lange.
Die Jugend. (1853). die weniger rein und weniger abgerundet
ist als die Kindheit, deutet auf selbständigere psychologische
Beobachtung. auf ein sehr lebendiges Naturgefühl und ein so
zerquältes Herz hin. wie sie Dickens und Toepffer wohl kaum
batten. In dem »Morgen des Gutsherrn« (Oktober 1852)
928 Romain Rolland
erscheint der Charakter Tolstois fertig entwickelt mit seiner
unerschrockenen Beobachtungstreue und seinem Glauben an
Liebe. Unter den bemerkenswerten Bauernporträts, die er in
dieser Novelle zeichnet, findet sich schon die Skizze zu einer
seiner schönsten Figuren aus seinen »Volkserzählungene: Der
Alte mit dem Bienenstock. der kleine Alte unter der Birke.
wie er die Hände ausbreitet und die Augen in die. Höhe
richtet: rings um ihn ein Schwarm golden schimmernder Bienen.
die ihn umschwirren. ohne ihn zu stechen, und einen Kranz
um seinen in der Sonne leuchtenden kahlen Schädel bilden.
Aber die typischen Werke jener Zeit sind die, die seine
augenblicklichen Gefühle unmittelbar wiedergeben: Die
Geschichten aus dem Kaukasus. Die erste, »Der Überfall. (am
24. Dezember. 1852 beendet) erweckt durch die Pracht der
Landschaftsbilder Bewunderung: Ein Sonnenaufgang in den
Bergen am Ufer eines Flusses: ein merkwürdiges Gemälde,
das die Schaften und die Geräusche der Nacht mit packender
Eindringlichkeit wiedergibt; und die Heimkehr am Abend, da
in der Ferne die schneebedeckten Gipfel im blauen Nebel
verschwinden und die schönen Stimmen der singenden Soldaten
aufsteigen und in der dünnen Luft verwehen. Mehrere Ge-
stalten aus Krieg und Frieden · erproben hier schon ihre
Lebens fähigkeit: der Hauptmann Khlopow, der wahre Held,
der sich nicht zum Vergnügen schlägt. sondern weil es seine
Pflicht ist. seines jener einfachen, ruhigen russischen Ge-
seichter. denen man froh und gerne gerade in die Augen
schaute Schwerfällig. linkisch. ein bißchen lächerlich. un-
empfindlich gegen seine Umgebung ist er der einzige. der sich
in der Schlacht gleichbleibt. während alle anderen sich ändern :
ser ist genau 80 wie immer: dieselben ruhigen Bewegungen.
dieselbe gleichmäßige Stimme, derselbe einfache Ausdruck in
seinem naiven derben Gesicht.. Neben ihm der Leutnant, der
die Rolle eines Lermontowschen Helden spielt und der, obwohl
er ın Wirklichkeit der gutmütigste Kerl ist. tut, als ob die
Das Leben Tolstois 929
wildesten Gefühle ihn beherrschten. Und dann der arme,
kleine Unterleutnant. ganz begeistert in der Aussicht auf sein
erstes Gefecht,- überströomend von Zärtlichkeit, bereit. jedem
um den Hals zu fallen. bewundernswert und lächerlich zu-
gleich, der aich wie Petia Rostow stumpfsinnig töten läßt. In
der Mitte des Bildes die Gestalt Tolstois, der beobachtet.
ohne sich in die Gedanken seiner Gefährten einzumengen und
der schon hier seinen Protestschrei gegen den Krieg erklingen läße:
»Können die Menschen denn ın dieser so schönen Welt,
unter dem unermeßlichen Sternenhimmel nicht zufrieden leben?
Wie können sie hier ihre Zerstörungswut, ihre Gefühle der
Bosheit und der Rache gegen ıhren Nächsten aufrecht er-
halten? In der Berührung mit der Natur, in der das Schöne
und Gute am unmiftelbarsten zum Ausdruck kommt. sollte
alles Schlechte aus dem Menschenberzen verschwinden.
Andere aus jener Zeit stammende Geschichten aus dem
Kaukasus sind erst später zu Papier gebracht worden:
1854—1855 »Der Holzschlags, von peinlichster Naturtreue,
ein wenig kalt, aber voll merkwürdiger Aufschlüsse über die
Seele des russischen Soldaten, — Aufzeichnungen für die Zu-
kunft; — 1856, eine »Begegnung im Feldee mit einem Mos-
kauer Bekannten, einem verkommenen Lebemann und degra-
dierten Unteroffizier. einem feigen. versoffenen Lügner. der
es nicht vermag, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dal er
ebensogut getötet werden könne wie einer seiner Soldaten. die
er verachtet und von denen der geringste hundertmal mehr
wert ıst als er.
Über all diese Werke erhebt sich als höchster Gipfel
dieser ersten Gebirgskette einer der schönsten lyrischen Ro-
mane, die Tolstoi geschrieben hat, der Sang seiner Jugend, das
Gedicht vom Kaukasus, Die Kosaken Die Pracht der
schneebedeckten Berge, deren edle Linien sich von dem strah-
lenden Himmel abheben, erfüllt das ganze Buch mit ıhrer
Musik. Und das Werk ist einzig durch das höchste, was
930 Romain Rolland
nn m
dem Genie gegeben ist, »den allmächtigen Gof der Jugend,
wie Tolstoi sagt, jenen Schwung. der nie wiederkehrt . Ein
Bergstrom im Frühling! Eine Fülle von Liebe!
„Ich liebe. ich liebe so innig! .... Ihr Tapfern! Ihr
Guten! .. wiederholte er und wollte weinen. Warum?
Wer war tapfer? Wen liebte er? Er wußte es nicht recht.
Dieser Rausch des Herzens dauert ungebändigt fort. Der
Held Oleninn ist wie Tolstoi in den Kaukasus gekommen.
um dort aus dem Abenteurerleben frische Kräfte zu schöpfen:
er verliebt sich in eine junge Kosakin und verliert aich in
dem Chaos seiner widersprechenden Hoffnungen. Bald glaubt
er, daß »für andere leben, sich aufopfern. Glück bedeutete,
bald, daß sich opfern nur Dummheit iste: dann möchte er
fast mit dem alten Kosaken Eroschka glauben: Alles hat
seine Berechtigung. Goft hat alles zur Freude des Menschen
erschaffen. Nichts ist Sünde. Sich mit einem hübschen Mädel
belustigen. ist keine Sünde, ist ewige Seligkeit« Aber was
braucht er denn nachzudenken? Es genügt zu leben. Das Leben
ist lauter Güte, lauter Glück, das allmächtige Leben, das all-
umfassende Leben: das Leben ist Gof. Ein glühender Natu-
ralismus bäumt sich auf und zerreißt ihm das Herz. Allein
im Wald, »smiften unter wildwachsenden Pflanzen, einer Menge
von Tieren. Vögeln und Mückenschwärmen, in dem schaſtigen
Grün. der dufterfüllten, heißen Luft. zwischen kleinen, trüben
Rinnsalen, die allenthalben unter dem Laub dahınplätschern.«
wenige Schritte von den Fallstricken des Feindes entfernt wird
Oleninn plötzlich von einem solchen grundlosen Glücksgefühl
erfaßt, daß er. wie er es als Kind gewöhnt war, das Kreuz
schlägt und irgend jemand danken möchte. Wie ein indischer
Fakir findet er Genuß darin. sich zu sagen, daß er alleın und
verlassen in diesem Strudel des Lebens ist, das ihn aufsaugt.
daß Myriaden unsichtbarer Wesen. die überall versteckt sind,
in diesem Augenblick seinen Tod bedauern, dal jene Tausende
von ihn umschwirrenden Insekten, einander zurufen:
Das Leben Tolstoie 931
nn —ä—FàH
„Hierher. hierher, Kameraden! Hier ist einer zu stechen! -
Und es war ihm klar, daß er hier kein russischer Herr
aus der Moskauer Gesellschaft. der Freund und Verwandte
von dem und jenem war. sondern einfach ein Wesen wie die
Mücke, der Fasan, der Hirsch, wie alle Lebewesen. die ihn
jetzt umschlichen.
„Wie sie werde ich leben und sterben. Und Gras wird
darüber wachsen
Und sein Herz ist voll Freude.
Tolstoi lebt in jener Zeit in einem Rausch von Kraft und
Liebe zum Leben. Er umfaßt die Natur und geht in ihr auf.
Ihr vertraut er seine Schmerzen. seine Freude und seine Liebes-
gefühle an. Aber dieser romantische Rausch tut niemals der
Klarheit seines Blickes Abbruch. Nirgends mehr sind die
Landschaften mit einem solchen Können und die Gestalten
mit mehr Wahrhaftigkeit gezeichnet als in dieser glühenden
Dichtung. Der Widerspruch zwischen Natur und Welt. der
den Kern des Buches ausmacht und der Tolstois ganzes Leben
lang ein Lieblingsgegenstand seiner Gedanken sein sollte, eın
Artikel seines Glaubensbekenntnisses, läßt ihn schon hier, um
das Komödienhafte der Welt zu geißeln, einige der herben
Töne der »Kreuzersonatee anschlagen. Aber er ist nicht
weniger schonungslos gegen die, die er liebt; und die Natur-
wesen, die schöne Kosakin und ihre Freunde sind in grellstem
Licht gesehen mit ıhrer Selbstsucht, ihrer Habgier. ihrer
Schurkerei und allen ihren Lastern.
Eine außergewöhnliche Gelegenheit sollte eich ihm bieten,
diese heldenhafte Wahrheitsliebe auf die Probe zu stellen.
Im November 1853 war der Türkei der Krieg erklärt
worden. Tolstoi ließ sich der rumänischen Armee zuteilen,
ging dann zur Krimarmee über und traf am 7. November
1854 in Sewastopol ein. Er glühte vor Begeisterung und
Vaterlandsliebe. Er tat wacker seine Pflicht und war oft ın
Gefahr, besonders von April bs Mai 1855. wo er einen
932 Romain Rolland
über den anderen Tag Dienst bei der Batterie der 4. Bastei hafe.
— Da er monatelang ein Leben in beständiger Aufregung und
Angst, Aug in Aug mit dem Tode führte, belebte sich sein
religiöser Mystizismus wieder von neuem. Er führt Gespräche
mit Gott. Im April 1855 verzeichnet er in seinem Tagebuch
ein Gebet zu Gott. in dem er ihm für seinen Schutz in der
Gefahr dankt und ihn anfleht, ihn weiter zu beschützen, um
das ewige glorreiche Ziel des Seins, das ich noch nicht kenne.
aber schon ahne. zu erreichen. Dieses Ziel seines Lebens war
keineswegs die Kunst, es war schon jetzt die Religion. Am
5. März 1855 schrieb er:
„Ich war einer großen Idee nähergekommen, deren Ver-
wirklichung ıch meın ganzes Leben opfern wollte. Diese Idee
ist dıe Gründung einer neuen Religion, der Religion Christi,
aber von Glaubenssätzen und Wundern befreit... In klarem
Bewußtsein handeln, um die Menschen durch dıe Religion zu
einen.
Das sollte das Programm seines Alters sein.
Um sich indessen von den ihn umgebenden Eindrücken
abzulenken. machte er sich wieder ans Schreiben. aber wie
hätte er die nötige geistige Freiheit finden sollen, um im
Schrapnellhagel den dritten Teil seiner Erinnerungen aus der
„Jugend zu verfassen?, Das Buch ist verworren und man kann
sein Durcheinander und an manchen Stellen eine gewisse ab-
strakte analysierende Trockenheit mit Abteilungen und Unter-
abteilungen in der Manier Stendhals den Bedingungen. unter
denen es entstand, zuschreiben. Aber man muß die ruhige
Durchdringung der zahllosen wirren Gedanken und Träume
bewundern, die sich in dem jungen Hirn zusammendrängen.
Tolstoi ist in diesem Werk von seltener Aufrichtigkeit gegen
sıch selbst. Und von welcher poetischen Frische ist er zuweilen,
z. B. in dem reizenden Bild vom Frühling ın der Stadt, in
der Erzählung von der Beichte und vom eiligen Gang ins Kloster
wegen der vergessenen Sünde.
Das Leben Tolstois 933
Ein leidenschaftlicher Pantheismus gibt gewissen Seiten des
Buches eine lyrische Schönheit, deren Ton an die »Erzählungen aus
dem Kaukasus erinnerte. So die Beschreibung jener Sommernacht:
»Der ruhige Glanz des leuchtenden Halbmonds. Der
schillernde Teich. Die alten Birken, deren langsträhnige Zweige
auf der einen Seite im Mondlicht silbern schimmerten und auf
der andern Seite Busch und Weg mit schwarzen Schaften
zudeckten. Hinter dem Teich der Ruf der Wachtel. Das
kaum hörbare Geräusch zweier alter Bäume, die sich aneın-
anderscheuern. Das Summen der Mücken und das Herabfallen
eines Apfels auf trockene Blätter. Frösche, die bis an die
Stufen der Terrasse hüpfen und deren grünliche Rücken ım
Mondstrahl schillern .. . Der Mond steigt höher, schwebt
im klaren Himmel und erfüllt den Raum: der wunderbare
Glanz des Teiches wird noch strahlender, die Schaften noch
schwärzer, das Licht noch heller... Doch ich armseliger
Erdenwurm, der ıch schon von allen menschlichen Leiden-
schaften beschmutzt, aber erfüllt von der ganzen unendlichen
Macht der Liebe war, ıch hafte ın diesem Augenblick das
Gefühl, als ob die Natur. der Mond und ich eines seien.“
Aber die Wirklichkeit der Gegenwart sprach lauter als
die Träume der Vergangenheit: sie verschaffte sich gebieterisch
Gehör. Die - Jugend- blieb unvollendet und der Stabshauptmann
Graf Leo Tolstoi beobachtete in der Panzerung seiner Bastei
im Kanonendonner, inmitten seiner Kompagnie. die Lebenden
und die Sterbenden und zeichnete ihre Ängste und seine
eigenen in seinen unvergeßlichen Erzählungen Sewastopol auf.
Diese drei Erzählungen — Sewastopol im September 1854,
Sewastopol i im Mai 1855 und Sewastopol i im August 1855.
— werden gewöhnlich i in einen Topf geworfen. Sie sind in-
dessen sehr verschieden voneinander. Besonders die zweite Er-
zahlung unterscheidet sich in der Empfindung und im Stil von
den beiden anderen. Diese sind vom Patriotismus beherrscht:
über der zweiten schwebt unerbiftliche Wahrheit.
934 Romain Rolland
Man erzählt, daß dıe Zarın nach der Lektüre der ersten
Geschichte weinte und daß der Zar in seiner Bewunderung
befahl, man solle diese Seiten ins Französische übersetzen und
den Verfasser an einen ungefährlichen Platz stellen. Man ver-
steht das leicht. Alles verherrlicht hier das Vaterland und den
Krieg. Tolstoi ist gerade erst hingekommen, seine Begeisterung
ist vollkommen; er schwimmt im Heroismus. Er bemerkt bei
den Verteidigern von Sewastopol weder Ehrgeiz noch Eigen-
liebe noch sonst irgend ein niedriges Gefühl. Für ihn ist das
Ganze ein Heldengedicht, dessen Heroen »Griechenlands würdıg«
sind. Andererseits legen diese Aufzeichnungen keinerlei Zeugnis
ab von einem Streben nach Erfindung oder von dem Versuch,
objektiv zu schildern: der Verfasser spaziert durch die Stadt:
er sieht sehr klar, erzählt aber alles in unfreier Form: Man
sieht... man tri ein, man bemerkt... .« Es ist eine bessere
Berichterstaftung mit schönen Natureindrücken.
Ganz anders ist die zweite Szene: Sewastopol im Mai
1855. Schon in den ersten Zeilen liest man: Tausende mensch-
licher Eitelkeiten sind hier aufeinander gestoßen oder haben
im Tod Ruhe gefunden
Und dann:
. und da es viel Menschen gab, gab es viel Faelle
Eitelkeit Eitelkeit, überall Eitelkeit, selbst an der Pforte des
Grabes. Es ist die unserm Jahrhundert eigentümliche Krankheit...
Warum sprechen Homer und Shakespeare von Liebe, Ruhm
und Leid und warum ist die Literatur unseres Jahrhunderts
nichts als die endlose Geschichte der Eitlen und der Snobs?.
Die Erzählung, die nicht mehr ein einfacher Bericht des
Autors ist, sondern die die Menschen und ihre Leidenschaften
unmittelbar auftreten läßt. zeigt, was sich hinter dem Heldentum
verbirgt. Der klare, unbeirrbare Blick Tolstois dringt bis in
die Tiefen der Herzen seiner Waffenbrüder: in ihnen liest
er, wie in sich selbst, Hochmut und Furcht, das Narrenspiel
der Welt, das noch drei Schritt vorm Tode weitergespielt
Das Leben Tolstois | 935
wird. Besonders die Furcht wird eingestanden, ihrer Schleier
beraubt und ganz nackt gezeigt. Diese unaufhörlichen Angst-
zustände, dieser quälende Gedanke an den Tod werden ohne
Scham und Mitleid mit fürchterlicher Offenheit aufgedeckt.
In Sewastopol hat Tolstoi alle Sentimentalität verlernt. jenes
unklare. weibische. weinerliche Mitleid.. wie er mit Gering-
schätzung sagt. Und niemals hat sein Talent zur Analysierung.
das man sich ‚schon während seiner Jünglingsjahre triebhaft
entwickeln sah und das manchmal einen geradezu krankhaften
Charakter annehmen sollte. eine bis zur Halluzination verschärfte
Intensität erlangt. wie bei der Erzählung vom Tode Praslchulchins.
Dort sind zwei volle Seiten der Beschreibung dessen gewidmet.
was sich in der Seele des Unglücklichen abspielt. während der
Sekunde. da die Bombe eingeschlagen ist und zischt. ehe sie
explodiert. — und eine Seite schildert, was sich in ihm abspielt.
nachdem sie explodiert ist und -er auf der Stelle durch einen
Treffer in die Brust getötet worden iste Wie Zwischen-
aktmusık miea im Drama öffnen sich in diese Schlachten-
bilder weite Liehtungen, Sonnenstrahlen. die Symphonie des
Tages, der über dem wundervollen Gelände anbricht und wo
Tausende von Männern mit dem Tode ringen. Und der Christ
Tolstoi vergibt den Patriotismus seiner ersten Erzählung und
flucht dem ruchlosen Krieg:
„Und diese Menschen. Christen. die alle dasselbe ri
Gesetz der Liebe ‚und des Opferns bekennen. fallen beim
Anblick ihrer Tat nicht reuig auf die Knie vor dem. der.
da er ihnen das Leben gab. in die Seele eines jeden neben
die Furcht vor dem Tode die Liebe zum Guten und Schönen
pflanztel Sie umarmen einander nicht wie Brüder mit Tränen
der Freude und des Glückes.
Im Augenblick, als Tolstoi diese Novelle beendet hat, die
herb ım Ton wie noch keines seiner Werke ist, fühlt er sich
von Zweifeln ergriffen. Hafte er unrecht, so zu reden!
936 __Romain Rolland / Das Leben Tolstois
Ein peinigender Zweifel ergriff mich. Vielleicht sollte
man das garnicht aussprechen. Vielleicht ist das. Was ich aus-
spreche, eine jener schlimmen Wahrheiten. wie sie unbewußt
in eines jeden Seele schlummern und die nicht zutage gefördert
werden dürfen, weil sie sonst schaden anrichten. wie man die
Hefe nicht bewegen soll. um den Wein nicht zu verderben.
Wo ist das Schlechte, das man vermeiden soll. wo das Schöne.
das man nachahmen soll? Wer ist der Bösewicht und wer
ist der Held? Alle sind gut und alle sind schlecht.
Aber er findet sich stolz wieder:
Der Held meiner Novelle. den ich mit der ganzen Kraft
meines Herzens liebe. den ich in seiner ganzen Schönheit zu
zeigen versuche, der immer war, ist und sein wird, ist die
Wahrheit.
Nachdem der Direktor des Sowremennik. Nekrasow. diese
Seiten gelesen hatte. schrieb er an Tolstoi:
Gerade das braucht die russische Gesellschaft von heute:
die Wahrheit, die Wahrheit. von der seit Gogols Tod
so wenig in der russischen Literatur übriggeblieben ist...
Jene Wahrheit. die Sie in unsere Kunst tragen, ist für uns
etwas ganz Neues. Ich fürchte nur eines: daß die Zeit und
die Niedertracht des Lebens. die Taubheit und Stummheit der
uns Umgebenden aus Ihnen macht, was sie aus den meisten
von uns gemacht haben. — daß sie in Ihnen die Energie
töten.«
Nichts derartiges war zu befürchten. Die Zeit. die die
Energie der Durchschniftsmenschen verbraucht. hat die Tolstois
nur gehärtet. Aber ım Augenblick weckten die schweren
Prüfungen des Vaterlandes, die Einnahme von Sewastopol. mit
einem Gefühl schmerzvoller Frömmigkeit aufs neue das Bedauern
über seine allzu erbarmungslose Offenheit.
Maxim Gorki / Rußland und die Weltliteratur 937
RUSSLAND UND DIE WELTLITERATUR
VON MAXIM GORKI
Maxim Gorki schrieb das folgende Vorwort zu dem
ersten Katalog des Verlages. der Weltliteratur, den er mit
Hilfe der bolschewistischen Regierung gegründet bat.
Alle seine Kräfte widmet Gorki — wie er mir in Perro-
grad sagte — gegenwärtig dem Aufbau dieses Verlages.
Ist es wirklich nötig, ein Wort über die Notwendigkeit
einer ernsthaften Beschäftigung mit der Literatur oder zum
mindesten ihrer genauen Kenntnis zu verlieren? Literatur
ist das Herz der Welt, beflügelt von allen Freuden und
Sorgen. Hoffnungen und Träumen der Menschen, ihrer
Verzweiflung und Wut. ihrer Ehrfurcht vor der Schönheit
der Natur, ihrem Schauder im Angesicht ihrer Mysterien.
Dieses Herz sehnt sıch heftig und in Ewigkeit nach Selbst-
erkenntnis, als ob in ihm all die Substanzen und Kräfte
der Natur, die den Menschen als höchsten Ausdruck ihrer
Vielfältigkeit und Weisheit geschaffen haben, danach strebten,
Sinn und Zweck des Lebens zu deuten.
Literatur kann außerdem das alles-schauende Auge der
Welt genannt werden, dessen Blick in die tiefsten Geheim-
nisse des menschlichen Geistes dringt. Das Buch — ein
so einfaches und uns allen bekanntes Ding —, ist tatsächlich
eins der größten und geheimnisvollsten Wunder der Welt.
Da hat jemand, den wir nicht kennen, der vielleicht in
einer uns unbegreiflichen Sprache redet. hunderte von Meilen
von uns entfernt, auf Papier verschiedenartige Zeichen-
Verbindungen hingemalt, die wir Buchstaben nennen und
wenn wir sie ansehen, wie Fremde, weit entfernt von dem
Schöpfer des Buches, so erfassen wir in geheimnisvollen
938 Maxim Gorki / Rußland
Weise den Sinn all dieser Worte. Gedanken. Gefühle.
Bilder: wir bewundern die Beschreibung der Natur. ent-
zücken uns an dem Rhythmus der Sprache, der Musik der
Worte. Indem wır gerührt, erregt, träumend, zuweilen auch
lachend diese bunt bedruckten Blätter lesen. erfassen wir
das Leben eines Geistes. der uns fremd oder verwandt
ist. Das Buch ist vielleicht das komplizierteste und er-
staunlichste all der Wunder. die der Mensch geschaffen
hat auf seinem Weg zur Glückseligkeit und Bezwingung
der Zukunft.
Es gibt noch keine Universal-Literatur, denn wir haben
noch keine gemeinsame Sprache, aber jede literarische
Schöptung in Vers und Prosa ist durchtränkt von der
Einheit der Gefühle, Gedanken, Ideale. die allen Menschen
gemeinsam sind, von der Einheit des heiligen Strebens des
Menschen nach dem Glück geistiger Unabhängigkeit. von
der Einheit des menschlichen Widerwillens gegenüber den
Niederträchtigkeiten des Lebens, von der Einheit seiner Hoff-
nungen auf Verwirklichung besserer Lebensbedingungen und
von dem universellen Durst nach etwas. das in Worten
oder Gedanken kaum zu umschreiben ist. kium darch das
Gefühl begriffen werden kann, dies geheimnisvolle Etwas.
dem wir die mafte Bezeichnung »Schönheite verleihen und
das sich zu immer hellerer, immer prächtigerer Blüte in
der Welt. in unseren eigenen Herzen entfaltet.
Was auch immer die inneren Verschiedenheiten der
Nationen. Rassen. Einzelnen sein mögen. wie sehr auch
die äußeren Formen der Staaten. der religiösen Auffassungen
und der Sitten voneinander abweichen. wie unüberbrückbar
der Klassenunterschied ist — über all diesen Abgründen.
die wir selbst in jahrhundertelanger Arbeit geschaffen haben.
dunkelt das schwarze und drohende Gespenst von der all-
gemeinen Erkenntnis aller Lebens- Tragik und das biftere
Wissen um die Einsamkeit des Menschen in der Welt.
ee —
und die Weltliteratur 5 339
Wir erheben uns aus dem Geheimnis der Geburt und
wir finden zurück in das Geheimnis des Todes. Gemein-
sam mit unserem Planeten wurden wir in den unendlichen
Raum geschleudert. Wir nennen ihn das Universum. aber
wir haben keine genaue Vorstellung davon und unsere
Einsamkeit darin ist von solch unvergleichbar ironischer
Vollkommenbeit.
Die Einsamkeit des Menschen im Universum und auf
der Erde, die für viele - eine leider nicht einsame Wüste.
ist — auf Erden inmitten des quälendsten Widerspruches
von Hoffnungen und Wünschen — wird nur von wenigen
wirklich begriffen. Aber die schwache Ahnung davon ist
instinktmäßig wie ein schädliches Unkraut in jedem Menschen
eingepflanzt und sie vergiftet oft das Leben von Menschen.
die dem Anschein nach vollkommen immun sind gegen
dieses verzehrende Heimweh, daß in allen Zeiten und bei
allen Völkern gleich war. und das in derselben Weise
Byron, den Engländer, Leopardi, den Italiener, den Verfasser
des »Predigers Salomos und Lao-Te, den großen Weisen
Asiens gequält hat.
Diese Qual, von einem dumpfen Gefühl der Unsicher-
heit und Schicksalhaftigkeit des Lebens erzeugt. ist Hohen
und Niedrigen gemeinsam und gilt für jeden. der den
Mut hat. mit offenen Augen das Leben anzusehen. Und
sollte je eine Zeit kommen, da die Menschen diese Qual
überwunden und ın sich das Gefühl der Schicksalhaftigkeit
und Einsamkeit erstickt haben, dann werden sie diesen Sieg
nur auf geistigem Wege erreichen, nur durch die gemein-
samen Bestrebungen von Wissenschaft und Literatur.
Die Erde ist außer ihrer Hülle von Licht und Luft
umgeben, von einer Sphäre geistiger Schöpferkraft. von der
mannigfaltigen regenbogenfarbigen Ausströmung unserer Energie,
aus der alles, was ın Ewigkeit schön ıst, gewebt, gehämmert
oder geknetet ist: aus ihr sind geschaffen die mächtigen
30
940 i Maxim Gorki / Rußland
Ideen und die hinrelende Vielfältigkeit unserer Maschinen,
die überwältigenden Tempel und Tunnels, die die Felsen
großer Gebirge durchstoßen, die Bücher, Gemälde, Gedichte,
die Millionen Tonnen Eisen, die als Brücken über breite
Flüsse geschleudert sind und mit so wunderbarer Leichtigkeit
in der Luft schweben — all die ernste und zierliche.
all die erhabene und zärtliche Poesie unseres Lebens.
Durch den Sieg des Geistes und des Willens über
die Elemente der Natur und das Tier. im Menschen,
wodurch ımmer strahlende Funken der Hoffnung aus der
eisernen Mauer des Unbekannten geschlagen werden, können wır
Menschen mit berechtigtem Stolz von der planetarischen
Bedeutung der großartigen Anstrengung unseres Geistes
reden, dıe am strahlendsten und schönsten ın der literarischen
und wissenschaftlichen Schöpfung ausgeprägt ist. Die große
Bedeutung der Literatur besteht darin. daß sie unsere
Bewußtheit vertieft. unsere Erkenntnis des Lebens erweitert,
unserem Gefühl Form verleiht und uns eindringlich sagt:
Alle Ideale und alles Geschehen, die ganze geistige Welt
ist geschaffen durch Blut und Nerven der Menschen. Sıe
sagt uns, daß Hen- Toy. der Chinese. ebenso tödlich un-
befriedigt von Frauenliebe ist wie Don Juan, der Spanier;
daß der Abbessinier dieselben Lieder der Klage und der
Liebesfreude singt, wie der Franzose: daß das gleiche
Pathos herrscht ın der Liebe einer japanıschen Geisha und
Manon Lescauts: daß die Sehnsucht des Menschen, in der
Frau die andere Hälfte seiner Seele zu finden, mit gleicher
Flamme die Menschen aller Länder, aller Zeiten verzehrt
und verzehrt hat. |
Ein Mörder ist in Asien ebenso verwerflich wie in
Europa; der russische Geizkragen Plushkin ist ebenso er-
bärmlich. wie der französische Grandet, die Tantüffs aller
Länder ähneln einander, die Misanthropen sind überall
gleich elend, und jedermann ist stets entzückt von der er-
und die Weltliteratur — 941
greifenden Gestalt Don Quijotes. des Nitters vom Geist.
Und schließlich reden alle Menschen in allen Sprachen
immer von denselben Dingen, von sich und ihrem Schicksal.
Menschen mit niedrigen Instinkten sind überall gleich. die
Welt des Geistes allein ist unendlich vielfältig.
Mit unwiderstehlich überzeugender Klarheit gibt uns
die schöne Literatur diese ganze unendliche Gleichheit und
dauernde Vielfältigkeit wieder — Literatur. dieser lebendige
Spiegel des Lebens, der ın ruhiger Trauer oder ım Zorn
mit dem gütigen Lachen eines Dickens oder der fürchter-
lichen Miene eines Dostojewski all die Verwieldungen
unseres geistigen Lebens reflektiert; die ganze Welt unserer
Wünsche, die stehenden Sümpfe der Banalität und des
Wahnsinns. unserem Heroismus und unsere Feigheit gegen-
über dem Schicksal den Mut der Liebe und die Stärke
des Hasses. die Niedrigkeit unserer Heuchelei und die
Schändlichkeit unserer Lügen. unsere wıderwärtige Ver-
dummung und unseren endlosen Todeskampf. unsere er-
greifenden Hoffnungen und heiligen Bräuche — alles. wo-
durch die Welt lebt, alles, das an die Herzen der
Menschen stürmt. Indem die Literatur den Menschen mit
den Augen eines mitempfindenden Freundes, mit dem strengen
Blick eines Richters betrachtet, mit ıhm fühlt, mit ıhm
lacht, seinen Mut bewundert, seine Schwachheit verflucht —
erhebt sie sich über das Leben und erhellt gemeinsam mit
der Wissenschaft den Menschen den Pfad zur Erreichung
ihres Zieles. zur Entwicklung alles dessen. Was gut in
ihnen ist. — l
Es ist klar, daß die Literatur nicht völlig frei sein
kann von dem, was Turgenieff den Druek der Zeite
nannte. Es ist dies nur natürlich. denn -das Ubel besteht.
daß man dem Tag seinen Tribut zahlen muĝe und es
mag sein, daß das Übel des Tages öfter als es sollte.
den beiligen Geist der Schönheit und unser Suchen nach
942 Maxim Gorki / Rußland
ihren »Eingebungen und Gebeten« vergiftet. Diese Eingebungen
und Gebete sind vergiftet durch den häfßlichen Staub des
Tages, aber »das Schöne ist das Seltene, wie Edmund
Goncourt richtig sagte, und meistens sehen wir nur das
Fehlen der Schönheit und unbedeutende Gewöhnlichkeit —
diese Gewöhnlichkeit, die, sobald sie in die Vergangenheit
zurücksinkt, für unsere Nachkommen alle Zeichen und
Eigenschaften wahrer, unverwelkbarer Schönheit trägt. Er-
scheint uns nicht heute das strenge Leben der alten
Griechen schön? Begeistert uns nicht die blutige, stürmische
und schöpferische Zeit der Renaissance mit all ihrer »ge-
wöhnlichen«e Grausamkeit? Es ist mehr als wahrscheinlich.
daß die großen Tage der sozialen Umwälzung. die wir
jetzt durchmachen, die Begeisterung, Ehrfurcht und Schöpfer-
kraft der Generationen erregen werden, die nach uns kommen.
Wir wollen auch nicht vergessen, dal, obwohl Balzacs
Arme Verwandtes, Golols »Tote Seelen« und die »Pickwick
Paperse ausgesprochen Bücher sınd, die die Bedingungen
des täglichen Lebens schildern, in ihnen doch eine große
und unvergängliche Lehre enthalten ist. die die beste Uni-
versität nicht verschaffen kann und die der Durchschnifs-
mensch so stark und so klar nach einem Leben von 50
Jahren harter Arbeit sonst kaum lernt.
Das Gewöhnliche ist nicht immer banal, denn es ist
das gewöhnliche Schicksal des Menschen, daß er verbrannt
werde in dem Höllenfeuer seiner Bestimmung und diese
Selbstverbrennung ist immer schön und notwendig und
dabei auch lehrreich für diejenigen, die ihr ganzes Leben
lang zaghaft dahinschwelen. ohne jemals aufzuleuchten in
der strahlenden Flamme, die den Menschen vernichtet und
die Geheimnisse des Geistes offenbart.
Menschliche Irrtümer sınd nıcht so charakteristisch für
die- Kunst des Wortes oder des Bildes; charakteristischer
ist die Sehnsucht, den Menschen über die äußeren Be-
und die Weltliteratur 943
— nn L— nn —
dingungen seiner Existenz zu erheben. ihn zu befreien von
den Fesseln des herabwürdigenden Alltags. ihn sich selbst
zu zeigen nicht als den Sklaven, sondern als den Herrn
der Umstände, den freien Schöpfer des Lebens. und in
diesem Sinne ist Literatur immer revolutionär.
Durch den mächtigen Schwung des Geistes, der über
alle kleinlichen Alltäglichkeiten sich erhebt, der gesättigt ist
mit dem Geist der Menschlichkeit, der den Haß: entzündet
im Übermal leidenschaftlicher Liebe, ist die schöne Literatur
unsere große Rechtfertigung und nicht unsere Verdammunng:
sie weil, daß es keinen Schuldigen gibt — wenn auch
alles im Menschen ist. vom Menschen kommt. Die grau-
samen Widersprüche des Lebens, die Feindschaft und Haf
zwischen Nationen. Klassen. Individuen erregen. sind für
die Literatur nur ein veralteter Irrtum und sie glaubt.
daß der adlige Wille des Menschen all diese Irrtümer
zerstören kann und muß, dal dagegen alles. was die freie
Entwicklung des Geistes hemmt, den Menschen der Macht
tierischer Instinkte überliefert.
Wenn man den mächtigen Strom schöpferischer Kraft
genau betrachtet, wie er in Wort und Bild verkörpert
ist. dann fühlt und glaubt man, daß der große Zweck
dieses Stromes darın besteht. für immer alle Streitigkeiten
zwischen Rasse. Natioh und Klassen wegzuwaschen und
indem er die Menschen von der harten Last des gegen-
seitigen Kampfes befreit. all ihre Kräfte frei macht für
den Kampf mit den geheimnisvollen Kräften der Natur.
Und es scheint, daß dann die Kunst des Wortes und
des Bildes die Religion der Menschheit ist und sein wird,
eine Religion, die alles in sich vereinigt. was geschrieben
wurde ın den heiligen Schriften des alten Indien, ım
Zend-Awesta, ın den Evangelien und ım Koran.
Dies ist ın einem rohen und äußerlichen Schema die
Stellung zur Literatur ohne individuelle Abweichungen nach
44 Maxin Gorki / Rußland
verschiedenen Seiten festzulegen zu der die Gruppe von
Mitarbeitern der »Weltliterature sich bekennen, die unter
dem Volkskommissariat für Unterricht sich gebildet hat
mit dem Ziel, die Werke der bedeutendsten Schriftsteller
Englands, Amerikas. Frankreichs. Deutschlands. Italiens.
Spaniens. Portugals. Skandinaviens. Ungarns usw. zu
veröffentlichen.
Wie aus der beiliegenden Liste zu ersehen ist, hat
die Verlagsgesellschaft »Weltliteratur«e jetzt zu. Beginn ihrer
Tätigkeit eine Auswahl getroffen aus den ın verschiedenen
Ländern veröffentlichten Werken seit dem Ende des 18. Jahr-
hunderts bıs zur Gegenwart, vom Beginn der großen fran-
zösischen Revolution bis zur großen russischen Revolution.
Auf diese Weise wird der -russische Bürger alle Schätze
der Poesie und künstlerischen Prosa zur Verfügung haben,
die während anderthalb Jahrhunderten von der gesamten
geistigen Schöpferkraft Europas hervorgebracht worden sind.
In ihrer Gesamtheit werden diese Bücher eine um-
fangreiche historisch- literarische Anthologie ‚bilden. die dem
Leser die Möglichkeit gibt, sich von Grund auf mit dem
Entstehen, der Leistung und dem Verfall literarischer
Schulen bekannt zu machen. mit der Entwicklung der
Technik in Vers und Prosa, mit dem gegenseitigen Einfluß
der Literaturen verschiedener Völker und ganz allgemein,
mit literarischer Entwicklung in ihrer historischen Kontinuität
— von Voltaire zu Anatole France, von Richardson zu
Wells, von Goethe zu Hauptmann usw. Diese Bücher-
reihe ist für die Volksbildung bestimmt und gedacht für
Leser, die die Geschichte der literarischen Produktion in
den Zeitraum zwischen den beiden Revolutionen studieren
wollen. Die Bücher werden außerdem noch Einleitungen,
Biographien der Verfasser enthalten, Skizzen der Epoche,
in der die Schule, Gruppe oder das Werk entstanden ist,
einen historisch-Literarischen Kommentar und bibliographische
und die Weltliteratur .
Anmerkungen. Es ist beabsichtigt. mehr als 1500 solcher
Bücher zu veröffentlichen. jedes von ungefähr 320 Seiten.
Später beabsichtigt die Weltliteratur ;, das russische Volk
mit der Literatur des russischen Mittelalters und anderer
slavischer Länder bekannt zu machen und auch mit der
Wortkunst des Ostens. mit der schönen Literatur Indiens.
Persiens, Chinas, Japans und der Araber.
Gleichzeitig damit wird eine Broschürenreihe veröffentlicht.
die für die weiteste Verbreitung unter den Massen bestimmt
ist. Diese Broschüren werden die bedeutendsten Werke
der Literatur Europas und Amerikas enthalten und von
Biographien. Anmerkungen. soziologischen Skizzen begleitet sein.
Da das russische Volk zielbewult die Straße geistiger
Vereinigung mit den Völkern Europas und Asiens betritt.
muſ es in seiner ganzen Masse die Besonderheiten in
Geschichte. sozialem Leben und Psychologie der Nationen
und Rassen kennen lernen. mit denen in Gemeinschaft es
strebt, die neuen Formen der Wirtschaft aufzubauen.
Literatur. die lebendige und gleichnishafte Geschichte
der Heldentaten und Irrtümer, der Erfolge und des Ver-
sagens unserer Vorfahren, die die größte Fähigkeit besitzt.
die Gedankenwelt zu beeinflussen. die Roheit der Instinkte
zu verfeinern. den Willen zu erziehen. muß endlich ihre
Weltrolle spielen — die Rolle der Macht. dıe am stärksten
und innigsten die Völker verbindet durch die Erkenntnis
ihres Leids und ihrer Sehnsucht, durch die Erkenntnis ihrer
gemeinsamen Wünsche nach einem glückseligen Dasein. das
schön und frei ist.
Das Ziel der Broschüren ıst, den Leser aus den Massen
so gut wie möglich, mit den Lebensgewohnheiten der
europäischen und amerikanischen Völker bekannt zu machen.
die Gemeinsamkeit und Verschiedenheit ihrer Ideen, Ziele
und Sitten zu zeigen — den russischen Leser vorzubereiten.
daß er die Welt und die Menschen kennen lernt. die so
946 Maxim Gorki / Rußland
reich und lebendig durch die künstlerische Literatur
dargestellt werden und wodurch die gegenseitige Verständigung
verschiedensprachiger Völker so leicht erreicht wird. Das
Gebiet literarischer Produktion ist. die Internationale des
Geistes, und in unseren Tagen, da der Gedanke der
Bruderschaft der Völker. der sozialistischen Internationale,
notwendig in die Wirklichkeit übergeführt wird, sind wir
verpflichtet. jede Anstrengung zu machen, damit die Auf-
nahme des gesunden Gedankens der universellen Brüderlich-
keit mit größter Eile sich vollzieht und in die Tiefen
des Geistes und des Willens der Massen dringt.
Je mehr der Mensch kennt, umso vollkommener ist
er: je mehr der Mensch sich um seinen Mitbruder
kümmert, umso schneller wird der Prozeß der Vereinigung
aller guten schöpferischen Elemente zu einer gemeinsamen
Kraft erreicht sein. umso schneller werden wir unseren
Leidensweg überwinden, um zu der allgemeinen Freude des
gegenseitigen Verstehens. der Ehrfurcht. der Brüderlichkeit
zu gelangen — zu unserem eigenen Heil.
Um das Lesen dem ungebildeten Volke anziehend zu
machen. wird die Broschürenreihe Bücher von äufßerem
Interesse enthalten. Geschichten mit verwiekelter Handlung.
unterhaltende und humoristische Sachen, historische Novellen.
abenteuerliche Erzählungen usw.
Die Broschüren werden in chronologischer Reihenfolge
veröffentlicht. so daß selbst die Leser aus dem ‚Volke
imstande sein werden. klar dem Gang der geistigen Ent-
wicklung Europas zu folgen — von der großen Revolution
bis auf unsere tragischen Tage. Man beabsichtigt 3 — 5000
Broschüren, jede 32—64 Seiten stark, zu veröffentlichen.
In seinem Ausmaf ‚wird dieser große Verlegerplan
einzigartig in Europa sein. E
Die Ehre, dieses Unternehmen verwirklicht zu haben,
gebührt den schöpferischen Kräften der russischen Revolution,
und dıe Weltliteratur | 947
der Revolution. die von ihren Feinden als »der Aufstand
der Barbarene bezeichnet wırd. Indem das russische Volk
ein so verantwortungsvolles und groß angelegtes Kultur-
unternehmen in dem ersten Jahre seiner Tätigkeit unter
beispiellos schwierigen Verhältnissen unternimmt. hat es ein
Recht zu sagen. daß es sich ein Monument errichtet. das
seiner würdig ist.
Nach dem verbrecherischen und verfluchten Schlachten.
das schändlicherweise von Menschen hervorgerufen wurde.
die durch ihre leidenschaftliche Verehrung des feſten Götzen
Gold. vergiftet waren, nach dem blutigen Sturm von
Bosheit und Hal gibt es nichts Wirksameres, als das
umfassende Bild geistiger Produktion überall sichtbar hin-
zustellen. Während Roheit und Brutalität noch ihre Feste
feiern. laßt uns alle dessen eingedenk sein. was wahrhaft
menschlich ist. was die Vergangenheit uns gelehrt hat. was
Genius und Talent die Welt gelehrt haben.
Diesem Heft liegt ein Prospekt der Verlags-
buchhandlung Walter Rothschild. Berlin. bei!
——— — — — ———
| Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog
Derfflingerstr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam-
Berlin / Druck der E. Gundlach A.-G., Bielefeld
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